Siiddeutsche Monatshefte
UNTER MITWIRKUNG VON
PAUL NIKOLAUS COSSMANN o JOSEF HOFMILLER
FRIEDRICH NAUMANN o HANS PFITZNER
HANS THOMA HERAUSGEGEBEN VON
WILHELM WEIGAND
Erster Jahrgang 0 Erster Band
1904
Januar bis Juni
MONCHEN UND LEIPZIG
VERLAG DER SODDEUTSCHEN MONATSHEFTE G. M. B. H.
IM BUCHHANDEL BEI GEORG MOLLER
Inhaltsverzeichnis.
Selie
Eugen Albrecht, Aus der Pathologie. Neue Antworten auf alte
Fragen. I. II. Ill 17, 207, 283
Aus dem Kflnstlerbund 138
Julius Bahnsen, Die Stunden bei Schopenhauer. Aus dem
Nachlass des Philosophen mitgeteilt von Rudolf
Louis 224
Martin Boelitz, Gedicht 548
Lujo Brentano, Die beabsichtigte Neuorganisation der deutschen
Volkswirtschaft 254
Hans Driesch, Die SelbstSndigkeit der Biologie und ihre Probleme 5
Emil Ermatinger, Gedichte 547
Albert Esenweln, Zur Psychologie des wurttembergischen Bauem 346
Ernst Faller, Betrachtungen anlSsslich des Kaiser-Mandvers . 193
Ludwig Ganghofer, Die Jiger 311
Otto Gittinger, Gedicht 447
Martin Greif, Gedichte 88
Otto Gflntter, Eduard Mdrike. Rede bei der Jahrhundertfeier
in Stuttgart gehalten 406
Gedichte 444
Siegmund von Hausegger, Oftier Brief 306
Hermann Hesse, Gedichte 450
Paul Heyse, Der Waldpriester. Ein Satyrspiel 325
Josef Hofimiller, Deutsches Theater. 1 47
Die Tagebucher von Albi|n, / . iH- > /
Ernst Jaeckh, Das literarische Leben in\!V$i5ftfew^
Gertrud Ingeborg Klett, Gedichte 'y^^i-l^^^C'^:'' •
Georg Friedrich SLnapp, Ein Hoch auf Mudi;>S^^r;;r}v^^ . 190
Therese ROstlin, Gedichte .... i- i^iit^^i^^ r^^^^^^
Ernst Krausst Gedicht . 449
Isolde Kurz, Die beiden Briute. Ballade 440
Alfred Leonpacher, Bei Jesuiten 198
Julian Marcuse, Kommunale Hygiene 465
Paul Marsop, Die Kunststadt Miinchen 41
Aus dem Lager des musikalischen Fortschritts . 303
Theodor Mauch, Gedicht 447
Seite
Ernst Mayer, Technisches Beamtentum 459
Eduard MOrike, Ungedruckte Briefe. Mitgeteilt von Rudolf Krauss 413
Friedrich Naumann, Der deutsche Suden 1
Rdmische Herrschaft 97
Die Illusion in der Politik 185
Die Sozialdemokratie in Suddeutschland . 249
Liberalismus als Prinzip 341
Was ist der Friede? 453
Karl Eugen Neumann, Das buddhistische Kunstwerk. 1. . .131
Adolf Oberlftnder, Aphorismen 302
Eduard Paulus, Gedichte 441
August Pauly, Gedanken 34, 481
Hans Pfitzner, Zorn. Lied fur eine Singstimme und Klavier . 93
Helene Raff, Sein Sieg. Erzihlung 516
Max Reger, Hugo Wolfs kGnstlerischer Nachlass 157
August Reiff, Gedicht 448
Wilhelm von Scherff, Einfuhrung in das Studium des Krieges. I. 104
Adolf Schmitthenner, Bin Wort. ErzShlung 237
Gottlieb Schnapper-Amdt, Nihrikele. Ein sozialstatistisches
Kleingemllde aus dem schwabischen Volksleben 350
Karl SchOnhardt^ Gedicht 441
Franz von Soxhlet, Hygiene der Milchversorgung . . . .116
Hans Thoma, Die AnfSnge der Kunst 37
Bunte Erinnerungen aus der Kunstschulzeit . .231
Ludwig Thoma, Der heilige Hies. Erzfihlung 173
Friedrich Th. Yischer, Briefe aus Italien. I. 11. Mitgeteilt
von Robert Vischer 380, 472
Hans Joachim Wagner, Gedicht 546
Wilhelm Weigand, Der Messiasziichter. ErzMhlung ... 57
Anselm Feuerbach und sein Vennachtnis . .139
Das Abenteuer des Dekans Schreck. Erzlhlung. 527
Felix. W^iligaEtner». Cad Spitteler. Ein kunstlerisches Erlebnis 484
Karf:1«e4<bSfeiftr»:g«ii«W^ 442
mcharci:'^e)|bixii^.jC<ea'icht 444
Richard* .ttji^t^ii^rj^^chte von Christian Wagner .... 434
Hi^o V^^riui^^M<4it*e: Briefe an schwibische Freunde . . 397
Wi]heltti*'iaiBft;*.a«£dit^ 247
Der deutsche Siiden.
Von Friedrich Naumann in Schdneberg.
Lassen Sie uns zuerst etwas Statistik treiben, um dann aus den
Zahlen einige Schliisse zu Ziehen!
Suddeutschland umfasst fast der deutschen BodenflSche (24,4%)
und etwas unter ^4 cler deutschen Bevolkerung (239270)9 ist also eine
Kleinigkeit hinter der deutschen Durchschnittsdichtigkeit der Bevolkerung
zuruck. Das ist an sich kein Ungltick. Aber die Sache sieht schon
anders aus, wenn man erflhrt, dass im Jahre 1816 dieselben LSnder,
Bayem, Wurtteoiberg, Baden, Hessen und Elsass-Lothringen, noch beinahe
Vs der Bevolkerung hatten, die damals auf dem Gebiet des jetzigen
Deutschen Reiches sass (31,7%), und dass selbst im Jahre 1855 die
Suddeutschen noch 27,3% der Gesamtzahl ausmachten. Der Anteil
Suddeutschlands am deutschen Personenbestande geht zuriick. Man sieht
die Zeit kommen, wo die Suddeutschen nur noch % betragen werden.
Ein solcher Rtickgang kann nicht ohne Folgen ftir den Einfluss sein,
den Suddeutschland auf die Politik und Kultur des Deutschtums im
Wie erklirt sich der Rtickgang? }^^ti3;^ieb <;hfunlj< ce^^^ um
einen sehr zusammengesetzten Prozess, bei de^^' ic]{^ ist,
welche Ursachen ersten und welche zweiten Gpd&^;^s^>^;De4: Atisgangs-
punkt der Untersuchung kann aber kaum andc^'^s^^, li^^gen^^ der
Frage nach der Gesundheit der Rasse an si(^. l^t,-^^tex-ji^^ steht
Hessen tiber, das ganze iibrige Suddeutschland al[)er^ unter Reichsdurch-
schnitt. Das ist nicht angenehm zu sagen, aber wir wollen ja uns nichts
vormachen. Der Geburtenuberschuss, diese Grundziffer der Rassen-
beorteilung, ist in Hessen 15,4%^,, im Reich 15,1 %<>, in Bayem 14,2 %o,
in Baden 13,9 %o, in Wiirttemberg 13,5 %o und in Elsass-Lothringen
11^7oo* Allerdings ist die Entstehung des Fehlbetrages verschieden.
Bayem ist ein Landesteil hoher Sterblichkeit bei guter Geburtenzahl,
S&ddcuttche Monatshefte. 1, 1. 1
Elsass-Lothringen ein Gebiet geringer Geburten bei reladv besserer
Lebensdauer. Im Osten Suddeutschlands hat das Leben zu wenig
Dauerhaftigkeity im Westen zu wenig Zeugungskraft. Wie sich dieses
wieder erklart, ist nicht mit wenig Worten und vielleicht tiberhaupt
nicht restlos zu sagen. Alkohol und Volkssitte, Art des biuerlichen
Erbrechtes und allgemeine handelspolitische Lage sprechen mit. Dazu
kommt die Frage der Abwanderung aus Stiddeutschland. Diese ist am
auffaUigsten in Wtirttemberg. Leider lasst sich die Abwanderung der
Wiirttemberger nach ausserdeutschen Lindern nicht genau erfassen, wer
aber etwas vom Ausland kennt, kennt auch die in alle Welt verstreuten
Wurttemberger. Aber schon allein im Deutschen Reiche steht es so, dass
es 100000 geborene Wurttemberger mehr gibt als Einwohner von Wtirttem-
berg. Wtirttemberg ist noch heute ein Auswanderungsland und ist es
seit langer Zeit gewesen. Von den anderen suddeutschen Landesteilen
gilt das nicht in gleich hohem Grade, aber von ihnen alien gilt, dass
sie keine eigentlichen Einwanderungslinder sind wie etwa Westfalen
und Sachsen. Dazu fehlt das Hinterland. Die Alpen und der Bohmer-
wald sind Wanderungsgrenzen, und Frankreich hat nichts nach Osten
hin abzugeben, selbst wenn es wollte. Wenn Stiddeutschland Kohle be-
sisse, k5nnte manches anders sein, aber . . .
Der Stiddeutsche hat ein gewisses Recht, neidisch zu sein, wenn
er seiner Naturguter gedenkt. Nicht als ob er an sich bei der Ver-
teilung dieser Gaben schlecht weggekommen ware, aber er erhielt keine
grosse durchschlagende Besonderheit. Im Getreidebau steht im allgemeinen
Stiddeutschland in Roggen etwas fiber, in Weizen etwas unter Reichs-
durchschnitt. Getreidebau ist es ja aber uberhaupt nicht mehr, was
ein europiisches Land reich macht. In Obstbau hat Suddeutschland,
abgesehen von Bayem, einen bedeutenden Vorsprung, hier ist wohl auch
noch sehr viel zu machen, aber ob Obstbau ausreicht, Mittelstuck einer
Kultur zu sein, bleibt dennoch fraglich. Hopfen und Wein bleiben auf
bestimmte Gegenden beschrankt. Die Viehzucht steht, abgesehen von
Elsass-Lothringen, fiber Durchschnitt, erreicht aber nirgends Ziffern wie
in den Wetdegebieten an der Nordsee. Es ist in alien diesen Richtungen
kein Anlass zum Verzweifeln, es sind sogar teilweis recht erfreuliche
Bestanc]^ jour ist xjic^tji .d^, was dem sfiddeutschen Lande Hoffnung gibt,
sich jbf^d^fi^ ^'^^iisBiw^ )SFf turgaben als Ausgangspunkt einer eigenen
welterobe^flefC ^rpdLtilSion' *inzusehen. Das aber ist es, was im Welt-
verkehrs2;ertfii^*iK^n{a^ des Erfolges ausmacht. Die Frage bleibt,
ob sich*.^i^4^^^I|^ Heimat von Verarbeitungsindustrien machen
kann, dtp ^'Ifli^l^Jj^^^ Charakter in der Austauschswirtschaft der
Neuzeit siclie*rht "Das'^isV Her eigentliche Kern der sfiddeutschen Frage.
Dass Bayem Weltplatz ffir Bier ist, ist ein Erfolg. Bier allein reicht
aber nicht aus. Es fragt sich, was sind sonst die TMtigkeiten, die gerade
diese Landesteile zur vollen Auswirkung ihrer Krifte kommen lassen?
Solche Titigkeiten zu suchen und zu fordem, ist eine Aufgabe, der alle
KrUfte gewidmet werden mfissen.
Das aber ist nicht eine Sache, die irgend jemand mit einigen Einzel-
vorschlagen erledigen kann. £s handelt sich darum, in jedem einzelnen
Arbeitszweig die Entwicklungsmdglichkeiten Siiddeutschlands zu prufen.
Um ein Beispiel zu bringen: Im Buchgewerbe, einem Industriezweig,
for den es besonderer geographischer Vorbedingungen nicht bedarf, und
fur den die Kulturbedingungen Siiddeutschlands sehr gunstig sind, ist
der Sachverhalt nach der GewerbezMhlung von 1895 folgender: dass von
den grossen Druckorten Deutschlands Mtinchen an ftinfter, Stuttgart an
sechster, Niimberg an achter und Strassburg an zwolfter Stelle steht.
Diese vier Orte zusammen beschaftigen 15763 ArbeitskrSfte, wahrend
Leipzig allein 19796 und Berlin 28280 beschMftigt. Natiirlich sind uns
die Grunde bekannt, weshalb Leipzig und Berlin einen grossen Vorsprung
haben, aber warum sind ausser ihnen auch Dresden und Hamburg hdher
gekommen als Mtinchen und Stuttgart? Im Photographieverlag be-
schlftigt Munchen die meisten Personen, aber im Farbendruck ist es
ganz klein, kleiner als Niimberg. Stuttgart hat im Farbendruck nur
7 Betriebe mit 20 Personen! Sind das Zufallsergebnisse oder Not-
wendigkeiten?
Dies eine Beispiel soil also nur andeuten, in welcher Weise ein
Verstindnis fiir die Lage Siiddeutschlands zu suchen ist. Es muss in
hoherem Grade als bisher mit Bewusstsein siiddeutsche Wirtschafts-
politik getrieben werden. Das kann auch jemand aussprechen, der wie
der Schreiber dieser Zeilen nicht Siiddeutscher ist, dem aber am gleich-
missigen Fortschritt aller deutschen Volksteile sehr viel gelegen ist.
Eine solche Politik wiirde das Gegenteil von Partikularismus sein, denn
sie wurde von der Frage ausgehen: Wodurch sichert sich Suddeutschland
seinen Platz in der Weltwirtschaft? Damit wiirden auch alle siiddeutschen
Verkehrsfragen ihres besonderen partikularistischen Charakters entkleidet
werden. Es handelt sich einfach dariim: Welche Einrichtung des Verkehrs-
wesens erleichtert den Siiddeutschen den Anschluss an den grossen Ver-
kehr? Dieser Anschluss ist in seiner Gesamtwirkung viel mehr wert
als jeder kleine staatsrechtliche oder fiskalische Vorteil, denn die ge-
schichtliche Bedeutung der siiddeutschen Staaten hSngt mehr als an ihren
Reservatrechten an ihrer volkswirtschaftlichen Leistung.
Es scheint nun aber, dass das allgemeine offentliche Bewusstsein
Suddeutschlands weniger in dieser mehr praktischen Richtung die
Erhaltung des geschichtlichen Wertes des deutschen Siidens sucht als
in Vertretung gewisser politischer und kultureller Moralbegriffe. Uberall
in Suddeutschland hort man, dass die preussische Polizei- und Herren-
moral abstdsst. Die demokratische Lebensauffassung ist hier mehr in
Fleisch und Blut iibergegangen. Man behandelt den Menschen anders
als auf den pommerschen Rittergiitem. Auch die Arbeiterfrage hat im
Stiden nicht die SchMrfe wie im Norden. Der Mensch als solcher
besitzt einen hSheren Verkehrswert. Das ist der eigentiimliche und
berechtigte Stolz des Siiddeutschen. In diesen Dingen liegt ein
Ewigkeitswert des suddeutschen Volkstums gegeniiber dem Deutschtum
der altpreussischen Provinzen. Es fragt sich nur, auf welche Weise
der Stiddeutsche diese seine vortreCFliche Eigenart zum Gemeingut des
1*
4
deutschen Wesens fiberhaupt machen kann, oder, wenn er an diesem
Ziel verzweifeln sollte, wie er sich selbst seinen Stolz am besten auf
Kind und Kindeskind erhalt.
Was ist esy das im letzten Grunde die offentliche Moral macht?
Wir reden jetzt nicht von der religidsen und privaten Moral, die der
Priester beeinfiusst, sondem von dem ungeschriebenen aber sehr realen
Rechtsverhaltnis, in dem der Mensch zum Menschen steht. Dieses
Recht wird durch nichts starker beeinflusst als durch die Betriebsformen.
Uberall vfo Plantagenwirtschaft ist, Fideikommiss, Rittergut, Bergwerk,
Hochofen, Grossbetrieb, ist die Gefahr der moralischen Kerabwiirdigung
der Arbeitskrafte vorhanden, Je elementarer aber die Arbeit ist, desto
grosser wird diese Gefahr. Deshalb haben alle Rohstoffsbetriebe, wenn
sie grosser werden, die verhSngnisvolle Neigung, in ihrer Leitung
despotisch oder patriarchalisch zu werden. Das ist es, was den Berg-
werksbesitzer mit dem Rittergutsbesitzer verbindet. Dieser Gefahr ist
Stiddeutschland nicht unterlegen, well es ein Land kleinerer und mittlerer
Betriebsformen war und im grossen und ganzen noch heute ist. Daher
konnte auch die suddeutsche Lebensdemokratie zur Gesamttemperatur
des Volkstums werden, ohne sich viel um Konfessionsgrenzen und
Parteibekenntnisse zu ktimmem. Sie ist weder Folge des Katholizismus
noch des Protestantismus, noch des hier und da bemerkbaren Italiener-
blutes, sie ist das naturliche Bekenntnis eines Landes ohne starken alten
Adel und ohne Kohlen. Darin liegt aber schon die Schwierigkeit, diese
Gesinnung beliebig zu verbreiten. Darin liegt auch die Gefahr, die ihr
selbst im neuen Zeitalter droht.
Wenn in Deutschland die grosse RohstofPindustrie die Allein-
herrschaft bekommt, dann wird die demokratische Moral von ihr
zerdriickt. Man mache sich nur klar, welche Macht der Gesinnungs-
beeinBussung in den Syndikaten der sogenannten schweren Industrien
vorhanden ist I Noch ist Stiddeutschland relativ frei davon, aber es lebt *
doch nicht wie eine Insel im Meer. Die allgemeine Zeitmoral macht nicht
am Mainstrom Halt. Will also der Stiddeutsche sein Stuck eigene
Menschheitskultur wahren, so wird er sich an dem Kampfe beteiligen
mtissen, der zwischen Rohstoffproduktion und Fertigfabrikation sich
langsam einstellt. Die freiheitlichen Hoffnungen Deutschlands hingen
mit dem Sieg derjenigen Betriebsformen zusammen, die auf Qualitits-
menschen angewiesen sind. Das sind aber die Betriebsformen, auf
deren Pflege Stiddeutschland durch seine Geographie und Weltlage so
wie so hingewiesen ist. Man soil nicht denken, das Geistige vom Wirt-
schaftlichen trennen zu konnen. Jede neue Fabrik, in der etwas
Bestimmtes gelernt werden muss, starkt den Gesamtgeist, der den
Menschen achtet.
Die stiddeutsche Frage, von der wir reden, hat nun neben der
technischen und der moralischen Seite auch eine finanzielle. Wo arbeitet
das stiddeutsche Kapital? Wo arbeitet beispielsweise das wtirttem-
bergische Kapital? Diese Seite der Angelegenheit kann aber nur
von Leuten erortert werden, die mitten im suddeutschen Bankwesen
5 8^
stehen, hier muss es genugen, von ihrem Vorhandensein zu reden. Es
ist nSmlich wahrscheinlichy dass mehr suddeutsches Kapital auswMrts
arbeitet als auswMrtiges Kapital in Suddeutschland und dass dadurch mit
suddeutschen Mitteln die Abwanderung leistungsfihiger Krdfte befdrdert
wird, von der wir im Anfang redeten. Das Kapital, auch das stiddeutsche,
geht dahin, wo es am meisten verdient. Mit guten Worten allein wird
man es nicht im Lande halten kdnnen, aber vielleicht ist es mdglich,
eine allgemeine Wirtschaftspolitik zu fordern, die mehr wirkt als gute
Worte, eine Wirtschaftspolitik bewusster suddeutscher Gewerbsent-
vicklung. Diese liegt im Zug der Zeit, viele dienen ihr, teils mit
Absicht, teils ohne Absicht; was ndtig scheint, ist nur, dass man diese
Wirtschaftspolitik in immer weiteren Kreisen mit Bewusstsein will. Dass
dabei das Zentrum nicht als treibender Faktor in Betracht kommt, ist
leider wahr. Doch davon konnen wir ja ein anderes Mai reden.
Die Seibstiindigkeit der Biologie und ihre
Probleme.
Von Hans Driesch in Heidelberg.
In der zweiten HSlfte des verflossenen Jahrhunderts hat die Lehre
vom Leben ihren meisten Vertretern nicht als eine selbstindige Disziplin,
nicht als Grundwissenschaft gegolten. Ja, nicht selten konnte man es
sogar horen, dass sie uberhaupt keine auf die Ermittlung von Gesetzen
gerichtete, keine ^rationelle" Wissenschaft, dass sie durchaus Historie sei.
Die materialistische Naturauffassung und die Lehren von der Deszen-
denz der Arten und vom Kampf ums Dasein waren die Grundlagen
dieser Urteile.
Der gesunden, unvoreingenommenen Auffassung Robert Mayers
zum Trotz, sahen die Hauptvertreter der Physik und der Chemie in
einer Auflosung in Atommechanik das Ziel nicht nur der anorganischen,
sondem aller Wissenschaft: als einzige Grundwissenschaft blieb bei
solcher Wendung der Sachlage des Geschehens die Mechanik ubrig;
alles andere wurde ^angewandtes" Grundwissen.
Die Deszendenztheorie aber in Form des Darwinismus machte, von
der anderen Seite her, die organischen Formen und Funktionen zu Pro-
dttkten, die in demselben Sinne vzuflllig", das heisst ziellos, entstanden
6
seieHy wie Inseln und Seen zufillig entstanden sind: damit war die Frage
nach einem biologischen Gniodwissen von vornherein abgelehnt.
Das alles hat sich nun geSndert.
Bereits in den achtziger Jahren machte auf anorganischem Gebiete
die mechanische Universaltheorie einer fiktiv und metaphysisch unge-
trubten, einer auf die Erscheinungen gerichteten, ^phSnomenalistischen*
Auffassung der physiko-chemischen Gesetzlichkeiten Platz. Mach ist
es bekanntlich, dem hier der Preis gebuhrt, aber auch der Energetiker,
vor allem Helms und Ostwalds soil hier in Achtung gedacht sein,
mag es sich auch herausstellen, dass die ^energetische* Wendung der
Naturphinomene etwas gar zu wenig aussagt. Die neueste sogenannte
^immanente" Wendung der Philosophie, wie sie in Schuppe, Leclair,
Kaufmann u. a. ihre Vertreter hatte, sowie die Philosophic von Ave-
narius waren der Wissenschaftsreform im Anorganischen wohl auch
forderlich.
Die Mechanik war also nicht mehr die Grundwissenschaft, sondern
es gab so viele Grundwissenschaften, wie es in sich durch die QualitSten
verknupfte Gruppen von Elementargesetzen gab. Die Frage nach dem
angeblichen ,,Erkliren* der WMrme oder der Elektrizitdt oder der che-
mischen Verwandtschaft war damit als ein falsch aufgestelltes, als ein
nur scheinbares „ Problem* beseitigt worden.
Letzt analysiertes, elementares Formulieren nahm den Platz des
^ErklHrens* ein.
Es verdient besondere Hervorhebung, dass schon den beiden grossen
Antipoden Hegel und Schopenhauer solche Gedanken in allgemeiner
Fassung gelMufig gewesen waren.
Wurden so die PrStensionen der mechanischen oder ^fiktiven*'^)
Physik durch Herausarbeiten des wahren, das heisst des erkenntnis-
kritisch einzig moglichen Sachverhaltes ersetzt, wobei man die grossen
positiven Leistungen der Vertreter jener falschen Anspriiche hochschMtzen
und ubernehmen konnte, so erging es den Anmassungen der historischen
Zufallsbiologie weit schlimmer.
