Skip to main content

Full text of "Süddeutsche Monatshefte 1904 Jg 01-1"

See other formats


Siiddeutsche  Monatshefte 


UNTER  MITWIRKUNG  VON 


PAUL  NIKOLAUS  COSSMANN  o  JOSEF  HOFMILLER 
FRIEDRICH  NAUMANN  o  HANS  PFITZNER 
HANS  THOMA  HERAUSGEGEBEN  VON 
WILHELM  WEIGAND 


Erster  Jahrgang  0  Erster  Band 

1904 
Januar  bis  Juni 


MONCHEN  UND  LEIPZIG 
VERLAG  DER  SODDEUTSCHEN  MONATSHEFTE  G.  M.  B.  H. 
IM  BUCHHANDEL  BEI  GEORG  MOLLER 


Inhaltsverzeichnis. 


Selie 

Eugen  Albrecht,  Aus  der  Pathologie.  Neue  Antworten  auf  alte 

Fragen.    I.  II.  Ill   17,  207,  283 

Aus  dem  Kflnstlerbund   138 

Julius  Bahnsen,    Die  Stunden  bei  Schopenhauer.    Aus  dem 

Nachlass  des  Philosophen  mitgeteilt  von  Rudolf 

Louis   224 

Martin  Boelitz,   Gedicht   548 

Lujo  Brentano,  Die  beabsichtigte  Neuorganisation  der  deutschen 

Volkswirtschaft   254 

Hans  Driesch,  Die  SelbstSndigkeit  der  Biologie  und  ihre  Probleme  5 

Emil  Ermatinger,   Gedichte   547 

Albert  Esenweln,  Zur  Psychologie  des  wurttembergischen  Bauem  346 

Ernst  Faller,    Betrachtungen  anlSsslich  des  Kaiser-Mandvers   .  193 

Ludwig  Ganghofer,  Die  Jiger   311 

Otto  Gittinger,  Gedicht   447 

Martin  Greif,  Gedichte   88 

Otto  Gflntter,  Eduard  Mdrike.    Rede  bei  der  Jahrhundertfeier 

in  Stuttgart  gehalten   406 

Gedichte   444 

Siegmund  von  Hausegger,   Oftier  Brief   306 

Hermann  Hesse,  Gedichte   450 

Paul  Heyse,   Der  Waldpriester.   Ein  Satyrspiel   325 

Josef  Hofimiller,  Deutsches  Theater.   1   47 

Die  Tagebucher  von  Albi|n,  /  . iH- >  / 

Ernst  Jaeckh,  Das  literarische  Leben  in\!V$i5ftfew^ 
Gertrud  Ingeborg  Klett,  Gedichte  'y^^i-l^^^C'^:''  • 

Georg  Friedrich  SLnapp,  Ein  Hoch  auf  Mudi;>S^^r;;r}v^^  .  190 
Therese  ROstlin,  Gedichte  ....   i-  i^iit^^i^^  r^^^^^^ 

Ernst  Krausst  Gedicht  .  449 

Isolde  Kurz,  Die  beiden  Briute.  Ballade   440 

Alfred  Leonpacher,  Bei  Jesuiten   198 

Julian  Marcuse,  Kommunale  Hygiene   465 

Paul  Marsop,  Die  Kunststadt  Miinchen   41 

Aus  dem  Lager  des  musikalischen  Fortschritts    .  303 

Theodor  Mauch,  Gedicht   447 


Seite 

Ernst  Mayer,  Technisches  Beamtentum  459 

Eduard  MOrike,  Ungedruckte  Briefe.  Mitgeteilt  von  Rudolf  Krauss  413 

Friedrich  Naumann,  Der  deutsche  Suden  1 

Rdmische  Herrschaft  97 

Die  Illusion  in  der  Politik  185 

Die  Sozialdemokratie  in  Suddeutschland  .  249 

Liberalismus  als  Prinzip  341 

Was  ist  der  Friede?  453 

Karl  Eugen  Neumann,  Das  buddhistische  Kunstwerk.   1.  .  .131 

Adolf  Oberlftnder,  Aphorismen  302 

Eduard  Paulus,  Gedichte  441 

August  Pauly,  Gedanken   34,  481 

Hans  Pfitzner,  Zorn.   Lied  fur  eine  Singstimme  und  Klavier  .  93 

Helene  Raff,  Sein  Sieg.   Erzihlung  516 

Max  Reger,  Hugo  Wolfs  kGnstlerischer  Nachlass  157 

August  Reiff,  Gedicht  448 

Wilhelm  von  Scherff,  Einfuhrung  in  das  Studium  des  Krieges.  I.  104 

Adolf  Schmitthenner,  Bin  Wort.   ErzShlung  237 

Gottlieb  Schnapper-Amdt,  Nihrikele.   Ein  sozialstatistisches 

Kleingemllde  aus  dem  schwabischen  Volksleben  350 

Karl  SchOnhardt^  Gedicht  441 

Franz  von  Soxhlet,  Hygiene  der  Milchversorgung  .    .    .  .116 

Hans  Thoma,  Die  AnfSnge  der  Kunst  37 

Bunte  Erinnerungen  aus  der  Kunstschulzeit  .  .231 

Ludwig  Thoma,  Der  heilige  Hies.   Erzfihlung  173 

Friedrich  Th.  Yischer,  Briefe  aus  Italien.  I.  11.  Mitgeteilt 

von  Robert  Vischer   380,  472 

Hans  Joachim  Wagner,  Gedicht  546 

Wilhelm  Weigand,  Der  Messiasziichter.   ErzMhlung     ...  57 
Anselm  Feuerbach  und  sein  Vennachtnis  .  .139 
Das  Abenteuer  des  Dekans  Schreck.    Erzlhlung.  527 
Felix.  W^iligaEtner». Cad  Spitteler.  Ein  kunstlerisches  Erlebnis  484 

Karf:1«e4<bSfeiftr»:g«ii«W^  442 

mcharci:'^e)|bixii^.jC<ea'icht  444 

Richard*  .ttji^t^ii^rj^^chte  von  Christian  Wagner  ....  434 
Hi^o  V^^riui^^M<4it*e:  Briefe  an  schwibische  Freunde  .  .  397 
Wi]heltti*'iaiBft;*.a«£dit^  247 


Der  deutsche  Siiden. 


Von  Friedrich  Naumann  in  Schdneberg. 

Lassen  Sie  uns  zuerst  etwas  Statistik  treiben,  um  dann  aus  den 
Zahlen  einige  Schliisse  zu  Ziehen! 

Suddeutschland  umfasst  fast  der  deutschen  BodenflSche  (24,4%) 
und  etwas  unter  ^4  cler  deutschen  Bevolkerung  (239270)9  ist  also  eine 
Kleinigkeit  hinter  der  deutschen  Durchschnittsdichtigkeit  der  Bevolkerung 
zuruck.  Das  ist  an  sich  kein  Ungltick.  Aber  die  Sache  sieht  schon 
anders  aus,  wenn  man  erflhrt,  dass  im  Jahre  1816  dieselben  LSnder, 
Bayem,  Wurtteoiberg,  Baden,  Hessen  und  Elsass-Lothringen,  noch  beinahe 
Vs  der  Bevolkerung  hatten,  die  damals  auf  dem  Gebiet  des  jetzigen 
Deutschen  Reiches  sass  (31,7%),  und  dass  selbst  im  Jahre  1855  die 
Suddeutschen  noch  27,3%  der  Gesamtzahl  ausmachten.  Der  Anteil 
Suddeutschlands  am  deutschen  Personenbestande  geht  zuriick.  Man  sieht 
die  Zeit  kommen,  wo  die  Suddeutschen  nur  noch  %  betragen  werden. 
Ein  solcher  Rtickgang  kann  nicht  ohne  Folgen  ftir  den  Einfluss  sein, 
den  Suddeutschland  auf  die  Politik  und  Kultur  des  Deutschtums  im 

Wie  erklirt  sich  der  Rtickgang?  }^^ti3;^ieb  <;hfunlj&lt  ce^^^  um 
einen  sehr  zusammengesetzten  Prozess,  bei  de^^' ic]{^  ist, 
welche  Ursachen  ersten  und  welche  zweiten  Gpd&^;^s^>^;De4:  Atisgangs- 
punkt  der  Untersuchung  kann  aber  kaum  andc^'^s^^,  li^^gen^^  der 
Frage  nach  der  Gesundheit  der  Rasse  an  si(^.  l^t,-^^tex-ji^^  steht 
Hessen  tiber,  das  ganze  iibrige  Suddeutschland  al[)er^  unter  Reichsdurch- 
schnitt.  Das  ist  nicht  angenehm  zu  sagen,  aber  wir  wollen  ja  uns  nichts 
vormachen.  Der  Geburtenuberschuss,  diese  Grundziffer  der  Rassen- 
beorteilung,  ist  in  Hessen  15,4%^,,  im  Reich  15,1  %<>,  in  Bayem  14,2  %o, 
in  Baden  13,9  %o,  in  Wiirttemberg  13,5  %o  und  in  Elsass-Lothringen 
11^7oo*  Allerdings  ist  die  Entstehung  des  Fehlbetrages  verschieden. 
Bayem  ist  ein  Landesteil  hoher  Sterblichkeit  bei  guter  Geburtenzahl, 

S&ddcuttche  Monatshefte.   1, 1.  1 


Elsass-Lothringen  ein  Gebiet  geringer  Geburten  bei  reladv  besserer 
Lebensdauer.  Im  Osten  Suddeutschlands  hat  das  Leben  zu  wenig 
Dauerhaftigkeity  im  Westen  zu  wenig  Zeugungskraft.  Wie  sich  dieses 
wieder  erklart,  ist  nicht  mit  wenig  Worten  und  vielleicht  tiberhaupt 
nicht  restlos  zu  sagen.  Alkohol  und  Volkssitte,  Art  des  biuerlichen 
Erbrechtes  und  allgemeine  handelspolitische  Lage  sprechen  mit.  Dazu 
kommt  die  Frage  der  Abwanderung  aus  Stiddeutschland.  Diese  ist  am 
auffaUigsten  in  Wtirttemberg.  Leider  lasst  sich  die  Abwanderung  der 
Wiirttemberger  nach  ausserdeutschen  Lindern  nicht  genau  erfassen,  wer 
aber  etwas  vom  Ausland  kennt,  kennt  auch  die  in  alle  Welt  verstreuten 
Wurttemberger.  Aber  schon  allein  im  Deutschen  Reiche  steht  es  so,  dass 
es  100000  geborene  Wurttemberger  mehr  gibt  als  Einwohner  von  Wtirttem- 
berg. Wtirttemberg  ist  noch  heute  ein  Auswanderungsland  und  ist  es 
seit  langer  Zeit  gewesen.  Von  den  anderen  suddeutschen  Landesteilen 
gilt  das  nicht  in  gleich  hohem  Grade,  aber  von  ihnen  alien  gilt,  dass 
sie  keine  eigentlichen  Einwanderungslinder  sind  wie  etwa  Westfalen 
und  Sachsen.  Dazu  fehlt  das  Hinterland.  Die  Alpen  und  der  Bohmer- 
wald  sind  Wanderungsgrenzen,  und  Frankreich  hat  nichts  nach  Osten 
hin  abzugeben,  selbst  wenn  es  wollte.  Wenn  Stiddeutschland  Kohle  be- 
sisse,  k5nnte  manches  anders  sein,  aber  .  . . 

Der  Stiddeutsche  hat  ein  gewisses  Recht,  neidisch  zu  sein,  wenn 
er  seiner  Naturguter  gedenkt.  Nicht  als  ob  er  an  sich  bei  der  Ver- 
teilung  dieser  Gaben  schlecht  weggekommen  ware,  aber  er  erhielt  keine 
grosse  durchschlagende  Besonderheit.  Im  Getreidebau  steht  im  allgemeinen 
Stiddeutschland  in  Roggen  etwas  fiber,  in  Weizen  etwas  unter  Reichs- 
durchschnitt.  Getreidebau  ist  es  ja  aber  uberhaupt  nicht  mehr,  was 
ein  europiisches  Land  reich  macht.  In  Obstbau  hat  Suddeutschland, 
abgesehen  von  Bayem,  einen  bedeutenden  Vorsprung,  hier  ist  wohl  auch 
noch  sehr  viel  zu  machen,  aber  ob  Obstbau  ausreicht,  Mittelstuck  einer 
Kultur  zu  sein,  bleibt  dennoch  fraglich.  Hopfen  und  Wein  bleiben  auf 
bestimmte  Gegenden  beschrankt.  Die  Viehzucht  steht,  abgesehen  von 
Elsass-Lothringen,  fiber  Durchschnitt,  erreicht  aber  nirgends  Ziffern  wie 
in  den  Wetdegebieten  an  der  Nordsee.  Es  ist  in  alien  diesen  Richtungen 
kein  Anlass  zum  Verzweifeln,  es  sind  sogar  teilweis  recht  erfreuliche 
Bestanc]^  jour  ist  xjic^tji  .d^,  was  dem  sfiddeutschen  Lande  Hoffnung  gibt, 
sich  jbf^d^fi^  ^'^^iisBiw^  )SFf turgaben  als  Ausgangspunkt  einer  eigenen 
welterobe^flefC  ^rpdLtilSion'  *inzusehen.  Das  aber  ist  es,  was  im  Welt- 
verkehrs2;ertfii^*iK^n{a^  des  Erfolges  ausmacht.  Die  Frage  bleibt, 
ob  sich*.^i^4^^^I|^  Heimat  von  Verarbeitungsindustrien  machen 
kann,  dtp  ^'Ifli^l^Jj^^^  Charakter  in  der  Austauschswirtschaft  der 

Neuzeit  siclie*rht  "Das'^isV  Her  eigentliche  Kern  der  sfiddeutschen  Frage. 
Dass  Bayem  Weltplatz  ffir  Bier  ist,  ist  ein  Erfolg.  Bier  allein  reicht 
aber  nicht  aus.  Es  fragt  sich,  was  sind  sonst  die  TMtigkeiten,  die  gerade 
diese  Landesteile  zur  vollen  Auswirkung  ihrer  Krifte  kommen  lassen? 
Solche  Titigkeiten  zu  suchen  und  zu  fordem,  ist  eine  Aufgabe,  der  alle 
KrUfte  gewidmet  werden  mfissen. 

Das  aber  ist  nicht  eine  Sache,  die  irgend  jemand  mit  einigen  Einzel- 


vorschlagen  erledigen  kann.  £s  handelt  sich  darum,  in  jedem  einzelnen 
Arbeitszweig  die  Entwicklungsmdglichkeiten  Siiddeutschlands  zu  prufen. 
Um  ein  Beispiel  zu  bringen:  Im  Buchgewerbe,  einem  Industriezweig, 
for  den  es  besonderer  geographischer  Vorbedingungen  nicht  bedarf,  und 
fur  den  die  Kulturbedingungen  Siiddeutschlands  sehr  gunstig  sind,  ist 
der  Sachverhalt  nach  der  GewerbezMhlung  von  1895  folgender:  dass  von 
den  grossen  Druckorten  Deutschlands  Mtinchen  an  ftinfter,  Stuttgart  an 
sechster,  Niimberg  an  achter  und  Strassburg  an  zwolfter  Stelle  steht. 
Diese  vier  Orte  zusammen  beschaftigen  15763  ArbeitskrSfte,  wahrend 
Leipzig  allein  19796  und  Berlin  28280  beschMftigt.  Natiirlich  sind  uns 
die  Grunde  bekannt,  weshalb  Leipzig  und  Berlin  einen  grossen  Vorsprung 
haben,  aber  warum  sind  ausser  ihnen  auch  Dresden  und  Hamburg  hdher 
gekommen  als  Mtinchen  und  Stuttgart?  Im  Photographieverlag  be- 
schlftigt  Munchen  die  meisten  Personen,  aber  im  Farbendruck  ist  es 
ganz  klein,  kleiner  als  Niimberg.  Stuttgart  hat  im  Farbendruck  nur 
7  Betriebe  mit  20  Personen!  Sind  das  Zufallsergebnisse  oder  Not- 
wendigkeiten? 

Dies  eine  Beispiel  soil  also  nur  andeuten,  in  welcher  Weise  ein 
Verstindnis  fiir  die  Lage  Siiddeutschlands  zu  suchen  ist.  Es  muss  in 
hoherem  Grade  als  bisher  mit  Bewusstsein  siiddeutsche  Wirtschafts- 
politik  getrieben  werden.  Das  kann  auch  jemand  aussprechen,  der  wie 
der  Schreiber  dieser  Zeilen  nicht  Siiddeutscher  ist,  dem  aber  am  gleich- 
missigen  Fortschritt  aller  deutschen  Volksteile  sehr  viel  gelegen  ist. 
Eine  solche  Politik  wiirde  das  Gegenteil  von  Partikularismus  sein,  denn 
sie  wurde  von  der  Frage  ausgehen:  Wodurch  sichert  sich  Suddeutschland 
seinen  Platz  in  der  Weltwirtschaft?  Damit  wiirden  auch  alle  siiddeutschen 
Verkehrsfragen  ihres  besonderen  partikularistischen  Charakters  entkleidet 
werden.  Es  handelt  sich  einfach  dariim:  Welche  Einrichtung  des  Verkehrs- 
wesens  erleichtert  den  Siiddeutschen  den  Anschluss  an  den  grossen  Ver- 
kehr?  Dieser  Anschluss  ist  in  seiner  Gesamtwirkung  viel  mehr  wert 
als  jeder  kleine  staatsrechtliche  oder  fiskalische  Vorteil,  denn  die  ge- 
schichtliche  Bedeutung  der  siiddeutschen  Staaten  hSngt  mehr  als  an  ihren 
Reservatrechten  an  ihrer  volkswirtschaftlichen  Leistung. 

Es  scheint  nun  aber,  dass  das  allgemeine  offentliche  Bewusstsein 
Suddeutschlands  weniger  in  dieser  mehr  praktischen  Richtung  die 
Erhaltung  des  geschichtlichen  Wertes  des  deutschen  Siidens  sucht  als 
in  Vertretung  gewisser  politischer  und  kultureller  Moralbegriffe.  Uberall 
in  Suddeutschland  hort  man,  dass  die  preussische  Polizei-  und  Herren- 
moral  abstdsst.  Die  demokratische  Lebensauffassung  ist  hier  mehr  in 
Fleisch  und  Blut  iibergegangen.  Man  behandelt  den  Menschen  anders 
als  auf  den  pommerschen  Rittergiitem.  Auch  die  Arbeiterfrage  hat  im 
Stiden  nicht  die  SchMrfe  wie  im  Norden.  Der  Mensch  als  solcher 
besitzt  einen  hSheren  Verkehrswert.  Das  ist  der  eigentiimliche  und 
berechtigte  Stolz  des  Siiddeutschen.  In  diesen  Dingen  liegt  ein 
Ewigkeitswert  des  suddeutschen  Volkstums  gegeniiber  dem  Deutschtum 
der  altpreussischen  Provinzen.  Es  fragt  sich  nur,  auf  welche  Weise 
der  Stiddeutsche  diese  seine  vortreCFliche  Eigenart  zum  Gemeingut  des 

1* 


4 


deutschen  Wesens  fiberhaupt  machen  kann,  oder,  wenn  er  an  diesem 
Ziel  verzweifeln  sollte,  wie  er  sich  selbst  seinen  Stolz  am  besten  auf 
Kind  und  Kindeskind  erhalt. 

Was  ist  esy  das  im  letzten  Grunde  die  offentliche  Moral  macht? 
Wir  reden  jetzt  nicht  von  der  religidsen  und  privaten  Moral,  die  der 
Priester  beeinfiusst,  sondem  von  dem  ungeschriebenen  aber  sehr  realen 
Rechtsverhaltnis,  in  dem  der  Mensch  zum  Menschen  steht.  Dieses 
Recht  wird  durch  nichts  starker  beeinflusst  als  durch  die  Betriebsformen. 
Uberall  vfo  Plantagenwirtschaft  ist,  Fideikommiss,  Rittergut,  Bergwerk, 
Hochofen,  Grossbetrieb,  ist  die  Gefahr  der  moralischen  Kerabwiirdigung 
der  Arbeitskrafte  vorhanden,  Je  elementarer  aber  die  Arbeit  ist,  desto 
grosser  wird  diese  Gefahr.  Deshalb  haben  alle  Rohstoffsbetriebe,  wenn 
sie  grosser  werden,  die  verhSngnisvolle  Neigung,  in  ihrer  Leitung 
despotisch  oder  patriarchalisch  zu  werden.  Das  ist  es,  was  den  Berg- 
werksbesitzer  mit  dem  Rittergutsbesitzer  verbindet.  Dieser  Gefahr  ist 
Stiddeutschland  nicht  unterlegen,  well  es  ein  Land  kleinerer  und  mittlerer 
Betriebsformen  war  und  im  grossen  und  ganzen  noch  heute  ist.  Daher 
konnte  auch  die  suddeutsche  Lebensdemokratie  zur  Gesamttemperatur 
des  Volkstums  werden,  ohne  sich  viel  um  Konfessionsgrenzen  und 
Parteibekenntnisse  zu  ktimmem.  Sie  ist  weder  Folge  des  Katholizismus 
noch  des  Protestantismus,  noch  des  hier  und  da  bemerkbaren  Italiener- 
blutes,  sie  ist  das  naturliche  Bekenntnis  eines  Landes  ohne  starken  alten 
Adel  und  ohne  Kohlen.  Darin  liegt  aber  schon  die  Schwierigkeit,  diese 
Gesinnung  beliebig  zu  verbreiten.  Darin  liegt  auch  die  Gefahr,  die  ihr 
selbst  im  neuen  Zeitalter  droht. 

Wenn  in  Deutschland  die  grosse  RohstofPindustrie  die  Allein- 
herrschaft  bekommt,  dann  wird  die  demokratische  Moral  von  ihr 
zerdriickt.  Man  mache  sich  nur  klar,  welche  Macht  der  Gesinnungs- 
beeinBussung  in  den  Syndikaten  der  sogenannten  schweren  Industrien 
vorhanden  ist  I  Noch  ist  Stiddeutschland  relativ  frei  davon,  aber  es  lebt  * 
doch  nicht  wie  eine  Insel  im  Meer.  Die  allgemeine  Zeitmoral  macht  nicht 
am  Mainstrom  Halt.  Will  also  der  Stiddeutsche  sein  Stuck  eigene 
Menschheitskultur  wahren,  so  wird  er  sich  an  dem  Kampfe  beteiligen 
mtissen,  der  zwischen  Rohstoffproduktion  und  Fertigfabrikation  sich 
langsam  einstellt.  Die  freiheitlichen  Hoffnungen  Deutschlands  hingen 
mit  dem  Sieg  derjenigen  Betriebsformen  zusammen,  die  auf  Qualitits- 
menschen  angewiesen  sind.  Das  sind  aber  die  Betriebsformen,  auf 
deren  Pflege  Stiddeutschland  durch  seine  Geographie  und  Weltlage  so 
wie  so  hingewiesen  ist.  Man  soil  nicht  denken,  das  Geistige  vom  Wirt- 
schaftlichen  trennen  zu  konnen.  Jede  neue  Fabrik,  in  der  etwas 
Bestimmtes  gelernt  werden  muss,  starkt  den  Gesamtgeist,  der  den 
Menschen  achtet. 

Die  stiddeutsche  Frage,  von  der  wir  reden,  hat  nun  neben  der 
technischen  und  der  moralischen  Seite  auch  eine  finanzielle.  Wo  arbeitet 
das  stiddeutsche  Kapital?  Wo  arbeitet  beispielsweise  das  wtirttem- 
bergische  Kapital?  Diese  Seite  der  Angelegenheit  kann  aber  nur 
von  Leuten  erortert  werden,  die  mitten  im  suddeutschen  Bankwesen 


5  8^ 


stehen,  hier  muss  es  genugen,  von  ihrem  Vorhandensein  zu  reden.  Es 
ist  nSmlich  wahrscheinlichy  dass  mehr  suddeutsches  Kapital  auswMrts 
arbeitet  als  auswMrtiges  Kapital  in  Suddeutschland  und  dass  dadurch  mit 
suddeutschen  Mitteln  die  Abwanderung  leistungsfihiger  Krdfte  befdrdert 
wird,  von  der  wir  im  Anfang  redeten.  Das  Kapital,  auch  das  stiddeutsche, 
geht  dahin,  wo  es  am  meisten  verdient.  Mit  guten  Worten  allein  wird 
man  es  nicht  im  Lande  halten  kdnnen,  aber  vielleicht  ist  es  mdglich, 
eine  allgemeine  Wirtschaftspolitik  zu  fordern,  die  mehr  wirkt  als  gute 
Worte,  eine  Wirtschaftspolitik  bewusster  suddeutscher  Gewerbsent- 
vicklung.  Diese  liegt  im  Zug  der  Zeit,  viele  dienen  ihr,  teils  mit 
Absicht,  teils  ohne  Absicht;  was  ndtig  scheint,  ist  nur,  dass  man  diese 
Wirtschaftspolitik  in  immer  weiteren  Kreisen  mit  Bewusstsein  will.  Dass 
dabei  das  Zentrum  nicht  als  treibender  Faktor  in  Betracht  kommt,  ist 
leider  wahr.    Doch  davon  konnen  wir  ja  ein  anderes  Mai  reden. 


Die  Seibstiindigkeit  der  Biologie  und  ihre 

Probleme. 

Von  Hans  Driesch  in  Heidelberg. 

In  der  zweiten  HSlfte  des  verflossenen  Jahrhunderts  hat  die  Lehre 
vom  Leben  ihren  meisten  Vertretern  nicht  als  eine  selbstindige  Disziplin, 
nicht  als  Grundwissenschaft  gegolten.  Ja,  nicht  selten  konnte  man  es 
sogar  horen,  dass  sie  uberhaupt  keine  auf  die  Ermittlung  von  Gesetzen 
gerichtete,  keine  ^rationelle"  Wissenschaft,  dass  sie  durchaus  Historie  sei. 

Die  materialistische  Naturauffassung  und  die  Lehren  von  der  Deszen- 
denz  der  Arten  und  vom  Kampf  ums  Dasein  waren  die  Grundlagen 
dieser  Urteile. 

Der  gesunden,  unvoreingenommenen  Auffassung  Robert  Mayers 
zum  Trotz,  sahen  die  Hauptvertreter  der  Physik  und  der  Chemie  in 
einer  Auflosung  in  Atommechanik  das  Ziel  nicht  nur  der  anorganischen, 
sondem  aller  Wissenschaft:  als  einzige  Grundwissenschaft  blieb  bei 
solcher  Wendung  der  Sachlage  des  Geschehens  die  Mechanik  ubrig; 
alles  andere  wurde  ^angewandtes"  Grundwissen. 

Die  Deszendenztheorie  aber  in  Form  des  Darwinismus  machte,  von 
der  anderen  Seite  her,  die  organischen  Formen  und  Funktionen  zu  Pro- 
dttkten,  die  in  demselben  Sinne  vzuflllig",  das  heisst  ziellos,  entstanden 


6 


seieHy  wie  Inseln  und  Seen  zufillig  entstanden  sind:  damit  war  die  Frage 
nach  einem  biologischen  Gniodwissen  von  vornherein  abgelehnt. 
Das  alles  hat  sich  nun  geSndert. 

Bereits  in  den  achtziger  Jahren  machte  auf  anorganischem  Gebiete 
die  mechanische  Universaltheorie  einer  fiktiv  und  metaphysisch  unge- 
trubten,  einer  auf  die  Erscheinungen  gerichteten,  ^phSnomenalistischen* 
Auffassung  der  physiko-chemischen  Gesetzlichkeiten  Platz.  Mach  ist 
es  bekanntlich,  dem  hier  der  Preis  gebuhrt,  aber  auch  der  Energetiker, 
vor  allem  Helms  und  Ostwalds  soil  hier  in  Achtung  gedacht  sein, 
mag  es  sich  auch  herausstellen,  dass  die  ^energetische*  Wendung  der 
Naturphinomene  etwas  gar  zu  wenig  aussagt.  Die  neueste  sogenannte 
^immanente"  Wendung  der  Philosophie,  wie  sie  in  Schuppe,  Leclair, 
Kaufmann  u.  a.  ihre  Vertreter  hatte,  sowie  die  Philosophic  von  Ave- 
narius  waren  der  Wissenschaftsreform  im  Anorganischen  wohl  auch 
forderlich. 

Die  Mechanik  war  also  nicht  mehr  die  Grundwissenschaft,  sondern 
es  gab  so  viele  Grundwissenschaften,  wie  es  in  sich  durch  die  QualitSten 
verknupfte  Gruppen  von  Elementargesetzen  gab.  Die  Frage  nach  dem 
angeblichen  ,,Erkliren*  der  WMrme  oder  der  Elektrizitdt  oder  der  che- 
mischen  Verwandtschaft  war  damit  als  ein  falsch  aufgestelltes,  als  ein 
nur  scheinbares  „ Problem*  beseitigt  worden. 

Letzt  analysiertes,  elementares  Formulieren  nahm  den  Platz  des 
^ErklHrens*  ein. 

Es  verdient  besondere  Hervorhebung,  dass  schon  den  beiden  grossen 
Antipoden  Hegel  und  Schopenhauer  solche  Gedanken  in  allgemeiner 
Fassung  gelMufig  gewesen  waren. 

Wurden  so  die  PrStensionen  der  mechanischen  oder  ^fiktiven*'^) 
Physik  durch  Herausarbeiten  des  wahren,  das  heisst  des  erkenntnis- 
kritisch  einzig  moglichen  Sachverhaltes  ersetzt,  wobei  man  die  grossen 
positiven  Leistungen  der  Vertreter  jener  falschen  Anspriiche  hochschMtzen 
und  ubernehmen  konnte,  so  erging  es  den  Anmassungen  der  historischen 
Zufallsbiologie  weit  schlimmer. 

Die  sogenannte  Selektionstheorie  Darwins  war  zwar  schon  gleich 
nach  ihrem  Erscheinen  von  einsichtigen,  wissenschaftlich  durchgebildeten 
Mfinnern,  zumal  von  Mivart,  Wigand,  C.  E.  v.  Baer  u.  a.  als  ein 
Gebaude  von  Unklarheiten,  Zirkeln  und  Trugschltissen  erkannt  worden, 
immerhin  fristete  sie  noch  ihr  Dasein  bis  in  die  achtziger  Jahre,  als 
Nageli  (1884)  und  vomehmlich  G.  Wolff  (1890)  ebenso  kurz  wie  klar 
ihr  logisches  Ungentigen  nachwiesen:  dass  NichtexistenzfShiges  nicht 
existieren  konne,  dieser  zweifelsohne  wahre,  aber  doch  nicht  sehr  inhalt- 
reiche  Satz  war  das  einzige,  was  vom  Darwinismus  ubrig  blieb. 


')  So  genannt,  weil  sie  den  gegebenen,  durch  Qualitftten  gekennzeichneten 
Erscheinungen  »Fiktionen*,  d.  h.  erdichtete  Bildery  und  zwar  mecbaniscber  Art, 
z.  B.  »Atonie*y  »bewegte  Molek&le*  substituiert,  ja,  wohl  gar  diese  Bilder  fur  das 
,,Wirkliche"  hSlt.  Erscheinungen  und  Bilder  mussten  naturlicb  gewisse  (quantita- 
tive) Kennzeichen  gemeinsam  besitzen. 


-^7  8^ 


In  der  Tat  kann  der  Darwinismus  jetzt  als  in  urteilsShigen  Kreisen 
definitiv  uberwunden  gelten. 

Mit  dem  Ansehen  der  Deszendenztheorie,  als  der  allgemeinen  An- 
nahme  einer  Abstammung  der  verschiedenen  Lebensformen  voneinander, 
ging  es  langsamer  bergab:  in  unbestimmter  Weise  als  wahrscheinlich 
muss  diese  Theorie  jedem  Unbefangenen  gelten«  auch  der  Autor  dieser 
Zeilen  vertritt  sie  in  diesem  Sinne.  Es  hat  aber  lange  gedauert,  bis 
man  zu  der  Ansicht  durchdrang,  und  auch  heute  ist  dieselbe  unter 
Biologen  noch  nichts  weniger  als  Allgemeingut,  dass  mit  der  allgemeinen, 
nnbestimmten  Wahrscheinlichkeit  von  Deszendenz  Hberhaupt  recht  wenig 
gewonnen  sei. 

Nachdem  die  biologische  „Zufallstheorie'  als  hinfSllig  erkannt  war, 
musste  man  nach  den  Gesetzen  der  Umwandlung  fragen;  dariiber  war 
aber  gar  nichts  bekannt;  durch  miihevolle  Einzelarbeit  von  Mtanem  wie 
Galton,  Weldon,  de  Vries,  Bateson,  Correns  u.  a.  befinden  wir 
nns  hier  jetzt  wenigstens  in  den  allerersten  Anflngen  des  Wissens. 

Auf  der  andem  Seite  musste  die  ganz  allgemeine,  unbestimmte 
Deszendenzvorstellung  offenbar  durch  etwas  Konkreteres  ersetzt  werden. 
Aber  wie  das  anfangen,  wo  man  von  Umwandlungsgesetzen  gar  nichts 
kennt? 

Man  hat  auf  dem  eben  erwShnten  Gebiete  ja  freilich  unter  dem 
Titel  einer  Stammesgeschichte  oder  ^Phylogenie""  alles  mdgliche  versucht. 
Aber  was  hier  geleistet  ist,  steht  an  Sicherheit  wahrlich  nicht  hoher 
als  die  Leistungen  der  vielgeschmShten  31teren  Naturphilosophie,  unter- 
scheidet  sich  aber  von  ihr  nicht  zum  Vorteil  durch  die  Tiefe  des 
Standpunktes. 

Denn  Schelling,  Hegel  und  ihre  Nachfolger  wollten  Logik  in  der 
Natnr  erkennen;  der  moderne  Phylogenetiker  will  Geschichte  aufdecken. 

Wir  bewerten  zwar  Geschichte  nicht  so  hoch  wie  rationelle  Wissen- 
schaft,  doch  sind  wir  feme  davon  ihre  Bedeutung  zu  verkennen. 

Aber  eine  ^Geschichte**  da,  wo  man  vom  vGeschehen"*  gar 
nichts  weiss,  muss  das  nicht  ein,  glimpflich  ausgedriickt,  seltsames 
Ding  werden? 

Man  stelle  sich  einmal  vor,  dass  man  die  Menschheit  als  reines 
Objekt  betrachte  und  nun  Menschheits-^Geschichte''  mitgeteilt  beklme, 
ohne  von  der  Existenz  von  deren  beiden  Grundfaktoren,  von  Sprache 
und  Schrift,  ja  ohne  uberhaupt  von  Psychologischem  irgend  etwas  zu 
wissen.  Was  wire  das  fiir  eine  ^Geschichte*',  selbst  wenn  die  Daten 
derselben  ganz  sicher  wiren?  Oder  man  stelle  sich  die  Lehren  der 
historischen  Geologic  vor  ohne  jede  Kenntnis  von  Physik  und  Chemie. 
Gunstigstenfalls hltte man  hier  einen  Faktenkatalog,  aber  nichts  mehr. 

Und  nun  sind  noch  dazu  die  angeblichen  Fakten  der  Phylogenie 
gibizlich  unsicher,  hochstens  in  einigen  ganz  allgemeinen  oder  auch 
in  einigen  allerspeziellsten  Ztigen  durch  die  Funde  aus  der  Vorzeit 
kontrollierbar. 

Die  Phylogenie  ist  also  im  tatsMchlichen  hochst  unsicher,  kennt 
femer  keine  ihrem  Gebiet  eigentumlichen  Elementargesetze  und  wiirde 


H>«8    8  8^ 


endlich  gunstigstenfalls  iiberbaupt  nur  Geschichte  aber  nicht  rationelle 
Wissenscbaft  liefern  kdnnen. 

Angesicbts  dieser  Umstdnde  darf  denn  wobl  wahrlicb  offen  aus- 
gesprocben  werden,  dass  der  ^Gedanke*  der  ^Deszendenz**  recbt  wenig 
zur  Gewinnung  wissenscbaftlicber  Erkenntnis  beigetragen  hat. 

So  baben  wir  also  eingeseben,  dass  die  beiden  Grundpfeiler  der 
Gegnerscbaft  gegen  eine  selbst^ndlge  Biologie  zusammengebrocben  sind: 
die  mecbaniscbe  Pbysiko-Cbemie  auf  der  einen  Seite  ist  durcb  etwas 
Besseres  ersetzt;  auf  der  andern  Seite  ist  der  Darwinismus  uberwunden, 
die  Deszendenztbeorie  als  ein  nur  allgemein  regulativer  Gedanke  er- 
kannt;  etwas  ^Besseres''  baben  wir  bier  nocb  nicbt. 

Man  sollte  denken,  dass  das  alles  wenigstens  der  bypotbetiscben 
Auffassung  der  Biologie  als  einer  Grundwissenscbaft  gunstig  gewesen 
wire.  Das  war  aber  nicbt  der  Fall;  selbst  viele,  welcbe  vom  Darwinis- 
mus nicbts,  Yon  der  Deszendenztbeorie  wenig  balten,  und  von  der 
Ricbtigkeit  der  Wissenscbaftsreform  im  Anorganiscben  uberzeugt  sind, 
lebnen  die  wabre  Selbstindigkeit  der  Biologie  principiell  und  dogmatisch 
ab:  »es  kann  nur  pbysikaliscb-cbemiscbes  Gescbeben  geben**,  so  beisst 
es  jetzt;  »es  kann  nur  mecbaniscbes  Gescbeben  geben**,  so  biess  es 
friiber.  Fur  die  Biologie  als  solcbe  kommt  dieser  Unterscbied  in  der 
Ausserung  des  Dogmatismus  naturgemMss  gar  nicbt  so  sebr  in  Frage. 

Wenn  icb  nun  daran  gebe,  die  neueste  Wendung  in  der  Biologie- 
gescbicbte,  welcbe  in  der  langsam  erreicbten  Erkimpfung  des  Aner- 
kenntnisses  biologiscber  SelbstMndigkeit  gipfelt,  zu  scbildern,  so  wird 
der  Leser  es  mir  gestatten,  die  Darstellung  etwas  personlicber  zu  ge- 
stalten.  Soil  docb  Selbsterlebtes  im  folgenden  gescbildert  werden. 
Auch  darf  icb  bei  dieser  Gelegenbeit  nicbt  verscbweigen,  dass  die  im 
vorstebenden  versucbte  Reduktion  des  Wertes  der  Deszendenztbeorie 
auf  ibr  recbtes,  also  auf  ein  recbt  bescbcidenes  Mass  zurzeit  nocb 
leider  nur  meine  und  weniger  anderer  experimentell  arbeitenden  Forscber 
Uberzeugung  darstellt,  wibrend  in  der  Verwerfung  der  materialistiscben 
Dogmatik  und  des  Darwinismus  (Lebre  von  der  nattirlichen  Zucbtwabl) 
grossere  Obereinstimmung  berrscbt.  Diese  Ubereinstimmung  wird 
sicherlicb  aucb  dann  tiber  die  Deszendenztbeorie  berrscben,  wenn 
Besseres,  also  namentlicb  Sicheres  und  Bestimmtes  den  Platz  ibrer 
zu  unbestimmten  bypotbetiscben  Allgemeinbeiten  —  von  ibren  Pbanta- 
sien  ganz  abgeseben  —  eingenommen  baben  wird. 

Sicber  und  bestimmt  die  Unabbangigkeit  der  wissenschaftlicben 
Biologie  darzutun,  dieser  Aufgabe  wollen  wir  uns  nun  zuwenden. 

In  den  Jabren  1887  —  1893  traten  G.  Bunge,*)  G.  Wolff*)  und 
icb,  nacbeinander,  aber  auf  wesentlicb  verscbiedenen  Wegen,  ftir  die 
Berechtigung  der  teleologiscben  Betracbtung  der  organiscben  Ge- 
scbebnisse  und  Formen  ein,  damit  einen  Gedanken  verfecbtend,  den  in 
aller  Klarbeit  bereits  Kant  ausgesprocben  batte,  und  der  aucb  in  den 


^)  Lehrbuch  d.  pbysiol.  u.  patbol.  Chemie.  Leipzig  1887. 

^  Beitrige  zur  Kritik  d.  darwin.  Lebre  Biol.  Centr.  10.  1890.   Auch  separat 


allennaterialistischsten  Zeiten  wenigstens  von  einigen  Naturforschern 
wie  z.  B.  von  Wigand  und  C.  E.  v.  Baer,  weitergegeben  worden  war. 

«Die  Biologie  als  selbstMndige  Grundwissenschaft''  nannte  ich  die 
kleine  Schrift^,  die  dem  Ausdruck  meiner  Gedanken  gewidmet  war. 
Ich  Hess  in  ihr  die  rein  physikalisch-chemische  Natur  der  Einzel- 
geschehnisse  des  Lebens  hypothetisch  zu;  nur  die  Gesamtheit  alles 
einzelnen  und  damit  dessen  Beziehungen,  kurz  das  Geformte  und 
Geordnete  an  den  Organismen  sollte  einer  mechanistisch-kausalen 
AufFassung  unzugMnglich  und  nur  teleologisch  beurteilbar  sein. 

Man  sieht,  dass  so  sehr  viel  an  der  von  mir  verfochtenen  «Selb- 
stSndigkeit*  der  Biologie  gar  nicht  daran  war. 

Meinen  eigenen  Gedanken  weiter  nachgehend,  habe  ich  als 
^Maschinentheorie  des  Lebens**  die  letzten  Konsequenzen  einer  bloss 
fonnal-teleologisch  beurteilenden  Auffassungsart  des  Lebendigen  ge- 
zogen^  und  damit  die  vSelbstandigkeif*  der  Biologie  eigentlich  noch 
weiter  zuruckgedrSngt : 

Ansdrucklich  erklMrte  ich  alles  Einzelgeschehen  an  Organismen 
fiir  physikalisch-chemisch,  gleichgultig  ob  das  im  engeren  Sinne  physio- 
logische  Getriebe  der  Funktionen  und  Leistungen,  ob  Entwicklungs- 
und  andere  FormbildungsvorgMnge,  ja  auch,  ob  die  VorgSnge  einer 
hypothetischen  Artumwandlung,  einer  Phylogenie  in  Betracht  kommen 
mochten. 

Es  sei,  so  sagte  ich,  allemal  eine  Struktur,  eine  Tektonik  zu 
ersinnen,  sei  sie  auch  hochstkomplizierter,  alle  denkbaren  stofflichen 
Verschiedenheiten  und  deren  Konsequenzen  einschliessender  Art,  auf 
deren  gegebener  Basis  alles  Einzelgeschehen  verlaufe  nach  keinen 
anderen  als  den  aus  dem  Anorganischen  bekannten  Elementargesetzen. 

Mit  Recht  konnte  ich  jene  stets  ersinnbare  gegebene  Struktur  als 
Maschine  und  meine  Ansicht  als  Maschinentheorie  des  Lebens  be- 
zeichnen:  das  pbysiologische  Getriebe  wurde  sich  nach  dieser  Auffassung 
auf  Basis  der  eigentlichen  Organismus-Maschine,  das  Entwicklungs- 
geschehen  auf  Basis  der  Ei-Maschine,  die  hypothetische  Stammes- 
geschichte  bis  zu  ersten  Lebewesen  hinab  auf  Basis  einer  nattirlich 
ganz  hypothetischen  aber  prinzipiell  nicht  undenkbaren  Evolutions- 
maschine  abspielen. 

Die  Maschine  sei  jedesmal  gegeben,  aber  fur  die  beiden  erst- 
genannten  Kategorien  des  Lebensgeschehens,  fur  das  Pbysiologische 
and  fiir  die  Formbildung  sei  doch  nur  von  einem  relativen  Gegeben- 
sein  die  Rede,  da  jede  der  bier  zu  Grunde  liegenden  .Maschinen''  bei 
ihrer  Entstehung  eine  weiterzuruckliegende  Maschine  als  Basis  gehabt 
habe.    Absolut  gegeben  sei  die  Evolutionsmaschine,  die  Urstruktur. 


1)  Auch  die  Mehrzahl  der  Philosophen  stellte  sich  zur  Selbstftndigkeit  der 
Biologie  in  Gegnerscbaft.  E.  v.  Hartmann  bildet  hier  bekanntlich  vor  allem 
eine  Ausnahme. 

«)  Uipzig  1893. 

*)  Biolog.  Centralbl.  Bd.  16.  1896  p.  353.  Vgl.  auch  meine  ^Analytische 
Theorie  d.  organ.  Entw.*   Leipzig  1894. 


10 


Ich  habe  spater  diesen  Auffassungskomplex  als  statische  Teleo- 
logie  im  Gegensatz  zu  einer  eventuellen  dynamtschen  Teleologie  be- 
zeichnet. 

Handelte  es  sich  bier  doch  nicht  nur  um  den  allgemeinen  Begriff 
des  Teleologiscben  als  eIner  formalen,  neben  der  kausalen  einber- 
laufenden  Beurteilungsart;  in  diesem  letzten  Sinne  hat,  ventgstens  nach 
meiner  nicht  allgemein  geteilten  Auffassungt  Kant  in  seiner  ^Kritik  der 
Urteilskraff  den  Begriff  des  Teleologiscben  gefasst,  und  in  diesem  all- 
gemeinen Sinne  redet  auch  der  modeme  Kritiker  des  Teleologiebegriffs, 
P.  N.  Cossmann,^)  von  ZweckmMssigkeit. 

Meine  Aussagen  varen  realer:  sie  bebaupteten  ausdrucklicb,  dass 
in  etvas  Gegebenem  das  Teleologische  gelegen  sei,  in  einer  Ordnung, 
einer  Tektonik.  Ftir  das  als  anorganisch  ausgegebene  Einzelgescbehen, 
fur  Gescbehen  tiberhaupt,  kam  das  Teleologische  gar  nicht  in  Frage. 

Es  ist  klar,  dass  das  ^SelbstMndige**  der  Biologie  bier  bloss  als 
mdgliche  Bescbreibung  in  Frage  kam,  nMmlicb  als  Bescbreibung  der  ge- 
gebenen  Strukturen,  ja  im  Grunde  nur  der  Urstruktur.  Bine  selbstSndige 
Biologie  als  Geschebenswissenscbaft  aber  konnte  es  fur  mich  auf  diesem 
Standpunkt  nicht,  oder  doch  hochstens  im  Sinne  vorliufiger,  nicht  aber 
endgultiger  Forschung  geben. 

Wenn  ich  mich  nun  dazu  wende  in  grossen  Zugen  zu  schildem,  wie 
ich  dazu  gezwungen  wurde,  meine  „statiscbe  Teleologie*,  die  „Mascbinen- 
theorie  des  Lebens**,  als  fiir  die  geistige  Bewiltigung  der  Lebens- 
phinomene  genugende  Grundlage  aufzugeben  und  die  Elemente  einer 
dynamischen  Teleologie,  eines  vVitalismus**  zu  schaffen  und  von 
einer  Autonomie  der  Lebensvorglnge  zu  reden,  so  geht  das  nicht 
wohl  an,  ohne  dass  auf  einige  Ergebnisse  der  neuesten  experimentell- 
morphologischen  Forschung  und  auf  die  Wandlung  der  neuesten  ent- 
wicklungsphysiologischen  Ansicbten  Bezug  genommen  wird.  Ich  habe 
beide  Abschnitte  der  jtingsten  Biologiegeschichte  vor  kurzem  zusammen- 
fassend  dargestellt,  den  ersten  derselben^  in  leicbt  zugSnglicber  Form; 
auf  diese  AufsMtze  muss  der  Leser,  welcher  mehr  zu  erfabren  vunscht, 
als  bier  geboten  werden  kann,  verwiesen  sein. 

Die  Ergebnisse  der  sogenannten  ^entwicklungsmechaniscben'' 
Forschung,  zu  denen  bekanntlicb  die  bahnbrechenden  Arbeiten  von 
W.  Roux  den  ersten  Grund  gelegt  batten,  schienen  anfdnglicb,  und 
zwar  gerade  so  veit  meine  eigene  Beteiligung  bier  in  Betracbt  kam, 
einer  maschinentheoretischen  Auffassung  das  Wort  zu  reden.  Man 
batte  nach  dem  Vorbilde  Roux'  und  Weismanns  eine  ausserordentlich 
komplizierte  Struktur  im  Keim  der  Organismen  annehmen  zu  miissen 
und  die  Entwicklung  durch  eine  Zerlegung  dieser  Struktur  ^erklMren* 
zu  konnen  geglaubt:  nun  zeigte  sich,  dass  die  ersten  Zellen  des  sich 


^)  Elemente  der  empiriscben  Teleologie.   Stuttgart  1899. 

^  Politisch-Antbropol.  Revue  1903.  Hier  sind  die  wichtigsten  der  Ver- 
Sttctae,  auf  welche  sich  der  unten  mitzuteilende  ^erate  Beweia*  der  Lebena- 
antonomie  stutzt,  gemeinverstftndlicb  dargestellt.  —  Die  Wandlung  der  ent- 
wlcklungsptayaiologiachen  Tbeorien  ist  geachildert  im  Biol.  Centr.  22,  1902,  p.  151. 


furchenden  Keimes,  wenn  sie  isoliert  werden,  je  fur  sich  einen  ganzen, 
nar  proportional  verkleinerten  Organismus  zu  liefem  imstande,  dass  sie 
gleichwertig  seien.  Zerlegung  einer  sehr  komplizierten  Struktur  erschien 
da  ansgeschlossen,  ja  eine  komplizierte  Struktur  uberhaupt  erschien  nicht 
vonndten;  Wirknngen  der  einzelnen  Keimesteile  auf  einander  konnten 
wohl  das  grosse  Heer  der  hervorgebildeten  Verschiedenheiten,  der 
.Differenzierungen*',  am  gleichfdrmigen  Keim  leisten,  und  in  der  Tat 
sind,  znmal  von  Herbst,  eine  grosse  Zahl  solcher  differenzierenden 
Wirkungen  der  Keimesteile  auf  einander  wahrscheinlich  oder  gar  sicher 
gemacht  worden. 

Je  tiefer  man  aber  drang,  um  so  unverstSndlicher  erschien  das 
scheinbar  Einfache;  hatte  ich  anflnglich  den  Schluss  Ziehen  zu  kdnnen 
geglanbt:  nicht  einmal  eine  komplizierte  Struktur  ist  als  Grundlage  der 
Entwicklungsphinomene  anzunehmen  notig,  es  genugt  sogar  eine  relativ 
einfache  Tektonik,  so  musste  ich  bald  sagen:  hier  wird  tiberhaupt  der 
Begriff  ^Struktur''  hinfiliig,  da  die  zugrunde  liegenden  Phdnomene  in 
gewisser  Hinsicht  so  ,,kompliziert*  sind,  dass  sie  der  Begriff 
^Struktur*  nicht  einmal  in  seiner  denkbar  ^kompliziertesten*'  Form 
decken  kann. 

Eine  ganz  bestimmte  Reihe  von  PhSnomenen  mit 
trotz  dusserlicher  Verschiedenheit  immer  wiederkehrenden  allgemein- 
reallogischen  Charakterzugen  war  es  zunEchst,  die  mir  einen  Abbruch 
und  einen  Wandel  meiner  Grundvorstellungen  vom  Leben  geradezu 
aufzwang. 

An  jungen  Larven  von  Seeigeln  und  Seesternen,  an  gewissen 
niederen  Pflanzentieren  (Hydroidpolypen),  an  einer  Ascidienform  hatte 
ich  experimentelle  Ergebnisse  erzielt,  die  immer  ein  und  dasselbe  AIl- 
gemeinste  wieder  ergaben: 

Man  konnte  den  jeweils  in  Frage  kommenden  einfachen  oder  zu- 
sammengesetzten  Organen  oder  Organismen  einen  beliebigen  Sub- 
stanzteil  durch  einen  Operationsschnitt  nehmen,  sie  also  auf  eine  durchaus 
beliebige  absolute  Gesamtgrosse  bringen:  sie  vollzogen  ihre  form- 
bildenden  Leistungen  stets  als  Totalitit,  nicht  als  Bruchstuck,  d.  h. 
sie  lieferten  stets  ein  Ganzes,  das  zwar  verkleinert  war,  dessen  einzelne 
Teile  aber  in  demselben  Verhdltnis  an  Grosse  und  Lage  zu  einander 
standen,  in  welchem  sie  bei  durchaus  ungestorter  «normaler''  Entwicklung 
gestanden  haben  wiirden.  So  konnte  ich  z.  B.  den  abgefurchten  Keim, 
die  sogenannte  Blastula,  der  Seeigel  und  Seesteme,  welche  eine  von 
etwa  1000  Zellen  umkleidete  Hohlkugel  darstellt,  beliebig  durchschneiden 
and  erbielt  stets  einen  kleinen  ganzen  Organismus  als  Entwicklungs* 
resultat  (1895);  entsprechendes  gelang  mit  spMteren  Stadien  (mit  der 
.Gastrula*)  dieser  Tiere.  Ein  Stiick  des  Stammes  der  Polypenform 
Tubularia  wandelt  sich  stets  in  einen  ganzen,  proportional  gestalteten 
Organismus  um,  gleichgultig  woher  es  stamme  und  wie  gross  es  sei  (1897). 
Ganz  beliebig  herausgeschnittene  St&cke  desWurmes  Planaria  (Experimente 
von  Morgan  1898)  oder  der  Kieme  der  Ascidie  Clavellina  (Versuche  von 
Driesch  1902)  liefem  ein  verkleinertes  ganzes  Tier  usw. 


12  8^ 


Was  bedeutete  das? 

Wenn  man  ein  beliebiges  Substanzelement,  also  etwa  eine  Zelle, 
Oder  allgemeiner  einen  Querschnitt  der  zu  den  Experimenten  verwendeten 
Objekte  ins  Auge  fasst,  so  hatte  der  Versuch  jedenfalls  dieses  ergeben: 
der  fixierte  Querschnitt,  das  fixierte  Element  leistete  jeweils  in 
der  Gesamtheit  der  Formleistungen  etwas  anderes,  je 
nachdem  der  ganz  beliebige  Operationsschnitt  es  niher  oder  entfernter 
dem  einen  Ende  des  Ganzen  gebracht,  und  auch  je  nachdem  dieser 
Schnitt  dieses  Ganze  auf  die  Grdsse  A  oder  etwa  auf  die  GrSsse  B 
Oder  C  gebracht  hatte. 

Jeder  Querschnitt,  jedes  Element  konnte  also  jedes  Einzelne 
an  dem  zu  erzielenden  Ganzen  leisten;  was  im  jeweiligen  Falle  geleistet 
ward,  hing  von  der  durchaus  zufSIIigen  relativen  Lage  des  Teiles 
in  dem  seiner  Gr5sse  nach  durchaus  zufilligen  Ganzen  ab, 
wobei  aber  alles  einzelne  Geleistete  derart  zu  einander  in  Harmonie 
stand,  dass  eine  proportionate  Ganzleistung  als  Endresultat  herauskam. 

Wegen  dieser  ihrer  entwicklungsphysiologischen  Grundkennzeichen 
habe  ich  Organismen  oder  Organismenteile  der  betrachteten  Art  als 
^harmonisch-Equipotentielle  Systeme**  bezeichnet. 

Und  nun  stelle  man  sich  einmal  eine  „Maschine*,  eine  ^Struktur* 
als  Grundlage  der  Entwicklungsphinomene  an  dem  so  benannten  Systeme 
vor:  sie  ware  vielleicht  prinzipiell  ersinnbar,  wenn  es  nur  normale  un- 
gestdrte  Ganzentwicklung  gSbe  und  wenn  jede  Entnahme  von  Material 
die  Entwicklung  nur  eines  Bruchstticks  vom  Ganzen  zur  Folge  hatte. 
Was  aber  kann  von  einer  ^Struktur*  als  Grundlage  des  geordneten 
Geschehens  vorhanden  sein,  wenn  jeder  Ort  Ausgang  jeder  Einzel- 
bildung  werden  kann?  Da  miisste  auch  an  jedem  Ort  jeder  Elementar- 
bestandteil  der  Maschine,  welche  die  Grundlage  des  Geschehens  bilden 
soil,  vorhanden  sein.  Das  ist  aber  offenbar  unsinnig,  das  hebt  den  Be- 
griff  der  vMaschine"*  auf.  Also  kann  nicht  eine  Struktur 
irgendwie  ersinnbarer  Art  die  Basis  der  Dif ferenzierung 
harmonisch-Hquipotentieller  Systeme  sein. 

In  kurzen  Umrissen  ist  das  die  Schlusskette,  welche  ich  als 
ersten  Beweis  der  Autonomie  von  Lebens vorgangen 
bezeichnet  habe.^) 

Mit  der  Maschinentheo rie  ist  gebrochen,  sie  geniigt 
nicht  zur  geistigen  BewMltigung  zunHchst  wenigstens  einer  gewissen 
Gruppe  von  Lebensphinomenen.  Wir  brauchen  etwas  neues  Elementares; 
es  wird  sich  zeigen,  was.  Das  neue  Schaffende  zeigt  sich  im  Ge- 
schehen  selbst.  Aus  der  statischen  ist  dynamische  Teleologie 
geworden.  — 

Dauernde  BeschSftigung  mit  den  Problemen  der  Formbildung  liess 
mich  bald  einen  zweiten  Beweis  der  Autonomie  von  Lebens- 


^)  Zuerst  mitgeteilt  in  meiner  Schrift:  Die  Lokalisation  morphogenetisctaer 
VorgSnge,  ein  Beweis  vitalistischen  Geschehens.  Arch.  Entw.  Mecb.  8.  1899.  Auch 
separat.  Weiter  ausgefuhrt  in  meinen  ,Organischen  Regulationen*  Leipzig  1901. 
Daselbst  flndet  sich  auch  der  ^zweite  Beweis**  und  weiteres. 


13 


vorgingen  finden:  wenn  der  Ausgangspunkt  von  Entwicklung,  also  etwa 
das  Ei,  eine  komplizierte  Maschine  als  Geschehensgrundlage  bergen 
wurde,  vie  wMre  es  dann  mdglich,  dass,  vie  es  doch  bei  den  meisten 
Tieren  der  Fall  ist,  sehr  viele  Bier  aus  einem  Urei,  um  dieses  wohl 
verstindliche  Wort  anzuwenden,  hervorgehen  durch  wiederholte  Teilung? 
Eine  Maschine,  die  nach  den  drei  Richtungen  des  Raumes  verschieden 
organisiert  sein  mtisste,  kann  sich  doch  nicht  fortgesetzt  teilen  und  immer 
ganz  bleiben.  Doch  mag  diese  kurze  Andeutung  des  zweiten  Autonomie- 
beveisesy  dem  das  Studium  der  ^Genese  von  iquipotentiellen  Systemen 
mit  komplexen  Potenzen**  zugrunde  liegt,  hier  genugen.  ^Komplex- 
Squipotentielle  Systeme*'  zeigten  sich  auch,  wenn  ich  (1802)  aus  den  vier 
ersten  Furchungszellen  des  Seeigeleies,  die  ich  isoliert  hatte,  jeweils 
ganze  Organismen  aufzog:  hier  kann  jedes  Element  der  hoheren  Einheit 
dieselbe  Leistung  vollziehen,  die  vier  Elemente  stammen  aber  von  einem 
her.  —  Gewissermassen  ein  Gegenstuck  zu  diesem  und  ihnlichem  war 
es,  wenn  zwei  junge  Keime  zur  Verschmelzung  gebracht  werden  konnten 
und  dann  ein  en  normalen  grossen  Organismus  lieferten  (1900). 

Auf  eines  darf  ich  nun  wohl  an  dieser  Stelle,  die  fortlaufende 
Darstellung  kurz  unterbrechend,  den  Leser  ganz  besonders  hinweisen: 
mein  Vorgehen  ist  ein  streng  erfahrungsgemisses,  empirisches,  ich 
s.chaffe  keine  „Theorie*  fur  alles.  Fiir  gewisse  Klassen 
von  Lebensphanomenen  behaupte  ich  und  werde  ich  noch  behaupten 
eine  Selbstgesetzlichkeit,  ein  Ungentigen  maschineller  Auffassung  be- 
wiesen  zu  haben.  Hypothetisch  sind  meine  Darlegungen  nicht,  und 
noch  weniger  sind  sie  «fiktiv*.  Durch  gedankliche  Analyse 
empirisch  gewonnener  Tatsachen  sind  sie  erarbeitet.  — 

Der  dritte  und  der  vierte  Beweis  der  Autonomic  von 
Lebensgeschehnissen  beziehen  sich  auf  die  Handlungen  des  Menschen 
und  auf  diejenigen  kombinierten  Bewegungsreaktionen  der  Tiere,  welche 
ihnen  im  Grade  Hhneln.  PopulSr  gesprochen  handelt  es  sich  also 
wenigstens  teilweise  um  Ausserungen  des  «Seelenlebens'',  es  ward  aber 
ausdrucklich  betont,  dass  fur  den  Naturforscher  nur  Bewegungen 
hier  Objekt  der  Untersuchung  sein  kdnnen,  und  dass  eben  die  Frage 
diese  ist,  ob  sich  die  Gesetzlichkeit  alter  tierischen  Bewegungen 
maschinell  begreifen  lasse  oder  nicht. 

Der  Leser  sieht  hier,  ein  wie  ausserordentlich  weiter 
U mf ang  nach  unserer  Auffassung  der  Biologic  zukommt:  der  handelnde, 
ja  der  sprechende  und  schreibende  Mensch  ist  uns  ebenso  ihr  natur- 
wissenschaftliches  Objekt  wie  das  sich  entwickelnde  Ei  oder  das 
resorbierende  Darmepithel.  Was  Leben  ist,  ist  der  Biologie 
Gegenstand;  gerade  auf  „zoologischer''  Seite  ist  leider  die  Fiihlung  mit 
dem  Ganzen  des  Lebendigen  oft,  engbegrenzter  Systematik  und  Anatomic 
zu  liebe,  verloren  worden. 

Inhaltlich  besagt  mein  dritter  Autonomiebeweis,  dass  viele  Be- 
wegungsreaktionen hoherer  Organismen  deshalb  maschinell  unverstind- 
lich  seien,  well  sich  in  ihnen  eine  jeweilige  ganz  bestimmte  Zuordnung 
von  Reiz  und  Effekt  zeigt,  wihrend  gleichzeitig  sowohl  Reiz  wie  Effekt, 


14  g.^ 


obwohl  aus  Einzelheiten  zusammengesetzt,  je  ein  Ganzes,  ein  Individuali- 
siertes  bilden  und  die  einzelnen  Bestandteile  des  Reizes  nicht  jeveils 
fur  sich  als  Ursache  der  Einzelheiten  des  Effektes  gelten  konnen.  Es 
kommt  hier  z.  B.  alles  das  in  Betracht,  was  die  Logiker  Abstraktion  und 
Begriifsbildung  nennen;  die  Analyse  der  Sprache  ist  besonders  lehrreich. 
Es  besteht  also  zwischen  Reiz  und  Effekt  oftmals  eine  mascbinell 
prinzipiell  unfassbare  ^Indi vidualitit  der  Zuordnung"*. 

Dass  viele  Bewegungsreaktionen  hdherer  Tiere  auf  .historiscta 
gewordener  Reaktionsbasis*  geschehen,  gibt  den  vierten  Be- 
weis  der  Lebensautonomie  ab.  Populdr  und  erkenntniskritisch  ungenau 
spricht  man  hier  von  »Gedichtnis*  und  ^Erfahrung*.  Das  reagierende 
System  wird  das,  was  es  ist,  in  seiner  Spezifitdt  durch  die  Spezifitit 
aller  Reize,  die  es  bis  zum  Zeitpunkte  der  Reaktion  getroffen  haben; 
aber  nicht  etwa  in  dem  Sinne,  dass  es  diese  Reize,  wie  etwa  der 
Phonograph,  individuell  reproduzieren  kann,  sondem  derart,  dass  es 
einer  freien  kombinatorischen  Verwendung  der  Elemente  jener  Reize 
ffthig  ist. 

Da,  wie  mir  scheint,  die  ndhere  Ausfuhrung  der  beiden  letzten 
Autonomiebeweise,  in  meiner  Schrift  „Die  ,Seele^  als  elementarer  Natur- 
faktor**^)  in  einer  Form  geboten  ist,  welche  die  Aufnahmeflhigkeit  eines 
gebildeten  Allgemeinpublikums  nicht  iibersteigt,  glaube  ich  von  einer 
weiteren  Verfolgung  des  Gegenstandes  hier  absehen  zu  kdnnen. 

Es  ist  klar,  dass  durch  den  dritten  und  vierten  meiner  Beweise  der 
sogenannte  „psycho-physische  Parallelismus",  welcher  in  seinem  phy- 
sischen  Teil  die  maschinelle,  chemo-physikalische  Verstdndlichkeit  der 
Handlung  vertritt,  hinfftllig  wird.  Ich  beriihre  mich  hier  mit  manchen 
neueren  Philosophen  und  Psychologen;  E.  v.  Hartmann,  Busse, 
Sigwart,  Stumpf  seien  besonders  genannt. 

An  Stelle  des  Parallelismus  tritt  die  Lehre  vom  wPsychoid**  als 
elementarem  Naturfaktor.  „Seele*  oder  ^Psyche''  darf  nicht  gesagt 
werden,^  da  nur  von  Naturobjekten  gehandelt  wird;  auch  geht  die 
Frage  nach  ^Bewusstsein"*  meine  ganze  Beweisfuhrung  nichts  an;  dieselbe 
ruht  durchaus  auf  der  Basis  des  kritischen  subjektiven  Idealismus.  — 

An  vier  Stellen  der  Gesamtheit  des  Lebensgeschehens  glaube  ich 
also  die  Notwendigkeit  der  Zulassung  einer  Autonomic  desselben  be- 
wiesen  zu. haben;  manche  andere  Geschehensreihen,  die  als  ^Indizien^ 
eben  dieser  Selbstgesetzlichkeit  mdchten  gelten  kSnnen,  sollen  hier  un- 
erwShnt  bleiben. 

Was  lisst  ^ich  nun  Positives  uber  unsere  Autonomic,  welche  die 
Biologic  zu  einer  wirklich  selbstMndigen  Geschehens- 
wissenschaft  macht,  aussagen? 

Zunicht  lisst  sich  ein  wichtiger  Begriff  aus  der  Analyse  alles  Mit- 
geteilten  gewinnen:  der  „Faktor'',  das  .Agens'',  welches,  sowohl  bei 


>)  Leipzig  1903. 

Darum  steht  im  Titel  meiner  Schrift  das  Wort  ^Seele**  in  Anfuhrungs* 

zeicheni 


H>.8    15  8-4- 


entwicklungsphysiologischen  Differenzierungen  wie  bei  Bewegungsreak- 
tionen,  das  Spezifische  der  Effekte  bestimmt,  bei  ersteren  namentlich  fur 
die  Ortlichkeit  des  einzelnen  Geschehens  massgebend  ist,  ist  alsNatur- 
faktor  einsy  ein  Einheitliches;  kennzeichnen,  beschreiben  ISsst  es  sich 
aber  nar  durch  einen  ganzen  Satz,  durch  eine  Begriffsreihe.  Ich  babe 
daher  unsere  Agens  als  intensive  Mannigfaltigkeit  bezeichnet;  das 
Verschiedene  finden  wir  bier  nicht  nebeneinander,  sondem  gleichsam 
.in*  einander;  vorstellbar  ist  bier  nichts.  Ich  glaube,  nicht  mit 
Unrecht  den  alten  aristotelischen  Begriff  der  .Entelechie**  bier  wieder, 
kritisch  geklirt,  eingefuhrt  und geradezu  terminologisch  verwendet 
zu  haben. 

Des  weiteren  ermittelt  nun  die  Analyse,  dass  die  ^Entelechie*  eine 
Naturkonstante  ist,  die  sich  nur  dem  Grade  der  Komplikation  nach 
von  physikalischen  y  chemischen  und  kristallographischen  Konstanten 
unterscheidet. 

Das  Kausalgetriebe  wird  nirgends  durchbrochen;  die  EnergiesMtze 
bleiben  gewahrte;  das  .Teleologische*  liegt  in  Strenge  in  den  Be- 
dingungen  des  Systems.  Die  Conditio  finalis  tritt  an  Stelle  der  un- 
znlissigen  .Causa  finalis"*. 

Doch  ist  das  eigentliche  Begriffsanalytische,  das  von  mir  bisher  im 
Anschluss  an  den  Entelechiebegriff  entwickelt  worden  ist,  bisher  noch 
grdsstenteils  vorlSufig  gewesen.  Ein  umfassenderer  Versuch  in  dieser 
Richtung,  also  namentlich  eine  Auseinandersetzung  der  autonomen 
Biologie  mit  den  von  der  kritischen  Wissenschaft  des  Anorganischen 
gewonnenen  Begriffen  ist  in  Vorbereitung;  vielleicht  ist  es  mir  spiter 
eiomal  vergonnt,  an  dieser  Stelle  tiber  das  Ergebnis  dieses  Versuchs 
kurz  zu  berichten.  — 

Welche  grossen  Problemgruppen  sind  es  nun,  welche  der  Biologie, 
die  sich  in  ihrer  SelbstMndigkeit  der  Physik  und  der  Chemie  als  gleich- 
berechtigte  Schwester  an  die  Seite  stellt,  zur  begrifflichen  BewUltigung 
vorliegen?  Auf  diese  Frage  sei  am  Beschluss  unserer  Betrachtungen 
noch  venigstens  fluchtig  ein  Blick  geworfen. 

Dass  alle  Beschrei bung  von  Lebensgeschehnissen,  wie  sie  unter 
den  Namen  .Systematik"*,  .Anatomie**,  .vergleichende  Anatomie**, 
.Histologie'',  .Embryologie**  usv.  bisher  in  ausserordentlich  reichem 
Masse  geubt  wurde,  nie  uberfltissig  werden  kann,  ist  selbstverstdndlich: 
man  muss  das  unmittelbar  gegebene  Objekt  der  wissenschaftlichen 
Forschung  zunSchst  einmal  kennen.  NaturgemSss  ist  diese  ganze  Tdtigkeit 
nicht  mehr  als  eine  Art  Vorwissenschaft  und  von  wirklicher  .Systematik^ 
tieferen  Sinnes  ist  bier,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  noch  nicht  viel 
die  Rede.  Was  neben  dem  blossen  gegenstlndlichen  Bekanntmachen 
hier  produziert  wird,  ist  eine  Art  Obersichtskatalog  alles  Vorhandenen, 
der  provisorisch  den  Namen  .System"  trigt. 

Nicht  unwichtig  erscheint  die  Bemerkung,  dass  auch  der  grdsste 
Teil  der  heutigen  Physiologie  nur  Leistungen  produziert,  die  in  die 
Klasse  der  gegenstindlichen  Beschreibungen  gehdren.  Zwar  werden 
hier  Vorginge  beschrieben,  aber  es  wird  bei  den  ohne  weiteres  in  den 


^  16 


Objekten  gegebenen  Kollektivbegriffen,  wie  .Herz**,  , Lunge'',  »Kelm' 
blatt'',  sZellkern''  verharrt;  nicht  werden  durch  Trennung  des  ur- 
sprunglich  gegebenen  und  nachtrlgliche  logische  Zusammenfugung  des 
durch  Trennung  gewonnenen  eigentlicb  wissenschaftliche  Begriffe  ge- 
schaffen. 

Der  beschreibenden  Vorwissenschaft  triti  nun  die  eigentliche  W  i  s  s  e  n  - 
schaft  der  Biologte  gegenuber: 

Ihre  erste  Aufgabe  bezieht  sich  auf  den  BegrifiF  des  lebendigen 
Geschehens  uberhaupt,  auf  vitale  Verinderungen  und  deren 
Gesetz. 

Als  erster  Teil  dieser  Aufgabe  erscheint  ein  Forschungszweig, 
den  man  vEHminationsforschung*  nennen  konnte:  es  wird  alles  das  von 
VorgMngen  an  Organismen  ^eliminiert'',  was  nicht  eigentlich  vitales  Ge- 
schehen,  sondern  physiko-chemisches  Geschehen  ist.  Haben  doch  die 
Organismen  auch,  und  zwar  in  gevissen  Teilen  besonders  hervorstechend, 
chemische  und  physikalische  Eigenschaften.  Berthold,  Butschli, 
Dreyer  und  R  hum  bier  verdanken  wir  eine  Reihe  zum  Teil  sehr 
scharfsinniger  Untersuchungen  der  geschilderten  Art. 

Der  zweite  Teil  meiner  ersten  Aufgabe  miisste  eigentlich  die 
LSsung  des  ersten  voraussetzen,  doch  liegt  es  in  der  Natur  der  Objekte 
begr&ndet,  dass  seine  Bearbeitung  praktisch  neben  derjenigen  jenes 
einherging:  es  wird  das  vitale  Geschehen  selbst  studiert,  auf  jedem 
der  biologischen  Sondergebiete,  als  welche  sich  die  Lehren  von  der 
Formbildung,  dem  Stoffwechsel,  der  Bewegung,  der  Formumwandlung 
ohne  weiteres  ergeben.  Das  Experiment  wird  hier  zum  wichtigen  Hilfs- 
mittel.  Aber  das  Experiment  all  ein  liefert  auch  nur  Vorbereitendes, 
und  das  eigentliche  Ideal  dieser  Forschung  ist  ein  durch  denkende 
Analyse  gewonnenes  Begrififssystem,  wie  es  in  verwandtem  Sinne  voUendet 
etwa  in  der  mechanischen  WSrmetheorie  vorliegt  und  wie  es  in  seinen 
ersten  Anflngen  im  Vorstehenden  zu  skizzieren  versucht  ward.  Es 
liegt  in  der  Natur  des  Gegenstandes,  dass  Mathematik  im  Gebiete  der 
theoretischen  Biologie  nie  eine  sehr  weitgehende  Anwendung  finden 
kann;  Logik  kann  eine  solche  Anwendung  finden.  Kants  Definition, 
dass  in  jeder  besonderen  Naturlehre  nur  soviel  eigentliche  Wissenschaft 
angetroifen  werden  kdnne,  als  darin  Mathematik  angetrofifen  ist,  scheint 
mir  gar  zu  eng  begrenzt  zu  sein. 

Die  zweite  grosse  Aufgabe  wissenschaftlicher  Biologie  handelt  nicht 
vom  Geschehen,  sondern  handelt  von  den  typischen  Verschieden- 
heiten  im  Rahmen  des  Geschehens.  Hier  ist  eine  ideale  Systematik 
das  Endziel;  aber  die  Systematik  musste  etwas  ganz  anderes  sein,  als 
das  ist,  was  sich  heute  so  nennt.  Ist  es  doch  dieser  idealen  Systematik 
letzte  Aufgabe,  einen  zureichenden  Grund  dafur  anzugeben,  warum  es 
gerade  so  viele  und  gerade  solche  spezifische  organische  Formen  gibt, 
wie  sie  nun  einmal  da  sind.  In  der  Kristallographie  ist  dieses  Ideal 
erreicht,  in  der  Chemie  ist  man  im  ^periodischen  System  der  Elemente* 
wohl  wenigstens  auf  dem  Wege  zur  Erreichung;  im  Biologischen  ver- 
danken wit    de  Vries  und  einigen  anderen  Forschem  erst  allererste 


Anfinge.  Das  Historische  wird  sich  wahrer  biologischer  Systematik 
vielle  cht  einst  als  nebensSchlicher  Anhang  angliedern.  Im  ganzen  hat 
der  moderne  Betrieb  historischer  Biologie  vom  Ideal  wahrhaft 
systematischer  Forschung  geradezu  abgelenkt,  und  man  kann  sagen, 
dass  Cuvier  und  seine  unmittelbaren  Nachfolger  diesem  Ideal  naber 
waren  als  unsere  .vergleichenden"  Morphologen.  — 

Wir  haben  in  diesem  Aufsatz  so  oft  davon  geredet,  dass  ein 
Wissensgebiet  nur  .Vorbereitung*  ftir  etwas  anderes  sei:  am  Beschlusse 
des  Ganzen  diirfen  wir  es  nun  wohl  auch  noch  aussprechen,  dass  uns 
Naturwissenschaft  uberhaupt  als  nicht  mehr  denn  als  Vorbereitung  gelten 
kann;  als  Vorbereitung  ftir  wahre  Naturphilosophie. 

Wir  verstehen  aber  unter  Naturphilosophie  nicht  eine  blosse 
Analyse  naturwissenschaftlich  gewonnener  Begriffe,  wie  sie  etwa  die 
theoretische  Physik  leistet,  sondem  wir  verstehen  unter  Naturphilosophie 
ein  System,  ein  vahres  System,  der  Naturbegriffe.  Man  weiss 
aber,  was  wir  ein  wahres  System  nennen. 

Die  aiteren  vielgeschmShten  Naturphilosophen  wo  11  ten  ein  solches 
System  schaffen  und  damit  die  hochste  Aufgabe,  die  es  iiber  Natur 
iiberhaupt  gibt,  leisten.  Die  Leistung  ist  missgluckt;  die  Aufgabe  bleibt, 
und  sie  gesehen  zu  haben  bleibt  ein  unvergSngliches  Verdienst  zumal 
Hegels. 

Es  wird  nicht  iibersehen  werden,  dass  vieles,  was  sich  gerade  in 
unseren  Tagen  ^Naturphilosophie*'  nennt,  darauf  nach  unserer  Auf- 
fassung  nicht  im  geringsten  irgend  welchen  Anspruch  hat. 

An  der  zukunftigen  Ausgestaltung  wahrer  Naturphilosophie  wird 
die  junge  selbstSndige  Biologie  regen  vorbereitenden  Anteil  nebmen: 
gerade  ihre  SelbstMndigkeit  berechtigt  sie  dazu. 


Aus  der  Pathologie. 

Neue  Antworten  auf  alte  Fragen. 

Von  Eugen  Albrecht  in  Muncben. 
I. 

„0b  wir  nicht  doch  wieder  einmal  am  Turm  von  Babel  bauen  mit 
unsem  hundert  Wissenschaften  und  Spezialfachem?  mit  unsern  tausend 
Hypothesen  und  Theorien  fiber  alles  mdgliche?  mit  unserm  ganz  un- 
ubersehbaren  Vorrat  von  gefundenen  Tatsachen,  denen  wir  rastlos 

Sfiddeatache  Monttsbefte.   1, 1.  2 


schaffend  allerorts  neue  anfiigen?  Wenn  die  ,£rkenntnis  der  Welt'  in 
der  gegenwMrtigen  Weise  fortschreitet,  wird  da  die  Summe  nicht  am 
Ende  genau  so  einen  ungeheuren  Haufen  von  unvereinbaren  Begriffen 
darstellen,  als  wir  vordem  einem  unentwirrbaren  Getriebe  der  Ereignisse 
gegentiberstanden?  Wenn  ich  heute  schon  einen  Meister  der  hohem 
Mathematik  und  einen  Lehrer  der  organischen  Chemie  einander  ihre 
Funde  mitteilen  lasse:  wird  einer  von  dem  andern  viel  mehr  verstehen 
als  ein  Sizilianer  von  einem  Russen?** 

So  klagte  mir  ein  Freund  vor,  als  wir  von  einem  unserer  Dispute 
ausruhten.  In  der  Tat,  man  muss  ihm  wohl  ein  wenig  recht  geben.  Als 
ich  neulich  unter  den  ftir  die  Naturforscherversammlung  in  Kassel  an- 
gemeldeten  VortrMgen  jene  der  mathematischen  Sektion  durchflog,  fand 
ich  eine  ganze  Reihe^  von  deren  Titeln  schon  bloss  die  Partikeln  und 
Artikel  mir  ganz  verstMndlich  waren.  Das  ist  denn  doch  ein  wenig  nieder- 
driickend,  zumal  wenn  man  an  die  vielen  andern  Gebiete  denkt,  in  denen 
einem  das  Gleiche  passieren  wurde;  und  es  kann  kaum  trosten,  wenn  ich 
im  Handumdrehen  aus  dem  Bestande  unseres  medizinischen  Vokabulars 
einen  Satz  zu  formen  vermag,  in  dessen  Worten  kein  Mathematiker,. 
nicht  einmal  ein  Philologe  den  Sinn  zu  ahnen  vermochte. 

Und  dabei  wollen  wir  doch  alle  neben  den  besonderen  Absichten,, 
die  jeder  Arbeitszweig  verfolgt:  neben  der  Richtung  auf  die  praktischen 
Ergebnisse,  auf  die  Beherrschung  der  Natur,  auf  die  Forderung  des 
Allgemeinwohles  —  etwas  Gemeinsames,  etwas  Einheitliches,  dem  wir 
alle  zuzustreben  meinen,  dem  wir  unsere  kleine  oder  grosse  Arbeit 
weihen:  Erkenntnis,  Verstindnis  des  ungeheuren  Unbekannten,  das  in 
uns,  um  uns  flutet  und  wirbelt,  entsteht  und  vergeht;  Erkenntnis  von 
Welt  und  lch»  von  Natur  und  Seele  oder  wie  wir  es  sonst  mit  Namen; 
nennen  mogen! 

Dieses  Gemeinsame,  dieses  Streben  nach  Zusammenhang  und 
Zusammendenken  ist  denn  auch  in  den  letzten  Jahren  mehr  und  mehr 
wieder  gegenuber  und  neben  der  unheimlich  fordernden  Einzelarbeit  in; 
den  Vordergrund  getreten.  Zum  Tell  vorlMufig  in  Philosophemen  und 
weltumspannenden  Theorien  oft  bedenklicher  Art,  mit  Erinnerungen 
an  die  klangvollen  Worte  und  dunklen  Wege  der  alten  Naturphilosophie 
und  Teleologie;  zum  nicht  geringen  Teil  aber  auch  als  wirklich  fordemde 
Aussprache,  Mitteilung  des  allgemein  WertvoUen,  das  der  Einzelne  fand 
mit  den  besondem  Methoden  und  Fragen  und  Denkgewohnheiten  seines 
Gebietes  und  nutzlich  erachtete  zur  Losung  weiterreichender  Fragen^ 
Der  Physiker  gab  dem  Chemiker  wie  dem  Erkenntnistheoretiker,  dem 
Biologen,  der  Psychologe  dem  Physiologen,  jedem  Naturforscher;  und 
so  ging  es  zwischen  vielen  Disziplinen  an  ein  gegenseitiges  Schenken 
und  Nehmen:  gemeinsame  Aufgaben,  gemeinsame  Methoden,  auch  ge^ 
meinsame  Grenzen  wurden  erkannt.  Und  neben  und  tiber  den  getrennten 
Arbeitszielen  der  Wissenschaften  leuchtet  wieder  das  alte  gemeinsame 
Endziel:  Wissen!  Verstehen! 

Dies  soli  kein  Dithyrambus  werden  und  nicht  einmal  eine  Vorrede 
dazu.    Unser  letztes  Wissensziel  ist  bescheiden,  ganz  entsetzlich  be^ 


19  8^- 


scheiden  geworden  gegeniiber  jenem,  von  dem  die  Jugend  der  Mensch- 
heit  traumte.  Wir  konnen  heute  in  einer,  der  wichtigsten  Richtung  so 
ziemlich  voraussagen,  was  unser  Endergebnis  sein  wird.  Wir,  irgend 
cine  feme  Zukunft  der  Menschheit  wird  eines  Tages  alles  ^wissen**, 
was  von  der  Aussenwelt  erkannt  werden  kann:  dann  werden  wir  — 
alles  in  die  Sprache  unserer  Sinne  Ubersetzbare  ubersetzt  haben. 
Was  uns  auf  irgend  eine  Weise,  direkt  oder  auf  Umwegen  sichtbar, 
hdrbar,  schmeckbar  u.  s.  w.  gemacht  werden  kann,  das  wird  eines  Tages 
auch  durch  systematisches  Suchen  oder  durch  zufMlliges  Finden,  sichtbar, 
horbar  u.  s.  w.  gemacht  sein:  Elektrizitat,  Rontgenstrahlen,  verborgene 
Elemente;  und  wir  werden  vielleicht  all  dies  ,|Ausser  uns*  sogar,  unter 
Abzug  freilich  aller  besondern  Qualitaten,  in  ein  AUgemeinschema  der 
^Bewegung**  passen  oder  in  ein  paar  mathematischen  Gleichungen  ein- 
heitlich  ausdriicken  konnen.  Damit  wird  unsere  Erkenntnis  der  Welt 
voUendet  —  aber  auch,  sofern  sie  Erkenntnis  der  „wirklichen*,  von 
unserer  Sinneswahrnehmung  unabhangigen  Welt  werden  wollte,  ad 
absurdum  gefiihrt  sein:  denn  von  alle  dem,  was  unsere  ^Oberflachen'' 
in  keiner  Weise  zu-  verSndern  vermag,  werden  wir  durch  kein  Suchen, 
kein  Denken  und  Dichten  jemals  Kunde  erhalten;  von  dem  tibrigen 
nur  die  Verdnderung  selbst  wahmehmen,  niemals  deren  Ursache 
jenseits  der  Wahmehmung.  Dass  jenes  „Wirk]iche  hinter  der  £r- 
scheinung''  seit  den  Indern  und  Griechen  allezeit  und  vor  allem  gesucht 
wurde,  wird  bis  dahin  hofiFentlich  —  vergessen  sein. 

Nicht  besser  steht  es  aber  auch  mit  der  Erkenntnis  des  Innern, 
unseres  eigenen  Ich.  Auch  hier  werden  wir  mehr  und  mehr  Er- 
scheinungen  und  ihre  Beziehungen  erforschen,  verborgene  Tiefen  aus- 
spiiren  lernen  und  dennoch,  so  sehr  wir  von  dem  Gegenteil  iiberzeugt 
sein  mogen,  an  der  Erscheinung  auch  in  unserm  Eigensten  haften 
bteiben,  unkundig  des  Ubrigen.  Es  denkt,  fiihlt,  lebt  in  uns:  diese  hose 
Weisheit  des  alten  Lichtenberg  wird  auch  alle  HofPnungen  jener  uber- 
dauem,  die  durch  Versenkung  in  die  Abgrunde  der  eignen  Seele  den 
Schltissel  zum  VerstMndnis  der  Welt  zu  gewinnen  suchen. 

Aber  innerhalb  dieser  doppelten,  dauemden,  unentrinnbaren  Be- 
grenzung  aller  Erkenntnis  gilt  es,  mit  resigniertem,  doch  darum  nicht 
weniger  frischem  Mute  sich  zu  verstandigen,  zu  vereinigen,  gegenseitig  zu 
fdrdem.  Und  in  einem  weiteren  Sinn  gilt  dies  nicht  bloss  fiir  die  Arbeiter 
in  den  verschiedenen  getrennten  Bereichen  der  Wissenschaftsgebiete, 
sondem  fiir  alle  jene,  denen  je  die  grossen  und  kleinen  Ratselfragen  des 
Daseins  auf  der  Seele  gebrannt  haben.  In  jeder  Wissenschaft  liegt  ein 
Kern  von  letzten  Fragen,  tiefinnerstem  Bedurfnis,  gemeinsamer  Hoffnung 
der  Menschheit;  was  jede  Einzel wissenschaft  zu  diesen  Forderungen  im 
kleinen  und  im  grossen  Bndet,  darauf  haben  alle  ein  begriindetes  Anrecht. 

In  diesem  letztem  Umstande  liegt,  wie  ich  meine,  ein  Hauptgrund 
fur  die  Berechtigung  allgemein  verstandlicher,  im  guten  Sinne  populMrer 
Darstellungen  von  Ergebnissen  der  Sonderwissenschaften ;  und  nicht  bloss 
ihrer  fcrtigen  Ergebnisse,  sondern  zu  Zeiten  auch  der  erreichten,  er- 
arbeiteten  Probleme  und  Methoden.    Das  Einzelne  wird  ja  zu  einem 

2* 


20 


nicht  geringen  Teil  ohne  besondere  Einarbeitung  in  die  Vorstellungen, 
die  Arbeits-  und  Sprechweise  des  betreffenden  Faches  dem  Draussen- 
stehenden  schver  oder  nicht  verstlndlich,  zum  grossen  Teile  auch  als 
Handwerkswissen  ihm  ohne  Interesse  sein :  aber  es  stiinde  schlimm  um 
jene  Wissenschaft,  die  nichts  daruber  Hinausgehendes  und  allgemein 
Wertvplles  zu  geben  hMtte. 

Solche  Art  der  Mitteilung  scheint  mir  aber  auch  in  einem  nicht 
geringen  Grade  fur  die  Einzelwissenschaften  selbst  vom  Vorteil  zu  sein. 
Es  gibt  wohl  keinen  grundlegenden  Satz  in  irgend  einem  Wissensgebiete, 
der  sich  nicht  nach  Einfuhrung  einiger  veniger  Voraussetzungen  mit 
einfachen  Worten  alien  verstindlich  ausdrucken  Hesse.  Je  mehr  dunkle 
Worte  und  mdandrisch  verwickelte  SStze  irgend  ein  System  und  irgend 
eine  Definition  bedarf,  desto  unwahrscheinlicher  ist,  dass  sie  wirklich 
klar  und  einwandsfrei  das  zu  bezeichnende  ausdrucken.  So  wird  die 
Mitteilung  von  Ergebnissen  in  moglichst  einfacher  Sprache  zu  einer 
Prufung  des  eigenen  Bestandes  von  wirklich  verarbeiteter  und  durch- 
schauter  Erfahrung;  und  damit  zu  einer  Gewissenserforschung,  die 
man  nicht  oft  genug  wiederholen  kann.  Ich  denke,  meine  Fachgenossen 
werden  mit  mir  die  Meinung  teilen,  dass  in  der  Pathologic  ebenso  wie 
in  anderen  Zweigen  der  Biologic  vieles,  Altes  und  Neues  in  Fragen 
und  Antworten  vorliegt,  was  reif  ist,  um  in  solchen  ^einfachen  Satzen* 
ausgesprochen  zu  werden;  und  dass  auch  sie  demgemiss  den  folgenden 
Versuch  mit  Sympathie  und  folglich  mit  der  ndtigen  Nachsicht  beurteilen 
werden.  Die  Absicht  ist,  aus  jenen  Gebieten  der  allgemeinen  und 
speziellen  Krankheitslehre,  die  ftir  das  Verstandnis  physiologischer  Vor- 
glnge  und  von  allgemein  biologischen  Gesichtspunkten  aus  besonderes 
Interesse  haben,  das  wichtigste  in  ubersichtlicher  Weise  und  ohne 
andere  als  die  notigsten  Voraussetzungen  darzustellen.  Jedes  Kapitel 
wird  neben  seiner  besonderen  Aufgabe  einer  zweiten  und  dritten 
gerecht  zu  werden  versuchen:  die  besprochenen  Erscheinungen  und 
Gesetzmissigkeiten  in  ihrem  Verhaltnis  zu  den  Vorgangen  im  gesunden 
Korper  und  ihrer  Bedeutung  fiir  denselben  zu  beleuchten;  ausserdem  aber 
auch  sie  im  Rahmen  unserer  allgemeinen  Vorstellungen  vom  Leben  zu 
betrachten  und  einzureihen  und  dasjenige  hervorzuheben,  was  sie  fiir 
unsere  Auffassung  vom  Leben  beizutragen  vermogen.  So  werden,  wie 
ich  hoffe,  auch  diese  Aufsltze  in  bescheidenem  Umfange  einen  Beweis 
dafiir  liefem,  dass  Virchow  die  Pathologic  mit  Recht  eine  biologische 
Wissenschaft  genannt  hat.  Sie  schafft  aus  dem  Leben  fur  das  Leben  — 
in  der  Theorie  so  gut  wie  in  der  praktischen  Betdtigung. 


IL 

Es  mag  als  ein  verwegenes  Unterfangen  erscheinen,  diese  Aufsfltze 
mit  einer  Auseinandersetzung  iiber  Geschwiilste  zu  eroffnen.  Ihre 
erschdpfende  Besprechung  wurde  die  Kenntnis  der  ganzen  tibrigen 
Pathologic  voraussetzen.    Aber  welches  |Gebiet  im  Biologischen  setzt 


21  8^ 


schliesslich  nicht  die  Kenntnis  aller  oder  fast  alter  ubrigen  voraus? 
Und  welches  hinwiedenim  erlaubte  nicht,  mit  den  ganz  konkreten  Vor- 
stellnngen  seines  besondern  Kreises  gleichfalls  zu  einer  gewissen  ab- 
gerundeten  Erkenntnis  zu  gelangen?  So  denke  ich»  dass  wir  im  folgenden 
eine  Anzahl  von  heranzuziehenden  normalen  und  krankhaften  Vorgingen 
nur  andeutungsveise  oder  in  anschaulichen  Beispielen  —  »wie  wenn 
wir  sie  verstunden*  —  erwihnen  durfen,  deren  emeute  und  eingehende 
Besprechung  spiterer  gesonderter  Betrachtung  in  anderem  Zusammen- 
hange  vorbehalten  sein  mag.  Und  wenn  die  Absicht  gelingt,  so  hoffe 
ich,  dass  der  Leser  am  Ende  der  geplanten  Serie  von  Aufsatzen  un- 
geachtet  der  vielen  Liicken  in  jedem  einzelnen  doch  geniigende  Kenntnis 
der  wesentlichen  Punkte  und  geniigendes  Interesse  fur  die  behandelten 
GegenstMnde  gewonnen  haben  wird,  um  das  Ganze  gewissermassen  mit 
anderen  Augen  noch  einmal  zu  uberblicken  und  zu  einem  lebendigen 
Bilde  abzurunden. 

Leider  kann  ich  nicht  ganz  ^voraussetzungslos"  beginnen.  Wir 
mussen  uns  uber  ein  paar  Definitionen  und  Vorstellungen  einigen, 
die  wir  dauemd  als  unentbehrliches  Handwerkszeug  zu  verwerten 
haben  werden.  Keine  allgemeinen  Begriffe,  beileibe  nicht:  die  sollen 
uns  erst  zum  Schlusse  vielleicht  erwachsen.  Als  ich  zum  erstenmal 
vor  Jahren  den  Plan  hegte,  uber  allgemeine  Pathologie  zu  schreiben, 
schien  es  mir  selbstverstindlich,  zuerst  die  ^Krankheit**  einwandsfrei 
zu  definieren.  Natiirlich  blieb  ich  im  ersten  Kapitel  und  unfern 
der  ersten  Seite  stecken.  Beginnen  wir  also  mit  etwas  Konkretem: 
mit  der  Zelle. 

Das  folgende  wird  zu  neun  Zehnteln  von  Zellen  und  ihren  Schick- 
salen  handeln.  Was  sind  Zellen?  In  ihrer  einfachsten  Form  winzige 
Klumpchen  einer  zSh-  flussigen  Masse,  die  aus  einer  seltsamen  Mischung 
von  eiweissartigen,  fettartigen,  kohlehydrat-  (d.  h.  zucker-  oder  stMrke-) 
artigen  Substanzen  und  verschiedenen  Salzen  in  dem  gemeinsamen 
Losungsmittel  Wasser  zusammengesetzt  ist.  Diese  Masse  heisst  Proto- 
plasma,  lebende  Substanz,  und  besitzt  alle  wesentlichen  Eigenschaften 
belebter  Materie:  sie  vermag  unter  entsprechenden  Bedingungen  sich  zu 
bewegen,  Nahrung  aufzunehmen  und  zu  verdauen,  sich  zu  vergrdssem 
und  durch  Teilung  neue  gleichartige  Klumpchen  hervorzubringen.  Im 
Innem  jeder  voU  ausgebildeten  Zelle  befindet  sich  ein  meist  rundlicher 
oder  ovaler  Tropfen  einer  von  dem  Obrigen  zum  Teil  verschiedenartig 
zusammengesetzten  Substanz,  der  sogenannte  Ze  11  kern.  Dieser  fillt 
besonders  wihrend  der  Teilung  der  Zelle  durch  eigenartige  Umwand- 
lungen  auf  und  wird  zumeist  mit  ziemlicher  Genauigkeit  bei  derselben 
halbiert  und  den  Tochterzellen  mitgegeben.  Ein  drittes  anscheinend 
regelmdssig  in  den  Zellen  vorhandenes  Gebilde,  das  ^^Zentralkorperchen'', 
sol!  vorldufig  nur  erwMhnt  werden.  Fiir  die  IMngerdauemde  Ausftihrung 
der  wichtigen  Lebensprozesse  der  Zelle  ist  das  Vorhandensein  sowohl 
des  Kerns  als  der  umgebenden  Protoplasmamasse,  des  Zellleibs  un- 
bedingtes  Erfordernis.  Eine  Entstehung  von  Zellen  erfolgt  nach  unsem 
gegenwiirtigen  Kenntnissen  jeweils  nur  wieder  aus  Zellen,  ebenso  wie 


22  ^ 


fur  den  Kern  nur  ein  Hervorgehen  aus  einem  bereits  bestehenden  Kern 
nachgewiesen  worden  ist. 

Alle  Lebenserscheinungen,  auch  jene  der  grossten,  hochst  zusammen- 
gesetzten  Lebewesen  gehen  in  letzter  Instanz  auf  Lebenserscheinungen 
von  Zellen  und  Gruppen  von  Zellen  zuriick.  Bei  den  hoheren  Organismen 
haben  dieselben  durch  Arbeitsteilung  eine  ausserordentlich  feine  und 
vielartige  Differenzierung  ihrer  Tfitigkeiten  und  ihres  Baues  erhalten,  sie 
sind  grosstenteils  in  Wande  eingeschlossen,  in  bestimmter  fester  Ordnung 
gelagert,  haben  vieifach  Fasem  und  Hirchen  ausgebildet,  sich  unter- 
einander  verkittet,  verfilzt,  durch  Einlagerung  fester  Substanzen  zwischen 
sich  Knorpel,  Knochen  geschaffen  usw.  Unser  Nervensystem  besteht 
ebenso  aus  Zellen  und  faserigen  Bildungen  derselben  wie  unsere  Muskeln 
und  Sehnen  und  Knochen;  unsere  Haut  mit  NMgeln,  Haaren  und  Drtisen 
ebenso  aus  lauter  Zellen  und  Zellgebilden  wie  Auge  und  Ohr,  Leber  und 
Niere.  Die  einzelnen  Arten  von  Zellen  treten  fast  iiberall  in  mehr  oder 
weniger  engen  VerbEnden,  den  ^Geweben""  auf;  in  den  eben  genannten 
und  fast  alien  anderen  ^Organen*"  sind  regelmassig  mehrere  Zell-  bezw. 
Gewebsarten  ineinander  verwebt,  deren  eine  z.  B.  das  Gerust  liefert, 
wahrend  andere  die  EmMhrung  besorgen,  wieder  andre  die  besondre 
Tatigkeit  des  Organs  ermoglichen.  andere  die  Erregungen  z.  B.  von  den 
Nervenzentren  leiten  usw.  Auf  einzelnes  wird  splter  von  Fall  zu  Fall 
einzugehen  sein. 

Von  den  ungeheuren  Zellmassen,  welche  einen  hoheren  Organismus 
zusammensetzen,  gewinnt  man  einen  ungefahren  BegrifF,  wenn  man  z.  B. 
erwagt,  dass  in  dem  Blute  eines  erwachsenen  Menschen  20  bis  25 
Billionen  von  roten  Blutkorperchen,  die  alle  umgewandelten  Zellen  ent- 
sprechen,  dauemd  zirkulieren,  und  dass  die  gesamte  Blutmenge  des 
Korpers  —  die  zu  weniger  als  Blutkorperchen  besteht  —  nur 

ungefahr  ^/^g  von  seinem  Gesamtgewichte  betragt.  Oder  man  versuche 
sich  vorzustellen,  dass  die  Leber,  eines  der  zellreichsten  Organe  des 
Korpers,  beim  Menschen  im  Durchschnitt  ca.  1500  g  wiegend,  schStzungs- 
weise  zu  zwei  Dritteln  aufgebaut  ist  aus  Zellen,  deren  jede  etwa 
0,000015  cbmm  Rauminhalt  hat. 

Jedes  dieser  lebenden  Zellgebaude,  jeder  „  Organism  us  geht  aus 
der  Vereinigung  zweier  Zellen,  der  mannlichen  und  weiblichen  Keim- 
zelle,  hervor  und  erwSchst  unter  fortdauemden  Teilungen  und  Umwand- 
lungen  dieser  Zellen  und  ihrer  Brut  in  seine  fertige  Form.  Auch  der 
menschliche  Organismus  entsteht  so,  wachst  in  wenigen  Jahren  zu  einer 
enormen  Masse  von  Zellen  und  Zellprodukten  heran  und  repriLsentiert 
nach  Umlauf  dieser  Zeit  einen  beweglichen  Zellstaat  von  etwa  l^/^ 
Quadratmeter  Oberflache,  einen  Rauminhalt  von  etwa  68000  ccm  und 
etwa  70  kg  Gewicht.  Die  Verfassung  dieses  Staates  ist  im  wesentlichen 
eine  ^oligarchische*"  —  die  Nervenzellen,  freilich  auch  wohl  uber  eine 
halbe  Billion  zMhlend,  stellen  gewissermassen  die  regierende  Zellenklasse 
dar.  Im  Kleinen  wie  im  Grossen  ist  er  ein  aufs  feinste  und  prMziseste 
gearbeitetes  chemisches  und  physikalisches  Wunderwerk,  in  dem,  von 
festen  Teilen  gesttitzt  und  umhullt,  Flussigkeitsstrdme  in  unzShligen 


23  8^ 


geschlossenen  Kanilen  rinnen,  hier  verdampfen,  dort  eingesaugt  werden. 
In  dem  Nervenstrome  dauerad  nach  alien  Richtungen  laufen,  Muskel- 
bundel  als  komplizierte  Hebe-Apparate  durch  Umwandlung  angespeicherter 
chemischer  Energie  die  Knochen  stutzen,  gegeneinander  und  voneinander 
bewegen,  oder  das  Pumpwerk  des  Herzens  treiben,  die  Nahrung  im  Ver- 
dauungskanal  vorwMrts  schaffen  usw.;  in  dem  ein  vielfach  difiFerenziertes 
Rohr,  der  Verdauungsschlauch,  nach  bestimmten  Regein  die  Nahrung 
vorbereitet,  verarbeitet,  aufsaugt,  unterstiitzt  von  mSchtigen  DrOsen- 
apparaten,  die  ihm  ihre  Ausscheidungen  mitteilen,  wShrend  gleichzeitig 
fortdauernd  Nieren,  Schweissdrusen  usw.  die  WegschafiFung  von  Abfall- 
stofFen  besorgen.  So  oft  wir  ein  Stuck  tiefer  gedrungen  zu  sein  glauben 
in  dieses  RStselwerk,  tut  sich  eine  neue  Endlosigkeit  von  Verwicklungen 
auf:  das  Blutvasser  z.  B.,  welches  vor  wenigen  Jahren  noch  sehr  ein- 
fach  zusammengesetzt  erschien,  ist  jetzt  als  ein  vorllufig  unfassbar  ver- 
wickeltes  Gemenge  der  verschiedensten  Nahrungs-,  Schutz-  und  Abfall- 
stoffe  erkannt;  und  ebenso  ergeht  es  uns  in  jedem  andern  Bereich  des 
Organismus.  Die  wesentlichsten  Entdeckungen  und  Anwendungen  der 
in  der  Natur  vorhandenen  Energie  sind  in  ihrer  Anwendung  bereits 
in  den  lebenden  Korpem  vorweg  genommen,  und  wir  werden  vermutlich 
gerade  aus  ihren  Einrichtungen  noch  die  Kenntnis  von  neuen  Nutzbar- 
machungen  mannigfacher  Art  entnehmen  konnen. 

Wenn  man  den  lebenden  Organismus  von  diesen  Gesichtspunkten 
aus  betrachtet,  so  wird  es  begreiflich,  dass  wir  trotz  unerhorter  Arbeit 
eines  Jahrhunderts  erst  an  den  Anfingen  des  Verstdndnisses  stehen: 
fast  ein  Wunder  muss  es  erscheinen,  dass  die  verwirrende  Mannig- 
faltigkeit  des  Getriebes  im  Innern  dennoch  schon  eine  ganze  Zahl  be- 
stimmter  Wege  und  Linien  auffinden  liess,  die  wenigstens  im  groben 
leiteten  zu  Plfinen  und  Versuchen  und  zur  Erkennung  fester  Gesetz- 
massigkeiten.  Ein  Gluck,  dass  die  Erforschung  des  Lebens  begonnen 
wurde,  ehe  jemand  von  dieser  Kompliziertheit  in  Zusammensetzung  des 
Korpers  und  Ineinandergreifen  der  Prozesse  eine  Ahnung  hatte,  zu 
einer  Zeit,  als  noch  die  Holfnung  bestand,  mit  ein  paar  kecken  Grififen 
den  Schleier  zu  liiften.  Wer  hStte  sonst  in  dies  Wirrsal  zu  tauchen 
gewagt?  Heute  reissen  die  Strdme  der  aufgewirbelten  Fragen  den 
Theoretiker  mit  dem  gleichen  Zwange  vorwSrts,  mit  welchem  der 
Kampf  ums  Dasein  den  praktischen  Forscher  zu  immer  neuen  Ver- 
suchen uber  das  Errungene  hinaus  notigt.  Welch  ein  Gluck  auch, 
mdchte  ein  Spotter  sagen,  dass  wir  den  Aufbau  unseres  eigenen 
Korpers  mit  dem  blinden  Eifer  der  Notwendigkeit  und  ohne  Beihilfe 
menschlichen  Witzes  auffuhrten!  In  der  Tat:  Das  Hochste  und 
Grandioseste,  was  der  Verstand  eines  Menschen  ersann  und  jemals 
schaffen  mag,  es  wird  wie  Kinderspiel  und  schwSchliches  Tappen 
und  Tasten  sich  immerdar  ausnehmen  gegentiber  jenem  unsMglich 
Wunderbaren,  das  er  ohne  Wissen  und  Willen  fugte  und  baute,  als  er 
sich  selber  formte  von  der  dunklen  Grenze  des  Seins  her  bis  in  die 
reife,  fertige  Gestalt. 

Was  ich  aus  diesen  paar  Worten,  aus  diesec  ganz  groben  Skizze 


worn  Aiifbau  unseres  Korpers  den  Leser  vor  allem  zu  folgern  bitte,  ist 
dies:  dass  bei  alien  unsern  Erwigungen  und  Untersuchungen  uber  Vor- 
ginge  im  Lebenden,  und  gar  an  den  hdheren  Organismen  eins  zuerst 
und  immer  am  Platze  ist:  Ehrfurcht  und  Bescheidenheit;  dass  mit  all- 
gemeinen  Erkllrungen  und  tdnenden  Worten  gegenuber  dieser  Unend-- 
lichkeit  der  Komplikationen  und  Schwierigkeiten  nichts  gefdrdert  wird^ 
sondern  geduldige  Arbeit  und  immer  neue  Zweifel  an  der  Richtigkeit 
des  Gefundenen  der  einzige  Weg  sind,  der  vorwirts  fuhren  kann,  soweit 
uberhaupt  ein  Weg  in  dies  Labyrinth  fuhrt.  Soviel  ist  gewiss:  wo  uns 
am  lebenden  Kdrper  heute  irgend  etwas  einfach  und  leicht  verstSndlich 
erscheint,  da  verstehen  wir  es  nicht;  und  jeder  wirkliche  Schritt,  den 
wir  in  der  Erkenntnis  eines  Lebensvorganges  vorwMrts  gemacht  haben, 
kennzeichnet  sich  vorlSufig  dadurch,  dass  er  statt  einer  alten  Frage  uns 
eine  Anzahl  neuer  stellt. 

Fahren  wir  nach  dieser  scheinbaren  Abschweifung  in  unserer 
Registrierung  notwendiger  BegrifPe  fort.  Aus  Zellen  und  aus  von 
Zellen  geschafiFenen  Gebilden  setzt  sich  jeder  Organ ismus,  jedes  noch 
so  eigenartige  Gebilde  desselben  zusammen.  Jede  LebenstMtigkeit  ist 
demnach  in  einem  gewissen  letzten  Sinne  ZelltStigkeit.  Dabei  konnen 
auch  in  den  Zwischenfiussigkeiten  und  Hartgebilden  des  Korpers  sich 
viele  Prozesse  mit  einer  gewissen  Selbstindigkeit  abspielen:  z.  B.  Flussig^ 
keitsaustausch,  Verbiegung  der  Knochen  durch  Sussere  Einwirkungen  usw. 
Die  wechselseitigen  Beziehungen  der  Zellen  untereinander  werden  teil- 
weise  durch  Vermittlung  des  Nervensystems  (Nervenfasem,  Neryenz4^11en)» 
zum  nicht  geringen  Teil  aber  auch  durch  direckte  Beeinflussung  der 
Zellen  untereinander  —  gegenseitige  DruckverhMltnisse,  Beziehung  zu 
den  emMhrenden  Gefissen  und  abftihrenden  Ausfuhrwegen  usw.  — 
reguliert.  Fur  den  gesunden  wie  fur  den  kranken  Kdrper  ist  daran 
festzuhalten,  dass  das  Charakteristische  der  VerMnderungen  in  irgend 
einer  Weise  immer  wieder  von  den  charakteristischen  Besonderheiten 
gewisser  Zellarten  und  Zellterritorien  und  einer  mehr  oder  weniger 
kombinierten  Folge  und  Zusammenfiigung  von  ^AntwortverSnderungen**^ 
Reaktionen  derselben  abhSngig  ist.  Und  wie  es  sich  in  krankhaften 
Prozessen  um  die  gleichen  Zellen  handelt  wie  im  normalen  Korper,  so 
sind  auch  alle  Abweichungen  der  Vorginge  in  Zeiten  der  Krankheit 
nur  verschiedene  Kombinationen  und  gradweise  Abweichungen  von  den- 
jenigen  Vorgangen,  welche  wir  im  physiologischen  Leben  der  Zellen 
und  Organe  verfolgen  konnen. 

In  Hinsicht  des  groben  Aufbaus  der  zusammengesetzten  Gebilde  des 
Korpers  darf  ich  wohl  eine  Kenntnis  der  wichtigeren  Organe  und  ihrer 
hauptsSchlichsten  Bedeutung  voraussetzen.  Alles  ubrige  wird  sich» 
soweit  notig,  an  Ort  und  Stelle  einschalten  lassen. 

III. 

Man  pflegt  sich  in  der  Regel  nur  ftir  dasjenige  wirklich  lebhaft  zu 
'  interessieren,  was  einen  im  Guten  oder  Schlimmen  persdnlich  angeht. 


Ich  mdchte  deswegen  dem  Leser  sogleich  mitteilen,  dass  das  Folgende  ein 
Stuck  weit  von  ihm  selbst  handelt,  dass  wahrscheinlich  auch  er  in  seinem 
Korper  eine  oder  mehrere  Geschwulste  trigt,  und  zwar  sogar  sichtbar 
an  seiner  Oberflache.  Jeder  von  uns  kennt  z.  B.  die  kleinen,  hell  bis 
schwSrzlich  braunen,  leicht  erhabenen  Fleckchen  in  der  Haut,  von  denen 
wenige  Menschen  ganz  frei  sind;  jeder  die  Warzen  verschiedener  Art 
und  Grdsse;  vielen  werden  aus  eigenster  Erfahrung  bekannt  sein  kleine 
rundliche  weiche  AnhSnge  der  Haut,  die  harmlos  an  einem  kurzen  Stiele 
pendeln;  andere  wissen  von  einzelnen  oder  zahlreichen  mehr  oder  weniger 
unverschieblichen  hockerigen  Knoten,  die  unter  ihrer  Haut  liegen.  Alles 
dies  sind  verschiedene  Formen  von  Geschwulsten;  einzelne  darunter 
sind  obendrein  nahe  Vettem  zu  den  bosartigsten  „Gewichsen'',  zu  den- 
jenigen,  an  weiche  der  Laie  zundchst  denkt,  wenn  ihm  vor  der  Moglich- 
keit  einer  Geschwulst  in  seinem  eigenen  Korper  bangt.  Und 
diese  Verwandtschaft  ist  durchaus  keine  rein  theoretische:  nach  vielen 
Erfahningen  kann  man  sagen,  dass  von  einzelnen  Klassen  jener  Ge- 
schwiilste  wohl  jede,  auch  die  scheinbar  gutartigste  und  kleinste,  wirklich 
die  FShigkeit  besitzt,  unter  gewissen,  nur  zum  Teil  bekannten  Be- 
dingungen  sich  in  eine  bosartige  Form  umzuwandeln.  Wenn  wir  nun 
weiter  uberlegen,  dass  die  Haut  das  einzige  Organ  ist,  das  uns  die 
Natur  schon  am  Lebenden  gewissermassen  „in  die  Flache  ausgebreitet* 
hat  und  das  wegen  seiner  Firbung  usw.  schon  bei  fluchtiger  Betrachtung 
das  Vorhandensein  oder  Nichtvorhandensein  von  Abnormitaten  erkennen 
12sst,  so  stellt  sich  wohl  von  selbst  die  Frage:  wie  mag  es  dann  erst 
im  Innem  unseres  Kdrpers  in  dieser  Hinsicht  aussehen?  Dies  ist  aber 
gerade  einer  von  jenen  Punkten,  die  uns  spSter  beschaftigen  mussen. 
Vorliufig  wollen  wir  ihn  auf  sich  beruhen  lassen  und,  nach 
diesem  Appell  an  den  Leser,  uns  der  Frage  zuwenden:  was  sind 
Geschwulste? 

Durch  Einlagerung  und  Heranwachsen  des  sogenannten  Blasen- 
wurms  in  der  Leber  entstehen  grosse  Blasen  und  Knoten,  weiche  unter 
Umstdnden  ihrem  Bau  nach  mit  gewissen  Geschwtilsten  verwechselt 
werden  konnten.  Wir  trennen  diese  und  Shnliche  Bildungen  ohne 
weiteres  von  den  Geschwiilsten  ab:  sie  sind  nicht  aus  Geweben  des 
eigenen  Kdrpers  hervorgegangen.  Ebensowenig  rechnen  wir  zu  den 
Geschwulsten  z.  B.  jene  Anschwellungen,  weiche  bei  Herzkranken  in- 
folge  Erlahmens  der  Herzkraft  in  den  abhangigen  Teilen  des  Kdrpers 
auftreten,  und  weiche  einem  vermehrten  Austritt  von  Flussigkeit  infolge 
zu  geringer  Kraft  der  flussigkeitsbewegenden  Pumpe,  des  Herzens,  ihre 
Entstehung  verdanken.  Zumeist  sind  sie  nicht  scharf  abgegrenzt;  sie 
konnen  wieder  verschwinden,  wenn  die  Herzkraft  gesteigert  wird.  Weder 
hier  noch  bei  den  mehr.  umschriebenen  Flussigkeitsansammlungen  in 
Hohlriumen  (Gelenken,  Herzbeutel,  Bauchhdhle,  Driisen  mit  verstopften 
Ausfuhrungsgdngen ;  Blutergtisse  unter  die  Haut  usw.)  findet  notwendig 
eine  Neubildung  von  Geweben  statt.  Eine  dritte  Kategorie:  die  »ent- 
zundlichen*'  Schwellungen.  Denken  wir  etwa  an  die  schmerzhafte  Hand- 
anschwellung,  weiche  ein  Bienenstich  hervorbringt;  Vergrosserung  und 


26  8^ 


Eiteransammlung  einer  Talgdruse,  einen  .Furunkel*';  an  die  Anschwellung 
der  Gaumenmandeln  bei  Mandelentzundung  oder  an  die  Verdickungen 
chronisch  entztindeter  Gelenke.  Das  Gemeinsame  der  Beispiele  liegt 
darin,  dass  infolge  eines  Reizes,  den  wir  als  Entztindungsreiz  bezeichnen, 
unter  stirkerer  Blutzufuhr  eine  Ausschwitzung  von  Flussigkeit  ins  Gewebe, 
ein  Austritt  der  wanderfahigen  farblosen  Blutkdrperchen  aus  den  feinsten 
Gefassen  und  weiterhin  verschiedene  Verinderungen,  z.  B.  Vergrosserung 
und  Vermehrung,  teilweise  auch  Absterben  der  festsitzenden  Gewebs- 
zellen  eintreten,  welche  Prozesse  insgesamt  eben  die  Anschwellung 
herbeifuhren.  Derartige,  bald  mehr,  bald  weniger  umschriebene 
Schwellungen,  welche  auch  den  Entztindungsreiz  hervorgerufen,  mit 
dessen  Wegfall  wieder  mehr  oder  weniger  vollstdndig  verschwinden,  ge- 
horen  gleichfalls  nicht  zu  den  Geschwiilsten. 

Endlich  kennen  wir  Vergrosserungen  einzelner  Organe  und  Korper- 
teile,  welche  auf  Vergrosserung,  daneben  z.  T.  auch  Vermehrung  der 
vorhandenen  Zellen,  mit  mehr  oder  weniger  gleichmassiger  Beteiligung 
des  ganzen  Organs  beruhen.  Dies  ist  z.  B.  der  Fall  bei  der  durch  er- 
hohte  Anstrengung  bedingten  Vergrosserung  des  Herzens  oder  anderer 
Muskeln;  bei  der  Fettablagerung  im  Unterhautbindegewebe  korpulenter 
Personen;  bei  dem  Wachstum  des  Uterus  um  die  eingeschlossene 
Frucht  usw. 

In  alien  bisher  angefiihrten  Fallen  war  die  Vergrosserung,  Schwellung 
der  Kdrperteile  entweder  keine  scharf  abgegrenzte,  oder  sie  beruhte 
nicht  auf  einer  Vermehrung  der  Kdrperzellen,  oder  sie  betraf  eine 
grossere  Anzahl  von  Geweben  derart,  dass  nur  eine  Vergrosserung  oder 
Vergroberung  im  Aufbau  des  normalen  Organes  zuwege  kam.  Ausser- 
dem  vermogen  wir  in  diesen  Fdllen  jedesmal  bestimmte  normale  oder 
krankhafte  Ursachen  anzugeben,  nach  deren  Wegfall  die  Vergrosserung 
wieder  zuriickzugehen  pflegt.  Damit  haben  wir  bereits  fur  die,  im 
Einzelfalle  freilich  nicht  so  ganz  einfache  Unterscheidung  geschwulstiger 
gegentiber  anderen  Schwellungen  eine  Anzahl  wesentlicher  Unter- 
scheidungsmerkmale  gewonnen.  Wir  bezeichnen  als  Geschwulste  um- 
schriebene nicht  entztindliche  Vergrosserungen  von  Organen, 
entstanden  durch  Neubildung  von  Geweben  des  eigenen 
Korpers. 

Ehe  wir  eine  weitere  Charakterisierung  der  Geschwulste  ver- 
suchen,  stellen  wir  eine  zweite  Frage:  Was  kann  alles  im  Korper 
Geschwulste  bilden?    Wo  kommen  Geschwulste  vor? 

Die  Antwort  ist  einfach.  So  viel  Gewebe  vorhanden  sind,  so  viel 
Zellarten  kdnnen  zu  Geschwiilsten  Anlass  geben.  Dabei  haben  wir  in- 
dessen  gewisse  ziemlich  charakteristische  Verschiedenheiten  in  bezug 
auf  die  HSufigkeit,  mit  der  die  einzelnen  Zellarten  sowohl  als  auch  die 
einzelnen  Organe  von  Geschwulstbildungen  betrofPen  werden;  ferner 
Verschiedenheiten  der  HSufigkeit  nach  Geschlecht  und  Alter.  So  sind 
die  Geschwulste  des  Nervensystems  und  der  Muskeln  sehr  selten,  jene 
des  Darms,  der  Haut,  der  weiblichen  Brustdriise  sehr  haufig. 


27  ^ 


Die  Zusammenstellung,  welche  vom  Komitee  fur  Krebsforschung 
gemacht  wurde,  ergab  z.  B.  fur  den  Krebs  folgende  Zahlen: 


Beim  Manne: 
Krebs  des  Magendarmkanals    .    .  . 
»     von  Lippen,  Mundhdhle,  Zunge 
„     der  Geschlechtsorgane  .    .  . 
»     der  Gallenblase  

Beim  Weibe: 
Krebs  des  Magendarmkanals    .    .  . 
«     der  Lippen,  Mundhdhle,  Zunge 
«     der  Geschlechtsorgane  .    .  . 
„     der  Gallenblase    .    .    .    .  . 


700  unter  1000  Krebsfallen 


111 

n 

ff 

24 

ff 

3 

n 

» 

ff 

323 

n 

ff 

13 

ff 

ff 

546 

» 

If 

ff 

8 

ff 

f> 

Fur  die  anderen  Geschwulstarten  sind  derartige  Erhebungen  nicht 
^emacht  und  auch  zur  Zeit  kaum  ausftihrbar;  doch  sind  auch  hier  gesetz- 
massige  Haufigkeitsverhaltnisse  deutlich. 

Im  allgemeinen  bilden  sich  Geschwiilste  an  Orten,  welche  die  be- 
trefifenden  Zellarten  in  der  Norm  enthalten;  daraus  ergibt  sich,  dass 
z.  B,  Fettgeschwiilste  besonders  unter  der  Haut,  Knochengeschwiilste 
fast  nur  an  Knochen  entstehen  usw.;  woraus  wieder  eine  gewisse  Be- 
vorzugung  einzelner  Organe  seitens  bestimmter  Geschwiilste  sich  erklMrt. 

Wir  konnen  die  Notwendigkeit  nicht  langer  umgehen,  Einiges  uber 
die  verschiedenen  Gewebsarten  zu  sagen,  welche  Geschwiilste  bilden 
konnen,  und  tiber  die  Art,  wie  sie  solche  zusammensetzen.  Wir  unter- 
scheiden  im  Kdrper  zwei  besonders  reichlich  vorhandene  und  in  dem 
Aufbau  der  meisten  Organe  vertretene  Zellarten.  Die  eine  nennen  wir 
zusammenfassend  Epithelien;  das  sind  verhSltnismassig  grosse,  mit 
grossem  Kern  und  oft  reichlichem  Protoplasma  ausgestattete  Zellen, 
welche  in  der  Kegel  in  Form  eines  durch  eine  Art  von  Kitt  ver- 
bundenen  und  gefestigten  Pflasters  von  ganz  platten  oder  wurfelformigen 
Oder  cylindrischen  Gebilden  neben  einander  liegen,  oft  auch  mehrere 
Lagen  uber  einander  bilden.  Epithelzellen  sind  die  Ur-  und  Stammform 
aller  ^Organzellen** :  in  einer  der  allerersten  Entwicklungsphasen  besteht 
der  Keim  nur  aus  einer  einzigen  Lage  solcher  wtirfeliger,  zumeist  zu 
einem  Blischen  geftigter  Epithelzellen ;  aus  diesem  BlSschen  gehen  durch 
Einfaltung  und  Umwandlung  in  die  Form  eines  doppelwandigen  Bechers 
die  beiden  ersten  ^Elementarorgane**,  das  sog.  Mussere  und  innere 
Keimblatt,  und  in  der  Folge  alle  ubrigen  Organe  hervor.  Im  aus- 
gebildeten  Kdrper  haben  sie  vor  allem  zwei  Aufgaben:  Auskleidung 
von  Oberflichen  aller  Art,  Aufnahme  und  Abscheidung  von  Fliissigkeiten. 
Unsere  ganze  Hautoberfl&che  besteht  z.  B.  aus  einer  Anzahl  von  Lagen 
derartiger,  nach  Art  eines  ganz  eng  geflochtenen  Korbwerks  von  Faserchen 
durchfilzter,  obendrein  nach  aussen  zu  verhomender  Epithelzellen;  sie 
decken,  je  nach  Bedarf  viel-  oder  einschichtig,  hoch  oder  flach,  die 
Innenfldche  von  Mund  und  Nase,  Luftrdhre  und  Lungen,  Magen  und 
Darm,  und  pflastern  alle  Ausfiihrgange  der  Drtisen  aus.    Aber  auch 


28  8^ 


in  diesen  letzteren  selbst  stellen  sie,  in  einschichtiger  Lage  die  Innen- 
flache  feinster  Rohrchen  und  Sackchen  auskleidend,  die  wichtigsten, 
weil  das  besondere  Sekret  (Speichel,  Galle,  Milch,  Harn,  Schweiss  usw.) 
bereitenden  und  absondernden  Zellen  dar. 

Eben  so  wichtig  wie  diese  erste  ist  fiir  unsere  nSchsten  Be-* 
trachtungen  eine  zweite  Art  von  Geweben,  welche  die  verschiedenen 
Arten  von  Gerusten  in  unserem  Korper  herstellt,  und  diesem  Zwecke 
geniigt  durch  die  mannigfachsten  Ausscheidungen  von  widerstands- 
f^higen,  mehr  oder  weniger  festen  Substanzen.  In  alien  weichen 
Organen  und  Organteilen  mit  Ausnahme  des  Zentral-Nervensystems^) 
bildet  die  Grundlage,  sozusagen  das  Skelett  ein  Fasergewebe,  das  in 
Biindeln  die  Gefasse  und  Nerven  umhtillt,  in  Lamellen,  Korben, 
Netzen,  Fachwerken  die  einzelnen  grosseren  und  feineren  Abschnitte 
gleichzeitig  halt  und  scheidet,  indem  es  hier  wieder  die  feinen  und 
feinsten  Gefasse  bis  zu  den  Organzellen  trMgt.  In  Rohren  umgibt 
dieses  ^Bindegewebe*"  die  rdhrenformigen  Epithelbildungen,  in  grossen 
aus  LMngs-  und  Querfasern  gewebten  Flatten  umschliesst  es  die 
Muskeln  und  hMlt  sie  krMftig  zusammen;  als  derbe  FMden,  gebildet 
aus  dicken  und  ganz  eng  gelagerten  FSserchen  liefert  es  den  Muskeln 
die  Sehnen,  mit  denen  sie  sich  an  den  Knochen  ansetzen;  mit  Kalk- 
salzen  impragniert  liefern  die  rohren-  und  schalenfdrmig  kunstvoll 
angeordneten  Fasem  und  Lamellen  das  Knochengeriist.  Auch  der 
Knorpel  gehort  zu  der  gleichen  Zellart,  nur  hat  er  in  seiner  hlufigsten 
Form  eine  homogene  nicht  faserige  Zwischenmasse  ausgebildet,  in  welcher 
die  „Knorpelzellen''  in  kleinen  Hohlen  eineschlossen  liegen,  ebenso 
wie  auch  in  dem  scheinbar  toten  Knochen  die  Knochenzellen  in 
dichten  Reihen  eingekerkert  forthausen. 

Wahrend  bei  den  Epithelien  zumeist  das  Protoplasma  mit  dem 
Kern  den  Hauptteil  der  Zellen  bildet  und  diese  demgemSss  stets  weich 
und  leicht  verletzlich  bleiben,  trotz  feiner  umhullender  Oberflachen- 
membranen,  tritt  bei  den  „Geweben  der  Bindesubstanzen**,  dem  Knorpel-, 
Knochen-  und  Bindegewebe  die  Zelle  gegeniiber  der  ausgeschiedenen 
Zwischensubstanz  zuriick,  sowohl  relativ  als  absolut,  indem  sich  der 
Zellleib  und  Kern  meist  verkleinem.  Dagegen  sind  junge  Zellen  auch 
der  Bindesubstanzgewebe  stets  mit  reichlicherem  Protoplasma  und  relativ 
grossem  Kerne  fausgestattet.  Neben  diesen  beiden  Hauptgruppen  von 
Geweben  treten  die  iibrigen  —  also  das  Nerven-,  das  Muskel-  und  das 
gefMss-bildende  Gewebe  —  in  Hinsicht  auf  ihre  Beteiligung  an 
Geschwulstbildungen  weit  zuriick. 

Wir  halten  uns  deswegen  zunMchst  an  die  beiden  ersten  Gewebe- 
gruppen. 

Da  wird  nun  wieder  ein  charakteristischer  Unterschied  zwischen 
diesen  beiden  Gruppen  dadurch  bedingt,  dass  das  Epithelgewebe  nicht 
in  der  Lage  ist,  fur  sich  allein  kompliziertere  Bildungen  zu  gestalten. 


^)  Das  Stutzgewebe  des  Nervensystems  Tbat  anderen  Ursprung  und  ver< 
schiedene  Besonderheiten  gegenfiber  dem  « Bindegewebe.'' 


29  S*<- 


Einhiche  Schwielen  mogen  aus  blosser  Verdickung  von  Epithel  hervor- 
gehen;  aber  bereits  in  einer  grdsseren  Warze,  deren  Oberfldche  von 
einem  weniger  derben  Epithel  uberdeckt  ist,  wurde  ein  Aufbau  nur  aus 
Epithel  hochstens  zu  einem  ganz  vergSnglichen  Gebilde  fuhren:  aus 
dem  Gninde,  weil  ihm  sowohl  die  notige  Festigung  durch  das  gleich- 
zeitig  elastische  und  widerstandsfahige  Bindegewebe  abginge  als  auch  die 
Nahrungszufuhr  durch  die  Geflsse.  Diese  letzteren  finden  wir  ndmlich 
mit  verschwindenden  Ausnahmen  uberall  im  Korper  in  Begleitung  und 
geschutzt  von  Bindegewebe,  nicht  frei  im  Epithel,  zwischen  dessen  Zellen 
die  feinen  Haargefasse  nicht  die  notige  Sicherung  gegen  Kompression 
und  Zerreissung  haben  wiirden.  Wir  erwahnten  ja  auch  bereits,  dass 
in  alien  normalen  Organen  das  Bindegewebe  als  TrSger  der  Gefasse  und 
Gefasschen  fungiert. 

Dementsprechend  sehen  wir  nun  auch,  dass  in  alien  denjenigen 
Geschwulstbildungen,  welche  vom  Epithel  in  ihrem  wesentlichen  Aufbau 
bestimmt  werden,  als  Tniger  der  GefSsse  Bindegewebe  vorhanden  ist; 
so  dass  demnach  alle  epithelialen  Geschwulste  gewissermassen  Doppel- 
geschwulste:  Bindegewebs-  und  Epithel-Geschwulste  sind. 

Anders  verhSlt  es  sich  —  naturgemSss  mdchte  man  sagen  —  mit 
dem  Bindegewebe,  Knorpel  und  Knochen.  Diese  Gewebe  sind  ja  selbst 
skelettbildend  und  formen  infolgedessen  selbst  die  Geruste,  in  denen 
ihre  emihrenden  kleinsten  Ge^sschen  verlaufen.  Dabei  konnen 
die  verschiedenen  Gewebe  der  Bindesubstanzen,  Knochen,  Knorpel, 
Bindegewebe  in  derartigen  Geschwulsten  in  mannigfachster  Weise  mit- 
einander  vermengt  sein,  ohne  dass  doch  elne  dieser  Gewebsarten  sich 
zu  den  anderen  so  verhielte,  wie  das  Bindegewebe  in  den  epithelialen 
Geschwulsten,  nMmlich  das  Gertist  bildend. 

Da  nun  in  den  meisten  Organen  eben  diese  Zusammensetzung  von 
gefissfuhrendem  Bindegewebe  und  mannigfach  verteiltem  und  iiber- 
kleidendem  Epithel  den  hauptsachlichen  Bautypus  darstellt,  so  hat  man 
gewdhnlich  die  epithelialen  Geschwulste  als  ^organartige**,  ^organoide** 
der  anderen  Gruppe  als  den  nur  Gewebe  reprasentierenden,  gewebs- 
artigen,  »histioiden"  Geschwulsten  gegenuber  gesetzt.  Die  Muskel-  und 
Nervengeschwulste  verhalten  sich  in  dieser  Hinsicht  etwas  wechselnd. 
Regelmissig  enthalten  sie  gefassfuhrendes  Bindegewebe  und  gehoren 
darum  streng  genommen  in  die  erste  Gruppe;  trotzdem  werden  sie  ge- 
wdhnlich, da  sie  meist  weitaus  uberwiegend  aus  Muskel-  bezw.  Nerven- 
Gewebe  zusammengesetzt  sind,  inkonsequenter  Weise  zu  den  histioiden 
Geschwulsten  gerechnet. 

Ich  muss  gleich  hier  zu  dieser  Einteilung  bemerken,  dass  sie  nur 
eine  teilweise  berechtigte  ist.  Wir  pflegen  ja  unsere  Knochen  und 
Knorpel  gleichfalls  als  Organe  zu  bezeichnen,  d.  h.  als  umgrenzte, 
charakteristisch  unterschiedene  Vereinigungen  von  Geweben,  mit  be- 
stimmter  Leistung  im  Dienste  des  Ganzen.  Eine  Geschwulst  nun, 
welche  z.  B.  nur  aus  Knochen  und  Gefassen  sich  aufbaut,  ist  nattirlich 
ebenso  ^organartig''  wie  etwa  ein  Rippenknorpel;  und  eine  Geschwulst, 
welche  nur  aus  Bindegewebe  und  Geflssen  sich  zusammensetzt,  hat  ihr 


^    30  8^ 


physiologisches  Pendant  z.  B.  in  einer  Sehne  oder  einer  bindegewebigen 
Muskelbinde. 

Wenn  nun  also  alle  Geschwulste  in  gewissem  Sinne  „organartig* 
sind:  worauf  beniht  dann  ihr  Unterschied  gegenuber  den  Organen,  die 
ja  auch  alle  zu  irgend  einer  Zeit  ihrer  Entwicklung  ^umschriebene 
Neubildungen  von  Geweben'^  sind?  Er  liegt  vor  allem  darin,  dass  die 
Anordnung  der  zusammensetzenden  Zellen  gegenuber  denen  normaler 
Organe  alle  Grade  von  Abweichungen,  Storungen,  Unordnung  aufweist. 
Daraus  ergibt  sich,  dass  die  Geschwulste  nicht  eine  zweckmMssige  Bin- 
ftigung  in  den  Gesamtbau  des  Kdrpers  aufweisen,  wie  die  Organe;  und 
dass  sie  demgemSss  fiir  den  Korper  regelmassig  nutzlos  oder  schadlich 
sind.  Im  besten  Falle  beanspruchen  sie  fiir  ihre  ErnShrung  Material, 
das  den  Organen  entzogen  wird,  ohne  entsprechende  Gegenleistung  — 
so  z.  B.  die  genannten  Geschwulstchen  der  Haut  — ;  in  anderen  Fillen 
bewirken  sie  durch  Druck,  Verdrangung  anderer  Organe  usw.  Schaden 
—  man  denke  etwa  an  die  grossen  Geschwulste  der  Bauchhdhle  und 
deren  Folgen,  an  die  Verlegung  der  Harnblasen-  oder  Hamleiter- 
ofPnungen  durch  Geschwixlste  usw.  Endlich  aber  gibt  es  eine  grosse 
Menge  von  Geschwtilsten,  welche  nicht  bloss  durch  einfaches  Wachstum 
von  innen  heraus  sich  vergrdssem,  sondern  welche,  einem  Parasiten 
gleich,  fressend  in  das  umgebende  Gewebe  vordringen,  und  es  raehr 
Oder  weniger  zerstoren,  indem  sie  sich  an  seine  Stelle  setzen;  ja  welche, 
indem  ihre  Zellen  in  die  Lymph-  und  Blutgefissbahnen  einbrechen,  in 
irgend  welche  entfernte  Organe  des  Kdrpers,  unter  Umstinden  in 
sSmtliche  Korperteile  verschleppt  werden,  dort  neue  Tochtergeschwulste 
bilden  und  so  ebenso  schlimm  wie  irgend  ein  krankheiterregendes  Klein- 
wesen  den  Korper  gewissermassen  von  innen  heraus  zerstoren  und 
auffressen. 

Wir  haben  mit  dem  eben  hervorgehobenen  Unterschied  eine  zweite 
Haupteinteilung  der  Geschwulstformen  charakterisiert,  welche  nicht 
den  Aufbau,  sondern  die  vitale  Bedeutung  zum  Ausgangspunkte  nimmt. 
Jene  Geschwtilste,  welche  an  Ort  und  Stelle  wachsen,  nur  durch  ihre 
Vergrdsserung,  durch  die  Anspriiche,  die  sie  an  die  Emahrung  stellen, 
den  Druck,  welchen  sie  auf  andere  Organe  ausuben,  schSdigend  wirken, 
pflegt  man  als  ngutartige**  zu  bezeichnen.  Sie  sind  es,  deren  Wachstum 
in  der  Kegel  wenigstens  eine  gewisse,  je  nachdem  verschiedene  Grosse 
nicht  tibersteigt,  und  welche,  wenn  sie  z.  B.  durch  das  Messer  des 
Chirurgen  griindlich  entfernt  worden  sind,  nicht  wieder  auftreten.  Ihnen 
gegenuber  steht  eine  zweite  Gruppe,  die  sogenannten  ^bosartigen*, 
^malignen*"  Geschwulste.  Sie  zeigen  von  Anfang  an  die  Tendenz  vor- 
zudringen,  zu  zerstdren,  sich  rasch  und  unbegrenzt  wachsend  aus- 
zudehnen;  da  sie  zu  der  Zeit,  wo  die  Patienten  wegen  des  zunehmenden 
Geschwulstwachstums  den  Arzt  aufsuchen,  meistens  in  Form  einzelner 
bereits  weiter  vorgedrungener  Zellen  in  dem  die  ursprungliche  Geschwulst 
umgebenden  Gewebe  stecken,  so  gelingt  ihre  radikale  Entfernung  seltener, 
indem  die  Abgrenzung  gegen  das  Gesunde  mit  blossem  Auge  hSufig  nicht 
mit  Sicherheit  ausfiihrbar  ist.    Sie  kennzeichnen  sich  daher  einerseits 


durch  eine  besondere  Neigung  dazu,  an  Ort  und  Stelle  wiederzukehren, 
zu  rezidivieren,  andrerseits  fuhren  sie,  da  sie  weiter  und  weiter  in  die 
Umgebung  und  nach  der  Tiefe  vordringen,  oft  zu  grossen  Zerstdrungen 
der  Organe  und  gelangen  hdufig  auch  in  entfernt  liegende  Korperteile. 

Diese  drei  Charakteristika:  zerstdrendes  Vordringen,  Neigung  zur 
Wiederkehr,  Verschleppung  (sogenannte  Metastasen-Bildung)  sind  es, 
welche  die  bosartigen  Geschwiilste  hauptsachlich  auszeichnen.  Auf  die 
Ursachen,  welche  diese  Unterschiede  im  Verhalten  bedingen,  konnen 
wir  erst  spSter  eingehen.  Im  mikroskopischen  Aufbau  entspricht  im 
allgemeinen  dem  gutartigen  Typus  die  relativ  zellarme,  noch  sehr  an  den 
geordneten  Organaufbau  erinnemde  und  von  mehr  oder  weniger  gut  aus- 
gebildeten,  tu  fertigen  Formen  heranreifenden  Zellen  gebildeteGeschwulst; 
wahrend  die  Bosartigkeit  sich  vor  allem  in  grosser  Schnelligkeit  der  Zell- 
neubildung  aussert  und  dementsprechend  diese  Geschwulste  sehr  zell- 
reich,  von  jungen  unreifen  Elementen  aufgebaut  sind  und  oft  weit  von 
aller  bekannten  Organstruktur  abweichen,  vielfach  ganz  in  Unordnung 
wuchemd  erscheinen. 

Immerhin  muss  hier  schon  hervorgehoben  werden,  dass  auch  diese 
Unterschiede  zwischen  benignen  und  malignen  Geschwiilsten  keine  absolut 
feststehenden  sind.  Denn  einmal  wissen  wir  aus  vielen  Beispielen,  dass 
anscheinend  gutartige  und  lange  in  ihrem  Wachstum  stehen  gebliebene 
Geschwulste  allmShlich  oder  mit  einemmale  in  bosartige  sich  umwandeln 
konnen.  Andererseits  kommt  es  auch  vor,  dass  solche  Geschwiilste, 
die  wir  in  der  Kegel  nur  in  gutartigen  Formen  auftreten  sehen,  auch 
einmal  in  Gefisse  gelangen,  und  durch  Verschleppung  in  entfemte 
Organe  und  weiteres  Wachstum  an  den  betrefFenden  Stellen  die  gleichen 
Folgen  nach  sich  Ziehen,  wie  die  bosartigen  Geschwulste  im  engeren 
Sinne.  Endlich  aber  gibt  es  auch  in  der  „Bdsartigkeit'^  maligner  Ge- 
schwiilste recht  verschiedene  Grade;  und  wir  kennen  genug  unter  ihnen, 
die  nach  einmaliger  Entfemung  fast  sicher  ausbleiben,  sowie  auch  solche, 
die  trotz  des  Aufbaues  nach  Art  „bdsartiger'^  Geschwiilste  sich  dauernd 
wie  gutartige  verhalten. 

Die  bdsartigen  Geschwulste  der  Epithelialreihe  sind  jene,  die  als 
Krebse  (Carcinome)  die  Ehre  der  besonders  hdufigen  Nennung  in 
alien  Joumalen  bereits  geniessen.  Die  bosartigen  Geschwulste  der 
Bindegewebsreihe,  die  sogenannten  Sarkome  sind  im  Grund  meist  noch 
bedeutend  schlimmere  Gesellen;  infolge  ihres  etwas  selteneren  Vor- 
kommens  sind  sie  jedoch  in  Laienkreisen  weniger  bekannt  und  haben 
bisher  weniger  Aufsehen  und  Angst  erregt.  Die  beiden  Gruppen  zeigen, 
auch  abgesehen  von  ihrem  strukturellen  Aufbau,  manche  Unterschiede, 
von  denen  wir  einige  anfuhren  woUen.  Krebse  finden  sich  vorwiegend 
bei  alteren  Individuen  und  hier  wieder  besonders  an  gewissen  Stellen 
des  Verdauungsapparates,  der  Haut,  der  weiblichen  Geschlechtsorgane 
und  in  der  Brustdruse.  Bedeutend  seltener  entwickeln  sie  sich  in  ver- 
steckt  liegenden,  geschiitzten  Organen,  am  hiufigsten  noch  in  der  Leber, 
selten  in  Niere,  Schilddriise  usw.  Sie  zeichnen  sich  im  allgemeinen 
durch  ein  verhiltnismMssig  langsames  Fortschreiten  in  die  Tiefe  aus 


und  dadurch,  dass  sie  meistens  uberwiegend  in  die  Lymphbahnen  und 
weiterhin  in  die  sogenannten  Lymphdriisen,  erst  nach  deren  Passierung 
mit  der  Lymphe  in  die  Blutadern,  von  da  fiber  die  rechte  Herzkammer 
in  die  Lungen  und  eventuell  weiter  gelangen.  Entsprechend  ihrer  Lage 
an  OberfiSchen,  welche  mechanisch,  chemisch,  durch  Bakterien  gereizt 
und  geschadigt  werden,  erfolgen  hlufig  oberfiachliche  und  allmdhlich 
tiefergreifende  Geschwursbildungen,  welche  unter  Umstanden  zu  aus- 
gedehnten  i^fressenden  Geschwuren*  fuhren.  Daneben  kommen  auch  in- 
folge  von  ungenugender  Ausbildung  der  Blutgefasse  in  dem  oft  sehr 
stark  und  derb  entwickelten  Geruste  der  Krebse  und  dadurch  bedingter 
ungenugender  EmShrung  der  Krebszellen  nicht  selten  partielle  Er- 
nahrungsstdrungen,  dadurch  Absterben  und  eventuell  Zerfall  im  Krebse 
zu  wege.  An  sich  also  ist  Ifdas  Auftreten  von  derartigen  Geschwurs- 
bildungen  und  Zerfallserscheinungen  nicht  charakteristisch,  sondern  mehr 
durch  die  Zufalligkeiten  von  Lage  und  Zusammensetzung  bedingt. 

Die  Sarkome  oder  bosartigen  Geschwulste  der  Bindesubstanzreihe 
kennzeichnen  sich  in  ihren  ausgesprochenen  Formen  dadurch,  dass  die 
sie  zusammensetzenden  Zellen  in  besonders  hohem  Grade  die  Charaktere 
junger  Gewebszellen  beibehalten,  oft  auch  an  Grosse  betrSchtlich  zu- 
nehmen;  die  in  der  Kegel  ubersturzte  Vermehrung  dieser  Zellen  lUsst 
es  zu  einer  weitgehenden  Ausbildung  von  Zwischensubstanz  wie  im 
normalen  Bindegewebe  haufig  nicht  kommen  und  fuhrt  andererseits  zur 
Bildung  sehr  rasch  wachsender  und  unter  UmstMnden  ganz  kolossaler 
Geschwulste.  Dem  entspricht  auch  eine  in  der  Kegel  sehr  reichliche 
Ausbildung  der  ernahrenden  Gefisse  und  GefSsschen,  welche  anderer- 
seits zur  Folge  hat,  dass  h§ufig  scheinbar  von  selbst  oder  durch  geringe 
mechanische  SchSdigung,  z.  B.  Quetschung,  ausgedehnte  Blutungen  in 
solchen  Sarkomen  zustande  kommen.  ,,Blutschwamm^  nannten  die 
Alten  solche  von  zahlreichen  Blutungen  durchsetzte  geflssreiche  Sar- 
kome. Ihre  intensive  Wucherungsfahigkeit  fuhrt  diese  Zellen  in  der 
Kegel  viel  rascher  als  jene  des  Krebses  zerstorend  ins  umliegende  Ge- 
webe;  die  Gefasse,  welchen  sie  begegnen,  werden  tells  durch  Druck 
verschlossen,  teils  von  den  Geschwulstzellen  geradewegs  durchwuchert; 
dadurch  gelangen  sie  fruhzeitig  in  den  Blutkreislauf,  werden  in  alle 
mdglichen  Organe,  vor  allem  zunachst  durch  die  Blutadern  wieder  in 
die  Lunge  verschleppt  und  bilden  dort  vermdge  ihrer  Wucherungsfahigkeit 
wiederum  rasch  massige  Knoten.  —  Das  Sarkom  ist  im  Gegensatz  zum 
Krebs  uberwiegend  eine  Krankheit  des  jugendlichen  Alters,  ohne  dass 
es  deswegen  im  hdheren  Alter  vollkommen  fehlt.  Auf  andere  Unter- 
schiede  zwischen  Carcinom  und  Sarkom,  speziell  auch  in  Hinsicht  auf 
ihre  Ursachen  werden  wir  spSter  zu  sprechen  kommen. 

Es  sind  noch  ein  paar  Punkte  wenigstens  kurz  zu  beruhren,  auf 
die  wir  nachher  wieder  zuruckgreifen  mussen.  Wir  sprachen  schon 
eingangs  von  dem  Auftreten  mehrfacher  Geschwulstbildungen.  In  der 
Kegel  ist  es  nur  eine  Geschwulstbildung,  wegen  deren  der  Patient  den 
Arzt  aufsucht.  Gelegentlich  aber  kommen  mehrfache  Geschwulste  so- 
wohl  der  gleichen  Art  als  verschiedener  Arten  vor,  von  einigen  bis  zu 


33  8^ 


Dutzenden;  und  es  ist  eine  Erscheinungy  auf  die  man  erst  in  den  letzten 
Jahren  mehr  Gewicht  gelegt  hat,  dass  recht  hMufig  bei  dem  Vorhanden- 
sein  and  Hervortreten  einer  Geschwulst  noch  eine  ganze  Reihe  kleinerer 
und  kleinste  fur  gewdhnlich  nicht  berucksichtigter  Geschwulstchen  hier 
und  dort  in  den  Organen  stecken.  —  Von  besonderem  Interesse  ist  es, 
dass  manche  Geschwulste  mit  einer  gewissen  RegelmSssigkeit  sym- 
metrisch  auftreten.  So  kommt  es  vor,  dass  Fett-  oder  Bindegewebs- 
geschwiilste  dem  Verlauf  von  Nerven  an  einer  oder  beiden  Kdrperhalften 
ziemlich  regelmissig  folgen.  Ein  Mhnliches  gilt  von  den  Nerven- 
geschwiilsten  selbst. 

Wir  haben  ausserdem  noch  einer  Art  von  Gewebs-Neubildungen 
za  gedenken,  deren  Abgrenzung  gegenuber  den  Geschwulsten  vielbche 
Schwierigkeiten  macht.  Es  sind  dies  eigenartige,  oft  mehr  oder  weniger 
organ-dhnliche  Gebilde,  welche  in  einzelnen  ihrer  Formen  aber  auch 
fast  so  wie  eigentliche  Geschwulste  gebaut  sind.  Mit  besonderer  Vor- 
liebe  finden  sich  solche  Geschwulste  in  den  Keimdrtisen  und  an  Stellen, 
wo  in  embryonaler  Zeit  Oifnungen  bestanden,  die  sich  spSter  verschlossen: 
am  vorderen  und  hinteren  (embryonalen)  Korperende,  in  der  vorderen 
Mittellinie  des  Korpers,  usw.  Das  eine  Mai  bilden  sie  einen  kleinen 
Sack,  in  dessen  Innenwand  Haare  sprossen  oder  Z&hne  eingelagert  sind, 
das  andere  Mai  ein  buntes  Durcheinander  von  mehr  oder  weniger  aus- 
gebildeten  Organteilen,  in  denen  neben  Nervengewebe  Knorpel,  Netz- 
baut,  usw.  liegen,  manchmal  auch  nur  ein  paar  verschiedenartige  auf- 
bauende  Gewebsarten.  HSufig  zeigen  diese  sSmtlichen  Gewebe  in  mehr 
Oder  weniger  ausgeprSgter  Form  diejenigen  Zellenformen,  welche  wir 
beim  Embryo  oder  Fdtus  vorfinden,  und  weisen  dadurch  daraufhin,  dass 
sie  entweder  aus  Zellen  desselben  Keimes  hervorgegangen  sind,  dem 
das  betreifende  sie  bergende  Individuum  selbst  entstammt,  oder  aus 
dessen  eigenen  Keimzellen,  welche  aus  irgendwelchen  Ursachen  ohne 
Befruchtung  ihre  formative,  organbildende  TStigkeit  in  ungeordneter 
Weise  aufnahmen.  Welche  von  diesen  beiden  Moglichkeiten  fur  die  Ent- 
stehung  dieser  sogenannten  Teratoide  und  Teratome  zutrifft,  werden 
wir  spdter  erdrtem.  Hier  sei  nur  noch  hervorgehoben,  dass  von  ihnen 
vielfache  Oberginge  existieren  bis  zu  jener  Art  von  Missbildungen, 
welche  reprisentiert  wird  durch  einen  mehr  oder  weniger  vollstSndigen 
Fdtus,  der  in  einem  inneren  Organe  eingeschlossen  liegt:  das  eine  Mai 
findet  sich  z.  B.  ein  fertiger  Zahn  in  einem  kleinen  Sdckchen  des  Eier- 
stocks,  ein  talg-  und  haargefiillter  Balg  in  der  Brusthdhle  —  ein  ander- 
mal  hdngt  an  einer  Niere  ein  Teratom,  welches  Schddelhdhle,  Darm, 
minnliche  Geschlechtsorgane,  Epithelblasen  zeigen  kann. 

So  scheint  es  also,  wie  wenn  jenen  klaren,  geordneten  Beziehungen 
der  einzelnen  Organe  zueinander  und  zum  Ganzen  in  all  diesen  viel- 
artigen  Gebilden  eine  Art  von  Karikatur  zur  Seite  stunde:  von  kleinen 
Obertreibungen  und  Verzerrungen  bis  zum  toUsten  Durcheinander,  von 
einzelnen  missratenen  Gewebsarten  bis  zu  vdlligen  Zerrbildem  des 
ganzen  Organismus.  Hier  ein  kleiner  Knoten,  dessen  sein  Trdger  viel- 
leicht  all  seine  Lebtage  nicht  gewahr  wird;  dort  ein  wild  wachsendes 

S&ddeutsche  Monatshefte.   1, 1.  3 


Ungetum,  das  in  rasender  Wucherung  seinen  Wirt  und  sich  selbst  zer- 
stort;  hier  eine  aus  Fett-  oder  Bindegewebe  gebildete  Einlagerung,  dort 
alle  Bausteine  eines  Zwillingsgebildes,  das,  statt  nach  Art  der  siamesischen 
Zwillinge  aussen  angewachsen  zu  sein,  verborgen  in  der  Bnist-  oder 
Bauchhdhle  oder  im  Ruckenmarkskanale  schlummem  kann  alle  die  Zeit» 
wihrend  deren  sein  Triger  ein  bewegtes  Menschenleben  durcheilt. 


(Btbmtm. 

<Suc9  an  lit  ^it^i  lit  V9i\[tnf<l^aftti(l^tn  SLxmu  marrc^teren  Zamiowct, 
1. 0.  iiuU  nxilxiitn  &valu,  wef^e  Barm  mac^en. 


5tttum  unl  (ffiaixitit  ixtiUn  |tc9  tn  lit  (Sii\j[inf<l^aft  gfiic^  f^neCf  aun, 
toivUn  3fetc9  wiKg  aufgenommen  unl  gfei^  pari  fepge^aftent  aSer  nid^t 
gfdc^  fang.  ^ 

5ttt  gewilTe  (Ylaterforrc^er  6e|Ie6t  taa  (P^eftr&tref  nut  in  Itv  Bjdftinj  Ub 
(pQifofopQen  uni  ier  (pQtforoptie.  ®a0  if!  iae  6in5%e  in  ter  ^eft, 
ipotuBer  fte  |tc9  vemun^em.  $on|if  ftnt  i0nen  nut  noc9  einigi  ^a^vtn 
i&ttni\[t  unSeiannt,  tenen  fte  nac^fovfc^en. 


$ie  |tnt  feic9(  mt(  ten  fifvunten  jufrieten,  ipenn  i0nen  nur  Me  Qg^eQattytengen 
gefaffen.  ^ 

(^Bevaff,  190  Jlti(ovi(d(en  Qevrfc^^n,  gtSf  ee  vevSofene  ^ege,  unt  auf  einem 
ttefer  (P^ege  fiegt  gewo^nftc^  lit  n^fU  groge  (BE)a0vQeit 


(Unter  ten  (prtefifem  tev  (^ifTenrc^aff  (dft  |tc9  etne  merSwurti^  ovoge 
jln^a^r  fieSer  in  tev  (TliQe  tea  Oyfevpode,  ah  in  ter  (tld^e  tea  l^fig^ 
hims  auf* 


35  I.*- 

(ffltnf4tnt  ioeCc$e  aCfea  auf  Itn  Hopf  (leffen,  Smgen  baturc^  juwetfen 
eine  Q^a0r0ii(  <tttf  tie  (geine. 

66  ^(  Omje  tm  Be6en  uni  in  ter  (P^ttfenfc^afil,  wefc^e  nut  ite  ftu^nfife 
(pSanfofte  etfalfen  oemas,  unt  Mlm,  lit  nut  bet  rtt^igf^e  (Perffanb  ^e^t 
Oantm  jeQoren  fo  oft  jwti  QAenfc^en  baju,  urn  erne  ^ac^e  3an5  feQen. 

Qp9a6  ein  ^treSer  werben  mff,  Ivumrnf  ftc9  Set  |ei(en. 

6r|l  mnn  jut  &x6%t  etnee  ^Stifiu  SuVi  lommt,  wtrK  it  uBer  (Potter 
umb  bur<9  leiten. 

SHe  ^ttten  unb  bie  j&c^fec^ten,  bie  ^^^^S^  QinfaQt^en  ftnb  bet 

IS^egef,  in  wefcQem  wit  un6  im  Bauft  einea  fangen  £e6en0  fangfam 
ftetifieti  fetfieii« 

60  ip  tin  fonberBarev  Qjlnterfc^ieb  jmfc^en  ben  (Tlarten,  bie  man  einfperti, 
unb  benen,  bie  man  in  5veiQei(  ta^t  ^tnt  gfauBen  nic^f  an  iQre  ^e^en^ 
fetitsen  (pS^aBnibeen,  biefe  ba^e^en  fammefn  |t<9  off  ben  grogfen  i&cBaren 
«iUer  ber  5^0^^  ^^^^^  (PerviidUBeit 

Qp9enn  bte  QllenrcBen  ftcB  iBte  Hopfe  Uf^fi  B^vauafucBen  lutfttn,  Belimen 
bte  QAeillen  fteine  gefd^eifeven. 

Qp9enn  mr  bie  £febanlen  anberer  fefen,  fieden  mir  unferen  <StifH  in  ftembe 
Kfeiber,  unb  biefer  Ba<  vox  bem  Kotyer  bie  Si^enfcBafit  vovaus,  bag  er  ftcB, 
wenn  fie  iBm  grog  ftnb,  in  bie  f^emben  Itfeiber  Binein  mining  |te  aue^ 
fiflSm  unb  fo^at  nocB  eine  Jeitfang  biefe  emorSene  <Sxo^t  BeBaften  lann* 

6ifettei(  ip  eine  untreue  ®ienerin.  $ie  macBf  iBten  l^erm  um  fovief 
ftfeiner,  ah  fie  iBn  sroger      macBen  vovjiBt* 

6roge  Utinpfer  ftnb  bie  ein3i3en  (£lei<Ben,  weCcBe  iBr  gan^ee  CKtd  mii 
un9  Uittn. 

®ie  ebefpe  unb  geBeimpe  (ps^iivbe  bee  QllenfcBen  iff  biejenige,  bie  ftcB  in 
bet  (PomeBmBeif  feines  ffeiflea  auefpricBt*  6v  weig  ni<Bf  um  fte,  unb  fte 
oiSt  feinen  Ctlanitn  iBten  srogen  ^cBritt.  j&ie  ifi  bie  loathing  feiner 
^eefot  Bebeuief  feinen  (gfid  nacB  ben  ^(emen;  fte  fiegt  in  feinem  5^^^tren, 
eBe  er  ttnoB  pon  bet  ^eft  ^efeBen  B<tf»  fagf  iBn  na4  ben  gvogen  Singen 
in  iBr  fiuB^  unb  |te  affein  a<B<^n. 

3* 


36 

&8er  (em  CeQaft  etnes  UfetnPfen,  wte     etn  etfer  QAenfc^  ifif,  uSev  telTen 

60  5t6(  QllenfcQen,  lit  nut  fo  fange  auf  unferer  BxH  BfeiBent  bae 
BeBen  bee  Qtlenr^en  etn  en3e(9af<e0  x%  I.  Q.  in  bet  UinbQett,  unb  une 
bann  Uc0eAib  verfalfen.  ®en  luriUIBretBenben  tp  bann,  ah  oB  fie  etnen 
Qg^fid  in  ben  l^immef  Qiften  tun  btirfen  unb  Sngef  fpiefen  feOen. 

Q^nfet  gan^ee  BeBen  (inburc^  jitit  bie  6rbe  an  une,  aU  mttte  |te  una 
SIAc^tftnge  wieber  QaBen,  unb  enb(ic9  Belommt  |te  una  auc^. 

Sine  unBeftannte  (Jllac^t  fc^veitef  tiber  bie  Bvbe  unb  fofc^t  in  bev  (HlenfcQQeif 
^roge  6ei({e0(tc9(er  aua.  I^inter  iQr  entj&nben  ftcQ  anbeve,  neue;  aBer 
ipir  finben  nicQt  (in  ;ii  i^nen,  ober  fe^en  |te  obet  erfeBen  |te  nic0t 
Oyinb  fo  wirb  ea  mit  bem  6rf6fc9en  biefer  (SRenfc^^nronnen  um  um  bunief 
unb  ftaft 

60  ip  merlwuvbig,  wie  untev  ber  in  £feFc9ifi(en  emii<9<er(en  ({I(lenrc90ei( 
|tc9  imnter  ipieber  ein  votttB  l^erj  erQeB(  unb  feine  SmpfEnbun^  iiBer  aflfe 
au0gieg(  unb  bas  perborvenbe  innere  £eBen  berfefSen  nii(  neuen  ^afUn 
etfriWt  ^ 

(J^Oix  niniiin  ee  l^eiKgfteif,  wenn  una  mit  bem  Jlufgang  bev  i&onne  bas 
^a0e  ftc^tfar  gemac^f  unb  bie  $teme  verfinpevf  werben. 

®a0  j&c96nf(e,  ma  man  etfeBf,  i^enn  man  aft  ju  werben  anfangf,  i%  bag 
einem  ein  eiaenee  6efu0f  fur  bie  Jfugenb  auf^eQt,  fuv  i0re  S^f^e,  i0ren 
6ifer,  iQre  Ij^ofnung  uub  iixt  bunife  |uSunft  Qjlnb  fo  em^^finbet  man  bie 
^ieberaufTtteBenben  ioPffic^  ah  tint  auf^ie^enbe  JlBfofuns  bet  ^c^eibenben. 

5tauent  mefc^e  in  i0re  Qtlinner  verfieBt  ftnbt  f^woren  auf  beren  (gioxtt. 
Qjlnb  ipenn  |te  bveimaf  nac^einanber  Qeirafen,  inbevn  fit  mit  jebet  60e 
biefen  i0ren  ®ien|i[eib. 

(ffHx  vtxtxtiitn  una  bie  ?ei<  fo  fange,  Bia  fie  una  veHteiBt 

(fflU  Bmpfinbunj  )>tx  (J^ttt  tt^nntn  mx  vox  affem  (pS^ilfen;  unb  in  Bm 
yfinbung  enbigf  baa  gereifile  (^EKITen* 


37  8^ 

feinem  et^enen  5*^^^^  ttmSringen* 

60  t|if  bA0  Qjlngfucft  affev  ^^ff      ^^^^  Qg^rottotS  am  Jim  Qangen 

(otem  tew  bte  ^(reSer  na^&ufeiu 


93on  ^and  3(^oma  in  ftartent(^e. 

lifter  biti  Ztjma  tfi  f(()on  fe^r  sotel  unb  fe^r  gut  gffd)rtf6fn  morbett 
ttttb  til  gemig  t)oit  grogem  SnterffTe  }u  k)erfoIgen/  n>antt  unb  n>ie  ber 
fRenfd)  {uerfi  ba}u  gefontmen  tfl,  ©efe^ene^  nad)ju6i[bfn  ober  feiner  ^reube 
an  ber  <Srfd)etnung/  tn  einer  genoiffen  fd)mfi(fenben  Drbnung  an  feiner 
Untgfbung/  fetnen  ®er&ten  unb  an  fid)  Utt%  Sfu^brucf  ju  ge6en« 

9Ran  f&r(f)te  aber  nid)t,  bag  id)  ^ierfiber  nun  and)  ntetne  ^ti^titit, 
bte  id)  nic^t  ^abe,  audframen  tt>erbe;  id)  t)er(affe  mid^  pterin  auf  bad,  wad 
^^t(i>fo)»I)en  unb  «Oiflorifer  ju  beric^ten  ^aben« 

SBenn  id)  fiber  ben  Sfnfang  ber  Aunft  nun  bod^  fd)reibe,  fo  bejie^t  fid) 
bad  auf  etwad  n>ad  tc^  fic^er  mi^,  tt>ad  id)  felber  erfa^ren  t)abt,  unb  n>enn 
ed  auc^  ttd)t  fletn  tfl,  fiber  mad  id)  bertd^ten  toitl,  fo  ifl  ju  bebenfen,  bag 
Xnf&nge  meiflend  ffein  ffnb. 

3d)  toage  ed^  barfiber  }u  fdyreiben  tt>te  ber  Aunfltrieb  in  mir  feinen 
^nfang  genommen  tjat  3n  jebem  Afinfller  nimmt  biefer  2rieb  einmal  einen 
Xnfang;  }ug(eid)  benfe  id),  ba  ^bie  Xunfl  im  Seben  bed  Jtinbed"  fo  einiger^ 
magen  an  ber  Zagedorbnung  ifl/  fo  ifl  bad/  tt>ad  id)  t)itt  erjd^Ien  toiU,  and) 
„jeitgemAg"- 

3ftfo  meine  dltefle  Crinnerung  ifl,  bag  id)  in  einer  (Sde  unferer 
Sdbwarjw&fberflube  fag  mit  einer  Sc^tefertafel  unb  mit  einem  ®riffe(;  ed 
iDar  nod)  t)or  ber  3eit  ba  bie  Suben  «Oofe»  tragen  bfirfen.  3d)  mad)U 
®trid)e  barauf  burd)einanber  unb  freute  mid)  baxan,  bag  fo  etwad  in  meiner 
J&anb  lag  ju  mad)en.  3c()  (ief  jur  flutter  unb  jeigte  ed  i^r;  bie  3mntergute 
pArte  meine  greube  nid)t,  fit  fa^  ftc^  bte  ®ad)e  genau  am  mad)te  toof)l 


38  8^ 


nod)  ein  paar  ®tn(f)e  baju  ober  baDon  unb  erfl&rte  mtr^  bad  tft  ein  J^aui^ 
bad  ein  ^aunt^  etn  ©artenjaun/  bet  Sttibb^txaH  ifl  bet  (Socfel^  ber  gerabe 
fr&^t  ufn>.  ®t6  er)&^(te  n>o^[  auc^  nod)  etne  ®efd)td)te/  mad  ailed  m  bem 
J^aufe  t)orgef)e  ufn>«  @o  (ief  id)  jebedntal  mit  ber  Safe!  }ur  Sautter  unb  fit 
ntugte  mtr  fagen  n>ad  id)  gema^t  f^abt.  ^alb  fant  and)  9Biffe  in  ntein 
®efri^e(;  id)  f&gte  bie  @trid)e  jufamnten/  ed  n>urbe  ettoad  baraud  n>ad  bie 
2)2utter  beutlid)  aid  ein  @d)n>ein  erfannte;  and)  id)  fat)  ed  unb  fo  toax  bad 
(Sd)n)ein  meine  erfle  fftnfllerifc^e  @rrungenfd)aft  9alb  tarn  aud)  ber  Unter^ 
fd)ieb  $»ifd)en  ®d)tt)ein  unb  9tog  juflanbe,  ein  groger  gortfd)ritt!  ^reilic^ 
tarn  ber  nerfifd)^fritifd)e  ffladibat  unb  erflArte,  bad  fei  fein  9log,  bag  fei 
nur  ein  @fel,  ed  f)a6e  )u  lange  £)f)ren,  —  bad  war  bie  erfle  66fe  ^itif, 
bie  mid)  tief  gefr&nft  f)at  @d  ifi  ^alt  ein  genoaltiger  Unterfd)ieb  }n>ifd)en 
Iie6enb  erfennenben  STOutteraugen  unb  fritifd)en  92ad)6ardaugen.  3n  ber 
3eit  fd)nitt  id)  aud)/  aud  jufammengelegtem  ^apier^  Ornamente  and  unb 
freute  mid)  an  ber  ©pmmetrie,  bie  in  t)ielfad)er  3frt  ^eraudfam.  3d)  fag 
oft  flunbenlang  bamit  6efd)&ftigt  in  einer  flillen  <S(fe«  @in  menfd)enfreunb^ 
Iid)er  «Oauf[erer  fam  einmal  unb  teat  gau}  erfd)ro(fen  aid  er  bad  Heine  Xinb 
mit  ber  fpi^igen  @d)ere  fa^;  er  fd)impfte  unb  lieg  ntd)t  nac^^  bid  man  mir 
bie  ®(^ere  n>egnai}m/  bad  mar  ^art  ffir  mic^  unb  tc^  ^eulte. 

7M  (Snbe  ber  60er  Sa^re  beina^e  ein  3(udfleIIungdt)er6ot  bon  einem 
^unflt)erein  an  mid)  erging  unb  in  ben  fiebenjiger  Sa^ren  meine  ^ilber 
regelm&gig  t)on  ben  beutfd)en  ^unflgenofTenfc^aftdaudfleDungen  abgemiefen 
murben^  mar  ed  mir  nid)t  ^alb  fo  tfavU 

J^oIjfd)nitte  in  einem  ®tbetbnd}  meiner  Sante^  auc^  ber  ^alenber  unb 
befonberd  bie  bunten  ©pielfarten  maren  meine  ^unflbilbungdmitteL  Ser 
®d)uflebub/  an  bem  ein  «OfinbIein  i)erauffprang/  gefiel  mir  am  beflen;  biefen 
^J^finblibub"  jeid)nete  id)  aud)  auf  etn  papier  mit  ©leiflift  ab  unb  fd)enfte 
i^n  meinem  93ater  }um  9tamendtage«  3d)  mar  bamald  5  3a^re  alt  unb 
meig  bie  B^it  bed^alb  fo  gut  ju  beflimmen,  meil  mir^  aid  id)  6  3a^re  alt 
mar^  in  ein  benad^barted  J^aud  umjogen  unb  id)  fe^e  nod)  bie  ganje  j6rt^ 
Iid)feit  an  bem  SOJorgen^  ba  bie  3eid)nung  fiberreid)t  murbe. 

Der  Jrieb  $ur  *un(l,  ber  in  bem  einfamen  Q3ernau  fiber  mid)  fam  unb 
jmar  fo  flarf,  bag  er  mic^  mein  Sebtag  nid)t  mei}r  t^erlaffen  iiat,  mar  boc^ 
angeerbt  unb  jmar  t)on  mfitterlic^er  @eite«  X)er  ®rogt)ater  unb  auc^  bie 
^rAber  meiner  STOutter  maren  U^renmac^er;  einer  berfelben  mar  U^renfd)ilb^ 
maler  unb  in  if)m  lebte  noc^  ein  Steft  einer  nun  t)erfd)munbenen  93auernfunil, 
bie  in  i^rer  ^rimitit)f)eit  meid)en  mugte  t)or  bem  mobifd)  fl&btifc^en  ^unfl^ 
gemerbe,  bad  feine  ©d)n6rfel  in  aKe  lD6rfer  l)inein  renaifiancierte;  id)  meig 
nod)  gan)  gut,  mo  f(^6nfarbtg  bunte  mit  93Iumen  bemaltc  ®c^r&nfe  mit 
92ugbaumfarbe  ftberjogen  murben  unb  man  fid)  ber  ^unt^eit  fc^&mte,  bie 
man  „95aurenfilbe"  nannte.  Die  ©riiber  meiner  STOutter  fatten  neben  ber 
tdglic^en  Sfrbeit  i^re  ?ieb^aberei;  fie  trieben  ^nftt,  b.  ^.  jie  mujijierten  unb 
fatten  ^reube  am  ®efang«  IDer  ll^renfd)ilbmaler  malte  fur  bie  ^auemfluben 
Safein  auf  ®Iad  mit  felfarben  auf  bie  fXftcffeite;  fTe  m6gen  fo  fd)Ied)t 
gemefen  fein  mie  fie  moden  —  ed  mar  tmmer^in  ^unflfibung  unb  J^anbarbeit 
unb  tjat  ben  Sufammen^ang  mit  ber  Aunflt&ttgfeit  im  Solfe  mad)ge^alten, 
ben  bie  fabrtfattondmeife  ^ergefieOten  ^orbenbrucfe  ntemald  erfe^  Hwtn. 


39 


(ixn  DtiM  6ffc^&fttgtf  ffd)  mtt  3(flronotntf/  t.  Ij.  er  madjtt  auf  fetner 
£rel)6anf  etne  (Srbfugel^  bte  in  ®rabe  ettigeteift  unb  mtt  ben  9Be(ttet(en 
angemalt  wurbe;  nun  tDurbe  em  (anger  Stfcf)  gemac^t  —  etne  iampt  in  ber 
SRttte  toar  bte  Sonne,  etne  fletne  t)ergoIbete  StuQtl  wax  ber  9Ronb  auf  etnem 
Dra^fgefleD/  n>te  bie  @rbfuge(  auc^.  IDurc^  bie  Umbre{)ung  etner  ^ur6e[ 
fant  Qewegung  in  bte  9Be(t,  bie  (Srbe  umftef  bie  ®onne  unb  mtt  tt)r  ber 
9>{onb,  ber  tt>ieber  urn  <Te  ^erumtief*  9Bir  fonnten  SRonb^  unb  ©onnen^ 
ftnflemiffe  mact)en.  ®o  fel)(te  ed  6ei  aKer  ©ef(f)eiben^eit  unb  ©efdirdnft^eit 
in  ber  Sorferiflenj  boc^  gar  n\d)t  an  ^^antaffeanregung  unb  meine  fp&tere 
9ieb^aberei  fftr  Aalenberpoefte  ^at  tootjl  and)  itjxtn  Urfprung  in  biefen 
frftl)ef}en  Sagen,  in  benen  mir  bie  ®e(t6en)egung  unb  ber  Sauf  ber  ^eittn 
fo  (eib^aftig  t)orgef&^rt  murbe,  bte  td^  gewijferma^en  fefbfl  t)eran(affen  fonnte! 

£ie  3Inf&nge  ber  £un(l!  3d)  btlbe  mir  gett>i0  nid)t  tin,  bag  fte  (ei 
mir  t)ie[  anberd  gett)efen  ftnb  aH  iei  anberen  ^&n{Hern  and),  unb  id)  tt)&rbe 
geiDig  nid)td  bar&6er  t)er6ffent[id)en,  wenn  id)  mir  nac^  li6erfd)reitung  ber 
@fd))iger  3a^re  nid)t  ba^  9ted)t  ^erau^n&I)me,  auf  biefe  meine  3(nf&nge 
)nrficfiufet)en.  Die  Satire  be^  3frterd  <Tnb  ja  bie  Sa^re  bed  3Mtfidfc^auend, 
benn  nad)  t)ome  liegt  nic^t  me^r  t)ie(.  —  IDie  Sergangen^eit  f&ngt  an 
reid)  )u  merben,  n)enn  einmal  bie  Sufunfr  und  feine  befonberen  ^r&ume 
me^r  t)orgaufe(n  tt)in« 

<Sd  fam  bie  Sd^uljeit  3d)  ^abe  aber  immer  neben^er  gejeid)net, 
gemalt,  gffc^ni^t,  g^appt  unb  mir  eine  fletne  SUBttt  gejimmert  3d)  nourbe 
mir  aud)  immer  me^r  bttou^t,  toie  fd)6n  bie  ®e(t  fet;  id)  beo6ad)tete  bie 
iffiolfeu/  bie  t)erfd)iebenen  Beiten  be*  Saljred,  bie  bad  3fudfe^en  ber  ®egenb 
fo  gan)  t)er&nberten,  (ange  e^e  id)  batan  benfen  fonnte,  fo  tttoai  }u  ma(en, 
e^e  id)  mugte,  bag  man  fo  ettoad  t^ieOtetc^t  and)  ma(en  f6nnte«  Sange  3^it 
i)inburd)  tr&umte  ic^  t)on  einem  S^^uberfpiegef,  in  bem  id)  aDe  bie  medifelnben 
(Stimmungeu/  bie  fiber  mein  (iebed  ^ernauertaf  ^injogen,  fefl^aften  finnte 
—  unb  fa^  in$tt>ifd)en  ailed  in  6e$ug  auf  biefen  SBBunberfpiegef  ^in  an:  genau 
fo  mftgte  ber  ©piegel  ed  fe|ll)aften  wte  id)  ed  fa^.  @o  faf)  id)  ed  benn  aud), 
aid  ob  id)  biefer  Spiegel  felber  wire.  ®o  m6d)te  id)  fagen,  id)  wurbe  ganj 
^uge,  fc^on  lange  t)or^er  e^e  id)  fDIittel  mugte  uub  fannte,  bnvd)  bie  man 
biefe  intenfTt)e  ©e^Iuft  einigermagen  firieren  f6nne.  3fld  id)  fo  12—14  3a^re 
alt  loar,  )etd)nete  id)  t)ie(  nad)  alien  miglid)en  ^ilbc^en,  bie  mir  in  bie 
J^onb  famen,  bie  ic^  oft  auc^  auf  graued  ^acfpapier  t)ergr6gerte. 

9alb  nad)bem  ic^  aud  ber  &d)nU  tarn,  tt>urbe  id)  nad)  ^afel  }u  einem 
?it^ograpt)en  in  bie  ?ef)re  getan.  Sad  @i|cn  gefiel  mir  n\d)t  3d)  befam 
J^eimtoe^  nad)  ^emau  unb  jugleid)  ^ruflfc^merjen;  ein  2lr)t  riet  aud),  bag 
ic^  mieber  nac^  ^ernau  ge^e,  noo  ed  Diel  geffinber  fei.  Eiefe  furje  ?e^rjeit 
mar  aber  boc^  nid)t  gang  t)erIoren,  benn  40  3a^re  fp&ter  mad)te  id)  n>ieber 
^it^ograp^ien  unb  bie  ^ec^nif  mar  mir  nic^t  fo  fremb,  mie  ffe  ed  bod)  fo 
manc^em  anberen  SRaler  fein  mag*  ^fir  ein  guted  Sorflubium  ^alte  id)  ed 
and),  bag  ic^  fp&ter  ebenfaDd  in  9afet  ju  einem  Slufhreic^er  unb  Sacfierer 
in  STrbeit  fam;  mand)ed  «Oanbtt>erfti(^e,  menn  and)  nur  ^arbenreiben,  gut 
tmb  fad^gem&g  anflreic^en  unb  latfieren  lernt  man  ba  fennen,  moju  auf  ber 
•TCfabemie  fetne  (Belegenfyett  ifL 

(But  ottgefiric^en  ifl  ^a(b  gemalt! 


-4^    40  8^ 


®et  etnem  U^renfd)t(bnia(er  in  ^urtmangen  lemte  id)  wteber  ettoa^ 
me^r  t^om  fRafer^anbiofrf*  Sort  war  id)  fretltd)  ttur  ettt>a  4  SBodyen 
^ro6e$fit,  ba  bte  fRutter  bie  ©ebingungen  M  ietjmxtvai^  md)t  erfftffen 
fonnte.   STOein  SBoter  ifl  tjor^cr  fdjoit  im  3a^re  64  grftorben. 

9tad)  Qentau  iur&cfgefe^rt^  k)frf(4affte  id)  mix  ^Ifarben^  grunbterte 
^appenbecff(  unb  Setnw&nbe  unb  malte  ffetne  ^tlbdyen^  nteifi  nad)  J^o()^ 
fdinttten  ani  ^&d^ent/  bte  tdy  in  %avU  &6erfe$te.  IDod)  malte  td)  and) 
etgene  (Srfinbungen  unb  kDagte  mtc^  and)  an  ^ortr&M  nady  ber  Statun 
^ntand)t  biefer  ®a(f)en  ^tttanfte  id)  and)  in  ®t*  93Iaften  f&r  wentg,  a6er 
f&r  mtc^  bamal^  t)ie(  ®e(b.  3ci)  ftng  and)  an,  tm  ^reten  nad)  ber  Statur 
)tt  )et(f)nen  —  tc^  tat  bad  fo  t)te(  ti>te  migKd)  ^etm(td)  —  t)erflecfte  bad 

8)  7&ppd)en/  mit  bem  id)  metfi  ©onntagd  am  (tebflen  tn  ben  tteffien  9Ba(b 
^tnaudgtng/  unter  ber  ^adt,  mil  bte  Stad^barn  btefe  ^trlefanjereten  ntc^t 
geme  fa^en* 

9Bte  unb  toad  metn  etgentltd^er  Senif  fetn  foKte^  wu^te  id)  k)or  metnem 
neunje^nten  Sa^re  noc^  nid)t  —  ©te  flWutter  f)atte  ebenfo  wit  an  meinem 
etnfHgen  ®c^tefertafe(gefrt$e[  t^re  ^reube  an  bm,  roai  id)  je$t  mac^te  unb 
fie  t)erf(^affte  mtr  gro^em  9u6  mit  aDer  eigenen  Sfufopferung  fo  t)iel  freie 
3eit  aK  nur  mi^lid),  bag  id)  meinen  $ie6^a6ereien  nad){)&ngen  fonnte« 

fRein  nic^t  erla^menber  Jtunfltrieb  fanb  aber  nac^  unb  nad)  bei  ^e^ 
fannten  unb  anberen  J^erren  ber  3Imtdflabt  ®t  ^(aften  9ead)tung  unb 
burd)  93ermitt(ung  t)on  bort  unb  nac^bem  ber  IDireftor  ber  ^arfdru^er  £unfl^ 
fd)u(e,  &d)imtt,  meine  Sfrbeiten  fe^r  g&nflig  btQntad)tet  t)attt,  ebneten 
einige  ^nflfreunbe  unb  befonberd  ber  ®ro0^er)og  bte  erflen  9Bege^  fo  bag 
id)  im  J^erbfl  1859  in  bie  Jtunflfc^ule  aufgenommen  wurbe. 

J^iermit  ^6ren  meine  3(nf&nge  ber  Ihtnfl  auf  unb  bie  afabemifd)e  (tt^ 
jie^ung  f&ngt  an. 

^enn  id)  nun  inv&dblide,  fo  ftnbe  id),  bag  ed  bod)  eine  gute  du 
)ief)ung  )ur  Aunfl  war^  bie  id)  aid  SSorbereitung  jum  eigentlic^en  Stubium 
mitbrac^te,  unb  bag  eigentlic^  nic^td  t)erIoren  gegangen  i{t,  mad  id)  mit 
ermorben  ^abe^  menu  ed  and)  mit  t)om  3iele  abjuliegen  fd)ien. 

®o  t)ie(  ^ilber^  mie  man  je$t  ben  Ainbem  jur  Srjie^ung  jur  Stnn^ 
t)or(egen  fann^  ^atte  id)  frei(id)  nic^t;  me(leid)t  ^at  aber  gerabe  biefer 

9)  ?ange(  meinen  ^nfltrieb  baf)in  gebrad)t,  bag  ic^  mir  felber  ^ilber  )U 
mad)en  t)erfud)te«  IDurc^  bad  SBorlegen  aDer  m6gnd)en  ^ilber  merben  bie 
^inber  t)ie((eid)t  ^unflfenner;  ^nfller  merben  bod)  nur  bie,  in  benen  ber 
ge^eimnidt)oIle  Zrteb  jur  eigenen  ^et&tigung  grog  genug  ifl  —  benen  er 
g(eid)fam  angeboren  ifl.   9Iur  biefe  beffegen  aOe  J^inberniffe. 

Sad  ifl  and)  gut,  bag  ed  fo  ift,  benn  baburd)  mirb  ber  ^nfl  i^r 
f)6d){lti  ®ut  gett>a^rt,  ber  Sufammen^ang  mit  bem  tiefflen  Dafein,  ber  gar 
oft  fe^r  t)erfd)ieben  ifl  Don  bem,  tt>ad  ftcf)  bie  ®d)uln)eid^eit  aid  ^nfl  tr&umen 
laffen  faun. 

Tbai  Se^agen,  bad  in  ber  ^tudfibung  einer  Aunfltdtigfeit  liegt,  ifl  fe^r 
grog,  unb  man  barf  rno^I  anne^men,  bag  ber  Jtfinfller  ein  bet)or}ttgter 
^enid)  Ui*  Ded^alb  bfirfte  and)  bad  bigd)en  9ebendmif6re,  and)  mnn  ed 
oft  t){el  ifl,  bad  jubem  ber  A&nfller  mit  aOen  anberen  fRenfd)en  gletd)m&gig 
)u  tragen  ^at,  nidjt  in  mic^tig  genommen  merben.   Dad  Serfennen  ber 


41 


Otttwelt^  ba^  ja  (fiber  ^ter  unb  ba  aud)  borfommt^  burfte  and)  nur  bent 
C^rget)  etnen  ®tof  geben,  aber  ba^  etgettt(td)e  9Befen  barf  e^  nid)t  trritteren* 

Ibit  Ttnf&xiQt  ber  Xnnft  werben  tntmer  tnfltnftit)er  fflatux  fetn«  X)te 
(SviietjunQ  t)otl)te^t  fic^  unben>ugt  —  bte  ©runblage  wtrb  gelegt  ju  etner 
nac^fofgettben  benou^ten  (Sr}ie^ung  unb  TlnibilbnttQ,  tottd)t  tmmer  fo  6en)U0t 
fetn  foO,  bag  fte  bte  mittouite  @r)tef)ttn9/  bte^  Capital  refpeftiert 

3n  biefe  bemugte  <Sr)te^ung  fant  id)  in  ntetnent  jwanjtgflen  Seben^^ 
ja^re*  Ibit  Se^r|etr^  bte  in  ber  Aunfl  ntd)t  abjufd^Kegen  fc^etnt  (Si  ^anbelt 
flc^  bod)  urn  ben  Xudg(etd)  )n)tfd)en  bent  Snfitnfttben  mit  bent  bell  95en)ugten; 
bte«  mad)t  bte  SBege  ber  Aunfl  fo  fd^mer,  jugletc^  aber  and)  fo  (ebendt)oD* 

(Sin  ®uc^en  unb  fXingen  nac^  bent  boUen  Tiuibtnd  feenfd)er  SBorg&nge^ 
(InnKc^er  SorfleOungen,  ein  Dbjefttbierenwonen  ber  ®e(t^  n>ie  fte  fid)  in 
itnferent  @eiu  unb  ®inn  barfledt/  ein  ®ud)en  nadj  ben  materieOen  SRittefn, 
bie  biefeni  Stu^brucf  fTd)  f&gen  ntftffeu/  bad  tfl  ber  n)ette  ^eg  jur  StmH, 
mterreid^bar  unb  bod)  bor^anben  auf  jeber  Stufe,  ju  ber  reined^  unegoiflifd^ed 
@treben  gefitl)rt  tjat 

9Bie  ic^  ntir  aber  bie  fpflentatifd^e  (Srjie^ung  jur  £unii  auf  einer 
Titabmit  benfe^  ^abe  id)  berfud)t,  in  einent  Sortrag  }u  erirtem^  ber  in  ber 
,,XOgemeinen  S^itung"  abgebrucft  tonvbe.  J^ier  tj&ttt  fobann  bie  reine  93er^ 
fianbedarbeit  einjufe^en^  bie  ftd)  flar  )u  totxitn  Derfuc^t  uber  bie  fDtitttl 
unb  ^omten,  in  bie  ffd)  bad  S^aod  ber  (Smpftnbungen  untfe$t  junt  tlaun, 
pr&)ifen  Tltabxnd. 

®d)Ke0(i(^  ifl  ed  bod)  ber  Hare  SSerflanb^  ber  bad  J^6d)fle  in  ber^unfi 
^erborbringt;  —  aber  ber  Serflanb  miigte  fo  berfl&nbig  mxbtn,  bag  er  ftc^ 
immer  bom  (ebenbigen  ®efii^[  (eiten  (dgt 


Die  Kunststadt  Mtinchen. 

Von  Paul  MarBop  in  Munchen. 

Ein  Stuck  Selbstbewusstseln:  das  gebt  dem  Suddeutacben  zur  Zeit 
nocb  ab.  Er  ist  gefestigt  und  stark  in  seiner  Eigenheit:  er  hat  alte 
Knltur;  er  erflndet  und  gestaltet  aus  der  Fulle  einer  reichquellenden, 
von  einer  Freigebigen  Natur  genihrten  Pbantasie.  Doch  es  widerstrebt 
itam,  die  Summe  seines  KSnnens,  seiner  Vorzuge  zu  Ziehen.  Widrig 
ist  ibm,  was  irgendwie  nach  Eigenlob  schmeckt.  Rasch  zur  Tat  gerfistet, 
aber  just  keiner  der  Mundfertigsten,  wird  er  voUends  wortkarg,  wenn 
andere  von  sich  zu  sprechen  beginnen.   So  stellt  er  oft  sein  geistig  Gut 


42 


unter  den  Scheffel.  Und  so  kommt  es,  dass  ihn  die  unterschitzen,  die 
nach  dem  Schein  urteilen.  Sorglos,  vertriglich,  hier  und  da  auch  bequem, 
findet  er  sich  darein  —  bis  zu  dem  Grade,  dass  er  sich  schliesslich 
selbst  unterschitzt  und  mit  einem  Ruckplatz  im  Welttheater  vorlieb 
nimmt.  Er  macht  kein  Wesens  davon,  dass  er  ideelle  Werte  schaift, 
welche  die  besten  Reserven  des  Volkswohlstandes  sind.  Gew&nne  er 
voile  Klarheit  uber  das,  was  er  vermag,  so  wurde  sein  Selbstbewusstsein 
wachsen,  seine  Kraft  sich  steigem,  sein  Ansehen  sich  gewaltig  heben, 
sein  Einfluss  in  vielen  Dingen  entscheidend  werden. 

«  « 
« 

Vor  einiger  Zeit  brachte  ein  himischer  Ndrgler  das  Wort  .vom 
»Niedergang  Miinchens  als  Kunststadt*  in  Umlauf.  Tat  er's  aus 
Originalititshascherei  oder  im  Auftrage  anderer?  Gleichviel:  jenes 
Wort  wurde  begierig  von  den  vielen  aufgegriffen,  die  an  ihren  Vorurteilen 
gegen  kemhafte  baierische  Art  im  besonderen,  gegen  freies  suddeutscbes 
Wesen  im  allgemeinen  zih  festhalten.  Sie  schlugen  auf  Munchen,  sie 
meinten  den  gesamten  deutschen  Siiden,  den  sie  ein  wenig  zu  ducken 
versuchen  wollten.  Dessen  wurde  man  an  der  Isar  nicht  gewahr.  Der 
Angriir  war  heimtiickisch;  die  Abwehr  fiel  matt  und  ungeschickt  aus. 

Wie  konnte  man  sich  auf  eine  Erdrterung  uber  eine  angebliche 
Nebenbuhlerschaft  Munchens  und  Berlins  auf  dem  Gebiete  der  Kunst 
uberhaupt  nur  einlassen?  Eine  Kunststadt  ist  doch  nur  ein  Ort  zu 
nennen,  an  dem  ein  kriftiges,  ursprungliches  Kunstschaffen  sich  jahraus 
jahrein  offenbart  und  fiir  das  gesamte  Gemeinwesen  die  beherrschende 
Note  angibt  —  nicht  ein  Ort,  der  allerdings  mit  Recht  als  guter  Bilder- 
markt  und  Tanti^men- Regulator  angesehen  wird,  der  jedoch,  da  er  das 
politische,  militirische  und  geschiftlicbe  Zentrum  des  Reiches  ist,  just 
deshalb  nur  ausnahmsweise  einmal  einem  Kunstler  gestattet,  sich  zwischen 
Kaseme  und  Stadtbahn  nach  seiner  Weise  auszuleben  und  auszutrdumen? 
Ohne  Entrustungsausbriiche,  ohne  elegische  Klagen  hfltte  man  den  Tadlem 
und  Neidem  all  das  in  gedrflngter,  ubersichtlicher  Zusammenstellung 
vorweisen  sollen,  was  Munchen  als  kunstlerischer  Vorort  des  deutschen 
Sudens  in  den  letzten  dreissig  bis  yierzig  Jahren  seinem  vHaben*"  zu- 
zuschreiben  imstande  war.  Nflmlich: 

Das  Wiedererstarken  des  Kunstgewerbes.  Die  Begrundung  von  Schulen 
und  WerkstMtten,  in  denen  sich  nach  langen  Perioden  geistiger  Abh&ngigkeit 
zuerst  wieder  eine  Heimatkunst  ihrer  Zeit  gem&ss  schdpferisch  bet&tigt. 
Die  Verpflanzung  solcher  Bestrebungen  durch  M&nchner  Kunstler  nach 
Stuttgart  und  Darmstadt,  nach  Dresden  und  Berlin,  fiber  die  Alpen  und 
fiber  den  Ozcan. 

Das  Entstehen  und  Anwachsen  neuer  mSchtiger  StrSmungen  in  der 
Malerei.  Die  erste  deutsche  ^Seze^sion*',  hervorgerufen  und  befestigt 
durch  Georg  Hirth,  gefSrdert  durch  einen  hochsinnigen,  vorurteilslosen 
Regenten.    Das  Hervortreten  einer  stattlichen  Reihe  junger,  starker 


43  g.^ 


Begabungen:  die  Ruckkehr  zur  Natur,  der  Triumph  der  Hellmalerei, 
das  Zuruckdringen  uberlebter  Konventionen.  Im  Zusammenhang  damit: 
eine  durchgreifende  Reform  der  Ausstellungstechnik,  die  bald  fur  Inland 
und  Ausland  vorbildlich  wird. 

Fortschritte  und  ausschlaggebende  Neuerungen  im  Bereiche  der 
szenischen  Ktioste.  Das  Munchener  Residenztheater  erschliesst  als  erste 
deutsche  Hofbuhne  Henrik  Ibsen  seine  Pforten:  die  Wendung  zum  Realis- 
mus,  der  Beginn  der  noch  keineswegs  ausgetragenen,  ftir  die  Entwicklung 
der  deutschen  Dichtung  und  der  modemen  Darstellungskunst  gleich 
bedeutsaroen  Kdmpfe  zwischen  idealistisch  gehobenem  und  realistisch  aus- 
deutelndem  Stil  im  gesprochenen  Drama.  Die  Erdffnung  des  Munchner 
.Schauspielhauses*,  des  ersten  zweckvoU  fiir  die  Wiedergabe  des  intimeren 
Gesellschaftssttickes  angelegten  und  sinnvoll  ausgeschmSckten  Theaters.  • — 
Wiederumauf  der  Hofbuhne:  die  Einrichtungder  vereinfachten,  insbesondere 
fur  eine  getreue  Wiedergabe  der  Tragddien  Schillers  und  Shakespeares  ge- 
eigneten  Szene:  der  erste,  hoch  dankenswerte  Versuch,  den  verderblichen, 
durch  die  Meininger  und  ihre  Nachtreter  herrschend  gewordenen  De- 
korations-  und  Ausstattungsluxus  einzuschrinken,  den  Schwerpunkt  des 
Bfihnenspieles  wieder  auf  lebendig  gefuhrten  Dialog,  schlicht  wirksames 
Spiel  und  klar  gegliederte  Gruppenplastik  zu  legen.  —  In  der  Oper: 
die  Einburgerung  der  Werke  von  Peter  Cornelius.  —  Possart,  der 
Generalissimus:  die  Logik  eines  meisterlich  klugen,  jeden  Winkel  der 
Handlung  scharf  beleuchtenden  Realismus  tritt  in  die  Opemregie  ein. 
Die  Munchner  Mozart -Renaissance,  das  schSnste  kulturhistorische 
Illustrationswerk  fur  Musikfreunde.  —  Die  ErdfTnung  des  Prinzregenten- 
theaters:  die  Kunststadt  Munchen  nennt  unter  alien  grSsseren  Gemein- 
wesen  des  Reiches  zuerst  ein  sich  an  das  Vorbild  des  Bayreuther  Theaters 
anlebnendes,  echtes  und  rechtes  deutscbes  Bubnenhaus  ihr  eigen.  Die 
festlichen  Auffuhrungen  Wagnerscher  Dramen.  Die  Klassiker-Vor- 
stellungen  an  gleicher  StStte:  eine  vom  Zuschauerraum  v511ig  getrennte 
Buhne  weist  auf  Mdglichkeiten,  auch  im  rezitierten  Schauspiel  wieder 
zu  stilistisch  abgeklirtem  Vortrage  zu  gelangen.  —  Die  Munchner  Er- 
fahrungen  und  Erfolge  schlagen  durch.  Der  Bau  flhnlicher  H&user  wird 
anderwirts  in  Aussicht  genommen  und  vorbereitet.  Eine  Wendung  in 
der  Theatergeschichte  kundigt  sich  an. 

Im  Entwicklungsgebiet  der  freien  Musik:  der  MQnchner  Richard 
Strauss  tritt  das  Erbe  Franz  Liszts  an  —  Beginn  der  zweiten  Periode 
der  symphonischen  Dichtung. 

In  der  Architektur:  das  neue  Nationalmuseum.  —  Das  allmShliche 
Heraufkommen  eines  neuen,  aus  bodenstdndigen  Traditionen  einer 
frttchtbaren  Vergangenheit  organisch  herauswachsenden  Stiles.  Was 
anderwirts  bei  muhsamem  Tasten  im  einzelnen  sich  meist  noch  als 
spielerischer  Versuch  anlSsst,  erhMlt  bier  bereits  kunstlerische  Gestalt. 
(Schvabing  und  Bbgenbausen.)  Monumehtale  Brunnen  (Hildebrand) 
und  BrScken. 

Endlidi:  die  Entstehung  von  Kunstzeitschriften  ersten  Ranges,  mit 
erstannlicben,  bisfaer  unerhSrten  Leistungen  auf  dem  Gebiet  der  kfinst- 


lerischen  Reproduktion.  —  Die  vordetn  noch  unerreichte  Verschwistening 
von  Bild,  lyrischer  oder  satirischer  Poesle  und  fein  abgestimmter  de- 
korativer  Zutat,  wie  sie  in  der  .Jugend*  zutage  trat.  Der  Jugendstil* 
kann  freilich  mit  billigen  Mitteln  schlecht  nachgeiift  werden;  dass  er 
ein  neues,  triebkrdftiges  Element  im  gesamten  modernen  Kunstwesen 
darstellt,  wird  kein  Verst&ndiger  bestreiten. 

Dies  also  eine  knappe,  keineswegs  luckenlose  Aufrechnung  dessen, 

Fortschritt  heisst  nicht:  nervSses  Aufepuren  von  etwas  Verbluffendem, 
noch  niemals  Dagewesenem.  Sondern  riistiges  VorwSrtsschreiten  auf  der 
Entwicklungsbahn,  welche  die  fuhrenden  Geister  im  Volke,  welche  vor 
allem  die  Genien  der  Kunst  freilegen.  So  verschwimmen  auch  die 
Zukunftsaufgaben  Munchens  keineswegs  im  neurasthenischen  Nebel. 
Vielmehr  sind  sie  in  ihren  Umrissen  deutlich  zu  erkeonen.  Es  sei  ver- 
sucht,  auch  sie  mit  bundigem  Wort  zusammenzufassen.  Was  gilt  es  in 
Angriff  zn  nehmen  und  auszugestalten,  was  tut  not? 

Im  Gebiet  der  bildenden  Kunste.  Neuordnungen  der  grossen 
Staatssammlungen:  Einteilung  der  Pinakotheken  in  Ehrenslle»  welche 
die  allseitig  anerkannten  Meisterwerke  in  sich  vereinigen,  Feierrlume 
ftir  isthetische  Erbauung  und  Erziehung  sein  soUen  —  und  in  historische 
Galerien,  die  den  grossen  Tross  der  Schulbilder  beherbergen  und  in 
erster  Linie  Studienzwecken  dienen.  Munchen  musste  den  Ehrgeiz 
haben,  als  erste  Residenz  seine  Pinakotheken  zu  wahren  Volksbildungs- 
Anstalten  umzuschaffen.  —  Zu  begrunden  ist  ein  stidtisches  Museum, 
das  einen  Oberblick  fiber  das  Werden  der  im  engeren  Sinne  beimischen 
Kunst  gewShrte.  —  Durchgreifende  Reform  der  grossen  Kunstaus- 
stellungen,  die  in  ihrer  jetzigen  Einrichtung  sich  uberlebt  haben  und 
nicht  mehr  recht  j^zugkriftig''  sind.  Bau  eines  Ausstellungshauses  auf 
dem  Terrain  des  Glaspalastes,  mit  durchgingig  guten  Lichtverhiltnissen. 
Mindestens  ein  Drittel  des  Flicheninhaltes  wird  im  vomherein  dem 
Kunstgewerbe  vorbehalten.  Wiedervereinigung  der  getrennten  Kunstler- 
gruppen  unter  staatlicher  Agide.  Abwechselnd,  ein  Jahr  um  das  andere: 
eine  deutsche  Kunstausstellung,  und  eine  Internationale  mit  Ausschluss 
Deutschlands,  um  hier  wie  dort  genugsam  Eigenartiges  und  WertvoUes 
bieten  zu  kdnnen.  Nicht  mehr  als  zwdlf  SUle  fur  die  Malerei,  drei  fur 
die  Plastik,  und  die  entsprechenden  Riume  fur  die  Schwarz-Weiss-Kfinste, 
sowie  fur  architektonische  Pline  und  Modelle.  —  Begrundung  einer 
staatlichen  Hochschule  oder  Akademie  fur  Kunstgewerbe,  mit  aus- 
gedehnten  Werkstitten  und  stindigen  Ausstellungs-LokalitSten. 

Im  Bereich  der  szenischen  Kfinste«  Vor  allem:  systematiscbe 
Ausnutzung  aller  ideellen  Vorteile  und  praktischen  Gegebenheiten,  die 
das  Prinzregenten-Theater  mit  seiner  besonderen  Buhnenkonstruktion, 
seinem  verdeckten  Orchester  und  seinem  amphitheatralisch  ansteigendem 
Zuschauerraum  bietet  Keiri  Zdgem,  damit  Munchen  die  Prioritit  des 
Fortschritts  auf  alien  hier  in  Frage  kommenden  Teilgebieten  der  drama- 
tischen  Darstellung  gewahrt  bleibe.  Mit  das  wichtigste:  das  Prinz- 
regenten-Theater muss  die  Kontinuitit  der  Entwicklung  im  musikaltschen 
Drama  aufzeigen,  muss  ein  ^Bayreuth  derjungen   werden.  Voreinem 


-4-8   45  J.^ 


halben  Jahr  veroffentlichte  ich  elnen  .erweiterten  Festspielplan*  fur 
dieses  Haus;  ich  bringe  ihn  hier  wieder  in  Erinnerung: 
was  die  Kunststadt  Munchen  wihrend  der  letzten  Jahrzehnte  fur  sich, 
fur  Deutschland,  fur  die  zivilisierte  Welt  geschaffen  und  ins  Werk 
gesetzt  hat 

Im  Zeichen  des  entschiedenen,  jeweilig  mit  Notwendigkeit  nick- 
sichtslos  vordringenden  Fortschrittes  auf  alien  Gebieten  der  Kunst  hat 
sich  Munchen  seine  Stellung  im  neuen  Reich  erobert.  Solchergestalt 
kam  der  Freisinn  des  deutschen  Siidens  zum  Ausdruck.  Bleibt  Mtinchen 
die  Stadt  der  Jungen  und  sich  jung  Erhaltenden,  der  Wagenden,  derer, 
die  mit  jedem  lebfrischen  Heute  gegen  jedes  kopfhSngerische  Gestem 
revolutionieren,  dann  wird  ihm  die  Zukunft  gehdren.  Wenn  nicht,  wird 
es  mit  der  Zeit  einschlafen,  sich  aus  den  Zentren  regsamen  Lebens 
ausschalten,  und  im  dumpfen  Brodem  eines  kleinstaatlich  angehauchten 
Philisteriums  verkummern. 

I.  Im  Friihling,  um  die  Pfingstzeit: 

A.  Zyklische  Darstellungen  von  Werken  Schillers,  Goethes, 
Shakespeares,  Kleists,  Hebbels»  Grillparzers. 

B.  Auffuhrungen  von  musikalisch-dramatischen  Werken 
zeitgendssischer  Tonsetzer. 

IL  Im  August  und  September:  Auffiihrungen  von  Werken 
Richard  Wagners. 

III.  In  der  Weihnachts-,  sowie  vor  und  in  der  Karwoche:  Auf- 
fuhrungen von  Tonschdpfungen  religidsen  Charakters,  die 
eine  szenische  Wiedergabe  zulassen. 

IV.  An  historischen  Gedenktagen  und  anlisslich  allgemeiner 
Landesfeierlichkeiten:  festliche  Auffuhrungen  von  Werken, 
in  denen  ein  edler  patriotischer  Geist  sich  kiinstlerisch  aus- 
spricht  —  von  Kleists  ^Herrmannsschlacht*"  bis  zu  Martin 
Greifs  Dramen  aus  der  bayerischen  Geschichte. 

V.  Fest-  und  Volkskonzerte  bei  geschlossenem  Buhnenvorhang, 
in  Benutzung  des  verdeckten  Orchesterraumes  und  bei  ab- 
gedflmpfter  Saalbeleuchtung,  mit  ilterer  und  neuerer  sympho- 
nischer  Musik. 

Filr  sp&tere  Zeiten,  bei  wachsender  Einwohnerzahl:  Bau  eines 
architektonisch  ganz  einfach  gehaltenen,  der  Stadt  Mtinchen  gehdrenden 
und  von  ihr  verwalteten  Volkstheaters,  womdglich  in  Fachwerk,  gleich- 
falls  mit  amphitheatralisch  gehaltenem  Zuschauerraum  und  verdecktem 
Orchester. 

Auf  dem  Felde  des  otfentlichen  Musiklebens:  Bildung  eines 
stMdtischen  Orchesters,  beziehungsweise  Umwandlung  des  Kaim- 
Orchesters  in  ein  stftdtisches.  —  Bildung  eines  grossen  gemischten 
Chores,  dessen  Dirigent  v511ig  unabhingig,  also  an  keinem  staatlichen 
Institut  tatig  ist.  —  Bildung  eines  Volkschores.  —  Bau  eines  den  An- 


forderungen  uoserer  Zeit  genugenden  UaterrichtsgebMudes  fur  die  endlich 
nach  den  VorschlMgen  Richard  Wagners  und  Hans  von  Bfllows  zu 
reorganisierende  .Akademie  der  Tonkunst";  darin  Buhnen-  und  Konzert- 
saal  —  beide  mit  verdecktem  Orchesterraum.  Zwei  Seitenfltigel;  im 
einen  wire  eine  unter  historischen  Gesichtspunkten  geordnete  Instru- 
mentensammlung,  im  anderen  die  musikalische  Abteilung  der  Staats- 
bibliothek  unterzubringen. 

« 

Noch  eines  ist  fur  die  Zukunft  der  Kunststadt  Mtinchen  von 
hdchster  Bedeutung:  Erhaltung  der  landschaftlichen  Schdnheit  der  engeren 
und  weiteren  Umgebung.  Durch  gewerbliche  Anlagen,  durch  die  Hiufung 
von  LandhMusem,  die  dem  Charakter  der  Gegend  nicht  immer  mit 
Verstdndnis  und  Geschmack  angepasst  wurden,  hat  man  schon  manches 
verdorben.  Fur  Fremde  und  Einheimische  werden  der  Stamberger  See 
und  das  Isartal  nach  wie  vor  die  erfreulichsten  „Ausstellungsobjekte'' 
sein  —  so  lange  man  sie  nicht  entstellt.  Und  fur  die  Ktinstler  sprudeln 
im  Alpenvorland  unerschdpfliche  Quellen  der  Anregung  und  Erfrischung 
—  sofern  es  die  Spekulation  nicht  schindet.  Die  Konige  haben  Ktinstler 
nach  Munchen  gerufen,  die  Natur  bat  sie  festgehalten.  Sie  liess  sie 
sich  dem  Boden  assimilieren,  mit  ihren  Gedanken  hier  Wurzel  fassen; 
sie  fesselte  ihre  Phantasie.  Durch  sie  lernten  sie  Sinn  und  Herz  des 
Volkes  verstehen,  durch  sie  wurden  sie  zu  frohgemuten  Munchnem. 
Wer  einmal  zur  guten  Stunde  vors  Tor,  am  rauschenden  Bergstrom 
entlang  gewandert  ist  und  das  Fest-  und  Feierspiel  eines  Sonnenunter- 
ganges  im  Duft,  im  Goldglanz,  in  den  tausend  Farbenbrechungen  der 
Atmosph&re  des  Hochmoors  entzuckt  und  dankbar  genoss,  der  schwur 
sich  Isar-Athen  fur  immer  zu.  Moge  diese  Aureole  der  Kunststadt 
nie  zerstdrt  werden! 

Wie  der  Einzelne,  so  garantiert  sich  auch  die  Gesamtheit  ihre 
UnabhSngigkeit  am  besten  durch  positive  Leistungen*  Gleichviel  auf 
welchem  Felde  sie  vollbracht  werden:  mit  ihnen  erzwingt  man  sich 
Respekt,  mit  ihnen  erweitert  man  seinen  Machtbereich.  L5st  der  Sud- 
deutsche  durch  den  festen  Willen,  sich  frei  und  stark  zu  erhalten,  alle 
in  ihm  noch  schlummemden  Krifte  aus,  rafft  er  das,  was  er  bisher 
sorglos  in  heiterem  Spiel  hierhin  und  dorthin  verstreute,  zur  Fdrderung 
ernster  Arbeit  zusammen,  so  wird  sich  bei  gesteigertem  Selbstbewusst- 
sein  sein  Kdnnen  in  Bdlde  erstaunlich  mehren.  Es  ist  an  der  Zeit, 
sich  tuchtig  zu  ruhren,  mit  der  Tat  zu  erweisen,  was  man  zwischen 
Main,  Rhein,  den  deutschen  Alpen  uud  den  bdhmischen  Grenzgebirgen 
auf  alien  Gebieten  geistigen  Lebens  aus  Eigenem  erzielen  kann. 

«Los  von  Berlin"  zu  rufen,  das  bringen  schliesslich  auch  Schul- 
buben  fertig.  Doch  dem  fragwurdigen  Luxusgeschmack,  dem  Geschifts- 
virtuosentum,  der  literarischen  Grosssprecherei  einen  gesunden,  ge- 


47  8^ 


festigten,  ftirbechten  Munchner  Stil  entgegeozusetzen,  das  w&re  das  Tun 
ernster  M2nner,  die  den  rechten  Heimatstolz  haben.  War  die  Neigung 
zum  politischen  Partikularismus  fiir  Deutschland  von  jeher  ein  Ungltick, 
so  haben  ihm  im  Ringen  urn  die  hdchsten  Kulturguter  die  Dezentrali- 
sation  und  der  Wettbewerb  der  verschiedensten  Lehr-  und  Schaffens- 
stltten  immer  zum  Segen  gereicht,  ja  seine  Grosse  heraufgefiihrt.  Wohin 
die  persdnlichen  Neigungen  der  zukunftigen  Herrscher  Bayems  nur 
immer  gehen  mogen:  sie  werden  sich  ihres  edelsten  Reservatrechtes, 
der  grosssinnigen  Pflege  von  Kunst  und  Wissenschaft,  niemals  entiussem. 
Sie  werden  auch  jede  Begabung  nach  ihrer  Art  schalten  lassen,  ohne 
Isthetische  Exerzierreglements  aufzustellen.  Jedes  Opfer,  das  sie,  das 
grossherzige,  beguterte  Patrioten,  die  dem  gegebenen  Beispiel  nacheifem, 
fur  ideale  Zwecke  bringen,  kommt  im  verzehnfachten  Masse  dem  Volks- 
wohlstande  zugute.  Und  jeder  Sieg  der  Mflnchner  Kunst  bedeutet  eine 
neue  Bfirgschaft  fiir  den  starken,  dauemden,  moralischen  Einfluss  Bayems 
und  Suddeutschlands  im  Reiche. 


Deutsches  Theaten 

Von  Josef  Hofmiller  in  MQnchen. 
I. 

Die  Grunds&ule  des  deutschen  Theaters  ist  die  franzdsische  Posse. 
Das  Munchner  Schauspielhaus  hat  in  der  Zeit  vom  1.  April  1902  bis 
zum  31.  Mirz  1003  ungefihr  120  Abende  den  Franzosen  (darunter  un- 
geflhr  80  Abende  der  franzdsischen  Posse),  20  den  Russen,  25  den 
>lorwegem  und  12  d'Annunzio  gewidmet.  Anzengniber  kam  an 
5  Abenden,  Hebbel  ein  Mai  zu  Wort.  Man  glaube  ja  nicht,  dass  es  an 
andem  Biihnen  wesentlich  besser  stehe.  Wenn  man  uber  das  deutsche 
Theater  unserer  Tage  schreiben  will,  muss  man  mit  den  Auslindem 
beginnen.  Wenn  man  das  Theater  der  Gegenwart  als  das  auffasst,  was 
es  seinem  Wesen  nach  ist:  als  ein  im  allgemeinen  mittelmissig  rein- 
liches  GeschSft,  so  ist  es  nicht  mehr  als  billig,  als  dass  man  vor  allem 
von  der  fhinzdsischen  Posse  spreche.  Das  sind  die  Tatsachen.  Soweit 
sind  wir  gekommen. 

Es  gibt  zwei  Mdglichkeiten,  sich  mit  diesen  Tatsachen  abzufinden: 
die  eine  ist,  daruber  zu  schimpfen;  die  andere,  ihren  Grunden  nach- 
zugehen.    In  jedem  Fall  muss  man  eines  tun:  sie  anerkennen;  leugnen 


48  8^ 


hilft  nichts  mehr.  Am  4.  Mdrz  1900  hat  Sttdermann  das  deutsche 
Drama  gepriesen,  «das  nicht  mehr  den  Franzosen  ihre  Kntffe  und 
Schliche  abguckf  Das  war,  um  nicht  unhdfiich  zu  werden,  lediglich 
eine  Sudermftnnische  Behauptung.  Das  Gegenteil  ist  wahr.  Niemals 
war  der  Einfluss  der  Franzosen  grdsser  als  jetzt.  Niemals  ihre  Herr- 
schaft  unumstrittener.  Zwischen  fruher  und  jetzt  besteht  nur  ein, 
allerdings  wesentlicher  Unterschied:  friiher  kamen  nur  die  besten  Fran- 
zosen zu  uns,  Augier,  Dumas,  Sardou,  Pailleron,  Meilhac,  Gondinet, 
und  wurden  haupts&chlich  in  den  Residenztheatem  gespielt.  Jetzt 
kommen  vor  allem  die  Possenzoten  und  Zotenpossen  zu  uns,  Capus, 
Bilhaud,  Hennequin,  V6ber,  Feydeau,  wihrend  die  feineren  franzdsischen 
Dramatiker  der  Gegenwart  entweder  gar  nicht  zu  uns  heruberkommen, 
Oder  aber  abgelehnt  werden:  Lemaftre,  Lavedan,  Rostand,  Courteline 
Donnay,  de  Curel,  Hermant,  Fabre,  Guinon;  gespielt  werden  diese 
Possen  in  den  urspriinglich  fiirs  naturalistische  Drama  bestimmten 
SchauspielhUusem. 

Man  muss  etwas  weiter  ausholen,  um  den  Grund  dieser  bedauer- 
lichen  Erscheinung  zu  finden.  Der  Grund  ist  nimlich  der,  dass  sich 
seit  ungefahr  zwanzig  Jahren  eine  Spaltung  des  Publikums  in  mehrere 
Lager  vollzogen  hat,  eine  Spaltung,  die  wohl  an  dsthetischen  Symptomen 
erkannt  wird,  aber  auf  Skonomische  Ursachen  zuruckzufuhren  ist. 
Die  Leute,  die  Mher  in  die  Hoftheater  gingen,  waren  aus  alien  Lagem 
zusammengesetzt,  aber  den  Kern  bildeten  die  Gebildeten;  sie  bestimmten 
den  Geschmack,  sie  gaben  den  Ton  an,  in  ihr  Urteil  stimmte  die 
weniger  gebildete  MinoritUt  ein,  auch  wenn  sie  es  nicht  teilte.  Dieses 
Verhiltnis  verschob  sich  sachte,  aber  unaufhaltsam.  Fines  schdnen 
Tages  war  die  Minoritit  zur  Majoritit  geworden  und  wollte  eine  Kunst 
haben,  die  ihr  gefiel,  nicht  den  andem.  Das  zweite  Publikum  war  da. 
Ftir  dieses  zweite  Publikum  wurden  die  modemen  Schauspielh&user 
erbaut,  die  modemen  Konzertsile,  die  modemen  Kunstausstellungs- 
gebiude.  Das  alte  Publikum  hatte  mehr  Geschmack  als  Geld  gehabt; 
das  neue  hat  mehr  Geld  als  Geschmack.  Das  alte  war  geneigt,  die 
neue  Kunst  um  dessentwillen  abzulehnen,  well  sie  neu  war.  Das  neue 
Publikum  schwSrmte  fur  Kunstwerke,  wenn  und  weil  sie  modem  waren. 
Jenes  alte  Publikum  war  konservativ,  aristokratisch  und  fullte  die 
abonnierten  billigen  Logen.  Das  neue  Publikum  ist  ohne  Kontakt  mit 
der  kunstlerischen  Tradition,  denn  es  besteht  fast  nur  aus  Parvenus; 
es  ist  demokratisch,  kokettiert  mit  dem  Sozialismus;  es  sucht  in  der 
Kunst  nicht  Kunst,  sondera  Nervenkitzel,  Aufregung,  Skandal;  es  fullt 
die  teuera  Sperrsitze,  es  besucht  alles  Moderne,  weil  es  modem  ist; 
es  kauft  teure  Plitze,  weil  sie  teuer  sind;  es  ist  tiberall  vome  daran, 
wo  man  gesehen  wird;  es  schwirmt  fur  Gutes  und  Schlechtes,  Bestes 
und  Gemeinstes  unterschiedlos,  wenn  es  nur  vom  Neuen  das  Neueste 
ist.  Das  alte  Publikum  bestimmte  eine  Richtung,  das  neue  bestimmt 
den  Marktwert.  Der  Geschmack  des  alten  war  schwSchlich,  der  des 
neuen  ist  direkt  schlecht;  es  hat  uberhaupt  keinen  Geschmack;  es  hat 
nur  Geld;  und  damm  will  es  seine  Kunst  haben.  Das  altere  Publikum 


49  8^ 


batte  im  Drama  eine  Welt  gesucht,  grossartiger  als  die  seine,  freier, 
edler,  vornehmer,  als  die  seine;  darum  hatte  es  die  guten  Franzosen 
bevorzugt.  Das  neue  Publikum  will  entweder  seinesgleichen  sehen, 
also  Parventis  ohne  Geschmack,  ohne  Tradition,  Alltagsmenschen, 
die  von  mdglichst  ordiniren  Beweggrunden  geleitet  werden;  Oder 
aber  es  will  warm  und  weich  im  Parkett  sitzen  und  auf  der  Buhne 
recht  viel  Elend  sehen,  graues,  eintdniges,  unendliches  Elend:  die 
feistesten  Protzen  haben  am  meisten  fiir  die  wWeber**  geschwHrmt; 
Oder  endlicb,  es  will  Zoten.  Zoten  will  es  immer.  Mdglichst  ein- 
deutige,  mdglichst  saftige,  mdglichst  dicke,  ordinSre  und  vor  allem 
dumme  Zoten. 

Inzwischen  machte  der  Naturalismus  bankrott.  Was  ein  franzd- 
sischer  Kritiker  von  den  Franzosen  gesagt  hat,  gilt  mit  viel  mehr  Recht 
von  unsem  Jungen:  „Le  fait  litt6raire  le  plus  notable  de  ces  dix 
demidres  ann6es,  c'est  la  faillite  universelle  de  la  jeune  litt6rature, 
I'abdication  totale  des  nouvelles  g6n6rations  litt6raires.  On  n'a  vu  nul 
6crivain  nouveau  progresser  r6guli6rement,  parvenir  graduellement  ii  la 
domination  des  esprits  contemporains.  Non,  quelques  talents  ont  paru, 
puis  disparu.  Et  on  est  d^s  aujourd'hui  contraint  d'affirmer  que  rien 
ne  justifiait  Tespoir  qu'on  avait  repos6  sur  eux,  rien,  absolument  rien.'^ 

So  standen  die  Dinge  auch  bei  uns,  gerade  um  jene  Zeit,  da 
Sudermann  mit  SudermMnnischen  Argumenten  eine  SudermSnnische 
Wahrheit  verkundete.  Damals  teilte  sich  auch  das  neue  Publikum,  und 
zwar  in  drei  Lager:  Die  einen  zogen  sich  von  der  Literatur  und  vom 
Theater  zuruck  und  legten  ihr  Theatergeld  —  (Bucher  batten  sie  ohne- 
hin  nie  gekauft)  —  in  seidenen  Kleidern,  Parfums,  Zigarren,  Truffeln, 
Midchen,  Badereisen,  Gemalden  und  Terrainaktien  an.  Die  andem 
wollten  die  Zote  mit  mdglichst  wenig  Sauce:  sie  fiillten  die  um  jene 
Zeit  entstehenden  Uberbrettl.  Die  dritten  wollten  eppes  e  Spannung, 
eppes  e  Bildung  und  eppes  e  Zot':  sie  blieben  dem  deutschen  Theater, 
d.  h.  der  franzdsischen  Posse,  treu.  Von  ihnen  leben  unsere  Schauspiel- 
bauser.  Ohne  sie  wMren  sie  leer.  Sie  bestimmen  den  Geschmack,  sie 
geben  den  Ton  an,  sie  machen  den  Kurs.  Daneben  fristen .  die  vom 
litem  Publikum  damals  bevorzugten  Schauspielhauser,  besonders  die 
Hoftheater  ein  kirgliches  Dasein:  sie  nehmen  vom  Unkunstlerischen 
das  relativ  Kunstlerische,  vom  Unanstandigen  das  relativ  AnstMndige, 
vom  Blddsinnigen  das  relativ  VerstMndige.  Sie  nehmen  den  Schlafwagen- 
kontrolleur  und  die  Medaille;  sie  nehmen  'den  Hochtouristen  und 
Es  lebe  das  Leben.  Die  besten  Stucke,  die  am  meisten  einbringen, 
durfen  sie  nicht  erwerben:  denn  sie  haben  eine  Tradition,  die  sie  nicht 
auf  einmal,  sondern  ratenweise  opfern.  Die  besten  Stucke  aber,  die  am 
meisten  einbringen,  sind  heutzutage  die  ganz  unanstMndigen,  die  ganz 
unkunstlerischen,  die  ganz  blddsinnigen. 

Das  sind  die  Tatsachen.  Soweit  sind  wir  gekommen.  Was  kdnnen 
wir  dem  alien  gegenuber  tun?  Die  Augen  aufmachen,  uns  nichts  vor- 
machen  lassen,  rticksichtlos  die  Diagnose  stellen,  rucksichtlos  die 
Wahrheit  sagen,  Niemanden  und  Nichts  schonen,  nicht  die  Direktoren 

S&ddeutsche  Monitshefte.   1, 1.  4 


so 


noch  die  Verleger  noch  die  sogenannten  Dichter,  am  allerwenigsten  aber 
das  Publikum.    Und  das  —  werden  wir.  — 


II. 

Die  Deutschen  haben  keine  Tradition  im  Drama.  Welche  Vorteile 
sie  dem  Werdenden  bote,  lisst  sich  nicht  ermessen.  Sie  gibe  ihm  den 
Boden,  auf  dem  er  frei  sich  bewegte.  Sie  brichte  ihn  in  unmittelbare 
Beziehung  zu  den  Grossen  und  Glucklichen,  die  vor  ihm  geschaffen  haben. 
Vor  Geschmacklosigkeit  bewahrte  sie  ihn  wie  vor  Konvention;  sie  lockte 
sein  Persdnliches  und  Eigentumliches  ans  Licht;  denn  damit  nur  kdnnte 
er  sich  unterscheiden.  Aber  jeder  deutsche  Dramatiker  muss  wieder 
von  vorn  anfangen.  Das  bedeutet  fur  den  Einzelnen  eine  Kraftversch  wendung, 
die  tief  zu  beklagen  ist.  Unsere  Stirksten,  Hebbel  und  Otto  Ludwig, 
haben  sich  uberanstrengt  und  sind  erschdpft  auf  halbem  Wege  znsammen- 
gebrochen. 

Das  dramatische  Elend  aber,  an  dem  wir  seit  dem  Ende  der  achtziger 
Jahre  laborieren,  ist  unerhdrt.  Haben  wir  gegenwSrtig  (iberhaupt  ein 
deutsches  Drama?  Oder  hat  das  deutsche  Drama  der  Gegenwart  seinen 
Namen  davon,  dass  es  weder  deutsch  noch  dramatisch  ist?  Gehdrt  es 
zur  traurigen  Sorte  der  alkoholfreien  Weine,  der  nikotinfreien  Zigarren? 
Sicher  ist,  dass  durch  alkoholfreie  Weine  und  nikotinfreie  Zigarren  nur 
Geschmack  und  Geruch,  durch  die  Dramen  des  jetzigen  deutschen 
Theaters  aber  alle  fiinf  Sinne  auf  einmal  beleidigt  werden.  Daher  ist 
auch  der  unfahigen  Dramatikem  mit  Recht  verhasste  Theaterkritiker 
unter  alien  Rezensenten  der  am  meisten  und  aufrichtigsten  zu  bedauemde. 
Welche  Meisterwerke  hat  die  modeme  Malerei,  welch  starke  Talente  die 
gegenwirtige  Musik  aufzuweiseni  Die  Literatur  ist  ja  im  allgemeinen 
wertlos,  aber  die  Mdglichkeit  ist  wenigstens  nicht  ganz  ausgesch lessen, 
dass  auf  neun  Romane  von  Ompteda  einer  von  Rosegger  tritft.  Der 
dramatische  Kritiker  jedoch,  der  sich  in  die  erste  Auffuhrung  eines 
neuen  Stuckes  begibt,  ist  fast  stets  in  der  fatalen  Lage  eines  Polizisten, 
der  freundlich  eingeladen  worden  ist,  die  Begehung  eines  groben  Unfugs 
mit  seiner  Gegenwart  zu  verschdnem.  Jeder  neue  Dramenjahrgang  ist 
so  sauer  wie  der  vorige;  jedesmal  wird  uns  versprochen,  heuer  sei  es 
ganz  bestimmt  ein  edler  und  krflftiger  Tropfen,  —  aber  ach,  es  ist  immer 
wieder  Schreiberhauer  Milieuwinkel  oder  Griensteidler  Geniehohle.  Ist 
es  ein  Wunder,  wenn  wir  allgemach  ungeduldig  werden? 

Ungeduldig  sind  wir  in  der  Tat  geworden,  hdhnisch  und  erbittert. 
Wir  waren  so  gutmiitig,  wir  Stiddeutschen,  gutmutig  und  phlegmatisch 
wie  wir  von  je  waren,  uns  von  einem  halben  Dutzend  Ostelbier  sachte 
aus  unserem  Theater  hinausdrMngen  zu  lassen.  Unser  Mtinchner  Theater 
schien  eine  Zeitlang  am  Weichselzopf  erkrankt  zu  sein  und  ein  Hausierer 
aus  Krotoschin,  der  sich  etwa  hinein  verirrt  hMtte,  hdtte  sich  zuhause 
gefuhlt  und  lauter  bekannte  Typen  auf  der  Buhne  gesehen.  Widerlich  ist 
uns  diese  aus  Berlin  importierte  dumpfe  triibe  trostlose  Dramatik  geworden, 


-1^   51  8.<- 

widerlich  das  Lugengetdse,  mit  dem  ein  Nichtdramatiker  nach  dem  andern, 
ein  klSgliches  Werk  nach  dem  anderen  als  Zierde  unserer  deutschen 
Literatur  ausposaunt  wurde.  Das  Widerlichste  aber  war  uns  die  un- 
anstdndige  Hast,  mit  der  all  diese  Herren  produzierten.  Seit  Jahren 
haben  sie  uns  daran  gewdhnt,  dass  jeder  der  konzessionierten  Dramatiker 
deutscher  Nation  punktlich  im  Oktober  sein  dramatisches  £i  legte,  ein 
naturalistisches,  gemissigt-realistisches,  mythisch-symbolistisches  Ei,  je 
nachdem  der  Tantiemenwind  pRS.  Seit  1892  hat  Max  Halbe  elf  Dramen, 
dazu  noch  zwei  erzdhlende  Werke  veroffentiicht,  Hartleben  elf  Komodien 
and  beinahe  ein  Dutzend  Novellen,  Hauptmann  gar  13  lange  Dramen. 
Stirkere  und  tiefere  Talente  als  die  der  Genannten  —  sie  sind  weder 
stark  noch  tief  —  mussen  dabei  zu  Grunde  gehen.  Innerhalb  desselben 
Zeitraums  hat  der  alte  Ibsen,  der  glflnzendste  dramatische  Techniker 
unserer  Zeit,  nur  funf  Stucke  geschrieben,  mit  denen  kein  einziges  Werk 
von  Hauptmann  oder  Halbe  an  Tiefe  der  Psychologie,  Wucht  der 
Charakteristik,  Grossartigkeit  und  Fiille  der  Probleme^  GenialitMt  des 
Bans  und  Feinheit  des  dramatischen  Dialogs  auch  nur  von  fernster  Feme 
verglichen  werden  kann.  Man  hat  oft  ungemein  richtig  den  dichterischen 
Prozess  mit  dem  ehrwfirdigen  Zustande  der  Schwangerschaft  verglichen: 
man  denke  die  Analogie  zu  Ende:  ein  Dutzend  Kinder  in  zehn  Jahren 
—  welche  Verstindigung  am  Kostbarsten!  DQrfen  wir  uns  wundern, 
wenn  diese  dramatischen  Siebenmonatkinder  alle  kranklich,  greisenhaft 
made  und  mit  dem  Todeskeime  auf  die  Welt  kommen,  wenn  sie  ge- 
spensterhaft  und  unlebendig  uns  anstarren,  die  klaglichen  unausgetragenen 
Geschopfe?  Goethe  hat  ein  vernichtendes  Wort  tiber  die  Schriftsteller 
gesagt,  die  schon  «Annum  perdidi''  jammern,  wenn  sie  versiumt  haben, 
ihr  Saisonstuck  sSuberlich  zum  kontraktlichen  Termine  abzuliefem:  «Wem 
icb  ein  besseres  Schicksal  gonnte?  Es  sind  die  erktinstelten  Talente. 
An  diesem,  an  jenem,  am  besten  gebricht's.  Sie  mtihen  und  zwangen 
und  kommen  zu  nichts*".  Wie  von  fiirstlichen  Kindbetterinnen,  werden 
auch  von  unseren  Dramatikern  Bulletins  herausgegeben,  in  welchem 
Stadium  der  Schwangerschaft  sie  sich  befinden,  wann  das  Kind  das  Licht 
der  Welt  brblicken  und  wie  es  getauft  werden  soil.  Ein  possenhafter 
Reklameapparat  spielt,  ehe  das  Stiick  nur  bis  zum  letzten  Akt  gediehen 
ist.  Sieht  denn  keiner  dieser  Herren  ein,  dass  es  unwurdig  ist,  sich 
uber  seine  dichterischen  Absichten  interviewen  zu  lassen,  unwurdig,  in 
der  Pose  schdpferischer  Augenblicke  fur  die  ^Woche**  Modell  zu  sitzen, 
unwurdig,  sich  zum  Klatschobjekt  herzugeben  ftir  gelangweilte  Weiber 
und  Kaf6hausliteraten,  die  noch  hinter  den  Ohren  feucht  sind?  Dass 
es  nicht  nur  unwtirdig,  sondemauch  dumm  ist,  zwecklos  und  schftdlich? 
vjenes  ungestdrte,  unschuldige,  nachtwandlerische  Schaffen,  wodurch  allein 
etwas  Grosses  gedeihen  kann,  ist  gar  nicht  mehr  mdglich.  Unsere 
jetzigen  Talente  liegen  alle  auf  dem  Prisentierteller  der  dfTentlichkeit.*' 
Als  Goethe  diese  Worte  schrieb,  waren  die  ZustMnde  idyllisch  im  Vergleich 
mit  den  unseren.  Berliner  Dramatik  und  Berliner  Erfolge  sind  Mache, 
und  einander  wert.  Der  Dichter  sank  zum  Spekulationspapier;  wir  er- 
lebten  die  Emission,  die  Hausse  und  die  Baisse  des  Naturalismus  und 

4* 


-^4   52  8^ 


des  Symbolismus  fur  die  Armen  im  Geiste.  Die  Premi^ren  wurden 
immer  pobelhafter;  die  leisesten  Stiicke,  aus  feiner  novelHstischer 
Psychologie  und  lyrischen  ZMrtlichkeiten  gewoben,  wurden  von  literarischen 
Jobbem,  Maklern  und  Buchmachem  umbriillt.  Dass  die  Berliner  Kritik, 
mit  einziger,  aber  glinzender  Ausnahme  Maximilian  Hardens,  zu  diesen 
skandalosen  Zust&nden  ein  Jahrzehnt  lang  geschwiegen  hat,  urn  das  Ge- 
schaft  nicht  zu  verderben,  —  ist  ein  Symptom  der  Fiulnis;  nicht  dass 
man  Sudermann  bekimpfte,  ihn  mit  Hohn  und  Spott  behandelte, 
sondem  dass  man  einen  Sudermann  als  Dramatiker  emst  nahm,  ihn  als 
ReprMsentanten  des  deutschen  Schrifttums  duldete,  —  das  bewies  Ver- 
rohung  in  der  Theaterkritik. 

Wenn  von  den  Dokumenten  geistigen  Lebens  der  letzten  funfzehn 
Jahre  nur  die  Dramen  allein  ubrig  blieben,  und  ein  spSter  Nachkomme 
nShme  sie  geduldig  vor  und  versuchte,  aus  ihnen  sich  ein  Bild  vom 
damaligen  Deutschland  zu  machen,  —  welchen  Begriff  musste  er  not- 
wendigerweise  bekommen?  Die  Gesellschaft  die  in  diesen  Dramen  sich 
malt:  eine  kranke  unanstindige  Rotte  mit  tierischen  Instinkten,  be- 
lastet  mit  grauenhafter  Nervositfit,  eine  dumme  Sorte  von  Menschen 
im  Grunde:  albem,  arrogant,  haltlos,  kindisch;  hilflose  Jdmmerlinge, 
die  es  fur  ein  Weltereignis  ansehen,  wenn  sie  sich  einen  Schuss  in  ihr 
winziges  Him  jagen;  geile  Bengel,  deren  Horizont  nicht  iiber  einen 
Unterrock  hinausreicht ;  ekelhafte  Weiber,  die  sich  fur  Genies  halten;  — 
»es  muss  in  dem  damaligen  Deutschland  keine  anstindigen  Menschen 
gegeben  haben**,  wiirde  unser  Nachkomme  seufzen;  „die  damaligen 
Deutschen  scheinen  den  Kontakt  mit  ihrer  grossen  Vergangenheit  vdllig 
verloren  zu  haben;  sie  hatten  keine  Weltanschauung;  sie  renommieren 
in  ihren  Dramen  mit  ihrer  Geistesfreiheit;  diese  scheint  jedoch  nur 
darin  bestanden  zu  haben,  dass  sie  ihre  Dogmen  aus  Jena  anstatt  aus 
Rom  bezogen.  Die  damaligen  Deutschen  sprachen  einen  ziemlich  tief- 
stehenden  Dialekt;  selten  redeten  sie  in  zusammenhdngenden  Sitzen; 
am  liebsten  in  Interjektionen,  wie  'nja,  'tja,  ju  na  na,  ju  ne  ne.  Sie 
hatten  keinen  Geist  und  waren  gesellschaftlich  riipelhaft.  Da  siid- 
deutsche  Dokumente  fast  vollstandig  fehlen,  scheint  Suddeutschland 
damals  von  Analphabeten  besiedelt  gewesen  zu  sein.** 

In  der  That,  —  und  damit  beriihren  wir  den  Kern  der  Frage :  ist 
die  traurige  Rolle,  die  Suddeutschland  in  den  letzten  Dezennien 
geistig  gespielt  hat,  nicht  beschimend?  Was  ist  eigentlich  von  den 
Spielplanen  der  Munchner  Theater  suddeutsch?  sie  kdnnen  ebensogut 
in  Breslau  oder  Konigsberg  gespielt  werden.  Deutschland  aber  ist 
gliicklicherweise  nicht  geschaifen  fiir  eine  Zentralisation  nach  fran- 
zosischem  Vorbilde.  Das  Leben  der  Provinz  ist  zu  selbstMndig,  und 
jede  dezentralisierende  Str5mung  ist  ein  Gluck  fur  unser  Land.  Es  gibt 
nichts,  das  so  unertrMglich  langweilig  wire  wie  die  franzosische  Provinz. 
Am  allerwenigsten  aber  darf  Berlin,  der  Parvenu  unter  den  StSdten, 
das  geistige  Zentrum  Deutschlands  werden;  Paris  ist  wenigstens  von 
jeher  ein  Sitz  und  Hort  alter  Kultur  gewesen;  Berlin  jedoch,  die 
fleissigste  und  riihrigste  deutsche  Stadt,  ist  kein  Boden  fiir  irgend  welche 


53  8^ 


Ktinst.  Dass  die  Dramatik  der  letzten  Jahre  von  Berlin  aus  gleich 
einer  literarischen  Influenza  sich  verbreiten  konnte,  dass  wir  nur  mit 
den  von  den  Berllnern  abgelegten  Dramen  begluckt  wurden,  dass  wir 
tins  das  all  die  Jahre  her  ge fallen  liessen,  —  das  ist  eine  Schande 
fur  uns. 

Nun  ist  unsere  Geduld  zu  Ende.  Wir  wollen  ein  wenig  Inventur 
halten  mit  unserem  gegenwartigen  theatralischen  Besitz.  Wir  wollen  uns 
unsre  grossen  Dichter  genauer  besehen.  ...  So  also  sehen  sie  aus  I 
Das  also  sind  ihre  Meisterwerke!  Das  ist  das  Linsenmus,  fiir  das  wir 
beinahe  unsre  Erstgeburt  hingegeben  hMtten!  .  .  . 


III. 

Als  Hauptmann  vor  der  Frage  stand,  wie  er  die  Fabrikantenfamilie 
der  Weber  taufen  sollte,  wShlte  er  statt  des  wirklichen  Namens  Zwan- 
ziger,  um  niemanden  zu  beleidigen,  Dreissiger.  Der  unbedeutende  Zug 
enthullt  seine  Schwiche  besser,  als  der  lauteste  Panegyrikus  Schlenthers 
sie  drapiert.  Sogar  in  so  kleinlichen  Dingen,  wie  der  Wahl  eines 
Namens,  ist  der  angeblich  grSsste  Dramatiker  des  gegenwSrtigen  Deutsch- 
land  bis  zur  Hilflosigkeit  abhingig  vom  Alltagszufall.  Wenn  seine 
neueren  Dramen  immer  mehr  den  fatalen  Eindruck  des  Gezwungenen 
nnd  Konstruierten  machen,  so  ist  zum  guten  Telle  das  Versagen  seiner 
Jugenderinnerungen  die  Ursache  davon:  er  hat  es  nie  vermocht,  aus 
der  Fulle  zu  gestalten;  allzeit  war  er  nur  ein  ftngstlicher,  aber  ungemein 
sauberer  Nachzeichner  der  ihm  zufillig  bekannten  RealitSt.  Er  steht 
dem  Leben  kiihl  rechnend  gegeniiber.  Wenn  er  es  steigem,  in  die 
Poesie  erhdhen  will,  addiert  er;  er  verfUhrt  arithmetisch,  nicht  kiinstlerisch. 
Er  sieht  das  ZufSllige,  nicht  das  Notwendige.  Er  macht  tausend  dunne 
Tupfelchen  und  schmale  Strichelchen  und  winzig  zierliche  Kratzer  dazu, 
setzt  geduldig  und  sorgfMltig  Licht  um  Licht  auf  und  sucht  durch 
HSufang  unbedeutender  Zuge  den  Eindruck  des  Bedeutenden  zu  machen. 
Aus  Zwanzig  kann  er  Dreissig  machen,  aber  nicht  aus  Leben  Poesie, 
nicht  aus  Konflikten  ein  Drama.  Er  kann  addieren,  aber  nicht  potenzieren. 

Seinen  Johannes  Vockerat  hat  schon  Lessing  beschrieben:  „Sie 
nennen  ihn  alle  den  Philosophen.  Den  Philosophen!  Ich  m5chte 
wissen,  was  der  junge  Mensch  in  der  ganzen  Geschichte  spricht  oder 
tut,  wodurch  er  diesen  Namen  verdient?  In  meinen  Augen  ist  er  der 
albemste  Mensch  von  der  Welt,  der  in  allgemeinen  Ausrufungen  Ver- 
nunft  und  Weisheit  bis  in  den  Himmel  erhebt  und  nicht  den  geringsten 
Fanken  davon  besitzt  ...  Er  setzt  das  stolzeste  Zutrauen  in  seine 
Vemunft  und  ist  dennoch  nicht  entschlossen  genug,  den  kleinsten  Schritt 
zu  tun,  ohne  von  seiner  Schiilerin  oder  von  seinem  Freunde  an  der 
Hand  gefShrt  zu  werden  ...  Er  ist  weiter  nichts  als  ein  kleiner  ein- 
gebildeter  Pedant,  der  aus  seiner  Schwachheit  eine  Tugend  macht  und 
sich  sehr  beleidigt  findet,  dass  man  seinem  zSrtlichen  Herzchen  nicht 
dnrcbgingig  will  Gerecbtigkeit  wlderfahren  lassen  — *    Eine  dumpfe 


54 


feuchte  trtibe  Atmosphere  einen  Augenbllck  lang  von.scharfem  Luftstrome 
durchzogen,  eine  Sekunde  mude  Uchelnder  und  zweifelnder  Hoffnung, 
der  sogleich  die  ddeste  und  trostloseste  Verkummerung  folgt:  das  ist 
die  typische  Situation  der  alteren  Dramen  Hauptmanns.  Und  n  u  r  diese 
Mlteren  sind  echt!  die  triste  Echtheit  ist  ihr  einziger  Wert  I  Johannes 
Vockerat  ist  noch  echt,  der  Glockengiesser  Heinrich  hat  sich  schon  in 
den  grossen  Stil  hinaufgelogen.  Anna  Mahr  mit  dem  Loch  im  Armel 
ist  ziemlich  echt;  wenn  sie  sich  aber  als  Rautendelein  maskiert  und 
uns  weissmachen  will,  sie  sei  ein  Elementargeist,  schicken  wir  sie  zum 
Teufel.  Einsame  Menschen!  Wir  kdnnen  heute  nicht  mehr  begreifen, 
wie  man  angesichts  dieses  dramatischen  Muggelsees  ein  Thalatta-Geschrei 
erheben  konnte!  Es  gehorte  ein  so  ginzlich  kunstunverstandiges  Publi- 
kum  wie  das  Berliner  dazu,  um  diese  feine  und  stimmungsvolle  Dialog- 
novelle  fur  ein  Drama,  fur  das  Drama  zu  halten.  Johannes  Vockerat, 
der  kleine  M5chte-gem  und  Nichts-konner,  der  mit  unklaren  Zukunfts- 
verheissungen  auf  der  Buhne  herumfihrt  und  sich  und  andern  einreden 
will,  was  wunder  fur  ein  Genie  er  sei,  —  das  musste  den  Berlinem 
freilich  imponieren:  das  war  nicht  nur  Heinrich  Hart,  das  war  geradezu 
Bruno  Wille.  Warum  doch  reizte  es  Hauptmann  immer  wieder,  die  sen 
Typus  hinzustellen  ?  Den  begabten  Menschen,  dem  zum  Genie  das 
^Letzte"  fehlt?  Erst  hiess  er  Vockerat,  dann  zog  er  ein  Lederkoller 
an,  das  ihm  zu  gross  war  und  nannte  sich  Florian  Geyer,  dann  stieg 
er  als  Glockengiesser  hinauf  in  den  M&rchenwald  aus  Leinwand  und 
Pappendeckel,  zuletzt  philosophierte  er  als  Michael  Kramer.  Es  scheint 
ein  bdses  ^Erkenne  dich  selbst*"  iiber  Hauptmanns  Arbeitszimmer  zu 
stehen  . .  •  • 

In  den  Einsamen  Menschen  hatte  Hauptmann  die  Grenzen  seiner 
unleugbaren  Begabung  ausgefullt;  er  hatte  gezeigt,  was  er  konnte,  als 
Organ  einer  Zeit,  das  feine  aber  schwichliche  Organ  einer  morschen 
Cbergangszeit.  Von  da  ab  arbeitet  er  mit  deutlicher  Absicht  auf  das 
Publikum.  Seine  spateren  Werke  konnen  nur  zeigen,  was  ihm  versagt 
ist.  Sein  Streben  sich  in  den  hohen  Stil  hinaufzuringen  hat  in  seiner 
nutzlosen  Tragik  etwas  ruhrendes.  Die  Weber!  Man  versprach  sich 
eine  Revolution,  wenn  nicht  der  Gesellschaft,  so  doch  des  Theaters  von 
dem  Stucke.  Hauptmann  widerfuhr  das  grosste  Heil,  das  einem  deutschen 
Dramatiker  widerfahren  kann:  er  wurde  verboten.  Und  heute?  Kein 
Mensch  spricht  mehr  von  dieser  Serie  Musserlich  aneinandergereihter 
kinematographischer  Bilder.  Hauptmann  war  nur  der  Regisseur,  nicht 
der  Dichter  des  Weberaufstandes.  Er  sah  sich  zum  erstenmal  einer 
grossem  Aufgabe  gegeniiber:  seine  Kraft  versagte,  und  von  da  an  miss- 
riet  ihm  jeder  neue  Versuch.  College  Crampton  wurde  sofort  von 
Hauptmanns  gut  gedrillter  Heulsarmee  als  Erholung  nach  dem  Riesen- 
werk  der  Weber  verkundet.  Stolz  stand  auf  dem  Titel  das  Wort 
^Komodie"*,  das  seither  von  alien  mdglichen  Undramatikern  missbraucbt 
worden  ist.  Als  ob  man  durch  rotgoldne  Baucbbinden  eine  Sieben- 
pfennigzigarre  zu  einer  Henry  Clay,  machen  konnte!  College  Crampton 
war  eine  fleissige  Studie,  ein  scheinbar  flott  skizzierter  LenbacJb.  Kein 


55 


guter  Lenbacb.  Immerbin  aber  eine  Konzession  an  die  Tbeater.  In 
Hanneles  Himmelfabrt  scbloss  der  Dicbter  vollends  seinen  Frieden  mit 
den  Hoftbeatern:  seinen  Getreuen  bot  er  die  Riipelszenen  des  Armen- 
hauses,  seinem  zu  gewinnenden  Fiinfmarkpublikum  die  weibevoll  par- 
fumierten  Verse  des  verlogenen  Traumbimmels.  Die  Hauptmannioten 
waren  entziickt:  ibr  Favorit  war  auf  dem  Wege,  Klassiker  zu  werden. 
Berlin  W.  war  nicbt  minder  entziickt:  Zagbaftere  spracben  von  Tolstoi, 
die  Mntigeren,  deren  Ignoranz  sicb  aucb  auf  die  Scbwesterkunste  erstreckte, 
wagten  Vergleicbe  mit  Ubde,  mit  Parsifal,  mit  Rembrandt.  Beim  Biber- 
pelz  erdreisteten  sicb  literariscb  gebildetere  Reporter  bereits,  an  den 
Zerbrocbenen  Krug  zu  erinnem,  obgleicb  das  Werk  bdcbstens  mit  der 
cotnddie  roste  eines  Becque,  Ancey,  Jullien  in  einem  Atem  genannt  wer- 
den darf.  Wie  jene  war  aucb  Hauptmanns  Stiick  oppositionell  und 
pessimistiscb  in  der  Auffassung  der  gesellscbaftlicben  Erscbeinungen, 
brutal  und  kleinlicb  in  der  Zeicbnung  entwicklungsunrabiger  Cbaraktere. 
Die  wteilnabmslose  genaue  Scbilderung  der  Sicbtbarkeit^,  die  einst  Herder 
in  seiner  Adrastea  Goetben  vorgeworfen  batte,  verbalf  dem  Scblesier 
zu  einem  Erfolge.  Fiir  einen  Scbwank  zu  langweilig,  sittlicb  widerlicb, 
fur  eine  soziale  Satire  zu  verstimmend  absicbtlicb  mit  Possenmltzcben 
aufgeputzt,  obne  recbte  Lustigkeit,  obne  Mut  zur  freien  politiscben 
Satire,  verbreitete  der  matte  Scbwank,  wie  sein  Abklatscb,  der  Rote 
Habn,  wieder  jene  mufflige  KleinleuteatmospbMre,  von  der  sicb  der 
Bildungspdbel  so  angebeimelt  fublte.  Beiden,  dem  Dicbter  und  seinem 
Publikum,  feblte  die  Gesundbeit  und  der  triumpbierende  Obermut,  der 
allein  die  Komddie  recbtfertigt,  feblte  der  Geist,  der  mit  Gestalten  und 
Sinnbildem  scbaltet  und  spielt,  feblte  die  vornebme  MMnnlicbkeit.  Nocb 
mebr  zeigte  das  der  Florian  Geyer,  anlSsslicb  dessen  einige  Anbdnger 
Hauptmanns  zum  ersten  Male  Goetbes  Goetz  in  der  Reclamausgabe  lasen, 
um  seine  Inferioritat  der  neuen  Historie  gegeniiber  nacbweisen  zu 
kdnnen.  Docb  als  Hauptmann  den  Scbatten  des  frinkiscben  Ritters 
heraufbescbwor,  konnte  er  ibm  jenes  Eine  nicbt  geben,  das  allein  die 
Scbatten  zwingt  und  lockt:  Blut.  Kein  Wunder,  dass  der  von  so  obn- 
mScbtigem  Banne  Gerufene  lautlos  in  dunkle  Vergessenbeit  zuriick- 
glitt  Erst  in  der  Versunkenen  Glocke  scbuf  Hauptmann  das  Werk, 
nacb  dem  sein  Publikum  bninstig  verlangte:  das  Ideendrama  obne  Ideen 
und  das  Mircbenstiick  fur  den  reiferen  Spiessbtir^jer.  Mit  jenem  Fleisse, 
der  seine  eigentlicbe  StSrke  ist,  las  er  die  1000  Seiten  der  Deutscben 
Mytbologie  von  Jacob  Grimm  durcb,  besonders  das  secbzebnte  Kapitel: 
Wicbte  und  Elbe.  Aus  unsem  lieben  berrlicben  MUrcben  zerrte  er  die 
ergreifendsten  Ziige  auf  die  Bretter;  er  pliinderte  resolut  den  ganzen 
reicben  Scbatz  volkstumlicber  Vorstellungen,  Sagen  und  Briucbe.  Er 
konstruierte  sicb  Fabelwesen,  bei  deren  Anblick  die  bdbere  Tochter  vor 
Entziicken  laut  aufkreiscbte:  ^Jotte  docb,  der  reene  Beckliebn!"  Als 
Handlung  iibernabm  er  die  der  Einsamen  Menscben,  und  ubersetzte  sie 
aus  dem  Burgerlicb-Lamoryanten  ins  Opernbaft-Dekorative.  Das  Un- 
zulingliche  ward  f&nfaktiges  Ereignis  in  sirupsussen  Jamben.  Frau 
Adah  Barzinowsky  fublte  sicb  als  Rautendelein,  wie  sie  sicb  einige 


Jahre  spSter  als  Monna  Vanna  fuhlen  sollte.  In  SMtzen  wie  dieser: 
»Ich  weissy  dass  Leben  Tod  ist  und  Tod  das  Leben''  kundigte  sich  der 
weihevolle  Schinarren  des  Papa  Kramerschen  Nekrologes  leise  an.  Es 
ist  unglaublich,  dass  dieses  durch  und  durch  verlogene  Werk  anfaoglich 
von  dem  grossten  Telle  der  deutscheo  Kritik  ernst  genommen  wurde. 
Eine  Zeitlang  gab's  ftir  philosophisch  gebildete  Schmocke  kein  pro&t- 
licheres  Geschlftchen,  als  uber  den  Sinn  des  ahnungsvollen  Gebimmels 
eine  Broschure  zu  fabrizieren.  Noch  mehr:  auch  der  mit  der  ^Modeme'' 
kokettierende  Teil  der  Literaturprofessoren  schwenkte  mit  fliegenden 
Fahnen  ins  neue  Lager.  ^Meine  jungen  Leute  haben  sich  brav  ge- 
halten"  ruhmte  am  Tage  nach  der  ersten  Auffuhrung  ein  bekannter 
Germanist  von  den  zum  Applause  kommandierten  Mitgliedem  seines 
Seminars.  Aus  dem  MIrchenwalde  in  die  Sauerkrautatmosphare  des 
Fuhrmanns  Henschel,  vom  Ausstattungsfaust  zum  Proletariermelodram 
—  es  gehdrte  die  geistige  NeutralitUt  Hauptmanns  dazu,  einen  so  weiten 
Schritt  zu  tun,  und  die  KautschukHsthetik  der  Berliner  Kritik,  auch 
diesen  Schritt  mit  verzuckten  Hymnen  zu  begleiten.  Die  rude  Shake- 
speareverballhornung  Schluck  und  Jau,  der  larmoyante  Michael  Kramer, 
der  gSnzlich  verungltickte  Arme  Heinrich  —  Misserfolg  auf  Misserfolgl 
„Wie  fing  sich  der  Handel  so  gliicklich  an  und  wie  fast  gewaltig,  und 
wie  gehet  er  gar  so  kldglich  aus!"  Als  Hauptmann  diese  Worte  im 
Schlusse  des  Florian  Geyer  schrieb,  ahnte  er  nicht,  mit  welch  gutem 
Rechte  sie  auf  sein  eigenes  Schaifen  einst  angewendet  wiirden.  Die 
Schuld  aber  fMllt  vor  allem  auf  jene  zuriick,  die  den  ausgesprochenen 
Nicht-Dramatiker  zum  Dramatiker  fMlschten,  ihn  aus  den  Gleisen  seiner 
feinen  und  zarten  novellistischen  Begabung  herausrissen,  ihn  zum  Kurs- 
papier  fur  ihre  Theaterborse  emiedrigten  und  ihm  jedes  Jahr  ein  neues 
Stuck  abpressten. 

Das  einzig  Wertvolle,  das  sich  aus  der  Betrachtung  von  Haupt- 
manns Werken  ergibt,  ist  die  Erkenntnis  vom  unvenlnderlichen  Charakter 
des  Dramas.  Das  Drama  kann  vor  allem  die  Handlung  nicht  entbehren, 
die  ungestum  nach  vorwMrts  drMngende,  aus  den  Charakteren  selbst 
entspringende  Handlung.  Das  Drama  steht  und  fallt  mit  dem  tragischen 
Kausalnexus;  Susserliches  Aneinanderreihen  von  Szenen,  sei  es  noch 
so  fein  und  genau  beobachtet,  gibt  nie  ein  Drama.  Das  Drama  lebt 
von  Leidenschaften,  die  sich  bekMmpfen,  von  der  Entfaltung  des  Willens, 
der  sich  durchsetzen  will,  von  Kraft  und  Wucht;  es  kommt  einher  nicht 
wie  unausgesetzt  tr&ufelnder  grauer  Landregen,  sondern  in  Sturm  und 
Gewittem,  mit  Donner  und  Blitz.  Zustandmalerei  ist  kein  Drama. 
Der  beste  novellistische  ist  der  schlechteste  dramatische  Dialog.  Die 
tragischen  Probleme  sind  ewige,  keine  Zeit-  oder  gar  Tagesprobleme. 
Das  Drama  als  ein  lebendiger  Organismus  besteht  uberhaupt  nicht  aus 
Einzelheiten.  Tragische  Menschen  sind  wollende  Menschen,  kimpfende 
Menschen,  keine  deterministischen  Marionetten,  die  sich  vor  dem  Schicksal 
wehleidig  auf  die  Seite  legen.  Nicht  zart  get5nte  DImmerungskunst 
wollen  wir  im  Theater  sehen,  sondern  starke,  kuhne  Linien,  kriftige 
leuchtende  Farben.    Nicht  gedriickt  und  gedemtitigt  wollen  wir  das 


-t^    57  8->- 


Tbeater  verlassen,  sondern  in  festlicher  Begeisterung,  stolz  und  hoch- 
gemut,  und  noch  im  Trauennarsche  wollen  wir  feme  Triumphfanfaren 
vernehmen.  Danim  weisen  wir  Hauptmann  und  seine  ganze,  im  kleinen 
grosse  Kunst  zuriick.  Er  ist  kein  Tragiker,  weil  er  uns  nicht  er- 
schuttert.  Kein  Dramatiker,  weil  er  keinen  Sinn  fiir  Komposition  und 
innere  Notwendigkeit  hat.  Kein  grosser  Dichter,  weil  ihm  eine  Haupt- 
sache  fehlt:  die  grosse,  tiefe  Weltanschauung. 


5)et  ttlefftasjuc^tet. 

Sine  Srsa^lmtd  oon  SBtUelm  SBetganb  tn  W&nd)tns9^tnkan\tn. 

1. 

Tin  etnem  ^etgen  3u(tnad)mtttage  gtng  ber  2)?&nc^ener  Sttteraturboftor 
9)Iarfu^^9Rt(tner  mit  etnem  {ufammengebaOten  3ettungdb(atte  in  ber  «Oanb 
in  feinem  3(rbeit*jimnter  awf  wnb  ob.   @r  toat  einfad)  wfitenb! 

Sinige  Sage  }ut)or  war  in  einer  f(einen  @tabt  @i&bbeutfd)(anb«  ein 
®<ftuS  gefatten,  ber  in  bem  fogenannten  beutfd)en  ©Idttermalbe  ein  mer^ 
tt>firbig  faute*  (Sdfo  gewecft  ^otte:  ein  ftebjel)nidl)riger  bid)tenber  ^rimaner, 
namen«  Subn>ig  «0a(6fd)eib/  \)atte  ffc^  eine  ^uge(  bnxd)  ben  ^opf  gejagt^ 
unb  in  einem  ^riefe^  ben  man  6ei  bem  gefaUenen  Singling  fanb^  flanb  }u 
lefen,  bag  er  am  gfeic^en  2age  fein  Seben^werf,  einen  „3d)^9loman"  in 
filnf  ©4nben  abgefd)fo(Tcn  l)abe  unb  nun  al^  Sollenbeter  ber  fdjafen  f eben*^ 
poffe  entflietje,  hit  felbft  ein  ©onnenmanberer  aud  bem  @amen  3Atatl)uflra^ 
nidft  au£)u^a(ten  t)erm6ge«  jDiefer  ®rief,  ber  in  ben  J^erjen  aOer  jungen 
libenoinber  einen  l)eigen  ®d)auer  brfiberfid^er  (g[)rfur*t  „au*gel6(l"  tjatu^ 
gab  inbeffen  einigen  3^i((nfd)inbem  ®elegeni)eit  )u  fibelriec^enben  Aommen^ 
toren^  bie  eine  unglaub(id)e  Unerfal)rent)eit  in  aOen  J^6t)enbtngen  Derrteten. 
IDiefe  bI6ben  @c^mierfinfen  fatten  ofenbar  feine  blaffe  3(t)nung  t)on  bem 
eigent(id)en  Seben  ber  neuen  ®6tter^  bie  foeben^  in  ber  3eit  ber  neuen 
Stenaiffance^  n>ieber  auferflanben  maren  unb  in  itberlangen  ®e^r6cfen^  fdynoen 
miltig  ober  fdtimpfenb^  aber  fiet^  in  ®d)6n^eit^  burd)  bie  ©tragen  3farat^en£ 
nad^  bem  (Saf6  @tefanie  manbeUen^  n>o  fic^  bie  Serf(^me[)ung  alter  35itiU 
onf^auungen  tm  ^toMxd^t  moffabuftiger  92dd)te  k)oll}og;  benn  ^ier  fam  ed 
tot,  bag  Sungfrauen^  bie  burd)  Bnfafl  ober  auc^  mit  2(bftd)t  ein  ^inblein 
onf  bie  9Qe(t  gebrad)t^  aid  fDt&tter  moberner  «Oei(anbe  angebetet  n>urben  unb 
tNm  Zitantn,  bit  im  BlJ^mp  tti  ®d)aufpie(t)aufed  bie  SBelt  in  $e$en  reigen 
fa^ett,  ben  SBei^ehtg  ber  neuen  3^iten  auf  ben  lauten  flRunb  empfingen. 


58  ^ 


^ier  Dcrfcl)rtcn  bit  2Refiiaffc,  beren  ©eelen  grfinlic^  glAttjteit  me  ber  Tlh^ 
(Tnt^,  ben  (ic  fd)Iiirften,  bercn  J&offnungen  feurig  waren  wit  bit  „7lnxoxa" 
9?te$f(f)e«,  belt  jie  nid)t  lafen,  unb  beren  5IBAfct)e  ben  iWonbfd)ein  jener 
Sndc^te  getrunfen  ijattt,  bit  ©tern  nm  ©terne  fatten  fallen;  I>ier  fagen  ffe 
unb  tranfen  mtt  ben  dZeu^eUenen,  bie  nt(f)t  nur  ben  alten  J^omer  fibertrafen, 
tnbem  ffc  ben  ganjen  Jag  »erf(f)fiefen,  fonbern  and),  aW  wanbefnbe  (Spl)eben, 
bie  *e^rfeiten  be*  gried)ifd)en  2eben«  in  bie  moberne  3eit  tjtxiibtx  ju  retten 
fud)ten,  bamit  nur  ja  feine  fd)6ne  ®e|le  Derloren  gef)e  auf  bem  Jepptd^  be« 
8eben*. 

3n  einem  ber  unenblicft  l)dmifc^en  2frtifel,  bie  bad  gefattene  5itAn(^en 
in  aSerbinbung  mit  ben  jungen  SWcjftaffen  6ract)te,  war  auc^  ber  ^oftor 
iD?arfu6  9)2i(tner  ali  beren  $6rberer  unb  ®6nner  genannt;  ja/  ber  S^itung*^ 
fdjreiber  fdyeute  (id)  nid)t  ju  fagen,  ber  *ritifer  trage  bie  J^auptfdjulb  an 
bem  mefiianifdjen  Unfug,  ber  in  25eutfd)Ianb  bie  SGBelt  auf  ben  *opf  (lette, 
inbem  er  {uerfl  Heine  ^ird)en  ober  neue  @emeinfd)aften  gr&nbe,  urn  nac^^er 
ben  baju  ge^6rigen  ^tilanb  }u  ermarten.  Ser  3(nn)urf  fd)fo0  ntit  ber 
SGBenbung,  gegen  fofdjc  iWejfiadjftcftter  foUte  eigentfid)  im  Sntereffe  aHer 
3ihttx  p^antafieDoKer  3fing(inge  ber  Qtaati^antoaU  einfd)reiten« 

Diefer  Xrtifel.alfo  war  ber  (Srunb,  warum  SKarfn*  STOiltner  in  groHenber 
ffiut  in  f einem  Xtbeitdjimmer  auf  unb  ab  ging  unb  feine  ©tirn,  toe  bit 
©ebanfen  b(i$ten,  gewitter^aft  {ufammenjog:  9Bie  burfte,  fo  fragte  er  fic^ 
felbfi,  biefer  namen(ofe  ®d)mierftnf  ed  wagen^  tf)n  mit  bicfen  Aafee^aud^ 
litteraten,  biefen  ®timinung«afrobaten,  biefen  Duftlern  in  SSerbinbung  ju 
bringen?  Seit  jet)n  3a^ren  wurbe  er  nid)t  milbe,  bie  felige  @efunbl)eit  ju 
prebigen,  bie  nad)  ©djoHenbrobem  buftet  unb  burd)  bad  abgr&nbtge  ?eben 
xoit  burd)  eine  Via  triumphalis  fd)reitet/  an  beren  ®rabbenfm&(em  nod) 
ber  ©inn  bed  Sebend  in  t)immlifd)en  ®efia(ten  ®d)Ant)eit  Iad)t;  feit  )et)n 
Sa^ren  fimpfte  er,  aid  einflugreidjfter  Slebafteur  ber  „®ftbbeutfd)en  ^reffe'% 
ben  t)eiligen  ^ampf  ber  ©d)6n^eit  gegen  ©anaufen  unb  ^ro^eU/  gegen  ©ier^ 
feligfeit  unb  93aud)fried)erei,  gegen  dfll)etifd)ed  SRucfertum  unb  Senben^ 
la^m^eit;  feit  je^n  Sa^ren  fud)te  er  ben  35arbaroffagei|l  feined  SBoffed  )U 
wecfen  unb  bie  Slaben,  beren  3^1)1  auf  eine  unge^eure  gdufnid  fc^Iiegen 
lieg,  in  golbne  Xbler  3arat^u|irad  umjugfid)ten;  feit  jeJ)n  3at)ren  flopfte  fein 
junged  2alent,  fein  unbefannter  ^id)ter,  feine  fel)nenbe  ^rauenfeele  —  (ad^, 
ed  flibt  fo  Dief  grauenfeelen,  bie  bem  ?id)t  entgegenlangen!)  —  Dergebli^ 
an  feine  befdjeibene  ©d)reiber(iube;  feit  je^n  Sabren  rieb  er  ffd)  fixmiidf 
auf,  um  ?icftt  unb  ®d)6n^eit  unter  bad  SSoIf  ju  bringen  unb  bem  ungeffigen 
9ltefen  2Rid)eI  jenen  ^an{  beigubringeu/  ber  nur  fiumme  Xnbac^t  i(t 

9Bo^(  mod)te  ed  allerbingd  aud)  il)m  begegnet  fein,  bag  er  bie 
f(^&d)terne  @infenbung  eined  jungen  aRanned,  bie  it)n  im  Xugenblicf  an  bie 
^imm(ifd)e  X)umpft)eit  bed  jungen  ®oett)e  erinnerte,  ober  gar  bit  fd)mer{< 
fid)en  3(uffd)reie  etner  briknfligen  ^rauenfeele  {u  giinfiig  beurteift  unb  ba^ 
burc^  J^ofnungen  gen>ecft  tfattt,  bit  fid),  in  Tlnbttxad^t  ber  Unffd)er^eit  aSed 
©ee(en(e6end,  nun  einmal  k)ieaeid)t  nid)t  gang  erffiden  fonnten*  9Bo^( 
mod)te  )un>ei(en  feiner  $eber  fogar  bad  9Bort  9Befftad  entfc^I&pft  fein,  wenn 
and  ungeffigen  ©tropJ)en  eine  ofenbare  J&eilanbdfeele  ju  lobem  fd^iem 
3(0ein,  mar  ed  benn  feine  ©c^ulb,  bag  {urjett  tin  rid)tiged  «i^ei(anbdfe^nen 


59   8*^  * 


biefe  fficit  burc^jitterte?  Unb  toet  burfte  ffd)  rA^mcn,  ba*  3Bad)*tum  ciner 
aRenfd^enfeele  t)Draudiufet)en?  SBar  ntc^t  auf  ade  ^AOe  6effer,  bad  arme 
^I&mmd^en  einer  ®6tter^ofnung  {u  ^eDen  ®(uten  an{ufaci)en/  aid  bad  arme 
iidjtUin,  aud  bent  am  @nbe  etn  ^etlfamer  ®e(t6ranb  ent(}et)en  fonnte^  mtr 
nidjt^,  bit  nidjtd  awdjnblafen  unb  einer  jartbefaiteten  Bidjterfeele,  bie  ^UU 
leid)t  in  fd)m&^(tc^en  SBer^&ltntffen  k)erfc^maci)tete,  mtf  )u  tun?  J^atte  er  ffe 
nic^t  alle  geltebt^  bte^  tm  Sertrauen  auf  feme  mdc^ttge  ©timme^  ju  tl)m 
famen:  bte  Slaturaliflen  unb  ©pmboltfleu/  bte  9tea(tfien  unb  ^bealtfleu/  bte 
^effimilien  unb  Optimiflen,  bie  J^eibendjriften/  bie  J^etfenilien,  bie  Xrcftaiflen, 
bie  ^olorifieU/  bie  J^eimatdf&nfl[er  unb  ©c^ottenriec^er/  ot)ne  fe(b|l  bie 
Berliner  audiufcf)Iie^en?  ^attt  er  uic^t^  urn  auc^  jene  ®(f)6n^eit^  bie  mit 
nacften  ^ii^en  auf  eifigen  ®ipfe(n  ge^t^  nid)t  ju  beleibigen^  k)or  furjem  erfl 
bie  ©riinbung  bed  „^SJtaxab\i*i"  gut  ge^eigen^  beffen  {art  At^erifc^ed  $in^ 
(eitungdgebid)t,  aud  ber  gitternben  ®ee[e  bed  tiber&fi^eten  @mfi  9tuboIf 
dtaffelfamp^  bad  ^rogramm  atfer  liberjarten  aufgefieOt  ijatte:  ,Mit  tDotfen 
etwad  glicHic^  fein?" 

@ein  3ngrimm  muc^d^  aid  er  ben  3(rtifel  ein  jweited  ^Dtal  &6erlad 
unb  nun  bad  barin  t^erborgene  ®ift  erfl  rect)t  erfannte«  @r  n>arf  ffd)  in 
feinen  ®d)reib(iu^(  unb  fiarrte  finfieren  93Ii(fed  br&tenb  Dor  ffd)  ^in.  9Bad 
foDte  er  nun  tun?  9teben  ober  fd)n>eigen?  @r  entfd)ieb  ffd),  nad)  langer 
IJiberlegung/  f&r  t)orne^med  ®d)n)eigen^  oI)ne  inbeffen  in  biefem  @ntfd)(uffe 
eine  <Sr(eid)terung  }U  finben^  ba  er  im  flitfen  bie  ^a^r^eit  mandjer  93om)firfe 
anerfennen  mu^te;  Dielme^r  quotf  ein  ®efik^I  unf&g(id)en  Sfeld  Dor  biefem 
ganjen  ©d^reiberfeben^  in  bad  il)n  SBiOe  unb  @d)i(ffal  Derflod^teU/  (angfam 
unb  m&d)tig  in  ibm  auf.  $d  n>ar  nid)t  bad  erjle  ^SJialf  ba^  i^n  biefed 
®ef&^(  ibermannte  unb  bie  ©e^nfuc^t  nad)  einem  reineren^  ebleren  ?eben^ 
nad^  freier  «Oimmerdn>eite  unb  bem  fommer(id)en  £ufte  gofbener  ^efber^ 
Dor  benen  er  ein  abgeflArted  ffierf  ju  Dollenben  l)offte,  in  feiner  tieffien 
©eele  wecfte. 

SBenn  er  auf  bie  leftten  3al)re  feined  fauten  ?ebend  jurfirfblidte,  fa^  er 
eine  [ange  @d)ar  Don  9)2&nnern  unb  Don  gri&nen  ^i^ngfingeu/  Don  jungen  unb 
Don  dlteren  jungen  Samen  in  ber  (Srinnerung  Dorubermanbeln^  unb  bod)^ 
wie  feUen  bficfte  i^n  ein  reined  gfttiged  iRenfc^enauge  an!  SBer  aber  trug  bie 
®d)ufb  baran?  Der  STOofod)  ®rog|labt,  ber  bie  a»enfd)cn  ber  SHatur  ent^ 
frembet?  Der  Swi^fp^It  jn)ifd)en  ©ein  unb  ©c^ein,  ber  jeben  qudft,  ber  ffd) 
f&r  einen  ©c^ipfer  ^&It?  SBie  manege  ^err(id)e  3bee  toar  nid)t  aid  reine 
Senud  Slnab^omene  ber  neuen  3nt  bem  SReere  einer  9rufl  entfliegen  unb 
boc^  in  ffirjefler  B^K  in  ^inem  Sa^re  ober  )n>eien^  }u  einer  fd)mu|igen 
Sime  ^erabgefunfeu/  bie  fd)amIod  auf  bed  ^6beld  ®affen  ging! 

Unb  n>teber  toanbelte  er  mit  ^afligen  ©c^ritten  in  bem  9taume  auf  unb  ab^ 
wo  ftd)  bad  Seben  eined  ^fic^ermenfc^en  abfpielte.  £a  aber  ^ob  fid)  pliijlid)  Dor 
feinem  inneren  2Iuge  eine  ®eflalt  empor,  ber  er  nur  felten  geflattete/  and  bem 
9teid)e  ber  Srinnerung  in  fein  tagmac^ed  Seben  ^erein)ufd)reiten.  J^eute 
aber  mod)te  fie  mit  anbereu  ®efltalten  fommen,  um  bie  bittere  ©timmung 
fetner  ©eele  )tt  Derfl&rfen!  (Sr  ging  an  feinen  ®d)reibtif(4  unb  entna^m 
etnem  ©eitenfac^e  ein  fd)maled  Sic^tbilb  in  fllbernem  9ta^men^  bad  eine 
^od)geti>a(^fene  jugenblidye  ^rauengeflalt  in  gtted)if(^er  ®en>anbung  getgte^ 


60  8^ 


mit  einem  ^errltd^en  ®eficf)t  t)on  mitfen^after  ^tlbung  unb  gefenften  3(ugen^ 
bie  uber  i^r  etgened  @d)icffa(  nacbjufinnen  fcf)etnem  ^tefed  ®t(b  war  bte 
Ie$te  (Srtnnerung  an  etn  g(&n{enbed  ^Dfl&mfefl  im  J^oft^eater;  gait)  nnten 
am  Stanbe  fianb  ber  92ame  @tep^ante  J^Ubert  in  f(f)6ner  flarer  @d)rtft  unb 
bad  Saturn,  bcr  13.  Sanuar  1896.  3fuct)  (fc  war  einft,  aW  jungc  Un^ 
befannte,  mit  einem  ^Md^tn  garter  Sieber  )u  i^m  gefommen,  and  benen 
eine  feine,  gcbrficfte  ^rauenfeele  flagte.  @r  ^atte  (ic  ermuntert,  bie  ?ieber 
in  3eitf(f)riften  ber  i6f entKd)feit  mitgeteilt  unb  bie  fd)6ne  X)id)terin,  bie  im 
J&aufe  eine«  STOfindjener  35rauer«  aW  arme  (Srjie^erin  lebtc,  in  bie  *reifc 
eingeful)rt,  too  aDe  J^ofnungen  ber  neuen  Sett  in  jungen  ^enfd)en  (ebten* 
TM  er  jebod)  )u  bemerfen  glaubte,  ba^  it)m  bai  flRdbc^en  ein  tiefered 
3ntere|fe  entgegenbringe,  tfattt  er  langfam  oon  itft  {ur&cfge)ogen,  troQ^ 
bem  i^n  biefed  ®effi^l  ^eimlid^  tief  beglficfte;  er  war  bamafd  nid}t  gefonnen, 
ein  frembed  @d^i(ffal  mit  alien  Afimmemiffen  unb  ®orgen  auf  ffcf)  ju 
ne^men  unb  fein  Seben,  bai  nod)  in  unbefannten  SQunbern  t)or  i^m  I)er^ 
gl&n}te,  in  ben  golbenen  Adftg  einer  Siebedet^e  einjufperren  unb  um  affed 
Sugenbgl&cf  ber  iR&nnerfreif)eit  ju  bringen.  Die  ge(iebte  Siditerin  aber, 
bie  fein  Surficfweic^cn  wo^I  gefjil)It  ^aben  mugte,  tfatte  balb  barauf  in  bem 
aufgeregten  ^oetenfreife  einen  jungen  fD^ann  fennen  gelernt,  ber  eben  aH 
ber  (eibenbe  aSeffiad  bed  3ai)red  burd)  bie  @tra^en  fD^ftnc^end  fd^ritt.  9Rit 
i^m,  bem  affe  jungen  SJeutdner  bie  ^errlid)fle  Sufunft  propbejeiten,  war  ffe, 
in  beren  ®ee(e  ein  tiefed  a3er[angen  nat^  QSeglficfung  (ebte,  bann  nad) 
Berlin  gegangen,  wo  man  ba(b  niditi  me^r  Don  bem  $aare  ^6rte.  SRarfud 
SRiltner  felbfl  gebad^te  ber  Sntfd^wunbenen  nur  nod)  )uwei(en  mit  jenem 
fd)W&renben  Unbe^ageU/  bai  an  ben  ©eflalten  ^aftet,  benen  wir  ein  Un^ 
red)t  )ugef&gt  ^aben.  3n  biefem  3(ugenb(icf  jebod^  lie^  it)n  ber  3(nb(icf  ber 
t)erfd)onenen  ©eflaft  bie  i6be  feined  eigenen  Sebend  nur  nod)  tiefer  empftnben. 
9Qad  t)atte  er,  aK  SRann  t)on  ffebenunbbreigig  3al)ren,  benn  felbfl  erreid)t? 
£ein  I)oIbe«  ^Beib  fag  it)m  Doff  ©I&cf  an  (angen  SBinterabenben  )ur  @eite; 
fein  felled  ^inberlad)en  ffiHtc  feine  9ldume  mit  bem  ®Ianj  ber  Sugcnb; 
feine  5urd)t  unb  feine  J^offnung  Derbanb  feinen  SBBerftag  mit  einer  fd)6nen 
frozen  Sufunft. 

$in  wunberfamed  @et)nen/  wie  ein  J^eimwel)  nad)  ben  (id)ten  ^agen 
feiner  3ugenb,  quoS  in  feiner  9rufi  empor.  ^ern,  fern  aui  J^6^enbuft  unb 
@d)immcx  ratten  bie  SRauern  bed  9auernf}&btd)end  ®ir)t)eim/  feined  ^eimati^ 
orte*,  in  ben  ®Ianj  ber  frAnfifd)en  8uft,  unb  tief  im  Sale,  and  weid)erem 
®(an)e,  fut)ren  bie  Sftrme  ^ranfent^ald,  wo  er  bai  ©pmnafTum  btindjt,  in 
feltg  feibened  J^immeMbfau.  Sort  raufd)ten  in  bem  @i(berbuft  ber  furjen 
@ommern&(^te  bie  9t6^renbrunnen  auf  ben  alten  ^(&Qen  a(te  SD7&ren.  Sort 
ftel  ani  bunf(en  @tuben,  wo  ertofc^ene  ®efd)[ed)ter  fro^  ge)ed)t,  weinfe(ige6 
®tliid)Ux  in  bie  engen  ®affen,  wo  in  ber  S&mmerung  bie  SD7&bd)en  paar^ 
weife  gingen  unb  mit  leifer  Stimme,  in  benen  eine  a(te  felige  @e^nfud)t 
flagte,  k)om  ®d)eiben  unb  t)om  SReiben  wunbe  Sieber  fangen.  Sort  (ag  in 
^o^en  gotifd)en  ^enjlerrofen  bci  Za^ti  letter  @d)ein,  unb  ilber  bem  fd)attigen 
®ewirr  ber  fpi^en  Stege(b&d)er  fianb  ber  breite  golbne  SBonb.  Sort  war  bie 
wetc^e  Suft  t)om  Suft  ber  Stofen  unb  t>on  dlacfttigallenliebem,  t)on  St&ffen 
unb  t>on  f&gen  ^licfen  fd)Wer*  Sort  flanb  mit  einem  ^alben  ftinb  tin  junger 


61  g.^ 


^di&Ur  t)Dr  einem  flte^enbeti  ^runnett  unb  tand)te  gag^aft  etne  J^anb  in 
(filled  9Ba|fer^  in  beffen  Siefen  fid)  jmei  Ai))fe  )ueinanber  bogen^  aU  nooOten 
fte  fid)  fd)n>anfenb  fuffen  in  ber  IDunfel^eit;  in  bie  ber  @d)(ag  ber  aften 
U^ren  mdd)tig  br6^nenb  nieberffang*  Sort  gab  bai  Sungenfpiel  bed  be^ 
rul)mtrn  97{ot)renfopfed  auf  bem  a(ten  SBac^tturm  bem  feligen  ®ebi(^t  gu 
fetnen  S&0en  erfl  bie  ^eOe  Seutung,  ba^  fetne  Sr&ne  aui  bem  Xug^  bed 
9Ranned  queQe^  ber  &berf(f)attet  i(l  »om  SBanbel  aOer  B^it.  S'^it  feud^tem 
2(uge  (larrte  er  bem  3ug  ber  @d)atten  nac^,  bie  and  golbenem  jDnfte  ju 
t^m  ^er&bergru^ten. 

£a  aber  )ucfte  pliglid)  mie  ein  ©ommerbK^  bie  Srinnerung  burd)  bie 
@ee(e  bed  ^r&umenben^  ba^  einflmald  auc^  and  $ranfentl)al  brei  IDid^ter^ 
briefe  an  i^n  gefommen  waren,  bie  i^m,  bem  granfen,  ben  ©eweid  geliefert 
tyatten^  bag  auc^  bie  fc^infie  aOer  ^ranfenfl&bte^  in  beren  fflhtie  ®oetl)e 
feinen  erfien  @c^rei  getan,  enb(id)  gemiOt  mar,  nene  !Did)ter  l)ert)or)ubringen* 
(5d  n>drc  auc^,  fo  mugte  er  jid)  fagen,  ein  3Bunber  gemefen,  wenn  ber  ®ei(l 
biefer  @tabt  nid)t  nad)  fd)6ner  Smigfeit  in  @ang  unb  @agen  oerlangt  ^dtte« 
dv  entfann  (id)  nod),  ba^  er,  ^Dd)erfreut  unb  gl&cflic^  ilber  biefen  ^(uffc^mnng 
feiner  ©d)ul(labt,  biefe  ©riefe  fofort  in  feller  ©egeijlerung  beantwortet  ^atte. 

Unb  fd)Dn  flanb  er  k)Dr  einem  fleinen  @d)ranfe,  n>o  er  feine  menfd)^ 
(id)en  Sofumente  auf}uben>a^ren  pflegfe,  um  biefe  J^eimatbriefe  nun  ein 
}n>eited  iWal  ju  erfeben.  Swar  ^atte  er,  tro$  feiner  eifrigen  Srmunterung, 
niched  me^r  oon  ben  brei  bi(^terifd)en  ®ee(en  $ranfent^a(d  gel)6rt;  aOein 
n>enn  er  biefed  ®d)n>eigen  red)t  uberbac^te,  fo  fprad)  ed  nur  ffir  bie  ddjtijeit 
ber  ©egabung,  beren  erjlen  Xuffc^rei  er  belaufc^t  t)aUe;  benn  aUed  @d)te 
of  enbarte  fic^  eben  t)on  je  nur  baburc^,  ba^  ed,  feufc^  unb  tief,  bad  @d)n>eigen 
liebte,  in  n>e((^em  ade  gro^en  Singe,  bie  SD^enfc^en  unb  bie  ®6tter  fikr  ben 
Sag  ^eranreifen,  an  bem  fid)  i^r  @d)i(ffal  erf&Ut 

Snb(i(^,  nad)  (angem  2Bu^(en  in  bem  t)oQgepfropften  @d)r&nf(^en,  bem 
ein  fu^Iic^^ranjiger  SD7ifc^buft  entflieg,  ^ie(t  er  bie  brei  gefud)ten  ©riefe  in 
feiner  J^anb*  2)er  erfle  n>ar  auf  einen  rofenroten  ©ogen  gefc^rieben,  auf 
bem  nur  ganj  unten  ein  mdd)tig  grower  ^ettfled  gl&njte,  unb  jeigte  bie 
flftd)tigen  3&ge  einer  fiarfen  ^rauen^anb;  er  n>ar  nid)t  batiert  unb  lauUU: 

J^ocftDere^rtefler  J^err  ©oftor! 
@oeben  ^abe  ic^  3l)ren  TlxtiUl  &ber  bad  neue  SQeib  gelefen  unb 
fann  ic^  nid)t  um^in,  3i)nen,  menu  and)  unbefannter  SQeife,  meine 
gfii^enbe  93en)unberung  aud{ubrfi(fen«  @ie  ^aben  bad  er(6fenbe  9Bort 
gefunben:  Sad  neue  Seib  ifl  ba!  3a,  ed  ifl  nid)t  met)r  ju  (eugnen: 
Sad  neue  9Beib  ifi  ba!  ®o  (angfam  ifl  ed  in  ber  @tiae,  mie  eine 
r6fl(ic^  f&^e  ^ruc^t  ^erangereift  an  bem  93aum  ber  9Be(ten,  ba^  aOe,  bie 
ed  aid  |lral)(enb|le  ber  ^r&c^te  aufteuc^ten  fa^en,  t)erb(&f  t  bat)or  flanben. 
Sad  SQeib  fefbfi  am  aOermeiflen!  Um  eine  br&nflige  @n>igfeit  ifl  bad 
neue  98eib  feinen  jurfidgebliebenen  @d)n)eflern  Doraud*  3(ud  bem  m9flif(^ 
unterfd)iebd(ofen  Srange  nad)  bem  ^ann  an  fTc^,  and  ber  felbflftd)eren 
$riebdgen>alt  feined  niebergel)a(tenen  Urbemu^tjfeind  t)at  fein  n>al)lfid)erer 
®ine  ficft  eine  (icfttfe^enb  gen>orbene  $f9(f)e  gefcftafen,  bie  um  bie  @(^auer 
neuer  lIBonnen  unb  neuer  Seiben  meifl.   Sad  9Beib  ifl  enblic^  fD^enfd) 


62  ^ 


getDorben!  Tlui  bent  ^raummanbel  in  ber  erbtgen  ^inftexnii  ifl  feiit 
(Se^trn  cmadjtf  )u  ©c^merien  ermacf^t;  benn  je$t  fie^t  fein  ®e^trn^  ba^ 
feine  l)err(tcf)en  Setben  nut  felten  in  ber  gebenben  unb  net)menben  Stebe 
tt)re  9Qefen&gan)t)eit  ofenbaren  f6nnen.  fllodj  ift  ber  neue  SD7ann  tttd^t 
ba^  ber  nad)  ber  J^errltc^fett  be^  neuen  3Betbed  ^ungert.  (Z)er  SD^ann 
Itebt  nur  ba&  aHe  aQetb!)  92oc^  finb  bie  3(ugen  bed  SD^anned  ffir  bie 
neuen  SD7orgenr6ten  ntd)t  flarf  genug.  92o(l^  ntmmt  er  unfere  t)arrenben 
®ee(en  aid  etn>ad  3(ugenerg6$(t(t)ed^  bie  @tnne  dtetjenbed.  fHod)  ^laubt 
er  md)t  an  unferen  SCBiKen  gur  »^6l)e,  an  bie  gro^e  *atl)ar|id  be« 
neuen  SBerbend^  bie  fic^  aui  ben  ^inflemiffen  unfered  Urfeind  )u 
@onnentdIern  ^ob  unb  unfere  ^f^d^e  mit  bem  9tei)  bed  SOtittagdglficfd 
umfpie(t 

I)od)  glauben  @ie  nic^t^  i}0(^k)ere^rter  J^err  Xiottot,  ba^  eine  9){&nner^ 
l)aiferin  )u  3t)nen  fpric^t  SBir  ^affen  nid)t  ben  SD7ann^  n>enn  n>ir  it)n 
aud)  anberd  empftubeU/  aid  bad  alte  9Beib.  3(ud)  n)ir  bvaud)en  nod)  ben 
fKann;  benn  er  ifl  unb  bleibt  bem  9Beibe  bie  Sriifung  ju  feiner  Ie$ten 
tiefflen  @(^6nt)eit  9Bir  flagen  nur^  ba^  er  ben  neuen  SRittag  feined 
©I&cfed  nod)  nic^t  al)nt  unb  fennt. 

Xd),  foDiel  nod)  finnte  id)  3t)nen,  ^od)Deref)rter  J&err  Doftor,  fiber 
biefe  neue  ffieibedfe^nfud)t  fd)reiben*  IDod)  werbcn  ®ie  meine  3fnfd)auung 
fiber  bie  neue  SDBeibdpf9d)e  beffer  aud  ber  SRoDelte  fennen  lernen,  bie  id) 
3^nen  beitege«  3cl)  n>dre  3l)nen  unenblic^  t^erbunben^  n>enn  ®ie  mir  eine 
(8mpfet)Iung  an  bie  „Deutfd)e  9lunbfd)au",  ober,  tt>enn  bied  feine  @d)n>ierig^ 
feiten  ijabtn  foltte,  an  bie  ,,®artenlaube"  geben  tt>firben.  3d)  bin  fiber* 
jeugt,  bag  mir  ein  SDBort  Don  S^nen  alle  5firen  6ffnen  wirb.  SDBir  bfirfen 
nid)t  Idnger  fc^tt>eigen!  fflir  mfiffen  enblid)  reben!  SDSir  mfiffen  unfre 
®e^nffid)te  in  bie  Sett  ^inaudfd)reien!  X^enn  bie  S^it  unfred  grogen 
SKirtagd  ifl  gefommen!  

X^arf  id}  um  eine  umge^enbe  SCntmort  bitten? 

^df  jeic^ne  mit  bid)terifd)em  ®ruge 

aid  3f)re  begeiflerte  SSere^rerin 
^at^arina  J^otfd)enreiter. 

2»arfud  STOiltner  fonnte  (Id)  mit  bem  be(len  SDBiUen  nid)t  an  bie 
SRoveOe  entfinnen^  bie  il)m  mit  biefem  f(f)n)&rmerifd)em  ^rauenbrief  ind  ^aui 
geflattert  mar^  fo  n>enig  i^m  bie  ^Intmort  einfaOen  motfte^  bie  er  bem 
neuen  SBeibe  gefd)rieben  l)atte.  92un  fragte  er  jid)  fclbfl  im  ©innen:  ffiad 
mag  and  biefer  g&renben  ^rauenfeele^  bie  ba  im  unreifen  liberfd)tt)ang  ber 
Sugenb  ffd)  felbfl  ent^fiHt,  in  ber  fleinen  ©tabt  geworben  fein?  Unb  aid 
Tlntwoxt  jeigte  il)m  bie  eigene  ^^antafle  ein  bunfled  ?otfen^aupt  unb  ^erbe 
eble  3fige/  and  benen  t)eige  blaue  3(ugen  fragenb  in  bie  9BeIt  t)ernieberf a^en; 
mit  jebem  Slugenblicfe  murbe  bie  ®e|lalt  ein  bigc^en  beutlid)er  unb  flarer^ 
bid  i^n  enblid)  bad  ©ilb  tjollenbet  grftgte,  Bann  er|l  griff  er  nad)  bem 
jn>eiten  ©riefe,  bejfen  unflare  I)a|lige  ©c^riftjfige  fd)on  Dergilbt  waren,  unb 
ber  folgenbermagen  lanUU: 


-5^   63  8^ 


^xanUnti)ai,  im  SBonnemonat  1891. 
J&od)Derel)rter  ^crr  ^ottegc! 

SBoCcn  ®ic  cinem  Stingenben  btc  rettenbe  J^anb  rcict)cn?  SBottcn 
eic  cinem  Jotgefdjwieflencn  3t|re  mdd^tige  ©timme  feil)en?  3cft  barf 
tootfl  anne^meti,  ba^  3t)iifn,  ber  mit  betannttx  iitbe  alle  werbenben 
Zaitnte  Derfolgt,  meiit  9?amc  ni(t)t  ganj  unbcfannt  ifl^  Sd)  t)a6c  finf 
»Anbci)ett  gprifa  („©el)nfiicf)te",  „Der  griflcrnbe",  „Dcr  cntgitterte  ®ott", 
„J&6l)enIieber  eine*  ©dbtpangeren",  „aBeIt6ranbfIammcn'0  auf  ben  5ifd) 
ber  ©djfipfung  geworfen,  unb  einige  meiner  ?icbcr  |inb  Don  mcinem 
grogen  greunbe  Xrt^ur  ®eigler  (bent  genialen  ©(f)6pfer  ber  gro^cn 
fo^mifc^en  ©^mp^onie  ,,Die  SBeftfcfjipfung  unb  bad  2BeItgerid)t"  fur  t)er^ 
(lArfte*  Ordjefler  unb  gro^e  Orgel)/  i)ertont  worben  unb  im  Serlag 
,,5anienbe  9linge"  in  ?eipjig  untcr  bem  5itel  „®e^et  bie  ©djmerjen,  bie 
»ir  leiben!"  erfdjienen.  J^eute  geflatte  idf  mix,  S^nen  mein  neucHe* 
fflerf  „82arfenbe  SRenfd^en,  Saud^jen  ber  Sufunft!"  mit  einer  perfinfid^en 
SBibmung  ju  uberreidjen*  i%  xoit  @ie  fel)en,  auf  fleifd)far6ene*  papier 
gebrucft^  um  aud)  burd^  bad  pt)9f(fd)e  ©ubflrat  ben  neurenaiffance(id)en 
®e\)aU  bed  fflerfed  fpmbofifd)  anjubeuten*  3*  ^a6e  barin  mit  aHer 
Convention  rabifal  ge6rod)en.  Xld  ber  @rfle!  3((d  ber  Sinjige!  2Bie 
unfer  Sanbdmann  ^ntttn  tarn  idf  fagen:  3d^  ^ab'd  gemagt!  ©e^en  roiU 
id)f  tt>er  ben  STOut  ^at,  mir  nadjjufolgen!  ©ie  n>erben  in  bem  9fid|lein  (bad 
not&rfic^  wieber  totgefd^wiegen  merben  tt>irb!)  weber  Sleime  nod)  auc^  freie 
9t^9tt)men  finben*  SRit  biefen  6l6bf[nnigen  Conventionen  ^a6e  ic^  auf^ 
ger&umt  %&x  immer!  ^ad  ift  benn  ein  ©ebicf^t?  @in  ©timmnngd^ 
audf6fer!  Dad  tjci^t:  je  me^r  ©timmung  ein  ®ebid)t  aud[6(l,  be(lo 
bic^terifd)er  ifl  ed»  Sd  gibt  ffiorte,  bie  bluten,  wenn  man  jie  anfc^neibet. 
Cd  gibt  SBorte,  bie  buften.  (Si  gibt  ffiorte,  bie  ganj  Delinquedjenj  jinb-  Sd 
gibt  SBorte,  bie  aUe  friedjenben  ©djauer  bed  Unterirbifdjen  ^aben»  (5d  gibt 
SBorte/  beren  ©timmungdge^alt  reicf^er  ifl^  aid  ber  ganje  {mette  ,,^au|l". 
9lad^  folcften  9Borten  t^abe  id)  getaflet.  ®efud)t  ®erungen«  ®eb(utetl  3Qie 
©ie  fel)en^  bef}el}t  jebed  ®ebid)t  meined  9Berfed  nur  and  einem  einjigen 
8erfe.  Bwerll  jn>6lf  9lei^en  ®ebanfen(lrid)e;  bann,  um  ein  ©eifpiel  an^ 
juu^ren:  „Du  mft^tefl  mir  burcft  bie  ®emdd)er  fd^reiten!''  ©ie  fefjen,  id) 
mad)e  bie  ^t)anta{ie  mit  ®en)a(t  jur  ©d)6pferin.  ©ie  erg&njt  bie  ©uggeflion, 
bie  ic^  fotttjerAn  f)in(leUe,  3ebe  ^^antaffe  mu^  biefe  ©d)reitenbe  in 
©c^6n^eit  ju  Snbe  bic^ten.  2Bir  mfiffen  ©d)6pfer  werben.  Unb  mir 
mfiffen  atte  ju  ©d)6pfern  mad)en.  35efonberd  bie  grauen!  Ober  ne^men 
©ie  ein  anbered  ©eifpiel  and  ber  ©ammlung:  r,Der  aWonb|iral)I  ijl  Don 
nacftem  ©d)i(ffa(  fd)tt>anger!''  Die  9tuf}e  bed  aRonbf}ral)(d  unb  bie  2Bet)en 
ber  ©c^tt>angerfc^aft  (inb  ®egenfA$e,  bie  gerabeju  trandjenbente  ^erfpef^ 
tioen  er6ffnen.  Dod)  —  id)  n)iU  3i)nen  nic^t  meine  21)eorien  Dortragen* 
9Bad  liegt  auc^  an  ben  ^^eorien  eined  Dic^terd!  92id)td!  £)ber  nic^t 
Diel!  Ober  aOjumel! 

SWir  ijl  ber  3fuf|iieg  nid)t  leic^t  geworben.  3d)  ^abe  fd)on  Diel 
unter  mir.  Dber  fiber  mir.  Dber  nod)  nic^t  »or  mir.  3d)  t)abe  fd)on 
mele  ®prad)en  gefprod)en.  Xber  bie  ©prad)en  f)aben  nic^t  mic^  gefproc^en. 


64 


X)a^  tfl  ber  Unterfc^tebl  Da^  tfl  abet  and)  aUt^l  3e$t  tebe  id)  nur 
meineit  ^Idnen.  3cf)  trdume  )oon  einem  fo^mifdjen  @po«  „  J)ie  ©c^ipfungd^ 
leitcr''  (obcr  r,Da*  ?ieb  bet  aReiif(t)l)eit'0/  in  a(f)tunb»ierjifl  ©cfdngen, 
auf  ber  bte  ®ef(i)6pfe  in  eioig  brunfttger  dntrndluni  anito&vti  fletgeit, 
urn  jid)  fobami  beim  J?od)gcitdma^I  bed  erjlen  libermenfdjenpaarc*  ben 
93erm&t)(ung«fu$  bed  ©etfled  unb  ber  ®tnne  auf  bie  rDfenumfrdn{te  @tirne 
}u  brii(fen«  (Wtein  genialer  ^reunb  Hxtiiux  ®et^(er  t)at  fc^on  bte  J^od){ettd^ 
mufif  baju  fft{}tert:  ©ittermorgenb&mmerungdmuftfl)  3(4  benfe  au^  an 
ein  Drama  „®anctud  Diabolud".  (^erfonen:  ein  aRonb(lral)I,  eine  *r6te, 
ein  Jtird)enfeniler,  ein  @pl)e6e,  eine  ®rabfpinne,  ber  2eufel,  ein  ©ra^mine 
unb  Srnll  J^&cfel.)  Sd)  m6d>te  —  bod)  nein,  id)  will  Don  meinen 
®d)merjen  idimiQtn.  Denn  meine  SBBcrfe  jlnb  meine  ©djmerjen.  Unb 
mel)r!  X)ad  @d)i(ffa(  l}at  mid)  in  biefe  Heine  @tabt  t)erf(^(agen.  SRod) 
wei^  id)  md)t,  ob  id)  ed  fegnen  foO«  Doc^  —  id)  (iebe  bad  ®d)i(ffa(! 
Amor  fati  —  bad  ifl  aud)  mein  ?eitfprud)*  Dad  i|l  auc^  meine  Stu^e. 
Unb  aud)  t)ier  flet)e  id)  auf  bem  l)ei(igen  ©oben  ber  Sragibie! 
fflerben  ©ie  mein  ©ud)  6efpred)en? 

flRit  foUegia(ifd)em  ®ruge 

3l)r  Dtto  (Sric^  ©teinbeid. 

92ad)bem  SRarfud  9Ri(tner  biefen  ©rtef  gelefen  tfatU,  &6erf(4(id)  i^n 
ein  n>ad)fenbed  Unbet)agen/  bad  inbeffen  bod)  einem  ®eful)(  fliUer  Sfc^tung 
n)id),  aid  er  fid)  bed  t)ornet)men  anbauernben  @d)n>eigend  entfann^  mit  bem 
biefer  unreife  J^imme(dflftrmer  feine  SBorte  ber  @rmunterung  ^ingenommen 
l)atte.  Sr  griff  nun  gleid),  um  biefed  ®eful)f  ganj  lodjujoerben,  nac^  bem 
britten  ©riefe,  ber  eigentlid)  nur  eine  fd)male  A^arte  toax,  unb  fiberflog  bie 
feinen  Beilen,  bie  wie  f)ingeperlt  auf  ber  fc^malen  glAd)e  (lanben. 

©el)r  geel)rter  J&err  Doftor! 

Darf  (td)  eine  Unbefannte^  bie  feine  anbere  @mpfe^(ung  tjat,  a(d 
eine  gefegentlicfte  ?eferin  3t)rer  A>itifen  ju  fein,  bie  35itte  eriauben,  6ei. 
folgenbed  ^acfet  einer  freunblid)en  ^rufung  ju  unterjieljen  ?  (5d  ffnb 
®ehid)U,  unb  id)  bin  it)re  SSerfafferin.  3d)  n>ei@  nic^t^  06  id)  talent 
^abe«  @ine  meiner  ^reunbinnen^  bie  aud)  ©ie  fenneU/  meint  ed/  unb  id) 
fetbjl  glaube  ed  }un>ei(en.  3(ber  id)  m6d)te  ed  gerne  and  berufenem 
fTOunbe  t)6ren.  3d)  Derad)te  jebe  a)?itte(md^igfeit^  befonberd  aber  bie 
Did)terei  gewiffer  Damen.  Denfen  ®ie,  ®ie  t)dnen  bie  3frbeit  eined 
^oUegen  ju  beurteilen  unb  t)er{eit)en  @ie  mir  meine  Unbefc4eibent)ett^  bie 
einem  aufrid)tigen  ©eburfnid  nac^  *Iarl)eit  entfpringt 

3n  audgejeic^neter  J^o(4ad)tung  unb  mit  t)erbinb(i(4flem  Danf  }um 
Doraud  ergebenfl 

aRa(tt)ine  Dte$. 

@ine  faubere  @ee(e^  wenn  and)  t)ie(Ieid)t  ein  bi^d)en  niid)texn^  bad)te 
9Rarfud  SRiltner^  aid  er  bie  ^arte  ju  ben  beiben  ©riefen  tegte.  Dod)  and) 
f)ier  jeigte  i^m  feine  ^l)antafie,  bie  uberalt  ®d)6n!)eit  fa^  unb  fe^en  mu^te,  bad 
aOSefen,  bad  Ijinter  biefer  *arte  jlanb:  and  beu  Seilen  (iieg  ein  ©lonbf opf  empor 


65  8^ 


mit  etnem  ©c^elmenauj^  DoK  iid)t,  mit  etner  fraufen  ^flUc  flra^Ienb  golbeiten 
J&aare^,  ba«  feincn  ©ct)immer  auf  ein  tt)ciged  J^&Wdjen  warf,  unb  mit  cinem 
fcinflen  ^urpumunb,  ben  etn  9Be6en  golbner  iannc  frot)  umfptelte*  Sod^ 
aW  bie  Sfige  nerfifc^  in  bem  Duft  jcrrannen,  ber  urn  werbenbe  ®c|lalten 
fd)»imnit,  fam  and)  bad  bunffc  J^aupt  ber  erjlen  Did)terin  wiebcr  ^erbei, 
tinb  bo{n>if(f)en  }eigte  fid)  n>ie  etn  fd)6ned  9tdtfe(  etn  ernfler  S&nglingdfopf 
mil  ebfen  lDid)teraugen«  Unb  finnenb  fpielte  er  nttt  ber  ^rage^  n>ad  n)D^{ 
aui  biefen  bret  SD7enfd)enftnbern  gen)orben  fetn  mod)te« 

Unb  p(6$(td)  burc^flammte  itjn  tt)ie  etn  fd)6ne«  ®[ficf  ber  @ebanfe^ 
bag  ed  nur  an  il)m  [tege^  biefe  J^ofnungen  ber  J^etmat  nod)  etnmal  )u 
grfigen  unb  babei  eine  fd)6ne  .©ommern)od)e  in  ber  alten  SKainflabt  ju  Der^ 
leben;  and)  entgtng  er  burd)  biefe  rafd)e  9leife  bem  ®erebc,  ba*  ber  giftige 
3(ngrtff  M  ©c^mterfinfen  auf  fcine  weitragenbe  yerf6nlid)feit  tod)  erregen 
n>jtrbe,  unb  augerbem  l)offte  er  in  ber  ©erfil)rung  mit  ber  ^eimifc^en  Srbe 
n>ieber  einmal  jene  *raft  aufjufrifd)en,  bie  il)n  bid  je$t  mit  jlarfen  ©auern^^ 
fugen  fiber  aDed  9larrenelenb  ber  ®rog|labt  ^inweggetragen  ^atte.  Sr  6e^ 
fd)ro6^  feinen  6l)ef  ju  bitten,  i^m  morgen  fd)on  Dier  ober  ffinf  2age  ^erien 
{u  geben;  benn  aW  feiner  ®d)merfer  wufte  er,  bag  bad  ®fficf  rafd)  gepflficft 
unb  ebenfo  rafc^  gcnoffen  werben  mfiffe. 

3fuf  ber  (?iIfaJ)rt  burd)  bad  gidnjenb  grfine  Sommcrfanb  fcifteten  itjta 
bie  brei  bid)terifc^en  ®e|lalten,  beren  ©riefe  er  in  feiner  5afd)e  forgfam 
mit  ftc^  fu^rte,  prdd)tig|ie  ®efeKfd)aft;  menu  er  mube  war,  bad  ebfe  bunfle 
J^aupt  ber  einen  2)id)terin  f(ar  unb  beut(id)  t)or  feine  @ee(e  ju  jwingeU/ 
tand)U  ber  berficfenbe  ^(onbfopf  ber  anberen  mie  ein  golbned  SBiddyen 
bal)inter  auf  unb  jeigte  (id)  Don  me^r  unbeftdnbiger  Tltt,  bie  fein  fibers 
mfitiged  ^erienbe^agen  nur  noc^  feliger  burc^fonnte.  92ur  in  Sfirjburg, 
wo  er  fid)  om  95o!)n^of  ben  ^^^rdnfifc^en  ©oten"  faufte,  fam  pl6$Iid)  ein 
b6fed  ©c^mdcflein  bed  ererbten  ?itteraturefenbd  auf  feine  3wnge:  bad  Xnfangd^ 
fapitel  bed  9tomand  ,,lDie  flRiaionenbraut  ober  ber  @egen  ber  2Crmur  von 
J^erbert  t)on  9lorben  erfd)ien  t^m  fo  folportagemdgtg  fcbled)t,  bag  er  fid) 
t)orna^m,  mit  feiner  9)?einung  fiber  biefe  fd)md^(i(^e  Solfdfunfl  }undd)fl  in 
feiner  @d)ul(labt  ntd)t  ^interm  3aun  in  fatten. 


2. 

liber  ber  betfirmten  Stetc^dflabt  9ranfenti)a(  (lanb  ein  flammenbed 
®en>itter/  old  ber  3wg/  ber  ben  Doftor  SOtiltner  unb  feine  J&offnungen  lang^ 
fam  ba^ertrug,  in  ben  fleinen  35al)nl)of  and  rotem  ©anbflcin  einful)r.  *  ^er 
fXeifenbe  fibergab  feinen  J&anbfoffer  einem  I)afbn)fid)(igen  Singeborenen  unb 
blieb  ern)artungdt)o(I  in  ber  SBorljaae  fiet)en,  bid  fid)  bad  rafd)e  ^Better,  bad 
in  l)etten  ©tfirjen  nieberging,  t)erjogen  l)atte;  benn  er  tt)finfd)te  bie  erjlen 
^inbrfitfe  aid  n>eit)et)oI(er  ^uggdnger  gentegen*  (Sine  noonnige  beraufd)enbe 
grifc^e  tag  in  ber  fommerfid)en  ?uft,  aid  er  in  Ieid)ter  Srregung  bie  fummenbe 
ffierftagdflabt  bctrat,  burd)  beren  ©offen  trfibe  ©dd)e  gurgelnben  ©emitters 
wafferd  fc^ofen*  Doc^  ein  feltfamed  ©taunen  fiberfam  it)n,  aid  er  bie  alte 
^eimifd)e  *OerrIid)feit,  bie  Dor  feiner  ^^antafie  in  alter  ®r6ge  tjergegldnjt, 

SOddeutscbe  Monatthefte.   1, 1.  5 


66  8^ 


fo  fletn  gen>orben  unb  n>ie  {ufammeitgefd^rumpft  Dor  fetnen  3(ugeii  (iegetr 
fa^.  (5d  war  ifjm  fa|l  jumute,  aW  gerate  er  in  cine  frcmbe  SDBelt,  in  bcr 
itftn  nur  ba^  unattft)6rltd)f  ®ef(inge(  ber  2abenfd)e((en  unb  ber  ^on  eine^ 
fd^mtnbffic^tigen  XlMxexi,  auf  bem  etne  ungeubte  J^anb  ben  r^Sraum  einer 
3ungfrau"  trAumte,  t)crtraut  t)orfam,  nnb  ganj  aamAl)lid)  legte  (id)  ein  »er^ 
(orened  ®efu^f  ber  (Sinfomfeit,  ba^  nac^  2Renf(^en  Derlangte,  fd^wer  auf 
feine  I)eimat(ic4e  ®ce(e. 

SRad)bem  er  ba«  bcfle  Simnter  im  „®oIbenen  (gngel"  bejogen  flatter 
mad)U  er  (id)  unDerjfiglic^  boran,  bie  bicfe  38irtin,  bie  won  bem  ^SJtitteU 
fenlier  bed  ©auernjintnterd  aud  ben  STOarft  bel)errfd)te,  fiber  bie  Bame 
J&otfd)enreiter  audjufragcn.  ©ie  (Sngcfwirtin  ton^tt  anfangd  gar  nic^t,  um 
tt)en  ed  ffd)  l)anbelte;  bann  aber  fiel  e«  ij)r  pl6$fid)  ein,  ba*  *dt^erle,  bie 
„fiberfpannte  ©ret^el",  ^abe  ben  8eimbad)d  SSaltin  gel)eiratet  unb  n>ol)ne 
l)inten  im  2od)boben,  Jg>audnummer  (Teben.  STOarfud  STOiftner  tt>oIItc  nic^td 
tt)eiter  wiffen;  er  nal)m  rafd)  3fbfd)ieb  bon  ber  freunblid)en  grau,  um  nid)r 
l)6ren  ju  mfiffen,  wie  eine  fpiegige  *Iein|labtfeele  eine  Did)terin  beurteilte^ 
unb  mad)te  fid),  t)oI{  feltfamer  Unra(l,  fofort  auf  ben  SS^eg  nac^  bem  iod)^ 
boben,  n>o  er  alfo  nid)t  nur  ein  neued  9Beib,  fonbern  and)  einen  neuen 
^Sflann  ern>arten  burfte,  ben  er  mit  audgefud)ter  J^6f(id)feit  ;u  bel)anbeln: 
gebad)te. 

@r  fanb  bie  Slummer  (Teben  an  einem  alten,  l)od)giebeIigen  J^aufe^ 
an*  beffen  genflern  ein  brennenb  roter  9?eIfenflor  I)era6l)ing;  eine  fd)male^ 
audgetretene  Jreppe  and  rotem  ganbftein  ful)rte  auf  einen  breiten  glur, 
ber  burd)  ein  ?attengitter  mit  einer  Sure  in  jmei  Jg>Alften  abgeteilt  war 
unb  in  bem  e*  nad)  altem  9Bein  rod),  ^cr  ©cfud)er  jog  uuDerweilt  an 
eincm  @(ocfen(irange,  ber  neben  bcr  Sitr  l)crabi)ing,  jeben  2(ugcnb(icfd  gc^ 
wdrtig,  eine  mufenl)aft  I)errlic^c  @rfd)einung  and  ciner  (gcitentfire  l)crt)ori^ 
treten  {u  fcl)cn.  @d  bauerte  inbcffcn  cine  geraumc  SBBeifc,  bid  eine  altc^ 
runjclige  STOagb  in  niebergctrctcnen  gifjpantoffcin  bal)crfc^furftc  unb  i^n  auf 
feine  grage,  ob  er  grau  ?eimbac^  fprcd)cn  finne,  in  ein  Simmer  treten 
lieg,  nad)bcm  ffe  feine  *arte,  ol)ne  ein  ffiort  ju  t)erlicrcn,  in  Smpfang  ge^^ 
nommen  ^atte*  Dad  fippige  ©lumengittcr  t)or  bem  Render  bdmpftc  bad^ 
?id)t  bed  f)ot)en  ®emad)ed,  bad  mit  tjerfdjoffcnen  roten  ^Ififc^mAbeln  aud^ 
flaffiert  war,  bie  fiber  unb  fiber  mit  weigen  gel)4fcltcn  15erfd)en  in  alien 
gormatcn,  mit  ©ternen  unb  ^reujen  unb  33dnbcrn  beberft  unb  befiecfr 
waren.  Xuf  einer  baucftigen  ^ommobe  |lanb  ein  ficincr  Xmor  aud  3flaba(ler,. 
ber  ein  jerbrod)ened  J&erj  in  ber  J&anb  f)iclt  unb  mit  tt)cinerlid)em  ®c(id)tr 
auf  ben  unl)eilbaren  ©rud)  Ijerabfal),  unb  t)or  bem  gcnfter  l)fipfte  ein 
*anarien»ogeI  in  einem  fleinen  ^Aftg  auf  unb  ab.  Den  ©efuc^er  fibers 
fc^lic^  ein  fc^eued  STOitleib,  aid  et  ben  9laum  gemuflcrt  unb  begriffen  tjatU,. 
ba0  ^ier  eine  Did)terfeele  leben  unb  reifen  mu^te« 

fflad)  einer  jiemlid)en  SSeile  6ffnete  fid)  enblid)  eine  ©eitenture  unb 
eine  mAd)tige  grauengcjlalt,  bie  fa|l  ebenfo  breit  aid  lang  war,  wAljte  ffd^ 
gewanbt  herein*  Dcr  *opf  ber  bfagblonben  Dame,  bie  in  einem  fd)warjen 
*Ieibe  wie  in  einem  ^anjer  (lecfte,  war  flein  unb  runb,  unb  itfx  glAnjenbed- 
^inn  legte  ficft  in  breifad)er  galte  auf  einen  fibermAd)tigen  ©ufen. 

,,grau  ?eimba(^?"  fragte  STOarfud  SKiltner  mit  unjTd)erer  ©timme. 


67 


„^a,  ba^  bin  id)!  3(d)^  bad  freut  mtd)  aber^  ha^  id)  ®te  einmal 
ffnnen  terne,  J^err  Lofton  ^'^fi^er,  toie  id)  nod)  metiv  3«t  ge^abt  tiab\ 
ha  tfaV  id)  atte  3l)re  @ad)en  gefefen.  @ic  fd)rei6en  grogartig.  SSJir  ^oben 
frgar  einmal  mit  einanber  forrefponbiert.  SBie  l)aben  ©ie'd  benn  erfal)ren, 
baf  id)  t)erf)eiratet  bin?  Son  ber  iSngelipirtin?" 

SKarfud  STOiltner  wu^te  nid)t  fogleid),  toa^  ex  ber  leb^aften  grau  t)or 
iJ)m  entgegnen  fottte;  ed  roar  itjm,  aW  mfijfe  er  bie  audeinanber  geftoflfene 
®eflalt  bemitleiben,  weil  ffe  nic^t  bem  gWnjenben  Sbealbilbe  entfprad),  bad 
er  (id),  t)oH  ber  fd)enfenben  ®fite,  t)on  ber  Did)terin  gemad)t  ^atte.  Dod) 
bie  runbe  Dame,  t)on  ber  ein  (larfer  Duft  guten  SEBeineffig*  audging,  fu^r 
ganj  unbefangen  eifrig  fort:  „9BoHen  ©ie  nid)t  ^Ia$  nel)men,  J&err  2>oftor? 
93itf  fd)in!  Dad  ifi  etgentlic^  fe^r  f(^mei(^elf)aft  ffir  mid),  bag  ©ie  fi(^  nodi 
an  metne  Dumml)eit  erinnern/' 

SWarfud  STOiltner  brad)te  nur  ein  geprefted  „Dtj"  l)erau*;  bod)  bic 
Jranfent^aferin  fu^r  fort:  ,,©ie  mfiffen  fd)on  entfd)iilbigen,  bag  id)  ©ie  fe 
(ang  ^ab'  toarten  (affen.  Tibet  id)  IjaV  QxaV  fiige  ^fefergurfen  ein^emad^t, 
unb  bad  Derfle^^  nur  id)  fo,  n[)ie  fie  mein  Wtann  i)aben  wilt  )um  Slinbfleifd). 
£er  ifl  n&m(id)  furd)tbar  ^eifeL  Der  igt  nic^td  ©c^Iec^t'd.  ©ie  lieben  bod) 
and)  ©uged?" 

Der  ^ritifer  nicfte  ernfi^aft  }um  3cid)en,  bag  and)  ex  ©figigfeiten  nid)t 
»erfd)m4l)e. 

r.3d)  l)ab*  n&m(i(^  ein  ganj  audgejeic^neted  9te)ef)t  Don  meiner  Ur^ 
grogmutter  geerbt;  bie  l)at'd  Don  einer  ^6d)in,  bie  beim  feligen  55ifd)of  »on 
«0&ber[e  gebient  t)at  unb  in  ^firjburg  in  ber  SRaingaffe  geflorben  ifi*  Die 
geiflKd)en  J^erren  Wten  3^nen  mad  auf  ein  gut^d  Sffen.  Da  fann  einc 
tud)tige  *6d)in  fd)on  mad  lernen.  SBBenn  id)  benP,  mad  mir  meine  ®rog^ 
mutter  immer  erjd^It  ^at  )Don  ben  geifilic^en  «Oerreneffen!  Die  t)aben  gleid) 
funf  ©tunben  gebauert.  ®ott,  t)erbenfen  fann  man'd  ben  J&erren  ^rdlaten 
and)  nid)t,  bag  fie  gern  mad  ®ufd  mirfein/' 

„llnb  mad  mad)en  3^re  (itterarifd)en  Xrbeiten?"  fragte  SKartud  SWiltner, 
beffen  93Iicf  nic^t  Don  ben  Hetnen  fetten  «$&nben  ber  $rau  Dor  il)m  todfam, 
fafl  fd)&d)tern* 

Die  ^ranfentijalerin  aber  brad)  in  ein  fd)aUenbed  ®el&d)ter  aud:  ,,®e(t^ 
id)  bin  3l)nen  mo^I  red)t  fiberfpannt  Dorgefommen?   ©agen  ©ie^d  nur." 

SD^arfud  SRiltner  protefiierte  leb^aft;  er  tjatte  nod)  niemald  eine  meib^ 
Iid)e  ©eete  ffir  fiberfpannt  get)a(ten. 

Dod)  bie  runbe  $rau  fu^r  (eb^aft  fort:  „^a,  bad  ifi  i^alt  bamald  fe 
jugegangen:  3d)  tfab^  grab  fet)r  Diet  3eit  ubrig  gel)abt  )um  Sefen,  unb 
eine  ^reunbin  in  9R&nd)en,  bie  f&r  ©ie  fc^m&rmt,  i)at  mir  aU  ben  neuen 
©d)unb  gefd)icrt,  ber  jebed  3at)r  l)eraudfommt  (Sin  bigle  fiberfpannt  bin 
id)  ia  mtrflid)  aud)  gemefen,  unb  meinen  ®r&utigam  f^aV  id)  aud)  noc^  net 
gefannt.  Dad  lH^iditen  ifi  mir  bamald  fo  furd)tbar  leid)t  Dorgefommen,  unb 
meitn  id)  ijie  unb  ba  eine  ^ritif  iiber  eined  Don  ben  neuen  ©fid)ern  gelefen 
i)ab',  ba  ^ab'  id)  mix  Qehad)t:  ©omad  fannfi  bu  aud)  mad)en!  ©p&ter, 
mie  id)  bann  meinen  ^SJtann  fennen  gelernt  t)ab^  unb  mir  get)eiratet  ^aben 
unb  ein  ^inb  nad)  bem  anbern  gefommen  ifl,  ffnb  mir  bie  Dummt)eiten  Don 
felbfi  Dergangen.   SRein  SOIann,  ber  3iaUin,  mad)t  {id)  and)  gar  nid)td  aud 

5* 


G8  %^ 

ber  iitUxatux.  Sr  liefl  nur  ©ufd).  (Sr  i(l  aud)  fall  immer  auf  iReifen.  (Sr 
reid  in  ffieinen  fur  ba*  J^aud  ©ramlid).  (Sr  fommt  er(l  in  brei  ®oc()eit 
tt)icber  J)eim.  ©cfcab^  bag  ©ie  iljn  tjerfdumt  J)aben*  3cf)  werb'd  i^m  fagen, 
bag  er  3l)nen  einen  ^rofpeft  fdjirfen  foK.  ^ic  STOftudjcner  J&emn  Didyter 
trinfen  gewig  aud)  tt)ad  ®ut'*/' 

^®n&btge  ^rau  ()a6en  ^tnber?''  fragte  fTOarfud  fSSlUtntx^  ber  gar  ntd)t 
wugte^  iDie  er  bad  ®efpr&d)  wteber  tn  t)6()erc  9tegtonen  }urucfffi()ren  foDte. 

,,©ed)d,  unb  jwei  finb  ge|lorben.  ©ie  jinb  gen)ig  aud)  ein  ^inberfreunb? 
2(Ue  guten  SD^enfc^en  ^abeti  bie  ^inber  gern.  Sarf  id)  3i)nen  net  meine 
^(einen  jeigen?''  Unb  ol)ne  eine  Tlntxoext  abjutDarten,  lief  ffe  an  bie  ^fur^ 
tfire  unb  rief  mit  fd)aHenber  ©timme  in  ben  %lut  l)inaud:  ^Sofef,  gabian^ 
3(ugufi!  aSalt,  9Ra(i!  9Bo  flecft  i^r  benn  fc^on  mieber!  ifi  ein  frember 
Cnfel  ba^  ber  eud)  fe^en  mid!  ^ommt  ein  bigfe  t^ctl"  Z)a  fid)  aber  fein 
^inb  fet)en  lieg^  lief  bie  Stuferin  in  bie  2)Aninierung  bed  weiten  J^audflurd, 
um  ii)re  ©d)ar  ^erein}ui)o(en. 

SRarfud  fD?i(tner  aber  fag  me  {u  Soben  gefd)mettert  in  gebrficftem 
©d)n>eigen  ba:  2(Ifo  bied  war  bie  Z)id)terin?  3((fo  bied  toav  bie  Sitanibe! 
2(ud  einer  feinen  ^rauenfeefe  mit  ^itanenflfigeln  unb  ber  grogen  Sebend^ 
fei)nfud)t  i)atte  bie  (Si)e  mit  einem  ©pieger  ein  «Oa(btier  gemad)t^  bad  fid) 
offenbar  feiner  @ntn)firbigung  nid)t  einmal  ben)ugt  n)ar!  jDod)  ber  Sintritt  ber 
Sautter,  bie  ffinf  b(onbf6pftge  93uben  in  35ad)dtud)fd)&r)en  Dor  fid)  i)erfd)ob 
unb  ein  fleined  roffged  SO^&bc^en^  bad  ein  ®ummipfif)f)d)en  in  ber  «Oanb 
bielt/  auf  ben  Tlxmen  txuQ,  mad)te  feiner  nad)benf(i(^en  ^raurigfeit  rafc^ 
ein  @nbe. 

,,©0,  gebt  bem  fremben  Onfel  eine  ^atfd)l)anb,"  fagte  bie  STOutter, 
beren  fippiged  ®ef[d)t  in  fanfter  9tite  fira^Ite^  ju  i^rer  ©d)ar.  fD^arfud 
SOfiftner  befam  ber  9teii)e  nac^  bie  J^inbt  t)on  ffinf  ^naben  ju  faffen,  bie 
n[)ie  eine  fd)arf&ugige  ©d)U$n)et)r  um  it)re  SD^utter  l)erumfianben;  nur  bad 
f(eine  3R&bd)en  t)erbarg  fein  ®ef[d)t(^en  an  ber  ©d)u[ter  feiner  SD^utter^  bie 
in  &bern)aOenber  3&rt(id)feit  bemerfte:  ^,(^d  latjnt  grab,  ©onfl  ifl  fie  gar 
net  fd)eu.   ®ert,  SRari?" 

,,©ie  t)aben  3l)re  ^flid)t  an  ber  aRenfd)f)eit  erfiittt/'  fagte  ber  ©efud)er 
nad)  einer  ffeinen  ^aufe  leife^  w&^renb  ein  feltfamed  ®ef&l)(  feine  3(ugen 
mit  einem  tiefen  ©d)immer  fADte* 

,^3tt>ei  finb  mir  geflorben.  ^nber  ffnb  ein  ©orgengut/^  entgegnete 
bie  ^ranfent^alerin  mit  leid  umflorter  ©timme^  bie  aber  gleic^  bie  alte 
^laxtjtit  tt)ieber  eriangte,  aid  ffe  mit  feid)tcm  Swinfern  fagte:  ^^SD^ein  SD?ann 
mirb  3(ugen  mad)en/  noenn  er  erf&^rt/  mad  ffir  feinen  ^efuc^  id)  ge^abt  tjab\ 
3d)  l)ab^  i^m  n&mlid)  bie  ®efd)id)te  mit  bem  93rief  einmal  er)&l)(^/  n>ie  er 
grab^  ein  flein^d  iK&ufd)[e  ge^abt  ^at.  (Sx  ijat  mir^d  gar  net  fibel  genommen. 
(Sr  ^at  mid)  nur  ind  C^rldppfe  gejmicft.  Sad  tut  er  aOe  t)eiligen  ^ftngflen 
nur  einmaL  98enn  er  ein  bigle  befpi$t  id^  ijaV  id)  i^n  n&mlid)  gar  )U 
gern.  X)a  tfat  er  mad^  n>ad  nid)t  aSe  Sag  in  i()m  ^eraudfommt.  fReine 
SRoDelle  l)ab'  icft  il)m  aber  boc^  net  )u  lefen  gegeben^  tjatja  — " 

,^Sieneid)t  ^abe  id)  noc^mald  bie  (Stfxe,  gn&bige  %xan/^  entgegnete 
SKarfud  SD^iltner^  ber  ffc^  nid)t  me^r  gefe$t  ^atte  unb  nun  txad^Ute,  rafc^ 
aud  bem  .^aufe  ^inattd)ufommen.   f^^d)  ^abe  t)or^  einige  Sage  ^ier  )tt 


60  8^ 


ileibenf  um  aUt  (Srtnnerungen  auf)ufrtf(i)en.  i)a6e  noc^  eintge  93efud)e 
{u  mad)ett  — " 

„®cft,  l)ier  fd)4n/'  fagfe  bie  granfent^alerin  unb  rcic^tc  il)m  bie 
^ant  )um  3(bf(()teb;  er  aber  b&cfte  ffc^  in  etner  pl6$(td)eti  3(ufn[)aaung  barauf 
nteber  unb  briicTte  einen  (etd)ten  £ug  barauf,  mit  bem  er  gleidyfam  3(bfc^ieb 
k)on  etnrm  f(b6nen  ^raume  na^m* 

Srau^en  aber,  in  ber  tt)onnig  frif(f)en  ©ommerluft,  bie  Don  taufenb 
X)uften  fr&nfifd^er  @rbe  buftete,  jogen  bie  93ilber  ber  (e$ten  SD?inuten  nod) 
einntal  an  feinem  ®eiile  t)or&6er,  unb  er  legte  fid)  ben  %a1l  fofort  aK 
^itifud  jured)t,  inbem  er  au«  feinem  J5il)enbafein  grubelnb  gofbene  (Sebanfen^ 
fdben  in  biefen  ffiinfel  J)erunterfpann:  SBBeib,  ®ei6,  bu  ewige*  9l4t1ef, 
fd)neiber^afte^  ®efd)Ied)t!  3(u*  att  ben  golbcnen  ®ett)eben,  tt)efd)e  bie  Saljr^ 
hunberte,  bie  grogen  SBeber,  gett)o6en,  fd)neibern  ffe  mit  flinfen  gingern 
^leiber  ?ured)t  ffir  itjxt  ©eelen,  aW  ^u$  unb  5anb  unb  glittcrfdjmucf. 
SBoju?  9}ur  um  bad  uralt  ewige  ®jpid  in  neuen  @ee[enfd)[eiern  audju^ 
fpielen  unb  ein  ®d)6n^eitder6e  ju  tjerfdjwenben,  im  fd)Iaucn  SBBerben  um 
ben  aWann,  ber  bie  erborgte  ober  auc^  ge(lol)Iene  ®d)6n^eit  erfi  in  SD?utter^ 
gfucf  unb  ©orgen  f6fe.  2)ie  SD?obe  l)errfd)t,  unb  ©itten,  $6ne,  tt>ilber  3Serfe 
3>uft  finb  noeiter  nid^ti  aK  J^uUeU/  ^OuOen,  bie  fie  neui)eitdluflern  tragen. 
(Srtrug  benn  je  ein  3Beib  ben  3fn6Iicf  feiner  nadten  ®eele?  D  5IBeibedpf9d)e, 
en>ige  @d)neiberin,  bie  auc^  in  Sumpen  unb  in  ^e^en  get)t,  menu  ed  ber 
aRann  t)er(angt! 

STOitten  im  rafd)en  ®el)en  burd)  bie  alten  ©affen  empfanb  er  ben 
pod)enben  9ll)9tl)mud  ber  ®ebanfen,  bie  i^n  mit  fiberlegener  ^lar^eit  erffittten, 
a(d  freied  ®ee(eng(ud,  unb  bie  ®efla(t  bed  2)id)terd  Ctto  @rid)  @teinbeid 
befam  etmad  t)on  biefem  ®(anie  ab,  ber  Don  bem  )erfl6rten  $raum  in  feiner 
©eefe  gebfieben  tt)ar;  er  nal)m  ffd)  and)  fofort  Dor,  biefe*  abgrfinbige  ^apitel 
fo  balb  aid  migtic^  einmat  mit  einem  erprobten  tenner  {u  befprec^en  unb 
babei  rildf[d)td(od  auf  ben  tiefflen  ®runb  )u  ge^en. 

3fuf  bem  Wtaxttfla^e,  auf  bem  ffc^  fd)on  bie  abenb(id)en  ®iebe(fd)atten 
ber  J&Aufer  flrerften,  fragte  er  einen  ffeinen  barfiigigen  granfentl)aler,  ber 
in  einer  ®tra0enrinne  ba^erpantfd)te,  nad)  ber  SBo^nung  bed  J^errn  £oftord 
©teinbeid;  ber  £(eine  mad)te  fofort  ^e^rt,  o^ne  bie  iXinne  }u  Derlaffen, 
unb  n>ied  ben  fremben  J^errn  in  einer  ®eitengaffe  in  ein  f(^mu$iged  ®eb&ube, 
an  beffen  erfler  ^(figeltfire  rec^td  )u  (efen  flanb:  „9tebaftion  bed  ^r&nfifd^en 
©oten." 

jDer  ©efud)er  nirfte  DerfiAnbnidooH:  alfo  and)  biefe  geuerfeefe  toav 
Derurteift,  bad  bittere  Seitungdbrot  {u  effen,  beffen  ®efd)marf  nid)t  einmal 
bie  aHtt)iffenben  ®6tter  fennen!  2fld  fTOarfud  SRiftner  an  ber  26re  Wopfte, 
brfiltte  eine  l)eifere  SBBeinflimme  „J&erein'V  unb  auf  feine  ^rage  nad)  bem 
J&erm  ^oftor  ©teinbeid  wurbe  er  Don  einem  fleinen  fd)mierigen  SWdnnc^en, 
bad  mit  einem  ^leiflertopf  in  ber  «Oanb  mitten  im  Simmer  flanb,  in  ein 
bufiered  J^intergemad)  gefd)idt.  «Oier  fag  unb  fd)rieb  an  einem  rot)en 
fd)mu$igen  ^ifd)  and  l£anneni)o[}  ein  bider  3Rann  Don  etn>a  breigig  3al)ren; 
er  war  in  J^emb&rmeln  unb  auf  feiner  gl&nsenben  ®(a$e  fag  ein  Derwafc^ener 
Sintenfleden  n>ie  ein  f(^n)inbffid)tiger  fRonbfrater.  Steben  itjxa  flanb  ein 
l)oi)fd  ^albgeleerted  ®(ad  ©c^orlrmorle. 


70  g.^ 


„3Bomit  tann  id)  bienen?"  frogte  ber  ®d)reiber  mit  mftrrifdyer  9Ri<ne 
unb  ^od)ge}ogener  Stafr^  er  ben  fetn  Qttleibettn  QJefuc^er  bmevttt,  of^nt 
auf)uflel^en. 

„a)?ein  SWome  ifl  Doftor  9)?arfud  SWiltner." 

£er  iXebafteur  bxad)tt  etn  (anggebe^nted  ^eraud  unb  eri)o6  ffdy 
(angfam  t)on  feinem  ®t$e. 

SD^arfud  fTOtltner  reid)te  bent  AoUegen  bie  J^anb  unb  fagte  l)erj(i(f|: 

n[)ar  mtr  ein  toixtHd)e^  ^er)en^6eb&rfntd/  @te  6et  metner  3(nn)efen()ett 
in  3i)rer  9Ba^(i)etniat  )u  begrii^en  unb  etner  fdyriftltdyen  9efanntf(()aft  enbltd^ 
and)  bie  perf6nli(t)e  folgen  ju  lajfen  — " 

„^ai  tfl  fe()r  (iebendtt)urbtg  t^on  3()nen",  entgegnete  ber  Stcfe  o^ne 
fonber[id)ed  (^nt}&cfen/  unb  ba  er  bte  umt)erfd)n[)etfenben  99[tcfe  fetned  ^e^ 
fud)erd  benterftf,  ffigte  er  nac^  etner  ^aufe  fduerlid)  l^tnju:  ,r@ie  f!nb  toeifi 
erflaunt,  mid)  in  etner  foldyen  Umgebung  {u  finben?  Sad  Seben^  bad  Seben^ 
metn  Dere^rter  J^err  ^oUege!  3cf)  t)abe  mtr  bad  ^rflaunen  abgewi^nt. 
Ste  \)aben  ed  ja  wetter  gebrad^t." 

fTOarfud  iUtiUntx  mpfanh  etntged  Sefremben  barAber^  ba$  fid)  ber 
®d)u$befol)Iene  mit  etner  ©rimajfe  bed  SWeibd  fo  ol^ne  weltered  auf  bte 
J^i^e  fd)tt>ang,  auf  weldyer  er  fidy  felbfl  aid  k)erbtenflt)oaer  Wlti^tx  ffli)(te; 
bann  fragte  er  wetter:  „@te  (Tub  tn  btefer  ^albl&nb(td)en  ©ttOe  gewi@  red)t 
flei^ig  gewefen?  ®ie  fdjrieben  mtr  bantald  bon  einem  fodmifd)en  Spod  — " 

£)tto  Srtc^  ®teinbeid  ntac^te  etne  Sewegung,  afd  woUe  er  anbeuten^ 
ba^  ber^oDege  Don  etner  SagateUe  fprec^e^  unb  fagte:  ,,3*^  id)  trug  mid) 
mat  mit  einem  fofc^en  ^(an.  Stgentlid)  eine  feine  ©ac^e!.  (Sd  ifl  nid9t 
meine  ®d)u[b^  bag  nid)td  baraud  geworben  tfl  — " 

„7lbex  —",  wottte  SKarfud  STOiltner  beginnen;  boc^  Otto  dxid)  Steinbeid, 
ber  wieber  ^(a$  genommen  \)atu,  lieg  it)n  nid)t  }u  9Qort  fommen:  ,,@ie 
t)aben  gut  reben,  )Derei)rter  .^err  College.  ®ott,  \a,  id)  i)abe  aud)  meine 
3eit  gel)abt,  wo  id)  t)on  ber  neuen  fD?enfd)^eit  tr&umte^  ffir  bie  man  in 
@d)6nl)eit  (eben  unb  t)or  allem  bid^ten  mfiffe*  Unb  bod)  f[$e  id)  Ctto 
Srid)  ©teinbeid,  wie  ®te  fe^en,  l)ier  auf  biefem  Seffel,  in  biefem  bl6b^ 
finnigen  3Qeinnefi.  X)ad  ifl  eine  ^atfad)e,  &ber  bie  id)  mid)  fibrigend 
(&ngfi  nid)t  mt\)x  wunbere.  (Slauben  @ie  mir^  mein  S3erei)rtefler^  unter 
foId)en  Umfl&nben  ju  (eben^  wiU  mei)r  t^eigen^  aid  ein  fodmifd)ed  (Spod  in 
bte  SOBelt  }u  fd)Ieubern  ober  fo  'n  moberned  Sntruflung^brama  binjufleUen." 

STOarfud  SRiltner  wugte  nid)t  fofort,  wad  er  entgegnen  follte;  bod) 
Otto  Srid)  ©teinbeid  l)atte  nun  bie  J&6l)e  gefunben,  auf  weld)er  er  ffd)  »or 
feinem  ber&t)mten  ^oUegen  ju  l)alten  gebad)te:  r^Sott  \ci,  id)  tarn  mix  un^ 
gefd^r  Dorfiellen,  wad  ©ie  benfcn:  3d>  l)abe  mic^  gebucft.  3d)  bin  unter^ 
9efrod)en.  3d)  bin  ^rot)injjournaIi|l  geworben!  Mais  que  voulez-vous? 
aWan  mug  ja  leiber  leben.  3Iber  nidjt  jeber  IjAtte  bad  fertig  gebrad)t,  wad 
id)  fertig  gebrad)t  ^abe,  bad  fann  ic^  3i)nen  fagen.  3d)  weig^  wie  bad  Q3rot 
ber  t&glid)en  SSerfennung  fd)mecft;  aber  bag  id)  ed  t)ier  audgei)alten  t)abe^ 
bad  i|l  meine  9lad)e  an  biefer  fpicgigen  2BeIt  — " 

//3c^  Derfle^e  nid)t  — fagte  9Rarfud  3RiItner^  ber  einen  ©tu^I  l)eran« 
gejogen  unb  fic^  gefe$t  \)attt,  gan)  nait)  unb  erwartungdDoK. 

Otto  (&xid)  ©teinbeid  befd)rieb  mit  feiner  fetten  J^anb  einen  ^reid  in 


^er  ?uft,  al^  moUe  er  etwa*  l)inn)egf(^Icuben!,  unb  ful)r  fort:  „®ott,  — 
febe  tjitv  unter  biefen  ffieinfpiegern  unb  fd)reibe  i^nen  il)re  Seitung,  unb 
feiner  fennt  mid)  cigentlid).  3d)  fi$e  mit  if)nen  an  ii)ren!  ©tammtifd),  unb 
ffiner  {)at  eine  2fl)nung,  tt)cr  id)  eigentlid)  bin.  3d)  fef)e  ju,  wie  biefed 
l)tmm(ifd)e  SSoIf  (ebt  unb  t)crbaut^  n>ie  J^od){etten  t)&(t  unb  ^inber  in 
bie  SBelt  ff$t^  unb  feiner  mi^,  mld)er  9Renfd)  eigentlid)  unter  it)nen 
wanbelt.  ?Kand)maf  mid)te  id)  aufmucfen  unb  fd)reien:  3^r  ocrbammted 
i£d)tt>einepacf  —  unb  fo  tt>eiter!  3(6er  bann  benf  id)  mir:  Slein,  lieber 
ntd)t!  SRan  muf  miffen^  mit  mem  man  fprid)t.  ®d)&$e  finnf  i(^  i()nen 
bintt>erfen,  unb  id)  tu'  ed  nid)t.  3been  fJnnf  id)  it)nen  geben,  Don  benen 
fie  feine  3ft)nung  ba^^n*  2(ufrutte(n  finnf  id)  fie  au^  ii)rem  t)unbertj&l)rigen 
Sd)raf;  aber  —  id)  l)fite  mid).  Dad  ifl  meine  9tad)e  an  biefer  ffiinfelwelt, 
^ag  fie  nie  mein  n)al)re*  3(ngefid)t  ju  fc!)in  befommt.  SRit  einer  n)al)ren 
^ot(u(l  i)&te  id)  bad/  mad  id)  mir  errungen  l)abe.  £enn  id)  i)abe  gefdmpft  — 

„®ie  leben  in  innerer  J&errlid)feit",  entgegnete  STOarfud  fRiltner  mit 
leiiem  ©potte,  ben  bcr  Did)ter  inbeffen  nid)t  merfte. 

/^b  id)  ed  leben  nennen  foU/  meig  id)  nid)t.  9Qer  (ebt  benn  uber^ 
^aupt  bei  und?   Dad,  wad  id)  lebcn  ^eige?   ®ie  oieKeid)t  — ?" 

aSarfud  STOiltner  aber  war  ed  )u  SKute,  aid  ob  i^m  t)ier  ein  fp6ttifd)ed 
($d)0  eigener  ©ebanfen  entgegenf(&nge  unb  ein  fred)er  SRunb  ein  reingeborcned 
®effil)f  feiner  ©eele  entvotitjU. 

Dod)  in  bicfem  Xugenblicf  fam  ein  bfaubefd)firjted  a)?Annd)en  ^erein^ 
gelaufen  unb  rief,  mit  einem  unwiUigen  ©eitenblicf  auf  ben  ©efud),  weinerlid): 
,,Dad  SBBort  in  bcr  ^extU^nn^  ba  faun  id)^  abfofut  nid)t  lefen.  ®ie  fd)reiben 
aber  and)  gar  ju  fd)Ied)t,  J^err  Doftor.  3d)  l)abe  3^nen  bod)  fd)on  oft 
^efagt,  bag  ®ie  beffer  fd)reiben  follen.  J&eigt  ed  *on(lipation  ober  *on* 
aeHation?" 

,,@d  i)ei0t  ^onfieOation^^,  entgegnete  J^err  ©teinbeid  wfirbeDoU  ru^g, 
n>&l)renb  er  nad)  bem  SQeinglafe  langte  unb  einen  m&d)tigen  3ug  tat.  Dad 
9R&nnd)en  aber  oerfd)n)anb  fofort  wieber  unb  bie  beiben  Wlhnnev  ber  ^eber 
fagen  einige  Sfugenblicfe  fd)n)eigenb  t>ot  einanber,  of)ne  fid)  anjufel)en.  — 

SRarfud  SRiltner  brad)  juerjl  bad  ©d)n)eigen:  „3d)  win  ®ie  ni<^t  I&nger 
in  3^rer  Xrbeit  (l6ren,  J&err  Doftor.  3d)  bleibe  ubrigend  einige  2age  l)ier, 
unb  ed  w&rbe  mid)  fet)r  frcuen,  mid)  einmal  mit  3i)ncn  uber  aUerlet  Dinge 
aud}ufpred)eh.  93ie((eid)t  mad)en  @ie  mir  einmal  bad  aSergnfigen,  mit  mir 
JU  3(benb  ju  effen?  3d)  wol)ne  im  Sngef.  3il  3l)nen  ber  morgige  3fbenb 
»ielteid)t  re*t?" 

Otte  (&xid)  ©teinbeid  Derneigte  fid)  )uftimmenb  unb  jog  feine  3unge 
uber  feine  fetten  ?ippen:  „SKan  igt  fel)r  gut  im  Sngcf;  nur  ein  bigle  tcucr. 
?afFen  ®ie  jid)  nur  ja  95ratwfir(ie  Don  ber  ffiirtin  mad)en.  Die  (inb  ndm^ 
lid)  grogartig  — 

SKarfud  SRiltner  Dcrfprad),  fid)  biefen  ®enug  nid)t  entgel)en  ju  laffen 
unb  trat  aufatmenb  in  bie  ©tabt  jur&cf,  bie  nun  »om  ©raud  bed  fommer^ 
(id)en  3(benblebend  wiber^aUte.  (Sin  (eid)ted  ®effit)(  ber  93efd)&mung  (ag  in 
feiner  95ru(i;  er  empfanb  bad  bringenbe  ©ebfirfnid,  fein  ?ciblid)ed  ju  flArfen, 
unb  eilte  rafd)en  ©c^ritted  bem  golbenen  Sngel  ju,  wo  in  einer  (Scfe  bed 
4^errenjimmerd  fd)on  fftr  i^n  gebecft  war.   3fld  er  aber  »or  feinem  ofenen 


72 


®d)oppen  ^anUnttfaUr  SBeigen  fag  unb  bte  rifdyen  ©ratwfirfie  t)or  ifym 
bampften^  fiberfam  t()n  f)l6$Itcf)  etn  unf&gltdyed  ®efiii)[  tnnerer  «Oeiterfeit: 
er  toax  Ql&dlid),  bag  er  bad  fd^imtnernbe  @f)iel  bed  Sebend  toieber  dnmai 
burd)fd)aut  i)atte,  unb  um  ben  Zac^  mfirbig  abjufd^ltegen^  pro6icrte  er  }u« 
si&(()fl  einige  6e(fere  ^ranfentljafer  ^einforten  burd)  unb  (teg  fid)  bann^  {ur 
it&d)t(t(^en  91a(^feier,  eine  $(afd)e  ®teinn)etn  geben^  beffen  n>Ar{tg  golbener 
^uft  few  l)eimifd)ed  ©e^agen  er(l  red)t  burd)»4rmte.  dt  wax  nun  au(3^ 
barauf  gefagt^  am  n&d)(ien  $age  feine  britte  @nttdufd)ung  }u  erfeben  unb 
xnaUt  \idf  in  ^eDer  Sorfreube  bte  {loeite  2)td)tertn  tn  mtlben  ^arben  an^, 
bte  er  bent  ipptgen  ®t(be  ber  ^rau  Setmbad)  entliel);  ia,  er  bad)te  fid)/ 
n>e(d)  etn  famofer  @pag  ed  boc^  etgentltd)  wire^  bie  bret  entgletflen  £id)ter^ 
feelen  {u  einent  lufltgen  fD?ufenmal)I  )u  t^eretntgen  unb  ben  J^errn  Ctte 
(Srid)  ©teinbeid  im  ^reife  ber-grauen  gu  geniegen. 

3(n  einent  runben  9}ebentifd)e  fcftippelte  injn)ifd)en  eine  bucfntdufige 
®efellf(ftaft  einl)eintifd)er  J&onoratioren,  bie  il)m  nid)t  bie  minbefle  93ead)tung 
id^entten,  cbn>o^(  er  wugte^  bag  f!e  ffd)  genau  nad)  bent  fremben  ®a^e,  ben 
ffe  ol)net)in  fennen  ntugtett^  erfunbigt  fatten.  (&i  fd)ien/  aH  woUten  fie 
t^ren  ^r&$er  ffil)I  eri)a(ten/  fo  unnat)bar  unb  eif[g  t)ocften  ffe  mit  ein^ 
gejogenent  i&ucfe(  an  il)rem  Sifd)  beifantmen. 

»f3a,  fo  (inb  ffe,  nteine  lieben  granfentl)afer",  bac^te  STOarfud  SRiftner, 
ali  er  ntit  ^eiteren  3(ugen  vor  bent  (e$ten  ®lai  M  ebeln  Staffed  fag; 
,,treu>goIbig  wie  ii)r  SOein,  unb  doU  f6fl(id)er  @d)a(fi)aftigfeit!  Tibet  aud) 
ffe  gleid)en,  aid  ed)te  £eutfd)e,  bent  berui)mten  Sempel  @a(ontonid:  itjxe 
J&errlid)feit  i(l  innen  unb  nid)t  augen;  ffe  oerfd)Iiegen  ffe  in  il)rer  bieberen 
©rufl,  bantit  ffe  ja  nid)t  fd)immelig  werbe,  anfiatt  ffd)  gegenfeitig  eine 
^reube  ju  ntad)en  unb  bad  t)err(id)e  @f)ie(  bed  Sebend  itn  2(udtaufd)  il)rer 
a)7enfd)Iid)feit  ju  geniegem  Unb  jeber  weig  ganj  genau,  bag  fein  ®miit 
in  reinfier  ®d)6nt)eit  bl&tjt;  wenn  er  nur  tt)oHte,  finnte  er  bie  l)afbe  SDBeft 
burd)fonnen*  SoUte  bad  @d)i(ffa(  roixttid)  n>i$ig  fein  unb  9Bi$e  ntad)en? 
Siel(eid)t  pagt  biefer  Ctto  dxidj  gar  nid)t  fo  &be(  ^ier  herein  in  biefe  fliOe 
J&errlid)feit" 

3([d  SIRarfud  SIRifnter  gleid)  barauf  ntit  ffeg^aften  @d)ritten  an  ben 
J^onoratioren  t)orbeiging,  um  in  fein  Simmer  ^inaufiufleigen,  grfigte  er  ffe 
mit  DoUenbeter  «Oiftid)feit 


3, 

2fld  i^m  aber  am  uAd)flen  SKorgcn  in  bem  alten  breiten  ©ette,  beflfen 
^ffifmen  wie  ein  weiger  ©erg  ffd)  tjor  i^m  tiirmte,  bie  Srinnerung  an  hit 
^^rlebnifFe  bed  entfd)n[)unbenen  Xaged  iiberb&mmerte,  geriet  er  fofort  in  eine 
iberm&tige  ^timmung:  je$t  mar  er  in  ber  Saune,  in  ber  man  gl&cf (id)e 
Xbenteuer  nid)t  nur  ju  mfirbigen,  fonbern  aud)  a(d  ^&n(l(er,  ber  &ber 
feinem  ©toffe  fle^t,  ju  meiflern  unb  mit  ?iebe  ju  geniegen  meig.  3(fd 
SRorgengrug  grfigte  i^n  im  ®eifle  fd)on  bad  ^aDenbe  Q3ed)erge[&ute  bed  be^ 
fd)(ofrenen  Z)i(^terfd)maufed,  mit  bem  er  feinen  3(ufent^alt  in  ^ranfent^al 


-t^  73 


w&rbtg  {U  frinen  gebac()tc.  Seem  ^ru[){lucf^  t)effen  Ijeden  ()eimifd)en  «Ootitg 
rr  btcf  auf  bad  f6(l(td)e  9toggcn6rot  firidt^  erful)r  er  bantt  and)  {u  fetner 
^reube  t)on  bcr  @nge(n[)trt(n^  bag  bad  ^r&ulein  iDIaftotne  jDte$  nod)  tmmrr 
aid  felbfl&nbiged  3Befcn  erifliere  unb  im  ^rcfTetitotnfel  tjintcn  wo^ne;  er 
)9ermteb  cd  abcr  forgf&Ittg^  meitere  ^ragen  tiac^  bcr  btd)tenben  £ame  }u 
(leUen/  bamit  er  bad  ^ommettbe  ja  in  fd)6nfler  Unbcfangent^eit  unb  J^etter^ 
frit  gentegen  fdnne. 

Um  fid)  jebod)  auf  aKe  gdllc  bie  n6tige  ©timmung  ju  fid)ern,  befdjlog 
er,  nod)  {ut^or  in  bent  6cr&i)mten  3Qetnf}ubd)rn  jum  9tebfldcfle,  mo  bic  aud^ 
gepid)ten  granfentl)a[er,  aid  »ertt)6l)ntc  *o(lgAnger  ®otted/  feit  Urt)Aterieiten 
itft  grfil)fd)ippd)en  )u  trinfen  pflegen,  ein  fftl)fed  ®tfinbd)en  ju  oerfi^en. 
(&r  fanb  ben  (etd)ten  wcigen  SOBetU/  ber  ba  Dom  fitl)(en  ^ag  t)er)af)ft  wurbe, 
gang  audge}<td)net  unb  bie  runbrid)en  J^erren,  bie  ba  an  ben  braunen,  un^ 
gebecften  ^tfd)en  ii)re  SQeinmi^e  ntad)ten  unb  Dii)ibenben  abfd)&$ten,  lim^ 
lidi  gentegbar,  obn)oi)I  ffd)  einige  ber  ianUn  @ted)er  aUjuna^e  an  il)n 
^eranntac^ten,  um  auf  Umwegen  {U  erfai)ren/  n>ad  ber  feine  fd)(anfe  ^l^err, 
ber  feinen  blonben  ^nebelbart  in  i)orne^mer  «Oa(tung  (irid),  eigent(id)  in 
tt)rem  $ranfentl)a(  mode.  SRarfud  2}?i(tner  (ieg  jebod)  nic^td  baDon  t)er^ 
fauten,  unb  nad)  einer  ®tunbe  fliUen  3ul)drend  unb  anb&d)n'gen  ^rinfcnd 
in  ber  a(ten  3ed)ilube  mar  er  mieber  fomeit,  bie  t)erfd)iebenen  @orten  fofaler 
ffieinfimpfe  audeinanberl)aften  ju  finnen;  nur  blieb  er  im  imifel,  in 
n)e(d)er  ©orte  ber  ^eitere  ®eniud  bed  Ortcd  am  atterfpagigflen  fein  3Befen 
treibe,  in  ben  Sapperldtern  ober  ben  Jtud)enmid)e(n,  bie  l)on  3eit  }u  3eit 
fd)nuffefnb  in  bem  angeraud)ten  gfur  »erfd)n>anben,  ober  in  ben  SSSnxp 
mampfern,  ober  gar  in  ben  ^raut^  unb  Srbfenfreffern,  bie  ffd)  and  alien 
@t&nben  erg&njten.  (St)e  er  bie  ffi()(e  @tube  Derlieg/  um  feinen  ®ang  an^ 
}utreten^  fd)rieb  er  nod)  ein  paar  3(i(^n  an  bie  Came  ieimbad)^  ob  fie  ii)m 
bad  Sergnfigen  mad)en  moKe,  am  t)eutigen  2(benb  mit  ii)m  unb  einigen 
^efannten  im  (Sngel  }u  fpeifen.  Sann  6eg[&cfte  er  bie  ffeine  6(onbe 
£eUnerin  mit  einem  fanften  ^iff  in  bie  pfirf[d)iarten  35acfen  unb  mit 
einem  fetten  Sriufgelb,  taufd)te  einige  faftige  J^&nbebriicfe  mit  feinen  freunb^ 
[id)en  dladjbaxn  and  unb  trat  flra^Ienben  2(ugcd  in  ben  fommer[id)en  SD^orgen^ 
glanj  l}tnaud,  gefofgt  t)on  einem  feinen  2(bsugdge[&ute  jufammenflingenber 
@f&fer/  in  bcm  bie  }urfi(fbleibenben  ®(^o))penfied)er  ii)re  3D2einung  fiber  ben 
l)ereingefd)neiten  gremben  }u  tinenbem  SCudbrucf  brad)ten. 

SD^arfud  SRiltner  aber  mar  je$t  )um  erflen  ^Dlalt  mieber  gau}  im^ 
flanbe,  bie  t)erblid)ene  @d)6ni)eit  ber  alten  ®tabt  ju  geniegen :  er  fuUte  bie 
l)err(id)en  55aIfone,  bie,  mit  i^rcm  retc^en  feinen  ©d)miebemerf  and  ber 
be(len  3(it  bed  18.  3al)r^unbertd,  funftooDen  ^rumenfirben  glic^en,  aud 
benen  an  feligen  ^eflen  noc^  tmmer  ber  fc^inflc  ^rauenflot  in  bie  ©affen 
nieber(ad)te,  mit  golbenem  Seben  unb  freute  fid)  aid  tenner  an  ben  alten 
¥abenfd)tlbern/  ober  an  ben  SKo^ren,  Xurfcn  unb  Stittern,  bie  fiber  ben 
alten  gefd)ni$ten  ^firen  prangten.  @r  marf  aud)  einen  ^lid  in  bie  alte 
j£iltandfird)e,  an  bcren  SEBdnben,  im  ffil}Ien  Dunfel  ber  ©eitenfd)ife,  bie 
alten  ®rabbenfm&Ier  ber  ®efd)Ied)ter  flanben,  unb  (aufd)te  t>or  ben  fleinen 
®&rten,  bie  ffd)  mit  t^ren  Stofen  an  ben  fXeflen  ber  alten  Stingmauer  ^in^ 
iogen,  auf  bad  geb&mpfte  9toUen  ber  Aegelfugeln,  bie  mie  bad  bumpfe 


74  8^ 


©djicffaWgroHcn  einer  kunten  ©iiljitc  m  bad  fommerftcf^e  ?e6cn  tjtttin^ 
Mangen. 

@o  gelangte  er  enb(idi,  betja^Ud^  fcf)(enbernb,  in  ben  ^reffenn)tnrel 
t)or  ein  ein(l6cfiged  fcf)niarcd  J&au«,  bad  ffd)  mit  ber  J&intemanb  an  bie 
altc  ©tabtmauer  Iel)nte,  unb  bcffen  Sorberfront  in  einen  l)oljen  fpi$en 
®iebe[  audlief,  m  ben  ein  jopfiger  l)eiliger  Oeorg  mit  feinem  ^rac^en 
[)inein8emalt  war.  Die  6rcite  ©eite  bed  ©aued  ging  auf  einen  ein^ 
gefcfjioffenen  ©arten^  unb  jur  ?infen  (lieg  ber  fleife  SflSalb^ang  bed  ©t6cfi(f)t 
empor  unb  erfftUte  ben  alten  winfeligen  ^fa$,  ber  im  fallen  SWorgen^ 
fcf)atten  balag,  mit  feinem  wiirjtgen  Dufte.  SRarfud  SRiltner  a6er  betrat 
nad)  furjer  Umfrfjau  ben  fd)mafen  glur  bed  J&aufed  unb  flopfte  gleid)  an 
ber  erflen  5iire  red)td. 

Sine  jarte  grauenflimme  rief  J)erein,  unb  Dor  bem  (Sintretenben  erl)ob 
fid)  »on  einem  ©tul)I,  ber  auf  einem  nieberen  ^obium  »er  einem  offenen 
®artenfen(lcr  flanb,  ein  mittcfgro^cd  grAuIein  in  einem  gefben  ©ommerffeib, 
bad  in  lofen  galten  an  if)rcr  fd)Ianfen  ®c|la[t  tjernieberfief.  3fld  STOarfud 
SRiltner  l)6flid)  gru^enb  feincn  Stamen  nannte,  uberflog  ein  feiner  J&aud) 
bad  fd)male,  feine  ®e(Td)t  ber  jungen  Dame,  unb  il)re  ©ficfe  fenften  fid) 
auf  ibre  J^Anbe;  erft  nad)  einer  fleinen  ^aufe  brad)te  ffe  bie  S^age  l)eraud: 
,/IBad  t)erfd)afft  mir  bie  @l)re  3l)red  ©efud)ed,  J^err  Doftor?" 

„3d)  bin  auf  ber  Durd)reife  l)ier  unb  m6d)te  mir  bei  biefer  ®elegenl)eit 
nur  gejlatten,  ciner  ^orrefponbeuj,  bie  mir  afd  fiebe  Srinnerung  im  ®ebAd)tnid 
geblieben  ift,  aud)  bie  perf6nlid)e  ©efanntfd)aft  fofgen  ju  laffen/' 

Die  junge  Dame  »er[)arrte  immer  nod)  im  ©d)»eigen;  ba  feine  ©lirfe 
auf  itjxem  ®e(id)t  ru[)ten,  bemerfte  ev,  bag  ffd)  ein  leid)ter  ©d)atten  bed 
Unmuted  auf  il)re  3fige  fegte;  er  »erfor  mit  einem  SWafe  feine  @id)erl)eit 
unb  ful)r  Ieid)t  flottemb  fort:  ,,3d)  m6d)te  3J)nen  in  feiner  ffieife  inbidfret 
erfd)einen,  mein  gndbiged  ^rdufein;  nur  — " 

Da  traf  itjtt  ein  ernfier  ©licf  aud  il)ren  ^etten  grauen  3(ugen,  unb  f[e 
fagte  mit  rul)iger,  fanfter  ©timme:  ,,Darf  id)  bitten,  ^fa$  gu  nel)men, 
J&err  Doftor." 

9)7arfud  fDtiltner  war  in  einiger  a3er(egenf)eit,  wie  er  bad  ®efpr&d) 
mit  bem  wortfargen  ^rdufein  weiter  ffitjren  foKte;  er  mad)te  einige  ©e^ 
merfungen  iiber  bad  t)err(id)e  ©ommermetter  unb  feine  ©d)ulflabt  unb  betrat 
bann  mieber,  einigermagen  jagenb,  ben  9Beg,  ber  iljn  bal)ergefu^rt  l)atte: 
„SigentIid)  war  ed  nur  ber  afnfang  einer  ^orrefponbenj,  bie  mir  Dor  einigen 
^agen  guf&Uig  wieber  unter  bie  «0&nbe  geriet  unb  ben  30unfd)  erwecfte,  bei 
meiner  3fnwefenl)eit  in  granfentl)al  bie  ©d)reiberin  perf6nlid)  fennen  ju 
lernen.  ©ie  l)a6en  meine  3fufmunterung  allerbingd  mit  ftoljem  ©d)weigen 
beantwortet  — " 

„©oIt  id)  3l)nen  fagen,  warum?"  entgegnete  fDIafwine  Die$  na*  einer 
ffeinen  ^aufe,  ol)ne  Don  ber  3frbeit  auftufel)en. 

„35itte  fet)r,  mein  gndbigcd  grdulein." 

„3l)re  Xntwort  erfd)ien  mir  n(d)t  ganj  e^rlid)  — " 

SRarfud  STOiltner  err6tete  unb  entgegnete  Iebi)aft:  „llnb  bod)  war  fTe 
ed,  woUen  ©ie  mir  g(auben.  'Xber  wenn  man  Don  i5erufdwegen  fo  Diet 
fd)reiben  mug,  begegnet  ed  einem,  bag  man  mand)ma(  ben  ©inn  fur  bie 


75  8^ 

SRuance  »erliert  nnt  }u  »iel  obcr  ju  iwenig  fagt.  3ci)  Ijoffc,  @ie  finb  bed* 
noegeti  nid)t  ber  SKufe  untreu  grworben*   ©le  Ijaben  2alent  — " 

Sad  ^r&uletn  fd^fittelte  ganj  Ietd)t  tt)ren  ^o)}f  unb  emtberte:  „(Sin 
bigd^en/  —  fitr  ben  «Oaudgebraud).  IDamtt  ^at  man  ntct)t  bad  9led)t^  bie 
SBeU,  in  ber  ed  fo  »iele  gate  @ad)en  gibt,  ju  belAfligen.  3a,  unb  bann  ifat 
and)  bad  Seben  bad  fetntge  ba}u  getan,  nttr  metn  bi^d^en  jDtd)ten  a6}ugen)6t)nen. 
3cf)  tfabt  in  ben  legten  3al)ren  ju  Dtel  @(enb  gefe()en.  Wlcine  Zante,  bie 
mtc^  er}ogen  tfat,  touxU  franf  unb  (ag  ^ier  im  J^aufe  brei  3al)re  ge(&l)mt 
ba.  3ci)  l)abe  fie  gepflegt  bid  }u  if)reni  feligen  @nbe/^  ®ie  l)ie(t  inne  unb 
Micfte  mit  geneigtem  ^opfe  (aufd)enb  in  ben  ®arten  ^inaud,  ber  mie  ein 
ftefer  99(umen{orb,  beffen  Soben  t)on  ber  ^eOflen  ^(nmenffiUe  uberquoU, 
jmifci^en  ben  alten  grauen  SRauern  aufgl&n)te.  Ser  ®(t)inimer  eined  S&c^elnd 
hufdyte  jiber  il)r  ®ef[d)t  unb  t)erfd)n)anb  »icber,  aid  jle  fortful)r:  „llnb  ein 
3al)r  fp&ter  i)at  man  eine  anbere  ^ote  f)ier  i)inaudgetragen,  beren  ®d)icffa( 
tntr  gejeigt  tjat,  ba@  bad  Seben  ber  fd^recflid^fle  Tixd)tev  ifl,  ber  und  fd)n)eigen 
lebrt.    Stephanie  J^ilbert  i(l  in  biefem  J^aufe  geftorben." 

@in  j&^ed  Sntfegen  ri^  iTOarfud  fD^iltner  Don  feinem  ®i$e  auf  unb 
noortlod  fiarrte  er  bad  ^r&ulein  an,  beffen  «0&nbe  mfif  ig  auf  iijvex  91&t)arbeit 
rul)ten/  n>di)renb  bie  ©ilber  ber  Srinnerung,  benen  er  nod)  ge|lern  nad)^? 
gebangen,  in  wifbem  ®turme  unb  mit  ber  Seutlid)feit  einer  emigen  ©egenmart 
burd)  feine  @ee(e  iagten. 

„®tepl)anie  ifl  geftorben?"  flammefte  er  mit  }ugefd)nurter  ^ct)fe, 
n>&t)renb  er  fetn  2(uge  t>on  ber  ®d)n)eigenben  Derwanbte,  aid  m&ffe  er  nun 
etnoad  ®rauent)oUed  t)6ren,  bem  er  nid)t  entflieljen  finne. 

Sod)  fOtalmne  fntjx  mit  leifer  ©timme,  in  ber  einc  tiefe  Srregung 
nac^^jitterte,  fort:  „3a,  i)ier,  im  Simmer  nebenan  l)at  fie  ber  Sob  erl6fl  oon 
aHem  ?eib." 

„3n  —  in  weld^er  SBerbinbung  fle^en  ®ie  ju  ber  —  5oten?"  fragte 
aSarfud  STOiltner- 

„©ie  tt>ar  meine  bejle  greunbin.  3Bir  finb  aid  9?ad)6ardfinber  auf* 
gen>ad)fen.  3t)r  Sater,  ber  aid  3(r}t  nid)t  mei)r  praftijieren  fonnte,  ^atte 
fid)  ffierljev  }urftcfge)ogen.  S)a  brfiben  i)aben  fie  gewo^nt.  ©pdter  nal)m  fie 
bie  ©telle  einer  @riiel)erin  in  9)2&nd)en  an.  ©ie  mar  ed  aud),  bie  mid) 
eigent(id)  ermunterte,  an  ©ie  )u  fd^reiben." 

Sa  nidte  SRarfud  SRiltner,  aid  ob  er  nun  aUed  Derflfinbe.  X)od) 
SWalwine  fuljr  mit  J^erber  ©timme  fort:  „©p&ter  in  il)rem  namenlofen  Slenb 
l^at  fie  fid)  }u  mir  ^ierl)er  geflAd)tet.  3n  mir  aber  jittert  nod)  immer  bie 
^mpirung  nad),  menu  id)  baran  benfe,  mad  bad  Seben  and  biefem  l)errlid)en 
@efd)6pf  gemad)t  l)at.  Unb  mie  ed  bie  ^Jfrmfle  an  ?eib  unb  ©eele  gefd)dnbet 
bat.  ®arum?  SBBeil  fie  it)re  ©eele  einem  iTOenfd^en  ^ingegeben !  ©eit  jener 
3eit  fel)'  id)  bie  ganje  fflelt  mit  anberen  ^ugen  an." 

„@d  ifl  entfe$Iid)/'  fagte  er  mit  matter  ©timme,  m4l)renb  jugleid)  ber 
®ebanife  in  it)m  aufbligte,  ba@  and)  er  in  biefed  jdmmerlid)e  ©d)idfal  Der* 
firtcft  fei  unb  jeben  2(ugenblid  nod)  me^r  bed  @ntfe$Iid)en  erfat)ren  f6nne. 

9RaImine  aber  redte  il)re  fd)Ianfe  ©eflalt,  aid  ob  fie  einen  @ntfd)Iug 
gefa^t  l)abe,  unb  fprad)  metter:  „©eit  id)  gefe^en  l)abe,  mie  ein  ^xanenMnx 
jugrunbe  gel)en  fann,  uerfie^e  id)  erfl  bie  J&ofnungen,  bie  in  ben  ©eelen 


76  8^ 


unferer  ebelflen  %xanen  febenbig  ftnb.  3d)  bin  jwar  nur  eine  fleine 
3ufd)auertn  uub  teile  ntd)t  aUe  btefe  J^offnungen,  bte  in  ber  9QeIt  brau^en 
laut  loerben.   Tiber  ba^  fie  (eben,  ifl  mtr  ein  i^etfiger  ^rofl/' 

9Rarfu^  STOiltner  fdywieg.  aRaftt>ine  abcr  fu^r  mit  milberer  ©timme 
fort:         ya,  fo  trifiet  man  ficf)^  tnbem  man  fid^  Don  einem  folc^en  ®d)tcffa( 

tt)efl  in*  3(Ugemcine  flftd)tft        i(l  jrnar  fin  id)Ud}ttv  2rofl;  aber  . 

fDlidf  i)at  ber  (ange  3(n6Iicf  be*  ^urd)tbaren  ganj  (liK  gemac^t/^ 

SDZarfu*  SRiItner,  in  bem  nur  ein  einjiger  ®ebanfe  lebte^  fragte  nad) 
einer  SBeile,  urn  nur  etwa*  ju  fagen:  ,/Bic  leben  ganj  aUein?^^ 

(Sin  ?eud)ten  ging  fiber  bie  3fige  be*  grdulein*,  unb  n)icber  faufd)te 
ffe  einen  SRoment  in  ben  fonnigen  ®arten  t)inau*/  ber  Don  ^infenrufen  unb 
bem  ®e)&nfe  ber  Xmfein  miberbaUte.  ^^9tid)t  ganj.  @*  ifl  and)  fo  traurig^ 
n>enn  man  gar  niemanb  tjat,  ffir  ben  man  leben  fann.  2)}and)ma(  benf  id) 
mix  abet  and),  ba0  id)  e*  ganj  gut  aKein  au*t)a(ten  f6nnte.  3d)  meine: 
ein  fleine*  ^I&$d)en  auf  bem  SKantelfaum  ®otte*  ifl  and)  fur  mid)  ubrig^ 
unb  ba  (egt  man  fid)  bann  t)in  unb  fie^t  ffd)  bie  @terne  an/^ 

„2)a*  ifl  ^errlid),  tt)a*  ©ie  ba  fagen,"  woHte  9Rarfu*  SRiltner  ent^ 
gegnen;  bod)  in  biefem  2(ugenb[icfe  6fnete  fid)  bie  ^fire  unb  ein  cttca  mer^ 
j&^riger  braungelocfter  £nabe,  mit  i)eOen  blauen  3(ugen,  ber  eine  ^eitfc^e 
in  ber  «Oanb  ^ielt,  (ief  l)erein  unb  rief  feurig:  ^^Sftama,  SD^ama,  bie  iTOarie 
tjat  im  ®arten  ein  9?efl  gefunben." 

a){arfu*  S)?i(tner  flanb  {um  jweiten  9Ra(e  fprad)Io*  Don  feinem 
©effer  auf. 

„@in  SWefl  ijat  bie  SWarie  gefunben?"  fragte  STOalwine  mit  gefpieltem 
(SrflauneU/  n>&t)renb  ffd)  ber  ^(eine  {u  it)r  f{fid)tete  unb  ba,  iid)  anfc^miegenb 
unb  p(6$(id)  eingefd)fi(4tert,  auf  ben  fremben  SKann  flarrte. 

„©iel)t  er  feiner  9Kama  nid)t  dljnlid)?"  fragte  STOafwine,  um  beren 
Sippen  ein  flrat)(enbe*  S&d)e(n  fpiefte.    „@r  tjat  ganj  i^re  lieben  3(ugen/' 

fD?arfu*  SRiftner,  bem  e*  nun  f(ar  war,  weffen  ^inb  Dor  tt)m  flanb, 
n>u6te  nid)t*  anbere*  ju  tun,  a[*  bem  ^naben  feine  fr&ftige  J^anb  i)iniu^ 
t)a(ten.  @l)e  er  inbeffen  eine  n>eitere  ^rage  an  9Ra(n>ine  tun  fonnte,  famen 
anbere  Ainber,  ^naben  unb  fD?&bd)en  an*  ber  9}ad)barfd)aft  l)ereingetripf)e(t, 
fo  bag  er  f[(^  ba(b  Don  neugierig  gl&njenben  3(ugen  umgeben  fa().  SD^atn^ine 
aber  fd)ien  feine  ^(nmefen^eit  mit  einem  9)2a(e  ganj  Dergeffen  }u  i)aben;  ffe 
jupfte  bem  einen  fein  ©d)ur)d)en  gured)t  unb  ^ob  bem  anbern,  lad^enb  unb 
fragenb,  ba*  rofige  *inn  empor,  mit  glftcffid)er  55en)eglid)feit,  bie  itjx  fd)male* 
®effd)t  mit  flrai)Ienbem  Seben  erffiUte.  9)a(b  ffitlte  l)eiterer  Jtinberl&rm  ben 
Heinen  9taum. 

SRarfu*  9Ri[tner,  ber  ingwifc^en  nur  an  ba*  ®ei)6rte  bad)te  unb  babei 
©tepl)anie*  ®eflaft,  fo  me  ex  ffe  ba*  erflemal  gefel)en,  mit  feltfamer 
Seutli(f)feit  empfanb,  fat)  bem  finblid)en  Sreiben  mit  flarren  2(ugen  eine 
3BeiIe  )u;  er  lieg  feine  i&Iicfe,  bie  bod)  nid)t*  fa^en,  and)  fiber  bie  alt^ 
D&terifd^e  $inrid)tung  be*  ®emad)e*  fd)n)eifen,  an  beffen  getfind)ten  SS&nben, 
neben  einigen  ^amilienbilbern,  9tiebingerfd)e  3agbflficfe  in  fd)malen  braunen 
«$o(}r&i)md)en  i)ingen*  fUnn  trippelten  and)  ein  paax  neugierige  alte 
iE3eibd)en  i)erein,  bie  einen  9teiger  nad)  bem  anbern  Dor  bem  fremben  ^exxn 
mac^ten  unb  aUe  in  i&mmer(id)en  26nen  befl&tigten,  bag  e*  fe^r  l)eig  fei. 


77 


iRarfud  SRUtner  blieb  nod)  etn  ^eUd)tn  flutntn  auf  fettient  ®tul)(  fT$eti;  baitn 
abtr  uberfchKdj  ber  ©ebanfr^  bag  er  ^eutc  nicfctd  inel)r  Don  ©tepljanie 
}u  l)iren  befommen  loerbC/  unb  er  er^ob  (id)  f)l6$[td)^  um  3fbfd)teb  ju 
nebmen.  SRahotne  gefettete  il^n  bid  an  bie  Sftre^  unb  ber  ®efud)er  bacfcte 
n>&t)renb  bed  ®el)end  mtt  unf&gltd^em  ^tbemtden  an  bad  ffetne  ^e(lmat)(^ 
JU  bem  aucf)  SRalwine  aid  ®a(i  erfdyetnen  foUte.  Sod)  ber  ®ebanfe^  bag 
H)m  ber  3(benb  n>o^(  ®e(egen^ett  bteten  tvtvht,  nod)  einmal  mtt  iijt  &ber 
bad  @d)icffat  ber  25al)ingegangenen  ju  fpred)en,  erffittte  il)n  mit  pI6ond)er 
SB&mte;  er  blieb  in  ber  Surifnung  flet)en  unb  fagte  mit  (eifer^  btttenber 
©timme:  „^d)  l)abe  f&r  i)eute  3(benb  etnen  ^oOegen  unb  eine  anbere  Same 
]u  ®a(l  gelaben.  Um  ad)t  ll^r  in  ben  @ngef.  98o0en  and)  ®ie  mir  bie 
greube  mad)tn,  metn  ®afl  )u  fein?  3d)  bitte  barum.  3d)  tjitte  fo  Die( 
mit  3l)nen  ]u  befpred)en  — •   ®eben  ©ie  mir  feinen  *orb  — *' 

„®ut,  id)  merbe  mir  erfauben  — fagte  SKatmine  nad)  einer  ffeinen 
SBeile,  ol)ne  iljre  3fugen  ju  er^eben,  n>4t)renb  er  feinen  ©licf  Don  bem  feinen 
SRunb  Derwanbte,  um  bejfen  ?ippen  wieber  ein  QdjatUn  l)erber  ©trenge  lag.  — 

a)7arfud  9Ri(tner  blieb  nod)  einen  3(ugenb(icf  Dor  ber  fd)[anfen  ®e(lalt 
ffei)en;  ed  fd)ien  i^m^  aid  mfijfe  er  ein  DoOed  marmed  J^erjcndmort  finben^ 
bad  wie  eine  {id)ere  ©rucfe  in  bie  ^utunft  l)infiberfiil)re;  aDein  er  fanb 
nid)td,  n>ad  er  ii)rer  n[)urbig  tjieU,  unb  fo  nai)m  er  rafd)  unb  etmad  firmlid) 
t)oIlenbd  3Ibfd)ieb/  }U  bem  fie  il)m  i^re  fd)male  «Oanb  reid)te. 

(^r  fd)Iug  aber  nid)t  ben  SQeg  in  bie  @tabt  ein^  fonbern  flieg  auf  ben 
9BaIbpfaben  bed  @ticftd)t  empor  bid  jur  mulbigen  ^od^ebene,  toe  er  nun^ 
{ugleid)  erregt  unb  traumDerfunfen^  im  ®Ian}  bed  flra()Ienb  blauen  ®ommeri> 
taged/  burd)  fflbern  einl)ern)ogenbe  iltoggenfelber^  bai)inging.  Sie  ®efialt 
ber  armen  Soten  n>oUte  nid)t  Don  feiner  @eele  tDt\d)en,  unb  ed  mar  ibm 
jumute^  aid  f&^e  it)n  ein  emig  flarred  3(uge^  bem  ein  ungel)eured  Unredvt 
angetan  morben  mar^  mie  eine  bange  ®d){dffaldfrage  an:  ^rug  er  nid)t  and) 
eine  l)albe  Sc^ulb  an  biefem  traurigen  Sod?  dx  ^atte  ffe  ^ineingeful)rt 
in  biefed  Seben^  bad  ii)r  {um  ®d)i(ffal  merben  foOte,  unb  mugte  fid)  nun 
frageU/  wad  tt>ol)I  and  biefer  fonnigen  @eele  Dott  ber  ©el)nfud)t  tiefflen 
tebend  gemorben  mdre,  menu  er  bamald  feinem  eigenen  ®ef&i)I  geflattet 
^Atte^  }ur  %reitieit  bed  ®Ificfed  emporgureifen?  91un  (lanb  er  jum  jmeiten^ 
mat  Dor  il)r  unb  il)rem  ©d)icffal,  bad  aber  aid  ein  llntt>ieberbringlid)ed 
abgefd)Ioffen  mar,  unb  i&Iid  unb  ^ffiort  unb  ®efle,  bie  it)m  nod)  nac^Ieud)tenb 
tn  ber  (frinnerung  lebten,  befamen  in  bem  ®(^mer)e  bed  3(ugenblicfd  eine 
9ebeutung/  bie  il)n  immer  mieber  Don  neuem  nad)grfibeln  lieg,  meld)e  9&ben 
biefed  armen  9)2enfd)enIofed  er  felbfl  gemoben  ober  jerriffen  ijattt.  Sunt 
erflenmal  bemegte  itjxi  tin  nieberbrfitfenbed  ®efft^I  ber  a3erantn>ortIid)feit, 
gegen  bad  er  fein  3Qort  i)eimlid)en  ^rolled  fanb  unb  bad  nur  in  bem 
®ebanfen  an  fTOalmine,  and  beren  SRunb  er  DoIIe  ^lart^eit  liber  @tep()anied 
Seben  erfai)ren  mugte,  ben  me^mutDoDen  SSorgenug  einer  milben  9tu^e  in 
reiner  a)?enfd)enn4^e  empfanb. 

®eine  ®d)I&fen  brannten  unb  immer  rafd)er  ging  er  auf  bem  alten 
^elbwege  hatpin.  Um  ben  @d)reitenben  glik^te  bie  i)eimatlid)e  glur  in  DoDer 
Niger  @ommerprad)t;  ^od)  im  93Iauen  triDerten  bie  Serc^en  im  Ieid)ten 
SBinb/  ein  %alU  flanb  auf  9eute  lauernb  Aber  einem  ^uc^enmalbe,  unb 


-chJ   78  8^ 


bort  gl&njteti  and)  bte  altevibvamcn  3iegelb&d)er  feinc^  ^timatoxM  t)on 
etncm  fanfteti  J^6i)eti^an9  t)eruber.  3(((em  fd)ien  tl)m  je$t  tit  biefrr 
tttnern  fSlot  unmdgltd^/  nod)  anberen  Srtntteruttgen  nad^jugel^ett^  unb  fo  febrte 
er  benn  auf  etnem  anbertt  ^elbiDeg^  ben  er  etnfl  aH  @cf)itler  Za^  f&r  Sag 
}ur  @tabt  t)erabgegangen  n>ar^  jurficT^  n>&i)renb  ber  (Sfanj  ber  ^et^en  bufttgrn 
®eft(be^  bte  jttternb  {arten  ®Iocfenb[umen  am  9tanbe  be^  SQege^^  bte 
bufd)eli9en  Stbed)fen  am  9latn,  ba^  ®efumm  ber  J&ummefn^  bte  taumefnben 
falter  unb  SBelt  unb  Se6en  in  etn  bang  empfunbene^  SQtrrfptel  ungei)eurer 
Srauml)aftigfeit,  bie  to*  tieffled  5ftl)fen  war,  »or  feinen  ^ugen  ineinanber 
floffen.  — 


4* 

$rau  £ar()artna  Seimbad)  raufd^te  am  3(benb  aid  bte  erfle  fetner  ®kftt 
in  einem  fd)n)eren  fd)»arjen  ©eibenfleibe  an,  auf  bem  bad  regefmd^ig  Der^ 
teifte  ®oIb  i[)red  ®d)murfn>erfed  gfdnjenben  ©peftafel  mad)te;  bann  fam 
9)?afn>ine,  mit  einem  feinen  golbnen  ^ettfein  um  ben  J&al*,  unb  enblid) 
ftettte  jld)  and)  J^err  Otto  Srid)  ©teinbeid  ein,  ber,  tro$  ber  fommer(td)en 
J&i$e  eine  braune  ©amtjarfe  trug,  bie  an  ben  (SHenbogen  wie  aBonbfd)ein 
auf  einem  2Beit)er  gffinjte.  @r  wu^te  nid)t  red)t,  mad  er  aud  ber  2(nn)efenl)eit 
ber  beiben  IDamen  mad)en  fottte,  in  beren  ®efeUfd)aft  it)n  ein  lecfered  ^Diatjl 
erwartete;  benn  er  ^atte,  el)e  er  bad  J&errenjimmer  befdyritt,  einen  3(b(ted)er 
in  bie  Mid^e  gemad)t,  um  feine  fflaU  mit  einem  SSorgerud)  ju  fuUen  unb 
babei  ben  Speifejettel  {u  prufen.  @r  f)ie(t  bie  $ranfentl)a[erinnen,  bie  er 
nur  bem  SHamen  nad)  fannte,  fur  iDefannte  bed  ^oUegen  t)on  beffen 
@d)u(ieit  i)er,  unb  nai)m  fid)  Dor,  bem  l)ubfd)en  ^rduCein  jDie$,  bad  it)m 
nid)t  bie  J^anb  jum  ©ru^e  gereid)t  i)atte,  aid  SOIann  Don  9Qe(t  unb  ®eifl 
get^6rig  ju  imponieren. 

STZarfud  9)2i(tner  tjatte  in  bem  Heinen  ®tubd)en  neben  bem  J^erren^ 
jimmer  becfen  (affen.  3(Id  er  (id)  mit  feinen  ®d(len  {U  2ifd)e  fe$te, 
beberrfd)te  i^n  ber  trfibe  ®ebanfe,  n)ie  gan{  anberd  er  fid)  biefen  Z)i(^ter» 
fd)maud  audgemalt  l)atte,  n&mlic^  aid  ein  AbermAtiged  Spmpoffon,  mo  er 
Don  einem  fd)6nen  ^raume  in  ^albem  @eIbflfpott  glucflid)  3(bfd)ieb  nel)men 
monte.  9}un  mugte  er  ftd)  )u  l)eiterem  ®efpr&d)e  jmtngen  unb  burfte  mit 
SKalmine,  beren  DorneI)m  flitted  SBefen  il)n  in  eine  Icidjte  (Srregung  Derfe$te, 
fein  SBBort  Don  bem  fpred)en,  mad  feine  @eele  ben  Jag  fiber  tief  unb  fd)mer 
bemegt  [)atte. 

J&err  Otto  @rid)  ©teinbeid  itberl)ob  if)n  inbeffen  balb  ber  ^flid)t  bed 
9tebend;  ber  Sic^ter  mar  nad)  einigen  Umfd)meifen  fiber  $ranfenti)al  fofort 
auf  bie  Sttteratur  gefommen,  unb  ed  jetgte  fic^,  bag  er  ben  meiflen  fibein 
©d)Iid)cn  auf  ber  ©pur  mar,  bie  ba  braugen  in  ber  ®elt  ber  grogen 
97amen  im  gemeinen  ©d)mange  maren;  er  mar  unbarmt)erjig  mie  ein  Soten^ 
rid)ter,  unb  fein  Sngrimm  murbe  erfi  red)t  lebenbig,  aid  bie  erflen  ®Idfer 
bed  beflen  granfentl)aler  UBeifen  fiber  feine  3unge  gelaufen  maren.  (Sr  rig 
Don  einigen  berfi^mten  X)id)terbfiuptern  fo  Dtele  ungered)t  errafte  Sorbeer^ 
frfinje  l)erunter,  bag  bie  $ranfentt)aler  auf  Sa^re  i)inaud  mit  ben  fc^maleti 


79 


iDfirjigeti  9(&ttcrti  ffir  i^rc  ©rdteii  t^erforgt  tt)aren;  er  feI6(l  aber  na^m 
fetn  datt  baDon  oor  ben  fDIunb  uitb  er}&t)(te  oon  einigen  gemad^ten  Seuten 
®efd)t(()ten,  bie^  wie  er  feI6(l  bemerfte,  toixiUd)  md)t  mel)r  fd)6i!  tt)aren* 
„^te  ganje  Sttteratur  ifl  ein  @d)n>etneflaO.  bin  frol),  ba^  id)  l)erau^ 
bin.  3^ie  gatije  SQelt  tfl  itber()aupt  etn  @cl)n)emeflaUI"  f(f)Io@  er  t)oa 
grtmin^  ben  er  aber  fofort  burc^  etn  i)oUgeme{fened  &ia^  ^ranfent^aler 
fofdjte.  — 

,,aBo  und  ba^  @cf)icffal  mddet/'  ergdnjte  SRarfud  JWiftner,  ber  ba* 
©eburfni^  ful)(te,  ettioad  ju  entgegnen,   „3t)r  ©pejiette*,  J&err  College!" 

g^rau  ieimbaiS),  bte  fRa(n>ine  mit  uberfreunblidyer  «$od)a(()tung  begegnete^ 
l)atte  fid)  fofort  auf  beren  ffeined  3(boptit)f6l)nd)en  gcfiurjt,  unb  bie  beiben 
^amen  waren  balb  tief  in  bie  entjucfenbflen  Unarten  ber  ^tnber  Derflricft 
©er  Su^irer  erful)r  bei  biefer  ®elegenl)eit  and),  bag  bie  Heine  Dame  ^unft^ 
fitrfereten  fiir  ein  granffurter  itaufljaud  fcrtige,  unb  ber  ®ebanfe,  bag  and) 
fie  einen  5eil  i^red  8ebendunterl)aUed  mit  ibrer  J&dnbe  Xrbeit  erwerben 
mfiffe^  erfuUte  ii)n  mit  einem  mobligen  ®eful)Ie  unb  ^albem  ®(ficfe. 

2fW  aber  bie  Derbcigenen  JJranfentt)aIer  Spejiafitdten,  bie  fiblid)en 
g6ttlid)en  ©rattt)ur|le  crfdjienen,  Derlieg  Otto  Srid)  ©teinbeid  ba^  unf[d)erc 
Jelb  M  beutfd)en  @d)rifttumd  unb  jeigtc  jicfc  al^  edjter,  eingefebter  9Bal)U 
franfentbafer:  „l5ad  i(l  bad  einjige,  n>ad  man  l)icr  l)at/'  fagte  er  mit 
Iei(fttem  ®d)ma$en,  wdbrenb  er  bie  braunen  gfdnjenben  ®ebilbe  mit  fenner^ 
baftem  @rnft  jerfdgte  unb  ein  jweited  unb  brittcd  flWal  ba»on  nal)m,  nur, 
urn  bem  ^oUegen  ju  jeigen,  loie  man  fie  in  @(^6n^eit  il)rer  ^ejlimmung 
entgegenfubren  mfiffe. 

„t^ie  STOc^ger  ncbmen  gu  »iel  ^feffer/'  meinte  grau  ?eimbad),  bic 
ben  I)uft  mit  i^rer  Slafe  prfifte.  „Unb  bann  weig  man  nie,  mad  in  einer 
SSSnvft  aDed  brinftecft*  ®ir  effen  nur  bflMdgemad)te.  3d)  nel)me  and)  immer 
ein  paar  9?4gele  baju.   9Rein  SKann  ifl  barin  fet)r  inbtH/^ 

„35ie  SDSurfl  ifl  eigentlid),  aW  pl)iIofopl)ifd)ed  ®erid)t,  bad  beutfd)Cf 
(Sffen  par  excellence",  mif^te  fid)  nun  SWarfud  SRiltner  ein,  ber,  tro^ 
feiner  unbeiteren  ©timmung,  gern  ein  i&djdn  auf  fTOalminend  Stppen 
gefei}en  l)Atte.  — 

„SGBie  meinen  ®ie  bad,  J&err  College?"  fragte  Otto  @rid)  ©teinbeid 
mit  ooUen  Cacfen. 

„®ott,  bie  «Oaut  ba  ifl  fojufagen  ber  Segriff,  in  ben  man  ben  3ni)alt 
{uerfl  i)ineinflopft,  $ett  unb  ^feifd)  unb  ®en>iir{e,  um  il)n  bann  mieber 
^eraud}unet)men  unb  aid  burd)aud  notmenbiged  ^fiUfel  einer  tiefffnnigen 
Xnal^fe  ju  untcrwerfen!"  Da  fein  Sinfall  aber  nur  mdgige  Jjeiterfeit 
enoerfte,  ful)rte  er  il)n,  o^ne  innered  ©ebagen,  nod)  nAJ)er  and,  inbem  er 
bei  einigen  Sutaten  ocrmeilte.  ^crr  Stcinbcid  aber  l)atte  ffd)  inj»ifd)eii 
rebenb  ju  grdulein  2)ieft  geneigt,  unb  aid  SBarfud  9RiItner  mit  feinem 
3n>tfd)enfpiel  }u  Snbe  mar,  ^irte  er  ben  fauenben  Dic^ter  fagen:  „^ir  allc 
m&ffen  und  eine  neue  ©eele  anfd)affen." 

SWalmine,  bie  nod)  immer  nid)t  auftauen  mollte,  fonbern  jiemlid)  ein- 
filbig  bafag  unb  aud)  feinen  SBein  tranf,  begrugte  biefe  ^orberung  mit 
einem  Ieid)ten  Slirfen  iljred  feinen  A'opfcd.  3n  grau  ?eimbad)  aber,  bie  im 
9H)9tbmud  iljre  9?afe  rumpfte,  ern>ad)te  pl6§Iid)  bie  eingefc^Iafene  ^^antafie. 


80  8^ 


Kkl^  man  auf  bie  fr&nftfd)e  St&dje  im  aOgemeinen  ju  fprecf^en  tam^  unt)  ba(b 
fegelte  xljx  fd)n)er  Relabelled  ^ucl)enfd)iff  in  Doller  ^rad)t  baJ)in.  Otto  Srid) 
©tettibetd^  ber  ein  ®(ad  3Qetn  nacf)  bem  anbern  f)inabfl&r{te^  fofgte  t^r  anf 
t)iefer  ^t(f)terfal)rt  mit  f^rifdyer  SJegeiflerung*  IDer  frfil)ere  ^oet  rriDied  ffd) 
1)ier6et  nicftt  nur  aW  ein  feiner  ©djmecfer,  fonbern  aud)  aid  ein  n>4l)ferifd)er 
-tenner  ber  Sofafgen)&d)fe,  bie  it)ren  [eid)ten  Suft  aud  einem  eigenen 
9te6enn)infe(  faugen^  foioie  ber  fc^ma^enben  ©efd^m&cTer  aUer  ^ranfenti^aler. 
SRarfud  fTOiItner  erful)r,  iDefc^e  3wnge  ber  J^err  ?anbgerirf)tdrat  a.  ^. 
1Beinf)6ppeI  be(T$e,  unb  ed  blieb  il)m  md)t  mborgen^  bag  ber  ^^pfifud 
gan)  unni6g[id)e  ®efd)id)ten  er)&^(e,  tDenn  er  ju  Die!  gelaben  ()a6e.  ^ie 
gilHe  bed  ?ebend,  bie  in  SEBein  unb  9lofen  buftet,  Augerte  ffd)  in  jebem 
liefer  ®d)6pplein(led)er  aid  ein  anberer  Durfl,  ber  mit  feinfier  3unge  Drt 
unb  3eit  unb  ©timmung  roli\)Ue,  urn  {u  feinem  angeflammten  9ted)t  }U 
fontmen;  benn  bie  5rinf(itten  ber  Singeborenen  waren  ojfenbar  fo  ge^eiligt, 
bag  (le  aid  ®(t)i(ffaldmdd)te  bei  aUen  anberen  9r&bern  2(nerfennung  fanben. 
%i\d),  ffiifbbret^  9Ba(b  unb  98eibe  n&brten  in  ber  alten  ffieinflabt  @ee[en^ 
in  benen  ber  unenblirfje  Sleidjtum  bed  ?ebend  aid  ererbte  J&eimatfd)mecferei 
fein  ®efen  trieb,  grau  ^atl)arina  8eimbad),  bie  nid)t  iibel  tranf,  eriAl)Ite 
enblid)  mit  breitem  Sadden  \>on  einem  9Ifirnberger  £od)bud)/  beffen  merf^ 
^tpfirbiger  Sitel  alfo  lautete:  „35er  aud  bem  ^arnaffo  el)emald  entlaufenen 
"t)ortref  Iid)en  ^6d)in^  melc^e  bei  ben  @6ttinnen  Sered,  T)iana,  Pomona  t)iele 
3at)re  gebient,  t)interlaffene  unb  bidi}ero^  bei  unterfc^ieblidyen^  ber  I6blid)en 
^od)funfl  befliffenen  ^rauen  ju  Stfirnberg  jerfireut  unb  in  grower  ®et)eim 
^ei)alten  gewefene  ®emerf^3ettul^  woraud  ju  erlernen^  wie  man  fiber 
anbertl)albtanfenb  fon>ot)I  gemein  aid  rare  ©peifen:  in  ©uppen,  SD^ufen^ 
*^afleten,  ^xixljen,  ©ffigen,  @alaten,  ©aljen,  ©uljen,  Sorrid)ten,  9?ebeneffen, 
ffiiern,  gebraten,  gebacfen,  gefotten  unb  gebdmpften  ^i^d)tnf  SBBilbpret, 
-©eflfigel,  %Ui^d),  aud)  eingemad)te  ®ad)en^  Morten  unb  3ucfern>erf  be(lei)enb; 
mit  SQo^Igefd^macf  unb  lecferbaft  nad)  eined  3eben  iDeutel  )u  bereiten  unb  ju 
fod)en."  ©ie  leierte  biefen  5itel  Iad)enb  wie  eine  ®ebetdmafd)ine  ^erunter 
4inb  n>ugte  and}  bie  3ai)red}abl  bed  @rfd)einend  biefed  flaffifc^en  SBerfed^ 
1691,  genau  anjugeben. 

Otto  @rid)  ©teinbeid  aber,  in  beffen  Sadden  fid)  je$t  ein  ®Iucffen 
mifd)te,  lieg  fid)  t)ernel)men:  „©iefe  flaffifd)e  ^6d)in  ifl  famod.  @d  ifl  ewig 
i'd)abe,  bag  n>ir  nid)td  wiffen,  n)ad  bie  t)ot)en  ®dtter  eigentlid)  neben  il)rem 
Steftar  unb  3(mbrofia  nod)  gewicfelt  ^aben^  t)oraudgefe$t,  bag  iebe  ber  t)Ol)en 
^errfd)aften  eigene  Mdft  geffii)rt  t)at.  ©ie  miffen  nid)t,  ob  bie  flaf(lfd)e 
^fid)enfee  ein  Sagebuc^  ^interlaffen  l)at?  Nunc  pede  libero  —  bie  ^amen 
'fntfd)ulbigen!   3d)  ^abe  n&mlid)  aud)  einmal  ^^ilologie  flubiert.  ^rofl.'' 

gran  ?eimbad),  bie  ben  J&errn  9tebafteur  gottt)oH  fanb,  wugte  nid)td 
-t^on  einem  ^fid)entagebud)/  unb  Otto  (Sxidf  ©teinbeid  begann  bie  ®efd)i(^te 
^er  i)om  ^arnag  entlaufenen  ®6ttin  toeitex  audjufpinnen,  inbem  er  jminfernb 
^udmalte,  njelc^e  ©ebeutung  ber  ^latfd)  in  ber  flaffifd)en  ®6tterfftd)e  eigentj» 
lid)  f&x  bie  menfd)Iid)e  Xulturgef(^id)te  ^aben  mftgte^  n^enn  er  befannt  mfirbe. 
^ud)  bad  ber&^mte  golbene  ®ebuft  um  ben  Olpmp  fei,  aOer  3Bai)rfd)einIid)^ 
*feit  nad),  nur  gl&njenber  £iid)enraud)  gewefeu/  toit  er  nod)  jeben  ^ag  golb^ 
»>burd)n)oben  t)en  9ranrentl)al  aud  in  ben  emigen  ^t^er  emporfd)n>ebe.  Itnb 


81  3*4- 


fo  t)er6anb  tin  baxedti  Sod)1)udf  bad  mobernfle  itbcn  in  einem  fommer(id)ett 
SBet]tn[)itife[  mit  bent  marmornen  «i&oc4fi|  ber  emtgen  ®6tter.  — 

9)Iarfud  S}2i(tner  aber  bacbte  an  ben  9nef  bed  Stc^terd  @tein6eid  unb 
an  bad  «Ooc^jeitdnia^.(  bed  erflen  libermenfc^enpaared^  )u  bem  ie$t  ber  Speife^ 
]ette(  unb  bte  flafflfd^e  ^id^tn  gefunben  n)aren.  (Sr  ^ob  (tin  ®(ad  empor 
unb  tranf  SKalwinen  £te$^  bte  l&c^elnb  bafa^^  be^agltd)  )u. 

grau  Setntbad)  ffi^rte  tnbefTen  bad  ©efpr&dy  aud  g6tt(i(()en  «06^en 
iDteber  in  bie  J^eimat  jurficf,  inbem  pe  ju  Otto  (Srid)  ©teinbeid  fagte: 
„©ie  foUten  einmaf  in  einem  iXoman  eine  altfr4nfifd)e  ^runffud)e  fdjilberm 
SieKeid^t  tun  (te  ed  nod^  in  ber  ,aStntonenbraut'?  fRad^en  @ie  nur^  ba^ 
(SlSa  ii)ren  armen  ®rafen  befommt  @onil  foU  ©te'd  SS&udle  bei^e, 
^a^a."  — 

HU  SD^arfud  ^SJliltntt,  ben  ber  SBein  mctjx  unb  ine^r  burc^m&rmte^ 
^6rte^  bag  ber  2)id)ter  ber  „9)2iUionenbraut"  neben  ii)m  tafle^  fla^I  fid)  ein 
milbed  Hdjein  fiber  feine  Sfige  unb  feiner  ©orge  urn  bie  35i(^terfeele  feined 
£oIlegen^  ben  er  auf  bem  l)ei(igen  ®oben  ber  ^rag6bie  )u  ftnben  gen)&i}nt, 
n>ar  er  nun  mit  einem  ^SJlaU  (ebig^  befonberd  aid  er  merfte,  bag  ber 
Srtitane  and)  mit  bem  inttmfien  iotaittat^d),  ber  nun  an  bie  9teii)e  fam^ 
aufd  innigfie  t)ertraut  mar.  Otto  (Sric^  (Sttinbei^,  ber  einen  fanften  3Bein 
tranf^  n>urbe  babei  immer  mtfber;  )un>eilen  bucfte  er  ffc^  beim  $ad)en/  unb 
fRarfud  ^iltntt,  n>e(d)er  feine  Sanbdieute  fannte^  entfann  fid)  biefer  ®efle 
aid  eined  3uged,  an  bem  er  jeben  ^ranfent^aler  felbfi  am  *ongo  ju  er^ 
(ennen  f^laubtt.  Tlud)  ^SJlaltoint  roar  etwad  l)eiterer  gen>orben;  fte  n>arf  bin 
unb  mteber  eine  fd)a(f^afte  93emerfung  in  bad  ®ef)}r&d)^  bie  aber  in  fRarfud 
SWiltnerd  95rufl  ein  leifed  ®efuf|I  ber  ®iferfud)t  ertt>erfte,  n>eil  if|m  felb|i 
nod)  fein  befonberer  ®rug  and  biefer  3(nmut  {uteif  gemorben  koar;  feine 
SRiene  murbe  immer  f&uer(i(^er,  to&tjttnh  ber  ©c^immer  um  ben  feinen 
fc^malen  SD^unb  feiner  9}ad)barin  immer  ^&uftger  erg(&n}te.  3m  (Sifer  bed  ®e^ 
fpr&d)ed  bemerften  ffe  inbeffen  nic^t^  bag  bie  9?eben)immertfire  (eife  geifnet 
morben  mar  unb  braugen  ber  flumme  Qtjot  ber  £om6bie  in  ®efla(t  (aufd^en^ 
ber  granfentbaler  flanb^  ffir  bie  bad  ^eflma^t  ba  brinnen  ein  gefunbened 
Steffen  mar;  fie  budten  fid)  )umei(en  grinfenb  unb  jminferteu/  menu  ber 
fette  3ettungdfd)reiber  ©teinbeid  eine  faftige  Semerfung  mac^te;  feit  t^r 
fRitbfirger  SSaltin  ®ram(id)  ben  Derforenen  a)2ol)renfof)f  bed  SOBac^tturmed 
in  einem  falfd^en  J^finengrab  miebergefunben  unb  feiner  SBaterflabt  ffir  bie 
n&c^fle  (Smtgfeit  gejiiftet  t^atte,  mar  i^nen  fein  folc^  gelungener  3ujr  me^r 
begegnet. 

3([d  bie  £amen^  bie  jpli^Ud)  an  xtjxe  ^[einen  haditen,  meld^e  )u  J^aufe 
fd^ltefeu/  enblid)  aufbxadienf  exbot  fic^  STOarfud  iSJtiUnex^  ffe  ju  begleiten^ 
m&^renb  Otto  Srid)  ©teinbeid  wn  ben  neugierigen  ^onoratioren  im  J^erren^ 
(immer  feflgei)a(ten  murbe.  ^rau  Xat^arine  Seimbad)  lieg  ed  ffd)  nid)t 
ne^meu/  bad  ^r&ulein  Sie^  in  ben  ^effenminfel  )u  begleiten^  unb  fo  ging 
benn  fD^arfud  SD^iltner  fd^meigenb  neben  ben  beiben  Samen  ijtx^  burd) 
fd^Iummernbe  ®a^tn  unb  fiber  monb^eOe  ^(&$e^  auf  benen  fitegenbe 
9ti^renbrunnen  raufd)ten.  $rau  Seimbac^  fprady  im  ®ei)en  mit  (auter 
©timme  t)on  taufenberlei  Singen:  wn  ©enfgurfen  unb  2Qeinbeerb(a$^  t)om 
©ocfenflricfen  unb  t)om  3a^nen^  k^on  ^leigjettefn  unb  k)on  il^rer  a(ten  9Ragb 

S&ddeacsche  Moamtthefte.  1, 1.  0 


82 


^Bltaiitnt,  einer  reiiten  ^erre,  toit  jie  nidjt  mttjx  xoad)Un.  iHftavtui  SRiftner 
empfanb  einen  wadyfenben  SBibemiOen  gegen  biefe  fette  ©piepbftrgeriii,  bie 
t()m  bie  ^reube  nai)m/  fid)  mtt  ber  f(f)(anf  etn^frn>anbe(nben  ®efla(t  an 
fetner  @eitf  ju  unter^alten/  unb  er  r&(f)te  fid^  an  bem  3bea(6Ube  einrr  t&bnen 
2Qeibfid)feit,  ba*  er  einen  Sag  fang  in  feiner  ©eele  getragen,  mbern  er  (le 
in  bad  $feffer(anb  n>unfd)te.  (Sr  begrif  nid)t^  wit  SOZalwine  fo(d)en 
fpie^igen  ®ef))r&(i)en  mit  offenbarer  Sfufmerffamfeit  )ul)6ren  fonnte.  THi 
bad  fd)(anfe  ^r&ulein  in  bem  aften  ^ani  bed  Areffenminfeld  t)erfd)n>unben 
roar,  o()ne  i^nt/  mie  er  meinte,  einen  freunbfic^en  3rbfd)iebdgru9  ju  ginnen^ 
unb  aucf^  ^rau  ^at^artne  ieimbaib,  bie  fTc^  laut  unb  marm  Don  ii)m  t>er^ 
abfcf)iebete,  ben  Jjeimweg  nad^  bem  ?o(l)boben  angetreten  l)atte,  ging  er 
langfam  burd)  bie  ^aOenben  ©affen  in  bic  ©tabt  jurficf,  »on  einem  Sore 
bid  jum  anbern  unb  ^inab  jum  fSJtain,  ber  in  ber  milben  J^eOe  ber 
Iauf(^enben  ®ternennad)t  leife  ba^erjog.  Sin  leifed  SBBe^en,  »on  ^uft  unb 
^rifc^e  fd)n>er/  fam  gumeilen  t>on  ben  na^en  Se(bern  bed  fanft  anfieigenben 
xedften  Uferd  ^ergefiridyen/  unb  feier(id)en  flanged  t^r^allte  ber  ®d)rag  ber 
@tunbeng(o(fen/  bie  ffd)  t)on  nat)  unb  feme  3(nttt)ort  gaben^  im  namenlofen 
^rieben  ber  3uJinad)t  ©o  ijatu  er  jid)  biefen  Sid)terf(ftmaud  tt)al)r^afHg 
nid)t  gebad)t,  unb  aud)  S)7a(n)inend  k)orne^m  anmuttge  ®ef)a(t  t>er(or  im 
iid)te  biefed  S)7a^rd/  bad  nun  and)  Doruber  n>ar* 

@in  ®d)auer  tieffler  Sinfamfeit  unb  (eifer  Srauer  iiberfdylid)  aUmhtftid) 
ben  ?aufcftenben:  bort  oben  manbelte^  in  ewig  bJfi^enber  Slein^eit,  ©tern 
an  ©tern/  unb  l)ier  unten  atmtte  unb  fd)Iief  bad  bange  Seben^  bad  and 
armen  3(ugen  tr&umt  unb  glAngt  98ie  t>itU  t>on  ben  ©ternenaugeu/  bie 
i^m  fefbjl  gegfdnjt,  waren  fd)on  erIofd)en  in  ber  ewigen  9iad)t,  unb  bod) 
ging  nod)  ein  fefier  ©d)icffa(dfaben  ^er  ju  i()m  unb  fpann  flc^  meiter  ju 
ben  anbern,  bie  fid)  einfl  mit  i^m  an  ®(an}  unb  iidjt  gefreut  fatten.  Sin 
munberbared/  grauenDoOed,  gofbened  SSermobenfein  t)on  Son  unb  Suft  unb 
^lang  unb  2Renfd)entt>err/  bamit  ein  jeber,  wa^nDoO  barein  t)er|lrirft,  Un^ 
audff)red)fid)ed  erfa^re!  Dad  ?eben,  bad  er  »or  einigen  Sagen  nod)  gefu^rt, 
fd)ien  iijm  im  atemfofen  ©d)tt)eigen  biefer  92ad)t  wie  ein  bumpfer  Sraum, 
ber  meilenfern  am  bunfein  ^Oorijonte  fag  unb  branbete,  unb  bod^  faf  bort, 
im  SBirrmarr  ^eifen  Drangd  unb  einer  ru^elod  gemeinen  SBett,  bad  arme 
©d)ifd)cn  feined  ?ebend  feft.  SBogu?  2Qoju?  Sin  ®efiiijl  unf4glid)er  Ser* 
(affen^eit  unb  bittern  Sfeld  quo0  (angfam  in  i^m  empor,  unb  jielfod  ging 
er,  umfangen  Don  ber  unge^euren  Sinfamfeit  ailed  ^ebenbigen,  burd)  bie 
©ommemad)t  ba^in,  in  ber  ein  Htm  unb  ein  9Beben  ging,  ^on  ©tern  ju 
©ternen  unb  Don  Sraum  ju  Sr&umen. 

2ffd  er  ffd),  fange  nacft  a»ittemad)t,  bem  ®a(l^of  wieber  nd^erte, 
torfelte  gerabe  ber  Did)ter  Dtto  Srid)  ©teinbeid  im  ©elbflgefprdd)  bie 
breite  ©anbfteintreppe  ^erunter;  er  war  gdnjJid)  betrunfen  unb  ^ielt  feinen 
©tocf  n>ie  einen  ©pief  Dor  fid)  ^in. 

,,9ia,  ijaben  ©ie  3l)re  SRac^barin  nad)  J&aud  gebrad)t?"  lallte  er  mit 
C9nifd)em  ?ad)en,  aid  er  ben  ^ollegen  fo  fpAt  bal)erfommen  fal). 

^STOenfd),  ©ie  ffnb  ja  befofen,"  entgegnete  STOarfud  SWiltner,  ben  biefed 
beutlid)e  ?ad)en  mit  einem  ingrimmigen  Sfel  erffillte,  ol)ne  ben  Dirfen,  ber 
fid)  faud)enb  Dor  i^n  f)inpflanien  woUte,  meiter  eined  Glided  ju  mfirbigen. 


-<-S  83 


SB&^renb  er  tie  alte  bttitt  J^oI}treppe  iti  ®a^ofti  ^tnanflieg^  flanb  bit 
(Sfflaft  bti  ^rdulftnd  ani  bem  ^effenminfel  tit  munberfamer  Z)eut(td)rett 
t>et  fetnen  3(ugen^  unb  etne  t>ertt>egene  ^rage  er^eOte  mit  etnem  Wlale  hai 
Sunfff  femer  ©eefe:  2Ba«  wfirbe  tt>oJ)f  au«  bem  (litteit  ©artenglfirfe  werben, 
tpenn  ei  in  etner  freieren  Sielt  gutn  ^oOeit  Siu^eit  fdnte  unb  in  ))oHer 
SRenfcf^rnfreube  (eud^tete?  3(u(f^  ber  ®ebanfe^  baf  ber  @o^n  ber  tnU 
fc^tounbenen  greunbin  an  9RaIn>men«  Jjanb  in  fein  itbtn  tttUn  unb  ba, 
jtt  (finer  eigenen  ©u^ne,  gu  etnem  a3oHmenfd)en  ^eranmadyfen  foflte^  n>ar 
nur  etn  SRe^rer  bed  3au6erd/  ber  k)on  i^rer  fltOen  anmutigen  fflatux  aui^ 
ging*  3n  ber  (etd)ten  ^runfen^eit  unb  ^errlid)en  Unrafi^  bie  i^n  aKm&^(id) 
ikberfameu/  fdyien  ti  t^m^  ali  ^inge  bie  (SrfAHung  biefer  Srdume  nur  Don 
ftnem  einjigen  9Borte  ab,  bai  er  nur  gur  red^ten  ©(ucKjeit  fpred^en  burfe* 
di  n>ar  i^m  gan}  unmdglid)/  ein  'jfuge  }U}utun/  unb  fd)(af(od  in  bem 
nnge^euren  ®ette  liegenb  (aufdyte  er  auf  bie  ^etmlid^en  iantt,  bie  jld)  aud 
ben  a(ten  SJdnben  (6(len  unb  braufen  atmenb  burd^  bai  mdrjige  £unfe( 
gtngen,  bii  in  ber  fd^auernben  @m>artung  ber  erflen  ^r&^e  jeber  iaut  i)tr^ 
finmmte.  £ann  fi6er^aud)te  tnbUd)  ein  UidjUt  ®d)immer  bie  fatjle  ^inflernid/ 
unb  (angfam,  in  ®o(b  unb  StofeU/  fam  ber  reine  @ommertag  ^erauf/  beffen 
3rn6rud)  er  mit  einem  fefien  (Entfd)(ufr(  in  feiner  ®ee(e  ern>artete. 


5. 

£er  (Ira^fenb  t)tUt  @onntagdmorgen  n>iber()allte  t)om  ^xaui  bti  ftp 
lichen  itbtni  unb  bem  ®e(dut  ber  ®lo(ftn,  ali  Wtaxtni  fSJtiUntx  feinen  3Beg 
in  ben  ^e{fenn>infe(  antxat.  3u  feinem  Srflaunen  mu^te  er  im  ®e^en 
bemerfeu/  baf  einige  ^rimaner^  bie  an  einer  ©trafenecfe  beifammenflanbeu/ 
t)oO  fc^euer  S^rfurd^t  bie  greHrote  Wtit^t  ))or  i^m  abjogen/  unb  er  entna^m 
ani  biefem  (Sxn^  ber  3ugenb/  ba^  er  nic^t  me^r  unerfannt  in  ^ranfent^al 
tpeife,  fonbern  aW  erfannter  J^rfl  be*  ®eified  ba*  e^rmdrbige  ^flafler  ber 
alien  Stabt  trete. 

7M  er  gegen  }e^n  Utjx  ben  $(ur  be*  ffeinen  J^aufe*  im  ^reffenminfef 
betrat,  fanb  er  ju  feinem  @d)re(fen  bie  Sinimertdre  redyt*  t)erfd)(offen;  eine 
junge  fonntdg(id)  gepu$te  S)7agb^  n>e(d)e  bie  J^au*ture  ge^en  ge^6rt  Ijattt, 
toie*  i^n  jebod)  burd)  eine  ^interpforte  in  ben  ®arten/  mo  er  SRa(n>ine 
mit  bem  ffeinen  3rifreb,  ber  in  einem  ^auftn  bti  fd)6n(len  STOainfanbe* 
t>erumfd)aufe(te/  in  etner  ®et06(att(au6e  an  ber  aften  9tingmauer  traf.  Sine 
^d^enfc^drje  fdumenb^  faf  fie  ganj  im  marmen  ®d)atttn,  ani  bem  i^m 
i^re  Sfugen  text  jmet  tiefe  @terne  entgegenleudyteten^  Dor  einem  alten 
fleinemen  Ziidi,  auf  bem  eine  SRaio(ifafd)aIe  doK  frifc^er  Stofen  ne6en 
etntgen  btcfen  bfauen  J^eften  (ianb.  ®te  trug  ba*  gfeic^e  «Oau*gett>anb  mie 
am  Dor^erge^enben  ^age;  nur  um  ba*  red)te  J^anbgelenf  ^atte  fie  ein  feine* 
3fnnbanb  gelegt,  an  bem  eine  afte  fD^dnge  ^ing.  @te  begrd^te  ben  93efud)er 
mit  t^etterer  ^reunblidyfeit  unb  flaren  QJIicfen;  aber  i^m  fdyien  e*  ))(6$(td> 
ganj  unm6g(id)/  »or  ber  3fnmut  biefe*  feinen  Jrauenwefen*  and)  nur  ein 
einjigr*  SBort  Don  bem  oorjubringen^  ma*  i^n  im  Sunfel  ber  entfc^munbenen 
dladit  ali  ^etm(id>er  SBunfd^  unb  mdd)tige*  SSerlangen  bemegt  t^atte.  @r 

6» 


84 


na^m  i)or  bem  $ifcl)f  ^fa$;  fte  unter^iefteit  ficfj  juerfl  Don  ber  ^ad^t  bed 
@ommern>etterd/  uitb  baitn  mu^te  er  bad  (tocfenbe  ®ffpr&cf)  auf  Stephanie 
{u  (ettten*  S)7a(n)iite  fprad)  ^eute  tnit  tni(ber  9tu^e  t)on  bem  Sod  ber  ba^im 
gegangenen  ^r^wnbin,  unb  er  erfu^r  ungefd^r  bad,  wad  er  fid)  felbft  gebadjt 
^atte:  ber  SReitfd)/  mtt  bem  fie  nad)  Berlin  gegangen  war,  ^atte  ffe  nadj 
»ier  3a^reii  »erfaffeti,  unb  fte  ^atte  fid>,  an  ?eib  unb  ©eele  franf  unb  ge^ 
brod^eu/  mit  i^rem  Atnbe  ju  ber  eingigen  ^reunbin  QtfliidjM,  in  beren  Sfrmen 
fie  ^in&bergegangen  mar*  Sr  empfanb  ed  a(d  eine  unge^eure  @r(eid)terung/ 
ba^  i^n  feine  SinjeJ^eit  biefed  armen  ?ebend  fiberrofc^te,  fonbern  baf  Die(* 
me^r  and)  bad  ®d)(immfle  feinen  Snoartungen  entff)ra(^* 

J^terauf  trat  etne  ^aufe  ein,  unb  er  fa^  bem  ®pie(e  t^rer  mi^tn  finger 
JU,  bie  fleiftg  bte  9}abe(  fA^rten.  jDann  begann  er  p(6$Iid)/  in  einer  (eicf^ten 
SfufmaOung,  Don  ben  ©rfinben  unb  ber  SSeranlaffung  fetner  9teife  ju  erj&^Ien. 
SVafmine  ^ob  jumeilen  ben  £opf  unb  fab  tbn  nitt  forfcf^enber^fufmerffamfeit  an^ 
wd^renb  er  fprad),  unb  einmal,  aid  er  ben  ©rief  ber  J&otfd^enreiterin  mit 
Jeic^t  nert)6fer  libertreibung  jerpflfirfte,  entflo^  tin  Md^M  ?a(ften  il^rem 
SRunbe^  bad  t^n  mit  wonniger  (Srregung  erffiKte*  Tiud)  bad  £id)terma^C 
batte  je$t  in  fetnem  ®eifle  jene  ^drbung  angenommeu/  bie  er  am  Hbtnh 
felbjl  Dermi^te^  unb  bie  J^eiterfeit  einer  gemeinfamen  Srinnerung  lie^  i^n 
range  bei  bem  Sidyter  Otto  (Srid^  Dermeilen^  ber  feinen  Dlpmp^  feinen 
Sleftar  unb  fein  Xmbroffa  in  Jranfentbat  gefunben  ^atte.  3m  ?aufe  bed 
®ef))r&d)d  fam  er  bann  auc^  auf  fein  $D7&nd^ner  itbtn,  beffen  fd)infte  ®eiten 
er  mit  Uid)ttt  libertreibung  ^eraudflrid^.  Sabei  (iefen  i^m  neben  ben 
glAnjenben  ®cbanfen,  bie  er  Dor  feiner  3u^6rerin  audbreitete,  nod)  anbere 
®ebanfen  n>ie  auf  bunfein  ©eitenpfaben  ^er^  unb  er  (iaunte  juweileu/  ba^ 
SRalmine^  bie  nic^t  me^r  Don  i^rer  Slrbeit  aufblirfte,  gerabc  biefe  ®ebanfen 
erriet  unb  toit  fd)6ne  @d)metterfinge  auffpiefte.  3w»eifen  ^atte  er  and} 
bad  ®effibf/  bied  ober  jened  ffiort  pafft  nid)t  in  biefen  (iillen,  fommertic^en 
®artentt>infe(/  unb  bann  geriet  er  jebedma(  in  ein  Uid)tei  ©tottent/  bad  bie 
Crregung  feiner  ©eele  nur  nod)  fleigerte.  ©o  n>urbe  er  im  bewegten  ®e^ 
fprdd)e  immer  mitteilfamer^  unb  er  Dertraute  ber  2aufd)enben  allmd^(i(^ 
^inge  au/  Aber  bie  er  nod)  mit  feinem  S)7enfd)en  gefproc^en  f^attt.  dx 
merfte  balb^  baf  2){a(n>ine  Die(e  gute  ©ad)en  ge(efen  b^ben  mu^te,  unb  bie 
6inf[d)t  in  bie  ®d)attenfeiten  feined  ©erufed,  bie  and  einigen  i^rer  ©e^ 
merifungen  ^erDorging/  beru^rte  ibn  gan}  feltfam;  ffe  meinte  ndm(id)  mit 
^albem  Hd^eln,  ed  muffe  bod)  eigent(id)  fd)recf(id)  fein,  f&r  jebed  ©ud)  unb 
jeben  9Renfd)en  gfeid)  ein  ffiort  bereit  ju  ijabtn,  ba  bod)  sroenfd)en  unb 
£inge  i^r  3(ngeftd)t  erfi  nad)  unb  nad)  entt)&Hen  f6nnten*  S)7arfud  S)7i(tner 
fprad)  bagegen  mit  (eid)ter  iSlbertretbung/  bie  er  felbfl  a(d  fo(d)e  empfanb/ 
Don  ber  en>ig  frifd)en  Srneuerung  ber  ®ee(e  im  @trom  bed  Sebend/  unb 
babei  Derwanbte  er  fein  3fuge  Don  STOalwinend  fd)malem  ®ejid)t,  Don  bem 
ber  Sfbglanj  einer  g(eid)mdfig  rubigen  innem  J^eiterfeit  nid)t  ipid)*  @r 
bemerfte,  baf  fte  in  regefmdf igen  ^aufen  Don  ibrer  Tixbtit  aufblitfte,  um 
ben  fpiefenben  Jtnaben  nid)t  and  ben  Xugen  ju  Derlieren;  afd  er  enb(id) 
anfing,  feine  3(nf[d)ten  fiber  bie  f&nftige  ©rjie^ung  ber  euro|)difd)en  SWenfc^^ 
t)eit  DorjutrageU/  fam  ein  tiefered  itben  in  itft  ganjed  SEBefen*  ®ie  meinte, 
ber  fleine  Tilftti  mftffe  Tltit  ober  Sanbmirt  merben,  unb  auf  biefem  ®rnnbe 


85 


)tminerteit  f!e  nuti  eiit  g(&n)ftibfd  S)7enf(^fnf(^i(ffa(  iurtd^t,  ittbem  iebed  wn 
feinett  etgenen  J^ofnungen  etmad  baju  gab.  SEBenn  iD^arfud  iD^Utner  in  ben 
®arten  jurficfbltcfte,  mufte  er  bie  Sfugen  fc^Iiefen  t)or  ber  blenbenben  @onnen^ 
fLut,  in  ber  aUe  ^<^rben  brannten  unb  iliijUn,  unb  bann  taud)te  i^n  bad 
(tc^tburd^mobene  @d)attenbunre(  ber  Saube^  in  bad  ber  fifberne  9tuf  eined 
^infen  nteberflang/  aUmitiUd)  in  einen  l)a(ben  Sraumjuflanb/  in  bem  er  ii)re 
®egenn>art  unb  bie  ganje  friebtid^  fcf^immembe  Umgebung  in  einem  einjigen 
®ef&i)(  empfanb. 

Tin  er  enblid)  eine  ^aufe  mac^te^  er^ob  fid)  SOIafmine  p(6g(id)  unb 
fagte  (dc^elnb:  /^@ntfd)ulbigen  @ie  mid)^  bitte^  nur  einen  ^TugenbHcf.  ^Dtein 
Wtibd^tn  i(i  in  bie  Mixd)t  gegangen  unb  ba  (iegen  gemiffe  J^audfrauen^ 
p{Iid)ten  auf  mir.  SieDeid^t  merfen  ®ie  inbeffen  einen  93(i<f  in  biefe  J^efte 
bo-  3a?" 

9Barfud  SRiftner  fa^  ber  SAc^elnben^  bie  rafd)en  ©d^ritted  burd)  ben 
®arten  auf  bad  J^aud  }ugtng/  mit  einigem  Q3efremben  nad)  unb  grif  bann 
nad)  bem  bicfjlen  ber  Jjefte^  beffen  erfle  ©eite  ben  5itef  trug:  ,,gatifina"* 
Sine  Sragibie  in  f&nf  Utttn  Don  3(bo(pt}  ©tubenraud).  9eim  flild^tigen 
®(&ttern  fa^  er,  baf  bie  gefd)tt>offenen  Santben,  in  benen  bie  ^id)tung 
ein^erflimtte,  nur  fo  t)om  93Iute  ebler  9t6mertt>unben  unb  k>on  tugenbl)aftem 
(Ebelmute  trieften.  Sr  (egte  bad  J^eft  mit  einem  3n>infern  ber  (Srinnerung 
an  eigene  ©finben  beifeite  unb  griff  jum  jweiten:  bied  mar  nun  eine 
S^ebrud)dfom6bie  im  bfutrftnfligflen  ©ti(  bed  SRaturaHdmud,  in  n>e(d)er  er 
fofort  auf  eine  ©cene  fiieg,  bie  an  J?u^nt)eit  nidit^  }u  n>ftnfd)en  &brig  (ief. 
J)cr  ^idfer  fpi$te  feine  ?ippen  ju  einem  furjen  ^fiff  unb  nat)m  rafd)  bad 
britte  SWanuffript,  ein  feined  3ffbum  in  ®oIbfd)nit^  jur  Jjanb:  ed  ent^elt 
bie  ?ieber  eined  „®Jfil)enben",  ber  mit  bem  Subelrufe  begann,  bag  fein  Jjerj 
Aber  ber  SBelt  fd)n>ebe  unb  mit  ber  S3erf[d)erung  fd)(of,  bag  fein  J^aupt 
ein  9}efi  ooUer  TlhUt  fei,  bie  3^ud  bemndd^fl  fiber  bie  fOtetxt  f(iegen  (affen 
tperbe. 

IDad  ®effi^I,  bad  ber  ?efenbe  beim  ®enug  bed  ^ranfent^afer  ^tumi 
ttnb  Srangd  empfanb,  fe^te  fid)  and  ben  t)erfd)iebenflen  SO{ifd)ungen  jufammen. 
f/^eV  mid)  ber  Conner!"  badjte  er,  „bie  jungen  J&erren  finb  auf  bem  ?aufenben;" 
unb  )u  Wlaiwin^,  bie  foeben  mit  einem  93rett,  auf  ber  eine  baudfiQt  AriflaO^ 
flafd)e  t)o(I  tjtUtn  SBeined  unb  imi  ®(&fer  mit  ®eb&tf  fianben,  burd)  ben 
®arten  bal)erfam,  fagte  er:  „3d)  bin,  fd>eint^d,  in  einen  titterarifc^en 
Jjintertiaft  geraten?" 

„(5d  ifl  nid)t  fo  fdjiimm,"  entgegnete  fie  mit  einem  ?4d)efn,  beffen 
J^eiterfeit  i^n  mit  einem  (eid)ten  jauben^oHen  ubermut  erffiOte*  „£ie  jungen 
ientt,  ©6^ne  befannter  ^amilien,  mdren  gfficMid),  menu  ©ie  3i)nen  ein 
9Bort  ber  Stufmunterung  fagen  woOten.  Dort  ^inten  jle^en  fie.  ^abe 
t^ren  "ibitten  nidft  tt>iberfiet}en  t6nnen,  bem  ber&^mten  ^ritifer  i^re  (Erfllinge 
)u  jeigen." 

9Barfud  iD^iftner  manbte  ffd)  um  unb  fa^  brei  iunge  ®9mnafTafien, 
j»ei  Iangaufgefd)offene  blaffe  ©engef  mit  ©ritten  neben  einem  fleinen  Siden, 
am  (Stngangdpf6rtd)en  fiei)en.  THi  er  bie  brei  jungen  J^erren,  bie  fein 
Stttge  k^on  i^m  t)ern>anbten,  auf  einen  9Bint  $D7a(n>inend  n&^er  fommen  fa^, 
^0nf  itin  ber  l^bermut  ber  ©tnnbe.  Z)er  Sicfe  fragte  inbeffen  fofort 


86  8*4- 


faut:  ,^abtn  ®te  meine  Aomibte  ge(efen?''  2)od>  SfSarfud  SRiltner  gmg 
auf  biefe  ^rage  ttid^t  tin,  fonbern  n>anbte  fid)  mit  bem  93fn>uftfein^  ba^  er 
eine  fd)6ne  3ufd)auerin  ^abe,  an  bi'e  brei  jungen  Jpemn  unb  fagte:  „®ie 
t}a6eit  mtr  bie  (S^re  erjeigf^  tnir  (?tn6(itf  in  3^re  Srflltnge  g6nnen*  ^od) 
@tf  fennen  wUtid)t  bie  ©c^icffafe  aOer  SrfHinge:  fTe  merben  immer  geof)fert! 
Dpfern  audf  ®ie  3^re  Srfifinflr  Unb  fommen  ®ie  in  iel)n  3at)ren  wieber 
)u  mir!  ®if  ftnb  bann  SR&nner  geworben/  unb  mnn  tin  Sic^ter  unter 
3bnen  ifl/  foil  er  mir  boppeft  toiUtommtn  fein^  aK  2)2ann  unb  ali  Dici^rer. 
ffienn  ber  ®ott  —  id)  bin  etwa^  altmobifd)  —  ©ie  jwingt  jum  ^id)ten,  fo 
tun  ®ie  bad  im  fliHen  Xhmmtvitin,  unb  benfen  ®ie  an  nid)td^  meber  an 
9tu^m/  noc^  an  ®tlb,  nod)  an  bie  ®en&ffe  ber  @rbe.  Safien  ®ie  bie  Spa^en 
t)on  fd)mu$igen  £&d)ern  pfeifen,  unb  t)ergeffen  ®ie  nid)t,  baf  man  noc^ 
immer  mit  Sorfiebe  ®d)tt)eindf6pfe  mit  bitteren  gorbeerbfdttern  jiert.  Unb 
menu  etned  Za^ti  bai  ^iimmd^tn,  bad  ®ie  ffir  eine  ^fingfiflamme  fatten, 
in  S^rer  ®rufl  er[6fd)en  foUte^  fo  benfen  ®ie  nid)t,  ba^  ed  umfonfl  gebrannt 
tfabt.  SDBoHen  ®ie  fid)  lieber  meined  SOorted  erinnern,  ba^  nur  ganj  felten 
tin  £id)ter  geboren  mirb.  di  genfigt  nid)t,  ba$  man  Serfe  mad)e  unb  im 
eigenen  9taufd)  t>erge^e,  um  Sic^ter  ju  fein;  bie  J^anb  bed  ®d)icrfald/  bad 
t)on  ®tern  }U  ®tem  9&ben  fpannt  unb  tm  ^autropfen  bad  9ilb  ber  ®onne 
fpiegelt,  mug  auf  ben  ^erjen  rufjen,  bie  berufen  (Tub,  bie  ®d)6n^eit  ber 
Sielt  unb  ben  innigen  Sufammen^ang  aHed  Sebend  ju  mfftnben.  £enn 
bie  9Qe(t  fefbfi  ifl  nid)td  anbered  aid  ein  fd)mer}[id)ed  ®et)eimnid/  bad  t^on 
3eit  )u  3eit  einen  9»enfd)en  erwecft,  bag  er  ed  in  ®d)6nl)eit  I6fe.  SKan 
nennt  biefe  9Senfd)en  Dic^ter,  unb  bie  Swigfeit  fennt  feine  notn^enbigeren 
®tflaUtn  aid  biefe  Wt&nntx,  bie  einem  unbefannten  ®otte  bienen  unb  ger^ 
btodftn  merben^  menu  fie  bad  SQort  gefprod)en  ^aben^  ju  beffen  Sertfinbigung 
ffe  gefanbt  wurben/' 

9Bd^renb  SRarfud  SKiltner  rebete^  bemerfte  er^  bag  ben  Wtnnh  bed 
^irfen  ein  C9nifd)ed  ?4d)eln  umfpielte;  er  ^ielt  inne,  n)4l)renb  eine  Iei<^te 
9t6te  an  feinen  ®d)Idfen  emporwante^  unb  fu^r  im  Sone  leic^ten  ®potted 
fort:  ^^®ie  I&d)eln^  mein  Dere^rter  junger  ^reunb.  3d)  fenne  btefed  2&d)eln^ 
id)  fenne  ed  fogar  fet)r  gut.  ®o  I&d)elt  man  and)  in  9){iind)en  unb  in 
Berlin.  @d  ifi  bad  2&d)eln  ber  l)bern>inber/  n)elc^e  i^re  Saufba^n  mit  ber 
l)bern>inbung  ber  SQelt  begtnnen*  Sod)  gtbt  ed  &Itere  9){&nner^  n>eld)e 
be^aupten^  bag  man  fo  nur  mit  unreifer  ^i)antafTe  I&d)eln  f6nne.  £enn 
and)  biefe  J^immeldtoc^ter  n)&d)fl  unb  reift  unb  melft^  toit  aUt  ^IfiteU/  bie 
in  i^rem  ^eld)  ein  ®e()eimnid  tragen.  Sunge  Seute  fe^en  in  anberen 
sroenfd)en  gar  ju  geme  i^re  eigene  unreife  ^^antaffe  »oraud.  gaffen  ®ie 
»or  aHem  S^re  ^l)antaffe  reif  merben.  3d)  »erffinbe  3J)nen  feine  IDegmem 
3d)  fage  3l)nen  nur,  wad  id)  fft^Ie.  SBenn  ®ic  aber  eine  anbere  i|t()etif 
n>finfd)en/  fo  fann  3^nen  and)  ge^olfen  merbem  J^ier  am  Orte  felbfl 
fprubelt  ber  fa(lalifd)e  Duett!" 

Unb  S)7arfud  SOIiltner  griff  in  feine  ®eitentafd)e;  t)oIte  ben  alten^ 
Dergilbten  ©rief  bed  J&erm  Otto  @rid)  ®teinbeid  ^ert)or  unb  4berreid)te  i^n 
bem  Siden:  ,/Sietteid)t  tjabtn  ®ie  bie  ©fite,  biefe  t)iflorifd)e  @piflel  mit 
meinem  3Ibfd)iebdgrug  ^errn  Otto  (frid)  ®teinbeid  ju  &berbringen*  (St 
xoiti  ®ie  k)erfie^en.   Sad  ®d)i(ffal  f&^rt  bie  immer  gufammen,  bie  ju  ein^ 


87 


anbtx  gefyiren.  Unb  IfitT,  meme  J^erren,  finb  3^re  STOanuffripte.  wirb 
mtr  fine  (S^re  fein/  erne  fd)6ne  ©ommerbefanntfc^aft  in  )ef)n  3a^reit  mieber 
jii  crneuem/' 

Sir  jwei  magem  £t(f)ter/  beren  ^acfeit  n>ie  ^(ammeit  gfu^ten,  mad^ten 
einen  oerlegetien  ©firflmg  unb  fcf)Itd)en  mit  H)xtn  ffierfen  burd)  ben 
®atttn  ^inaui;  nur  ber  Dtcfe  pftf  im  ®e^fn  t)or  ftcf)  ^in.  Tlli  ftc^  SSarfu^ 
9)fi(tner  ju  SRalmtne  manbte,  fat)  er^  baf  in  i^ren  3(ugen  fin  tiffed  itud)ttn 
1^9)  f<i9^^  rafd):  ^/®o,  nun  foHen  ®ie  aber  t)on  nteinem  J^audmein  foflrn* 
©if  u>erben  ©ur(l  befommen  ^aben/' 

®ie  fd)enfte  ein  unb  er  ijatte  SRuf bie  (eicf)te  3(nmut  ju  bewunbern^ 
mtt  ber  fie  ben  SQein  eingo^  unb  ftcf)  urn  ben  fd^attigen  Sifd)  ^erum  bemegte. 
7M  bie  feinen  ®(dfer  }ufammenr(angen  unb  ber  jarte  J&ad  unter  bem 
ianbtnbadi  t)erfc^n>ebte^  fiberfam  it)n  ber  ®ebante/  mie  fd>6n  ed  mdre^  mit 
etiter  ffc^eren  J^offnung  t>on  l)ier  megjuge^en. 

/,®a^  ftanb  benn  in  bem  ©riefe?"  fragte  SKafwine,  bie  nur  an  bem 
(8o(b  be^  SQeined  nippte^  mit  einem  t}eiteren  3n>infern  i^rer  tiefen  SCugen. 

^,®ir  looDen  an  fd^6nere  Dinge  benfen/'  fagte  er  audn>eic^enb. 
//SBiffen  (Bit,  baf  ba^  itben,  bad  mand^mal  fo  unenblid)  traurig  ift,  ju^ 
ti>ei(en  and)  (ufliger  unb  fd)6ner  fein  fanU/  mie  unfere  Srdume?^^ 

„Da*  b&rfen  menige  iD^enfc^en  fagen/'  entgegnete  (le  (dd^elnb. 

,,9Bei(  fie  bie  Jfunfl  nid^t  r>trfttt)tn,  ben  Singen  if)re  ®d)6n^ett  ab)u# 
lanfc^en  unb  i^re  eigene  ®d)6n^eit  in  bie  SQelt  ^ineinjulegen/^ 

f/Dai  iebtn  f&mmert  fid^  nid^t  um  bai,  xoa^  xoir  ®d^6n^eit  nennen/^ 

^/l>arum  eben  mfiffen  tt>ir  bem  ?e6en  unfere  ©eele  fc^enfen.  %x&iitx, 
ali  id)  mid)  fe(6(i  noc^  f&r  einen  Sid^ter  ^ieft^  gfaubte  id)  bit  ®d)6n^eit 
in  ben  ©ituationen  ju  finben^  mo  bie  iD^enfd^en  mit  ^at^od  aufeinanber 
p(a$en.  3e$t  weif  idf,  baf  aUti  St6HUd)t  unb  ®xo^t  fliff  in  bie  30e(t 
fommt  unb  baf  jebe  SOIinute  H)x  eigened  ©Idnjen  ^at  unb  nur  einmal  auf» 
blinft  ani  bem  bunfein  ®trom^  ber  und  aUt  ba^intr&gt/^ 

Z)od)  9Ra(tt)ine,  bie  mit  (eud)tenben  3(ugen  k)or  ffd)  ^inblicfte^  gab 
feine  Sfntwort. 

Sin  ®d)atten  fiberb&mmerte  }piii}lid)  feinen  ®inn;  er  empfanb  ti 
pli^Ud)  mit  emeuter  '^tnttid)ttit,  baf  ber  iB3unfd)/  ber  feine  ®ee(e  in  ber 
ent^offenen  92ad)t  6eraufd}t  ^atte^  an  biefem  Sage  nodt  feine  9Borte 
brauc^en  b&rfe,  unb  mit  p(6$[id)em  (Sntfd^Iuffe  (lanb  er  auf^  um  ju  ge^en. 
,,^arf  id)  wieberfommen,  wenn  mid^  bad  ©d^icffal  wieber  einmal  in  bie 
J^imat  fii^rt?"  fragte  er  ganj  fd)fid>tern,  inbem  er  i^re  fdjmafe  Jjanb  fe|l 
^ie(t^  bie  (ie  ii}m  and)  }6gernb  lief. 

/,Sd  n>irb  micf^  freuen/'  fagte  ffe  nad>  einer  ^aufe/  inbem  fie  i^n  ^eH 
unb  Har  anfa^. 

,,3d)  banfe  S^nen/'  fagte  er  (eife.  „®ie  geben  mir  eine  liebe  J^offnung 
mit  auf  ben  SQeg.  Saffen  ®ie  ti  fid)  xtd)t  gut  ge^en/^  dx  b(ieb  nod) 
einen  Sfugenblicf  tyox  itfx  fiei}en,  um  bie  ®e|la(t  t>oU  in  feine  ®ee(e  aufju^ 
ne^men  unb  ging  bann  in  ben  fd)immemben  ®arten  t)inaud.  Slid  er  t)or 
ben  eifrig  fcf^aufelnben  ^naben  fam^  bem  bie  iodtn  um  bie  btd^enben 
SBangen  ^ingen^  ergriff  er  i^n  Xilhiilid)  in  einer  3Cnn>anb(ung  &bermfitiger 
3&rtltd^feit  unb  ^ob  i^n  ^od^  in  bie  i^uft  empor;  aber  er  wagte  ti  nid)t, 


-4^  88 

eineti  Au0  auf  ben  fRunb  be«  erfd^retften  ^(emen  )u  brficfen,  fotibem  fe^te 
t^n  mit  etnem  ^ofewort  uttgef&0t  mieber  titeber.  burcf^fd^rirt  aud)  ben 
®arten,  ol)ne  (ic^  umjufeljen  unb  ttat  mit  »erfonnenen  ^Cugen  ouf  ben 
(aufd)tgen  ^(a$  ^tnau«^  auf  bem  in  fd)atti9en  Scfen  Jtinber  fpielten  unb 
afte  eeute  in  t^rem  ©onntag^flaat  fd)n>eigenb  6etetnanber  fa^en*  3n  bet 
®tabt  Idrmte  unb  pod^te  hai  fefi(t(^  ^eitere  ?e6en  be«  ®onntag^;  gepu$te 
SWenfd)en  flingen  burd)  bie  fd)atti8en  ®afien;  ein  ®efpann  roBte  bonnemb 
bntd)i  $or;  bie  ^runnen  raufd^ten  unb  ein  J^aH  Don  feligen  Jfinberflimmen 
DerHang  im  ©lanj  ber  ^ii)t,  bnxd)  beren  ©onnenbl&ue  @d)n>a[ben  6(i$ten. 

Dod)  ii}m  war  e«  }umute/  aK  06  Dor  feinen  3Cugen  ein  golbener 
©d^Ieier  webte,  ber  alien  Dingen  feinen  ©c^immer  lie^;  burd)  ben  J)uft  er^ 
gldnjte,  tt)ie  aud  einer  gerne,  bie  bod)  natjt  war,  tin  ®arten,  bejfen 
©lumenflut  bie  ?uft  mit  il)rem  ^urpttrfd)ein  erfuUte,  unb  ein  lid)te«  Xuge 
fd)»ebte  wie  ein  fd)6ner  ©tern  barfiber.  „3d)  t)a6e  meine  3nfet  ber  ©eligen 
gefunben/'  fagte  er  ifalblant  Dor  (fd)  l)in^  inbem  er  feine  frdftige  ^anb  auf 
ben  931onbfopf  eined  ^dbleind  (egte^  bai  grab'  mit  einem  Stofenflrauf  in 
ber  J^anb  an  ii)m  Doruberging. 


Ttu^etodftlte  ®eb{d)te  oon  Martin  ®retf  in  W&nditn. 

triorgengang* 

Q99o(f  foufenb  (gfufen  fc^Men 
Q^on  (S^Afb  unb  (SKefen  (er, 
S)te  aife  tropft^  fouen 
(Pon  ebfen  (perfen  f(e9iDer. 

3(9  6re(9'  mtr  tin  6ef(9metbe 
(Pon  naffen  dlofen  aii 
(fi^irp  btt  an  metner  ^tiU^ 
^on  ber  seMumt  i(9  MM 


3<9  Pfe('  in  tTrinen  ^anj. 


3ugenWiebe. 

®ettSpE  btt  an  ben  ^ommerfas, 
S)a  iptt  frtt(  ttn0  fanben 
(Ijlnb  affetn  am  ^runen  l^ag 
Sun^e  (flofen  Banben? 

£er(9en  in  bet  Sfauen  Buft 
^angen  un^efeQen, 
j^evne  fa^  bet  (Hlorsenbttft 
^Ber  affen  1^ ^Bem 

^fonben  fHtt  mm  iu^tmnltf 
QUocBten  (riumenb  f^einen  — 
(fi^oBf  t<B  fuBfte  beine  l^anb 
(^McBmof  tn  bet  metnen* 

(pfo^ftcB  fcBftisP!  btt  Mf  ltn(gtid, 
JUfe0  war  ^ePfanben  — 

woBin  ipE  (£tttB'  unb  &t&d, 
^Ht  iptr  borf  ttn0  fanben? 


3ttmni(Bt^»  Pfemenfofe, 
3n  bem  Qg^fiUenmonb  bet  (£lofe! 
®a  bae  Ban^e  l^ei^  baju 
£teB*  bttr(Br<ttrm(e  oBne  (Siu^\ 

(gK^ge^ttcS  unb  (BE^etterfeu^B^^! 
^nb  bie  Q[la(B%Aff  feucB^en, 
^ttBenefjfen  (gufcBe  <ief 
(S^unbetBare  Baute  vtef* 


^   90  g-i- 


Qgffidien  in  ben  5faninienr<9ein 
^ie  im  itefen  tTrAuni  (tnein. 


@4>attenleben. 

^<iff  ifl'e,  190  Me  6rd6er  ftn» 
Qlleinet  £{e6e« 

^ttt  6t0we{ren  ita^t  bet  QS^in) 
^ang  un>  truSe* 

^eQ'  he  ^(iatttnmtt  auf  6t»en 
(Sttn^e  9evge(en, 
J^tt^fe  affee  fpuvfoe  werben 
Qjlnb  veme^en. 


nd4>tltc^e  (Crauer* 

(B^M  mttt  t(r  ^(eme  fo  feuc^ien 
^ttf  metn  etnfamee  £(iger  (in? 
(Pief  fieBet  bie  (BE^ofSen,  Me  feuc^ten, 
ttttS  ic9  vortiSerfKeK'n. 

®ie  ^(eme  t6nnen  nur  f(9einen 
nanb  r^a^fen  in  feKger  (prac^'i 
wU  (P^oAen  |tnb  bunSef  unb  weinen 
Qjlnb  weinen  in  meine  Q[la<9f. 

®ie  ^ieme  |t(9  broBen  umfc^Kegen 
3n  6f&(enber  SwigSeit, 
S)ie  QSbpfllen  verwe^'n  unb  5erfKegen 
Oi^nb  perSen  mSt^t'  i(9  no<9  (eut 


91  8^ 


Tlbmblkb. 

Zitf  ttfUen  tm  Zat, 
Qllit  perSen^em  ^tta^t 

(HaQe  me  feme 
Oer  ^focften  6efitt(, 
£eu(9<en^e  $(eme 
Am  l^immef  ^etpreut 

j^tteien  unb  ^(^Attnmer 
39t  Se6re<  nun  etn, 
^<itu<9tt  Itn  Kummev 
Q^nt  fofet  lit  0>etm 


(BEKe  feme  ^vttte  (orp  fc^affen, 
®o(9  tvett  um^er  ifif  m(9te  feQ'n, 
Af0  wie  lit  {gt&tttx  feaumenb  faffen 
Qjlnb  rAttfcQenb  mit  tern  (S^tnb  verwe^'n. 

65  Wngf  fervor  wie  fetfe  Itfagen, 
®te  mmev  neuem  ^((tner^  tnifUi\ 
QS)te  (fi^eQruf  aue  entfe^wunb'nen  ^agen, 
^e  fUUt  Kommen  unb  (Per^e^V 

S)tt  (otfit  wte  bttrc^  lit  oSfaume  6ipfef 
®ie  ^<ttn»en  unaufiatifm  je^'n, 
®et  QfleBef  regnet  in  We  (BJtpfef, 
S)tt  weinp  unl  tamfi  es  nid$<  verfte^'n. 


®ie  ^tobt  ftegf  no4  ^erfttoserauc^e 
Q^n»  fpfeseft  UiS*  im  fTug  M  06, 
®a  <6n<  uraft  mt<  fanffem  J^auc^e 

^umi  (eraS. 


02 


®e0  iiftjtB  mUsiita^'nt  ^timmtn 
Bvf<iatttn  in  Itn  retnen  "$6^% 
®te  ^<eme  fangen  an  gKmmen 


tntttagefltUe. 

(nut  £er(9en  96r'  t(9  un^  6vtffen 
(IJln^  fuminenbe  %ifit  lajvu 

Kein  (gfaft  ruM  M  (Saum, 


@temenna4>t. 
(Don  frirc^er  ICuQfe  anse^osm 

^i<i  fodenb  uitx  mm 

®er  (Hlonb  aus  feifer  (neBef^uffe 
^(reut  fac^ten  Cbnj;  umQer, 
®er  1^6(en  reine  JItQerfuffe 

6in  je^er  ^Utn  an  feiner  ^(effe, 

O  mef(9e  (e(re  (prac^f! 

2)er  l^tmmef  pra^ft  in  ^MBer^effe, 


93—94 


miert  von  Hans  Pfitzner. 
Leidenschtftlj  \»m  ^  ^^_^fL. 


=1= 


fr. 


Seh'i 


11 


und  den  letz-ten  Klang  ver- 


fr- 


fr. 


2    ,n  8va  con  8v« 


Ret 


ech,  wenn's  sonnig  auf  den  Ber-gen, 


^  r  ^P. 


1^1 


Stuttgart  vorbehalten. 


wie  du  ge  -  sta 


^      wur  -  zi 

«ze  Fermftte.) 


mich  ail 
streni 


iso  con8va basso II 


95—98 


p 


nen     spot-tend     noch  ein-mal  ver-kiu-fen,      ob-ne  Kla-ge^  Wunsch  und  SeKi-^ien 


in  der  Fd  -  sen  Mar-'ke,  und  em 


por    zu      Him-mels  Lich-ten, 


r 


9 


1= 


-F 


-1^ 


Svs 


f       -       -  - 

im  Tempo.^ 


rich-ten. 


-3^ 


Peda/. 


Vertntwortlich : 

r&r  den  politlschen  Tell :  Fr.  Naumtnn  in  SchOneberg, 
fGr  den  wlssenschaftl.  Tell :  P.  N.  Cossmann  In  MQnchen, 
r&r  den  litterarischcn  Teil :  Jos.  Hofmiller  In  MQnchen, 
fOr  den  kOnstlerischen  Teil :  Willi.  Weigand  in  MQnchen-Bogen- 

hausen. 


Nachdruck  nur  auszugswelae  und  mil  genauer  Quellenangabc 
gesuttet. 


ROmische  Herrschaft 


Von  Friedrich  Naumann  in  Schdneberg. 

Es  ist  ein  Unterschied,  ob  man  von  deutschem  oder  italienischem 
Boden  aus  iiber  das  Zentrum  schreibt.  Sasse  ich  jetzt  in  Berlin,  so 
vurde  ich  mir  wohl  die  neuesten  Reden  der  Nachfolger  Windthorsts  aus 
dem  Zeitungsschranke  holen,  wurde  Abstimmungen  vergleichen,  Wahl- 
ziffern  zusammenstellen,  Programme  kontrollieren  und  was  dergleichen 
mehr  ist.  Das  alles  flllt  hier,  in  Nervi  bei  Genua,  weg,  wo  ich  mich  von 
einem  Jahr  vieler  Arbeit  kurze  Zeit  erhole.  DaFur  aber  stellt  sich 
etwas  anderes  ein:  die  Umgebung  eines  rein  katholischen  Landes,  die 
Nihe  Roms  und  ein  gewisses  Echo  der  politischen  Kflmpfe  dieses 
Stammlandes  des  Ultramontanismus.  Man  verstatte,  dass  ich  mit  diesem 
letzteren  beginne: 

Italien  hebt  sich.  Das  ist  der  allgemeine  Eindruck  aller  derer, 
die  Gelegenheit  gehabt  haben,  das  Land  frtiher  und  jetzt  zu  sehen.  Be- 
sonders  Oberitalien  wird  etwas  anderes,  als  es  gewesen  ist.  Es  ist  noch 
nicht  viel  uber  ein  Menschenalter  her,  da  war  es  hSchst  zweifelhaft, 
ob  die  liberale  Einigung  imstande  sein  wurde,  die  Nation  zu  einem 
lebendig  pulsierenden  Korper  zu  machen.  Es  war  graues,  ruinenhaFtes 
Elend,  aus  dem  sich  Italien  herausarbeiten  musste.  Ich  vergesse  ein 
Gesprdch  nicht,  das  wir  vor  5  Jahren  in  Athen  hatten.  Damals  wurden 
am  deutschen  Tische  allerlei  Spasse  uber  die  neuen  Hellenen  gemacht, 
uber  ihren  staubigen  Pomp  und  ihre  legendenhaften  SchuldverhlUtnisse. 
Da  sagte  ein  kluger,  felner  Italiener  zu  uns:  „lVleine  Herren,  Sie 
kdnnen  nicht  wissen,  wie  es  den  Griechen  zu  Mute  ist,  aber  wir 
Italiener  wissen  es,  denn  wir  sind  gerade  so  elend  gewesen  wie  sie.* 
Dieses  Wort  ist  in  aller  seiner  Schlichtheit  der  Hintergrund  der  neueren 
italienischen  Geschichte.  Noch  ist  das  Elend  nicht  vorbei,  [aber  man 
setzt  neue  Fenster  ins  alte  Gemluer,  man  fiillt  die  leeren  RMume  mit 
JHenschen,  man  baut  nette  Elementarschulen  bis  in  alle  Berge  hinein, 

Sfiddctttsche  Monttshefte.  1,2  7 


98  ^ 


das  Betteln  nimmt  ab,  der  Verdienst  nimmt  zu.  Die  junge  Generation 
macht  schon  flusserlich  den  Eindruck  der  grdsseren  Selbstachtung.  Noch 
Ist  viel  Mangel,  aber  der  tote  Punkt  ist  uberwunden.  Und  das  ist 
geschehen,  wlhrend  die  Kirche  sich  nicht  an  der  Politik  beteiligte.  Jetzt 
wird  beraten,  ob  auch  die  frommen  Katholiken  sich  am  italienischen 
Staat  beteiligen  sollen  oder  nicht,  jetzt,  wo  das  grdsste,  was  ein  fast  ver- 
lorenes  Volk  leisten  kann,  schon  geleistet  ist.  Die  Neugeburt  Italiens  hat 
ohne  den  Segen  seiner  Priester  begonnen.  Das  spricht  nicht  gegen  die 
Religion  an  sich,  wohl  aber  dagegen,  dass  klerikale  Politik  das  Heil- 
mittel  der  Vdlker  sei.  Auch  diejenigen,  die  Italien  emporgehoben 
haben,  sind  Katholiken,  nur  keine  von  der  Partei  des  Priestertums. 
Man  kann  angesichts  der  italienischen  Entwicklung  nicht  sagen,  dass 
es  auf  katholischem  Boden  uberhaupt  keine  politische  Verjiingung  gebe* 
O  jal  diese  gibt  es,  nur  aber  da,  wo  die  Leitung  der  Politik  sich  dem 
Dienste  des  Kirchentums  entwindet. 

Bei  uns  in  Deutschland  gewinnt  es  so  leicht  den  Anschein,  als  sei 
jeder  Kampf  gegen  das  Zentrum  zugleich  Kampf  fur  den  Protestantismus. 
has  weiss  die  Zentrumspresse  auszunutzen.  Wo  jemand  ihr  ins  Gewebe 
greift,  nift  sie,  dass  man  die  Konfession  als  solche  verletze.  Es  ist 
deshalb  fur  uns  alle  heilsam,  die  Vorgange  in  katholischen  Landem  im 
Auge  zu  behalten.  In  Italien,  Frankreich  und  Belgien  ist  es  nicht  der 
Protestantismus,  der  die  klerikale  Politik  bekampft,  denn  dazu  ist  er 
in  diesen  LIndem  viel  zu  schwach.  Hier  sind  es  Katholiken,  die  die 
Formen  der  Neuzeit  den  Priestern  abringen  miissen,  und  auch  bei  uns 
in  Deutschland  wiirde  es  einen  starken  katholischen  Kampf  gegen  das 
Zentrum  geben,  wenn  wir  nicht  die  Fehler  des  Kulturkampfes  noch  zu 
tragen  hStten,  durch  die  fast  alle  Katholiken  zur  politischen  Einheit  zu- 
sammengepresst  wurden. 

Nun  ist  es  ja  fiir  uns  jetzt  relativ  leicht,  von  den  Fehlem  des 
Kulturkampfes  zu  reden.  Heute  will  eigentlich  niemand  daran  schuld 
gewesen  sein,  dass  wir  katholische  Mdrtyrer  gemacht  haben.  Aber  es 
muss  zugegeben  werden,  dass  es  kaum  eine  schwerere  Aufgabe  gibt, 
als  das  richtige  VerhMltnis  des  modemen  weltlichen  Staates  zur  Kirche 
zu  finden.  Eben  komme  ich  aus  der  Predigt  eines  deutschen  Jesuiten 
in  Nervi.  Davon,  dass  er  die  Reformatoren  als  Leute  hinstellt,. 
deren  innerste  Tendenz  war,  weggelaufene  Nonnen  heiraten  zu  konnen^ 
will  ich  nicht  reden.  Das  gehort  zum  Handwerk  und  hat  mit  Politik 
nicht  viel  zu  tun,  hat  nur  die  uble  Folge,  dass  vorhandene  Ver- 
bitterung  nicht  geringer  wird.  Politisch  wichtiger  ist  der  tiefe  Zug  von 
Abneigung  gegen  den  Staat,  der  in  der  ganzen  Rede  war  und  an  ver- 
schiedenen  Stellen  durchbrach.  Es  war  nicht  der  deutsche,  franzosische 
Oder  italienische  Staat,  der  angegriflfen  wurde,  nein,  es  war  der  Staat  an 
sich,  der  „sich  an  Christus  drgert."  Schon  Herodes,  der  Staatsmann,. 
verfolgte  einst  das  Kindlein  und  nahm  dann  ein  trauriges  Ende.  Die 
vgrossen  Rauber*",  die  ganze  LInder  rauben,  lasst  man  laufen,  wShrend 
man  die  kleinen  Diebe  hangt.  Es  war  das  Gegenteil  von  politischem 
Denken,  was  mit  Bewusstsein  und  Klarheit  gegeben  wurde.    Es  war 


99 


Anripolitik.  Nun  hat  ja  diese  eine  Predigt  hier  in  Nervi  gewiss  wenig 
geschadet,  aber  man  hat  Ursache  genug,  sie  fur  typisch  zu  halten.  Eine 
solche  methodische  Volksbeeinflussung  im  antipolitischen  Sinne  ist  es, 
was  der  Staat  ruhig  ertragen  muss,  weil  diese  Volksbeeinflussung  von 
ihm  gar  nicht  beseitigt  werden  kann,  in  der  Tat  eine  schwere  An- 
forderung  an  die,  die  fur  diesen  Staat  die  Verantwortung  haben! 
Man  kann  Strafgesetze  machen,  dann  stdrkt  man  nur  die  anti- 
politiscbe  Tendenz.  Das  ist  die  Not  der  Staatsminner  gegentiber 
diesen  PredigemI 

Wir  brauchen  bei  dieser  Darlegung  mit  Absicht  das  Wort 
vAntipolitik."*  Es  trifft  die  Sache  besser  als  der  gelMufigere  Ausdruck 
, ultramontane  Politik,*  denn  das,  was  wir  so  nennen,  ist  nicht  mehr 
Politik  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes,  war  es  schon  lange  nicht 
mehr.  Um  das  verstlndlich  zu  machen,  muss  man  etwas  weit  in  die 
Vergangenheit  zuriickgehen  und  muss  uber  die  Grenzen  der  europdischen 
Einzelstaaten  hinausschauen.  Die  ganze  europMische  Zivilisation  ist 
in  gewissem  Sinne  die  Fortsetzung  des  alten  grossen  westrdmischen 
Reiches.  Man  kann  die  Geschichte  vom  Kaiser  Konstantin  bis  heute  als 
die  Geschichte  der  Dezentralisation  der  romischen  Macht  darstellen.  Die 
Macht  riickte  von  Rom  nach  Madrid,  Paris  und  Wien  und  von  da 
nach  New -York,  London  und  Berlin,  ahnlich  wie  sie  im  Osten  von 
Konstantinopel  nach  Petersburg  zog.  Je  weiter  sie  sich  entfernte, 
desto  unrdmischer  wurde  sie.  Die  alte  romische  Einheit  aber  lebte 
fur  die  westeuropMische  Kultur  im  Katholizismus  weiter.  Der  Kreis 
der  Machtorte  Madrid,  Paris  und  Wien  blieb  romisch,  der  neue  weitere 
Kreis  ist  auch  kulturell  dezentralisiert.  Nichts  ist  falscher  als  den 
Unterschied  des  neuen  vom  Slteren  Machtkreis  nur  in  verschiedenen 
Glaubenslehren  zu  sehen.  Die  Glaubenslehre  ist  nur  der  theologisch 
formulierbare  Teil  der  Angelegenheit.  Im  Grunde  ist  es  eine  in  sich 
zusammenhingende  Tradition  des  ganzen  Lebens  in  Sitte,  Gewohnheit, 
Denkweise,  ein  Kulturzustand  in  seiner  ganzen  Breite,  der  uns  im 
Katholizismus  vorliegt,  es  ist  die  alte  rdmisch-europiische  Gesellschaft, 
aus  der  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  die  neuen  Staaten  heraus- 
gearbeitet  haben.  So  lange  diese  Staaten  nur  Glieder  der  einen  in 
Rom  zentralisierten  Gesellschaft  bleiben  wollen,  so  lange  sie  romische 
Provinzen  sein  wollen,  fugen  sie  sich  dem  alten  Weltbilde  harmonisch 
ein,  sobald  sie  aber  souverin,  unrdmisch,  modem  politisch  sein  wollen, 
so  wird  diese  Zentrifugaltendenz  in  Rom  als  Abfall,  Untreue,  Ge- 
schichtslosigkeit  empfunden,  dann  bekSmpft  Rom  den  Staat,  der  sich 
ihm  entzieht.  Dieses  kdnnte  man  nun  Politik  im  eigentlichen  Sinn 
des  Wortes  nennen,  wenn  das  kirchliche  Rom  selbst  noch  daran  dSchte, 
staatbildend  im  Sinne  eines  abendlMndischen  Riesenreiches  aufzutreten. 
Darin  liegt  aber  eben  das  unfassbare  des  ganzen  Verhiltnisses,  dass 
Rom  nicht  mehr  staatbildend  in  diesem  Sinne  sein  kann,  dass  seine 
politische  Zeit  vorbei  ist,  und  dass  es  doch  den  grandiosen  Traum  der 
alten  Rdmermacht  nicht  fahren  lassen  kann.  So  stirbt  ein  Weltreich! 
So  erklirt  sich  die  Doppelheit  in  allem  rdmischen  Wesen^  das  be- 


100 


stMndige  Arbeiten  in  grosser  Politik  und  dabei  die  Behauptung,  wir  ver- 
treten  nur  einen  Glauben,  keinen  StaatI 

Wenn  der  Katholizismus  nur  als  Religion  gedacht  wird  und  als 
nichts  anderes,  so  hat  er  kein  anderes  politisches  Bedurfnis  als  die 
Freiheit  seiner  religidsen  Propaganda  innerhalb  des  Staates.  In  diesem 
Fall  hdrt  er  im  grundsatzlich  liberalen  Staate  auf,  parteibildend  zu  sein. 
So  konnen  gute  Katholiken  die  Sache  ansehen,  ohne  ihrem  Glauben 
etwas  zu  vergeben,  und  konnen  von  da  aus  der  Liberalisierung  des 
Staates  im  Interesse  ihrer  Religion  dienen.  Aber  ob  der  Katholizismus 
nur  als  Religion  gedacht  werden  kann  und  nicht  gleichzeitig  als  Fort- 
wirkung  eines  lingst  nicht  mehr  existierenden  Staates,  das  ist  die 
Vorfrage,  die  innerhalb  katholischer  Kreise  ausgefochten  werden  muss. 
Der  offizielle  Katholizismus  hat  noch  seine  eigene  politische  Ver- 
tretung,  ganz  wie  ein  Staat,  obgleich  er  kein  Staat  ist.  Er  hat  Diplomatie, 
und  Staatssekretariat  und  hilft  mit,  Staaten  zu  gruppieren  und  Macht- 
verhaltnisse  ohne  Militar  zu  verschieben,  ein  merkwtirdiger  waffen- 
loser  Korper  mitten  in  den  bewaffineten  Staatsgeftigen.  Dieser  Katho- 
lizismus ist  es,  der  den  Untergrund  der  deutschen  Zentrumspartei  bildet. 

Was  ist  es  nun,  was  die  romische  Macht  im  deutschen  Gebiet 
erreichen  will?  Die  Beantwortung  dieser  Frage  ist  deshalb  so  schwer, 
weil  das  Zentrum  selbst  nur  die  eine  Seite  der  Machtwirkung  dar- 
stellt,  wahrend  uber  ihm  die  Diplomatie  und  Kabinetspolitik  lauft, 
und  weil  auch  das  Zentrum  sich  niemals  grunds&tzlich  daruber  Mussert. 
Alles  was  gesagt  wird,  sind  Selbstverstandlichkeiten  und  AUgemeinheiten : 
Freiheit  der  Religion,  Schutz  des  Glaubens  usw.  .Die  Schwierigkeit 
vermehrt  sich  dadurch,  dass  oiFenbar  selbst  im  innersten  Kreise  der 
katholischen  Politik  zwei  Tendenzen  noch  unausgeglichen  mit  einander 
ringen  und  dass  man  naheliegende  Grtinde  hat,  die  neuere  Tendenz 
nicht  unverschleiert  auszusprechen,  auch  wo  sie  klar  durchgedacht  vor- 
liegt.  Es  handelt  sich  darum,  ob  man  die  Machtzentren  des  weiteren 
Kreises,  New- York,  London  und  Berlin  als  zu  bekSmpfende  oder  zu  ge- 
winnende  Stellen  ansieht.  Dass  die  Gedanken  uber  London  schwankende 
sind,  weiss  man.  Die  Versuche,  die  anglikanische  Kirche  wieder  zu 
romanisieren,  horen  nicht  auf.  Ahnlich  steht  es  mit  Berlin.  Als 
auF  dem  Schlachtfeld  von  KdniggrStz  sich  der  Machtwechsel  von  Wien 
nach  Berlin  voUzog,  war  der  erste  Eindruck  in  Rom,  dass  die  neue 
Macht  gebrochen  werden  musse.  Inzwischen  aber  hat  sich  eine  andere 
EmpSndungsweise  eingeschoben.  Man  hat  gelernt,  die  neue  Macht  als 
gesichert  zu  betrachten,  und  halt  es  ftir  schwer  moglich,  die  katholische 
Bevolkerung  dauemd  in  Gegensatz  gegen  diese  Macht  zu  erhalten, 
gleichzeitig  wachsen  die  Zweifel  an  der  Dauerhaftigkeit  der  alten  Macht 
in  Wien.  Das  Ergebnis  ist  die  stille  Absicht,  Berlin  an  Rom  zu 
binden,  an  jenen  unsichtbaren,  gewesenen  Staat,  von  dem  wir  vorhin 
sprachen.  Dieses  geschichtliche  Projekt  hat  aber  fiir  Rom  selbst  seine 
sehr  unbequemen  Seiten.  Es  verstosst  gegen  die  Tradition  alter  Be- 
ziehungen  zu  Wien  und  es  passt  wenig  zu  dem  Gedanken,  Frankreich 
als  fuhrende  katholische  Macht  zu  betrachten,  Grtinde  genug,  nicht 


-HJ    101  8^ 


deutlich  vorzugehen.  Immerhin  darf  angenommen  werden,  dass  der 
^grossdeutsche*  Gedanke  jetzt  von  katholischer  Seite  aus  in  neuer  Form 
gedacht  wird.  Solche  Gedanken  gehen  langsam.  In  vielen  KopFen 
werden  sie  nur  halb  gedacht.  Zweifellos  ist  es  sehr  auftallig,  wie  jetzt 
der  Schutz  der  deutschen  Katholiken  im  Ausland  nicht  mehr  Frankreich 
sondem  Deutschland  zugeschoben  wird  und  wie  sehr  der  deutsche 
protestantische  Kaiser  wegen  seines  Glaubens  geruhmt  wird.  Dem 
Kaiser  macht  sich  das  Zentrum  und  wohl  auch  die  romische  Diplomatie 
je  langer  desto  mehr  unentbehrlich,  und  Bulow,  der  in  Rom  gearbeitet 
hat,  ist  der  rechte  Mann  fur  diese  Periode. 

Wenn  man  das  alles  im  Auge  hat,  wird  man  nicht  einfach  sagen, 
der  neu  zu  Tage  tretende  deutsche  Patriotismus  des  Zentrums  sei 
unwahr.  Er  kann  in  dem  Masse  wahr  sein,  als  die  Aussicht  steigt, 
Berlin  an  Rom  anzugliedern.  Nur  ist  dieser  Zentrumspatriotismus  nie 
die  reine  nationalpolitische  Hingebung  an  sich.  Das  ist  eben  das,  was 
wir  vorhin  Antipolitik  genannt  haben,  das  Einbeziehen  des  Staats- 
gedankens  in  das  Reich  der  gewesenen  Macht.  Es  ist  nicht  die  deutsche 
Staatsidee  als  solche,  die  die  Gemiiter  beherrscht,  sondem  gerade  der 
Bnich  dieser  Staatsidee  durch  Einordnung  in  das  Romerreich.  Man 
bewilligt  dem  Kaiser  seine  Flotte,  weil  auch  diese  Flotte  einmal  dem 
in  der  Luft  noch  fortlebenden  Imperium  dienen  kann.  HMtte  man  Berlin 
endgultig  auFgegeben,  wiirde  man  nicht  bewilligen. 

Wie  anders  dachte  sich  der  Liberalismus  vor  30  Jahren  dieses 
neue  deutsche  Reich!  Als  Treitschke  der  Herold  des  neuen  Reiches 
wurde,  da  zog  er  eine  gerade  Linie  von  Luther  bis  Wilhelm  I.  und  liess 
das  preussische  Deutschland  ein  Ergebnis  der  Wittenberger  Geistes- 
bewegung  sein.  Dass  jetzt  Graf  Ballestrem  den  Sitz  einnimmt,  den 
damals  Simson  hatte,  erscheint  wie  ein  Schlag  in  das  Gesicht  jenes 
Geschlechtes.  Man  dachte  es  sich  so  leicht,  sich  vom  alten  Rdmer- 
reich  zu  dezentralisieren.  Die  damals  Geschlagenen  fangen  aber  an, 
wieder  Herren  zu  werden.  Was  sie  uns  bringen  werden,  kann  kein 
Mensch  sagen,  soviel  nur  ist  klar:  kurz  wird  die  Zentrumsperiode  nicht 
sein,  in  die  wir  eingetreten  sind. 

Um  diese  Periode  in  ihrer  Besonderheit  zu  erfassen,  geniigt  aber 
das  noch  nicht,  was  bisher  gesagt  wurde.  Es  ist  notig,  den  inneren 
Aufbau  des  deutschen  Zentrums  sich  zu  vergegenwMrtigen.  Er  ist  im 
allgemeinen  bekannt.  Den  Kern  des  Zentrums  bilden  die  konservativen 
Bestandteile  der  katholischen  Gebiete.  Das  Zentrum  ist  der  Konser- 
vatismus  dieser  Landesteile.  Daran  andert  es  nichts,  dass  das  Zentrum 
gelegentlich  recht  demokratisch  auftritt.  Das  tun  selbst  die  pro- 
testantischen  Konservativen,  wo  es  ihnen  passend  scheint.  Das  Wesen 
des  Konservatismus  ist  es  ja  IMngst  nicht  mehr,  alle  Demagogie  von 
sich  zu  weisen.  Dieses  Wesen  liegt  in  der  Vertretung  des  altgewohnten 
agrarisch-handwerkerlichen  Wirtschaftszustandes.  Konservativ  sein  heisst, 
gegen  den  werdenden  Industriestaat  protestieren.  In  diesem  Sinn  ist 
das  Zentrum  konservativ  und  hat  seit  1893  die  Fiihrung  in  dieser  Rich- 
tung.    Es  ist  nicht  so  extrem  wie  die  Agrarier  im  preussischen  Osten, 


102  8^ 


desto  mehr  aber  geeignet,  seine  Wirtschaftspolitik  durchzusetzen.  Nach 
alter  menschlichen  Wahrscheinlichkeit  bekommen  im  Reichstag  die 
protestantischen  Konservativen  die  Fuhning  nie  wieder.  Ihr  letzter  Sieg 
war  1887,  ihr  Abschied  war  1890.  Im  preussischen  Landtag  behalten 
sie  ihre  Macht,  bis  —  bis  im  Reichstag  das  Zentrum  uberwunden  ist. 
Beide  stiitzen  sich  gegenseitig  and  verteidigen  ihre  alte  Welt  vor 
der  neuen. 

Diese  neue  Welt  aber  ist  es,  in  der  wir  Deutsche  leben  mussen. 
Das  ist  nicht  unsere  Willkur,  sondem  eine  geschichtliche  Notwendigkeit. 
Entweder  wir  werden  das  erste  Industrievolk  Europas  oder  wir  ersticken 
an  der  FuUe  von  Leben,  das  sich  auf  unser  begrenztes  Territorium 
ausgiesst.  Wir  haben  kein  Ruckwirts  mehr.  Die  wachsenden  Millionen 
von  Menschen  sind  unsere  Dringer.  Alles  hMngt  davon  ab,  wie  schnell, 
wie  intensiv  wir  technisch  werden.  Die  QualitSt  unserer  Leistungen  ist 
unsere  Zukunft.  Wir  brauchen  eine  Periode,  wo  alle  Geister  losgelassen 
werden,  wo  gearbeitet,  geschafft,  gelemt,  erfunden,  konstruiert  und 
kalkuliert  wird  wie  noch  nie.  SpSter,  spSter  mogen  unsere  Enkel  ruhen! 
Jetzt  ist  die  Zeit,  wo  der  Wettlauf  mit  Nordamerika  beginnt,  wo  die 
Englinder  unsere  Konkurrenz  tief  emst  zu  nehmen  anfangen,  wo  die 
Asiaten  die  billige  Massenarbeit  an  sich  zu  reissen  suchen,  wo  die  Erd- 
•  kugel  ein  Markt  wird,  der  nur  wenige  grosse  Verkaufer  vertragt.  Jetzt, 
wo  wir  jeden  Nerv  anspannen  sollen,  um  alten  Trddel  hinter  uns  zu 
lassen,  wo  wir  nicht  veraltete  Betriebe  weiterschleppen  und  nicht  zu  den 
Lasten  der  Arbeit  selbst  uns  noch  kunstliche  Tribute  auflegen  durfen, 
da  steigt  die  alte  Macht  und  halt  uns  nieder  im  alten  Gang,  im  alten 
Trott.  Die  Vergangenheit  kommt  und  schlingt  ihre  Arme  um  uns.  Das 
Zentrum  treibt  agrarisch-antikapitalistische Wirtschaftspolitik,  Handwerker- 
politik,  Mittelstandspolitik,  eine  Politik  der  Angst  vor  dem  Weltmarkt, 
vor  der  Wissenschaft,  vor  der  freien  Schule,  eine  Politik  der  Angst  vor 
der  ganzen  noch  unbekannten  aber  uberall  an  unsere  Turen  klopfenden 
neuen  Zeit,  in  der  erst  die  Maschinen  sich  ausleben  kdnnen  und  wir 
uns  mit  ihnen. 

Jetzt  brauchen  wir  in  Deutschland  keine  in  Devotion  gebrochenen 
Willen.  Nie  sind  uns  selbstdndige  Persdnlichkeiten  in  alien  Volks- 
klassen  ndtiger  gewesen  als  jetzt.  Wir  sind  ein  Volk,  das  einem  Wagnis 
entgegengeht.  Unsere  Zukunft  liegt  auf  dem  Wasser.  Am  Lande  aber 
steht  der  Zentrumsmann  und  ISsst  uns  nicht  in  die  Salzflut  der  ruck- 
sichtslosen  ModemitMt.  Er  mag  es  gut  meinen.  Wer  meint  es  schliess- 
lich  nicht  gut  ?  Aber  wir  miissen  ihm  trotzdem  die  Hflnde  zerschlagen, 
mit  denen  er  uns  halten  will,  denn  es  handelt  sich  ums  Leben  der 
Nation. 

Wohin  sind  alle  die  LInder  gekommen,  die  im  ersten  Umkreis  von 
Rom  gelegen  sind?  Wir  sehen  nach  Madrid,  Paris  und  Wien.  WoUen 
wir  ebenso  sein  wie  sie?  In  Paris  kdmpft  man,  um  sich  noch  jetzt  zu 
Idsen.  Zu  spMt !  O  die  Vergangenheit  ist  michtig !  Wir  haben  es  uns 
so  leicht  gedacht,  ein  neues  deutsches  Reich  zu  sein.  Es  war,  als  sei 
mit  einem  Male  alles  anders  geworden.    Nun  aber  kriecht  das  alte 


103  8*^ 


heilige  romische  Reich  deutscher  Nation  wieder  aus  alien  seinen  LSchern 
herans.  Und  wenn  wir  gerade  unseren  Kaiser  nicht  hStten,  so  krSche 
es  noch  schneller.  Wir  fragen  in  Rom  an,  ob  wir  Schiffe  bauen  durfen. 
Wir  lassen  uns  unsere  Schulbucher  vom  Mittelalter  korrigieren.  Und 
Goethe?  Und  die  Philosophen?  Und  die  Naturforscher?  '  Und  die 
Kunstler?  Die  neue  Lex  Heinze  wird  kommen,  das  neue  Schulgesetz, 
die  zwangsweisen  Berufsorganisationen,  das  Berufsparlament,  die  Klein- 
krimerei  in  Permanenz.  die  Stagnation,  die  Scholastik.  Im  Namen 
Gottes  und  der  Tugend  wird  man  uns  mude  und  murbe  machen  wollen 
—  Vestigia  torrent. 

Und  wer  soil  da  helfen  ?  Die  beste  Hilfe  kdnnte  aus  katholischen 
Kreisen  selbst  kommen,  die  nicht  im  Verdacht  stehen,  der  Religion 
feindlich  zu  sein,  wenn  sie  der  rdmischen  Politik  entgegenarbeiten. 
Aber  wir  wissen,  wie  schwach  selbst  die  Kraft  eines  Ddllinger  war. 
Der  AutoritMtsbegriff  liegt  den  moisten  von  ihnen  zu  sehr  im  Blute  und 
die  AutoritSt  selbst  ist  sich  ihrer  Macht  bewusst.  Die  Bischdfe  sind 
nicht  mehr  die  freien  deutschen  Herren,  wie  damals,  wo  Wessenberg  in 
Konstanz  sass  und  Graf  von  Spiegel  in  Kdln.  Dazu  wirkt  der  Kultur- 
kampf  nach.  Das  Volk  glaubt  noch  an  das  Mdrtyrertum  seiner  Kirche. 
Man  lasse  darum  mdglichst  bald  die  letzten  Paragraphen  fallen,  die  als 
Ausnahmerecht  gelten!  So  unangenehm  es  sein  mag,  Bulow  hat  Recht: 
Das  Jesuitengesetz  muss  fallen !  Wir  diirfen  nur  Gesetze  haben,  die 
jeden  Staatsbiirger  in  gleicher  Weise  treffen.  Kein  Katholik  soil  sagen 
konnen,  er  sei  als  solcher  geringeren  Rechtes.  Aber  dann  wende  man 
die  Staatsgesetze,  die  man  den  Sozialdemokraten  gegenuber  so  virtues 
zu  handhaben  weiss,  auch  gegen  alle  in  gleicher  Weise  an!  Wenn  der 
Jesuit  Bevdlkerungsklassen  „verhetzt*,  dann  ist  er  nicht  besser  als 
irgend  ein  Antisemit  oder  Sozialdemokrat,  der  dasselbe  tut. 

Aber  freilich  die  Schutzlinge  der  herrschenden  Schicht  werden  es 
bei  ihrer  Heimkehr  leichter  haben  als  die  Vertreter  der  beherrschten. 
Und  Zentrum  bleibt  trotz  allem  und  allem  mindestens  fur  weitere 
zehn  Jahre  Trumpf!  Daran  kann  niemand  etwas  indem.  Da  es,  wie 
schon  gesagt,  eine  protestantisch-konservative  Fuhrung  des  Reiches 
infolge  der  Ziffem  der  konservativen  Parteien  nicht  wieder  geben  kann, 
und  da  es  eine  liberale  Fuhrung  beim  heutigen  Zustand  des  Liberalismus 
und  der  Sozialdemokratie  noch  nicht  geben  kann,  so  bleibt  das  Zentrum 
ausschlaggebend,  bis  es  sich  durch  seinen  Sieg  selbst  zersetzt  und  bis 
die  Linke  fihig  geworden  sein  wird,  die  Stelle  des  Zentrums  einzu- 
nehmen. 

Dass  Parteien  sich  durch  ihre  Siege  selbst  ruinieren,  ist  eine  alte 
politische  Erfahrung.  Das  wird  sie  aber  nie  abhalten,  nach  Sieg  zu 
streben.  Das  grdsste  Beispiel  der  Ruinierung  durch  Erfolg  ist  die 
nationalliberale  Partei.  So  grundlich  wie  bei  ihr  wird  aber  die  Ruinierung 
beim  Zentrum  nicht  sein,  weil  das  Zentrum  durch  die  Organisation  des 
katholischen  Klerus  eine  unvergleichlich  viel  festere  Grundlage  hat. 
Immerhin  kann  auch  das  Zentrum  nicht  ungestraft  mSchtig  sein,  denn 
nun  wird  es  zeigen  sollen,  was  es  positiv  verwirklichen  kann.  Jetzt 


104  Sh^ 


geht  es  nicht  mehr,  die  feindlichen  Michte  als  verantwortlich  fur  alle 
Schdden,  sich  selbst  aber  als  Garanten  aller  Bessening  hinzustellen. 
Jetzt  wird  es  immer  schwerer,  den  Agrariern  and  den  Arbeitern  gleich- 
zeitig  Gerechtigkeit  zu  versprechen.  Das  grosse  Spiel  geht  an.  Der 
Versuch,  eine  belgische  Herrschaft  in  Deutschland  zu  machen,  beginnt. 
Aber  Deutschland  hat  glucklicherweise  noch  andere  Krdfte  des  Wider- 
standes  als  Belgien. 

Jetzt  zwar  liegt  der  Gedanke  der  romfreien  deutschen  Nation  sehr 
damieder.  Mit  einer  SelbstverstMndlichkeit,  die  wunderbar  ist,  Iftsst 
unser  Volk  die  neue  Ankettung  an  die  alte  Zentrale  geschehen.  Noch 
wird  der  Umschwung  der  politischen  Lage  des  Deutschtums  nicht 
eigentlich  gefiihlt.  Das  Zentrum  ist  klug,  die  Kurie  ist  kiug,  und  wir 
werden  langsam  an  das  Joch  gewdhnt.  Aber  die  Geschichte  der  vorigen 
Generation  ist  doch  noch  nicht  vdllig  erstorben.  Wenn  erst  das  deutsche 
Volk  begreift)  dass  es  sich  urn  seine  ganze  technische,  kommerzielle 
und  geistige  Kultur  handeit,  dann  wird  auch  wohl  wieder  ein  anderer 
politischer  Wind  zu  wehen  anfangen.  Noch  ist  es  nicht  so  weit.  Alles 
was  heute  geschehen  kann,  ist  kleine  Vorarbeit  fur  den  noch  fernen 
Tag,  wo  links  vom  Zentrum  eine  MajoritSt  regierungsfahig  sein  wird. 
Diese  neue  MajoritMt  wird  die  Trigerin  des  romfreien  deutschen  Staats- 
gedankens  sein  miissen.  Dass  diese  Majoritiit  nicht  ohne  Sozial- 
demokraten  moglich  ist,  ist  jedem  klar.  Hier  beginnen  aber  neue 
Probleme,  die  fur  sich  allein  besprochen  werden  wollen. 


EinfUhrung  in  das  Studium  des  Krieges. 

Von  General  Wilhelm  von  Scherff  in  Munchen. 

1.  Solange  Staaten  bestehen,  d.  h.  in  kurzer,  aber  ftir  den  vor- 
liegenden  Zweck  ausreichender  Begritfsbestimmung:  solange  auf  eigenem 
Besitzstande  in  sich  abgeschlossene  Vereinigungen  von  Menschen 
ihre  eigenen  Angelegenheiten,  im  Gegensatze  zu  und  in  voller  Un- 
abhdngigkeit  von  anderen  solchen  Gesamtheiten,  selbstherrlich 
(souverMn)  zu  ordnen  und  diese  Ordnung  nach  innen  und  nach  aussen 
aufrecht  zu  erhalten  gewillt  und  imstande  sind:  solange  gilt  als  die 
ideale  Grundlage  solcher  Einheit:  das  Recht,  als  ihr  reales  Fundament: 
die  Macht. 


105  8^ 


Das  Recht  verkdrpert  sich  innerhalb  der  staatlichen  Gemeinschaft 
im  Gesetz,  die  Macht  in  der  Gewalt. 

Das  Gesetz  umfasst  die  Gesamtheit  der  Beziehungen  unter  den 
eigenen  Staatsangehorigen^  die  Gewalt  behauptet  dieses  Gesetz  gegen 
seine  inneren  Obertreter  und  vertritt  die  staatliche  Seibstherrlichkeit 
gegen  ihre  Musseren  Feinde.   (Widerstrebende  KrMfte.) 

Die  Gesetzgebung  ordnet  Gesetz  und  Gewalt  im  Staate,  die 
Staatsgewalt  handhabt  die  gesetzliche  Ordnung  durch  die  Regierung, 
das  geordnete  Gesetz  durch  die  Rechtspflege  und  die  Gewalt  durch 
die  bewaffnete  Macht. 

Bin  Zerrbild  allerwege:  der  Staat,  wo  die  Macht  sich  uber  das 
Gesetz  hinwegsetzt;  ein  Jammerbild  von  jeher:  der  Staat,  wo  die  Gewalt 
das  eigene  Recht  nicht  zur  Geltung  zu  bringen  vermag. 

Insofem  im  modernen  Staat  die  Gesamtheit  der  Staatsangehdrigen 
der  in  ihrem  pers5nlichsten  Interesse  erfolgenden  Ordnung  und  Hand- 
habung  von  Gesetz  und  Gewalt  mit  gleichen  Rechten  und  gleichen 
Pflichten  gegeniibersteht,  ist  sie  an  jener  Ordnung  auch  persdnlich 
durch  das  (mehr  Oder  weniger)  allgemeine  Stimmrecht,  an  dieser 
Handhabung  durch  die  (mehr  oder  weniger)  allgemeine  Dienstpflicht 
beteiligt. 

Bilden  hiemach:  die  Regierung  <als  administrative),  die  Gesetz- 
gebung (als  legislative)  und  die  Rechtspflege  (als  regulative  Staatsgewalt) 
die  drei  Grundfunktionen  eines  jeden  staatlichen  Organismus 
unter  (normalen)  Friedens-Verhaltnissen,  so  erscheint  demgegenuber 
der  Krieg  als  derjenige  (anormale)  Zustand,  welcher  allein  die  vierte 
Grundfunktion  staatlicher  Machtentfaltung  (als  aussere  Exekutive)  in 
Titigkeit  zu  setzen  beruFen  ist. 

Damit  stellt  sich  jenen  drei,  zur  Erhaltung  staatlicher  Lebens- 
tltigkeit  notwendigerweise  immer  ununterbrochen  wirksamen  Kraften 
die  staatliche  Wehrkraft  zunSchst  nur  als  die  »in  der  Regel  ruhende* 
d.  h.  nur  gelegentlich  zur  Wirksamkeit  berufene  Staatskraft  gegenuber, 
und  es  mag  vielleicht  schon  in  diesem  Umstande  eine  gewisse  Er- 
klirung  dafiir  gefunden  werden  konnen,  dass  in  manchen  Staatskorpern 
die  Entwicklung  dieses  vierten  Organes  oft  stark  »verkummert^  er- 
scheint. 

Nun  steht  aber  doch  auch  andererseits  unzweifelhaft  fest,  dass 
das  eigentlichste  Wesen  eines  jeden  (wie  auch  immer  innerlich  eigen- 
ausgestalteten)  Staates  auf  seiner  gewMhrleisteten  Abgeschlossenheit 
in  sich,  d.  i.  auf  seiner  personlichen  Souver^nitit  beruht,  und  dass 
somit  die  Fihigkeit  (Macht!),  diese  Seibstherrlichkeit  feindlichen  Einfliissen 
jeder  Art  gegenuber  ndtigenfalls  mit  Gewalt  wahren  zu  konnen:  zu 
alien  Zeiten  als  die  unentbehrlichste  (elementare)  Hauptfunktion 
staatlicher  LebensfMhigkeit  betrachtet  werden  musste  und  betrachtet 
worden  ist  I 

WShrend  erfahrungsmassig  ein  Staatskorper  sich  von  dem  inneren 
Siechtum  selbst  schwererer  Schaden  und  Mangel  in  Verwaltung,  Gesetz- 
gebung und  Justiz  durch  rechtzeitigen  Eingritf  der  Staatsgewalt  oft  ohne 


106 


ernstere  Folgen  vollkommen  auszuheilen  vermocht  hat,  beweist  die  Ge- 
schichte  seit  alten  Zeiten,  dass  der  Verfall  gesunder  Wehrkraft  (freilich 
oft  die  Nachwirkung  jenes  inneren  Siechtums!)  entweder  den  Tod  — 
die  nicht  hintanzuhaltende  Auflosung  —  des  staatlichen  Organismus 
als  solchen  herbeigefuhrt  hat,  oder  doch  jedenfalls  nicht  ohne  dauernde 
Nachteile  (an  Landverlust)  fur  das  an  diesem  Organ  „erkrankte"  Staats- 
wesen  geblieben  ist. 

So  ist  es  denn  aber  auch  einfach  nur  die  Natur  der  Dinge  selbst, 
welche  die  Wehrkraft  des  Staates  bei  seiner  internationalen  Wert- 
absch&tzung  jedesmal  an  erste  Stelle  schiebt  und  schon  allein  damit 
seine  Wehrordnung  zur  schlechthin  wichtigsten  (weil  Lebens-)  Frage 
seiner  inneren  Einrichtungen  erhebt. 

Keine,  wie  auch  beschatfene  Staatsverfassung  kommt  schliess- 
lich  fiber  diese  Tatsache  fort,  oder  wurde,  wo  sie  dieselbe  missachten 
wollte,  das  immer  nur  auf  Kosten  ihres  personlichen  Selbst  tun 
konnen,  und  sogar  eine  ,»Internationale  Friedensliga",  die  als  eine  (so- 
weit  darin  nicht  schon  ein  Widerspruch  in  sich  liegt)  ^universal- 
staatliche  Institution"*  zwischenstaatliche  Gegensatze  durch  Schieds- 
gerichte  schlichten  will,  musste  unvermeidlicherweise  in  diesem  Sinne 
ihre  praktische  TStigkeit  —  mit  der  Bildung  einer  internationalen 
Exekutions- Armee  beginnen! 

So  beruht  denn  aber  doch,  solange  Staaten  bestehen:  ihre  Eigen- 
Persdnlichkeit  immer  nur  auf  der  Eigen-Kraft  ihres  Heeres; 
wird,  solange  Einzelstaaten  bestehen  werden,  immer  nur  darauf  beruhen, 
und  der  ^StaatsbegrifT''  deckt  sich  in  letzter  Instanz  praktisch  immer 
schlechthin  mit  seinem  ^Machtbegriff,  wie  er  ja  umgekehrt  dem- 
selben  allein  auch  seinen  ersten  Ursprung  verdankt! 

Es  war  notwendig,  sich  diese  Verhiltnisse  —  sei  es  auch  nur  in 
groben  Umrissen  —  noch  einmal  kurz  zu  vergegenwMrtigen,  ehe  hier  in 
spiterer  Fortsetzung  dieser  Erdrteningen  den  eigenartigen  Anspriichen 
nShergetreten  werden  soli,  welche  die  Losung  ihrer  kriegerischen 
Aufgabe  dadurch  an  die  bewaifnete  Staatsmacht  stellt,  dass  sie  —  im 
Gegensatze  zu  der  friedlichen  TStigkeit  der  drei  anderen  staatlichen 
Grundfunktionen  —  statt  das  Gesetz  hinter  sich  zu  haben:  aller- 
wege  nur  die  Gewalt  gegen  sich  hat  I 

2.  Dem  Beamten,  dem  Gesetzgeber,  dem  Richter  tritt  in  der  Hand- 
habung,  der  seinem  Sonderberufe  eigentumlichen  Seite  allgemeiner 
^Staatskunst'  (wenn  man  in  Analogie  mit  anderen  ^Kiinsten^  so  sagen 
darf)  sein  ^Stoff*  jedesmal  nur  als  ein  „dem  Gesetze  unterworfenes"*  und 
damit  dem  Gesetze  gegenuber  nur  immer  ^passives  Objekt*  entgegen. 

Die  ^Kriegskunst*  hat  es  dagegen  angesichts  ihres  .Feindes" 
immer  nur  mit  einem  ^gegentdtigen  Subjekt''  zu  tun. 

Umgekehrt  ruft  ja  denn  auch  der  Staat,  wo  seinen  Gesetzen  gegen- 
uber der  Staatsburger  zur  subjektiven  Gewalt  greift,  letztinstanzlich  — 


107  8^ 


nach  dem  SoldatenI  und  dusserstenfalles  wird  dann  auch  der  ^Burger- 
krieg"  zu  einem  —  ausser  dem  Gesetze  stehenden  Gewaltzustande! 

Die  Gegensitzlichkeit  (nach  Objekt  und  Mittel),  in  welcher  hier- 
nach  die  Handhabung  der  «fur  den  gewollten  Zweck  in  Tatigkeit  zu 
setzenden  KHLfte*  in  Krieg  und  Frieden  zu  einander  steht,  hat  von 
altersher  die  «Kriegskunst'  als  eine  von  der  ^Staatskunst  im  engeren 
^ortsinne"  durchaus  getrennte  FMhigkeit  erscheinen  lassen,  und  die 
^Kriegswissenschaft"*,  als  „Lehre  von  der  zweckentsprechenden 
Anwendung  der  verfugbaren  Mittel  im  Kriege"")  hat  sich  deshalb  auch 
ihrerseits  den  .Staatswissenschaf ten^  im  iiblichen  Sinne  immer 
als  eine  in  sich  selbstdndig  abgeschlossene  Gedankenreihe 
gegeniibergestellt. 

Insofem  nun  aber  doch  der  „  Krieg  selbst"  (wo  er  nicht  etwa  als 
vdlkerrechtswideriges  Freibeutertum  auftritt)  nur  eine  besondere  Art  der 
Betatigung  der  Staatsgewalt  darstellt,  bildet  auch  die  ^Kriegskunst^  nur 
einen  Teil  der  ^Staatskunst  im  Vollsinn  des  Wortes"  und  ihre  ,Wissen- 
schaft*  nur  einen  Zweig  der  ^allgemeinen  Staatswissenschaften",  dessen 
fachminnische  Beherrschung  fur  die  ausubenden  —  .kriegfiihrenden' 
—  Organe  der  Staatsgewalt  im  Kriege  und  ihren  militSrischen 
Beruf  ebenso  unerlMsslich  ist,  wie  das  —  fur  jeden  anderen  staatlichen 
Beruf  heutzutage  nicht  minder  der  Fall  ist  I 

Trotz  dieser  allgemein  anerkannten Notwendigkeit  fachmannischer 
Vorbildung  auch  fiir  die  Handhabung  der  verschiedenen  „friedlichen" 
Staatsfunktionen  hat  es  nun  schon  lange,  ehe  die  Gesamtheit  des  Volkes 
im  modemen  Staate  (in  Gemeinde,  Gesetzgebung  und  als  Geschworene) 
wieder  zur  Teilnahme  an  diesen  verschiedenen  Seiten  staatlicher  Lebens- 
iusserungen  berufen  war,  doch  immer  als  eine  Anforderung  ^allge- 
meiner  Bildung"  gegolten,  daniber  mindestens  soviel  wis  sen  zu 
sollen,  als  zu  einer  richtigen  Wurdigung  ihrer  unerlMsslichen  Lebens- 
bedurfnisse  ndtig  erschien,  und  die  grossen  staatlichen  Bildungs- 
stStten  haben  denn  schon  seit  alters  Sorge  getragen,  auch  dem  Lai  en 
solches  Wissen  wenigstens  in  seinen  Grundlineamenten  zugMnglich  zu 
machen. 

Es  bedarf  einer  kurzen  Erkldrung,  warum  noch  bis  zur  Stunde 
allein  das  militlrische  Wissen  von  solcher  Allgemeinverbreitung 
so  gut  wie  ginzlich  ausgeschlossen  erscheint. 

3.  Der  erste  und  wohl  auch  triftigste  Grund  fiir  diese,  an  sich 
einigermassen  auffUlige  Erscheinung  wird  in  der  historischen  Ent- 
wicklung  der  Dinge  gesucht  werden  mtissen. 

Der  Krieg,  der  in  den  barbarischen  UranfMngen  staatlicher  Gebilde 
schlechthin  den  normal  en  Zustand  im  Wechselverkehr  der  Vdlker 
gebildet  hatte  (und  noch  bildet);  der  bis  uber  die  mittelalterlichen 
Zeiten  weit  hinaus  mindestens  immer  noch  eine  keineswegs  seltene 
Erscheinung  zwischenstaatlicher  Beziehungen  geblieben  war,  tritt  heut- 


108 


zutage,  unter  dem  Einflusse  der  politischen,  wirtschaftlichen  und  tech- 
nischen  Wandlungen,  namentlich  des  letztverfiossenen  Jahrhunderts, 
zwischen  modernen  Kulturstaaten  mehr  und  mehr  nur  noch  als  ein 
Ausnahmszustand  auf. 

Obgleich  nun  zwar  spater  hier  nachgewiesen  werden  soil,  dass 
gerade  deshalb  dem  „Wissen  vom  Kriege''  fur  die  Gesamtheit  der  Nation 
erst  recht  eine  erhohte  Bedeutung  werde  beigemessen  werden  mtissen> 
so  erklSrt  zunMchst  doch  jene  Tatsache  selbst  zur  Genuge,  dass  das 
dfFentliche  Interesse  an  kriegerischen  Fragen  sich  in  der  Gesamtheit 
entsprechend  abmindern  konnte! 

Anderes  und  vielleicht  noch  einflussreicheres  kommt  hinzu. 

Mit  der  Vervollkommnung  der  Waf  fen  (namentlich  seit  Erfindung 
des  Pulvers),  war  die  Kri  egf  iihrung,  als  »eigenartige  Arbeit  der 
bewaffneten  Macht**,  eine  immer  schwierigere  und  verwickeltere 
Aufgabe  geworden,  zu  deren  Losung  es  im  wachsenden  Masse  denn 
auch  eines  durchaus  dafiir  vorgebildeten  Instrumentes 
bedurfte ! 

Dem  «bewaifheten  allgemeinen  Volks- Aufgebote"  alterer 
Zeiten  hatte  sich  damit  eine  fiir  den  Krieg  „besonders  organisierte 
Kdrperschaft^,  als  ein  in  sich  abgeschlossenes  Ganze  gegenuber- 
gestellt,  welche  in  dem  Grade,  wie  sie  sich  zur  „stehenden  Armee** 
herausbildete,  auch  mehr  und  mehr  die  Fiihlung  mit  den  Friedensorganen 
staatlichen  Lebens  verlieren  musste. 

Umgekehrt  gewohnte  man  sich  von  dieser  Seite  immer  mehr  an 
den  Gedanken,  dass  die  „bewaffnete  Macht'*  einen  durchaus  selb- 
stMndigen  Organismus  im  Staate  bilde,  fiir  den  ausschliesslich 
nur  die  oberste  Staatsgewalt  die  Verantwortung  zu  tragen  habe,  mit 
dem  gemeinsame  Beruhrungspunkte  aber  im  ubrigen  nur  in  rein  ausser- 
lichen  (im  Grunde  nur:  Geld-)  Fragen  bestehen  konnten. 

Solange  ^Friede  war**,  lebte  denn  auch  tatsachlich  dieser  Organismus, 
von  der  ubrigen  staatlichen  Gemeinsamkeit  unberuhrt,  von  ihr  je 
nachdem  bald  mehr  oder  weniger  bewundert,  bald  mehr  Oder 
weniger  missachtet,  sein  mehr  oder  weniger  ^pflichttreues*"  Leben  in 
voUer  Vereinzelung  dahin. 

Wenn  es  dann  aber  » Krieg  gab**,  so  bildete  jene  aussenstehende 
staatliche  Gesamtheit  nur  das,  an  den  Vorgdngen  in  der  Arena  wohl 
mehr  oder  weniger  interessierte,  auch  jetzt  aber  daran  doch  selbst  so 
gut  wie  unbeteiligte  Zuschauertum,  welches  erst  „nach  Schluss  der 
Vorstellung"*  sich  mit  ihren  Ergebnissen  abzufinden  hatte. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  noch  der  Zweck  dieser  Ausfiihrungen : 
die  Umwandlung  historisch  zu  verfolgen  und  zu  begriinden,  welche 
mit  dem  Ende  des  18.  und  dem  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  in  diesem 
Verhiltnis  zwischen  „Heer  und  Volk  des  Staates**  sich  vollzogeo 
und  heutzutage  (mit  wenigen,  durch  ausserordentliche  Verhiiltnisse  be- 
dingten  Ausnahmen)  wieder  „die  Armee  zum  Volk  in  Waf  fen" 
gemacht  hat. 

Es  genugt,  dieses  erneute  Hineinwachsen  des  „Heeresorganes 


109  8^- 


in  den  staatlichen  Gesamtorganismus*'  als  eine  Tatsache  festzustellen, 
die  aus  sich  selbst  heraus  die  gegenseitigen  Beziehungen  von  Grund 
aus  umzugestalten  geeignet  erschelnt. 

4.  In  diesem  Sinne  wird  zunachst  im  Zeitalter  der  allgemeinen 
^ehrpflicht  und  weitgreifender  verfassungsmassiger  Einfliisse  der  Volks- 
vertretung  auf  die  Ausgestaltung  des  staatlichen  Heerwesens,  angesichts 
einer  Wehrordnung,  welche  einen  grossen  Prozentsatz  der  gebildeten 
minnlichen  Jugend  in  verantwortliche  Fuhrerstellen  der  bewafFneten 
Macht  zu  berufen  gewillt  ist:  ein  gewisses  VerstMndnis  fiir  die  eigen- 
artigen  Aufgaben  der  Armee  ftiglich  schon  um  deswillen  wieder  als  ein 
allgemeines  Bediirfnis  empfunden  werden  miissen,  weil  doch  nur 
eine  richtige  Vorstellung  von  den  Anforderungen  des  Krieges 
^estattet,  sich  ein  begriindetes  Urteil  tiber  die  notigen  Vorbereitun- 
gen  im  Frieden  zu  bilden. 

Tatsachlich  ist  ja  denn  auch  durchaus  nicht  zu  verkennen,  dass, 
seit  »Wehrpflicht  und  Staatsbiirgertum''  wieder  in  ein  em  Begriff  zu- 
sammengeflossen  sind,  und  die  Armee  damit  wieder  ,,Blut  vom  Blute 
der  Nation  selbst"  geworden  ist:  das  offentliche  Interesse  an  den  Wehr- 
institutionen  des  Staates  gegen  fruhere  Zeiten  sich  wieder  wesentlich 
gesteigert  hat. 

Schon  in  der  Publizistik  tritt  diese  Tatsache  in  der  lebhaften 
Teilnahme  hervor,  mit  welcher  hier  die  Vorgfinge  im  inneren  Leben 
und  ausseren  Auftreten  der  Armee  verfolgt,  ihre  physischen  und 
moralischen  Bedurfnisse  erortert,  ihre  scheinbaren  und  wirklichen 
MSngel  aufgedeckt  werden. 

Insofem  nun  aber  —  wie  das  doch  wohl  unbedingt  beabsichtigt 
ist  —  solch  offentliche  Beteiligung  an  den  Angelegenheiten  des  Heeres 
diesem  selbst  und  damit  weiterhin  dann  auch  dem  Staatsgan zen 
wirklich  zugute  kommen  soil:  steht  unbedingt  fest,  dass  das 
nur  in  dem  Grade  mit  Erfolg  wird  geschehen  konnen,  als  solche 
Erdrterungen  iiber  die  Lebensbedurfnisse  der  Armee  im 
Frieden  sich  auf  eine  klare  Einsicht  auch  in  die  Eigenart  ihrer 
Lebensftusserungen  im  Kriege  zu  stutzen  vermdgeni 

5.  Nun  ist  schon  oben  betont,  dass  solche  » Eigenart  kriegerischer 
Tatigkeit*  der  Tatsache  entspringt,  dass  hier  ausschliesslich  nur  Gewalt 
der  Gewalt  gegenubersteht,  und  damit  fur  diese  TMtigkeit  ein  durch- 
aus anderes  Grundprinzip,  als  leitendes  Motiv  zum  Handeln  in 
Wirksamkeit  tritt,  wie  da,  wo  im  friedlichen  Wechselverkehr  Recht 
gegen  Recht  sich  zur  Geltung  zu  bringen  strebt. 

Die  Gewalt  anerkennt  fur  ihr  Handeln  nur  ihr  eigenes  Gesetz, 
fiir  dessen  Handhabung  in  vollster Willensfreiheit  der  Gegner  erst 


110  ^ 


eine  spdtere  Kultur  im  .internationalen  Kriegsrecht'  einige  geringfugige 
Schranken  gezogen  hat. 

Wo  angesichts  solcher  Sachlage  aber  die  moralische  Gewalt  des 
Rechtes,  mangels  einer  hdheren  irdischen  Instanz  versagt,  da  ent- 
scheidet  solcher  Streit  sich  immer  nur  nach  Massgabe  einer  iiber- 
legenen  physischen  Kraft  -  BetatigungI 

Der  Krieg  in  seiner  tatsdchlichen  Erscheinung  tritt  damit  zunlchst 
(wie  spiter  ausfiihrlich  darauf  zuruckzukommen  ist)  immer  nur  als  eine 
Abmessung  dieser  physischen  Krifte  gegeneinander  auf,  in  welcher 
geistige  KrSfte  sich  nur  innerhalb  der  fur  solche  Wechselwirkung 
gultigen  (bezw.  als  gtiltig  erkannten)  Gesetze  materieller  Natur  gel  tend 
zu  machen  vermogen,  und  die  Kenntnis  dieser  Gesetze  in  ihrer  ^zweck- 
entsprechenden*  Anwendung  bildet  denn  auch  bekanntlich  die  recht 
eigentliche  Aufgabe  aller  «Kriegswissenschaft*. 

Wahrend  im  tSglichen  Leben  (z.  B.  auch  der  bildenden  Kunste) 
solche  Handhabung  physisch-materieller  Krafte  (von  Werkzeug  und 
Materie)  fiir  einen  bestimmten  Zweck  aber  jedesmal  nur  nach  einheit- 
lichem  Willen  Platz  greift,  stellt  sich  im  Kriege  der  von  der  einen 
Seite  als  ^zweckentsprechend''  erkannten  Anwendung  dieser  Mittel  der 
feindliche  Wille  jedesmal  mit  der  Absicht  entgegen,  diesen  ^Zweck** 
zu  vereiteln. 

Die  Erreichung  des  erstrebten  Zweckes  —  d.  h.  hier  kurzhin:  eines 
^kriegerischen  Erfolges**  —  erscheint  damit  einerseits  ebenso  sehr  von 
der  (jeseitigen)  Gross e  und  (wirksameren)  Handhabung  der  ver- 
fugbaren  physischen  Mittel,  wie  andererseits  von  der  St&rke 
der  (jeseitigen)  Willenskraft  abhangig. 

Beide  Faktoren  des  Erfolges  sind  im  Kriege  —  wieder  im  Gegen- 
satze  zu  ihrer  Wechselwirkung  im  Frieden!  —  immer  nur  einseitig 
b  e  k  a  n  n  t ,  indes  ihre  Grosse  und  Starke  auf  feindlicher  Seite  nur  alien- 
falls  ann^hemd  geschMtzt,  niemals  zweifelsfrei  bestimmt  werden  konnen. 

Angesichts  solcher  Verhdltnisse  bewegt  sich  die  kriegerische 
Handlung  ununterbrochen  in  dem  alle  ihre  Entschlusse  erschwerenden 
Element  einer  Ungewissheit,  der  gegenuber  zunMchst  nur  soviel  fest- 
steht,  dass  zwar  eine  an  und  fiir  sich  unzweckmissige  (ihrer 
Natur  widerstrebende)  Handhabung  der  gegebenen  Mittel  wohl  un- 
bedingt  den  Erfolg  ausschliessen,  ihre  (den  naturlichen  Wirkungs- 
gesetzen  entsprechende)  zw eckmMssige  Anwendung  darum  aber  noch 
keineswegs  den  Erfolg  auch  dagewdhrleisten  wird,  wo  der  Gegner 
ihr  seinerseits  mitgleichzweckmSssigen  Massnahmen  entgegentritt. 

So  kann  denn  aber  doch  das  ^zweckentsprechende"  Handeln  im 
Kriege  sich  jedesmal  nurauf  eine  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
sttitzen,  die  schon  ihrem  innersten  Wesen  nach,  den  Irrtum  nicht 
hintanzuhalten  vermag. 

Mit  dem  mdglichen  Irrtum  ist  dann  aber  weiterhin  auch  dem 
Zufalle  Tiir  und  Tor  geoffnet,  und  Gliick  und  Ungluck  iiber- 
nehmen  damit  eine  Rolle  im  Kriege,  wie  in  anderweitem  menschlichem 
Tun  ein  Gleiches  nur  noch  —  im  Spiel  der  Fall  ist! 


111  8^ 


Und  in  gleicher  Richtung  wirkt  noch  ein  zweites  Moment. 

Wie  im  Element  der  Ungewissheit,  so  verlauft  die  kriegerische 
Handlung  in  gleicher  Ununterbrochenheit  auch  in  dem  Element  einer 
andauernden  Gefahr,  der  gegenuber  die  unerlMssliche  Grundtugend 
des  Kriegers:  der  Mut  sich  je  nach  dem  Charakter  der  handelnden 
Persdnlichkeiten  in  wieder  nur  unberechenbarer  Weise  geltend 
machen  wird.  Je  nachdem  ob  dieser  Mut  sich  mit  Vorliebe  im  kuhnen 
Wagen  oder  in  zlher  Ausdauer  betMtigt,  vom  Gliick  begiinstigt,  vom 
Ungluck  verfolgt  wird :  gestaltet  dann  aber  auch  der  Verlauf  des  Spieles 
sich  jedesmal  andersl 

In  letzter  Instanz  stellt  sich  somit  alter  Erfolg  kriegerischer 
Titigkeit  im  ganzen,  wie  in  jedem  ihrer  Einzelakte  —  durchaus  Mhnlich 
den  Stichen  im  Kartenspiel  —  als  das  zusammengesetzte  Produkt: 

einerseits  einer  auf  der  stindigen  Natur  der  anzuwendenden 
Mittel  beruhenden  —  damit  wissenschaftlich  festzulegenden  — 
Handhabung  dieser  Mittel  (^nach  bestimmten  Spielregeln'')^ 
andererseits  einer  Reihe,  unter  sachlichen  und  persdnlichen  Ein- 
flussen  ununterbrochen  wechselnder  —  damit  jeder 
Vorausberechn ung  entzogener  —  Einwirkungen  auf 
diese  Handhabung  dar. 

Es  erschien  notwendig,  schon  hier  vorgreifend  auf  diese  D  o  p  p  e  1  - 
seitigkeit  in  dem  Wesen  praktischer  Kriegfiihrung  hinzuweisen> 
weil  erfahrungsmassig  der  Laie  auf  militarischem  Gebiete  nur  allzu  ge- 
neigt  isty  vom  Standpunkte  des  ihm  allein  gelMufigen  BegrifTes  eines 
gesetzmissigen  Verlaufes  aller  Dinge  aus  die  Imponderabilien 
kriegerischer  Aktion  zu  iibersehen  und  in  diesem  Sinn  es  namentlich  liebt: 

uberall  wo  der  kriegerische  Erfolg  ausbleibt: 
allein  dasHeeresinstirumentdafurverantwortlich 
zu  machen! 

6.  Politische,  wirtschaftliche  und  technische  Einflusse  haben  in 
der  Neuzeit  mehr  und  mehr  sich  geltend  gemacht,  um  den  Krieg 
zwischen  Kulturstaaten  schon  um  deswillen  seltener  werden  zu  lassen, 
weil  der  Einsatz  an  Gut  und  Blut,  der  unter  obwaltenden 
modemen  Umstlnden  im  Kriegsfall  verlangt  wird,  sich  gegen  friiher 
g^inz  ausserordentlich  gesteigert  hat  und  mit  dem  erbdhten  Risiko 
selbstredend  auch  die  Scheu  vor  solch  «emstem  Spiele**  wachsen  musste* 

Wenn  angesichts  dieser  Tatsache  die  ^Friedensfreunde''  sich  der 
Hoffinung  hingeben,  dass  mit  der  Zeit  diese  Einfliisse  stark  genug  werden 
wurden,  kunftige  Kriege  uberhaupt  unmoglich  zu  machen,  so 
steht  solcher  Erwartung  doch  zunachst  noch  die  unleugbare  Erscheinung 
gegenuber,  dass  nach  Massgabe  gesteigerter  eigener  innerpolitischer 
Individualisierung  (bezw.  ^Nationalisierung*)  der  (grossen)  Staaten 
in  sich  auch  ihre  nationalen  Gegensatze  untereinander  sich 


112  8^ 


sehr  viel  scharfer  herausgearbeitet  haben,  und  dass  nach 
Massgabe  des  An wachsens  der  eigenen  wirtschaftlichen  Ent- 
w  i c k  1  u n g  innerhalb  dieser abgeschlossenen  Gebiete  die  Schwierig- 
keiten  eines  allseits  bef riedigenden  Ausgleiches  dieser 
konkurierendenlnteressengegeneinanderimmergrosser 
zu  werden  drohenl 

Ob  unter  solchen  Verhlltnissen  dietechnischen  Fortschritte 
im  Kriegswesen  allein  ein  genugend  schweres  Gewicht  in  die 
Wagschale  des  ^ewigen  Friedens*  zu  werfen  imstande  sind,  um  die 
modernen  Staaten  lediglich  aus  ^Blutscheu*'  zu  verhindern:  ihre  per- 
sdnliche  Eigenart  und  ihre  materielle  Lebensexistenz 
notigen  Falles  auch  jetzt  noch  mit  Gewalt  zur  Geltung  bringen 
zu  wollen:  darf  um  so  mehr  bezweifelt  werden,  als  es  nach  Analogie 
fruherer  Erfahrungen  durchaus  nicht  feststeht,  dass  dieverbesserten 
Waff  en  den  —  bei  richtiger  Ausnutzung  ihrer  Leistungsfihigkeit 
—  noch  jedesmal  zu  ermoglichenden  Ausgleich  ihrer  Vor-  und 
Nachteile  fur  Freund  und  Feind  jetzt  plotziich  zur  »Unmdglichkeit* 
machen  miissteni 

So  hat  sich  denn  auch  bis  zur  Stunde  noch  kein  modemer  Staat 
geneigt  erwiesen,  den  Anfang  zur  »Abschaffung  des  Krieges** 
auf  dem  Wege  der  ^Abschaffungbezw.  AbschwMchung  seines 
notwendigen  Werkzeuges"  (durch  sogenannte  „Abrustung")  zu 
machen,  und  schwerlich  auch  wtirde  solcher  Versuch  zu  einem  gunstigeren 
Ergebnisse  fiir  den  Weltfrieden  fiihren,  wie  die  etwaige  Absicht  „Streit 
und  Ungerechtigkeit  zwischen  den  Menschen"  auf  dem  Wege  der  »Ab- 
schaflFung  der  Gerichte**  hintanhalten  zu  wollen. 

Uberall  vielmehr  zeigen  die  Staatsgewalten  sich  bestrebt,  gerade  in 
richtiger  Wurdigung  der  ,,Werte^,  die  bei  einem  mdglichen  Kriege 
fiir  sie  ,,auf  dem  Spiele  stehen",  ihrer  Wehrkraft  (zu  Lande  und  zu 
Wasser)  nach  ziffermassiger  Starke  und  innerem  Ausbau  diejenige  Aus- 
gestaltung  zu  geben,  die  nach  dem  Stande  modemer  Kriegswissenschaft 
allein  ihre  wirksame  Verwendung  in  einem  solchen  Kriege  zu  gewahr- 
leisten  verspricht  und  etwaige,  seitherige  VersSumnisse  in  dieser 
Richtung  nachzuholen. 

0 

7.  Dass  und  warum  die  Verwendung  dieser  Wehrkraft  im 
Emstfalle  nur  in  die  Hand  fachmannisch  vorgebildeter 
Fuhrer  gelegt  werden  kann  oder  doch  nur  gelegt  werden  sollte:  ist 
oben  bereits  nachgewiesen. 

Gegeniiber  der  gleichfalls  hier  schon  erwShnten  Notwendigkeit, 
die  bewaffnete  Macht  —  angesichts  der  modernen  Waffen  heute  mehr 
noch,  als  schon  immer  —  auf  ihre  kriegerische  Aufgabe  bereits  im 
Frieden  vorzubereiten,  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  auch  fiir  solche 
Ausbildung  ausscbliesslich  nur  fachmdnnische  Lehrer  verantwort- 
lich  werden  gemacht  werden  kdnnen. 


113  8^ 


Fur  beide  Aufgaben  bleiben  lediglich  die  Anforderungen  der 
reinen  Kriegswissenschaft,  als  »Lehre  von  der  zweckentsprechenden 
Handhabung  der  Kriegsmittel'*  massgebend  und  ihre  Losung  wird  um 
so  vollkommener  gelingen,  in  je  weitere  Schichten  der  „Fiihre'rschaft" 
die  Beherrschung  solcher  Wissenschaft  vorgedrungen  ist. 

Insofem  es  sich  dann  aber  vorerst  doch  immer  um  die  Auf- 
st  el  lung  einer  bewaffneten  Macht  fur  den  Bedarfsfall  handeln  muss, 
wird  es  allerwege  die  Aufgabe  einer  abwdgenden  Staatskunst 
bilden:  in  der  Wehrverfassung  den  fiir  das  Staatsganze  zweck- 
entsprechendsten  Ausgleich  zwischen  den  besonderen  Kriegs- 
und  den  allgemeinen  F r i e d e n s-Bediirfnissen  nach  Massgabe  der 
eigenartigen  VerhMltnisse  zu  finden,  welche  die  innerenLebens- 
bedurfnisse  des  betreffenden  Einzelstaates  und  seine  iusseren 
Beziehungen  zu  anderen  Staaten  beberrschen. 

Der  Kriegswissenschaft  als  solcher  stellt  sich  damit  eine  ,Wissen- 
schaft  von  den  Bedingungen  des  Heerwesens'  zur  Seite, 
von  der  zunMchst  hier  nur  soviel  zu  sagen  ist,  dass  sie  in  ihrer  prak- 
tischen  Handhabung  die  Anforderungen  der  ^Kriegslehre**  auch  da  jeden- 
falls  nicht  durchkreuzen  darf,  wo  andere  Riicksichten  fur  sie 
massgebend  werden  miissen  wie  die  rein  kriegerischen. 

Unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet,  steht  zunflchst  fest,  dass 
bei  der  Gleichartigkeit  der  modernen  Kriegsmittel  (namentlich  Waffen), 
die  Heere  heutiger  Kulturstaaten  in  ihrer  Zu  sa  mm  ens  etzung  (nach 
Waffengattungen),  ihrer  Gliederung  (nach  Kommandoeinheiten)  und 
ihren  inneren  Einrichtungen  (nach  Heeresanstalten)  eine  nahezu 
vollkommene  Obereinstimmung  aufweisen,  dank  deren  die  ^mobilen 
Armeen**  sich  heutzutage  im  Grunde  nur  noch  nach  ihren  StMrken 
unterscheiden  werden. 

Die  HeeresorganisationfiirdenKrieg  bildet  hiernach  denn 
auch  einen  nahezu  konstanten  Faktor,  an  den  in  der  Heeresverfassung 
moderner  Staaten  immer  nur  auf  Kosten  der  Kriegsbrauchbarkeit  der 
Armee  gertihrt  werden  kdnnte  und  auf  dessen,  den  Kriegsbediirfnissen 
entsprechender  Aufrechterhaltung  —  selbstverstindlich  abgesehen 
von  gelegentlichen,  die  GrundsMtze  nicht  beruhrenden  Varianten  —  deshalb 
auch  die  fur  diese  Kriegsbrauchbarkeit  verantwortliche  Staatsgewalt 
niemals  wird  verzichten  konnen. 

Ganz  anders  liegen  dann  aber  freilich  die  Dinge  der  Heeres- 
einrichtung  fiir  den  Frieden  gegenuber,  in  bezug  auf  welche  die 
Bedurfnisse  des  Staates  als  Gesamtpersdnlichkeit  den  Vorrang  vor  den 
Anforderungen  e  i  n  e  s  —  sei  es  immerhin  noch  so  wichtigen  —  seiner 
O  r  g  a  n  e  mindestens  insoweit  zu  beanspruchen  berechtigt  sind,  als  damit 
nicht  die  Lebensfunktionen  dieses  Organs  selbst  unterbunden  wtirden. 

In  der  geschichtlichen  Entwicklung  staatlicher  Heeres- 
verfassungen  stehen  sich  nun  bekanntlich  in  diesem  Geiste:  Miliz- 
und  Sdldner-Wesen  als  die  beiden  Sussersten  GegensStze  gegeniiber, 
zwischen  denen  eine  Reihe  sehr  verschiedener  Abstufungen  sich  ein- 
^elagert  hat. 

SQddeutsche  Monatahefte.   1, 2.  8 


114  8^ 


Wieder  liegt  es  nicht  in  der  Absicht  und  Aufgabe  dieser  Aus- 
fuhrungen  hier  den  Vor-  und  Nachteilen  dieser  wechselnden  Grundlagen 
fiir  die  Aufstellung  eines  Heeres  niherzutreten,  die  ja  eben  gerade  ihres 
nur  ^kriegvorbereitenden"  Charakters  wegen  ausschliesslich  in 
das  bier  nicht  weiter  zu  behandelnde  Gebiet  der  „Lehre  vom  Heeres- 
wesen"  —  nicht  in  die  .Lehre  von  der  Kriegfuhrung''  selbst  gehoren. 

Nur  auf  e  i  n  e  n  Punkt  dieser  Gegensitzlichkeit  kommt  es  hier 
insoweit  an,  als  in  demselben  sich  die  Wege  gabeln,  von  denen  der  eine 
die  Notwendigkeit  eines  gewissen  Verstindnisses  fur  die  eigentliche 
Kriegswissenschaft  der  staatlichen  Volksgemeinschaft  als  solcher  nahezu 
ganz  entruckt,  der  andere  —  wie  ich  glaube  —  ftir  dieselbe  mindestens 
ein  gewisses  Mass  solchen  Wissens  geradezu  alsstaatsburgerliche 
Pflicht  erscheinen  lisst. 

8.  Nach  welchen  organisatorischen  Gesichtspunkten  nimlicb 
auch  ein  Heer  gebildet  sein  mag,  man  wird  in  seiner  Zusammensetzung. 
stets  die  Fuhrerschaft  von  der  Mannschaft  zu  unterscheiden 
und  die  berufsmSssige  Fachkenntnis  immer  nur  bei  ersterer 
zu  suchen  haben. 

Auch  wo  ein  Heer  im  wesentlichen  nur  aus  Berufs-Soldaten 
besteht,  wird  doch  schon  allein  der  Bildungsstand  dieser  „ Masse**  die- 
s5elbe  von  ^der  „Kriegs-  als  Fiihrer-Wissenschaft**  fast  ganzlich  aus- 
schliessen,  und  umgekehrt  kann  es  erfabrungsmassig  nicht  schlechthin 
als  eine  Unmoglichkeit  bezeichnet  werden,  eine  neu  zustromende 
Mannschafts-Masse  da  noch  wMhrend  der  kriegerischen  Operation  selbst 
einigermassen  kriegsbrauchbar  »auszubilden**,  wo  nur  gentigend  starka 
Berufs-Fiihrerrahmen  (Cadres)  verhanden  sind. 

Nichtsdestoweniger  wird  niemand  bestreiten  wollen,  dass  gleich- 
gut  vorgebildete  Ftihrer  und  ebenbiirtige  sonstige  Verhiltnisse  vor- 
ausgesetzt:  eine  aus  vgedienter*"  Mannschaft  bestehende  Armee  ein 
ausgesprochenes  Obergewicht  uber  ein  «erst  im  Bedarfsfalle  auf- 
gestelltes**  Heer  besitzen  wird,  und  dass  die  Verantwortung  fur  ein 
solches  Experiment  deshalb  nur  unter  ganz  ausnahmsweisen  Ver- 
haltnissen  oder  da  wird  getragen  werden  kSnnen,  wo  es  gilt  „aus  der 
Not  eine  Tugend  zu  machen*. 

Auch  dann  aber  wurde  die  fachminnisch  unterlegene  Armee 
den  moglichen  Ausgleich  fur  ihre  anderweiten  Schwachen  ausschliesslich 
nur  in  ihren  gesteigerten  moralischen  Eigenschaften  finden  kdnnen, 
die  vor  allem  auch  gross  genug  sein  mussten,  den  Vorsprung  ein- 
zuholen,  den  unbedingt  der  ^ausgebildete**  Gegner  in  der  Ertragung 
kriegertscher  Miihsale  und  Wechselfalle  vor  ihr  voraus  haben  wird. 

Derartige  seelische  Krifte  konnen  nun  aber  die  Mass  en  einer 
heutigen  Armee  unzweifelhaft  immer  nur  aus  dem  Urquell  der 
nationalen  Eigenschaften  desjenigen  Volkes  schopfen,  dem 
sie  entstammen,  und  wir  stehen  damit  an  demjenigen  Punkte,  wo  di& 


115  8.*- 


kriegerischen  Erfolge  einer  Armee  sich  als  ein  Produkt  nicht  nur 
aasschliesslich  ihrer  eigenen,  sondern  auch  der  kriegerischen  Ver- 
anlagung  ihres  Volkes  darzustellen  beginnen. 

Unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachtet,  wird  man  nun  zundchst 
sagen  musseo,  dass  weder  ein  auf  langdienende  Berufssoldaten  abzielendes 
(englischesi),  noch  ein  auf  kurzzielige  Erwerbssoldaten  gestutztes  (ameri- 
kanischesl)  Werbesystem  dem  Heere  dasjenige  Mannschaftsmaterial 
wird  zufuhren  konnen,  welches  auch  nur  annihernd  als  Ausdruck  der 
kriegerischen  Eigenschaften  der  Nation  wurde  angesehen  werden  durfen, 
und  umgekehrt  wird  man  deshalb  beiden  Systemen  der  Heeresverfassung 
eine  Berechtigung  nur  solange  zugestehen  kdnnen,  wie  ganz  besondere 
Verhdltnisse  (lokaler  Isolierung  gegen  einen  uberlegenen  Feindl)  vor- 
aussichtlich  immer  die  Mdglichkeit  zu  bieten  versprechen,  das  kriegerische 
Spiel  ndtigenfalls  fruher  abbrechen  zu  konnen,  als  es  zu  einem 
die  eigene  Selbstherrlichkeit  oder  die  vitalen  Interessen  der  Gesamt- 
bevolkerung  blossstellenden  Einsatze  zu  fuhren  imstande  ist. 

Uberall  dagegen,  wo  der  nicht  mehr  hintanzuhal  tende 
Krieg  unter  lokal  nicht  in  erwahnter  Weise  abgeschlossenen  Verhllt- 
nissen,  gerade  um  so  entschiedener  zumaussersten  zu  fuhren  droht, 
je  linger  vorher  die  Spannung  schon  gedauert  hatte,  und  wo  damit 
auch  der  hochste  Krafteinsatz  gleich  von  Hause  aus  zur 
unabweislichen  Notwendigkeit  wird:  da  kann  allein  die  allgemeine 
Wehrpflicht  dem  Heere  dasjenige  Menschen-(als  Mannschafts-)Material 
zufuhren,  dessen  es  unter  solchen  Umstanden  bedarf,  um  aufdie  Dauer 
den  Anforderungen  eines  solchen  Krieges  gentigen  zu  konnen.  Gerade 
weil  die  Kriege  der  europSischen  Kontinentalmachte  seit  Napoleonischen 
Zeiten  jedesmal  diesen  Grundcharakter  anzunehmen  drohen,  haben  nach 
und  nach  alle  diese  Staaten  auch  zur  Annahme  jenes  Wehrsystems  fiir 
die  Aufbringung  ihrer  Heere  sich  gezwungen  gesehen. 

In  dem  Masse,  wie  damit  der  Kern  der  Nation  wieder  zum  ur- 
eigentlichsten  Mittelpunkt  der  Armee  geworden  ist,  wird  jetzt  aber: 

in  solchem  Heere  der  —  kriegerische  oder  unkriegerische  — 
Volkscharakter  sich  als  ein  wichtiger  Faktor  auch  fur  seine 
militirische  Leistungsfahigkeit  erweisen  und  —  nament- 
lich  kriegerischen  WechselfSllen  gegeniiber  —  die  heimische 
Volksstimmung  niemals  ganz  ohne  Widerhall  bleiben  konnen; 
wird  andererseits  auch: 

von  solchem  Volke  erwartet  werden  miissen,  dass  es  sich  unter 
alien  Umstanden  der  Zusammengehdrigkeit  mit  seinem  Heere 
bewusst  bleibt  und  —  namentlich  auch  unerwarteten  Unglucks- 
schlagen  gegenuber  —  die  Ausdauer  eines  gerei  ften  Ver- 
st&ndnisses  fiir  die  naturlichen  Schwankungen  modemer  Krieg- 
fuhrung  zu  beweisen  imstande  sein  wird! 

Wird  so  eine  klarere  Einsicht  in  das,  was  der  Krieg  verlangt 
and  wie  allein  im  Kriege  die  erwarteten  Erfolge  errungen  werden 
kdnnen,  die  Nation  beflhigen:  die  persdnlichen  und  materiellen 

8* 


116 


Lebensbedurfnisse  der  Armee  im  Frieden  ricbtig  zu 
beurteilen,  so  wird  sie  andererseits  im  Kriege  selbst  dem 
Volke  diejenige  Hdhe  seelischer  Kraft  verleihen,  die  der 
Armee  aucb  den  ndtigen  moraliscben  Nachersatz  zu  liefem 
imstande  ist. 

Wo  die  allgemeine  Wehrpfiicht  die  Muttererde  des  Heeres  bildet, 
da  sucht  naturgemiss  in  schweren  Stunden  das  waffengerustete 
Volk  am  Feind  seine  Antduskrifte  in  der  Ber&hrung  mit  dem 
wissensgertisteten  Volke  daheim! 

Dass  es  sie  wirklich  finde:  dazu  soli  das  Nachfolgende  seinen 
kleinen  Beitrag  liefem. 


T^raTiarainraTnrainfaT»ra'ir>rainrai»rai»ra'i^faT»ra'i*fa'"iraT>faT»fa'iiiraT>fai»faTnfaTnraT>fa' 


Hygiene  der  Milchversorgung.*> 

Von  Franz  von  Soxhlet  in  Mtlnchen. 

Der  Ruf  nach  einer  hygienisch  besseren  Milchversorgung  wird 
allgemein  mit  dem  Hinweis  auf  die  grosse  Kindersterblichkeit  in  den 
Stidten  begriindet.  Es  sei  Pflicht  der  5ffentlichen  Gesundheitspflege, 
dabin  zu  wirken,  dass  die  erste  Nahrung  der  Kinder,  denen  die  Wohl- 
tat  der  Mutterbrust  versagt  ist,  in  tadelloser  Gute  der  Bevolkerung  ge- 
liefert  werde.  Aber  alle  hierauf  gerichteten  Bestrebungen  waren  bis 
jetzt  ohne  Erfolg,  well  man  die  gestellte  Forderung  auf  die  ganze  Milch- 
versorgung der  Stadt  ausgedehnt  und  damit  eine  unerfullbare  Forderung 
gestellt  hat.  Sieht  man  von  der  zur  SSuglingsemfthrung  bestimmten 
Milch  ab,  so  liegt  irgend  ein  dringendes  Bediirfnis  fur  eine  Reform  der 
bisherigen  Art  der  stMdtischen  Milchversorgung  nicht  vor,  vorausgesetzt, 
dass  die  Michbeschau  nach  den  geltenden  Grundsatzen  und  bestehenden 
Verordnungen  ordnungsgemiss  gehandhabt  wird.  Was  aber  die  Be- 
schaffung  einer  zur  SMuglingsemdhrung  tauglichen  Milch  betriift,  so  ist 
nur  fur  die  wohlhabende  Minderheit  der  Bevolkerung  gesorgt,  der  eine 
zwar  teure,  sonst  aber  billigen  Anforderungen  entsprechende  Kinder- 
milch  zur  Verfiigung  steht.  Die  minderbemittelte  Mehrheit  der  Bevdlkerung 
dagegen  ist  auf  die  gewdhnliche  Marktmilch  angewiesen,  die  den  Forde- 
rungen,  die  man  an  die  Nahrung  der  Siuglinge  stellen  muss,  nicht  ent- 
spricht  und  nach  den  einmal  gegebenen  Produktionsbedingungen  auch 


*)  Vortrag  gebtlten  am  5.  November  1903  zum  Besfen  des  Fetter. kofer-Hauses. 


117  ^ 


nicht  entsprechen  kann.  Hier  ist  also  eine  Anderung  der  bestehenden 
Verhiltnisse  dringend  geboten,  und  sie  ist  auch  durchftihrbar.  Zur  Be- 
griindung  meiner  Auffassung  von  Gegenwart  und  Zukunft  der  stadtischen 
MilchversorgUDg  muss  ich  auch  die  Frage  der  Sluglingsemihrung  in  den 
Kreis  meiner  Betrachtungen  Ziehen. 

Von  den  zwei  Millionen  Neugeborenen  im  Deutschen  Reiche  sterben 
im  ersten  Lebensjahre  uber  400000.  Nach  Russland  hat  das  in  der 
Kultur  so  hochstehende  Deutschland  die  grdsste  Kindersterblichkeit. 
In  den  Jahren  1894—98  starben  in  den  deutschen  Stadten  durchschnitt- 
lich  22%  der  S&uglinge  und  davon  uber  Magen-  und  Darm- 

krankheiten.  Die  Sachverstlndigen  berechnen  aber,  dass  mittelbar  und 
unmittelbar  die  Hilfte  aller  TodesfMUe  auf  diese  Art  von  Erkrankungen 
zuruckzufuhren  sei,  so  dass  man  mit  der  Tatsache  rechnen  musse:  es 
sterben  alljahrlich  in  Deutschland  200000  Siuglinge  an  den  Folgen  von 
Magen-  und  Darmerkrankung.  Statistik  und  arztliche  Erfahrung  zeigen 
weiter,  dass  alljlhrlich  in  den  heissen  Sommermonaten  explosionsartig 
Brechdurchfallepidemien  auftreten,  und  dass  dieser  Wurgengel  die  meisten 
seiner  Opfer  sich  aus  dem  Kreise  der  kunstlich  emihrten  Sauglinge 
holt,  wogegen  er  die  Brustkinder,  aber  auch  die  Flaschenkinder  der 
Reichen  fast  ganz  verschont. 

Aus  der  Kenntnis  dieser  Tatsachen  hat  sich  zunMchst  eine  lebhafte 
Bewegung  fur  die  Rtickkehr  zur  naturlichen  Emahrung  entwickelt,  die 
in  erscbreckender  Weise  abgenommen  hat.  Unserm  Mitbiirger  Dr.  Hirth 
gebuhrt  das  Verdienst,  in  seiner  Schrift  iiber  die  Unentbehrlichkeit  der 
Mutterbrust,  den  Miittem  besonders  eindringlich  ins  Gewissen  geredet 
zu  haben.  Wohlgcmerkt,  die  Mutterbrust  und  nicht  die  Ammenbrust. 
Das  Ammenwesen  trigt  nichts  zur  Verminderung  der  SMuglingssterb- 
lichkeit  bei  und  auch  nichts  zur  Erstarkung  des  Menschengeschlechts. 
Im  Gegenteil:  Wie  der  Grazer  Hygieniker  Professor  Prausnitz  unwider- 
leglich  gezeigt  hat,  stirbt  kaum  jemals  ein  Flaschenkind  der  Reichen  an 
Verdauungskrankheiten,  dagegen  stirbt  daran,  wie  allbekannt,  fast  sicher 
das  Kind  der  Amme,  weil  es  unter  den  ungtinstigsten  hygienischen  Ver- 
hSltnissen  ktinstlich  ernlhrt  werden  muss.  Das  vielleicht  lebensschwache 
Stadtkind  wird  uber  Wasser  gehalten,  das  lebensstarke  gesunde  Landkind 
muss  dafiir  sterben.  Gesamtwirkung:  Absolute  Zunahme  der  Sterblichkeit, 
allerdings  nicht  in  der  Stadt,  sondem  auf  dem  Lande  und  Verschlechterung 
der  Rasse  im  ganzen. 

Ober  die  Ursacbe  des  zunehmenden  Nichtstillens  sind  die  Meinungen 
geteilt.  Die  einen  behaupten,  dass  die  grosse  Mehrzahl  der  Frauen  physisch 
dazu  un^hig  sei.  Am  scharfsten  vertritt  diese  Meinung  der  geistvolle 
Baseler  Physiologe  Bunge.  Die  Unflhigkeit  zu  stillen  sei  erblich  und 
die  einmal  verlorene  Fihigkeit  sei  unwiederbringlich  fur  alle  kommenden 
Generationen  verloren.  Die  Unfihigkeit  zu  stillen  sei  ebenso  ein  Symptom 
der  Degeneration,  wie  |die  geringe  Widerstandsfihigkeit  gegen  Tuberkulose, 
gegen  Nervenleiden  und  Zahnkaries;  diese  Entartung  sei  hauptsicblich 
durch  den  Alkoholismus  hervorgerufen  worden.  Von  dieser  erblichen 
Entartung  kdnne  die  Menschheit  nur  durch  Zuchtwahl  befreit  werden; 


118 


es  sollen  zur  Erreichung  dieses  Ziels  alle  Midchen  von  der  Ehe  aus- 
geschlossen  werden,  die  aus  tuberkuldsen  oder  psychopathisch  belasteten 
Familien  stammen,  die  einen  Trinker  zum  Vater  oder  —  karidse  Zihne 
haben.  Das  zuletzt  genannte  Ehehindernis  allein  schon  erweckt  eine 
venig  erfreuliche  Aussicht  fur  die  Viter  unverheirateter  Tdchter;  man 
denke  nur  an  die  tiberftillten  Wartezimmer  der  Zahnirzte! 

Die  andem,  und  dazu  gehdren  jetzt  wohl  fast  alle  Arzte,  wollen  als 
Ursache  der  beklagenswerten  Erscheinung  das  Unvermdgen  nur  als  seltene 
Ausnahme,  als  Regel  aber  die  Bequemlichkeit,  die  Eitelkeit  und  die  Vor- 
urteile  der  Mutter  gelten  lassen;  sie  mussen  aber  auch  zugeben,  dass 
ein  grosser  Teil  der  Mutter  aus  wirtschaftlicher  Not  sich  dem  Still- 
geschSft  nicht  widmen  kann.  Gegen  Lissigkeit  und  Torheit  kann  Wamung 
und  Belehrung  niitzen,  Erscheinungen  die  der  Armut  entspringen,  mussen 
aber  anders  bekimpft  werden  und  sie  werden  immer  nur  zu  einem  kleinen 
Teil  beseitigt  werden  kdnnen.  Frankreich,  dem  ja  die  Entvolkerung  drohte, 
versucht  durch  PrSmien  die  wenig  bemittelten  Miitter  zum  Stillen  anzu- 
spomen  und  fur  den  Arbeitsentgang  zu  entschSdigen.  Keineswegs  aber 
darf  das  Eintreten  fur  die  naturliche  Erndhrung  uns  davon  abhalten,  das 
Verfahren  der  kunstlichen  Emahrung  zu  verbessem  und  die  gewonnenen 
Vorteile  denen  zuganglich  zu  machen,  die  ihrer  bedurfen.  Die  Kinder, 
denen  die  Natur  oder  die  Ungunst  der  wirtschaftlichen  Verhaltnisse  die 
Wohltat  der  Mutterbrust  vorenthalten  hat,  bedurfen  doppelt  unserer  Fur- 
sorge.  Es  konnen  nur  Fanatiker  unter  den  Bekampfem  der  kunstlichen 
Emahrung  sein,  die  immer  und  immer  wieder  darauf  hinweisen,  dass 
alle  Erfolge  in  der  Verbesserung  der  kunstlichen  Emahrung  nur  den 
Bemuhungen  entgegenarbeiten,  die  auf  die  Ruckkehr  zur  Natur  abzielen; 
je  sicherer  die  kunstliche  EmShmng  gestaltet  werde,  um  so  mehr  werde 
es  den  Muttem  erleichtert,  sich  ihrer  Pflicht  zu  entziehen.  Der  Miss- 
brauch  einer  Einrichtung  spricht  aber  nicht  gegen  ihre  Zweckmdssigkeit, 
und  iiberdies  ist  zu  beachten,  dass  er  sich  mehr  in  den  Kreisen  der 
Wohlhabenden  eingeburgert  hat,  die  sich  auch  danach  noch  der  geringsten 
Kindersterblichkeit  erfreuten.  Sicherlich  hat  auch  der  .Soxhlet''  in  diesen 
Kreisen  weniger  der  Mutterbrust  als  dem  Ammenwesen  Abbruch  getan, 
was  aus  den  bereits  angegebenen  Griinden  nicht  zu  beklagen  ist. 

Mit  trefPenden  Worten  entgegnet  den  Ubereifrigen  der  Kinderarzt 
Dr.  Paffenholz  in  Dusseldorf:  Sollen  wir  etwa  den  Muttem  zurufen: 
nihr  habt  eure  Kinder  ' nicht  gestillt,  sie  werden  also  im  Sommer  er- 
kranken  und  viele  werden  sterben;  wir  konnen  dies  zwar  verhindera, 
werden  es  aber  nicht  tun,  damit  ihr  seht,  dass  es  besser  ist,  die  Kinder 
zu  stillen  Der  praktische  Volkshygieniker  muss  sich  auf  den  Boden 
der  Tatsachen  stellen  und  diese  sind  ftir  unsere  Frage  die  folgenden: 
Die  Grdsse  der  SterblichkeitszifTer  wird  durch  die  Zahl  der  Todesfalle 
an  Krankheitcn  der  Verdauungsorgane,  und  zwar  hauptsichlich  an 
Sommerbrechdurchfall,  beherrscht;  bei  den  Kindern  der  Reichen  findet 
man  die  geringste  Sterblichkeit  und  fast  nie  stirbt,  auch  bei  kunstlicher 
ErnMhrung,  ein  Kind  aus  dieser  Klasse  an  einer  Verdauungskrankheit; 
bei  den  andem  Bevdlkemngsklassen  ist  die  Kindersterblichkeit  um  so 


-4^      119  gHH 


grdsser,  je  irmer  sie  ist,  und  die  hohere  Sterblichkeit  wird  hier  fast  nur 
durch  das  hiufigere  Erkranken  des  Verdauungsapparats  verursacht,  was 
vieder  um  so  hiufiger  eintritt,  je  mehr  die  kiinstliche  Ernihning  vor- 
herrscht.  Wenn  der  Wohlhabende  zur  kunstlichen  Ernihning  greift,  so 
virkt  auf  sein  Kind  nur  diese  eine  Schidlichkeit  ein  und  er  vermindert 
auch  diese  dadurch,  bis  auf  einen  kleinen  Rest,  dass  er  ohne  Rucksicht 
auf  die  Kosten  sich  des  relativ  besten  Ersatzmittels  fur  die  Muttermilch 
bedient;  auf  den  Singling  des  Armen  sturmen  die  Schidlichkeiten  schlechter 
Wohnung,  schlechter  Luft,  mangelhafter  Pfiege,  ungeniigender  Reinlich- 
keit  und  des  Mangels  an  Srztlicher  Hife  zusammen  ein,  und  wenn  die 
Mutter  nicht  stillt,  kommt  noch  dazu:  eine  an  sich  nach  Menge  und 
BeschaCFenheit  unzweckmissige  Nahrung  und  vor  allem  die  Schidlich- 
keiten, die  aus  dem  Verderben  dieser  Nahrung  entspringen.  Wenn  man 
die  Armen  nicht  reich  macht,  wird  es  nie  gelingen,  alle  Ursachen  einer 
nnnatiirlich  grossen  Kindersterblichkeit^  zu  beseitigen;  aber  der  oITent- 
lichen  Wohlfahrtspflege  muss  es  gelingen,  die  Hauptursache  des  Ubels, 
nimlich  den  einen  Unterschied  zwischen  arm  und  reich  zu  tilgen,  der 
darin  besteht,  dass  der  Reiche  sich  ein  taugliches  Ersatzmittel  fur  die 
Muttermilch  beschaffen  kann,  der  Arme  nicht.  Das  ist  in  Deutschland 
bis  jetzt  so  gut  wie  nicht  geschehen  und  so  erklart  sich  die  Tatsache, 
dass  alle  Errungenschaften  auf  dem  Gebiete  der  kunstlichen  Emihrung 
in  den  letzten  20  Jahren  die  Kindersterblichkeit  nur  unwesentlich  ver- 
mindert haben. 

Die  Hygiene,  die  Wissenschaft  die  sich  die  Aufgabe  stellt,  Krank- 
heiten  zu  verhindem,  hat  in  der  Kuhmilch  eine  reichlich  fliessende 
Quelle  krankmachender  Ursachen  erkannt,  und  sie  war  seitdem  auch 
eifrig  bemuht,  Abwehrmassregeln  gegen  diese  Schidlinge  ausfindig  zu 
machen.  Bei  hygienischen  und  irztlichen  Kongressen  findet  man  die 
Frage  der  Milch versorgung  fast  regelmassig  auf  der  Tagesordnung  und 
im  Mai  1903  fand  in  Hamburg  sogar  eine  besondere  Ausstellung  fur 
bygienische  Milchversorgung  statt,  bei  der  Hygieniker,  Kinderirzte, 
Nahrungsmittelchemiker  und  Milchtechniker  in  Vortrigen  und  Berichten 
das  Wort  ergrifiPen. 

Bei  der  Beurteilung  der  Milch  als  Nahrungsmittel  im  allgemeinen 
spielen  ihre  Verfilschungen  eine  verhiltnismissig  untergeordnete  Rolle, 
deshalb  dient  die  Miichbeschau  nach  der  Art  ihrer  jetzigen  Handhabung 
mehr  dazu,  uns  vor  Vermogensschidigung  als  vor  gesundheitlichen 
Nachteilen  zu  schutzen.  Die  Milch  wird  durch  Zusatz  von  Wasser  oder 
durch  Entrahmen,  manchmal  gleichzeitig  auch  durch  beides  verfilscht. 
Andere  Filschungsarten,  wie  Einquirlen  von  Pferdehirn,  Zusatz  von 
Mehl,  Seife  oder  gar  mineralischen  StoCTen,  stehen  wohl  in  den  Buchem, 
kommen  in  Wirklichkeit  aber  nicht  vor.  Man  braucht  sie  auch  nicht, 
weil  die  zuerst  genannten  bequemer  und  auch  nicht  leicht  nachzuweisen 

*)  .Es  ist  Pflicbt  der  6flPentlicben  Gesundbeitspflege,  die  V51ker  und  Re- 
aiernngen  auf  den  engen  Zusammenhang  zwischen  Pauperismus  und 
Sterblichkeit  im  allgemeinen  wie  der  Kindersterblichkeit  im  besonderen  binzu- 
wetsen.*   (Wasserfuhr,  Ber.  a.  d.  43  NaturPorschcr-Versamml.) 


120 


sind,  sobald  nur  der  Filscher  sich  mit  bescheidenem  Nutzen  begnugt. 
In  90  von  100  FSllen  besteht  die  Fdlschung  in  der  Beimischung  von 
Wasser.  Wenn  das  Wasser  nicht  selbst  gesundheitsschadliche  Eigen- 
schaften  hat,  z.  B.  Typhusbazilien  enthilt,  dann  schidigt  diese  Filschungs- 
art  nur  unsem  Geldbeutel.  Der  Singling,  dem  ja  meist  gewisserte 
Milch  verabreicht  wird,  korrigiert  die  Nachteile  grdsserer  Verdunnung 
dadurch,  dass  er  von  solcher  Milch  mebr  trinkt.  Bedenklicher  ist  schon 
das  Entrahmen,  oder,  was  dasselbe  ist,  die  Beimischung  abgerahmter 
Milch  zu  Vollmilch.  Solche  Milch  verhilt  sich  wie  eine  schon  iingere 
Zeit  gestandene,  sie  ist  der  Verderbnis  n&her  geruckt;  ausserdem  ist 
sie,  wegen  des  Entzugs  von  Butterfett,  in  ihrem  NShrwert  vermindert^ 
und  dagegen  kann  sich  der  Siugling  durch  Mehrtrinken  nicht  ungestraft 
wehren.  Die  Kuhmilch  ist  im  Vergleich  zur  Muttennilch  ohnedies 
schon  zu  eiweissreich  und  im  VerhMltnis  dazu  zu  fettarm.  Man  muss 
sie  um  den  schidlichen  Oberschuss  an  KMsestoff  zu  verringem  mit 
Wasser  oder  ei'ner  Zuckerlosung  verdunnen,  womit  aber  auch  der  Fett- 
gehalt  verringert  wird.  Mischt  man  z.  B.  nach  der  am  meisten  befolgten 
Vorschrift  Kuhmilch  mit  gleich  viel  einer  Q^l^igen  Milchzuckerlosung, 
so  hat  das  Gemisch  die  Zusammensetzung  einer  halb  eingedickten  aber 
abgerahmten  Frauenmilch,  der  man  zu  allem  Uberfluss  auch  noch  die 
Hilfte  des  Milchzuckers  entzogen  hat.  Unsere  Bemuhungen,  mit  Ge- 
mischen  von  Kuhmilch  und  Wasser  oder  Kuhmilch  und  Milchzucker- 
Idsung  einen  Ersatz  fur  die  Muttermilch  zu  schaifen,  haben  zu  nichts 
anderm  gefuhrt,  als  zu  einem  Ersatz  ftir  abgerahmte  Frauenmilch. 
So  etwas  ISsst  sich  ein  Kalb  nicht  bieten;  es  IMsst  sich  in  den  ersten 
Lebenswochen  abgerahmte  Kuhmilch  als  Nahrung  absolut  nicht  gefailen 
und  antwortet  auf  diese  Zumutung  mit  Durchfall  und  elendem  Wachs- 
tum.  Dass  sich  der  menschliche  Saugling  mit  einer  Nachahmung  abge- 
rahmter Frauenmilch  meistens  zufrieden  gibt,  spricht  nur  fiir  seine  er- 
staunliche  Anpassungsfihigkeit,  nicht  aber  fur  die  menschliche  Weisheit. 
Das  Brustkind  wird  gewissermassen  hauptsdchlich  mit  Butter  und  Zucker, 
das  Flaschenkind  hauptsichlich  mit  Kase  emahrt.  An  solchen  Verkehrt- 
heiten  kann  noch  manches  geSndert  und  gebessert  werden. 

Der  Zusatz  von  Konservierungsmitteln  zur  Milch  ist  verboten  und 
gliicklicherweise  auch  leicht  und  sicher  nachzuweisen.  Diese  Stoffe 
sind  als  gesundheitsschidlich  zu  betrachten,  well  alles,  was  die  Ent- 
wicklung  der  Lebewesen  in  der  Milch  hemmt,  auch  der  menschlichen 
Zelle  nachteilig  sein  muss. 

Aus  dem  Futter  der  Ktihe  kdnnen  manche  Stoffe  mit  dem  Blut 
in  die  Milchdruse  eintreten  und  damit  in  die  Milch  gelangen;  wohl- 
schmeckende  ebenso  wie  schlechtschmeckende;  die  einen  wirken  wie 
die  Genussmittel  gtinstig  auf  die  Verdauung  und  unser  Wohlbefinden, 
die  andern  als  ihre  Gegenfiissler  in  der  entgegengesetzten  Richtung. 
Welchen  Anteil  das  Futter  an  diesen  Eigenschaften  der  Milch  hat,  ist 
noch  wenig  bekannt.  In  der  Regel  stammt  der  uble  Geschmack  der 
Milch  aus  der  Stallluft.  Das  in  der  Milch  fein  verteilte  Fett  verschluckt 
Riechstoffe  sehr  begierig.    Oft  wird  die  Milch  im  Stalle  selbst  gekuhlt; 


121  ^ 


wenn  sie  uber  die  wellige  Flache  des  Milchkuhlers  lauft,  wird  jeder 
Liter  in  dunnen,  etwa  Sqm  grossen  Flussigkeitsscheiben  im  Stalle  aus- 
gebreitet,  und  dann  haben  die  in  einem  Liter  Milch  enthaltenen  4000 
Milliarden  Fetttrdpfchen  die  beste  Gelegenheit,  sogenannte  gesunde  Land- 
luft  zu  verdichten  und  festzuhalten. 

In  die  Milch  konnen  dann  weiter  ebenso  wie  gewisse  Arzneistoffe 
—  namentlich  Jod,  Quecksilber,  Arsen  —  auch  Giftstoffe  aus  den  Un- 
kriutem  des  Heus  ubergehen.  Vor  wenigen  Jahren  hat  Dr.  Sonnen- 
berger  in  Worms  den  Futtergiften  als  Ursache  von  Verdauungsstorungen 
besondere  Bedeutung  beigemessen  und  Professor  Braungart  in  Munchen 
bringt  die  grosse  Kindersterblichkeit  in  gewissen  kalkreichen  Gegenden 
Bayems  mit  der  dort  besonders  gedeihenden  Herbstzeitlose  in  Zusammen- 
hang.  Obennedizinalrat  Hauser  in  Karlsruhe  hat  aber  fur  Baden  ein 
seiches  Zusammengehen  von  Kalkboden  und  grosser  Kindersterblichkeit 
nicht  gefunden.*)  Ganz  sicher  ist  es,  dass  die  Hauptursache  der  grossen 
Kindersterblichkeit,  der  Sommer-Brechdurchfall,  mit  der  Herbstzeitlose 
Oder  andem  Giftkrautem  nichts  zu  tun  hat.  Da  indes  ein  gut  beob- 
achteter  Fall  vorliegt,  wo  das  Herbstzeitlosengift  —  Colchicin  —  in  die 
Milch  von  Ziegen  tiberging  und  zur  Erkrankung  Erwachsener  fuhrte,  so 
trete  auch  ich  dafur  ein,  dass  Giftpflanzen  aus  dem  Futter  ferngehalten 
werden  sollen,  besonders  wenn  es  sich  urn  die  Gewinnung  von  Kinder- 
milch  handelt. 

Ungemein  harmlos  sind  alle  die  SchMdlichkeiten,  die  auf  die 
chemische  Zusammensetzung  der  Milch  zuruckzufiihren  sind,  im  Ver- 
gleich  zu  denen,  die  dem  Bakterienleben  entspringen.  Die  unmittelbar 
aus  dem  Enter  kommende  Milch  kann  krankmachende  Bakterien  ent- 
halten  oder  es  konnen  welche  von  aussen  in  die  Milch  gelangen  und 
dort  einen  geeigneten  NShrboden  finden,  oder  es  gelangen,  und  zwar  von 
aussen,  Bakterien  in  sie,  die  gewisse  Milchbestandteile  zersetzen  und 
giftig  wirkende  Stoffe  —  Toxine  —  ausscheiden. 

Obwohl  es  bis  jetzt  nur  ein  Mai  gelungen  ist,  Typhuskeime  in  ver- 
dachtiger  Milch  nachzuweisen,  so  war  doch  mit  Sicherheit  eine  grosse 
Anzahl  von  Unterleibstyphusepidemien  auf  den  Genuss  von  Milch  zurtick- 
zufiihren,  die  durch  Beruhrung  mit  den  Ausscheidungen  Typhuskranker 
Oder  durch  verunreinigtes  Wasser  infiziert  war.  Professor  Jensen  in 
Kopenhagen,  ein  guter  Kenner  dieser  Verhaltnisse,  spricht  die  Ansicht 
aus,  dass  in  alien  Stadten  mit  hygienisch  geordneter  Wasserversorgung 
die  Verschleppung  des  Unterleibstyphus  durch  die  Milch  am  meisten  in 
Betracht  komme.  Nicht  ganz  so  scheint  es  sich  mit  den  ziemlich  haufig 
beobachteten  Diphtherie-Milchepidemien  zu  verhalten;  es  uberwiegt  die 
Meinung,  dass  diese  nicht  auf  den  Genuss  infizierter  Milch,  sondern  auf 


*)  Die  Statistik,  von  einigen  als  ^zweiscbneidiges  Scbwert**  bezeicbnet,  von 
einem  GynSkologen  gtr  «Dirne*  gesctaolten,  gibt,  je  nacb  der  Fragestellung,  eine 
ricbtige  oder  unricbtige  Antwort.  So  starben  1871/73  in  Baden  von  protestantiscben 
Singlingen  25,2  von  katboliscben  28,4  und  von  judiscben  l,76o/o.  Selbstverstftndltch 
darf  man  daraus  nicbta  anders  folgern,  als,  dass  drei  Bevdlkerungsklassen  von 
verscbiedener  Wohlbabenbeit  verscbiedene  Sterblicbkeit  baben. 


122  ^ 


den  Verkehr  mit  erkrankten  Milchaustrdgern  und  dergleichen  zurtickzu- 
fuhren  waren,  und  fur  die  Verbreitung  des  Scharlachs  durch  Milch  IMsst 
man  uberhaupt  nur  diesen  Zusammenhang  gelten. 

Von  den  Krankheiten  der  Kuh  kdnnen  auf  die  Menschen  uber- 
tragen  werden:  Die  Tuberkulose,  die  Maul-  und  Klauenseuche,  die  ToU- 
wut,  die  septische  Darmentziindung  und  auch  die  verschiedenen  Arten 
der  Euterentziindung,  deren  Erreger  Darmentztindungen  beim  Menschen 
herbeifuhren  konnen. 

Seitdem  Koch  die  unter  den  Rindern  so  stark  verbreitete  Perlsucbt 
als  Tuberkulose  erkannt  hat,  hat  man  der  Gefahr  besondere  AuFmerk- 
samkeit  geschenkt,  die  dem  Menschen  aus  dem  Genuss  des  Fleisches 
Oder  der  Milch  solcher  Tiere  erwachsen  kann.  Da  trat  bekanntlich  Koch 
im  Jahre  1901  beim  Tuberkulose-Kongress  in  London  mit  der  Behauptung 
auf,  Kinder-  und  Menschentuberkulose  seien  nicht  identisch.  Diese 
Behauptung  stiess  aber  sofort  auf  fast  einstimmigen  Widerspruch,  dem 
auch  der  Kongress  durch  eine  Resolution  Ausdruck  verliehen  hat.  Ganz 
entschieden  hat  sich  v.  Behring,  der  beruhmte  Bakteriologe  und  Ent- 
decker  des  Diphtherieheilserums,  vor  kurzem  bei  der  Naturforscherver- 
sammlung  in  Kassel  gegen  die  neue  Kochsche  Lehre  ausgesprochen. 
Seine  Ausfiihrungen  gipfeln  etwa  in  folgenden  Satzen:  Die  Rindertuberkel- 
bazillen  sind  fur  den  Menschen  bosartiger  und  giftiger  als  die  Menschen- 
tuberkelbazillen.  DieSiuglingsmilch  istdieHauptquellefur 
die  Sch windsuchtsentstehung.  Der  menschliche  und  ebenso  der 
tierische  SSugling  entbehrt  in  seinem  Verdauungsapparat  der  Schutzein- 
richtung,  die  beim  Erwachsenen  das  Eindringen  von  Krankheitserregem 
in  die  Gewebesilfte  verhindert.  Die  Darmschleimhaut  des  SMuglings  ist 
im  Vergleich  zu  der  des  Erwachsenen  ein  grossporiges  Filter.  „Ein 
bisschen  tuberkulos  ist  jeder  von  uns,**  aber  die  Infektion  Erwachsener 
fiihrt  nicht  zur  Lungenschwindsucht.  Fur  die  ErnMhrung  sehr  jugend- 
licher  Kinder  soli  unter  alien  Umstinden  nur  tuberkelbazillenfreie  Milch 
verwendet  werden. 

Wie  mir  von  sachkundiger  Seite  versichert  wird,  stossen  auch  die 
Ausfuhrungen  v.  Behrings  uber  die  Entstehung  der  Schwindsucht  in 
massgebenden  arztlichen  Kreisen  auf  entschiedenen  Widerspruch,  und 
auch  dem  Laien  drMngt  sich  der  Gedanke  auf,  dass  der  Hauptsatz  der 
Behringschen  Lehre:  „Die  Sduglingsmilch  ist  die  Hauptquelle  fur  die 
Schwindsuchtsentstehung^  sich  nicht  gut  mit  der  Tatsache  vertrdgt,  dass, 
in  Deutschland  wenigstens,  die  ktinstlich  emShrten  Sauglinge  doch  nur 
mit  gekochter  Milch  ernihrt  werden,  die  ja  frei  von  lebensfihigen 
Tuberkelbazillen  ist.  Jeden falls  wird  man  gut  tun,  nicht  auf  die  voile 
Klarung  dieser  Frage  zu  warten,  sondem  mit  der  Mdglichkeit  der  Tuber- 
kulosetibertragung  durch  Milch  als  einer  Gefahr  fur  den  Siugling  und 
Erwachsenen  zu  rechnen. 

Ober  Rindertuberkulose  und  ansteckungsflhige  Milch  ist  noch 
folgendes  zu  sagen:  Die  Statistiken  aller  LMnder  verzeichnen  einen  er- 
schreckend  grossen  Prozentsatz  tuberkuloser  Kinder.  Nach  den  Schlacht- 
hofberichten  sollen  in  Deutschland  20%  der  Rinder,  etwa  3  Millionen 


123  8^ 


Stuck,  mit  iusserlich  erkennbarer  Tuberkulose  behaftet  sein;  bei  Kiihen 
noch  mehr,  so  z.  B.  in  Sachsen  35%.  Bei  der  Prufung  der  mehr  als 
4  Jahre  alten  Kiihe  mit  Tuberkulin  wurden  in  Berlin  99  %  tuberkulos 
befunden.  In  Danemark  ist  bei  31,  in  Schweden  bei  42%  der  Kinder 
Tuberkulose  festgestellt  worden.  Bei  Eutertuberkulose  entbSIt  die  Milch 
immer  Tuberkelbazillen.  4%  der  tuberkulosen  Kuhe  sollen  mit  Euter- 
tuberkulose behaftet  sein.  Auch  ohne  dass  Eutertuberkulose  vorliegt, 
kann  bei  vorgeschrittener  Tuberkulose  die  Milch  tuberkelbazillenhaltig 
sein.  Die  Marktmilch  und  die  zusammengemischte  Milch  der  Molkereien 
enthilt  ungemein  hMufig  nachweisbare  Mengen  lebender  Tuberkelbazillen. 
Man  ist  uberall  eifrig  an  der  Arbeit,  die  Tuberkulose  unter  den  Rindern 
auszurotten,  schon  im  eigenen  Interesse  der  Landwirte.  Dabei  hat  die 
Priifung  der  Kuhe  mit  Tuberkulin  die  wertvollsten  Dienste  geleistet  und 
Behrings  neues  Verfahren,  die  KMlber  durch  Impfung  fiir  die  Tuber- 
kulose unempfanglich  zu  machen,  rtickt  uns  dem  Ziele  noch  naher. 
VorlSufig  werden  aber  die  Organe  der  Lebensmittelaufsicht  noch  daruber 
wachen  mussen,  dass  Milch  von  Kiihen  mit  klinisch  erkennbarer  Tuber- 
kulose nicht  auf  den  Markt  komme.  Von  einer  Kindermilch  verlangen 
sogar  manche  SachverstMndige,  dass  sie  von  Kiihen  stamme,  die  die 
Tuberkulinprobe  bestanden  haben.  Das  zuverlassigste  Mittel,  die  Uber- 
tragung  der  Tuberkulose  durch  Milch  zu  verhindem,  wird  aber  immer 
das  Erhitzen  der  Milch  auf  Siedetemperatur  bleiben. 

Der  Erreger  der  unter  den  Rindern  so  verbreiteten  Maul-  und 
Klauenseuche  ist  noch  nicht  bekannt.  Es  steht  aber  fest,  dass  die 
Krankheit  mit  der  Milch  auf  den  Menschen  ubertragen  werden  kann. 
Die  erste  Nachricht  dariiber  stammt  schon  aus  dem  Jahre  1695;  1834  hat 
Hertwig  durch  einen  Versuch  an  sich  selbst  die  Ubertragbarkeit  be- 
wiesen.  Innerhalb  der  Jahre  1 878-- 96  wurde  16mal  ein  seuchenhaftes 
Auftreten  der  Krankheit  beim  Menschen  mit  zusammen  75  Todes- 
fillen  beobachtet.  In  den  Jahresberichten  des  Kaiserlichen  Gesund- 
heitsamtes  fiir  die  Jahre  1886—96  sind  172  Falle  der  Ubertragung 
verzeichnet;  in  66  FMllen  fand  sie  durch  Genuss  ungekochter  Milch, 
in  einem  Falle  durch  den  Genuss  von  Butter  statt.  Der  Verkauf 
ungekochter  Milch  aus  verseuchten  Stallungen  ist  seit  1880  reichs- 
gesetzlich  verboten. 

Bei  der  bakteriellen  und  septischen  Darmentziindung  der  Kuhe 
kann  die  Milch  durch  Darmausscheidungen  infiziert  werden.  Eine  Chole- 
rine-Epidemie  in  Christiania  im  Jahre  1888,  bei  der  6000  Personen  er- 
krankten,  war  durch  solche  Milch  heraufbeschworen,  und  einzelne  Falle 
dieser  Art  sind  wiederholt  festgestellt  worden.  Die  Erreger  der  Krank- 
heit, die  Eitererreger:  Staphylokokken  und  Streptokokken  werden  durch 
Aufkochen  der  Milch  getdtet. 

Dieselben  Bakterien  sind  die  Urheber  der  Euterentztindungen,  die 
bei  den  Kiihen  ungemein  hSufig  auftreten.  Die  Milch  solcher  Art  er- 
krankter  Kiihe  kann  im  rohen  Zustande  bei  Siuglingen  ebenso  wie  bei 
Erwachsenen  Magen-  und  Darmkatarrhe  hervorrufen  und  muss  immer 
als  gesundheitsschadlich  betrachtet  werden.    Bei  vorgeschrittener  Enter- 


124 


entzundung  ist  die  Milch  auch  Susserlich  verSndert  und  unappetitlich. 
Euterentzundungen  treten  manchmal  als  ansteckende  Seuchen  auf  und 
ebenso  kdnnen  Dannerkraokungen  von  Siuglingen,  die  durch  die  Milch 
euterkranker  Kiihe  entstanden  sind,  durch  Ansteckung  auf  gesunde  Siug- 
linge  tibertragen  werden. 

Gegen  alle  diese  Gefahren  gibt  es  nur  ein,  aber  unbedingt  sicheres, 
Mittelt  nSmlich  das  grtindliche  Kochen  der  Milch.  Auf  einen  Ersatz  da- 
fiir,  das  Pasteurisieren  komme  ich  noch  zurtick. 

Die  zweite  Gruppe  der  Bakterien,  die  nichtpathogenen,  gelangen 
nur  von  aussen  in  die  Milch;  so  lange  die  Milch  im  Euter  ist,  ist  sie, 
wenigstens  bei  gesunden  Tieren,  so  gut  wie  keimfrei.  Die  Luft  spielt 
bei  der  nun  folgenden  Verunreinigung  nur  eine  untergeordnete  Rolle, 
aber  alles  librige,  was  mit  der  Milch  in  Beruhrung  kommt,  macht  sie 
reich  an  Bakterien  aller  Art.  Die  Hinde  und  Kleider  der  Melker,  die 
Susseren  Telle  des  Enters,  das  Putter,  die  Streu,  eingetrockneter  Kuh- 
kot  an  der  Haut  der  Kuhe,  Kuhhaare,  der  Melkeimer,  der  Milchseiher, 
der  Milchkiihler,  die  Milchkanne,  das  MessgefMss  und  zum  Schluss  der 
Milchtopf  im  Hause  —  alles  gibt  die  Bakterien,  die  gerade  da  sind,  an 
die  Milch  ab;  ihnen  alien  bietet  die  Milch  eine  zusagende  Wohnstatte 
und  die  gunstigsten  Bedingungen  zur  Vermehrung.  Auf  ihrem  Leidens- 
wege  vom  Euter  bis  in  den  Mund  hat  sie  sich  oft  bis  zur  Unkenntlichkeit 
verfindert,  und  zwar  um  so  mehr,  je  langer  dieser  Weg  war  und  je  warmer 
sie  gehalten  wurde.  Im  Jahre  1886  habe  ich  zuerst  ausgesprochen,  dass 
jede  Milch  Kuhkot  enthalt,  und  im  Jahre  1892  habe  ich  bei  einem  Vor- 
trage  dem  Miinchner  arztlichen  Verein  auf  einer  Kristallschale  einen 
veritablen  Kuhfiaden  prasentiert,  den  ich  mittels  der  Milchzentrifuge  aus 
200001  Milch  herausprfipariert  hatte;  daran  habe  ich  die  Frage  gekntipft, 
ob  jemand,  der  dabei  zugesehen  hat,  von  einer  Milch  trinken  wollte,  in  die 
ich  diese  Masse  wieder  hineingequirlt  hStte.  Renk  hat  dann  eine  Methode 
angegeben,  die  Menge  des  sogenannten  Milchschmutzes  zu  bestimmen 
und  die  Milchbeschau  macht  jetzt  von  dieser  Priifung  vielfach  Gebrauch. 
Er  fand  so  in  1  1  Milch  in  Miinchen  bis  28,  in  Berlin  bis  50  und  in 
Halle  bis  72  mg  trockenen  Milchschmutzes.  Man  kann  schon  zufrieden 
sein,  wenn  im  Durchschnitt  10  mg  gefunden  werden.  Bei  solchem 
Schmutzgehalt  werden  in  Munchen  mit  der  Milch  alljahrlich  etwa  50  Ztr. 
Kuhkot  mitverzehrt.  Das  konnte  man  sich  am  Ende  noch  gefallen  lassen, 
wenn  nur  dieser  StofP  nicht  der  Haupttrager  der  bosartigsten  Girungs- 
erreger  wMre.  In  den  grossen  Blindsacken  des  Darms  der  WiederkSuer, 
wo  der  Futterbrei  tagelang  bei  Brutwirme  sich  aufhSlt,  gehen  machtige 
GarungsvorgMnge  vor  sich;  der  Kuhkot  ist  demgeniMss  ausserordentlich 
reich  an  Bakterien  und  die  Arten  von  Bakterien,  die  sich  darin  finden, 
hangen  von  der  Art  des  Putters  ab,  so  dass  die  Art  des  Putters  indirekt 
auf  die  Natur  der  bakteriellen  Milchverunreinigung  von  Einfluss  ist.  Sonst 
ist  ein  besonderer  Einfluss  des  Putters  auf  die  Gedeihlichkeit  der  Milch 
weder  erwiesen  noch  auch  anzunehmen,  und  man  kann  auch  fur  die  Ge- 
winnung  von  Kindermilch  einen  weiten  Spielraum  in  der  Auswahl  unter 
den  bekannten  und  gebrauchlichen  Futtermitteln  zulassen,  wenn  nur 


125  8^ 


an  der  Forderuog  festgehalten  wird,  dass  bei  dem  Futter  die  Ktihe 
dauernd  gesund  bleiben. 

Die  verbSltnismSssig  unschuldigste  Art  der  Milchzersetzung,  die 
anch  am  meisten  in  die  Augen  fSllt,  ist  die  MilchsMuerung  oder  die 
Zerlegung  des  Milchzuckers  in  Milcbsdure ;  geflhrlicher  sind  die  Zer- 
setzungsprodukte  des  KSsestofFes,  worunter  sich  Giftstoffe,  Toxine,  ahnlicb 
dem  Wurst-  oder  KSsegift,  befinden;  daneben  treten  BurtersauregSning 
und  Gdrungen  auf,  die  mit  starker  Gasentwicklung  verbunden  sind. 
Haben  sich  einmal  Giftstoffe  gebildet,  dann  lindert  selbstverstlndlich 
Sterilisieren  oder  Pasteurisieren  nichts  mehr  an  der  gesundheitsschUd- 
lichen  Beschaffenheit  der  Milch.  Die  ZersetzungsvorgSnge  in  der  Milch 
setzen  sich  im  Magen  und  Darm  des  Menschen  und  namentlich  in  dem  des 
SSuglings  fort;  sie  sind  nach  der  iibereinstimmenden  Meinung  der  Sach- 
verstandigen  die  Hauptursache  der  Verdauungsstorungen  beim  kunstlich 
emShrten  SSugling  und  insbesondere  die  Ursache  der  gefiirchteten 
Sommerdiarrhden.  Je  weniger  reinlich  eine  Milch  gewonnen,  und  je 
hdher  die  Temperatur  ist,  bei  der  sie  aufbewahrt  wird,  um  so  rascher 
geht  die  Verderbnis  vor  sich.  Eine  ganz  besonders  reinlich  gewonnene 
Milch  enthSlt  kurz  nach  dem  Melken  in  1  ccm,  das  sind  etwa  15  Tropfen, 
9000  Bakterien.  Bewahrt  man  sie  kuhl  auf  —  bei  15**  C  —  so  hat 
sie  nach  6stundigem  Stehen  ihre  Menge  verfiinffacht,  und  nach  24  Stunden 
enthilt  sie  5  Millionen  Keime.  In  1  ccm  gewohnlicher  Marktmilch  hat 
man  im  November  bis  6,  im  August  bis  45  Millionen  Keime  gefunden. 

Um  nun  eine  Verbesserung  der  bestehenden  Verhaltnisse  herbeizu- 
fiihren,  hat  man  an  die  Milchproduktion,  die  Beaufsichtigung  und  die 
Organisation  des  Milchhandels  verschiedene  Forderungen  gestellt: 

1.  Tierarztliche  Oberwachung  des  Gesundheitszustandes  der  Kiihe. 
Sie  ist  in  dem  Umfange,  wie  sie  notwendig  ware,  um  eine  Gewahr  fur 
das  Freisein  der  Milch  von  pathogenen  Organismen  zu  erlangen,  nicht 
durchfuhrbar.  Ebenso  notwendig  wSre  eine  Uberwachung  des  Gesund- 
heitszustandes der  Personen,  die  bei  der  Gewinnung  und  beim  Verkauf 
der  Milch  beschiftigt  sind;  aber  auch  diese  Massregel  wird  sich  ganz 
allgemein  nicht  durchfuhren  lassen. 

2.  Die  Verzettelung  des  Milchhandels  auf  Hunderte  und  Tausende 
kleiner  Milchhindler  macht  eine  wirksame  Uberwachung,  insbesonders  in 
hygienischer  Hinsicht,  fast  unmdglich.  Wie  die  stfidtischen  Verwaltungen 
aus  hygienischen  Rticksichten  den  Schlachthauszwang  eingeftihrt  haben, 
soUte  auch  der  Milchhandel  zentralisiert  werden,  oder  es  sollten  von 
den  Milchproduzenten  oder  von  Untemehmem  grosse  Zentralmolkereien 
eingerichtet  werden,  denen  alle  Vorteile  des  Grossbetriebs  zur  Ver- 
fuguog  stehen  und  die  viel  leichter  strengeren  Forderungen  der  Hygiene 
gerecht  werden  kdnnten.  —  Dagegen  kann  geltend  gemacht  werden,  dass 
den  Konsumenten  eine  zuweitgehende  Zentralisierung  des  Handels  mit 
Milch  ebenso  unerwiinscht  ist,  wie  die  des  Handels  mit  andem  Lebens- 
mitteln:  Fleisch,Gemuse,Obst,  Brot,  Butter  und  dergleichen,  und  dass  auch 
aus  andem  Rucksichten  die  Vemichtung  zahlreicher  kleiner  Existenzen 
nicht  erwiinscht  sein  kann.    Dagegen  konnen  die  kleinen  MilchhMndler 


-^g  126 


zu  einer  Vereinigung  zusammentreten  uod  dann  selbst  zar  Besserung 
der  bestehenden  VerhSltnisse  sehr  viel  beitragen:  Gemeinsamer  Einkauf 
von  Eis,  gegenseitige  Oberwachung  und  Verbreitung  von  Fachkenntnissen 
unter  den  Mitgliedern. 

3.  Grosste  Reinlichkeit  bei  der  Gewinnung  der  Milch  ist  jeden- 
falls  die  wichtigste  Forderung,  die  die  Hygiene  zu  stellen  hat.  Aber 
die  i^aseptisch  gewonnene  Milch"*,  nach  der  jetzt  so  viel  gerufen  wird, 
wird  ein  Gelehrtentraum  bleiben.  Wer  die  Verhaltnisse  kennt  und 
weiss,  dass  sie  durch  guten  Willen  allein  nicht  geandert  werden  konnen, 
wird  sich  von  dem  Glauben  an  das  weitere  Bestehen  des  jetzigen  Zu- 
standes  nicht  abbringen  lassen.  Dagegen  ist  es  ausfiihrbar,  dass  in 
einzelnen  grossen  Stallen,  allerdings  bei  erheblich  hoheren  Produktions- 
kosten,  eine  Milch  gewonnen  wird,  die  alien  billigen  Anforderungen  an 
Reinheit  gentigt,  worauf  ich  noch  zuruckkomme.  Von  einer  nachtrMglichen 
Reinigung  schmutziggewonnener  Milch  durch  Zentrifugieren  oder  Fiitrieren 
ist  wenig  zu  erwarten.  Es  kann  damit  nur  die  Musserliche  Unappetit- 
lichkeit  von  ihr  genommen  werden,  die  ohnedies  meist  nicht  sichtbar 
ist,  nicht  mehr  aber  die  bakterielle  Verunreinigung.  Die  Filtration  kann, 
wenn  sie  ohne  bakteriologisches  Gewissen  vorgenommen  wird,  eher 
noch  zur  Verunreinigung  der  Milch  beitragen.  Oberhaupt  je  weniger 
Gefasse,  Gerate  und  Operationen,  urn  so  besser. 

4.  Die  Kuhlung  der  Milch  unmittelbar  nach  dem  Melken  und  die 
Ktihlerhaltung  der  Milch  wahrend  des  Feilhaltens,  ebenso  aber  auch 
wMhrend  der  Aufbewahrung  im  Hause,  muss  allgemeiner  als  es  geschieht 
durchgefiihrt  werden.  Bei  einer  Milch  von  mittlerer  Haltbarkeit  stellen 
sich  die  ersten  Anzeichen  der  Zersetzung  ein,  wenn  sie  bei  35^  C, 
also  ^kuhwarm**  aufbewahrt  wird,  nach  8  Stunden,  bei  17,5**  C,  also 
bei  gewohniicher  Zimmertemperatur  aufbewahrt,  nach  33  Stunden  und 
bei  lO*'  C  erst  nach  70  Stunden.  Da  die  Kuhmilch  zweimal  an  jedem 
Tage  gewonnen  wird,  die  heutigen  Verkehrsverhdltnisse  es  ermoglichen, 
die  Milch  vom  Orte  der  Gewinnung  innerhalb  2,  ISngstens  3  Stunden  in 
die  Stadt  zu  bringen,  und  well  auch  die  langere  Aufstapelung  von  Milch- 
vorrSten  ganz  uberflussig  ist,  so  genugt  es  reichlich,  wenn  die  Milch 
von  der  Gewinnung  an  bis  zum  Verbrauch  etwa  auf  der  Temperatur 
frischen  Trinkwassers  erhalten  wird.  In  Berlin  hat  sich  eine  Gescll- 
schaft  mit  beschrSnkter  Haftung  unter  dem  stolzen  Namen  «Allgemeine 
hygienische  Milchversorgung''  gebildet,  die  Berlin  mit  Milch  nach  dem 
Prinzip  der  sogenannten  Tiefktihlung  versorgt.  Die  von  den  Produzenten 
abgesandte  Milch  wird  nach  dem  Eintreffen  in  Berlin  mittels  KMlte- 
maschine  nahezu  auf  den  Gefrierpunkt  abgekuhlt  und  erst  am  nichsten 
Tage  verkauft.  Damit  wird  der  Vorteil  einer  ruhigeren  Abwicklung  der 
Milchan-  und  Ablieferung  geschaffen  aber  irgend  etwas  „Hygienisches* 
kann  ich  daran  nicht  finden,  da  ja  alles  andere  davon  unberuhrt  bleibt, 
namentlich  das,  was  beim  Produzenten  und  was  bis  zum  Eintreffen  in 
die  Stadt  mit  der  Milch  geschieht. 

5.  Von  vielen  wird  die  Forderung  erhoben,  dass  alle  in  den  Handel 
kommende  Milch  pasteurisiert  sein  soil. 


127  8^ 


Unter  Pasteurisieren  versteht  man  ganz  verschiedene  Dinge:  Das 
Erhitzen  der  Milch  bei  Temperaturen,  die  zwischen  60  uhd  100"  C 
Hegen,  wahrend  einer  Zeltdauer,  die,  je  nach  der  Temperaturhohe,  1  bis 
30  Minuten  betragt.  In  den  moderaen  Apparaten  fiir  den  Grossbetrieb 
wird  die  Milch  innerhalb  2  Minuten  auf  85*  C  erhitzt  und  darauf  rasch 
abgekiihlt:  dies  soil  zur  Totung  aller  Krankheitserreger  geniigen.  Selbst- 
verstandlich  kann  mit  dem  einfachen  Aufkochen  in  den  Haushaltungen 
nicht  weniger,  sondern  es  muss  damit  mehr  erreicht  werden,  denn  urn 
die  Milch  zum  Kochen  zu  bringen,  muss  sie  von  85  noch  auf  100^  er- 
hitzt werden  und  sie  muss  von  da  wieder  auf  85^  abkuhlen,  wobei 
mindestens  15  Minuten  verstreichen.  Pasteurisierapparate  bedurfen  einer 
sehr  sorgfiltigen  Bedienung,  wenn  sie  zuverlMssig  wirken  sollen.  Ausser- 
dem  gehen  die  Angaben  der  verschiedenen  Autoren  iiber  die  notwendige 
Dauer  des  Erhitzens  bei  Temperaturen  unterhalb  des  Siedepunktes  sehr 
auseinander.  Deshalb  trete  ich  entschieden  fur  grundliches  Kochen  der 
Milch  im  Haushalt  ein. 

Vor  zwei  Jahren  hat  das  Kaiserliche  Gesundheitsamt  Versuche  uber 
das  Pasteurisieren  in  Molkereibetrieben  angestellt  und  in  dem  Bericht  dar- 
nber  heisst  es:  Voraussetzung  sei,  dass  saubere,  frische  und  von  Tieren 
mit  gesunden  Eutem  stammende  Milch  erhitzt  wird ;  es  leuchte  ein,  dass 
die  WSrme  in  der  kurzen  Zeit  in  Kotbestandteile  und  andere  Schmutz- 
stoffe  nicht  gleichmassig  eindringen  konne;  das  durchschnittlich  vor- 
handene  Molkereipersonal  scheine  nicht  imstande  zu  sein,  die  Erhitzung 
der  Milch  auf  einen  bestimmten  Temperaturgrad  auch  nur  annahernd 
genau  durchzufuhren  und  deshalb  sei  eine  haufige  und  eingehende 
Kontrolle  der  Molkereien  notwendig.  Das  Reichsgesetz,  betr.  die  Ab- 
wehr  und  Unterdriickung  der  Viehseuchen,  verlangt  deshalb  mit  Recht, 
dass  die  Milch  aus  Stillen,  wo  Maul-  und  Klauenseuche  herrscht,  vor 
dem  Verkauf  abgekocht,  oder  dass  sie  mindestens  ^4  Stunde  lang  auf 
mindestens  90^  C  erhitzt  werde. 

Als  Beispiel  fur  die  Unzuldnglichkeit  des  Pasteurisierens  fuhre 
ich  den  folgenden  Fall  an:  Auf  dem  schwedischen  Gute  Nasbyholm  hat 
man  zur  Erzielung  eines  tuberkelfreien  Rindviehstammes  die  isolierten 
Kalber  mit  pasteurisierter  Milch  aufgezogen;  16,67o  davon  bestanden 
die  Tuberkulinprobe  nicht.  Spater  verwendete  man  nur  Milch  die 
mindestens  15  Minuten  lang  grundlich  aufgekocht  war,  mit  dem  Ergebnis^ 
dass  dann  kaum  mehr  1®/^  auf  Tuberkulin  reagierte. 

Auch  der  weitverbreitete  Glaube,  dass  die  im  Grossbetriebe  pasteuri- 
sierte  Milch  den  Vorzug  grosserer  Haltbarkeit  habe,  beruht  nach  meinen 
Erfahrungen  auf  einem  Irrtum.  Wenn  man  es  beobachtet  hat,  so  war  dies 
mehr  auf  das  gute  Abkuhlen  zuriickzuftihren,  das  nach  dem  Erhitzen  folgt, 
als  auf  die  kurze  Hitzewirkung.  Ich  kann  deshalb  auch  nicht  der  all- 
gemeinen  Ansicht  beipflichten,  dass  die  Girungs-  und  Zersetzungserreger 
in  solcher  Milch  wesentlich  geschwScht  oder  gar  vernichtet  sind.  Soweit 
dieses  stattfindet,  erstreckt  es  sich  auf  die  gutartigen  Milchsiurebakterien ; 
diese  i^umen  den  sehr  widerstandsfihigen  und  schnellwachsenden  FSulnis-- 
bakterien  das  Feld,  die  dann  erst  recht  die  Milch  verschlechtem. 


128 


Wenn  man  daran  zuruckdenkt,  was  denn  eigentlich  zu  dem  Ruf 
nach  einer  hygienisch  besseren  Milchversorgung  gedringt  hat,  so  kommt 
man  zu  Folgendem:  Die  bisherigen  Bemuhungen  waren  von  venig  Erfolg 
gekrdnt,  weil  man  zu  viel  verlangt  und  weil  man  schwer  erfullbare 
Forderungen  nicht  auf  die  Fille  beschrMnkt  hat,  wo  sie  unbedingt  ge- 
stellt  werden  mussen.  Sieht  man  von  der  Milch  fur  Siuglinge  ab,  so 
bestehen  in  Stidten  mit  guter  Milchbeschau  nicht  wesentliche  Missstinde. 
Man  kann  nicht  verlangen,  dass  alle  Marktmilch  tadellose  Kindermilch 
sei,  aber  man  kann  verlangen,  dass  es  auch  der  weniger  bemittelten 
Mehrzahl  der  Bevolkerung  ermoglicht  werde,  ihre  Kinder  mit  tadelloser 
Kindermilch  zu  emShren.  Der  Reiche  kann  sich  zur  Ernlhrung  des 
SMuglings  die  teure  Kinder-  oder  Vorzugsmilch  aus  der  Milchkuranstalt 
zweimal  tiLglich  frisch  beschaffen,  ihre  GSrungserreger  durch  passendes 
Erhitzen  in  abgeteilten  Trinkportionen  unschadlich  machen  und  vor 
Wiederinfektion  bewahren;  er  kann  durch  Kiihistellen  der  so  behandelten 
Milch  abgeschwSchte  aber  noch  lebensflhige  Keime  am  Erwachen  ver- 
hindern  und  er  kann  durch  passende  Zusatze  und  zweckmSssige  Ver- 
dunnung  die  Kuhmilch,  soweit  dies  uberhaupt  mdglich  ist,  der  Frauen- 
milch  ihnlicher  machen.  Der  Arme  kann  dies  alles  nicht:  er  ist  auf  die 
unreinlich  gewonnene  und  schlecht  behandelte  Marktmilch  angewiesen, 
in  seinem  Hause  verdirbt  sie  noch  weiter  und  zwar  um  so  rascher,  je 
unreinlicher  die  Weiterbehandlung  ist  und  je  wSrmer  die  Milch  bis  zum 
Verbrauch  aufbewahrt  wird.  Darin  liegt  die  Hauptursache  dessen,  dass, 
wie  Prausnitz  gezeigt  hat,  von  den  SMuglingen,  die  an  Magen-  und 
Darmerkrankungen  sterben,  0^/^  auf  die  Reichen,  5%  auf  den  Mittel- 
stand  und  95^0  auf  die  Armen  und  Notleidenden  treffen.  Damit  ist 
auch  gezeigt,  wo  der  Hebel  anzusetzen  ist,  wenn  man  die  grosse  Kinder- 
sterblichkeit  bekampfen  will.  Diese  Betrachtung  lehrt  weiter,  dass  es 
mit  der  behaupteten  Nutzlosigkeit  aller  Bestrebungen  zur  Verbesserung 
der  kiinstlichen  Emahrung  keineswegs  seine  Richtigkeit  hat.  Diese 
Verbesserungen  haben  nur  deshalb  den  erhofften  Nutzen  noch  nicht 
gezeigt,  weil  sie  nur  den  Reichen  und  einem  kleinen  Teil  des  Mittel- 
standes  zugSnglich  gemacht  worden  sind.  Es  ist  andererseits  aber  auch 
nngerecht,  wenn  die  tatsacbliche  Besserung,  wenigstens  in  manchen 
Stidten  Oder  Gegenden,  nicht  anerkannt  wird.  Gegenuber  der  Periode 
1881 — 85  ist  die  S^ugiingssterblichkeit  in  der  Periode  1894—98  in  Berlin 
um  5,8,  in  Mtinchen  um  4,1  und  im  Durchschnitt  von  10  deutschen 
Stadten  um  3,3^/0  zuruckgegangen.  Von  den  Neugeborenen  sind  in  den 
letzten  Jahren  mehr  als  in  fruheren  am  Leben  geblieben,  und  von 
diesen  haben  sicherlich  nicht  wenige  ihr  Leben  den  Fortschritten  in  der 
Icunstlichen  EmShrung  zu  verdanken  gehabt. 

Eine  Stadt  mit  100000  Einwohnern  verbraucht  tiglich  330001 
Milch;  sie  hat  tSglich  4000  SMuglinge  zu  ernShren,  von  denen  die  Hilfte 
auf  kunstliche  Ernihrung  angewiesen  sein  und  15001  Milch  verbrauchen 
wird.  95^0  des  Milchverbrauchs  kdnnen  also,  wie  die  Erfahrung  gezeigt 
hat,  ohne  Nachteil  fur  Ernlhrung  und  Gesundheit  in  der  bisherigen 
Weise  produziert  und  verkauft  werden;  dann  kann  man  al  e  Vorsicht 


^    129  ^ 


und  die  ganze  Strenge  der  Lebensmittelaufsicht  nur  auf  das  eine 
Zwanzigstel,  die  Kindermilch,  konzentrieren;  dann  sind  auch  die  strengsten 
Forderungen  erfiillbar,  die  an  die  Gesundheit  der  Tiere,  an  die  Gesund- 
heit  der  mit  der  Milch  in  Beruhrung  kommenden  Personen,  an  die 
zweckmissige  Fattening  der  Kuhe,  an  die  Reinlichkeit  bei  der  Gewinnung 
nnd  an  die  Frischerhaltung  der  Milch  gestellt  werden  miissen.  In  einer 
Verhandlang  des  niederrheinischen  Vereins  fiir  dffentliche  Gesundheits- 
pRege  fiber  diesen  Gegenstand  hat  der  sehr  verdienstreiche  Bericht- 
erstatter,  Dr.  Paffenholz  in  Dtisseldorf,  empfohlen,  es  sollten  die  StMdte- 
verwaltungen  selbst  die  ganze  Kindermilchproduktion  ubemehmen.  Diesem 
Vorschlage  kann  ich  mich  nicht  anschliessen,  weil  ich  es  fur  besser 
halte,  dass  die  Behdrde  scharfe  Aufsicht  fiihrt,  als  dass  sie  selber  melkt, 
ausmistet  und  die  Kiihe  striegelt.  Aber  die  Stidteverwaltungen  werden 
sich  nicht  langer  ihrer  Pflicht  entziehen  kdnnen,  die  Versorgung  der 
Minderbemittelten  und  Armen  mit  guter  Kindermilch  in  ihr  Programm 
der  dfFentlichen  Wohlfahrtspflege  aufzunehmen,  und  sie  werden  nicht 
linger  zusehen  diirfen,  wie  die  Kinder  der  Unbemittelten  und  Airmen 
der  Gefahr  einer  schidlichen  Nahrung  schutzlos  preisgegeben  sind. 
Dabei  handelt  es  sich  nicht  nur  urn  die  Herabminderung  der  Sterblich- 
keitsziffer,  sondem  auch  urn  die  Verhinderung  spSteren  Siechtums.  Die 
Stidte,  die  zur  Gesunderhaltung  ihrer  Bewohner  mit  Recht  Riesensummen 
fur  Kanalisation  und  Beschaffung  von  gutem  Trinkwasser  aufwenden, 
mussen  auch  die  Mittel  finden,  den  SSuglingen  der  Armen  gute  Kuhmilch 
zu  verschaffen.  Dem  Bedarf  der  Wohlhabenden  genugen  die  sogenannten 
Milchkuranstalten  und  fur  die  Minderbemittelten  und  Armen  werden  sich 
in  der  NShe  der  Stadte  genug  grdssere  Stallungen  finden  lassen,  die  fiir  den 
Zweck  passend  eingerichtet  werden  konnen  und  wo  unter  standiger  Auf- 
sicht und  nach  bestimmten  Vorschriften  Kindermilch  erzeugt  werden  kann. 

Damit  ist  aber  freilich  die  ganze  Aufgabe  der  dffentlichen  Fiir- 
sorge  fiir  die  SauglingsernHhrung  nicht  erschopft.  Auch  die  beste 
Kindermilch  wird  in  den  Wohnungen  der  Armen  zu  gSrendem  Drachen- 
gift,  weil  sie  dort  unreinlich  behandelt  und  in  der  Warme  aufbewahrt 
wird.  Da  wo  man  die  Armut  riecht,  gibt  es  keine  Milch-Aseptik.  Die 
Meinung  der  Sachverstindigen  geht  fast  einstimmig  dahin,  dass  bei  der 
Bekampfung  der  Sommerdiarrhden  es  vor  allem  darauf  ankommt,  die 
schSdliche  Einwirkung  der  hohen  Sommerwarme  auf  die  Nahrung  zu 
verhindem.  Dies  und  der  Ausschluss  jeder  Verunreinigung  kann  nur 
dadurch  erzielt  werden,  dass  den  Minderbemittelten  sterilisierte  Kinder- 
milch in  verschlossenen  Flaschen  und  abgeteilt  in  Trinkportionen  ge- 
liefert  wird.  Diese  Forderung  hat  bereits  im  vorigen  Jahre  der  nieder- 
rheinische  Verein  fur  ofTentliche  Gesundheitspflege  gestellt  und  wohl 
einer  unserer  ersten  AutoritMten  unter  den  Kinderarzten,  Geheimrat 
Heubner  in  Berlin,  hat  in  seinem  Vortrage  bei  der  Hamburger  Aus- 
stellung  im  Mai  1903  ausgerufen:  ^Wiire  es  nur  moglich,  gerade  das 
Soxhlet-Verfahren  der  minder  giinstig  gestellten  MajoritMt  der  Be- 
volkerung  zugSnglich  zu  machen,  fur  deren  Kinder  es  ganz  besonders 
BOtig  wMre!** 

S&ddeutscbe  Monttshcfte.   1,3.  9 


130 


Die  Bewegung  fur  diese  Art  von  SMuglingsftirsorge  geht  von  Frank- 
reich  aus,  dem  Lande  mit  seiner  bedenklich  niedrigen  Geburtenziffer. 
Anstatt  auf  die  Wirkung  der  F6condit6  Zolas  zu  warten,  bekimpft  es 
schon  seit  IMnger  als  zehn  Jahren  die  SSuglingssterblichkeit  durch  seine 
fiber  das  ganze  Land  verbreiteten  „Milchtropfen*  —  ^gouttes  de  lait*  — 
und  durch  seine  Laiteries  philanthropiques,  die  sterilisierte  Milch  in 
Mahlzeitsportionen  zu  billigem  Preise  oder  an  Arme  kostenfrei  abgeben. 
In  England  haben  die  StSdteverwaltungen  gleiche  Einrichtungen  mit  ihren 
,  Infant  Milk  Depots getroifen,  so  St.  Helens,  Ashton  under  Lyne,  Leith 
(Schottland),  Liverpool  and  der  Londoner  Bezirk  Battersea.  Auch  in 
Schweden  sind  seit  zwei  Jahren  von  Vereinen  ^Milchtropfen**  ins  Leben 
gerufen  worden,  zuerst  in  Stockholm,  dann  in  Gotenburg,  Malmo  und 
Norrkdping.  Nebenbei  bemerkt  sind  zur  Bekimpfung  des  Missbrauchs 
geistiger  GetrSnke  in  Stockholm  sieben  Warmmilchautomaten  auf  ofFent- 
lichen  PlStzen  aufgestellt,  die  fur  5  ^2  Pfennig  einen  Becher  —  7*  I^it^r  — 
warme  Milch  liefem;  im  Winter  1903  wurden  diesen  Automaten  70000 
Becher  Milch  entnommen. 

In  Deutschland,  im  Lande  der  grossen  Kindersterblichkeit,  hat  merk- 
wurdigerweise  das  Beispiel  anderer  LInder  noch  keine  Nachahmung  ge- 
funden,*)  auch  nicht  in  Bayern,  das  unter  alien  Bundesstaaten  neben 
Sachsen  die  grosste  Kindersterblichkeit  hat,  und  dessen  StMdte  Regens- 
burg  und  Ingolstadt  in  diesem  Punkte  auch  alle  ausserdeutschen  Stadte 
weit  tiberragen.  Es  ist  ein  dringendes  Gebot  der  offentlichen  Gesundheits- 
pflege,  der  Humanitat  und  auch  das  einer  gesunden  Sozialpolitik,  dass 
man  in  Deutschland  endlich  einmal  mit  der  Bek^mpfung  eines  schlimmen 
Volksubels  anfange  und  sich  dazu  eines  Mittels  bediene,  dessen  Wirk- 
samkeit  einleuchten  muss  und  das  sich  tatsachlich  in  andem  Lindem 
auch  als  wirksam  erwiesen  hat.  Die  zu  errichtenden  Kindermilch-Anstalten 
sollen  keine  Wohltdtigkeits-,  sondern  dffentliche  Wohlfahrtsanstalten  sein, 
and  sie  sollen  von  den  Stadteverwaltungen  errichtet  werden.  Die  Anstalt 
soil  aus  Staliungen  grosserer  Guter  in  der  NMhe  der  Stadt  Kindermilch 
beziehen,  die  nach  ihrer  hygienischen  Beschaffenheit  mindestens  der  einer 
gut  geleiteten  Milchkuranstalt  gleichkommt.  In  der  Anstalt  ist  die  Milch 
nach  Srztlicher  Vorschrift  passend  zu  verdunnen,  mit  geeigneten  ZusStzen 
zu  versehen  und,  in  Mahlzeitsportionen  abgeteilt,  zu  sterilisieren.  Die 
Abgabe  muss  an  mdglichst  viel  Stellen  der  Stadt  erfolgen.  Der  Verkaufs- 
preis  soil  nach  den  Erwerbsverhdltnissen  der  Abnehmer  bemessen  werden. 
Arbeiterfamilien  soil  die  Milch  zum  Preise  gewdhnlicher  Marktmilch, 
Armen  noch  billiger  oder  auch  umsonst  geliefert  werden. 

Da  voraussichtlich  und  leider  die  Einrichtung  anfangs  in  den  Kreisen, 
fur  die  sie  bestimmt  ist,  nicht  voiles  Verstindnis  finden  wird,  so  kann 
zundchst  mit  kleineren  Mitteln  ein  Anfang  gemacht  werden,  und  an  die 
sicherlich  langsam  steigenden  Ausgaben  wird  sich  der  StadtsMckel  ohne 

*)  In  Hamburg  ist,  wie  mir  der  Vorstand  des  Medizinalamts  mitteilt,  kiirzlich 
bei  der  Patriotischen  Gesellschaft  eine  Kommission  gebildet  worden,  die  die  Ein- 
richtung von  ^Kinder-Milchkiiehen*  fur  die  irmere  Bevdlkerung  in  die  Hand 
genommen  hat 


131  ^ 


allzugrosse  Beschwerden  gewohnen.  Solchen  Einrichtungen  ist,  wie  schon 
besprochen,  der  Vorwurf  gemacht  worden,  dass  sie  der  iiberhand  nehmenden 
Volksunsitte  des  Nichtstillens  nur  Vorschub  leisten.  Das  soli  verhindert 
werden.  In  Paris  wirken  dem  Missbrauch  der  gouttes  de  lait  die  con- 
sultations de  noorrissons  entgegen,  die  an  die  maternit6s  angegliedert 
sind.  Da  vir  in  Deutschland  Anstalten  wie  die  maternit6s  nicht  haben, 
so  werden  die  Polykliniken  und  Sluglingsheime  Oder  freie  Arzte-Ver- 
einigungen  als  Beratungsorgane  unbemittelter  Mutter  dafiir  zu  sorgen 
baben,  dass  die  natiirlicbe  Emlihrung  nicht  von  der  ktinstlichen  durch 
Leichtfertigkeit  oder  Unwissenheit  verdrMngt  werde.  Denn  daruber  kann 
nicht  der  leiseste  Zweifel  bestehen,  dass  die  kunstliche  EmShrung  nur 
ein  unvollkommenes  Ersatzmittel  der  natiirlichen  ist  und  fur  alle  Ewig- 
keit  bleiben  wird. 

Ich  schliesse  mit  dem  Ausspruch,  den  ich  daruber  in  einem  Vortrage 
im  Hamburger  irztlichen  Verein  gemacht  babe:  Die  Mutterbrust  liefert 
allezeit  in  richtiger  Zusammensetzung,  in  richtiger  Konzentration,  in 
richtiger  Menge  und  von  richtiger  Temperatur  dem  SSuglinge  die  Nahrung, 
frisch,  unzersetzt  und  nicht  verunreinigt  und,  was  die  Hauptsache  ist, 
nichts  kann  an  dieser  EmShrungsart  —  der  menschliche  Aberwitz  ver- 
schlechteml 


Ober  Buddhismu^  reden  und  schreiben  ist  llngst  bessere  Mode 
geworden.  Tausend  Bticher  und  Broschuren  haben  den  Gegenstand 
immer  populSrer  gemacht:  so  popular,  dass  wir  schon  ein  dutzend 
Bunnenwerke  haben  ein  Steeple-chase  laufen  sehn,  wo  der  Weltschmerz 
des  kdniglichen  Prinzen  und  nachmaligen  Heiligen  und  Reformators 
paisifalistisch  schwergewichtet  zum  Ziele  gebracht  werden  sollte,  und 
der  ginzliche  Mangel  historischen  und  pragmatischen  Ballastes  iiberidies 
gestatten  konnte  melodramatisches  Milieu  mit  Tanzeinlage,  Lotusweiher- 
dekoration,  prachtvollem  elektrischen  Gluhlicht  nebst  anderen  dergleichen 
stilvollen  Dingen  noch  mitzufiihren.  Hatte  doch  der  Meister  der  modemen 
Tragodie,  Richard  Wagner,  schon  vor  einem  halben  Jahrhundert  dieSkizze  zu 
einem  solchen  Drama,  freilich  genial  konzipiert,  entworfen.  Dass  er  sie 


Das  buddhistische 


Von  Karl  Eugen  Neumann  in  Wien. 


I.  Propadeutischer  Prodromus. 


HHg    132  8^ 


spiter  beiseite  gelegt,  schreckte  die  kuhnen  Nachfolger  keineswegs  ab: 
sie  konnten  ja  nun  aus  eigenem  den  so  dankbaren  Stoff  effektvoll  be- 
arbeiten.  Hatte  auch  Richard  Wagner  in  jener  Skizze  alles  bloss 
Historische  vdllig  ausgeschieden  um  nur  das  innig  Verstindliche  auf 
der  BOhne  vorzuftihren,  also  den  Buddhismus  etwa  so  darstellen  wollen, 
wie  er  im  Parsifal  das  Christentnm  darstellt,  so  war  man  inzwischen 
uber  solche  ktinstlerische  Beschrinkung  and  Einfalt  mutig  hinweggekommen 
und  liess  nun  das  Leben  des  Buddha  in  einer  Reihe  sinnvoller  Akte 
an  uns  vorbeiziehn,  als  gelangweilter  Prinz,  als  glucklicher  Familien- 
vater  and  endlich  als  predigender  Prophet  mit  Schlussapotheose:  gleich- 
sam  wie  ein  erbauliches  Gegenstuck  zu  Werken  einer  vergangenen 
Epoche,  etwa  den  drei  Tagen  aus  dem  Leben  eines  Taugenichts,  u.  s.  w. 

Diese  dramatischen  Schopfungen  haben  ohne  Zweifel  dazu  bet- 
getragen  den  Buddhismus  noch  populirer  zu  machen.  Zu  bedauem 
bleibt  dabei  nur,  dass  eine  solche  Art  von  Vulgarisierung  ein  Bild  ge- 
schafFen,  das  dem  antiken  so  ahnlich  sieht  wie  etwa  Offenbachs  Schone 
Helena  der  des  Homer,  oder  der  Wilamowitzische  Herakles  dem  des 
Euripides;  wobei  allerdings  die  Parodie  eine  ungewollte,  durchaus  naive 
geworden. 

Freilich  haben  verdienstvoUe  Forscher  in  den  letzten  Jahren  viel 
getan  um  uns  buddhistische  Art  in  einem  anderen,  helleren,  heimischen 
Lichte  erscheinen  zu  lassen.  Aber  Geiehrte  bleiben  in  der  Regel 
Gelehrte.  Auch  sie  gehn  mit  ihrer  Zeit,  geben  sich  oft  die  Alluren 
des  Handikappers,  behandeln  den  Stoff  wie  er  ihnen  passt  und  gefSllty 
kritisieren  wo  es  gilt  nachzudenken  und  zu  verstehn;  und  wo  die  alten 
Denkmale  ein  Kiinstlerauge  verlangen  um  erklSrt  zu  werden,  da  be- 
trachten  sie  sie  mit  der  Brille  vorgefasster  Begriffe.  Auch  diese  Manier 
den  Buddhismus  zu  behandeln  ist  hinldnglich  bekannt.  Hatten  wir 
vorhin  eine  Offenbachische  Parodie,  so  haben  wir  hier  eine  Travestie 
k  la  Max  MCiller  wiederzuerkennen. 

Wer  kann  da  wohl  den  Buddhismus  richtig  darstellen?  Das  wird 
einmal  einer  konnen,  der  ein  Kiinstler  ist  und  als  solcher  an  dieses 
merkwiirdige  Denkmal  herantritt:  also,  mit  Schopenhauer  zu  reden, 
hubsch  wartet  bis  er  von  ihm  angesprochen  wird,  und  nicht  gleich 
selber  damit  beginnt. 

Sehn  wir  uns  einmal  bei  bekannteren  Dingen  um.  Glaubt  irgend 
ein  Verstandiger,  dass  uns  das  Christentum  durch  salonflhige  Renan- 
iaden  oder  Hamackische  enzyklopMdische  WMlzer  wieder  n&her  gebracht 
sei?  Oder  merkt  er  nicht  auf  den  ersten  Blick  wie  unendlich  tiefere 
Auf^chltisse  uns  etwa  aus  den  Propheten,  Sibyllen  und  Bussem 
Michelangelos  entgegenleuchten,  Aufechlusse  iiber  den  eigentlichen 
Inhalt  des  Christentums?  Meint  jemand  im  Ernste,  dass  z.  B.  Chamberlains 
Grundlagen  des  XIX.  Jahrhunderts  —  del  fortunato  secolo  in  cui  siamo, 
wie  Leopardi  es  pries  —  das  Christentum  erst  neu  beleben  miissen, 
wo  ein  einziger  Blick  auf  die  Gestalten  Correggios  lehrt,  dass  das  echte 
Christentum  nie  aufgehdrt  hat  zu  leben  und  zu  leuchten:  so  lange 
nimlich  Augen  da  sind  seinen  Geist  zu  sehn.    Oder  meint  irgend  ein 


133  8^ 


anderer,  dass  die  susslichen  Mucker-  and  Duckergestalten  Uhdes  un$ 
mehr  Christentam  zu  geben  venn5chten  als  die  Christustragodien  des 
mivergleichlichen  Rembrandt?  Hier  also,  urn  nur  eine  Gattung  als 
Beispiel  zu  wihlen,  bei  solchen  Kunstlem  haben  wir  den  Geist  und 
die  Gdtter  des  Christentums  nicht  vergeblich  zu  suchen,  finden  sie 
jeden  Augenblick  allgegenwirtig. 

Wie  aber  eben  alle  echten  Kunstwerke  doch  nur  fur  sehr,  sehr 
wenige  vorhanden  sind,  und  ftir  die  vielen  immer  nur  die  Marktware 
dafur  gilt,  so  wird  aucb  nur  fiir  sehr,  sehr  wenige  die  Kunst  des 
Buddhism  us  sichtbar  werden  konnen.  Ftir  die  vielen,  wenn  sie  wohl- 
wollend  sind,  sind  Kompendien,  Traktate,  Katechismen  usw.  da;  und  wenn 
sie  ubelwollend  sind,  Orden  und  Akademien:  fur  jene  wenigen  aber  die 
Monumente  selbst,  die  alten,  uns  erhaltenen  Urkunden.  In  diesen 
Urkunden  mag  einst  der  KUnstler  blittem  und  weiterblSttem  und 
erstaunen  iiber  den  Inhalt,  erstaunen  fiber  die  Form,  erstaunen  uber 
die  Gleichnisse,  die  er  da  antrifft,  Bilder  des  Lebens  wie  sie  nur  eine 
urkraftig  ursprungliche  Kunst  darzustellen  vermag.  Nicht  drei  Tage 
Oder  drei  Jahre  aus  dem  Leben  eines  Propheten  oder  Wahrsagers  oder 
dergleichen  wird  er  da  vorfinden:  grosse  und  gewaltige  Gemilde  wird 
er  erblicken,  die  in  unverloschlichen  Farben  vor  seinem  Auge  sich  beleben. 
Keine  Histdrchen  und  Mirchen  und  Makarismen  wird  er  zu  lesen 
bekommen,  aber  Bilder  werden  sich  ihm  erschliessen  wie  sie  michtiger 
und  schoner  kaum  je  gemalt  sind.  Keine  Predigten  wird  er  vemehmen, 
fur  schwache  Stunden  und  Gemiiter,  aber  Gesprache  fur  starke  Geister 
wie  sie  auch  beim  Gastmahl  des  Plato  nicht  heiterer  gefuhrt  wurden. 
Keine  Drohungen  und  Verheissungen  wird  er  horen,  aber  Gedanken 
immer  feiner  und  kdstlicher  verstehn  lemen  wie  sie  jenen  stillen 
Denkem  erschienen,  als  sie  das  bunte  Schauspiel  der  Welt  betrachteten 
und  wie  sich  selber  zum  Spiele  IMchelnd  noch  aussprechen  mochten; 
Abzeichen  und  Stempel  von  Kunstlem  wird  er  entdecken,  die  ihm  eine 
reiche  Welt  ewiger  Gestalten,  erhaben  und  leicht  wie  sonnige  Vogel, 
Oder  auch  hdllisch  and  wuchtig  wie  nichtige  Ungeheuer,  vor  Augen 
fuhren.  Dann  wird  er  das  Buch  schliessen  und  hingehn  unter  freien 
Himmel:  und  erst  dann  wird  jene  IMngst  verwichene  Vorzeit  beginnen 
in  ihm  zu  erwachen,  wieder  zu  leben  und  zu  zeugen,  unbegreiflich  hohe 
Werke,  so  herrlich  wie  am  ersten  Tag. 

Das  wird  nun  gewiss  manchem  wie  ein  Hexeneinmaleins  klingen. 
Kunst,  herrliche  Werke  —  und  Buddhism  us,  Pessimismus:  wie  reimt 
sich  das?  Eine  pessimistische  Kunst  wire  ja  hdlzemes  Eisen.  Die 
Kunst  kann  doch  immer  nur  das  wirkliche  Leben  anschauen  und  dar- 
stellen,  also  bejahen:  eine  pessimistische  Kunst  hobe  sich  selber  auf. 
Der  Buddhismus  aber  geht  doch  darauf  aus  die  Welt  zu  vemeinen,  wie 
das  langst  alle  Spatzen  und  Tauben  von  den  Ddchern  zwitschem  und 
gurgeln.  Freilich,  der  Begriff  Welt  enthSlt  mancherlei  und  ist  ein  viel- 
deutiges  Ding.  Man  darf  also  wohl  billig  einmal  die  Frage  aufwerfen, 
was  denn  der  Buddhismus,  oder  sagen  wir  lieber  genauer:  was  Gotamo 
mit  seiner  pessimistischen  Weltansicht  gemeint  haben  mag.    Wenn  wir 


134 


den  Gedanken,  die  nns  die  Urkunden  darbieten,  trauen  durfen,  zeigt  es 
sich,  dass  die  Welt  da  niemals  als  eine  gegebene  Grosse  betrachtet 
wird,  die  bestimmt  sei  in  Leiden  zu  beharren :  denn  das  ware  der  rechte 
Ausdruck  des  Pessimismus.  Gotamo  dagegen  legt  nichts  anderes  als  die 
Relativitit  aller  Dinge  dar.  Das  Leiden  ist  immer  nur  relativ  vorhanden, 
nie  absolut.  Das  ist  der  Sinn  jener  spezifischen  Lehre  Gotamos  von 
der  Entstehung  aus  Ursachen.  Leiden  besteht  solange  als  die  Be- 
dingungen  zum  Leiden  da  sind.  Wo  diese  Bedingungen  aufgehoben 
sind,  ist  auch  das  Leiden  aufgehoben.  Wo  wire  da  noch  ein  richtiger 
Platz  fur  den  Pessimismus?  Vielmehr  kdnnte  es  scheinen  als  ob  nun 
einem  unbeschHLnkten  Optimismus  zugesteuert  wiirde.  Bei  nSherem  Zu- 
sehn  zeigt  es  sich  aber,  dass  Gotamo  beide  Extreme  vollkommen  ge- 
kreuzt  hat:  nicht  etwa  um  in  der  goldenen  Mittelstrasse  zu  landen, 
sondem  in  heiligem  Emste  jenseit  von  Gut  und  Bose.  Kunftigen 
Forschem  mag  es  vorbehalten  bleiben  Untersuchungen  anzustellen,  in- 
wieweit  Nietzsche  sich  diese  letzten  und  subtilsten  Gedankenreihen 
Gotamos  zu  eigen  gemacht,  allerdings  in  einem  mehr  traumhaft  phan- 
tastischen  als  deutlich  bestimmten  Sinne:  fur  uns  kommen  jetzt  nur 
jene  alten  Urkunden  in  Betracht,  wo  wir  den  Standpunkt  zum  erstenmal 
eingenommen  sehn.  Die  Entstehung  aus  Ursachen  ist  aufgehoben,  die 
Mdglichkeit  des  Leidens  somit  weggefallen,  Gut  und  Bose  iiberwunden. 
Was  bleibt  iibrig?  Giuck,  Seligkeit?  Gewiss  nicht,  das  wfire  ja  gut. 
Obel?  Viel  weniger,  das  wire  ja  bose.  Stoische  Apathie?  Nein,  denn 
das  wSre  Stumpfheit.  Man  ist  hier  wirklich  versucht,  das  reine  Subjekt 
des  Erkennens  Schopenhauers  zur  Erklirung  heranzuziehn  und  zu 
sagen,  der  Zustand  jenseit  von  Gut  und  B5se  sei  die  Verwirklichung 
des  lichelnden  Weltauges.  Offenbar  in  diesem  Sinne  haben  denn  auch 
die  Jiinger  und  Zeitgenossen  Gotamos  diesem  den  Titel  »Auge  der 
Welf*  beigelegt:  wohl  zu  unterscheiden  von  dem,  doch  nur  praktischen 
Interessen  (Himmel,  Holle  usw.)  dienenden,  »Licht  der  Welt""  des 
Evangelisten.  Vollkommen  frei  von  der  Absicht,  irgend  einem  Zwecke 
zu  dienen,  kennt  Gotamo  auf  solcher  Hohe  keinerlei  Kausalitit  mehr; 
jede  Bedingung,  jede  Beziehung  nach  oben  oder  unten  ist  abgeschnitten. 
„Der  Denker,  der  stille,''  heisst  es  dann,  ^entsteht  nicht,  vergeht  nicht, 
erstirbt  nicht,  erbebt  nicht,  verlangt  nicht.  Das  eben  gibt's  nicht  bei 
ihm,  dass  er  entstande;  weil  er  nicht  entsteht,  wie  sollt'  er  vergehn? 
weil  er  nicht  vergeht,  wie  sollt'  er  ersterben?  weil  er  nicht  erstirbt, 
wie  sollt'  er  erbeben?  weil  er  nicht  erbebt,  wonach  sollt'  er  verlangen?* 
—  Oder  an  einer  anderen  Stelle:  „Eingepflanzt  erzittert  man:  nicht  ein- 
gepfianzt  erzittert  man  nicht;  erzittert  man  nicht,  ist  man  still:  still  ge- 
worden  neigt  man  sich  nicht;  neigt  man  sich  nicht,  kommt  man  und 
geht  man  nicht:  kommt  man  und  geht  man  nicht,  erscheint  und  ver- 
schwindet  man  nicht;  erscheint  und  verschwindet  man  nicht,  gibt 
es  kein  Huben  und  kein  Druben  noch  inmitten  sein:  es  ist  eben 
das  Ende  vom  Leiden."  —  Oder  wiederum:  «Mehr  und  mehr  mag 
der  Monch  Obacht  uben,  dass  ihm  da  wie  er  Obacht  tibt  nach  aussen 
das  Bewusstsein  nicht  zerstreut,  nicht  zerfahren  werde,  innen  nicht  zu- 


-6-8    135  8^ 


stindig,  ohne  anzuhangen  unerschutterlich  sei;  ist  nach  aussen  das 
Bewusstsein  nicht  zerstreut,  nicht  zerfahren,  innen  nicht  zustdndig, 
wird  man  ohne  anzuhangen  unerschiitterlich  ein  Entstehn  und  Hervor- 
gebn  von  Geburt  und  Alter,  Tod  und  Leiden  kunftig  nicht  mehr  finden.*^ 
Man  merkt,  denke  ich,  wie  hier  iiber  die  heilige  Wahrheit  vom 
Leiden  fern  hinausgewiesen,  wie  der  Pessimismus  in  sich  zerf9ilt  und 
verschwindet.  Eine  weite  Aussicht  eroffhet  sich,  eine  weite  Ode,  einst- 
weilen;  aber  man  erkennt  allmlhlich  die  Umrisse  eines  langen  Weges, 
der  nun  beschritten  wird,  der  genau  und  genauer  gekennzeichnet  wird, 
Schritt  um  Schritt.  Dieses  allmihiiche  Fortschreiten  ist  dann  oft  wie 
eine  ideeile  Reiseroute  mit  grosster  Sorgfalt  geschildert;  wie  etwa  in 
der  Stelle:  »Da  hat  ein  Monch  den  Gedanken  ,Wald^  entlassen,  den 
Gedanken  ,Erde^  entlassen;  den  Gedanken  ,Unbegrenzte  Raumsphare^ 
nimmt  er  auf  als  einzigen  Gegenstand.  Im  Gedanken  ,Unbegrenzte 
Raumsphire^  erhebt  sich  ihm  das  Herz,  erheitert  sich,  beschwichtigt 
sich,  beruhigt  sich.  Also  erkennt  er:  ^Spaltungen,  die  aus  dem  Ge- 
danken ,Wald^  entstanden,  die  gibt  es  da  nicht,  Spaltungen,  die  aus  dem 
Gedanken  ,Erde^  entstdnden,  die  gibt  es  da  nicht;  und  nur  eine  Spaltung 
ist  iibrig  geblieben,  nimlich  der  Gedanke  ,Unbegrenzte  RaumsphMre^  als 
einziger  Gegenstand. Er  weiss:  ^Armer  geworden  ist  diese  Denkart  um 
den  Gedanken  ,Wald^",  weiss:  .Armer  geworden  ist  diese  Denkart  um 
den  Gedanken  ,Erde*;  und  nur  einen  Reichtum  weist  sie  auf  am  Ge- 
danken ,Unbegrenzte  Raumsphare^  als  einzigen  Gegenstand.  Um  was 
denn  also  weniger  da  ist,  darum  armer  geworden  sieht  er  es  an;  und 
was  da  noch  ubrig  geblieben  ist,  davon  weiss  er:  „Bleibt  dieses,  bleibt 
jenes.*  Also  aber  kommt  diese  wahrhafte,  unverbrtichliche,  durchaus 
reine  Armut  iiber  ihn  herab.«  —  Es  ist  ein  Aufsteigen  zu  immer 
hdheren  Sphiren,  aber  ohne  jede  Mystik  anschaulich  vorgestellt,  klar 
und  bestimmt.  Oder  wieder  an  einer  anderen  Stelle  wird  uns  sozu- 
sagen  das  physiologische  Wachstum  und  die  Entwicklung  des  inneren 
Menschen  wie  mit  Handen  zu  greifen  vor  Augen  gefuhrt:  „Zu  einer 
Zeit  wo  der  Monch  beim  Korper  iiber  den  Korper  wacht,  unermtidlich, 
klaren  Sinnes,  einsichtig,  nach  Verwindung  weltlichen  Begehrens  und 
Bekummems,  gewMrtig  hat  er  zu  einer  solchen  Zeit  die  Einsicht,  un- 
vernickbar;  zu  einer  Zeit  wo  der  Mdnch  die  Einsicht  gewSrtig  hat, 
unvernickbar,  der  Einsicht  Erweckung  hat  er  zu  dieser  Zeit  erwirkt, 
der  Einsicht  Erweckung  vollbringt  er  da,  der  Einsicht  Erweckung  wird 
da  von  ihm  zur  Vollendung  gebracht.  Also  besonnen  weilend  zerlegt 
er  weise  den  Sinn,  zerteilt  ihn,  dringt  in  seine  Tiefe  ein;  zu  einer  Zeit 
wo  der  Mdnch  also  besonnen  weilend  weise  den  Sinn  zerlegt,  ihn  zer- 
teilt, in  seine  Tiefe  eindringt,  des  Tiefsinns  Erweckung  hat  er  zu  dieser 
Zeit  erwirkt,  des  Tiefsinns  Erweckung  vollbringt  er  da,  des  Tiefsinns 
Erweckung  wird  da  von  ihm  zur  Vollendung  gebracht.  Also  den  Sinn 
weise  zerlegend,  ihn  zerteilend,  in  seine  Tiefe  eindringend  erwirkt  er 
Kraft,  unbeugsame;  zu  einer  Zeit  wo  der  Mdnch  also  den  Sinn  weise 
zerlegend,  ihn  zerteilend,  in  seine  Tiefe  eindringend  Kraft  erwirkt,  un- 
beugsame, der  Kraft  Erweckung  hat  er  zu  dieser  Zeit  erwirkt,  der  Kraft 


136 


Erweckung  vollbringt  er  da,  der  Kraft  Erweckung  wird  da  von  ihm  zur 
Vollendung  gebracht.  Hat  er  Kraft  erwirkt,  erhebt  sich  in  ihm  eine 
iiberweltliche  Heiterkeit;  zu  einer  Zeit  wo  der  Monch  Kraft  erwirkt 
hat  and  in  ihm  eine  iiberweltliche  Heiterkeit  aufgeht,  der  Heiterkeit 
Erweckung  hat  er  zu  dieser  Zeit  erwirkt,  der  Heiterkeit  Erweckung 
vollbringt  er  da,  der  Heiterkeit  Erweckung  wird  da  von  ihm  zur  Vollen- 
dung gebracht.  Hat  er  Heiterkeit  im  Herzen,  wird  er  lind  im  Leibe, 
Hnd  im  Gemiite;  zu  einer  Zeit  wo  der  Monch  Heiterkeit  im  Herzen 
hat  und  lind  im  Leibe,  lind  im  Gemute  wird,  der  Lindheit  Erweckung 
hat  er  zu  dieser  Zeit  erwirkt,  der  Lindheit  Erweckung  vollbringt  er  da, 
der  Lindheit  Erweckung  wird  da  von  ihm  zur  Vollendung  gebracht. 
Hat  er  selig  den  Leib  gelindert,  wird  ihm  das  Gemiit  einig;  zu  einer 
Zeit  wo  der  Mdnch  selig  den  Leib  gelindert  hat  und  das  Gemut  ihm 
einig  wird,  der  Innigkeit  Erweckung  hat  er  zu  dieser  Zeit  erwirkt,  der 
Innigkeit  Erweckung  vollbringt  er  da,  der  Innigkeit  Erweckung  wird  da 
von  ihm  zur  Vollendung  gebracht.  Also  einig  geworden  im  Gemiite 
hat  er  es  wohl  ausgeglichen ;  zu  einer  Zeit  wo  der  Monch  also  einig 
geworden  im  Gemiite  es  wohl  ausgeglichen  hat,  des  Gleichmuts  Er- 
weckung hat  er  zu  dieser  Zeit  erwirkt,  des  Gleichmuts  Erweckung  voll- 
bringt er  da,  des  Gleichmuts  Erweckung  wird  da  von  ihm  zur  Vollen- 
dung gebracht. 

Solche  Streiflichter  auf  eine  und  die  andere  Stelle  der  Urkunden 
lassen  nun  freilich  nicht  erkennen,  was  denn  der  Buddhismus  eigentlich 
mit  der  Kunst  zu  schaffen  habe:  sie  gewShren  nur  einen  fliichtigen 
Blick  auf  die  Hohe  seiner  Weltanschauung  und  zeigen  diese  wohl  so 
ziemlich  frei  von  weltschmerzlerischen  Wolkengebilden.  Die  gestaltende 
Schopferkraft  des  Buddhismus  findet  man  in  seinen  Gleichnissen,  in 
seiner  Schilderung  des  taglichen  Lebens  in  all  den  so  unendlich 
mannigfaltigen  und  verschieden  gearteten  Erscheinungen.  Und  auch 
da  ist  er  ebensowenig  pessimistisch  wie  jeder  andere  bildende 
Kiinstler.  Hochste  Anschaulichkeit,  frei  von  hineingetragener  Manier, 
ist  das  ZieU  das  er  da  erstrebt  und  erreicht  hat,  so  vollkommen  wie 
einst  Lysippos  oder  in  unseren  Tagen  Meunier.  Kein  Pessimismus 
und  kein  Optimismus,  Wahrheit  spricht  da  zu  uns  —  nicht  das  alte 
Weib  Nietzsches,  sondem  jene  immer  relative  Wirklichkeit,  die  kurz 
das  Leben  geheissen  wird.  Wer  da  aus  der  Ftille  seiner  Kraft  unmittel- 
bar  ansprechende  Gebilde  hinzustellen  vermag,  Jder  ist  eben  der  echte 
Kiinstler,  ob  er  nun  mit  Meissel  oder  Pinsel  oder  Worten  jwirke.  Diese 
Kunst  zeigt  sich  also  bei  Gotamo  in  den  Gleichnissen,  die  er  gibt,  sei 
es  dass  er  Landschaften  schildere  wie  Ruisdael,  dass  er  Anatomien  male 
wie  Rembrandt,  oder  dass  er  Schlachten  entrolle  wie  Salvator  Rosa,  oder 
aber  uns  Gesichter  ofFenbare  wie  Luini  und  Leonardo.  Aus  den  mehr 
als  dreihundert  Gemdlden  der  Galerie,  die  mir  zur  Verfiigung  stehn, 
bei  welcher  alle  menschlichen  und  irdischen  Dinge  und  VerhMltnisse, 
vom  Kdnig  bis  zur  Magd,  vom  Helden  bis  zur  Buhlerin,  vom  Elefanten 
bis  zum  Wurme,  vom  Himalayo  bis  zum  Sandkom,  vom  Ganges  bis 
zum  Meere  und  allumfassenden  Ozean,  und  wieder  von  den  Wundem 


137 


der  Tiefe  bis  zum  giitzernden  Tautropfen  an  uns  voriiberziehn,  aus  dieser 
reichen  Sammlung,  deren  wohlerhaltene  Tafeln  mit  unzerstdrbaren  Farben, 
noch  besseren  als  sie  selbst  die  Kdlner  Meister  kannten,  gemalt  sind, 
greife  ich  zum  Schlusse  nur  eines  der  Stucke  als  Beispiel  heraus,  das 
Gleichnis  vom  Rennpferd,  das  sich  zwar  durch  keine  besondere  Pracht- 
entfaltung  and  keines  der  zarteren  Lichter  auszeichnet,  aber  so  frisch 
wie  vor  2400  Jahren  auch  heute  noch  den  Beifall  des  erfahrenen  Trainers 
finden  wird:  ein  Beifall,  der  wertvoller  sein  mag  als  Kommentare 
Gelehrter  oder  Pfaffen  beider  HemisphMren. 

«Gleichwie  etwa  ein  gewandter  Rossebandiger,  wann  er  ein  schones 
edles  Ross  erhalten  hat,  zu  allererst  am  Gebisse  Ubungen  ausfuhren 
lisst;  und  wahrend  es  am  Gebisse  Ubungen  ausfiihrt  zeigt  es  eben 
allerlei  Ungebuhrlichkeit,  Ungebardigkeit,  Unbandigkeit,  weil  es  nie 
zuvor  solche  Ubungen  ausgeftihrt  hat:  aber  durch  wiederholtes  Uben, 
durch  allmShliches  Uben  gibt  es  sich  damit  zufrieden.  Sobald  nun  das 
schdne  edle  Ross  durch  wiederholtes  Uben,  durch  allmihliches  Uben 
sich  damit  zufriedengegeben  hat,  dann  lasst  es  der  Rossebandiger  weitere 
Ubungen  ausfuhren  und  schirrt  es  an ;  und  wahrend  es  angeschirrt  Obungen 
ausfiihrt  zeigt  es  eben  allerlei  Ungebuhrlichkeit,  Ungebardigkeit,  UnbMndig- 
keit,  weil  es  nie  zuvor  solche  Ubungen  ausgeftihrt  hat:  aber  durch 
wiederholtes  Uben,  durch  allmdhliches  Uben  gibt  es  sich  damit  zufrieden. 
Sobald  nun  das  schone  edle  Ross  durch  wiederholtes  Uben,  durch  all- 
mahliches  Uben  sich  damit  zufriedengegeben  hat,  dann  lasst  es  der 
RossebMndiger  weitere  Ubungen  ausfuhren  und  im  Schritt  gehn,  im 
Trab  gehn,  Galopp  laufen,  er  ISsst  es  rennen  und  springen,  bringt  ihm 
kdniglichen  Gang  und  konigliche  Haltung  bei,  er  macht  es  zum  schnell- 
sten  und  fluchtigsten  und  verlasslichsten  der  Pferde;  und  wMhrend  es 
also  Ubungen  ausfiihrt  zeigt  es  eben  allerlei  Ungebiihrlichkeit,  Ungebardig- 
keit, UnbSndigkeit,  weil  es  nie  zuvor  solche  Ubungen  ausgefiihrt  hat: 
aber  durch  wiederholtes  Uben,  durch  allmahliches  Uben  gibt  es  sich  damit 
zufrieden.  Sobald  nun  das  schone  edle  Ross  durch  wiederholtes  Uben, 
durch  allmahliches  Uben  sich  damit  zufriedengegeben  hat,  dann  lasst 
ihm  der  Rossebandiger  noch  die  letzte  Strahlung  und  Striegelung  an- 
gedeihen.  Das  sind  die  zehn  Eigenschaften,  die  ein  schones  edles  Ross 
dem  Konige  schicklich,  dem  Konige  tauglich,  eben  als  ,Konigsgut^  er- 
scheinen  lassen.  Ebenso  nun  auch  sind  es  zehn  Dinge,  die  einen 
Mdnch  Opfer  und  Spende,  Gabe  und  Gruss  verdienen,  heiligste  StMtte 
der  Welt  sein  lassen:  und  welche  zehn?  Da  eignet  einem  MSnche 
untriiglich  rechte  Erkenntnis,  untriiglich  rechte  Gesinnung,  untriiglich 
rechte  Rede,  untriiglich  rechtes  Handeln,  untriiglich  rechtes  Wandeln, 
untriiglich  rechtes  Muhn,  untriiglich  rechte  Einsicht,  untruglich  rechte 
Vertiefung,  untriiglich  rechte  Weisheit,  untriiglich  rechte  Erlosung.  Das 
sind  die  zehn  Dinge,  die  einen  Mdnch  Opfer  und  Spende,  Gabe  und 
Gruss  verdienen,  heiligste  Stitte  der  Welt  sein  lassen. 


138  8*^ 


Aus  dem  Kiinstlerbund. 

Von  aasgezeichnet  informirter  Seite  wird  uns  geschrieben: 

Die  Ziele  des  deutschen  Kunstlerbundes  scheinen  vollkommen 
geeignet,  eine  h5here  Entwicklungsstufe  unseres  Kunstausstellungswesens 
herbeizufiihren.  Obwohl  dieser  Weimaraner  Bund  hauptsSchiich  aus  Mit- 
gliedern  der  Sezessionen  hervorgegangen  ist,  haben  sich  doch  auch  Ver- 
treter  der  ubrigen  Kunstlervereinigungen  eingefunden,  aus  welchem 
Umstande  das  Bestreben  hervortritt,  dass  dieser  neue  Bund  keines- 
wegs  einseitige  Interessen  vertreten  will,  sondem  Fuhlung  mit  alien 
kiinstlerischen  Bestrebungen  anzubahnen  sucht.  Wenn  man  schon  da- 
mit  begonnen  hatte,  Kiinstler  aus  alien  Lagern  zum  Beitritt  aufzufordem, 
so  ergibt  sich  daraus  von  selbst,  dass  auch  jetzt  mit  der  personlichen 
Aufforderung  fortgefahren  werden  musste.  Denn  hatte  man  ganze 
Kunstlervereinigungen  in  corpore  aufzunehmen  versucht,  dann  ware  das 
gluckliche  Resultat  der  Weimarer  Verhandlungen  nur  unndtig  verzogert 
Oder  gar  in  Frage  gestellt  worden,  weil  niemand  der  dort  Versammelten 
fur  das  vollkommene  EinverstMndnis  der  zu  Hause  Gebliebenen  mit  den 
in  Weimar  gefassten  Beschlussen  einstehen  konnte.  Die  Weigerung 
einzelner  kann  jetzt  die  neue  Grundung  in  deren  Bestand  nicht  mehr 
gefahrden,  was  bei  einem  abschligigen  Bescheid  einer  ganzen  Sezession 
wohl  der  Fall  gewesen  ware.  Es  ist  also  jedem  tuchtigen  Meister  die 
Mitgliedschaft  des  Kunstlerbundes  ermoglicht,  jedoch  mit  der  Klausel, 
dass  die  Stimmberechtigung  erst  durch  einige  mitgemachte  Ausstellungen 
erworben  werden  kann.  Damit  ist  der  Unfug,  dass  ausstellungsschwache 
Kunstler  in  den  Generalversammlungen  das  Wort  fiihren  und  gute  Rat- 
schiage  erteilen,  fur  immer  beseitigt.  Nie  mehr  hlngt  dann  das  Wohl 
und  Wehe  der  deutschen  Kunstlerschaft  von  Leuten  ab,  die  nur  darauf 
bedacht  sind,  das  eigene  Nachtlicht  leuchten  zu  lassen  und  zu  dem 
Zwecke  alles  Ubrige  im  Dunkel  zu  halten  verstehen.  Wir  konnen  so- 
mit  aus  dem  Vorgehen  des  deutschen  Ktinstlerbundes  mit  Deutlichkeit 
ersehen,  dass  hier  Manner  von  weitsehendem  Blick  den  Grundstein 
gelegt  haben  zu  einem  Bau  auf  solidester  Grundlage.  Schon  die  Namen 
der  bis  jetzt  bekannt  gewordenen  Mitglieder  burgen  fur  die  vielseitigste 
und  glanzendste  Vertretung  der  deutschen  Kunst.  Unter  einer  solch 
ausgezeichneten  Fuhrung  wird  sich  die  deutsche  Kunst  bald  eine  hervor- 
ragende  Stellung  im  Wettkampf  der  Vdlker  errungen  haben  zur  Freude 
und  zum  Nutzen  der  ganzen  deutschen  Nation. 

Wenn  auch  hier  und  dort  einige  zungengewandte  Geister  es  unter- 
nehmen,  ihre  warnende  Stimme  gegen  den  neu  geschaffenen  Verband 
zu  erheben,  so  ist  dieses  Beginnen  unserer  Beurteilung  nach  nicht 
anders  zu  bewerten,  als  wenn  einige  Heringe  sich  gegen  den  Niagara- 
fall  anstemmen  woilten. 


139  s^P- 


Anselm  Feuerbach  und  sein  VermUchtnis. 

Von  Wilhelm  Weigand  in  Munchen-Bogenhausen. 
1. 