Die sogenannte Selektionstheorie Darwins war zwar schon gleich
nach ihrem Erscheinen von einsichtigen, wissenschaftlich durchgebildeten
Mfinnern, zumal von Mivart, Wigand, C. E. v. Baer u. a. als ein
Gebaude von Unklarheiten, Zirkeln und Trugschltissen erkannt worden,
immerhin fristete sie noch ihr Dasein bis in die achtziger Jahre, als
Nageli (1884) und vomehmlich G. Wolff (1890) ebenso kurz wie klar
ihr logisches Ungentigen nachwiesen: dass NichtexistenzfShiges nicht
existieren konne, dieser zweifelsohne wahre, aber doch nicht sehr inhalt-
reiche Satz war das einzige, was vom Darwinismus ubrig blieb.
') So genannt, weil sie den gegebenen, durch Qualitftten gekennzeichneten
Erscheinungen »Fiktionen*, d. h. erdichtete Bildery und zwar mecbaniscber Art,
z. B. »Atonie*y »bewegte Molek&le* substituiert, ja, wohl gar diese Bilder fur das
,,Wirkliche" hSlt. Erscheinungen und Bilder mussten naturlicb gewisse (quantita-
tive) Kennzeichen gemeinsam besitzen.
-^7 8^
In der Tat kann der Darwinismus jetzt als in urteilsShigen Kreisen
definitiv uberwunden gelten.
Mit dem Ansehen der Deszendenztheorie, als der allgemeinen An-
nahme einer Abstammung der verschiedenen Lebensformen voneinander,
ging es langsamer bergab: in unbestimmter Weise als wahrscheinlich
muss diese Theorie jedem Unbefangenen gelten« auch der Autor dieser
Zeilen vertritt sie in diesem Sinne. Es hat aber lange gedauert, bis
man zu der Ansicht durchdrang, und auch heute ist dieselbe unter
Biologen noch nichts weniger als Allgemeingut, dass mit der allgemeinen,
nnbestimmten Wahrscheinlichkeit von Deszendenz Hberhaupt recht wenig
gewonnen sei.
Nachdem die biologische „Zufallstheorie' als hinfSllig erkannt war,
musste man nach den Gesetzen der Umwandlung fragen; dariiber war
aber gar nichts bekannt; durch miihevolle Einzelarbeit von Mtanem wie
Galton, Weldon, de Vries, Bateson, Correns u. a. befinden wir
nns hier jetzt wenigstens in den allerersten Anflngen des Wissens.
Auf der andem Seite musste die ganz allgemeine, unbestimmte
Deszendenzvorstellung offenbar durch etwas Konkreteres ersetzt werden.
Aber wie das anfangen, wo man von Umwandlungsgesetzen gar nichts
kennt?
Man hat auf dem eben erwShnten Gebiete ja freilich unter dem
Titel einer Stammesgeschichte oder ^Phylogenie"" alles mdgliche versucht.
Aber was hier geleistet ist, steht an Sicherheit wahrlich nicht hoher
als die Leistungen der vielgeschmShten 31teren Naturphilosophie, unter-
scheidet sich aber von ihr nicht zum Vorteil durch die Tiefe des
Standpunktes.
Denn Schelling, Hegel und ihre Nachfolger wollten Logik in der
Natnr erkennen; der moderne Phylogenetiker will Geschichte aufdecken.
Wir bewerten zwar Geschichte nicht so hoch wie rationelle Wissen-
schaft, doch sind wir feme davon ihre Bedeutung zu verkennen.
Aber eine ^Geschichte** da, wo man vom vGeschehen"* gar
nichts weiss, muss das nicht ein, glimpflich ausgedriickt, seltsames
Ding werden?
Man stelle sich einmal vor, dass man die Menschheit als reines
Objekt betrachte und nun Menschheits-^Geschichte'' mitgeteilt beklme,
ohne von der Existenz von deren beiden Grundfaktoren, von Sprache
und Schrift, ja ohne uberhaupt von Psychologischem irgend etwas zu
wissen. Was wire das fiir eine ^Geschichte*', selbst wenn die Daten
derselben ganz sicher wiren? Oder man stelle sich die Lehren der
historischen Geologic vor ohne jede Kenntnis von Physik und Chemie.
Gunstigstenfalls hltte man hier einen Faktenkatalog, aber nichts mehr.
Und nun sind noch dazu die angeblichen Fakten der Phylogenie
gibizlich unsicher, hochstens in einigen ganz allgemeinen oder auch
in einigen allerspeziellsten Ztigen durch die Funde aus der Vorzeit
kontrollierbar.
Die Phylogenie ist also im tatsMchlichen hochst unsicher, kennt
femer keine ihrem Gebiet eigentumlichen Elementargesetze und wiirde
H>«8 8 8^
endlich gunstigstenfalls iiberbaupt nur Geschichte aber nicht rationelle
Wissenscbaft liefern kdnnen.
Angesicbts dieser Umstdnde darf denn wobl wahrlicb offen aus-
gesprocben werden, dass der ^Gedanke* der ^Deszendenz** recbt wenig
zur Gewinnung wissenscbaftlicber Erkenntnis beigetragen hat.
So baben wir also eingeseben, dass die beiden Grundpfeiler der
Gegnerscbaft gegen eine selbst^ndlge Biologie zusammengebrocben sind:
die mecbaniscbe Pbysiko-Cbemie auf der einen Seite ist durcb etwas
Besseres ersetzt; auf der andern Seite ist der Darwinismus uberwunden,
die Deszendenztbeorie als ein nur allgemein regulativer Gedanke er-
kannt; etwas ^Besseres'' baben wir bier nocb nicbt.
Man sollte denken, dass das alles wenigstens der bypotbetiscben
Auffassung der Biologie als einer Grundwissenscbaft gunstig gewesen
wire. Das war aber nicbt der Fall; selbst viele, welcbe vom Darwinis-
mus nicbts, Yon der Deszendenztbeorie wenig balten, und von der
Ricbtigkeit der Wissenscbaftsreform im Anorganiscben uberzeugt sind,
lebnen die wabre Selbstindigkeit der Biologie principiell und dogmatisch
ab: »es kann nur pbysikaliscb-cbemiscbes Gescbeben geben**, so beisst
es jetzt; »es kann nur mecbaniscbes Gescbeben geben**, so biess es
friiber. Fur die Biologie als solcbe kommt dieser Unterscbied in der
Ausserung des Dogmatismus naturgemMss gar nicbt so sebr in Frage.
Wenn icb nun daran gebe, die neueste Wendung in der Biologie-
gescbicbte, welcbe in der langsam erreicbten Erkimpfung des Aner-
kenntnisses biologiscber SelbstMndigkeit gipfelt, zu scbildern, so wird
der Leser es mir gestatten, die Darstellung etwas personlicber zu ge-
stalten. Soil docb Selbsterlebtes im folgenden gescbildert werden.
Auch darf icb bei dieser Gelegenbeit nicbt verscbweigen, dass die im
vorstebenden versucbte Reduktion des Wertes der Deszendenztbeorie
auf ibr recbtes, also auf ein recbt bescbcidenes Mass zurzeit nocb
leider nur meine und weniger anderer experimentell arbeitenden Forscber
Uberzeugung darstellt, wibrend in der Verwerfung der materialistiscben
Dogmatik und des Darwinismus (Lebre von der nattirlichen Zucbtwabl)
grossere Obereinstimmung berrscbt. Diese Ubereinstimmung wird
sicherlicb aucb dann tiber die Deszendenztbeorie berrscben, wenn
Besseres, also namentlicb Sicheres und Bestimmtes den Platz ibrer
zu unbestimmten bypotbetiscben Allgemeinbeiten — von ibren Pbanta-
sien ganz abgeseben — eingenommen baben wird.
Sicber und bestimmt die Unabbangigkeit der wissenschaftlicben
Biologie darzutun, dieser Aufgabe wollen wir uns nun zuwenden.
In den Jabren 1887 — 1893 traten G. Bunge,*) G. Wolff*) und
icb, nacbeinander, aber auf wesentlicb verscbiedenen Wegen, ftir die
Berechtigung der teleologiscben Betracbtung der organiscben Ge-
scbebnisse und Formen ein, damit einen Gedanken verfecbtend, den in
aller Klarbeit bereits Kant ausgesprocben batte, und der aucb in den
^) Lehrbuch d. pbysiol. u. patbol. Chemie. Leipzig 1887.
^ Beitrige zur Kritik d. darwin. Lebre Biol. Centr. 10. 1890. Auch separat
allennaterialistischsten Zeiten wenigstens von einigen Naturforschern
wie z. B. von Wigand und C. E. v. Baer, weitergegeben worden war.
«Die Biologie als selbstMndige Grundwissenschaft'' nannte ich die
kleine Schrift^, die dem Ausdruck meiner Gedanken gewidmet war.
Ich Hess in ihr die rein physikalisch-chemische Natur der Einzel-
geschehnisse des Lebens hypothetisch zu; nur die Gesamtheit alles
einzelnen und damit dessen Beziehungen, kurz das Geformte und
Geordnete an den Organismen sollte einer mechanistisch-kausalen
AufFassung unzugMnglich und nur teleologisch beurteilbar sein.
Man sieht, dass so sehr viel an der von mir verfochtenen «Selb-
stSndigkeit* der Biologie gar nicht daran war.
Meinen eigenen Gedanken weiter nachgehend, habe ich als
^Maschinentheorie des Lebens** die letzten Konsequenzen einer bloss
fonnal-teleologisch beurteilenden Auffassungsart des Lebendigen ge-
zogen^ und damit die vSelbstandigkeif* der Biologie eigentlich noch
weiter zuruckgedrSngt :
Ansdrucklich erklMrte ich alles Einzelgeschehen an Organismen
fiir physikalisch-chemisch, gleichgultig ob das im engeren Sinne physio-
logische Getriebe der Funktionen und Leistungen, ob Entwicklungs-
und andere FormbildungsvorgMnge, ja auch, ob die VorgSnge einer
hypothetischen Artumwandlung, einer Phylogenie in Betracht kommen
mochten.
Es sei, so sagte ich, allemal eine Struktur, eine Tektonik zu
ersinnen, sei sie auch hochstkomplizierter, alle denkbaren stofflichen
Verschiedenheiten und deren Konsequenzen einschliessender Art, auf
deren gegebener Basis alles Einzelgeschehen verlaufe nach keinen
anderen als den aus dem Anorganischen bekannten Elementargesetzen.
Mit Recht konnte ich jene stets ersinnbare gegebene Struktur als
Maschine und meine Ansicht als Maschinentheorie des Lebens be-
zeichnen: das pbysiologische Getriebe wurde sich nach dieser Auffassung
auf Basis der eigentlichen Organismus-Maschine, das Entwicklungs-
geschehen auf Basis der Ei-Maschine, die hypothetische Stammes-
geschichte bis zu ersten Lebewesen hinab auf Basis einer nattirlich
ganz hypothetischen aber prinzipiell nicht undenkbaren Evolutions-
maschine abspielen.
Die Maschine sei jedesmal gegeben, aber fur die beiden erst-
genannten Kategorien des Lebensgeschehens, fur das Pbysiologische
and fiir die Formbildung sei doch nur von einem relativen Gegeben-
sein die Rede, da jede der bier zu Grunde liegenden .Maschinen'' bei
ihrer Entstehung eine weiterzuruckliegende Maschine als Basis gehabt
habe. Absolut gegeben sei die Evolutionsmaschine, die Urstruktur.
1) Auch die Mehrzahl der Philosophen stellte sich zur Selbstftndigkeit der
Biologie in Gegnerscbaft. E. v. Hartmann bildet hier bekanntlich vor allem
eine Ausnahme.
«) Uipzig 1893.
*) Biolog. Centralbl. Bd. 16. 1896 p. 353. Vgl. auch meine ^Analytische
Theorie d. organ. Entw.* Leipzig 1894.
10
Ich habe spater diesen Auffassungskomplex als statische Teleo-
logie im Gegensatz zu einer eventuellen dynamtschen Teleologie be-
zeichnet.
Handelte es sich bier doch nicht nur um den allgemeinen Begriff
des Teleologiscben als eIner formalen, neben der kausalen einber-
laufenden Beurteilungsart; in diesem letzten Sinne hat, ventgstens nach
meiner nicht allgemein geteilten Auffassungt Kant in seiner ^Kritik der
Urteilskraff den Begriff des Teleologiscben gefasst, und in diesem all-
gemeinen Sinne redet auch der modeme Kritiker des Teleologiebegriffs,
P. N. Cossmann,^) von ZweckmMssigkeit.
Meine Aussagen varen realer: sie bebaupteten ausdrucklicb, dass
in etvas Gegebenem das Teleologische gelegen sei, in einer Ordnung,
einer Tektonik. Ftir das als anorganisch ausgegebene Einzelgescbehen,
fur Gescbehen tiberhaupt, kam das Teleologische gar nicht in Frage.
Es ist klar, dass das ^SelbstMndige** der Biologie bier bloss als
mdgliche Bescbreibung in Frage kam, nMmlicb als Bescbreibung der ge-
gebenen Strukturen, ja im Grunde nur der Urstruktur. Bine selbstSndige
Biologie als Geschebenswissenscbaft aber konnte es fur mich auf diesem
Standpunkt nicht, oder doch hochstens im Sinne vorliufiger, nicht aber
endgultiger Forschung geben.
Wenn ich mich nun dazu wende in grossen Zugen zu schildem, wie
ich dazu gezwungen wurde, meine „statiscbe Teleologie*, die „Mascbinen-
theorie des Lebens**, als fiir die geistige Bewiltigung der Lebens-
phinomene genugende Grundlage aufzugeben und die Elemente einer
dynamischen Teleologie, eines vVitalismus** zu schaffen und von
einer Autonomie der Lebensvorglnge zu reden, so geht das nicht
wohl an, ohne dass auf einige Ergebnisse der neuesten experimentell-
morphologischen Forschung und auf die Wandlung der neuesten ent-
wicklungsphysiologischen Ansicbten Bezug genommen wird. Ich habe
beide Abschnitte der jtingsten Biologiegeschichte vor kurzem zusammen-
fassend dargestellt, den ersten derselben^ in leicbt zugSnglicber Form;
auf diese AufsMtze muss der Leser, welcher mehr zu erfabren vunscht,
als bier geboten werden kann, verwiesen sein.
Die Ergebnisse der sogenannten ^entwicklungsmechaniscben''
Forschung, zu denen bekanntlicb die bahnbrechenden Arbeiten von
W. Roux den ersten Grund gelegt batten, schienen anfdnglicb, und
zwar gerade so veit meine eigene Beteiligung bier in Betracbt kam,
einer maschinentheoretischen Auffassung das Wort zu reden. Man
batte nach dem Vorbilde Roux' und Weismanns eine ausserordentlich
komplizierte Struktur im Keim der Organismen annehmen zu miissen
und die Entwicklung durch eine Zerlegung dieser Struktur ^erklMren*
zu konnen geglaubt: nun zeigte sich, dass die ersten Zellen des sich
^) Elemente der empiriscben Teleologie. Stuttgart 1899.
^ Politisch-Antbropol. Revue 1903. Hier sind die wichtigsten der Ver-
Sttctae, auf welche sich der unten mitzuteilende ^erate Beweia* der Lebena-
antonomie stutzt, gemeinverstftndlicb dargestellt. — Die Wandlung der ent-
wlcklungsptayaiologiachen Tbeorien ist geachildert im Biol. Centr. 22, 1902, p. 151.
furchenden Keimes, wenn sie isoliert werden, je fur sich einen ganzen,
nar proportional verkleinerten Organismus zu liefem imstande, dass sie
gleichwertig seien. Zerlegung einer sehr komplizierten Struktur erschien
da ansgeschlossen, ja eine komplizierte Struktur uberhaupt erschien nicht
vonndten; Wirknngen der einzelnen Keimesteile auf einander konnten
wohl das grosse Heer der hervorgebildeten Verschiedenheiten, der
.Differenzierungen*', am gleichfdrmigen Keim leisten, und in der Tat
sind, znmal von Herbst, eine grosse Zahl solcher differenzierenden
Wirkungen der Keimesteile auf einander wahrscheinlich oder gar sicher
gemacht worden.
Je tiefer man aber drang, um so unverstSndlicher erschien das
scheinbar Einfache; hatte ich anflnglich den Schluss Ziehen zu kdnnen
geglanbt: nicht einmal eine komplizierte Struktur ist als Grundlage der
Entwicklungsphinomene anzunehmen notig, es genugt sogar eine relativ
einfache Tektonik, so musste ich bald sagen: hier wird tiberhaupt der
Begriff ^Struktur'' hinfiliig, da die zugrunde liegenden Phdnomene in
gewisser Hinsicht so ,,kompliziert* sind, dass sie der Begriff
^Struktur* nicht einmal in seiner denkbar ^kompliziertesten*' Form
decken kann.
Eine ganz bestimmte Reihe von PhSnomenen mit
trotz dusserlicher Verschiedenheit immer wiederkehrenden allgemein-
reallogischen Charakterzugen war es zunEchst, die mir einen Abbruch
und einen Wandel meiner Grundvorstellungen vom Leben geradezu
aufzwang.
An jungen Larven von Seeigeln und Seesternen, an gewissen
niederen Pflanzentieren (Hydroidpolypen), an einer Ascidienform hatte
ich experimentelle Ergebnisse erzielt, die immer ein und dasselbe AIl-
gemeinste wieder ergaben:
Man konnte den jeweils in Frage kommenden einfachen oder zu-
sammengesetzten Organen oder Organismen einen beliebigen Sub-
stanzteil durch einen Operationsschnitt nehmen, sie also auf eine durchaus
beliebige absolute Gesamtgrosse bringen: sie vollzogen ihre form-
bildenden Leistungen stets als Totalitit, nicht als Bruchstuck, d. h.
sie lieferten stets ein Ganzes, das zwar verkleinert war, dessen einzelne
Teile aber in demselben Verhdltnis an Grosse und Lage zu einander
standen, in welchem sie bei durchaus ungestorter «normaler'' Entwicklung
gestanden haben wiirden. So konnte ich z. B. den abgefurchten Keim,
die sogenannte Blastula, der Seeigel und Seesteme, welche eine von
etwa 1000 Zellen umkleidete Hohlkugel darstellt, beliebig durchschneiden
and erbielt stets einen kleinen ganzen Organismus als Entwicklungs*
resultat (1895); entsprechendes gelang mit spMteren Stadien (mit der
.Gastrula*) dieser Tiere. Ein Stiick des Stammes der Polypenform
Tubularia wandelt sich stets in einen ganzen, proportional gestalteten
Organismus um, gleichgultig woher es stamme und wie gross es sei (1897).
Ganz beliebig herausgeschnittene St&cke desWurmes Planaria (Experimente
von Morgan 1898) oder der Kieme der Ascidie Clavellina (Versuche von
Driesch 1902) liefem ein verkleinertes ganzes Tier usw.
12 8^
Was bedeutete das?
Wenn man ein beliebiges Substanzelement, also etwa eine Zelle,
Oder allgemeiner einen Querschnitt der zu den Experimenten verwendeten
Objekte ins Auge fasst, so hatte der Versuch jedenfalls dieses ergeben:
der fixierte Querschnitt, das fixierte Element leistete jeweils in
der Gesamtheit der Formleistungen etwas anderes, je
nachdem der ganz beliebige Operationsschnitt es niher oder entfernter
dem einen Ende des Ganzen gebracht, und auch je nachdem dieser
Schnitt dieses Ganze auf die Grdsse A oder etwa auf die GrSsse B
Oder C gebracht hatte.
Jeder Querschnitt, jedes Element konnte also jedes Einzelne
an dem zu erzielenden Ganzen leisten; was im jeweiligen Falle geleistet
ward, hing von der durchaus zufSIIigen relativen Lage des Teiles
in dem seiner Gr5sse nach durchaus zufilligen Ganzen ab,
wobei aber alles einzelne Geleistete derart zu einander in Harmonie
stand, dass eine proportionate Ganzleistung als Endresultat herauskam.
Wegen dieser ihrer entwicklungsphysiologischen Grundkennzeichen
habe ich Organismen oder Organismenteile der betrachteten Art als
^harmonisch-Equipotentielle Systeme** bezeichnet.
Und nun stelle man sich einmal eine „Maschine*, eine ^Struktur*
als Grundlage der Entwicklungsphinomene an dem so benannten Systeme
vor: sie ware vielleicht prinzipiell ersinnbar, wenn es nur normale un-
gestdrte Ganzentwicklung gSbe und wenn jede Entnahme von Material
die Entwicklung nur eines Bruchstticks vom Ganzen zur Folge hatte.
Was aber kann von einer ^Struktur* als Grundlage des geordneten
Geschehens vorhanden sein, wenn jeder Ort Ausgang jeder Einzel-
bildung werden kann? Da miisste auch an jedem Ort jeder Elementar-
bestandteil der Maschine, welche die Grundlage des Geschehens bilden
soil, vorhanden sein. Das ist aber offenbar unsinnig, das hebt den Be-
griff der vMaschine"* auf. Also kann nicht eine Struktur
irgendwie ersinnbarer Art die Basis der Dif ferenzierung
harmonisch-Hquipotentieller Systeme sein.
In kurzen Umrissen ist das die Schlusskette, welche ich als
ersten Beweis der Autonomie von Lebens vorgangen
bezeichnet habe.^)
Mit der Maschinentheo rie ist gebrochen, sie geniigt
nicht zur geistigen BewMltigung zunHchst wenigstens einer gewissen
Gruppe von Lebensphinomenen. Wir brauchen etwas neues Elementares;
es wird sich zeigen, was. Das neue Schaffende zeigt sich im Ge-
schehen selbst. Aus der statischen ist dynamische Teleologie
geworden. —
Dauernde BeschSftigung mit den Problemen der Formbildung liess
mich bald einen zweiten Beweis der Autonomie von Lebens-
^) Zuerst mitgeteilt in meiner Schrift: Die Lokalisation morphogenetisctaer
VorgSnge, ein Beweis vitalistischen Geschehens. Arch. Entw. Mecb. 8. 1899. Auch
separat. Weiter ausgefuhrt in meinen ,Organischen Regulationen* Leipzig 1901.
Daselbst flndet sich auch der ^zweite Beweis** und weiteres.
13
vorgingen finden: wenn der Ausgangspunkt von Entwicklung, also etwa
das Ei, eine komplizierte Maschine als Geschehensgrundlage bergen
wurde, vie wMre es dann mdglich, dass, vie es doch bei den meisten
Tieren der Fall ist, sehr viele Bier aus einem Urei, um dieses wohl
verstindliche Wort anzuwenden, hervorgehen durch wiederholte Teilung?
Eine Maschine, die nach den drei Richtungen des Raumes verschieden
organisiert sein mtisste, kann sich doch nicht fortgesetzt teilen und immer
ganz bleiben. Doch mag diese kurze Andeutung des zweiten Autonomie-
beveisesy dem das Studium der ^Genese von iquipotentiellen Systemen
mit komplexen Potenzen** zugrunde liegt, hier genugen. ^Komplex-
Squipotentielle Systeme*' zeigten sich auch, wenn ich (1802) aus den vier
ersten Furchungszellen des Seeigeleies, die ich isoliert hatte, jeweils
ganze Organismen aufzog: hier kann jedes Element der hoheren Einheit
dieselbe Leistung vollziehen, die vier Elemente stammen aber von einem
her. — Gewissermassen ein Gegenstuck zu diesem und ihnlichem war
es, wenn zwei junge Keime zur Verschmelzung gebracht werden konnten
und dann ein en normalen grossen Organismus lieferten (1900).
Auf eines darf ich nun wohl an dieser Stelle, die fortlaufende
Darstellung kurz unterbrechend, den Leser ganz besonders hinweisen:
mein Vorgehen ist ein streng erfahrungsgemisses, empirisches, ich
s.chaffe keine „Theorie* fur alles. Fiir gewisse Klassen
von Lebensphanomenen behaupte ich und werde ich noch behaupten
eine Selbstgesetzlichkeit, ein Ungentigen maschineller Auffassung be-
wiesen zu haben. Hypothetisch sind meine Darlegungen nicht, und
noch weniger sind sie «fiktiv*. Durch gedankliche Analyse
empirisch gewonnener Tatsachen sind sie erarbeitet. —
Der dritte und der vierte Beweis der Autonomic von
Lebensgeschehnissen beziehen sich auf die Handlungen des Menschen
und auf diejenigen kombinierten Bewegungsreaktionen der Tiere, welche
ihnen im Grade Hhneln. PopulSr gesprochen handelt es sich also
wenigstens teilweise um Ausserungen des «Seelenlebens'', es ward aber
ausdrucklich betont, dass fur den Naturforscher nur Bewegungen
hier Objekt der Untersuchung sein kdnnen, und dass eben die Frage
diese ist, ob sich die Gesetzlichkeit alter tierischen Bewegungen
maschinell begreifen lasse oder nicht.