Die  moderne  Kunst  ist  auf  das  Individuum  gestellt.  Wer  die 
Wahrheit  dieses  Satzes  voll  erkannt  hat,  wird  auch  das  Schicksal  jener 
Ktlnstler  verstehen,  die  wihnen,  durch  die  Pflege  einer  schdnen  Tradition 
den  Folgen  ihrer  Vereinzelung  entgehen  zu  konnen. 

Je  bedeutender  der  Einzelne  als  Mensch  und  Schopfer  hervortritt, 
desto  stronger  ist  or  auch  auf  sich  selbst  zuruckgewiesen.  Welt  und 
Seele,  Kunst  und  Handwork,  die  Vergangenheit,  wo  die  Meister  thronen 
und  die  Gegenwart,  wo  das  Leben  seine  Forderungen  stellt,  sind 
Mdchte,  die  zu  Bedringem  werden,  wenn  nicht  ein  allmachtiger  Natur- 
trieb  die  Sicherheit  des  Schopferglucks  verleiht.  Es  verlohnte  sich  der 
Miihe,  einmal  den  Griinden  nachzuforschen,  warum  gerade  das  Leben 
so  vieler  modemer  Kunstler  eine  Tragodie  bedeutet.  Es  gentigt  nicht, 
die  Verkennung  oder  den  Widerstand  der  Welt  hierfur  allein  ver- 
antwortlich  zu  machen;  es  gentigt  auch  nicht,  die  vermeintliche 
Morbiditit  des  Genies  als  Erklirungsgrund  heranzuziehen.  Die  Ur- 
sachen  liegen  tiefer:  der  moderne  Mensch  ist,  um  es  mit  einem  Wort 
zu  sagen,  zum  theoretischen  Menschen  geworden,  der  einer 
Rechtfertigung  seines  Tuns  vor  sich  selbst  bedarf,  und  er  tibt  die 
Selbstzergliederung  mit  einem  Eifer,  der  wie  Freude  aussieht. 

Als  Anselm  Feuerbachs  ^Vermichtnis''  (1881)  erschien,  waren  alle 
Einsichtigen  sofort  der  Meinung,  dass  eine  Kiinstlertragddie  Worte  und 
damit,  in  gewissem  Sinne,  auch  die  Siihne  gefunden  habe.  Es  darf 
wenigstens  als  sicher  gelten,  dass  die  WertschMtzung  des  lang  ver- 
kannten  Meisters  mit  dieser  kleinen  Schrift  auch  in  jene  Kreise  drang, 
die  keine  Ahnung  von  den  KImpfen  dieser  leidenschaftlichen  Natur 
haben  konnten.  Wir  aber  werden  gut  daran  tun,  vor  dieser  Wirkung 
eines  kleinen  Buches  nicht  zu  vergessen,  dass  unsere  deutsche  Kultur, 
soweit  wir  iiberhaupt  von  einer  solchen  reden  dtirfen,  rein  literarischer 
Natur  ist.  Wir  sind,  um  es  kurz  zu  sagen,  kein  Volk  der  Anschauung: 
damit  ist  eine  Erkenntnis  gewonnen,  die  jede  Lebenstragodie  eines 
bildenden  Kiinstlers  zu  erkliren  vermag.  Diese  Einsicht  liegt  wohl 
auch  dem  Ausspruch  Goethes  zu  Grunde,  dass  zwischen  Wissenschaft 
und  Kunst  eine  Kluft  bestehe,  die  nur  ein  ganz  gliickliches  Naturell 
iiberspringen  kdnne. 

Auch  heute  noch  kommt  es  der  Kunst  des  Meisters  zugute,  dass 
Feuerbach,  um  sich  zu  befreien,  zum  Worte  greifen  musste.  Sogar 
der  Geist  wird  verziehen,  wenn  er  erlaubt,  eine  Welt  zu  beschreiten, 
die  Gliick  verheisst.  Wir  sind  ausserdem  nur  allzuwohl  mit  der 
Forderung  vertraut,  dass  hinter  jedem  Werke  ein  Leben  stehen  soil 


140  ^ 


Ein  Leben  aber  ist  ein  Schauspiel  und,  bei  den  grossen  Lieblingen  der 
Gotter,  zuwellen  eine  schmerzliche  TragSdie.*)  — 


2. 

Talent  und  Schonheit  sind  Mdchte,  die  in  ihrem  tiefsten  Wesen 
jeder  Analyse  widerstehen.  Wir  wissen  heute,  was  wir  von  dem 
Versuch  zu  balten  haben,  den  Menschen  aus  seiner  Umgebung,  aus 
seiner  Zeit  oder  aus  einer  dominierenden  Fahigkeit  heraus  zu  erkliren. 
Die  Tainesche  Methode,  die  zudem  einen  halben  Kiinstler  bei  der  An- 
wendung  verlangt,  weist  allzudeutlich  auf  die  Bediirfnisse  einer  Nation 
zuriick,  die  in  dem  Verstand  den  allein  seligmachenden  Regulator  ihrer 
altgewordenen  Kultur  verehrt.  Vielieicht  ist  dieser  Versuch,  der  Kunst 
Oder  der  Geschichte  beizukommen,  nur  ein  KunstknifF,  um  durch  die 
Abgrenzung  ein  sicheres  Gebiet  zu  gewinnen  und  durch  die  Darstellung 
den  Vorteil  einer  ktinstlerischen  Bewiltigung  der  Welt  auf  einem  Gebiet 
der  Wissenschaft  zu  geniessen.  Die  Usthetische  Kritik  ist  keine  Wissen- 
schaft.  Jeder  vermag  einer  Natur  oder  einem  Buche  nur  soviel 
abzugewinnen,  als  er  selbst  mitbringt.  Uns  selbst  lesen  wir  aus  den 
Kunstwerken  heraus,  oder  wir  legen  uns  hinein,  je  nach  der  Stimmung 
beim  Genusse,  die  kritisch  oder  schopferisch  sein  kann. 

Bedeutsamer  ist  bei  der  Betrachtung  einer  wirklichen  Natur  die 
Abstammung  oder  die  Rasse,  wie  Feuerbach  zu  sagen  pfiegte,  ohne  in- 
dessen  dem  Worte  jenen  Sinn  beizulegen,  den  es  neuerdings  im  Munde 
einer  problematischen  Wissenschaft  angenommen  hat.  Auf  alle  Falle 
diirfen  wir  uns  gliicklich  schatzen,  wenn  irgend  ein  Talent  oder  eine 
Fahigkeit  in  einer  Familie  fortvererbt  wird  und  in  verschiedenen 
Naturen  zu  jener  Bliite  gelangt,  die  nur  den  Reichtum  des  Lebens 
enthullt. 

Die  Familie  Feuerbach  verlangt  es,  dass  man  bei  den  allgemeinen 
Charakterzugen  verweile,  die  das  Leben  ihrer  hochbegabten  Sdhne  offen^ 
bart.  Der  Grossvater  unseres  Malers,  der  Ritter  Anselm  von  Feuerbach 
(1775 — 1833),  gehdrt  zu  jenen  Mannern,  welche  die  deutsche  Kultur 
der  klassischen  Periode  wohl  gellutert,  aber  nicht  gezihmt  hatte.  Sein 
Nachlass**),  den  sein  Sohn,  der  Philosopb  Ludwig  Feuerbach,  heraus- 
gegeben,  ist  in  mehrfacher  Hinsicht  von  hochstem  Interesse:  als 
Denkmal    eines    hochbegabten  Willensmenschen,    der  von  sich  das 


*)  Veranlassung  zu  den  folgenden  Betrachtungen  bot  das  schdne  Werk 
„Anselm  Feuerbach  Yon  Julius  Allgeyer*.  Zweite  Auflage  auf  Grund  der  zum 
erstenmal  benutzten  Originalbriefe  und  Aufzeichnungen  des  Kunstlers  aus 
dem  Nachlasse  des  Verfassers  berausgegeben  und  mit  einer  Einleitung  begleitet 
von  Carl  Neumann,  Professor  der  Kunstgescbichte  in  Gdttingen.  2  Binde, 
522  und  570  Seiten.   Berlin  und  Stuttgart  1904.   Verlag  von  W.  Spemann. 

**)  Anselm  Ritter  von  Feuerbachs  weil.  kdnigl.  bayrischen  wirkl.  Staatsrats 
und  Appellationsgerichtsprisidenten  biographischer  Nachlass.  Ver5ffentlicht  von 
seinem  Sohne  Ludwig  Feuerbach.  Zwet  BSnde.  Leipzig.  Verlagsbucbhandlung 
von  J.  J.  Weber.    Leipzig  1853. 


141 


Hdchste  fordern  konnte,  und  als  Dokument  einer  Zeit,  in  der  die 
franzdsischen  Ideen  der  Aufklarung  mit  den  morschen  Zustanden  eines 
zasammengewurfelten  Staates  in  Beruhrung  kamen.  Die  Verdienste 
des  seltenen  Mannes  als  Rechtslehrer  und  Beamter,  als  Patriot  und 
AufklSrer  hat  die  bayerische  Geschichte  verzeichnet.  Als  Mensch  ge- 
hdrte  er  zu  jenen  Gewaltnaturen,  die  jeden  Willen  brechen,  der  sich 
ihnen  entgegenstellt,  ohne  indessen  die  Verehrung  einzubtissen,  die 
ausserordentliche  Eigenschaften  des  Geistes  und  des  Herzens  einflossen. 
Seine  Sdhne  blickten,  wie  Ludwig  Feuerbach  sich  ausdruckt,  mit  »innig 
heiliger  Ehrfurcht**  zu  dem  ausserordentlichen  Manne  empor,  in  dem 
Wille  und  Erkenntnis  sich  zuweilen  arg  befehdeten:  denn  der  Mann, 
der  seinem  Sohn  erklarte,  der  Mensch  diirfe,  wenn  es  der  emsten  Be- 
stimmung  seines  Lebens  gelte,  nicht  bloss  seine  Lust  befragen,  trennte 
sich  im  vierzigsten  Jahre  von  seiner  Familie,  um  einer  schonen  Frau 
zu  folgen.  Es  geht,  um  es  gleich  zu  sagen,  ein  damonischer  Zug 
durch  die  ganze  Familie  Feuerbach:  die  Manner  dieses  leidenschaft- 
lichen  Geschlechtes  haben  alle  ihren  Dtoon,  dem  sie  auf  Kosten  ihres 
Gluckes  und  Behagens  gehorchen  mussen. 

In  den  Sdhnen  des  Juristen  erscheint  die  Leidenschaftlichkeit  des 
Stammvaters  gemildert;  aber  hier  gedeihen  die  glanzenden  Gaben  des 
Geschlechtes  zum  Teil  schon  auf  rein  morbidem  Boden.  Der  Vater 
des  Malers,  Anselm  Feuerbach  der  Archdologe,  ist  eine  weichere  Natur, 
in  der  das  Kraftgeftihl  des  Vaters  zur  dsthetischen  Feinftihligkeit  einer 
leicht  verwundbaren,  hypochondrischen  Seele  herabsinkt.  Sein  Sohn, 
Anselm  der  Maler,  der  die  aristokratische  FShigkeit  der  Selbstbeob- 
achtung,  wie  sie  oft  in  alten  Familien  zu  Tage  tritt,  von  ihm  geerbt 
hatte,  nennt  ihn  gemutskrank.  Seine  zweite  Gattin,  Henriette  Heyden- 
reich,  die  geistvolle  Stiefmutter  des  Kiinstlers,  hat  dem  ersten  Band 
seiner  nachgelassenen  Schriften*),  deren  Herausgabe  Hermann  Hettner 
besorgte,  das  bezeichnende  Geleitwort  mitgegeben:  Des  Menschen 
Schicksal  ist  sein  Gemut!  Die  Msthetische  Reife  des  Gelehrten,  der 
erst  spMt  das  klassische  Land  seiner  Sehnsucht,  Italien,  erbiicken  sollte, 
zeigt  sich  vor  allem  in  der  klaren  Form  seines  Hauptwerkes  »Der 
vatikanische  Apollo das,  als  Kunstwerk,  auch  heute  noch  lesbar  ist. 

In  dem  Enkel  Anselm  (geboren  am  12.  September  1829  in  Speyer) 
erscheinen  die  Eigenschaften  des  Grossvaters  und  des  Vaters  in  jener 
Mischung,  die  in  ihrer  Deutlichkeit  ein  seltenes  Schauspiel  gewihrt. 
Von  dem  Vater  hat  er  den  isthetischen  Sinn,  der  alle  seelischen  Ein- 
drucke  mit  leidenschaftlicher  Gewalt  empfindet  und  zum  Ungluck  der 
Oberfeinen  vorher  bestimmt  erscheint.  Damit  ist  eine  mimosenhafte 
Feinfuhligkeit  und  Verstimmbarkeit  der  Seele  verbunden,  wie  wir  sie 
nur  bei  grossen  Dichtematuren  oder  Phantasiemenschen  finden;  aber 


*)  Nachgelassene  Schriften  von  Anselm  Feuerbach.   Vier  Binde.  Braun- 
schweig bei  Vieweg  &  Sohn,  1853. 

^  Der  vatiktnische  Apollo.  Eine  Reihe  isthetisch-archiologischer  Be- 
trachtungen  yon  Anselm  Feuerbach.  Campes  Verlag,  NQmberg,  1833.  Die  zweite 
Auflage  ist  1855  bei  Cotta  erschienen. 


142  8^ 


im  Verfolgen  der  kunstlerischen  Ziele,  die  aus  einer  solchen  Anlage 
entspringen,  offenbart  er  jene  unbeugsame  Wiilensenergie,  die  in  seinem 
Grossvater  lebendig  war. 

Neben  der  Abstammung  ist  die  Atmosphere  des  vaterlichen  Hauses 
zu  beachten,  wenn  man  den  Kiinstler  Feuerbach  richtig  beurteilen  will. 
Der  schdne  hochbegabte  Knabe,  dessen  dunkle  Lockenfiille  an  einen 
antiken  Jungling  gemahnt,  wMchst  in  einer  rein  asthetischen  Umgebung 
auf,  der  Kunst  und  Musik  alltlgliche  Lebensbedurfnisse  sind.  In  dem 
Vater,  der  weiss,  was  Kunst  und  Schonheit  bedeuten,  sind  die  Gotter- 
gestalten  der  Antike  lebendig,  und  in  der  Stiefmutter,  die  sich  den 
Namen  einer  Mutter  in  herrlichster  Weise  verdient  hat,  darf  er  eine 
vomehme,  liebevolle  Erzieherin  verehren.  Die  Einrichtung  des  Hauses 
bietet  seiner  jungen  Phantasie  die  beste  Nahrung:  der  Vater  hatte  aus 
Munchen  und  Italien  Munzen,  Gipsabgiisse  und  Stiche  mitgebracht, 
deren  Gestalten  einen  michtigen  Eindruck  auf  den  nbersprudelnden 
Knaben  ausubten.  Die  Eltem,  welche  die  Begabung  ihres  Kindes  fruh 
erkennen,  legen  seinem  Wunsche,  Maler  zu  werden,  kein  Hindemis  in 
den  Weg:  im  Alter  von  sechzehn  Jahren  bezieht  er  die  Dusseldorfer 
Akademie,  wo  er  mit  seinem  grosseren  Zeitgenossen  Bocklin  und  dessen 
Freund  Knoller,  mit  Alfred  Rethel  und  Knaus  in  Beruhrung  kommt. 
Wir  sind  durch  Anselms  Briefe  ganz  genan  uber  alle  Stimmungen 
unterrichtet,  die  ihn  in  jener  Zeit  des  ersten  Lerneifers  beherrschten. 
Was  an  diesen  Ausserungen  eines  jungen  Feuerkopfes  auffallt,  ist  die 
unheimliche  Klarheit,  mit  der  er  sich  selbst  beurteilt:  ^Ich  bin  auch 
mit  meiner  Richtung  noch  nicht  im  Klaren.  Mein  grosster  Fehler  ist 
diese  sprudelnde  Fulle  von  Geist,  die  in  sich  gShrt  und  wutet,  dass  es 
mir  manchmal  fast  den  Kopf  zersprengt . . .  Habe  keine  Angst,  dass  ich 
so  werde  wie  Vater:  ich  bin  nur  zu  friihe  reif  und  weiss,  was  ich  soil, 
ehe  ich  es  kann ;  kommt  die  Zeit  der  uberwundenen  Technik,  dann  bin 
ich  der,  der  ich  sein  will."  —  (Aus  einem  Brief  vom  2.  Jan.  1847.) 

Ein  solches  Bekenntnis,  das  die  Tragik  eines  halben  Lebens 
vorausahnt,  gibt  zu  denken.  Vielleicht  wird  uns  seine  Bedeutung  noch 
klarer,  wenn  wir  den  Wert  und  die  Bedeutung  der  Msthetischen  Kultur 
fur  den  Einzelnen  etwas  naher  betrachten.  In  jeder  Kultur,  die  sich 
ihres  Besitzes  freut,  ist  das  Bewusstsein  der  Vergangenheit  in  hohem 
Grade  michtig.  Jede  Ausserung  freien  Lebens,  in  der  sich  der  Kultur- 
mensch  geniesst,  weist  auf  Viter  und  Ahnen  zuruck:  —  denn  alles 
Geschaffene  behMlt  seine  Macht  auf  wahlverwandte  Geister,  und  unser 
VerhMitnis  zur  Vergangenheit  ist  nicht  minder  unser  Schicksal,  als 
unser  VerhMltnis  zur  Gegenwart.  Doch  zum  Wesen  des  Lebens  gehdrt 
es,  dass  es  nur  GegenwSrtiges  kennen  will.  Kultur  ist  Form,  und  jede 
Form  ist  ein  Bann,  den  wir  nur  dann  als  Gluck  empGnden,  wenn  wir 
ihn  zugleich  als  Forderung  preisen  konnen.  Ein  junger  Mensch  aber, 
in  dessen  schonheitstrunkener  Phantasie  die  Gestalten  der  Antike  leben, 
wird  anders  in  das  Leben  treten,  als  ein  genialer  Naturbursche,  der 
nichts  mitbringt,  als  seinen  Willen,  emporzukommen  und  sich,  alien 
zum  Trotz,  zum  Ausdruck  zu  bringen.    Schdnheit  ist  eine  Lebens- 


143 


macht,  die  nur  dann  rein  segensreich  wirkt,  wenn  wir  sie  selber  schafFen. 
Die  feine  asthetische  Kultur  des  Elternhauses  ist  dem  Maler  Feuerbach 
in  mehrfacher  Hinsicht  zum  Schicksal  geworden:  sie  gab  ihm  jene 
Klarheit,  die  fiber  schwere  Zeiten  hinweghilft,  und  sie  bestimmte 
seinen  Geschmack,  der  bei  einem  ^denkenden  Kiinstler*  —  wie 
Bdcklin  spottet*)  —  von  anderer  Bedeutung  ist,  als  bei  einfachen 
Naturen,  die  sich  beim  Schaffen  einfach  selbst  ausgeben  und  dabei 
glucklich  sind. 

Es  gehort  zum  Wesen  des  Geschmacks,  dass  er  seine  Neigungen 
zu  rechtfertigen  sucht.  Bin  vomehmer,  grandioser  Eklektizismus  vermag 
allerdings  eine  Persdnlichkeit  ebensogut  zu  offenbaren,  als  individuelles 
Beharren  in  den  Schranken  eines  kleinen  Gotterwinkels.  In  Zeiten  des 
Niedergangs  ist  ein  sicherer  Geschmack  zudem  von  anderer  Wichtigkeit 
als  in  schdpferiscben  Epochen,  die  das  schaffende  Individuum  sicher 
dahin  tragen,  indem  sie  ihm  voile  Freiheit  gewahren.  Eine  andere 
Briefstelle  aus  der  Diisseldorfer  Zeit  des  AnfUngers  gibt  uns  weiteren 
Aufschluss  fiber  den  Seelenzustand  des  jungen,  asthetisch  gestimmten 
Malers:  ^Ich  glfihe  vor  Sehnsucht,  das  darzubringen,  was  ich  fuhle 
und  will.  Ich  mochte  nicht  nur  Nachdffer  und  Anstreicher  der  Natur 
werden,  ich  mochte  gem  Seele,  Poesie  haben  ...  Ich  furchte  mich  vor 
der  Nfichtemheit  und  Hohlheit,  die  die  jetzige  Welt  regiert.  Man  muss 
sich  zurfickfluchten  zu  den  alten  Gottern,  die  in  seliger,  kraftiger^ 
naturwahrer  Poesie  den  Menschen  darstellen,  wie  er  sein  sollte.  In 
die  Zukunft  flfichten  geht  auch  nicht ,  denn  welche  Zukunft  steht 
unseren  Geld-  und  Maschinenmenschen  bevor.*"    (I,  103). 

Diese  romantische  Stimmung,  welcher  der  Geist  wichtiger  ist,  als 
die  Form,  weist  mit  Notwendigkeit  auf  eine  Welt  verklirter  Kunst- 
gestalten  bin.  Es  ist  femer,  was  man  nicht  vergessen  wolle,  ein 
schdner  Jfingling,  der  sich  nach  der  herrlichen  Gotterwelt  einer 
lebendigen  Welt  sehnt  und  seinen  Schonheitsbedfirfnissen  mit  naiver 
Eifelkeit  frohnt.  Der  junge  Feuerbach  malt  sich  selbst  so  oft  er  kann, 
und  er  sorgt  dafur,  dass  eine  »ungeheure  Vomehmheit''  auf  diesen 
Bildem  zum  Ausdruck  kommt.  Selbst  Gottfried  Keller,  der  den  Kunst* 
schuler  in  Heidelberg  kennen  lernte,  bekannte,  niemals  in  seinem  Leben 
einen  „idealisch  schdneren  Jungling*"  gesehen  zu  haben;  allerdings  fugte 
der  junge  Dichter,  dessen  Strenge  aus  einer  herben  Seeleneinfalt  floss, 
hinzu,  er  zweifle,  ob  jemals  etwas  aus  dem  jungen  Feuerbach  werden 
wfirde. 

3. 

Die  Bedeutung  der  Lehrjahre  Feuerbachs  in  Dusseldorf,  Munchen 
and  Antwerpen  (1845 — 1851)  ist  in  vieler  Hinsicht  rein  negativer  Art: 


*)  Zehn  Jahre  mit  B5cklin.  Aufzeichnungen  und  Entwfirfe  von  Gusttv 
Floerke.  Mfinchen  1001.  Verlagsanstalt  F  Bruckmann.  <Seite  233).  Dts  hoch- 
interessante  Buch  ist  allerdings,  wie  bier  bemerkt  sein  mag,  mit  eioiger  Vorsictat 
zu  l>enutzen. 


144  8k- 


der  junge  Maler,  der  die  hochsten  Forderungen  mit  sich  herumtragt, 
sieht  ganz  einfach  ein,  dass  die  Deutschen,  trotz  des  ewigen  Kunst- 
geschreis,  nicht  malen  konnen.  Die  Urteile,  die  er  uber  Cornelius, 
Kaulbach  und  die  Modegotzen  des  Tages  fallt,  verraten  zudem  einen 
sicheren  Geschmack,  der  sich  frtihe  an  Rubens  und  van  Dyck  geschult 
hatte.  Es  ist  ganz  nattirlich,  dass  er  trachtete,  nach  Paris,  auf  die  hohe 
Schule  der  Welt  zu  kommen;  diesen  Zug  hat  er  mit  den  meisten  tiich- 
tigen  Talenten  seiner  Zeit  gemein.  Noch  als  reifer  Meister  ruhmte  er 
sich  seines  fruhen  Entschlusses,  nach  Paris  zu  gehen,  wo  man  wirklich 
etwas  lernen  konnte.  Es  war  damals,  wie  auch  spSter  noch,  nicht  ohne 
Gefahr,  sich  dieser  franzosischen  Lehrjahre  zu  ruhmen;  denn  die 
NationalitMtsphrase  war  in  dem  Munde  der  Streber  und  Macher  von  je 
ein  Mittel,  sich  Amt  und  Einfluss  zu  sichern  und  unbequeme  Neben- 
buhler  unschddlich  zu  machen.  Es  ist  allerdings,  wie  zugegeben  werden 
mag,  schlimm  bestellt  um  eine  gflnzlich  heimatlose  Kunst.  Die  Kunst 
soil  bodenstandig  sein!  Nicht  der  Verstand  oder  ein  gebildetes  Auge, 
das  keine  Heimat  kennt  und  liebt,  sind  beim  Schaffen  die  Hauptsache, 
sondern  jene  Gemutsmachte,  die  in  den  edelsten  Kraften  einer  Volks- 
gemeinschaft  ihre  Rechtfertigung  und  ihre  Stiitze  haben.  Aber  An- 
regungen  von  Land  zu  Land,  von  Volk  zu  Volk  sind  stets  von  aller- 
hochstem  Segen.  Wirkliche  Naturen  werden  mit  alien  Einflussen  fertig, 
die  sie  bedrohen:  —  man  sehe  doch  nur,  in  welcher  Weise  Leibl  oder 
Triibner  die  Einfliisse  einer  fremden  Schule  in  den  Dienst  einer  person- 
lichen  Naturauffassung  gestellt  haben!  Jede  Kunst  ruht  auf  dem  Hand- 
work, und  als  Handworker  soli  der  Kunstler  dahin  gehen,  wo  er  am 
meisten  lernen  kann. 

Feuerbach  hat  nie  ein  Hehl  daraus  gemacht,  dass  er  sein  Konnen 
den  Italienem  und  den  Franzosen  verdanke.  Indessen  genugt  es  nicht, 
den  wohltMtigen  Einfluss  seines  Lehrers  Couture  (1815 — 1879)  zu  be- 
tonen,  dessen  Wort  von  der  .grande  peinture**  allerdings  von  ver- 
ftihrerischer  Wirkung  auf  einen  jungen  Feuerkopf  sein  musste. 

Man  hat,  um  die  Kunstrichtung  Coutures  und  verwandter  Maler  zu 
bezeichnen,  von  Cinquecentismus  gesprochen;  allein  dieses  Wort  hat  in 
Frankreich,  als  in  einem  Lande,  wo  selbst  die  Schule  Davids  malen 
konnte,  eine  andere  Bedeutung  als  in  Deutschland.  In  einer  Nation, 
wo  die  Tradition  stark  oder  allmachtig  ist,  macht  man  Revolutionen  um 
kleiner  Nuancen  willen.  Wir  finden  bei  ndherem  Zusehen,  dass  das 
Verhdltnis  der  Franzosen  zu  den  Venezianem  ziemlich  locker,  das  heisst 
rein  eklektisch  ist:  als  Feuerbach  einige  Jahre  spater  seinen  »Dante  mit 
den  schonen  Frauen*  in  Paris  ausstellte,  ging  man  daruber  hinweg,  in- 
dem  man  es  als  reine  Nachahmung  der  Italiener  ausgab. 

Die  Bilder  Coutures  bedeuteten,  wie  gesagt,  fur  Feuerbach  mehr 
als  die  Leistung  eines  Meisters,  der  das  Malen  lehren  konnte;  wir  sehen 
es  an  den  ^Romains  de  la  decadence (im  Louvre),  welches  Bild  zwar 
nicht  zu  den  besten  Werken  des  Malers  gehort,  aber  wohl  gestattet, 
seinen  Einfluss  auf  Feuerbach  zu  schStzen.  Dieser  Klassizismus,  der 
aus  kiihler  Berechnung  hervorgeht  und  seine  akademischen  Gestaltea 


145  8*^ 


ohne  jedes  Temperament  hinstellt  und  gnippiert,  steht  allerdings  den 
spiteren  Werken  des  Deutschen  ziemlich  ferne.  Allein  Einzelheiten 
sind,  wenn  es  sich  um  Schulerschaft  handelt,  oft  wichtiger  als  die  Ge- 
samtanschauung,  die  auf  einer  Natur  beruhen  muss.  Als  Kolorist  ver- 
rdt  noch  der  sp3teste  Feuerbach  den  Einfluss  Coutures:  ein  gewisses 
Grun  zum  Beispiel,  das  auch  der  Franzose  hat,  kehrt  sogar  auf  den 
Wiener  Deckenbildem  der  Akademie  wieder.  Meines  Wissens  hat  noch 
niemand  auf  diesen  dauemden  EinBuss  des  franzdsischen  Malers  im 
Detail  hingewiesen. 

Hier  wire  der  Ort,  einiges  tiber  die  jSmmerlichen  Schicksale  des 
heimgekehrten  Kiinstlers  in  Karlsruhe  zu  sagen,  wo  er  eine  Behandlung 
^rfuhr,  die  er  nie  verziehen  hat.  Indessen  sind  solche  3usseren  Schick- 
sale, so  bitter  sie  auch  sein  mogen,  nur  insofem  von  Bedeutung  fur 
«inen  Kiinstler,  als  sie  ihn  nur  tiefer  in  sein  Schicksal  und  seine  Welt 
hineintreiben.  Es  gehdrt  zur  Bestimmung  auserwihlter  Naturen,  dass  auch 
die  schwersten  Bitternisse,  die  den  iVLenschen  oft  fur  immer  zeichnen, 
nor  jene  Krifte  wecken,  die  ihr  Ddmon  leitet  Dieser  DMmon  zog 
Feuerbach  nach  Italien. 

Im  Mai  1855  traf  er,  als  Stipendiat  des  Karlsruher  Hofes,  mit 
Viktor  Schefifel  in  Venedig  ein,  um  die  .Assunta**  zu  kopieren.  Die 
Stimmung,  in  die  ihn  die  tote  Stadt  versetzt,  zeigt  deutlich,  dass  der 
angehende  Meister  endlich  die  Heimat  seiner  Seele  gefunden  hat.  Hier, 
wo  er  auf  Marmor  geht  und  als  armer  Schlucker  in  Palasten  wohnt, 
weicht  seine  nordische  Melancholie  einer  ,inneren  Freude,  die  die  Brust 
xu  zersprengen  droht".  (8.  Juni  1855.)  Hier  kann  er  aufs  neue  ftihlen, 
dass  der  Begriff  Schdnheit  zu  den  sieben  Weltwundem  und  Ratseln  ge- 
hdrt; hier  sieht  er,  wie  die  reine  Natur  sich  in  grossen  Meistern,  durch 
4as  Medium  innerer  Anschauung,  gleichsam  zu  einer  hoheren  Form  der 
Erscheinung  umbildet.  Er  sagt:  „Was  soil  ich  von  den  Venezianem 
sagen?  Das  ist  eine  Bruderschaft  der  echten  Farbe,  kurz,  sie  mtissen 
so  sein,  wie  sie  sind.  AUe  unsere  modeme  Kunst  macht  mir  keine 
Schmerzen  mehr.  Ich  bin  da,  wo  ich  sein  muss.  Und  hitte  ich  zu 
ihrer  Zeit  gelebt,  so  wurde  sich  vielleicht  in  mancher  dunklen  Kirche 
ein  Bild  finden,  was  sich  still  an  die  grosse  Kette  als  bescheidener 
^ng  anschliessen  wurde.  Die  Venezianer  sind  emst  in  ihrer  Heiterkeit 
und  heiter  in  ihrem  Ernste.  Sie  brauchen  nichts  zu  suchen,  weil  sie 
^  schon  haben."    (8.  Juni  1855.) 

Hier  erkldrt  er,  »dass  er  sich  nicht  einspannen  lasse** !  (Aug.  1855.) 
Das  mdgen  Maler  tun;  er  ist  mehr,  er  ist  Ktinstler.  Seine  nichste 
Vergangenheit,  der  Aufenthalt  in  Paris,  die  reizvollste  Gegenwart  und 
4ie  herrlichste  Zukunft  schliessen  sich  wie  Ringe  einer  meisterlichen 
Kette  aneinander.  Der  Kritiker,  der  sich  seiner  Bildung  bewusst  ist, 
scheut  sich  auch  nicht,  seine  Meinung  tiber  die  ganze  Kunst  seiner  Zeit 
zu  sagen:  »Eins  habe  ich  jetzt  heraus,  dass  unsere  modeme  Kunst 
nichts  ist,  als  geschminkte  Leichenpoesie.  Und  Gott  gebe  mir  den 
Segen  und  die  Kraft,  mit  Hilfe  der  Toten  und  dessen,  was  mir  die 
Xatur  gegeben,  noch  einen  Fusspfad  zu  finden,  der  auf  den  Olymp 

SQddeutsche  Monatshefte.   1,2.  10 


^  146 


fiihrt  ...  GleicbtnSssige  Ruhe  muss  eine  Errungenschaft  sein, 
keine  Gabe  der  Natur."  (1.  Sept.  1855.) 

Meisterschaft  ist  nichts  anderes  als  Ruhe  oder  auch  voUer  Uber- 
mut  der  Existenzfreudigkeit.  «Jetzt  ist  ein  anderes  Gefuhl  uber  mich 
gekommen,  wie  GlockengelMute  nach  Gewitter.  Die  Grazie,  die  SchSn- 
heit  ist  mir  aufgegangen.*  (14.  November  1855.) 

Aus  dieser  festlichen  Stimmung  vermag  ihn  selbst  die  be- 
leidigende  Antwort  nicht  zu  reissen,  die  ihm  die  Heimat  auf  die  Sendung 
seiner  .Poesie''  gibt:  er  weiss,  welchen  Weg  er  zu  gehen  hat,  und 
z5gert  nicht,  ihn  einzuschlagen.  Wihrend  sein  Bild  auf  einem  Speicher 
des  Schlosses  in  Karlsruhe  an  der  Wand  steht,  macht  er  sich  nach 
dem  Siiden  auf;  er  bleibt  zunflchst  in  Florenz,  wo  er  andere  be- 
stimmende  Eindrucke  erf9hrt,  deren  er  in  seinen  Lebenserinnerungen 
gedenkt:  »In  spdter  Nachmittagsstunde  betrat  ich  die  Tribuna;  da  war 
eine  Empfindung  fiber  mich  gekommen,  die  man  in  der  Bibel  mit  Ofifen- 
barung  zu  bezeichnen  pflegt.  Die  Vergangenheit  war  ausgeloscht«  die 
modernen  Franzosen  wurden  einfache  Spachtelmaler  und  mein  kunftiger 
Weg  stand  einfach  und  sonnig  vor  mir.  Dass  totale  seelische  Wand- 
lungen  pldtzlich  kommen,  habe  ich  an  mir  selbst  erfahren.  Das  erste 
romische  Bild  ^Dante^  und  die  ganze  Reihenfolge  der  bei  aller  Strenge 
doch  weichen  Werke  ist  nur  der  Nachklang  jener  ersten  Empfindung  in 
der  Tribuna,*  (I,  337.) 

Am  1.  Oktober  1856  traf  Feuerbach  in  Rom  ein,  das  er  bald 
darauf  als  sein  Schicksal  empfinden  sollte.  Es  ist  oft  genug  aus- 
gesprochen  worden,  dass  Rom  die  kleinen  Leute  auslosche  und  nur 
den  starken  Naturen  forderlich  sei.*)  Feuerbach  der  angehende  Meister, 
der  den  prSchtigen  »Tod  des  Aretino  (1854)  und  den  „Hafis  vor  der 
Schenke*  (1851)  in  Deutschland  gelassen,  empfindet  die  Landung  an  der 
^gottbegnadeten  Insel  stilien  Denkens*  als  ein  Hineinschreiten  in  ruhige, 
sichere  Verhaltnisse,  trotz  aller  Unsicherheit,  die  ihn  bedruckt.  «Rom 
—  bei  diesem  Namen  hort  alles  Traumen  auf,  da  fangt  die  Selbst* 
erkenntnis  an,  und  Rom,  die  alte  Zauberin,  weist  einem  jeglichen 
Menschenkind  seinen  Platz  an.*  (12.  Februar  1857.)  Feuerbachs  end- 
gultige  Meinung  fiber  Rom  und  seine  dortigen  Schicksale  fasst  eine 
Stelle  des  Vermichtnisses  (S.  80)  in  trefflicher  Weise  zusammen:  ^Es 
ist  eine  alte  Erfahrung,  dass  der  Deutsche  in  Rom  sich  aller  Romantik 
entkleiden  muss.  Rom  weist  einem  jeden  die  Stelle  an,  ffir  die  er  be- 
rufen  ist  Eine  heisse  und  klare  Sonne  beleuchtet  diese  Trfimmer  in 
sch3rfstem  Detail,  so  dass  unser  leicht  phantastisch  erregtes  Gemut  oft 
sehr  derb  an  die  Wahrheit  anrennt  und  sich  nicht  selten  daran  stdsst, 
wie  sie  denn  fast  immer  eine  bittere  Arznei  ist.    Das,  was  wir  Poesie 


*)  Zweiunddreissig  Jabre  spSter  scbreibt  ein  modemer  Kunstler  aus  Rom: 
9E8  ist  die  grdsste  Verkebrtbeit,  einen  jungen  Menscben  ntcb  Rom  zu  scbicken, 
denn  er  muss  zugrunde  gehen  an  der  zu  grossen  Dosis,  die  er  bier  zu  scblucken 
kriegt;  Rom  ist  ein  Aufenihalt  fur  Mlnner,  die  wissen,  was  sie  wollen.*  (Karl 
Stauffer-Bem.  Sein  Leben.  Seine  Briefe.  Seine  Gedicbte.  Stuttgart.  CO.Gdschen* 
tche  Verlagshandlung  1882.  S.  140. 


HNg    147  8^ 


nennen,  kdnnen  wir  nicht  brauchen;  es  kommen  Zeiten  der  Ratlosigkeit 
and  der  Niedergeschlagenheit ;  doch  nach  and  nach  wachsen  die  em- 
phngenen  Eindrucke  in  der  Seele  and  fallen  sie  aus;  dieselbe  Sonne 
beginnt  anser  Inneres  za  beleachten  and  za  erwirmen.*  Zugleich 
mag  daraaf  hingewiesen  werden,  dass  das  Rom  jener  Tage  noch  nicht 
das  laate  Rom  des  geeinigten  Kdnigreichs  Italien  war,  sondem  eine 
stille  Stadt,  wo  die  ^Melancholie  der  Rainen"  in  einem  zarten  Gluck 
aasklingen  konnte.  ^Rom  ist  so  tief  still,  dass  man  hier  in  gdttlicher 
Rahe  empBnden,  denken  and  schaffen  kann.*"  So  schrieb  Gregorovius, 
der  den  Namen  Feaerbachs  ubrigens  nie  erwShnt,  einige  Jahre  zavor, 
am  10.  November  1852,  In  sein  «R5misches  Tagebuch".*)  Freilich 
liegt  in  solcher  Eilandstille  auch  eine  Gefahr:  sie  gewohnt  den  Kunst- 
ler  an  eine  Gesellschaft  erlaachter  Schatten,  and  in  einer  solchen  ver- 
gisst  aach  der  uberquellendste  Schdpfermensch  nar  allzaleicht  die  tieferen 
Bedurhiisse  seiner  Zeit. 

4. 

Die  Ansichten  eines  Kunstlers  uber  seine  Kanst  und  seine 
Werke  haben  immer  nar  bedingten  Wert,  insofem  sie  als  Schltissel 
zam  Verstandnis  ihrer  Mdngel  and  Vorzuge  dienen. 

Wer  in  ein  richtiges  Verhaltnis  za  der  Kunst  Feaerbachs  kommen 
will,  wird  gut  daran  tun,  die  Ansichten  des  Meisters  selbst  iiber  Stil 
im  allgemeinen  za  hdren:  »Der  wahre  Stil  kommt  dann,  wenn  der  Mensch, 
selbst  gross  angelegt,  nach  Bewaltigung  der  unendlichen  Feinheiten  der 
Natur,  die  Sicherheit  erlangt  hat,  frei  ins  Grosse  gehen  za  kdnnen.  Stil 
ist  richtiges  Weglassen  des  Unwesentlichen.  Realismus  in  der  Kunst 
ist  die  leichteste  Kunstart  und  kennzeichnet  stets  den  Verfall.  Wenn  die 
Kunst  bios  das  Leben  kopiert,  so  brauchen  wir  sie  nicht.'  (II.  447.) 
Hier  mag  auch  gleich  die  oft  zitierte  Stelle  iiber  Kolorit  Platz  finden: 
.Kolorit  ist  das  konzentrierte,  potenzierte  Spiegelbild  der  uns  umgebenden 
Dinge,  die  in  der  Schdpfung  zerstreut  liegen:  ihr  verklSrter  Abglanz 
in  einer  poetischen  Seele.  Es  basiert  stets  auf  dem  innersten  Natur- 
gefuhl.^  (Aus  dem  Aufsatze  .tJber  den  Makartismus.  Pathologische  Er- 
scheinung  der  Neuzeit."  II.  451.) 

Mit  diesen  Forderungen,  die  im  Grund  nur  eine  Rechtfertigung 
eigenen  Schaffens  bedeuten,  sind  wir  aber  doch  wieder  bei  dem  Indi- 
viduum  angelangt,  das  von  seinem  Talent  oder  seinem  Dimon  beherrscht 
wird:  —  denn  nicht  wir  diktieren  unserem  Talent  die  Richtung,  sondem 
der  DImon  ist  es,  der  uns  seine  Wege  fuhrt  und  zuweilen,  voll  Ehrlichkeit 
und  List,  zu  Bekenntnissen  anspomt.  Wir  aber  fragen:  —  Was  ist 
nberhaupt  das  Unwesentliche  in  der  Kunst?  Jede  einzelne  Kunstler- 
natur  wird  eine  andere  Antwort  geben,  and  damit  ist  das,  was  Stil  sein 
soil,  noch  immer  nicht  dem  Reiche  der  persdnlichen  Willkiir  oder 
souverlner  Laune  entruckt. 

*)  R5mi8cbe  Tagebiicber  von  Ferdinand  Gregorovius.  Herautgegeben  von 
Friedrich  Althaus.  Stungart  1803  I.  G.  Cottasche  Verlagsbuchbandlung.  S.  5. 

10* 


148  ^ 


Feuerbach  selbst  wird  allerdings  nicht  mude,  sein  Verhiltnis  zur 
lebendigen  Natur  zu  betonen;  er  spottet  fiber  die  Gliederpuppen,  die 
Accessoirmalerei,  den  Makartismus,  den  ganzen  leeren  Kleinkram,  der 
Slit  dem  Schlagwort  Realismus  die  seelische  Durftigkeit  verbrSmt.  Aber 
sein  VerhMltnis  zur  Natur  ist  nicht,  um  einen  grossen  Gegensatz  aus 
der  Geschichte  zu  wShlen,  Durerisch;  er  tritt  immer  nur  als  Maler, 
in  dem  eine  ungeheure  isthetische  Kultur  lebendig  oder  auch  tyrannisch 
wirkt,  an  die  Natur  heran;  er  ist  ihr  Herr,  nicht  ihr  Anbeter.  Er  wihlt 
die  Frauen  und  die  Kinder,  die  er  mit  dem  Fleiss  des  Einsamen  als 
Modelle  verwendet,  nach  den  Bedurfnissen  eines  persdnlichen  Ideals, 
das  die  MonumentalitSt  der  Formen  auf  ihren  Gehalt  an  edler  Seele  hin 
pruft.  Er  liebt  das  rdmische  Kind  und  die  rdmische  Frau,  weil  aus 
ihren  Gestalten  eine  vollere,  reichere  Welt  der  Schonheit  spricht.  Er 
gehdrt  auf  keinen  Fall  zu  jenen  Kiinstlern,  die  die  grossen  Formen  des 
Sudens  zu  furchten  haben;  er  ist,  seinem  ganzen  Gefuhl  nach,  ein  halber 
Romane,  der  weiss,  dass  in  der  bildenden  Kunst  Form  und  Seele  in 
in  einem  anderen  Verhiltnis  zu  einander  stehen,  als  der  Deutsche  glaubt. 
Freilich  sieht  auch  er  die  edlen  Gestalten,  die  mit  sicheren  Fussen  auf 
klassischer  Erde  wandeln,  mit  den  Augen  eines  gebildeten  Deutschen, 
dessen  Bildung  vorwiegend  isthetisch-literarisch  ist.  Wohl  darf  er  von 
sich  selber  sagen:  „Meine  Kunst  ist  ohne  alle  Sentimentalitat'^;  aber 
das  Gefuhl  ruhiger  Sehnsucht  oder  unendlich  milder  Trauer,  das  in  seinen 
Iphigenien  lebt,  atmet  doch  halb  und  halb  jene  veredelte  Sentimentalitit, 
die  in  einer  klassischen  Bildung  wurzelt  und  unsterbliche  Gdtter,  die 
ewig  unerreichbar  bleiben,  in  edeln  Landschaften  wandeln  sieht.  Es 
mag  hier  daran  erinnert  werden,  dass  auch  Burckhardt  und  Bdcklin  die 
Seelenheimat  ihrer  Kunst  an  den  odysseeischen  Gestaden  des  Mittel- 
meeres,  die  den  Gdttern  heilig  sind,  gefunden  haben;  allein  Bdcklin  war 
durch  seine  ganze  Natur  dazu  gezwungen,  diese  sonnige  Welt  za 
steigem  und  seinen  Gestalten  jenes  drastische,  uberstrdmende  Leben  zu 
geben,  das  keinen  Zweifel  an  der  Fulle  aufkommen  IMsst.  Er  bleibt  die 
reichere  Natur,  die  der  Forderung,  dass  jeder  Kiinstler  seine  eigene 
Welt  aus  sich  heraus  erschaffen  musse,  mit  der  Ruhe  einer  wirklichen 
heidnischen  Heldennatur  nachgekommen  ist,  die  sich  von  jeder  Wirkung 
Rechenschaft  zu  geben  versucht,  ohne  die  Unmittelbarkeit  einzubiissen. 

Wir  wissen,  dass  Feuerbach,  als  er  zum  erstenroal  einige  Werke 
Bdcklins  zu  Gesicht  bekam,  voller  Besturzung  davor  stand  und  dem 
Freund  Allgeyer  bekannte:  „Ich  muss  von  vom  anfangen.'  (1.  359.) 
Allein  dieser  uberwaltigende  Eindruck  konnte,  seinem  ganzen  Wesen  nach, 
nur  voriibergehend  sein;  denn  die  Klarheit  seiner  Natur,  die  mit  einem 
malerischen  Problem  immer  Nebenabsichten  verband,  wies  den  geborenen 
Klassizisten  auf  eine  andere  Bewiltigung  der  Erscheinungen  hin. 

Das  Verhdltnis  zur  Natur  bei  vielen  modemen  Kunstfreunden,  die 
vom  „paysage  intime^^  herkommen  und  fiber  den  Naturalismus  nicht  hin- 
auskommen  kdnnen,  mag  Schuld  daran  sein,  dass  sie  zu  einzelnen  Studien 
Feuerbachs  ein  engeres  VerhSltnis  haben,  als  zu  seinen  grossen  Bildem^ 
Einige  seiner  Meerstudien  aus  Porto  d'Anzio,  die  um  die  Mitte  der 


149 


sechziger  Jahre  entstanden,  offenbaren  einen  kSstlichen  Sinn  ftir  intime 
Naturstimmungen,  die  umso  bezanbernder  wirken,  als  auch  sie,  trotz 
liebevollster  Versenkung,  keine  naturalistischen  Abschriften  sind,  sondern 
in  jedem  Pinselstrich  die  meisterliche  Sicherheit  einer  grossen,  reifen 
Personlichkeit  zeigen,  die  sich  stets  in  klassischer  Einfachheit  zu  geben 
weiss.  Ich  kenne  Maler,  die  ziemlich  kiihl  von  den  grossen  Werken  des 
Klassizisten  sprechen  und  doch  vor  diesen  herrlichen  Studien,  die  mit 
den  einfachsten  Mitteln  das  Allerhdchste  erreichen,  in  belles  EntzQcken 
geraten.  Wer  dazu  in  einer  personlichen  Auffassung  der  Natur  etwas 
Hdberes  sieht,  als  reine  temperamentlose  Abschrift,  kann  diese  monu- 
mentalen  Studien  gar  nicht  hoch  genug  schStzen;  es  sind,  wie  auch  viele 
Handzeichnungen  des  Kunstlers,  reine  Meisterwerke,  deren  Wirkung 
keiner  Mode  unterworfen  ist. 

In  seinen  grossen  Bildem  schwMcht  Feuerbach,  urn  der  stilistischen 
Gesamtwirkung  willen,  seine  Naturstudien  ab,  und  dies  geschieht,  wie 
jeder  sehen  mag,  in  vielen  Fillen  auf  Kosten  des  Lebens.  Das  Meer, 
vor  dem  seine  Gestalten  weilen,  ist  manchmal  blechem  und  der  Vorder- 
grund  zuweilen  langweilig.  Freilich  erfolgt  diese  Abschwichung,  die 
immer  aus  einer  malerischen  Gesamtauffassung  entspringt,  niemals  aus 
rein  dekorativen  Motiven.  Das  Urteil  Bocklins,  dass  Feuerbach  niemals 
zuerst  den  Gedanken  eines  Bildes  im  Sinn  gehabt  habe,  sondern  immer 
nur  von  einzelnen  Farbeneffekten  ausgegangen  sei,  erscheint  mir  im 
hochsten  Grade  ungerecht.*)  Wir  sind  durch  die  Briefe  Feuerbachs,  die 
michts  verschweigen,  viel  zu  gut  uber  seine  Arbeitsweise  unterrichtet,  als 
dass  wir  es  ruhig  hinnehmen  konnten,  und  auch  Bocklin  hat  spater  zu- 
gegeben,  dass  die  Bilder  seines  Zeitgenossen  dekorativ  sehr  zusammen- 
hingend  seien,  wie  denn  Feuerbach  uberhaupt  eine  ausgezeichnete  Be- 
gabung  fur  das  Dekorative  habe.^ 

Allerdings  ging  Feuerbach  nicht,  wie  etwa  Puvis  de  Chavannes,  von 
grossen  dekorativen  Gesichtspunkten  aus,  die  eine  stilistische  Auffassung 
der  Natur  bedingen.  Aber  die  Komposition  seiner  grossen  Bilder  ist, 
wie  auch  das  Kolorit,  immer  von  jener  einheitlichen  Stimmung,  die  eine 
gianzende  BewEltigung  des  einzelnen  Problems  bedeutet.  Die  Augen 
der  Zeitgenossen  hatten  allerdings  wenig  Sinn  fur  die  koloristischen 
Feinheiten  des  .Gastmahls''  (1867 — 1860),  auf  dem  der  kuhle  Silberton 
so  gut  das  Licht  der  ersten  Fruhe  wiedergibt.  Wie  meisterhaft  ist  femer 
die  Ruhe  des  Symposions,  wo  Sokrates  in  Schweigen  dasitzt,  durch  die 
Linie  der  Komposition  ausgedriickt,  die  nach  rechts  zu  gerade  verliuft! 
Wie  hat  es  der  Meister  verstanden,  in  der  zweiten  Fassung,  die  durch- 
aus  keine  einfache  Wiederholung  ist,  die  Komposition  reicher,  gedrdngter, 
geschlossener  zu  machen,  indem  er  diese  Linie  durch  eine  aufrechte 
Gestalt  bricht  und  einen  anderen,  tieferen  Gesichtspunkt  fur  das  ganze 


*)  Rudolf  Schick,  Tagebucbaufzeichnungen  aus  den  Jahren  1866,  1868,  1860 
iber  Arnold  Bdcklln.  Herausgegeben  von  Hugo  von  Tschudi.  Berlin  1001.  F. 
Fontane  &  Co. 

^)  Ebenda  S.  306. 


150 


Bild  wUhlt!  Freilich  muss  man  sich  oft,  wie  z.  B.  bei  der  ^Amazonen- 
schlacht*,  an  Einzelheiten  halten,  urn  zu  einer  gerechten  Wurdigung  der 
Leistung  zu  kommen,  die  der  Kunstler,  trotz  aller  UnzuUnglichkeiten, 
vollbracht  hat;  diese  Einzelheiten,  die  allerdings  wieder  auf  einen  grossen 
Ahnherm,  auf  Michelangelo  hinweisen,  sind  von  monumentalstem  Ge- 
prige.  Die  Form  ist  ihm  heilig;  aber  die  Mittel,  die  er  anvendet,  um 
sie  zu  beleben,  sind  niemals  auf  ein  espressivo  um  jeden  Preis  be- 
rechnet:  der  Tadel  Bdcklins,  dass  auf  der  Amazonenschlacht  kein 
Leben  sei,  triflft  den  Nagel  auf  den  Kopf,  wenn  man  das  Leben  in  der 
leidenschaftlichen  Bewegung  sieht,  die  z.  B.  auf  dem  herrlichen  Bilde  des 
Rubens  in  der  alten  Pinakothek  herrscht.  Es  ist  selten,  dass  Literatur- 
maler  —  und  ein  solcher  ist  Feuerbach  in  gewisser  Hinsicht  —  grosse 
Farbenzauberer  sind,  und  wer  in  der  statuarischen  Ruhe  des  Lebens 
ein  Ideal  sieht,  wird  leicht  geneigt  sein,  die  Farbe,  deren  Sinnenzauber 
nicht  nur  ein  Ausdrucksmittel,  sondem  ein  Symbol  des  Lebens  ist, 
seinen  andem  kunstlerischen  Absichten  unterzuordnen.  Vergessen  wir 
es  nicht,  dass  Feuerbach  zu  den  Geschmacksaristokraten  gehort,  die 
jedes  Obermass,  das  nicht  schon  durch  eine  wiirdige  Vergangenheit 
geheiligt  ist,  als  unleidlich  empfinden  und  von  dem  Beschauer  ver- 
langen,  dass  er  Sinn  fur  zarte  Nuancen  und  Tdne  habe,  dass  er  die 
Bescheidenheit  der  Natur,  die  allerdings  zuweilen  recht  unbescheiden 
ist,  zu  wurdigen  wisse.  Es  ist  bezeichnend  fur  den  Kunstler,  dass  er, 
dessen  Fruchtbarkeit  eine  dimonische  Lebensfulle  verrat,  seinen  Studien 
nur  einen  bedingten  Wert  beilegt:  sie  sind  ihm  nur  Mittel,  um  den 
Geist  zu  entbinden,  den  er  auf  einem  Bild  verkorpem  will,  welches  er  oft 
jahrelang  mit  sich  herumtr&gt,  weil  ihm  irgend  ein  Motiv,  das  ihm  vor 
der  Seele  schwebt,  noch  nicht  im  Leben  entgegengetreten  ist:  so  ver- 
dankt  die  ergreifende  ^Piet^**  in  der  Galerie  Schack  ihre  Entstehung 
dem  Anblick  eines  armen  Ciociarenweibes,  das  Feuerbach  auf  einer 
romischen  Treppe  liegen  sah.  Aber  auch  dieses  Bild  weist,  wie  alle 
Werke  Feuerbachs,  in  die  Vergangenheit,  das  Land  der  Schdnheit  und 
der  grossen  Meister  zuruck:  diese  Monumental kunst,  die  vom  Leben 
und  vom  Tode  Schonheit  des  Leibes  und  der  Seele  verlangt,  erhalt  ihre 
Rechtfertigung  durch  den  Geist,  der  die  Leidenschaft  nur  in  jenen 
Augenblicken  liebt,  wo  sie  die  Linie,  die  man,  wie  Hebbel  meint,  nur 
um  tausend  Meilen  iiberschreiten  kann,  noch  um  keines  Haares  Breite 
iiberschritten  hat. 


5. 

Bdcklin  hat  das  herbe  Wort  ausgesprochen:  ^Die  Kunst  ist  nicht 
fur  alle  I*  und  kein  Einsichtiger  wird  dieses  Kunstlerwort  bezweifeln, 
trotz  der  modemen  Bestrebungen,  die  hdchsten  Werke  jedem  zuginglich 
zu  machen.  Bei  uns  Deutschen  kommt  ein  anderes  hinzu,  dessen  ich 
schon  gedacht  habe:  Wir  sind  kein  Volk  der  kunstlerischen  Anschauung; 
auch  hochgebildete  Manner  bemlchtigen  sich  eines  Kunstwerkes  gem 
auf  dem  Wege  der  Reflexion,  die  sich  nicht  an  die  ktinstlerische  Be- 


-c^    151  ^ 


wftltiguog  Oder  an  die  Gestaltung  des  Problems  halt,  sondem  von  dem 
aovellistischen  Gehalt  eines  Gebildes  ausgeht.  Ein  Kopf,  unter  dem 
der  schone  Titel  Beatrice  steht,  wird  hdheres  Interesse  erregen,  als  ein 
unbetitelter  Studienkopf,  mag  er  auch  die  hochste  Meisterschaft  ver- 
raten.  Die  zeitweilige  Gewohnheit  Bdcklins,  ein  Bild  ohne  Namen  in 
die  Welt  gehen  zu  lassen,  entsprang  einer  Kfinstlerlaune,  die  keine 
Duldung  finden  durfte.  Der  Laie  will  von  einem  Bild  etwas  nach  Hause 
tragen,  von  dem  er  erzfthlen  kann;  nur  was  sich  in  Worte  fassen  lasst, 
hat  fur  ihn  Wert,  wMhrend  doch  nur  das  Unaussprechliche  gdttlich  ist. 
Vielen  Menschen  ist  der  Sinn  fiir  die  bildende  Kunst  iiberhaupt  ver- 
sagt;  es  fehlt  ihnen,  urn  ein  Wort  Bayersdorfers  zu  gebrauchen,  das 
Kunstorgan.    Es  wSre  an  der  Zeit,  dies  offen  einzugestehen. 

Durch  die  VerdfTentlichung  der  Allgeyerschen  Biographie  Feuer- 
bachs  hat  das  » VermMchtnis*,  als  Dokument  genommen,  eine  Minderung 
erfohren:  wir  wissen  heute,  dass  das  ^Vermachtnis''  ein  arrangiertes 
Buch  ist.  Der  Nachlass  Feuerbachs  in  der  Nationalgalerie  gestattet 
die  ursprungliche  Fassung  der  Dokumente,  die  zu  seiner  Abfassung 
gedient  haben,  zum  grossten  Teile  festzustellen,  und  damach  ist  das 
Vermachtnis,  in  seiner  iusseren  Form,  ein  Werk  der  Mutter  Feuerbachs, 
deren  Motive  bei  der  Veroffentlichung  ziemlich  klar  liegen:  diese  seltene 
Frau,  die  allein  die  reizbare  Natur  ihres  Stiefsohnes  kannte  und  seine 
ewigen  KMmpfe  gegen  eine  stumpfe  Welt  mitgekdmpft  hatte,  war  offenbar 
von  dem  Bestreben  beseelt,  das  Bild  des  Heimgegangenen  in  seinem 
ganzen  Glanze  zu  zeigen.  Sie  hielt  es  fur  erlaubt  oder  sogar  fiir  geboten, 
eine  kunstlerisch  abgerundete  Darstellung  seiner  Schicksale  in  die  Welt 
zu  schicken.  Diese  gemeine  Welt,  an  deren  Widerstand  eine  edle 
Kunstlerseele  zugrunde  gegangen  war,  sollte  einen  Feuerbach  sehen, 
wie  er  in  seinen  besten  Augenblicken  in  ihrer  emp^nglichen  Mutter- 
seele  gelebt  hatte.  Dies  Bedurfnis  nach  Verklarung  ist  nicht  nur 
mutterlich,  es  ist  echt  weiblich.  Dazu  kommt,  dass  sie,  wie  der  milde 
Allgeyer  andeutet,  in  einer  Zeit  aufgewachsen  war,  die  es  fur  uber- 
flussig  hielt,  philologische  Treue  zu  bieten  und  den  Wert  eines  Doku- 
ments  in  seiner  Genauigkeit  zu  sehen.  Die  vomehme  Gesinnung,  aus 
der  die  Ordnung  und  Beschneidung  des  Nachlasses  entsprang,  ist  uber 
jeden  Zweifel  erhaben;  in  einem  Briefe  an  den  Herausgeber  der 
Biographie,  Professor  Karl  Neumann,  schreibt  die  seltene  Frau:  «Ich 
babe  stets  das  Gefuhl,  dass  man  jetzt  nur  an  das  Aufsteigen  denken 
sollte  und  zwar  so  boch,  dass  der  Schmutz  der  Erde  und  die  KSmpfe 
mit  der  Gemeinheit  und  dem  Irrtum  nur  undeutlich  noch  zu  sehen 
sind.  Je  hdher  er  schwebt,  desto  tiefer  bleibt  der  Unverstand  zuriick. 
Mit  den  fortgesetzten  Negationen  werden  die  Gegner  selbst  in  die  Hdhe 
gezogen  und  stirken  sich  an  ihrer  Gemeinsamkeit  .  .  .  Den  Schmerz 
muss  der  einzelne  still  tragen;  Untrostlichkeit  taugt  nicht  fur  die  Licht- 
gestalten  der  Geschichte.  Dies  ist  nur  mein  eigenes  Recht,  das  ube 
ich  aus  bis  zum  letzten  Atemzug.*  (I,XVI.)  Dies  ist  deutlich.  Und  wer 
wird  es  einer  Mutter  ubel  nehmen  wollen,  wenn  sie  die  Tragddie  ihres 
Sohnes  im  Lichte  der  Verkldrung  zu  sehen  wunscht,  die  das  Andenken 


152 


des  Siegers  umglflozt?  H.  Werner  hat  die  Originale  der  Briefe  und 
Aafzeichnungen  Feuerbachs  in  der  Nationalgalerie  mit  dem  , VermSchtnis* 
verglichen  und  berichtet  daruber  in  der  »Kunst  fur  Alle*"  (XIX, I).  Die 
Abweichungen,  die  auch  aus  dem  Allgeyerschen  Buch  hervorgehen, 
zeigen  deutlich,  was  sich  Frau  Feuerbach  im  Interesse  eines  teuren 
Angedenkens  erlaubt  hat:  sie  datiert  Briefe  um,  wenn  es  ihr  ndtig 
erscheint.  Sie  fuhrt  die  Lebensennnerungen  ihres  Sohnes  selber  fort, 
wo  diese  eine  Unterbrechung  aufweisen,  um  die  Eindrucke,  die  ent- 
sohwundene  Zeiten  und  Tage  in  dem  Kunstler  hinterlassen  haben,  zu 
verstarken  oder  abzurunden.  Sie  fugt  Fragmente  aus  Schriften  Feuer- 
bachs ein,  die  aus  einer  glMnzlich  anderen  Stimmung  herausgewachsen 
sind  und  in  einer  neuen  Nachbarschaft  ganz  anders  wirken:  das  Heftige 
wird  sanft  und  das  Verletzende  oder  die  Schmdhung  erstrahlt  in  der 
Heiterkeit  des  Erkennenden,  der  sich  befreit,  indem  er  seinen  Leiden 
schdnen  Ausdruck  verleiht.  Wenn  man  erwdgt,  dass  eine  Reihe  der 
abgeklHrtesten  Aphorismen  in  dem  VermSchtnis  einer  Schmahschnft 
entstammen,  die  Feuerbach  im  Jahre  1874  schrieb,  um  an  seinen 
Wiener  Peinigem  Vergeltung  zu  uben,  wird  man  die  Verschiedenheit 
der  Wirkung  und  des  Tones  begreifen.  Die  grenzenlose  Verbitterung, 
in  der  Feuerbach  aus  Wien  geflohen  war,  passte  nicht  in  den  Rahmen 
eines  Buches,  das  einen  Helden  kurz  nach  seinem  Heimgange  zeigen 
sollte.  Auch  die  Mutter  des  Kunstlers  gehdrte  dem  Geiste  nach  zu 
dem  Geschlechte  der  Feuerbach,  denen  die  Schdnheit  ein  anderes 
Lebenselement  bedeutete  als  den  Zeitgenossen,  welchen  die  Wahrheit 
Oder  die  charakteristische  HSsslichkeit  hoher  steht  als  die  edelste  Attitude. 

Die  Briefe  Feuerbachs  zeigen  einen  leidenschaftlich  kimpfenden 
Menschen,  dem  es  nicht  gegeben  ist,  den  Widerstand  der  Welt  mit 
Fassung  hinzunehmen.  Er  weiss  es  zwar,  dass  dem  Genius  kein  anderes 
Los  hienieden  beschieden  ist,  dass  die  MittelmMssigkeit,  die  immer 
recht  wdgt,  eine  falsche  Wage  hat,  dass  kein  echter  Ktinstler  unter- 
gehen  kann;  aber  es  ist  ihm,  trotz  aller  Einsicht  in  das  Getriebe  der 
Welt,  doch  unmdglich,  jene  heitere  Gelassenheit  zu  erwerben,  welche 
die  Welt  von  dem  Heroen  verlangt,  der  sich  im  Bewusstsein  seines 
eigenen  Wertes  und  eines  einzigen  Schicksals  uber  alle  Unbilden  und 
Stdsse  hinwegsetzt.  Freilich  ist  es  keinem  Menschen  gegeben,  die  Not 
der  Zeit  als  ein  Gott  zu  tragen:  —  auch  den  Edelsten  haucht  zuweilen 
jene  Verbitterung  an,  die  zu  den  Menschlichkeiten  erlauchter  Geister 
gehdrt.  Wer  nicht,  wie  Michelangelo,  in  grossen  Werken  abseits  leben 
kann,  muss  reden.  Schopenhauer  hat  es  getan,  auf  die  Gefahr  bin, 
seinen  Ruhm  bei  jenen  Tropfen  zu  mindem,  die  ihre  eigenen  Mflngel 
an  andem  doppelt  rugen;  denn  die  Welt  ist,  wie  die  Kinder,  von  einera 
moralischen  Rigorismus  beseelt,  der  dem  schaffenden  Menschen  keine 
SchwSche  und  keinen  Flecken  verzeiht.  Sie  vergisst  es  niemals,  wenn 
ein  Heros  sich  gegen  das  platonische  Urbild.  des  Helden  versundigt, 
das  im  Einzelfalle  auch  Nichtidealisten  anerkennen,  die  sonst  mehr  in 
die  Pfutzen  als  in  die  Sterne  schauen. 

Wenn  man  die  Feuerbachschen  Ergusse  liest,  so  fallen  zunlchst 


153  8^ 


zwei  Eigenschaften  des  Menschen  auf:  er  ist  von  unglaublicher  Reiz- 
barkeit,  die  in  erblicher  Belastung  ihre  ErklMrung  findet,  und  er  hilt 
mit  seiner  Zufriedenheit  mit  der  Herrlichkeit  der  eigenen  Leistung 
nicht  hinter  dem  Berge.  Er  erspart  der  Mutter  keine  Klage,  die  der 
Not  des  Augenblicks  entspringt.  Er  muss  reden  oder  schreiben,  er 
kann  einfach  nicht  anders.  Der  Augenblick,  den  er  als  Kunstler  lebt, 
ist  alles,  mag  er  bitter  oder  gdttlich  sein,  mag  er  ein  gequSltes  Mutter- 
herz  aufs  Tiefste  verletzen  oder  mit  Jubel  fullen.  Die  gleiche  F&higkeit 
des  Ausdrucks  steht  ihm  aber  auch  fur  die  heiteren  Stimmungen  zu 
Gebote:  er  weiss  sie  in  gewdhlten  Worten  festzuhalten  und  das  »geistige 
Reinlichkeitsbedurfnis',  dessen  er  sich  rtihmt,  lisst*  ihn  jede  schiefe 
Wendung  vermeiden.  Er  ist  wirklich,  als  Grosster  seiner  Rasse,  ein 
Grandseigneur  des  Geistes,  der  weiss,  dass  der  Mensch,  der  zu  den 
Gebildeten  zMhlen  will,  schreiben  und  sprechen  konnen  muss.  Mitten 
in  einer  Klage  blitzt  oft  ein  Wort  auf,  das,  als  Gegensatz,  umso  starker 
wirkt  und  die  Heiterkeit  der  Welt  reiner  Erkenntnis  offenbart.  Allein 
diese  olympischen  Stimmungen  sind  nur  dazu  da,  den  Kunstler,  der 
tr&umen  und  hofFen  muss,  aufrecht  zu  erhalten;  als  Mensch  ist  Feuer- 
bach  der  ewig  Rastlose,  Gehetzte,  der  nichts  vergessen  und  nichts  ver- 
zeihen  kann,  zumal  er  weiss,  was  das  Leben  fur  ihn  sein  konnte.  Mit 
welcher  Feinheit  betrachtet  er  das  allgemeine  Verhiltnis  der  Kunstler 
zu  den  Frauen!  Ich  kenne  nichts  treCfenderes,  vom  Standpunkt  der 
Schaffenden  aus  betrachtet,  als  die  paar  Absatze  im  Vermachtnis,  die 
von  den  Frauen  handeln :  Die  Kunst  ist  eine  strenge  gdttliche  Geliebte, 
sie  steht  der  irdischen  immer  im  Wege.  Welches  Weib  begreift  und 
duldet  dies  ?  —  Es  gibt  wenig  Frauen,  welche  Rhig  sind,  den  Mann  um 
des  Genius  willen  zu  lieben.  Es  ist  die  Person  und  der  Erfolg,  den 
sie  begehren.  —  Hoch  oben  uber  dem  kleinen  Getriebe  alltiglicher 
Sorgen  ein  wahrhaftiges  Kunstlerleben  in  Glanz,  Ehre  und  Reichtum  — 
und  dies  alles  auf  ein  liebes,  schdnes  Haupt  niederlegen,  das  liesse  ich 
mir  gerne  gefallen;  sonst  lieber  allein  den  Flug  zur  Sonne  wagen  und 
mit  verbrannten  Flugeln  in  die  Nacht  versinken,  wenn  es  denn  sein 
soil.    (Vermachtnis,  187,  188). 

Nur  unsere  Sehnsucht  ist  schdpferisch.  Die  moderne  Kunst  und 
Dichtung  verdankt  eine  Reihe  ihrer  herrlichsten  Frauengestalten  jener 
lieblichsten  der  Dichterstinden,  die,  wie  Gottfried  Keller  singt,  darin 
besteht,  ,schdne  Frauenbilder  zu  erfinden,  wie  die  bittre  Erde  sie  nicht 
trigt."  Auch  die  Frauen,  und  besonders  die  weiblichen  Studienkdpfe 
des  Meisters  verraten  eine  Kunstlersehnsucht,  die  ihre  Modelle  aus 
innerem  Zwange  wihlt.  Man  mag  den  Hauch  herber  Melancholie  der 
auf  ihnen  liegt,  aus  der  Lebenslage  eines  armen  Mannes  erkldren,  dem 
das  Leben  nicht  hold  ist;  aber  die  Auffassung  und  die  Formgebung 
zeigt  wieder  den  Sinn  Feuerbachs  fur  das  Monumentale,  der  die  Poesie 
im  Positiven  sucht  und  sein  wetbliches  Ideal  nur  in  der  Romerin,  als 
einem  Wesen  findet,  das  schon  durch  seine  Abstammung  mit  einer 
grossen  Welt  verbunden  ist.  Feuerbach  wird  nicht  mude,  sein  Modell, 
die  schone  Nanna  zu  malen:  er  malt  damit  sein  Ideal,  das  den  einen 


-5^  154 


Zag  seiner  Natur  zum  Grossen,  zum  Schdnen,  im  Gegensatz  zum 
Hubschen,  in  glinzender  Weise  belegt  Auch  die  Heiterkeit,  die  auf 
einzelnen  seiner  Bilder,  wie  auf  den  ^Balgenden  Buben",  dem  .Stindchen", 
dem  ,Urteil  des  Paris**  herrscht,  ist  eine  Heiterkeit  sudlicher  Formen, 
die  das  Leben  noch  nicht  beschmutzt  hat. 

Wir  haben  uns  daran  gewdhnt,  den  Menschen  und  den  KQnstler 
nicht  zu  trennen:  von  einem  solchen  Standpunkt  aus  miissen  wir,  bei 
der  Lekture  der  Briefe  Feuerbachs,  sagen :  Was  der  Mensch  durch  seine 
Bekenntnisse  vielleicht  verliert,  gewinnt  der  Kunstler  doppelt  wieder. 
Man  mag  Qber  viele  Werke  des  Klassizisten  denken,  wie  man  will,  der 
unvergleichlich  hohe  Ernst,  aus  dem  sie  geflossen,  ist  tiber  jeden  Angriff 
erhaben.  Der  Dflmon  seines  Geschlechtes,  der  ihn  aufwfirts  fuhrt,  ist 
seine  Stiitze  und  sein  Stachel ;  er  Idsst  ihn  keinen  Augenblick  vergessen, 
wozu  er  als  Auserwdhlter  auf  der  Welt  ist.  In  seinem  Bann  ertrMgt  er 
alles:  Hohn  und  Verkennung,  Schmach  und  Not.  Ja,  dieses  Kunstler- 
leben  ist  in  Wahrheit  eine  furchtbare  Tragodie,  deren  schleppende  Ent- 
wicklung  wir  jetzt  zum  ersten  Male  iiberblicken  konnen.  Das  Bewusst- 
sein  eines  gehemmten  Lebens  wird  in  dem  reizbaren  Manne  noch  da- 
durch  gescharft,  dass  es  immer  nur  an  einer  Kleinigkeit  fehlt,  um  dem 
Ringenden  den  Becher  des  Lebens  zu  ftillen.  Das  Ausserste,  der  nackte 
Hunger,  bleibt  dem  Vereinsamten  zwar  erspart;  aber  seine  isthetische  Natur, 
die  weiss,  dass  sie  Gluck  und  Glanz,  Heiterkeit  und  Verstandnis  brauchte, 
um  in  reiner  Menschenfreude  aufzubltihen,  kann  nicht  zur  Ruhe  kommen, 
weil  ihr  die  voile  Sicherheit  des  Lebens  immer  fern  und  femer  weicht. 

Selbst  der  MMcen,  den  die  Welt  mit  seinem  Namen  in  Verbindung 
bringt,  war  nicht  der  Mann,  als  welcher  er  vor  der  Menge  dasteht. 
Es  geht  nicht  mehr  an»  in  dem  nachmaligen  Grafen  Schack  den  auser- 
lesenen  Kunstfreund  zu  sehen,  als  welcher  er  selbst  gelten  m5chte :  die 
Briefe,  die  der  dichtende  Mecklenburger  Baron  an  die  Mutter  des 
Kunstlers  schrieb,  —  man  findet  sie  im  Anhang  des  zweiten  Bandes 
der  Allgeyerschen  Biographie  abgedruckt  —  sind  ganz  einfach  un- 
quali6zierbar.  Der  Mann  hat  oflfenbar  das  Gefiihl,  hoch  tiber  dem  armen 
Kiinstler  zu  stehen,  den  man,  so  meint  er  wohl,  vielleicht  im  Interesse 
seines  ungebMrdigen  Talents  von  Zeit  zu  Zeit  ducken  miisse.  Von  der 
schlechten  Bezahlung  der  Bilder  will  ich  nicht  reden,  obwohl  dieser 
Umstand  zu  der  verichtlichen  GehMssigkeit  beigetragen  haben  mag,  die 
noch  heute  unter  den  Kiinstlern,  die  mit  dem  MScen  zu  tun  batten, 
gegen  den  Sammler  herrscht  und  auch  die  Heimgegangenen  beseelte. 
Nur  die  Gesinnung,  die  der  Baron  im  Verkehr  mit  seinen  Kiinstlern 
betitigte,  verdient  den  schirfsten  Tadel.  Feine  Naturen  haben  in  ihrem 
Urteil  iiber  den  dichtenden  Grafen  nie  geschwankt.  Ich  kann  mich 
hierin  auf  eigene  Erinnerungen  stutzen:  der  geistvolle,  mit  Feuerbach 
befreundete  Ludwig  von  Hagn,  mit  dem  ich  oft  iiber  die  romische  Zeit 
Feuerbachs  und  dessen  Verhflltnis  zu  Schack  gesprochen  babe,  hat  aus 
seiner  Beurteilung  des  Sammlers  nie  ein  Hehl  gemacht.  Man  weiss 
desgleichen,  wie  Lenbach  und  Bdcklin  uber  diesen  geurteilt  haben.  Es 
ist  bier  auch  nicht  der  Ort,  auf  die  einzelnen  Unrichtigkeiten,  die  das 


155 


Bach  des  Grafen  fiber  seine  Sammlung  enthilt,  einzugeben;  aber  man 
darf  die  Frage  stellen:  Was  bStte  aus  der  Galerie  Schack  werden 
kdnnen,  wenn  der  Graf  den  Kunstlem  Feuerbach,  Bdcklin,  Lenbacb, 
Schwind  voile  Freiheit  des  Schaffens  gesichert  hStte?  Welch  feinen 
Takt  hat  Konrad  Fiedler,  der  freilich  keine  Sammlematur  war,  bewihrt, 
indem  er  Hans  von  Mar6es,  der  allerdings  sein  schwereres  Schicksal 
einzig  and  allein  in  der  eigenen  Brust  trug,  die  Sicherheit  des  Lebens 
schenktel  Und  doch  verdankt  die  Welt  dem  Grafen  Schack  eine  der 
kdstlichsten  Bildergalerien  und  auch  Feuerbachs  Name  wird  durch  sie 
hi  schdnster  Weise  lebendig  erhalten.  Bei  gewissen  Grundungen  muss 
man  die  Mittel  und  Wege  vergessen,  die  zu  ihrem  Dasein  geftihrt 
haben. 

6. 

Alle  .Kunstschreiberei'',  von  der  die  Kiinstler,  wie  billig,  nicht 
allzuviel  halten,  wenn  sie  nicht  vorziehen,  ihr  jeden  Wert  abzusprechen, 
ist  sozusagen  Historie,  die  dem  einzelnen  den  Zugang  zu  auserlesenen 
Werken  erleichtert,  indem  sie  Zeit  und  Ort  der  Entstehung,  Natur  und 
Wesen  des  Urhebers,  Form  und  Mittel  des  Ausdruckes,  die  Bedurhiisse 
der  Kunstfreunde  und  die  Basis  des  Handwerks  erortert.  In  das  Tiefste 
eines  Kunstwerkes,  das  diesen  Namen  verdient,  kann  kein  Wort  fiihren; 
jenes  verlangt  ein  untrugliches  Auge  und  angeborenen  Kunstsinn,  das 
,Kunstorgan*<,  welches  wohl  entwickelt,  aber  nicht  gegeben  werden  kann. 
In  gewissem  Sinne  ist  nur  der  ausubende  Kunstler  zum  Kritiker  berufen, 
well  er  allein  weiss,  unter  welchen  Bedingungen  ein  Kunstwerk  ent- 
stehen  kann,  oder  entstehen  muss.  Die  unglaublich  schiefen  oder 
oberflachlichen  Urteile,  die  man  von  Kiinstlern  iiber  Kiinstler  hdren 
kann,  andem  nichts  an  dieser  Tatsache:  wir  sind  nur  fruchtbar  um  den 
Preis  der  Einseitigkeit,  die  jeden  in  seinen  Winkel  bannt,  von  wo  aus  er 
das  Getriebe  der  Gestalten  oder  die  Schauspiele  der  Natur  betrachten  mag. 

Auch  Julius  Allgeyer  (geb.  29.  Mdrz  1829  in  Haslach,  gest.  1900 
in  Munchen),  der  Freund  und  Biograph  Feuerbachs  hat  sich  um  die 
Knnst  bemuht:  er  war  Kupferstecher  und  diesem  Beruf  verdanken  wir 
manch  verstindiges  Urteil  uber  den  Maler,  dem  er  nahe  stehen  durfte. 
Er  gehdrt  zu  jenen  Naturen,  die  zum  Freund  geboren  sind.  Fur  sie 
besteht  das  Gluck  darin,  als  stille  Heldenverehrer  in  hdheren  Naturen 
aufzugehen,  die  auch  ein  hdheres  Schicksal  haben.  Ftir  den  stillen  Ge- 
Rhrten  waren  die  Schopfungen  des  Meisters  und  Freundes  mehr  als 
blosser  Schmuck  des  Daseins,  sie  waren  eine  Welt,  die  einem  ganzen 
Zuscbauerleben  Wurde  und  Bedeutung  verleiht.  Solche  Apostelnaturen 
messen  alle  andem  Erscheinungen  an  den  Leistungen  ihres  Gottes;  aber 
Allgeyer,  der  sich  durch  eigene  Kraft  in  die  Hdhe  freier  Bildung  empor- 
gearbeitet,  war  vomehm  genug,  auch  die  Einwendungen  zu  erwShnen,  die 
eine  gotterlose  Zeit  gegen  den  halben  Hellenen  vorzubringen  pflegte. 

Es  ist  nicht  das  erste  Mai,  dass  eine  Geistesrichtung,  die 
strebende  Vflter  begluckte,  in  einem  SpStgeborenen  ihre  Vollendung  er- 


156  8^ 


hielt:  die  Romantik  hat  sich,  in  ihrem  ganzen  Oberschwang,  erst  in 
Richard  Wagner  ausgesungen,  und  die  Hoffnungen  und  Fordeningen  der 
Generation,  die  in  Goethe  und  Hegel  ihre  dsthetischen  Lehrmeister  ver- 
ehrte,  hat  erst  Feuerbach  erfiillt,  zu  einer  Zeit,  als  ein  neues  Geschlecht 
von  einer  andem  Naturauffassung  aus  die  ganze  Kunst  zu  emeuem  ge- 
dachte,  indem  es  den  Stil  ganz  einfach  in  dem  freien  Ausdruck  der 
Qualitflten  eines  Meisters  sah.  Als  Feuerbach  auftrat,  gait  er  den  Zeit- 
genossen  als  iiberschwinglich  oder  verletzend  im  Kolorit,  und  als  er 
starb,  sprach  ihm  ein  rohes  Geschlecht,  das  von  andem  Meistem  her- 
kam,  die  Farbe  ab,  ohne  zu  bedenken,  dass  Form  und  Farbe  nur  in 
einem  bestimmten  Verhfiltnis  zu  einander  steben  konnen,  als  zwei  MIchte, 
deren  jede  nur  auf  Kosten  der  andem  ein  Oberniass  von  Leben  offen- 
baren  mag.  Viele  der  rohen  Schreier,  die  nichts  ftir  sich  batten,  als 
ein  gebildetes  Auge  und  eine  geschickte  Hand,  tibersahen  dabei  ganz 
das  personliche  Element,  die  vHandschrift'',  die  Feuerbach  trotz  seines 
bewussten  Verhiltnisses  zur  Renaissance,  in  fast  alien  seinen  Werken 
zeigt;  sie  vergassen  feraer,  dass  Feuerbach  allein  schon  als  Bildnis- 
maler  und  als  Darsteller  des  Kindes  eine  Bedeutung  besitzt,  die  in  die 
Zukunft  weist.  Manche  seiner  Kopfe  verraten  ohnehin  einen  feurigen 
Koloristen,  der  allerdings  wusste,  dass  in  seinen  Kompositionen,  die  ein 
adeliges  Geschlecht  heroischer  Menschen  zeigen,  die  Farbe,  um  der 
dekorativen  Gesamtwirkung  willen,  zuriickgedringt  werden  musste.  Den 
Gegern  des  Klassizisten  konnte  man  tibrigens  mit  Ausserungen  dienen, 
die  aus  ganz  anderm  Munde  kommen  und  doch  wie  eine  Rechtfertigung 
seines  Schaffens  klingen.  Bocklin  meint,*)  „die  Malerei  sollte  nur  Er- 
hebendes  und  Schones  oder  doch  unbefangene  Heiterkeit  darstellen 
woUen  und  nie  Elend,"  und  Courbet,  der  unverdSchtigste  Zeuge,  den  man 
sich  wunschen  kann,  erklSrt  geradezu:  La  beaut6,  c'est  rexpressionl*" 
Freilich  beweisen  solche  Ausdriicke,  in  denen  ein  reines  Geschmacks- 
urteil  liegt,  nur,  dass  man  mit  Allgemeinheiten,  mogen  sie  auch  noch 
so  treffend  sein,  jedes  Werk  rechtfertigen  kann,  das  eben  immer  wieder 
auf  eine  Natur,  als  auf  ein  granitenes  Fatum,  zuriickfuhrt. 

Vielleicht  schadet  es  der  strengen  Kunst  Feuerbachs,  dass  sie  sich 
zu  sehr  an  den  Intellekt  wendet.  Es  ist  begreiflich,  dass  moderne 
Kunstler,  die  in  der  Treue  der  Naturbeobachtung  ein  Dogma  sehen  und 
vor  allem  dem  Problem  des  Lichtes  mit  fanatischem  Eifer  nachgehen, 
nichts  von  einer  verschonerten  Natur,  von  Grossheit  der  Form  und 
Shnlichen  Forderungen  wissen  woUen.  Schdnheit  und  Betonung  des 
Charakteristischen  schliessen  sich  in  vielen  Fallen  aus,  schon  weil  die 
Schdnheit  im  Menschen  immer  nur  ein  Glucksfall  ist,  den  man  suchen  muss. 

In  Feuerbach  ist  aber  die  Kultur  fast  noch  michtiger  als  der 
Naturtrieb,  der  ihn  auf  gewisse  Motive  hinlenkt  und  erst  dann  ge- 
staltend  wirkt,  wenn  irgend  eine  zuflllige  Anschauung  oder  Farben- 
empBndung  mit  einem  seelischen  Erlebnis  zusammenschmilzt. 

Jede  Kunst  ist  ein  SicherinnemI  Damit  aber  ist  der  Persdnlichkeit 


Schick,  Tagebucb.  S.  200. 


157  ^ 


ihr  altes  Recht  eingerSumt,  die  hdchsten  Momente  ihres  Lebens  fest- 
zuhalten  und  in  einer  stilvollen  Wiedergabe  zu  verklSren. 

Schdnheit  selbst  ist  im  Gninde  nichts  anderes  als  die  Wiedergeburt 
eines  Natureindrucks.  Dieser  Satz  rechtfertigt  nicht  nur  die  Kunstler, 
velche  der  Farbe,  die  das  Leben  gibt,  allein  Ssthetische  Wirkung  zu- 
gesteben,  sondern  auch  jene  Naturen,  die  den  empfangenen  Eindruck 
reinigen  mussen,  weil  sie  ein  SchSnheitsideal  in  der  Seele  tragen, 
das  ibre  Hand  leitet  und  ibr  Auge  tyrannisiert 

Das  Verzeicbnis  der  Werke  Feuerbacbs  umfasst  772  Nummem, 
ansgefubrte  Werke,  Studien  und  Zeicbnungen.  Eine  solche  Produktions- 
kraft  ist  wabrbaft  damoniscb  und  nur  durcb  Feuerbacbs  souverines 
Verbaitnis  zur  Natur,  die  er  unaufborlicb  studiert,  und  zu  den  alten 
Meistem  erklflrlicb.  Als  Tecbniker,  den  keine  modemen  Licbtprobleme 
bewegen,  ist  der  Ktinstler  Musserst  solid:  seine  Bilder,  die  er  oft  ein 
Jabr  lang  ungefimisst  dasteben  Hess,  baben  sicb  alle  vortrefTlicb  gebalten. 

Die  neueste  Zeit  bat  es  vergessen,  dass  Menscb  und  Ktinstler  in 
innigstem  Verhflltnis  zu  einander  steben.  Icb  meine,  nur  ein  grosser 
Menscb  kann  aucb  ein  grosser  Kunstler  setn.  Die  Grdsse  eines 
Menschen,  der  berufen  ist,  Scbdnbeit  zu  scbafFen,  beruht  aber  in  erster 
Linie  auf  der  Treue  gegen  sicb  selbst,  die  Fieiss  und  Ausdauer,  Selbst- 
verleugnung  und  Mut,  reine  Gesinnung  und  Bildung  des  Herzens  und 
der  Sinne  verlangt.  Feuerbach  bat  diese  Treue  im  allerbochsten  Grad 
bewiesen.  Wie  viele  seiner  Werke  im  Bewusstsein  der  Nation  weiter- 
leben  werden,  wird  die  Zukunft  lebren;  in  ein  inniges  Verbiltnis  zu 
dieser  Welt  abgeklSrter  Gestalten  werden  immer  nur  einzelne  gelangen, 
und  wir  diirfen  uns  gestehen,  dass  es  aucb  mit  grosseren  Meistem 
nicht  besser  bestellt  ist.  Wer  aber  ein  Gott  ist,  findet  immer  seine 
Gemeinde,  und  das  reinste  Wort  des  Trostes,  das  allerdings  eine  edle 
Seele  voraussetzt,  hat  Feuerbach  selbst  gesprochen,  indem  er  seine 
Aufzeichnungen  mit  der  Ausserung  abschloss:  .Die  Gerechtigkeit  wobnt 
in  der  Geschicbte,  nicht  im  einzelnen  Menscbenleben.* 


Hugo  Wolfs  kOnstlerischer  Nachlass. 

Von  Max  Reger  in  Miincben. 

Es  wire  eine  bocbinteressante  Aufgabe,  festzustellen,  wie  oft  der 
Name  Hugo  Wolf  in  den  Jabren  1903  und  1893  in  den  Programmen 
unserer  Liederabende  und  sonstigen  Konzerte  vertreten  ist,  beziebungs- 


-tHg  158 


weise  war.  Das  Resultat  dieser  Untersuchung,  die  allerdings  gar  nicht 
so  einfach  wire,  wurde  selbst  fur  den  Musiker  der  sich  um  die  Pro- 
graromentwicklung  der  letzten  zehn  Jahre  gekummert  hat,  geradezu 
verbluffend  sein.  Vor  einem  Jahrzehnt  ginzlich  unbekannt  —  und 
heutzutage  als  Franz  Schuberts  Freund  und  Bruder  im  Geiste  von  alien 
Seiten  anerkannt,  bewundert,  bejubelt!  Selbst  das  Publikum  fSngt  aller- 
orten  an,  Hugo  Wolfs  Lieder  zu  —  kaufen.  Unsere  Dilettanten  singen 
mit  Begeisterung  schlecht  und  recht  Hugo  Wolf.  Sogar  unser  Munchener 
Hoftheater,  das  bekanntlicb  die  Neubeiten  dutzendweise  auffuhrt,  — 
Verzeihung,  verschiebt,  —  hat  den  i^Corregidor*"  zu  erfolgreichster  Auf- 
fuhrung  gebracht,  und  eine  Menge  anderer  Hof-  und  Stadttheater  haben 
eben falls  die  Absicht,  die  Oper  noch  in  dieser  Saison  ihrem  » Wolfs- 
hungrigen'  Publikum  zu  bieten.  Unsere  Tageszeitungen  und  schdn- 
geistigen  Organe  verdffentlichen  zahllose  Charakteristiken  und  AufsStze 
fiber  Hugo  Wolf.  Ja,  demnlchst  soli  in  Wien  das  erste  Denkmal  des 
Gefeierten  enthiillt  werden,  und  —  o  hehre  Emingenschaftl  —  sogar 
Ansichtspostkarten  mit  Hugo  Wolfs  Bildnis  gibt  es  zu  kaufen  I  Es  steht 
wahrbaftig  herrlich,  einzig,  unubertrefflich  um  die  Kunst  Hugo  Wolfs. 

Wie  aber  stand  es  um  Hugo  Wolf  im  Jahre  1893? 

Unsere  deutsche  Kunstgeschichte,  die  ja  ohnehin  schon  tiber  eine 
imponierende  Menge  tadellosester,  aber  hochst  trauriger  Blamagen  ver^ 
fugt  —  ich  erinnere  an  die  AfFMren  Bach,  Mozart,  Beethoven,  Schubert, 
Schumann,  Wagner,  Bruckner  —  kann  den  Fall  Hugo  Wolf  mit  be- 
rechtigtem  Stolz  zu  ihren  Schatzen  legen,  die  nie  von  Motten  zerfressen 
werden  konnen,  da  diese  Blamagen  unsterblich  sind.  Die  Zeiten,  in 
denen  Hugo  Wolf  in  einer  Berliner  Kritik  mit  dem  ehrenvollen  Titel 
eines  „verminderten  Quartsextaccordfexen**  belegt  wurde  und  es  von 
den  eingMnglichsten,  entzuckendsten  Schopfungen  des  Komponisten  hiess, 
dass  i,diese  Lieder  bei  Wiederholungen  nicht  gewinnen",  sind  noch  gar 
nicht  lange  her.  Eine  Zeitlang  gait  es  geradezu  als  Narretei,  Hugo 
Wolf  zu  singen,  und  unsere  SSnger  und  Sangerinnen  waren,  mit  sehr 
seltenen  Ausnahmen,  nicht  dazu  zu  bringen,  auch  nur  ein  Lied  des 
verminderten  Quartsextaccordfexen  in  ihr  Repertoire  aufzunehmen. 
Selbst  von  emsthaften  Musikem  wurde  man  mit  mitleidtgem  LScheln 
betrachtet,  wenn  man  den  Namen  Hugo  Wolf  nicht  spottisch  aussprach. 
So  wird  von  einem  einflussreichen  Musiker,  den  jungst  alle  Zeitungen 
beweinten,  erzihlt,  dass  er  auf  die  Bitte,  doch  Hugo  Wolf  aufzufuhren, 
die  klassische  Antwort  gegeben  babe:  »Nein,  blamieren  tu'  ich  mich  nicht.* 

Unser  gutes  deutsches  Publikum  glaubte  und  glaubt  naturlich  alles, 
was  ihm  eine  urteilslose  Kritik  (deren  hochst  ehrenwerte  Ausnahmen 
ich  ubrigens  bier  ausdrucklichst  anerkennen  mdchte)  in  unzflhligen,  ver- 
nichtenden  Besprechungen  fiber  den  Tondichter  vorsetzte;  und  dieses 
selbe  Publikum  wfirde  sich  heute,  ein  Jahr  nach  Hugo  Wolfs  Tode,  in 
einem  Ihnlichen  Falle  genau  wieder  so  verhalten.  (Siehe  Hans  Pfitzner!) 
Selbst  der  Berliner  Musikkritiker,  der  neulich  Beethovens  grosse  b-dur 
(Hammerklavier-)  Senate  im  Berliner  Tageblatt  ein  .konzertfeindliches 
Studienwerk"  nannte,  vermag  den  alleinseligmachenden  Glauben  des 


159  8^ 


deutschen  Zeitungslesers  nicht  zu  erschuttern.  Es  ist  ja  viel,  viel 
bequemer,  das  Urteil  des  Herrn  X.  itn  langjMhrigen  Leibblatt  zu  lesen, 
zu  acceptieren,  sich  ^leithammeln''  zu  lassen,  als  sich  ein  eigenes 
Urteil  auf  Grund  genauer  Kenntnis  und  wahrhaften  Verstdndnisses 
zu  bilden.  Mit  welch  himischem  Vergnugen  las  man  da,  dass  sich 
dieser  Hugo  Wolf  herausnehme,  Lieder  zu  komponieren,  die  ganz 
anders  seien,  als  die  mit  Recht  so  beliebten  sanglichen,  gefSlligen 
Lieder  von  Hildach,  Meyer-Hellmund  u.s.w.  Und  dabei  ubersah  man 
vollst&ndig,  dass  es  fur  die  Herren  Referenten  viel  ehrenvoller  gewesen 
wire,  wenn  sie  ihre  eigene  krltische  Impotenz  in  hdflicherer  Weise 
zur  Schau  getragen  batten,  als  so  hahnebuchen  zu  schimpfen,  wie  es 
tatsichlich  Hugo  Wolf  gegenuber  geschehen  ist. 

Wundem  wir  uns  nicht!  Es  gibt  auch  heute  noch  Leute,  die  mit 
sauersusser  Miene  den  Konzertsaal  verlassen,  wenn  irgend  ein  Werk 
von  Brahms  gespielt  wird.  Und  wieder  andere,  die  manchmal  sogar 
Musiker  oder  selbst  Komponisten  sein  wollen,  sitzen  wfihrend  eines 
Brahmsschen  Stuckes  in  einer  Unruhe  da,  als  batten  sie  getauften 
KrStzer  getrunken.  Man  erinnere  sich  auch  der  Begeisterung,  mit  der 
unser  Publikum  vor  kurzer  Zeit  das  Uberbrettl  begrusste;  und  noch 
heute  ist  es  entzuckt  und  hingerissen  von  vielen  Uberbrettlliedern, 
Kompositionen  von  unheimlicher  Banalitit  und  Gemeinheit.  Mit  welcher 
Gier  werden  all  die  ^verruchten'',  entsetzlichen  Lieder  verschlungen,  die 
von  einigen  Komponisten  mit  beneidenswertem  pekuniSrem  Erfolg  auf 
den  Markt  geworfen  werden! 

Wie  aber  'passt  Hugo  Wolf,  dieser  weltabgewandte,  so  tief  ver- 
innerlichte  Tonpoet  zu  der  nicht  wegzuleugnenden  Tatsache  des  ver- 
schlechterten  Geschmacks?  Und  doch,  es  ist  nicht  zu  leugnen:  Hugo 
Wolf,  der  nie  um  die  Gunst  des  Volkes,  um  die  Anerkennung  seiner 
Zeitgenossen  buhlte,  ist  Mode  geworden!  Vor  einigen  Wochen  meldeten 
die  Zeitungen,  dass  eine  grosse  Verlagsfirma  einen  Teil  der  GesSnge 
Hugo  Wolfs  um  den  Preis  von  200000  Mark  erworben  babe.  Der 
Tondichter  hat  in  seinem  ganzen  Leben  aus  seinen  samtlichen  Kompo- 
sitionen nie  soviel  eingenommen,  als  die  jMhrlichen  Zinsen  dieser 
Ankaufssumme  betragen.  Es  gehdrt  heutzutage  zum  guten  Ton,  fur 
Hugo  Wolf  zu  schwirmen.  Ob  es  mit  Verstandnis,  mit  Kenntnis  ge- 
achieht,  das  ist  gleich;  danach  fragt  kein  Mensch;  die  Hauptsache  ist, 
dass  geschwMrmt  wird  und  man  sich  dadurch  ein  unendlich  vomehmes 
Air  gibt.  Bis  aber  Hugo  Wolf  dem  deutschen  Volke  wirklich  das  wird, 
was  ihm  Schubert  und  Schumann  sind,  dazu  wird  es  noch  einer  langen 
Reihe  von  Jabren  und  vieler  Muhen  bedurfen.  Mochten  sich  diejenigen 
unserer  Blotter,  die  seit  Jabren  das  Banner  des  Komponisten  hochhalten, 
nie  verdriessen  lassen,  immer  und  immer  wieder  auf  den  Tonpoeten 
Hugo  Wolf  erlSutemd  und  belehrend  hinzuweisen,  damit  wir  es  noch 
erleben,  dass  er  nicht  Mode,  sondem  Herrscher  im  liederreichen  Herzen 
des  deutschen  Volkes  werde. 

Die  Schitze,  die  dieser  gottbegnadete  Musiker  uns  hinterlassen  hat, 
Hegen  da  und  brauchen  nur  mit  Begeisterung  und  freudigster  Bewunderung 


^  160 


geboben  zu  werden.  Doch  vergesse  man  dabei  nicht,  dass  wir  nicht  nur 
kostbarste  Lieder  and  Gesdnge  von  ihm  besitzen,  sondern,  dass  er  uns  fast 
auf  jedem  Gebiete  der  musikaliscben  Produktion  wertvoUste  Schdpfungen 
geschenkt  hat.  Diesen  fast  gSnzIich  unbekannten  Werken,  die  erst  seit 
dem  Tode  ibres  Autors  der  Offentlicbkeit  zuganglich  sind,  wird  sicher 
ein  besseres  Los  beschieden  sein,  als  es  im  Anfang  seiner  Lyrik  ver- 
gdnnt  war.  Denn  er,  der  Schdpfer,  ist  hinQbergegangen,  und  damit  die 
Hauptbedingung,  dass  man  diese  Werke  auffiihre,  beklatsche  und  bejuble, 
erfullt. 

Unseren  Chorvereinigungen  bietet  Hugo  Wolf  in  seinem  nach- 
gelassenen  Chorwerk  „Christnacht*  (von  Platen)  fur  gemichten  Cher 
mit  Orchester  eine  nicht  warm  genug  zu  empfehlende  Aufgabe.  Die 
Behandlung  des  Chors  ist,  wie  selbstverstSndlich,  meisterhaft;  nirgends 
werden  an  die  LeistungsfShigkeit  der  Sanger  nur  irgend  welche  nennens- 
werten  Anforderungen  gestelit.  Trotz  der  fast  durchweg  homophonen 
Behandlung  des  Chors  ist  dteser  doch  von  reizvollster  Charakteristik, 
und  diese  wird  durch  den  feinsinnigen  Orchesterpart  aufs  glucklichste 
untersttitzt.  LeistungsfShige  Kirchenchore  oder  auch  weltliche  Vereine 
sollten,  um  ihrem  zuweilen  recht  tristen  Repertoire  aufzuhelfen,  fleissigst 
die  sechs  geistlichen  Lieder  nach  Gedichten  von  Josef  von  Eichendorff, 
<a  capella)  singen  (wie  auch  die  weiterhin  besprochenen  Werke  bel 
Lauterbach  und  Kuhn  in  Leipzig  erschienen).  Es  sind  das  ganz  aus- 
gezeichnete  Chorsachen,  von  denen  einige  als  schonste  zu  bezeichnen 
nicht  gut  moglich  ist,  da  sie  alle  von  kraftvollster  Eigenart  zeugen. 
Dieselben  Chore  sind  auch  in  einer  Bearbeitung  fur  MMnnerchor 
zu  haben,  und  es  wire  als  wahres  Labsal  zu  begrussen,  wenn  durch 
diese  ernsten,  allem  Seichten  und  Oberflachlichen  so  gSnzlich  abholden 
GesMnge  eine  gehdrige  Bresche  in  die  chinesische  Mauer  der  unseligen 
Liedertafelei  gelegt  wurde.  VerschwSnde  dadurch  vollends  das  .deutsche 
Lied**  des  bdhmischen  Komponisten  Wenzeslaus  Kalliwoda,  so  ware  das 
auch  welter  kein  Ungluck.  Treibhauspatriotismus  gedeiht  nicht!  Leider 
hat  sich  bis  jetzt  nur  eine  einzige  Chorvereinigung  gefunden,  die  diesen 
herrlichen  Werken  nSher  getreten  wSre. 

Sehr  erfreulich  ware  es  femerhin,  wenn  unsere  Streichquartett- 
vereinigungen  recht  fleissig  das  gleichfalls  nachgelassene,  d.  h.  sozusagen 
zufillig  aufgefundene  Jugendwerk  Wolfs,  ein  Streichquartett  in  d-moll, 
spielten.  Dieses  Werk,  das  ja  unverkennbar  alle  Merkmale  eines  Jugend- 
werkes  an  sich  trSgt,  birgt  aber  doch  soviel  des  Schdnen  und  Inter- 
essanten  in  sich,  dass  man  ihm  schon  aus  pidagogischen  Grunden  recht 
oft  in  den  Programmen  begegnen  sollte.  Man  kdnnte  dadurch  von  ihm 
aus  die  bequemste  Brucke  zum  spSteren,  wirklichen  Hugo  Wolf  schlagen. 
Dass  das  Werk  Mingel  hat,  ist  schon  angedeutet  worden.  ZunSchst  fillt 
eine  nicht  wegzuleugnende,  gelegentlich  zu  bemerkende  Unkenntnis  des 
technischen  Satzes  fur  Streichquartett  sehr  ins  Auge;  sodann  ist  die 
Melodik  an  manchen  Stellen  noch  etwas  unfrei.  Man  fuhlt,  was  der 
Komponist  woUte  und  nicht  erreichte,  weil  ihm  das  rein  technische 
Kdnnen  fehlte.    Hier  und  da  hapert  es  auch  mit  der  Reinheit  des 


^  lei 


Satzes.  Dafur  entschSdigt  aber  eine  herbe,  tiefgefuhlte  Leidenschaft* 
lichkeit  der  Tonsprache,  ein  fortreissendes  Temperament,  das  sich 
besonders  in  den  Ecksitzen  sturmisch  Bahn  bricht;  und  auf  Scbritt 
und  Tritt  begegnet  man  auch  scbon  dem  echten  Wolf  in  Stellen,  die 
eben  nur  er  zu  schafFen  vermochte.  Weniger  kann  ich  mich  mit  den 
soeben  erschienenen  Jugendliedern  befreunden.  Naturlich  ist  es  von 
hdchstem  Interesse,  die  Uranflnge  Wolfscher  Lyrik  kennen  zu  lernen. 
Aber  der  Unterschied  zwischen  diesen  unter  dem  Titel  ^Aus  der 
Jagendzeit''  erschienenen  Liedem  und  den  GesMngen,  die  Wolf  selbst 
herausgegeben  hat,  ist  zu  gross,  als  dass  es  ratsam  wire,  diese  Jugend- 
sachen  ins  Kohzert  zu  verpflanzen.  Vergleicht  man  diese  Anfinge 
Wolfscher  Lyrik  mit  seinen  reifen  Meisterliedem,  so  ahnt  man  erst, 
mit  welch  unerbittlicher  Selbstkritik,  mit  welch  eisemem  Fleiss  er  an 
sich  selbst  gearbeitet  haben  muss,  so  dass  er  ofifenbar  wirklich  keine 
Zeit  hatte,  sich  viel  mit  .seelischen  und  innerlichen  Erlebnissen*  ab- 
zugeben,  und  man  errSt  auch,  dass  er  gleichfalls  nicht  zu  jenen  frommen 
Komponisten  zdhlte,  die  immer  nur  sich  selbst  anbeten.  In  dieser  seiner 
enormen  Selbstkritik  ist  Hugo  Wolf  unserer  allerjungsten  Komponisten- 
generation  ein  leuchtendes,  nicht  oft  genug  in  bedeutsamste  Erinnerung 
zu  bringendes  Vorbild.  Die  Jugendlieder  Wolfs  geben  den  jungsten 
Titanen,  welche  jungen  Herren  ja  symphonische  Dichtungen,  Symphonien 
und  grosse  GesMnge  nur  mit  grdsstem  Orchester  in  einem  Alter  gebSren, 
in  dem  andere  Sterbliche  noch  die  harte  Schulbank  zieren,  die  fatale 
Lehre:  ^Klein  beginnen,  gross  endigen!" 

Auch  als  Erzieher  kdnnte  Hugo  Wolf  Grosses  wirken. 

Gleichwohl  ist  die  Herausgabe  dieser  Jugendlieder  insofern  nur 
ft-eudigst  zu  begriissen,  als  deren  leichte  Ausftihrbarkeit  sowohl  was 
die  stets  bequem  sangbare  Singstimme,  als  auch  die  fast  immer  sehr 
einfache  Klavierbegleitung  betrifft,  daftir  gewissermassen  garantiert,  dass 
die  Masse  des  musikalischen  und  unmusikalischen  Publikums,  das  ja  stets 
nach  technisch  leichteren  Sachen  greift,  dabei  seine  Rechnung  findet. 

Im  gleichen  Verlag  ist  sodann  aus  dem  Nachlass  weiter  erschienen 
die  .Italienische  Serenade  fur  kleines  Orchester**,  von  welchera  Werke 
leider  nur  der  erste  Satz  vollendet  vorliegt.  Dieses  reizende  Werk,  das 
zu  dem  Entzuckendsten  gehort,  was  wir  iiberhaupt  auf  dem  Gebiet  der 
Serenade  besitzen,  wird  wohl  bald  Repertoirestlick  aller  besseren  Orchester 
sein.  Dieser  eine  Satz  —  Gott  sei's  geklagt,  dass  wir  nur  diesen  Satz 
babeni  —  ist  von  solch  bezaubemdem  Klangreiz,  von  solch  bestrickendem, 
hochoriginellem  Kolorit,  dass  er  sicherlich  bei  entsprechend  feinsinniger 
Ausfiihrung  hellste  Begeisterung  entfachen  wird.  Die  Orchesterdirigenten 
mache  ich  darauf  aufmerksam,  dass  es  sich  empBehlt,  die  Solo-Bratsche 
dieses  Stuckes  durch  eine  Alt-Hoboe  zu  ersetzen,  wodurch  die  Wirkung 
zweifellos  gesteigert  wird.  Hugo  Wolf  selbst  hat  von  dieser  italienischen 
Serenade  eine  Bearbeitung  ffir  Streichquartett  hinterlassen. 

Die  Krone  aller  Hugo  Wolfschen  Orchester-Kompositionen  ist  aber 
unstreitig  seine  symphonische  Tondichtung  ,Penthesilea«.  Was  hatte 
der  so  fruh  verstorbene  Meister  —  vorausgesetzt,  dass  er  gesund  ge- 

S&ddeutsche  Monatshefte.   1,2.  11 


162 


blieben  "vdre  —  auf  diesem  so  heiss  umstrittenen,  von  so  vielen  Be- 
rufenen  und  Unberufenen  bebauten  Feld  der  symphonischen  Dichtung 
fiicht  noch  Oberragendes  schaffen  kdnneni  Ich  halte  seine  symphonische 
Dichtung  ^Penthesilea'  (nach  Helnrich  von  Kleists  gleichnamigem  Trauer- 
spiel)  unbedingt  fur  eine  der  bedeutendsten,  lebenskriftigsten  Schdpfungen^ 
die  uns  die  letzten  Jahrzehnte  gebracht  haben.  Die  Themen  sind  von 
genialer  Prignanz;  die  Erfindung  erlahmt  nirgends.  Auch  frdhnt  Hugo 
Wolf  —  in  meinen  Augen  ein  gar  nicht  hoch  genug  zu  schatzender 
Vorzug  —  nie  dem  heutzutage  so  beliebten,  selten  seine  Wirkung  ver-^* 
sagenden  Stimmungsdusel.  Schlag  auf  Schlag,  ohne  jedwede  uberflussige^ 
mehr  oder  minder  jammerliche,  abgedroschene  Phrasenmacherei,  braust 
das  wundervolle  Tongedicht  voriiber.  Gleich  das  erste  Thema,  den 
Aufbruch  der  Amazonen  nach  Troja  symbolisierend,  ist  von  elementarer 
Wucht  und  in  hochst  fesselnder  Steigerung  aufs  uberzeugendste  weiter 
entwickelt.  Man  beachte  wohl,  wie  in  dieser  ersten  Abteilung  so  ziem- 
lich  alle  Themen  des  ganzen  Werkes,  in  geistvollster  Weise  kontra- 
punktierend,  nach  und  nach  auftreten.  H5chst  originell  ist  die  Oberleitung 
zur  scharf  sich  abhebenden,  einen  wohltuenden  Kontrast  bildenden  Episode 
«Der  Traum  Penthesileas  vom  Rosenfest**.  Grosse  edelgeschwungene  Linien 
der  Melodik,  Susserst  duftige  Instrumentation,  gewahlteste  Harmonik^ 
(hoffentlich  nicht  pervers  fur  gewisse  Ohren),  verleihen  dieser  Episode 
eindringlichst  poetischen  Reiz.  Eine  knappe,  immer  leidenschaftlicher 
werdende  Steigerung  fuhrt  zu  dem  Absatze  ^KSmpfe,  Leidenschaften, 
Wahnsinn,  Vernichtung"  —  dem  Hohepunkt  des  ganzen  Werkes.  Was 
Hugo  Wolf  hier  an  Charakteristik  und  SchMrfe  des  Ausdruckes,  an  voll- 
endeter  Beherrschung  des  musikalisch-technischen  Apparates  bietet,  ist 
hochsten  Lobes  wert.  Erbarmungslos  sausen  die  stahlharten  Harmonien 
hemieder;  mit  ganz  eminenter  kontrapunktischer  Kunst  werden  die 
Motive  gegen  einander  gefuhrt.  Der  tosende  Aufruhr  beruhigt  sich 
allmahlich,  um  zu  einem  visionaren  Auftauchen  des  Tonsymbols  des 
Traums  vom  Rosenfest  zu  fuhren.  (Seite  83  der  Partitur.)  Aber  nicht 
lange  dauert  der  beseligende  Traum  Penthesileas;  die  Tonsprache  wird 
immer  leidenschaftlicher,  immer  drMngender,  um  schliesslich  in  einen 
wahren  Taumel  der  Raserei  zu  geraten.  Was  Hugo  Wolf  hier  (besonders 
von  Seite  80  der  Partitur  an)  an  geradezu  diabolischem  Charakterisierungs- 
vermogen  leistet,  ist  unbeschreiblich.  Wie  hier  die  Motive  in  unerhdrter 
Ktihnheit  aufeinanderplatzen,  wie  besonders  die  Harmonik  alien  guten 
alten  Regeln  Hohn  spricht  und  viel,  viel  Periickenstaub  aufwirbelt,  wie 
sich  da  alles  so  unwiderstehlich  steigert  und  steigert,  bis  schliesslich 
das  eheme,  von  drdhnenden  Posaunen  gebrachte  Vemichtungsmotiv  den 
rasenden  Taumel  mit  elementarer  Wucht  zerschmettert:  das  alles  Idsst 
wieder  so  recht  fuhlbar  werden,  welch  unersetzlichen  Verlust  die  Kunst* 
welt  in  Hugo  Wolf  erlitten  hat.  Nach  dieser  ungeheuren  musikalischen 
Katastrophe  (Seite  105 — 110  der  Partitur)  erscheint  nach  gespenstisch 
sich  verlierenden  Bissen  in  den  Streichem  wieder  das  Motiv  von 
Penthesileas  Traum  vom  Rosenfest.  Die  Holzblaser  greifen  es  in 
zartesten  Farben  auf.    Es  folgt  ein  erneuter  Ausbruch  wildester  Ver- 


^  163 


zweifluog,  vom  erbarmungslosen  Vernichtungsmotiv  zerstampft;  alsdann 
in  geteilten  ersten  Violinen  das  Symbol  des  Traums  vom  Rosenfest, 
dampfe,  gerissene  Schlige  der  Streicher,  und  die  gewaltige  Tragddie 
klingt  in  einem  lang  gehaltenen  f-moU-Accord  der  Holz-  und  Blech- 
bliser  aus. 

Hitte  Hugo  Wolf  nur  dieses  eine  Werk  geschrieben,  die  Kunst- 
geschichte  musste  ihn  in  die  erste  Reihe  alter  Tondichter  stellen.  Es 
ist  deshalb  mit  unverhohlenster  Freude  zu  begrussen,  dass  dieses  kolossale 
Werk  schon  diesen  Winter  eine  Reihe  von  Auffuhrungen  erleben  soli 
<ich  bdre  von  25).  Da  der  Komponist  der  Penthesilea  tot  ist,  liegt  eben 
die  Sache  sehr  gunstig  fur  ihn.  Tote  Komponisten  vermSgen  selbst 
komponierenden  Dirigenten  nicht  mehr  gefihrlich  zu  werden. 

Wie  ich  kurzlich  hdrte,  sollen  sich  noch  einige  Werke  im  Nach- 
lasse  Hugo  Wolfs  vorgefunden  haben.  Ob  es  sich  um  Jugendwerke  oder 
reifere  Schdpfungen  handelt,  welchem  Genre  der  Komposition  dieser 
Nachlass  angehdrt,  ist  mir  unbekannt.  Ich  habe  mich  vergebens  bemuht, 
Naheres  zu  erfahren.  Sobald  ich  aber  in  der  gliicklichen  Lage  sein 
verde,  mir  die  in  Frage  kommenden  Schopfungen,  darunter  das  Opem- 
fragment  ^Manuel  Venegas"*  zu  verschaffen,  werde  ich  nicht  sftumen, 
auch  dariiber  ein  Wortlein  zu  sagen. 

Vielleicht  hat  das  Beispiel  Hugo  Wolfs  die  Nachwirkung,  dass  sich 
alle  die  zusammenschliessen,  die  frei  von  jeglichem  Parteihass,  Cliquen- 
wesen  und  alien  riickwirtsblickenden  Tendenzen  an  eine  gesunde,  frucht- 
bare  Weiterentwicklung  unserer  deutschen  Musik  glauben.  Sollte  es 
aber  immer  noch  Musiker,  Komponisten  oder  engere  Komponistenkreise 
geben,  die  durch  gesellschaftliche  und  andere  Verbindungen  sozusagen 
einen  Ring  geschlossen  haben,  und  denen  Hugo  Wolfs  Erscheinung  und 
unser  Bestreben,  Wolfs  wunderbare  Kunst  im  edelsten  und  weitesten 
Sinn  zu  popularisieren,  an  und  fur  sich  unbequem  oder  schrecklich 
wire,  so  mdchten  wir  diesen  Herren  die  Versicherung  geben,  dass  wir 
nicht  Gdtter  zum  vergeblichen  Kampfe  gegen  sie  aufrufen  werden.  In 
Anbetracht  seines  schweren  Schicksals  ist  es  tief  zu  bedauem,  dass 
Hugo  Wolf  keine  Denkwurdigkeiten  hinterlassen  hat,  denen  er  das 
Gustav  Falkesche  Gedicht  zum  Geleitwort  hItte  geben  kdnnen: 

Mit  Peitschen  will  ich  euch  schlagen 
Mit  flammenden  Peitschen, 
Bis  ihr  aufschreit: 
Halt  ein, 

Wir  haben  gefreveltl 

Wo  Bind  die  gemordeten  Seelen, 

Die  Opfer  eurer  schlangengiftlgen  Klugheit? 

Leicht,  froh  sprang  er  ins  Feld, 

Der  Genius  mit  dem  KinderUchen, 

Seine  Hand  klatschte  Lust 

Und  sein  Mund  t5nte 

Freudengeslnge. 


-5-8    164  8^ 


Und  ihr  schlugt  ihiiy 

Und  kreuzigtet  ihn  mit  Hunger 

Und  lacbtet: 

Sehty  welch  ein  Narr! 

£s  gehort  zum  Wahn  der  Nachlebenden,  dass  sich  die  Tragodie 
des  Genius  nicht  mehr  wiederholen  werde.  Inwieweit  die  Musiker,  nicht 
das  grosse  Publikuniy  an  gewissen  ZustSnden  Schuld  tragen,  set  hier 
nicht  erdrtert.  Vielleicht  darf  man  vielen  der  selbstgef911igen  Herren 
empfehlen,  ein  wenig  mehr  die  Fachorgane  zu  lesen,  und  den  Redak- 
teuren  die  Mahnung  nahelegen,  doch  ein  bisschen  mehr  auf  KQnstler  zu 
horen,  die  etwas  konnen,  und  nicht  auf  das  Geschrei  der  MIrkte  und 
Macher.  Wenn  es  sich  um  ,Menschenbeifall*  handelt,  warden  freilich 
immer  die  Worte  Hdlderlins  gelten:  ,Ach,  der  Menge  gefillt,  was  auf 
den  Marktplatz  taugt.  An  das  Gdttliche  glauben  die  allein,  die  es 
selber  sind.* 


Die  Tagebttcher  von  Alban  Stolz. 

Von  Josef  Hofmiller  in  MCinchen. 

Am  16.  Oktober  waren  es  20  Jahre,  dass  Alban  Stolz  starb.  Im 
Novemberhefte  seiner  Zeitschrift  ,Auf  der  H5he*  widmete  ihm  Leopold 
von  Sacher-Masoch  einen  Nachruf,  den  er  also  einleitete:  »Vor  kurzem 
schied  ein  deutscher  Autor  von  uns,  dessen  Verlust  nicht  allein  fur  die 
katholische  Welt,  in  der  er  vorzuglich  glanzte,  sondem  fur  ganz 
Deutschland  ein  schmerzlicher  ist»  denn  er  war  in  jeder  Richtung 
eine  Zierde  unserer  Literatur.  Alban  Stolz  war  ein  guter  Katholik,  das 
ist  richtig,  und  es  gereicht  ihm  zur  Ehre,  denn  als  katholischer  Priester 
wire  er  zu  verachten  gewesen,  wenn  er  es  nicht  gewesen  wire;  aber 
er  war  kein  Ultramontaner;  wire  er  es  aber  gewesen,  so  wiirde  auch 
dies  uns  nicht  hindern,  den  edlen  Menschen,  den  mutigen,  uberzeugungs- 
treuen  Mann,  den  geistvollen  Schriftsteller  in  ihm  anzuerkennen.  Es 
ist  leider  von  Berlin  aus  ein  arger  hisslicher  Ton  in  unsere  Tages- 
presse  gekommen;  im  besten  Falle  ist  der  Standpunkt  einer  Partei,  in 
der  Regel  aber  nur  jener  einer  Clique  massgebend.  Alles,  was  nicht 
in  dasselbe  Horn  blist,  wird  mit  blindem,  gehissigem,  und  —  sagen  wir 
es  einmal  ungeschminkt  —  mit  albemem  Eifer  bekimpft.  Dieses  klein- 
liche  Treiben  deutscher  Kritik,  das  uns  in  den  Augen  des  Auslandes 


165 


als  eine  Philisterbande  par  excellence,  als  das  unsterblicbe  literarische 
KrShwinkel  erscheinen  und  gelten  lisst,  mahnt  uns  immer  wieder.  an 
Molidres  Femmes  savantes: 

Nul  n'aura  de  resprit,  hors  nous  et  nos  amis. 
Nous  chercherons  partout  k  trouver  k  redire, 
Et  ne  verrons  que  nous  qui  sachent  bien  6crire. 

In  Frankreich  ist  dieser  Standpunkt  der  sich  brustenden  Mittel- 
mlssigkeit  und  Borniertheit  vollstdndig  uberwunden.'' 

So  schrieb  Sacher-Masoch  vor  20  Jahren.  Inzwischen  ist  es  ja  un- 
vergleichlich  besser  geworden,  wie  wir  alle  wissen. 

Als  ich  beuer  in  Genf  wieder  einmal  das  Journal  Intime  von  Henri 
Fr6d6ric  Amiel  vomahm,  ging  mir  plotzlicb  der  Gedanke  dnrcb  den 
Kopf,  ob  wir  denn  in  Deutschland  nicht  auch  einen  Tagebuchschreiber 
von  ahnlicher  Geistesanlage  bitten.  Da  erinnerte  ich  mich  des  katho- 
lischen  Theologen  Alban  Stolz,  dessen  Tagebucher  ich  seinerzeit  mit 
Begeisterung  gelesen  hatte.  Nach  der  Ruckkehr  suchte  ich  sie  wieder 
vor  und  hatte  abermals  den  Eindruck,  dass  Stolz  in  dem  von  ihm  sehr 
wenig  geliebten  Frankreich  sicher  mehr  Anerkennung  gefunden  hatte, 
als  bei  dem  Volke,  das  jemand  vor  sehr  langer  Zeit  das  Volk  der 
Dichter  und  Denker  genannt  hat;  in  Frankreich  wire  Stolz  langst  als 
ein  klassischer  Tagebuchschreiber  geehrt.  Wenn  man  sich,  wie  ich, 
einige  Zeit  mit  dem  deutschen  Theater  der  Gegenwart  befasst  hat,  be- 
kommt  man  eine  Art  Heisshunger  nach  reinerer  Luft,  nach  besserem 
Umgang,  nach  Ideen;  eine  Personlichkeit  wie  Alban  Stolz  erquickt  einen 
dann  wahrhaftig. 

Hier  sind  die  Hauptdaten  seiner  Biographie:  Geboren  am  8.  Februar 
1808  als  das  sechzehnte  Kind  einer  dltlichen  Mutter,  8  Jahre  Lyceist 
in  Rastatt,  3  Jahre  Theologe  in  Freiburg,  dann  in  Heidelberg,  wo  er 
auch  Philologie  und  Jurisprudenz  studierte,  1833  zum  Priester  geweiht, 
Vikar  zu  Rothenfels  im  Murgtale,  dann  in  Neusatz,  Lehrer  fur  Religion, 
Latein,  Franzdsisch  und  Griechisch  am  Gymnasium  zu  Bruchsal,  von 
hier  wegdenunziert  und  weggeekelt,  1843 — 47  Repetent  am  Freiburger 
Priesterseminar,  von  hier  wegdenunziert  und  weggeekelt,  1847 — 1883 
Professor  der  Pastoraltheologie  an  der  UniversitUt  Freiburg,  von  wo  ihn 
wegzudenunzieren  und  wegzuekeln  viele,  jedoch  erfolglose  Versuche 
nntemommen  wurden.  Seine  gesammelten  Werke  fullen  19  BMnde; 
daneben  existiert  eine  billige  Volksausgabe  in  10  BMnden.  Seine  be- 
kanntesten  Bucher  sind  .Spanisches  fur  die  gebildete  Welf*  und  »Be- 
such  bei  Sem,  Cham  und  Japhet*".  Am  bedeutendsten  erscheinen  mir 
die  drei  Binde  seiner  Tagebucher:  ^Wltterungen  der  Seele*  —  ^Wilder 
Honig'^  —  ^Dfirre  Kriuter''.  Von  ihnen  soli  hier  ausschliesslich  die 
Rede  sein. 

L 

.Ich  wusste  nicht,  wozu  ich  in  frtiheren  Jahren  meine  Tagebucher 
schrieb;  es  war  ein  Naturtrieb,  nicht  aber  ein  fiber  den  Augenblick 


^    166  8^ 

des  gefuhlten  Bedurfnisses  hintusgehender  Zweck/  sagt  Stolz  einmal 
von  seinen  Tagebucheintragen,  die  uberall  den  Eindruck  reiner  Echtheit 
nnd  Ehrlichkeit,  nirgends  den  der  selbstgefailigen,  frisierten  und  drapier- 
ten  Pose  machen.  Die  Echtheit  ist  ja  schliesslich  nur  ein  einziges,  and 
noch  nicht  einmal  das  entscheidende  Kriterium  fur  den  psychologischen 
Wert  von  Selbstbetrachtungen :  auch  Eintrige,  in  denen  der  Schreiber 
vor  sich  und  vor  der  unausbleiblichen  Nachwelt  ein  wenig  Komodie 
spielt,  gew§hren  dem  neugierigen  Psychologen  einen  feinen  Genuss. 
Rein  menschlich  jedoch  tut  es  unsdglich  wohl,  in  drei  dicken  Binden 
keine  merklichen  Spuren  widerlicher  Eitelkeit  und  Filschung  des  eignen 
Bildes  zu  finden.  Es  hdngt  dies  zum  Teil  damit  zusammen,  dass  Stolz 
in  seinen  Tagebuchern  zugleich  sein  Gewissen  erforschte  und  die  Bilanz 
seines  geistlichen  Lebens  zog.  Man  glaubt  hinter  all  seinen  Selbst- 
erforschungen  und  Selbstanklagen  die  mahnenden  Worte  des  Evangeliums 
zu  hdren:  ^Lernet  von  mir,  denn  ich  bin  sanftmutig  und  demtitig  von 
Herzen.*  Der  reichbegabte  Theologe  schwebte  in  unaufhdrlicher  Furcht, 
ob  er  denn  auch  demtitig  genug  und  ob  seine  Demut  auch  echt  sei, 
nicht  nur  eine  sublime  Form  der  Eitelkeit.  Als  ihm  ein  derber  Freund 
einst  lachend  den  Vorwurf  machte,  er  habe  ihn  stark  im  Verdacht  der 
OriginalitMtshascherei  und  glaube,  dass  er  vor  lauter  Hochmut  ob  seiner 
vermeintlichen  Demut  schier  zerplatze,  antwortete  Stolz  nach  einer 
Pause  in  ungewdhnlichem  Emste:  „Sie  konnten  recht  haben.*"  Die  Furcht, 
Eitelkeit  mochte  das  geheim  treibende  Motiv  sein,  hielt  ihn  lange  zuruck, 
seine  Tagebiicher  herauszugeben.  Dann  aber  siegte  der  Wunsch,  Gutes 
zu  wirken.  Aus  Briefen,  Begegnissen  und  Mitteilungen  wusste  er,  wie 
tief  manche  seiner  Schriften  auch  auf  Andersgldubige  gewirkt  batten. 
Seine  Freunde  bestStigten  ihm  das  eigne  Gefuhl,  dass  der  Inhalt  seiner 
Tagebucher  anziehender  sei,  als  die  Mehrzahl  seiner  verdfFentlichten 
Bucher.  So  gab  er  selbst  sie  heraus;  sie  soUten  wirken,  trosten,  zum 
Nachdenken  anregen.  Nicht  ein  Nachlassverwalter  sollte  sie  nach  Gut- 
dunken  der  OfFentlichkeit  preisgeben.  Schliesslich  aber  stand  Stolz  auch 
seinen  eigenen  psychologischen  Dokumenten  mit  einer  gewissen  kuhlen 
Fremdheit  gegenuber.  Auch  fur  ihn  erzfthlten  seine  Bucher  nur  von 
seinen  Uberwindungen. 

II. 

Dass  der  Schreiber  dieser  Tagebucher  ein  katholischer  Priester 
und  Theologe  war,  erhdht  ihre  Originalitit  und  ihr  psychologisches 
Interesse.  Der  katholische  Priester  ist  gegenwSrtig  nicht  sehr  beliebt; 
man  IMsst  dem  Stand  die  Fehler  einzelner  Vertreter  entgelten.  Kaum 
ein  Stand  aber  ist  so  vogelfrei  und  wehrlos  den  Angriffen  gewisser 
WitzblStter  ausgesetzt,  die  aus  den  geschmacklosesten  Beleidigungen  des 
katholischen  Priesterstandes  eine  stehende  Rubrik  gemacht  haben;  ge- 
liefert  und  belacht  wird  diese  Rubrik  insbesondere  durch  unreife 
Burschen,  denen  die  christliche  Moral  ebenso  unbekannt  ist  wie  irgend 
eine  andere.    Man  mag  uber  manche  Priester  denken  wie  man  will, 


167  8*^ 


msg  in  vielem  ihr  Gegner  sein  und  ihr  Auftreten  in  der  dffentlichkeit 
nicht  iminer  billigen,  aber  dariiber  muss  jeder  anstindige  Mensch  empdrt 
sein,  dass  gegen  keinen  Stand  solch  ehrenriihrige  und  krankende  Witze 
seit  Jahr  und  Tag  systematisch  fabriziert  werden,  wie  gegen  den  des 
katholischen  Priesters.  Ich  hebe  als  Gegenbeispiel  einer  ungeschmeichelten 
tind  kunstlerischen  Behandlung  des  Problems  das  priesterliche  Milieu 
von  Max  Halbes  ,,Jugend^*  mit  Auszeichnung  hervor. 

Die  grossere  Intensitit  des  religidsen  Innenlebens  hat  der  Priester 
vor  andem  Menschen  als  Standespflicht  voraus.  Er  hat  seine  Welt  der 
Probleme  fur  sich,  ein  weites  reiches  Gebiet  innerlicher  Erfahrung* 
Durch  Katechese,  Predigt  und  Beichtstuhl  wird  er  zum  Psychologen 
erzogen.  Das  Zdlibat  bewahrt  ihm  Selbstandigkeit  und  das  unschatzbare 
Gluck  einsamer  Entwicklung.  Viele  Beurteiler  des  geistlichen  Standes 
glauben,  oder  geben  sich  den  Anschein  zu  glauben,  als  sei  die  Ehe- 
losigkeit  dem  Priester  ein  bestindiger  Stachel,  sein  Hauptkummer,  und 
der  eine  Punkt,  von  dem  aus  all  seine  Leiden  zu  kurieren  seien;  sie 
verkennen,  dass  die  Mehrzahl  dieser  armen  Zolibatare  froh  und  gluck- 
lich  sind  nicht  verheiratet  zu  sein,  und  uber  das  bertihmte  Familien- 
gliick  ihnlich  skeptisch  denken  wie'  Stoiz:  ^Nahrungssorgen,  Sorge  um 
Behaglichkeit  und  Annehmlichkeiten,  Unfriede,  akut  oder  chroniscb, 
Abhaspeln  in  hSuslichen  Arbeiten,  Hoffhung,  Sorge,  Angst  wegen  Zukunft, 
Krankheiten,  Genesung  und  Jammer  am  Totenbett!"  Als  beim  Pro- 
fessorenjubilSum  eines  Kollegen  im  Damentoast  angedeutet  wurde,  der 
Mann  sei  ohne  das  Weib  kaum  ein  vollkommener  Mensch,  notierte  sich 
Stolz,  genau  das  Gegenteil  sei  richtig:  ein  Mann,  der  aus  alien  KrSften 
fur  eine  schwere  Aufgabe  wirke,  empfinde  ein  Weib  als  Belastigung. 
Die  „kostbaren  Professorenfrauen^^  seien  eigentlich  nur  dazu  gut,  ihrem 
Mann  den  Tee  einzuschenken  und  seine  Schriftwerke  zu  bewundern. 
Der  BSrbeissige  war  aber  trotz  alledem  kein  unverstMndiger  Verdchter 
des  Weibes;  manchmal  finden  sich  bei  ihm  Anwandlungen  einer  geist- 
reichen  Galanterie,  die  geradezu  an  Nietzsche  anklingen.  So  verglich 
er  einmal  das  Weib  einem  Trunk  goldenen  Weines  im  Zustand  des 
Durstes  und  der  Ermattung,  und,  als  er  ein  blumentragendes  Madchen 
sah,  notierte  er  sich  den  liebenswurdigen  Gedanken:  junge  Mddchen 
und  Blumen  gehdrten  so  recht  eigentlich  zusammen,  das  eine  sei  nur 
ein  Sinnbild  fur  das  andere.  Fur  sich  selber  allerdings  dachte  er  so 
streng,  dass  er  uberhaupt  kein  weibliches  Wesen  in  seiner  NMhe  duldete, 
nicht  einmal  als  Wirtschafterin,  wie  er  andererseits  das  Unterlassei^ 
jeglichen  Wirtshausbesuches  als  Korrelat  des  Zdlibats  ansah  und  fur 
sich  durchfuhrte. 

Streng  gegen  sich  selbst,  bemerkte  er  auch  die  Fehler  seiner  geist- 
lichen Mitbruder  und  riigte  sie  mit  einem  Freimut,  den  er  sich  jetzt 
kaum  mehr  erlauben  diirfte.  Es  missGel  ihm,  «an  dem  einen  und 
andem  der  geistlichen  Hirten  einen  nicht  ganz  gut  verhehlten  Triumph 
zu  bemerken,  dass  jetzt  ihre  Angelegenheiten  obenauf  schwimmen;* 
die  .dickste  Selbstsucht,  wenn  sie  sich  auf  das  Religidse  wirft  und  zum 
Fanatismus  ausartet*,  war  ihm  ebenso  widerlich  wie  der  geistliche  Maul- 


hhS    168  8^ 


wurfy  der  «nur  noch  seine  Gange  sieht  und  kennt  und  fur  die  ubrige 
Welt  wie  abgestorben  isf*  (er  meinte  die  Pfarrer,  die  ganz  in  den  An- 
gelegenheiten  ihrer  Okonomie  aufgingen),  oder  die  ,Betsch western- 
PSeger"  und  die  grimmen  Bedringer  der  armen  Menschenseele,  die  stets 
«das  hdllische  Feuer  anzunden  und  die  Gerichtsposaune  blasen**,  die 
Wirtshaussitzer,  die  dadurch  genau  so  weltlich  und  unfrei  werden  wie 
durch  die  Ehe,  und  die  Geistlichen,  ,die  sich  nicht  an  die  kirchlichen  Vor- 
schriften  halten  und  sonst  doch  eifrig  wirken.*  Er  verglich  diese 
letztem  mit  den  Franktireurs.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  Stolz, 
80  sehr  auch  Einzeliusserungen  dagegen  ins  Feld  gefuhrt  werden  kdnnen, 
doch  den  sogenannten  Reformkatholizismus  unserer  Tage  aufs  be- 
stimmteste  abgelehnt  hStte.  Er  unterwarf  alle  seine  Ansichten  bedin- 
gungslos  dem  Urteil  der  Kirche,  und  hgtte  sich  schdnstens  bedankt  fur 
das  Kompliment,  er  sei  kein  Ultramontaner.  ^All  das  Gerede  und 
Gehetz  gegen  vaterlandslose  Ultramontane  geht  durchaus  nicht  gegen 
den  Katholizismus  bloss,  sondem  tiberhaupt  gegen  alle  Christen,  welche 
bei  ihrem  Tun  und  Lassen  auf  das  ewige  Leben  nach  dem  Tod  Ruck- 
sicht  nehmen."* 

Es  ist  lehrreich,  in  diesen  Tagebuchern  zu  verfolgen,  wie  un- 
aufhdrlich  Stolz  von  der  Furcht  gepeinigt  wird,  sein  ganzes  Leben  sei 
wertlos  vor  Gott;  die  armseligste  und  einfiltigste  Bauernmagd  sei  Gott 
wohlgefiUiger  als  er,  der  gelehrte  Theologe.  Immer  wieder  bohrt  in 
ihm  der  Zweifel,  ob  nicht  er,  der  so  vielen  Seelen  ein  Werkzeug 
der  Gnade  geworden  sei,  einst  verdammt  werden  wtirde;  ob  nicht 
gerade  der  am  reichsten  Begabte  am  strengsten  gerichtet  wurde.  Die 
nagende  Ungewissheit  uber  das  Los  im  Jenseits,  die  Furcht  vor  den 
ewigen  Hdllenstrafen,  der  stete  Wechsel  zwischen  glSubiger,  inbriinstiger 
Hofhung  und  zitternder  Zerknirschung,  das  Umdeuten  leiblicher  und 
seelischer  Stimmungen  und  Verstimmungen  ins  Religiose,  das  Un- 
behagen  in  dem  Zustande  gelassener  NeutralitMt,  das  verzehrende  Be- 
durfhis  nach  starken  Emotionen,  tiberwiltigenden  AfFekten,  das  leiden- 
schaftliche  Hinhorchen,  ob  denn  Gott  nicht  seinen  Willen,  seinen 
Entschluss,  seine  Gnade  unmittelbar  kundtun  werde  —  das  alles  ver- 
leiht  diesen  Bllttem  eine  ungeheure,  fast  krankhafte  Spannung  und 
Erregung,  die  erst  im  Greisenalter  sich  beruhigt.  Unsere  Zeit  ist  der 
religidsen  Grundstimmung  des  Christentums  so  grundlich  entfremdet, 
selbst  die  frommsten  Naturen  leben  in  solch  behaglicher  Gewissheit 
ihrer  ewigen  Seligkeit  dahin,  dass  das  religidse  Ringen  von  Stolz  sie 
wie  etwas  l&ngst  Vergangenes  und  Uberwundenes  anmutet,  wie  Dokumente 
aus  dem  Heroenzeitalter  des  Christentums,  Bekenntnisse  einer  tieferen, 
innerlichen  Natur,  die  sichs  hart  machte,  die  in  allem  Trost  eine 
Versuchung  und  in  jeder  Beruhigung  ein  Ermatten  der  Seele  arg- 
wdhnte.  Mit  dem  religidsen  Massstabe  Stolzens  gemessen,  sind  die 
Mehrzahl  der  heutigen  Christen  laue  Duodezchristen.  Gleich  Sdren 
Kierkegaard,  ist  auch  Stolz  von  einem  Gedanken  beherrscht:  mit  dem 
Christentum  Ernst  zu  machen. 

Ungeheuer  empfindet  er  seine  Verantwortlichkeit  als  Priester. 


160  8^ 


Immer  wieder  klagt  er  sich  an:  ich  habe  meine  Pflicht  schlecht  getan, 
zu  venig  Eifer  bewiesen,  zu  wenig  an  das  Seelenheil  meiner  Ndchsten 
gedacht,  ich  bin  zu  lau,  zu  nachsichtig  gegen  mich  selbst,  zu  weltlicb. 
Bitter  bereut  er,  dass  er  in  seiner  Jugend  sich  ofters  geschSmt  habe, 
vor  einem  Kreuze  das  Haupt  zu  entblossen.  Dann  wieder  klagt  er 
sich  an,  dass  er  gar  nicht  zum  Gebet  gestimmt  sei;  selbst  die  Messe 
sei  ihm  ein  Zwang.  Die  wenigsten  Menschen  haben  eine  Ahnung  von 
den  Noten  und  Angsten  eines  gewissenhaften  Priesters;  gerade  den 
Frommsten  ist  die  tSgliche  Messe  manchmal  eine  Qual,  weil  sie  sich 
fur  unwurdig  halten,  die  Konsekrationsformel  zu  sprechen;  es  gibt 
manche  Priester,  die  zu  stammeln  anfangen,  die  kein  Wort  hervor- 
bringen,  die  vor  Furcht  beben  und  die  Messe  nicht  zu  Ende  fiihren 
konnen,  wenn  sie  die  Worte  der  Wandlung  sprechen  sollen:  Hoc  est 
enim  corpus  meum.  So  fiirchterlich  empfinden  sie  ihre  Unwiirdigkeit 
vor  Gott  und  ihre  Verantwortlichkeit,  Es  gibt  andere,  die  all  ihre 
Gebete,  Kasteiungen  und  frommen  Werke  fur  vergeblich  halten,  weil 
sie  nicht  sicher  sind,  sie  in  guter  Meinung  Gott  geopfert  zu  haben. 
Wer  je  einen  Blick  in  diese  Welt  der  Gewissensqualen,  des  ruhelosen 
Ringens  und  der  zermalmenden  Ungewissheit  uber  das  ewige  Leben 
getan  hat,  wendet  sich  mit  trauernder  Verachtung  ab  von  den  Karikaturen 
des  Priestertums,  wie  sie  in  witzigen  Zeitschriften  einer  kenntnislosen 
Leserschaft  vorgefUlscht  werden.  Gewiss  hat  auch  dieser  Stand  Mitglieder, 
die  ihm  nicht  zur  Ehre  gereichen;  aber  er  hat  das  Recht,  nach  der 
Regel,  und  nicht  nach  der  schMndenden  Ausnahme  beurteilt  zu  werden. 
Die  Regel  aber  ist:  arme,  suchende,  in  einem  strengen,  freudenarmen 
Berufe  sich  aufreibende  Menschen,  die  noch  ein  Ideal  kennen  und  fiir 
dieses  Ideal  leben  und  sterben. 


III. 

Man  kann  den  Zustand  solch  echter  Priesterseelen  am  besten  noch 
mit  dem  des  Kunstlers  vergleichen,  der  nur  in  den  goldenen  Augen- 
blicken  des  SchafFens  das  Leben  lebenswert  findet;  dann  vergisst  er, 
was  je  ihn  bedruckte  und  erniedrigte;  als  SchafFender  schwingt  er  sich 
fiber  sich  selbst  empor.  Auch  Stolz  hatte  Momente  tiefsten  Gluckes 
and  wunschloser  Seligkeit.  Der  Kenner  und  Schtiler  Susos  und  Taulers, 
Berchtolds  von  Regensburg  und  des  Thomas  von  Kempen  hatte  von 
Natur  Neigung  zu  mystischen  Gedankengangen.  Er  empfand  jeden  be- 
gltickenden  Einfall  als  Inspiration,  jedes  Bild  als  Vision.  »Beim  Auf- 
wachen  stand  der  Gedanke  vor  mir*  —  „Es  wurde  mir  innerlich  ge- 
predigt*  —  »Mich  hauchte  das  Wort  an*  sind  Wendungen,  die  dutzende- 
mal  in  seinen  Tagebuchem  vorkommen.  Aus  den  drei  Binden  liesse 
sich  eine  ganz  merkwurdige  mystische  Anthologie  herstellen  voll  zarter 
und  tiefer  Gedanken.  Einiges  sei  hier  mitgeteilt:  «Ich  ging  gestem 
nachmittag  bei  ziemlich  grosser  Kilte  nach  Haslach  spazieren.  Da  kam 
nich  dann  eine  grosse  Seligkeit  in  Gott  an.   Meine  Seele  uberschwellte 


170  8^ 


so  sehr,  dass  ich  laut  anfing,  Gott  zu  loben  und  zu  preisen.  Lobet  ihn 
mein  Geist  und  mein  Herz,  lobe  ihn  mein  Verstand,  lobe  ihn  mein  Ge- 
dEchtnis,  lobet  ihn  meine  Augen,  lobet  ihn  meine  Ohren,  lobe  ihn  meine 
Zunge,  lobet  ihn  meine  HSnde,  lobet  ihn  meine  Fusse,  alle  Haare  meines 
Hauptes  lobet  ihn,  lobet  ihn  alle  Schneefldckchen;  und  wenn  ich  in  der 
Hdlle  sitze,  so  will  ich  ihn  auch  dort  noch  ewiglich  loben.**  —  «Ich 
ahnte  gestern  in  der  Kirche,  dass  Gott  von  jedem  lebenden  Menschen 
ein  Bild,  ein  Ideal  in  sich  trage.  Jedes  Individuum  hat  eine  Gestalt  in 
Gott.  Dm  des  schdnen  Urbildes  willen,  welches  in  Gott  ist  und  das 
mein  Original  ist,  und  dessen  Kopie  ich  bin,  kann  ich  hoffen,  dass  Gott 
auch  mich  in  meinen  Sunden  noch  liebe  und  suche.**  .Mein  Gott,  zer- 
schlage  all  mein  Gluck,  zernitte  meine  Gesundheit,  zerschmettere  meine 
Ehre,  nimm  mir  Geld  und  Auskommen,  ingstige  mich  schwer  von  innen, 
wenn  du  keinen  andern  Weg  voraussiehst,  auf  dem  ich  einstens  zu  dir 
kommen  konnte."  »0  Gott,  das  bete  ich  fur  und  fur,  lass  mich  tun 
und  werden,  was  auch  du  fur  mich  bestimmt  hast;  ich  will  lieber  ein 
taubstummer  blodsinniger  Kretin  sein,  wenn  es  so  dein  Wille  ist,  als 
ein  Cherub  ohne  deinen  Willen.**  „Es  ist  mir  nicht  mehr  viel  daran 
gelegen,  ob  ich  noch  mehr  Kenntnisse  sammle  oder  nicht;  denn  ich  ahne 
jetzt  die  Unendlichkeit  des  Seins:  so  dass,  wenn  ich  alles  allein  wiisste, 
was  je  die  Menschen,  die  es  gegeben  hat  und  noch  geben  wird,  wussten 
und  wissen,  die  Summe  davon  ein  unbedeutendes  Trdpflein  wSre  aus 
dem  Meer  des  ungekannten  Seins.  Was  liegt  nun  daran,  ob  ich  dem 
Nichts,  welches  mein  Wissen  ist,  noch  ein  anderes  Nichts  hinzusetze, 
nMrnlich  weiteres  Wissen?"  ^Was  miisste  das  fur  ein  kleiner  Gott  sein, 
der  von  uns  Geistesameisen  begriffen  wurde?"  „Ich  werde  es  mehr 
und  mehr  inne,  dass  meine  Gedanken  und  Gefuhle  nicht  meine  Person 
sind.  Sie  haben  wohl  vielfUltig  den  Charakter  und  die  Farbe  meiner 
Seele,  sehr  oft  aber  auch  nicht;  viele  sind  besser  als  ich,  und  nur  die 
schlimmen  mogen  insgesamt  echt  sein.  Wie  diese  Gedanken  und  Gefuhle 
nicht  immer  Produkte  meines  Wesens  sind,  so  wirken  sie  auch  wenig 
auf  mich  zuriick;  sie  kommen  und  gehen  wieder,  ohne  dass  sie  mich 
weiter  bringen;  sie  umschwMrmen  meine  Seele  und  mein  Leben,  ohne 
dass  sie  es  bewegen,  wie  die  Fliegen  das  Pferd,  es  mag  gehen  oder 
liegen.''  ,»Die  Seele  ist  so  verwandelbar,  dass  sie  alle  denkbaren  Naturen 
annehmen  kann,  so  dass  es  nicht  eine  Tiergattung  gibt,  vom  Wurm,  der 
Auster  und  der  Krdte  bis  zum  Paradiesvogel,  die  nicht  symbolische  Dar- 
stellung  sein  konnte  von  irgend  einer  Menschenseele,  so  wie  sie  ge- 
worden  ist.**  .Gewiss  geschieht  vieles  in  der  Welt  der  Engel  wegen, 
welche  die  Geschichte  und  Verflechtung  davon  kennen,  so  dass  Gott  in 
dem  Ereignis  vor  den  Engeln  in  seiner  Gerechtigkeit  verherrlicht  wird, 
w^hrend  wir  Menschen  es  unbegreiflich  finden.  Kein  Blatt  im  Wald, 
kein  Grashalm  auf  endlosem  Wiesengrund  bleibt  unbeschaut;  Engel 
studieren  daran  uber  die  Weisheit  und  Herrlichkeit  Gottes.*" 

Dem  Betrachtenden  wurde  alles  zum  Symbol.  Hand  in  Hand  mit 
seiner  Versenkung  in  die  Welt  des  Geistes  ging  eine  wachsende  Ent- 
fremdung  der  Natur  gegeniiber.  Er  sah  zuletzt  in  der  bunten  Fulle  der 


-^171  8^ 


Erscheinungswelt  nur  mehr  Themen,  fiber  die  er  seine  oft  wunderlichen, 
oft  tiefsinnigen,  immer  aber  hdchst  eigentumlichen  Variationen  schrieb. 
Mehr  und  mehr  verlemte  er  es,  die  Dinge  dinglich  zu  sehen;  er  sub- 
jektivierte  Pflanze  und  Stein,  Wasser  und  Blume,  und  sah  in  den  Dingen 
nur  mehr  Gefisse,  die  einen  geheimen  Schatz  enthielten,  Schleier  fur 
fromme  Gedanken,  oder  nur  leere  Formen,  denen  erst  seine  Inter- 
pretation Sinn  und  Wert  verlieh.  Uberall  erblickte  er  Geheimnisse  und 
Beziehungen;  mit  Vorliebe  nahm  er  recht  unscheinbare  Dinge  als  Aus- 
gangspunkte  seiner  Betrachtungen:  ilber  ein  altes  Ziegelsttick  hdtte  er 
Binde  fullen  kdnnen,  tiber  ^Farbe,  Bruch,  Substanz,  Alter,  Verwitterung, 
Gebranntsein,  friiheren  Zustand  vor  dem  Brennen,  Feuer,  Wasser,  Luft, 
die  darauf  wirkten,  Schicksal  des  Steines,  Verhdltnis  und  mystische  Be- 
ziehung  des  Bruchstucks  zu  den  fehlenden  Stiicken.*'  Es  ruht  ein 
schmerzlicher  Schimmer  fiber  der  Naturanschauung  Stolzens.  Sie  hat 
nichts  von  der  liebenswfirdigen  NaivitUt  der  italienischen  Renaissance- 
heiligen,  mit  der  ein  Franziskus  von  Assisi  Gestime,  Pflanzen  und  Tiere 
als  Brfider  begrfisste  und  ein  Antonius  von  Padua  den  Fischen  predigte. 
Fur  Stolz  war  die  Natur  „die  tausendjShrige  Sirene,  die  sich  jShrlich 
schmfickt  mit  wundervoller  Herrlichkeit  und  leise  Millionen  jShrlich 
hold  an  sich  und  in  Tod  und  Verderben  zieht."  Er  sah  wie  einen 
dunkeln  Flor  den  Fluch  der  Sfinde  auch  fiber  der  Natur  liegen  und  ihre 
ursprfingliche  unschuldige  Schonheit  beeintrMchtigen.  Besonders  fern 
und  fremd  war  ihm  das  Grfin  in  der  Natur,  das  ihm  einen  melan- 
cholischen  Hauch  von  Trauer  und  Tod,  Verwitterung  und  Verwesung 
auszuatmen  schien;  er  argwdhnte,  dass  die  schonere  und  angemessenere 
Farbe  verloren  gegangen  sei  infolge  des  Fluches  fiber  die  Erde.  Im 
Anfange  seiner  Tagebficher  hatte  er  noch  Schilderungen  niedergeschrieben 
von  einer  sonderbar  schwermfitigen  Sfissigkeit,  die  ganz  an  Amiel  ge- 
mahnt,  oder  kleine  Stimmungsbilder,  zart  gestrichelt  und  impressionistisch 
wie  ein  Gedicht  von  Wordsworth.  „Zum  erstenmal  horte  ich  dieses 
Jahr  die  Lerche,  zum  erstenmal  sah  ich  das  GMnsblfimchen  und  die 
Ranunkel.  Auf  den  Vogesen  lag  Schnee,  wie  auf  Alpen,  und  um  mich 
schwamm  Sonnenschein  und  warme  Frfihlingsluft.  Die  Weihe  wogte  hoch 
unter  dem  blauen  Himmel.''  Gewdhnlich  scbeint  Stolz  bei  schlechtem 
Wetter  produktiver  gewesen  zu  sein,  bei  Nebel,  Regen  und  Sturm;  selten 
ist  ihm  eine  Sommerlandschaft  so  eindrucksvoll  gelungen  wie  die  folgende: 
«Ich  ging  fort  in  grimmiger  Sonnenglut  und  fand  eine  sfisse  Lust  in 
diesem  silberigen  Feuermeer.  Ich  wandelte  langsam  und  trSumend  in 
diesen  glfihenden  Silberstrahlen  und  es  ward  mir  ganz  indisch  ums  Gemfit. 
Ich  stand  unter  einem  Baum  und  Hess  das  wundersame  DMmmem  des 
Sommermittags  auf  mich  eindringen.  Es  ist  so  schleierhaft  alles  ffir 
Aug  und  Ohr;  leises  Zirpen  und  Spielen  weniger  Vdgel  in  den  Zweigen, 
das  Summon  der  Fliegen,  das  stumme  Weben  der  Schmetterlinge,  das 
Kochen  der  Berge  in  glfihender  Luft,  die  Nebelhaftigkeit  der  hohen 
Vogesen.  Wie  girt  und  reift  und  quillt  alles  dort  in  fernem  Wald,  und 
jede  Tannennadel  hat  ihr  eigenes  Leben,  ihr  eigenes  Schicksal  und  ihre 
eigene  Bedeutung  fur  das  Ganze.* 


172 


IV. 

Stolzens  Tagebucher  sind  eine  Monographie  des  frommen  Christen. 
Sie  enthalten  Fragen,  die  heute  nur  wenige  interessieren,  Stimmungen, 
die  den  meisten  Lesem  hdchst  wunderlich  vorkommen,  Gedanken,  die 
zu  den  modernen  Ideen  in  keiner  Beziehung  stehen.  Sie  sind  eine 
Welt  ganz  fur  sich,  geschlossen  und  konsequent.  Die  religiose  Grund- 
stimmung  verleiht  ihnen  Einheit.  Probleme  der  Erkenntnis  fehlen; 
Stolz  hatte  seinen  Junglingszweifeln  durch  einen  resoluten  und  un- 
bedingten  Glaubensakt  ein  fur  allemal  ein  Ende  gemacht.  Skrupel  fiber 
die  individuelle  Verantwortlichkeit  des  Siinders  bewegten  den  eifrigen 
Beichtvater  zwar  manchmal,  aber  er  schnitt  sie  mit  dem  Hinweise  auf 
die  Unerforschlichkeit  der  gdttlicben  Ratschliisse  ab. 

Alles  ist  zu  Innenleben  geworden  in  diesen  Bl&ttem.  Nur  gelegent- 
lich  spielen  Zeitereignisse  herein,  wie  der  Krieg  von  1870,  uber  dessen 
Folgen  Stolz  ahnlich  dachte  wie  Friedrich  Nietzsche.  Auch  die  Kunst 
kommt  nur  wenig  zu  Wort,  am  ehesten  auf  Reisen.  Er  schwirmt  ftir 
die  spanischen  Heiligenmaler,  fur  Dolci  und  Corregio.  Uber  Musik  hat 
er  manchmal  sehr  feine  Bemerkungen.  Absolute  Musik  schMtzte  er  am 
hdchsten;  in  Quartetten  horte  er  das  Hineintonen  des  Naturgeistes  in 
die  Menschenseele.  Gute  Musik  musste  nach  seiner  Meinung  ein  Natur- 
erzeugnis  sein,  organisch  und  unverbesserlich ;  die  Melodie  als  das  Un- 
lembare  schien  ihm  das  letzte  Geheimnis  des  musikalischen  Ausdrucks. 

Als  Dokumente  einer  durch  und  durch  religiosen  Natur  sind  diese 
Tagebticher  bedeutsam.  Unserer  Zeit  fehlt  die  eigentliche  religidse 
Passion;  sie  hat,  um  mit  Stolz  zu  reden,  ^in  dunnen  Portionen  ein  paar 
Tropfen  Christentum  zu  sich  genommen,  nicht  genug,  um  zu  genesen, 
aber  gerade  so  viel,  um  in  einen  Zwitterzustand  zu  kommen,  eine  IScher- 
liche  und  verichtliche  moralische  Fledermaus  zu  werden.**  Ecce  Christi- 
anus!  scheint  jede  Seite  dem  modernen  Leser  zuzurufen.  Es  ist  gut, 
sich  von  Zeit  zu  Zeit  zu  vergegenwMrtigen,  dass  das  Christentum  ent- 
weder  eine  auch  heute  noch  lebendige  religidse  Macht  ist  und  das  ganze 
Leben  durchdringen  muss,  oder  dass  es  eine  historische  Religion  ist, 
der  das  moderne  Leben  keinerlei  Konzession  zu  machen  hat.  Der  Stand - 
punkt  der  meisten  Heutigen  ist  unlogisch  und  sinnlos;  sie  fassen  die 
Religion  als  eine  Art  idealen  Zylinder  auf,  den  sie  bei  Hochzeiten, 
Kindstaufen,  Begribnissen  und  offiziellen  Gottesdiensten  auf  das  teure 
Haupt  pflanzen,  sonst  aber  in  der  Tiefe  ihres  Kleiderschrankes  vor  Licht 
und  Motten  schtitzen.  Sie  bedienen  sich  der  religiosen  Attittide  wann 
und  wo  es  ihnen  gefillig  ist  und  verkennen,  dass  die  Religion  gerade 
dann  am  meisten  Anrecht  auf  ihre  Gefolgschaft  hStte,  wenn  es  ihnen 
nicht  gefSllig  ist,  sich  ihrer  Zugehorigkeit  zu  einem  christlichen  Be- 
kenntnisse  zu  erinnem.  Sie  sind  zu  allem  zu  feige:  zu  feige,  Christen 
zu  sein  und  zu  feige,  keine  Christen  zu  sein.  Sie  wollen  von  allem 
ein  wenig  sein:  ein  wenig  oppositionelU  well  das  Schimpfen  in  trautem 
Vereine  wohl  tut,  ein  wenig  modem,  weil  es  zur  Bildung  gehort,  ein 
wenig  national,  weil  sich  das  an  Kaisers  Geburtstag  gut  macht  (Kuvert 


173  ^ 


ohne  Wein  5  Mark),  und  ein  wenig  christlich.  Diesen  harmlosen  Spiess- 
burgern  gegenuber  hebt  sich  die  Gestalt  des  Alban  Stolz  scharf  und 
unversShnlich  ab.  Aber  Reinrassigkeit  scheint  mir  nicht  nur  bei  Renn- 
pFerden  und  Jagdhunden,  sondern  aucb  bei  Menschen  die  unumgSngliche 
Voraussetzung,  dass  man  sie  schltze.  Oder,  um  mit  einem  Zitat  zu 
schliessen,  das  nicht  von  Stolz  ist:  .Wogegen  man  sich  allein  zu  wehren 
hat,  das  ist  die  Falschheit,  die  Instinkt-Doppelziingigkeit,  welche  diese 
GegensStze  nicht  als  GegensHtze  empfinden  will.  Diese  Unschuld 
zwischen  Gegensitzen,  dies  gute  Gewissen  in  der  Luge  ist  modern  par 
excellence,  man  definiert  beinahe  damit  die  ModemitSt.  Der  modeme 
Mensch  stellt,  biologisch,  einen  Widerspruch  der  Werte  dar,  er  sitzt 
zwischen  zwei  Sttihlen,  er  sagt  in  einem  Atem  ja  und  nein.  Wir  alle 
baben,  wider  Wissen,  wider  Willen,  Werte,  Worte,  Formeln,  Moralen 
entgegengesetzter  Abkunft  im  Leibe,  wir  sind,  physiologisch  betrachtet, 
f  alsch.* 


90er  fed)^  9tog  tm  ©taO  fie^en  t)at^  tfl  etn  93auer^  unb  ff$t  im 
9Btrtdl)aud  beim  93&rgenneifier  unb  betm  3(udfd)ug.  9Qenn  er  bad  SRauI 
auftut  unb  &6er  bie  fd)(ed)ten  Seiten  unb  ikber  bit  @teuern  fd)tmpft^  gtbt 
man  ad)t  auf  t^n  unb  bie  Heinen  Seute  er}&t)(en  nod)  am  anbern  Sag^  ba0 
gfflem  ber  «Oar (anger  ober  uoie  er  fonfl  iid^t,  exnmal  rtd)ttg  feine  SRetnung 
gefagt  tfaU 

9Ber  ffinf  9to^  unb  mentger  tjat,  ifi  etn  ®ftt(er  unb  fd)tmpft  au(^« 
Tiber  ti  t)at  nid^t  bad  ®mid)t  unb  tfl  ntd^t  mert^  bag  man  ti  miUt  gibt« 

SQer  aber  gar  (etn  9to0  t^at  unb  feinen  $flug  ^on  etn  paar  mageren 
£)d)fen  )tel)en  l&9t,  ber  tfi  etn  J&&ud(er  unb  mu0  bad  fBtaul  t)a(ten.  3m 
9Btrtdt)aud^  tn  ber  ®emetnbet)erfamm(ung  unb  u6erall.  Seine  SD^etnung  tjl 
ffir  gar  ntd)td^  unb  fetn  rtd)ttger  Oauernmenfd)  pagt  auf  ben  ^retter  auf* 

Der  93efT$er  t)om  ®(^u^n>afitontt>efen  ^ani  92ummer  ad)t  in  Xtn^ofen^ 
mit  Stamend  ®eorg  ^ottmx,  toax  tin  J^&udler.  Unb  ein  rec^t  armfeliger 
nod)  baju.  £)d)fen  l)at  er  einen  ge^abt^  ^fi^e  rec^t  noenig^  aber  etnen 
J&aufen  ^inber.  aSter  SKabern  unb  brei  ©uben;  madjt  (leben  nad)  3fbam 
SXtefe^  unb  menn  bad  ${fen  faum  ffir  bie  jmet  HUtn  langte^  braud)te  ed 
gut  red)nen  uub  bimbteren^  bag  bte  Sungen  and)  nod)  mad  frtegten. 


174  8^ 


Tihtx  auf  bent  ianbe  tfl  nod^  fettter  t^ertyungert,  unb  aud^  6etm  ©d^u^^ 
noaflf  6ra(f)ten  fie  tl)re  ^inber  burd^.  SOar  etned  nur  erfl  ad}t  ober  neun 
Sa^re  alt,  bann  fonnte  ed  fd)ot!  ein  wenig  »ad  tjerbienen,  unb  t)oraud  mdj 
ber  ®d)uljeit  ^atte  e^  feine  ®efa^r  me^r. 

t)ie  SO^abeln  gtngen  fr&f)}etrtg  in  Stenfl,  Don  ben  93u6en  biteb  ber 
iltere,  ber  ®d)oxW  hatjtim,  ber  {weite,  Sttud  mit  SRamen,  fam  {tttit 
©djuHerbauern,  unb  ber  britte  —  Don  bent  will  id)  eudj  erjifjfen. 

a)2atl)ta^  t)at  er  get)etgen,  unb  fant  lange  nad)  bent  fed^fien  jttnbe  auf 
bte  3Qe(t/  unb  red^t  unDer^oft 

£er  ^ottner  n>ar  bantaK  fd)on  f&nfjtg  3a(^re  alt  unb  fetn  90et6  flanb 
in  ben  SSierjigern* 

£a  ^&tte  nad)  ber  9){einun9  aCter  93efannten  red)t  noo^f  unter^ 
6Iei6en  f6nnen,  bag  fie  ju  ben  fed)fen  nod)  ein  ftebente^  ^'nb  friegten. 

Siefed  war  in  ben  erfien  Sebendja^ren  jfd)tt>&d)Iid)  unb  fleber  bet^ 
fantmen;  feine  @Itern  meinten  oft,  ti  t)&tte  ben  7(nfd)ein,  aid  fei  ed  nic^t 
gefunb  unb  toivte  6a(b  ein  @ng(ein  im  J^immeL  X)a^  gefd)a^  aber  nic^t; 
ber  a}{atl)iad  gebie^,  n>urbe  fp&terl)in  ^farrer  unb  n>og  in  ber  93Ifite  feine^ 
Mtni  britt^albe  3entner,  unb  fein  ^funb  noeniger* 

3um  geijllidjen  ©eruf  fam  er  un»erfel)end,  unb  burd)  nid)tt  anbered, 
aW  bie  ®en>iffendbiffe  bed  oberen  ©rucflbauem  Don  Xin^ofem 

Ser  ^atte  Diet  ©etb,  feine  ^inber,  unb  eine  fd)n>ere  ©ftnbe  auf  bem 
J&erjen,  bie  iljn  bebrficfte.  9Sor  3al)ren  ^atte  er  in  einem  ^rojeg  mit  feinem 
92ad)bam  falfd)  gefc^moren  unb  baburd)  gen>onnen. 

@r  mad)te  ffd)  juerfl  n>enig  baraud,  benn  er  tjatte  Dorftd)tigertDeife 
beim  ©d)w6ren  bie  ^in^tx  ber  finfen  J&anb  nad)  unten  ge^alten.  Die  e^r*? 
n)&rb{ge  Srabition  fagt,  bag  auf  biefe  Tlxt  ber  ®d)n>ur  Don  oben  nad)  unten 
burd)  ben  £6rper  ^inburd)  in  ben  9oben  f&^rt  unb  aK  ein  falter  @ib  feinen 
@d)aben  tun  fann. 

3lber  ber  QSriidrbauer  mar  ein  jagf)after  SKenfd),  unb  mie  er  diter 
murbe,  ffnnierte  er  Diel  fiber  bie  ®efd)id)te  nad)  unb  befd)fo§,  ben  (Sd)aben 
gut  {u  mad)en.  Dad  i^eigt,  nid)t  ben  @d)aben,  ben  ber  9?ad)bar  eriitten 
^atte,  fonbern  bie92ad)tei(e,  meld)e  feine  eigene  unflerb(id)e  @eele  nel)men  fonnte* 

SBeil  man  nid)td  gemiffed  meig,  unb  meil  DieOeic^t  ber  aOm&c^tige 
9tid)ter  fiber  ben  falten  @ib  anberd  bad)te  unb  fid)  nid)t  an  bie  3(ini)ofener 
Jrabition  t)ielt. 

3(Ifo  fiberlegte  er,  mad  unb  mieoiet  er  geben  mfiffe,  bamit  bie  9ted)nttng 
(limme  unb  feine  @d)Ied)tigfeit  mit  feinem  Serbienfl  glei(^  aufgel)e* 

Dad  mar  nid)t  einfad)  unb  (eid)t,  benn  niemanb  fonnte  i^m  fagen, 
mit  fo  unb  foDiel  SO^effen  bifl  bu  quitt,  unb  ed  mar  mig(td),  bag  er  ffc^  blog 
um  eine  Deri&l)Ite  unb  a&ed  Derlon 

Der  QJrficflbauer  mar  bei  feinen  irbifd)en  ®efd)&ften  nte  bumm  ge^ 
mefen,  unb  Ijatte  oft  ju  menig,  aber  nie  juDief  l)ergegebem 

9)ei  biefem  ^imm(ifd)en  «Oanbe[  aber  bad)te  er,  bad  {Ke^r  fei  beffer, 
unb  ba  er  fd)on  ifter  in  ber  Seitung  gelefen  tiattt,  bag  nid)td  eine  beffere 
3(nmartfd)aft  auf  bad  3enfeitd  gdbe,  aid  fD^it^ilfe  jur  TibfltUmQ  bed  ^Hellers' 
mangeld,  fo  befd)[og  er,  auf  eigene  ^oflen  unb  ganj  aUein  einen  93uben  auf 
bad  gei|ilid)e  ^ad)  flubieren  }U  (affen. 


175  8^ 


@emf  9Bal}I*fieI  auf  2l7at()iad  ^ottner^  unb  bad  reute  tt)n  nod)  oft. 

@r  ^dtte  fid)  bejfer  uberfegen  foDen^  mie  ti  mit  ben  geifligen  ®a6en 
M  @d)u^n>afl(buben  befc^affen  n>an 

Unb  er  ^&tte  fid)  mtl  SSerbru0  unb  t)ie(  3(ng(l  erfpart^  n>enn  er  fid) 
3eit  gelaffen  unb  etnen  anbern  audgefud)t  tjhttt. 

(S^  preffierte  ii)m  }u  flarf,  unb  wetl  bet  Secret  ntd)t  bagegen  rebete^ 
unb  bet  alte  ^ottner  gletd)  mit  ^reuben  einfd)Iug^  n>ar  ed  t^m  red)t 

6r  nal)m  fid)  tt>ol)[  cin  ©eifpiel  ab  am  Xin^ofer  ^farrcr  unb  meinte, 
wai  ber  f6nne^  m&^t  nid)t  fd)n)er  )um  Semen  fetm 

8lun  n>ar  ber  SRat^tad  ntd)t  gerabenn^egd  bumm ;  aber  er  tfatu  (etnen 
guten  .5topf  jum  Sernen^  unb  feme  ^reube  baran  roar  and)  nid)t  unmd^tg. 

TM  man  ti)m  fagte,  bag  er  getfllid)  n>erben  fodte^  wax  er  einberfianben 
bomtt^  benn  er  begrtff  )u  aUererfl/  bag  er  aKbann  me^r  effen  unb  mentger 
arbeiten  f6nne, 

@o  fam  er  alfo  nad)  ^reifing  in  bte  !atetnfd)ule.  £te  erflen  bret 
3ai)re  ging  ed.  9{id)t  gldnjenb/  aber  fo^  bag  er  fein  Seugntd  im  ^farrt)of 
^erjeigen  fonnte^  n>enn  er  in  ber  SSafanj  l)etm  fam. 

Unb  tt>enn  ber  J&err  ^farrer  fad,  bag  ber  @d)uler  SWat^iad  gottner  bei 
mdgigem  ^alente  unb  $(etge  genfigenbe  $ortfd)ritte  gemad^t  ^abe,  bann 
fagte  er  jebedmal  mit  feiner  fetten  @timme:  magnos  progressus  fecisti, 
discipule  I 

Der  SSatbiad  t)erflanb  ed  nid)t;  fein  SSater,  n>eld)er  baneben  flanb, 
auc^  nid)t,  aber  banad)  fragte  ber  ^farrer  nid)td. 

(Sr  fagte  ed  nur  noegen  ber  ^Reputation,  unb  bamit  gen^iffe  3n>eifler 
fa^en,  bag  er  ein  gelet)rter  J&err  fei. 

9Benn  man  in  3(ini)ofen  barfiber  rebete  unb  ffd)  er)&Ite,  bag  ber 
^ottner  J&ied  fd)on  lateinifc^  f6nne,  n>ie  ein  Xlter,  bann  freute  fid)  niemanb 
^drfer,  n>ie  ber  ©rficflbauer. 

£ad  ifl  begreiflid).  2>enn  er  tyatte  auf  bie  @elet)rfamfeit  bed  @d)u()^ 
waflfbuben  fpefuliert,  unb  beobad)tete  biefelbe  mit  gefpannter  3(ufmerffamfeit, 
tote  eine  anbere  ®ad)e,  in  bie  er  fein  ®e(b  i)ineinfle(fte. 

dx  freute  ftc^  a(fo  im  aQgemeinen,  unb  ganj  befonberd,  afd  J^ied  im 
britten  3ai)re  mit  eiuer  ^riOe  auf  ber  SRafe  t)eimfam  unb  fd)ier  ein  geifl^ 
(td)ed  3(nfel)en  l)atte. 

Sad  gefiel  il)m  fd)on  audne^menb,  unb  er  fragte  ben  Se^rer,  ob  in 
3Inbetrad)t  biefed  Umflanbed,  unb  mil  ber  ^ied  bod)  fateinifc^)  f6nne  — 
inel)r,  aid  man  fiir  bad  STOegtefen  braud)t  —  ob  ed  ba  nid)t  m6glid)  fei, 
bag  bie  Beit  abget&rjt  werbe. 

Xfd  il)m  ber  8e^rer  fagte,  foId)e  3(udnal)men  fJnnten  nic^t  gemad)t 
»erben,  fanb  er  ed  begreifli(^;  aber  tt>ie  ber  @d)ufmei(ler  t)erfud)te,  il)m  bie 
®riinbe  ju  erffdren,  bag  ein  ^farrer  nid)t  blog  bad  SKegfefen  audwenbig 
(enten,  fonbem  nod)  mttjx  f6nnen  muffe,  megen  ber  allgemeinen  ©ilbung 
unb  fiberbauptd,  ba  fd)fittette  ber  ©rftcHbauer  ben  *opf  unb  Iad)te  ein 
wenig.  ©0  bumm  mar  er  nid)t,  bag  er  bad  gfaubte.  3«  wad  tdt  einer 
mefyr  lemen  m&ffen,  aid  n>ad  er  brand) t?  J^a? 

3fber  bie  ©ad)e  tt>ar  t)alt  fo,  bag  bie  ^rofeffer  in  ^reifing  ben  J&ied 
red)t  (ang  bel}a(ten  woUten,  n>ei(  fte  ®elb  bamit  oerbienten. 


^  176  8^ 

3n  biefcm  ®Iauben  tt>urbe  cr  fcl)r  Sefi&rft,  aW  ber  ©d)uler  aWatljiad 
^ottner  in  ber  Dierten  Sateinflaffe  ft$en  6(ei6en  mu^te*  SBegen  bem  ®ried)t^ 
fcben.   SBetl  er  ba^  ®n6(t)if(f)e  nic^t  lernen  fonnte. 

3([fo  ^at  man  beutltd)  gefet)en/  benn  je$t  fragt  ber  93rucf(6auer 
einen  SO^enfc^en^  ju  n>ad  brauc^t  ein  ^farrer  gned^ifdj  f6nnen/  n>enn  3Cmt 
unb  97?e9  auf  (ateinifdy  ge^alten  n>erben? 

Z)ad  mugten  fd)on  gan}  fetne  fein^  bie  «Oerren  m  ^retffng/  red^t  ab^ 
bre^te  @pi$buben* 

dx  tjatte  einen  mentifclien  3orn  auf  fte^  benn  bem  Sd^u^noafltbubett 
fonnte  er  teine  @d)ulb  geben. 

£er  ^iti  fagte  {u  il)m/  er  t)&tte  ed  nie  anberd  gebad)t  unb  gewuft, 
aK  ba$  er  auf  bad  (lubieren  mfiffe,  n>ad  ber  ^farrer  wn  3Cin^ofen  f6nne. 
jDen  ^abe  er  aber  fetner  Sebtag  nie  mad  ®rie(()ifd)ed  fagen  t)iren^  unb  bed^ 
tt>egen  fei  er  auf  fo  toa6  nid)t  gefagt  gemefen. 

2)agegen  (ief  (id)  ni(f)td  einmenben;  auf  ber  @eite  t)om  J^ied  n>ar  ber 
J^anbel  rid)tig  unb  in  Drbnung.  Die  Sumperei  flecfte  bei  ben  anberen^  in 
g^reiffng  brinnen.   Der  ©rficffbaucr  ging  jum  ^farrcr  unb  befdjwerte  (id). 

2fber  ba  l)ifft  einer  bem  anberen,  unb  ber  93auer  i|l  allemal  ber  3fud^ 
gefdjmierte.  Der  ^farrer  ladite  juer(l  unb  fagte,  bad  fei  einmat  fo  ®efe$ 
unb  er  t)abe  ed  and)  lernen  mu(fen;  me  aber  ber  9)r&cflbauer  baran 
jttjeifctte  unb  meinte,  wenn  bad  maljr  fei,  bann  foHte  ber  ^farrer  einmal 
auf  gried)ifd)  jelebrieren,  er  ja^Ie,  n>ad  ed  fofle,  ba  n>urbe  ber  «Ood)n)&rbige 
grob  unb  l)ief  ben  93r&cf(bauern  einen  audgefd)dmten  9){i|iIacfeL  9BeiI  er 
um  eine  rid)tige  3Cntn>ort  tjerlegen  war,  t)er(lel)(l? 

Seftt  fag  bie  ®ad)e  fo,  bag  ber  ©rurflbauer  fiberfegen  mugte,  ob  er  ed 
nod)  einmaf  mit  bem  «Oied  probieren,  ober  einen  anberen  nad)  $rei(ing 
fd)icfen  foUte,  ber  (id)  oon  oornl)erein  auf  bad  ®ried)ifd)e  einfiej. 

3Benn  er  bad  le^tere  tat,  ^ernac^  bauerte  ed  mieber  um  brei  3al)re 
I&nger  unb  bad  ®e(b  fftr  ben  @d)uf)n>a(i(buben  war  t^iOig  ))erloren.  Unb 
augerbem  fonnte  fein  Wtenidj  miifen,  ob  ffe  in  Srei(Tng  nid)t  wieber  wad 
anbered  erftnben  wfirben,  wenn  (Te  ben  neuen  ©tubenten  mit  bem  ®ried)ifd)en 
nid)t  fangen  f6nnten.  Sedwegen  entfd)Io9  er  (id),  ben  J^ied  bie  @ad)e  noc^ 
einmal  probieren  )u  (a(fen,  unb  erma^nte  i^n,  bag  er  (id)  ^aft  red)t  ein# 
fprei^en  follte. 

Dad  tat  ber  ^ottner  )war  nid)t,  benn  er  war  fein  ^reunb  ^on  ber 
mfil)famen  ^opfarbeit,  aber  fein  ^rofeflfor  war  fefber  ein  ®ei(Hid)er  unb 
wugte,  bag  bie  Diener  ®otted  and)  ol)ne  ®e(e^rfamfeit  amtieren  f6nnen* 
Dedwegen  woUte  er  nid)t  and  (auter  ^^ic^teifer  bem  J^ied  @d)aben  guffigen 
unb  lieg  itjn  bad  gweite  3al)r  mit  d)ri(iric^er  Q5arml)erjigfeit  t)orriicfen* 

Der  J&ied  fam  aid  ©d)ufer  ber  fiinften  ?ateinffa(re  l)eim  unb  faf)  aud, 
wie  ein  rid)tigcr  ©tubcnt, 

dx  gdl)lte  bereitd  (iebenjel)n  3al)re  unb  war  f6rperfid)  fe^r  entwirfelt 

Den  ^ooperator  t)on  !Xufl)aufen  uberragte  er  um  J^auptedl&nge  unb 
aUe  feine  ®(iebmagen  waren  grob  unb  ungefd)(ad)t*  3(ud)  t)erIor  er  ju  ber 
felbigen  3eit  feine  ^nabenflimme  unb  nal)m  einen  raul)en  ©ag  an. 

SBenn  er  mit  feinen  ©tubienfreunben,  bem  3ofef  ©d)arl  t)on  ^etten^ 
bad)  unb  bem  SO^artin  3oUbred)t  toon  ®(onn  {ufammenfam,  bann  jeigte  ed 


177  ^ 


fid^f  bag  er  mei'tau^  am  metflen  tnttfen  fonnte  unb  tm  ^terfomment  fc^pn 
9ttfe  AenntntlTe  i^atu. 

dv  befag  ein  UbifafM  @taitbedgeffi^[  unb  fang  mit  feinen  SommiiU 
tottfn  bte  ®tubenren(ieber^  ali  „3iom  ^o^^n  Clpmp  t)era6  n>arb  uni  bte 
^reube"  ober  „T}vnm  93rftberd)en  er-her-go  biba-ha-mus!"  fo  txaftDoU  uni 
laut,  bag  bet  93rucf[6auer  am  92ebenttfd^e  fiber  bte  (iubentifdie  93t(bung  be« 
@€i)u^n>afl(bu6en  erflaitnte. 

Unb  ati  ber  ^ie^  feinen  QSefucft  im  ^farrfjofe  mad)te,  bat  er  nid>t  tt)ie 
in  frft^eren  3a^ren  bte  Xidiin,  fte  m6d)te  t^n  anmeften/  fonbern  er  fibers 
retcf)te  t^r  etne  Stfttenfarte^  auf  n^elct^er  mit  f&uberHd^en  93u(^flaben  ftanb: 

SKat^ia*  ^ottner 
stud.  lit.  et  art. 

J^etgt  studiosus  literarum  et  artium,  etn  93efltffener  ber  fc^inen  9Biffen^ 
fc^aften  unb  ^nfle. 

£er  alte  ^ottner  n>ar  jiol}  auf  fetnen  Qotftt,  auf  bem  fc^on  je$t  ber 
Sfbglan}  fetner  (finftigen  SBfirbe  rut)te,  ber  t>em  ^farrer  )um  @ffen  ein^ 
gelaben  nourbe^  ber  mtt  bem  ^ooperator  fpa}teren  ging  unb  mit  bem  Se^rer 
unb  @tationdfommanbanten  tarofte. 

Unb  ber  93rji(frbauer  noar  ei  and)  )ufrteben^  n)enn  er  fd>on  ^ter  unb 
ba  ben  2fuftt>anb  be*  J&errn  ©tubenten  etwad  grog  fanb.  2f6er  er  fagte 
nicf)t*^  benn  er  ffird)tete^  bag  er  iu(e$t  noc^  aud(ajfen  f6nnte^  noenn  er  i^m 
gar  {U  wenig  J^afer  t)orfd)&tten  n>urbe. 

@o  t)er(ebte  J^ie*  etne  luflige  Safan)  unb  }og  neu  gefi&rft  im  IDftober 
nac^  ^retfing. 

Seiber  gtng  er  einer  truben  3eit  entgegen.    X)er  Orbtnariu*  ber 
ffinften  ^(a{fe  noar  ein  unangene^mer  WttnSd}^  fireng^  unb  rec^t  bifftg  unb 
baju. 

SDBie  er  ba*  erflemal  ben  ^immedangen  ©ouemmenfdfen  faf),  ber  ffd) 
in  ben  @cf)ulb&nfen  munberltd)  genug  au*nat)m^  lad)U  er  unb  fragte  i^n^ 
ob  er  au(^  am  @eifle  fo  ^od)  fiber  feine  2){itfd)fi[er  ^tnaudrage.  Z)ag  bie* 
ntd)t  ber  %aU  tear,  fonnte  fetn  ®et)etmnt*  bleiben^  unb  bann  nal)men  bie 
@p6tte(eien  fein  (Snbe.  Xnfangd  gab  ffcii  ber  ^rofeffor  nod)  ^Dtiit|e,  %nnten 
aui  bem  Stein  ju  fd)(agen;  n>ie  er  e*  aber  nid)t  ferttg  bradyte^  gab  er  bie 
J^ofnung  balb  genug  auf. 

£em  9Ratt)ia*  ^ottner  mar  e*  gau)  xed)t,  ali  man  feine  97{einung 
&ber  ben  gallifdyen  ^ieg  be*  Qaiui  3uliu*  Saefar  nic^t  metjt  ein^olte^  unb 
bie  gried)ifd)en  3eit»6rter  o^ne  feine  STOttwirfung  fonjugierte. 

Sr  (ac^te  gutmfitig,  noenn  in  feinen  ©d^ulaufgaben  jebe*  SQort  rot 
ttnterfhic^en  n^ar^  unb  er  munberte  (td)  fiber  ben  Stirgei)  ber  f(einen  Sburfd^en 
t>or  unb  neben  il)m,  bie  miteinanber  (Iritten,  ob  etwa*  falfd)  ober  red)t  fei. 

Xber  frei(id),  bei  einer  foldjen  ©effnnung  war  ba*  (Snbe  Uidit  )u 
erraten  unb  im  3Cugufl  flanb  ber  Srficflbauer  bor  ber  n&m(id)en  9Qa^(/  ton 
}tt)ei  3a^re  bor^er^  ob  er  fein  Sertrauen  auf  ben  ®d|ut|n>afllbuben  aufrec^t 
i^alten  foKte  ober  nid^t. 

£a*  ^eigt^  er  t}atte  eigent(id)  bie  9Qat|[  nid)t  met|r^  benn  je^t^  nad) 
fed)*  3a^ren^  fonnte  er  nid)t  me^r  gut  ein  neue*  (Erperiment  mit  etnem 
anberen  mad)en* 

S&ddeuttche  Monattbefte.  1.2.  12 


M    178  8-9- 


Ulio  triftete  er  ftc^  mit  bem  ®ebanfen^  bag  etn  ^uM  9to9  {noeimal 
iietjt,  unb  big  tn  ben  fauren  TipfcL 

Sai  ®ef[d)t  ^at  er  babet  mtji  berjogen,  unb  fetne  ^reube  am  ^iti 
roar  urn  etn  fd^ined  (Stficf  Hetner  geworben;  ed  regten  fid)  arge  3n>eife(  tn 
fetnem  J^erjen^  06  ani  bem  langen  ®oItat  etn  rtd^ttger  ^farrer  merben  f6nnte. 

@etne  &b(e  9aune  toax  aber  ntdit  anflecfenb^  wentgflend  ntc^t  fitx  ben 
J^errn  ^attflai  Conner* 

Dt'efer  tt>ar  wA^renb  bet  SSafanj  etn  gnter  ®a|l  in  alien  ®irW^dufern 
auf  brei  @tunben  tm  Umfretd;  unb  tt>enn  t^m  au^m&rM  bai  ®e(b  audgtng^ 
bann  bebadyte  er^  bag  neben  jeber  ^trdye  etn  ^farrl^of  ftef)t^  gtng  t^tnetn 
unb  bat  um  etn  SStattfum^  mte  e^  ti)m  {ufam  aid  studioso  literanim,  einem 
i&efltffenen  bet  fd)6nen  ^itnfle  unb  9Bi^enfd|aften. 

£abet  trajf  er  mtfl  ^ter  unb  ba  etnen  jungen  Aooperator,  SReompflen 
ober  3((umnud^  n)e(d)er  mtt  tl)m  ^retfinger  (^rtnnerungen  anitan^d}te  unb 
nad}  ber  }et)nten  J^albe  9ter  tn  bte  fd)6nen  Steber  einflimmte:  „fliom  ^o()'n 
Clpmp  ^erab  watb  un«  bte  greube"  unb  ,,tDriiberd|en^  er-her-go  bi-ba- 
hamus!" 

Titi  er  tm  Oftober  n>ieberum  tn  fetner  9t(bungdfldtte  etntraf^  mar  fetn 
^opf  um  etn  gutei  btcfer,  fetn  tDag  eri^ebltd)  ttefer^  aber  fonfl  biteb  aUti 
beim  alten* 

Den  (Satud  3u(tud  Saefar  tiatU  er  tn  ber  3n>tfd)eniett  ntd^t  Iteben 
unb  bte  grted)tfd)en  3ettn>6rter  ntd)t  fd)d$en  gefernt;  fetn  ^rofeffor  mar  fo 
jumiber  mie  frfi^er  unb  ba*  ©d)Iugrefuftat  mar  nad>  Hbtanf  be*  Sa^re* 
mieberum^  bag  ber  J^te*  ntd)t  auffletgen  burfte* 

Sugleid)  murbe  ti)m  er6fnet,  bag  er  ba*  juldfftge  Xlter  Aberfd^rttten 
f)abe  unb  ntd)t  noc^  etnmaf  fommen  bfirfe.   3e|t  mar  ICrecf  Srumpf* 

Seftt  fatten  aHe  ba*  9lad)fel)en;  ber  alte  gottner,  mefdjer  fo  (lofj  mar, 
ber  SBirt,  me(d)er  fcd>  fd)on  auf  bte  ^rimij  gefreut  l^atte  unb  bie  fatl)o[tfd)e 
Aird^e,  ber  btefe  flatrttd)e  @dule  Derloren  gtng* 

3(ber  am  muflen  ber  obere  tDrficflbauer  bon  SCtn^ofeU/  bem  ba*  gauge 
®ef(4dft  mtt  unferm  .^^trgo tt  t)erborben  mar.  £reu)teitfel,  ba  foOfi  ntc^t 
m&ttg  merben  unb  flud)en! 

®teben  lange  3a^re  ^atte  er  brab  ja^fen  muffen,  ntd)t*  mte  ja^Ien, 
unb  ntd)t  mentg;  ba*  bfirft  t()r  gfauben.  SRan  fa^  e*  bem  @d)U^ma(i(^ 
buben  bon  meitem  an,  bag  er  in  fetnem  fd^Ied^ten  gutter  geflanben  ^atte* 
Unb  aKe*  mar  umfon^;  auf  bem  i)tmmltfd)en  £onto  be*  99rficf(bauem  {lanb 
tmmer  nod)  ber  fafte  @tb,  aber  fetn  btjfel  ma*  auf  ber  ®egenred)nung. 

jDenn  ba*  mar  bod)  ntc^t  benfbar,  bag  unfer  J^errgott  bte  flubentifc^e 
9tlbung  be*  J^te*  ffd)  ali  Bene  aufred)nen  Keg. 

@o  etne  mtferabltge,  au*gemad)te  Sumperet  mug  nod)  nie  bagemefen 
fetn,  folange  bte  SBelt  fiel)t! 

2)te*ma(  gtng  bie  90ut  be*  ^rficflbauern  ntd)t  b(og  gegen  bte  %rtu 
fTnger  ^rofeflToren;  ber  ^farrer  J)atte  tt)n  aufgefldrt,  bag  e*  beim  J&ie* 
i&beraU  gefe^It  ^abe,  au*genommen  ba*  Sarofen  unb  ^tertrtnfen.  £er 
J^aberlump,  ber  nt(^t*nu$tge! 

Seftt  (tcf  er  in  3Cin^ofen  t)erum,  mit  ber  QSriUen  auf  ber  Slafen,  unb 
einem  93aud),  ber  nid)t  fd)Ied)t  mar.  Q^r  fa^  au*,  mie  nocf^  mal  ein  rid)ttger 


179 


Steoptxator,  ber  fcfton  morgen  bai  aWcpUfcn  anfangt,  bertt>eil  xoax  er  ntcf)td, 
a6fo[ut  bur(()aud  gar  nt(f)tj^. 

Dcr  cinjige,  bcr  bet  biefen  @ct)tcffaWfct)fAgen  rnt)ig  blieb,  war  ber 
e^emaltge  stud.  lit.  SRat^tad  ^ottner. 

J&dtte  er  linger  unb  metjx  flubiert  getjabt,  bann  m6cf)te  id)  glauben, 
ba^  er  biefe  (Seefenrut)e  oon  ben  ffeben  SBeifen  be*  Xltertumd  gelernt  Ijabe. 

@o  mug  id)  annebmen^  bag  f?e  it)m  angeboren  n)ar. 

Sr  ^atte  |cd)  tt>ot)I  feinen  flaffifd)en  ©ilbungdfd)a$  fur  fein  ffinftige* 
?eben  crworben,  aber  er  red)nete  fo,  bag  if)m  ffir  aBe  ffeben  fette 
3af)re  befd)ieben  n>aren^  bie  il)m  feiner  me^r  n^egne^men  fonnte*  Stud)  ber 
©rurffbauer  nid)t,  mit  famt  feiner  3But. 

3n  wa«  foH  ber  SRenfd)  ffd)  mit  ©ebanfen  an  bie  Bufuuft  abmartern? 
I)ie  SSergangenijeit  ifl  auc^  voai  mxt,  nod)  baju  fo  eine  luftige,  mie  bie  im 
t)eimlicften  ^neipjimmer  Ui  ©ternbrdu  gewefen  war!  9Bo  er  mit  feinen 
^ommilitonen  betfammen  fag  unb  nad)  unb  nad)  bie  ^ertigfeit  erfangt  IjatU, 
eine  3J?ag  ©ier  o^ne  3(bfe$en  au^jutrinfen. 

2Bo  er  aHe  feinen  ?ieber  bed  *ommerdbud)ed  gefungen  l^atte,  bad 
^Crambambuli"  unb  bad  „^iex  la  ia'*  unb  nid)t  )u  Dergeffen  bad  en>ig 
fd)4ne  „15rum  35rfiberd)en  er-her-go  bi-ba-hamusi" 

@o(d)e  Srinnerungen  bifben  and)  einen  @d)a$  fur  bad  Seben;  unb 
»enn  ed  bie  fuftgefefditen  ©auernrammet  in  3finl)ofen  and)  md)t  t)er|lef)en, 
lufiig  n>ar  ed  bod)! 

Unb  gar  fo  fd)(ed)t  fonnte  and)  bie  Sufunft  ntd)t  werben. 

aSorerfl  entfdjlog  er  ffd),  jum  STOifitdr  ju  get)en;  feine  brei  Sa^re 
mugte  er  bod)  abbienen^  unb  ba  xoax  ed  beffer^  n>enn  er  fid)  g(eid)  je$t 
mefbete.  Xuf  bie  SBeife  ging  er  bem  Q3r&cf(bauern  and  bem  9Beg  unb 
^atte  feine  !Rul)e.   dx  flellte  fid)  beim  ?eibregiment  unb  n>urbe  angenommen. 

Unb  tt>enn  ber  ©r&cffbauer  woUte,  fonnte  er  je§t  in  aj?find)en  bom 
J^ofgarten  and  ben  gffigefmann  ber  jweiten  ^ompagnie  mit  ©tolj  betrad)ten. 

Der  *opO  ber  fo  bicf  nnb  rot  and  bem  Uniformfragen  ragte,  ber  war 
auf  feine  ^ojlen  t)eraudgefreffen,  unb  wenn  er  and)  gut  anjufet)en  gewefen 
wire  6ber  bem  fd)n>argen  Zalax  mit  ber  5onfur  l)inten  brauf,  fo  mugte 
bod)  jeber  gered)te  a)2enfd)  {ugeben^  bag  er  and)  fo  nid)t  fd)(e(I)t  audfa^^ 
fiber  ben  weigen  Sigen  unb  ber  bfi^blauen  Uniform. 

greilid),  gottgefdKig  war  ber  je|ige  ©eruf  bed  ©d)uJ)n)a|Hbuben  nid)t; 
aber  il)m  felber  geftef  er. 

2)ie  *o(l  war  nid)t  fd)red)t,  unb  bie  @injd{)rigen  jaf)Iten  bem  fangen 
^erl  gerne  eine  SRag  iDier^  wenu  er  ffd)  a(d  jfommilitone  borfleOte  unb  fic^ 
rft^mte,  bag  er  nid)t  ber  ©d)Ied)te(le  gewefen  fei,  wenn  bie  J^erren  confratres 
eine  tleine  @aufmette  i)ie(ten* 

Unb  wet(  er  ftd)  and)  bet  ben  Seibed&bungen  anfleUig  jeigte^  errang 
er  bie  ®unfl  bed  J^errn  ^auptmanned  unb  wurbe  fd)on  nad)  ad)t  SRonaten 
wo^[  befiaKter  Unterofft)ier. 

Dad  wdre  nun  ailed  rec^t  unb  fd)6n  gewefen^  unb  bie  ganje  aRenfd)^eit, 
eingefd)Iofren  bie  ju  2finl)ofen,  l)dtte  mit  bem  ?ebendfd)t(ffale  bed  SRat^iad 
^ottner  jufrieben  fein  f6nnen. 

Tlbtx  im  «@er)en  bed  ®rii(f(bauern  fag  ein  9Qurm* 

12* 


180  2^ 


Set  fra^  an  ti)m  unb  (ie^  t^m  fetne  9tu()e  bet  ^ag  unb  92a(f)t 

HQenn  anberen  ^Ottn^dftn  aUt  Uni^idiUn  Dertoren  ge^en/  bann  binben 
(fc  fcufjenb  eincn  fcf^toeren  ©tein  an  i^rc  J^ofnnngen  unb  berfenfen  fie  in 
bai  STOeer  ber  Serge(fenl)eit 

din  )&^Iebiger  ®auer  ^anbelt  nidit  fo;  ber  uberlegt  ffd)  noc^  immer^ 
ob  rr  nt(f)t  etnen  Set(  ju  retten  bermag^  n>enn  er  bai  ®anie  nid^t  ^aben  fann. 

Unb  me  fid)  bte  &rgfle  9Sut  be«  93r&cf(bauern  gelegt  t|atte^  fing  er 
wieber  an  ju  ftnnteren  unb  ^(&ne  )u  fdjmteben* 

9BeiI  ed  fict)  aber  urn  eine  @ad)f  ber  ®e(ef)rfamfett  ^anbelte,  tt>ar  er 
fid)  felber  nid)t  gefd)eit  genug;  er  befd)!©^  beimegen,  gfeid)  tn  bie  red)te 
®d)mtebe  )u  ge()en  unb  bet  etnem  ^farrer  um  9tat  )u  fragen* 

jDent  3(tnl)cfener  tvantt  er  ntd^t;  bon  bamaK  ^er^  noo  er  t^m  wegen 
bcm  ®ried)ifd)en  fo  aufgefegte  ?figen  erjAl)It  ^atte* 

2fber  in  ©finj^aufen,  bier  UBegllunben  entfemt,  fa^  einer,  ber  f)od»^ 
no&rbige  Jjcrr  Sofef  @d)u^bauer,  ju  bem  man  Sertrauen  faffen  fonnte- 

£ad  noar  ein  gang  feiner;  ein  3(bgeorbneter  im  Sanbtag,  breimal  fo 
fat()0lifd)  noie  bie  anbern  @eelen^irten  unb  ein  ^i$iger  @treitl}amme(^  ber 
bie  Siberalen  auf  bem  £raut  fra^  unb  ben  ST^iniflem  bie  gr6b(len  ^dnje 
auffpielte^  bid  er  enb(id)  bie  eintr&g(id)fle  ^farrei  im  ganjen  9idtum  er^ielt 
3u  bem  ging  er^  benn  ber  tougte  ganj  gemi^  ein  SRittel  baffir^  ba0  ein  fo 
robufler  iadl,  wit  Wtattjiai  ^ottner  mar,  ber  ^ird)e  nid)t  t)er(oren  ging* 

3((fo  fragte  er  i^n^  ob  man  nid)t  bad  ©^mnafium  in  S^eiflng  mit  einem 
orbentlic^en  @tfi(f  ®elb  abfc^mieren  f6nnte^  ober  ben  9ifd)of/  ober  fonfl  n>en. 

„(5in  berbien|llid|e*  SCBerf  ifi  ti  immer,"  fagte  ber  ^od)nDfirbige  Jjerr 
@d)ut)bauer,  Mtoenn  man  fein  ®elb  fiir  fat^o(ifd)e  Btoetfe  anlegt^  aber  in 
bem  %aVi  ^ilft  ed  ntc^t  t)ie(^  benn  bad  iReifejeugnid  filr  bie  Unt))erflt&t  friegt 
man  blog  burd)  eine  ^r&fung.  ^enigflend  fo  (ang  bie  n>eir[id)e  aRad)t 
—  (eiber  ®otted  —  in  bie  @d)u(bi(bung  nod)  toad  brein  )u  reben  i)at 
3Cber  n>ad  anbered  gel)t/  i&rfidlbauer/'  fagte  er^  ^toenn  bu  ben  ^ottner  J^ied 
burd)aud  geifllid)  ()aben  n>i&fl*  X)a  if}  in  9tom  ein  Collegium  Germanicum, 
in  noelc^em  beutfd)e  3itng(inge  audgebilbet  merbeu/  bon  ben  3efuiten.  ^ic 
ne^men  ed  fe^r  genau  mit  bem  ®Iauben^  aber  megen  ber  S&ifbung^  ba  brftrfen 
pe  ein  3fug'  ju^  im  Sntercffe  bed  ®Iaubend." 

„J&m/'  meinte  ber  ©rfirf Ibauer,  ,,ob  aber  bie  aWeffen,  bie  tt>o  fo  einer 
lefl^  ber  too  aud  iXom  fommt,  bie  ndmlid)e  ^raft  ^aben?'' 

r,(S^enber  nod)  eine  grigere^  menu  bad  i^berl)auptd  m6g(id)  no&r/'  fagte 
ber  J^o(4n)urbige/  ^benn^  93rficflbauer^  bu  barfd  nid)t  ))ergeffen/  ba^  bie 
@d)ur  in  fXom  ganj  in  ber  SRdt)  bom  ^etligen  Sater  ift/' 

,,Db  fte  aber  ba  aud)  bad  ®ried)ifd)e  unb  fo(d)ene  @d)n>inbelfad)en 
Dcrlangen?" 

,,9lur  fd)eind{)alber.  ®urd)faHen  tut  bedwegen  feiner,  tt>enn  er  fe(i  im 
®(auben  ifi  unb  feine  ®ad)^  in  9tid)tigfeit  unb  Orbnung  )at)(t.  Xber, 
i&rftcffbauer,  bei  und  in  Z)eutfd)(anb  fann  ber  SRat^iad  ^ottner  nicftt 
Vfarrer  n>erben." 

„3a,  warum  nad)t)er  net?" 

r^SQeil  bie  SRalefiipreu^en  ein  ®efe$  bagegen  gemac^t  t)aben/' 
„£6d  fan  aber  fd)o  n>irf(i  f(f|(ed)te  a}tenfd)en/' 


181  ^ 


,,£a  ^afl  Sted^t;  noc^  t)tef  fd^Iediter,  afd  bu  glaubfl.  2)er  ^ottner 
w&rbe  l)aU  n)a()rfd)einlicf)  em  STOiffiondr  wcrben  mfiffen*  ^ad  mugte  bid> 
mit  $reube  erffittcrt/  bcnit  bo*  i(l  fd)ier  nod)  t)erbien|Hid)cr,  aW  tt>cnn  er 
bti  nni     arret  wirb." 

hii  abtx  aa  g^tot^?  fliet,  bad  t  no  ma(  be  gro0en  3ludga6en 

1)  &n  unb  e*  toaar  6(0^  a  t)a(6ete  &ad^." 

„(ii  ifl  9en>i^  unb  unbeftreit6ar,  benn  tmmer  toaren  bte  ®(aubend^ 
boten  am  t)ic4flen  gee^rt/' 

£er  SDr&cffbauer  n)ar  gCficf(tc^  unb  gtng  freu}fibel  k)on  @finit)aufen  t)etm. 

3e$t  mu0te  nod)  aOed  red)t  noerben,  unb  fetn  ^(an  gtng  ti)m  t)tnau«* 

jDie  fodten  fd)auen  in  ^reiftng^  noenn  ber  @d)u^nDafl(^te*  rro$  aOebem 
nedf  etn  geifl(id)er  «Oerr  n^urbe,  ober  QUid}  gar  ein  ©(aubenibote^  ber  bie 
•Oinbianer  befei}rt,  unb  bent  feine  SO?ejTen  noc^  nte^r  gelten* 

Unb  bie  Xin^oferer^  bie  i^n  je|t  aOen>ei(  im  ®irtd()aud  fragten^  toai 
fein  rateintfd)er  Unterofftjier  ntad)e^  bie  foSten  bie  3Cugen  nod)  aufrei^en. 

®(eid)  am  n&d)(len  Sag  fu^r  er  nat^  Wt&ndj^n.  Xeinc  ^reube  ifl 
ooDfommen^  unb  bie  ^a(me  bed  Sieged  ifl  niemafen  mit  leid^ter  SRu^e  )u 
erringen. 

X)ad  erfutir  ber  ®rfid(bauer,  aii  er  bem  finiglid)en  Unterofftjier 
fRat^iad  ^ottner  feinen  ^fan  mitteilte* 

Diefer  erf t&rte  runbweg^  ba^  er  n>eber  flubieren^  nod)  ju  ben  «Oinbianern 
ge^en  weUu 

TM  ifym  ber  TUtt  t^orfleKte,  bag  er  gan)  wenig  (lubieren  m&ffe,  meinte 
€t,  gar  nid)td  fei  nod)  beffer^  unb  afd  ber  ®rftcf(bauer  il)m  I)0(^  unb  teuer 
mfid)erte,  bag  er  ein  J^eiliger  n>firbe/  genau  fo  n>ie  bie  gipfernen  SJ^anner 
in  ber  2(in^ofener  £ird)e,  gab  er  }ttr  Tlntwoxt,  bag  it)m  bad  gan)  n)urfd)t  fei. 

Sd  ^alf  ailed  nic^td.   X)er  9rft(flbauer  mugte  ab}ie^en  unt)errid)teter 

2)  inge  unb  mit  feinem  aften^  beigenben  9Burm  im  J^er}en.  Srogbem^  er 
gab  bie  J^offnung  ni*t  auf,  er  (lecfte  fid)  Winter  ben  alten  gottner  unb  t>exf 
fprac^  il)m  bie  fd)6nflen  @ad)en  ffir  feinen  «Oied. 

Sange  n>ar  ed  umfonfl^  aber  nad)  etwa  jmei  3a()ren  grif  ber  J^immel 
felber  ein  unb  fdiuf  eine  gunflige  ffienbung. 

£er  J^auptmann  ber  jmeiten  ^ompagnie  bed  f6niglid)en  3nfanterie^ 
geibregimentd  n>urbe  SRajon  3fn  feine  ©teUe  trat  ein  giftiger  J&err,  welc^er 
iD7annfd)aft  unb  Unterof|t}iere  gleid)ermagen  fd)u^riegelte  unb  baburd)  ein 
®erfjeug  ber  *ird)e  nourbe- 

Senn  SRat^iad  ^ottner  entfd)(og  fid)/  a(d  er  {um  jmeiten  SJ^ale  mit 
SSittelarrefl  befhraft  murbe^  fernert)in  nid)t  (dnger  ju  bienen  unb  feine  7lb^ 
fic^ten  auf  Capitulation  g&ni[i(6  aufjugeben.  @erabe  in  biefer  ieit  er^ieft 
er  einen  ^rief  bon  feinem  Sater^  welc^er  folgenbermagen  tanteU: 

,,?ie6er  J&iad! 

fSlad^  langem  n>arben  noill  idi  Z)ir  ent(id)  @d)reiben/  bad  gefling  ber 
93rigg(bauer  toibex  ba  ©en^efl  id  unb  inbem  ^u  ein  «Oeufiger  n>erben  fun)t 
unb  bod)  gar  nid)td  )un  (ernen  brauc^db  aid  miebadb  nad)  9tom  gefl. 
(ieber  ^iai,  ti)ud  Sir  gnau  fiberlegen  n>anfl  £u  93farrer  wurjt  bei  bie 
J^tnbianer  aber  bte  brtmd,  bie  9rtmind  id  betm  SBfirt^  unb  intern  ber 


182  8k- 


S&ngglbauer  fagt^  er  )a(t  Sir  nod)  egdbra  breibaufab  ^Dtaxd}  n>annfl  firtt 
bi(l.  Sicber  J&iad,  tf)ud  jDir  fern  gnau  iibcrlegcn,  toa^  fir  cine  freute 
SDBar  fir  X)cmcii  aSater*  Dfiflfen  ©ricf  f)obe  icf)  ?nid)t  9cfd)riben.  Die 
Senji  i)at  gefd)riben.  3d)  mu^  mein  fd)reiben  fd)tte@cn^  benn  bad  ?icf)t 
tjat  nid)t  met)r  gebranb.  Unber  ^ielc  ©ru^e  t)erb(eibe  id)  Dein  Did) 
liebenber  Sater  ®ute  9{ad)t!  @d)Iaf  n>o^(  unb  ^rdume  @u$.  Zuf 
tt)icberfeJ)n  mad)t  greubc.  ®d)rribe  mit)r  fofort  ben  id)  fanj  nid)t  me^r 
erwarten  auf  3fnbn>ort." 


Der  ©rief  tot  feine  SBirfung.  J5er  Unterofft}ier  ^ottncr  bebad)te,  bag 
e«  bei  ben  9eifllid)en  J&erren  in  9lom  nid)t  fd)Ied)t  )u  leben  fei,  jebenfaOd 
belTer^  aid  in  ber  ^aferne  unter  einem  J^auptmann/  ber  mit  bent  3(rrefl  fo 
frei9ebig  mar. 

3C(fo  fagte  er  )U/  unb  toie  nad)  bent  S)7an6t)er  feine  Dien|l)eit  ab^ 
gefaufen  tear,  ging  er  nad)  3(int)ofen  ttnb  lieg  (ic^  t^om  Q3r&(f(bauern  bad 
Serfpred)en  wegen  ber  3000  STOarf  fd)riftrid)  geben. 

3((d  biefe  @ad)e  in  Orbnung  n>ar^  unb  er  nod)  baju  ein  fd)6ned 
9teifegelb  befontmen  tjattt,  fu^r  er  nad)  iXom. 

@ieben  3ai)re  fa^  man  it)n  nid)t  wieber^  jieben  3at)re  (ebte  er  aid 
Fottnerus  Ainhofenensis  int  ®erntanifd)en  ^oOeg  unter  ben  ntilben  Sefuiten, 
tt)eld)e  an  biefem  t^iererfigen  ^foft  and  ?eibedfr4ften  feiften  unb  fd)Iiffen. 
Sine  fd)6ne  ^olitur  befant  er  nid)t^  aber  bie  e^rn>&rbigen  SSdter  iadjUn, 
fiir  bie  SGSilben  fangt  ed  fd)on  unb  fagten  ibnt,  bag  bie  ^aft  bed  ®laubend 
bie  9Biffenfd)aft  red)t  tt)ol)I  erfe|en  ttnne. 

a){at^iad  ^ottnerud  bad)te  and)  n>ad  unb  fagte  ni(i)t^. 

©ieben  3a()re  fag  ber  alte  @d)u^n)afll  in  feinem  J^aufe^  SRumnter  ad)t 
{U  3fin^ofen  unb  freute  ffc^  fiber  bie  ffinftige  J^eiligfeit  feined  ©ol)ned;  (feben 
Sa^re  ret^netc  ber  ffiirt  im  t)or^inein  and,  tt>ie  t)ie(e  J&eftoliter  95ier  bei 
einer  fc^6nen  ^riminj  getrunfen  tt>erben,  unb  fceben  Sa^re  lang  ging  ber 
i&r&dlbauer  alle  SSonate  jum  @rpebitor  nad)  ^ettenbad)  unb  Iie|  eine  $ofl^ 
ann^eifung  abgef)en  nad)  Roma,  Collegio  Germanico. 

Die  Seute  murben  alt  unb  gran;  balb  n>ar  eine  .&od)ieit  unb  balb 
ein  S&egr&bnid;  ber  «l&aberlfd)neiber  brannte  ab,  unb  ber  ^(oiber  fant  auf 
bie  ®ant. 

Die  fleinen  Sreigniffe  nte^rten  fid)  in  Hintjoftn,  wit  bie  grogen  in 
ber  SBelt 

©id  eined  5aged  ber  ^farrer  —  ber  neue  ^farrer,  benn  ber  alte  tt>ar 
bor  brei  3aj)ren  ge(lorben  —  t)on  ber  ^anjel  t^erffinbete^  bag  am  25*  Suli, 
am  $age  bed  t)ei(igen  !2(pofieId  3acobud,  ber  t)od)n>&rbige  ^^rimijiant 
SWat^iad  gottner  feine  er(le  ^eiligc  SWeflfe  in  3finl)ofen  jelebrteren  n>erbe. 
Dad  noar  eine  Slufregung  unb  ein  @taunen  in  ber  ganjen  @egenb!  3u  alien 
9Birtdt)Aufern  erjdl)lte  man  bat)on,  unb  ber  alte  ©rfirflbauer,  ber^  feit  i^n 
ber  @d)Iag  getroffen  ^atte^  nur  felten  met)r  audging^  ^ocfte  ie^t  aSe  Sage 
in  ber  ®aftflube  unb  gab  bie  Sr&mpfe  jux&d,  bie  er  frfit)er  ^atte  einflecfen 
m&ffen. 

Xc^t  Sage  Dor  ber  ^rimi)  fam  SO^at^iad  0ottner  an.  3nt  gefd)mik(rten 


183  8^ 


Sagen  murbe  er  t)on  bcr  93a^nflatton  ab^ttfoU,  brei^tg  9urf(f)en  ga6en  i^m 
)u  ^ferb  tai  @tUit 

(Sine  t^aibe  @tunbe  ^on  3(tn^ofen  entfernt  (lanb  ber  erfle  Zxinmpi^f 
boQtn,  ber  mit  frifdjen  Jidjtcnjwcigen  unb  blauweigen  gAl)nIem  gefc^mftcft  war* 

Sfm  (Singange  bti  £orfe^  flaitb  n)teber  eitter^  bedgletd^en  in  ber  fflitje 
tti  ^ixtit)auUi*  SSom  Xitd^entnme  n>e^te  bie  ge(6n)et^e  Sat)ne^  bie  936ller 
frad^tett  auf  bent  .^ftg^t  I)tnter^a(6  bent  ©tacflanmefen,  unb  bad  3Cuf^aufener 
fRufinorpi  (ie^  feine  ()enflingenben  9Beifen  ert6nen. 

jDa  (^te(t  ber  SBagen  t)or  bent  etUttidttn  UnmUtt  bed  ^rimt)tanten; 
SKat^iad  ^ottner  (Iteg  ab  unb  ertetfte  fetnent  Sater,  fetner  flutter  unb 
femen  ®efd)»i(lem  ben  erften  ®egen» 

^df  mu^  fageU/  er  ^atte  ein  getflHcIied  3Cnfel)en  unb  SBefen.  @eine 
3(ugen  fatten  etnen  fanffen  SDItcf^  fetn  ^tnn  n)ar  bereitd  boppeU  unb  bie 
^emegungen  fetner  fetten  ^&nte  fatten  etwad  3(6gerunbeted^  fd|ier  gar 
Sierlic^e*. 

(Seine  ®prad)e  war  fdjriftbeutfdi,  ntit  ©etonung  jeber  ©ifbe;  er  fagte 
U^t,  bag  er  gef&tttget  fei  unb  bag  man  il)m  me(e  Siebe  bet&ttget  I^abe* 

SSon  bent  ^(figelntanne  ber  )n)etten  ^ontpagnie  tm  f6ntgKd)en  3n^ 
fanterte^eeibregimente  n>ar  nid)td  nte^r  ilbrtg,  ali  bie  (ange  ^igur  unb  bie 
ungefc^(ad^ten  S&ge  unb  ^ragen* 

(Seine  ®efTnnung  n>ar  ntilbe  unb  liebreid).  Sr  t)ergab  aOeU/  bie  i^n 
einfhnaK  jur  ®&nbe  t)erf&^ret  ^atten^  er  t)ergab  feinen  (SUern  unb  Ser^^ 
wanbten  unb  92ad^barn^  bag  (le  an  i^m  gejn^eifeU  ^atten^  er  t)ergab  bent 
^x&dlbantXf  bag  er  it)m  jornige  SBorte  gefaget  tjattCf  unb  t)ergab  aOen  aDed* 

Unb  er  fa^  erbarniungdt)oII  unb  mitleibig  auf  bie  ST^eufdyen  t^erunter^ 
n>e(die  bent  $^rone  ©otted  nid)t  fo  natft  (ianben  n)ie  er. 

9Qd^renb  ber  3Bod)e/  bie  ber  ^rinti)  t)oranging,  fd^ritt  er  t>on  <0<tud 
)U  J^aud  unb  fegnete  bie  Seute;  aud>  ben  ©r&dlbauern^  n>e(d)er  t)on  @tunbe 
an  bed  feflen  SBertrauend  n>ar^  bag  er  wegen  bent  fatten  (Sib  ntit  unfernt 
J^errgotr  quitt  fei. 

Sie  ^rimi)  n>urbe  ntit  feltener  ^raci^t  gefeiert;  k)on  meit^er  famen 
bie  itutt,  benn  ber  @egen  eined  neu  gewei^ten  ^riefierd  f)at  eine  befonbere 
^aft  unb  ein  afted  (3prfid)n>ort  fagt^  bag  man  ftc^  gerne  barum  ein  ^aar 
(Stiefelfo^fen  burd)ge^en  foil. 

©ie  gefiprebigt  tjielt  ber  ^od)»6rbige  J?>err  Sofef  ©c^ul)bauer,  wefd^er 
fc^on  feit  3af)ren  geiflfid)er  !Kat  unb  f)dpfl(id)er  J^audprdlat  n>ar. 

(&x  eri&i)Ite  ber  anb&d)tigen  Serfammlung/  in  toai  f&x  einen  iiotj^n, 
er^abeneu/  ^eiligeU/  aKer^eiligfien,  aUerfeligflen  @tanb  ber  junge  ^riefler 
einfrete^  unb  er  ru^mte  it)n  auf  bie  iiberfd)n>englid)fle  9Beife. 

jDenn  bad  mug  man  xoi^cti,  bag  3efud  Sl)riflud  niemald  fo  gelobt 
noorben  ifl  auf  dxbcn,  noie  ^eute  ein  Dierecfiger  ^rimi)iant  gefobt  noirb. 

92ad^  bem  firc^Iid^en  ^efle  fam  bad  mUUd)e  im  SBirtd^aufe,  unb 
man  faun  fed)  feine  33orflellung  t)on  ber  ©rogartigfeit  mad^etu 

3mi  Cc^fen,  bret  khlie^  ein  ®tier^  ac^tjeijn  £d(ber^  in>an)ig  @d|n)eine 
^atte  berSBirt  gefd)Iad)tet;  baju  mugten  unidt)(ige  ©dnfe,  J^fit)ner  unb  @nten 
bad  Seben  laffen.  (Sinunbneun}ig  ^eftoliter  ©ier  n>urben  getrunfen^  fafl 
t^ier)tg  me^r^  aid  ber  SGBirt  gerec^net  ^atte. 


184  ^ 

HH  w&^renb  M  %e{imatiM  bte  @c^&ffel  jum  @infamme(n  ber  @penben 
tierumgereic^t  murbe,  f(offen  bte  ®aben  fo  reidylid)^  ba^  ffir  ben  $nmt}tanten 
2000  SRarf  bKeben. 

@d  n>ar  etne  er{)ebenbe  g^eten 

Sie  3(in^oferer  gfaubteii/  ba^  ber  neugetoet^te  ^rte(ler  fc^on  mit  bem 
it&d)flen  ®€(^tf  )u  ben  n>{(ben  J^inbtanern  fai^ren  n>erbe.  Z)ie  aUt  ^ottneritt 
weinte  tm  iDoxaui,  unb  tm  ganjen  £otfe  er}&t)Ue  man  fid)  Don  ben  ®efa^ren^ 
n>e(ct)e  bte  ©laubendboten  erbntben  mfiffen  unter  ben  a)7enfd)enfre{fern/  bte 
fo  etnen  fTOartprer  ^erne^men^  il)m  etnen  (Spte^  t)on  t>orn  btd  ^tnten  burd)^ 
jie^en  unb  Ijernacf)  fiber  bem  ^ener  langfam  umbrel)en,  bi*  er  fdjin  braun  mirb. 

3Cber  fie  fannten  ben  gefeterten  ®o^n  2(tn^ofend,  mit  92amend  3Ratl)tad 
^ottner  fd)(ed)t,  n>enn  fie  glaubten,  ba^  er  ffd^  auf  foldye  Sadden  einlaffen 
tt>erbe* 

5Der  befag  je$t  ein  a3erm6gen  »on  5000  STOorf;  3000  Dom  ©rficfl* 
bauern  unb  2000  »on  ber  ^rimijfpenbe  l)er.  STOit  biefem  Capital  ging  er 
in  bie  ©c^meij  unb  tt>urbe  ^farrer  im  (Sraubfinbener  ^anton^  reben 
bie  Seute  and)  X)eutfd)^  unb  am  @pie^e  braten  fie  blo^  J^fi^ner  unb  ®dnd/ 
aber  feine  ®(aubendboten. 

£ort  n>irfte  ^ottner  in  9tu^e  unb  ^rieben  unb  tt>og  balb  britt^albe 
3entner,  fein  ^funb  tt>eniger. 

^ur  ben  ^rficflbaueru/  ber  ben  J^ied  gerne  ali  J^etltgen  gefe^en  i^&tte^ 
tt>ar  bad  eine  @nttdufd)ung* 

Unb  ffir  bie  J^inbtaner  auc^. 

£)enn  bie  3(udftd)t  n>irb  i^nen  nie  me^r  b(fit)en/  ba^  ein  Unterofftjier 
t)om  baprifdyen  Seibregiment  ali  SRifjtonar  ju  i^nen  fommt 


Vcrftntwoitllcb :  F&r  den  polltischen  Tell:  Frledrich  Nftumtnii  In  Scbtfneberg;  fOr  den  wltsenschtfdlchcn 
Tell:  P«al  NlkoUus  Costmann  In  MQncben;  far  den  lltertrlschen  Tell:  Josef  HofknlUer  in  MQncben; 
'  f&r  den  kCnstlerlseben  Tell :  Wllbelm  Welstnd  In  MQncben-Botenbausen. 


Naehdruck  der  einzelnen  Beltrige  nur  auszugswdse  und  mit  genauer  Quellenangabe'  testattM. 


Die  Illusion  in  der  Politik.  ^ 

Von  Friedrich  Ntumtnn  in  SchSneberg. 

Auch  der  grdsste  Philosoph  kann  nicht  genau  sagen,  was  Illusion 
ist,  da  alles  Irdische  in  dem  bestindigen  Verdacht  steht,  unwirklich  zu 
sein.  Es  gibt  wenig  Wahrheiten,  die  nicht,  ehe  sie  Wahrheit  wurden, 
Ulusionen  genannt  worden  wSren,  und  die  nicht,  nachdem  sie  Wahrheit 
gewesen  sind,  sich  wieder  in  den  Illusionsbereich  hinein  verfluchtigen. 
Wenigstens  gilt  das  sicher  von  den  politischen  Ideen.  Irgendwann 
tauchen  sie  als  feme,  phantastische  Zaubergestalten  auf,  kommen  niher, 
werden  menschlicher,  wirklicher,  wahrer,  werden  geglaubt  und  befolgt, 
bis  ihr  Glanz  zur  Erinnerung  verbleicht  und  nur  noch  die  Romantik 
Oder  die  berufsmissige  Heuchelei  sich  mit  ihnen  befasst. 

Man  denke  an  das  Naturrecht  von  Rousseau!  Oder  an  den  Traum 
der  deutschen  RepublikI  Oder  an  den  Gedanken  des  ewigen  FriedensI 
Oder  an  den  Gottesstaat  der  protestantischen  oder  katfaolischen  ReaktionI 
Oder  an  das  Legitimititsprinzip  der  Herrscher  von  Gottes  GnadenI 
Die  politische  Luft  war  voll  von  Wolken,  die  sich  bildeten  und  die  sich 
zerstreuten.  Hundert  kleine  Wolken  werden  oft  von  einer  grossen 
verscblungen;  die  grosse  Wolke  bedeckt  den  Himmel,  es  blitzt,  es 
donnert,  es  regnet,  und  die  Athmosphire  wird  wieder  frei  fur  neue 
Bildungen. 

Ganz  falsch  ist  es  zu  sagen,  dass  Wolken  nichts  sind.  Sie  sind 
nur  nicht  das,  was  sie  in  ihrer  stolzen  Pracht  zu  sein  scheinen.  Der 
Regen,  der  von  ihnen  kommt,  beweist,  was  und  wieviel  sie  sind.  Sie 
sind  keine  ganz  neue  Welt,  sondern  nur  eine  Befruchtung  der  alten, 
aufgestiegen  aus  den  alien  Bergen  und  Tdlem,  die  dann  wieder  nach 
ihnen  dursten.  Ohne  sie  wird  das  Land  zur  Wuste,  vertrocknet, 
schattenlos  und  tot. 

Mit  nuchtemen  Worten:  wir  kdnnen  ohne  politische  Generalideen 
nicht  leben,  obwohl  wir  den  nur  relativen  Charakter  dieser  Ideen  er- 

S&ddeuttche  Moafttshefte.   1,3.  13 


186  Sn*- 


kannt  haben.  Jede  Zeit  hat  ihre  eigenen  Generalideen,  da  aber  jede 
Zeit  gleichzeitig  Vergangenheit^  Gegenwart  und  Zukunft  in  sich  tragt, 
so  hat  sie  auch  gleichzeitig  Ideen,  die  erst  noch  Illusionen,  die  eben 
Wahrheit  geworden  und  die  schon  wieder  verblasst  sind.  Ein  gewisses 
Stadium  in  der  erst  werdenden  Idee  heisst  Utopie* 

Was  ist  Utopie?  Wenn  hohe  Wolken  sich  hoch  uber  der  Erde 
ttirmen  und  wenn  die  Sonnenstrahlen  diese  Wolken  mit  seligem  Lichte 
bewerfen. 

Es  war  einroal,  da  glaubten  die  Ftirsten,  sie  seien  dazu  da,  die 
Vdlker  von  oben  her  glucklich  zu  machen,  und  die  Volker  nahmen 
vielfach  an  diesem  Glauben  teil.  Wir  reden  dabei  von  der  Zeit  des 
wohlwollenden  Absolutismus. 

Es  war  ein  anderes  Mai,  da  glaubten  die  Vdlker,  sie  kdnnten  nur 
von  unten  her  glucklich  werden,  wenn  sie  alle  Fiirsten  zu  Privatleuten 
machten  und  durch  Majoritdten  die  Autorititen  erdriickten.  Wir  reden 
von  der  Zeit,  in  der  der  Sturmgeselle  Sokrates  jung  war. 

Und  heute  sind  beide  Glaubensarten  noch  vorhanden,  aber  der 
Sonnenschein  ist  hier  und  dort  von  den  Wolken  hinweg.  Man  gesteht, 
dass  es  schwer  ist,  immer  gute  Fiirsten  und  immer  verstlndige  Ma- 
joritlten  zu  haben,  und  weiss,  dass  keine  Regierungsform  fur  sich  allein 
das  Gltick  verbtirgt.  Ohne  Zweifel  waren  aber  doch  beide  Illusionen 
heilsam,  denn  ohne  sie  wiirden  erst  die  Fursten  und  dann  die  Vdlker 
weit  weniger  geleistet  haben.  Der  grosse  Fortschritt  der  Staats- 
verwaltung  zwischen  1750  und  1850  und  der  grosse  Fortschritt  des 
Staatsbiirgertums  zwischen  1803  und  1903  ist  ohne  lebhafte  Illusionen 
gar  nicht  denkbar.  Wir  danken  den  Illusionen  vieles,  was  die  nuchteme 
Wahrheit  nie  erreicht  haben  wurde,  und  freuen  uns,  dass  es  in  der 
Vergangenheit  Utopisten  gegeben  hat,  ja,  wir  fuhlen,  dass  es  immer 
welche  geben  muss,  wenn  man  Fortschritt  haben  will. 

War  denn  nicht  auch  in  der  nationalen  Idee,  aus  der  heraus  das 
Deutsche  Reich  entstand,  etwas  von  Utopie?  Gerade  der  deutsche 
Siiden  hat  sich  die  Sache  doch  noch  anders  gedacht,  als  sie  gekommen 
ist.  Das  Nationale  wurde  viel  breiter,  weiter,  freier,  lustiger  und 
luftiger  gefasst.  Es  war  so  unendlich  viel  Jugendpoesie  in  den  HotF- 
nungen  der  ersten  Zeit  der  nationalen  Idee.  Das  war  die  Zeit,  wo  die 
Sonne  an  die  Wolken  schien,  dann  kam  das  Gewitter  und  der  Regen, 
und  nun  wichst  es  nuchtem  und  brav,  wie  eben  das  Ackerkraut  zu 
wachsen  pflegt,  wenn  das  Wetter  gut  war.  Bedauem  wir  die,  die  einst 
noch  anderes  hoflpten?  Gewiss  nicht!  Bedauem  wir  uns?  Nur  dann, 
wenn  wir  innerlich  Mrmer  sind  als  jene,  das  heisst,  wenn  wir  nichts 
mehr  hoflTen. 

Es  gibt  Illusionen  der  Wachsenden  und  Illusionen  der  Sterbenden. 
Die  Sterbenden  bilden  sich  ein,  noch  immer  jung,  noch  immer 


-<-8    187  8^ 


welteroberndy  noch  voll  von  Herz  und  Feuer  zu  sein.  In  ihrem  Gehirn 
sind  noch  Reflexe  von  Dingen,  die  lingst  verkalkt,  vennorscht  und  ver- 
loren  sind.  So  sieht  der  Stolz  der  Spanier  aus,  so  arbeitet  noch  immer 
die  Seele  des  Mohammedanismus,  so  bleiben  die  Formen  der  Souverinitit 
auch  da,  wo  Iftngst  alle  wirkliche  Souverinitit  zum  Fenster  hinaus-  • 
geflogen  ist,  so  werden  alte  Parteifonnen  erhalten,  wenn  niemand  mehr 
recht  weiss,  was  sie  bedeuten.  So  redet  ein  Handwerksmeister  davon, 
dass  es  verboten  sein  soil,  Schuhe  fabrikmissig  herzustellen,  ein 
Priester,  dass  es  strafbar  sein  soli,  sich  nicht  kirchlich  trauen  zu  lassen, 
ein  Bauer,  dass  Mtinchen  ohne  Gerste  aus  Osterreich  und  ohne  Vieh 
aus  Tyrol  existieren  soli.  Sie  alle  haben  ihre  einstige  Jugend  wie  einen 
Schatten  im  altemden  Kopf. 

Die  Wachsenden  aber  bilden  sich  ein,  dass  sie  schon  morgen  die 
Herrschenden  sein  werden.  Alles,  was  vor  ihnen  gethan  und  gedacht 
worden  ist,  ist  nichts;  der  Weltentag  beginnt  mit  ihnen.  So  schrieb 
Bebel  sein  Buch  von  der  Frau,  so  gebirden  sich  die  kleinen  Nationen 
in  Osterreich,  so  verachtet  die  neue  Aristokratie  die  alte.  Der  Unter- 
schied  ist  nur,  dass  die  Wachsenden  eine  viel  reellere  Grundlage  ihrer 
Triume  haben,  als  die  sinkenden,  weil  eben  das  Wachsen  selbst  ihnen 
zu  Hilfe  kommt.  In  alien  ihren  Obertreibungen  liegt  kommende  Wirk- 
lichkeit  verborgen.  Wer  also  Illusionen  beurteilen  will,  muss  nicht  die 
Illusion  an  sich  beurteilen,  sondem  die  Menschenschicht,  aus  der  sie 
aufsteigt.  Nicht  das  entscheidet,  ob  die  Gedanken  ^an  sich"*  klug  oder 
dumm  sind,  sondem  das,  ob  die  Triger  dieser  Gedanken  gesund  sind 
Oder  krank.  Damit  erspart  man  sich  unendlich  viel  unnutze  Theoretisirerei. 

Es  gibt  aber  auch  sehr  merkwtirdige  Zwischenformen  zwischen 
sinkenden  und  steigenden  Illusionen.  Als  Beispiel  diene  die  polnische 
Politik.  Die  Idee  des  polnischen  Staates  ist  die  Illusion  eines  Sterbenden 
und  die  Idee  der  Selbsterhaltung  des  Polentums  ist  der  Gedanke  eines 
Wachsenden.  Altes  und  Neues  aber  ist  unentwirrbar  verschlungen. 
Solche  Fille  sind  das  dunkelste,  was  es  in  der  politischen  Seelenlehre 
gibt.  Es  kommt  vor,  dass  eine  sachlich  neue  Bewegung,  wie  einst  der 
Liberalismus  in  Wiirttemberg,  als  Kampf  fur  ^das  alte  Rechf*  auftritt. 
Die  Arbeiterbewegung  in  England  trug  in  ihren  Anfangen  ihnliche 
Formen.  Auch  die  agrarische  Bewegung  im  konservativen  Mantel  kann 
hierher  gerechnet  werden.  Deshalb  ist  es  oft  peinlich  schwer,  zu 
wissen,  ob  eine  Strdmung  reaktionir  ist  oder  nicht. 

Man  kann  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und  sagen:  alle  grossen 
Illusionen  bestehen  in  der  Mischung  untergehender  und  neu  auftauchen- 
der  Denkweisen.  Die  nationale  Idee  des  vorigen  Jahrhunderts  hatte 
ebensoviel  deutschen  Weltgeist  wie  Kantonligeist  in  sich.  Auch  die 
Sozialdemokratie  von  heute  entgeht  demselben  Schicksal  nicht.  Auch 
sie  umkleidet  die  Kinder  ihrer  Prophetie  mit  Kostiimen,  mit  denen 
schon  friiher  in  ilteren  Stucken  Theater  gespielt  wurde. 


13* 


188 


1st  es  aber  eigentlich  richtig,  die  Gedanken  der  Wachsenden, 
mdgen  sie  auch  noch  so  nebelhafte  oder  veraltete  Elemente  enthalten, 
als  Illusionen  zu  bezeichnen,  sobald  man  von  ihnen  eine  merkbare  Ein- 
wirknng  auf  die  Gestaltung  der  Dinge  erwaitet?  Kann  etwas  Illusion 
heissen,  das  Gestaltungen  aus  sich  gebiert? 

Wie  ist  es  eigentlich  beim  Einzelwesen?  Jeder  von  uns  hat 
Illusionen  gehabt,  die  fur  sein  privates  Schicksal  von  durchschlagender 
Bedeutung  geworden  sind,  die  er  nie  aus  seinem  Leben  streichen 
mdchte,  da  sie  der  Inhalt  seiner  Jugend  waren,  und  die  er  doch  heute 
vor  sich  ausgebreitet  sieht  wie  einen  orientalischen  Teppich.  Wir  alle 
wissen,  dass  die  Natur  die  ^Illusion'  braucht,  um  die  Art  zu  erhalten. 
In  diesem  Sinn  ist  das  Wort  Illusion  nichts  einfach  torichtes  oder  gar 
etwas  krankes.  Im  Gegenteil:  Jugend  ohne  Illusion  ist  krank!  Das 
Wesen  der  Illusion  besteht  nicht  darin,  dass  nichts  durch  sie  geschaffen 
wird,  sondem  nur  darin,  dass  die  vorausschaffende  Phantasie  sich  freie 
Triume  gestattet  und  in  diesen  Triumen  gliicklich  ist.  Niemand  soli 
sich  schimen,  politisch  jung  zu  sein  oder  jungen  Ideen  zu  huldigen, 
wenn  ihn  das  Schicksal  in  die  Mitte  oder  an  die  Seite  einer  wachsenden 
Schichtung  warf.  Und  es  schadet  gar  nichts,  wenn  man  dem  Feinde 
das  Wort  « Illusion*  aus  seinen  Fingem  windet  und  es  selbst  im  eigenen 
Schild  mit  anbringt.  Fruher  nannte  man  dieselbe  Sache  «Idealismus". 
Das  Wort  Idealismus  aber  hat  Schiffbruch  gelitten,  denn  in  ihm  fehlte 
eben  das,  was  in  dem  Wort  Illusion  vielleicht  etwas  zu  stark  aus- 
gesprochen  ist,  das  Zugestindnis  von  der  Relativitat  alles  Erhoiften  und 
Erdachten.  Es  liegt  im  Wort  Idealismus  eine  alt  gewordene  Welt- 
anschauung, nimlich  der  Glaube,  als  seien  die  Ideen  selbst  die 
lebendigen  Wesen.  Sie  sind  es  aber  nicht.  Das  Lebendige  sind  die- 
jenigen,  die  die  Ideen  haben,  und  die  Ideen  sind  nichts  als  Symptome, 
sei  es  des  Sterbens,  sei  es  des  Wachsens. 

m 

Es  wird  von  Weltpolitik  geredet.  Schon  das  Wort  ,Welt"politik 
ist  nicht  ohne  Illusion.  Damit  aber  ist  die  Sache  selbst  in  keiner 
Weise  verurteilt.  Es  ist  notig,  zu  sehen,  welche  positiven  Knlfte  hinter 
diesem  Worte  stehen.  Man  sieht  unseren  Handel,  unsere  Fabrikation, 
begleitet  im  Geist  unsere  Waren  tiber  die  Erdkugel,  sieht  deutsche 
Ansiedlungen  in  alien  Zonen,  fuhlt  den  Pulsschlag,  der  durch  Hamburg 
geht,  fingt  an,  Kiel  und  Wilhelmshaven  als  ErgMnzungsbestandteile  von 
Hamburg  und  Bremen  zu  erfassen,  vergleicht  den  Expansionstrieb 
anderer  Vdlker,  und  gewinnt  dem  vorher  kritisch  verdichtigten  Worte 
grossen  Inhalt  ab.  Das  Wort  ist  eine  flatternde  Fahne,  ein  Symbol, 
ein  Willensbekenntnis,  ein  Gelobnis  von  Unermiidlichkeit  und  Opfer- 
bereitschaft.  Es  mag  Obertreibungen  in  sich  bergen,  ja  es  muss  sie  in 
sich  enthalten,  denn  es  ist  Pflicht,  neue  Gedanken  grdsser  zu  denken, 
als  die  Geschichte  sie  spiter  herausarbeiten  wird. 

Dort  steht  der  Kunstler  vor  dem  RohstolF.  Er  weiss,  dass  zwischen 


^    180  8^ 


ihm  und  seinem  Stoif  viel  verloren  geht.  Weil  er  das  weiss,  muss  er 
seine  Idee  so  scharf,  hell,  farbig  im  Gehirn  konzentrieren,  wie  nur 
immer  mdglich.  Er  darf  nicht  bloss  das  denken,  was  dann  wirklich 
fertig  wird,  er  muss  mehr  tun.  Tut  er  es  nicht,  so  leistet  er  weniger. 
In  diesem  Sinne  gSnnen  wir  der  Weltpolitik  ihren  Schimmer.  Es  muss 
Musik  dabei  sein,  wenn  in  den  Kampf  marschiert  wird,  helle,  todes- 
frohe,  lebenslustige  Musik! 

Und  nochmals  die  Sozialdemokratie !  Hier  ist  an  Illusion  das 
Menschenmdgliche  gesammelt.  Alle  alten  TrMume,  die  je  den  Abend 
in  dunklen  Hutten  beseligten,  sind  hier  gesammelt.  Eine  Welt  ohne 
Herren  und  Knechte,  ohne  Fronvogte  und  Liktoren,  ohne  Armenhiuser 
und  Gefangnisse,  ohne  Hunger  und  Krieg!  Wer  das  will,  der  soli  sich 
anschliessen!  Willst  du  es  denn  nicht?  Ja,  ich  wurde  es  wohl  wollen, 
wenn  es  nicht  —  eine  grenzenlose  Illusion  wire!  Es  ist  aber  Missbrauch 
des  Wortes  „ich  will'',  wenn  es  vor  Dinge  gesetzt  wird,  die  nicht  sein 
konnen. 

Wir  sind  also  einig,  dass  die  Sozialdemokratrie  voll  von  Illusion 
ist.  Daraus  folgert  nun  der  gebildete  Unverstand,  dass  sie  nichts  ist. 
Die  Wolke  ist  nichts!  Graf  Bulow  schligt  den  Zukunftsstaat  tot,  und 
seine  Rede  wird  so  eifrig  verbreitet,  dass  die  Fliisse  voll  weissen 
Papieres  sind.  Es  hilft  aber  nichts,  denn  nicht  so  steht  es,  dass  die 
Illusion  aus  sich  heraus  die  Arbeiterbewegung  geschafFen  hat,  sondern 
die  Arbeiterbewegung  entstand  und  aus  ihr  wuchs  die  Illusion.  Illu- 
sionen  sind,  wie  wir  sagten,  soviel  wert  wie  die  Schichten,  von  denen 
sie  getragen  werden.  Die  Schicht  aber,  die  diese  Illusion  trSgt,  wird 
durch  Btilows  nette  Rede  nicht  um  einen  Mann  verringert.  Die  Massen- 
verbreitung  dieser  Rede  ist  darum  eine  Illusion  im  kleinen  und  ge- 
wdhnlichen  Sinne  des  Wortes.  Die  grosse  Illusion  aber  will  ihren 
naturlichen  Gang  gehen,  das  heisst,  sie  will  langsam  verblassen,  indem 
sie  Wirkungen  schafft.  Kein  Rebel  wird  sie  ewig  frisch  und  jung  er- 
halten,  und  kein  Biilow  wird  sie  von  heute  auf  morgen  nach  Sibirien 
blasen. 

Die  Arbeiterbewegung  selbst  ist  eine  reale  Grosse.  Dass  sie 
wSchst  braucht  niemandem  erst  bewiesen  zu  werden.  Man  wird  sich 
also  darauf  einrichten  mussen,  dass  sie  merkbare  politische  VerSnde- 
rungen  herbeifuhrt.  Diesen  realen  Kern  aber  sehen  viele  Leute  heute 
noch  nicht,  weil  sie  sich  nur  mit  der  Illusion  herumschlagen,  die  sein 
Wachstum  begleitet.  AIs  einst  Israel  durch  die  Wtiste  zog,  da  ging, 
wie  die  Bibel  erzEhlt,  tags  eine  Wolkensdule  und  nachts  eine  Feuer- 
siule  vor  dem  Volke  her.  So  wandert  die  Illusion  vor  dem  neuen 
Volke  des  Industriezeitalters.  Wenn  der  Kampf  um  den  Jordan  wirklich 
beginnt,  verschwindet  die  SSule. 


190 


Irgendwo  in  einer  Ecke  sitzt  die  Weltgeschichte.  Ihr  Gesicht  ist 
das  wunderlichste  Gemisch  eines  Gesichtes,  das  es  geben  kann.  Man 
weiss  nicht  einmal,  ob  sie  alt  ist  oder  jung,  ob  gut  oder  bdse,  ob  eine 
Matter  oder  eine  Hexe.  Wenn  sie  lacht,  da  glauben  die  einen,  dass 
alle  Glocken  IMuten  und  die  anderen,  dass  Erdteile  von  Warmern  zer- 
fressen  werden.  Nie  ist  das  Wort,  das  sie  spricht,  nur  einer  Deutung 
fShig.  Im  Streit  um  ihre  Worte  aber  ist  es,  wo  die  einen  den  anderen 
vorwerfen:  Illusion!  Das  ist  der  Streit,  der  auch  uns  alle  umflutet 


Ein  Hoch  auf  MOnchen/) 

Von  Georg  Friedrich  Knapp  in  Strassburg  L  E. 

An  unserer  heutigen  Tafelrunde  klafft  eine  Liicke;  ein  leerer  Stuhl 
bezeichnet  die  Stelle,  wo  der  Vertreter  dieser  Stadt,  der  Burgermeister 
Brunner,  sitzen  sollte  —  aber  er  ist  ausgeblieben.  Weiss  er  vielleicht, 
dass  ein  Schulfreund  von  ihm  den  Auftrag  hat,  die  Stadt  zu  begrussen? 
Hat  er  sich  vielleicht  aus  Bescheidenheit  zuriickgehalten,  weil  er  fiirchtet, 
zu  viel  des  Lobes  zu  hdren?  Eine  Stadt  freilich  errotet  nicht  —  aber 
der  Btirgermeister  will  uns  nicht  das  Schauspiel  gonnen,  dass  er  fur 
seine  Stadt  errotet. 

Gliickliches  Munchen,  dessen  magistratische  Spitzen  bereits  die 
Verborgenbeit  aufsuchen,  weil  es  zu  gefihrlich  ist,  sich  der  Fulle  des 
Lobes  auszusetzen! 

Mit  welchem  kurzen  Worte  sollen  wir  die  bayerische  Hauptstadt 
preisen?  Wire  es  Wien,  so  witrden  wir  sagen:  das  lustige  Wien.  W&re 
es  Mainz,  so  wtirde  jeder  rufen:  das  goldene  Mainz.  Selbst  ein  unheiliger 
Dichter,  wenn  er  Koln  zu  nennen  hatte,  pflegte  unbedenklich  zu  schreiben: 
das  heilige  Kdln.  Und  wenn  uns  ein  gutes  Geschick  nach  Rom  gefuhrt 
hat,  wovon  anders  reden  wir  dann  zu  Hause,  als  vom  ewigen  Rom. 


Als  der  Verein  fQr  Sozialpolitik  im  September  1001  in  Miinchen  tagte, 
schloss  er  seine  Verhandlungen  mit  einem  Festmihle  im  Kiinstlerhiuse  tb  (Be- 
richt  z.  B.  in  .Die  Zeit*,  Nationalsoziale  Wochenschrift,  Bd.  I  Seite  24,  unter 
jpKunst  und  Wissenschaft").  Damals  hielt  Herr  Professor  Knapp  eine  Tischrede, 
die  alien  Teilnehmem  des  Kongresses  in  unausldschlicher  Erinnemng  geblieben 
ist;  der  ihm  von  Mfinchen  aus  zugegangenen  Bitte,  die  VerdflTentlichung  dieser 
>Rede  zu  gestatten,  hat  Herr  Professor  Knapp  gfitigst  entsprochen,  indem  er  den 
Trinkspruch  aus  der  Erinnemng  aufschrieb  und  den  Sfiddeutschen  Monatsheften 
4m  Dezember  1903  zur  Verffigung  stellte.  Die  Redaktion. 


191 


Kehren  wir  aber  von  Mtinchen  zuriick,  gleichgultig,  ob  wir  da  ge- 
malt  Oder  studiert  haben,  so  fillt  uns  nach  kurzem  Besinnen  nicht  leicht 
etwas  anderes  ein  als  das  Wort:  wir  kommen  aus  dem  gemutlichen 
Munchen. 

Und  weshalb?  Der  unerfahrene  Student  erinnert  sich  vor  allem 
an  den  StofF;  der  Kleinburger  denkt  an  die  hemdarmeligen  Abende  auf 
der  Kegelbahn,  der  Bauer  an  das  bunte,  wimmelnde  Oktoberfest. 

Keiner  von  diesen  alien  aber  hat  eine  Ahnung  davon,  was  hoheren 
Geistern  so  sehr  an  Munchen  gefMllt. 

Was  fesselte  hier  den  grossen  Maler  aus  Waldeck,  was  bezwang  den 
unerschdpflichen  Novellisten  aus  Berlin,  was  bestrickte  den  geistreichen 
Redakteur  der  AUgemeinen  Zeitung,  seinen  Landsmann?  Wie  kommt 
es,  dass  Hunderte  von  Fremden  sich  hier  einwurzeln,  lauter  hervor- 
ragende  Manner,  die  man  nur  selten  auf  Kellerfesten  antrifft  und  die 
auf  der  Theresienwiese  mit  der  grossten  Regelmissigkeit  —  fehlen? 
Auch  ihnen  ist  Munchen  vor  allem  die  gemutliche  Stadt. 

Es  muss  also,  wie  es  eine  hdhere  Mathematik  geben  soli,  auch  eine 
hohere  Gemutlichkeit  geben,  unerreichbar  fur  den  farbentragenden  Fuchs, 
fiir  den  beschrMnkten  Handwerker,  ftir  den  schlichten  Bauer  —  und 
doch  unleugbar  vorhanden  fur  den  Mann  der  hoheren  Kreise,  und  am 
meisten  geschStzt  vom  Norddeutschen.  Man  hore  nur  den  Mann  des 
Nordens  reden,  wenn  er  von  einem  bayerischen  Landaufenthalt  zuriick- 
kehrt,  etwa  aus  Tdlz  oder  Garmisch:  «Kein  einziger  Geheimrat  ist  dort 
gewesen*  ruft  er  mit  Befriedigung  aus;  kein  einziger  —  nattirlich  ausser 
ihm  selbst! 

Da  liegt  es.  Wie  an  jenen  kleinen  Orten,  so  hat  auch  in  Mtinchen 
ein  (Jbel  keine  Herrschaft,  das  anderswo  so  leicht  jede  Erholung  stort: 
in  Munchen  kommt  die  Fexerei  nicht  auf.  Nur  ganz  leise  wagt  sich 
mitunter  der  Bergfex  hervor;  aber  er  bleibt  ungeflhrlich,  da  er  sich 
nur  auf  dem  Wege  zum  Bahnhof  oder  vom  Bahnhof  zeigt.  Sonst  aber 
ist  das  Fexentum  nur  selten  und  in  einer  Beziehung  fehlt  es  ganz:  es 
gibt  keine  Berufsfexen,  oder  noch  kurzer:  Munchen  duldet  die  Fachfexen 
nicht,  die  doch  sonst  in  Deutschland  auf^  schSdlichste  wuchem.  Denn 
der  Deutsche  will  etwas  Ttichtiges  sein;  er  lemt  ^sein  Fach""  und 
ySimpelt  Fach^,  bis  er  in  lauter  Fachgedanken  erstickt  und  als  fertiger 
Fachfex  dasteht. 

Als  Gelehrter  liest  er  und  wiederholt  er  alle  Rezensionen;  als 
junger  Dozent  zShlt  er  alle  Universititen  auf,  an  denen  er  in  Vorschlag 
war;  als  Leutnant  betet  er  die  Rangliste  her,  vorwirts  oder  riickwSrts; 
als  Beamter  kennt  er  das  Klebegesetz  auswendig,  und  in  manchem  un- 
bewachten  Augenblick  entschlupft  ihm  davon  ein  Paragraph.  Jeder  findet 
es  beim  andern  grftsslich,  und  jeder  tut  es  doch. 

Nur  in  der  dtinnen  Luft  der  bayerischen  Hochebene  gedeiht  der 
Fachfex  nicht. 

Der  Bayer  wird  freilich  auch  seltener  Spezialist  als  der  Mittel- 
deutsche  oder  Norddeutsche.  Er  wartet  lieber  ab,  ob  es  ihm  der  Hebe 
Gott  gegeben  babe  und  Iflsst  es  laufen,  wenn  es  ihm  nicht  gegeben  ist. 


192  8^ 


Aber  wenn  es  ihm  als  Geschenk  zufillt,  dann  wird  er  was  Rechtes 
und  redet  nicht  davon,  ausser  wenn's  notig  ist.  Denn  der  Bayer  und 
sein  Bruder,  der  Osterreicher,  will  nicht  in  seinem  Benife  verkummem. 

So  heilige  Namen  wie  Mozart  oder  Schwind  wollen  wir  nur  im 
Vonibergehen  mit  Ehrfurcht  nennen;  sie  waren  ja  Ktinstler,  und  die 
Kunst  ist  nun  einmal  die  Schdpferin  und  Huterin  der  Ganzheit. 

Aber  hier  in  Miinchen  haben  auch  andere  Berufe  das  Schdne, 
dass  sie  ihren  Trigem  nicht  das  Mark  aussaugen,  sondem  ihnen  die 
Gesundheit  bewahren.  Dass  sogar  Konige  hier  Menschen  bleiben,  hat 
uns  Ludwig  der  Erste  gezeigt.  Freilich  bietet  eine  so  hohe  Stellung 
tausend  Heilmittel  gegen  die  Verkndcherung  dar.  Aber  auch  in  be- 
scheidenen  Lebenslagen  bewdhrt  es  sich,  dass  der  Bayer,  und  alien  vor- 
aus  der  Miinchner,  gegen  die  Berufskrankheit  des  Fexentums  geschtitzt  ist. 

Nehmen  wir  einmal  als  Beispiel  den  Apotheker.  In  der  Residenz 
wohnte  einmal  ein  solcher,  der  Hofapotheker  Pettenkofer.  Seine 
Rezeptur  verstand  er  so  gut,  wie  je  einer  es  tat,  und  sein  Geschlft 
betrieb  er  musterhaft.  Aber  er  konnte  noch  mehr.  Setzte  man  ihn 
in  das  kdnigliche  Munzamt,  so  war  er  ein  Scheidekunstler  ersten  Ranges, 
der  unversehens  aus  den  Brabanter  Krontalem  das  verborgene  Gold  und 
die  Spuren  von  Platin  herausholte.  Trug  man  ihm  auf,  Vorlesungen 
uber  Hygiene  zu  halten,  so  fand  er  zwar  nichts  vor,  das  er  hStte  lehren 
kSnnen,  schuf  aber  so  nebenbei  das  ganze  Fach  und  bildete  die  Schuler 
heran,  die  jetzt  auf  alien  Universititen  Lehrstiihle  inne  haben.  Man 
fragte  ihn  urn  Rat  wegen  des  Nachdunkelns  der  alten  GemSlde  in  der 
Pinakothek  —  und  Pettenkofer  gab  sofort  ein  Verfahren  an,  die  mikro- 
skopischen  Risse  im  Fimis  zu  schliessen  und  die  alten  Farben  wieder 
aufleuchten  zu  lassen. 

Im  Jahre  1854  flllt  ihn  die  Cholera  an;  er  iibersteht  die  morderische 
Krankheit  und  richt  sich,  indem  er  sie  in  alle  Schlupfwinkel  verfolgt, 
bis  nach  Malta  und  Indien.  In  wenigen  Jahren  ist  er  dahinter  gekommen, 
wie  sie  sich  verbreitet  —  und  ehe  man's  denkt,  hat  er  die  Sanierung 
der  Stftdte  in  Gang  gebracht. 

Ein  Fachmann  —  wire  er  das  gewesen,  so  hitte  ihm  seine  Apotheke 
geniigt;  nein,  er  war  ein  Mann  der  Wissenschaft  und  sogar  mehr  als  das. 

Bei  Festlichkeiten,  als  Rektor  der  UniversitMt,  in  seinem  Talar  — 
wie  wusste  er  den  beinahe  kdniglichen  Mantel  kSniglich  zu  tragen!  So 
bewegt  sich  in  diesen  weiten  Falten  nur  eine  ktinstlerisch  angelegte 
Natur.    Und  wie  liebenswtirdig  blitzten  dabei  seine  dunkeln  Augen. 

Noch  viel  mehr  aber  leuchteten  sie,  wenn  er  die  Gedichte  eines 
ganz  unbekannten  Mannes  vorlas,  der  jetzt  ein  bekannter  und  verehrter 
Mann  geworden  ist,  die  Gedichte  Hermann  Linggs.  Diesen  Dichter  hat 
Pettenkofer  entdeckt  und  ans  Licht  gezogen.  Wer  weiss,  ob  je  Emanuel 
Geibel  das  erste  BIndchen  der  Gedichte  Linggs  herausgegeben  hitte, 
hatte  nicht  der  Munchner  Hofapotheker  durch  meisterhaften  Vortrag  die 
Neugierde  und  Teilnahme  geweckt  und  genMhrt. 

Ganz  davon  zu  schweigen,  dass  Pettenkofer  selbst,  wenn  er  wollte, 
ein  glSnzendes  Sonett  zustande  brachte,  dem  niemand  anmerkte,  dass 


193 


es  aus  der  Residenz  und  aus  welcher  Ecke  dieses  weitl&ufigen  GebSudes 
es  stammte. 

Man  wird  durch  diesen  Mann  an  Italien  erinnert,  dessen  grosse 
Minner  ebenfalls  alles  konnten,  was  sie  wollten.  Dort  wachsen  sie  empor 
ohne  die  Stiitze  und  die  BeschrSnkung  dessen,  was  der  Deutsche  sein  Fach 
nennt.  Dort  heisst  es:  Sei  ein  bedeutender  Mensch,  aber  bleibe  dab^i 
ein  Mensch  —  eine  Anschauung,  die  sich  in  Deutschland  leicht  ver- 
liert,  von  der  aber  in  Bayem  ein  kostbarer  Rest  geblieben  ist.  In  Bayem 
wieder  am  hiufigsten  in  Mtinchen;  in  Munchen  niemals  so  deutlich  aus- 
geprigt  wie  bei  Pettenkofer,  der  sozusagen  das  hSchste  mdgliche  Mass 
des  Miinchnertums  darstellt. 

Kdnnten  wir,  die  versammelten  Mitglieder  des  Vereins  fiir  Sozial- 
politik,  es  ihm  nachtuni  Wir  haben  allerdings  andere  Aufgaben  als  er; 
much  wird  man  uns  hoffentlich  nicht  der  Fachfexerei  beschuldigen,  ob- 
gleich  wir  Fachminner  sind. 

Aber  so  allseitig  frei  entwickelt,  so  jeder  geistigen  Regung  zugang- 
lich,  so  unverkummert  im  Fachwesen,  wie  er  es  war,  ist  in  unserem  Ver- 
ein  doch  nicht  gerade  jeder. 

Ein  en  haben  wir  schon  unter  uns,  der  die  Allseitigkeit  und  den 
ktinstlerischen  Zug  des  Wirkens  in  seiner  Zeitschrift,  genannt  .Hilfe"", 
allwdchentlich  vor  dem  erstaunten  Vaterlande  ausbreitet  —  ich  will  ihn 
nicht  anblicken,  sondem  ihm  den  Riicken  zuwenden,  damit  er  nicht 
merkt,  dass  ich  ihn  meine.  Vielleicht  werden  es  mit  der  Zeit  mehr,  und 
dann  konnten  wir  von  uns  rtihmen,  dass  auch  wir  etwas  von  dem  Wesen 
besitzen,  das  den  eigentlichen  Kern  des  hdheren  Miinchnertums  bildet. 

Dankbar  ergreifen  wir  unsere  Gldser:  es  lebe  die  Stadt,  die  den 
Deutschen  vor  dem  Fexentum  des  Berufs  bewahrt;  die  Stadt,  die  vom 
Tiichtigsten  fordert,  dass  er  noch  ein  ganzer  Mensch  bleibe.  Neben  das 
lustige  Wien,  das  goldene  Mainz,  das  heilige  Koln  setzen  wir  das  ge- 
mutliche  Mtinchen:  es  lebe,  wachse  und  gedeihe! 


Betrachtungen  anlSsslich  des  Kaiser- ManOvers. 

Von  Major  z.  D.  und  Bezirksofflzier  Ernst  Filler  in  Frankfurt  am  Main. 

Jena  oder  Sedan?  In  einem  vor  einiger  Zeit  unter  diesem  Titel 
erschienenen  Sensations^Roman  werden  die  deutschen  HeeresverhSltnisse 
bezuglich  der  Einrichtungen,  der  Ausbildung,  wie  auch  in  geistiger  und 


194 


moralischer  Richtung  in  so  schauerlicher  Weise  als  auf  schlimmen,  ab- 
wSrts  gerichteten  Bahnen  sich  bewegend  dargestellt,  dass  dem  Un- 
kundigen,  falls  er  dem  Verfasser  glaubt,  seine  Schilderungen  entsprachen 
der  Wirklichkeit,  um  unser  schdnes  Heer  allerdings  angst  und  bange 
werden  konnte.  Dass  dieses  Werk  in  kurzer  Zeit  es  zu  einer  bedeutenden 
Zahl  von  Auflagen  bringen  konnte,  ist  ein  Beweis  vielleicht  einerseits 
des  allgemeinen  grossen  Interesses,  das  unserem  Heere  entgegengebracht 
wird,  anderseits  aber  auch  dafur,  dass  der  um  Aufsehen  zu  erregen 
geschickt  gewihlte  Titel  mit  dem  Tendenz-Fragezeichen  nebst  dem  Titel- 
blatt  in  den  deutschen  Farben  und  mit  dem  Eisernen  Kreuz  seine 
Schuldigkeit  getan  hat;  ausserdem  mogen  dazu  die  reichlichen  sinn- 
lichen  Szenen  aller  Art,  die  sich  fast  in  jedem  Kapitel  abspielen,  bei- 
getragen  haben. 

Aber  gerade  die  Wahi  des  Titels,  die  Gegeniiberstellung  von  Jena 
und  Sedan,  zeigt  uns  von  vorneherein,  dass  der  Verfasser  auf  militarische 
Sachkenntnis  und  Urteilskraft  keinen  Anspruch  macht.  Denn  abgesehen 
davon,  dass  es  an  sich  schon  ein  milit&rischer  Nonsens  ist,  zwei  in 
ihren  Ursachen  und  Wirkungen  so  durchaus  verschiedene  Kriegs-Ereig- 
nisse  so  kurzer  Hand  zu  einem  Vergleich  einander  gegeniiberzustellen, 
so  weiss  heute  jeder,  der  nur  einigermassen  sich  mit  Kriegsgeschichte 
befasst  und  einen  verstSndnisvollen  Einblick  in  die  Fortentwicklung  der 
deutschen  Armee  in  alien  ihren  Teilen  seit  1870  getan  hat,  dass  diese 
sich  jedenfalls  nicht  auf  dem  Wege  nach  Jena  befindet,  denn  bei  Jena 
unterlag  nicht  eine  in  sich  schlechte  Armee  —  im  Gegenteil!  ,  sondem 
eine  veraltete  Art  der  Kriegfuhrung  tiberalteter  Offiziere  und  Ftihrer 
gegeniiber  einem  ganz  neuen  System  der  Kampfweise,  in  uberraschendster 
Weise  zur  Anwendung  gebracht  durch  ein  seltenes  Feldherren-Genie  und 
untersttitzt  durch  Unterfuhrer  im  krSftigsten  Mannesalter.  Kann  nun 
behauptet  werden,  dass  unsere  Gefechtsgrundsiitze,  die  ganze  Art  der 
Kriegfuhrung  seit  70,  im  Vergleich  zu  anderen  Armeen,  in  hergebrachten 
Formen  erstarrt  waren  oder  zu  erstarren  begdnnen?  Sind  wir  in  unserer 
Kriegskunst  hinter  anderen  Armeen  zuruckgeblieben  und  konnen  wir 
wieder  in  die  Lage  kommen,  unvorbereitet  einer  neuartigen  fremden 
Kampfweise  gegenubertreten  zu  mussen?  Wir  glauben,  dass  wer  mit 
ofFenem,  unbefangenem  Blick  beobachtet,  wie  rastlos  und  eifrig  an  alien 
Stellen  der  Truppenfiihrung  und  Heeresverwaltung  an  der  Weiter- 
entwicklung  itnseres  Heerwesens  gearbeitet  wird,  wie  eingehend  alle 
Ereignisse  und  VerhMltnisse  bei  anderen  Armeen  studiert  und  die  ent- 
sprechenden  Lehren  daraus  gezogen  werden,  wie  alle  Neuerungen  auf 
technischem  Gebiet  fiir  die  Armee  nutzbar  gemacht  werden,  welch 
reger  Geist  in  der  MilitHr^Literatur  herrscht  —  mit  gutem  Gewissen  die 
voile  Oberzeugung  haben  darf,  dass  die  deutsche  Armee  weit  ab  von 
der  Gefahr  eines  Jena  sich  befindet,  dass  sie  vielmehr  auch  heute  noch 
wie  bisher  das  gefiirchtete  Vorbild  fur  die  anderen  Nationen  ist  und 
bleiben  wird,  und  dass  tiberall  darauf  hingearbeitet  wird,  auch  ktinftig- 
hin  den  Sieg  an  unsere  Fahnen  zu  fesseln,  soweit  dies  eben  nach 
menschlichem  Ermessen  beurteilt  werden  kann. 


195  3^ 


Eine  der  wichtigsten  Voraussetzungen  hierzu  ist  allerdings,  dass 
die  Disziplin  mit  eiserner  Energie  um  so  schSrfer  aufrecht  erhalten 
wird,  als  die  heutigen  Kampfesarten  und  Gefechtseinwirkungen  Ordnung 
anflosend  und  Nerven  erschutternd  auf  die  truppen  wirken,  wobei  noch  zu 
beachten  bleibt,  dass  das  Mannschaftsmaterial  in  seiner  naturlichen  Gtite 
vielfach  gegen  fruher  zuriickgegangen  ist  und  dass  bei  den  zahlreichen 
Kriegs-Neufonnationen  der  Massenheere  und  in  Folge  der  kurzeren 
Dienstzeit,  viele  weniger  gut  ausgebildete  und  gefestigte  Elemente  sich 
daranter  befinden  werden.  Wodurch  wird  nun  diejenige  Disziplin  er- 
reicht,  die  auch  unter  schwierigen  Gefechtsverhftltnissen,  in  unglfick- 
lichen  Lagen  standhilt?  Nur  durch  einen  gewissen  Drill,  und  hiermit 
kommen  wir  auf  den  wohl  schwerwiegendsten  Vorwurf  zu  sprechen, 
der  in  dem  genannten  Roman  der  heutigen  Ausbildungsart  gemacht  wird : 
diese  sei  nimlich  nicht  kriegsgemiss,  und  zwar  wegen  des  Paradedrills 
und  der  unsachgemftssen  Art  der  Herbstubungen.  In  letzterer  Be- 
ziebung  geben  uns  die  vor  kurzem  beendeten  Manover  erwiinschte  Ge« 
legenheit,  uns  hierzu  uber  einiges  zu  iussem.  Was  zunichst  den  Drill 
anlangt,  so  mochten  wir  nur  kurz  darauf  hinweisen,  wie  wenig  An- 
spruche  an  das  formale  Exerzieren  das  heutige  Exerzierreglement  (von  88) 
macht,  im  Vergleich  zu  dem  friiheren,  noch  lange  Zeit  nach  70  giltigen. 
Diese  wenigen  tibriggebliebenen  Exerzierformen  miissen  aber  um  so 
vollkommener  und  griindlicher  eingeiibt  werden,  um  jene  Strammheit, 
Anspannung  und  Leistungsflhigkeit,  jenen  unbedingten  Gehorsam  und 
jenes  Pflichtbewusstsein  zu  erzielen,  wodurch  auch  noch  in  den 
kritischsten  Stunden  des  Gefechts  dem  Befehle  des  Fiihrers  Geltung  ver- 
schafft  und  den  schwankend  werdenden  moralischen  Eigenschaften  des 
Soldaten  Unterstutzung  gewihrt  wird.  Das  ist  das  ganze  Geheimnis 
des  Paradedrills,  der  eben  nicht  als  Selbstzweck,  sondem  als  die  wohl- 
berechtigte  Grundlage  fur  den  Aufbau  der  Disziplin  anzusehen  ist. 
Diese  Grundlage  bildet  gerade  fur  die  Erziehung  des  Mannes  zur 
SelbsttStigkeit  und  Selbstandigkeit  im  Gefecht  das  unbedingte  Erfordemis 
fur  den  Erfolg,  denn  ohne  sie  werden  die  einzelnen  Schutzen  wie  die 
Schtitzenmassen  der  Einwirkung  der  Fuhrer  noch  mehr  entzogen  sein, 
als  dies  ohnedem  zu  befurchten  ist.  Nur  ^Murr,  Zuck  und  Ruck  in 
der  Kolonne*  erzeugt  auch  Willenskraft  zur  Ertragung  der  Kriegs- 
strapazen,  stihlt  die  Nerven  zur  Oberwindung  der  vielfach  schauer- 
lichen  Kriegsmomente,  wflhrend  Schlapp-  und  SchlafPheit  das  Grab  der 
Tapferkeit  der  Massen  ist.  —  Welch  lehrreiches  Beispiel  fiihrt  uns  der 
Burenkrieg  vor  Augen:  selbst  dies  sonst  so  tuchtige  und  in  Einzel- 
leistungen  hervorragend  tapfere  Kriegsvolk  unterlag  nicht  zum  wenigsten 
aus  Mangel  an  strammer  Schulung.  —  Dass  in  langer  Friedenszeit  da 
und  dort  der  Drill  eine  ungebuhrliche  Zeit  in  Anspruch  zu  nehmen 
droht,  dass  da  und  dort  damit  auch  unndtige  QuSlereien  verbunden 
werden  kdnnen,  braucht  wohl  kaum  besonders  erwihnt  zu  werden,  dies 
liegt  in  der  menschlichen  Natur  und  gehort  zu  den  menschlichen 
Schwftchen,  wie  sie  eben  auf  jedem  Gebiet  sich  zeigen;  dass  aber  die 
eigentliche  Gefechtsausbildung  auch  in  diesen  Fallen  nicht  allzusehr  da- 


196  8^ 


runter  leidet,  dafur  sorgt  allein  schon  das  Vorhandensein  unserer  vor- 
zuglichen  Felddienstordnung  und  Schiessvorschrift  mit  ihren  bestimmten 
Anforderungen. 

Werfen  wir  nun  einen  Blick  auf  Anlage  und  Durchfuhrung  der 
Herbstubungen,  so  steht  vor  allem  die  Tatsache  fest,  dass  unsere 
Methode  als  die  kriegsgemSsseste  Vorbereitung  und  Ubung  der  Truppen 
wie  der  Fuhrer  vom  Auslande  anerkannt  und  nachgeahmt  worden  isf. 
Sofort  nach  Bekanntgebung  der  AllerhSchsten  Bestimmungen  uber  die 
Abhaltung  der  grSsseren  Tnippeniibungen,  die  meist  schon  im  Februar 
erfolgt,  werden  von  den  betreffenden  GeneralstSben  die  Vorarbeiten 
begonnen.  Auf  alles  das,  was  hierbei  zu  berucksichtigen  ist:  Auswahl 
und  Erkundung  des  Obungs-Celdndes ,  Unterkunft,  Transport,  Ver- 
pflegung  der  Truppen,  Anlage  der  Ubungen  —  kann  heute  nicht  naher 
eingegangen  werden,  es  muss  indessen  betont  werden,  dass  alle  Mass- 
nahmen  von  dem  Gesichtspunkt  getrofFen  werden,  dass  die  Ubungen, 
so  weit  es  die  Friedens-Rticksichten  irgend  gestatten,  den  kriegsgemassen 
Verhiltnissen  moglichst  nahe  kommen;  je  grosser  die  zu  beruck- 
sichtigenden  Truppenmassen  sind,  desto  schwieriger  gestalten  sich  die 
Verhiltnisse  infolge  der  notigen  BeschrSnkung  an  Zeit,  Raum  und 
Kosten.  Man  bedenke  nur,  dass  selbst  die  Gefechte  ganzer  Armee- 
korps  sich  in  wenigen  Stunden  abspielen  mussen,  wahrend  der 
kriegsgemiisse  Aufmarsch  eines  mobilen  Armeekorps  allein  4 — 5  Stunden 
in  Anspruch  nimmtl  Und  doch  sind  solche  grossen  Truppenzusammen- 
ziehungen,  wie  in  dem  letzten  Kaisermanover  (4  Armeekorps  und 
2  Kavallerie-Divisionen),  zur  Erprobung,  wie  sich  die  zuktinftigen 
Massenheere  im  Emstfalle  bewegen,  entwickeln  und  verpflegen  lassen 
werden,  zur  Ausbildung  der  Ftihrer  und  Truppen  in  bezug  auf  die 
RaumverhSltnisse,  gegenseitige  Einwirkung,  Waffenwirkung  und  vieles 
andere  mehr  von  grosster  Bedeutung.  —  Allen  Ubungen  liegt  eine  vom 
Leitenden  ausgegebene  Voraussetzung  (Generalidee)  zugrunde,  die  die 
Kriegslage  der  beiden  Parteien  scharf  kennzeichnet,  die  aber  jedem 
Fuhrer  nur  insoweit  bekannt  gegeben  wird,  als  er  auch  im  Ernstfalle 
davon  Kenntnis  haben  kdnnte.  Alle  weiteren  Anordnungen  sind  dem 
Fuhrer  tiberlassen,  keine  Bewegung  wird  ihm  vorgeschrieben,  kein 
Moment  im  voraus  bestimmt,  keine  Weisung  beziiglich  eines  beabsich- 
tigten  Ausganges  gegeben,  jeder  Fuhrer  hat  voile  Entscheidungsfreiheit 
fur  seine  Tdtigkeit.  Von  gegenseitig  abgekarteten  Massnahmen  kann 
gar  keine  Rede  sein.  Dass  vielleicht  einmal  zwei  feindliche  sich  be- 
gegnende  Patrouillen  freundschaftlichst  ihre  Kenntnisse  gegenseitig  aus- 
tauschen,  mag  vorkommen,  jedenfalls  muss  aber  ein  solches  Verfahren 
als  ein  seltener  Ausnahme-Scherz  bezeichnet  werden.  —  Unnatiirlich- 
keiten  und  nicht  kriegsgemisse  Erscheinungen  werden  aber  trotz  allem 
nie  ganz  zu  vermeiden  sein,  infolge  von  Bebauungs-  und  manchen 
anderen  nicht  zu  beseitigenden  FriedensverhSltnissen  und  -Riicksichten, 
und  insbesondere  auch  dadurch,  dass  eben  nicht  scharf  geschossen 
wird,  dass  also  die  schwer  einzuschStzende  Waffenwirkung  ebensowenig 
manchmal  richtig  zur  Geltung  kommt  wie  der  moralische  Zustand 


197  8^ 


der  Truppen.  —  Hierbei  sei  noch  die  vielerorterte  Frage  der 
grossen  Kavallerie-Attacken  gestreift.  Wenn  es  wohl  unbestritten 
ist,  dass  einerseits  die  HaupttStigkeit  der  Kavallerie  in  einem 
zukOnftigen  Kriege  im  allgemeinen  im  grossen  und  kleinen  Auf- 
kliningsdienst  und  in  der  Verfolgung  bestehen  wird,  und  anderseits 
eine  Schlachtentitigkeit  gegen  unerschutterte,  in  Stellung  beflndliche 
Truppen  als  erfolglos  betrachtet  werden  muss,  so  kann  doch  nicht  ge- 
lengnet  werden,  dass  auch  in  Zukunft  die  Verwendung  grosser  Kavallerie- 
Kdrper  in  der  Schlacht  nicht  ausgeschlossen  ist,  vielmehr  unter  Urn- 
stinden  von  entscheidender  Bedeutung  und  grossen  Erfolgen  sein  kann. 
Jeder,  der  im  Feldzuge  eine  von  Panik  ergriffene  Truppe  gesehen  hat, 
wird  dies  fiir  diesen  Fall  ohne  weiteres  zugestehen  —  da  ist  es  dann 
ganz  gleichgtiltig,  ob  diese  Truppe  die  beste  Waffe  in  HSnden  hat,  man  wirft 
sie  weg,  flieht  oder  ergibt  sich!  Solche  moralische  Erschutterungen  einer 
Truppe  kdnnen  aber  gerade  infolge  der  heutigen  gesteigerten,  entnervenden 
Waffenwirkung,  die  grosse  Verluste  in  kurzester  Zeit  erzeugt,  gar  pldtz- 
lich  eintreten,  und  um  so  5fter  und  eher,  je  kurzer  die  Dienstzeit  und 
je  milizartiger  die  Truppe  ist.  Das  Heranbrausen  grosser  Kavallerle- 
massen  ubt  schon  an  und  fur  sich  einen  gewaltigen  Einfiuss  aus; 
Artillerie  wird  auf  dem  Marsche,  beim  Abprotzen  oder  fur  Angriffe  aus 
Flanke  und  Rucken  manchen  gunstigen  Attacken- Augenblick  bieten,  ebenso 
die  zahlreichen  hinter  der  Front  befindlichen  Trains  und  Kolonnen. 
Auch  muss  sich  unter  UmstSnden  die  Kavallerie  opfem,  um  fiir  das 
Heil  der  Armee  zu  retten,  was  noch  zu  retten  ist;  selbst  wenn  in 
diesem  Fall  Vemichtung  ihr  Los  wSre,  so  wire  ibre  Verwendung  doch 
eine  gerechtfertigte  und  ihre  Attacke  eine  erfolgreiche.  Fur  eine  solche 
SchlachtentStigkeit  mtissen  aber  unsere  Kavallerie-Regimenter  umsomehr 
vorgeubt  werden,  als  wir  bis  jetzt  im  Frieden  noch  keine  Kavallerie-Divisionen 
besitzen,  wie  dies  in  Frankreich  und  Russland  der  Fall  ist,  sondem 
solche  erst  im  Mobilmachungsfall  formieren  —  dies  ist  der  bedeutsame 
Zweck  der  grossen  Kavallerie-Attacken  in  den  Kaisermanndvem,  wobei 
es  gar  nicht  darauf  ankommt,  ob  die  kriegsgemisse  Situation  gerade  eine 
Attacke  erlaubt,  sondem  vor  allem  darauf,  dass  die  Entwicklung  zu 
einer  solchen  und  ihre  Durchftihrung  iiberhaupt  getibt  wird. 

So  sind  unsere  Kaisermanover  nicht  als  prdchtige  Bilder  zur 
Augenweide  arrangiert,  sondern  sie  haben  und  erftillen  den  emsten 
Zweck  der  Vorbereitung  und  Belehrung  aller  Beteiligten  fur  den  Ernst- 
fall,  an  den  vorkommenden  Fehlem  wird  gelemt. 

Wenn  wir  zum  Schlusse  feststellen  kdnnen,  dass  die  simtlichen 
bei  den  letzten  Kaisermanovem  beteiligten  Truppen  auf  jedermann 
in  ihrer  Ausbildung  wie  Leistungsfihigkeit  einen  vorzuglichen  Eindruck 
machten,  dass  sie  trotz  erheblicher  vorhergehender  Marschleistungen 
bei  gluhender  Hitze  und  dickem  Staub  den  Gefechtsaufgaben  noch  mit 
frischer  Ausdauer  gewachsen  waren  und  dass  der  Gesundheitszustand 
ein  vorztiglicher  blieb,  so  darf  wohl  mit  Fug  und  Recht  der  Schluss 
gezogen  werden,  dass  das  Ausbildungssystem  das  richtige  war  und  ist, 
indem  es  seinen  Zweck,  die  Truppe  moglichst  kriegsbrauchbar  zu  machen, 


-H>^  198 


erreicht  hat  und  audi  kunftighin  erreichen  wird,  dass  somit  der 
praktische  Beweis  geliefert  ist,  dass  unsere  Armee  sich  nicht  auf  dem 
Wege  nach  Jena  befindet,  wie  dies  der  Roman  .Jena  oder  Sedan?* 
glauben  machen  will. 


Bei  Jesuiten. 

Von  Alfred  Leonpacher  in  Munchen. 

Im  Jahre  1761  forderte  Ludwig  XV.  von  seinen  Landesbischdfen 
ein  Gutachten  uber  Seelsorge,  Unterricht,  Kirchendisziplin  und*  Loyalitit 
der  franzosischen  Jesuiten.  Es  war  Kriegszeit:  die  portugiesische  Ordens- 
provinz  war  bereits  vemichtet  und  eben  hatte  das  franzdsische  Parla- 
ment  die  bluhenden  Jesuitenschulen  unterdruckt  Unterm  30.  Dezember 
1761  reichte  der  Episkopat  sein  Antwortschreiben  ein;  es  war  in  alien 
Punkten  eine  beredte  Rechtfertigung:  ,Der  Unterricht",  heisst  es  da, 
I, den  die  Jesuiten  in  unseren  Didzesen  erteilen,  geschieht  otFentlich. 
Menschen  aus  alien  Stinden,  aus  alien  Klassen  der  Nation  sind  Zeugen 
und  hdren,  was  sie  vortragen  .  .  .  Man  befrage  jene,  welche  in  ihren 
Kollegien  erzogen  worden,  ihren  Missionen  beiwohnten,  in  ihre  Bruder- 
schaften  eingeschrieben  waren  und  unter  ihrer  Leitung  in  frommer  Ab- 
geschiedenheit  sich  geistlichen  Obungen  unterzogen  haben,  und  gewiss 
wird  unter  alien  diesen  vielen  Tausenden  kein  einziger  auftreten  und 
behaupten,  je  eine  der  Sicherheit  des  Souverins  oder  des  Staates  ge- 
fihrliche  Lehre  von  ihnen  gehort  zu  haben."" 

Dieser  Vorschlag  bleibt  fiir  alle  Zeiten  beherzigenswert,  man  wird 
dabei  besser  beraten  sein,  als  durch  die  lautesten  Brandreden  der  Poli- 
tiker.  Solche  Zeugen,  Zdglinge,  Missionshdrer  und  Exerzitienbesucher, 
sind  allerorts  zu  flnden,  ja  ndtigenfalls  auch  ihre  Lehrer,  die  an  den 
verschiedensten  deutschen  Bibliotheken,  Archiven  und  Universitlten  ein 
gastliches  Asylrecht  geniessen:  »Eines  Mannes  Rede  ist  keines  Mannes 
Rede,  man  muss  sie  billig  hdren  beede.* 

Ein  Familienbild  aus  dem  Jesuitenkolleg  zu  Innsbruck  wollen  diese 
Zeilen  bieten;  ein  dankbarer  Gast  schreibt  sie,  kein  Klager  und  kein 
Anwalt. 

Wie  eine  hohe  SSule  zeugt  das  Kolleg  zu  Innsbruck  von  jenen 
Zeiten  verschwundener  Pracht,  wo  jede  grossere  suddeutsche  Stadt,  wie 
Augsburg,  Dillingen,  Ingolstadt,  Regensburg,  Munchen  usw.,  ihr  Jesuiten- 


199  8^ 


kolleg  besass.  Neben  Freiburg  in  der  Schweiz  hat  Innsbruck  jetzt  nocb 
die  einzige  Fakultit,  deren  Lehrstuhle  der  Staat  einem  Orden  anver- 
traut  hat,  wihrend  zahlreiche  Mittelschulen  in  Osterreich,  Bayern  und 
in  der  Schweiz  zum  finanziellen  und  ethischen  Vorteil  des  Staates  von 
den  wetteifemden  Orden  der  Benediktiner,  Zisterzienser,  Primonstra- 
tenser,  Franziskaner,  Augustiner,  Redemptoristen  und  Jesuiten  geleitet 
werden. 

Der  diesen  Knotenpunkt  der  Vdlkerstrasse  zwischen  Nord  und  Sud 
zn  einem  Jesuitenquartier,  in  damaliger  Zeit  (1562)  zu  einer  Feldzugs- 
basis,  ausersah,  hatte  einen  hellen  Blick;  es  war  der  erste  deutsche 
Jesuit,  Canisius. 

Hier  sammeln  sich  die  GewSsser  und  berieseln  dann  den  deutschen 
Suden,  hier  ist  ein  Windfang  fur  den  schwulen  Scirocco  und  den  frischen 
Talwind,  hier  ist  eine  Wegkreuzung  ftir  Touristen  alter  Linder,  die 
Hdhenluft,  Leibessport  und  Alpenflor  suchen.  Was  die  Felsen  scheiden, 
binden  die  TSler.  Wie  in  der  lusseren  Stadt,  so  steht  es  auch  hinter 
den  frostigen  Klostennauem  an  der  Universitdts-  und  Sillstrasse.  Hier 
entspringt  eine  Literaturquelle,  die  weite  Theologen-  und  Volkskreise 
befruchtet,  hier  ist  ein  Passubergang  und  eine  Wasserscheide  rdmischer 
und  deutscher  Theologie  und  Religiositat;  hier  ist  das  Jahr  tiber  ein 
Internationales  Theologenheim,  in  den  Ferien  aber  eine  Herberge  fur 
Geistliche,  Lehrer,  Studierende,  die  gruppenweise  den  viertdgigen  geist- 
lichen  Ubungen  des  hi.  Ignatius  obliegen;  sie  verbinden  die  Ferien- 
reise  mit  dieser  Hohenkur  bei  einsamer  Betrachtung  und  Andacht  und 
kehren  heiter  wie  nach  einer  Badereise  zu  ihrem  Beruf  zuriick. 

Der  Oktober  ftihrt  die  Theologen  wieder  zuruck,  wie  die  Zug- 
vdgel  steuem  sie  sUdwirts,  ca.  300  besuchen  alljahrlich  die  Fakultat; 
ihrer  200  beherbergt  das  „ Convict*. 

Der  Fremdling  hat  keine  Ahnung  von  dem  magischen  Zauber, 
den  das  Sigill  S.  J.  auf  die  katholisch  erzogene  Jugend  ausubt.  Die 
dffentliche  Fehde  vermag  nicht  den  leisesten  Argwohn  in  die  Herzen  zu 
streuen,  sie  mehrt  nur  ihre  Sympathie.  Die  Jungen  kennen  die  Stifter, 
die  Heiligen,  die  Missiondre  des  Ordens.  Sie  kennen  das  Martyrium 
seiner  Aufhebung  und  seiner  Verbannung;  sie  lesen  die  Lieeraturkataloge 
katholischer  Verlage,  Jugendschriften  von  Spillmann,  Geschichtswerke 
von  Kobler,  Michael,  Grisar,  und  etwa  noch  weniges  von  T.  Pesch  und 
H.  Pesch,  von  Cathrein,  Baumgartner,  Dressel,  Wasmann.  Endlich 
wirken  die  Schilderungen  des  Studienlebens  im  Germanicum  zu  Rom^ 
wie  sie  in  Hettingers  ^Welt  und  Kirche"  stehen,  mit  magnetischer  An- 
ziehungskraft  auf  jugendliche  Enthusiasten. 

Das  ist  die  Fernwirkung  des  Jesuitennamens. 

Die  theologische  Berufswahl  und  der  Eintritt  in  ein  geistliches  und 
g^  in  einstreng  jesuitisches  ErziehungshauswSre  eine  intime  Seelenstudie 
fur  sich.  Dem  einen  liest  man  ja  wohl  an  den  weichen  Zugen  und  sanften 
Augen  die  naturliche  Vorbestimmung  ftir  Altar,  Kinderlehre  und  Kranken- 
sorge  ab;  andere  aber,  vollblutige  GlutSugtge,  mussten  doch  wohl  nach  hartem 
Ringen  sich  entschlossen  haben.  Wohin  mag  der  schuchterne  Dorfsohn 


-t*^   200  §^ 


streben,  wohin  der  geschmeidige  Aristokrat?  Was  treibt  sie  alle  fort 
aus  ubennu tiger  Freundesninde? 

Mit  reinem  Opfersinn  uberschreiten  sie  die  Schwelle,  mit  frommem 
Schauder  sehen  sie  sich  in  den  Wandelgingen  des  geheimnisreichen 
Hauses  um,  mit  klopfendem  Herzen  stehen  sie  zum  erstenmal  vor 
einem  Pater,  vor  dem  Regens  des  Hauses,  und  nicht  ohne  bescheidene 
Verlegenheit  dulden  sie's,  dass  ihnen  der  vSterlich  sorgende  Vorstand 
selbst  ihr  Zimmer  anweist. 

Hier  sollen  sie  allein  oder  mit  einem  Sozius  vereint  .geistlich'' 
werden.  Alles  ist  sehr  viel  anders  als  am  Gymnasium.  Kein  unruhiger 
Studiensaal,  kein  Massenquartier,  kein  Aufseher.  Endlich  allein  I  Dass 
die  Winde  so  nuchtern,  Pult,  Bett,  Schrank  und  anderes  Inventar  so 
schmucklos  einfach  sind,  das  ist  ja  gerade  erwunscht.  Zum  Fenster 
schaut  das  Brandjoch  und  Frau  Hutt  herein  und  unten  umschlingt  ein 
herbstfarbiger  Gartenkranz  die  hochragende  Kuppel  der  UniversitMts- 
kirche. 

Wie  ein  freundliches  Gastgeschenk  liegt  die  Hausordnung  zum 
Gruss  am  Pulte.  »Consuetudines'  nennt  sie  sich  milde  und  liest  sich 
in  ihrer  ehrwurdigen  LatinitUt  so  anmutend  wie  eine  alte  Kloster- 
regel;  sie  birgt  einen  Schatz  kostbarer  Regeln  fur  das  freundschaftliche 
honette  Zusammenleben,  fur  die  religidsen  Ubungen  und  die  Haus- 
disziplin,  fur  die  Tages-  und  Studienordnung,  fur  die  Erholungszeit  in 
und  ausser  dem  Hause. 

Kein  Wort  steht  drinnen  von  Zwang,  Kontrolle,  Strafe.  Wie  heller 
Sonnenschein  gldnzt  tiberall  das  Vertrauen  der  Oberen,  unwiderstehlich 
lockt  es  maiblutengleich  den  guten  Willen  hervor. 

Das  ist  das  Geheimnis  dieser  PSdagogik.  Wer  eingetreten  ist,  ist 
frei  gekommen,  frei  kann  er  wieder  Ziehen,  frei  fuhlt  er  sich  zwischen 
den  Mauem  und  Regeln  und  Vorgesetzten.  Auf  diesem  Grund  wdchst 
ein  Charakter  sowie  auf  Fels  die  Alpenrose. 

Die  Erstlingsstunden  und  Tage  in  solchem  Haus  schwinden  rasch; 
uberall  in  den  weiten  Gingen  summt  es  wie  bei  einem  Bienenvolk. 
P.  Regens  dirigiert  freundlich  ein  dienstbereites  Altsemester  dem  Neuling 
tiuk  Gemach.  Der  Gutige  besorgt  Gepdck  und  Bucher  und  Kollegien- 
hefte,  einen  Ballen  Immatrikulationspapiere  und  muntre  Bruder  aus  der 
Heimat,  und  so  beginnt  die  ermudende  Ubung,  die  200  Kollegen  kennen 
zu  lernen. 

Dann  kommt  wie  staubreinigender  Platzregen  der  offlzielle  Er- 
dffnungsabend  in  der  Aula.  P.  Regens  sprach;  er  sprach  nicht  wie  die 
andem,  er  sprach  wie  einer,  der  Macht  hat,  aus  seiner  gluhenden  West- 
falenbrust;  er  wusste  wie  man  rufen  muss,  wenn  man  Echo  will;  er 
wusste,  wo  der  Ziindstoff  lag  in  den  unverderbten  Herzen  und  er  ver- 
stand  den  Brand  zu  schuren.  Er  sprach  oft  zu  uns,  jedesmal  in  frischer 
Form  und  Herzlichkeit:  Erst  ein  Appell  an  den  Idealismus  der  Kandidaten, 
gleich  der  Ordensdevise  „ Alles  zur  grosseren  Ehre  Gottes";  von  der 
lichten  Hohe  wies  er  dann  auf  die  kleinen  Bilder  der  AUtagstiefe  nieder: 
auf  die  Tagesordnung,  die  Hausruhe,  den  Studienbetrieb  und  andre 


201  8^ 


PMdagogenschmerzen.  Von  der  ersten  Stunde  an  kannte  er  jeden  beim 
Namen  und  etwas  tiefer  noch ;  lichelnd  wusste  er  Wunsche  zu  versagen 
ond  Bittsteller  zu  vertrosten;  er  hStte  als  Diplomat  reussieren  konnen» 
Mog'  er  sanft  ruhen  im  felsumschlungenen  Friedhof  zu  Meran.  „Ach 
sie  haben  einen  guten  Mann  begraben,  Und  uns  war  er  mehr.* 

Von  da  ab  begann  der  Erast  der  Hausordnung;  die  modischeft- 
Gehrocke  verschwinden,  der  Neuling  lernt  im  vallenden  Talare  schreiten, 
die  Gange  werden  grabesstill,  die  Glocke  ruft  erfolgreich  zu  Studien  und 
Kollegy  Besuche  bringt  nur  mehr  die  Mittagsstunde.  Bei  Tisch  und  in 
der  Gartenpromenade  wihlt  man  den  Gesellschafter  nicht  mehr  frei  nach 
Alter  und  Nation. 

Die  intemationale  Mischung  ist  der  Hauptreiz  des  Hauses.  Die 
Mehrzahl  der  Kandidaten  sind  AuslSnder,  Reichsdeutsche,  Schweizer, 
Nordamerikaner;  vereinzelt  wird  etwa  ein  EnglSnder,  Spanier,  Grieche 
Oder  pseudonyroer  Russe  dazu  verschlagen;  darein  mengt  sich  die 
Sprachverwirrung  Osterreich-Ungams;  die  Ungam,  Tschechen,  Polen 
und  Stidslaven  sondem  sich  in  kleine  Gruppen ;  meist  sind  es  gescheite 
Kdpfe,  zu  Promotionszwecken  vom  heimischen  Seminar  entlassen;  sie 
glanzten  auf  den  Disputationen,  in  Gesellschaft  waren  sie  naiv  heiter, 
in  Politik  ungeniessbar.  Abgesehen  von  Kaisers  Geburtstag  schieden 
sich  Preussen  und  Suddeutsche  meist  sSuberlich.  Das  preussische  Auf- 
treten,  gepaart  mit  studentischen  Alluren,  fand  im  allgemeinen  wenig 
Anklang,  doch  ebensowenig  fand  die  Susserliche  Selbstvemachlissigung 
mancher  Siiddeutscher  Schonung.  Bei  den  Bayern  hospitierten  gerne 
die  Wurttemberger,  Badenser,  Hessen,  Reichslinder  und  —  Kroaten.. 
Die  Schweizer  waren  stille  Streber  und  meist  gute  Sangesbruder 
and  Theaterimpresarii.  Eine  Welt  fur  sich  machten  die  40  Amerikaner 
aus,  Ball-  und  Bergsport  schien  ihre  Leidenschaft.  Sie  stammten  von 
den  verschiedensten  Staaten  der  Union,  sie  gaben  sich  geme  als  Welt- 
iind  Geidmacht,  als  Demokraten  und  Niggerfeinde  und  sprachen  ein 
schauerliches  Latein. 

Von  diesen  Gruppen  hoben  sich  noch  zwei  Antipoden  ab;  Orden 
und  Aristokraten.  Vertreter  von  etwa  einem  Dutzend  Ordensgesell* 
schaften,  Schwarze  und  Weisse,  Schwarzweisse  und  Weissblaue,  Braune 
mit  und  ohne  Strick  huschten  durch  die  dunkle  Masse,  Laxe  und  Strenge, 
Fleissige  und  Ubergemiitliche,  wie  sie  in  Osterreich  wachsen.  Unter 
den  Adeligen  gab  es  mehr  klingende  Namen  als  markante  Charakter- 
typen;  meist  kennzeichnete  sie  der  Stempel  weicher  Frauenerziehung; 
sie  passten  sich  den  demokratischen  Sitten  des  Hauses  willig  an  und 
wirkten  durch  ihre  Formen  wie  Sauerteig  auf  die  Masse. 

Mit  besonderem  Respekt  wurden  endlich  gewesene  Referendare, 
Arzte  und  Reserveoffiziere,  gezeichnete  Korpsstudenten,  Witwer  und 
Lokomotivfuhrer  a.  D.  beehrt. 

Es  war  ein  buntes  Familienbild.  Eisen  schSrft  sich  am  Eisen.  Wo 
Starkes  sich  und  Mildes  paarten,  da  gibt  es  einen  guten  Klang.  Gross 
war  der  gesellschaftliche  Gewinn  aus  diesem  Milieu  fdr  alle  Telle. 
Jeder  gab  und  empflng.    Finer  trug  des  anderen  Lasten.    Zflm  Spazier- 

SQddetttscbe  Monatshefte.   1,3.  14 


-04?  202 


gang  wurden  jedem  zwei  Begleiter  auf  einer  Namentafel  zugewiesen,  mit 
denen  schweifte  man  frei  in  Wald  und  Berg.  Erst  musste  ein  Jargon 
gefunden  werden,  womit  man  sich  mit  amerikanischen  oder  schweize- 
rischen  Neulingen  verstdndigen  konnte,  dann  ein  Thema  fur  den  Land- 
fremden ;  das  eintdnige  Studienleben  tdtete  mit  der  Zeit  das  belletristische, 
isthetische,  politische  Interesse,  daruber  wucherte  eine  ungezugelte 
Fachschwlrmerei ;  wir  waren  imstande,  besonders  in  der  sommerlichen 
Fieberzeit  der  Examina,  diewurzigsten  Bergeinsamkeiten  mit  scholastischen 
Disputen  zu  entweihen.  Doch  gab  es  auch  viele  bessere  Elemente;  die 
fanden  sich  an  „Ferialtagen**  zusammen  zu  frohen  Klettertouren.  Im 
spSten  November  noch  hinterliessen  wir  unsere  Spuren  oben  bei  Fran 
Hiitt,  „wo  schroff  die  Strasse  und  schwindlich  jSh  hemiederfallet  zum 
Inn'S  Im  Winter  rodelten  wir  mit  hochgeschiirztem  Gewande  von 
St.  Magdalen  oder  Schonberg  zu  Tal,  im  Fruhjahre  fuhren  die  Kuhnen 
schneeumstSubt  auf  den  Lawinenrinnen  am  Hafele  Kar  nieder;  an  Ostem 
durchschwSrmte^  wer  es  vermochte,  Oberitalien  oder  Sudtyrol ;  am  Grun- 
donnerstag  stand  alljMhrlich  unsere  Deputation  vor  dem  Papste;  zu 
Pfingsten  wimmelte  der  ganze  Achensee  und  Karwendelblock  von  ent- 
sprungenen  Theologen.  An  freien  Sommertagen  aber,  sowie  zu  Ferien- 
beginn,  streiften  die  Talmenschen  durch  die  Bauemdorfer  am  Mittel- 
gebirg,  die  Hdherveranlagten  aber  bezwangen  die  einzelnen  Stubai-  und 
Duxer  Gipfel. 

Die  Ordensregeln  der  Patres  wurdigen  vollauf  die  Notwendigkeit 
korperlicher  Abspannung,  deshalb  soil  jedem  Kollegium  ein  Landhaus 
zugehoren;  hier  soil  die  Klostergemeinde  in  freier  Natur  ihren  wochent- 
lichen  Rasttag  halten.  Sie  brauchen's.  6  Stunden  Schlaf  ziemt  dem 
Monch,  7  dem  Kranken,  8  dem  Faulen,  heisst  der  alte  Klosterspruch. 
Daran  halten  sie  sich,  und  das  wirkt  auf  ihre  Nerven  ebenso  wie  die 
Einsamkeit  und  die  Studienpflichten;  drum  sieht  man  sie  allwdchentlich 
hinauspilgem  an  die  schSumende  Sill,  abseits  von  der  Brennerstrasse^ 
zum  Zenzenhof;  hier  mdgen  sie,  der  Zelle  entflohen,  wie  Faust  am 
Ostermorgen,  den  Fruhlingsglanz  der  Natur  geniessen.  Die  Woche  uber 
sitzt  dort  nur  ein  silberhaariger  Einsiedler,  ein  sinniger  Troubadour  der 
Gottesminne ;  das  katholische  Volk  kennt  seinen  Namen  weit  und  breit; 
an  den  Bach  hat  er  sich  ein  Riesenkreuz  gebaut  und  darunter  den  Vers 
geschrieben : 

„UoeDdlich  gross  ist  deine  Spur  —  O  Gott  im  Tempel  der  Natur! 

Doch  wilUt  du  ihn  noch  grdsser  sebn  —  So  musst  du  bin  zum  Kreuze  gehn.^ 

Die  gastlichen  RSume  offnen  sich  auch  den  Studierenden  mehr* 
mals  und  mancher  Bucherwurm  lernt  hier  wieder  lachen,  wenn  nach 
Lied  und  «Mimik"  der  Schalk  sein  Fehmgericht  uber  Hoch  und  Niedrig 
hSlt.  Die  Obrigkeit  macht  gute  Miene  zum  bosen  Spiel,  und  die  Jungen 
dfirfen's  auch  nicht  ubel  nehmen. 

Es  ist  erstaunlich,  welche  Seelenkunde,  welches  J ugendverstindnis 
diese  Briuche  geschafPen  hat.  Wie  das  alles  wirkt  auf  Nerven  und 
Laune  und  Arbeitsfreude !  Der  junge  Mensch  spurt  kaum,  wie  er  er* 


203  ^ 


zogen  und  poliert  wird;  alles  geht  von  selber,  meint  man;  der  Regisseui" 
ist  unsichtbar. 

Die  Frucht  dieser  hiuslichen  und  geselligen  Erziehung  ist  eine 
hohe  Schaffenslust.  Theologen  gelten  allgemein  als  fleissig;  das  ist 
nicht  mehr  wie  billig.  Dort  im  Convict  ist  aber  nicht  nur  das  Benifs- 
ideal  und  die  Weltabsonderung,  sondern  auch  harte  Konkurrenz  Trieb- 
feder  gesteigerten  Strebens.  Kein  Provinzlyzeum  kann  eine  solche  Elite 
gttter  Kopfe  produzieren,  wie  man  sie  hierher  von  alien  LSLndern 
und  Klostern  zusammenschickt. 

Hier  erringt  keiner  billige  Erfolge  und  keiner  braucht  im  Ver- 
borgenen  zu  bluhen;  dagegen  sind  die  wdchentlichen  Disputationen 
gut;  hier  ist  der  Fechtboden  ,,scholasti$cher  Spitzfindigkeit  und  jesuitischer 
Dialektik'^;  muhsam  lernen  diejungen  das  Defendieren  und  Opponieren 
in  Philosophie,  Dogma,  Bibelkunde  und  Moral,  vorher  aber  die  lateinische 
Konversation  und  das  ^Collegium  Logicum*^ 

„Dt  wird  der  Geist  eucb  wobl  dressiert 
In  sptnische  Stiefeln  eiageschntirt» 
Dass  er  bedichtiger  soforttn 
Hioschleicbe  die  Gedtnkenbahn, 
Und  nicht  etwt  die  Kreuz  und  Quer 
Irrlichteliere  bin  und  her/^ 

Es  ist  also  eine  alte  Methode  aus  Mephistos  Tagen,  auch  der  In- 
halt  der  Thesen  ist  alt.  Vor  150  Jahren  schickten  die  bayrischen  Pri- 
laten  einander  Kunstblitter  als  Einladung  zu  kldsterlichen  Disputationen; 
es  stehen  die  gleichen  Thesen  darauf  wie  bei  den  heutigen  Disputen; 
daher  die  Vorwiirfe  von  Stagnation,  Antiquierung  und  Petrefaktenart 
der  Philosophia  perennis.  Man  denke  sich  jugendliche  Sturmer  bei 
dieser  Kost  und  dazu  trafen  noch  die  Freundesbriefe  von  Wtirzburg 
ein,  wo  die  Anfinger  schon  mit  den  pikantesten  Problemen  aufwarten 
konnten  —  mir  war  wie  dem  Gefangenen  zu  Chillon,  wie  ihn  die 
pUtschemde  Brandung  und  das  Vdglein  am  Fenstergitter  ins  Blaue  locken 
wollte.  Dennoch  verkenne  ich  den  Nutzen  dieser  Karenz  nicht;  man 
woUte  uns  das  literarische  Spielen  und  Naschen  abgewdhnen  und  una 
strenge  Formen  des  Denkens  und  Disputierens  lehren. 

Mit  Mephistos  spanischen  Stiefeln  ist  die  Schlussfolgerung  aus 
Ober-  und  Untersatz  gemeint.  Bei  diesem  Schema  ist  es  Aufgabe  der 
Defendenten,  Untersatz,  Schluss  und  Konsequenz  zu  prufen  und  subtil 
zu  distinguieren ;  das  macht  den  Geist  scharfsichtig,  den  Mund  schlag- 
fertig.  Den  bedeutenderen  Schulem  gibt  man  immer  schwierigere  Streit- 
firagen  und  Dissertationen  und  bei  Quartalsschluss  wird  dem  einen  Oder 
mnderen  die  Ehre,  vor  den  geladenen  VorstSnden  und  Professoren  einen 
Waffengang  untereinander  oder  mit  einem  der  noch  besser  geschulten 
Jungjesuiten  austragen  zu  durfen. 

So  lemt  und  erprobt  man  nach  der  Logik  aristotelische  Meta- 
)[>hysik,  Kosmologie,  Psychologie  und  Ethik.  Abgesehen  von  der  Psycho- 
logie  wurden  uns  nach  der  positiven  Darlegung  sparsame  Ausblicke  auf 
die  einschligigen  Probleme  der  englischen  und  deutschen  Philosophie 

14* 


204 


verstattet;  wir  hitten  naturlich  mehr  gewunscht,  gescfatchtlichen  und 
genetischen  Uberblick  und  speziell  Fuhlung  mit  den  radikalen  Psycho- 
logen  der  Neuzeit;  zum  Notbehelf  suchten  wir  Ersatz,  in  den  philo- 
sophischen  Publikationen  etlicher  deutscher  Jesuiten,  wie  T.  Pesch, 
Hontheim,  Kathrein  etc.  und  holten  das  Verslumte  tunlichst  splter  ein; 
ich  halte  das  fur  leichter,  als  sich  autodidaktisch  in  die  Scholastik  ein- 
zuarbeiten.  Ebenso  hungerte  manchen  nach  naturwissenschaftlichen 
Kollegien;  aber  niemand  gab  sie  ihm.  Die  Patres  selbst  gehdrten  der 
theologischen  FakultMt  an  und  durften  nur  philosophisch-theologische  Pro- 
pideutik  lesen,  den  Kollegen  von  der  anderen  FakultMt  aber  vertrauten  sie 
uns  nicht  geme  an  aus  Grunden  des  einheitlichen  Studienganges  und  der 
Orthodoxie.  Wir  batten  ihnen  in  anderem  so  viel  zu  danken,  dass  wir  uns 
dariiber  trosteten  und  zufrieden  waren,  wenn  wir  nur  ein  paar  vertrauener- 
weckende  Philosophenkollegien  frequentieren  durften.  Nach  der  Philo- 
sophic begann  ein  drei-  oder  vierjihriger  Dogmatikkurs,  wlhrend  dessen 
man  die  iibrigen  Disziplinen,  wie  Moral  und  Kirchenrecht,  Bibelkunde 
und  Kirchengeschichte.  Pastoral  und  soziale  Frage  belegte.  Die 
Dispute  und  Dissertationen  wurden  fortgesetzt  und  durch  Predigtproben 
noch  vermehrt.  Man  hdrte  geist-  und  klangvolle  Mustervortrage  beim 
ofBziellen  Universitltsgottesdienst ;  um  so  schwieriger  war  die  Rolle  des 
Probekandidaten,  der  bei  Tisch  sich  vor  den  Kollegen  produzieren  und 
nachher  kritisieren  lassen  musste;  Orator  fit:  jeder  hatte  seine  eigenen 
Unarten.  Die  Geistreichigen  schnitten  schlecht  ab;  man  hielt  es  mit 
Pauli  Prinzip:  ,,Lieber  will  ich  funf  Worte  bloss  mit  VerstSndnis 
sprechen,  um  andere  zu  erbauen,  als  zehntausend  Worte  in  Wunder- 
sprachen." 

Hier  wie  in  den  andem  Disputen  prdsidierten  die  Fachprofessoren; 
Stimmen  aus  dem  Publikum  hdrten  sie  immer  geme;  ubrigens  war  jeder 
Schiller  berechtigt  und  ermuntert  die  Patres  in  Zweifeln  zu  konsultieren. 
Wohl  scheute  man  sich  die  Zelebritlten  und  Schriftsteller  zu  belSstigen; 
wir  wussten,  wie  sie  arbeiteten  und  Zeit  sparten  bei  Tag  und  Nacht. 

Scharf  geschnittene  Typen  gab  es  neben  dem  Durchschnitt.  Das 
Ordensleben  nivelliert  nicht,  es  prMgt  unbeugsame  Eigenart. 

Der  Senior  des  Hauses  war  der  emeritierte  Kirchenrechtler;  des 
Alters  Schnee  umsaumte  die  abgeklarten  vSterlichen  Ziige.  Aus  vier 
Weltteilen  schlagen  ihm  dankbare  Schiilerherzen  entgegen.  Auch  der 
alte  Dogmatiker  ragt  wie  eine  Bergtanne  uber  die  Vegetationsgrenze  der 
osterreichischen  Hochschulen  hinaus.  Werden  ihm  seine  45  Lehrjahre 
und  seine  dogmatischen,  patristischen  und  kirchenhistorischen  Werke 
einmal  als  Stufen  der  Himmelsleiter  angerechnet,  dann  kommt  er  hoch; 
noch  ist  seine  zShe  Schweizerkraft  unermiidlich;  in  die  Spekulations- 
hohen  steigt  er  nimmer  geme,  aber  er  weiss  mit  seinem  farbenreichen, 
praktisch  lebendigen  Vortrag  die  Jugend  mehr  zu  fesseln,  als  alle  andem. 

Als  Gegenbild  davon  batten  wir  einen  anderen  Dogmatiker;  das 
war  ein  echter,  weltfremder  Professorentyp.  Gott  verzeih'  mir,  dass  ich 
so  wenig  merkte  von  seinem  Kirchentraktat,  von  dem  er  kaum  ein  Vier- 
teil  in  Jahresfrist  fertig  brachte  und  von  seinen  Spekulationen  iiber 


^    205  8^ 


Gnade,  Predestination,  ungetaufter  Kinder  Los  und  andre  unbekannte 
Dinge. 

Wie  der  Weinstock  neben  der  Ulme,  wirkte  neben  ihm  ein  weiterer 
Dogmatiker,  aus  dem  Rheinland  geburtig,  das  reichste  Talent  im  Hause, 
eine  vomehme  herzgewinnende  Erscheinnng,  der  Liebling  alter,  immer 
gleich  bescheiden,  ob  er  nun  gerade  ein  Bundel  alter  Schulbeweise  zer- 
pfliickte  und  ehrlich  verwarf  oder  ob  man  ihn  auf  dem  Zimmer  uberraschte, 
wie  er  nach  Ordensvorschrift  mit  dem  Kehrbesen  in  der  Hand  den  Bucher- 
stanb  zusammen  scheuerte.  Other  Protest  folgte  seiner  Amovierung 
und  treuer  Dank  dem  allzufruh  Hingegangenen. 

Eine  andre  Tonart  liebte  der  Kirchengeschichtler  —  man  hat  seine 
Geschichte  des  deutschen  Volkes  mit  anerkennenden,  seine  Dollinger- 
Biographie  mit  gemischten  Gefuhlen  aufgenommen.  Er  liebte  scharfe 
Polemik,  mit  schneidender  OfBziersstimme  warf  er  seine  Pointen  in  den 
Saal;  wir  verdanken  ihm  unter  anderem  praztse  Untersuchungen  iiber 
die  Kontroversfragen  der  Infallibilitit,  des  Inquisitions-  und  Hexenwesens 
und  mit  Freude  denke  ich  an  die  Unbefangenlieit,  womit  er  Luthers 
Jugendcharakter  gerecht  wurde. 

Auf  exponiert  hohem  Piedestal  der  Orthodoxie  stehen  wehrhaft 
die  beiden  Bibelwissenschaftler;  selbst  ihre  deutschen  und  romanischen 
Ordensbriider  lassen  sie  in  wichtigen  Streitpunkten  allein  auf  weiter  Flur; 
der  altere,  ein  altbayrisches  Original,  ist  mit  seiner  Geradheit,  Kraftsprache 
und  treuherzigen  Vatersorge,  das  Entziicken  aller  Neulinge. 

Doch  als  die  liebenswiirdigste  Erscheinung  eines  Jesuiten,  wie  man 
ihn  malen  soli,  gilt  alien  der  Moralist.  Klein  und  blass,  mit  hageren 
Dozentenfingem  und  tiefen  Rdtselaugen,  mit  der  diinnsten  Stimme,  aber 
dem  klarsten  Vortrag,  ewig  freundlich  und  nachsichtig  gegen  Fremde  und 
streng  gegen  sich  selber,  so  schwebt  uns  sein  Bild  vor. 

Er  hat  uns  alle  angesteckt  mit  jener  probabilistischen  Moral,  die 
den  Beichtpriester  so  streng  gegen  sich  und  so  verstandig  nachsichtig 
gegen  die  andem  macht  und  die  lingst  Norm  der  vemiinftigen  Welt  ist; 
er  hStte  uns  statt  der  kasuistischen  Fasson  wohl  auch  eine  systematisch 
konstruktive  Moral  und  Ethik  zu  bieten  vermocht,  doch  hitte  er  sich 
damit  nicht  so  sehr  den  Dank  der  Praktiker  verdient.  Er  also  hat 
uns  all  die  bekannten  Paradefille  von  Mentalreservation,  Restitution, 
Schmuggeln,  Fasten,  gemischten  Ehen,  Beichtfragen  vorgelegt.  Was  tut 
es,  wenn  er  vielleicht  in  ein  oder  zwei  Fillen  zu  milde  urteilte;  weh 
ihm,  wenn  er  fanatisch  rigoros  gerichtet  hitte.  Wie  jedes  Moralbuch, 
wie  jeder  Fachkollege,  wie  so  und  so  viele  romische  Kongregationsent- 
scheide,  forderte  er  von  uns  die  zuriickhaltendste  Diskretion  im  Beicht- 
stuhl,  verbot  uberhaupt  Nachfragen  tiber  Gegenstande,  die  der  Ponitent 
nicht  selbst  angedeutet  hatte.  Kommen  trotzdem  anstossige  Fragen  vor, 
so  dunkt  mich,  ist  meist  nicht  verfehlte  Unterweisung,  auch  nicht  Liistern- 
heit,  sondem  krankhafte  Angstlichkeit  des  Priesters  Schuld.  [Selbst  der 
ehrliche  und  gut  unterrichtete  Jentsch  (Zukunft  X,  3>  hitte  mit  seinen 
3  Fragen:  6.  Gebot?  Allein?  Mit  wem?  noch  bittere  Vorwurfe  be- 
kommen,  denn  die  dritte  Frage  ist  missverstindlich  und  nach  dem  Breve 


206 


•Benedicts  XIV.  v.  7.  7.  1745  unter  Sunde  verboten,  ihre  Urgiening  und 
doktrinelle  Empfehlung  aber  mit  Amtsenthebung  und  Exkommunikation 
«trafbar.]  In  stiller  Abendstunde  sass  das  Anditorium  des  iltesten  Jahrgangs 
um  den  greisen  Lehrer,  der  nach  einem  zitteraden  Gebet  vprn  6.  Gebot 
zu  sprechen  begann;  was  er  sagte,  war  vorsichtig,  zart-schamhaft,  zweck- 
massig  praktisch,  vielleicht  der  Pathologie  zu  wenig  Rechnung  tragend* 
So  konnte  nur  einer  reden,  der  Herz  und  Nieren  von  tausend  Priester- 
ufld  Laienseelen  erkundet  hatte.  —  Das  war  lange  vor  Grassmann  und 
Hoensbroech. 

So  waren  unsere  I^hrer,  noch  konnte  ich  manch  andem  nennen; 
den  Schnlem  sind  sie  alle  gleich  lieb  geworden.  Wir  lesen  in  der  Feme 
ihre  Aufsatze  in  ihrer  theologischen  Zeitschrift  und  ihrem  frommen 
Sendboten;  wir  frischen  in  den  Ferien  unsere  priesterlichen  Ideale  in 
den  altgewohnten  RMumen  wieder  auf. 

Ja,  diese  priesterliche  Erziehung  und  ihr  makelloses  Beispiel  war 
schliessHch  noch  das  Kostbarste,  was  sie  uns  gaben.  Ordnung  lehrten 
sie  unsy  segensreiche,  heilige  Ordnung,  die  da  frei  und  leicht  und  freudig 
bindet.  Sie  lehrten  uns  den  Tag  mit  Gebet  beginnen  und  schliessen. 
Jeden  Abend  gaben  sie  uns  eine  Anweisung  zum  innerlichen,  mystisch 
betrachtenden  Gebet,  sie  lehrten  uns  die  Heilige  Schrift  lieben;  sie 
lehrten  uns  grenzenlose  PietSt  vor  der  kirchlichen  AutoritSt,  so  will  es 
ihr  Ordensstifter ;  sie  lehrten  uns  einsam  und  alleine  mit  sich  selber 
vollbeschlftigt  durchs  Leben  gehen,  wie  der  Priester  muss;  sie  lehrten 
uns  launenlose  Dienstfertigkeit  im  Umgang  mit  jedermann;  sie  lehrten 
uns  Entsagung  von  Komfort  und  Genuss,  Ungebundenheit  und  Unter- 
baltungsfreude.  Ihr  Nachwuchs,  die  von  uns  getrennten  Scholastiker, 
waren  unser  Vorbild;  mit  Worten  durften  sie  uns  nicht  hinuberlocken, 
so  taten  sie's  durch  stummes  BeispieL  Die  waren  filter  als  wir,  oft  an 
die  30  Jahre  alt,  nervig  wie  ein  borghesischer  Fechter  und  doch  gezogen  und 
gedrillt  wie  Kinder;  schuchtem,  schweigend  sahen  wir  sie  zur  Universitit 
Ziehen,  die  Askese  hatte  Furchen  in  die  jungen  Wangen  gezogen. 

Rosegger  hMtte  sie  nicht  fehlerhafter  zeichnen  konnen,  als  da  er 
in  den  Schriften  des  Waldschulmeisters  den  nachmaligen  ^Einspannig* 
vor  seinem  Jesuitennoviziat  den  siissesten  Becher  der  Welt  bis  zum 
ubersatten  Ekel  leeren  ISsst,  bevor  er  am  Altar  den  Kelch  des  gott- 
lichen  Opferblutes  trinken  soli. 

So  sind  sie  nicht.  „  Agendo  contra  muss  man  sich  das  Leben  mog- 
lichst  ungemtitlich  machen**  horten  wir  als  ihren  ausgesprochenen 
Grundsatz.  Wie  der  Stab  in  der  Hand  des  Greises,  gehorchen  sie  dem 
Wort  des  Obem.  »Mir  kommt  nichts  beschwerlicher  vor,  als  nicht 
Mensch  sein  durfen,**  jammert  der  Bruder  Martin  im  Goetz. 

Die  Seelenstirke  zu  solchem  Naturkampf  fliesst  in  diesem  Hause 
aus  dem  kleinen  Heiligtum  in  der  Mitte.  Oft  und  oft  wie  die  alte 
Christenbrudergemeinde  einen  und  starken  sie  sich  in  der  Gemeinschaft 
des  Brotbrechens,  die  wiederholte  Beichte  macht  sie  gewissenhaft  und 
dpch  nicht  dngstlich,  der  Name  und  das  Herz  Jesu  sind  die  Embleme 
iles  Hauses.    Die  briiderliche  Devise  aber,  die  uns  bis  zu  den  Philippinen, 


207 


bis  zur  nngarischen  Gesandtschaft  in  Tokio,  bis  Australieriy  Brasilien 
und  zum  Westen  der  Union  verbindet,  heisst  Cor  unum  et  anima  una. 
Bischofe,  Abte,  Professoren,  Politiker,  Missionare  und  Dorfkaplfine, 
selbst  jene,  die  mit  Trinen  im  Auge  Abschied  nahmen  und  eine  andere 
Laufbahn  wahlten,  alle  bleiben  sie  eine  geheime  Bruderfamilie :  Cor 
unum  et  anima  una.    Alle  segnen  die  Quelle,  aus  der  sie  getrunken. 

So  waren  die  Jesuiten  dort,  wo  ich  sie  sah  mit  meinen  Augen. 
Seht  Ihr  sie  anders,  so  sind  Eure  Jesuiten  anders  oder  Eure  Augen. 


Aus  der  Pathologic. 

Neue  Antworten  auf  alte  Fragen. 

Von  Eugen  Albrecht  in  Munchen. 
IV. 

Von  unserer  vorldufigen  Orientierung  fiber  das  Wesen  der  Ge- 
scbwulstbildungen  fuhrt  uns  der  nacbste  Schritt  zur  Besprechung  ibrer 
Entstebungsursachen. 