Der Leser sieht hier, ein wie ausserordentlich weiter
U mf ang nach unserer Auffassung der Biologic zukommt: der handelnde,
ja der sprechende und schreibende Mensch ist uns ebenso ihr natur-
wissenschaftliches Objekt wie das sich entwickelnde Ei oder das
resorbierende Darmepithel. Was Leben ist, ist der Biologie
Gegenstand; gerade auf „zoologischer'' Seite ist leider die Fiihlung mit
dem Ganzen des Lebendigen oft, engbegrenzter Systematik und Anatomic
zu liebe, verloren worden.
Inhaltlich besagt mein dritter Autonomiebeweis, dass viele Be-
wegungsreaktionen hoherer Organismen deshalb maschinell unverstind-
lich seien, well sich in ihnen eine jeweilige ganz bestimmte Zuordnung
von Reiz und Effekt zeigt, wihrend gleichzeitig sowohl Reiz wie Effekt,
14 g.^
obwohl aus Einzelheiten zusammengesetzt, je ein Ganzes, ein Individuali-
siertes bilden und die einzelnen Bestandteile des Reizes nicht jeveils
fur sich als Ursache der Einzelheiten des Effektes gelten konnen. Es
kommt hier z. B. alles das in Betracht, was die Logiker Abstraktion und
Begriifsbildung nennen; die Analyse der Sprache ist besonders lehrreich.
Es besteht also zwischen Reiz und Effekt oftmals eine mascbinell
prinzipiell unfassbare ^Indi vidualitit der Zuordnung"*.
Dass viele Bewegungsreaktionen hdherer Tiere auf .historiscta
gewordener Reaktionsbasis* geschehen, gibt den vierten Be-
weis der Lebensautonomie ab. Populdr und erkenntniskritisch ungenau
spricht man hier von »Gedichtnis* und ^Erfahrung*. Das reagierende
System wird das, was es ist, in seiner Spezifitdt durch die Spezifitit
aller Reize, die es bis zum Zeitpunkte der Reaktion getroffen haben;
aber nicht etwa in dem Sinne, dass es diese Reize, wie etwa der
Phonograph, individuell reproduzieren kann, sondem derart, dass es
einer freien kombinatorischen Verwendung der Elemente jener Reize
ffthig ist.
Da, wie mir scheint, die ndhere Ausfuhrung der beiden letzten
Autonomiebeweise, in meiner Schrift „Die ,Seele^ als elementarer Natur-
faktor**^) in einer Form geboten ist, welche die Aufnahmeflhigkeit eines
gebildeten Allgemeinpublikums nicht iibersteigt, glaube ich von einer
weiteren Verfolgung des Gegenstandes hier absehen zu kdnnen.
Es ist klar, dass durch den dritten und vierten meiner Beweise der
sogenannte „psycho-physische Parallelismus", welcher in seinem phy-
sischen Teil die maschinelle, chemo-physikalische Verstdndlichkeit der
Handlung vertritt, hinfftllig wird. Ich beriihre mich hier mit manchen
neueren Philosophen und Psychologen; E. v. Hartmann, Busse,
Sigwart, Stumpf seien besonders genannt.
An Stelle des Parallelismus tritt die Lehre vom wPsychoid** als
elementarem Naturfaktor. „Seele* oder ^Psyche'' darf nicht gesagt
werden,^ da nur von Naturobjekten gehandelt wird; auch geht die
Frage nach ^Bewusstsein"* meine ganze Beweisfuhrung nichts an; dieselbe
ruht durchaus auf der Basis des kritischen subjektiven Idealismus. —
An vier Stellen der Gesamtheit des Lebensgeschehens glaube ich
also die Notwendigkeit der Zulassung einer Autonomic desselben be-
wiesen zu. haben; manche andere Geschehensreihen, die als ^Indizien^
eben dieser Selbstgesetzlichkeit mdchten gelten kSnnen, sollen hier un-
erwShnt bleiben.
Was lisst ^ich nun Positives uber unsere Autonomic, welche die
Biologic zu einer wirklich selbstMndigen Geschehens-
wissenschaft macht, aussagen?
Zunicht lisst sich ein wichtiger Begriff aus der Analyse alles Mit-
geteilten gewinnen: der „Faktor'', das .Agens'', welches, sowohl bei
>) Leipzig 1903.
Darum steht im Titel meiner Schrift das Wort ^Seele** in Anfuhrungs*
zeicheni
H>.8 15 8-4-
entwicklungsphysiologischen Differenzierungen wie bei Bewegungsreak-
tionen, das Spezifische der Effekte bestimmt, bei ersteren namentlich fur
die Ortlichkeit des einzelnen Geschehens massgebend ist, ist alsNatur-
faktor einsy ein Einheitliches; kennzeichnen, beschreiben ISsst es sich
aber nar durch einen ganzen Satz, durch eine Begriffsreihe. Ich babe
daher unsere Agens als intensive Mannigfaltigkeit bezeichnet; das
Verschiedene finden wir bier nicht nebeneinander, sondem gleichsam
.in* einander; vorstellbar ist bier nichts. Ich glaube, nicht mit
Unrecht den alten aristotelischen Begriff der .Entelechie** bier wieder,
kritisch geklirt, eingefuhrt und geradezu terminologisch verwendet
zu haben.
Des weiteren ermittelt nun die Analyse, dass die ^Entelechie* eine
Naturkonstante ist, die sich nur dem Grade der Komplikation nach
von physikalischen y chemischen und kristallographischen Konstanten
unterscheidet.
Das Kausalgetriebe wird nirgends durchbrochen; die EnergiesMtze
bleiben gewahrte; das .Teleologische* liegt in Strenge in den Be-
dingungen des Systems. Die Conditio finalis tritt an Stelle der un-
znlissigen .Causa finalis"*.
Doch ist das eigentliche Begriffsanalytische, das von mir bisher im
Anschluss an den Entelechiebegriff entwickelt worden ist, bisher noch
grdsstenteils vorlSufig gewesen. Ein umfassenderer Versuch in dieser
Richtung, also namentlich eine Auseinandersetzung der autonomen
Biologie mit den von der kritischen Wissenschaft des Anorganischen
gewonnenen Begriffen ist in Vorbereitung; vielleicht ist es mir spiter
eiomal vergonnt, an dieser Stelle tiber das Ergebnis dieses Versuchs
kurz zu berichten. —
Welche grossen Problemgruppen sind es nun, welche der Biologie,
die sich in ihrer SelbstMndigkeit der Physik und der Chemie als gleich-
berechtigte Schwester an die Seite stellt, zur begrifflichen BewUltigung
vorliegen? Auf diese Frage sei am Beschluss unserer Betrachtungen
noch venigstens fluchtig ein Blick geworfen.
Dass alle Beschrei bung von Lebensgeschehnissen, wie sie unter
den Namen .Systematik"*, .Anatomie**, .vergleichende Anatomie**,
.Histologie'', .Embryologie** usv. bisher in ausserordentlich reichem
Masse geubt wurde, nie uberfltissig werden kann, ist selbstverstdndlich:
man muss das unmittelbar gegebene Objekt der wissenschaftlichen
Forschung zunSchst einmal kennen. NaturgemSss ist diese ganze Tdtigkeit
nicht mehr als eine Art Vorwissenschaft und von wirklicher .Systematik^
tieferen Sinnes ist bier, wie wir gleich sehen werden, noch nicht viel
die Rede. Was neben dem blossen gegenstlndlichen Bekanntmachen
hier produziert wird, ist eine Art Obersichtskatalog alles Vorhandenen,
der provisorisch den Namen .System" trigt.
Nicht unwichtig erscheint die Bemerkung, dass auch der grdsste
Teil der heutigen Physiologie nur Leistungen produziert, die in die
Klasse der gegenstindlichen Beschreibungen gehdren. Zwar werden
hier Vorginge beschrieben, aber es wird bei den ohne weiteres in den
^ 16
Objekten gegebenen Kollektivbegriffen, wie .Herz**, , Lunge'', »Kelm'
blatt'', sZellkern'' verharrt; nicht werden durch Trennung des ur-
sprunglich gegebenen und nachtrlgliche logische Zusammenfugung des
durch Trennung gewonnenen eigentlicb wissenschaftliche Begriffe ge-
schaffen.
Der beschreibenden Vorwissenschaft triti nun die eigentliche W i s s e n -
schaft der Biologte gegenuber:
Ihre erste Aufgabe bezieht sich auf den BegrifiF des lebendigen
Geschehens uberhaupt, auf vitale Verinderungen und deren
Gesetz.
Als erster Teil dieser Aufgabe erscheint ein Forschungszweig,
den man vEHminationsforschung* nennen konnte: es wird alles das von
VorgMngen an Organismen ^eliminiert'', was nicht eigentlich vitales Ge-
schehen, sondern physiko-chemisches Geschehen ist. Haben doch die
Organismen auch, und zwar in gevissen Teilen besonders hervorstechend,
chemische und physikalische Eigenschaften. Berthold, Butschli,
Dreyer und R hum bier verdanken wir eine Reihe zum Teil sehr
scharfsinniger Untersuchungen der geschilderten Art.
Der zweite Teil meiner ersten Aufgabe miisste eigentlich die
LSsung des ersten voraussetzen, doch liegt es in der Natur der Objekte
begr&ndet, dass seine Bearbeitung praktisch neben derjenigen jenes
einherging: es wird das vitale Geschehen selbst studiert, auf jedem
der biologischen Sondergebiete, als welche sich die Lehren von der
Formbildung, dem Stoffwechsel, der Bewegung, der Formumwandlung
ohne weiteres ergeben. Das Experiment wird hier zum wichtigen Hilfs-
mittel. Aber das Experiment all ein liefert auch nur Vorbereitendes,
und das eigentliche Ideal dieser Forschung ist ein durch denkende
Analyse gewonnenes Begrififssystem, wie es in verwandtem Sinne voUendet
etwa in der mechanischen WSrmetheorie vorliegt und wie es in seinen
ersten Anflngen im Vorstehenden zu skizzieren versucht ward. Es
liegt in der Natur des Gegenstandes, dass Mathematik im Gebiete der
theoretischen Biologie nie eine sehr weitgehende Anwendung finden
kann; Logik kann eine solche Anwendung finden. Kants Definition,
dass in jeder besonderen Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft
angetroifen werden kdnne, als darin Mathematik angetrofifen ist, scheint
mir gar zu eng begrenzt zu sein.
Die zweite grosse Aufgabe wissenschaftlicher Biologie handelt nicht
vom Geschehen, sondern handelt von den typischen Verschieden-
heiten im Rahmen des Geschehens. Hier ist eine ideale Systematik
das Endziel; aber die Systematik musste etwas ganz anderes sein, als
das ist, was sich heute so nennt. Ist es doch dieser idealen Systematik
letzte Aufgabe, einen zureichenden Grund dafur anzugeben, warum es
gerade so viele und gerade solche spezifische organische Formen gibt,
wie sie nun einmal da sind. In der Kristallographie ist dieses Ideal
erreicht, in der Chemie ist man im ^periodischen System der Elemente*
wohl wenigstens auf dem Wege zur Erreichung; im Biologischen ver-
danken wit de Vries und einigen anderen Forschem erst allererste
Anfinge. Das Historische wird sich wahrer biologischer Systematik
vielle cht einst als nebensSchlicher Anhang angliedern. Im ganzen hat
der moderne Betrieb historischer Biologie vom Ideal wahrhaft
systematischer Forschung geradezu abgelenkt, und man kann sagen,
dass Cuvier und seine unmittelbaren Nachfolger diesem Ideal naber
waren als unsere .vergleichenden" Morphologen. —
Wir haben in diesem Aufsatz so oft davon geredet, dass ein
Wissensgebiet nur .Vorbereitung* ftir etwas anderes sei: am Beschlusse
des Ganzen diirfen wir es nun wohl auch noch aussprechen, dass uns
Naturwissenschaft uberhaupt als nicht mehr denn als Vorbereitung gelten
kann; als Vorbereitung ftir wahre Naturphilosophie.
Wir verstehen aber unter Naturphilosophie nicht eine blosse
Analyse naturwissenschaftlich gewonnener Begriffe, wie sie etwa die
theoretische Physik leistet, sondem wir verstehen unter Naturphilosophie
ein System, ein vahres System, der Naturbegriffe. Man weiss
aber, was wir ein wahres System nennen.
Die aiteren vielgeschmShten Naturphilosophen wo 11 ten ein solches
System schaffen und damit die hochste Aufgabe, die es iiber Natur
iiberhaupt gibt, leisten. Die Leistung ist missgluckt; die Aufgabe bleibt,
und sie gesehen zu haben bleibt ein unvergSngliches Verdienst zumal
Hegels.
Es wird nicht iibersehen werden, dass vieles, was sich gerade in
unseren Tagen ^Naturphilosophie*' nennt, darauf nach unserer Auf-
fassung nicht im geringsten irgend welchen Anspruch hat.
An der zukunftigen Ausgestaltung wahrer Naturphilosophie wird
die junge selbstSndige Biologie regen vorbereitenden Anteil nebmen:
gerade ihre SelbstMndigkeit berechtigt sie dazu.
Aus der Pathologie.
Neue Antworten auf alte Fragen.
Von Eugen Albrecht in Muncben.
I.
„0b wir nicht doch wieder einmal am Turm von Babel bauen mit
unsem hundert Wissenschaften und Spezialfachem? mit unsern tausend
Hypothesen und Theorien fiber alles mdgliche? mit unserm ganz un-
ubersehbaren Vorrat von gefundenen Tatsachen, denen wir rastlos
Sfiddeatache Monttsbefte. 1, 1. 2
schaffend allerorts neue anfiigen? Wenn die ,£rkenntnis der Welt' in
der gegenwMrtigen Weise fortschreitet, wird da die Summe nicht am
Ende genau so einen ungeheuren Haufen von unvereinbaren Begriffen
darstellen, als wir vordem einem unentwirrbaren Getriebe der Ereignisse
gegentiberstanden? Wenn ich heute schon einen Meister der hohem
Mathematik und einen Lehrer der organischen Chemie einander ihre
Funde mitteilen lasse: wird einer von dem andern viel mehr verstehen
als ein Sizilianer von einem Russen?**
So klagte mir ein Freund vor, als wir von einem unserer Dispute
ausruhten. In der Tat, man muss ihm wohl ein wenig recht geben. Als
ich neulich unter den ftir die Naturforscherversammlung in Kassel an-
gemeldeten VortrMgen jene der mathematischen Sektion durchflog, fand
ich eine ganze Reihe^ von deren Titeln schon bloss die Partikeln und
Artikel mir ganz verstMndlich waren. Das ist denn doch ein wenig nieder-
driickend, zumal wenn man an die vielen andern Gebiete denkt, in denen
einem das Gleiche passieren wurde; und es kann kaum trosten, wenn ich
im Handumdrehen aus dem Bestande unseres medizinischen Vokabulars
einen Satz zu formen vermag, in dessen Worten kein Mathematiker,.
nicht einmal ein Philologe den Sinn zu ahnen vermochte.
Und dabei wollen wir doch alle neben den besonderen Absichten,,
die jeder Arbeitszweig verfolgt: neben der Richtung auf die praktischen
Ergebnisse, auf die Beherrschung der Natur, auf die Forderung des
Allgemeinwohles — etwas Gemeinsames, etwas Einheitliches, dem wir
alle zuzustreben meinen, dem wir unsere kleine oder grosse Arbeit
weihen: Erkenntnis, Verstindnis des ungeheuren Unbekannten, das in
uns, um uns flutet und wirbelt, entsteht und vergeht; Erkenntnis von
Welt und lch» von Natur und Seele oder wie wir es sonst mit Namen;
nennen mogen!
Dieses Gemeinsame, dieses Streben nach Zusammenhang und
Zusammendenken ist denn auch in den letzten Jahren mehr und mehr
wieder gegenuber und neben der unheimlich fordernden Einzelarbeit in;
den Vordergrund getreten. Zum Tell vorlMufig in Philosophemen und
weltumspannenden Theorien oft bedenklicher Art, mit Erinnerungen
an die klangvollen Worte und dunklen Wege der alten Naturphilosophie
und Teleologie; zum nicht geringen Teil aber auch als wirklich fordemde
Aussprache, Mitteilung des allgemein WertvoUen, das der Einzelne fand
mit den besondem Methoden und Fragen und Denkgewohnheiten seines
Gebietes und nutzlich erachtete zur Losung weiterreichender Fragen^
Der Physiker gab dem Chemiker wie dem Erkenntnistheoretiker, dem
Biologen, der Psychologe dem Physiologen, jedem Naturforscher; und
so ging es zwischen vielen Disziplinen an ein gegenseitiges Schenken
und Nehmen: gemeinsame Aufgaben, gemeinsame Methoden, auch ge^
meinsame Grenzen wurden erkannt. Und neben und tiber den getrennten
Arbeitszielen der Wissenschaften leuchtet wieder das alte gemeinsame
Endziel: Wissen! Verstehen!
Dies soli kein Dithyrambus werden und nicht einmal eine Vorrede
dazu. Unser letztes Wissensziel ist bescheiden, ganz entsetzlich be^
19 8^-
scheiden geworden gegeniiber jenem, von dem die Jugend der Mensch-
heit traumte. Wir konnen heute in einer, der wichtigsten Richtung so
ziemlich voraussagen, was unser Endergebnis sein wird. Wir, irgend
cine feme Zukunft der Menschheit wird eines Tages alles ^wissen**,
was von der Aussenwelt erkannt werden kann: dann werden wir —
alles in die Sprache unserer Sinne Ubersetzbare ubersetzt haben.
Was uns auf irgend eine Weise, direkt oder auf Umwegen sichtbar,
hdrbar, schmeckbar u. s. w. gemacht werden kann, das wird eines Tages
auch durch systematisches Suchen oder durch zufMlliges Finden, sichtbar,
horbar u. s. w. gemacht sein: Elektrizitat, Rontgenstrahlen, verborgene
Elemente; und wir werden vielleicht all dies ,|Ausser uns* sogar, unter
Abzug freilich aller besondern Qualitaten, in ein AUgemeinschema der
^Bewegung** passen oder in ein paar mathematischen Gleichungen ein-
heitlich ausdriicken konnen. Damit wird unsere Erkenntnis der Welt
voUendet — aber auch, sofern sie Erkenntnis der „wirklichen*, von
unserer Sinneswahrnehmung unabhangigen Welt werden wollte, ad
absurdum gefiihrt sein: denn von alle dem, was unsere ^Oberflachen''
in keiner Weise zu- verSndern vermag, werden wir durch kein Suchen,
kein Denken und Dichten jemals Kunde erhalten; von dem tibrigen
nur die Verdnderung selbst wahmehmen, niemals deren Ursache
jenseits der Wahmehmung. Dass jenes „Wirk]iche hinter der £r-
scheinung'' seit den Indern und Griechen allezeit und vor allem gesucht
wurde, wird bis dahin hofiFentlich — vergessen sein.
Nicht besser steht es aber auch mit der Erkenntnis des Innern,
unseres eigenen Ich. Auch hier werden wir mehr und mehr Er-
scheinungen und ihre Beziehungen erforschen, verborgene Tiefen aus-
spiiren lernen und dennoch, so sehr wir von dem Gegenteil iiberzeugt
sein mogen, an der Erscheinung auch in unserm Eigensten haften
bteiben, unkundig des Ubrigen. Es denkt, fiihlt, lebt in uns: diese hose
Weisheit des alten Lichtenberg wird auch alle HofPnungen jener uber-
dauem, die durch Versenkung in die Abgrunde der eignen Seele den
Schltissel zum VerstMndnis der Welt zu gewinnen suchen.
Aber innerhalb dieser doppelten, dauemden, unentrinnbaren Be-
grenzung aller Erkenntnis gilt es, mit resigniertem, doch darum nicht
weniger frischem Mute sich zu verstandigen, zu vereinigen, gegenseitig zu
fdrdem. Und in einem weiteren Sinn gilt dies nicht bloss fiir die Arbeiter
in den verschiedenen getrennten Bereichen der Wissenschaftsgebiete,
sondem fiir alle jene, denen je die grossen und kleinen Ratselfragen des
Daseins auf der Seele gebrannt haben. In jeder Wissenschaft liegt ein
Kern von letzten Fragen, tiefinnerstem Bedurfnis, gemeinsamer Hoffnung
der Menschheit; was jede Einzel wissenschaft zu diesen Forderungen im
kleinen und im grossen Bndet, darauf haben alle ein begriindetes Anrecht.
In diesem letztem Umstande liegt, wie ich meine, ein Hauptgrund
fur die Berechtigung allgemein verstandlicher, im guten Sinne populMrer
Darstellungen von Ergebnissen der Sonderwissenschaften ; und nicht bloss
ihrer fcrtigen Ergebnisse, sondern zu Zeiten auch der erreichten, er-
arbeiteten Probleme und Methoden. Das Einzelne wird ja zu einem
2*
20
nicht geringen Teil ohne besondere Einarbeitung in die Vorstellungen,
die Arbeits- und Sprechweise des betreffenden Faches dem Draussen-
stehenden schver oder nicht verstlndlich, zum grossen Teile auch als
Handwerkswissen ihm ohne Interesse sein : aber es stiinde schlimm um
jene Wissenschaft, die nichts daruber Hinausgehendes und allgemein
Wertvplles zu geben hMtte.
Solche Art der Mitteilung scheint mir aber auch in einem nicht
geringen Grade fur die Einzelwissenschaften selbst vom Vorteil zu sein.
Es gibt wohl keinen grundlegenden Satz in irgend einem Wissensgebiete,
der sich nicht nach Einfuhrung einiger veniger Voraussetzungen mit
einfachen Worten alien verstindlich ausdrucken Hesse. Je mehr dunkle
Worte und mdandrisch verwickelte SStze irgend ein System und irgend
eine Definition bedarf, desto unwahrscheinlicher ist, dass sie wirklich
klar und einwandsfrei das zu bezeichnende ausdrucken. So wird die
Mitteilung von Ergebnissen in moglichst einfacher Sprache zu einer
Prufung des eigenen Bestandes von wirklich verarbeiteter und durch-
schauter Erfahrung; und damit zu einer Gewissenserforschung, die
man nicht oft genug wiederholen kann. Ich denke, meine Fachgenossen
werden mit mir die Meinung teilen, dass in der Pathologic ebenso wie
in anderen Zweigen der Biologic vieles, Altes und Neues in Fragen
und Antworten vorliegt, was reif ist, um in solchen ^einfachen Satzen*
ausgesprochen zu werden; und dass auch sie demgemiss den folgenden
Versuch mit Sympathie und folglich mit der ndtigen Nachsicht beurteilen
werden. Die Absicht ist, aus jenen Gebieten der allgemeinen und
speziellen Krankheitslehre, die ftir das Verstandnis physiologischer Vor-
glnge und von allgemein biologischen Gesichtspunkten aus besonderes
Interesse haben, das wichtigste in ubersichtlicher Weise und ohne
andere als die notigsten Voraussetzungen darzustellen. Jedes Kapitel
wird neben seiner besonderen Aufgabe einer zweiten und dritten
gerecht zu werden versuchen: die besprochenen Erscheinungen und
Gesetzmissigkeiten in ihrem Verhaltnis zu den Vorgangen im gesunden
Korper und ihrer Bedeutung fiir denselben zu beleuchten; ausserdem aber
auch sie im Rahmen unserer allgemeinen Vorstellungen vom Leben zu
betrachten und einzureihen und dasjenige hervorzuheben, was sie fiir
unsere Auffassung vom Leben beizutragen vermogen. So werden, wie
ich hoffe, auch diese Aufsltze in bescheidenem Umfange einen Beweis
dafiir liefem, dass Virchow die Pathologic mit Recht eine biologische
Wissenschaft genannt hat. Sie schafft aus dem Leben fur das Leben —
in der Theorie so gut wie in der praktischen Betdtigung.