In  aller  Forscbung  wecbseln  wie  bier  zwei  Fragen  unablMssig  ab  —  jene 
beiden,  mit  denen  scbon  das  Kind  seine  ,WeltrMtsel^  in  Angriff  nimmt, 
die  durch  das  ganze  Leben  bindurcb  fur  jeden  Menscben  die  weitaus 
baufigsten  bleiben  und  bei  keinem  Menscben  und  in  keinem  Punkte  voile 
und  letzte  Antwort  finden:  ,Was  ist  dies?"  ^Warum  ist  dies?"  Jede 
Umgrenzung  des  Gefundenen,  der  ^Tatsacben",  jede  Antwort  fiber  Ur- 
sacbenzusammenbfinge  ist  eine  provisoriscbe:  neue  Augen  werden  weiter 
scbauen,  neue  HInde  tiefer  graben,  in  neuen  Kopfen  werden  unsere 
alten  Probleme  andere  Formen  annebmen  und  neue  binzu  wacbsen, 
die  wir  nocb  nicht  einmal  zu  abnen  vermogen.  Das  gilt  nicbt  bloss  von 
den  letzten  und  bdcbsten  Fragen,  die  eine  Generation  der  andern  ebenso 
getreulicb  vermacbt  wie  ibre  angeblicb  ricbtigste  und  definitivste  Losung, 
die  eine  jede  Generation  dennocb  wieder  von  vome  beginnen  und  auf 
ibre  Forme!  und  » letzte  Wahrbeit"  bringen  muss:  es  tritft  zu  ffir  alle 
Gebiete,  in  denen  wir  zu  wissen  begebren.  Und  zugleicb  erneuert  sicb 
aucb  fur  ein  jedes  Gebiet  dieser  glficklicbe,  zuversicbtlicbe  Optimis- 
mus,  der  die  eigne  Frage  und  Antwort  nun  endlicb  ffir  die  ganz  ricbtige 
bllt,  wlbrend  er  die  Verblendung  der  Fruheren  vielleicbt  kaum  zu  be- 
greifen  vermag.  Erinnem  wir  uns  docb  nur,  wic  oft  wir  uns  selber 
zum  »vollen  Verstindnis"  in  unserer  letzten  und  reifsten  Anscbauung 


^   206  8^ 


fiber  irgend  einen  Vorgang  gelangt  fanden  seit  jener  Zelt,  da  die  Mutter 
nns  den  Regenbogen  oder  der  Lehrer  den  Kreislauf  des  Wassers  und 
das  Spiel  der  Sonnenstrahlen  zu  unserer  vollsten  Befriedigung  erklirte ! 
wie  wir  jedesmal  schnell  die  fruhere  Ldsung  abtaten  und  vergassen  und 
bei  der  neuen  nunmehr  zu  bleiben  gewiss  waren  I  Welches  wird  unser^ 
wirklich  letzte  Antwort  uber  den  Regenbogen  sein?  Jene,  bei  der  wir 
zu  frag  en  aufhdren. 

Ein  melancholischer  Prolog  fur  eine  Erdrterung  iiber  das  Was  und 
Warum,  uber  Wesen  und  Ursachen  der  Geschwulste!  Nun  batten  wir 
mtihsam  uns  eine  Anzahl  von  Vorstellungen  uber  das  Tatsachengebiet 
gemacht  und  hofften  fiber  das  Warum  ins  Reine  zu  kommen  —  und 
schon  tauchen,  wie  Banquo's  Nachkommen  im  Hexenspiegel,  die  Schatten 
kfinftiger  Fragen  und  Antworten  auf  und  weisen  spottend  auf  ibre 
eigene  Reihe  zugleich  und  auf  den  langen  Zug  der  veigangenen 
Untersucher  bin,  die  gerade  so  wie  wir  ^^fast  alles**  zu  kennen  glaubten 
und  „in  der  Hauptsache**  das  Richtige  gefunden  zu  haben  gewiss  waren  — 
wenn  sie  auch,  gerade  wie  wir,  bereitwillig  zugaben,  dass  im  einzelnen 
noch  viele  Lficken  auszufullen  sein  mdchten  I  In  der  Tat :  die  Geschichte 
der  Geschwulstlehren  weist  die  Spuren  dieses  allgemeinen  Verbingnisses 
menschlicher  Forschung  an  alien  Orten  auf  bis  zum  beutigen  Tag.  Da 
war  eine  Zeit,  in  der  es  selbstverstlndlich  erscbien,  dass  die  bdsen  Ge- 
wlchse  aus  einer  Verderbnis  der  Sdfte  hervorgingen  wie  die  meisten 
andem  Krankheiten,  und  nur  fiber  die  Art  und  Ursachen  dieser  schlechten 
Mischung  verschiedene  Meinung  moglich  war;  eine  andre,  in  der  sie 
aus  einer  besonderen  Entartung  lange  kranker,  entzfindeter  Kdrperteile 
entstanden  sein  mussten,  so  wie  andere  Zehrkrankheiten ;  da  waren 
Forscher,  welche  klar  bewiesen,  dass  die  ganzen  Geschwfilste  Eindring- 
linge,  Parasiten  seien,  die  auf  und  in  den  Kdrper  gelangt  waren  und 
ihn  anfrassen  und  sich  von  ihm  nahren  liessen.  Die  Beobacbtung,  dass 
in  manchen  Fallen  fast  alle  Organe  von  den  weissen  oder  roten  oder 
schwarzen  Knoten  durchsetzt  sein  konnten,  erwies  wieder  anscheinend  zur 
EvidenZy  dass  eine  schwere  Stoning  im  ganzen  Kdrper,  eine  eigenartige 
«Zersetzung^^  von  Siften  und  Geweben  da  sein  mfisse,  eine  „Geschwulst- 
diathese^'.  Langedauernde  und  bewundemswerte  Beobacbtung  ffihrte 
im  Anfang  des  10.  Jahrhunderts  den  grossen  franzdsischen  Patbologen 
Cruveilhier  zu  einer  Unterscheidung  der  f^organischen  Entartungen*  — 
als  solche  fasste  er  die  bdsartigen  Neubildungen  auf  —  in  barte,  krebsige 
und  davon  zu  unterscbeidende  gallertige  Degenerationen:  schon  6JiAre 
vor  seiner  letzten  Verdffentlichung  war  Virchows  Zellularpathologie  er- 
schienen,  deren  Auffassung  rasch  zur  Erkenntnis  von  der  Zusammengehdrig- 
keit  beider  Formen  ffihrte  und  in  alien  Punkten  eine  vollstandige  Um- 
wSlzung  erzeugte.  Die  angeblichen  Parasiten  wurden  jetzt  als  Gebilde 
aus  Zellen  des  eigenen  Korpers  erkannt;  an  Stelle  der  „schlechten  SIfte** 
und  Mischungen  traten  Erkrankungen,  Entartungen,Wucherungen  von  Zellen; 
VerschiedenheitenderZellarten  und  ihrerEigenschaften  gegeneinander  und 
gegenfiber  dem  Normalen  liessen  sich  als  Ursache  ffir  die  Differenzen 
in  Form  und  Verhalten  der  Geschwulstbildungen  erweisen;  andererseits 


209  8^ 


erlaubte  der  Vergleich  mit  den  Zellen  des  jeweiligen  Mutterbodens  so- 
wie  der  verschiedenen  Geschwulstzellarten  und  ihres  Aufbaus  unter- 
einander  doch  auch  wieder,  das  Zusammengehdrige  und  Gemeinsame  in 
alien  diesen  Knollen  und  Flatten,  Auswuchsen  und  Geschwuren  zu  er- 
kennen;  so  wurden  die  Einteilungen  der  bdsartigen  in  Karzinome  und  Sar- 
kome,  der  gutartigen  nach  den  verschiedenen  angefuhrten  Gewebeformen 
moglich,  und  gleichzeitig  wurde  fur  die  grosse  Zahl  der  gutartigen  Gewlchse 
erst  ihre  prinzipielle  Zugehdrigkeit  zu  der  gleichen  Gruppe  der  krank- 
haften  Gewebsbildungen  wie  die  Krebse  sicher  nachweisbar. 

Aber  dies  i  s  t  doch  nun  ein  endgtiltiger  und  entscheidender  Fort- 
schritt?  Ein  Programm,  das  nur  mehr  der  Ausffihrung  bedarf?  Ge- 
mach,  lieber  Leser.  Gewiss,  ein  unvergingliches  Fundament  ist  ge- 
schaffen  und  wird  nicht  vergehen:  aber  wissen  wir,  ob  es  ausreicht 
fur  diese  Fragen?  wissen  wir,  was  sich  darauf  schliesslich  erbauen 
wird?  Trotz  aller  VervoUkommnung  nnserer  Beobachtungsmittel  und 
-methoden  sind  unsere  Forschungsweisen  nicht  prinzipiell,  sondern  nur 
dem  Grade  der  Vervollkommnung  nach  verschieden  von  jenen,  wetche 
alien  friiheren  Zeiten  zur  Verfiigung  standen:  Beobachtung  ist  ihr  eines 
Element)  Urteil,  Deutung,  liickenfullende  Hypothese  und  zusammen- 
bindende  Theorie  noch  immer  das  andere.  Das  sicher  Gefiindene  freilicb 
bleibt  und  erweitert  sich  bloss  durch  neue  Funde:  die  Deutung  ist  ein 
ewig  wiederholter  Versuch,  die  neuen  und  alten  Wahmehmungen  in 
eins  zu  schweissen. 

Sehen  wir  zu,  wie  heme  die  Antworten  in  der  Geschwulstlehre  seit 
Virchow  sich  gestaltet  haben.  Es  versteht  sich,  dass  die  Untersuchung 
vom  zellpathologischen  Standpunkt  aus  in  der  Geschwulstlehre  eine  un- 
gemein  reiche  Emte  brachte.  Jede  Geschwulst  war  aufzulosen  in  Zellen 
und  wieder  nachzubauen  aus  solchen;  Wachstum,  Verdnderungen  der 
Geschwtilste  und  der  betroffenen  Organe,  Verwandtschaftsbeziehungen 
und  Uberglnge  waren  in  Zellfragen  umzuwandeln;  schliesslich  waren 
die  feinsten  noch  wahmehmbaren  Vorgange*  in  den  wuchemden  und  den 
geschSdigten  Zellen  zu  erforschen.  Kaum  iibersehbar  ist  die  JVlengedes 
herbeigeschaiften  Materials;  klar  und  sicher  lassen  sich  in  den  meisten 
Punkten  die  einzelnen  Geschwulstformen,  ihre  Zellcharaktere  und 
Strukturen,  ihr  Entstehen  und  Vergehen  beschreiben  und  unterscheiden 
von  denen  anderer  Geschwulste  und  der  normalen  Gewebe. 

Dies  sind  sichere  und  gewaltige  Fortschritte  von  bleibendem  Wert. 
Aber  all  diese  Funde  und  die  daran  gekniipften  Erdrterungen  haben  uns 
eines  nicht  gebracht,  was  man  vor  50  Jahren  als  eine  zwar  vielleicht 
feme,  aber  gewisse  Frucht  erwarten  durfte.  Die  Ursache  der  Ge- 
schwulstbildungen,  das  W  e  s  e  n  der  Geschwulste  als  lebendiger  Bildungen 
des  lebenden  Korpers  stehen  auch  heute  noch,  und  lebhafter  als  je,  iti 
Diskussion.  Statt  ei ner  soliden  Schulmeinung,  die  vielleicht  vor  hundeft 
Jahren  in  die  Hefte  diktiert  wurde,  existieren  heute  z  w  e  i  grundsStzlich 
entgegengesetzte  Hauptrichtnngen  in  der  Auffassung  der  Geschwulst- 
ursachen,  und  jede  hat  mehr  Unterabteilungen  als  vor  der  Ara  der  Zell- 
pathologie  uberhaupt  Meinungen  mdglich  waren.  Was  wird  die  nichste 


210 


Oder  ubernMchste  Generation  von  unserer  Auffassung  der  Geschwulste 
denken? 

Trotzdem  haben  wir  keinen  Grund,  mit  dem  Erreichten  unzufrieden 
zu  sein  oder  die  gegenwSrtige  Art  der  Forschung  fur  unrichtig  zu  balten. 
Es  gibt  nun  einmal  in  den  Landen  der  Wissenscbaft  keine  Expressziige 
mit  fester  Fabrzeit  zu  den  Endstationen.  In  der  praktiscben,  also  der 
fur  das  allgemeine  Wobl  ausscblaggebenden  Bedeutung  steben  die  auf 
Grund  der  zellularpatbologiscben  Auffassung  allein  ermoglicbte  fruhe 
und  sicbere  Unterscbeidung  gut-  und  bdsartiger  Gescbwulste  und  die 
bieraus  und  aus  der  Kenntnis  der  Wacbstumsart  und  Verbreitungswege 
gezogenen  Anforderungen  an  die  Bebandlung,  ein  Ergebnis  der  gemein- 
samen,  ergMnzenden  Arbeit  der  Cbirurgen  und  Patbologen,  weit  uber 
allem  Fruberen.  Und  in  tbeoretiscber  Hinsicbt  konnen  wir  rubig  darauf 
binweisen,  dass  es  gerade  die  Fiille  des  neu  und  sicber  Beobachteten  und 
die  ausserordentlicbe  Vertiefung  und  Vervieiniltigung  der  aufgeworfenen 
Fragen  ist^  die  einen  endgtiltigen  Abscbluss  unserer  Vorstellungen  zur- 
zeit  so  scbwer  erscbeinen  lassen.  Das  ist  auf  den  ersten  Blick  weniger 
befriedigend  als  die  scbeinbare  Klarbeit  alterer  Auffassungen ;  aber  es 
ist  bei  allem  Pessimismus  binsicbtlicb  der  »letzten  ErklMrung*',  ein  gewisser 
und  verbeissender  Fortscbritt.  Unsere  Erorterung  der  gegenwSrtigen  Auf- 
fassungen wirdy  so  kurz  sie  naturgemiss  ausfallen  muss,  dies  zeigen. 

Man  kann  jene  beiden  Hauptricbtungen  kurz  als  die  parasitSren 
und  die  z  e  1 1  u  1 M  r  e  n  Gescbwulsttbeorien  bezeicbnen.  Die  ersteren  ver- 
legen  die  Ursacbe  in  einen  kdrperfremden  Parasiten  nacb  Art  der 
Infektionserreger;die  andere  Ricbtung lebnt  die  Einreibung der  Ge- 
schwiilste  unter  die  infektiosen  Erkrankungen  ab  und  sucbt  die  wesentlicbe 
Ursacbe  in  der,  durcb  verscbiedenartige  aussere  Reize  oder  durcb  innere 
Ursacben  bedingten  Verdnderung  jener  Korperzellen,  welcbe  durcb 
ibre  Vermebrung  die  Gescbwulst  erzeugen.  Naturlicb  bestebt  uber  den 
Aufbau  der  Geschwulste  aus  Korperzellen  zwiscben  beiden  Anscbauungen 
vollkommene  Ubereinstimmung;  insoweit  sind  sie  beide  ^zellular".  Wir 
wenden  uns  zuerst  zu  der  Tbeorie  vom  parasitHren  Ursprung  der 
Gescbwulste. 

V. 

Die  Bakteriologie,  Robert  Kocb's  geniale  Scbopfung,  bat  in  der 
mediziniscben  Wissenscbaft  eine  ebenso  tiefgreifende  UmwSlzung  erzeugt 
wie  die  Vircbowscbe  Zellularpatbologie.  Wir  konnen  uns  die  Auffassung 
der  Krankbeiten  vor  dieser  ^neuen  Zeitrecbnung"  der  Medizin  kaum  mebr 
deutlicber  vorstellen  als  die  Astronomie  vor  Kopemikus  und  Newton,  die 
Pbysik  vor  Galilei,  die  Cbemie  vor  Lavoisier,  die  Pbysiologie  vor  Harvey 
Oder  Jobannes  MuUer.  ,,Hall6  un  nuevo  mundo":  wie  von  Columbus  kann 
man  von  Vircbow  und  Koch  sagen,  dass  jeder  von  ibnen  eine  neue 
Welt  fand  und  uns  scbenkte.  Fur  das  grosste  Gebiet  menscblicber  und 
tieriscber  Krankbeiten  gab  die  Entdeckung  der  Metboden  zum  sicberen 
Nacbweis   der   mikroskopiscben  Kleinwesen,  die  sie  erzeugen,  den 


-o^  211 


SchlQssel  zum  Verstlndnis.  So  uberwiltigend  war  der  Siegeslauf  der 
Bakteriologte,  dass  es  zeitweise  fast  scheinen  konnte,  als  ob  der  Begriff 
der  .iasseren  Krankheitsursache"  uberall  durch  den  eines  krankmachenden 
Bakteriums,  derjenige  der  Krankheit  durch  den  Begriff  der  Infektions- 
krankheit  inhaltlich  gedeckt  und  ersetzt  werden  wurde.  Wo  fruher, 
wie  vor  der  Tuberkulose,  der  Lungenentzundung,  den  eitrigen  Pro^essen 
usw.,  die  medizinische  Erkenntnis  mit  einem  oder  vielen  unklaren  Worten 
halt  machen  musste,  war  hier  die  Ursache  sichtbar,  erweisbar  ein- 
gesetzt;  ja,  die  gemeinsame  nachweisbare  Ursache  erlaubte  jetzt  erst  z.  B. 
die  vielgestaltigen  krankhaften  Korperprodukte  des  Tuberkelbazillus  oder 
der  Eitererreger  mit  Sicherheit  von  alien  anderen  zu  unterscheiden  und 
zusammenzustellen :  mit  der  neuen  Antwort  auf  das  ^Warum'*  Mnderte 
sich  auch  Gruppierung  und  Inhah,  das  »Was*  der  Krankheitsbilder,  tief- 
greifend  um. 

Es  versteht  sich  danach  von  selbst,  dass  nicht  bloss  fromme 
Wunsche,  sondem  emsthafte  Versuche  auftauchten,  auch  die  Geschwulst- 
lehre  in  eine  Dependenz  der  Bakteriologie  umzuwandeln.  Auch  ana- 
tomische  und  physiologische  Grunde  konnten  dafur  angefiihrt  werden. 
In  der  Tat  besteht  eine  Reihe  von  Ahnlichkeiten  zwischen  dem  Ver- 
balten  der  Geschwulste  und  gewisser  Erzengnisse  von  Krankheits- 
erregem.  ZunSchst  sitzen  auch  die  gutartigen  Tumoren  im  Korper, 
an  und  in  seinen  normalen  Bildnngen  wie  Parasiten.  Sie  zehren,  wie  wir 
sagten,  ohne  im  allgemeinen  etwas  zu  leisten,  sie  schldigen  hSufig;  und  in 
ihren  bdsartigen  Formen  zeigen  ihre  Zellen  ein  ganz  Mhnliches  Verhalten^  wie 
wir  es  von  den  meisten,  besonders  von  den  bosartigsten  der  parasitischen 
Kleinwesen  kennen.  Sie  dringen  zerstorend,  aufldsend  in  die  Gewebe 
ein  und  werden  mit  dem  Blut-  oder  Lymphstrom  ebenso  verschleppt 
und  an  anderen  Orten  angesiedelt,  wie  etwa  die  Eitererreger  bei  der  Eiter- 
vergiftung  des  Korpers  oder  wie  die  Tuberkelbazillen,  welche,  in  eine 
Blutader  durchgebrochen,  in  alien  Organen  des  Korpers  kleinste  Kndtchen 
hervorrufen.  Da  einzelne  Infektionskrankheiten,  beim  Menschen  ins- 
besondere  Syphilis  und  Tuberkulose,  richtige  geschwulstartige  umschriebene 
Knoten  mit  Gewebsneubildung  erzeugen  kdnnen,  so  erscheint  die  Ana- 
logie  auf  den  ersten  Blick  eine  schlagende. 

Gegenuber  einer  derartigen  Auffassung  ist  jedoch  sogleich  ein 
wichtiger  Unterschied  in  den  Verschleppungen  der  Tumoren  gegen- 
uber denjenigen  bei  infektidsen  Krankheiten  hervorzuheben.  Bei  diesen 
letzteren  sind  es  stets  die  betreffenden  Bakterien  selbst,  welche  ver- 
schleppt werden  und  durch  ihre  Vermehrung  an  der  neuen  Ansiedelungs- 
stelle  eine  mehr  oder  weniger  charakteristische  Reaktion  seitens  des 
Kdrpers  hervorbringen;  diese  Reaktion  kann  zu  Knotenbildungen  fuhren, 
so  dass  alsdann  diese  wiederum  ebenso  wie  die  Ausgangsknoten,  wenigstens 
in  den  Anfingen  ihrer  Entwicklung,  stets  zwei  Bestandteile  enthalten 
mussen:  die  verschleppten  und  vermehrten  Bakterien  und  die  vom 
K5rper  gelieferten  herangewanderten  oder  durch  Zellteilung  an  Ort  und 
Stelle  entstandenen  Zellen. 

Im  Gegensatz  dazu  werden  bei  den  malignen  Geschwtilsten  stets 


212 


die  betreffenden  charakteristischen  Geschwulstzellen  verschleppt  und 
sie  erzeugen  die  neue  Bildung.  Also  bei  einem  Krebs  der  Leber  um- 
gewandelte  Leberzellen»  bei  einem  solchen  der  Haut  die  Deckepithelien, 
bei  einem  Sarkom  die  jugendlichen  Bindegewebszellen;  und  in  der  Mehr- 
zahl  der  Fdlle  reprisentieren  auch  die  am  Orte  der  zweiten  Ansiedelung 
neu  entstandenen  Bildungen  wieder  den  besonderen  Charakter 
der  Ausgangsgeschwulst,  also  im  einen  Falle  drOsenschlauchartige 
Formationen,  im  andem  StrSnge  and  Ballen  verhomenden  Epithels, 
in  einem  dritten  vielleicht  spindelige  Zellen  jungen  Bindegewebes  mit 
neugebildeten  Knorpelstiickchen  vermengt,  als  Metastase  eines  Knorpel- 
Bindegewebs-Sarkoms.  Die  verschleppten  Zellen  haben  also  nicht  bloss 
die  Formen,  sondem  auch  wesentliche  physiologische  Eigenschaften 
ihrer  Mutterzellen  mitgebracht. 

Wenn  sonach  die  Analogie  mit  parasttdrengeschwulstartigen  Bildungen 
herangezogen  werden  soil,  so  bleiben  nur  zwei  Mdglichkeiten  ubrig.  Es 
kdnnten  die  betreffenden  Geschwulstzellen  selbst  als  die  Parasiten  an- 
gesehen  werden.  Das  wurde  aber  angesichts  der  angegebenen  Formen- 
kreise  der  Geschwulstzellen  ebensoviel  heissen,  als  dass  jeder  Art  von 
Korperzelle  ein  ihr  gleicher  oder  Shnlicher  von  aussen  hereingelangter 
zelliger  Parasit  entspreche.  Diese  Annahme  ist  absurd;  trotzdem  steht 
sie  in  den  Annalen  der  Krebsparasitenforschung  eingetragen.  Die  andere 
Mdglichkeit  wire  die,  dass  die  Geschwulstzellen  selbst  ihren  Parasiten 
mit  sich  oder  in  sich  forttrugen.  Eine  Analogie  zu  diesem  Gedanken 
stellt  z.  B.  die  nicht  seltene  Verschleppung  von  Bakterien  durch 
weisse  Blutkdrperchen  dar,  welche  dieselben  in  sich  aufgenommen, 
aber  nicht  abzutdten  vermocht  haben,  und  nun  gerade  dadurch  ihre 
Weiterbefdrderung  nach  anderen  Stellen  ermoglichen.  Diese  zweite 
Mdglichkeit  werden  wir  nachher  besprechen. 

Vorher  muss  noch  ein  im  letzten  Abschnitte  schon  gestreifter 
Unterschied  nachdrucklich  betont  werden.  Alle  sogenannten  infektidsen 
Geschwulste,  —  beim  Menschen  also  vor  allem  jene  der  Tuberkulose 
und  der  Syphilis  —  sind  nach  einem  und  demselben  nur  geringgradig 
variierenden  Schema  gebaut.  Die  vom  Korper  gelieferten  zelligen  Be- 
standteile  der  Bildung  bestehen  immer,  abgesehen  von  untergehenden 
Zellen  und  zufllligen  Bestandteilen,  aus  herangewanderten  farblosen 
Blutzellen  und  aus  mehr  oder  weniger  gewucherten  Zellen  des  Binde- 
gewebes, der  Saftspalten,  eventuell  der  GefSsse;  die  anderen  etwa  be- 
troffenen  Zellarten  (z.  B.  Epithelien)  gehen  nicht  in  die  ^Neubildung* 
ein.  Diese  letztere  zeigt  dementsprechend  trotz  mancher  Abwechslung 
im  einzelnen  ein  in  der  Hauptsache  recht  einformiges  und  einfaches 
Geprlge:  Knotchen  von  meist  nicht  betrichtlicher  Grdsse,  in  denen  der 
Infektionserreger  sich  in  Gesellschaft  von  mehr  oder  weniger  reich- 
lichen  gegen  ihn  mobilisierten  weissen  Blutzellen,  gewucherten  Saft-^ 
spalten-  und  Bindegewebszellen  befindet.  —  Dies  Schema  trifft  man 
nun  bei  Geschwulstverschleppungen  hochstens,  insoweit  gleichzeitig 
eine  Kombination  mit  Entziindung  vorhanden  ist.  Das  Wesentliche 
bei  alien  echten  Neubildungen  ist  die  Wiederkehr  mehr  oder  weniger 


213 


charakteristischer  und  komplizierter,  aus  den  jeweiligen  verschleppten 
Geschwulstzellen  zusammengesetzter  Gebilde,  sowohl  an  der  Ursprungs- 
stelle,  als  eventuell  an  den  Orten  der  Metastasen.  Endlich  ist  noch  zu 
betonen,  dass  zwar  am  Orte  der  Geschwulstmetastase  ebenso  wie  in 
neuen  Infektionsknoten  Stutzgewebe  (z.  B.  fur  Krebse)  und  GeRsse 
neugebildet  werden  kdnnen:  aber  nur  bei  den  Geschwulsten  dienen 
sie  zur  Emfthrung  und  zum  Aufbau  des  Eindringlings,  der  sie  zur 
Frone  zwingt;  bei  den  infektidsen  Neubildungen  dienen  neugebildete 
Gefisse  wie  Bindegewebe  nur  der  Abwehr  und  Absperrung  des  feind- 
lichen  Ankommlings. 

Diese  Unterschiede  weisen  schon  darauf  bin,  dass  eine  einfache 
Analogie  mit  den  parasitiren  geschwulstartigen  Bildungen  nicht  zulMssig 
ist  Immerbin  kdnnte  man  unter  gewissen  Voraussetzungen  daran  denken, 
diese  Eigentumlichkeiten  doch  mit  einer  parasitiren  Entstehung  der 
Geschwulste  vereinbar  zu  machen.  Es  konnte  z.  B.  die  Moglichkeit 
in  betracht  gezogen  werden,  dass  der  betreffende  Parasit  abweicbend 
yon  den  gewohnlichen  Infektionserregern  an  der  Stelle  seines  Ein- 
dringens  in  alien  Arten  von  Organzellen  eine  tiefgreifende  Ver- 
Inderung  derart  bervorbringen  konne,  dass  sie  fortan  zum  intensivem 
Wachstum  und  tur  Vermehrung  angeregt  werden.  Eine  derartige 
Annahme  einer  tiefgreifenden  ,Umstimmung  der  Zellen"*  wSre  nichts 
Unerhdrtes.  Wir  wissen,  dass  z.  B.  durch  chemische  Reize  — 
solche  gehen  ja  auch  von  Bakterien  aus  —  Wucherung  von  Zellen 
hervorgebracht  werden  kann;  und  in  letzter  Zeit  haben  Versucbe 
ergeben,  dass  sogar  die  ersten  Teilungen  der  Eier  von  Seeigeln, 
anstatt  durch  BePruchtung  mittels  des  eingedrungenen  Samenkdrperchens 
durch  einfache  Konzentrationsdnderung  des  Meerwassers  hervorgebracht 
werden  kdnnen;  ebenso,  dass  der  durch  entsprechende  Filter  hindurch- 
gepresste  Saft  von  Samenzellen  genugt,  um  die  ersten  Entwicklungs- 
vorglnge  des  Seeigeleis  hervorzubringen.  Auch  die  eigenartigen  Gallon- 
bildungen  der  Pflanzen  stellen  komplizierte  Gehduse  dar,  welche  der 
Parasit  (z.  B.  die  Stechmuckenlarve)  sich  von  der  Pflanze  bauen  ISsst, 
ofTenbar  durch  Abscheidung  bestimmter  wucherungserregender  Stoffe. 
Man  kann  demgemass  sehr  wohl  sich  vorstellen,  dass  ein  derartiger 
Parasit,  etwa  durch  ein  von  ihm  produziertes  Ferment,  den  Teilungsreiz 
fur  die  erste  Geschwulstzelle  lieferte,  und  dass  daran  allein  eine  grossere 
Reihe,  oder,  bei  tiefgreifender  Umstimmung  der  Zelle,  eine  kaum  be- 
grenzte  Folge  von  Teilungen  sich  notwendigerweise  anschlosse,  Ihnlich 
wie  die  Vereinigung  von  Samen-  und  Eizelle  zum  Aufbau  des  ganzeq 
Oi^nismus  durch  fortgesetzte  Zellteilung  ftihrt. 

Nachdem  die  Zellen  bosartiger  Geschwiilste  auch  nach  der  Ver- 
schleppung  sich  weiter  vermehren,  muss  noch  an  eine  zweite  Moglichkeit 
gedacht  werden:  ein  derartiger  Parasit  konnte  dauemd  an  oder  in  der 
Zelle  schmarotzen,  sich  selbst  mit  ihr  vermehren  und  auf  ihre  Nach- 
kommen  mit  iibertragen  werden.  Damit  wire  naturlich  die  einfachste 
JErklMrung  fur  die  fortdauemde  Teilungswut  der  Zellen  bosartiger  Tumoren 
^geben.    Auch  hier  haben  wir  Analogien.    Man  weiss,  dass  z.  B.  bei 


214 


der  Pebrine-Krankheit  der  Seidenraupe  der  Parasit  mit  dem  Ei  sscb 
entwickelt  und  dementsprechend  in  dem  fertigen  Organismns  enthalten 
ist;  ebenso  ist  es  nicht  unmdglich,  dass  der  Tuberkuloseerreger  oder 
das  noch  unbekannte  Gift  der  Syphilis  l)ereits  von  den  ersten  Ent- 
wicklungsstadien  an  im  Embryo  enthalten  sein  kann  und  in  und  mit 
dessen  Zellen  sich  weiter  zu  entwickeln  vermag. 

Mit  den  angefuhrten  anatomischen  Grunden  lasst  sich  also  etwas 
Entscheidendes  weder  fur  noch  gegen  die  Parasitentheorie  der  Ge- 
schwiilste  ableiten.  Der  Leser  wird  daraus,  dass  ich  sie  uberhaupt  so 
ausfuhrlich  diskutiere,  schon  den  Schluss  gezogen  haben,  dass  der  ein- 
fachste  und  unwiderlegliche  ^anatomische**  Beweis,  der  Nachweis  eines 
sichtbaren  Infektionserregers,  bisher  wenigstens,  nicht  gegluckt  ist 
Und  dies  trotz  einer  enormen  Summe  von  Arbeit,  die  gerade  dieser  Aufgabe 
zugewandt  wurde.  Biszumjahre  1001  waren,  die  ausserdeutschen  ein- 
gerechnet,  schon  ca.  4500  Schriften  tiber  Krebs  erschienen,  von  denen 
ein  grosser  Teil  sich  mit  der  Parasitenfrage  beschSf dgte ;  seitdem  ist 
die  Produktion  von  Gedanken  und  Parasiten  munter  weiter  gegangen. 
Alle  Klassen  von  Kleinwesen,  die  je  parasitenfahig  erschienen  waren, 
und  viel  andere  Dinge,  sind  schon  Krebserreger  gewesen. 

Ich  muss  hier  einschalten,  dass  die  Frage  der  Geschwulstparasiten 
im  wesentlichen  als  Frage  nach  dem  Erreger  des  Krebses,  weniger  schon 
des  SarkomSy  behandelt  wurde ;  dass  wir  also  im  ndchstfolgenden  wesent^ 
lich,  so  wie  es  der  Laie  pflegt,  nur  nach  dem  ^Krebsbazillus''  und  seinen 
Kollegen  fragen.  Wir  werden  spater  sehen,  dass  diese  einseitige  Frage- 
stellung  eine  Hauptquelle  von  Irrtiimem  geworden  ist. 

Der  Stammvater  der  Krebsparasiten  ist  nattirlich  wirklich  ein  Krebs- 
bazillus.  Sein  Grab  liegt  in  einem  dunklen  Fache  der  Krebsbibliothek.  Eine 
ganze  Legion  von  Parasiten  tauchte  seitdem  auf  und  verschwand  wieder; 
einige  wenige  hielten  sich  bis  heute  und  bevolkem  —  die  Schriften,  die  fur 
und  gegen  sie  geschrieben  werden.  Da  bei  den  Infektions-Geschwulsten, 
wie  gesagt,  das  Epithel  nicht  am  Aufbau  sich  beteiligt,  wMhrend  es  bei  den 
Krebsen  dominiert,  lag  es  nahe,  nach  besonderen  Epithelschmarotzem  zu 
fahnden.  Solche  existieren  nun  unter  einzelnen  Klassen  der  sog.  Ur- 
tierchen  (Protozoen)  und  Urpfignzchen  (Protophyten)  und  bewirken  be- 
stimmte  Erkrankungen  auch  bei  Saugetieren.  Nur  erzeugen  diese 
Lebewesen,  wie  wir  jetzt  wissen,  nirgends  Krebse,  und  flnden  sich 
nirgends  in  Krebsen.  Trotzdem  war  es  natiirlich  berechtigt  und  ge- 
boten,  sie  eingehend  zu  studieren;  umsomehr,  als  seit  dem  Jahre  1888 
Jahr  um  Jahr  in  Zellen  von  Krebsen  Einschlusse  beschrieben  wurden,  die 
gewisse  Ahnlichkeiten  mit  jenen  Protozoen  hatten  und  als  solche  erklirt 
wurden.  Es  bedurfte  eines  umfassenden  Studiums  der  in  Krebs-  und 
anderen  Zellen  vorkommenden  Einschlusse,  um  diese  Krebsparasiten 
Stuck  fiir  Stuck  als  Entartungs-  oder  zuflllig  aufgenommene  Gebilde 
(gefressene  weisse  und  rote  Blutkorperchen  usw.)  zu  erweisen.  Die 
Totung  von  neu  aufgestellten  Krebsparasiten  war  eine  zeitlang  eine 
amusante  Beschaftigung  pathologischer  Anatomen.  In  Sarkomen  wurden 
ferner  einigemale  Hefezellen  gefunden,  aus  ihnen  geziichtet  und  auf  Tiere 


215  8^ 


tragen.  Es  wuchsen  Geschwulste,  die  zuerst  ftir  wirkliche  Sarkome  gt^ 
halten  wurden,  sich  nachher  aber  als  Infektionsgeschwulste  erwiesen; 
Auch  diese  Arbeiten  waren  nicht  umsonst ;  sie  brachten  die  ersten  Kennt- 
nisse  von  pathologischen  Neubildungen  am  Menschen  durch  Hefepilze; 
aber  sie  lieferten  keinen  Sarkomparasiten.  Der  Parasit  einer  Pflanzenkrank- 
keit,  des  sog.  Kohlkropfs,  gleichfalls  ein  Protozoon,  wurde  noch  in  jungster 
Zeit  als  Krebserreger  proklamiert,  ihm  zur  Seite  eine  Chytridiacee,  ein  algen- 
Ihnlicber  Pilz.  Ihnen  abnliche  Gebilde  flnden  sich,  obwohl  nicht  hMufig, 
in  Krebsen,  lassen  sich  aber  gleichfalls  hier  als  Entartungsprodukte 
erkennen.    Einen  Krebs  damit  zu  erzeugen,  ist  noch  niemand  gelungen. 

Es  wSre  sehr  beruhigend,  wenn  diese  Zuriickweisung  der  bisher 
prisentierten  Krebsparasiten  die  Parasitentheorie  abzulehnen  erlaubte. 
Aber  dies  ist,  wie  unsere  vorhergehenden  Erwdgungen  zeigten,  damit 
noch  durchaus  nicht  der  Fall.  Soviel  zwar  lasst  sich  heute  schon  sicher 
sagen,  dass  von  den  bisher  vorgefuhrten  relativ  grossen  und  Shnlichen 
Zellschmarotzern  keiner  der  Krebsparasit  ist;  bei  unserer  jetzigen 
genauen  Kenntnis  der  Zellstrukturen  und  ihrer  pathologischen  Ab- 
weichungen  konnte  uns  ein  solch  grober  Eindringling,  wenn  er  einiger- 
massen  hiufig  in  den  befallenen  Zellen  vorhanden  wire,  gar  nicht 
entgehen.  Aber  wie,  wenn  der  Parasit  kl einer  ware  als  unsere  kleinsten 
Infektionserreger  und  Zellkdmchen  ?  oder  wenn  er  in  unseren  durchweg 
mit  FiLrbung  behandelten  Zellpraparaten  sich  nicht  firben  Hesse?  Vor 
der  spezifischen  Firbung,  welche  Koch  ftir  den  Tuberkelbazillus  angab, 
war  es  unmdglich,  die  Zellverinderungen,  die  er  erzeugte,  auf  ihn  zu 
beziehen:  die  schlanken  StSbchen  unterschieden  sich  nicht  vom  ubrigen 
Zellinhalt.  So  wire  es  denkbar,  dass  es  vielleicht  nur  einer  spezifischen 
Firbung  der  auch  unseren  feinsten  Zelluntersuchungsmethoden  ent- 
gehenden  Erreger  bedurfe,  um  vielleicht  in  alien  Krebsen  diese  Gebilde 
wahmehmbar  zu  machen.  Mit  Hilfe  bestimmter  Flrbemethoden  sind 
nun  auch  in  manchen  Krebsen  eigenartige  kleine  rundliche  Korperchen 
gefunden  worden,  die  bei  den  gewohnlichen  Untersuchungen  der 
Beobachtung  entgehen.  Indessen  ist  auch  fur  diese  der  Erweis  als 
misslungen  anzusehen,  dass  sie  wirklich  Krebserreger  sind,  denn  sie 
finden  sich  nur  in  vereinzelten  Krebsen  und  regelmdssig  unter  Be- 
dingungen,  welche  ihre  Entstehung  durch  Zellentartung  so  gut  wie 
sicher  machen. 

Noch  schwieriger  ist  die  andere  Mdglichkeit  auszuschliessen.  Wir 
kennen  heute  eine  ganze  Reihe  von  Infektionskrankheiten,  deren  Erreger 
so  klein  sind,  dass  sie  mit  unseren  mikroskopischen  Hilfsmitteln  nicht 
wahmehmbar  sind;  dieselben  lassen  sich  z.  B.  dadurch  nachweisen, 
dass  man  die  betreffenden  SMfte  durch  feinste,  fiir  andere  Bakterien 
nicht  mehr  durchglngige  Porzellanfilter  treibt  und  mit  dem  Filtrat  die  ent- 
sprechenden  Krankheiten  auf  Versuchstiere  und  von  diesen  auf  weitere 
Tiere  iibertrMgt.  Damit  ist  erwiesen,  dass  der  betreffende  Infektions- 
erreger die  Poren  des  Filters  passiert  hat,  und  in  den  Versuchs- 
tieren  nach  Art  der  lebenden  Krankheitserreger  sich  zu  vermehren 
vermocht  hat.    Derartiges  ist  u.  a.  fur  die  Lungenseuche  des  Rindes 


216 


nachgewiesen  worden,  deren  Erreger  eben  noch  an  der  Grenze  der 
mikroskopischen  Sichtbarkeit  stehen,  fur  eine  bestimmte  Geflugelseuche, 
fur  das  Gift  der  Maul-  and  Klauenseuche  u.  a. 

Unter  derartigen  Umstdnden  wSre  es  wohl  denkbar,  dass  ein 
ultramtkroskopischer  Organismus,  der  naturlich  von  den  feinen  Komchen 
der  Zelle  sich  in  keiner  Weise  unterscheiden  liesse,  in  die  Tumor- 
zellen  einbriche,  in  ihnen  sich  vermehrte,  mit  ihnen  wanderte  usw, 
Aus  dem  Misslingen  des  empirischen  Nachweises  IMsst  sich  demgemSss 
kein  prinzipielles  Argument  gegen  die  parasitdre  Theorie  Schmieden; 
wir  miissen  auf  andere  Weise  ins  Klare  kommen  oder  die  Frage  vorlaufig 
stehen  lassen.  Hdren  wir  also  zunichst  noch  welter,  was  fur,  was  gegen 
den  .Krebsparasiten''  angeftihrt  werden  kann.  Der  Vereinfachung  halber 
werde  ich  diese  Grunde  derart  anfuhren,  dass  ich  ftir  jeden  sogleich  an- 
gebe,  warum  er  nichts  fur  die  parasitMre  Theorie  beweist  —  denn  dies 
trifft  fur  jeden  derselben  zu  — ;  im  Anschlusse  daran  werden  wir  prufen, 
ob  die  Annahme  eines  Krebsparasiten  wirklich  ndtig,  ob  sie  uberhaupt 
brauchbar  ist,  oder  ob  wir  uns  nach  anderen  ErklMrungen  umzusehen  haben. 

Wenn  fur  irgend  eine  Infektionskrankheit  ein  mikroskopisches 
Lebewesen  als  Erreger  erwiesen  werden  soil,  so  verlangen  wir  hierzu 
die  Erfullung  von  drei  Forderungen:  dass  es  stets  bei  der  betreffenden 
Erkrankung  gefunden  werde;  dass  es  durch  kunstliche  Zuchtung  auf 
geeigneten  Nihrboden  rein,  d.  h.  frei  von  Beimischung  anderer  Bakterien 
und  von  Bestandteilen  des  kranken  Kdrpers,  erhalten  werde;  dass  es 
drittens  gelijige,  nicht  bloss  durch  Ubertragung  erkrankter  Organteile, 
sondern  auch  durch  Einimpfung  der  so  erhaltenen  ^Reinkulturen* 
die  Erkrankung  bei  geeigneten  Versuchstieren  wieder  tn  erzeugen. 
Fur  die  Mehrzahl  der  bekannten  Infektionskrankheiten  ist  dieser  Nach- 
weis  vollstMndig  oder  fast  voUstindig  erbracht.  Naturlich  gewShrt  es  aber 
fiir  die  Auffassung  einer  Erkrankung  als  Infektionskrankheit  schon  eine 
ganz  wesentliche  Stutze,  wenn  nur  eins  der  drei  obigen  Postulate  ganz 
•Oder  in  wesentlichen  Teilen  erfullt  ist.  Wenn  man  bisher  den  Krebs- 
erreger  weder  hat  zeigen  noch  auf  irgend  einem  unserer  kunstlichen  Bak- 
lerienndhrbdden  ziichten  konnen,  so  mag  das  beides  am  Ende  auf  tech- 
nischen  Schwierigkeiten  beruhen ;  es  wMre  ja  gar  wohl  denkbar,  dass  er 
4ils  subtiler  Gourmand  nur  innerhalb  lebender  Zellen,  und  da  nur  in 
bestimmten  zu  leben  vermochte  und  bei  der  Herausnahme  aus  seinen 
Wirten  oder  nach  deren  Zerstorung  zugrunde  ginge.  Wir  wurden  also 
nach  dem  obigen  Schema  den  Krebs  trotzdem  mit  Wahrscheinlichkeit 
lur  eine  Infektionskrankheit  halten  mussen,  wenn  auch  nur  seine  Uber- 
tragung durch  krebsige  Gewebsteile  —  in  denen  der  Parasit  als  in 
«inem  «lebenden  NShrboden*  stUke  —  moglich  wire.  Wie  steht  es 
damit?  Gibt  es  eine  naturliche  oder  kunstliche  Ansteckung  durch  Krebs? 

Die  Antwort  .lautet  scheinbar  paradox.  Es  gelingt  unter  gewissen 
Umstinden,  Krebse  durch  Ubertragung  von  krebsigem  Gewebe  zu  uber- 
tragen:  trotzdem  beweist  diese  Uberpflanzung  nicht  das  mindeste  fur 
die  Ansteckungsfihigkeit  und  parasitare  Entstehung  des  Krebses.  Der 
Grund  liegt,  wie  sich  gleich  zeigen  wird,  darin,  dass  unsere  Reihe  der 


217  8^ 


Fragen  und  FordeniDgen  zu  eng  war;  das  klassische  Schema  fur  den 
Nachweis  der  Erreger  von  Infektionskrankheiten  reicht  hier  nicht  zu. 

Von  Ratten  auf  Ratten,  von  MSusen  auf  Mduse  sind  wiederholt 
Krebse,  die  zufSllig  bei  einem  Exemplar  der  betreCPenden  Tlerart  ge* 
funden  wurden,  mit  Erfolg  uberpflanzt  worden.  Es  bildeten  sich  neue 
Geschwulste,  deren  Obertragung  wieder  gelang.  Ja,  es  ist  vor  einiger 
Zett  von  Jensen  sogar  der  Nachweis  erbracht  worden,  dass  man  Shnlich 
wie  gegen  Bakterien  durch  Verimpfung  der  Zellen  eines  solchen  Mause- 
krebses  auf  K^inchen  von  diesen  ein  Serum  gewinnen  kann,  dessen 
Einimpfung  bei  den  mit  dem  Krebs  ^infizierten''  Miusen  die  Geschwtilste 
zum  Schwunde  bringt  —  also  geradeso,  wie  wenn  man  zur  BekMmpfung 
einer  Tierseuche  ein  gegen  die  betreffende  Bakterienart  wirksames  Serum 
einimpft!  Und  doch  soil  der  Krebs  keine  Infektionskrankheit  sein?  In 
der  Tat:  diese  beiden  Feststellungen,  .so  fundamental  sie  sind,  beweisen 
nichts  fur  unsere  Frage. 

Die  Ubertragung  und  das  weitere  Wachsen  der  Geschwulstteile  erweist 
nlmlichnur,  dass  die  Zellen  des  betreffenden  Krebses  bei  der  gleichen 
Tierart  zunichst  einheilten:  das  vermag  aber  auch  normales  Epithel, 
^ie  die  oft  gemachten  Oberpflanzungen  von  Haut  dartun;  dass  sie  sich 
weiterhin  entsprechend  ihrer  gesteigerten  Wachstumstendenz  auf  dem 
neuen  Tier  wie  an  dem  urspriinglichen  Wachstumsort,  oder  wie  in  irgend 
einer  Organmetastase  des  ersten  Wirtes  vermehren  konnen:  das  war 
jedoch  wieder  eigentlich  vorauszusehen,  wenn  die  Einheilung  uberhaupt 
gelang  und  das  zweite  Tier,  das  ja  der  gleichen  Art  angehdrte,  nicht 
besondere  Schutzeinrichtungen  besass  oder  entwickelte.  Aber  das 
Krebsserum  ?  Vor  ein  paar  Jahren  wiirde  dieser  Fund  wohl  noch  als 
ein  Beweis  fiir  eine  parasitSre  Entstehung  gelten  haben  mussen,  Heute 
hat  sich  der  Kreis  der  uns  bekannten  Tatsachen  schon  wieder  um  so- 
viel  erweitert  als  notig  ist,  um  die  Wirksamkeit  eines  solchen  Serums 
anders,  allgemeiner  zu  deuten.  Denn  wir  wissen  jetzt,  dass  der  Kdrper 
^egen  alle  mdgltchen  Zellen  der  eigenen  wie  fremder  Art,  die  ihm 
kiinstHch  einverieibt  und  von  ihm  zerstdrt  werden,  in  seiner  Blut- 
flussigkeit  StofTe  bildet,  welche  die  wunderbare  Eigenschaft  besitzen, 
gerade  die  betreffende  Zellart,  und  nur  diese,  aufzuldsen.  Die  Bakterien- 
zerstorung  durch  das  Serum  von  Tieren,  welche  durch  eine  leichte  In- 
fektion  «immun*  geworden  sind,  ist  sonach  nur  ein  besonderer  Fall 
eines  anscheinend  sehr  allgemeinen  Gesetzes;  gegen  einverleibte  rote 
Blutkdrperchen,  gegen  Leber-,  Nieren-,  Samenzellen  usw.  werden  gleicb- 
falls  spezifische,  je  die  betreffende  Zellart  aufldsende  «Zellgifte*  gebildet; 
und  so  fein  ist  diese  Reaktion,  dass  man  z.  B.  im  Kaninchenserum 
durch  wiederholte  solche  Einverleibung  von  Blut  etwa  der  Ziege,  des 
Rinds,  des  Meerschweinchens  Stoffe  erhalten  kann,  die  nur  gerade  die 
Blutkdrperchen  der  Ziege,  des  Rinds,  des  Meerschweinchens  auflosen. 
Wenn  es  also  nicht  eins  der  seltsamsten  Wunder  des  Organismus  wire, 
dass  er  so  auf  alle  mdglichen  fremden  Zellen  mit  ganz  besonderen 
ehemischen  Schutzeinrichtungen  zu  reagieren  vermag,  so  mdchte  man 
fragen:  was  Wunder,  wenn  ein  Kaninchen  nach  Vorbehandlung  mit 

Saddeutsche  Monttshcfke.  1, 3.  15 


218  S*^ 


MSusekrebszellen  ein  diese  zerstdrendes  Serum  erzeugt?  Es  wurde  das 
gleiche  ja  auch  gegenuber  MSuseblutkorperchen  oder  -leberzellen  tunt 
In  dieser  Herstellung  eines  speziflschen  Serums  gegen  Krebszellen  liegt 
also  zwar  eine  unserer  grdssteu  HofTnungen  fur  eine  kunftige  unblutige 
Krebsbehandlung  —  aber  fur  die  Entstehung  des  Krebses  durcb  einen 
Susseren  Parasiten  beweist  es  nicbts. 

Es  ist  femer  noch  hervorzuheben,  daiss  auch  bei  diesen  Krebs- 
ubertraguDgen  stets  die  Geschwulstzellen  selbst  es  sind,  welche  weiter 
wuchem,  welche  das  Bindegewebe  und  die  Gefisse  des  neuen  Wirtes- 
sich  wieder  dienstbar  machen ;  so  wenig  wie  bei  den  Metastasenbildungen 
im  Kdrper  des  Krebskranken  werden  etwa  die  anstossenden  Epithelzellen 
des  neuen  Wirts  zur  bdsartigen  Wucherung  gebracht.  Wie  sollte  sich 
dies  mit  der  Annahme  eines  Epithelzellschmarotzers  reimen?  Derselbe 
musste  nicht  bloss  als  ein  ausschli6sslich  in  Zellen  wachsender  Parasit  an-" 
gesehen  werden,  wie  wir  oben  annahmen:  er  musste  mit  seiner  besonderen 
Wirtszelle  so  innig  verbunden  sein,  dass  er  nicht  einmal  auf  andere 
Zellen  uberginge;  er  musste  so  fest  in  ihr  haften  wie  —  irgend  ein 
wesentlicher  Zellbestandteil.  Gleich  einem  wichtigen  »ZeIlorgan*  auch 
wiirde  er  sogar  bei  der  Teilung  der  Zelle  sorgfUltig  in  jede  der  beiden 
Tochterzellen,  die  ja  weiterwuchem,  tibemommen.  So  fuhrt  uns  gerade 
die  eingehendere  Prufung  der  scheinbar  fiir  die  Parasitentheorie  am 
meisten  sprechenden  Grunde  wieder  auf  ein  Irgendetwas  in  der  Zelle 
selbst  als  wesentliche  Ursache  ihrer  «Entartung*  zuruck.  Wir  ndhem 
uns  mit  Notwendigkeit  den  ^zellularen  Theorien  der  Krebsentstehung*. 

Ein  paar  andere  Argumente,  die  man  oft  noch  hdrt,  schliessen  sich 
hier  an.  Es  soil  Krebsgegenden,  z.  B.  ^Krebsdorfer*,  Krebshauser  geben; 
von  cancer  &  deux,  also  Ansteckung  z.  B.  zwischen  Ehegatten,  oder  Eltem 
und  Kindem,  wird  gesprochen.  Mit  den  wenigen  Beispielen,  die  hier- 
fur  angefuhrt  werden,  ist  indes  nichts  anzufangen:  sie  miissten  viel 
hiufiger  sein,  um  nur  einige  Beweiskraft  zu  gewinnen.  In  ihrer  Selten- 
heit  beweisen  sie  eher  fiirs  Gegenteil:  denn  weshalb  sollte  z.  B.  neben 
den  unendlich  zahlreichen  Fallen,  in  denen  nur  ein  Ehegatte  erkrankt, 
nicht  auch  einmal  der  Zufall  beide  an  Krebs  erkranken  lassen?  Femer 
kann,  solange  iiber  die  Wirksamkeit  von  nichtparasitlren  SchSdigungen 
z.  B.  in  Nahrung,  Wohnung,  oder  fiber  die  Bedeutung  der  Vererbung^ 
fiir  den  Krebs  nichts  Genaueres  bekannt  ist,  mit  solch  allgemeinen  Fest-^ 
stellungen,  wie  derjenigen  des  gehfluften  Vorkommens  von  Krebs  an 
einzelnen  Orten,  auf  bestimmten  Bodenarten,  in  diesem  und  jenem 
Hause  fur  die  Sache  des  Krebsparasiten  gar  nichts  gewonnen  werden. 
Auf  einzelnes  kann  und  brauche  ich  hier  wohl  nicht  mehr  einzugehen* 
Es  versteht  sich  nunmehr  auch  wohl  von  selbst,  dass  die  Hlufigkeit 
von  Krebsen  an  Stellen,  die  besonders  Susseren  Schddlichkeiten  unter- 
liegen,  nichts  fur  die  parasitSre  Entstehung  beweist.  Wenn  z.  B.  bei 
Schomsteinfegem  und  Paraffinarbeitem  die  Haut-,  bei  Pfeifenrauchem 


*)  Das  Wort  ist  hier  stets  nur  im  Sinne  der  Obertragung  von  Eltem  auf 
Nachkommen  gebraucht,  nicht  im  Sinne  von  Ansteckung. 


219 


die  Lippenkrebse  relativ  hSufig  sind,  bei  Minnern  die  Krebse  des  bei  ihnen 
80  hflafig  erkrankten  Magendarmkanals,  beim  Weibe  jene  der  Geschlechts- 
organe  weitaas  iiberwiegeii,  wenn  in  den  einzelnen  Organen  gewisse 
One  am  stflrksten  betroffen  werden,  die  SchSdigungen  in  hervorragender 
Weise  ansgesetzt  sind,  z.  B.  die  Seitenrftnder  der  Zunge,  die  den  Zihnen 
anliegen,  die  Schlund-  und  Pfdrtnerdffnang  des  Magens,  die  unbedeckten 
Teile  der  Haut  usw.,  so  ist  es  fur  all  diese  Ffllle  leicht,  mechanische, 
chemische  and  andere  lang  einwirkende  Schfldlichkeiten  nachzuweisen, 
darch  welcbe  allein  eventuell  eine  Entartang  der  Zellen  ebensogut  er- 
klflrt  werden  kann,  wie  durch  Hinznfugnng  eines  in  die  gescbadigten 
Zellen  eingedrungenen  Parasiten.  Von  diesen  Schldigungen  and  ihrer 
Bedeatung  wird  im  nflchsten  Kapitel  nochmal  die  Rede  sein  mussen. 

Man  hat  endlich  auch  die  angebliche  Zunahme  des  Krebses 
aaf  Infektion  bezieben  wollen.  Der  erbdhte  Verbrauch  von  rohem  Ge- 
mlise  and  Obst  and  die  Obertragung  daran  haftender  Parasiten  sollten 
schald  sein;  nach  anderen  wSre  es  die  langsam  fortschleichende 
Obertragang  von  Mensch  zu  Mensch,  die  flhnlich  wie  bei  der  Tuber- 
kulose  den  Bnstem  Oast  allmflblich  sich  ausbreiten  and  mehr  und  mebr 
Fuss  fassen  liesse. 

Indessen  sind  vor  allem  Beweise  fur  eine  sichere  Zunahme  des 
Krebses  nicht  erbracht;  denn  die  wirklich  beobachtete  absolute  Vermehrung 
der  Zahl  von  Krebskranken  in  Krankenhflusem  und  bei  Sektionen  ist  mit 
grosster  Wabrscbeinlichkeit  aufdiebSufigere  Diagnose  derErkrankunggegen- 
iiber  friiher  zuriickzufuhren.  Speziell  die  Sektionen  sind  es,  die  in  einer 
grossen  Anzahl  von  FMllen  den  Nachweis  erbringen,  dass  ein  verstecktes 
Carcinom  die  Todesursache  war,  wo  fruher  vielleicht  auf  dem  Totenschein 
Herztod,  Altersschwflche  oder  ihnliches  stand.  Ausserdem  leiden  aber 
derartige  statistische  Feststellungen  an  den  allergrdssten  Schwierigkeiten. 
An  Orten,  wo  eine  einigermassen  einwandfreie  Statistik  geliefert  werden 
konnte,  wie  z.  B.  in  Miinchen  von  Bollinger,  hat  sich  eine  Vermehrung  in 
der  Zahl  der  Krebskranken  gegenOher  der  Zahl  der  Lebenden  nicht 
feststellen  lassen.  Aber  auch  wenn  dies  der  Fall  wire,  kdnnte  naturlich 
eine  derartige  Zunahme  ebensogut  durch  andere  Momente  —  z.  B.  all- 
gemeine  Zunahme  gewisser  Schfldlichkeiten  in  der  Lebensfiihrung  — 
bedingt  sein,  als  durch  eine  grdssere  Verbreitung  des  Anstecknngsstoffes. 

Ich  furchte,  der  geduldige  Leser  fiingt  allmihlich  an,  ungehalten 
darfiber  zu  werden,  dass  er  gezwungen  werden  soil,  so  umstflndlich  und 
langwierig  einen  erstens  nberhaupt  nicht  vorhandenen,  zweitens  oben- 
drein  fast  nicht  denkbaren  Parasiten  mit  aus  der  Welt  zu  rflumen. 
Venn  Pathologen  und  Bakteriologen  um  diese  Frage  einen  schon  etwa 
20jflhrigen  Krieg  fuhren,  was  geht  das  den  friedlichen  Leser  einer 
Monatsschrift  an?  Leider  finde  ich  den  Krebserreger  noch  immer  nicht 
tot  genug  und  muss  ihm  noch  einiges  versetzen.  Zu  meiner  Entschul- 
digang  und  seiner  Beruhigung  darf  ich  den  Leser  deshalb  vielleicht 
darauf  hinweisen,  dass  wir  in  diesem  Kapitel  doch  nicht  bloss  dem 
Parasiten  den  Boden  abgegraben  haben :  wir  haben  auch,  und  fast  mehr, 
den  Grund  gelegt  und  bearbeitet  fiir  das  VerstSndnis  der  samtlichen 

15» 


220 


wesentlichen  Fragen,  die  nunmehr  fur  die  Auffassung  der  Geschwulste 
in  Betracht  kommen;  und  hier  und  dort  ist  auch  schon  ein  Korn  ein- 
gesHt,  das  uns  fur  kunftige  andere  Abschnitte  der  Krankheitslehre  Fnicht 
tragen  soil.  Richtige  Fragen  zn  stellen  lemt  sich  ja  bekanntlich  am 
schwersten,  und  diese  ganze  Geschichte  der  Krebsparasitenfrage,  deren 
vorMufig  letzte  Ergebnisse  wir  hier  uns  vorfuhrten,  ist  ein  typisches 
Beispiel  fur  solches  Richtigfragenlemen.  Ebenso  wie  in  der  Geschichte 
der  Wissenschaften  und  anderswo  oft  e  i  n  erfolgreicher  und  befruchtender 
Gedanke  ein  ganzes  Reich  von  Erscheinungen  und  Gesetzen  eroberte 
und  sich  unterwarf,  ebenso  hat  hier  umgekehrt  eine  auf  anderem  Ge- 
biete  machtvoll  verwendete  Vorstellung  tnr  lange  Zeit  den  Blick  gebannt 
und  die  Fragen  und  Antworten  verwirrt.  Auch  dies  ist  ja  keine  seltene 
Erscheinung;  jede  irgendwo  beherrschend  gewordene  Idee  hat  die  Tendenz, 
sich  auf  weitere  Gebiete  auszubreiten  und  ihrerseits  reaktionflr  sich 
gegen  andere  Vorstellungen  zu  stemmen.  Aber  es  liegt  in  der  Frage  der 
infektidsen  oder  nicht  infektidsen  Entstehung  des  Krebses  noch  mehr: 
wie  nicht  leicht  anderswo  in  der  Wissenschaft  hat  sie  eine  dramatische 
und  fast  tragische  Seite.  In  ihrem  Gesamtverlauf:  aus  kleinen  Funden 
und  Vermutungen  wflchst  die  Vorstellung:  »Der  Krebs  eine  Infektions- 
krankheit^  zu  einem  Thema  an,  das  die  ganze  Welt,  die  gelehrte  und 
ungelehrte,  in  Spannung  versetzt;  sogar  zu  persdnlicher  Befeindung  und 
Befehdung  erhitzt  sich  hier  und  dort  der  Kampf  wissenschaftlicher 
Meinungen  —  und  am  Ende  so  langen  SchafTens  und  Ringens  steht  das 
nuchteme  Ergebnis:  Umsonst;  der  Gedanke  war  falsch.  Ja,  wenn  es 
noch  eine  gleichgiiltige  Lehrmeinung  gewesen  wSre;  aber  diese  Vorstellung 
gab  die  HofTnung,  eine  der  furchtbarsten  Geisseln  von  der  Menschheit 
zu  nehmen,  indem  sie  den  heimlich  schleichenden  Feind  aufzuspiiren 
gedachte  wie  den  Pest-  oder  Cholera-Erreger  und  ihn  zu  bekflmpfen 
wie  diese.  Und  nun  sollen  wir  wieder  im  Dunkel  stehen  wie  zuvor 
und  machtlos  die  HSnde  sinken  lassen  gegentiber  dem  Unsichtbaren  und 
Unfassbaren?  —  Aber  nicht  bloss  in  der  grossen  Entwicklungslinie  dieses 
Problems  liegt  ein  tragischer  Zug:  wie  alle  anderen  Menschheitsfragen 
stuckt  sich  ihr  Verlauf  zusammen  aus  Hunderten  und  Tausenden  von 
Fragen,  die  von  Einzelnen  gestellt  wurden;  sie  ist  Erlebnis,  Arbeit, 
Kampf,  Schicksal  von  Hunderten,  die  sie  zu  Idsen  vergeblich  versuchten. 
Welch  eine  HofPnung:  den  Krebserreger  aufzuspuren,  den  ersten  Schritt 
zu  tun  in  jenes  Gebiet,  in  welchem  die  Hilfe  gefunden  werden  muss! 
Welch  eine  Spannung  bis  zu  der  scheinbar  endgtiltigen  Oberzeugung: 
der  Parasit  i  s  t  entdeckt,  ich  halte  ihn  hier,  im  Reagensglas,  unter  dem 
Mikroskop  zum  ersten  Male  I  Und  dann  die  Peripetie,  die  immer 
gleiche:  andere  sehen  anderes,  beachten  Ubersehenes,  entdecken  die 
Fehlerquellen,  die  der  Arbeit  anhafteten;  die  Wissenschaft  geht  zur 
Tagesordnung  tiber  • .  Hundertmal  ist  dies  das  Ergebnis  langer,  red- 
licher,  muhevoller  Arbeit  gewesen;  was  unserem  heutigen  Wissen  un- 
richtig  und  oft  fast  Idcherlich  erscheint,  hat  einer,  haben  viele  als 
Letztes  erarbeitet,  die  ebenso  logisch  dachten  und  genau  zu  arbeiten 
meinten  wie  wir;  die  wenigen  Schritte,  um  die  wir  erobemd  vordrangen. 


221 


baben  Hunderte  von  Opfern  verlangt,  die  hinter  uns  liegen  blieben ;  die 
wenigen,  nocb  immer  so  wenigen  Antworten,  die  uns  wurden,  hat  eine 
ganze  Generation  muhselig  und  in  immer  neuem  Anlauf  erkMmpfen 
mussen.  Und  bier  das  Fazit:  die  Annahme  eines  Krebserregers  steht 
in  der  Luft,  sie  ist  aufs  ausserste  unwahrscbeinlich,  sie  leitet  nicht  zum 
Verstlndnis,  nicht  zur  Hilfe . . 

Der  Leser  weiss  bereits,  dass  dies  negative  Ergebnis  nicht  alles 
ist.  An  und  aus  der  verfehlten  Arbeit  wuchs  die  richtigere;  auf  zahl- 
losen  Irrpfaden  gelangte  die  Forschung  dennoch  auf  eine  Menge  neuer 
Ausschaupunkte;  mlhlich  und  m&hlich  taten  sich  einzelne  grossere  Wege, 
alte  und  neue,  wieder  auf,  zu  denen  die  einzeln  Wandernden  sich 
fanden:  die  Gegenwart  arbeitet  mit  ungeschwSchter  Lust  und  Hoffnung 
an  dem  grossen  Problem.  Auch  hier  gilt,  wie  iiberall  in  der  Wissen- 
schaft,  die  Wahrheit,  dass  es  nur  einen  wirklichen  Ruckschritt  gibt: 
das  Stehenbleiben.    Alles  andere  fiihrt  vorwHrts. 

So  soil  es,  wie  ich  denke,  auch  unsere  Geschwulstfri^e  wieder  ein 
Stuckchen  vorwSrtsfuhren,  wenn  wir  noch  einmal  ein  wenig  zu  dem 
Krebsparasiten  zuruckkehren  mit  der  Frage:  Was  hfltte  er  alles  eigentlich 
leisten  mussen,  wenn  —  er  existierte? 

Da  sehen  wir  nunmehr  leicht,  dass  dies  unendlich  viel  mehr  ist, 
als  wir  von  irgend  einem  der  bekannnten  Infektionserreger  verlangen  und 
Ton  irgend  einem  verlangen  konnen.  Dass  er  jede  der  verschiedenen 
Gewebssorten  zur  Vermehrung  anzuregen  imstande  sein  mtisste  und  zur 
Hervorbringung  von  Geschwulsten  der  ihr  eigenen  Art,  woUen  wir  ihm 
nicht  wieder  vorhalten;  aber  er  musste  ja  auch  nicht  bloss  Wucherung 
der  Zellen  erzeugen,  sondem  sie  zu  der  fur  jede  Geschwulstart  cha- 
rakteristischen  Zusammenordnung  veranlassen;  und  nicht  bloss  zur 
Ordnung  unter  Zellen  der  gleichen  Art,  sondem  auch  zur  Heranziehung 
von  Hilfszellen,  von  Stutz-,  GefSss-,  Blutzellen,  die  sich  in  vielen  gut- 
artigen  Geschwiilsten  ja  so  typisch  gliedem  und  einfiigen,  wie  in  ein 
normales  Organ.  Er  musste,  mit  einem  Worte,  bei  alien  gutartigen 
Tumoren  ungefihr  eben  soviet,  bei  den  bdsartigen,  auf  deren  Architektur 
wir  schon  eingangs  hinwiesen,  nicht  viel  weniger  leisten  als  die  Gesam  t- 
heit  jener  Ursachen,  die  im  Laufe  der  normalen  Ent- 
wicklung  die  normalen  Organe  entstehen  lassen.  Von 
diesen  aber  wissen  wir,  dass  alles  Wesentliche,  charakteristisch  Be- 
stimmende  derselben  im  Kdrper,  in  den  besonderen  Eigenschaften  der 
aus  der  befruchteten  Eizelle  durch  fortgesetzte  Teilung  hervorgegangenen 
und  sich  nach  geheimnisvollen  Regeln  ordnenden  Zellen  und  Zellgruppen 
gelegen  ist;  dass  alles  Aussere  nur  als  Entwicklungsbedingung  oder 
Entwicklungsanstoss  wirksam  sein  kann.  Schon  fur  die  einfach  ge- 
bauten  Geschwulste  also  musste  der  .Parasit'  einen  mehr  oder  weniger 
betnlchtlichen  Bruchteil  jener  Anregungen  liefem,  welche  fur  die 
normale  Entwicklung  des  Eies  von  der  Samenzelle,  also  von  einem 
Produkt  des  hochorganisierten  vielzelligen  Korpers  selhst,  gegeben  werden, 
und  die  nur  in  einer  gerade  fur  diese  Entwicklung  und  gesamte  Organ- 
bildung  ganz  speziell  ausgerusteten  Zelle  zur  Wirknng  gelangen  kdnnen. 


222 


Noch  umbssender  und  unvorstellbarer  wurde  aber  diese  Wirkung  eines 
solchen  Eindringlings  sein,  wenn  vir  eine  aus  verschiedenartigen 
Geweben  oder  Organanlagen  zusammengesetzte  Geschwulst,  eine  Misch- 
geschwulst  Oder  ein  Teratom,  von  einem  solchen  Parasiten  erzeugt  sein 
lassen  wollten:  von  einem  Parasiten,  der  dabei  nicht  einmal  vermag, 
von  einer  Geschwulstzelle  aus  die  benachbarte  gesunde  Zelle  zu  befallen 
und  anzusteckeni  Alles  Wesentliche,  Charakteristische  muss  auch  hier 
in  der  Natur  der  wachsenden  Zellen  gelegen  sein;  der  Parasit  kdnnte 
bestenfalls  den  ersten  Anstoss  zur  Wucherung  geben. 

Hier  sei  endlich  noch  eine  der  merkwiirdigsten  Geschwiilste  an- 
gefuhrt,  die  wir  kennen,  und  deren  genaues  Studium  sehr  viel  zur 
KlUrung  wichtiger  Geschwulstfragen  geleistet  hat.  Es  ist  dies  das  so- 
genannte  Chorionepitheliom :  eine  zumeist  iusserst  bdsartige  Neubildung, 
welche  ausgeht  von  —  den  zottigen  Auswiichsen  der  EihuUen,  mittels 
deren  der  Embryo  sich  in  das  mutterliche  Gewebe  gewissermassen  ein- 
hakt  und  einsaugt,  mittels  deren  er  seine  gesamten  Nflhrstoffe  von 
der  Mutter  bezieht,  einschliesslich  des  ndtigen  Sauerstoffs,  und  aus 
denen  er  Kohlensdure  und  andere  Abfallprodukte  seiner  Lebenstitigkeit 
ans  miitterliche  Blut  zur  Ausscheidung  ubermittelt.  Diese  Zotten 
wachsen,  brechen  direkt  in  weite  Gefisse  der  umgewandelten  Geblr- 
mutterschleimhaut  ein;  in  ihren  feinen  Gefissveristelungen  rollt  das 
Blut  des  Kindes,  zwischen  diesem  und  dem  umspiilenden  Blute  der 
Mutter  bildet  neben  Bindegewebe  ein  eigenartiges  zweischichtiges  Epithel 
die  Scheidewand  und  Vermittlung  zugleich.  Und  dieses  Epithel  ist  es, 
welches  zuweilen,  anstatt  sein  Wachstum  auf  das  notwendige  Mass  zu 
beschrtoken  und  wiederum  ausgestossen  zu  werden,  auch  nach  der  Geburt 
des  Kindes  welter  und  weiter  in  die  miitterlichen  Gef3sse  wichst  und 
ausgedehnte  Metastasen  besonders  in  den  Lungen  macht.  Hier  Uegt 
also  ein  vom  Ei  gebildetes  Gewebe  vor,  das  von  Anfang  an  die  Be- 
stimmung  hatte,  in  gewisser  Ausdehnung  ins  Gewebe ,  ja  in  die 
Blutgefasse  des  miitterlichen  Kdrpers  unter  Zerstdrung  der  trennenden 
WSnde  einzudringen;  hier  dreht  sich  demnach  sozusagen  die  Frage  um, 
und  wir  erstaunen  fast  weniger  daruber,  dass  diese  Zotten  zuweilen 
nach  Art  bdsartigster  Geschwulste  in  der  Geflssbahn  weiter  verschleppt 
werden  und  sich  neu  ansiedeln  als  daruber,  dass  dies  nicht  in  jedem 
Falle  geschieht !  dartiber,  dass  die  Natur  zu  der  wundervollen  Einrichtung 
solcher  nach  Anhaftepunkten  und  nach  Nahrung  suchender,  grabender 
Gebilde  auch  die  uns  unbekannten  Schranken  gab,  welche  ihre  Wirk- 
samkeit  auf  das  niitzliche  Mass  einschrSnken.  Zum  ersten  Male  fuhrt 
uns  hier  auch  die  Geschwulstlehre  zu  jener  Erkenntnis,  die  aus  anderen 
Erwigungen  sich  wiederholt  und  auch  am  Schlusse  unserer  Erorterungen 
wieder  ergeben  wird :  wie  es  bei  nihiger  Betrachtung  der  uns  allzeit  um- 
drMngenden  Gefahren  nicht  eigentlich  wunderlich  ist,  wenn  wir  einmal 
erkranken  oder  sterben,  sondem  dass  wir  gesund  sind,  iiberhaupt  noch 
existieren  —  so  ist  bei  all  der  unglaublichen  Verwicklnng  des  Baues,  der 
Entstehung,  der  Vorgflnge  des  organisierten  Kdrpers  es  viel  weniger  zu 
verwundern,  dass  hier  und  dort  etwas  abnorm,  „falsch*  gebildet  ist  oder 


223 


unrichtig  reagiert  —  als  dass  uberhaupt  je  eine  solche  Entwicklung  aus  eiii 
paar  verscbwindend  kleinen  Zellen  stattgefunden  bat,  dass  sie  ihren 
richtigen  Gang  in  und  aus  lauter,  wie  wir  sagen,  unbewussten  Elementen 
nehme  und  am  Ende  des  Aufbaues  fur  mebrere  Dezennien  nnser  organiscbes 
Ganze  eine  unausdenkbar  fein  regulierte  Harmonie  nicht  bloss  zwischen 
seinen  Teilen,  sondern  auch  zwiscben  sicb  und  seiner  Umgebung  besitzt 
und  zu  erbalten  vennag.  Aber  nocb  ist  unsere  Erorterung  nicbt  so 
weit,  dass  wir  das  Rfltsel  der  Gescbwulstbildungen  in  das  grdssere  des 
Lebens  versinken  lassen  miissten;  wir  baben  vorlSufig  nur  die  Frage 
anzureiben:  was  soil  uns  tiberhaupt  ein  Parasit  angesichts  einer  derartigen 
Gescbwulst?  Hier  erklflrt  er  ja  nicbt  einmal  den  Wucherungstrieb,  der 
scbon  von  Haus  aus  vorhanden  ist;  zu  den  von  den  Eibullen  gelieferten, 
den  miitteriichen  Organen  fremden  Gebilden  schafft  er  nichts,  gar  nicbts 
binzu,  sie  bleiben  dem  pbysiologiscben  Verhalten  wie  den  Zellformen 
nacb  im  Grunde  bis  zuletzt,  was  sie  waren  I  Das  Kind  selbst,  ein  von 
ihm  gebildetes  Organ  und  Gewebe  ist  bier  der  ^Parasit**,  der  die  Mutter 
durcbwucbert  und  zerstdrt! 

Wir  seben  also,  dass  an  alien  Stellen,  wo  in  der  Entstebung  der 
Gescbwtilste  ein  parasitiscber  Erreger  zunflchst  wabrscbeinlicb  oder  mog- 
licb  scbien,  an  seiner  statt  eingesetzt  werden  kann:  die  ,unbekannte 
U  r s  ac h  e"*  der  Gescbwulstbildung.  Wir  seben,  dass  eine  solcbe  Annabme 
fiir  das  Verstflndnis  der  eigenartigen  AufbautHtigkeiten,  die  wir  uberall 
bei  den  Tumoren  Bnden,  nicbt  das  mindeste  zu  leisten  vermag;  dass 
wir  iiberall  auf  die  Eigenart  der  aufbauenden  Zellen  und  ibre  FMbig- 
keiten  zuruckgreifen  mussen,  um  nur  einige  Einsicbt  zu  gewinnen.  Wir 
beacbten  endlicb  aucb,  dass  wir  uberall  nicbt  bloss  die  Wucberungs- 
ilbigkeit,  sondern  aucb  die  Aufbauflbigkeit  der  gescbwulstbildenden  Zellen 
als  Problem,  und  vielfach  scbon  jetzt  als  das  grdssere  Problem  baben  er- 
kennen  mtissen.  Alles  bisherige  drSngt  uns  dazu,  dieGescbwulstzellen 
selber  auf  ibre  Eigenscbaften  und  Fahigkeiten  zu  priifen.  Wir  werden 
desbalb  sogleicb  mit  denjenigen  Ldsungsversucben  beginnen,  welcbe  die 
.zellulSren'  Theorien  bieten.  Dabei  wird  der  Leser  freilich  als  Resultat 
einen  Einwand  und  eine  HoflPnung  der  Parasitensucber  wabmebmen,  die 
icb  ihm  in  der  vorausgehenden  Kritik  vorentbalten  babe:  es  wird  sicb 
nimlicb  zeigen,  dass  aucb  die  zelHilflren  Tbeorieen  keine  befriedigende 
Ldsung  geben,  dass  sie  in  der  Vemeinung  des  Parasiten  viel  einiger 
sind  als  in  ibren  eigenen  Erklflrungsversucben  —  dass  jene  ,unbekannte 
Ursacbe"  der  Gescbwulstbildung  aucb  die  zellulMren  Tbeorien  nicbt 
klarlegen.  Solange  aber  die  Dinge  so  liegen,  wird  derjenige,  der  von  der 
parasitiren  Entstebung  der  Tumoren  einmal  iiberzeugt  ist,  immer  nocb 
unsere  Parasitenwiderlegung  mit  jenen  Urteilen  vei^leichen,  welcbe  die 
Existenz  von  Antipoden,  die  Mdglicbkeit  der  Luft-  und  Eisenbabnfabrt 
vemeinten,  oder  welcbe  etwa  bei  den  ersten  Nacbricbten  von  kdrper- 
durchdringenden  Strahlen,  von  RadioaktivitMt  und  Sichtbarmacbung  ultra- 
mikroskopiscber  Teilcben  kategoriscb  erkUrten:  ,Das  gibt  es  ja  gar  nicht!" 
—  anstatt  zu  sagen:  «Davon  haben  wir  bisber  nichts  gewusst.* 

In  diesem  Umstande  liegt  einer  der  wesentlichsten  Grunde,  und 


224 


sicher  ein  nicht  ganz  unberechtigter,  weshalb  auch  heute  noch  die  Suche 
nach  dem  Krebsparasiten  so  verbreitet  ist  und  der  ^entdeckte  Krebserr^er* 
in  den  Zeitungen  noch  immer  viel  regelmflssiger  wiederkehrt  als  die  See- 
schlange,  freilich  um  auch  regelm&ssig  ebenso  geschwind  wieder  unter- 
zutauchen.  Solange  .die  Ursache*  der  Geschwulstbildungen  nicht  wirk- 
lich  erkannt  ist,  wird  der  totgesagte  Parasit  immer  wieder  auf  der  Bild- 
fliche  erscheinen;  und  auch  das  feierliche  Begribnis,  das  wir  ihm  in 
diesen  Blflttem  zuteil  werden  liessen,  wird  selbstverstSndlich  einem 
hoffnungsgewissen  Parasitensucher  hdchstens  die  mitleidige  Frage  ent- 
locken:  ,Und  wenn  ich  den  Krebsparasiten  morgen  finde?' 


1^  f  i»        ra'ia        ra"»  ra'ia  ra'ia  f  t  f  t  rai^  ra'ia  ra'ia  ra'ia  ra'ia  ra'ia  raifc 


Die  Stunden  bei  Schopenhauer. 

Von  Julius  Bahnsen. 

Aus  dem  Nachlass  des  Philotoptaen  mitgeteilt  von  Rudolf  Louis  in  Mlinchen. 

Julius  Friedrich  August  Bahnsen*)  wurde  am  30.  Mirz  1830  zu 
Tondem  in  Schleswig  als  Sohn  des  Lehrerseminar-Direktors  Christian 
August  Bahnsen  geboren.  Bis  zum  15.  Lebensjahre  wurde  er  zu  Hause 
vom  Vater  und  anderen  Lehrkriften  des  Seminars  unterrichtet.  DarauF 
hesuchte  er  die  drei  letzten  Klassen  des  Gymnasiums  zu  Schleswig,  von 
wo  er  im  Sommer  1847  nach  Tondem  zuruckkehrte.  Die  politischen 
Wirren  jener  Tage  hielten  ihn  bis  zum  Herbst  des  folgenden  Jahres  im 
Vaterhause  zuruck.  Jetzt  erst  bezog  er  die  Universitit  Kiel.  Als  der 
deutsch-dftnische  Krieg  einen  fUr  Schleswig-Holstein  unheilvollen  Aus- 
gang  zu  nehmen  drohte  und  die  Herzogtumer,  von  Preussen  und  dem 
deutschen  Bunde  verlassen,  sich  daranf  angewiesen  sahen,  mit  dem 


Die  wenigen  taier  gegebenen  biographischen  Daten  gehen  auf  folgende 
Quellen  zur&ck:  Sommerfeldt,  Dr.  Julius  Bahnsen,  Eine  Charakterskizze  (Jahres- 
bericht  des  Progymnasiums  zu  Lauenburg  i.  P.,  1882);  L.  Schemann,  Schopen- 
hauer-Briefe  (Leipzig  1883),  S.  45ir.;  S.  Rubinstein,  Eine  Trias  von  Willens- 
methaphysikern  (Leipzig  1896),  S.  79ff.;  J.  Bahnsen,  Wie  ich  wurde,  was  ich 
ward  (Manuskript)  und  dann  vor  allem  auch  das  von  Bahnsen  bei  Gelegenheit 
seiner  Promotion  der  philosophischen  Fakultftt  der  Tiibinger  Universitit  eingereichte 
Curriculum  vitae,  sowie  die  anderen  auf  die  Promotion  beziiglichen  Stficke  aus 
den  Fakultiltsakten,  in  die  ich  an  Ort  und  Stelle  Einsicht  nahm. 


225 


eigenen  Schwerte  ihre  Unabhingigkeit  zu  wahren,  trat  Bahnsen  gleich 
den  meisten  waffenf3higeii  Sdhnen  des  Landes  Ende  Jul!  1849  als  Frei- 
williger  in  die  scbleswig-holsteinische  Armee  ein,  der  er  bis  zu  ihrer  Auf- 
Idsung  (Ende  Januar  1851)  angehdrte. 

Znnlchst  nach  Kiel  zuriickgekehrt,  wandte  er  sich  zu  Ostern  nach 
Tubingen.  Wihrend  der  im  Scbwabenlande  verbrachten  vier  Semester, 
die  Bahnsen  stets  zu  den  gliicklichsten  Zeiten  seines  Lebens  gezihlt 
hat,  waren  es  vor  allem  zwei  Eindrucke,  die  fur  seine  geistige  Ent- 
vicklung  von  Bedeutung  wurden:  der  mflchtige  persdnliche  Einfluss 
eines  Mannes  wie  Friedrich  Theodor  Vischer,  bei  dem  er  neben  literar- 
und  kunstgeschichtlicben  Vorlesungen  Asthetik  horte  und  im  April  1853 
mit  einem  «Versuch  die  Lehre  von  den  drei  Isthetischen  Grundformen 
genetisch  zu  gliedem  nach  den  Voraussetzungen  der  naturwissenschaft- 
lichen  Psychologies  promovierte,  und  die  erste  Bekanntschaft  mit  der 
Philosophie  Schopenhauers.  Ausser  Vischer  sind  Jakob  Friedrich 
Reiff  (Geschichte  der  Philosophie;  Metaphysik;  Kritische  Geschichte  der 
Religionsphilosophie;  Praktische  Philosophie;  Psychologie;  Logik),  F.  K. 
A.  Schwegler  (Geschichte  der griechischen  Philosophie;  EncyklopMdie  der 
Philosophie)  und  K.  Chr.  Planck  (Einleitung  in  die  Philosophie  nebst 
Logik)  Bahnsens  philosophische  Lehrer  in  Tiibingen  gewesen.  Nach  dem 
Abschluss  seiner  Studien,  die  neben  der  Philosophie  hauptsSchlich  auf 
Philologie  gerichtet  gewesen  waren,  folgte  eine  ISngere  Zeit,  in  der  sich 
Bahnsen  als  Haus-  und  Privatlehrer  durchzubringen  hatte.  1858  trat 
er  in  den  preussischen  Staatsdienst.  Zunflchst  am  Gymnasium  zu  Anklam 
beschflftigt,  kam  er  Michaelis  1862  als  Oberlehrer  an  die  hdhere  B&rger- 
schule  nach  Lauenburg  i.  P.,  die  1875  in  ein  Progymnasium  umgewandelt 
wurde.  Hier  blieb  er  bis  zu  seinem  Tode,  der  am  7.  Dezember  1881 
unerwartet  an  einem  anflnglich  fur  leicht  gehaltenen  Fall  von  Diphtherie 
erfolgte. 

Oberblickt  man  die  Hussere  ,,Laufbahn'  dieses  Mannes,  so  fSllt  es 
einem  schwer,  zu  glauben,  dass  er  tatsdchlich  identisch  ist  mit  dem 
philosophischen  Schriftsteller,  dem  kaum  ein  wirklicher  Kenner  seiner 
Werke,  welcher  geistigen  Richtung  er  auch  angehdre,  den  Ruhm  eines 
der  tiefsten  und  eigenartigsten  Denker  aller  Zeiten  streitig  machen  kann. 
Das  einzige  Talent  der  Schopenhauerschen  Schule,  wie  ihn  sein  sonst 
so  vielfach  ungerechter  philosophischer  Gegner  Eduard  von  Hartmann 
nennt,  neben  Nietzsche  die  originellste  und  am  schflrfsten  charakterisierte 
Individualitit  unter  alien  denen,  die  sich  nach  Schopenhauer  einen  Platz 
in  der  Geschichte  der  deutschen  Philosophie  erobert  haben,  dazu  eine 
Persdnlichkeit,  die  in  der  strengen  Lauterkeit  ihrer  Gesinnung,  der 
Hoheit  ihres  flammenden  Idealismus  und  in  der  unbeugsamen  Ober- 
zeugungstreue,  mit  der  sie  ihre  Weltanschauung  nicht  nur  lehrte, 
sondem  auch  lebte,  wahrhaft  vorbildlich  genannt  werden  darf,  — 
sie  war  dazu  verurteilt,  als  Oberlehrer  eines  Progymnasiums  im 
hintersten  Winkel  Hinterpommems  zu  verkHmmem,  an  einem  Orte,  der 
nicht  bloss  selbst  keine  geistige  Anregung  irgend  welcher  Art  bot, 
sondem  auch  so  ausser  der  Welt  gelegen  ist,  dass  es  wenige  Flecken 


226  8^ 


deutscherErdegeben  durfte,  die  von  alien  geistigen  Zentren,  k&nstleriscben 
wie  wissenschaftlichen,  gleicb  weit  entfernt  wiren.  Man  spricht  so  gem 
und  viel  davon,  wie  eifrig  und  liebevoll  unser  moderner  Staat  sicb  aller 
geistigen  und  wissenscbaftlichen  Interessen  annebme.  Dass  es  aucb  da- 
mit,  wie  mit  so  vielem  anderem,  dessen  wir  uns  nur  allzu  selbstgefUlig 
rubmen,  nicht  gar  weit  ber  sei,  das  wird  an  einem  solcben  Beispiele,  wie 
dem  der  .Staatscarri^re**  Babnsens,  wieder  einmal  besonders  klan  Und 
in  der  Tat  glaube  ich  ohne  Ubertreibung  bebaupten  zu  kdnnen,  dass  der 
preussische  Staat  durch  das  an  diesem  Manne  begangene  Verbrecben 
mebr  gesundigt  bat,  als  er  durcb  alle  Aufwendungen  und  Dotationen  Klt 
wissenscbaftliche  Zwecke  je  wieder  gut  macben  kann.  Denn  der  Wert 
einer  eigenartigen  geistigen  Persdnlicbkeit  ist  unersetzlicb,  und  was  von 
ibr  ungenutzt  bleibt,  bedeutet  einen  unwiederbringlicben  Verlust. 

Zunflcbst  scbien  es,  als  ob  eine  begltickende  Hfluslicbkeit  dem 
Pbilosopben  wenigstens  einigermassen  Ersatz  bieten  soUte  fur  das  berbe 
Scbicksal,  das  ibm  zeitlebens  einen  seinen  hoben  Fabigkeiten  ent- 
sprecbenden  Wirkungskreis  versagte.  Docb  starb  die  in  wabrbaft  idealer 
Herzens-  und  Seelengemeinscbaft  ibm  verbundene  Frau,  die  er  1862 
nacb  schweren  Kimpfen  um  ibren  Besitz  beimgefubrt  batte,  scbon  im 
Sommer  1863.  Die  ^BeitrMge  zur  Cbarakterologie"  sind  ibrem  Andenken 
gewidmet.  Eine  zweite  Ebe,  die  Babnsen  spflter  einging,  entwickelte 
sicb  in  ibrem  Verlaufe  weniger  glucklicb  und  fubrte  scbliesslicb  zur 
Scbeidung.  Der  Pbilosopb  bat  selbst  mebr  als  einmal  bingewiesen  auf 
die  »zablreicben  und  •  tiefen  Narben,  die  er  aus  dem  Kampfe  des  Lebens 
in  seinen  allerbittersten  Formen  davongetragen".  Und  da  darf 
es  denn  aucb  nicbt  wundernebmen,  dass  der  Ton  und  die  Stimmung 
seines  Pessimismus  bisweilen  die  Spuren  persdnlicber  Verzweiflung  und 
Verbitterung  in  einem  Masse  tragen,  das  der  gerechten  Wurdigung  seines 
Denkens  durcb  das  pbilosopbiscbe  Publikum  nicbt  eben  fdrderlicb  sein 
konnte.  Dass  er  trotzdem  aus  diesem  Kampfe  als  ein  wabrer  Held 
bervorgegangen  ist,  kann  aber  die  Bewunderung  vor  dieser  in  jeder 
Beziehung  seltenen  Erscbeinung  nur  erbdben. 

Scbon  frub  im  Verfolg  von  Scbopenbauerianiscben  Studien  auf 
Babnsen  aufmerksam  geworden,  erfubr  icb  aus  Ludwig  Scbemanns 
^Schopenbauer-Briefen**,  die  eigentlicb  zum  ersten  Male  wieder  ein  weiteres 
Publikum  auf  den  Verfasser  der  ^Realdialektik^  aufmerksam  macbten, 
dass  eine  Tocbter  Babnsens  in  Hamburg  lebe.  Icb  wandte  micb  an  sie 
mit  der  Anfrage,  ob  ein  ungedruckter  literariscber  Nacblass  ibres  Vaters 
vorbanden  sei.  Ibrem  liebenswurdigen  Entgegenkommen  verdanke  icb 
es,  dass  eine  grdssere  Anzabl  bdcbst  interessanter  Babnsenscber  Manu- 
skripte  in  meine  HSnde  kam.  Unter  ibnen  fesselte  micb  zunflcbst  und 
vor  allem  das  Fragment  einer  Art  von  Autobiograpbie,  die  der  Pbilosopb 
im  Jabre  1875  begonnen  und  bis  kurz  vor  seinen  Tod  fortgesetzt 
batte.  Scbon  der  Titel  der  Scbrift:  „Wie  icb  wurde,  was  icb  ward*, 
zeigt,  dass  Babnsen  nicbt  im  Sinne  gebabt  bat,  ein  eigentlicbes  erzflblendes 
Memoirenwerk  zu  scbreiben.  Vielmebr  kam  es  ibm  darauf  an,  seinen 
geistigen  Entwicklungsgang  zu  verfolgen  und  alle  die  Ereignisse  und 


227 


Erlebnisse  seines  Erdenwallens  darauf  hin  zu  betrachten,  wie  sic  auf 
ibn  eingewirkt  und  sein  Wachsen  und  Werden  beeinflusst  batten.  Er 
wollte  alle  die  Elemente  nacbweisen,  die  zusammen  mit  seinem  angeborenen 
und  ererbten  Individualcharakter  zu  dem  Product  concrescierten,  als  das 
ihm  selbst  seine  Persdnlichkeit  erscbien. 

Diese  Eigentumlicheit  der  Babnsenscben  Selbstbetrachtungen  diirfte 
es  vielleicht  verschulden,  dass  der  kleine  Abschnitt,  den  ich  vorliuBg  dar- 
aus  mitteile,  Erwartungen  erregt,  die  bei  der  Lectilre  unerftillt  bleiben. 
Man  wird  nicht  das  finden,  was  man  sncbt,  nflmlich  einen  erzablenden  Be- 
richt  iiber  Bahnsens  Zusammenktinfte  und  Unterbaltungen  mit  Schopen- 
hauer, die  Oberlieferung  charakteristischer  Ausspriiche  des  Meisters 
und  dergleichen  mehr.  Wenn  aber  auch  ^Die  Stunden  bei  Schopen- 
hauer" mehr  einen  Beitrag  zur  Kenntnis  Bahnsens,  als  zur  Vermehrung 
unseres  Wissens  von  Schopenhauer  liefern,  so  glaube  ich  doch,  dass  es 
nicht  ohne  Interesse  ist,  aus  diesem  schdnen  Bekenntnis  zu  erfahren, 
wie  stark  und  mflchtig  nicht  nur  der  grosse  Denker,  sondem  vor  allem 
auch  die  moralische  Persdnlichkeit  des  Frankfurter  Weisen  auf  seinen 
bedeutendsten  und  edelsten  philosophischen  Junger  gewirkt  hat: 


„Die  Stunden  bei  Schopenhauer. 

Lbg.  9.  XI.  1877.  Die  IMngst  zur  Phrase  gewordenen  »epochemachenden 
Ereignisse"  sind  doch  auch  in  der  reichsten  Erlebnisreihe  nur  spMrlich 
zu  finden;  mir  war  ein  solches  unzweifelhaft  mein  erster  Besuch  bei 
Schopenhauer.  Doch  schreibe  ich  bier  keine  Memoiren,  beschreibe  uber- 
haupt  nicht,  erzahle  kaum  hin  und  wieder,  sondem  betrachte  alles  nur 
unter  dem  Gesicbtspunkte,  wie  es  auf  mich  —  auf  das,  was  man  so  gemein- 
hin  die  Entwicklung  des  inneren  Lebens  nennt  —  eingewirkt  hat;  halte 
mich  deshalb  so  wenig  bei  dem  Rahmen  unseres  ersten  Begegnens  wie 
bei  den  Details  unserer  Gesprflche  auf  —  berichte  lieber,  wie  vorbereitet 
ich  bei  ihm  eintrat,  den  ich  von  da  an  als  meinen  Meister  verehrt  und 
bekannt  babe. 

Zuerst  in  Tubingen  —  wenn  ich  mich  recht  entsinne,  bei  der  Psy- 
chologie  des  Gesichtssinnes  in  der  Vorlesung  Reiffs^  —  hatte  ich  vom 
.sonderbaren  Herm**  gehdrt  und  war  auf  den  gemeinsamen  Ruckwegen 
von  der  Aula  durch  den  botanischen  Garten  von  Reiff  auf  das  wParadoxe** 
seiner  Werke  aufmerksam  gemacht.  Da  packte  er  mich  denn  zunSchst 
vom  hintem,  dem  pessimistischen  Ende,  und  in  meiner  Doctordisser- 
tation  berief  ich  mich  im  Capitel  vom  Tragischen  auf  seinen  Text  zur 
^Karfreitagspredigt  der  Menschheit".    Als  ich  dann  spflter  als  Haus- 


*)  J.  Fr.  Reiff  (1810—1879),  ursprilnglicb  Hegelianer,  spftter  dem  Standpunkte 
Fichtes  sich  nfthemd  (Hauptwerk:  .Das  System  der  Willensbestimmungen  oder  die 
Grundwissensctaaft  der  Ptailosophie",  1842),  ist,  gleich  seinem  Tfibinger  Kollegen 
K.  Chr.  Planck,  dem  von  Kant  ausgehenden  Retlisten,  nicht  obne  noch  lange  nach- 
wirkenden  Einfluss  auf  die  philosophische  Entwicklung  Bahnsens  geblieben. 


228 


lebrer  mein  erstes  Geld  mir  verdiente  —  nicht  soviel,  wie  heutzutage 
eine  ordinflre  Gouvernante  bezieht  —  hatte  Brockhaus  grade  mal 
wieder  die  zweite  Auflage  des  Hanptwerks  im  Preise  so  herabgesetzt, 
dass  sie  mir  nicht  mehr  unerschwinglich  war  —  so  wurde  es  mir  das 
erste  selbsterworbene  Buch  —  und  bald  hemach,  wo  icb  den  Bruder  ver* 
loren,  ersetzte  es  mir  Postille  und  Dogmatik  ( —  so  ungefMhr,  wie  es 
jetzt  Busch,*)  mit  fremden  Citaten  ausstaffiert,  herausgegeben  und  ge» 
meint  hat.) 

Fiir  den  frischgebackenen  jungen  Doctor  war  auf  der  Heimreise 
der  als  .grimmig**  unboflich  verschrieene  Menschenfeind  und  Pudel- 
freund  doch  zu  sehr  noch  «blosse  Curiositit'  gewesen,  als  dass  er  sich 
—  Mai  1853  —  hMtte  ein  Herz  fassen  mdgen,  die  Schwelle  des  Hauses 
Schdne  Aussicht  No.  17  zu  uberschreiten.  Als  aber  denselben 
im  Sommer  1856  in  nur  vierzehntSgigen  Ferien  ein  tiefgewurzeltes 
schwftbisches  Heimweh  von  Altona  gen  Suden  getrieben  hatte,  da  fuhlte 
er  sich  durch  das  inzwischen  Erlebte  schon  mehr  geweiht,  um  solcher 
Adeptenschaft  sich  nicht  ganz  unwurdig  zu  wissen,  und  so  schrieb  ich 
getrost  jene  Zeilen,  die  mir  den  Zutritt  zu  dem  gestrengen  Herm  er- 
schliessen  sollten.  Mir  war  dabei  zu  Mute  wie  im  Vorzimmer  eines 
Weltpotentaten  —  und  aus  demselben  Gefiihl  heraus  flusserte  ich  S^^  Jahre 
spiter,  als  mir  das,  nach  abermals  12  Jahren  durch  Diebstahl  abhanden 
gekommene  Velinpapierexemplar  der  dritten  Auflage  als  danum  autoria 
zugesandt  worden  war:  solche  Freude  kdnnte  mir  die  Verleihung  k eines 
Ordens  bereiten. 

Die  Aufnahme,  welche  ich  als  »ganzlich  Unbekannter"  fand,  war 
freundlich  genug,  um  mir  aus  diesem  klaren  Feldhermauge  die  Innig- 
keit  menschlichen  Wohlwollens  entgegenstrahlen  zu  lassen  —  und  zu 
einer,  ich  mochte  sagen,  mfldchenhaften  Wflrme  sah  ich  es  erglflnzen, 
wie  er,  als  Priester  seiner  letzten  «Glaubens^-Lehre  vor  mir  stehend, 
das  Wort  des  Augustin:  vtmam  fiai^  ut  completus  sit  numerus  sanctorum! 
mit  wahrer  Inbrunst  wiederholte. 

Ich  zog  von  dannen  mit  dem  Bewusstsein,  nicht  nur  einen  Genius 
des  Denkens,  sondem  auch  einen  Charakter  echtester  Erhabenheit  von 
Angesicht  zu  Angesicht  gesehen  zu  haben.  —  Wie  ein  treuer  Sohn  sich 
gelobt,  nichts  eines  grossen  Vaters  Unwiirdiges  sich  zu  schulden  kommen 
zu  lassen,  wie  ein  begeistert  gliubiger  Confirmand  mit  einem  vom  soeben 
empfangenen  religidsen  Weihesegen  gehobenen  Herzen  vom  Altar  der 
ersten  Communion  zuriicktritt,  getrflnkt  mit  dem  heiligen  Vorsatz,  bin- 
fort  nichts  zu  tun,  womit  er  „solch  Wein  und  Brot  unwiirdig  empfahe*, 
dass  er  ,sich  nicht  selber  zum  Gericht  esse  und  trinke",  so  fuhlte  ich 
mich  wie  in  ein  ganz  neues  Dasein  entruckt,  —  der  Seligkeit  der  Nir- 
wana  zustrebend.  Franz  von  Assisi  und  die  anderen  Helden  der  Askese 
waren  meine  Ideale  geworden,  und  wenn  ich  noch  gewohnte  Studien- 
wege  an  gewissen  Hamburger  Fenstem  voruberging,  so  wollte  ich  mich 


O.  Busch,  Arthur  Schopenhauer,  Beitrag  zu  einer  Dogmatik  der  Reli- 
gionslosea.   Heidelberg  1877.  2.  glnzlich  umgearb.  Aufl.  MUnchen  1878. 


229 


dabei  jetzt  nur  vergewissern,  Fortscbritte  zu  machen  in  der  ,Ertdtung 
des  Fleisches*. 

Alles,  was  an  Schwflrmer-Anlagen  in  mir  geschlummert  haben 
mochte:  jetzt  war  es  mit  einem  Scblage  erwacbt  und  entfesselt.  Mit 
einer  gewissen  Freudigkeit  malte  icb  mir  die  scbon  wenige  Monate 
spiter  drobend  auftaucbende  Lage  aus,  als  Trainkutscber  dritter  Klasse 
mit  angeblicb  verwirktem  Recbt  der  Stellvertretung  persdnlicb  der 
Demutigung  micb  nnterziehen  zu  soUen,  einem  verbassten  daniscben 
Offizier  Stiefel  und  Kndpfe  putzen  zu  mtissen,*)  —  wollte  ich  doch  ein 
zweiter  Filippo  Neri  oder  Raimundns  Lullus  werden,  und  geheimes  Ver- 
senken  in  die  nenerfasste  Lebre  sollte  der  Seele  Spannkraft  beleben,  so 
oft  ich  micb  wurde  scbwacb  werden  fiiblen.  —  Nur  eines  scbien  mir 
uberaus  bedenklicb:  die  fast  von  alien  ,Heiligen"  berichteten  Ruckf311e  ~ 
am  naivsten  gescbildert  von  Benvenuto  Cellini.  Aucb  fur  die  ekelbaften 
Kasteiungen  der  Guyon  konnte  icb  micb  nicbt  erwarmen  —  denen  gegen- 
uber  reagierte  das  naturliche  Gefubl  zu  mflcbtig:  —  mit  einem  ver- 
abscbeuten  Manne  aus  Askese  geduldeter  Coitus  deucbte  denn  docb 
selbst  dem  angebenden  Realdialektiker  mebr  paradox  und  widerlicb  als 
gross  und  nacbabmungswurdig. 

Aber  die  Gegenstrdmung  sollte  mScbtiger  und  eindrucksvoller  von 
einer  andem  Seite  ber  auffluten. 

Jetzt  gait  es,  all  die  tbeoretiscben  Voraussetzungen  dieser  bocb- 
gespannten  Vemeinungsdoktrin  sich  anzueignen  —  und  eben  damit 
haperte  es  sebr  bald.  Trotz  dreissig  wdcbentlicber  Lebrstunden  und 
ungezdblter  Correcturen  (Aufsfltze  aus  drei  Mittelklassen  von  20  bis 
40  Scbiilem  alle  paar  WocbenI)  setzte  icb  es  durcb,  alle  meine  Freistunden 
dem  gewissenbaftesten  Studium  jeder  Zeile,  deren  ich  aus  der  Feder  des 
Meisters  habhaft  werden  konnte,  zu  widmen.  Langsam  genug  ging  es 
vorwirts.  Dafur  aber  batte  ich  die  Genugtuung,  dass  beim  nflcbsten 
Wiederseben  —  nacb  14  Monaten  —  der  Meister  im  Bescbeid- 
wissen  in  seinen  Werken  micb  dem  einzigen  FrauenstHdt  verglich;  — 
aber  ich  batte  mir  aucb  gleichzeitig  ein  durch  zwei  Binde  gefuhrtes 
Gesamtregister  zu  seinen  Schriften  angelegt. 

Wiewohl  ich  nun  aber  literariscb  debutiert  batte  mit  einer  zum 
22.  Februar  1857  eingesandten  Abhandlung  iiber  den  Bildungswert  der 
Matbematik,^  liessen  doch  zwei  Punkte  mir  keine  Rube,  und  von  ihnen 
sollte  die  Zermurbung  der  Fesseln  ansetzen,  in  deren  unbedingtem  Bann 


^)  Bahnsen,  der  als  Freiwilliger  von  1849  bei  der  dftQischen  Regiemng 
schlecht  angeschrieben  war,  sollte  trotz  ausgesprochener  Amnestie  eine  ^Ordnungs- 
strafe"  f&r  verspfttete  Anmeldung  zum  Militlrdienst  erleiden,  d.  h.  mit  26  Jahren 
vier  Jahre  den  gemeinen  Soldaten  spielen,  —  wie  er  selbst  damals  an  den  Meister 
schrieb:  .eine  Situation*  in  welcher  Scbopenhauer  wohl  bistaer  noch  keinen  seiner 
Schiller  geseben  babel"  Schliesslich  wurde  ihm  die  Stellung  eines  Stellvertreters 
gestattet.  Vgl.  Schemann,  Schopenhauer-Briefe  p.  348  u.  453. 

^)  Erschienen  in  der  ,»Schulzeitung  fur  Schleswig-Holstein*  1857,  No.  21, 
25,  26  (21.  11.,  21.  u.  28.  III.);  eine  Entgegnung  auf  Bahnsens  Ausf&brungen  von 


H>*8    230  8^ 


ich  mich  ein  paar  Jahre  lang  befunden  habe:  es  war  das  famose  »61oss* 
in  Kants  transcendentaler  Asthetik,^  welches  daruber  entscheidet,  ob  einer 
sich  anstflndigerweise  zum  Realismus  bekennen  kann  Oder  nicht  —  und 
es  war  am  andem  Ende  die  Mdglicbkeit  erfolgreicher  Askese,  welche 
mir  nicht  nur  nicht  dargetan,  sondem  mit  den  meuphysischen  Voraus- 
setzungen  des  Systems  in  unversdhnlichem  Widerspruch  zu  stehen  schien. 

AUein  nur  mit  flusserster  Schuchtemheit  habe  ich  mich  mit  diesen 
sofort  tiefempfundenen  EinwSnden  hervorgewagt;  in  den  ^Beitragen  znr 
Charakterologie'  sind  sie  noch  kaum  angedeutet  —  das  zog  mir  den 
Vorwurf  der  Unentschiedenheit  meines  Individualismus  zu.  Erst  in  der 
Polemik,  erst  an  der  Seite  von,  spflter  gegen  E.  v.  Hartmann  erstarkte 
meine  Zuversicht,  bis  ich  allmflhlich  vorbehaltslos  mich  zu  einer  in- 
dividualistischen  Realdialektik  als  meinem  eigenen  System  bekannte, 
nachdem  ich  mir  lange  genug  hatte  sagen  lassen,  es  sei  nicht  nur  zu 
bescheiden,  sondem  auch  sachlich  inkorrekt,  mich  immer  nur  noch  als 
blossen  Anhflnger  Schopenhauers  einzufuhren.  Jetzt  nennt  man  mich 
wohl  noch  seinen  Schuler,  auch  mal  Junger,  —  aber  nicht  bloss  Apostel, 
sondem  —  die  Freundlichstgesinnten  —  auch  schon  Fortfuhrer  und 
Vollender." 


J.  C.  Becker  flndet  sich  in  den  Nummem  vom  19.  u.  26.  XII.  dieses  Jahres  in  der- 
selben  Zeitscbrift  Seiner  geringen  Meinung  von  dem  Bildungswerte  der  Mathe- 
matik  ist  Babnsen  auch  spftterhin  treu  geblieben. 

Nlmlich  dass  Raum  und  Zeit  ^bloss*  subjective  Anschauungsformen 
seien,  ohne  jegliches  objective  Correlat  im  ^Ding  an  sich*. 


-Mg   231  g«»- 


Bunte  iEcinnecungen  oue  5et  Bunftf4)ul$eit 

93on  ^and  3(^oma  in  %arteru(^e. 

„@it  fprady  )u  t^m^  fte  fang  ju  t^m;  ba  toafi  urn  t^n  gefd^e^n;  ^a(b 

jog  fie  Ufti,  tjalb  fanf  er  ijin  —  unb  warb"  t)cranlagt  nod)  me^r 

{U  fd)reiben*  92&mlid|  bte  ©d^rtftfleOeret,  bte  ^(aubemtre  in  ben  SOajfern 
ber  j6ffent(td)feit  ^at  ed  mit  mir  fo  gemad)t  —  92ad)bem  ed  urn  mid)  ge^ 
fc^e^en^  wollte  id)  nur  nod)  fiber  funjlt^eoretifd)e  Dinge  fpred)en  —  j.  ©. 
barfiber^  xoit  tin  ^unflprofefTor  feine  ®d)filer  ju  erjie^en  l^&tte,  barfiber^  n)ae 
rrc^t  unb  unred)t  in  ben  Z)ingen  ber  ^unfl  fei  u.  bgL  me^r^  and)  fiber 
aJIa(red)nif. 

Tlli  ^ortfe^ung  }u  ben  r,3(nf&ngen  ber  ^unfl''  f6nnte  man  auf  biefem 
®ege  fe^r  balb  ju  bem  @nbe  ber  £un{l  gelangen^  bort^in  too  ffe  mtt 
^tiniipitn  unb  $l)eorien  feflgenagelt  n>irb  unb  man  fagt:  fo  barf  ffe  fein 
unb  nid)t  anberd^  auf  a  fo(gt  jmeimal  jmet  ifl  t)ter/  ffe  ifl  ganj  fo  toie 
tc^  e«  meine,  ffe  i|l  l)ier  . 

Tluiti  id)  moOte  ungef&^r  in  ber  Hxt  etne  $ortfe$ung  fd)reiben/  id) 
blieb  aber  balb  flecfen  unb  mu^te  mir  immer  in  gar  mand)em  felbfl  xoiitxf 
fpred)en. 

£)ie  ^un(l  ifl  ^olt  bod)  eine  eigne  @ad)e^  am  @nbe  ifl  ffe  gar  fein 
^njip,  feine  Ztjtoxit,  fonbern  eine  tebend&u^erung^  bie  an  ^erf6nlid)feiten 
gfbunben  ifl  unb  nur  burd)  ^erfinlid)feit  am  Seben  eri)alten  merben  fann. 

^reilid)  loei^  id)  ti  audi,  ba^  ed  nid)t  gerabe  fd)tcflid)  ifl,  immer  nur 
t>on  fid)  felbfl  ju  fpred)en  —  ein  ^rinjip,  eine  $^eorie,  eine  Sbee,  eine 

®ad)e  Dorfd)ieben,  ba*  madjt  ffd)  ))ortei(t)after.  Tfber  id)  fd)reibe  je^t 

bod)  t)on  mir  felber  totittr  unb  jwar  Don  meiner  3(fabemie^  unb  Stubierjeit. 

(S*  ifl  niditi  95ebeutenbe*,  toai  id)  ju  bertd)ten  ^abe;  id)  fage  ba* 
je$t  fd)on,  um  nid)t  ?efer  ju  bemut)en,  bie  in  ber  ©rwartung  tttoai  Snter^ 
rffante*  ju  finben  ober  gar  3(uffd)Iu9  )u  erfat)ren  fiber  Dinge,  bie  niemanb 
fo  red)t  mei^,  —  e*  gibt  foId)e  IDinge,  e*  ffnb  fogar  bie  fiber  bie  am  meiflen 
geft>rod)en  wirb,  xoit  }.  95.  bie  ^unfl  —  mein  ®efd)riebene*  bi*  jum  @d)Iufre 
(efrn  unb  bann  firgeriid)  fiber  ben  3^itt)erlufl  fein  m6d)ten.  90enn  man 
t)on  ff(4  felber  fd)reibt,  fo  (iegt  immmer  etn>a*  t>on  3(nmafung  barin;  man 
fommt  ntd)t  um  ba*  ®effii)I  ^erum,  a(*  fei  man  ber  SRittelpunft  ber  3&tlt, 
um  ben  fid)  aOe*  brel)t  —  ba*  merben  aber  bie  «Oerm  Slad^baxti  nidft  iibeU 
nr^men^  menu  man  it)nen  t)ertrautid)  auf  bie  @d)u(ter  flopft  unb  fagt:  9tid)t* 
f&r  ungut/  J^err  flladibax,  ®ie  ffnb  ja  ebenfaO*  fo  ein  fRittelpunft 

Surd)  biefe  umfl&nblid)e  @inleitung  mill  id)  befagen,  ba0  id)  tro$ 
aSebem/  n>a*  id)  nun  erj&bl^n  n>ill,  ein  l)6flid)  befd)eibener  SRenfd)  bin,  ber 
fid)  r&ufpert,  ber  gletd)fam  auffallenb  bie  ®d)ut)e  pu$t  um  nid)t  jemanbem 
fiberrafd)enb  in*  «&au*  ju  fallen  —  aber  enblid)  mu^  fo  ein  l}6flid)er  SJIenfc^ 
boc^  ^inein,  fonfl  mid)te  ber,  ben  er  btSnd^t,  ungebulbig  merben. 


232  ^ 


di  til  betanntf  ba^  fd^&cf^fmie  Snenfd^en  oft  gerabe  in  bai  ©cgeittetf 
umfd)Iageit  —  fo)ufagen  frcd)  werben  —  bcnii  ba*  «0&fele  in  bcm  bit 
oerfc^tebenrn  (St9enfd)afteit  bed  STZenf d)en  betfammen  iDo^nen,  tfl  gar  Hein. 

fflun,  toil  tooKen  fe^en^  tote  ti  fcmmt  unb  tit  loelc^er  Utt  matt  mtc^ 
^tnaudfompltmenttert. 


Aaunt  totrb  loo^I  jemaK  ettt  junger  fRettfd^  mtt  me^r  f>tet&t  nttb 
Stefpeft  ttt  etite  ®(f)u(e  etngetreten  fettt^  aK  id)  tnt  Cftober  1859  tn  bie 
^unflfd)u(e  tit  AarKru^e. 

3tt  Qdiirmtxi  TlUlitx  iat)  id)  feine  9i(ber;  ti  toar  meitt  ^id)(ler  ffiuitf^^ 
and)  eiitmal  berartiged  ^eroorbrittgen  ju  f6ttnett  —  id)  ^atte  tai  freubige 
®ef&^(^  ba^  t(4  nuit  ^ier  ooOe  ©elegett^eit  i)abt,  mix  aUti  t^ierju  n6ttgf 
hnxd)  eifriged  Sentett  attjueignen. 

SOeittt  matt  fo  oom  Sorfe  fommt,  fo  ifi  eiiiem  bie  Stabt  mit  i^rer 
Stegfatnfeit  eitt  Sing,  bad  man  fiber  bie  SRa^en  anflaunt^  man  fd)eint  unter^ 
jugei)en  unb  bod)  f&tjlt  man  fid)  and)  getragen*  —  92un  burfte  td|  ja  mid) 
ifftntUd)  ali  SRaler  befennen^  burfte  mcine  ganje  3eit  auf  bie  mir  fo  Kebe 
$&tigfeit  oerwenben*  ®em  unb  n)iDig  folgte  id)  ber  nun  beginnenben  dx^ 
jie^ung  jur  Aunfl* 

®d)irmer  tjattt  fid)  mit  oiel  9B&rme  fiber  bie  oon  mir  eiugereid)ten 
Tlxbtittn  audgefprod)en  unb  „tn^d)itttn"  baju  gerateU/  ba^  id)  ^nfller 
merbe.  3d)  n)urbe  in  bie  Sfnttfenflajfe  aufgenommen^  in  ber  mid)  f>rofejTor 
des  Coudres  ju  grofer  ®enauigfeit  unb  ®rfinblid)reit  anieitete.  Siefe 
®rfinblid)reit  xoaxi  mix  bod)  fp&ter  ))on  gro^em  9}u$en;  id)  }eid)nete  ben 
SGBinter  fiber^  na^m  and)  am  f>erfi)ertiounterrid)t  teir^  auf  beren  ®efe$e  t<^ 
burd)  bad  ote(e  Seid^nen  nac^  ber  92atur  k>orbereitet  mit  befonberer  ^reube 
einge^en  fonnte. 

Tili  ber  ^rfil)(ing  fam  unb  ed  tm  Aunflfcf)urgarten  {U  grfinen  unb 
blfi^en  anftng^  fam  Ungebulb  fiber  mid)  unb  ber  3(ntifengi)[>d  (am  mir  gar 
6be  oor  unb  burd)  bad  (Sntgegenfommen  ®d)irmerd  nourbe  mir  auc^  erlaubt, 
aid  SSorbereitung  ffir  bie  ©ommerflubteU/  bie  id)  im  ®d)n)ar}n>a(b  madjtn 
tooUttf  einige  feiner  J6(flubien  fopteren  )u  bfirfen;  biefe  ftelen  }u  feiner 
ooDen  Sufrieben^eit  and  —  id)  malte  fobann  and)  im  Stnn9id)nlijef  einen 
®radbufd)e(  mit  @teincn.  9Rit  ben  J6(farben  xon^U  id)  ted)nifc^  fe^r  gut 
um}uge^en  k>on  meiner  3(nflretd)eri'  unb  U^renfd)i(bma(er}eit  ^er.  —  Sad 
3(ntifen)eid)nen  n>urbe  mir  nun  freilid)  noteber  um  fo  faurer;  nad)  Ud)i* 
monatlidjtm  Unterrtd)t  in  ber  3(nti(en(Ia{fe  burfte  id)  @d)irmerfd)fi(er  n)erben/ 
b.  if.  id)  ging  in  ben  ®d)n)ar}n)a(b  unb  matte  bort  nad)  ber  92atur/  unb 
mir  n>eld)em  @ifer!  9xad)t,  mein  aRitfd)fiIer^  fam  and)  unb  in  unferm 
@ifer  gingen  toix  oft  bed  ST^orgend  fort^  imi  @tunben  n>eit  in  ein  n>i(bed 
Zal,  um  —  einen  @tein^  einjelne  ^flanjen  ju  malen^  bie  n>ir/  n>ie  mir 


-1-8    233  8^ 


ti^tntiid)  (fiber  fa^ett/  ebenfo  gut  ^titter  bem  J^ani  in  9)emau  ffhtUn  maUn 
f6nnen;  n>tr  jlritten  uni  too^I  and)  nm  bit  ^SJtotiot,  bit  jeber  juerfl  tnU 
htdt  ifabtn  woUtt,  tit  toix  abtx  boc^  jule^t  fxittlidj,  metfl  Qtmtin^djaftlidi 
malttn.  Stefe  ®tubten  waxtn  wn  Au^erfler  ®rfinb(t(f)feit  unb  ®ad)lidiftit 
—  4ber  nid)«  witrbe  ^tnweggegangen.  di  gab  bamaW  nod)  feine  Ziftoxit 
^mobemer  (Smtngenfc^aft"  tm  Sarbenfet)en  —  bad  war  andj  gut  f&r  nni. 
Xai  ted)ntf(i)e  Serfa^rett  war  tn6g(ic^fl  tinfad),  ti  wurbe  prima  gemaU 
intt  jiemnc^  fl&ffiger  i6(farbe ;  bte  Sad^en^  ^on  benen  id)  itoc^  etnige  befl$e^ 
^aben  flc^  t)or}fig(td»  ge^alteU/  wai  id^  ijitx  anf&^re  ber  i6(fetnbfd^aft 
gegenAber/  bie  j^eutjutage  mtlfad}  bte  ^Btalttdinit  beuitru^igt. 

Tin  id}  tm  4^erb(le  btefe  ®tubten  ®d)irmer  jetgte,  fragte  er  mtc^: 
„iRaIen  ®te  ben  mtt  etnem  ®d)n>arifptege(?"  toai  idj  ntdyt  rec^t  t)erflanb; 
cril  fp&ter  entbecfte  td^,  ba^  btefe  Tixbtittn  ttwai  t)on  ber  jufammengefa^ten 
J^armonte  ^atten^  bie  mancf^mal  Don  SRalem  bnxdi  tai  9ttxad)ttn  in  etnem 
©d^nDarjfpiegel  angefhrebt  wirb. 

£o(4  wo  fomme  id)  tfin,  wenn  id)  fo  fortfa()ren  wtO;  id)  er}&^(e 
Z)tnge^  bte  ntemanb  ^6ren  wtIL  (Stgentit(4  woKte  id)  tin  wentg  fiber 
bie  3(fabemten  (o^tte^en  unb  nun^  wenn  idi  auf  metne  (Sriebntffe  {urficf^ 
ff^e^  fo  mu^  id)  fa(l  bet  aOem  fagen:  ti  war  tiQtntiid)  ganj  gut,  ba0  ti 
fo  war. 

93teUetd)t  fommt  bad  ®ut^et0en  bod)  bal)er,  ba0  tc^  )e$t  erfl  btefe 
Tlb^anblung  fc^retbe;  tc^  ^&tte  ffe  fur)  nad)  metner  3Cfabemte}ett  fc^retben 
foKen,  ba  ^Atte  t(4  ber  afabemtfd^en  (Srjte^ung  wo^I  \)itlfad)  f(4n(b  gegeben 
an  aDer  Aunflmtfere/  bte  mtc^  unb  anbere  jemaK  betrofen  ^at;  tc^  ^&tte 
vox  etwa  30  Sa^ren  mand)  )&nbenbed  3Bort  ber  Sntrfiflung  gefunben.  9lun 
6tn  id)  abtx  fxoi),  ba0  id)  bamaK  nid)t  gef(4rteben  ^abe^  obgfetc^  id)  benfe, 
tai  id),  befonberd  unter  ben  X&nftttxn,  mttfx  genetgte  9efer  ffir  mtc^  ge^abt 
tf&ttt,  obg(etd)  id)  wet^^  wte  etn  mtt  aK  fetnem  Sc^tcffat  {ufrtebener^SRenfc^ 
^en  anberen  metfi  tiid)ft  (angwetlig  t)orfommt. 

9l6rgefn  unb  frtttein  war  fxtilid}  nit  metne  ®ad)t\  and)  aU  tc^  iung 
toar  nid)t 

Tbnxd)  bit  3a()re  60  bid  66  war  tc^  immer  im  Sinter  im  —  ©inter 
auf  ber  ^unflfd)u(e  unb  wenn  ber  ®ommer  fam,  gtng  id)  nad)  ^txnan  unb 
ma(te  bort  ©tubien. 

3d)  war  in  ber  SWalftaffe  unb  malte  bort  *6pfe  unter  f>rofe(for 
<les  Coudres  Seitung.  —  Tlnd)  ^ier  war  des  Coudres  ein  DortrefKd^er 
?e^rer^  obgleic^  &berm&tige  ®d)filer  fiber  feine^  wie  ffe  meinten^  gar 
)U  arge  ©rfinbHc^feit  flc^  fufltg  mac^en  woOten  —  man  ffe^t  ti  fxtHid) 
oft  erfl  fp&ter^  toai  fo  eine  @runb(age  wert  i(l.  3unge  9eute  nennen 
ffe  wot)f  p()iliflr6d;  bod)  oergleic^e  it^  fit  mit  einer  guten  (Srjie^ung  im 
v&ttxUd)tn  J^aufe^  bie  auc^  fd)on  oft  einen  Wttnfd)tn  andi  bann  nod) 
^eleitet  i)at,  wenn  er  felber  unb  aOe  ®eU  gemeint  ^at,  ba0  er  fiber  bie 
®trdnge  ^aue. 

Sine  befonbere  Spifobe  in  bejug  auf  bie  malte(4nifd)e  (Sr)iet)ung  war 
ter  UnftntijaU  Sanond  in  AarKru^e,  feine  fpflematifc^e  fRaIted)nif  jog  fafl 
ade  jfingern  Afinfller  fe^r  an;  wir  fatten  bad  ©effi^I,  bnxd)  biefe  ®d)ulun9 
<ini  bem  ewigen  ^robteren  ^eraudjufommeu. 

SOddeutBche  Montuhefte.   1,3.  16 


234 


@einc  9Ret^obe  bcfianb  tm  «$crau^mobcatcrfn  ber  $orm  unb  ber 
Stdytgebung  mit  aufge^it>tem  SBctg  auf  bunf(ercm  ®runbf*  Die  ^arben^ 
flebuhg  wurbe  fobann  burc^  gafuren  erjielt^  bic  freiKc^  in  it)rer  (eud)tenbeit 
SmatltDirfung  tnaitd^  &bcrrafd)fnbeti  Stnbrucf  t)ert)orbra(^ten.  SebenfaH^ 
(mite  man^  burd)  Sanott  angmgt^  eine  @umme  wn  malted^ntfc^en  Tlui^ 
btuMmitUin  fennen^  bie  ^erniinfrtgem  @inn  )u  grogem  93ortei(  gereid^eti 
fonnten/  jugletd^  au(^  iDurben  n>tr  burd)  Sanon  juerfl  auf  bie  SRa(ted)itif 
ber  gro^en  SReifier  aufmerffam  gemad^t  entbrannte  aber  ein  Aampf 
{loifd^eit  ber  me^r  nad)  ber  fliliflifc^en  @eite  ^inffi^renben  Safurbe^anblung 
unb  bent  naturatiflifd)en  Z^idprimamalen^  ber  bie  ©etfier  entjweite  unb  ber^ 
oerquicft  mit  aUerlei  perf6n(id)en  9Biber^aarigfeiten^  eine  red^t  unerfreulid^e 
®eflalt  anna^m  —  bie  @ad)e  wurbe  bogmatifd). 

Siefe  )n>ei  tec^nifd)  t)erf(^iebenen  SSorgdnge  fe^en  fid)  aud)  burd)  unfere 
ganje  mebeme  SRalerei  in  gewifTer  Xrt  fort*  din  3(u^ff)rud)  9on  bem  fhreng 
prima  malenben  ieibl  ifi  ^ierfur  d^arafteriflifd):  aU  er  in  SRfind)en  ein 
93i(b  fa^/  ba^  i^n  fonfi  intereffterte^  fagte  er  migtrauifd):  „id)  glaub'  ber 
Stttl  (aflert!"  in  bem  Zon,  in  bem  man  im  @pie(  t)on  iemanb  fagt:  er 
mogelt  3n  biefen  fec^^jiger  3ai}ren  ma(te  id)  and)  einige  93i(ber^  meifl 
fleinere  Sanbfdjaften  unb  audi  ^igurenbilber^  Don  benen  id)  ^ier  unb  ba 
eined  an  einem  ^unfberein  Derfaufte,  bad  ®e(b  reic^te  aber  meifl  red^t 
tnapp  ben  SBinter  fiber;  im  ^rfi^Iing  —  b^Ib  mugte  ic^  —  gan}  jog  ed 
mid)  —  ging  id)  nac^  9emau*  9Rit  jugenb(id)  feligen  ©effi^Ien  ei(te  ic^ 
immer  t)on  ^reiburg  aui  fiber  bie  93erge  t)inauf  in  mein  (iebed  ^al; 

Den  ^(dneu/  mad  id)  nod)  maien  moKte.  9Benn  bann  and)  bad  SSoU^ 
bringen  Winter  bem  SBoUen  jurficfbiteb,  fleigig  mar  id)  unb  ed  entfianben 
Sti^e  Don  3^id)nungen  unb  i6l|lubien^  mit  benen  ic^  aber  red)t  (eid)t{Innig 
umging  —  Derlor  unb  Derfd)enfte  (le  —  Demid)tete  auc^  Dieled  bei  fpdtem 
3(ufentl)a(tdtt>ed)fe(n  —  menn  id)  nid)t  gerabe  eine  ^ifle  baffir  ^atte. 

Sin  )iem(id)  in  ber  bama(igen  3(rt  abgefdjloffened  9i(b  ifi  noc^  mo^I^ 
er^alteu/  ed  ifi  ein  (ebendgroged  ^ortrdt  meiner  SJIutter  unb  Sc^mefler  in 
ber  Sibel  fefenb;  id)  ^abe  ed  im  @ommer  1866  in  Sernau  gemalt  in  unferer 
fleinen  @tube^  mo  id)  mit  meiner  @taffe(ei  faum  ^Ia$  ^atte.  Sad  93i(b  ifl 
ganj  in  6anonifd)er  Xrt  mit  flfifiigen  Safuren  ^erDorgebrac^t  unb  ^at  fid^ 
augerorbentlid)  gut  er^alten^  —  tro^bem  id)  ed  mit  bem  DielDerrufenen 
(Siccatif  be  (Sourtrap  in  2ein6(  gemalt  ^abe. 

@e(^d  3ai)re  t)intereinanber  mieberi)o(te  fid)  ber  SBec^fel  jmifc^en 
£ar(drul)e  unb  Sernau;  i(^  miK  i^n  nid)t  fed)dma(  fd)i[bern/  aber  Don  einem 
ber  f(^6nen  @ommertage^  an  benen  id}  ber  «$eimat  jueilte^  miH  i(^  boc^ 
er)dt)len* 

Sd  mar  anfangd  3uni,  in  ^retburg  ^atte  ic^  fibernad)tet  unb  mad)te 
mid)  am  SRergen  auf  )u  bem  ad)tf}finbigen  98eg  nad)  ^ernau.  X)ad  gauge 
@ommerg(fi(f  ru^te  auf  meiner  @eele^  aid  idi  rfifiig  burc^  SBdIber  t)inan  in 
bie  9erge  t)inauffd)ritt.  @e  ganj  im  iugenb(i(^en  SSoKgeffi^Ie^  ber  SRitteU 
punft  ber  fficit  —  benn  allcd  gel)6rte  ja  mein  mad  id)  fa^,  ffir  mid)  mar 
bie  @e(t  ba.  3d|  ffit)(te  mtd)  a(d  bad^  mad  man  feit  9?te$fd)e  I)eut2utag 
eine  ^J&errennatur"  nennt*  3fm  3ffittage^  aid  id)  bie  t)6d)fle  »06l)e  meiner 
H&anberung  erflieg^  bie  „^alie'%  baUten  ffd)  bie  ben  Sormtttag  Derfldrenben 


235  8-0- 


»etf en  SQoIfen  )u  einem  ©etottter  jufammen^  bad  fiber  ber  St^etnebene  flanb^ 
fafl  unter  mir;  feme  9[i$e  jucften  bid  in  bie  9erge  ^infibcr^  ber  'Conner 
Mang  mir  wie  ein  3aud))en  bed  libermuted  in  ber  dlattxr  —  Stegenfd^auer 
iDecf)fetten  mit  ®onnenb(i(fen.  (Ed  tarn  fo  etwad  n)ie  @d|ipferfreube  fiber 
«tt^  —  benn  war  nid)t  biefe  ®rogartigfeit  unb  ^ra^jt  ffir  mic^  ba?  — 
war  id)  md)t  baju  berufen/  fie  )u  fe^en? 

®tille  3(nbetung  unb  frd^Iid^ed  3ube(n  erffiHten  meine  @ee(e  unb 
^itte  id)  SQorte  gefunben^  fo  tt>fire  mein  ®efang  ein  ^fa(m  gen>efen. 

aKan  mug  freific^  jung  fein,  um  bied  SBonnegeffi^l^  bied  J&errfc^er^ 
geffit)!  fo  ganj  ju  ))erflet)en  —  aber  id)  tfabe  ed  noc^  gar  flarf  in  ber 
Qhrtnnentng,  unb  fo  fd)dme  id)  mid)  and)  gar  nid)t  meiner  bamaltgen 
«&od)gemutl)eit  —  fo  aOein  auf  bem  9erge^  g(eid)fam  mit  ben  93(i$en 
fptetenb* 

Dad  ©emitter  Derjog  fic^^  ein  prfid)tiger  SRadimittag  begleitete  mid) 
ind  Zal  l)inunter  an  ben  9dd)en/  burc^  bie  blumigen  SBiefen  entlang  an 
ben  ®d)n)arin)a(b^&ufern  vorbei*  Da  man  fid)  nun  nid)t  all{u(ang  auf 
bem  ©tanbpunft  einer  er^abenen  @timmung  fefi^alten  fann,  fo  murbe  mir 
toteber  menfd)(id)  {umute^  id)  murbe  fr6^(id)en  J^erjend  unb  fo  grfigte  id) 
aOe  mtr  Segegnenben* 

92un  mug  i(^  aber  ein  Sefenntnid  ablegen:  ed  fam  eine  Tltt  wn 
(iiUlUit  fiber  mic^  —  ed  war  mir^  a(d  ob  mein  3(ngefi(^t  gf&n)te^  fo  bag 
bie  aRenfd)en  ed  mir  g(eid)  anfe^en  mfigten^  bag  id)  etwad  (Srtrad  fei  — 
fo  einer^  ber  nod)  Saten  ju  Derric^ten  ^at  —  ein  ^Sorjugdmeufd)"^  n>ie  id) 
feitbem  ^unfiler  ftc^  nennen  ^drte* 

Btoti  @tunben  Don  ^ernau^  um  mid^  jum  neuen  unb  (e$ten  3(nflieg 
auf  ben  9erg  )u  (Idrfen,  fe^rte  id)  im  „J&irfc^en"  ein. 

Die  fflirttn,  eine  be^dbige  ©auerdfrau,  bvadiU  mir  bad  „(Bd)ippUiti 
»om  ©eflen",  bad  id)  ein  menig  grogtuerifd)  befleflt  t)attt  —  nun  famen, 
wie  id)  ed  n>ol)I  ern>artete^  bie  gebrdu(^lid)en  ^ragen^  im  SBerfauf  berer  id) 
))ori)atte^  ber  SOSirtin  fo  nac^  unb  nac^  beijubringeu/  n>ad  ffir  eine  Tltt  Don 
9Renfd)enfinb  ffe  Dor  ffd)  ^abe. 

,,SBBo^er  bie  SReif'?"  33on  Jtarrdrube  fagte  id).  ,,®o  fo,  Don  ^arlidrui, 
bed  ifd)  n>it  l)er!  9Bo  go^t  je)  b'  fReid  t)in?"  3c4  n>i([  je$t  noc^  nad) 
©emau  ^inauf.  —  ,,®o  fo  ffnb  ffe  do  ©emau?"  3a  aber  —  id)  wo^ne 
ie$t  fd)on  rdngere  3eit  in  StavHtni)e !  —  9lun  foflte  bie  enoartete  Jrage 
fommen,  wad  id)  fei,  —  aber  ru^ig  fal)  bie  gran  mid)  an  unb  fagte:  ^®o, 
fo/  ffe  finb  gewig  en  ©d)niber!"  —  Dad  fagte  fie  treu^erjig  o^ne  alien 
tronifd)en  J^intergrunb,  bag  ic^  alien  SDIut  baju  Derlor,  nod)  weiter  mit 
meiner  9Qid)tigfeit  imponieren  ju  moUen,  mein  @d)6pp(ein  }at)lte  unb  ben 
©erg  ^inanfiieg  —  id)  gefle^e  ed,  ein  wenig  gebucft  —  bod)  mugte  id) 
balb  fiber  mid)  felbfl  unb  bie  gan}e  Situation  t)er}lid)  lad)en.  Died  ®e^ 
budtwerben  war  aber  auc^  ganj  gut  {wei  ©tunben  Dormer,  e^e  id)  in 
ittifer  armed  ®d)War{walbft&bre  wieber  einfe^rte.  Xrm  war  bie  «$eimat, 
aber  reic^  burd)  unerfd)6f)fli(^e  SRutterliebe,  bie  mic^  ^ier  wieber  um^ng  — 
bte  mid)  gleid)  umfangen  i)aben  wfirbe,  ob  id)  a(d  groger  Afinfller,  aid 
®4neiber  ober  fogar  aid  SBagabunb  ^eimgefe^rt  wdre.  J^ier  war  id)  un^ 
6efMtten  ber  ,,Sorjugdmenfc^". 

16* 


236 


3n  ber  fd)6nen  SAmmerflunbc  fam  idj  burd^  bai  ffeebuftenbe  Zat, 
fe^nffic^ttg  cxtoavtet  wn  abutter  uitb  ®d)n>efler! 

Stun  toax  id)  n>teber  f&x  etn  paar  SRenate  in  bic  groge  3(fabemie  ber 
dlatux  ))erfe$t^  fo  ba^  auc^  t)ter  ^Cug  tttib  J^anb  )ur  &un^  erjogen  n>urben;  benn 
idl  toax  fc^r  flet^tg  unb  ))erfu(^tc  gar  t>itM  nad))umad)en,  n>te  bit  fflatvLt 
mir  ))ermad)tf.  3(ud)  9id)fr  tiatu  id)  aui  ber  ®tabt  mitgebrad^t;  au^er 
®oet^ed  ®ebt(^ten^  bie  mic^  burc^  ^elb  unb  SBalb  begleiteten^  ennnere  id) 
mid)  befenberd  an  Dfitan  unb  3ean  ^aut  —  bad  Snibelungenlteb  unb 
®ubrun  (emte  fennen^  and)  J^omer  unb  Z)ante.  (ii  fontmt  wx,  bag 
etn  ^irfler^  ber  in  ber  ®(^u(e  fo(d)e  Dinge  nid)t  fennen  (ernte,  Hd)  fp&ter 
fe^r  begierig  barauf  (hlrjt  Die  9ibe(  noar  mir  fe^r  oertraut  unb 
pfalmenartig  ipxad)  oft  bie  SRatur  ju  mir. 

2)ie  9t&(ffe^r  in  bie  fleine  Tltabtmie  in  AarKru^e  fc^ob  ic^  immer 
fo  (ang  tt>ie  miQlid)  ^inaud.  J6fterd  ging  id),  um  nidyt  in  Freiburg  fibers 
nad)ttn  ju  miiffen  unb  ben  Bug  ttac^  Aarldru^e  )u  exxtid)tn,  in  9emau 
fp&t  nad^  9Rittemad)t  fort  Surd)  bie  fi^neereic^e,  mit  Sd)toad)m  SRonb^ 
Hd)t  befeud^tete  92o))embernad)t^  nac^  fd^noerem  3(bfd)ieb  Don  ben  ^iebeU/ 
ging  id)  in*  Zal  ^inunter  —  bie  ^elfen  unb  bie  raufd)enben  SDBafferf&He 
gebdrbeten  ffc^  gan}  n>i[b  in  ber  un^eimlid^en  f!lad)tftiUe;  toie  toax  mix 
bod)  fo  id)tO€x  um*  J^erj^  n>ie  fo  gar  bunfel  lag  bie  Sufunft  Dor  mir  — 
bie  @orge^  n>ie  e*  weiter  mit  mir  ge^en  n>erbe.  dlad)  Dierftfinbigem 
SBanbern  ging  ber  iRonb  unter^  unb  id}  mugte  burc^  einen  bunflen  ®afb/ 
in  bem  ber  befc^neite  9Beg  mic^  (eitete  —  aber  and}  ©orgen  mac^en  fnxd)U 
M  unb  ffe  waren  ftdrfer  aH  aUe  Snad^tgefpenfler.  Unf  ber  J^alben^i^e^ 
Don  too  id)  einft  in  ba*  @ommergen>itter  ^ineingejubelt  \}atte,  begann  ein 
®d)ein,  toit  Don  einer  id)toad)tn  Z)&mmerung/  bie  @d)nee^a(ben  aufju^eHen 
—  ein  SXofaDiofett  er^ob  i\d)  an*  bem  Dunfel  —  ein  faum  merflid^er 
^axbtnljand),  ber  nur  auf  ber  fRein^eit  be*  weigen  ©d^nee*  ffd)  geltenb 
madden  fonnte  —  an*  biefem  Slofa  tond)i  ber  SWorgen  ^erauf.  Xuf  ber 
Ie$ten  J&6^e  uber  ^reiburg  (ag  biefe*  unb  ba*  gauge  !Ht)einta(  einge^&Kt  in 
bid)tem  SRebel  —  oben  auf  ben  ©ergen  war  ber  ^elle  9Rorgenfd)ein  —  bie 
®onne  bxad)  ^erauf  —  aber  id)  mugte  ^inunterjleigen  in  ben  SRebel;  grau 
war  ^reiburg/  grau  bie  ^a^rt  nac^  AarKru^e^  unb  e*  bfieb  mir  lange 
ba*  ®efii^(^  a(*  ob  ber  ®(^n>ar{n>aib  golben  n>&re. 

3n  ^arKru^e  padte  id)  bann  meine  @tubien  ani,  t^egierig^  n>a* 
^rofefforen  unb  SRitfc^&Ier  baju  fagen  n>&rbem  Die  ^itif  xid)ttU  \td)  faft 
immtx  gegen  bie  grofe  ®enauigfeit  unb  3(u*ffi^r(i(^feit;  unb  &ber  einen 
98eibenbufd)/  ber  Hd)  fiber  ben  braunen  ^ad)  neigt^  ben  id)  jiemlid)  gro0 
toie  tin  StiUeben  ma(te  —  jebe*  V^latt,  {wifd^en  ben  @teinen  gan}  Dome 
jeben  ®ra*^a(m  —  an  bem  id}  im  ®ommer  1864  mod^enlang  gearbeitet 
f}atu,  tonxbe  id)  eigentlic^  an^itlad)ti  woju  benn  fo  etma*  ma(en^  e*  fei  ja 
fein  SRotiD*  —  3d)  bin  nod)  im  9eff$e  biefer  @tubie  unb  freue  mid)  an 
biefem  inttmen  @piege[abbi(b  eine*  fd^inen  &thdUini  fllatnx,  —  jebenfaO* 
^abe  id)  metfx  92u$en  baDon  ge^abt^  aK  tt>enn  id)  Z)u$enbe  Don  mobemen 
^arbenfe^en*errungenfd|aft*momentffi{{en  gemadjt  ^&tte* 

(Si  famen  bie  SEBinter^  n>o  id}  al*  9Reiflerfd)&Ier  Silber  malen  burfte» 
Z)a*  id  eine  gar  ^eifle  3eit  —  n>a*  foO  man  nun  malen?  n>ie  foUen  bie 


237  ^ 


93t[ber  au^fe^en?  —  2)ad  @enrebi(b  fiatib  tjodi  im  ^Cnfe^ctt/  and)  id)  )9tu 
iudjtt  aOcrlet^  aber  jeigte  fidi  eiii  ^onfltft  —  bte  Srfd^etnung  ber  dlatnx 
Sptad}  fe^r  )u  tntr  —  aber  bie  (ErjA^fung^  bie  bai  ®enrebtlb  tnc^r  ober 
minber  geifhreid)  audbrficfett  foUte^  tarn  babei  ju  Sdyaben.  Xud)  ba6  Sanb^ 
fc^aft^malen  t)attf  feine«Oa(feit;  in  ber  ®c(^trmerfd|u(e  mugte  man  {ompomeren 
lemeit  —  ba«  fonnte  id)  gen)6^nlid>  nic^t  mit  ben  (Sinbrftrfen,  bie  mir  ber 
@d)tt>aritt)a(b  Qemadft  \)attt  unb  Aber^aupt  mit  bem^  n>a^  id)  bt^^er  gefe^en  f)atu 
an  Sanbfc^aft^natur^  Dereinigen;  bie  @d)n>ar}tt>d(bertannen  mUten  fid)  fd)on 
gar  nic^t  f&gen^  and)  bie  (angen  tDergr&cfen  nic^t^  unb  gar  bie  langt^in  fid) 
(ie^enben  bunten  9Biefen  —  bie  ju  malen  burfte  man  gar  nidft  benfen. 
3d)  bac^te  bann  mit  anbem^  ed  mu^  n)o^(  Sdnber  geben  mit  brauc^barerer 
Serrainbtfbung  unb  n>o  bie  9&ume  nic^t  g(eid)  )um  2Ba(be  werben  unb  bie 
SBiefen  faum  eine  dtoUe  fpielen*  Z)er  (iebe  @d)n>arin)a(b  mn^tc,  fo  (eib  ei 
mit  and)  tat,  f&r  unmalerifd)  erfl&rt  noerben.  3n  Stalien  mirb  mo^I  bad 
ric^tige  fein;  barauf  freuten  wir  nni. 

diner  ber  @(^innerf(^&(er  ifl  aud)  toittUd)  audgejogeu/  urn  bie  rid)tige 
Serrainbilbung  )u  ftnben;  er  fanb  in  3talien  and)  nod)  nid)ti  ttd)tt^  unb 
fam  nac^  Samadfud^  too  er  enb(id)  ein  tt>irf(id)  gut  gebauted/  )um  93i(b 
braud)bared  terrain  fanb;  aK  er  fi(4  <iber  ^infe$te^  ^aben  i^n  (eiber  bie 
9)ebutnen  mit  @teinn)firfen  Derjagt  —  fo  mar  feine  9tetfe  eigent(id)  jmecflod/ 
n>ie  er  felber  eingeflanb* 

(Erfl  ber  Unftnttjalt  in  9emau  befreite  mic^  Don  biefen  Stnnittotiif)titif 
jmeifeln;  b*  ic^  ^ie(t  9emau  ffir  unma(erifd)^  aber  ba  id)  boc^ 
arbeiten  nooUte^  ma(te  id)  ©tftcfe  and  ber  ^atnt,  toit  fie  mir  gerabe  gefielen 
—  man  nannte  bad  @tubie  unb  ed  frifiete  in  ber  £unfiben>ertung  eine  arm^ 
felige  aiofle;  e*  war  ja  nur  aSittel  jum  3»ed^   Die  3»ede  (lanben  im 

^nftoerein  bie  fomponierten  ©ilber.  J&ier  fd)(ie9e  id)  meine  ®d)reiberei; 

benn  bad  Silbermalen  fle^t  Dor  berSfir^  unb  bie  SReinungen  ^ier&ber  Der^ 
f&^ren  einen  fo(d)en  ^jptttaM,  bafi  mir  bie  geber  entf&dt. 


£m  XOott, 

Son  TCbolf  ®d)mittbenner  in  ^etbetbers. 
1. 

SBBA^renb  feiner  ganjen  3Banberfd)aft  ^atte  auf  ben  ©ddergefetten 
Tinton  SBur)  and  @enfenbad)  nic^td  einen  fo  tiefen  (Sinbrucf  gemac^t 
ali  tin  98ort  ber  9Qeidt)eit^  bad   er  jmifc^en  Singen  unb  (Sit»iUe 


238  8^ 


aud  bem  SRunbe  einti  bet  iRainj  geb&rttgen  ^anbwerKburfd^en  t)m 
nommen  ^atte. 

Stefer  loar  in  £6(n  cingcfitegen  unb  tfattt  bid  in  bie  ®egenb  ))on 
93a(^arad^  untcn  tm  @d)ifdraume  bed  @c4Ie))perd  in  irgenb  einem  bunfein 
SBtnfel  gefc^Iafem  Sann  fant  er  mit  blinjelnben  Xugen  aufd  Serbetf  ^erauf 
unb  fpojierte  im  greHen  ©onnenfc^ein  auf  unb  nieber.  3fnton  fflurj  ge* 
fellte  fid)  )u  i^m^  unb  bafb  f&^rten  bie  beiben  etn  befe^renbed  ®efpr&(^ 
liber  bie  SRa^rungdmittel  ber  Derfcffiebenen  S86lfer,  tt>ie  ber  Jriedl&nber, 
ber  ffleflfolen,  ber  (Smmeric^er,  ber  Ailner  unb  ber  @enfenbad)er.  Uli  ber 
&d)kppex  gegen  ben  2ur(eife(fen  tftxanhod^,  {og  ber  snainjer  fetne  ®tiefe( 
and/  fe$te  fid)  auf  eine  Aifte^  tjoUe  and  feinem  ^^Ueifen  93&rfie  unb  9&d)dd)en 
unb  begann  feine  ®tiefe(  }u  wid^fen.  @r  na!)m  flc^  3eit  )U  bem  ©efd^dft 
unb  n>id)fte  funflgerec^t  unb  (iebeDoU.  liberaud  ^dufig  fpudte  er  in  bad 
werbenbe  ®erf.  3ebedma(^  tt>enn  er  bied  getan  tiatte,  htif  er  3(ugen  unb 
ivppcn  )ufammen^  unb  bie  93iirfle  faufle  i)in  unb  wieber^  a(d  ob  fie  Don 
einer  9Rafd)ine  getrieben  w&rbe*  3(Um&^(id)  Derlangfamte  ffd)  i^r  ^fug^  bie 
3(ugen  unb  bie  iippcn  tattn  Hd)  frdbfid^  auf^  unb  bie  gf&njenb  fd)n>arse 
^[ddie  bemfi^te  fld)^  ein  @piege(  {u  fein*  dlod)  n\d}t  ^eK  genug^  fagte  ber 
SSainjer  )u  bem  bemunbernb  jufd^auenben  3(nton  SBurj^  ff)ucfte  wn  neuem 
mitten  in  bad  Aunflwerf^  mad)U  tin  grimmiged  ®eftd)t  unb  micelle  toit 
ein  $einb.  ^urg  t)or  Wiibed^eim  mar  ber  STOainjer  fertig  geworben,  3e$t 
bin  id|  ba(b  ba^eim^  fagte  er  unb  flieg  wieber  in  ben  @d)iffdbaud)  ^in^ 
unter.  dlad}  einer  SEBeile  fam  er  J^erauf  mit  offener  Sade  unb  offener 
SBefte^  n)oraud  eine  fd)neen)ei0e,  n>unben)o((  gen>6(bte  J^embenbrufl  Uudjtett. 

3a,  fagte  er,  (dd^elte  unferen  Unton  SBur)  freunbKd)  an  unb  meibete 
fic^  an  feiner  ©ewunberung* 

9Ber  ein  mei^ed  J^emb  unb  gen>ic^iie  @tiefe(  tfat,  ifl  ein  feiner  SRenfd). 
3Hfo  fprad)  ber  STOainjer. 


2. 

Diefed  9Bert  mac^te  auf  ben  SdcfergefeOen  einen  tieferen  dinbtud 
aid  ber  «Oamburger  «^afen  unb  aH  ber  A6tner  X)em*  Tinf  ber  (Sifenba^n^ 
fa^rt  »on  SRainj  nad)  ber  *^eimat  »er|ledte  er  bie  gftge  unter  ber  ©anf, 
benn  er  fd^dmte  (Id)  feiner  ungepu^ten  ©tiefel,  3n  ^eibelberg  faufte  er 
fid)  eine  ©dju^burfle  unb  eine  2Bic^dfd)a(^teI,  einen  ^apierfragen  unb  eine 
gejldrfte  baummoHene  J&embenbru(L  3m  ©eftfie  biefer  4&errlid)feiten  fragte 
er  fid)  burd)  bid  jur  @d)togruine,  fa^  aber  ^ier  weber  red)td  noc^  linfd, 
weber  ^inauf  nec^  ^inab,  fonbem  fuc^te  ein  bdmmeriged  unb  einfamed 
^(d$(^en*  dt  fanb  ein  fe(d)ed  in  bem  ^eUergewMbe  bed  £)ttt)einri(^baued. 
J^ier  Derfd)n>anb  er  im  J^intergrunb^  unb  nac^  einer  93ierte(flunbe  fUeg  er 
aid  ein  feiner  iRenfd)  in  bie  ®tabt  ^inunter.   3((d  er  brunten  n>ar,  ftel 


239 


tl)m  cin,  bag  in  «Oeibe(berg  etne  beru^mtc  @e^endn>&rbtg(ett  Q&be,  nhmlidj 
ta€  groge  ^ag*  dt  fragte  etnen  Dtcnflmaitn/  n>o  bad  groge  ^ag  tt>dre, 
unb  n>urbe  itac^  ber  $ui)rmanndfnetpe  gen)tefen  ,,3tini  gregen  ^ag".  @r 
a§  etnett  J^anbfdd  unb  tranf  etn  ®la^  93ter.  2(K  er  bamtt  ferttg  wav^ 
toarrete  er  auf  bte  Singe/  bie  ba  fommen  foUten.  @d  tarn  abet  ntdytd 
weiter,  aid  bag  bie  ^eKnerin  it)m  fliOfd^weigenb  etn  {Weited  ®Iad  brad)te. 
TCnton  ®ur)  ja^Ite  unb  fagte:  3e$t  wiU  id^  mir  aber  bte  ®c^d)idite  an^ 
Utftn,  id)  i)abe  nimmer  (ang  ber  S^it  —  ^itv  tfl  nidjtd  wetter  anjufe^en^ 
fagte  ba*  9»Abd)en;  wad  wollen  @ie  benn?  —  Sad  groge  5<^g!  —  J&a, 
(ad^te  bad  iDIdb^en^  bad  (iegt  ja  broben  auf  bent  @(i)[og  tm  SttUex.  — 
jDrum  waren  fo  Dtele  Seute  breben^  fagte  er!  dv  ging  aber  nid)t  nod) 
etnmal  ^inauf^  fenbern  faufte  (id)  int  n&c^iien  93ud)btnberraben  eine  ^^oto^ 
grap^ie  k)em  grogen  %a^.  dv  betrad)tete  ffe  anb&d)tiQ,  (ieg  fte  fid)  in 
®eibenpapier  einwicfein  unb  fagte:  3e$t  ift  ed  gerabefo/  aid  ob  idy'd  felber 
gefe^en  ^Atte.  

3(Id  er  ba^eim  angelangt  war  unb  fid)  audgerut)t  t)atte/  trat  er  bei 
feinem  Sater/  ber  and)  ein  9dcfer  war^  in  Sienfl.  Z)ed  SIbenbd/  wenn  er 
bei  feinen  fdjwabronierenben  ^ameraben  auf  ber  ©trage  flanb,  blieb  er 
(litte  unb  t^er^ielt  jid)  fo,  aid  06  feine  SBanberfdjaft  nid^t  weiter  aid  bid 
ttad)  SQetbad^^aufen  gegangen  w&re.  ^ber  wenn  er  mit  einem  eber  mit 
SWeien  beifammen  war,  befenberd  bei  ber  Hxbtit,  rficfte  er  aOmd^Iic^  mit  bent 
l)eraud,  wad  er  eriebt  unb  gefet)en  ^atte  in  ber  weiten  ffielt  (Sr  erjd^Ite, 
wie  birf  (le  in  (Smmerid)  bie  ©utter  aufd  ©rot  fd)mieren,  unb  wie  man  im 
<J^amburger  Sierlanb  beim  ®d|weinefd)Iad)ten  t)erfd^rt,  unb  bag  er  auf  ber 
ffieferbrfltfe  )u  ©remen  einen  9Rann  gefe^en  ^abe,  ber  flc^  eine  Sigarre  an^ 
)finbete  mit  einem  Sfinb^olj,  bad  mitten  im  ©turmwinb  nid^t  eriofd)*  Tiber 
bad  98ort  bed  SRainjerd  blieb  fein  perf&nli(^er  9Beid^eitdf(^a$,  ben  er  fftr 
ffd)  allein  be^ielt  Urn  fo  ^eOer  fhra^Ite  bad  Sid^t  feiner  ge^eimen  98iffen^ 
fc^aft  and  feiner  (Erfd^einung. 

@o  gldnjenbe  @tiefel  wie  er  trug  feiner  im  ©tdbtd^en,  unb  ba  in 
@enfenbad)  fein  @ee  Dor^anben  ifl,  worinnen  ^d)  bie  Sonne  ^dtte  fpiegein 
finnen,  befa^  fte  itft  fc^ined  Xngeffc^t  am  liebften  in  ber  J^embenbruii  bed 
©drferd  3(nton  iffiur}. 

98eil  er  fleigig  unb  fittfam  war,  mod^te  i^n  jebermann  leiben.  @r 
aber  meinte,  feine  ©eliebt^eit  rfi^re  bat)er,  bag  er  bem  ®runbfa$  bed 
aXainjerd  nad^Iebte.  Sarum  tat  ed  i^m  unenblic^  wo^I,  wenn  er  beffen 
tnne  wurbe,  bag  man  i^n  mod)te,  unb  er  Sd)antt  bam  wol)I  in  gerfi^rter 
Sanfbarfeit  an  fid)  ^inunter  fiber  bie  fhra^Ienbe  9B6lbung  feiner  «Oemben^ 
brufi  md)  ben  @pi$en  feiner  ®tiefeL 

3n  einem  foId)en  Tlugenblicf  war  ed,  bag  er  fein  ©e^eimnid  einem 
9)?enfd)en  mitteilte;  biefer  einjige  flRenfd^  war  feine  ©rant  Z)ad  ging  fo 
}u.  Sr  ^alf  i^r  beim  SBdfd^eaufftetfen,  wenige  Sage  Dor  ber  J^oc^^eit  (Ed 
war  ein  fd^iner  ®ommerabenb,  ein  «0dnfling  jwitfc^erte  im  ^flaumenbaum, 
unb  neben  ber  SBiefe  murmelte  ber  ^ad).  Z)a  warb  ed  beiben  wetd^  umd 
J^er).   @ie  liegen  bie  Xrbeit  fein  unb  Iel)nten  ftd^  aneinanber. 

Z)ad  fann  id)  n\d)t  begreifen,  bag  bu  mid^  ^aben  magii,  ftng  bad 
andbc^en  an;  bin  id)  bod)  weber  jdfin  nod)  veidf. 


240  ^ 


Z)a  fc^Iang  Tlnton  98ur}  bcwegt  ben  7(xm  utn  feme  ^tant,  gab  ii)r 
etneit  ^fl  unb  fagte: 

@te^V  intf  gerabe  umgefe^rt  ali  btr;  td^  fann  fe^r  gut  6e^ 

gretfen/  ba^  bu  mid}  (teb  ^afl.  Daratt  t(i  ber  SD^atnjer  fc^ulb.  ®ott  foE^^ 
t^m  fo^nen*  Sid)  )ie^t  ed  gum  ^ettten  ^tn.  9Qer  etn  toei^e^  J^emb  unb 
getotd^fle  ®tiefe(  t^at^  ber  ifi  ein  fetner  SRenfd). 

Tim  @tiefe(n>id)fen  unb  am  SBafd^en  jotVi  bei  und  etnmal  ntd)t  fe^Ien^ 
lad^te  bie  35raut.  

Unb  fe  gef^a^  e^  auc^^  unb  aUei  gtng  gut  @te  (ebten  ftitbtid}  unb 
t^ergnigt  nttt  etnanber  unb  gewannen  ffc^  tmmer  (ieber. 


*  * 


9a(b  nad)  ber  ^aufe  bed  jweiten  ®6^n(etnd  n>urbe  3(nton  SBurj  )u 
fetner  le^ten  ?anbn>e^rfibung  etnberufen*  9Bar  ed  bidt)er  fein  ®tof)  ge^ 
wefeu/  ba^  in  feinem  SO^ilitdrjeugnid  fetne  einjige  @trafe  Dermerft  n>ar/  fo 
fe^te  er  aU  feine  Araft  baran^  aud^  biefed  (e$te  ®t&(f  feined  @o(batenIeben« 
mit  diften  }u  befte^en*  3fnten  war  fein  Hvammev^  abet  tin  fe^r  orbentridyer 
unb  ubetaui  fauberer  9&ff(ier,  unb  n>enn  er  and)  gerabe  (einen  friegerifd^en 
Sinbrucf  tfcvoonief,  fo  gab  er  fid)  bod)  bie  reblid)fie  SRfi^e,  ailed  red)t  ju 
niad)en,  unb  er  empftng  manc^en  Sobfprud)  wn  feinem  «^auptmann. 

3u  btefem  feinem  J^auptmann  l)atte  3Cnton  3Bur}  eine  SBere^rung  unb 
etne  Siebe  gett>onnen^  n>ie  nod)  {u  feinem  anberen  9Renfd)en*  @r  fa^  }u 
i^m  ^inauf  n>ie  )u  einem  ^i^eren  SGBefen.  Z)ie  ^oflfarte^  bie  er  an  feine 
$rau  fd)rieb^  ^anbelte  Don  jfeinen  ©trflmpfen  unb  Don  feinem  «&auptmann; 
er  pried  biefen  mit  ben  Xudbr&cfen/  bie  er  (id)  and  ben  3ufd)riften  feiner 
SBBei^e^IIieferanten  angeeignet  ^atte:  3d)  fag^  X)ir/  J^anndyeU/  unfer  J^aupt^ 
mann  ift  fein^  prima^  erfle  @orte,  non  plus  ultra;  er  tjat  mid)  geflem 
wieber  gelobt^  ba  IjaV  idj  nid)t  gewu^t^  n>o  id)  ^infd)auen  foil. 

Xld  bie  Dfpjiere  ber  ^ompagnie  itfv  3(bfc^iebdmat)l  feierten,  wurbe 
Tlnton  9Bur}  mit  )tt)ei  anberen  2anbn>e^rmdnnem  auderlefen^  bei  2ifd)e 
auf)utragen*  3(nberen  Sagd  rief  ber  J^auptmann  nad)  ber  libung  bie  bret 
}U  ffd)^  gab  jebem  ein  ©olbfliicf  unb  f&gte  ^inju:  9ringt  euren  ^rauen 
etmad  J^fibfd)ed  mit! 

9B&^renb  Tlnton  9Bur)  mit  bem  ®o(bflficf  in  ber  ^anb  an  ben  Sdben 
ber  J^auptfhra^e  ^inn>anberte/  erging  er  ffd)  in  bem  @ebanfen :  SD^eine  ^rau 
bat  einen  Bug  }utn  ^eineu/  bedtiafb  tjat  ffe  mid)  fo  Iteb.  Unb  er  trat  in 
einen  @d)mucflaben  unb  faufte  fid)  brei  golbene  J^embentnipf^en.  Sflid}t 
meit  t>on  bem  ®oIbfd)mieb  tt>ar  ein  SQei9tt>arengef(^dft  «Oter  faufte  [fid) 
Tlnten  Don  bem  9tefle  bed  ®elbed  nod)  eine  tt>unberfc^6ne  «Oembenbrufi  mtt 
brei  gefiidten  £nopfl6c^em. 

S^ann  flanb  er  noc^  eine  ffieile  Dor  einem  iabtn,  tt>orinnen  3(nbenfen 


241  8*4^ 


an  tit  ®amtfoti  }u  faufen  toaten.  9Bettn  id)  betttett  9Iainen  itnb  bcinen 
ffie^nert  toi^U^  ba^te  bie  trcue  @ee(e^  fo  toflrbe  td^  bit  etn  9ilb  ))on 
9taftatt  fdytcfen^  bu  fteber  S)7ain}er*  £enn  tttrmanb  tfl  fc^ulb  baratt/  bafi 
mtd^  ber  «Oatiytinann  fo  gent  tfat,  aU  bit  adetn. 

Tim  3(beiib  ti>ar  bie  (e$te  SorfteOuttg  in  ber  Aaferne*  Die  bret  2attb^ 
toe^rm&tttter^  bie  bei  ber  Zafel  aufgenoartet  \)atttn,  flanben  nebett  einanber. 

SBBad  ^abett  ®ie  benn  gefauft?  fragte  ber  «Oaupttnaittt  bett  erften. 

Sinett  Stegenfd^inn  ttnb  eitt  ^opftud^  fAr  ttteitte  ^rau. 

©0  i|l'«  red^t.   Unb  ®ie? 

£(eiberflof  f&r  unfre  brei  ^nber* 

Z)er  J^attf)ttttantt  nicfte  freunblic^.  Unb  Knton  SBttrj?  fragte  er  mit 
gfttigem  Sddyeln. 

Srei  golbene  An6t)fd)en  fir  meine  «$entbenbnt(l* 

£a  lourbe  ber  <Oauptmann  bfutrot  im  ®efTd)t  unb  manbte  ft(^  un^ 
tDtfiig  ab. 

Sine  ^a(be  @tunbe  fp&ter^  aK  9Bur)  in  b&rgerfidyer  ^(eibung  ntit 
bent  Steifefacf  in  ber  J^anb  6ber  ben  ^afemen^of  ging,  flanb  ber  ^awpu 
mann  am  Zot. 

©ri^en  ®ie  3^re  grau^  fagte  ber  J^auptntann  {u  einem  ber  SSorber^ 
(rute;  grfi^en  ®ie  3^re  ^inber  jum  {tt>eiten*  3d)  t)&ne  nid)t  gebad)t/  ba^ 
Gie  ein  fo  eitler  9Iarr  ffnb/  fagte  er  jn  SGBur}  unb  bre^te  i^m  ben  StAcfen. 

3d)  bin  ber  einjige,  bent  er  nid)t  bie  J^anb  gegeben  l^at,  fagte  ber 
arme  3(nton  brau^en  Dor  bent  ^afernentor  ju  ffd)  feibft^  unb  bie  Sr&nen 
liefen  i^nt  iiber  bie  93acfen* 

3fuf  ber  J&eimfa^rt  fa^  er  t)er|l6rt  and.  dx  idjante  (iarr  burd)  bie 
®d)eiben  in  ben  Stegen  ^inau^.  X)ie  ^anteraben  fangen  ein  ?ieb  unt4 
anbere;  er  bKeb  teilna^mlo^.  @eine  ^rau  ^olte  it)n  ant  93a^n^of  ab.  ®ein 
gebr&cfted^  fd)eue4  SBBefen  fie(  i^r  auf.  @ie  fd^rieb^d  ber  Smiflbung  ju. 
Hbtx  ali  ed  an  ben  folgenben  Sagen  nid)t  anber^  wurbe^  fing  fte  an^  fid) 
)u  bef&ntmem*  @d  tarn  itft  Dor/  aK  ob  it)r  SRann  im  tieffien  Jtem  feine4 
itbtni  Denpunbet  fei.  Tibet  ei  war  i^r  nic^t  nt6g(id)^  ben  ^feil  )u  ftnben^ 
ber  bort  fiat  ®o  ^eig  ffe  in  i^n  bringen  ntod)te^  er  fd)n>ieg  fliS  auf  aE 
t^re  ^ragen^  ober  er  fagte  nur:      ifl  nid)t^^  aK  ba^  id)  ein  9tarr  bin* 

3(nt  nteiflen  beunru^igte  ffd)  bie  gute  ^rau  baruber^  ba^  i^r  3(nton 
anfing/  feine  ^(eibung  )u  ))emad)(&ff[gen*  @r  ^atte  feine  ^reube  nte^r  an 
feinent  fd^fin  gefl&rften  ©onntagd^emb^  unb  man  fa^  i^n  mit  unfauberen 
®tiefeln  jur  £ird)e  ge^en. 

(&i  xoat,  ob  mit  bem  @pru(^e  be^  aSainjer^  aud)  aSer  @egen 
Don  bem  armen  3(nton  gett>td)en  fei.  Sr  f&^Ite  ffd)  nimmer  fro^  unb 
nimmer  gefunb* 

(Sine4  Sage^^  ati  er  ba^  J&o(}  im  Sacfofen  fc^ic^tete,  trat  feine  ^rau 
Winter  i^n  unb  rief: 

aBa«  ifl  benn  ba^,  3(nton? 

®ie  \fitU  eine  neue^  ungetragene  J^embenbrufl  in  bie  «&6^e^  an  beren 
glingenber  %tlid}e  brei  golbene  Stnipfditn  blinften* 

Z)a«  ^ab'  id)  in  beinem  Steifefacf  gefunbeU/  gan)  unten  brin.  SBBo 
l^afl  bu  benn  bad  ^er? 


242 


2rnton  SEBurj  wurbe  feuerrot,  iinb  ber  ©arfofcn  war  bodi  talt  ©H$^ 
fcf^neK  tDanbte  er  fein  ©eficfyt  ber  ?(rbett  }u.    (Sine  Tlnttoort  gab  er  titc^t 

Tin  biefem  Sage  war  er  nod)  fltder  uitb  gebrficfter  aid  fonfl/  unb 
tmmer  loteber  unb  wieber  mugte  t^n  ^rau  Jeanne  anfd^auen*  Sa^er  tarn 
ed  n>et)0  bag  it)r  je$t  erft  bie  ge(6e  ®e(icf)tdfarbe  t^red  9)7anned  auffieL 
@te  fc^tcfte  )um  TCrjt  Z)er  rebete  wn  etnem  fd)n)eren  libef^  bad  ftc^  ))oit 
(anger  «Oanb  ^er  Dorberettet  ^abe  unb  je$t  )um  m&d)ttgen  3(udbruc4  gefommen 
fei*  9»onate  fang  ^fifielte  er  im  *^aufe  l)erum.  Dann  mugte  er  ffrf)  ju 
Sett  (egen.  @r  ftanb  ntmmer  auf.  Tin  etnem  fatten  SRoDembertag  tjat 
man  itjn  begraben. 

Unter  unenbHrfjen  Sr&nen  Keibete  bie  ©icferdfrau  bie  geid^e  t^red 
®atten  an*  @ie  tihUte  feine  $&0e  in  bie  neuen  @tiefel/  bie  fie  fptegetblanf 
gen)td)fl  ^atte;  auf  bad  Seidyen^emb  ^eftete  fte  bie  J^embenbruii^  bie  tm 
aieifefad  gefegen  n>ar   Die  golbenen  ^6pfe  ^atte  fee  t)orl)er  betfeite  getan. 

7(nb&d)tig  fc^aute  fie  auf  ben  Soten  nieber  unb  fagte:  3e$t  bifl  bu 
mieber  ber  (iebe  alte  3(nton*  9Ber  ein  n>eiged  J^emb  unb  gewic^fle  @tiefel 
tjat,  ifl  ein  feiner  SRenfc^.  ?Cfd  ein  Reiner  get)fl  bu  in  bie  Sn>igfeit  95e^&f 
bi(^  ®ott^  Heber  Xnton! 

Unb  fie  ffiflte  i^m  bie  fatten  ?ippen« 


4* 

9ted)t  unb  fd)Ied)t  febte  fie  in  i^rem  98itn>enflanbe.  @d  fanb  fic^ 
®e(egen^eit^  bie  ^dcferei  gut  ju  ))erfaufen*  @ie  cmavb  fic^  ein  fteined 
J^&uddyen  am  (Snbe  bed  @tdbt(^end/  unb  mit  J^ilfe  i^rer  Der^etrateten 
^rfiber  baute  fee  bie  ^cfer  i^red  f07anned  unb  i^r  etgened  fleined  Srbgut 
Die  beiben  @6^ne  er}eg  fie  fergfditig* 

@d  maren  }n>ei  ^fibfdye  ^aben.  X)er  dttere  war  fdytanf  unb  btonb^ 
t)on  )ierK(^em  unb  boc^  frdftigem  ^irperbau  mit  anmutigen  93en>egungen. 
Der  j&ngere  war  Don  berberer  ?Crt;  er  fd^Iug  me^r  in  ber  SRutter  ©efd^tec^t 
unb  tfatu  beren  rafd^e,  ^eftige  Tltt.  Tib  unb  ju  brad)  bie  Serfd)ieben^eit 
ber  beiben  92aturen  ^eraud  in  (autem  Swift*  Z)od)  fatten  fte  nic^t  ^duftger 
@trett  aid  anbere  9r&ber  and),  unb  ba  fte  an  3a^ren  nai)e  beifammen  toattn, 
\ati  man  fte  and)  tmmer  bei  einanber*  Durd)  einen  gemeinfamen  Bug  unter^ 
fd)ieben  fte  fid)  Don  alien  itjvtn  ^ameraben.  @ie  waren  immer  fduberlic^^ 
ia  {ierlid)  gefleibet,  unb  fd)on  aid  Ainber  ^ielten  fte  auf  ^Abfc^e  ®ewanbung/ 
flattlid)ed  3(udfei)en  unb  ein  gewd^lted  Sene^men.  Son  i^ren  Aameraben 
wurben  fte  bie  ®affengrafen  genannt. 

2)a  f[e  in  einem  3a^re  geboren  toaten,  wurben  fte  auf  einen  Sag 
fonftrmiert  Z)ad  war  ein  freubiger  unb  ein  trauriger  Sag  fir  bie  9Rutter. 
Ded  92ad)mittagd  ging  fTe  mit  i^ren  ®i^nen  ^inaud  auf  bed  Saterd  ®rab. 
Dort  weinte  fte  ^er)bred)enb*   Die  9uben  ftanben  Derlegen  babei.   Tlld  ffe 


243 


wieber  ba^etm  toaren  unb  ben  ^eflfafee  getrunfcn  fatten,  tooUun  bit 
^abeit  ^tnau^  )u  i^ren  SRitfonfirmanbrn.  9Bartet  nod),  id)  toiU  end)  tttoai 
)etgeit^  fagte  bte  SOfutter^  )og  bte  unterfle  ®d)u6Iabc  bcr  ^ommobe,  framte 
ettie  9Bei(e  barinitcn  unb  txat  n>teber  an  ben  Ziidj  mit  etner  fleinen 
@d)adiUl  in  ber  «Oanb. 

@te  tat  ben  Z)e(fe(  ah  unb  t)o(te  and  ber  met^en  98atte,  bte  bad 
A&fld)en  ffiUte^  brei  golbene  J^embenfn6pfe  ^eraud. 

IDie  flammen  t)on  eurem  SSater  ^er^  fagte  ffe. 

SBer  friegt  |Te?  fragten  bte  Anaben  etned  SOfunbed  unb  jeber  grif 
na(^  etnem  ^6f)fci)en. 

Z)ad  werbet  tl)r  fd|on  fe^en,  emtberte  bte  SRutter.  SSorerfl  ^ebe  tc^ 
fie  nod)  auf. 

@te  (egte  bte  ^6pfe  mteber  in  bte  Qdjadjtel  unb  tat  btefe  an  t^ren 
Ort.  — 

Sa^re  Dergtngen.   Tlu^  ben  Anaben  waren  Surfd^en  gemorben. 

befler  Aanterab  tjattt  J^ed^jett.  @te  waren  aK  (S^rengefellen 
gelabem  Sagd  guDor  faufte  ^^tltpp,  ber  jfingere,  bte  betben  ©trdu^e  aui 
funii(td)en  93funten^  bte  bte  ®e(etter  bed  «Ood){etterd  tm  £nopf(od)  ju 
tragen  l)aben* 

@d  n>aren  nur  nod)  }n>et  ba,  fagte  er^  aid  er  jur&cffam.  Z)ad  ba  tft 
ber  beine. 

UK  fte  am  anberen  SRorgen  ffir  ben  ^trdygang  ^eraudpu^ten^  iatf 
£onrab,  ber  &(tere,  baf  ber  Strang  fetned  93ruberd  griper  unb  fd)6ner 
u>ar^  aid  fetn  etgener*  (&x  fagte  ntc^td/  aber  ed  wurmte  tt)n.  Unterwegd 
fe^rte  er  urn  unb  bat  bie  SRutter^  t^m  bed  Saterd  golbene  An6pfe  )u  let^en. 
£te  abutter  fonnte  t^rem  jflteften  nid}t  kid)t  etmad  abfd)Iagen,  ba  er 
tntmer  me^r  auf  ben  Sater  t^eraudfam;  f[e  tat  t^m  ungern  ben  SBtUen. 

SBd^renb  bed  J^od))ettdfd)ntaufed  fa^en  ffd^  bte  ^rfiber  gegenflber.  @d 
nourbe  t^ei^  tm  ®emad|^  unb  bte  9Rdnner  (n6pften  ffd)  bte  !H6cfe  auf*  93on 
ungef&t)r  ^ob  ^t)iltpp  fetne  2(ugen  unb  fa^  bad  ®oIb  an  fetned  ^ruberd 
«Oembenbruft  bitnfen*  dr  wurbe  blag  Sngrtmm  unb  flfirjte  etn  ®Iad 
iEBetn  ^tnunter. 

3n  ber  9lad)t  nac^  btefem  Sag  war  tm  le^ten  «0&udd)en  bon  @enfen^ 
badf  ^eftiger  3anf,  SWan  ^6rte  bte  ^etferen  ©ttmmen  ber  trunfenen  ©urfdjen 
unb  {lotfc^en  l)inetn  bte  fle^entltdyen  bitten  ber  SRutten  @nbltd)  n>urbe 
ed  jiia,  — 

3Die  golbenen  *nipfe  lagen  feitbem  unge(l6rt  an  iljrem  Ort,  unten  tn 
ber  britten  @4ublabe  ber  ^ommobe,  aber  bte  ^rfiber  waren  ffd)  gram 
getoorben.  ®te  boten  einanber  nidft  me^r  bte  3<tt^  fprad)en  fetn 
SBort  bet  ber  gemetnfamen  Tltbtit,  unb  bed  @onntagd  gtngen  fie  gefonbert 
itftc  SBege. 

Z)te  STOutter  wetnte  t)teL  @te  fr&nfelte  unb  glaubte  ntd)t  lange  me^r 
}tt  leben* 

* 


hhS    244  1*4- 


5. 

Z)er  Ic$te  ^ag  be^  3a^re^  fam  ^eran.  @te  n>aren  allc  in  bet  birdie 
gcwefen  unb  t^atten  barauf  (htmm  mtt  einanber  ju  fnad)t  gegeffen*  Sann 
toaren  btc  @6^ne  audgegangeit/  jeber  in  ein  anbered  98irtd^aud* 

Z)em)ci(  ffe  mit  il)ren  ®enoffen  [Armten^  ging  bie  SRutter  mit  fc^meren 
®ebanfen  in  ber  fiiOen  ®tu6e  auf  unb  ntcben  Tlli  ti  Dom  ^rc^tunn  ^er 
e[f  U^r  fd)Iug  ^erd^te  fte  auf  unb  {dt)Ue  bie  Derjittemben  ®d^[dge.  Sann 
fauerte  fie  Dor  ber  Aemmobe  nieber  unb  )eg  bie  unterfte  ®d)ub[abe  ^eraud. 
Sine  SBeile  fd^aute  fte  ei)rf&rd)tig  ^inein.  Z)ann  na^m  fte  i^r  Seten^emb 
^eraud  unb  ein  Heine^  ®(f)&d^te(ein*  @ie  t)erfd)(o^  bie  Sabe  unb  fitecfte  ben 
@d)(fiffe(  in  bie  Safd^e^  fte  eri^ob  fid^^  brficfte  mit  bem  linfen  Hxm  ^ai 
J^emb  unb  bie  @d)ad)te[  an  bie  99rufi/  na^m  bie  ^ampe  in  bie  anbere  «Oanb 
unb  ging  in  i^re  hammer  ^inein*  9Iad^  einer  9Bei[e  tarn  ffe  tt>ieber  ^erau^^ 
in  ber  einen  «Oanb  trug  fie  bie  ®(^ad)tel^  in  ber  anberen  bie  Sampe.  @ie 
fe$te  beibed  auf  ben  ZHd}  nieber.  £ann  tjoUt  ffe  t>em  @d)ranf  ^erunter 
ein  fleined  $intenf{&fd)d)en  unb  einen  ^eber^atter.  Die  ^eber  war  abge^ 
brod^en.  bauerte  eine  SOSeile^  bid  fie  eine  neue  gefunben  ^atte.  'Cann 
)eg  fie  and  ber  Siefe  bed  @d)ranfed  einen  ^ad  B^itungen.  3n  bem  unterfien 
Beitungdblatt  (agen  einige  Sogen  liniierten  ^apitt^.  jDie  nal)m  fte  ^eraud 
unb  (egte  ffe  mit  einer  gen&genben  S^itungdunterlage  Dor  bie  Sampe  auf 
ben  Sifd).  Snad)bem  ffe  bie  ibrigen  Seitungen  mieber  an  i^ren  Drt  getan 
unb  ben  @c^ranf  Derfd^Ioffen  tiatte,  jog  ffe  ben  fd)tt>eren  ®ro^Daterflu^(  ani 
bem  98infef,  fe$te  ffd)^  tawkte  bie  $eber  in  bad  ^Idfd^d^en  unb  ftng  )tt 
fd^reiben  an. 

„©e|lene  bein  J&aud,  benn  bu  mu^t  flerben/'  war  ber  ^rebigttert  bed 
^farrerd  gemefen. 

3((d  ed  breiDiertel  auf  )n)6(f  U^r  Wuq,  (egte  ffe  ffir  einen  3(ugenb(id 
bie  ^eber  nieber  unb  feufjte  tief  auf.  TIH  ffe  bie  ^<ber  n>ieber  eintaud)te, 
Derfe^Ite  ffe  einma(  unb  )n>eima(  bie  enge  i6fnung  bed  ^I&fc^c^end^  benn 
i^re  J&anb  jitterte.  3fld  aber  bie  ©pi$e  ber  ^ehtr  n>ieber  bie  Seile  ge* 
funben  t^atte,  and  ber  ffe  gewid^en  war,  wurbe  ffe  (l&t  unb  wanberte  i^red 
SOSeged  ru^ig  weiter  bem  3i(k  entgegen. 

SRittemad^t  fam  ^eran. 

Sautlod  gfitten  bie  beiben  SRad^en  ber  3(it  an  einanber  Dor&ber;  ber 
eine  flieg  and  Sanb,  ber  anbere  fu^r  ^inaud  in  bad  bunfle  SReer. 

3(ud  ber  SBirtdfhtbe  jum  golbenen  Hbltt  tarn  eine  wAfie  SRifd^ung  Don 
®efc^rei  unb  ®efang  unb  begegnete  bem  fc^riUen  ®eiot)(e,  bad  aud  ben 
^eDer(eud)teten  ^enfiem  bed  roten  Hmn  brang. 

9B&^renb  bie  $6ne  Don  ^ier  unb  Don  bort  fiber  bem  SBipfel  ber 
SRarftlinbe  miber  einanber  praOten,  entfiel  ber  fc^reibenben  ®rei((n  bie 
9eber,  unb  ^art  fd^lug  i^re  @time  auf  bad  Sifd^brett. 


245  8^ 


6. 

Unbettifatb  Stunben  mdi  ^itttmadft  Uijvtt  Stonvab,  bcr  iltere  Srubcr^ 
nad^  J^aufe  jurficf.  Die  iampe  htannte  nod^  auf  bent  Ziid)e.  dr  txat  UiU 
herein.  2)ie  iRutter  fa^  auf  tt)rem  @tit^(^  t^r  Xopf  lag  auf  bem  Ziidj, 
hie  grauen  @trdl)nen  ^tuflen  Aber  bte  ©ttrne  unb  bie  J^&nbe. 

£onrab  tooUtt  bie  ©c^lafenbe  totdtn.  Da  bemerfte  er  ba^  befd^riebene 
9latt  »or  i^r.   Cr  trat  Teife  ^eran  unb  fad: 

Renter  oemiad^e  idi  meinen  beiben  @6^nen  bie  golbenen  J^embfn6pfe 

mnne^  feHgen  9»anne*,    Seber  foil  einen  l)aben;  ber  britte  ber 

0tefl  war  burdy  ba^  3(nt(i6  ber  ®reiftn  Derbecft 

Steben  bem  Sintenjeug  (ag  bie  mo^Ibefannte  ^diad^UU  Aonrab  6fnete 
fi^/  gnf  ^inein  unb  l)o(te  fTd)  feinen  Anopf  ^erau^* 

Z)a  ^irte  er  bie  britte  feine^  Sruberd  braugen  auf  ber  @trage. 
Stafd)  blied  er  bie  ^ampe  aui  unb  woUte  in  bie  Aammer  entmeid^en*  3(ber 
^ier}u  war  ed  )u  ff)&t   ^^ilipp  trat  therein  unb  jfinbete  ein  @treid)t)o()  an. 

9)7utter^  feib  3^r  nec^  ba?  fagte  er^  ali  er  im  b[du[id)en  Sid^te  bed 
©(^wefeW  bie  ®reifin  erblicfte.  3n  ber  STOitte  be«  ®a$e«  tiatte  er  bie 
&timnte  geb&ntf)ft^  urn  bie  ®d)(ummembe  nid)t  rau^  )u  wecfem  Dann 
truc^tete  er  mit  bem  J&ifjdjen  auf  ben  2ifd),  j&nbete  fid)  ein  jmeite*  an 
nnb  (a^  in  beffen  ®d)ein: 

Renter  Dermadye  id)  meinen  beiben  ®6^nen  bie  golbenen  J^emben^ 
fnipfe  meine*  feKgen  SWanne*.   Seber  foil  einen  baben;  ber  britte  

Dad  «&if)d)en  er(ofd).  3(ber  ^t)iftpp  ^atte  bemerft^  wo  bad  ge6fnete 
@d)dc^te[c^en  lag.  (&t  taflete  banad),  grif  ^inein  unb  fuc^te  unb 
wi^lte  in  ber  9Batte*  @d  ifi  ja  nur  nod)  einer  brinnen^  murmelte  er 
i»or  fid)  ^in. 

Da  ^ob  er  feine  3(ugen^  bie  fid)  an  bie  ^inflernid  gew6^nt  fatten, 
unb  er  fai)  eine  bunfle  ®eflalt  im  98infe(  fle^en. 

Du  bifi^d,  bu  Dieb!  fdjrie  er  in  ^eHer  ySnt,  bu  ^afl  ben  britten 
^opf  geflo^len!   Unb  er  warf  ftd)  feinem  Sruber  an  bie  9ru(l. 

@in  f&rd)ter(icl^ed  9tingen  er^ob  ftd)  in  ber  engen  ©tube.  Die  ^enfier 
nirrten^  bie  Z&un  frac^ten.  3e$t  fliegen  fte  an  ben  Sifd),  unb  bie  ^ampe 
fi&r}te  )u  9oben.  Der  bet&ubenbe  Dunfi  bed  toergoffenen  i6(ed  erftiUte  bie 
©tube.  Aonrab  glitt  and  auf  ber  g(itfd)igen  Diele  unb  rif  feinen  Sruber 
im  ^aQen  mit  fid),  ^t)i(if)f)  griff  nad)  einem  J^aft  unb  patfte  ben  @tu^( 
ber  SRutter  an  ber  Ce^ne  unb  fci^leuberte  i^n  mit  ffc^  ju  9oben. 

(Sin  bumpfer  %aU  ert6nte^  ein  eigentfim(id)  6ber  Xuffc^Iag. 

Sd  wurbe  totenfiiO  in  ber  ©tube. 

Die  abutter  ifl  gefifirjt^  feuc^te  Aonrab  unb  lie^  ben  9ruber  (od. 
f>^t(ipp  rid)tete  fid)  ^alber  auf  unb  taflete  um^er. 
J^ole  bie  3(mpe(  and  ber  ^ftd)e! 

Da  ergriff  ^onrab  bed  ©ruberd  Tlvm  mit  jitternber  gaufl  unb  feud)te: 
Die  abutter! 

Da  warb  auc^  ber  ©ruber  Don  Sntfegen  gepacft. 
aRac^e  eid)t!  ^auc^te  Aonrab. 


246  8^ 


entjunbete  etn  J&6I}cf)cn.   @tne  bunfle  SRaffe  [ag  nebcn  bem 
Sifd).        toat  bit  'iBtuttet.   Dad  J^aupt  (ag  {tDifd^en  ben  ©c^erbcn  ber 
}erbrod)cncn  iam^pt  in  einer  ?a(^e  t>M. 
iendjttl  fififlerte  £onrab. 

^t)i(tpf)  ijitlt  it)t  bad  breitncnbe  J&6(}d>eit  ini  ©efidyt  £a  f((|riett 
betbe  93r&ber  auf* 


3(K  bte  crfte  @onnc  bed  neuen  3a^red  aufgtng^  (ag  bie  fDhttter  in 
ii)rer  hammer  auf  bem  ^ette.  Aonrab  unb  ^^tltf)f)  fnieten  neben  etnanber 
nnb  brficften  bie  fa(te  J^anb  ber  SOfutter^  bte  fie  jufammen  umfa^t  ^ie[ten« 

Uli  ber  Severn  ber  SRorgenfonne  aufd  93ett  fte(^  rtc^tete  ^dj  ^onrab 
auf  nnb  f&0te  bie  abutter  an  ben  SRunb* 

Sen  britten  Anof)f  t^at  fte  ftd^  ind  «Oemb  gefietft/  fagte  er* 

Die  ^rfiber  gtngen  and  ber  hammer  in  bie  @tttbe  an  ben  Zi^d)  nnb 
(afen  ben  begonnenen  ®a$  ju  (Snbe: 

r^Der  britte  foD  in  meinem  Setcffen^embe  bleiben/' 

Da  fa^en  fid)  bte  Srfiber  in  bte  TCugen.  @d  n>ar  etn  (anger^  ranger 
93(i(f.   Unb  fte  reic^ten  einanber  fd|n>eigenb  bie  ^anb* 


im  f  mim  C  mim  f  mim  f  mim  f  mim  C  mym  f  mym  c  mym  tm 'm  f  mym  fmim  rmim  f^in  f  mim  (mTm  (mTm  (mTm  tmim  f  Ta  fai^f^ 
*  VVwV  ^W^W"^^  wK9  n/W^^^  owW^wW^wW^CW  TfkW'^V  * 


247 


®ebtd)te  Don  SBtUelm  3a t§  tn  ^etbelberg. 

T^eneriamfc^e  5ejhia4)t- 

Qflun  war  lit  Bc^U  lie  Mirage  itimsif<ittnlttt, 
(lint  entftcQ  wart  tae  BtBtn  mith  unt  mut; 
®te  6tnramftetf  fftej  von  erfiforSenen  (Binten, 
Qjlnt  von  tern  fmen  (Jlleere  Cam  ein  £tet; 

Sin  (eitree  J!tet,  las  mit  ten  ^(emen  fpUffe, 
5n  tem  vetfunftene  jRBentsftif  verftfong  — 

VOM  Sjftuen  (nieer  (eruSer, 
(gie  meine  ^eefe  wetferfang. 


Zot  fiejen  tie  iBaffen, 
Saft  Sommf  ter  Qllorjen; 

nur  mein  l^erj  iff  wa<9 
unt  fintef  nic^f  (£l^e. 

§dion  Sfaffen  tie  ^teme, 
f(c9on  fiit^i  mitt  ter  ^au  um, 

aSer  mein  l^er5  M(  tunftef 
unt  Aranenfoe* 

(gaft  wetten  (Pogef  ftngen, 
Saft  praJR  ter  Za^  

ta  wixfi  tu  geporSen  fein 
Summervoff  1^er5. 


248 


^0  jeQ  ic9  iatl  Me  vottt  ^tunlt 
CPor  beinem  l^aufe  (in  unb  0et. 
Qjlnt  in  »U  iBaffe  fe^n  Me  ^(eme. 
®et  l^mmef  mitfeniicQtftcS  (<imx, 
®ttnn,  fetn,  me  femes  Sfauee  Qtleer 
l^c^weSf  er  unt  fdimnit  bte  weite  (Etunbe  — 
^0  fiti  t<9  Bafb  Me  voffe  l^tenbe 
(Por  beinem  l^aufe  9tn  unt  9et. 

(P^e  fcQfa^  mem  l^ttj  nacQ  betnem  l^evsem 
(^te  Sang^  mein  (niunb  nacQ  bemem  llauc^t 
SttmpfK  »rudU  Me  (SLa^t;  >er  Jlfem  pocfU  Mr; 
£e8fo0  fun  (gtaU  an  (gtaU  am  ^ttaud. 
S)te  £te8e  (<9wantd  wte  Qllorsenratu^f 
QJlnb  meine  ^eefe  tringfo      feQerjen  — 
(P9ie  fcQfajf  mein  l^erj  nac9  »einem  l^ev^en, 
Qp^ie  Sangt  mein  Qltunb  na<9  teinem  I^aucS* 


■T^^      ^^S0  ^^SS 1 


VeraDtwortllch :  FQr  den  politlschen  Teil:  Friedrich  NtumtoD  Id  SchfiDcberg;  f&r  den  wlMeDMhalUlchea 
Tell:  Ptul  NlkoUut  CoMmftnii  in  MQncheD;  fQr  den  literaritchen  Tell:  Josef  Hoftnlller  in  M&acbeo; 
f&r  den  k&nstlerlschen  Tell:  Wllhelm  Welgand  In  MQnchen-BogenhAnsen. 


Nachdruck  der  einzelnen  Beitrige  nur  AutzugswelM  and  mit  tenauer  Quellenangabe  ge«ttttet> 


Die  Sozialdemokratie  in  Sttddeutschland. 


Von  Friedrich  Naumaiiii  in  Schdneberg. 

Es  ist  leider  unmoglich,  politisches  VerstSndnis  vdllig  muhelos 
Sewinnen  zu  wollen.  Wenn  Politik  nur  aus  Aneignung  allgemeiner 
Ideen  bestinde,  dann  konnte  man  ja  bei  guter  sonstiger  Bildung  schnell 
ein  politischer  Mensch  werden,  aber  unterhalb  der  Ideen  gibt  es  Tat- 
sachen,  die  man  wissen  muss,  und  diese  Tatsachen  sind  ihrer  Natur 
nach  nicht  wie  Poesie  zu  geniessen.  Zu  ihnen  gehoren  die  Ziffern  der 
Parteigeschichte,  von  denen  wir  jetzt  reden  wollen.  Wer  sich  vor  Ziffern 
furchtet,  der  soli  diesen  Aufsatz  uberhaupt  nicht  zu  lesen  anfangen! 

Von  Dr.  Neumann-Hofer  erschien  bereits  in  dritter  Auflage  eine 
sehr  sorgflltige  Arbeit  uber  «Die  Entwicklung  der  Sozialdemokratie  bei 
den  Wahlen  zum  deutschen  Reichstag*.  Da  sie  auf  den  Angaben  der 
Reichsstatistik  beruht,  kann  sie  mit  Sicherheit  benutzt  werden.  Wir 
schlagen  von  ihr  diejenigen  Seiten  auf,  wo  von  Suddeutschland  geredet 
wird  und  zwar  interessiert  uns  zun^chst  wenigen  in  welchen  Kreisen 
schliesslich  der  Sozialdemokrat  gewShlt  wurde,  als  wie  er  uberall  sich 
vermehrt  hat.  Oberall !  das  ist  das  Charakteristische.  Es  gibt  in  Sud- 
deutschland  nur  zwei  Kreise  ohne  sozialdemokratische  Stimmen  und 
«inen  weiteren  Kreis  (Mulhausen)  mit  Stimmenabnahme.  Diese  drei 
Kreise  gehdren  zu  Elsass-Lothringen  und  bedeuten  wenig  fur  das 
Gesamtbild,  weil  es  ganz  besondere  Lokale  und  personliche  Verhdltnisse 
"sind,  die  gerade  in  ihnen  mitsprechen.  Ganz  Siiddeutschland  signalisiert 
im  tibrigen,  ebenso  wie  die  meisten  anderen  Teile  Deutschlands,  steigende 
^ozialistische  Niederschldge. 

Es  fanden  sich  sozialdemokratische  WShler 


1880 

1893 

1898 

1903 

in  Bayem 

101000 

126000 

138000 

213000 

in  Wilrttemberg 

27000 

43000 

62000 

100000 

in  Btden 

30000 

38000 

50000 

72000 

in  Hessen 

32000 

38000 

49000 

69000 

in  Elsass-Lothringen 

19000 

46000 

52000 

68000 

209000 

291000 

351000 

522000 

•SQddetttsche  Monttshefte.  1,4. 

17 

250 


Suddeutschland  hat  also  jetzt  etwas  uber  eine  halbe  Million  soziai- 
demokratischer  Wihlerl  Das  kann  man  fiir  wenig  halten,  wenn  man 
vergleicht,  dass  das  Konigreicb  Sachsen  allein  442000  aufweist  und 
dass  die  Stadt  Berlin  allein  218000  besitzt.  Immerhin  stebt  es  doch 
so,  dass  zwar  der  Anteil  Suddeutschlands  an  der  Gesamtmasse  der 
Sozialdemokraten  unter  Reichsdurchschnitt  bleibt,  dass  aber  das  Wachstum 
in  der  letzten  Wahlperiode  ein  hdchst  betrichtliches  ist.  Neumann^ 
Hofer  sagt: 

In  SiiddeutschUnd,  wo  das  vorige  Mil  sich  sehr  ungleichmissige  Ver^ 
hSltnisse  zeigteo,  ist  diesmal  durchweg  eine  ausserordentlich  starke  Za**^ 
ntbme  der  sozitldemokrttischen  Stimmen  zu  verzeichneo,  die  in  Baden 
und  Hessen  40  und  in  Btyem  und  Wurttemberg  gar  50  Prozent  ubersteigt 
Hessen,  Btden  und  Wurttemberg  batten  tuch  schon  bei  der  vorigen  Wtbl 
recht  bedeutende  Steigerungen  der  sozitldemokrttischen  Stimmenzthlen 
tufzuweisen,  so  dass  bier  im  letzten  Jabrzehnt  die  Fortscbritte  ausserordent^ 
lich  gross  sind.  Dtgegen  wtr  der  Fortscbritt  in  Btyem  das  vorige  Mtl  nur 
unbedeutend  und  wtr  ftst  gtnz  tuf  dts  Konto  der  industriellen  RheinpCalz 
zu  setzen.  Wihrend  bei  der  vorigen  Wthl  vier  btyrische  Regierungsbezirke 
einen  Stimmenruckgtng  zeigten,  der  von  dem  Stimmen zuwtchs  in  den 
ubrigen  vier  Bezirken  nur  wenig  ubertroffen  wurde,  sind  jetzt  in  tllen 
Bezirken  erheblicbe  Steigerungen  eingetreten. 

Selbst  in  den  festesten  Zentrumskreisen  steigt  die  Sozialdemokratie.^ 
Oft  sind  es  noch  sehr  kleine  ZifFem,  aber  uberall,  uberall  werden  es 
mehr.  Dem  Eindruck  dieser  Tatsache  kann  man  sich  auch  dann  nicht 
entziehen,  wenn  man  darauf  hinweist,  dass  die  Wahlbeteiligung  im  ganzen 
gestiegen  ist.  Gewiss,  das  ist  wahr,  nur  stieg  die  Sozialdemokratie 
viel  stSrker!  Das  Vertrauen  des  Volkes  wendet  sich  ihr  auch  in  Sud* 
deutschland  in  fast  sturmischer  Weise  zu.  Den  Verlauf  zeigt  fur 
Bayern  folgende  Tabelle,  in  der  absichtlich  nur  die  drei  grosseren 
Parteien  aufgezahlt  werden: 


Das,  was  heute  die  Sozialdemokratie  in  Bayern  besitzt,  ist  also 
erstens  fast  der  ganze  Ertrag  der  Bevolkerungsvermehrung  und  zweitens 
ein  gewisser  Toil  der  alten  Parteibesttode  des  Zentrums  und  der 
Liberalen.  Das  Zentrum  hat  von  1893  bis  1903  gegen  90000  alte 
Wahler,  wenn  man  beim  Wechsel  der  Generationen  so  sagen  darf» 
wiedergewonnen,  die  Sozialdemokratie  hat  fast  90000  WShler  neu  ge- 
wonnen.  Die  Frage  ist  nun,  ob  das  Zentrum  gegenuber  der  neuen 
gegnerischen  Werbekraft  seine  jetzt  wiedergewonnene  H6he  sich  er- 
halten  kann.  Die  Liberalen  aber  sind  in  Bayern,  und  zwar  wie  es 
scheint  endgultig,  von  der  zweiten  Stelle  in  die  dritte  verschoben  worden. 
Es  ist  alles  mogliche,  dass  sie  ihren  Bestand  so  gut  halten  konnten, 
aber  mehr  als  das,  ging  uber  Menschenkraft.  Der  Kampf  gegen  das 
Zentrum  kann  in  Zukunft  nicht  mehr  ohne  Sozialdemokratie  gefuhrt 
werden. 


Zentrum 
482000 
350000 
334000 
423000 


NttiontUibertle 


Sozitldemokrtten 


1874 
1884 
1803 
1903 


169000 
164000 
141000 
154  000 


17000 
35000 
126000 
213000 


251  2^ 


Der  Verlauf  in  Wurttemberg  ist  folgender: 


Zentrum 

Deutsche  Partei 

Volkspartei 

Sozitldemokrtten 

1874 

47000 

83000 

27000 

9000 

1884 

54  000 

62000 

50000 

9000 

1883 

67000 

69000 

106000 

43000 

1903 

90000 

61000 

63000 

100000 

Hier  flllt  zunSchst  das  Wacbstum  des  Zentrums  ins  Auge.  OlFen- 
bar  hat  in  Wurttemberg  das  Zentrum  vor  30  Jahren  nicht  mit  voller 
Kraft  eingesetzt  und  erst  im  Lauf  der  Jahre  seine  Reserven  nachgeholt. 
Ob  es  an  der  Grenze  seiner  SteigerungsHhigkeit  angekommen  ist,  kann 
bei  diesem  Verlauf  nicht  mit  Sicherheit  gesagt  werden,  immerhin  spricht 
die  sehr  hohe  Wahlbeteiligung  gerade  der  katholischen  Bezirke  bei  der 
letzten  Wahl  fur  diese  Annahme.  Die  Sozialdemokratie  aber  hat  selbst 
die  Starke  Zentrumssteigerung  iiberboten  und  ist  zur  zahlreichsten  Partei 
Wurttembergs  geworden,  solange  man  die  getrennten  liberalen  Gruppen 
als  sachlich  verschiedene  Korper  rechnet,  was  deshalb  berechtigt  ist, 
weil  die  deutsche  Partei  in  protestantischen  Gegenden  teilweis  das  ist, 
was  der  Konservative  in  Mitteldeutschland  ist.  Aber  selbst  dann,  wenn 
man  sich  in  Gedanken  einen  wurttembergischen  Gesamtliberalismus 
konstruieren  wollte,  bleibt  die  Sozialdemokratie  auch  hier  die  zweite 
Macht  Einen  Hauptgewinn  hat  sie  aus  den  Kreisen  der  Volkspartei 
gezogen,  deren  Aufstieg  und  Sinken  ein  besonderes  Stuck  wurttem- 
bergischer  Parteigeschichte  darstellt. 

In  Baden  freilich  ergibt  sich  ein  etwas  anderes  Bild: 

Zeotrum         Nttiontlliberale  Sozialdemokrtten 


1874  97000  119000  4000 

1884  63000  93000  11000 

1893  81000  85000  38000 

1903  134000  104000  72000 


Hier  ist  die  Sozialdemokratie  ganz  offenbar  noch  nicht  so  weit,  die 
zweite  Stelle  zu  besetzen  und  wird  wohl  noch  ziemliche  Zeit  dazu 
brauchen,  denn  sie  hat  eine  Steigerung  des  Zentrums  gegen  sich,  die 
geradezu  in  Erstaunen  setzt  und  eine  Kraftigung  des  Nationalliberalismus, 
die  weit  uber  das  hinausgeht,  was  in  Bayem  und  Wurttemberg  zu 
beobachten  war.    Fur  norddeutsche  Politiker  ein  lehrreiches  Land! 

In  Hess  en  stehen  sich  Nationalliberale  und  Sozialdemokraten 
fast  gleich  gegenuber.  Die  Nationalliberalen  haben  31  Stimmen  mehr 
and  behaupten  mit  ihnen  die  erste  Stelle  (zu  ihnen  kommen  10000 
Volksparteiler). 

Zeotrum         Nttiontllibertle  Sozialdemokrtten 


1874  27000  84000  7  000 

1884  23000  540G0  20000 

1893  17000  56000  38000 

1903  33000  69000  69000 


Auch  hier  wachsen  durch  grossere  Wahlbeteiligung  wie  in  Baden 
alle  Hauptparteien,  die  Sozialdemokratie  aber  wSchst  am  stdrksten  und 
zehrt  besonders  iltere  freisinnige  Bestande  auf.  Voraussichtlich  erlangt 
hier  die  Sozialdemokratie  bis  zur  nSchsten  Wahl  die  grosste  ZiflFer. 

17* 


^  252 


In  Elsass-Lothringen  ist  es  sehr  schwer,  ein  ubersichtlicbes 
Bild  zu  geben.  Schon  in  den  bisher  besprochenen  LIndern  mussten 
um  der  Obersichtlicbkeit  willen  bisweilen  nicht  unbetrichtlicbe  Minder- 
heiten  (Bauernbund,  Bund  der  Landwirte,  Volkspartei,  Freisinn,  Konser- 
vative)  ubersehen  werden.  HMtten  wir  alle  uberhaupt  vorbandenen 
Zahlen  geben  wollen,  so  wurden  wir  den  nicht  fachminnischen  Leser 
von  vom  herein  verscheocht  haben.  In  Elsass-Lothringen  besteht  aber 
alles,  was  nicht  protestlerisch  oder  sozialdemokratisch  ist,  aus  wechselnden 
Gruppen.  Die  jetzige  Lage  ist  diese:  102000  Protestler,  68000  Sozial- 
demokraten,  29000  Nationalliberale,  20000  Zentrum,  17000  freisinnige 
Vereinigung,  14000  Konservative,  9000  Volksparteiler,  8000  Reichs- 
partei  usw.,  in  der  Tat  eine  Musterkarte  zufUliger  Angliederungen  an 
reichsdeutsche  Parteien!  Erst  wenn  in  die  liberalen  Gruppen  Einheit 
hineinkommt,  entsteht  Durchsichtigkeit.  Das  Verhdltnis  von  Protestlem 
(Autonomisten,  Elslssem  usw.)  und  Sozialdemokraten  ist  folgendes: 

Protestler  Sozialdemokraten 
1874  128000  1000 

1884  161000  3000 

1893  114000  46000 

1903  102000  68000 

Man  sieht  auch  hier  die  Sozialdemokratie  als  zweiten  Faktor  und 
traut  ihr  weiteres  Steigen  zu.  Sie  hat  in  20  Jahren  den  Protestlem 
60,000  Stimmen  abgenommen,  wenn -man  den  Verlust  der  einen  Seite 
als  Gewinn  der  anderen  einsetzen  darf. 

Und  nun  das  Gesamtbild  der  Parteien  im  ganzen  SGdenl 

Zentrum  700000  Wihler 

Sozitldemoknitie  522000  ^ 

Nationalliberale  418000 
Bauembund  u.  Shnl.  168000  » 

Protestler  u.  ibnl.  102000  » 

Volksptrtei  83000  , 

Freisinn  65000 

KoDsenrttive  55000  » 

Antisemiten  15  000  ^ 

Verschiodene  20000 

Summt  2148000  Wibler 

Natiirlich  entspricht  die  Vertretung  der  Parteien  im  Reichstag 
diesen  Wihlerzahlen  nicht,  wer  aber  Volksstrdmungen  beurteilen  will, 
wird  weniger  auf  die  Abgeordneten  als  auf  die  Stimmen  sehen  mussen. 
Das  Zentrum  hat  41  Abgeordnete,  die  Nationalliberalen  18,  die  Sozial- 
demokraten 13,  Protestler  9,  Bauembund  und  Bund  der  Landwirte  8, 
Deutsche  Volkspartei  6,  Freisinn  4,  Konservative  3,  Unbestimmt  1. 
So  wenig  driicken  sich  Wahlziffem  in  Wahlen  aus!  Das  Zentrum  hat 
7  Abgeordnete  mehr  als  es  bei  gleichmissiger  Einteilung  der  Wahlkreise 
haben  wurde. 

Das  Hauptergebnis  der  letzten  Wahl,  das  Aufrucken  der  Sozial- 
demokratie an  die  zweite  Stelle,  ist  es,  das  uns  zu  denken  gibt.  Noch 
sind  die  Liberalen,  wenn  man  sie  als  Einheit  rechnen  will,  stirker  als 


-5-8  253 


die  Sozialdemokraten,  denn  zusammen  haben  sie  566000  Stimmen,  aber 
die  Sozialdemokraten  warden  voraussichtlich  auch  diese  gemeinsame 
ZifFer  erreichen.  Dann  ist  es  ganz  klar,  dass  die  Parole  in  immer 
weiteren  Kreisen  heissen  wird:  Zentnim  oder  Sozialdemokratie  ?  Die 
Sozialdemokratie  ubemimmt  einen  Teil  des  alten  liberalen  Kampfes 
gegen  den  Klerikalismus.  Der  Liberalismus  aber  sieht  begreif  licherweise 
diesen  neuen  Antiultramontanismus  der  Masse  mit  gemischten  Gefuhlen 
auf^teigen.  Keine  Partei  kann  diejenigen  lieben,  die  ihr  Gebiet  ver- 
kleinem,  und  doch  freut  sich  der  Liberale,  der  es  wirklich  ist,  dass 
eine  Macht  aufsteigt,  die  irgend  einmal  mehr  Wahler  haben  wird  als 
das  Zentrum.  Von  da  aus  sagt  der  Liberate:  der  Sozialdemokrat  ist 
uns  unbequem,  aber  er  ist  doch  das  kleinere  Obel!  Das  wenigstens  ist 
der  Geist,  in  dem  wir  das  Ergebnis  der  Wahl  betrachten. 

Und  wenn  der  Liberalismus  seine  alte  Bedeutung  fur  Suddeutschland 
auch  in  der  neuen  Zeit  bewahren  will,  dann  darf  er  gerade  jetzt  nicht 
unsozial  sein.  Es  gibt  hunderttausend  oder  mehr  Wihler  in  SUd- 
deutschland,  die  zwischen  Liberalismus  und  Sozialdemokratie  in  der 
Mitte  stehen.  Diese  werden  Sozialdemokraten,  wenn  sie  den  Liberalis- 
mus fur  unzuverlissig  ansehen.  Es  gilt  also,  sich  durch  den  Erfolg  der 
Sozialdemokratie  doch  nicht  zu  Gegnern  der  Arbeiterbewegung  machen 
zu  lassen.  Je  offenkundiger  es  ist,  dass  „innerhalb  der  heutigen  Ge- 
sellschaftsordnung**  die  Liberalen  alles  tun,  was  mit  politischen  Mitteln 
fur  die  Masse  getan  werden  kann,  desto  fester  wird  der  Liberalismus 
stehen.  Oftenkundig  wird  aber  dem  Volk  etwas  derartiges  nur  durch 
klares  gesetzgeberisches  Handeln.  Der  Liberalismus  darf  sich  darum 
nicht  darauf  beschrinken,  soziale  Konzessionen  zu  machen,  sondem 
muss  mit  eigener  WSrme  Sozialpolitik  treiben.  Tut  er  das  nicht,  dann 
voUzieht  sich  die  Verschiebung  des  Volksvertrauens  zur  Sozialdemokratie 
hin  immer  schneller.  Die  Zeiten  sind  vorbei,  wo  der  Stiddeutsche  die 
Sozialdemokratie  als  wesentlich  norddeutsche  Erscheinung  auffassen 
konnte.  Die  letzten  Wahlen  haben  ganz  Suddeutschland  mehr  als  je 
ein  friiheres  politisches  Ereignis  vor  den  ganzen  Ernst  der  sozialen 
Frage  gestellt.  Die  halbe  Million  Sozialdemokraten  gibt  in  Munchen, 
Stuttgart,  Karlsruhe  und  anderswo  zu  denken.  Was  will  diese  Menge  ? 
Warum  geht  sie  mit  Bebel?  Was  muss  geschehen,  damit  diese  im 
letzten  Jahrzehnt  so  gewaltig  sich  ausbreitende  Volksbewegung  ein 
Gluck  und  Vorteil  fur  die  Gesamtheit  werde?  Aufgaben  genug  ftir 
Staat  und  Gesellschaft ! 


254  ^ 


X  r  Die  beabsichtigte  Neuorganisatipa  der 
^  deutschen  Volkswirtschaft. 

Von  Lujo  Brenttno  in  Munchen. 

Am  29.  Oktober  1888  habe  ich  in  der  volkswirtschaftlichen  Ge- 
sellschaft  in  Wien  einen  Vortrag  uber  Kartelle  gehalten.  Das  Thema. 
war  damals  noch  wenig  behandelt.  Dem  1883  erschienenen  Buche 
KleinwSchters  uber  Kartelle  fehlte  die  Hauptsache,  die  Untersuchung 
liber  die  Ursachen,  welche  zur  Kartellbildung  fuhren,  und  abgesehen 
von  einigen  Rezensionen  dieses  Buches  gab  es  in  Deutschland  noch 
keine  wissenschaftliche  Kartellliteratur.  Auch  waren  die  Erfahrungen 
damals  noch  vergleichsweise  gering.  Wir  standen  damals  noch  in  der 
langen  Depressionsperiode,  welche  mit  dem  Krache  i.  J.  1873  begonnen 
hatte,  und  die  namhaftesten  National5konomen  verschiedener  Lender 
dachten  pessimistisch  iiber  die  Aussichten  auf  Wiederhebung  von  Handel 
und  Wandel.  Die  deutschen  Kartelle  waren,  soweit  bekannt,  in  dieser 
Depressionsperiode  entstanden  als  ein  Fallschirm,  wie  ich  mich  damals 
ausdnickte,  dessen  die  zu  hoch  geflogene  Produktion  sich  bediente,  um 
wieder  auf  festen  Boden  zu  kommen.  Es  schien  mir  zweifelhaft,  ob 
sie  sich  wurden  halten  konnen,  wenn  ein  wirtschaftlicher  Aufschwung 
wieder  einsetzen  wtirde.  Gehdrten  doch  damals  zu  den  Kartellen  weder 
die  schwachsten  noch  die  bedeutendsten  Firmen;  die  schwichsten  nicht, 
weil  sie  in  einer  Steigerung  ihrer  Schmutzkonkurrenz  die  einzige 
HolFnung,  ihr  Leben  zu  erhalten,  erblickten,  die  iibermMchtigen  nicht, 
weil  ihnen  der  Eintritt  in  das  Kartell  die  Moglichkeit  nahm,  die  ge- 
ringeren  zu  unterdrucken.  Die  Kartelle  waren  damals  die  Organisationen 
der  Betriebe  mittleren  Umfangs,  um  bei  sinkender  Konjunktur  sich  so- 
wohl  der  Schmutzkonkurrenz  der  schwSchsten  Firmen  als  auch  der 
Aufsaugung  durch  die  grdssten  zu  erwehren.  Bei  sinkenden  Preisen 
erschienen  sie,  wie  Lorenz  von  Stein  sich  ausdriickte,  als  das  Mittel, 
das  Existenzminimum  des  Unternehmers  zu  garantieren,  analog  den 
Arbeiterkoalitionen,  deren  Aufgabe  es  ist,  durch  Hochhaltung  des  Lohnes 
-das  Existenzminimum  des  Arbeiters  zu  sichem.  Um  dessentwillen  nahm 
•der  Untemehmer  alle  die  BeschrHnkungen  der  SelbstMndigkeit,  welche 
■die  Organisationen  den  Teilnehmern  auferlegen,  willig  in  Kauf.  Indes 
bei  steigenden  Preisen  erschienen  die  Kartelle  entbehrlich;  und  nach 
den  bis  dahin  gemachten  Erfahrungen  glaubte  ich  damals  schliessen  zu 
diirfen,  dass  bei  steigender  Konjunktur  das  Streben  nach  Selbstindigkeit 
und  Erweiterung  der  eigenen  Wirkungssphare  zur  Wiederauflosung  der 
Kartelle  fuhren  werde. 

Dies  ist,  wie  die  Entwicklung  der  seitdem  verflossenen  15  Jahre 
zeigt.  ein  Irrtum  gewesen.    Unter  dem  Einflusse  der  steigenden  Kon- 


255  8^ 


karrenz  auf  deni  Weltmarkt  hat  sich  ebenso  wie  der  Charakter  unserer 
Industriezolle  auch  der  der  Kartelle  geindert.  Jene  sind  aus  Schutz- 
zdllen  Agressivzdlle  geworden  und  die  Kartelle  die  Voraussetzung,  dass 
3ie  als  solche  benutzt  werden  kdnnen.  Nun  wurde  die  Zugehdrigkeit 
zn  den  Kartdlen  auch  fur  die  grossten  Firmen  wertvoll;  gerade  bei 
steigender  Konjunktur  konnte  nun  das  Kartell  auch  den  kapitalkrMftigsten 
Firmen  in  ihrer  Konkurrenz  auf  dem  Weltmarkt  eine  Stutze  bieten; 
dabei  yerzichteten  sie  durch  ihren  Beitritt  zu  einem  Kartell  gar  nicht 
auf  die  Vemichtung  von  heimischen  Konkurrenten ;  es  wurde,  wie  wir 
sehen  werden,  diese  Vemichtung  nur  aus  den  friiheren  Stadien 
des  Produktionsprozesses  in  die  spSteren  verlegt.  So  haben  sich  denn 
in  der  Zeit  des  Aufschwungs  von  1895 — 1900  die  Kartelle,  statt  sich 
aufzuldsen,  gemehrt.  Im  tibrigen  aber  hat  sich  die  Auffassung,  der 
ich  in  jenem  Vortrage  Ausdruck  gegeben,  in  erstaunlichem  Masse  be- 
wahrheitet;  nur  in  einem  weiteren  Punkte  habe  ich  sie,  wie  sich 
zeigen  wird,  zu  modifizieren.  Im-fganzen  hat  die  Neuorganisation 
unseres  Wirtschaftslebens,  die  ich  damals  als  im  Anbrechen  signalisierte, 
Riesenfortschritte  gemacht,  so  dass  wir  sagen  kdnnen,  der  ganze  Charakter 
unserer  Wirtschaftsordnung  hat  sich  in  den  letzten  25  Jahren  gedndert. 
Noch  reden  wir,  als  lebten  wir  im  Zeitalter  der  Gewerbefreiheit 
und  der  Konkurrenz.  Ein  merkwtirdiger  Beweis,  wie  uns  die  Dinge, 
die  wir  erlemt  haben,  oft  die  Erscheinungen,  die  uns  umgeben,  zu 
sehen  tind  zu  beurteilen  hindern.  Konkurrenz  und  Gewerbefreiheit  ge- 
h5ren  heute  zur  Vergangenheit.  Wir  leben  im  Zeitalter  des  mehr 
and  mehr  sich  ausbreitenden  Monopols. 

Das  Monopol  ist  keine  neue  Erscheinung  in  der  Geschichte.  Mehr 
als  ein  Jahrtausend  ist  das  gewerbliche  Leben  Europas  unter  seiner 
Herrschaft  gestanden.  Von  den  Tagen  des  niedergehenden  Romerreiches 
bis  zum  Anbruch  der  modemen  grossindustriellen  Ara  finden  wir  die 
Zunft.  Schon  im  Konstantinopel  der  ersten  christlichen  Imperatoren 
herrschte  eine  monopolistische  Ordnung  mit  beschrSnkten  Absatzgebieten 
der  einzelnen  Gewerbetreibenden,  Regelung  der  Preise,  Gewinn- 
kartellierung,  wie  in  einer  mittelalterlichen  Stadt  des  Abendlandes,  und 
von  da  ab  verlassen  uns  nicht  mehr  diese  Prinzipien  und  analoge  Ein- 
richtungen  zu  ihrer  Verwirklichung  bis  zur  DSmmerung  unserer  Zeit. 

Warum  wurde  mit  dieser  Ordnung  gebrochen? 

Von  zwei  Gesichtspunkten  aus  wurde  man  zu  diesem  Bruche  ge- 
fuhrt:  von  dem  des  naturlichen  Rechts  und  von  dem  der  Zweck- 
mSssigkeit. 

Durch  die  zunftige  Ordnung  war  zwar  fiir  die  durch  sie  Privi- 
legierten  gesorgt,  aber  Tausende  waren  durch  sie  davon  ausgeschlossen, 
durch  die  Arbeit  ihr  Brot  zu  verdienen.  Dies  stand  im  Widerspruch 
mit  der  Gleichberechtigung  aller  Menschen,  alle  ihre  Krdfte  und  An- 
lagen  zur  Entfaltung  zu  bringen.  Aber  auch  ftir  den  Gewerbbetrieb 
war  die  alte  Ordnung  verhdngnisvoll.  In  ihrem  Nahrungsstande  ge- 
schutzt,  blieben  die  Privilegierten  nicht  nur  in  der  Technik  zurtick,  sie 
suchten  auch  jeden  Fortschritt,  von  dem  sie  eine  Stdrung  In  ihrem  be- 


-tHg  256 


haglicben  Dasein  befurchteten,  zu  unterdrucken.  Die  Folge  war,  dass 
Deutschland,  das  so  lange  der  Sitz  gewerblicber  Blute  gewesen,  von 
den  LMndern  uberflugelt  wurde,  welcbe  den  entstebenden  Grossbetrieb 
zuerst  von  den  Schranken  jener  tausendjShrigen  Ordnung  emanzipierten. 
Denn  das  Verlangen  dieses  Grossbetriebes  war  Freiheit,  Freiheit  sowohl 
von  jedweder  Einmischong  des  Staates  als  auch  von  den  Schranken^ 
welcbe  die  gewerblichen  Korporationen  der  freien  Entwicklung  der 
einzelnen  gezogen  batten.  Und  dieses  Verlangen  wurde  getragen  von 
den  Lebren  der  aufkommenden  NationalSkonomie.  Das  Selbstinteresse 
sage  einem  jeden  am  besten,  was  zu  seinem  Wohle  fSrderlicb  sei.  So« 
bald  man  nur  einen  jeden  seinem  eigenniitzigen  Streben,  alle  seine 
Krifte  zur  Anwendung  zu  bringen,  iiberlasse,  werde  das  grosstmdgliche 
Wohl  aller  einzelnen  und  damit  der  Gesamtbeit  verwirklicht. 

Daber  nun  eine  erbitterte  Feindschaft  der  Doktrin  und  der  von 
ibr  und  dem  aufsteigenden  gewerblicben  Grossbetrieb  beeinflussten 
Gesetzgebung  gegen  alle  Arten  von  gewerblicben  Vereinigungen.  Scbon 
A.  Smitb  batte  gescbrieben:  .Gewerbetreibende  derselben  Klasse  kommen 
selten  aucb  nur  zum  Zwecke  des  Vergnugens  oder  der  Unterhaltung 
zusammen,  obne  dass  dabei  scbliesslich  eine  Verschworung  gegen  das 
Publikum  oder  irgend  ein  Plan  zur  Erbdbung  der  Preise  ausgebeckt 
wiirde."  Die  iusserste  Konsequenz  dieser  Auffassung  zog  das  franzdsiscbe 
Gesetz  vom  14/17.  Juni  1791.  Es  verbot  jedwede  Assoziation  von 
Arbeitem,  Arbeitgebem  und  Wareninbabem,  sowie  jedwede  Koalition 
von  Genossen  desselben  Gewerbes.  Die  Gesetzgebung  Englands  und 
die  der  deutscben  Staaten  war  nocb  ungerecbter;  sie  verbot  nicbt  die 
freien  Verabredungen  selbstindiger  Gewerbetreibender,  sondem  bedrobte 
Jabrzebnte  lang  mit  scbweren  Strafen  die  Verabredungen  und  Ver- 
einigungen lediglich  der  Lobnarbeiter  zu  gemeinsamer  Wabrung  ibrer 
Interessen. 

Diese  Verbote  waren  nun  keineswegs  im  Sinne  der  dkonomiscben 
Doktrin.  Ganz  im  Gegenteil.  Sie  bielt  sie  fur  positiv  schddlicb.  Alle 
Arten  von  Koalitionen,  sobald  sie  nicht,  wie  zur  Zeit  der  alten  gewerb- 
licben Ordnung,  gesetzlich  gescbtitzt  seien.  lehrte  sie,  mussten  infolge 
des  entgegengesetzten  Interesses  einzelner  alsbald  wieder  zerfallen  und 
niemand  wurde  sie  weiter  anstreben,  wenn  nicbt  jene  Verbote  die  Vor- 
stellung  erweckten,  obne  sie  wurden  alle,  die  sich  in  ihren  Existenz- 
bedingungen  bedruckt  fublten,  auf  dem  Wege  der  Koalition  ihren  Vor- 
teil  zu  wabren  imstande  sein.  Die  Nationalokonomie  stand  eben  damals 
unter  der  ausschliesslicben  Herrschaft  der  deduktiven  Methode.  Aus 
dem  verstandigen  Eigennutze  der  einzelnen  wurde  a  priori  das  gesamte 
volkswirtscbaftlicbe  Lebrgebiude  abgeleitet.  Die  Verbaltnisse,  in  denen 
die  einzelnen  lebten,  wareh  aber  so  mannigfaltig,  dass  der  Forscber 
unmdglicb  a  priori  vorbersehen  konnte,  zu  welcbem  Verbalten  eben  das 
Selbstinteresse  die  einzelnen  in  diesem  oder  jenem  Falle  veranlassen 
werde.  Die  Verbaltnisse,  die  ibm  vorscbwebten,  waren  einzig  und  allein 
die  eines  Kapitalisten,  der  sein  Kapital,  je  nacbdem  da  oder  dort  der 
grdsste  Gewinn  winkt,  aus  der  einen  Anlage  zuruckziebt,  um  es  in 


257  8^ 


einer  anderen  nutzbar  zu  machen;  das  einzige,  was  der  Forscher  aus 
dem  Selbstinteresse  ableitete,  war  die  Konkurrenz.  Allein  augenschein- 
licta  hat  die  Richtigkeit  dieser  Lehre  die  unbedingte  Ubertragbarkeit  von 
Arbeit  und  Kapital  zur  Vorausetzung.  „So  oft  dagegen  die  UnShigkeit, 
das  Angebot  der  Ware  vom  Markte  zuriickzuziehen,  die  vereinzelten 
Verkdufer  bei  Konkurrenz  jeder  Mdglichkeit,  den  Preis  ihrer  Ware  auf 
dem  Niveau  der  Produktionskosten  festzuhalten  oder  ihn  daruber  zu 
steigern  beraubt,  fuhrt  das  Selbstinteresse,  sobald  es  erkannt  ist,  zur 
Koalition  statt  zur  Konkurrenz.*  Mit  diesen  Worten  habe  ich  in  meiner 
Schrift  uber  den  vArbeiterversicherungszwang,  seine  Voraussetzungen 
und  seine  Folgen'',  Berlin  1881,  S.  20,  das  zur  Koalition  fuhrende 
Prinzip  formuliert,  und  die  Entwicklung  seitdem  hat  mir  recht  gegeben. 

Das  erste  Dementi,  welches  die  Lehre  der  deduktiven  National- 
dkonomie  im  Leben  erhielt,  kam  von  seiten  der  Lohnarbeiter.  Wie  ich 
schon  oft  dargelegt  habe,  befinden  sie  sich  als  Arbeitsverkdufer  in  einer 
von  alien  ubrigen  Warenverkiufem  verschiedenen  Lage.  Sie,  und  mit 
ihnen  ihre  Arbeitskraft,  kommen  zur  Welt,  nicht  weil  sie  produziert 
worden  wSren,  um  einer  Nachfrage  zu  dienen,  sondem,  als  Wirkung 
nicht  wirtscbaftlicher  Faktoren;  sind  sie  aber  einmal  da,  so  notigt  sie 
ihre  Armut,  ihre  Arbeit  ununterbrochen  anzubieten;  ohne  Organisation 
sind  sie  somit  vollig  ausser  Stand,  das  Angebot  ihrer  Arbeit  entsprechend 
der  Nachfrage  zu  regeln.  Daher  vereinbarten  sie  Minimalsfltze,  unter 
denen  ihre  Arbeit  nicht  verkauft  werden  sollte.  Sogar  etwas  bedenkliche 
Massnahmen  der  fruheren  Zunftpolitik  wurden  fortgesetzt,  n&mlich  Be- 
schrinkungen  der  von  den  einzelnen  zu  leistenden  Produktionsmenge, 
um  ein  Driicken  des  Preises  der  Arbeitsleistung  zu  verhindem,  das 
bente  sog.  Ca-canny,  das  Vorbild  der  Produktionsbeschrinkungen  der 
Untemehmerkartelle.  Eine  planmissige  Anpassung  des  Angebots  an  die 
Nachfrage  wurde  durchgefuhrt,  indem  die  Organisation  Arbeiter  an  den 
Orten  zurilckzog,  wo  ihre  Arbeit  nicht  begehrt  wurde,  um  sie  dorthin 
zu  senden,  wo  diese  begehrt  wurde.  Und  wie  heute  die  kartellierten 
Untemehmer  bei  sinkender  Nachfrage  oft  einzelne  Werke  still  legen 
and  deren  Inhaber  dafur  entschidigen,  so  suchten  die  Arbeiter  in 
gleichem  Falle  durch  UnterstGtzung  Arbeitslose  vom  Angebot  ihrer 
Arbeit  zurtickzuhalten,  damit  der  Lohn  nicht  allzutief  sinke,  oder  sie 
suchten  in  der  Herabsetzung  der  Arbeitszeit  eine  Kontingentierung  der 
einem  jeden  zufallenden  Arbeitsmenge.  Im  kollektiven  Arbeitsvertrage 
endlich  wurde  eine  gemeinsame  Verkaufsstelle  fur  Arbeit  geschafFen. 
Um  erfolgreich  zu  sein,  war  aber  unentbehrlich  mdglichst  wenig  Out- 
sider zu  haben,  damit  diese,  die  neuerdings  sog.  Arbeitswilligen,  nicht 
dnrch  Unterbieten  die  Kartellpolitik  der  Arbeiter  durchkreuzten;  daher 
das  Streben,  alle  Angehorigen  des  Gewerbes  in  die  eine  Organisation 
bereinzuziehen  und,  bei  DifFerenzen  mit  den  KSufem  ihrer  Arbeit,  die 
Arbeiter,  die  mit  der  Sachlage  unbekannt  wiren,  von  dieser  durch 
Inserate  und  Ausstellen  von  Streikposten  zu  unterrichten. 

Trotz  aller  Lehren  der  Nationaldkonomen  von  der  allein  selig 
machenden  Kraft  der  Konkurrenz  hielten  die  Lohnarbeiter  an  diesen 


^   258  8^ 


aus  den  Zunftzeiten  ihnen  uberkommenen  Organisationsprinzipien  fest; 
trotz  der  strengen  Strafen,  mit  denen  der  Staat  ihre  Verabredungen  und 
Vereinigungen  verfolgte,  bildeten  sie  fortwdhrend  neue  Organisationen; 
lieber  ins  GefSngnis  wandern,  als  in  angeblicher  Freiheit  tats&chlicb  in 
Abhdngigkeit  von  der  Willkur  anderer  leben;  die  Ungerechtigkeit  der 
Gesetzgebung  bewirkte  nur,  dass  die  Organisationen  der  Arbeiter  geheime 
wurden,  und  erfiillte  sie  mit  Hass  gegen  die  bestehende  Ordnung.  Das 
erkannte  schliesslich  auch  der  Gesetzgeber  und  beseitigte  jene  Verbote; 
aber  er  tat  es  widerwillig;  im  Gegensatze  zu  der  neuerdings  anerkannten 
Klagbarkeit  der  von  den  Untemehmem  iibemomnienen  Kartell- 
verpflichtungen,  sind  alle  auf  das  ArbeitsverhSltnis  bezuglichen  Ver- 
abredungen gewerblicher  Arbeiter  rechtlich  noch  immer  unverbindlich; 
der  Abfall  von  ihnen  wird  vom  Gesetzgeber  noch  immer  sogar  als 
lobenswert  angesehen,  der  Arbeiter,  der  dem  Abtrunnigen  den  Woit- 
bruch  zum  Vorwurf  macht,  wird  noch  immer  bestraft,  und,  wie  die 
VorgSnge  in  Crimmitschau  zeigen,  vermag  die  Handhabung  des  Ver- 
sammlungsrechts  seitens  der  Verwaltung  noch  jeden  Augenblick  die 
Kartellpolitik  der  Arbeiter  zum  Scheitern  zu  bringen. 

Nachdem  die  Lohnarbeiter  den  Anfang  gemacht,  kamen  trotz  aller 
entgegenstehenden  Lehren  die  Organisationsversuche  auch  bei  den 
selbstandigen  Gewerbtreibenden.  Zuerst  im  Bergbau.  H.  G.  Heymann 
hat  Kartellierungen  gefunden,  welche  bis  in  die  Zeit  der  alten  gewerb- 
lichen  Ordnung  zuruckgehen,  und  neue  Kartellierungen  finden  wir  bereits 
tn  den  vierziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  in  England.  Sehr  be- 
greiflich.  Wer  einen  Schacht  bohrt,  einen  Stollen  treibt,  kann  das  darin 
fixierte  Kapital  nicht  mehr  zuriickziehen,  auch  wenn  der  Preis  so  tief 
sinkt,  dass  er  gar  keinen  Gewinn  abwirft.  Ja  wir  kennen  sogar  Petitionen 
der  englischen  Grubenarbeiter  aus  den  vierziger  Jahren,  worin  sie  die 
Bergwerksbesitzer  angehen,  statt  auf  Kosten  der  Arbeiterldhne  eine 
ruinierende  Konkurrenz  zu  treiben,  sich  doch  lieber  zu  kartellieren. 
Dann  kamen  die  Eisenbahnen.  Auch  hier  ist  das  Anlagekapital  nicht 
der  Art,  dass  man  es,  wenn  der  Gewinn  unter  den  iiblichen  Satz  sinkt, 
nach  Belieben  zuruckziehen  kann;  auch  hier  fuhrte  eine  voraus- 
gegangene  Konkurrenz  zu  deren  Aufhebung  in  Tarifverabredungen, 
Absatzkartellierungen,  ja  zu  Fusionen.  In  dem  Masse,  als  die  Zunahme 
des  uniibertragbaren  Kapitals  in  den  verschiedenen  Industriezweigen 
fortschritt,  dann  auch  Kartellierungsversuche  in  den  ubrigen  Industrie- 
zweigen. Denn  iiberall,  wo  das  einmal  festgelegte  Kapital  nicht  beliebig 
zuruckgezogen  werden  kann,  um  es  anderwarts  anzulegen,  bedeutet  das 
Sinken  des  Gewinns  eine  entsprechende  Einbusse  am  Vermogen,  und 
da  fuhrte  iiberall  eine  vorausgegangene  ruinose  Konkurrenz  zu  deren 
Gegenteil.  Man  sagte  sich:  Wir  werden  doch  nicht  solche  Toren  sein, 
uns  gegenseitig  zugunsten  der  Konsumenten  die  Kehlen  abzuschneiden; 
weit  besser,  wir  vereinigen  uns,  dem  Konsumenten  die  Kehle  abzu- 
schneiden, um  selbst  zu  leben.  Dabei  wiederholte  sich  dann  eine  oft 
wiederkehrende  Erscheinung.  Wenn  ein  Mittel  sich  in  den  Verhilt- 
nissen,  fiir  die  es  geschaffen,  bewMhrt  hat,  wird  seine  Anwendung  Mode, 


259  g*4- 


and  es  kommt  dann  auch  zur  Anwendung  in  Verhaltnissen,  in  denen 
alle  Bedingungen  seiner  Existenz  und  seines  Wirkens  fehlen.  So  auch 
hier.  Die  Unternehmerverbinde,  die  in  Betrieben  mit  grossem  unuber- 
tragbarem  Kapitale  ihre  Entstehung  gefonden,  wurden  auch  in  solchen 
Betrieben  nachgeahmt,  in  denen  das  ubertragbare  Kapital  die  Hauptrolle 
spielt.  So  wuchem  denn  heute  die  Kartelle  auf  alien  Gebieten,  von  dem 
der  sog.  schweren  Industrie  angefangen  bis  zu  dem  des  Vertriebes  von 
Buchem  im  kleinen;  ja  selbst  da,  wo  jedes  Kapital  fehlt,  finden  wir 
heute  Kartelle:  die  Dichter  haben  ein  Kartell  geschlossen,  den  Wieder- 
abdruck  der  Erzeugnisse  ihrer  Phantasie  nicht  unter  funfzig  Pfennig  die 
Verszeile  zu  gestatten. 

Die  Abmachung  der  Dichter,  wenn  wir  sie  ndher  betrachten,  macht 
uns  auf  eine  hochst  wichtige  Beschrankung  in  der  Anwendbarkeit  des 
Kartellprinzips  aufmerksam.  Die  Dichter  haben  sich  nicht  etwa  ver- 
pflichtet,  nicht  unter  einem  gewissen  Preise  zu  dichten,  und  zur  Aufrecht- 
haltung  des  Preises  die  einzelnen  Kartellmitglieder  je  nach  ihrer 
Leistungsfihigkeit  auf  eine  bestimmte  Zahl  von  Versen  kontingentiert. 
Dichterische  Leistungen  sind  etwas  hochst  individuelles,  und,  da  nicht 
ein  Gedicht  so  gut  wie  das  andere,  kann  nicht  der  Vers  des  einen  den 
des  anderen  ersetzen.  Aber  wo  sie  als  Ftillsel  von  Feuilletons  auftreten, 
verlieren  sie  diesen  individuellen  Charakter;  sie  werden  eine  vertretbare 
Ware;  und  daher  die  BeschrMnkung  der  Kartellierung  auf  die  Verwertung 
der  Gedichte,  da,  wo  sie  solchen  Warencharakter  angenommen  haben, 
auf  den  Wiederabdruck  in  Zeitungen.  Kartelle  konnen  nMmlich,  wie  ich 
im  45.  Bande  der  Schriften  des  Vereins  fiir  Sozialpolitik  bereits  dar- 
gelegt  habe,  nur  in  den  Produktionszweigen  stattfinden,  welche  Massen- 
artikel  nach  feststehenden  Typen  herstellen,  fungible  oder  vertretbare 
Waren,  res,  quae  pondere,  numero,  mensura  consistunt.  Das  sind  die 
Produktionszweige,  auf  denen  in  alien  modernen  LSndem  vorzugsweise 
der  Nationalreichtum  beruht,  wie  Kohle,  Eisen,  Petroleum,  Spiritus, 
Zucker,  Salz,  BaumwoUgam,  Zellstoff  usw.  Auch  wo  wir  sonst  die 
Herstellung  von  Bedarfsartikeln  nach  allgemeinen  Typen  finden,  wie  in 
der  Herstellung  von  Druckpapier  u.  dgl.  ist  ihre  Sphare.  In  alien 
Produktionszweigen  dagegen,  welche  Waren  in  Anpassung  an  das 
individuelle  Bedurfnis  herstellen,  muss  die  Produktion  sich  anpassen  an 
die  Bedurfnisse  in  ihrer  besonderen  und  wechselnden  Gestaltung.  Wo 
das  Produkt  individuell  ist,  muss  auch  der  Preis  ein  besonderer  sein. 
Hierher  gehdren  vor  allem  alle  Industriezweige  mit  kunstlerischem 
Charakter,  sodann  die  meisten,  in  denen  fur  das  besondere  Bedurfnis 
des  Tages  gearbeitet  wird. 

Dazu  kommt,  dass  es  noch  ein  Erfordemis  erfolgreicher  Kartell- 
bildung  gibt,  das  bei  Betrieben  mit  grossem  fixem  Kapitale,  die  Massen- 
produkte  herstellen,  regelmdssig  gegeben  ist,  wMhrend  es  bei  Betrieben 
mit  itberwiegend  leicht  ubertragbarem  Kapitale  und  individuellerer  Pro- 
duktion regelmdssig  fehlt.  Die  Kartellbildung  setzt  voraus,  dass  man 
mit  einer  relativ  beschrSnkten  Anzahl  von  Werken  zu  tun  hat;  je  grosser 
die  Zahi  der  Betriebe,  desto  schwieriger  wird  die  Kartellbildung.  In 


260 


der  sog.  schweren  Industrie  haben  wir  es  mit  Werken  zu  tun,  die  wenis 
zahlreich  sind,  entweder  weil,  wie  bei  den  Bergwerken,  ihre  Produkte 
von  Natur  nur  in  besctarSnkter  Menge  gegeben  sind,  oder  weil,  wie  in 
der  Hochofenindustrie,  ein  sehr  grosses  Kapital  zur  Errichtung  eines 
Betriebes  notwendig  ist ;  je  geringer  die  Zahl  der  Betriebe,  desto  leichter 
ist  es,  zur  Monopolbildung  zu  gelangen;  je  wetter  man  dagegen  in  die- 
Fertigfabrikation  kommt,  desto  leichter  wird  es,  neue  Betriebe  Z]u  er« 
richten,  desto  zahlreicher  die  Konkurrenten ;  schliesslich  wird  es  un« 
mdglicb,  samtliche  Kopfe  unter  einen  Hut  zu  bringen,  wo  nicht,  wie  bet 
den  Arbeitem,  das  durch  die  Gemeinsamkeit  der  Interessen  erzeugte 
Klassengefuhl  die  Koalitionsbestrebung  verstirkt. 

Mit  dieser  Betrachtung  der  Bedeutung  der  Zahl  der  Konkurrenten 
fur  den  Erfolg  der  Monopolbestrebungen  gelangen  wir  nun  naturgemiss 
zu  einer  der  wichtigsten  Fragen,  zu  der  nach  der  AbhMngigkeit  der 
Kartelle  von  der  Musseren  Handelspolitik.  Ist  der  Bestand  der  Kartelle 
und  ihr  Wirken  an  den  Ausschluss  auswirtiger  Konkurrenz  durch  Zdlle 
geknupft?  Havemeyer,  der  Leiter  des  amerikanischen  Zuckertrusts,  hat 
erklSrt,  er  wurde  es  nicht  gewagt  haben,  diesen  zu  bilden,  wenn  die 
amerikanische  Zuckerraffinerie  nicht  durch  hohe  Zdlle  geschutzt  ware. 
Andererseits  ist  das  bis  jetzt  jedenfalls  noch  freihSndlerische  Gross- 
britannien  nicht  ohne  eine  ganze  Anzahl  Kartelle,  darunter  solche,  die 
recht  erfolgreich  gewesen  sind.  Zu  den  letzteren  gehort,  wie  Evelyn 
Hubbard  im  Economic  Journal,  1902,  dargetan  hat,  ein  Kartell  in  der 
Baumwollspinnerei  und  eines  in  der  Fdrberei.  Damit  ist  die  Mdglichkeit 
erfolgreicher  Kartelle  auch  unter  der  Herrschaft  des  Freihandels  jeden- 
falls dargetan,  und  ausserdem  gibt  es  ja  nicht  unerhebliche  Ansltze  zu 
intemationalen  Kartellen.  Allein  die  Frage  nach  der  Bedeutung  der 
Zollpolitik  ftir  die  Kartelle  ist  damit  noch  nicht  erledigt.  Es  besteht 
ndmlich  eine  wesentliche  Verschiedenheit  sowohl  hinsichtlich  der  Leichtig- 
keit  der  Kartellbildung  als  auch  der  Nutzlichkeit  oder  Schldlichkeit  ihres 
Wirkens,  je  nachdem  in  einem  Lande  Schutzzoll  oder  Freihandel  herrscht. 
Indes  sind  es  keineswegs  die  Zolle  allein,  welche  Bildung  und  Wirken 
der  Kartelle  in  einem  Lande  erleichtem.  Die  Sache  liegt  vielmehr 
folgendermassen : 

Alle  Kartellierung  bezweckt  die  Aufhebung  der  Konkurrenz.  Sie 
ist  ihr  direkter  Gegensatz.  Wie  ich  eben  gesagt  habe,  kann  der  Zweck 
um  so  leichter  erreicht  werden,  je  geringer  die  Zahl  der  mdglichen 
Konkurrenten.  Diese  Zahl  kann  aus  naturlichen  Ursachen  beschrSnkt 
sein,  wie  im  Bergbau;  die  ProduktionsstStten  der  Montanprodukte  sind 
nicht  beliebig  vermehrbar.  Jene  Zahl  kann  femer  aus  Skonomischen 
Ursachen  beschrdnkt  sein.  So  ubt  die  Lage  eines  Landes  zu  den  grossen 
Welthandelsstrassen,  vor  allem  zum  Meere,  eine  Wirkung  auf  die  grdssere 
Oder  geringere  Leichtigkeit  der  Monopolbildung.  Kein  Zweifel,  dass  in 
Grossbritannien  und  Irland,  auch  abgesehen  vom  Freihandel,  die  Kartell- 
bildung nicht  so  leicht  ist,  weil  bei  dem  relativ  geringen  Umfang  des 
Binnenlandes  der  Inseln  die  Konkurrenz  von  aussen  weit  weniger 
schwierig  ist,  als  in  den  Binnenlandem  Europas  oder  Amerikas.  Und 


-o^    261  8^ 


ebenso  wirkt,  wie  schon  bemerkt,  als  BeschrSnkung  der  Konkurrenz 
die  Grosse  des  zu  einem  erfolgreichen  Betrieb  notwendig  festzulegenden 
Kapitals,  wie  z.  B.  wenn  zur  Anlegung  eines  Thomaswerkes  mit  alien 
dazu  bendtigten  Kohlen-  und  Erzgniben  heute  55  Millionen  Mark  er- 
forderlicb  sind.  Die  Zahl  der  Konkurrenten  kann  aber  auch  kunstlich 
beschrinkt  sein,  und  zwar  nicht  bloss  durch  Zdlle.  Wo  eine  verschiedene 
Behandlung  der  Bin-  und  Ausfuhr  von  Waren  in  den  FrachtsMtzen  der 
Eisenbahnen  stattfindet,  kann  die  Konkurrenz  dadurch  noch  weit  wirkungs- 
voller  als  durch  irgend  welche  Zollsdtze  beeinflusst  werden.  Zeigt  doch 
die  Geschichte  des  Standard-Oil-Trust,  welche  Wichtigkeit  Frachttarife  fiir 
die  Kartellbildung  haben;  das  ganze  Riesenmonopol  wurde  aufgebaut  auf 
Grund  der  Refaktien,  welche  Herm  Rockefeller  seitens  der  amerikanischen 
Bahnen  gewihrt  wurden.  Gewiss,  eine  Mhnliche  differenzielle  Behandlung 
einzelner  deutscher  Geschiftsleute  diirfen  wir,  soweit  nicht  landwirt- 
schaftliche  Genossenschaften  in  Frage  kommen,  als  bei  unserem  Staats- 
bahnsysteme  ausgeschlossen  betrachten.  Allein  wir  haben  hdhere  Fracht- 
sitze  fur  Waren,  welche  von  der  Grenze  nach  dem  Inland  gehen,  als 
fur  Waren,  die  nach  der  Grenze  gefahren  werden.  Das  bedeutet  selbst- 
verstlndlich  eine  Erschwerung  der  Konkurrenz  fur  alle  fremde  Produkte 
auf  unserem  Markte,  die  besonders  bei  schwer  verfrachtbaren  Waren 
fuhlbar  wird.  Kommt,  wie  bei  der  Kohle,  dazu,  dass  die  Ware  von 
Natur  nur  in  beschrSnktem  Masse  vorhanden  ist,  so  bedeutet  dies  die 
kunstliche  Verstarkung  einer  von  Natur  erleichterten  Monopolstellung 
durch  staatliche  Massnahmen  und  damit  die  Erleichterung  der  Kartell- 
bildung und  der  Durchfuhrung  aller  Kartellmassnahmen  auch  ohne  alle 
Zdlle.  Kommt  aber  noch,  wie  beim  Eisen,  die  kunstliche  BeschrMnkung 
der  auswSrtigen  Konkurrenz  durch  Zdlle  hinzu,  so  ist  die  Kartellbildung 
unstreitig  erleichten.  Denn  die  auswSrtigen  Betriebe  werden  alsdann 
von  der  Konkurrenz  ganz  ausgeschlossen,  oder  die  Konkurrenz  wird 
ihnen  wenigstens  erschwert.  Der  Monopolbildung  durch  Kartelle  ist 
somit  eine  grosse  Arbeit  abgenommen.  Denn  die  Kartellbildung  findet 
um  so  leichter  statt,  je  geringer  aus  naturlichen,  okonomischen  oder 
kunstlichen  Ursachen  die  Zahl  der  Betriebe,  und  die  Kartellpolitik  pflegt 
nm  so  rucksichtsloser  nach  den  hochsten  Preisen  zu  streben,  je  weniger 
das  Auftauchen  einer  Koncurrenz  zu  befurchten  ist.  Dass  ich  mit  dieser 
Behauptung  nichts  Unberechtigtes  sage,  zeigt  die  Zustimmung,  die  ich 
fand,  als  ich  in  der  Kartellkommission  das  Prinzip  der  Preisregelung 
der  Kartelle  dahin  formulierte:  In  der  nichsten  Umgebung  der  kartel- 
Herten  Werke  werden  die  relativ  hdchsten  Preise  gefordert,  weil  man 
hier  eine  Monopolstellung  hat;  dagegen  sinken  die  Preise,  je  weiter  die 
Entfemung  vom  Werke,  je  mehr  man  auf  bestrittenes  Gebiet  kommt; 
dem  entsprechend  fordert  man  im  Ausland,  da  dort  die  Konkurrenz  am 
grSssten  ist,  die  niedrigsten  Preise.  Somit  stellen  sich,  je  hdher  die 
Zdlle  und  je  entfemter  ein  Empfinger  von  der  Zollgrenze  wohnt,  um 
so  hShe^  fur  ihn  die  Preise. 

Damit  sind  wir  bei  der  wichtigsten  Titigkeit  der  Kartelle,  ihrer 
Preispolitik,  angelangt.    Aus  dem  eben  formulierten  Prinzipe  erhellt. 


262  ^ 


dass  die  Kartelle,  wie  jeder  Kaufmann,  im  grossen  und  ganzen  den 
hdchsten  Preis  nehmen,  den  sie  nach  Lage  des  Marktes  erzielen  konnen. 
Ich  sage  absichtlich:  im  grossen  and  ganzen:  denn  im  einzelnen  finden 
sich  Abweichuogen  von  diesem  Prinzipe,  je  nachdem  die  Leitung,  kurz- 
sichtig,  nur  das  momentane  oder,  weitsichtig,  das  dauernde  Interesse 
des  Gewerbes  ins  Auge  fasst.  Und  diese  Weitsichtigkeit  in  der  Leitung 
scheint  wesentlich  abhSngig  von  der  Art  der  Organisation  dieser  Monopol- 
bildungen.    Ich  muss  daher  zunichst  hieniber  das  ndtigste  sagen. 

Hinsichtlich  dieser  Organisation  herrscht  im  Leben  eine  schier 
unerschdpfliche  Mannigfaltigkeit,  je  nach  den  besonderen  VerhSltnissen 
der  kartellierten  Produktionszweige  und  der  Entwicklungsstufe,  welche 
die  Monopolbildung  erreicht  hat. 

Wir  in  Deutschland  sprechen  von  Kartellen,  und  verstehen  darunter 
alle  Vereinbarungen  zwischen  selbstSndigen  Unternehmungen,  welche 
diesen  noch  ein  grosseres  oder  geringeres  Mass  von  Verfugungsfreiheit 
gestatten.  Sie  bestehen  in  Preisvereinbarungen,  Verabredungen  fiber 
die  Kundschafty  Produktions-  und  Absatzkontingentierungen,  Gewinn- 
und  Vertriebskartellierungen.  Alle  sind,  wie  ich  bereits  dargelegt  habe, 
nichts  anderes  als  die  sachgemdsse  Anwendung  derselben  Prinzipien, 
deren  Ausfuhrung  lange  vor  den  Unternehmerkartellen  von  den  Arbeiter- 
koalitionen  versucht  wurde,  um  ihre  Ldhne  hochzuhalten  oder  zu  erhohen. 
Alle  ihre  Massnahmen  bezwecken,  wo  sie  verkaufen,  die  Regelung  des 
Angebotes,  wo  sie  kaufen,  die  Regelung  der  Nachfrage,  dort  um  den 
Preis  nicht  sinken  zu  lassen,  hier,  um  ihn  zu  drucken,  in  beiden  FSllen 
selbstverstlndlich  zur  Erzielung  des  grosstmoglichen  Gewinns.  Zu  diesem 
Zwecke  wird,  wie  von  den  Arbeiterkoalitionen  gegenuber  den  sogenannten 
Arbeitswilligen,  so  gegenuber  den  Outsiders  Zwang  geubt.  Bewegt  er 
sich  auch  in  anderen  Formen,  so  ist  er  doch  als  Regel  empfindlicher 
und  daher  weit  wirksamer,  die  Outsiders  zum  Anschluss  zu  vermogen. 
Werden  doch  die  Outsiders  regelrecht  boykottiert,  indem  man  HSndlern 
und  Frachtfuhrern  untersagt,  mit  ihnen  in  Geschdftsbeziehungen  zu 
treten,  ja  sogar  an  Firmen  zu  liefern  verbietet,  welche  auch  von 
Outsiders  kartellierte  Produkte  beziehen.  Dabei  ist  die  Disziplin,  welche 
das  Kartell  fiber  seine  Mitglieder  fibt,  weit  strenger  als  die  der  Gewerk- 
vereine.  Geht  doch  das  Recht  des  Kartellvorstands  bis  zur  I$[ontrolle 
der  Verladung  der  von  den  Beteiligten  vcrfr^chteten  Ware  und  bis  zur 
Einsichtnahme  von  ihren  sfimtlichen  Bfichern  und  SchriPtsificken.  Und,  wie 
ich  schon  betont  habe,  schfitzen  die  Gerichte,  in  Deutschland  wenigstens, 
die  eingegangenen  Kartellverpflichtungen  der  Unternehmer,  wlhrend  der 
Abfall  von  denen  der  Arbeiter  vom  Rechte  begunstigt  wird. 

Als  die  wirksamste  Vereinigung  verschiedener  selbstSndiger  Unter- 
nehmungen  erscheint  diejenige,  bei  welcher,  wie  bei  dem  heute  nicht 
mehr  bestehenden  deutschen  Walzwerksverband  nach  der  Vereinbarung 
von  1887,  die  einzelnen  Werke  auf  das  Recht  des  selbstandigen  Ver- 
kaufes  verzichten  und  den  Vertrieb  ihter  Produkte  einer  einzigen  ge- 
meinsamen  Verkaufssietle  ubertragen.  Wirtschaftlich,  wenn  auch  nicht 
technisch,  erscheinen  die  zum  Verbande  gchorigen  Werke  hier  fast  nur 


263 


mehr  als  WerkstMtten  eines  einzigen  grossen  Unternehmens.  Ahnlich 
nach  der  Organisation  des  rheinisch-westfllischen  Kohlensyndikats.  Hier 
ist  eine  eigene  Aktiengesellschaft,  ausschliesslich  zum  Ankauf  und  Verkauf 
von  Kohlen,  ins  Leben  gerufen;  die  syndizierten  Zechenbesitzer  haben 
sich  verpflichtet,  alles,  was  sie  an  diesen  Produkten  herstellen,  ausser 
dem,  was  sie  zu  eigenen  Zwecken  verbrauchen,  und  anderen  unter- 
geordneten  Mengen,  an  diese  Aktiengesellschaft  zu  verkaufen;  diese 
verkauft  die  Kohlen  selbst  weiter;  an  Produktion  und  Absatz  sind  die 
einzelnen  Zechen  nach  Massgabe  ihrer  eingeschitzten  Leistungsfahigkeit 
beteiligt.  Analog  sind  das  Kokssyndikat,  der  Brikett-Verkaufsverein 
organisiert. 

So  straff  diese  Organisation  ist,  so  bleiben  doch  auch  hier  aus 
der  Vielheit  selbstandiger  Untemehmungen  unvermeidlich  hervorgehende 
Interessenkonflikte.  In  Amerika  dagegen  gibt  es  Trusts,  bei  denen  die 
Selbstlndigkeit  der  dazu  gehdrigen  Werke  vdllig  aufgehort  hat;  diese 
sind  da  vielfach  in  einer  riesigen  Aktiengesellschaft  aufgegangen,  stehen 
unter  einem  einheitlichen  Untemehmerwillen,  so  zwar,  dass  fiir  einen 
bestimmten  Markt  Bezug  resp.  Lieferung  von  Waren  und  Leistungen 
zu  anderen  als  von  diesem  einheitlichen  Untemehmerwillen  festgesetzten 
Bedingungen  dkonomisch  nicht  in  Betracht  kommt.  Nicht  alle  ameri- 
kanischen  Trust  sind  auf  dieser  Entwicklungsstufe  angelangt,  und  die 
Amerikaner  selbst  nennen  Trusts  alle  monopolistischen  Bestrebungen 
von  der  losen  Preisvereinbarung  selbstSndiger  Untemehmer  bis  zur 
Konzentration  der  Leitung  aller  Werke  in  einer  Hand.  Wir  in  Deutsch- 
land  aber  gebrauchen,  freilich  etwas  willktirlich,  das  Wort  Trust  nur 
fur  die  eine  Art  der  Monopolbildungen,  bei  welcher  jede  Selbstlndig- 
keit der  einzelnen  Werke  aufgehdrt  hat. 

Und  allerdings  ist  es  von  der  grossten  sowohl  sozialen  wie  volks- 
wirtschaftlichen  Bedeutung,  in  welchem  Masse  die  vereinigten  Werke 
ihre  Selbstlndigkeit  verloren  haben.  Das  deutsche  Kartell  selbstdndig 
bleibender  Untemehmungen,  durch  welches  die  Konkurrenz  durch  Preis- 
vereinbarung und  Produktions-  und  Absatzkontingentierung  beschrinkt 
wird,  bedeutet  fiir  die  Teilnehmer  die  Garantie  ihrer  Existenz  gegenuber 
Ubemidchtigen;  die  deutche  Erfahrung  seit  1888  hat  vollauf  meinen 
vielangefochtenen  Vergleich  (Schdnlank,  Bticher,  Pohle)  seiner  Wirksam- 
keit  mit  der  der  alten  Zunfte  bestdtigt.  Das  dagegen,  was  wir  in  Deutsch- 
land  allein  mit  Trust  bezeichnen,  hat  zwar  die  Selbstandigkeit  der  ein- 
zelnen Untemehmungen  vernichtet,  dagegen  bietet  es  den  Vorteil,  dass 
es  die  Beteiligung  kleiner  Kapitalisten  an  den  Vorteilen  des  Gross- 
betriebes  gestattet.  Also  Konzentration  des  Betriebs  ohne  Konzentration 
des  Kapitals.  Dabei  soil  nicht  geleugnet  werden,  dass  die  kleinen 
Kapitalisten  in  Amerika  hMufig  durch  Oberkapitalisation  bei  der  Gnindung 
des  Trust  Schaden  erfahren  haben;  indes  erscheint  dies  lediglich  als 
Folge  der  mangelhaften  amerikanischen  Aktiengesetzgebung,  nicht  aber 
als  etwas  dem  Wesen  des  Tmst  Eigentiimliches,  was  nicht  durch  Ver- 
bessemng  der  Gesetze  behoben  werden  konnte. 

Mit  diesem  sozialen  Unterschiede  zwischen  Kartell  und  Trust 


264  8^ 


hftngen  nun  die  wichtigsten  volkswirtschaftlichen  Verschiedenheiten  zu- 
sammen.  Dieser  Unterschied  beruht  nicht  in  einer  verschiedenea 
Stellung  von  Kartell  und  Trust  zum  Handel.  Ihm  gegeniiber  ist  ihre 
Wirkung  voUstdndig  dieselbe.  Bei  beiden  ist  derjenige,  der  die  Produloe 
vertreibt,  zu  einem  blossen  Agenten  geworden.  Ganz  abgesehen  davon^ 
dass  ihm  vorgeschrieben  ist,  bei  wem  er  kaufen  darf,  nimlich  allein 
beim  Kartell,  wird  ihm  auch  vorgeschrieben,  was  er  kauft,  zu  welchem 
Preise  er  kauft,  das  Absatzrevier,  wohin  er  verkaufen  darf,  die  Ver- 
kaufspreise,  die  ihm  zu  nehmen  eriaubt  ist.  Die  vor  der  Kartell- 
kommission  vernommenen  Kaufleute  geben  zu,  dass  das  Kartell  sie 
materiell  nicht  schlecht  gestellt  hat,  und  sie  beteuern  in  submissester 
Weise  ihre  heissen  Wunsche  ftir  Fortbestand  und  Wohlergehen  des 
Kohlenkartells.  Trotzdem  kann  der  aus  den  Tiefen  des  Herzens  auf- 
steigende  Seufzer  nicht  unterdruckt  werden:  »Wir  sind  keine  Kaufleute 
mehr,  uns  ist  die  freie  Bewegungsmoglichkeit  vollstandig  genommen, 
die  Intelligenz  des  einzelnen  ist  absolut  ausgeschaltet*  und  in  unuber- 
trefflicher  Weise  wird  die  Situation  gekennzeichnet  durch  den  Kohlen- 
grosshSndler  Vowinkel*Dusseldorf,  wenn  er  ruft:  Ave  Caesar  morituri  te 
salutant.  Ganz  genau  so  ist  die  Verdnderung  der  Stellung  des  Kauf- 
manns  beim  Trust.  Bei  beiden  liegt  in  dieser  Anderung  nichts,  was 
im  Interesse  des  Ganzen  beklagenswert  wire.  Bringt  sie  doch  durch 
Wegfall  der  Reklamekosten  und  bei  dem  Interesse  sowohl  von  Kartell 
wie  Trust,  den  Konsumenten  vor  Ubervorteilung  durch  den  Hindler  zu 
behuten,  Erspamisse. 

Allein  ganz  anders  das  Verhiltnis  von  Kartell  und  Trust  zur 
Produktion  und  dem  entsprechend  zur  Preisbestimmung.  Beim  Trust 
liegt  nicht  nur  die  Verwertung  der  Produkte,  sondem  auch  die  tech- 
nische  Leitung  und  die  Verwaltung  der  einzelnen  zugehorigen  Werke, 
in  einer  Hand;  beim  Kartell  liegen  sie  in  der  Hand  einer  grosseren 
Oder  geringeren  Anzahl  von  Untemehmungen.  Dieser  Unterschied  hat 
die  weittragendsten  Folgen,  nicht  nur  privatwirtschaftliche  sondem  fur 
die  gesamte  Volkswirtschaft. 

Es  ist  nMmlich  volkswirtschaftlich  von  dem  grdssten  Interesse,  dass 
die  Produktionskosten  einer  Ware,  selbstverstindlich  soweit  dies  ohne 
Verschlechterung  der  Lebensbedingungen  der  bei  ihrer  Herstellung  titigen 
Menschen  geschehen  kann,  mdglichst  gemindert  werden.  Es  liegt  dies 
sowohl  im  Interesse  der  nationalen  Wirtschaft  als  auch  in  dem  der 
Stellung  des  Landes  auf  dem  Weltmarkt.  Unter  der  Herrschaft  der 
Konkurrenz  wird  diese  Minderung  der  Kosten  dadurch  erreicht,  dass 
die  leistungsfahigeren  Betriebe  die  leistungsunfihigen  unterbieten,  bis 
diese  vom  Markte  verschwinden.  Der  Trust  bewirkt  dasselbe  in  weniger 
grausamer  Weise,  indem  er  den  leistungsunfihigen  Betrieb  aufkauft  und 
stillestellt.  An  die  Stelle  der  Erdrosselung  tritt  der  Morphiumtod.  Das 
ist  humaner  und  wahrt  in  noch  hoherem  Masse  das  Interesse  des  Ganzen. 
Nach  Ausschaltung  der  leistungsunfShigen  konzentriert  der  Trust  dann 
den  Betrieb  in  den  leistungsfihigsten  Werken.  Das  bietet  Vorteile  der 
verschiedensten  Art.  Die  Betriebe,  die  fortgeftihrt  werden,  konnen  nun 


265  8^ 


vol!  beschMftigt  werden  und  zwar  ohne  Unterbrechung.  Nebenprodukte 
tind  AbflLlle  werden  besser  ausgenutzt.  Wo  das  Produkt  schwer  ist,  so 
dass  die  Frachtkosten  einen  grossen  Teil  der  Kosten  aasmacben,  findet 
«ine  grosse  Frachtersparnis  statt  durch  geeignete  Verteilung  der  Betriebe 
in  den  verschiedenen  Landesteilen.  Desgleichen  findet  grosse  Erspamis 
statt  durch  Durchfuhrung  einer  Arbeitsteilung  unter  die  technischen  Be- 
triebe je  nach  ihrer  Etgnung  ftir  das  eine  Oder  andere  spezielle  Produkt. 
Femer  trotz  hoherer  Gehilter  Ersparnis  durch  BeschrSnkung  der  Zahl 
der  hoheren  Beamten.  Steigerung  der  Tuchtigkeit  in  der  Leitung,  das 
letztere  sicher  freilich  nur  da,  wo  die  Leiter  auch  grosse  Trust-Aktionftre 
sind;  sonst  macht  sich  der  Nachteil  des  minder  intensiven  Interesses 
<ler  Beamten  geltend.  Ganz  besonders:  Erleichterung  einer  grossartigen 
Entfaltung  des  Ausfuhrhandels;  ihr  grosses  Kapital  gibt  den  Trusts  die 
Mittel,  uber  den  ganzen  Erdball  hin  Agenten  zur  Erweiterung  ihrer 
Kundschaft  zu  besolden.  Also  als  Ergebnis  grdsstmdgliche  Leistung  bei 
mindesten  Kosten.  Dem  entsprechend  auch  die  Preispolitik  der  Trusts. 
Sie  wollen,  wenigstens  nach  ihrer  Angabe,  den  grdsstmdglichen  Gewinn 
erzielen  nicht  durch  Steigerung  der  Preise,  sondem  durch  Minderung 
der  Produktionskosten.  Tatsichlich  kann  man  ihnen  auch  nicht  vor- 
werfen,  dass  sie  die  Preise  bis  jetzt  getrieben  hfttten.  Im  Gegenteile; 
die  Preise  ihrer  Produkte  sind  vielfach  nicht  unerheblich  herabgegangen. 
Dabei  ist  allerdings  eines  zu  beachten.  Selbst  den  umfassendsten  Trusts 
1st  es  noch  nicht  gelungen,  alle  Betriebe  eines  Produktionszweigs  in 
sich  zu  vereinen ;  immer  noch  verfugen  sie  nur  uber  den  grosseren  Teil 
der  Produktion  einer  bestimmten  Ware;  noch  fehlt  nirgends  vdllig  die 
Konkurrenz.  AUein  die  tatsftchliche  Herrschaft  uber  den  grossten  Teil 
eines  Produktionszweigs  reicht  aus,  einen  weitgehenden  Einfluss  auf 
die  Preise  zu  geben,  wenn  auch  kein  Zweifel  ist,  dass  die  Rticksicht 
«uf  die  Konkurrenz,  die  noch  vorhanden  ist,  und  auf  die,  welche  neu 
entstehen  kdnnte,  dem  Missbrauch  dieses  Einfiusses  eine  Schranke  zieht. 
So  kann  man  der  Preispolitik  der  Trusts  heute  hochstens  vorwerfen, 
dass,  wenn  sie  auch  die  Inlandspreise  nicht  mutwillig  getrieben  hStten, 
diese  ohne  sie  noch  niedriger  sein  wurden,  etwas,  was  schwer  zu  be- 
weisen  ist,  und  ferner  dass  sie  zur  Erweiterung  ihres  Absatzes,  ebenso 
wie  die  Kartelle,  ans  Ausland  billiger  als  ans  Inland  verkaufen. 

Ganz  anders  die  Preispolitik  der  Kartelle.  Bedeutet  der  Trust  die 
Aufeaugung  leistungsunfEhiger  Betriebe  durch  die  leistungsfahigsten,  so 
suchen  im  Kartell  die  schwScheren  gerade  den  Schutz  gegen  Vernichtung 
ihrer  selbstindigen  Existenz.  Sie  woUen  nicht  sterben,  weder  durch 
Erdrosselung  noch  in  weniger  schmerzvoller  Weise  durch  Morphium,  und 
«uchen  durch  die  vertragsmSssige  Garantie  ihres  Absatzes  vor  beidem 
bewahrt  zu  werden.  Dies  iibt  aber  eine  notwendige  Ruckwirkung  auf 
die  Preispolitik  des  Kartells.  Soli  durch  dieses  auch  das  wenigst 
leistnngsflhige  Werk  am  Leben  erhalten  werden,  so  muss  der  Preis 
4iugenscheinlich  so  hoch  sein,  dass  er  auch  die  Produktionskosten  des 
leistungsunffihigsten  deckt.  Daher  wird  denn  in  der  Kartellkommission 
•stets  nur  die  Erzielung  eines  .angemessenen*  Preises  als  Zweck  der 

S&ddctttscbe  Monattbcfte.   1,4.  18 


HH|   266  8^ 


Kartelle  angegeben;  von  einem  Einfluss  derselben  auf  die  Kosten^ 
wenigstens  von  einem  direkten,  h5ren  wir  nichts.  Nur  ein  Fall  wird 
erwfthnt,  in  welchem  eine  Bergbaugesellschaft  eine  Zeche,  die  nicht  mehr 
leistungsfahig  war,  aufkaufte,  um  deren  Beteiligungsziffer  an  der  Produktion 
zu  erlangen,  und  sie  still  stellte.  Die  Beteiligungsziffer  der  einzelnen 
kartellierten  Werke  ist  namlich  fur  die  Dauer  des  Kartells  eine  Art 
Realgerechtigkeit,  die  auch  verSussert  werden  kann.  Als  ^angemessener'^ 
Preis  aber  erscheint  der,  bei  welchem  auch  die  schlechtesten  Anlagen 
noch  prosperieren.  So  z.  B.  wenn  uns  erzihlt  wird,  wie  man  Ende  der 
achtziger  Jahre  geglaubt  babe,  dass  der  eigentliche  alte  Ruhrbergbau 
seinem  Ende  entgegensehe.  „Die  meisten  Zechen  wurden  fur  abgebaut 
gehalten;  sie  waren  nach  Lage  des  ganzen  westfdlischen  Marktes  nicht 
mehr  existenzfihig/*  Es  waren  dies  die  Magerkohlenzechen.  Da  kam 
das  Kartell.  Durch  dieses  wurden  die  Preise  so  gestellt,  dass  diese  Zechen 
nicht  nur  wieder  existenzRhig  wurden,  sondem  der  ganze  Ruhrbergbau 
wieder  zu  neuem  Aufbluhen  gelangt  ist. 

Daher  femer  die  grossen  Schwierigkeiten  einer  ttichtigen  Kartell* 
leitung,  wie  sie  uns  aus  den  Ausfuhrungen  des  Geheimrats  Kirdorf- 
Gelsenkirchen  vor  der  Kartellkommission  so  anschaulich  entgegentreten. 
Eine  weitsichtige  Kartellleitung  wird  nimlich  stets  die  dauernden  Inter* 
essen  des  Gewerbszweiges  ins  Auge  fassen.  Sie  wird  stets  daran 
denken,  dass  auch  das  eigene  Gewerbe  nur  dann  dauernd  zu  gedeihen 
vermag,  wenn  auch  seine  Kunden  kauffMhig  bleiben.  Daher  wird  sie  in 
Zeiten  des  Aufschwungs  die  Preise  nicht  bis  zu  dem  Satze  treiben,  der 
sich  nach  Lage  des  Marktes  irgend  erpressen  Usst,  und  in  Zeiten  des 
Niedergangs,  trotz  ihres  Monopols,  mit  den  Preisen  soweit  herabgehen, 
dass  seine  Abnehmer  ihre  Existenz  fortzufristen  vermogen.  Geheimrat 
Kirdorf  aber  zeigt,  welchem  Widerstand  eine  solche  Preispolitik  seitens 
der  weniger  leistungsflhigen  Betriebe  begegnet.  In  Zeiten  des  Auf* 
schwungs  drSngen  sie,  die  Konjunktur  bis  aufs  Susserste  auszubeuten; 
in  Zeiten  des  Niedergangs  mochten  sie  die  Monopolstellung  zur  Aufrecht- 
haltung  der  Hochkonjunkturpreise  ausnutzen.  Nur  mit  Muhe  bringt  sie 
dann  die  Kartellleitung  zu  einem  Kompromiss,  und  auch  nach  diesem 
bleiben  die  Preise  noch  tiber  dem  Satze,  der  den  Kunden  die  Fort* 
fristung  ihres  Lebens  ermoglicht. 

Damit  stellt  sich  die  Preispolitik  der  Kartelle  in  scharfen  Gegen- 
satz  zu  dem  allgemeinen  volkswirtschaftlichen  Interesse.  Sie  erscheint 
nicht  als  im  Interesse  des  Fortschritts  der  nationalen  Wirtschaft,  sondem 
einfach  als  eine  von  den  Gesichtspunkten  nickstSndiger,  aus  irgend  einer 
Ursache  leistungsunfahiger  Betriebe  beherrschte  Zunftpolitik.  Auch  wird 
dieser  Widerspruch  ihres  Interesses  mit  dem  der  nationalen  Wirtschaft 
gar  nicht  geleugnet;  nur  wird  geltend  gemacht,  dass  die  Kartelle  in 
erster  Linie  eben  nicht  das  volkswirtschaftliche,  sondern  ihr  eigenes 
Interesse  zu  verfolgen  hStten.  Und  es  wSre  ungerecht  zu  leugnen,  dass. 
jedwede  Art  von  ErwerbstStigen  genau  so  zu  denken  pflegt.  Allein  wo 
freie  Konkurrenz  herrscht,  bringt  diese  von  selbst  die  Korrektur  jedweder 
Ausschreitung  engherzigen  Sonderinteresses.    Die  freie  Einfuhr  wurdet 


-o^    267  8^ 


alsbald  jeden  Versuch  scheitern  lassen,  in  Zeiten  niedergehender  Kon- 
junktur  Hochkonjunkturpreise  zu  halten.  Haben  jene  Sonderinteressenten 
ein  Monopol,  so  ist  dieses  Heilmittel  ausgeschlossen,  und  damit  zeigt 
der  eingenLumte  Widerspruch  zwischen  dem  Sonderinteresse  der  Mono- 
polisten  und  dem  allgemeinen  volkswirtschaftlichen  Interesse  die  Gefahr, 
welche  jede  Art  von  Monopolbildung  birgt.  Diese  Gefahr  mag  dann 
noch  leicht  ertragen  werden,  wenn  durch  die  Monopole  nur  diejenigen 
geschSdigt  werden,  die  man  heute  als  i,nackte''  Konsumenten  zu  verachten 
pflegt.  Gewiss  erscheint  diese  Verachtung  als  unberechtigt,  wenn  wir 
uns  vergegenwirtigen,  dass  zu  diesen  ^nackten  Konsumenten*  Millionen 
gehdren,  denen  jedwede  Mdglichkeit  fehlt,  cntsprechend  der  Verteuerung 
ihres  Verbrauchs  auch  ihre  Einnahmen  zu  steigem.  Allein  mag  man  je 
nach  der  individuellen  Denkweise  auch  dem  Armsten  mitleidlos  zumuten, 
durch  gesteigertes  Darben  sein  Scherflein  zur  Erhaltung  LeistungsunfEhiger 
beizutragen,  ganz  anders  stellt  sich  die  Gefahr,  wenn  jene  Preispolitik 
Konsumenten  bedroht,  welche  nur  kaufen,  um  weiter  zu  verarbeiten, 
die  Fertigfabrikation  in  ihren  verschiedenen  Stadien. 

Dies  fuhrt  uns  zu  der  Frage,  in  welchen  Produktionsstadien  einer 
gebrauchsfertigen  Ware  die  Monopolbildung  am  leichtesten,  ergiebigsten 
aber  auch  geflhrlichsten  fUr  andere  ist. 

Das  Hauptstreben  des  Monopolisten  ist  stets  darauf  gerichtet,  die 
Stellung  im  Produktionsprozess  einzunehmen,  in  der  alle,  von  denen 
sie  kaufen  oder  an  die  sie  verkaufen,  von  ihnen  abhSngig  sind.  Rockefeller 
hat  dies  fur  die  Petroleumraffinerie  erreicht,  indem  er  sich  die  Herr- 
schaft  uber  alle  Transportmdglichkeiten  von  Rohdl  zu  den  RafHnerien  bin 
verschaffte  und  die  Kontrolle  uber  alle  Raffinerien  erlangte.  Ohne  selbst 
erhebliche  Petroleumquellen  zu  besitzen,  brachte  er  sie  so  nahezu  alle 
in  Abhingigkeit  und  schuf  damit  das  Monopol  des  Standard-Oil-Trust. 
Bei  uns  dagegen,  wo  eine  solche  Beherrschung  der  Transportmdglichkeiten 
durch  das  Staatsbahnsystem  ausgeschlossen  ist,  erscheinen  die  fruhen 
Stadien  des  Produktionsprozesses  einer  gebrauchsfertigen  Ware  als  die- 
jenigen, welche  den  darin  titigen  Monopolbildungen  die  Herrschaft  oder 
mindestens  einen  sehr  weitgehenden  Einfluss  auf  alle  folgenden  Stadien 
verleihen.  Kohle,  Koks,  Roheisen  sind  die  Produkte,  von  deren  regel- 
missigem  und  billigem  Bezug  die  Existenz  nahezu  alter  deutschen  Pro- 
duktionszweige  abhSngig  erscheint.  Namentlich  ist  es  bei  uns  die  Kohle, 
welche  die  Stellung  einnimmt,  wie  sie  in  fruherer  Zeit  dem  Getreide 
zukam.  Gewiss,  ohne  Getreide  kdnnen  wir  heute  so  wenig  wie  friiher 
leben,  allein  Getreide  haben  wir  heute  im  Oberfluss,  nicht  aber  Kohle, 
und  ohne  sie  stockt  heute  unsere  gesamte  Produktion.  Die  Kohle  er- 
scheint heute  als  das  wichtigste  Lebensmittel. 

Auf  das  Deutlichste  tritt  uns  diese  Bedeutung  von  Kohle,  Koks 
und  Roheisen  aus  den  bisherigen  Verhandlungen  der  Kartellkommision 
entgegen,  namentlich  aber  die  der  Kohle.  Die  Abhdngigkeit,  in  welcher 
sich  alle  Stadien  der  Fertigfabrikation,  und  zwar  in  alien  Arten  von 
Produktionszweigen,  selbt  in  scheinbar  femliegenden,  wie  der  Papier- 
fabrikation,  von  dem  Monopole  der  Grubenbesitzer  befinden,  ist  der 

I8» 


268  8^ 


tiefste  Eindruck,  den  man  vom  Lesen  der  Verhandlungen  erhalt.  Da- 
bei  ist  anzuerkennen,  dass  die  Leitung,  namentlich  des  rheinisch-west- 
ffilischen  Kohlensyndikats,  eine  massvolle  Preispolitik  verfolgt  hat,  soweit 
es  ihr  die  Zugehdrigkeit  der  weniger  leistungsfihigen  Zechen  gestattet 
hat,  und  auch  die  ursprunglich  sehr  heftigen  Klagen  uber  das  Koks- 
syndikat  haben  im  Laufe  der  Verhandlung  an  SchSrfe  verloren.  Nichts- 
desto weniger,  was  ist  das  Ergebnis?  Dass  alle  Betriebe,  die  auf  den 
Bezug  von  Kohlen  und  anderen  Rohstoffen  von  anderen  Betrieben  an- 
gewiesen  sind,  in  wirtschaftlichen  Niedergangszeiten  gegenuber  den  ge- 
mischten  Werken,  welch^  diese  Rohstoffe  selbst  produzieren,  so  un- 
gunstig  stehen,  dass  sie  sich  auf  die  Dauer  nicht  zu  halten  vermogen. 

Die  Benachteiligung  der  im  Gegensatz  zu  diesen  gemischten  Be- 
trieben sog.  reinen  Werke  findet  in  doppelter  Weise  statt:  Einmal  durch 
Hochhalten  des  Preises  des  kartellierten  Produktes  im  Inland,  und  zweitens 
durch  billigeren  Verkauf  desselben  ins  Ausland. 

Durch  das  erstere:  Die  weniger  leistungsfShigen  Betriebe  verlangen, 
dass  der  Preis  so  hoch  sei,  dass  er  nicht  nur  ihre  hohen  Produktions- 
kosten  deckt,  sondem  auch  moglichst  hohen  Gewinn  dariiber  hinaus  ab- 
wirft.  Was  ist  dann  die  Lage  der  Betriebe  im  spateren  Stadium  der 
Produktion?  Ihre  Produkte  sinken  im  Preise;  infolge  des  Hochhaltens 
des  Preises  der  Rohstoffe  bleiben  ihre  Produktionskosten  aber  nach  wie 
vor  hoch.  Wer  also  irgend  kann,  sucht  Kohlen-,  Koks-,  Hochofenwerke 
mit  seinem  Betrieb  zu  verbinden.  Nun  wird  er  von  dem  Hochhalten 
des  Preises  seiner  Rohstoffe  nicht  nachteilig  beruhrt.  Ganz  im  Gegen- 
teil;  produziert  er  die  von  ihm  verarbeiteten  Rohstoffe  im  eigenen  Betriebe 
billiger  als  zu  dem  Preise,  zu  dem  das  Kartell  seinen  Konkurrenten  sie 
liefert,  so  kann  er  den  Preis  seines  Fertigprodukts  auf  dem  Inlandsmarkt 
niedriger  wie  diese  stellen;  er  kann  sogar  unter  die  speziellen  Produktions- 
kosten des  Fertigfabrikates  herabgehen;  denn  was  er  hier  etwa  voruber- 
gehend  verliert,  wird  ihm  durch  das  ersetzt,  was  er  an  dem  selbsterzeugten 
Rohstoff  gewinnt,  und  dadurch,  dass  er  die  sog.  reinen  Betriebe,  die  sich 
nunmehr  nicht  halten  kdnnen,  als  Konkurrenten  in  der  Fertigfabrikation 
fur  die  Zukunft  verliert. 

Die  reinen  Betriebe  werden  aber  zweitens  dadurch  benachteiligt, 
dass  die  kartellierten  Werke  ihre  Rohprodukte  und  Halbfabrikate  billiger 
ins  Ausland  verkaufen.  Ihre  Generalkosten  sind  durch  die  hohen  Preise, 
die  sie  dem  heimischen  Konsumenten  abnehmen,  gedeckt;  sie  konnen 
daher  ohne  Verlust  viel  billiger,  selbst  unter  ihren  Kosten,  an  das  Aus- 
land verkaufen.  Ein  Fall  dieser  Art  hat  besonders  die  Verhandlung  uber 
das  Kokssyndikat  beschSftigt.  Inlindische  Eisenwerke  wurden  durch  die 
Andeutung,  dass  man  nicht  wisse,  ob  man  im  kommenden  Jahre  Koks 
fur  sie  haben  werde,  in  Angst  versetzt  und  so  veranlasst,  auf  einen 
fur  das  bestehende  Jahr  bereits  vereinbarten  Preis  von  14  Mk.  per 
Tonne  zu  verzichten,  und  dafur  zu  einem  Preis  fur  zwei  Jahre  zu  17  Mk. 
abzuschliessen;  unterdessen  aber  lieferte  man  auf  Grund  fruherer  Vertrige 
an  die  Prager  Eisenwerke  nach  wie  vor  zum  Preise  von  8,10  Mk.  Das  ist 
aber  nicht  der  einzige  Fall  billigen  Verkaufens  ans  Ausland;  vielmehr 


260  8^ 


zieht  sich  die  Klage  fiber  diese  Praktiken  durch  die  ganze  Kartellenquete 
hindurch.  Die  Folge  ist,  dass  die  reinen  Betriebe  auch  die  Konkurrenz 
des  Auslands  nicht  mehr  zu  bestehen  vermogen,  selbst  da  nicht,  wo 
die  Rohstoffkartelle  ihnen  Ausfuhrprftmien  fur  die  von  ihnen  ausgefuhrten 
Mengen  bewilligten.  Denn  diese  waren  nie  so  hoch,  dass  sie  die  Ver- 
teuerung  des  Inlandpreises  der  Rohstoife  wettmachen  konnten.  So  er- 
scheint  in  einer  Reihe  von  Produktionszweigen  die  Stunde  der  reinen 
Betriebe  geschlagen  zu  haben,  wenn  nicht  Abhilfe  kommt.  Der  Schutz 
der  leistungsunfShigen  Betriebe  in  der  Rohproduktion  durch  horizontale 
Konzentration  der  Betriebe  ffihrt  zu  einer  vertikalen  Konzentration  der 
Betriebe,  indem  die  Betriebe  der  spSteren  Produktionsstadien  sich  nicht 
zu  halten  vermdgen.  Die  Preispolitik  der  Kartelle  rettet  die  Leistungs- 
unflhigen  vor  Ausschaltung  im  fruheren  Stadium  durch  Auschaltung 
von  Betrieben,  die  sonst  leistungs^hig  geblieben  wSren,  in  einem  spdtem 
Produktionsstadium.  Nur  die  Betriebe  der  spSteren  Stadien  vermdgen 
sich  zu  halten,  welche  mit  Betrieben  der  vorhergehenden  sich  zu  ge- 
mischten  Betrieben  vereinen. 

Das  sind  die  sog.  MissbrSuche  unserer  Kartelle,  welche  die  ofTent- 
liche  Meinung  in  den  letzten  Jahren  so  sehr  erregt  haben,  dass  sie  zur 
Niedersetzung  einer  Untersuchungs-Kommission  gefuhrt  haben.  Und 
wenn  auch  die  Art  und  Weise,  wie  hier  die  Untersuchung  gefuhrt  wird, 
keineswegs  der  Art  ist,  dass  sie  die  ganze  Wahrheit  ans  Tageslicht  zu 
bringen  vermag,  so  ist  doch  genug  bekannt  geworden,  um  die  Klagen 
der  reinen  Betriebe  in  der  Hauptsache  zu  rechtfertigen.  Dies  gilt  nicht 
nur  hinsichtlich  der  Preise,  die  sie  bezahlen  mussen,  sondem  nicht 
minder  hinsichtlich  der  ihnen  gelieferten  Mengen  und  Qualitlten.  Sie 
erscheinen  als  in  voller  AbhSngigkeit  vom  Monopole  und  durfen  froh 
sein,  wenn  sie  uberhaupt  noch  etwas  bekommen,  gleichviel  zu  welchem 
Preise,  in  welcher  Menge  und  Gute  und  zu  welchen  sonstigen  Bedingungen. 

Es  ist  nun  hochst  interessant  zu  verfolgen,  in  welcher  Weise  sich 
das  Mass  der  Abhingigkeit  der  verschiedenen  Produktionsstadien  der 
gebrauchsfertigen  Ware  in  den  Ausserungen  ihrer  Vertreter  spiegelt. 
Die  Roheisenindustrie  hat  nur  Lob  fur  das  Kohlensyndikat,  wenigstens 
in  Rheinland-Westfalen.  Sie  ist  nSmlich  gleichfalls  stark  kartelliert; 
was  sie  gegen  das  Kohlen-  und  Kokssyndikat  sagen  wtirde,  wurde  also 
auch  gegen  sie  selbst  gelten;  auch  ist  sie  unter  der  Herrschaft  des 
Schutzzolls  durch  ihr  Kartell  in  Stand  gesetzt,  eine  etwaige  Verteuerung 
ihrer  Kosten  auf  ihre  Abnehmer  weiterzuwSlzen.  Zudem  haben  die 
Hochofenwerke,  ausser  denen  im  Siegerland,  selbst  eigene  Zechen; 
ebenso  die  schlesischen  Hochofenwerke  mit  Ausnahme  eines  einzigen; 
und  dieses  klagt  allerdings  laut  gegen  die  oberschlesische  Kohlenkonvention 
und  wSre,  wenn  nicht  der  preussische  Staat  ein  Funftel  der  schlesischen 
Kohlengruben  beslsse,  Musserst  geflhrdet,  und  auch  so  war  es  in  letzter 
Zeit  ausser  Stand,  eine  Dividende  zu  zahlen.  Was  fur  das  Roheisen 
gilt,  gilt  auch  fur  die  Herstellung  von  Halbzeug.  Dagegen  mindert  sich 
die  uberwiegende  Anerkennung,  welche  den  Kartellen  der  vorausgehenden 
Produktionsstadien  zuteil  wird,  je  mehr  wir  in  die  Fertigfahrikation 


270  8^ 


hineinkommen.  Zwar  sagt  ein  jeder,  dass  er  es  sehr  bedauern  wurde, 
wenn  diese  Kartelle  aufhoren  wurden.  Wer  aach  wurde  es  mit  den 
UbennSchtigen  durch  zu  lautes  Klagen  verderben  woUen.  Aber  durch 
alle  Lobspniche  durch  sieht  man  die  ZMhren  rinnen.  Sie  fliessen  noch 
sanft  in  den  Ausserungen  der  Walzwerke  uber  das  Kohlensyndikat. 
„Sag  ihm,  aber  sag's  bescheiden,"  gilt  fiir  ihre  Klagen.  Es  wurde  alles 
vortrefflich  sein,  wenn,  —  ja  wenn  man  nur  auf  diese  oder  jene  Lebens- 
bedingung  der  Klagenden  grossere  Rlicksicht  ndhme.  Bei  den  Kleineisen- 
industriellen  wird  das  Klagen  schon  lauter;  ihre  Lobeserhebungen  machen 
den  Eindruck  der  Versicherungen  des  gepriigelten  Knaben,  wie  sehr  er 
seinen  Lehrer  liebe,  wenn  dieser  nur  aufhdren  wolle,  ihn  zu  hauen; 
aber  auch  die  Kleineisenindustriellen  rufen  »Alles  Heil  und  recht  viel 
Segen"*,  wenn  man  nur  die  dringendsten  ihrer  Wiinsche  beriicksichtigen 
wollte.  Hier  verwandeln  sich  die  Verhandlungen  vor  der  Kommission 
nahezu  aus  einer  Untersuchung  in  ein  Markten  um  Zukunftsbedingungen. 
Die  Maschinen-,  die  Zink-,  Blei-  und  sonstigen  Metallindustrien  er- 
kliren  ehrlich,  dass  sie  mit  dem  Kohlensyndikat  sich  abgefunden  haben, 
denn  seit  dessen  Grundung  hMtten  sie  so  viel  an  die  Bergwerke  verkauft, 
dass  sie  bei  dessen  Bestehen  ihre  Rechnung  gefunden.  Nur  die  Ver- 
treter  agrarischer  Interessen  zeigen  in  den  Verhandlungen  tiber  das 
Kohlensyndikat  ihre  erfrischende  Rucksichtslosigkeit  in  ihren  Klagen 
fiber  die  Hintansetzung  ihrer  Einkaufsgenossenschaften  gegenuber  den 
HUndlem;  allein  es  wird  ihnen  entgegnet,  sie  seien  unzuverlSssige  Ab- 
nehmer;  nach  einigem  Zureden  erklirt  man  sich  indes  bereit,  zusehen 
zu  wollen,  ob  man  ihnen  entgegenzukommen  vermdge.  In  den  Ver- 
handlungen tiber  den  Verband  deutscher  Druckpapier-Fabrikanten  treten 
sich  deren  Verkaufsstelle  und  die  Einkaufsstelle  der  Drucker  schon  als 
weit  heftigere  Gegner  gegenuber;  allein  auch  hier  endet  die  Aussprache 
mit  einer  fast  demutigen  Bitte  der  KMufer,  die  ausgeteilten  Nadelstiche 
doch  vergessen  zu  wollen.  Ganz  anders  freilich  in  den  Verhandlungen 
tiber  die  sehr  viel  schlechter  als  das  Kohlensyndikat  organisierten 
Kartelle  der  zoUgeschutzten  Eisenindustrie.  Da  platzen  die  Gegensatze 
zwischen  den  Roheisensyndikaten  und  den  weiterverarbeitenden  In- 
dustrien  geradezu  leidenschaftlich  aufeinander.  Verletzung  von  Treu 
und  Glauben,  von  guter  Sitte  und  Recht  ist  der  Vorwurf,  der  den 
Roheisensyndikaten  entgegengeschleudert  wird.  Vermoge  der  durch  sein 
zollgeschutztes  Monopol  erlangten  Machtstellung  notige  es  seine  Ab- 
nehmer  unter  Vorspiegelung  nicht  vorhandener  Eisennot  zu  langfristigen 
Vertragen  bei  hohen  Preisen,  halte  sie  dann  selbst  nicht  ein,  noch  dazu 
bei  ungleichmflssiger  Behandlung  der  Kunden,  verbote  seinen  Abnehmern 
den  Wiederverkauf  der  ihnen  auf  Grund  seiner  Praktiken  aufgenotigten 
zu  grossen  Mengen,  wenn  die  sinkende  Konjunktur  deren  Weiter- 
verarbeitung  unmoglich  mache,  und  verweigere  die  Garantie  fur  die 
bedungene  Qualitit  der  gelieferten  Ware.  Vor  allem  aber:  seine  Mit- 
glieder  verkauften  billiger  an  die  ausldndischen  Konkurrenten  der  Weiter- 
verarbeiter  und  raubten  ihnen  damit  den  Absatzmarkt.  In  dieser  Klage 
sind  alle  weiterverarbeitenden  Industrien   einig,    die    Erzeuger  von 


271  8^ 


Giessereiroheisen,  von  Puddelroheisen,  die  Maschinenfabrikanten,  darunter 
besonders  die  suddeutschen,  und  in  unversdhnter  Dissonanz  schliessen 
die  Verhandlungen  uber  den  Roheisenverband.  Aber  noch  leidenschaft- 
licher  gestalteten  sich  am  folgenden  Tage  die  Verhandlungen  uber  den 
Kalbzeugverband,  d.  h.  des  Verbands  der  Werke,  welche  Blocke, 
Knuppely  Platinen,  kurz  alles  Material,  welches  zu  Fertigfabrikaten 
weiterverarbeitet  wird,  herstellen.  Das  Kohlensyndikat  hatte  wegen 
der  weisen  Missigung  in  der  Ausnutzung  seines  Monopols  uberwiegende 
Anerkennung  gefunden;  das  Kokssyndikat  wurde  schon  scharf  an- 
gegriffen;  die  Klagen  nahmen  beim  Roheisenkartell  an  StSrke  in  dem 
geschilderten  Masse  zu,  um  beim  Halbzeugverband  den  Hdhepunkt  zu 
erreichen.  Der  immerwahrende  Refrain  der  Fertigfebrikanten  lautet: 
die  Spannung  der  Preise  zwischen  Halbzeug  und  Fertigfabrikat  ist  zu 
gering;  die  Inlandspreise  sind  zu  hoch,  wdhrend  die  zum  Halbzeugverband 
gehdrigen  Werke  ans  Ausland  allzu  billig  verkaufen.  Die  Folge  ist, 
dass  die  Fertigfabrikation,  welche  nicht  das  von  ihr  benotigte  Halbzeug 
selbst  herstellt,  nicht  linger  bestehen  kann.  Die  reinen  Betriebe 
werden  auf  dem  inlandischen  durch  die  Konkurrenz  der  gemischten 
Betriebe,  auf  dem  auswirtigen  Markte  durch  die  Konkurrenz  der  Eng- 
linder  und  Amerikaner,  denen  deutsches  Halbzeug  billiger  als  den 
Deutschen  geliefert  wird,  erdrtickt.  Und  diese  Klagen  werden  bestfttigt 
durch  das  bertibmte  Blaubuch,  das  die  englische  Regierung  aus  Anlass 
des  Vorgehens  Chamberlains  im  September  vorigen  Jahres  verdffentlicht 
hat.  Da  ist  wiederholt  von  den  Vorteilen  die  Rede,  welche  der  eng- 
Hschen  Fertigfabrikation  erwachsen  sind  aus  der  Lieferung  deutscher 
Halb-  und  Ganzfabrikate  zu  billigeren  Preisen,  als  sie  ihren  deutschen 
Konkurrenten  geliefert  wurden.  »Auf  dem  Banner so  schliesst  der 
Vertreter  der  reinen  Walzwerke  seine  zahlreichen  Auslassungen,  „auf 
dem  Banner,  das  wir  reinen  Walzwerke  tragen,  steht:  Schutz  der 
nationalen  Arbeit.  Den  Schutz  der  nationalen  Arbeit  finden  Sie  in  dem 
Zollschutz,  der  ihnen  gewShrleistet  ist,  fur  Halbzeug;  wire  dieser  Schutz 
nicht  da,  dann  wurden  wir  in  diesem  Augenblick  sehr  billiges  Halbzeug 
vom  Ausland  kaufen  konnen.  Die  (gemischten)  Werke  Ihres  Verbandes 
aber  verkaufen  Stabeisen  zu  so  billigen  Preisen,  dass  wir  dafur  Stab- 
eisen  bei  heutigen  Halbzeugpreisen  entfemt  nicht  herstellen  konnen. 
Den  Schutz  der  nationalen  Arbeit,  den  Sie  fiir  sich  in  Anspruch  nehmen 
und  den  wir  Ihnen  auch  geme  ^egonnt  haben,  den  haben  Sie  uns,  Ihren 
treuen  Abnehmem,  mit  diesen  Unterbietungen  genommen.* 

So  weit  also  hat  das  protectionisti^che  SolidaritStssystem  es  gebracht^ 
dass  der  Vertreter  eines  geschutzten  Erwerbszweigs  den  Vertretem  anderer 
diese  Worte  zurufti 

Was  nun  sind  die  vorgeschlagenen  Mittel  gegeniiber  diesen  sog. 
Kartellmissbr&uchen,  fiber  die  man  so  leidenschaftlich  klagt? 

Es  entspricht  einer  weit  verbreiteten  Gemutsstimmung,  dass  man 
gegenuber  einem  Missbrauch  zunlchst  nach  der  Polizei  schreit.  So 
auch  hier.  Vor  allem  wird  ein  Kartellregister  verlangt,  in  das  alle  be- 
stehenden  Kartelle  sich  eintragen  sollen.    Dagegen  ist  von  keinerlei 


272  8^ 


Standpunkt  aus  etwas  einzuwenden.  Ausserdem  verlangen  viele  OfPent* 
lichkeit  der  Kartellverhandlungen.  Niemand  aber,  der  die  Kartellenquete 
verfolgt  und  dabei  gesehen  hat,  wie  dabei  jedwedes  Verhor  der  Inter* 
essenten,  durch  welche  allein  die  Wahrheit  auch  nur  annahemd  hitte 
festgestellt  werden  kdnnen,  ausgeschlossen  wurde,  wird  emstlich  glaoben, 
dass  das  Reichsamt  des  Innem  sich  zur  Einfuhrung  der  Offentlichkeit 
der  Kartellverhandlungen  als  organischer  Einrichtung  verstehen  werde. 
Auch  kdnnen  Kartelle  ihrer  geschiftlichen  Natur  nach  Geheim- 
haltung  ihrer  Beratungen  und  Beschlusse  geradezu  bendtigen.  Weiter- 
gehende  verlangen  sodann  Unterdruckung  der  Kartelle  durch  die  Gesetz- 
gebung.  In  den  Vereinigten  Staaten,  wo  die  Bildung  von  Monopolen 
zudem  den  Grundsitzen  der  Verfassung  ausdrucklich  widerspricht,  hat 
man  in  der  Tat  die  Gesetzgebung  zur  Unterdruckung  der  Trusts  in  Be- 
wegung  gesetzt.  Es  hat  dies  aber  nicht  die  Folge  gehabt,  die  Trusts  zu 
beseitigen,  sondem  zu  stirken;  an  die  Stelle  der  fniheren  Vereinigung 
selbstindiger  Untemehmungen  trat  lediglich  ihre  geschilderte  Ver- 
schmelzung  in  einer  einzigen  Aktiengesellschaft.  Es  IMsst  sich  nicht 
absehen,  wie  ein  gesetzgeberischer  EingrifF  zur  Unterdruckung  der 
Kartelle  auch  bei  uns  eine  andere  Folge  haben  kdnnte  als  die,  die 
Konzentration  der  Betriebe  zu  einem  mdchtigen  Monopole,  die  man  be- 
kimpfen  will,  zu  verstirken. 

Allein  auch  nur  an  Versuche,  die  Monopolbildung  auf  dem  Wege 
der  Gesetzgebung  zu  unterdrucken,  ist  bei  uns  nicht  zu  denken.  Das 
Reichsamt  des  Innem  ist  vielmehr  im  hdchsten  Masse  kartell freundlich. 
Vergleicht  man  die  Ausserungen  der  die  Kartellenquete  leitenden  Beamten 
mit  denen  des  Mannes,  den  die  Kartellenquete  als  die  Seele  des  deutschen 
Kartellwesens  geoffenbart  hat,  des  ausgezeichneten  und  weitsichtigen 
Leiters  des  rheinisch-westfalischen  Kohlensyndikats,  Geheimrats  KirdorF- 
Gelsenkirchen,  so  scheint  vielmehr  die  weitestgehende  Obereinstimmung 
zwischen  dessen  Anschauungen  und  denen  des  Reichsamts  des  Innem 
zu  herrschen,  und  die  ganze  Kartellenquete  tritt  uns  entgegen  weit 
weniger  als  eine  Untersuchungskommission  zur  Feststellung  der  Wahrheit, 
als  vielmehr  als  der  Johannes,  der  dem  kommenden  Messias  die  Wege 
zu  ebnen  berufen  ist.  Und  was  erscheint  als  das  Programm,  das  nach 
der  Auffassung  der  Regierang  die  Losung  aller  Schwierigkeiten  bringen 
soli?  Der  Rat,  der  erteilt  wird,  heisst  .Kapitalisten  aller  Gewerbe  ver- 
einigt  euch!"  Die  Leiden  der  Fertigfabrikation  haben  nur  darin  ihren 
Gmnd,  dass  nicht  auch  sie  kartelliert  ist.  Mdgen  doch  die  weiter- 
verarbeitenden  Industriezweige  sich  zusammenfinden  und  uber  eine 
Organisation  sich  verstindigen.  Die  bestehenden  Syndikate  konnen 
doch  nicht  mit  jedem  der  unzfthligen  bestehenden  Werke  der  Fertig- 
fabrikation gesondert  verhandeln  und  mit  ihm  in  freiem  Vertrage  be- 
sondere  Bedingungen  vereinbaren;  da  bleibt  nichts  anderes,  als  diese 
nach  dem  einseitigen  Ermessen  der  Syndikate  festzustellen.  Anders, 
wenn  die  verschiedenen  Zweige  der  Fertigfabrikation,  in  Verbanden 
organisiert,  ihnen  gegenubertreten.  Dann  kann,  ihnlich  wie  im  Einigungs- 
amt  zwischen  den  Organisationen  der  Arbeitgeber  und  Lohnarbeiter,  in 


273  ^ 


gemeinsamer  Verhandlung  ein  Ausgleich  der  entgegenstehenden  Interessen 
gefanden  werden.  Als  Spitze  dieser  Neuorganisation  der  Industrie  denkt 
man  sich  dann  wohl  ein  Generaleinigungsamt,  das  Kartell  der  Kartelle. 

Bis  dahin  scheint  freilich  der  Weg  noch  weit.  Zeigt  doch  die 
Fertigfabrikatlon  schier  untiberwindliche  Schwierigkeiten  der  Organisation. 
Nicht  als  ob  diese  fQr  alle  Zweige  der  Weiterverarbeitung  gllten.  Wo 
Massenprodukte  hergestellt  werden,  haben  wir  allerdings  bereits  sehr 
stark  organisierte  Kartelle  gehabt  und  bestehen  dermalen  noch  eine 
ganze  Anzahl.  Aber  tiberall,  wo  QualitMtsprodukte  hergestellt  werden, 
sind  bisher  aus  schon  dargelegten  Grunden  alle  Kartellierungsversuche 
gescheitert.  Es  gibt  sogar  SachverstSndige  aller  ersten  Ranges,  wie  den 
bekannten  Carnegie,  welche  die  ganze  Monopolbildung  fur  eine  nur 
vorubergehende  Episode  im  modernen  Wirtschaftsleben  erachten,  welche 
sehr  bald  wieder  dem  entgegengesetzten  Streben  Platz  machen  werde, 
wo  der  Staat  sie  nicht  kunstlich  unterstutze.  Aber  nehmen  wir  an, 
Carnegie  habe  unrecht.  Nehmen  wir  an,  die  Schwierigkeiten  der  Kartell- 
bildung  in  den  Zweigen  der  Fertigfabrikation  seien  uberwunden.  Alsdann 
wiirden  Konsequenz  und  Gerechtigkeit  erheischen,  dass  auch  die  Kartelle 
derjenigen  in  die  grosse  Neuorganisation  von  Einigungslmtem  auf- 
genommen  wurden,  welche  ihre  Arbeitsleistung  als  selbstSndiges  Gut 
an  die  Betriebsuntemehmer  verkaufen.  Sie  sind  es,  welche  seit  dem 
Untergang  der  alten  gewerblichen  Ordnung  das  Organisationsprinzip 
gegenuber  dem  Konkurrenzprinzip  unentwegt  aufrecht  erhalten  haben, 
and  von  denen  die  Kartelle  der  Betriebsuntemehmer  die  Anpassung 
des  Angebots  an  die  Nachfrage  erst  wieder  gelemt  haben ;  die  bestehende 
gesellschaftliche  und  staatliche  Ordnung  gibt  ihnen  ein  Recht,  dass  ihre 
VerbSnde  genau  so  wie  die  aller  ubrigen  Verkiufer  von  Produktions- 
elementen  in  die  Organisation  aufgenommen  werden,  ein  in  unseren  Tagen 
des  entstehenden  deutschen  Arbeitgeberbunds  allerdings  vermessenes 
Verlangen.  Allein  je  stSrker  auf  dieser  Seite  die  Abneigung,  desto 
grosser  die  Pflicht  aller  materiell  nicht  Interessierten,  auf  das  Not- 
wendige  dieser  Ergtozung  zu  verweisen.  Bedroht  doch  ohne  sie  die 
Kartellorganisation  die  Lohnarbeiter  in  die  Lage  von  Hdrigen  herab- 
zudrucken.  Die  bestehende  Gesetzgebung  hat  den  Verkiufer  von 
Arbeitsleistungen  lUngst  anderen  WarenverkSufem  rechtlich  gleich- 
gestellt.  Ohne  Anerkennung  ihrer  Organisationen  als  gleichberechtigte 
Glieder  in  der  geplanten  industriellen  Neuorganisation  w&rde  ihnen  ihr 
heutiges  Recht  verschlechtert.  Wie  heute  die  Fertigfabrikanten  der 
Willkiir  der  Syndikate,  tiber  die  sie  sich  so  heftig  beklagen,  so  wMren 
dann  die  Lohnarbeiter  derjenigen  der  vereinigten  Arbeitgeber  hoffnungs- 
los  preisgegeben,  und  selbst  der  Besitzer  und  Drucker  der  rheinisch- 
westfllischen  Zeitung,  Dr.  Reismann  Grone,  hat  ja  in  den  Verhandlungen 
fiber  das  Druckpapier-Syndikat  indirekt  wenigstens  zugestanden,  dass  es 
auch  Arbeiterausstinde  gebe,  an  denen  die  Fabrikanten  schuld  seien. 
Auch  ist  die  Gleichberechtigung  der  Arbeiter  in  anderen  Lindem  ja 
lingst  nicht  nur  in  der  Gesetzgebung,  sondem  auch  praktisch  anerkannt. 
Die  Industrial  Commission  der  Vereinigten  Staaten  fuhrt  in  ihrem  Be- 


-•-8    274  8^ 


richte  von  1900  aus,  fast  alle  Trusts  seien  keine  Gegner  der  Arbeiter- 
organisationen;  sie  seien  im  ganzen  geneigt,  sie  zu  fordern,  und  ebenso 
seien  die  koalierten  Arbeiter  keine  Gegner  der  Trusts.  Nach  den  Er- 
klSrungen  des  Grafen  Posadowsky  in  der  Reichstagsverhandlung  vom 
ao.januar  1904  iiber  die  Berufsvereine  der  Arbeiter,  lisst  sich  nunmehr 
hoffen,  dass  auch  das  Reichsamt  des  Innem  sich  der  Folgerichtigkeit 
des  Gedankens,  die  Berufsorganisationen  der  Arbeiter  in  die  Einigungs- 
Smter  zum  Ausgleich  der  Interessen  der  verschiedenen  im  Produktions- 
prozess  titigen  VerkHuferarten  aufzunebmen,  nicht  verschliessen  werde. 
In  derselben  Weise  wie  die  Losung  der  InteressengegensStze  zwischen 
Robproduktion  und  Fertigfabrikation  muss  die  Losung  der  Interessen- 
gegensStze  zwischen  den  Verkiufem  und  KSufem  von  Arbeitsleistungen 
erstrebt  werden.  Gibt  es  doch  kein  anderes  Mittel,  um  auf  Grundlage 
der  bestehenden  Rechtsordnung  Konvulsionen  zu  vermeiden,  wie  wir  sie 
jungst  erst  erlebt  haben,  und  wie  sie  fur  unser  ganzes  Wirtschaftsleben 
verhfingnisvoll  sind. 

Als  selbstverstSndlich  darf  wohl  angesehen  werden,  dass  sich  die 
Regierung  bei  den  von  ihr  geplanten  Kartell-EinigungsSmtem  ein  Recht 
der  Teilnahme  und  Beaufsichtigung  vorzubehalten  gedenkt  Toils  ist 
dies  notigy  damit  die  Interessentenorganisationen  dem  Staate  nicht  uber 
den  Kopf  wachsen,  toils  um  einen  Missbrauch  der  Monopole  auf  Kosten 
des  ^nackten  Konsumenten''  zu  verhindern.  Damit  wire  dann  eine 
Neuorganisation  des  Wirtschaftslebens  geschaffen,  welche  dem  von  dem 
grossen  englischen  Grubenbesitzer  Sir  George  Elliot  im  Jahre  1893  ent- 
worfenen  Programme  annShemd  entsprlche.  Wlhrend  des  grossen 
Arbeitsstillstandes  in  den  Kohlengruben  entwarf  er  einen  Plan,  wo- 
nach  alle  englischen  Kohlengruben  zu  eii^em  grossen  Trust  zusammen- 
gefasst  werden  sollten ;  eine  enorme  Ersparnis  an  Kosten  wurde  dadurch 
ermoglicht  werden;  infolgedessen  wurden  ohne  Steigerung  der  Kohlen- 
preise  Dividenden  wie  Lohne  erhdht  werden  kdnnen;  ausser  den  Ver- 
tretem  des  Kapitals  sollten  die  Organisationen  der  Grubenarbeiter  als 
Vertreter  dieser  und  das  Handelsministerium  als  Vertreter  des  konsu- 
mirenden  Publikums  Sitz  und  Stimme  im  Verwaltungsrate  des  Trust 
haben.  Denken  wir  uns  an  die  Stelle  unserer  Kohlenkartelle  einen 
Kohlentrust,  so  ware  in  dem  bis  in  seine  Konsequenzen  ausgebildeten 
Gedanken  des  Reichsamts  des  Innem  dieses  von  mir  schon  1894  in 
den  Wiener  Verhandlungen  des  Vereins  ftir  Sozialpolitik  mitgeteilte 
Programm  verwirklicht. 

WSre  die  Industrie  so  neuorganisien,  so  wurde  eine  entsprechende 
Organisation  der  Landwirtschaft  um  so  weniger  ausbleiben,  als  darauf 
gerichtete  Antrige  und  Anbahnungen  einer  solchen  hier  Ungst  vor- 
handen  sind.  Ich  denke  dabei  nicht  etwa  an  die  Forderung  hoher 
Agrarzolle.  Mit  Agrarzollen  lassen  sich,  wie  ich  anderwarts  dar- 
gelegt  babe,  selbst  wenn  sie  der  heimischen  Landwirtschaft  ein  Monopol 
auf  dem  Inlandsmarkte  verschaffen,  in  einem  Lande,  das  auch  die 
leistungsunfShigsten  Bdden  zur  Deckung  seines  Bedarfes  heranzuziehen 
gendtigt  ist,  die  Landwirte  vor  Not  nicht  bewahren.    Dazu  ist  eine 


-t^  275 


Einrklrtung  ndtig,  welche  den  schlechten  Boden  auch  in  den  Jahren  der 
Tciohscen  Ernteertrignisse  Misserntepreise  sichert.  Dies  leistet  das  von 
-dem  franzdsischen  Sozialdemokraten  Jaur^s  beftirwortete  Projekt,  das 
Oraf  Kanitz  zu  dem  seinen  gemacht  hat,  nSmlich  ein  Getreidehandels- 
monopol  des  Staates.  Der  Antrag  Kanitz  wiirde  bei  Durchfuhrung  der 
:gedachten  Neuorganisation  unzweifelhaft  wiederkommen  und  dann  an- 
:genomfnen  werden.  Immerhin  wurden  die  Gutsbesitzer  auch  dann  nicht 
£egen  Not  auf  die  Dauer  geschutzt  sein,  wenn  nicht  gleichzeitig  die 
iluckwirkung  der  kunstlich  hochgehaltenen  Getreidepreise  auf  die  Boden- 
preise  ausgeschlossen  wiirde.  Hierfur  wtirden  der  von  der  preussischen 
Regierung  veroffentlichte  Entwurf  eines  Fideikommissgesetzes  und  der 
^on  Zentrumsabgeordneten  und  Konservativen  im  Reichstag  eingebrachte 
JBntwurf  eines  HeimstMttengesetzes  sorgen.  Durch  die  Annahme  des 
ersteren  wurden  die  grossen,  durch  die  des  zweiten  die  kleinen  Grund- 
besitzer  von  der  Ruckwirkung  der  Bodenpreise  auf  die  landwirtschaft- 
lichen  Produktionskosten  befreit.  Wir  stiinden  dann  wieder  mitten  im 
17.  Jahrhundert:  Einerseits  grpsse  geschlossene  Zunfte,  andererseits  eine 
beschrinkte  Zahl  von  Familien  im  gesicherten  Besitze  des  Grund  und 
Bodens,  und  als  notwendige  ErgSnzung  konnte  wie  damals  nicht  aus- 
bleiben  die  Verweisung  der  durch  diese  Ordnung  von  der  selbstandigen 
Betatigung  im  Wirtschaftsleben  ausgeschlossenen  Sdhne  der  Grossgrund- 
besitzerfamilien  auf  die  Beamten-  und  Offizierstellen  und  der  nicht 
heiratenden  Tdchter  auf  Damenstifte  und  Kloster.  Wer  denkt  da  nicht 
an  Adam  Muller,  als  er  1816  die  damalige  Gegenwart  bezeichnete  als 
^einen  blossen  Zwischenzustand,  Ubergang  der  natiirlichen,  aber  be- 
wusstlosen  okonomischen  Weisheit  der  VMter  durch  den  Vorwitz  der 
Kinder  zu  der  verstandigen  Anerkennung  jener  Weisheit  von  seiten 
der  Enkei"*?!  Dabei  hat  A.  Miiller  allerdings  nicht  die  Million  voraus- 
gesehen,  um  welche  das  deutsche  Volk  ein  Jahrhundert  spSter  Jahr  ftir 
Jahr  zunehmen  wiirde.  Ftir  die  durch  die  Auferstehung  der  Wirtschafts- 
politik  der  Vergangenheit  Privilegierten  wSre  allerdings  gesorgt;  fur  die 
Neuhinzukommenden  dagegen  wSre  die  Existenzmdglichkeit  entsprechend 
beeintrichtigt.  Sie  wiren  abermals  darauf  angewiesen,  um  mit  Turgot 
zu  reden,  „nur  ein  prekares  Dasein  unter  der  Herrschaft  der  Meister 
<dh.  der  Privilegierten)  zu  fiihren,  in  Diirftigkeit  zu  schmachten,  oder  eine 
Industrie  ausser  Landes  zu  tragen,  die  ihrem  Vaterlande  hStte  nutzlich 
sein  kdnnen."*  Auch  hat  A.  Muller  verschwiegen,  dass  Deutschland 
zur  Zeity  da  jene  Gebundenheit  sein  Wirtschaftsleben  beherrschte,  von 
den  Nationen  uberfltigelt  wurde,  in  denen  im  Widerspruch  zu  derselben 
das  Individuum  alle  seine  Anlagen  und  FMhigkeiten  zur  freien  Entfaltung 
zu  bringen  vermochte,  und  dass  Deutschlands  Wiedererneuerung  erst  von 
dem  Tage  und  in  dem  Masse  datiert,  als  einem  jeden  der  Zugang  zu  alien 
Stellen,  Gewerben  und  Beschlftigungen  wieder  eroffnet  wurde.  Adam 
Miiller  hat  dies  wohlweislich  verschwiegen,  denn  er  war  ein  Gegner 
der  .Freiheit  und  Gleichheit"',  welche  von  Hardenberg  in  seiner  Denk- 
schrift  uber  die  Reorganisation  des  preussischen  Staates  vom  12.  Sep- 
tember 1807  als  Hauptgrundsatz  hingestellt  worden  war;  er  wollte  einen 


276  8^ 


auf  der  Verschiedenheit  des  Standesrechtes  aufgebauten  Staat,  fthnlich 
dem,  zu  dem  wir  auf  Grundlage  der  geplanten  Neuorganisation  des 
Wirtschaftslebens  zurQckkehren  wurden. 

Wie  nun  steht  es  mit  den  Aussichten  auf  Verwirklichung  des 
Programms  des  Reichsamts  des  Innern?  Bei  gleichzeitig  hohen  Zdllen 
wurde  ein  jeder  der  kartellierten  Industriezweige  den  Inlandsmarkt 
monopolistisch  beherrschen,  nur  soweit  in  seinen  Preisforderungen  ein- 
gedimmt,  als  die  Kartelle  der  ubrigen  Industriezweige  ihm  Rucksichten 
abndtigen  wurden.  In  diesem  Monopole  liegt  die  Schwdche  des  Pro- 
gramms. Der  Zweck  der  Kartelle  ist,  wie  in  der  Kartellkommission 
immer  und  immer  wieder  betont  worden  ist,  lediglich  der,  ihren  Mit- 
gliedem  einen  .angemessenen  Preis"  fur  ihre  Produkte  zu  sichem. 
Wie  aber  Geheimrat  Kirdorf- Aachen  in  der  Kartellkommission  sagte: 
„So  lange  K&ufer  und  VerkSufer  existieren,  so  lange  werden  sie  nie- 
mals  uber  die  Angemessenheit  der  Preise  einig  sein;  der  VerkSufer 
wird  stets  seinen  Preis  fur  zu  niedrig  halten,  und  der  Klufer  wird  ihn 
immer  ftir  zu  hocb  halten.*  Wer  dann  Recht  behdlt,  hMngt  von  der 
Stflrke  der  VerbSnde  ab,  in  der  die  einen  wie  die  anderen  organisiert 
sindy  und  werden  diese  VerbUnde  in  Einigungslmtem  zusammengebracht, 
so  wird  der  Preis,  wie  er  dann  wirklich  festgestellt  werden  wird,  vom 
guten  Willen  beider  Kontrahenten  bedingt  werden.  Dass  dieser 
gute  Wille  immer  vorhanden  sei,  vermag  doch  nur  der  anzunehmen, 
der  nicht  die  Verhandlungen  iiber  das  Roheisensyndikat  und  den  Halb- 
zeugverband  gelesen  hat.  Auf  Nachgiebigkeit  ist  stets  nur  dann  zu 
hoffen,  wenn  die  anderweitige  BeschaCfungsmoglichkeit  der  vom  Kaufer 
begehrten  Ware  den  Verkdufer  zur  Nachgiebigkeit  notigt.  Bei  einem 
Zoll,  der  die  auswftrtige  Konkurrenz  ausschliesst,  und  bei  Monopolisierung 
des  Inlandsmarktes  durfte  niemals  darauf  zu  rechnen  sein. 