IL
Es mag als ein verwegenes Unterfangen erscheinen, diese Aufsfltze
mit einer Auseinandersetzung iiber Geschwiilste zu eroffnen. Ihre
erschdpfende Besprechung wurde die Kenntnis der ganzen tibrigen
Pathologic voraussetzen. Aber welches |Gebiet im Biologischen setzt
21 8^
schliesslich nicht die Kenntnis aller oder fast alter ubrigen voraus?
Und welches hinwiedenim erlaubte nicht, mit den ganz konkreten Vor-
stellnngen seines besondern Kreises gleichfalls zu einer gewissen ab-
gerundeten Erkenntnis zu gelangen? So denke ich» dass wir im folgenden
eine Anzahl von heranzuziehenden normalen und krankhaften Vorgingen
nur andeutungsveise oder in anschaulichen Beispielen — »wie wenn
wir sie verstunden* — erwihnen durfen, deren emeute und eingehende
Besprechung spiterer gesonderter Betrachtung in anderem Zusammen-
hange vorbehalten sein mag. Und wenn die Absicht gelingt, so hoffe
ich, dass der Leser am Ende der geplanten Serie von Aufsatzen un-
geachtet der vielen Liicken in jedem einzelnen doch geniigende Kenntnis
der wesentlichen Punkte und geniigendes Interesse fur die behandelten
GegenstMnde gewonnen haben wird, um das Ganze gewissermassen mit
anderen Augen noch einmal zu uberblicken und zu einem lebendigen
Bilde abzurunden.
Leider kann ich nicht ganz ^voraussetzungslos" beginnen. Wir
mussen uns uber ein paar Definitionen und Vorstellungen einigen,
die wir dauemd als unentbehrliches Handwerkszeug zu verwerten
haben werden. Keine allgemeinen Begriffe, beileibe nicht: die sollen
uns erst zum Schlusse vielleicht erwachsen. Als ich zum erstenmal
vor Jahren den Plan hegte, uber allgemeine Pathologie zu schreiben,
schien es mir selbstverstindlich, zuerst die ^Krankheit** einwandsfrei
zu definieren. Natiirlich blieb ich im ersten Kapitel und unfern
der ersten Seite stecken. Beginnen wir also mit etwas Konkretem:
mit der Zelle.
Das folgende wird zu neun Zehnteln von Zellen und ihren Schick-
salen handeln. Was sind Zellen? In ihrer einfachsten Form winzige
Klumpchen einer zSh- flussigen Masse, die aus einer seltsamen Mischung
von eiweissartigen, fettartigen, kohlehydrat- (d. h. zucker- oder stMrke-)
artigen Substanzen und verschiedenen Salzen in dem gemeinsamen
Losungsmittel Wasser zusammengesetzt ist. Diese Masse heisst Proto-
plasma, lebende Substanz, und besitzt alle wesentlichen Eigenschaften
belebter Materie: sie vermag unter entsprechenden Bedingungen sich zu
bewegen, Nahrung aufzunehmen und zu verdauen, sich zu vergrdssem
und durch Teilung neue gleichartige Klumpchen hervorzubringen. Im
Innem jeder voU ausgebildeten Zelle befindet sich ein meist rundlicher
oder ovaler Tropfen einer von dem Obrigen zum Teil verschiedenartig
zusammengesetzten Substanz, der sogenannte Ze 11 kern. Dieser fillt
besonders wihrend der Teilung der Zelle durch eigenartige Umwand-
lungen auf und wird zumeist mit ziemlicher Genauigkeit bei derselben
halbiert und den Tochterzellen mitgegeben. Ein drittes anscheinend
regelmdssig in den Zellen vorhandenes Gebilde, das ^^Zentralkorperchen'',
sol! vorldufig nur erwMhnt werden. Fiir die IMngerdauemde Ausftihrung
der wichtigen Lebensprozesse der Zelle ist das Vorhandensein sowohl
des Kerns als der umgebenden Protoplasmamasse, des Zellleibs un-
bedingtes Erfordernis. Eine Entstehung von Zellen erfolgt nach unsem
gegenwiirtigen Kenntnissen jeweils nur wieder aus Zellen, ebenso wie
22 ^
fur den Kern nur ein Hervorgehen aus einem bereits bestehenden Kern
nachgewiesen worden ist.
Alle Lebenserscheinungen, auch jene der grossten, hochst zusammen-
gesetzten Lebewesen gehen in letzter Instanz auf Lebenserscheinungen
von Zellen und Gruppen von Zellen zuriick. Bei den hoheren Organismen
haben dieselben durch Arbeitsteilung eine ausserordentlich feine und
vielartige Differenzierung ihrer Tfitigkeiten und ihres Baues erhalten, sie
sind grosstenteils in Wande eingeschlossen, in bestimmter fester Ordnung
gelagert, haben vieifach Fasem und Hirchen ausgebildet, sich unter-
einander verkittet, verfilzt, durch Einlagerung fester Substanzen zwischen
sich Knorpel, Knochen geschaffen usw. Unser Nervensystem besteht
ebenso aus Zellen und faserigen Bildungen derselben wie unsere Muskeln
und Sehnen und Knochen; unsere Haut mit NMgeln, Haaren und Drtisen
ebenso aus lauter Zellen und Zellgebilden wie Auge und Ohr, Leber und
Niere. Die einzelnen Arten von Zellen treten fast iiberall in mehr oder
weniger engen VerbEnden, den ^Geweben"" auf; in den eben genannten
und fast alien anderen ^Organen*" sind regelmassig mehrere Zell- bezw.
Gewebsarten ineinander verwebt, deren eine z. B. das Gerust liefert,
wahrend andere die EmMhrung besorgen, wieder andre die besondre
Tatigkeit des Organs ermoglichen. andere die Erregungen z. B. von den
Nervenzentren leiten usw. Auf einzelnes wird splter von Fall zu Fall
einzugehen sein.
Von den ungeheuren Zellmassen, welche einen hoheren Organismus
zusammensetzen, gewinnt man einen ungefahren BegrifF, wenn man z. B.
erwagt, dass in dem Blute eines erwachsenen Menschen 20 bis 25
Billionen von roten Blutkorperchen, die alle umgewandelten Zellen ent-
sprechen, dauemd zirkulieren, und dass die gesamte Blutmenge des
Korpers — die zu weniger als Blutkorperchen besteht — nur
ungefahr ^/^g von seinem Gesamtgewichte betragt. Oder man versuche
sich vorzustellen, dass die Leber, eines der zellreichsten Organe des
Korpers, beim Menschen im Durchschnitt ca. 1500 g wiegend, schStzungs-
weise zu zwei Dritteln aufgebaut ist aus Zellen, deren jede etwa
0,000015 cbmm Rauminhalt hat.
Jedes dieser lebenden Zellgebaude, jeder „ Organism us geht aus
der Vereinigung zweier Zellen, der mannlichen und weiblichen Keim-
zelle, hervor und erwSchst unter fortdauemden Teilungen und Umwand-
lungen dieser Zellen und ihrer Brut in seine fertige Form. Auch der
menschliche Organismus entsteht so, wachst in wenigen Jahren zu einer
enormen Masse von Zellen und Zellprodukten heran und repriLsentiert
nach Umlauf dieser Zeit einen beweglichen Zellstaat von etwa l^/^
Quadratmeter Oberflache, einen Rauminhalt von etwa 68000 ccm und
etwa 70 kg Gewicht. Die Verfassung dieses Staates ist im wesentlichen
eine ^oligarchische*" — die Nervenzellen, freilich auch wohl uber eine
halbe Billion zMhlend, stellen gewissermassen die regierende Zellenklasse
dar. Im Kleinen wie im Grossen ist er ein aufs feinste und prMziseste
gearbeitetes chemisches und physikalisches Wunderwerk, in dem, von
festen Teilen gesttitzt und umhullt, Flussigkeitsstrdme in unzShligen
23 8^
geschlossenen Kanilen rinnen, hier verdampfen, dort eingesaugt werden.
In dem Nervenstrome dauerad nach alien Richtungen laufen, Muskel-
bundel als komplizierte Hebe-Apparate durch Umwandlung angespeicherter
chemischer Energie die Knochen stutzen, gegeneinander und voneinander
bewegen, oder das Pumpwerk des Herzens treiben, die Nahrung im Ver-
dauungskanal vorwMrts schaffen usw.; in dem ein vielfach difiFerenziertes
Rohr, der Verdauungsschlauch, nach bestimmten Regein die Nahrung
vorbereitet, verarbeitet, aufsaugt, unterstiitzt von mSchtigen DrOsen-
apparaten, die ihm ihre Ausscheidungen mitteilen, wShrend gleichzeitig
fortdauernd Nieren, Schweissdrusen usw. die WegschafiFung von Abfall-
stofFen besorgen. So oft wir ein Stuck tiefer gedrungen zu sein glauben
in dieses RStselwerk, tut sich eine neue Endlosigkeit von Verwicklungen
auf: das Blutvasser z. B., welches vor wenigen Jahren noch sehr ein-
fach zusammengesetzt erschien, ist jetzt als ein vorllufig unfassbar ver-
wickeltes Gemenge der verschiedensten Nahrungs-, Schutz- und Abfall-
stoffe erkannt; und ebenso ergeht es uns in jedem andern Bereich des
Organismus. Die wesentlichsten Entdeckungen und Anwendungen der
in der Natur vorhandenen Energie sind in ihrer Anwendung bereits
in den lebenden Korpem vorweg genommen, und wir werden vermutlich
gerade aus ihren Einrichtungen noch die Kenntnis von neuen Nutzbar-
machungen mannigfacher Art entnehmen konnen.
Wenn man den lebenden Organismus von diesen Gesichtspunkten
aus betrachtet, so wird es begreiflich, dass wir trotz unerhorter Arbeit
eines Jahrhunderts erst an den Anfingen des Verstdndnisses stehen:
fast ein Wunder muss es erscheinen, dass die verwirrende Mannig-
faltigkeit des Getriebes im Innern dennoch schon eine ganze Zahl be-
stimmter Wege und Linien auffinden liess, die wenigstens im groben
leiteten zu Plfinen und Versuchen und zur Erkennung fester Gesetz-
massigkeiten. Ein Gluck, dass die Erforschung des Lebens begonnen
wurde, ehe jemand von dieser Kompliziertheit in Zusammensetzung des
Korpers und Ineinandergreifen der Prozesse eine Ahnung hatte, zu
einer Zeit, als noch die Holfnung bestand, mit ein paar kecken Grififen
den Schleier zu liiften. Wer hStte sonst in dies Wirrsal zu tauchen
gewagt? Heute reissen die Strdme der aufgewirbelten Fragen den
Theoretiker mit dem gleichen Zwange vorwSrts, mit welchem der
Kampf ums Dasein den praktischen Forscher zu immer neuen Ver-
suchen uber das Errungene hinaus notigt. Welch ein Gluck auch,
mdchte ein Spotter sagen, dass wir den Aufbau unseres eigenen
Korpers mit dem blinden Eifer der Notwendigkeit und ohne Beihilfe
menschlichen Witzes auffuhrten! In der Tat: Das Hochste und
Grandioseste, was der Verstand eines Menschen ersann und jemals
schaffen mag, es wird wie Kinderspiel und schwSchliches Tappen
und Tasten sich immerdar ausnehmen gegentiber jenem unsMglich
Wunderbaren, das er ohne Wissen und Willen fugte und baute, als er
sich selber formte von der dunklen Grenze des Seins her bis in die
reife, fertige Gestalt.
Was ich aus diesen paar Worten, aus diesec ganz groben Skizze
worn Aiifbau unseres Korpers den Leser vor allem zu folgern bitte, ist
dies: dass bei alien unsern Erwigungen und Untersuchungen uber Vor-
ginge im Lebenden, und gar an den hdheren Organismen eins zuerst
und immer am Platze ist: Ehrfurcht und Bescheidenheit; dass mit all-
gemeinen Erkllrungen und tdnenden Worten gegenuber dieser Unend--
lichkeit der Komplikationen und Schwierigkeiten nichts gefdrdert wird^
sondern geduldige Arbeit und immer neue Zweifel an der Richtigkeit
des Gefundenen der einzige Weg sind, der vorwirts fuhren kann, soweit
uberhaupt ein Weg in dies Labyrinth fuhrt. Soviel ist gewiss: wo uns
am lebenden Kdrper heute irgend etwas einfach und leicht verstSndlich
erscheint, da verstehen wir es nicht; und jeder wirkliche Schritt, den
wir in der Erkenntnis eines Lebensvorganges vorwMrts gemacht haben,
kennzeichnet sich vorlSufig dadurch, dass er statt einer alten Frage uns
eine Anzahl neuer stellt.
Fahren wir nach dieser scheinbaren Abschweifung in unserer
Registrierung notwendiger BegrifPe fort. Aus Zellen und aus von
Zellen geschafiFenen Gebilden setzt sich jeder Organ ismus, jedes noch
so eigenartige Gebilde desselben zusammen. Jede LebenstMtigkeit ist
demnach in einem gewissen letzten Sinne ZelltStigkeit. Dabei konnen
auch in den Zwischenfiussigkeiten und Hartgebilden des Korpers sich
viele Prozesse mit einer gewissen Selbstindigkeit abspielen: z. B. Flussig^
keitsaustausch, Verbiegung der Knochen durch Sussere Einwirkungen usw.
Die wechselseitigen Beziehungen der Zellen untereinander werden teil-
weise durch Vermittlung des Nervensystems (Nervenfasem, Neryenz4^11en)»
zum nicht geringen Teil aber auch durch direckte Beeinflussung der
Zellen untereinander — gegenseitige DruckverhMltnisse, Beziehung zu
den emMhrenden Gefissen und abftihrenden Ausfuhrwegen usw. —
reguliert. Fur den gesunden wie fur den kranken Kdrper ist daran
festzuhalten, dass das Charakteristische der VerMnderungen in irgend
einer Weise immer wieder von den charakteristischen Besonderheiten
gewisser Zellarten und Zellterritorien und einer mehr oder weniger
kombinierten Folge und Zusammenfiigung von ^AntwortverSnderungen**^
Reaktionen derselben abhSngig ist. Und wie es sich in krankhaften
Prozessen um die gleichen Zellen handelt wie im normalen Korper, so
sind auch alle Abweichungen der Vorginge in Zeiten der Krankheit
nur verschiedene Kombinationen und gradweise Abweichungen von den-
jenigen Vorgangen, welche wir im physiologischen Leben der Zellen
und Organe verfolgen konnen.
In Hinsicht des groben Aufbaus der zusammengesetzten Gebilde des
Korpers darf ich wohl eine Kenntnis der wichtigeren Organe und ihrer
hauptsSchlichsten Bedeutung voraussetzen. Alles ubrige wird sich»
soweit notig, an Ort und Stelle einschalten lassen.
III.
Man pflegt sich in der Regel nur ftir dasjenige wirklich lebhaft zu
' interessieren, was einen im Guten oder Schlimmen persdnlich angeht.
Ich mdchte deswegen dem Leser sogleich mitteilen, dass das Folgende ein
Stuck weit von ihm selbst handelt, dass wahrscheinlich auch er in seinem
Korper eine oder mehrere Geschwulste trigt, und zwar sogar sichtbar
an seiner Oberflache. Jeder von uns kennt z. B. die kleinen, hell bis
schwSrzlich braunen, leicht erhabenen Fleckchen in der Haut, von denen
wenige Menschen ganz frei sind; jeder die Warzen verschiedener Art
und Grdsse; vielen werden aus eigenster Erfahrung bekannt sein kleine
rundliche weiche AnhSnge der Haut, die harmlos an einem kurzen Stiele
pendeln; andere wissen von einzelnen oder zahlreichen mehr oder weniger
unverschieblichen hockerigen Knoten, die unter ihrer Haut liegen. Alles
dies sind verschiedene Formen von Geschwulsten; einzelne darunter
sind obendrein nahe Vettem zu den bosartigsten „Gewichsen'', zu den-
jenigen, an weiche der Laie zundchst denkt, wenn ihm vor der Moglich-
keit einer Geschwulst in seinem eigenen Korper bangt. Und
diese Verwandtschaft ist durchaus keine rein theoretische: nach vielen
Erfahningen kann man sagen, dass von einzelnen Klassen jener Ge-
schwiilste wohl jede, auch die scheinbar gutartigste und kleinste, wirklich
die FShigkeit besitzt, unter gewissen, nur zum Teil bekannten Be-
dingungen sich in eine bosartige Form umzuwandeln. Wenn wir nun
weiter uberlegen, dass die Haut das einzige Organ ist, das uns die
Natur schon am Lebenden gewissermassen „in die Flache ausgebreitet*
hat und das wegen seiner Firbung usw. schon bei fluchtiger Betrachtung
das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Abnormitaten erkennen
12sst, so stellt sich wohl von selbst die Frage: wie mag es dann erst
im Innem unseres Kdrpers in dieser Hinsicht aussehen? Dies ist aber
gerade einer von jenen Punkten, die uns spSter beschaftigen mussen.
Vorliufig wollen wir ihn auf sich beruhen lassen und, nach
diesem Appell an den Leser, uns der Frage zuwenden: was sind
Geschwulste?
Durch Einlagerung und Heranwachsen des sogenannten Blasen-
wurms in der Leber entstehen grosse Blasen und Knoten, weiche unter
Umstdnden ihrem Bau nach mit gewissen Geschwtilsten verwechselt
werden konnten. Wir trennen diese und Shnliche Bildungen ohne
weiteres von den Geschwiilsten ab: sie sind nicht aus Geweben des
eigenen Kdrpers hervorgegangen. Ebensowenig rechnen wir zu den
Geschwulsten z. B. jene Anschwellungen, weiche bei Herzkranken in-
folge Erlahmens der Herzkraft in den abhangigen Teilen des Kdrpers
auftreten, und weiche einem vermehrten Austritt von Flussigkeit infolge
zu geringer Kraft der flussigkeitsbewegenden Pumpe, des Herzens, ihre
Entstehung verdanken. Zumeist sind sie nicht scharf abgegrenzt; sie
konnen wieder verschwinden, wenn die Herzkraft gesteigert wird. Weder
hier noch bei den mehr. umschriebenen Flussigkeitsansammlungen in
Hohlriumen (Gelenken, Herzbeutel, Bauchhdhle, Driisen mit verstopften
Ausfuhrungsgdngen ; Blutergtisse unter die Haut usw.) findet notwendig
eine Neubildung von Geweben statt. Eine dritte Kategorie: die »ent-
zundlichen*' Schwellungen. Denken wir etwa an die schmerzhafte Hand-
anschwellung, weiche ein Bienenstich hervorbringt; Vergrosserung und
26 8^
Eiteransammlung einer Talgdruse, einen .Furunkel*'; an die Anschwellung
der Gaumenmandeln bei Mandelentzundung oder an die Verdickungen
chronisch entztindeter Gelenke. Das Gemeinsame der Beispiele liegt
darin, dass infolge eines Reizes, den wir als Entztindungsreiz bezeichnen,
unter stirkerer Blutzufuhr eine Ausschwitzung von Flussigkeit ins Gewebe,
ein Austritt der wanderfahigen farblosen Blutkdrperchen aus den feinsten
Gefassen und weiterhin verschiedene Verinderungen, z. B. Vergrosserung
und Vermehrung, teilweise auch Absterben der festsitzenden Gewebs-
zellen eintreten, welche Prozesse insgesamt eben die Anschwellung
herbeifuhren. Derartige, bald mehr, bald weniger umschriebene
Schwellungen, welche auch den Entztindungsreiz hervorgerufen, mit
dessen Wegfall wieder mehr oder weniger vollstdndig verschwinden, ge-
horen gleichfalls nicht zu den Geschwiilsten.
Endlich kennen wir Vergrosserungen einzelner Organe und Korper-
teile, welche auf Vergrosserung, daneben z. T. auch Vermehrung der
vorhandenen Zellen, mit mehr oder weniger gleichmassiger Beteiligung
des ganzen Organs beruhen. Dies ist z. B. der Fall bei der durch er-
hohte Anstrengung bedingten Vergrosserung des Herzens oder anderer
Muskeln; bei der Fettablagerung im Unterhautbindegewebe korpulenter
Personen; bei dem Wachstum des Uterus um die eingeschlossene
Frucht usw.
In alien bisher angefiihrten Fallen war die Vergrosserung, Schwellung
der Kdrperteile entweder keine scharf abgegrenzte, oder sie beruhte
nicht auf einer Vermehrung der Kdrperzellen, oder sie betraf eine
grossere Anzahl von Geweben derart, dass nur eine Vergrosserung oder
Vergroberung im Aufbau des normalen Organes zuwege kam. Ausser-
dem vermogen wir in diesen Fdllen jedesmal bestimmte normale oder
krankhafte Ursachen anzugeben, nach deren Wegfall die Vergrosserung
wieder zuriickzugehen pflegt. Damit haben wir bereits fur die, im
Einzelfalle freilich nicht so ganz einfache Unterscheidung geschwulstiger
gegentiber anderen Schwellungen eine Anzahl wesentlicher Unter-
scheidungsmerkmale gewonnen. Wir bezeichnen als Geschwulste um-
schriebene nicht entztindliche Vergrosserungen von Organen,
entstanden durch Neubildung von Geweben des eigenen
Korpers.
Ehe wir eine weitere Charakterisierung der Geschwulste ver-
suchen, stellen wir eine zweite Frage: Was kann alles im Korper
Geschwulste bilden? Wo kommen Geschwulste vor?
Die Antwort ist einfach. So viel Gewebe vorhanden sind, so viel
Zellarten kdnnen zu Geschwiilsten Anlass geben. Dabei haben wir in-
dessen gewisse ziemlich charakteristische Verschiedenheiten in bezug
auf die HSufigkeit, mit der die einzelnen Zellarten sowohl als auch die
einzelnen Organe von Geschwulstbildungen betrofPen werden; ferner
Verschiedenheiten der HSufigkeit nach Geschlecht und Alter. So sind
die Geschwulste des Nervensystems und der Muskeln sehr selten, jene
des Darms, der Haut, der weiblichen Brustdriise sehr haufig.
27 ^
Die Zusammenstellung, welche vom Komitee fur Krebsforschung
gemacht wurde, ergab z. B. fur den Krebs folgende Zahlen:
Beim Manne:
Krebs des Magendarmkanals . . .
» von Lippen, Mundhdhle, Zunge
„ der Geschlechtsorgane . . .
» der Gallenblase
Beim Weibe:
Krebs des Magendarmkanals . . .
« der Lippen, Mundhdhle, Zunge
« der Geschlechtsorgane . . .
„ der Gallenblase . . . . .
700 unter 1000 Krebsfallen
111
n
ff
24
ff
3
n
»
ff
323
n
ff
13
ff
ff
546
»
If
ff
8
ff
f>
Fur die anderen Geschwulstarten sind derartige Erhebungen nicht
^emacht und auch zur Zeit kaum ausftihrbar; doch sind auch hier gesetz-
massige Haufigkeitsverhaltnisse deutlich.
Im allgemeinen bilden sich Geschwiilste an Orten, welche die be-
trefifenden Zellarten in der Norm enthalten; daraus ergibt sich, dass
z. B, Fettgeschwiilste besonders unter der Haut, Knochengeschwiilste
fast nur an Knochen entstehen usw.; woraus wieder eine gewisse Be-
vorzugung einzelner Organe seitens bestimmter Geschwiilste sich erklMrt.
Wir konnen die Notwendigkeit nicht langer umgehen, Einiges uber
die verschiedenen Gewebsarten zu sagen, welche Geschwiilste bilden
konnen, und tiber die Art, wie sie solche zusammensetzen. Wir unter-
scheiden im Kdrper zwei besonders reichlich vorhandene und in dem
Aufbau der meisten Organe vertretene Zellarten. Die eine nennen wir
zusammenfassend Epithelien; das sind verhSltnismassig grosse, mit
grossem Kern und oft reichlichem Protoplasma ausgestattete Zellen,
welche in der Kegel in Form eines durch eine Art von Kitt ver-
bundenen und gefestigten Pflasters von ganz platten oder wurfelformigen
Oder cylindrischen Gebilden neben einander liegen, oft auch mehrere
Lagen uber einander bilden. Epithelzellen sind die Ur- und Stammform
aller ^Organzellen** : in einer der allerersten Entwicklungsphasen besteht
der Keim nur aus einer einzigen Lage solcher wtirfeliger, zumeist zu
einem Blischen geftigter Epithelzellen ; aus diesem BlSschen gehen durch
Einfaltung und Umwandlung in die Form eines doppelwandigen Bechers
die beiden ersten ^Elementarorgane**, das sog. Mussere und innere
Keimblatt, und in der Folge alle ubrigen Organe hervor. Im aus-
gebildeten Kdrper haben sie vor allem zwei Aufgaben: Auskleidung
von Oberflichen aller Art, Aufnahme und Abscheidung von Fliissigkeiten.
Unsere ganze Hautoberfl&che besteht z. B. aus einer Anzahl von Lagen
derartiger, nach Art eines ganz eng geflochtenen Korbwerks von Faserchen
durchfilzter, obendrein nach aussen zu verhomender Epithelzellen; sie
decken, je nach Bedarf viel- oder einschichtig, hoch oder flach, die
Innenfldche von Mund und Nase, Luftrdhre und Lungen, Magen und
Darm, und pflastern alle Ausfiihrgange der Drtisen aus. Aber auch
28 8^
in diesen letzteren selbst stellen sie, in einschichtiger Lage die Innen-
flache feinster Rohrchen und Sackchen auskleidend, die wichtigsten,
weil das besondere Sekret (Speichel, Galle, Milch, Harn, Schweiss usw.)
bereitenden und absondernden Zellen dar.
Eben so wichtig wie diese erste ist fiir unsere nSchsten Be-*
trachtungen eine zweite Art von Geweben, welche die verschiedenen
Arten von Gerusten in unserem Korper herstellt, und diesem Zwecke
geniigt durch die mannigfachsten Ausscheidungen von widerstands-
f^higen, mehr oder weniger festen Substanzen. In alien weichen
Organen und Organteilen mit Ausnahme des Zentral-Nervensystems^)
bildet die Grundlage, sozusagen das Skelett ein Fasergewebe, das in
Biindeln die Gefasse und Nerven umhtillt, in Lamellen, Korben,
Netzen, Fachwerken die einzelnen grosseren und feineren Abschnitte
gleichzeitig halt und scheidet, indem es hier wieder die feinen und
feinsten Gefasse bis zu den Organzellen trMgt. In Rohren umgibt
dieses ^Bindegewebe*" die rdhrenformigen Epithelbildungen, in grossen
aus LMngs- und Querfasern gewebten Flatten umschliesst es die
Muskeln und hMlt sie krMftig zusammen; als derbe FMden, gebildet
aus dicken und ganz eng gelagerten FSserchen liefert es den Muskeln
die Sehnen, mit denen sie sich an den Knochen ansetzen; mit Kalk-
salzen impragniert liefern die rohren- und schalenfdrmig kunstvoll
angeordneten Fasem und Lamellen das Knochengeriist. Auch der
Knorpel gehort zu der gleichen Zellart, nur hat er in seiner hlufigsten
Form eine homogene nicht faserige Zwischenmasse ausgebildet, in welcher
die „Knorpelzellen'' in kleinen Hohlen eineschlossen liegen, ebenso
wie auch in dem scheinbar toten Knochen die Knochenzellen in
dichten Reihen eingekerkert forthausen.
Wahrend bei den Epithelien zumeist das Protoplasma mit dem
Kern den Hauptteil der Zellen bildet und diese demgemSss stets weich
und leicht verletzlich bleiben, trotz feiner umhullender Oberflachen-
membranen, tritt bei den „Geweben der Bindesubstanzen**, dem Knorpel-,
Knochen- und Bindegewebe die Zelle gegeniiber der ausgeschiedenen
Zwischensubstanz zuriick, sowohl relativ als absolut, indem sich der
Zellleib und Kern meist verkleinem. Dagegen sind junge Zellen auch
der Bindesubstanzgewebe stets mit reichlicherem Protoplasma und relativ
grossem Kerne fausgestattet. Neben diesen beiden Hauptgruppen von
Geweben treten die iibrigen — also das Nerven-, das Muskel- und das
gefMss-bildende Gewebe — in Hinsicht auf ihre Beteiligung an
Geschwulstbildungen weit zuriick.
Wir halten uns deswegen zunMchst an die beiden ersten Gewebe-
gruppen.
Da wird nun wieder ein charakteristischer Unterschied zwischen
diesen beiden Gruppen dadurch bedingt, dass das Epithelgewebe nicht
in der Lage ist, fur sich allein kompliziertere Bildungen zu gestalten.
^) Das Stutzgewebe des Nervensystems Tbat anderen Ursprung und ver<
schiedene Besonderheiten gegenfiber dem « Bindegewebe.''
29 S*<-
Einhiche Schwielen mogen aus blosser Verdickung von Epithel hervor-
gehen; aber bereits in einer grdsseren Warze, deren Oberfldche von
einem weniger derben Epithel uberdeckt ist, wurde ein Aufbau nur aus
Epithel hochstens zu einem ganz vergSnglichen Gebilde fuhren: aus
dem Gninde, weil ihm sowohl die notige Festigung durch das gleich-
zeitig elastische und widerstandsfahige Bindegewebe abginge als auch die
Nahrungszufuhr durch die Geflsse. Diese letzteren finden wir ndmlich
mit verschwindenden Ausnahmen uberall im Korper in Begleitung und
geschutzt von Bindegewebe, nicht frei im Epithel, zwischen dessen Zellen
die feinen Haargefasse nicht die notige Sicherung gegen Kompression
und Zerreissung haben wiirden. Wir erwahnten ja auch bereits, dass
in alien normalen Organen das Bindegewebe als TrSger der Gefasse und
Gefasschen fungiert.
Dementsprechend sehen wir nun auch, dass in alien denjenigen
Geschwulstbildungen, welche vom Epithel in ihrem wesentlichen Aufbau
bestimmt werden, als Tniger der GefSsse Bindegewebe vorhanden ist;
so dass demnach alle epithelialen Geschwulste gewissermassen Doppel-
geschwulste: Bindegewebs- und Epithel-Geschwulste sind.
Anders verhSlt es sich — naturgemSss mdchte man sagen — mit
dem Bindegewebe, Knorpel und Knochen. Diese Gewebe sind ja selbst
skelettbildend und formen infolgedessen selbst die Geruste, in denen
ihre emihrenden kleinsten Ge^sschen verlaufen. Dabei konnen
die verschiedenen Gewebe der Bindesubstanzen, Knochen, Knorpel,
Bindegewebe in derartigen Geschwulsten in mannigfachster Weise mit-
einander vermengt sein, ohne dass doch elne dieser Gewebsarten sich
zu den anderen so verhielte, wie das Bindegewebe in den epithelialen
Geschwulsten, nMmlich das Gertist bildend.
Da nun in den meisten Organen eben diese Zusammensetzung von
gefissfuhrendem Bindegewebe und mannigfach verteiltem und iiber-
kleidendem Epithel den hauptsachlichen Bautypus darstellt, so hat man
gewdhnlich die epithelialen Geschwulste als ^organartige**, ^organoide**
der anderen Gruppe als den nur Gewebe reprasentierenden, gewebs-
artigen, »histioiden" Geschwulsten gegenuber gesetzt. Die Muskel- und
Nervengeschwulste verhalten sich in dieser Hinsicht etwas wechselnd.
Regelmissig enthalten sie gefassfuhrendes Bindegewebe und gehoren
darum streng genommen in die erste Gruppe; trotzdem werden sie ge-
wdhnlich, da sie meist weitaus uberwiegend aus Muskel- bezw. Nerven-
Gewebe zusammengesetzt sind, inkonsequenter Weise zu den histioiden
Geschwulsten gerechnet.
Ich muss gleich hier zu dieser Einteilung bemerken, dass sie nur
eine teilweise berechtigte ist. Wir pflegen ja unsere Knochen und
Knorpel gleichfalls als Organe zu bezeichnen, d. h. als umgrenzte,
charakteristisch unterschiedene Vereinigungen von Geweben, mit be-
stimmter Leistung im Dienste des Ganzen. Eine Geschwulst nun,
welche z. B. nur aus Knochen und Gefassen sich aufbaut, ist nattirlich
ebenso ^organartig'' wie etwa ein Rippenknorpel; und eine Geschwulst,
welche nur aus Bindegewebe und Geflssen sich zusammensetzt, hat ihr
^ 30 8^
physiologisches Pendant z. B. in einer Sehne oder einer bindegewebigen
Muskelbinde.
Wenn nun also alle Geschwulste in gewissem Sinne „organartig*
sind: worauf beniht dann ihr Unterschied gegenuber den Organen, die
ja auch alle zu irgend einer Zeit ihrer Entwicklung ^umschriebene
Neubildungen von Geweben'^ sind? Er liegt vor allem darin, dass die
Anordnung der zusammensetzenden Zellen gegenuber denen normaler
Organe alle Grade von Abweichungen, Storungen, Unordnung aufweist.
Daraus ergibt sich, dass die Geschwulste nicht eine zweckmMssige Bin-
ftigung in den Gesamtbau des Kdrpers aufweisen, wie die Organe; und
dass sie demgemSss fiir den Korper regelmassig nutzlos oder schadlich
sind. Im besten Falle beanspruchen sie fiir ihre ErnShrung Material,
das den Organen entzogen wird, ohne entsprechende Gegenleistung —
so z. B. die genannten Geschwulstchen der Haut — ; in anderen Fillen
bewirken sie durch Druck, Verdrangung anderer Organe usw. Schaden
— man denke etwa an die grossen Geschwulste der Bauchhdhle und
deren Folgen, an die Verlegung der Harnblasen- oder Hamleiter-
ofPnungen durch Geschwixlste usw. Endlich aber gibt es eine grosse
Menge von Geschwtilsten, welche nicht bloss durch einfaches Wachstum
von innen heraus sich vergrdssem, sondern welche, einem Parasiten
gleich, fressend in das umgebende Gewebe vordringen, und es raehr
Oder weniger zerstoren, indem sie sich an seine Stelle setzen; ja welche,
indem ihre Zellen in die Lymph- und Blutgefissbahnen einbrechen, in
irgend welche entfernte Organe des Kdrpers, unter Umstinden in
sSmtliche Korperteile verschleppt werden, dort neue Tochtergeschwulste
bilden und so ebenso schlimm wie irgend ein krankheiterregendes Klein-
wesen den Korper gewissermassen von innen heraus zerstoren und
auffressen.
Wir haben mit dem eben hervorgehobenen Unterschied eine zweite
Haupteinteilung der Geschwulstformen charakterisiert, welche nicht
den Aufbau, sondern die vitale Bedeutung zum Ausgangspunkte nimmt.
Jene Geschwtilste, welche an Ort und Stelle wachsen, nur durch ihre
Vergrdsserung, durch die Anspriiche, die sie an die Emahrung stellen,
den Druck, welchen sie auf andere Organe ausuben, schSdigend wirken,
pflegt man als ngutartige** zu bezeichnen. Sie sind es, deren Wachstum
in der Kegel wenigstens eine gewisse, je nachdem verschiedene Grosse
nicht tibersteigt, und welche, wenn sie z. B. durch das Messer des
Chirurgen griindlich entfernt worden sind, nicht wieder auftreten. Ihnen
gegenuber steht eine zweite Gruppe, die sogenannten ^bosartigen*,
^malignen*" Geschwulste. Sie zeigen von Anfang an die Tendenz vor-
zudringen, zu zerstdren, sich rasch und unbegrenzt wachsend aus-
zudehnen; da sie zu der Zeit, wo die Patienten wegen des zunehmenden
Geschwulstwachstums den Arzt aufsuchen, meistens in Form einzelner
bereits weiter vorgedrungener Zellen in dem die ursprungliche Geschwulst
umgebenden Gewebe stecken, so gelingt ihre radikale Entfernung seltener,
indem die Abgrenzung gegen das Gesunde mit blossem Auge hSufig nicht
mit Sicherheit ausfiihrbar ist. Sie kennzeichnen sich daher einerseits
durch eine besondere Neigung dazu, an Ort und Stelle wiederzukehren,
zu rezidivieren, andrerseits fuhren sie, da sie weiter und weiter in die
Umgebung und nach der Tiefe vordringen, oft zu grossen Zerstdrungen
der Organe und gelangen hdufig auch in entfernt liegende Korperteile.
Diese drei Charakteristika: zerstdrendes Vordringen, Neigung zur
Wiederkehr, Verschleppung (sogenannte Metastasen-Bildung) sind es,
welche die bosartigen Geschwiilste hauptsachlich auszeichnen. Auf die
Ursachen, welche diese Unterschiede im Verhalten bedingen, konnen
wir erst spSter eingehen. Im mikroskopischen Aufbau entspricht im
allgemeinen dem gutartigen Typus die relativ zellarme, noch sehr an den
geordneten Organaufbau erinnemde und von mehr oder weniger gut aus-
gebildeten, tu fertigen Formen heranreifenden Zellen gebildeteGeschwulst;
wahrend die Bosartigkeit sich vor allem in grosser Schnelligkeit der Zell-
neubildung aussert und dementsprechend diese Geschwulste sehr zell-
reich, von jungen unreifen Elementen aufgebaut sind und oft weit von
aller bekannten Organstruktur abweichen, vielfach ganz in Unordnung
wuchemd erscheinen.
Immerhin muss hier schon hervorgehoben werden, dass auch diese
Unterschiede zwischen benignen und malignen Geschwiilsten keine absolut
feststehenden sind. Denn einmal wissen wir aus vielen Beispielen, dass
anscheinend gutartige und lange in ihrem Wachstum stehen gebliebene
Geschwulste allmShlich oder mit einemmale in bosartige sich umwandeln
konnen. Andererseits kommt es auch vor, dass solche Geschwiilste,
die wir in der Kegel nur in gutartigen Formen auftreten sehen, auch
einmal in Gefisse gelangen, und durch Verschleppung in entfemte
Organe und weiteres Wachstum an den betrefFenden Stellen die gleichen
Folgen nach sich Ziehen, wie die bosartigen Geschwulste im engeren
Sinne. Endlich aber gibt es auch in der „Bdsartigkeit'^ maligner Ge-
schwiilste recht verschiedene Grade; und wir kennen genug unter ihnen,
die nach einmaliger Entfemung fast sicher ausbleiben, sowie auch solche,
die trotz des Aufbaues nach Art „bdsartiger'^ Geschwiilste sich dauernd
wie gutartige verhalten.
Die bdsartigen Geschwulste der Epithelialreihe sind jene, die als
Krebse (Carcinome) die Ehre der besonders hdufigen Nennung in
alien Joumalen bereits geniessen. Die bosartigen Geschwulste der
Bindegewebsreihe, die sogenannten Sarkome sind im Grund meist noch
bedeutend schlimmere Gesellen; infolge ihres etwas selteneren Vor-
kommens sind sie jedoch in Laienkreisen weniger bekannt und haben
bisher weniger Aufsehen und Angst erregt. Die beiden Gruppen zeigen,
auch abgesehen von ihrem strukturellen Aufbau, manche Unterschiede,
von denen wir einige anfuhren woUen. Krebse finden sich vorwiegend
bei alteren Individuen und hier wieder besonders an gewissen Stellen
des Verdauungsapparates, der Haut, der weiblichen Geschlechtsorgane
und in der Brustdruse. Bedeutend seltener entwickeln sie sich in ver-
steckt liegenden, geschiitzten Organen, am hiufigsten noch in der Leber,
selten in Niere, Schilddriise usw. Sie zeichnen sich im allgemeinen
durch ein verhiltnismMssig langsames Fortschreiten in die Tiefe aus
und dadurch, dass sie meistens uberwiegend in die Lymphbahnen und
weiterhin in die sogenannten Lymphdriisen, erst nach deren Passierung
mit der Lymphe in die Blutadern, von da fiber die rechte Herzkammer
in die Lungen und eventuell weiter gelangen. Entsprechend ihrer Lage
an OberfiSchen, welche mechanisch, chemisch, durch Bakterien gereizt
und geschadigt werden, erfolgen hlufig oberfiachliche und allmdhlich
tiefergreifende Geschwursbildungen, welche unter Umstanden zu aus-
gedehnten i^fressenden Geschwuren* fuhren. Daneben kommen auch in-
folge von ungenugender Ausbildung der Blutgefasse in dem oft sehr
stark und derb entwickelten Geruste der Krebse und dadurch bedingter
ungenugender EmShrung der Krebszellen nicht selten partielle Er-
nahrungsstdrungen, dadurch Absterben und eventuell Zerfall im Krebse
zu wege. An sich also ist Ifdas Auftreten von derartigen Geschwurs-
bildungen und Zerfallserscheinungen nicht charakteristisch, sondern mehr
durch die Zufalligkeiten von Lage und Zusammensetzung bedingt.
Die Sarkome oder bosartigen Geschwulste der Bindesubstanzreihe
kennzeichnen sich in ihren ausgesprochenen Formen dadurch, dass die
sie zusammensetzenden Zellen in besonders hohem Grade die Charaktere
junger Gewebszellen beibehalten, oft auch an Grosse betrSchtlich zu-
nehmen; die in der Kegel ubersturzte Vermehrung dieser Zellen lUsst
es zu einer weitgehenden Ausbildung von Zwischensubstanz wie im
normalen Bindegewebe haufig nicht kommen und fuhrt andererseits zur
Bildung sehr rasch wachsender und unter UmstMnden ganz kolossaler
Geschwulste. Dem entspricht auch eine in der Kegel sehr reichliche
Ausbildung der ernahrenden Gefisse und GefSsschen, welche anderer-
seits zur Folge hat, dass h§ufig scheinbar von selbst oder durch geringe
mechanische SchSdigung, z. B. Quetschung, ausgedehnte Blutungen in
solchen Sarkomen zustande kommen. ,,Blutschwamm^ nannten die
Alten solche von zahlreichen Blutungen durchsetzte geflssreiche Sar-
kome. Ihre intensive Wucherungsfahigkeit fuhrt diese Zellen in der
Kegel viel rascher als jene des Krebses zerstorend ins umliegende Ge-
webe; die Gefasse, welchen sie begegnen, werden tells durch Druck
verschlossen, teils von den Geschwulstzellen geradewegs durchwuchert;
dadurch gelangen sie fruhzeitig in den Blutkreislauf, werden in alle
mdglichen Organe, vor allem zunachst durch die Blutadern wieder in
die Lunge verschleppt und bilden dort vermdge ihrer Wucherungsfahigkeit
wiederum rasch massige Knoten. — Das Sarkom ist im Gegensatz zum
Krebs uberwiegend eine Krankheit des jugendlichen Alters, ohne dass
es deswegen im hdheren Alter vollkommen fehlt. Auf andere Unter-
schiede zwischen Carcinom und Sarkom, speziell auch in Hinsicht auf
ihre Ursachen werden wir spSter zu sprechen kommen.
Es sind noch ein paar Punkte wenigstens kurz zu beruhren, auf
die wir nachher wieder zuruckgreifen mussen. Wir sprachen schon
eingangs von dem Auftreten mehrfacher Geschwulstbildungen. In der
Kegel ist es nur eine Geschwulstbildung, wegen deren der Patient den
Arzt aufsucht. Gelegentlich aber kommen mehrfache Geschwulste so-
wohl der gleichen Art als verschiedener Arten vor, von einigen bis zu
33 8^
Dutzenden; und es ist eine Erscheinungy auf die man erst in den letzten
Jahren mehr Gewicht gelegt hat, dass recht hMufig bei dem Vorhanden-
sein and Hervortreten einer Geschwulst noch eine ganze Reihe kleinerer
und kleinste fur gewdhnlich nicht berucksichtigter Geschwulstchen hier
und dort in den Organen stecken. — Von besonderem Interesse ist es,
dass manche Geschwulste mit einer gewissen RegelmSssigkeit sym-
metrisch auftreten. So kommt es vor, dass Fett- oder Bindegewebs-
geschwiilste dem Verlauf von Nerven an einer oder beiden Kdrperhalften
ziemlich regelmissig folgen. Ein Mhnliches gilt von den Nerven-
geschwiilsten selbst.
Wir haben ausserdem noch einer Art von Gewebs-Neubildungen
za gedenken, deren Abgrenzung gegenuber den Geschwulsten vielbche
Schwierigkeiten macht. Es sind dies eigenartige, oft mehr oder weniger
organ-dhnliche Gebilde, welche in einzelnen ihrer Formen aber auch
fast so wie eigentliche Geschwulste gebaut sind. Mit besonderer Vor-
liebe finden sich solche Geschwulste in den Keimdrtisen und an Stellen,
wo in embryonaler Zeit Oifnungen bestanden, die sich spSter verschlossen:
am vorderen und hinteren (embryonalen) Korperende, in der vorderen
Mittellinie des Korpers, usw. Das eine Mai bilden sie einen kleinen
Sack, in dessen Innenwand Haare sprossen oder Z&hne eingelagert sind,
das andere Mai ein buntes Durcheinander von mehr oder weniger aus-
gebildeten Organteilen, in denen neben Nervengewebe Knorpel, Netz-
baut, usw. liegen, manchmal auch nur ein paar verschiedenartige auf-
bauende Gewebsarten. HSufig zeigen diese sSmtlichen Gewebe in mehr
Oder weniger ausgeprSgter Form diejenigen Zellenformen, welche wir
beim Embryo oder Fdtus vorfinden, und weisen dadurch daraufhin, dass
sie entweder aus Zellen desselben Keimes hervorgegangen sind, dem
das betreifende sie bergende Individuum selbst entstammt, oder aus
dessen eigenen Keimzellen, welche aus irgendwelchen Ursachen ohne
Befruchtung ihre formative, organbildende TStigkeit in ungeordneter
Weise aufnahmen. Welche von diesen beiden Moglichkeiten fur die Ent-
stehung dieser sogenannten Teratoide und Teratome zutrifft, werden
wir spdter erdrtem. Hier sei nur noch hervorgehoben, dass von ihnen
vielfache Oberginge existieren bis zu jener Art von Missbildungen,
welche reprisentiert wird durch einen mehr oder weniger vollstSndigen
Fdtus, der in einem inneren Organe eingeschlossen liegt: das eine Mai
findet sich z. B. ein fertiger Zahn in einem kleinen Sdckchen des Eier-
stocks, ein talg- und haargefiillter Balg in der Brusthdhle — ein ander-
mal hdngt an einer Niere ein Teratom, welches Schddelhdhle, Darm,
minnliche Geschlechtsorgane, Epithelblasen zeigen kann.
So scheint es also, wie wenn jenen klaren, geordneten Beziehungen
der einzelnen Organe zueinander und zum Ganzen in all diesen viel-
artigen Gebilden eine Art von Karikatur zur Seite stunde: von kleinen
Obertreibungen und Verzerrungen bis zum toUsten Durcheinander, von
einzelnen missratenen Gewebsarten bis zu vdlligen Zerrbildem des
ganzen Organismus. Hier ein kleiner Knoten, dessen sein Trdger viel-
leicht all seine Lebtage nicht gewahr wird; dort ein wild wachsendes
S&ddeutsche Monatshefte. 1, 1. 3
Ungetum, das in rasender Wucherung seinen Wirt und sich selbst zer-
stort; hier eine aus Fett- oder Bindegewebe gebildete Einlagerung, dort
alle Bausteine eines Zwillingsgebildes, das, statt nach Art der siamesischen
Zwillinge aussen angewachsen zu sein, verborgen in der Bnist- oder
Bauchhdhle oder im Ruckenmarkskanale schlummem kann alle die Zeit»
wihrend deren sein Triger ein bewegtes Menschenleben durcheilt.