Wie  dagegen  bei  Freihandel?  Dass  Kartelle  auch  bei  Freihandel 
die  guten  Wirkungen,  die  sie  auszuuben  vermogen,  ausuben  konnen^ 
geht  aus  der  schon  erwMhnten  Tatsache  hervor,  dass  es  auch  in  Eng- 
land bei  Freihandel  Kartelle  gibt.  Einer  der  eifrigsten  Verteidiger  so- 
wohl  von  Kartellen  wie  von  hohen  Schutzzdllen,  der  Generalsekretar 
Bueck,  ist  nicht  miide  geworden,  dies  vor  der  Kartellkommission  immer 
und  immer  wieder  zu  betonen,  und  hat  dieser  eine  lange  Liste  eng- 
lischer  Kartelle  vorgelegt.  Was  aber  bei  Freihandel  nicht  moglich  ist, 
ist  das  Bestehen  jener  Kartellmissbrduche,  welche  nicht  nur  die  darunter 
Leidenden,  sondem  auch  die  oiTentliche  Meinung  so  sehr  erregen.  Der 
schlimmste  dieser  MissbrSuche  ist  der,  dass  bei  Hochhaltung  des  Inland- 
preises  deutsche  Produkte  zu  billigeren  Preisen  bis  zu  Schleuderpreisen 
auf  den  Weltmarkt  geworfen  werden.  Allerdings  haben  diese  durch 
Hochhalten  der  Inlandspreise  ermoglichten  billigen  Auslandsverkiufe  ihre 
eifrigen  Verteidiger  gefunden,  und  ich  habe  umsomehr  Ursache  bei 
Betrachtung  ihrer  Argumente  zu  verweilen,  als  ich  selbst  fruher  zu 
diesen  Verteidigem  gehdrte  und  eine  ErklSrung  schulde,  warum  ich 
alles,  was  ich  1888  und  noch  spater  zugunsten  der  Kartellausfuhrprimien 
gesagt  habe,  fur  unzureichend  erachte,  sie  zu  rechtfertigen.    Nicht  als 


277  8^ 


ob  diese  billigen  Ausfuhrverklufe  nicht  im  Interesse  der  Werke  wSren, 
die  sie  vornehmen.  Sie  vermogen  infolge  des  so  gewonnenen  Absatzes 
ihren  Betrieben  eine  grdssere  Ausdehnung  zu  geben  und  ausserdem  in 
Zeiten  des  Ruckgangs  ihre  Betriebe  ohne  EinschrSnkung  weiterzu- 
fnhren.  Allein  alle  diese  Vorteile  werden  von  ihnen  lediglich  auf 
Kosten  der  nationalen  Volkswirtschaft  gewonnen.  Denn  einmal  tst  es 
eine  nicht  zu  leugnende  Tatsache,  dass  eine  jede  Volkswirtschaft^  die 
offene  oder  versteckte,  staatliche  oder  private  AusfuhrprMmien  gewihrt, 
dadurch  verliert,  dass  sie  dem  Ausland  mehr  an  eigenen  Kapitalnutzungen 
und  Arbeitsleistungen  hingibt,  als  sie  von  diesem  dafur  empflngt.  Der 
Schaden,  der  hieraus  erwSchst,  obwohl  er  der  grossere  ist,  pflegt 
indes  weit  weniger  Eindruck  zu  machen,  als  ein  weiterer,  der  sich, 
alien  sichtbar,  unmittelbar  als  Schaden  einzelner  bestimmter  Interessenten 
erweist.  Das  sind  die  Interessenten,  welche  ihre  Betriebe  in  dem 
Masse  einschrinken  mussen,  in  welchem  sich  die  Betriebe,  welche  in- 
folge der  hohen  Inlandspreise  ins  Ausland  billiger  verkaufen  konnen, 
vermoge  dieses  vergrdsserten  Absatzes  erweitern;  es  sind  dies  die 
welter  verarbeitenden  Industrien,  welche,  wenn  die  Rohproduzenten  in- 
folge ihrer  billigen  Auslandsverkiufe  bei  nickgHngiger  Konjunktur  ihre 
Arbeiter  ohne  EinschrSnkung  weiterbeschSftigen  kdnnen,  dafur  eine 
urn  so  grdssere  Zahl  ihrer  Arbeiter  entlassen  mussen.  Die  Frage  stellt 
sich  also  auf  dem  industriellen  ebenso  wie  auf  dem  agrarischen  Gebiete: 
Hat  Deutschland  ein  grosseres  Interesse  an  der  Erhaltung  seiner 
leistungsunfMhigen  Betriebe  in  der  Rohproduktion  oder  an  dem  siegreichen 
Fortschreiten  seiner  Fertigfabrikation  ?  Die  Antwort  kann  nicht  zweifel- 
haft  sein.  Beruht  doch,  wie  bei  alien  Kulturvdlkem,  so  auch  in  der  deutschen 
Volkswirtschaft  mit  einer  geistig  und  technisch  geschulten  Bevdlkerung, 
wie  sie  keine  andere  besitzt,  der  Schwerpunkt  in  der  Fertigfabrikation. 
Hierin  ist  die  enorme  Mehrzahl  ihrer  Betriebe  titig;  hier  die  grossten 
Werte  der  erzeugten  Produkte ;  hier  die  grossere  Zahl  der  beschiftigten 
Arbeiter.  ZShlte  doch  im  Jahre  1902  z.  B.  die  deutsche  Roheisenproduktion 
nur  108  Hochofen werke  mit  32367  Arbeitern  gegen  152668  Werke  mit 
1032873  Arbeitern,  welche  das  Eisen  weiterverarbeiten.  Und  wenn 
von  den  Verteidigem  der  billigen  Auslandsverkiufe  weiter  geltend  ge- 
macht  wird,  es  werde  die  Konkurrenz  der  weiterverarbeitenden  Industrien 
selbst  zunehmen,  wenn  man  nicht  die  Inlandspreise  ihrer  Rohstoffe 
kunstlich  hochhalte,  und  damit  werde  sich  ihre  Lage  aufs  neue  ver- 
schlechtem,  so  vergisst  man  ginzlich,  welche  Riickwirkung  die  gesteigerte 
Kauffahigkeit  des  Konsumenten  bei  niedrigeren  Preisen  nach  Fertig- 
fabrikaten  auf  die  Nachfrage  nach  diesen  zu  iiben  pflegt. 

Gegen  die  dargelegten,  der  deutschen  Volkswirtschaft  durch  das 
Wirken  der  Kartelle  erwachsenden  SchSden  gibt  es  nun  ein  einfaches 
Heilmittel.  Haben  wir  doch  gesehen:  Das  einzige,  was  die  Monopole 
im  Zaume  hMlt,  ist  drohende  Konkurrenz.  Dem  entsprechend  Beseitigung 
jener  Frachttarife,  durch  welche  unseren  Fertigfabrikanten  der  Bezug 
der  Rohstoffe  aus  dem  Ausland  erschwert  wird,  wenn  die  Rohstoffkartelle 
ihre  Machtstellung  missbrauchen.    Femer  Herat>setzung  unserer  Zolle 


278 


auf  ein  Mass,  das  nicht  ISnger  gestattet,  dem  Inland  hdhere  Preise  ab- 
zunehmen,  um  damit  dem  auswdrtigen  Konkurrenten  unserer  Fertig- 
fabrikanten  den  Rohstoff,  den  er  verarbeitet,  bilHger  liefern  zu  konnen. 
Zum  mindesten  aber  Gewfthrung  des  Rechts,  ins  Ausland  ausgefuhrte 
deutsche  Rohstoffe  zollfrei  und  zwar  zu  den  niedrigen  FrachtsStzen^ 
welche  unserer  Ausfuhr  gewShrt  werden,  wieder  einzufuhren.  Als  Gegen- 
stuck  femer  zum  Schutze  unserer  Industrie  Zuschlagszdlle  auf  fremde 
Produkte,  welche  vom  Ausland  mittelst  Zufubrprdmien  auf  den  deutschen 
Markt  geschleudert  werden.  Femer  Befreiung  der  Abnehmerverbdnde, 
namentlich  der  Konsumvereine,  von  alien  Schranken,  welche  Gesetzgebung 
und  Verwaltung  ihrer  WIrksamkeit  heute  entgegenstellen. 

Wie  die  in  England  bestehenden  Kartelle  zeigen,  wiurden  die  Kartelle 
damit  nicht  unmdglich  werden.  AUein  sie  wurden  auf  ihre  wohltfttigen 
Wirkungen  beschrinkt.  Denn  wenn  es  gelegentlich  auch  unter  dem 
Freihandel  vorkommt,  dass  ein  Produzent  ins  Ausland  billiger  als  im 
Inland  verkauft,  so  geschieht  dies  doch  nur  ausnahmsweise  im  Falle 
der  Not;  dagegen  wird  den  systematisch  billigeren  Auslandsverkaufen 
als  einer  Institution  das  Ende  bereitet,  sobald  den  zum  Kartell  gehdrigen 
Werken  durch  Drucken  der  Inlandspreise  die  Mittel  entzogen  werden, 
die  ihnen  die  billigen  Auslandsverkiufe  ermdglichen. 

Einstweilen  aber  hat  eine  Herabsetzung  der  Zolle  noch  ebensowenig 
Aussichten  wie  die  von  den  Vertretern  der  Rohstoffkartelle  den  Fertig- 
fabrikanten  empfohlene  Kartellierung.  Zwar  erklSrt  eine  ganze  Anzahi 
von  Fertigfabrikanten,  insbesondere  die  Vertreter  unserer  Maschinen- 
fabriken,  dass  sie  fiir  sich  keines  Schutzzolles  bedurfen  wurden,  sobald 
der  Roheisenzoll  in  Wegfall  kSme.  Es  ist  dies  eine  ErklSrung,  auf  welche 
jeder  deutsche  Patriot  mit  Stolz  blicken  kann.  Es  ist  dies  die  Wirkung 
der  die  Leistungen  aller  iibrigen  Nationen  ubertreffenden  Leistungen 
unserer  Ingenieure;  lediglich  an  dem  Materialpreise  liege,  dass  unsere 
Maschinenfabriken  einen  so  schweren  Standpunkt  gegenuber  den  Ameri- 
kanern  hMtten.  ^Wenn  Sie,*"  erklirt  Baurat  Dr.  Rieppel,  ,in  Betracht 
Ziehen,  wie  die  Maschinenzolle  nach  Annahnie  des  Antrags  KardorCf  sind, 
so  sind  diese  Zolle  fiir  uns  kein  Schutz  mehr«  denn  die  Zolle  fur  die  Roh- 
materialien  und  Halbfabrikate,  die  wir  als  Maschinenfabriken  gebrauchen, 
sind  teilweise  100  %  tioher  als  die  Zolle  fiir  die  fertigen  Maschinen.* 
»Unsere  Auslandskonkurrenz  bekommt  also  indirekt  eine  PrMmie  fiir  die 
Einfuhr  fertiger  Maschinen.*  ^Die  Maschinenfabrikanten  haben  zurzeit 
keinen  Zollschutz.*'  Und  selbst  der  Generalsekretir  des  Vereins  deutscher 
Eisen-  und  Stahlindustrieller  Bueck  sieht  sich  durch  diese  AuNfuhrungen  zu 
der  fiir  den  Antrag  KardorfP  und  die,  seiche  ihn  annahmen,  vemichtenden 
Erklarung  veranlasst:  «In  dem  Urteil  uber  den  neuen  Zolltarif  mit 
seinen  Widerspriichen  und  Unstimmigkeiten  stimme  ich  voUstSndig  mit 
Herrn  Baurat  Rieppel  iiberein,  und  es  kann  keiner  so  bedauem  wie  ich, 
dass  er  so  ausgefallen  ist.*"  Allein  ebensowenig  wie  diese  Erklirung 
dtirfen  die  Erklarungen  der  Fertigfabrikanten  als  Erkldrungen  fur  Frei- 
handel gedeutet  wtrden.  Auch  die  Fertigfabrikanten,  die  noch  so  sehr 
betonen,  dass  sie  keines  Schutzzolls  bendtigen  wiirden,  wenn  der  Roh- 


% 

279  8^ 


eisenzoU  nicht  bestlnde,  erkllren  sich  doch  prinzipiell  fur  den  ZoUschutz 
der  nationalen  Arbeit,  urn  ihrerseits  dasselbe  tun  zu  konnen,  was  der 
ZoU  den  Rohstoffproduzenten  zu  tun  ennoglicht;  das  einzige,  was  sie 
wunschen,  ist  eine  andere  Bemessung  der  einzelnen  ZollsMtze.  Noch 
weniger  aber  sind  diejenigen,  welche  fur  diese  verantwortlich  sind,  die 
Beamten  des  Reichsamts  des  Innem  fur  Herabsetzung  der  Zolle  zu 
haben.  Vielmehr  hat  Regierungsrat  Dr.  Voelcker  ausdrucklich  erklSrt: 
9  Die  Reichsverwaltung  in  Obereinstimmung  mit  den  weitesten  Kreisen 
der  Eisenindustrie  steht  auf  dem  Standpunkt,  dass  die  Grundlage  des  Zoll- 
schutzes  der  inlftndischen  Eisenproduktion  nicht  verschoben  werden  darf.* 
Nun  hat  der  Mann,  der  als  die  Seele  der  geplanten  Neuorganisation 
unserer  Industrie.,  zu  betrachten  ist,  Geheimrat  Kirdorf-Gelsenkirchen  am 
3.  Dezember  vorigen  Jahres  eine  Erklftrung  abgegeben,  aus  welcher  un- 
streitig  seine  Anerkennung  der  tiberwiegenden  Bedeutung  der  Fertig- 
fabrikation  hervorleuchtet.  Um  ihr  Rechnung  zu  tragen,  geht  sein  Wunsch 
dahin,  dass  es  dem  zu  schaffenden  Kartell  der  Kartelle  gelSnge,  zwischen 
den  einzelnen  Kartellen  solche  Beziehungen  herzustellen,  «das  all  das 
Material,  was  heute  zu  billigen  Preisen  als  Halbzeug  oder  Rohmaterial 
ins  Ausland  geht,  dem  Inlandsverbrauche  zugefuhrt  wird*.  Er  erklart 
es  fur  sein  Ideal,  »wenn  durch  solche  Verbindung  der  einzelnen  zu 
bildenden  Kartelle  wir  dazu  kdmen,  dass  fiir  RohstoCfe,  fur  Halbzeug, 
mdglichst  jeder  Verkauf  nach  dem  Ausland  zu  Notpreisen  ausgeschlossen 
wire,  dass  wir  dazu  kftmen,  die  Ausfuhr,  die  wir  haben  miissen,  mdglichst 
auf  die  Fertigfabrikate  und  die  vollkommensten  Fabrikate  schliesslich  zu 
konzentrieren*'. 

Was  hier  als  Ideal  hingestellt  wird,  ist  das  Ideal  gewesen,  welches 
auch  dem  Merkantilsytsem  vorgeschwebt  hat,  und  es  ist  charakteristisch 
fur  den  Neo-Merkantilismus  unserer  Tage,  dass  es  neben  der  Erneuerung 
der  ubrigen  wirtschaftlichen  Ordnungen  jener  vergangenen  Zeit  heute 
aufs  neue  auftaucht.  Wie  bei  diesen  ubrigen  bestehen  aber  auch  bei 
der  hier  geplanten  Gestaltung  Unterscbiede  zwischen  damals  und  heute. 
Das  alte  Merkantilsystem  suchte  sein  Ideal  zu  verwirklichen,  indem  es 
zur  Ermdglichung  der  Ausfuhr  der  Fertigfabrikate  die  Rohprodukte 
mdglichst  niedrig  im  Preise  zu  stellen  bemiiht  war.  Nach  dem  Plane 
Kirdorfs  dagegen  erscheint  es  als  Aufgabe  der  Kartelle  in  jedem  der 
verschiedenen  Produktionsstadien  die  Preise  so  hoch  zu  treiben,  dass 
auch  die  leistungsunfShigsten  Betriebe  dabei  bestehen  kdnnen.  Zu 
welchen  Preisen  aber  wurden  wir  dabei  gelangen?  Direktor  Mannstddt- 
Kalk  hat  vor  der  Kartellkommission  ausgefiihrt:  Jedes  Kartell  hat  als 
Folge  die  Produktion  zu  regulieren,  als  Zweck  hdhere  Gewlnne  zu  er- 
zielen,  als  solches  im  freien  Wettbewerb  moglich  wMre.  Das  Kohlen- 
syndikat  erhohte  nun  zunachst  seine  Preise  in  massvoller  Weise.  Die 
verlangten  Mehrpreise  walzte  das  Kokssyndikat  mit  entsprechend  hdherem 
Gewinnzuschlag  auf  das  Roheisenkartell  ab.  Dieses  iibertrug  sie  mit 
weiterem  Zuschlag  auf  das  Halbzeugsyndikat,  um  von  diesem  mit  noch 
erheblicherer  Steigerung  auf  die  reinen  Walzwerke  ubertragen  zu  werden. 
Diese  Preissteigerungen  betrugen  nach  den  Schroderschen  Tabellen  und 


-^^  280 


wflhrend  der  hiesigen  Verhandlungen  bekannt  gegebenen  Zahlen  im 
Jahre  1902  gegen  das  Jahr  1896  bei 

Kohlen  Koks        Qua!.  Roheisen  Thomasroheisen 

+3,06  +3,50  +5,87  +5,63 

Flusseisenknuppel  Trdger 
+7,75  +7,50.« 

Aus  dieser  Berechnung  erhellt,  in  welchem  Masse  die  Verwirklichung 
des  Kirdorfschen  Gedankens  zu  einer  Steigerung  des  Preises  der  Fertig* 
fabrikate  fuhren  musste,  auf  je  spltere  Stadien  der  Fertigfabrikation  die 
Preispolitik  der  Kartelle  zur  Anwendung  kime.  Alles  was  an  leistungs- 
unRhigen  Betrieben  im  Lande  vorhanden  ist,  wurde  al^erdings  geschutzc 
Sie  konnten  im  Inland  Preise  fordem,  so  hoch  es  die  Z511e  gestatteten. 
Allein  wo  die  InlandskSufer  herkommen  sollen,  welche  diese  Preise  zu 
zahlen  imstande  wfiren,  bleibt  dunkel.  Schliesslich  miissen  doch  alle 
Preise  aus  dem  Einkommen  des  Konsumenten  gezahlt  werden;  wurde 
das  Einkommen  aller  Konsumenten  in  gleichem  Masse  durch  die  kunst- 
liche  Erhdhung  der  Preise  gesteigert,  so  hdtte  ja  kein  Produzent  von 
dieser  Vorteil;  der  Witz  derselben  besteht  ja  eben  darin,  dass  der  eine 
den  anderen  zu  notigen  hofft,  ihm  mehr  von  seinem  Einkommen  ab- 
zu  lassen,  und  alsbald  wire  der  Geschropftean  der  Grenze  seiner  Leistungs- 
fihigkeit  angelangt;  seine  Nachfnige  wurde  eingeschrdnkt;  damit  wiirden 
aber  auch  die  Mittel  versiegen,  aus  denen  die  AusfuhrprSmien  bezahlt 
werden  miissten«  ohne  welche  die  Ausfuhr  der  im  Preise  getriebenen 
Fertigfabrikate  ein  Ding  der  Unmoglichkeit  ware.  Und  wie,  wenn  nach 
dem  Muster  der  Brusseler  Zuckerkonvention  das  Ausland  solcher  PrSmien- 
gestutzten  Ausfuhr  von  Fertigfabrikaten  mit  entsprechenden  Zuschlags- 
zollen  begegnen  wiirde?!  Schon  hat  der  englische  Premierminister 
Arthur  Balfour  dies  als  sein  handelspolitisches  Programm  hingestellt. 

Damit  verschwindet  das  Kirdorfsche  Ideal  in  die  Dammerung 
utopistischer  Zukunftstriume.  Fur  den  niichternen  Politiker  aber  bleibt 
als  wertvoUes  Zugestftndnis  die  ihm  zugrunde  liegende  Einr&umung 
der  uberwiegenden  Bedeutung  der  Fertigfabrikation  und  ihrer  Gefihrdung 
durch  die  bestehenden  Monopolbildungen.  Ganz  besonders  fur  Bayem 
erscheint  diese  Gefahr  iussert  bedrohlich;  denn  wenn  in  irgend  einem 
Lande,  so  liegt  bei  uns  der  Schwerpunkt  der  Industrie  in  der  Fertig- 
fabrikation. Was  wir  an  Kohle  und  Roheisen  produzieren,  ist  ginzlich 
ungenugend,  um  den  bayerischen  Bedarf  zu  decken.  Wenn  irgend  ein 
Land  ein  volkswirtschaftliches  Interesse  an  der  Beseitigung  des  Roh* 
eisenzolles  hat,  so  sind  es  wir.  Aber  trotzdem  Kohlen  und  Koks  nicht 
zollgeschiitzt  sind,  so  stehen  wir  fiir  den  Bezug  dieser  beiden  Lebens- 
bediirfnisse  nicht  nur  der  Industrie,  sondern  ebenso  vieler  landwirtschaft- 
licher  Betriebe  doch  noch  weit  schlimmer;  denn  aus  geographischen 
Griinden  haben  die  deutschen  Werke  ein  weit  stirkeres  Monopol  in  der 
Versorgung  Bayems,  als  blosser  Zollschutz  ihnen  gewdhren  konnte. 
Nun  hat  uns  die  Kartellenquete  gezeigt,  welche  dominierende  Stellung 
das  rheinisch-westfilische  Kohlensyndikat,  das  Kokssyndikat  und  die 


281 


oberschlesische  Kohlenkonvention  auf  dem  deutschen  Markte  erlangt 
haben.  Hat  das  Kohlensyndikat  sie  bisher  nur  massvoU  ausgenutzt,  so 
ist  doch  auch  das  entgegengesetzte  Verhalten  in  die  Macht  seiner  Leitun^ 
gegeben.  Dagegen  wird,  wit  wir  gesehen,  uber  das  Kokssyndikat  schon 
jetzt  geklagt,  und  von  der  oberschlesischen  Kohlenkonvention  wird,  wie 
bereits  berichtet,  behauptet,  dass  infolge  ihres  Wirkens  Eisenwerke,  die 
nicht  eigene  Zechen  besitzen,  in  Oberschlesien  nicht  mehr  bestehen 
konnten,  wenn  nicht  der  preussische  Staat  ein  Funftel  der  schlesischen 
Zechen  besasse. 

Damit  zeigen  sich  fur  die  wirtschaftliche  und  als  unausbleibliche 
Folge  auch  fur  die  politische  Selbstdndigkeit  Bayerns  die  allergrossten 
Gefahren. 

Wo  aber  die  Abwehr  derselben  suchen? 

Ich  habe  zuerst  gedacht,  eine  Abhilfe  konne  von  der  Technik  uns 
kommen.  AUein  von  sachverstandiger  Seite  wurde  ich  belehrt,  dass 
dies  eine  Illusion  sei. 

Eine  Emanzipation  von  der  Kohle  durch  den  Diesel-Motor  hatte 
freilich  auch  ich  fiir  ausgeschlossen  erachtet,  so  lange  im  Interesse  der 
Spiritus-Industrie  der  Petroleumzoll  so  hoch  wie  bisher  bleibt.  Wohl 
«ber  hoffte  ich,  dass  die  zahlreichen  WasserkrSfte  einen  Ausweg  uns 
bieten  wtirden.  Wie  aber  Baurat  von  Miller  ausgefuhrt  hat,  liefem  die 
in  Bayem  sudlich  der  Donau  verfugbaren  WasserkrSfte  nur  ca.  500000 
PferdekrSfte.  Das  ist,  nach  Abzug  der  100000,  welche  die  Eisenbahnen 
bei  Elektrisierung  bendtigen  wurden,  zu  wenig,  um  unsere  Industrie  von 
<ler  Kohle  unabhdngig  zu  machen.  Immerhin  ist  es  ein  Hilfsmittel, 
welches  gepflegt  werden  muss.  Daher  erscheint  es  dringend  geboten, 
dass  der  Staat  rechtzeitig  zusehe,  dass  nicht  auch  die  Wasserkrftfte 
monopolisiert  werden.  Leider  hat  der  Entwurf  eines  bayerischen  Wasser- 
gesetzes  m.  E.  die  Interessen  der  Gesamtheit  an  Abwehr  einer  Monopolir 
sierungsgefahr  nicht  ausreichend  ins  Auge  gefasst.  Auch  wflre  zu  dieser 
Abwehr  ausser  einem  Wassergesetz  ein  Gesetz  uber  Enteignungsrecht 
notwendig. 

Auf  einen  anderen  Ausweg  hat  Professor  Lotz  aufmerksam  gemacht. 
Das  bayerische  Verkehrsministerium  musste  die  Frachttarife  fiir  Kohlen 
so  stellen,  dass  eine  lebhafte  Konkurrenz  zwischen  rheinisch-westfdlischer 
und  bohniischer  Kohle  auf  dem  bayerischen  Markte  entstinde.  AUein 
auch  dieser  Ausweg  scheint  zweifelhaft.  Denn  das  bayerische  Verkehrs- 
ministerium ist  nicht  unabhSngig  in  der  Feststellung  der  Frachttarife; 
es  ist  selbst  durch  eine  Art  Kartell  mit  den  ubrigen  deutschen  Staats- 
bahnen  gebunden.  Sodann  aber  blieben  wir  fur  den  Bezug  von  Koks- 
kohle  und  Koks  damit  noch  immer  auf  Rheinland-Westfalen  angewiesen. 

Es  scheint  mir  also  nur  eine  Sicherung  gegen  die  Mdglichkeit, 
dass  die  bayerische  Volkswirtschaft  durch  Kohlenentzug  und  Kohlen- 
teuerung  ausgehungert  werde,  gegeben.  Der  bayerische  Staat  muss  zu- 
sehen,  dass  er  selbst  Eigentumer  ergiebiger  Kohlenzechen  im  Ruhrgebiet 
werde,  oder  durch  Erwerbung  der  Mehrheit  der  Aktien  in  einer  ge- 
nugenden  Zahl  von  Werken  die  Kontrolle  uber  diese  erlangen.  Dass  die 

SGddctttsche  Monitsbefte.  1,4.  10 


282 


kluge  Leitung,  selbst  dsterreichischer  Werke,  es  auf  diese  Weise  ver« 
sttnden  hat,  diese  gegen  Kohlen-  und  Koksnot  zu  sichern,  zeigt  uns» 
dass  lange  Jahre  der  Direktor  der  Prager  Eisenindustrie  im  Aufsichtsrat 
der  ,«Gel8enkirchen^^  gesessen  hat,  und  die  dsterreichische  Alpine  Montana 
gesellschaft  Grossaktionlr  schlesischer  Gruben  ist,  und  auch  der  wurttem^ 
bergische  Staat  hat  neuerdin^  Kohlenfelder  im  Ruhrreviere  gekauft. 
Solche  Erwerbungen  wlren  aber  nicht  bloss  im  Interesse  der  bayerischea 
Industrie,  sondern  nicht  minder  in  dem  der  bayerischen  Landwirtschaft^. 
Man  lese  doch  in  der  Kartellenquete  die  heftigen  Klagen  der  landwirt- 
schaftlichen  Einkaufsgenossenschaften  uber  ihre  Benachteiligung  zugunsten 
der  Syndikatshftndler ! 

Es  handelt  sich  hier  um  bayerische  Interessen,  denen  gegenuber 
die  Angelegenheiten,  die  zurzeit  die  dffentliche  Diskussion  beherrschen, 
als  Bagatelle  erscheinen.  Da  steht  noch  immer  die  Abldsung  der  Boden* 
zinse  im  Vordergrund,  wihrend,  von  alien  anderen  Bedenken  abgesehen^ 
es  nur  ein  Teil  der  Landwirte  ist,  der  daran  interessiert  ist.  Man  redet 
uber  Guterzertriimmerungen,  als  ob  von  ihrer  Verhinderung  das  Heit 
des  Bauemstandes  abhinge,  wdhrend,  von  den  wiinschenswerten  Guter- 
zertrummerungen  abgesehen,  die  Statistik  zeigt,  dass  in  den  Jahren 
1894 — 1902  etwa  der  tausendste  Teil  der  landwirtschaftlichen  Betriebe 
zertrummert  worden  ist.  Wieder  andere  erhitzen  sich  noch  immer,  als 
ob  durch  Einfuhrung  des  BeRhigungsnachweises  das  Handwork  gegenuber 
den  uberlegenen  technischen  und  wirtschaftlichen  Vorzugen  des  Gross- 
betriebs  zu  halten  sei.  Dann  wieder  scheint  es  sich  um  die  Feststellung 
zu  handeln,  welcher  von  zwei  Abgeordneten  als  der  grdssere  Grobian 
gelten  miisse.  Derartige  Quisquilien  erinnem  an  die  Etikettestreitig- 
keiten  des  Regensburger  Reichstags,  wer  berechtigt  sei,  seinen  Stuhl  auf 
einen  Teppich  zu  stellen  und  wer  nicht,  wihrend,  von  den  Streitenden 
unbeachtet,  im  Westen  ein  Wetter  aufstieg,  das  sie  alle  hinwegfegte. 
Wie  unerheblich  ist  nicht  all  dieser  Zank  gegenuber  der  Gefahr,  das& 
wir  fiir  die  Beschalfung  des  Lebenselements  der  modemen  Wirtschaft, 
der  mechanischen  Triebkraft  und  der  zu  verarbeitenden  Rohprodukte,, 
vom  guten  Willen  monopolistischer  Gesellschaften  abhingig  werden.  Fur 
diese  Gefahr  aber  hat  z.  Z.  niemand  ein  Auge. 

Munchen,  den  7.  Februar  1904. 


^^S^^^S0^S0^^S0^^S^^^S^^^S^      ^^S0  '^HS0  '^HS0  '^HS0  '^HS0  ^HS0  '^HSS 


283  1^ 


Aus  der  Pathologie. 

Neue  Antworten  auf  alte  Fragen. 

Von  Eugen  Albrecht  in  Miinchen. 
VI. 

Aus  dem  bisher  Erorterten  hat  sich  zweierlei  ergeben:  erstens, 
dmss  wir  keinen  Grand  haben,  an  eine  infektidse  Ursache  des  Krebses 
and  der  ubrigen  Geschwulste  zu  denken;  zwekens,  dass,  welches  auch 
immer  diese  Ursache  sein  mag,  das  Wesentliche,  Charakteristische,  Spezi- 
flsche  der  verschiedenen  Geschwulstbildungen  in  den  besonderen  Eigen- 
schaften  und  Fdhigkeiten  der  zum  Aufbau  zusammentretenden  und 
zusammenwirkenden  Zellen  des  Korpers  gelegen  sein  musse.  Wenn 
also  eine  Sussere,  aus  der  Umgebung  den  Organismus  trefTende  Ver- 
anlassung  eine  Geschwulst  erzeugen  sollte,  so  wurde  ihre  Wirkung 
sich  zu  dem  schliesslichen  Ergebnis  ebenso  und  nur  so  verhalten  wie 
alie  jene  auf  den  Kdrper  treffenden  iusseren  Einwirkungen,  die  wir  als 
Reize  bezeichnen.  Reize  sind  die  Anstdsse,  die  Ausldsungsursachen, 
welche  die  eigentumlichen  BetStigungen  der  Lebewesen  und  ihrer  Teile 
in  gleicher  Art  in  Gang  setzen  wie  etwa  der  Druck  auf  den  Gewehrhahn 
den  Schuss  losgehen  Idsst,  wie  der  Druck  auf  einen  Knopf  eine  elektrische 
Batterie  und  ein  Ldutewerk,  oder  das  Umdrehen  eines  Uhrschlussels 
das  Rddergefuge  der  Uhr  in  Bewegung  setzt.  Das  Gemeinsame  in  diesen 
Beispielen,  auf  das  es  fur  uns  ankommt,  liegt  darin,  dass  eine  Einwirkung, 
die  an  anderen  Gebilden  keine  oder  nur  eine  geringe  Veranderung 
erzeugen  wurde,  hier  eine  mehr  oder  weniger  komplizierte  Reihe 
ineinandergreifender  Verinderangen  nach  sich  zieht,  die  nur  aus  einer 
ganz  besonderen  vorbereiteten  Einrichtung,  Zusammensetzung  und  einer 
daraus  sich  ergebenden  Veranlagung,  Disposition  des  betroffenen  Gebildes 
zu  eigenartigen  «Antworten*  verstftndlich  sind.  Solcher  Uhren  und 
Batterien  und  anderer  Antwortsysteme  besitzt  nun  jeder  Organismus  eine 
enorme  Zahl;  fast  die  ganze  Physiologie  und  Pathologie  berichten  von 
derartigen  Anstdssen,  die  durch  die  ftusseren  Einflusse  ebenso  wie  durch 
das  Aufeinanderwirken  der  Teile  im  Kdrper  geliefert  werden  und  das 
Spiel  der  Lebensfunktionen  in  Bewegung  setzen  und  unterhalten.  Fiir 
jedes  Bundel  von  Lichtstrahlen  zum  Beisplel,  das  von  einem  Gegenstand 
aus  auf  die  Hornhaut  unseres  Auges  trifft,  steht  eine  ganze  Reihe  optischer, 
chemischer,  elektristher  Apparate  bereft,  um  an  der  richtigen  Stelle  auf 
der  Netzhaut  das  verkleinerte  umgekehrte  Bild  zu  entwerfen,  um  dann  in 
noch  unbekannter  Form  die  Erregung  bis  in  die  Rinde  der  Hinterhauts- 
lappen  des  Grosshirns,  von  da  wieder  vermdge  vorgebildeter  Nerven- 
Leitungen  an  andere  reizempfindliche  Zellen  der  Hirnrinde,  von  da 
vielleicht  wieder  in  die  Muskeln  der  Hand  oder  des  Kehlkopfes  zu 

19* 


284  ^ 


tragen:  bis  dort  als  Endeffekt  etwa  das  Wort  geschrieben  oder  intoniert 
werden  kann,  das  als  .Reaktion*  auf  den  Sinneseindruck  den  Namen 
des  Gegenstandes  angibt.  Eine  Mauer  oder  eine  Hautstelle  unseres 
Kdrpers  wurde  von  dem  gleichen  Strahlenbundel  vielleicht  nur  unmerklich 
erwdrmt  worden  sein:  sie  sind  nicht  darauf  eingestellt  in  jener  Weise 
zu  reagieren.  Alle  ^Reflexe*  sind  bekannte  Beispiele  fiir  solche  Prozesse, 
die  durch  Vermittlung  von  Vorrichtungen  des  Nervensystems  auf  eine 
aussere  Veranlassung  bin  in  TItigkeit  treten  und  bier  z.  B.  den  Scbluss 
der  Augenlider  bei  drobender  Berubrung  der  Hombaut,  dort  das  Zucken 
der  Streckmuskeln  am  Oberscbenkel  auf  Beklopfen  der  Sebne  unterbalb 
der  Kniescbeibe  bervorbringen.  Aber  aucb  die  ganze  Kette  der  Vor- 
gange,  die  sicb  z.  B.  von  einer  Hautwunde  oder  einem  Knocbenbruch 
bis  zur  vollendeten  Heilung  erstrecken,  ist  eine  solcbe  bdchst  verwickelte 
Reaktion  auf  den  Reiz  der  Verletzung,  die  sicb  von  dem  ersten  Anstoss 
an  dank  der  Vorbereitung  des  Korpers  ebenso  folgerichtig  abwickelt  wie 
ein  aufgezogenes  Ubrwerk. 

Dabei  kommt  es  fur  die  Auffassung  einer  ausseren  Einwirkung  als 
Reiz  (oder  uberbaupt  als  j^Ausldsung*")  nicbt  darauf  an,  ob  dieselbe  an 
sicb  ein  einfacber  oder  komplizierter  Vorgang  ist  —  man  vergleicbe 
etwa  den  leicbten  Luftzug,  der  eine  Zusammenziebung  der  Haut  und 
ibrer  GefMsse,  eine  ^Ggnsebaut",  bewirkt,  mit  einer  langen  Rede,  die 
vielleicbt  nur  ein  Gibnen  erzeugt;  aucb  nicbt  darauf,  ob  der  aussere 
Vorgang  einer  grossen  oder  geringen  Kraftentfaltung  entspracb  —  das 
leise  Klopfen  an  der  Tur  und  ein  Donnerscblag  konnen  unter  Umstlnden 
beide  einen  nervos  erregten  Menscben  gleicb  beftig  auffabren  macben, 
einem  Vertieften  bloss  ein  „  Herein  I    entlocken.    Von  Belang  ist  nur, 
dass  derjenige  Vorgang,  welcber  an  das  in  besonderer  Weise  empf^ng- 
licbe  lebendige  System  berantritt,  welcber  die  „erste  Veranderung''  in 
ibm  erzeugt,  eine  Reibe  von  inneren  Verlnderungen  des  betroffenen 
Gebildes  nacb  sicb  ziebt,  welcbe  nicbt  von  den  besonderen  Eigenscbaften 
des  ausldsenden  Vorgangs,  sondern  von  der  eigentumlicben  Einricbtung 
des  .erregten*"  Systems  abbdngen.    Demgemiss  konnen  in  solcben 
Systemen  oft  verscbiedenerlei  aussere  Anstosse  nur  eine  bestimmte  Art 
von  Reaktionen  erzeugen:  auf  alle  Einwirkungen,  welcbe  die  Netzbaut 
iiberbaupt  erregen,  erfolgt  eine  Licbtempfindung,  seien  es  nun  Sonnen- 
oder  Radiumstrablen  oder  ein  Scblag  aufs  Auge;  die  verscbiedensten 
Arten  der  Verletzung:  Durcbscbneidung,  Verbrennung,  Atzung,  erzeugen 
immer  wieder  im  Prinzip  gleicbe  Arten  von  WiederberstellungsvorglUigen. 
Andrerseits  wirkt  die  gesamte  .Aussenwelt''  auf  jedes  solcbes  System 
nur  insoweit  als  Reiz,  als  sie  dessen  besondere  Eigenscbaften  in  Tdtig- 
keit  setzt:  unzMblige  Strablenarten  mogen  uns  dauernd  durcbfliessen, 
obne  dass  irgend  einer  unserer  Sinne  davon  erregt  wird;  die  ganze  Welt 
des  Licbts  und  der  Farben,  die  wir  unserem  Auge  verdanken,  ist  fur 
das  Seelenleben  des  Blinden  so  gut  wie  nicbt  vorbanden.    Aucb  jene 
Einwirkungen,  die  unseren  Kdrper  in  gleicber  Weise  wie  irgend  einen 
anderen,  etwa  einen  Stein  oder  ein  Stiick  Holz,  verSndern  —  der  Fels- 
block,  der  uns  zerscbmettert,  der  Sticb,  der  ein  Gefass  zerreisst  und 


285  S*^ 


sofortige  Verblutung  erzeugt  —  sind  zwar  ^Einwirkungen  auf  den  lebenden 
Korper*,  aber  nicht  Reize:  sie  wecken  nichts  von  den  ihm  eigentiimlichen 
sonderartigen  Reaktionsvorgftngen. 

Kehren  wir  von  diesen  Erwigungen,  die  uns  auch  fur  spatere 
Kapitel  wichtig  sein  werden,  wieder  zu  der  Frage  der  Geschwulstent- 
stehung  zuruck.  Wenn  es  keinen  Krebsparasiten  gibt,  so  kann  doch 
noch  an  vielerlei  Sussere  Ursachen  gedacht  werden,  die  moglicher- 
weise  den  Reiz  zur  Geschwulstbildung  fur  die  betreffenden  K3rperzellen 
abgeben.  Es  konnte  ferner  auch  in  ErwSgung  gezogen  werden,  dass  nur 
einzelne  Individuen  im  ganzen  oder  an  einzelnen  Korperteilen  so  beschaffen, 
so  .eingestellt''  sein  mogen,  dass  jene  normalen  oder  krankhaften  Reize  des 
tiglichen  Lebens,  die  bei  hundert  anderen  keine  abnonnen  Zustlnde  oder 
etwa  bloss  Entziindungen  und  dhnliches  erzeugen  wurden,  gerade  bei 
ibnen  zu  Geschwulstbildungen  fuhren.  Es  konnte  sein,  dass  eine  solche 
besondere  Veranlagung,  Disposition,  wie  bei  anderen  Erkrankungen  — 
z.  B.  Halsentziindungen  oder  Lungentuberkulose  —  nur  eine  unter  be- 
sonderen  Susseren  Umstanden,  z.  B.  durch  vorhergegangene  schwftchende 
Krankheiten  erworbene,  oder  aber  dass  sie  bereits  angeboren  ist  —  wie 
z.  B.  eine  gewisse  Schwiche  des  Nervensystems,  eine  besondere  Empfind- 
lichkeit  der  Haut  fiir  SchMdigungen  auf  angeborene  Anlagen  zuriickgehen 
konnen.  Endlich  wird  man  im  vorhinein  auch  mit  der  Mdglichkeit 
rechnen  miissen,  dass  die  Geschwulstentstehung  an  besondere  geschwulst- 
erzeugende  Reize  der  Aussenwelt  gar  nicht  gebunden  sei,  dass  die 
Geschwtilste  aus  den  einmal  im  Korper  vorhandenen  Anlagen  mit  der 
gleichen  Notwendigkeit  hervorgehen  wie  etwa  die  Leber  oder  das  Auge 
Oder  ZShne  und  Haare:  dass  die  Aussenwelt  nur  die  Bedingungen, 
aber  nicht  die  ausldsenden  Ursachen  fur  die  Entstehung  von  Tumoren 
aus  inneren  Ursachen  liefert. 

Welche  von  diesen  Mdglichkeiten  ist  die  zutretTende?  oder  ent- 
sprechen  mehrere  der  Wirklichkeit?  Keine  Theorie  vermag  daruber 
Auskunft  zu  geben;  nur  die  Erforschung  der  Tatsachen  kann  uns  viel- 
leicht  hier  Aufschliisse  bringen.  Sie  sprechen  recht  dunkel  vorlaufig, 
die  Tatsachen,  die  wir  kennen  und  zu  sichten  versucht  haben;  wie 
delphische  Orakel  kiinden  sie  dem  einen  dies,  dem  andem  andres. 
Ich  will  nur  einige  wichtige  Punkte  hervorheben;  einzelne  deshalb,  well 
sie  gemeinhin  ftir  wichtig  gehalten  werden  und  allgemein  bekannt  sind, 
andre,  weil  ihre  Bedeutsamkeit  wenigstens  im  Prinzip  erwiesen  scheint. 

Es  kann  als  eine  der  wichtigsten  und  unaufschieblichsten  Aufgaben 
unserer  Generation  bezeichnet  werden,  Tatsachenmaterial  aller  Art  fiir 
die  Fragen  der  Vererbung  auf  jedem  Gebiete  zu  gewinnen.  Wir 
haben  gegenwMrtig  die  verschiedenen  unklaren  Vorstellungen,  welche  in 
dieses  Problem  seit  unvordenklichen  Zeiten  hineingemengt  waren, 
herauszuschSlen  gelemt.  So  sprechen  wir  z.  B.  bei  Erkrankungen, 
welche  das  Kind  bereits  vor  der  Geburt  erfahrt,  nur  dann  von  Ver- 
erbung, wenn  sie  aus  einer  fehlerhaften  Anlage  des  Keimes 
hervorgegangen  gedacht  werden  mussen,  nicht  aber  dann,  wenn  z.  B.  das 
Kind  einer  syphilitischen  oder  tuberkuldsen  Mutter  mit  diesen  Krank*^ 


286  ^ 


heiten  behaftet  zur  Welt  kommt,  oder  wenn  abnorme  Druckverhftltnisse 
Oder  Abschnuning  durch  krankhafte  Fadenbildungen  in  den  Eihiuten 
etwa  Klumpfussbildung  oder  Verlust  eines  Fingers  oder  einer  ganzen 
Extremitit  erzeugt  haben.  Selbst  wenn  solche  Abnormitdten  mehrfach 
bei  Kindern  derselben  Mutter  vorkommen,  liegt  die  Ursache  der  Miss- 
bildung  bier  in  der  Umgebung,  in  den  dusseren  Lebensbedingungen  des 
Fdtus.  Und  in  den  Fallen  von  Ubertragung  infektioser  Erkrankungen 
insbesondere  ist  natiirlich  nur  eine  infektidse  Erkrankung  im  Fdtal- 
leben  gegeben,  keine  Vererbung.  Femer  bat  sich  aus  der  Sichtung  des 
vorhandenen  Erfahrungsmaterials  und  vielen  planmftssig  angestellten 
Versucben  ergeben,  dass  eine  Obertragung  (besser:  ein  Wiederauftreten 
beim  Kinde)  von  Eigenschaften,  die  eines  der  Eltem  wahrend  seines 
Individuallebens  n  e  u  erworben  bat,  fur  keinen  Fall  sicber  erwiesen  und 
aus  vielen  Griinden  bochst  unwahrscheinlich  ist;  speziell  gilt  dies  fur 
die  bekannte  Frage  der  Vererbung  von  Verletzungen  und  Verstummelungen, 
wShrend  fur  andere  Gebiete  noch  nicht  genugende  Klarheit  geschaifen 
ist:  so  z.  B.  in  der  Frage,  wie  weit  durcb  tiefgehende  cbemische  oder 
physikalische  Anderungen  im  Elter  (z.  B.  Immunisierung  der  Eltem;  oder 
Beeinflussung  von  Schmetterlingen  usw.  durch  TemperaturdiCferenzen) 
in  den  Nachkommen  gleichartige  Veranderungen  erzielt  werden  konnen. 
Wir  werden  dem  Thema  der  pathologischen  Vererbung  spMter  einmal  ein 
besonderes  Kapitel  widmen  und  Ziehen  aus  dem  Angefiihrten  nur  die 
doppelte  Frage:  gibt  es  Anhaltspunkte  dafiir,  dass  uberhaupt  Ge- 
schwiilste  der  Eltem  in  den  folgenden  Generationen  wiederkehren?  und: 
haben  wir,  bei  Bejahung  dieser  Frage,  Grunde  zu  der  Annahme,  dass 
es  sich  hierbei  urn  eine  urspningliche  abnorme  Anlage  der  Keim- 
zellen,  oder  urn  mehr  zufMllige,  im  Laufe  der  fotalen  Entwicklung 
entstandene  Abnormitaten,  also  um  gestorte  Entwicklung  und 
nicht  um  ^Geschwulst vererbung"  im  strengen  Sinne  des  Wortes  htodle? 
Die  Wichtigkeit  auch  der  letzteren  Frage  leuchtet  ein:  denn  nur  ira 
ersteren  Falle  bestande  fur  das  Wiederauftreten  der  Geschwulst  bei  den 
Nachkommen  der  nachsten  oder  ubemlchsten  Generation  eine  grosse 
Wahrscheinlichkeit  —  ungeflhr  dieselbe  wie  fiir  das  Wiederauftreten 
irgend  einer,  dem  einen  Elter  charakteristischen  Bildung;  im  zweiten 
Falle  wurde  die  Wahrscheinlichkeit  sehr  gering  erscheinen,  dass  die 
zufailigen  VerhSltnisse,  welche  das  eine  Mai  eine  Entwicklungsstomng 
^rzeugten,  sich  fur  die  n&chste  Generation  wiederholen  sollten. 

Was  sagt  die  Erfahmng?  Sie  lasst  uns  im  Stiche.  Das  ist  nicht 
Terwunderlich.  Wir  sind,  wegen  des  relativ  selteneren  Vorkommens 
Xsagen  wir  gleich:  auch  wegen  der  friiheren  geringen  Beachtung)  von 
Tumoren  bei  Tieren  hauptsHchlich  auf  Feststellungen  beim  Menschen 
angewiesen.  Diese  konnen  nun  bestenfalls  hier  und  da  auf  zwei  bis 
drei  Generationen  zuruckverfolgt  werden;  fur  die  Mehrzahl  der  Menschen 
verschwinden  Krankheiten  und  Todesursachen  der  Grosseltem  bereits 
im  Dunkel.  Aus  solchen  Daten  lassen  sich  allgemeine  Gesetze  nicht 
ableiten.  Dazu  kommt,  dass  in  den  jedem  Arzte  vorkommenden  Fdllen, 
jn  denen  z.  B.  Angaben  von  Krebsvererbung  gemacht  werden,  die  Art 


287  1^ 


der.  Geschwulste  der  Vorfahren  schon  deswegen  nicht  sicher  gestellt 
werden  kann,  weil  vor  der  mikroskopisch-zdiularpathologischen  Ara  ein 
Carcinom  von  einem  Sarkom  uberhaupt  nicht,  oder  nur  unklar,  oft  nicht 
einmal  von  einem  tuberkuldsen  oder  andern  Geschwur  unterschieden 
werden  konnte.  Naturlich  ist  es  aber  fur  die  Beurteilung  nicht  gleich- 
gultig,  ob  wirklich  gleichartige  oder  verschiedene  Geschwulstformen  bei 
den  Eltern  und  Nachkommen  vorlagen.  Endlich  ist  auch  in  Betracht  zu 
Ziehen,  dass  oft  die  angeblich  vererbten  Geschwulste  in  den  ver- 
schiedensten  Stellen  sassen.  Wenn  aber  z.  B.  in  einem  Falle  der  Vater 
einen  verkriimmten  Arm,  der  Sohn  ein  verkrummtes  Bein  mit  auf  die 
Welt  brSchte,  wurde  selbst  der  Laie  nicht  ohne  weiteres  von  «Ver- 
erbung**  sprechen. 

Diese  Unkenntnis  in  einem  der  wichtigsten  Punkte  der  mensch- 
lichen  Pathologie  ist  verzeihlich  fiir  die  zweite  Generation,  die  seit  der 
Entdeckung  der  Zellularpathologie  auf  dem  Plane  steht:  der  vermeint- 
liche  Oder  wirkliche  Erfahrungsschatz  der  Ahnen  ist  fur  uns  nicht  in 
wissenschaftliche  Munze  umsetzbar.  Ein  nicht  entschuldbarer  Vorwurf 
fur  unsre  Zeit  aber  wurde  es  sein,  wenn  dieser  Mangel  an  festem  Wissen 
auch  in  der  ubemftchsten  Generation  noch  beklagt  werden  musste.  Vor- 
liufig  scheint  es  freilich,  als  ob  noch  immer,  auch  in  den  gebildeten 
Stinden,  es  fur  viel  wichtiger  erachtet  werde,  die  Titel  und  Orden  des 
Vaters  und  Grossvaters  dem  Gedachtnis  festzuhalten  als  zu  wissen, 
welches  der  Bau  seiner  Organe,  welches  die  wichtigsten  Krankheiten 
seines  Lebens,  welches  die  Todesursache  gewesen  sei  —  und  es  ist  bei 
der  Scheu,  die  noch  immer  abhftlt  von  der  Erorterung  kdrperlicher  Dinge 
Oder  bei  der  menschlich  ja  so  begreiflichen,  von  weiteren  Gesichts- 
punkten  aus  aber  im  Interesse  der  Familie  nicht  zu  rechtfertigenden 
Abneigung  gegen  die  Vomahme  von  Sektionen  immerhin  ganz  gut 
moglich,  dass  trotz  aller  Sammelforschung  und  Krebsstatistik  das  nSchste 
Jahrhundert  iiber  die  Frage  der  Geschwulstvererbung  keinen  gesicherteren 
Fonds  von  Tatsachen  besitzt  als  das  begonnene.  Hoifen  wir,  dass  auch 
auf  diesem  Gebiete  die  allgemeinere  Durchsetzung  mit  naturwissen- 
schaftlichen  Kenntnissen  Vorurteile  beseitige  und  vorwSrts  fuhre: 

Hunc  igitur  terrorem  animi  tenebrasque  necesse  est 
Non  radii  soils  neque  lucida  tela  diei 
Discutiant,  sed  naturae  species  ratioque.') 

Die  Statistlk  hfttte  gerade  in  unserer  Frage  eine  so  dankbare  Auf- 
gabe:  denn  es  ist  im  Grunde  keine  schwierige  Sache,  an  dem  genau 
gebuchten  Verhalten  wenigstens  eines  grossen  Teils  der  Individuen  von 
drei  aufeinanderfolgenden  Generationen  festzustellen,  ob  eine  konstante 
Viederkehr  von  Krebs  oder  Sarkom  in  gewissen  Familien,  namentlich 
in  solchen  mit  doppelseitiger  Belastung  von  Vater-  und  Mutterseite  her, 

*)  Lucrez,  De  rer.  nat.  II,  59: 

Solcherlei  nichtigen  Spuk  det  Geistes  alto,  ihn  mfitten 
Nicht  die  Strahlen  der  Sonne,  det  Tages  lichte  Geschosse, 
Sondem  Naturantchau'n  und  reifet  Erkennen  verscheuchem 


288  %^ 


wirkiich  hlufig  vorkomme  oder  nicht.  Vorllufig  versagt  die  sonst  so 
willige  Dienerin  der  Voikswirtschaft  bei  unserem  Probleme  vollig,  so 
dringend  wir  sie  rufen.  Es  nutzt  uns  auch  nichts,  wenn  wir  zur 
provisorischen  AusfuUung  der  Lucke  die  anscheinend  zutreffende  Er* 
fahrung  heranziehen,  dass  gewisse  harmlose  Geschwiilste  zur  Wiederkehr 
in  mehreren  Generationen  neigen.  Hierher  gehdren  vielleicht  gewisse 
Arten  von  .Muttermilern*,  sowie  manche,  besonders  die  in  bestimmter 
Anordnung  zu  Nervenstlmmen  verlaufenden  Bindegewebs-  und  Fett* 
geschwulste.  Bei  den  ersteren  handelt  es  sich  indessen  wohl  nur  um 
belanglose  Hemmungsbildungen,  bei  letzteren  liegen  vorliufig  unklare 
besondere  Beziehungen  zum  Nervensystem,  vielleicht  auch  zum  Stoff* 
wechsel  vor,  welche  es  nicht  erlauben,  das  Verhalten  dieser  Geschwulst* 
arten  als  typisch  fiir  alle  Formen  anzusehen.  So  konnen  sie  uns  fur 
die  Frage  der  Krebs-  oder  Sarkomvererbung  nichts  bieten.  Im  ganzen 
machen  es  die  nachfolgenden  mehr  positiven  Daten  iiber  Entwicklungs- 
stdrungen  und  abnorme  Sussere  Einwirkungen  im  splteren  Leben,  die 
zu  Geschwulstbildungen  fuhren  konnen,  unwahrscheinlich,  dass  im  Keime 
mehr  als  hdchstens  eine  gewisse  allgemeine  Disposition  zur  Entstehung 
von  Tumoren  mitgegeben  werde. 

Aber  von  der  unbefruchteten  oder  befruchteten  Keimzelle  bis  zum 
Neugebomen  ist  ein  langer  Weg;  ein  rastloses  Bauen  und  Schieben, 
Trennen  und  Ftigen  der  sich  immerzu  rapide  vermehrenden  Zellen  ist 
die  Signatur  der  fotalen  Entwicklung:  wie  viel  leichter  konnte  es  hier 
geschehen,  dass  durch  kleine  oder  grosse  Fehler  im  Aufbau  des  Korpers  die 
Bedingungen  geschatfen  wurden  fur  eine  spStere  Geschwulstentwicklung! 
Dass  z.  B.  Zellen  irgendwo  aus  dem  festgefugten  Verbande  verdringt« 
im  Kdrper  an  falsche  Stellen  verlagert  wurden;  oder  dass  sie  einfach 
liegen  blieben,  ohne  ^sich  an  der  normalen  Weiterbildung  der  Organe 
zu  beteiligen:  dass  solche  Zellen  alsdann  fruher  oder  splter,  auf  einen 
belanglosen  Anlass  hin  oder  auch  ohne  erkennbaren  neuen  Anlass  bloss 
in  einer  Art  verspateter  und  ungeregelter  Betdtigung  ihres  gehemmten 
und  lange  schlummemden  Vermehrungstriebes,  zu  wachsen  und  zu 
wuchem  beginnen  —  dass  aus  solchen  liegen  gebliebenen  Zellen 
Geschwiilste  entstunden! 

Es  ist  ein  hochst  unbehagliches  Gefuhl,  sich  etwa  im  eigenen 
Kdrper  hier  und  dort  verstreut  solche  kleine  Rotten  eingeschlafener 
Wegelagerer  zu  denken,  denen  es  eines  schdnen  Augenblicks  einfallen 
kann,  aufzustehen  und  uns  den  Garaus  zu  machen.  Indes,  es  gilt  nicht, 
gegenuber  unangenehmen  Moglichkeiten  die  Augen  zu  schliessen,  sondem 
sie  fest  und  genau  zu  besehen  und  sich  uber  sie  klar  zu  werden.  Wir 
mussen  nun  in  der  Tat,  Ihnlich  wie  Solon  keinen  vor  dem  Tode  glucklich 
preisen  hiess,  sagen:  nur  die  genaueste  Sektion  kann  Gewissheit  daruber 
geben,  ob  irgend  ein  Mensch  wirklich  frei  von  jeder  mit  blossom  Auge 
wahmehmbaren  Geschwulst  gewesen  sei;  wShrend  uber  das  Vorhanden- 
sein  mikroskopisch  kleiner  Geschwulstchen  selbst  dann  noch  nur  der 
Zufall,  der  sie  vielleicht  einmal  gerade  finden  l&sst,  entscheidet.  Und 
ebensowenig  kann  irgendwer,  auch  wenn  ihm  sein  Spiegel  beteuert,  dass 


HMg   289  S*^ 


er  fehlerlos  gebaut  sei,  daruber  je  Gewissheit  erhalten,  ob  nicht  aa  einer 
t>der  vielen  Steilen  in  seines  Kdrpers  Tiefe  solche  kleine  oder  gr5ssere 
Oberreste  von  Zellen  aus  seiner  Entwicklungszeit  noch  liegen,  die  den 
Anschluss  an  die  organbildenden  Zellen  verslumt  haben.  Hier  sind 
vorabergehend  Spalten  gewesen,  z.  B.  die  Anlagen  einer  Kiemenspalte 
am  Halse,  oder  eine  breite  Verbindung  zwischen  urspriinglicher  Luft- 
rohre  und  Speiserdhre,  die  sich  erst  allmdhlich  verschloss;  oder  noch 
fruher  fand  sich  an  Stelle  des  spitem  Bnistbeins  eine  klaffende  Liicke; 
eilig  mussten  sie,  vielleicht  einmal  etwas  verspitet,  oder  unter  un- 
gunstigen  mechanischen  Verhiltnissen  verschlossen  werden;  schnell 
wurde  iiber  der  Kiemenspalte  innen  die  Schleimhaut  des  Rachens  und 
aussen  die  Haut  des  Halses  geschlossen,  zwischen  beiden  aber  blieb 
in  der  Tiefe  die  Lucke  mit  den  umkleidenden  Zellen;  oder  die  Speise- 
rohre  erhielt  bei  der  raschen  Abtrennung  ein  Stiickchen  Knorpelanlage^ 
das  eigentlich  einem  Luftrdhrenknorpel  hfttte  zur  Ausbildung  dienen 
sollen;  oder  beim  Schluss  der  vorderen  Brustwand  wurde  ein  Stuck 
Hautanlage  nach  innen  verzogen  und  schlummert  nun  zwischen  Herz 
und  Lungen  und  Brustwand.  In  dem  ersten  Beispiel  sind  embryonale 
Zellen  unverbraucht  liegen  geblieben;  in  den  beiden  andem  geschah 
eine  fdnnliche  Verlagerung  embryonaler  Zellen.  Solche  Stdrungen  an 
Steilen,  wo  es  besonders  schwierige  .technische  Aufgaben*  tur  die 
Embryonalzellen  zu  losen  gibt,  sind  nun  neben  anderen  an  den  gleichen 
Orten  lokalisierten  Abnormititen  nichts  gerade  seltenes.  Die  uberlegene 
Kunst  der  .blind  schaffenden  Natur*,  wie  unser  zuschauender  Eigen- 
diinkei  sie  wohl  nennt,  zeigt  sich  aber  darin,  dass  solche  kleine  Un- 
genauigkeiten  sie  zumeist  nicht  abhalten,  den  Bau  des  Lebewesens  zu 
voUenden.  Hier  wird  etwas  umgemodelt;  aus  den  Spalten  wird  vielleicht 
ein  kleiner  Hohlraum,  der  sich  sptiter,  langsam  mitwachsend,  mit  Flussig- 
keit  fQllt;  der  versprengte  Knorpel  wichst  ein  wenig  und  wird  als  Wand- 
einlage  verwendet  usw.  Auch  in  der  Kleidungs-  und  Verkleidungskunst 
ist  die  Natur  uns  iiber:  mit  glatter  Haut  deckt  sie  die  verwegensten 
Kleisterungen  und  Flickarbeiten,  um  ihr  Werk  zu  retten;  und  ein  heutiger 
Gulliver  wiirde  die  naiven  Huyhnhnms  wohl  darauf  verweisen,  dass  ihre 
Entrustung  iiber  die  heuchlerische  Verkleidung  der  Menschen  sich  gegen 
die  Natur  selbst  wenden  musste,  als  die  erste  und  genialste  Kleidungs- 
nnd  Verkleidungskiinstlerin* 

Es  kommt  vor,  dass  auf  solche  oder  flhnliche  Weise  ganze  Organ- 
teile  wie  vergessen  liegen  bleiben  oder  an  falsche  Orte  geraten.  So 
findet  sich  gelegentlich  in  den  Knochen  der  SchSdelbasis,  welche  sich 
erst  im  Laufe  der  Entwicklung  ausbilden  um  eine  ursprunglich  knorpelige 
und  auf  noch  fruherer  Stufe  gallertige  stabfdrmige  Anlage,  von  der  einen 
Oder  andem  ein  Rest:  sowohl  der  Knorpel  als  dieses  Gallertgewebe  konnen 
liegen  bleiben,  ein  Stiick  weit  mitwachsen  und.  spiter  als  Geschwulste 
imponieren.  Telle  der  Nebennieren  gelangen  bald  an,  bald  in  die  Niere ; 
dort  bleiben  sie  entweder  als  kleine,  auch  in  ihrem  mikroskopischen  Bau 
normale  Nebennieren,  oder  sie  wachsen  zu  mehr  oder  weniger  grossen 
und  unregelmissigeren  Geschwfilsten  heran. 


200  Si4^ 


Es  ist  in  diesen  und  zahlreichen  anderen  Fillen  kein  Zweifel,  dass 
wirklich  solche  liegen  gebliebene  oder  verlagerte  Keime 
das  Material  fur  Gesch wulstbildungen  abgeben.  Da  sich 
gerade  in  den  angefuhrten  Beispielen  eine  besondere  dussere  Ursache, 
ein  ReiZy  nicht  auffinden  noch  als  wahrscheinlich  annehmen  lisst,  wurden 
diese  Fdlle  fur  eine  Entstehung  von  Geschwulsten  rein  aus 
vinnerenUrsachen*  im  oben  gedachten  Sinne  sprechen  —  voraus- 
gesetzty  dass  nicht  doch  unbekannte  Stdningen,  die  sich  im  inneren 
Haushalt  des  Organismus  an  diesen  vKeimen*  geltend  machen,  den 
direkten  Anlass  zur  Geschwulstbildung  aus  ihnen  abgeben.  Fur  die 
angeborenen  und  im  fruhen  Kindesalter  auftretenden  Tumoren  hat  diese 
Erklflrung  als  die  allemichstliegende  wohl  vor  jeder  anderen  den  Vorrang. 

Aber  gilt  diese  Anschauung  ftir  all e  Geschwulste?  Gilt  sie  ins- 
besondere  fur  die  das  mittlere  und  hdhere  Lebensalter  fast  ausschliesslich 
betreffenden  Krebse? 

Fur  eine  Anzahl  der  letzteren  bilden  sicher  gleichfalls  Keim- 
verirrungen,  liegen  gebliebene  Keimzellen  den  Ausgangspunkt»  das 
Material.  An  den  oben  erwShnten  Spalten,  in  verlagerten  Nebennieren 
sind  Krebse  keineswegs  selten.  Man  konnte  daraufhin  vielleicht  an- 
nehmen,  dass  an  alien  Stellen,  wo  Krebse  oder  Tumoren  tiberhaupt 
entstehen,  solche  Anlagen  in  Form  ruhender  wucheningsflhiger  Zellen 
gegeben  seien,  die  wir  nur  im  Einzelfalle  wegen  der  zur  Zeit  der  Unter- 
suchung  schon  aus  ihnen  hervorgewachsenen  Geschwulstwucherung  nicht 
mehr  finden.  Eine  derartige  Ansicht  wurde  zwar  bei  der  Menge  der  Orte, 
an  denen  solche  Keime  vorkommen,  unwahrscheinlich,  an  sich  aber  nicht 
unmoglich  scheinen.  Indes  widerspricht  einer  derartigen  Verallgemeine- 
rung  mit  Bestimmtheit  eine  Tatsache.  Man  kann  namlich  beobachten,  dass 
Krebse  entstehen  auf  alten  Geschwuren,  deren  ursprunglicher  Epithel 
ebenso  wle  das  darunterliegende  Bindegewebe  Iftngst  durch  neues  Ersatz- 
gewebe  ein-  oder  vielemale  ersetzt  sind;  oder  in  alten  Narben,  die  auf  Grund 
einer  besonders  tiefen  Verbrennung  oder  VerHtzung  des  ganzen  Gewebes 
sich  bildeten  und  erst  von  den  RSndem  her  mit  neuem  Gewebe  sich 
deckten;  oder  sogar  in  der  Tiefe  von  Knochen,  die  durch  jahrelange 
Eiterungsprozesse  sich  in  sog.  Fistelgftngen  nach  der  Haut  gedCFnet 
haben,  und  in  welche  herein,  also  an  Stellen,  wo  vorher  sicher  kein 
Epithel  sich  fand,  das  Deckepithel  der  H^ut  sich  langsam  wachsend 
schoby  um  den  Verlust  zu  decken.  An  all  diesen  und  fthnlichen  Stellea 
ist  das  in  Krebswucherung  schliesslich  iibergehende  Epithel  vorher  sicher 
nicht  an  Ort  und  Stelie  der  spdteren  Geschwulstentwicklung  gewesen; 
es  stammt  in  der  so  und  sovielen  Generation  ab  von  Zellen  der  Um- 
gebungy  die  ihrerseits  lange  Zeit  vollig  nach  Art  normaler  Epithelien 
den  Verlust  zu  decken  versuchten.  Hier  kann  also  von  vorgebildeten 
Keimen  nicht  die  Rede  sein.  Und  nun  erinnem  wir  uns  wieder  an 
friiher  schon  erwihnte  Beispiele:  Krebse  sind  u.  a.  besonders  haufig 
in  dem  mechanisch  und  chemisch  so  viel  insultierten  Verdauungskanale; 
und  hier  sind  es  wieder  die  Lippen,  besonders  bei  Pfeifenrauchem,  die 
Zunge  an  den  Seitenrindem,  da  wo  sie  von  schadhaften  ZShnen  leicht 


291 


and  immer  wieder  verletzt  werden  kann;  der  Anfangs-  und  Endteil  des 
Schlundes,  die  enge  Gegend  des  Magens,  der  Anfangs-  und  Endabschnitt 
des  MastdarmS)  die  besonders  oft  befallen  sind.  Unvergleichlich  hdufiger 
flndet  an  diesen  Stellen,  die  in  besonders  hohem  Masse  immer  wieder- 
kehrenden  Schddigungen  ausgesetzt  sind,  Krebsentwicklung  statt  als  in 
den  dazwischen  gelegenen  Teilen  des  Verdauungsrohrs.  Das  Gemein- 
same  aller  dieser  und  dbnlicher  Falle  (Schornsteinfegerkrebs  usw.)  scheint 
also  die  langdauernd  wiederholte  Schldigung  der  betreCfen- 
den  Partien,  ein  ^chronischer  Reiz*.  Es  ist  femer  klar,  dass  die  Zer- 
storung  der  oberflSch lichen  Schichten  an  diesen  Orten  zu  einer  darauf 
immer  wieder  antwortenden  Neubildung  von  Zellen,  sowohl  des 
Epithels,  welches  diese  OberflSchen  uberkleidet,  wie  auch  des  darunter- 
liegenden  Bindegewebes  fuhren  wird. 

Damit  sind  wir  an  dem  Punkte  angelangt,  wo  die  zellularen 
Theorien  des  Krebses  einsetzen.  Gegeben  ist  in  diesen  FSllen  einer- 
^eits  ein  chronischer  Reizzustand.  der  das  an  sich  normale  Gewebe 
nie  zur  Ruhe  kommen  llsst,  immer  aufs  neue  zur  Wiederherstellung  des 
Verlorenen,  zur  Regeneration  zwingt.  Der  Reiz  besteht  in  der  Zellzer- 
st5rung;  der  immer  neu  ausgeloste  organische  Vorgang  ist  urspriinglich 
in  nichts  von  demjenigen  nach  einer  geringfugigen  Verletzung  ver- 
schieden:  es  ist  ein  in  die  LSnge  gezogener,  fruchtlos  stets  erneuter 
Heilungsvorgang,  der  allerdings  je  linger  je  mehr  sich  mit  dem  Bilde 
einer  Entzundung  und  Geschwiirsbildung  vermischt,  mit  Auswanderung 
weisser  Blutk5rperchen,  Bindegewebsneubildung  etc.  —  Gegeben  ist 
zweitens  der  Endzustand:  in  dem  alten  Geschwur  hat  das  Epithel 
krebsig  zu  wuchern  begonnen;  das  Geschwur  ist  zum  Krebsgeschwiir 
geworden. 

Was  liegt  dazwischen? 

Die  Antwort  scheint  im  Prinzip  einfach.  Mit  den  Epithel- 
Zellen  muss  eine  Anderung  vor  sich  gegangen  sein.  Alles  andere 
ist  geblieben  wie  zuvor:  der  Reiz,  die  Umgebung,  Bindegewebe  und 
Gefisse.  Das  Geschwur  konnte  an  sich»  wie  so  manches  alte  Unter- 
schenkelgeschwur,  noch  Jahrzehnte  fortbestehen,  ohne  krebsig  zu  werden. 
Worin  besteht  also  die  Anderung  in  den  Epithelzellen? 

Es  bieten  sich  zwei  Vermutungen.  Entweder  muss  angenommen 
werden,  dass  das  Wesen  der  Geschwulstzellen  selbst  durch  irgend- 
welche  Anderungen  in  ihnen  derart  gegeniiber  der  entsprechenden  nor- 
malen  Zelle  venlndert  wird,  dass  sie  die  FShigkeit  zu  unbegrenzter 
Wucherung  und  zum  Vordringen  in  die  Tiefe  gewinnen;  oder  es  muss 
sich  um  eine  tiefergreifende  Anderung  der  Bedingungen  handeln, 
unter  welchen  sie  stehen,  der  Art,  dass  sie  anstatt  der  begrenzten 
regenerativen  Leistung  im  Dienste  des  Kdrpers  unter  mehr  oder  weniger 
vollstlndiger  Vemachlflssigung  dieser  letzteren  sich  von  ihm  emanzi* 
pieren,  zu  seinen  Parasiten  und  ausgesprochenen  Feinden  werden. 

Beide  Arten  von  Ansichten  haben  Vertreter  gefunden.  So  er- 
klirte  man  als  das  Wesentliche  bei  der  Krebsbildung  das  Zuriick- 
^ehen  der  Zellen  von  ibrer  vollausgebildeten  Form  zu  einer  einfacheren. 


292  8^ 


weniger  differenzierten,  oder  wie  man  auch  wohl  sagte,  zu  einer 
mehr  der  embryonalen  genaherten  Form.  Mit  dieser  einfacheren,  zuriick- 
gebildeten  Form  sollte  eine  erhohte  Wucherungsflhigkeit  verbunden  sein» 
welche  ihrerseits  auch  u.  tu  durch  mannigfache  Eigentumlichkeiten  und 
Unregelmissigkeiten  der  Kemteilung  sich  manifestiere.  In  der  Tat  ist 
mit  der  Hervorhebung  dieser  Merkmale  etwas  fur  die  bosartigen  Ge- 
schwulste  sehr  Kennzeichnendes  betont;  sie  zeigen,  wie  das  Fur  das 
Sarkom  bereits  erwihnt  wurde,  eine  besondere  Tendenz  zur  Verein- 
fachung  sowohl  des  Zellcharakters  als  auch  der  aus  der  Zusammen- 
fiiguDg  der  Zellen  entstehenden  Bildungen.  Wfthrend  z.  B.  die  gut- 
artigen  Geschwulste  der  Dnisen-Epithelien  bei  ihrem  Wachstum  m.  w. 
genau  die  Zellen  ihres  Mutterbodens  wieder  enthalten  und  immer  wieder 
driisenartige  Schlduche  bilden,  auch  hlufig  noch  das  Sekret  wie  im 
normalen  Zustand  weiter  produzieren,  geht  bei  den  Krebsen  der  Drusen 
diese  FShigkeit  zur  Bildung  von  Schliuchen  hSufig  fruhzeitig  verloren,. 
und  es  bilden  sich  unregelmissige  Epithelhaufen;  oder  aber  die  wieder- 
kehrenden  Neubildungen  von  Drusen  tragen  einen  hochst  primitiven 
Charakter  und  die  betreffenden  Zellen  liefem  kein  oder  ein  weit  vom 
normalen  abweichendes  Sekret.  So  bestechend  indes  eine  derartige 
Auffassung  der  eingetretenen  VerSnderung  im  Wesen  der  Zellen  zu- 
nMchst  erscheinty  so  wenig  ist  sie  fur  eine  generelle  Auffassung  brauch- 
bar,  da  sie  weder  allgemein  anwendbar  ist,  noch  auch  das  Eigentumliche 
der  Krebse  genugend  charakterisiert.  So  ist  es  zwar  die  Kegel,  das& 
sich  die  Zellen  bosartiger  Geschwulstformen  fruhzeitig  vereinfachen 
und  ihre  Funktion  mehr  oder  weniger  friih  verlieren;  aber  es  kommen 
doch  auch  hdchst  bemerkenswerte  Ausnahmen  vor.  Z.  B.  ist  mehrfach 
beobachtet  worden,  dass  die  Zellen  eines  Leberkrebses  in  der  Leber^ 
ja,  wenn  sie  in  die  Lunge  verschleppt  wurden,  auch  dort  noch  Galle 
bildeten  nach  Art  normaler  Leberzellen,  oder  dass  schleimbildende  Zellen 
z.  B.  aus  Krebsen  des  Darmes  oder  eines  Luftr5hrenastes  an  den  Stfttten 
ihrer  sekunddren  Einpflanzung  (z.  B.  in  der  Leber  oder  im  Gehim)  fort« 
fuhren,  Schleim  zu  bilden.  Die  krebsige  Schilddruse  macht  gelegent- 
lich  in  der  Lunge  oder  im  Knochenmark  sekunddre  Knoten,  welche  das 
spezifische  Produkt  der  Schilddrusenlippchen,  das  sogenannte  Kolloid^ 
in  der  gleichen  Weise  absondem,  wie  dies  in  der  normalen  Schilddrilse 
der  Fall  ist.  Auch  Krebse  der  Haut  sehen  wir,  an  Ort  und  Stelle  oft 
sehr  lange,  gelegentlich  auch  noch  nach  ihrer  Verschleppung,  z.  B.  in 
der  Niere,  das  eigenartige,  aufs  engste  verzihnte  Zellennetzwerk  weiter- 
bilden,  welche  den  Zusammenhalt  der  HautoberflSche  gegenuber  den 
vielen  Schidigungen  der  Aussenwelt  verstindlich  macht. 

Diese  Ruckbildung  und  Vereinfachung  (Anaplasie  oder  Kataplasie 
genannt)  der  Krebszellen  kann  demgemiss  nicht  als  charakteristisches 
und  allgemeingtiltiges  Merkmal  angesehen  werden.  Ihr  Eintreten  ist 
wahrscheinlich  vielfach  bloss  von  der  Intensitit  der  Wucherung  ab- 
hdngig:  je  stMrker  diese,  desto  fruher  verlieren  meist  die  Zellen  die 
Ahnlichkeit  mit  den  normalen  Zellen  des  Mutterbodens.  Ebenso  sind 
die  abnormen  Kern-  und  Zellteilungen  nur  als  der  Ausdruck»  nicht  als 


.  293  %^ 


die  Ursache  der  erhohten  und  vielfach  auch  gestdrten  Zellvennehrung 
zu  betrachten. 

Die  Entstehung  dieser  Steigening  der  Wucherungstendenz  fiber 
das  Mass  hinaus  steht  aber  gerade  in  Frage.  Bin  geistreicher  Erkllnings- 
versuch  dieser  Umwandlung  ist  der  folgende:  Bei  der  Entstehung  von 
Krebsen  an  Stellen,  weiche  dauemd  Reizen  und  SchMdigungen  ausgesetzt 
sind,  wird  das  Epithel  zu  einer  dauemden  Neubildung  gezwungen. 
Dadurch  erfolgt,  wie  bei  alter  einseitig  gesteigerten  Zelltdtigkeit,  eine  be- 
sonders  starke  Ausbildung  dieser  ZelltStigkeit,  der  Teilung,  und  der  Zell- 
teile,  die  zu  ihrer  Ausubung  notig  sind.  Die  Zelle  bildet  gewissermassen 
ihre  Flhigkeit  zur  Vermehrung  auf  Kosten  z.  B.  ihrer  sekretliefernden 
Tfttigkeit  einseitig  aus.  Von  einem  gewissen  Punkte  an  uberwiegt  bei 
der  so  und  so  vielten  Zellgeneration  diese  TStigkeit  und  Ffthigkeit,  so 
dass  sie  nunmehr  voUkommen  das  veitere  Verhalten  der  Zelle  be- 
herrscht.  Sie  hat  ihre  funktionelle  Tatigkeit  ganz  oder  fast  ganz  auf- 
gegeben  und  beschiftigt  sich  nur  mehr  mit  Aufnahme  von  Nihrmaterial 
und  fortlaufenden  Teilungen. 

Auch  dieser  Gedanke,  so  ansprechend  er  ist,  genugt  nicht.  Denn 
wir  kennen  Organe,  in  denen  die  hier  vorausgesetzten  dauemd  wieder- 
kehrenden  SchUdigungen  nicht  nachweisbar  sind,  und  aus  denen  doch 
Krebse  hervorgehen.  Hierher  gehoren  die  Krebse  der  Niere,  der 
Nebenniere,  des  Rippen-  und  des  Bauchfells.  In  andern  wieder  erlischt, 
wie  eben  angefuhrt,  die  urspriingliche  Funktion  erst  sehr  spit. 

Auch  die  zweite  Reihe  von  Moglichkeiten,  die  wir  oben  andeuteten, 
ist  fur  die  Erklirung  der  Krebsentstehung  verwendet  und  im  Zusammen- 
hang  mit  den  Feststellungen  fiber  tatsSchliche  embryonale  Absprengungen 
zu  einer  allgemeinen  Geschwulsttheorie  verwendet  worden.  Nicht  das 
Wesen  der  geschwulst-bildenden  Zelle  soil  zuerst  verftndert  sein,  sondem 
die  Abtrennung  von  Epithelien  aus  dem  normalen  Verbande  mit  den 
fibrigen  sei  die  erste  Ursache.  Das  entzfindlich  wuchemde  und  ins 
Epithel  dringende  Bindegewebe  wire  hiernach  der  eigentliche  Stdren- 
fried.  Die  unter  gewissen  UmstSnden  abgetrennten  Epithel-Zellen  sollen, 
ohne  zunSchst  ihren  Charakter  einzubfissen,  liegen  bleiben  und  unter 
gfinstigen  EmiUirungsbedingungen  dadurch,  dass  die  unter  gewdhnlichen 
Verhaltnissen  ihr  unbegrenztes  Wachstum  hemmende  normale  Einffigung 
unter  die  andern  Epithelien  wegflUt,  zur  Entfaltung  ihrer  latent  vor- 
handenen,  nur  schlummemden  VermehrungsBlhigkeit  gelangen.  Dadurch 
wfirde  natfirlich  der  Anstoss  zur  Neubildung  gegeben  sein. 

Auch  gegen  diese  Auffassung  sprechen  gewichtige  Grfinde.  Der- 
artige  abgesprengte  Zellen  kdnnen  nachweisslich  auch  bei  chronischer 
Entzfindung  liegen  bleiben,  ohne  geschwulstartige  Bildungen  zu  liefem. 
Damit  ist  erwiesen,  dass  die  einfache  Losung  aus  dem  Gewebsverband 
nicht  ausreichend  ist,  und  dass  auch  unter  diesen  Umstlnden  noch  irgend 
etwas  besonderes,  sei  es  in,  sei  es  ausser  der  Zelle,  dazu  kommen  muss, 
um  sie  zur  Wucherung  zu  veranlassen.  Ferner  muss  hervorgehoben 
werden,  dass  diese  Anschauung  gerade  ffir  das  Carcinom  in  vielen  Fftllen 
sicher  nicht  zutriCft;  denn  in  Fftllen  von  beginnendem  Krebs  Iftsst  sich 


-t-S   204  §^ 


hftufig  mit  Bestimmtheit  eine  primire  Verbreitening  der  Epitheldecke  bei 
geschlossenem  Epithelzusammenhang,  bei  noch  mangelnder  oder  nicht 
irgend  erheblicher  Wucherung  des  Bindegewebes  wahrnehmen;  demgemlss 
ist  es  in  diesen  Fftllen  augenscheinlich  das  Epithel  und  nicht  das  Binde- 
geWebe,  das  zuerst  vordrang. 

Somit  muss  auch  dieser  zweite  Versuch,  aus  der  Betrachtang  der 
Verinderungen  der  Epithelzellen  deren  Wucherungstendenz  abzuleiten, 
als  unzureichend  angesehen  werden.  Wir  sehen  auch  das  zellulare  Pro- 
blem der  Krebsentstehung  durch  die  zellularen  Theorien  nicht  geldst:  sie 
umschreiben  nur,  soweit  sie  stimmen,  ein  Stuck  weit  die  Tatsache 
der  erhdhten  Wucherungsflhigkeit. 

Diejenige  RoIIe,  welche  in  der  Entstehung  der  Krebse  die  chro- 
nische  Reizung  spielt,  wird  in  der  Entstehung  der  Sarkome  vielfach 
e  i  n  m  a  1  i  g  e  n  starken  Reizen,  wie  Schlfigen,  Quetschungen,  Knochenbruchen, 
zugeschrieben.  Wenn  man  bedenkt,  wie  viel  solche  sogenannte  .Traumen* 
vorkommen,  wie  selten  im  Verhftltnis  dazu  die  Sarkome,  sowie  dass  viele 
Sarkome  mit  besonderer  Vorliebe  an  ganz  bestimmten  Stellen  entstehen 
—  z.  B.  im  oberen  Obi^rarmdrittel,  im  oberen  Ende  des  Schienbeins, 
im  oberen  Oberschenkelabschnitt  — ,  so  wird  man  auch  fur  sie  sehr  nach- 
drucklich  auf  irgendwelche  besondere  Anlage  des  betreffenden  Individuums 
hingewiesen;  und  das  um  so  mehr,  als  die  Sarkomzellen,  wie  wir  sagten, 
sehr  oft  den  Charakter  sehr  jugendlicher  und  ganz  enorm  wucherungs- 
fMhiger  Zellen  tragen  und  die  Sarkome  auch  uberwiegend  im  jugendlichen 
Alter  sich  bilden.  Femer  enthalten  manche  Sarkome,  besonders  die  der 
Niere,  hiufig  kleine  Einschlusse  von  Epithelgebilden  usw.  und  gehdren 
also  eigentlich  schon  zu  den  Mischgeschwulsten,  von  deren  Entstehung 
aus  embryonalen  Gewebsresten  unten  die  Rede  sein  wird;  umgekehrt 
sind  diese  letzteren  Geschwtilste  in  ihrem  Grundgewebe  oft  sarkomartig. 
Endlich  aber  ist  der  angebliche  Zusammenhang  zwischen  .Traumen*  und 
Sarkomentstehung  oft  hdchst  unklar;  bald  liegt  die  Schidigung  zeitlich 
so  weit  zuruck  oder  ist  so  geringfugig,  dass  sie  kaum  in  Zusammenhang 
mit  der  Sarkomentstehung  gebracht  werden  kann;  bald  auch  lisst  sich 
die  Mdglichkeit  nicht  ausschliessen,  dass  ein  entweder  gutartiger  oder 
schon  in  stErkerer  Wucherung  beflndlicher  Tumor  z.  B.  in  einem  Knochen 
bereits  enthalten  war,  deshalb  die  verdunnte  Schale  des  letzteren  leicht 
brach  und  nun  die  Geschwulst  erst  in  uppiger  Wucherung  zum  Vor- 
dringen  kam.  Andrerseits  fehlt,  z.  B.  beim  Sarkom  innerer  Organe,  viel- 
fach wieder  jeder  Anhaltspunkt  fur  einen  derartigen  UnfalL 

Wir  kdnnen  also  als  Ergebnis  dieses  der  Bedeutung  von  ausldsenden 
Ursachen  und  den  zellulfiren  Theorien  der  Geschwulste  gewidmeten  Ab- 
schnittes  nur  etwa  Folgendes  notieren: 

Fur  viele  Geschwulste  kommen  tatsEchlich  Stdrungen  in  der  Ent- 
wlcklung  (Liegenbleiben  und  Verlagerung  von  Zellen)  in  betracht.  FGr 
die  Entstehung  vieler  Krebse  genugt  eine  solche  Annahme  jedoch  nicht; 
hier  sind  es  uberwiegend  lange  andauemde  Reizzustftnde,  welche  auf 
eine  nicht  niher  gekannte  Weise  zur  Krebswucherung  fuhren  kdnnen. 
Fur  die  Entstehung  von  Sarkomen  scheinen  einmalige  heftige  Schftdigungen, 


285  1^ 


vielleicht  dadurch,  dass  sie  verborgene  Keime  oder  kleine  Geschwulste 
treffen,  in  manchen  Fallen  die  Ausldsungsursache  abzugeben. 

Es  ist,  ehe  wir  dies  Kapitel  abschliessen,  an  der  Zeit,  wieder  ein- 
mal  mit  Nachdruck  zu  betonen,  was  in  der  Diskussion  tiber  das  Carcinom 
irielfach  vergessen  worden  ist:  dass  eine  Auffassung  der  Geschwulste 
entweder  fur  alle  —  auch  die  gutartigen  —  brauchbar  sein,  oder  aus- 
drucklich  die  Griinde  verstindlich  machen  muss,  weshalb  sie  nur  fur  eine 
Art  von  Geschwulsten  annehmbar  sein  soli.  Wir  kennen  so  viele  Beispiele 
dafur,  dass  urspriinglich  gutartige  Geschwulste  gewissermassen  unter 
unseren  Augen  in  bdsartige  ubergehen,  dass  an  eine  prinzipielle  Scheidung 
nicht  gedacht  werden  kann.  Wir  wissen,  dass  z.  B.  aus  einem  braunen 
Muttermal,  wenn  es  unvollstindig  ausgeschnitten  oder  geitzt  wurde,  nach- 
dem  es  vorher  jahrelang  ruhig  an  seiner  Stelle  geblieben  war,  eine  der 
bdsartigsten  Sarkomformen  hervorgehen  kann.  Ebenso  wissen  wir,  dass 
gewisse  Warzen  in  hdherem  Alter  gelegentlich  sich  zu  Krebsen  umwandeln, 
dass  eine  urspriinglich  gutartige  Wucherung  des  Hautepithels  in  der  Urn- 
gebung  eines  jahrelang  bestehenden  Geschw&rs  der  Ausgangspunkt  eines 
Krebses  werden  kann.  Eine  scharfe  Grenze  zwischen  den  Zellen  gut- 
artiger  und  bosartiger  Geschwulste  Msst  sich  ebensowenig  Ziehen,  wie 
zwischen  ihren  Ursachen;  und  eine  Theorie,  welche  nur  die  unbegrenzte 
Wucherungsfihigkeit  der  Zellen  bosartiger  Tumoren  zu  erkllren  versucht^ 
ist  schon  aus  diesem  Grunde  fur  die  gutartigen  Tumoren  nicht  anwendbar. 

Das  allgemeinere  Problem  der  Entstehung  und  des  Wesens  der 
Geschwulst  wird  also  durch  jene  zellularen  Theorien  so  wenig  wie  durch 
die  Parasitentheorie  gelSst.  Ist  es  uberhaupt  in  den  Fragen,  die  zu  diesen 
Antworten  ftihrten,  in  seinem  ganzen  Umfang  erfasst  worden  ?  Die  Un* 
zulinglichkeit  der  Antworten  Iftsst  schon  vermuten,  dass  dies  nicht  der 
Fall  sei. 

VII. 

Erdrtem  wir  nunmehr  noch  einmal  im  Zusammenhange,  was  bet 
den  verschiedenen  zellulftren  Erkllrungsversuchen  ubersehen  ist,  was  von 
ihnen  nicht  geleistet  werden  kann.  Daraus  werden  sich  ganz  von  selbst 
die  Anforderungen  ergeben,  welche  an  eine  Geschwulsttheorie  gestellt 
werden  mtissen. 

Wir  haben  schon  mehrfach  betont,  dass  die  bisherige  Auffassung; 
des  Wesens  der  Geschwillste  an  einer  auffilligen  Einseitigkeit  kranke. 
Wenn  man  die  angefuhrten  Theorien  liest,  so  mdchte  man  meinen,  dass 
es  iiberall  sich  nur  um  Verftnderungen  an  und  in  der  Geschwulstzelle 
handle,  welche  dieselbe  zu  einer  Wucherung  veranlassen,  und  durch 
sekundflr  hervorgebrachte  Reaktionen  der  ubrigen  betroffenen  Gewebe 
die  Geschwulstbildungen  hervorgehen  lassen. 

Dem  gegeniiber  ergibt,  wie  ich  meine,  eine  vorurteilslose  Be* 
trachtung  besonders  der  gutartigen  Geschwulste  schon  in  Hinsicht  auf 
ihren  Aufbau,  ihre  Architektur,  dass  wir  mit  solcher  Auffassung  der- 
selben  als  blosser  .Wucherungen'  ihnen  nicht  entfemt  gerecht  werden. 


-t^   296  %^ 


Ein  paar  Beispiele  mdgen  dies  zeigen.  Die  schon  mehrmals  er- 
wlhnten  Fettgeschwtilste  zeigen  sich  in  ihrem  Bau  vollkommen  ebenso 
zusammengesetzt,  wie  das  Fettgewebe,  das  wir  z.  B.  unter  der  Haut  vor- 
flnden.  Charakteristisch  ist  fur  sie  hluflg  nur,  dass  sie  grdssere  and 
schdrfer  umgrenzte  Ansammlungen  von  Fett  darstellen,  und  vor  allem, 
dass  sie  unter  UmstMnden  auch  dieses  Fett  behalten,  wenn  etwa  im  Fall 
lingeren  Hungers  die  ubrigen  Fettdepots  ihr  Fett  zum  besten  des 
Kdrpers  wieder  abgegeben  haben.  Hier  handelt  es  sich  also  offenbar 
urn  eine  nur  in  ganz  wenigen  Eigentumlichkeiten  von  dem  physio- 
logischen  Fettgewebe  abweichende  Bildung.  Ahnlich  verhalten  sich 
viele  Knochengeschwulste  und  Auswuchse  an  Knorpeln  oder  Knochen; 
im  Nervengewebe  gibt  es  Bildungen,  welche  in  allem  wesentlichen  die 
Bestandteile  des  Nervengewebes  wiederholen  und  nur  durch  ihre  Ab- 
trennung  uns  als  Geschwiilste  kenntlich  sind.  Auf  den  Schleimhauten 
finden  sich  hiufig  in  Ein-  oder  Mehrzahl  sogenannte  Polypen,  das  sind 
mehr  oder  weniger  langgestielte,  hiufig  pilzformig  aufsitzende  Gebilde, 
welche  fast  voUstindig  in  ihrem  Bau  und  in  ihren  Funktionen  sich  ver- 
halten wie  die  umgebende  Schleimhaut,  also  eigentlich  nur  durch  die 
abnorme  Form  des  Ganzen  sich  von  dieser  unterscheiden.  Daraus  ergibt 
sich  bereits  klar,  dass  wir  unter  den  Geschwulsten  solche  kennen,  deren 
Zellen  keinerlei  wesentliche  Abweichung  weder  nach  Form  noch 
Zusammenfugung  gegenuber  den  Zellen  der  normalen  Organe  zeigen. 
Und  daraus  wieder  folgt,  wenn  wir  ja  diese  Bildungen  mit  Recht  zu  den 
Geschwulsten  zahlen,  dass  von  einer  Betrachtung  der  Zellcharaktere 
all  ein  eine  geniigende  Auffassung  fiir  das  Besondere  aller  Geschwulste 
gegenuber  den  physiologischen  Bildungen  nicht  gewonnen  werden  kann. 
Alle  bisher  aufgefiihrten  Annahmen  bringen  fur  diese  Verhiltnisse  keinerlei 
AufklErung  bei. 

Wir  kdnnen  an  dieser  Stelle  gleich  noch  einen  weiteren  Grund  wieder 
anfuhren  dafur,  dass  eine  ausschliesslich  zellulire  Betrachtungsweise  tm 
gedachten  Sinne  von  dem  Wesen  der  Geschwiilste  eine  geniigende  Vor- 
stellung  zu  geben  nicht  imstande  sein  kann.  Bei  alien  Geschwulst- 
bildungen,  gutartigen  wie  bosartigen,  haben  wir  es  zu  tun  nicht  mit  der 
Wucherung  einer  Zellart,  sondem  stets  mindestens  zweier,  d.  h.  der  be- 
treifenden  geschwulst-bildenden  Zellen  im  engeren  Sinn  und  der  emihren- 
den  Geflsse,  in  vielen  FEUen  dazu  des  tragenden  und  trennenden  Binde- 
gewebes.  Es  kann  also  fur  das  Beispiel  etwa  einer  Warze  oder  eines 
Krebses  nicht  genugen,  auf  die  VerhMltnisse  der  Epithelzellen  zu  rekur- 
rieren,  sondem  es  muss  auch  dargetan  werden,  wieso  durch  diese  Ver- 
dnderung  resp.  mit  ihr  gleichzeitig  auch  das  geflssbildende,  eventuell 
das  Bindegewebe  in  entsprechende  Wucherung  gerat.  Wenn  wir  erwSgen, 
dass  in  alien  Geschwtilsten  —  wir  werden  darauf  noch  wiederholt  und 
eingehender  zurtickkommen  —  nicht  bloss  unregelmissige  Zellwucherung, 
sondem  in  den  meisten  ein,  wenn  auch  vom  normalen  abweichender, 
so  doch  kompliziert  und  kunstvoll  durchgefuhrter  Aufbau  vorhanden  ist, 
der  nur  einem  in  seiner  Art  sinnvoUen  Zusammenwirken  der  genannten 
zwei  Oder  drei  Gewebsarten  seine  Entstehung  verdanken  kann:  so  ist  es 


-HT  297 


Mar,  dass  eine  Tbeorie  der  Geschwulstbildung,  welche  nicht  gerade  dieses 
eigenartige  Zusammenarbeiten  der  Zellen  mit  zu  erkldren  vermag,  den 
Tatsachen  nimmermehr  genugen  kann.  Ich  will  zu  letzterem  Punkte 
nur  ein  Beispiel  noch  anfuhren. 

Eine  Cystengeschwulst  des  Eierstockes  ist  z.  B.  ein  in  seiner  Art 
ebenso  staunenswert  zusammengesetztes  Gebilde,  wie  nur  irgend  eines 
der  Organe.  Der  haufig  mehr  als  mannskopfgrosse  flussigkeitsgefiillte 
Sack,  den  es  darstellt,  ist  nicht  etwa  bloss  von  Epithelzellen  aufgebaut, 
sondem  diese  Epithelzellen  bildeten  bei  der  Entstehung  der  Geschwulst, 
ebenso  wie  die  Embryonalzellen  bei  der  Orgiinentwicklung  tun,  Drtisen- 
rdume,  durch  regelmissige  Nebeneinanderlagerung  in  Form  von  kugeligen 
Oder  schlauchfdrmigen  Wftnden;  sie  werden  ebenso  wie  in  embryonaler 
Zeit  genau  entsprechend  ihrem  Sprossen  und  Wachsen  umschlossen 
von  Bindegewebe,  welches  ausserdem  zwischen  den  Epithelwinden  vor- 
springt,  hiufig  kleine  Pfeiler  treibt,  und  andererseits  der  Spannung 
des  im  Innem  sich  allmihlich  ansammelnden  Sekretes  entsprechen- 
den  Druckwiderstand  leistet.  Sie  werden  iiberzogen  von  einem  mit- 
wachsendem  Uberzuge  des  Bauchhohlenepithels,  eben  so  gut  wie  etwa 
die  Leber  oder  die  Milz,  oder  ein  anderes  in  die  Bauchhohle  vor- 
ragendes  Organ,  ohne  dass  in  dem  Aufbau  dieser  deckenden  Lamelle 
ifgendwelche  Anzeichen  der  Stdrung  oder  entzundlichen  Reizung  vor- 
handen  wdren.  Sie  erhalten  endlich  ihr  Blut  nicht  bloss  durch  kleine 
und  schlechtentwickelte  Geflsschen,  sondem  zu  ihnen  und  aus  ihnen 
verlaufen  ebenso  michtige  Schlagader-  und  BlutaderstMmme,  wie  nur  bei 
irgend  einem  anderen  Organ  und  oft  viel  mdchtigere  als  zum  normalen 
Eierstocke.  Um  es  mit  einem  Wort  zu  sagen,  eine  derartige  Bildung 
reprSsentiert  in  exquisitester  Weise  alle  jene  Eigentumlichkeiten  des 
Aufbaues  und  des  Wachstums,  welche  wir  in  unseren  Organen  wieder- 
finden;  und  es  ist  kein  Zweifel,  dass,  wenn  wir  z.  B.  bei  alien  Individuen 
eine  bestimmte  Art  solcher  Geschwulstbildungen  regelmdssig  wieder- 
finden,  wir  ohne  weiteres  nach  einem  bestimmten  verborgenen  Zweck  und 
Sinn  derselben  mit  dem  gleichen  Rechte  forschen  wurden,  wie  vor  nicht 
langer  Zeit  die  Forschung  den  Sinn  der  Schilddruse  und  Nebennieren 
muhsam  zu  ergrunden  suchte,  wie  wir  etwa  heutzutage  nach  dem  Sinn 
und  Zweck  des  Himanhangs  forschen;  bezw.  wir  wurden  umgekehrt  die 
betreffende  Bildung  eben  so  wenig  als  eine  Geschwulst  ansehen,  wie  wir 
z.  B.  die  sogenannte  Zirbeldruse  als  solche  betrachten,  obgleich  wir 
deren  eventuelle  funktionelle  Bedeutung  in  keiner  Weise  ahnen.  (Ihrer 
historischen  Entwicklung  nach  stellt  die  letztere  ein  ruckgebildetes  drittes 
Auge  dar.) 

Aber  die  Geschwulstbildungen  unterscheiden  sich  doch  dadurch 
^harakteristisch,  dass  sie  keine  nutzbringende  Leistung  fur  den 
Kdrper  ausuben,  dass  sie  ihm  im  Gegenteile  stets,  wenn  auch  in  ver- 
schiedenem  Grade,  schaden? 

Hier  ist  zu  bemerken,  dass  die  Geschwulstzellen  z.  B.  in  einer 
Eierstockcystengeschwulst  eben  so  gut  Schleim  und  ihnliche  Stoife  ab- 
sondem,  wie  dies  die  Epithelien  des  Darmes  oder  der  Schleimdrusen 

SBddeutsche  Mooatthefke.   1,4.  20 


208 


tun;  und  class  es  vielleicht  bloss  der  Mangel  eines  Ausfiihrganges^ 
fur  die  produzierten  Schleimmassen  ist,  welcher  deren  mangelnde  Ver- 
wendung  und  unter  Umstinden  kolossale  Anstauung  erklart.  Denken 
wir  uns  aber  nur  einmal  eine  Druse  oder  einen  Muskel  an  einem  Orte 
gebildet,  wo  der  Zusammenhang  mit  der  zugehdrigen  Schleimhaut  resp. 
mit  Sehne  und  Knocben  mangeltl  Was  werden  sie  dem  Kdrper  nutzen?  — 
Es  kommt  gelegentlich  vor,  das  ein  uberzihliger  Lungenlappen  ohne 
Luftrohrenast  auf  dem  Zwerchfell  aufsitzt.  Hier  liegt  es  uns  fern  von 
einer  Geschwulst  zu  sprechen,  obwohl  das  Gebilde  funktionslos  ist:  es 
entspricbt  eben  in  allem  wesentlichen  dem  normalen  Lungenbau.  Wit  reden 
hier  von  einer  entwicklungsgeschichtlichen  StSrung,  Absprengung  usw. 
Wir  haben  auch  schon  daraut  hingewiesen,  dass  z.  B.  die  Polypen  des 
Darmes  und  andere  Geschwiilste  in  ihrer  Weise  auch  tatsichlich  dem 
Kdrper  ebenso  mit  ihrer  Funktion  zu  Gebote  stehen  wie  die  benach-- 
barten  normalen  Stellen.  Auch  der  Leberkrebszellen,  welche  nach  ihrer 
Verschleppung  in  Metastasen  noch  Galle  produzieren,  wurde  bereits 
gedacht.  Was  aber  wurde  etwa  normale  Leber  ins  Gehim  oder  Gehim 
in  die  Leber  verpflanzt  von  physiologischen  Funktionen  zu  leisten 
vermdgen? 

Es  ist  nach  dem  Gesagten  offenbar,  dass  fur  den  Mangel  einer 
Funktion,  wenigstens  in  den  angefuhrten  und  vielen  fthnlichen  Beispielen^ 
die  Berechtigung  besteht,  ungunstige  Lagerungs-  und  Einordnungs- 
verhdltnisse,  Stdrungen  im  Aufbau  und  Shnliches  verantwortlich  zu 
machen.  Damit  wurde  dem  angefuhrten  Charakter  der  mangelnden 
Funktion  das  Prinzipielle  genommen  und  er  zu  einem  zufailigen,  wenn 
auch  uberwiegend  hiufigen  Merkmale  gestempelt  sein. 

Wir  mussen  aber  hier  noch  weitergehen.  Es  gibt  sogar  Bildungen^ 
welche  zunftchst  vollkommen  als  Geschwiilste  aufgefasst  werden  mussen, 
und  welche  trotzdem  eine  ausgesprochene  Funktion  fiir  den  Kdrper 
dauemd  und  regelmissig  ubemehmen,  gelegentlich  sogar  in  einem 
hdheren  Masse  als  die  entsprechenden  normalen  Zellen.  Solches  trifft 
zu  fur  gewisse  Knotenbildungen  in  der  Leber,  in  welchen  die  Fett- 
speicherungsRhigkeit  der  Leberzellen  gegeniiber  ihrer  Fifaigkeit  zur 
Galleproduktion  einseitig  ausgebildet  erscheint,  wahrscheinlich  wegen 
entwicklungsgeschichtlicher  Stdrungen  im  Aufbau  der  betreffenden  Ab- 
schnitte.  Dabei  sind  diese  Knoten  ganz  richtig  ins  ubrige  Gewebe 
eingepflanzt  und  stellen  bei  genauer  mikroskopischer  Untersuchung 
nichts  anderes  dar,  als  umgrenzte,  einseitig  differenzierte  Telle  des 
Organs. 

Ahnliche  Bildungen  lassen  sich  gelegentlich  nachweisen  in  der 
Milz.  In  den  weiten  Blutriumen  dieses  Organs  werden  untergehende 
Blutkdrperchen  von  grossen,  die  Wand  auskletdenden  Zellen  aufgenommen 
und  zerstort.  Es  gibt  nun  hier  und  da  Geschwulstbildungen  in  der  Milz, 
welche  in  umschriebenem  Bezirke  Erweiterungen,  Vergrdsserungen  dieser 
blutfiihrenden  RMume  darstellen.  In  denselben  fliesst  das  Blut  lang- 
samer,  entsprechend  dem  weiteren  Strombette,  und  die  Blutkdrperchen 
haben  dadurch  lingere  Zeit  Gelegenheit,  mit  den  Wandzellen  in  Be- 


^   209  8^ 


rShning  zu  kommeiir  Damit  mag  e$  zusammenhflngen,  dass  in  diesen 
Fillen  die  letzteren  viel  grdsser  ausgebildet  sein  konnen,  als  unter 
gewohnlichen  Verhiltnissen  und  viel  reichlicher  mit  roten  Blutkdrperchen 
and  deren  Zerfallprodukten  angepfropft  erscheinen  als  gewdhnlich.  Auch 
hier  1st  die  geschwulstige  Bildung  mit  kleinen  Abweichungen  in  der 
gewdhnlichen  Weise  in  das  Organ  eingefugt. 

Ahnliche  Beispiele  Hessen  sich  leicht  in  ziemlich  grosser  Menge 
bringen.  Von  Fettgeschwulsten,  die  ebensogut  Fett  speichem  wie  ihre 
Umgebung,  war  bereits  die  Rede.  Ebenso  warden  Nervenzellengeschwtilste 
erwihnt,  bei  welchen  es  wahrscheinlich  nar  der  mangelnde  Anschlnss 
an  Nervenbahnen  ist,  der  sie  an  der  Funktion  hindert.  Hiufig  flnden 
sich  in  der  Haut  kleine  GeKssgeschwiilste,  welche  im  wesentlichen  aus 
etwas  geinderten  Gefissen  bestehen,  und  an  den  betreffenden  Stellen  die 
blaurote  Fftrbung  gewisser  Muttermller  hervorbringen^  im  ubrigen  aber 
ganz  regelmissig  in  das  Gewebe  eingefugt  sind  and  der  Blutzirkulation 
im  ganzen  ebenso  dienen  wie  die  gewdhnlichen  Gef3sse. 

In  alien  diesen  FMlIen  lehrt  also  eine  einfache  Betrachtung,  dass 
Fehlbildungen  vorliegen,  deren  Geschwulstcharakter  viel  weniger 
durcb  die  Abinderung  in  ihrer  Funktion  und  die  Heraushebung  aus  dem 
Ganzen  der  Organe  gegeben  ist,  als  durch  Zufllligkeiten  in  ihrer  Ein- 
fugung  und  der  Zusammenordnung  ihrer  Zellen,  welche  ihre  Form  und 
Farbe  gegentiber  dem  umschliessenden  Organ  hervortreten  lassen. 

Es  ergibt  sich  sonach  aus  diesen  Beispielen,  dass  eine  scharfe 
Grenze  auch  hinsichtlich  der  Funktionsfihigkeit  und  der  Nutzlichkeit 
far  das  Ganze,  sowie  hinsichtlich  der  Einfugung  im  Gewebsverband, 
zwischen  Geschwulsten  und  Organen  nicht  gezogen  werden  kann.  In 
den  extremen  Formen  ist  die  Nutzlosigkeit  und  Schftdlichkeit  der  Ge- 
schwtilste  hervortretend;  in  den  Obergangsformen  zeigen  sie  sich  in 
abgeflnderter  oder  gleicher  Weise,  unter  Umstinden  sogar  in  erhdhtem 
Masse,  titig  und  nutzbringend  fur  den  Organismus:  zwischen  beiden 
Extremen  liegt  eine  grosse  Reihe  von  Bildungen,  fur  welche  die  Annahme 
nach  dem  Gesagten  mdglich  erscheint,  dass  nar  ihre^abnorme  Einfugung 
sie  hat  zu  wertlosen  oder  schSdlichen  Bildungen  werden  lassen. 

Es  ist  klar,  dass  bereits  auf  die  hiermit  gestellten  Fragen  mit 
Anschauungen  nicht  geantwortet  werden  kann,  die  sich  mit  einer  Ent- 
diflferenzierung  der  Zellen,  mit  einer  Erklirung  der  Wachstumssteige- 
ning  derselben  begnugen.  Gegentiber  der  Menge  hier  hervortretender 
Gesichtspunkte  erscheinen  diese  Fragen  beinahe  als  nebensftchlich.  Wir 
werden  gleich  sehen,  dass  dies  ebenso  sehr  und  noch  mehr  fur  die 
anderen  Arten  zugehdriger  Bildungen  zutrifft,  zu  denen  wir  nunmehr 
ubergehen. 

Wihrend  wir  es  im  Vorhergehenden  mit  geschwulstartigen  Ein- 
lagerungen  zu  tun  batten,  deren  Besonderheit  sich  ungezwungen  aus  der 
abnormen  ZusammenfQgung  eines  Teils  der  normaliter  das  Organ  kon- 
stituierenden  Elemente  herleitete,  charakterisiert  sich  eine  gleichfalls 
grosse  Reihe  geschwulstartiger  Bildungen  dadurch,  dass  in  ihnen  Ver- 
lagerungen  ganzer  Organteile  in  mehr  oder  weniger  grosser  Modi- 

20^ 


300  9^ 


fikation  der  betreifenden  Organe  vorliegen.  So  iLommt  es,  wie  schon 
erwahnt,  sehr  hftufig  vor,  dass  kleine  Knoten  vom  Bau  der  Nebennieren- 
rinde  eingesprengt  erscheinen  in  die  Nieren,  gelegentlich  in  die  Leber. 
In  manchen  FMUen  reproduzieren  sie  genau  den  Bau  des  Organs  und 
werden  dann  als  verlagerte  Nebennieren  betrachtet,  denen  wir  auch  hSufig 
als  Miniaturdriischen  an  verschiedenen  Orten  im  Bauchfell  begegnen. 
In  anderen  Fdllen  zeigen  dieselben  Gebilde  eine  kleine  Variation,  in  dem 
Sinne,  dass  sie  abnorm  reichliche  und  abnorm  angeordnete  Gefisse  ent- 
wickeln;  sie  stellen  dann  eine  Art  der  sogenannten  Nebennierengeschwdlste 
z.  B.  in  der  Niere  dar.  Wir  wissen,  dass  von  diesen  Abweichungen  alle 
ObergEnge  vorkommen,  bis  zu  grossen,  die  ganze  Niere  durchsetzenden 
und  bdsartigen,  in  die  Geflsse  vordringenden  Geschwulsten.  In  diesem 
Beispiel  verschwimmt  uns  also  auch  die  Grenze  zwischen  einem  normal 
gebildeten  und  bloss  verlagerten  Organ  und  der  Geschwulstbildung  aus 
dem  verlagerten  Keim. 

Bin  etwas  abweichendes  Beispiel  ist  folgendes.  Die  Schilddriise, 
deren  L&ppchen  gewissermassen  als  ebensoviele  zu  einem  grosseren 
Ganzen  zusammengefugte  kleinste  Druschen  betrachtet  werden  konnen, 
zeigt  hftufig  kleine  iiberschtissige  Druschen  in  ihrer  Umgebung,  die  als 
Nebenschilddrusen  bezeichnet  werden.  Sie  uben  die  der  Schilddrtise 
eigentumliche  Funktion  so  trefflich  aus,  dass  sie  z.  B.  nach  Entfernung 
eines  Kropfes  oder  bei  der  experimentellen  Entfernung  der  Schilddriise 
bei  Tieren,  das  Organ  in  seiner  Funktion  zu  ersetzen  vermogen  und  so 
den  Eintritt  der  schweren  Folgen  des  Schilddrusenausfalls  hintanhalten. 
Nun  kommt  es  nach  neuen  Untersuchungen  gar  nicht  selten  vor,  dass 
derartige  winzige  Schilddriischen  im  Knochenmark  der  Wirbel  ver- 
sprengt  liegen.  Soil  man  sie  hier  als  Geschwiilste,  wohl  gar  als  bds- 
artige,  auffassen?  Mir  scheint  kein  Grund  dagegen  vorhanden,  diese 
kleinen  versprengten  Schilddriischen  in  der  gleichen  Weise  funktionierend 
zu  denken,  wie  etwa  die  Nebenschilddrusen;  denn  auch  die  normale 
Driise  hat  keinen  Ausfuhrgang,  ihre  Funktion  ist  nur  von  dem  Vor- 
handensein  der  Blutzufuhr  abhSngig.  Wie  nun  soil  man  aber  jene  ganz 
analog  gebauten  Schilddrusen  auffassen,  welche  z.  B.  bei  ^teren  Hunden 
hMufig  in  grosser  Anzahl  in  der  Lunge  sich  finden,  und  oifenbar  von 
einem  bei  dem  betreifenden  Tiere  vorhandenen  Kropfe  der  Schlddriise 
verschleppt  worden  sind,  demnach  ganz  eigentlich  als  bosartige  Ge- 
schwulste  aufgefasst  werden  miissten  ?  Wo  ist  hier  die  Grenze  zwischen 
der  noch  physiologischen,  der  relativ  harmlosen  und  der  bdsartigen  patho- 
logischen  Versprengung  des  sonst  ganz  normal  gebildeten  Organes? 

Wir  erwdhnten  oben  den  Fall  der  versprengten  Lungen.  Auch 
hier  gibt  es  andere  FSlle,  bei  welchen  ein  iiberzihliger  Lappen  ent- 
wickelt  ist,  der  aber  durch  einen  Luftrohrenast  in  normaler  Verbindung 
mit  den  Luftwegen  steht  und  demgemMss  durchaus  funktionsttichtig  ist 
und  funktioniert.  Wir  sehen  in  dem  Beispiele  der  versprengten 
funktionsunfMhigen  Lunge  einen  Beleg  fiir  die  bemerkenswerte  Tatsache, 
dass  der  Korper  gegentiber  derartigen  durch  eine  Entwicklungsstdrung 
verlagerten  Gebilden  sich  merkwurdig  tolerant  erweist,  wenigstens  in 


HN«  301 


alien  den  Fillen,  in  welchen  sie  nicht  in  irgend  welcher  Weise  reizend 
auf  die  Umgebung  wirken.  Eine  derartige  vollkommen  nutzlose,  uber- 
dem  noch  etwas  raumbeengende  Lunge  wird  ebenso  sorgsam  ernfthrt 
wie  z.  B«  eine  kleine  Cyste,  die  als  Uberbleibsel  eines  Kiemenganges 
in  der  Tiefe  des  Halses  stecken  blieb,  oder  wie  ein  versprengtes  Knorpel- 
stuck,  das  z.  B.  in  der  Tiefe  eines  Knochenschaftes  vollkommen  wertlos 
persistiert.  Auch  nach  dieser  Hinsicht  hat  also  das  oben  angefiihrte 
Liegenbleiben  von  nutzlosen  Keimen  im  Kdrper  keinen  Widerspnich  in 
einem  .Sparsamkeitsgesetz*  der  Natur:  die  Natur  ist  nicht  sparsam; 
besser  gesagt:  ihre  ^Ansichten*  fiber  Sparsamkeit  und  Verschwendung 
sind  von  den  ansrigen  in  vielen  Punkten  himmelweit  verschieden. 

Derartige  Absprengungen  aus  dem  normalen  Verbande  mit  Port- 
bestand  der  einmal  geformten  Gebilde,  gleichviel  ob  sie  nutzlich  oder 
nntzlos  sind,  lassen  sich  fur  die  meisten  Organe  anfuhren.  Ihr  Vor- 
kommen  und  die  angegebene  Beziehung  zu  den  Geschwulsten  stellen 
wiedemm  ein  Gebiet  von  Problemen  dar,  mit  welchen  eine  Geschwulst- 
theorie  rechnen,  fur  welche  sie  Aufklftrung  geben  muss.  Ist  es  not- 
wendig  zu  wiederholen,  dass  die  bisher  gebrachten  ErklMrungsversuche 
auch  hier  vollkommen  versagen? 

Vir  wollen  noch  eines  hervorheben.  In  der  Einleitung  sprachen  wir 
davon,  dass  neben  den  sogenannten  einfachen  Geschwulsten  gemischte 
Geschwulste  existieren,  sowie  davon,  dass  deren  Kompliziertheit  eine 
sehr  wechselnde  ist,  dass  von  ihnen  eine  fortlaufende  Stufenleiter  der 
Kompliziertheit  und  Ausbildung  fuhrt  bis  zu  den  Bildungen,  die  uns 
direkt  an  embryonale  Organbildungen,  an  Missbildungen,  Teilbildungen 
eingeschlossener  Embryonen  gemahnen.  Auch  hier  ISsst  sich  nur  will- 
kurlich  eine  Grenze  Ziehen.  Es  ist  neuerdings  mit  gewichtigen  Grunden 
die  Zusammengehdrigkeit  der  Mischgeschwulste  mit  den  Teratomen  er- 
hirtet,  und  fur  beide  die  Entstehung  aus  irgendwie  abgetrennten  oder  sonst 
unverwendet  liegen  gebliebenen  Purchungszellen  herangezogen  worden. 
Wenn  man  erwftgt,  dass  hier  und  da  auch  in  scheinbar  einfdrmigen  Ge- 
schwulsten sich  in  geringer  Menge  Einsprengungen  einer  andersartigen 
Zellform  nachweisen  lassen,  welche  eine  derartige  Geschwulst  streng- 
genommen  unter  die  Mischgeschwfilste  einreihen,  so  ist  es  wiederum 
klar,  dass  fur  eine  Theorie  der  Geschwiilste  die  Deutung  dieser  Misch- 
geschwulste und  auch  der  Missbildungen  innerhalb  des  Korpers  ebenso 
sehr  ein  unbedingtes  Postulat  ist,  wie  die  Klarlegung  ihrer  Beziehungen 
zu  den  Geschwulsten  im  engeren  Sinne. 

So  sehen  wir  denn  ffir  den  letzten  Abschnitt  unserer  Betrachtungen 
uber  Geschwulste  unsere  Aufgabe  vdllig  neu  gestellt:  wir  mtissen  ver- 
suchen,  die  Geschwfilste  in  ihrer  Bedeutung  als  Ganzgebilde,  als 
Strukturen  und  gewissermassen  als  eigenartige  biologische  Wesen 
zu  erfassen  suchen.  .Und  es  verkundet  der  Chor  cun  geheimes  Gesetz*: 
wird  dieses  Gesetz  sich  fassen  und  formulieren  lassen? 


^   302  9^ 


Aphorismen. 

Von  Adolf  Oberlinder  in  MGnchen. 

Es  gibt  kein  Formenrezept  fur  die  Schdnheit.  Ver  sie  nicht  uberall  in 
dem  anendlich  reichen  Formenschatz  der  Schdpfung  herausfinden  kann, 
dem  ist  nicht  zu  helfen! 

Bildende  Kunst. 

Den  ftusserlichen  Flimmer  einer  Erscheinung  kann  auch  der  Photograph 
^eben ;  —  erst  beim  Erfassen  des  Seelischen  einer  Erscheinung  beginnt 
die  Kunst. 

In  der  Art,  wie  wir  das  Wesen  des  Humors  auffassen,  zeigt  sich  unser 
Charakter. 

Die  Erkenntnis  Gottes. 

Ich  hab'  einen  Kanari,  einen  recht  possierlichen  Kerl.  Meine  Nase  und 
meinen  Bart  liebt  er  zartlich,  meine  Fingerspitzen  hasst  er,  vom  Armel 
meiner  woUenen  Joppe  ist  er  entziickti  mein  Strohhut  aber  erfiillt  ihn 
mit  Entsetzen  —  dass  alle  diese  Dinge  zu  einer  Person  gehdren,  begreift 
er  nicht. 

Wenn  die  Weisen  das  Wesen  Gottes  zu  erkldren  suchen,  muss  ich  immer 
an  meinen  Kanari  denken. 


303 


Aus  dem  Lager  des  musikalischen 
Fortschrittes. 

Vom  Allgemeinen  deutschen  Musikverein. 

Jeder  Freund  des  Fortschritts  auf  musikalischem  Gebiete  sollte 
dem  Allgemeinen  deutschen  Musikverein  beitreten.  Kunstfreunde  werden 
als  ordentliche  Mitglieder  aufgenommen.  WIe  die  neue,  in  der  letzten 
Hauptversammlung  des  Vereins  zu  Basel  beschlossene  Satzung  besagt, 
ist  sein  vornehmster  Zweck:  ,Pflege  und  Forderung  des  deutschen 
Musiklebens  im  Sinne  einer  fortschreitenden  Entwicklung.*  Er  ist 
«in  Kampfverein,  und  hat  nur  als  solcher  seine  Lebensberechtigung. 
Eintreten  soli  und  will  er  fur  alles  beachtenswerte  Neue,  das  sich  schwer 
(furcharbeitet,  das  bei  den  stSndigen  Veranstaltungen  der  deutschen 
StSdte,  in  denen  emste  Musik  gepflegt  wird,  keine  ausreichende  Be- 
rucksichtigung  erfShrt.  Je  mehr  im  Wandel  der  Zeiten,  bei  wachsender 
Einflusssphire  aufrichtig  neuzeitlich  gesinnter  Dirigenten,  ein  fortschritt- 
licher  Geist  in  die  Konzertsile  einzieht,  um  so  entschiedener  hat  der 
Allgemeine  deutsche  Musikverein  seine  TStigkeit  auf  die  Forderung  der 
Bestrebungen  derer  zu  konzentrieren,  die  in  unseren  Tagen  am  hMrtesten 
zu  ringen  haben:  der  begabten,  ftir  die  Buhne  schreibenden  deutschen 
Tonsetzer.  —  Im  Sinne  der  neuen  Satzung  wSre  in  jeder  einigermassen 
grosseren  Stadt  Deutschlands,  Deutsch-Osterreichs  und  der  deutschen 
Schweiz  eine  Ortsgruppe  des  Musikvereins  zu  bilden,  die  als  Zen t rum 
der  fortschrittlich  musikalischen  Bestrebungen  des  betreffenden 
OrteSy  beziehungsweise  der  um  diesen  geistigen  Kern  gelagerten  Provinz 
zu  gelten  hStte.  Die  Ortsvertretungen  waren  dazu  berufen,  alle  noch 
bestehenden,  vom  Fortschrittsgeist  durchdrungenen  Sonderverbinde  in 
sich  aufzusaugen,  also  auch  die  Erbschaft  der  Wagner-  und  Lisztvereine 
anzutreten.  Einen  Verein  auf  ein  en  Namen  bin  grunden  —  Hugo 
Wolf-,  Ansorge-Verein  —  heisst  die  KrMfte  zersplittern.  Die  Ortsgruppe 
tritt,  nach  Zeit  und  UmstMnden,  fur  den  Tonsetzer  mit  besonderem 
Nachdruck  ein,  der  just  in  der  betreffenden  Stadt  fur  die  Musikfreunde 
noch  ein  «neuer  Mann*  ist,  oder  eine  seiner  Eigenart  entsprechende 
Wurdigung  noch  nicht  gefunden  hat.  Wo  es  um  die  Konzertverhiltnisse 
einigermassen  besser  bestellt  ist,  miissen  die  Hauptanstrengungen  der  Orts- 
vertretung  auf  eine  Hebung  der  heimischen  TheaterzustMnde  abzielen. 
Und  umgekehrt.  Sehr  zu  befurworten  ist  die  Einrichtung  von  Volks- 
symphoniekonzerten  und  Musikalischen  Volksbibliotheken,  mit  hin- 
langlicher  Beriicksichtigung  der  originalen,  emsthaften  Tonwerke  der 
Gegenwart.  Den  Zugang  zur  Kunst  vermitteln  dem  Mann  aus  dem 
Volke  erst  in  zweiter  Linie  die  abgeklSrten  Schopfungen  der  alten 
Meister,  in  erster  Linie  die  Bilder,  Skulpturen,  Kompositionen  der 


304  %^ 


Gegenwart,  die  aus  dem  gleichen  Zeitempfinden  herausgeboren  sind, 
das  auch  ihn  beseelt.  Anzustreben  wftre  des  weiteren  eine  Einfluss- 
nahme  auf  den  musikalischen  Unterricht,  gemftss  einer  entschieden 
fortschrittlichen  Anschauung.  —  Es  empflehlt  sich,  die  TEtigkeit  einer 
Ortsgruppe  mit  Vortrilgen  (Diskussionen)  einzuleiten,  die  ihr  Budget  nicht 
belasten;  vor  allem  soUte  da  uber  Wechselwirkungen  und  -strdmungen 
im  modernen  Entwicklungsleben  der  verschiedenen  Kunste  gesprochen 
werden.  —  Eine  ^Ortsgruppe  Munchen'^  beginnt  jetzt  mit  ihrer  Arbeit; 
die  Bildung  verschiedener  anderer  wird  demnSchst  erfolgen. 

Besondere  Aufgaben  der  Ortsgruppen  in  Siiddeutschland:  Fdrderung 
Aller  bodenstindigen,  volkstumlichen  und  hdheren  musikalischen 
Kunst,  die  Fortschrittskeime  in  sich  trigt.  Unter  anderem,  in  Bayerh: 
Fflege  edler  kirchlicher  Musik,  unter  zeitgemasser  Weiter- 
bildung  der  Regensburger  und  Miinchner  Traditionen  und  Studien* 
Disziplinen,  im  Ausbau  der  jiingsten,  durch  Liszt  eingeleiteten  Periode 
der  religidsen  Tonkunst.  Femerhin:  Weiterfiihrung  der  Wagnerischen 
Reformen.  Energisches  Eintreten  fur  den  Gedanken  und  das  Werk  von 
Bayreuth.  Einbiirgerung  der  gehaltreichen  Tondramen  selbstftndiger^ 
zielkrSftiger,  auf  Wagner  fussender  Tondichter  im  Prinzregenten- 
Theater.  —  Fur  Deutsch-Osterreich :  intensive  Verwertung  der  aus 
einer  liebevoUen  Pflege  der  Symphonien  und  Messen  Bruckners,  der 
GesMnge  Hugo  Wolfs  zu  gewinnenden  Anregungen.  —  In  der  deutschen 
Schweiz:  Veredelung  der  MSnnergesangs-Literatur  durch  bedeutenden^ 
formadligen,  modernen  Einschlag.  (Cornelius.)  —  In  Stuttgart  wie  in 
Karlsruhe  ist  die  .Theaterbaufrage''  spruchreif.  Ihre  Ldsung  im  Sinne 
des  AUgemeinen  deutschen  Musikvereins:  deutsche,  auch  eine  Wieder- 
gabe  der  Tragodie  Schillers  und  Shakespeares  in  grossem  Stil  allein 
ermdglichende  Spielhiuser  mit  amphitheatralisohem  Zuschauerraum  und 
.verdeckter  Orchesteranlage. 

Zur  Konzertreform. 

Ihr  wesentliches:  Keine  Gesellschafts-,  sondern  Musiksale.  Ver- 
deckung  des  Musikapparates.  Massige  Verdunkelung  des  Zuhorerraumes 
wihrend  der  VortrMge.  Kurze,  mdglichst  stileinheitliche  Programme,  mit 
Ausschluss  der  Virtuosen-Nummem  und  des  Liedersingsanges  bei  Kon- 
zerten  symphonischen  Charakters.  —  Seit  dem  denkwiirdigen,  durch 
den  energischen  Wolfrum  zu  Heidelberg  mit  schdnstem  Gelingen  ver- 
anstalteten,  ersten  wahrhaft  neuzeitlichen  Musikfest  vom  Oktober  ver- 
flossenen  Jahres  haben  Konzert-Aufftihrungen  mit  ganz  oder  teilweise 
verdecktem  Musikapparat  stattgefunden  in  Augsburg,  Bremen,  Heidel- 
berg, Schwerin,  Wurzburg,  Znaim.  —  Eingehende  prinzipielle  Darlegungen 
uber  Konzertreform  sind  zu  finden  in  einer  Reihe  von  Heften  der 


*)  ihr  Obmtnn  ist  Professor  LudwigThuille;  Anmeldungen  sind  zu  richten 
40  den  Schrifkfuhrer  Max  Roger,  Preysingstrasse  lb;  Einzthlungen  to  den  Ktssen- 
wan  VerUgsbuchhindler  Georg  M filler,  Kdniginstrtsse  59. 


-0-1  305 


yMusik'",  vom  Beginn  des  zweiten  Jahrganges  dieser  Zeitschrift  ab. 
<1.  Oktober  1902  ff.) 

Notwendige  Besserung  der  wirtschaftlichen  Lage  der 
deutschen  Tonsetzer. 

Die  Genossenschaft  detitscher  Tonsetzer  hat  eine  Denkschrift  ver- 
offentlicht,  mit  der  ein  jeder  sich  ernstlich  zu  befassen  verpflichtet  ist, 
der  am  Wohl  und  Wehe  unserer  schaffenden  Kunstler  Anteil  nimmt. 
Die  Broschure  handelt  von  der  Anstalt  fur  musikalisches  Auf- 
fuhrungsrecht.  Diese  trat  ins  Leben,  nachdem  die  erforderlichen 
Vorbedingungen  von  Staats  wegen,  durch  die  neueren  gesetzlichen  Be- 
stimmungen  uber  das  musikalische  Urheberrecht  gegeben  waren.  Sie 
dient  als  Zentrale,  als  Vermittlnngsstelle  zwischen  den  Tonsetzem 
nnd  all  denen,  die  offentliche  Auffuhrungen  gesetzlich  geschiitzter 
musikalischer  Werke  veranstalten.  Durch  ihre  Vermittlung  erhalten 
die  mit  ihr  in  Verbindung  stehenden  Tonsetzer  eine  «Tanti6me* 
von  jeder  dffentlichen  Auffiihrung  ihrer  Kompositionen.  Eine  ein« 
fache  Forderung  der  Gerechtigkeit,  mit  der  auch  solche  Verleger, 
Kapetten,  Konzertdirektionen,  die  ungern  die  Hand  vom  Beutel  tun, 
sich  im  wohlverstandenen  gegenseitigen  Interesse  sehr  bald  befreunden 
werden  miissen.  Die  Kunst  hat  ebensowenig  dem  materiellen  Erfolg 
nachzulaufen  wie  um  die  Gunstbezeugungen  der  grossen  Menge  zu 
buhlen;  aber  der  Kiinstler  soil  nicht  in  einer  demiitigenden  Abhingigkeit 
von  den  Unternehmem  bleiben*  soil,  wie  jeder  ehrlich  Arbeitende,  fiir 
seine  TStigkeit  die  verdiente  unverkurzte  Gegenleistung  erhalten. 

Wie  den  schaffenden,  so  wird  auch  den  ausfuhrenden  Kunstlem 
ein  sorgenfreies  Dasein  erkarapft  werden.  Mit  einer  Agitation  zur 
dringend  notwendigen  Hebung  der  wirtschaftlichen  Lage  der  Orchester- 
musiker  werden  der  Verfasser  und  seine  Gesinnungsfreunde  wShrend 
des  nichsten  Sommers  oder  Herbstes  beginnen. 

Paul  Marsop. 


— «    306  !-»- 


Offner  Brief.  •> 

Von  Siegmund  von  Htasegger  in  Frankfurt  tm  Main. 

Sehr  geehrter  Herr  Doktor  Gdhler! 

LSngst  schon  hatte  ich  die  Absicht,  Ihnen  in  Angelegenbeit  der 
Tantieme-Frage  zu  schreiben.  Leider  hat  mir  mein  angestrengter  Beruf 
bisher  nicht  gestattet,  Ihnen  meine  Anschauungen  in  der  wunschenswerten 
Ausfuhrlichkeit  mitzuteilen.  Da  Sie  mich  nun  aber  in  Ihrem  letzten,  in 
Heft  9  des  Kunstwarts  erschienenen  Artikel  direkt  auffordern,  meinen 
Standpunkt  zu  vertreten,  so  darf  ich  nicht  linger  schweigen.  Sie  wundem 
sichy  mich  im  gegnerischen  Lager  zu  finden.  Ich  muss  Ihnen  gestehen^ 
verehrter  Herr  Doktor,  dass  ich  mich  schon  nach  Erscheinen  Ihres  ersten 
Aufsatzes  (Heft  3  des  Kunstwarts)  fragte,  wie  es  kommt,  dass  wir,  die 
wir  uns  sonst  auf  so  entscheidenden  Gebieten  kiinstlerischer  Uberzeugung 


*)  Vorttehenden  Brief  hatte  ich  ursprCingHch  an  die  Redaktion  des  Kunst- 
warts in  dem  der  Auf^atz  Dr.  Gdhlers  erschienen  war,  gegen  den  sich  die  nacb- 
folgenden  Ausfuhrungen  richten,  mit  der  Bitte  um  Aufoahme  gesendet.  Diese 
wurde  mir  aber  mit  der  BegrQndung  verweigert,  es  seien  Monate  seit  dem  Er- 
scheinen des  ersten  Artikels  von  Gdhler  verstricben,  ohne  dass  einer  der  Kom- 
ponisten  die  Gelegenheit  zur  Erwiderung  wahrgenommen  habe.  Nan  sei  es  zu 
spit  dazu.  Da  der  letzte  Aufsatz  Dr.  Gdhlers  die  direkte  Frage  enthilt,  weshalb 
Minner  wie  Nicod6,  Humperdinck,  Thuille,  Hausegger  usw.  nicht  der  Berliner 
Genossenschaft  den  Rucken  ketaren,  finde  ich  es  seltsam,  dass  die  Beantwortung 
diese  Frage  intaibiert  wird.  Dadurcb,  dass  die  Komponisten  vom  Kunstwart  zum 
Stillschweigen  verurteilt  werden,  erhalten  die  Ausfiihrungen  GSblers  den  Charakter 
eines  erteilten  Verweises,  zu  dem  ich  ihm,  trotz  aller  Hochachtung,  jedes  Recbt 
abspreche. 

Fur  diejenigen  Leser  dieser  Blitter,  welcbe  sich  bis  jetzt  mit  der  Frage  des 
musikaliscben  AuffQbrungsrechtes  noch  nicht  beschifdgt  habeo,  sei  folgendes  t>e- 
merkt:  Bis  zum  1.  Jan.  1902  hatte  nur  der  dramatische  Komponist  gesetzlich  das 
Recbt  fur  Auffutarungen  seiner  Werke  eine  Tantieme  zu  erbeben.  Das  Gesetz 
vom  I.Jan.  1902  gestebt  nun  simtlicben,  nicht  nur  den  dramatischen  Komponisten 
die  alleinige  Verfugung  Qber  das  Auffiibrungsrecbt  zu,  und  ermdglicbt  ihnen  so, 
von  derselben  Vergunstigung  der  Tantiemenforderung  Gebrauch  zu  machen,  wie 
die  Opemkomponisten.  Da  der  einzelne  aber  nicht  in  der  Lage  ist,  mit  simtlichen 
Konzertinstituten  selbst  in  Unterhandlung  zu  treten  und  da  dies  andrerseits  auch 
fGr  die  Institute  eine  kaum  durchfGhrbare  Erschwerung  ihrer  Geschiftsgebarung 
bedeutete,  haben  die  in  der  Genossenschaft  deutscher  Tonsetzer  vereinigten  Kom- 
ponisten die  Anstalt  fur  musikalisches  Auffuhrungsrecht  zu  Berlin  gegriindet, 
welcbe  die  geschiftliche  Vertretung  simtlicher  Mitglieder  ubemimmt.  Die  Abgat>en 
der  Konzert-  und  sonstigen  Veranstaltungen  sollen  nicht  in  der  Bezahlung  ftir 
einzelne  Werke,  sondem  in  Pauschsummen  besteben,  da  dies  nicht  nur  eine  Ver- 
einfachung,  sondem  auch  eine  wesentliche  Verbilligung  bedeutet.  Der  Pauscb- 
betrag  wird  im  Verhiltnis  zu  den  Einnahmen  der  betr.  Institute  festgesetzt 

Im  ubrigen  m5chte  ich  auf  die  Verdffentlicbungen  der  Genossenschaft,  und 
auf  die  AusfGhrungen  Prof.  Hans  Sommers  und  Dr.  Altmanns  in  Heft  11  der  JHusik 
hinweisen.  Siegmund  v.  Hausegger. 


307  8^ 


als  engere  Gesinnungsgenossen  gefunden  haben,  in  dieser  Frage  diame- 
tral entgegengesetzter  Ansicht  sind.  Vor  allem  fragte  ich  mich  aber,  wie 
eine  derartig  missverstlndliche  Beurteilung  des  Verhiltnisses,  das  zwischen 
schaffendem  Kunstler  und  Konzertveranstaltung  herrschen  soil,  bei  einem 
Manne  von  Ihrem  Weitblick  mdglich  ist. 

Sie  sagen,  die  Auffiihning  eines  modernen  Werkes,  das  der  Kasse 
Defizit  verursacht,  sei  ein  dem  Komponisten  erwiesener  Gefallen.  Ich 
meine,  in  dem  Augenblick,  als  ein  Dirigent  von  dem  kunstlerischen  Wert 
einer  Schdpfung  uberzeugt  ist,  erfullt  er  nur  seine  Pflicht  und  Schuldig- 
keit,  wenn  er  es  auffuhrt.  Gefallen  wird  hdchstens  dem  Publikum  er- 
wiesen,  fur  welches  das  Konzertinstitut  das  Geldopfer  der  Auffuhrung 
bringt.  Der  Komponist  hingegen  bietet  eine  ganz  bestimmte  Leistung, 
nimlich  sein  Werk,  fur  das  er  Gegenleistung  beanspruchen  kann.  Den 
finanziellen  Wert  dieser  Leistung  nach  dem  augenblicklichen  Ertrignis 
zu  beurteilen,  heisst  die  Sachlage  vollkommen  verkennen.  Bei  Eintags- 
erscheinungen  trifft  dies  zu;  diese  aber  allein  als  vmoderne**  Geldopfer 
fordemde  Werke  in  Betracht  zu  Ziehen,  geht  nicht  an.  Bei  Behandlung 
unserer  Reformfrage  mussen  wir  doch  in  erster  Linie  die  fQr  die  Zu- 
kunft  geschriebenen  bleibenden  Werke  ins  Auge  fassen.  Gestatten  Sie 
mir,  an  einem  konkreten  Beispiel,  in  welchem  wir,  weil  riickblickend, 
kunstlerischen  und  finanziellen  Wert  klar  sehen,  meine  Ansicht  nSher 
zu  erliutem.  Versetzen  wir  uns  in  die  Zeit,  in  welcher  Beethovens 
Eroica  NovitSt  war.  Einige  wenige  mutvolle  Dirigenten  wagen,  in  rich- 
tiger  Erkenntnis  der  hohen  Bedeutung  der  Neuschopfung,  Auffuhrungen. 
Das  Publikum  ISsst  sich  durch  den  Namen  des  kiihnen,  verruckten 
Modernen  abschrecken,  Saal  und  Kasse  sind  leer.  Trotzdem,  haben  diese 
Dirigenten  Beethoven  mit  der  Erstauffuhrung  einen  Gefallen  erwiesen, 
Oder  nicht  vielmehr  sich  selbst  eine  Ehre,  fur  die  sie  ihm  Dank  schulden? 
Bei  wiederholten  Auffiihrungen  wichst  das  Verstindnis.  Endlich  ist  die 
Eroica  Zugstuck  geworden.  Tausende  von  Mark  sind  seit  Dezennien  in 
die  Kasse  der  Konzertinstitute  durch  Beethovens  Symphonie  geflossen. 
In  welcher  Weise  nahm  der  Komponist  an  dem  materiellen  Vorteil,  den 
sein  Werk  Andem  schuf,  teil?  Bei  der  ersten  Auffuhrung  wurde  das 
Notenmaterial  um  vielleicht  100  Mark  erworben,  die  wohl  grosstenteils 
in  die  Tasche  des  Verlegers  flossen,  von  alien  folgenden  Auffuhrungen 
hatte  Beethoven  auch  nicht  einen  Pfennig.  Wie  ist  dem  abzuhelfen? 
Es  wftre  eine  schreiende  Ungerechtigkeit,  wollte  in  solchem  Falle  der 
Komponist  gleich  bei  der  ersten  Auffuhrung  eine  Gegenleistung  fordem, 
die  zum  finanziellen  Gewinn,  den  sein  Werk  zu  bieten  verspricht,  in 
richtigem  Verhaltnis  steht.  Gewiss  aber  wird  es  nur  billig  sein,  wenn 
der  Komponist  von  jeder  Auffuhrung  den  Betrag  von  1  i^^^ht  ein- 

roal  ausschliesslich  ihm,  sondem  auch  dem  Verleger  zugute  kommt, 
beansprucht,  und  der  zudem  auf  dem  musikalischen  Markte  ob  seiner 
Hdhe  umso  weniger  Verwunderung  erregen  darf,  als  man  beispielsweise 
Agenten  ihre  Forderung  von  10%  ftir  Leistungen  anstandslos  zu  be- 
willigen  gewdhnt  ist,  die  jedenfalls  nicht  im  Verhiltnis  des  Zehnfachen 
zu  Beethovens  Eroica  stehen.    Sie  werden  mir  zweierlei  entgegnen: 


308  ^ 


1.  «Das  ist  eben  Beethoven.*  Wurde  aber  der  Fall  einer  einmal  schoo 
dagewesenen  so  in  die  Augen  springenden  Unbilligkeit  nicht  vollauf  ge- 
nSgen,  die  Notwendigkeit  einer  derartigen  Besteuerung  darzutun?  Auch 
bitte  ich  zu  bedenken,  dass  zwar  die  Dimension,  nicht  aber  das  Wesen 
des  Missverhiltnisses  zwischen  Leistung  und  Gegenleistung  bei  minder- 
bedeutenden  Werken  sich  ftndert.  2.  .Tatslchlich  haben  doch  damals 
die  Konzertinstitute  ein  Geldopfer  flir  das  Beethovensche  Werk  gebracht 
und  miissen  schliesslich  mit  den  Ziffern  der  augenblicklichen  Ausgaben 
rechnen,  nicht  aber  sich  auf  allfallsige  zuktinftige  Einnahmen  vertrdsten!** 
Ganz  richtig!  Aber  es  fragt  sich,  ob  nicht  auf  anderen  Wegen  derartige 
Ausgaben  gedeckt  werden  kdnnen.  Nehmen  wir  an,  der  mutige  Dirigent, 
welcher  die  Eroica  vor  leerem  Saale  gebracht  hat,  ist  so  klug,  im  fol- 
genden  Konzert  Meister  der  Uteren  Zeit  zu  Wort  kommen  zu  lassen 
und  hierdurch  gldnzende  Einnahmen  zu  erzielen.  Doch  darauf  werde 
ich  spiter  noch  einmal  zuruckkommen. 

Dass  nahezu  kein  schaffender  Kunstler  die  Friichte  seiner  Arbeit 
selbst  emten  kann,  ist  ja  allbekannt.  Aber  sich  deshalb  einfach  damit 
abzufinden  und  den  Komponisten  ruhig  weiter  hungem  zu  lassen, 
dazu  liegt  keine  Notwendigkeit  vor,  und  es  ist  nur  zu  verstMndlich,  dass 
er,  wenn  ihm  von  aussen  nicht  geholfen  wird,  selbst  auf  Mittel  und  Wege 
sinnt,  die  ihm  die  Mdglichkeit  bieten,  seinen  schdpferischen  Benif  un- 
behindert  auszuiiben.  Tatslchlich  werden  Sie  mir,  sehr  geehrter  Herr 
Doktor,  kaum  einen  Konzert-Komponisten  nennen  kdnnen,  der  nicht 
darauf  angewiesen  ist,  neben  seiner  Kompositionstitigkeit  eine  Zeit  und 
Kraft  raubende,  ihm  den  Lebensunterhalt  sichemde  Stellung  zu  suchen. 
Wie  viele  Werke  von  Bedeutung,  aber  hierdurch  ungeschrieben  bleiben, 
miissten  Sie  ats  Kunstler  am  besten  beurteilen  kdnnen.  Wenn  den 
Komponisten  nun  durch  das  Gesetz  das  Recht  zugestanden  ist,  eine 
minimale  Bereicherung  ihrer  Einnahmen  zu  erzielen,  so  zwingt  sie  ein- 
fach die  Not,  sich  dieses  Rechtes  auch  zu  bedienen. 

Sie  selbst,  Herr  Doktor,  haben  den  Vorschlag  gemacht,  die  be- 
deutenden  Komponisten  sollten  durch  Geldsammlungen  erhalten  werden. 
Dieser  Vorschlag  hat  mich,  offengestanden,  aus  Ihrem  Munde  und  im 
Kunstwart  Wunder  genommen.  Er  bedeutet  nichts  anderes,  wie  dass 
Menschen  auf  Gnadengehalte  und  Almosen  angewiesen  sein  sollen,  die 
etwas  von  ideell  und  materiell  greifbarem  und  glMnzend  ausnutzbarem 
Werte  schaffen,  die  also  wohl  mindestens  denselben  Anspruch  erheben 
durfen  wie  jeder  gewdhnliche  Arbeiter,  nEmlich  fur  ihre  Arbeit  ein 
gesetzlich  geregeltes  Entgelt  zu  erhalten.  Ich  musste  erwarten,  dass  der 
Einblick  in  die  Art,  wie  heute  in  der  Allgemeinheit  iiber  Kunst  gedacht 
wird,  Sie  schon  IMngst  gelehrt  hdtte,  welche  Gefahr  sich  darin  birgt, 
wenn  der  Gesellschaft,  die  in  so  unklaren  Begriffen  iiber  den  Wert  des 
geistigen  Eigentums  befangen  ist,  auch  noch  aus  Kiinstlerkreisen  das 
Recht  zugestanden  wird,  freiwillige,  von  ihrer  Mildherzigkeit  und  ihrem 
Belieben  abhSngige  Gaben  an  Schaffende  zu  verabreichen.  Herr  Ave- 
narius  schligt  eine  Nationalsammlung  fur  Draesecke  vor.  Die  Teilnahme 
der  besitzenden  Kreise  fur  eine  solche  zu  wecken,  wire  in  erster  Linie 


Avfgabe  der  Kunstlen  GUnben  Sie,  dass  Ihr  Chordirigent,  dem  in  seinem 
grossen  Ideallsmus  die  paar  Mark  Auffuhrungshonorar  fur  den  vChristus"* 
schon  eine  ^himmelschreiende*  Ungerechtigkeit  scheinen,  in  seiner  dngst- 
lichen  Sparsamkeit  dem  von  ihm  so  verehrten  Komponisten  gegenuber, 
dnrch  sein  leuchtendes  Beispiel  sehr  dazu  beitragen  wird,  Stimmung  und 
Verstindnis  fur  eine  Nationalsammlung  zu  wecken?  —  Und  wie  es  mit 
dem  Idealismns  des  deutschen  Volkes  bestellt  ist,  wenn  es  sich  um  den 
Geldbeutel  handelt,  das  haben  wir  wohl  alle  von  der  Grtindung  Bayreuths 
her  in  treuem  Gedichtnis.    Damit  durfen  die  Kfinstler  nicht  recbnen. 

Es  ist  nicht  abzuleugnen,  dass  ein  Ausgleich  in  dem  Missverhiltnis 
zwischen  augenblicklichem  und  zuktinftigem  Wert  eines  Werkes  ange- 
strebt  werden  muss.  Dem  Komponisten  stehen  hierzu  keine  Wege  offen. 
Dies  kdnnen  nur  Verleger  und  Konzertinstitute,  indem  sie  fiir  den 
anfilnglichen  materiellen  Schaden  in  der  Nutzniessung  anderer  schon 
anerkannter  Werke  Deckung  suchen.  Dass  statt  dessen  die  Komponisten 
fiir  den  materiellen  Schaden  durch  modeme  Werke  verantwortlich  gemacht 
werden  und  dafur  biissen  sollen,  wo  die  Schuld  im  UnverstSndnis  des 
Publikums  liegt,  beruhrt  hdchst  eigentumlich,  wenn  nicht  komisch.  Ich 
denke,  die  Konzertinstitute  sollten  sich  doch  vor  Augen  halten,  dass  ihr 
etnziger  Daseinszweck  der  ist,  durch  Aufftihrung  der  alten  und  modernen 
Musikliteratur  zu  lebendigen  Faktoren  der  Kunstentwicklung  zu  werden. 
Sich  aber  einer  Boykottierung  von  Werken,  die  NB.  geringe  Geldopfer 
fordern,  so  stolz  zu  rtihmen,  wie  dies  in  einer  der  letzten  Nummem  des 
Musikalischen  Wochenblattes  Herr  Prof.  Weber  (Augsburg)  gelegentlich 
der  abgesetzten  romantischen  Ouverture  von  Thuille  tut,  bedeutet  eine 
vdllige  Verkennung  der  ktinstlerischen  Aufgaben  eines  Dirigenten.  Mit 
sehr  gemischten  Gefuhlen  musste  man  ein  Konzertprogramm  betrachten, 
bei  dessen  Zusammenstellung  nicht  der  kiinstlerische  Wert  der  Werke, 
sondem  die  Erwagung  der  Steuerfreiheit  massgebend  war. 

Wiederholt  wurde  von  seiten  der  Veranstaltungen  die  Gegeniiber- 
stellung  Mlterer  anerkannter  und  modemer  Werke  gebraucht.  Hierzu 
kime  noch  jene  andere:  Komponisten,  denen  man  den  Gefallen  erweist 
und  solche,  die  man  auffQhren  «muss".  Wo  liegt  die  Grenze?  Doch 
nur  dort,  wo  die  Einnahmen  anfangen.  Vor  dreissig  Jahren  waren 
Wagnerabende  nach  dieser  Auffassung  wohl  ein  Gefallen  fur  den  Kom- 
ponisten; jetzt  sind  sie  eine  pathetisch  ausgesprochene  heilige  Pflicht. 
Warum?  Weil  Wagner  jetzt  ein  GeschSft  bedeutet.  Sie  werden  sagen: 
,pDaraus  kdnnen  Sie  den  Konzertinstituten  keinen  Vorwurf  machen;  sie 
miissen  eben  leben."  Ganz  gewiss,  aber  auch  die  Komponisten  miissen 
^leben**.  Was  dem  einen  recht  ist,  ist  dem  andem  billig.  Den  Kom- 
ponisten wird  mit  d^n  verletzendsten  Worten  vorgehalten,  dass  sie,  die 
bis  dato  immer  das  Nachsehen  batten,  sich  endlich  darauf  besinnen,  dass 
auch  sie  Anspruche  an  das  Leben  zu  stellen  haben.  Meiner  Meinung 
nach  hat  niemand  auch  nur  das  leiseste  Recht,  ihnen  darum  „Geschifts- 
macherei**  oder  ^Griinderehrgeiz*'  vorzuwerfen. 

Viele  Ihrer  und  der  iibrigen  Gegnerschaft  Behauptungen  brauche 
ich  nicht  erst  zu  benihren,  da  sie  auf  das  treffendste  in  der  kiirzlich 


310 


erschienenen  Broschure  der  Genossenschaft  deutscher  Tonsetzer  wideriegt 
worden  sind.  Nur  einem  Vorwurf  muss  ich  noch  krdftig  entgegentretea. 
Es  ist  nicht  richtig,  dass  die  Institution  hauptsachlich  den  schon 
akkreditierten  Komponisten  zugute  kommt.  Solche  sind  in  der  Lage, 
fur  sich  Auffuhrungshonorare  zu  fordern,  die  in  dieser  Hdhe  in  der 
ersten  Zeit  sicher  nicht  von  der  Genossenschaft  ansgezahlt  werden 
konnen;  wohl  aber  werden  weniger  bekannte  Komponisten  durch  die 
Tantieme  der  Genossenschaft  einen  kleinen  Verdienst  erzielen  —  vielleicht 
den  ersten,  da  ja  in  so  und  so  vielen  FlUen  die  Verleger  ihnen  iiber- 
haupt  keinen  Gewinn  zugestehen.  Dass  durch  diese  Aussicht  mancher 
yerleitet  wlrd,  der  Mode  zu  huldigen,  soli  nicht  geleugnet  werden,  aber 
ich  denke,  dieses  Streben  nach  dem  Beifall  des  Tages  hatte  fruher  genau 
so  Verlockendes  in  sich.  Auch  wird  man  solch  schwachen,  dieser  Ver- 
suchung  so  leicht  erlegenen  Charakteren  im  Interesse  der  Kunst  keine 
TrSne  nachzuweinen  brauchen. 

Ich  kann  mir  zuletzt  nicht  versagen,  mein  Bedauem  dariiber  aus- 
zusprechen,  dass  von  gegnerischer  Seite  der  Kampf  in  so  gehissiger, 
selbst  vor  ehrenruhrigen  Anschuldigungen  nicht  zuriickschreckender  Form 
gefuhrt  wird.  Wer  mit  mir  aufmerksamen  Blickes  die  Verdffentlichungen 
in  so  manchen  Musikzeitungen  verfolgt,  wird  mir  Recht  geben,  dass  die 
Kampfesweise  nur  zu  oft  durchaus  unparlamentarisch  ist,  und  dass  es 
sich  in  vielen  Fillen  gar  nicht  um  den  bedrohten,  so  aufdringlich  stets 
im  Munde  gefuhrten  Idealismus,  sondern  um  das  bedrohte  Geschlft 
handelt,  das  nach  Ansicht  solcher  Leute  in  letzter  Linie  auf  Kosten  der 
Komponisten  bluhen  soil.  Wohltuend  aber  muss  es  jeden  unparteiischen 
Beobachter  beruhren,  wie  massvoll  und  vornehm  der  Fall  von  der 
Genossenschaft  behandelt  wird.  Gottlob  verschlossen  sich  auch  eine 
grosse  Anzahl  von  Verlegem  und  Konzertinstituten  nicht  der  Einsicht 
in  die  kunstlerische  Notwendigkeit  dieser  Institution. 

Doch  lassen  Sie  mich  nun  meine  schon  zu  lang  geratenen  Aus- 
fuhrungen  schliessen,  obwohl,  wie  ich  ja  weiss,  dieselben  trotzdem  nicht 
Anspruch  auf  Vollstindigkeit  erheben  kdnnen. 

Mit  hochachtungsvoilem  Gruss 

Ihr  sehr  ergebener 

Siegmund  von  Hausegger. 


311  fH- 


Zur  Stiddeutschen  Volkskunde  I. 
Die  Jager. 

Srudien  nach  der  Natur,  von  Ludwig  Ganghofer  in  MGnchen. 

Im  Laufe  der  dreissig  Jahre,  seit  ich  das  Weidwerk  ube,  ist  eine 
Tielkdpflge  Reihe  von  Berufsjigem  an  mir  vorbeigegangen.  Die  meisten 
waren  mir  freilich  wie  Menscben  auf  der  Strasse,  die  vorubergehen  und 
kaum  gesehen  schon  wieder  vergessen  sind.  Mancher  aber  hat  sich 
unausloschlich  in  meine  Erinnerung  eingebrannt  und  seinen  Namen  in 
meia  Leben  geschnitten,  wie  man  tiefe  Zeichen  in  die  Rinde  eines 
Baumes  schneidet,  in  der  sie  niemals  wieder  vemarben. 

Wenn  ich  zunickdenke  iiber  diese  dreissig  Jahre,  tauchen  harte, 
eigensinnige  Kdpfe  vor  mir  auf,  frohe  und  gutmutige  Gesichter,  MSnner 
von  eiserner  Energie  und  hilfslose,  weiche  Triumer,  wilde,  heissbliitige 
Kerle  und  kindlich  besaitete  Gemiiter,  wunderbar  kluge  Leute  und  rat- 
lose  Narren,  Sdhne  der  tollenden  Lebensfreude  und  stille  Kinder  des 
Schmerzes. 

Kunterbunt,  wie  sie  aus  meiner  Eriunerung  aufwachen,  will  ich 
sie  schildem.  Und  diese  absichtslosen  Studien,  treu  nach  dem  Leben 
gestrichelt,  mogen  beitragen  zur  Erkenntnis  unserer  heimatlichen 
Menschen,  zum  Verstlndnis  der  seltsamen  Linien,  mit  denen  die  Natur 
be!  der  Bildung  des  Volkes  die  Kopfe  und  Herzen  zeichnet,  und  zur 
Entwirrung  des  abstrusen  Fadenschlages,  mit  dem  sie  so  hiuflg  das 
simple  Lebensgewebe  des  Dorfes  durchschiesst.  Zahlreiche  Ztige,  die 
uns  da  wie  dunkle  RItsel  erscheinen,  werden  fur  unser  Verstindnis 
geldst,  sobald  wir  erkennen,  dass  sie  nichts  anderes  sind  als  Urformen 
des  LebenSy  die  sich  aller  Entwicklung  der  Menschheit  und  aller  Kultur 
zum  Trotz  erhalten  haben  durch  Tausende  von  Jahren. 

Wie  im  Pels  der  Berge,  so  steckt  auch  im  Blut  des  Volkes  eine 
zihe  Kraft  des  Erhaltens.  Wer  das  Volk  vergangener  Jahrhunderte  er- 
kennen  will,  wird  sich  aus  Btichern  wenig  Gescheites  holen.  Sein 
bester  Lehrmeister  wird  das  Volk  von  heute  sein.  An  den  Menscben^ 
die  da  draussen  und  da  droben  umherlaufen,  welt  vom  zivilisierten 
Gleichheitsschliff  der  Stadt,  haben  alle  Farben  der  Vergangenheit  eine 
uberzeugende  Kraft  bewahrt:  die  tiefen,  rticksichtslosen  Raubtierinstinkte, 
die  Zuge  des  unbekehrbaren  Misstrauens,  die  eiserne  Festigkeit  des  guten 
GlaubenSy  alle  HIsslichkeit  des  kMmpfenden  Lebens  und  all  jene  kindlich 
zarten,  reinen  Seelenkllnge,  fur  die  wir  StMdter  von  heute  nicht  mehr 
die  hdrenden  Ohren  haben. 

Das  gilt  von  allem  Volk,  das  abseits  der  grossen  Lebensstrassen 
wohnt,  nicht  nur  von  den  JMgern.    Aber  unter  alien  Menschen  des 


312  ^ 


Dorfes  hab  ich  gerade  den  Jigern  am  schlrfsten  dtirch  Herz  and  Nieren 
geguckt.  Menschen,  die  das  Leben  in  der  Einsamkeit  fur  Jahre  an  uns 
fesselte,  mit  denen  wir  Tausende  von  Wegstunden  Seite  an  Seite  wanderten, 
die  den  Trunk  and  das  Lachen  mit  uns  teilten,  das  Brot  und  die  Ge- 
fahr,  und  die  am  gleichen  Feuer  hundert  Nichte  mit  uns  verschwatzten 
—  die  lernt  man  kennen  bis  auf  die  Neige  ihres  Wesen.  Was  ich  an 
ibnen  gesehen,  will  ich  erzlhlen. 

Der  ,»Machtnix'% 

Mit  seinem  richtigen  Namen  hiess  er  Sebastian  Locher.  Warum 
gerade  e  r  als  erster  aus  meiner  Erinnerung  auftaucht?  Ich  weiss  nicht. 
Vielleicht,  weil  er  einer  der  letzten  war,  die  ich  verloren  habe. 

Er  wurde  mir,  als  ich  einen  JSger  suchte,  von  einem  befreundeten 
Forstmann  warm  empfohlen,  mit  dem  Bemerken,  dass  Locher  ftir  den 
Dienst  im  kdniglichen  Leibgehege  vorgemerkt  wire,  dass  es  aber  wohl 
noch  lange  dauem  wiirde,  bis  er  zur  Anstellung  an  die  Reihe  kime. 

Ein  schlanker,  geschmeidiger  Bursch  mit  hiibschem  Gesicht,  braun- 
haarig,  auf  der  Oberlippe  ein  kleines  Blrtchen,  nur  wie  ein  dunkler 
Hauch.  Als  er  sich  meldete,  gewann  er  durch  seine  verstMndigen 
Antworten  gleich  mein  Zutrauen.  Und  wir  tauschten  den  Handschlag. 
Schon  woUte  er  aus  der  Stube  gehen.  Da  sah  ich,  dass  er  zwischen 
Ohr  und  Wange  eine  kleine  offene  Wunde  hatte,  von  der  Form  einer 
Bohne. 

9 Locher?    Was  haben  sie  denn  da  am  Ohr?* 

„So  a  bissel  ebbes  ausschwieren  thuat  mer.  D5s  macht  nix.  Da 
schiesst  grad  's  schlechte  Bluet  aussi.**    Und  draussen  war  er. 

Als  jungster  Jiger  hatte  er  den  Schutzdienst  im  entlegensten 
Revierteil  zu  versehen  und  kam  nur  alle  vierzehn  Tage  ins  Jagdhaus. 
Bei  seinem  ersten  Rapport  gewahrte  ich,  dass  die  Wunde  an  seinem 
Ohr  bis  zur  Grosse  eines  Markstiickes  gewachsen  war.  Und  recht 
hisslich  sah  die  Sache  aus. 

9  Sie,  Locher,  das  diirfen  Sie  nicht  so  gehen  lassen!  Da  mussen 
Sie  etwas  tun  I* 

9 1  thua  scho  ebbes.* 

,Was  denn?* 

«An  Pfeifensaft  schmierb  i  oni.  Der  beisst  's  Hitzige  alles 
aussi.* 

„Sie  dummer  Kerl,  da  konnen  Sie  sich  schon  zurichten.* 
9  Ah  na!  D5s  macht  nix  I* 

«Warten  Sie!*  Ich  holte  aus  unserer  Hausapotheke  ein  Pjickchen 
Watte  und  ein  FlMschchen  mit  Karbolsiure,  und  erkllrte  ihm,  wie  er 
die  Siure  verdiinnen  und  die  Wunde  ein  paarmal  des  Tages  reinigen 
musse.  Er  hdrte  zu,  aufmerksam  wie  ein  Star,  der  das  Reden  lernen 
soli.  Dann  tibernachtete  er  in  der  beim  Jagdhaus  gelegenen  Jigerstube. 
Am  Morgen,  als  er  wieder  davon  war,  brachte  mir  der  Oberjiger  das 
Fllschchen  KarbolsMure,  das  Locher  gar  nicht  geoffnet  hatte,  und  das 


313  8^ 


Pickchen  Watte,  von  der  keine  Flocke  fehlte.  ^Da  hab  i  in  der  Jaager- 
stnben  ebbes  gfunden,  dos  mnass  in  d'  Hausaperthecken  ghorenl'' 

Nach  vierzehn  Tagen,  als  Locher  wieder  kam,  war  die  Wunde  so 
gross  wie  ein  Taler.  Damit  ich  sie  nicht  sehen  soUte,  hatte  er  um 
die  Ohren,  wie  bei  Zahnweh,  ein  rof  und  blau  gewurfeltes  Schnupftuch 
herumgebunden,  dessen  Zipfel  ihm  wie  Eselsohren  vom  Kopfe  abstandem 
Aber  das  Tuch  musste  herunter. 

,Du  Heber  Herrgott,  Locher,  das  dUrfen  Sie  doch  nicht  so  weiter- 
fressen  lassen!" 

»Ah,  d5s  macht  nix  I' 

»Das  macht  freilich  was!  Warum  haben  Sie  denn  nicht  getan, 
was  ich  Ihnen  gesagt  habe?* 

„Verentschuldigen  S',  Herr  Dokter  .  .  .  aber  ebbes,  was  der  Mensch 
net  kennt  .  .  .  und  do  Sach  weard  von  eahm  selm  aa  wieder  guat!" 
£r  spuckte  auf  die  Fingerspitzen  und  strich  den  Speichel  fiber  die  Wunde. 

Da  wurde  ich  grob.  Und  mit  zweitlgigem  Urlaub  schickte  ich 
ihn  die  funf  Stunden  nach  Mittenwald  zum  Arzt.  Als  er  wiederkam, 
mit  dem  rot  und  blau  gewurfelten  Schnupftuchl  um  die  Ohren,  erzlhlte 
er:  ,Zum  Schmierben  hat  er  mir  ebbes  geben."  Dabei  zog  er  aus  der 
Joppentasche  einen  kleinen,  mit  buntem  Papier  verschlossenen  Porzellan- 
tiegel  hervor,  den  er  misstrauisch  betrachtete.  » Wer  woass,  was  da  drin  is!* 

«Wird  schon  das  Richtige  drin  sein !  Schmierben  Sie  nur  fleissig!* 

Am  anderen  Morgen  erschien  der  Oberjager  wieder  und  brachte 
das  Porzellantiegelchen,  das  der  ^Machtnix"  in  der  Jigerstube  zuruck- 
^elassen  hatte,  noch  mit  dem  schdnen,  bunten  Papierl  druber.  Und 
lachend  berichtete  mir  der  OberjMger  von  der  Schilderung,  die  Locher 
den  anderen  JUgem  von  seinem  «Metzgergang*  zum  Doktor  gemacht 
hatte:  »Wie  a  Narr  hat  'r  allweil  einigspritzt  ins  Loch  und  mit  so  an 
<jluatstangerl  umanander  gsabeit!  Sakra,  hab  i  mir  denkt,  der  strapa- 
ziert  si  ja,  als  ob  eahm  ebbes  fehlen  taat!  Und  d'  Hitzwag  hat  er 
mer  einigschoben  unter  d'  Irxn.  Und  fur'n  Hoamweg  hat  er  mer  so 
ebbes  Dreckets  aufGpappt.  Aber  dds  hat  mi  so  viel  kitzelt,  dass  i  's 
^ei  wieder  abigrissen  hab!* 

Die  emste  Sache  begann  ffir  mich  komisch  zu  werden.  Aber  ich 
wollte  radikale  Hilfe  schaffen  und  Hess  den  Sebastian  Locher  von  der 
Jagdhutte  holen.  Ganz  verdrossen  trat  er  in  meine  Stube:  „Mei  Gott, 
was  haben  S'  denn  allwei,  Herr  Dokter  ?  So  a  bissel  ebbes  I  Dds  macht 
doch  nix!" 

Aber  da  half  ihm  jetzt  kein  » Macht  nix*  mehr.  Er  musste  direkt 
vom  Jagdhaus  weg  nach  Munchen  in  die  Klinik  fahren,  mit  einem 
Empfehlungsbrief  an  einen  mir  befreundeten  Arzt.  Nach  acht  Tagen 
kam  er  wieder,  um  die  Ohren  das  rot  und  blau  gewfirfelte  Tuch,  unter 
dem  ein  Stuck  Heftpflaster  herausguckte. 

»Sind  Sie  denn  schon  geheilt,  Locher?  Hat  man  Sie  denn  so 
schnell  wieder  entlassen?* 

Er  lachte.  »Na!  I  hab  mi  selm  wieder  davongmacht.  In  so  an 
Krankengstanken  hitt  i  's  koan  Tag  nimmer  ausghalten.    Der  Locher 

Sfiddeatsche  Mooatshefte.   1, 4.  21 


314  8^ 


muass  gsunde  Luft  haben!  .  .  .  Und  an  Briaf  hab  i  kriagt!"  Strahlend 
vor  Freude  reichte  er  mir  ein  grosses  Amtsschreiben:  die  unerwartet 
eingetroffene  Nachricht  von  seiner  Anstellung  als  JSger  im  Leibgehege. 
Nach  Berchtesgaden  kam  er.  Ich  wunschte  ihm  Gluck  zn  diesem  Posten,. 
liess  ihn  ohne  Kundigung  aus  unserem  Dienst  treten  and  gab  ihm  noch 
den  eindringlichen  Rat,  sich  grundlich  auszukurieren,  bevor  er  seine 
Stellung  antrdte. 

.Ah  na,  i  roas  glei  nmni!  Dds  bissl  da  am  Ohrwaschl,  d5s  macht 
mer  nix!  Is  eh  scho  halbert  wieder  guat!** 

Unter  lustigem  Gejodel  wanderte  Sebastian  Locher  davon,  die 
blitzblanke  Buchse  auf  dem  Riicken,  ein  gelbes  Aurikelstrdnsschen  auf 
dem  grunen  Hut  »  und  urn  die  Ohren  das  rot  und  blau  gewurfelte 
Schnupftuch. 

Acht  Tage  spiter  brachte  mir  der  Oberjiger  ein  Zeitungsblatt. 
.Haben  S'  es  scho  glesen,  Herr  Dokter?  Den  Machtnix  hat's  grissen. 
Ebbes  Sauers  is  eahm  ins  Bluet  einigfahren.  Glei  am  andem  Tag,  wie 
er  auf  Bertlsgaden  kemman  is,  hat's  'n  derkeit!  .  .  .  Weil  er  allwei 
gmoant  hat,  es  macht  nix!  Hat's  eahm  halt  deacht  ebbes  gmacht!  Da 
hitt  'r  si  d'  Roas  auf  Bertlsgaden  sparen  kinna!  So  an  Haufen  Geld,, 
was  dds  kost!* 

Jochei  Schuemacher. 

Eine  wilde  Sturmnacht  hat  ihn  von  meiner  Seite  fortgeveht,  aber 
eine  traumhaft  schdne  Sonnenstunde  war's,  die  sein  Leben  mit  dem 
meinen  verknupfte. 

Vor  ISJahren,  in  der  letzten  Juliwoche,  kam  ich  zur  Gemspirsche 
ins  Salzkammergut.  Das  waren  Tage,  so  schdn,  als  hitten  sie  beweisen 
mdgen,  dass  die  Sonne  treu  sein  kann.  Am  friihen  Nachmittag  langte 
ich  in  dem  einsam  gelegenen  Forsthaus  an  und  wollte  gleich  hinauf  zur 
Jagdhutte.  Der  bestellte  Triger,  der  meinen  Rucksack  und  den  Proviant 
fur  eine  Woche  die  drei  Stunden  hinaufschleppen  sollte  ins  Gemsrevier, 
sass  schon  wartend  auf  der  Hausbank  —  ein  junger  Bursch,  der  mir 
auf  den  ersten  Blick  geflel,  und  der  mich  Fremden  mit  jener  lachenden 
Herzlichkeit  begrusste,  wie  sie  nur  gute  Freunde  beim  Wiedersehen  fur 
einander  flnden.  Er  war  nicht  gross,  nur  so  der  Mittelschlag,  aber  breit- 
schultrig  und  krdftig  gebaut.  Was  mir  gleich  an  ihm  auf&el,  war  die 
wundervolle,  geschmeidige  Ruhe  seiner  Bewegungen  —  da  ging  alles  so 
glatt  und  lautlos,  wie  eine  Maschine  IMuft,  wenn  sie  frisches  Ol  hat. 
Kurzgeschnittenes  Blondhaar  umschimmerte  den  derben  Kopf,  und  trotz 
seiner  25  Jahre  hing  ihm  schon  ein  welliger  Kapuzinerbart  bis  halb 
auf  die  Brust  herunter.  Wenn  der  Jochei  lachte,  ging's  immer  wie  ein 
feines  Rieseln  durch  den  Schimmer  dieser  seidenen  StrMhne.  Und  aus 
dem  sonnverbrannten,  gutmutigen  Gesichte  glinzten  zwei  ruhigblaue, 
heitere  Augen  heraus.  Er  war  mir  lieb  geworden,  noch  eh'  ich  ein 
Dutzend  Wortchen  mit  ihm  geredet  hatte. 

Als  die  Kraxe  mit  dem  halben  Zentner  Gewicht  auf  seinem  Riicken 


315 


lag,  stieg  er  so  stramm  berganf,  dass  ich  in  Hemdinneln  und  mit  der 
leichten  Buchse  Muhe  hatte,  gleichen  Schritt  mit  ihm  zu  halten.  Am 
Ende  liess  ich  ihn  rennen  und  blieb  zuruck,  um  bei  behaglichem  Anstieg 
die  Augen  trinken  zu  lassen. 

Was  war  das  ein  Tag!  Die  Luft  so  leicht  und  suss,  wie  ein 
schmeichelnder  Gedanke  von  schdnen  Dingen,  alle  Farben  durchzittert 
von  einer  milden  Glut  Der  Wald  wie  ein  Lied  der  Rube,  das  du 
taundertmal  schon  hdrtest  und  jetzt  zum  erstenmal  verstehst,  die  Berge 
beinah  unkdrperlich,  wie  ein  silbernes  Gespinst  hinaufgehaucht  ins 
Blau,  und  Himmel  und  Erde  getrinkt  mit  Sonne,  die  nicht  brannte,  nur 
leuchtete  —  einer  von  jenen  Tagen,  an  denen  du  weinen  mdchtest, 
wenn  sie  dich  nicht  zwingen,  zu  jauchzen. 

Nach  dritthalb  Stunden,  als  ich  die  Passhdhe  erreichte  —  ein 
struppiges  Weideland,  von  grossen  Felsbldcken  durchwurfelt  —  floss 
durch  die  Sonne  schon  das  rote  Blut  des  Abends.  Und  da  hdrte  ich 
leisen  Gesang  —  nicht  wie  einer  singt,  der  von  seinem  Liede  weiss 
—  so,  wie  einer  unbewusst  in  Kllngen  denkt  und  empflndet. 

Neben  dem  Wege  hob  sich  aus  dem  Gestrupp  ein  klobiger  Pels 
heraus,  von  der  niedergehenden  Sonne  gluhend  angestrahlt.  Ein  alter 
Viehhirt  stand  mit  dem  Kinn  uber  seinen  Stecken  gelehnt,  und  Jochei, 
ganz  rot  von  Sonne,  sass  mit  baumelnden  Fiissen  auf  dem  hohen  Stein. 
Die  beiden  batten  wohl  von  allerlei  emsten  oder  frohen  Dingen  ge- 
schwatzt  und  waren  still  geworden  —  und  was  dem  Jochei  von  diesem 
Geplauder  noch  in  der  Seele  geblieben,  das  sang  er  jetzt  in  den  Glanz 
des  Abends  hinaus,  ganz  leise,  wie  ein  Triumender.  In  den  Augen,  die 
regungslos  ins  Weite  gerichtet  waren,  blitzte  scharf  und  starr  ein  Reflex 
der  Sonne,  und  ein  Klang  von  Wehmut  zitterte  durch  die  heitere  Lindler- 
weise,  die  er  sang. 

.Du,  dein  Herri*  sagte  der  Viehhirt  und  stupfte  mit  seinem 
Stecken  nach  dem  Jochei.  Der  wachte  auf,  sprang  lachend  vom  Stein 
herunter  und  hob  mit  einem  Jauchzer  die  Kraxe  auf  den  Rucken. 

Wfthrend  wir  Uber  das  Almfeld  hinuberwanderten  zur  Jagdhfitte, 
liess  ich  mir  ein  bisschen  was  von  seinem  Leben  erzlhlen.  Vater  und 
Mutter  hatte  er  schon  verloren,  und  in  der  Militlrzeit  hatte  er  sein 
kleines  Anwesen  der  Schwester  verschrieben,  damit  das  MMdel  heiraten 
konnte.  »'s  hat  halt  a  wengl  pressierti"  meinte  er  lachend.  Aber  im 
Gutl  der  Schwester  war  jetzt  kein  Platz  mehr  fiir  ihn  —  warum,  das 
sagte  er  mir  nicht  —  und  so  brachte  er  sich  eben  durch,  wie  es  ging, 
bald  als  Zimmermannsgesell,  bald  als  Holzknecht  und  als  Triger  bei 
den  Jagden.  Ein  armer  Teufel,  aber  heiter,  gliicklich  und  verliebt. 
Das  letztere  merkte  ich  gleich.  Alles,  woven  wir  schwatzten,  wurde 
fur  ihn  zu  einer  Briicke,  auf  der  er  zu  seinem  »Nannerl"  hinuber- 
sprang.  Wie  der  Jochei  von  diesem  MIdel  sprach  —  mit  diesem  frohen 
Lachen,  mit  diesem  Glanz  in  den  Augen  —  musste  das  ein  seltenes 
Geschdpf  sein,  bildsauber  und  klug,  ein  Ausbund  von  weiblichem  Reiz 
und  holder  Tugend,  ein  Wesen,  das  aus  des  Herrgotts  Hinden  als  ein 
unverdientes  Geschenk  herabgefallen  war  auf  die  schlechte  Erde. 

2l» 


316  8^ 


Die  Liebe  war  da,  aber  mit  dem  Heiraten  hatte  es  noch  weite 
Wege.  Denn  die  Rocktasche  des  Nannerl  war  ebenso  leer  wie  der 
Joppensack  des  Jochei.  Er  sagte  lachend:  „Mier  haben's  scho  so  in  der 
FamilH,  dass  mer  allwei  hinfallen,  wo  koa  Bankl  net  is!*  Da  hiess  es 
eben  sparen  und  zuwarten,  bis  sie  ein  kleines  Giitl  pacbten  konnten. 
Vier,  ftinf  »Jahrerln''  konnte  das  freilich  dauem.  „Abr  bal  oanr  woass, 
auf  was  er  warft,  da  verdriasst  'n  koa  Zeit  net!' 

Eine  Woche  blieb  ich  auf  der  Jagdhutte.  Herrliche  Tage  fur  den 
Freund  der  Natur  wie  fur  den  JMger.  Aber  das  Liebste  an  all  diesen 
schonen  Tagen  war  mir  der  Jochei.  Der  prdchtige  Bursch  war  von  einer 
unverdrossenen  Heiterkeit,  immer  bereit  zu  jedem  Dienst,  immer  ge- 
fillig,  immer  Sink  wie  ein  Wiesel,  und  dabei  doch  von  einer  Rube,  dass 
man,  wie  ein  Volkswort  sagt,  seinen  Schnaufer  nicht  hdrte.  Gait  es 
einen  Gemsbock,  der  an  einem  »verteufelten  Platzl*  stand,  vor  meine 
Buchse  zu  bringen,  so  war  dem  Jochei  keine  Wand  zu  steil,  kein 
Graben  zu  tief.  Aber  am  besten  geflel  er  mir  am  Abend  in  der  Hiitte. 
Wenn  er  da  nach  dem  Kochen  gesptilt,  gekehrt  und  geputzt  hatte,  bis 
das  Hiittchen  wieder  blinkte  vor  Sauberkeit,  dann  setzte  er  sich  mit 
baumelnden  Fussen  auf  die  Kreisterkante,  sang  seine  kleinen,  lustigen 
und  schwermutigen  Liedchen,  blies  auf  dem  „Fotzhobel*^  einen  Landler 
um  den  andern  herunter  —  Oder  wShrend  der  Jagdgehilf  die  alte,  ver- 
staubte  Zither  maltrdtierte,  auf  der  die  Hilfte  der  Saiten  fehlte,  tanzte 
der  Jochei  ein  Schuhplattlersolo  mit  einem  Feuer  und  einer  Grazie,  dass 
ich  mich  an  dem  Burschen  nicht  sattschauen  konnte. 

Wenn  ich  dann  bei  der  qualmenden  Pfeife  mit  dem  Jagdgehilfen 
bis  spUt  in  die  Nacht  hinein  vom  Weidwerk  schwatzte,  sass  der  Jochei 
schweigend  dabei  mit  grossen  Augen  und  passte  auf  wie  ein  Haftl- 
macher.  Und  sagte  einmal,  mit  brunnentiefem  Seufzer:  ^Herrgott, 
d'  Jaagerei,  dos  waar  so  ebbes  fiir  mil* 

Als  die  schone  Woche  da  droben  vorliber  war,  fiel  es  mir  schwer, 
vom  Jochei  zu  scheiden. 

Anderthalb  Jahre  spater  ubemahm  ich  mit  ein  paar  Freunden  eine 
Jagd  im  Wienerwald.  Bei  der  Suche  nach  einem  Jager  fiel  mir  mein 
Jochei  ein,  mit  seiner  Sehnsucht,  Jager  zu  werden.  Ich  schrieb  an  den 
Forster,  ob  der  Jochei  Schuemacher  vielleicht  Lust  hStte  usw.  Acht 
Tage,  und  der  Jochei  trat  bei  mir  an  —  mit  einer  recht  zweifelhaften 
Buchse,  die  er  ,»unter  der  Hand*  um  12  Gulden  gekauft  hatte  —  aber 
mit  einem  Gesicht,  brennend  vor  Gluck  und  Freude  uber  die  Stellung, 
die  er  als  Jager  gefunden.  Dreissig  Gulden  im  Monat!  So  was  hatte 
sich  der  Jochei  bei  aller  Verwegenheit  seiner  Lebenshoffnungen  niemals 
trMumen  lassen.  Aber  bei  allem  Gluck,  das  aus  seinen  Augen  lachte, 
fiel  mir  zwischen  seinen  blonden  Brauen  eine  kleine,  tiefgeschnittene 
Furche  auf.  Die  musste  ich  damals  ubersehen  haben.  Oder  war  sie 
neu  in  dieses  frohe  Gesicht  gefallen? 

.Was  macht  denn  das  Nannerl?*  fragte  ich. 


*)  Mundharmonika. 


317  ^ 


In  seinem  Gesicht  ging  ein  Glanz  auf,  wie  wenn  an  hellem  Abend 
der  Vollmond  steigt.  ^Aaaah,  mei  Nannerl!'  Mehr  sagte  er  nicht. 
Aber  aus  Dankbarkeit  fur  meine  Frage  druckte  er  mir  die  Hand,  dass 
ich  eine  Stunde  lang  die  Finger  nicht  mehr  ruhren  konnte. 

Seinen  Dienst  packte  der  Jochei  an,  wie  man  Biume  umreisst 
Freilich  fallen  sie  nicht  immer.  Auch  beim  Jochei  blieben  die  meisten 
stehen.  Von  der  heiter  zugreifenden  Frische,  die  mir  damals  so  gut 
an  ihm  gefallen  hatte,  war  etwas  ausgeloscht.  In  seinem  Wesen  war 
jetzt  was  Bedichtiges  und  Sinnierliches,  das  ihn  zumeist  den  Moment 
verpassen  liess,  in  dem  es  gait,  zu  handeln.  So  unermudlich  er  auch 
mit  den  Beinen  bei  seinem  Dienste  war,  es  woUte  ihm  nie  was  glucken, 
und  die  beiden  andem  Jiger  begannen  ihn  als  minderwertig  fiber  die 
Achsel  anzusehen  und  derb  zu  hinseln.  Ich  musste  fur  den  Jochei 
manche  Lanze  einlegen,  um  ihm  Ruhe  zu  verschaifen.  Aber  zuweilen 
bab  ich  auch  mitgeholfen,  um  den  guten  Kerl  zu  quMlen.  Die  Jiger 
hatten  es  herausgebracht,  wie  leicht  man  den  Jochei  zu  Tranen  riihren 
konnte.  Und  da  musste  ich,  wenn  wir  in  der  Jagerstube  beisammen 
sassen,  allerlei  traurige  Geschichten  erzShlen,  von  einem  lieben,  un- 
schuldigen  MMdel,  das  von  ungerechten  Menschen  drangsaliert  wird,  oder 
von  einer  tragenden  Rehgeiss,  die  sich  in  der  Schlinge  zu  Tode  zappelt, 
Oder  von  einer  tapferen  HSsin,  die  ihre  Jungen  nutzlos  gegen  eine 
Rabenschar  verteidigt.  Wenn  solch  eine  Geschichte  zur  tragischen 
Wendung  kam,  durfte  ich  nur  die  Stimme  ein  bisschen  tremolieren 
lassen  .  .  .  «das  aaahrme  Haserl**  .  .  .  dann  ging  dem  Jochei  plotzlich  ein 
Zucken  fiber  das  birtige  Gesicht.  Er  drehte  den  Kopf  auf  die  Seite, 
krfimmte  die  Schultem  unter  der  Joppe  und  ballte  die  Fluste,  um  sich 
gegen  die  aufsteigenden  TrMnen  zu  wehren.  Aber  es  half  nichts,  sie 
kollerten  ihm  schliesslich  doch  fiber  die  Backen  in  den  schimmemden 
Kapuzinerbart.    Und  dann  ging  das  Gelachter  los. 

Aber  trotz  mancher  Dummheit,  die  er  im  Dienst  anrichtete,  hielt 
ich  meinem  Jochei  durch  dick  und  dfinn  die  Stange.  Wenn  ihm  auch 
nichts  glfickte  —  sein  Fleiss  war  unermfidlich  bei  Tag  und  Nacht,  sein 
Wort  verllsslich  bis  aufs  Haar,  und  anstSndig  und  ehrenhaft  war  er  bis 
zu  seinem  Nachteil. 

Als  er  drei  Monate  bei  uns  war,  kam  er  einmal  mitten  in  der 
Nacht  und  trommelte  mich  aus  dem  Schlaf.  Keuchend  vor  Aufregung 
und  das  bleiche  Gesicht  von  Schweiss  fiberronnen,  stand  er  vor  meinem 
Bett.   »Herr  Dokter!  Jatz  hab  i  amal  ebbes!  Endli  amal  hab  i  ebbes!** 

Einen  Rehbock  mit  abnormem  Geweih,  auf  den  ich  seit  Wochen 
ebenso  eigensinnig  wie  resultatlos  pirschte,  hatte  er  am  Abend  beobachtet, 
und  jetzt  wusste  er  ganz  genau  den  Fleck,  auf  dem  sich  der  Rehbock  nieder- 
getan  hatte.  ,Den  schiassen  S',  Herr  Dokter  I  Passu  S'  auf,  den  schiassn  SM"* 

Wahrend  der  zwei  Stunden,  die  wir  in  der  Nacht  zu  marschieren 
hatten,  lief  dem  aufgeregten  Jochei  das  Maulwerk  wie  ein  Radl.  Lange 
vor  Tagesanbruch  waren  wir  an  Ort  und  Stelle.  Der  schwere  Mensch 
zitterte  neben  mir,  als  stfinde  er  vor  seiner  Hinrichtung.  Aber  die 
Sache  glfickte  —  ich  schoss  den  Rehbock. 


318 


.Geltn'  S',  jatz  habn  S'  a  Freid?  Geltn  S',  jatz  habn  S'  a  Freid?" 
Dieses  gleiche  Wort  haspelte  er  ein  dutzendmal  heninter,  ganz  nirrisch 
vor  Wonne  und  Aufregung.  Und  als  ich  ihm  beteuerte,  dass  ich  uber 
die  selten  schdne  Jagdbeute  wirklich  eine  grosse  Freude  hltte,  quetschte 
er  meine  Hand  und  stotterte:  »Jatz  muassen  S'  mer  aber  aa  oane  machen! 
Herr  Dokterl  Lassen  S'  mer  mei  Nannerl  heireteni*  Ein  wurgendes 
Schluchzen  fuhr  ihm  in  die  Kehle.  »Vor  vierzehn  Tig  bat's  mer  ge- 
schriebn,  dass  's  Kinderl  da  is!  Herrrrgott,  muass  dos  a  liabs  Dingerl 
sein!"  Seine  Augen  trdpfelten.  »Und  da  kon  i  dos  brave  Madl  do  aa 
net  dahoam  so  sitzen  lassen!' 

Nach  einigen  Tagen  konnte  ich's  dem  Jochei  mitteilen,  dass  ich 
bei  der  Jagdgesellschaft  den  Heiratskonsens  und  eine  Gehaltsauf- 
besserung  fur  ihn  herausgeschlagen  hitte.  Er  heulte  vor  Cluck  und 
wollte  die  paar  Gulden,  die  wir  ihm  zur  Reise  schenkten,  gar  nicht 
nehmen.  Den  Blick  der  Freude,  die  in  seinen  Augen  brannte,  als  er 
zur  Stube  hinaustorkelte,  hab  ich  nie  vergessen.  Aber  hundertmal  hab 
ich  schon  diese  Stunde  seines  .Gluckes*  verwunscht!  HMtt'  ich  ihm 
damals  nicht  den  Willen  getan  —  wer  weiss,  vielleicht  wire  der  Jochei 
Schuemacher  heute  ein  froher,  brauchbarer  Mensch! 

An  einem  Regentage  kam  er  angeruckt,  mit  dem  Nannerl  und  mit 
dem  Kind.  Ein  Schreck  fuhr  mir  durch  alle  Knochen,  als  ich  das 
Frauenzimmer  sah  —  eine  magere,  widerliche  Person,  verschlampt  vom 
Halstuchzipfel  bis  zum  Rocksaum  hinunter,  mit  diinnem,  strohfarbenem 
Haar,  mit  schlierigen  Augen  und  einem  grossen  Maul,  dem  man  die 
Gefrissigkeit  schon  ansah,  noch  bevor  es  aufklaffte,  um  die  gelben 
Hamsterzihne  zu  weisen.  Und  auf  dem  Arm  dieses  Weibsbildes  lag  in 
Lumpen  gewickelt  ein  rachytisches,  hissliches  Kind,  das  funf  Wochen 
alt  war  und  schon  mit  den  Augen  stumpfer  Lebenstrauer  in  den  Tag 
guckte.  Aber  der  Jochei  war  unentwegt  glucklichi  Und  lachte:  »Jatz 
haben  mer's!  Gott  sei  Lob  und  Dank!  Jatz  haben  mer'sl  Vergeltsgott 
tausetmal,  Herr  Dokterl* 

Beim  Anblick  dieser  Freude,  die  ich  schaffen  geholfen,  dachte  ich 
mir:  , Vielleicht  irrst  du  dich!  Du  siehst  nur  das  Ausserliche,  er  aber 
kennt  sein  Gltick!  Und  es  gibt  doch  auch  hissHche  Menschen,  die 
Berge  von  Gold  in  ihrem  Herzen  verhiillen  und  gute,  gliickschaffende 
Hlnde  besitzen!*" 

Aber  das  ^brave  Nannerl**  hatte  solch  ein  Herz  nicht,  und  nicht 
diese  HInde.  Sie  hatte  nur  dieses  Maul,  vor  dem  ich  erschrocken  war! 

Schon  nach  wenigen  Wochen  gab  es  zwischen  den  Jagerfamilien 
einen  Verdruss  um  den  andem.  Das  Nannerl  legte  Feuer  unter  alle 
Herde,  auf  denen  man  nicht  kochen  wollte.  Und  machte  Schulden 
beim  Krimer  und  in  den  Wirtshlusem  —  denn  sie  naschte  geme  und 
liebte  die  sussen  Likore,  weil  sie  behauptete,  dass  man  von  sussen 
Likoren  schone  Kinder  beklme  —  eine  Hofhiung,  zu  der  sie  schon 
wieder  Ursach  hatte. 

Bei  allem  Hader,  den  es  absetzte,  verteidigte  Jochei  sein  Nannerl, 
wie  ein  Held  seine  Burg.    Wenn  ich  ihn  um  der  Schulden  willen,  die 


^   319  %^ 


bei  der  Jagdgesellschaft  angemeldet  wurden,  ins  Gebet  nahm,  gab  er 
nur  zvLy  dass  sich  das  Nannerl  halt  nicht  so  recht  aufs  Hausen  ver- 
stlnde.    Aber  sonst!  «Aaah,  mei  Nannerl!* 

Die  reine,  treue,  gllubige  Seele,  die  in  diesem  blinden,  schwachen, 
verlorenen  Menschen  zuckte,  bezwang  mich  immer  wieder.  Als  Jagd- 
leiter  konnte  ich  ihm  mancherlei  Vorteile  zuschanzen,  die  ihn  iiber 
Nasser  hielten,  von  einem  Monat  zum  andern.  Aber  es  wurde  mit 
seiner  Wirtschaft  und  mit  dem  Nannerl  immer  schlimmer.  Doch  dem 
Jochei  gingen  die  Augen  nicht  auf.  Ein  Jahr  lang  brauchte  er,  bis  sie 
nur  ein  bisschen  zu  zwinkem  begannen,  so  dass  sie  das  Grobste  sahen. 
Dann  wurde  er  nachdenklich  und  schwermutig,  fuhlte  sich  von  alien 
Menschen  zuruckgesetzt  und  gekdinkt,  fuhrte  geheimnisvolle  Reden  und 
rannte  mit  dem  Gesicht  eines  todlich  Beleidigten  in  Wald  und  Feld  herum. 
Alle  anderen  Leute  waren  schuld  an  seinem  Ungluck,  nur  nicht  das  Nannerl. 

Manchmal,  wenn  wir  nach  guter  Jagd  in  lustiger  Gesellschaft  bei- 
sammen  sassen,  taute  er  bei  einem  Schoppen  Heurigen  aus  seiner  chro- 
nischen  Schwermut  auf,  wurde  fur  ein  paar  Stunden  wieder  der  prichtige 
Jochei  von  damals,  sang  seine  kleinen  Liedchen  und  tanzte  den  Schuh- 
plattler  mit  einer  Grazie,  dass  die  Wiener  JagdgMste  applaudterten. 

Nach  solchen  Abenden  hielt  bei  ihm  der  gute  Humor  wieder  ein 
paar  Wochen  an,  und  der  Lebenswille  machte  in  seiner  schwachen,  blinden 
Seele  einen  Ruck  nach  aufwirts.  Er  redete  seinem  Nannerl  „im  Guten*" 
zu,  gewohnte  sich  das  Rauchen  ab,  tat  keinen  Schritt  in  ein  Wirtshaus, 
sparte  an  Kleidern  und  Schuhwerk  bis  zum  aussersten  und  hungerte, 
um  die  Schulden  bezahlen  zu  konnen,  die  das  brave  Nannerl  wieder 
einmal  gemacht  hatte.  Stiegen  ihm  die  Sorgen  bis  an  den  Hals,  so 
setzte  er  dieses  gekrankte  Gesicht  wieder  auf  und  begann  wieder  dieses 
verlorene  Rennen  durch  Wald  und  Feld.  In  solchen  Zeiten  nahm  er 
eine  merkwiirdige  Gewohnheit  an:  er  redete  reines  Hochdeutsch!  Wenn 
ich  von  Wien  herauskam,  und  der  Jochei  Schuemacher  stellte  sich  stramm 
vor  mich  hin,  liess  den  vorgestreckten  Kapuzinerbart  zittem  und  sagte: 
»Herr  Docktohr,  ich  bitte,  heute  gMb  es  einen  f einen  Pirschgang  zu 
macheni"  . . .  dann  wusste  ich  gleich,  dass  mir  draussen  im  Wald  ein 
trauriges,  trSnennasses  Sttindchen  bevorstand,  und  dass  der  Jochei  ein 
paar  Zentner  Sorgen  vor  mich  hinschiitten  wurde,  die  erdnickend  auf 
seinen  Schultem  lagen.  In  Gottesnamen,  dann  half  ich  halt  wieder. 
Aber  auf  dieses  Weibsbild  hatte  ich  eine  Wut  —  zehn  Rosse  hStten  mich 
nicht  mehr  in  Jocheis  Stube  gebracht,  in  diesen  Schweinekotter  seines 
Gltickes,  in  dem  ein  braver  Mensch  verwahrloste  und  zwei  Kinder 
zwischen  Schmutz  und  Lumpen  hungerten,  wMhrend  das  Nannerl  gemut- 
lich  mit  den  HamsterzShnen  kaute,  vom  Morgen  bis  zum  Abend. 

Da  kam  es,  dass  ich  Wien  verliess  und  nach  Mtinchen  tibersiedelte. 
Die  Jagd  im  Wienerwald  blieb  meinen  Freunden,  und  mit  der  Jagd  blieb 
ihnen  auch  der  Jochei  Schuemacher  und  das  Nannerl. 

Zwei  Jahre  hdrte  ich  nichts  mehr  von  ihm.  Aber  als  ich  im  Hoch- 
gebirg  eine  Jagd  ubemommen  hatte,  war  eines  Tages  ein  verzweifelter 
Brief  vom  Jochei  da.    Im  Wienerwald  hatten  sie  ihn  mit  dem  Nannerl 


320  8^ 


Yor  die  Tur  gesetzt.  So  nahm  ich  ihn  halt  wieder  zu  mir,  ins  Hocta* 
gebirg.  Als  er  kam,  tat  mir  das  Herz  weh  vor  Erbannen  um  diesen 
braven  Menschen.  Dreissig  Jahre!  Und  wie  grau  schon!  Wie  ein  Funf- 
ziger  sah  er  aus!  Sein  bleich  durchschossener  Kapuzinerbart  zitteite^ 
als  er  mir  die  Hand  hinstreckte:  »Melde  mich  gehorsamst  zur  Stelle^ 
Herr  Docktohrl  Und  sage  vielmals  Dank!*  Jochei  Schuemacher  redete 
jetzt  n  u  r  noch  hochdeutsch.  Und  wie  ich  bald  erfahren  konnte,  lautete 
eins  von  seinen  hochdentschen  Lieblingswdrtchen:  .Dieses  verfluchchchte 
Weibl- 

In  dem  kleinen  Gebirgsdorf  lief  die  Wirtschaft  mit  dem  Nannert 
auf  den  gleichen  Fiissen  weiter,  wie  sie  im  Wienerwald  gegangen  war. 
Aber  der  Jochei  hatte  offene  Augen  bekommen.  Er  brachte  so  viet 
Energie  aus  sich  herans,  dass  er  beim  KrHmer,  bei  den  Nachbam  und 
bei  alien  Wirtsleuten  erkllrte,  fur  die  Schulden  seines  Weibes  nicht 
aufzukommen.  Und  wenn  ihn  der  jahzom  packte,  redete  er  mit  dem 
Nannerl  nicht  mehr  «im  Guten**,  sondem  im  Bdsen  —  er  prugelte  sie, 
bis  sie  winselnd  vor  ihm  auf  die  Knie  Bel  und  Besserung  gelobte.  Aber 
dieses  Versprechen  hielt  immer  nur  so  lange  an,  bis  die  blauen  Flecken 
vergangen  waren.  Schliesslich  bekam  der  Jochei  das  Prugeln  satt^ 
und  stumpf  ergab  er  sich  in  sein  Schicksal.  Auf  seine  Bitte  liess  ich 
ihn  vom  Friihjahr  bis  zum  Winter  einsam  in  einer  Jagdhiitte  hausen. 
Da  tat  er  ruhig  und  gleichmlssig  seinen  Dienst,  schickte  jeden  Monat 
von  seinem  Gehalt,  der  45  Gulden  betrug,  40  Gulden  fiir  Weib  und 
Kinder  ins  Dorf  hinaus  und  lebte  vier  Wochen  mit  den  restlichen  5  Gulden. 
Wie  er  das  fertig  brachte,  weiss  ich  nicht.  In  unserer  Kuche  hatte  ich 
den  Auftrag  gegeben,  dass  immer  etwas  bereit  stehen  sollte,  wenn  der 
Jochei  zum  Rapport  ins  Jagdhaus  kMme.  Er  behauptete  dann  immer, 
keinen  Hunger  zu  haben,  und  ass  erst  nach  langem  Zureden  —  nur 
um  nicht  ungefSUig  zu  erscheinen. 

Nahm  ich  ihn  als  Begleiter  mit  auf  eine  Pirsche,  so  philosophierte 
er  mit  mir  im  droUigsten  Hochdeutsch  (iber  die  Erschaffung  der  Menschen, 
iiber  das  Wesen  des  Todes  und  den  ^unexplizierlichen*'  Zweck  des  Lebens, 
uber  die  unsterbliche  Seele,  uber  .Gottes  Wohnort*  und  uber  das  «er- 
hoffenswierdiche*  Driiben,  „wo  es  aber  vermutttlich  auch  ganz  anderster 
aussieht,  als  man  sich  das  denkt  mit  seinem  dalkichten  Menschverstehst- 
mich!"  Dieser  sein  Hang  zu  spekulativen  Gesprdchen  verleidete  den 
anderen  Mitgliedem  der  Jagdgesellschaft  die  Lust,  mit  dem  Jochei  zu 
pirschen.  Auch  unsere  Gfiste  schossen  lieber  ihren  Hirsch-  und  Gems- 
bock,  als  dass  sie  zusammen  mit  dem  Jochei  die  WeltrMtsel  losten.  Er 
wurde  uberflussig,  und  man  hMtte  ihm  geme  den  Dienst  gekiindigt.  Aber 
ich  hielt  ihn. 

So  ging  es  ein  paar  Jahre  mit  ihm  weiter  —  und  mit  Schreck  be- 
gann  ich  zu  merken,  dass  seine  beiden  heranwachsenden  Midchen  ganz 
dem  braven  Nannerl  nachgerieten  und  dem  armen  Jochei  das  Leben 
noch  um  ein  paar  harte  Pfunde  schwerer  machten. 

Als  ich  eines  Friihjahrs  nach  langem  Winter  wieder  hinauskam  ins 
Jagdhaus,  ftihrten  die  Jilger  ganz  merkwurdige  Gesprdche  uber  die 


321  8^ 


Schuemacherin  und  den  Jochei,  von  dem  sie  nur  immer  per  vdummer 
Lapp*  und  .Schaf"  und  «Esel<*  redeten.  Und  schliesslich  sagte  mir's 
einer,  dass  das  brave  Nannerl  mit  dem  Knecht  eines  Nachbam  ein 
.Gspusi*  angefangen  hitte,  das  augenscheinlich  nicht  ohne  Folgen  wire. 

,Um  Gotteswillen!  Dieses  Scheusall  Findet  denn  die  noch  einen?* 

^Ah  jal*    Der  jager  lachte.    «Jedes  Haferl  kriagt  sein  Decker! I* 

Ich  Hess  den  Jochei  kommen  und  sagte  ihm,  dass  er  diesen 
Redereien  ein  Ende  machen  musse.  Stramm,  ohne  einen  Laut  zu  reden, 
stand  er  vor  mir  und  liess  den  Bart  zittern.  „Aber  Jochei?  Ko  nnen  sie 
\ielleicht  nicht  klagen?    1st  denn  ^irklich  ^as  Wahres  dran."* 

.Man  sagt  es,  Herr  Docktohrl  Und  es  diirfte  auch  kaum  ein 
Zweifel  hiewegen  zu  erheben  sein."" 

.  Aber  warum  werfen  sie  dann  das  Weibsbild  nicht  aus  dem  Haus?" 

.Nichts  Gewisses  weiss  man  nicht  von  wegen  dem  Kind.  Kann 
anch  von  mir  sein.** 

Gegen  diese  Philosophie  war  nichts  einzuwenden. 

Im  Laufe  des  Sommers  kam  das  Kind  —  ein  Buberl  mit  pech- 
schwarzen  Haaren.  Und  der  Jochei,  der  einmal  blond  gewesen,  erzUhlte 
jetzt  mit  Vorliebe,  dass  seine  Grossmutter  und  sein  Urahnl  ^kohlrappen- 
schwarze"  Haare  gehabt  batten. 

Die  Leute  vergassen  den  Skandal,  und  ein  Jahr  war  ausserlich 
wieder  Ruhe.  Nur  dass  der  Jochei  immer  schlechter  aussah,  immer 
verwahrloster  umherging,  kein  ganzes  Hemd  und  keinen  brauchbaren 
Schuh  mehr  hatte  und  uber  »Gottes  Wohnort*"  immer  konfusere  Reden 
fuhrte.  Alsjager  wurde  er  volHg  untauglich,  niemand  wollte  mehr  mit 
ihm  pirschen,  auch  ich  nicht  —  und  die  anderen  Jagdgehilfen  sagten: 
«Der  Jochei  spinnti'' 

Eines  Tages  kam  er  mit  aschfahlem  Gesicht  und  meldete,  dass  er  in 
einem  Revierteil,  in  dem  jeder  Abschuss  dem  Personal  aufs  strengste  ver- 
boten  war,  den  stMrksten  Hirsch,  einen  Zwolfender,  niedergeschossen  hitte. 

,Aber  Jochei  I* 

.Mich  hat  so  ein  Rappsch  gepackt,  Herr  Docktohr!  Da  hab  ich 
mich  was  umzubringen  fur  verpflichtet  gefunden,  und  sozusagen  gleich 
das  Allerbeste." 

Diesen  . Rappsch in  dem  er  hatte  morden  mussen,  verstand  ich. 
Und  damit  der  ungliickliche  Kerl  nicht  brotlos  wtirde,  verschwieg  ich 
die  Sache  vor  den  Mitgliedern  der  Jagdgesellschaft.  Aber  nach  einigen 
Tagen  kam  der  Jochei  selber:  .Herr  Docktohr,  es  thut  keinen  Guttt 
mehr  mit  mir!    Ich  bitte  gnddigst,  mich  zu  kiindigen."* 

Mit  Muhe  war  er  zu  beruhigen.  Aber  ich  begann  im  Flachland 
draussen  einen  Posten  fur  ihn  zu  suchen,  auf  dem  er  leichteren  Dienst 
hitte  —  fur  den  verantwortungsvollen  Beruf  eines  Hochgebirgsjigers 
war  dieser  zernittete  Mensch  nicht  mehr  zu  brauchen.  Auch  bednickte 
mich  immer  die  Sorge:  der  Jochei  springt  im  .Rappsch*  einmal  wo 
binunterl 

Wenige  Wochen  spMter  gab's  wieder  ein  Getuschel  —  uber  das 
Nannerl  und  einen  alten  Tagldhner,  der  im  Armenhaus  wohnte.  Eines 


322  8^ 


Abends,  als  Jochei  zum  Rapport  ins  Jagdhaus  kam,  brachten  ihm  die 
JSger  das  bei.  Und  spit  in  der  Nacht  erschien  er  bei  mir,  in  einer 
Aufregung,  dass  sich  an  seinen  Augen  das  Weisse  herausdrehte.  »Herr 
Docktohr,  ich  bitte  gnidigst  urn  Urlaub  bis  morgen.*  Und  wie  ein  Irr- 
sinniger  rannte  er  uber  das  Almfeld  davon,  in  die  sternhelle  Nacht 
hinaus,  dem  zwei  Stunden  entfernten  Dorf  entgegen. 

Am  folgenden  Mittag  kam  er,  mit  dem  Gesicht  und  den  Bewegungen 
eines  Betrunkenen.  „Herr  Docktohrl  Jetzt  ist  die  Angelegenheit  iiber 
alien  Zweifel  erbaben.    Heute  Nacht  habe  ich  das  Luder  erwischt.* 

»Und  hinausgefeuert?'' 

,Jawolll,  Herr  Docktohr!  Aber  das  verfluchchchte  Weib  ist  wieder 
herein  und  hat  sich  am  Ofen  angesprissen,  dass  ich  gar  nichts  nicht 
mehr  habe  machen  konnen.**  Sein  Bart  zitterte.  „Weil  die  Kinder 
auch  so  geschrien  haben.* 

Dem  Jochei  war  nicht  mehr  zu  helfen.  Und  doch  versuchte  ich 
noch  einen  letzten  Weg.  Zuerst  riet  ich  ihm  zur  Scheidung.  Aber  da 
schiittelte  der  Jochei  Schuemacher  hartnickig  den  Kopf.  »Herr  Docktohr, 
da  ist  keine  Aussicht  nicht  vorhanden.  Ich  bin  ein  guttter  Christ,  und 
die  Ebe  ist  ein  allerheuligstes  Sakrament.  Nach  diesem  elendiglichen 
Leben  will  ich  mindestenfalles  zu  Goltes  Wohnort  kommen.** 

Als  ich  dann  eine  gute  Stelle  fiir  ihn  gefunden  hatte,  sagte  ich 
ihm,  dass  er  sie  nur  antreten  durfe,  wenn  er  das  Nannerl  von  sick 
wegschobe.  Er  solle  sie  heimschicken  zu  ihren  Verwandten  und  ihr 
jeden  Monat  10  Gulden  geben.  Brauche  sie  mehr,  so  musse  das  brave 
Nannerl  eben  arbeiten.  Der  Rest  seines  Gehaltes  wire  ja  bei  seiner 
Sparsamkeit  fur  ihn  genugend,  um  eine  ordentliche  Magd  ins  Haus  zu 
nehmen,  die  seine  Wirtschaft  instand  halten  und  ihm  helfen  sollte, 
seine  beiden  verwilderten  Kinder  zu  erziehen. 

Er  streckte  den  Bart  vor.  „Bitte,  Herr  Docktohr,  ich  habe  drei 
Kinder  I" 

^Naturlich,  ja,  ich  habe  mich  nur  versprochen.* 

Ich  nahm  seine  Hand,  zog  ihn  zu  mir  auf  die  Bank,  stellte  ihm 
vor,  wie  das  mit  seinen  Kindem  werden  miisse,  wenn  es  das  brave 
Nannerl  in  der  gleichen  Couleur  so  weiter  triebe,  und  suchte  ihn  zu 
uberzeugen,  dass  es  fur  ihn  keinen  anderen  Ausweg  aus  seinem  Blend 
gibe,  als  die  Trennung  von  seinem  Weib,  wenn  auch  ohne  kirchliche 
Scheiduug.  Er  schien  das  einzusehen,  nickte  zu  allem,  was  ich  ihm 
riet  und  gab  mir  schliesslich  Wort  und  Handschlag,  dass  er  alles  g^nau 
so  machen  wolle,  wie  ich  es  ihm  vorgeschlagen  hatte. 

Einige  Tage  vor  seiner  Abreise  kam  er:  „Bitte,  Herr  Docktohr, 
nehmen  Sie  mich  heut  noch  einmal  mit  auf  die  Pirsch.**  Seine  Stimme 
schwankte.    »Eine  Freid  muss  der  Jochei  Schuemacher  noch  haben!* 

„  Aber  Jochei,  schauen  Sie  doch  zum  Fenster  hinaus,  wir  bekommen 
ja  grobes  Wetter." 

Ruhig,  in  seiner  sinnierlichen  Art,  sah  er  die  treibenden  Wolken 
an.  ^Nichts  aewisses  weiss  man  nicht,  es  kann  auch  wieder  guttt  werden.' 

Da  tat  ich  ihm  den  Gefallen.    Aber  es  wurde  nicht  gut.  Ein 


323  8^ 


schauerliches  Unwetter  uberfiel  uns,  und  ehe  wir  die  Jagdhutte  erreichten, 
gerieten  wir  unter  Blitz  und  Donner  in  eine  Finsternis,  in  der  man  bei 
jedem  Schritt  den  Hals  hitte  brechen  konnen.  Der  Jochei  kam  in  einen 
Zoniy  wie  ich  ihn  nie  gesehen.  Seine  »letzte  Freid**  war  ihm  verdorben! 
Wenn  ein  Blitz  uber  die  Felswinde  hinzuckte,  hob  er  die  geballte  Faust 
und  schrie  in  das  Brausen  des  Sturmes  und  in  die  schwarze  Finstemis 
binauf:  „Derschlag  mich  halt!  Derschlag  mich,  du!  Wirst  doch  einen 
braven  Weidmann  derschlagen  konnen,  der  eh  schon  umbracht  is! 
Derschlag  mich!  Halleluja!  Halloriodirio  .  .  Und  mit  kreischender 
Stimme  begann  er  im  strdmenden  Regen  eines  von  seinen  kleinen, 
heiteren  Liedchen  zu  singen. 

In  der  uberheizten  Jagdhiitte,  an  deren  Ofen  wir  unsere  Kleider 
trockneten,  betlubte  mich  der  schwiile  Dunst,  dass  ich  in  einen  Schlaf 
mit  widerlichen  Trdumen  fiel.  Mitten  in  der  Nacht  erwachte  ich.  Der 
Hiittenraum  war  kiihl  geworden,  draussen  wehte  der  Sturm,  und  driiben 
auf  dem  anderen  Kreister  hdrte  ich  den  Jochei  Schuemacher  im  Finstem 
leise  weinen.  Ich  ging  zu  ihm  hiniiber,  setzte  mich  auf  das  Bett,  packte 
ihn  am  Kapuzinerbart,  redete  ihm  eindringlich  zu  und  Hess  mir  wieder 
Wort  und  Handschlag  von  ihm  geben,  dass  er  alles  so  machen  wurde, 
wie  ich  es  ihm  geraten  hatte.  Ganz  ruhig  schwatzte  er  mit  mir,  und 
in  seinem  Herzen  schien  ein  warmes  Funklein  von  Hoffnung  und  Zuver- 
sicht  zu  erwachen. 

Drei  Tage  spSter  reisten  die  Schuemacherischen  ab.  Das  bisschen 
Hausrat,  das  sie  in  ihrer  ewigen  Not  noch  nicht  verkitscht  batten,  fuUte 
kaum  das  leichte  Wlgelchen.  Der  Jochei  hielt  das  kleine  Buberl  mit 
dem  schwarzen  Haar  auf  seinen  Armen,  und  das  brave  Nannerl  kaute 
mit  den  gelben  HamsterzMhnen,  gnisste  zum  Abschied  lachend  all  ihre 
guten  Freunde  und  versicherte  jedem:  ,Jatz  kriegen  wir's  nobel!  Jatz 
weard  mei  Jochei  a  Baronischer!* 

Nach  ein  paar  Wochen  hdrte  ich  von  einem  meiner  Jiger,  dass 
das  Nannerl  nicht  daheim  im  Salzkammergut,  sondem  draussen  im 
Flachland  beim  Jochei  wire.  Ich  wollte  das  nicht  glauben.  Aber  der 
Jdger  meinte:  „Do  hat  si  halt  wieder  angsprissen  am  Ofen!  So  oane 
woass,  wo  Gottes  Wohnort  is!" 

Mir  schrieb  der  Jochei  nie.  Die  letzte  Nachricht,  die  ich  von  ihm 
hdrte,  brachte  mir  der  Forster,  dem  der  Jochei  eine  bunte  Ansichtskarte 
geschickt  hatte  —  mit  einem  Fasan  drauf,  der  im  Feuer  aus  den  blauen 
Luften  stiirzt.    Auf  der  Karte  stand  mit  zitteriger  Hand  geschrieben: 

wGelibter  Bruhder  in  Huberto!  Filmaligen  Dank  fur  deine  libe 
Karde  mit  den  sdnen  Hirsch.  So  einen  Statzkerl  mecht  ich  halt  widder 
einmahl  in  natuhribus  sechen  aber  bei  uns  hir  ist  das  nichs.  Nuhr 
Hassen  und  sole  kleinwunzichte  Vicherln  ubereinand.  Aber  sonst  gets 
mir  gutt.  Das  Nannerl  is  widder  fest  bein  Zeig.  hat  schon  wilder  ein 
Schbusi,  lasst  nicht  aus!    Dein  ergehbener  Freind 

Jakob  Schuemacher, 
baron  Maudnerischer  RefirjSger  und 
Fasannwirder. 


324  8^ 


Gris  mir  den  Herrn  Dogter  filmalich  und  sag  ihm,  halt  nichts  fur 
ungutt!  Gelt!* 

Seit  drei  Jahren  hab  ich  keinen  Laut  mehr  vom  Jochei  gehdrt. 
Wie  es  ihm  geht,  ob  er  noch  lebt,  ob  er  noch  leidet  —  ich  weiss  nicht. 
Aber  ich  vermute:  das  Nannerl  lasst  nicht  aus! 

Bachmayer. 

Von  ihm  weiss  ich  nur  wenig  zu  erzlhlen.  Es  war  nichts  be- 
sonderes  an  ihm,  nur  dass  er  ein  bisschen  stotterte,  namentlich  in  Wdrtem, 
die  in  der  ersten  Silbe  ein  i  hatten.  Ein  Jiger  wie  hundert  andere  sind. 
Ich  habe  auch  nur  ein  einziges  Mai  mit  ihm  gejagt,  vor  etwa  12  Jahren, 
droben  im  Wettersteingebiet,  beim  Kdnigshaus  auf  dem  Schachen.  Kaum 
weiss  ich  mich  noch  zu  erinnem,  wie  er  aussah.  Und  doch  ist  er  mir 
im  Gedachtnis  geblieben,  um  zweier  Worte  willen,  die  er  mir  sagte. 
Das  eine  war  emst  und  gab  mir  viel  zu  denken.  Das  andere  war  heiter 
und  machte  mich  lachen. 

Bachmayer  diente  als  Jiger  auf  dem  Schachen  noch  zu  jener  Zeit, 
in  welcher  Konig  Ludwig  seine  einsamen  N&chte  in  dem  steinemen 
Schweigen  dort  oben  vertriumte.  Der  Jiger  war  beim  K5nig  wohlgelitten, 
sah  ihn  hiufig  und  konnte  mir  viel  von  ihm  erz&hlen,  von  seinen 
menschenfemen  Spaziergingen,  seinen  nichtlichen  Kahnfkhrten  auf  dem 
Schachensee,  von  des  Kdnigs  merkwiirdigem  Zahnarzt,  der  nicht  im  Hause 
wohnen  durfte  und  fiir  den  man  eigens  ein  Huttchen  bauen  musste,  von 
des  Konigs  Leben,  in  dem  sich  Tag  und  Nacht  vertauschte,  von  seinem 
freundlichen  Wohlwollen  fur  die  Sennleute,  von  seiner  warmen  Sympathie 
fur  alle  Tiere  —  und  besonders  von  einem  Ziegenbock,  der  des  Kdnigs 
Liebling  war  und  allzeit  freien  Eintritt  zu  alien  Gemachem  des  Konigs- 
hauses  hatte. 

Eines  Abends  wurde  Bachmayer  zum  Konig  gerufen,  und  als  er 
den  maurischen  Saal  betrat,  sass  der  Konig  in  heiterer  Laune  auf  dem 
Diwan  und  sah  lachend  dem  Ziegenbocke  zu,  der  mit  Liufen  und  Hdmem 
die  Seide  des  Diwans  zerfetzte  und  auch  sonst  den  Saal  in  recht  ublen 
Zustand  verwandelt  hatte. 

»Da  hab  i  mi  ninininimmer  halten  konna  und  hab  zum  Herm  Koni 
gsagt .  .  .  Maleschdit,  hab  i  gsagt,  wia  kdnnen  S'  denn  da  so  a  Min;ii- 
mimistviech  so  umanandhausen  lassen!  Und  wiwissen  S',  was  er  gsagt 
hat,  der  Herr  Koni?  Didieses  Tititithierl,  hat  'r  gsagt,  didieses  Tititithier, 
das  llllugt  nicht!* 

Wie  viel  Unwahrheit  muss  Konig  Ludwig  in  seinem  Leben  gehdrt 
haben,  um  heiter  und  geduldig  alle  Unart  eines  Tieres  ertragen  zb 
kdnnen,  nur  weil  es  nicht  lugt! 

Und  hinter  dieses  emste  Wort  will  ich  den  Satyrklang  des  anderen 
setzen,  das  ich  von  Bachmayer  hdrte.  Damals  war  mein  innerer  Mensch 
nicht  ganz  in  Ordnung,  und  nach  einer  anstrengenden  Gemspirsche 
musste  ich  immer  einen  Guss  Kognak  mit  Wasser  nehmen,  um  meine 
revoltierenden  Magennerven  zu  beruhigen.   Nun  kamen  wir  damals  am 


325  ^ 


crsten  Tag  nach  einer  vierzehnstundigen  Pirsche  spat  abends  in  die 
Hiitte  am  Schachensee.  Die  Kraxe,  die  mit  meinem  Zeug  vor  der  Hutte 
stand,  wurde  abgepackt,  und  ich  brach  eine  frische,  dreistemige  Flasche 
an,  urn  meinen  Beschwichtigungstrank  zu  brauen.  Die  ^Butalli''  —  wie 
Bachmayer  das  nannte  —  stellte  ich  in  der  HOtte  auF  die  Bank.  Dann 
assen  wir,  schwatzten  und  tranken  Flaschenbier  dazu.  Vor  dem  Schlafen- 
gehen  woUte  ich  den  Kognak  vors  Fenster  in  die  Kiihle  setzen.  Aber 
zu  meinem  Schreck  fand  ich  die  Flasche,  die  ich  voll  auf  die  Bank 
gestellt  hatte,  leer  bis  auf  den  letzten  Tropfen. 

vUm  Gotteswillen,  Bachmayer,  was  haben  Sie  denn  da  gemacht?*" 
„Marundjosef !  Muass  i  rein  aus  Versechn  dos  Flaschl  einigossen 
habcn  in  mein  Masskrug.*   Er  guckte  in  den  Krug.   Doch  der  war  schon 
leer.  «Hab  mer  aber  allwei  denkt,  warum  dos  Bibibibierl  gar  so  stark  is  I* 
Aber  geschadet  hat's  ihm  weiter  nicht. 


Der  Waldpriester. 

Bin  Satyrspiel  von  Paul  Heyse  in  Munchen. 

Naturam  expellas  furca  — 

Am  Abhang  des  Hymettos  eine  kleine  Waldbldsse,  darin  ein  ehemaliges 
Tempelchen  der  Artemis,  jetzt  zu  einer  Marienkapelle  umgestaltet,  ein  Kreuz  auf 
dem  Giebel,  das  Artemisbild  mit  einem  Heiligenscbein  umgeben.  Daneben  ein 
kleiner  Glockenturm,  an  den  eine  Kanzel  aus  rohen  Brettem  angebaut  ist. 
Eioige  Stufen  f&hren  hinauf. 

Nahe  bei  dem  Kirctalein  eine  niedere  Hiitte,  ein  Zaun  daneben,  der  einen  Stall 
und  ein  Girtctaen  einftisst   Vom  neben  der  HaustQr  ein  Tisch  und  ein  paar  Binke/ 

Theodores,  der  Waldpriester,  ein  noch  junger  Mann,  sitzt  zuriickgelebnt 
gegen  die  Huttenwand  auf  der  Bank  und  siebt  den  Berg  tainunter  in  die  Feme. 

Theodoros. 
Gott  sei  gelobt,  's  ist  Sonntag  heut, 
Der  Tag,  der  mich  vor  alien  freut. 
Da  man  von  aller  Wochenplag' 
Im  Dienst  des  Herm  ausruhen  mag. 
Die  meine  zwar  ist  nicht  gar  gross: 
Das  G&rtchen  zu  bewSssem  bloss. 
Die  Raupen  vom  jungen  Kohl  zu  lesen. 


-cMg  326 


Den  Weg  zu  siubern  mit  dem  Besen 
Und  was  noch  sonst  fur  Zeitvertreib. 
Alle  schwere  Arbeit  tut  mein  Weib, 
Damit  ich  jeder  Sorg'  entledigt 
Studieren  mag  auf  die  Sonntagspredigt. 
Nun,  dass  ich's  sage  frank  und  frei, 
Auch  das  ist  just  keine  Hexerei, 
Denn  die  Gemeinde,  die  auf  mich  hdrt, 
Ist  gar  einfiltig  und  ungelehrt 
Und  schon  sich  ganz  zufrieden  gibt. 
Sag'  ich,  Gott  hat  die  Welt  geliebt 
So  sehr,  dass  er  von  Huld  entbrannt 
Ihr  seinen  eigenen  Sohn  gesandt, 
Von  Siindenschuld  und  Fluch  des  B5sen 
Die  arme  Menschheit  zu  erldsen. 
Das  horen  sie  vergnugt  und  heiter 
Und  sundigen  unverdrossen  weiter. 
Nun,  gross  ist  Gottes  Barmherzigkeit!  — 
Wo  aber  bleibt  mein  Weib  nur  heut? 
Sie  kdnnte  lingst  mit  Brot  und  Wein 
Und  etwa  einem  leckren  Fisch 
Fur  unsem  mageren  Fastentisch 
Vom  Dorf  herauf  zurucke  sein, 
Kann  aber  drunten  kein  End'  gewinnen 
Des  Schwatzens  mit  ihren  Gevatterinnen 
Und  weiss  doch,  dass  ihr  lieber  Mann 
Nicht  eine  Predigt  mag  beginnen, 
Eh'  er  einen  guten  Trunk  getan. 
Nun,  fang'  ich  immer  zu  liuten  an, 
Ohne  mich  just  zu  ubereilen; 
Sie  reitet  herauf  wohl  unterweilen. 

(liutet  die  Glocke.   Erbllckt  den  Satyr  und  die  Nymphe,  die  scbiicbtem  aus  dem 

Walde  hervortreten.) 

Hilf  Himmel!  Was  kommt  da  fur  ein  Paar? 
Es  scheint  ein  Mittagsspuk  furwahr: 
Ein  greulich  Mannsbild  im  Zottelrock, 
Gleicht  ganz  und  gar  einem  Ziegenbock, 
Nur  dass  den  Kopf  er  aufrecht  trigt, 
Sich  auf  zwei  durren  Beinen  bewegt. 
Doch  neben  ihm  wie  lieblich  —  schau! 
Gar  rank  und  schlank  eine  junge  Frau, 
So  wohlgeschaffen,  ich  muss  gestehn, 
Wie  ich  mein'  Tage  nichts  gesehn, 
Nur  etwas  kurz  ihr  flattemd  Hemd. 
Sie  scheinen  hier  zu  Lande  fremd, 
Auf  Reisen  vom  rechten  Weg  verirrt, 
Halten  vielleicht  mich  fur  den  Wirt 


327 


Von  einer  Herberg  —  heiliger  Christ! 
Nun  erst  erkenn'  ich,  wer  es  ist: 
Ihm  wichst  ja  aus  dem  struppigen  Haar 
Bin  richtig  Teufelshornleinpaar, 
Und  funkeln  nicht  auch  dem  schdnen  Kinde 
Die  Augen  wie  die  leibhaft'ge  Sunde? 
Mich  zu  versuchen  kommen  die  Zwei; 
Die  sollen  erfahren,  wer  ich  sei! 
(ergreift  ein  Knizifix,  das  auf  dem  Tiscbe  steht,  scbwingt  es  gegen  die  Beiden.) 
Ha,  Hollenunhold,  weich  zuriicke! 
Ich  kenn'  dich  wohl  und  deine  Tucke, 
Und  du  auch,  Frau  Luxuria, 
Ich  rat'  euch,  kommt  mir  nicht  zu  nah! 
Dieser  Bezirk  bier  ist  geweiht.  — 
Ihr  riihrt  euch  nicht?  So  frechlich  seid 
Ihr  in  eu'r  teuflisch  Gewerb  verbissen? 
Geduld  nur!  werdet  schon  weichen  mussen. 
Ich  hole  mir  meinen  Weihbrunnwedel, 
Damit  bespreng'  ich  euch  den  Schidel, 
Dass  ihr  mit  Stank  im  Augenblick 
Fahrt  in  die  tiefste  HoUe  zuruck! 
(will  ins  Haus.) 

Der  Satyr. 
Halt,  guter  Freund!  Wo  willst  du  bin? 
Nichts  feindlichs  haben  wir  im  Sinn. 
Dein  Bimmelglockchen  lockt'  uns  her, 
Ob  hier  ein  gastlich  Obdach  wir', 
Ein  guter  Trunk  auch  zu  erlangen, 
Wie  uns  in  Tagen  ISngst  vergangen 
Hier  am  Hymettos  ward  gewahrt, 
Da  man  uns  noch  als  Gdtter  ehrt' 
Auf  unsrer  schweifenden  Wanderfahrt. 

Theodoros. 
Gdtter?  mit  solchem  Ziegenbart? 
Hor'  eins  die  albeme  Prahlerei! 

Der  Satyr. 
Ach  wohl,  die  Zeit  ist  nun  vorbei. 
Da  meine  Freundin  in  der  Schar 
Der  Artemis  eine  Jigerin  war 
Und  ich,  nun  leider  irr  und  arm, 
Ein  Haupthahn  in  des  Bakchos  Schwann. 
Hast  du  von  Satym  nie  vemommen? 

Theodoros. 
Sind  nur  in  Fabeln  mir  vorgekommen. 


328  5^ 


Satyr. 

Nun,  einer  steht  leibhaFtig  hier, 

Und  was  mit  dem  sich  zugetragen, 

Lass  nach  der  Wahrheit  jetzt  dir  sagen. 

Vor  dreissig  Jahren  schwarmten  wir 

Mit  Paukenlirm  und  Saus  und  Braus 

Dem  Meister  nach  talein,  talaus, 

Da  kam  in  ihren  Jagdgehegen 

Die  grosse  Gdttin  uns  entgegen. 

Das  Felsgeiand  und  Busch  und  Wald 

Von  trunknem  Jauchzen  widerhallt', 

Als  wir  bei  FlSt'  und  Cymbeltakt 

Die  schlanke  Nymphenschar  gepackt, 

Sie  schwangen  hoch  in  wildem  Reigen. 

Auch  Bakchos  wollte  sich  artig  zeigen 

Und  hot  der  Schwester  zum  Tanz  die  Hand, 

Die  naserumpfend  sich  abgewandt; 

Sie  sah,  er  war  nicht  allzu  nuchtern. 

Doch  ihre  Gespielen,  erst  noch  schuchtern, 

Gaben  sich  bald  mit  offner  Brust 

Und  fliegenden  Haaren  hin  der  Lust, 

Bis  ihre  Herrin  in  hellem  Zom 

Stiess  in  ihr  guldenes  Jigerhom, 

Ihr  Volk  zu  sammeln  von  nah  und  fern. 

Mich  diinkt,  nicht  Eine  gehorchte  gem. 

Auch  Die  hier  wollte  mir  entschwinden, 

Sich  strSubend  meinem  Arm  entwinden, 

Ich  aber  hielt  die  Willige  fest 

Und  trug  sie  dicht  an  mich  gepresst 

Durch  Busch  und  Dom  in  eine  Schlucht, 

Wo  uns  kein  Spaherblick  gesucht. 

Da  kauerten  wir  im  Dickicht  still, 

Bis  Korybanten-  und  Panthergebrull 

Und  Hornerruf  der  Nymphenschar 

In  Femer  Weite  verklungen  war, 

Und  wir  aufatmend  ohne  Sorgen 

Sahn  uns  in  Waldesnacht  geborgen. 

Theodoros. 
Ha,  tischest  du  mir  Mirchen  auf? 
Doch  sprich  nur  weiter! 

Satyr. 

Tags  darauf 

Haben  wir  sacht  auf  fliicht'gen  Sohlen 
Gen  Mittemacht  uns  fortgestohlen, 
Stets  wandernd,  bis  wir  Leute  fanden. 


329 


Die  Griechenwort  nicht  mehr  verstanden, 
Taten  uns  aber  nichts  zuieid. 
Da  sahen  wir  uns  in  Sicherheit, 
Galten  fur  ein  vermfihltes  Paar 
Und  lebten  friedlich  so  manches  Jahr, 
Vom  Hirtenvolklein  jungen  und  alten 
Gastfreundlich  hoch  in  Ehren  gehalten. 
Ich  iehrte  die  Vfiter  Reben  pflanzen, 
Die  Jugend  F15te  blasen  und  tanzen, 
Indes  die  Freundin  ihren  Spiess 
Nach  manchem  Waldtier  sausen  Hess, 
So  dass  es  nie  an  Fleisch  gebrach. 
Doch  ward's  einfdnnig  allgemach, 
Wie  also  Jahr  um  Jahr  verrann, 
Auch  wandelt'  uns  ein  Heimweh  an, 
Mich  nach  den  weingefullten  Schlfluchen, 
Faunensprungen,  Bakchantenbriuchen, 
Meine  Liebste  nach  ihren  Jagerinnen. 
So  schieden  wir  eines  Tags  von  hinnen 
Und  wanderten  siidwarts  Tag  und  Nacht, 
Fanden's  aber  anders,  als  wir  gedacht. 

Theodoros. 
Will's  meinen. 

Satyr. 

Verwandelt  Alles  umher, 
Keine  Tempel  unsrer  Gdtter  mehr, 
Nach  denen  rings  wir  vergebens  fragten, 
Und  wo  noch  Mauem  und  SSulen  ragten, 
Ein  Kreuz  hoch  auf  dem  Giebel  stand. 
Wir  selber  den  Menschen  unbekannt 
Erweckten  Abscheu,  Furcht  und  Graus, 
Und  niemand  nahm  uns  in  sein  Haus. 
Meine  Hdmlein  schauten  sie  an  mit  Grauen, 
Wiesen  sich  ingstlich  meine  Klauen, 
Ganz  wie  uns  hier  bei  dir  geschehn. 
Da  batten  wir  vieles  auszustehn, 
Hunger  und  Unglimpf  aller  Art, 
Wenn  sich  das  Volk  zusammenschart', 
^    Mit  Steinwurf  uns  hinwegzujagen. 
*  Du  aber  wollest  uns  freundlich  sagen, 
Scheinst  ja  ein  Mann  von  mildem  Sinn: 
Wo  kamen  die  alten  Gdtter  bin, 
Zumal,  die  wir  so  lange  Zeit 
Gemieden,  was  nun  uns  bitter  reut? 

Monatthefte.   1, 4.  22 


330  g-v- 


Theodoros. 
Mein  lieber  Herr,  ich  sag'  es  frei, 
Ihr  seid  furwahr,  ihr  werten  Zwei, 
Indes  ihr  euch  durch  die  Welt  getrieben, 
Weit  hinter  der  Zeit  zuruckgeblieben, 
Dass  ihr  noch  heutzutag  nicht  wisst, 
Wie  Gottes  Sohn,  Herr  Jesus  Christ, 
Den  alten  Gdttern  macht'  ein  End' 
Und  selbst  ergriff  das  Regiment. 
Wo  Vater  Zeus  sich  hingewandt 
Samt  Allen,  die  ihm  blutsverwandt, 
Ais  ihn  Gottvaters  einiger  Sohn 
Herunterstiess  vom  Herrscherthron, 
Kann  ich  nicht  sicher  offenbaren. 
Zur  Hdlie,  heisst's,  sei'n  sie  gefahren, 
Alldort  mit  andern  Fluchdimonen 
Der  Menschheit  zum  Verderb  zu  wohnen. 
So  hdrt'  ich  aus  des  Bischofs  Mund, 
Doch  ob  es  wahr,  ist  mir  nicht  kund. 
Gewiss  ist  nur:  der  neue  Thron 
Steht  ein  halbhundert  Jahre  schon; 
Die  Gdtter,  denen  ihr  verbunden, 
Sind  mit  den  iibrigen  verschwunden, 
Und  ihr  —  es  tut  mir  wahrlich  leid  — 
Passt  nicht  mehr  in  die  neue  Zeit. 

Satyr. 

Hat  dtese  Zeit  denn  neuen  Branch, 
Und  gibt  es  neue  Menschen  auch, 
Menschen,  die  nicht  mehr  durch  den  Wald 
Hinschwirmen,  wenn  die  Pauke  schallt, 
Das  Feuerblut  der  Rebe  trinken, 
Bis  ihnen  schwer  die  Wimpem  sinken, 
Oder  abseits  vom  wilden  Schwann 
Sich  schleichen  in  eines  Liebchens  Arm 
Und  immer  wandeln  auf  der  Spur 
Der  alten  Mutter,  der  Natur? 

Theodoros. 
Natur?  Das  Wort  ist  heut  verpdnt. 
Wer  ihrer  sich  nicht  streng  entwohnt 
Und  huldigt  fromm  dem  Geist  allein, 
Kann  hier  und  dort  nicht  selig  sein. 
Der  alten  Gotter  arge  Sitten 
Heut  werden  nimmer  sie  gelitten, 
Und  wer  nicht  bind'gen  mag  sein  Blut, 
Nicht  Trunk  und  Buhlschaft  von  sich  tut, 


331  8^ 


Wird  nach  dem  Tode  in  Flammenqualen 
Die  Busse  fur  seine  Sunden  zahlen 
An  einem  ewig  finstern  Ort. 

D  e  r  Satyr  (zu  der  Nymptae). 
Sunde?  Was  meint  er  mit  dem  Wort? 
(Sie  zuckt  die  Achseln.) 

Th  eodoros. 
Mich  dau'rt,  wie  ihr  unwissend  seid 
In  aller  Lehre  der  Christenheit 
Und  drum  zur  Hollen  einst  verdammt. 
So  will  ich,  wie  gebeut  mein  Amt, 
Des  neuen  Glaubens  euch  belehren. 

Der  Satyr. 
Spar  deine  Muh'!  Ich  mag  nichts  horen 
Von  neuen  Gdttem,  will  den  alten, 
So  heut  entthront,  die  Treue  halten, 
Mag  kommen,  was  da  will,  dereinst. 
Nur  sage,  wenn  du's  gut  uns  meinst, 
Wie  fangen  wir's  an,  dass  wir  geborgen 
Vor  Feinden  seien  und  Nahrungssorgen? 

Theodores. 
Hm!  Rat  zu  diesem  wusst'  ich  auch. 
Ihr  musset  nur  nach  Christenbrauch 
Von  meiner  Hand  die  TauP  empfahn. 

Der  Satyr. 
Taufe?  Was  ist  das?  Sag  mir  an! 

Theodores. 
Es  ist  wohl  leichter,  als  ihr  glaubt. 
Mit  Wasser  netz'  ich  euch  das  Haupt, 
Wenn  ich  zuvor  den  Glauben  sprach. 
Sonst  spricht  ihn  mir  der  Taufling  nach, 
Doch  da  ihr  zwei  erwachsne  Lent' 
Noch  dumm  und  blind  wie  Kinder  seid, 
Genugt's,  wenn  es  der  Priester  tut. 
Alsdann  treib'  ich  aus  euerm  Blut 
Den  Teufel  aus  samt  seinen  Werken. 
Das  wird  euch  wundersam  bestirken, 
Hinfort  zu  leben  nach  der  Schnur 
Und  abzusagen  der  Natur. 

Der  Satyr 

(nachdem  er  mit  der  Nymptae  ein  Wort  getausctat,  die  dann  nacta  dem  Kirchlein  getat). 
Meinthalben  tu',  wie  du  gesagt. 

22* 


^    332  SH- 


Dass  uns  nicht  ferner  der  Hunger  plagt, 
Woli'n  wir  uns  sonder  Schimen  und  GrSmen 
Dem,  was  du  Taufe  nennst,  bequemen, 
Wenn's  dann  nur  bald  zu  Tische  geht. 

Theodoros. 
Noch  eins!  So  wie  ihr  geht  und  steht, 
Durft  ihr  die  Kirche  nicht  betreten. 
Im  Kimmerlein  mdgt  ihr  nackend  beten, 
Doch  ziemte  sich's,  dass  beim  Gottesdienst 
In  zucht'gen  Kleidem  du  erschienst, 
Und  auch  an  deiner  Frau  gewiss 
N&hm'  die  Gemeind'  ein  Argemis. 
So  musst  ihr  denn  nach  Landesbrauch 
Euch  kleiden  und  betragen  auch. 
Ich  hoi'  euch  etliches  Gewand, 
So  gut  mir's  eben  ist  zur  Hand. 

(ab  ins  Haus.) 

Der  Satyr  (ibm  nachrufend). 
Nur  flink!  Vor  Durst  verschmacht'  ich  schier. 
Die  Zunge  klebt  am  Gaumen  mir 
Wie*n  durres  Blatt. 

(nacb  dem  Kirctalein  blickend) 
Ha,  aber  du, 
Was  spMhst  du  dort  und  winkst  mir  zu? 
Ist  was  Besondres  dort  zu  schauen? 

Die  Nymphe  (kommt  zuriick). 
Kaum  kann  ich  meinen  Augen  trauen! 
Denk,  was  im  Tempelchen  ich  fand: 
Ein  Marmorbild  steht  an  der  Wand, 
Das  gleicht  genau  —  wahr  und  gewiss  — 
Meiner  grossen  Gottin  Artemis, 
Obwohl  eines  langen  Kleides  Falten 
Verhtillt  die  schlanken  Glieder  halten. 

Der  Satyr. 
Nein,  was  du  sagst! 

Die  Nymphe. 

Nur  fehlt  der  Bogen, 
Und  um  das  Haupt  ward  ihr  gezogen 
Ein  goldner  Reif  von  lichtem  Schein, 
Auch  hingt  vor  ihr  ein  Limpchen  klein, 
Das  brennt,  obwohl  es  heller  Tag. 
Sage,  was  das  bedeuten  mag. 


333 


Der  Satyr. 
Der  Priester  soil's  uns  offenbaren. 
(Thttpdoros  aus  dem  Haus,  trigt  Kleider,  einen  Hut  und  Schuhe.) 

Theodoros. 
Nun  musst  ihr  rasch  in  die  Kleider  fahren. 
Du  bist  an  Schultera  mfichtig  breit, 
Zersprengtest  mir  mein  Werktagskleid, 
So  hinge  dir  bequemlich  urn 
Dies  alt  verschlissene  Pallium, 
Den  Hut  tief  in  die  Stirn  gednickt, 
Dass  man  die  Hdmlein  nicht  erblickt, 
Und  deine  Bocksfuss'  zu  bekleiden, 
Musst  an  den  Klau'n  die  Schuhe  leiden. 
Doch  Kr  das  Fraulein  hab'  ich  —  schau!  — 
Bin  altes  Fahnchen  meiner  Frau, 
Nicht  schmuck  und  prunkhaft  uberaus, 
Doch  nimmt  sie  drin  sich  ehrbar  aus, 
Kann  so  zur  heiligen  Taufe  gehen. 

Die  Nymphe  (lacbt). 
Der  Plunder  wird  mir  lustig  stehen! 

Der  Satyr 
(wibrend  er  sich  ankleiden  lisst). 
Sag,  guter  Freund,  wenn  hier  zu  Land 
Die  alten  Gdtter  sind  verbannt, 
Wie  kommt's,  dass  man  im  Kirchlein  liess 
Das  Bild  der  JMgerin  Artemis? 
Myrrhine  hat  sie  gleich  erkannt. 

Theodoros. 
Torheit!  Maria  ist  sie  genannt, 
Die  drinnen  abgebildet  ist, 
Die  Mutter  unsres  Herren  Christ. 
Die  Glorie  zeigt's  um  ihr  Gesicht, 
Dazu  des  ewigen  Limpchens  Licht. 
Ist  gar  ein  uralt  heilig  Bild, 
Mit  micht'ger  Wunderkraft  erfullt; 
Wir  halten  grosse  Stucke  drauf. 
Doc^  seht,  da  kommt  vom  Dorf  herauF 
Mein  Ehweib,  Anastasia. 
Nun,  liebes  Herz,  bist  endlich  da? 

(leise  zum  Satyr) 
Nur  gut,  dass  sie  euch  nicht  gesehn 
In  eurer  BlSsse  vor  ihr  stehn, 
Denn  zuchtig  ist  sie  uber  die  Massen. 
(laut) 


334  ^ 


Hast  dich  ja  lang  erwarten  lassen, 
Indessen  kamen  uns  Gflst'  ins  Haus. 
Nun,  pack  nur  erst  deine  Waren  aus! 

Anastasia 

(steigt  von  dem  Esel  ab,  an  dessen  Sattel  recbts  und  links  ein  Scblaucb  mit  Weln 
und  ein  Korb  mit  Brot,  Kise,  trocknen  Feigen  und  anderem  Vorrat  bingt,  be- 
trtcbtet  erstaunt  die  Fremden). 

Gott  gruss'  euch!  Saget,  wer  ihr  seid! 

Du,  Frauy  wie  kommst  du  zu  meinem  Kleid, 

Und  du  zum  Pailium  meines  Manns? 

Theodores. 
Sie  waren  abgerissen  ganz, 
Verhungert  halb  und  halb  erfroren. 
Der  Mann  hatt'  seinen  Rock  verloren, 
Des  Frfluleins  Kleid  hing  nur  in  Fetzen; 
Wir  woirn  mit  Speis'  und  Trank  sie  letzen. 
Sie  zeigen  eine  grosse  Begier, 
Die  Taufe  zu  empfahn  von  mir. 
Kommt!  Eh'  der  Gottesdienst  beginnt, 
Stflrkt  euch  mit  Brot  und  Wein  geschwind, 
Auch  Kfis'  und  Feigen  hat  wohlbedacht 
Meine  Stasi  aus  dem  Dorf  gebracht. 
Nun  hebt  zum  leckem  Mahl  die  HSnde! 

Anastasia 

(die  Fremden  misstrauisch  betrachtend,  leise  zu  ibrem  Manne). 
Wenn's  fahrend  Gesindel  wSr*  am  Ende  — ! 
Er  schaut  ganz  wacker  aus  den  Augen, 
Sie  aber  scheint  nicht  viel  zu  taugen. 

Theodoros. 
Ei  was!  Verirrte  Wandrer  laben, 
Wird  immer  Lohn  vom  Himmel  haben, 
Da  fragt  man  nicht  erst  wer  und  wie. 
(setzt  sich,  indem  er  Myrrtaine  an  den  Tisch  fuhrt  und  dem  Satyr  winkt,  ebenftdls 
zu  kommen.   Die  Frau  trigt  die  Speisen  aus  dem  Korbe  auf,  holt  dann  Bectaer  aus 
dem  Hause  und  einen  Krug,  den  sie  aus  dem  Schlauch  fullt.   Diesen  setzt  sie 
dann  zwischen  sich  und  dem  Satyr  auf  die  Erde.) 

Theodoros. 
Nun  seht,  ihr  Freunde,  so  lebt  man  hie, 
Begniigt  mit  dem,  was  Gott  beschert, 
Zuchtig,  bieder  und  ehrenwert, 
Von  allem  uppigen  Schwelgen  fern, 
Dankt  Fur  das  Wenige  Gott  dem  Herm 
Und  bittet  ihn,  von  allem  Bdsen 
Uns  schwache  Menschlein  zu  erlosen. 


335  §^ 

Nicht  in  Versuchung  uns  zu  fiihren, 
Dass  wir  nicht  Zugel  und  Zaum  verlieren, 
Wie  in  der  gottlosen  Heidenzeit.  — 
FrSulein,  gar  hubsch  steht  dir  das  Kleid. 
(streictaelt  ihr  die  Sctaulter.) 

Anastasia  (zum  Satyr). 
Ich  merke  wohl,  du  bist  galant, 
Doch  lass  von  meinem  Arm  die  Hand 
Und  ruck  ein  wenig  weiter  ab! 

Theodores. 
Trink,  Freund!  Was  mir  der  Himmel  gab, 
Mit  meinen  Briidern  tell'  ich's  gem. 
Behagt  der  Wein  dem  fremden  Herm? 
Haha!  statt  Antwort  mir  zu  sagen, 
Nimmst  du  den  vollen  Schlauch  beim  Kragen. 
Ha,  du  verstehst  es?  Gluck  —  gluck  —  gluck  — 
Lass  auch  uns  Andem  noch  einen  Schluck! 
(nimmt  itam  den  Schlauch  vom  Munde,  tut  einen  langen  Zug  ) 
Hast  Recht:  das  ist  der  wahre  Branch, 
Zu  schlurfen  aus  dem  vollen  Schlauch. 
Probier's  nur  auch,  du  holdes  Kind, 
Wie  sanft  er  durch  die  Kehle  rinnt, 
Dann  reich'  ihn  meiner  Stasi  Mund, 
So  geh'  das  Trinken  in  die  Rund. 
Schon  will  die  Welt  mich  schoner  dunken, 
Zwei  lichte  Sterne  seh'  ich  blinken. 
Wie  ist  dein  Name,  Fraulein  zart? 

Die  Nymph e. 

Myrrhine. 

Anastasia  (zum  Satyr). 
Ei,  dein  Fuss  ist  hart. 

Der  Satyr. 
Ist  zMrtlich  doch  und  gut  gemeint. 

Anastasia. 
Du  bist  ein  Schlimmer,  wie  mir  scheint! 

Der  Satyr. 
Ich  bring'  es  dir. 

Theodoros 
(entreisst  ihm  den  Schlauch). 

Her  mit  dem  Wein! 
Auf!  Lasst  uns  singen  und  lustig  sein! 
(slngt) 


336 


Bakchos  lebe! 
Lasst  uns  trinken 
Biut  der  Rebe» 
Bis  wir  sinken, 
Kussen  jede  schlanke  Hebe! 
EvoS,  evoS,  ailalala! 

Der  Satyr  (singt). 
Schwingt  euch  im  Reigentanz 
Rebenbekrinzt, 
Rufet  die  gdttliche 
Jdgerin  Artemis, 
Ruft  den  Di6nysos, 
Dem  im  MSnadenschwarm 
Tninken  das  Auge,  das  flammende,  glinzt 
Evo^y  evoe,  ailalala! 

(Theodores  und  die  Frauen  wiedertaolen  die  letzten  Zeilen.   Dann  erhebt  tich 
TheodoroSy  ergreift  Myrrhine  und  schwingt  sie  henim,  der  Satyr  folgt  mit  Anastasia. 
P15tzlich  hdrt  man  Schellengeliut  von  unten  herauf.  Alle  stehen  still.) 

Theodores. 
Himmel!  Da  kommt  vom  Dorf  zuhauf 
Zur  Predigt  die  Gemeinde  herauf; 
Die  durfen  uns  nicht  so  lustig  finden. 
Myrrhine,  komm,  lass  uns  verschwinden! 
(eilt  mit  ihr  in  das  Girtchen.) 

Anastasia. 
All  ihr  Heil'gen,  wie  seh'  ich  aus! 
Zerzaus't,  verwustet!  Geschwind  ins  Haus! 
(liuft  hinein,  der  Satyr  folgt  ihr.) 
(Von  unten  kommt  der  Dorfschulze  auf  einem  mit  Schellen  aufgeschirrten  Maul- 
tier  geritten,  hinter  ihm  Bauem  mit  Weibem  und  Kindem.) 

Dorfschulz  (steigt  ab). 
Da  wfiren  wir!  Der  Himmel  weiss: 
Der  Weg  zur  Andacht  kostet  Schweiss, 
Nicht  mir  sowohl,  als  meinem  Tier. 
Nun  mag  sich's  auf  der  Wiese  hier 
Und  wir  an  Gottes  Wort  erquicken. 
Doch  lisst  sich  noch  kein  Priester  blicken. 
Geh  einer  nach  dem  Kirchlein  hin. 
Wohl  auf  den  Knieen  liegt  er  drin, 
Sich  vor  der  Gottesmutter  neigt, 
Bevor  die  Kanzel  er  besteigt. 
Doch  wie?  Dort  auf  dem  Tisch  die  Reste 
Von  einem  schwelgerischen  Feste, 
Wo  Wein  in  Strdmen  ist  geflossen. 


337 


Vier  Becher,  zweie  umgestossen, 

Der  grosse  Schlauch  schier  ganz  geleert? 

Hier  sind  wohl  Gftste  eingekehrt, 

Haben  den  Gottesmann  verfuhrt, 

Dass  er  unmissig  pokuliert* 

Muss  einmal  nachschauen  doch  im  Haus. 

(Indem  er  sich  dem  Hause  nlhert,  h5rt  man  drinnen  Anastaiia  leise  schreien, 
zugleicta  einen  Angstruf  Myrrhine's  aus  dem  Girtchen.) 

Was  dringt  fur  ein  Geschrei  heraus? 

Ha,  Sund'  und  Schand'!  Am  Sonntag  heut! 

Da  kam  ich  just  zur  rechten  Zeit! 

(eilt  ins  Haus.  Zwei  Bauern  laufen  in  den  Garten.  Gleich  darauf  kehrt  der 
DorfBchulz  zurQcky  den  Satyr  am  Otarlippchen  herauszerrend.) 

Dorfschulz. 

Ha,  grober  Lummel,  Bestie  du! 
Noch  grade  recht  kam  ich  dazu, 
Hottest  sonst  in  deiner  Niedertracbt 
Das  biedre  Weib  in  Schande  bracht. 
Nun  sollst  du  deinen  Frevel  bussen. 
He,  bindet  ihn  an  HMnden  und  Fussen, 
Alsdann  noch  heut,  wie  sich's  gebuhrt, 
Werd'  ein  Exempel  an  ihm  statuiert, 
Denn  wissen  musst  du,  schndder  Wicht: 
Der  Dorfschulz  ist's,  der  mit  dir  spricht. 

(Der  Satyr  will  eben  antworten,  da  kommen  die  beiden  Bauern  aus  dem  Garten 
zurfick,  Myrrbine  f&hrend,  der  die  Kleider  halb  vom  Leibe  gerissen  sind.  Theodores 
fblgt  mit  einer  Armsundermiene.) 

Ein  Bauer. 

Herr  Schulz,  im  Garten  fanden  wir 
Das  fremde  Frauenzimmer  hier, 
Die  wehrte  sich  und  kratzt'  und  biss, 
Da  sie  nicht  los  der  Priester  Hess. 
Da  kommt  er  selbst.  Verhdrt  ihn  nur! 

Dorfschulz  (zu  Myrrhine> 

Ha,  du  zuchtlose  Kreatur, 

Geht  mit  so  wenigem  Gewand 

Ein  ehrbar  Weibsbild  durch  das  Land? 

My  rrhine. 

Das  fragt  den  Pfaffen,  der  mag's  wissen, 
Wollte  mit  aller  Gewalt  mich  kussen 
Und  riss  mir,  da  ich  mich  gewehrt. 
Das  Kleid  in  Fetzen. 


338  8^ 


Dorfschul^. 

Hdrt  nur,  h5rt! 
Theodorosy  der  Gottesmann, 
So  grosser  Sund'  klagst  du  ihn  an? 
Ha,  LSgenbnit,  ins  Loch  mit  dir 
Und  dann  bestraft  gleich  Diesem  bier! 
In  Fesseln  legt  mir  alle  Zwei! 

Der  Satyr  (stdtst  die  Bauern  zurQck). 
Wer  Beulen  liebt,  der  komm'  herbei! 
Meint  ihr,  wir  trugen  gross  Verlangen, 
Noch  mehr  Gastfreundschaft  zu  empfangen? 
Scheinheilige  Tropfe,  die  ihr  seid 
Und  prahlt  mit  eurer  Ehrbarkeit, 
Und  lodert  doch  auch  euch  im  Blut 
All  Sinnenbrunst  und  Gier  und  Glut, 
Wodurch  der  Gott,  den  ich  verehre, 
Gibt  eurer  Heuchelwelt  die  Lehre, 
Dass  sie  auch  steht  im  Banne  nur 
Der  grossten  Gottin,  der  Natur. 
Und  ihr  woUt  mich  in  Ketten  schliessen? 
Den  Staub  schleudr'  ich  von  meinen  FiissenI 
Da,  nehmt  die  Schuh',  die  mich  beengt. 
Den  Rock,  drein  ich  den  Leib  gezwingt. 
Den  Hut,  den  ich  mir  aufgesetzt 
Zum  Mummenschanz.  Kennt  ihr  mich  jetzt? 

Dorfschulz. 
Der  Gottseibeiuns!  Heil'ger  Christ, 
Am  Homerpaar  er  kenntlich  ist. 
Apage,  apage,  Satanas! 

Der  Satyr. 
Haha!  Behagt  euch  nicht  der  Spass? 
So  woll'n  wir  uns  hinwegbegeben, 
Wunschen  euch  alien  wohl  zu  leben 
Und  wandem  weiter  in  Hdh'n  und  Griinden, 
Bis  wir  die  alten  Gotter  finden. 
Doch  du,  mein  Gastfreund,  grtiss  mir  ja 
Meine  Freundin  Anastasia! 
(schligt  ein  Gelichter  auf,  bebt  die  Nymphe  auf  seine  Scbulter 
und  liuft  mit  itar  davon.) 

Dorfschulz. 
Herr  Gott,  dich  loben  wir!  Du  hast 
Befreit  uns  von  dem  Hdllengast. 
Nun  wollen  wir  mit  Herz  und  Hinden 
Aufs  neu  zu  deinem  Dienst  uns  wenden. 


339  8^ 


Theodoros. 
Mich  aber  lasst  hinfort  allein, 
Kann  nicht  mehr  euer  Priester  sein, 
Nachdem  ich  heut  straflichermassen 
Vom  Satan  mich  betdren  lassen, 
Und  will  nun  Busse  tun  im  stillen. 

Dorfschulz. 
Das  kann  nicht  sein  nach  Gottes  Willen. 
Sundlos  ist  Einer  nur  gewesen, 
Und  wer  zum  Priester  von  Gott  erlesen, 
Bleibt  doch  ein  Mensch,  so  wie  wir  all. 
Du  aber,  Freund,  in  deinem  Fall 
Hist  noch  entschuldbar  uberaus. 
Denn  dass  zu  deinem  frommen  Haus 
Der  Teufel  in  Person  gekommen, 
Noch  gar  eine  Teufelin  mitgenommen, 
Das  zeuget  klar,  wie  hoch  er's  schltz', 
Just  dich  zu  locken  in  sein  Netz, 
Da  weit  und  breit  du  hier  zu  Land 
Als  sonderbarlich  fromm  bekannt. 
Und  80  ersteig  die  Kanzel  dort, 
Uns  zu  erbau'n  aus  Gottes  Wort 
Und  uns  zu  weisen  den  rechten  Pfad. 

Theodoros. 

So  heilige  mich  Gottes  Gnad'! 

(w\gt  auf  die  Kanzel.) 

Meine  Bruder  und  Schwestem  in  Jesu  Christ, 

Der  Text  der  heutigen  Predigt  ist 

Zu  lesen  im  Evangelio 

Sanct  LucS  am  elften  und  lautet  so: 
Wenn  ein  starker  Gewappneter  seinen  Palast  bewahret,  so  bleibet  das 
Seine  mlt  Frieden.    Wenn  aber  ein  Stirkerer  uber  ihn  kommt,  so 
nimmt  er  ihm  seinen  Hamisch  und  teilet  den  Raub  aus. 

Nun,  teure  Christen,  euch  insgemein 

Leuchtet  des  Textes  Sinn  wohl  ein, 

Da  sichtbar  euch  vor  Augen  steht, 

Worauf  die  Nutzanwendung  geht. 

Dunkt'  ich  mir  doch  in  eitlem  Wahn 

Mit  Wehr  und  WafFen  angetan. 

Den  stirksten  RHuber  zu  besiegen, 

Und  musste  schmShlich  unterliegen. 

Da  eines  Stirkeren  Hdllenkraft 

Der  Tugend  Hamisch  mir  entrafFt. 

So  bringt  der  Rausch  uns  Sunder  all 

Als  ein  Gewappneter  zu  Fall. 


-Ng   340  8^ 

Doch,  meine  Geliebten  in  dem  Heim, 

Versteht  mich  wohl;  das  sei  mir  fern, 

Dass  ich  euch  je  verargen  sollf, 

Wenn  ihr  am  Wein  euch  laben  wollt. 

Nur  sollt  ihr's  euch  zur  Sunde  schStzen, 

Den  Schlauch  selbst  an  den  Mund  zu  setzen. 

Da,  wer  so  aus  dem  Vollen  trinkt, 

Alsbald  in  Vdllerei  versinkt. 

Hingegen  sei's  euch  nicht  verwehrt, 

Dass  Becher  ihr  um  Becher  leert, 

Der  Gottesgab'  euch  fromm  erfreut 

Wofern  ihr  aber  Schlemmer  seid, 

Gleich  nimmt  der  Teufel  euch  beim  Schopf 

Und  steigt  euch  hinterrucks  zu  Kopf. 

Ein  Manches  davon  zu  sagen  bliebe, 

Doch  ist  mein  Haupt  noch  schwer  und  tr&be, 

Auch  dringt  es  mich,  nach  meiner  Frauen, 

Die  drin  im  Hause  stShnt,  zu  schauen, 

Dieweil  zu  meinem  Grimm  und  Gram 

Auch  uber  sie  ein  StSrkrer  kam. 

So  geht  denn  heim  in  Gottes  Namen 

Und  hutet  euch  vorm  Teufel  I  Amen. 

Explicit 


Verantwortlieh :  F&r  den  poHtischen  Teil:  Friedrich  Naumann  in  SchOneberg;  f&r  den  wleseasehafUicbcB 
Tell :  Paul  Nikolaus  Cossmann  in  Miinchen ;  ftir  den  IcQnstlerischen  Teil :  Wilhelm  Weignad  In  MBncken» 

Bogenhausen. 


Naehdnick  der  einzelnen  Beitrige  nur  auszugsweise  und  mit  genauer  Quellentngabe  gecttttet. 


Liberalismus  als  Prinzip. 


Von  Friedrich  Naumann  in  Sch5neberg. 

Es  ist  im  Liberalismus,  auch  in  Suddeutschland,  nicht  mehr  sehr 
an  der  Tagesordnung,  vom  Liberalismus  als  Theorie  oder  als  Prinzip 
zu  reden.  Man  nimmt  an,  dass  jedermann  weiss,  was  Liberalismus  ist, 
und  auf  Reinheit  der  Lehre  oder  Strenge  des  Stiles  wird  kein  besonderes 
Gewicht  gelegt.  Am  ersten  findet  man  Prinzipienlehre  noch  gelegentlich 
bei  der  deutschen  Volkspartei,  am  seltensten  begreiflicherweise  bei 
den  Nationalliberalen.  Dort  wird  vor  ^oder  Prinzipienreiterei^  gewamt, 
weil,  nun  well  Prinzipien,  die  man  selbst  bisweilen  verletzt  hat,  unbequem 
wirken  konnen,  fast  wie  das  moralische  Gewissen  im  einzelnen  Menschen. 
Naturlich  bestreiten  wir  auch  nicht,  dass  blosse  Deklamationen  von  Aller- 
weltsgrundsdtzen  keinen  Wert  haben.  Parteien  werden  vom  Volk  nach 
ihren  Handlungen  beurteilt,  nicht  aber  nach  dem,  was  in  der  Programme 
urkunde  geschrieben  steht.  Wer  im  Programm  fur  gleiches  Recht  aller 
Staatsburger  ist,  und  in  der  Wirklichkeit  einen  Teil  der  Staatsburger 
bedruckt,  verletzt  oder  herabsetzt,  dem  wird  es  in  alle  Ewigkeit  nichts 
helfen,  dass  er  seine  feierlichsten  Bekenntnisse  irgendwo  eingemeisselt  hat. 

Immerhin  aber  gibt  es  ernsthafte  Leute,  die  es  fur  hochst  dringlich 
halten,  dass  wieder  liberale  Prinzipienlehre  getrieben  wird.  Warum 
eigentlich?  Aus  zwei  Grunden.  Einmal  ist  alles  Reden  iiber  Einheit 
des  Liberalismus  von  nur  sehr  geringer  Oberzeugungskraft,  solange  nicht 
klar  gesagt  wird,  was  denn  der  geistige  Kern  dieser  Einheit  ist,  und  dann 
bleibt  die  grosse  Debatte  uber  das  VerhMltnis  des  Liberalismus  zum 
Sozialismus  notwendig  im  Gebiete  dunkler  Stimmungen,  solange  man  sich 
nicht  entschiiesst,  dasjenige  reinlich  zu  formulieren,  was  der  Liberalismus 
zu  den  Fragen  des  vierten  Standes  zu  sagen  hat.  Es  ist  geradezu  ein 
Lebensbedurfnis  des  Liberalismus  in  seiner  Gesamtheit,  dass  er  sich 
seinen  eigenen  theoretischen  Problemen  wieder  stirker  zuwendet. 

Die  nachfolgenden  Darlegungen  beabsichtigen  keineswegs,  alles  zu 
■sagen,  was  ttberhaupt  zu  dieser  Sache  gesagt  werden  kann.  Sie  wollen 
nur  den  Teil  des  Problems  schlrfer  herausarbeiten,  der  das  Verhlltnis 
der  liberalen  und  der  sozialistischen  Theorie  enthltt.   Als  Ausgangspunkt 

SOddeutsche  Monatshefte.   I,  5.  23 


dazu  soil  uns  ein  kleines  aber  inhaltreiches  Schriftchen  dienen,  das 
Professor  Jellinek  in  Heidelberg  vor  kurzem  in  zweiter  Auflage  hat  er^ 
scheinen  lassen  „Die  Erkl&ning  der  Menschen-  und  Burgerrechte,  ein 
Beitrag  zur  modemen  Verfassungsgeschichte^  (Leipzig  bei  Dunker  & 
Humblot,  1904,  Preis  1,80  Mk.).  Jellinek  fuhrt  uns  in  die  Zeit  der 
Entstehung  der  liberalen  Gedanken.  Am  26.  August  1789  wurden  in 
Paris  die  Rechte  des  Menschen  und  Burgers  erkl&rt.  Diese  Erklarung 
wurde  der  Ausgangspunkt  alter  europlischen  VerfassungskMmpfe  im  ver- 
gangenen  Jahrhundert,  und  verdient  deshalb  in  ihrem  Werden  verstanden 
zu  sein.  Paul  Janet,  ein  namhafter  franzdsischer  Rechtshistoriker,  fuhrt 
sie,  darin  vdllig  der  herrschenden  Tradition  folgend,  auf  den  Ein- 
fluss  der  Theorie  Rousseaus  zuruck.  Das  ist  die  Stelle,  wo  Jellinek 
einsetzt.  Gegeniiber  seinem  franzdsischen  Kollegen  fuhrt  er  die  Be- 
hauptung  durch,  dass  die  Menschenrechte  nicht  zum  Gedankensystem 
Rousseaus  gehdren,  sondem  nordamerikanischen  Ursprungs  sind. 

Soweit  nun  diese  Untersuchung  rein  geschichtlichen  Inhaltes  ist> 
bleibt  sie  eine  Sache  fur  die  Fachleute,  denn  wie  kdnnen  wir  anderen, 
die  wir  nicht  in  den  Urkunden  jener  Tage  leben,  nacbpriifen,  welche 
Gedanken  bei  Rousseau  vorkommen  und  welche  nicht?  Aber  das,  was 
Jellinek  bietet,  geht  weit  uber  das  rein  Geschichtliche  hinaus.  Indem 
er  die  politische  Theorie  Rousseaus  einerseits  und  die  Formulierung  der 
Menschenrechte  in  den  nordamerikanischen  Einzelverfassungen  anderer- 
seits  darstellt,  gibt  er  uns  ein  sehr  scharf  gezeichnetes  Bitd  vom  urspriing- 
lichen  Liberalismus  in  seinem  doppelten  VerhSltnis  zum  Staat. 

Rousseau  geht  nach  Jellineks  Darstellung  einzig  und  allein  vom 
Gesamtwillen  aus.  Die  Gesellschaft  ist  alles,  die  Rechte  des  einzelnen 
sind  nur  Teile  dei*  volont6  g6n6rale.  Der  Gesellschaftsvertrag  macht 
den  Staat  zum  Herm  aller  Guter  seiner  Glieder,  die  nur  als  Depositare 
des  dffentlichen  Gutes  zu  besitzen  fortfahren.  Die  btirgerliche  Freiheit 
besteht  einfach  in  dem,  was  dem  Individuum  nach  Abzug  seiner  biirger- 
lichen  Pflichten  tibrigbleibt.  Die  Vorstellung  eines  urspriinglichen 
Rechtes,  das  der  Mensch  in  die  Gesellschaft  hinubemimmt,  wird  von 
Rousseau  ausdriicklich  verworfen.  Man  ist  erstaunt,  wenn  man  liest» 
dass  Rousseau  nichts  von  Religionsfreiheit  wissen  will:  wer  es  wagt  zu 
sagen,  dass  ausserhalb  der  Kirche  kein  Heil  sei,  soli  vom  Staate  verbannt 
werden!  Politische  Vereine,  die  das  Volk  spalten,  hindem  den  wahren  Aus- 
druck  des  Gemeinwillens  und  sind  daher  nicht  zu  begunstigen!  Rousseaus 
Staatslehre  ist  vollendeter  Republikanismus  mit  voUendeter  Staatsallmacht. 

Diese  Staatsallmacht  aber  ist  es  gerade,  wogegen  sich  die  Menschen- 
und  Burgerrechte  wenden.  Das  Wesen  dieser  Rechte  besteht  darin,  das 
Einzelsubjekt  vor  der  Vergewaltigung  durch  Tyrannei,  Willkur  oder 
Schematismus  des  Staates  zu  schiitzen.  Es  sind  wesentlich  negative 
Rechte,  das  heisst,  Rechte,  die  in  der  Freiheit  von  dem  Regiertwerden 
bestehen.  In  diesem  Sinne  reden  die  Amerikaner  von  Religionsfreiheit^ 
Auswanderungsfreiheit,  Redefreiheit,  Versammlungsfreiheit ,  Petitions- 
freiheit,  Freiheit  der  Person  von  Sklaverei  und  freier  Verwendung  des 
Privateigentums. 


343  8^ 


Beiden  TeileD,  Rousseau  und  den  Amerikanern  ist  gemeinsam,  dass 
sie  die  Gleichheit  aller  Staatsburger  von  vornherein  als  Prinzip  nehmen. 
Ihr  Unterschied  ist,  dass  bei  Rousseau  der  Liberalismus  darin  besteht, 
dass  alle  den  Staat  regieren,  bei  den  Amerikanern  aber  darin,  dass  alle 
das  gleiche  Recht  haben,  vom  Staate  unbehelligt  zu  sein.  Naturlich  ist 
diese  Formulierung  etwas  tiberscharf,  wie  sie  es  sein  muss,  wenn  man 
GegensMtze  zunMchst  verst&ndlich  machen  will.  Auch  Rousseau  hat  in 
dem  Satz,  dass  der  Staat  nur  Vorschriften  machen  darf,  die  fur  alle 
zngleich  gelten,  ein  Korrektiv  seiner  Staatsallmacht,  und  die  Amerikaner 
sind  selbst,  in  eben  dem  Moment,  wo  sie  sich  vor  dem  Staate  schutzen 
wollen,  damit  bescbMftigt,  den  Staat  aufzurichten  und  zu  verteidigen. 

Aber  was  soil  nun  uns,  die  wir  heute  leben,  diese  alte  Geschichte? 
Sie  zeigt  in  unvergMnglichen  Typen  die  doppelte  Haltung,  die  der 
Liberalismus  gegenuber  dem  Staat  hat.  Er  willihn  vom  Wi lien  aller 
Beteiligten  abhangig  machen  und  er  will  ihn  in  seiner  Wirk- 
samkeit  eingrenzen.  Beide  Tendenzen  sind  so  geartet,  dass  sie  fur 
sich  allein  bei  exakter  Durchfiihrung  entweder  die  Persdnlichkeiten  oder 
den  Staat  zerstdren,  aber  so  sind  ja  Prinzipien  meist,  dass  sie  ins 
Extrem  verfolgt,  tdtlich  wirken.  Das  Wesen  des  Liberalismus  besteht 
geradezu  im  gemeinsamen  und  harmonischen  gleichzeitigen  Gebrauch 
beider  Methoden. 

Die  Voraussetzung  dieses  Liberalismus  ist,  dass  der  Staat  vor- 
handen  ist  und  zwar  als  absoluter  Staat,  den  die  Untertanen  als  Gefahr 
empfinden.  Nur  als  Gegenbewegung  in  einem  aristokratisch  oder 
monarchisch  geleiteten  Staat  ist  die  Doppelmethode  verstlndlich.  Auch 
die  Amerikaner  batten  den  absoluten  Staat  vor  Augen,  den  sie  nicht 
wollten,  ihren  damaligen  englischen  Heimatsstaat.  Der  Staat  wurde  im 
17.  und  18.  Jahrhundert  zum  Grossbetrieb,  zu  einem  Machtinstitut,  das 
dem  Menschentum  verhdngnisvoll  zu  werden  drohte.  Diesen  Gross- 
betriebsdrang  im  modemen  Staat  wollte  der  Liberalismus  hicht  an  sich 
tdten,  aber  seiner  schidlichen  Nebenwirkungen  entkleiden.  So  wuchsen 
beide  als  Korrelaterscheinungen  miteinander,  der  Staat  und  in  ihm  der 
Liberalismus.  Die  Staatsbejahung  des  Liberalismus  liegt  in  der  demo- 
kratischen  Richtung  auf  Parlamente,  Wahlrechte  und  Selbstverwaltung. 
Die  Staatsvemeinung  liegt  in  der  individualistischen  Richtung  auf 
Menschenrechte,  Gewerbefreiheit,  Handelsfreiheit,  Freizugigkeit,  Kultur- 
und  Religionsfreiheit.  Man  kann  verfolgen,  wie  zeitweise  die  eine  oder 
die  andere  Richtung  mehr  in  den  Vordergrund  getreten  ist.  Bei  uns 
liegt  es  so,  dass  die  Sozialdemokraten  st&rker  an  Rousseau  anknupfen 
und  die  Liberalen  entschiedener  Richtung  mehr  an  die  Amerikaner. 

Damit  aber  ist  der  Gegensatz  zwischen  unseren  Liberalen  und 
Sozialisten  nur  teilweis  erkl&rt,  namlich  nur  soweit,  als  es  sich  um  die 
Stellung  zum  Staat  im  engeren  Sinne  des  Wortes  handelt.  Die  Lage 
aber  hat  sich  seit  1789  wesentlich  dadurch  verschoben,  dass  ein  neues 
Faktum  eingetreten  ist,  mit  dem  man  damals  uberhaupt  noch  nicht 
rechnen  konnte.  Das  neue  Faktum  ist,  dass  die  Tendenz  zum  Gross- 
betrieb sich  nicht  auf  den  Staatsbetrieb  beschrinkt  hat,  auch  nicht  auf 

23» 


344  1^ 


die  alten  Betriebe  der  Kirche  und  der  Feudalherrschaften.  Das  ganze 
gewerbliche  Leben  ist  von  dieser  Tendenz  erfullt.  Das  Zeitatter  des 
kapitalistischen  Maschinenbetriebes  schafFt  vor  unseren  Augen  neue 
Herrschaftskdrper,  die  an  Gefahren  fur  die  Einzelpersonen  nicht  drmer 
sind  als  es  der  Betrieb  des  Staates  in  seiner  absolutistischsten  Periode 
gewesen  ist.  Ein  Fiirst  der  alten  Zeit,  den  die  Liberalen  einen  Despoten 
nannten,  hatte  uber  seine  Untertanen  keine  grossere  Macht  als  sie  heute 
der  Kopf  eines  starken  Syndikates  oder  der  Leiter  eines  industriellen 
Riesenuntemehmens  hat.  Die  Zahl  der  abhSngigen  Menschen  wdchst 
Abh&ngigkeit  aber  ist  das  alte  Problem  des  Liberalismus.  Die  neue 
Frage  ftir  den  Liberalismus  ergibt  sich  aus  dem  Gesagten.  Sie  lautet: 
soil  er  seine  alte  Doppelmethode  auf  alle  Formen  des  Gross- 
betriebes  ausdehnen  oder  gilt  sie  nur  fur  den  Staat? 

Der  Soziatismus  als  Theorie  besteht  wesentlich  in  extremer  An- 
wendung  der  altliberalen  Formeln  auf  jede  Art  von  Grossbetrieb.  Man 
mache  sich  das  nach  folgendem  Muster  klar.  Der  Grossbetrieb  soil 
einerseits  nach  Rousseau  behandelt  werden:  Obergang  der  Produktions- 
leitung  in  die  Hand  aller  Beteiligten  ist  das  Endziel,  demokratische  Mit- 
wirkung  an  der  Leitung  durch  parlamentarische  Formen  ist  das  nachste 
Ziel.  Der  Grossbetrieb  soli  andererseits  Menschenrechte  gewahren; 
Achtstundentag  als  Endziel,  ZeitbeschrSnkung  als  nichstes  Ziel  und  da- 
zu  Freiheit  der  Koalition,  der  Gesinnung,  Schutz  der  Gesundheit,  der 
Jugend,  der  persdnlichen  Eh  re. 

Es  kann  kein  Zweifel  sein,  dass  im  sozialistischen  Programm  alt- 
liberale  Elemente  in  Anwendung  auf  neue  Herrschaftsformen  vorliegen, 
aber  dieser  strenge  Gedankenzusammenhang  beider  Strdmungen  wird 
bisher  von  beiden  Seiten  verkannt,  well  die  Sozialdemokratie  ihre 
Forderungen  mit  dem  Unterbau  einer  Geschichtsauffassung  versieht,  die 
dem  Liberalismus  nicht  gel&ufig  ist  und  deren  Einordnung  in  den  alten 
liberalen  Gedankenbestand  grosse  Schwierigkeiten  macht,  namlich  mit 
dem  Unterbau  der  materialistischen  Geschichtskonstruktion.  Oder 
anders  ausgesprochen:  der  Sozialdemokrat  stellt  seine  Ideen  als  Er- 
gebnisse  des  Klassenkampfes  hin  und  der  Liberalismus  die  seinen  als 
Ergebnisse  kritischer  Vernunft.  Es  streiten  sich  zwei  Philosophien, 
von  denen  vielleicht  jede  etwas  Wahrheit  in  sich  hat.  Will  man  aber 
das  Prinzip  der  beiden  Strdmungen  reinlich  erkennen,  so  muss  man 
sich  zunichst  einmal  von  allem  diesem  philosophischen  Beiwerk  frei- 
machen  und  nur  fragen:  was  ist  es,  was  die  Liberalen  woUen,  und  was 
ist  es,  was  die  Sozialdemokraten  wollen?  Sobald  man  das  tut,  springt 
die  innere  Gleichartigkeit  in  die  Augen.  Der  Sozialismus  ist  die 
denkbar  weiteste  Ausdehnung  der  liberalen  Methode  auf  alle 
modernen  Herrschafts-  und  Abhangigkeitsverhaltnisse. 

Die  gegenwirtige  Frage  des  Liberalismus  aber  hat  deshalb  folgenden 
Inhalt:  ist  es  richtig,  dass  wir  uns  nur  darauf  beschrlnken,  Gegenwirkung 
gegen  staatlichen  Despotismus  zu  sein?  Die  Frage  ist  deshalb  so 
schwer,  weil  der  Kampf  gegen  die  Nachteile  der  neuen  Grossbetriebe 
ofTenbar  nur  mit  Hilfe  des  alten  Grossbetriebes  Staat  gefuhrt  werden 


-v^  345 


kann.  Der  Staat,  den  man  in  seiner  Wirksamkeit  einengen  wollte,  muss 
mit  neuen  Aufgaben  betraut  und  also  direkt  gestMrkt  werden,  wenn  er 
helfen  soil,  die  Menschenrechte  im  gewerblichen  Grossbetrieb  zu  schutzen. 
An  dieser  Stelle  setzte  der  alte  und  erste  Widerspruch  der  strengen 
Manchesterleute  gegen  den  Sozialismus  ein.  Man  musste  die  liberate 
Lehre  vom  freien  Spiel  der  Krifte  im  Wirtschaftsleben  einschrinken, 
wenn  man  staatliche  Zwangsversicherungen  und  Arbeiterschutzgesetze 
gutheissen  wollte.  Das  hat  man  nun  trotzdem  fast  im  ganzen  Liberalis- 
mus  tatsachlich  nicht  vermelden  konnen,  aber  es  ist  das  Gefuhl 
einer  Schwichung  des  Prinzips  iibrig  geblieben.  Gewdhnlich  legte  man 
sich  die  Sache  so  zurecht,  dass  man  sagte:  erst  durch  diese  Staats- 
eingrifFe  entsteht  die  Freiheit  des  einzelnen,  die  wir  anstreben!  Das 
ist  sacblich  unbestreitbar  richtig,  tiberwindet  aber  den  Umstand  doch 
nicht  ganz,  dass  der  Liberalismus  staatssozialistische  Elemente  aufnehmen 
musste,  die  ihm  von  Haus  aus  fern  lagen.  Ein  gutes  Gewissen  beim 
weiteren  Beschreiten  dieses  Weges  wird  der  Liberalismus  gegenuber 
seinen  eigenen  Prinzipien  erst  dann  bekommen,  wenn  er  das  ganze 
Gewicht  der  Neuerung  begreift,  die  darin  liegt,  dass  es  nicht  der  staat- 
liche Grossbetrieb  allein  ist,  sondem  aller  Grossbetrieb,  den  er  als  ge- 
fahrlich  fiir  die  Personlichkeit  zu  begrenzen  und  auf  parlamentarische 
Basis  zu  stellen  sucht.  Erst  von  da  aus  ist  es  unbedenklich,  die  Krifte 
des  am  meisten  liberalisierten  Grossbetriebes  zur  Liberalisierung  der 
noch  rein  absolutistischen  Formen  zu  verwenden. 

Doch  auch  diese  grundsMtzliche  Erweiterung  des  liberalen  Gesamt- 
problems  wird  im  Liberalismus  selbst  nur  mit  viel  Sorgen  und  Zuruck- 
haltung  aufgenommen  werden  konnen,  denn  der  Liberalismns  steht  uberall 
dort,  wo  er  lebendig  ist,  auf  seiten  des  technischen  Fortschrittes  und 
dem  entsprechend  in  der  Mehrzahl  der  Fllle  auf  seiten  des  grossen 
Betriebes.  Teilweis  beruht  das  auf  materiellen,  kapitalistischen  Grunden, 
teilweis  auf  ganz  allgemeinen  volkswirtschaftlichen  Oberzeugungen.  Und 
beides  hat  sein  gutes  Recht.  Wir  miissen  kapitalkriftig  und  technisch 
fortschrittlich  sein,  wenn  wir  auf  dem  Weltmarkt  Erfolge  erringen  wollen. 
Von  diesem  Grundsatz  lasst  sich  der  Liberalismus  nichts  abhandeln, 
selbst  wenn  man  ihm  mit  der  schonsten  Logik  seiner  eigenen  Prinzipien 
kommen  wiU.  Man  wirft  lieber  die  Prinzipien  ins  Wasser  als  die  Ge- 
winne.  Wer  also  liberale  Prinzipien  aufrecht  erhalten  oder  gar  aus- 
dehnen  will,  wird  sich  nicht  damit  begnugen  diirfen,  rein  dialektisch 
cine  Methode  darzustellen,  er  muss  auch  darauf  eingehen,  welche  prak- 
tischen  Folgen  die  Methode  haben  wird,  die  er  vorschligt.  Und  in  dieser 
Hinsicht  konnen  wir  etwas  relativ  Entscheidendes  gerade  dann  sagen, 
wenn  wir  den  oben  ausgefuhrten  Gedanken,  dass  der  Staat  die  erste 
Grossbetriebsform  ist,  nochmals  aufnehmen. 

Ist  der  Staat  dadurch  zugrunde  gegangen,  dass  er  liberalisiert 
worden  ist?  Im  Gegenteil,  er  gewann  dabei  an  Kraft!  Die  Staatskdrper, 
die  am  reinsten  liberalisiert  worden  sind,  die  angelsMchsischen,  stehen 
mit  athletenhaften  Muskeln  vor  unseren  Augen.  Was  haben  sie  im  letzten 
halben  Jahrhundert  politisch  geleistet!   Je  exakter  der  Doppelweg  be- 


346  8^ 


schritten  wurde:  Demokratisierung  der  Gesetzgebung  und  Verwaltung  auf 
alien  ihren  Stufen  (und  nicht  wie  in  Frankreich  nur  der  Zentralstelle)  und 
Garantie  der  personlichen  Rechte  der  Staatsburger,  desto  lebendiger  wurde 
die  Staatsgesinnung  selbst.  Die  Heizfliche  des  grossen  Untemehmens  ver- 
grosserte  sich.  Das  haben  die  Staatsleiter  einst  nicht  glauben  wollen.  Ihnen 
schien  es,  als  ginge  ihre  Welt  unter,  wenn  sie  dem  Stimmzettel  und 
den  Menschenrechten  Raum  gew&hrten.  Die  Geschichte  aber  ist  tiber 
ihre  Sorgen  hinweggegangen  und  hat  denen  Recht  gegeben,  die  an  die 
Kraft  jenes  doppelten  Prinzips  geglaubt  haben.  Und  wenn  wir  in 
Deutschland  den  Staat  von  heute  mit  dem  alten  Staat  vor  1830  und  1848 
vergleichen,  so  wird  kein  Mensch  sagen,  dass  die  Liberalisierung  den 
Staatsbetrieb  getotet  habe.  Solange  n&mlich  der  Wachstumsprozess  an  sich 
lebendig  ist,  ist  der  Liberalismus  eine  aufbauende  Kraft.  Nur  bei  sinkenden 
Korpem  kann  es  sich  fragen,  ob  er  nicht  den  Zerfall  beschleunigt. 

Das  aber  ist  die  Lage  unseres  Wirtschaftslebens:  der  Grossbetrieb 
erhebt  sich  in  hundert  Formen  wie  ein  Riese.  Vorliufig  ist  er  absolutistisch. 
Er  selbst  h&lt  diesen  Zustand  fiir  den  einzig  mdglichen,  so  wie  es  vor 
100  Jahren  die  Kdnige  taten.  So  wenig  aber  das  absolute  Konigtum  die 
endgultige  Hohe  des  Staatswesens  bezeichnet,  so  wenig  ist  ungemilderter 
und  unbeschrMnkter  Monarchismus  die  letzte  und  hdchste  Form  des 
modemen  Gewerbes.  Auch  der  gewerbliche  Herrscher  wird  stSrker, 
wenn  er  seine  Souverinitat  verteilt  und  ihr  Grenzen  gibt,  die  nicht  von 
Zufall  und  Wohlwollen  abh&ngen. 

Soil  aber,  und  damit  kommen  wir  auf  unseren  Ausgangspunkt  zuruck, 
der  Liberalismus  noch  eine  neue  Periode  in  Deutschland  erleben  und 
seinen  jetzigen  zerbrochenen  Zustand  uberwinden,  dann  muss  er  bis  zur 
untersten  Tiefe  seiner  eigenen  Prinzipien  hinabsteigen  und  sich  aus 
dieser  seiner  alten  Brunnenstube  neues  Wasser  herausholen.  Von  dort 
aus  nur  findet  er  sein  rechtes  Verhiltnis  zum  Liberalismus  der  Masse, 
zur  Sozialdemokratie. 


Zur  Psychologic  des  wtirttembergischen  Bauem. 

Von  Albert  Esenwein  in  Langenbeutingen. 

Wer  unter  Bauem  lebt,  wird  bald  bemerken,  wie  jedes  Dorf  seine 
besondere  Eigenart  hat,  die  kurz  zu  charakterisieren  meist  unmSglich 
ist.    Man  muss  sich  das  vor  Augen  halten,  um -von  vomherein  sich 


347 


daruber  Mar  zu  sein,  dass  die  psychologische  Beschreibnng  und  Be* 
urteilung  des  Bauerntums  eines  ganzen  Landes  —  und  wire  es  so  klein 
wie  Wtirttemberg  —  es  mit  einem  uberaus  komplizierten  Gebilde  zu  tun 
hat.  Die  Wirklichkeit  wird  immer  sehr  viel  mannigfaltiger  und  reicher 
sein,  als  die  noch  so  gewissenhafte  Darstellung.  Und  so  machen  auch 
die  folgenden  Ausfiihrungen  in  keiner  Weise  den  Anspruch,  eine  irgend- 
wie  erschopfende  Formuliening  der  charakteristischen  Merkmale  des 
wurttembergischen  Bauernstandes  zu  geben;  sie  sind  nicht  viel  mehr  als 
skizzenhafte  Andeutungen. 

Wir  unterscheiden  im  wurttembergischen  Bauernland  drei  Haupt- 
gebiete:  das  altwurttembergische  Schwaben,  das  frSnkische  (besonders 
das  hohenlohesche)  Gebiet  und  das  neuwurttembergische  katholische 
Oberschwaben.  Letzteres  kenne  ich  nicht  aus  eigener  Anschauung;  der 
oberschwibische  Bauer  ist  deshalb  im  folgenden  nicht  beriicksichtigt. 
Schwabische  und  frMnkische  Bauem  haben  zwar  viele  gemeinsame  Zuge, 
und  zwischen  beiden  ist  ein  ziemlich  breites  Grenz-  und  Ubergangsgebiet; 
aber  andererseits  weisen  Schwaben  und  Hohenloher  sehr  scharf  ausge- 
prigte  Verschiedenheiten  auf.  Der  Schwabe  ist  im  lusseren  Benehmen 
formlos,  schwerfallig  bis  zur  Plumpheit,  derb  bis  zur  Grobheit,  verschlossen, 
etwas  langsam  im  Auffassen,  aber  zMh  im  Festhalten,  querkopfig,  grtiblerisch, 
entbehrungsfahig;  der  Franke,  zumal  der  Hohenloher,  ist  viel  temperament- 
voUer,  gewandt  und  lebhaft,  hdflich  und  schmiegsam,  genussfroh  und  weniger 
tiefgrundig  als  der  Schwabe;  sein  Grundsatz  ist:  leben  und  leben  lassen. 
Man  hftlt  vielfach  den  Schwaben  fur  zuverlMssiger  und  aufrichtiger,  und 
zweifellos  hat  die  frankische  Hoflichkeit  und  Schmiegsamkeit  ihre  nahe- 
liegenden  Schattenseiten  und  Gefahren;  allein  andererseits  darf  man 
Derbheit  oder  gar  Grobheit  nicht  mit  Aufrichtigkeit  gleichsetzen.  Jeden* 
falls  ist  die  wohlbekannte  geriebene  Bauemschlauheit  in  den  schwibischen 
Ddrfem  so  gut  daheim  wie  anderswo.  Nach  obiger  Charakteristik  durfte 
es  fast  auffallend  erscheinen,  dass  der  schwdbische  Bauer  zweifellos 
mehr  Ssthetischen  Sinn  hat  als  der  hohenlohesche.  Auch  der  Hohenloher 
singt  gerne,  aber  der  Schwabe  ist  unstreitig  musikalischer;  auch  im 
Frinkischen  hilt  der  Bauer  etwas  auf  einen  schdnen  Hof,  aber  in  der 
Ausstattung  der  Wohnungen  sieht  der  Schwabe  weit  mehr  auf  hubsche 
Gefailigkeit. 

0  0 

■  0 

Ich  habe  mich  schon  oft  iiber  die  Frage  besonnen:  haben  unsere 
Bauem  Standesbewusstsein?  Jedenfalls  noch  kein  sehr  entwickeltes; 
energisch  aufgeweckt  wurde  es  eigentlich  erst  durch  die  agrarische  Be- 
wegung  der  letzten  Jahre.  Der  ^Bauernstolz''  hat  mit  dem,  was  wir 
Standesbewusstsein  nennen,  nichts  zu  tun;  dieser  seit  lange  schon  be- 
kannte  Bauemstolz  ist  nur  beim  reichen  Grossbauem  zu  finden  und  bezieht 
sich  keineswegs  auf  dessen  Eigenschaft  als  Bauer,  sondem  rein  nur  auf 
seinen  Besitz;  er  macbt  sich  auch  weit  mehr  dem  Kleinbauem  gegen- 
uber  geltend  als  dem  Stidter. 

Wie  wenig  ausgeprMgt  das  bSuerliche  Standesbewusstsein  ist,  glaube 


348 


ich  u.  a.  daran  erkennen  zu  mussen,  dass  das,  wodurch  sich  der  Bauer 
iusserlich  vom  Stidter  anterscheidet,  in  der  zweiten  H&lfte  des  vorigen 
Jahrhunderts  unter  dem  Einflusse  der  Verkehrssteigerung  teilweise  rapid 
dahingeschwunden  ist.  Ich  denke  da  vor  allem  an  den  Riickgang  und 
das  Verschwinden  der  fruheren,  vielfach  sehr  hiibschen  Bauemtrachten. 
Es  gibt  ja  in  Wurttemberg  noch  einige  Trachtenoasen  inmitten  der 
grauen  Wuste  der  alles  nivellierenden  Kleidermode.  Aber  zu  der  ubrigens 
ziemlich  muhsamen  Erhaltung  dieser  alten  Trachtenbestlnde  trigt  gewiss 
nicht  wenig  der  Umstand  bei,  dass  sie  von  den  Stidtem  jetzt  bewundert, 
vom  Verein  zur  Erhaltung  der  Volkstrachten  gefdrdert  werden  und  so 
gewissermassen  Modeartikel  geworden  sind.  Auf  die  Dauer  werden  auch 
die  Oberreste  nicht  zu  halten  sein,  und  jedenfalls  wird  keine  Macht  der 
Welt  die  einmal  abgelegte  Bauerntracht  wieder  einfuhren  kdnnen.  Der 
heutigen  Bauerngeneration  kommt  die  fruhere  Tracht  durchaus  nicht 
schon  vor,  sondern  sie  empfindet  deren  Verschwinden  als  einen  Fort- 
schritt,  der  sie  der  allgemeinen  stSdtischen  Kultur  naher  gebracht  hat. 

Wie  mit  der  eigenartigen  Kleidung,  so  geht  es  auch  mit  anderen 
alten  DorfbrSuchen.  Sie  schwinden,  soweit  kein  praktischer  Zweck  dabei 
zu  ersehen  ist,  mehr  und  mehr;  der  Bauer  hSlt  sie  fur  altmodisch  und 
,altbacken'  und  schSmt  sich  ihrer.  Er  hat  nicht  das  geringste  Bedurfnis, 
sich  durch  derartige  in  die  Augen  fallenden  Sitten  und  BrSuche  von  der 
iibrigen  Bevolkerung  zu  unterscheiden. 

In  stetem,  wenn  auch  ungleich  langsamerem  Riickgang  ist  ebensa 
der  biuerliche  Dialekt  begrifFen.  Das  zeigt  sich  am  deutlichsten  in  den 
Grenzgebieten  zwischen  Schwaben  und  Franken,  wo  der  Gegensatz 
zwischen  dem  ^Herrendeutsch^  und  dem  ^Bauerndeutsch'  am  meisten 
aufeinanderstdsst.  Das  wurttembergische  ,Herrendeutsch"  ist  nMmlich 
nicht  das  Schriftdeutsche,  sondern  das  ^Stuggarter*  Schwabisch;  dieses 
gewinnt  allmihlich  den  Sieg  uber  die  von  ihm  abweichenden  Dialekte. 
In  hohenloheschen  Grenzdorfem  kann  man  horen,  wie  der  alte  Bauer 
noch  sagt:  „i  hunn*  (=  ich  habe),  der  junge  dagegen:  ,i  hab*  usw. 
Der  Bauer  hat  es  gar  nicht  geme,  wenn  ein  StMdter  oder  sonst  ein 
.Herr'*  im  ausgeprigten  heimischen  Dialekt  mit  ihm  redet;  er  glaubt 
sich  dadurch  verspottet,  und  schon  mancher  Dorffremde,  der,  um  sich 
popular  zu  machen,  in  der  Unterhaltung  mit  Bauern  Dialektiibungen  an- 
stellte,  musste  bald  erfahren,  dass  er  da  einen  ganz  verkehrten  Weg 
eingeschlagen  hatte. 

Ich  habe  schon  oben  darauf  hingewiesen,  dass  dieser  Riickgang 
bSuerlicher  Eigenart  Hand  in  Hand  geht  mit  der  einst  vom  Bauern  mit 
grossem  Misstrauen  betrachteten  Hebung  des  Verkehrswesens.  Heute 
ist  in  unseren  Dorfem  von  der  alten  Eisenbahnscheu  so  gut  wie  nichts 
mehr  zu  spuren;  man  hat  gar  keine  Freude  dariiber,  wenn  etwa  durch 
den  Widerstand  der  VMter  und  Grossvater  ein  Dorf  einst  vom  Eisenbahn- 
netz  ausgeschlossen  wurde  —  zumal  da  es  damals  ohne  Kosten  fur  die 
Gemeinde  abgegangen  wire.  Heute  mussen  unsere  Bauerngemeinden 
oft  ungeheure  Opfer  bringen  —  und  sie  tun  es  meist  — ,  um  eine  Bahn 
zn  erhalten. 


-o^   349  8^ 


Einen  Beweis  bauerlichen  Standesbewusstseins  mdchte  man  vielleicht 
im  ISndlichen  Genossenschaftswesen  sehen,  das  in  Wurttemberg  im 
ganzen  schon  entwickelt  ist.  LMsst  das  nicht  auf  ein  starkes  SolidaritMts- 
gefiihl  der  Bauern  schliessen?  Nicht  ohne  weiteres.  Denn  wahrend  die 
Gewerkschaftsbewegung  aus  den  Arbeiterkreisen  selbst  herausgewachsen 
ist  und  allein  durch  sie  gehoben  wird,  sind  die  Iftndlichen  Genossen- 
schaften  erst  von  aussen,  d.  h.  im  wesentlichen  von  der  Regierung  in 
die  Bauernschaft  hineingetragen  worden  und  sind  heute  noch  vielfach 
sehr  auf  die  Fdrderung  durch  die  Beamten  angewiesen.  Allerdings  sehen 
unsere  Bauern  je  linger  je  mehr  den  Nutzen  des  Genossenschaftswesens 
selbst  ein  und  gehen  da  und  dort  aus  eigener  Initiative  vor,  so  dass 
vielleicht  die  Klagen  der  Genossenschaftler  uber  Mangel  an  Solidaritats- 
gefuhl  unter  den  Bauern  bald  verstummen  kdnnen.  Ich  glaube,  dass 
auch  hierin  die  agrarische  Bewegung  einen  Fortschritt  gebracht  hat  und 
noch  weiterhin  bringen  wird,  trotz  manchem,  was  dagegen  zu  sprechen 
scheint. 

m 

Politisch  angesehen  ist  der  wurttembergische  Bauer  Demokrat. 
Nicht  im  Sinne  eines  antimonarchischen  Republikanismus  —  f311t  ihm 
gar  nicht  ein.  Aber  antikonservativ  sind  unsere  Bauern:  sie  wollen 
nichts  wissen  von  einer  politischen  Ftihrung  durch  den  Adel  —  im 
Hohenloheschen  denkt  der  Bauer  nicht  mit  Wehmut  an  die  einstige 
Furstenherrschaft  zuruck  — ,  und  gegen  die  Regierung  und  ihre  Beamten 
herrscht,  besonders  beim  schwabischen  Bauern,  ein  fast  unbesiegbares 
Misstrauen  —  zum  guten  Teil  eine  Nachwirkung  des  beruchtigten  alt- 
wurttembergischen  despotischen  Bureaukratismus.  Diese  demokratische 
Grundstimmung  hat  sich  allerdings  lange  Zeit  nicht  partei politisch  ver- 
dichtet;  der  Bauer  blieb  Jahrzehnte  hindurch  der  Spielball  der  Parteien. 
Vor  10  Jahren  schien  es,  als  wolle  er  sich  endgtiltig  der  demokratischen 
Volkspartei  verschreiben  —  da  brachte  der  Bund  der  Landwirte  eine 
durchschlagende  Wendung.  Das  Verdienst  kann  ihm  nicht  abgesprochen 
werden,  dass  er  unsere  Bauern  politisch  gesammelt  und  —  cum  grano 
salis  —  selbstandig  gemacht  hat.  Aber  ist  damit  nicht  der  Beweis 
erbracht,  dass  der  wurttembergische  Bauer  konservativ  denkt?  Ganz 
und  gar  nicht;  der  wiirttembergische  Bauernbund  ist  von  Grund  aus 
demokratisch  im  obengenannten  Sinne.  Er  ist  radikal  agrarisch,  weil 
der  Bauer  sich  durch  den  Industrialismus  (in  seiner  kapitalistischen  wie 
in  seiner  sozialistischen  Form)  bedroht  glaubt,  aber  mit  dem  preussischea 
Konservativismus  hat  er  nichts  zu  schafPen.  Der  einzige  konservative 
Reichstagsabgeordnete  Wurttembergs  ist  bei  der  letzten  Wahl  durch- 
gefallen,  und  ich  vermute,  dass  ihm  viel  mehr  als  sein  Agrariertum 
seine  Zugehdrigkeit  zur  konservativen  Partei  geschadet  hat,  obwohl  er 
sich  von  den  Kreuzzeitungsleuten  in  mehr  als  einer  Hinsicht  unter- 
schied.  Gewonnen  haben  in  Schwaben  wie  in  Hohenlohe  die  reinen 
Agrarier  nichtkonservativer  Art.  Als  in  einem  Kreis  ein  Graf  sich  zum 


350  8^ 


Bauernkandidaten  aufwerfen  wollte,  da  gab  man  ihm  sehr  klar  zu  be- 
deuten,  dass  die  schwibischen  Bauern  keinen  Grafen  wlhlen. 

Schliesslich  noch  ein  Wort  iiber  das  kirchlich-religidse  Leben  der 
wiirttembergischen  Bauern.  Sie  sind  fast  durchweg  kirchlich  gesinnt. 
Zwar  haben  wir  schwSbische  Bauerngemeinden  von  ausgesprochener  Un- 
kirchlichkeit  und  fast  iiberall  im  SchwSbischen  einzelne  robe  Religions- 
verachter  unter  den  Bauern  —  allein  das  sind  seltene  Ausnahmen. 
Allerdings  nocb  kirchlicher  als  der  Schwabe  ist  der  Franke,,  besonders 
der  Hohenloher.  In  diesem  Punkte  ist  letzterer  durch  und  durch 
konservativ,  wShrend  der  Schwabe  Neigung  zur  mystischen  Grubelei 
und  darum  auch  zum  Pietismus  und  zum  Sektentum  hat.  Ein  Mann 
wie  der  originelle  biuerliche  Theosoph  und  Mystiker  Michael  Hahn 
(f  1819),  der  heute  noch  in  der  schwMbischen  Bauemschaft  zahlreiche 
Anhinger  hat,  ist  im  Hohenloheschen  nicht  wohl  denkbar.  So  stellt 
man  oft  geradezu  der  ^subjektiven  Frdmmigkeit'*  des  Schwaben  die 
„objektive  Kirchlichkeit*"  des  Hohenlohers  gegeniiber,  womit  man  dann 
meist  zugleich  dem  letzteren  eine  gewisse  religiose  OberflMchlichkeit 
nachsagen  will.  In  dieser  Allgemeinheit  ist  jedoch  der  Vorwurf  nicht 
berechtigt.  Auch  der  hohenlohesche  Bauer  hat  seine  subjektive 
Religiositit;  wollte  sie  jemand  auf  einen  BegrifF  bringen,  so  ware  er 
versucht  zu  sagen:  vorwiegender  Rationalismus  in  ziemlich  unvermittelter 
Verbindung  mit  magischer  Sakramentsauffassung.  Ich  musste  aber  da- 
gegen  protestieren,  wenn  damit  nur  ein  abschitziges  Urteil  abgegeben 
werden  wollte.  Gerade  bei  der  Beurteilung  des  religiosen  Lebens  ist 
die  begrifFliche  Formulierung  immer  nicht  ganz  zutrefFend;  die  Wirklich- 
keit  ist  auch  hier  zum  Gluck  mannigfaltiger  und  reicher  als  das 
theologische  oder  philosophische  Schema. 


^  Nahrikele. 

Ein  sozialstatistisches  Kleingemilde  aus  dem  schwabischen  Volksleben. 
Von  Gottlieb  Schnapper-Arndt. 
Vorbemerkung. 

Ein  ganzes  Stiick  intensivsten  geistigen  Lebens  und  Schaffiens  des  Miuines, 
den  die  nacbfolgende  Untersuchung  zum  Verfasser  bat,  und  vor  allem  ein  aimer- 


351  8^ 


ordentlicb  cbarakteristiscbes  Stuck  Schaffens,  wird  den  Lesern  mit  dem  unten- 
stebenden  Lebens-  und  Arbeitsbild  einer  suddeutscben  WeisszeugnSberin  vorgelegt. 
Gottlieb  Scbnapper-Arndt,  den  wir  vor  wenigen  Wocben  trauerad  zu  Grabe 
trugen,  binterliess  in  dieser  Monograpbie  ein  Denkmal  seiner  wissenschaftlicben 
and  literariscben  Originalitit,  Griindlichkeit,  Ebrlichkeit  und  Vielseitigkeit,  das 
wir  mit  boher  Freude  und  Genugtuung  in  die  Offentlicbkeit  stellen.  Nicbts  kann 
den  unermiidlicben  Forscher,  der  zugleich  Kiinstler  und  unbeugsamer  Freund  volks- 
tumlicben  Wesens  in  seltener  Vereinigung  war,  besser  zeichnen,  als  dies  erste 
Stuck  seines  reicben  wissenschaftlicben  Nachlasses. 

Aus  seiner  Vaterstadt  Frankfurt  a.  Main  bracbte  ScbnapMr-Arndt  die  freie 
kritiscbe  Auffassung,  aus  seiner  Familie  die  Sorge  um  peinlicbste  Gewissen- 
baftigkeit  mit.  Wenn  man  den  Besitzem  der  ersteren  EigenschaR  oft  den  Mangel 
der  zweiten  vorgeworfen  bat  —  bier  waren  beide  sicber  vereinigt.  ^Und  Scbnapper- 
Amdt  betitigte  sie  vom  ersten  Tage  seiner  wissenscbaftlicben  bnd  kulturellen 
Studien  ab,  als  er  sich  in  den  70er  Jabren  des  vorigen  Jahrhunderts  den  nach  dem 
wirtscbaftlicben  Aufschwung  und  der  Krisis  aufbluhenden  sozialen  Forschungen 
zuwandte,  und  diese  nicht  bloss  k5stlicb  bereicherte,  sondem  segensreich  be- 
fnicbtete.  In  des  genialen  Franzosen  Le  Play  Arbeiten  fur  Miniaturstatistik  und 
Miniaturscbilderung  fand  er  ein  Vorbild,  das  ihm  kongenial  war  und  das  er  nicbt 
bloss  als  uni?erseller  Forscber  der  deutschen  Wissenscbaft  und  Kulturschilderung 
aabe  bracbte,  sondem  auch  wesentlicb  weiterbildete  und  vervollkommnete.  In 
seiner  letzten  Schrift  «Zur  Tbeorie  und  Gescbichte  der  Privatwirt- 
scbaftsstatistik*  von  1903,  im  Bulletin  des  Intemationalen  Statistischen 
Instituts,  die  nebenbei  alle  Reize  der  unvergleichlicben,  kiinstlerisch  empfindenden 
Vielseitigkeit  Scbnapper-Amdts  aufweist,  hat  er  die  „Grundbedeutung*  des  selbst- 
gesuchten  und  gefundenen  Meisters  dankbar  mit  den  sch5nen  S2uen  aqerkannt:  «in 
dem  auf  einen  Scblag  Hervorbringen  einer  den  scbliessenden  Verstand  ebenso  be- 
schiftigenden,  wie  das  Gemiit  anregenden  Methode,  namentlich  aber  in  dem  grossen 
moraliscben  Mute,  in  Details  auf  das  Liebevollste  einzugehen,  die  man  nocb  Jabr- 
zehnte  spiter  solcher  minuti5sen  Beacbtung  zu  wurdigen  f&r  kleinlicb  bielt,  hierin 
liegt  Le  Plays  Verdienst,  das  ist  seine  geniale  Tat.  Er  steht  fur  die  Sozial- 
scbilderung  etwa  so  epocbemachend  da,  wie  Zola  fur  den  Realismus  in  der 
Literatur.**  Scbnapper-Amdt  war,  wie  alle  grossen  Cbaraktere,  viel  zu  bescheiden, 
nm  an  diese  Sitze  mebr  als  einen  Hinweis  darauf  zu  kniipfen,  dass  es  ibm  «immer 
eine  Hebe  Erinnerung  sein  werde,  seinerzeit  als  erster  in  Deutschland  nacb  der 
Le  Playschen  Metbode  gearbeitet  und  nachdriicklich  die  Beacbtung  auf  sie  gelenkt 
zu  baben*.  Wir  aber  dGrfen  jetzt  sagen,  da  er  die  Augen  leider  so  frub  ge- 
scblossen  hat,  dass  Scbnapper-Amdt  fur  Deutschland  der  Klassiker  der 
sozialen  und  kulturellen  Miniaturscbilderung  geworden  ist  In  einem 
1879  im  Frankfurter  Verein  fur  Geograpbie  und  Statistik  gehaltenen  Vortrage  gab 
er  bereits  die,  freilicb  fmchtlos  gebliebene,  Anregung,  dass  der  Verein  zum  erstenmal 
in  Deutschland  die  Erbebung  von  Hausbaltungsbudgets  wissenschaftlich  organisieren 
und  in  die  Hand  nebmen  mdchte.  1880  erscbien  in  der  .Tubinger  Zeitschrift 
fQr  die  gesamte  Staatswissenscbaff'  seine  Erstlingsscbrift,  seine  prlchtige  und 
ftische  .Bescbreibung  der  Wirtscbaft  und  Statistik  der  Wirtscbafts- 
recbnungen  der  Familie  eines  Uhrscbildmalers  im  badiscben  Scb^arz- 
wald*.  Die  Kulturbewegung  f&r  EindSmmung  der  furcbterlicben  Heim-  und  Scbwitz- 
arbeit  in  Deutschland,  die  eben  wieder  mit  einem  neuen  Vorstoss  eingesetzt  bat, 
darf  ibn  und  Emanuel  Sax  mit  seinem  Werk  iiber  die  Thuringer  Hausindustrie 
als  ibre  Bahnbrecher  feiem.  Drei  Jabre  spiter  folgte  die  Verdffentlicbung 
seines  Hauptwerkes,  der  „Fiinf  Dorfgemeinden  auf  dem  Hoben  Taunus* 
(Leipzig,  Dnncker  &  Humblot  1883),  mit  dem  er  zeigte,  welcbe  ungebobenen 
Schitze  far  die  kulturgescbicbtlicbe  Erforscbung  des  „Kleinbauemtums,  der  Haus- 
industrie und  des  Volkslebens^'  auch  sein  beimatliches  Gebirge  nocb  einschloss. 
Wie  er,  namentlich  im  zweiten  Abschnitt  dieses  Werkes,  die  Menscben  und  ihr 
Leben  im  kleinsten  Winkel  kulturbistoriscb  und  bescbreibend  erftisst  and  ibnlicb 
liebevoll,  wie  Riebl,  nur  nocb  weit  tiefer  und  grundlicber  scbildert,  und  die 


-t^   352  8^ 


sozialstatistische  Untersucbang  zu  einem  anziehenden  Kapitel  Kultnrgeschichte 
erweitert:  das  wird  immer  mustergildg  bleiben.  1887  bat  er  dann  begutacbtend 
ricbtiger  aber  tonangebend  an  der  Erbebung  der  1800  vom  Freien  Deutscben 
Hocbstift  verSffentlicbten  .Prank farter  Arbeiterbudgets*  teilgenommen  und 
mit  der  acbon  erwibnten  Arbeit  von  1903  im  Bulletin  des  Intemationalen 
Statistiscben  Instituts  eine  Art  Abacbluss  fur  die  tbeoretiscbe  Bearbeitung  dieses 
Gebietes  geliefert. 

Das  bis  ins  kleinste  gewissenbaft .  ausgearbeitete  Bild  der  Existenz  einer 
annen  suddeutscben  Weisszeugniberin,  dem  diese  Zeilen  vorangeben,  er- 
scbeint  bier  zum  erstenmal  und  zwar  vornebmlicb  nur  im  bescbreibenden 
Text,  obne  dass  simtlicbe  Tabellen,  Ziffemnacbweise,  Quellenangaben  und  pby- 
siologiscbe  Untersucbungen  beigefugt  sind.  Mit  diesem  ganzen  wissenscbafdicben 
Zubebdr  wird  die  Arbeit  spftter  verdffentlicbt  werden.  Aus  einem  Dutzend  von 
Mappen  mit  den  sorgflltigsten  Berecbnungen  und  luckenlos  gesammelten  Mate- 
rialien  ist  in  den  nacbfolgenden  Kapiteln  ein  wissenscbaftlicbes  Kunstwerk  modemer 
Kulturgescbicbtsscbreibung  erstanden,  das  zu  dem  erlesensten  gebdrt,  was  das  ein- 
fticbe  Volk  wie  der  Feinscbmecker  geistig  und  gemutlicb  kosten  kann.  Dass  ein  Werk 
dem  scblicbten  Mann  aus  dem  Volke  wie  der  b5cbsten  Bildung  und  Kennerscbafk 
gleicben  Genuss  bringt,  ist  ja  wobl  aucb  ein  Zeicben  fur  die  Meisterscbaft  seines 
Urbebers.  Und  in  den  Rabmen  dieser  Zeitscbrift  passt  es  so  vorzuglicb,  well 
es,  wie  aucb  alle  die  anderen  Scbriften  Scbnapper-Arndts  dieser  Art,  so  recbt 
aus  lebendiger  Selbstbeobacbtung  stiddeutscber  Zustinde  an  Ort  und  Stelle  ber- 
ausgewacbsen  ist. 

So  m5ge  denn  die  Gescbicbte  des  bescbeidenen  Nibrikele  als  Probe 
ecbter  Heimatkunst  das  scbdnste  Denkmal  sein,  das  wir  dem  nunmebr  auf  dem 
Frankfurter  Friedbof  Scblummemden  aus  seiner  eigenen  Geisteswerkstatt  zunScbst 
setzen  I 

Frankfurt  a.  Main.  Die  Herausgeber. 


Ober  den  Friedbof  des  schwibischen  Dorfchens  Pf.  .  .  weht  der 
Herbstwind  und  das  Kreuzchen  erzittert  fiber  dem  Grabe,  in  das  sic  vor 
einigen  Jahren  Rikele,  die  kleine  WeisszeugnSherin,  eingebettet  haben. 
Ich  will  versuchen  zu  schildem,  was  mir  fiber  sie  bekannt  geworden  ist, 
als  mein  Lebensweg  sich  mit  dem  ihren  kreuzte  und  dem  Laser  die 
wirtschaftlicbe  Biographie  vorffibren,  welcbe  ich  damals  fiber  sie  nieder- 
geschrieben  babe.  Grosse,  weite,  sch5ne  Welt  —  wie  schmal  ist  der 
Ausschnitt,  den  Myriaden  von  dir  zu  sehen  bekommen,  und  wie  genfigsam 
hast  du  dich,  Rikele,  gefreut  fiber  jeden  schwachen  Sonnenblick,  den  du 
erhaschtest.  .  .  Ihr,  die  ihr  erhobenen  Hauptes  durch  frfichtenreiche 
GMrten  schreitet,  schenkt  der  Gescbicbte  einer  armen  Kreatur  Gehor, 
ffir  die  an  dem  mfihsamen  Weg,  der  zu  jenem  Friedhdf lein  geleitet,  nur 
karge  Beeren  gewachsen  sind.  .  .  Nicht  das  Leben  eines  Menschen,  das 
Leben  Vieler  wird  erzMhlt,  wenn  immer  wir  uns  in  die  Gescbicbte  eines 
Einzigen  ernstlich  vertiefen.  .  . 

Quelle  n. 

Quellen  meiner  Aufzeichnungen  waren  zahlreiche  Gesprftche,  die 
ich  mit  dem  Rikele  geffihrt,  wahrend  sie  ffir  meine  Frau  arbeitete:  sie 
hitte  ja  nichts  erzMhlen  mogen  und  wMre  in  Verwiming  geraten,  wenn 
sie  mit  unbeschlftigten  Hftnden  hitte  dasitzen  sollen.  Aber  arbeitend^ 
war  sie  mitteilsam  und  dabei  rfickhaltlos  und  aufrichtig.    Sie  machte 


353  8^ 


einmal  einen  bemerkenswerten  Vergleich:  sie  habe  sich,  sagte  sie,  in 
einem  Krankenhause  freiwillig  zu  einer  medizinischen  Untersuchung 
bergegeben:  warum  sollte  sie  nicht  auch  fur  meine  Zwecke  bereitwillig  sein. 
Quellen  waren  ferner  mehrfache  Besichtigungen  ihrer  Wohnung,  und  end- 
lich,  um  das  schwere  Wort  zu  gebrauchen,  urkundliches  Material.  Briefe, 
Quittungen,  Steuerzettel,  gerichtliche  Dokumente,  ein  Sparkassenbuch, 
vor  allem  ein  durch  mehrere  Jahre  hindurch  gefuhrtes  Einnahme-  und 
Ausgabebuch.  Wunderbar,  und  in  diesen  Kreisen  hdchst  selten:  aus 
eigenem  Antrieb  hatte  sie  dieses  Buch  gefuhrt;  ohngefShr  von  ihrem 
35.  bis  zu  ihrem  48.  Lebensjahre  (so  alt  war  sie  zur  Zeit  meiner  Unter- 
suchung) hatte  sie  fleissig  aufgezeichnet,  was  sie  als  NMherin  in  dem 
stiddeutschen  Stadtchen,  in  dem  sie  lebte,  in  kleinen  Betrlgen  mUhselig 
erworben,  und  in  noch  kleineren  fiir  ihren  Lebensunterhalt  aufgewendet 
hatte.  Ihre  Mlteren  Aufzeichnungen  waren  zu  ihrem  grossen  Kummer 
verloren  gegangen;  erhalten  waren  nur  diejenigen  der  letzten  vier  Jahre, 
ein  Quartheft  mit  steifem,  griinen  Deckel,  das  ich  noch  heute  besitze. 
Auf  den  linken  Seiten  die  Einnahmen  und  die  Arbeitstage;  auf  den 
rechten  die  Ausgaben.  Nur  auf  der  linken  Seite  hat  sie  sich  mit  Blei- 
stift  Kolonnen  gezogen  und  die  Posten  untereinander  gestellt:  die  Posten 
der  rechten  hat  sie  jedoch  fortlaufend  geschrieben,  um  am  Papier  zu 
sparen.  Hieraus  eine  fatale  Wirkung.  Sie  hatte  die  Kolonnen  der  Ein- 
nahmen addiert,  zur  Addition  der  Ausgaben  es  jedoch  nicht  gebracht. 
Sie  hatte  gebucht  und  gebucht,  daruber  aber,  was  ihre  bescheidene 
Existenz  in  einem  Jahre  erfordert  hatte,  niemals  bislang  etwas  genaues 
erfahren.  Wie  gespannt  und  mit  wie  Ingstlicher  GebHrde  sass  sie  jetzt 
da,  als  ich  in  ihrer  Gegenwart  an  das  Addieren  ging.  Und  als  ich  die 
Gesamtsumme  des  letzten  Jahres  herausbrachte  —  190  Mk.  —  «Ach 
Gott  ist  das  aber  viell'  rief  sie  aus  „mir  graust's  ganz".  —  Rikeles  Buch 
war  ubrigens  kein  blosses  trockenes  Rechenbuch;  es  war  eine  Art  kleiner, 
an  die  naiven  Aufzeichnungen  alterer  Zeiten  erinnemde  Chronik.  Ihr 
vertraute  sie  an,  was  in  frohen  oder  peinlichen  Stunden  in  stiller  Ein- 
samkeit  das  Herz  bewegte.  Sorgflltig  geschwungene  Linien,  welche  diese 
Bemerkungen  umrahmen,  deuten  auf  die  gehaltene  Stimmung  hin,  in 
welcher  sie  niedergeschrieben  sind.  Ihr  Sohn  besucht  sie:  ^Das  waren 
mir  wieder  einmal  gluckliche  Stunden,'  schreibt  sie  nieder.  SchwMchlich 
und  dabei  ingstlich,  wie  sie  ist,  fiihlt  sie  sich  krank.  «Lieber  Wilhelm, 
wenn  ich  sterbe,  dann  halte  doch  AUes  in  Ehren,  ich  hab'  mir's  drum 
sauer  werden  lassen,  verkaufe  nichts  davon,  miethe  eine  Kammer, 
schliess  Alles  zu  und  versiegle  es,  Du  wirst  spiter  Alles  wohl  brauchen. 
Es  kostet  mich  nicht  mehr  viel  in  der  Feuerversicherung^).*"  Nach  einer 
kleinen  Reise,  welche  sie  als  Zeugin  zu  einer  Gerichtsverhandlung 
machen  musste:  ^Reisegeld  verbraucht  und  doch  Hunger  gelitten**.  Auch 
was  in  ihrer  Kundschaft  bemerkenswertes  sich  begab,  Verlobungen, 
Hochzeiten,  TodesfSlle  trug  sie  teilnehmend  ein. 