(Btbmtm.
<Suc9 an lit ^it^i lit V9i\[tnf<l^aftti(l^tn SLxmu marrc^teren Zamiowct,
1. 0. iiuU nxilxiitn &valu, wef^e Barm mac^en.
5tttum unl (ffiaixitit ixtiUn |tc9 tn lit (Sii\j[inf<l^aft gfiic^ f^neCf aun,
toivUn 3fetc9 wiKg aufgenommen unl gfei^ pari fepge^aftent aSer nid^t
gfdc^ fang. ^
5ttt gewilTe (Ylaterforrc^er 6e|Ie6t taa (P^eftr&tref nut in Itv Bjdftinj Ub
(pQifofopQen uni ier (pQtforoptie. ®a0 if! iae 6in5%e in ter ^eft,
ipotuBer fte |tc9 vemun^em. $on|if ftnt i0nen nut noc9 einigi ^a^vtn
i&ttni\[t unSeiannt, tenen fte nac^fovfc^en.
$ie |tnt feic9( mt( ten fifvunten jufrieten, ipenn i0nen nur Me Qg^eQattytengen
gefaffen. ^
(^Bevaff, 190 Jlti(ovi(d(en Qevrfc^^n, gtSf ee vevSofene ^ege, unt auf einem
ttefer (P^ege fiegt gewo^nftc^ lit n^fU groge (BE)a0vQeit
(Unter ten (prtefifem tev (^ifTenrc^aff (dft |tc9 etne merSwurti^ ovoge
jln^a^r fieSer in tev (TliQe tea Oyfevpode, ah in ter (tld^e tea l^fig^
hims auf*
35 I.*-
(ffltnf4tnt ioeCc$e aCfea auf Itn Hopf (leffen, Smgen baturc^ juwetfen
eine Q^a0r0ii( <tttf tie (geine.
66 ^( Omje tm Be6en uni in ter (P^ttfenfc^afil, wefc^e nut ite ftu^nfife
(pSanfofte etfalfen oemas, unt Mlm, lit nut bet rtt^igf^e (Perffanb ^e^t
Oantm jeQoren fo oft jwti QAenfc^en baju, urn erne ^ac^e 3an5 feQen.
Qp9a6 ein ^treSer werben mff, Ivumrnf ftc9 Set |ei(en.
6r|l mnn jut &x6%t etnee ^Stifiu SuVi lommt, wtrK it uBer (Potter
umb bur<9 leiten.
SHe ^ttten unb bie j&c^fec^ten, bie ^^^^S^ QinfaQt^en ftnb bet
IS^egef, in wefcQem wit un6 im Bauft einea fangen £e6en0 fangfam
ftetifieti fetfieii«
60 ip tin fonberBarev Qjlnterfc^ieb jmfc^en ben (Tlarten, bie man einfperti,
unb benen, bie man in 5veiQei( ta^t ^tnt gfauBen nic^f an iQre ^e^en^
fetitsen (pS^aBnibeen, biefe ba^e^en fammefn |t<9 off ben grogfen i&cBaren
«iUer ber 5^0^^ ^^^^^ (PerviidUBeit
Qp9enn bte QllenrcBen ftcB iBte Hopfe Uf^fi B^vauafucBen lutfttn, Belimen
bte QAeillen fteine gefd^eifeven.
Qp9enn mr bie £febanlen anberer fefen, fieden mir unferen <StifH in ftembe
Kfeiber, unb biefer Ba< vox bem Kotyer bie Si^enfcBafit vovaus, bag er ftcB,
wenn fie iBm grog ftnb, in bie f^emben Itfeiber Binein mining |te aue^
fiflSm unb fo^at nocB eine Jeitfang biefe emorSene <Sxo^t BeBaften lann*
6ifettei( ip eine untreue ®ienerin. $ie macBf iBten l^erm um fovief
ftfeiner, ah fie iBn sroger macBen vovjiBt*
6roge Utinpfer ftnb bie ein3i3en (£lei<Ben, weCcBe iBr gan^ee CKtd mii
un9 Uittn.
®ie ebefpe unb geBeimpe (ps^iivbe bee QllenfcBen iff biejenige, bie ftcB in
bet (PomeBmBeif feines ffeiflea auefpricBt* 6v weig ni<Bf um fte, unb fte
oiSt feinen Ctlanitn iBten srogen ^cBritt. j&ie ifi bie loathing feiner
^eefot Bebeuief feinen (gfid nacB ben ^(emen; fte fiegt in feinem 5^^^tren,
eBe er ttnoB pon bet ^eft ^efeBen B<tf» fagf iBn na4 ben gvogen Singen
in iBr fiuB^ unb |te affein a<B<^n.
3*
36
&8er (em CeQaft etnes UfetnPfen, wte etn etfer QAenfc^ ifif, uSev telTen
60 5t6( QllenfcQen, lit nut fo fange auf unferer BxH BfeiBent bae
BeBen bee Qtlenr^en etn en3e(9af<e0 x% I. Q. in bet UinbQett, unb une
bann Uc0eAib verfalfen. ®en luriUIBretBenben tp bann, ah oB fie etnen
Qg^fid in ben l^immef Qiften tun btirfen unb Sngef fpiefen feOen.
Q^nfet gan^ee BeBen (inburc^ jitit bie 6rbe an une, aU mttte |te una
SIAc^tftnge wieber QaBen, unb enb(ic9 Belommt |te una auc^.
Sine unBeftannte (Jllac^t fc^veitef tiber bie Bvbe unb fofc^t in bev (HlenfcQQeif
^roge 6ei({e0(tc9(er aua. I^inter iQr entj&nben ftcQ anbeve, neue; aBer
ipir finben nicQt (in ;ii i^nen, ober fe^en |te obet erfeBen |te nic0t
Oyinb fo wirb ea mit bem 6rf6fc9en biefer (SRenfc^^nronnen um um bunief
unb ftaft
60 ip merlwuvbig, wie untev ber in £feFc9ifi(en emii<9<er(en ({I(lenrc90ei(
|tc9 imnter ipieber ein votttB l^erj erQeB( unb feine SmpfEnbun^ iiBer aflfe
au0gieg( unb bas perborvenbe innere £eBen berfefSen nii( neuen ^afUn
etfriWt ^
(J^Oix niniiin ee l^eiKgfteif, wenn una mit bem Jlufgang bev i&onne bas
^a0e ftc^tfar gemac^f unb bie $teme verfinpevf werben.
®a0 j&c96nf(e, ma man etfeBf, i^enn man aft ju werben anfangf, i% bag
einem ein eiaenee 6efu0f fur bie Jfugenb auf^eQt, fuv i0re S^f^e, i0ren
6ifer, iQre Ij^ofnung uub iixt bunife |uSunft Qjlnb fo em^^finbet man bie
^ieberaufTtteBenben ioPffic^ ah tint auf^ie^enbe JlBfofuns bet ^c^eibenben.
5tauent mefc^e in i0re Qtlinner verfieBt ftnbt f^woren auf beren (gioxtt.
Qjlnb ipenn |te bveimaf nac^einanber Qeirafen, inbevn fit mit jebet 60e
biefen i0ren ®ien|i[eib.
(ffHx vtxtxtiitn una bie ?ei< fo fange, Bia fie una veHteiBt
(fflU Bmpfinbunj )>tx (J^ttt tt^nntn mx vox affem (pS^ilfen; unb in Bm
yfinbung enbigf baa gereifile (^EKITen*
37 8^
feinem et^enen 5*^^^^ ttmSringen*
60 t|if bA0 Qjlngfucft affev ^^ff ^^^^ Qg^rottotS am Jim Qangen
(otem tew bte ^(reSer na^&ufeiu
93on ^and 3(^oma in ftartent(^e.
lifter biti Ztjma tfi f(()on fe^r sotel unb fe^r gut gffd)rtf6fn morbett
ttttb til gemig t)oit grogem SnterffTe }u k)erfoIgen/ n>antt unb n>ie ber
fRenfd) {uerfi ba}u gefontmen tfl, ©efe^ene^ nad)ju6i[bfn ober feiner ^reube
an ber <Srfd)etnung/ tn einer genoiffen fd)mfi(fenben Drbnung an feiner
Untgfbung/ fetnen ®er&ten unb an fid) Utt% Sfu^brucf ju ge6en«
9Ran f&r(f)te aber nid)t, bag id) ^ierfiber nun and) ntetne ^ti^titit,
bte id) nic^t ^abe, audframen tt>erbe; id) t)er(affe mid^ pterin auf bad, wad
^^t(i>fo)»I)en unb «Oiflorifer ju beric^ten ^aben«
SBenn id) fiber ben Sfnfang ber Aunft nun bod^ fd)reibe, fo bejie^t fid)
bad auf etwad n>ad tc^ fic^er mi^, tt>ad id) felber erfa^ren t)abt, unb n>enn
ed auc^ ttd)t fletn tfl, fiber mad id) bertd^ten toitl, fo ifl ju bebenfen, bag
Xnf&nge meiflend ffein ffnb.
3d) toage ed^ barfiber }u fdyreiben tt>te ber Aunfltrieb in mir feinen
^nfang genommen tjat 3n jebem Afinfller nimmt biefer 2rieb einmal einen
Xnfang; }ug(eid) benfe id), ba ^bie Xunfl im Seben bed Jtinbed" fo einiger^
magen an ber Zagedorbnung ifl/ fo ifl bad/ tt>ad id) t)itt erjd^Ien toiU, and)
„jeitgemAg"-
3ftfo meine dltefle Crinnerung ifl, bag id) in einer (Sde unferer
Sdbwarjw&fberflube fag mit einer Sc^tefertafel unb mit einem ®riffe(; ed
iDar nod) t)or ber 3eit ba bie Suben «Oofe» tragen bfirfen. 3d) mad)U
®trid)e barauf burd)einanber unb freute mid) baxan, bag fo etwad in meiner
J&anb lag ju mad)en. 3c() (ief jur flutter unb jeigte ed i^r; bie 3mntergute
pArte meine greube nid)t, fit fa^ ftc^ bte ®ad)e genau am mad)te toof)l
38 8^
nod) ein paar ®tn(f)e baju ober baDon unb erfl&rte mtr^ bad tft ein J^aui^
bad ein ^aunt^ etn ©artenjaun/ bet Sttibb^txaH ifl bet (Socfel^ ber gerabe
fr&^t ufn>. ®t6 er)&^(te n>o^[ auc^ nod) etne ®efd)td)te/ mad ailed m bem
J^aufe t)orgef)e ufn>« @o (ief id) jebedntal mit ber Safe! }ur Sautter unb fit
ntugte mtr fagen n>ad id) gema^t f^abt. ^alb fant and) 9Biffe in ntein
®efri^e(; id) f>e bie @trid)e jufamnten/ ed n>urbe ettoad baraud n>ad bie
2)2utter beutlid) aid ein @d)n>ein erfannte; and) id) fat) ed unb fo toax bad
(Sd)n)ein meine erfle fftnfllerifc^e @rrungenfd)aft 9alb tarn aud) ber Unter^
fd)ieb $»ifd)en ®d)tt)ein unb 9tog juflanbe, ein groger gortfd)ritt! ^reilic^
tarn ber nerfifd)^fritifd)e ffladibat unb erflArte, bad fei fein 9log, bag fei
nur ein @fel, ed f)a6e )u lange £)f)ren, — bad war bie erfle 66fe ^itif,
bie mid) tief gefr&nft f)at @d ifi ^alt ein genoaltiger Unterfd)ieb }n>ifd)en
Iie6enb erfennenben STOutteraugen unb fritifd)en 92ad)6ardaugen. 3n ber
3eit fd)nitt id) aud)/ aud jufammengelegtem ^apier^ Ornamente and unb
freute mid) an ber ©pmmetrie, bie in t)ielfad)er 3frt ^eraudfam. 3d) fag
oft flunbenlang bamit 6efd)&ftigt in einer flillen <S(fe« @in menfd)enfreunb^
Iid)er «Oauf[erer fam einmal unb teat gau} erfd)ro(fen aid er bad Heine Xinb
mit ber fpi^igen @d)ere fa^; er fd)impfte unb lieg ntd)t nac^^ bid man mir
bie ®(^ere n>egnai}m/ bad mar ^art ffir mic^ unb tc^ ^eulte.
7M (Snbe ber 60er Sa^re beina^e ein 3(udfleIIungdt)er6ot bon einem
^unflt)erein an mid) erging unb in ben fiebenjiger Sa^ren meine ^ilber
regelm&gig t)on ben beutfd)en ^unflgenofTenfc^aftdaudfleDungen abgemiefen
murben^ mar ed mir nid)t ^alb fo tfavU
J^oIjfd)nitte in einem ®tbetbnd} meiner Sante^ auc^ ber ^alenber unb
befonberd bie bunten ©pielfarten maren meine ^unflbilbungdmitteL Ser
®d)uflebub/ an bem ein «OfinbIein i)erauffprang/ gefiel mir am beflen; biefen
^J^finblibub" jeid)nete id) aud) auf etn papier mit ©leiflift ab unb fd)enfte
i^n meinem 93ater }um 9tamendtage« 3d) mar bamald 5 3a^re alt unb
meig bie B^it bed^alb fo gut ju beflimmen, meil mir^ aid id) 6 3a^re alt
mar^ in ein benad^barted J^aud umjogen unb id) fe^e nod) bie ganje j6rt^
Iid)feit an bem SOJorgen^ ba bie 3eid)nung fiberreid)t murbe.
Der Jrieb $ur *un(l, ber in bem einfamen Q3ernau fiber mid) fam unb
jmar fo flarf, bag er mic^ mein Sebtag nid)t mei}r t^erlaffen iiat, mar boc^
angeerbt unb jmar t)on mfitterlic^er @eite« X)er ®rogt)ater unb auc^ bie
^rAber meiner STOutter maren U^renmac^er; einer berfelben mar U^renfd)ilb^
maler unb in if)m lebte noc^ ein Steft einer nun t)erfd)munbenen 93auernfunil,
bie in i^rer ^rimitit)f)eit meid)en mugte t)or bem mobifd) fl&btifc^en ^unfl^
gemerbe, bad feine ©d)n6rfel in aKe lD6rfer l)inein renaifiancierte; id) meig
nod) gan) gut, mo f(^6nfarbtg bunte mit 93Iumen bemaltc ®c^r&nfe mit
92ugbaumfarbe ftberjogen murben unb man fid) ber ^unt^eit fc^&mte, bie
man „95aurenfilbe" nannte. Die ©riiber meiner STOutter fatten neben ber
tdglic^en Sfrbeit i^re ?ieb^aberei; fie trieben ^nftt, b. ^. jie mujijierten unb
fatten ^reube am ®efang« IDer ll^renfd)ilbmaler malte fur bie ^auemfluben
Safein auf ®Iad mit felfarben auf bie fXftcffeite; fTe m6gen fo fd)Ied)t
gemefen fein mie fie moden — ed mar tmmer^in ^unflfibung unb J^anbarbeit
unb tjat ben Sufammen^ang mit ber Aunflt&ttgfeit im Solfe mad)ge^alten,
ben bie fabrtfattondmeife ^ergefieOten ^orbenbrucfe ntemald erfe^ Hwtn.
39
(ixn DtiM 6ffc^&fttgtf ffd) mtt 3(flronotntf/ t. Ij. er madjtt auf fetner
£rel)6anf etne (Srbfugel^ bte in ®rabe ettigeteift unb mtt ben 9Be(ttet(en
angemalt wurbe; nun tDurbe em (anger Stfcf) gemac^t — etne iampt in ber
SRttte toar bte Sonne, etne fletne t)ergoIbete StuQtl wax ber 9Ronb auf etnem
Dra^fgefleD/ n>te bie @rbfuge( auc^. IDurc^ bie Umbre{)ung etner ^ur6e[
fant Qewegung in bte 9Be(t, bie (Srbe umftef bie ®onne unb mtt tt)r ber
9>{onb, ber tt>ieber urn <Te ^erumtief* 9Bir fonnten SRonb^ unb ©onnen^
ftnflemiffe mact)en. ®o fel)(te ed 6ei aKer ©ef(f)eiben^eit unb ©efdirdnft^eit
in ber Sorferiflenj boc^ gar n\d)t an ^^antaffeanregung unb meine fp&tere
9ieb^aberei fftr Aalenberpoefte ^at tootjl and) itjxtn Urfprung in biefen
frftl)ef}en Sagen, in benen mir bie ®e(t6en)egung unb ber Sauf ber ^eittn
fo (eib^aftig t)orgef&^rt murbe, bte td^ gewijferma^en fefbfl t)eran(affen fonnte!
£ie 3Inf&nge ber £un(l! 3d) btlbe mir gett>i0 nid)t tin, bag fte (ei
mir t)ie[ anberd gett)efen ftnb aH iei anberen ^&n{Hern and), unb id) tt)&rbe
geiDig nid)td bar&6er t)er6ffent[id)en, wenn id) mir nac^ li6erfd)reitung ber
@fd))iger 3a^re nid)t ba^ 9ted)t ^erau^n&I)me, auf biefe meine 3(nf&nge
)nrficfiufet)en. Die Satire be^ 3frterd <Tnb ja bie Sa^re bed 3Mtfidfc^auend,
benn nad) t)ome liegt nic^t me^r t)ie(. — IDie Sergangen^eit f&ngt an
reid) )u merben, n)enn einmal bie Sufunfr und feine befonberen ^r&ume
me^r t)orgaufe(n tt)in«
<Sd fam bie Sd^uljeit 3d) ^abe aber immer neben^er gejeid)net,
gemalt, gffc^ni^t, g^appt unb mir eine fletne SUBttt gejimmert 3d) nourbe
mir aud) immer me^r bttou^t, toie fd)6n bie ®e(t fet; id) beo6ad)tete bie
iffiolfeu/ bie t)erfd)iebenen Beiten be* Saljred, bie bad 3fudfe^en ber ®egenb
fo gan) t)er&nberten, (ange e^e id) batan benfen fonnte, fo tttoai }u ma(en,
e^e id) mugte, bag man fo ettoad t^ieOtetc^t and) ma(en f6nnte« Sange 3^it
i)inburd) tr&umte ic^ t)on einem S^^uberfpiegef, in bem id) aDe bie medifelnben
(Stimmungeu/ bie fiber mein (iebed ^ernauertaf ^injogen, fefl^aften finnte
— unb fa^ in$tt>ifd)en ailed in 6e$ug auf biefen SBBunberfpiegef ^in an: genau
fo mftgte ber ©piegel ed fe|ll)aften wte id) ed fa^. @o faf) id) ed benn aud),
aid ob id) biefer Spiegel felber wire. ®o m6d)te id) fagen, id) wurbe ganj
^uge, fc^on lange t)or^er e^e id) fDIittel mugte uub fannte, bnvd) bie man
biefe intenfTt)e ©e^Iuft einigermagen firieren f6nne. 3fld id) fo 12—14 3a^re
alt loar, )etd)nete id) t)ie( nad) alien miglid)en ^ilbc^en, bie mir in bie
J^onb famen, bie ic^ oft auc^ auf graued ^acfpapier t)ergr6gerte.
9alb nad)bem ic^ aud ber &d)nU tarn, tt>urbe id) nad) ^afel }u einem
?it^ograpt)en in bie ?ef)re getan. Sad @i|cn gefiel mir n\d)t 3d) befam
J^eimtoe^ nad) ^emau unb jugleid) ^ruflfc^merjen; ein 2lr)t riet aud), bag
ic^ mieber nac^ ^ernau ge^e, noo ed Diel geffinber fei. Eiefe furje ?e^rjeit
mar aber boc^ nid)t gang t)erIoren, benn 40 3a^re fp&ter mad)te id) n>ieber
^it^ograp^ien unb bie ^ec^nif mar mir nic^t fo fremb, mie ffe ed bod) fo
manc^em anberen SRaler fein mag* ^fir ein guted Sorflubium ^alte id) ed
and), bag ic^ fp&ter ebenfaDd in 9afet ju einem Slufhreic^er unb Sacfierer
in STrbeit fam; mand)ed «Oanbtt>erfti(^e, menn and) nur ^arbenreiben, gut
tmb fad^gem&g anflreic^en unb latfieren lernt man ba fennen, moju auf ber
•TCfabemie fetne (Belegenfyett ifL
(But ottgefiric^en ifl ^a(b gemalt!
-4^ 40 8^
®et etnem U^renfd)t(bnia(er in ^urtmangen lemte id) wteber ettoa^
me^r t^om fRafer^anbiofrf* Sort war id) fretltd) ttur ettt>a 4 SBodyen
^ro6e$fit, ba bte fRutter bie ©ebingungen M ietjmxtvai^ md)t erfftffen
fonnte. STOein SBoter ifl tjor^cr fdjoit im 3a^re 64 grftorben.
9tad) Qentau iur&cfgefe^rt^ k)frf(4affte id) mix ^Ifarben^ grunbterte
^appenbecff( unb Setnw&nbe unb malte ffetne ^tlbdyen^ nteifi nad) J^o()^
fdinttten ani ^&d^ent/ bte tdy in %avU &6erfe$te. IDod) malte td) and)
etgene (Srfinbungen unb kDagte mtc^ and) an ^ortr&M nady ber Statun
^ntand)t biefer ®a(f)en ^tttanfte id) and) in ®t* 93Iaften f&r wentg, a6er
f&r mtc^ bamal^ t)ie( ®e(b. 3ci) ftng and) an, tm ^reten nad) ber Statur
)tt )et(f)nen — tc^ tat bad fo t)te( ti>te migKd) ^etm(td) — t)erflecfte bad
8) 7&ppd)en/ mit bem id) metfi ©onntagd am (tebflen tn ben tteffien 9Ba(b
^tnaudgtng/ unter ber ^adt, mil bte Stad^barn btefe ^trlefanjereten ntc^t
geme fa^en*
9Bte unb toad metn etgentltd^er Senif fetn foKte^ wu^te id) k)or metnem
neunje^nten Sa^re noc^ nid)t — ©te flWutter f)atte ebenfo wit an meinem
etnfHgen ®c^tefertafe(gefrt$e[ t^re ^reube an bm, roai id) je$t mac^te unb
fie t)erf(^affte mtr gro^em 9u6 mit aDer eigenen Sfufopferung fo t)iel freie
3eit aK nur mi^lid), bag id) meinen $ie6^a6ereien nad){)&ngen fonnte«
fRein nic^t erla^menber Jtunfltrieb fanb aber nac^ unb nad) bei ^e^
fannten unb anberen J^erren ber 3Imtdflabt ®t ^(aften 9ead)tung unb
burd) 93ermitt(ung t)on bort unb nac^bem ber IDireftor ber ^arfdru^er £unfl^
fd)u(e, &d)imtt, meine Sfrbeiten fe^r g&nflig btQntad)tet t)attt, ebneten
einige ^nflfreunbe unb befonberd ber ®ro0^er)og bte erflen 9Bege^ fo bag
id) im J^erbfl 1859 in bie Jtunflfc^ule aufgenommen wurbe.
J^iermit ^6ren meine 3(nf&nge ber Ihtnfl auf unb bie afabemifd)e (tt^
jie^ung f&ngt an.
^enn id) nun inv&dblide, fo ftnbe id), bag ed bod) eine gute du
)ief)ung )ur Aunfl war^ bie id) aid SSorbereitung jum eigentlic^en Stubium
mitbrac^te, unb bag eigentlic^ nic^td t)erIoren gegangen i{t, mad id) mit
ermorben ^abe^ menu ed and) mit t)om 3iele abjuliegen fd)ien.