Der  Schlusssatz  beziebt  sich  offenbar  darauf,  dass  Rikele,  als  nunmebr 
5  Jahre  versichert,  nach  den  Statuten  der  auf  Gegenseitigkeit  berubenden  Gesell- 
schaft,  in  den  Genuss  von  Dividende  gekommen  war. 


354  8^ 


Zi  vilstand. 

Zunichst  einige  Worte  uber  die  .Zivilstandsverhiltnisse''  Rikeles^ 
des  ^Nahrikele**  wie  sie  sich  selber  nannte. 

Sie  war  im  Jahre  1835  in  Stuttgart  geboren  als  Tochter  eines 
gelernten  Schneiders,  der  auf  der  Wanderschaft  einen  hoheren  Beamten 
kennen  gelemt  hatte  und  bei  ihm  als  Diener  eingetreten  war.  Der 
Beamte  war  ledig  und  speiste  ausserhalb;  dadurch  lemte  der  Diener 
eine  Restaurationskdchin  kennen,  welche  er  heiratete:  Rikeles  Mutter. 
Auch  nach  Grundung  eines  Hausstandes  durfte  er  noch  bei  dem  Herm 
bleiben,  wurde  aber  dann  kranklich  und  kehrte,  als  Rikele  acht  Jahre 
war,  in  sein  Heimatdorf  zuruck.  Daselbst  starb  er  1857;  die  Mutter 
starb  im  Spitherbst  1875. 

Rikele  hatte  ftinf  Geschwister  gehabt,  wovon  drei  im  frtiben  Kindes- 
alter  gestorben  waren.  Noch  lebten  ein  verheirateter  Bruder,  ein  kleiner 
Handwerker,  und  eine  Scb wester,  deren  Mann  unbeilbar  krank  war:  eine 
Landbotin.    Beide  in  dem  Heimatdorfe. 

Rikele  selbst  war  ledig.  Sie  besass  einen  Sohn  von  23  Jahren^ 
welcher  seines  Gewerbes  Schneider  war,  damals  aber  (zur  Zeit  der  Unter- 
suchung)  in  Strassburg  seiner  Militirpflicht  nachkam.  Seit  14  Jahren 
hatte  Rikele  ununterbrochen  in  der  kleinen,  aber  nicht  unbedeutenden 
Stadt  gewohnt,  in  welcher  ich  sie  kennen  gelemt  habe. 

Besitz. 

Zweiundsiebzig  Mk.  hatte  das  Rikele  bei  der  Oberamtssparkasse 
verzinslich  angelegt.  Als  nimlich  die  Mutter  gestorben  war,  hatte  Rikele 
eine  Erbportion  von  197  Mk.  70  Pf.  zu  empfangen  gehabt.  An  ver- 
anschlagter  Fahrnis  wurden  ihr  davon  laut  ^in  Hinden  habenden  Los- 
zettels<<  33  Mk.  40  Pf.  zuteil;  10  Mk.  97  Pf.  betrugen  die  Teilungskosten: 
Rest  also  ohngefShr  153  Mk.  Von  diesem  Rest  waren  63  Mk.  sofort 
fur  einige  kleine  Anschaflfungen  bei  eingetretener  Krankheit  und  fur 
Bezahlung  noch  einer  Schuld  der  Mutter  aufgegangen,  wogegen  die  iibrigen 
90  Mk.  Rikeles  erste  kapitalistische  Rucklage  gebildet  hatten.  Die  Kasse 
vergutete  „Dienstboten,  Gewerbegehilfen,  Lohnarbeitem,  Taglohnem  und 
derartigen  in  Privatdiensten  stehenden  Personen*  4Vs7o-  liierdurch  An- 
wachsen  jener  Summe  bis  Ende  1878  auf  99  Mk.  1  Pf.  Von  diesem 
Gipfelpunkt  herab  jMher  Absturz:  Rikele  schafFt  dem  Sohn  eine  NSh- 
maschine  an  und  leert  seinen  Schatz  bis  auf  1  Mk.  1  Pf.  Dann  widerum, 
im  Verlauf  der  folgenden  vier  Jahre,  langsames  Ansteigen  auf  den  erst- 
genannten  Betrag,  namentlich  infolge  von  Ruckzahlungen  des  Sohnes 
und  well  Rikele  niemals  wieder  der  Kasse  erwas  entnimmt.  Das  Maximum 
der  Einlagen,  das  bei  der  Kasse  zulissig  war,  belief  sich  statutenmSssig 
auf  zweihundert  Gulden.  Ob  sie  jemals  so  hoch  wohl  kommen  werde, 
frug  ich.    Da  musse  sie  ^Geld  Schmieden  kdnnen*  meinte  sie. 

Erwerb. 

Rikele  war  Weisszeugnaherin;  sie  flickte,  fertigte  Morgenhiubchen, 
Chemisetten,  Kragen,  Manschetten  und  half  beim  Kleidermachen,  nicht 


^  355 


ininder  unternahm  sie  zuweilen  das  selbstandige  Schneidern  einfacherer 
Oberkleider.  Das  alles  meist  in  den  Hausern  ihrer  Kunden;  von  den 
Tagen,  welche  sie  bei  sich  zu  Hause  verbrachte,  waren  nur  wenige 
durch  Lohnarbeit  in  Anspruch  genommen.  Im  Sommer  um  halb  sechs 
Uhfy  im  Winter  um  7  Uhr  aufstehend,  erschien  sie  bei  ihren  Kunden 
je  nach  der  Jahreszeit  zwischen  7  und  8  oder  kurz  nach  8  Uhr,  bekam 
gewohnlich  eine  grosse  Tasse  Kaffee  mit  zwei  Stuck  Zucker  und  einem 
Week,  und  begann  dann  die  Arbeit.  Um  10  Uhr  das  ortstibliche  »GlSsle 
Wein*  nebst  Butterbrot  oder  auch  Brot  mit  Wurst,  bei  einer  Familie 
manchmal  zwei  Eier.  Um  12  Uhr  Mittagessen.  Das  Rikele  teilte  seine 
Kunden  in  Professoren  und  ^Burgersleute""  ein.  Bei  diesen  gab's  Suppe, 
Gemiise  und  Fleisch,  dort  zuweilen  auch  noch  Braten.  Bei  diesen  ass 
sie  am  Tische  mit,  bei  jenen  besonders  fiir  sich!  Um  drei  Uhr  eine 
Tasse  Kaffee  mit  einem  oder  zwei  Milchbroten.  Abends,  nach  Schluss 
des  Arbeitstags  —  im  Sommer  zwischen  7  und  8  Uhr,  im  Winter  um 
8  Uhr  —  Tee  oder  Kaffee  mit  zwei  Semmeln  und  Wurst;  in  einigen 
Familien  wurden  statt  des  Abendmahls  30  Pf.  Kostgeld  gegeben.  Im 
ganzen  ein  11-  bis  1 1  ^4  stundiger  Arbeitstag.  Denn  das  zweite  Friih- 
stuck  und  die  Vesper  wurden  nebenher  am  Arbeitstisch  genommen;  bei 
den  .Burgersleuten^,  welche  selbst  rasch  assen,  sass  sie  auch  nicht 
linger  als  eine  Viertelstunde  beim  Mittagstisch.  Bei  vielen  Familien 
ging  sie  nach  dem  Mittagsmahl  noch  funf  Minuten  im  Zimmer  auf  und 
ab;  das  war  eine  Erholung,  die  man  ihr  stillschweigend  gewShrte,  und 
auf  die  sie,  als  auf  etwas  Besonderes,  einigen  Stolz  bekundete. 

Was  soli  man  zur  subjektiven  Entschuldigung  der  Frauen,  welche 
ihren  NSherinnen,  Wischerinnen,  Dienstboten  keine  Arbeitspausen 
anbieten,  sagen?  Zur  Entschuldigung  der  Frauen  des  Mittelstandes  darf 
man  wohl  geltend  machen,  dass  diese  Frauen  selbst  vielfach  eine  ununter- 
brochene  Arbeit  verrichten.  Sie  linden  es  dann  naturgemfiss,  dass  der 
Armere  sich  nicht  weniger  muhe,  als  sie  selbst;  sie  vergessen  zunachst 
dabei,  dass  das,  was  ihren  eigenen  Miihen  entspricht,  jenen  Armeren 
ja  teilweise  als  eigene  hiusliche  Arbeit  auch  noch  vorbehalten  bleibt. 
Sie  vergessen  die  Entschadigungen,  die  ibnen  selbst  das  Leben  immerhin 
bietet  und  die  eine  anstrengende  Arbeit  zweifellos  leichter  ertragen 
lassen.  Uberhaupt:  bei  der  Arbeit  sind  Reiche,  Mittelstehende,  Arme 
sehr  hSufig  Kameraden;  bei  dem  Genusse  sind  sie  es  nicht.  Mit  dem 
Hinweis  auf  die  eigene  Arbeit,  die  er  neben  dem  armeren  Untergebenen 
verrichtet,  beruhigt  der  Wohlhabendere  sich  selbst,  und  er  nimmt  es  tibel, 
wenn  dieser  nicht  willig  mit  ibm  schafft.  Selbst  alsdann  zur  Erholung 
eilend,  verliert  er  jenen  wie  physisch,  so  auch  geistig  aus  dem  Gesichte 
and  denkt  wenig  daran,  ob  jener  sich  weiter  mtihe,  oder  was  ihm  die 
eingetretene  Feierstunde  bringe. 

Rikele  hat  ihre  Kunden  nie  hoch  im  Preise  gehaiten:  sie  erhielt 
1864  pro  Tag  12  Kreuzer  (34  Pf.),  1865  15  Kreuzer  (43  Pf.),  1866  bis  1870 
15 — 18  Kreuzer  (43 — 51  Pf.).  Nach  1870  setzten  sich  diesem  beschei- 
denen  Wesen  gegenuber  die  Kunden  teilweise  selbst  hinauf  und  gaben 
bis  zu  70,  vereinzelt  bis  zu  80  Pf.    Zahlreiche  kleinere  Zuwendungen 


356  ^ 


an  Naturalien  neben  der  ublichen  Verkdstigung,  an  Weihnachten  auch 
kleine  Geldgeschenke  mogen  teilweise  noch  als  ein  Lohnzuschuss  be- 
trachtet  werden.  Ich  berechnete,  dass  sie  sich,  bei  ihren  Kunden 
arbeitend,  immer  noch  besser  stand,  als  bei  dem  Stucklohn  ohne  Kost 
im  eigenen  Haushalt.  Fur  ein  feines  Herrenhemd  erhielt  sie  z.  B.  1  Mk. ; 
daran  arbeitete  sie,  wenn  sie  sich  der  Maschine  bediente,  einen  Tag. 
Man  konnte  vermuten,  dass  sie  vielleicht  an  den  Zutaten  regelmlssigen 
Profit  gemacht  habe,  aber  sie  war  ehrlich,  Sngstlich  und  kein  Finanzgenie. 
Lange  Jahre  hat  mich  ein  Nihgamrolichen,  das  ich  mir  verwahrte,  an  die 
grossartigste  Spekulation  erinnert,  welche  Rikele  jemals  unternommen 
hatte.  Es  entstammte  einem  Ankaufe  von  3  Dutzend  Rollen,  zu  dem 
sie  ein  reisender  Handelsmann  veranlasst  hatte.  «Da  habe  er  etwas  fur 
sie,  da  kdnne  sie  ein  GeschSftle  machen.''  Sie  zauderte  zunachst;  sie 
dachte  «es  wiirde  ihr  bleiben**.  Aber  sie  hat  bei  einem  raschen  Absatz 
an  15  obigen  Rollen  75  Pf.  verdient.  »Das  ischt  aber  auch  ein  beson- 
derer  Treffer  gewa.*  An  den  Zutaten  zu  einem  einer  „Pfarrmagd* 
gefertigten  Rock  wollte  sie,  und  ich  halte  es  fiir  glaubhaft,  nur  5  Pf. 
verdient  haben.  Sie  hatte  sich  uberhaupt  erst  spUt  in  ihrer  Laufbahn  dazu 
entschlossen,  solche  aus  Rabatten  entspringende  kleine  Verdienste,  sich  an- 
zueignen.  „Ein  ungerechter  Heller,*  hatte  ihr  Vater  gesagt,  «frisst  zehn  ge- 
rechte  Gulden  auf.**  Leider  war  die  Zahl  ihrer  ausw&rtigen,  also  lukrativen 
Arbeitstage,  in  den  letzten  Jahren  decrescendo  gegangen.  Ursache,  wie 
das  Rikele  meinte,  dass  ihre  Familien  sich  immer  mehr  an  das  Einkaufen 
fertiger  Waren  gewohnt  hatten;  auch  hfitten  sich  viele  von  ihnen  Maschinen 
angeschafft  und  wtirden  demnach,  selbst  wenn  man  sie  zu  deren  Bedienung 
annehme,  in  weniger  Arbeitstagen  mit  ihrem  Bedarf  fertig  als  vorher. 

Fiir  die  Unterhaltung  und  ErgSnzung  ihres  Inventars  an  Arbeits- 
gerMtschaften  hatte  das  Rikele  keinen  grossen  Aufwand  zu  machen.  Sie 
wiirde  fur  Nadeln  jihrlich  etwa  1  Mk.  gebraucht  haben,  wenn  sie 
dieselben  nicht  meist  zum  Geschenk  erhalten  hStte.  Sie  bevorzugte  die 
englischen  Nadeln,  und  tat  sich  etwas  zugut  darauf,  dass  sie  dies,  der 
Wahrheit  zu  Liebe,  obschon  eine  Deutsche,  unverhohlen  gestehe.  »Die 
englischen  laufet,  aber  die  deutschen  krachet,  weil  sie  nicht  schlupfet 
und  selbige  werden  bloss  krumm*".  Trennmesser  und  Scheren  sollten 
jedes  Jahr  regelmMssig  geschliffen  werden,  wurden  es  aber  nicht.  ^Man 
schleift  nichts  hinzu,*  meinte  Rikele,  „ich  versprech's  ihnen  immer  denen 
Scheren,  dann  schneiden  sie  allemal  wieder^. 


Inventar  der  Arbeitsgeratschaften.^) 
Ein  weiss  und  rot  geflochtenes  Nflhkdrbchen,  Weibnachtsgeschenk  (81; 
/4  50;)  1  auf  der  Messe  gekaufter  „Spahn'-Korb  (78;  ^  50;  beide  Kdrbe 
durften  noch  mindestens  10  J.  halten)  1  gekaufte  Pappschachtel  mit  Fachem 
{Jt  1,10)  4  dergl.  und  4  Cigarrenschachteln  von  Kunden  bez.  einem  Kaufmann 
geschenkt  40).  Ein  1809  selbstgemachtes,  ein  1880  von  einer  Kundin  ge- 
scbenktes  Nadelkissen  60);  Nadelbiichse  mit  ungeflbr  100  grossentheils  ge- 
schenkten  Nadeln.  1  desgl.  verailbert,  geschenkt  (75;      50)  4  geringe  Finger- 


^)  Abbreviature n.   Die  in  Klammer  gesetzten  Zahlen  geben  das  Jahr 
des  Erwerbs  an  (81=1881  usw.),  femer  den  Einkaufspreis  bzw.  den  ge- 


357 


bute  (/^  48)  und  1  versilberter,  gescbenkt  (75;  ^  SO)  2  grSssere  Scbeeren 
(64  &  ^  1,40)  und  1  Knopflocbscbeere  (77;  4  80)  1  geringes,  1  Perlmutter* 
und  1  Schildpatt-Trennmesser  (letztere  gescbenkt;  ereteres  66  gekaaft  fQr 
Jl  1,37)  1  Metermass  von  Holz  und  eins  von  Leder  (1873  bez.  78  zus.  70  y^) 
1-2  Rollen  Faden. 

Grover  &  Baker  Mascbine.  mit  Radausldsung  (79;  J$  89,90)  zur  Zeit  bei 
ibr  deponirt  (dem  Sobn  gebSrig). 


Auf  gute  personliche  Behandlung  durch  ihre  Kunden  legte  sie 
grosses  Gewicht,  von  einem  ihrer  Hiuser  ruhmte  sie  es,  dass  man  sich 
dort  immer  wieder  ganz  erhoben  fuhle  und  empfinde,  dass  man  ein 
JVlensch  sei.    Den  Dienstboten  wollte  sie  nicht  gem  unterstellt  sein. 

Die  Lohnarbeit  war  Rikeles  Haupteinnahmequelle.  Nebenher 
^pielten  die  Gratiszuwendungen,  die  ihr  von  einigen  Kunden  zuteil 
burden,  eine  kleine  Rolie;  eine  grdssere  die  Eigenproduktion  in  ihrem 
Kleiderbudget.  Der  Sohn  hatte  die  Mutter  gem  unterstutzt,  hatte  ihr 
Afters  zu  ihrem  Geburtstag  Geld  geschickt  und  bei  Besuchen  zuweilen 
einige  Mark  unter  den  Teppich  gelegt.  Offentliche  Unterstutzung  ausser 
der  Gewihmng  billigeren  Bezugs  von  Brennholz  war  dem  Rikele  nie 
zuteil  geworden.  Von  Vorteil  war  ihr  die  Aufnahme  des  Sohnes  in  ein 
Intemat,  freilich  in  der  Zeit,  die  vor  unserer  Untersuchung  liegt. 


Ditriam  f&r  1879,  1880  und  1881 
aut  Rikeles  Htusbuch  zustmmengestellt. 


I.  Arbeitstage  in  den  Hiusem  von  Kunden. 

a)  Tage  k  70 

b)  „    k  75 

c)  «    k  80 

d)  ,    k85  ] 

it)    ^    k  90  I  mit  uberzeit  bez.  obne 

f)  ^    k  \  Jt  I  Abendkost 

g)  ,    k  1,10  und  1,20  j 

II.  Zu  Hause  mit  verzeichneter  Lohnarbeit 

III.  Zu  Hause  mit  dem  Vermerk  «krank*  b) 

IV.  Auf  Reisen  abwesend 

V.  Sonn-  und  Feiertage 

VI.  „Zu  Hause"  notirt  obne  weitere  Bemerkung 

VII.  Werktage,  Ciber  die  keine  Notiz  vorbanden,  die  aber 
fast  aile  zu  Hause  verbracbt  worden  sind  c) 


1879 

1880 

1881 

181 

169 

149 

10 

7 

24 

11 

7 

2 

I 

3 

t)6 

7 

1 

6 

218 

199 

167 

24 

15 

16 

9 

3 

2 

4 

60 

60 

58 

46 

63 

19 

8 

24 

101 

365 

366 

365 

a)  Hierbei  ein  Tag  Kinderaufsicbt  am  Pflngstmontag. 

b)  Die  Tage,  an  denen  gleicbzeitig  Lohnarbeit  ausgeflihrt  worden,  sind 
bier  nIcht  inbegrilTen. 

c)  HIerunter  diirften  nocb  einige  durch  Stucklobnarbeit  okkupierte  Tage 
beflndlich  sein  (1879  und  1880  u.  a.  durch  Scbirmnihen),  ausserdem  einige  Tage, 
an  denen  sie  bei  Gesellschaften  in  Kundenhiusem  Hilfe  geleistet  hat.  —  Die 
genaue  Obersicht  pro  1882  im  Budget. 


schitzten  Wert  zur  Zeit  des  Erwerbs.  —  Die  tellweise  ursprunglich  in  stid- 
deutscber  Guldenwihrung  berechneten  Preise  sind  (wie  die  alten  Masse)  ent- 

SQddeutsche  Monatthefte.   1,5.  24 


358  8->- 


Nahrung. 

» Kinder,  schafft  Euch  nur  ein  kleines  Magele  an*  hatte 
ihr  Vater  oft  gesagt.  Rikeies  schmSchtige  Konstitution  und  ihre  fabel- 
hafte  Bedurfhislosigkeit  machten  es  ihr  mSglich,  sich  zu  nihren,  ais  ob 
des  Vaters  selfsame  physiologische  Vorstellungen  berechtigt  gewesen 
wiren.  Das  ist  einer  der  UmstSnde,  deren  man  sich  erinnem  muss, 
wenn  man  sich  staunend  fragt,  wie  mit  einem  Einkommen,  wie  dem- 
jenigen  Rikeies,  ohne  gSnzlichen  dkonomischen  Schiffbruch  uberhaupt 
auszukommen  war.  Dass  sie  ein  kleines  MIgele  habe,  glaubte  sie  selbst, 
und  es  freute  sie.  Die  Tage,  an  welchen  sie  bei  ihren  Kunden  arbeitete^ 
waren  gleichsam  ihre  fetten  Tage,  an  denen  sie  sich  fur  die  mageren 
einigermassen  mit  hiniiber  ass,  teils  indem  sie  aus  dem  Genossenen 
Kraft  fur  diese  schdpfte,  teils  indem  sie  Ungenossenes  mit  nach  Hause 
nahm,  Geschenktes  oder  .Erspartes'  wie  sie  zu  sagen  pflegte.  Man  gab 
ihr  zuweilen  ein  wenig  Mehl,  ein  wenig  Gemiise. .  .  Am  planvollsten 
waren  ihre  Weck-Erspamisse  angelegt.  Je  nachdem  es  bei  den  Kunden 
morgens,  zur  Vesper  oder  abends  mehr  Wecke  gab  als  das  kleine 
MSgelchen  bedurfte,  trug  sie  das  Zuviel  nach  Hause  —  ein  Vdgelchen, 
das  sich  seinen  Proviant  zusammenpickt.  Wie  vorsorglich  konnte  man 
sie  verwenden,  wenn  man  sie  in  Scheibchen  schnitt,  in  ein  leinenes 
Sickchen  hing  und  trocknen  liess!  Im  Bedarfsfall  eine  Greifhand 
(1^2  Wecke)  dem  Sickchen  entnommen,  mit  soviel  Wasser  gekocht^ 
dass  es  zwei  Teller  gab,  dazu  Butterschmalz  fur  hochstens  3  Pfennige, 
auch  wohl  Kfimmel  ^Peterling**  und  ^wenn  man  will'  etwas  Zwiebel  — 
so  hatte  sie  eine  j^Brotsuppe**.  Den  Kummel  hatte  sie  sich  selbst  auP 
den  Wiesen  gesucht,  wie  man  denn  bei  dem  Rikele,  wenn  man  sein 
Gesicht  in  strenge  wissenschaftliche  Falten  legen  wollte,  sehr  wohl  von 
einem  okkupatorischen  Erwerb  neben  dem  Erwerb  aus  der  Niharbeit 
und  dem  ^karitativen*'  sprechen  kdnnte.  Sie  wusste,  wo  Sauerampfer 
wuchs,  wo  Schmalzblumenblitter,  holte  Brunnenkresse  aus  einem 
nGrible*"  an  den  Herrenberger  Wiesen;  Majoran  site  sie  in  einem 
Blumentopfe  aus. 

Hier  ungeRhr  Rikeies  hSusliches  Kuchenprogramm,  wie  sie  es 
darlegte: 

Morgens: 

Eine  grosse  Tasse  KaflPee  oder  Milch  (gut  Schoppen)  nebst 
Brot  Oder  einem  3  Pfennig- Week. 

Um  10  Uhr: 

V5  Liter  Milch  und  fur  3  Pfennig  Brot.  Butterbrot  nur  wenn  sie 
solches  ^erspart**  hat.    Manchmal  uberhaupt  nichts. 

sprecbend  amgerechnet  worden.  —  Den  Angtben  tiber  die  AnscbaffliDgszeit  wurde 
durcb  AnknQpfuDg  tn  iussere  Ereignisse,  KontrolieruDg  durch  Quittungen,  das 
Hausbuch  usw.  rodglicbste  Sicberheit  zu  geben  gesucht,  einzelne  kleine  Gedichtnis* 
fehler  sind  indes  selbstverstindlich  nicht  ganz  ausgeschlossen.  —  D«b  Dauer  (mut- 
masslicbe)  c  =  circa;  n«=noch;  also:  D.  n.  1  J.«=matma8tlicb  noch  1  Jahr  vor- 
haltend.  Das  Zeicben  00  steht  zuweilen  bei  Dingen,  die  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  wihrend  Lebzeiten  der  Arbeiterin  in  Gebraach  bleiben  werden. 


359  8^ 


Mittagliche  Kombinationen: 

Die  geschiiderte  Brotsuppe,  dazu  allenfalls  Kartoffein  oder  sonst 
eine  ^ersparte''  Kleinigkeit,  die  gewohnlichste  Mahlzeit. 

Gebrannte  Mehlsuppe  mit  eingeschnittenem  Brot. 

«Riebele^  (Eiergerst-)suppey  eine  Fieischbruhe,  nebst  dem  fur  deren 
Bereitung  gebrauchten  V4  Pfund  Fleisch  oder  aber  ein  in  Fleischbruhe 
gekochtes  Gemtise,  ebenfalls  mit  dem  zubehdrigen  V4  Pfund.  Wenn  das 
Rikele  Fleisch  kochte,  so  folgten  sich  allemai  2  Fleiscbmaliizeiten,  denn 
weniger  als  ^/^  Pfund  konnte  sie  nicht  wohl  kaufen,  und  das  balbe  Pfund 
zehrte  sie  nicht  auf  einmal  auf. 

SpMtzle  aus  geschenktem  Mehl,  wozu  allenfalls  ein  Salat  oder  ein 
saures  ^Sosle**,  ein  ^Zwiebelsdsle**  (V12  Pfund  Mehl  und  2  Eier  auf  das 
Gericht  SpStzle). 

Zwetschgengemus  und  ein  ^Pfannkuchle**  (Eierkuchen). 

Kaflfee  und  Brot  (wenn  sie  gar  zu  schlecht  „bei  Kasse**  war). 

Vesper: 

Eine  Tasse  Milch  oder  Kaflfee  und  um  3  Pfg.  Brot.  In  Ausnahme* 
fallen  Dickmilch,  wenn  Milch  iibrig  geblieben  war. 

Abends: 

Meist  Kaflfee.    Hie  und  da  ein  Schussele  Milch. 


Im  kleinen  StSdtchen,  in  welchem  das  Rikele  lebte  und  wirkte, 
wurde  auch  von  den  unbemittelteren  Klassen  immer  noch  etwas  Wein 
als  Haustrunk  genossen/)  auf  den  grunen  Hugeln  rings  umher  wuchs 
ein  leichter  billiger  Stoflf.  Der  Weinbau  bildete  sogar  den  Hauptnahrungs- 
zweig  eines  erheblichen  Teils  der  Bevolkerung:  der  „Gogers*.  Wer  es 
irgendwie  konnte,  sorgte  sich  fur  seinen  Vorrat.  Ich  liess  in  T.  einmal 
das  Manuskript  zum  Budget  einer  blutarmen  Familie  Mitteldeutschlands 
kopieren;  als  der  eingeborene  Kopist  dazu  kam,  den  Grundriss  der  Hutte 
meiner  Familie  nachzuzeichnen,  rief  er  skeptisch  aus:  „Ja,  abber  wo  tun 
denn  die  ihren  Moscht  hin  r^^  ^  Das  Rikele  partizipierte  an  dem  Wein- 
genuss  seiner  Landsleute  nur  in  den  Fruhstucksglischen,  welche  sie  bei 
ihren  Kunden  bekam;  bei  sich  trank  sie  nur  hochst  selten  ein  Glischen, 
wenn  sie  sich  schwach  fiihlte.  Ab  und  zu  wurde  ein  Glas  Bier  zu 
ihrer  Zimmemachbarin,  der  Kleiderniherin,  getragen.  y,Mag  sie  als  Bier 
trinke,  i  bin  au  zufridde^^  sagte  dazu  das  Rikele  etwas  bitter;  bitter  nicht 
aus  Lustemheit,  sondem  aus  einem  verzeihlichen  Gefuhl  der  Eifersucht, 
das  sie  der  dkonomisch  stMrkeren  Nachbarin  gegentiber  beschleichen 
musste. 

Rikeles  GetrMnk  und  ihr  Hauptnahrungsmittel  bei  sich  zu  Hause 
war,  wie  wir  gesehen,  Milch:  das  kindliche  Wesen  erhielt  sich  auch 

')  In  den  Jahren  1880/81  bis  1884/85  warden  in  Wurttemberg  jihrlich  durch- 
achDittlich  20,8  Liter  pro  Kopf  der  BevSlkening  verbraucht  (Wtirttemb.  Jahr- 
bScher,  Jabrgang  1894). 

Hier  ist  wohl  ^Apfelmost"  gemeint. 

24* 


360 


wie  ein  Kind.  Von  den  20  Pfennig  Geldauslageo,  mit  denen  sie  ihrem 
Buch  zufoige  wihrend  der  vier  Jahre  pro  zu  Hause  verbrachtem  Tag 
ohngefihr  ausgekommen  ist,  entfiel  auf  Milch  rund  der  dritte  Teil; 
dies  stimmt  damit,  dass  sie  ihren  gewohnlichen  Milchverbrauch  fur 
Morgen,  Vesper  und  Abendimbiss  auf  durchschnittlich  einen  Schoppen 
(V,  Liter;  1  Liter  kostete  14  Pf.)  angab.  60  Kaffeebohnen  gingen  im 
ganzen  bei  diesen  Mahlzeiten  auf,  ohngefihr  5 — 6  Gramm  dem  Gewicht 
nacb.  Ein  Quantum  Bohnen,  wie  das  Rikele  sie  pro  Tasse  abzumessen 
pflegte,  hat  das  Rikele  selber  iiberlebt;  in  einem  Dutchen  liegt  es  noch 
bei  meinen  ^Akten"*.  Dem  Kaffee  setzte  das  Rikele  etwas  Zichorie  zu, 
obschon  sie  deren  Geschmack  nicht  liebte,  aber  sie  mochte  als  Schwabin 
auf  die  fur  unerlisslich  gehaltene  „sch5ne  Farbe''  nicht  verzichten. 

Wohnung. 

Ein  altes,  dtistres,  aber  solid  gebautes  Burgerhaus:  in  den  unteren 
Stockwerken  wohlhabendere  Familien,  im  Mansardenstock  das  Rikele, 
eine  Kleidermacherin,  mehrere  Studenten.   Hauptbestandteil  von  Rikeles 
Wohnung:  eine  Kammer  5,04  m  lang,  3,05  m  breit  und  im  Maximum, 
—  die  Decke  fiel  schrSg  ab  —  2,04  m  hoch.  Ganz  freundlicher  Anblick, 
wenn  man  die  Ture  oflfnete  und  den  Raum  uberschaute.  Auf  der  gegen- 
tiber  liegenden  Schmalseite  das  Fenster,  welches  ein  reichliches  Licht 
einliess,  mit  Mullvorhangen  versehen;  ein  Epheustockchen  draussen. 
An  den  beiden  Langseiten  Mdbel  nach  Mdbel.    Links  Bett,  Tisch, 
Pfeilerschrinkchen;  rechts  Nachttisch,  Schrank,  Kommode,  NShmaschine; 
Nippsachen  auf  Schrfinkchen  und  Kommode,  Schildereien  und  Zieraten 
verschiedenster  Art  an  den  Wanden.    Auf  dem  Boden  zwei  Stucke 
alten  Liuferstoflfes  als  Teppiche.    Nirgends  Unordnung  trotz  des  Platz- 
mangels,  trotz  des  Umstands,  dass  die  Insassin  die  Kuche  mit  der 
Kleidemfiherin,  welche  ebenfalls  auf  der  Etage  wohnte,  zu  teilen  hatte. 
Aber  was  sie  von  Kuchensachen  und  Gerumpel  im  Stubchen  unter- 
bringen  musste,  hatte  sie  durch  einen  gelben  Vorhang  dem  Blick  ent- 
zogen.    Auch  nichts  schadhaft  war  an  dem  Hausrat  ...    In  einem 
reizenden  Schriftchen  «der  Kanzleirat**  stellen  Hausvater  und  Haus- 
mutter  am  Ende  des  Jahres  ihr  Budget  auf,  und  da  es  sich  zeigt,  dass 
mancherlei  Unkosten  durch  Fahrlassigkeit  der  Kinder  veranlasst  worden 
waren,  wird  alles  Zerbrechen  fiirderhin  «zur  Unmdglichkeit"  erklart. 
Rikele  scheint  die  Kraft  besessen  zu  haben,  eine  ahnliche  Deklaration 
tatsachlich  durchzufuhren:  sie  nimmt  von  all  ihrem  Tischgeschirr  eigent- 
lich  nur  zwei  Kaflfeetassen,  zwei  Suppenteller  und  das  geringste  Wasser- 
glas  in  Gebrauch,  hatte  in  den  ganzen  vier  Jahren,  uber  welche  ihre 
Buchfiihrung  vorlag,  nichts  Neues  derart  anschaflfen  mussen,  ja  innerhalb 
derselben  noch  nicht  einmal  einen  einzigen  Lampenzy Under  zerplatzt! 
Mit  welcher  Genugtuung  ruhte  aber  auch  ihr  Blick  auf  uns,  als  wir 
an  die  Durchmusterung  ihres  Hausrats  gingen,  vollends  dann,  als  wir 
ihr  Bett  inventarisierten.    In  der  Tat,  welch  ein  Bettwerk!  Zusammen- 
gekommen  aus  Erbschaften,  Gelegenheitskaufen  und  -Erwerbungen  reichte 
es  fast  bis  an  die  hier  schief  abfallende  Decke  hinauf.    An  seiner 


361  8^ 


Zusammensetzung  hatte  Rikcle  wie  an  dem  Erwerb  einer  Kunstsammlung 
gearbeitet:  es  enthielt  nicht  nur  das,  dessen  es  sclbst  bedurfte,  sondern 
auch  das  Ehebett  in  nuce  fur  den  Sohn.  In  der  Sorgfalt,  welche  auf 
es  gewendet  worden  war,  erkannte  man  gewiss  auch  noch  den  Einfluss 
der  bSuerlichen  Traditionen,  unter  denen  Rikele  aufgewachsen  war. 

Inventar  des  Bettes  und  Bettwerks. 

Eine  tannene  Bettlade  (73;  JL  13,71)  eine  Bettscheere,  „damit  das  Bett 
nicht  rutscht"  (74;  4  50)  ein  Nachttischchen,  Zwettchgenbaam,  alt  gekauft 
(73;  Ji  3,43)  Porzellangeschirr  {Jf  1)  eine  zinneme  Bettflasche  (74  be!  Krankheit 
angeschafft;  6,86).  Ein  Roach  (Sprungfedermatratze)  mit  Seegras  aammt  dto. 
Polster  (Kopfkeil);  (71;  Ji  30,86).  Ein  Oberbett  (Deckbett)  und  ein  Unterbett 
Im  Oberbett  7  Pfd.,  im  Unterbett  9  Pfd.  Federn  k  3  p.  Pfd.  (billig);  zu 
jenem  6,4  m  Drillich  60  cm  breit  fQr  JL  8,36;  zu  diesem  5,9  m  Barchent  fur 
Jt  6,51;  zus.  also  JL  62,87  (AngeschaflPt  71.  In  das  Unterbett  ist  dann  noch 
ein  Sickchen  Federn,  von  der  Mutter  geerbt,  gekommen.)  Die  meisten 
der  bisher  genannten  Dinge  werden  ,,sie  aushalten';  der  Rosch  wird  in  10 
Jahren  aufgearbeitet  werden  mussen.  —  F&r  das  Deckbett  sind  vorhanden 
6  Oberzuge,  selbstgefertigt,  3  davon  von  karrirtem  ^Zeugle'  (viele  Jahre  vor 
jenem  erworben)  3  von  farbigem  Kattun.  (77)  An  jedem  5,8  m  Stoff  &  1,31 
das  Zeugle  und  0,56  der  Kattun.  (Letztere  noch  ca.  10  Jahre  haltend,  erstere 
viel  dauerhafrer.)  Fur  das  Unterbett  ist  ungewdhnlicher  Weise  zur  besonderen 
Schonung  ein  Ueberzug  aus  ungebleichtem  Baumwolltuch  vorhanden.  {Jt  3.) 

4  Haipfel  (Rissen,  uber  die  ganze  Breite  des  Bettes  reichend,  bestimmt, 
unter  den  eigentlichen  Kopfkissen  zu  Hegen;  3  davon,  welcbe  eigentlich  nicht 
in  das  Bett  gehOren,  sind  Aufbewahrens  halber  neben  einander  auf  die  Matraze 
gelegt.  Eins  ist  geerbt  Ende  75;  zu  einem  andem,  fQr  den  Sobn  bestimmt,  ist 
der  ^Schlauch"  75  um  3  ^  gekauft,  die  Federn  sind  gegen  ein  geerbtes  Bett- 
stiick  eingetauscht.  An  den  beiden  tibrigen,  71  gleichzeitig  mit  dem  Ober- 
bett angeschafft,  sind  zus.  4,27  m  Barchent  k  1,97  und  6  Pfd.  Federn 
&  3  Ay  Zu  den  Haipf^ln  im  Ganzen  11  Ueberziige,  selbstgefertigt,  jeder  von 
2,14  m  vorhanden,  davon  8  von  weissem  Shirting,  2  von  Zeugle,  1  von  Kattun 
(k  ^  66;  Jl  1,32  und  56  p.  meter.  Angeschafft  70/78.  Haltbarkeit  der 
Ueberzuge  ahnlich  wie  oben)  —  zu  einem  12ten  Ueberzug  ist  der  Stoff  vorrSthig. 

2  Kopfkissen,  Barchent  mit  Gansfedem,  eins  geerbt,  eins  gekauft  (dies  79 
Jk  2,60)  16  KissenQberzuge,  nimlich  1  von  Zeugle,  der  haltbarste  und  werth- 
vollste  (um  A  2  gleichzeitig  mit  dem  iltesten  Ueberzug  zum  Oberbett)  2  leinene 
(1879  ersteigert  75  ^)  1  kattunener  (75;  4  50)  endlich  12  baumwoUene  (70 er 
Jahre,  nach  und  nach;  jeder  von  1,52  m  k  /ij  66  p.  Meter).   Ausserdem  noch 

4  vSchutzztigle*  (kommen  unter  die  Ueberzuge;  73/75;  an  jedem  1,52  m 
weisses  Baumwolltuch  k  56  >4  p.  m.) 

8  Bettficher,  nimlich  2  aus  alter  grober  Leinwand,  geerbt  (3  Jt  im 
Anschlag)  und  5  nach  und  nach  angeschaffte  leinene  und  1  baumwoUenes; 
an  jedem  4,27  m  Stoff  (der  Baumwollstoff  k  S2  ^  P-  ni)  ~  3  abgenihte 
Converts,  Stoff  4  A. 

1  braunwollne  gesteppte  Decke,  Geschenk  einer  Kundin  (77;  A  3; 
wird  nach  c  6  J.  neu  tiberzogen).  Bettuberwurf,  gelb,  mit  grossen  Blumen 
und  einer  Borte,  Kattun,  4,9  m  i  56  4  p.  m.  (75;  nachgeflickt;  muss  noch 

5  Jahre  halten). 

An  Miete  hatte  das  Rikele  fur  das  Stubchen,  den  Kuchenanteil  und 
einen  Speicheranteil  (4  qm)  fur  Unterbringung  von  Holz  69  Mk.  per  Jahr 
zu  bezahlen.  Ebensoviel  hatte  sie  fiir  eine  bis  vor  kurzem  innegehabte, 
etwas  geriumigere  Wohnung  bezahlt.  Und  pdnktlich  bezahlt  hatte  sie 
immer.    ,Der  Hauszins  ist  bei  mir  das  allererst,  dann  komm'  erst  i«*^ 


^    362  8^ 

Hier  das  genauere  Inventar  uber  das  Mobiliar  und  das  Hausgerlte : 


Standmdbel. 

1  Tisch,  Birn-  und  Nussbaum  (Jt  3)  1  dreieckiges  Eckiischchen,  eichen 
(Jf  4)  beide  ererbt.  1  Tischcben,  Zwetschgen-  u.  Birabaum,  ereteigert  {Ji  5,14) 
2  Stuble,  Nassbaum  mit  Rohr-  bez.  Strohsitz  (73;  Ji  4)  1  Schemel  (75;  3} 
1  Kleiderschrank,  tannen  (73;  24)  1  Pfeilerschrilnkchen,  eichen,  ersteigert 
(76;  13,71)  1  Pfeiler-Commode,  tannen  (73;  20,56;  tbeuer,  ea  kam  yerdienter 
Lohn  dabei  in  Veirechnung)  1  Regal  (fainter  dem  Vorhang;  ereteigert,  79; 
^  40)  1  Spacknapf,  Gescfaenk  einer  Kandin  (.4  1)  4  diverse  Kisten  and  Be- 
hilter  (fainter  dem  Vorfaang,  theils  ersteigert;  Jt  9,40)  1  Wiscfaekiste,  fiir  den 
Sofan,  ereteigert  (75;  S)  —  Die  Gegenstinde  sollen  sie  simmtlich  ausfaalten, 
teils  noch  auf  den  Sofan  ubergefaen. 

Vorhinge,  Teppicfae. 

2  Rouleaux  mit  Palmen  und  grossen  rothen  Rosen,  ereteigert  (78;  Ji  4) 
4  Vorfaangstangen  sammt  Eicheln  (74;  Ji  1,70)  Vorhinge  fiir  4  Fenster,  (74; 
17,06  m  2t  65  halten  nocfa  c.  10  J.)  kleine  Vorfainge,  sog.  ^Neidhimmel*,  in 
dieser  Wofanung  nicfat  benutzt  (74;  .4  3)  4  Fliegen fenster,  grune  Seide  in 
Rafamen,  wegen  Kopf^cfamerzen,  zum  Schutz,  ereteigert  (78;  1;  D:  10  J.) 
1  yKaffeedccke'  als  Tiscfateppicfa,  leinen,  mit  Blumen,  gelblicb  (im  Ausverkauf 
78;  J$  2)  2  Kommodedecken,  Woll-Musslin,  aus  efaemaligen  Halstiichem  (59; 

3;  D:  noch  3  J.)  1  Liufer,  wollen,  2  m  lang  (75;  Ji  1,40;  D:  n.  5  J.) 
Bodentucher,  leinene,  blau  u.  roth  karrirt  liegen  eben  nicfat  auf  (75;  6  m  It  66  /^). 

Wandgeritfaschaften,  Zimmerschmuck. 
1  Spiegel,  viereckig,  braun  Holz  (64;  .4  2)  1  desgl.  schwarz  mit  Gold- 
leisten,  Weifanachtsgeschenk  einer  Kundin  (72;  .4  2)  2  Eckbrettchen,  tannen, 
(74;  Ji  1,50)  1  Scfawarzwilder  Ufar  mit  Gewicfaten,  ZifPerblatt  von  Goldblecfa, 
oben  ein  Adler  (74;  J^  9,26;  eret  einmal  repariert  fur  50  /i)  1  Wandkdrbcfaen, 
rotfabraune  Baumwolle  mit  weissen  Perlenbefaingen,  von  der  Mutter  gearbeitet 
und  gescfaenkt  (72;  Ji  1)  Notiztafel  (76;  1). 

Auf  der  Kommode  und  dem  Scfarinkcfaen,  bez.  in  den  Kisten  ver- 
scfalossen:  3  porzellanene  Blumenvischen,  Gescbenke  von  Kundinnen  (80  u. 
82;  Ji  1)  in  einem  beflnden  sicfa  ^botanisirte  Griser*  (s.  u.)  1  Ddscfaen, 
darauf  ein  Scfaiferpircfaen,  von  Italienem,  die  bei  einer  Kundin  wohnten,  ge- 
kauft  (77;  1,30)  3  Laubsigepiecen,  simmtlich  gescfaenkt,  darunter  ein  Toilette- 
spiegel  und  ein  Miniatur-Cigarrentiscfachen,  von  einer  Kundin,  deren  Mann 
dieselben  zu  seinem  Vergniigen  gefertigt  hat  (c.  69  u.  70;  Ji  2,75). 
Ein  Epheustdckcfaen,  Gescfaenk  (40  /^). 

9  Pfaotographien  in  Visitenkarten format  von  Bekannten  und  Kunden 
(in  schwarzen  RSfamcfaen  2t  20  z^)  13  andere  Scfaildereien  verecfaiedener  Art, 
etne  ereteigert,  eine  ererbt  (Heimatfasort  der  Mutter  mit  Schloss  daretellend) 
die  Qbrigen  simmtlich  gescfaenkt,  zumeist  von  Kundinnen  Oder  Hauswirtfainnen. 
Sujets:  4  religids  und  9  profan;  unter  jenen  die  Madonna  della  Sedia  von  der 
Kdcfain  einer  Kundin,  unter  diesen:  Ansichten  von  Rikeles  jetzigem  Wohnort, 
Hermann  und  Dorothea  (Oeldruck)  Romeo  und  Julie  (desgl.)  FQret  Bismarck 
(der  in  einem  Kundenhaus  beseitigt  werden  sollte,  den  Rikele  aber  fiir  einen 
von  Gott  gesandten  Mann  failt),  Kind  mit  HSscfaen  etc.  Rafamen  tfaeiis  scfawarz, 
teils  Gpldleisten;  einer  aus  Strofageflecfat,  Handarbeit  einer  Kundin  (alles  er- 
worben  in  den  70er  Jafaren;  c.  20  Jl). 

Fast  sflmmtlicfae  faier  aufgezafalten  Dinge  werden  „sie  ausfaalten*. 

TiscfagerStfa. 

Zinn:  1  geerbte  Suppenscfaiissel  mit  Deckel  und  Handfaaben  {Ji  3) 
1  yPortionenschussel*'  ohne  Deckel,  ersteigert  (65  /^)  beide  zum  Aufbewafaren 
der  Speisen. 


363  8^ 


Porzellan:  1  Portionen-Scbussel  mit  Deckel  (73;  ^  1)  4  Sappenteller, 
2  geerbt,  2  gekauft  (70  k  12  y^)  4  Dessertteller  geschenkt  (62;  >4  68)  eine 
Ktffee-  und  eine  Milchktnne  mit  Goldrandern,  Geschenke  der  Mutter  (73; 
^  2)  4  KaffeetMsen  mit  Goldrandern,  ereteigert  (74;  ^  70)  4  gewOhnliche 
desgl.  woven  2  von  der  Mutter,  2  gekauft  (73  u.  78;  60). 

Glas:  Ein  Crystallglas  vom  Vater  (1857;  J$  2)  ein  geschliffenes  Deckel- 
glas,  Geachenk  (75;  J12)  2  geschliffene  Trinkgliser  von  einer  Freundin  50) 

1  gewdhnliches  Wasserglas  (78;  ^  12)  1  Salzfass,  Geachenk  von  einem 
Midele  (63). 

3  Easldffel  (1,80)  2  KaffeelSffel  (68;  4  80)  2  Tiachmesser  (69;  4  80) 

2  Gabeln  (69;  80). 

1  Kaffeebrettchen,  erateigert  (79;  incl.  einea  Trichtera  20  ^). 

Geritb  fur  Heizunga-  und  Beleucbtungazwecke. 

1  Feuerklemme  und  1  Feuerschaufel  (74  u.  69;  Jl  1,20.  D:  oo  bz.  n. 
5  J.)  1  Holzkorb,  achwarz,  Weidengeflecht  (76;  70;  n.  5  J.)  2  SScke  von 
Bodentticbern  zu  den  Tannipfeln,  aelbat  gemacbt;  1  Erddllampe  mit  Metallfuaa 
(78;  Jt  5)  1  Meaaingleuchter,  erateigert  (79;  £0;  D:  10  J.)  1  bSlzemer 
Leuchter  mit  Meaaing  verziert,  Kundengeachenk  (78;  4  80)  eine  Lichtacheere, 
Meaaing,  erateigert  (79;  ^  10)  1  Lateme  (64;  ^  1,37)  1  Petroleum  Kanne  (78;  J$  1). 

Kiicbengerath,  Irden-Geachirr. 

2  eiaeme  Kochtdpfe  geerbt  (/^  80)  1  deagl.  Pfanne  (76;  1,80)  Schmelz- 
pfSnncben  (76;  ^  70). 

2  zinnerne  Schaum-  bez.  Sch5pfl5(fel  (73;  J$  1,40)  2  hdlzeme  KochlSffel 
vom  Hauairer  (79;      19;  D:  n.  c.  10  J.). 

1  Reibeisen  (73;  ^  70)  1  Theeaieb  (75;  4  20)  1  Tricbter,  erateigert  (a.  o.) 
1  ,,Wigle'  ebenao  (79;  ^20)  1  Kaffeemuble,  defekt  geerbt  (/^  40,  abgSngig) 
1  Spauenbrettle  (82;  ^  27). 

Kaffeebuchae,  Blecb  (75;  ^  50)  Theedoae,  feinea  Steingut,  geerbt  50) 
Salzacheffel,  geachenkt  (80;  4  60). 

1  WaaaerkQbel  (78;  .il  1;  D:  n.  2  J.)  1  Waaaerkrug  (77;  80). 

6  Glasflaschen,  meist  geachenkt,  fur  Essig,  ^WachholdergeaSlz''  etc.  (60 
Irden-Geachirr:  2  Caaaerolen  k  Vl%  liter      70;)  2  Milchhifen  k  liter 

(78  u.  82;  /4  24)  1  KaffeetOpfcben  k  Vs  1*  geachenkt  (75;  ^  12)  1  Zucker- 

bCichse  (/4  72). 

Sonatige  Utenailien. 

2  Kdrbe,  Geflech:,  der  eine  erateigert  (70er  Jahre  2,20  D:  n.  2  u.  4 ).) 
,»Stupfer*  (=  Schrupper;  79;  J§  1,40;  D:  n.  2  J.)  Kehrbeaen  (80;  JL  2,50;  D: 
n.  10  J.)  1  AbreibbQrate  (78;     50;  n.  3  J.). 

1  altea  Bell,  1  Hammer  u.  1  Zange  geerbt,  1  Nagelbohrer,  erateigert  (12  ^) 
1  Korkzieher  (alle  Weihnachten  einmal  gebraucht)  1  Biigeleiaen  mit  2  StShlen 
(79;  J$  5,55;  Rdatle  dazu  ^  50). 

Vorhingachloaa  u.  Verachluaa-Vorrichtung  (82;  J§  1,60). 

Tintenzeug,  Blecb,  grtin  lakirt,  erateigert  (76;  ^  69). 

Weiaazeug. 

13  Handtucher  (davon  3  gekauft  74;  Jt  1,20;  zu  10  anderen  im  Aua- 
verkauf  7,32  m  i^  49  4,  aelbat  geaiumt;  D:  c.  15  J.)  2  Tiachtucher  «gebild«- 
leinen,  geerbt  (Ji  3)  6  Servietten,  geerbt  und  geachenkt  (75  u.  76;     3;  n.  5  J.). 


Kleidung. 

Brauche  ich  zu  sagen,  dass  das  Rikele  sehr  sauber,  aber  hSchst 
einfach  gekleidet  ging?  An  den  Wochentagen  meist  barhSuptig  mit  glatt 
gescheiteltem  Haar;  sie  riihmt  as  dicsem  Haar  nach,  dass  es  anspnichs- 


364 


los  sei  und  der  Pomade  nicht  bediirfe.  Des  Sonntags  trigt  sie  Hute:  auP 
einem  derselben  prangt  sogar  eine  Feden  Freilich  eine  geschenkte 
Feder.  »Das  ziert  den  Mann  und  koscht  nit  viel,  ich  tu'  mich  immer 
mit  fremde  Federn  schmucke*'.  Noch  manche  andere  Geschenke  fanden 
sich  unter  ihrem  Kleidervorrat,  welcher  uberhaupt  ansehnlicher  war  als 
man  es  bei  ihrem  minimalen  Geldeinkommen  erwartet  haben  soUte. 
Als  Nflherin  hatte  sie  sich  in  ihrer  freien  Zeit  vieles  selbst  gefertigt^ 
und  was  einmal  hergestellt  war,  ging  so  leicht  nicht  wieder  zugrunde. 
Bekam  sie  doch  keinen  kleinen  Schrecken,  wenn  sie  des  Sonntags  zum 
Fenster  hinausschaute  und  es  ihr  pldtzlich  einfiel,  dass  es  ihr  »gutes  Kleid*^ 
war,  mit  welchem  sie  sich  auf  die  Briistung  gelehnt  hatte! 


Inventar  des  Kleidungsvorrtths. 

Oberkleider. 
Fur  Festtage  und  besondere  Gelegenheiten: 

1  schwarz  und  1  braun  Casimirkleid  (jenes  68;  8,5  m  k      2,80;  dies 

82     (7  Meter)  12  A  Zuthaten  3  JH;  D:  c.  20  J.)  1  blau  Rips  Kleid  (74; 

6  m     2  ^  80  D:  n.  3  J.)  Tuchjacke,  schwarz  (81;  Stoff  J$  12;  D.  10  J.) 

Jacke,  Rips,  schwarz  (78;  Stoff  J$  3;  D:  n.  6  J.)  Schtirze,  Seide,  geerbt 

H  50).i 
FCir  Werktage: 

1  grau  Lamakleid  (82;  Stoff  und  Futter  ^  9,  67;  D:  6J.)  1  braun  Rips- 
kleid,  altes  Sonntagskleid  (79  geflrbt,  D:  n.  1  J.)  2  Lustrekleider  (an  jedem 
8  Meter  It  80  bez.  ^  1;  D:  6—7  J.)  1  Kattunkleid,  altes  Sonntagskleid, 
seit  77  Werktags;  (6  m  Stoff,  ein  Rest,  ^2,50  D:  n.  1  J.)  Tuchjacke, 
Gescbenk  einer  Kundin  (77;      2,50;  D:  n.  1  J.)  1  grau  wollene  und 

3  schwarze  Orleans  Schtirzen,  fast  s^mmtlich  Geschenke  von  Kunden 
(78—82;  Stoff  ^  3;  D:  n.  c.  1  J.)  6  Zeugle  Schurzen  (c.  78  u.  79;  D: 
6  J.)    Die  angefuhrten  Stucke  (bis  auf  einige  geschenkte)  simmtlich 
selbstgefertigt;  der  Lohn  fur  Fertigung  der  Kleider  wurde  auf  2—3 
der  Jacken  auf  1  Ji;  der  Schurzen  auf  20     zu  veranschlagen  sein. 

Kopfbedeckungen. 

4  Hute,  nSmlich  ein  Sammet-(Winter-)Hut  und  3  Strohhute.  Einer  davon 
ganz  alt,  werthlos;  unter  den  Qbrigen  3  beflnden  sich  2  von  Kundinnen  ab- 
gelegte  und  ein  urn  1  gekaufter;  sie  hat  sie  sich  alle  selbst  hergerichtet 
und  ausgeputzt.  (78/82;  urspr.  Werth  der  fertigen  Htite  1,50—2^)  1  Kaputze, 
wollen,  Geschenk  76;  2  J$)  6  Betthauben  und  2  Morgenhauben  (Stoff  3,20  D: 
gut  10  J.;  jene  nur  im  Winter  getragen). 

Halstiicher  etc.  Handschuhe. 
1  Pelzthierchen,  Geschenk  (77;  Jt  1)  1  Schleife,  seiden,  Geschenk  (82; 
50)  8  seidene  Halstuchlein,  Foulards  und  ShSwlchen,  meist  geschenkt  und 
zunSchst  an  Sonntagen  getragen  (60  4 — M  1  pr.  Stflck;  D:  von  2—10  J.). 

6  wollene  Tficher,  Kragen  und  Shiwlchen  (dabei  1  Abendtuch  k  JL  4; 
die  ubrigen  60  bis  2  ^),  zumeist  Geschenke  (D:  4—10  J.)  12  Tiichle, 
ShSwlchen,  Shlipse  und  Barben  von  Mull  und  Tull,  Stoff  dazu  meist  ge- 
schenkt. Vieles  davon  hSlt  sie  „fur  so  unndthig''  Jt  6,30). 

1  Paar  Handschuhe,  Seide,  Sonntags  in  der  Kirche  (80;  Jt  1,50;  n.  4  J.) 
1  Paar  schwarzwollene  Winterhandschuhe,  selbst  gestrickt  (80      D :  c.  6  J.). 

7  Tuchle  aus  Piqu6  und  Kattun  {JL  1,90)  6  Chemisenen  (1,80)  Stoff  zu 
jenen  und  diesen  meist  geschenkt;  Rusche  zu  Halskrausen  gleichfalls  ge- 
schenkt (82;     1;  D:  3  J.). 


H>^   365  ^ 


Unterkleider  und  Leibw^sche. 

5  Sonntagsunterrdcke  aus  Flanell,  Trikot  und  Piqu6,  alle  selbstgefertigt, 
Stoff  zu  zweien  geschenkt  (75/81;  Werth  pr.  St.  ^2,80 — 4  4,50  D:  5— 10  J.); 
dann  meist  noch  fur  Werktage. 

6  Werktagsunterrocke  aus  Flanell,  Moir6e,  Orleans,  einer  wattirt,  einige 
dienten  fruher  an  Sonntagen;  StofF  zu  zweien  geschenkt,  zu  einem  ererbt,  alle 
selbstgefertigt.  (Von  74  ab;  meist  lange  Dauer  bis  zu  10  J.;  die  gekauften 
urspriinglich  3,50—5  Jt  p.  Stuck). 

1  Corsett  (79;  J$  3,30)  4  Paar  Beinkleidcr,  Baumwoll-Flanell  (1  Paar  ge- 
schenkt, zu  3  Paar  5  m  Stoff  gekauft  k  60  y^). 

3  Hemden,  Baumwoll-Flanell  (2^1%  m  pro  Hemd),  StofP  theilweise  ge- 
schenkt; 1  gekauft  (81;  k  2,90),  22  Paar  baumwollene  Strumpfe,  weiss,  blau 
und  braun,  datiren  theils  noch  von  66  her;  8  Paar  sind  schon  angestrickt,  die 
andem  werden  es  noch  {Jt  22y  durften  innerhalb  der  nlchsten  6  Jahre  aufgehn) 
4  Paar  grauwollene  Strumpfe,  selbst  gestrickt,  angestrickt;  an  jedem  urspriinglich 
fur  70  Gam,  werden  noch  einmal  angestrickt;  (halten  noch  2  J.)  1  Paar 
weisse  wollene  Strumpfe,  schon  angestrickt,  Wolle  von  einer  Kundin  (1879) 
geschenkt.  1  Paar  StrumpflSngen  (82;  Ji  1,70). 

6  Hemden  aus  Leinwand.  Der  StofF  von  der  Mutter  theils  geschenkt, 
theils  ererbt;  4  Hemden  hat  sich  Rikele  erst  jetzt  gefertigt.  (An  jedem  Hemd 
2,4  m  k  1,12  Ji)  9  aus  Shirting  (nach  und  nach  seit  1876  den  m  k  65  /i&)  3  Paar 
Manschetten  {A  1,20). 

5  Paar  Beinkleider  2t  P/i  m  Shirting  (2t  65  p.  m.  Seit  1870.  D:  n.  5  J.) 
selbst  gefertigt;  4  Tuchle,  Shirting,  Nachts  umzubinden  (/i  48;  D:  6  J.). 

32  Taschentiicher,  worunter  24  weisse  Leinwand,  die  andem  bunt.  15  sind 
Weihnachtsgeschenke.  Die  meisten  sind  gesSumt;  3  liegen  noch  ungeslumt 
fur  den  Sohn  da.   (58/82  ;  25—80      p.  Stuck}  D:  sehr  verschieden). 

Schuhwerk. 

1  Paar  Kidlederstiefel  (79;  11  ^;  D:  4  J.)  1  Paar  Zugstiefel  (81;  6^; 
D:  3  J.)  1  Paar  Filzstiefel  (82;  .il  7  D:  n.  2  J.)  1  Paar  Hausschuhe  „End- 
schuhe*'  geschenkt  (80;  1). 

Gegenstflnde  zum  Nachtragen,  Schmuck. 

2  goldene  Ringe  (\  6—8  ^),  eine  Elfenbeinbrosche  (Jt  3),  2  Aufsteck- 
klmme  (1,70;)  1  desgl.  Schildpatt,  Geschenk. 

3  Armkdrbchen,  gekauft  und  gesteigert  (64/83;  J^  5)  1  kleines  Kdrbchen, 
Weihnachtsgeschenk  (72;  30)  1  schwarzes  Ledertlschchen,  Geschenk  (69; 
A  4)  Reisetasche  (69;  3). 

1  Regenschirm,  schwarz  Zanella  (79;  ^  6;  D:  n.  c.  8  J.)  1  Sonnenschirm 
(81;  .^2,50;  D:  c.  10  J.) 


Gesundheit. 

Mit  ihrer  Gesundheit  hatte  Rikele  ihr  Lebtag  viel  zu  schaffen  ge- 
habt,  und  in  mehr  als  einer  Glosse  ihres  Hausbuchs  hatte  sie  Klagen 
iiber  reelle  Leiden,  zuweilen  von  Mngstlichen  Pro-  und  etwas  zweifel- 
haften  Diagnosen  begleitet,  niedergelegt.  ,17  ten  und  18  ten  sehr  krank, 
Fieber,  Kopf-  und  Gesichtsschmerzen,  ich  furchtete  ich  bekime  einen 
Hirnschlag.''  Seitdem  sie  sich  in  dem  Stidtchen  als  NSherin  etabliert, 
also  seit  14  Jahren,  hatte  sie  zweimal  an  Darmentziindungen  danieder- 
gelegen.  Das  eine  Mai  sechs  Wochen  im  Krankenhause,  das  andere 
Mai  vier  Wochen  in  der  eigenen  Wohnung.  Nach  der  zweiten  Krankheit 
wollte  sie  nur  83  Pfund  gewogen  haben.    Fortwihrend  geplagt  war  sie 


366  8^ 


von  gewissen  Leibesbeschwerden,  durch  welche  sie  schon  „fast  wahn- 
sinnig*"  geworden  sei.  Einen  Arzt  indessen  hatte  sie  seit  8  Jahren 
nicbt  konsultiert.  Teils  batte  sie  Gelegenbeit,  wenn  sie  bei  den  Frauen 
von  Medizinern  nihte,  einen  sachlicben  Rat  einzuheimsen,  teils  blieb  sie 
bei  fniher  verschriebenen  Mitteln  oder  half  sie  sich  mit  ihrer  eigenen 
Weisheit  durch.  Auf  diese  war  sie  nicbt  wenig  stolz.  Der  Barbier 
babe  zu  ihr  gesagt:  »Sie  sind  der  Instinkt**  und  wenn  sie  nicbt  selbst 
die  Mittel  wusste,  so  miisste  sie  das  ganze  Jahr  beim  Doktor  stehen. 
Sie  nahm  regelmissig  des  Morgens  5  bis  7  Wacholderbeeren,  womit 
„die  SchleimkanMle  gereinigt"  werden  sollten.  Ihre  Mutter  babe  schon 
immer  gesagt,  vor  dem  Wacholderstrauch^)  solle  man  den  Hut  ab- 
ziehen,  da  sei  aiies  gut  von  der  Wurzel  bis  zum  Gipfel.  Manche  Heil- 
pflanzen,  Baldrian,  auch  wohl  Kamillen,  suchte  sie  sich  selbst,  wogegen 
sie  fur  die  1 — 2  Rhabarberpillen,  die  sie  seit  einer  Reihe  von  Jahren 
allabendlich  nahm,  an  Geld  ohngefihr  soviel  wie  fur  ihr  Brot  verbraucht 
haben  mochte.  Nach  Schluss  ihrer  Arbeitstage  ging  sie  regelmassig 
aus  Gesundheitsrucksichten  spazieren,  gewdhnlich  20  Minuten,  im 
Sommer,  bei  schonem  Wetter  wohl  auch  eine  Stunde  lang.  Der  geringe 
Umfang  des  StMdtchens  machte  es  ihr  mdglich,  bei  diesen  Spaziergangen 
leicht  das  Freie  zu  erreichen,  und  sie  wurde  somit  eines  Vorteils  teil- 
haftig,  fur  welchen  die  grosseren  StMdte  ihren  weniger  wohlhabenden 
Einwohnem  noch  keineswegs  die  wtinschenswerten  Aquivalenten  ge- 
schaffen  haben.  In  den  Grossstadten  ubertrifft  der  Umfang  der  Areale, 
innerhalb  deren  Parks  sich  nicht  befinden,  immerhin  noch  bedeutend 
den  Umfang  einer  Mittelstadt.  Man  muss  sich  huten,  etwa  bestochen 
durch  die  Regsamkeit  der  hygienischen  Wissenschaft,  die  praktische 
Tfitigkeit  der  jilngsten  Zeit  in  dieser  Hinsicht  —  der  SchafFung  von 
Ptfrks  —  gegenuber  dem  was  z.  B.  das  achtzehnte  Jahrhundert  aus  bloss 
philantropischen  Regungen  geleistet  hat,  zu  sehr  zu  uberschatzen. 

Gegenstlnde  zur  Toilette,  Korper-  und  Gesundheits- 

pflege. 

1  Waschschussel,  ererbt  {/^  60)  1  Gesichtsschwamm  {Jt  I,  Versuch,  soil 
nicht  erneuert  werden)  1  Nagelscheere,  geschenkt  {Jt  I)  1  Clysopompe  (bei 
einer  Darmentztindung  75  angeschafFt  J$  6;  eine  Reparatur  kostete  Ji  1)  1  Haar- 
burste,  wenig  gebraucht,  nur  wenn  sie  Kopfschmerzen  hat  (77;  ^  30;  D:  10  J.) 
1  Zahnburstchen  (77;  70  4j;  D:  n.  5  J.)  1  Kleiderburste  (78;  J6  1,80;  D:  00)  1  altere, 
ersteigert  (56;  4  50;  bald  abgSngig)  1  Wichseburste  (78;  Jt  \)  1  Anstreich- 
Burstchen  (78;      12,  bald  abgSngig)  2  FrisirkSmme  (79;  90  y^). 


Psychisches  Leben,  Vergnugungen. 
In  Rikeles  Kopfchen  und  sonderlich  in  ihrem  Gemut  war  es  stets 
lebendig.  Nicht  immer  schlug  diese  Regsamkeit  fur  das  einsame,  arme, 

^)  „Von  Gestrauchen  ist  fur  die  Volksmedizin  das  Wichtigste:  der  Kranawitt 
(Wacholder  .  .)  .  .  der  Kranawittbusch  wurde  vom  Volke  als  ein  gates  und  wohl- 

tUtiges,  die  KrankheitsdSmonen  beseitigendes  Wesen  in  Strauchform  angesehen  

u.  a.  m.  s.  bei  Hofler,  Volksmedizin  und  Aberglaube  in  Oberbaycms  Gegenwart 
und  Vergangenheit.   Miinchen  1888  p.  I23f. 


367 


empfindsame  Wesen  zu  einem  Segen  aus.  Sie  fuhlte  sich  leicht  zuruck- 
gesetzty  verietzt,  unglucklicb,  ohne  besonderen  momcntanen  Grund.  In- 
dessen  war  der  Grundzug  ihrer  Stimmung  zur  Zett  meiner  Untersuchung 
doch  wesentlich  ein  Zug  der  Zufriedenheit  und  des  Stolzes  daruber,  wie 
weit  sie  es  gebracht  habe.  Sie  habe  von  nichts  getriumt  als  von  einem 
Stiibley  einem  Tisch  und  einem  Kasten  (Schrank).  Ais  sie  in  T  • .  . 
sich  niedergelassen,  habe  ihr  jemand  bange  machen  wollen  und  gesagt: 
»Du  wirst  herauskommen  wie  der  Nussemann!*  Sie  aber  habe  gedacht: 
^Wartet,  ich  will's  Euch  schon  zeigen;*"  und  wie  die  Person  ihr  spMter 
^inmal  gekommen  sei,  habe  die  grosse  Augen  gemacht  und  geguckt. 
Zuweilen  brachen  auch  andere  Gefuhle  durch:  »Wenn  die  Leute  sagen: 
Wo  bringen  Sie  denn  Ihr  Geld  hin?  —  Ach,  das  tut  mir  so  weh,  da 
denk  ich  immer,  wenn  Ihr  nur  in  mein  Buch  sehen  konntet;  da  sag  ich 
ailemai  gar  nix.**  Zu  ihrer  Zufriedenheit  trug  bei,  dass  sie^  die  freiiich 
ungewdhnlich  sparsame  und  arbeitsame  Person^  sich  einbildete,  alles 
durch  Arbeit  und  Sparsamkeit  erworben  zu  haben,  dass  sie  dabei  ofters 
die  ihr  gewordene  kleine  Erbschaft  vergass  und  in  verzeihlicher  Selbst- 
tluschung  zu  leicht  hinweg  ging  iiber  eine  immerhin  in  einigen  Anschlag 
zu  bringende  Unterstiitzung,  die  ihr  aus  einem  VerhMltnis,  —  das  sie 
freiiich  nicht  des  Gewinns  wegen  gehabt  —  geworden  ist. 

Rikele  besass  einen  nicht  ganz  unansehnlichen  Vorrat  von  Broschuren 
und  Buchem.    Hier  das 

In  ventar. 


Bibel,  Neues  Testament,  4  Gebet-  und  Andachtsbucher,  Gesangbuch, 
1  Communions  Btichlein,  Thomas  a  Kempi9,  Luthers  Leben,  Perlen  der  Wahr- 
heit.  Zus.  12  Bde.,  alle  gebunden,  nur  eines  davon  ersteigert,  die  ubrigen  theils 
Ge^chenke,  theils  ererbt.  (Thomas  a  Kempis  vom  Vater  ererbt;  das  Gesang- 
buch Konfirmationsgeschenk  des  Pathen.) 

12  bessere  Bucher  profanen  Inhalts,  dabei  Wilhelm  Tell,  2  Bde.  Aus- 
wahl  aus  Goethe,  KSthchen  von  Heilbronn,  Novellen,  Rheinsagen,  theils  ge- 
bunden,  theils  broschirt;  alle  geschenkt. 

2  Kalenderzugaben  von  Zeitungen  und  Zeitschriften. 

4  populSre  kleine  Broschuren  und  Jugendschriften,  alle  geschenkt.  — 
(7  desgl.  die  eigentlich  dem  Sohn  geschenkt  worden  sind  wie  „die  Wasser  im 
Jahre  1824",  „der  Postraub  zu  Wurges",  „des  Uhlanen  Kampf,  Liebe  und  Sieg«, 
„Fritz  Heiter".  —  Demsclben  gchorig  1  Bd.  HauflP,  Geschenk  der  Fortbildungs- 
schule.) 


Rikele  war  auf  zwei  Blatter  abonniert,  auf  das  Lokalblatt  und  auf  ein 
wdchentlich  erscheinendes  religidses  Blatt:  „Das  ist  mein  Luxus"*  sagte 
sie.  Das  Sonntagsblatt  schickte  sie  ihrem  Sohn,  der  las  es  und  schnitt 
dann  Muster  daraus.  —  Im  Schreiben  war  Rikele  nicht  faul,  sie  hatte  ja 
ihr  .Hausbuch"  zu  fuhren,  und  mit  ihrem  Sohn  hat  sie  in  ziemlich 
regelmissigen  Briefwechsel  gestanden.  Sie  schrieb  eine  gleichmMssige 
deutliche  Hand  und  machte  kaum  orthographische  Fehler. 

Rikele  als  Kind  eines  streng  evangelischen,  vielleicht  auch  erwas 
pietistisch  angehauchten  Vaters,  war  selbst  sehr  religios  gesinnt.  Sie 
besuchte  sonntMglich  und  an  Festtagen  regelmMssig  die  Kirche,  an  den 


368  8.^ 


hdchsten  Feiertagen  strickte  sie  nicht  und  las  nur  geistliche  Schriften. 
Ihr  poHtischer  Standpunkt  hatte  eher  als  Loyalismus,  denn  als  Konser- 
vatismus  bezeichnct  werden  konnen. 

Ihre  Erholungen  und  Vergnugungen  waren  selbstverstlndlich 
nicht  geriuschvoller  Natur.  Vor  ciner  Reihe  von  Jahren  hatte  sie  einige 
Mai  das  Sommertheater  besucht,  aber  nicht  auf  eigene  Kosten.  Die 
Frau  Direktor,  fur  welche  sie  arbeitete,  hatte  ihr  die  Billette  geschenkt. 
Geme  nahm  sie  mit  einer  ihrer  biirgerlichen  Kundinnen  an  dem  jahr- 
lich  stattfindenden  Kinderfest  teil;  sie  steckte  nicht  viel  Geld  in  die 
Tasche,  sie  furchtete  es  auszugeben.  Von  den  24  Pfennigen,  die  im 
letzten  Jahre  daraufgegangen  waren,  kamen  nur  6  Pfennige  fur  Brezeln 
auf  ihr  eigenes  Teil;  fiir  10  Pfennig  hatte  sie  die  Kinder  ihrer  Haus- 
frau  Karussell  fahren  lassen,  und  in  8  Pfennig  hatten  sich  ihre  beiden 
kleinen  Milchmidchen  geteilt.  Rikele  war  uberhaupt  ,die  Person,  die 
verschenkt."  Fur  Uberschwemmte  hatte  sie  (im  Budget-Jahr)  getragene 
Kleidungsstucke  und  neue  fur  den  Sohn  gestrickte  Socken  gegeben. 

Ihre  wesentlichste  und  regelmissigste  Erholung  bildeten  die  Sonntags- 
nachmittagsspazierglnge.  Sie  ging  in  den  ganz  naheliegenden  Wald,  und 
hdrte  dort  die  durftige  Musik,  die  von  einer  Gartenwirtschaft  zu  ihr 
heruber  halite,  ging  dann  heim  und  trank  ihr  Schussele  Kaflfee  oder 
Milch.  Von  den  Passanten  glaubte  sie  sich,  in  ihrem  gniblerischen 
Wesen,  ob  ihrer  Enthaltsamkeit,  bald  bewundert,  bald  ausgelacht. 
Oder  sie  suchte  das  Feld  auf:  „Wenn  ich  ins  Feld  n'ausgeh',  geh'  ich 
botanisiere,  ich  nehm'  KrSutle  mit  zu  Tee,  Kamille,  Baldrian,  Drei- 
faltigkeitstee,  ich  nehm'  Moos  mit  und  mach'  KrSnzle  draus;  spreche 
tut  niemand  mit  mir,  da  nehm'  ich  allemal  das  Sonntagsblatt  mit,  und 
sitz'  an  ein  Plfitzle  und  les.*  

Welch  bescheidene  Existenz!  Und  doch,  welch  ungeheure  An- 
strengung  war  vonndten,  sie  zu  grunden !    Tantae  molis  erat .  .  . 

Geschichte  der  Arbeiterin. 
Man  sah  es  dem  unscheinbaren  Rikele  nicht  an,  welch  ein  be- 
wegtes  Leben  hinter  ihm  lag.  Zwar  nicht  viele  Lflnder  hatte  es  ge- 
sehen,  aber  in  kleinem  Umkreis  hatte  es  eine  Odyssee  der  Armut 
durchgemacht;  war  herumgeworfen  worden  lange  Jahre,  von  Dorf  zu 
Dorf,  von  Stadt  zu  StSdtchen,  hatte  gekSmpft  und  gehofft,  gelitten  und 
geliebt. 

Noch  in  die  Schule  ist  Rikele  gegangen,  als  sie  bereits  fur  andere 
arbeiten  musste;  sie  ist  wihrend  eines  Sommers  KindermSdchen  bei 
einem  reichen  Bauer  gegen  2  Gulden*)  Gehalt;  im  Winter  strickt  sie 
Striimpfe  um  12  Kreuzer^  das  Paar.  Bei  demselben  Bauer  bringt  sie,^ 
nachdem  sie  die  Schule  verlassen,  ein  weiteres  Jahr  zu,  jetzt  bei  ihm 
wohnend;  da  bekommt  sie  6  Gulden,  ein  Paar  Schuhe  und  ein  Hemd; 
vom  Marktag  zu  Unterjesingen  erhilt  sie  auch  noch  einen  Vierling 


>)  1  Gulden  »  c  Mark  l,7h 
«)  1  Kreuzer  =  2«/7  y^. 


369  8^ 


(^4  Pfund)  Wolle;  gelegentlich  einiger  grdsseren  VerkMufe  wendet  ihr 
der  Bauer  jeweils  12  Kreuzer  zu.  Dann  kehrt  sie  in  das  elterliche 
Haus  zuruck;  aber  nicht  lange  darf  sie  unter  seinem  Dache  weilen. 

,Die  Mutter  hatte  ein  schdnes  Granatnuster  (Halsband)  und  ein 
goldenes  Kreuz  und  einiges  mehr,  das  hat  sie  Alles  nach  und  nach  in 
den  fiinfziger  Jahren  verkauft.  Der  ^Jude'  kam  und  wollte  was  handeln; 
da  sagte  der  Vater,  sein  Wetb  hab  einen  Schmuck,  den  hat  er  gekauft 
und  dann  gesagt,  er  wolle  das  MMdele,  seine  Frau  brauche  eins;  und 
der  Vater  sagte  ihm  zu.  Mir  ist  es  gewesen,  als  ob  ich  wMr  verhandelt 
worden.  Am  selben  Tage  ging  ich  mit  ihm  weg;  er  trug  einen  Zwerch- 
sack,  ich  meine  Sachen  in  einem  Tiichle.  Wie  wir  nach  Beisingen 
kommen  in  sein  Haus,  macht  er  die  Thur  auf,  und  ruft:  ^ettchen,  sieh, 
ich  habe  Dir  Deinen  Wunsch  erfiillt."  Die  Frau  hat  mich  sehr  gut 
empfangen,  als  ob  sie  mich  schon  gekannt  hMtte.  Ich  hab  damals  noch 
nicht  viel  gekonnt,  auch  noch  kein  Brot  schneiden,  denn  zu  Hause 
hab  ich  das  nie  diirfen,  das  that  der  Vater.  Ich  bin  dort  Kinder- 
mldele  gewesen  und  gekocht  hat  die  Frau.  Lohn  bekam  ich  12  Gulden. 
Ich  hab  aber  bald  Gliederweh  bekommen  von  dem  kalten  Wasser,  mit 
dem  ich  putzen  und  arbeiten  musste.  Das  Wasser  wurde  aus  einem 
tiefen  Brunnen  in  der  Kiiche  selbst  heraufgezogen.  In  den  mochte  ich 
gar  nicht  hineinsehen,  ich  ftirchtete  mich  so,  der  Teufel  wolle  mich 
hinunterziehen,  weil  ich  unten  immer  mein  Bild  im  Wasser  ge- 
sehen  hab.  Die  Frau  hat  mich  eingerieben  mit  Klemmergeist^)  und  mir 
eine  Bettflasche  gegeben.  Ich  hab  aber  nur  bis  Martini  bleiben  konnen, 
weil  die  Arbeit  bei  meinen  Schmerzen  zu  schwer  geworden  ist.  Es 
sind  recht  fromme  Leut  gewesen;  jeder  Mensch,  der  noch  Religion 
besitzt,  mit  dem  kann  man  auskommen,  aber  die  Andern  haben  keinen 
Werth,  da  ist  Alles  Politur,  Alles  oberfiMchlich.  Alle  Sonntag  hab  ich  in 
meine  Kirch  diirfen;  wenn  ich  Zeit  hatte,  ging  ich  nach  Metzingen; 
sonst  in  die  katholische  Kirch  lieber  als  in  gar  keine.*" 

Fiinrzehn  Jahre  alt,  verliess  sie  die  Stelle.  „Die  Mutter  holte  mich 
ab  und  brachte  mich  nach  Hause  und  ich  hab  geglaubt,  ich  diirfe  zu 
Hause  bleiben.  Sagt  der  Vater:  ^Lass  nur  Deine  Sachen  beieinander!' 
Ich  hatte  soviel  geschenkt  kriegt,  drei  Ellen  Kattun  zu  zwei  Schiirz,  und 
ein  Tuchle  und'  zwei  Sacktuchle  und  Gam  zum  Stricken;  man  hat  so 
melirtes  Gam  gehabt,  blau  und  weis.  Das  hab  ich  schon  oft  erzdhlt, 
wie  man  damals  die  Geschenke  geachtet  hat.  Den  andern  Tag  also  hab 
ich  nach  Herrenberg  gemusst  in  Dienst.  Der  Herr  war  friiher  ein  Schul- 
meister,  hatte  aber  eine  reiche  Frau  geheiratet  und  Guter  gekauft.  Die 
Frau  hat  Gliederweh  gehabt  und  hat  sich  nicht  regen  kdnnen.  Da  hab 
ich  noch  viel  hUrter  schaffen  mussen  auf  dem  Feld  und  immer  uber 
Kraft.  Da  hat  man  mir  eine  Ladung  Klee  aufgeladen,  dass  ich  hin- 
gefallen  bin,  wie  ich  damit  die  Staffeln  von  einem  Weinberg  hinunter 
gegangen;  ich  bin  ein  paar  Tage  liegen  geblieben,  dann  that  es  mir  immer 
so  weh  und  ich  hab  mich  von  da  an  schief  gehaltea.^^ 


^)  Ameisenspiritus. 


370  iK- 


Bei  dem  Schulmeister  blieb  sie  ein  Jahr.  „Meiii  Vater  hatte  ge- 
meint,  es  sei  eine  Schande,  ich  sei  so  kurz  im  Dienst  und  woUte  nicht 
schaffen.  Und  ich  wir  auch  noch  da  geblieben,  aber  ich  hab  doch  zuletzt 
fort  miissen  wegen  meinem  Herrn,  der  hat  nichts  rechts  von  mir  gewollt." 

Nun  ging  sie  in  die  Residenz,  wo  ihre  Schwester  ihr  bei  einem 
Schreiner  einen  Dienst  ausgemacht  hatte.  Sie  war  damals  gerade  16  Jahre 
alt.  ,,Dort  hats  auch  wieder  vier  kleine  Kinder  gebe.  Mein  Vater  hat 
gesagt,  man  solle  Gehorsam  leisten  und  wenn  man  das  Wasser  umsonst 
'auf  Buhne'  (Speicher)  musse  tragen  und  herab.  Nur  wenn  was  Schlechtes 
verlangt  werde,  musse  man  aufbegehren  und  den  Streitigen  machen,  oder 
gehen.  ^Dienet  nicht  allein  den  Giitigen  und  Gelinden,  sondem  auch 
den  Wunderlichen',  sagte  er.*^  —  Sie  erhielt  im  ersten  Jahre  18,  im 
zweiten  20  Gulden  Lohn.  Zweimal  jMhrlich  1  Gulden  und  zu  Weih- 
nachten  1  Kronthaler.^  ,,Das  ist  etwas  Grosses  gewesen,  aber  ich  hab 
miissen  alle  Kreuzer  hergeben,  sogar  das  Trinkgeld,  auch  nach  dem  hat 
der  Vater  gefragt.*^  Und  sie  habe  sich  doch  Kleider  machen  miissen, 
denn  solche  habe  sie  ja  nicht  bekommen,  nur  die  Mutter  des  Schreiners 
habe  ihr  zuweilen  alte  Sachen  verehrt,  Strumpfe,  die  ihr  aber  zu  gross 
waren  und  dergleichen.  Sie  habe  sich  noch  mit  ihren  KonGrmations- 
kleidem  behelfen  miissen.  „Ich  mdcht'  die  Zeit  nicht  mehr  durchleben, 
ich  hab  die  Bleichsucht  gehabt  und  die  Waden  sind  mir  ganz  auf- 
geschwollen  gewesen;  ich  bin  gewesen,  wie  der  Schatten  an  der  Wand. 
Ich  hab  gedacht,  ich  kann  nicht  mehr  schaffen  und  meine  Leute  glaubten 
mir  nicht.  Da  habe  ich  auf  einmal  gedacht,  ich  geh'  in's  Wasser.  Ich 
hab'  gedacht,  ich  stell  die  Kinder  von  dem  Schreiner,  die  ich  bei  mir 
gehabt  hab',  bei  meiner  Verwandten  unter  und  geh'  in  den  Feuersee.^^ 
—  Wie  stellte  sich  der  Umschwung  der  Stimmung,  den  Rikele  auf  dem 
Wege  erfahren,  in  ihrer  Phantasie  dar?  —  Sie  meinte,  es  seien  ihr 
Schulkinder  begegnet,  die  aus  dem  Gesangbuche  das  Lied  lemten:  „Von 
dir,  0  Vater,  nimmt  mein  Herz  Gliick,  Ungluck,  Freude  oder  Schmerz, 
Von  dir  der  nichts  als  lieben  kann,  Voll  Dank  und  voll  Vertrauen  an^S 
und  da  habe  sie  gedacht:  „Ei,  du  hast  ja  Gott  ganz  vergessen,  das  Lied 
hast  du  ja  auch  gelemt.*^  Da  bin  ich  denn  zuruck  mit  den  Kindem  zu 
meiner  Verwandten  und  hab  dort  KaCFee  getrunken  und  naturlich  nicht 
gesagt,  was  ich  vorgehabt  hab.  Ich  hab  mich  ganz  drein  geschickt  und 
gedacht,  der  Hebe  Gott  kann  mich  sterben  und  mich  auch  gesund  werden 
lassen;  er  kann's  ja  machen  wie  er  will.^^  Dann  habe  sie  aber  einen 
schlimmen  Finger  bekommen  und  der  Arm  sei  ihr  geschwollen  bis  zur 
Achsel  hinauf.  Sie  kam  dann  in  das  Krankenhaus  und  blieb  daselbst 
vier  Wochen.  Der  „Herr  Hofrat"  sagte,  sie  durfe  nicht  mehr  dienen 
und  der  Vater  kam,  sie  abzuholen. 

^^Nachmittags  sind  wir  aus  der  Stadt  hinausgelaufen;  man  hatte 
vergebens  herumgeschrieen,  ob  niemand  mit  uns  fahren  wolle.  So  sind 
wir  nach  Echterdingen  gelaufen;  ich  bin  bis  uber  die  Kndchel  ein- 
gesunken  im  Schnee  und  der  Vater  hat  mich  Ziehen  miissen,  denn  ich 


1)  1  Kronthaler  =  c.  Mark  4,62. 


371  8^ 


war  halb  im  Schlaf.    Uber  Nacht  blieben  wir  im  Hirschen,  von  dem 
man  sagt:  ^Wenn  mer  auf  der  Welt  nit  mehr  z'sammekommt,  kommt 
mer  in  Echterdingen  im  Hirsche  noch  emal  z'samme.'  —  Von  da  aus 
ging  auch  ein  Omnibus;  der  Vater  aber  hat  des  andem  Morgens  gemeint, 
wir  konnten  auch  laufen  bis  Waldenbuch,  denn  es  koste  schon  weniger^ 
und  ich  sei  ja  ausgeruht.  Jetzt  freilich  ist  das  alles  anders:  ^friiher 
haben  die  Bettelleut  Herren  gefiihrt,  und  jetzt  fuhren  die  Herren  Bettel- 
lent.")    In  Waldenbuch  haben  wir  also  auf  den  Omnibus  gewartet;  der 
ist  um  elf  Uhr  gekommen  mit  einer  Beichaise,  darin  sind  ^Herren^ 
(Studenten)  von  Tubingen  gesessen  und  es  hiess,  wir  mtissten  mit  den 
Herren  schwitzen.    Die  Herren  frugen,  ob  ich  nicht  eine  ansteckende 
Krankheit  gehabt  habe.  Das  hat  mir  so  weh  gethan,  da  hab'  ich  geweint. 
Da  haben  die  Herren  gesagt,  so  sei  das  nicht  gemeint;  sie  haben  mich 
hineingenommen  und  mein  Vater  hat  auf  dem  Bock  fahren  durfen. 
Nach  einiger  Zeit  hat  der  Kutscher  geklopft,  der  Vater  falle  herab  und 
er  kdnne  vor  KMlte  nicht  mehr  sitzen;  da  hab'  ich  die  Htode  gefaltet 
und  gebittet,  da  haben  die  Herren  ihn  in  den  Wagen  genommen  und 
uns  in  Tubingen  in  der  Post  Wein  geben  lassen.    Elf  Uhr  nachts  ist 
gewesen,  wie  wir  endlich  in  meinem  Heimatsdorf  angekommen  sind. 
Dahin  haben  wir  wieder  laufen  mussen;  ich  hab'  fast  keinen  Fuss  mehr 
gespurt  vor  Kilte  und  der  Vater  hat  oft  erzMhlt,  wie  er  mich  hat 
schiitteln  miissen;  es  war  ganz  dunkel,  der  Mond  war  verschlupft,  von 
Unterjesingen  ist  der  Schulheis  mit  uns  gegangen,  der  abwechselnd  mit 
dem  Vater  eine  Lateme  getragen  hat.**  —  Sie  bleibt  nun  einige  Monate 
zu  Haus,  dann  neue  Stelle,  dann  wiederum  in  das  Eltemhaus,  weil  sich 
daselbst  ein  kranker  blinder  Stiefbruder  des  Vaters  in  Verpflegung  ge- 
geben  hatte.    Jetzt  muss  Rikele  ihn  warten,  seine  WSsche  reinigen. 
Eine  recht  widerliche  Arbeit  habe  sie  mit  ihm  gehabt;  sie  habe  vor 
Ekel  das  Brot  nur  noch  mit  der  Gabel  gegessen.    Da  habe  er  ihr  sein 
Bett  verschrieben  und  auch  dem  Vater  Geld.    Aber  eines  Tages  sei  die 
rechte  Schwester  des  Kranken  angekommen  und  habe  ein  Gewisper  mit 
ihm  gehabt,  und  wie  sie'  spater  einmal  ruhig  in  der  Stube  gesessen,  sei 
der  Blinde  hereingeschlichen  und  habe  ein  Papier  in  den  Ofen  geworfen: 
Rikele  meinte,  das  musse  die  Verschreibung  gewesen  sein.    Wie  der 
Blinde  endlich  starb,  war  kein  VermMchtnis  da.    Die  Schwester  uber- 
trug  ihr  (Rikele)  freilich  eine  Schuldforderung,  die  jener  an  den  Vater 
gehabt,  aber  der  Vater  hat  sie  niemals  eingelost.    Zwei  weitere  Jahre 
dient  sie  in  benachbarten  Ortschaften,  verrichtet  auch  Erntearbeiten, 
blMttert  Tabak  ab  und  zieht  Bindfaden  durch  die  Rippen  (fiir  4  Batzen*) 
tiglich);  es  will  sie  auch  einmal  einer  ihrer  Herren  heirathen,  aber 
Rikele  tut  es  nicht,  denn  er  habe  sie  schlecht  behandelt.    «I  hab  ihm 
immer  misse  Kichele  backe  und  wenn  er  Fleisch  gehabt  hett,  hat  er  nit 
gewusst,  wie  wenig  er  mir  gebe  sollt.**   Jetzt  wird  der  Vater  schwer 
krank  und  der  Bote  der  den  Doktor  holt,  nimmt  sie  mit  nach  Hause,. 

Hiemnter  ist  gemeint,  dass  der  Staat  und  grease  Gesellschaften  auf  ihren 
Eisenbahnen  ^kleine  Leute"  befSrderten. 
*)  1  Batzen  »  4  Kreuzer  »  c.  11  4. 


372  8^ 


denn  der  Vater  will,  sie  solle  fur  sein  geistiges  Wohl  sorgen,  die  Mutter 
fiir  sein  leibliches,  die  Mutter  sei  noch  nicht  erleuchtet  genug.  Nach 
wenigen  Tagen  stirbt  der  Vater  und  Rikele,  nunmehr  in  ihrem  23.  Lebens- 
jahr  stehend,  versucht  aufs  neue  in  der  Residenz  sein  Gluck.  Sie  dient 
zunMchst  bei  einem  Bruder  ihrer  fruheren  Herrschaft,  dann  bei  einem 
Hofkoch,  bei  dem  sie  28  Gulden  Lohn  erhalt.  Aber  nicht  lange  kann 
sie  diese  Stelle  behalten  und  aus  einem  recht  bdsen  Grund. 

Wir  miissen  da  ein  wenig  zunickgreifen  in  jene  Zeit,  wo  das 
Rikele  auf  vielen  Ortschaften  herumgekommen  ist  und  die  wir  vorhin 
etwas  summarisch  behandelt  haben.  Damals  hat  es  auch  einmal  in 
Z  . . .  gedient  bei  einem  Schulmeister  und  da  hab  ihr  ein  junger  Mensch 
gar  sehr  gefallen  (wir  wollen  ihn  Konrad  Schutz  nennen),  der  auch 
Schullehrer  hatte  werden  wollen,  aber  weil  die  Eltem  es  nicht  litten, 
zu  einem  Schuhmacher  in  die  Lehre  ging.  «Ich  sah  ihn  zuerst  in  der 
Kirch,  da  hab  ich  gedacht,  die  habe  alle  nette  Gesichter,  aber  die  habe 
alle  Lederhose  an,  die  thMte  dir  nicht  gefalle;  aber  der  Konrad  Schutz 
hat  mir  gefalle,  der  hat  so  schone  schwarze  Auge  und  so  Krollhaar 
gehabt,  auch  keine  Lederhose  hat  er  angehabt  und  er  ist  gewese  wie 
ein  Provisor.  Aber  ich  hab  ihn  nie  gesprochen.  Ich  bin  oft  mit  den 
Kindern  meiner  Herrschaft  zu  seiner  Mutter  gekommen,  aber  da  ist  er 
nie  gewesen,  weil  er  bei  dem  Schuhmacher  geschlafen  hat  und  die 
Mutter  hat  immer  nur  gesagt:  ^Ach  wie  schade,  eben  ist  der  Konrad 
gerade  fortgegangen ;'  und  mir  war  lieb,  wenn  ich  nur  was  von  ihm 
gehort  hab.  Wenn  ich  nach  ihm  guckt  hab,  hat  er  mich  so  im  Aug 
gehabt  und  auch  seine  Schwester  hat  zu  mir  gesagt:  ^Du,  der  Konrad 
thfit  so  gem  mit  Dir  schwitze.'  Da  hab  ich  aber  gesagt,  das  gab  eine 
schone  Geschichte,  wenn  das  BMsle  das  meinem  Vater  sagen  th§t.  Und 
so  hab  ich  ihn  nicht  gesprochen  und  nichts  von  ihm  gesehen  oder 
gehort,  bis  ich  in  die  Residenz  gekommen  bin.  Da  bin  ich  einmal  mit 
einem  andern  MMdele  zur  Parade  gegangen,  die  uns  etwas  Neues  ge- 
wesen ist,  und  da  hab  ich  gesehen,  wie  druben  an  der  Seit  am  Konigs- 
platz  zwei  Soldaten  immer  gestanden  sind,  und  da  hab  ich  gesagt,  wir 
wollen  fortgehen,  die  schwatzen  von  uns;  aber  die  sind  uns  nach- 
gegangen,  und  da  hab  ich  gesagt,  der  eine  sieht  aus,  wie  ein  Z — inger, 
er  lacht  gerade  wie  der  Konrad  Schutz.  Da  hab  ich  ihm  nicht  mehr 
angucken  konnen,  so  roth  bin  ich  worden.  Dann  bin  ich  mit  dem 
MSdele  zu  ihrer  Schwester,  die  auch  gedient  hat  und  wie  wir  herunter- 
gekommen  sind,  stehen  die  auch  wieder.  Dann  ist  der  Schtitz  auf  mich 
zu  und  hat  sich  entschuldigt  und  hat  gesagt,  ob  ich  nicht  das  Rikele 
sei,  das  in  Z  .  .  .  gedient  habe.  Da  habe  ich  ja  gesagt  und  da  hat  er 
mir  gleich  die  Hand  geben  und  da  haben  wir  eine  rechte  Freud  gehabt. 
Dann  hat  er  mich  gefragt,  ob  er  mich  hie  und  da  besuchen  durfe;  da 
hab  ich  aber  gesagt:  ,Nein,^  ich  wolle  nicht,  dass  man  sage,  ich  sei  ein 
SoldatenmMdele.  Dann  ist  er  aber  immer  durch  die  Rothstrasse  und 
wenn  er  nur  hat  hereinpfeifen  diirfen,  ist  .er  froh  gewesen.  Dann  hat 
er  ein  MMdele  vom  Haus  gefragt,  wann  ich  Wasser  holen  thSt,  und  da 
hat  er  mich  am  Brunnen  abgefasst,  und  so  haben  wir  uns  fast  alle 


373  8^ 


Abend  gesprochen.  Zuerst  hab  ich  ihm  freilich  immer  gesagt,  ich  wollt 
so  keine  Geschichte  haben,  so  oft  hMtt  ichs  nicht  gemeint,  und  da  hat 
er  gesagt,  er  hUtt  seiner  Mutter  schon  geschrieben.  Seine  Mutter  hat 
mir  anch  geschrieben  und  immer  so  gut,  dass  ich  fast  mehr  Lieb  bei 
ihr  gefunden  hab,  als  bei  meiner  Mutter.  Sie  hat  mir  sogar  das  Geld 
fur  ihn  geschickt,  weil  so  besser  damit  hansgehalten  wiirde.  Und 
Tiachher,  wie  ich  zu  dem  Koch  gekommen  bin,  hat  er  Gelegenheit 
gesucht,  mir  nMher  zu  kommen  und  auch  gefunden.  So  gem  ich  ihn 
Anfangs  hab  mdgen,  so  gehMssig  bin  ich  dann  auf  ihn  gewesen.  Ich 
bin  noch  in  meinem  Dienst  ^eblieben  bis  Jakobi.*" 

Das  arme  Rikele  muss  sich  jetzt  auf  eine  komplizierte  Weise 
veiterhelfen.  Ihre  erste  Stuttgarter  Herrschaft  hatte  sie  das  N§hen 
lemen  lassen.  Diese  Fertigkeit  nutzt  sie  jetzt  aus.  Sie  arbeitete  also 
Tags  uber  um  Lohn  bei  einer  NIherin,  teilweise  schon  auf  der  Maschine, 
die  damals  .anfgestanden"  war.  Morgens  besorgt  sie  einer  Putzmacherin 
die  Haushaltung,  woftir  ihr  diese  die  Schlafstelle  gew§hrt.  Mittags  holt 
sie  ftir  Schreinersleute  das  Essen  bei  deren  Tochter  der  ^^Birenwirtin''. 
Zum  Lohn  fur  diese  GSnge  erhMlt  sie  etwas  Mittagskost.  —  Bald  darauf 
geht  sie  heim. 

„Ich  war  kaum  zu  Haus,  so  hat  die  Mutter  erfahren,  was  vor- 
^egangen  ist;  denn  ein  Madele  aus  dem  Dorf  hats  von  der  Stadt  aus 
seinen  Eltem  geschrieben  und  da  haben  die  zu  meiner  Mutter  gesagt: 
,Nun,  du  musst  jetzt  bald  ein  Soldatenkind  aufziehn^  ,Da  hab  ich 
meiner  Schwester  gesagt,  sie  sollten  mich  in  Ruhe  lassen,  Oder  ich  tMte 
mir  den  Tod  an,  und  ich  hab  alle  zwei  Tage  ein  Kamisol  gestrickt  und 
das  Geld  meiner  Mutter  geben.  Der  Konrad  Schiitz  schrieb,  ich  kdnnt 
zu  seinen  Eltern  kommen,  das  Wochenbett  halten,  ich  bin  aber  nach 
Ttibingen  ins  KHnikum.  Nach  acht  Tagen  hat  meine  Schwester  das 
Kind,  es  war  ein  Bub,  abgeholt;  ich  aber  bin  vier  Wochen  dort  krank 
gelegen.  Die  Bauchfellentzundung  hab  ich  gehabt.  Wie  ich  wieder  besser 
geworden  bin,  hab  ich  die  andem  Kinder  trinken  lassen,  bin  dann  nach 
Haus  und  hab  mein  Kind  angelegt  und  hab  es  trinken  lassen  einige 
Wochen  liber  ein  Jahr.  Ich  hab  zu  Haus  genMht  und  gestrikt  fur  andere 
Leute,  Strumpfe,  WMmser,  was  die  Leute  gebraucht  haben.  Nun  ist 
meine  Schwester  um  Ostem  nach  Z  .  .  .  gegangen  zum  Schulmeister 
und  auch  zu  den  Schtitzen.  Und  da  fragt  des  Konrads  Mutter  wie's 
dem  Rikele  geht.  ,Ja,  der  gehts  gut.^  ,Wer  hat  sie  gesund  gemacht?^ 
Und  da  hat  meine  Schwester  gesagt,  ich  hab  ein  Kind.  ,Und  der 
Schlingel  sagt  gar  nichtsS  „ruft  die  Mutter  da,  ,ich  hab's  ihm  schon 
lange  angemerkt,  dass  er  was  hat.^  Der  alte  Schiitz  ist  die  Stiege 
heraufgekommen:  ,Was,  der  sagt  kein  Wort,  und  ISsst  das  MMdele  da 
unten,  morgen  muss  er  gleich  hin.^  Am  andem  Tag  sag  ich  zu  meiner 
Mutter:  Horch,  wer  springt  denn  da  so  die  Stieg  herauf?  Und  da  klopfts 
an  und  da  ist  der  Konrad  hereingekommen  und  auf  mich  zu  und  das 
ist  ein  Augenblick  gewesen.  Meine  Mutter  hat  geschrieen:  ,Um  Gottes- 
willen  das  Kind!  Ihr  verdmckts  jal^  ,Und  da  hat  er  gesagt,  sein  Vater 
Schick'  ihn,  er  war  schon  lange  gekommen,  wenn's  nicht  so  weit  war. 

S&ddeutsche  Monttthefte.   1,5.  25 


374  8*^ 


Jetzt  sei  er  da,  jetzt  woH'  er  mir  vorlMnfig  etwas  Sohriftliches  geben,, 
wenn  er  einrucken  musse,  nnd  kMm  um.  Man  hat  nicht  viel  gewusst, 
was  in  der  Welt  vorgeht,  da  hat  Niemand  Zeitung  gelesen  wie  der 
Pfarrer.  Zwanzig  Gulden  hat  er  mir  versprochen  jihrlich  zu  geben  nnd 
wenn  er  sterben  wtirde,  wMr  mein  Wilhelm  sein  Erbe  gewesen.  Das  ist 
am  selben  Tag  schriftlich  gemacht  worden,  bei  meinem  Pfleger.  Damals 
ist  zwanzig  Gulden  viel  gewesen;  da  hat  ein  Kind  nicht  mehr  gekostet 
als  25  Gulden  in  Pflege.  Wir  haben  auch  acht  Jahr  so  ein  Kostkind 
gehabt.  Von  da  hat  des  Konrads  Mutter  von  Zeit  zu  Zeit  Butter  ge^ 
schickt,  sie  hat  mir  Tuch  (Leinwand)  geschickt,  sie  hat  mir  Geld  ge- 
schickt;  der  Briefwechsel  ist  erst  recht  fortgesetzt  worden.  Ich  bin  noch 
zu  Haus  gewesen  bis  Georgi.  Gekommen  ist  er  inzwischen  nur 
einmal.  Das  ist  mir  nicht  aufgefallen,  denn  ich  hab  gedacht:  ,das  kostet 
Geld;  wenn  ich  reis,  kosts  nichts,  aber  die  MMnner,  die  haben  Durst/ 
Ich  hab  zu  Haus  genlht  und  gestrickt,  das  hat  aber  meiner  Schwester 
nicht  geniigt,  sie  hat  gesagt,  ich  wollf  immer  die  Hausjungfer  machen 
und  nicht  schaffen  (im  Feld).  Deshalb  bin  ich  um  Georgi  nach  T  .  .  ^ 
und  bei  einer  alten  Jungfer  in  D  i  e  n  s  t  getreten,  wo  ich  24  Gulden 
gehabt  hab.  Sie  hat  mir  versprochen,  wenn  ich  bei  ihr  bleibe,  bis  sie 
stirbt,  bekomme  ich  600  Gulden.  Bei  der  hat  mich  der  Ekel  fast  um- 
bracht.  Die  hat  eine  Fontanelle  gehabt  und  die  hab  ich  tiglich  zweimal 
verbinden  mussen  und  da  hab'  ich  gedacht,  ich  kann's  nicht  mehr  aus- 
halten,  ich  geh'.  Wlhrend  ich  in  dieser  Stelle  war,  hatte  mir  auch  um 
Jakobi  der  Schutz  geschrieben,  ich  solle  heim  kommen  und  meine  Sachen 
richten,  er  wolle  jetzt  heirathen.  Da  hab  ich  aber  einen  Brief  vom 
Schulmeister  bekommen,  in  dem  gestanden  hat,  ob  ich  nicht  wisse,  dass 
das  Mariele  P . . .  jetzt  Bekanntschaft  hab  mit  dem  Schiitz  und  ein  Kind 
bekomme.'^  Das  Rikele  behauptet,  es  habe  nun  dem  Schutz  die  Be^ 
dingung  gestellt,  dass  er  sich  in  seinem  (des  Rikele)  Heimathsdorf  nieder* 
lassen  solle,  es  tMte  sonst  doch  kein  gut;  dass  dieser  aber  hieraus  Anlass 
zu  einem  Bruch  genommen  habe.  Noch  bis  zur  Konfirmation  des  Knaben 
habe  er  indes  das  Kostgeld  gezahlt;  anfMnglich  habe  auch  sein  Vater 
einige  Mai  Geld,  Leinwand  und  Kartoffel  geschickt.') 

Wie  das  Rikele  die  Jungfer  mit  der  Fontanelle  verlisst,  beginnt 
es  (27  Jahre  alt)  seine  friiher  erworbene  Nihfertigkeit  andauemder 
zu  verwerten  .  . .  Welche  M&hseligkeiten,  welche  Zwischenstadien,  bis 
die  Etablierung  endlich  gelingt!  Sie  schlift  und  isst  zunichst  bei  einer 
Wischerin,  niht  fiir  diese  und  bekommt  6  Kreuzer  den  Tag;  auch  fiir 
fremde  Kunden  arbeitet  sie  zuweilen  dort,  dann  aber  erhilt  die  Wischerin 
das  verdiente  Geld;  sie  war  nur  froh,  einen  „UnterschlupP^  zu  haben^ 
Fur  eine  Frau,  deren  Tochter  heiratet,  fertigt  sie  sodann  die  Aussteuer 
an;  sie  hat  Schlafstelle  bei  ihr  im  Hause  und  10  Kreuzer  Taglohn.  Als. 
die  Ausstattung  fertig  ist,  quartiert  sie  unter  ihnlichen  Bedingungen  bei 
einer  andem  Frau.  Da  habe  sie  aber  keine  Ruhe  gehabt,  da  des  Nacht& 
immer  etwas  Bdses  gekommen  sei.  „Ich  habe  meine  Thtir  geschlosseui, 


^)  S.  Die  Geschichte  des  Sohnes. 


375  JK- 


doppelt  geschlossen,  und  da  ist  mir  meine  Decke  immer  heruntergezogen 
worden;  dann  hab  ich  bei  der  Frau  im  Zimmer  geschlafen,  und  da  hab 
ich  immer  gemeint,  ich  miisse  ersticken.  Der  Buchbinder  F . . .  klagte 
auch,  der  wohnte  im  gleichen  Haus/^  (Frage  meinerseits)  ,Wie  er- 
kllren  Sie  sich  das?^  (Antwort):  ,Ich  weiss  nicht,  wars  ein  Geist,  oder 
sonst  bdse  Leute,  Hexen/  (Frage):  ,Glauben  Sie  denn  an  Hexen?^ 
(Antwort):  ,Ja,  ich  glaub  an  Hexen;  ich  bin  oft  einer  Frau  begegnet, 
da  hab  ich  jedesmal  vor  mich  hingesagt:  ,Thu'  ich  dir  Recht,  behut 
mich  Gott,  thu'  ich  dir  Unrecht,  verzeih'  mir's  Gott'  und  hab  die  drei 
hdchsten  Namen  ausgesprochen.  Die  ist  von  ihrer  Tochter  selbst  fur 
eine  Hexe  gehalten  worden.  Sie  war  70  Jahre  alt.  Sonst  ist  sie  gut 
gewesen;  sie  hat  auch  viel  Gutes  gethan  an  den  Leuten.  (Frage):  ,Was 
wurde  Ihr  Pfarrer  dazu  sagen,  wenn  er  wiisste,  dass  Sie  solche  Dinge 
glauben;  der  wurde  gewiss  recht  bose  sein?^  —  (Antwort):  Ja  die 
miissen  so  thun,  aber  die  glauben  selbst  daran.^ 

Es  ist  unmoglich,  all  die  ModalitMten  aufzufuhren,  unter  welchen 
Rikele,  nachdem  sie  das  ihr  durch  die  Hexerei  verleidete  Haus  verlassen, 
nachmals  bei  verschiedenen  Personen  Aufnahme  gefunden  hat.  Sie 
kommen  auch  im  wesentlichen  darauf  hinaus,  dass  sie  entweder  den 
Wirtsleuten  umsonst  nMhte,  oder  wenn  sie  auswirts  besch§ftigt  war,  fiir 
die  Schlafstelle  gewisse  andere  hiusliche  Verrichtungen  ausiibte.  In 
einer  Schlafstelle  hat  sie,  wie  sie  angibt,  infolge  der  Feuchtigkeit  Glieder- 
weh  bekommen.  ^Ziehen  Sie  aus,  aus  dem  Loch**  habe  der  Arzt  gesagt. 
Nicht  ubel  habe  sie  es  bei  Gewerbsleuten  gehabt,  bei  denen  sie  hiufig 
Beschiftigung  fand  und  die  sie  fur  3  Mark  den  Monat  bei  ihrem  Dienst- 
madchen  schlafen  liessen.  Bei  ihren  Stadtkunden  erhielt  sie  in  den 
ersten  Jahren  15  Kreuzer,  spiter  fand  sie  Kundschaft  in  wohlhabenderen 
Hiusem.  Nach  einer  Reihe  von  Jahren  kam  erst  Rikele  zu  einem 
eigenen  Stubchen,  wobei  Bettstelle,  Schrank  und  einige  andere  Mobel 
zunachst  nur  geliehen  waren.  Die  kdufliche  Erwerbung  dieser  Gegen- 
stdnde  ward  ihr  nachmals  durch  den  Umstand  erleichtert,  dass  sie 
damals  fur  ihren  in  einer  Anstalt  untergebrachten  Sohn  zwar  von  dessen 
Vater  noch  Kostgeld  empGng,  jedoch  weil  jener  in  den  Genuss  mehrerer 
Frei jahre  getreten  war,  nichts  mehr  zu  zahlen  hatte.^) 

Ein  paar  Jahre  vorher  hat  ubrigens  das  leicht  erregbare  Herz  und 
die  leicht  geschmeichelte  Eitelkeit  dem  Rikele  wiederum  einen  schlimmen 
Streich  gespielt.  In  einem  ihrer  .vornehmen**  Kundenhiuser  hat  sie 
einen  jungen  »Doktor"  kennen  gelemt;  der  hab  sie  immer  beobachtet, 
und  als  sie  ihn  einmal  hat  zum  Essen  in  dieses  Haus  einladen  mussen, 
hab  er  ihr  einen  Gulden  in  Papier  eingewickelt,  da  fand  sie  hinein- 
geschrieben: 

Friederike  —  Deine  Blicke 

Kdnnen  BMren        —  Tanzen  lehren, 
Und  dein  Bildniss  —  Lockt  den  litis 
Aus  der  Wildniss. 


')  S.  Geschichte  des  Sohnes. 

25* 


376  ^ 


^Sonntag  bin  ich  spazieren  gegangen  nach  ,LuschtnauS  Da  ist  er  hinter 
mir  hergekommen  und  hat  gesagt:  „Bescheidenheit,  das  schdnste  Kleidl^ 
Er  hat  mich  angeredet  und  gefragt:  Wanim  so  allein  und  ob  er  mich 
begleiten  durfte.    Da  hab  ich  gesagt:  Ich  diirft  den  Weg  nicht  mit- 

nehmen.  Und  so  sind  wir  eben  alle  Tage  zusammengekommen  . .  ."^ 

Und  wieder  blieben  die  Folgen  nicht  aus  .  .  .  Auf  dem  Amtshause  be- 
fragt,  wer  der  Vater  des  Kindes  sei,  verweigert  sie  die  Auskunft;  »ich 
hatte  geschworen,  ich  sag's  nicht  und  wenn  sie  mir  die  Haut  hemnter- 
ziehen.''  Sie  hatte  sich  von  dem  jungen  Manne  versprechen  lassen, 
dass  er  fur  das  Kind  sorgen  wolle;  sie  meint,  dass  dies  auch  sein  red- 
Hcher  Wille  gewesen  sei.  Wenn  es  aber  stfirbe,  brauche  er  ihr  nur 
einige  Wochen  Arbeitsun^higkeit  zu  bezahlen,  denn  sie  wolle  nichts 
.verdienen*'.  —  Das  Kind  wurde  aufs  Land  in  Kost  gegeben.  Einige 
Wochen  alt,  starb  es;  das  VerhMltnis  Rikeles  mit  dem  jungen  Manne 
dauerte  noch  einige  Jahre  bis  zu  dem  Weggange  desselben  aus  der 
Stadt  fort. 

Geschichte  des  Sohnes. 

Wir  miissen  nun  noch  einige  Worte  iiber  den  Lebenslauf  des 
Sohnes  unseres  Rikele  beifiigen,  an  dem  die  Mutter  alle  Zeit  mit  grosser 
Zartlichkeit  gehangen,  und  der  seinerseits  dieser  mit  treuer  Liebe  er- 
geben  war,  so  dass  hier  ein  inniges  Verhiltnis  obwaltete,  wie  man  es 
in  solchen  Fallen  gewiss  selten  findet.  Rikele  erzihlt,  dass  der  Vater 
(Konrad  Schutz)  ihr  den  Knaben,  als  derselbe  sein  siebentes  Jahr  erreicht, 
habe  abnehmen  wollen.  Das  habe  sie  aber  nicht  zugegeben.  Sie  hitte 
ihn  nicht  hergegeben  und  wenn  sie  hMtte  arbeiten  mussen,  bis  ihr  das 
Blut  unter  den  NSgeln  herausgekommen  wSre.  Demnach  blieb  es  dabei, 
dass  der  Vater  ein  Kostgeld  zahlte,  und  zwar  wie  schon  gesagt,  20 
Gulden  bis  zu  des  Kindes  vierzehntem  Jahr.  Zunachst  wurde  Wilhelm 
in  seinem  Heimatsdorf  aufgezogen.  Es  scheint,  dass  Rikele  von  der 
Behandlung,  die  ihm  daselbst  zuteil  wurde,  nicht  befriedigt  war.  «Mein 
Bruder  hat  ihn  geschlagen,  als  ob  er  schon  16  Jahr  alt  gewesen  wir.** 
Darum  beschloss  sie  —  nicht  etwa  aus  Ersparungsrucksichten  —  den- 
selben  einer  sogenannten  ^Rettungsanstalt"  zur  Erziehung  zu  ubergeben.') 
Beim  Eintritt  in  dieselbe  musste  der  Knabe  mit  gehdriger  Kleidung 
versehen  sein;  weiterhin  waren  jMhrlich  36  Gulden  ^Kostgeld*  (fiir 
Nahrung,  Unterricht  und  Kleidungsbediirfnisse)  zu  zahlen.  Wihrend  der 
letzten  Jahre  fiel,  wie  erwahnt,  die  Zahlung  dieses  Kostgeides  weg.^ 
Mit  der  KonGrmation  verliess  er  die  Anstalt.    Sein  Wunsch  war  es. 


^)  Die  Anstalt  nahm  statutengemiss  nicht  nur  verwahrloste  Kinder,  sondem 
auch  seiche  auf,  »die  in  der  Gefahr  stehen,  es  zu  werden.* 

^  Zur  Zeit  des  Aufenthalts  des  Knaben  waren  durchschnittlich  26  Knaben 
und  11  M&dchen  in  der  Anstalt.  Von  den  ersteren  waren  j&hrlich  10  von  elnem 
Kostgeld  v511ig  befreit,  indem  f&r  dieselben  ein  zu  diesem  Zwecke  gegebener 
Beitrag  des  Landesfursten  aufkam.  Zur  gedachten  Loyalitit  Rikeles  hat  die  ihm 
hieraus  gewordene  Erleichterung  nicht  wenig  beigetragen.  „Darum  laufe  sie  auch 
noch  heute,  wenn  der  Kdnig  komme,  hinaus  vor  die  Stadt  und  rufe  *hurrah"*. 


377  ^ 


Mechaniker  zu  werden,  es  wurde  auch  im  Anfang  ein  Versuch  in  dieser 
Richtung  gemacht;  aber  der  Knabe  erwies  sich  schwMchlich,  spie  Blut 
und  musste  auf  Anraten  des  Arztes  von  diesem  Geschftft  abstehen. 
Dann  gab  Rikele  ihn  wieder  nach  Hause  zuruck  zur  Grossmutter, 
welcher  sie  72  Pfennige  wochentliches  Kostgeld  zahlte.  Da  babe  er  im 
Feld  gelegen  und  sei  mit  den  Waldarbeitern  in  den  Wald  gegangen.  Da  babe 
er  wieder  rote  Bicklein  bekommen  und  Fleiscb  auf  sich.  Nun  babe  er 
gesagt:  ^Mutter,  mir  trMumt  alleweil,  ich  sei  ein  Scbneider."  In  ihrer 
zu  einem  gewissen  Mystizismus  neigenden  Anscbauungsweise,  scbeint 
sicb  Rikele  nacbtrlglich  einzureden,  dass  diese  Triume  ftir  die  Wabl 
des  Berufes  bestimmend  gewesen  wiren;  sicher  ist,  dass  sie  ibn  wieder 
zu  sicb  in  die  Stadt  nabm  und  zu  einem  Scbneider  in  die  Lebre  gab. 
40  Gulden  babe  sie  fur  die  ganze  Lehrzeit  zahlen  mussen,  20  Gulden 
zu  Beginn  und  nacb  Verstricb  der  balben  Zeit  den  Rest.  Rikele  ist 
nicbt  gut  auf  den  Lebrberm  zu  sprecben.  Er  babe  den  Wilbelm  nicbt 
wollen  in  die  Fortbildungsscbule  lassen  und  sei  uberbaupt  ein  gewalt- 
tMtiger  Mensch  gewesen.  »Er  bat  einen  Lebrling  gehabt,  der  ist  ein 
scbwacher  dummer  Jung  gewesen  und  vergesslich,  den  bat  er  einmal 
so  gescblagen,  dass  er  acbt  Tage  hat  im  Bett  bleiben  miissen,  und 
meinem  Wilbelm  hat  er  die  gleichen  Schlig  versprocben.*'  Bald  sei  der 
Wilbelm  gekommen  und  habe  geklagt,  dass  sein  Meister  nichts  mehr 
zu  schaffen  habe,  als  Hosen  fur  ein  grosseres  Gescbift,  und  dass  er 
nur  noch  die  Kindsmagd  machen  musse.  Da  habe  sie  ihn  zu  einem 
andem  Meister  gethan,  indess  nicbt  ohne  vorher  einen  Kampf  mit  dem 
alten  wegen  eines  von  diesem  verlangten  Reugeldes  fuhren  zu  mussen. 
In  der  neuen  Stelle  bekam  er  1  Mark  wdchentlich  und  freie  Station. 
Dann  ging's  auf  die  Wanderschaft.  6  Mark  gab  sie  ihm  mit,  Stiefel 
und  Felleisen.  Sechs  Wochen  zog  er  herum,  ohne  Arbeit  zu  finden; 
da  schaffte  er,  um  durchzukommen,  bald  bei  den  Bauem  auf  dem  Feld, 
bald  fiickt  er  Wirtsleuten  die  Kleider  aus,  um  freies  Obdach  zu  finden. 
4ch  hab  Gluck  gehabt,'  hat  er  immer  gesagt;  habe  ich  gesagt:  ,Das 
kommt,  weil  ich  auch  nie  einen  Handwerksburschen  habe  gehen  lassen.' 
Endlich  findet  er  eine  Stelle  in  Urach  und  ziebt  nach  einem  Jahre 
'wie  eben  die  Wanderlust  als  kommt'  wieder  fort.  „Ich  meine,  wenn 
sie  so  in  viele  WerkstMtten  rum  kommen,  lernen  sie  iiberall  wieder 
mehr."  Von  Ehingen  aus,  wo  er  l^a  Jahre  verbringt,  schickt  er  zum 
erstenmal  seiner  Mutter  Geld,  25  Mark.  In  Gaildorf,  einem  Flecken, 
geht's  ihm  weniger  gut.  Da  hat  ihm  ein  Nebengesell  seine  zwei  Hemden 
genommen,  da  haben  sie  Streit  kriegt  und  da  hat's  Schlig  gegeben. 
Auf  einer  abermaligen  ^anderung  erfror  er  die  Fiisse  und  kam  endlich 
in  sein  Heimatsdorf  zuruck,  dort  auf  eigene  Rechnung  arbeitend,  bei 
seinen  Verwandten  schlafend.  »Er  bekam  viel  zu  schaffen  und  ist  zu 
mir  gekommen  und  hat  gesagt:  Wenn  ich  nur  eine  Maschine  hitte. 
Da  hab  ich  gesagt:  Daran  soil's  nicbt  fehlen.  Da  hat  er  mich  umarmt 
und  eine  Freude  gehabt  und  gesagt:  Wenn  Du  nur  gesund  bleibst,  dass 
ich  Dir's  auch  vergelten  kann."  Er  versprach,  das  vorgeschossene  Geld 
ibr  zuriickzuzahlen.    „Ich  habe  wohl  gewusst,  dass  wenn  er  verdient,. 


-HJ    378  ^ 


er  mir  giebt,  was  er  kann.**  Sie  holt  demnach,  wie  bereits  Eingangs 
initgeteilt  und  durch  das  Sparkassenbuch  belegt  ist,  98  Mark  von  ihren 
auf  der  Kasse  lagernden  99  Mark;  es  gingen  bei  dieser  Gelegenheit 
zugleich  einige  Mark  fur  Stiefel  des  Sohnes  drauf.  Ob  das  jene  Sdefel 
sind,  deren  er  bednrfte,  als  er  schrieb:  »Du  darfst  nicht  glauben,  ich 
sei  eigensinnig,  nein,  das  schreibe  ich  in  aller  Liebe,  sei  doch  so  gut 
und  lass  mir  Stiefel  anmessen."  Selten,  dass  er  so  dringend  schrieb; 
umgekehrt  lese  ich  z.  B.  in  einem  andem  Schreiben:  „  Darfst  auch 
nimmer  mir  Esswaaren  schicken,  ich  bin  ja  nimmer  klein,  esse  Du  es 
nur  selbst,  wenn  Du  etwas  geschenkt  bekommst.'^ 

Nochmals  ergreift  ihn  der  Wandertrieb,  er  deponiert  die  Maschine 
bei  seiner  Mutter,  arbeitet  bald  da,  bald  dort,  bis  er  ^spielen*"  muss  und 
endlich  nach  Strassburg  in  Gamison  kommt. 

Schlusswort. 

Auf  den  Sohn  war  die  ganze  HoChung  Rikeles  gestellt.  Das,  was 
man  einen  Fehltritt  zu  nennen  pflegt,  erweist  sich  in  seinen  Folgen  als 
segensreich.  Der  Sohn  lohnt  die  miitterliche  Treue  mit  kindlicher  An- 
hinglichkeit  .  .  .  Mit  ihren  geringer  werdenden  Einnahmen  war  ja 
schon  von  Jahr  zu  Jahr  Rikeles  Ausgabebudget  im  Sinken  begrifTen 
gewesen;  wurde  ohne  Hilfe  durch  den  Sohn  oder  fremde  Hilfe  ihr 
Sparpfennig  nicht  jener  Zehrung  geglichen  haben,  die  man  zum  Ver- 
hungem  Verurteilten  noch  fiir  eine  kurze  Zeit  mit  in  das  GefMngnis  zu 
geben  pfiegte?  Auch  der  kleine  Vorrat  an  Mobiliar  und  Kleidungs- 
stticken,  auf  dessen  Zusammenbringung  sie  so  stolz  war,  wiirde  sie  ihn, 
ohne  solche  Hilfe,  in  ihrem  Alter  haben  fest  halten  kdnnen?  In  dem 
guten  Willen  ihres  Sohnes  hatte  sie  sich  nicht  getluscht.  Zwar  nicht 
als  „Kindsmagd'S  wie  sie  einst  erhofft,  lebt  sie  bei  ihm,  denn  er  hat 
es  sich  versagt,  eine  eigene  Familie  zu  griinden,  fur  die  er  doch  nicht 
hinlinglich  Brot  gehabt  hitte.  Aber  zusammen  Ziehen  sie  aus  der 
kleinen  Stadt  in  ihr  Heimatdorf,  wo  Rikele  eine  bescheidene  Titigkeit 
an  der  Nih-  und  Strickschule  findet,  wlhrend  der  Sohn  sein  Schneider- 
handwerk  dort  und  auf  den  umliegenden  Ortschaften  weiter  treibt.  Sie 

sehen  sogar  bessere  Tage  als  fruher  aber  es  bleibt  nicht  lange 

so  gut.  Die  niemals  robust  gewesene  Gesundheit  Rikeles  wird  schwicher 
und  schwMcher,  die  fleissigen  Finger  erlahmen,  die  Augen  wollen  nicht 
mehr  recht  sehen. 

Vor  mir  liegen  die  Briefe  der  letzten  Jahre:  „Diesen  Sommer  war 
ich  ziemlich  schwer  krank,**  heisst  es,  „und  mein  Sohn  war  in  derselben 
Zeit  12  Tage  eingeriickt,  spMter  bekam  ich  Gesichtsros.  Mein  Sohn 
schafft  immer  noch  nach  T  .  «  Zwei  Jahre  sp&ter  klagt  sie  tiber 
das  Alter,  das  sich  nicht  mehr  verbirgt,  und  dass  die  Kraft  nicht  mehr 
kommen  will.  Aber  immer  noch  ist  sie  zufrieden,  dass  sie  ihre  Haus- 
haltung  besorgen  kann  und  freut  sich  iiber  die  Zuwendungen  der 
Nahrungsmittel,  wie  Kaffee,  Tee,  Schokolade,  Reis,  Gries,  Nudein  usw., 
die  ihr  eine  Gonnerin  von  Zeit  zu  Zeit  sendet.  Bald  aber  werden  diese 
Zuwendungen  ein  Hauptfaktor,  mit  dem  sie  rechnen  muss  und  dankend 


379 


schreibt  sie:  »Ich  dachte  oft,  ich  mochte  nur  auch  einmal  wieder  Kaffee 
trinken,  aber  das  Geld  reichte  nie  dazu;  an  Sonn-  und  Festtagen  ist 
jetzt  Chokolade  unser  Mittagessen  and  Nachts  Thee,  das  schmeckt  jedes- 
mal  sehr  gut,  Reis  und  Griesbrei  schmeckt  auch  sehr  gut,  sowie  Nudeln 
mit  Butter  geschmilzt  zu  Zwetschgen.  Fleisch  kdnnen  wir  keines  kaufen, 
«s  ist  fur  uns  zu  theuer,  wir  sinds  auch  gar  nicht  mehr  gewdhnt,  ich 
weiss  kaum  mehr  wies  schmeckt.  Ich  kaufe  alle  Donnerstag  ^9  P'und 
Butter  fur  50  Pfennig  und  alle  Tag  IV4  Liter  Milch  fur  15  Pfennig, 
fliit  dem  kommen  wir  aus  und  sind  dabei  recht  zufrieden."  Und  dann: 
3ie  k5nne  nichts  mehr  verdienen,  sie  gehe  «ins  Schlehen  sammeln**, 
dafur  bekomme  sie  Brot  und  Most,  sie  hoffe,  dass  es  auch  wieder 
besser  werde,  wenn  es  Gottes  Wille  sei.  Das  Gottvertranen  Rikeles  ist 
unerschutterlich.  Ja  es  scheint  zu  wachsen,  je  schlechter  die  Zeiten 
werden.  Zuletzt  sehen  wir,  wie  sie  gleichsam  durch  briinstiges  Gebet 
ihrem  Gott  Hilfe  in  der  Not  abringen  will  und  wie  sie  aus  ihrer  er- 
regten  Stimmnng  heraus  die  Unterstutzungen,  die  ihr  zuteil  werden,  als 
den  Ausfluss  einer  Vorsehung,  welche  die  Herzen  der  Geber  zu  ihr^hin- 

gelenkt  hat,  mit  frommem  Danke  entgegennimmt  Aber  wieder 

und  wieder  stellen  sich  Sorgen  ein,  Sorgen  um  den  Hauszins  und  um 
die  Abzahlung  einer  Schuld  fur  eine  ndtig  gewordene  neue  NIhmaschine 
(die  dann  von  Gdnnem  fur  sie  bezahlt  wurde). 

Und  dann  hdren  die  Briefe  auf,  und  der  Sohn  meldet,  dass  nach 
einer  Influenzaerkrankung,  zu  der  eine  Lungenentztindung  hinzngetreten 
war,  die  Mutter  sanft  und  selig  in  dem  Herm  entschlafen  sel,  im  Alter 
von  58  Jahren,  12  Tagen. 

Alle  eigene  Anstrengung,  alle  kleinen  Zufllle,  deren  wir  gedacht 
haben,  alle  jene  eiseme  Sparsamkeit,  die  sich  keinen  Moment  vergisst, 
air  jene  List,  mit  welcher  der  Anne  das  Leben  um  die  Anforderungen, 
die  es  stellt,  zu  betrOgen,  mit  der  er  auf  tausend  Schleichwegen  um  sie 
herum  zu  kommen  sucht,  sie  alle  hatten  nicht  ausgereicht,  um  Rikelen 
bei.den  allerbescheidensten  An§pruchen  ein  sorgenfreies  Alter  zu  sichem. 

Das  Kreuzchen  auf  dem  Gottesacker  deckt  die  Hulle  eines  Menschen, 
der  ausruht  von  zihem  Lebenskampfe. 


H>.8    380  8^ 


Briefe  aus  Italien.  L 

Von  Friedrich  Th.  Vischer.  • 

Alte,  vergilbte  Blitter  —  verblasste  Zeilen  von  seiner  noch  jugend^ 
lichen  Hand  —  gerichtet  an  seinen  Bnider:  den  Pfarrer  August  Vischer 
in  Hausen  an  der  Lauchert  und  an  seine  Schwester:  Frau  Professor 
Nanny  Hemsen  in  Gdttingen,  zugleich  aber  auch  an  andere  Verwandte 
und  an  Freunde,  bei  denen  von  jedem  Brief  eine  in  Hausen  besorgte 
Abschrift  herumging:  an  Hofrat  von  Bressand,  Frl.  Heinrike  Bemer 
und  David  Friedrich  Strauss  in  Stuttgart,  an  Kaufmann  Fischer  in  Cann« 
statt,  an  seine  originelle  Hausfrau :  Oberjustizratin  Dann,  an  Oberjustiz- 
Prokurator  Lang,  Privatdozent  Dr.  K.  Kdstlin  und  Frau  Pfarrer  Rau  in 
Tiibingen,  Frau  PrilMtin  von  Bengel  in  Pfullingen,  Diakonus  Chr.  Mftrklin 
in  Calw,  Pfarrer  Ernst  Rapp  in  Enslingen  (O.  A.  Hall),  Pfarrer  Eduard 
Mdrike  in  Cleversulzbach  (O.  A.  Neckarsulm),  und  an  seine  mutterliche 
Freundin:  „die  gute  Majorin"  von  Bilfinger  in  Ludwigsburg. 

Er  war  damals  ein  angehender  Dreissigen  In  seinem  »Lebensgang* 
(Altes  und  Neues,  Stuttgart,  Bonz,  1882,  III,  300  f.)  gedenkt  er  der  Frucht> 
welche  seiner  Anschauung  die  klassischen  Linder,  Italien  und  Griechen- 
land,  boten,  mit  den  Worten:  „Ich  wusste  gar  nicht,  wer  der  ist,  der 
noch  iibrig  bleibt,  wenn  ich  es  verm5chte,  von  mir  auszuscheiden,  was 
ich  dieser  Reise  verdanke.  —  Sehr  wenig  vorbereitet  zog  ich  damals 
aus,  man  kennt  die  Armuth  der  Literatur  jener  Zeit  uber  Italien  und 
seine  Kunstgeschichte.  Fr.  Kuglers  eben  erschienene  Geschichte  der 
Malerei  und  Otfried  Mullers  Handbuch  der  Archiologie  waren  fast  mein 
gauzes  Vorstudium.  Statt  aller  anderen  Liicken  meines  Konnens  will 
ich  anfuhren,  dass  mir  die  vorraphaelischen  Schulen  und  Meister  nur 
Namen  waren.* 

Die  Grundlage  vorhandenen  historischen  Wissens  war  noch  nicht 
so  gross,  aber  die  humanistische  Bildung  um  so  lebensvoller  und  der 
Sinn  des  Reisenden  um  so  frischer,  um  so  empfinglicher.  Man  hatte 
von  der  Technik  noch  nicht  so  viele  Hilfsmittel,  aber  auch  nicht  so 
viele  Gleichform  und  Beunruhigung,  fuhr  nicht  so  rasch  durch,  erfuhr 
desto  mehr  und  konnte  noch  die  ganze  Romantik  des  Landes  ultra  montes 
geniessen. 

Mein  Vater  spricht  an  der  genannten  Stelle  namentlich  von  Fiesole, 
Ghirlandaio,  Perugino,  Fr.  Francia:  »Das  Entzucken  fiber  die  ruhrende 
Unschuld,  innige  Anmuth  und  herrliche  NaivetMt  dieser  Quattrocentisten 
hitte  mich  zum  Nazarener  gemacht,  wire  nicht  sonst  dagegen  gesorgt 
gewesen.  Doch  ich  muss  abbrechen,  sonst  kdnnte  ich  kein  Ende  finden» 
musste  von  den  grossen  Cinquecentisten,  von  den  spiteren  Meistem, 
von  der  Antike,  von  Land  und  Leuten  schreiben,  wie  alles  das  auf  mich 
gewirkt,  und  es  wurde  doch  nichts  zu  Tage  kommen  als  ein  neues 
Beispiel  der  TrMnkung,  Umbildung,  Befruchtung  nordischer,  subjektiver. 


381  8^ 


zu  sehr  nach  innen  lebender  Menschennatur  durch  die  grosse,  freie, 
objektive  Natur  des  Sudens,  der  klassischen  Kunst  und  der  Renaissance.'' 

Sprechende  Zeugnisse  dieses  Vorgangs  sind  seine  damals  ge- 
schriebenen  Briefe,  die  nun  hier  und  in  den  spMteren  Heften  der  »Siid- 
dentschen  Monatshefte**  veroffentlicht  werden. 

Gottingen.  Robert  Vischer. 

Lieber  Bruder  und  liebe  Sch  wester  I 

Mude  von  Visiten  u.  Packen  u.  Mrgerlich,  dass  ich  4  Stunden  auf 
den  Eilwagen  warten  musste  u.  also  unndthig  um  2  Uhr  aufgestanden 
war,  lag  ich  in  Metzingen  im  Adler  auf  dem  Bett.  Bin  zweiter  Mensch, 
der  in  mir  ist  und  mir  Alles  zu  entleiden  sucht,  ein  hMmischer,  miirrischer, 
widerwMrtiger,  hypochondrischer  Kerl  fitisterte  mir  zu:  wohin  will  denn 
eigentlich  der  Mensch  da?  „Nach  Italien."  Hier  erhob  der  Andre  ein 
hdhnisches  GelMchter.  Sie  nach  Italien?  Der  Hans  Unstem,  dem  das 
Butterbrod  immer  auf  die  gestrichene  Seite  fiillt?  Sie  werden  auf  der 
ersten  Station  die  Bdrse  verlieren;  wenn  Sie  die  schdnsten  Gegenden 
sehn  wollen,  wird  es  eben  regnen;  Ihr  Hiihnerauge,  mein  Verehrtester, 
wird  Ihnen,  wie  ktirzlich  in  Mtinchen,  das  Gehen  unmoglich  machen, 
und  endlich  wenn  Alles  gut  geht,  was  thut  denn  ein  solcher  nordischer 
Mensch,  wie  Sie,  der  nichts  rein  geniesst,  sondern  in  jedem  Genusse 
uber  den  Genuss  grtibelt  und  sich  ihn  dadurch  verderbt,  was  thut,  sage 
ich,  ein  solcher  Esel  in  Italien?  „Sie  werden  etwas  grob,  mein  Anderer, 
sind  wir  ein  Esel,  so  sind  wir  es  zusammen,  muss  aber  Einer  hinaus, 
so  wollen  wir  sehen,  wer  es  gewinnt,  ich  Oder  Sie,  also  mit  nach 

Italien!*'  Am  3.  Abends  kam  ich  in  Bregenz  an,  u.  hier  unterhielt 

mich,  wie  schon  fruher  einmal,  der  Anblick  des  schdnen  ungarischen 
MilitMrs,  das  dort  liegt.  Die  starken  Wirbel  des  Zapfenstreichs  er- 
innerten  mich  an  Aspem  und  Wagram,  wo  namentlich  die  Ungarn  so 
tapfer  fochten.  Am  andern  Morgen  sah  ich  einen  ungarischen  MilitMr- 
gottesdienst  im  Freien.  Es  wurde  eine  alte  Kirchenmelodie  mit  ungarischem 
Text  gesungen,  dann  das  Evangelium  ungarisch  vorgelesen  etc.  Was 
hat  dieses  Oestreich  fur  ein  Kriegsmaterial.  Aus  den  Ebenen  u.  Bergen 
Ungarns  zieht  es  diese  schlanken,  braunen  Menschen,  die  zum  Soldaten 
geboren  sind,  aus  Deutschland  seine  trefflichen  Schiitzen  und  schweren 
Reiter,  aus  Polen  seine  unvergleichlichen  Lanciers,  von  der  tiirkischen 
Grenze  die  wilden  RothmMntel.  Und  doch  war  es  niemals  im  Kriege 
gross.  Man  darf  aber  nur  die  alten,  fetten  WSnste  von  Generalen  an- 
sehn,  in  deren  HMnde  dieses  vortreffliche  Werkzeug  gegeben  isu  so  hat 
man  die  ErklMrung.  Die  jtingeren  Offiziere  sind  lebendiger  und  scheinen 
mir  sehr  gebildet,  ich  konversirte  in  Bregenz,  Verona  u.  a.  gem  mit 
ihnen.  Auch  haben  sie  die  Soldaten-Renomage,  das  Schnauzbartgesicht 
gegen  den  Civilisten  nicht,  das  unsere  Offiziere  so  ubel  kleidet.  

Mein  weitrer  Weg  durch  Vorarlberg  und  Tirol.  —  Das  schone 
Gebirgsthal,  das  mit  Feldkirch  beginnt,  ist  voU  von  Spinnfabriken.  — 
Spinne  nur  zu,  miide  Menschheit,  bis  dn  endlich  abgesponnen  hast  u. 


382  8^ 


der  HeiT  in  seinem  Zorn  irgend  ein  naturwildes,  aber  gesundes  Volk, 
wie  einst  die  Deutschen,  benift,  um  dir  die  Webstuhle  nm  die  Kopfe 
zu  schlagen  und  ein  neues  Blut  in  deine  Adern  zu  giessen.  Ein  sehr 
feiner  und  gebildeter  Geistlicher  aus  Feldkirch,  mit  dem  ich  bis  Landegg 
reiste,  sagte  mir,  dass  die  tigliche  u.  einzige  Nahning  dieser  Leute 
aus  Kartoffein  und  Caf6  bestehe.  —  In  Meran,  wo  ich  am  6.  ankam, 
fuhlt  man  und  sieht  man  das  Sudliche  schon  deutlich.  Der  Duft  der 
Fernen  tlef  blau,  die  Weinrebe  an  dachformigen  UberhSngen  gezogen, 
so  dass  die  Chauss6e  oft  unter  dem  lieblichsten  Gitter  von  Reben 
hinfuhrt,  treffliches  Obst,  frische  Feigen.  Die  Gegend  ist  wundervoll. 
Die  Hitze  war  schon,  nachdem  ich  kurz  vorher  in  den  hdchsten  Alpen 
an  ewigem  Schnee  u.  Alpenrosen  voruber  sehr  frostig  gefahren  war, 
gltihend.  Der  Menschenschlag  weist  immer  stirker  nach  Italien,  die 
Tiroler  dieser  Gegend  sind  an  Grosse  und  Stirke  deutsch,  aber  fast 
durchaus  von  schwarzen  Haaren,  dunkelbrauner  Gesichtsfarbe,  schwarzen 
Augen.  —  Bozen  ist  die  Grenze  der  deutschen  Sprache,  liier  wllscht 
schon  der  Hausknecht  u.  die  Kellnerin.  —  Am  7.  Abends  von  Bozen 
nach  Salum  im  Stellwagen  (Omnibus,  sonst  nicht  mal  bonnet).  —  In 
Salum  iibemachtete  ich.  Den  8.  Morgens  ab  nach  Trient.  Vor  Salum 
ist  die  Grenze  zwischen  Deutsch-  u.  Walsch-Tirol.  Hier  erzMhlte  mir 
der  Kutscher  sei  vor  einigen  Jahren  um  dieselbe  Zeit  in  der  Fruhe  sein 
Bruder  von  5  RMubern  aus  einem  der  italienischen  Ddrfer  iiberfallen, 
tddtlich  verwundet  u.  fur  todt  in  die  Etsch  geworfen  worden.  Sei's,  dachte 
ich,  an  den  ist's  eben  gekommen,  an  mich  wird  es  nicht  auch  kOmmen. 

Donnerstag,  den  8.  in  Trient.  Hier,  meine  Freunde,  machte  ich 
nun  die  auffallende  Bemerkung,  dass  das  Italienische  nicht  Deutsch  ist 
Lacht  nicht,  wtirdige  Freunde,  es  ist  mir  Ernst  Es  ist  doch  so  natiirlich, 
ein  Haus  Haus  zu  nennen,  warum  denn  casa?  Es  sind  docb'Menschen, 
sie  sehen  dir  ins  Auge,  sie  thun  den  Mund  auf,  und  du  verstehst  sie 
kein  Wort!  Welche  Verstelluhg!  Und  doch  hatte  ich  mir  die  Miihe  ge- 
geben,  zu  Haus  noch  etwas  italienisch  zu  lemen.  Wenig  genug,  denn 
ich  weiss  nicht,  was  grdsser  ist,  mein  Mangel  an  Talent  in  der  Erlemung 
neuerer  Sprachen,  oder  meine  Antipathie  gegen  dieselben.  —  Ich  hatte 
gedacht,  das  Nothwendige  im  Wirthshaus  u.  s.  w.  konne  ich  schon  reden 
und  dann  werde  ich  schnell  weiter  kommen.  Aber  —  aber  —  wie  hatte 
ich  mich  geirrt!  In  Trient  im  Gasthof  futterte  der  Kellner,  der  mich 
empfieng  u.  nicht  Deutsch  konnte,  ein  Zeug  an  mich  hin,  von  dem  ich 
kein  Wort  verstand,  vl  von  meinem  Italienisch  verstand  er  keins. 
Mein  schSbiges  bischen  Franzosisch  nutzt  mich  auch  nichts,  denn  das 
vermische  ich  jezt  mit  meinem  eben  so  schiibigen  bischen  italienisch, 
u.  sage,  donnez  moi  anche  un  bicchiere  di  vino  etc.  Kdnnte  ich  aber 
auch  10  mal  besser  italienisch,  als  ich  es  kann,  u.  hMtte  bios  die 
Grammatik  zum  Lehrer  gehabt,  wie  man  ja  in  Tiibingen  nicht  anders 
kann,  so  wire  die  Verlegenheit  dieselbe  gewesen.  Die  ganze  Physiognomie 
der  Wdrter  ist,  wenn  man  den  Italiener  hdrt,  eine  andre  als  im  Buche, 
man  erkennt  das  sonst  wohlbekannte  Wort  nicht  wieden  Ich  las  das 
viaggio-Wiadscho,  ogni-onji,  man  spricht  es  aber  ganz  anders,  namentlich 


383  8^ 


das  erstere  nnendlich  weich  u.  schdn.  Schreiben  llsst  es  sich  nicht. 
Ohnediess  wird  verschlnckt,  znsammengezogen,  der  Provinzial-Dialecte 
nicht  zu  gedenken.  Auf  den  Strassen  fragte  ich  dfters  italienisch  nach 
meinem  Wege.    Anfangs  yerstand  mich  kein  Mensch,  wenn  man  die 

Frage  endlich  verstand,  so  verstand  ich  die  Antwort  nicht.  In 

meiner  Noth  gabelte  ich  den  Hausknecht  auf,  der  deutsch  sprach,  und 
schloss  mit  diesem  uber  die  Stunden,  die  ich  da  war,  einen  bis  ans 
Zirtliche  grenzenden  Bund,  ja  ich  h§tte  rufen  mdgen :  Arm  in  Arm  mit 
dir,  o  Hausknecht,  forder'  ich  Wilschland  in  die  SchrankenI  —  In  diesem 
Zustand  war  mir  der  Anblick  einer  Katze  von  grosser  Beruhigung.  Ja 
sol  dachte  ich,  Katzen  gibt  es  hier  auch.  Nun  ja,  die  kdnnen  auch  nicht 
italienisch  und  schimen  sich  doch  nicht.  Die  Katze  sass  wirklich  so 
da,  wie  bei  uns  die  Katzen,  u.  Hess  sich  gar  nichts  merken,  dass  sie 
italienisch  sei.  — 

Ubrigens  gibt  es  hier,  namentlich  in  Venedig,  wundervolle  Katzen, 
von  ungeheurer  Grosse,  Kerle  wie  Tiger,  u.  du,  Freund  Strauss,  solltest 
deswegen  offenbar  mit  Tante  Rike  nach  Italien  reisen.  Die  Hunde 
kommen  mir  schon  etwas  fremdartiger  an  Temperament  u.  Charakter 
vor,  sie  pflegen  beim  heftigen  Bellen  sich  zum  Theil  im  Ring  herum- 
zudrehn,  welches  mein  einst  so  geliebter,  leider  jetzt  demoralisierter 
Freund  in  Hansen  sehr  affektiert  finden  wird.  Diesem  sage  man  mit 
meinem  Grusse,  dass  gleich  in  Trient,  als  ich  mich  ein  wenig  aufs  Bett 
legte,  das  bekannte  italienische  Obel  so  stark  auf  mich  lossturzte,  dass 
mir  jene  Kur  mit  warmem  Wasser,  Seife  u.  Alkohol,  die  ich]  bei  ihm 
so  oft  anwandte,  gar  wohl  bekommen  wMre.  —  A  propos  —  gestem  verlangte 
ich  im  Wirthshaus  Seife  statt  Senf  —  sapone  fur  senape  (mostorda). 

Sehr  vieie  Mdpse  gibt  es  auch  in  Italien.  Doch  davon  lasst  uns 
jetzt  abstrakiren  und  von  Menschen  u.  zwar  erstlich  von  Weibem 
sprechen.  Schon  in  Trient  sah  ich  mehrere  gar  schdne,  namentlich  ein 
MIdchen,  das  (wie  man  hier  uberall  dies  im  Freien  thut)  in  der  NMhe 
der  Kathedrale  wusch,  so  nobel  u.  anmuthig,  dass  ich  stehen  blieb,  um 
ein  Ornament  an  der  Kirche  abzuzeichnen.  In  Verona  u.  Venedig  aber 
beginnt  erst  vollends  der  rechte  Schlag,  der  an  alte  rdmische  Formen 
erinnert,  namentlich  der  michtige,  voile  Nacken,  die  beriihmte  Schdn- 
heit  italienischer  Weiber,  der  sehr  weit  ausgeschnitten  getragen  wird.  — 

Die  Hitze  ist  weit  stMrker  als  bei  uns  im  heissesten  Sommer. 
Ich  bin  ganz  bronciert,  man  zerfliesst.  Da  thut  aqua  fresca  con  ghiaccia 
Oder  sorbetto  gut. 

Nun  ich  war  also  in  dem  Land,  wo  auch  der  gemeine  Mann  nobel 
und  interessant  aussieht,  wo  die  deutsche  Kartoffelnase  verschwindet. 
Der  Deutsche  geniesst  sich  in  seiner  S^bstantialitMt  bei  unglucklicher 
Form,  der  Englinder  ist  stolz  in  seiner  StMrke,  der  Franzose  eitel  in 
seiner  Eleganz  u.  seinem  Point  d'honneur,  der  Italiener  geniesst  in 
leg^rem  Behagen  das  Bewusstsein,  ein  klassisches  Volk  zu  sein.  Wo- 
her  die  ital.  Maler  solche  hdchst  bedentungsvolle  Kdpfe  im  Uberfluss 
nahmen,  darf  man  nicht  mehr  fragen,  wenn  man  in  Italien  ist,  man  darf 
nur  an  eine  Gondel,  man  darf  nur  auf  die  Strasse  gehen.  M§nnerkopfe 


"^•8    384  8'* 


von  grdsster  Schdnheit  bei  gemeinen  Schiffern,  edle  Linien  der  Knochen^ 
lauter  gerollte  Haare,  schdne,  glinzende  Augen.  

Mit  dem  Eintritt  in  Italien,  in  sein  Volk,  seine  Luft,  seine  Alter- 
turner  fuhlt  man  siclt  von  jenem  Geiste  des  Realismus  angehaucht,  aus 
welchem  die  Alten  ihre  Grdsse  in  Kunst  und  Staat  schdpften.  Ein 
Unvorsichtiger  verliert  hier  den  inneren  ideellen  Fond  der  deutschen 
Natur,  das  Land  ist  wie  eine  schdne  Frucht,  wovon  man,  wenn  man  sie 
issty  ja  den  Butzen  wegwerfen  muss,  es  ist  ein  Giftstachel  darin,  der 
Kluge,  der  Feste  spurt  sie  und  wird  neu  belebt.  Goethe  feierte  hier 
seine  voile  Durchgeburt  zum  klassischen  Geiste.  Er  ist  mir  immer  auf 
den  Fersen.  Ich  darf  dem  Grossen  die  Schuhriemen  nicht  losen,  aber 
„es  lebt  etwas  in  mir  von  seinem  Geisf,  u.  dieses  Etwas,  der  sudliche 
Mensch  in  mir,  wird  vielleicht,  ja  ich  hoffe  es,  endlich  mit  meinem 
nordischen,  skeptischen  Menschen  einen  Frieden  schliessen.  Es  ist  eine 
gute  Ahnung  in  mir.  Es  wird  mir  leicht.  Es  geht.  Va  bene.  Bleibt  mir  gut.  — 

Von  Trient  am  8  ten  Abends  nach  Roveredo  mit  einem  Vetturin, 
der  mir  uber  meine  Fortschritte  im  Italienischen  gute  Zeugnisse  gab. 

Am  9.  Morgens  von  Riva  auf  dem  Dampfboot  den  Garda-See 
hinab,  welcher  schdn,  aber  nicht  so  schon  ist,  als  der  Bodensee  u. 
Zurichersee.  ^)  An  den  Ufem  sind  schdne  ZitronengSrten  u.  Oliven- 
wSlder.  Die  Gesellschaft  bestand  aus  lauter  Italienem.  —  Einer  um 
den  Andem  kam  mit  grosser  Hdflichkeit  und  zog  mich  in  die  Unter- 
haltung.  Beim  Abschied  kusste  mich  Einer  sogar,  da  ich  dies  aber 
(unter  MSnnern)  nicht  leiden  kann,  musste  er  lange  zielen,  bis  er  mich 
endlich  doch  traf. 

Von  Desenzano  mit  zwei  Italienem  und  einem  Vetturin  naoh  Verona« 
Hier  konnte  ich  die  ital.  Thierschinderei  auf  dem  Gipfel  sehen.  Dass 
das  Pferd  ein  Belebtes,  nicht  eine  Sache  ist,  weiss  der  Italiener  gar 
nicht,  von  Haber  ist  die  Rede  nicht,  alle  Pferde  haben  Heu-Bauche. 
Endlich  konnte  ich,  ein  Mitglied  des  Vereins  gegen  Thierqualerei  das 
Ding  nicht  mehr  ansehen  und  fluchte  u.  schimpfte  auf  den  Kerl 
italienisch  u.  deutsch  durcheinander  hinein  —  bestial  Hund!  Vieh!  cane! 
Brutto  senza  compassionel  etc.    Item,  es  that  doch  Fur  dieses  mal  gut. 

In  Verona  Abends  angekommen,  hatte  ich  schon  ganz  ein  Bild  italie- 
nischen Lebens.  Die  Strassen  waren  tief  in  die  Nacht  vol!  von  Spazier- 
gangem  und  SpaziergSngerinnen,  an  einer  Strassenecke  sangen  gemeine 
Handwerksbursche  ganz  kunstmSssig  und  mit  herrlicher  Stimme  etwas 
aus  einer  Oper.    VerkSufer  von  Wasser-Melonen,  Limonen,  Pfirsichen 

^)  Ober  diesem  Satze  (der  Abschrift  seines  Bruders)  stebt  von  der  splteren 
Hand  Fr.  Viscbers  der  Selbstanruf:  O  Esel  iiber  Esel,  der  du  warst*.  Vgl.  seinen 
»Aucb  Einer'',  Eine  Reisebekanntscbaft,  Stung,  u.  Leipzig,  10.  Aufl.  1903,  II,  253 
Volksausg.  1904,  S.  426  f.  u.  seine  ^Kritiscben  GSnge*,  Neue  Folge,  Bd.  I,  Stuttg.  1860, 
H.  1,  S.  163  ff.,  165 ff.  Da  scbreibt  er:  »Noch  weiss  ich  deutlicb,  wie  einst  vor 
zwanzig  Jabren,  als  ich  bier  zum  erstenmal  Italien  betrat,  dem  ungew5bnten  Sinn 
die  Reize  dieser  Natur  verscblossen  blieben:  Das  Auge  suchte  noch  das  lustige 
Griin,  die  safdgen  Wiesen,  die  kleineren,  spielenderen  Formen  der  Heimat;  lulten 
war  mir  noch  eine  stolze,  abweisende  Scb5ne;  Alles  so  fremd,  so  vomebm  u.,  wie 
ich  in  der  B15dheit  des  Neulings  binzufugte,  so  kalt.*  — 


385  8^ 


schrieen  wuthend.  An  dieses  Geschrei,  das  hier  in  Venedig  ist,  hat 
sich  mein  Ohr  noch  nicht  gewdhnt,  ich  kann  den  Ton  nicht  anders 
als  mdrderisch  nennen,  es  klingt  wie:  kaufe  mir  ab,  oder  . 

—  Liebe  Majorin,  ^)  Du  darfst  aber  fiber  diesen  vielen  Reden  von 
Dolch  u.  Todschlag  keine  Angst  bekommen.  Es  ist  in  Italien  gar  nicht 
so  gefShrlich,  wie  man  es  macht,  u.  will  der  Herr  ein  Ende  mit  mir 
machen,  so  geschieht  es  nicht  auf  diese  Weise,  das  weiss  ich  ganz  ge- 
wiss.  Kommt  ein  Rfluber,  so  darf  man  ihm  nur  Geld  geben,  u.  sich 
nicht  wehren,  das  ist  einfache  Hegel.  Ich  wollte  Waffen  kaufen,  aber 
jedermann  rflth  dies  aufs  flusserste  ab. 

—  Was  eine  alte  Stadt  ist,  in  welcher  vor  grauen  Zeiten  eine 
Baukunst,  die  in  Deutschland  nur  sehr  weniges  hervorbrachte,  (die 
byzantische)  herrliche  PallSste  u.  Kirchen  in  Menge  errichtete,  das  sieht 
man  in  Verona,  freilich  noch  mehr  in  Venedig.  Ueber  das  Hereinwirken 
griechisch-orientalischer  Kunst  in  die  des  Mittelalters  habe  ich  ganz 
neue  Ideen  bekommen.  Solche  Beschflftigung  ist  mir  hdchst  wohl- 
thuend.  Philosophirt  wird  jetzt  nicht,  sondem  angeschaut  u.  etwas  Weniges 
dabei  gedacht.  Am  meisten  Philosophie  treibe  ich  in  Beziehung  auf 
das  Geld,  denn  dieses  behandle  ich  ganz  nach  seinem  innem  Begriff, 
welcher  der  ist,  dass  es  kursiere.  — 

—  Der  Circus  in  Verona  ist  bis  auf  den  obersten  Bogengang 
ganz  erhalten  u.  etwas  h5chst  merkwurdiges.  Die  Phantasie  belebt  schnell 
dieses  Ganze,  diese  unendlichen  Sitze  mit  jauchzenden  Rhfltiem  u. 
Romem,  diese  arena  mit  kampfenden  Bestien  u.  Sklaven.  Die  Bau- 
kunst  durchwandert  hier  alle  Perioden.  Auf  das  Rdmische  folgen 
Mauer-Reste  von  Theodorich,  dann  das  byzantinische,  dann  das  gothische, 
dann  der  Zopf,  der  so  barbarisch,  so  unverantwortlich  als  irgendwo,  ja 
natfirlich  noch  mehr  in  Italien,  seinem  Sitze,  die  Baukunst  des  Mittel- 
alters verklebt  hat.  — 

Sonntag  am  10.  durch  die  lombardisthe  Ebne  nach  Venedig.  In 
der  Lombardei  sieht  man  doch  deutlich  den  deutschen  Schlag,  der  hier 
erobemd  eindrang,  an  den  vielen  blonden  u  rothen  Haaren  u.  blauen 
Augen.  Ich  fuhr  die  Nacht  hindurch.  Um  3  Uhr  Morgens  wurde  ich 
zu  Maestre  in  eine  Barke  gesetzt  u.  fuhr  in  der  Dflmmerung  durch  die 
Lagunen  Venedig  zu,  das  feme  mit  seinen  Lichtem  aus  den  Wellen  glinzte, 
dann  durch  den  grossen  Kanal  in  die  Stadt,  unter  dem  beruhmten  Rialto 
durch.  Auf  beiden  Seiten  eine  Reihe  herrlicher  PalSste,  aber  dd  u.  leer. 

Die  eigentliche  Runde  habe  ich  nun  hier  noch  nicht  gemacht, 
sondem  ich  bin  viel  zu  Haus  u.  leme  italienisch.  Balder,  als  bis  ich 
ordentlich  sprechen  kann,  will  ich  von  Venedig  nicht  weg.  — 

Der  Marcusplatz  ist  etwas  Einziges.  Die  Markuskirche  mit  ihren 
Kuppeln,  Marmor-  u.  Goldmosaiken,  ihren  phantastischen  Ornamenten, 
daneben  der  gothisch-maurische  Dogenpalast  —  dann  der  Hafen  —  ein 
Reich  der  Phantasie,  ein  wirklich  gewordener  Traum,  ein  Stuck  aus 
Tausend  und  Einer  Nacht.    Der  grosse  Platz  mit  glinzend  glatten  Stein- 


')  S.  oben  S.  380. 


386  8^ 


platten  belegt,  ringsumher  die  herrlichen  neuen  Pallste  mit  Bogengingen^ 
nnter  denen  tief  in  der  Nacht  die  ganze  elegante  Welt  spazieren  geht> 
Oder  im  Freien  an  den  Caf6hflusern  sitzt  u.  wo  man  die  schdnen  Frauen 
Venedigs  tflglich  im  Schimmer  der  vielen  Lampen  bewundem  kann  — 
so  etwas  gibt  es  nur  hier.  Die  ganze  Stadt  ist  ja  etwas  Unglaubliches^ 
eine  Stadt  mitten  im  Meer! 

Montag,  den  11.  war  ein  kleines  Volksfest,  man  fubr  in  Gondeln 
in  die  Lagunen  hinaus,  mein  Hausphilister  nahm  mich  mit.  —  Das  war 
nun  freilich  etwas  Andres  als  ein  Spaziergang  im  botanischen  Garten 
zu  Tubingen.  Hundert  u.  hundert  von  Gondeln  fuhren  durcheinander, 
die  Ruderer  suchten  sich  in  pfeilschnellem  Fahren  zu  iiberbieten,  es 
ging  wie  toll,  u.  dabei  weichen  sie  doch  aus,  dass  man  nie  anstdsst;  am 
Ufer  tanzten  braune  Schiffer  nach  einem  Tamburin  Nationaltlnze  u. 
warfen  die  phrygischen  Mutzen  in  die  Hdhe,  ein  Improvisator  machte 
schlechte  Witze,  in  der  Feme  sank  das  mSchtige  Gestim  blutroth  in 
die  unendlichen  Wasser.  — 

Vorgestem  badete  ich  im  Meere.  Das  ist  etwas !  Ein  eignes  Ge- 
fuhl,  wenn  man  in  dieser  unendlichen  Masse  herumschwimmt:  der  Mensch, 
der  doch  mehr  ist  als  alle  Berge  u.  Meere  u.  Ltifte,  so  klein,  ein  solcher 
Knirps!  —  Als  ich  hineinging,  kitzelte  mich  eine  Meerspinne  ein  biscfaen 
am  Fuss,  ich  schleuderte  sie  weg  und  sah  ihr  zu,  wie  sie  schflbs  ^)  durchs 
Wasser  hauderte.  Ich  dachte,  der  Hebe  Gott  habe  doch  allerhand  Kost- 
ginger,  u.  so  bin  ich  eben  auch  einer  u.  hoffe  zu  ihm,  er  werde  mir 
auch  kunftig  passable  Kost  reichen.  

Eine  dstreichische  Fregatte  von  56  Kanonen  habe  ich  auch  gesehn. 
Sie  erscheint  nicht  so  gross,  als  sie  ist,  weil  das  Auge  durch  die  Um- 
gebung  einen  sehr  grossen  Massstab  mitbringt. 

Ich  denke  im  ganzen  3  Wochen  hier  zu  bleiben,  denn  so  lange  will 
ich  meine  Lehrstunden  fortsetzen,  also  bis  zum  1.  September. 

Meine  Adresse  ist:  iff>':casa  di  Antonio  Grueber,  Calle  Fiubbera 
N.  869.  — 

Ich  grusse  euch  Alle  aufs  Beste.  Sie,  meine  verehrte  Hausfrau,  ^ 
sind,  hoffe  ich,  ganz  wieder  gesund.  Wissen  Sie  auch,  wie  sehr  es 
mir  nach  meiner  Caf6maschine  ahnd  thut?  Noch  keine  Tasse  guten 
Caf6  habe  ich  gefunden,  aller,  auch  in  den  ersten  CaKhSusem  Venedigs, 
ist  zum  Ausspucken.  Freilich  solchen  Caf6  wie  ein  gewisser  junger 
Mann  in  Tubingen,  der  jetzt  auf  Reisen  ist,  macht  nicht  leicht  jemand. 
—  Wie  steht  es  mit  Mdrklin?  —  Rapp  soli  seinem  Bruder  sagen,  dass 
ich  dessen  Brief  an  Herm  Bofinger  in  Venedig  richtig  erhalten  habe 
u.  dass  dieser  bald  antworten  wird.  Ich  war  sehr  erfreut  uber  die 
Bekanntschaft  mit  Maler  Bofinger,  die  ich  durch  diese  Adresse  machte.  — 

Tutto  il  vostro 

Fr.  Vischer. 
Venetia.  Geschlossen  d.  16.  Aug.  1839. 

  * 

^)  Schwlbiscta  »  scbief. 
>)  S.  oben  S.  380. 


387  8^ 


Pisa,  den  2.  Sept.  1839. 
Das  seltsame  Venedig  liegt  jetzt  zu  einem  Bilde  schdner  Erinnerung 
^erklflrt  hinter  xnir,  mit  seiner  uralt  byzantinischen  Marcus-Kirche,  deren 
Facade  u.  WSnde  von  Gold  u.  Silber,  Mosaik^ji.  hunter  Arbeit  wie 
orientalische  Teppiche  schimmem,  seinem  Dogenpallast,  seinem  Marcus- 
Platz,  wo  unter  den  Colonnaden  der  umgebenden  Palllste  im  nSchtlichen 
Lampenschimmer  die  schdnsten  Frauen  sitzen,  seinen  unzihligen,  jetzt 
leeren  und  dden  PallMsten,  seinen  herrlichen  Galerien,  wo  Tizian  u. 
Paul  Veronese  mit  ihren  satten  Farben,  ihren  finsterkrSftigen  MSnner- 
kdpfen,  in  dem  unvergleichlichen  Incamat  der  weiblichen  Formen  jedes 
Ange  fesseln,  —  mit  seinen  Lagunen,  Kanfllen,  Gondeln,  dem  wiithenden 
Geschrei  der  VerkSufer,  mit  seinen  grossen  geschichtlichen  Erinnerungen. 
Mein  Leben  war  hochst  einfach  u.  auf  wenige  Genusse  beschrMnkt. 
Bis  2  u.  3  Uhr  lemte  ich  italienisch  wie  ein  Schulknabe,  dann  ass  ich 
(nie  mit  rechtem  Appetit,  denn  die  Kuche  ist  schlecht,  unreinlich,  u. 
der  Gestank  halb-iibergegangener  Fische,  schmieriger  Muschelthiere  u.  s.  f., 
den  man  von  der  Strasse  her  immer  in  der  Nase  hat,  verschlSgt  den 
Appetit).    Ohne  Eis  war  in  der  gluhenden  Hitze  kein  Tropfen  frisches 
Wasser  zu  bekommen.    Nach  dem  Essen  sah  ich  einige  Merkwurdig- 
keiten,  dann  nahm  ich  eine  Barke  auf  die  Insel  Lido,  um  dort  im  offenen 
Meere  zu  baden.  Ich  badete  oft  bei  ziemlich  bewegtem  Meere;  das  Ding 
sieht  im  Anfang  ziemlich  unheimlich  aus,  die  hohen  Wellen,  der  dumpfe 
Donner  und  Schaum  der  Brandung  —  aber  wenn  man  nur  erst  im  Wasser 
ist,  macht  es  sich  ganz  hiibsch,  man  schwimmt  federleicht,  eine  hohe 
Welle  kommt  drohend  hoch  iiber  dich  her,  legt  dich  hubsch  ordentlich 
auf  die  Seite,  u.  du  streckst  den  Kopf  wieder  ganz  wohlbehalten  aus 
dem  Wasser.    Abends  sah  ich  die  schone  Welt  auf  dem  Marcus-Platz, 
nahm  ein  Sorbetto  (Gefromes)  und  trollte  mich  dann  nach  Haus,  um 
wieder  italienisch  zu  lemen.    Einmal  hatte  ich  auf  den  Lagunen  ein 
kleines  Abenteuer;  ich  fuhr  mit  drei  Oestreichem,  worunter  ein  Wiener 
Handschuhmacher,  ein  reicher  Mann,  der  nach  Venedig  gekommen  war, 
um  einmal  recht  gut  zu  speisen  (der  Unglucklichel)  nach  der  nahen 
Insel  S.  Lazaro,  wo  ein  Kloster  armenischer  Mdnche  ist  (meist  herr- 
liche  Kdpfe,  mit  langen  BIrtenI).    Im  Heimweg  kam  ein  furchtbares 
Gewitter,  man  sah  keinen  Schritt,  der  Regen  stiirzte  in  Strdmen,  Blitz 
auf  Blitz,  u.  nur  Ein  Ruderer.  Wir  mussten  eine  Zeitlang  in  ein  HSuschen 
eintreten,  das  auf  Balken  in  den  Lagunen  steht,  wo  Soldaten  der  Dogana 
uns  sehr  freundlich  mit  ihrem  bischen  Wein  bewirtheten.   Es  half  aber 
nichts,  man  musste  wieder  auf  das  unwirthliche  Element  hinaus.  Der 
Handschuhmacher  Iflcherte  mich  nicht  wenig  —  nach  Venedig  kommen, 
in  der  Hoffnung,  so  manches  «backene  Hindi*,  so  manche  frische 
Anster  zu  verzehren,  u.  so  untergehen!  Es  war  aber  gar  keine  Gefahr, 
denn  es  war  kein  Sturm  (der  ist  auf  dem  Meere,  nicht  auf  den  Lagunen), 
u.  wir  kamen  ganz  wohlbehalten,  aber  freilich  auch  ganz  nass  auf  der 
Piazetta  bei  den  uralten  SSulen  mit  dem  Ldwen  des  h.  Marcus  u.  dem 
h.  Theodor  an. 

Die  Menschen  sind,  wie  sich  von  einer  Hafenstadt  nicht  anders 


-4^  388 


erwarten  Idsst,  verdorben  und  betrugerisch.  Mir  wurde  (trotz  grdsst- 
mdglicher  Aufmerksamkeit)  ein  Schinn  u.  ein  Taschentuch  gestohlen. 
Bin  Preusse  erzShlte  mir,  dass  er  einen  Taschendieb  im  Moment  er- 
wischte,  da  er  ihm  eben  das  Nastuch  stehlen  wollte;  er  packte  ihn,  aber 
der  Kerl  biss  ihn  so  in  die  Hand,  dass  er  ihn  fahren  lassen  musste, 
u.  das  Volk  half  ihm  durch,  da  er  ihn  verfolgte;  denn  das  Volk  hilft 
hier  unter  alien  Umstinden  immer  gegen  die  Polizei.  So  verdorben  es 
aber  hier  u.  iiberall  in  Italien  sein  mag,  man  sieht  doch  selbst  dem  ge- 
meinen  Menschen  an,  dass  die  edle  und  klassische  Natur  unter  dem 
Schutte  nicht  verloren  ist.  Italien  hat  mehr  Pdbel,  als  irgend  ein  anderes 
Land;  aber  betrachtet  man  als  wesentl.  Eigenschaft  des  Pdbels,  dass  die 
Gemeinheit  auch  im  Susseren  Wesen  durch  unedle  Formen  sich  Sussert^ 
so  gibt  es  hier  keinen  Pobel.  Ein  Gondolier,  der  keinen  Kreuzer  wenh 
ist,  unterhSlt  sich  mit  dir  an  der  Spitze  seiner  Gondel  mit  einer  nobeln 
Bescheidenheit,  er  fuhlt  sich  als  Mensch,  als  Italiener,  ohne  desswegen 
indiscret  zu  sein.  Handelt  sich's  um's  Zahlen,  so  geht  freilich  die 
Indiscretion  an,  aber  auch  da  zeigt  sich  der  Kerl  talentvoll,  indem  er 
die  Rolle  der  gerechten  Unzufriedenheit  mit  einer  Art  spielt,  indem  er 
ein  hohes  Trinkgeld  mit  einem  Ausdruck  der  Verachtung  in  der  Hand 
wiegt,  dass  du,  so  gut  du  dieses  Spiel  kennst,  doch  einen  Moment  an 
deinem  Rechte  zweifelst.  Grundgescheut  und  aufgeweckt  sind  sie  alle, 
verstehen  einen  Wink,  wo  man  dem  deutschen  Jockel  die  Sache  zehnmal 
sagen  muss;  nichts  von  dem  vernagelten,  kameelartigen  Wesen,  das  ein 
oft  noch  so  gescheuter  junger  Mensch  in  Deutschland  an  sich  hat;  alle 
Eigenschaften  des  Geistes,  die  auf  das  sinnlich  Deutliche  u.  Anschauliche 
gehen,  stehen  in  der  Bliithe,  aber  die  Tiefe,  die  Einkehr  des  Geistes  in 
seine  Tiefen  fehlt. 

Ich  fiihlte  mich  seltsam  geruhrt,  als  ich  in  Venedig  einmal  den  pro- 
testantischen  Gottesdienst  besuchte,  —  deutsche  Predigt,  Gesang  u.  s.  f. 
AUes  wie  bei  uns:  hier  konnte  perfect  der  Schneider  Riethmiiller  mit 
einer  grossen  Brille  hinter  seinem  Gesangbuch  sitzen,  oder  die  Jungfer 
Patschenfeldin,  —  aber  plotzlich  horst  du  draussen  auf  der  Gasse  ein 
wuthendes  Geschrei:  Anguriel  anguriel  (Wasser-Melonen)  sono  molto 
sane!  molto  leggieri!  Acqua  frescal  Persicel  u.  s.  f.,  und  du  erinnerst 
dich,  wo  du  bist. 

Die  besseren  Theater  waren  geschlossen,  nur  das  theatre  giumo 
(Tag-Theater)  war  offen;  hier  brachte  ich  einen  Abend  zu.  Schiffer  u.  dgl. 
bildete  das  ganze  Publicum,  dessen  Naivetdt  mich  unendlich  gaudirte, 
denn  hier  war  nun  die  Theilnahme  rein  stoffartig,  der  Schauspieler,  der 
einen  Bosewicht  spielt,  wird,  je  besser  er  spielt,  desto  rasender  aus- 
gezischt,  ausgetrommelt,  ausgepfiffen.  Einer  wurde  fur  eine  edle  That, 
die  in  seiner  Rolle  vorkam,  dreimal  gerufen  u.  mSchtig  beklatscht,  beim 
Hinausgehen  aber  stolperte  er  iiber  seinen  Sibel,  woriiber  er  in  demselben 
Moment  eben  so  toll  ausgelacht  wurde.  Bei  der  Musik  pfiff  das  ganze 
Parterre  mit. 

Die  Natiirlichkeit  ist  wie  im  Suden  uberall.  Man  kann  ohne  Aerger- 
niss  in  den  Kanilen  (d.  h.  in  den  Strassen  der  Stadt)  baden,  u.  ich  hatte 


-4^   389  8.^ 


eininal  meinen  Spass,  als  ich  bei  dem  Maler  Robert,  dem  Bruder  des 
benihmten,  mit  drei  dsterreichischen  Offizieren  war,  und  diese  pldtzlich 
sich  auszogen,  mit  grossen  SItzen  aus  der  Hausthur  fuhren,  obwohl 
Damen  auf  dem  Balkon  standen,  u.  im  Kanal  herumschwammen  wie 
Wasser-Enten.  Wunderschdne  MInner,  zum  Malen.  In  diesen  Lindern 
war  eine  Plastik  mdglich;  wir  vermummten  Leute  wissen  nicht  mehr, 
was  eine  Schulter,  eine  Brust,  ein  Schenkel  bedeutet. 

Am  3.  Sept.  nahm  ich  Abschied  von  dieser  Stadt,  deren  wunder- 
bare  Situation  ich  oft  von  dem  Campanile  des  Marcus-Platzes  betrachtet 
hatte.  Mein  Haus-Philister,  ein  echter  Hungerteufel,  den  ich  bis  dahin 
knapp  gehalten  hatte,  war  iiber  ein  gutes  Trinkgeld,  das  ich  ihm  zuletzt 
gab,  so  glucklich,  dass  er  mir  heftig  die  Hand  kusste,  wobei  er  sich 
meinen  Stock,  den  ich  eben  in  der  Hand  hatte,  ins  Auge  stiess.  — 
Noch  einmal  betrachtete  ich  mir  die  Palllste  am  grossen  Kanal,  durch 
den  die  Barke  fuhr,  den  Rialto,  die  Kuppeln,  u.  prMgte  mir  das  grosse 
Bild  fur  immer  in  die  Phantasie. 

Ich  hatte  mit  drei  Norddeutschen  Bekanntschaft  gemacht,  recht 
artigen  Leuten,  zwei  davon  sind  Architekten,  daher  mir  ein  belehrender 
Umgang.  Diese  reisten  nach  Bologna,  u.  ich,  fur  den  dies  ein  grosser 
Umweg  war,  der  ich  aber  einen  solchen  nicht  vermeiden  konnte,  wenn 
ich  Venedig  und  Genua  sehen  wollte,  beschloss  mit  ihnen  dahin  zu 
reisen,  da  ich  Bologna  auch  nicht  lassen  wollte.  Die  erste  Station  war 
Padua,  die  alte  beruhmte  Universitdt,  die  als  solche  einem  akademischen 
Wesen  schon  heimathlich  sein  musste;  man  fiihlt  sich  zudem  behaglich 
zu  Hause,  wenn  man  wieder  auf  dem  ordentlichen  festen  Lande  ist, 
Pferde  u.  Wagen  sieht;  auch  gab  es  hier  —  keine  geringe  Sache  — 
die  unertrSglichen  Schnaken  nicht,  die  sich  gegen  den  Schlaf  des  armen 
Fremdlings  verschworen  haben.  Padua  ist  reich  an  Kunstalterthiimem, 
eine  Kapelle  enthSlt  wundervolle  Fresken;  wenn  du  in  die  Kirche 
S.  Annunziata  trittst,  die  ultramarinblaue  Decke  mit  den  goldenen  Stemen, 
die  WSnde  mit  Fresken  von  der  Hand  des  ehrlichen  Giotto  bedeckt 
flndest,  so  fuhlst  du  dich  in  einen  Weihnachtsabend  aus  deiner  Kindheit 
versetzt.  — 

Zwei  Stucke  sah  ich  von  einer  trefflichen  Truppe  auffuhren,  ich 
batte  von  dieser  Precision  u.  Lebendigkeit  im  italienischen  Schauspiel 
nichts  gewusst.  Das  Outriren  u.  zu  scharfe  Markiren  pldtzlicher  Ober- 
^nge  haben  sie  mit  den  Franzosen  gemein.  Das  eine  Stiick  war  der 
Orest  von  Alfieri,  —  die  Fabel  iibel  aufgestutzt  und  moralisirt,  aber 
viel  gute  Gelegenheit  fur  den  Schauspieler. 

Am  5.  nach  Rovigo,  am  6.  fiber  Ferrara  nach  Bologna.  Der  Eintritt 
ins  pflpstliche  Gebiet  war  mit  Widerwdrtigkeiten  alter  Art  verbunden,  u. 
wir  gestanden  uns  Abends,  dass  es  ein  wahrhaft  Nicolaischer  Tag  war. 
In  Ferrara  stand  ich  unter  dem  Wirthshaus,  als  die  drei  Anderen  schon 
«ingesessen  waren;  ich  hatte  fur  alle  vier  die  Kasse  und  sollte  noch 
Einiges  zahlen,  nun  zupfte  mich  an  der  einen  Seite  der  Cameriere,  an 
der  anderen  der  Facchino  (d.  h.  derjenige,  der  die  Effekten  in  die  Chaise 
trigt,  denn  das  thut  hier  kein  Kutscher  etc.),  von  der  anderen  ein  Vetturin, 

SQddeuuche  Monatihefte.   1,5.  26 


390  8^ 


der  uns  vorher  einen  Weg  gezeigt  hatte,  u.  endlich  eine  Bettlerin.  Icb 
verlor  doch  die  Geduld,  stampfte  auf  den  Boden,  brannte  zuerst  eine» 
24  Pfunder  von  einem  guten  deutschen  Fluch  ab,  u.  fuhr  dann  los:  gente 
cattiva!  senza  vergogna  (ohne  Scham),  senza  pudore  u.  s.  f.,  dass  die- 
Kerle  doch  Respect  kriegten  und  miuschenstill  wurden. 

Ans  Padua  muss  ich  noch  nachholen;  ich  ging  Nachmittags  dnrcb 
eine  entlegene  Strasse  dieser  einst  so  belebten  Stadt.  Gras  wuchs  au& 
alien  Ritzen,  kein  Mensch  war  zn  sehen.  Nur  ein  Orgelmann  ging,  sein 
Instrument  spielend,  durch  die  dden  Rlume  u.  sah  vergeblich  nach  den 
leeren  Fenstem,  ob  kein  Almosen  herausgeworfen  werde.  Eine  Scene  so 
voll  tiefer  Melancholie,  dass  sie  mir  immer  eingeprigt  bleibt. 

Fortsetzung  in  Florenz  seit  dem  5.  Oktober. 

Am  7.  Abends  kamen  wir  in  Bologna  an,  die  zweite  altberuhmte 
italienische  Universitit,  die  ich  sah.  Nach  den  listigen  Erfahrungen 
dieses  Tags  war  es  mir  besonders  erfreulich,  einen  Wurttembergischen 
Kellner  im  Gasthof  zu  treffen,  der  aber  nachher  nicht  Stich  hielt.  —  Was 
eine  alte  Stadt  ist,  kann  man  nur  in  Italien  sehen,  wo  ein  reiches,  durch 
Kunst  und  Geschichte  bedeutendes,  Leben  bluhte,  als  Deutschland  nocb 
halb  barbarisch  war.  An  den  Strassen  sind  in  Bologna  wie  in  anderen 
StSdten  links  und  rechts  fast  uberall  Bogenginge  mit  den  interessantesteo 
SSulen,  deren  fast  jede  ein  anderes  CapitH  hat.  Ein  fur  sich  bestehender 
bedeckter  Bogengang  fuhrt  eine  Stunde  weit  nach  S.  Luca,  einer  Kirche 
mit  einem  Marienbilde,  das  der  Apostel  Lucas  selbst  gemalt  hat!  Der 
Campo  Santo  (Kirchhof)  ist  prachtvoll,  ein  schdnes  Monument  am  anderen. 
Kirchen  —  eine  Menge  der  interessantesten,  nur  leider  gerade  die 
durch  alten  Styl  ausgezeichnetsten  an  der  Fa9ade  u.  im  Innem  un- 
verantwortlich  durch  den  Zopf,  d.  h.  Peruckenstyl  der  letzten  Jahrhnnderte 
(seit  dem  16^^")  verhunzt.  Dieser  schlimmste  aller  Style  hat  auch  in 
Deutschland,  noch  mehr  in  Frankreich,  am  meisten  aber  und  mit  einem 
wahren  Blutdurst  in  Italien  gewuthet.  In  Ravenna  ist  eine  Rotunde  aus 
dem  6*^°  Jahrhundert,  ihr  Inneres  war  mit  Mosaiken  in  alien  Farben 
Gold  u.  Silber  bedeckt,  man  reisst  die  Mosaiken  ab  u.  malt  die  Winde 
mit  peruckenhaftem  Gesudel.  In  Parma  sind  in  der  Kathedrale  herrliche 
Fresken  im  Style  Giotto's  unter  einem  weissen  Oberzug  von  Gyps  u. 
unter  einem  viereckigen  Anwurf  von  Stuck  runde  byzantinische  SSulen- 
schSfte  u.  CapitSle  vom  schdnsten  Marmor  entdeckt  wordeni  Mdchte 
man  nicht  mit  Bomben  u.  Granaten  drein  schiessen? 

Die  Galerie  von  Bologna  hat  wundervolle  Schfltze.  Ein  Perugina 
(der  Meister  Raphael's)  —  man  kann  nicht  wegkommen  von  diesen 
KdpfenI  KindertrMume  von  einer  Seligkeit,  die  wir  verscherzt  haben, 
schweben  bittend  und  weinend  um  diese  Leinwand.  Raphael's  beriihmte 
Cicilie,  die  daneben  hingt,  erscheint  in  dieser  Nihe  des  strengen 
religiosen  Styls,  der  eben  erst  in  die  freie  Schdnheit  uberzugehen  den 
Schritt  gethan  hat,  sinnlich  und  profan.  Unter  den  Aelteren  flnden  sicb 
hier  von  meinem  Liebling  Francesco  Francia  drei  herrl.  Bilder,  unter  den 
SpSteren  viel  PrSchtiges  von  Guide  Reni. 

In  solcher  Umgebung  von  solchen  Gestalten  ist  mir  wohh  In 


391 


diesem  Reiche  seliger  Schatten,  herausgehoben  aus  dem  Geschrei  u. 
Markte  des  Lebens,  wo  meine  Rosen  nicht  bliihen  u.  wo  ich  mein 
Gluck  nicht  zu  suchen  weiss,  in  staubigen  uralten  Kirchen  gegeniiber 
einem  schonen  Madonnen-Kopfe,  da  verdoppelt  sich  mein  sonst  so 
einsames  Leben.  Aber  diejenigen,  die  nach  Italien  reisen,  in  der 
Meinnng,  hier  eine  Welt  von  L  e  b  e  n  s  genussen  nur  pflucken  zu 
durfen,  ohne  Sinn  fur  Kunst,  ohne  Kenntniss  ihrer  Geschichte,  ohne 
Lust  zur  Anstrengung  werden  sich  bitter  getSuscht  finden.  Wenn 
ich  Abends  recht  mud  u.  matt  vom  Sehen  nach  Haus  komme,  haben 
mit  dieser  genussreichen  Anstrengung  auch  meine  Genusse  ein  Ende. 
Die  Hauptgenusse  des  Italieners  sind  —  Miissiggang,  Maulaffen  feil 
haben  im  Caf6haus.  — 

Will  der  Reisende  das  einmal  sein,  was  wir  in  Deutschland  fldel 
sein  heissen,  so  ist  er  am  falschen  Ort.  Es  bleibt  also  die  Kunst  u. 
die  schdne  Natur,  die  kunstlerische  Anschauung  der  Landschaft,  des 
Volks,  —  das  ist  es,  was  ich  suche,  finde,  worin  ich  gliicklich  bin. 

Von  Bologna  machte  ich  mit  meinen  Norddeutschen  einen  Ausflug 
nach  dem  uralten  Ravenna,  wo  romische  Kaiser,  griechische  Exarchen, 
gothische  Konige  gewohnt  haben,  und  wenige,  aber  uralte  Reste,  so  ein 
Triimmer  von  Theodorichs  Pallast  und  dessen  Grabmal,  an  diese  alter- 
grauen  Zeiten  mahnen.  Doch  Usst  sich  auch  die  Gegenwart  nicht  schlecht 
finden,  denn  das  Auge  hat  hier  eine  reiche  Weide  an  den  schonsten 
Midchen.  Die  pipstlichen  Soldaten,  die  hier  liegen,  sind  lauter  Deutsche, 
meist  Schweizer,  viele  Wiirttemberger.  Es  war  riihrend,  wenn  diese 
Leute,  die  doch  fast  alle  etwas  Heimweh  haben,  stehen  blieben,  sich 
anstiessen  und  zuflusterten:  »Deutsch,  deutschi"  wenn  sie  uns  im  Voruber- 
gehen  reden  horten.  Ein  junger  Mann  hdrte  uns  aufmerksam  zu  u. 
sang,  als  er  um  die  nSchste  Ecke  bog:  »'s  ist  so  schdn  im  fremden 
Lande**  n.  s.  w.  Wir  unterhielten  uns  viel  mit  nnseren  guten  Landsleuten 
u.  im  Heimweg  fand  ich  in  Faenza  den  Trommler,  von  dem  ich  einen 
Brief  einschloss,  u.  den  ich  nebst  einem  anderen  Wurttemberger  durch 
einen  Scudo  sehr  begliickte.  Der  Bursch  stand  eben  auf  der  Haupt- 
wache  u.  trommelte,  ich  fixirte  ihn  u.  dachte:  das  ist  doch  das  Schte 
Schwibische  Hannesle's-  u.  Jockele's-Gesicht;  er  mochte  etwas  Aehn- 
liches  denken  u.  redete  mich  an,  wo  wir  uns  dann  freundlich  die  Hand 
druckten. 

Ich  war  aber  damals  ubel  auf,  ja  an  der  Schwelle  einer  Unterleibs- 
Entziindung,  die  man  sich  in  diesem  heimtuckischen  Klima  leicht  zuzieht. 
Die  grosse  Hitze  bewirkt  nimlich  die  geShrlichsten  ErkKltungen  u. 
diese  (eine  sonderbare  Logik)  innere  Entziindungen. 

Nach  Bologna  zuriickgekehrt,  hatte  ich  nun  aber  das  Stigige  Zu- 
sammensein  mit  meinen  Landsleuten  aus  Norden,  so  ordentlich  die  Leute 
waren,  namentlich  einer,  ein  Preussischer  Lieutenant  u.  Architekt,  der 
mich  sehr  in  Affection  nahm,  schon  genug.  Man  lemte  nichts  italienisch, 
snchte  keine  Bekanntschaft  mit  Italienem,  sondern  bildete  ein  insularisches 
Deutschland  in  Italien,  u.  —  was  eine  alte  Erfahrung  von  mir  ist  —  steckte 
sich  gegenseitig  mit  Zerstreutheit  u.  unpraktischem  Wesen  an.  Man 

26* 


392 


lief  auf  der  Strasse  hinter  einander  her,  suchte  einen  Ort,  u.  jeder  meinte, 
Einer  der  Anderen  habe  schon  gefragt,  u.  s.  w.  Es  ging  bis  in's  Simpel- 
hafte,  —  ^sind  sie  in  corpore,  —  gleich  wird  euch  ein  Dummkopf 
daraus,**  ja  ich  unpraktischer  Mensch  musste  oft  fur  die  praktischen 
Norddeutschen  handeln.  In  Bologna  hdrten  wir  noch  einer  Controvers- 
predigt  von  zwei  Pfaffen  uber  den  Dienst  der  Maria  zu.  Den  andem 
Morgen  wandten  sich  die  anderen  Florenz  zu,  und  ich  sturzte  mich 
wieder  in  meine,  trotz  alien  ihren  Beschwerden  und  Verlegenheiten  ge- 
liebte,  Einsamkeit.  Im  Postwagen,  den  Dragoner  begleiteten,  lemte  ich 
eine  liebenswurdige  Familie  aus  Alessandria  in  Sardinien  kennen,  einen 
Particulier,  der  dem  Schnapsprofessor  in  Tiibingen  Shnlich  gleich  sah, 
u.  seine  Frau,  nebst  einer  Genueserin,  eine  Frau,  der  man  nicht  ansah 
dass  sie  acht  Kinder  gehabt.  Viel  Spass  machten  mir  ihre  naiven  Fragen. 
Als  ich  sagte,  dass  ich  ein  eretico  sei,  wollten  sie  wissen,  ob  ich  auch 
getauft  sei.  Das  bin  ich  schon  dfter  gefragt  worden.  Ob  es  in  meinem 
Land  noch  Sclaven  gebe?  u.  dgl.  In  Parma  besahen  wir  zusammen  die 
schone  Galerie,  wo  ich  namentlich  wieder  einen  herrlichen  Franc.  Francia 
bewunderte,  u.  wo  man  den,  schon  zu  sussen  u.  sentimentalen,  Correggio 
am  besten  lemen  kann,  interessante  Ausgrabungen  aus  der  verschutteten 
etrurischen  Stadt  Vellejae,  und  schdne  Kirchen.  Wie  weit  die  italienische 
Naturlichkeit  geht,  sah  ich,  als  ich  Abends  in  meinem  Gasthofe  zu  den 
beiden  Frauen  aufs  Zimmer  trat.  Sie  lagen  auf  dem  Bett,  als  ich  ein- 
trat,  hiessen  mich  aber  ungenirt  kommen,  standen  dann  auf  u.  spazirten 
in  Corset  u.  Unterrock  ganz  unbefangen  vor  mir  herum.  Es  waren  ganz 
honette  und  gebildete  Damen.  — 

Piacenza  passirte  ich  schnell  u.  sah  seine  schdne  Kirchen  im  Flug, 
wobei  ich  Gelegenheit  hatte,  den  katholischen  Gottesdienst  in  seiner 
ganzen  Versunkenheit  kennen  zu  lemen.  Vollstdndige  Ballmusik  in  den 
Kirchen,  es  fehlten  nur  die  Schleifer,  u.  ein  GlockengelMute,  ein  kindisches 
unharmonisches  Gebimmel,  das  nicht  zum  Hdren  ist.  Wenn  unsere 
Katholiken  in  Deutschland,  die  jetzt  so  fanatisch  fur  ihre  Kirche  sind, 
die  wahre  Gestalt  des  Katholicismus  hier  in  Italien  ansehen  wurden,  so 
wurden  selbst  sie  sich  ihrer  Bruder  schSmen.    Es  ist  Srger,  als  man 

glaubt,  es  ist  unter  dem  Heidenthum^)  .  Unterwegs  nach  Mailand 

fuhr  mit  mir  ein  interessanter,  hagerer,  bleicher  Karmeliter  M5nch 
in  seiner  Kutte  u.  dem  breiten  weissen  Hut,  der  mich  u.  A.  belehrte, 
dass  der  Konig  von  Preussen  einen  Bischof  eingekerkert,  weil  derselbe 
dem  ordine  divino  mehr  gefolgt,  als  dem  umano,  und  dass  es  dort  einen 
Dr.  Strauss  gebe,  der  sage,  Christus  sei  solamente  eine  idea.  Ich  machte 
einen  sehr  belehrten  Kopf  hin.  Deinem  Buch,  lieber  Strauss,  ist  die 
grosse  Ehre  widerfahren,  dass  es  nicht  nur,  wie  gewdhnlich,  in  den 
index  vetitorum  aufgenommen,  sondem  durch  einen  ausserordentlichen 
dffentlichen  Anschlag  verdammt  worden  ist.^ 

In  Mailand  angekommen  hatte  ich  sogleich  das  Gluck,  das  Innere 


Hiezu  hat  Fr.  Viscber  splter  getchrieben:  Tbut  nichtt.  Dummes  Ztug. 
^)  Das  Leben  Je«u,  kritiscb  bearbeitet  von  David  Friedricb  Strauss,  Tiibingen  1835. 


-cHg    393  8^ 


des  Doms  in  der  schonsten  Abendbeleuchiung  zu  treffen.  Ein  mystischer 
Dlmmerschein  fiel  durch  die  Rose  uber  dem  Eingang  auf  das  Crucifix 
im  Chor.  Eine  gothische  Kirche  sollte  niemals  ein  anderes  Licht  haben, 
als  durch  gemalte  Fenster.  Denn  so  wie  der  ganze  Charakter  des  Bans, 
so  soil  auch  die  Art  der  Beleuchtung,  ein  Helldunkel,  dem  Eintretenden 
sogleich  sagen:  Hier  trittst  du  in  eine  andere  Welt,  heraus  aus  der  ge- 
meinen  Wirklichkeit  u.  Deutlicbkeit  der  Dinge,  dem  Geschrei  des  Marktes, 
ein  Raum  im  Raume,  geschaffen  zwar  aus  dem  Material,  das  die  Natur 
gibt,  aber  dieses  umgebildet  u.  verwendet,  einen  idealen  Raum  zu  schaffen, 
der  symbolisch  ein  Inneres,  ein  Insichgehen  u.  Insich-Einkehren  anzeigt; 
so  ist  es  auch  ein  anderes  Licht,  das  du  hier  triffst,  ein  Licht  von 
aussen,  das  in's  Innere  nilt,  ein  gebrochener,  durch  ein  Medium  ein- 
dringender  Strahl.  —  Dieser  Dom  ist  wirklich  etwas  Wundervolles,  ich 
wandelte  oben  auf  dem  Dache  in  einer  Marmorwelt  von  Millionen  von 
Omamenten,  ich  sah  ihn  im  Mondschein,  ein  Feen-GebSude.  —  In  der 
Gem&lde-Gallerie  verliebte  ich  mich.  In  wen  rathet  ihr?  In  die  Ma- 
donnen  von  Bernardino  Luini.  Ja  wenn  ihr  die  sehen  konntet!  Ihr 
armen  Leute  im  NordenI  Diese  Siissigkeit,  diesen  Schmerz,  diese 
ReinheitI  Hier  ist  die  Schdnheit,  die  himmlische,  herab  aus  unbekannten 
Hdhen  in  diese  arme  Welt,  so  fern  und  doch  so  vertraulich  nah,  Himmels- 
giite,  unaussprechliche  Milde. 

Mit  Herm  Tafel,  an  den  ich  addressiert  war,  speiste  ich  in  den 
Italienischen  Trattorien.  Mein  Magen  u.  noch  mehr  meine  Nase  war 
glticklicher  Weise  schon  an  Italien  gewdhnt.  Die  unerlassliche  Zugabe 
in  diesen  Trattorien,  wo  man  meist  in  einem  freien  Hofraum  speist,  ist 
ein  beissender  Gestank,  eine  Folge  der  grenzenlosen  Natiirlichkeit  der 
Italiener,  die  keine  Strassen-Ecke  schont,  selbst  die  angemalten  Kreuze 
und  das  ,»rispettate  la  casa  di  Dio**  nicht.  In  dem  prachtvollen  Theater 
della  scala  verbreitet  sich  dieses  Aroma  mit  sinnberaubender,  herz- 
bethorender  Gewalt. 

In  Mailand  machte  mir  ein  ungarischer  Husaren-Posten  mit  grosser 
Attention  die  Honeur.  Eine  Folge  des  schdnen  Schnurrbarts,  den  ich 
mir  habe  wachsen  lassen.  Derselbe  ist  schdn  goldfarbig  roth,  steht  dicht 
wie  Kressich  und  gewShrt  folgende  Vortheile:  1.  macht  das  Rasiren 
weniger  Muhe.  2.  Kann  man  damit  spielen,  wenn  die  Hand  Langeweile 
bat.  3.  flosst  er  Ehrfurcht  mit  Heiterkeit  vermischt  nebst  Schrecken 
ein.  4.  komme  ich  mir  selbst  junger  vor.  So  vieler  Grunde  sussem 
Andrang  kann  doch  wohl  auch  meiner  gesetztesten  Freunde  strenges 
Herz  nicht  widerstehen. 

Am  21.  Sept.  ab  uber  Pavia  nach  Genua  mit  zwei  Professoren  aus 
Padua.  Ein  italienischer  Zug:  Einer  der  Professoren,  ein  grauer  Pedant, 
stiess  sich  im  Gasthof  ein  wenig  an  meinen  Fuss  u.  machte  nun,  als 
wire  er  entsetzlich  gestolpert,  im  hellen  Muthwillen  den  ganzen  Saal 
entlang  die  tollsten  Hanswurstsprunge.  —  Genua  ist  herrlich,  amphi- 
theatralisch  am  Meere,  voll  von  den  reichsten  PallSsten  der  alten  Familien. 
Aber  das  Volk  grundverdorben,  wie  in  alien  Seehdfen  u.  in  alien  Misch- 
RaQen,  halb  franzSsisch  halb  deutsch.    Eine  Icht  italienische  Scene  sah 


394 


ich  auf  der  Strasse,  wo  sich  zwei  Jungen  wuthend  um  einen  Esels-Koth 
prugelten,  wer  ihn  aufheben  durfe.  Meine  Aussicht  aus  dem  Gastiiof 
war  auf  den  Hafen,  ich  stand  einnial  Nachts  auf,  die  Aussicht  zu  ge- 
niessen,  der  Mond  lag  auf  dem  Meere,  vor  mir  ein  Wald  von  Masten, 
feme  das  rothe  Licht  des  Leuchtthunnes,  Tdne  einer  Fldte  in  der  stillen 
Nacht.  Dieses  Schauspiel  hat  Schiller's  Fiesko,  da  er  ndchtig  aus  dem 
Fenster  blickt.  Ich  war  auch  im  Pallast  des  Andrea  Doria.  Alte  Zeiten! 
An  einem  Laden  las  ich  auf  dem  Schild:  Andrea  Calcagno — parruchiere. 
Der  hat  es  weit  gebracht. 

HMttet  ihr  meine  Lieben  in  der  Nacht  vom  26.  auf  den  27.  Sept. 
das  mittelldndische  Meer  zwischen  Genua  und  Livomo  sehen  kdnnen, 
so  hdttet  ihr  daselbst  das  grosse  Dampfschiff  Pharamonde  erblickt,  auf 
demselben  auf  dem  Verdeck  zwischen  Felleisen  und  Kisten  schlumemd 
eine  nicht  unbekannte,  nicht  sehr  schlanke  Gestalt  (« Hamlet  ist  beleibt'). 
—  Dieselbe  richtet  sich  bisweilen  auf,  der  voile  Mond  hdngt  iiber  dem 
weiten  Meere,  die  RSder  brausen  im  Schaume,  unendliche  Mollusken 
leuchten  in  blSulichem  Phosphor  aus  den  Wellen,  der  Freund  sieht  diese 
fremde  Welt  an:  »Das  wSre  also  vor  der  Hand  etwas  Anderes,  als  Nesen- 
bach  u.  Ammer;  dieser  Mond  ist  aber  doch  auch  der  Kuppinger  Mond 
u.  steht  jetzt  eben  so  fiber  meinen  Freunden",  er  nickt  den  Kopf  und 
schlgft  wieder  ein. 

Sehr  zufrieden,  die  Seekrankheit  nicht  bekommen  zu  haben,  ward 
ich  in  Livomo  ans  Land  gesetzt,  sah  mir  den  schdnen  Hafen  an  und 
reiste  noch  denselben  Abend  nach  Pisa.  Hier  sollte  eben  die  grosse 
Naturforscher-Versammlung  beginnen,  der  Name  eines  Professors  war 
daher  derzeit  von  gutem  Klang,  ich  ward  schon  unter  dem  Thor  zu 
Allem  eingeladen,  liess  mich  in  die  zoologische  Section  einschreiben  u. 
genoss  die  rothe  Charte,  die  ich  bekam,  alle  Merkwurdigkeiten  recht 
ungestdrt  zu  sehen.  Dom,  Baptisterium,  Krummer  Thurm,  vor  Allem 
der  campo  santo  mit  den  herrl.  Gemllden  in  Fresco!  Eine  rechte  Weide 
ffir  meinen  Kunsthunger!  Ich  sah  auch  den  Thurm,  wo  Ugolino  verhungert 
ist.   Erinnem  Sie  sich,  verehrteste  Frau  Pnliatin,^)  der  schdnen  Stelle  aus 

Dante?   „Da  kroch  mein  Taddo  zu  mir  her  •!   Dabei  fiel  mir  so 

mancher  schone  Nachmittag  ein,  wo  wir  zusammen  lasen. 

Pisa  ist  ein  stiller  zutraulicher  Ort.  So  ein  bischen  Ludwigsburgisch 
mit  dem  Unterschied  grosser  Erinnerungen.  Ich  war  auch  einmal  im 
franzdsischen  Theater  u.  wollte  den  gamin  de  Paris  sehen,  verstand  aber, 
obwohl  ich  ihn  diesen  Sommer  gelesen,  kein  Wort,  1.  weil  ich  uberhaupt 
keins  verstehe,  2.  weil  ich  einen  Z  o  p  f  hatte.  Der  elementarische  Staff 
desselben  waren  vortreffliche  Franzweine,  bei  einem  jungen  reichen 
Franzosen  getrunken,  den  Ofterdinger,  unser  Landsmann,  als  Arzt  be- 
gleitet  Dieser  Stoff  hitte  mich  aber  nicht  ausser  Gleichgewicht  gebracht, 
hatte  ich  nicht  die  ersten  GlMser  in  einem  Zorn  getrunken.  Und  dieser 
Zom  kam  von  einem  Facchino,  der  sich  geweigert  hatte,  alle  meine 
Effekten  zu  tragen,  daher  ich  das  Trinkgeld  zwischen  ihm  u.  einem 


')  S.  oben  S.  380. 


395  8^ 


Jungen,  dem  ich  das  Andere  auf lud,  wie  billig  theilte.  In  Wuth  daruber 
fasste  der  Fachin  den  Jungen  an  der  Brust  u.  schuttelte  ihn,  ich  riss 
ihm  den  Jungen  aus  den  Klauen,  packte  ihn  hinten  am  Kragen  u.  schmiss 
ihn  zur  Thur  hinaus.  Bin  Anderer  thut  so  was  mit  ruhigem  Bint,  mich 
regt  es  stark  anf.  —  Inzwischen  wird  dies  wie  mein  erster  so  mein 
letzter  Haarbeutel  in  Italien  sein,  denn  man  kann  sich  nicht  genug  in 
Acht  nehmen.  —  Fast  alle  Deutsche  mussen  Lehrgeld  geben.  Das  Blut 
ist  entzundlich,  die  durch  wanne  Kleider  und  Betten  verwdhnte  nordische 
Haut  bei  der  ungewohnten  Transpiration  furchtbar  empfindlich  fur  Er- 
kaitungen;  hier  in  Florenz  habe  ich  mich  uber  der  Jagd  gegen  die  gott- 
vergessenen  Schnaken,  welche  der  Herr  grausam  vemichten  mdge,  in 
der  Nacht  entbldsst  u.  dadurch  in  einen  ausserordentlichen  heftigen 
Katarrh  gesttirzt,  wobei  man  hier  sich  sehr  in  Acht  zu  nehmen  hat. 
Der  Stich  der  Schnaken  thut  gar  nicht  weh,  sie  summen  aber  mit 
scharfem  Ton  wie  ein  femes  GelMute  immer  um's  Gesicht,  stets  im 
Begriff,  sich  zu  setzen,  u.  daruber  kann  man  nicht  ein- 
schlafen.  Ich  habe  daruber  schon  viele  NSchte  ganz  verloren  u.  war 
dann  den  andem  Tag  matt  u.  unbrauchbar.  Eben  bemerke  ich  2  in 
meinem  Zimmer  u.  weiss  somit,  dass  ich  heute  Nacht  nicht  schlafen 
werde.    Denn  fangen  kann  man  sie  nicht. 

Bose  Zugaben,  aber  wahrlich  all  das  Schdne  ist  durch  keine  Be- 
schwerde  zu  theuer  erkauft.  Hier  in  Florenz,  wo  ich  mich  auf  3  Wochen 
angesiedelt,  welche  SchStzel  Von  Plastik  nenne  ich  nur  die  Mediceische 
Venus,  den  cymbelschlagenden  Faun,  die  Niobiden-Gruppe,  von  Malerei 
zwei  der  schdnsten  Raphael,  Titian's  Venus,  die  schdnsten  Perugino's  — 
es  ist  aber  so  viel  Vortreffliches,  dass  ich  wieder  ganz  uberschuttet 
bin.  Ich  meinte,  ausser  dem  Interesse  u.  Sinn  auch  einige  Kunstkennt- 
nisse  zu  haben.  Sancta  simplicitasi  Jetzt  eben  brechen  die  ersteh 
Breschen  in  die  dicke  Mauer  meiner  Ignoranz.  Feuerbach  ist  hier,  der  den 
vaticanischen  ApoU  geschrieben,^)  und  ein  Dr.  Gaye,^  zwei  Archflologen, 
an  deren  Gespnichen  ich  sehen  kann,  was  ich  nicht  weiss.  Glaubt  mir 
nur,  meine  Freunde,  man  kann  viel  Sinn  haben,  auch  schon  vielerlei  ge- 
sehen  haben,  u.  ist  jeden  Moment  noch  capabel,  ein  geradezu  schlechtes 
Bild  ftir  schon  zu  halten  und  an  einem  guten  voruberzugehen.  Sehen 
lemen,  das  ist  nichts  Kleines.  Feuerbach  ist  ein  seltsamer  Mensch, 
Kenner,  Gelehrter  u.  doch  Enthusiast,  eine  abstracte,  scharf  abgerissene 
Natur,  vor  schdnen  Gegenstinden  driickt  er  aber  eine  wahre  Ekstase 
durch  allerhand  wunderliche  Tdne,  Mauzen,  Aechzen,  Blasen  u.  dgl., 
iins.  —  Kirchen,  Architectur,  eine  Pracht!  Der  Campanile  (frei  stehender 
Glockenthurm)  aus  lauter  Marmor-Mosaik,  das  Battistero  mit  den  ThQren 
Ton  Ghiberti,  der  Dom  u.  s.  f.  u.  s.  f.,  es  ist  eben  schwer  fertig  werden, 
Brunnen,  Palliste,  GSrten,  die  Zeit  dauert  mich,  die  ich  mit  Essen  zu- 
bringe.    Es  ist  ja  die  Stadt  der  Mediceer. 


')  Antelm  Feuerbach,  1798—1851,  der  Vater  det  gleichnamigen  Malers. 
*)  G.  Gaye,  der  Herausgeber  det  Carteggio  inedito  d'artitti  del  sec.  XIV 
—  XVI,  Fircnzc  1838-40. 


396  8^ 


Abends  gehe  ich  ins  Theater,  urn  im  Italienischen  fortzukommen. 
Aber  dieses  Publikum  und  dieses  Spiel  I  Pnicisioii,  Lebendigkeit  ist 
vielfach  zu  achten,  aber  das  Obertreiben  des  Affects  geht  ins  Ekelhafte. 
Weinen  ist  nicht  genug,  der  Schmerz  steigert  sich  in  ein  Heulen, 
Auchzgen,^)  Husten,  Riilpsen,  im  hochsten  Zom  bellen  sie  ordentlich; 
dabei  wurde  bei  uns  unfehlbar  das  ganze  Parterre  lachen,  hier  stampfen 
sie  vor  Entziicken.  Das  ist  das  gebildete  Publikum,  zu  welchem 
nicht  zu  gehdren  ich  mir  stets  zur  Ehre  rechnete. 

Florenz  liegt  himmlisch.  Es  ist  aber  nicht  die  Schdnheit  deutscher 
Natur,  nicht  unser  belles,  frisches  Grun,  die  Hugel  meist,  was  die 
niedrigere  Vegetation  betrifft,  verbrannt  von  der  Sonne,  die  vielen  Oliven 
haben  ein  grauliches,  mattes  Grun,  aber  diese  weichen  Linien,  diese 
Pinien,  Cypressen,  die  tausend  weissen  Villen,  die  flachen  DScber,  die 
dir  sogleich  sagen,  dass  hier  kein  Schnee  liegen  bleibt,  der  ewig  klare 
Himmel,  der  silbeme  Duft  uber  der  Feme,  dieser  noble  classiscbe  Anflug 
des  Ganzen,  die  Rebenguirlanden,  die  bluhenden  Rosenhecken! 

Und  was  machen  denn  Sie,  Hebe  Frau  Ober-Justizrithin,  getreue 
Hausfrau?^  Glauben  Sie,  ich  vergesse  nicht  mein  Stubchen  am  Neckar, 
nicht  so  manches  vertrauliche  Wort,  was  wir  besonders  diesen  Sommer 
geplaudert  u.  was  wir  nach  meiner  Riickkehr  welter  plaudem  werdeo. 
Ich  wohne  hier  bei  einem  braven  IrUnder  (man  verkehrt  mit  alien 
Nationen,  ich  babe  Griechen,  Spanier,  Illyrier,  Englinder,  Schotten, 
Franzosen  kennen  gelemt,  in  Pisa  einer  vornehmen  Corsin  aufgewartet, 
die  mir  die  Zimmer  ihres  Pallastes  zeigte,  wo  Byron  gewohnt),  aber 
Frau  Ranzin,  meine  Hausfrau,  ist  nicht  Frau  Ober-Justizritin  Dann,^  und 
ihre  GefSUigkeit  nicht  die  herzliche  Freundlichkeit,  die  ich  zu  Hause  finde. 
Wir  woUen  brav  zusammen  haushalten,  wenn  ich  wieder  komme.  Lassen 
Sie  den  Hagestolz  so  geduldig  in  Ihrem  Hause  absterben. 

Lebhaft  wurde  ich  an  Tubingen  erinnert,  als  ich  auf  der  Insel 
Lido  bei  Venedig  die  Demoiselle  Schwarz  sah,  mit  einer  Familie,  bei 
der  sie  Gesellschafterin  zu  sein  schien.  Kurzlich  entdeckte  ich  in  einer 
Tasche  noch  Brosamen  von  den  Cafdkiichlein,  die  ich  aus  Ihrem  Hause, 
Herr  Procurator  u.  Gemahlin,  dankbarlichst  mitgenommen  und  ver- 
zehrt  habe.*) 

In  Florenz  traf  ich  also  O.  Muller,*^)  Schdll,®)  Pressel.  Sie  reisten 
aber  nach  zwei  Tagen  nach  Rom  ab,  wo  ich  sie  wieder  finde. 

Von  Scribe  sah  ich  ein  neues,  oder  neuerdings  in's  Italienische 
iibersetztes  Lustspiel  auffuhren:  Ilcustode  della  moglie  d'altrui.  Ich  kenne 
den  franzdsischen  Titel  nicht;  wdrtlich:  le  gardeur  de  la  femme  d'un  autre« 
Es  hatte  das  Interesse,  dass  Scribe  selbst  anwesend  war.  Ich  sah  ihn 
ziemlich  deutlich,  ein  iltlicher  Kopf  mit  graulichem  Teint.    Den  gamin 

^)  Schwabisch  »  Achzen. 

*)  Die  »Frau  Danne*.  S.  oben  S.  380. 

3)  u.  *)  S.  oben  S.  380. 

Otfiied  Mfiller,  Archaolog,  geb.  1797  in  Brieg,  gettorben  r840  in  Athen. 
S.  oben  S.  380. 

*)  Ad.  Sch51l,  Archaolog,  geb.  1805  in  Bninn,  gestorben  1882  in  Weimar. 


397  8^ 


baben  sie  auch  ubersetzt,  il  birichino;  aber  ohne  den  franz.  Geist  ge- 
geben.  Den  Goldoni  lerne  ich  bequem  auf  dem  Theater  kennen,  den 
Boccaccio  babe  icb  mir  gekauft,  die  Dichter  lese  ich  nicht,  sie  sind 
doch  alle  langweilig,  die  Hauptpartieen  im  Dante  ausgenommen.  Dem 
Volk  fehlt  die  Tiefe  fur  die  hdhere  epische  u.  dramat.  Poesie,  die 
Novelle  ist  sein  Gebiet  und  etwa  das  Lustspiel.  Jetzt  zehren  sie  von 
der  franzdsischen  Romantik.  Es  sind  im  Ganzen  Kinder,  sie  haben  alle 
guten  und  bdsen  Eigenschaf^en  der  Kinder.  Sie  stecken  bis  uber  die 
Ohren  in  der  lieben  Natur  drin. 

Jetzt  nicht  mehr  lang,  so  bin  ich  in  Rom.  Es  ist  mir  bang  vor 
Freude,  wie  einem  BrMutigam. 

Noch  ein  curiosum  aus  Pisa.  Ich  bestieg  den  beruhmten  krummen 
Thurm  daselbst  gegen  Sonnen-Untergang,  verspMtete  mich  oben  und 
hdrte  auf  einmal  die  schwere  Thtire  unten  mit  GerSusch  zuschlagen. 
Ich  eilte  die  dunkeln  Treppen  hinab,  richtig  —  ich  war  eingeschlossen.  Es 
war  hier  in  Wirklichkeit  keine  Gefahr,  auf  lautes  Rufen  horte  man  mich 
aussen  und  der  custode  kam  herbei  zu  dffnen,  aber  es  fuhr  mir  doch 
der  Moment  durch  die  Phantasie,  wo  in  demselben  Pisa  einst  Ugolino, 
mit  seinen  Kindem  in  den  Thurm  gefuhrt,  die  Pforte  donnemd  zufallen 
hdrte,  der  Schliissel  im  Amo  versenkt  ward  u.  der  Ungltickliche  sich 
dem  gewissen  Hungertod  geweiht  sah. 

Das  Innere  von  Florenz  ist  gar  nicht,  wie  man  sich's  vorstellt, 
enge,  schmutzige  Strassen,  finstere  castellartige  alte  PallSste,  u.  die  Nase 
wird  an  ganz  andere  Dinge  als  Blumen  erinnert. 

Ich  reise  diese  Woche  noch  nach  Rom  ab. 

Florenz,  d.  21.  Okt.  1839.  Euer  Fr.  Vischer. 


Ungedruckte  Briefe  Hugo  Wolfs  an  schwabische 

Freunde. 

An  Edwin  Mayser. 

Stuttgart,  den  18.  Februar  1904. 
An  die  Redaktion  der  Siiddetttschen  Monatthefte,  M&nchen. 
Der  freundlichen  Aufrorderung,  Ibnen  meine  Briefe  von  Hugo  Wolf  zur 
VerOffentlichung  zu  (iberlasten,  komme  ich  geme  nach.  Freilich  tiutcben  Sie  tich, 
wenn  Sie  dat>ei  auf  eine  grosse  Ausbeute  recbnen.  Es  sind  eigentlicb  nur  zwei, 
b5cbttent  drei  Zutcbriften  Wolf^,  die  einigermassen  von  weiter  reicbendem  Interette 
tein  k5nnen.  Kleinere  Kundgebungen,  wie  Antichttkarten,  Gratulationserwiderungen, 


398  8^ 


auch  ein  Telegramm  zur  Geburt  meinet  Sohnet  oder  Widmungen  in  Notenheften 
kSnnen  nictat  in  Betracht  komnien.  Ich  lege  alto  in  selbstgemachter,  zuverlissiger 
Kopie  2  llngere  Briefe  vom  Jahr  1807  bei,  sowie  einen  kurzen  Neujahrswanacli 
(von  1806),  der  mir  einmal  wegen  seiner  originellen  Fassung,  dann  aber  deshalb 
beachtenswert  erscheint,  well  ibn  Wolf  in  der  SFetlinschen  Anstalt  geachrieben 
baty  zu  einer  Zeit,  da  man  den  Verfkaser  fQr  geistesgestSrt  balten  mocbte. 

Aus  der  kleinen  Zabl  dieser  Briefe  durfen  Sie  aber  ja  nicht  scbliessen,  dass 
wir  nicbt  im  regsten  WecbseWerkebr  gestanden  wiren.  Seit  dem  Jahre  1801,  nach- 
dem  ich  teila  durch  Schalks  Aufeatz  in  der  Muncbener  Allgemeinen,  teils  durch 
Emil  KaufTmann  in  T&bingen  auf  Wolfs  Lieder  aufteerksam  geworden,  rahte  ich 
nicht,  bis  ich  den  Komponisten  persSnlich  kennen  lemte,  dessen  Werke  ich  mic 
wachsender  Bewunderung  aufhahm.  Erst  im  Jahre  1804  gelang  mir  dies  dnrch 
Vermittlung  meines  Freundes  Hugo  Faisst,  in  dessen  elterlichem  Hause  zu  Heil- 
bronn  (wo  ich  von  1887^-08  als  Gymnasiallehrer  lebte)  wir  den  verebrten  Meiater 
in  Gesellschaft  der  Frl.  Frieda  Zemy  begriissen  durften.  Seitdem  babe  ich  wieder- 
holt  nicbt  nur  als  ^Schreiber  der  Wolf^bande**,  wie  Wolf  selbst  mich  nennt,  sondera 
auch  bin  und  wieder  in  meinem  eigenen  und  meiner  Frau  Namen  als  jeweiligen 
Ausdruck  unserer  Verehrung  und  Begeisterung  Briefe  an  Wolf  geschrieben.  Da  ich 
mit  Faisst  sehr  hSuflg  zusammenkam,  durfte  ich  nicht  selten  die  Briefe  an  ibn  aia 
Erwiderung  der  meinigen  betrachten,  wie  ich  auch  so  manche  Mitteilung  seinen 
Briefen  an  Wolf  beigab.  Zum  zweitenmal  kam  Wolf  zu  uns  nach  Heilbronn  im 
Jahre  1806,  kurz  vor  der  UraufrQhrung  des  Corregidor  in  Mannheim.  Damala  ge- 
nossen  wir  die  Anwesenheit  des  Unvergleicblichen  an  einem  herrlichen  Fruhlings- 
tag.  Er  spielte  uns  fast  die  ganze  Oper  vor,  mit  jener  unerb5rten  Kunat  des 
Vortrags,  die  in  jedem  Ton  zugleich  den  Sch5pfer  erkennen  liess;  in  die  Wieder- 
gabe  lyrischer  Gesinge  teilten  sich  Hugo  Faisst,  schon  damals  Wolfs  treuester 
Freund  «erprobt  zu  Lust  und  Fein*,  und  Kammerslnger  Karl  Lang  aus  Schwerin 
(ein  Heilbronner  Kind),  der  eine  Reihe  M5rikelieder  dem  geruhrten  Komponisten 
zu  Danke  sang.  UnFergesslich  ist  mir  eine  Spazierfshrt  nach  Weinsberg;  hatte 
Wolf  schon  von  feme  mit  kindlicher  Freude  die  regelmlssigen  Formen  der  Weiber- 
treu  bewundert,  so  stieg  er,  am  Kemerhaus  angelangt,  flink  wie  eine  Gazelle  den 
Burgberg  hinan  und  fand  daneben  noch  Zeit,  mich  durch  die  eingehendsten 
Kenntnisse  der  Beziehungen  zwischen  Justinus  Kemer,  Lenau  und  dem  ganzen 
schwabiscben  Dichterkreis  in  Staunen  zu  setzen.  Bald  darauf  sahen  wir  una  bei 
der  AufrQbrung  der  Oper  in  Mannheim.  Wolf  sass  unweit  von  mir  in  der  Mittel- 
loge,  neben  ihm  Frau  Mayreder,  die  Textdicbterin,  und  sein  Jugendfreund  Dr. 
Potpeschnigg:  aus  dem  bleichen  Gesicht  des  ErgrifTenen  blitzten  wie  gliihende 
Kohlen  aus  einem  Aschenhlufchen  seine  scharfen  Augen  hervor;  sprachlos  aass 
er  da  und  konnte  nur  mit  Aufwand  der  Sussersten  Oberredung  veranlasst  werden, 
sich  nach  dem  3.  Akt  vor  dem  Vorhang  zu  zeigen.  Als  wir  nach  der  Auff&hning 
in  gr5sserer  Gesellschaft  bis  gegen  Mittemacht  beisammen  gewesen,  fragten  ich 
und  meine  Frau  Wolf,  ob  wir  ibn  tags  darauf  besucben  diirften?  Jt  bilder,  je 
lieber!"  sagte  er,  „damit  wir  uns  allein  treffen.*  Natiirlich  fsnden  wir  uns  schon 
in  fruher  Morgenstunde  bei  ihm  ein.  Er  sass,  umringt  von  Lorbeerkrinzen,  die 
er  nicht  beachtete,  beim  Friibstiick;  auf  dem  Fliigel  lag  die  wunderbar  geschriebene 
Corregidor-Partitur,  die  er  uns  mit  Stolz  zeigte.  Wir  spracben  nicht  viel  iiber  die 
Auff&hrung,  um  so  mehr  iiber  das  Werk.  P15tzlich  setzte  er  sich  an  den  FlQgel 
und  sang  und  spielte  zugleich  seine  noch  ungedruckten  «Itaiienischen*  (II.  Heft). 
Es  ist  unsagbar,  wie  tief  ergrifTen  wir  alle  drei  bei  diesen  reif^ten  und  voll- 
kommensten  Offenbarungen  seiner  Muse  waren;  manches  spielte  er  uns  zwei-,  drei- 
mai,  selbst  ganz  entriickt  und  hingerissen.  Er  hob  wiederholt  hervor,  daas  in 
diesen  Liedem  noch  mehr  absolute  Musik  stecke  als  in  anderen;  manches  k5nnte 
ebensogut  als  Streichquartett  gespielt  werden,  meinte  er.  —  Dies  halte  ich  fQr  den 
Hdhepunkt  unseres  persSnlichen  und  kiinstlerischen  Verkebrs.  —  Zweimal  habe 
ich  Wolf  5ffentlich  bei  Liederabenden  in  Stuttgart  geh5rt  (1804  und  1806),  jedeamal 
war  ich  uberrascht  und  erschiittert  von  seiner  unvergleicblichen  Kunst 

$eit  1806  und  der  Corregidor-Premidre,  wohl  auch  im  Zusammeahang 


399  8^ 


mit  den  bitteren  Erfthningen  in  Wien,  ttieg  zutehendt  die  Veretimmung  Hugo 
▼olfB.  Faittt,  der  ihn  wiederholt  in  Wien  und  Matzen  beauchte,  lockte  ihn  vtr- 
^bent  zurUck  int  SchwtbenUnd :  er  bttte  unt  tile  in  tein  Herz  getcblotteny  aber 
er  ktm  nicht  mehr  hertut. 

Im  Heimweh  ntch  dem  innigst  verebrten  Meister  scbrieb  icb  mebrmalt  an 
ihn.  Ala  wir  an  nichts  dachten,  kam  im  Sommer  1897  die  ftircbtbare  Nachricht 
▼on  seiner  pldtzlichen  Erkrankung.  Wihrend  der  Remittiontperiode  1806  tchickte 
er  mir  noch  seine  Michelangelogesinge  mit  freundlicber  Dedikation  —  dies  war 
das  letzte  Lebenszeichen  von  seiner  Hand. 

Welchen  Eioschnitt  die  Bekanntschaft  und  spitere  Freundschaft  mit  Wolf 
in  mein  ganzes  isthetiscbes  Ffiblen  und  Denken  macbte,  kann  ich  nicbt  mit  zwei 
Worten  sagen..  Jedenfalls  ist  der  Genius  Wolf  fur  mich  mein  bedeutendstes  Er- 
lebnis:  seit  vollen  dreizehn  Jabren  stebe  ich  ganz  und  gar  im  Banne  seiner 
Kunst;  seine  Lieder,  die  mir  am  Klavier  vertrauter  sind  als  alle  Ton  ft^her 
Jugend  geQbten  und  geliebten  klassiscben  Werke  der  Alten,  sind  mein  tigliches 
Brot  Immer  wieder  geben  mir  neue,  ungeabnte  Scbdnheiten  auf  in  dieser  nn- 
begrenzten  Welt  des  Schdnen;  die  Dichter  selbst,  die  er  interpretiert,  sind  mir 
fiber  ibre  firfibere  Grdsse  binausgewachsen,  Goethe  habe  ich  grossenteils  erst 
durch  ihn  verstehen  lemen.  Eine  ganz  besondere  Freude  und  Befriedigung  ist  es 
mir  seit  Jabren,  die  Jugend  zum  reinen  Bom  zu  fuhren,  der  aus  Wolf^  unsterb- 
licben  Schdpftmgen  jedem  Empfinglicben  entgegenquillt.  Geme  liess  icb  mich 
auch  im  Frubjahr  1806  herbei,  das  erste  hiesige  Wolfkonzert  (ohne  Wolf  selbst) 
am  Flfigel  zu  begleiten;  Mitwirkende  natfirlicb  zwei  Dilettanten:  H.  Faisst,  Frl. 
Dinkelacker  (Kauffinanns  Schfilerin)  —  und  Konzertsinger  Karl  Diezel.  Wenn  ich 
mich  seitdem  von  der  Olfentlichkeit  ganz  znrfickziebe,  so  bleibe  icb  im  Herzen 
treu  der  Kunst  Wolfs,  die  ja  hier  in  H.  Faisst  den  berufensten,  opferwilligsten, 
tatkriftigstei^  Vorklmpfer  hat   Und  der  Erfolg  krdnt  seine  Mnbe.  — 

Entschuldigen  Sie  meine  weitliuflgen  Expektorationen;  wess  das  Herz  voU 
isty  dess  gehet  der  Mund  fiber.  Verwenden  Sie  nach  Belieben  beiliegende  Briefe, 
die  wie  gesagt  ein  matter  Abglanz  unseres  Verkehres  sind.  Sehr  f^euen  wfirde 
es  mich,  dieselben  in  glficklicher  Umrahmung  bald  in  Ibrer  ySchwabennummer*  zu 
lesen;  Iftsst  doch  der  vortrelflicbe  Aufeatz  von  Max  Roger  das  Beste  erwarten. 

Mit  vorzfiglicher  Hochachtung 

Ihr  ergebenster 

Dr.  Edwin  Mayser 
Professor  am  Karlsgymnasium. 

I. 

Lieber  Herr  Professor  1 

Eben  im  Begriffe  nach  tiberstandenen  Briefbeschwerden  die  Feder 
uregzulegen,  treffen  Ihre  Zeilen  mit  der  reizenden  Beilage  ein.  Was 
thun?  naturlich  schreiben,  um  so  mehr  als  drei  liebliche  Engelskdpfchen 
Furbitte  einlegen  und  ich  Kindem,  namentlich  aber  hubschen  Kindem 
gegenuber  wehrlos  bin.    Also  „auf  denn,  an's  WerkI* 

Was  Sie  mir  Schmeichelhaftes  iiber  meine  Italienischen  sagen, 
kommt  zumeist  auf  Rechnung  Ihrer  enthusiastischen  Natur,  von  der  Sie 
mir  schon  einigemal  ganz  erschreckende  Proben  gegeben.  Immerhin 
aber  freut  es  mich  in  Ihnen  einen  wirklich  verstindnisvollen  Freund 
meiner  Elaborate  gefunden  zu  haben.  Sie  sind  dunn  genug  gesdet  als 
dass  man  noch  an  ihnen  mikeln  sollte. 

Demnichst  werden  zwei  Hefte  Lieder  von  mir  erscheinen  —  3  nach 
Rob.  Reinick  und  3  nach  Ibsen  aus  dem  Fast  auf  Solhaug  —  worauf 
ich  Sie  jetzt  schon  aufmerksam  mache.  Ein  weiteres  Heft  folgt  in 
Bilde  nach. 


400  8^ 


Von  der  Musik  zur  2.  Hilfte  des  4.  Aktes  wird  wohl  nicht  viel 
ubrig  bleiben,  da  die  Handlung  einen  ganz  anderen  Verlauf  nehmen 
soil.  Dass  ich  davon  aufs  schmerzlichste  betroffen  werde,  brauche  ich 
Ihnen  wohl  nicht  erst  zu  sagen.  Mir  grant  fdrmlich,  wenn  ich  an  diese 
Hdllenarbeit  denke.  Aber  was  will  man  machen?  Wenn  Sie  in  diesea 
Tagen  meine  liebenswurdige  Gonnerin  und  Freundin  Frau  Faisst  sehen 
sollten,  bitte  ich  derselben  meine  schdnsten  Grusse  und  Gluckwunsche 
zu  tiberbringen.  Seien  auch  Sie  mit  all  den  lieben  Ihrigen  aufs  herz- 
lichste  begnisst  und  begluckwiinscht  von  Ihrem  treulichst  ergebenen 

Hugo  Wolf. 

Wien,  2.  Januar  897. 

[Adresse:  Herren  Edwin  Mayser,  Heilbronn.] 

II. 

Lieber  Herr  Professor! 
Ihre  jugendliche  Schutzbefohlene  hat  sich  bereits  vor  einigen  Tagen 
in  Begleitung  des  Herm  Haaga  und  seiner  charmanten  Tochter  bei  mir 
eingefunden  und  ihren  Geleitsbrief,  dessen  es  freilich  nicht  bedurft  hatte» 
an  Ort  und  Stelle  abgegeben.  Wir  haben  uns  rasch  befreundet  und  am 
nichsten  Tag  eine  gemeinsame  Eisenbahnfahrt  nach  dem  nahe  gelegenen 
Perchtoldsdorf  unternommen,  wo  es  den  Herrschaften  sehr  gefallen  hat. 
Demnichst  werde  ich  mich  zu  einer  Gegenvisite  aufschwingen.  Schade 
nur,  dass  Sie  nicht  mit  dabei  waren,  denn  wenn  Sie  auf  mein  Erscheinen 
in  Heilbronn  zMhlen,  durfte  Ihr  Rechenexempel  nicht  ganz  stimmen,  da 
ich  mich  |etzt  mit  schweren  Gedanken  beztiglich  einer  neuen  Oper 
herumtrage,  und  dazu  bedarf  es  vdlligster  Einsamkeit  und  Ruhe.  —  Von 
Mutterchen  und  Sdhnlein  Faisst  erhielt  ich  gestem  eine  freundliehe 
Bierkarte  aus  dem  Schwarzwalde.  Freund  Faisst  scheint  sich  meine 
^Fussreise*"  sehr  zu  Herzen  genommen  zu  haben,  da  er,  freilich  auch 
mit  gelegentlicher  Zuhilfenahme  eines  Coup6s  I.  Classe  —  Blitzzug  — 
der  Neidenswerthe!  —  so  rustig  in  der  Welt  umherwandert.  Der  ver- 
stehts  doch  zu  leben!  Wollt'  ich  k5nnts  ihm  nachmachen.  Statt  dessen 
werde  ich  diessmal  mehr  denn  je  zu  einer  sesshaften  Lebensweise  ver- 
urtheilt  sein.  Nun,  jedes  Thierchen  hat  sein  Plaisirchen,  und  so  sage 
ich  mit  Mdrikes  Prdceptor  Ziborius: 

^Freut's  ihn,  Canarienvdgel  und  EinwerfkMfige  dutzend- 
Weise  zu  haben,  mich  freut's  tiichtigen  Essig  zu  ziehn.* 
Wtinschen  Sie  mir  also  Gliick  zu  dem  tiichtigen  Essiggebriu  meiner 
neuen  Oper  (Manuel  Venegas)  und  seien  Sie  mit  all  den  Ihrigen  aufs 
herzlichste  begrusst  von  Ihrem 

Hugo  Wolf. 

Wien,  1.  Juni  897. 

An  Herm  Lang  einen  schdnen  Gruss,  ditto  an  Halm. 


401  8^ 


III. 

Das  aus  «volIer  Brust  kommende  prosit  Neujahr'^.des  liebens- 
werthen  Ehepaares  und  seiner  vier  putzigen,  allerliebsten  Orgelpfeifen 
erweckt  im  Resonanzboden  des  Unterzeichneten  ein  freudiges  und 
hoffentlich  bis  Heilbronn  bin  schallendes  Echo. 

In  alter  Liebe  und  Treue 

Wien,  3.  Januar  898.  Hugo  Wolf. 

An  Emil  Engelmann. 

Hochgeehrter  Herr! 

Nehmen  Sie  diese  Zeilen,  wenn  sie  auch  etwas  verspitet  eintreffen, 
doch  freundlich  auf.  Bei  meiner  Riickkunft  aus  Tubingen  hatte  ich 
einigemale  den  energischen  Versuch  gemacht  an  Ihre  Thure  zu  klopfen, 
wurde  aber  immer  durch  einen  unvorhergesehenen  Zwischenfall  in  meinem 
loblichen  Vorhaben  verhindert.  Da  gab  ich's  denn  endlich  auf,  nicht 
ohne  ein  innigstes  Bedauern  uber  mein  permanentes  Missgeschick.  Ihre 
freundliche  Zusendung  nach  Tubingen,  ich  meine  die  Zusendung  Ihrer 
Pfingstfahrt  und  der  Lenzlieder,  waren  mir  ein  frohlicher  Willkomm  in 
der  Musenstadt.  Sobald  sich  mir  irgendwie  die  richtige  Stimmung  ein- 
finden  sollte  wird  es  mir  ein  Vergniigen  sein  an  die  Composition  der 
Lenzlieder  zu  gehen.  Einstweilen  ist  daran  noch  nicht  zu  denken,  doch 
erhoffe  ich  mir  Alles  von  der  keimenden  und  strahlenden  Kraft  des 
Fruhlings,  der  sich  diesmal  schon  so  vorzeitig  ankundigt  und  hoffentlich 
auch  in  meiner  Brust  eine  verwandte  Saite  erklingen  lassen  wird. 

Mit  dem  besten  Dank  fur  Ihre  freundlichen  Wunsche  zu  meinem 
Tubinger  Erfolg  begrtisst  Sie  und  Ihre  verehrte  Frau 

Ihr  hochachtungsvoll  ergebener 

Wien,  2.  MMrz  894.  Hugo  Wolf. 

An  Earl  Grunsky. 

Verehrtester  Herri 
Zu  meinem  jetzigen  Bedauern  hatte  ich  seinerzeit  verabslumt,  ein 
von  Ihnen  an  mich  gerichtetes  Schreiben  zu  beantworten.  Ich  ergreife 
daher,  anldsslich  Ihrer  so  ungemein  sachgemissen  und  wahrhaft  profunden 
Besprechung  meiner  Lieder  in  der  schwdbischen  Chronik,  die  sich  mir 
darbietende  Gelegenheit,  meine  unverzeihliche  Fahrlassigkeit  wieder  gut 
zu  machen. 

Um  es  kurz  zu  sagen:  Sie  haben  mir  mit  Ihrem  treff lichen  Auf- 
satz  eine  wahre  Herzensfreude  bereitet. 

Wenn  ich  bisher  in  den  meisten  FMllen  Ursache  hatte,  mit  dem 
.Enttauschten*"  zu  klagen:  „ich  horchte  auf  Widerhall,  und  ich  horte 
nur  Lob**  —  durfte  ich  auf  Ihre  herrliche  Besprechung  hin  aus  vollem 
Herzen  ausrufen:  endlich  ein  Widerhall,  und  nicht  nur  ein  Lob. 


402 


Ich  glaube  mit  dieser  Bemerkung  alle  weitern  Expectorationen 
uberflussig  gemacht  zu  haben. 

Genehmigen  Sie,  verehrtester  Heir,  den  Ausdruck  meiner  respect- 
vollsten  Hochachtung  und  bewahren  Sie  auch  weiterhin  Ihre  mir  so 
wertvolle  Zuneigung. 

In  aller  Ergebenheit  Ihr  hochverpflichteter 

Wien,  27.  MSrz  1897.  Hugo  Wolf. 

Geehrtester  Herri 

Gleichzeitig  sende  ich  mit  bestem  Danke  die  mir  gutigst  zuge- 
stellten  Rezensionen  an  Ihre  werte  Adresse  ab.  Das  Schatzklstlein 
Ihres  poetischen  Freundes habe  ich  mit  grossem  Interesse  durchgelesen 
und  mich  an  dem  gediegenen  Gehalt  sowohl  als  der  vollendet  schdnen 
Form  der  Verse  erbaut. 

Mein  Freund  Dr.  Haberlandt,  der  schon  manches  bMuerliche  Genie 
entdeckte,  und  dessen  Hinden  ich  das  Buchlein  anvertraut  habe,  wird 
demnlchst  eine  Besprechung  desselben  in  den  Spalten  der  neuen  freien 
Presse  vom  Stapel  laufen  lassen.  Da  der  Verfasser  sein  Buch  mit  einer 
Inscription  versehen,  zugleich  aber  auch  ein  paar  artige  Verse  fur  mich 
sich  vorfinden,  weiss  ich  wahrlich  nicht,  wie  ich  mich  dazu  verhalten 
soil.  Ich  mdchte  Sie  nur  ungem  um  ein  Autograf  des  Dichters  bringen, 
anderseits  aber  auch  Ihre  freundliche  Dedication  nicht  so  ohne  weiteres 
von  mir  weisen. 

Befreien  Sie  mich  aus  diesem  Dilemma.  Dass  Sie  freiwillig  auf  eine 
anzubahnende  Correspondenz  mit  mir  verzichten  wollen,  dafur  bin  ich 
Ihnen  ganz  speziell  verbunden,  was  immer  ich  auch  dabei  verlieren  moge. 
Bei  der  enormen  Arbeitslast,  die  mir  das  sujet  der  neuen  Oper  Manuel 
Venegas  in  ndchster  Zeit  aufburden  wird,  wiirde  jegliche  Correspondenz, 
selbst  mit  meinen  vertrautesten  Freunden,  als  ein  unleidlicher  Zwang 
von  mir  empfunden  werden. 

Nehmen  Sie  mir,  hochverehrter  Herr,  diese  Freimiitigkeit  nicht 
ubel  und  bleiben  Sie  trotzdem  hold  gesinnt 

Ihrem  freundschaftlichst  ergebenen 

Wien,  2.  April  897.  Hugo  Wolf. 

An  Gertrud  Lambert. 
I. 

Liebe  gnidige  Frau! 
Ich  bin  Ihnen  sehr  verbunden  fur  den  Fingerzeig,  den  Sie  mir 
meuchlings  versetzten,  denn  ich  war  ohnehin  in  Verlegenheit  wegen 
eines  Weihnachtsgrusses  ftir  N.'s.    Zuerst  dachte  ich  ihn  oder  vielmehr 


^)  Christian  Wagner,  aut  Warmbronn  bei  Leonberg. 


403  8^ 


beide  mit  einem  Band  der  unlingst  erschienenen  neuen  Italienischen 
za  fiberraschen,  ein  Ansinnen,  das  ich  auch  fur  Sie  in  Bereitschaft  hatte. 
Da  Sie  aber  als  neugierige  Evastochter  mir  zuvorgekommen  sind  und 
ich  flhnliche  Neigungen  auch  bei  Frau  N.  vorauszusetzen  wagte,  wusste 
ich  mir  absolut  keinen  Rath.  Nun  kam  mir  Ihr  Fingerzeig  wie  gewunscht. 

Mit  heutiger  Post  geht  zugleich  eine  von  mir  bekritzelte  Photo- 
graphie  an  N.'s  ab  und  trifft  hoffentiich  zu  rechter  Zeit  auch  ein.  Dass 
meine  Italienischen  als  eine  wahre  Fundgrube  fur  Ihre  Stimmlage  sich 
erweisen  ist  ftir  uns  Beide  sehr  erfreulich.  Ich  wunsche  Ihnen  bald 
die  nothige  Musse  sich  eingehender  mit  dem  Bande  zu  befassen.  Was 
Sie  mir  uber  M.  schreiben,  iiberrascht  mich  gar  nicht.  Wie  mir  scheint 
ist  M.  bereitl^  ein  alter  Knabe.  Da  wunderts  mich  nicht,  dass  er  sich 
schon  fiir  meine  Sachen  interessiert. 

Lassen  Sie  ihn  erst  Methusalem's  Alter  erreichen  und  warten  wir 
noch  bis  er  heiser  sein  wird  wie  eine  Krihe  und  ich  mdchte  wetten, 
dass  er  sich  mit  einer  wahren  Wuth  auf  meine  Sachen  stiirzen  wird. 
Ich  kenne  diese  illustre  Singerbagage.  Wenn  sich  diese  hohen  und 
hdchsten  Herrschaften  ausgegrdhlt  haben,  dann  kommen  sie  zu  mir» 
dann  wir*  ich  ihnen  gut  genug  —  aber  —  Hand  von  der  Taschen  — 
dann  giebts  von  meiner  Seite  nur  Fusstritte  und  Rippenstdsse.  Herr  M. 
mdge  sich  dies  gesagt  sein  lassen. 

Mit  NIchstem  werde  ich  das  zweifelhafte  Vergnugen  haben  die 
zrWlfte  des  4.  Aktes  meiner  Oper  im  Verein  mit  Frau  Mayreder 
gSnzlich  umzugestalten,  da  sich  das  Wiener  Opemtheater  an  der  ur- 
sprunglichen  Fassung,  trotz  vorgenommener  Striche,  stosst. 

Das  ist  mir  eine  schdne  Weihnachtsbescheerung.  Wunschen  Sie 
mir  Geduld  und  Fassung  zu  diesem  heillosen  Unternehmen  und  seien 
Sie  mit  Ihrem  Gemahl  aufs  schdnste  begrlisst  von 

Ihrem  sehr  ergebenen 

Hugo  Wolf. 

Alles  Cute  und  Schdne  zum  neuen  Jahr. 
Wien,  21.  Dezemb.  1896. 

 —  Bezuglich  der  transponirten  Lieder,  —  naturlich  fur 

tiefere  Stimme  —  kann  ich  gegenwirtig  nichts  Bestimmtes  mittheilen. 
Vorllufig  besteht  nur  die  Absicht  transp.  Ausgaben  zu  veranstalten.  So- 
bald  diese  Angelegenheit  spruchreif  sein  wird  sollen  Sie  davon  ver- 
stindigt  werden.    Also  noch  ein  bischen  Geduld.    Ganz  der  Ihrige 

Hugo  Wolf. 

Wien,  4.  Mai  1898. 

Stuttgart,  den  16.  Februar  1904. 
An  die  Redaktion  der  Suddeutschen  Monatshefte. 
Es  ist  mir  eine  Freude,  meinen  Wolfbrief  in  Ihrem  getcbitzten  Blatt  und  in 
80  wdrdigem  Rthmen  erscheinen  zu  seben.  Von  Wert  wire  mir,  wenn  Sie  auch  den 
paar  Zeilen,  die  ich  hier  niederschreibe,  Raum  gdnnten.  Ich  mdchte  gem  damit 


404  8^ 


belegen,  diss  Hugo  Wolf  der  Transposition  seiner  Lieder  nicht  gmndsitzlich  tb* 
geneigt  war.  Jeder  Komponist  wird  vorziehen,  wenn  seine  Kompositionen  in  der 
von  ihm  gewihlten  Tonart  wiedergegeben  werden.  Geht  dies  aber  nicht,  so  ist 
es  ihm  in  den  moisten  Fillen  gewiss  lieber,  wenn  die  Lieder  in  anderer  Tonart, 
als  wenn  sie  gar  nicht  gesnngen  werden.  —  Die  Zeilen  bilden  den  Schluss  einer 
Karte,  deren  Anfang  Ton  einem  Besuch  meines  j  Mannes  in  Wien  handelt.  Be- 
kanntlich  erkrankte  Hugo  Wolf  im  September  1806  anfs  none. 

Hochachtungsvoll 

Gertrud  Lambert. 

An  Adolf  Nast. 

Verzeihen  Sie  lieber  u.  hochverehrter  Herr  Nast,  dass  ich  nicht 
fruher  schon  an  Sie  geschrieben,  aber  Sie  wissen  nur  zu  gut,  wie  sehr 
ich  unter  dem  Andrang  von  Correspondenzen  zu  leiden  babe.  Ich  wteder- 
hole  nochmals,  dass  die  herrlich  schdnen  Tage,  die  ich  in  Ihrem  gast- 
lichen  Heim  verlebt,  bleibend  in  meinem  Gedachtnisse  hafteti  werden. 
Haben  Sie  herzlichsten  Dank  ftir  all  die  Liebe  und  Giite,  die  Sie  und 
Ihre  liebe  verehrte  Frau  mir  in  so  reichem  Masse  angedeihen  liessen^ 
Director  Jahn  habe  ich  nun  doch  nicht  in  Salzburg  angetroffen,  da  er 
Tags  zuvor  nach  Wien  reisen  musste.  Da  ich  aber  nun  einmal  die 
route  uber  Salzburg  eingeschlagen,  bendtzte  ich  dieselbe  zu  einem  kleinen 
Abstecher,  urn  Kocherts  in  Traunkirchen  aufzusuchen.  Das  schlechte 
Wetter,  das  jedoch  inzwischen  eingetreten  (wir  batten  dasselbe  am  15.') 
notiger  gehabt),  verleidet  mir  einigermassen  den  Aufenthalt  hier,  und  so 
werde  ich  noch  heute  Abend  mich  auf  die  Socken  machen  und  nach  Wien 
reisen.  Falls  Sie  die  Copien  der  italienischen  Lieder  noch  nicht  an 
Meckel  gesendet,  bitte  ich  Sie  dieselben  nach  Wien  IV.  Pldsfselgasse  4 
zu  adressiren.  Faisst  wird  die  zwei  fehlenden  Lieder  wohl  schon  aus- 
gefolgt  haben,  wenn  aber  nicht,  moge  er  mir  dieselben  sofort  nach  Wien 
senden  u.  z.  an  die  oben  angegebene  Adresse.  Sobald  ich  mit  Director 
Jahn  mich  verstindigt  haben  werde,  sollen  Sie  Nachricht  erhalten.  In- 
zwischen die  alierherzlichsten  Griisse  an  Sie  und  Ihre  liebenswurdige  Frau 
von  Ihrem  dankbar  ergebenen 

Traunkirchen,  21.  Juni  896.  Hugo  Wolf. 

Lieber  Herr  Nast  I  Bis  heute  27.  Juni  ist  noch  immer  nicht  der 
Tannhauserklavierauszug  eingetroffen.  Bitte  mir  genau  das  Datum  an- 
zugeben,  an  welchem  Tage  die  Sendung  in  Stuttgart  resp.  Degerloch 
aufgegeben  wurde,  oder  wollen  Sie  dieselbe  reclamieren?  Das  Einrichten 


^)  Tag  des  Konzertes  in  Stuttgart 


405 


meiner  neuen  Wohnung  macht  mir  jetzt  viel  zu  schaffen.  Ende  nichster 
^oche  gedenke  ich  in  die  Schwindgasse  3  zu  ubersiedeln.  Einstweileo 
bitte  Pldsselgasse  4  zu  adressiren.  Herzlichste  Grusse  auch  an  Lamberts. 
Letztere  bitte  telephoniscb  von  mir  aus  zu  grussen. 

Inimer  Ihr  dankbarer 
Wien,  27.  Juni  896.  Hugo  Wolf. 

Lieber  verehrter  Herr  NastI 

Sie  baben  mir  mit  den  zwei  Binden  der  Kellerbriefe,  die  vorgestem 
^oblbehalten  bier  aniangten,  eine  ganz  besondere  Freude  gemacht  Ihre 
freundlicben  Zeilen  sind  mir  erst  gestem  zugestellt  worden.  Nebmen 
Sie  fur  beides  meinen  verbindlicbsten  Dank  entgegen.  Ibr  gemutliches 
Heim  kann  ich  mir  zur  scbonen  Winterzeit  lebhaft  vorstellen.  Wie  Sie 
sicb's  behaglich  in  der  grossen  luftigen  Halle  vor  dem  prasselnden  Kamin 
macben,  den  kdstlicben  Duft  einer  Havanna  einschltirfen,  mit  Ibrer  lieben 
Frau  plaudem  und  ab  und  zu  mit  der  schdnen  Aussicbt  liebflugeln.  Wie 
gem  wurde  ich  Ibnen  dabei  Gesellscbaft  leisten,  mindestens  am  Klavier, 
das  jetzt  wohl  nicbt  sonderlich  strapaziert  wird. 

Ober  das  Schicksal  meiner  Oper  kann  ich  leider  nicht  viel  er- 
freulicbes  berichten;  bis  dato  bat  sich  noch  keine  Biihne  um  das  Werk 
l>eworben.  Wohl  aber  wurde  mir  von  Kapellmeister  Fuchs  (von  der 
Jiiesigen  Oper)  bedeutet  den  4.  Akt  umzugestalten,  da  die  grosseren 
Buhnen  es  nicht  riskiren  konnten  ein  Werk  mit  einem  dergestalt 
nproblematischen*  Schluss  aufzufiihren.  Sie  kdnnen  sich  denken,  dass 
-solcbe  Eroffnungen  nicht  sebr  ermuthigend  auf  mich  einwirken.  Wenn 
ich  nur  schon  die  ganze  Geschichte  vom  Halse  bltte,  um  mit  frischen 
KrSften  an  ein  neues  Werk  zu  gehen,  denn  Anderungen  und  Umgestaltungen 
machen  eine  Sache  gewdbnlich  schlechter  als  besser.  Leider  werde  ich» 
wie  in  letzter  Zeit  so  hlufig,  durch  unwillkommenen  Besuch  unterbrocben. 
Da  ich  ohnedies  schon  zu  lange  mit  meiner  Antwort  gezdgert,  will  ich 
Gileses  Schreiben  nicht  wieder  hinausschieben  und  eile  somit  zum  Schluss 
nicht  ohne  Ibnen  zuvor  noch  ein  herzliches  prosit  Neujahr  zuzurufen 
und  Sie  wie  Ihre  liebe  verehrte  Frau  auf  s  allerschSnste  und  wflrmste  zu 
begriissen  als  Ihr  treulichst  ergebener 

Wien,  4.  Januar  897.  Hugo  Wolf. 

Verzeihen  Sie,  lieber  Herr  Nast,  diese  etwas  verspflteten  Zeilen. 
Die  Neujahrswoche  hlufte  solcbe  Massen  von  Correspondenzen  an,  dass 
^  mir  beim  besten  Willen  nicht  mdglich  war  alien  meinen  Verpflich- 
tungen  bei  Zeiten  nachzukommen  


SOddeutsche  Monauhefte.  1,5. 


27 


^   406  8^ 


Wie  geht  es  Ibnen,  lieber  Herr  Nast,  und  was  macht  Ihre  channante 
Frau?  In  Ihrem  verschneiten,  aber  iusserst  gemutlicben  Nest  auf  der 
windigen  H5he  mag  es  jetzt  wohl  sehr  traulich  sein.  Was  gibe  ich 
drum,  kdnnte  icb  melnen  dennaligen  Aufentbaltsort  mit  dem  Ibrigen  ver< 
tauscbenl  Sind  Sie  ein  glucklicber  Menscbl  Besitzer  einer  scbonen 
Villa  in  pracbtvoller  Gegend  auf  waldiger  H5b  und  dazu  einer  liebens^ 
wertben  Frau  —  wabrlicb  Sie  sind  beneidenswertb.  Weiss  Gott,  ob 
icb's  jemals  annibemd  nur  so  weit  bringen  werde.  Zu  scbltzen  wusste 
icb  jedenfalls  ein  solcbes  Glfick.  Aber  icb  bin  ein  prftdestinirter  Pech- 
vogel,  der  sicb's  an  seinen  Luftscbldssem  genugen  lassen  muss,  was 
freilicb  verdammt  wenig  ist. 

Grtissen  Sie  meine  Freunde  Keller  und  L4imbert  und  nicbt  zuletzt 
Ihre  verebrte  Frau. 

In  alter  Herzlicbkeit  und  Ergebenbeit 

ganz  der  Ibrige 

Wien,  7.  Januar  898.  Hugo  Wolf. 

III.  Leonbardgasse  3 — 5. 


Eduard  M5rike. 

Rede  bei  der  Jahrbundertfeier^)  in  Stuttgart  gebalten 
von  Otto  Gfintter  in  Stuttgart 

Am  Spfttnacbmittag  des  6.  Juni  1875  umstand  ein  kleiner  Kreis 
emster  Mflnner  und  Frauen  auf  unserem  Pragfriedbof  ein  offenes  Grab. 
In  tief  empfundenen  Worten  gab  einer  der  Leidtragenden  dem  Aus^ 
druck,  was  sie  alle  bewegte.  ^Du  wirst  nicbt  bertibmt  sein,  rief  er 
dem  dahingescbiedenen  Freund  nach,  bei  denen,  die  es  nicbt  fassen,  dass 
der  Dicbter  in  diese  unsere  Welt  eine  zweite,  eine  Welt  von  bolden 


^)  Am  8.  September  1904  werden  et  hundertjahre  seitMSrikes  Geburt  Der 
kleine  Kreis  derer,  die  schon  zu  seinen  Lebzeiten  die  unvergleicblicbe  Herrlicbkeit 
seiner  Poesie  in  ibrem  voUen  Wert  erkannten  und  wurdigten,  bat  bald  nacb  MSrikes 
Hingang  fiber  seinem  Grab  in  Stuttgart  ein  Denkzeicben  mit  dem  Reliefbild  des 
Dichters  errichtet.  Leider  hat  sicb  der  damals  gewihlte  Stein  ala  wenig  widerstands^ 


407 


und  gewaltigen  Wundern  hineinstellt.  Aber  es  gibt  eine  Gemeinde,  die 
sich  labt  und  entzuckt  an  deinen  wunderbaren  Triumen,  und  sie  wird 
wachsen,  diese  Gemeinde,  sich  erweitern  zu  Kreis  urn  Kreis,  Bund  um 
Bund  wird  sich  bilden  von  Einverstandenen  in  deinem  Verstlndnis.'' 
Der  so  sprach,  war  Friedrich  Vischer,  und  wie  begriindet  sein  voraus- 
schauendes  Vertrauen  war,  durfen  wir  heute  mit  Augen  sehen,  denn 
der,  dem  diese  Worte  galten,  war  der  Dichter,  dessen  Name  uns  hier 
zusammengefuhrt  hat,  Eduard  Morike. 

Wohl  batten  die  Freunde  schon  nach  den  ersten  Werken  Morikes 
den  reichen  Lorbeer  geschaut,  der,  andem  noch  unsichtbar,  dieses 
Dichters  Stirn  umkrlnzte,  wohl  batten  sie  ihn  mit  feinem  und  sicherem 
Verstlndnis  sofort  an  die  richtige  Stelie  geruckt  in  ihrer  Schitzung 
und  ihm  seinen  Platz  in  der  ersten  Reihe  unserer  Lyriker  angewiesen. 
Aber  es  blieben  lange  Zeit  nur  vereinzelte  Stimmen,  denen  andere 
gegenubertraten,  die  da  meinten,  dass  diese  Schwaben  viel  zu  hoch 
dichten  von  ihrem  Landsmann.  Eine  seltsame  Tfluschung!  Denn  die 
Schwaben  sind  sehr  kritische  Leute  und  haben  ihre  Dichter  nie  ver- 
wdhnt  mit  Lob,  so  lange  diese  lebten.  So  blieb  denn  auch  in  seinem 
Heimatland  Mdrikes  Poesie  lange  Zeit  nilr  ein  Besitz  weniger,  die  es 
ihm  freilich  Dank  wussten,  dass  sie  bei  ihm  gelemt,  was  wahre  Poesie 
sei,  und  noch  Jahrzehnte  dauerte  es  nach  seinem  Tod,  bis  im  Norden 
unseres  Vaterlandes  die  Erkenntnis  reifte,  dass  Mdrikes  Dichtung  «die 
eigenartigste  und  duftigste  Blute  sei,  die  dem  schwSbischen  Gottesgarten, 
der  poetisch  reichsten  Landschaft  Deutschlands,  entsprossen*.  Jetzt,  wo 
das  19.  Jahrhundert  hinabgesunken  ist  und  alles,  was  in  ihm  nur  Tages- 
bedeutung  hatte,  immer  mehr  zusammenschrumpft,  jetzt  wird  es  immer 
deutlicher  und  immer  weiteren  Kreisen  erkennbar,  was  echt  und  bleibend 
ist  in  der  Kunst  dieses  Jahrhunderts,  was  |etzt  noch  aus  ihm  hervor- 
ragt  und  wie  hoch  es  emporragt.  Kommt  auch  keiner  seiner  Dichter 
an  Umfang  und  Bedeutung  seines  Schaffens  den  ganz  Grossen  und  Ge- 
waltigen der  vorangegangenen  Periode  gleich,  so  leuchtet  doch  mehr  als 
einer  von  ihnen  in  unvergflnglichem  Glanz,  weil  er  mit  Eigenlicht  strahlt, 
und  unter  diesen  nicht  als  der  geringste  unser  Eduard  Mdrike. 

Als  Mdrike  in  einem  schmichtigen  Bindchen  seine  Gedichte  zum 
erstenmal  vereinigt  erscheinen  liess,  da  war  die  Zeit  freilich  nicht  dazu 


fihig  erwiesen,  so  dass  schon  jetzt  die  Verwittening  weit  vorgeschritten  itt.  Der 
Literarische  Klub  Stuttgart  stellte  sich  daher  die  Aufgtbe,  auf  den  hundertsten 
Gebartstag  M5rikes  das  Grabmal  aus  wetterbettindigem  Material  herzustellen.  Die 
Gedlchtnisfeier  Stuttgarts  fur  Eduard  M5rike  wurde  darum  schon  im  November 
V.  J.  gehalten,  da  der  Ertrag  dieser  Feier,  neben  einer  Sammlnng,  die  Mittel  fCir 
die  Emeuerung  des  Grabroals  bringen  sollte.  Dieser  Zweck  ist  denn  auch  im 
reichsten  Mass  erreicht  worden,  so  dass  noch  ein  Grundstock  zur  VerfQgung  bleibt, 
der  die  Erbaltung  des  Denkmals  und  eine  entsprechende  Bepflanznog  des  Grabes 
daaemd  sicher  stellt  Die  Feier,  die  in  Anwesenheit  des  Kdnigs  von  Wiirttemberg 
und  anderer  Angehdrigen  des  Kdnigshauses  stattfand  und  der  zweieinhalbtausend 
Ztth5rer  anwohnten,  wihrend  hunderte  anderer  keinen  Zuiass  mehr  flnden  konnten, 
legte  beredtes  Zeugnis  dafur  ab,  wie  sehr  M5rike  sich  jetzt  in  weitesten  Kreisen 
die  Herzen  gewonnen  hat. 

27* 


••8   408  8** 


angetan,  einen  Dichter,  der  nichts  als  Dichter  war,  zu  erkennen  und  zn 
wurdigen.  In  den  Jahren,  in  denen  diese  Gedichte  ihren  Weg  hitten 
machen  sollen,  tibertonte  der  Linn  der  politiscben  Tendenzlyrik  der 
vierziger  Jahre  die  feinen  Klinge  der  Mdrikeschen  Poesie,  die  nicht  aus 
dem  Dunst  und  Gewdlk  des  Tages  herausblitzte,  sondem  dent  beitem 
Himmel  ew'ger  Kunst  entstiegen  war,  und  keine  andere  Absicbt  hatte, 
als  eben  Poesie  zu  sein.  Die  Losungsworte  der  Zeit  klangen  in  seinen 
Dicbtungen  nicbt  wieder;  dem  Kampf  der  politiscben  Meinungen  stand 
er  fern.  Das  soil  nicbt  zu  seinem  Lobe  gesagt  sein,  aber  es  darf  ibm 
aus  dieser  Tatsacbe  aucb  kein  Vorwurf  gemacbt  werden.  Er  wusste, 
was  ibm  gemiss  war.  Seine  Natur  braucbte  die  Stille;  ^.Einsamkeit  ist 
deine  Welt*,  batte  er  sicb  scbon  auf  der  Scbule  gesagt  sein  lassen.  Er 
liebte  es,  wie  ein  Kind  aus  einem  stillvergnugten  Winkelcben  binaus- 
zugucken  in  die  Welt,  vor  der  er  sicb  obne  Hass  verscbloss.  So  war's 
ibm  wobl  und  nur  so  konnte  reifen,  was  in  ibn  gelegt  war,  und  die 
vergeblicben  Versucbe,  die  er  in  jungen  Jabren  gemacbt  bat,  um  in 
andere  VerbSltnisse  zu  kommen,  baben  ibn  nur  gelehrt,  dass  er  dazu 
nicbt  gescbalTen  sei,  und  ibn  wieder  zuruckgefiibrt  in  die  umfriedeten 
Kreise,  wo  er  sicb  zuletzt  docb  geborgen  fublte,  in  die 

stiUe  Himmelsenge, 
Wo  nur  dem  Dicbter  reine  Freude  blubt, 
Wo  Lieb'  und  Freundscfaaft  unsres  Herzens  Segen 
Mit  Gdtterhand  erscbaffen  und  erpflegen. 

Und  wie  er  bier  das  fand,  was  seiner  Art  zusagte,  so  wurde  ibm  aucb 
bald  klar,  wo  seine  eigentlicbe  Begabung  liege.  Als  Jungling  hatte  er 
geglaubt  auf  dramatiscbem  Gebiet  sein  Hdcbstes  leasten  zu  kdnnen;  aber 
das  Drama,  das  seiner  Bestimmung  nacb  nicbt  langsam  und  still  wirken 
kann,  sondem  sofort  und  mit  starkem  Druck,  muss  mit  groberen  Stricben 
zeicbnen,  als  sie  Morikes  feinem  Stift  zu  Gebot  standen.  Wohl  fubrt 
er  uns  in  dem  Roman  seiner  Jugend,  im  .Maler  Nolten*,  in  einem 
dramatiscben  Zwiscbenspiel  in  das  Traumland  seiner  J  iinglings jahre,  und 
wunderbare  Scbdnbeiten  leucbten  aucb  da  uns  entgegen,  aber  die 
Stimmungspoesie  dieses  Scbattenspiels  bewibrt  ibn  eben  als  Lyriker. 
Fubren  von  diesem  Drama  Fiden  zuruck  zu  der  romantiscben  Periode 
unserer  Literatur,  so  ist  das  aucb  im  erzMblenden  Teil  seines  .Maler 
Nolten**  der  Fall,  und  dieser  romantiscbe  Einscbuss  im  Gewebe  der 
Dicbtung  beriibrt  uns  Kinder  einer  andem  Zeit  recbt  fremdartig.  Aber 
trotz  allem,  was  sicb  einwenden  lisst,  welcb  ein  Meer  von  Poesie  wogt 
in  diesem  Roman  an  uns  vorfiber,  in  einer  Spracbe  von  wunderbarem 
Woblklang  und  unerbdrtem  Bilderreicbtum,  und  dabei  docb  mit  einem 
weisen  Massbalten,  das  Erstlingswerken  sonst  nicbt  eigen  zu  sein  pflegt 
So  stand  er  als  Erzibler  sofort  auf  seiner  vollen  Hdbe:  der  junge 
Dicbter,  der  von  Welt  und  Leben  wabrbaftig  nicbt  viel  geseben  batte, 
erwies  sicb  als  ein  Scbdpfer  von  Menscben  voll  sinnlicber  LebensfBlle 
und  Lebenswdrme,  die  in  voller  Rundung,  in  Fleiscb  und  Blut,  vor  uns 
steben  und  ibren  eigenen  Gang  durcbs  Leben  geben. 

Und  wie  sein  Roman  nicbt  als  erster  tastender  Versucb  erscheint. 


409  8^ 


so  'finden  wir  auch  unter  seinen  Gedichten  keines,  in  dem  er  uns  als 
unmQndiger  Sohn  Apotlens  entgegentrite.  Mag  im  .Maler  Nolten*' 
manches  an  die  Zeit  seiner  Entstehung  erinnern:  die  herrlichen  Lieder, 
die  er  in  ihn  verwoben  hat,  sie  wissen  von  keiner  Zeit;  wie  am  ersten 
Tage  blicken  sie  noch  heute  uns  an  in  stiller  ewiger  Klarheit.  Lyriker 
ist  Mdrike  vor  allem  gewesen  und  im  tiefsten  Kern  seines  Wesens,  und 
seine  Gedichte  zeigen  die  gleiche  Vollendung  von  dem  ersten  des 
Junglings  bis  zu  den  wenigen,  die  ihm  seine  splteren  Tage  noch  be- 
schert  haben.  Wussten  wir  es  nicht,  wir  warden  es  nicht  vermuten, 
dass  ein  Zwanzigjihriger  jene  wunderbaren,  geheimnisumwobenen  Pere- 
grinalieder  gedichtet  hat,  die  uns  erzlhlen,  wie  ein  Irrsal  kam  in  die 
Mondscheingftrten  einer  einst  heiligen  Liebe,  die  wie  heisse  Blutstropfen 
seinem  blutenden  Herzen  entquollen,  deren  Gold  in  heiligem  Gram  ge- 
diehen  ist  aus  dem  schwersten  seelischen  Kampf,  den  er  durchgeklmpft 
hat.  Das  persdnlichste  Erlebnis,  aber  rein  Bild  geworden,  so  sind  die 
Mehrzahl  seiner  Gedichte,  und  eben  das  macht  ihren  hohen  Wert  aus. 
Niemals  finden  wir  bei  ihm  etwas  Anempfundenes  oder  gar  Gemachtes, 
nichts  als  was  aus  seinem  Innersten  ganz  von  selbst  emporstieg  und 
sich  gestaltete,  im  grdssten  wie  im  kleinsten  die  unbedingte  Wahrheit 
aller  innerlich  grossen  Kunst.  »Von  innerem  Gold  ein  Widerschein*, 
sind  diese  Gedichte  hervorgeflossen  aus  den  Tiefen  eines  mit  sich  selbst 
einigen  und  immer  sich  selbst  treuen  Menschen,  der  in  sich  etwas  war. 
Nur  aus  einer  reingestimmten  Seele  konnten  solche  reingestimmte  Tone 
kommen,  und  wir  verstehen  es,  wenn  der  Freund  seiner  Junglingsjahre, 
wenn  Ludwig  Bauer  an  Mdrike  schreibt:  ,Es  ist  mir  lieb,  dass  nur  dann 
Dein  ganzes  wunderbares  Selbst  vor  mir  steht,  wenn  sich  die  gemeinen 
Gedanken  wie  miide  Arbeiter  schlafen  legen  und  die  Wunschelrute 
meines  Herzens  sich  zittemd  nach  den  verborgenen  Urmetallen  hinab- 
senkt.*  Es  sind  die  Sonntagstunden  unseres  Lebens,  wo  wir  in  des 
Schdnen  Gestalt  ewige  Michte  uns  nahe  fiihlen,  und  es  will  nicht  wenig 
heissen,  ein  Dichter  zu  sein,  zu  dem  wir  uns  hinwenden  in  den  stillen 
Augenblicken,  wo  der  Mensch  gleichsam  mit  angehaltenem  Atem  auf 
den  Grund  der  eigenen  Seele  niederschaut  und  den  geheimsten  Puis 
seines  ahnungsvolleren  geistigen  Lebens  fuhlt,  wo  wir  Einkehr  haken 
in  uns  selbst,  und  all  das,  was  am  Alltag  in  lautem  Lftrm  uns  umgibt^ 
hinabsinkt  und  in  der  Feme  verklingt  und  auch  wir  mit  dem  Dichter 
ausrufen: 

n\M9y  0  Welt,  o  lass  mich  tein!  — 
Ltstt  dies  Herz  aileine  haben 
Seine  Wonne,  seine  Pein!* 

Mdrike  war  einer  der  Menschen,  die  uns  etwas  geben  kdnnen,  die 
nach  innen  leben  und  nicht  nach  aussen,  und  die  in  ihrem  Innem  eine 
Welt  bergen.  Diese  Welt  hatte  nicht  die  Weite  des  geistigen  Weltreichs 
eines  Goethe;  es  war  ein  weit  engerer  Bezirk,  aber  innerhalb  dieser 
Grenzen  war' auch  er  ein  Kdnig.  Und  so  eng  diese  Grenzen  sind,  sie 
umschliessen  doch  eine  Fulle  des  Lebens.  Er  vemimmt  eben,  was 
Tausende  nicht  hdren,  und  sieht,  was  sie  nicht  sehen.    Wenn  der  freche 


410 


Tag  verstummt  und  des  Himmels  klingende  Heere  heraufziehen  und 
ihren  seligen  Weg  ewig  gelassen  dahin  gehen,  wenn  auf  Daft  und  Nebel- 
bulle  des  Mondes  leiser  Zaubertag  schwimmt,  da  llsst  er  uns  die  leisen 
Stimmen  boren,  „der  Erdenkrifte  flfisterndes  Gedringe*,  und  die  Quellen, 
<lie  in  der  Stille  keeker  bervorrauschen  und  singen  „voni  Tage,  vom 
beute  gewesenen  Tage"".  Tiefer  als  andere  blickt  er  binein  in  das,  was 
unausgesprocbeuy  aber  docb  nicbt  unfiibibar,  um  uns  lebt  und  webt,  und 
weiss  ibm  Wort  zu  ieiben,  so  dass  wir  oft  auf  seine  Gedicbte  selbst 
die  Worte  anwenden  mdcbten: 

O  hier  ist's,  wo  Natur  den  Schieier  reitst! 
Sie  bricbt  einmal  ibr  ubermenscblich  Scbweigen; 
LAut  mit  sicb  selber  redend  will  ibr  Geist, 
Sicb  selbst  yeraebmend,  sicb  ibm  selber  zeigen. 

Wer  ihn  kennen  gelemt  bat,  den  begleitet  er  durcb  den  Wechsel 
der  Jabreszeiten,  wenn  der  Friibling  sein  blaues  Band  wieder  flattem 
llsst  durcb  die  Lufte,  wenn  im  Sommer  die  Bliiten  beben  und  die  Lufte 
leben  und  in  boberm  Rot  die  Rosen  leucbten  vor,  wenn  der  blaue 
Himmel  den  Nebel  durcbbricbt  und  berbstkr^ftig  die  gedimpfte  Welt  in 
warmem  Golde  fliesst.  Wir  seben,  wie  er  am  Waldsaum  liegt  und 
sein  Gemute  ofTen  stebt,  sehnend,  sicb  debnend  in  Lieben  und  HofFen, 
und  ein  lieblicber  Gedankenscbwarm  ibn  uberfillt,  oder  wie  er  in  Er- 
innerung  verdammemd  trMumt  und  denkt  »alte,  unnennbare  Tage*,  oder 
wie  er  an  einem  Wintermorgen  in  der  flaumenleicbten  Zeit  der  dunkeln 
Fruhe,  dem  Eindruck  naher  Wunderkrifte  offen,  von  sanfter  Wobllust 
seines  Osseins  gltiht,  und  im  Gefubl  entzuckter  StSrke  der  Genius  in 
ibm  jauchzt  und  ibm  docb  der  Blick  von  Webmut  feucht  wird.  Der 
ausruft:  ^Erdenleben,  lass  dicb  begen,  uns  ist  wohl  in  deinem  Arm^, 
kennt  aber  auch  die  qualvollen  Stunden,  wo  nicbtelang  kein  Scblaf  das 
Auge  kiihlt,  wo  sein  verstdrter  Sinn  bin-  und  berwiihlt  und  Nacht- 
gespenster  scbaflt,  wo  er  angstvoll  und  vorwurfsvoll  sicb  am  Boden 
windet.  Docb  aucb  dann  beisst  es  wieder  nsngste,  quale  dicb  nicbt 
linger,  meine  Seele^,  und  er  verwtinscbt  nicbt  seinen  Lebenstag,  sondem 
fasst  sicb  still  im  Herzen,  das  er  kennt  und  das  ibn  kennt,  und  «es 
bupfte  ibm  das  Herz  im  Busen,  das  nocb  erst  geweinet  batte". 

Aber  Morike  versteht  es  aucb,  von  der  Person  des  Dicbters  vdllig 
losgeloste  Bilder  zu  geben.  Von  so  vielen  kdstlicben  Perlen  sei  nur 
die  kostlicbste  genannt,  jenes  Lied  vom  verlassenen  Mdgdlein,  dem 
Trine  auf  Trane  niedersturzt  tiber  dem  unermesslichen  Web  ginzlicher 
Verlassenbeit,  ein  Lied  gesdttigt  mif  Empfindung  und  dabei  von  der 
reinsten  und  klarsten  Zeicbnung,  wie  es  ausser  Morike  nur  Goetbe 
hStte  macben  konnen.  Und  wie  dieser,  so  weiss  aucb  Mdrike  immer 
die  recbte  Form  zu  finden,  oder  vielmebr:  Gebalt  und  Gesti^lt  entfliessen 
ibm  wie  mit  innerer  Natumotwendigkeit  in  wunderbarem  Einklang.  Dabei 
verfugt  er  tiber  einen  staunenswerten  Reicbtum  an  Formen  und  bewegt 
sicb  in  alien  mit  gleicber  Vollendung  und  Anmut,  ob  er  nun  von  Kdnig 
Ringangs  Tocbterlein  singt  oder  in  geisterscbwuleo  Balladen  eine  Welt 


411 


des  Traumes-  vorfuhrt,  in  Idylle  und  Legende  alten  Chronikenstil  an- 
scbligt  und  in  Hans  Sachsischen  Ton  sicb  gehen  lisst,  ob  sein  Lied 
wie  ein  Vdgelein  zierlicb  auf  der  Erde  dabin  bupft  oder  den  bohen 
Flug  wagt,  ob  er  ein  Mausfallenspnichlein  dicbtet  oder  uber  seinem 
Sange  die  Sonne  Homers  leucbtet  und  er  wie  Iphigeniens  Dicbter  in 
reiner  Opferschale  den  ecbten  Tau  der  alten  Kunst  schdpft.  Aus  kleinen 
Anregungen  des  Erlebens  fublt  er  den  dauemden  Gebalt  beraus  und 
stellt  ibn  bildmlssig  vor  uns  bin.  Er  verstand  es  aber  aucb,  aus 
Kleinigkeiten  Lust  und  Begeisterung  zu  saugen,  bis  auf  den  letzten 
verborgensten  Honigtropfen  alles  aus  der  unscheinbarsten  Lebensblute 
berauszubolen.  Das  kleinste  Erlebnis  konnte  in  seiner  iiberaus  empfin- 
dungsflbigen  Natur  nacbzittem  bis  in  die  feinsten  Veriderungen  seines 
geistigen  Wesens,  um  fruher  oder  splter  bildgeworden  wieder  bervor- 
zutreten.  Oft  erst  nacb  Jabren,  denn  er  verstand  es,  zu  warten,  und 
nie  bat  er  mit  stumpfem  Finger  die  Saiten  gerubrt.  Er  bat  nie  dicbten 
wollen;  still  barrte  er,  bis  ibm  die  Muse  mit  einem  Liebesbauch  das 
Herz  berubrte  und  er  im  Geist  ein  kdstlicbes  Liedcben  empfing.  Wenn 
ibm  aber  die  Muse  gunstig  war,  dann  wusste  er  aus  allem  etwas  zu 
macben  und  was  er  berubrte,  wurde  dicbteriscbes  Gold.  Diese  besondere 
Gabe,  das  scbeinbar  Wertlose  in  poetiscbes  Leben  zu  verwandeln,  bat 
einem  seiner  Freunde  das  kdstlicbe  Wort  eingegeben:  .Mdrike  nimmt 
eine  Handvoll  Erde,  dnickt  sie  ein  wenig  —  und  alsbald  fliegt  ein 
Vdgelchen  davon*.  Mit  der  ftussersten  Konzentration  von  Wort  und 
Bild,  die  ibm  eigen  ist,  vermag  er  in  Einem  Gedicbt,  ja  in  Einer  Stropbe 
zu  geben,  was  andere  in  einer  Reibe  von  Gedicbten  ausgesponnen 
bitten.  Dabei  umspielt  seine  Worte  ein  milder  Scbimmer  goldenen 
Licbts;  es  umwittert  sie  jener  Haucb  gebeimnisvollen  Naturlebens,  der 
die  wabre  Blute  unterscbeidet  von  der  kunstlicben,  und  sie  fugen  sicb 
zusammen  in  wunderbarem  Wobllaut.  Von  jeber  baben  sie  denn  aucb 
Komponisten  gereizt,  die  entsprechenden  Tone  binzuzufinden.  Die  Freunde 
der  Musik  wissen  es  Morike  Dank,  dass  er  mit  seinen  Dicbtungen  so 
mancben  Meister  des  Tones  entziindet  und  berrlicbe  Lieder  bervorge- 
lockt  bat,  von  den  trefflichen  Kompositionen  seiner  Freunde  und  Lands- 
leute  aus  friiberen  Jabren,  eines  Hetscb,  Kauifmann,  Scberzer,  bis  zu 
Hugo  Wolfs  genialen  musikaliscben  Paralleldicbtungen  zu  Morikes 
Liedem,  die  uns  wie  durcb  ein  Zauberglas  ins  Goldgewebe  seiner 
TrMume  blicken  lassen  und  Mdrike  vielen  Tausenden  bekannt  und  ver- 
traut  gemacbt  baben.  Und  ist  es  nicbt,  als  babe  Mdrike  der  Scbwester- 
kunst  dies  zum  voraus  vergelten  wollen,  indem  er  jenes  Kleinod  seiner 
erzMblenden  Poesie  scbuf,  Mozart  auf  der  Reise  nacb  Prag? 

So  musikaliscb  aber  Mdrikes  Lieder  sind,  niemals  zerfliesst  und 
verscbwebt  seine  Dichtung  in  blossen  Woblklang  scboner  Worte,  immer 
bleibt  sie  gestaltend  und  klar  umrissen,  aucb  wenn  er  uns  selbstge- 
scbaffene  Traum-  und  Mircbenwelten  vorfubrt  oder  seinem  pbantastiscben 
Humor  die  Zugel  scbiessen  Iflsst.  Denn  mit  einem  ecbten  Tropfen 
kdstlicben  Humors  war  Mdrike  gesalbt,  dem  scbon  bei  der  Geburt 
jeglicbe  Gabe  und  Kunst  der  scberzenden  Muse  gescbenkt  ward.  In 


412 


mat^itliger  Laune  springt  er  in  seinen  Erzihlungen  gern  fiber  ins 
ntanttstische,  wo  wir  oft  dae  strengere  Scheidung  wunschen  mdcfaten» 
and  am  wohlsten  ist  ihm,  wenn  er  seine  humoristische  Phantasie  so 
recbt  nach  Herzenslust  sich  fiberpurzeln  lassen  kann.  Diese  Welt  des 
Mircbens  batte  ffir  ihn  ebensoviel  innere  Wirklicbkeit  und  empfing  voa 
ibm  ebensoviel  Lebenskraft  wie  die  Welt  des  Tatslcblicben,  und  mit 
Recbt  bat  man  eine  Pbantasie  mytbenbildend  genannt,  die  einen  Urwelt- 
gSttersobn  gescbaffen  bat  wie  den  .sicbem  Mann*  und  eine  so  prflcbtige 
Marcbengestalt  wie  die  scbdne  Lau.  Die  Nicbtschwaben  wissen  sicb 
freilicb  nicbt  recbt  bineinzufinden  in  ein  Werk  wie  das  Stuttgarter 
Hutzelmflnnlein,  und  es  muss  dann  eben  fur  uns  ein  kleines  Reservat- 
recbt  bleiben,  dass  wir  die  Art  von  Humor,  der  bier  sein  nirriscbes 
Spiel  treibt,  versteben,  dass  wir  mitmacben  und  mitlacben  kdnnen  und 
uns  freuen,  altvertraute  6rtlicbkeiten  mit  Mdrikes  Gestalten  belebt  zu 
seben.  Aucb  fiber  mancber  andem  Stitte  unseres  Heimatlandes,  in 
dem  er  so  still  seinen  Erdenweg  dabingegangen  ist,  scbwebt  sein  Name, 
von  dem  Ddrfcben  im  Unterland,  wo  seine  und  Scbillers  Mutter  neben- 
einander  rubn,  bis  zu  den  Tilem  und  Hdben  unserer  scbwflbiscben  Alb, 
fiber  dem  waldumkrinzten  Tal  von  Bebenbausen  mit  seinem  licbt  durcb- 
brocbenen  Turm,  wie  fiber  den  glitzemden  Gebreiten  jenes  Sees,  fiber 
dem  im  Glanz  durcbsicbtiger  Lfifte  der  Sftntis  in  bimmliscber  Rub  die 
gewaltigen  Schultem  erbebet. 

Denn  der  unsere  warst  du  und  bleibst  du,  an  Herz  und  Sitte  ein 
Sobn  der  Heimat,  so  sebr  du  binausgewacbsen  bist  ins  Weite  und  All- 
gemeine,  und  uns  vor  alien  geziemt  daber  deiner  zu  gedenken,  wo  die 
bundert  Jabre  sicb  dem  Abscbluss  zuneigen,  die  seit  deiner  Geburt 
vergangen  sind.  Du  lebst  und  wirst  leben!  Gescblecbt  um  Gescblecbt 
werden  deine  Lieder  erfreuen,  unveraltend,  so  lange  Poesie  Poesie,  Gold 
Gold,  Kristall  Kristall  bleibt,  so  lange  es  Menscben  gibt,  die  das  Wort 
versteben,  das  du  gesungen: 

»Was  aber  scbdn  ist,  selig  scbeint  es  in  ibm  selbst.* 


413  8^ 

Ungednickte  Briefe  von  Eduard  M5rike. 

Mitgeteilt  von  Rudolf  Krauss  in  Stuttgart 

Man  denke  sich,  dass  jemand  vor  einen  mit  den  herrlichsten 
Fruchten  uberreich  behangenen  Baum  gefuhrt  wird,  urn  davon  soviel 
zu  pflucken,  als  ein  bestimmter  Kerb  fasst !  Er  wird  kaum  wissen,  was 
er  zuerst  abbrechen  soil,  und  beklagen,  dass  er  so  viel  stehen  lassen 
muss,  und  schliesslich  wird  bei  der  schweren  Wahl  der  Zufall  nicht 
unbeteiligt  bleiben.  Kaum  anders  ist  es  mir  ergangen,  als  es  gait, 
Eduard  Mdrikes  Briefe  fur  eine  Buchausgabe  zu  sichten  und  auszuwShlen, 
deren  Umfang  aus  guten  Grunden  zu  beschrinken  war.  Es  ist  etwas 
Scbdnes,  aus  dem  Vollen  zu  schopfen,  aber  es  kann  auch  Pein  schaffen. 
Wie  viel  Vollwertiges  musste  im  angeftihrten  Falle  der  Raumerspamis 
zulieb  mit  innigem  Bedauem  ausgeschieden  werden!  Desto  mehr  verlohnt 
es  sich,  Nachlese  zu  halten,  und  so  konnen  auch  die  Leser  dieser  Zeit- 
schrift  zum  Genuss  einer  bunten  Reihe  wurdiger  neuer  Morike-Briefe 
eingeladen  werden. 

Morike  ist  auch  als  Briefschreiber  ganz  er  selbst  und  nur  mit  sich 
selbst  vergleichbar.  An  seinen  Ergiissen  ist  nichts  Gemachtes,  nichts 
Erkiinsteltes,  nichts  Erzwungenes.  Er  gibt  sich  durchaus  naiv  als  der 
liebenswurdige,  zartfuhlende  Mensch,  der  er  gewesen  ist,  als  der  tief- 
grundige,  feinsinnige  Poet,  der  mit  seinen  geistigen  Interessen  nur  eine 
kleine  Welt  umspannt,  diese  aber  bis  auf  den  letzten  Rest  ausschdpft. 
Grossen  stoCflichen  Gewinn  werden  aus  seinen  Mitteilungen  nur  die 
Ziehen,  welche  willens  sind,  in  seinen  Lebens-  und  Entwicklungsgang 
bis  ins  einzelne  einzudringen:  aber  an  ihrem  reichen  Stimmungsgehalt 
wird  sich  jeder  erbauen,  der  dem  Dichter  auch  nur  oberflMchliche  Toil* 
nahme  entgegenbringt  oder  iiberhaupt  fur  den  unbewusst  kunstlerischen 
Ausdruck  der  feinsten  Seelenschwingungen  Empfinglichkeit  besitzt.  Es 
ist  eine  reizvolle  Beobachtung,  wie  hier  angeborener  Formsinn  und  von 
Natur  verliehene  Sprachgewalt  unbeabsichtigte  Triumphe  feiem.  So 
weht  uns  eine  Fulle  individuellen  Lebens  aus  Mdrikes  Briefen  entgegen. 

1.  An  die  Mutter.^) 

Der  erste  von  den  Briefen,  die  an  dieser  Stelle  mitgeteilt  werden 
sollen,  ist  an  die  Mutter  gerichtet.  Mdrike  hat  eben  eine  der  schwersten 
Epocben  seines  Lebens  hinter  sich  gebracht:  er  hatte  sich  von  seiner 
vorgesetzten  Kirchenbehdrde  einen  llngeren  Urlaub  erteilen  lassen,  den 
er  dazu  benutzte,  sich  nach  einer  Lebensstellung  ausserhalb  des  ihm 
wenig  zusagenden  theologischen  Berufes  umzusehen.  Der  Versuch  ist 
missgluckt.  Nach  sechswdchiger  Beschflftigung  als  Journalist  musste  er 
zur  Einsicht  gelangen,  dass  er  auf  diesem  Wege  sein  poetisches  Talent 
zugrunde  richte.    Anfang  1829  hat  er  sich  wieder  dem  Oberstudienrat 


0  Die  Urschrift  im  Goethe-Schiller-Archiv  zu  Weimar. 


414  3^ 


zur  Verfugung  gestellt.  Zu  Scheer  an  der  Donau  in  Oberschwaben,  wo 
sein  Ilterer  Bnider,  Karl  Mdrike,  Amtmann  ist,  hant  er  der  Dinge,  die 
da  kommen  sollen.  Durch  seine  Mutter  erf&hrt  er,  dass  en  zum 
Pfammtsverweser  in  dem  unweit  von  Scheer  gelegenen  Dorfe  Pflummem 
emannt  worden  set.  Das  folgende  Schreiben  ist  die  Antwort  auf  diese 
Benachrichtigung. 

Scheer,  den  10.  Februar  1829. 
Gestem  abends  urn  8  Uhr  erhielt  ich  Deine  liebe  Sendung  und  die 
entscheidende  Nachricht  wegen  Pflummems,  die  ich  eine  halbe  Stunde 
zuvor  schon  durch  das  liebe  Dorchen^)  aus  einem  Briefe  ihrer  Frau 
Mutter  vemommen  hatte.  So  keck  ich  auch  von  jeher  auf  meinen 
guten  Stern  vertraute,  so  uberraschend  war  mir  dennoch  diese  kaum 
verdiente  Gunst  des  Schicksals.  Ich  ergriff  sie,  wie  Du  Dich  selbst 
ausdnickst,  mit  gemischten  Empfindungen,  bei  denen  jedoch  Freude, 
gute  Hoffnung  und  der  beste  Wille  bei  weitem  vorschlug.  Tausendhche 
Vorstellungen  von  meiner  nichsten  und  entfemteren  Zukunft  spielten 
in  lebhaftem  Gedringe  durch  meine  Seele,  und  ein  grosser  Teil,  beste 
Mutter,  war  an  Dein  Bild  geknupft.  In  diesem  Sinne  vermag  ich  so 
manche  Schwierigkeit,  die  sich  mit  meiner  Situation  besonders  anflnglich 
verbinden  muss,  leichter  aufzunehmen,  als  sonst  mdglich  wire.  Indem 
mir  nimlich  der  Gedanke,  dass  ich  nun  bald  zu  Deiner  Erleichtening 
etwas  werde  beitragen  kdnnen,  Mut  und  Eifer  gibt,  so  hege  ich  uberdies 
eine  eigenniitzige  Hoffnung,  durch  deren  Erfullung  Du  den  Zweck  meines 
neuen  Standpunktes  wesentlich  befdrdem  wurdest.  Darf  ich  Dir  sagen, 
was  ich  damit  meine?  Du  deutest  selber  nicht  ohne  Besorgnis  auf  die 
Frage  hin,  wer  meine  okonomischen  Bedurfhisse  leiten  werde,  und  ich 
denke  noch  an  ganz  andere  Bedurfnisse  als  jene:  ich  denke  an  meine 
isolierte  Lage  tiberhaupt,  an  so  manchen  Fall,  wo  es  mir  an  Rat,  an 
Anregung  und  Ermunterung  gebrechen  wird ;  ich  denke  an  die  friedlichen 
Gemdlde,  die  wir  beide,  ich  und  Du,  und  KlUrchen*)  in  ahnungsvoller 
Erwartung  meiner  kiinftigen  mehr  fixierten  Lage  Zuweilen  halb  scherzend 
entworfen  haben.  Der  Vorschlag  nun,  den  ich  Dir  jetzt  tun  mochte, 
konnte  Dir  zwar  leicht  immer  noch  wie  halber  Scherz  vorkommen,  denn 
ich  habe  wohl  noch  eine  gute  Zeit  bis  zum  ordentlichen  Pfarrer  hin  — 
aber  besieh  meine  Bitte  doch  genauer  und  sieh  nur  erst,  wie  bescheiden 
sie  vorderhand  ist  I  Ich  meine  nimlich,  wir  sollten  in  Pflummem  ein 
kleines  Vorspiel  zu  unserer  kiinftigen  gemeinschaftlichen  Lebensweise 
machen,  und  zwar  entweder  so,  dass  Du  formlich  zu  mir  zdgest  oder 
wenigstens  fur  den  Anfang  mit  einigen  Wochen  den  Versuch  machtest. 
Dann  liesse  sich  ja  schon  weiter  sehen,  und  wie  gltickselig  ware  Dein 
Eduard,  wenn  Du  Dich  zu  einer  vdlligen  Niederlassung  verstiindest,  die 
in  betracht  einer  sehr  mdglichen  Aussicht  auf  die  dortige  Pfarrei  selbst 
gewiss  der  Uberlegung  wert  ist!^ 

>)  Karl  Mdrikes  Frau. 

Mdrikes  Schwester. 
')  Der  Schlttst  det  Briefet  fehlt. 


H>.g   415  8^ 


2—4.  An  Luise  Rau.^) 

Die  leise  Hoifaung  Mdrikes,  die  eriedigte  Pfarrei  Pflummern  uber- 
tragen  zu  erhalten,  erfullte  sich  nicht.  Er  musste  den  Wanderstab 
weiter  setzen.  Zuerst  Pfarrverweser  im  Dorf  Plattenhardt  auf  den  iiber 
<ler  Landeshauptstadt  gelegenen  Hdhen,  dann  Vikar  im  StSdtchen  Owen 
Fuss  der  Teckl  In  Plattenhardt  verlobt  er  sich  mit  Luise  Ran,  dem 
Tdchterlein  seines  vor  kurzem  gestorbenen  AmtsvorgSngers.  Luise  lebt 
mit  Mutter  und  Geschwistem  im  Stidtchen  Grotzingen,  dessen  Seelen- 
hirte  ein  Schwiegersohn  der  Frau  Rau,  namens  Denk,  ist.  Grotzingen 
Hegt  unweit  von  Owen,  und  auch  Nurtingen,  der  Witwensitz  von  Mdrikes 
Mutter,  ist  in  nSchster  N2he.  So  12sst  sich  eine  ununterbrochene  Ver- 
bindung  zwischen  den  drei  Orten  und  den  sich  nahestehenden  Menschen 
herstellen.  Die  zahlreichen  Briefe,  die  Mdrike  an  die  Braut  gerichtet 
hat,  gehdren  zu  den  schdnsten  Denkmalen  seines  tiefen  und  reichen 
Cemuts.  Sie  liefem  zugleich  den  unumstdsslichen  Beweis,  dass  er  das 
MMdchen  innig  und  wahr  geliebt  hat.  Und  dennoch  hat  die  Macht  der 
iLusseren  VerhUtnisse  das  Paar  nach  mehr  als  vierjShriger  Dauer  der 
Verlobung  wieder  auseinander  gerissen. 

Owen,  Dienstag  den  4.  Mai  1830. 
Abends  9  Uhr. 

Tausend  Dank,  mein  gutes,  herrliches  Kind,  fur  Deinen  un- 
vergleichlichen  Brief  vom  Sonntag!  Ich  ging  ihm  gestem  nach  Tische 
bis  Dettingen  entgegen  und  flng  ihn  glucklich  vom  Boten  auf,  lief  gleich 
nach  dem  nichsten  Walde  mit  davon  und  las  ihn  wohl  zwanzigmal 
immer  wieder  an  einem  andem  hubschen  Plitzchen.  Er  ist  gar  zu 
lieb  und  schon  —  das  eine  ausgenommen,  dass  Du  krank  warst 
-(bist  —  will  ich  nicht  mehr  sagen).  Du  liebes  armes  Herz!  Davon 
wusst  ich  ja  gar  nichts ;  Du  hittest  Dir  deswegen  Auch  Deine  Sorge  um 
meine  Unruhe  ersparen  konnen,  denn  jene  Nachricht  durch  die  1.  Mutter, 
woven  Du  sagst,  und  worauf  Du  Dich  beziehst,  hatte  ich  keineswegs 
erhalten  und  habe  sie  noch  immer  nicht.  Ein  glucklicher  Zufall  hat  sie 
verzdgert,  wiewohl  ich  die  Boten  deshalb  eben  nicht  loben  kann.  Deine 
Hebevolle  Selbstanklage  ruhrte  mich  aber  tief,  und  statt  dass  ich  Dir  die 
^rbetene  Verzeihung  erteile,  mdcht  ich  Dir  lieber  tausendmal  um  den 
Hals  fallen;  denn  ein  Engel  bist  und  bleibst  Du  doch!  Ich  bitte  Gott, 
dass  er  Dein  Obel  ganz  vortiber  sein  lasse. 

Der  Seitenweg,  den  ich  mit  Deinem  Briefe  machte,  entdeckte  mir 
ein  vortrefflich  angenehmes  drtchen,  das  ich  bisher  nicht  gekannt  hatte: 
ein  kleiner,  von  BMumen  und  Buschwerk  besetzter,  abhingiger  Wiesen- 
winkel  an  der  lebhaften  Lauter,  in  die  sich  eine  andre  Quelle  vom  Berg 
her  giesst.  Dort  sass  ich  nieder,  las,  dachte  und  fing  mit  Bleistift  an 
zu  schreiben,  was  Du  hier  als  poStische  Beilage  erhdltst.  Dann  stieg 
ich  voUends  den  Wald  hinan  und  spann  die  Verse  so  fort.  Sie  kamen 
recht  aus  meinem  Innersten.    Seitdem  ist  dieser  Spaziergang  mein 


Die  Urschriften  auf  der  K.  Landetbibliothek  in  Stuttgart. 


416 


Lieblingsweg.  Ich  machte  ihn  erst  heute  wieder  und  schnitt  die  Buch- 
staben  L.  E.  in  die  Rinde  eioer  jungen  Erie  dort  am  Bach.  (W&hrend 
des  Eingrabens  flel  mir  ein,  man  kdnnte  recht  sinnreich  ein  i  e  b  zwischen 
die  beiden  setzen.) 

Noch  weiss  ich  nicht  gewiss,  wo  meine  Gedahken  Dich  zu  suchen 
haben,  in  Nurtingen  oder  Grdtzingen;  das  erstere  wire  doch  wobl  kein 
gutes  Zeichen,  und  so  w&nsch  ichs  auch  nicht. 

Die  Maiblumchen  —  vom  ersten  des  Monats  —  aus  dem  Hardter 
Wald  haben  mich  herzlich  gefreut.  Auch  fur  die  andem  sag  ich  Dir 
meinen  wehmutigen  Dank. 

Grusse  alles  zum  schdnsten  und  sag  mir  bald  etwas  von  Jettchen!^) 

Lebwohl,  wohl  und  gesund,  meine  Luise!  und  bleibe  mit  ganzem 
Herzen  Deinem 

^  treuen  Eduard. 

Owen,  den  5.  September  1830. 
Sonntag  2  Uhr  N.  M. 
Meine  teuerste,  beste  Luise! 

Hatte  ich  bisher  in  unserer  Korrespondenz  immer  einigen  Vorsprun^ 
vor  Dir,  so  bist  nun  im  Gegenteil  Du  es,  die  mich  beinah  ein  wenig 
beschtot.  In  der  Tat,  als  mir  gestem  unter  den  verschiedentlichen 
Handschriften,  die  der  Bote  brachte,  auch  die  beliebte  Skriptur  mit 
k'  k'  ins  Gesicht  fie!  (zum  Gluck  kommt  der  Buchstabe,  dem  Du  immer 
so  ein  naivs  HSkchen  beigibst,  jedesmal  doppelt  auf  den  Converts  vor, 
so  lange  wenigstens  als  ich  noch  Vikarius  bin,  und  dass  er  von  meinem 
Namen  ganz  unzertrennlich  ist,  mdcht  ich  mir  nicht  mit  Gold  abkaufen 
lassen,  da  so  ein  k'  von  Deiner  Hand  in  meinen  Augen  lingst  der 
Reprlsentant  so  mancher  kleinen  Eigenbeiten  meines  Kindes  wurde^ 
welche  fur  den  Liebhaber  naturlich  eben  so  viele  Liebenswtirdigkeiten 
sind  —  aber  wo  bleibt  der  Schluss  meiner  Periode?  wahrhaftig  der 
blieb  an  dem  Hikchen  hSngen)  —  so  bStt  ich  wohl  etwas  rot  warden 
kdnnen,  wenn  bei  so  was  nicht  alle  Scham  in  der  puren  Freude  unter*^ 
ginge.  Dass  aber  mein  Letztes  verloren  sein  soil,  ist  mir  insofem  fatal, 
weil  es  zu  meiner  Satisfaktion  hStte  dienen  mdgen;  doch  sein  Gegen- 
stand  ist  traurig  genug,  um  geme  nie  wieder  an  ihn  erinnert  zu  werden. 
Nur  um  eine  artige  Beilage  von  Karl  wire  mirs  leid. 

Wenn  ich  nicht  furchten  musste,  Dir  ein  allzubekanntes  Lied  aufs 
neue  wieder  zu  singen,  so  wurde  ich  auch  diesmal  die  Hilfte  dieses 
Briefs  mit  den  lieblichen  Betrachtungen  anftillen,  die  mir  der  Nach- 
genuss  Deines  Wiedersehens  jedesmal  zu  machen  gibt.  Und  doch,  wie 
geme  lisst  mein  eigen  Herz  sich  durch  die  Worte  schmeicheln,  womit 
Du  Deinerseits  Dich  so  glucklich  auf  jene  Freuden  beziehst!  Ich  be- 
gntige  mich,  Dir  zu  sagen,  dass  fur  diese  Tage  in  meinem  Liebes* 
kalender  ein  besonderer  Heiliger  angeschrieben  wird.  Ich  betrachte  sie, 
in  vollem  Emste,  zugleich  als  die  schdnste  Feier  der  Wiedergenesung 


^)  Eine  Schwester  von  Luise  Rau. 


417  8^ 


unserer  guten  Mutter,  und  insoferne  darften  sie  Nurtingen  vorzugs- 
weise  gewidmet  sein,  dagegen  ich  nnn  hoffen  darf,  das  nSchstemal  den 
lieben  Grdtzinger  Kreis  vollstdndig  anzutreffen.  Herzlich  gratulier  ich 
Schfitten  und  Rike^)  zu  ihrem  angenehmen  Ausflug;  ich  kann  mir 
denken,  wie  dem  guten  Schwager  auf  diesem  alt-  und  werten  Schauplatz 
kostbarer  Freibeit  das  Herz  wieder  gelacht  und  getrauert  haben  mag. 
Und  Waldenbuch?  Ich  meine,  dort  mussten  die  beiden  sich  lassen 
trauen,  wenn  Denk  erst  Pfarrer  dort  wSre.  (.Waldabuech!*  —  weisst 
Du  noch?) 

Fritz^  schrieb  mir  kurzlich  einen  ganz  lieben,  treuherzigen  Brief. 
Wo  moglich,  soil  er  noch  Antwort  haben  vor  der  Schweizerreise  •  •  • 

Von  Mihrlen")  erhielt  ich  eine  hdchst  angenehme  Sendung  mit 
nenen,  noch  ungebundenen  Drucksachen,  die  mich  Essen  und  Schlafen 
vergessen  liessen ;  schade,  dass  ich  mir  von  dieser  Lekture  fur  Dich  — 
und  zwar  billigerweise  —  nicht  ein  gleiches  Interesse  versprechen  kann ; 
sonst  solltest  Du  sie  nichst  mir  zuerst  haben  .  .  • 

Vor  alien  Dingen  muss  darauf  gedacht  werden,  dass  meine  Augen 
Grdtzingen  wieder  sehn.  Ja,  sage  nur  dem  1.  Schwager,  mich  geluste 
auch  recht  wieder  nach  ihm,  nach  alien.  Am  Mittwoch  ist  die  edle 
Disputation,  das  theologische  Ringel-Stechen ;  ich  werde  mich  mit 
Paragraphis  nicht  allzusehr  erhitzen  und  dafur  ein  gut  Glas  Wein  auf 
meine  Menschwerdung  und  auf  das  Wohl  derjenigen  Person  trinken,  der 
zulieb  ich  doch  eigentlich  musste  geboren  werden  . . . 

Und  so  leb  wohl,  liebste  Luise!  ich  kusse  diesen  Namen,  dass 
Dus  weisst;  wenn  Du  mit  dem  meinigen  dasselbe  tust,  sagts  mir  mein 
Esprit  d'amour  treulich  wieder. 

Ewig 

Dein  Eduard. 

Erst  heute  hat  die  letzte  Rose  in  unserm  Garten  verbliiht:  ich 
sah  sie  traurig  mit  dem  Gedanken  an,  dass,  als  sie  noch  alle  bluhten, 
Luise  dagewesen. 

Kirchheim  auf  der  Post,  den  9.  September  1830. 
Morgens  8  Uhr. 

Wenn  vor  meinem  Parterrefenster  eine  Schar  flugfertiger  Tauben 
sisse,  woven  eine  auch  den  Weg  nach  Grdtzingen  nShme,  soUt  ich  da 
die  letztere  nicht  geschwind  noch  am  Fittich  erwischen  und  ihr  ein 
Zettelchen  um  den  Hals  binden?  Das  heisst  mit  anderen  Worten: 
Kdnnt  ich  mitten  im  Posthaus  sitzen,  ohne  einige  Zeilen  fur  Dich  da 
zu  lassen,  die  heute  noch  abgehen? 

Gestem  also  war  Disputation,  ein  langweilig  Ding,  von  dem  nicht 


Friederike  (Hike)  Ran,  eine  Schwetter  Loitens,  war  mit  einem  norddeotschen 
Theologen  Schfltte,  der  in  Ttibingen  ttndiert  hatte,  verlobt. 
Ein  Bnider  von  Loite  Ran. 
^  Vcrgl.  Brief  5. 


H>^  418 


viel  zu  erzMhlen  ist;  doch  machte  ich  einige  angenehme  Charakter- 
bemerkungen  und  eraeute  ein  paar  alte  Bekanntschaften. 

Das  Mittagessen  war  auf  der  Post  und  fiel  reichlich  genug  aus. 
Die  Herren  betrachten  das  doch  immer  als  eine  Hauptsache.  Ich  machte 
den  nnmassgeblichen  Vorschlag,  man  sollte  schon  wShrend  des  Dis- 
pntierens  (um  des  stSrkenden  Vorgefuhls  vom  zweiten  Akte  willen) 
Messer  nnd  Gabel  in  die  Bucher  stecken  beim  Aufschlagen  und  Be- 
zeichnen  der  Paginas. 

Um  vier  Uhr  stahlen  wir  Jiingem,  —  Griesinger,^)  Schmid  (von 
Kdngen),  ein  junger  Pfarrer  und  ich  —  uns  zu  einem  besondem  Glas 
Weine  fort,  es  wurde  spit  und  spiter,  so  dass  der  neue  Vetter  und  ich 
uns  geme  uberreden  liessen,  hier  zu  ubemachten.  Ein  hiesiger  Ober- 
amtsgerichtsaktuar,  der  artigste,  bescheidenste  Mensch,  der  mir  je  vor- 
gekommen,  gesellte  sich  an  unsem  Tisch,  und  nachdem  das  widrige 
kommersierende  Johlen  einer  Hohenheimer  Studentenbande  nach  und 
nach  ausgetobt  hatte,  wurde  es  erst  recht  traulich  und  lustig  bei  uns. 
Wir  blieben  bis  Mittemacht  auf  und  teilten  uns  dann  in  zwei  Zimmer, 
wo  jeder  ein  vortreffliches  Bette  fand. 

Der  Griesinger,  der  mich  duzen  lemte,  erschien  mir  in  seinem 
Humor  und  in  allem  doch  weit  gemHssigter  und  liebenswurdiger  als 
friiher. 

Ich  enthielt  mich  wihrend  des  frdhlicben  Durcheinander-Schwitzens 
nicht,  einige  verstohlene  Blicke  in  Deinen  letzten  Brief  zu  tun,  und 
die  Kameraden  durftens  wohl  gemerkt  haben;  sass  doch  neben  mir 
auch  einer,  den  die  Liebe  zahm  und  geschmeidig  gemacht  hat  (G[riesinger]). 

Diesen  Morgen  verloren  sich  die  andern  bald  ohne  Fruhsttick,  well 
allerlei  amtliche  Funktionen  —  Hochzeiten,  Leichen  usw.  —  sic  er- 
warteten.  Ich  liess  mir  eine  Tasse  KafFee  bringen  und  forderte  Feder, 
Tinte  und  Papier,  meinem  SchStzchen  zu  schreiben  (nur  nichts  weniger 
als  einen  Abschiedsbrief  —  versteht  sich). 

Was  mich  aber  besonders  in  Gedanken  an  Dich  alarmierte,  war 
die  Annonce  in  der  heutigen  Zeitung:  Romeo  und  Julie! 

Alle  Fest-  und  Lustglocken  von  Po€sie  schlugen  und  IMuteten  in 
mir  zusammen ;  augenblicklich  formierte  sich  ein  Plan  in  meinem  Kopf, 
wie  es  zu  machen  wSre,  dass  ich  Dich  und  eins  und  das  andere  von 
Euch  morgen  abend  auf  den  bewussten  griinen  Binken  hitte. 

Aber  schon  nach  fiinf  Minuten  platzte  die  herrliche  Luftblase. 
Ich  sahe  ein  —  was  doch  unerhdrt  ist  —  Shakespeare  muss  an  einer 
Freitagskinderlehre  scheitem,  anderer  Hindemisse  nicht  zu  gedenken. 
Der  Montag  w§re  mir  wohl  auch  dadurch  benommen;  kurz  —  ,Tunn 
Ossa  auf  Pelion!''  (dacht  ich):  Du  erreichsts  nicht. 

Gut!  was  mich  trostet,  ist  Dein  Briefchen  und  der  Montag.  Ich 
wiederhole  Dir  meinen  Herzensdank  fur  das  liebliche  Angedenken ;  der 
w&rmste  Kuss  wird  das  weitere  hieriiber  sagen.    Lieb  Mutterchen  soil 


Gustav  Gtiesinger,  Tbeologe,  als  Gelegenheitsdichter  in  Schwaben  eiost 
eine  bekannte  Persdnlichkeit 


419  8^ 


machen,  dass  ich  sie  gesund  antreffe,  und  Ihr  ubrigen,  Schiitte,  Rike» 
Denk  und  Jettchen,  lebet  wohl  bis  dahin ! 

Unverinderlich 

Dein 

treuster  Eduard. 

5.  An  Johannes  MShrlen.^) 

Vom  hochgelegenen  Albdorf  Ochsenwang  aus,  wo  Morike  fast  zwei 
Jahre  als  standiger  Pfarrvikar  weilte,  hat  er  im  Herbst  1832  seine 
einzige  umfangreichere  Schdpfung,  den  Maler  Nolten,  in  die  Welt  gesandt. 
Wir  sehen  im  nachstehenden  Brief  den  Dichter  danim  bemiiht,  dem 
Geisteskinde  ein  freundliches  Schicksal  auf  seiner  Pilgerfahrt  zu  bereiten. 
Der  Empflnger,  Johannes  MShrlen,  nachmals  Professor  am  Stuttgarter 
Polytechnikum,  stand  ihm  in  dieser  Periode  besonders  nahe.  Er  lebte 
als  Lehrer  an  der  Gewerbeschule  und  Schriftsteller  in  der  Hauptstadt^ 
hatte  mancherlei  literarische  Verbindungen  und  war  auch  an  einem  neu 
begriindeten  demokratischen  Organ,  »Der  Hochwdchter'',  beteiligt.  Er 
nahm  sich  des  Mdrikescben  Romans  mit  WMrme  an  und  unterstiitzte 
den  Freund  nicht  nur  bei  der  Herausgabe  nach  Krdften,  sondern  sorgte 
auch  fur  freundliche  Aufnahme  des  Werkes. 

Ochsenwang,  Sonntag  den  2.  September  1832. 
Mein  Lieber  und  Getreuer! 

Erst  gestem  abend  spUt  erhielt  ich  Deinen  neuesten  Brief  ohne 
Kalenderdatum  —  aber  das  wahre  Datum  sei  mir  die  Nachricht  von 
Deiner  Eroberung  des  goldnen  Kleinods !  Bring  Deiner  Auguste^  meinen 
herzlichen  Gruss  und  Gluckwunsch !  Ich  will  mich  mit  ihr  in  Dich  und 
Deine  Liebe  so  bescheidentlich  teilen,  als  ich  nur  immer  kann.  Oder 
vielmehr,  ich  will  Dich  ihr  ganz  fiberlassen  und  —  ganz  behalten. 

Auf  Deinen  und  Brutzers')  Besuch  freu  ich  mich  weidlich.  Ihr 
werdet  an  meinem  Telle  der  schwibischen  Alb  eine  schone  und  gross- 
artige  Introduktion  ins  Ganze  finden,  aber  begleiten  werd  ich  Each  nicht 
kdnnen,  so  heiss  mir  das  Wdrtchen  Urach  auf  die  Seele  flel. 

Dass  ich  neulich  (von  Grotzingen  aus)  in  Angelegenheiten  meine& 
Karls  mit  dessen  Frau,  meiner  Mutter  und  Braut  auf  ein  paar  Stunden 
in  Stuttgart  gewesen  bin,  ohne  Deiner  habhaft  werden  zu  kdnnen,  wirst 
Du  wohl  von  Adolf^)  gehdrt  haben.  Das  Resultat  unserer  Reise  (de& 
Bruders  nSchste  Existenz  betrefFend)  war  eben  vorderhand  —  keines. 

Den  Freundschaftsdienst,  welchen  Du  dem  Maler  Nolten  im  «Hoch- 
wichter""  leisten  willst,  werd  ich  Dir  hoch  anrechnen.  Indessen  bin  ich 
ausser  stande,  Dir  etwas  uber  Orplid^)  zu  schreiben.    Ich  weiss  gar  nicht,. 

1)  Urschrift  tuf  der  K.  Landesbibliotbek  in  Stuttsart 
*)  Tochter  des  Stattsrats  SQskind,  Mihrlens  Braut. 

*)  Heinrich  Bnitzer  aus  Riga,  zuletzt  Professor  am  Stuttgarter  Polytechniknm. 

Ein  jQngerer  Bnider  Mdrikes. 
^)  Orplid,  das  von  Mdrikes  Phantasie  geschaffene  Zauberefland,  das  auch  im. 
Maler  Nolten  (das  Schattenspiel  „Der  letzte  Kdnig  von  Orplid*)  eine  Rolle  spielt. 


420 


was  die  Leute  woUen.  Du  kannst  unmdglich  fehl  treffen,  das  zeigt  mir 
schon  das  allgemeine  Raisonnement  Deines  letzten  Briefs,  wo  Du  vor- 
treffliche  Worte  in  meinem  Sinne  hinwarfst.  Schiller  sagt  in  einem 
seiner  Briefe,  er  mdchte  behaupten,  .dass  es  kein  Gefiss  gibe,  die 
Werke  der  Einbildungskraft  zu  fassen,  als  eben  diese  Einbildungs- 
kraft  selbst.'' 

Ubrigens  mdchte  ich  Dich  in  Deiner  Beurteilung  insbesondre  auf 
Elisabeth  und  ihr  Schicksalsgewebe  (vorwarts  und  ruckwSrts  weisend) 
aufmerksam  machen,  was  mir  stets  ein  Hauptmoment  beim  Ganzen  war. 
Ebenso  hofFe  ich,  dass  Du  der  Grifln,  wiewohl  sie  nur  Neben-Medium 
ist,  Gerechtigkeit  widerfahren  lassest. 

Hier  ein  Brief  von  Professor  Hochstetter,^)  den  ich  Dir  abschreiben 
liess.  Sein  Urteil  ist  mir  von  wirklichem  Wert,  sofem  er  als  ein  Mann 
von  feinem  poetischen  Sinn  und  seltener  Bildung  mir  und  andem  lingst 
bekannt  war.  Es  ist  viel,  dass  ein  Professor  matheseos  so  jugendlich 
empfindet  und  die  Phantasmagoric  goutiert.  Ich  habe  noch  neulich 
einige  Aufsltze  von  ihm  im  Morgenblatt  gelesen,  welche  sehr  vie!  tiefer 
gehn  als  die  neuesten  Kunsturteile  der  Mss.  X.  und  Z. 

Du  wirst  aber  nattirlich  auch  mtindlich  nirgend  keinen  weitem 
Gebrauch  von  diesem  Briefe  H[ochstetter]s  machen,  sondem,  nachdem 
Du  ihn  gelesen,  bSte  ich  Dich,  einen  Umschlag  darum  zu  machen  und 
[ihn]  nebst  zwei  Worten  an  meinen  Bruder  K[arlJ  unfrankiert  zu  schicken, 
der  sich  fiir  H[ochstetter]  nicht  minder  als  die  Novelle  interessiert. 
Vergiss  nicht! 

Gruneisen,*)  der  auch  ein  Exemplar  von  mir  uberkam,  schreibt 
mir  kurz,  aber  fast  enthusiastisch  von  dem  Eindruck,  den  das  Biichlein 
4uif  ihn  gemacht.  Von  Schwab^  erwart  ich  heut  einen  Brief.  Von 
Tubingen  lauten  die  Urteile  vorzuglich  gut.  Bei  Leuten  wie  der  (Hegel-) 
Strauss^)  (ders  nicht  von  mir  aus  hatte)  ist  mir  das  selbst  verwundersam. 

Ich  habe  nun  einen  neuen,  rein  poetischen  Gegenstand  in  Versen 
auf  dem  Kom,  an  dem  ich  mit  ganzer  Seele  hinge.  Du  sollst  aber  vor 
einem  halben  Jahr  nichts  davon  erfahren. 

Dem  lieben  Bauer^)  lass  ich  von  Herzen  Gltick  zur  Reise  wtinschen. 

Ewig 

Dein  treuer  Eduard. 

6—8.  An  Wilhelm  Hartlaub.«) 

Keinem,  der  irgendwie  in  Mdrikes  Leben  bewandert  ist,  klingt  der 
Name  Wilhelm  Hartlaub  fremd.    Er  war  dem  Dichter  Freund  und  Bruder 

^)  Professor  der  Mathematik  am  Stuttgarter  Gymnasium. 

*)  Karl  Grfineisen,  Hofkaplan,  spiter  Oberboli>redifer  in  Stuttgart,  Dichter. 

')  Gustav  Schwab,  der  Dichter. 

^)  Friedrich  Strauss,  der  berlihmte  kriiische  Theologe,  Freund  Mdrikes. 
Ludwig  Bauer,  Pftirrer,  dann  Gymnasiallehrer,  Dichter,  einer  der  ver- 
trautesten  Freunde  Mdrikes. 

^)  Die  Urschriften  auf  der  K.  Landesbibliothek  in  Stuttgart 


421  8^ 


zugleich,  der  verstindnisvoUe  Vertraute  seines  kunstlerischen  Schaffens 
wie  auch  der  nie  versagende  Berater  und  Heifer  in  grossen  und 
Icleinen  Noten.  Als  Uracher  Seminaristen  schlossen  die  beiden  den 
Freundschaftsbund,  den  sie  als  Tubinger  Stiftsstudenten  eifrig  pflegten. 
Dann  wurden  sie  auseinander  gerissen,  und  ein  spirlicher  Briefwechsel 
liielt  die  Verbindung  nur  notdurftig  aufrecht.  Im  Sommer  1837  sah 
Morike,  jetzt  Pfarrer  in  Cleversulzbach,  im  Bade  Mergentheim,  das  er  aus 
-Gesundheitsrucksichten  gebrauchen  musste,  nach  zehnjihriger  Trennung 
Hartlaub  wieder,  der  selnen  Pfarrsitz  im  benachbarten  Wermutshausen 
hatte.  Und  nunmehr  entspann  sich  jener  lebhafteste,  innigste,  persdnliche 
tind  schriftliche  Verkehr,  den  Morike  selber  so  schon  als  „ewigen  Kreis- 
iauf  der  Liebe*  bezeichnet  hat. 

Mergentheim,  den  9.  September  37. 
Morgens. 
Im  Nebel  nihet  noch  die  Welt, 
Noch  traunien  Wald  und  Wiesen; 
Bald  siehst  Du,  wenn  der  Schleier  flllt, 
Den  blauen  Himmel  nnverstellt, 
Herbstkriftig  die  gedSmpfte  Welt 
In  braunem  Golde  fliessen.^) 

(1828.) 

Und  also  fortan  alle  Morgen  bis  tief  in  den  September  und  Oktober 
liinein,  wo  ihr  den  Rauch  der  Sulzbacher  Hiuser,  die  Wilder  und  Wein- 
1)erge,  den  Garten,  die  Kapelle  und  den  Kirchhof  in  dieser  lieben  Sonne 
seht!  —  Ihr  seid  doch  gut  heimgekommen  ? 

KlSrchen  und  ich,  wir  haben  diesen  Morgen  nachgerechnet,  wieviel 
kdstliche  Tage  Ihr  hier  uns  geschenkt  habt,  und  beide  wir  waren  erstaunt 
und  geruhrt  uber  so  viele  Liebe  und  Giite. 

Wenn  nur  die  gestrige  Nachtluft  Konstanzen^  und  Agnes ^)  nichts 
that !  Ich  trat  gestern  noch  split  auf  den  Altan,  den  herrlichen  Mond  zu 
beschauen,  in  dessen  Licht  Ihr  heimrolltet. 

Die  Blumen  auf  der  runden  Platte  sind  noch  so  frisch  wie  vom 
Garten  hinweg  und  stehn  gar  schon  zu  der  grunen  Tapete  in  KlSrchens 
Schlafzimmer. 

Nun  sitzest  Du  wohl  schon  tief  in  Deiner  Predigt,  und  hier  im 
Haus  wird  gekocht  und  gebacken  auf  morgen  zu  dem  Schutzenball,  der 
tins  wahrscheinlich  dem  Herrn  Norr  wird  in  die  Arme  treiben.  Ich 
wollt,  ich  wMr  bei  Euch  in  jenem  obem  Sttibchen! 

Sage  doch  Frau  Konstanzen,  der  »Schampler*  habe  sich  als  ein 
^anz  praktisches  Mobel  erwiesen;  es  ist  nur  zu  schon,  um  es  immer 
zu  brauchen. 

Adieu  fiir  diesesmal!  Ich  muss  noch  etwas  malen.  Tausend  Ortisse 
und  Ktisse! 

  Dein  Eduard. 

^)  «Septembermorgen'<  (Gedictate  S.  125). 

S  Hartlaubs  Gtttin. 

^  HartUttbs  Tdctaterctaen. 

SQddeutsche  Monatshefte.   I«5.  28 


422  8^ 


Das  nftchstemal  bring  wch  Epistolas  quisdam  ab  diversis  mit! 
Montag  abend  zwischen  5  und  6  Uhr  steh  ich  auf  der  Laner. 

Der  Geisterhund  (canis  spectralis) 
auf  dem  Anstand 

<d.  h.  wie  er  Anstand  nimmt,  von  der  Taubefbrfick  hinabzusetzen. 
Den  7.  September  1837).^) 

Dieser  Brief  war  anfangs  bestimmt,  einer  Schachtel  beigelegt  zu 
werden,  in  welcher  Briefe  von  der  Mutter,  von  Klftrchen,  auch  einer 
von  mir  an  Agnes  befindlich.  Nun  will  ich  aber  Gegenwirtiges  ab* 
gesondert  durch  Briefpost  laufen  lassen,  und  Ihr  sollt  uns  dann  schreiben,. 
an  welchen  Tagen  beides  ankam. 

Liebster! 

Die  Rlesenschachtel  mit  dem  reichlichen  Material  zu  Wermbrechts- 
hiuser  Kldsen  ist  neulich  angelangt.  Ihr  seid  aber  herzgute  Leute! 
Das  ist  ja  Proviant,  um  eine  Reise  bis  ans  Kap  zu  tun  I  Wir.haben 
schon  davon  gespeist,  recht  im  Andenken  Euros  Tisches  vom  vorigen 
Herbst,  und  sie,  wie  damals,  vortrefFlich  gefunden.  Dann  noch  die 
StrumpfbSnder,  erste  und  zweite  Lieferung,  woninter  auch  ein  rotes 
Paar  f&r  mich:  sie  haben  mich  in  der  Seele  gefreut.  Dazu  Agnesens 
Briefchen,  welchem  man  Satz  fur  Satz  anspurt,  dass  es  aus  ihrem 
eigenen  Munde  floss.    Das  soil  mir  nicht  verloren  gebn. 

Es  darf  Euch  nicht  befremden,  meine  Teuersten,  dass  wir  so  lange 
schwiegen.  Beinah  seitdem  ich  wieder  hier  bin,  ist  mein  Rheumatismus 
am  Hals  mit  neuer  Heftigkeit  erwacht,  was  mich  oft  missmutig  machte 
und  zu  einer  vergnuglicben  Mitteilung  an  Euch  nicht  kommen  liess. 
Auch  Klirchen  hatte  viel  mit  Zahnschmerzen  und  dergleichen  Flussubeln 
zu  leiden,  und  ich  bin  nun  fast  mit  den  Meinigen  uberzeugt,  dass 
unsere  Wohnung  ungesund  ist  und  Dispositionen  jener  Art  in  hohem 
Grad  begtinstiget.  Dr.  Elsisser  behauptets  auch;  ich  hatte  es  nie  so 
recht  geglaubt.  Nun  ist  es  wieder  ziemlicb  besser  bei  mir,  und  so 
schreib  ich  denn  gleich.  Verzeiht  also,  Ihr  Besten.  Auch  den  Stutt* 
garter  Freunden,  dem  Hardegg")  besonders,  der  mir  so  viel  Liebes 
getan,  hab  ich  bis  jetzt  nicht  schreiben  mdgen. 

Nun  aber  seis  fur  heut  auslamentiert !  Ich  will  Dir  einige  Novitlten 
erfreulicher  Art  auftischen: 

1.)  wird  die  Anthologie  nunmehr  bei  Schweizerbart  gedruckt,, 
nachdem  Metzler  den  neuen,  von  uns  beiden  aufgesetzten  Plan  (12  fl. 
30  k  Bogen)  abgelehnt  hat.  Ich  habe  zu  Schweizerbart  ein  neues  Zu- 
trauen  gewonnen  und  er,  wie  es  scheint,  auch  zu  mir,  ungeachtet  Herr 
Maler  Nolten  noch  in  Menge  bei  ihm  zu  haben  ist.  Findet  das  erste 
Bftndchen  der  Anthologie  Absatz,  so  wird  das  Honorar  erhdht. 

1)  Mit  entsprechender  Zeichnung;  gemeint  ist  Mdrikes  langjihriger  Haus- 
hand  Joli. 

*)  Hermann  Hardegg,  spiter  Obermedizinalrat  ond  Hoftrzt  in  Stuttgart 


423  %^ 


2.  )  erscheint  in  derselben  Buchhandlung  zu  Ende  dieses  Monats 
Oder  zu  Anfang  M2rz  ein  Buchlein  unter  dem  Titel  «Iris*,  was  eine 
Sammlung  folgender  Sachen  enthSlt: 

I.  Der  Schatz.  —  Wiederabdnick  aus  dem  Jahrbuch  schwSbischer 
Dichter,  und  zwar  unverlndert  bis  auf  die  Romanze  am  Schluss,  die 
ich  Deiner  Bemerkung  zufolge  wegstricb. 

II.  Die  Regenbriider.  Open  Dass  dieser  Text  gleichzeitig  mit 
der  Auffuhrung  des  Stiicks  ins  Publikum  kommt,  wie  die  Absicht  ist, 
soil  dem  Verkauf  des  Btichleins  zugute  kommen. 

III.  Der  letzte  Konig  von  Orplid,  Scbattenspiel  aus  M[aler]  Nolten. 

IV.  Novelle  aus  der  Urania  (mit  verinderten  Kleinigkeiten,  Titel  etc.)^) 

V.  Arm-Frieder,  das  fur  den  Volkskalender  bestimmt  gewesene 
MMrchen.*) 

Das  Bucb  erhMlt  2  Bilder,  Umrisse,  gezeichnet  von  Dr.  Fellnef 
und  Julius  Nisle.  Der  erstere  macht,  meinem  Vorschlag  gemiss,  die 
Szene  aus  der  Oper,  wo  die  zwei  BrCider  zum  erstenmal  auf  dem  Theater 
erscheinen  und  um  Justina  werben.  (Diese  Zeichnung  aillein,  abgesehn 
vom  Graveur,  kostet  den  Verleger  6  Karolin.)  Der  andere  liefert  den 
Moment  aus  dem  Scbattenspiel,  wo  die  Thereile  vor  dem  alten  Kdnig 
tanzt.    Dies  Blatt  hab  ich  fertig  gesehn  und  sehr  gut  gefunden. 

Das  Beste  an  der  ganzen  Sache  aber  ist,  dass  mir  Schweizerbart 
2  Karolin  fur  den  Bogen  bezahlt. 

Hier  hast  Du  eine  Probe  vom  Druck. 

3.  )  Fur  den  Spiegelvers")  —  wirst  Du  es  glauben  ?  —  hat  mir  ein 
junger  Stnttgarter  Buchhindler,  Etzel,  bare  dreihundert  Gulden  Honorar 
bezahlt.  Die  Verlagshandlung  der  Europa  wollte  100  fl.  geben;  andere 
bitten  ihn  auch  gem  gehabt,  wollten  aber  nichts  mit  riskieren.  Es  fragt 
sich  jetzt  nur  noch,  ob  Herr  Etzel  das  Untemehmen  splendid  durch- 
fiihren  wird  und  kann^  woran  einiger  Zweifel  ist.  Es  sollen  zweierlei 
Zeichnungen  dazu  gemacht  werden,  eine  eigentlich  kunstlerische  fur  das 
feinere  Publikum  und  eine  modische  fur  die  iibrige  galante  Welt.  Den 
Entwurf  zur  ersten  hab  ich  noch  gesehn ;  er  ist  von  Dr.  Fellner  (Fellner 
ist  —  wie  mir  Professor  Dieterich  in  Stuttgart,  der  Historienmaler,  mit 
Freuden  zugegeben  hat  —  einer  der  ersten  jetztlebenden  Zeichner  in 
Deutschland.  Ich  babe  ihn  persdnlich  kennen  gelemt  und  einen  schdnen 
Abend  mit  ihm  und  Nisle  zugebracht)  und  ganz  vortrefFlich,  antike 
Allegoric:  Paris  mit  dem  Apfel,  eine  sinnende  Psyche,  Sphinxen, 
Amoren,  wovon  der  eine  mit  einem  Schlussel  gegen  den  Spiegel 
weist  etc.  —  Aber  die  300  fl.  —  ,es  war,  als  ob  die  Erd  sie  ein- 
gescbluckf* !  Ich  babe  den  geringsten  Teil  davon  genossen.  Die 
susseste  Freude  wir  mir  gewesen,  das  Geld  so,  wie  ich  es 
empflng,  nach  Wermutshausen  zu  spedieren;  allein  die  bosen  GlSubiger, 
weisst  Du  wohl,  haben  ja  leider  stets  den  Vorzug  vor  den  guten.  Nur 

Lucie  Gelmeroth. 
Der  Bauer  und  sein  Sohn. 
^  Das  aU  Sonderblatt  herausgegebene,  im  Spiegel  2u  lesende  und  darum 
verkehrt  gednickte  Gedicht  »Ein  artig  Lob,  Du  wirst  es  nicht  verwehren*. 

28* 


424 


siehst  Du  aus  alien  diesen  Geschiften,  dass  Dein  Freund  noch  immer 
kein  ganz  desperater  Schuldner  ist. 

Hetschs^)  Brief  war  mir  sehr  angenehm  zu  lesen.  Ich  wunschte 
von  Herzen,  ihm  einmal  mit  der  Tat  einen  Beweis  meiner  grossen 
Anerkennung  wie  meiner  aufriclitigen  Freundsctiaft  geben  zu  kdnnen. 
Ruiirend  war  mir,  dass  er  mit  Pietit  ftir  Waiblinger^  ein  Lied  von 
diesem  komponierte,  der  ihn  in  Tubingen  doch  nur  herabsetzte. 

Auf  beiliegendem  Blittchen  KaufFmanns^  findest  Du  diejenigen 
meiner  Lieder  verzeichnet,  die  er  komponierte.  Ich  kenne  von  den 
neuen  Melodien  nur  wenige.  Den  Kdnig  Milesint  hat  mir  Hardegg 
gespielt  und  gesungen  und  die  Soldatenbraut  Emilie  Zumsteeg.  Letzteres 
Stiick  hat  mir  besser  gefallen  als  ersteres,  besonders  ist  der  Abschluss 
eines  jeden  Verses  durchs  Klavier  von  hdchster  Lieblichkeit.  —  Apropos, 
als  Hardegg  dem  Bauer  das  A-Stiick  von  Haydn  vorspielte  —  er  war 
jenen  Abend  ohnehin  etwas  durch  Hardeggs  guten  Wein  entzundet  — 
ward  er  ganz  wild,  gleichsam  selig  erbost  uber  dieser  Schdnheit.  Zuvor 
waren  ihm  die  Augen  einigemal  halb  zugefallen,  jetzt  wurde  er  mit  eins 
wieder  wie  elektrisiert,  und  so  oft  es  an  jene  unaussprechliche  Stelle 
kam,  machte  er,  wie  MShrlen  sagte,  mit  einem  wahren  Uchruckers- 
brummer  «Hm!*  Am  Ende  rief  er  aus:  »Der  Kerl,  der  Haydn,  soil  der 
nicht  die  Krink  knegen?* 

Hat  er  Dir  denn  die  beiden  Lustspiele  nicht  geschickt  ?  Er  musste 
mirs  bestimmt  versprechen  und  wird  es  wohl  noch  tun.  Als  wir  von 
meiner  klassischen  Blumenlese  sprachen,  offerierte  er  mir  auf  die  be- 
kannte  treuherzige  Weise  seine  Obersetzungen  aus  dem  Horaz,  wie  sie 
in  seinen  Lektionsheften  stehen.  Es  sind  mehrere  gereimte  darunter, 
woven  ich  ein  paar  auswUhlte.  Einige  andere  Schick  ich  Dir  hiemit  in 
Abschrift,  die  Du  behalten  darfst.  Hie  und  da  tritt  Bauers  ganze 
Eigentumlichkeit  sehr  uberraschend  draus  hervor. 

Unter  anderem  dank  ich  Dir  auch  fur  die  Nachrichten  iiber 
Ostertag,^)  die  Du  doch  immer  fortsetzen  wollest.  Die  Doktorin 
K[rauss]^)  hab  ich  freilich  etwas  vemachlissigt,  was  mir  in  Wahrheit 
leid  ist.  Ich  will  ihr  jene  Iris  schicken,  sobald  sie  heraus  ist  (d.  h. 
zugleich  mit  Deinem  Exemplar),  und  es  wSre  gut,  wenn  Du  oder  die 
liebe  Konstanze  dies  vorlMuflg  andeutete. 

Ich  lege  Dir  ein  Schriftchen  von  Griineisen  bei,  das  Du  gewiss 
gem  liesest/) 

Nun  hab  ich  aber  die  Bitte  an  Dich,  Du  mdchtest  doch  bei  Jan  ^) 
in  Niederstetten,  den  ich  schon  griissen  lasse,  bald  mdglichst  anfragen, 
ob  denn  die  Reiskesche  Ausgabe  des  Theokrit,  die  er  so  gut  war  mir 

^)  Louis  Hetsch,  Komponist  Mdrikesctaer  Lieder. 

^  Wilhelm  Waiblinger,  der  geniiHsche,  1830  in  Rom  gestorbene  Dichter, 
Stttdienfreund  Mdrikes. 

*)  Friedrich  Ktuffmann,  Jugendfreund  Mdrikes  and  Komponist  seiner  Lieder. 
^)  Amtsrichter  ia  Niederstetten,  Schdngeist  und  Dicbterling. 
^)  In  Mergentheim. 

*)  Von  KUra  MSriices  Hand:  «Das  Bach  geht  nicht  mehr  in  Schachtel*. 
^)  Stadtpfarrer. 


425  8^ 


zu  leihen,  nicht  einen  zweiten  Teil  babe,  wie  die  Praefatio  verspricbt, 
welcher  den  Kommentar  enthielte,  und  ob  Jan  nicht  geneigt  wSre,  mir 
diesen  gleichfalls  anzuvertrauen.  Du  hSttest  dann  die  Gtite,  mir  das 
Buch  mit  nichster  Post  zu  scbicken.  Oder  Ihr  bringt  es  selbst  diese 
Tage  im  Schlitten.  Wetter!  das  wSr  ein  ganz  unzahlbarer  Gedanke. 
Aufrichtig  gesagt,  wir  trugen  uns  mit  dieser  Hoffhung  die  ganze  letzte 
Zeit  herein  so  ziemlich  stark,  weil  exzellente  Schneebahn  war.  Und 
sie  ist  noch.  Was  meinen  Sie?  was  Frau  Konstanze?  Es  konnte  ihr 
so  wohl  bekommen!  Soil  es  nicht  sein,  so  lasst  uns  doch  unser  tarn 
longe  non  scripsisse  nicht  bussen.  Deine  Briefe  sind  mir  eine  ganz 
unentbehrliche  Nahrung  geworden. 

Lebt  wohl,  Geliebteste! 

Euer 

getreuer 

Eduard. 

Cleversulzbach,  den  3.  Februar  1839. 

Cleversulzbach,  den  2.  Mai  [1839]. 
Morgens  9  Uhr. 
Griin  steht  das  Tal  schon  rings,  und  der  lichte  Wald 
Vertieft  in  Sehatten  schon  sich  geheimnisvoll. 
Die  wilde  Taube  gurrt,  der  JMger 

Schmiickt  sich  den  Hut  mit  dem  frischen  Zweige. 
(Fragment,  welches  ich  neulich  auf  einem  alten  Wischchen  von  mir  fand.)^) 
So  wirds  nun  allernachstens  heissen,  Liebster.  Soeben  komme  ich 
im  Schlafrock  von  dem  wohlbekannten  Hiigel  hinterm  Kirchhof  herunter. 
Der  Himmel  ist  bedeckt,  die  Luft  durch  Regen  abgekiihlt,  die  jungen 
Saaten  breiten  sich  uberall  aus,  zwei  Kuckucke  rufen  vom  Walde  her- 
uber,  und  die  Lerchen  singen  sich  beinah  die  Seele  heraus. 

Morgen  ist  unserer  teuren  Konstanze  Geburtstag,  den  ich  im 
stillen  wie  den  einer  Schwester  begehe.  Ein  kleines  donum  natale,  ftir 
Euch  beide  bestimmt,  liegt  schon  in  Stuttgart  bereit,  das  wir  vielleicht 
selbst  uberbringen.  KlSrchen  ist  noch  nicht  da;  es  scheint,  sie  muss 
nun  schon  das  Schillerfest  abwarten.  Apropos,  den  Handel  mit  den 
Briefen  hab  ich  nun  abgemacht  (zu  350  fl.),  nachdem  ich  zweimal  in 
Mdckmuhl  gewesen.^  Dabei  hat  sich  ein  merkwtirdiges  ZusammentrefFen 
ereignet.  Der  Kauf  wurde  nach  vielen  Schwierigkeiten  am  28.  April 
geschlossen ;  vom  29.  datiert  sich  daher  das  kurze  Vorwort,  mit  welchem 
ich  auf  Schweizerbarts  Wunsch  die  kleine  Briefsammlung  versah  und 

1)  In  das  Gedicbt  »An  einen  Liebenden*  (Gedicbte  S.  296)  als  4.  Strophe 
mit  leichten  Anderungen  aufgenommen. 

*)  Mdrike  vennittelte  der  Schweizerbartschen  VerUgsbucbhandlung  in  Stutt- 
gart das  Recht,  die  im  Besitz  des  Kaufmanns  KQhner  in  M5ckmuhl  beflndlichen 
Schillerechen  Familienbrlefe  zum  Abdnick  zu  bringen,  und  gab  sie  selbst  am 
Schluss  des  2.  Bands  der  Boasschen  vNachtrige  zu  Schillers  simtlichen  Werken** 
heraus. 


-Mg   426  ^ 


am  gleichen  Tag  zum  Druck  abschickte.  Nun  findest  Du  in  einem 
jener  Briefe  Schillers  ungeflhr  folgende  Steile  <aus  Weimar  vom 
August  1802  an  seine  Schwester  in  Cleversulzbach):  «Wir  haben  unser 
neues  Haus  im  Fruhjahr  bezogen.  Allein  es  war  ein  ungl&cklicher  Tag: 
der  Sterbetag  unserer  lieben  Mutter  (in  Cleversulzbach).  Ich  gestehe, 
dass  Ich  nicht  wenig  erschrak,  als  ich  dies  in  des  Schwagers  Briefe 
fand;  denn  es  ist  immer  eine  sonderbar  traurige  Verkettung  des 
Schicksals.*  Die  Mutter  Schillers  aber,  musst  Du  wissen,  starb  am 
29.  April  1802  laut  der  hiesigen  Kirchenbticher.  Ich  konnte  nicht  um- 
hin,  dies  alles  in  der  kleinen  Einleitung  zu  bemerken.  Es  ist  doch 
wirklich  sehr  seltsam.  Und  dass  ich  von  hier  aus  die  Sache  zu 
besorgen  bekam,  da  doch  dieser  Ort,  dieses  Haus  in  gar  keiner  wesent- 
lichen  Relation  zu  dem  Handel  steht  ausser  der  27,stundigen  Nachbar- 
schaft  mit  dem  Wohnort  des  Kaufmanns !  (Schweizerbart  wusste  so  wenig 
wie  ich  bei  meiner  Hierherkunft  von  den  fruhem  Bewohnem  des  Hauses.) 

Ubrigens  enthalten  die  Briefe  manchen  schonen  Beitrag  zur 
Charakteristik  Schillers.  Aus  Anlass  von  seines  Vaters  Tode  schreibt 
er  sehr  bewegt  unter  anderm  ungefihr  folgendes:  ^Es  ist  etwas  Grosses 
darum,  eine  so  lange  Laufbahn  so  zu  vollenden,  wie  er  es  vermochte. 
MSchte  es  mir  vergdnnt  sein,  und  w2rs  mit  Obemahme  aller  seiner 
Schmerzen,  so  unschuldig  von  meinem  Leben  zu  scheiden  wie  er!"  etc. 
Ich  habe  das  schdne  Schiller-Lengefeldische  Wappen  (mit  Einhom  und 
Pfeil)  nach  dem  schwarzen  Siegel  eines  hieher  gerichteten  Schreibens 
gezeichnet;  der  Verleger  wills  in  einem  Holzschnitt  beigeben.  Das 
Couvert  hab  ich  behalten,  und  Ihr  sollt  es  druben  sehn. 

Wenn  wir  zu  Euch  kommen,  ist  noch  nicht  wohl  auf  den  Tag  zu 
bestimmen.  KlSrchen  wird  sich  wahrscheinlich  erst  noch  ein  wenig  hier 
ausruhen  wollen,  eh  sie  den  Fuss  zu  neuen  und  grosseren  Freuden 
wieder  ins  Geflhrt  setzt.  Allein  ich  werde  ihr  nicht  allzu  lange  Rast 
erlauben.  Unter  den  projektierten  Ausflugen  hat  mich  Deine  Schilderung 
des  unheimlichen  Waldplatzes  absonderlich  gereizt.  Ich  will  recht  viel 
zu  Fusse  gehn  und  wieder  einiges  Mergentheimer  Wasser  trinken. 

Fur  die  Proben  aus  den  gereimten  Evangelien  bin  ich  Dir  sehr 
verbunden.  Ich  hatte  den  Verfasser^  nachdem  ich  ihn  friiher  so  gut 
wie  gar  nicht  gekannt,  erst  neuerdings  schMtzen  gelemt  und  kann  ihm 
vieles  hingehn  lassen;  aber  das  heisst  doch  die  Leute  ein  bischen  stark 
iiber  die  Ohren  hauenl 

Strauss  schickte  mir  kurzlich  seine  Zwei  friedlichen  Blotter,  die 
Du  schon  anderwarts  lasest.  Vielleicht  ist  Dir  aber  die  Vorrede  noch 
neu;  dann  brSchte  ich  das  Bfichlein  mit. 

Hierbei  einige  Spisse  fiir  die  Kinder.  Das  fremde  Tier  von 
Louis^)  fiir  die  Bada,')  die  zwei  andem  Bildchen  fur  Agnes  von  mir. 
Hab  ich  das  Gesichtchen  nicht  einigermassen  getrofFen?  Hebt  es  ihr 
auf,  dass  sies  noch  in  zehn  Jahren  sieht! 


Ein  Bruder  Mdriket.  ^ 
*)  HartUttbs  T5chterchen  Ada. 


-^•1  427 


.  Schliesslich  muss  [ich]  Ihm  sagen,  dass  man  zwar  Wermutshausen 
fiiglich  nicht  von  jenem  bittern  Kraut  herleiten  darf.  Die  rechte 
Derivation  weiss  Er  aber  nicht.  Es  kommt  von  .wehren**  und  von 
«Mttth",  .wehrhaftem  Muth*,  wodorch  sich  holTentlich  die  Wehrmuths- 
hftuser  sehr  geschmeichelt  finden  und  gem  drei  h  ffir  eines  in  Kauf 
nehmen  werden. 

Lebt  wohl,  motne  Teuren! 

Ewig  Euer  E. 

Wir  kdnnen  uns  wohl  noch  ein-  bis  zweimal  schrelben. 

9.  An  Klara  Morlke.') 

14  Jahre  spMter!  Mdrike  hat  sein  Grctchen  heimgeftihrt  und  sitzt 
am  eigenen  Herd  in  einer  Stuttgarter  Mietwohnung,  deren  LSrm  freilich 
manche  verdriessliche  Stdrung  verursacht.  Er  ist  eben  damit  beschSftigt, 
seine  reizende  Novelle  .Mozart  auf  der  Reise  nach  Prag"  zu  schreiben. 
Schwester  Klara,  die  Hausgenossin  der  jung  verheirateten  Gatten,  weilt 
gerade  zu  Besuch  in  Mergentheim,  wo  Mdrike  mit  dieser  vor  seiner 
VermMhlung  gewohnt,  wo  er  die  Gattin  gefunden  hat,  und  wo  seine 
Schwiegermutter,  Frau  von  Speeth,  noch  lebt.  Mit  KlMrchen  plaudert 
der  Dichter  in  unsrem  Briefe  von  den  Fortschritttn  seiner  poetischen 
Arbeit,  von  einer  beabsichtigten,  aber  nicht  zustande  gekommenen  Reise 
oacli  Ayinchen  in  GeschSftsangelegenheiten,  von  einer  Familien-Kaffee- 
visite  und  andem  kleinen  Ereignissen  des  tigUchen  Lebens. 

27.  Juni  53. 

Ich  habe  mich  heut  friih,  wie  schon  mehrere  Tage,  mit  meiner 
^pLandstrasse**  der  grdsseren  Ungestdrtheit  wegen  in  Dein  Stubchen 
heruber  gemacht,  liebstes  K19rchen,  auf  Deine  Matratze  und  bis  jetzt 
—  nach  11  Uhr  —  auf  der  Patentschiefertafel  geschrieben.  Die  Laden 
sind  zur  HMlfte  zu,  der  Sturmwind  treibt  die  hohen  BMume  hin  und 
her,  die  Buben  fangen  sich  im  Hof,  und  oben  wurde  lang  gebeethovelt, 
so  dass  ich  einmal  wieder  Gebrauch  von  meinen  alten  Ohrenstdpseln 
machte  und  allerdings  dann  fast  so  still  wie  auf  dem  untersten  Meeres- 
grund  lag.  Die  Arbeit  ging  diesmal  auch  sonst  ertrfiglich  vorwSrts,  und 
die  Auspizien  dafur  sind  gut.  Vorgestem  wollte  der  Zufall,  dass,  als 
ich  eben  die  Partie  von  dem  italienischen  Kunststuck  mit  den  Orangen 
<von  Mozart  erzdhlt)  vor  mir  hatte,  aus  der  Kaseme  druben  das  erste 
Finale  des  Don  Juan  gemacht  wurde  und  zu  gleicher  Zeit  Gretchen 
dem  Louis  Auftrag  wegen  einer  Pomeranze  ftir  die  vorhabende  Visite 
gab.  Ich  nahm  dieses  Zusammentreffen  als  ein  gunstiges  Vorzeichen 
fOr  mein  Geschift.  Wenn  ich  mich  nur  so  14  Tage  in  das  Dach- 
kimmerchen  bei  Euch  zu  meinen  alten  Steinkisten^  setzen  kdnnte,  die 
ich  ja  ganz  gewiss  fest  zugenagelt  lassen  wollte.    Von  Bruder  L[ou!s] 


^)  Urschrift  im  Besitz  des  Herausgebers. 
Mdrike  war  eifriger  Petrefiktensammler. 


^   428  8^ 


bin  ich  inzwischen  nicht  gehindert,  er  kommt  nie  mehr  vor  Abend,  und 
das  Hebe  Gretchen  erleichtert  mich  auf  alle  Weise. 

Und  Du?  wie  geht  es  Dir?  Gesundheitlich  ?  gesellig?  musikalisch? 
Wir  haben  gross  Verlangen  nach  einer  Nachricht  und  stellen  uns  einst- 
weilen,  um  unsre  Sorgen  wenigstens  von  dieser  Seite  nicht  zu  ver- 
mehren,  das  Beste  vor.  Jetzt  gibt  der  Munchner  Brief  zu  denken^ 
auch  ftir  Dich  und  die  liebe  Mutter.  Ich  weiss  da  wahrlich  fur  die 
nichste  Zeit  noch  entfemt  keinen  Rat.  Ich  muss  notwendig  jetzt  ab* 
brechen.  Grusse  die  gute  Frau  Mama  und  alles !  Leb  wohl,  geliebtestes 
Klfirchen,  und  sei  des  stetesten  Andenkens  versichert 

Deines  getreuen  E. 


Den  28.,  Dienstag,  in  Deinem  Sttibchen. 

Ich  sage  Dir,  Geliebteste,  tausendmal  Dank  fur  die  guten,  lieben, 
erschSpfenden  BlStter,  womit  Du  unsere  Sehnsucht  nach  einem  Wort 
von  Dir  auf  einmal  zufrieden  gestellt  hast,  und  Gott  Dank,  dass  Du 
von  Dir  im  ganzen  doch  Gutes,  wenigstens  nichts  von  dem  Gegenteil 
zu  sagen  hattest.  Die  liebe  Mutter  dauert  mich  um  desto  mehr,  und 
freilich  ists  ein  schlechter  Trost,  dass  Du  fur  ihre  viele  Gute  etwas 
durch  Krankenpflege  helfen  kannst. 

Was  sagt  Ihr  denn  zu  unserem  Munchner  Plan,  und  wenn  wir 
Dich  am  Ende  in  Mergentheim  selber  abholten?  Es  ist  mir  selbst  bis 
jetzt  noch  gar  nicht  glaublich,  und  eh  ein  Mittel  dazu  sichtbar  ist,  bitte 
ich  Euch,  noch  niemanden  davon  zu  sprechen.  Nach  Miinchen  an  sich 
selber  gelustet  es  mich  bei  Gott!  nicht,  allein  es  ist  doch  unertrlglich, 
so  stockblind  in  dieser  wichtigen  Angelegenheit  zu  bleiben.  Denn  weder 
die  Wurzburger  noch  Wilhelm^)  noch  das  Gericht  und  unseren  Advokaten 
kann  ich  verstehn.  Unter  den  mancherlei  widerstrebenden  Empfindungen, 
die  ich  bei  dem  Gedanken  an  diese  Reise  habe,  ist  auch  das  Vorgefuhl, 
wie  sehr  Deine  Gegenwart  und  Mitwirkung  uns  fehlen  werde.  Genug 
davon!  das  liebe  Gretchen  schreibt  ausfiihrlich  iiber  alles. 

Noch  soli  ich  Dir  sagen,  dass  letzten  Sonntag  die  Neufifer-Butter- 
sackische  Kafifeevisite  mit  Lotte  Sp[Mth]  sehr  vergniigt  bei  uns  war* 
Ich  musste  ihnen  einiges  von  mir,  z.  B.  den  Essig-Prizeptor,*)  vorlesen, 
der  alle  ausnehmend  ergotzte,  besonders  auch  die  Rommelsbacher. 

Recht  angenehm  ist  mir  neben  vie! em  andern  in  Deinem  Brief 
so  manche  Ausserung  iiber  das  Mirchen^  gewesen.  Der  ausfuhrlichere 
Aufsatz  Fischers^)  dartiber,  statt  dessen  der  Merkur  jenen  kurzen 
gebracht  hat,  wird  jetzt  im  Morgenblatt  erscheinen. 

Femer:  morgen  verlSsst  der  Legationsratin^)  Moriz  das  Haus;  er 
soil  zu  einem  Geistlichen  in  die  Schweiz,  glaub  ich,  kommen.  Der 


^)  von  Speetb,  ein  Bruder  Gretcbens. 

*)  ,Hius]iche  Szene*  (Gedichte  S.  304-309). 

^)  Das  auf  Weihnachten  1852  erschlenene  .Stuttgarter  Hutzelminnlein*. 
*)  Johann  Georg  Fischer,  der  Dichter. 

^)  Mdrike  wohnte  damals  im  Haus  der  Legationsrats-Witwe  Reuss  (Hospital- 
strasse  36). 


429 


taeftige  Auftritt  im  oberen  Stock,  von  welchem  wir  schrieben,  hatte 
keinen  Verdniss,  sondern  den  unvermuteten  Tod  eines  Bruders  der 
LegationsrStin  in  Wien  zur  Ursache. 

Nochmals  die  innigsten  Griisse  und  Kiisse 

von 

Deinem  Eduard. 

Soeben  hdr  ich  ZitherklMnge  in  oder  neben  unserm  Garten.  Wie 
moss  ich  Dein  dabei  gedenken ! 

10.  An  Edward  Schrdder.^ 

Zum  Schluss  noch  ein  paar  fiuchtige  Zeilen  aus  Mdrikes  vorletztem 
Lebensjahr,  die  nach  zwei  Richtungen  bezeichnend  sind:  einmal  fur 
seine  Saumseligkeit,  die  ihn  zur  Erledigung  eines  noch  so  geringfugigen 
Geschdfts  nur  schwer  kommen  Hess,  dann  fiir  die  Liebenswurdigkeit, 
mit  der  er  alle  an  ihn  herantretenden  Wiinsche  zu  erfullen  bestrebt 
war.  Der  EmpfSnger  des  Briefchens,  der  jetzige  Gottinger  Germanist 
Edward  Schroder,  hatte  als  Kasseler  Obersekundaner  den  von  ihm  hoch- 
verehrten  Dichter  zweimal  urn  ein  Autogramm  angegangen.  Er  trug 
schliesslich  als  Beute  neben  jenem  kleinen  Begleitschreiben  ein  hand- 
schriftliches  Exemplar  des  Gedichts  .Gefunden"*  (Gedichte  S.  96)  davon. 

Entschuldigen  Sie,  lieber  Freund,  die  sehr  verspStete  Ubersendung 
meines  Beitrags  zu  Ihrer  Handschriften-Sammlung.  Ich  war  geraume 
Zeit  von  Haus  entfemt,  Ihre  beiden  Briefe  kamen  spSt  in  meine  HMnde, 
nachher  gab  es  noch  manche  Abhaltung,  und  jetzt,  da  ich  eine  ruhige 
Viertelstunde  finde  und  das  Datum  Ihrer  letzten  Zuschrift  nachsehe,  tut 
es  mir  herzlich  leid,  dass  ich  in  den  Augen  eines  meiner  schMtzbaren 
jungen  Leser  so  lange  als  ein  ganz  unfreundlicher  Kauz  gegolten 
haben  muss. 

Sie  bestens  grussend 
Stuttgart,  den  13.  MSrz  1874. 

Eduard  Morike. 

m  ^ 
m 

Ursctarift  im  Besitz  des  Empfingers. 


430  ^ 


Ittecanf4)e  Jicbcn  in  XDitcttembecg. 

93oit  Sritft  3ae(f(^  in  ^ibxonn. 

3un&d|f)  autoa^mdmetfe  etne  furje  captatio  benevolentiae,  bte  t^re 
^rfinbung  unb  sugfetd^  i^re  Sntfd^ulbtgung  in  ber  Stgenart  unfrer  fd^m&btfd^eit 
Seri)&[mifTe  finben  mag«  di  gefcf)tet)t  au^ertyafb  bed  t)or  3  3at)ren  t)oit  mtr 
i)eraudgegebenen  r,®d)n>a6fafptegeM"  je^t  an  biefer  ®telle  {um  erflenma^ 
ba0,  n>enn  audy  nur  tm  t)orgff4riebenen  unb  befd)r&nften  9taum  unb  9tat)men 
finer  Sfijse^  bie  3(ufgabe  mfucM  toirb^  bad  jfingfle  (iterarifd)e  2eben  bed 
@(i)n>aben[anbd  in  feinen  n>efent(ic^tt  Stricken  ju  {eid)nen*  ®o0en  biefe 
92ad)n>eife  ii^ren  nat&xlid^en  B^oed  etner  iU&rung  unb  SSerfl&nbigung  erffiUen/ 
fo  mirb  bie  SRottDenbigfeit  eined  ofenen  ®ortd  jur  ^id^t^  aud^ufpredKU/ 
toad  ifl/  niemanb  {ufieb  unb  niemanb  juleib,  t«  aufriditigen  £ienfi  nur 
unfrer  gemeinfamen  Stammedfadye. 

@rd  ifl  etmad  (Sigened  um  bad  geiflige  Seben  in  SUurttemberg.  IDer 
^6nig  gab  jungfl  in  einer  ®eburtdfefiaubien}  bem  Cberbilvgtnneifler  ber 
9lef[benj  eine  6l)arafteri(lif,  bie  l)ieri)ergei)6rr.  dv  fei  ffrf)  feit  feinar  ^ron^ 
befleigung  —  fo  fagte  ber  £6nig  —  fletd  ben>u0t  gewefen^  bag  ber  politifi^ 
9er&tigung  eined  ®raared^  n>ie  SBfirttemberg/  t)eri}&[tnidm&0ig  enge  ®ren)en 
ge)ogen  feien;  auf  bem  ®ebiet  fAnflferifdier  unb  miffenfdyofrfidyer  ^e^ 
llrebungen  aber  ^aben  bie  beutfdien  ^unbedflaaten  etn  ebenfo  teid)ed^  tote 
banfbared  $e[b  ber  ^earbettung  oor  ftd)^  unb  er  fei  bat)er  aKejeit  barauf 
behadit  gewefen,  in  98firttemberg  fojufagen  etn  ^uUurjentrum  ju  fdyafen 
unb  {u  erl^aften,  eine  ®t&rte^  n>o  mandyerlei  Sntereffen  ibea(er  Blatur  eine 
(iebet)o(Iere  unb  n)ot)(  and)  eigenartigere  ^irberung  unb  ^flege  erfa^ren 
f6nnen,  a(d  bad  meUcidjt  ba  unb  bort  fonfl  ber  ^atl  fein  mige«  Sin  fold^ed 
Jt6nigdn)ort  tt)xt  unb  fennjeidynet  ben  @)oredyer  n>ie  bie  ^efprodyenen,  jenen 
burd)  bte  ipiebert)D(te  ^unbgebung  feined  ))orurtei(d[Dfen  SBiUend  {ur  ^r&gnng 
f)eimartid)er  ffierte  unb  biefe  burdj  bad  Sutrauen  ju  itjrer  ®d|6})ferfraft. 
Ob  fie  treiben  mirb?  ^rei(id):  ba^eim  unb  braugen  ifl  audi  eine  anbere 
SSorfieOung  t)erbreitet/  eine,  bie  unfre  Siteratur  unfrer  fd)n)dbifd)en  ^anbfd^aft 
t)erg[eid)t  3u  und  ragen  nod)  bie  gletfc^eri^aften  3([penriefen  aud  ber 
naffifd)en  ^eriobe  ber  beutfdien  ^oepe  unb  ^Ijifofopljie  Ijerein,  aber  ®d)i0er 
unb  «Oege(  ffnb  bod)  mei)r  ©emeingut  bed  gan^en  SSoIfd  aid  fd)tt>&bifd)er 
eonberbef[$.  3ebod)  bie  a»6rire  unb  U^anb,  bie  gr.  Ztf.  3Sifd)er  unb 
I>.  gr.  ©trauf,  bie  ?.  ^fau  unb  3.  ®.  ^i^dfcx  fcnb  ebenfo  fd)tD4bifd)  n>ie 
unfre  3(Ib  unb  unfer  ©d)n>arjn)alb*  XDcin  Snbe  ber  70 er,  anfangd  ber 
80er  Satire  fdUt  ed  merf (id)  ab;  eine  bfinne  J^fige(reil)e  t)on  Stamen  fhrebr 
nod)  fiber  bie  3(((tdg(id)feit  empor.  Unb  ()eute?  „^ft  benn  im  ©dftoabtn* 
(anbe  t)erf(ungen  aUer  ®ang?" 

Diefed  J&eft  foil  barauf  eine  Unttoott  geben,  atlerbingd  in  einer  burd) 
9taumr&cfffd)ren  bebingten  3(ud[efe,  feine  erfd)6pfenbe.  Hud)  ®d^roabtn  ifat 
feine  Hittn  unb  feine  3ungen.  ^ad  Slebeneinanber  ober  —  rid)ttger  — 
bad  ®egeneinanber  biefer  beiben  ®d)id)ten  c^arafteriffert  unfre  ®egenti>art. 


-cNg   431  9^ 


hit  Abrtgend  audi  tiitxin  auf  etn  fr&i)ere«  &t)nU(bei  3icxtfUtni^  in  bet 
fd)n>&6ifd)en  ^treratur  t)ern>eifen  fann.  meinc  ben  ©egenfa^  t)or  baih 
100  3ai)ren  {mtfcfyen  bem  tn  ®tuttgart  ^mfdyenben  Alaffijtdmud  unb  fetner 
Itterartfd^en  Serfretung  tm  Sottafd)en  MfRorgenbfart  ffir  gebtfbete  ®r&nbe" 
f  tnerfett^  unb  bcr  tn  S&btngcn  flubtcrenbett  9tomanttf  mtt  tbrem  |)o(emtfd)en 
„®Dnntagdb(arr  ffir  ungebtlbete  ®r&nbe"/  bem  ^reunbedfretd  urn  Ubtanb^ 
J^enier  unb  Sd^toab^  ber  f|)&ter  fogenannten  @(fyn>&btfdyen  ®dyu(e  auf  bet 
anbent  ®ette.  X)tefer  SSergletd)  gefdyief^t  ntc^t  wn  ungef&i^r^  er  eriaubt 
7lnt)aMipunttt  aud)  f&r  bte  i^euttgen  Ser^&Itntffe.  Unfre  3(Iten  unb  unfre 
3ttngen:  bie  ©egenfiberfleUung  tnitj&U  neben  bem  fe(bfh)erfl&nb[t(fyen  burd)^ 
fdyntttlid^en  3((rerdunrerfd)teb  etntge  anbere  Stfferenjmerfmale.  3un&d)fl 
liu%tr\id):  bte  jffteren  fi^en  tn  ber  ^awpt^adft  in  ber  Stefibenj  tn  fidyerer 
unb  bei)aglid)er  ^offtton  unb  mtt  perfinltdyem  3ufammeni)a(t  unteretnanber, 
fine  ©ruppe.  Z)te  3jtngeren  beftnben  ffdy  metfl  fern  Don  ber  J^etmat,  etnjeln 
unb  {erfireut^  mtt  nur  fdymadien  ^&ben  bortbin  Derbunben,  ober  aber^  n>er 
Don  tt)nen  bat)etmgeb(teben  tfl^  bem  fe^(t  bte  inhere  ^ret^eit  unb  ®e(b< 
(Idnbtgfett,  Hd)  unummunben  audjufpred^en.  ^Better  prtnjt^teK:  betbe  Zetle 
^eben  tn  it)ren  ^unfhnitteln  unb  ^flofen  je  t^re  etgenen  9Bege.  Sad  t|l 
gefd)id)t[td)  erfl&rltd).  Uli  bte  erfle  native  ^reube  ber  getfitgen  SQortffi^rer 
tn  ®dyn>aben  liber  bte  Srfolge  Don  1870/71  unb  fiber  ^®rAnbung  hti 
9tetd^d  fld^  ttidnipft  tjattc,  begann  ed  ber  fdymdbtfdyen  ^tteratur  ba(b  an 
fongentalen  IDIatenen  ju  mangeln.  Sb'^e  Sertreter  —  bte  &(tere  ®ruppe  — 
fn&pften  teild  nod)  mtt  ))erf6n(td)em  fRtterlebeU/  tetid  fd)on  tn  Stemtntdjenjen 
an  iene  gro^e  Sett  an^  fte  baben  Don  btefer  Srabttton  mttgenoffen  unb  bleiben 
in  ibrem  9ann.  IDte  2)id)tung  gel}t  bort  burd)  tai  Wtthium  ber  93i[bung^ 
fie  tretbt  in  ben  reid)en  Sd^A^en  ber  93&ter  3(rd|do(ogie  unb  a(d  Srgebnid 
crfd^etnt  etne  retfe  3(bf[&rung  unb  etne  eb(e  ^orm,  eine  gemiffe  poettfdye 
Semunft,  etn  3(bn>enben  Don  ben  ^roblemen  bed  unmittefbaren  icben^, 
baneben  and)  ab  unb  {u  etn  btd)terifd)er  Silettantidmud  in  btefed  SBorted 
befler  Cebeutung.  Sd)te  pr&dytige  ^u^erungen  Derbanfen  n>ir  biefen  2t(ten. 
3d)  Dermeife  j.  ©.  auf  bie  ^roben  ber  brei  ©tuttgarter  in  biefem  J^eft, 
JDberflubienrat  (Sbuarb  ^aulud^  ®enera(flaatdann>a[t  ^arf  @d)6nbarbt  unb 
^iteraturprofeffor  «arl  SBeitbredjt.  ^aulud  unb  SBeitbredjt  tjaben  and)  1883 
«in  ,,®d)tt)4bifd)e«  Did)terbud)"  f)€van^e%tbtn.  SBBie  *arl  SBeitbrec^t,  be^ 
fanntlid)  and)  SSerfaffer  einer  ?itcraturgefc^id)te,  tjat  fid)  and)  beffen  ©ruber 
Widjarb  SBeitbredjt,  ©tabtpfarrcr  im  \)ef\^d)€n  SKJimpfen  a.©.,  ^^^^  bie 
^ege  bti  fd^mdbifdyen  X^iaUM  in  ©auemnoDeKen  einen  92amen  gemadyt. 
^in  gerabe}u  fuggefiioed  (Slement  ifl  aber  bem  ani  bem  SoKen  gefd)6pften 
munbart(id)en  Stealidmud  Don  @buarb  J^iDer  eigen.  92eben  ii^m  flnb  be^ 
fonber*  ber  ^farrer  Otto  ®ittinger  unb  ber  frfiljcre  5enori(i  unb  ©ifbl^auer 
7bo(f  ®rimminger  am  befanntefien  geworben*  ®d)effe[fd)e  S6ne  dyarafteri^ 
(leren  ben  Slottweifer  ?anbgerid)tdrat  SXobert  i)d)flen  Sin  flajficiflifd)  glatter 
„a3olKbid)ter"  i(l  ber  ®d)omborfer  Gfifenmibelarbeiter  ?ubtt)ig  palmer. 
Samit  n>&ren  einige  S9pen  wenigflend  angebeutet. 

3Cnbre  —  ben  3al)ren  nad)  nur  —  iltere,  wie,  gleidjfaW  ein  ^SSolM* 
bid)ter",  ber  SBarmbronner  95auer  6bnfti««  ffiagner  mit  feiner  natur»ild)|Igen 
UrfprfingHdirett,  ber  ®tuttgarter  3ufit)rat  Sbuarb  Cggert  mit  granbto«  an^ 


432  8^ 


idfaniidftn  83i(bent  im  dpc^,  unb  3fo(be  Aurj,  bie  Afinfllertn  ber  SRoDene, 
mit  itjxm  9leaUdmud  im  ©rtf  bcr  flrofen  ®d)n>eijer  ®- better  unb  J^.  ^.  IReper^ 
—  fie  (eiren  bereitd  ju  3ung^®(()ti>a6en  fiber* 

(Sine  9tett)e  Don  $erf6n(id|fetten  Derfirpern  btefe  fdyw&btfd^e  SBoberne. 
3l)r  Xudbrucf  ifl  wefentii*  ein  fprifrfjen  3fW  iljre  *ennjetd)en  erfdjeinen 
mtr  gegen&ber  ber  &(reren  ®ruppe  mtt  t^rer  Aont)entton  eine  befonbere  Un^ 
mitteibaxUit  ber  (Smpfinbnng  unb  ber  DarfleUung,  etne  tnaippt,  fd^Iid^te 
^rdgnanj  bed  lln^bxud^,  Ijdufig  bid  jur  epigrammatifd)en  ^onsentration 
gei}enb/  eine  fuggeflit)e  ^xaft  in  ber  SBirfung*  2)ad  baburd)  (Sxxeidftt  ifl 
ein  3un>ad)d  an  ^(nfdyauungen  unb  an  ^ulrur.  SReben  jarten  Stimmungd^ 
gebid)ren  ^nber  fid)  tiefe  98e[ranfd)auungdpoefte«  ^uf  ben  gemeinfamen 
dienner  tttoa  biefer  @i)araftertfltf  (affen  fid)  bet  ader  inbit)ibue(Ien  Ser^ 
fdyieben^eit  untereinanber  eine  3(n{ai)(  moberner  felbfldnbiger  Slaturen 
bringeU/  beren  audgefprod^ener  ffibbeutfdyer  3(f}ent  fte  n)ot)(tuenb  t)on  ben 
gewotjnren  ©tilarten  ber  ©erfiner  fRoberne  unterfd)eibet:  mit  beren  @turm 
unb  X)rang  tjat  biefed  3ung^@(4n>aben  n>eber  dufere  nod)  innere  93e}ief)ungen 
met)r;  ed  ift  gebiegener,  fld)erer;  mitunter  ffingt  eine  SK6rifefd)e  9lote  in 
biefer  Sprif  an.  3fber  wie  ber  ©lanj  aR6rifefd)er  Didjrung  erfi  t)on  aufer^ 
^afb  ffliirttembergd  burd)  bie  J&ugo  aBoIffd)e  SWufif  in*  red)te  ?id)t  gefe$t 
merben  mufte,  el)e  man  felbfl  bat)eim  ed  fat),  —  &l)n(id)  ergel)t  ed  biefen 
mobernen  ^rofilen.  X)er  befd)au(i(4e  9tat  bed  ,,9(eibe  im  Sanbe  unb  n&^re 
bid)  reblid)'^  fd)aft  ii)nfn  Sntjiagung.  (Snrweber  meifen  fte  jat)re[ang  fd)on 
feme  t)on  ber  ^O^iwat,  fo  —  t)on  Sfolbe  *urj  tt>ar  fd)on  bie  9lebe  —  aud^ 
Sdfar  glaifd)ren  (gcb.  1864)  and  Stuttgart  in  ©eriin,  J&crmann  J&effe 
(geb.  1877)  aud  6aln>  in  ©afef,  «arl  ®u|laD  SoDmoeOer  (geb-  1878)  aud 
©tuttgart  in  Stalien;  obcr  bfeiben  fie  tt>o^I  ober  ffnb  fie  wieber  in  ber 
«Oeimat^  fo  ®ertrub  3ngeborg  £(ett  (and  Salto)  unb  ^^erefe  Aifllin  (aud 
STOauIbronn),  @l)r[er,  bcr  Sc!)rer  %x.  gelger,  Srnfl  *rauf,  aber  ed 

fei)(t  ii}nen  $6rberung;  einige  anbere  fd)(ie^(id)^  ein  Hxd^itett  ®uflat)  SBaper 
ober  ein  ^unfimaler  ^einxid)  ©c^&ff  tragen  bad  ^aindmal  ber  Q5oi)dme  an 
fid)^  aid  t9pifd)e  ^^^fiognomie  etned  berangierten  Spniferd  ber  eine,  aid 
Dagierenber  ^i)iIofopI)  mit  bem  Sac^en  auf  ber  .l^eibe  ber  anbere.  3Iber 
Zaiente  finb  fit  famt  unb  fonberd,  eigenartige,  Dom  ®rabe  bed  bead)tend^ 
tt)ertcn  bid  ju  bem  bed  bcbeutcnbeu  mit  bcflimmter  f6nfllerifd)er  Sntwirflung. 
Unb  tt>ieber  eine  $atfad)e:  bie  gro^e  ©U(4i)anbeldflabt  ©tuttgart  t)at  —  mit 
eincr  3(udnal)me  —  feined  ber  t)on  biefen  X)i(^tern  erfd)tenenen  ©fidjer 
auf  ben  SRarft  gebrad)t;  ©eriiner  ober  ?eipjiger  33erleger  ffnb  ed,  bie  ben 
bcfanntcflen,  Sdfar  glaifd)len,  obcr  neuerbingd  J&ermann  J^effe  ober  ©ammeU 
bdnbe  moberner  beutfd)cr  ij^xit  l)eraudgeben,  in  benen  aud)  Don  ben  anbern 
^octen  ciniged  }u  finbcn  ifi.  @d  ifl  n>at)r,  au^er  SIaifd)Ien  unb  J^effe  tjat 
k)ielleid)t  niemanb  eine  DoUmcrtigc  ^robuftion  auf)un)eifen,  bie  ein  ganjed  ©ud^ 
red)tfertigt.  3Iber  )u  einem  92cufd)n)dbifd)en  X)id)terbud)  reid)t  fibergenug,. 
mad  ungebrucft  in  IDIanuffriptcn  mir  befannt  ifl  unb  n)ad  and)  ju  einem 
foId)en  3tt)ed  Don  bem  fd)on  genanntcn  ©d)rift(leller  (Srnfl  ^aug  gefammelt 
ifl.  Cb  n)oi}I  aud)  f){er}u  ein  nid)tfd)n)db{fd)er  SSerlag  n6tig  werben  muf? 
©0  ffel)t  bad  Sntereffe  obcr  bad  aSerfldnbnid  ber  einl)eimifd)cn  Serlagd^anb* 
lungen  and.   Unb  gleid)erma0en  fle^t  ed  burd)fd)nittlid)  urn  bie  wfirttem^ 


433  ho- 


htvQjiSdjt  ^rejfe:  eine  ^eitSdftift,  tint  Hvt  ©ammelpunft  unb  3entralret)ue, 
Qxbt  ti  bti  un*  nid)t  me^r/)  unb  unfre  ^age^jcirungen  jeigen  ficf)  jebcr 
litfrartfdyen  ^robuftion  gerabeju  abl)oIb  (mit  einer  Derfd)n>inbenben  3fu^* 
naf)me)  unb  moKen  fid)  ni(i)t  um  btc  ^uferungen  unfrer  X)td)ter  ffimmerU/ 
tt)cber  ber  Afteren  nod)  bet  jfingcren.  9Bo  afcer  fein  ^apitaf  tdtig  ifl,  fel)It 
aud)  ber  *onfum.  Die  ©efonberbeit  ber  ffeinbiirgerfid)cn  ^onftitution  SBfirttem^* 
berg*  birgt  weitere  gefdjloflfene  ®egcnfrAfte.  3ubcm  wirfcn  bie  Sleigungen 
ber  Xlten  unb  ber  Sungen  jentrifugar.  pit  HUtn  meiben  bie  Sungcn  unb 
—  fenncn  ffe  faum.  1894  ifl  in  ©tuttgarr  ber  Urcrarifd)e  «Iub  in*  ?eben 
gerufen  worben:  ,,®Ab*  unb  norbbeutfcfte  ®ele^rte,  2)id)ter  unb  3ournan(len, 
©eruf*^  unb  fonftige  ©d)riftflener,  SWdnner,  bie  fid),  wenn  nid)t  fflr  ?iteratur, 
fe  bod)  fir  ©efeUigfeit  interejfieren,  fi$en  barin  frieblid)  beieinanber.  Ob 
e*  bem  iungen  Serein  gelingen  mirb^  aUm&t)(id)  eine  SQiebergeburt  be* 
(irerarifd)en  9eben*  in  ®tutrgarr  an)uba^nen/  (iegt  im  ®d)0^e  ber  Sufunft 
t)erborgen.  7km  f(^meri(td)flen  mift  man  augenblitf(id)  jebe  engere  Ser^ 
binbung,  jeben  fefleren  3ufammen()aft  ber  tt)iirttembergifd)en  Did)ter  unter^ 
einanber."  ®o  tjat  9luboIf  *raug  in  feiner  ®d)n)4bifd)en  ?iterarurgefd)id)te 
im  3al)re  1899  gefd)rieben;  fo  i|l  e*  tftntt  nod)..  Die  fepten  5  Saljre  ^abcn 
baran  ni*t*  gednbert.  Der  ^fub  pflegt  fd)6ne  ©efeOigfeit;  ein  tdtige* 
Xufenleben,  ein  J&eranjiel)en  nod)  nid)t  burd)  ba*  ©iegef  be*  @rfoIg*  3(u*^ 
geieid)neter,  nod)  ©trebenber  ifl  feiner  98&rbe  nidjt  gemdf. 

$ro$bem  ifl  e*  nid)t  wa^r^  ba*  b6fe  SQort  Don  ben  M®d)tt>aben  im 
SBinfel''.  ®oeti}e  l)at  einmal  t)on  Ut)[anb  gemeint^  feine  ®ad)en  feien  ja 
gan)  nett/  aber  erma*  ^elterfdifitrernbe*  i}abe  er  nid)t  {ufianbegebrad)t. 
Da*  gift  bi*  ju  einem  gewiffen  ®rab  fur  bie  gcfamte  fd)n)dbifd)e  *ultur 
unb  Siteratur.  HUtin  biefe  ifl  bod)  eine  $3e[t  im  Heinen  unb  fie  gei)6rt 
einem  ®tamm^  ber  bie  @eifle*gefd)id)te  Deutfd)(anb*  befrud)tet  i}at,  n>ie 
fein  anbrer.  3Cud)  je$t  regt  fid)  ber  yul*fd)lag  eine*  eigencn  frifd)en 
Seben*/  fo  bag  ba*  ®d)[agn)ort  be*  @pigonentum*  nid)t  trijft  9lid)t  fo 
fafl  poIirifd)e,  af*  fuItureDe  SleferoatreAte  finb  e*,  bie  wir  (Bdjtoabtn  be^ 
n>ai)ren.  ^reilid)  fd)eint  aud)  im  geifligen  ^eben  bic  afre  9ea(ferung*rege( 
ber  Sauern  nod)  }u  gelten:  )n)ifd)ent)inein  eine  3(u*rui)brad)e.  38ir  fommen 
aber  bariibcr  binau*.  (Sin  jufammenfaffenbc*  k)orurtei(*(ofe*  ©ifb  be* 
poetifd)en  ®d)affcn*  im  ®d)n)abenlanb,  in  ber  gorm  eine*  9leufd)tt)dbifd)en 
Did)terbud)*,  f6nnre  un*  f)eute  wieber  ba*  9ted)t  geben^  mit  ®d)i(Ier  ju 
rufen:   „3l)r,  il)r  bort  aufen  in  ber  UBelt,  bie  Slafen  eingefpannti'' 


0  ^cffetitltd^  ^ibeme^men  bie  ^ettbbeutfc^en  WHenatitftftt"  biefe  Kufgabe. 


-Hg   434  8^ 


(Bcbid)tc  von  C(^ttf)ian  tt)agnec. 

&tkitwott 

tftt  eigenarHgfle  uitter  ben  f(i)n>&6tfd)eit  1Dtcf)rmi  ber  ®egenti>art  i(l 
tDo^I  S^ttfltan  SBagner^  ber  aii  Qauer  ju  SBarmbronti  bei  ^eonberg  (ebt^ 
mofelbfl  er  tm  3ai)r  1835  ba«  ?tdyt  ber  SBitU  erblicfte.  din  ^prifer  t)on 
urf|)rfing(id)er  Cegabung^  etn  Zr&utner^  ©riibler  unb  @ei)er^  baju  etn  ^rebtger 
t)on  flarfem  fittltd^en  ^at^od  nadf  ber  Ijumanitdreti  iRtdihtng'  ^tn  —  ba^ 
enoa  ffnb  bte  Umrtgftnien^  mit  beneit  man  etne  3etd)nung  fetner  getfHgen 
3nbtt)tbua(tr&t  )u  beginnen  ()&ttc.  3tt  ben  bret  9&nbd)en  ber  ,,®onntagd^ 
g&nge",  bte  er  jnoifdyen  1886  unb  1890  t»er6{fenr(td)t  ^ar,  unb  in  ben  ^S^euen 
Dtd^tungen"  (1807)  finben  fid)  tn  grower  3ln)at)(  ®ebid)re  t)on  feltener 
®d)6nt)ett^  &berraf(f)enb  unb  merfwfirbig  burd)  tt)ren  ®ebanfenget)a(t  unb  bie 
Origtnalitdt  ber  in  tl)nen  gebotenen  btlblidyen  3(nfd)auung,  gewinnenb  and) 
burd)  ^ir^nntgfett  unb  bte  9B&rme  itjtt^  Zone^.  Cingelned,  toenn  anif 
nur  tomtged/  t)on  gfeid^em  bid)terif(^en  SBerte  bringen  bie  „9Bei^egefd)enfe" 
(1803).  din  libe(flanb  ftnb  firetltcft  bte  nid)t  fehenen  9}ad)(&fllgfetren^  Un^ 
gelenftgfetten  unb  Unferrtgfeiren,  bie  tn  ber  ®)orad)e  (Sf^rifltan  ^agner^  — 
nur  in  ben  ,,9Ieuen  Dtd)tungen"  i|l  bie  ^orm  reiner  —  mit  unterfaufen; 
barf  man  fte  bem  burd)  fetne  n)tffenfd)afr(td)e  ober  ffinfHerifc^e  ®d)u(ung 
t)inburd)gegangenen  ^idfttx  nid)t  doU  anred)nen,  fo  rvhtt  itfxn  bod)  me^r 
@elb(ifrittf  nad)gerabe  bringenb  jn  n>Anfd)en,  unb  faum  f6nnte  er  in  ber 
Sufunfr  beffered  tun,  aW  bag  er  bie  bi*t)er  enrflanbenen  ^inber  feiner  SBufe 
in  be}ug  auf  bie  ®prad)fDrm  einer  ernfKid)en  ^r&fung  unb  Steinigung  unter^ 
)6ge.  3nbeffen  ifl  bed  Sabedofen  nid)t  nur,  fonbern  bed  Cewunberungd^ 
n>&rbigen  eine  betr&d)t[id)e  ®umme  t)ori}anben,  unb  tj&tttn  wir  tint  n>eife 
3(udti>ai)(  ber  Sprif  S^riflian  9Bagnerd,  einen  ®amme(banb  feiner  beflen 
®d)6pfungen,  fo  wfirbe  bie  ®d)ar  feiner  33eret)rer  rafd)  ti>ad)fen.  3m  britten 
®&nbd)en  ber  „®onntagdg&nge"  („9anaben  unb  ^umenlieber")  ifl  bad  (prifc^ 
Sortreff[id)e  )i>itViti<t)t  am  bid)teflen  gel)&uft,  fafl  intereffanter  nod)  burd)  Steid)^ 
turn  an  ®eifl,  mannigfaltigen  3nl)a(t  unb  ©ebanfenreife  finb  bie  „92euen  Sic^^ 
tungeU/"  bie  aud  ben  3(brei(ungen  ^J^erbflblumen"  unb  ,,Cdti>a(b  unb  Stlaxa. 
din  ®tfi(f  Smigfeitdleben"  btftttjtn. 

(Sd  ffnb,  n>ien)o^(  unter  ffd)  nid)t  oi}ne  Sufammen^ang,  l)auptfA(^(i(^ 
brei  3been^  unb  SorfleKungdfreife,  brei  gro^e  Zl^emata,  bte  ben  3nl)a(t  ber 
Sid)tung  di)v.  9Qagnerd  abgeben.  £ie  ®d)6pfung  bon  ^ftanjenmird^en  ifl 
bad  eine.  9Bagner  befeelt  bie  9latur,  bie  ^f[an}enti>e(r,  bie  il}m  bei  feinen 
t&g(id)en  ®&ngen  burd)  9Ba(b  unb^  ^lur  unter  bie  3(ugen  tritt,  er  ffel)t  in 
ber  ®eflaU  unb  Oifbung,  ben  SJac^dtumdbebingungen  unb  ben  ®efd)i(ren 
pflan)[id)er  9Befen  Spiegelungen  menfcf)(id)en  ®eind  unb  Xund,  SBieber^ 
erfcfteinungen  menfd)(id)en  {ebend;  eine  9laturumbeutung  finbet  flatt,  unb 
biefe  Umbeutung  erflretft  f[d)  auc^  auf  bad  ^ierleben,  auf  (anbfd)aft[i4)f 
@inbrikcfe  unb  9Bitterungdt)l)&nomene.  @d  ifl  aber  feine  n>iDffir(id)e  unb 
®e(tfamed  audflfigelnbe  9tefIerion,  n>e(d)e  babei  toaltet,  fonbern  ntc^t  minber 


435  8^ 


merftDiirbtg  aii  bte  Sinntgfeit  ber  9tlbfd)6pfun9  unb  bie  S&Ke  ber  m&rd)en^ 
bilbettben  SittuiHon  dtfx.  9Qagiterd  tfl  bte  Slatunoa^r^etr  in  feinem  bt(fytenfcf)en 
$frfat)ren/  infoferit  ber  ^tfanta^tatt^  ber  bie  Itmbeutung  etned  |>flan)ftd)ett 
SKJefen*  t)oKjie^t,  auf  bem  Orunbe  einer  ungemein  frfjarfcn  ©rfaflfung  be^ 
SBefentltdyen^  bed  fiir  hai  3(uge  @i)araftenflifd)en  etner  pflan)[t(4eti  ^orm 
unb  3(rt  ru^t.  Hud)  tfl  btefed  gan)e  Ser^alten  M  '^idjttti  {ur  unter^ 
mfnfd^Itc^en  dlatut  nidit  nur  bad  ^l^antaffefpiel^  aid  n>efd)ed  ed  }un&d)fl  er^ 
fd^etnt;  fonbern  in  bie  ifll^etifd^e  ^ufl  .bed  @e^end.  nnb  ®e(lalrend  mengtftdy 
6ei  Hjm  ein  religi6fer  ®fau6e^  etn  pl^ilofopiytfdyed  Qeb&rfntd^  eine  fein  3(uf^ 
faffen  ber  (SrfdjeinungdweU  be^errfrfjenbe  Sbee:  ber  ®ee(enti>anberungdg(aube^ 
ertoeitert  unb  Dergetfligt,  freiltdy  and)  ind  2){ateria(ifiifd)e  gewenbet^  entmicfelt 
fid)  bei  atjx.  SBagner,  ber  bie  popul&r  gemorbenen  natum)iffenfd)aftli(^en 
iie^ren  bom  ^eidlauf  bed  ®tofed  unb  ber  9Banberung  ber  ®tofftei(cf)en  in 
fid)  aufgenommen  tjat,  }ur  3bee  bed  ewigen  9ormn>ed)fe(d  ailed  @eind,  ber 
emigen  SQieberfe^r  bed  Sergangenen^  unb  i)iermtt  begegnen  mtr  bem  )n>eiten 
grogen  Ztjma  unb  9)2oti))enge6iet  feiner  Sic^tung.  ®on>eit  bie  eigent(id)e 
Sbee  ber  Seelenwanberung  i)ert)ortrttt^  werben  wir  an  bie  Set)ren  ber  Snber^ 
indbefonbere  ber  Cubb^iflen  erinnert^  tion  benen  6l}r.  SIQagner  bod|  nid)t  ab^ 
i)&ngig  ifl  unb  fid)  aucft  beflimmr  genug  unterfd^eibet:  benn  fein  SRinoana 
(ocft  ii)n,  unb  ber  3(dfefe  bed  93ubbi}idmud  fe$t  er  bie  Sobpreifung  bed  X)afeind^ 
gl&tfed/  ber  ^ebendfreube  unb  feinen  ®d)6n()eitdfu[t  entgegen*  (Sine  in  fid) 
t>6atg  gefl&rte  98e(tanfd)auung  barf  man  bei  e()rifiian  SQagner  fvtilidj  nid)t 
fud)en;  er  gibt  fid)  t)on  >)f9d)oIogifd>en  ©egriffen  feine  ftrenge  9ted)enfd)aft^ 
unb-mit  feiner  Don  ben  ^(tomDorfleUungen  beeinflu^ren  93etrad)rungdn>eife 
ge^en  bie  ©timmungen  unb  ©eficftte^  bte  bem  i^m  innetoo^nenben  J^ang  jur 
SOIpflif  entf>)ringen,  nidit  vtd)t  jufammen.  2fber  auf  fet>r  intereffante  ®ebid)te 
flo^en  wit  ^ier  bod)^  unb  afd  bebeurfam  unb  fvud^tbav  in  etl)ifd|er  9tid|tung 
ertoeifen  fid)  feine  i^m  }ur  (ebi)afteflen  ^l)antafie^3(nfd)auung  geworbenen 
tnteKeftueden  liberjeugungen.  Son  ber  3(nerfennung  bed  ^ffierted  bed  Sebend^ 
Don  ber  9Qertfd)&9ung  ber  IDafeindfreube  aud^  bie  ii)m  aid  ein  nottoenbiged 
©t&rfungdmittel  )ur  33erDoOfommnung  bed  2)?enfd)en  erfd)eint^  ifl  er  )um 
®runbfa9  ber  ,,m6g(id)flen  @d)onung  ailed  Sebenbigen"  gelangt  «&iemir  ifl 
bad  britte  gro^e  S^ema  feiner  ^oefTe  genannt;  ia,  man  fann  fagen^  ber 
®ebanfe  ber  ®d)onung  bed  Sebenbigen^  ber  „9ted)tdanerfennung  aOed 
^ebenbigen",  ber  ©ebanfe  bed  9ted)ted  aKed  Sebenbigen  auf  Unoer(e$(td|feit;. 
ifl  bie  fldrffle  Sriebfraft  feined  bid)terifd)en  ®d)afend^  ifl  bie  ®ee(e  feiner 
^oeffe*  ^ein  1Did)ter  Dor  ii}m  tjat  mit  folc^er  3nnig(eit  unb  Unermfib(id)feir;. 
foId)em  (Srnfle,  fo(d)em  SCufmanb  Don  ^euer  unb  folc^er  98eill)er{igfeit  bie 
erbarmenbe  iitbe  {u  aOer  Jhreatur  geprebigt  toic  er^  unb  toenn  and  ben 
®ebanfentiefen  bed  9ubbt)idmud  ein  wo^fmoKenbed  unb  mirteibiged  fBtttfalttn 
gegen  aUe  9Befen  flo^,  menu  bad  6()riflenrum  in  feinen  reinflen  £)fenbarungen 
bte  Stebe  {um  „dliidiHtn**^  ju  ben  9)7itmenfd)en  (et)rte^  fo  ifl  ed  Dor)figIid) 
bie  Zierfd)onung  unb  and)  bie  ^an}enf(^onung  (93aumfd)onung  {umaO/  in 
beren  SSerffinbigung  ber  ©auer  unb  Z)id)ter  ju  9Barmbronn  feined  ^ebend 
®tnn^  Sn^alt  unb  3iel  erfannt^  feine  SDIiffton,  fein  $rot)^etentum  gefunben 
^at  Sin  (SDangelium  bed  ^riebend  toiK  er  ben  (Srbenben)oi)nern  bringen^ 
er(6fen  mid)tc  er  bie  Xienoelt  Don  ber  tanfenbfad)en  SRi^^anblung/  mid)t 


436  8^ 


tie  SRenfc^^eit  aud  ®xaniamUit  unb  ^Arte,  aud  gebanfettlofer  ®eii)6^nttng 
Sufikgt/  er(6fen  mid)tt  tv  hit  9)2enfcf)en  Don  ber  ©efbfKudyt  unb  ®en>a[t^ 
tdtigfeit,  bie  il)re  arm  madyen^  aufget^eti  (affen  tnic^te  er  iibtx  bai 

ganje  9tctdy  bed  ^ebenbtgett  bte  ®onne  etner  mtlben^  Dergetflt^ten  ^reube: 
baffir  bon  neuem  bie  9Bege  {u  ebnen^  an  btefem  grof en  SQerfe  mit{ui)e(fen^ 
iff  ber  ©eruf,  beffen  fid)  Sljriflian  SBagner  bewuft  Die  ®ebi(^te^  bie 
unter  biefem  S^icl^^n  gefdyriebrn  ftnb^  tragen  benn  and)  ben  ©tempel  ber 
3nf|)irarion^  ftnb  bie  ^robufte  einer  inneren  92otn>enbigfeit^  fonientrierter 
Hu^ixud  feiner  ^erf6n(i(f)feit^  finb  bad  Cefle^  n>ad  er  ber  SSSdt  )u  geben  tjattt. 

3cf)  l^abe  geglaubr,  bie  (e$ten  biefer  ®d$e  and  bent  Cudie  n^ieber^ofen 
{u  bfirfen^  bad  idf  unter  bent  Xitel  ,,6t)rifiian  SQagner^  ber  9auer  unb 
X)i(f)ter  )U  SQamtbronn''  aid  eine  nid)t  audfd)[ief[i(f)  (iterart)iflorif(^e  unb 
biograpl)ifd)e^  fonbem  )uglei(^  fojialett^ifdye  ®tubie  t)er6fent(id[)t  t^abe*  X)en 
Sefern  biefer  flitter  aber  feien  aid  ^roben  ber  SBagner^dyen  ^oefTe  bie 
folgenben  &thid)tt  gebotem  9tic()arb  SSSeltxidi. 


I. 

Oflerfamflag. 

(Sd  ifl  Oflerfantflag.  98inter[id)  fle^t  ber  ^alb^  unb  bie  :2Inemonen^ 
bie  Xijpfdjtn  t^&ngenb^  ba  unb  bort  in  ffeinen  ®ru))t)en  beifamnten: 

9Bie  bie  ^rauen 
3iond  n>o^(  bereinfl  beint  matten  ®rauen 
3ened  Xrauertagd  beifamnten  flanbeu/ 
SBorte  nid)t  mei)r^  nur  nod)  Zr&nen  fanben; 

@o  nod)  l)eute 
®tel)en,  afd  in  feme  3eit  Derfhreute 
93leid)e  3iondt6d)ter/  3[nemonen 
3n  bed  SRorbend  n)inter[id)en  3onen. 

Som  ®en)imme[ 
2)id)ter  ^lorfen  ift  er  trfib,  ber  J^immef; 
Zraurig  ilet^en  fie  bie  £6))fd)en  i)dngenb 
Unb  in  ©ruppen  fid)  }ufammenbr&ngenb. 

3I[fo  einfam, 
3et)n  unb  }n>6lfe  tjitx  fo  feibgemeinfam, 
Da  unb  bort  Derftreut  auf  grauer  Sbte, 
9Qei^e  $ud)[ein  aufgebunben  jebe. 

Sffo  trauernb, 
Snnerlid)  oor  g^rofl  gufammcnfd)aucrnb, 
®tei)n  allj&^rlid)  ffe  aid  ^lagebilbnid, 
3n  bed  winterlic^en  SBalbed  SBilbnid. 


437  ho- 


II. 


2tuf  ber  ^Surgruine/) 

3it  bem  92efle 
Droben  auf  bem  geW  ein  ®dtiger*)  lag, 
(Singeferfert  bort  fd)on  3al)r  unb  Jag 

3(uf  ber  93efle. 

3fu*  bem  *erfer 
©rac^  er  einjl  bei  mittem&difger  SBeiP, 
fffiofff  l)erab  fid)  raffen  an  bem  ®et( 

93on  bem  Srfer. 

Docft  jerfdjmetterr 
Sanben  i^ti  bie  9B&d)ter  morgen«  fd|Ott; 
n>ar  tm  ®p&t^erb(l,  unb  ber  Q3ud|en  jtron* 
?aubentbl4trert.  — 

3fud  ben  weffen 
(Srauen  ^ledyten,  bie  fein  ©lut  bene^t, 
®{nb  nun  aufgefprogt  unb  blUftn  ie$i 

^elfennelfen. 

3(ud  ben  9Roofen/ 
TCud  ben  ®tetnen,  bie  fetn  Q3(ur  befpri^t, 
®tnb  nun  aufgefpro^t  unb  blfif^en  i^t 

®fabiofen. 

TCugeufpiegel*) 
®d)n>eben  um  bie  SleCP  unb  ©fabiof, 
Um  bie  n>eif  unb  rote  fffialbe^rof 

Tlnf  bem  J^AgeL 

Xugenfpiegel 
®d)n>eben  ^ter  im  blauen  $reii)eiMfaa(, 
©fufge  Jr6pflein  wie  ein  bfuf ge«  SKat 

3fuf  bem  glflgeL  — 

Sag  ba^  Jrauem! 
Son  bed  Setbe«  Qanben  audgefdytrrt, 
®eine  ®ee(e  nun  ali  falter  irrt 

£)b  ben  9)2auern* 


•)  Rifobemu«  ffrtWUn  f  4690. 
SBddeutsehe  Monatthefte.  1, 5.  29 


438 


III. 

3cr6r6cfle,  wcnii  id)  tot  bin,  fel'ge*  ?id)t, 
3tt  fffierrtag«fd|(a(feti  mtr  mctn  SQefcn  nidftt 

3u  buft'geii  Qtumen  in  bem  Xenjgefilb 
Uitb  )tt  ber  Stofeti  tietfcm  ®d)6n^eit«6i(b 

Unb  ju  ber  ?ieber  fel'flen  SRetobten, 
edfatlmVitn,  bit  buxdj  SRenfc^etifeelett  {ie^n 

Unb  fte  ert)e6en  in  ber  Tlniadft  X)om, 
aBoU'fi  bu  Dertoetiben  iebe«  Staubatom! 

IV. 

Son  ®e(tgfetten  tr&umfl  bn  nadj  bem  l)arten 
Unb  mit{)et)olIen  ?e6en  unb  ®eto«; 
iCte  Wliititn,  hit  bu  ^aft  in  biefem  ®arten^ 
ajlitfamt  ben  ^reuben  wirfl  bu  fie  nur  loi; 
SBo^I  anbre  ^renben  n>erben  bid)  erwarten, 
Tiodf  anbre  SWifyen  werben  fern  bein  ?o*, 

me^r  unb  meiyr  bai  Don  btr  au^gefc^teben^ 
9&ai  beinem  ffiefen  mtnbern  fann  ben  ^rieben. 


V. 

Z)e«  ®d)t(rfaK  9Ba(ten/  taub  ift  e«  unb  bitnb/. 
(fin  n>t(bgen>orbne«  fdyeued  9Betberinb. 

€in  ©fiffel  i^%  ber  graft  auf  grfiner  J&eib' 
Unb  (eudyten  fTe^t  t>on  fern  ein  roted  Aletb: 

din  (Sbler  natjt  in  fetnem  j^6ntg«f(fymu(f^ 
Dem  ©iffet  bftnft  er  wirrer  J&eibefpuf. 

iDte  Jg»6mer  fenft  er  unb  er^bt  ben  ^dftotif^ 
®ein  3(uge  fa^t  ben  ^ur))ttr  unb  ben  9teif ! 

Hx  (Ifirjt  l)eran,  burc^bo^rt  il>n  mit  bem  J&ont 
Unb  tritt  itjn  unter       in  feinem  3exn.  — 

«arfreitag  tjcut\  —  JD  unglicffePger  5ag, 
Hn  bem  ein  ®ott  bed  J&ome«  ©to^  eriag!  — 


430 

VL 

9i  tfi  ittd)t  alte^  gaii}  btin,  roai  bu  bcin  nennefi;  ti  ifl  eigcnt(id)  gar 
ntc^M  gait)  bettt  ali  bte  SBertfadyen  in  bettter  9ru(i^  in  bcm  feuer^efien  unb 
btebe^flc^mn  Aaf)Vitfd)ranf  beiner  @eele.  IDeiite  @&rten^  beine  ifcfer  unb 
9Btefen  ^afl  bu  erfauft  unb  beja^It;  aber  wad  bu  ntd)t  erfauft  unb  6e)a^(t 
^a(i^  iai  ifi  ber  Sau  unb  ber  Stegcn^  ber  beine  ®en)&(i)fe  tv&ntt,  bad  ifl  bie 
?nft  unb  ber  fireubige  ®onnenf(i)ein.  —  ^rum  fielje:  Slidit  ganj  bein  ifl 
beine  Srnte*  —  ®iel>e,  ber  J&err  ber  (Srbe,  ber  ?uft,  bed  Stegend  unb  ®onnen^ 
fd)eind  tfat  bir  mitunter  arme  $D?enfd)enKnber^  and)  Siere^  mitunter  ®(f)n>ad)^ 
ffnnige  unb  Unmfinbige^  and)  «&er6ergd[ofe  —  id)  ni6d)rc  fagen  —  ind  Tlni^ 
gebing  gegeben  mit  ber  gemi^  nid)t  fd)n>er  br&(fenben  95ebingung^  ffe  ein 
n>enig  ju  bufben.  —  3a  ed  jinb  geringe  3(udbinger^  bie  ddu  beinen  ^elb^ 
frftd)ten  nafd^en^  ^elb^&^ner^  9Ba[bk)6ge[  unb  Sauben  —  ja  nod)  geringere : 
®))er(inge  unb  SR&ufe^  SBau(n>&rfc  unb  9Raif&fer;  aber  glaube  ia  nidjt,  bag 
biefelben  i^rem  ®d)6pfer  aud)  fo  gering  unb  mxtloi  erfd)einen  aW  bir.  — 
IDu  to&tefl  mit  ^cucrro^r^  mit  ®ift  unb  ®d)[inge  unter  biefen  f (einen  nafc^en^ 
ben  Tfudbingem.  ®ie^e  tool)!  }U/  bag  bid)  biefelben  nid)t  Derflagen!  «Ofite 
bic^^  ottf  bag  bir  bein  Se^end^err  bie  Derlie^enen  Slu^niegungen  nic^t  mieber 
ne^me  —  bie  9tu$niegungen  bed  9tegend  unb  Sonnenfc^eind,  bie  9tu$^ 
niegungen  ber  fril)[id)en  ®efunb^eit  unb  bed  ®ebeit)end!  —  Unb  fie^e  n>o^( 
pi,  bag  beine  Sfteligion  nidjt  in  beiner  3oi)(ttngdf&i)tgfeit  befle^e! 


VII. 

SBer  mar  ed,  ber  mic^  Hxmcn  in  ber  «Oaft 
£ed  fleinen  X)6rfleind  rfiflete  mit  Jtraft? 

1Durd)Ieud)tete  mein  fd)attenbunfe(  9}id)td?  — 
£)  eine  ®abe  toar'd  bed  en>*gen  9id)td! 

Sad  meine  Hein*  unb  meine  grcge  9Be(t 
^SJtit  feinen  9tofen(}ra^Ien  mir  er^eOt 

Unb  ®egenti>art  unb  Sufunft  mad)et  Har 
Unb  bad  SSergangene  mir  ofenbar.  

tiatV  ni(^t  3Biffenfd)aft,  id)  ^att'  nic^t  Aunfl^  — 
Wtix  wurbe  beibed  burd)  ber  ®6tter  ®unfl, 

Unb  ^6nigen  unb  ^firflen  fle^^  id)  g(etd)^ 

Dod)  in  ber  Sufunft  fd)(ummert  nod)  mein  9teid). 


29^ 


440  8^ 


IDic  bcibcn  Bt^iute. 

(:6<aiAt>f.) 

93ott  3fo(be  Stuxi  in  ^loren). 

5tAtt  £(ertrttb,  feg'  ben  ^otbf<$muA  an, 
S)tt  fofffl  bie  M^e  (graut  ewpfo^'n. 

(BOarum  faffen  i^r  bie  ^ranen  auf  bte  (^M^e? 

Qjlnb  atB  bte  QgFraut  5um  l^ofe  ritt, 
Jtau  £fer(riib  i(r  entgegenfc^ritt, 
9te  Seut  t^r  ^frug^  unb  BcAtwtin. 
—  (B9a0  i^f  fo  ihi4  bie  l^c^wefZev  bein? 

(BSarum  faffen  i^r  bte  Cranen  auf  bte  (SSan^e? 

S)te  $<9i9epev  metn  iff  Sfeic^  unb  truB, 
$ie  txauitt  urn  verfome  £ieS% 
flnetn  ^ttulbtntai  mad^t  Hv  Qg^efc^wev, 
^er  t^re  fc^etnt  wo^f  ntmmeme^r* 

(BSarum  faffen  i(r  bte  Cranen  auf  bte  (^ange? 

JSf0  nun  bae  Qpoar  jut  Kammer  ^ng, 

frau  £(er(rttb  bienenb  fie  empfing, 
te  fop  ber  (grant  bae  ^fofbgefc^meib: 
^4taft  fuff  unb  ntemafs  treff  euc9  Betb! 

(Sbarum  faffen  t^r  bie  ^Tranen  auf  bte  ^an^e? 

I^err  Q^atner,  ma<$t  bte  (B9a9r9et(  ftunb^ 
^0  traurig  ffti^t  tiHn  ^c^wepemunb: 

fotg',  3[8r  fefSer  fetb  ber  Qllann, 
Qjlm  ben  fie  l^erjenenot  gewann. 

(Barum  faffen  t^r  bte  ^Tranen  auf  bte  (^an^e? 

5a,  ebfe  frau,  tc9  ntc^t, 
(S9etf  jeber  Crug  vor  6uc9  5er6rtc9t: 
^evor  3[9t  etnjogt  9ter  afe  Qg^raut, 
(B9ar  fie  mtr  manc^ee  ^a^t  vttitavU. 

(Barum  faffen  t^r  bie  i!^rdnen  auf  bie  ^ange? 

l^aSt  39r  5ur  Crautoi  |te  SegeM 
Qinb  iatUt  lie  bee  Q^inoe  nic^t  wert? 


S)er  von  |tc9  ftieg  fo  ebfe  (nUgb! 

(B^arum  faffen  i^r  bie  ^ranen  auf  bie  (BSan^e? 

^rau  £fer^ub,  fag  bae  ^rauem  ftin^ 
(niein  rolee  £fofb  iff  affee  bein* 

P^tg'  5u  (pferbe  fonber  l^arm, 
%u  ru^e  fanfl  in  (Slainere  iSrm. 

(BDarum  faffen  i^r  bie  ^ranen  auf  bie  (^^an^e? 


441 


Xl)urttembetgif(^e  JirtiUt. 

(geborett  am  J.  mat)  1833  in  Btuttgart). 
©or  5-  «.  5tfc0er0  S)enSmae. 

|u  ^ffen  Q>faben  fteStePt  »u  5tt  ^ucftttn, 
(PevfunStn  in  bern  jStnnen  unb  bein  S)ic9(en, 
Oer  jSc^opfting  reinen  Urafi{en  SinsegeSen* 

1|ier,  190  bu9  an  ber  Ij^afbe  beine  Q^eSen, 
S)ie9  pan  ben  Ij^o^en  (jntglen  beine  f^id^ten, 
Ij^ier  Sommen  wir,  bein  (gifbnia  auf^uri^ten: 
l|ier  foffp  btt  Mn  in  frifc^er  JSiipe  (BJeSen- 

S)ann  na$et  wo^f  ein  Jreunb  unb  fte9re(  meber; 
06  bir 

Oen  a^nenb,  benSi  ev  beine  jieber* 

CUnb  wenn  tm  QRaien  beine  ©rofTefn  fc^fagen, 
S)a  f&^tt        unb  bie  Crane  fc^feic^t  Urn  nieber: 
Ott  feSff  une,  me  in  beinen  6rbe(agen« 

(cieborcn  am  16.  (Dftober  J$37  in  Stuttgart). 
Qpafmpro. 

S)er  0)erfe  gfeic^  ergfan^tep  bu  im  ^anbe 
S)er  Sraunen  (BSuPEe,  (pafmenmpfef  9o6en 

urn  bie  Cempef;  —  ^fieCef  unb  (Hletopen 
Srgfu^n  att0  purem  £fofb  im  j&onnenSranbe. 

£^rog  ifi  bae  Q^eic?,  vom  9afBen  (morgenfonbe 
(»irb  $ier  ber  ja^rfieje  Ztiiut  er^oSen, 
(Unb  ma€9%  $errfc9<,  pom  S)iAbem  ummoSen. 
lenoSia  mi<  gottficQem  ©erftanbe. 

|tt  i^ren  S^^&en  fUft  £ongin  unb  fpric^t 
(Pom  ewig  ^c96nen,  pon  bem  ^nabenfic?!, 
(»omi<  manc9  ^ofbee  (Wttnber  fc^on  gefc^o^. 

$ie  5udU  em^r:  (Bob  fliegt  ba  fur  ein  iS^eer 
3[m  (por««u0?  —  „®a«  ifiE  bos  (|t6ttier9eer, 
^an  Bringt  bie  Uetten  bir,  ^enoBia!'' 


442  ^ 


^  fU^n  fie  einfam  in  ^en  engen  ^^affen, 
(IRtt  (gfumenwerl  Sefe^t  an  affen  'Ranten. 

$0  sftt^n  lie  gfiei^  (£lu6tnen  unl  S)eman(en, 
(B9tnn  f^on  ber  ^nnenfcdein  bie  ^tabt  verCaffen, 
Qlnb  itinoitn,  iptm  bie  ^(eme  fanfi^  erSCafTen, 
®en  Qnorgengrug  bem  ^rogen  (jjlnSilannten* 

O  Qnenfc^enftmb  in  ^ufifemie  verfentt, 
S)eni  t^ob  gmet^t  unb  affen  t^obeefe^mer^en, 
Qjlnenbfic^  ^eigt  atia  beinem  wunben  l^erjen 

S)ie  ige^nfttc^t  auf,  bie  (immfifc^e,  unb  fpren^ 
S)ie  (B9ofllen9ttffe,  unb  im  <;ft<9erfic9( 
(B9irb  une  ein  ^tra^f  aue  &ottu  JKngeMt 


^arl  tOettbrec^t 

(gcborcn  am  $.  lOt^tmhtt  J$47  in  neu^gflm). 
iBrug  an  C^uStngen. 

<3u0  bdmmrtg  SuSfer  j^eme 

Jltt0  2e6en0  Uampf  unb  Qtot 

^ie  benft  ic9  bein  fo  geme, 

S)tt  ^ialt  voff  (niorgenrot! 

^on  beinev  Q^cfic  nieber 

3n0  BKitenweige  t:af 

(ni6c9<  it9  fe^auen  unb  traumen  wieber 

^ur  noc9  ein  ein5i^af! 

S)ort  Sommen  bie  (SDeffen  ge^ojen 
S)e«  (neclar0  in  Sfi^enbem  iauf, 
<Sn  bev  aften  (grude  (gogen 
(glattfc^en  |te  muvmefnb  auf; 
^nb  bie  grauen  £fie6ef  fc^auen 
90  ttnfi  iinai  in  bie  $fu(, 
O^nb  bie  femen  QgFerge  Sfauen 
j||ertt6er  fo  ^eu  unb  fo  gut 


nb  mi<  ben  (B9effen  jie^en 
n  rtt9fo0  f<:9i9effenbem  £fang 
^ieftaufenb  (JAefobteen 
%^ie  grunenben  (Ijlfev  entfong. 


443 


^ieftaufen^  Qllefobteen 

An  bet  ^eefe  voruBerfKe^en 
Jfn  (runtener  Ztauti^tiU 

l^ier  fragt'  tc9  juerfl  bae  BeBen: 
(^906  Btp  btt?  (O9a0  wiiift|!  bu  mtr  ju? 
—  (Tlur  tTriume       mtr*0  jt^iitn, 
^€  gfn^tn  mt  iTraume  ^ur  ^iiB! 

O  fo  vafc^  ftnb  bte  dtofen  petrBfuBt, 

Bter  an  bee  BeBene  ^^weffe 
QTlir  vevB^^enb  en^egengesKiBt! 

S)o4  6tn0  tflf  mir  Aufsegangen 
(B9ie  feucBtenbe  (Hlorgensfut 
Jltt0  ^raumen  unb  itaurnvtrtan^tn: 
Bin  ttoiM  freier  Qtlut! 
Oer  foir  picB  nimmer  Bettgen 
%n  2eBen0  Uampf  unb  Qtott 
9otr  pete  von  bit  mir  ^eugen, 
Ott  ^fobt  votr  (niorsenrot! 

Sum  29.  ^dmrnhn  ±902. 

Qnorjenrot  unb  finpre  (HlitfemacBty 
^ircBenmonbftcBt  uBer  l^etnutfBuseAi, 
l^agenfcBa^e  unter  S)ra^tn^3efn 
^nb  ba0  jefb  bev  fauten  (HlannerfcBfacBt  — 
Jlttf  bem  lUffipetnfefe  ein  ragenb  &4to% 
S)rttnten  in  ber  6rbe  titfm  ^cBog; 
S)ev  verBannte  Qllann  in  iTropfflfeinBfttfiten 
(l]tnb  ba0  l^irfcBBomBanner  in  ben  Btifien  — 
^urfcBenf^^afi^  unb  Beifigee  (Paterfanb  — 
JnfeBer  Uampf  mii  Bfanften  (B^i^sefcBolTen 
fifegen  QtamnvofB  unb  (niobetanb  — 
^riumereien  an  ber  ICefferwanb, 
£(o(bnen  (Weines  Ceiper     ^^enofTen  — 
Jungee,  Beiteremr^ee  i>i4Ut^aufi, 
^cBon  9on  bicBtem  2orBeerftran5  umfauBi 
Qlnb  um^n^t  von  mifber  BieBe  l^iraBf  — 
®ann  ein  friiB^  ^ob  nacB  rafcBew  l^iege: 
JRir  biee  Beff^  (fi^unber  fcBfief  einmaf 
^iitt  borf  oBen  in  bev  enjen  (^tege. 


l^id)atb  XOtithted)t 

(0cborett  am  20.  ^cbruar  )$5)  tit  ^Kuittabett). 
(B9ta  mer0  fait 

(gro0  tmmt  en      a'^Cf^xA^)  a'l 
Oo<9  wenne  en  a'immt,  rpoi^t  er  fTuge 

,,15^  OJerforper",  tuat  er  fa, 
i>t$^m6t  war  t  f^i^i^SAr^)  ei^ganga!'' 
€>nl  ndc9e  mit  em  Ooiter  goOt 
6v  bur  ba'  (B9afb,  a'e  %f<9t  f^au  fpdt, 
Onb  flotfttt  ttSer  fo^iua*  (S^ur^ef, 

Onl  vo^n^m  (gada  itopft  em  0  (^(iiat. 
6r  fc^nauft,  fio^t  uf,  fuac^^  ndc9  em  l^uat: 
,,®{a  ®onnber6fc9ua9,  wann  fe  frifc^  gfoSft! 
j^d^iergar  9&t^  mi  ber  tTeufef  g^oftr 
({Id  wieber  gd^t  er  mi^  em  Q}farr 
QJlf  eBner  j&frdg  —  i^mt  fom^'  Qlarr 
^0'  (flabfer,  fa(rt  en  en  ba'  ^iraBa. 
®er  Q}farr,  ber  fpreng^  em  topfer  5  l^iff: 
,,6  mrb  bo4  iei*  O'sfttdl  geSa  QaSa?"' 
^er  ^ovfitt  pfM<it^)  unl  mii  ^egiff^) 
"ZuaU  au0  em  ^raSa  auger  Sromma: 
y^c^iergar  mar  i  en  l^emmef  Somma/^ 


(Dtto  (Sunrrer 

(0cborcit  am  30.  Oftobcr  J$5$  tit  Stuttgart). 

Beatl  mortui. 

60  mar  in  (flom.   (Pom  (Hlonte  Q>incio  fa^ 
^ir  Sonigfic^  bie  ^onne  nieberfleigen, 
Qinb  vor  ber  gofbnen  5^^^  (oS  |tc9  U^r 
S&er  fc^one  Binitn^vij  Hx  Q}eter0iu{>pef. 
^erfunien  fc^au^en  wir  (inmeg  90m 
^er  raftfoe  mogenb  ftc9  voruBer  fc^oB; 
09ir  maren  mirftficQ  jirembe  in  ber  (Hlense. 
^tumm  ffiejen  mir  (inaB  ^ur  often 
flyinb  fentten  tan^fam  in  bie  (gUi^en  ein* 
Vie  nac9  j&an  Carfo  i(re  j&^ritte  manbten. 


')  ItufoS.      «)  Wno»f.      »)  tut  fc^irft.      *)  Qk^^n. 


445  ^ 


(lln^  i(B9et9rauc9i9otten  fiftesen  vom  JKftar, 
(PerfclweBen^  in  bem  ^ammemben  ^fewofBe. 
(ffiiv  fltSttn  une  tn  etner  ^iutt  jSc^afien 
fljinb  faufc^ten,  wte  lit  Ov^tt  nun  6ea[ann, 
S)en  Cti^tn  wetc^e  ^ne  fanf^  en((|ttoffen, 
Oer  €(or  bann  anfing  fetfe  mt^uUftgeiu 

j&ie  fangen  ^um  ^febacQhite  affer  ^ofen. 

Qjlnb  tc9  vergag  Ht  ^t&tU,  m  i<9  war. 
^or  meinem  Q^ficft  (oB  ftc9  etn  fTtfcQec  6raB, 
(nitt  (BE)tn(erarifeni  votttj  uittltAi 
QOm>  tiatitniutf  urn  bae  fte  oft  gefpieft, 
6in  fr6(ftc9  Kinb,  unb  erne  rajP(ie  (oc^, 
®ie  net^te  ftc9  unb  f<9voantiit  M^i  m  (B9mbe. 
®aru6er  fag  etn  norbtfcQer  ^atOerSftaSenb, 
6tn  matt  (Perbammem  etnee  (ruSen  ^430. 
^0  war  tc9  von  bem  l^iigef  ^ort  sefc^ieben 
^or  wentg  (B^oc^en  erft;  in  Bitferm  j^c^mer^ 
%aU'  ic9  mi^  fosgeriffen  von  lev  &i&tU, 
S)te  (eifig  mir,  fei<  1x4  aufgenommen. 
^ief  (ififfe  war'e,  nur  (ntutterc^en  unb  i($ 
JKffein  noc9  in  ^em  wei^en  <St&itrftth. 

ninb  nie^er  fifur^ten  mir  bie  (eigen  ^ranen, 
S^)ag  ic9  auf  immer  Mc9,  mein  %ii(b,  verforen, 
®ag      ^etn  fieBee  ^(tmmc^en  nie  meBr  (ore, 
®ein  ilrmc^en  mir  ^en  l^afe  nic9^  meBr  umitammtH^ 
®ein  l^&n^c^en  nic^t  in  meine  me^r  M  f^S^ 
(lfloc9  an  ^e0  ^e^jee  (BE^enbung  Bieft  i<9  inne 
Qjlnt  foB  5urucB  nac(  teinem  ^fumen^ugef 
^nl  fai  Hi  JRfifem  ftc9  noc9  einmaf  neigen, 
^nt  bunftfer  immer  loarb  ec  um  ttn0  B^* 
O  marum  mugtefif      auc9  pon  una  geBn, 
®u  wugteft  boc9,  i9ie  mr  fo  9^ig  »i<B  fieBfen, 
(PE)ie  mir,  oBnmac^tig,  (aften  fuc^ten. 

Jib  mir  tic9  unfrer  l^anb  enfgfeiten  fuBftem 
(BE)a6  ffieseft  bu  fo  fruB  ^inai  vom  Bi^i 
%M  tunftfe  6raB.  O  fteO,  wm  lu  gefon, 
^ie  e0  in  unfrer  j&eefe  ^iefen  reigt 

®a  Bfang  vom  (o(en  CBore  eine  j&Hmme 
npie  einee  Sngeb  SmigCeitenPfimme, 
i)er  nur,  moe  f^fig  er  sefc^auf,  vertuntef: 
Beat!  moptul!  —  O  Mefer  ^Ton, 
^0  ftti^  fug  mie  (Ketgemottoes  Sic^t, 
%tingt  unverfterBar  for<  in  meiner  ^eefe* 
Beatl  mortal  I  ^efig  lit  Zottnl 


446  8^ 


Attfs  neue  BracQ  bte  ^rane  mit  JSi^tf 
®oc9  mc9(  mt^v  mt'$t  hit  ^rane  Stttem  ^(^er^es, 
iSNe  fSPfe  fan^  ben  Ztam^pf  in  mtlntt  (gtuft. 
€fepviefen  fti,  U%  in  votttnlti  (afl 
rfii  ttu^te  meOr  wetgif  von  offem  2eib  unb  j&4mir), 
^er  Atmen  €ftUnmtnf4tn  iaxim  BobI 
rttt  unmet  xUttti  in  lev  i&eefe  na<i 
^et  r<»n^e  1^Atu9:  Beatl  mortal  I 

SeBen. 
£eBen  iff  etn  Buntee  ^ief 
^e<9feftiber  ^fepof^^t 
®te  in  SAfeineAififsefuBf 
j^c9  fur  bauemb  Batten 

Qjlnt  boc9  r^wtnben  wit  tin  ^ug 
gotten,  wtnbgeineBen, 

0nbftcB  sanj  jerpteBen, 

Ober  i9ie  etn  fuger  tCCangt 
®er  m  (BE>aft  M  BeBet, 
Qjlnb  am  noBen  (B^tefenBang 
Itttemb  fete  verfcBweBet. 

^tttit  AucB  nocB  To  BocB  bet  (gaum, 
0tnmaf  mug  tt  |tnBen; 
$cB&um(  aucB  nocB  To  BocB  Itv  ^d^um, 
Bani  mtl  tt  ni(9i  BKnien* 

l^eBp  bu  nocB  fo  flof^  »en  Kopf 
Qjlnb  BefiftmmPf  bte  (nio^, 
6tnmAf  bocB  ab  amer  ^topf 
Bit^fi      unferm  Qgfoben. 

(BE)o  ftcB  bAnn  etn  l^ttjef  BeBt, 
3P  Baft  gruneif  (Etafen, 
Qjlnb  tn  Bunberf  ^aittn  gtiit 
(nian  baruBer  j&tragen. 

®te  bort  tpoBnen,  gfauBen  aucB 
j&tcB  bet  6rbe  l^erren, 
^te  atuB  wtrbt  nacB  attem  (gtau(9, 
^cBetn  bee  BeBena  n&rren. 

Btitn  ifl  tin  ^auBefTptef 
^ecBr^fnber  ^feftotten, 
i)it  in  OaretneAir^sefnBf 
^tcB  fur  bauemb  Batten. 


447 


(Drto  ^trttnger 

(gcboren  am  BJ.tltAr)  J$9I  in  lauffcn  a.  Vt). 


5uv  nen^         6'^4<^fi^  em  5^^^  9^  ?^^t 


lett  fiferBeeirani  em  (gett  ber  S^ne, 
QJlfs  5^^^  ^^9n  onb  ^oQne. 

6v  s'^eBt  fe  r<9wer,  btna  goBt'e  net  maiB, 
6Bm  ifc^i  an  ieiB  on^  9eef  To  watQ. 
,tJk9!''  fait  er,  Jf($t  Itnn  affee  fort? 
^aii  miat  Bern  (Hlenrc^  Bein  c^rtfc^tfic^e  (B9ort? 
Olluag  t  tenn  fterBa  muafere'  fetn?'' 
9orc9t        Bommt  ^6  50m  5^^$^^  ^^^^ 
®d  finefa  Bfetne  (Hla^fe  ^raug 
^c^uaAnetfc^terfe'e  vor'e  CBnee  l^aue. 
^y&c^B'^orerfee  Bommt  ^'erfc^to  ^am? 
„Kommt  Bet  tBt  ^efe^ieten''  fangt  eine  an 
Otib  ma  fe  ferttc^  tfc^f  ItxmU, 
Uommt  gfet  be  anber  onb  be  britt 
Onb  affe  but  mi<  B^ffe  j&temma. 
®et  £9ne  (orc^t,  b'  l^anb  fatBt  er  j;'fmma 
Onb  Betot  mt<  mxt  l^ttj  onb  1$£nb, 
Qg^t0  attt  Uenber  feriicQ  fenb. 
Onb  i9ta'0  no  Betg<:  ay  Benna!'' 

did  nicBt  er  fete  em  ^i&Ut  brenna, 
^€Bnaufi^  no  mdf  ftaf  onb  '0  l^erj  fto^t  fiitt 
0m  Jrteba  —  monfr*  am  Kenberfptef. 


Il^eobor  Wand) 

(fftbovtn  am  I.  2(prtl  1893  in  <56ppingen). 

£te8e0<rattm. 

<Sf0  etne0  bem  anbem  iM  JRuge  gefc^attt 
®a  (at  e0  bem  Jluge  ba0  JRuge  verfrauf  — 
6B  l^er^  |tc9  noc9  Bangenb  ^um  l^erjen  gefc^mie^ 
(B^ar  ^eefe  r<9on  fe^nenb  in  j&eefe  sefugt 
QJlnb  ^cBwure  seftfpeft  von  (niunb  (JTlunb 
(PerwoBene  ^um  Qgfanbe,  f(9to\(tn6  jum  Qgfunb  — 
j&o  manbeften  metter  ^wei  l^anb  in  l^anb 
Ah  rewritten  fte  Bin  an  ber  j^efijen  ^ttanl. 


Kenberfpief. 


448 


(gcborcn  am  2d.  ^ptcmbcr  J  $66  tit  Vt^^^^nba^,  O,  U  (Bdppingcn). 

<A  Uittb  mt(  (Petgefe  in  ^  l^anb 
Koww<  aufer  ftti  am  (B^iefeVanb, 

tn^  uf 'm  CKinlfe  f%t  por'm  l^ue 
>r  ffoiaft  Jf(ne  unb  gadt  tiaue; 
€fttcft<  naite  tn  UtB  ^unber  von  j&onnerc9et\ 
Sttcftt  nau6,  afe  fur^f  V,     I6*t     fdrc^tmdr  Baft  fet*. 
\  9d(  jd  net  grngt  maii,  bag     ^eft  fo  f<96'  if^t, 
Or  (^ter  unb  '0  Jitter  (en(  dffe^  verwird^f! 
3e%  (rinfti  V  M  r<^«  an  bem  $onner<9^' 
QJln»  r^fo^  baSet  ganj  Mte  ei' .  * . 
fl^nb  ttiumi  unb  (riuwt  von  f^ffer  |eit, 
oimdf  unb  net  wiener  geit, 
^nb  (r&umt  ftc9  tn  fiV  ICtnb^ett  ^rudl, 
Jlfe  08  fit'  (niueter  uf  en  gad . . . 
QJlnt  um  tQn  f^ieft  a  Uinberfc^ar, 
^nb  uf  bem  ®ac9  f^fi  ft^t  a  ^tar, 
%)er  ftngf  jue  ^rauw  unb  ^tef  fet*  BiU, 
j&et*  urafto  Bieb  unb  mtin  net  mueb, 
Oeee  £teb,  beec  iote  gnueg  (aire  Sa': 
,,2)r  Srue^Kns  fangt  a'l'' 


<Bfertru6  3ngeborg  !Rlett 

(geborm  am  I.  Juli  i$7I  In  lubwigsburg). 
j^tiffe 

15^ttt  —  tm  tTaumef  frojer  BeBenefeier  — 
l|oB  mein  ^d^idfat  fetfe  fetnen  ^c^feter: 
—  Jiff  metn  QVlufn  unb  l^apen  tft  vergeBene, 
®a  nur  Btft  bte  Beuc^te  metnee  ieBene. 

Qlnb  tc9  fac^efte  oB  aff  ben  5<4v^> 
Vie  mir  oBne  bic9  verronnen  waren. 
nnieine  t!^ranen  fofc^ten  jebe  jStunbe, 
®ie  mir  ffog  in  frember  <B6tter  (glunbe. 

<Sffer  SieBeefc^immer  frember  l^er^en, 
Qgffic9,  ivie  r^wac^er  Kerjen. 

Affe  $c9ritte,  bie  mit  mir  segan^en, 
^cQwanben  in  bie  S^^^  ^^^^  verBfangen. 


449  8^ 

QJln^  ic9  ftt^f  in  wunbervoffer  (BE)aMetf' 
(B^eber  mtinu  BeSen^  Hefpe  Ufar^eti: 
Jiff  metn  etgnee  l^affen     verjeSeiK  — 
®u  ttur  Sip  He  Btu($U  wetnee  BeSene! 

j^eutt^,  an  metnee  BeSena  j&onnenwen^ 
"Zvaifi      auf  niic9      mit  fHffem  ^frug. 
0tne  5*^(ftef  Ani^en  ^etne  l^anbe, 
^c^mngen  (rugen  tetnen  rafc^en  S^g, 

^ottecfeuc^fen  fag  auf  ^tintn  (Hltenen, 
Qjlm  He  ^tittii  ^ng  etn  (effer  ^ffan^, 
(P9o  He  ^onnen  beinet  JKugen  fc^tenen 
^ianl  bet  ^og  im  gof^nen  j&ommerSranj* 

Qlletne  i&eefe  ffog  —  pom  Btc^f  entjunbet  — 
^famment  um  ber  j^acftef  Pfumme  titut 
(Bie  ber  ^(um,  ber  neuen  S^u^ftng  iunbet 
^ttfc^te  btttc^  mem  l^ttj  Im  junge  (gfut  

^Ber  tetnee  JKngeftc^tee  ^c^tvetgen 
<Sxni  etn  Bac^efn,  jung  wte  Qtlorgenrot  — 
Qjlnb  ic9  r<^(  Hc9  fiEiff  bte  S^cK^'  netgen. 
Jreunb,  t€9  fteSe  Hc^.         iifi  ber  t^ob. 

(geboreit  am  2$.  ^cbruar  J$72  in  Btamm^etm  bet  €alw). 
Amop  fati. 

<lltt0  tunftefn  ^itntn  ffvx($t  tin  (ei%  ^ort: 
<S>tini\  j&ferSftc^er,      metner  (^u^e  fort! 
I^ter  ivtrt  etn  tt^ag  mit  me  verSfet^ten  Ben^en 
^e0  em'gen  &tudn  Uv  betnen  j&c^etfef  itin5en. 

I^erwovmer  Baut  vom  BeSenefloSpmiQ: 
%ov(9f  mt  er  (ier     l^avmomen  tinntl 
9ter  fc^ifttej^  ftc9  (Bfan^  unb  {B9e9,  unb  Q[la9  unt 
fur  etn^'gen  Q^rac^t  enffbmmter  l^ltmmefefleme* 

®oc9t  nur  ein  fauSer  offnet  Hr  He  (ga^n.  — 
niiib  br&ngto  mt(  ^touS  unb  ^ftiten  |tc9  (eran, 
^c^fagi  Qetg  {$r  (^rotem  uSer  Hr  5urammen: 
®u  9e6f(E  bae  l^aupt  unt  manUffl  burc9  He  5^mmen» 


450  §^ 

(gitnn'B  §tAd  um  §kud  ^iv  von  »er  ^uU  viifft. 


Hermann  ^effe 

(gcboren  am  Z  3ult  I$77  tit  Calm). 

j&off  tc9  fagen,  wae  tc9  (raume? 
<Sn  Be^fdtt^ien,  foniienptffen 
l^ttgeftt  l^atne  bunifer  Qgfaume, 
*!efBe  fefTen,  wetge  (»tffen! 

6tne  ^fobf,  tm  Zat  gefegen, 
6tne  ^fobf  mt(  mamoirwetgen 
IKtrcQen  feuc^fet  mtr  entgegen, 
QJlnt  fie  tft  Sforen;  geBetgen. 

(Unl  in  etnem  aften  ^fatrien 
&nit^€gl  von  fcQmafen  ^faffen 
flUttl  ^06  iBf&cft  noc9  auf  «ic9  watitn, 
i>M  i($  tort  jurucftsefaffen. 


^tuitini, 

Jn  bawmrtsen  €^ntfi^en 
^r£uw(e  i(9  tang 

(Pon  betnen  Qg^aumen  unb  Sfauen  £ufieen, 
(Pon  tetnem  Quft  unt  (Posefgerans ! 

Qflun  Kegft  bu  erfc^fofTen 

^on  £t4t  ttSitrgofTett 
(BE)te  etn  (BE^unber  vox  mtr. 

®u  Sennfif  mtc9  meter, 

®u  focKefif  iiit<9  jari, 

60  ^ttert  tttrc9  aff  metne  ^fteber 

®eine  feftge  ^fegenioart. 


451  8^ 


(geborcn  am  30.  Xtlai  J$77  in  maulbronn). 

3|$r  ftttj^  warum  fo  ttui  metn  ^tngen? 
3(v  frajt,  watum  To  (tuS  mein  i^tngen? 

iann  von  l^erjen  fr6(Kc9  fein, 
%)oc9t  wurbe  mtr  tin  Bitl,  fo  ftKngen 

Qflic^t  etgnee  ^eQ  ti%i  mtc^  erfiefien, 
®enn  9eff  un^  freunbftc^  fief  metn  £00; 
®a6  £etb,  von  bem  tc9  mge  umgeSen, 
®a0  £et^  ^er  (B9eft  mrb  mtr  fo  svog. 

®te  Jltmen  in  »en  tuniefn  ^faffen, 
®te  (gletc^en,  ^te  ber  l^atm  umrptnnf, 
SHe  punter,  bte  M  Fitter  ^afTen, 
®er  KranSe  ml  Im  (B^atfeniinb, 

Ote  €;fau8en0^  ml  lit  "^ffnunintoftn, 
<S)it  ftummt  tCteatur  tm  Q5<^nn,  — 

aSt  fc^auen  mtc9  mt(  grogen, 
(Pevweinfen  Jtujen  fragenb  an. 

(Pon  atttm  Btil,  von  affem  Qg^ofen, 
(Von  aff  tern  lUmpf  unb  off  Itt  Q>ein 
(m64t'  tc9  tm  Biibt  |te  erfofen, 
Bx^t  fte  unb  mt^  Seftetn. 

2)oc9  attjutitf  iat  mix  txf^itttxt 

®er  anltxn  (gOt^'  bae  etgne  1^ev5, 

®ag  immer  in  ben  ^aiten  jiiitxt 

®er  sanjen  (Hlenrc^M  Kampf  unb  ^(fimtxj. 

3c9  gfauSe  ein  eivi3e0  Btitn . .  * 

3fc9  gfauBe  ein  eivi3e0  BeSen  .  *  • 

(niir  fagen  e0  toufenb 

^npCerSft^e  ^tunben, 

(niir  f^gen  e0  foufenb 

iic^tgebanSen, 

®ie  ungerufen 

<llu0  fenten  (BSeffen 

Swi^er  ^(^onitiif 

Bwistx  (Sda^xitit 

IgerttSeme^ien 

%n  meine  vingenbe, 

$ttc9enbe,  fti^mpfenbe  erbenfeefe ... 


-H>*8    452  1^ 
3m  (£Utc9  bet  t^6iu, 

(Pom  fetfe  fflupemben 

Qgfte  5u  bee  j&ttttmee 
^onttetgefirAttfe 
^d^ti€%i  fi(9  mii  mtinit 
j&eefe  ^ufammeii 
Jfn  etneti  jaucQ^^^en, 

ft34  sCiittBe  etn  miitn  £eSen!'' 


ra  T  fa         T     T  f  ^-^         *^  f  ^      *li  T#     M     M  Ti  ^  ffct^^fc 

V f.W^Tkw^fH'^^."*  i'liW^wW^klW^kW^liW^Tw^  JffkV  IIWV  <IW  <ffbV  iKV  ■ 


VerantwortHch :  F&r  den  poUtischen  Tell:  Friedrlch  Naumann  in  Sch6neberg;  fiir  den  witseaacliafdleliea 
Tell :  Paul  Nikolaus  Cossmann  in  M&nchen ;  fCr  den  IcQnstlerischen  Tell :  Wiihelm  XTeigand  in  Mftndicfi- 

Bogenhausen. 


Nachdruck  der  einzelnen  Beitrlge  nur  auszugsweise  nnd  mit  genauer  Quellenangabe  geatattet 


Was  ist  der  Friede? 


Von  Friedrich  Naumann  in  Schdneberg. 

Friede  ist  Abwesenheit  von  Krieg,  Krieg  aber  ist  methodische  Er- 
ledigung  von  Streit,  Streit  aber  ist  Naturzustand  der  Menschheit.  Man 
mag  sich  den  Urzustand  der  Menschen  so  oder  so  denken,  als  Frieden 
denkt  ihn  keiner  mehr,  der  auch  nur  etwas  von  ihm  weiss.  Der  Kampf 
um  Brot  und  Weib,  um  Lagerplatz  und  Waffe,  der  Kampf  um  die  Hilfs- 
mittel  des  Daseins,  ergibt  sich  aus  der  einfachen  Tatsache,  dass  immer 
Menschen  dagewesen  sind,  die  irgend  einen  ungestillten  Hunger  batten. 
Erst  dort,  wo  die  Wunschlosigkeit  vollkommen  ist,  verstummt  der  Streit. 
Wunschlosigkeit  aber  ist  schwer  als  allgemeiner  Seelenzustand  freier 
Menschen  zu  denken.  Der  Einzelne  kann  wunschlos  sein,  wenn  er  ein 
Philosophy  Oder  wenn  er  schwach,  oder  wenn  er  unter  feuchter  WSrme 
faul  geworden  ist.  Ein  Stamm  kann  wunschlos  sein,  wenn  er  nur  wenige 
einfachste  Bedurfhisse  kennt  und  gerade  diese  Befurfhisse  reichlich  be- 
friedigen  kann.  Aber  die  Erdkugel  im  ganzen  ist  nicht  so,  dass  es  uber- 
all  Apfel  Oder  Fische  im  Uberfluss  gibt,  und  —  selbst  die  Apfelesser 
finden  noch  immer  etwas,  um  das  sie  sich  streiten.  Wo  also  Friede  ist, 
wtirde  er  im  allgemeinen  den  Menschen  aufgezwungen  und  zwar  dadurch, 
dass  man  Streite  methodisch  behandelte. 

Wer  am  besten  streiten  kann,  ist  am  ersten  in  der  Lage,  Ruhe 
zu  schaffen.  Er  umgibt  sich  mit  einem  Gebiet,  das  bei  Todesgefahr 
nicht  beschritten  werden  darf,  sei  es  ein  Gebiet  sichtbaren  oder  un- 
sichtbaren  Lebens.  Dieses  Gebiet  ist  sein  Machtgebiet.  Macht  ist  die 
HerstelluDg  von  Friedensgebieten  durch  Streit.  Im  Friedensgebiet  durfen 
die  Unterwurfigen  zwar  leben,  sobald  sie  aber  aufhoren,  Unterwtlrfige 
zu  sein,  beginnt  der  Streit.  Der  Unterworfene  kann  Frieden  haben,  der 
Herrscher  nie,  denn  selbst  wenn  er  Herrscher  einer  Insel  ist,  die  fern 
von  allem  Begehren  einer  Aussenwelt  liegt,  kann  jeden  Tag  ein  Unter- 
worfener  seine  Wunschlosigkeit  vergessen  und  damit  den  Streit  wieder 
wecken.  Hat  er  dann  verlernt,  Herrscher  zu  sein,  das  heisst  sieghaft 
zu  streiten,  so  beginnt  der  Streit  von  neuem. 

Saddentscbe  Monatshefte.   1,6.  30 


454  8^ 


Der  Streitbdndiger  lernt  es,  dem  Unterwurfigen  das  Streiten  ab- 
zugewdhnen.  Das  kann  er  mit  der  Peitsche  tun  oder  mit  der  Predigt. 
Ob  er  mehr  Tyrann  oder  mehr  Priester  ist,  seine  letzte  Frage  bleibt 
immer,  ob  er  genug  gefurchtet  ist,  um  auch  den  WiderwSrtigsten  seiner 
Befriedigten  noch  gerade  in  Zucht  zu  halten.  Bin  Mensch,  der  stftrker  ist 
als  Priester  und  HSuptling,  wird  der  Sturz  von  beiden.  Es  gilt  also 
die  Stirke  methodisch  zu  sichem.  Man  muss  sie  sammeln  wie  man 
Getreide  sammelt,  um  im  Kriegsfall  Brot  zu  haben.  Die  Sammlung 
von  StMrke  heisst  Heeresverfassung,  Strafrecht,  Polizei,  Konigstreue,  Er- 
ziehung.  Auf  diesen  Dingen  beruht  der  Friede.  Darum  ist  es  kein 
ubles  Wort:  das  Kaiserreich  ist  der  Friede!  Friede  ist  Folge  von  Be- 
herrschung. 

Es  gehort  zur  ewigen  Ironie,  von  der  unser  Dasein  so  voll  ist, 
dass  der  Friede  nicht  aus  sich  selbst  geboren  werden  kann,  sondem 
nur  aus  dem  Krieg.  Diejenigen  Leute,  die  man  die  friedlichsten  nennt, 
kdnnen  ftir  den  Frieden  das  wenigste  tun,  denn  selbst  wenn  sie 
sich  aufregen  wollten,  wiirde  man  sie  bald  irgendwo  an  eine  Mauer  ge- 
bunden  oder  in  eine  Grube  geworfen  haben.  Wer  ndmlich  nicht  im- 
stande  ist,  unfriedlich  aufzutreten,  der  hat  fur  den  Frieden  nur  eben 
den  Wert,  den  jetzt  der  Kaiser  von  Korea  hat.  Ist  etwa  dieser  Kaiser 
deshalb  eine  Friedensmacht,  weil  er  als  Kriegsmacht  nichts  bedeutet? 

Ja,  die  Ironie  geht  noch  weiter.  Wer  den  Frieden  herstellen  will, 
muss  kriegerisch  gesonnen  sein.  Es  hat  fur  die  Streitbandiger,  die  man 
Friedensfursten  nennt,  sein  sehr  bedenkliches,  wenn  sie  uber  ihre 
Friedensrolle  allzu  glticklich  sind,  denn  in  dem  Mass,  als  sie  sich  inner- 
lich  dem  Krieg  entfremden,  werden  sie  unfihig,  Kriege  richtig  kommen 
zu  sehen,  vorzubereiten  und  zu  verhindem.  Auch  hierfur  gibt  es  Bei- 
spiele. 

Selbst  den  Unterworfenen  ist  es  nicht  zu  raten,  unkriegerisch  zu 
werden.  So  gem  der  Friedensfurst  gehorsame  Untertanen  hat,  so  muss 
er  doch  wunschen,  dass  sie  nicht  so  friedfertig  werden,  dass  nur  Stock- 
schlige  sie  '  in  Schlachtordnung  halten  kdnnen.  Auch  der  friedlichste 
Untertan  soil  etwas  Pulver  in  seiner  Seele  haben.  Wenn  die  Menschen 
gar  zu  kriegsscheu  werden,  kommt  gerade  uber  sie  der  Krieg.  Man 
denke  an  China! 

O  Wirnis  iiber  Wimis:  je  besser  die  Entwdhnung  von  Streit  gelingt, 
desto  grosser  wird  die  Gefahr!  Je  braver  der  Burger  wird,  desto  un- 
brauchbarer  wird  er  als  Patriot.  Der  Friedensgeist  wird  Gift  fiir  den 
Frieden,  wenn  er  zu  tippig  gedeiht.  Ich  kannte  eine  Dame,  die  es  tin- 
erhort  fand,  dass  man  den  Knaben  Bleisoldaten  schenkte.  Diese  Dame 
dachte,  dass  sie  fur  den  Frieden  arbeitete. 


455 


Die  Fursten  also  sind  dadurch,  dass  sie  bis  an  die  Zdhne  gerustet 
stehen^  Wdchter  des  Friedens.  Bin  merkwurdiger  Gedanke:  an  jedem 
Pfeiler  steht  ein  Mensch  in  voller  Rustung  und  ist  ganz  friedlich,  bis 
zu  dem  Augenblick,  wo  er  sieht,  dass  ein  anderer  Gewappneter  miide 
wird  Oder  unachtsam!  Eine  grosse  Stille  ist  zwischen  den  Gewappneten, 
eine  Stille,  in  der  Wurde  und  Angst  sich  nebelhaft  mischen. 

Das  Volk  aber  sagte:  seht  diese  Fursten  in  ihren  schweren  Rustungen; 
sie  sind  die  Friedensstdrer,  wir  aber,  wenn  wir  regieren  wurden,  wir 
wurden  die  Schwerter  weglegen  und  die  Welt  zum  Paradiese  hannlosen 
Wetteifers  machen !  Die  MSnner  im  Tuchrock  wollten  die  im  Eisenrock 
beseitigen,  damit  der  Friede  grosser  wurde.  Aber  wie  wirft  man  eiseme 
Manner  hinaus,  wenn  man  nicht  selber  klirrt  und  drdhnt?  Das  sahen 
auch  einst  die  Redner  der  Paulskirche  ein,  dass  man  mit  Gesinnungen 
keine  HerrschaftsmSchte  brechen  kann,  es  sei  denn,  dass  auch  die  Ge- 
sinnung  sich  in  metallener  Weise  materialisiert.  Da  ist  die  Ironie  wieder 
da:  um  des  Friedens  willen  mochte  man  Revolution  machen,  Revolution 
aber  ist  eine  Form  des  organisierten  Unfriedens. 

Aber  wenn  denn  elnmal  mit  Gewalt  und  List  und  ZusammenraCPung 
aller  Streitgewohnheiten  die  Fiirsten  beseitigt  sind,  dann  wenigstens,  so 
meinten  die  Gutgl&ubigen,  wurden  Republiken  voll  reichen  Friedens 
entstehen,  denn  «die  Vdlker  sind  stets  voll  von  Friedenssehnsucht^. 
Welche  Volker?  Die  Vdlker,  die  in  Sachen  ihres  Ruhmes,  sobald  sie 
sich  selbst  regieren,  mindestens  so  empfindlich  werden  als  es  Fiirsten 
je  sein  konnten?  Die  Volker,  die  in  Sudamerika  sich  selbst  regieren? 
Oder  die  grosse  Nation,  die  vor  unseren  Augen  in  Nordamerika  entsteht? 
Auch  sie  hatte  ihren  Biirgerkrieg,  und  auch  sie  wird  unruhig,  wenn 
jemand  anderes  als  sie  den  Panamakanal  bauen  und  beherrschen  will. 

Man  spottet  daruber,  dass  die  Fiirsten  bei  ihren  Zusammenkunften 
Friedensreden  halten,  wShrend  sie  Kriegskombinationen  erwdgen.  An 
diesem  Spott  ist  das  eine  falsch,  dass  man  verlangt,  sie  sollten  ohne 
KriegsplSne  vom  Frieden  reden,  denn  das  wurde  leeres  GeschwStz  sein. 
Nur  durch  Kriegsbundnisse  entsteht  Friede.  Aber  richtig  ist  an  dem 
Spott,  dass  man  dariiber  lacht,  wenn  jeder  der  gewappneten  Manner  sich 
als  besonderen  Friedensengel  hinstellen  will,  als  ob  die  anderen  bose, 
zanklustige  Gesellen,  er  aber  tugendhaft  und  giitig  sei  bis  an  die  Grenze 
des  Erlaubten.  Es  soli  so  aussehen,  als  ob  der  Friede  vom  guten  Herzen 
irgend  eines  Cdsars  abhinge.  Dieser  Schein  ist  es,  der  die  Volker  re- 
volutionMr  macht,  denn  dieser  Heuchelschein  veranlasst  allerdings,  dass 
der  einfache  Mann  sagt:  sie  konnten  Frieden  halten,  wenn  sie  nur 
wollten,  sie  wollen  aber  nicht  I  Das  ist  das  Grosse  an  Bismarcks  «Ge- 
danken  und  Erinnerungen**,  dass  sie  von  diesem  Schein  frei  sind. 

Und  doch  wSchst  der  Friede.  Europa  hat  Ruhe  trotz  aller  Kanonen, 
nein,  nicht  trotz  der  Kanonen,  sondem  durch  die  Kanonen.  Man  nehme 
den  Geschichtsatlas  zur  Hand  und  sehe  sich  das  mittelalterliche  Europa 

30* 


-Hg  456 


an!  Das  war  vol!  Blut  und  SchSdelspalterei,  well  es  viele  Herrscher 
hatte.  Ob  die  Herrscher  geistlich  oder  weltlich,  agrarisch  oder  stidtisch 
waren,  machte  nichts  aus.  Die  Verminderung  ihrer  Zahl  war  der  Weg 
zum  Frieden,  der  Krieg  aber  war  es,  der  sie  verminderte,  Krieg  oder 
Kriegsdrohung.  Die  Geschichte  des  Friedens  ist  die  Geschichte  der 
Konzentration  der  SouverinitSten. 

Dieser  Vorgang  verlduft  nach  doppeltem  Schema*  Entweder  die 
kleinere  Souverflnitdt  wird  einfach  ausgeschaltet  und  ihre  Rechtsnach- 
folge  geht  an  den  Sieger  liber,  oder  der  kleine  Souverdn  wird  als  Bundes- 
genosse  mediatisiert  und  auf  diese  Weise  der  Entscheidung  uber  Krieg 
und  Frieden  entkleidet.  Nur  die  Grossen  durfen  sich  noch  streiten. 
Darin  besteht  der  heutige  Weltfriede,  soweit  er  vorhanden  ist.  Der 
politische  Grossbetrieb,  das  ist  der  Friede* 

Einst  waren  es  viele  hundert  Menschen,  die  imstande  waren,  Krieg 
anzusagen.  Das  war  damals,  als  die  Politik  noch  wie  kleines  Handwerk 
betrieben  wurde.  Die  freie  Konkurrenz  fuhrte  zu  zahllosen  Zusammen- 
stdssen.  AllmShlich  wurde  durch  den  Fortschritt  der  Grossbetriebe  die 
freie  Konkurrenz  der  Staaten  znr  veraltenden  Legende.  Die  Herrschaft 
kam  in  die  Hand  der  Syndikate  der  GrossmSchte.  Zweibund,  Dreibund 
sind  nur  Formen  dieser  Syndikatsbildung.  Kleine  Staaten  brauchen 
einen  Erlaubnisschein,  wenn  sie  noch  streiten  wollen.  Trifft  man  sie 
ohne  Erlaubnisschein  auf  dem  Kriegspfad,  so  werden  sie  in  Haft  gebracht 
Diese  Methodik  der  Erledigung  von  Streit  macht  Fortschritte.  Schon 
dachte  man  daran,  ein  Bureau  der  Syndikate  ftir  Ausstellung  und  Ver- 
weigerung  von  Erlaubnisscheinen  einzurichten.  Dieses  Bureau  sollte  in 
Holland  sitzen  und  Schiedsgericht  heissen. 

Der  heutige  Zustand  ist  der:  versteckt  in  Innerafrika  und  etlichen 
asiatischen  Gebirgen  glbt  es  noch  Landstriche,  die  von  der  Methodik 
der  Friedensherstellung  unbertihrt  sind,  die  ganze  ubrige  Erdoberfliche 
ist  reguliertes  Terrain;  die  Mehrzahl  aller  Menschen  und  V51ker  ist 
ohne  SouverMnitMt,  und  nur  acht  oder  zehn  Stellen  kdnnen  noch  emstlich 
mitreden.  Diese  acht  oder  zehn  Stellen  kdnnen  innerhalb  ihrer  Inter- 
essensphSre  frei  schalten  und  ihre  Buren,  ihre  Hereros  oder  ihre  Ar- 
menier  methodisch  zum  Frieden  ndtigen.  Zwischen  ihnen  selbst  aber 
wird  gewtirfelt.  Das  ist  die  Form,  die  der  Urzustand  des  Unfriedens 
durch  die  Fortschritte  der  Waffen  und  der  Kriegsuberlegung  ange- 
nommen  hat. 

Dasselbe,  was  sonst  den  Kleinhandwerker  ruiniert  hat,  hat  ihn 
auch  in  der  Politik  depossediert:  der  Fortschritt  der  Technik,  und  zwar 
nicht  nur  der  Fortschritt  der  Waffentechnik  im  engeren  Sinne  des  Wortes, 
da  auch  Eisenbahnen,  Landkarten,  Komlager  und  statistische  Handbucher 
zum  Krieg  gehoren.  Das  Militarwesen  ist  das  erste  Gebiet  menschlichen 
Lebens,  in  dem  die  Tendenz  zum  technischen  Grossbetrieb  sich  frei 
ausleben  konnte.  Der  Grossbetrieb,  diese  Fesselung  der  Individualitfiten 


457  8^ 


zugunsten  der  Gesamtleistung,  brachte  den  Frieden.  Das  haben  die 
alten  Fortschrittstrflumer  sich  nicht  gedacht,  wenn  sie  von  Fortschritt 
redeten,  und  so,  wie  er  kam,  wollten  sie  den  Frieden  nicht.  £r  kam, 
indem  die  Gebiete  der  Unfreiheit  ansgedehnt  wurden. 

Und  was  kann  nun  den  Frieden  noch  storen?  Einerseits  die  Ab- 
grenzung  der  InteressensphSren,  andererseits  das  Ohnmdchtigwerden 
einzelner  Gewappneter.  Beides  kann  unter  Umstanden  ineinander  fiber- 
gehen.  Der  jetzige  Krieg  in  Ostasien  ist  ein  fast  reinliches  Beispiel 
fur  einen  Kampf  zur  Fixierung  der  Friedensgrenze  im  bisher  unregulierten 
Terrain,  aber  selbst  dieser  Kampf  hat  einen  leisen  Hintergrund  vom 
Kampf  um  einen  Ohnmachtigen,  denn  die  Mandschurei  ist  ja  chinesisch 
und  China  ist  —  Grossmacht.  Ganz  rein  erscheint  die  erste  Form, 
wenn  man  sich  der  Streite  um  die  Herstellung  des  Friedens  in  Samoa 
erinnert.  Ein  Krieg  aus  derartiger  Ursache  ist  immer  moglich,  denn 
es  gibt  noch  viele  Plitze,  die  Faschoda  heissen  konnten,  aber  die  Ob- 
jekte  sind  meist  zu  klein,  um  die  Gefahren  und  Ausgaben  eines  Re- 
gulierungsstreites  wert  zu  sein.  Die  eigentliche  Gefahr  liegt  bei  den 
OhnmSchtigen. 

Acht  Oder  zehn  oder  zwolf  hungemde  Menschen  fahren  in  einem 
Kahne  fiber  das  Weltmeer.  Wer  schwach  wird,  ist  verloren,>  denn  den 
fressen  die  andem.  Wenn  einer  den  Kopf  ein  wenig  vom  fiberbeugt, 
dann  recken  sich  die  HSlse  der  fibrigen.  Die  schreckliche  Angst  vor 
einander  hSlt  sie  alle  aufrecht.  AUe  ffihlen,  dass  ein  Todesfall  die  un- 
ausdenklichsten  Folgen  haben  kann.  In  diesem  Sinne  sagte  schon  Niko- 
laus  I.  von  einem  seiner  Nachbam:  wir  haben  einen  Kranken  im  Hause. 

Es  ist  merkwfirdig,  wie  lebenverlMngernd  die  allgemeine  Angst 
wirken  kann.  Der  ,kranke  Mann**  lebt  noch  immer.  Auch  andere 
Kranke  leben  noch.  Aber  irgendwann  beginnt  die  innere  Zersetzung 
und  dann  entsteht  wieder  unreguliertes  Terrain,  dann  hat  das  System 
der  erdumspannenden  Friedenssyndikate  wieder  ein  Loch,  dann  scheidet 
einer  aus  und  ein  anderer  wird  der  nMchste  dazu. 

Der  ewige  Friede  aber  kommt  nnr  dann,  wenn  sich  das  Bibelwort 
erffillt,  ,eine  Herde  und  ein  Hirf*.  Bis  dahin  ist  es  noch  sehr  weit, 
und  kein  Mensch  kann  wissen,  ob  dieser  Endzustand  ein  mdglicher  ist. 
Schon  unseren  jetzigen  Zustand  aber  wurden  frfihere  Zeiten  ffir  un- 
mdglich  gehalten  haben.  Die  Erde  ist  jetzt  fibersehbar  geworden.  Der 
Krieg  in  Ostasien  spielt  sich  vor  unseren  Augen  ab.  Es  gibt  kein  dunkles, 
unberechenbares  Hinterland  mehr  wie  in  den  Zeiten  des  romischen 
Friedensreiches.  Aber  was  waren  die  60  Millionen  Einwohner  des  alten 
Rdmerreiches  gegen  die  Bevolkerung  der  Erde?  Was  war  das  Romer- 
reich  gegen  China  und  Indien?  Der  Gedanke  einer  Menschheitsorgani- 


458  g*^ 


sation  zar  Streitvermeidung  uberstelgt  alle  verstftndige  Oberlegung.  Soviel 
nur  ist  klar^  dass  erst  noch  TodesRlle  zu  erledigen  sein  werden,  deren 
Ausgang  die  Zertrummerung  grosser  bisheriger  StaatsverbSnde  in  sich 
schliesst.  Auch  wir  Deutschen  wurden  zu  den  Geopferten  gehdren 
mussen,  denn  es  ist  unwahrscheinlich,  dass  wir  den  letzten  und  einzigen 
Hirten  der  Herde  werden  stellen  k5nnen.  Und  vor  uns  wurden  andere 
fallen  und  von  uns  mit  verzehrt  werden.  Was  aber  nutzt  alles  dieses 
Spekulieren  uns,  die  wir  morgen  oder  Ubennorgen  sterben  und  fur  den 
ewigen  Frieden,  selbst  wenn  er  ein  Ideal  sein  sollte,  nichts,  gar  nichts 
tun  kdnnen? 

Das,  was  wir  tun  kdnnen,  liegt  innerhalb  des  vorhandenen  poli- 
tischen  Kdrpers  zu  dem  wir  gehSren.  Nicht  das  letzte  Ende  der  Welt- 
geschichte  kann  das  Ziel  unseres  Handelns  sein,  selbst  wenn  wir  glauben 
sollten,  es  ahnen  zu  kdnnen.  Unser  Tun  muss  darauf  gerichtet  sein, 
dass  unser  Staat  nicht  ohnmichtig  wird.  Damit  dienen  wir  nicht  der 
Friedensidee  an  sich,  aber  wir  helfen  mit,  dass  unsere  Kinder  nicht  in 
den  tddlichen  Bereich  eines  sich  aufldsenden  Korpers  hineingeboren 
werden.  Je  stftrker  wir  sind,  desto  grdsser  ist  die  Aussicht,  dass  wir 
nicht  das  Schlachtfeld  liefem.  Das  Entstehen  neuer  Kriege  kdnnen  wir 
nicht  hindem,  aber  wir  kdnnen  hindem,  dass  wir  es  sind,  deren  Erbe 
man  verteilen  will.  In  diesem  Sinn  gilt  fur  Grossstaaten:  die  Macht 
ist  der  Friede. 

Eins  freilich  ist  fur  jeden  Staatsburger  peinlich:  er  trigt  zur  Macht 
mit  bei  und  ist  doch  an  der  Verwendung  der  Macht  im  grossen  poli- 
tischen  Betriebe  unbeteiligt.  So  ist  es  in  den  Monarchien,  kaum  anders 
aber  auch  in  den  Republiken,  denn  die  Arbeitsteilung,  die  zu  jedem 
Grossbetriebe  gehdrt,  hat  die  Vorbereitung  der  Entscheidungen  uber 
Krieg  und  Frieden  zur  Angelegenheit  eines  eigenen  Hilfsgewerbes 
gemacht,  dessen  Schaffen  wie  jede  andere  Facharbeit  den  anderen  ver- 
borgen  bleibt  und  nicht  nur  wie  jede  andere  Facharbeit,  da  gerade  hier 
Geheimnis  zur  Methode  gehdrt.  Die  Entscheidungen  in  der  Offentlichkeit 
sind  nur  unvermeidliche  ZustimmungserklSrungen  zu  dem,  was  vorher  nur 
die  Eingeweihten  kommen  sahen  oder  herbeifuhren  wollten.  Der  Friede 
gehdrt,  soweit  er  greifbar  und  erzwingbar  ist,  uns  alien,  aber  freilich, 
er  wird  fiir  uns  gesponnen,  gut  oder  schlecht,  wir  kdnnen  es  nicht 
indem,  und  die  Spinnerei  arbeitet  hinter  festen  Turen.  Oder  anders 
gesprochen:  je  grdsser  das  Schiff  ist,  desto  weniger  kann  der  einzelne 
Passagier  mitreden;  das  einzig  trdstliche  ist,  dass  er  sich  sagt:  grosse 
Schiffe  fahren  im  allgemeinen  sicherer  als  kleine. 


Was  ist  also  der  Friede?  Er  ist  die  Verallgemeinerung  des  ein- 
heitlichen  Zwanges  uber  die  Erdoberfldche.  Ihn  ohne  Zwang  zu  denken, 
ist  Gedankenlosigkeit.  Das  ist  es,  was  seinen  Siegesweg  trotz  un- 
gezihlter  Vorteile  nicht  einfach  zum  Weg  des  Gluckes  werden  lisst. 
Auch  mitten  im  Sieg  des  Friedens  erwachsen  neue  Probleme,  die 


459 


Probleme,  deren  Kern  etwa  ist:  ob  die,  die  zum  Frieden  gekommen 
sind,  noch  Charakter  haben  konnen?  Wenn  aller  Streit  methodisch 
geregelt  sein  wird,  wenn  alles  im  Grossbetrieb  ertrunken  ist,  so  wird 
uns  etwas  fehlen,  was  oft  gering  geschitzt  wurde:  die  Freiheit  des 
Streites.  Die  ist  es,  die  auf  Erden  immer  kleiner  wird.  Das  aber  ist 
ja  eben  —  der  Friede. 


"im'AymCmTmfmymCmymCmymCmTmCmTmCmTmrmTmrmTmCmTmCmTmrmTmrmTmfmTmCmTmfmymCmTmrmTmrmTmrmTmrmi 


Technisches  Beamtentum. 

Von  Ernst  Mayer  in  Wurzburg. 

Wie  einst  seit  dem  16.,  insbesondere  seit  dem  18.  Jahrhundert 
zuerst  von  den  Theoretikem  der  Gedanke  gefunden  wurde,  dass  der 
Einzelarbeiter  ganz  und  gar  abzuldsen  sei  von  der  Einordnung  in  die 
Produktionsverbdnde  des  Mittelalters,  unabhftngig  gestellt  werden  miisse 
von  der  Grundherrschaft,  der  Zunft,  schliesslich  auch  vom  Schutz  durch 
die  kleinstaatlichen  Zollkorper,  so  haben  wieder  zuerst  die  Theoretiker 
die  kommende  Notwendigkeit  einer  Eingliederung  des  einzelnen  in  einen 
weit  grosseren  Produktionsverband  verkiindigt:  denn  auf  nichts  anderes 
gehen  jene  modemen  Einschrdnkungen  der  Einzelwirtschaft,  die  mit 
gelegentlichem  Schutzzoll  beginnen,  die  Staatshilfe  fur  die  Landwirtschaft 
fordem  und  die  sich  dann  in  abstrakter  UniversalitMt  zum  Sozialismus 
zusammenschliessen.  Und  mag  man  uber  die  einzelnen  Anregungen 
denken  wie  man  will,  das  ist  eben  doch  wohl  jedem  historisch  Denkenden 
klar  geworden,  dass  die  kommenden  Zeiten  genau  so  unter  dem  Zeichen 
einer  fortschreitenden  Sozialisierung  stehen  werden  wie  die  letzten  Jahr- 
hunderte  an  der  Befreiung  der  Einzelkraft  sich  abmuhten.  Es  handelt 
sich  fur  die  Zukunft  nicht  mehr  um  die  Richtung  im  ganzen,  die  fest- 
gelegt  ist,  sondem  um  das  entscheidende,  die  muhsame  staatsminnische 
Detailarbeit.  Und  da  erhebt  sich  nun  eine  grundsdtzliche  Frage,  die 
selten  genug  gestellt  wird,  so  wichtig  sie  ist  und  so  sehr  sie  unaus- 
gesprochen  hinter  der  ganzen  preussischen  Schulreform  liegt.  Die  Frage 
ist:  hat  der  modeme  Staat  das  Beamtenmaterial  zu  einer  starken  Be- 
einflussung  der  Einzelwirtschaft  sich  schon  bereitet? 

Man  kann  die  Frage  nicht  mehr  mit  jener  Antwort  abtun,  welche 
vergangenen  Generationen  gelMufig  war,  und  die  auch  jetzt  noch  alt- 
modische  Politiker  aller  Richtungen  im  Mund  fiihren,  nUmlich  damit, 
dass  man  die  Mdglichkeit  eines  solchen  Beamtentums  von  vomhereln 


460 


ableugnet.  Das  war  ja  die  alte  Meinung,  dass  der  einzelne  stets  viel 
billiger  und  zweckmMssiger  arbeitet  wie  der  Beamte,  und  von  keinem 
Argument  haben  die  Wirtschaftsbefreier  mehr  Gebrauch  gemacht.  Allein 
die  riesenhafte  Verdrftngung  des  EinzelgeschSftes  durch  die  Gesellschaften, 
die  Zusammenballung  grosser  Gewerbszweige  in  Syndikate  haben  uns  in 
der  ganzen  Welt  ein  privates  Wirtschaftsbeamtentum  geschaffen,  das 
gerade  so  wie  di^  Staatsbeamten  an  dem  wirtschaftlichen  Gedeihen  des 
Betriebs  eben  auch  nur  mit  dem  Gehalt  und  mit  der  Ehre  interessiert 
ist.  Die  Gehaltsform  ist  ja  freilich  eine  andere  als  die  im  Staate  ge- 
brduchliche.  Leistungen,  welche  eine  starke  Personlichkeit  verlangen, 
werden  hdher  und  im  Akkord  (Tanti&men)  bezahlt,  wihrend  der  Staat 
Qberall  einen  niedrigeren  aber  stets  gleichen  Lohn  gibt;  dort  ist  die  Be- 
stellung  widerruflich,  hier  dauemd.  Umgekehrt  verwendet,  oft  genug  kann 
man  sagen  verschwendet,  der  Staat  ftir  die  niederen,  rein  mechanischen 
Schreibergesch&fte  ein  viel  hdher  vorgebildetes  und  kostspieligeres  Per- 
sonal. Hier  eine  Anniherung  an  die  Entlohnung,  wie  sie  im  Gesellschafts- 
betriebe  iiblich  ist,  durchzufuhren,  ist  eine  mehr  komplizierte  als  schwierige 
Reform.  Im  iibrigen  aber  hat  das  verbreitete  Privatbeamtentum  unserer 
Tage  die  Unrichtigkeit  jenes  alten  Axioms  schlagend  erwiesen  und  gezeigt, 
dass  auch  der  durch  richtig  bemessenen  Gehalt  bestimmte  Egoismus  des 
Betriebsbeamten  eine  ausreichend  starke  Kraft  ist,  um  den  Wettbewerb 
des  Betriebes  zu  ermdglichen.  Wie  es  oft  mit  solchen  Axiomen  geht, 
dass  sie  eine  richtige  Beobachtung  unrichtig  generalisieren,  so  ist  es 
auch  hier:  nicht  das  Beamtentum  uberhaupt  ist  zu  wirtschaftlichen  Ar- 
beiten  unfihig,  sondem  unser  geschichtliches  Beamtentum  ist  dazu  nicht 
recbt  geeignet,  well  es  in  der  Masse  nur  ein  juristisches  und  kein  tecb- 
nisches  Beamtentum  ist. 

Am  Anfang  unserer  deutschen  Geschichte  steht  ja  nur  ein  rein 
technisches  Beamtentum.  Jene  alten  Schultheissen  und  Vogte,  welche 
die  offentlichen  Gef311e  der  Gewalthaber  einzogen  und  von  finanziellen 
Gesichtspunkten  aus  allmShlich  die  Gerichtsverhandlungen  in  die  Hand 
bekamen,  die  Ministerialen  und  die  Meier,  welche  die  Domftnen  der 
regierenden  Herren  verwalteten,  sie  waren  alle  Techniker  im  Sinne  jener 
primitiv  agrarischen  Zeiten,  bald  mit  den  ganz  rohen  Mitteln  der  ger- 
manischen  Wirtschaft,  bald  mit  den  feineren  des  romanischen  Gross- 
besitzers  arbeitend.  Nur  diese  Form  gait  fur  jene  alten  Gemeinwesen  ohne 
Geld,  in  welchen  die  NaturalgeRUle  tiberwiegend  wieder  an  der  Ab- 
lieferungsstelle  aufgebraucht  wurden,  und  nur  ein  kleiner  Oberschuss 
an  die  Zentralstelle  kam.  Seit  dem  spStem  Mittelalter  aber  ist  in  einer 
Entwicklung,  welche  von  Westen  nach  Osten  fortschreitet,  der  Staat  zur 
zentralisierenden  Geldwirtschaft  ubergegangen  und  damit  ist  jene  staat- 
liche  Buchfuhrung  notwendig  geworden,  die  man  die  Bureaukratie  nennt. 
Die  schriftliche  Fixierung  der  staatlichen  Geschafte,  welche  in  den  grossen 
Kodifikationen  des  letzten  Jahrhunderts  ausklingt,  wurde  die  wichtigste 
Staatsarbeit,  well  sie  die  ungenaue,  unkontrollierbare  und  doch  mit  einem 
tibergrossen  Menschenapparat  wirtschaftende  Verwaltung  des  Natural- 
staates  beseitigte  und  deshalb  konnten  nur  diejenigen  zu  Beamten  werden, 


461 


welche  nach  der  Zeitlage  allein  ein  staatliches  Schreibwesen  zu  leiten 
vermochten,  nSmlich  die  rdmisch  gebildeten  Juristen:  seit  dem  14.  Jahr- 
hundert  haben  sie  in  der  Stadt,  seit  dem  15.  in  den  Territorien  das 
Regiment  in  die  Hand  bekommen.  —  Gerade  wie  es  einer  der  geheimen 
Mingel  unserer  modemen  Wirtschaft  ist  und  immer  wieder  zu  einer 
relativ  berechtigten  Reaktion  fuhrt,  dass  der  schreibende,  buchende  Faktor 
im  Verkehr,  der  Kaufmann  die  handarbeitenden,  direkt  produzierenden 
Elemente  bei  der  Gewinnverteilung  zuruckdringt,  ebenso  hat  der  Jurist 
in  der  Verwaltung  seit  dem  16.  Jahrhundert  immer  mehr  den  Techniker 
beseitigt.  Noch  im  17.  und  18.  Jahrhundert  ist  der  Amtmann  aft  ein 
juristischer  Laie,  und  wihrend  des  10.  Jahrhunderts  hat  sich  diese  alte  Form 
in  dem  Landrat  des  preussischen  Rechts  erhalten.  Wie  aber  in  der  preussi- 
schen  Verwaltung  der  Jurist  gegenwirtig  immer  mehr  die  Herrschaft  erlangt, 
so  ist  in  Suddeutschland,  wo  die  altstindischen  Verhiltnisse  dem  modemen 
Staat  gegenuber  im  guten  und  bosen  geringere  Widerstandskraft  hatten, 
seit  Beginn  des  10.  Jahrhunderts  der  Jurist  ausschliesslich  Herr  ge- 
worden,  und  zwar  ein  in  seinem  Wissenszweig  iiberfein  ausgebildeter 
Jurist.  Denn  das  ist  ein  wesentliches  und  interessantes  Element  in  der 
Entwicklung,  dass  der  bayerische  und  badische  Verwaltungsbeamte  ein 
trefPlicher  und  soweit  seine  preussischen  Amtsgenossen  weit  ubertrefFender 
Verwaltungsjurist  ist,  dass  aber  gerade  durch  dieses  Oberwiegen  des 
juristischen  Elements  in  der  Verwaltung  immer  mehr  jede  technische 
Initiative  verloren  geht.  Die  Geschichte  des  bayerischen  Staates  in  den 
letzten  30  Jahren,  wo  alle  technischen  Fortschritte  nicht  von  der  Regierung, 
sondem  in  oft  sehr  ungeordneter  Weise  vom  Landtag  ausgingen  und 
dadurch  das  jetzt  in  Bayem  herrschende  System  heraufgefuhrt  ist,  be- 
legt  das  auf  das  beste.  Es  ist  naturlich  verkehrt,  abgeschlossenen  histo- 
rischen  Erscheinungen  gegentiber  viel  zu  fragen,  ob  sie  berechtigt  sind: 
sie  sind  eben  einmal  da  und  konnen  nicht  mehr  geindert  werden.  Jeden- 
falls  ist  dann  auch  der  Mangel  technischen  Wissens  kein  sehr  empfind- 
licher  gewesen,  in  einer  Zeit,  wo  die  Staatsaufgaben  keine  komplizierten 
waren  und  umgekehrt  die  geringere  Spezialisierung  des  menschlichen 
Wissens  den  Beamten  mehr  zu  einer  Arbeit  uber  sein  eigentliches  Fach- 
gebiet  hinaus  befihigte.  Vor  allem  aber  hat  es  sich,  wie  gesagt,  eben 
ftir  die  friihere  Zeit  darum  gehandelt,  Ordnung  und  Rechtsprechung  in 
die  Verwaltung  zu  bringen,  selbst  wenn  dariiber  technische  Interessen 
vemachlSssigt  werden  mussten. 

Solche  VemachlHssigungen  sind  freilich  vorgekommen  und  haben 
manche  riickstrebende  Richtungen  unseres  jetzigen  Parteiwesens  bewirkt. 
Der  Jurist  nicht  erst  des  10.  Jahrhunderts  war  ein  rucksichtsloser 
Gleichmacher,  weil  ihm  eben  der  technische  Instinkt  fehlt:  er  hat 
seit  dem  18.  Jahrhundert  die  Zunftverfassung  beseitigt,  aber  er 
hat  versiumt,  an  Stelte  des  Haltes,  den  diese  Verfassung  den 
meisten  gab,  ein  intensives  gewerbliches  Fortbildungswesen  zu  setzen, 
welches  den  Obergang  zum  Kunstgewerbe  und  damit  zu  einer  unverlier- 
baren  Position  ermdglicht  hdtte.  Nur  in  Wurttemberg,  wo  in  der  ent- 
scheidenden  Zeit  ein  Techniker  —  Steinbeis  —  an  der  Spitze  stand,  hat 


462 


man  in  dem  Sinne  gearbeitet  and  sich  dadurch  auch  gegen  modernes 
Zunftlertum  geschutzt.  Anderwarts  ist  man  nicht  uber  die  Realschule 
hinausgekommen,  welche  den  Staat  mit  Eisenbahn-  und  Postbeamten 
iiberschwemmt  and  aach  noch  jange  Kaafleute  liefert,  aber  fur  die 
technische  Produktion  gar  nichts  aastrigt.  Die  Strafe  fur  solche  Gedanken- 
losigkeit  ist,  dass  die  gegenwSrtigen  Handwerker  wieder  in  einem  ganz 
gedankenlosen  Zunftlertam  ihr  Heil  suchen  und  die  Staatsmaschine  be- 
denklich  bremsen.  —  Die  gleiche  Versfiumnis  ferner  hat  man  bei  Aufbebung 
der  Grundherrschaft  begangen;  man  hat  erst  damals  den  bauerlichen 
Besitz  dem  stSdtischen  rechtlich  gleichgestellt,  ohne  daran  zu  denken, 
dass  man  mit  der  Grundherrschaft  auch  einen  starken  Schutz  gegen 
Uberschuldung  beseitigte  und  dass  auch  die  modemste  Landwirtschaft, 
wie  die  amerikanische  Gesetzgebung  lehrt,  einen  solchen  Schutz  braucht. 
—  Allein  immerhin  waren  diese  Fehler  der  Vergangenheit  ertrdglich. 

Wird  aber  auch  in  Zukunft  ein  ganz  untechnisches  Beamtentum 
ertriglich  sein?  Ich  sehe  von  der  Rechtsprechung  in  folgendem  ganz 
ab,  wenn  auch  hier  Erscheinungen  wie  Geschwomen-  und  Schoffengericht, 
Kammer  fur  Handelssachen,  jetzt  auch  das  Umsichgreifen  der  Gewerbe- 
gerichte,  der  Versicherungsschiedsgerichte,  ja  vielleicht  die  neue  Juris- 
prudenz  selbst,  welche  sich  an  dem  burgerlichen  Gesetzbuch  bildet,  nicht 
jeden  Zweifel  benehmen,  ob  dem  Juristen  auch  nur  auf  diesem  seinem 
eigensten  Herrschaftsgebiet  die  Alleinherrschaft  bleiben  wird.  Fiir  diese 
Bl&tter  steht  nur  die  Verwaltung  in  Frage.  — 

Wenn  es  sich  in  Zukunft  darum  handeln  sollte,  dass  der  Staat  den 
Kampf  gegeniiber  weltweiten  Syndikaten  aufnimmt,  und  nun  selber  als  Kiufer 
Oder  Produzent  im  grossen  eintritt,  wenn  z.  B.  einmal  der  Kanitzantrag  seine 
Auferstehung  feiert,  nicht  mehr  im  Interesse  der  ostelbischen  Grund- 
besitzer,  sondem  um  den  deutschen  Konsumenten  gegen  eine  auslandische 
Bewucherung  durch  monopolistische  VerkaufsverbUnde  zu  schutzen  — 
wie  das  schon  zur  Zeit  der  60er  Jahre  ein  sehr  massgebend  und  links- 
stehender  schweizer  Politiker  dachte  — ,  wird  da  der  jetzige  Verwaltungs- 
beamte  den  Kiufer  und  Hindler  abgeben  konnen?  Konnen  da  etwa  die 
Intendanturbeamten  ein  Muster  staatlicher  Handler  sein?  —  Oder  wo 
hat  der  Staat  den  tuchtigen  Bankier,  die  ungeheuren  Kapitalien  zweck- 
massig  zu  verwalten,  die  jetzt  durch  die  Versicherungsgesetze  in  seiner 
Hand  zusammenfliessen?  —  Oder  ein  anderes:  es  ist  ein  grosser  Fehlet 
all  jener  politischen  Gruppen,  die  man  liberale  nennt,  und  hat  die  Land- 
wirtschaft einer  Menge  politischer  Naturheilkiinstler  zugetrieben,  dass  man 
zwar  immer  wieder  davon  redet,  der  Landwirt  solle  zur  Viehzucht  uber- 
gehen  und  werde  dann  gerade  in  einer  aufbluhenden  Industrie  einen  aus- 
gezeichneten  Absatz  finden,  dass  man  sich  aber  keine  Gedanken  daruber 
macht,  wie  denn  im  Detail  dieser  Ubergang  stattfinden  soli.  Wer,  wie 
Schreiber  dieser  Zeilen,  in  einem  uberaus  fruchtbaren  Gebiet  lebt,  wo 
innerhalb  der  letzten  10  Jahre  durch  Durre  zweimal  das  lebende  Kapital 
der  Landwirte  auf  das  Heftigste  angegriffen,  einmal  bis  auf  die  Hilfte 
reduziert  wurde,  der  weiss,  dass  in  einer  solchen  Gegend,  in  alien  grossen 
Korngegenden  uberhaupt,  der  Ubergang  nur  durch  gewaltige  Bewftsserungs- 


403  8^ 


anlagen  mdglich  ist  und  dass  diese  auf  dem  Wege  der  Selbsthilfe  nicht  zu 
beschaffen  sind.  Es  muss  eben  die  Staatshilfe  einsetzen:  aber  wo  sind  dazu  ge- 
eignete  Beamte?  —  Sind  sie  uberhaupt  geeignet  fur  jenes  wichtigste  Problem 
der  Zukunftspolitik,  befihigt  dazu,  die  Menschen  durchaus  nicht  nur  als 
Landwirte,  sondern  vor  allem  auch  als  Industriearbeiter  auf  das  Land 
zu  verteilen?  Es  werden  einmal  kommende  Geschlechter  von  der  un- 
begreiflichen  Torheit  unserer  Zeit  reden,  dass  sie  gedankenlos,  entziickt 
sogar,  dem  Wuchern  jener  riesigen  sozialen  Geschwulsten  zusah,  welche 
zum  Tod  unserer  Gesellschaft  fuhren  miissen,  wenn  sie  nicht  die  Hand 
eines  geschickten  Arztes  schneidet:  ich  meine  unsere  grossen  Stidte. 
Denn  was  Gutes  an  unserer  burgerlichen  Gesellschaft  ist,  das  ist  nicht 
dank,  sondern  trotz  den  grossen  Stidten  vorhanden;  Schuld  dieser  un- 
natiirlichen  Bildungen  aber  ist  jene  geistige  Verflachung,  jene  Armut  an 
Bildem  und  wesenhaften  Vorstellungen,  an  Gemutsempfindungen,  welche 
zum  Ersatz  den  furchterlichen  hysterischen  Hang  nach  sinnlicher 
Sensation  zeitigt;  wie  eine  Schmutzwelle  stromt  es  darum  jetzt  uber  unser 
Volk.  Und  Volker  sterben  uberall  an  sittticher  Verfaulung,  nicht  an 
Ungluck  und  wirtschaftlicher  Verarmung.  Unser  ganzes  Deutschtum, 
die  Gesittung  uberhaupt,  hSngt  davon  ab,  dass  unsem  Kindem  die 
Naturfreude  erhalten  bleibt  und  dass  die  grosse  Industrie  uberall  auf 
das  Land  verteiit  wird,  wo  noch  jeder  einzelne  Arbeiter  seine  Rast  und 
sein  Geniige  unter  Baumesschatten  am  klaren  Bach  finden  kann.  Soweit 
man  zu  sehen  vermag,  sind  genug  technische  Faktoren  vorhanden,  die 
eine  solche  ortliche  Verteilung  unseres  Lebens  ermdglichen  konnten;  aber 
das  Privatinteresse  allein  wird  die  Zusammenballung  in  den  grossen 
Stidten  nicht  uberwinden,  sondern  hier  muss  der  Staat  eingreifen.  Unser 
Beamtentum  aber  sieht  kaum  das  Problem,  von  dem  zu  geschweigen, 
dass  es  imstande  wire,  dasselbe  technisch  zu  losen.  —  So  konnte  man 
in  vielfiltiger  Anwendung  zeigen,  wie  die  Zukunft  dem  Staat  wesentlich 
technische  Aufgaben  stellt,  und  wie  es  ilberall  am  Personal  fehlt,  die 
Aufgabe  zu  losen.  Keine  Sozialreform  ohne  technisches  Beamtentum.  — 
Allmihlich  beginnt  man  ja  das  Unvermdgen  unserer  Verwaltung  zu 
fiihien.  Entscheidend  aber  ist,  wie  man  sich  die  Abhilfe  denkt.  Nattirlich 
genligt  das  Rezept  alter  Aristokratien  nicht,  welches  noch  jetzt  da  und 
dort,  namentlich  im  Norden  befolgt  wird,  nSmlich  dass  man  in  die  Ver- 
waltung Leute  von  guten  Formen  stellt,  welche  durch  den  Mangel  alles, 
auch  des  juristischen  Fachwissens,  gegen  jede  doktrinire  Einseitigkeit 
geschutzt  scheinen.  Der  Grundbesitzer,  der  einige  lustige  Leutnantsjahre 
hinter  sich  hat,  oder  als  flotter  Korpsstudent  muhselig  das  erste  Examen 
bestand,  ist  nicht  der  Beamte  der  Zukunft,  sondern  wie  gezeigt,  ein 
Beamter  der  Vergangenheit,  ein  Enkel  jener  alten  Ministerialen.  —  NSher 
liegt  und  wird  von  manchem  beftirwortet,  dass  man  dem  Beamten  gleich- 
zeitig  eine  tuchtige  wirtschaftliche  Bildung  mitgibt;  in  der  Tat  hat 
namentlich  im  deutschen  Siiden  die  Volkswirtschaft  und  Verwaltungslehre 
grosse  Bedeutung  fur  das  Studium  der  angehenden  Juristen  gewonnen. 
Allein  den  Kempunkt  triCTt  so  etwas  so  wenig  als  jenes  wtirttembergische 
Kameralistentum,  welches  von  den  Verwaltungsleuten  weniger  theoretische 


464 


Kenntnisse  in  der  Jurisprudenz,  mehr  theoretische  in  der  Technik  fordert 
Denn  all  das  wird  sich  niemals  fiber  einen  flachen  EncyklopSdismus  er- 
heben:  er  wird  begabte  Menschen  allerdings  zu  einem  verstlndnisvollen 
Eingehen  auf  Reformen  bef3higen,  welche  ihnen  von  Technikem  nahe- 
gelegt  werden;  aber  es  wird  all  das  keine  technische  Initiative  erzeugen. 
Der  Staat  and  gerade  so  die  einzelnen  Gemeinden  gleichen  auch  da^  wo 
dem  Techniker  bereits  Konzessionen  gemacht  werden,  etwa  einer  grosscn 
Fabrik,  deren  bedeutende  Amter  alle  in  der  Hand  von  Juristen  liegen, 
wShrend  der  Techniker  fiber  den  Werkmeister  und  den  kleineren  Buch- 
halter  nicht  hinauskommt;  dass  so  eine  Fabrik  zugrunde  gehen  muss, 
zugrunde  gehen  namentlich,  wenn  sie  amerikanische  Konkurrenten  hat, 
ist  klar.  Es  bleibt  nichts  fibrig,  als  dass  man  in  die  Verwaltung  und 
zwar  bis  in  die  obersten  Verwaltungsposten  hinauf  Techniker,  —  in- 
dustrielle,  landwirtschaftliche,  kaufmSnnische  —  stellt.  Der  Jurist  wird 
auch  in  der  Verwaltung  nie  ganz  beseitigt  werden;  so  Schlimmes  wunscht 
der  Schreiber  dieser  Zeilen,  der  selbst  Jurist  ist,  seinen  Fachgenossen 
nicht;  denn  an  der  Organisierung  der  VerbSnde,  ohne  welche  jede 
technische  Reform  unmdglich  ist,  wird  jener  immer  entscheidend 
mitarbeiten:  er  wird  oft  besser  als  der  Techniker  erkennen,  dass  ver- 
schiedene  menschliche  Vereinigungen  demselben  technischen  Zweck  dienen 
konnen,  wie  er  freilich  umgekehrt  dadurch  auch  leicht  opportunistisch 
und  als  Spezialist  der  Organisation  gleichgfiltig  gegen  die  technischen 
Zwecke  selber  wird.  —  Es  wird  weiter  noch  ein  Tell  der  Verwaltung, 
Verwaltungsrechtsprechung  ganz  und  gar  den  Juristen  reserviert 
bleiben.  Freilich,  dass  eine  Hand  die  Verwaltungsrechtsprechung 
mit  der  aktiven  Verwaltung  wenigstens  ffir  die  unteren  Instanzen 
vereinigt,  das  wird  fur  die  Zukunft  nicht  mehr  angehen;  denn 
gerade  daher  stammt  jene  doktrinire  Verlangsamung  der  Verwaltung,  an 
der  wir  z.  B.  in  Bayern  leiden.  Entweder  lokale  Verwaltungsgerichte 
erster  Instanz  oder  vielleicht  noch  besser  die  Rfickkehr  zu  jener  Forderung, 
die  man  ursprunglich  im  Kampf  urn  die  Verwaltungsgerichte  oft  erhoben 
hat,  die  Zuteilung  der  publizistischen  Justiz  an  die  ordentlichen  Gerichte 
ist  hier  das  Ziel.  Im  fibrigen  aber  denke  ich  mir  am  preussischen 
Landratamte  oder  am  bayerischen  Bezirksamte  einen  Juristen  und  einen 
Techniker  nebeneinander,  so  dass  der  eine  oder  andere  Amtsvorstand 
sein  kann;  jeder  der  Beamten  kann  dann  bis  zum  Minister  hinauf 
avancieren.  —  In  den  grossen  Gemeinden  aber  mussen  vollstandig  aus- 
gebildete  Techniker  die  Mehrzahl  der  Beamten  ausmachen.  — 

Die  Schwierigkeit  einer  solchen  Reform  liegt  nicht  darin,  wie  mir 
das  von  Politikern  da  und  dort  eingewendet  worden  ist,  dass  die  heutigen 
Techniker  zu  einseitig  ausgebildet  werden,  die  einen  als  Elektriker,  die 
anderen  als  Maschinentechniker;  denn  die  \7ahrheit  ist,  dass  in  der  Industrie 
eine  Menge  von  Fabrikdirektoren  jene  universelle  Bildung  besitzen,  jenen 
Einblick  in  alle  Formen  der  Industrie  und  des  Handels,  den  auch  der 
staatliche  Techniker  ndtig  hat;  und  ist  auch  ein  solcher  vielleicht  auf 
dem  einen  technischen  Gebiet  nicht  so  erfahren,  wie  auf  dem  andem, 
so  ubertriCft  er  doch  an  Wissen  und  Konnen  auf  technischem  Gebiet 


465 


den  Juristen  immerhin  weit.  Damit  ist  dann  freilich  nicht  geleugnet, 
dass  es  viele  Arbeit  und  Nachdenken  kosten  wird,  die  VerwaltungsSmter 
je  nach  der  Art  der  Techniker  einzuteilen,  die  dort  ndtig  sind:  in  Nieder- 
bayem  z.  B.  oder  in  der  frMnkischen  Getreidegegend  werden  Landwirt- 
schaftstechniker  ndtig  sein,  bei  Numberg  Industrielle.  —  Die  Haupt- 
schwierigkeit  liegt  aber  doch,  wie  ich  denke,  in  einem  viel  unscheinbareren 
Punkt.  Der  Staat  namentlich  hat  durch  sein  Pnifungswesen,  so  mangelhaft 
es  auch  noch  im  Detail  sein  mag,  in  einer  allerdings  verdeckten  Weise 
dem  gesnnden  demokratischen  Gedanken  nachgegeben,  dass  der  Wurdigste 
das  beste  Recht  auf  das  dffentliche  Amt  hat;  die  moderne  Empfindlichkeit 
gegen  jede  ungleichmSssige,  ungerechte  Handhabung '  der  Staatsgewalt 
steht  in  einer  genauen  Wechselbeziehung  zu  jenem  System  der  Be- 
amtenemennung.  Dasselbe  Priifungsrecht,  das  dem  Staatstechniker  gegen- 
tiber  sich  nattirlich  nicht  auf  eine  Erprobung  seines  theoretischen  Wissens 
beschrftnken  diirfte,  wird  nun  auch  fiir  das  neue  Beamtentum  hergestellt 
werden  mussen,  um  hier  alles  Protektionswesen  zu  beseitigen.  Schwer 
ist  das  besonders  in  den  landwirtschaftlichen  und  kaufmiinnischen  Materien. 
Aber  unmdglich  ist  es  nicht.  Vielleicht  darf  ich  ein  anderes  Mai  aus- 
fuhren,  wie  ich  mir  das  technische  Vorbildungswesen  denke. 


Kommunale  Hygiene. 

^      Von  Julian  Marcuse  in  Mannbeim. 

Zu  den  modernen  Aufgaben,  die  Staat  und  Gesellschaft  zu  erfullen 
haben,  wollen  sie  der  Erkenntnis  vom  Bau  und  Leben  unseres  sozialen 
Organismus  gerecht  werden,  gehdrt  in  erster  Reihe  eine  planmissige 
Gestaltung  der  ofTentlichen  Gesundheitspfiege.  Diese  aus  der  Notwendig- 
keit  herausgeborene  Erfahningswissenschaft,  die  das  wirtschaftliche  An- 
einanderschweissen  breiter  Volksmassen  erzeugt  hat,  umfasst  alle  Be- 
dingungen  fur  den  Gesundheitszustand  des  einzelnen  und  findet  ihre 
praktische  Obertragung  in  Stadt  und  Haus  durch  die  Institutionen 
modernen  Vdlkerlebens,  durch  Staat,  Gemeinde  und  sozialpolitische 
Organisationen.  ^Der  sozialen  Hygiene  ist  es  gelungen,  die  Ursachen 
und  die  Natur  der  grossen  volkervemichtenden  Krankheiten,  die  Be- 
dingungen  der  Ubertragung,  der  Aufnahme  und  der  Entwicklung  von 
Giftstoffen,  sowie  den  Zusammenhang  der  Volkskrankheiten  mit  den 
dkonomischen  Verhaltnissen  von  dem  Gesichtspunkte  der  Prophylaxis 


-(Ng  466 


aus  zu  beleuchten,  sie  hat  die  Ursachen  der  Sterblichkeit  und  die  Be- 
wegung  der  Bevolkening  mit  Hulfe  der  Statistik  aufgehellt,  sie  hat  die 
Hygiene  des  Bodens,  des  Wassers  und  der  Luft,  die  der  StSdte,  Spitaler 
and  Schulen  so  griindlich  bearbeitet,  dass  man  heute  in  der  Assaniening 
der  BrutstMtten  menschlicher  Krankheiten  ruhig  vorgehen  kann,  ohne 
fiirchten  zu  miissen,  unproduktive  Ausgaben  zu  machen.  So  ist  die 
Sozialhygiene  eine  reife  Wissenschaft  geworden,  deren  Forschungen  kein 
einziger  sich  mehr  verschliesst,  deren  Arbeitsgebiet  von  Jahr  zu  Jahr 
grosser  wird,  deren  Bedeutung  in  zivilisierten  Undem  mehr  und  mehr 
wichst.*  (Nossig.)  Mit  diesen  theoretischen  Grundlagen,  der  gefestigten 
Erkenntnis,  wie  sie  die  Hygiene  geschaffen  hat,  wachsen  natiirlich  auch 
die  Aufgaben  der  obengenannten  Institutionen  als  der  Trager  modemen 
gesellschaftlichen  Lebens,  die  innerhalb  des  Machtkreises  ihrer  Sphare 
zu  den  Exekutivorganen  sozialhygienischer  Erkenntnis  und  zu  Pionieren 
neuer,  durch  praktische  Beobachtung  und  Erfahrung  gewerteter  Ideeo 
auf  dem  grossen  Gebiet  der  dffentlichen  Gesundheitspflege  werden.  Das 
ist  und  bleibt  eine  der  vomehmsten  und  wichtigsten  Aufgaben  der  Gegen- 
wart,  der  sich  vor  allem  die  Kommunen  nicht  zu  entziehen  vermogen. 
Ihre  Aufgabe  erschopft  sich  nicht  mit  der  Durchfiihrung  der  Kanalisation 
und  der  Assaniening  des  Bodens,  mit  der  BeschaiFung  guten  Trink- 
wassers  und  der  Priifung  der  in  den  Handel  gelangenden  Nahrungs-  und 
Genussmittel :  Viel  weitere  Befugnisse  und  Pflichten  steckt  ihnen  in  der 
Melioration  der  Lebensbedingungen  Gesetz  und  finanzielle  FMhigkeit,  so 
die  Verbesserung  des  Wohnungswesens,  wohl  die  bedeutsamste  aller 
sozialhygienischen  Fragen,  die  Bekimpfung  der  Tuberkulose,  als  der 
verheerendsten  der  modemen  Volkskrankheiten,  die  Erhaltung  der 
Widerstandskraft  des  einzelnen  durch  rationelle  sanitare  und  hygienische 
Massnahmen,  und  endlich  der  Schutz  der  Allgemeinheit  vor  betrugerischer 
Ausbeutung  in  gesundheitlicher  Hinsicht. 

Dieses  kommunalhygienische  Programm  selbst  nur  in  seinen  Grund- 
ziigen  zu  skizzieren,  wiirde  Zweck  und  Umfang  der  vorliegenden  Aus- 
fuhrungen  weit  iiberschreiten,  so  dass  wir  uns  darauf  beschranken 
mussen,  nur  einige  der  wichtigsten  Punkte  aus  ihm  herauszuheben  und 
an  ihrer  Erfiillung  das  Kriterium  sozialen  Erkentnisvermogens  anzulegen. 
Zu  den  verderblichsten  Infektionskrankheiten  der  Gegenwart  gehort  die 
Tuberkulose,  deren  Anteilnahme  an  MorbiditMt  und  Mortalitat  der  Be- 
volkerung  bekanntlich  die  aller  anderen  Volkskrankheiten  so  weit  uber- 
steigty  dass  sie  nahezu  ein  Siebentel  aller  Todesf311e  fur  sich  beansprucht. 
Ihre  BekMmpfung  hat  sich  im  wesentlichen  in  der  Errichtung  von  Lungen- 
heilstatten  kristallisiert,  die  zum  grossten  Teil  dem  Eintreten  der  Landes- 
versicherungsanstalten  ihre  Existenz  verdanken.  Aber  die  rtickhaltlose 
Begeisterung,  mit  der  die  Heilstittenbewegung  inauguriert  wurde,  ist 
einer  ruhigeren  Auffassung  gewichen,  seitdem  sich  gezeigt,  dass  die  Er- 
folge  durchaus  nicht  den  Erwartungen  entsprechen,  die  man  an  sie  ge- 
kniipft  hatte!  Wohl  sind  sie  imstande,  Leben  und  ArbeitsfMhigkeit  des  er- 
krankten  Individuums  zu  verlangern,  wohl  einen  gewissen  Stillstand  des 
pathologischen  Prozesses  herbeizufuhren,  allein  mit  der  Wiederverpflanzung 


467  5^ 


in  das  alte  Milieu  beginnt  von  neuem  der  Kampf  mit  den  zerstdrenden 
Gewalten  und  in  der  uberaus  grossen  Mehrzahl  der  FUlle  erliegt  der 
Organismus.  Zeitliche  und  rdumliche  Fesseln  lihnien  die  Schwingen 
der  Infektion>  diese  Erkenntnis  bahnt  den  Pfad,  urn  das  Niveau  der 
Heilungsmoglichkeit  wie  des  Schutzes  weiter  Volkskreise  zn  heben. 
Auch  hier  teilen  sich  die  Aufgaben  der  sozialpolitischen  Organisationen 
von  denen  der  Gemeinden:  Wlhrend  es  den  ersteren  obliegt,  Mittel 
und  Wege  zu  finden,  das  Heilverfahren  entsprechend  umzugestalten, 
fillt  den  Gemeinden  im  wesentlichen  die  Aufgabe  der  Prophylaxe,  der 
EindSmmung  der  Seuchenausdehnung,  zu.  Hierfur  sind  zwei  Wege 
gangbar:  Einmal  die  Eliminierung  der  unheilbaren  Schwindsiichtigen  aus 
der  Gesellschaft  und  der  Familie  durch  Unterbringung  in  HeimstHtten 
und  weiterhin  die  Zentralisierung  der  gesamten  SchwindsuchtsbekSmpfung 
in  der  Armenverwaltung.  Dass  die  dffentliche  Armenpflege  es  als  ihre 
Aufgabe  zu  erachten  hat,  in  den  Kampf  gegen  die  Tuberkulose  ein- 
zutreten,  bedarf  bei  dem  sozialhygienischen  Pflichtenkreis,  den  wir  den 
modemen  Stadten  zuweisen,  kaum  weiterer  Begrundung:  Zu  allem  Ober- 
fluss  sei  aber  bemerkt,  dass  die  massgebenden  Kommentare  zum  Gesetz 
uber  den  Unterstutzungswohnsitz,  sowie  zahlreiche  Entscheidungen  des 
Bundesamtes  die  vorliegende  Frage  bejahen  und  somit  auch  die  gesetz- 
liche  Unterlage  fur  das  Eintreten  der  Armenverwaltung  schaffen.  Auf 
Grund  derselben  haben  unter  anderen  die  Stadte  Charlottenburg  und 
Halle  einen  Modus  der  Mitarbeit  eingefuhrt,  der  in  dem  engen  Zu- 
sammenwirken  der  dCFentlichen  Armenpflege  mit  humanitlren  Organi- 
sationen eine  Zentralstelle  schafit,  von  der  aus  stotliche  Hilfsquellen 
fur  ein  Eintreten  mit  aller  Kraft  nutzbar  gemacht  werden  konnen. 
NMchst  der  Fursorge  fur  den  Erkrankten  und  dessen  Uberweisung  in 
Erholungsstdtten  oder  Heilstdtten  konzentrierte  sich  die  Tdtigkeit  dieser 
Zentralstellen  vor  allem  auf  den  Schutz  der  gesunden  Familienmitglieder. 
Die  Absonderung  der  gefihrdeten  Kinder,  die  Beschaffung  anderer,  ge- 
stinderer  Wohnungen,  mit  einem  Wort  die  Umwandlung  eines  ver- 
seuchten  in  ein  seuchenfreies  Quartier  war  ihre  Hauptaufgabe,  und  in 
dem  Gelingen  derselben  erschopft  sich  das  souverMne  Prinzip  der 
TuberkulosebekMmpfung,  die  Prophylaxis. 

Dieser  sozialen  Pflicht  sich  zu  erinnern,  diirfte  auch  fur  eine  Reihe 
stiddeutscher  Stddte  der  Zeitpunkt  gekommen  sein,  an  die  teilweise  die 
Wellen  dieser  Kulturbewegung  kaum  noch  angebrandet  sind.  Wohl 
haben  die  Landesversicherungsanstalten  der  suddeutschen  Staaten,  die 
Parole  des  intemationalen  Tuberkulosekongresses  vom  Jahre  1899  auf- 
nehmend,  Heilstatten  errichtet,  wohl  hat  Baden  als  erster  unter  den 
deutschen  Bundesstaaten  die  Anzeigepflicht  der  Tuberkulose  eingefiihrt 
und  vielerorts  sich  die  private  Wohltitigkeit  geregt,  allein  die  Kom- 
munen  spielten,  froh  in  dem  Bewusstsein,  ihre  eigenen  Pflichten  auf 
andere  Schultem  abwilzen  zu  konnen,  die  RoUe  des  wohlwollenden, 
aber  untMtigen  Protektors.  So  reiften  Zustdnde  heran,  die,  wie  in  Mann- 
heim zum  Beispiel,  die  notgedrungene  Folge  einer  systematischen  Lethargie 
und  einer  nach  aussen  gerichteten  kommunalen  Politik  sein  mussten. 


A 


468  8^ 


wUhrend  im  Innern  vitale  Interessen  der  Bevdlkernng  der  Vernach- 
ISssigung  anhelmfielen.  Die  suddeutsche  Handelsempore  hat  in  ihrer 
wirtschaftlichen  Entwicklung  eine  uberaus  rasche  Karriere  gemacht  und 
sich  auf  dem  Weltmarkt  einen  Namen  von  bestem  Klang  geschaffen. 
Ein  reger  Erwerbstrieb  paart  sich  mit  im  grossen  und  ganzen  solider 
Gesinnung  und  fest  fundiert  stehen  die  Mannheimer  Handelshluser,  von 
Stiirmen  der  Krisis  und  schwindelhaften  Spekulationen  verhdltnismissig 
wenig  beruhrt.  Aus  der  Kunststadt  Karl  Theodors,  aus  der  schSumenden 
Flut,  die  einen  Schiller  der  Welt  offenbarte,  ist  allerdings  im  Laufe  der 
Jahrhunderte  eine  niichteme,  dem  Daseinsgenuss  und  Erwerbsgeiste  zu- 
gewandte  Stadt  geworden,  in  der  Kasten-  und  KrSmergeist  nicht  bloss 
an  der  OberflMche  haften,  sondem  in  vielfacher  Beziehung  auch  das 
Lebensprinzip  des  autochtonen  Geldadels  bilden.  Der  furor  poeticus 
moderner  Dichtergestalten,  die  bei  uppigen  Konvivien  lukuUische  Pracht 
und  gut  gespieltes  Mftcenatentum  zu  sehen  bekamen,  hat  zwar  jungst 
gelegentlich  eines  Prunkbazars  in  Dithyramben  Mannheims  Bewohner 
und  ihre  Metropole  gefeiert,  allein,  was  dem  nuchtemen  Beobachter,  der 
nicht  lorbeerbekr&nzt  zu  Caste  sitzt,  von  Mannheim  bleibt,  ist  alles  andere 
eher  wie  Sinn  fur  das  pulsierende  Leben  der  Gegenwart,  fur  emste, 
liber  das  Alltagsdasein  hinaus  sich  erhebende  Ideen,  fur  soziales  Denken 
und  fur  geistiges  Emporringen!  Wie  der  Geist  der  Bevdlkernng,  so 
ihre  Politik:  der  Nimbus  der  Grossstadt  zwSngt  in  der  Peripherie  ge- 
legene  Ortschaften  in  den  Bannkreis,  man  paradiert  mit  Zahlen  und  mit 
jedem  neuen  Tausend  an  Menschen  schwillt  die  Selbstschatzung.  Dieser 
Grossstadtdunkel  ist  allerdings  leider  ein  allgemeines  Charakteristikum 
moderner  StSdteentwicklung  und  auf  Mannheim  nicht  beschrankt,  und 
Hand  in  Hand  mit  ihm  geht  der  Drang,  nach  aussen  hin  eine  Gloriole 
heimischer  Institutionen  und  heimischer  Verhiltnisse  zu  verbreiten.  Das 
.Kreuziget  ihn*  erschallt  auch  heute  noch  gegen  jeden,  der  diese  Kreise 
zu  storen  wagt,  nur  sind  die  Zwangsmittel  zum  Widerruf,  gemiss  den 
verlnderten  Zeitepochen,  andere  geworden!  Man  schlSgt  Korper  und 
Geist  nicht  mehr  an  den  Holzpfahl,  aber  man  sucht  den  Widerhall  der 
in  die  OCFentlichkeit  gefluchteten  Anklagen  zu  ersticken,  indem  man  mit 
dem  Brustton  sittlicher  Empdrung  alles  leugnet  und  auf  der  schwanken 
Leiter  der  Beschonigung  die  misera  plebs  zu  beschwichtigen  sucht. 
« Alles  ist  aufs  beste  bestellt  in  der  besten  der  mdglichen  Welten.''  So 
verkundeten  es  die  Viter  der  Stadtgemeinde  Mannheim  im  Juni  1903, 
als  kurze  Zeit  vorher  auf  der  Versammlung  des  Deutschen  Komitees 
zur  Errichtung  von  LungenheilstStten  schwere  Anklagen  gegen  die  Unter* 
bringung  von  Tuberkuldsen  in  Mannheim  erhoben  worden  waren.  Zur 
Entlastung  des  Krankenhauses  hatte  man  eine  alte  Notbaracke  ausserhalb 
des  stddtischen  Weichbildes  den  Lungenschwindsuchtigen  eingerftumt  und 
hier  nun  in  vdllig  ungenugenden  und  unhygienischen  Riumen  eine  Schar 
von  Kranken  untergebracht.  Aus  dem  amtlichen  Gutachten,  das  der 
Grossherzogliche  Bezirksarzt  uber  diese  Unterkunftsstdtte  am  8.  Mirz 
1903  erstattete,  seien  folgende  Wahmehmungen  auszugsweise  wieder- 
gegeben:  »Der  Fussboden  in  der  Baracke  ist  sehr  schlecht.    Seine  Fugen 


460  8^ 


sind  im  allgemeinen  so  gross,  class  man  uberall  fast  einen  Finger  hinein- 
legen  kann,  an  einzelnen  Stellen  sind  ganze  Ausbruche  aus  den  Brettern 
sichtbar.  Die  Turen  sind  im  ganzen  Ban  sehr  schlecht  gefugt,  so  dass 
tiberall  grosse  Spalten  vorhanden  sind,  durch  welche  Winters  ilber  starke 
Kilte  eindringt.  Der  Plafond  der  Krankensdle  ist  mit  einfacher  weisser 
Kalkfarbe  angestrichen  worden,  welche  in  trockenem  Zustand,  besonders 
t)ei  sttirmischem  Wetter  abfdllt  and  die  Kranken  in  ihren  Betten  uber- 
deckt.  Durch  die  Ldcher  in  den  Seitenwinden  der  Baracke  dringt  im 
Winter  die  Kilte  ausserordentlich  stark  herein,  so  dass  das  Wasser  in 
Kriigen  und  Lavoirs  sich  nachts  mit  einer  Eiskruste  bedeckt.  —  Die 
vorhandenen  Betten  haben  nur  Strohsackmatratzen  und  sind  zu  kurz. 
Dieselben  sind  recht  hart,  was  bei  Schwerkranken,  die  dauemd  liegen 
mUssen,  leicht  zu  Druckbrand  fuhrt.  Die  Ofen  waren  im  letzten  Winter 
teilweise  durchgebrannt.  Man  sollte  sich  vor  allzu  eiliger  Anwendung 
des  nur  der  Ersparnis  dienlichen  Spruches  hiiten  ,Es  tut  es  nochS  Es 
scheint,  dass  im  letzten  Herbst  nach  dieser  Vorschrift  verfahren  wurde 
iind  dann  stellte  es  sich  im  Winter  heraus,  dass  die  Ofen  unbrauchbar 
waren.  Ich  hatte  diesem  geradezu  vernichtenden  Urteil  folgendes  hinzu- 
^efugt:  «Die  Gesichtspunkte,  die  mich  bei  der  Verurteilung  von  Anlage 
wie  System  dieses  Gebaudes  leiteten,  sind  damit  noch  nicht  erschopft, 
heute  wie  damals  erblicke  ich  in  dem  Zusammenlegen  von  23  Lungen- 
Icranken  in  einen  und  denselben  Raum,  selbst  wenn  fur  jeden  Luftraum 
tind  BodenflMche  in  wissenschaftlich  erforderlichem  Umfange  gesichert 
sein  sollten,  einen  Missstand  irgster  Art,  der  das  elementarste  Prinzip 
der  Tuberkulosebehandlung  und  -Wartung,  die  individuelle  Selbsterziehung 
tind  damit  den  Schutz  der  Umgebung,  vollig  aufhebt.  Zugleich  aber  in- 
volviert  dieses  System  in  sich  eine  schwere  kdrperliche  wie  psychische 
Stdrung  der  Patienten,  die  vor  ihren  Augen  das  Schauspiel  des  lang- 
samen  Dahinsterbens  ihrer  unglticklichen  Schicksalsgenossen  sich  ab- 
spielen  sehen  und  dadurch  selbst  in  ihrer  Widerstandsfihigkeit  beein- 
trMchtigt  werden.  Peinlichste  Sauberkeit,  das  unentbehrliche  Imponderabile 
eines  Aufenthaltes  fur  Lungenkranke,  kann  in  derartig  angefullten  Rdumen 
nie  und  nimmermehr  herrschen!  Damit  in  Zusammenhang  steht  die 
mangelnde  Auslese  und  es  wire  ein  leichtes  fur  mich,  an  der  Hand  des 
^orliegenden  Materiales  nachzuweisen,  dass  Tuberkulose  I.  Stadiums  mit 
solchen  III.  Stadiums  wochen-  und  monatelang  zusammenhausen  und 
<ladurch  der  Gefahr  einer  Verschlimmerung  ihres  Zustandes  sich  aus- 
setzen  mussten."  Der  weitere  Verlauf  der  Dinge  gab  dem  AnklMger  die 
<jenugtuung,  die  die  leitenden  Organe  der  Stadtverwaltung  ihm  versagt 
hatten:  Es  wurden  eine  Reihe  baulicher  Anderungen  vorgenommen,  die  die 
^obsten  MissstHnde  beseitigten.  Auch  hier  bewShrte  sich  ^wieder  ein- 
mal  der  Satz,  dass,  wo  die  Kraft  der  Oberzeugung  treu  einer  einmal 
erfassten  Sache  dient,  selbst  der  frechste  Finger  redlichen  Wirkens  Spur 
nie  mehr  v511ig  verwischen  kann!  —  Aber  der  vorstehend  skizzierte 
Fall  hat  nicht  nur  lokale  Bedeutung,  er  ist  typisch  fur  die  Stellung- 
nahme  gewisser  Stddte  zu  sozialhygienischen  Aufgaben.  Hat  man  die 
^lementarsten  Forderungen  der  otfentlichen  Gesundheitspfiege,  die  Durch- 

SQddeuttchc  Montuhefte.   1,6-  31 


470  g.^ 


fubrung  der  Kanalisation  und  der  Assanierung  des  Bodens,  die  Be- 
schafFung  guten  Trinkwassers  erfullt,  so  bleiben  alle  ubrigen  Fragen 
curae  posteriores.  Die  Toilette  der  Stadt,  ihr  Eindruck  nach  aussen 
wird  zum  leitenden  Gesicbtspunkt  kommunaler  Politik,  und  so  erstehen 
oft  weit  uber  den  Rahmen  lokaler  VerbSltnisse  hinausgebende  Pracbt- 
bauten,  die  Millionen  verscblingen  and  jedwede  Ausgabe  fiir  unbedingt 
notwendige  Zwecke  unmdglich  macben.  Auch  dies  ist  ein  Stuck  Gross- 
stadtdunkel,  und  wir  seben  diese  Pbase  der  Entwicklung  aucb  in  Mann- 
beim  vor  uns.  Bin  grandioser  Bau  erstand,  die  Festballe,  nahezu  drei 
Millionen  beansprucbte  sie  zu  ibrer  Fertigstellung,  obne  dass  der  Grund 
und  Boden,  dessen  Wert  wobl  ebenfalls  auf  ein  bis  zwei  siebenstellige 
Zablen  anzusetzen  ist,  darin  einbezogen  wSre.  Und  nur  um  die  Zins- 
scbuld  dieses  Pracbtbaues  zu  decken,  muss  der  Stadtsackel  aller  Voraus- 
sicbt  nacb  bereits  im  ersten  Jabre  einen  Zuscbuss  von  uber  170000  Mark 
leisten,  und  wie  ein  grinsendes  Gespenst  wird  dieses  » Debet"  nun  in 
dem  alljSbrlichen  Hausbaltungsetat  immer  wieder  erscbeinen  und  einen 
dusteren  Scbatten  auf  die  laute  Freude  am  Besitz  werfen.  Da  ist  es 
kein  Wunder,  wenn  es  uberall  bapert,  wenn  am  notwendigsten  gespart, 
wenn  das  Prinzip  des  laisser  alter  selbst  in  bygieniscben  Fragen  mass- 
gebend  wird.  Unbegrenzt  ist  die  Leistungsfabigkeit  der  Gemeinden 
allerdings  nicbt,  denn  von  Jabr  zu  Jabr  steigen  die  Anforderungen  an 
sie,  aber  eine  wirklich  weise  Politik  sollte  imstande  sein,  zu  unter- 
scheiden  zwiscben  unaufscbiebbaren  und  fur  das  dffentlicbe  Wobl  un- 
erlMsslicben  Postulaten  und  Luxusbauten,  die,  so  kunstleriscb  vollendet 
sie  aucb  sein  mogen,  docb  gegenuber  vitalen  Fragen  des  gesellscbaft- 
lichen  Lebensprozesses  zuruckzutreten  baben.  Im  Vordergrund  dieser 
stebt  das  Krankenbaus,  dessen  Bedeutung  in  der  Gegenwart  durcb  die 
verscbiedensten  Momente  zu  einer  souverSnen  geworden  ist.  Einmal 
sind  es  Momente  mediziniscber  und  tecbniscber  Natur  —  die  Begriindung 
der  Antisepsis,  die  Vielgestaltigkeit  und  Kompliziertbeit  des  modemen 
Heilverfabrens  —  und  weiterhin  sotcbe  politiscber  Natur,  die  bierfur 
4iusscblaggebend  geworden  sind.  Als  solcbe  sind  zu  nennen  die  Reicbs- 
gesetze  iiber  den  Unterstutzungswobnsitz  und  die  Krankenversicherung. 
Das  erstere  setzte  fur  die  Gemeinden  die  gesetzlicbe  Verpflicbtung  fest, 
jedem  biifsbedurftigen  Deutscben  oder  Ausldnder  die  erforderlicbe  Pflege 
in  KrankbeitsfHllen  zu  gewSbren, '  das  Krankenversicberungsgesetz  gab 
den  Krankenkassen  das  Recbt,  an  die  Stelle  der  Zablung  von  Kranken- 
geld  und  Gewlbrung  irztlicber  Bebandlung  die  freie  Kur  und  Ver- 
pflegung  in  einem  Krankenhause  eintreten  zu  lassen.  Aus  dem  Einflusse 
dieser  Faktoren  erklUrt  sicb  die  niscbe  Zunahme  der  Krankenanstalten 
in  der  Periode  von  1870  an.  Die  wacbsende  Inansprucbnabme  der 
Krankenbauser  aber,  die  in  vielen  Fallen  proportional  grosser  wie  die 
der  Bevolkerungszunahme  ist,  erfordert  eine  Erganzung  des  Heilver- 
fabrens und  zwar  nach  der  Ricbtung  der  Rekonvaleszenz  bin.  In  diesem 
Punkte  vereinigen  sicb  die  Forderungen  der  stidtischen  Wirtscbaft  mit 
denen  der  modemen  Krankenpflege.  Die  Krankenbauser  gel  ten  daber 
durcbaus  nicbt  als  Plfttze,  die  fiir  die  Rekonvaleszenz  geeignet  sind,^ 


-Mg  471 


denn  die  Pflege  der  Rekonvaleszenten  erfordert  eine  weit  andere  Lage 
der  Anstalt  und  vollig  andere  Einrichtungen,  als  sie  das  Krankenhaus  zu 
bieten  vermag.  So  gelangte  als  erste  die  Berliner  Stadtverwaltung  im 
Jahre  1877  dazu,  zwei  Heimstatten  fur  Genesende  zu  errichten,  die  eine 
ausserordentlich  rasche  Entwicklung  durchmachten ;  ihr  folgten  MOnchen 
mit  seiner  hervorragenden  Anlage  bei  Harlaching,  weiterhin  Breslau, 
Dortmund,  Dresden,  Mainz  und  andere  Stddte. 

Auch  diesen  Problemen  ist  Mannheim  bisher  nicht  niher  getreten, 
hat  es  ja  selbst  nicht  einmal  den  Wettlauf  der  deutschen  StMdte  um 
mustergiiltige  Krankenhausbauten  mitgemacbt.  Bin  alter  HSuserblock, 
der  von  Jahr  zu  Jahr  durch  Anbauten  einen  etwas  ertrMglicheren  An- 
strich  erhalten  hat,  inmitten  der  Stadt  gelegen,  von  alien  Seiten  von 
bewohnten  Hiusem  umschlossen,  stellt  das  Mannheimer  Krankenhaus 
dar,  dessen  unwurdige  VerhMltnisse  allein  schon  dadurch  gegeben  sind, 
dass  die  nicht  bettligerig  Kranken  und  Rekonvaleszenten  die  dumpfen 
GSnge  und  den  steinigen  Boden  des  luftlosen  Hofes  als  einzigen  Er- 
holungsraum  besitzen.  Kein  fussbreit  Garten  steht  diesem  Territorium 
zu  Gebote,  kein  Blick  ins  Freie,  in  die  Natur,  dieser  nie  versiegenden 
Helferin  menschlicher  Leiden !  Wo  es  daran  ermangelt,  da  ist  es  auch 
kein  Wunder,  dass  alles  Weitere  zurucktreten  muss,  dass  die  Errichtung 
einer  grossen  stidtischen  Badeanstalt,  dass  die  Kreierung  von  Schul- 
Irzten  und  andere  sozialhygienische  Postulate  fur  utopische  Probleme 
angesehen  werden!  Und  dies  um  so  mehr,  als  die  geborenen  Leiter 
des  Volkes  und  seiner  Gesundheit,  die  Arzte,  sie,  die  in  ihrer  iiber- 
wiegend  grossen  Mehrzahl  die  sozialhygienischen  Aufgaben  der  Medizin 
erkannt  und  sich  wissensfreudig  in  den  Dienst  neuer,  kulturfdrdemder 
Ziele  gestellt,  in  Mannheim  vollig  versagt  haben.  Dem  Geiste  der 
dominierenden  Klassen  sich  willig  beugend,  um  des  wirtschaftlichen 
Kampfes  praktisches  Endziel  einzig  und  allein  bekiimmert,  sind  sie  an 
dem  engen  Gehluse  haften  geblieben,  in  dem  die  Medizin  als  ein 
mechanisches  Triebwerk  jahrhundertelang  lief  und  haben  den  Anprall 
des  pulsierenden  Lebens  nie  vemommen,  nie  vemehmen  wollen.  Hier 
kann  kein  Echo  in  der  Volksseele  geweckt,  kein  Finger  auf  eine  eitemde 
Wunde  gelegt,  kein  Ansporn  zu  gemeinnutzigem  Tun  gegeben  werden. 
So  fehlt  den  leitenden  MSnnem  des  Gemeinwesens  sachdienticher  Rat, 
es  fehlen  die  freidenkenden  Vertreter  der  Wissenschaft,  die  unbekummert 
um  Flustem  und  Raunen  ihre  Oberzeugung  offenbaren,  und  dies  mildert 
der  ersteren  Schuld. 

Nur  der  Sturmwind  der  dffentlichen  Meinung,  der  Boden,  auf  dem 
sich  die  Elemente  kultureller  Entwicklung  Bnden  und  zu  gemeinsamer 
Arbeit  vereinigen,  kann  hier  Wandel  schaffen  und  die  Kommunen  znr 
Erf&llung  ihrer  sozialhygienischen  Pflichten  wachrutteln. 


472  8^ 


Briefe  aus  Italien.  II. 

Von  Friedrich  Th.  Vischen 
Mitgeteilt  von  Robert  Vischer  in  GOttingen. 

Lieber  Bruder  and  Schwigerin,  Hebe  Schwester  nebst  Kindern, 
Freunde  und  wer  mir  gut  ist!  Lest  mit  Verstand,  ich  schreibe 
aus  Rom! 

Ich  sitze  so  in  meinem  freundlichen  Stubchen  in  der  via  Sistina  auf 
Monte  Pincio,  dem  alten  collis  hortulorum.  Ein  furchterlicher  Platzregen 
<wenn  es  in  Italien  regnet,  so  regnet's  gleich  recht)  hat  eben  nachgelassen, 
und  ein  Giessbach,  der  sich  in  der  Strasse  gebildet  hat,  macht  der  ganzen 
Nachbarschaft  Unterhaltung.  Ein  halbnackter  teufelswilder  Junge  hat 
eine  Mulde,  oder  was  es  ist,  gestohlen,  watet  bis  ans  Knie  im  Wasser 
und  treibt  sein  Holz  als  Schiff  hinunter.  Unten  ist  die  Passage  gehemnit, 
da  stehen  nun  die  Passagiere  wie  die  Ochsen  am  Berge,  denn  die 
Italiener  sind  schlechte  Gymnastiker;  probirts  hie  und  da  Einer  und 
macht  einen  komischen  Hopf,  wie  soeben  ein  langer  Abbate,  der  dabei 
seinen  schwarzen  Kittel  gar  zierlich  bis  an  den  podex  hinaufschob,  so  will 
die  dunkelbraune,  breitnackige,  schwarzlockige  Rdmerin,  die  da  drUben  im 
Fenster  liegt,  sich  zu  Tode  lachen;  endlich  kommt  ein  blonder  deutscher 
Maler  und  ist  ohne  Ansatz  mit  einem  kriftigen  Sprunge  driiben:  Ecco 
il  tedesco!  Che  salta  bene!  Da  habe  ich  doch  Respect.  Ein  alter 
Bettler  mit  langem  weissem  Barte  sturzt  sogleich  auf  ihn  zu,  als  wire 
er  nur  heriiber  gesprungen,  ihm  einen  Bajocco  zu  geben:  povero  vecchio! 
povero  vecchio!  per  carit&!  per  la  Madonna  Santissima!  Aber  der 
deutsche  Bengel  will  nichts  von  der  Madonna  Santissima  und  geht  weiter, 
indem  er  einen  wunderschdnen  Kerl,  der  faul  an  der  Ecke  lehnt,  das 
classische  Gesicht  in  einem  Walde  schongelockter  rabenschwarzer  Bart- 
u.  Haupthaare,  obendrauf  eine  rothe  SchifTermutze,  scharf  fixirt,  ob  er 
nicht  etwa  als  Modell  zu  haben  wire.  Ein  kreischender,  melancholischer 
Ton  von  Schalmeyen  erhebt  sich,  es  Ziehen  einige  pifferari  daher,  Bauem 
aus  den  Gebirgen  mit  Wdmsem  aus  Schaafspelz  u.  roth  verbrimt,  braune 
Mintel  daruber,  spitze  Hute,  Sandalen  an  den  Fussen,  sie  kommen  seit 
undenklicher  Zeit  um  Weihnachten  in  die  Stadt  und  blasen  vor  den  Marien- 
bildem  u.  in  den  Trattorien.  Zwei  Landmidchen  im  besten  Staate  ge- 
sellen  sich  hinzu,  der  braune  Kopf  sticht  trefflich  von  dem  Dach  aus 
schneeweissen  Linnen,  das  ihn  breit  bedeckt,  und  der  braune  Hals  von 
den  schneeweissen  Aermeln  ab,  grUne  Sammtrdcke  und  ein  rotbes  Tuch, 
das  als  Schaal  und  in  andem  Gestalten  dient,  materisch  um  die  Hufte 
geworfen  und  mit  dem  Arm  in  grossen  Falten  aufgezogen;  das  sind 
2  Figuren  und  Kdpfe  von  alt-italienischem  Schlag,  aus  der  tiefen  Briune 
der  Haut  blitzt  auf  schneeweissem,  blSulicht  angeflogenem  Grunde 
ein  stolzes,  emstes,  beerschwarzes  Auge;  da  tappt  Einer  ungeschickt  in 
den  Bach,  und  plotzlich  Idst  sich  der  Ernst  in  das  lauteste  Gelichter 
auf,  wobei  sie  eine  Kette  von  Zfthnen  zeigen. 


473  8^ 


So  ist  es  fretlich  nicht  immer  and  uberall  in  Rom.  Unten  auf 
dem  Corso  ist  man  in  einer  rein  modernen  Stadt  u.  wird  von  eng- 
lischen,  franzos.,  russ.  Equipagen  fast  iiberfahren.  Rom  ist  eine  Stadt 
voll  moderner  raffinirter  Corruption:  aber  dazwischen  sehen  wie  in  der 
Architecture  so  in  Sitte,  Tracht,  Gebftude,  Haltung,  Sinn  doch  uberall 
noch  die  Ruinen  untergegangener  Grosse  hervor,  u.  der  gemeinste 
Romer  ist  immer  ein  Romer.  Was  ist  ein  Klang  in  dem  Wort!  Roma! 
Da  hort  man  den  dumpfen  Donner  der  alten  Siegeswagen  auf  der  via 
sacra,  derselben,  auf  deren  Resten  ich  jetzt  wandle,  und  wo  man  noch 
Spuren  der  alten  Wagengeleise  sieht,  unter  dem  Triumphbogen  des  Titus 
durchy  wo  auf  dem  Relief  der  judische  Tempelleuchter  noch  heut  zu 
sehen  ist,  den  die  Sieger  aus  Jerusalem  schleppten.  —  Es  gibt  Momente, 
wo  man  es  nicht  glauben  kann,  dass  man  in  Rom  sei,  dass  es  moglich 
sei,  hier,  ganz  ordentlich  u.  eigentlich  hier,  wo  all  die  grossen  und  all 
die  schrecklichen  alten  Manner  wandelten,  hier  als  ein  spitznasiger,  blond- 
und  glatthariger  Deutscher  mit  Handschuh  u.  Cravatte  herumzugehen. 
Ehe  ich  hieher  kam,  hatte  ich  das  entgegengesetzte  Gefuhl;  jetzt  glaube 
ich  nicht  zu  sein  u.  zu  bestehen  auf  Einem  Raume  mit  diesen  ungeheuren 
Erinnerungen;  damals  glaubte  ich  nicht  recht,  dass  Rom  existire.  Ver- 
steht  mich  nicht  falsch,  meine  Trefflichen,  ich  meine  es  ganz  wortlich. 
Ich  hatte  aus  Buchem  u.  Erzahlungen  als  Mann  von  Kopf  allerdings 
gemerkt,  dass  es  eine  solche  Stadt  gebe,  welche  das  alte  Rom  ist,  dass 
Titus  die  Juden,  M.  Aurel  die  Quaden  u.  Marcomannen,  Ciisar  die  Gallier 
besiegt  hat  u.  s.  w.  Ich  dachte  aber  als  feiner  Kopf,  all  diese  Sachen 
erzlhlt  man  zwar,  aber  ich  bin  nicht  dabei  gewesen;  weiss  der  Henker 
ob  sie  wahr  sind;  die  Zerstdrung  Jerusalems,  Carthagos,  so  viele  andere 
ungeheure  Schauspiele  sind  wohl  nur  grosse  Schattenspiele  der  Phantasie. 
Aber  siehe,  da  sind  nun  die  handgreiflichen  Reste:  dieser  Mortel  ist 
wirkllch  von  Menschen  aus  jener  Zeit  angemacht,  da  stehen  noch  die 
SMulen,  die  Triumphbogen,  in  diesem  Colosseum  erhob  sich  wirklich 
das  Gebrull  der  Tiger  u.  Lowen,  das  Waffengeklirr  der  Fechter,  —  da 
tritt  aus  dem  Schulstaube,  der  die  Classiker  dir  bisher  umgab,  plotzlich 
die  alte  Welt  vertraut  und  hell  vor  die  Augen,  du  siehst  ihr  ins  An- 
gesicht,  sie  lebt.  Ich  bin  hier,  das  kann  man  auch  sagen,  wenn  man 
in  Degerloch,  Lustnau,  Derendingen  ist,  nur  nicht  hinzusetzen:  CSsar 
war  auch  hier,  Pompejus  auch  hier,  u.  dieser  Fleck  Erde  hat  einst  die 
Welt  erobert. 

Aber  ich  vergesse  ganz,  dass  ich  erzdhlen  wollte. 

In  Florenz  studirte  ich  noch  die  KunstschHtze  mit  Genauigkeit  durch 
und  genoss  so  manche  schone  Stunde  in  den  reichen  Silen  der  Uffizien, 
die  mit  grdsster  Liberalitit  unentgeldlich  alle  Tage  geoffnet  sind,  vor  den 
BroncethurendesGhiberti  amBaptisterium,  von  denen  einst M.Angelo  sagte 
sie  wiren  wtirdig  die  Pforten  des  Paradieses  zu  sein,  in  den  Kirchen,  wo 
die  interessantesten  Fresken  sowohl  aus  den  ersten,  naiven  Zeiten  des 
Cimabue  und  Giotto,  als  aus  dem  grossen  Fortschritt  des  herrlichen 
Masaccio  u.  endlich  der  Bliitezeit  des  Fra  Bartolomeo  und  Andrea  del 
Sarto  die  Hauptepochen  der  mittelalterl.  Malerei  darstellen.    Es  ist  auch 


474  8*»- 


behaglich  leben  In  Florenz,  nicht  theuer  und  ein  hdfliches,  gutes  Volk 
dort;  die  Toscaner  sind  die  italienischen  Sachsen.  Gewdhnlich  ass  ich  mit 
dem  Archiologen  Dr.  Gaye,  ubrigens  einem  gar  sluerlichen,  ubermuthig 
schweigsamen  Menschen,  gegen  den  ich  zugleich  immer  anf  den  Hinter- 
beinen  sein  musste.  Mit  grossem  Genuss  sab  ich  ein  italienisches 
Ballspiel,  das  ich  einmal  mundlich  beschreiben  will.^)  Da  sieht  man 
Minner,  Kdpfe,  Stellnngen,  Leben,  so  antiki  —  Das  Wetter  hatte  ich 
gluhend  heiss  getroffen,  zuletzt  gieng  es  durch  einige  Gewitter  mit  Platz- 
regen  in  empfindliche  Kfllte  uber.  Ich  reiste  am  30.  October  nach  Siena 
ab.  Gute  Gesellschaft  von  lauter  Italienem  in  der  Chaise,  woninter  eine 
Frau  mit  Gemahl,  ganz  honett,  aber  im  Gesprich  von  einer  Naturlich- 
keit,  wobey  ein  Deutscher,  der  es  noch  nicht  gewohnt  gewesen  wire, 
sich  auf  den  Kopf  gestellt  hitte.  Z.  B.  Es  stiegen  Einige  aus  ob  certam 
necessitatem.  Die  Fran  sagte:  Jo  sono  donna,  non  smonto  mai,  sono 
stata  a  cavallo  dieci  miglia  e  non  sono  smontata  mai.  Das  war  aber 
auf  mein  Wort  eine  ganz  honette  Frau  von  viel  Anstand.  Und  doch 
sind  die  Italiener  in  andem  Dingen  viel  strenger  decent  als  wir.  Auf 
dem  Theater  darf  kein  Kuss  auf  die  Wange,  auch  nicht  scheinbar  ge- 
geben  werden,  sondem  nur  auf  die  Hand.  Ueberhaupt  gilt  Kussen  als 
etwas  durchaus  verfingliches.  Ein  Beweis  der  Verdorbenheit,  denn  je 
verdorbener  die  Sitten,  desto  ingstlicher  die  Decenz.  Selbst  in  der 
Kirche  ist  mir  zu  Pisa  ein  schflndlicher  Antrag  gemacht  worden,  worauf 
ich  aber  ganz  still  meinen  schdnen,  braungebeizten  Reisestock  von  starkem 
eichenem  Kaliber  dem  Antragesteller  dicht  vor  die  Nase  hielt,  der  dieses 
deutsch  augenblicklich  verstand.  Siena  hat  einen  wunderherrlichen  Dom 
u.  so  vieles  andere  Schdne,  das  ich  nur  leider  wegen  des  nasskalten 
Regenwetters  in  schlechter  Beleuchtung  u.  unbehaglichem  Zustande  sah. 
Ich  war  da  einem  Sprachlehrer  Cypriani  empfohlen,  einem  gar  ehrlichen 
Mann,  der  in  der  italienischen  Garde  gedient  hat.  Die  Sieneser  sind 
tiberhaupt  nette  Leute,  u.  ihre  Sprache  ist  durch  das  Sprichwort  beruhmt: 
lingua  Toscana  in  bocca  (Mund)  Romana.  Im  Caflfee  hatte  ich  Abends 
den  eigenthumlichen  Genuss,  mit  einem  Bibliothecar,  dem  man  in  seiner 
italienischen  Sammtjacke  und  dem  jugendlichen  Lockenwald  den  Gelehrten 
nicht  ansah,  tiber  Schiller  zu  disp^tiren;  die  Italiener  sind  gewaltig  fur 
das  Sentimentale,  er  nahm  aber  doch  meine  Bemerkungen  zu  Berichtigung 
seiner  Begriflfe  sehr  willig  auf  u.  fasste  im  Moment  den  Unterschied 
zwischen  rhetorisch  u.  poStisch.  Ueberhaupt  was  ist  das  fur  ein  Volk, 
welche  FassungskraftI  welch  liebenswurdiger  Kern,  wie  heiter,  wie  frisch, 
wie  wohlgestimmtl  Was  wire  aus  dem  Volke  zu  machen,  da  es  ohne  alle 
Volkserziehung  so  wild  aufwichst  u.  doch  das  ist,  was  es  ist!  Besonders 
die  Knaben  liebe  ich.  Sie  sind  entsetzlich  unartig,  man  sieht  selten 
eine  Katze,  der  sie  nicht  den  Schwanz  abgeschnitten  batten.  Doch  ab- 
gesehen  von  diesen  Strassen-Unarten,  erscheinen  sie  so  naiv  klug,  gegen 
Erwachsene  freimtithig  und  doch  edel  bescheiden,  dass  man  nicht  ohne 
Unwillen  an  die  verwunschte  deutsche  Erziehung  denken  kann,  die  den 


^)  Ballonenspiel. 


475  8^ 


Menschen  fast  bis  zum  30.  Jahr  als  unfrei  u.  dumm  behandelt,  wovon 
die  Folge  ist,  dass  er  es  wird.  Im  Rathe  der  Erwachsenen  darf  der 
Knabe  hier  in  Italien  frei  mitsprechen,  da  horcht  er  aufmerksam  auf  die 
Hand  gesttitzt,  die  dicken  Locken  fallen  ihm  leichtsinnig  unter  der  Mtitze 
auf  die  Stime  herunter,  da  bringt  er  denn  auch  seinen  Senf  herbei,  hat 
zu  fragen,  zu  urtheilen,  zu  erzihlen,  u.  die  Alten  lassen  ihn  billig  mit- 
ankommen.  Sagt  er  was  dummes,  so  belehrt  man  ihn  lachend,  sagt  er 
was  kluges,  so  heisst  es,  der  Kleine  hat  Recht  u.  s.  w.  Ebenso  behandelt 
man  die  Dienstboten  als  Menschen;  im  Anfang  verwunderte  sich  meine 
deutsche  Corporalsstocknatur  nlcht  wenig,  wenn  eine  Dienstmagd  oder 
ein  Bedienter  im  Vorzimmer  einer  Familie  auf  eine  Frage  nicht  einfach 
antwortete,  sondem  eine  Bemerkung  machte,  wodurch  er  sich  mit  mir 
auf  den  Fuss  der  Unterhaltung  zwischen  Menschen  von  gleicher  Wtirde 
setzte.  Dort  flhrt  eine  glinzende  Equipage  uber  den  Corso,  bei  der 
Familie  sitzt  eine  Amme  in  ISndlicher  Tracht  u.  unterhdlt  sich  mit  Herr 
u.  Frau  wie  ein  Glied  der  Familie,  u.  das  ist  von  diesen  keine  Herab- 
lassung,  sondem  Gefiihl  der  Menschlichkeit,  Menschenwiirde.  Man  meine 
nicht,  das  begtinstige  die  Unbescheidenheit,  nein,  der  Sclave  wird  un- 
bescheiden. 

Von  Siena  nahm  ich  einen  Vetturin  nach  Perugia  auf  2  Tage. 
Obwohl  Cypriani  mir  ihn  gerathen  hatte  (kein  Italiener  hindert  je  den 
Andem  in  spitzbubischen  Prellereien  derFremden;  kein  noch  so  honetter 
Wirth  sagt  dir:  so  u.  so  viel  Geld  ist  vom  Vetturin,  Fachin  u.  s.  w. 
uberfordert,  den  oder  jenen  Vetturin  nimm  nicht  u.  s.  w.  Alle  sind 
im  Complott),  so  war  doch  die  Vettura  grundschlecht  und  der  Vetturin 
ein  Erzspitzbube.  Ich  fuhr  fnih  Morgens  ab,  hatte  nicht  gefruhstuckt, 
es  kam  ein  kalter  Platzregen,  ich  verkiltete  mich  und  sass  in  der 
Trattoria  des  nSchsten  Stidtchens  in  recht  ublem  Zustande  auf  dem 
Heerde,  wohin  man  mir  den  Stuhl  gesezt,  nach  ublicher  Manier,  am 
Feuer.  Es  regnete  fort,  der  Vetturin  hatte  immer  mit  den  Wirthsleuten 
zu  fliistem,  er  meinte,  ich  merke  in  meiner  Apathie  nichts.  Seine 
Absicht  war,  heute  nicht  weiter  zu  fahren,  wodurch  der  ganze  Contrakt 
verwirrt  worden  wMre,  zu  diesem  Behuf  liess  er  sich  ein  Essen  bringen, 
das  als  Verzdgerungs-Vorwand  dienen  sollte.  Ich  liess  alles  geschehen, 
als  kdnnte  ich  nicht  funf  zShlen,  weil  ich  bei  m.  Leibweh  und  dem 
Regen  selbst  unentschlossen  war,  doch  begannen  die  heiml.  Umtriebe, 
die  der  Vetturin  aus  reiner  Lust  zur  Heimlichkeit  oflfenem  Vorschlage 
vorzog,  mich  zu  irgem.  Endlich  beschloss  man,  mir  in  einem  eignenZimmer 
das  Kamin  anzuzunden,  was  ich  nicht  befohlen  hatte,  um  so  mich  zu 
^ngeln  und  zu  bestimmen.  Plotzlich  brach  mir  die  Geduld,  ich  war 
mit  einem  Sprung  vom  Heerde  und  vor  dem  Vetturin,  schrie:  wer  ist 
Herr?  Ich  oder  ihr?  In  dem  ndchsten  Moment  ist  angespanfit  oder  ihr 
bekommt  keinen  Quadrin  Trinkgeld !  Das  wirkte,  und  in  derselben  Viertel- 
stunde  war  ich  unterwegs,  das  Wetter  wieder  hell,  das  Leibweh  weg.  — 
Den  andem  Tag  sah  ich  das  merkwiirdige  Chiusi,  das  alte  Clusium, 
eine  der  IZ  etruski^hen  Republiken,  deren  Lukumone  Porsenna  war, 
derselbe,  der  vor  Rom  zog.    Es  war  ein  grauer,  melancholischer  Tag, 


476 


ganz  geeignet  zu  Erinneningen  an  das  finstere  Wesen  der  alten  Etrusker; 
die  Stadt  liegt  hoch  gegen  Westen,  init  der  Aussicht  auf  ernste  Eichen- 
wilder.  Ausser  dem  Museum  der  ausgegrabenen  Urnen,  Bronzen  u.  s.  w. 
versdumte  ich  nicht,  Eines  der  gefundenen  GrSber  zu  besuchen,  das 
schdnste.  Ich  kannte  die  Form  dieser  Griber  gut  aus  dem  Werk  von 
Inghirami,  aber  wie  anders,  wenn  man  die  Sache  selbst  sieht  und  das 
Antike  Einem  pldtzlich  wahr,  wirklich,  gegen wirtig  wird!  Eine  Kammer 
in  die  feste  Lehm-Erde  des  Berges  gehauen,  mit  steinemer  Thur,  mit 
Farben  undheitem  Bildern  vonTdnzerinnen,  Gauklem  u.  dergleichen  in  dem 
harten,  aber  doch  edlen  etrurischen  Style  bemalt,  frisch  und  gldnzend,  als 
wiire  es  von  gestern;  hier  standen  nebst  den  Vasen  u.  Anderem  die  Aschen- 
Umen,  viereckige  Kistchen  mit  Relief,  auf  dem  Deckel  hingestreckt  das 
Bild  des  Todten  —  die  finstern,  murrischen  Etrusker-Kopfe,  doch  auch 
liebliche  Gruppen,  eine  Mutter,  das  kl.  Tochterchen  im  Arm,  das  liebreich 
zu  ihr  aufblickt.  Der  Tag  war  empfindlich  kalt,  hier  unter  der  Erde 
war  eine  dumpfe  Hitze,  was  den  eigentlichen  Eindruck  bei  der  mystischen 
Lampenbeleuchtung  vollendete.  —  Mit  diesem  Momente  begann  eigent- 
lich  ftir  mich  das  Gefuhl  des  Antiken,  d.  h.  das  Gefiihl  in  der  Heimath 
des  Antiken  zu  sein,  bisher  war  es  mehr  das  Mittelalter  mit  s.  Baukunst 
u.  Malerei  gewesen,  was  mich  beschiftigte.  Den  Ort  zu  betreten,  wo 
handgreifliche  Spuren  darthun,  dass  hier  einst  «das  Antike  neu**  war  — 
diess  gibt  dem  Gemuth  den  ersten  starken,  durchgreifenden  Eindruck. 
Uebernacht  in  Citth  della  Pieve,  dem  Geburtsort  des  herrl.  Pietro  Perugino, 
u.  eine  herrl.  Freske  desselben  gesehen. 

Am  3.  Novb.  nach  Perugia,  ebenfalls  eine  der  etrusk.  12  Stadte, 
spdter  von  Augustus  erobert  und  formlich  unter  Rom  gebracht.  Es  liegt 
sehr  hoch  uber  einem  Bergrucken  hingelagert,  ein  paar  der  bekannten 
schdnen  Ochsen  Unter-Italiens  zogen  als  Vorspann  die  Chaise  hinauf. 
Perugia  hat  mich  nach  alien  Seiten  dusserst  gemiithlich  angesprochen. 
Die  Leute  sind  gar  freundlich  und  gutartig,  gleich  am  ersten  Abend,  wo 
ich  mich  nicht  nach  meiner  Wohnung  (casa  Zannetti,  dieser  ist  ein  Bruder 
der  Bildhauerin  Braun  in  Stuttgart)  zurtickfinden  konnte,  ftihrten  mich 
2  Frauen,  die  mich  fragen  hdrten,  der  Kleidung  nach  vom  Honoratioren- 
Stande,  mehrere  Strassen  weit  selbst  u.  ohne  Interesse,  denn  sie  waren 
bejahrt.  Thite  das  eine  deutsche  Frau?  Doch  ja,  du  liebe  Majorin^ 
thdtest  es,*)  u.  uberhaupt  lasse  ich  den  deutschen  Frauen  nichts  geschehen^ 
streiche  sie  auch  den  Italienerinnen  hollisch  heraus,  u.  diese,  die  fast 
keine  Kunst  verstehen,  als  die  ars  amandi,  von  welcher  der  heidnische 
Dichter  Ovidius  ein  Buch  in  Versen  verfasst  hat,  bewundern  besonders 
die  zierlichen  Werke  ihrer  kunstreichen  Hande,  u.  deine  Brieftasche 
1.  Schwigerin,  geniesst  verdiente  Lobspruche.  —  In  2  Palldsten,  von 
denen  der  Eine  ein  gar  kostliches  Madonnenbild  von  Raphael  besitzt^ 
fuhrten  mich  die  jungen  Besitzer  selbst  herum,  mit  Monchen  in  den 
herrlich  gelegenen  Klostern  conversirte  ich  gar  behaglich,  denn  alle 
Italiener  horen  gar  gem  ihr  Land,  ihr  Besitzthum  u.  s.  w.  loben. 


')  S.  oben  S.  380. 


477  ^ 


Kirchen  und  dfifentliche  Bauten  sind  voll  der  tiefempfundenen  Gemiilde 
Peruglnos,  der  hier  als  Ehrenbiirger  lebte  u.  Raphael  unterrichtete.  Die 
Aussicht  auf  die  Kette  der  Gebirge  mit  jenem  tiefblauen  Dufte,  den  nur 
Italien  hat  u.  der  seinen  Landschaften  die  Idealitat  gibt,  mit  den  herd, 
gezogenen  Linien,  —  hier  verspurte  ich  endlich  wieder  das  Ding,  das 
Gdthe  Stimmung  nennt,  ich  lege  das  Produkt,  zwei  Gedichte  bei, 
sie  scheinen  mir  zu  lang,  ich  weiss  iiberhaupt  nicht,  ob  sie  etwas  werth 
sind;  gemacht  sind  sie  mit  aller  Neigung;  sind  sie's  werth,  so  kannst 
du,  1.  Strauss,  sie  vielleicht  in  einem  geeigneten  Blatte  als  Gruss  an 
die  entfemteren  Freunde  abdrucken.  (Dass  die  Gothen  nicht  von  Norden 
sondem  von  Osten  kamen,  weiss  ich,  aber  sie  waren  urspriinglich  doch 
nordisch,  u.  so  mag  der  2.  Vers  des  2.  Gedichts  stehen  bleiben).^) 

Einen  Tag  bestimmte  ich  fur  das  3  Stunden  entfernte  Assisi,  wo 
der  h.  Franziscus  s.  beriihmten  Wunder  erlebt  hat,  uber  dessen  Grabe 
2  wundervoUe  gothische  Kirchen  erbaut  sind,  die  Eine  halb  unterirdisch, 
mystisch  dunkel,  blaues  Gewdlb  mit  Stemen  an  den  Wdnden,  Fresken 
der  iltesten  Florentiner  Maler.  Ich  sass  hier  in  den  hochst  malerischen 
Dammerschein  vertieft,  u.  wusste  noch  nicht,  dass  ich  soeben  meine  Brief- 
tasche  mit  Pass  u.  Creditbrief  verloren  hatte.  Beim  Herauskommen  ver- 
misse  ich  sie,  stiirze  zuriick,  suche  alles  hundertmal  durch,  vergebens;  Assisi 
ist  als  ein  completes  Pfaffen-Nest  auch  ein  completes  Spitzbuben-Nest. 
Die  Bettler  fressen  einen  fast,  ich  gab  sie  schon  verloren,  da  redet  mich 
auf  dem  Marktplatz  ein  Lazzaroni  an,  ob  ich  etwas  verloren,  er  hab's 
gefunden,  auf  der  Polizei  niedergelegt,  er  sei  ein  galantuomo  (ein  Ehren- 
mann),  aber  hoffentlich  werde  ich  ein  erkleckliches  Trinkgeld  geben. 
Dass  kein  Geld  in  der  Brieftasche  war  u.  dass  in  demselben  Moment 
noch  ein  zweiter  sie  auf  der  Strasse  bemerkte,  der  den  Erstern  controlirte, 
das  war  meine  Rettung.  —  Ich  machte  der  Priorinn  eines  Klosters 
deutscher  Nonnen  eine  Aufwartung,  die  mich  aber  kein  Wort  verstand, 
bis  ich  tyrolisch  zu  reden  anfieng,  und  die  nicht  wusste,  dass  der  Kaiser 
von  Oestreich  einen  Theil  von  Italien  hat  (was  mir  viel  Sympathie 
einfidsste,  denn  es  sind  kaum  7  Jahre  dass  ich  es  zufdllig  erfuhr.) 
Kaum  aus  dem  Kloster,  hMlt  mich  ein  fetter  Pfaffe  auf  der  Strasse  an 
u.  erzahlt  mir  unter  dem  behaglichsten  Lachen,  er  habe  eben  zur  Beichte 
gesessen,  als  ich  in  der  Nahe  des  Beichtstuhls  einen  Menschen  verzweifelt 
ausfragte,  ob  er  nichts  von  meiner  Brieftasche  gesehen,  der  Mensch  sei 
aber  halbtaub  u.  ein  Simpel,  er  habe  Alles  so  bemerkt  und  doch  nichts 
sagen  konnen,  weil  er  eben  Beichte  gehdrt.  Ueber  diese  Situation  wollte 
sich  der  gemdstete  Kalbsschlegel  kropfig  lachen,  ob  ich  m.  Tasche  ge- 
funden, Oder  nicht  war  ihm  ganz  gleichgultig. 

Am  8.  Novbr.  ab  nach  Rom.  In  der  Vettura  sass  als  Gesellschaft 
fiir  4  Tage  1)  eine  hissliche  Frau,  verheirathet,  aber  jetzt  nicht  in  Ge- 
sellschaft ihres  Mannes,  sondem  des  Cicisbeo,  2)  ein  Federhiindler  von 
Florenz,  3)  2  Dominikaner,  denn  anders  thut  es  die  liebe  Vorsehung  nicht. 


Diese  Gedichte  wurden  im  Morgenblatt  verSffentlicbt,  und  auch  Fr.  Viscbers 
Lyriscbe  Gftnge,  Stuttgart,  Deutsche  Verlagsansialt,  3.  Aufl.,  S.  60  ff.  enthalten  sie. 


478  8^ 


steige  ich  in  eine  Chaise,  so  hockt  heilig  ein  Pfaffe  drinn.  So  muss  man  ja 
mehr  und  mehr  fur  den  Himmel  reifen.  In  Otricoli  gieng,  da  es  Sontag 
war,  die  ganze  ubrige  Gesellschaft  zur  Messe,  die  Frau  sagte  mlr,  sie 
habe,  als  man  an  den  Kirchengang  dachte,  die  2  Heiligen  zu  einander 
sagen  horen:  jetzt  muss  es  sich  zeigen,  ob  er  ein  Protestant  ist.  Als 
die  Gesellschaft  von  der  Kirche  kam,  sass  ich  unter  der  Osteria  auf 
einem  Balken  u.  verzehrte  behaglich  Castanien,  wo  dann  freilich  ganz 
klar  wurde,  dass  ich  Ketzer  bin.  —  Abends  sah  ich  den  wunderschdnen 
Wasserfall  von  Temi,  —  weit  iiber  allem,  was  ich  von  der  Art  gesehen.  — 
Der  Kellner  in  Temi  war  unbescheiden,  ich  putzte  ihn,  wusste  aber  nicht 
was  Flegel  auf  Italienisch  heisst,  er  woUte  entfliehen,  ich  hielt  ihn  aber 
fest  am  Frack  mit  der  Einen  Hand,  indessen  ich  mit  der  Andem  im 
Lexicon  aufsuchte.  Man  soUte  es  in  ein  Lustspiel  bringen,  es  ist  wie 
gemacht  dazu. — 

Am  11.  Novbr.  zog  ich  Abends  in  Rom  ein.  Ich  wusste  vorher, 
was  von  dem  ersten  Eindruck  zu  erwarten  war,  nftmlich  wenig  und 
steifte  mich  nicht  im  mindesten  auf  grosse  Gefuhle.  Ueberhaupt  nur  sich 
auf  keine  Geftihle  for^iren,  nur  nicht  sentimental  sein,  das  ist  nirgends 
mehr  zu  rathen  als  in  Italien.  Wenn  man  nemlich  von  der  Porta  del 
Popolo  hineinfihrt,  so  sieht  man  zuerst  nur  das  neue  Rom,  das  so 
ziemlich  den  Anblick  einer  gewdhnlichen  modemen  Stadt  darbietet.  Die 
Architektur  des  ganzen  neuen  Roms  an  Kirchen  u.  PallSsten  ist  bekannt- 
lich  lauter  Zopf.  Rom  war  seine  Wiege  und  fruchtbarste  Residenz.  Ich 
will  statt  hundert  anderer  Beispiele  nur  das  schauderhafte  anfilhren,  dass 
in  den  von  den  schdnen  Siulen  des  alten  Tempels  der  Faustina  ein- 
geschlossenen  Raum  eine  Zopf-Kirche  mit  der  hier  gezeichneten  un- 
ertrdglichen  Facade  gebaut  ist.  Dieser  Styl  nun  gefiel  sich  bekannt- 
lich  besonders  in  der  KuppeUorm,  u.  es  geben  die  vielen  Kuppeln  neuerer 
Zeit,  so  weit  dieselben  auch  von  der  herrlichen,  viel  flacher  gehalteaen 
Kuppel  des  Pantheons  abweichen,  dem  modemen  Rom  in  der  Perspektive 
ein  allerdings  grossartiges  Aussehen.  Tritt  man  aber  ins  Innere  dieser 
Kirchen,  so  herrscht  hier  der  Beminische  Zopf  in  alien  Formen  des 
Abgeschmackten.  Die  Peters  Kirche  ist  bekanntlich  ebenfalls  bereits 
Zopf  und  verfehlt  ganz  den  grossen  Eindruck,  den  ihre  ungeheure  Hdhe 
beabsichtigte.  Der  Gmnd  des  letztera  ist  namentlich,  dass  aller  Schmuck  an 
Gelenken,  alle  GemMlde,  Statuen,  welche  die  ungeheuren  hohen  Winde  and 
Kuppeln  schmticken,  perspektivisch  so  berechnet  sind,  dass  die  Figuren 
fur  das  Auge  in  gewdhnlicher  Grosse  erscheinen.  Sie  sind  neml.  je 
hdher,  desto  grosser  ausgefuhrt,  statt  dass,  wenn  alle  denselben  Maas- 
stab  hStten,  die  Figuren,  je  entfernter,  desto  kleiner  erschienen  und  so 
dem  Auge  ein  Maas  der  grandiosen  Hdhe  gdben.  Im  Style  des  Mittel- 
alters  hat  Rom  an  PallMsten  u.  Kirchen  fast  nichts  aufzuweisen,  u.  so 
bleiben  ihm  nur  die  Ruinen  der  Rdmerzeit  u.  der  Zopf.  Man  kann  sich 
das  schon  gefallen  lassen,  denn  so  haben  diese  Ruinen  keine  Nebenbuhler 
und  stehen  in  tragischer  Einsamkeit  um  so  ergreifender  da.  Dagegen  sind 
die  byzantinischen  Basiliken,  meist  ausser  der  Stadt,  aus  den  ersten  christl. 
Jahrhunderten,  hdchst  lehrreich  fur  die  erste  Baukunst  des  Mittelalters. 


479 


Ich  war  kaum  abgestiegen,  so  machte  ich  mich  nach  dem  antiken 
Rom,  dessen  Lage  ich  aus  der  Lecture  ungefihr  kannte.  Es  war  nach 
empfindlichen  frostigen  Tagen  ein  wanner  heller,  ja  dumpfheisser  Abend, 
denn  es  wehte  Scirocco.  Nach  einer  halben  Stunde  hatte  ich  das 
forum  Trajani,  das  Colosseum,  den  Tempel  des  Friedens,  Constantins- 
bogen,  Vesta  Tempel  ftir  den  ersten  fluchtigen  Anblick  gesehen  und 
gerieth  im  Heimweg  in  der  Dftmmerung  auf  das  Kapitol,  das  ich  im 
Dunkeln  nur  an  der  Statue  M.  Aurels  erkannte.  Meine  Freunde,  da  wir 
nachher  gemeinschaftliche  Spaziergdnge  machten,  verwunderten  sich  nicht 
wenig,  da  ich,  wenn  sie  mich  nach  dieser,  jetzt  nach  jener  Ruine  fuhrten, 
fast  uberall  sagte,  habs  schon  gesehen,  und  doch  kaum  angekommen  war. 
Zuerst  fand  ich  den  wackem  Lieutenant  der  Landwehr  u.  Architekt  Rdmer 
im  Caf6  greco,  der  mein  hHufiger  Umgang  und  naher  Nachbar  ist, 
cine  gar  ehrenfeste  deusche  Natur,  ich  hatte  ihn  wie  er  euch  geschrieben 
in  Venedig  kennen  gelemt.  Bald  fand  sich  Miiller  mit  seiner  Gesell- 
schaft  u.  waren  manche  neue  Bekantschaften  gemacht,  worunter  be- 
sonders  Secretdr  Vollard,  dem  ich  empfohlen  war  u.  der  mich  sehr 
freundlich  in  seine  Familie  einftihrte.  Abends  gehe  ich  in  die  Ktinstler- 
Kneipe,  eine  wahre  Spelunke,  wo  die  liebe  Natur  zu  alien  Lochem  herein- 
pfeift,  der  nasskalte  Regen  durch  die  Thiire,  die  KMlte  aus  dem  steinemen 
Boden  eindringt,  aber  die  Unterhaltung  um  so  heiterer  ist  Gar  nette 
Leute  sind  da,  Reinick  von  Dusseldorf  (der  das  Liederbuch  mit  den 
allerliebsten  Zeichnungen  herausgegeben),^)  Schirmer  v.  Dtisseldorf,  ein 
liebenswtirdiger  Mann,^)  der  alte  Landschaftsmaler  Reinhard,^)  in  den  80, 
aber  so  rustig,  dass  er  jetzt  noch  in  dieser  kalten  Nisse  Sommerhosen 
trigt  u.  2  Flaschen  trinkt,  wo  wir  Jungen  Eine,  ein  Fels  von  Mann,  derb, 
poltemd  u.  eifriger  Protestant,  der  einst  zu  einem  Cardinal  auf  die  Frage: 
voi  siete  catholico?  sagte:  No,  grazie  h  Dio,  sono  protestante,  dabei  frei 
an  Geist  u.  ein  Verehrer  deiner  Ansichten,  1.  Strauss.  Auch  Rittmeister 
Maler  hat  mich  sehr  freundlich  aufgenommen.  Ich  miethete  mich  zuerst 
bei  einer  alten  Frau  nebst  Mops  ein.  Aber  das  Zimmer  gefiel  mir  wegen 
seiner  melancholischen  Farbe  in  die  Lange  nicht,  u.  dem  Mops  konnte 
ich  keine  moralische  Achtung  zollen,  da  er  nichts  als  fressen  und 
bellen  konnte  und  gar  keinen  Humor  hatte.  Ich  trat  daher  dieses  Logis 
dem  Dr.  C.  ab,  der  sich  nun  auch  hier  eingefunden  hat,  aber  durch 
seine  Hegelschen  Phrasen,  die  er  den  Kiaaflem  auf  den  Leib  wirft,  sich 
etwas  beschwerlich  macht,  u.  zog  in  ein  anderes  Logis  in  der  Nihe,  wo 
sich  eine  Katze  fand,  die  an  Herz  u.  Geist  vorzugliche  Eigenschaften 
vereinigte. 

In  der  ersten  schonen  Woche  machte  ich  Ausfluge  nach  Ruinen 
Villen  Punkten  schoner  Aussichten.  Das  Colosseum  sah  ich  besonders 
eines  Abends  in  wundervoll  warmer,  goldiger  Beleuchtung,  das  Blau  drang 
so  klar  zwischen  den  altersgrauen  Bdgen  hindurch,  die  Lichter  der  Abend- 


^)  R.  Reinick,  geb.  1807  zu  Danzig,  gest.  1852  in  Dresden. 

*)  Job.  Wilta.  Schirmer,  geb.  1807  in  JQlich,  gest  1864  in  Karlsrube. 

*)  J.  Chr.  Reinhard,  geb.  1761  bei  Hof  in  Oberfranken,  gest  1847  in  Rom. 


480  ^ 


Sonne  flossen  an  dem  Epheu  u.  andenn  Schlingkraut  wie  flussiges  Feuer 
nieder.  Fast  hdtte  ich  aber  mein,  nicht  mehr  junges,  Leben  eingebusst, 
da  wir  uber  einen  diinnen  Bogen  von  Backsteinen  in  bedeutender  Hdhe 
kletterten,  u.  ein  Stiick  unter  meinen  Fussen  in  die  gewaltige  Tiefe  mit 
dumpfen  Getdse  rollte.  Himmlische  Aussichten  auf  die  Campagna  habe 
ich  genossen.  Diese  weite  Oede  urn  Rom,  theilweise  von  den  Albaner 
und  Sabiner  Gebirgen  abgeschlossen,  an  den  iibngen  Punkten  als  un- 
endliche  Flache  sich  im  Horizont  verlierend,  bietet  ein  Farbenspiel,  einen 
bliulich  silbernen  Duft  der  Ferne,  der  den  Maler  entzuckt  u.  dem  Laien 
vielleicht  besser  als  irgend  ein  Fleck  der  Erde  sagt,  was  Schonheit  der 
Landschaft  sei.  Wenig  Mittel,  nichts  Bestechendes,  Alles  einfach,  aber 
Grosse  und  Stille  der  Gotten  Wer  einmal  die  Campagna  gesehen  hat> 
der  eilt  von  den  reichsten  und  glMnzendsten  Landschaften  Neapels  sehn- 
siichtig  zu  ihrer  melancholischen  Grosse,  ihrer  emsten  Einsamkeit  zurtick. 
Ja,  meine  1.  Freunde,  ich  lerne,  ich  leme  viel;  als  ich  kam,  war  mein 
Auge  noch  wie  ein  ungeschliffenes  Glas,  jetzt  fange  ich  an  zu  sehen. 

Die  Kunstwelt  Roms,  der  Statuen-Wald  des  Vatikans,  die  Stanzen 
u.  Loggien  Raphaels  eigne  ich  mir  in  kleinen,  aber  nahrhaften  Portionen 
langsam  an.  Es  ist  so  viel,  man  taumelt;  man  muss  sehr  di3t  leben. 
Endlich  wird  mir  Raphael  klar.  Ich  betrachtete  ihn  friiher,  weil  ich  ihn 
nur  von  dieser  Seite  kannte,  bios  als  religiosen  Maler,  und  allerdings 
steht  mir  noch  jetzt  seine  Sistinische  Madonna  in  Dresden  am  hochsten 
unter  seinen  Leistungen,  dieses  Wunder  der  Malerei,  an  das  ich  nicht 
ohne  die  tiefste  Riihrung  zurtickdenken  kann,  diese  hdchste  Vereinigung 
heiliger  u.  menschlich  naturgemMsser  Schonheit,  Spitze  und  Abschluss 
der  Malerei  des  Mittelalters.  Hier  in  Rom  lemt  man  nun  aber  Raphael 
erst  kennen  in  der  Composition  figurenreicher,  zu  einer  Handlung  ver- 
einigter  Gruppen;  wie  er  dort  als  Abschluss  der  Malerei  des  Mittel- 
alters steht,  so  hier  als  Beginn  der  historischen  Malerei,  wie  sie  nur 
der  neuern  Zeit  moglich,  aber  bisher  freilich  nicht  erreicht  ist,  besonders 
in  den  wundervollen  Tapeten.  —  Doch  genug  von  Kunst,  denn  wo  auf- 
horen,  wenn  ich  recht  anfienge? 

Der  Winter  macht  sich  beschwerlich.  Es  regnet  u.  regnet  immer, 
man  hat  bestandig  nasse  Fiisse,  u.  der  Italiener  ist  auf  den  Winter  gar 
nicht  eingerichtet,  auch  viel  hMrter  und  ausdauernder  gegen  Frost  u. 
ErkMltung  als  der  Nordl^inder.  Diess  wird  euch  paradox  scheinen:  aber 
es  ist  sehr  natiirlich.  Jede  Nation  schutzt  sich  so  viel  wie  moglich 
gegen  das  Uebel,  das  ihrem  Clima  eigen  ist,  und  macht  sich  durch  diese 
Schutzmittel  gerade  gegen  dieses  Uebel  empfindlich;  wir  verweichlichen 
die  Haut  durch  unsere  unsinnigen  Federbetten  und  andere  WSrmemittel, 
der  Italiener  fiirchtet  die  Hitze,  schtitzt  sich  vielmoglichst  gegen  sie,  sucht 
daher  besonders  das  Freie,  und  das  hSrtet  die  Haut  ab.  Alle  Deutschen 
und  andere  Nordlander  ertragen  die  Hitze  Italiens  leichter  als  den  kurzen 
italienischen  Winter,  der  Italiener  aber  klagt  wie  ein  Kind  tiber  massige 
Hitze  und  ertragt  die  nasse  KMlte  leicht.  Ich  sah  bei  empfindlich  kalt- 
feuchtem  Wetter  halbnackte  Kinder  auf  der  nassen  Chaussee,  indem  der 
Vater  daneben  arbeitete,  fest  schlafen,  sah  bei  Florenz  be!  ihnlichem 


481  8^ 


Wetter  einen  Mann  ganz  nackt,  bis  auf  einen  Bund  um  die  Hiiften, 
Schiffe  Ziehen  —  eine  ganz  plastische  antike  Erscheinung. 

Lebt  wohl  behaltet  mich  lieb,  furchtet  nichts.  Von  Terni  hieher 
kam  ich  zum  Theil  be!  Nacht  durch  die  verrufensten  Gegenden,  wo 
gegen  die  RSuber  Militarposten  von  Punkt  zu  Punkt  an  der  Strasse 
postirt  sind,  die  beiden  Pfaffen  standen  grosse  Aengsten  aus,  wdhrend 
ich  mit  dem  Federhdndler  auf  dem  Bock  getrost  meine  Cigarre  rauchte. 
Ich  gehe  an  keinem  gewaltsamen  Ungluck  zu  Grand,  sondera  stolpere 
fiber  einen  Strohhalm.  —  Den  Papst  sah  ich  in  den  ersten  Tagen.  —  Addio. 
Rom  d.  5.  Decbr.  1839. 


W  ih>W  i^W  i^W  i^W  ihtW  IK9  I K9         f^W^W^wW^wW^wW^wW^wV  nJ9  I^V  IK 


©er  yi)ifofopl)  flrebt  t)on  ber  grofen  »er^fi0ten  ©eflalt^  bie  in  ber 
dlatnx  ali  Hjx  gefegmdfiged  SQefen  t)fr6orgen  ift,  tin  }ufammen^dngenbfd 
@tfi(f  au^jugraben  ober  bie  ganje  $igur  in  i^ren  Umriffen  ju  ffii)[fn;  ber 
92aturforfd)er  ifl  mit  jebem  aufgebecften  unt)erflanbenen  Q9rud)fi&cf  jufrieben^  ob 
ed  mit  ben  anbern  3ufammeni)ang  t)abe  ober  nid)t,  wenn  ed  nur  wirffid)  ifl. 

dditt  ®ebanfen  flrimen  f^txtyox  n>ie  iat>a  aui  bem  9erg.  @ie  bringen  bie 
^drme  einer  unbefannten  $iefe  mit  fi(^. 

®enn  wir  in  unfere  9)7afd)inen  Urtei(toerm6gen  einfe$en  finnten^  wArben 
SRenfd^en  aui  it)nen;  wenn  wir  ti  aui  ben  Organidmen  ^eraudnei)men 
f6nnten^  wirben  9Rafd)inen  baraud.  T^ai  erflere  f6nnte  man  (Id)  audmalen, 
bad  }n>eite  nidjt.  Sie  aRed)anifien  aber  ^alten  bai  }n>eite  nid)t  nur  f&r 
mbilidf,  fonbern  fogar  f&r  wirflid). 

©er  ^^ilofop^  begreift  me^r,  ali  er  betoeifen  fann,  ber  SRaturforfd^er 
erforfd^t  metix,  ali  er  begreifen  fann;  ber  eine  ijat  me^r  SinfTc^t,  ali  fein 
Serflanb  betodftigen  fann^  ber  anbere  me^r  ^enntntffe,  ali  fein  Serflanb 
bejwingen  fann. 


482 


£er  9Bfg  ber  9Btffenfd^aft  ge^t  ntc^t  burc^  tfattt  Stbpft  iiinbnxdj,  fonbem 
an  t^nen  wtbtu 

3it  bem  9R{9t)rr^&[tntd^  weld^ed  jtDtfc^en  ber  utiftberfe^baren  WtttiQt  t^oti  Sat^ 
fa(f)en  6eilei)t^  bit  toiv  )u  $age  gef6rbert,  unb  bem  aRititmum  t)on  {utreffenber 
ti)eoreHfci)er  (SxUnntnU,  bte  n>ir  ffir  biefe  $atfa(f)eti  aufge6ra(f)t  ^abeti^  mirb 
fid)  ffir  unfere  9Ia(4fommeii  bad  fOti^uxtjiltnii  unferer  Tlvbtitittaft  ju  unfent 
Serfianbedfrdften  mit  etner  gerabeju  (dd)er[t(^en  '^tutlidjUit  audfprcc^cti. 

(Sd  tfl  tttoa^  fDttTtto&xhi^ti  urn  fo  etn  ferttged  Zitv,  bad  fetttc  gan)e  ^d^uU 
btlbung  tm  fRutterletb  bur(4gemad)t  tjat  unb  nun  ntc^M  wetter  brand^t^  aM 
feine  ^d^igfettett  fptelen  }tt  laffett  unb  fidi  unb  feine  Heine  98eft  (u  gentcfen. 

£ie  IGBeltgefc^tcf^te  mac^t  ed  n>te  unfere  9auem:  wcnn  ffe  ^ferbe  nid^t 
tfahtn  tanrt,  fpannt  fie  Oc^fen  etn. 

Urtetle  &6er  9)7enf(f)en  unb  Singe  ber  SBeft^  bte  ale  ^tlber  in  nnd 
(tegen  unb  fo  t>itl  3n>etge  l^aben^  ali  tin  9aum  SBurjeIn  ^at  unb  ebenfo 
langfam  gewacftfen  f[nb  n>ie  ein  folcfter,  (affen  fic^  nic^t  in  einem  Sprung 
aui  einem  £opf  in  ben  anbem  t)erpf[an}en. 

2a0t  i^nen  aOen  bie  ^rei^eit  )u  fcftaffen  unb  and  iidit  ju  fommen, 
ben  Qegabten  n>ie  ben  Unbegabten,  ben  ®ef(^eiten  n>ie  ben  Dummen,  ben 
SBem&nftigen  wie  ben  92arren.  (Siner  mirb  ed  babei  boc^  immer  am 
^drtefien  ^aben,  burd^jufommen :  bad  ®enie. 

%iit  tyitlt  finb  Jtirc^en  nur  Serfic^erungdgefeOfc^aften  gegen  UnfdOe  im  3enfeit^« 

SOdrme  unb  Adlte  unferer  SBeft,  if)r  iid^t  unb  it)re  Sunfel^eit  ge^eit 
t^on  unferem  ^ttitn  and.  ®ie  felbfl  liegt  brau^en  in  i^rem  unt)erdnber(i<^ni 
98ert^  in  i^rem  en>igen  ^reiben  unb  i^rer  en>igen  ®[eid^gjl[figfeit  gegen  ntid. 

(Si  gibt  feine  materieKe  Wladft,  totldit  ben  ffttlid^en  Wlhdittn  &ber  ben 
Aopf  wad^fen  titintt,  otfnt  ben  Untergang  i^rer  felbfl  k>oriubereiten. 

HOilrbe  ifi  ein  golbener  ®atte(^  ber  jebem  <^el  aufgelegt  n>erben  faun. 

Sad  98eib  t)erbirgt  feine  (Snoartungen  unb  Smpftnbungen  nic^t  nmr 
nac^  augen^  fonbem  aud)  t)or  fic^  felbfl.  ®ie  fhra^Ien  nur  bem  ^A^Ienben 
k>emei)mbar  and  feinem  SBefen  iitxwx,  ahtx  fein  3Bort  beril^rt  ffe.  2)a« 
ifi  nid)t  blo^  ec^te  9Qeib(td)feit^  fonbem  bie  Hxt  aUtx  Slaturen^  unb  ben 
aRenfc^en  aUer  Staffen  eigen,  totld)t  empftnben.   Siefe  wortlofen  0ef&^le 


483 

rebfit  in  ^Itcf  unb  Hu^htud,  in  ®ang  unb  ©ebdrbe  cine  feint  Sprac^e  imb 
ftnb  bad  foflbarfle  ®nt  bed  9)lenf(f)en^  fein  innered  Seben^  ber  9I&t|r6oben 
aOer  A&nfle^  fein  ©Ificf  unb  feine  ®r6ge.  @ie  finb  bad  ®e6iee  feiner 
mdrmften  @infamfei^  feiner  grigten  SQeltempfinbung;  fte  finb  bie  t)6(^flc 
^iitte  ber  SBelt,  w&rbig  aU  ber  Seranflaltungen,  weld^e  in  beren  (Sntwid^ 
(ung  auf  (te  abjielen.  9)lenfd)en^  n>e[d)e  biefe  SOBdrme,  biefe  Serfc^dmt^eit^ 
biefed  innere  iid^t  gan)  uxlovtn  unb  burd)  einen  faften  Serflanb  erife^t 
baben^  i^abtn  i^re  fRatut,  t)abtn  ben  2(be(  bed  SRenfc^en  t)er(oren. 

SBenn  TltUit  bent  fD^enfd^en  nic^t  me^r  3nt  Id^t^  )u  fi(^  fe(b|l  }tt 
tommtn,  tytvaxmt  {te  ii)n  unb  feine  Aultur.  Siefe  ®efabr  bringen  aUe 
SBillendmenfc^en  unb  ^t)6[fer  Hdj  unb  anbern* 

Unter  ben  mannigfaltigen  Sielen^  bie  fidf  ber  Sb^geij  Htdt,  ift  andf 
ein  feltened:  einer  gro0en  9Ba^rbeit  gegenikber  ber  einjige  9tarr  in  ber 
SBeU  }tt  fein,  ber  (ie  nid^t  glaubt. 

®ie  wiirben  nic^t  mit  bem  falfc^en  ®elb  ber  J^bflidfttit  }ufrieben  fein,  wenn 
fie  ft(^  bad  tdfte  &etb  ber  Sfc^tung  t)erbtenen  f6nntem 

@ie  flinb  k>om  ®(f)u^  bid  jum  ^nt,  k>on  ii)rer  fD^einung  fiber  biefe  bid  ju 
ibrer  SReinung  fiber  ®ott  bad  SBerf  3Cnberer  unb  bfinfen  ffc^  bodf  ganje 
«eure. 

®tarfe  3nbit)ibua[itdten  ffnb  wiberfpenfiig  gegen  Srjiebung/  weil  ffe  f(f)on 
einen  @r)ieber  in  Hdf  tiabtn,  ber  bem  }n>eieen  n>iberf))rid)t 

@o  ifl  ed:  bad  (alte  ®e(b  enodrmt  t^re  ®ee(en,  unb  bie  todrmfle  Snnft 
Id^t  ffe  fait 

£er  moberne  fOlenfd)  t)at  feine  Jtirperoberfldd^e  fo  fe^r  t)ergeffen,  ba& 
t^m  feine  Aleiber  beffer  gefallen  aid  feine  .Oaut 

!!Bad  bie  SRenfc^en  ®Ifi(f  nennen,  ifl  bad  ®emetnfle  am  teben,  ben 
8liebertrdd)tigflen  am  ietd^teflen  erreic^bar. 

Sad  ifl  bein  t)on  ber  98elt,  n>ad  bu  in  beiner  Qrufi  fammelfl  unb  warm 
^dlrfl  t)on  it)x.  @ie  weif  ni(f)td  t)on  beinem  @d)a$,  fie  fd)eint  fait  gegen 
t^n  )u  fein,  aber  fte  \)at  eine  Unenblid)feit  foI(^er  ®(^d$e  in  flc^. 

(Sin  Wttnidf  obne  ^b^^n^^fte  ifl  tt>ie  ein  ©umpf.  Z)er  @tein,  ben  bu  ^tnein^ 
toirffi,  erjeugt  feine  SQeOien* 


484  JK- 


£er  f(f)(immfle  aUtv  Jtunfl  tH  etn  nnbeSdftittntv  Serflanb/  ber  il^re 

@ffe$f  bfffer  fennen  n>ta  aH  fie  felbll. 

gtbt  tm  ©eelenleben  bed  aSenf(i)en  fetne^  Itebltd^e  Stnge^  bie  fo  {art 
finb/  ba^  fie  {eril6rt  toerben,  n>enn  man  fie  mit  SBorten  beri^rt 

®ttoot)niitit  tfl  bie  Argfle  ^etnbtn  ber  f&nfllertfc^en  SBa^r^eit 

aRan  benft  ftd^  ben  ^rtefler  ber  itunfl^  ber  SBtffenfc^afe  ober  ber  Steligton 
fo  fe^r  in  feine  tbeafe  SBelt  t)erfunfen,  ba^  t^m  bie  nu$en6ringenbe  toirflictie 
barftber  ganj  t)er[oren  ge^t;  in  SQa^r^eit  aber  tytvQtfftn  bit  meifien  t)on 
t^nen  nid)t  biefe,  fonbem  jene. 

2)er  fid^erfle  SQeg,  an  bem  geifligen  3n^a(e  eined  Jtunfhoerfd  t)orbei{uget|en^ 
tfl:  ba^  man  juerfl  ben  Serflanb  }u  it)m  ^infd)icft. 

(ommt  eine  3^it  in  unferem  Seben^  in  midget  toix  mit  Hditln  auf 
nnfere  eigene  Sergdng(id)feit  t}erab6K(fen  nnb  ben  Sag^  an  bem  fte  fiA 
erfilDen  n>irb^  nid^t  f&r  n>id^ttger  a(f)ten  aid  benjenigen^  an  bem  irgenb  etn 
befcfjeibene*  ffeined-^ier  fein  (5nbe  erieibet  (Si  ift  bie  3«t,  in  ber  wir 
und  fo  eief  in  bad  unaud[ifci)Iid)e  Seben  ber  SQeU  ^inein  empfunbcn  ^aben^ 
baf  n>ir  &ber  ber  ffeinen  Srauer  unfered  Sobed  bie  nnenblicfte  «Oeiterfeit 
en>igen  Sebend  fhafy(en  ful)Ien. 


T^S^      ^HS^^^f^^HS^^^S^^^S^^HS^^^S^^^S^  ^tf^      ^^SS  ^HS^^HS^  ^^fS 


Carl  Spitteler. 

Ein  kunstlerisches  Erlebnis 
von  Felix  Weingartner  in  Miincben. 

Ein  junger  Komponist?  —  Ein  aufgetauchtes  Dirigentengenle?  — 
Am  Ende  gar  der  Titel  einer  neuen  realistischen  Oper?  —  So  werden 
vielleicht  viele  Leser  fragen,  wenn  sie  Oberschrift  und  Verfasser  dieses 
Aufsatzes  nebeneinander  sehen.  Nein,  meine  Verehrten,  diesmal  handelt 
es  sicb  nicbt  um  Musik,  wenigstens  nicht  um  solche,  die  durch 
Notenkdpfe  darstellbar  ist,  sondern  um  einen  Dichter,  und  zwar  um 


-e^    485  ^ 


einen  sehr  grossen.  —  Wie  kommt  aber  der  Musiker  dazu,  daruber  zu 
schreiben?  —  Ja,  sehen  Sie,  wenn  ein  Dichter,  der  eine  betrSchtliche 
Anzahl  Werke  von  allerhdchstem  Werte  gescbaffen  hat,  beinahe  das 
sechzigste  Lebensjahr  erreicht,  und  sein  Name  nicht  nur  iin  grossen 
Publikum,  sondem  auch,  mit  Ausnahme  etwa  seines  engeren  Vaterlandes, 
der  Schweiz,  in  Kreisen,  die  in  der  zeitgendssischen  Litteratur  gut  Be- 
scheid  wissen,  fast  unbekannt  ist,  so  ist  es  schliesslich  nicht  zu  ver- 
wundem,  wenn  es  sich  in  der  benachbarten  Schwesterkunst  regt,  und 
ein  Musiker  die  Eindrucke  mitteilt,  die  er  Carl  Spitteler,  dem  Dichter 
verdankt.  Mehr  will  ich  auch  nicht  versuchen.  Ich  will  nicht  kritisieren, 
nicht  polemisieren,  will  Spitteler  mit  keinem  andem  lebenden  Dichter 
vergleichen,  was  ich,  nebenbei  bemerkt,  auch  nicht  konnte,  will  keine 
gelehrte  Abhandlung  schreiben,  will,  mit  einem  Wort,  sehr  unlitterarisch 
verfahren.  Nur  Anregung  will  ich  geben,  die  Biicher,  von  denen  im 
weiteren  die  Rede  sein  soil,  zu  lesen,  aus  dem  einfachen  Gninde,  weil 
ich's  Menschen,  die  mit  einer  Seele  begnadet  sind,  von  Herzen  gonne. 

Es  war  im  Sommer  1901,  als  ich  auf  dem  Bahnhof  in  Aussee 
das  gerade  angekommene  Morgenblatt  der  ,Neuen  freien  Presse*'  kaufte. 
Merkwiirdiges  Spiel  des  Schicksals!  Hatte  ich  einen  andern  der  zahl- 
reichen  Sommerzuge  benutzt,  oder  einen  gedankenlosen  Griff  nach  einem 
andem  Zeitungsblatt  getan,  so  wSre  mir  einer  der  grossten  und  be- 
deutendsten  Kunstgenusse  meines  Lebens  vielleicht  noch  auf  Jahre  hin- 
aus  vorenthalten  geblieben,  denn  in  keiner  einzigen  Zeitung  bin  ich 
dem  Namen,  den  ich  an  diesem  Tage  kennen  lemte,  wieder  begegnet, 
bis  mich  vor  kurzem  das  Interesse  antrieb,  das  wenige  auszuforschen, 
was  bisher  iiber  seinen  Trager  geschrieben  worden  ist. 

Das  betreffende  Blatt  der  «Neuen  freien  Presse**  enthielt  einen 
»Hera,  die  Braut*'  betitelten  Artikel  des  bekannten  Bemer  Dichters  und 
Schriftstellers  J.  V.  Widmann,  der  so  beginnt:  «Die  anonyme  Dichtung 
,Primavera  Olimpica^  (Olympischer  Friihling),  die  Professor  Gagliardi 
im  Palazzo  Piccolomini  in  Siena  neulich  entdeckt  hat,  diirfte  derselben 
Zeit  angehdren,  in  der  Domenichino  sein  beruhmtes  Bild  ,Die  Jagd  der 
Diana^  schuf  (Galerie  Borghese,  Rom).  Wenigstens  strahlt  uns  aus  dem 
nun  auch  im  Druck  zug^inglich  gewordenen  Manuskript  dieselbe  Freude 
an  den  schonen  Gestalten  der  griechischen  Gdtterwelt  entgegen,  der  die 
blendenden  Reize  jenes  GemMldes  ihren  Ursprung  verdanken."  Es  folgt 
eine  kurze  Inhaltsangabe  und  zwei  Zitate  von  wundervoUen  deutschen 
Versreihen.  Widmann  fMhrt  nun  fort:  »Ich  fiihle,  dass  ich  hier  von 
den  Lesem  unterbrochen  werde,  und  zwar  mit  der  sehr  berechtigten 
Frage:  ,Bitte!  Von  wem  ist  denn  die  sprachlich  so  originelle  deutsche 
Ubersetzung  des  italienischen  Epos?  Die  ist  ja  an  und  fur  sich  ein 
Kunstwerk.  Etwa  gar  von  Ihnen?^  ,Ach!  Leider  nein!^  muss  ich  der 
Wahrheit  gemSss  und  zerknirscht  antworten,  und  meine  Verlegenheit 
wflchst,  indem  ich  mir  nicht  verhehlen  kann,  dass  mit  dieser  Unter- 
brechung  meine  ganze  Fiktion  zusammenfillt.*'  —  Er  gesteht  nun,  dass 
es  weder  einen  Professor  Gagliardi,  noch  eine  Primavera  Olimpica  gibt, 
dass  aber  die  gezogene  Parallele  ruhig  bestehen  konne,  wenn  man  statt 

SQddeutscbe  Moiuitsbefte.   1,6.  32 


486  8^ 


,Jagd  der  Diana**  von  Domenichlno  «Spiel  der  Wellen**  von  Arnold 
Bdcklin  setzt,  und  statt  der  Primavera  Olimpica  eines  fingierten  italieniscben 
Dichters  der  Renaissance  das  bei  Eugen  Diederichs  in  Leipzig  1900  und 
1901  erschienene  epische  Gedicht  .Olympischer  Fruhling*  von  Carl 
Spitteler,  einem  in  Luzem  lebenden  Landsmann  Bdcklins. 

Warum  er,  Widmann  nimlich,  so  ^rafSnierf*  gelogen  babe?  Die 
Antwort  gibt  er  uns  sofort  selbst:  «Man  darf  doch  anstindigerweise 
deutschen  Lesem  nicht  so  wie  aus  den  Wolken  herab  mit  einem  lebendigen 
deutschen  Dichter  —  vollends  mit  dem  Anachronismus  eines  Epikers! 
—  ins  Haus  fallen,  man  muss  sich  ihrer  Wohlgeneigtbeit  erst  dadurch 
versicbem,  dass  man  ihn  mit  einem  auslftndischen  Geschmicklein  und 
Wurzgeruch  parfumiert  und  ihm  die  interessante  Blisse  der  Lingst- 
verstorbenheit  gibt."  —  Welch  glucklicher  Schachzug  Widmanns,  das 
Interesse  des  Lesers  von  vomherein  zu  gewinnen,  aber  auch  welch  feiner 
und  herber  Stich  auf  den  Geschmack  des  deutschen  Publikums,  das 
schlechten  Obersetzungen  auslindischer  Romane  zu  zahlreichen  Auflagen 
verhilft,  wertvolle  deutsche  Dichtungen  aber  skeptisch  ignoriert,  bis  der 
Verfasser  gestorben  ist,  und  sie  mitunter  auch  dann  nicht  liest. 

Der  genannte  Artikel  war  fur  mich  die  Veranlassung,  das  so  geist- 
reich  empfohlene  Werk  sofort  zu  kaufen.  Die  beiden  missig  starken 
Bftnde  trugen  neben  dem  gemeinsamen  Titel  »01ympischer  Fruhling* 
die  Untertitel  »Die  Auffahrt,  Ouverture"  und  «Hera,  die  Braut**.  Als 
ich  einmal  begonnen  hatte  zu  lesen,  wurde  es  mir  schwer  aufiuhdren; 
ndtigten  mich  dann  iussere  UmstMnde  dazu,  so  konnte  ich  es  kaum 
erwarten,  das  Buch  wieder  zur  Hand  zu  nehmen.  Schliesslich  zwang 
mir  die  Oberfulle  des  zu  Empfangenden  ein  ruhigeres  Lesetempo  auf. 
Bilder  auf  Bilder  zauberte  der  Dichter  vor  mein  geistiges  Auge  mit  so 
handgreiflicher  Deutlichkeit,  dass  ich  meinte,  sie  malen  zu  mussen,  und 
mit  so  tiberzeugender  Kraft,  dass  ich  sicher  wusste,  sie  nle  vergessen 
zu  konnen,  obwohl  ich  nichts  Ahnliches  fruher  kennengelernt  hatte. 
Zwar  waren  es  bekannte  Namen,  die  ich  las:  Hades  zunichst,  dann  die 
Sibyllen.  Sie  sprachen  von  Hera,  vom  Olymp,  von  Kronos.  Spflter 
tauchten  aus  dem  anfinglich  summarisch  behandelten  Gdttergeschlechte 
andere  vertraute  Gestalten  auf,  Zeus,  Apollon,  Aphrodite,  Poseidon  und 
die  ubrigen  Grossen  und  Kleinen  des  griechischen  Mythos.  Aber  was 
sie  taten  und  erlitten,  war  neu,  ganz  neu,  unerhdrt  neu  vom  Anfang 
bis  zum  Ende.  — 

Zur  Unterwelt  fuhrt  uns  der  Anfang  der  Dichtung;  Hades,  ihr 
Gebieter,  bewahrt  und  bewacht  die  Gotter  der  Zukunft,  die  in  schlaf- 
ihnlichem  Zustande  der  Zeit  barren,  da  ihnen  bestimmt  ist,  die  Herr- 
schaft  der  Oberwelt  anzutreten.  Ein  Bote  meldet  den  Sturz  des  Kronos 
und  seiner  Anhdnger.  Dies  ist  der  erwartete  Augenblick.  Hades  weckt 
die  Schlafumfangenen  und  versammelt  sie  in  der  Tempelhalle.  Dann 
richtet  er  die  feierliche  Frage  an  sie: 

^Brfider,  —  erst  bekennt  den  Namen 
Des,  der  dem  Leibe  Leben  leiht  und  Saft  dem  Samen, 


487  8^ 


Dem  alles,  hocta  und  niedrig,  knechtiscta  untertan, 

Gdtter  und  Menschen;  der  nach  seinem  flnstern  Plan 

Der  Sterae  L^uf  besHmmt  und  der  Gedanken  Gang.* 

Er  sprach's.   Und  Antwort  gab  ein  Murmeln  ernst  und  bang: 

Sein  Name  taeisst  Ananke,  der  gezwungene  Zwang.* 

Mit  dieser  Antwort  ist  der  Grundton  der  ganzen  Dichtung  gegeben. 
Dieser  Grundton  ist  pessimistisch,  denn  wo  Ananke,  die  unerbittliche 
Notwendigkeit,  alles  Lebende  beherrscht,  da  gibt  es  von  Leid  und  Qual 
kein  Entrinnen.  Darin  deckt  sich  die  Weltanschauung  unseres  Dichters 
mit  der  der  Griechen.  So  wie  aber  diese  nicht  zur  Verleugnung  des 
Daseinswertes,  zur  Askese,  gelangten,  wie  die  buddhistischen  Inder, 
sondem  die  das  Leben  hemmenden  Einflusse  mit  Kraft  und  Schdnheit 
zu  bezwingen  suchten,  und  der  Daseinsfreude  ebenso  ihr  Recht  liessen, 
wie  dem  Schmerze,  so  predigt  uns  auch  die  vorliegende  Dichtung  trotz 
ihres  Pessimismus  nicht  von  Entsagung,  sondem  entfaltet  die  Phinomene 
des  Lebens  in  uppigster  Bltite.  Wir  erleben  Greuel  und  Frevel  in  riesigem 
Massstabe,  denen  sich  hochherzige  Gute  entgegenstellt,  aber  auch  Lust 
und  Schdnheit  sttirmen  mit  einer  Unblndigkeit  auf  uns  ein,  die  ein 
Empfinden,  das  im  modemen,  vielfach  auf  nivellierender  Ubereinkunft 
beruhenden  Leben  herangewachsen  ist,  vielleicht  erschauem  Idsst,  bevor 
es  sich  dem  vollen  Entzticken  hingeben  kann.  Besser,  im  heutigen 
moralischen  Sinne,  waren  die  Griechen  gewiss  nicht  als  wir,  aber  freier 
waren  sie,  schdner,  stSrker  und  aufrichtiger  in  alien  Ausserungen 
ihres  Wesens;  sie  waren  Ganz-Naturen  im  Guten  wie  im  Bosen.  Darum 
blieb  auch  nach  zwei  und  einem  halben  Jahrtausend  den  auf  uns  ge- 
kommeq|m  Wirkungsresten  dieses  herrlichen  Volkes  so  viel  Lebenskraft 
bewahrt,  dass  sie  der  Jungbrunnen  geworden  sind,  von  dem  bis  in  feme 
Zeiten  schaffenstrunkene  Naturen  um  so  begieriger  trinken  werden,  je 
mehr  gewisse  Richtungs-Menschlein  glauben,  uber  die  „verstaubte  Antike*^ 
die  Nase  rumpfen  zudurfen.  Diese  begreifen  nicht,  dass  niemals  veralten 
kann,  was  das  Ewigtypische  der  Welt  zu  packen  und,  sei  es  im  grossen 
Oder  kleinen,  darzustellen  wusste,  und  dass  nur  das  Halbe,  das  Angepasste 
seine  Eindmcksfihigkeit  verliert,  sobald  die  Zeit  mit  ihrer  Geschmacks- 
richtung  vorbei  ist,  fiir  die  es  gerade  gemacht  war.  Unsterblich  aber 
vor  alien  andem  werden  die  Griechen  bleiben,  denn  niemals  ist  die 
menschliche  Natur  auf  eine  solche  Hohe  erhoben  worden,  als  in  den 
Jahrhunderten,  da  dieses  Volk  in  der  Blute  seiner  Entwicklung  stand. 
Unser  Vollkommenheits  -  Ideal  ist  damals  geboren  worden,  das  kein  im 
Namen  der  gdttlichen  Liebe  geftihrter  Schwertstreich  und  kein  Fluch 
von  bleichen  Busserlippen  ausroden  konnte.  Entrang  sich  damm  der 
Phantasie  eines  Dichters  eine  Welt  von  Ubermenschen,  oder  wie  es  in 
einem  Luzemer  Blatt  fiber  Spittelers  Werk  treffend  heist:  „ein  weiter  ent- 
wickeltes  Menschengeschlecht  mit  hervorragenden  Edeltypen,  Menschen 
von  kraft-  und  hoheitsvoller  Erscheinung,  voll  physischer  StMrke  und 
selbstfrohen  Kraftgefuhls",  so  waren  dies  von  selbst  schon  Griechen, 
bevor  noch  der  erste  Vers  geschrieben  war,  denn  nur  als  solche, 
wenn  ich  so  sagen  darf,  im  griechischen  Milieu,  konnten  die  Gestalten 

32* 


488 


jene  Grosse,  Wahrhaftigkeit  und  von  aller  Convention  freie  Plastik  ge- 
winnen,  die  Spitteler  ihnen  gegeben  hat 

Auch  das  landschaftliche  Element  der  Dichtung  blieb  davon  nicht 
unberuhrt.  Zwar  merkt  man  hier  in  zahlreichen  Bildern  und  Vor- 
gingen,  dass  Spitteler  Schweizer  ist  und  zu  deutlichster  Anschaulich- 
keit  voD  dem  angeregt  worden  ist,  was  ihn  am  nichsten  und  haufigsten 
umgab.  Er  gleicht  hierin  jenen  naiven  Malern,  die,  ohne  Riicksicht  auf 
das  Historische,  Romer  und  Judier  im  Kosttim  der  damallgen  Gegenwart 
und  in  der  Umgebung  ihres  Wohnorts  darstellten.  Aber  uber  diesen 
Fluhen  und  Matten,  die  Spitteler  uns  schildert,  auf  diesen  Gipfeln  und 
Schroffen  weht  die  dunstlose  Luft  des  Stidens,  liegen  die  Farben,  der 
Glanz  und  die  unvergleichliche  Perspektive  der  meerumspulten  klassischen 
Eilande.    Dies  ergibt  Stimmungen  von  ungewdhnlicher  Leuchtkraft. 

Auffallen  muss,  dass  Spitteler  ein  antikes  Versmass  vermieden  hat. 
Ist  es  nicht  seltsam?  Goethe  wahlt  fur  sein  kleinburgerliches  « Hermann 
und  Dorothea*  den  Hexameter  und  ruckt  dadurch  den  Stoff  in  die  Feme, 
indem  er  ihm  gleichzeitig  ein  dem  Epos  angemessenes  monumentales 
Geprige  verleiht.  Spitteler  schenkt  uns  griechische  Gdttermarchen  in 
sechsftissigen  Jamben,  und  gewinnt  durch  die  unserem  Gefuhle  vertrauten 
paarweisen  Reime  fur  den  femen  Stoff  die  trauliche  Nahe  und  WMnne. 
Torheit,  dem  Dichter  die  Wahl  dieses  Versmasses  zum  Vorwurf  zu 
machen,  weil  es  zu  holperig,  oder  gar,  weil  es  nicht  mehr  zeitgemiss 
sei!  Es  kommt  doch  wahrhaftig  verschwindend  weniger  darauf  an,  in 
wefchem  Versmass  ein  Gedicht  verfasst  ist,  als  darauf,  dass  die  Verse 
gut  sind.  „Diese  harten  Alexandriner  ^)  sind  weder  so  kriftig,  noch  so 
itherisch,  dass  sie  Gotter  tragen  konnen,  es  sind  rumpelnde  (!)  Streit- 
vagen  fur  pelasgische  (!)  Ritter^S  lese  ich  in  einer  Kritik.  Nun  hdre 
man  den  Hymnus  der  aus  dem  Hades  aufsteigenden  Gdtter  an  die  Sonne, 
die  sie  zum  erstenmal  erblicken: 

«Wer  hist  du,  hohes  Wesen,  freundlich  und  erUucht, 
Das  Berg  und  Tal  zumal  in  goldnen  Frotasinn  taucht? 
Vom  Himmel  fern  in  stolzer  Abgeschiedenbeit 
Malat  du  das  Weltall  mit  geschmolzner  Seligkeit, 
Erfullst  mit  sussem  Inbalt  den  verdrosanen  Raum 
Und  Schein  und  Wesen  einigst  du  versdbnt  im  Traum. 
Mit  welchem  Gruss  und  Namen  soli  iota  dir  begegnen? 
Ich  weiss  ea  nicht,  doch  deine  Werke  lass  mich  segnen.* 

Rumpelnde  Streitwagen  fur  pelasgische  Ritter! !  Es  mag  ja  aller- 
dings  recht  bequem  sein,  sich  aus  isthetischen  oder  kunsthistorischen 
Lehrbuchem  einige  UrteilsbegriflTe  zusammenzuschachteln  und,  was  da 
nicht  hineinpasst,  mit  geistreich  sein  sollenden  Phrasen  abzutun,  aber 
solche  Art  von  Kritik  muss  eben  gewSrtig  sein,  bei  Gelegenheit  wieder 
kritisiert  zu  werden.  Zu  diesen  Schachtelurteilen  gehdrt  auch,  dass  sich 
heutzutage  kein  Mensch  mehr  fur  Mythologie  interessiere.  Ich  kdnnte 
da  eine  schneidige  Bemerkung  Spittelers  aus  einem  seiner  Vortrige 


^)  Die  Bezeichnung  ^Alexandriner*  ist  nur  zum  kleinsten  Teil  richtig.  Der 
Alexandriner  hat  nach  der  6.  Silbe  eine  Ciaur,  die  bei  Spitteler  aehr  selten  yorkommt. 


1 


^   489  8^ 


uber  das  Epos  zitieren,  unterlasse  es  aber  und  sage  einfach:  wer  sich 
nicht  dafur  interessiert,  ei  zum  Teufel,  der  soil  doch  davonbleiben.  Die 
Sbrigen  befinden  sich  dann  wenigstens  in  besserer  Gesellschaft.  Doch 
halt  —  ich  versprach,  nicht  polemisch  zuwerden,  will  also  diese,  meinem 
Wahrheitsbediirhiis  entspringende  Neigung  fortan  in  ein  verschwiegenes 
Kimmerchen  meines  Herzens  verbannen. 

Hier  mdchte  ich  den  Leser  aufmerksam  machen,  dass  bei  Spitteler 
Wortbildungen  und  -anwendungen  zu  finden  sind,  die  iiberraschen. 
Da  ich  die  Ansicht  vertrete,  dass  das  Ungewohnte  keinesFalls 
schlecht  sein  musse,  so  rate  ich,  auch  hier  zu  prufen,  welcher  Sinn  in 
dem  Worte  stecke  und  ob  nicht  gerade  an  der  betreffenden  Stelle  jedes 
andere  Wort  unangebracht  wire.  Z.  B.  Den  Gottem,  die  den  Erebos 
verlassen  woUen,  schwirren  unzihlige  Listervdgel  entgegen,  ein  elendes 
Sumpfgeziicht,  das  jeden  in  den  Kot  Ziehen  will,  der  nicht  mit  ihm 
klappert  und  plappert.  Als  sie  ihren  giftigen  Unrat  nach  den  Gottem 
speien,  sagt  Hades  von  ihnen: 

Sie  wiirden  namlich  ohne  jegliches  Bedenken, 
Glaubt  mir,  wenn  ich  nicht  wire,  euch  zu  Boden  s  tan  ken. 
Jemand  meinte  tadelnd,  es  musse  ^stinkem**  heissen,  was  jedoch  eine 
ganz  andere  Bedeutung  hitte.  „Er  stinkt  etwas  zu  Boden**  (oder  will 
es  wenigstens)  kann  man  von  einem  kleinlichen,  rachsuchtigen,  perfiden 
Gegner  sagen,  der  nachher,  im  Falle  des  Misslingen,  es  mit  dem 
^stankem"  versucht.  —  Von  einem  Geier  sagt  der  Dichter: 

Dachauf,  dachab  vom  Giebel  bis  zum  Zinnenkranze 
Hump  Ft'  er  umher  in  schauerlichem  Klauentanze. 

nHumpfen**,  weder  „hiipfen"  noch  ^humpeln**,  gibt  die  unheimlichen 
Bewegungen  des  Leichenvogels  mit  onomatopoetischer  Kraft  wieder.  — 
Die  Bergbiche,  die  Poseidon  aufwirtszwingen  will,  lisst  er,  ihm  zum 
Trotz,  ihre  Gewisser  frech  zu  Tale  «schneuzen*;  ein  guter  Ausdruck 
fur  die  schnaubenden  Wasserfille  der  Alpen.  Den  Sonnenwagen  des 
Helios  nennt  er  ein  ^^Schdngetum",  d.  h.  Riesengrosse  mit  Schdnheit 
vereinigt,  im  Gegensatz  zum  hisslichen  „Ungetiim".  Auch  schweizerische 
Dialektwdrter  wird  der  Kundige  herausfinden,  die  mit  wenigen  Silben 
mehr  sagen,  als  lange  Umschreibungen. 

Im  folgenden  habe  ich  nicht  die  Absicht,  den  Inhalt  genau  zu  er- 
zihlen.  Das  hiesse  dem  Leser  des  Werkes  eines  der  schdnsten  Gefuhle 
bei  der  ersten  Lektiire,  die  erwartungsvolle  Spannung,  vorwegnehmen. 
Obrigens  sei  gleich  bemerkt,  dass  der  Genuss  beim  zweiten  Lesen, 
wenn  man  »weiss  was  kommt*",  nicht  etwa  geringer  wird.  Im  Gegen- 
teil,  die  Freude  am  herrlichen  Aufbau,  an  der  bilderreichen  Sprache 
wichst,  wenn  die  Beschaulichkeit  des  Geniessens  durch  jene  erste 
Spannung  nicht  mehr  gestort  wird.  Es  gibt  geschickt  gemachte  Theater- 
stiicke  und  Romane,  deren  Wirkung  ausschliesslich  im  Erzeugei^  dieser 
Spannung  beruht.  Man  sieht,  man  liest  sie  einmal  mk  Interesse,  und 
ist  das  zweitemal  emiichtert,  weil  man  den  Hergang  nun  kennt  und 
nichts  Neues  mehr  erlebt.    Bei  grossen  Kunstwerken  fingt  die  Haupt- 


400 


Freude  an,  wenn  man  sie  ganz  genan  kennt,  well  sie  so  relch  sind,  dass 
man  sie  nie  erschdpfen,  nie  mit  ihnen  feitig  werden  kann,  durch  die 
Erkenntnis  dieser  Unmdglichkeit  aber  die  Fiille  ihres  Reichtums  erst 
versteht.   Zu  diesen  Werken  gehdrt  der  .Olympische  Frfihling*. 

Ich  will  nun  den  Faden  der  Begebenheiten  lose  in  der  Hand  be- 
taalten  und  bei  einigen  besonders  bemerkenswerten  Episoden  etwas  ver- 
weilen.  WoUte  ich's  bei  alien,  so  musste  ich  die  Dichtnng  einfach 
abschreiben,  denn  da  ist  keine  Zeile,  die  nicht  inhaltreich,  keln  Wort, 
das  nicht  bedentsam  wSre. 

Die  Gdtter  haben  die  Unterwelt  verlassen,  nachdem  sie,  von  Hades 
treulich  gefuhrt,  die  sieben  .erebinischen  Gefahren",  die  uns  der  Dichter 
mit  knhner  Phantasie  schildert,  ohne  Schaden  uberwunden  haben  und 
steigen  den  .Morgenberg''  zur  Oberwelt  hinan.  In  einem  Lawinenbett 
begegnen  sie  dem  gesturzten  Kronos  mit  den  alten  Gdttem,  die  Anankens 
Wille  erbarmungslos  in  die  finstem  Tiefen  hinabtreibt,  denen  ihre  gluck- 
lichen  Nachfolger  soeben  entronnen  sind.  Diese  Begegnung  ist  von 
tiefster  tragischer  Bedeutsamkeit.  Wer  sie  liest,  ohne  im  Innersten 
erschtittert  zu  sein,  der  lege  das  Buch  aus  der  Hand;  es  ist  nicht  fur 
Ihn  geschrieben. 

Als  ecbter  Kunstler  kennt  Spitteler  sehr  wohl  die  Wirkung  und 
Notwendigkeit  des  Gegensatzes.  Darum  sorgt  er  weise  dafur,  dass  dem 
dusteren  ein  heiteres  Bild  folge.  Die  Gdtter,  kleinlaut  und  verzagt 
durch  die  Begegnung  mit  Kronos,  in  dusterem  Ahnen  ihr  eigenes,  der- 
einstiges  Schicksal  erschauend,  klimmen  schweigend  nach  oben,  bis  sie 
auf  weiten,  schattenlosen  Wiesen  kraftlos  in  der  Sonnenglut  zusammen- 
brechen. 

Da  blitzt  ein  Jauchzer  fiber  ihnen  silberhell, 

Der  h&pft  durch  die  blum'gen  Matten  froh  und  schnell. 

Und  sieh  am  Horizonte  droben  auf  der  Weld 
Wucbs  aus  dem  blauen  Himmel  eine  schlanke  Maid', 
An  Tracbt  und  Ansebn  einer  schlichten  Hirtin  gleich, 
Doch  scbimmerad  wie  ein  Engel  aus  dem  Himmelreich. 
Die  hohlen  Hind'  als  Muschel  hielt  sie  vor  den  Mund, 
Draus  stiess  sie  Jauchzerketten  in  den  Alpengrund. 

Leichten  Fusses  springt  sie  zu  den  Lechzenden  herab  und  bietet 
ihnen  labende  Speise  zur  Erquickung  dar. 

»Gesegnet  seist  du*,  dankten  sie,  „und  benedeit, 

Du  boldes  Midchenangesicbt,  in  Ewigkeit. 

Nie  brachf  ein  schSn'rer  Bote  eine  schSn're  Post 

Fiirwahr,  dass  nenn  ich  eine  wundertit'ge  Kost. 

Wir  spfiren  lauter  Wonne,  keine  Unlust  mehr. 

Doch  sprich:  wie  heisst  dein  Name?  und  wo  kommst  du  her?* 

Uranos  hat  sie  gesandt  «der  Herr  des  Stemgewimmels*,  der  Mit- 
leid  mit  den  Entkrflfteten  empfand. 

»Doch  wolit  ihr  meinen  Namen  wissen,  nennt  mich  Hebe." 

Zum  ,Baum  der  Hesperiden*, 


491 


Von  dem  die  Sage  meldet,  dass  aus  aeinem  Samen 
Simtliche  Pflanzen  aller  Welt  den  Ursprung  nahmen, 

wandern  die  neugestirkten  mit  der  holden  Hebe  und  vertreiben  sicb  in 
seinem  wundersamen  Schatten  mit  Erzlhlen  von  MSrchen,  mit  der 
.Dicbtung  Purpurbildern*  die  Zeit,  bis  sicb  die  Sonne  znm  Horizont 
neigt.  Doch  aucb  den  fnrcbtbaren  Ernst  des  Daseins  mnssen  sie  wieder- 
um  kennen  lemen. 

«Oben  in  diesem  Forst,  in  einer  scbrofTen  Kluft!" 

Erklirte  scbauderad  sie,^)  »starrt  eine  Mdrdergruft, 

Von  waldgekrdnten  Mauerwinden  ringsumgeben. 

Das  ist,  die  jeder  fliebt,  die  Grotte  ,Tod  und  Leben^ 

Zwei  H5blen  lugen  oben  aus  dem  Felsenhaus 

Und  jede  H5ble  liuft  in  eine  Treppe  aus, 

Die  Mien  durcb  ein  Dickicbt,  wo  der  Blick  erlischt. 

In  einen  Teicb,  der  immerfort  im  Aufrubr  ziscbt 

Und  spelt  und  sprudelt  listerlicbe  Flucbgebete. 

Willst  du  des  Teicbes  Namen  wissen.  nenn'  ibn  ,Letbe^  ^ 

Merkt:  Aus  der  einen  H5ble,  grisslicb  zu  erziblen, 

Verwirft  des  Todes  Racben  die  erwQrgten  Seelen 

Der  Tier  und  Menscben.  Auf  der  anderen  Treppe  Stufen 

Zieben  sie  empor,  zu  neuem  Erdengang  berufen". 

Und  alle  steigen  triefend  aus  dem  Zauberbad 

Und  straucbeln  auf  die  Treppe  nacb  dem  Lebenspfad. 

Wobl  scbiitteln  sie  und  scbleudem  angstvoll  Haupt  und  Glieder, 

Docb  aus  dem  Netz  des  Fleiscbes  ziebt  sicb  keiner  wieder. 

Der  beiPgen  Seele  ist  der  Scbleim  nun  Herr  und  Meister, 

Du  lebst,  du  klebst,  verkittet  in  den  blufgen  Kleister. 

UnglSubig  IScbeln  die  Gdtter,  docb  Hebe  fubrt  sie  auf  die  Brucke 
oberbalb  der  verbSngnisvollen  Grotte,  nachdem  sie  ibnen  erst  Nusse 
gegeben  hat, 

^deren  Zimt, 

Dem,  der  sie  isst,  den  berben  Scbmack  des  Mitleids  nimmt* 

Grausend  erschauen  sie  den  » Wirbelsturm  der  fnrchterlichen  Geister- 
mnhle''.  Da  stockt  einen  Augenblick  der  grausige  Kreislanf  und  tranrig 
»mit  innigen  Augen"*  schauen  die  Tiere  zn  den  Gdttem  auf: 

»0  sagt  uns,  welcb  Verbrecben  baben  wir  verscbuldet, 
Dass  solcb  ein  blutig  Scbicksal  wird  von  uns  erduldet? 
Aucb  icb  bin  Geist,  mit  eurem  Fublen  f&blen  wir, 
Weswegen  sind  wir  Tiere,  aber  G5tter  ibr?* 

Docb  der  Ton  ibrer  Stimme  wird  zu  unverstindlichem  Grunzen 
und  Grdhlen, 

Und  wie  sie  flebentlicb  die  Hinde  streckten,  boten 
Sie  keine  Hinde,  sondem  Krallen,  Tatzen,  Pfoten. 

In  wildem  Zome  fluchen  die  Gdtter  der  Grausamkeit  Anankes. 
Der  wild  dahinstiirmende  dritte  Gesang  erzlhlt  uns  von  Aktaion, 
der  die  Erde  von  den  Ungeheuem  siubert,  bis  der  Unbezwingllche  selbst 


0  Hebe. 


492 

von  der  Liebe  Wahnsinn  grausam  bezwungen  wird.  Der  sechste  schildert 
mit  feinem  Humor  die  Eifersfichteleien  zwischen  Pallas  und  Aphrodite. 
Die  Krone  des  Ganzen  aber,  ein  Gedicht,  nach  meinem  Gefuhl  nnr  den 
allerhdchsten  Erzeugnissen  der  Weltlitteratur  an  die  Seite  zu  stellen,  ist 
der  vierte  Gesang  ,Apoll  der  Entdecker'.  Apollon  ist  das  Gegenstuck 
zu  Poseidon;  ein  vergleicbender  Gegensatz  dringt  sich  daher  auch  bier 
unwillkurlich  auf ;  der  emst  strebende,  bochfliegende,  wahrhaftige  Kiinstler 
im  Gegensatz  zu  dem  nach  KnalleiFekten  lustemen  Macber. 
Zu  seinem  DImon  spricht  Apoll: 

yWeisst  du  mir  einmal  einen  friscbeo  Himmelsbogen, 
Hocby  frei  and  rein,  darin  nocb  niemals  ward  gelogen, 
Den  keine  Pfifflgkeit  befleckte  mit  Verrat, 

Weil  ibn  kein  Scblechter  keont,  kein  Feiger  je  betrat.  * 

I, Was  du  bedingst,"  versprach  der  Dimon,  »briog'  icb  dir: 
In  einen  frischen  Rauniy  Entdecker,  folge  mir." 

Ein  .Fimlicht*  siebt  Apoll  im  Auge  seines  DSmons  glinzen,  auf 
springt  er,  die  Seele  voll  kubnen  Wagemuts,  und  hinauf  klettem  sie  ins 
Hocbgebirg.  Ein  Weib  kommt  Apoll  entgegen.  Artemis  ist's,  die  treue 
Freundin,  die  ihm  schon  friiher  im  Wettlauf  um  Hera  aufmuntemd  zur 
Seite  blieb.  Auf  Bergeshdhen,  das  wusste  sie,  ist  Apoll  zu  finden.  Ein 
freudiges  Rauschen  ertdnt,  ein  strahlendes  Licbt  zuckt  auf  und  fiammen- 
lodemd  kommt  der  Sonnenwagen  dahergeroUt,  von  Helios  gefuhrt.  Helios 
erkennt  Apoll  nicht,  belebrt  ibn  daber  ausfubrlicb  iiber  das  Triebwerk 
der  Sonnenschmiede  und  beantwortet  dann  seine  Frage,  warum  er  die 
Sonne  am  Seile  und  den  Wagen  dngstlicb  lings  des  Felsgelindes  fubre, 
und  nicht  lieber  ins  Freie,  Weite  schweife,  mit  den  nicbt  gerade  b5f- 
licben  Worten: 

9 Was  einer  nicbt  verstebt,  das  lass'  er  unterwegen." 

Von  der  lachenden  Artemis  uber  seine  Unkenntnis  aufgeklirt, 
tiberfliesst  er  von  Entscbuldigungen,  worauf  ibm  Apollon  die  scbdne 
und  grosse  Antwort  gibt: 

»Den  Vorteil  deiner  Lehre  mochf  icb  gern  geniessen. 
Denn  niemand  ist  so  gross,  und  reicht  er  zu  den  Stemen, 
Eh'  dass  er  etwas  kann,  muss  er's  bescheiden  lemen.* 

Apollon  Idst  die  Sonne  von  den  fesselnden  Stricken  und  besteigt 
selbst  mit  Artemis  den  Wagen. 

Jetzt  gleicb,  wie  unterm  Sattel  ein  erlesen  Pferd 

Scb5n  bupft,  wenn  es  den  Reiter  merkt,  der  seiner  wert, 

Und  gleich  dem  Schwan,  der  stolzen  FlQgelschlags  den  Gischt 

Auf^eitscht  uod  aus  gebognem  Halse  Hocbmut  ziscbt, 

So  segelte  die  Sonne,  als  sie  kaum  verspiirte, 

Dass  selbst  der  kSoigliche  Held  Apoll  sie  fQhrte, 

Mit  aufgeblihtem  Wimpelwald  io  ebnem  Plug 

Gltickaus  ins  Blau,  durch  Atherglanz  und  Wolkenzug. 

Hinauf  geht  die  Reise  fiber  den  letzten  Erdensaum  binaus  in  den 
unbewobnten  Weltenraum,  in  die  wesenlose  Leere.  Die  Adler,  die  nocb 


-e^  493 


eine  Weile  mitgeflogen,  fallen  ab,  die  Mucken,  die  letzten  Lebensboten 
der  Erde,  schwirren  Unheil,  und  selbst  Artemis  erbangt,  das  Herz  bedrlngt 
von  granenvoller  Einsamkeit.  Endlos  scheint  die  Fahrt  durch  die  Ather<p 
wnste.  Da  —  ein  Rauchwdlkchen,  ein  Blatt,  ein  fremder  Vogelschrei 
ond  vor  einer  Wolkenwand,  dahinter  wonnige  Laute  t5nen,  hlU  der 
Wagen.  Einen  einzigen  Punkt  in  dieser  Wand,  haarscharf,  dem  Auge 
unsiclitbar,  muss  Apollon  mit  dem  Pfeile  treffen;  ein  Fehlschuss,  nnd 
sie  bleibt  fur  ewig  geschlossen.  Bogen  und  Pfeile  fliegen  ihm  zu.  Er- 
bangend,  zweifelnd,  erschauemd  vor  Unmdglichem  ISsst  er  den  Bogen 
immer  wieder  entmutigt  sinken,  bis  ein  plotzlicher  Entschluss  ihm  Kraft 
verleiht,  und  er  den  Pfeil  entsendet. 

,,Weh  mir  und  Mitleid!  feblt*  Ich?*  frug  der  Scbtitze  bang. 
Doch  sieb,  da  schwankte,  teihe  sich  der  Wolkenbang, 
Und  au8  dem  Scbleier  trat,  gleicb  einer  Jungfrau  hold, 
Das  Land  der  Oberwelt  in  Gluck  und  Farbengold. 
Ein  Wald  von  Blumen,  ein  Vulkan  von  Schmetterlingen 
Und  Berg  und  Tiler,  laut  von  Silberquellen  springen. 
Die  Hinde  reichten  sich,  ergriffen,  inverschwiegen 
ApoU  und  Artemis,  worauf  ans  Land  sie  stiegen. 

Wir  sind  nach  Metakosmos  gelangt,  der  lichten  Oberwelt.  Sie 
existiert  vorstellbar  nur  im  Kunstwerk  und  im  Gleichnis;  beides  gibt 
uns  der  Dichter.  Unbetreten  ist  der  Weg,  unbeirrt  muss  ihn  der  Kunstler 
wandeln  und  haarscharf  muss  er  den  Zweck  —  so  nennt  auch  Spitteler 
Apollons  Ziel  in  der  Wolkenwand  —  den  idealen  Zweck,  nattirlich,  erraten 
und  treffen,  soil  das  Geschaffene  vollkommen  sein.  Mit  Muhsal,  Serge, 
Enttfluschung  und  Mutlosigkeit  wird  er  kimpfen  mussen,  vergeblich  wird 
oft  all  seine  Arbeit  sein,  bis  ein  Blitz  niederzuckt  und  das  Ziel  erleuchtet, 
dem  er  nun  mit  neugestSrkter  Kraft  zueilt.  —  Indem  ich  Spittelers  Gleichnis 
zu  erkiaren  versuche,  fange  ich  selbst  an,  im  Gleichnis  zu  sprechen;  ein 
Beweis  ftir  die  Kraft  dieser  Poesie,  die  eine  rein  verstandesmSssige  Deutung 
nicht  zulisst,  somit  nie  zur  eigentlichen  Allegorie  hinabsinkt,  sondem, 
wenn  sie  schon  eine  Umdeutung  erfahren  soil,  nur  eine  solche  ins  Psychische 
duldet.  Ich  zitiere  hier  ein  Wort  des  Dichters  aus  einem  seiner  friiheren, 
nachher  zu  erwahnenden  Werke,  das  Klarheit  gibt,  wie  er  selbst  daruber 
denkt:  «Der  ,frostigen^  (rhetorischen)  Allegorie  rede  ich  nicht  im  min- 
desten  das  Wort;  wo  aber  die  Allegorie  nicht  ,frostig*  und  rhetorisch, 
sondem  warm  und  poetisch  au ftri tt,  da  gibt  sie  meines  Erachtens  einer 
Erzflhlung,  weit  entfemt  ihr  zu  schaden,  einen  vermehrten  Reiz:  der 
tiefere  Sinn  gleitet  parallel  unter  der  Handlung  dahin,  wie  die  Spiegelung 
eines  segelnden  Schiffes  im  Wasser**  (Extramundana.) 

.Gleichnis"  wird  hier  aber  wohl  in  jedem  Fall  eine  bessere  Be- 
zeichnung  sein  als  .Allegorie'*,  und  zwar  mochte  ich  die  soeben  er- 
wlhnte  Art  ideale  Gleichnisse  nennen  im  Gegensatz  zu  den  realen, 
wo  der  Dichter  einen  anschaulichen  Vorgang  der  Natur  zum  Vergleich 
mit  einer  Seelenstimmung  heranzieht,  z.  B.  wenn  er  am  Anfang  seines 
Epos  das  allmlhlige  Erwachen  der  Gdtter  aus  ihrer  traumhaften  Trauer 
mit  dem  Knospen  der  Blumen  vergleicht.  Derartige  Gleichnisse,  deren 


494  8^ 


es  viele  im  .Olympischen  Fruhling*  gibt,  bilden  Parallelen  —  nicht 
etwa  Reminiszenzen  —  zu  fthnlich  gearteten  Stellen  der  Homerischen 
Gesflnge. 

In  Metakosmos  blfiht  und  duftet  es  geradezu  von  Gleichnissen, 
allerdings  nur  von  idealen,  denn  Vorginge  der  irdischen  Natur  gehdren 
dort  nicht  mehr  hinein.  Das  schonste  ist  das  vom  »Tal  Eidophane*, 
wo  jeder  sein  eigenes  Ich,  losgeldst  von  der  Leiblichkeit,  erblickt.  Dort 
erschanen  auch  Apollon  nnd  Artemis  ihre  schlackenlosen,  goldreinen 
Seelen  nnd  scbliessen  den  Freundschaftsbund  fnr  die  Ewigkeit.  Der 
ganze  Gesang  aber  schliesst  mit  den  innigen  Worten : 

»uQd  hoffe  niemand  zu  entzweien. 

Die  einst  ins  Tal  Eidophane  geblickt  zu  zweien." 
»Da  war's,  als  ob  ein  Schatten  aus  dem  Dickicht  wankte, 
Und  riesenhaften  Schrittes  nach  der  Kanzel  scbwankte. 
Die  Hand  zum  Griff  bereit  Von  bleichem  Schreck  erfaaat, 
Entflohen  kreischend  sie  mit  atemloser  Hast.  — 

Der  Einfluss  Schopenhaners  nnd  der  ehrwnrdigen  indischen  Lehre  von 
der  Wiedergeburt  auf  nnsem  Dichter  ist  bier  nnverkennbar.  Jedoch 
gibt  er,  das  Wesen  seiner  Kunst  genan  erkennend,  nicht  gereimte  Philo- 
sophie,  sondem  bier  wie  immer  nnd  uberall,  ein  anschanliches,  er- 
greifendes  poetiscbes  Bild. 

Die  folgenden  Partien  sind  wobl  die  schdnsten  im  ersten  Teil. 
Wetter  steigen  die  Gdtter  anf  Flugelpferden,  die  Uranos  gesandt,  von 
der  Erde  aufwirts  bimmelan.    Sie  seben 

Die  Sonnenrosse  weiden  auf  den  roten  Fl&hen, 

dann 

.die  Hindinnen  der  Nacht, 
Die  vor  dem  Tal  der  Trilume  halten  sdlle  Wacht, 
Wehm&t'ge  Mirchen  aus  den  grossen  Augen  staunend 
Und  ahnungstiefe  Ritsel  mit  den  Lippen  raunend. 

 bis  dass  sie  schliessHch  kamen  auf  die  Silbermatt, 

Wo  man  den  Mend  zur  Hand,  die  Welt  zu  Fiissen  hat 

Mit  einer  grossztigigen  Naivetat  sondergleichen  ist  dann  die 
Himmelsbnrg  beschrieben  und  der  EmpFang  bei  Uranos,  dem  gutigen 
Greise,  der  viterlich  fiir  seine  Gdste  sorgt,  sie  bedient,  ihnen  die  vom 
Wandem  wunden  Fusse  badet  (worin  der  Kritiker  eines  klerikalen 
Blattes  eine  unerlaubte  Anspielnng  auf  Christus  erblickt  hat)  nnd  sie 
mit  Speise  und  Trank  erquickt.  Auf  diesen  Hohen,  meinen  die  Gdtter, 
gibe  es  nur  eitel  Glanz  und  Wonne.  Doch  Uranos  belehrt  sie  bald 
eines  andem.  Er  erzdhlt  den  Staunenden  vom  hdllischen  DImon,  den 
er  allnlchtlich  mit  Schild  und  Schwert  bektoipfen  muss  und  zeigt  ihnen 
die  Narben  seiner  Brust,  die  er  im  Kampfe  davongetragen.  Femer  be- 
richtet  er  ihnen  vom  Minotaurus,  dem  „ewigen  Ochsen', 

der  das  Himmelsftindament 
Tagaus  tagein  mit  nimmermudem  Horn  berennt. 
Warum?  Das  weiss  man  nicht.  Aus  Dummheit  offenbar. 


495 

Secbs  Stunden  tflglich  schenkt  ich  ihm  Belehrung  zwtr, 
Ihm  klapp  beweisend,  dass  der  Himmel  jedenfRlIs, 
Wofern  er  einstiirzt,  flllt  auf  seinen  Hals. 
Endlich  begreift  er'a,  kratzt  sicb,  leckt  die  Ohren,  muht, 
Worauf  er  ungeaiumt  den  alten  Unfug  tut.  — 

Aber  noch  grdssere,  ernstere  DInge  sollen  sie  schauen.  Hier  will 
ich  ein  Beispiel  unter  zahllosen  herausgreifen,  wie  es  Spitteler  gelingt, 
mit  wenigen  Worten,  oft  mit  dem  Erwecken  einer  einzigen  Vorstellung, 
in  uns  die  Stimmung  hervorznrufen,  die  znm  voUen  Erfassen  der  nach- 
folgenden  Erzahlung  notvendig  ist.    Uranos  fuhrt 

durch  die  Enge 
Geheimer  und  verworr'ner  Wendelginge. 
Sie^)  vor  ein  ritselbaftes,  glisem  Wagenhaus. 
Ein  blaaser  Ampelschimmer  zitterte  daraua. 
Und  an  den  Fenstem  hingen  grosse  fremde  Fliegen, 
Die  eine  andere  Welt  verrieten  und  verschwiegen. 
»Dies*y  sprach  er,  i^iat  des  HimmelskSnigs  Reiaewagen.* 

Nicht  die  umstandlichsten  Verheissungen  kdnnten  die  dlmmerungs- 
schaurige  Erwartung,  in  nie  betretene  Gegenden  einzudringen,  so  vor- 
bereiten,  wie  diese  „grossen  fremden  Fliegen',  die  uns  wie  mirchen- 
bafte  Triume  erscheinen,  vorausgesandt  als  Vorgeschmack  der  Wunderwelt, 
die  wir  bald  erschauen  sollen.  In  diesem  Reisewagen  fahren  sie  nun  zu 
einem  llrmerfiillten  Haus,  wo  mit  eisernen  Griffeln  in  ein  stets  sich 
erneuendes  Walzenband  von  Stein  das  i^Weltenklagebuch"  eingemeisselt 
wird.   Jedes  Weh  der  Kreatur  ist  dort  aufgezeichnet, 

»Auf  dasa  am  jungaten  Tag  und  schliesslichem  Gerichte 
Das  Buch  den  namenloaen  Schuldigen  bezichte.* 

Weiter  geht  die  Reise  zu  einem  morschen,  spinnwebfiberzogenen 
Pfdrtchen.  Uranos  entriegelt  es,  und  —  der  See  ^^Nirwana'  beut  sich 
den  Blicken  dar.  Hier  erstirbt  aller  Lebenswille  und  Anankes  Macht 
hat  ein  Ende.  Unendlicb  scbeint  die  graue  Flut,  und  mit  dumpfem 
Schall  schlagen  die  scbweren,  langgezogenen  Wogen  an  die  Kuste. 

»Doch  jenseits  in  den  Wolken  grusat  ein  Widerscheiny 
Ala  kSnnf  ein  weltenfemes  Land  dabinten  sein." 
^Man  glaubt  von  einem  L4inde  Meon,^  dasa  es  wire. 
Die  Hoffiaung  betet,  dasa  der  Glaube  sich  bewihre.* 

Uber  Nirwana  hinaus,  wo  die  tiefste  Philosophie  endet,  gibt  es 
doch  noch  ein  Hdheres,  das  wieder  zum  Leben  fuhrt,  zu  einem  Leben 
aber,  das  erhaben  1st  uber  Anankes  Macht.  Auch  Uranos  kann  das 
feme  Land  nur  ahnen,  nicht  betreten.  Ein  Engel  aber  schlift  in  einem 
Kirchlein  unter  einem  Felsen,  an  der  Scheidegrenze  der  Welt, 

Und  wenn  den  Atem  zieht  der  Engel  aua  und  ein, 
Erblaut  die  Luft  von  seines  Hauches  Sonnenschein. 

Es  ist  die  Hoffnung,  der  urewige  Trost  aller  Vdlker,  aller  Re- 


^)  Die  G5tter. 
^&ov  =  beaser. 


406 


ligionen,  aller  vernunftbegabten  Wesen,  jene  Holfnung  nach  einem 
Jenseits,  die  kein  Realist,  kein  Zynlker  und  kein  Nietzsche  ausrotten 
werden,  nach  einem  Lande  Meon,  wo  der  ersehnte  Erldser  weilt,  den  ein 
Engel,  die  HotFnung  selbst,  am  ersten  Scbdpfungstag  aus  Anankes 
Morderband  gerettet  und  bintibergetragen  bat  nach  dem  Lande,  aus  dem 
jetzt,  uber  Nirwanas  graue  Flut,  ein  fernes  Licht  heruberschimmert.  Dorther 
wird  er  dereinst  kommen,  das  Lilienbanner  in  der  Hand,  den  Flammen- 
stift  auf  der  Lanze,  die  zischend  in  den  unbeilscbwangem  Weltenscboss 
sausen  wird,  um  aufleucbtend  das  Morgenrot  des  letzten  Tag^  von 
Anankes  Herrscbaft  zu  verktinden.  —  Miissen  wir  aber  in  transzendentale 
Vorstellungskreise  schweifen,  um  des  Dichters  Bild  zu  verstehen? 
Deutet  es  nicbt  oft  genug  das  tiglicbe  Leben  aus?  —  Dunkel  ist  es  um 
uns  her.  Von  Trubsal  belastet  verrichten  Leib  und  Seele  nur  miihsam 
die  aufgezwungene  Arbeit.  Da  bringt  ein  unbedeutendes  Ereignis,  viel- 
leicht  nur  ein  Gedanke  die  Hoffnung  mit.    Es  muss  ja  nicht  so  sein, 

es  kann  ja  anders  werden,  es  wird  .    Der  Blick  wird  hell,  die 

Arbeit  leicht.  Es  blaut  um  uns  die  Luft  und  die  Sonne  schdnt,  wenn 
auch  in  Wirklichkeit  der  Regen  recht  dicht  hemiederprasselt.  — 

Spat  ist  es  am  folgenden  Tag,  als  die  Gotter  nach  ihren  ereignis- 
reichen  Weltenfahrten  erwachen.  Die  sieben  Tdchter  des  Uranos, 
sanfte,  schdne  Wesen  voll  Cute  und  Seelensonnenlicht  begrussen  die 
Giste.  In  heiteren  Spielen  fliegen  die  Stunden  den  Glucklichen  dahin. 
Sie  geniessen  das  reine  Glfick  schuldloser  Kinder  und  nie  sich  trennen 
zu  mussen  ist  ihr  einziger  Wunsch.  Eos,  die  jungste  und  liebste  Tochter 
bittet  den  gestrengen  Vater,  Uranos  gewdhrt,  und  die  vorgeschriebene 
Fahrt  nach  dem  Olymp,  der  Gotter  kunftigen  Herrschersitz,  wird  ver- 
sflumt,  aufgeschoben  ins  Unbestimmte.  Ich  mochte  aus  diesem  Gesang 
nichts  zitieren.  Die  Sprache  wird  hier  zur  heitersten,  himmlischesten 
Musik,  und  jedes  Hervorheben  einer  Einzelheit  wSre  Sunde  gegen  die 
Harmonie  des  Kunstwerks. 

Die  Harmonie  der  Seelen  ist  bald  genug  gestort.  Wenn  nicht 
Sussere  Begebenheiten  eingreifen,  so  vemichtet  gar  oft  der  Oberdruss 
das  Gltick.  Dies  ist  in  der  menschlichen  Natur  tief  begrundet,  und  auch 
Spittelers  Gdtter,  wie  die  Homers,  haben  menschliche  Herzen.  War's 
nicht  so,  kein  Mensch  konnte  sich  fur  sie  interessieren.  Gar  mancher 
Dichter  hitte  nun  mit  den  feinsten  psychologischen  Zugen  geschildert, 
wie  sich  die  Gotter  allmahlich  von  den  Himmelstochtem  abwenden,  bis 
ihnen  schliesslich  verhasst  wird,  was  vordem  ibre  Seligkeit  war. 
Spitteler  aber,  der  Epiker  von  Gottes  Gnaden,  weiss,  dass  anschauliche 
VorgSnge,  und  nicht  nur  erzihlte  Gemutsstimmungen  wichtige 
Wendungen  herbeiftihren  mussen.  Aber  wiederum  nicht  auf  loser  Will- 
kurlichkeit,  sondem  auf  dem  tiefen  Grunde  des  Geschehens  mtissen 
diese  Vorglnge  wurzeln,  sollen  sie  wertvoll  genug  sein,  dass  Himmel  und 
Welt  sich  dafur  in  Bewegung  setzen.  So  ist  es  auch  hier  A  n  a  n  k  e 
«mit  den  runden  Tigeraugen",  der  eingreift.^)    Er  hat  nun  einmal  be- 


^)  Spitteler  personifiziert  Ananke  als  Herrn  der  Welt;  das  Won  ist  dtber  bei 


497  8^ 


stimmt,  dass  die  Gdtter  Herren  des  Olymp  verden.  Dagegen  gibt  es 
keine  Auflehnung,  keinen  Widerspruch. 

»Ich  will  doch  sehen !  Furwahr,  das  wir*  ein  tolles  Stiick: 
Ich  glaube  gar  die  Unverscbimten  woilen  Gl&ck.*' 

«Luft  und  Erde  b5ren 
Mein  Wort  und  eitle  Migdlein  wollen  mich  betSren?* 

So  ruft  er  hohnlachend  und  eilt  nach  seinem  Schierlingsgarten, 
,wo  alle  Gifte  gierig  auf  Erlaubnis  warten*'.  Vom  ^Krotenpilz**  bldst 
er  den  Samen  und  staubt  ihn  zur  Himmelsburg  hinauf,  wo  die  dorn- 
bewehrten  Sporen  .auf  unhorbaren  Schlitten  durch  der  Freier  Schlund"* 
hinabgleiten  i,in  des  Herzens  dunklen  Grund^.  Sogleich  ist  des  Gluckes 
Quell  .versduert  und  vergiftef  und  ^^der  Kdnigstochter  edles  Angesicht, 
ihr  lockig  Haar,  ihr  grosses  Auge  schdn  und  licht,  und  ihres  keuschen 
Leibes  Gegenwarf"  den  Gottem  zur  Last.  Abseits  in  einem  Holz- 
verschlag,  in  einem  ^wildverstruppten  Dornenhag'  verstecken  sie  sich 
schmollend  und  grollend,  bis  Uranos  sie  auffordert,  ihrer  Bestimmung 
zu  folgen  und  zum  Olymp  hinabzureisen.  Das  LuftschiCF  ist  gertistet, 
kiagend  nehmen  sie  von  Uranos  und  den  holden  Schwestern  Abschied, 
nun  erst  erkennend,  was  sie  verloren  haben,  und  fort  getit  die  Fahrt, 
hinab  zum  farbigen  Olymp,  ihrem  kunftigen  Wohnort,  wo  sie  feierlich 
empfangen  werden.  Die  Reise  und  die  Ankunft  sind  mit  einer  Pracht 
und  einem  Reichtum  an  Bildem  geschildert,  von  denen  ich  dem  Leser 
hier  nichts  verraten  will. 