®o t)ie( ^ilber^ mie man je$t ben Ainbem jur Srjie^ung jur Stnn^
t)or(egen fann^ ^atte id) frei(id) nic^t; me(leid)t ^at aber gerabe biefer
9) ?ange( meinen ^nfltrieb baf)in gebrad)t, bag ic^ mir felber ^ilber )U
mad)en t)erfud)te« IDurc^ bad SBorlegen aDer m6gnd)en ^ilber merben bie
^inber t)ie((eid)t ^unflfenner; ^nfller merben bod) nur bie, in benen ber
ge^eimnidt)oIle Zrteb jur eigenen ^et&tigung grog genug ifl — benen er
g(eid)fam angeboren ifl. 9Iur biefe beffegen aOe J^inberniffe.
Sad ifl and) gut, bag ed fo ift, benn baburd) mirb ber ^nfl i^r
f)6d){lti ®ut gett>a^rt, ber Sufammen^ang mit bem tiefflen Dafein, ber gar
oft fe^r t)erfd)ieben ifl Don bem, tt>ad ftcf) bie ®d)uln)eid^eit aid ^nfl tr&umen
laffen faun.
Tbai Se^agen, bad in ber ^tudfibung einer Aunfltdtigfeit liegt, ifl fe^r
grog, unb man barf rno^I anne^men, bag ber Jtfinfller ein bet)or}ttgter
^enid) Ui* Ded^alb bfirfte and) bad bigd)en 9ebendmif6re, and) mnn ed
oft t){el ifl, bad jubem ber A&nfller mit aOen anberen fRenfd)en gletd)m&gig
)u tragen ^at, nidjt in mic^tig genommen merben. Dad Serfennen ber
41
Otttwelt^ ba^ ja (fiber ^ter unb ba aud) borfommt^ burfte and) nur bent
C^rget) etnen ®tof geben, aber ba^ etgettt(td)e 9Befen barf e^ nid)t trritteren*
Ibit Ttnf&xiQt ber Xnnft werben tntmer tnfltnftit)er fflatux fetn« X)te
(SviietjunQ t)otl)te^t fic^ unben>ugt — bte ©runblage wtrb gelegt ju etner
nac^fofgettben benou^ten (Sr}ie^ung unb TlnibilbnttQ, tottd)t tmmer fo 6en)U0t
fetn foO, bag fte bte mittouite @r)tef)ttn9/ bte^ Capital refpeftiert
3n biefe bemugte <Sr)te^ung fant id) in ntetnent jwanjtgflen Seben^^
ja^re* Ibit Se^r|etr^ bte in ber Aunfl ntd)t abjufd^Kegen fc^etnt (Si ^anbelt
flc^ bod) urn ben Xudg(etd) )n)tfd)en bent Snfitnfttben mit bent bell 95en)ugten;
bte« mad)t bte SBege ber Aunfl fo fd^mer, jugletc^ aber and) fo (ebendt)oD*
(Sin ®uc^en unb fXingen nac^ bent boUen Tiuibtnd feenfd)er SBorg&nge^
(InnKc^er SorfleOungen, ein Dbjefttbierenwonen ber ®e(t^ n>ie fte fid) in
itnferent @eiu unb ®inn barfledt/ ein ®ud)en nadj ben materieOen SRittefn,
bie biefeni Stu^brucf fTd) f&gen ntftffeu/ bad tfl ber n)ette ^eg jur StmH,
mterreid^bar unb bod) bor^anben auf jeber Stufe, ju ber reined^ unegoiflifd^ed
@treben gefitl)rt tjat
9Bie ic^ ntir aber bie fpflentatifd^e (Srjie^ung jur £unii auf einer
Titabmit benfe^ ^abe id) berfud)t, in einent Sortrag }u erirtem^ ber in ber
,,XOgemeinen S^itung" abgebrucft tonvbe. J^ier tj&ttt fobann bie reine 93er^
fianbedarbeit einjufe^en^ bie ftd) flar )u totxitn Derfuc^t uber bie fDtitttl
unb ^omten, in bie ffd) bad S^aod ber (Smpftnbungen untfe$t junt tlaun,
pr&)ifen Tltabxnd.
®d)Ke0(i(^ ifl ed bod) ber Hare SSerflanb^ ber bad J^6d)fle in ber^unfi
^erborbringt; — aber ber Serflanb miigte fo berfl&nbig mxbtn, bag er ftc^
immer bom (ebenbigen ®efii^[ (eiten (dgt
Die Kunststadt Mtinchen.
Von Paul MarBop in Munchen.
Ein Stuck Selbstbewusstseln: das gebt dem Suddeutacben zur Zeit
nocb ab. Er ist gefestigt und stark in seiner Eigenheit: er hat alte
Knltur; er erflndet und gestaltet aus der Fulle einer reichquellenden,
von einer Freigebigen Natur genihrten Pbantasie. Doch es widerstrebt
itam, die Summe seines KSnnens, seiner Vorzuge zu Ziehen. Widrig
ist ibm, was irgendwie nach Eigenlob schmeckt. Rasch zur Tat gerfistet,
aber just keiner der Mundfertigsten, wird er voUends wortkarg, wenn
andere von sich zu sprechen beginnen. So stellt er oft sein geistig Gut
42
unter den Scheffel. Und so kommt es, dass ihn die unterschitzen, die
nach dem Schein urteilen. Sorglos, vertriglich, hier und da auch bequem,
findet er sich darein — bis zu dem Grade, dass er sich schliesslich
selbst unterschitzt und mit einem Ruckplatz im Welttheater vorlieb
nimmt. Er macht kein Wesens davon, dass er ideelle Werte schaift,
welche die besten Reserven des Volkswohlstandes sind. Gew&nne er
voile Klarheit uber das, was er vermag, so wurde sein Selbstbewusstsein
wachsen, seine Kraft sich steigem, sein Ansehen sich gewaltig heben,
sein Einfluss in vielen Dingen entscheidend werden.
« «
«
Vor einiger Zeit brachte ein himischer Ndrgler das Wort .vom
»Niedergang Miinchens als Kunststadt* in Umlauf. Tat er's aus
Originalititshascherei oder im Auftrage anderer? Gleichviel: jenes
Wort wurde begierig von den vielen aufgegriffen, die an ihren Vorurteilen
gegen kemhafte baierische Art im besonderen, gegen freies suddeutscbes
Wesen im allgemeinen zih festhalten. Sie schlugen auf Munchen, sie
meinten den gesamten deutschen Siiden, den sie ein wenig zu ducken
versuchen wollten. Dessen wurde man an der Isar nicht gewahr. Der
Angriir war heimtiickisch; die Abwehr fiel matt und ungeschickt aus.
Wie konnte man sich auf eine Erdrterung uber eine angebliche
Nebenbuhlerschaft Munchens und Berlins auf dem Gebiete der Kunst
uberhaupt nur einlassen? Eine Kunststadt ist doch nur ein Ort zu
nennen, an dem ein kriftiges, ursprungliches Kunstschaffen sich jahraus
jahrein offenbart und fiir das gesamte Gemeinwesen die beherrschende
Note angibt — nicht ein Ort, der allerdings mit Recht als guter Bilder-
markt und Tanti^men- Regulator angesehen wird, der jedoch, da er das
politische, militirische und geschiftlicbe Zentrum des Reiches ist, just
deshalb nur ausnahmsweise einmal einem Kunstler gestattet, sich zwischen
Kaseme und Stadtbahn nach seiner Weise auszuleben und auszutrdumen?
Ohne Entrustungsausbriiche, ohne elegische Klagen hfltte man den Tadlem
und Neidem all das in gedrflngter, ubersichtlicher Zusammenstellung
vorweisen sollen, was Munchen als kunstlerischer Vorort des deutschen
Sudens in den letzten dreissig bis yierzig Jahren seinem vHaben*" zu-
zuschreiben imstande war. Nflmlich:
Das Wiedererstarken des Kunstgewerbes. Die Begrundung von Schulen
und WerkstMtten, in denen sich nach langen Perioden geistiger Abh&ngigkeit
zuerst wieder eine Heimatkunst ihrer Zeit gem&ss schdpferisch bet&tigt.
Die Verpflanzung solcher Bestrebungen durch M&nchner Kunstler nach
Stuttgart und Darmstadt, nach Dresden und Berlin, fiber die Alpen und
fiber den Ozcan.
Das Entstehen und Anwachsen neuer mSchtiger StrSmungen in der
Malerei. Die erste deutsche ^Seze^sion*', hervorgerufen und befestigt
durch Georg Hirth, gefSrdert durch einen hochsinnigen, vorurteilslosen
Regenten. Das Hervortreten einer stattlichen Reihe junger, starker
43 g.^
Begabungen: die Ruckkehr zur Natur, der Triumph der Hellmalerei,
das Zuruckdringen uberlebter Konventionen. Im Zusammenhang damit:
eine durchgreifende Reform der Ausstellungstechnik, die bald fur Inland
und Ausland vorbildlich wird.
Fortschritte und ausschlaggebende Neuerungen im Bereiche der
szenischen Ktioste. Das Munchener Residenztheater erschliesst als erste
deutsche Hofbuhne Henrik Ibsen seine Pforten: die Wendung zum Realis-
mus, der Beginn der noch keineswegs ausgetragenen, ftir die Entwicklung
der deutschen Dichtung und der modemen Darstellungskunst gleich
bedeutsaroen Kdmpfe zwischen idealistisch gehobenem und realistisch aus-
deutelndem Stil im gesprochenen Drama. Die Erdffnung des Munchner
.Schauspielhauses*, des ersten zweckvoU fiir die Wiedergabe des intimeren
Gesellschaftssttickes angelegten und sinnvoll ausgeschmSckten Theaters. • —
Wiederumauf der Hofbuhne: die Einrichtungder vereinfachten, insbesondere
fur eine getreue Wiedergabe der Tragddien Schillers und Shakespeares ge-
eigneten Szene: der erste, hoch dankenswerte Versuch, den verderblichen,
durch die Meininger und ihre Nachtreter herrschend gewordenen De-
korations- und Ausstattungsluxus einzuschrinken, den Schwerpunkt des
Bfihnenspieles wieder auf lebendig gefuhrten Dialog, schlicht wirksames
Spiel und klar gegliederte Gruppenplastik zu legen. — In der Oper:
die Einburgerung der Werke von Peter Cornelius. — Possart, der
Generalissimus: die Logik eines meisterlich klugen, jeden Winkel der
Handlung scharf beleuchtenden Realismus tritt in die Opemregie ein.
Die Munchner Mozart -Renaissance, das schSnste kulturhistorische
Illustrationswerk fur Musikfreunde. — Die ErdfTnung des Prinzregenten-
theaters: die Kunststadt Munchen nennt unter alien grSsseren Gemein-
wesen des Reiches zuerst ein sich an das Vorbild des Bayreuther Theaters
anlebnendes, echtes und rechtes deutscbes Bubnenhaus ihr eigen. Die
festlichen Auffuhrungen Wagnerscher Dramen. Die Klassiker-Vor-
stellungen an gleicher StStte: eine vom Zuschauerraum v511ig getrennte
Buhne weist auf Mdglichkeiten, auch im rezitierten Schauspiel wieder
zu stilistisch abgeklirtem Vortrage zu gelangen. — Die Munchner Er-
fahrungen und Erfolge schlagen durch. Der Bau flhnlicher H&user wird
anderwirts in Aussicht genommen und vorbereitet. Eine Wendung in
der Theatergeschichte kundigt sich an.
Im Entwicklungsgebiet der freien Musik: der MQnchner Richard
Strauss tritt das Erbe Franz Liszts an — Beginn der zweiten Periode
der symphonischen Dichtung.
In der Architektur: das neue Nationalmuseum. — Das allmShliche
Heraufkommen eines neuen, aus bodenstdndigen Traditionen einer
frttchtbaren Vergangenheit organisch herauswachsenden Stiles. Was
anderwirts bei muhsamem Tasten im einzelnen sich meist noch als
spielerischer Versuch anlSsst, erhMlt bier bereits kunstlerische Gestalt.
(Schvabing und Bbgenbausen.) Monumehtale Brunnen (Hildebrand)
und BrScken.
Endlidi: die Entstehung von Kunstzeitschriften ersten Ranges, mit
erstannlicben, bisfaer unerhSrten Leistungen auf dem Gebiet der kfinst-
lerischen Reproduktion. — Die vordetn noch unerreichte Verschwistening
von Bild, lyrischer oder satirischer Poesle und fein abgestimmter de-
korativer Zutat, wie sie in der .Jugend* zutage trat. Der Jugendstil*
kann freilich mit billigen Mitteln schlecht nachgeiift werden; dass er
ein neues, triebkrdftiges Element im gesamten modernen Kunstwesen
darstellt, wird kein Verst&ndiger bestreiten.
Dies also eine knappe, keineswegs luckenlose Aufrechnung dessen,
Fortschritt heisst nicht: nervSses Aufepuren von etwas Verbluffendem,
noch niemals Dagewesenem. Sondern riistiges VorwSrtsschreiten auf der
Entwicklungsbahn, welche die fuhrenden Geister im Volke, welche vor
allem die Genien der Kunst freilegen. So verschwimmen auch die
Zukunftsaufgaben Munchens keineswegs im neurasthenischen Nebel.
Vielmehr sind sie in ihren Umrissen deutlich zu erkeonen. Es sei ver-
sucht, auch sie mit bundigem Wort zusammenzufassen. Was gilt es in
Angriff zn nehmen und auszugestalten, was tut not?
Im Gebiet der bildenden Kunste. Neuordnungen der grossen
Staatssammlungen: Einteilung der Pinakotheken in Ehrenslle» welche
die allseitig anerkannten Meisterwerke in sich vereinigen, Feierrlume
ftir isthetische Erbauung und Erziehung sein soUen — und in historische
Galerien, die den grossen Tross der Schulbilder beherbergen und in
erster Linie Studienzwecken dienen. Munchen musste den Ehrgeiz
haben, als erste Residenz seine Pinakotheken zu wahren Volksbildungs-
Anstalten umzuschaffen. — Zu begrunden ist ein stidtisches Museum,
das einen Oberblick fiber das Werden der im engeren Sinne beimischen
Kunst gewShrte. — Durchgreifende Reform der grossen Kunstaus-
stellungen, die in ihrer jetzigen Einrichtung sich uberlebt haben und
nicht mehr recht j^zugkriftig'' sind. Bau eines Ausstellungshauses auf
dem Terrain des Glaspalastes, mit durchgingig guten Lichtverhiltnissen.
Mindestens ein Drittel des Flicheninhaltes wird im vomherein dem
Kunstgewerbe vorbehalten. Wiedervereinigung der getrennten Kunstler-
gruppen unter staatlicher Agide. Abwechselnd, ein Jahr um das andere:
eine deutsche Kunstausstellung, und eine Internationale mit Ausschluss
Deutschlands, um hier wie dort genugsam Eigenartiges und WertvoUes
bieten zu kdnnen. Nicht mehr als zwdlf SUle fur die Malerei, drei fur
die Plastik, und die entsprechenden Riume fur die Schwarz-Weiss-Kfinste,
sowie fur architektonische Pline und Modelle. — Begrundung einer
staatlichen Hochschule oder Akademie fur Kunstgewerbe, mit aus-
gedehnten Werkstitten und stindigen Ausstellungs-LokalitSten.
Im Bereich der szenischen Kfinste« Vor allem: systematiscbe
Ausnutzung aller ideellen Vorteile und praktischen Gegebenheiten, die
das Prinzregenten-Theater mit seiner besonderen Buhnenkonstruktion,
seinem verdeckten Orchester und seinem amphitheatralisch ansteigendem
Zuschauerraum bietet Keiri Zdgem, damit Munchen die Prioritit des
Fortschritts auf alien hier in Frage kommenden Teilgebieten der drama-
tischen Darstellung gewahrt bleibe. Mit das wichtigste: das Prinz-
regenten-Theater muss die Kontinuitit der Entwicklung im musikaltschen
Drama aufzeigen, muss ein ^Bayreuth derjungen werden. Voreinem
-4-8 45 J.^
halben Jahr veroffentlichte ich elnen .erweiterten Festspielplan* fur
dieses Haus; ich bringe ihn hier wieder in Erinnerung:
was die Kunststadt Munchen wihrend der letzten Jahrzehnte fur sich,
fur Deutschland, fur die zivilisierte Welt geschaffen und ins Werk
gesetzt hat
Im Zeichen des entschiedenen, jeweilig mit Notwendigkeit nick-
sichtslos vordringenden Fortschrittes auf alien Gebieten der Kunst hat
sich Munchen seine Stellung im neuen Reich erobert. Solchergestalt
kam der Freisinn des deutschen Siidens zum Ausdruck. Bleibt Mtinchen
die Stadt der Jungen und sich jung Erhaltenden, der Wagenden, derer,
die mit jedem lebfrischen Heute gegen jedes kopfhSngerische Gestem
revolutionieren, dann wird ihm die Zukunft gehdren. Wenn nicht, wird
es mit der Zeit einschlafen, sich aus den Zentren regsamen Lebens
ausschalten, und im dumpfen Brodem eines kleinstaatlich angehauchten
Philisteriums verkummern.
I. Im Friihling, um die Pfingstzeit:
A. Zyklische Darstellungen von Werken Schillers, Goethes,
Shakespeares, Kleists, Hebbels» Grillparzers.
B. Auffuhrungen von musikalisch-dramatischen Werken
zeitgendssischer Tonsetzer.
IL Im August und September: Auffiihrungen von Werken
Richard Wagners.
III. In der Weihnachts-, sowie vor und in der Karwoche: Auf-
fuhrungen von Tonschdpfungen religidsen Charakters, die
eine szenische Wiedergabe zulassen.
IV. An historischen Gedenktagen und anlisslich allgemeiner
Landesfeierlichkeiten: festliche Auffuhrungen von Werken,
in denen ein edler patriotischer Geist sich kiinstlerisch aus-
spricht — von Kleists ^Herrmannsschlacht*" bis zu Martin
Greifs Dramen aus der bayerischen Geschichte.
V. Fest- und Volkskonzerte bei geschlossenem Buhnenvorhang,
in Benutzung des verdeckten Orchesterraumes und bei ab-
gedflmpfter Saalbeleuchtung, mit ilterer und neuerer sympho-
nischer Musik.
Filr sp&tere Zeiten, bei wachsender Einwohnerzahl: Bau eines
architektonisch ganz einfach gehaltenen, der Stadt Mtinchen gehdrenden
und von ihr verwalteten Volkstheaters, womdglich in Fachwerk, gleich-
falls mit amphitheatralisch gehaltenem Zuschauerraum und verdecktem
Orchester.
Auf dem Felde des otfentlichen Musiklebens: Bildung eines
stMdtischen Orchesters, beziehungsweise Umwandlung des Kaim-
Orchesters in ein stftdtisches. — Bildung eines grossen gemischten
Chores, dessen Dirigent v511ig unabhingig, also an keinem staatlichen
Institut tatig ist. — Bildung eines Volkschores. — Bau eines den An-
forderungen uoserer Zeit genugenden UaterrichtsgebMudes fur die endlich
nach den VorschlMgen Richard Wagners und Hans von Bfllows zu
reorganisierende .Akademie der Tonkunst"; darin Buhnen- und Konzert-
saal — beide mit verdecktem Orchesterraum. Zwei Seitenfltigel; im
einen wire eine unter historischen Gesichtspunkten geordnete Instru-
mentensammlung, im anderen die musikalische Abteilung der Staats-
bibliothek unterzubringen.
«
Noch eines ist fur die Zukunft der Kunststadt Mtinchen von
hdchster Bedeutung: Erhaltung der landschaftlichen Schdnheit der engeren
und weiteren Umgebung. Durch gewerbliche Anlagen, durch die Hiufung
von LandhMusem, die dem Charakter der Gegend nicht immer mit
Verstdndnis und Geschmack angepasst wurden, hat man schon manches
verdorben. Fur Fremde und Einheimische werden der Stamberger See
und das Isartal nach wie vor die erfreulichsten „Ausstellungsobjekte''
sein — so lange man sie nicht entstellt. Und fur die Ktinstler sprudeln
im Alpenvorland unerschdpfliche Quellen der Anregung und Erfrischung
— sofern es die Spekulation nicht schindet. Die Konige haben Ktinstler
nach Munchen gerufen, die Natur bat sie festgehalten. Sie liess sie
sich dem Boden assimilieren, mit ihren Gedanken hier Wurzel fassen;
sie fesselte ihre Phantasie. Durch sie lernten sie Sinn und Herz des
Volkes verstehen, durch sie wurden sie zu frohgemuten Munchnem.
Wer einmal zur guten Stunde vors Tor, am rauschenden Bergstrom
entlang gewandert ist und das Fest- und Feierspiel eines Sonnenunter-
ganges im Duft, im Goldglanz, in den tausend Farbenbrechungen der
Atmosph&re des Hochmoors entzuckt und dankbar genoss, der schwur
sich Isar-Athen fur immer zu. Moge diese Aureole der Kunststadt
nie zerstdrt werden!
Wie der Einzelne, so garantiert sich auch die Gesamtheit ihre
UnabhSngigkeit am besten durch positive Leistungen* Gleichviel auf
welchem Felde sie vollbracht werden: mit ihnen erzwingt man sich
Respekt, mit ihnen erweitert man seinen Machtbereich. L5st der Sud-
deutsche durch den festen Willen, sich frei und stark zu erhalten, alle
in ihm noch schlummemden Krifte aus, rafft er das, was er bisher
sorglos in heiterem Spiel hierhin und dorthin verstreute, zur Fdrderung
ernster Arbeit zusammen, so wird sich bei gesteigertem Selbstbewusst-
sein sein Kdnnen in Bdlde erstaunlich mehren. Es ist an der Zeit,
sich tuchtig zu ruhren, mit der Tat zu erweisen, was man zwischen
Main, Rhein, den deutschen Alpen uud den bdhmischen Grenzgebirgen
auf alien Gebieten geistigen Lebens aus Eigenem erzielen kann.
«Los von Berlin" zu rufen, das bringen schliesslich auch Schul-
buben fertig. Doch dem fragwurdigen Luxusgeschmack, dem Geschifts-
virtuosentum, der literarischen Grosssprecherei einen gesunden, ge-
47 8^
festigten, ftirbechten Munchner Stil entgegeozusetzen, das w&re das Tun
ernster M2nner, die den rechten Heimatstolz haben. War die Neigung
zum politischen Partikularismus fiir Deutschland von jeher ein Ungltick,
so haben ihm im Ringen urn die hdchsten Kulturguter die Dezentrali-
sation und der Wettbewerb der verschiedensten Lehr- und Schaffens-
stltten immer zum Segen gereicht, ja seine Grosse heraufgefiihrt. Wohin
die persdnlichen Neigungen der zukunftigen Herrscher Bayems nur
immer gehen mogen: sie werden sich ihres edelsten Reservatrechtes,
der grosssinnigen Pflege von Kunst und Wissenschaft, niemals entiussem.
Sie werden auch jede Begabung nach ihrer Art schalten lassen, ohne
Isthetische Exerzierreglements aufzustellen. Jedes Opfer, das sie, das
grossherzige, beguterte Patrioten, die dem gegebenen Beispiel nacheifem,
fur ideale Zwecke bringen, kommt im verzehnfachten Masse dem Volks-
wohlstande zugute. Und jeder Sieg der Mflnchner Kunst bedeutet eine
neue Bfirgschaft fiir den starken, dauemden, moralischen Einfluss Bayems
und Suddeutschlands im Reiche.
Deutsches Theaten
Von Josef Hofmiller in MQnchen.
I.
Die Grunds&ule des deutschen Theaters ist die franzdsische Posse.