Hera  heisst  die  Konigin  des  Olymp,  von  einem  Gott  gezeugt,  von 
einem  Amazonenweib  geboren.  Darum  ist  sie  sterblich.  Beschlossen 
ist  vom  Rate  der  Geronten  und  Prytanen,  dass  sie  sich  vermShle;  einen 
der  jungen  Gotter  muss  sie  wdhlen.  Im  Kunstgesang,  im  Wettlauf  und 
in  der  Traumweissagung  muss  als  Erster  hervorgehen,  wer  sie  besitzen 
darf.  In  alien  Pnifungen  erringt  Apollon  die  Palme,  von  seinem  Sieges- 
dimon  geleitet.  Doch  Ananke  hat  es  anders  beschlossen.  Die  Herr- 
schaft  eines  Licht-  und  Liebesgottes  ist  undenkbar  in  einer  Welt,  wo 
die  unerbittliche  Notwendigkeit  grausam  gebietet.  Darum  muss  Zeus, 
gegen  den  Beschluss  der  Preisrichter,  gegen  den  Willen  des  Volkes,  ja 
gegen  seinen  eigenen  Willen,  durch  schmShlichen  Verrat  die  Krone  und 
Hera  gewinnen,  die  selbst  den  edlen  Apoll  verrSt.  So  ist  die  junge 
Weltherrschaft  schon  in  ihrem  Anfange  mit  dem  Fluche  der  Schuld  be- 
lastet.  Dies  ist  im  wesentlichen  der  Inhalt  des  zweiten  Teiles  unseres 
Epos,  dessen  grossartigen  Schluss  ich  wortlich  anfuhre.  Abseits  der 
Welt,  in  einem  stillen  Haine  weilt  Apollon,  der  um  Ruhm,  Krone  und 
Weib  Betrogene.  Am  dritten  Tage,  nachdem  Zeus  Hochzeit  mit  Hera 
gefeiert  hat,  rauscht  ein  schwarzer  Schatten  aus  dem  Walde  hervor,  und 
der  diistere  Zeus  spricht  also  zum  lichten  Apoll: 

^yemimin  denn  meiner  Ankunft  Grand. 
Willst  du,  80  lass  uns  sctaliessen  einen  Fursienbund. 

ihm  minnlicb,  wihrend  es  im  Griechiscben  ^  iafavxt]  (Die  Notwendigkeit)  heisst, 
also  weiblich  ist. 


406 


Zwar  du  bedarfet  mich  nicht,  ich  kann  dir  nichts  gewihren, 

Ich  aber  and  mein  Volk  kaon  deiner  nicht  entbehren. 

In  dieser  Welt,  von  Obeln  krank,  von  Blute  rot, 

Tut  Geist  und  Scbdnheif,  tut  ein  Fleckchen  Himmel  not, 

Ein  Glficklicher,  der  nichts  vom  Pfiibl  des  Jammers  weiss, 

Ein  Edler,  rein  von  Schuld,  ein  Held,  des  Helmbusch  weiss. 

Ich  kann  nicht  dulden,  dass  du  feindlich  feme  weilest, 

Ich  fordre  dich,  dass  du  die  Herrschaft  mit  mir  teilest 

Zwar  mir  der  Weltenlirm,  der  V51ker  Not  und  Streit, 

Die  strenge  Rute,  waltend  der  Notwendigkeit, 

Doch  dir  im  lichten  Atherglanz  das  Reich  des  Sch5nen, 

Wo  bocb  im  freien  Raume  die  Gedanken  t5nen. 

Ich  setz'  dir  im  Gebirg  ein  unabhingig  Schloss, 

Darin  als  Ffirst  du  schaltest  mit  Gesind  und  Tross; 

Vor  seiner  Schwelle  ende  meines  Szepters  Fug. 

Ich  heische  kein  Entgelt.   Dein  Dasein  gilt  genug. 

Nun  lass  durchs  Ohr  ins  Herz  dir  meine  Rede  rinnen.* 

Apoll  erwiderte:  »Ich  heische  kein  Besinnen. 

Vom  Bdsen  bist  du,  Unhold,  aber  gross  und  wahr. 

Die  Freundschaft  schlag*  ich  aus,  das  Bundnis  nehm'  ich  dar.* 

Er  sprach's.   Mit  diesem  schieden  fdedlich  und  versSbnt 

Er,  der  die  Welt  beherrscht  und  der,  der  sie  verschSnt.  — 

Abseits  von  der  rauchenden  Werkstatt  der  Welt  liegt  unter  femem, 
reinem  Himmel  das  Reich  des  Schdnen. 

Ich  habe  mich  absichtlich  beim  zweiten  Teil  nur  kurz  aufgehalten, 
um  ISnger  beim  jungst  erschienenen  dritten  verweilen  zu  kdnnen.  — 
.Die  hohe  Zeif  nennt  sich  das  Buch,  in  dem  uns  der  Dichter  zeigt,  wie 
die  G5tter,  wdhrend  Zeus  und  Hera  ihre  Flitterwochen  feiem,  mit  Un- 
gebundenheit  die  weite  Welt  durchstreifen.  Jetzt  ist  der  olympische 
Fruhling  in  Wahrheit  angebrochen.  Dieses  Buch  bedeutet  somit  den 
Mittel-  und  Hdhepunkt  der  noch  nicht  vollendetenDichtung.  Die  ersten 
beiden  Telle  waren  die  Einleitung.  Was  auf  den  dritten  noch  folgt  wird 
gleichsam  die  Coda  bilden. 

Eine  Vorbemerkung  will  ich  hier  einschalten,  um  einer  missverstand- 
licben  Auffassung  des  Werkes,  und  speziell  dieses  dritten  Buches,  vor- 
zubeugen.  Es  wire  ganzlich  verfehlt,  wollte  man  zu  ergrubeln  versuchen, 
was  die  kdstlichen  Mirchen,  die  uns  da  erzlhlt  werden  .bedeuten*, 
Oder  was  etwa  der  Dichter  mit  ihnen  beabsichtigt  habe.  Dies  wurde  nur 
vom  einzig  Wichtigen,  nSmlich  von  der  Dichtung  selbst  abziehen.  Es 
versteht  sich  von  selbst,  dass  eine  so  kuhne  und  reiche  poetiscbe  Schdpfung, 
wie  der  « Olympische  Fruhling"  im  Leser  Gedanken  anregen  wird,  die 
mit  seinem  Leben,  seiner  Umgebung,  seinen  Anschauungen  und  Ur- 
teilen  ubereinstimmen.  In  diesen  Gedanken  aber  den  Ursprung  der 
Dichtung  suchen  zu  wollen,  wire  ein  grosser  Irrtum.  Wie  aus  einem 
schdnen  Musiksttick  sich  jeder  Hdrer  eine  ganze  Geschichte  heraus- 
deuten  kann,  ohne  dass  dem  Tondichter  auch  nur  Ahnliches  vor- 
geschwebt  haben  mag,  da  diesem,  wenn  er  kein  Scheinmusiker  ist,  Auf- 
bau,  Klarbeit,  Stimmungskraft  und  Ausdruck  seiner  Komposition  mehr 
am  Herzen  liegen  wird,  als  poetische  Fiktionen,  so  war  Carl  Spitteler, 
dem  echten  Dichter,  der  abstrakte  Gedanke  stets  Nebensache,  alles 


499  8^ 


hingegen  der  zu  deutlicher  Anschaulichkeit  gesteigerte,  in  seinen  grossten 
and  in  seinen  feinsten  Zugen  nnmittelbar  wahrnehmbare  Vorgang  selbst» 
Oder,  wie  Jacob  Borkhardt  einmal  das,  worauf  es  beim  Epos  ankommt, 
einfach  nnd  treffend  bezeichnet  hat:  «Die  Frende  am  glanzvollen  Ge- 
schehen.' 

Spitteler  ist  weder  ein  historischer,  noch  ein  tendenzidser,  weder  | 
ein  archaistischer,  noch  ein  moderner,  weder  ein  idealistischer,  noch 
ein  realistischer,  sondem  ein  nai  ver  Dichter,  der  uns  schlicht  erzlhlt, 
was  in  seiner  Phantasie  lebt  und  webt.  Da  gibt  es  kein  Kostum  und 
keine  Richtung,  keine  Predigt  und  keine  Volksaufkllrung,  mit  einem 
Worte  keine  von  all  den  Krucken,  die  so  mancher  Dichter  zur  AuF- 
richtung  seiner  Schopfungen  bedarf,  sondem  alles  lebt  durch  sich  selbst 
und  ist  aus  sich  selbst  verstSndlich.  Der  Dichter  scheut  sich  darum 
auch  nicht  im  geringsten,  vollkommen  anachronistisch  zu  verfahren, 
z.  B.  das  Luftschiff  der  Gdtter  als  Dampfmaschine  darzustellen,  im  Olymp 
▼on  Klingelzugen  zu  sprechen,  die  verlotet  werden  mussen,  oder  uns 
den  Glockenturm  zu  schildem,  von  dem  Moira  die  Friihlingsbotschaft 
auslSuten  ISsst.  Wer  dariiber  ISchelt,  lese  zunichst  das  Gedicht  selbst 
und  frage  sich,  ob  er  von  dieser  Darstellungsweise  nicht  frischer,  un- 
mittelbarer  beriihrt  wird,  als  z.  B.  von  «Quo  vadis?**  oder  Shnlichen 
Romanen,  wo  es  freilich  keine  historischen  Ungenauigkeiten  gibt.  Er 
erinnere  sich  femer,  ob  es  ihn  in  Shakespeares  ,,Winterm3rchen'  be-/ 
listigt,  dass  Bohmen  am  Meer  iiegt,  oder  dass  im  ^Julius  Cdsar**  ein 
Rdmer  von  Brillen  spricht,  die  einige  Jahrhunderte  spSter  erfunden 
worden  sind.  Gerade  die  Naivitat  des  sich  um  historische  Einengung 
nicht  kummemden  Stiles  gibt  der  Darstellung  rein  menschliche  Crosse 
und  unmittelbare  Lebenskraft,  dass  sie  auF  unser  tibermudetes  Gefuhl  wirkt 
wie  der  DuFt  der  ErdflSche,  deren  Festes  GeFuge  der  scharFe  Pflug  soeben 
grundlich  durcheinander  gewtihlt  bat.  Wir  kdnnen  glauben  an  diesen 
Zeus,  diesen  Apollon,  an  alle  diese  Wunderwesen  der  LuFt- und  Wasser- 
welt,  als  ob  wir  tagtSglich  mit  ihnen  umgingen.  Freilich  ist  es  viel 
schwerer,  ein  solches  Epos  zu  schreiben,  als  z.  B.  ein  soziales  oder 
politisches  Schauspiel.  Das  bewusste  Kunstschaffen  des  alle  Mittel 
voU  beherrschenden  Meisters  wird  durch  den  naiven  Stil  Spittelers 
nicht  etwa  ausgeschlossen,  sondem  vielmehr  im  hochsten  Grade  er- 
Fordert,  denn  das  gSnzlich  neue,  von  aller  ErFahrung  UnabhSngige  muss 
dem,  der  es  empFangen  soli,  in  weit  FestgeFugterer  Form,  weit  plastischer 
und  Fasslicher  entgegen  treten,  soli  es  ihm  auFnehmbar  werden,  als  das 
auF  vorhandenen  Voraussetzungen  AuFgebaute,  Ftir  dessen  VerstSndnis 
er  schon  eine  ganze  Anzahl  Faktoren  in  seinem  Bewusstsein  vorrStig 
hat.  Nicht  nur  in  die  Welt  des  Dichters  sich  hineindenken,  sondem 
leibhaFtig  in  ihr  wandeln  muss  er  kdnnen,  sich  darin  heimisch  Fuhlen 
und  sich  als  einen  Teil  von  ihr  empfinden.  Wenn  Floerke  einmal  un- 
geFahr  sagt,  dass  Boecklins  Seejungfem,  Tritonen  und  Kentauern  wirk- 
lich  leben,  nur  werde  sich  Boecklin  wohl  huten,  die  Herren  Natur- 
wissenschaFtLer  an  die  einsamen  Orte  zu  Fuhren,  wo  er  sie  sah,  so  gilt 
dies  auch  von  Spittelers  Gestalten.    Da  ist  alles  erschaut,  erlebt  in 


500  8^ 


Pracht  und  Wabrbeit,  mit  bewundernswerter  Kunst  festgebalten  and 
wiedergegeben,  nicbt  aber  auf  dem  Wege  des  Denkens  mubsam  kom- 
biniert.  Was  er  damit  wollte?  —  Nicbts  weiter  als  dass  seine  ,un- 
nutzen  Fabeleien**,  so  sagt  er  selbst,  nicbt  wieder  vergessen  wurden. 
Das  bat  er  erreicbt.  — 

„Das  KnSblein  Eidolon,  mit  Namen  Gluck  genannt,'  ist  vom 
.GSrtlein  Unbekannt*  mit  seinem  scbemenbelasteten  Wagelein  ins  Scbloss 
zu  Hera  und  Zeus  getrippelt,  und  scbeucbt  dem  boben  Paare  die 
scbweren  Weltberrscbaftsgedanken  von  der  Stime.  Sogar  die  gestrenge 
Scbicksalsgottin  Moira,  Anankes  Tocbter,  bekrinzt  sicb  beim  Anblick 
des  Kindes  und  umgibt  die  Scbultem  mit  dem  i,weissen  Kleid  der 
Gnade*".  Sie  fordert  und  erbSlt  von  Ananke,  ibrem  Vater,  die  Erlaubnis 
tn  einem  Weltenfrublingsfest.  Mit  urwucbsigem  Humor  wird  nun  ge- 
scbildert,  wie  Erde  und  Himmel  blank  gescbeuert  und  geputzt  werden, 
wie  die  Luft  ein  ,wSrmer  Blau*,  der  Wald  ein  „friscber  Grun'  erbilt 
Zwolf  Scbicksalsboten  aber  reiten,  eine  Tafel  bocbbaltend,  zum  Olymp 
empor. 

ifDen  G5ttem  simtlich,*'  schrieb  die  Tafel,  »kund  zu  wissen: 

Moira  die  ScbicksaisgSttiOy  gnad-  und  huldbeflissen, 

Gesttttet  in  Anankes  Namen  und  gewihrt. 

So  lang  die  Fahne  Olbia')  auf  dem  Scblossdach  wihi% 

Eucb  alien  eine  unumschrilnkte  Anarcbie, 

Keinem  befeblend  nocb  verbieteod  was  und  wie.* 

Wie  eines  Knaben  Stock  den  Ameisenbaufen,  so  nittelt  die  frohe 
Botscbaft  die  i,gluckverscblafenen  Gotter**  auf.  Bundnisse,  Freund- 
scbaften  werden  gescblossen  und  .jaucbzerfroben  Jubels'  rustet  sich 
Alt  und  Jung  zur  Wanderung.  Dies  der  Inbalt  des  ersten  Gesanges  dem 
acbt  weitere  folgen.  Sie  bSngen  nicbt  direkt  unter  einander  zusammen; 
jeder  erzMblt  ein  Gotterscbicksal,  bildet  fiir  sicb  ein  abgescblossenes  Ganze 
und  kann  ausser  der  Reibenfolge  gelesen  werden.  Dennocb  ist  die  tiefe 
Wurzel  einer  gemeinsamen  Grundidee  unverkennbar  und  bestebt  ein 
innerer  Zusammenbang,  gleicbwie  die  Farben  des  Prisma,  verscbieden 
unter  einander,  docb  alle  dem  einbeitlicben  weissen  Sonnenstrahle  ent- 
springen.  Von  Urkraft  und  scbrankenlosem  Ubermut  singt  uns  der 
zweite  Gesaug.  In  einem  Wolkenscbiff  sausen  die  Winde,  an  der 
Spitze  Boreas  und  die  wilde  Harpalyke,  vorbei  beim  HSuscben  des  alten 
murriscben  Aiolos,  wo  die  Nebelknecbte  in  Felsenbdblen  scbmausen, 
und  die  Gewitter  mit  den  Tatzen  durcb  die  Gitter  ibrer  Klfige  bauen, 
binab  zum  Erdenland.  Auf  dem  Bergesriff  .Emporion"  wirft  das  Scbiff 
Anker.  Nacb  alien  Ricbtungen  sturmen  die  luftigen  Geister  und  peit- 
scben  die  Erde  auf.  Mit  dem  Hiftbom  bUst  Harpalyke  in  die  Hoblen 
der  Troglodyten,  die  «vor  jedem  Licbtstrabl  bocken*",  „vor  tausend- 
jdbrgem  Unsinn  Ebrerbietung  rutscben*  und  «dem  Quell,  der  Kraft, 
dem  Glauben  HobngelMcbter  zinsen*.  Mit  ,TugendkrIcbzen  und  Sittio* 
fliebt  das  aufgescbeucbte  Nacbtgescblecbt  vor  Boreas  kraftbescbwingter, 


ok/Sios  »  glucklicb. 


501  8^ 


beherzter  Geissel.  —  Bis  zu  der  Erde  Ende  gelangt  dann  das  Gotter- 
paar,  wo  die  Sphinx,  die  unerforschlich  tiefe  Gottin  i^Ma**  sich  immer- 
fort  in  den  eigenen  Hinterhuf  beisst  und  dabei  klagt: 

wWer  gibt,  wer  gibt  mir  vor  den  b5sen  Zibnen  Rub?* 

Als  Boreas  ihr  verwundert  zuruft  ,Lass  es  einfach  sein*,  strauben 
sich  emport  die  Borsten  der  Sphinx  und  ein  greiser  Eremit  tritt  mit  den 
strafenden  Worten  hervor: 

Bet  an  dts  Schdpfungswunder,  dessen  Sinn  vergebens, 
Erscbaffner  Geist,  du  spurst  die  Tage  deines  Lebens. 
Sieb  dort  von  tausend  Pbilosopben  die  Gerippe. 
Es  bat  der  Denkerblupter  weise  Stirn  und  Lippe 
Docb  niemals  nocb,  wie  viel  Systeme  sie  geschweisst, 
Erklirt,  wanim  die  tiefe  Ma  sicb  selber  beisst. 

1st  iiberhaupt  ein  Vergleich  gestattet,  so  hdre  ich  aus  dieser  Scene 
das  Lachen  des  Humors,  der  mir  aus  manchen  derletzten  Schdpfungen 
Beethovens  erklingt.  —  Zuruck  aus  der  Wustenei  der  unbegreiflichen 
Ma  sturmen  Boreas  und  Harpalyke  zu  neuen  tollen  Streichen.  Als  sie 
aber  in  ihrem  Ubermut  ein  reifes  Komfeld  durchwtihlen,  empfangen 
sie  eine  tiberaus  drastische  Zurechtweisung  von  Erechtheus,  dem  Erd- 
geist,  der  ihnen  durch  seinen  Abgesandten  die  edle  Mahnung  zuruft: 

»Genug,  dass  ibr  die  Welt  mit  Lust  und  Llrm  betiubt, 

Den  Luftraum  fegt,  der  Erde  Oberflicbe  stflubt 

Docb  innen  munkeln  dunkle  Dinge  allerhand, 

Die  liegen  ausser  eurem  sonnigen  Verstand. 

Und  geisselt  nicbt  den  Grund  und  scbindet  nicht  dts  Brot, 

Denn  Trinen  kleben  dran,  gepresst  aus  heilger  Not.*< 

Von  Giite  und  Edelsinn,  der  hier  anklingt,  erzlhlt  uns  vor  allem 
der  letzte  „  Hermes  der  Erloser"*  betitelte  Gesang.  Den  Gott,  der 
einsam  durch  den  Erdenwald  wandert,  erreicht  Kunde  von  Maja,  der 
Nymphenfurstin  im  Lande  Gaia.  Schmerzumwdlkt  ist  ihr  Geist  durch 
den  Tod  Plutons,  ihres  michtigen  Gemahls,  und  in  der  Knechtschaft 
der  Unterdruckung  schmachtet  ihr  Volk.  Zwar  Majas  GOte  ist  un- 
verwandelt,  docb: 

»Von  fremden  Leicbnamspfaffen  wird  ibr  Scbmerz  verhandelt, 
Die,  um  sicb  Amter,  Ebrea,  Ansebn  zu  erscbleichen, 
Dem  abergStt'schen  Witwenleid  der  F&rstin  schmeicbeln. 
Unnutze,  unverscbimte,  b&ndische  Eunucben, 
Die  jeden  Spuck  und  Druck  des  sel'gen  Herren  bucben.** 

Um  Hilfe  flehen  Hermes  die  Bewohner  Gaias  an.  Zweimal  weist  er 
sie  zuruck,  denn  .Frauensiechtum,  das  aus  Griberschollen  schattet*  ist 
unheilbar,  und  dem  Spiesse  widersteht  das  ^ySchleimgezuchf.  Erst 
als  er  hort,  dass  Majas  KnUblein  heimlich  gestohlen  und  lebend  be- 
graben  ist  in  einem  steinemen  .Riesendenkhaus  zu  des  Vaters  Ehren*, 
von  dessen  Dach  die  ,»Heuchelherde,  lammsanft  von  Tritt,  docb  nicht 
zu  sanft  zum  Meucheimorde"  den  Namen  Plutons  mit  „frechmSuligem 
Lobtoben"  predigt,  «dass  man  nicht  hore  aus  der  Grube  das  Gewimmer*", 

Siddentscbe  Moaatabefte.   1,6.  33 


-1^  502 


beschliesst  er,  die  Furstin  zu  heilen,  das  Knablein  zu  retten  und  das 
gezwungene  Volk  zu  entketten.  Mit  tiberlegener  Geisteskraft  und  kluger 
Wacbsamkeit  seines  adeligen  Herzens  vollbringt  er  das  schwere  Werk. 

—  und  scbOn  und  reich 
Erbluht  ein  junges  Gluck  in  Majas  Kdnigreich. 

Spitteler  ist  hier  wie  iiberall  Meister  der  Stimmung.  Seine  Bilder 
und  Gesange  entwacbsen  einem  Grundakkorde,  sowie  ein  Musikstiick 
einer  Tonart,  und  jede,  auch  die  scbeinbar  sebr  weit  abliegende  Einzel- 
heit  ist  auf  diesen  Grundakkord  abgestimmt,  sowie  die  entlegenste 
Modulation  schliesslicb  auf  die  Haupttonart  zurtickfuhren  muss. 

Wie  ein  Komponist  mitunter  den  Hauptsatz  seiner  Sympbonie 
durcb  eine  Einleitung  vorbereitet,  so  leitet  Spitteler  den  tiefernsten 
siebenten  Gesang,  betitelt  ^Dionysos,  der  Seber**,  durcb  eine  kurze, 
wunderbar  bildkraftige  ErzSblung  ein,  die  icb  bier  ganz  wiedergebe: 

Am  splten  Tag,  als  Dimmrung  das  Gefild  umflng, 

Geflel  es  Zeus,  dass  er  die  Stadt  durchstreifen  ging. 

Sechs  Minneraugen  sab  er  aus  dem  DQster  blitzen 

Auf  einer  Bank,  flat's  uAzuviel  euch  beizusitzen?** 

^Dein  Haupt,  erbabner  Herr,  ist  uns  erbetne  Spende. 

Willkommen,  KOnig  Zeus,"  und  reicbten  ibm  die  Hinde. 

„Verwabit,  du  mdgest  in  Geduld  dicb  willig  fugen, 

Mit  wunderlicbem  Volk,  wie  wir  sicb  zu  begnugen. 

Der  Mund  ist  unbered't,  doch  unsre  Herzen  danken.* 

Zeus  spracb:  »Wo  Minner  schweigen,  reden  die  Gedanken.* 

Demalso  setzt  er  sicb  den  diistern  Minnem  bei, 

Mit  spirlicbem  GesprScb,  ein  Stiindcben  zwei  und  drei. 

Doch  als  die  Nacbt  jemebr  die  Stadtgerluscbe  schweigte, 

Im  Schleierwolkenbof  der  leise  Mond  sicb  zeigte, 

Stand  von  den  Minnern  einer  auf:  »Micb  zwingt's  zu  sagen. 

Ob  gem,  ob  ungern.   Um  Erlaubnis  lasst  micb  fragen. 

Von  einem  armen  Knaben  scbmerzt  micb  die  Geschicbte." 

»Erzibr  uns  von  dem  Knaben,**  mahnte  Zeus,  ^bericbte. 

Ist's  denkenswert  und  fublbar,  h5r  icb's  gliubig  an." 

,,'8  ist  fublbar,*  spracb  der  Unbekannte  und  begann: 

Und  nun  folgt  die  ergreifende  Erzablung  von  Dionysos,  dem  vom 
Wabrbeitsrauscb  begeisterten  Jungling,  der  Heimat  und  Eltem  verlisst, 
Not  und  Entbebrung,  Spott  und  Verbobnung  erduldet,  sein  Ideal  zu  sucben 
dem  Gliick  entfliebt,  das  ibm  die  lieblicbe  Ariagne  opferfreudig  entgegen- 
bringt,  bis  ibn  fanatiscbe  Priesterinnen  zerreissen,  weil  er  die  stemen- 
umstrablte  Astraia  seine  Gottin  nennt  und  nicbt  Astarotb.  Die  Raben 
sattigen  sicb  an  seinem  Propbetenfleiscbe:  Aber  als  nacb  langen,  langen 
Jahren  ein  Fremdling  ins  Land,  kommt,  gewabrt  er  den  grossen,  goldnen 
Dom  des  Dionysos  und  einen  feierlicben  Zug,  der  zu  einer  Kapelle  wall- 
fahrtet,  dem  ^Gnadenort,  der  Wunderstelle,  da  unser  Herr  die  beilige 
Ariagne  fand." 

Hdrst  du  das  Gescbrei: 
„Obe!  Ewd?**-  Der  ganze  Adel  ist  dabei 
Mit  seinen  stolzen  Fraun  und  Jungfrauen,  scbOnen,  weissen. 
Docb  knie  nun  buriig  ab,  dass  sie  dicb  nicbt  zerreissen* 


503 


belehren  ihn  vorsorglich  die  Einheimischen.  —  Schweigend  haben  „beim 
Mondenmankeln''  Zeus  und  die  MSnner  dem  ratselhaften  Erzahler  ge- 
lauscht.  „Das  hast  du  nicht  erfunden,  Freund,  das  ist  gereift"  sagt  ihm 
Zeus.  Ein  Lob  spendet  dann  sein  koniglicher  Mund  der  holden  Ariagne, 
die  in  Fernem  Grabesgrunde  ruht.  Dreimal  unterbricht  er  seine  Rede 
mit  dem  feierlichen  Ausnif  „ Pathos Dies  kann  Leid  und  Leidenschaft 
heissen.  Obersetzt  darf  dieses  Wort  hier  nicht  werden;  wer  den  Gesahg 
richtig  empfunden  hat,  wird  auch  das  Wort  verstehen.  Ein  kurzer  Ab- 
schied,  und  einsam  wandert  Zeus  wieder  hinauf  zur  Kdnigsburg. 

Voll  des  wundersamsten  Zaubers,  einem  hellen  Lichtstrahl  gleichend, 
der  uber  Bluten  dahinhuscht,  leuchtet  der  achte  Gesang  ^Hylas  und 
Kaleidusa  uber  Berg  und  Tal**.  Mit  groteskem  Humor  rasselt  der  funfte 
, Poseidon  mit  dem  Donner**.  Poseidon,  der  vom  ^Ich-einzig-Wahn^ 
besessen  ist,  will  es  eben  durchaus  anders  machen,  ohne  zu  fragen, 
ob  Sinn  in  seinem  Handeln  sei,  und  leidet  dabei  klaglich  Schiffbruch. 
Hier  liegen  allerdings  satirische  Vergleiche  mit  so  manchen  modemen 
Originaiitltshaschereien  so  nahe,  dass  sie  kaum  von  der  Hand  zu  weisen 
sind.  Doch  das  ist  sekundHr.  Das  zyklopische  Gedicht  bedarf  der  Aus- 
legung  nicht.  Es  wirkt  als  Ereignis  durch  sich  selbst.  Die  allererste 
poetische  Anregung  mag  der  Dichter  vielleicht  durch  den  eigenttimlichen 
Reiz  empfangen  haben,  den  es  gewShrt,  das  unauf haltsame  Herabstromen 
des  Wassers  von  der  Quelle  hoch  oben  auF  dem  Berg  bis  hinab  zum 
weiten  Meere  zu  verfolgen.  Noch  einmal,  in  einer  anderen  Dichtung 
(die  Erdenwanderung  Pandoras  in  « Prometheus  und  Epimetheus"),  hat 
er  diesen  Reiz  poetisch  verwertet,  wie  auch  sonst  ftlr  viele  seiner  Er- 
zfthlungen  der  unmittelbare  Ursprung  in  Naturanschauungen  erratbar  ist. 

Hiermit  will  ich  die  Betrachtung  Uber  den  ,01ympischen  Fruhling* 
schliessen.  Wie  die  jungen  Gdtter  aus  dem  Hades  auferstanden  sind, 
so  ist  mit  diesem  Werke  ein  neuer  inhalt-  und  bilderschwerer  Mythos, 
von  einem  iiberragenden  Geiste  erdacht,  von  einer  Meisterhand  geformt, 
zum  Licht  des  Tages  emporgestiegen.  Ftirwahr,  ein  beseligendes  Unter- 
pfand,  dass  die  hohe  Poesie  lebt  und  immer  wieder  ihr  leuchtendes 
Antlitz  uns  zuwenden  wird,  wenn  es  auch  von  Zeit  zu  Zeit  durch  die 
trtiben  Nebel  eines  falschen  Realismus  verschleiert  wird.  Dem  Dichter 
aber  gebuhren  dieselben  herrlichen  Worte,  die  der  Herr  von  Metakosmos, 
der  niemand  anderer  ist  als  Apollons  eigener  SiegesdSmon,  diesem  zuruft: 

^Dreifach  ist  deines  Ruhmes  Furstenkrone: 
Du  hast's  geglaubt,  das  zeugt,  dass  A  del  in  dir  wohne. 
Du  hast's  gewollt,  das  spricht,  dass  Heldenmut  dich  stlhlt, 
Du  hat's  gekonnt:  du  bist  aus  Tausenden  erwahlt.'' 


In  seinen  jiingeren  Jahren  schrieb  Spitteler  unter  dem  Namen 
C.  Felix  Tandem.  „Der  gliickliche  Trotzdem"  tibersetze  ich  mir's, 
d.  h.  gliicklich  ist,  wer  trotz  allem,  was  ihm  innerlich  und  dusserlich 
feindlich  entgegenarbeitet,  unentwegt  dabeibleibt,  das  zu  tun,  was  er  fur 

33* 


504  8^ 


gut  und  richtig  hdlt.  Ob  dies  Spittelers  Gedanke  war,  will  ich  nicht 
untersuchen,  erwShne  seines  Pseudonyms  auch  nur,  um  die  unter  dem 
Namen  .Tandem*  erschienenen  Schrifren  dem  Leser  auffindbar  zu  machen. 
Es  sind  dies  » Prometheus  und  Epimetheus*  (erschienen  bei  Sauerldnder 
in  Aarau)  und  «Extramundana*  (erschienen  bei  Haessel  in  Leipzig).  Beide 
Werke  sind  ganzlich  unbekannt  und  barren  der  Auferstehung  aus  mehr 
als  zwanzigjdhriger  Nichtbeachtung.  Popularitit  im  gewdhnlichen  Sinne 
ist  mit  dieser  Auferstehung  nicht  gemeint,  ja,  diesen  beiden  Dichtungen 
vielleicht  auch  nicht  zu  wiinschen.  Empfange  ich  einen  grossen  kiinst- 
lerischen  Eindruck,  so  keimt  mir  gleichzeitig  immer  der  Wunsch  auf,  dass 
nur  solche  Personen  die  Gelegenheit  bekamen,  denselben  Eindruck  zu 
empfangen,  die  fMhig  sind,  ihn  aufzunehmen.  Um  dies  zu  konnen,  ist 
es  notwendig,  den  springenden  Punkt  zu  erfassen,  der  das  Charakteristische 
eines  Werkes  und  somit  seinen  eigentlichen  Vorzug  ausmacht.  Dieser  Punkt 
liegt  aber  meistens  tief  verborgen,  um  so  tiefer,  je  bedeutender  das  Werk 
ist,  und  nur  seine  Ausstrahlungen  sind  es,  die  wir  als  die  verschieden- 
artigen  vorztiglichen  Eigenschaften  einer  Meisterschdpfung  erkennen,  die 
aber  eben  gerade  nur  durch  ihren  einheitlichen  Ursprung  Wert  und 
Bedeutung  besitzen.  Gar  viele  begniigen  sich  nun,  diese  Ausstrahlungen 
ganz  Oder  teilweise  auf  sich  wirken  zu  lassen,  sie  mitunter  vielleicht 
auch  nach  innen  zu  verfolgen,  ohne  aber  den  Kempunkt  selbst  zu  treffen, 
wodurch  sie  dann  in  der  Verschiedenartigkeit  der  Eigenschaften  Wider- 
spruche  zu  finden  glauben,  die  ihnen,  je  festere  Wurzel  dieser  Glaube 
fasst,  um  so  mehr  die  Freude  am  Ganzen  verkummern.  Daher  kommt 
wohl  auch  die  immer  und  immer  sich  wiederholende  Tatsache,  dass  ge- 
rade die  grossten  Kunstwerke  lange  Zeit  den  grdssten  MissverstMndnissen 
ausgesetzt  sind.  Zwar  ist  es  mitunter  bedeutenden  Werken,  die  die 
FShigkeit  besitzen,  stark  in  einer  Empfindungsrichtung  zu  wirken, 
vergonnt,  verhUltnismissig  rasch  ihr  Publikum  zu  finden.  Der  .Frei- 
schutz*  entfachte  sofort  die  gemutliche  Neigung  des  Deutschen  fur  das 
romantisch-gruselige  Halbdunkel  seiner  Wilder,  von  dem  sich  Agathens 
blonde  Poesie  liebreizend  abhebt;  vom  bunten  Kaleidoskop  des  ,Oberon" 
hingegen  ist  trotz  der  an  Melodie-  und  Klangzauber  so  reichen  Musik 
nur  die  Ouverture  wirklich  ins  Publikum  gedrungen.  Wdhrend  Goethes 
,Werther"  die  TrMnendrusen  aller  Welt  heftig  affizierte,  ist  sein  „Tasso*, 
die  am  feinsten  gegliederte  Seelentragddie  der  Weltlitteratur,  heute  noch 
unpopulir.  Die  vulkanische,  feuergarbige  C-moll  Symphonic  von  Beethoven 
war  beliebt,  als  die  Eroica  mit  ihren  stemstrahligen  Schonheiten  noch 
so  selten  als  mdglich  aufgefuhrt  wurde,  und  untersuchen  mochte  ich 
nicht,  wie  so  mancher  Zuhorer  noch  heute  urteilte,  wenn  es  mdglich 
wSre,  ihm  den  ersten  und  dritten  Satz  der  neunten  Symphonie  mit  ihrem 
reichen  Wechsel  der  Empfindungen  als  Werke  eines  unbekannten  Kom- 
ponisten  zu  suggerieren,  wdhrend  das  durchwegs  ddmonische  Scherzo 
schon  bei  der  ersten  Auffuhrung  einen  unmittelbaren  Beifallsstunn  ent- 
fesselt  haben  soli,  und  wohl  stets  eines  der  auch  dusserlich  wirkungs- 
vollsten  Orchesterstiicke  bleiben  wird.  Wie  nun  so  mancher  z.  B.  fur 
ein  besonders  farbenprMchtiges  Bild  von  Boecklin  eingenommen  sein 


-SHg    505  8^ 


mag,  bevor  er  sich  klar  gemacht  hat,  was  da  eigentlich  gemalt  ist,  so 
halte  ich  es  nicht  fiir  unwahrscheinlich,  dass  die  Bilderpracht  und 
schdnheitstrunkene  Sprache  dem  .Olympischen  Fruhling"  Spittelers  in 
absehbarer  Zeit  zu  einem  Erfolge  verhelfen  werden,  der  zwar  dem  Werte 
der  Dichtung  noch  nicht  anndhernd  entsprechen,  wohl  aber  des  Dichters 
Namen  in  die  weitesten  Kretse  tragen  wird.  Sollten  dann  auch  seine 
beiden  Mlteren  Werke  » Prometheus*  und  ^Extramundana*  in  den  Kreis 
der  Lekture  und  Besprechung  gezogen  werden,  so  erwarte  ich  heute 
schon  mit  Bangen  die  Urteile,  die  man  vemehmen  wird,  wenn  sie  den 
vier  .Temperamenten*  in  die  Hdnde  fallen,  ndmlich  den  Melancholikem, 
die  stets  daruber  jammem,  dass  der  Kunstler  nicht  lieber  etwas  anderes 
gemacht  habe,  als  gerade  das  vorliegende,  wozu  er  leider  gar  nicht  das 
Zeug  habe,  den  Phlegmatikern,  die  sich  nie  aufregen,  und  uber  Shakespeare 
und  einen  Kolportageroman  mit  denselben  schneckenweichen  Phrasen 
dahinschleichen,  den  Sanguinikem,  die  alles  genau  hdren,  was  der 
Kiinstler  nie  gesagt  hat,  und  endlich  den  Cholerikern,  die  schimpfen 
und  wuten,  weil  das  zum  Handwerk  gehdrt.  Gerade  diesen  beiden 
Biichem  wiinschte  ich  aber,  dass  sie  Geheimschriften  blieben  fiir  Aus- 
erwdhlte,  die  sich  in  stillen,  weltenfemen  Stunden  daran  erbauen  mogen. 
Ich  behaupte  sogar,  dass  ihr  tatsSchliches  Populflrwerden  eine  hohere 
Kultur  voraussetzte,  als  sich  das  menschliche  Geschlecht  bisher  er- 
ringen  konnte,  denn  sie  stehen  zu  dem,  was  wir  heute  Bildung  und 
Fortschritt  nennen,  nicht  in  Ubereinstimmung,  sondem  im  Widerspruch. 
Ihr  Inhalt  ist  ungewohnlich  und  ginzlich  verschieden  von  allem,  was 
wir  sonst  gelesen  haben.  Wir  werden  in  Gebiete,  wohin  sich  nur  ein 
dunkles  Ahnen  wagte,  vom  Dichter  mit  so  intensiver  Vorstellungskraft 
gefuhrt,  dass  wir  dort  klare  Dinge  erschauen,  wo  wir  bisher  mit  un- 
sicherer  Hand  getastet  haben.  Fast  scheue  ich  mich,  uber  diese  Dich- 
tungen  zu  sprechen,  und  den  geheimnisvollen  Schleier,  der  begitickende 
und  erhabene,  oft  aber  auch  grauenhafte  und  furchterliche  Mysterien  den 
Augen  der  Welt  verhullt,  zu  luften.  Ich  tue  es  auch  nur,  indem  ich 
ausdrucklich  die  folgende  Wamung  Torausschicke:  Wer  Zerstreuung, 
Unterhaltung,  Lekture  im  gewohnlichen  Sinne,  womit  man  mussige  Stunden 
totschldgt,  Oder  ausruhende  Ablenkung  von  des  Tages  Geschdften  zu 
finden  hofft,  der  nehme  sie  gar  nicht  zur  Hand.  Die  Enttduschung  ist 
unausbleiblich.  Wer  aber  einem  grossartigen  Dichter  durch  Himmel  und 
Hdlle  und  daruber  hinaus  in  nie  betretene  Welten  folgen  will,  wer  Neigung 
verspurt,  die  tiefsten  Empfindungen  des  menschlichen  Herzens  in  Ver- 
kdrperungen  voll  eigentumlichster  Poesie  zu  erschauen,  der  lasse  sich 
von  diesen  Zeilen  bewegen,  mit  ehrfurchtigem  Gefuhl,  so  wie  man  sich 
zu  einer  heiligen  Handlung  anschickt,  diese  Biicher  aufzuschlagen  und 
mit  hingebender  Aufmerksamkeit  zu  lesen.  Nicht  Voreingenommenheit 
will  ich  mit  diesen  Worten  erzeugen,  wohl  aber  einen  Schimmer  der 
heiligen  und  ehrfurchtigen  Empfindungen,  die  ich  selbst  den  genannten 
Schriften  verdanke,  ihren  kiinftigen  Lesem  in  die  Seele  werfen,  damit 
das  Ausserordentliche,  das  sie  erwartet,  ihr  Gemut  nicht  ganz  unvor- 
bereitet  treffe  und  es  vielleicht  allzu  gewaltig  erschuttere. 


-H!    506  8^ 


Auch  ein  freundlicher  Rat  moge  mir  gestattet  sein.  Scheint  der 
Sinn  an  manchen  Stellen  dunkel,  so  lese  man  gerade  diese  Stellen 
wiederholt,  langsam  und  grundlich.  Findet  sich  die  Aufklarung  dann 
noch  nicht,  so  wird  beim  Weiterlesen  vielleicht  ein  Ruckschluss  von 
einer  spMteren  auf  die  friihere  Stelle,  vor  allem  aber  eine  grossere,  all- 
mdhlich  wachsende  Vertrautheit  mtt  des  Dichters  Eigenart  Licht  verbreiten. 
Vor  allem  suche  man  aber  stets  das  poetische  Bild  zu  erfassen,  und 
fahnde  ntcht  nach  Erkl&ningen,  wo  diese  sich  nicht  unwillkurlich  auf- 
drangen.  Ich  glaube  dann,  dass  keinem  offenen  Gemute,  das  sich  von 
menschlichen  und  litterarischen  Vorurteilen  freizuhalten  vermochte,  auch 
nur  ein  Wort  unverstindlich  bleiben  kann,  denn  was  da  steht,  ist  einfach 
und  klar,  schlicht  und  naturlich,  so  eigentumlich  es  ist.  Wer  durchaus 
zu  keinem  Verstindnis  kommen  kann,  der  suche  aber  den  Grund  Iteber 
in  sich  selbst,  als  in  den  Buchem,  denn  bekanntlich  liegt  es  ja  auch  nicht 
am  Berge,  wenn  der  Beschauer  dessen  Form  und  Grosse  nicht  richtig 
beurteilt,  sondem  an  der  Stelle,  von  der  aus  er  ihn  betrachtet. 

Ist  der  vOlympische  Fruhling*  das  Schdnste,  was  Spitteler  geschafFen 
hat,  so  ist  « Prometheus  und  Epimetheus''  wohl  das  Tiefste  und  Grosste. 
Zunichst  will  ich  bemerken,  dass  wir  es  nicht  mit  dem  griechischen 
Prometheus  zu  tun  haben.  Die  mythologischen  Namen  sind  bunt  durch- 
einandergewurfelt.  Neben  Prometheus  finden  wir  Jehova,  Doxa  neben 
Behemot,  Messias  neben  Mythos  und  Adam  neben  Proserpina.  Keines- 
wegs  sollen  auch  die  Namen  irgendwie  wissenschaftlich  gedeutet  werden. 
Spielend  wShlt  sie  der  Dichter,  ^wie  man  auf  dem  Spaztergang  im 
Walde  Blitter  abrupft'',  so  sagt  er  einmal  selbst.  Leuchteten  im  «01ym- 
pischen  Friihling*  die  einzelnen  Gleichnisse  wie  Edelsteine  aus  goldener 
Fassung  hervor,  so  ist  bier  das  ganze  Buch  ein  einziges  Gleichnis.  So 
betitelt  es  auch  der  Dichter.  Prometheus  ist  der  freie  Mensch,  der 
seiner  Seele  folgt,  well  er  ihrer  gewaltigen  Schonheit  folgen  muss. 
Epimetheus  aber  folgt  dem  Geiste  der  Klugheit.  Er  verhandelt  seine  freie 
Seele  fur  ein  Gewissen,  das  ihm  deutlich  melde  ,Ja'  und  nNein*"  und  ihm 
lehre  wHeif  und  vKeif".  —  Ungefahre  Auslegung:  Die  moralischen  Be- 
grifPe  sind  nichts  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit  Feststehendes.  Sie  sind  un- 
fertig,  vieldeutig  und  wechselvoll,  jenachdem  man  sie  anwendet,  und  ab- 
htogig  unter  vielen  anderen,  von  Zeit,  Ort,  Klima,  Vdlkerschaft,  allgemeiner 
Wohlfahrt  und  Persdnlichkeit.  Dem  Durchschnittsmenschen  mdgen  sie 
notwendig  sein.  Dem  starken  Individuum  verhindem  sie  die  eigenkriftige 
Entwicklung.  —  Prometheus  wird  verstossen  in  Nacht  und  Elend, 
Epimetheus,  der  Gefugige,  auf  den  Thron  der  Weltherrschaft  erhoben.  — 
UngefMhre  Auslegung:  Wer  nicht  mit  den  Wdlfen  heult,  wird  von  ihnen 
zerrissen.  —  In  Epimetheus'  Reich  ereignet  sich  Verfall,  Verrat  und 
Zusammenbruch,  bis  Prometheus  als  Retter  erscheint  und  aufrichtet.  — 
UngeFahre  Auslegung:  Die  Kleinen  und  Abhingigen  verfolgen  die  Grossen 
und  Freien,  um  sich  an  ihre  Stelle  setzen  zu  kdnnen.  Ist  ihnen  dies 
gelungen,  so  verderben  sie  alles  so  grundlich,  dass  die  Verstossenen 
wiederkommen  und  nach  dem  Rechten  sehen  mussen.  Die  Fahigkeit 
dazu  liegt  aber  gerade  wieder  nur  in  dem,  was  frtiher  ihre  Verfolgung 


-<-g    507  8k- 


herbeigeftihrt  hat,  ndmlich,  dass  sie  »Heit''  und  ^Keit**  nicht  kennen,  auch 
nicht  immer  Sngstlich  ihr  Gewissen  nach  jja''  und  vNein**  fragen  miissen, 
sondern  von  selbst  wissen,  was  not  tut,  weil  sie  eine  freie  Seele  haben, 
die  dort  erst  zu  leben  beginnt,  wo  die  andern  schon  nicht  mehr  atmen 
konnen,  dann  aber  auch,  weil  diese  ihre  freie  Seele  nicht,  wie  die  Ver- 
folger  meinen  und  hoffen,  im  Kampfe  gebrochen  und  vernichtet,  sondern 
vielmehr  gestMrkt  worden  ist  zu  immer  neuem  Aufflug  ins  Unendliche, 
zu  immer  grosserem  und  seligerem  Schaffen  im  Reiche  des  Ewigen  und 
Schdnen. 

Dieses  uralte  und  doch  immer  wieder  neue  Problem  bildet  im 
wesentlichen  den  Inhalt  der  Dichtung,  und  ihm  ordnen  sich  alle  Einzel- 
heiten  unter.  Die  Reihenfolge  der  Begebenheiten  wMre  nun  wohl  wieder- 
zugeben,  aber  die  diirren,  logischen  Worte  klSngen  in  vielen  Fallen  banal 
und  hulfen  dem  Leser  im  ganzen  wenig  zum  Verstdndnis  des  uber- 
quellenden  Reichtums  und  der  Urspriinglichkeit  des  Werkes,  falls  ich 
mich  nicht  entschlosse,  noch  mehr  Zitate  zu  bringen,  als  ich  es  bei  der 
Abhandlung  iiber  den  „01ympischen  Friihling*^  getan  habe,  was  aber  den 
Umfang,  den  diese  Schrift  einnehmen  darf,  weit  tiberstiege.  Ich  will 
mich  deshalb  zunMchst  darauf  beschrSnken,  eine  einzige  Episode,  deren 
schmerzliche  Ironie  mir  gerade  gegenwMrtige  Zustinde  besonders  scharf 
zu  trefPen  scheint,  in  gedrangtester  Form,  soweit  dies  moglich  ist,  zu 
erz&hlen. 

Pandora,  die  edle  Gottestochter,  trMgt  erbarmungsvoll  vom  hohen 
Himmel  herab  ein  kostliches  Kleinod  zu  den  leidvollen  Menschen  auf 
Erden.  Unter  einem  prachtvoUen  Nussbaum  bettet  sie  es  behutsam  unter 
hohen  Halmen.  Dort  finden  es  sieben  Bauern,  von  einem  stummen  Hirten- 
knaben  darauf  aufmerksam  gemacht,  und  beschliessen,  nach  langerem  ver- 
dutzten  Hin-  und  Herraten,  es  dem  Konige  zu  bringen,  da  es  wohl  ein 
Schatz  sei,  der  ihre  Not  lindern  konne.  Aber  Epimetheus'  sonst  so  sicheres 
Gewissen  gibt  keine  Antwort,  und  so  weist  sie  der  Konig  zu  den  Priestern, 
die  im  roten  Dom  »maassen  ihrer  taglichen  Gewohnheit*"  versammelt 
sind.  Als  aber  Hiphil-Hophal,  der  Oberpriester,  das  Kleinod  gewahrt, 
bekreuzigt  er  sich  und  ruft:  ^Hinweg  mit  diesem  Hohn,  denn  etwas 
Widergdttliches  beruht  in  ihm  und  fleischlich  ist  sein  Herz  und  Frechheit 
blickt  aus  seinen  Augen.**  Dann  weist  er  die  Bauern  zu  den  Lehrern, 
»die  da  wohnen  bei  der  hohen  Schule*.  Aber  diese  Hochweisen  lachen 
dariiber  und  meinen,  der  Goldschmied  wisse  wohl  eher,  was  mit  dem 
kuriosen  Ding  anzufangen  sei;  der  konne  es  vielleicht  nach  dem  Gewichte 
vergiiten.  Der  Goldschmied  pruft  und  brennt  und  gliiht  daran  herum, 
erkldrt  aber  schliesslich  das  Bild  fur  unecht  und  seinen  Glanz  fur  falsch. 
Die  entmutigten  Bauern  bringen  nun  ihren  Schatz  zum  Markt.  Die 
dunklen  Beeren  in  den  vielen  Korben  spuren  den  Himmelsodem  und 
singen:  „Du  adeliges  Kind  aus  einem  hdhem  Walde,  der  sich  spiegelt 
iiber  reinerm  Bach;  welch  Schicksal  fuhrt  dich  her?  und  ist  zu  eng  dir 
deine  schdne  Heimat?**  Aber  des  Marktes  Huter  herrscht  die  Bauern 
an:  „Wohnt  auch  ein  Herz  in  eurem  Leib,  und  ruht  auch  in  eurer 
Seele  ein  Gewissen,  dass  ihr  solches  wagt  und  leget  also  oflPentlich  vor 


508  8^ 


alter  Augen  diese  blosse  unverschSmte  geile  Nacktheit.*"  Wie  Diebe  eilen 
die  Bauem  davon.  Fest  eingehullt  in  einen  Sack  tragen  sie  ihr  Kleinod, 
dass  es  ja  niemand  gewahre.  Vor  den  Toren  der  Stadt  werfen  sie  es 
ingrimmig  auf  die  Strasse,  dass  es  jammernd  aufstdhnt;  den  stummen 
Hirtenknaben  aber,  der  zdgemd  und  harrend  am  Stadttor  wartet,  Uber- 
fallen  sie  mit  wutenden  Schl&gen.  Schliesslich  verstecken  sie  das  Kleinod 
abseits  unter  etnem  Strauch,  als  brMcht'  es  Pest  und  Unheil,  and  hasten 
davon,  froh,  von  der  unnutzen  Last  befreit  zu  sein.  —  Bin  Jude  aber 
ist  ihren  Schritten  gefolgt.  Mit  sonderbarem  Grinsen  schleicht  er  zam 
Strauch.  «Und  als  er  nunmehr  wieder  sich  erhob,  da  war  verwandelt 
seine  ganze  Art  and  steifen  Ruckens  eilt  er  jetzt  davon,  erhobnen  Haupts 
mit  krlft'gen  Schritten!  Der  Hirtenknabe  aber  schrie  und  schluchzete, 
wie  wem  die  ganze  Welt  geraubt,  und  wem  das  Herz  zersprengt  ein 
namenloses  Sehnen.'' 

Der  Sinn  dieser  schonen  Erzihlung  ist,  dass  die  Kunst,  das 
herrliche  Gescbenk  einer  Gottheit,  durch  der  Menschen  Unwert  und 
Unverstand  in  Mammons  HInde  geraten  ist,  und  dass  sie  verkauft  und 
verschachert  wird,  wie  jedes  andere  geringe  Ding. 

Die  Form  der  ganzen  Dichtung  ist  episch,  die  Sprache  durchwegs 
rhythmisch  gehobene,  ich  mochte  sagen,  biblische  Prosa.  Ein  einziges 
Werk  kann  zum  Vergleich  herangezogen  werden,  nSmlich  Nietzsches 
,  Also  sprach  Zarathustra',  und  zwar  hauptsSchlich  deshalb,  weil  Nietzsche 
den  vor  30  Jahren  erschienenen  .Prometheus*  Spittelers  gekannt  hat 
und,  wie  der  Leser  vielleicht  schon  aus  einigen  Andeutungen  bemerkt 
haben  wird,  sichtlich  von  ihm  beeinflusst  worden  ist.  Dies  dussert  sich 
nicht  nur  darin,  dass  in  beiden  Werken  der  Held  von  zwei  Tiergestalten 
begleitet  wird,  Prometheus  von  Ldwe  und  Hundchen,  Zarathustra  von 
Adler  und  Schlange,  sondem  auch  vielfach  in  den  Gedankeng&ngen,  den 
Bildem  und  der  Sprache.  Trotz  den  aus  dieser  Beeinflussung  ent- 
standenen  Ahnlichkeiten  bestehen  aber  zwischen  beiden  Werken  die 
schwerwiegendsten  Unterschiede. 

Nietzsche  bemiiht  sich,  seine  philosophischen  Absichten  in 
dichterische  Formen  zu  kleiden.  Doch  sein  Bemuhen  bringt  nur  blut- 
lose  Schemen  hervor,  die  samtlich  ein  und  dasselbe  Antlitz,  ndmlich  das 
ihres  Erzeugers  tragen,  und  durch  deren  pathetische  Reden  immer  und 
immer  die  Worte  klingen:  „Entratsle,  was  ich  dir  sage.*  Keine  Lebe- 
wesen  sind  diese  Gestalten,  sondem  kdrperlose  mit  dem  Schein  der 
Personlichkeit  ausgestattete  Begriffe.  —  Spittelers  Buch  strotzt  hingegen 
von  Anschaulichkeit.  Nichts  ist  unglaubhaft,  trotz  der  realen  Ausser- 
weltlichkeit,  und  plastische  Bilder,  Vorgdnge  von  tiefstem  Stimmungs- 
gehalt  und  Szenen  von  geradezu  niederschmettemder  Dramatik  gibt  uns 
der  Dichter  auch  noch  dort,  wo  seine  Phantasie  in  den  transzendentalen 
Femen  der  Metaphysik  schweift.  —  Nietzsche  ist  scheinbarer,  Spitteler 
wirklicher  Dichter. 

Nietzsches  Buch  fliesst  von  Selbstbespiegelung  tiber.  Wie  das 
physische  Auge  seines  Verfassers  so  kurzsichtig  geworden  war,  dass  er 
eigentlich  wohl  nur  noch  sich  selbst  deutlich  sah,  so  hatte  seine  Krankheit, 


-cHg  509 


vielleicht  auch  die  unnaturliche  Einsamkeit  seines  Lebens  seinen  Geist 
schliesslich  so  umsponnen,  dass  er  alles,  was  die  Welt  um  ihn  her 
enthielt,  nur  auf  seine  eigene  Person  und  sein  eigenes  Denken  und 
Fuhlen  bezog  und  nur  durch  das  Sieb  seines  Ich  alles  ausserhalb  Liegende 
zu  sich  gelangen  Hess.  Je  grdsser  nun  durch  sein  Zerstoren,  durch  sein 
^Umwerten*  dessen,  was  er  nicht  zu  sich  einliess,  oder  gewaltsam  aus 
sich  entfemt  hatte,  die  Triimmerstitte  um  ihn  herum  wurde,  desto  mehr 
glaubte  er,  selbst  zu  wachsen,  bis  er,  da  er  nun  an  Stelle  des  Zerstorten 
bauen,  an  Stelle  des  Umgewerteten  positive  Werte  setzen  woUte,  keinen 
Platz  mehr  fand,  da  er  tiberall,  wohin  er  in  seiner  Bedringnis  irrte,  nur 
wieder  sein  scheinbar  zur  Ungeheuerlichkeit  angewachsenes  Ich,  in 
Wirklichkeit  aber  die  TrummerstStte  fand,  die  er  selbst  aufgeh&uft  hatte, 
und  die  ihm  jeden  Ausweg  versperrte.  Nun  verwandelten  sich  die  hoch- 
strebenden  Gedanken  in  seinem,  schon  vom  Grinsen  des  Wahnsinns  leise 
entstellten  Munde  zu  grellem  Hohn  und  abenteuerlichen  Schmlhungen, 
mit  denen  er  in  steigender  Ohnmacht  gegen  Kleines  und  Grosses  wiitete, 
bis  er  endlicb,  ein  trauriges  Zerrbild  dessen,  was  er  unter  glucklichen 
UmstMnden  hdtte  sein  konnen,  kraftlos  zusammenbrach.  —  Aus  Spittelers 
Buch  spricht  die  geistesklare  Schlichtheit  des  wahrhaft  grossen  Menschen, 
der  unbeugsame  Kraft  mit  Bescheidenheit,  stolzes  Selbstbewusstsein 
mit  VerehrungsfMhigkeit  in  sich  vereintgt.  —  Nietzsche  vemtchtet, 
Spitteler  schafft. 

Bei  Nietzsche  sind  prachtvolle  Einfdlle  und  hochpoetiscbe  Ansdtze 
mit  grosstuenden  Widerspriichen  und  bramarbasierenden  Phrasen  wahllos 
durcheinander  geworfen.  —  Spitteler  hat  den  Uberreichtum  seiner 
Phantasie  mit  Meisterhand  gefasst,  gesichtet,  geordnet  und  zu  uber- 
schaubarer  Einheitlichkeit  verdichtet.  Nicht  ein  buntes  Gemengsel 
farbiger  Steine  gibt  er  uns,  sondem  herrliche  Mosaiken.  —  Nietzsche 
ist  Experimentator,  Spitteler  K  tins  tier. 

Ketn  Buch  ragt  so  seltsam  in  unsere  Zeit  hinein,  wie  » Prometheus 
und  Epimetheus*.  Fast  verletzt  es  mich,  es  im  iiblichen  kleinen  Format 
und  gewdhnlichen  Lettem,  ein  Buch  unter  Buchem,  vor  mir  zu  sehen. 
Ich  wiinschte  es  mir  in  riesiger  Grosse,  mit  prachtvoU  gemalten  Initialen 
und  Randverzierungen,  auf  dickem  Pergament  mit  kunstvollen  Buch- 
staben  wie  die  Inkunabeln  gedruckt,  im  Allerheiligsten  der  Behausung 
aufgestellt. 

Gottfried  Keller  schrieb  fiber  dieses  Werk  an  Widmann:  «Das 
Buch  ist  Yon  vom  bis  hinten  voll  der  auserlesensten  Schdnheiten. 
Schon  der  wahrhaft  epische  und  ehrwurdige  Strom  der  Sprache  in  diesen 
jambischen,  jedesmal  mit  einem  Trochdus  abschliessenden  AbsStzen 
umhfillt  uns  gleich  mit  eigentumlicher  Stimmung,  ehe  man  das  Geheimnis 

der  Form  noch  wahrgenommen  hat.  Ich  bin  geruhrt  und  erstaunt 

von  der  selbstMndigen  Kraft  und  Schdnheit  der  Darstellung  der  dunklen 
Gebilde.  Trotz  der  kosmischen,  mythologischen  und  menschheitlich 
zust&ndigen  Zerflossenheit  und  Unmoglichkeit  ist  doch  alles  so  glMnzend 
anschaulich,  dass  man  im  Augenblick  immer  voll  aufgeht.  —  Die  Sache 
kommt  mir  beinahe  vor,  wie  wenn  ein  urweltlicher  Poet  aus  der 


510  8^ 


Zeit,  wo  die  Religionen  und  Gottersagen  wuchsen  und  doch 
schon  vieles  erlebt  war,  heute  unvermittelt  ans  Licht  trate 
und  seinen  mysteriosen  und  grossartig  naiven  Gesang  an- 
stimmte.* 

Warum  hat  wohl  Keller  dieses  sein  Urteil  niemals  dffentltcb  aus- 
gesprochen?  Hdtte  sich  eine  so  gewichtige-  Stimme  wie  die  seinige 
fur  Spitteler  erhoben,  so  wflren  diesem  die  zahllosen  Bittemlsse  jahr- 
zehntelanger  Nichtbeachtung  vielleicht  erspart  geblieben.  Wie  dem  auch 
sei,  Kellers  Brief  ist  ein  erfreuliches  Zeichen  der  geisttgen  Frische,  mit 
der  der  beruhmte  Dichter  auch  einer  ihm  voUig  entgegengesetzten  Er- 
scheinung  gegeniibertrat,  und  die  nochmalige  VerofPentlichung  —  einmal 
war  er  bereits  vollstdndig  in  der  Beilage  zur  Munchener  Allgemeinen 
Zeitung  vom  12.  April  1897  abgedruckt  —  soli  nicht  nur  Spitteler, 
sondern  auch  Gottfried  Keller  ehren. 

Eine  Stelle  der  Dicbtung  will  ich  vollstSndig  zitieren  und  dabei 
die  Oberzeugung  aussprechen,  dass  ketn  Philosoph  jemals  eine  so  tiefe 
und  herrliche  Deutung  des  grossen  RStsels  vom  unldsbaren  Widerspruch 
in  allem  Seienden  gegeben  hat,  wie  Spitteler  in  der  nachfolgenden  Er- 
zahlung  vom  Gotteskinde  Hiero  (Prometheus  II.  Teil). 

^Und  es  gescbab,  ob  dieser  Stimme  Rufen')  widerballeten  die  Saiten  und  die 
Harfen  durch  den  gtnzen  weiten  Erdenplan,  und  iiber  dieses  Liedes  Inbalt  fing  es 
an  zu  keimen  in  den  Ltiften,  stiegen  aus  des  Athers  schwarzer  unergrundlictaer 
Versenkung  die  vergang'nen  Dinge,  senkte  leuchtend  sich  die  reine,  duft'ge  Gottes- 
welt  hemieder  auf  das  plumpe  Dasein. 

Die  Gotteswelt,  die  reine,  die  beseelte,  wie  sie  Gott  der  Schopfer  ahnte,  als 
er  am  verbingnisvollen  Abend  liebestrunken  wankte  zu  Usia,')  seiner  angetrauten 
keuschen  Braut,  doch  fiberm  Walde,  wo  am  heissen  Stein  die  Brombeer'n  leuchteten 
im  Abendsonnenstrahl,  da  kam  des  Wegs  entgegen  Physis,')  das  gewalfge,  iipp'ge 
Weib,  gemeio  an  Seele  und  Bewegung,  klein  von  Geist  und  grausam  an  Gesinnung, 
aber  hefdg  und  gerade  war  ihr  Wesen,  samt  von  kriftiger  gesunder  Schdnheit  ihres 
Kdrpers  prichf  ger  Bau  und  es  geschah  nach  sanfter  Leute  Branch  und  Sine  fasste 
Leidenscbaft  sein  weich  Gemtit,  und  da  nun  jene  kunstlich  spielte  mit  den  Augen, 
mit  dem  Munde,  mit  den  weissen  Gliedern,  auch  in  Wahnsinn  tobten  seine  Sinne, 
irrt'  er  einen  kleinen  Augenblick,  und  ob  auch  alsobald  ein  nngezihmter  Ekel  ihn 
befreite,  ob  er  sie  verfluchte  mit  den  flirchterlichsten  Schwiiren,  ob  in  Reu'  und 
Gram  er  sich  verzehrt*  in  alle  Ewigkeit,  so  war's  geschehen  und  alles  Unheil 
stammt  daher  und  also  ward  geboren  eine  Bastardwelt,  gemein  von  Wesen,  aber 
schSn  von  Gliedern,  stark  zugleich  und  grob  und  grausam,  kraft  der  schlechten 
Mutter  treuem  Ebenbild  und  Erbteil. 

Und  iene  andre  Welt,  die  ungeborene,  darinnen  herrscht  Gemtit  und  Liebe, 
senkte  sich  hemieder  bei  des  ritselbaften  Vogels  sehnsuchtsvollem  Singen,  dass 
von  abertausend  seligen  Gestalten  sich  erfullete  der  ungeheure  Raum  —  und 
knieend  auf  dem  Wagen  starrte  Hiero  inmitten  dieser  Wnnder,  konnf  er  alles  nicht 
bewiltigen  in  seinem  kleinen  Herzchen,  rang  und  kimpfte  mit  ersticktem  Atem, 
well  ein  unverstand'nes  Weh  verletzte  seine  tiefete  Seele." 

Der  Gedanke,  der  dieser  Erzdhlung  zugrunde  liegt,  beherrscht  im 
wesentlichen  auch  das  dritte  grosse  Werk  Spittelers,  die  „Extramundana«, 


^)  Die  Stimme  eines  Vogels. 

ovoia  =8  Wesenheit. 
3)  ffvois  =  Naturkrafc 


-^511 

zu  deutsch  ungeRihr  «Ausserweltliches''.  Er  ist  gleichsam  das  Thema, 
das  in  sieben  poetischen  Erzlhlungen  variiert  wird.  Gibt  es  ein  Gottes- 
reich  voll  Frieden  und  Schdnheit,  warum  mussen  wir  dann  kampfen  und 
leiden?  Was  bat  uns  abgetrennt  von  dort?  Wer  hat  es  verschuldet? 
Wo  ist  —  urn  mit  des  Dichters  eigenen  Worten  zu  reden  —  „der  bose 
Bruch,  von  dem  entfiel  die  Welt?"^)  —  Diese  Fragen  geben  den  ernsten 
Grundton  der  Dichtung.  Siebenfach  ist  die  Antwort.  —  Gewandert  sind 
wir  von  einer  lichten  Urheimat  zu  immer  ferneren  Stfitten  bis  in  die 
Wuste,  wo  das  Leben  nur  mehr  mtihsam  in  Gribem  von  Sand  rochelt. 
Weltenkonig  ist  der  furchterliche  Samum.  Aber  Ajescha,  die  Furstin 
des  Himmels,  kommt  vom  Paradiese  hergeritten  auf  einem  weissen 
Zelter.  Schnaubend  stampft  das  edle  Ross  die  GrMber  auf,  aus  denen 
zuerst  zittemd  und  zagend,  dann  immer  mutiger  und  vertrauender  die 
Seelen  emportauchen,  von  Ajescha  mit  holdem  Zuspruch  gestarkt.  Wutend 
braust  Samum  daher,  doch  mit  den  blossen  Armen  wirft  ihm  Ajescha 
den  Sand  entgegen,  bis  er  tot  zur  Erde  sinkt.  Rtickwarts  Ziehen  die 
Erlosten  mit  der  hohen  Ftihrerin  aus  der  Wtiste  tiber  die  StStten,  woher 
sie  gekommen  waren,  der  Himmelsheimat  entgegen. 

vWenn  wir  kommen  zu  dem  goldnen  Gitter, 
Steigt  die  HimmelskSnigin  vom  Pferde 
Und  beginnt  mit  ihrer  sussen  Stimme: 
,Al8o  ist  der  schdne  Sieg  erruogeo, 
Seid  willkommen  nun  in  meinem  Hause, 
Aber  ehe  wir  zum  Schlosse  steigen, 
Sollt  ihr  erst  erwarten  eure  Kinder, 
Die  zu  eurem  Dienst  ich  herberufen.' 

Welche  Kinder  sollen  wir  erwarten? 
Sieh,  da  regt  sich's  in  der  weiten  Feme, 
Kopfe  tauchen  auf  und  vieles  Fussvolk, 
Und  in  reichen,  buntgestickten  Kleidern 
Nahen  jetzt  die  Migdlein  und  die  Knaben, 
Schdn  und  lieblich  von  Gestalt  und  Antlitz. 
Aber  bleich  mit  schuldbeladnen  Mienen 
Und  die  Kdpfchen  hangend  auf  den  Busen. 

Sind  die  Leiden  aus  dem  Weltengrabe  — 
Nicht  die  gottverfluchten  Leibesleiden, 
Nicht  die  Todes-  und  die  Lebenskimpfe 
Furchterlichen  dummen  Angedenkens  — 
Doch  die  segensvoUen  Seelenleiden, 
Jene,  die  in  nichtlicher  Erinnerung 
Leuchten  wie  mit  goldnen  Traumesfarben. 
Stummen  Mundes  fleh'n  sie  um  Verzeihung, 
Lauten  Jubels  werden  sie  empfangen, 
Wie  man  annimmt  Feiertagsgeschenke: 
Glticklich  wer  die  meisten  nennt  sein  eigen. 

Und  Ajescha  dffnet  jetzt  das  Gitter 
Und  wir  ziehn  mit  wogenden  Geslngen, 


^)  Olymp.  Frubling,  3.  Teil,  Seite  62. 


512  '6^ 


Hold  umschwirrt  von  tausend  lichten  Schwalben, 
Froh  und  telig  nach  der  letzten  Heimat. 
—  Komme  bald,  du  lieblictae  Ajescha!* 

In  diesem  poetischen  Bilde  stellt  sich  die  Antwort  der  ersten  Er- 
zMhlung  9 Der  verlorene  Sohn""  dar. 

Ihre  Krifte  wollen  Adonai  und  Saun  messen.  Satan  baut  sich 
eine  riesige  Kugel  aus  Erz,  fullt  sie,  da  sie  ihm  zu  leicht  erscheint, 
mit  schlechtem  Kehricht,  Scherben,  Unkraut,  Gewtinn  und  mit  ,was  da 
immer  dienen  mag  zur  Fullnis".  Mit  ungeheurer  Mfihe  stemmt  er  sie 
in  die  Hdhe  und  hat  gerade  noch  die  Kraft,  sie  Adonai  in  die  Hand 
zu  legen.  Doch  dieser  wigt  sie  leicht,  trigt  sie  spielend  hinauf  zur 
Zinne  der  Burg  und  schleudert  sie  mit  gewaltigem  Wurf  in  die  Weite. 
Die  Lanze  ergreift  er  dann  und  wirft  sie  der  fliegenden  nach.  Mitten- 
durchgespalten  zerplatzt  der  gewaltige  Ball;  flammenlodemd  saust  sein 
Inhalt  in  feurig  durcheinanderkreisenden  Kugeln  durch  die  Liifte.  — 
Gott  hat  die  Welt  von  sich  gestossen.  Dies  die  Antwort  der  zweiten 
Erzlhlung  ,Die  Weltenkugel**. 

Hart  an  der  Grenze  zwischen  Poesie  und  AUegorie  steht  ^Lucilia', 
die  dritte  Erzlhlung.  Lucilia,  das  holde  MSgdelein,  ist  das  Licht,  das 
seine  gdttlichen  Strahlen  liebreich  senkt  in  die  Seele  Homos,  des  zur 
femen  Insel  Tellus  verbannten  Bruders,  damit  er  erstarke  zu  der  ihm 
bestimmten  Weltherrschaft.  Homo  ist  der  Mensch,  Tellus  die  Erde. 

Die  grosste  poetische  Kraft  verrfit  wohl  die  vierte  »Der  Prophet 
und  die  Sibylle''  betitelte  Erzlhlung,  die  uns  auch  gleich  am  Anfang 
ein  wundervolles  Bild  enthullt. 

«Ring8  umscblossen  liegt  ein  einsam  Bergtal, 
Das  kein  Auge  jemaU  hat  ergrundet; 
Stan  des  Nebels  aus  dem  tiefen  Ketsel 
Steigt  empor  ein  mittemichtiges  Dunkel, 
Statt  der  Wasterbiche  von  den  Felsen 
HSngt  geheimnisvoll  ein  blasses  Schweigen 
Und  die  scbwarze  Luft  ist  starr  vom  Tode. 

Oberm  Tal  auf  hohem  Bergetgipfel 

Steht  ein  Riese  seltsam  von  Gebaren: 

Scblafend  steht  er  mit  geschlossnen  Augen, 

Einwirts  schauend  nach  dem  Traumetleben, 

Wlhrend  er  mit  lauter,  schdner  Stimme 

Unaufhdrlich  dichtet  durch  das  Bergtal 

Ewige  unsterbliche  Geslnge, 

Nicht  Gesinge  von  vergangnen  Taten, 

Nicht  von  Dingen,  die  im  Raum  vorhanden, 

Sondem  prophezeiend  seine  Psalmen, 

Einzig  aus  dem  eignen  tiefen  Wesen,  

Ihm  entgegen  tiberm  dunkeln  Tale, 
Wo  die  Felsenmauer  trotzig  aufsteigt, 
Sitzt  ein  Riesenweib  auf  einer  Steinbank, 
Eine  Schulter  an  den  Felsen  lehnend 
Und  die  Hinde  in  dem  Scboss  gefaltet; 
Blickt  hinCber  nacb  dem  femen  Singer 


513  8^ 


Grotsen  Blickes  aus  dem  schdnen  Auge, 
Wie  man  blickt  ins  AntlUz  des  Geliebten." 

Gott  und  die  Natur  sind  die  beiden  Riesengestalten,  die  sich  un- 
verstanden  gegentiberstehen.  Er  kann  sie  nicht  sehen,  weil  seine  Augen 
im  Dichtertraum  geschlossen  sind.  Sie  kann  nicht  sprechen,  weil  Stolz 
ihre  Lippen  verschliesst.  Wenn  aber  deretnst  des  Weibes  Liebe  so 
tibennSchtig  in  ihr  erstarkt,  dass  sie  ihm  das  befreiende  Wort  entgegen- 
jaucbzen  kann,  dann  wird  er  die  Augen  ofPnen,  das  herrliche  Weib  er- 
schauen,  und  die  beiden  werden  sich  finden,  in  seliger  Vereinigung 
ihre  ewige  Jugendhochzeit  zu  feiern.  —  Die  uberaus  reiche  dichterische 
Ausgestaltung  dieses  Gleichnisses  hier  auch  nur  anzudeuten,  ist  mir 
unmoglich. 

Als  die  verbrecherische  Tat  einer  Hexe  und  eines  von  Eifersucht 
verzehrten  Mannes  wird  die  Schopfung  der  Welt  in  «Kosnioxera,  oder 
die  Armbandgeschichte",  als  Pfuscherei  eines  Strebers  in  der  letzten 
,Das  Weltbaugericht*  uberschriebenen  ErzShlung  geschildert.  —  Vorher 
gestattet  sich  der  Dichter  einen  Scherz,  so  wie  etwa  ein  Komponist  sich 
erlauben  wiirde,  etne  seiner  Variationen  trotz  des  dustem  Themas  in 
burleskem  Stile  zu  halten.  In  der  vorletzten  ErzShlung  »Die  Algebristen'' 
versucht  Allah  mit  seinem  Hofastronomen  die  Gottheit  durch  Ausrech- 
nen  der  unendlichen  Zahl  zu  gewinnen.  Eines  schonen  Tages  aber  be- 
gegnet  ihm  das  Ungluck,  eine  13  in  sein  Rechenbuch  zu  schreiben,  die 
sofort  aus  der  bisher  erreichten  Summe  herausspringt,  ubermlssig  an- 
schwillt  und  alle  anderen  Zahlen  auffrisst,  bis  sie  sich  selber  in  Blut 
und  Feuer  verzehrt.  Aus  dem  roten  Unheilsmeer  taucht  aber  unab- 
wendbar  und  ftirchterlich  die  Teufelszahl  7  hervor,  die  sich  zu  einem 
Weltall  auseinanderspaltety  das 

Siebenfdrmig  voo  Gesicht  und  Misswachs, 
Siebenartig  nach  dem  innem  Wesen, 
Siebentdnig  auch  an  faUchem  Missklang. 

Mit  Differential-  und  Integralrechnung  bemtihen  sich  nun  die  be- 
sttirzten  Gelehrten,  ihr  Werk  wieder  auf  Null  zu  bringen,  aber 

jfEine  bdae  Sieben  ist  das  Weltall, 

Besser  wlr*  der  Luftraum  schwarz  und  einsam. 

Wollten  tuchen  eine  Gottesaumme 

Und  der  Teufel  ist  herausgekommen. 

Mdgen  nunmehr  ewig  sich  zermtihen 
So  mit  Brillen  als  mit  Almanachen, 
So  mit  einem  grossen  Volk  von  Schreibern 
Als  mit  roten  Hof-Alkaligrapben, 
Schwerltcb  finden  sie  den  Integralen. 

Denn  die  Welt  ist  leichter,  scheint's,  zu  recbnen 
Als  sie  wieder  weg  zu  dividieren. 
Ahnlicb  gebt's  mit  jedem  bdsen  Werke. 


514  8^ 


Enthiillen  uns  die  besprochenen  epischen  Dichtungen  die  grossaitige 
dichterische  Persdnlichkeit,  so  lernen  wir  in  einer  Sammlung  von  Essays, 
die  unter  dem  Titel  „Lachende  Wahrheiten^'  bei  Diederichs  in  Leipzig 
erscbienen  sind,  den  Menschen  Carl  Spitteler  niher  kennen.  Als 
Ausserungen  eines  unabhMngigen,  schaifensfreudigen  und  kampfbereiten 
Geistes  werden  diese  in  prachtvollem  Deutsch  geschriebenen  Abhand- 
lungen  auch  dort  fesseln,  wo  unsere  Ansicht  zufallig  nicht  die  des  Ver- 
fassers  ist.  Als  Musiker  mdchte  ich  dem  Dichter  bier  danken  fur  seinen 
wundervoUen  Aufsatz  uber  Schuberts  Klaviersonaten,  der  das  Scbonste 
enthMlt,  was  ich  iiber  Schubert  gelesen  babe,  den  ich,  je  ofter  ich  von 
seinem  Genius  beruhrt  werde,  immer  mehr  geneigt  bin,  fur  denjenigen 
Tondichter  zu  halten,  aus  dem  die  Gottheit  am  allerunmittelbarsten  zu 
uns  spricht.  Wer  nicht  ubermusikalisch  und  daher  unverdorben  genug 
ist,  den  herrlichen  Zauber  Schubertscher  Sonaten,  Quartette  und  Sym- 
phonien  zu  geniessen,  wird  aufjubeln,  wenn  er  folgenden  Satz  liest: 
«Wenn  wir  Schubert  zwischen  Blumen  im  Grase  liegen  sehen  —  und 
dies  ist  seine  gewdhnliche  Stellung^)  —  sind  wir  geneigt,  ihn  als  harm- 
losen  SchMfer  und  Schlifer  zu  betrachten.  Steht  er  aber  einmal  auf,  so 
erstaunen  wir  iiber  seinen  Riesenwuchs,  iiber  die  Majestit  seiner  Be- 
wegungen,  uber  die  herkulische  Kraft  seiner  Leistungen.*  —  Ja  fur- 
wahr,  ein  Riesenkind,  das  seinem  himmlischen  Heimatgau  entlief,  und 
sich  fiir  eine  kurze  Weile  auf  unsem  Erdball  verirrte,  —  das  war  Schubert, 

Von  kleineren  Dichterwerken  Spittelers  ragen  hervor  die  .Balladen'' 
und  die  „Litterarischen  Gleichnisse"  (beide  im  Verlag  von  Adolf  Muller 
in  Ziirich).  Das  zuletzt  genannte  Biichlein  enthalt  in  seinen  85  Seiten 
mehr  Weisheit  als  manches  Hundert  dicker  Folianten.  Mit  freundlicher 
Erlaubnis  des  Verlegers  lasse  ich  hier  eines  jener  halb  poetischen,  balb 
satirischen  Gedichte  unverktirzt  folgen,  da  es  einen  scharfen  und  sehr 
zeitgemissen  Hieb  auf  die  modeme  Originalitdtsstreberei  darstellt. 

Abt  Chilperich  und  die  Schreiber. 

Abt  Chilperich  der  Zweite  von  Sanct  Gallen 

Ein  Schalk  und  Original, 

Fand  am  Charakteristischen  Gefalleo, 

Trivial,  das  war  ibm  Qual. 

Aus  diesen,  wie  aus  andern  Grtinden, 

Liess  er  zu  Ostern  einen  Preis  verkQnden 

Demjenigen  Schreiber,  der  mit  seinem  Federstriche 

Einzig  sich  selbst  und  keinem  andern  gliche. 

Und  siehe  da,  am  andern  Tag  begannen 

Ein  unbeschreiblich  Sudeln  seine  tapfem  Allemannen. 

NSmlich  damit  ein  jeder  keinem  andern  gleiche, 

Ersannen  allesamt  dieselben  dummen  Streiche. 

Verrenkten  krankbaft  sich  die  Muskeln, 

Verdrehten  und  verschndrkelten  Majuskeln  und  Minuskeln. 

Die  ganze  Klerisei  beklexte 

Nach  KrSften  schief  und  krumm  die  Texte. 

Von  friih  bis  spSt,  vom  Vesper  bis  zur  Mette 

Pfuschte  der  Rhein-  und  Tburgau  um  die  Wette. 


^)  D.  h.  als  Lyriker. 


-0^    515  8^ 

Einzig  ein  Laienbruder  Hregtnhard, 
ErzShlt  die  Chronik,  brummt  in  seinen  Bart: 
^Was  brauch'  ich  jemand  aoders  nicbt  zu  gleichen? 
HochwQrden  siad  ein  Wisent  ohnegleicben! 
Ich  pfeif  auf  seinen  Preis  und  seine  Gnade, 
Ich  schreibe  einfach  reinlich,  richtig  und  gerade.^ 
Da  kam  der  Abt.   ^Freunde,*  begann  er,  ^Sudeln 
Ist  keine  Seltenheit  und  Pfuscher  gibt's  in  Rudeln. 
Auch  hat  gottlob  die  Kircbe  niemals  miissen  darben 
An  Klexern  jeder  Tonart  und  von  alien  Farben. 
Den  Preis  gewihr*  ich  Hreiner: 
So  schdn  schreibt  keiner 

Einfach,  reinlich,  richtig  und  gerade !  So  sollen  es  alle  hahen,  die 
mit  der  Kunst  zu  tun  haben.  — 

Der  Laser,  der  mir  bisher  freundlich  gefolgt  ist,  wird  erstaunt  sein 
iiber  die  Fulle  der  wundersamen  Dinge,  die  ich  ihm  erzahlen  konnte. 
Wenn  ich  ihm  nun  sage,  dass  ich  nur  einige  Bliiten  aus  einem  duft- 
erfullten  Garten  gepfluckt  habe,  wenn  ich  weiter  sage,  dass  bei  Ab- 
fassung  dieser  Schrift  meine  grosste  Sorge  nicht  das  betraf,  was  ich 
sagen  konnte,  sondem  das,  was  ich  verschweigen  mtisse,  um  nicht  durch 
zu  vielerlei  im  kleinen  Raum  zu  verwirren,  und  dass  ich,  um  einen 
Uberblick  iiber  den  logischen  Zusammenhang  der  einzelnen  Werke  zu 
ermdglichen  und  eine  Vorstellung  ihres  Wertes  zu  geben,  mich  begniigt 
habe,  ein  durftiges  Geriist  zwischen  den  einzelnen  Zitaten  zu  spannen, 
so  wird  er  ermessen,  welcher  Genuss  ihm  bevorsteht,  wenn  er  die 
Biicher,  auf  die  ich  hinwies,  selbst  zur  Hand  nimmt. 

Warum  der  Weltruhm  so  bedeutender  Werke  bisher  ausgeblieben 
ist,  heute,  wo  Beruhmtheit  im  Handumdrehen  erworben  wird?  —  die 
Antwort  ist  unschwer  zu  geben.  Hier  steht  ein  Mann  und  Kunstler, 
der  nicht  fragt,  welcher  Geschmack,  welche  Richtung  gerade  obenauf  ist, 
der  nicht  mit  jedem  Federhelden  gemeinsame  Sache  macht,  um  in  der 
Zeitung  gelobt  zu  werden,  der  vielleicht  schon  oft  die  Gelegenheit, 
protegiert  zu  werden,  vorbeigehen  liess,  weil  er  sie  gar  nicht  wahrgenommen 
hat,  der  aber  einsam  und  ehrlich  mit  seinen  Gedanken  ringt,  um  sie  in 
edler  Form  darstellen  zu  konnen,  weil  er  erkannt  hat,  dass  Kunst  nur  in 
edler  Form  mdglich  ist,  der  nicht  ruht,  bis  er  in  Vollendung  gestaltet  hat, 
was  ihm  vorschwebte,  der  dann  aber  auch  in  vornehmer  Zuriickhaltung 
verharrt,  bis  die  Welt  ihn  findet.  —  Und  die  Welt  wird  Carl 
Spitteler  fin  den.  —  Noch  leuchtender  aber  als  ein  Jtinglingsantlitz 
umstrahlt  der  Ruhm  ein  Haupt,  dessen  weitschauende  Augen  uns  von 
den  Freuden  und  Leiden  eines  reifen  Menschendaseins  erzMhlen  und 
dessen  Mund  bedeutsam  verkldrt  ist  vom  Hauch  der  schSnheitstrunkenen 
Wahrheiten,  die  er  nach  langen  Kdmpfen,  von  schwer  erreichter  Hdhe 
aus,  den  andMchtig  Lauschenden  mit  weithin  tonender,  klangvoller  Stimme 
verkiindigt. 


516  K- 


Sein  @teg. 

Sri^l^htng  9on  ^elene  Staff  in  9Run^en. 

T)ex  92ot)em6ern)inb  fegte  ^eulenb  &bev  bie  6ereiften  @toppe(fe(ber^ 
fntcfte  i}ter  unb  ba  etnem  9aum  ein  paar  bfirre  Sn^^ige  unb  rafc^elte  in 
bem  rofifarbenen^  am  SQafbranb  aufge^duften  iaub.  tJtit  watfxtx  9Qut  warf 
er  fid)  auf  bie  «Odufer  bed  ((einen  Sanbfldbtd)end/  bad  fo  red)t  fd)u$Iod 
mitten  in  ber  Sbene  (ag^  pftf  burc^  bie  engen  Stragen  unb  mad)te  ben 
^dufern,  bie  fei(fd)enb  an  ben  9uben  unb  93iel;fldnben  ^erumfungerten^ 
tijren  SD^arftag  fo  ungemut(id)  aid  m6g(id). 

®ie  r&rjten  benn  and)  bie  «Oanbe(fd)aft  ab  unb  beetften  fid),  tt)re 
leeren  ober  gefpicften  ®e(bbeute(  unter  Sad)  unb  %ad)  ju  bringen.  Die 
meiflen  fud)ten  ben  gafl(id)en  ®d)u$  bed  ,,goIbenen  Hroen",  eined  alters 
tftmlic^en  ®iebe(t)aufed  inmitten  ber  «Oauptflra0e/  mit  bejfen  t)ergo(beten 
aBirtdfd)iIbe  ber  SBinb  fein  flirrenbed  ®piel  trieb  unb  fid)  emfig  btm&tjU^ 
bie  bemalte  «Oo(}figur  bed  ^eiligen  ^lorian  ibexm  Singang  ^erabjumerfen. 
3m  fflu  wax  bie  niebrige  ®aflflube  im  Srbgefd)of  bed  MS6n>en"  V)on  ®&fien 
6efe$t,  beren  ungelfiftete  SBinterffeiber,  »ereint  mit  bem  Sampf  [&nblt(f)eii 
3:abafd  unb  einem  bren}(id)en  ^ettgerud)  and  ber  £&d)e  eine  }iem(id)e  @ticf^ 
luft  JU  wege  brac^ten.  Der  ffiirt  unb  bie  *ettnerin  fatten  atte  J&4nbe  t)oH 
}u  tun.  Se^tere^  liber  bie  t)ie(e  Tlxbtit  t)6d)fl  unget)a(ten/  fu^r  I&rmenb 
umi)er^  rid)tete  n>enig  unb  t)ergaf  ailed.  Der  SBirt  ern>ifd)te  fie  betm 
©d)firjenjipfel  unb  fagte  Ijalblaut,  aber  nad)brficf lid) :  „1Du,  l)6r':  ben  *opf 
barffl  ein  bidi  beffer  }^fammnet)men;  fo  eine  Stafel  fann  id)  net  bxaud)tn." 
—  @r  felbfl  ^^atte  bie  STugen  fiberatt  unb  »erforgte  feine  ®4fle  ber  Sleilje 
nad),  o^ne  )iberfljtr}ung,  bidn>eilen  einem  Ungeflftmen  ®ebulb  prebigenb: 
^SBillfl  nad)  Slmerifa,  bu  baf 'd  gar  fo  preffiert?"  —  ober  „gin  SJier^inber 
td  unfereind  net^  mein  Sieber."  —  @o  t)ielt  er  ftc^  unb  bie  3(nbern  bei  Saunr. 

3Benn  man  ein  junger  3Birt  tfl  unb  auf  bem  J&aufe^  bad  man  erfl 
(urj  ertDorben  ijat,  fein  ®ebeil}en  finben  n>ill,  fo  muf  man  f!d)  ru^ren  unb 
ben  ?euten  eine  STOanier  jeigen  finnen.  Der  ?6tt>en»irt  tat  bad.  dx  f)attc 
and)  bem  2:rupp  ilterer  ^SJt&nnex,  bie  t)ori}in  eingetreten  iDaren^  in  ^egleituna 
finer  grofen  bunten  ®eibenfa^ne^  felbfl  bie  ^I&$e  an  bem  fftr  fie  anf^ 
bewaljrten  Sifd)e  gewiefen  unb  }um  Danf  ein  gem&tlid)  t)ertrattlid)ed  2&d)e(n 
itjxei  3(nffii}rerd  geerntet.  Sd  n>aren  Seteraneu/  bie  einem  toten  ^amerabrn 
bad  Ie$te  ®eleit  gegeben  l)atten  unb  je$t  im  ®irtdt)aud  )ufet)rten  auf  einen 
®ebdd)tnidtrunf. 

St)ebem  moc^ten  ed  lauter  flattlid)e  iD7&nner  gewefen  fein;  aber  bit 
Satire  ijatten  biefem  ein  ®pt$bdu(^Iein  jugelegt^  jenen  jufammenfc^rumpfen 
laffeU/  baf  er  in  feinem  Oratenrocf  t}erumfd)Iotterte  unb  mand)em  bie  Staff 
(upfrig  gef&rbt.  2ro$  ber  Denfm&nje  bed  @ieben)iger  Sieged  unb  bem 
militdrifc^en  dijxenicid^cn,  bad  fte  fdmtlid)  auf  ber  Srufl  trugen,  fp&rtftt 
etlid)e  ber  jfingeren  ®&fle  etmad  n>ie  Aberlegened  SDtitleib  mit  ben  ^alten 
Jattein". 


517  8^ 


Sen  a3orfi$  f&tjxtt  tin  n>o^(^&biger^  nod)  rfifltger  ®raufopf^  mit  flarfem 
Doppelftnn  unb  t)ergnfigt  ((inj^Inben  3(ugen.  Stefem  fci)r4g  gegenfiber  fa^ 
fin  anberer^  ber  met)r  etnen  fnurrtgen  Stnbrucf  mac()te:  bte  [ange  ^agere 
dtafe  ^ing  t^m  nacf)  unten^  bte  Snben  bed  grauen  ®cf)nurbartd  bedgletc^eii/ 
unb  man  fii^Ue  beut(td)^  bag  and)  bte  S)7unbn)tnfe(  unter  btefem  tierabgejogen 
feien.  dx  beteiltgte  fid)  n>entg  an  bem  @efpr&d)^  bad  fid)  t)auptf&d)[id)  um 
bte  Sugenben  bed  ))erflorbenen  ^ameraben  bre^te*  3(Um&t}Iid)  geriet  man 
toon  btefen  auf  anbre  gemetnfame  (Srtnnerungen^  auf  bte  ^riegdjett^  auf 
^ranfretd).  — 

„^ei9tf  um  bte  3eit  fan  ma  bajumal  auf  ^artd  marfd)iert!"  —  rief 
finer  »om  5ifd)ettbe  l)erauf,  bem  ®d)tt>eigfamen  ju.  Der  naljm  bte  ^fetfe 
4ud  bem  ^unb^  and  ber  er  bidtang  i)efttg  gebampft  tjattt  unb  fagte:  ,,®timmt!"  — 

IDer  3Qot)[t)&bige  t)atte  inbeffen  fletgtg  fetnem  J(ruge  jugefprodjen  unb 
mit  ben  92ebenft$enben  angeflogen*  92un  fat)  er  p(6$Iid)  fein  ®egen6ber  an 
unb  ber  ftbele  3(udbrucf  in  feinen  Sfig^n  manbefte  ftc^*  (Sx  flanb  [angfam 
auf  unb  begnnn  inbem  er  ffd)  bmixijtt,  tiax  unb  fejl  }u  fprec^en^  mad  feiner 
3unge  nid)t  ganj  giftdte  —  meijx  and  innerer  ©emegung  aid  infolge  bed 
mdgigen  3^d)end: 

„SWeine  J^erren!  —  3fd)tung!  STOeine  J&erren!  —  3d)  !)ab  bad  ©prud)^ 
mac^en  unb  Sleben^aften  fonfl  nidjt  an  mir*  ®'mif  net.  STber  —  ^m  — 
in  biefer  ©tunbe  brdngt  ed  mid)  —  mand)mal  id*d  J^erj  tjait  »oIl.  ffiir 
^aben  einen  9Serfu|l  —  fd)on  »ief  SBerlufle  get)abt;  fan  6berf)auptd  nur  me^r 
iinfer  7(d)te*  Unb  mer  meig,  mie  bafb!  —  afber  grab  bedjmegn  id  ed  und 
dne  ©enugtuung  —  eine  ©e^nug^tuung,  fag  id)  —  bag  mir  Ijier  tterfammelt 
ftnb  unb  bag  unfer  lieber  Sliggl^STIiji  nod)  babei  id!  2Bad  bed  fur  einer 
id,  mad  er  Aberljauptd  gefeiflet  ^at,  bad  miffn  mir  attefam  —  ober  net? 
3((fo  moKen  mir  anflogen  unb  auf  fein  fpejieUed  ^oi)(  trtnfen^  bag  er  und 
nod)  lange  —  Sliggf/  ^rofl;  foHjl  leben!  ^odj,  !)od),  f)od)!" 

£ie  SSeteranen  i)atten  fid)  einmftttg  ert)oben^  aud)  ber  fo  3(ngetoaflete^ 
&ber  beffen  7(nt(i$  ein  gemiffed  Sucfen  ging/  ba  jte  aUe  mit  t^m  anfliegen. 
2fld  er  auf  ben  Slebner  jufam,  marb  bad  eiferne  *reuj  oome  an  feinem  fd)marjen 
Slorfe  ftd)tbar.  @r  ^ieft  nunmel)r  feinem  beleibten  ^ameraben  bie  J^anb  ^in 
unb  fogte  mit  (lodenber  ©timme:  „3rber  meigt,  @terjbad)er,  bad  id  f(^ier 
^j'oiel!  3d)  banf  bir  red)t  fd)6n!  ffiir  fennen  einanb\"  „3a,  freilid) 
fennen  mir  und"  —  beflAtigte  ber  anbere;  f!e  med)feften  einen  furjen  feften 
©licf  unb  J&Anbebrud,  bann  ging  ber  ^agere  auf  feinen  ^fa$  jurfirf. 

„SW6cftt  fd)on  mijfen,  mad  bie  3w^i  mitfammen  ge!)abt  ^aben"  — 
bad)te  ber  5Birt,  ber  ben  SBorgang  jufdllig  beobad)tet  Ijatte.  3lod)  eine 
ffieife  fagen  bie  STften  beieinanber,  bid  bad  ©efprdd)  immer  einpfbiger  murbe 
unb  bie  *rfige  fa|l  aHe  leer  maren-  Dann  laijUtn  bie  aSeteranen,  IjoUen 
bie  feibene  Jaljne  and  bem  SBinfel,  in  bem  (le  Iel)nte,  unb  brad)en  einer 
nad)  bem  anbern  auf.  STOit  i!)nen  and)  ber  3nf)aber  bed  eifernen  *reujed, 
nad)bem  er  bem  Sirfen  nod)maI  bie  J&anb  gefd)fittelt  l)atte.  Ber  fetb|l  biteb 
adein  jurficf  in  ber  fafl  (eer  gemorbenen  ®aflflube. 

„7lu  meb,  au  mel)  —  je$t  mfiff'n  ma  !)oam  fagte  er  ju  bem  auf^ 
rdumenben  9Birt  unb  marf  einen  unruljigen  ©lid  burd)d  ^enjter  auf  bie 
fallen  ©Aume,  bie  ber  ©turm  nod)  immer  jur  ©eite  bog. 

SQddeutsche  Monatshefie.   I,  6.  '34 


518 


„©feib  nod)  cin  bifl  forfeit,  bi«  bcr  SBinb  naetjfa^t!"  riet  ber  ®irt. 
f,^ait  ben  fd)Ied)te(len  J^eimiDcg/  fo  n>ett  brau^t^  wit  bu  iDo^nfl!  Unb 
f       grab  ber  SBeif,  baf  t  rec^nen  f6nnt  mit  btr  —  t  ijah  bte  ^(bjaf^Iung 

„^ai  brancftf*  net,  J)at  feine  (Sit!"  we^rte  ber  Altere  jwar  ah,  bo(ft 
(tef  er  ffd)  jum  Sern>etfen  bereben,  unb  ber  iB3irt,  nad)bem  er  nod)  in  ber 
^iid^t  einige  Oefe^Ie  gegeben,  tarn  mit  etner  9rteftafd)e  t)erein  unb  fe$te 
iidj  }U  il)m.  TM  ber  9Birt  Dor  er(td)en  SD^onaten  bad  «Oaud  gefauft,  ^atte 
er  bte  t)oDe  ^auffumme  ntd)t  in  bar  befeffen  unb  fid)  bedmegen  an  ben 
^fonomen  @ter)bad)er  gemanbt,  ben  man  Hjxn  ali  etnen  ber  9Serm6glid)fien 
am  £)rte  unb  einen  brazen  SRann  bejeid)net  ijatu.  dlnn  )ai}(te  er  feinem 
«Oe(fer  bad  2)ar(et)en  pfinftHd)  ab. 

,,©i(l  ein  affurater  SRenfd),  bu"  —  fagte  biefer,  wA^renb  er  bic  ©anf* 
noten  einfd)ob.  „^iintHid)  auf  bie  aStnuten.  Z)ad  ()ab  i  bir  gleid)  an^ 
fennt,  toit  bu  i)er^fommen  bifl:  bei  bem  fei)(t  fid)  nir.  Unb  ba^  t  Stec^r 
b'l)alten  f)abV  fleljgfl,  bed  g'ft^ut  mi  an  bin" 

UnmiUfurlid)  gebad)te  ber  junge  SBirt  bed  Keinen  TlnfttitM  Don  t>or^ 
!)in  unb  fragte:  ,,®ag  je$  einmal:  ber  92igg(  3((ift  id  mot)!  bein  liebfler 
®pe§i?"  —  ®terjbad)er  lief  ein  leifed  ^feifen  t)emel)mcn*  ,,^6nnt  i  grab 
net  fagen!   ©einal)  'd  ®egenteil  id  er  amaf  g'wefen." 

„7lij  ge^  ju!  3  l)&tt  mir  benft:  im  £rieg  ba}uma(  i)&tt  er  bir 
t)ielleid)t 'd  ?eben  gerett't  ober  fo  wad." 

,/d  ?cben,  meinfl?  Sigentlid)  t)at  er  fi  felber  'd  ?eben  g'rett't,  ba^ 
l)eigt:  mir  aa  —  unb  bie  anbern  —  tt>ie  man^d  nimmt."  —  Cr  weibetc 
fid)  an  bed  ^i^ngeren  ffd)t(id)er  Serfl&nbnidloffgfeit  unb  fragte  bann  gut^ 
m&tig  fd)mun}e(nb,  mie  er  ii)n  fd)on  t)ort)er  beim  Sintreten  begrugt  t)atte: 
„®elt,  ffiirt^  je$t  f|)annfl  erfl  red)t  nir?  Die  ®'fd)id)t  t)om  STfifi  unb  mir 
tt>enn'fi  erfa^ren  f6nnt'fl,  ba  m6d)t'fl  fpi$en." 

»/3a"  —  gab  ber  2Birt  e^rlid)  ju  —  „bie  tdt  mid)  tterintereffieren. 
@ei  net  fab,  ®ter}bad)er  —  erjAl)!  mir'd  ^aft!  3d)  trag  nir  weiter,  unb 
nir  id  mir  lieber  wie  fo  eine  ®'fd)id)t  t)om  *rieg." 

Der  Seteran  }og  bie  Sd)u(tern  i)od)  a(d  friflle  ed  ii)n.  ,,3Beift,  id> 
n>finf(4  bir  fein  net,  bag  b^  einen  mitmac^en  muft.  SBad  man  ba  ftec^t 
unb  tfixt  — " 

„@ei  fo  gut!"  —  bege^rte  ber  SBirt  auf.  ^STOir  Sungen  tdten  unfem 
SKann  fo  gut  flell'n  wie  3l)r  feinerjeit,  bad  barffl  fd)on  glaub'n!" 

2)er  Tliu  betrad)tete  il)n  mit  einer  Tltt  Don  D&ter(id)em  3Bo^(n>o0en. 
rr3e$  g^aQfl  mir!  @d  ifl  bo  wai  ®d)6n^d  um  fo  einen  aufrid)ttgen  unb  ^er}^ 
baften  sroenfd)en."  —  6r  fal)  wieber  f)inaud,  „9>afb  wirb'd  irgenb  »^ 
runterfd)nei'n;  bann  wirb  9lul),  el)er  net.  3a,  meif  wir  bod)  fo  grubig  bei^ 
einanbl)ocfen  —  unb  bu  fd)on  eigentlid)  wad  wiffen  foHfl  »on  bie  ?eut, 
bie  einfei)ren  bei  bir  unb  Don  bem,  mad  Dor  beiner  3cit  mar  —  metntd^ 
megen  berffl  bie  ©egeben^eit  gem  inne  merben.  SBBenn  ffe  ffir  mid)  and) 
feine  dijx  id,  fo  ifi  ffe'd  ffir  'n  SliggI;  unb  bad  g'fd)iel)t  mir  grab  rtd)U 
3rifo  pag  auf!" 


-<-8    519  ^ 

„fDttin  ^aui  unb  metn  ®runbfli&cf  t)or'n  @tabt(  bxau^t  fennfl  a  fo. 
£ad  tfat  fcf)on  mein  2((ten  get^6rt;  unb  i  bin  ba  brauf  geboren. 

SBBciP^  in  fo  cinem  ^au^,  too  oiel  fBiedf  unb  wo'^  auf  ein  J&afcrl 
fl'liecfeltc  STOild)  obcr  eine  ©d)6|fel  ooU  ^apfen  am  geiertag  net  j^fammen^ 
ge^t,  ben  93u6en  aKemeil  gut  g'faKf^  ftnb  aKe  meine  @cf)ul(ameraben  gem 
jufe^rt  bei  ntir-  Der  Kebere  tt>ar  mir  t)on  aKe  miteinanb  ber  9liggI^3Hi(i, 
©0  ein  g'f(i)eiter  ©urfd)  unb  fo  g'fe$t;  oid  2Bort  ^at  er  jwar  nie  net 
g'mad)t,  aber  toai  er  g'fagt  Ijat  —  ba«  ^at  jebedmal  J&anb  unb  ^ug  g'^abt. 
93[o9  ba^  i  H)n  mand^mal  tfah  ein  bifl  t^erunterfd)impfen  unb  einen  «$eim^ 
tfirfer  tfti^tn  mfiffen,  weil  er  mir  oon  (i  net  ^albeter  fo  oiel  erjA^ft  ^at, 
tt>ie  i  itim  oon  mir.  3(ber  be^j'weg'n  bie  greunbfct^aft  boct^  net  in  bie 
^t&dj  gangen*  3  brandy  net  erfl  oon  aU  bie  Dummt^eiten  j'reben^  bie 
tt>ir  ali  junge  ©d^Iiffel  g'marf^t  l)abn  —  ba«  weigt  fd)on  a  fo*  *urj:  tt>ir 
(inb  au^  ber  ©(f)ul  fommen  unb  Ijaben  unfere  fonfiigen  ?e^rjat)r  l)inter  un« 
g^babt  unb  ftnb  ein  jeber  feim  Sater  im  ®^fci)&ft  an  bie  J^anb  gangem 
5Dem  Xfiff  ber  feinige  tt>ar  Sn^aber  Don  an  ©(I)nitttt)areng*fd)4ft  SRo,  unb 
iDeit  mir  t)aU  feine  93ette(buben  maren  unb  and)  fonfl  fauber  beieinanb^ 
ffnb  toix  bie  jungen  SBabeln  jiemlid)  in  bie  3(ugen  g'fioct^en,  i  fibrigend  —  in 
aUer  3(ufrid)tigfeit  g*rebt  —  no  meljr  toie  ber  3fliff,  totil  i  ber  gibelere  unb 
2}erm6glid)ere  g^toefen  bin.  STOeine  ?eut  Ijaben  be^^alb  in  einer  3(ng|i  g'febt, 
i  m6ct)t  auf  bie  Ieid)te  ©eiten  fommen,  unb  SSater  toie  abutter  ^dtten  ntr 
fo  gem  g'fe^n,  ali  bag  i  Ijeiraten  foltt,  wie  ebnber  tt>ie  lieber. 

Wtiv  toav  bad  £ing  no  ju  fx&ij,  unb  {>r(l  t)ab  i  mi  br&cfen  tooKen 
baoon  —  ber  iWenfct)  mug  bod)  tt>ad  ^aben  Don  feine  fd)6n|ien  3al)r  — 
aber  ba  ^aben  bie  anbern  einen  Slot^etfer  friegt,  ber  ijat  furjen  ^rojeg  mit 
mir  gemarf^t.  ©o  ein  STOabel  tt>ie  bie  —  an  ^a^nad^t  ^aben  wir  tanjt 
miteinanb,  blog  ein  paar  Wtal  —  unb  g'^abt  t)aV^  ml  SBenn  i  fag:  i  war 
Der(iebt  n>ie  ein  SRarr,  bad  langt  net.  9){inbefiend  n>te  )n>ei.  ©ie  tfat  fo 
eine  Tlxt  an  ff  ge^abt,  fo  finbgut  unb  treul)er}ig,  gang  aid  ob  fie  Don  fern 
an  fein  fTOanndbilb  net  benfen  t&t  —  unb  bann  mittenbrin  fo  ein  ®^fcf)au, 
fo  ein  merhourbigd,  bad  eim  f6rmli(f)  bie  J&i$  Ijat  auffieign  laffen  —  bafia! 
9Bir  ^aben  fte  an  eim  $ag  fennen  gUernt  auf  bem  $an}boben,  ber  2((ift 
unb  i,  unb  t  toar  glei  gan}  toeg  —  i^m,  obfd)on  er  ff  nie  fo  audg^fprod)en 
^at/  id  f  and)  in  bie  2(ugen  g^flod)en.  Sum  2(nfang  ^at^d  an^Q^id^ant^  a(d 
mag  fte  ii)n  Heber  aid  toit  mid),  DteDeid)t  grab  meil  er^d  nie  fo  mit  bie 
aSabeln  g^b^^^  i)^^*  ^ber  nad)i)er  id  fte  mir  bod)  )n>ifd)en  brein  fo  freunb^ 
lid)  g^noefen,  bag  i  mir  tt>ad  ^ab  einbilben  mfiffen!  @ine  Don  meine  S6d)ter, 
u>enn  ^eutjutagd  fo  w&r,  bie  t&t  eine  9Batfd)en  fangen  Don  mir;  bajumal 
frei(id),  aid  junger  @fel,  b^b  i  g^meint:  nir  SQunberbarered  gibf  d  &beri)auptd 
nimmer.  3  mein  i  f[el)g%  loie  f  mir  einmal  auf  ber  ©tragen  in  SBeg 
fommt  —  ind  J&od)amt  noiU'd  gebn,  weil  ©onntag  id;  unb  i  bleib  fle^n, 
tu  metn  ^nt  fauber  runter  unb  fag  fo,  per  ©pag:  ,,Sr&uIn  ITOatbilb,  tun 
&  fein  fftr  mid)  and)  ein  paar  SBaterunfer  beten!"  —  ,,3a,  ein  ®reil*) 
fallen  laffen  unb  ntr  fagen  ber{u''  —  gibt^d  )ur  3(ntn>ort  unb  Sd)ant  meg 
Don  mir,  bag  i  merf,  fte  ^at  noad  gegen  mi.   3  nat&xlid)  fe$  i^r  }u  mit 


0  &ttil,  ^rrU  oom  9iofmfvan}. 


34* 


520  ^ 


Sragett,  unb  auf  tin  SKal  ^at  f  bte  Xugen  ooK  SBaffer  unb  r&tft  ganj  f i&g^ 
lid)  bamit  tftxaui,  tote  t  fif  nur  fo  martem  fann  unb  i)tni)a(tfn;  ooUig  ba^ 
J^txi  m6(f)t*d  if)r  abbrucfen  —  ungefdljr  fo  l)at  (ic*^  rau^bracf^t  3e$t  bin 
i  mix  ((^on  n>ie  ein  rec^tc^  9tinbt)ie^  unb  ©(^eufal  oorfommen  unb  t)ab 
ben  liebcn  (Sngel  nid^t  (&nger  (eiben  laffen  mign,  fonbern  mi  glei  crfl&rt 
unb  mit  ii)r  oerlobt  S){eine  2((tcn  )n>ar  i^aben  j^erfl  einen  argen  S&rm  auf* 
g^fd)Iagen  wegen  ber  9rautfd)aft;  ba  bin  i  aber  furteufeKmilb  worn, 
mollf  d  mi  mit  aUer  ®n>alt  )um  (Siyefrilppel  mad)en/  unb  jti},  wo  i  bie  rrd^r 
g^funben  ijah,  ii  wieber  nir!''  —  ®an)  audeinanber  war  i  t)or  3orn;  benn 
bad  i)ab  i  no  bid  auf  bie  ^eutig  @tunb,  bag  i  mi  gan)  oerbeigen  fann  in 
ein  X)ing/  toon  bem  i  mein^  bag  ed  fein  mug/  unb  bag  mi  jebe  SBiberreb 
^6aifd)  fud)tig  mad)t  SReine  SItern  ^aben  )^(e$t  einfennt^  ed  b(eibt  il^nen 
nir  ft  brig  aid  wie  nad^geben  —  unb  fo  bin  i  ifalt  9r&utigam  g^wefen  — 
ein  giftcffeliger  obenbrein. 

IDer  erile^  ben  id)  ber  SRat^ilbe  in  unferm  ^rautflanb  oorg^fieQt  t>ab/ 
war  natfirii  mein  befier  ^reunb,  ber  2((ifi.  Unb  fte  i(t  fo  lieb  mit  ii)m 
g^wefen  in  aDer  @i)rbarfeit  unb  93efd)eiben^eit/  bag  i  mi  net  g'nug  ^ab  &rgern 
f6nnen  ftber  bem  anbem  fei  @teifl}eit  unb  ^ab^eit.  ^aum,  bag  er  i^r  Ifat 
2(ntwort  geben  m6gen!  3  i)ab  i^n  bedj^wegn  and)  net  fd)(ed)t  ang^fungen^ 
wie  i  aOein  war  mit  i^m.  Ser  ganje  92u$en  aber  baoon  aber  id  g^wefen,  bag 
er  'd  n&d)(le  ^SJtal,  too  i  ii)n  mit  meiner  Sraut  i)&tt  einlaben  woUen/  ab^ 
g^fagt  tfat  unb  'd  fibernddjiie  Wlal  wieber.  r,3wingen  tu  i  bi  net,  $ropf, 
fpinneter"  —  tfah  i  mix  benft  unb  mi  blog  g'wunbert,  bag  er  fo  fein  fann, 
nad)bem  er  j^erfl/  e^toor  bag  er  fte  fennt  t^at,  bie  ®utmfttigfeit  felber  war 
im  2(nt)6ren  toon  meine  oerliebten  ®d)mer}en  unb  ®^fd)id)ten.  Um  fo  mttjt 
bin  i  je$t  auf  itjti  g'laben  g'wefen  unb  i)ab  mi  ganj  j'rfirfjogen  t)on  iljm, 
benn  meine  Sraut  ^at  ft  and)  beflagt,  fo  ein  uni)6flid^er  SO^enfd)  w&r  i\)r 
nod)  net  oorfommen.  liber^auptd  tjabn  wir  g^nug  ju  tun  g^t^abt  mit  ber 
2(udflattung  unb  bie  papier  )ur  Srauung  —  fte  feffieren  eim  ja  beim  Tlmt 
bamit,  bag  eind  g^Iangt!  3(0e  3(ugenb(icF  tfab  i  nad)  froftnd)en  fa^ren  bftrfen 
—  mein  3(Iter  ^at  and)  immer  ein  ®efd)4ft  unb  eine  ©eforgung  ffir  mi 
g^i)abt  —  unb  in  WliLndjtn  brin  ^ab  i  *d  erfa^ren,  bag^d  ^ubfd)  winbig  aud« 
fd)augt  in  ber  SQelt.  £ie  ^ranjojien  i)eben  ^ieg  an  mit  bie  ^reugen,  ^af  d 
g^l}eigen,  unb  bal  unfer  £6nig  )U  bie  ^reugen  tjilft,  fo  fannd  fein,  bag  wir 
aud)  )u^n  J^anbfug  fommen. 

3  wetg  nod)  wie  t)eut:  grab  bin  i  g^fd)icft  g^wefen,  bag  id)  l)eimfat)r 
an  eim  Sag  im  3u(i  —  ba  t)6r  i  fo  ein  ®etu  unb  ®^fc^rei  oon  einer  aRaffe 
Sent!  burd)einanber/  unb  auf  mein  $ragen  bin  i  berid)t^t  worben:  ber  £6ntg/ 
unfer  ?ubwig  —  ^err  gib  if)m  bie  ewig  SXu^  —  i)at  ben  ©finbnidfatt  an* 
erfannt,  wir  tBapern  mftffen  mit  nad)  ^ranfreic^! 

3  g(ei  i)eim  mit  meiner  dteuigfeit,  aber  wad,  meinfl,  ^at  mein  THUx 
g'fflgt?  w^ad  gibtd  net,  bag  wir  mit  bie  ^reugen  geljn,"  ^at  er  g'meint, 
,,unb  in  ber  ®tabt  fan  lauter  fo  l^berfpannte  brin,  bie  mad)en  S&rm,  wo 
nir  bran  id."  —  Tinf  ber  3(nfid)t  id  er  etfid)e  $ag  oerblieben,  bid  er  bo 
t)at  bran  glauben  mftffen  —  wte  n&mlid)  bie  (Sinberufungdorbre  fommen 
id  fftr  mi! 

®rab  ertra  fibel  war  i  net,  offen  g'fianben:  fo  furj  t)or  ber  ^oci^jeit 


521  8^ 


jDie  Wtntttx  tjat  i)eaauf  g'lDrint;  bet  Sater^  je$t  gan)  g'fa^t^  t)at  g'fagf^ 
,r3n  ®otM  dtamcit''  —  unb  mtr  ang'fc^afft^  ba$  t  etn  ®(^netb^  {etgen  foD 
al^  ®o(bat  Ste  i)dtt  t  mir  fo  tote  fo  net  abfaufen  laffen!  lllbrigend  id 
net  otel  Sett  )um  93^flnnen  g'wefen:  grab  bie  n6ttgflen  Sorberettungen  tjat 
man  trefen  f6nnen  unb  eine  i^etltge  SD^eff  i)6ren;  bann  i)ab  t  g^fagt:  „^Div^tttx'' 
—  Ijab  i  g'fagt  —  „t  fpring  no  g'fc^winb  ju  ber  STOatljifb!,  bag  i  i^r  ^ffiat 
®ott  fag^  unb  bent  StHft  btaud)  i  net  fagen,  benn  ber  mu^  fo  )um  aRtftt&r^ 
unb  )ubem  i)aben  mtr  un^  ja  etn  n>engl  )erf)acFe(t/' 

2((fo  i  ntmm  bte  $fig  in  bte  J^anb  unb  renn  )ur  fTOatiytlb.  Xiai  ^aui 
Don  it)re  Sent  l)at  ein  Z&xt  t)om  J^of  and  gV^^/  nttr  in  bem  %aU  bai 
^tebere  n)ar;  benn  fo  auf  [e$te  aRaI  rebt  man  ft  mtt  fetm  @(^a$  (etc^ter 
oi^ne  bie  ganj  %amilk.  ®'fd)n>inb  tnd  J^au^  netn,  bie  f)tntere  @tiegen  nauf/ 
bte  ^[infen  t)on  t^rer  £ammer  aufbrucft  unb  —  J^immel  ^errgottfafra:  ba 
»ar  fd)on  einer  brin  beim  3(bfct)ieb  neljmen!  — 

3n  fo  eim  3(ugenblicf  toti^t  nimmct,  too  b  bifl  unb  n>a&  b  tufll 
3  I)ab  bte  9WatI)irb  auffreifrf^en  I)6ren,  aber  net  (te  ang'fdiaut,  fonbern  ben 
Tflifi^  ber  fte  and  n  3(rm  gMajfen  tfat  unb  bag^flanben  ifi  n>ie  beim  jfingflen 
&*vid)t.  J5a  i^  miV^  aufg'fliegen  wie'd  ^6llifd>e  geuer  —  ganj  wfttig  tfab 
i  auf  t^n  }ufl&r}en  moOen  —  aber  bie  Sf^at^tlb  i)&ngt  ft  mir  an  bte  £ntee 
unb  winfelt:  „Um  3efu  6t)rifli  n>tDen/  ®d^orf(f)(  tu  fetn  Ungfficf  an« 
(leHen!"  —  5  I)ab  net  lo^  f6nnen  oon  i^r  unb  bo  net  auf  (le  treten 
migen;  fo  fcf^rei  t  mit  gebaKter  $au(l  {u  ti)m  n&ber:  „£u  J^unb^fott  bu 
miferabliger  eiifalter!"  —  „®timmt!"  —  tjat  er  ganj  l)eifer  g'fagt  —  ,,t)or 
bir  bin  t  einer  g'wefen."  —  Snbem  tt>irb'^  auf  bem  ®ang  lebenbig  —  bem 
iOt&bef  feine  @(tern  i)aben  bie  9){etten  g^l)6rt  unb  ffnb  rauffommen*  £ie 
ftnb  bir  toeiterd  net  erfcbrocfen^  n>ie  t  bie  fTOat^ilb  t)om  S5oben  aufjerr  unb 
il)r  einen  SHenner  gib  unb  fd^rei  baju:  „t>a  ijabVi  ed  euer  fauber^  ^rfid)tl, 
unb  finnt'^  e^  g'^alten!"  —  ©arauf  bin  i  fort,  toie  unffnnig  ^eimg*rennt, 
ol}ne  Umfc^auem 

Z)af;eim  im  J^audflur  tfat  bie  Sautter  fct|on  auf  mi  pagt;  i  nel)m  f 
in  mein  ®t&ber(  nein  unb  n>iD  t^r  fagen,  n>ad  t^,  unb  fann  net;  benn  mtt 
einem  fSJtal  id  mir'd  ®(f)(uc^}en  anfommen  unb  tjat  mi  grab  fo  g^flogn  n>ie 
etn  9ubem  IDa  tjat  fte  fid,  fcf^eint^d,  )ufammen  flauben  f6nnen,  n>ad  loi 
u>ar;  fte  f)at  meinen  Xopf  an  itjx  $5rufl  g'legt  unb  gau)  flab  g'fagt:  bie 
SBeiberleut  ani  ber  Sermanbtfd^aft  tjitttn  itjx  fd)on  ein  paarmal  toai  )u^ 
tragen  n>oaen  iibtx  bte  SRat^ilb,  aber  f!e  ^Att  ft  tanb  g'fleUt  mir  )^Iieb.  — 
SQie  fte  bann  fo  nad^  unb  nadj  aUci  raudg^fragt  i)at  and  mir,  unb  i  fann 
gar  net  ©c^elt^  unb  %lud)tooxtc  g'nug  jufammenbringen  ffir  ben  3(Iif[,  ba 
tjat  ffe  mtr  )n>ar  9lecfjt  geben,  aber  bann  tjat  fie  mir  ein  iidjt  auf)&nbt, 
toai  fo  ein  miferabliged  SBeibdbilb  aDed  burdjbrucft,  bad  burdj  unb  burc^ 
fa(f(4  unb  Derlogen  id.  ®rab  menu  einer  fl  n>e^rt  gegen  bad  ©TaUen,  bad 
er  tjat  an  il)r,  unb  'd  ®rafen  im  fremben  ®arten  obenbrein  fdjeut,  bann  id 
fo  eine  am  oerfeffenfien  auf  if)n.  J^eut  aid  alter  SWenfct),  fenn  t  mi  aud 
unb  weig,  bag  ber  anfidnbigfle  ^erl  in  feiner  oerliebten  Slarretei  oft  ein 
gar  anberer  wirb  —  bamald  aber  Ijab  i  oon  meiner  9){utter  i^rem  SBer^ 
fianb  nir  profttiert.   3  war     wilb  unb  totflerbendungl&cflic^! 

3n  ber  Serfaffung  tjab  t  metne  guten  Tllttn  ^ffiat  ®ott  fagen  unb 


522  8^ 


nac^  9Rikncf)en  ntin  fa^ren  m&fftn.  Unb  toifT^n,  bag  Winter  meiner  brr  2((tft 
fa^rt!  2(6er  meitt  Sater  f)at  mi  6ei  ber  <Oanb  genommen/  no  in  ber  fe^ten 
SWinutcn.  ,,3Racf)  fein  feine  ^ummfjeitcn,  ©ctjorfc^I  tjivdl  Du  unb  ber, 
il)r  get)6rtd  nimmer  end)  )n>et/  fonbem  eurem  SSaterfanb!  2)ad  t)erff)tid^|l 
mir  1)0*  itnb  Ijeilig!"  —  „3«  fd)on  red)t,  Sater!  Sergelf*  ®ott,  STOutter! 
Sut'«  beten  fir  mi!" 

Unb  bann  ii  bad  92&d)tigen  in  ber  ^afem  brin  in  SRund^en  fommen, 
unb  bann  bie  7lbfat)rt  ini  ^elb*  Sie  3fig  t)o((er  froenf(f)en/  bie  ba  abgangen 
ftnb!  IDer  reinfie  SBied^trandport^  fo  eng  toaren  mir  beieinanb!  Unb  bie  Seut, 
bie  too  i)aben  {u^aud  bfeiben  mi^ffen^  mein  x,  ^aben  Zfid)er  g^fd)n>enft  unb 
etiidje  l)aben  g^weint  jum  J^erjbreAen.  3(ber  t)on  und,  barf  id)  fagen,  tjat 
feiner  ber  92ot  einen  ®d)n>ung  gHajfen/  fo  I)art  bad  Sing  bie  fDlttjtcttn 
anfommen  ii.  Sieber  ifabtni  bir  g'fungen  in  jebem  SQaggon^  unb  benft 
tjat  ft  jeber:  „Z)enen  97Ia(eft)^Sran)ofen  tt)oDen  n>ir'd  f(f)on  jeigeu/  mad  ein 
rid)tiger  ^aper  id." 

Son  aUen  mitfamm  glaub  i,  toaxi  mix  beinai)  am  elenbigden  jumut! 
jDenn  i  ^ab  mi  net  im  J&erjen  auf  ben  ^ieg  t)orbereit,  auf  ©iegen  ober 
SterbeU/  fonbern  aDemett  meine  SBut  auf  ben  2((ifi  in  mic^  nunter  g^freffen. 
@r  id  net  ber  g(eicf)en  Xompagnie  juteiU  g'noefen  noie  i,  aber  bem  g(eid)en 
Stegiment;  bad  n>ar  no  bad  ifrgere.  X)en  falfd)en  ^erl  fo  unb  fo  oft  fe^en 
m&ffen  unterm  S^(ti{ug  unb  it)m  in  feiner  9Beif  nir  antun  biirfen^  n>ei[  noir 
hod}  ©olbaten  g'toejl  (inb  unb  unter  (hrenger  SRanndjuc^t  —  i  ^ab  gemeint, 
bad  ^alt  i  net  and. 

@d  id  n>ot)(  bumm  ju  fagen:  bad  i)at  mir  ben  ganjen  ^eg  t)erbor6en^ 
benn  fo  ein  ^rieg  i|i  j'erfl  feine  ®aubi*  3(ber  bad  3(brid)ten  im  ?ager 
?e(^felb  unb  bie  erfien  9)?4rfd)e  l)ab  i  mitg%ad)t  wie  in  eim  fd)n>eren  5raum  — 
tt>eif  i  mir  bad  Denfen  an  bie  3(nber,  bad  [(^ein^eilige  Ding,  and)  erfl  tjab 
mit  ®^n>a(t  abg^mit)nen  m&ffen.  Dad  Srfle,  mad  mir  anfinnen  tjat  Don 
augen  ^er,  war  bie  8?ad)rid)t,  bag  bie  ^ranjofen  fc^on  einmal  ®d)l4g  friegt 
^aben,  bei  SBeigenburg  —  unb  gleict)  barnac^,  wie'd  gef)eigen  ^at:  3e$t 
marf(^ieren  tt>ir  Aber  bie  frang6(ifd)e  ®renj. 

9lid)tig  tt>ad)  tt>orben  bin  i  burc^  einen  Ttnblicf,  bei  bem  'd  bie 
meifien  Don  und  beutelt  tjat:  bie  erflen  5oten!  @o  ein  ?eitern>agen  Dott 
(larre  blutige  ?eiber  —  ober  mitten  am  2Beg  ein  paar  graue  ®'(id)ter  mit  glaftge 
Xugen  unter  ®otted  freiem  J&immel  —  Sliemanb  fann  (t'd  benfen,  »ie 
bad  einfc^lagt!  Xber  mitten  in  bad  ®raufen  'nein,  bad  mid)  ganj  g'worfen 
i}at^  id  mir  j&t)(ingd  unb  beut(id)  ber  ®ebanfe  fommen:  r#9Bad  w&r^d  je$t, 
tt)enn  ber  3IU(i  fo  ba  liegen  tdt?  Sigentlid)  bfirftfi  iJ)m  bann  nir  mctfx  nad)^ 
tragen,  unb  il)r  f)dtt'd  eure  SXuf),  alle  3tt>ei!"  —  2Bie  eine  ®rl6fung  l)at 
mir  bad  fd)einen  moUen;  unb  Don  ®tunb  an  f^ab  i  mi  babrein  Derbiffen:  ber 
Xlift  barf  net  i)eimfommen,  er  mug  ^in  merben,  gei)t^d  mie^d  toiU;  unb  noenn 
ailed  gar  i(i,  unb  fein  granjod  l)at  if)m  berfd)offen,  fo  berfd)ieg  i^n  i!" 

Dad  id  mein  @rebo  g^toefl,  fojufageU/  tt)&i)renb  bie  anbern  benft  ^aben^ 
n>ie  f  iijx  ®d)u(bigfeit  tun  n)oUen  ffir  ^d  SBaterlanb.  @t)r^  n>ard  feine  f&r 
mi,  bie  Tluinatjml  librigend:  getan  ^ab  i  f  bod)  auc^,  mei  Derf[ud)te 
®d)ulbigfeit,  n>o  n>ir^d  erfle  ^al  ind  ^euer  fommen  ftnb,  bei  9B6rt^  unb 
^r6fd)n>ei(er.  Du,  bad  mar  n>ad !  Dad  brennenbe  SReft  am  Serg^ang  broben 


523  8^ 


unb  toiv  immn  noieber  tjinanftxaxtU  unb  ba^  S^affepotfeuer  t)on  bic  SHot* 
I)ofeten  {um  Smpfang!  B^^tfl  marfc^iert  man  in  flrammer  JDrbnung  an, 
abtv  bann  IjaV^  toa^,  tanm  ba^  man  tm  $euer  flet)t^  gtbf^  fein  $(an  unb 
Sorfa$  mcf)r.  Slur  brauf!  fflxd)t  j'rficfwcrfen  laffen,  l)auen  unb  fct^iegen, 
n>ad  g(l)t  —  nur  brauf/  braufi  2Qte  menn  i  etnen  fTOorb^raufcf)  g^ljabt  ti&tt 
fo  id  mir  bie  ganje  ®^fd)t(^t  t)orfomm(n.  SRod^  i)eut  n>ei9  i  net/  n>i(  noir 
eigentlic^  ^inein  fommen  ftnb  in  bad  J^mgottdnefl. 

@rfi  ba  ^at  man  ft  einmal  audfc^naufen  f6nnen  unb  fragen:  Ubt  man 
ober  Ubt  man  net!  Unb  ft  mieber  j^fammfuc^eu/  benn  unfre  2(6tet(ungrn 
waren  mit  aUe  miglic^e  anbere  iroannfd)aftrn  burd^einanber/  bie  ®^fangenen 
net  t)ergeffen*  3e$t  ^afl  fir  bie  and)  forgen  burfen,  unb  fur  bie  SSer^ 
wunbeten!  Unfre  SSerlufle  —  t)eut  nod)  tut  mir'd  tt>el),  wenn  i  bran  benf! 
©0  t^iel  brat)e  ^ameraben,  fo  »iel  patente  Solbaten  —  grab  ber  3(IifT  Ijat 
net  babei  fein  finnen. 

@d  id  g'mefeu/  aid  o6  feine  ^uge(  il^m  anfann  ober  a(d  ob^d  ber 
J&errgott  mir  unb  meiner  unc^ri(ilid)en  SDBarterei  mit  gleig  tut  —  andf  bei 
©ajeiHed  ifi  er  !)eil  blieben.  3a:  95ageiHed!  SBenn  gr6fc^noeiIer  'd  ^^ge^? 
feuer  ijhtt  t)orfleaen  foKen,  fo  war  93a)eiaed  bie  J^iK!  3ebed  J^aud  bereitd 
cine  ^efiung/  and  ber  fo  tin  paar  lumpen  raud  g^fd)offen  ^aben  auf  und, 
unb  bad  ®efd)n>irr  t)on  bie  fafrifc^en  SDlitraiDeufen  um  und^  unb  in  ^lammen 
brin  flel)n  n>ie  bie  armen  @ee(en/  bie  man  mand)ma[  auf  9)larter(n  g^malt 
fTei)t!  3  t)&tt  ^d  frfi^er  net  glaubt,  ba§  fo  unmenfc^(id)  t)ie(  ®reue(  unb 
9eiben  auf  eim  %led  bei  einanb  fein  fann  unb  bag  man^d  fiel)t  unb  aud^ 
t)a[t  in  bem  ein  ®ebanfen:  fSltt  aud(affen!  Durc^  mugt  jeg!  Unb  ed  lagt 
ftd)  tt>&t)renb  ber  ®(^(ad)t  aUed  noc^  el)er  tragen  toie  binter^er.  SBenn  man 
^unbertmal  g^ftegt  tjat  unb  flebt  bann  mitten  unter  bie  Soten  —  ac^  mad: 
2ot  tfl  nod)  beffer!  —  aber  unter  bie  SSermunbeten  brin,  bie  fl6^nen  unb 
fd)reien  unb  bie  armen  Sierf^er,  bie  9l6ffer!  —  »Oafl  bu  fc^on  einma(  ein 
!Kog  fd)reien  tjittn^  din  Slog,  bad  eigent(ic^  bie  ®ebulb  felber  id  unb  )U 
ber  drgflen  ®d)inberei  'd  STOauI  tfaWf? 

93afla:  mi  n>unbert'd  net,  bag  i  mi  am  jweiten  September  in  einen 
ffiinfel  )Dom  9in)acf  brucft  i)ab  unb  g^t)eu(t  ba}u  mie  ein  ^a(bL  Sro$  ^n 
gr6gten  J^unger  t)ab  i  nir  effen  migen,  t)on  megen  bem  %(utgerucf|!  ^Dtit 
etnem  Wtal  tfiv  i  bie  fTOufff  aufjie^n  unb  ftngen  unb  juc^ejen,  n>ie  net 
g^fdjeit.  Sine  Orbonanj  fommt  Ijerg'fprengt  —  „bie  5^ft"«9  ®eban  i)at 
fapituliert  —  SRapoIeon  ifi  gefangen  mit  ber  ganjen  frang6|Tfd)en  Xrmee/' 

Slein,  fo  wad!   dtlidjt  l)aben  g'jobelt,  etlid)e  ^aben  J&eif  unferm 
*6nig  ^eil  ang'flimmt  —  SBilbfrembe  SWenfdjen  ffnb  einanber  um  ben 
J^ald  g'faHen :  ed  id  eine  ®lficffeligfeit  g'wefen  mitten  im  Sammer,  net  jum 
®agen !   Siner,  ben  f  grab  gum  aSerbanbp(a$  g'fa^ren  ijaben  —  feine 
toax^n  n)eg  bid  gum  ^ie  —  ^ebt  bie  J^&nb  auf  unb  fagt:  ®ott  im 

J&immel,  id)  banf  bir."  —  (Sine  i^albt  ©tunbe  brauf  war  er  ^in.  —  Unb 
ba  —  ba  in  bem  Subel  fommt  unt)erfel)end  ber  TlUii  gu  mir  ^er,  fd)aut  mt 
gang  baffg  t)on  unten  i)er  an  unb  tfiU  mix  (angfam  bie  J^anb  ^in;  bad 
ti&tt  tfti^en  foKen:  „@inb  wir  wieber  gut!"  —  fWi  aber  ^at  ber  3orn 
grab  fo  im  J&ald  g'wftrgt*  —  „9?ein"  —  tjab  i  g'fagt  unb  i^m  ben  ©ucfl 
breljt,  benn  mi  Ijat'd  gang  g^riffen,  wie  i  i^n  fo  t)or  mir  fieljn  fied).  ^a 


524  8^ 

Ijintcn  fammein  f  bie  ?eid)en  »on  unfcre  Utbt  g^aKene  ?anb<(eut  ttnb  ber 
iii}Ud)U  *erl  id  frcuj  mo^Iauf  —  unb  i  tnug  mi  frinfen  fiber  fein  ?e6fii 
wie  fiber  bie  anbern  it)ren  $ob.   „J&err  ®ott,  wo  id  ba  bei  ®ered)tiflfeit?!" 

librigend  l)aben  toir  g'meint:  )e$t  n>irb  ^rieb;  aber  gar  fein  ©d^einl 
—  2(uf  nacb  9^arid!  i^afd  a(fo  g'i^ei^en/  unb  toir  finb  oorto&rtd  g'fd)oben,. 
gegen  JDrfeand  ^nauf,  an  bie  Scire.  jDad  Z)ing  i)at  fein  gnted  ffir  mid^ 
g'l)abt:  bie  ®trapa$en  unb  bad  J^unger^  unb  2>urfl(eiben  madden  ben 
fDIenfd^en  flumpf  unb  mfirb;  unb  loeil  i  in  ber  B^it  fo  t)ie(  ©roged  unb 
(Sntfe$(icf)ed  l)ab  erfeben  mfiffen^  ifl  mir^d  aDrnd^fic^  oorfommen,  xoit  xocm 
bad  $5ittere^  bad  mir  bai^eim  g'fc^ei^n  ii,  fd^on  t)or  oiefe  t)ie(e  3at;re  pafftert 
no&r.  ^SJtan  g'n>6^nt  ja  aUed  —  fo  toie  xoit  ben  Sieblingdfprud)  t)on  unfre 
J^erm  Ouartiergeber  g^n>ii)nt  l)aben:  .Bavarois  caput!'  X)ad  war  il)r 
®egendtt>unfd^  ffir  und.  92et  aid  ob  toir  net  rec^t  mitleibige  9eut  unb  tin 
gan{  guted  Ouartier  mitunter  aud)  bern)ifd)t  i)&tten  —  aber  ben  9)Iei)rern 
noaren  n>ir  n>ie  bem  Xeufel  bad  SQei^toaffer,  begreiflid^enoeif*  £ie  toon 
Crleand  waren  befonberd  ted.  (Srfl  ganj  nett  unb  jutraulic^  fou>eit;  aber 
wie  toir  JDrleand  ^d  erfle  fTOal  f)aben  r&umen  mfiffen,  fud)tig  bid  bort  ^naud^ 
mditiCT  ^aben  fie  und  berbfetft  auf  unoerfc^&mte  Tlvt.  ,,3Qart  ^d  nur^  mir 
(ommen  fd)on  no  amal  )^famm"  —  f)aben  n>ir  und  benft!  ®ar  fo 
g'fd)n)inb  ifl  bad  freilid)  net  gangen.  Sajtoifd^en  ^at  SBiKepton  fommen 
mfiffen  unb  Soign^  unb  Xrtenap.  Dad  toar  bie  3eit/  too  i  felber  g'nteint 
tjabf  i  niad)^d  nimmer  (ang:  meine  ®(ieber  ftnb  oom  ^rofl  fo  bocfflarr 
g^wefen,  ba$  i  mi  fd)ier  nimmer  ^ab  rfi^ren  finnen;  unb  g^fd)unben  mar 
i  and}  ein  bifl  oon  ei^m  ®ranatfp(itter,  ber  i)at  mir  ein  @tfi(f  and  ^n 
ifrmel  g^riffen  unb  ein  ied)  in  bie  Tlxmiiant  brennt.  Tibet  famt  bem  Ijab 
i  'd  burd)g^riffen.  Z)er  2((if[  bagegen  id  t)on  2(rtena9  toeg  ind  ^elbfpital 
fommen^  oenounbet  }toar  bfo^  Uiit)t,  aber  ganj  unb  gar  marob.  —  ,,«Oat^d 
bi  and)  einmal  bermif dyt^  bu  Sump!  t;ab  i  mir  benft  unb  mi  meiter  nir 
metjx  um  ii)n  ffimmert,  benn  toir  toaren  ia  auf  bem  StficTmarfd)  na<4 
Crleand^  unferem  Drleand^  bad  und  fd^on  einmal  burd)g^fd)Iupft  toar.  £er 
@toIi^  mie  toir  toieber  brin  g'toefen  finb  unb  einen  Sag  ^aben  audraflen 
bfirfen  —  enbtid)!  Die  ©tabt  tjat  mix  riefig  gut  gTaSen^  bie  *at^ebraf 
namentlic^;  fiberi)aupt  ffnb  fein  munberfd)6ne  Xirdien  in  bem  g^ranfreic^ 
brin.  Unb  bad  ©tanbbilb  oon  ber  3ungfrau oon  Cr(eand  — tjti^t  bad:  ed 
ffnb  itjxtx  brei  —  aber  bad  groge  auf  bem  J^auptp(a$e  ifl  mir  am  meiflen 
im  ®eb&d)tnid  blitben,  meiPd  gar  fo  g^fpagig  an^ie^d^ant  tfat,  mo  ber  @d)nee 
mie  ein  Jfapperl  auf  ber  3ungfrau  i^rem  J^elm  gHegen  id ;  unb  grab  unter 
bem  93i(b  ^at  unfer  ®enera(  oon  ber  Sann  g'l)alten^  mie  mir  ^d  gmeite 
9Ral  einjogen  ffnb. 

fTOeinen  (ieben  TlUen  t)ab  t  flei^ig  Garten  g^fd^rieben^  fo  oft  ®efegen^ 
tjeit  mar  —  unb  ffe  mir  natikxUdf  and^,  blog  fiber  bie  eine  malefijifc^e 
2(nge(egeni)eit  net,  meil  i  ^n  SBater  bitt  f^ab,  er  foK  bie  ®'fc^id)t  mtt  ber 
SRat^ilb  i^re  Sent  manier(id)  jur  2(ufl6fung  bringen  —  i  mag  nir  mel^r 
tjhxen  baoon. 

9Rit  lauter  9?ot(etben  unb  ^ranjofenprfigeln  ftnb  mir  bann  fd^6n  flab 
bid  oor  $arid  fommen.  Da  ^afl  gegen  bie  £&(ten  net  empftnbKc^  fein 
bfirfen  —  obfc^on  mir  marme  @a(^en  red)t}eitig  g'fa^t  ^aben  —  unb 


525  8^ 


gfdjlerfig  and)  net!  3fu*  ben  SBBeinbergen  Ijab'n  bie  ^fI6(f  l)ernififfen  )Uiti 
(Stn^eijen;  unb  mit  'n  (Sffen  t)af«  g'tjeigen:  @d)au^  toai  b  friegfi!  3  I}a6 
tinmal,  tnbem  ba^  i  bad  emtge  J^amme(fletfcf)  nimmer  tfab  fd)mecfen  f6nnen^ 
mit  tVm  anbern  jufammen  ein  J^aferl  a(te  ^artofel  t)er}ei}rt  Tlbtx  mil 
fte^  n>ie  g'fagt^  fcf^on  t}fi6fd^  alt  maren^  ftnb  bie  audf  net  red)t  'nunteri^ 
gangen.  Sa  i)a6en  n)tr  ein  ®trani$I  tooU  3tntt^  bad  ber  anbre  per  3ufaU 
bet  fid)  g^i)abt  i)at^  br&ber  g^fd^fitt't;  bamit  i^aben  n>tr  fie  bann  geffen. 
(Sigentficf)  noar  bad  fd^on  ein  @Ienb!  Unb  fab  id  bie  ®^fd)id)t  g'wefen 
obenbrein:  alle  5ag  t)on  bie  ^errn  ^arifer  'naufg'fd)ofren  tt>erben,  noie  fie 
nur  ^d  9}afenff)i$t  t)on  einem  fe^n,  unb  i)emarten^  bid  ed  i^nen  bod)  ju 
bumm  »irb  unb  fie  bie  ©tabt  fibergeben!  —  3n  ben  fd)6nen  3«fta«b 
l)inein  id  nod)  eine  ertra  ^reub  fitr  mi  g^aKen:  bie  Tlntnnft  t)om  Sriift^ 
ber  f!  mieber  i)eraudflaubt  ^at  unb  aid  @rfa$mann  in  unfre  Xomf)agnie 
eing^fleUt  morben  id.  r^Unfraut  toerbirbt  net''  —  i)ab  i  mir  benft  unb  ntir 
miglid)fl  fTOuf)  geben,  bag  i  i^n  net  t)iel  fe^n  mu^.  X)enn  menu  auc^  bie 
faute  2But  Ijerum  war,  id  bie  jlabe  aSerbiflfen^eit  in  mir  um  fo  fefler  g'feffen. 

3Hfo  einmal  l)0(fen  n>ir  im  55in>af  brin,  in  fo  einem  95ortt>erf  t)on 
^arid,  n>o  wir  in  bie  ©eriaffenen  Jjiufer  einquartiert  tt>aren.  fflir  woUen 
grab  abfod)en  unb  ^aben  30affer  g^fagt;  i  ^ab  mi  pla^t,  bag  i  ein  Sc^eitl 
«0o[)  6berm  ^nie  Doneinanb  brid)  unb  tjab  mi  mit  bem  Stftcfen  gegen  ben 
XlifT  g^fleUt,  ber  am  ®^fd)irr  ^antiert  l)at.  X)ie  ^ameraben  toaren  aKe  gan) 
fd)nacferlfibef  fott>eit. 

^  pfeift'd  Don  braugt  herein  —  fffft  —  uit!  SBie  ein  9la$  ober  eine 
SD^aud!  ^errfc^aft:  eine  ^omben,  ein  @prengg'fd)og/  bad  reinfliegt  beim  ^enfler 
mitttn  auf  unfer  alted  toacfligd  2rumm  t)on  ^ifd)!  ®o  ein  ®d)Iag  Por  ^d 
J&im  —  einer  fddttjeig  tt>ie  ber  anbre;  unb  fo  t)iel  SRann  ba  ffnb,  fo  Pie! 
paar  ^fugen  flarren  auf  ben  $ifd).  IDa  (iegt  f  unb  id  nod)  gan{,  aber  fte 
mug  ja  p(a$en  —  in  berfe(bigen  fTOinuten  mug  ffe  p(a$en*  ^ir  (tei)en  ba 
wie  ang'malt:  Reiner  traut  fid)  ru^ren  —  auf  bem  2ifd)  liegt  ber  2ob, 
unb  mir  ffnb  n&d^Uxn,  net  fo  mie  in  ber  @d)Iad)t!  —  3(ber  ba  langt  jemanb 
mtt  bie  3[rm  fibern  5ifd),  greift  t)in,  fo  mduferlfiab,  aid  ob  er  mdf  tVm 
tt>fitigen  J&unb  fagt  —  Sefud:  ber  Xlifi!! 

3(uf  feine  }n>ei  J^&nb  tragt  er  bie  i&omben  ^naud;  fc^neOer  aid  eind 
M^Imen''  fagen  fann,  ijat  fi  bad  }utragen.  3rber  grab  fo  fd)nell  id  auf^ 
g'fliegen  t^or  meiner:  „©o,  je$t  fannft  bein  SBBiHen  ja  l)aben;  je$  berreigfd 
itjn  fofort.  3el)n  gegen  eind,  bag  ed  gleid)  Iodfd)naat  unb  bem  2(Iifi  fein 
*opf  fliegt  ^fifl  unb  fein  Tlxm  l)ott.  —  ®o  freu  bid)  bod),  bu  ©iftnirfel,  bu 
rad)ffid)tiger!" 

Unb  ba  id  ^d  g'mefen,  aid  ob  ft  n>ad  umbrai)t  in  mir,  mit  )ubru(fte 
2(ugen  i)ab  i  bett:  „J^err  ®ott,  tu  mir  meine  ©itnb  net  anred)nen  unb  bem 
Xlift  audi  net  —  lag  itjxi  net     ®runb  gel)n!'' 

3  tt)eig  nimmer  —  war'd  eine  STOinuten  ober  anbertljalbe  —  mir  finb'd 
wie  eine  fleine  @tt>igfeit  Dorlommen  —  ba  tnVi  braugen  ben  ^ad)er  unb 
i  ^ab  g^pitrt:  meine  ^iee  laffen  aud.  Tibet  toit  i  b  2(ugen  aufmac^,  fte^t 
ber  3(Iifi  g'funb  unb  aufrec^t  in  ber  Zhx.  3  bin  fo  weg,  bag  i  b  3Crm 
weit  audfhrerf  nad)  il)m  —  rf3fli(«/  alter  ©pejil"  fd)rei  i  —  unb  ba  liegt 
er  mir  fd)on  am  J&ald,  unb  tt>ir  tun  einanber  abbuffein!  —  @o  ru^ig  roie 


526  8^ 


er  )ut)cr  toax,  ia  ftnb  i^m  fo  gut  tin  paar  Sropfen  tn  ben  ^djmttbaxt 
g^ronnen  n>te  mix. 

@d  toax  tin  unb&nbige^  ®(ficf/  baf  bad  ^eufeKg^fump  t^m  ntd^t  in  hit 
^dnb  frejjicrt  fonbem  crfl  im  Xugcnblicf,  tt>o  tx^i  totit  weg  g'fttjmiflren  l)at 
®rab  etn  paar  ©plttter  ftnb  ^erg^flogen  auf  itfn,  bte  l^aben  t^m  ntcf)td  getan. 
—  Jfber  narArftd)  (inb  je$t  bie  ^amcraben  l)erfommfn,  ^aben  i^m  bie  Jjanb 
g'fci)fitte[t  unb  t^m  g'lobt,  ba^  ^d  rein  and  n>ar.  Unfer  ^auptmann  ijat 
ganj  tt>unberfd)6n  mit  ifjm  g'rebt  66er  feine  J&elbentat;  abcr  ber  Tttifi  fagt 
recf)t  bagateOmd^tg:  „?Efttin,  ^txx  ^anptmann\  tcf|  tfab  fjalt  benft:  S5effer 
foUen  bocf)  meine  ^ra$en  ober  meintdnxgen  ber  ganje  ^erl  l}tn  fetn/  toit 
fo  t)iele  brat)e  ?eut."  —  ©o  ein  SWorbSmenfd),  gelt?  Unb  ba«  war  mein 
^reunb! 

SBtr  t^aben  nimmer  toiel  btdfrtert  6ber  bad  anbere^  n>ad  bod^  Dorbet 
unb  net  jum  dnbern  war,  fonbem  ben  ^ieg  mitfammen  bur(^g'mad)t  toit 
etnfhnafd  unfere  ®d)u(}eit.  SQenn  toix  aUt  )n>ei  gf&cfltcf)  ^eim  nad)  Oa^em 
fommen,  fo  n>oDen  toix  nac^  2((t6tting  waUfa^rten  unb  nttteinanber  ein 
groped  ^euj  auffifc^fe))pen  —  fo  ^aben  noir  und  t)erfobt  Unb  wie  n>tr 
toixtlidi  ^eimfommen  f[nb  nacf)  ^n  ^rtebendfc^Iu^,  t^aben  n>tr  bad  aucf)  getan/' 

* 

X)er  7Ite  ^atte  feine  (Sr{&^(ung  beenbigt  unb  flanb  nun  auf.  „(Bo, 
je$  id  'd  (iab  braugen.  3  frieg  ein  guted  J&eimgef)en."  —  ,,SBart  einen 
JTugenblicf  unb  tu  mi  mitneljmen"  —  fagte  ber  3Birt  —  „i  b'gleit  bi  ein 
Bt&dV*  @r  fprang  eilfertig  nad)  J^ut  unb  Sobenmantel;  benn  er  ^atte 
bad  beflimmte  ®efui)I,  er  f6nne  ffd)  nod)  nid^t  oon  feinem  @ef&^rten  trennen. 

@d)n)eigenb  gingen  bie  beiben  ^Dt&nntx  unter  bem  abenblid)en  tftU^ 
grauen  J^immel  iaijin,  an  bem  nur  ein  paar  @d)neen)6(fd)en  flanben.  Die 
Suft  war  flilt  unb  f(ar«  @ie  gelangten  bid  an  bie  l)6r}erne  Umfriebigung 
brau^en,  bie  bad  J^aud  bed  TlUen  famt  ^fonomiegeb&uben  einfd^fo^.  „^t^ 
I)itten  wir'd  ja"  —  fagte  ©tergbad^er  —  „i  banf  fur 'd  @Ueit,  SBirt,  unb 
tjo^tntlid)  tjab  i  bi  net  gUangwetIt  mit  meiner  Steberei." 

IDer  SQirt  fc^i^tte(te  iijm  met)rma(d  bie  J^anb,  fo  fr&ftig  aid  moUe  er 
bem  unbdnbigen  SXefpeft,  ber  il)n  erffiUte,  baburd)  ?uft  fd^affen.  ^'d  banfen 
id  an  mir"  —  fagte  er  —  „i  fag  Diefmafd  SJergeltdgott  —  ed  war  mir  eine 
b'fonbere  €t)r,  bag  bu  jufeljrt  bifl  bei  mir  —  wat)rl)aftig!" 

Sr  l)atte  aber  nod)  ettoa^  auf  bem  J&erjen;  aid  ®terjbad)er  feine 
Sauntfire  aufflinfte,  Ijielt  er  it)n  jurftd.  —  „aBit  IBerlaub,  ie$  m6d)t  i  blog 
no  eind  wiffn,  wad  benn  aud  ber  —  ber  2»att)ilb,  mein  i,  worben  id?" 

„3a  bie!"  —  Der  Seteran  pftff  burc^  bie  Z&tjnt.  „Die  l)at  net  warten 
m6gen,  wie  ber  .Jtrieg  aniQtijt,  fonbem  ff  um  einen  britten  g'fdiaut,  einen 
3(udwArtigen,  ber  (le  and)  g'{)eiraf  t  1)at  3  meinedteild  t^ab  mir  nir  me^r 
braudg^mad)t;  ber  3(IifT  aber,  obfd^on  er  ju  mir  nie  net  baDon  g^rebt  tjat, 
id  red)t  fc^wer  brfiber  'naudfommen  unb  war  noc^  lang  lebig  wie  i  fc^on 
mitten  im  ®Iiid  g'feffen  bin  mit  mein  je$igen  brazen  ffieib.  3d  tfalt  tin 
tiefgriinbiger  b'fonbcrer  OTenfd),  ber  3flif[.   ^fiiat  ®ott!" 


--HI    527  8^ 


Ser  junge  9Btrt  txat  (angfam  feinen  Stiicfnxg  nac^  ber  ©tabt  an.  2(m 
J^tmmeKranb^  beffen  @en>6ff  ftc^  mei)r  unb  me^r  Iiif)tctf;  tratett  bie  fBov^ 
berge  ^eraud,  ganj  bebecft  mit  9?eufd)nee«  Ser  3Qirt  tnbed  toax  nocf)  DiDtg 
tm  Q3ann  bed  ®(^6rten  uttb  fetne  SorfleDungen  fonnten  nidft  bat)on  fod. 

©a  t)or  t^m,  in  bun|Kgen  Umriffen,  lag  bie  Heine  ©tabt,  6efc^eiben 
in  (Id)  jufammengefdjmiegt  gut  ben  einfam  Da^infc^reitenben  aber  ifattc 
(le  il)r  afwdfeljen  t)erAnbert.  ©ie  wud^d  i^m  )u  einem  enb(ofen  J&iufermeer 
mit  ^uppeln  unb  $&rmen^  toon  beffen  SB&Ken  ber  Standi  ber  ®efd)&$e  aufging. 

(Sr  fa^  nid|t  me^r  bie  fatflt  SJ^findiener  J^odiebene  urn  ffc^/  mit  ber 
6efd)neiten  fernen  ©ergfette,  fonbern  bie  winterlidjen  gefber  unb  Slebgdrten 
t)on  ^ranfreid).  Unb  bad  3fbenb(id)t^  bad  in  (eud^tenben  ®treifen  iber  bem 
aSorgebirg  emporflammte,  fd)ien  it)m  rot  wie  ©tut. 


5)a6  2(bcnteuec  bee  5)eJane  &^ttd. 

Sine  Srjal^lung  t>on  Stl^clm  'iBetganb  in  ^uncben^^ogenl^aufen. 

3fllj4f)rlic^  um  bie  Beit  ber  SBBeinlefe,  wenn  ber  Duft  bed  jungen 
STOofled  in  ben  ©affen  ©iffingend  lag,  <)flegte  ber  I)od)tt>urbige  ^farrl)err 
Lilian  @d)recf  feiner  S5afe  ©abine,  bie  an  ben  fogenannten  J^ofbauem  in 
®d)tt)arjenbrunn  t)erl)eiratet  war,  einen  ©efud)  ju  madden.  Sinige  S5Jod)en 
t)or^er  empfanb  bie  ©duerin  regelmdgig  bad  fromme  ©ebfirfnid,  einem  J^od)^ 
amt  in  ©ifftngen  anjun>ol)nen,  um  ben  l)od)tt>firbigen  J&errn  Setter,  beffen 
©timme  noeit  unb  bteit  berA^mt  mar,  (tngen  }u  i)6ren.  Tin  bem  beflimmten 
Sage  fianb  ffe  in  ber  ^rfi^e  um  brei  Ui)r  auf,  jog  ein  fonnt&gfidied 
wanh  unb  eine  feibene  ©d|&r}e  an,  pacfte  einen  fleinen  QSaKen  golbgelber 
Safetbutter,  einen  ^apaun  ober  ein  fetted  J^ui)n  mit  einem  audgefud)ten 
©d)infen  in  einen  J^anbforb  unb  mac^te  fidi  auf  ben  90eg  nad)  bem  toetter^ 
(idien  Sorfe,  bad  auf  fd)Ied|ten  $e(bn>egen  in  brei  ©tunben  rafd^en  ®ei)end 
ju  erreid^en  noar.  ©ie  ton^tt  itjxtn  ®ang  fo  abjumeffen,  bag  fte  erfi  nac^ 
©eginn  bed  ©ottedbienfled  in  bie  ^irc^e  fam,  tt>o  (le  aid  befd)eibene  grembe 
anb&d)tig  ^inten  an  ber  ^ird^enture  fie^en  blieb,  bid  ber  SSetter  fein  »Ite, 
missa  esf  mit  lauter  ©timme  in  bie  ^atbleere  90er(tagdfird|e  ^inetn^ 
gefungen  ifatte. 

X)ie  a(te  $farrf6d|in  ©ofie,  n)e(d)e  jebem  £ird)eng&nger  Winter  bem 
feurigen  ©lumenflor  eined  $farri}audfenflerd)end  burc^  i^re  J^ornbriOe  nad|^ 
}ufe^en  pflegte  unb  fidi  in^n>ifd)en  fc^on  auf  ben  ©efud)  eingerid)tet  t^atte, 
fam  jebed  3at)r  and  ber  Uberrafd)ung  Aber  biefen  badfidjen  ©efud)  nic^t 


528  8*^ 


\)eTani,  unb  felbfl  itjtt  J^&nbe  nooDten  t)or  (f  rflattnen  nidjt  }ur  9tut)e  fommcn. 
®te  na^m  bet  S5efud)ettn  btenflfertig  listen  ^orb  ab,  ntd)t  o^ne  rafc^  ben 
Secfel  tote  aud  93erfei)en  {u  f&pfen^  urn  }U  fei)en/  ob  er  aud)  rtci^tig  toteber 
bie  aUen  J^errfic^fetten  ent^alte^  unb  n6Hgte  bann  bte  S5afe,  an  bem  Md)en^ 
ttfd^e  $Ia$  }u  ne^men^  auf  bem  tm  &d^atttn  etner  m&ditigen  ^affeefanne 
fd|on  bte  gebffimten  Sajfen  berett  fianben.  @te  tat  ti  nid^t  anberd^  bie 
9&uertn  mugte  oon  bem  Aaffee  trtnfen^  bet  f&r  ben  ^ocbto^rbigen  J^erm 
felbfi  befitmmt  n>ar^  unb  bte  SDafe  (teg  fld)^  toit  ed  {id|  fd|t(ft^  )ttr  erflen 
Sajfe  )t9eima(  unb  )ur  brttten  breimal  ober  gar  otermaf  n6tigen. 

SBenn  bann  bie  betben  ^rauen  aOe  SReuigfeiten  berebet  nnb  ber  J^err 
Setter  fetnen  «i&onig^  feine  @ier  unb  feinen  £afee  mit  geiflKc^er  Wlnft  ge^ 
noffen  l}atte,  legte  bie  «0of b&uerin  t^r  (Seffcf^t  in  ^eifige  ^a(ten^  na^m  ii^ren 
foftbareu/  in  9tom  gemei^ten  Stofenfran}^  bad  ®e6etbucf)  unb  bai  flein  ge^ 
f&ftete  Xafcftentud)  in  i^re  Hnfe  J^anb  unb  madjtt  fic^  auf,  um  ben  «Ocdy^ 
loikrbigen  in  feiner  ©tube  }u  befud^en  unb  )U  bitten,  er  mhdftt  i^rem  J^aud 
bocf)  aucf)  wieber  einmat  bie  dijtt  feined  geifificf^en  $5efud^ed  antun. 

3(1*  ffe  (id)  in  biefem  Satire  ber  ^farrftubentfire  nd^erte,  l)6rte  fie  ben 
$farrf)errn  innen  fd)e(ten;  augen  an  bem  SArpfofien  flanb  eine  (ange  ®d)&fer' 
fd|i))pe,  unb  oon  ber  ^farrl}au*trepf)e  tjtx  fam  bai  leife  9Qinfe(n  eine*  J^unbe** 

Z)ie  S5&uertn  mugte  )n>eima(  ffopfen,  el)e  bie  aufgeregte  Stimme  be* 
^farter*  „^erein"  rief,  unb  al*  (te  befd)eibenen  ®d)ritte*  unb  neugierigen 
2(uge*  ba*  3intmer  btttat^  fai)  fie  neben  ber  Ziixt  einen  jungen,  grogen 
9Renfd)en  flel)en,  n>e(d)er  einen  abgefd)abten  9tabmante(  an*  $u(^,  n>ie  i^n 
bie  ®d)dfer  in  granfen  tragen,  um  bie  ©c^uftern  I)dngen  l)atte  unb  feinen 
finfleren  93(i(f  auf  eine  tuc^ene  ©(^ilbmA^e  gefenft  ^ie(t,  bie  er  mit  )tttemben 
«0&nbcn  umbrel)te. 

„®o,  unb  nun  mad)',  bag  bu  fort  fommfl,"  rief  ber  ^farrer,  cl*  cr 
bie  S5afe  eintreten  faf).  „Unb  menu  id)  nod)  einmal  wa*  ^6r\  follfi  bu 
mid)  lennen  lernen." 

jDer  93urfd)e  blieb,  oi)ne  bie  3(ugen  }u  eri)eben,  einen  3fngenb(icf  fle^en, 
a(*  ob  er  nod)  etn>a*  oorbringen  moUe;  bann  fagte  erf)l6$Iid):  ,,®e(obt  fei 
3efu*  6i)rifiu*"  unb  t)erfd)n>anb  eiligft  burd)  bie  $&re.  (Sleid)  barauf  erflang 
t)on  ber  ©trage  f)erein  ba*  (drmenb  freubige  ©ebeO  eine*  «Ounbe*. 

w^ein  5ag  t)ergel)t  ol)ne  ©orgen,"  fagte  ber  ^farer,  ber  bie  ©afe 
fei)r  freunblid)  ^ra$  nel}men  l)ieg  unb  t)ierauf  bie  &btiibtn  ^ragen  nac^  i^rem 
SD^ann,  it)ren  ^inbern  unb  ber  (Srnte  tat.  Ser  <Oof6duerin  aber,  bir  ba* 
brAl}enbe  @efid)t  be*  geifl(td)en  Setter*  nid)t  au*  ben  3(ugen  (ieg,  ftel  e* 
fofort  auf,  bag  ber  i)od)n>&rbige  «Oerr  nid)t  nieberfaf  unb  )un>ei(en  i^re 
3(ntn)orten  gar  nid)t  abwartete,  fonbern  einigemale  in  faum  )Der^et)(ter  Unrafl 
unb  3erflreuti)c:t  um  ben  Sifc^  l)erumging,  auf  bem  ein  mdd)tige*  ©d)reiben 
mit  rotem  ©iegel  (ag.  Tlli  fie  ffd)  enb(id)  )Derabfd)ieben  woUte,  (ieg  ber 
^farrer,  beffen  gldnjenbe*  ®eftd)t  t)on  innerem  ®(Ade  flraf)Ite,  fd)etnbar 
nad)(dffig  bie  30orte  faOen:  ,,©oeben  ift  meine  @rnennung  }um  Sefan  ge^ 
fommen.   3a  ja!  SBieber  eine  Safl  me{)r  ju  ben  Abrigen  Saflen"* 

IDie  $5duerin,  bie  unn>i((fAr(id)  einen  tiefen  SReiger  mad)te,  fonnte  fic^ 
nid)t  enti)alten,  il)re  SReinung,  bag  ber  J^err  Setter  biefe  (St)re  fd)on  fdngfl 
Derbient  {)a6e,  t)or  bem  2(bfd)ieb  breimal  t)or)ubringen.   7(uf  bem  ganjen 


529 


«Oettnn)eg  bac^te  ffe  angelegentltd)  barfiber  nad),  in  tDelc^er  SBeife  fie  felbfl 
btefe  (St)rung/  bie  ben  J^errn  Setter  erfi  in  bie  rid^ttge  getfUic^e  «06^e  f)o6^ 
nad^  ®e6&^r  feiern  f6nnte- 

Tin  bet  ^ocf)n)&rbtge  Z)efan  gnoei  Sage  fp&ter  bie  ))upurgeI6e  J^erbfl^ 
prac^t  ber  DbflgArten^  bie  bad  Sorf  umtr&njen^  burd)f(i)ntt^  urn  feinen 
@d|tt>ar)en6runner  $5efucf)  ju  abfotoieren,  begegnete  er  einem  alten^  t)eri)U$e(ten 
SBetblein/  bad  einen  SBeKen  Stebtyolj  anf  bem  9t&(fen  ba^erfcf^Ieppte.  ^er 
jDa^erwanbefnbe  natftn  feinen  goIbbefn6f)ften  @tocf  unter  ben  (infen  Tlxm, 
freu)te  bie  J^&nbe  anf  bem  Stficfen  unb  blieb  toor  ber  9&uerin  fle{|en/  bie 
t)or  fofcf^er  @^re  fcfiier  in  ben  9oben  finfen  woOte  unb  gar  nicf|t  n>u9te^ 
roai  (le  mit  i^rem  J&olge  macfjen  fottte.  3t)r  „®eIo6t  fei  3efu«  S()ri|lud" 
flang  tt>ie  jitternbe  @f)rfurrf>t  t^or  bem  geifHict^en  J&errn,  ber  (le  mit  milber 
©timme  antebete:  „9?o,  Uppdi^^tani,  id)  ^abe  t)orge(iern  mit  bem  ©rf^Aferd^ 
j6rg  gerebet  @r  wirb  Sure  (Smerenj  in  Bnfnnft  in  9luf)'  TafTen,  benf  id)." 

Sad  SQeiblein  fct|fug  bie  J^&nbe  jufammen  unb  nicfte  me^rmaU  mit 
bem  *opfe:  „3  foag  Ijalt  »ergelf*  ®ott  taufenbmol,  J&ocf|n>firben.  'd  i*' 
fd)o'  a  rec^t'd  ^reuj,  noann  mer  a  SBittfraa  i*.  2Bann  er  nor  net  ©on 
©irje  tt>4rM  Iwer  meiner  STOutter  il)rem  ©ruber  fei'  ©efc^wifierfinb*^ 
todjterdfraa  tjot  aflaweil  g'foat,  wann  an'r  »on  ©ifje  i«,^  i*  er  ^alt  t^on  ©ilje. 
©unfdjt  tt>4r  er  gor  net  undibe,  un'  broat)  id  er  aa.  iwer  er  l)ot  f)alt  gear 
nir,  mti,  met^  unb  tt)ann  mer  I)a(t  goar  nir  ^at^  ijot  mer  l)alt  gear  nir." 

„9Bo  i|i  benn  Sure  5od)ter?" 

„3m  ®ald)eberig'd  SDBingert  boube/' 

,,®o?  Unb  3f(r  ^abt  feine  3(ng(l,  bag  ber  ®cf|4ferdj6rg  in  ber  £Rd^e 
diten  f6nnte?" 

Die  Tlipptli^^xani  entgegnete  nadi  einer  ^aufe:  ,,3o,  bie  ©ct^oaf  l)o' 
i  fd)o  g'fe()e." 

Der  Defan  fonnte  fid)  eined  ?dd)eln«  nid)t  ertt)el)ren:  ,Mo  ®d)afe 
finb,  i|i  auc^  ber  ©d)ifer  nid)t  tt>cit". 

r,Df),  mei',  ol)  mei^  id  bed  a  ^euj/'  jammerte  ba*  SBeiblein,  unb 
etjt  nodf  ber  Defan  eine  weitere  ©emerfung  mac^en  fonnte,  f)atte  ed  fein 
HQen^of)  mieber  auf  ben  Sti^cfen  genommen  unb  eiligfl  ^e^rt  gemad)t. 

w3a,  tt>o  woHt  3l)r  benn  f)in,  SfppeW^granj?"  rief  ber  J)oc^tt>ftrbige 
J^err  ber  Dat)on^umpeInben  nad). 

,,9}od)fei)e  mug  i,  nod)fei)e/'  ern>iberte  bie  Stlte,  bie  in  ii)rem  ©c^recfen 
gar  nidit  baran  bad)te,  bag  ed  fid)  nid)t  fd)i(fe,  ben  i)od)n)firbigen  J^errn 
Defan  fo  mir  nic^t*  bir  nidjti  (iel)en  ju  laffen* 

DerDefari  aber  blidte  ber^CIten  nic^t  o^ne  innere  ©e(ufligung  nad); 
bann  jog  er  feine  filberne  Dofe,  flopfte  mit  ben  runblid)en  ^inQtvn  auf  ben 
jDecFel  unb  entnaf)m  ber  buftigen  ^fiUung  eine  mdd)tige  ^rife;  ja,  er  bot 
fogar  bem  ©d)ufjen,  ber  grab'  i^orbei  fam,  bie  Dofe  an,  worauf  er  gemAd)Iic^ 
feinen  SBBeg  fortfeftte,  ber  burc^  bie  breiten  $al»iefen  fiil)rte,  auf  benen  je$t 
tit  ©tanf&t)e  bed  Dorfed  ber  ^erbflmeibe  oblagen. 

3n  fiflHc^em  ©ebagen  ging  er  burd)  ben  ®Ian}  bed  golbenen  Oftober^ 
nac^mittagd  bai)in.  ©ein  geifl(ic^ed  ®em&t  glid)  einem  (laren  ©ee,  and 
beffen  Siefe  i^n  guweflen  ©itber  ber  (Srinnerung  angl&njten,  wie  3BoIfenjf 
bilber,  bie  in  J&immeldtiefen  flel)en.  STOit  einem  3»infem  feined  linfen  Xuged 


-<-8    530  1^ 


fa^  tt  imi  @onfratre^  ^rrauffd^telen^  bte  ftcf)  g(eid)  ti)tn  mtt  ber  f&^en 
J^offnung  getragen  t^atten^  ber  9B&rben  bed  X)(fanatd  tetfl^aftig  }u  loerben. 
@r  geflanb  ficf)  aber  ru^ig  etn^  ba^  er  bem  etnen  ntd)t  itur  ^oreOen^ 
fcf)me(fer,  fonbern  and)  ali  gemtegter  tenner  frdnftfc^er  2(Itertfimer  unb 
®efct)i'd)fe,  bcm  t)on  feinft  5ugenb  l)cr  nod)  bad  Ijeimartic^e  ®e(&cf)ter  alt* 
fr&nftfd^en  itbeni  in  ber  ®eele  nad[)t|aUte^  tt>ett  uberlegen  n>ar;  benn  t^m 
aOein  toerbanfte  fetne  etgene  ®emetnbe  bte  Sr^aftung  emer  fleinen  pr&d|tigen 
^aptUt,  in  ber  einji  ber  gro^e  gfirflbi'fc^of  3uliu*  Sd^ter  »on  SWeipefbrunn 
ben  gewaltigen  ^ieg&^errn  3irg  t)on  fXtebern  beigefe$t  ^atte^  unb  and) 
fonfi  befa^  fetn  Xennern>ort  gemid^tige  ©eltung.  IDen  anberen  fDIttbntber 
aber  t)atte  er  nad)  longen  ^impfen  enb(id)  jur  fhrengen  @(^6nl)ett  be^ 
c&dliantfd^en  ^ird^engefangd  befet)rt  unb  bemogen^  bie  alten  t&nbe(nben 
fRofofomeffen,  bie  nod)  immeri^on  ben  @mporen  ber  Doriff irdjen  l)erab  erffangen, 
tin  ffir  aUemal  ab}ufd)afen.  3ur  @tetgerung  fetned  fatten  ®(ficfed  ftel  tl^m 
nun  DoHenb^  ein,  bo^  er  morgen  bie  SRummer  einer  3eitfd)rift  ermartete^  in 
n>e(d)er  er  ntd)t  nur  /fir  bie  (hreng  fird)Iic^e  $onfun|i  mit  bem  @ifer  eine« 
^ennerd  eingetreten  mar^  fonbern  and)  tin  buftige^  fTOartenlteb  fleben  tjattt, 
unb  gan}  im  J^intergrunbe  feiner  ®eele  fd)(ummerte  ber  ^(an  }u  einer  grunb* 
Ud)tn  @tid)id)tt  feined  Sefanatd,  bie  nid)t  nur  bie  ®d)icffa(e  ber  etn}e(nen 
£6rfer  unb  @d)(6ffer  bel)anbeln^  fonbern  auc^  ein  3nt)entarium  aDer  Snn\lf 
refle  bieten  foUte,  bie  in  Sifbflocfen  unb  Xtrd)enbi[bern/  in  7(mtd(luben  unb 
@afri{leien  nod)  einen  ^bglanj  a(tfr&nfifd)er  ^errKc^feit  unb  ec^ter  Steligion 
t)erbreiteten.  Tlnd)  bie  (Sinjelgefd^icfe  ber  ®emeinben  n>&^renb  bed  unfeligen 
©auernfriege*  fonnten  einen  tenner  in  bie  ©tuben  locfen,  wo  bie  un* 
gebobenen  Dofumente  fd^fummerten  unb  ber  Duft  tJerfdjoBenen  ?ebend  fiber 
gilbenben  ^apieren  n>ebte*  @r  fa^  eine  nai)e  3Be[t  tooD  geifKid^er  unb  toelt^ 
Ud)ex  diftenf  tooD  3(rbeit  unb  9tu^m  )Dor  ffd)  l)erg(&n)en;  fein  ®d)xitt  murbr 
fefier,  unb  feine  ?ippen  pregten  fid)  in  feftem  @ntfd)fug  aufeinanben  @r 
mad)te  ffc^  inbeffen  fein  J^e^I  baraud/  ba^  er  (id)  bei  t)ielen  feiner  2fnitd* 
brfiber/  bie  in  ber  fib(id)en  Serbauerung  bai)inrebten^  feiner  befonberen  Ce^ 
(iebt^eit  erfreute;  aUein  er  n>ar  gefonnen^  in  aUen  sbingen^  bie  fein  ^eiliged 
Tlmt  betrafeu/  feine  9tfid(id)t  tt>a(ten  )u  fajfen  unb  ben  SQeg,  ber  i^n  aud 
bittrer  Sorgenarmut  auf  feine  je$ige  ^6i)e  emporgeffii)rt^  mit  jenem  unbeug* 
famen  @inn  )u  get)en,  ber  einem  2(rbeiter  in  bem  SQSeinberg  bed  «Oerni 
gejiemt 

SoO  foId)er  bemfitig^tro$iger  ©ebanfen^  bie  nur  ^ier  unb  ba  burc^  ein 
J^irtenfinb  unterbroc^en  wurben^  bad  fiber  bie  J^erbfi)ett(ofen  ba^ergelaufen 
fam^  um  bem  J^errn  Sefan  bie  fromme  J^anb  ju  ffijfen^  mar  er  an  ben 
aften  9Beg  gefangt^  ber  and  bem  SBiefental  )ur  «Ood)ebene  emporffii)rt,  bie 
in  einer  i^rer  SQeUenmuIben  and)  ben  SBeiler  ®d)mar)enbrunn  birgt.  Sort 
oben  auf  bem  ©afgenberge^  beffen  ffibnd)er  ^an^  bid  tief  t)erab!Keben  trdgt/  mar 
einfl  bad  ©d)Io^  ber  %reitjmtn  t)on  SHiebem  geftanben,  bad  im  breipigjfi^rigen 
^riege  t)on  ben  ®d)n)eben  bem  @rbboben  g(eid)  gemad)t  morben  mar  unb 
im  fTOunbe  feiner  ^farrfinber  nur  noc^  aid  t)erfunfene  ©tfitte  ^errlic^er 
@d)&$e  einige  SBic^tigfeit  befa^;  immer  nod)  fe^te  toon  Beit  ju  Stit  ein 
93&uer[ein  ein  ®fimmd)en  taxan,  um  bad  @e(b  }u  ^eben  ober  menigflend 
jene  SBeinfeUer  aufjufinben^  in  benen  ^fiffer  lagen^  gegen  bie  bad  ^eibel^ 


531  8^ 


berger  @d)Io9fa9  em  reined  ®))ie(}eug  toax.  3m  fibrigen  toav  ber  ®a(gen^ 
berg  noett  unb  breit  £)rt  tDerrufen^  an  bem  ed  ^nic^t  ric^ttg"  fet,  n>ei[ 
fid^  ba  oben  }u  gen>i{fen  B^iten  ber  @d)tinmelreiter  unb  anbere  ®efpenfier 
fe^en  (iegem 

IDer  alte  ge))flaflerte  9urgn>eg^  ben  bid)te  «Oafe(bufd^e  umf&umten/  }og 
fid)  n)o^rer^a(ten  unb  in  fanfter  ®tetgung  )n>ifd)en  ben  9tebgutern  f^tnan; 
baneben  aber  f&ljtU  ein  in>etter  ^fab  in  flarfer  Steigung  auf  bie  ^ilit^ 
unb  ber  Sefan^  ber  ftc^  ali  r&fiigen  ^u^g&nger  ffi{)(te^  befcf^Io^  biefen  fietlen 
^fab  ju  gel)en. 

2(uf  t)a(ber  ^6^e  mdU  i^n  ein  fr&ftiged  3aud)}en/  bem  ein 
i)e((er  ®dnrei  and  einem  fro&bd)enmunbe  Tlnttoott  gab^  aud  ber  aSerfunfeni* 
ijtit  Ui  ®teigend^  unb  aii  ex,  flel^en  bleibenb^  urn  ftcf)  blidtt^  fa^  er  unter 
fid)  auf  bem  alten  93urgn)eg  ein  junge^  $&rd)en  langfam  aufb&rM  flreben: 
e*  war  ber  ®d)Afer*i6rg  unb  bie  Smerenj,  bie  ba  mit  gefenften  *6<)fen 
g(u(ffe(ig  nebeneinanber  i}ergingem  3un>eiren  entjog  ein  golbbelaubter  AaUU 
bufc^  ba«  ^aor  ben  ©liden  feine*  ^farr^errn,  ber  fpfort  rafdjer  ju  fteigen 
begann,  um  bie  ©6nber  oben,  tt>o  bie  beiben  9Bege  ineinanber  liefen,  mit 
einem  ^eiligen  X)onnern)etter  abjufangem  dx  pflegte  ffd)  fonfl  im  aOgemeinen 
nidjt  in  bie  J^eirat^^  unb  Siebedfadjen  feiner  ^farrf inber  gu  mifd)en ;  aflein 
bie  3(rt  unb  SDBcife,  »ie  e^  biefer  l)ereingefd)neite  ©c^iferburfdje  mit  ber 
(Smeren}/  gegen  ben  SOiOen  ber  3fppe(^^$ran},  toor  ber  ganjen  ®emeinbe 
trieb,  (egte  itjxa  bie  geifl(id)e  ^f{id)t  auf,  gegen  bie  Siebe^feute  einjufd^reiten. 

er  aber  oben  auf  ber  J^6l)e  (ianb,  war  tt>eit  unb  breit  fein  STOenfd) 
{U  fel)en;  bad  ^4rd)en  mu^te  ben  geftrengen  ^farr^errn  bemerft  ^aben  unb 
jn>ifd)en  ben  9teben,  beren  roflbrauned  ianb  nod)  fiberaU  an  ben  ©ticfen 
^ing^  )Derfd)n)unben  fein. 

2)er  £efan  bfieb  flel)en,  um  mit  finfleren  ^rauen  einen  2(ugenb(icf 
bei  bem  9i(be  ju  toenoeilen,  bad  toor  feinen  2(ugen  lag.  ^ein  Saut  regte 
ff(^  in  ber  m&rc^eni)aften  ©tiUe  biefer  «06t)e;  ein  feltfam  bitterer  ®eru(4 
fd)tt>amm  in  ber  feud^ten  Dftobertuft,  unb  nur  juweilen  ((ang  au&  bem  ge^ 
tt)unbenen  Zal,  burc^  bad  ber  fffberne  $aben  eined  frofi^(bad)ed  lief,  bad 
f)eae  3aud)}en  ber  J^irtenfnaben  ^erauf,  bie  um  ein  ^euer  f))rangen,  beffen 
blauer  Stand)  ^df  (angfam  an  bie  braunen  9teben^&nge  (egte.  3n  ber  burd)^ 
(Td)tigen  Suft  bed  @p&tnad)mittagd  gl&njte  bie  branbrote  ^rad)t  ber  93ud)en^ 
u>&lber,^  bie  n>eiter  aufto&rtd  ilber  bem  S&Id|en  ineinanberflammte,  feltfam 
na^e,  unb  nur  bie  fernflen  <0&ge(  t)erfd)n>ammen  )art  in  einem  n)&fferigen  93[au. 

„3Bir  befommen  9IebeI  ober  SXegen,"  bac^te  ber  gei(llid)e  4)err,  inbem 
er,  rafd)  audfd)reitenb,  nad)  feinem  93ret)ier  grif,  um  bie  @ebanfen  (od  {U 
n>erben,  bie  bad  t&di(d}e  ""Paar  in  feiner  93rufi  gemecft  ^atte.  Sod)  )n)ifd)en 
ben  3(i(en  bed  frommen  Serted  taud)te  anm&i)(i(^  eine  qu&(enbe  @rinnerung 
auf,  ber  er  niemald  geflattete,  fid)  in  bad  t)ene  $aged(id|t  feined  Sebend 
^eranf)ufiel)Ien:  and)  er  mar  einfl,  a(d  junger  fDIann,  ber  ffd)  bem  ^riefler^ 
flanbe  gen)eii)t,  mit  einem  9)?&bd)en  felig  burd)  ben  ®(an}  eined  bftober^ 
taged  bai}ingegangen,  unb  nur  mit  SRul)e  n>ar  ed  feiner  flutter  gelungen, 
)Don  feiner  ^amilie  bie  @d)mad|  abjumdljen,  bie  unaudb(eib(id)  gemefen 
tt)ire,  tt)enn  er  nod)  in  letter  ©tunbe  »or  ben  l)eiligen  SEBei^en  fein  ®el6bnid 
t>erlaffen  i)httt.  Dad  9W4bd)en  tt>ar  fpdter,  ^ergrdmt  unb  ^erffimmert,  nad) 


532  ^ 


Tlmtxita  audgewanbert^  unb  er  felbfl  t^ermieb  bie  ^rage,  06  er  fine  @(i)ulb 
trage  ober  c6  er  recf)t  getan^  ben  begonnenen  SBeg  md)t  {u  toeriaffen. 

jDte  J^ofb&uenn  war/  wit  iebed  3ai)r/  anger  fid)  t)or  (Srflaunen,  baf 
ber  J&err  Setter  iljr  J&an«  mit  feinem  priefterlid)en  ©efncfie  beel)rte,  unb  ber 
Z)ef an,  ber  bie^mal  ben  (lattftd)en  ^of  mit  tfti^m,  ftnflerem  ®efTcl)t 
btttatf  nai)m  bte  Satfacf^e^  bag  bie  Heine  g^rau^  obmo^I  ed  SBerftag  roar, 
tint  lilafeibene  @onntagdfcf)&r)e  trug,  fliOfd^meigenb  t)in.  IDer  l)C(bn)firbige 
<Oerr  murbe  )uerfl  in  ein  Simmer  (inf^  toon  bem  mit  ©anbfleinplatten  btf 
legten  «0<tn^eingang  ge(eitet,  n>o  ein  alter  Sid^entifc^  im  ©c^mucfe  eine^ 
blenbenb  meigen  Sifcf^tnc^ed  gr&n)te.  SRacf^bem  er  felber  auf  ber  feden  S5anf 
am  Render  ^Ia$  genommen^  fe^te  fid)  bie  $5&nerin  auf  einen  Stu^I 
bem  Sifd)  unb  Heg  il)re  ^(icfe  fnd)enb  nad)  ber  ^lurt&re  fc^weifen^  burd) 
bie  and)  aldbalb  eine  junge  fDIagb  im  @onntagdpu$e  eintrat^  um  etn  S5rett 
mit  glAn^enber  Xaffeefanne  unb  einem  m&d)tigen  ®uge(^upf  toor  ben  t)cd)^ 
tD&rbigen  ^efud)  i)in)ufe$en.  Cer  £efan  mibmete  ffd)  nnu/  o^ne  t)te(  ju 
rebeu/  bem  buftigen  ®etr&nf  unb  bem  fd)me(}enben  ^ud)en/  nnb  erfi  naci^« 
bem  er  fein  britte  Xaffe  gefd)ffirft  unb  ba}mifd)en  mit  eingehtifenem  linfen 
^ng^  gtfragt  Ijattt,  oh  bie  93afe  bie  alte  ®tanbui)r/  bie  in  einer  @cfe  ticfte, 
immer  nod)  nic^t  um  einen  gnten  93a$en  l)ergeben  kDoKe,  (am  ti  {u  einem 
red)ten  gei(irid)en  ®efpr4d)» 

©iefe  Ul)r,  ein  grogo&tertid)e«  @rbfhirf  ber  ©afe,  bot  attj4f)rlirf)  eine 
genugreid)e  ®e(egen^eit/  bie  t)ern>anbtfd)aftlid)en  9e)iel)ungen/  bie  {tt>ifd)en 
ber  ®rogb&uerin  unb  bem  «Oerrn  IDefan  beflanben,  t)on  aOen  ©eiten  grfinb^ 
lid)  }u  tt)ftrbigen.  Der  ®rogt)ater  ber  J^ofbduerin  war  SHentamtmann  ber 
^rei^erren  ^oon  Stiebern  gemefen;  il)re  9){utter  tjattt  ben  @ngeln>trt  in 
©iffingen  geljeiratet,  unb  ffe  felbfi  war  al^  ^ielumworbene  SBirt^toc^ter  in 
bie  ^of6auernfd)aft  ()ineingeraten,  and  ber  i^r  jfingfier  @ot)n,  ber  eben  in 
Duinta  fag^  ba^  alte  93eamtenge6Iflt  n>ieber  in  bie  t)ii)ere  froenfd)[id)fett 
emporfft()ren  foQte.  £er  £efan  felbfl  flammte  aui  $&if(^of&l)eim  unb  noar 
ber  ®o()n  fleiner  Stabtbauern,  bie  rafd)  l)inn>eggeflorben  noaren^  aK  ffe  ben 
^od)miirbigen  J&errn  ©o()n  aK  Kaplan  t)erforgt  fa^en. 

SRac^bem  biefe  genugreid)e  M9reunbfd)aft''  in  aDen  ®raben  nod)  ein^ 
mal  ftd)er  fefigefieUt  n>orben  mar^  erfd)ienen  and)  bie  Jtinber  ber  93duerin 
im  ©onntagdflaat/  um  bem  ^oc^mftrbigen  «Oerrtt  Setter  ii)re  2(ufn>artung  ju 
mad)en:  e^  maren  bied  jmei  btonbe  S)7&bd)en  mit  geflod^tenen  ^ipftn,  im 
TiUtx  )Don  ad)t  unb  neun  "iatjxtn,  unb  brei  flad)d(6pfige  Sungen^  beren  Sungfler 
bie  Dnintanerm&$e  mit  beiben  «@&nben  t)or  bem  Setb  tjitlt  TIH  Xnbenfen 
an  ben  93efud)  er^ielten  fte  «Oaud)bi(bd)en/  bie  ber  «Oerr  ^etan  feinem^retoter 
entnal}m  unb  ben  Ainbern  mit  ber  feier(id)en  9)7ai)nung  ikberreid)te/  and)  fo 
brat)  n>ie  bie  lieben  J^eiligen  )u  werben;  unb  enblid)  fiapfte  auc^  ber  J^of^ 
baner  ©ebafiian  SUig  ijtxtin,  tin  tja^txtx,  ungelenfer  SRann/  ber  f!d>  eben 
frifd)  raftert  i)atte  unb  tin  ifalbti  Su$enb  ^fldfierd)en  im  (ebemen 
(StUdjt  trug. 

,,9Io,  tun  ®ie  und  and)  wieber  einmal  bie  S^r'  an,  J&err  I)efan?^ 
fragte  er  mit  unfTd)erer  ©timme,  m&t)renb  fein  ^ficT  auf  ber  gefirengen  ^anif 
fxan  xni)tt,  bie  ben  ganjen  ^of  regterte.  Ticm  35auern  n>ar  e^  offenbar 
nid)t  red)t  gefjeuer  in  ber  geifllid)en  @efenfd)aft;  benn  er  fpi$te  Don  Stit 


533  8^ 


)u  3ett  auft)orc^enb  bte  £)^ren  unb  fd^Itd)  balb  i^inani,  urn  fid)  erfl  beim 
3(6f(^ieb  bed  i^o^en  @afled  wteber  )u  }eigen. 

£ie  (Sro^b&uertn  abet,  bte  nor  auf  bad  @nbe  btefer  Seremonie  ge^ 
getoartet  ^atte^  nou^te  nun  bad  @efpr&c^  auf  bad  i)etltge  $e(b  bet  Xljeologie 
)u  (enfen^  tnbem  ffe  feufjenb  auf  etn  93i(b  feiner  ^eUxQUit  bed  $a))(led 
?eo  XIIL  blicfte,  bad  jwifdjen  jn>ei  genfiern  f^ing  unb  mit  jenem  fegnenben 
S&c^e(n  in  bie  SBelt  6(i(f te^  bad  nut  frommen  ^&^fien  unb  fc^6nen  @itnbennnen 
etgen  tfi. 

Z^amtt  aber  bad  Setbltc^e  bet  biefen  getfiltc^en  ®efpr&cf|en  nic^t  )u 
®d)aben  tommt,  erfd^ien  and)  bie  ^SJta^b  n>ieber  unb  brad^te  bte  Sorboten 
bed  Xbenbma^Ied  in  ©eflalt  tiefer,  bunter  5eCer,  etniger  fdjfanfer  @l4fer 
unb  einer  t)erfiege(ten  ^fafc^e,  bie  fie  mit  bet  Semut^  bie  ber  ^eiligen  ^S}tatti|a 
etgen  mar,  wt  ben  geifl(id)en  «@errn  i)inpflan)te.  Unb  aldbalb  fotgten  auc^ 
bte  bampfenben  ®d)&ffe(n  bed  ^Cbenbeffend:  ba  gab  ed  {uerfi  ein  golbbrauned 
$(eifd)ffip))Ietn  mit  fSJtatttli^Uin,  beren  faftige  Subereitung  bie  ei)emaltge 
9Birtdtod)ter  fofort  mit  einigen  @eitenbliden  auf  bie  funfKofe  Afic^e  ber 
Unterbduerin  erfl&rte*  :Der  I)efan  aber  fprad)  (liH  fein  5ifd)gebet  t)or  (Id) 
i)tn  unb  I6ffelte  feinen  ^eUer  mit  bem  anb&d)tigen  ^e^agen  eined  ^ennerd 
aud,  worauf  er  fid)  in  ernflem  Sone  &ber  bie  Sage  bed  ^eiltgen  Saterd 
)Dernei)men  lie^,  bie  ber  gan}en  6t)nflenl)eit  }ur  Sc^mac^  gereid)e*  Sie 
^rage  ber  ©afe  aber,  ob  ber  l)eilige  SSater  tt>irflid),  tt>ie  fie  t)on  einem 
terminierenben  ^apujiner  furj  wxijtx  gel)6rt,  auf  ©tro^  fd)Iafen  mfiffe,  be^ 
antn)ortete  er,  nad)bem  er  ein  leid}te^  ^uflen  unterbrfidt,  mit  ber  @rf(&rung, 
ba^  bamit  nid)t  mirflid^ed,  fonbem  fojufagen  ein  geifliged  @trol)  gemeint 
Uh  flwf  bem  ber  e^no/irbige  ^ap|i  im  SBatifan  bie  ^ein  ber  ®efangenfd)aft 
erbulbe.  J&ierauf  mad)te  er  fid)  baran,  bie  oerfiegelte  ^laid^t  ju  6ffnen, 
n>efd)er  ber  Duft  eined  wunberbaren  alten  @teintt>eind  entquoH;  ben  golb^ 
[|)eaen  Zropfen  aber  go^  er  mit  ber  ernflen  ©orgfalt  ein,  bie  mit  i)eiligen 
SQeinen  um{ugel)en  toti%  unb  bie  erfien  ®d)(ude  (ie$  er  anb&d)tig  auf 
feiner  3«nge  warm  tt>erben. 

3n}n)if(4en  n>aren  fr&nfifd)e  93ratn)firfle  mit  @d)infen  unb  ®pinat 
€rfd)ienen,  unb  and)  t)ier  fonnte  ffd)  bie  93&uerin,  bie  gleid)fam  aid  ju^ 
fc^auenber  @l)or  an  bem  WtaljU  tei(nal)m,  nid)t  oerfagen,  bie  einjig  rid)ttge 
©ereitung  biefer  lederen  *unfigebilbe  granfend  t)on  it)rem  3(nfang  bid  )u 
beren  feligem  @nbe  anjugebem  IDer  2)efan  aber  beantmortete  ba}n)ifd)en 
bie  ^rage  ber  9afe  nad)  bem  J^auptunterfd)iebe  itn)ifd)en  bem  fatl)o(ifd)en 
unb  bem  proteflantifd)en  @lauben  furj  unb  b&nbig  bai)in,  bag  proteflantifd) 
gut  leben,  fatl}o(ifd)  aber  gut  fierben  fei. 

3(uf  bem  ©runbe  ber  bebl&mten  ^latte  t)oDer  @d)infenfd)nitten  waren 
inbeffen  aHmd^Iid),  g(eid)  bunten  3nfeln,  glAngenbe  ©lumen  anfQttanAt, 
unb  ber  IDefan,  ber  bie  n&d)fle  Sufunft  at)nte,  fd)(o§  iun&d)(l  biefen  ®ang 
mit  einem  (lillen  ©eufjer  ab.  3m  gleid)en  3tugenb[id  fe$te  bie  bienftfertige 
SRagb  aber  and)  fd)on  einen  m&ditigen  ^albdbraten,  ber  etnen  jarten  X)uft 
aniijaud^U  unb  in  Jnufprig  braunem  @d)me()  ergl&njte,  mit  bem  n6ttgen 
3ubel)6r,  mit  r6fd)em  @a(at  unb  aUerlei  eingemad)ten  ^xiidfttn,  auf  ben  Sifd)* 

„9lofaIie,  ®ie  entwirfein  fid)/'  fd)erjte  ber  geiftlid)e  Jg^err,  ber  nun 
iufel)enbd  munterer  ju  werben  begann,  unb  ein  feliger  ®d)immer  fibers 

SQddeuttcbe  Monttshefte.  1,6.  35 


-e-g  534 


mrnfd)(tcf)en  ®(fi(fe«  iibtrtjauditt  bit  b(fit)enben  Cacfen  be«  Wlhtdjtnif  aU 
ti  finer  fo(d)en  getfKid^rn  2(nf))racf)e  gewirbt^t  wurbe.  jDie  Cafe  abtx,  bie 
je$t  tntt  tt)ren  ^ragen  bei  ber  totrffamen  ®nabe  angefommen  n>ar^  lief  bad 
®lai  bed  l)o(i)n>firbtgfn  J^errn  Setter^  nt(f)t  mei)r  aud  bent  3(ugf/  unb  ber 
jDefan^  ber  aud)  bem  r6fd)en  Craten  aOe  @t)re  antatf  toax  fc^ott  mitten  in 
ber  jtveiten  ^(afd^e,  aU  er  enb (id)  bad  2(benbe{fen  mit  eincm  fliOen  ®ebet; 
bem  bie  C&uerin  flet)enb  ann)ol}nte^  beenbigte. 

Sangfam  unb  {(d)er  loar  er  auf  bem  ®ipftl  geiflHd^en  Cc^agend  an^ 
ge(angt;  er  go^  je$t  and)  ber  Cafe^  bie  ffd)  nidft  met)r  flrdubte^  ein  ©fad 
ein,  )&nbete  ftd)  eine  Bigarre  an^  beren  Ibuft  bad  Simmer  mit  9Bot)[gerud) 
erffinte^  unb  (ief  feinen  (auten  ®ebanfen  unter  breitem  ®e(&d)ter  it)ren  Sauf. 
Son  ber  Sage  ber  ^ird)e^  bie  (id)  ja  in  Z)eutfd)Ianb  fei)r  gebeffert  ^abe^ 
fam  er  auf  bie  Jtird)cnmufff  unb  auf  Cidmarcf;  t)on  ben  S^^^maurern 
fd)tt)enftc  er  auf  bad  9Beingefe$  ab,  unb  and)  bie  Smerenj  unb  bie  2fppeld^ 
^ran)  burd>fd)rttten  einmal  feine  ®ebanfen.  £ie  J^ofb&uertn  fonnte  fid)  ni(t)t 
entftnnen^  ben  geifl(id)en  J^errrn  Setter  jemald  in  fo  ^eiterer  ©timmung  ge^ 
fet)en  )u  ^aben;  ja^  fo  bac^te  fie,  t)ier  jeigte  ed  (Id)  n)ieber  beuttid)^  bag  bie 
red)te  Seutfeligfeit  etgent(id)  mit  ber  ®r6fe  ber  geifllid)en  J^erren  n>&d)fl, 
unb  a(d  fie  ben  erflen  ®d)[u(f  t)om  )n)eiten  ®(ad  nat)m^  ertappte  ffe  flc^ 
auf  bem  ©ebanfen,  xoit  t)errlid)  unb  txbanlidj  ed  erfl  fein  mii^tt,  einmal 
einen  t)eiligen  ©ifd)of  tafein  ju  fel)en.  — 

@d  war  fp&t  in  ber  fSlaibt,  aid  ber  ®afl  ftd)  tnbUd),  nad)  bem  (fut# 
feligflen  3(bfd)ifb  pon  ber  ganjen  J^ofbauernfamilie^  auf  ben  J^eimn)eg  mad)te. 
3fuf  ber  Jreppe  bed  J^aufed  blieb  er  mit  etwad  un(Td)eren  ©einen  n>o^I 
eine  SKinute  long  (le^en  unb  fog  ben  J^aud)  ber  warmcn,  feuc^ttn  J&erb(l^ 
nad)t  eiU/  in  ber  ein  fd)arffr  9taud)buft  lag.  Tim  n&d)tlid)en  J^immet  noar  fein 
ein)iger  @tern  ju  fei)en ;  nur  ein  matter  ®d)Ieier  tfitU  bad  bunfle  ^imament 
umfponnen^  unb  iiber  ben  Qu(fe(n  bed  ®el&nbed  mebte  eine  ungen)iffe  J^eKe* 

SSit  rafd)en  @d)ritten  ging  ber  $farrt)err  t)orn)&rtd;  er  l)atte  bad  ®t* 
f&ill,  baf  er  beute  bod)  ein  bifd)en  )u  Piel  gefprod)en  t)abe,  unb  freute  flc^ 
nun  bed  rafd)en  ®et)end  in  ber  frifd)en  Suft^  bad  feine  ®ebanfen  auffommen 
lief,  fonbern  nur  eine  9Birr^eit  feligen  ©et)agend  im  (Sinflang  mit  bem 
rafd)en  ®ang  erl)ie(t.  jDie  ®ebanfen  aber^  bie  nun  toit  Derfprengte  fflad)^ 
)figter  einer  t)rrfd)oIIenen  9teit)e  bod)  aud  feiner  ®ce(c  taud)ttnf  trugen  |'e$t 
eine  anbere  ^arbe  aid  am  92ad)mittag;  eine  [eid)te  $runfenl)eit  totbtt  hbtt 
feinen  ®innen. 

Unb  plbilid),  mitUn  im  rafd)en  jDai)infd)reiten^  fd)ien  ed  ibm^  aid  ob 
jemanb  tappenb  i)inter  it)m  i)erginge;  er  blieb  flet)en^  um  )u  (aufd)en;  adein 
er  i)6rte  nid)td  aid  bad  @aulen  feined  eigenen  Cluted  in  ben  D^ren.  SQeit 
unb  breit  t)errfd)te  tieffie  iobedflille  ubcr  ben  fal)Ien  l)erb(llid)en  ®efilben, 
unb  nur  ein  blaffer  97ebflfheif,  ber  fid)  &ber  einer  J^6l)enmutbe  manb,  mar 
bie  eingige  (Srfd)einung,  bie  ffd)  in  feiner  8lAl)e  regte. 

9Rtt  um  fo  m&d)tigeren  ®d)ritten  begann  er  n)ieber  aud)ufd)retten ; 
bod)  bie  ®ebanfen^  bie  im  mirren  ®pie(  unb  ^reiben  burd)  feine  ©eele 
)ogen^  jeigten  je^t  bie  Sfige  necfifd)er  ®ebi(be^  &ber  bie  er  felbfl  nid)t  me^r 
J^err  toax.  (Sr  fat)  bie  X)orfmuftfanten^  mit  benen  er  ftd)  am  t)ergangenen 
©onntag  erfl  t)erumge)anft/  mit  i^ren  lebernen  ®efld)tern  unb  b6fen^  f>fifftgen 


535  8^ 

2fu9en  buchndufig  t)orfibcrtt)anbeIn  unb  f(t){nn)fenb  im  SDBirt^^aud  bcim  *rA$cr 
(t$en^  torit  (le  t)on  nun  ab  ntd^t  mei)r  bei  ^etttgen  ^mtern  in  ber  ^trd)e 
blafen  unb  ftcbein  burften.  ^od)  bte  feierKcj^e  ^oge  einer  jlrengen  a(ten 
*{rd)enn)eiff  I6f(t)tf  bo*  ©auerngclAdjter  rafd)  ou«  unb  fiittte  fcinc  birdie, 
bie  er  &ber  aUti  (iebte^  mit  bem  m&d)ttg  braufenben  ®et6n  uralter  J^etltgi^ 
feit  Sie  i)et(tge  3ungfrau  fe(b(l^  bte  auf  bem  J^ocf)a(tar  in  {)imm(ifd)er 
Serjficfung  auf  einer  roffgen  SQoIfe  ipaniblidiQex  Sngefdfdpfe  t^ronte,  fd)ritt 
i^m  nad)  bem  flange  biefer  SQeife  ani  ben  Siefen  be*  buftburd)n)aQten 
®otte*^aufe*  entgegen^  ^u(bt)oU  m&d)tig^  unb  it)r  jur  @eite  gingen  flid  unb 
feierlic^  bie  J^ei(igen  ber  9}ebenaU&re :  ber  t}ei(ige  ®enbe(in  mit  feiner 
®d)&ferfcf)ippe  unb  bie  ^eilige  92otburga  mit  it)rer  golbenen  @rnteffrf)eL  IDie 
fiberirbifd)e  ®efe[lfcf)aft  ben>egte  ftcf)  in  jenem  n)urbeDoI[en  @d)ritt  ein^er^ 
ben  aOe  @e(igen  im  J^immel  am  erflen  2ag  fcf)on  (erneu/  unb  it)r  S&cf^efn 
fftOte  ben  farbenbunten  9taum  ber  Stofofofirc^e  mit  ftberirbifd)  retnfm 
©trablengolbe.  Dod)  el)'  er  jic^'*  »erfet)en,  quoUen  and)  fdjon  wieber  anbcre 
SRelobien  unter  ben  ^ufen  ber  ®d)reitenben  auf:  e*  n>aren  bie  focferen 
SBeifen  eben  iener^rdjenmeffen^  beren  fd^mac^tenbe*  ®etdnbe(  feinen  geifllid)en 
£)i)ren  frfi^er  fd)on  a(*  ®d)&nbung  be*  ^eiligflen  SD^^flerium*  erfd)ienen  xoax. 
©ie  tt)cid)cn  ®cigen  feufjtcn  fdjmcfjenb,  unb  bie  ^(fitentriDer  (Ifirjten  (Id) 
n)ie  @d)metter[inge  au*  bem  @d)iffe  auf  bie  anbdd)tig  (aufd)enbe  ®emeinbe 
nicber:  bie  SKutter  ®otte*  felbjl  fe$te  jegt  i^ren  goIbbef(^ul)tcn  guf  au* 
ber  SngeKwoIfe  ein  ganj  flein  n)enig  t^or,  aH  xooUe  fte/  DcD  innern  ®(ii(f*^ 
oerfud)en,  wie  (id)'*  nad)  biefer  ©c^elmenweife  gel)en  lief e,  unb  in  ba*  3fug' 
ber  i)etligen  SRotburga  fam  ein  j&rtlic^  fiife*  iidjU  ^ie  @nge(*n>oIfe  unter 
bem  jlrat)(enben  ^uf  ber  J^immel*ffirjlin  aber  (ifle  (tc^  f)(6$(i(^  auf  unb 
fd)n>ebte^  mit  ben  ^I&ge(n  fd)(agenb^  toit  ein  feller  ^aubenffug,  n)ie  ein 
986lf(^en  ffigcr  ^crlentriller  an  ber  flad)en  ^ird)enbecfe  ^in,  wo  ber  ffieftcns^ 
rid)ter  fag  unb  mit  mAd)tiger  Il)eaterge(le  bie  @d)afe  Don  ben  ©6cfen  fd)icb. 
Unb  bort  auf  i)eitigen  $(uren  ging  eine  (eud)tenbe  ®eflatt  in  fiberirbifd)em 

S3erfldrung*glanj  ein^er  

(Sin  l)alber  ^lud)  entful)r  ben  ?ippen  be*  ^efan*;  er  war  fiber  einen 
grofen  $e(bflein  geflotpert  unb  fonnte  ffd)  faum  noc^  aufred)t  erl)a(ten;  boc^ 
rafd)  gefagt  blicfte  er  Iaufd)enb  um  (Tc^^  um  bie  ®egenb  )u  erfennen;  aOein 
ein  bfinne*  92ebe(gefpinfl  tiattt  (Ic^  um  it)n  jufammengejogen^  unb  fomeit 
fein  !2fuge  in  bie  weige  ID&mmerung  reid)te,  fa^  er  nic^t*  al*  taijU,  ibe 
©toppetfelber. 

M^er  @teinn>ein  i(l  bod)  fldrfer^  a(*  man  annimmt/'  fagte  ber  geifli* 
(id)e  «$err  jwinfernb  t)or  ffd)  ^in,  unb  biefe  Srfenntni*  gab  it)m  feine  ganje 
Spannfraft  toieber*  (^r  nal}m  ben  ^fab  nod)  tfid)tiger  in>ifd)en  feine  Q^eine 
unb  fein  ®d)retten  n>urbe  ganj  aam&t)(id)  fafl  )um  9aufen;  benn  er  fei)nte 
fid)  bamad)^  enb(id)  auf  bie  (!d)ere  ®emarfung  feine*  eigenen  ^ird)fpie(*  ju 
fommen*  3bod)  mit  iebem  &d)tiUt,  ben  er  mad)te^  fam  er  tiefer  in  ben 
92ebe(/  unb  wieber  Hanb  er  flill^  um  in  bie  92ad)t  l}inein  ju  (aufd)en.  X)a 
t6nte  feme  au*  ben  nebeligen  Jiefen  ber  ©c^Iag  ber  ®Iorfen  auf,  Don  red)t* 
unb  linM,  won  l)inten  unb  Don  Dorn,  wic  ein  Derlorener  ^lang  au*  fcrner 
Swigfeit;  ein  feltfamer  ®d)auer  fiberfd)(id)  ben  Saufc^enben^  unb  wieber 
(Ifir)te  er  in  n>i(ber  dilt  Dorm&rt*. 

35* 


536  ^ 

Da^  enblicf)^  taud^tt  aud  bent  ftndjten  dltbtlmttxt^  bad  ftd)  btc^t  unb 
bid)ter  urn  ti)n  fc^Io^^  bte  tn&d)tigf  SD^affe  fined  93auntfd  auf/  ben  er  )u 
(ennen  glaubte:  ed  toat  bit  fogenannte  J^etbenu(me/  bie  an  ber  ifdid^en 
^entarfun^grenje  feined  ^ixdfipiM  flanb. 

®o  tiattt  er  ben  SDBeg  bod)  nid)t  t)erIoren;  er  ging  fofort  gemeffener, 
urn  fetne  eigene  @t(i)eri)ett  )u  geniefen*  HUtin  ber  9tebe(^  ber  nun  and) 
ben  ^fab  t)erfd)(ungen  i)atte^  tooUtt  unb  woDte  fein  Snbe  ne^men^  unb  nad) 
einer  ^a(&en  @tunbe^  bie  i^m  wie  eine  Swigfeit  erfd)ien^  \ati  er  n)teber 
einen  fd)atren^aften  Stiefenbaum  )U  feiner  Sinfen  aui  bent  Stebel  n>ad)fen: 
bod)  mit  Sntfe|en  erfannte  er,  aii  er  bat)orflanb,  in  bent  ragenben  ^^antom 
bie  alte  J^eibenulnte  mtbtx,  bie  er  fur)  )ut)or  )ur  !Red)ten  gelaffen  ()atte.  fD^tt 
weiten  2(ugen  b(ieb  er  fle^eu/  urn  ftd)  ben  ilngflfc^toeif  t)on  ber  @tirn  ju 
wifc^en  unb  in  bie  dlad^t  ^inein  ju  (aufd)en:  benn  in  bent  bic^ten  dltbtU 
nteere  i)atte  foeben  ein  feltfanted  fXaunen  begonnen;  ei  fliiflerte  in  feiner 
92&^e/  ^ajlig  leife,  unb  feme  ®d)ritte  wanberten  unb  fc^wanben  wieber  ()in; 
ein  «Ounb  toat  Winter  itjm  unb  beOte  toitbtx  aui  ber  ^eme;  ein  9Bagen  roDte 
je$t  eint)er;  ein  Htm  ging/  unb  ein  (eifer  9tuf  t)erl)ante.  SSon  ®rauen 
gepacft^  ntac^te  er  ^eijxt,  inbent  er  ftd)  t)ornal)nt/  fiber  @tocf  unb  @tetn  in 
geraber  9tid)tung  oorm&rM  )u  eilen^  urn  fo  an  ben  9tanb  ber  J^od)ebene  )u 
geraten  unb  burd)  bie  9teben  bie  ^atflra^e  )u  erreic^en.  Dod^  bad  ebene 
2fcferfe(b  )og  ftc^  unenb(id)  i)in;  er  (ief  unb  (ief  in  einer  Z)unfe(t)eit^  in  ber 
ed  je$t  n>ie  ber  SQSinb  eined  gei)eintnidt)oaen  @d)icffa(d  eint)er6rau(le.  Z)if 
®(o(fen  fd)(ugen  intnter  n)ieber^  na^  unb  fern;  boc^  er  war  nid)t  nte^r  imf 
(lanbe^  i^ren  @d)(ag  ju  j&^(en*  Sr  ging  unb  ging,  unb  eine  n)unberfame 
tiefe  9t&i)rung  liberfant  it)n  gau)  aDnt&^tic^;  ed  n>ar  i^nt  }u  ^SJtnte^  aid  ntfi^te 
er  (td)^  feligntfibe,  auf  bie  @rbe  (egen,  urn  nur  intnter  auf  ben  ®(ocfenfIang 
)u  (aufd)en  unb  bie  fernen  ®d)(&ge  mit  finbtfd)em  9et)agen  )u  }&i}(en. 
Z)o(^  i)6rte  er  erfl  auf  )u  get)en^  aid  fein  ^uf  an  einen  ungel)euren 
©teinblocf  ftit%  ber  mitten  auf  einem  ®to)pptla<itx  ba(ag.  „^u  —  bu 
A(o$/"  fagte  er/  finbifd)  (aOenb^  unb  (allenb  unb  flo())ernb  taflet^  er  flc^ 
(angfam  um  ben  ®tein  ^erum^  um  bie  a){&d)tigfeit  bed  Stocfed  ju  prikfen; 
a(d  er  enblid)  Utii  ba^  ber  Clocf  fein  J^irngefpinjl  war^  fonbern  flanb^ielt/ 
le^nte  er  fid)  mit  n)anfenben  ^ien  an  bie  feud)te  ©eitenwanb  bed  @teind, 
unb  fein  J^aupt  fanf  nicfenb  unb  fd)n)er  auf  feine  Q)rufl  ^erab* 

jDa  ^6rte  er  mit  einemmale  ein  jaged  f(eined  ®l6(f(ein  burc^  ben 
na^en  9le&e(  ffingeu/  unb  e^e  er^  mit  weiten^  flarren  Sfugen,  nod)  ikber^ 
benfen  httnte,  n)ol)er  bad  bfinne^  flagenbe  ®e(&ute  flinge,  flanb  bie  @efialt 
eined  a(ten  Sf^anned  toit  aui  bem  Coben  gen)ad)fen  t)or  it)m*  „@eine  @e^ 
fhengen  t&ft  ben  i)od)n)firbigen  «Oerrn  bitten/'  fagte  ber  Hltt,  ber  in  feiner 
red)ten  «Oanb  eine  «Oubertudmfi|e  t)ie(t* 

m9Bo  —  tt)o  bin  id)  benn?" 

jDie  ®efla(t  bed  HUcn  fd)ien  ein  leifed  9ad)en  )U  erfd)&ttem«  „@d 
geit  ^eut  Stegen/'  fagte  er^  inbem  er  feine  a)2ii|e  auffe$te  unb  bem  2)e(an 
of)ne  weitered  ooranfd)ritt. 

Q^alb  n)ud)d  and  ber  weifen  92ebernad)t  ein  t^ctjci,  t)ie(gie&e(iged  J&aud 
mit  einem  flumpfen  Zurm  empor,  bad  bem  Defan  befannt  fd)ien,  obrno^I  er 
fid)  Dergeblic^  befann,  too  er  bicfcn  ©au  gefe^en  l)aben  f6nnte.   ®ie  fiber<» 


-tHg    537  8^ 

f(f)ritten  cine  ©rficfe,  unb  bcm  ©d^reitenben  ftcl  im  wunbcrlic^en  ®el)en 
auf^  baf  tl)rf  rafc^en  ©c^rttte  feinen  J^aD  ertvecftett;  bann  gtngett  jte  buret) 
ettten  J^of^  n>o  etn  banned  9rfintt(ein  raufd)te,  unb  gelangten  uber  eine 
9Qenbe(tre))f)e  in  cin  matt  btUudiUM  ®madi,  toe  i)intfr  einem  m&cf)tigen 
Sifc^/  auf  bem  )n>ei  f(f)(anfe  jinnerne  jtannen  ftanben^  eine  2Rann«gefla(t  in 
einem  SeberfoDer  fa^  unb  ru^ig  ft$en  6(ie6* 

,,3|l  (it%  ^oc^wftrbiger  J^err?".  rief  eine  tantjt  ©timme.  „Die  3lacf)t 
ill  niemonb*  greunb.  3fI4  icf)  3^n  ^eutc  gcf)en  fa^,  ba  tad)f  id}  mix:  ba* 
trifft  ffc^  gut*  3(f)  6rauc()e  ©etnen  9tat  in  einer  @ad)^  bie  mic^  nit  wenig 
tributiert.  ©e|  Sr  jtd)  ^er  unb  tu  93efd)eib.  Z)er  SQein  ifl  gut^  (ur^ 
main)if(^e&  ®en)&(I)&.'' 

jDer  ^efau/  ben  ein  fe(tfam  ©taunen  n)ort(o£  umf))onnen  ^ielt^  Ke^ 
ftcf)  am  $if(I)e  nieber  unb  t)ern>anbte  fein  2(uge  ^on  bem  f(I)atteni)aften 
©prec^er^  bem  an  bem  ^agern  £inn  ein  fleine^  eidgraue^  9&rt(I)en  (febte* 
IDer  J^agere  aber  tat  einen  m&cf)tigen  Srunf^  aid  n)oOe  er  in  ber  Jtanne 
itberna(f)ten^  unb  ftng  fofort  wieber  an: 

,,@r  ifat,  i)o(t)n)firbiger  J^err^  xoclji  audi  in  atten  ^oeten  gelefeu/  ba^ 
Fortuna  bie  treulofcjlc  aller  ®6ttinnen  fei,  fo  bie  SWenfc^cn  tribuHert  unb 
l)eimfucf)t.  ^SJtid)  b&nft  aber^  biefe  f&rforg(id)en  ^oeten  i)&tten  nit  rec^t 
getan,  ber  feltfamen  Fortuna  folcfte  Sliicfen  unb  5ficfen  auf  ben  J^aK  )U 
(aben;  benn  icf)  tjait  fit  meiner  ©eel  aid  bad  treuejle  SQeib^  ja  treuer  a(d 
Penolopen  erfunben,  unb  ijl  auc^  i$t  noc^  meine  SWeinung,  bag  ffe  bed 
9la(^td,  mnn  bie  aRenf(f)en  fcf)Iafen,  in  einem  blumigen  Jjimmeldwinfel  (i$t 
unb  gfifbne  ^&blein  fpinnet^  mit  benen  jte  bie  fDtcn^d)tn  an  itjx  ©(f)icffal 
binbet.  ^enn  baf  bie  brei  ^arjen,  Clotho,  Lachesis  unb  Atropos  Qetjci^m, 
foIcf)C  tjimmUidjt  Slarrenfdblein  fpinnen,  mil  mix  nit  ri(f)tig  fcf)einen.  afuc^ 
t)at  ffe  bad  aDerbejle  ^rauengeb&c^tnid^  unb  fonberlicf)^  mnn  3^r  n)ad  getan 
\)abt,  bag  @u(f)  ?eib  unb  ©eele  jwacft,  forgt  ftc  baffir,  bag  3^r  ed  nit 
Dergegt;  ba  ge^t  fte  fein  fraulic^  tjinUx  dndj  t)er  unb  fagt  ^ucf)  bied  unb 
bad  ind  D\)x,  unb  n>enn  3i}r  (aufen  tt)oOt^  f(f)neib^t  dndj  bad  ©tricfleiu/ 
bad  jie  dndj  o\)ne  SBiffen  fein  um  bad  ®elenf  gebre^t,  ind  gleifcf),  unb  3I)r 
(lo())ert  unb  faUet  in  ben  aften  ^recf. 

„Item,  er  foD  Utjtn,  bag  idj  Uxiadj  ^ab^  bie  Fortuna  ffir  eine  feine 
©trirfleinfpinnerin  $u  ijaften.  3^r  mfigt  wiffen,  bag  icf)  ju  jener  3cit,  ba 
bie  ©(f)n)ebif(f)en  unter  it)rem  £6nig  ®uflat)ud  3fbo(p{)ud  nacf)  ^ranfcn  )u 
)ie^en  gebac^ten^  in  Sienflen  meined  gn&bigen  J^errn^  ©einer  filr(lbifcf)6f{i(^en 
®naben^  )u  9Bfir)burg  flunb.  Uli  nun  meinem  gn&bigen  «$errn  gemefbet 
tonxht,  bie  ©(^n)ebif(f)en  t)&tten  eine  ©cf)fac^t  bei  Creitenfefb  gen)onnen^  gab 
er  mir  einen  Derfiegeften  Crieff  ben  follte  id)  ©einer  furf&rflfic^en  ®naben^ 
bem  «$errn  Srjfanjler  unb  (Sr)bif(f)of  ®eorg  ^riebricf)  nac^  SRain)  bringen. 
3(^  burfte  baju  auc^  iwanjig  SRann^  einen  ^agen  unb  einen  Srompeter 
ne^men^  bamit  er  untern>egd  meine  «Oerr(i(^feit  in  bie  Suft  bfafen  (6nnt 
9Bad  in  obgefagtem  9rief  geflanben,  weig  idf  nit:  toixb  nit  Don  ®filt  unb 
3ind  gewefen  fein.  Dad  aber  n)eig  icf)/  bag  ed  ein  fc^n)erer  ®efd)&ft  ifl/ 
ben  ganjen  «Ocfjlaat  eined  frcmmen  i^urffirjleu/  bie  Jfammerjunfer^  J^ofjunfer^ 
9t&te/  A&mmerer,  Domt)erren  unb  ^apldne  mit  SQein  )U)ubecfen/  aid  )n>an}ig 
SRaiblein  in  einer  Cifc^offlabt/  too  man  oom  Seten  ^er  fc^on  l^bung  i)at/ 


538  8^ 


)u  (ei)ren^  n>te  matt  bettit  ^uf  bad  SD^finbtetit  fpi^ett  fcQ.  TIU  tcf)  nutt  ber^ 
gejiaft  tit  972atn}  6etm  ©(^(emnten  uttb  Demmett  uttb  f)ofuIteren  mctne 
9ii(bnett  Sagett  iit  SQBetttgoIb  uittgen)e(i)feU^  xitt  id)  md)  etnetn  gn&btjett 
Ubidfkb  t)0n  ©eincr  furffirjllidjett  ®ttaben  mit  eiitetit  gleid)ett  ©rief  tDicber 
i)etm*  3((d  tvtr  burd)  Sranfenti)al  {ogen^  fa^  ba  grab  eitt  fptnnenburred 
fRdntt(etit^  bad  bie  ,(Si)r6arfettett'  ge(&flert^  rttt(ittgd  auf  einem  (Sff(  unb 
{)if(t  bett  @(I)n)an}  tit  fetiter  J^anb.  £a  id)  beit  Seiitfumpf  fo  )U9ertd)tet 
burc^  bie  ®a{fen  rciten  fat),  iDu^t  id)  and),  toatnm  ti  t)ei$t:  Sr  i)at  ben 
Sfel  beim  ®d)n)an)  aufge)dumt !  SRid)  I&d)erte  aber  bie  ©ac^  mit  bem 
Sfefdreiter  bermafen,  baf  id)  eineit  geivaltigeit  J^unger  t)erfpfirte  unb  bai)er 
mit  metnen  Seuteit  erfl  f))&t  in  ben  ®))e{fert  fam,  n>o  ftd)  bie  9Q6(f  fonfl 
gute  92ad)t  geben*  Uni  aber  i)aben  fee  nur  guten  Sag  gegeben,  unb  mein 
$age  trug  einen  @d)(i$  tm  SBamd  unb  etnen  Ci^  im  Hxm  bat)on,  ba@  id) 
in  9Bfir)burg  g(eid)  )u  einem  S^irurgen  ge^en  mugt  unb  meinem  gndbigen 
J^erm  nit  met)r  am  gleic^en  Sag  t)erme(ben  fonnte/  n)ie  meine  ®enbung 
abgebffen. 

,,aRein  Irompeter  ?orenj  aber  blied  feine  ^reube  in  ber  Somgajfe  fo 
n&rrifd)  in  bie  Suft,  bag  ic^  mir  bad)te:  bu  SQeinfumpf,  \}a{t  bu  ein 
@(^&$(ein  l)ier  am  Ort? 

i(^  nun  am  n&c^flen  ST^orgen  in  bad  bifd)6f{id)e  ®emad)  (am^ 
fanb  ic^  bei  meinem  gn&bigen  J^errn  itoti  ^rangofen  mit  miUn  «Oofen,  bie 
tt>aren  in  @amt  unb  @eibe  unb  mit  iD&nbern  fo  bet)angen,  bafi  man  meinte, 
ein  n>elfc^er  ©ajajjo  tjabc  J^oflaunen  befommen  unb  n>6ae  merfen,  toie  ber 
SQSinb  an  bifd)dflid)en  Safein  ge^t*  9ted)td  unb  (infd  am  ©eftc^t  ^tngen 
i^nen  lange  3b)pf  ^erunter,  unb  unter  bie  dtafen  t)atte  it)nen  ber  welfdie 
SBinb  imi  fd)n)ar}e  ^(6cf(ein  ©art  {)ingen)et)t  ®eine  bifd)6fli(^e  ®naben 
aber  faf  t)or  jn)ei  ^apejereien,  bie  ber  Jtarbinal  Sttc^elteu  i^m  aid  93erel)rung 
)Ugefd)icft/  unb  toaxtn  bie  beiben  formibablen  £at)a(iere  bie  ®efanbten 
@einer  ^mineu),  ))on  ber  man,  toit  3^nt  toctfl  befannt  i(l,  nit  Die!  gutd 
eri&t)(te* 

ro3^r  feib'd?'  fagtc  Seine  bifd)6flid)e  ®naben,  lieg  pd)  aber  in  ber 
©etrad)tung  ber  Sapegereien  nit  (I6ren,  beren  eine  Alexandrum  magnum 
barfieOte/  xoit  er  Dor  bem  gorbifc^en  ^noten  fle^t  unb  bad  ©c^mert  ^ebt, 
um  i^n  burd)sul)auen,  unb  bad  anbere  bie  ©irenen* 

ro^ie  Sirenen  ffnb/  fo  fagte  Seine  bifd)6fli(^e  ®naben,  ,n)ie  3^r 
)^iefltid)t  m$t,  tt>unberfe(tfame  ^rauenjimmer  gewefen,  bie  ba  unten  am 
mitteK&nbifc^en  SReer  in)ifd)en  3ta(ien  unb  Sijitien  i^re  3Qot)nung  gei)abt 
^aben  unb  am  Dberteil  ii)red  Seibed  treffHc^  fd|6n  gen>efen  ftnb,  g(eid) 
jungen  SRdgblein;  unten  aber  ffnb  bie  geflaltet  gen)efen  n>ie  grfine  Sd^Iangen 
unb  9Qa{feri)unbe.  2)iefe  Sirenen  t)aben  aber  bermagen  fd)6n  gefungen,  bag 
fte  aUe  Seute  angelocft  unb  ^ernad)  jerriffen  t)aben/ 

,o©ei  unferen  Sirenen  brauc^t  man  nit  uberd  SO^eer  )u  fatjxtn,  fonbem 
nur  fiber  ein  ^ffi$(ein  )u  fpringen/  fagte  idj  barauf  ju  Seiner  ®naben. 
Da  (ac^te  ber  gndbige  J^err  unb  antmortete :  ,2)ie  Sirenen  ffnb  nid)td  anbered 
a(d  bie  3QoDfifle/  metc^e  bie  SD^enfc^en  ind  SBerberben  (Ifirjen,  ob  ffe  aud^ 
anfangd  fei)r  fiig  ju  fein  fc^einen/  Dann  nat)m  er  metnen  ©rief,  t)ei^og 
aber  gleic^  beim  8efen  fein  ©effect,  aid  ob  er  Sd)Iel)en  im  Oftober  t)erjet)rte* 


539  8^ 


£a  bai^V  id)  mir  mein  Zeii  unb  fagte  nacf)  einer  9Qei(:  ,®fnn  ed  Suer 
6if(^6fl{(hrn  ®nabett  rc(I)t  ift,  toiU  id)  I)fut  t)eim  reiten^  urn  einmal  nacf)  bem 
Stfc^ten  in  memem  J^aufc  ju  feljen/ 

,o5ut  ba«,  mein  liebcr  Slicbent/  fagte  ©eine  ©nabcn,  unb  id)  madftt 
meittc  Ste^errnj  unb  (ie^  ben  ^o(I)f&rfl(icf)en  ^tttn  bet  feinem  gorbtfc^en 
^noten  unb  ben  @trenen  ft^em 

„71H  id)  abtv  &ber  ben  ^Blattt  gtng/  urn  mein  ieiblid)ei  in  ber  «Oerberg 
}u  fldrfen  unb  metnen  ®au(  )u  fattelU/  traf  id)  unt)erfet)en£  auf  einen  ^^Aufen^ 
ber  urn  jwei  alte  ©auren  unb  einen  £)d)fen  t)erum(lanb.  Der  eine  ©auer 
aber,  ein  olter  ^rad)er,  bcutetc  auf  ben  Deafen  unb  fagte:  id  ein  geifls? 
Iid)er  J^err!'  Unb  bann  fniff  er  fein  'Xvlq*  jufammen  unb  rebete  bem  SBiet) 
tttoai  ini  O^r,  bad  id)  nit  t)erflanb.  X)ie  SBArjburger  aber  fd)rien  unb 
(ad)ten  wie  befeffen;  benn  bag  ein  8ei|llid)er  »Oerr  ein  Od)fe  fein  follt,  ba« 
l)atten  fte  nod)  nit  eriebt.  3d)  (leBte  mid)  baju  unb  fagte:  ,©d)elm  erjA^I!' 
5Da  fagte  er:  ,®e|lern  bin  id)  »om  Od)fenfurter  ®au  ^ereingefaljren  mit 
iRraut,  unb  ba  meine  Od)fen  ben  ©eg  fo  gut  fennen,  tt>ie  ein  bifd)6flid)er 
J^auptmann  (baf  bid),  benf  id)l\  l)ab  id)  auf  bem  ^raut  gefd)(afem  3(K 
id)  anftoad),  |le^t  mein  gut)rtt)erf  ^art  am  SWain,  unb  ber  eine  Dd)d  i(l  weg; 
aber  baffir  jte^t  ein  ^ater  ^apujiner  im  Seug.  Der  lAflt  mid)  aber  nit  lang 
wunbern  unb  erj4l)It  mir,  fein  2(bt  ^Att  itjn  in  einen  Od)fen  Derwanbelt, 
tt)eil  er  lieber  mit  ben  ^annen  gelAut't  aW  mit  ben  *Io(lcrgIocfen,  unb  bann, 
anflatt  i^n  im  ^Io(ler(laB  ju  ffiltern,  in  Oc^fenfurt  Derfaufen  lajfen.  (Dort 
t)ab  id)  i^n  gefauft,  nit  wiffenb,  wen  id)  in  meincn  ©taC  gebrac^t)  3e$unb 
fei  feine  £)d)fenjeit  abgeloffen  unb  er  bittc  mid)  um  ®ottedn)iQen  um  ein 
2(Imofen.  3d)  lag  ben  9ei(Hid)en  Jjerm  aufffften  unb  er  »erfprid)t  mir  nocft 
am  Zov,  too  er  in  eine  J^erberg  fd)(fif)ft,  er  n)oDe  brei  StcfenfrAnje  fiix  mein 
en>ig  @ee(en^ei(  beten*  Unb  jegt  finb  id)  ben  gei(l(ic^en  J^erm,  ben  ^annen^ 
(duter,  jum  jn^eitenmal  ali  &d)fen  toiebev.  £a  gucft,  ba  t)orn  am  ^opf 
fei)t  3^r  bie  ^(atte.  Hbtx  id)  bin  nit  mel)r  fo  bumm  unb  mam  and)  jeben, 
ba*  95ie^  )u  faufen.' 

,,Da  fd)rie  ber  anbere  ©auer«mann:  ,^u  ^noHfinf !  Der  S>d)i  i|l  ed)t; 
ic^  ^ab  i^n  Don  einem  ^ater  Jtapujiner  gefauft/  ^a  fagte  id):  ,3t)r  feib 
gepreDt  n>orben,  Sanbdmann!  itoei  @d)e(me  t)aben  @ud)  gepreDt;  ber  eine 
t)at  Sud),  bern)ei(  3^r  fd)(iefet,  (Suern  Dd)fen  audgefpannt  unb  ber  anbere 
(Ic^  in  bad  Seug  gejlettt/  Die  SBBurjburger  aber  jeigten  wieber,  bag  ffe  nit 
allein  gei(l(id)  (ad)en  funnten.  3((d  id)  aber  meiner  9Bege  n)eiter  ging,  bad)t 
id)  mir:  9Bad  bod)  in  einer  i)eingen  ©tabt  ffir  Sunber  paffteren!  Dod) 
(aum  tjab  id)  ben  ®ebanfen  audgebad)t,  aid  id)  meinen  ^rompeter  mit  einem 
©te(fenfned)t  ba{)erfommen  fal) ;  bem  armen  ®d)e(m  waren  bie  «0&nbe  freuj^ 
tt>eid  gebunben,  unb  id)  merfte  gleid),  bag  ii)m  etwad  }uge(logen  fein  mfiffe. 
,9leit  bid)  ber  Jeufel,  Sorenj,*  fag  id),  ,wie  fommft  benn  bu  in  bie  ®efcll<' 
fc^aft?*  Da  fagt  ber®d)elm:  ,Der  2eufel  reit  mid)  nit;  aber  ein  Dom^err 
f)at  mir  bie  ©uppe  eingebrocft/ 

fn^a^  i)afl  bu  mit  ber  ®eiil(id)feit  ju  tun?'  ,Dad  wiU  id)  (Suc^  er# 
jA^Ien,  gnAbiger  J^err,  wenn  3f)r  mitfommen  unb  beim  ®md)t  ffir  mic^ 
gutflei)en  moDt*  ®eftern  abenb,  aid  id)  meinen  ®aul  Derforgt,  bin  id)  gan) 
audge^ungert  ju  meinem  ©d)A$Iein  gangen,  um  mir  ®ut^d  ju  tun;  ffe  ifl 


540  8^ 


aui  meineni  £)rt^  ani  ^ntttjaxt^  unb  btent  betm  ©tangenbecf  in  ber  Dom^ 
gaffe.  ®ie  fp&fte  in  ber  Md^t  unb  war  fd)ier  au^er  (Icf)  t)or  ^reub,  aK 
f!e  mid)  fontmen  (Ifl)t^  unb  jleigt  and)  gleid)  in  ben  ^eller^  um  ffiein  )U 
j)o(en/  bern)ei(  idf  in  ber  Jtitd)e  ft$en  b(eib*  IDa  t)6r  id)  J^ungerm&u(d)en 
aber  pt6$(id)  Sritte  unb  ©etufc^el  auf  bem  @t)ren^)  unb  fd)(&)>fe,  ba  id) 
nid)t  n)ei9^  n)er  fommt^  eilenbd  in  ben  9{aud)fang  unb  l^alt  mid)  an  ben 
9t&ud)erftan9en  fefl.  ^er  aber  (ommt  l)erein?  £ie  ©tangenbecfin  mit  einer 
^annen  fafi  }n>ei  Stten  t)od)/  einem  iaib  Srot  unb  einem  ®d)infen/  unb 
Winter  brein  tt)atfd)eft  ein  Domt)err.  ,Z)ie  ?ie«  mug  and  bem  J5au«/  f)6r 
id)  bai  SBeibdbifb  fagen.  ,®ie  will  mir  nit  fofgen,  toit  3l)r  fclbft  gefel)en 
ijabt  eben/  Dabei  (egt  fte  fein  aDed/  n)a&  fie  tr&gt^  auf  ben  ^ud)entifd)^ 
breitet  ein  (einen  Zud)  barfiber^  unb  bie  beiben  itut  fe$en  ftd)  nun  baioor 
auf  einen  ®tu^(  unb  fangen  an  )u  fd)nabu(ieren.  92immt  er  einen  @d)(ucf^ 
nimmt  (te  einen  ®d)(ucf/  unb  bajtt>ifd)en  fpieten  fte  bad  SD^finbleinfpiel,  bet 
bem  man  nit  t)er(ieren  (ann.  Snblid)  (tub  fte  fertig;  ber  t)od)n)iirbige  «Oerr 
n>ifd)t  ftd)  ben  SSunb  unb  fagt:  ,®ut  toax'^l  3e$t  fet)(t  nur  bie  aRufif!' 
Sa  greif  id)^  bem  ber  9Beinrud)  unb  ber  @d)infen  in  bie  SlaU  itid)t,  nad) 
meiner  ^rompete^  bie  mir  am  «Oa(d  tj&ngt^  unb  fd)mettere  ii)nen  bad  2ieb 
,93ruber  9ieber(id)/  n)ad  fauffl  bid)  fo  t)oD?^  in  bie^fid)e  ^erunter,  baf  bie 
ba  unten  t)cm  @tut)(  i)erunterfuge(n^  unb  fort^  I)inaud  finb  fte!  3d)/  aud) 
nit  fau(/  (af  mid)  ^erunterfaDen^  ne^m  ben  ®d)infen  unb  ben  fOtanttl,  ben 
ber  J^crr  jurfirfgelaffen,  unb  lauf  in^d  golbene  ©n^orn,  too  mid)  bie  ©c^iffer, 
bie  ba  bcifammen  ^ocfen^  fiir  n&rrifc^  ijalttn,  totil  id)  nit  effen  fann  Dor 
lauter  ?ad)en.  ^en  SD^antet  aber  t)erfaufte  id)  am  n&d)flen  $ag  an  einen 
^(eiberjubeu/  ber  mid)  (annte;  benn  mein  Oeutel  ifl  ^euer  fo  mager  mie 
eine  ^ird)enmaud.  @d  muf  mid)  aber  ber  J^unb  t^erraten  tjabtn,  benn 
t^or^in  fommt  ber  SRann  ba  unb  wiD  mid)  aufd  ®erid)t  unb  in  bad  ®tocf^ 
^aud  ffif)ren/ 

,,3n)n)ifd)en  xoaxen  toix  aufi  ®erid)t  gefommen/  unb  a(d  mir  ein 
®emad)  betreten^  too  brei  ®(^reiber  i)inter  einem  Sifc^  flgeU/  i)ir  id)  fd)on 
meinen  lComt)errn  fd)reien:  ,@r  mug  mir  an  ben  ®a(gen/  ber  S&ufebieb* 
3n>ei  neue  SR&ntel  t)at  er  mir  geflo^Ien !  Sen  einen  tjaV  id)  ba^  ben  anbem 
^at  er  nod)/ 

„tia  fragt  ein  fRdnnleiU/  bad  Winter  einem  Sifd)  qudflioniert^  wad  tc^ 
mit  bem  SRanne  wide.  3d)  fage :  ,Ser  SD^ann  ifl  mein  Xrompeter  unb  t)at 
ben  aWantel  reblid)  ^erbient/  ,SDBie  woUt  3^r  bad  beweifen?*  fragt  ber 
9tid)ter  wieber.  j(Si,  er  ()at  «$od)}eitdmuft(  gemad)t  unb  mug  oon  feinem 
3(mt  (eben.  @o  unb  fo  fte^t  bie  9raut  aud^  gelt/  Soren}?'  Unb  id}  fang 
an,  bie  ©tangenbecfin,  bie  ein  lofed  SDBeibdbilb  i(l/  feibf)aftig  ju  befd)reibem 

,,3(Id  ber  5Dom()err  merft,  bag  wir  feine  @d)Iid)e  fenneU/  fagt  er  pli^Iid): 
,Z)ad  ifl  gar  nit  mein  SOJantef/'  unb  ge^t  i)inaud.  ®o  befam  id)  meinen 
Jrompeter  lod,  fagte  i^m  aber:  ,SinmaI  bifl  bu  ber  ©t&rfere  ge»efen,  aber 
ein  {weited  ^SJtal  (ag  id)  bid)  t)&ngen/' 

J^ier  tat  ber  (SrjA^Ier  einen  m&d)tigen  5runf  unb  fagte:  ,,Serjeil)  mir 
ber  tt)ot)IeI)rtt)urbige  Jjerr,  bag  id)  it)m  foId)e  gottlofen  ®efc^id)ten  auftif(^e ; 


541  8^ 


abet  bad  jTnb  Dcrganflene  ^offen,  unb  id)  glaube,  unfer  J^errgott  l)at  un* 
ben  t)erflucf)ten  bcutf(t)en  ^ricfl,  ber  ie$t  ju  (Snb  ift,  nur  ttiijalb  auf  ben 
J^aW  (jefdjicft,  bafi  wir  uiid  in  Demut  befe^ren;  bcnn  toix  finb  allcfamt 
hiU  ®&nber  uttb  mangeltt  ber  ec^ten  J^eiltgfeit  ^te  38&r)burger  Dom^ 
^emn  aber  finb  je$t  (auter  t)et(t8e  9eut^  bie  Sag  unb  dlad)t  im  l)ei(tgen 
Xugujiinu*  unb  anberen  frommen  JBAtern  fefen,  SBaffcr  trinfen  unb  auf 
©o^nrnftro^  fdjfafen,  wenn  fic  nit  grab  bieSKefl  lefen  ober  *inb«tauf  fatten. 

„T>odi  i(l)  fal)r  fort,  bamit  3()r  bie  be«  ©rficfcd,  bad  mir  einen 
^offen  jugebacf)t,  red|t  erfagt:  Diefer  ®eridf)t«^anbet  tfatu  mid)  aber  bcr^ 
ma^en  ^[inge()alten,  bag  id)  er|l  gen  3(benb  auf  mein  ?>ferb  gefommen  bin. 
Unb  ali  id)  bie  (Srofrinberfelber  ®teig  gegen  ©ifd)ofd^eim  fjerunterreite, 
too  mein  liebmerter  ^reunb/  ber  Hmtmann  ^adpar  Serd)  ju  D&rnflein,  eine 
ffirtrefflic^e  SBeinorbnung  eriaffen,  war  ei  finflere  92ac^t  unb  ein  ®emtttx 
im  3fnjug.  (Si  i\t  aber  felbiged  Sa^r  ein  wunberfeltfam  Sa^r  gewefen;  im 
@e))tember  t)aben  nod)  bie  93&ume  unb  9tofen^ecfen  gebl&{)t/  unb  bie  28ein^ 
b(ut  ifl  erfl  im  Tfugufl  ju  Snb  gegangen.  9Bie  id)  nun  ali  burfliger  9Rann 
an  bie  ^aragrapt)od  obgemelter  Orbnung  benfe  unb  meine  ?efjen  fecfe,  fdngt 
ti  aiif  einma(  an,  i)inter  mir  t)er)ubraufen,  ali  ob  bie  toUbc  3agb  ober  ber 
@d)imme[reiter  untern>egd  wdren.  SD^ein  (Sani  mad)t  einen  Sprung  in  ben 
®raben,  unb  ba  faufl'd  and)  fd)on  Dorbei,  ein  SBagen,  ber  mit  einer  35Iaid)e 
jugebecft  i(l,  unb  fein  gu^rmann  ifl  ju  fel)en.  3d)  benfe,  auf  einem  SBagen 
fd^rt  ber  5eufe(  nit  burd)«  ?anb  unb  (lreid)Ie  meinen  ®auf,  ber  @ud)  am 
ganjen  ?eibe  jittert  Sr  gef)t  and)  wieber  ^unbert  ©d)ritt;  bann  bleibt  er 
(le^en  unb  i(l  nit  Don  ber  ©tell  ju  bringen-  3d)  |leig  Ijerunter,  urn  ju  fe^en, 
tt>ad  ben  SRappcn  auftiAIt;  ba  ^6r'  id)  ein  SDBeinen,  wie  wenn  ein  Meined 
Ainblein  mint,  unb  rid)tig:  t)or  meinem  ®aul  (iegt  in  einem  9&nb(ein  ein 
armed  ffifirmlein  eingewicfelt  unb  fe$t  bad  ©direien  fort,  mit  bem  ed  in  bie 
SEBe(t  gefommen;  benn  weinenb  fommen  wir  alle  in  biefed  Sammertal,  aid 
ob  xoit  toat)xUd)  n)fiften,  toai  und  ba  ern)artet. 

n^dj  ne^m  bad  Jlinblein  auf  mein  ^ferb,  um  ed  in  ©ifd)ofdt)eim  im 
@pitte(  ab)ugeben;  aber  bie  @pitte(n>eiber  fd)(afen  feft,  unb  toit  id)  and) 
flopf,  fein  Siditlein  I&^t  fed)  fe^en.  ®ad  foOt  id)  tun?  ®o  reit  id)  benn 
mit  meinem  gfinbling  im  2frm,  in  finHrer  3lad)t  bei  ffiinb  unb  SDBetter  fiber 
ben  ©tammberg  nac^  ©iffingen  l)erein  unb  ben  ®algenberg  I)erauf  um 
jwei  Uf)r  in  ber  grfif).  — 

„7im  SRorgen  fet)  ic^,  ba^  mein  Sern)a(ter  bie  3(ugen  t^oller  SQaffer  i)at, 
unb  aid  id)  frag,  »ad  i(|n  gebiffen  l)Att,  fagt  er,  if)m  fci  ein  STOAgbfcin  weg^ 
geflorben.  ,3d)  I)ab  Sud)  wieber  eind  mitgebrad)t,*  fag  id)  unb  ffi^r  il)n 
t)or  bie  9an(,  auf  ber  mein  ^finbling  (iegt.  (Sx  fra|t  ftc^  eine  aQei(e  Winter 
bem  Dtjx  unb  fagt:  ,3n  ®otted  Slamen  !* 

„(ii  toax  aber  fein  SBinbtein  ba,  bad  und  ^&tte  fagen  finnen, 
©tanbed  bad  SRdgblein  gen)efen,  bad  fo  in  mein  J^aud  gefommen  unb  mit 
bem  ©fibfein  bed  SBerwafterd,  bad  jujl  ein  3A^rIein  diter  gewefcn,  auf^ 
gett)ad)fen  ifl.  3t^  felber  ^abe  balb  barauf  nod)  anbere  9litle  in  meinem 
Sienfl  tun  mfiffen  unb  tjai  and)  in  ber  ©d)n)eben)eit  me^r  Drangfal  aud^ 
geflanben,  aid  einem  S^rijlenmenfc^en  n6tig  ifl,  um  feine  fd)n>erflen  ©itnben 
abjubfifen.  ^reimal  ^aben  mir  bie  fd)n)ebifd)en  i^unbe,  bie  in  ©(^Weinberg 


542  8^ 


bru6en  auf  bent  ®(f)(ofl  gftegett/  tnein  Dac^  attgqunbH  unb  ifl)ttmal  meitten 
^eOer  au^epiiinttxt  3i)r  fe^t  aber^  mein  4^ani  fle^et  bennoc^^  ®ott  fei 
ge(o6t  in  (Swigfett  Tftnen* 

M^ad  fletne  ^ilnbflm&gblein  aber^  bad  totr  ST^agbalene  taufeit  Kegeit/ 
{)a6  icf)  nur  ^te  unb  ba  gefet)en^  n)enn  mix  ber  t)erflud)te  ^ieg  3<i^  S^I^fRn 
nac^  bent  aRetnigrn  ju  fe^em  di  mcdjtt  jteben  3a^r  nad)  meinem  SRatnjer 
®efanbtfnrtttfftn/ba  fomnt  id)  Qommtti  einmat  in  mein  Stofengdrttein  unteit/ 
bad  auf  einem  ^auemerf  gen  @iiben  (iegt  £a  fi$en  bie  beiben  ^nber^ 
bie  meined  Jtommend  nit  gen>a^r  mcrben^  beieinanber  in  ber  9tofen(au6e^ 
bad  i)o(bfenge  id)toaxit  Sing^  beffen  3(ugen  toit  Jtarfunfel  gffil)en,  neben 
bem  ©uben  bed  aSerwalterd.  Dad  Jlinb  ijattt  auf  bem  ^opf  ein  rotc^  Wofem 
frdn)(ein  unb  ein  ge(bed  ^(eibc^en  an*  ®ie  ^ielten  fidj  bei  ben  ^inbttin 
unb  fangen  t)or  (Id)  t)in/  n)ie  ^inber  ftngeU/  baf  (Suci)  eine  3Bei)mut  &ber^ 
fommt  t)or  fo((f)er  Unfc^ulb^  bie  ni(f)td  n)ifrenb  in  bie  SBelt  blicft  Dann 
flanb  bad  brdunlidie  Dinglein  auf^  fa^te  fein  ge(bed  (ofed  9t6criein  mit  ben 
^ingerf))i$en^  (Irecfte  fein  nacfted  ^{liUin  Dor  unb  fing  an^  Dor  bem  9&b^ 
(ein  ein^er)utan)en^  a(d  ob  biefed  ber  ^6nig  Dat)ib  n>dr^  ber  ftc^  aufd  ^anjen 
n>o^(  t)erfianben  ^aben  mu§^  n)ie'd  in  ber  ^eiligen  @(^rift  ju  (efen  (le^t 
Da  fafte  mid)  ein  n)el}  ®ef&^(/  unb  id)  ging  n)eg;  benn  ic^  i)ab  felbfl  fein 
^inb^  mein  @^gemat)(  ifl  mir  im  erjlen  ^inbdbett  weggeflorben  unb  ^at  ben 
Sngel  gleic^  n>ieber  mttgenommem 

,,3([fo  n)ud)fen  bie  ^inber  n)ie  burd)  ®otted  SQunber  n)oI)Ibe^iitet  in  bem 
t)erflud)ten  ^ieg  b^tan.  Oftmald,  tt>cnn  id)  bic  ©teig  IjcxanfQtxitten  bin, 
i)6rte  ic^  bie  SD^abiene,  bie  t)on  3a^r  ju  3a^r  an  ®d)6n^eit  )ugenommen, 
fTngen  unb  bie  @timme  fc^n)ebte  iberm  «Oaud  unb  ben  Cerg  b^i'ttnter,  ba^ 
bie  $u^r(eute  i^re  @du(e  unten  flet)en  (ie^en  unb  auf  ben  ffigen  ^aU  l)ord)ten. 
Ded  Sern>a(terd  ®it)nd)en  aber,  ber  aid  mein  ^atenfinb  SBelten  i^ti^t,  Uef 
immer  l)inter  bem  (iebHd)en  SRdgblein  b^^^  nit  anberd  ali  ein  «0&ttbleim 
,Die  mfift  ^t)x  jufammen  geben,  J^andjirg/  fag  id)  einmal  ju  bem  Tllttn. 
Der  fagt  nit  ja,  nit  nrin,  unb  id)  merfte  fc^on,  ba^  er  nit  SQiKend  xoav 
unb  anbre  Dinge  im  ^opfe  ^atte. 

„2(Id  id)  in  biefem  ^x&iiiatjx  mcinen  2(bfd)ieb  genommen,  —  id)  moc^te 
nit  mei)r  bem  neuen  ^&rflen  bienen  —  ba  fagte  mir  beim  «Oeim(ommen  ber 
a(te  ^au),  er  t)abe  feinen  @o^n  mit  ber  3od)ter  bed  ®d)ro9t)em)a(terd  in 
*6nigl)eim  berfprodien,  tt)eld)er  Drt,  wie  er,  ^od)tt)6rbiger  Jjerr,  wot)!  tt>eip, 
ein  Se^en  ber  ^one  C6{)men  mitten  im  9anb  )U  ^ranfen  ifl.  ,Unb  bie 
aWablene?*  fragf  id)*  ,©Ieibt  auf  bem  ®d)Iog/  fagt  ber  Xlte,  o^ne  mid) 
aniufe{)en.  3d)  n)ugte  aber,  ba^  bie  reid)e  ^oc^ter  bed  @d)Io^em>aIterd, 
ber  ein  fpi$nafTger  96t)m  ifl,  einen  Heinen  Cucfel  ^at,  unb  fagte  f)>6ttefnb 
}u  bem  3f(ten:  ,2Qenn  ^uer  SSelten  bie  iD6t)min  nimmt,  wirb  i^m  feine  S^e^ 
frau  banfbar  fein,  wenn  er  it)r  ben  Cucfel  abrdumt/ 

„7in  bem  Sag  aber,  too  bie  J^odijeit  fein  foDte,  n>ar  auc^  bie  SRablene 
t)erfd)n)unben  unb  nirgenbd  aufju^nben.  Tim  Sag  barauf  in  aOer  ^rfi^e 
ifl  fie  jebod)  fd)on  wieber  ba,  a(d  ob  gar  nic^td  gefc^eben  n)dre*  ®ie  n)o([te 
nur  bie  Craut  fe^en,  fagt  fie  )u  mir,  o^ne  mid)  anjugucfen,  unb  nimmt 
(Ic^,  wic  t)orber,  aH  ber  Dinge  im  J^aufe  an,  Idgt  bie  ©rficfe  nieber,  Idutet 
bad  ®(6cf(ein  unb  gibt  ben  3(rmen  gu  effen;  nur  bad  ®ingen  t)at  fie  eingefleOt. 


543 


M^od)  t$t/  ^od)n>iirt)tger  ^txx,  begmnt  ein  ©ommer^  n>ie  idf  tt)n  nodi 
nit  exUbU  Oft  fnt)r  id)  be«  3lad)«  on«  bem  ©d)Iaf  ouf,  bie  J^nnbc  brttten, 
unb  brau^en  in  ber  dladjt  ba  mar  ein  ®e^en^  ein  ^(fiflern  unb  ein  ®e(&rm^ 
aH  tohx  ber  Zeufe(  loi.  Tin  einem  SJ^orgen  fanb  man  unten  an  ber  SRauer 
t)orm  9tofeng&rt(ein  eined  Q^auren  ®oi)n  and  9rel}men  Kegen;  ber  tjatu  ein 
JKeflfer  in  ber  ©ruft  (lerfen,  grab  unterm  Jjerjen^  3»ei  Socmen  brauf  liegt 
an  ber  gleic^en  @teD  ein  imittv  tct,  unb  reit  id)  ani,  fet)  id)  bie  Seim^ 
(idngler  nnb  ©nl)Ier  in  bie  •Oafelbfifdie  ober  9leben  fd)Ifipfen,  ben  ganjen 
®ommer  burd)  iufl  einen  Sag  mie  ben  anbern/' 

»Oier  fe$te  ber  J^agere  wieber  ab,  tat  einen  nod)  m4d)tigeren  Srunf 
nnb  er^ob  f)ierauf  mit  bem  ^annenbecfet  ein  f(apf)embed  ®e(&ute,  bad  and) 
ben  alten  Wiener  toitbtx  ^ereinlocfte^  ber  fofort  (autlod  mit  ben  (eeren  ^annen 
im  T^nnM  t)erf(^n)anb* 

,,SWerft  (&T  nun,  tt)ot)Ie^rtt)firbiger  ^exv,  tt>eld)en  ^offen  mir  bad  ®Ificf 
gefpielt,  aid  ed  mir  bad  ^inblein  auf  ben  9Beg  ge(egt?  3d)  fomme  and 
*rieg  unb  ?Marfereien  f)eim  unb  toiU  —  o  ebled  ?eben!  —  in  meinem  J^aud 
ber  3flterdru^e  pflegen  unb  in  meinem  Sffieltgdrtlein  aKer  aRiiI)feIigfeiten 
unb  Segierben  (od  unb  (ebig  fein  unb  gerate  in  ein  Troja,  too  otxbuijUt 
Cauernrfipel  eine  Helenam  belagern  unb  ben  Diomedem  unb  Ulyssem 
agieren.  3d)  g(aube  ein  d)ri|llid)  3Berf  ju  tun  unb  ptumpfe  in  eine  Seufeld^ 
gaufferei,  oon  ber  id)  nod)  nit  weig,  toic  pe  an^^eift  2)iett>eil  ein  lofed 
SBeibdbilb,  bad  nit  auf  i)ei(igen  ^fif en  ge^t,  nit  n)eif,  n)ad  geifKic^  ^a(len 
ijti^t,  fomm  id)  ju  fp&t  auf  meinen  ®au(  unb  ft$e  nun  mit  3t)m,  t)0(^n)iirbiger 
^err,  beim  ©orgenwein  unb  benfe:  J^ol  ber  unb  jener  jeben  ^rauenfc^ut), 
in  bem  bad  Sierlein  ge^t,  bad  Bfipfc  t)at.  3c^  bilbe  mir  ein,  alle  Dinge  (Inb  fo  mit 
©pott  burc^trdnft,  wie  eine  ©im  mit  ©aft,  unb  tt>ir  (Tub  ®ottednarren,  bie 
in  einem  ©piel  mittun,  bad  nit  fur  und  gefpielt  wirb;  unb  (ac^t  ein  dlaxx 
red)t  (ant,  fo  (ad)t  ein  ®ott  and  i^m,  ber  (Id)  bie  ^offen  immer  wieber 
agieren  (&ft  unb  feiner  eigenen  golbenen  92arretei  nit  mi&be  n>irb.  Srum 
i)at  ber  alte  ^oet  Homerus,  ber  (ieb(id)e  ^^antafl,  bie  @6tter  ber  J^eiben 
Iad)enb  bargefleUt  auf  einem  ^o{)en  ©erg.  Unb  ailed  feljret  toitbcx  auf 
biefer  SBelt,  Helena  unb  Troja,  nur  t)erAnbert,  toit  bad  tiicfifc^e  ®rflcf  ed 
toiU  in  unferer  armen  ®otted)eit. 

„7lii  ©onntagd  brauf  mein  Setter  ^tirn  ®amburg  ^ergeritten 
(ommt  unb  mir  beim  SBein  unb  ^onfeft  ftgen,  fagt  er:  ,9}un  toiU  id)  auc^ 
bad  ^txUin  feJ)en!'  ,9iBad  J&erfein?'  frag  ic^.  ,,9?un,"  fagt  cr,  „toa^ 
man  in  ber  ®egenb  rebet  ^ad  ©ecfen^^6r(ein  i)at  geflern  auf  ber  Seiter 
in  Sauba  befannt,  fte  fei  auf  bem  J^erentan}))(a$  an  ber  ^Sinbe  ju  ^6nigd^ 
^ofen  gewefen*  ©a  feien  noc^  eine  SRenge  ?eutd  gewefen;  ein  grfiner  3Ager 
^abe  mitten  in  ber  Sinbe  auf  einem  ^a^enfc^manj  ben  Zan}  gepfiffen:  fflnn 
pfeifen  wir  ben  ^irletanj,  ben  ©uriebanj!  unb  ber  ©d)inberi?*afpar  and 
?auba  f)abe  nac^^er  mit  ber  fd)n)arjen  STOablene,  bie  fie  oon  ber  b6I)mifc^en 
^od)jeit  t)er  gefannt,  fiber  ©dume  unb  Domf)ecfen  l)intt)eggetanjt/ 

,,38ir  aber  reben  nod)  Don  ber  «Oerenfa(be,  n)ie  man  fte  fod)t  unb  mad)t, 
ba  fdngt  unten  ein  Sdrmen  unb  ein  ©d)reien  an;  toix  flel)en  auf  unb  fteigen 
bem  Sdrm  nac^  ind  9tofengdrt[ein  ^inab.  £a  fte{)et  bie  SSablene  oben 
auf  ber  aWauer  unb  ffe^t  $u,  tt>ie  (Id)  jwei  ©urfc^en  unten  in  ben  fXeben 


544  8^ 


mtt  {tvei  SD^effcrn  abtun.  @ie  fagt  fetn  3Bort/  fte  lad^t  aud)  ntt^  fte  id)ant 
nnv  }u.  fcf)ret:  ,Z)ie  J^unbe  fiber  eucf)!^  ®ie  t|ireit  nit  unb  ru^en 
ttit,       finer  t)on  ben  ?ummeln  ba  liegt  nnb  ber  anbere  me  tin  J^afe  blutet 

„71H  idj  bad  SD^&gbtein  anfel)^  ge^t  fte  n>eg^  mtt  einem  3(ug,  wie  id) 
ed  nie  9ffet)n^  fo  t)oD  bed  fRenfcf^eniammerd/  ba^  ed  mid)  elenbigtic^  erbarmte* 
3d)  fang  an^  }u  fiberUgen^  n>ad  ba  im  ^Jpitl  fein  m6d)t;  benn  in  Stebed^ 
fad)en  gfaub  id)  nit  red)t  an  «Oererei^  unb  bad  a){dbd)en  {Tebt  ju  traurig 
in  bie  SDBelt.  3d)  tt>eig  nit,  f)od)tt)firbi9er  J^err,  ob  dt  auf  SRenfc^enblirfe 
in  feinem  gei(Hid)en  ?eben  ad)t  gegeben.  Die  einen  get)n  um^er  unb  feljen 
and,  afd  l)4tten  fte  i^re  Seele  fc^on  aufgegeben  unb  lebten  mit  ben  ®ei|tern, 
bie  mit  t)imm(ifd)en  ^fi^^n  in  einem  3(bgrunb  tt>anbe(n*  ICie  anbern  ^aben 
3(ugen  fo  tooD  Srauer,  bag  man  meinen  f6nnt,  fte  i)&tten  im  i)eim[id)en 
SKutterleib  fd)on  erfal)ren,  toit  ed  mit  biefer  ©eft  beftettt  i|l,  we  felbfl  ein  roter 
SRofenregen  in  einem  Stegen  fafjiger  2rdnen  untergel)en  mfift*  Item,  ber  ©licf 
bed  aD2&gb(eind  [ieg  mir  feine  97ui)e,  unb  id)  Argerte  mid)  bod)  bed  9Rit(eibd^ 
n)enn  id)  an  bie  3ribu(ationen  bad)te,  ber  id)  fobalb  aud)  nit  lebig  mxben  foDt 

,,2(m  ^rdutertag^)  in  ber  ^rfi^  jie^  idj  mein  famten  SDBamd  an,  um 
in  bad  J^od)amt  )ur  Jtr&utern)ei^  nad}  ^ifffngen  ju  reiten.  Da  ifix  id) 
wieber  unten  fd)reien,  unb  afd  ic^  in  ben  J^of  fomm,  (le^t  bie  STOablene  ba, 
ijat  einen  ©ftfd)el  Winter  in  ber  J^anb  unb  gucft  an  bem  Surm  in  bic 
J&6^e,  auf  bem  bad  ®t6cflein  l)Angt.  Der  lurm  war  mir  Don  ben  ®d)tt)eben^ 
I)unben  breimal  angeflecft  n>orben  unb  t)at  fein  Dad)  me^r;  aber  oben  ^&ngt 
an  einem  Weinen  ©afgen  ein  ®f6rflein  unb  tt)ad)fen  SReffeln,  wilbe  fXofen 
unb  Saufenbgfilbenfraut,  bad  man  jum  9Beit)bftfd)eI  brauc^t  Hn  bem  ©rocfen* 
feil  aber  flettert  ju|l  ein  STOAnnfein  in  bie  J^6^e,  unb  unten  (lel)t  bie  SWablene 
unb  Iad)t  unb  Iad)t  ein  b6fed  iadjtn  meiner  ©eel,  toit  id)  ed  noc^  nic  aud 
einem  5^<*w^n«iw«^^  ttemommen.  Unb  wie  ber  Jlerl  bad  ?ad)en  ^6rt,  ba 
(Agt  er  bad  ®(ocfenfei(  (od,  a(d  {)Att  il)n  ein  b6fer  93[icf  t)on  ^inten  ge(lod)en 
unb  (lurjt  ^erunter  in  ben  J^of  unb  brid)t  ffd)  bad  ®enicf.  SBer  aber,  raeint 
3^r,  i|t'd?  Der  STOann  ber  ©6^min,  mein  ^atenfinb,  ber  SBelten.  ,Du  J&er*, 
fd)reie  id)  bie  STOabfene  an,  ,tt>ad  mad)jl  bu  ba?*  Dod)  (le  fle^t  ba  mit 
flummem  93(i(f,  unb  n)irb  nit  rot  unb  toixt  nit  bla^  unb  gucft  in  einem 
fort  auf  ben  ?cid)nam,  ber  ganj  erfd)r6cflid)  anjufc^en  i^  Da  laufen  meinc 
?eut  J)erbei  unb  fc^reien  unb  jammern  burd)einanber,  unb  idj  mug  bie  J^ere 
in  ben  5urm  flccfen,  bamit  jie  i^r  nid)td  an  tun;  benn  ffe  wugten  aUe,  bag 
(le  in  *6nigd^ofen  an  ber  ?inbe  bcim  STOaientanj  gewefen.  Da  ffftt  (le  nun 
flumm  toit  tin  fTOarmorbilb  unb  fprid)t  fein  SBort  unb  xiifxt  fein  ^igletn 
an.  aBoUt  fd)on  )u  3()m,  l)od)tt)firbiger  Jjerr,  l)inunterreiten,  um  mir  9latd 
)u  erI)oIcn.  Unb  nun  crgel)t  mein  35itte,  3br  ni6gt  bem  STOAgblein  ind  ®e^ 
wiffen  rebcn  unb  erfa^ren,  ob  jie  ben  STOann  t)erf)ert,  bag  er  fein  ?eben 
laffen  mugte  im  ©turj,  unb  wie  ed  mit  bem  Jjerentang  gewefen.  J&e,  ^orenj, 
f&tjx  ben  ^od)tt)firbigen  ^O^trn,  bag  er  nit  (loI})ert." 

Dem  Defan  toax  ed  inbeffen  jumute,  aid  ob  ein  38anbe()ug  feltfamer 
©ilber  t)or  feinen  3(ugen  ein^erfc^webe;  er  er^ob  (id)  unb  folgte  bem  alten 
Diener,  ber  eben  jwei  neue  ^annen  auf  ben  Sifd)  gefe^t  ijattt  unb  fid)  nun 


^)  a^ari^  l^immrlfa^tt;  am  15.  Vugufl. 


545  ^ 


an  finem  ®(i)Ififfe(6unb  ju  fdiafen  mad)te.  Drau^en  auf  bem  ©ang  na^m 
ber  TUtt  tin  tUinei  iattxndjtn,  iai  auf  ettter  Ztnt^t  (lanb^  itnb  lcnd)Utt 
bem  ^farr^crrn  t)oraii,  ber,  t)on  einem  Teifen  ®raiien  gefdjfittelt,  folgte* 
®ie  (liegen  eine  (leinerne  2reppe  l)ina6,  gingen  fiber  cinen  J^of  unb  betraten 
einen  feii(()ten  ^eUergang.  „^iex  ifl  ffe/'  fagte  ber  Xlte,  inbem  er  bie  5fire 
)U  einem  ®ela$  6ffnete  unb  fofort  t)inter  bem  Smtretenben  Derfcf)(o^,  nacf)^ 
bem  er  bad  ^Saternlein  in  eine  fTOaueriffnung  gefe$t  ijattt. 

^a  tjodtt  in  ber  (Scfe  auf  einem  sbfinbe(  @tro^  eine  totiblidit  ®e(la(t, 
bie  fic^  nid)t  rfi{)rte  unb  nicf)t  regte;  nur  in  ben  3(ugen,  bie  aui  ben 
fc^n)anfen  ^inflemiffen  g(fibten,  ali  f&me  ii)r  ?id)t  aud  einer  anberen  2Be(t, 
war  etwad  me  tin  jlarred  ?eben.  fRegfod,  toit  gebannt  t)on  einem  J^eren^ 
jauber  b(ieb  ber  f>farrt)err  t)or  bem  SQefen  flet)en,  bid  ed  it)n  mit  einem  9)2a(e 
mie  eine  3Qanb(ung  bed  @nrfe|end,  toit  fd)n>inbenbe  Srinnerung/  toit  tint 
feligffige,  jammerDoDe  ©egenwart  erfafte. 

@r  ti&ttt  f(i)reien  m6gen:  9Bie  fommfl  bu  {)ier^er  in  biefed  Slenb? 
Sod)  fein  SOort  n)iU  fiber  feine  trocfenen  Sippen,  unb  and)  bie  3(ugen  in 
bem  Sunfel  bteiben  ilumm  unb  fragenb,  toit  tin  beraufc^enb  n>i(bed  ®Ificf 
unb  eine  bunfle  SlStU  bed  3ammerd,  in  bie  er  fie  einfl  gei)en  (ie@  in  mailid) 
^olber  Btit  Unb  —  l)ord)  —  ba  flingt  bad  Xrmeffinberglficffein  jag  unb 
fern;  fein  3fuge  flel)t  —  Sntfe^en!  —  einen  ^oljjlof  aufgetfirmt;  fd)on 
na^en  Jritte,  ein  ©raufen  toit  Don  einer  STOenge  tint  tjercin;  ed  regt  pd)  in 
ber  @cfe  unb  —  —  eine  ©timme  t)or  iljm  grfigt  erfiaunt  unb  fd)fic^tem: 
„®erobt  fei  Sefud  (5l)ri|lud!" 

SRit  n)eiten  2(ugen  bticfte  ber  ^raumbefangene  im  972orgengrauen  um 
fid);  t)or  il)m  im  SRebel  ftanb  ber  ®d)&ferdj6rg  unb  flarrte  ben  geifltic^en 
^errn  n>ie  ein  ©efpenft  an.  ^ern  aud  bem  a){orgennebe(  t6nte  ein  fleined 
^ird)eng(6cf(ein  ^erauf. 

„9Bo  bin  ic^  benn?"  fragtc  ber  Defan,  bem  ed  toit  tin  bumpfer  SRing 
um  bie  @tirne  (ag  unb  ber  bod)  eine  n>unberbare  (Srleid)terung  empfanb,  ba^ 
aOed/  n)ad  it)m  biefe  92ad)f  gejeigt,  nur  ein  n>fifled  $raumgeftd)t  gemefen  toax. 

,,Ufpm  ®ald)eberig,  beim  ©d)tt)eben^©d)Ioug." 

w3d)  b^b'  mid)  im  Slebel  Derirrt/'  fagte  enblid)  ber  f)od)»firbige  J&err, 
ber  bad  93ebfirfnid  ffiblte,  feine  Xnwefenbeit  auf  biefer  ^btft  )u  erfldren. 
,,3c^  fomm^  t)on  ©d)marjenbrunn." 

„3o,  ber  3lebel  id  uf  amol  bog'wen/'  fagte  ber  ©d)4ferdj6rg,  bem  ed 
ie|t  n)ieber  unbe^ag(id)  in  ber  9ldl)e  bed  geifl(id)en  «Oerrn  jumute  n)urbe; 
Jdj  1)0  mein  ^fcrd)  bo  t)orn/' 

i,9Beid  mir  ben  9Beg/'  fagte  ber  ICittan,  in  bem  nun  bie  ®eftd)te 
biefer  ffladjt  unb  eine  qudlenbe  Srinnerung  )U  einer  fd)mer)tic^  mfiflen 
Sumpfbeit  ineinanber  floffen;  aud)  empfanb  er  einen  flarfen  28ibern>i(len 
gegen  ben  Curfd)en,  ber  i^n  in  einer  ©tunbe  irbifd)er  &d)toadiijtit  gefunben 
batte.  SRac^  einer  28eite  rafd)en  flummen  ®et)end,  aid  fie  an  ber  ©tefle 
(lanben,  tt>o  bie  bciben  ©urgwege  am  ^O^b^n^^^nb  fid)  Dereinigen,  blieb  er 
»or  bem  @d)Aferburfd)en  fleben,  beffen  bfibfd)ed,  treuberjiged  ®efid)t  eine 
tt)ad)fenbe  ©efangenbeit  t)erriet;  benn  er  gebad)te  feined  geflrigen  ®anged 
mit  ber  Smerenj  unb  meinte,  bie  Donncrprebigt  mfiffe  nun  jeben  3(ugenblicf 
lodge^en.   Der  geifllid)e  J^err  aber  fing  in  geflrengem  5on  an,  ben  36rg 


546  8^ 


iibtx  fetne  dlttrn,  feme  ^nbljtit,  feme  itijx^  itttb  a){t(it&r)ett  au^{ufragem 
£er  ^ecf)t  gab  oerfldnbige  3(ntn>orten,  beren  Cfinbigfett  bem  ^rager  immer 
beffer  gefiel;  ia,  ber  9urf(f)e  n>urbe  berebt,  a(d  er  auf  bte  ®cf)af}ucf)t  )u 
fprec()ett  fatn  itttb  bem  ^efan  audeinanberfe$te^  wai  ba  aOed  t)oit  beit 
®emeinben  getati  tocrben  (6tine  unb  mii^t,  urn  fte  )u  I)e6eit/  Z)er  Dcfan 
gtng  auf  aOe  Sinjel^eiteti  ein^  urn  fetnen  Cauerti  and)  Ijierin  ge(egent(t(^ 
ben  Sfletfler  jetgen  )u  f6nnen^  unb  ntad^te  fogar  etn  getfl(t(I)ed  @(f)er}d)en 
&6er  bte  itittj&mmti,  bte  nt(I)t  nur  in  ber  @d)af)ud)t  etne  9to0e  fpielen! 

Sann  burc^fut^r  etn  g(ft(f(t(f)er  ®ebanfe  bai  tumpft  ^itm  bed  ^fam 
t)errn;  er  i)ord)te  tn  bte  Siefe  ijinab,  too  ed  eben  bad  erflemal  jur  SReffe 
I&utete^  unb  fagte  furj:  „1^u  (annji  n&d)|len  ®onntag  nac^  bent  'Xmt  )u  mir 
(ontnten;  n>enn  ailed  wat^r  if?^  toa^  bu  mtr  erj&t^ft  ^a(l/  foKfl  bu  bte  (Snterenj 
^aben*   3cf)  werb'  mit  iiivex  STOutter  reben/' 

IDer  ©(^dferdjfirg  tou^tt  oox  liberrafdjung  fein  ffiort  f)ert)orjubringen; 
er  flanb  noc^  an  ber  gfetc^en  ®ttUt,  aid  bte  bunfle  ®ejla(t  bed  Defand 
fd)on  tn  bem  mi^tm  92ebetmeer/  bad  tn  ber  Stefe  wogte,  t)erfcf)n)unben  n>an 

,,^9rad/  ^^rad!"  f(f)rte  er  p(6$(tcf)^  unb  burc^  bte  xo^i^e  dla(bt  bed 
92ebe(d  ftang  bem  Defan  etn  3aud)ien  nad)^  n)&l)i'^nb  er  rafd)en  ®anged  in 
bte  Stefe  fd)rttt^  bem  waOenben  ®et&ure  ber  ®(ocfen  entgegen,  bad  wte  aud 
einer  bfauen  feltgen  «06l}e  {)erab}uf(tngen  fd)ten. 


5)eutf(|)e  ^ytih  III 

Tlngtbinbe. 

93Dn  .^and  ^oacbtm  SBagner  tn  9Run(^n* 

6tner  5^eunbtn,  einee  j^eunbee  fei  gebo^t* 

Qjtnferm  QBunbe  ftni  ite  <Bar6en 

^fleiner  BkUt  ^ugeBrac^t 

5n  ben  ^[a^ren  tvtrrer  ^ruBuns, 

3tt  ben  j^^ten  Uiti^tx  (fleue 

QgffieB  9on  affen  ^a1ixt(itno\(tn, 

^ie  entfteimten,  bte  verbarBen  — 

39re  ^tdfe,  ftc^Ve  ^reue 

Bin  (petmUic^tnie  gutev  (fi)eften 

®ie  5U  ^eugen,  (Pertvefem 

39rer  ^c^on^etf  une  Bepefffen* 


HHg  547 


tT7d6cfeenKebe. 

SSon  (Smtl  Srmattnger  in  2Bmtert(^ur. 

|[un3)Utt3ee  'Kini,  iux^  ^tth  uni  l^ag; 
4Dte  i&onne  tvofft  tc^  fangen* 
S)te  (mutter  6an^  ein  ^d^feterfetn 
(Plir  pore  Ceftc^t:  „Q§fe8aft  fern!** 

Qinb  fcQwang  bae  ^uc^fem  jatt  uni  (ini 

tub  warf  >em  j^ruQftnseivmt  — 

ei,  war'e  etn  fttPftg  ^fattem! 
S)oc9  fc^on  ant  nac^p^n  l^ugeffteig 
2)a  mugf  etn  gruner  Q^ofenjtveis 
®ae  (SDeQ'tt^e  mtr  ergatterm 

S)ie  (niutter  fc^aft   Qtlir  war  nic^t  Ban^* 
3c9  Kef  ^en  fieBen  ^omnter  fang 
^agiagftc^  ^trauc^e 
Oitii  fa9,  ia0  3^er5  vott  fug^er  fiupt 
®en  ^c^feier  fKittern  aue  bem  (gfup 
3in  rofen^ttfttgen  l^auc^e* 

Qtun      Uv  j^ommer  fdngp  ^o^in. 
34  3^9  Qinaue.   S)ie  QleBef  ^te^'n, 
S)te  ^onne  iviff  nic^t  fc^etnen. 
(niein  ^ttc^fein  ^^ngt  am  fta^fen  Jlp, 
3Pf  ivinb^erjfe^t  un^  fonnverBfagftt 
Qjlni  weinen  mug;  ic^,  tvetnen. 


93Dn  Smt(  (Srmattnger  m  SBtntert^ur. 

1^oc9  am  OgfergSang  im  Cepein 

ic9  uBerm  wetten  €afe« 
Jlf0  etn  fc^fummer^unftfer  (fi)etn 
l^(9voiSt  iit  ({lac9t  in  gruner  ^c^afe. 

(fi)te  aue  ^agee  fautem  Qtlunb 
Better  £lfoclenton  vetftfungen, 
l^at  ftc9  att0  verfc^tvieg'nem  ffrunb 
1$etmt9e9  jittttnl  foegerun^en* 

^ieQ  ^a!   Q}f6^ftc9  in  im  Zat 
QEffi^t  att0  offnem  l^uttenraume 
S)ttrc9  »te  Qlac^t  ein  rofer  ^(ra^ft 
Qjln^  tc9  fc^aue  ivie  im  ^raume. 


548  8*^ 


QOon  Ut  toi'tiUn  Ctut  nmmSt 

etn  QBiiii  ic9  an  im  l^er^e, 
1^oc9,  von  ^errfi^ev  <SifiaH, 
Qjln^  5i9ei  Ifttniet  an  Uv  6r^e. 

—  9or6et!   6in  ^untpfer  ^c^fag* 

(Von  ^en  &vffttn  Bfetc^t  ^ev  ^ag. 
—  IgetmtveQ  taunt  un^  fflififert  feife. 


Tin  bit  nad?t. 

SSon  aSarttn  Q3De(t$  m  Sluntberg. 
I^trte,  (tetBe  ietne  l^erien 

(fi)iff  e0  en^ftc9  JlBen^  wer^en? 
^teme,  tvatum  ^fuOt  t^r  ntc9<? 

£ag;  mtc9  ietne  Qfl^e  fj^uren, 
Komm,  0  ftomm,  geKeBte  ({lac9<! 
6ffne  mir  lit  fefigen  ^uren 


Verantwortlleh :  FQr  den  politischen  Teil:  Friedrich  NauniAno  in  ScbSneberg;  fQr  den  wl 
Tell:  Paul  Nlkolaua  Coaamann  In  MQncben;  fQr  den  kQnatleriachen  Teil:  Wilbelm  Weigiuid  in  M 

Bogenhauaen. 


Nacbdruck  der  einielnen  Beitrige  nur  auazugawelae  und  mit  genauer  Quellenangabe  geatattct. 


t:ni;;L  ....  n '  ;*  r,in  r.i 


i:.  -r  ic: 


If; 


iicrlti'hcr- 


uddeutscne  Monatshefte 


VON 
FF  Hi 


HANS  iM-iTZN[fR      HANS  THoM  \ 

li  K  RA  If  SGl'C.  I:  BI^N  VON 

V;iI.HFLM  WCIGAN'r) 


i .  : :  1 . 1 


c    'J  : 
BAHNSL 


•  r:s  KAisKR-M  \^0'/^•::^: 


r  ^       AUF  AL.'rf.  '-tr 


N.  II. 


:- :  T    -  r 

.•tZAiiLljN 


sOddeutschh  mon aT'-;h 


'J  ■   I  '  '•         ",  1      '  .       ■      '  ■   I  ,  :        .  .... 

!cr;  :  V.  :;-!-.r,,.,     -  ....    .'^  ,  ;v 

crRChicnctu-f  ''X'^r't..'  \'\::ci]  -if        i:n-v-r  a  -  •. . - 

11^1  lien   V-'Ia^,.  ;."il!r  . i    :    .  ;M 

I  n  ll .  1  .  .    d  C  S    il  PI    1  =^ .    \\  ;i  I  ■  / 

ersclieincnden  4.  (Apri!-)He 

r'aul^;  <;-.jan-..,n. 
W'jiiieim  Trlibner:  iv  i  ....  .  . 

v-v-^v!  :i^r:  D.;i:t>cfK-.s  Til. 


che  Monatshefite 


ANN 


MA  I  !^VM 


INH  ALT 


IT 


iiddeutsche  Monatshefte 


9 


'  V      I  S  COSSMANN  o  JO 

R.Li>."J'.  i'.  NAUMAV^'       "  -v  •  R; 

HANS  THOMA  Hi:;-  n  VON 

WlLHtLM  W  »:iUAND 


'.ER 


.lAHRGANG    V    M.  HEFT     c,  iUNI 


IN  HALT: 


II.  VIS". . 

•SI    PACLV  o  o 


b:<\ri-\:  a,_ s   .  .  . . 

GEOANKKN  o  o 
CARL  SPlTTEI.r-R  -.. 


a         O    0    o  V 


><  'i!-   I.VI'M:.    1.:-     .        .       -J  o       L       :^  ^ 

L  AGF;  SI!  OMUND    DIF.    TANTIP.Mr.N  -  AKGiXlK-FNHRIT 


i,v.  irjCHHANnFl,  F.ri  G.!;riKv..  V,,  :  LH^' 


=  BEILAGE  = 

zum 

6.  Heft  des  I.  Jahrgangs  der 
SAddeutschen  Monatshefte 


Die  Tantiemen-Angelegenh 
und  der  Kunstwart 

Von 

Siegmund  von  Hausegger 


Die  Tantiemen-Angelegenheit  und  der 
Kunstwart. 

Von  Siegmund  von  Hausegger  in  Frankfurt  am  Main. 

An  die  Redaktion  der  Suddeutschen  Monatshefte  ist  iolgendes 
Schreiben  gelangt: 

Dresden-Blasewitz  am  10.  4. 
Sehr  geehrte  Herren! 
In  der  Anmerkung  zu  seinem  ^ofFenen  Briefs  an  Gohler  (Siid- 
deutsche  Monatshefte  S.  306)  tut  Herr  von  Hausegger  eine  Ausserung, 
die  auf  einem  Missverstdndnisse  beruht  und  deshalb  selber  miss- 
verstanden  werden  kann,  ich  bitte  deshalb  die  folgenden  Worte  der  Auf- 
klarung  freundlichst  in  Ihr  nfich^tes  Heft  aufnehmen  zu  wollen.  Gohler 
schloss  seinen  zweiten  Aufsatz  in  Sachen  der  Konzerttantiemen  im 
Kunstwart  (XVII,  9.  S.  561)  mit  den  Zeilen:  »und  dann  antworte  uns 
ein  Berufener,  aber  sachlich,  unter  der  Beriicksichtigung  aller  Ver- 
hiltnisse.**  Mit  keinem  Worte  ist  davon  die  Rede,  dass  nach  allem 
Vorhergegangenen,  nach  dem  langen  bisherigen  Schweigen  derKomponisten 
auf  Gdhlers  ersten  Aufsatz  und  nach  all  den  mittlerweile  in  der  musika- 
lischen  Fachpresse  erschienenen  Artikeln,  diese  Antwort  im  Kunstwart 
selbst  erscheinen  moge.  Hatte  dieser  dann  Hauseggers  Replik  auf- 
genommen,  so  hMtte  er  auch  Cohlers  Duplik  aufnehmen  und  schlie^slich 
seinen  wirklich  knappen  Raum  zu  Ungunsten  der  weit  iiberwiegenden 
Mehrzahl  der  Kunstfragen  einer  elngehenden  Erdrterung  von  musik- 
betriebs-technischen  Spezialfragen  widmen  mussen,  wie  sie  meiner  Uber- 
zeugung  nach  eben  in  die  musikalische  Fachpresse  gehdrt.  Die  An- 
nahme  unsres  verehrten  Gegners  Hausegger,  wir  liiden  erst  ausdriick- 
lich  zum  Sprechen  bei  uns  ein,  um  dann,  wenn  einer  reden  will,  sofort 
zu  sagen:  „nein,  du  darfst  nicht',  ist  nicht  eben  schmeichelhaft  fiir 
unsre  Intelligenz.  In  Wirklichkeit  war  unsres  Amtes  zweierlei:  erstens 
die  Anregung  einer  solchen  Diskussion  zwischen  den  Sachverstandigen, 
zweitens  das  Hervorhebcn  ihrer  prinzipiellen  Wichtigkeit  und  der  Frage, 
ob  nicht  durch  derartige  Ausnutzungen  des  Urheberrechts  ein  grosseres 
Gut  zu  Gunsten  eines  kleineren  geschadigt  werde.    Von  Ehren-  oder 


auch  nur  von  Anstandspflichten  konnen  ja  derartige  Raumbeschrankungen 
naturlich  nicht  entbinden:  Wenn  sich  die  Leiter  der  Anstalt  fur  muslka- 
lisches  AuffiihniQgsrecht  durch  Gohlers  Aufsatz  personlich  verletzt 
fuhlten,  so  stand  ihnen  selbstverstindlich  der  Kunstwart  zu  einer  Ent- 
gegnung  ofPen,  und  ebenso  selbstverstdndlich  war  es,  dass  ich  die  kurze 
Antwort  der  Komponisten  an  Gohler  sofort  im  Kunstwart  zum  Abdruck 
brachte.  Was  Gdhler  tiber  die  Konzerttantiemen  in  Hinsicht  auf  den 
Musikbetrieb  noch  zu  sagen  hat,  sagt  auch  er  nicht  mebr  im  Kunstwart, 
sondern  in  seiner  Antworts-Broschiire  auf  die  Flugschrift  der  Genossen- 
schaft.  Das  urheberrechtlich  Prinzipielle  dagegen  werde  ich  im  Kunst- 
wart noch  besprechen,  und  bei  dieser  Gelegenheit  auch  sagen,  weshalb 
mir  Herm  von  Hauseggers  sachh'che  EinwSnde  in  diesem  Falle  nicht 
zuzutreCfen  scheinen. 

Mit  vorziiglicher  Hochachtung 

F.  Avenarius, 
Herausgeber  des  Kunstwarts. 

In  Beziehung  auf  Vorstehendes  sei  mir  gestattet,  den  Hergang 
meiner  Korrespondenz  mit  dem  Kunstwart  zu  skizzieren.  Ich  hatte  am 
10.  Februar*)  noch  vor  Absendung  des  Manuskriptes  Herrn  Avenarius 
telegraphisch  um  Aufnahme  meiner  Erwiderung  an  Dr.  Gohler  ersucht. 
Darauf  erhielt  ich  den  umgehenden  Bescheid,  das  nMchste  Kunstwartheft 
sei  schon  unter  der  Maschine.  ,,Ich  mochte  Sie  aber  drauf  aufmerksam 
machen,  dass  wir  jetzt,  nachdem  wir  Monate  auf  Monate  gewartet  haben, 
unsererseits  unmoglich  die  Erorterung  fiber  diese  Frage  wieder  auf- 
nehmen  konnen.  Ich  habe  deshalb  auch  bcreits  Sommer  eine  Ent- 
gegnung  abgeschlagen.'  Ich  druckte  hierauf  mein  Bedauern  daruber 
aus,  dass  den  von  Gohler  apostrophierten  Komponisten  eine  Antwort  im 
Kunstwart  nicht  gestattet  sein  solle  und  schloss  den  Brief  mit  folgenden 
Worten  «.  .  .  doch  glaube  ich  wohl  Anspruch  darauf  erheben  zu  konnen, 
dass  meiner  von  Ihnen  abgewiesenen  Entgegnung  im  nachsten  Kunst- 
wartheft mindestens  Erwahnung  getan  wird,  weil  ich  vor  dem  Vorwurf 
geschfitzt  zu  sein  wunsche,  als  hatte  ich  auf  Gohlers  Aufforderung  ge- 
schwiegen.**  Zu  meinem  grossten  Erstaunen  fand  sich  im  nfichsten 
Kunstwartheft  kein  Wort  davon,  ebensowenig  erhielt  ich  auch  nur  eine 
Zeile  der  Aufklirung,  weshalb  den  Lesern  des  Kunstwarts  so  fursorglich 
verheimlicht  werden  rousste,  dass  G5hlers  AngriCfe  eine  Entgegnung 
gefunden.  Als  ich  daruber  Beschwerde  fuhrte,  schrieb  mir  Avenarius 
am  24.  Februar:  „Wie  k6nnen  Sie  mir  zutrauen,  dass  ich  auf  Ihre 
Anfragen  nicht  geantwortet  hStte.  Ich  habe  Ihnen  sogar  in  einem 
langen  Brief  ausfuhrlich  motiviert,  weshalb  ich  Aufsatz  und  Anfrage 
nicht  bringen  konnte.    Es  ist,  nachdem  Monat  fiber  Monat  von  seiten 


^)  Herrn  Musikdirektor  MuIIer  Renter,  der  der  ganzen  Angelegenheit  in  der 
«Rheinischen  Musik-  und  Tbeaterzeitung''  Erwihnung  tut,  gab  ich  irrtumlich  den 
17.  Februar  an,  da  ich  mich  zu  der  Zeit  auf  Reisen  befand  und  die  Briefe  nicht 
bei  mir  hatte. 


Ihrer  Meinungsgenossen  ungenutzt  voriiber  gelassen,  ganz  unmoglich, 
in  unserm  Blatte  jetzt  Antworten  zu  bringen,  da  die  Leser  ein  klares 
Bild  von  Gdhlers  Ausfuhrungen  nicht  mehr  im  Kopfe  haben  kdnnen."" 
Avenarius  befindet  sich  in  einem  oCFenbaren  Irrtum,  wenn  er  meint,  er 
habe  mir  raotiviert,  weshalb  der  Kunstwart  sich  iiber  das  Eintreffen 
meiner  Antwort  ausgeschwiegen  hat.  Einzig  die  Abweisung  meines 
Aufsatzes  war  mir  in  dem  vom  10.  Februar  datierten  Brief  begrundet 
worden;  seit  meinem  zweiten,  erst  hierauf  erfolgten,  oben  wort- 
lich  zitierten  Ersuchen  habe  ich  von  Avenarius  bis  zu  jenem  24.  Februar 
iiberhaupt  keinen  Brief,  nur  ein  paar  Karten  anderen  Inhalts  erhalten. 

Wenn  Avenarius  auf  dem  Standpunkt  steht,  nur  prinzipielle  Er- 
orterungen  der  Tantiemenfrage  konnten  im  Kunstwart  Aufnahme  Bnden, 
so  hatte  er  vor  allem  Dr.  Gdhlers  Aufsatz  abweisen  mussen,  der  durch- 
aus  polemische  Angriffe  gegen  die  Genossenschaft  und  ihre  Mitglieder 
enthSlt.  Nachdem  dies  nicht  geschehen,  war  meines  Erachtens  die 
Konsequenz  unvermeidlich,  auch  die  AngegriCfenen  an  derselben  Stelle 
zu  Wort  kommen  zu  lassen.  Avenarius  verweist  uns  auf  die  Musik- 
zeitungen.  Das  nimmt  mich  Wunder.  Wenn  wir  im  Kunstwart  ant- 
worten wiirden,  besorgt  Avenarius,  seine  Leser  konnten  nicht  mehr 
gentigend  uber  Gohlers  Aufsatz  in  Heft  3  (meine  Entgegnung  bezieht 
sich  aber  bekanntlich  auf  den  zweiten,  in  Heft  9  erschienenen!)  orientiert 
sein.  Meint  er  vielleicht,  die  Leser  der  andem  Zeitungen  seien  besser 
dariiber  orientiert?  Ich  kann  nicht  umhin,  diescn  Standpunkt  als 
gSnzlich  verfehlt  zu  bezeichnen,  da  er  den  Verdacht  unabweisbar  auf- 
kommen  ISsst,  als  sollten  die  Gegner  Gohlers  einfach  mundtot  gemacht 
werden,  was  wohl  von  einem  so  ernsten  Blatte  wie  dem  Kunstwart  nicht 
anzunehmen  ist. 


^  Heoigkeiten  aos  dem  Yerlage  von  Georg  HQUer  In  MQnehen.  ^ 


Die  in  diesem  Heft  zum  Abdruck  gelangte  —  IVovelle  —  von 

==  Wilhelm  Weigand  == 

erscheint,  vereint  mit  vier  andern,  soeben  in  dem  Bande: 

Hiebael  Seh&nherrs  Liebesfrahling  ond  andere  Ho¥ellen. 

=====  INHALT:  = 
Der  zwiefache  Eros.  —  Anselm  der  Hartheimer. 
Sirene.  —  Das  Abenteuer  des  Dekan  Schreck. 
o  o  Michael  Schonherrs  Liebesfnihling.  o  o 
o   Umschlagzeichnung  von  Karl  SoffeL  o 

Gehefitet  M.  4. — y  gebunden  in  Leinen  M.  5.—. 

Das  Buch  an  dieser  Stelle  den  Lesern  des  ^Abenteuers  des 
Dekan  Schreck"  ausfUhrlich  anpreisen  zu  wollen,  wfire  verfehlt. 
Wer  den  Dichter  Weigand  liebt,  wird  ohnehin  zu  jedem  neuen 
  Band  von  ihm  greifen  


Soeben  erschien: 

Jin  all(  frcttitiic  nodenier 

HQnehener  BrOSehQren,  herausgegeben  von  Georg  Mailer.  I: 

==  Hans  Pfltzner.  == 

Von  Paul  Nicolaus  Cossmann. 
^         6  Bogen.      1—  = 

Wie  jeder  moderne  Kiinstler,  der  Neues  und  Eigenes  will,  steht 
auch  Hans  Pfitzner  mitten  im  Streit  der  widersprechendsten 
Wertungen.  Das  hat  soeben  wieder  die  Aufnahme  seiner  neuen  grossen 
Oper:  Die  Rose  im  Liebesgarten,  gezeigt.  Cossmann,  dem  der  Mensch 
und  Kunstler  Pfitzner  gleich  vertraut  ist,  zeichnet  sachlich  ein 
Bild  seines  Entwicklungsganges,  seines  unablMssigen  kiinstlerischen 
Ringens,  mit  warmer  Sympathie  aber  weit  entfernt  davon,  in  den 
sonst  so  beliebten  panegyrischen  Ton  zu  verfallen.  Er  weist  dabei 
auch  die  AngrifFe  der  Reaktion  zuriick,  die  auch  hier  mit  alien 
Mitteln  gekSmpft  hat,  well  den  Kunstler  eigene  Wege  suchte. 


I 


 . 

Meyers  Reisebticher 

fiir  die  deutscheit  Mittelgebirge. 


Scliwarzwald, 

Odenwsdd,  Bergatraaae,  Heidelberg  and  Straasburg. 

Neunte  Auflage,  bearbeitet  unter  Mitwirkung  des  Schwarzwald-Vereins. 
Mit  25  Karten  und  Pmnen.  Kartoniert  2  Mark. 

ThUringen 

nnd  der  Frankenwsdd. 
Sechzehnte  Auflage,  bearbeitet  unter  Mitwirkung  des  Thttringerwald- 
Vereins.   Grosse  Ausgabe:  Mit  25  Karten  und  Pianen  sowie  2  Panoramen. 
Oebunden  2  Mark  50  Pf.  —  Kleine  Ausgabe:  Mit  14  Karten  und  Pianen. 
Kartoniert  1  Mark  50  Pf. 

Der  Harz 

nnd  daa  Kyftb&naergebirge. 

Siebzehnte  Auflage.    Grosse  Ausgabe:    Mit  21  Karten,  PlSlnen  und 
1  Brockenpanorama.    Gebunden  2  Mark  50  Pf.  —  Kleine  Ausgabe:  Mit 
10  Karten  und  PlMnen.   Kartoniert  1  Mark  50  Pf. 


Dresden,  SSiChsisclie  Scbweiz 

nnd  I,anaitxer  Gebirge* 

(Vereinsbuch  des  Gebirgsvereins  fiir  die  SSchsische  Schweiz.)  Sechste 
Auflage.    Mit  21  Karten,  Pl^nen  und  Grundrissen  sowie  4  Panoramen. 

Kartoniert  2  Mark. 


Riesengebirge, 

laergebirge  nnd  die  Grafacbaft  Glatx. 
Vierzehnte  Auflage,  bearbeitet  unter  Mitwirkung  der  Gebirgsvereine. 
Mit  18  Karten  und  PlMnen  sowie  2  Panoramen.  Kartoniert  2  Mark. 

Die  „Meyerschen  Reisehandbiicher''  bedUrfen  keiner  besonderen  Em- 
pfehlung  mehr.  Sie  zeichnen  sich  durch  grosse  Zuverl^sigkeit  und  praktische 
Brauchbarkeit  aus  und  lassen  bei  klarer  Anordnung  und  Behandlungsweise 
des  Stoffes  eine  grlindliche  Bearbeitung  erkennen. 

(„  VWhamUungen  der  Gesellschaft  fur  Erdkunde**,  Berlin,) 

Volllstandige  Verzeichnisse  der  Sammlung  von  „Meyers  Reisebtichem"  stehen 

zu  Diensten. 


Verlag  des  Bibliographisohen  Instituts  in  Leipzig  and  Wien. 

I   J 


II 


SCHNEIDER'S  KUNSTSALON 

FRANKFURT  am  main 

ROSSMARKT  23  (AM  GUTENBERGDENKMAL) 


stAndige  ausstellung 
verkauf  von  = 
kunstwerken  ersten  ranges 

STETS  VERTRETEN  SIND  = 
DIE  NEUESTEN  GEMALDE  = 
VON  PROF.  D«-  HANS  THOMA 


ORIGINAL  ALGRAPHIEN  UND  RADIERUNGEN 

VON  HANS  THOMA 

SAMTLICHE  ' 

ORIGINALLITHOGRAPHIEN 

VON  WILH.  STEINHAUSEN 
ORIGINAL-RADIERUNGEN 

VON  FRITZ  BOEHLE 

TAXATIONEN  =  OBERNAHME 

=  HERVORRAGENDER  EINZELWERKE  = 

=  BEKANNTER  PRIVATSAMMLUNGEN  = 
.  SOWIE  VON  ===== 

nachlAssen  bedeutender  kOnstler 

===^=  ZUM 

FREIHANDIGEN  VERKAUF  ODER   ZUR  AUKTION 

III 


PIE  MUSIK 

Herausgeber:  Kapellmeister  Bernhard  Schuster 

bringt  im  Mai 

zwei  aufeinanderfolgende  aktucUc  Hefte. 

Am  10,  bezw.  25.  Mai  erscheinen  anlasslich  des  Musikf^tes  in 
Frankfurt  a.  M.,  Mannheim  und  Heidelberg  ein 

Tonkunstlcrfest-Heft 

und  zur  Comelius-Gedachtnisfeier  in  Weimar  mit  der  Wiederholung  der 
Urfassung  des  „Barbier  von  Bagdad""  (1858)  und  des  »Cid''  (1865)  ein 

Peter  Cornelius-Heft 

Das  TONKUNSTLERFEST-HEFT  verheisst  neben  einer  Aufsehen 
erregenden  Studie  uber  die  wiederaufgefundene  Jugendoperette  „Don 
Sanche^  von  Franz  Liszt  und  der  Ouverture  und  einer  Arie  dieses 
Werkes  in  Notenbeilage,  neben  ungedruckten  Briefen  Wagners 

die  ANALYSEN  samtlicher  auf  dem  Programm  des  Festes  stehen- 
den  Werke,  von  den  Komponisten  selbst  verfasst,  und  ca.  30  Portrats 
der  Komponisten,  Dirigenten  und  mitwirkenden  Kiinstler. 
Das  CORNELIUS-HEFT  reiht  sich  in  Wert  und  Bedeutung  unsem 
friiheren  Sonderheften  ebenburtig  an.  Es  verspricht  eine  „Rettung**  des  so 
lange  verkannten  vornehmen  Dichterkomponisten  und  seinerHauptschopfung. 
In  sieben  AufsHtzen  von  Max  Hasse,  Edgar  Istel,  Richard  Batka, 
Gustav  Schoenaich,  Natalie  v.  Milde  u.  a.  werden  bedeutsame 
biographische  und  asthetische  Punkte  beriihrt;  es  wird  u.  a.  die 
Analyse  der  seit  fast  50  Jahren  verschollehen  ersten  Barbier-Ouver- 
ture  (h-moll)  geboten,  und  etwa  15  Bilder,  Faksimiles,  Notenbei- 
lagen  nach  seltenen,  unbekannten  und  unverdfPentlichten  Vorlagen 
vcrvollstandigen  den  Wert  dieses  Gedenkheftes. 

p«r  pr«is  «iti«s  i«d«ii  K<n«s  Von  i«  100  5«it(ti  Vnfatig  brtrSgt  1  JtUrt 

Schuster  &  Loeff  ler,  Berlin  SW.  U. 


IV 


HERMANN  COHEN,  SYSTEM  DER  PHILOSOPHIE 
ERSTER  TEIL:  LOGII  DER  REIlEi  ERIEHHTIIS 

XVII,  520  Seiten  im  Lexikon-Forraat  M.  14.—,  gebunden  M.  15.50 

IN  HALT:  VORREDE 

EINLEITUNG  UND  DISPOSITION:  Die  vierfache  Bedeutung  von 
Erkenntnis  —  Die  Geschichte  des  BegrifFs  der  reinen  Erkenntnis  — 
Verhaitnis  der  Logik  der  reinen  Erkenntnis  zur  Kritik  und  Metaphysik  — 
Das  Problem  der  Psychologie  —  Das  Denken  der  Wissenschaft  — 
Das  Denken  der  Wissenschaft  und  die  Psychologie  —  Die  Terminologie 
des  Denkens  —  Die  Logik  des  Ursprungs  —  Umfang  der  Logik  — 
Das  Urteil  und  die  Kategorien  —  Das  Urteil  und  das  Denken  —  Die 
Arten  des  Urteils  und  die  Einheit  der  Erkenntnis 

ERSTE  KLASSE:  DIE  URTEILE  DER  DENKGESETZE:  Das  Urteil 
des  Ursprungs  —  Das  Urteil  der  Identitat  —  Das  Urteil  des  Widerspruchs 

ZWEITE  KLASSE:  DIE  URTEILE  DER  MATHEMATIK:  Das 
Urteil  der  Realitat  —  Das  Urteil  der  Mehrheit  —  Das  Urteil  der  AIl- 
heit  —  Obergang  von  den  Urteilen  der  Mathematik  zu  den  Urteilen 
der  mathematischen  Naturwissenschaft 

DRITTE  KLASSE:  DIE  URTEILE  DER  MATHEMATISCHEN 
NATURWISSENSCHAFT:  Das  Urteil  der  Substanz  ~  Das  Urteil  des 
Gesetzes  —  Das  Urteil  des  BegrifPs 

VIERTE  KLASSE:  DIE  URTEILE  DER  METHODIK:  Das  Urteil 
der  Moglichkeit  —  Das  Urteil  der  Wirklichkeit  —  Das  Urteil  der  Not- 
wendigkeit 

BESCHLUSS  UND  BEGRENZUNG:  Die  Logik  des  Urteils  — Die 
Logik  des  Idealismus  —  Die  Logik  und  das  System  der  Philosophie 

Das  ^System  der  Philosophie'^  ist  auf  vier  Blnde  berechnet 
Der  zweite  Band  erscheint  im  Herbst  1904 

aBel  dem  neuen  Aufbau  der  Logik,  der  hier  unternommen  wird,  ist  hauptsaclilich  zwelerlei  charakteristtsch, 
einmal  der  engere  Anschluss  an  die  Prinzipien  der  mathematischen  Naturwissenschaft,  sodann  die  Auf- 
fassung  des  Denkens  als  einer  Tatigkelt,  die  sich  ihren  Stoff  selbst  erzeugt.  Dass  die  Logiker  in  der  Regel 
noch  zu  wenig  auf  die  GrundbegrifTe  der  positiven  Wissenschaften  RQcksicht  nehmen,  kann  nicbt  geleugnet 
werden.  Kaum  ist  in  elner  anderen  Disziplin  der  Philosophic  ein  so  ziihes  Festhalten  an  veralteten  Sche- 
maten  zu  beobachten.  Kein  Wunder,  dass  die  Logik  Ciberhaupt  in  den  Ruf  der  Unfruchtbarkeit  kam. 
Freilich  hat  eine  Modemisierung  der  Logik  im  Sinne  einer  ausgiebigeren  Verwertung  des  Ideengchalts  der 
positiven  Wissenschaften  auch  ihre  Gefabren.  Man  kann  ein  positiv-wissenschaftliches  Prinzip  UberschStzen. 
Vlelleicht  ist  auch  Cohen  dieser  Gefahr  nicht  ganz  entronnen.  Denn  die  Bedeutung,  die  er  dem  mathema- 
tischen Infinitesimalprinzip  vindiziert,  wird  mancher  fiir  iibertrieben  halten.  Die  Mathematiker  selbst  urteilen 
heute  dartiber  vlel  vorslchtlger,  seltdem  durch  Dedekind  und  andere  Forscher  einc  rein  arithmetlsche  Be- 
griindung  der  Infinitesimalrechnung  gegeben  worden  ist  In  dem  Urteil  erblickt  der  Verfasser  mlt  Recht 
das  Grundphanomen  des  Denkens :  die  Urteile  der  Denkgesetze,  die  Urteile  der  Mathematik,  die  Urteile 
der  mathematischen  Naturwissenschaft  und  die  Urteile  der  Methodik  unterscheidet  und  untersucht  er  als 
besondere  Klassen.  Die  zahireich  eingestreuten  feinsinnlgen  Bemerkungen  historlsch-kritischen  Inhalts  und 
die  Anwendungen,  die  von  den  logischen  Einsichten  auf  grosse  sachliche  Probleme  gemacht  werden,  ver- 
lelhen  dem  Buche  einen  ganz  besonderen  Reiz.  Die  bei  ihnllchen  Schriften  vielfach  anzutreffende  Trockenheit 
der  Darstellung  ist  hier  glUckllch  vermiedcn.  Wir  haben  es  ohne  Zweifel  rait  einem  erstklassigen  philo- 
sophischen  Werke  zu  tun,  dessen  Fortsetzung  wlr  mit  Spannung  entgegensehen.   (Lit.  Zentralbl.,  7.  2.  1903) 

VERLAG  VON  BRUNO  CASSIRER  IN  BERLIN  W 

V 

/ 


Dcrlag  Don  €gon  ricifdjel  &  Co.  -  Berlfn  W.,  C0t)oroftraBe2 


SBftff  »Dn  Selene  33(>^(au 

flft>.  W.  1.-^  uti.  W.  5.-  li  gtb.  W.  6.-,  fleb.  SW.  7.50 

=====  ^:!Ro»ellcn 

Sine  a(tn^fimarifd)e  ®efd)id)te 


(Sommcrhid) 

?((ttt)cimarifc()C  ®efcf)id)tfn 
aeb.  a)r  3.,  9fb.  aw.  4.— 


!Dcr  fcj)6ne  33al(cnttn 

3?ot)etIen 

gfl).  3W,  4.—,  get.  VI  5  — 


^Prfi^t:  gfb.  5??.  5.—,  c\(t.  VI  «.50. 


Buchverlog  der  Elite  * 

(i 

Soeben  erschienen: 

Neue  Aufgaben  des  Liberalismns 


„DieHilfe' 

Nationalsoz.  Wochenschrift 

Herausgebcr: 

Dr.  Fr.  Naumann. 

Prels  vierteljahrlich  1,50  Mk. 
probenummern  gratis 

DIB  HILFE 


1895 


JahrgSnge 


1899 


1900 


1901 


1902 

1903 

Gebunden  a  10  Mk. 

Die  gebundenen  Jalirgange 
bilden  ein  ausserordentlioh 
wertvoUes 
Naclmclilaifewerk 
.    tier  Z«il|fe«clilolile. 


Von  Dr.  Tli.  Barlli. 

Nach  cincr  am  28.  Januar  1904  in  Miinchcn  gchaltcnen  Rede  liber 
„Liberftlcn  Rcvlslonismus.'* 

PreiB  10  Pf,  Porto  3  Pf. 


Liberalismus  u.  Sozialdemokratie 

Von  Georg  Golhc'ln,  Mitgl.  d.  Reicbgtags. 

Nach  elner  am  20.  Februar  1904  Im  national-sorialcn  Vercin  (Orts- 
gruppe  des  Libcralen  Wahlvereins)  zu  Liibeck  gebaltenen  Rede. 

PreiB  20  Pf,  Porto  3  Pf. 


DieErziehung  zurPersQnliehkeit 
im  Zeitalter  des  Grossbetriebes 


Von  Dr.  Fr.  Naumann. 

Rede,  gchaltcn  am  26.  Februar  1904  im  Berliner  Lehrervcrcin 
—  Elegant  ausgestattet.  — 

Preis  25  Pf ,  Porto  3  Pf 


—  Durch  alle  Bud)banaiun0en  tu  Utkhtn.  — 


VI 


Verlangen  Sie  In  jeder  Buchhandlung: 

ttrtflan 

@t<i)e  tXovtUen  von 

Itbomae  Vdann 


Vierte  Auflage  Geb.  M.3.50,  geb.  M.  4.50. 


„Xrijlan".  «E)teff  tnntge  Sronie,  eelbji* 
ironU  M  Q^t^altni  in  atten  (^ef^alten,  ifl 
ta<  tf^f^Ud^fle,  ta«  fett  langrr  3rit 
genirfen  turfte. 

I^annooetfd^er  Goutiet:  9i  lirgt  emt< 
nent  oiel  Ihtltut  in  tiefrn  92ct^eaen.  92ut 
fin  ^eroortagenbrt  Itunfllet  fann  fe  innrv^ 
li<te,  fc  ttefftnnige  ^robleme  mit  fold^rr 
^irtttofttdt  br^anbeln.  ^h\t  man  brn 
Xriflan^anb  mit  ben  ,,^ubbenbrcof4''  |u< 
fammcn,  fo  f^at  man  fine  ^rr^ei^ung  fur 
bir  ^ntxnft,  beren  ftd^  unfer  9?olf  vo^l 
ftrtun  fann. 


Su66enbroot6 

fBexfaU  einer  g^amitie  /  9toman  t)on 


Dreiundzwaiizigste  Aufl.  geh.  H.  5.-,  geb.  H.  6.- 


Setlinet  Xagrblatt:  .  .  .  {Sinti  jenet 
l^unfl(retre,  bie  ivirflit^  iibn  ben  Xag  unb 
bo«  ";itita\ttx  er^aben  {inb. 
^an}iger3<itung:  Gine  befonnene  unb 
oon  fouoer&nem  ^umor  burt^bringte  Urt  bet 
^tfleUung,  bie  bo^  iiberaU  ben  fenfibien 
unb  im  feinflen  €tnn  mobernen  SRenfc^en 
ftfennen  litft  unb  bal  Suc^  in  bie  er^e 
Kfi^e  bet  9{omane  ^tUt,  lai  ned^  oon 
Q^enerationen  gelefen  werben  »irb. 
I^ambtttger  ^rembenblatt:  .  .  .  @o 
barf  j.  fi.  ber  ^i^et'fc^e  t^erlag  be< 
8efU|e<  be^  ein|igen  beuif(!^en  9{cman^ 
freuen,  ber  bem  ^;36^rn  Util"  aii  oottwertig 
an  bie  ®eite  ge(ieat  werben  barf. 


Fischer,  Verlag,  Berlin  W.  57. 


QemBldesool  in  Frankfurt  a.H. 

Permanente  Kunstausstellung. 

Verktuf  von  OemAlden  ernter  moilerner 
nnd  iilterer  Meister. 

Bud,  Bangel,  Kunsthandlung.  ?8'lg. 

Derlag  pon  ®eorg  UTulIer 
in  XXXxin^tn  unb  JS^eipjIg. 

eine  ^rift^, 

©ctracfttiiitgen  uber  bie  gcgcnwArtige 
?age  ber  ?iteratur.  105  Seiten.  SSSlit 
Umfd)Iagjeid)nuiig  »on  ^arf  ©offef. 
@el).  a».  2  — ,  geb.  in  ?eineu  9R.  3.— 

Cfin  neue<  Su(b  be^  ^erfaffer€  t)on  ,,a)Ir^r 
©oet^e"  i(l  ber  Wufmerffamfeit  aUer  terienigen 
fitter,  bie  ber  Gntwtcflung  unferer  8tteratur 
mit  lebbaftem  ^ntereffe  unb  manc^mal  mit  ^orge 
folgen.  3n  ber  |»anglofen  fBeife,  bie  wir  an 
einem  geifheic^en  9)2anne  lieben,  frricbt  ^uc^ 
uber  bie  ,/8age''  o^ne  eine  bejhmmte  Xt^pofition 
ein|ubalten  unb  boc^  nad^  unb  nac^  faum  eine 
®eite  be^  beuttgen  @tanbe€  ber  Gntwttflung 
unbeleud^tet  laffenb.  (Strode  Grfurfe  liber  ^^qlU* 
fpeare,  iiber  bie  mobernen  3Uuf<on^f^^^ii'^^/ 
(iber  ^i^marcf  unb  anbere^  f!nb  eingeflcc^ten, 
benn  bad  %Beltbilb  be«  ^erfafferd  ij)  n?eit;  unb 
fo  enil^ft  er  un€  aud^  mit  einer  9(u6fubrung 
uber  ben  ,/fei(^ten  Optimidmud^',  ber  oon  na^r^ 
^aft  ^open^auerf(t|em  Grnfle  getragen  ifl. 


VII 


Reuben  unt  Setten  etne^ 

rMntTd)ett  ^ubtldum^ptlgerd.   <8on  Jllbtrt  SiAtr.   Umfd)(agiet(^nun9  Don  Albert 
®e>ticf  (SHom).  giit  (larfer  ^anb  »cn  672  ©eitcit.  «preid  9K.  6.—,  cleg.  gcb.  9R.  7.50. 
lii^atbVo$  ft^cirt  tern  ??frfofffr:  ,,|io(^9ef^rtfr  <)m!  3n  Cfglritung  trt  fawofm  Wcffot 
0ffe mocker  rri(h  id^  tirfcr  ta^t  tuxis^  3^^^^^^*       ^"^^  ^i^^  tingrmein  intetrffante  unt  amftfanff 
^ilgnrfa^rt,  f&t  trd(^e  tc^  3f»nrn  mit  mtinm  9omp\imtnU  |ug(ei0  metnen  <X>anf  au^pret^f. 
propt^eirie  3^^^"*  9{^etnl6nber  einen  l:tiumrb|U9  but(^  ba«  teutfc^e  ^aterlant. 

SvanffuvUv  3eitun0.  Srit  tcffrv  a\i  in  ten  ubltc^rn  9{ftfrbu<4mi  Irrnen  wiv  ^ifc  8anb  tinb 
Srute  frnnrn  unb  rrfa^ren  fo  man^H,  mtan  ht  l>ur(^f(^nttt^befu4rr  3^«ill^^  ad^tM  tcxuhev 
gf^en . . .  3'^^  3^<*li'nf«i^^'^  9Iu|fn  bie  anfpirr(^mben  'I)ar^eUttndrn  irfen  unb  gente  t»on 

brn  barin  gfgrbrnm  Statfd^l&grn  prcfitirrfn.  fBrni  abrr  ni(^t  Ofrg^nnt  t{i,  grit  3^^^^^  |u  pUg^tn^ 
ber  wirb  au4  in  ber  ^inen  0aut^  oom  fcnntgrn  @{iben  terfp&ren  unb  ben  leb^ften  Sunfd^ 
empfinbfn,  bad  €46nr,  9on  bent  if»m  eri^^lt  irirb,  felber  mitgenie^en  |u  f6nnen. 

Renaissance  I  Mo«atsscbriftfBrXnUnrgcscbfcbtc 

Organ  der  deutsohen  Riformkatholiken.  J.  Won  and  sAJiw  Cltwalw  •  • 

In  Verbindung  mit  Prof.  Dr.  Schell,  Prof.  Dr.  Kooh,  Prof.  Dr.  Robling  und  aodem 
hervorrtgenden  MSnnem  des  fortschrittlichen  Kdtholizismus  herausgegeben  von 
Dr.  Joaef  MUller-Munchen. 

MonatL  4  Bog.  (64  Seiten).    Preis  pro  Quart,  2  M,,  per  Kreuzband  2.1  S  M. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandiungen  fKommission  bei  Lampart  in  Ai|8- 
burg),  durch  die  Post  (No.  735  fur  Bayern,  6376  fur  das  Reich)  und  direkt  Yom 
Herausgeber  Dr.  MfUler,  Mflnchen,  Blumenstrasse  221%. 

Wichtigere  AufsStze  in  Heft  1—5  1904:  Hermann  Scbell:  Lehrende  und  lernende  Kirche,  Autoritic 
und  Wissenschaft  <1— 3);  Robling:  Zur  Reform  des  Gottes  (1.  2);  Dr.  Ihm:  Ironik  Ira  20.  Jtbrbuiidert 
(1.  Z  5.).  Josef  Mtiller:  Babel  und  Bibel;  Christus  vor  dem  20.  Jabrbundert;  Alfred  Loisy:  Zfilibat  and 
Priestertum;   Emil  Frommel:  Reformliteratur.    Gedlchte  von  MtfHin  Grelf,  Lorenz,  Krapp,  BrGbl  uvw. 


SWit  Umf(t)fa9jeid)nung  Don  ^arf  ©off el.   324  ©eiten. 
@el)eftet  Wt.  5.—,  gebunben  in  ?einen  SW*  6.—. 

Vihtcv  tVaU  ift  ein  neuer  name  unb  Mcfer  Homan  fein  ttitۤ  Sucft.  -  C^in  SHenfA 
fArcfbt  bie  ®cf(bi(l»tc  feinet  ihnb^eit,  feinir  Suoenb  bts  jn  bet  6tunbc,  in  ber  fein  ©ater  fHw. 
'S)iefe  (Stunbe  tuerft  in  i^m  aUe  Shrdfte.  ^  bertc^tet  emft,  etnfac^  bie  Xat^adotn  unb  tnit  ^|er^ 
Knfitauliibfcit.  S)ct  ^n\)aU  feineS  9eri(^teS  i|l  tiicbtd  Ungcwd^ntidjed.  Unfere  lebenbige  9(ntei(nal^me 
wirb  abet  f of ortQcfcf flit,  bcnn  l)icr  macbt  teincr  Citeratur  um  Cttcratur  ttJiIIen,  fonbem  cr  fcbceibt  au5 
feelifc^er  92ot.  3ioif(^en  ben  35||aen  ber  3udcnb3eit  ftel^en  ^Id^iic^  Suffcbreie  unb  ttnliUgen, 
bie  er0rcifcnber  nie  etkcbtn  fkitb.  iibev  bie  aucfi  ber  5evti0e  ttnb  fltti  uberU^en  ^fUtlcnbe 
nicf^  mit  etnem  Cttcbeln  l^inwedlefen  hann.  2)a8  Suc^  tft  rin  €tii(t  9ntobfd0vapltit,  ein 
Cnfwicftlundfttoman  wie  etwa  0«ttfrieb  liener*  „®ruuer  ^einric^"  ober  Strinbhetd*  gro&e 
8eid)ten  XVtv  in  ber  Utinft  ben  menfdten  fucfit,  wirb  ffier  cinen  finben,  von  bem  er  ni«^t 
dIeicfidttlHd  :ibfcfHeb  nimmt. 


©ebeutfamed  @r|llingdtt>erf!   ©oeben  erf(f)ienen! 

Wir  bitten  unsere  Leser  sich  bei  Bezflflen,  Yeranlasst  dureli 
die  Inserate  in  den  ,,Sflddentselien  MonatsheHer\  anf  nnsere  Zelt- 
selirin  m  bezlelien, 

Diesem  Heft  Hegt  ein  Prospekt  der  Verlagsbuchhandlung 
Greiner  &  PfeiflFer,  Stuttgart,  bei. 


FUr  den  Inieratentell  verantwortlich :  Georg  MQller,  Mbnchen,  KOniglnstrasse  50, 
Druck  von  Htrfotl  &  ZItmito,  Wittenberg.