Das Munchner Schauspielhaus hat in der Zeit vom 1. April 1902 bis
zum 31. Mirz 1003 ungefihr 120 Abende den Franzosen (darunter un-
geflhr 80 Abende der franzdsischen Posse), 20 den Russen, 25 den
>lorwegem und 12 d'Annunzio gewidmet. Anzengniber kam an
5 Abenden, Hebbel ein Mai zu Wort. Man glaube ja nicht, dass es an
andem Biihnen wesentlich besser stehe. Wenn man uber das deutsche
Theater unserer Tage schreiben will, muss man mit den Auslindem
beginnen. Wenn man das Theater der Gegenwart als das auffasst, was
es seinem Wesen nach ist: als ein im allgemeinen mittelmissig rein-
liches GeschSft, so ist es nicht mehr als billig, als dass man vor allem
von der fhinzdsischen Posse spreche. Das sind die Tatsachen. Soweit
sind wir gekommen.
Es gibt zwei Mdglichkeiten, sich mit diesen Tatsachen abzufinden:
die eine ist, daruber zu schimpfen; die andere, ihren Grunden nach-
zugehen. In jedem Fall muss man eines tun: sie anerkennen; leugnen
48 8^
hilft nichts mehr. Am 4. Mdrz 1900 hat Sttdermann das deutsche
Drama gepriesen, «das nicht mehr den Franzosen ihre Kntffe und
Schliche abguckf Das war, um nicht unhdfiich zu werden, lediglich
eine Sudermftnnische Behauptung. Das Gegenteil ist wahr. Niemals
war der Einfluss der Franzosen grdsser als jetzt. Niemals ihre Herr-
schaft unumstrittener. Zwischen fruher und jetzt besteht nur ein,
allerdings wesentlicher Unterschied: friiher kamen nur die besten Fran-
zosen zu uns, Augier, Dumas, Sardou, Pailleron, Meilhac, Gondinet,
und wurden haupts&chlich in den Residenztheatem gespielt. Jetzt
kommen vor allem die Possenzoten und Zotenpossen zu uns, Capus,
Bilhaud, Hennequin, V6ber, Feydeau, wihrend die feineren franzdsischen
Dramatiker der Gegenwart entweder gar nicht zu uns heruberkommen,
Oder aber abgelehnt werden: Lemaftre, Lavedan, Rostand, Courteline
Donnay, de Curel, Hermant, Fabre, Guinon; gespielt werden diese
Possen in den urspriinglich fiirs naturalistische Drama bestimmten
SchauspielhUusem.
Man muss etwas weiter ausholen, um den Grund dieser bedauer-
lichen Erscheinung zu finden. Der Grund ist nimlich der, dass sich
seit ungefahr zwanzig Jahren eine Spaltung des Publikums in mehrere
Lager vollzogen hat, eine Spaltung, die wohl an dsthetischen Symptomen
erkannt wird, aber auf Skonomische Ursachen zuruckzufuhren ist.
Die Leute, die Mher in die Hoftheater gingen, waren aus alien Lagem
zusammengesetzt, aber den Kern bildeten die Gebildeten; sie bestimmten
den Geschmack, sie gaben den Ton an, in ihr Urteil stimmte die
weniger gebildete MinoritUt ein, auch wenn sie es nicht teilte. Dieses
Verhiltnis verschob sich sachte, aber unaufhaltsam. Fines schdnen
Tages war die Minoritit zur Majoritit geworden und wollte eine Kunst
haben, die ihr gefiel, nicht den andem. Das zweite Publikum war da.
Ftir dieses zweite Publikum wurden die modemen Schauspielh&user
erbaut, die modemen Konzertsile, die modemen Kunstausstellungs-
gebiude. Das alte Publikum hatte mehr Geschmack als Geld gehabt;
das neue hat mehr Geld als Geschmack. Das alte war geneigt, die
neue Kunst um dessentwillen abzulehnen, well sie neu war. Das neue
Publikum schwSrmte fur Kunstwerke, wenn und weil sie modem waren.
Jenes alte Publikum war konservativ, aristokratisch und fullte die
abonnierten billigen Logen. Das neue Publikum ist ohne Kontakt mit
der kunstlerischen Tradition, denn es besteht fast nur aus Parvenus;
es ist demokratisch, kokettiert mit dem Sozialismus; es sucht in der
Kunst nicht Kunst, sondera Nervenkitzel, Aufregung, Skandal; es fullt
die teuera Sperrsitze, es besucht alles Moderne, weil es modem ist;
es kauft teure Plitze, weil sie teuer sind; es ist tiberall vome daran,
wo man gesehen wird; es schwirmt fur Gutes und Schlechtes, Bestes
und Gemeinstes unterschiedlos, wenn es nur vom Neuen das Neueste
ist. Das alte Publikum bestimmte eine Richtung, das neue bestimmt
den Marktwert. Der Geschmack des alten war schwSchlich, der des
neuen ist direkt schlecht; es hat uberhaupt keinen Geschmack; es hat
nur Geld; und damm will es seine Kunst haben. Das altere Publikum
49 8^
batte im Drama eine Welt gesucht, grossartiger als die seine, freier,
edler, vornehmer, als die seine; darum hatte es die guten Franzosen
bevorzugt. Das neue Publikum will entweder seinesgleichen sehen,
also Parventis ohne Geschmack, ohne Tradition, Alltagsmenschen,
die von mdglichst ordiniren Beweggrunden geleitet werden; Oder
aber es will warm und weich im Parkett sitzen und auf der Buhne
recht viel Elend sehen, graues, eintdniges, unendliches Elend: die
feistesten Protzen haben am meisten fiir die wWeber** geschwHrmt;
Oder endlicb, es will Zoten. Zoten will es immer. Mdglichst ein-
deutige, mdglichst saftige, mdglichst dicke, ordinSre und vor allem
dumme Zoten.
Inzwischen machte der Naturalismus bankrott. Was ein franzd-
sischer Kritiker von den Franzosen gesagt hat, gilt mit viel mehr Recht
von unsem Jungen: „Le fait litt6raire le plus notable de ces dix
demidres ann6es, c'est la faillite universelle de la jeune litt6rature,
I'abdication totale des nouvelles g6n6rations litt6raires. On n'a vu nul
6crivain nouveau progresser r6guli6rement, parvenir graduellement ii la
domination des esprits contemporains. Non, quelques talents ont paru,
puis disparu. Et on est d^s aujourd'hui contraint d'affirmer que rien
ne justifiait Tespoir qu'on avait repos6 sur eux, rien, absolument rien.'^
So standen die Dinge auch bei uns, gerade um jene Zeit, da
Sudermann mit SudermMnnischen Argumenten eine SudermSnnische
Wahrheit verkundete. Damals teilte sich auch das neue Publikum, und
zwar in drei Lager: Die einen zogen sich von der Literatur und vom
Theater zuruck und legten ihr Theatergeld — (Bucher batten sie ohne-
hin nie gekauft) — in seidenen Kleidern, Parfums, Zigarren, Truffeln,
Midchen, Badereisen, Gemalden und Terrainaktien an. Die andem
wollten die Zote mit mdglichst wenig Sauce: sie fiillten die um jene
Zeit entstehenden Uberbrettl. Die dritten wollten eppes e Spannung,
eppes e Bildung und eppes e Zot': sie blieben dem deutschen Theater,
d. h. der franzdsischen Posse, treu. Von ihnen leben unsere Schauspiel-
bauser. Ohne sie wMren sie leer. Sie bestimmen den Geschmack, sie
geben den Ton an, sie machen den Kurs. Daneben fristen . die vom
litem Publikum damals bevorzugten Schauspielhauser, besonders die
Hoftheater ein kirgliches Dasein: sie nehmen vom Unkunstlerischen
das relativ Kunstlerische, vom Unanstandigen das relativ AnstMndige,
vom Blddsinnigen das relativ VerstMndige. Sie nehmen den Schlafwagen-
kontrolleur und die Medaille; sie nehmen 'den Hochtouristen und
Es lebe das Leben. Die besten Stucke, die am meisten einbringen,
durfen sie nicht erwerben: denn sie haben eine Tradition, die sie nicht
auf einmal, sondern ratenweise opfern. Die besten Stucke aber, die am
meisten einbringen, sind heutzutage die ganz unanstMndigen, die ganz
unkunstlerischen, die ganz blddsinnigen.
Das sind die Tatsachen. Soweit sind wir gekommen. Was kdnnen
wir dem alien gegenuber tun? Die Augen aufmachen, uns nichts vor-
machen lassen, rticksichtlos die Diagnose stellen, rucksichtlos die
Wahrheit sagen, Niemanden und Nichts schonen, nicht die Direktoren
S&ddeutsche Monitshefte. 1, 1. 4
so
noch die Verleger noch die sogenannten Dichter, am allerwenigsten aber
das Publikum. Und das — werden wir. —
II.
Die Deutschen haben keine Tradition im Drama. Welche Vorteile
sie dem Werdenden bote, lisst sich nicht ermessen. Sie gibe ihm den
Boden, auf dem er frei sich bewegte. Sie brichte ihn in unmittelbare
Beziehung zu den Grossen und Glucklichen, die vor ihm geschaffen haben.
Vor Geschmacklosigkeit bewahrte sie ihn wie vor Konvention; sie lockte
sein Persdnliches und Eigentumliches ans Licht; denn damit nur kdnnte
er sich unterscheiden. Aber jeder deutsche Dramatiker muss wieder
von vorn anfangen. Das bedeutet fur den Einzelnen eine Kraftversch wendung,
die tief zu beklagen ist. Unsere Stirksten, Hebbel und Otto Ludwig,
haben sich uberanstrengt und sind erschdpft auf halbem Wege znsammen-
gebrochen.
Das dramatische Elend aber, an dem wir seit dem Ende der achtziger
Jahre laborieren, ist unerhdrt. Haben wir gegenwSrtig (iberhaupt ein
deutsches Drama? Oder hat das deutsche Drama der Gegenwart seinen
Namen davon, dass es weder deutsch noch dramatisch ist? Gehdrt es
zur traurigen Sorte der alkoholfreien Weine, der nikotinfreien Zigarren?
Sicher ist, dass durch alkoholfreie Weine und nikotinfreie Zigarren nur
Geschmack und Geruch, durch die Dramen des jetzigen deutschen
Theaters aber alle fiinf Sinne auf einmal beleidigt werden. Daher ist
auch der unfahigen Dramatikem mit Recht verhasste Theaterkritiker
unter alien Rezensenten der am meisten und aufrichtigsten zu bedauemde.
Welche Meisterwerke hat die modeme Malerei, welch starke Talente die
gegenwirtige Musik aufzuweiseni Die Literatur ist ja im allgemeinen
wertlos, aber die Mdglichkeit ist wenigstens nicht ganz ausgesch lessen,
dass auf neun Romane von Ompteda einer von Rosegger tritft. Der
dramatische Kritiker jedoch, der sich in die erste Auffuhrung eines
neuen Stuckes begibt, ist fast stets in der fatalen Lage eines Polizisten,
der freundlich eingeladen worden ist, die Begehung eines groben Unfugs
mit seiner Gegenwart zu verschdnem. Jeder neue Dramenjahrgang ist
so sauer wie der vorige; jedesmal wird uns versprochen, heuer sei es
ganz bestimmt ein edler und krflftiger Tropfen, — aber ach, es ist immer
wieder Schreiberhauer Milieuwinkel oder Griensteidler Geniehohle. Ist
es ein Wunder, wenn wir allgemach ungeduldig werden?
Ungeduldig sind wir in der Tat geworden, hdhnisch und erbittert.
Wir waren so gutmiitig, wir Stiddeutschen, gutmutig und phlegmatisch
wie wir von je waren, uns von einem halben Dutzend Ostelbier sachte
aus unserem Theater hinausdrMngen zu lassen. Unser Mtinchner Theater
schien eine Zeitlang am Weichselzopf erkrankt zu sein und ein Hausierer
aus Krotoschin, der sich etwa hinein verirrt hMtte, hdtte sich zuhause
gefuhlt und lauter bekannte Typen auf der Buhne gesehen. Widerlich ist
uns diese aus Berlin importierte dumpfe triibe trostlose Dramatik geworden,
-1^ 51 8.<-
widerlich das Lugengetdse, mit dem ein Nichtdramatiker nach dem andern,
ein klSgliches Werk nach dem anderen als Zierde unserer deutschen
Literatur ausposaunt wurde. Das Widerlichste aber war uns die un-
anstdndige Hast, mit der all diese Herren produzierten. Seit Jahren
haben sie uns daran gewdhnt, dass jeder der konzessionierten Dramatiker
deutscher Nation punktlich im Oktober sein dramatisches £i legte, ein
naturalistisches, gemissigt-realistisches, mythisch-symbolistisches Ei, je
nachdem der Tantiemenwind pRS. Seit 1892 hat Max Halbe elf Dramen,
dazu noch zwei erzdhlende Werke veroffentiicht, Hartleben elf Komodien
and beinahe ein Dutzend Novellen, Hauptmann gar 13 lange Dramen.
Stirkere und tiefere Talente als die der Genannten — sie sind weder
stark noch tief — mussen dabei zu Grunde gehen. Innerhalb desselben
Zeitraums hat der alte Ibsen, der glflnzendste dramatische Techniker
unserer Zeit, nur funf Stucke geschrieben, mit denen kein einziges Werk
von Hauptmann oder Halbe an Tiefe der Psychologie, Wucht der
Charakteristik, Grossartigkeit und Fiille der Probleme^ GenialitMt des
Bans und Feinheit des dramatischen Dialogs auch nur von fernster Feme
verglichen werden kann. Man hat oft ungemein richtig den dichterischen
Prozess mit dem ehrwfirdigen Zustande der Schwangerschaft verglichen:
man denke die Analogie zu Ende: ein Dutzend Kinder in zehn Jahren
— welche Verstindigung am Kostbarsten! DQrfen wir uns wundern,
wenn diese dramatischen Siebenmonatkinder alle kranklich, greisenhaft
made und mit dem Todeskeime auf die Welt kommen, wenn sie ge-
spensterhaft und unlebendig uns anstarren, die klaglichen unausgetragenen
Geschopfe? Goethe hat ein vernichtendes Wort tiber die Schriftsteller
gesagt, die schon «Annum perdidi'' jammern, wenn sie versiumt haben,
ihr Saisonstuck sSuberlich zum kontraktlichen Termine abzuliefem: «Wem
icb ein besseres Schicksal gonnte? Es sind die erktinstelten Talente.
An diesem, an jenem, am besten gebricht's. Sie mtihen und zwangen
und kommen zu nichts*". Wie von fiirstlichen Kindbetterinnen, werden
auch von unseren Dramatikern Bulletins herausgegeben, in welchem
Stadium der Schwangerschaft sie sich befinden, wann das Kind das Licht
der Welt brblicken und wie es getauft werden soil. Ein possenhafter
Reklameapparat spielt, ehe das Stiick nur bis zum letzten Akt gediehen
ist. Sieht denn keiner dieser Herren ein, dass es unwurdig ist, sich
uber seine dichterischen Absichten interviewen zu lassen, unwurdig, in
der Pose schdpferischer Augenblicke fur die ^Woche** Modell zu sitzen,
unwurdig, sich zum Klatschobjekt herzugeben ftir gelangweilte Weiber
und Kaf6hausliteraten, die noch hinter den Ohren feucht sind? Dass
es nicht nur unwtirdig, sondemauch dumm ist, zwecklos und schftdlich?
vjenes ungestdrte, unschuldige, nachtwandlerische Schaffen, wodurch allein
etwas Grosses gedeihen kann, ist gar nicht mehr mdglich. Unsere
jetzigen Talente liegen alle auf dem Prisentierteller der dfTentlichkeit.*'
Als Goethe diese Worte schrieb, waren die ZustMnde idyllisch im Vergleich
mit den unseren. Berliner Dramatik und Berliner Erfolge sind Mache,
und einander wert. Der Dichter sank zum Spekulationspapier; wir er-
lebten die Emission, die Hausse und die Baisse des Naturalismus und
4*
-^4 52 8^
des Symbolismus fur die Armen im Geiste. Die Premi^ren wurden
immer pobelhafter; die leisesten Stiicke, aus feiner novelHstischer
Psychologie und lyrischen ZMrtlichkeiten gewoben, wurden von literarischen
Jobbem, Maklern und Buchmachem umbriillt. Dass die Berliner Kritik,
mit einziger, aber glinzender Ausnahme Maximilian Hardens, zu diesen
skandalosen Zust&nden ein Jahrzehnt lang geschwiegen hat, urn das Ge-
schaft nicht zu verderben, — ist ein Symptom der Fiulnis; nicht dass
man Sudermann bekimpfte, ihn mit Hohn und Spott behandelte,
sondem dass man einen Sudermann als Dramatiker emst nahm, ihn als
ReprMsentanten des deutschen Schrifttums duldete, — das bewies Ver-
rohung in der Theaterkritik.
Wenn von den Dokumenten geistigen Lebens der letzten funfzehn
Jahre nur die Dramen allein ubrig blieben, und ein spSter Nachkomme
nShme sie geduldig vor und versuchte, aus ihnen sich ein Bild vom
damaligen Deutschland zu machen, — welchen Begriff musste er not-
wendigerweise bekommen? Die Gesellschaft die in diesen Dramen sich
malt: eine kranke unanstindige Rotte mit tierischen Instinkten, be-
lastet mit grauenhafter Nervositfit, eine dumme Sorte von Menschen
im Grunde: albem, arrogant, haltlos, kindisch; hilflose Jdmmerlinge,
die es fur ein Weltereignis ansehen, wenn sie sich einen Schuss in ihr
winziges Him jagen; geile Bengel, deren Horizont nicht iiber einen
Unterrock hinausreicht ; ekelhafte Weiber, die sich fur Genies halten; —
»es muss in dem damaligen Deutschland keine anstindigen Menschen
gegeben haben**, wiirde unser Nachkomme seufzen; „die damaligen
Deutschen scheinen den Kontakt mit ihrer grossen Vergangenheit vdllig
verloren zu haben; sie hatten keine Weltanschauung; sie renommieren
in ihren Dramen mit ihrer Geistesfreiheit; diese scheint jedoch nur
darin bestanden zu haben, dass sie ihre Dogmen aus Jena anstatt aus
Rom bezogen. Die damaligen Deutschen sprachen einen ziemlich tief-
stehenden Dialekt; selten redeten sie in zusammenhdngenden Sitzen;
am liebsten in Interjektionen, wie 'nja, 'tja, ju na na, ju ne ne. Sie
hatten keinen Geist und waren gesellschaftlich riipelhaft. Da siid-
deutsche Dokumente fast vollstandig fehlen, scheint Suddeutschland
damals von Analphabeten besiedelt gewesen zu sein.**
In der That, — und damit beriihren wir den Kern der Frage : ist
die traurige Rolle, die Suddeutschland in den letzten Dezennien
geistig gespielt hat, nicht beschimend? Was ist eigentlich von den
Spielplanen der Munchner Theater suddeutsch? sie kdnnen ebensogut
in Breslau oder Konigsberg gespielt werden. Deutschland aber ist
gliicklicherweise nicht geschaifen fiir eine Zentralisation nach fran-
zosischem Vorbilde. Das Leben der Provinz ist zu selbstMndig, und
jede dezentralisierende Str5mung ist ein Gluck fur unser Land. Es gibt
nichts, das so unertrMglich langweilig wire wie die franzosische Provinz.
Am allerwenigsten aber darf Berlin, der Parvenu unter den StSdten,
das geistige Zentrum Deutschlands werden; Paris ist wenigstens von
jeher ein Sitz und Hort alter Kultur gewesen; Berlin jedoch, die
fleissigste und riihrigste deutsche Stadt, ist kein Boden fiir irgend welche
53 8^
Ktinst. Dass die Dramatik der letzten Jahre von Berlin aus gleich
einer literarischen Influenza sich verbreiten konnte, dass wir nur mit
den von den Berllnern abgelegten Dramen begluckt wurden, dass wir
tins das all die Jahre her ge fallen liessen, — das ist eine Schande
fur uns.
Nun ist unsere Geduld zu Ende. Wir wollen ein wenig Inventur
halten mit unserem gegenwartigen theatralischen Besitz. Wir wollen uns
unsre grossen Dichter genauer besehen. ... So also sehen sie aus I
Das also sind ihre Meisterwerke! Das ist das Linsenmus, fiir das wir
beinahe unsre Erstgeburt hingegeben hMtten! . . .
III.
Als Hauptmann vor der Frage stand, wie er die Fabrikantenfamilie
der Weber taufen sollte, wShlte er statt des wirklichen Namens Zwan-
ziger, um niemanden zu beleidigen, Dreissiger. Der unbedeutende Zug
enthullt seine Schwiche besser, als der lauteste Panegyrikus Schlenthers
sie drapiert. Sogar in so kleinlichen Dingen, wie der Wahl eines
Namens, ist der angeblich grSsste Dramatiker des gegenwSrtigen Deutsch-
land bis zur Hilflosigkeit abhingig vom Alltagszufall. Wenn seine
neueren Dramen immer mehr den fatalen Eindruck des Gezwungenen
nnd Konstruierten machen, so ist zum guten Telle das Versagen seiner
Jugenderinnerungen die Ursache davon: er hat es nie vermocht, aus
der Fulle zu gestalten; allzeit war er nur ein ftngstlicher, aber ungemein
sauberer Nachzeichner der ihm zufillig bekannten RealitSt. Er steht
dem Leben kiihl rechnend gegeniiber. Wenn er es steigem, in die
Poesie erhdhen will, addiert er; er verfUhrt arithmetisch, nicht kiinstlerisch.
Er sieht das ZufSllige, nicht das Notwendige. Er macht tausend dunne
Tupfelchen und schmale Strichelchen und winzig zierliche Kratzer dazu,
setzt geduldig und sorgfMltig Licht um Licht auf und sucht durch
HSufang unbedeutender Zuge den Eindruck des Bedeutenden zu machen.
Aus Zwanzig kann er Dreissig machen, aber nicht aus Leben Poesie,
nicht aus Konflikten ein Drama. Er kann addieren, aber nicht potenzieren.
Seinen Johannes Vockerat hat schon Lessing beschrieben: „Sie
nennen ihn alle den Philosophen. Den Philosophen! Ich m5chte
wissen, was der junge Mensch in der ganzen Geschichte spricht oder
tut, wodurch er diesen Namen verdient? In meinen Augen ist er der
albemste Mensch von der Welt, der in allgemeinen Ausrufungen Ver-
nunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt und nicht den geringsten
Fanken davon besitzt ... Er setzt das stolzeste Zutrauen in seine
Vemunft und ist dennoch nicht entschlossen genug, den kleinsten Schritt
zu tun, ohne von seiner Schiilerin oder von seinem Freunde an der
Hand gefShrt zu werden ... Er ist weiter nichts als ein kleiner ein-
gebildeter Pedant, der aus seiner Schwachheit eine Tugend macht und
sich sehr beleidigt findet, dass man seinem zSrtlichen Herzchen nicht
dnrcbgingig will Gerecbtigkeit wlderfahren lassen — * Eine dumpfe
54
feuchte trtibe Atmosphere einen Augenbllck lang von.scharfem Luftstrome
durchzogen, eine Sekunde mude Uchelnder und zweifelnder Hoffnung,
der sogleich die ddeste und trostloseste Verkummerung folgt: das ist
die typische Situation der alteren Dramen Hauptmanns. Und n u r diese
Mlteren sind echt! die triste Echtheit ist ihr einziger Wert I Johannes
Vockerat ist noch echt, der Glockengiesser Heinrich hat sich schon in
den grossen Stil hinaufgelogen. Anna Mahr mit dem Loch im Armel
ist ziemlich echt; wenn sie sich aber als Rautendelein maskiert und
uns weissmachen will, sie sei ein Elementargeist, schicken wir sie zum
Teufel. Einsame Menschen! Wir kdnnen heute nicht mehr begreifen,
wie man angesichts dieses dramatischen Muggelsees ein Thalatta-Geschrei
erheben konnte! Es gehorte ein so ginzlich kunstunverstandiges Publi-
kum wie das Berliner dazu, um diese feine und stimmungsvolle Dialog-
novelle fur ein Drama, fur das Drama zu halten. Johannes Vockerat,
der kleine M5chte-gem und Nichts-konner, der mit unklaren Zukunfts-
verheissungen auf der Buhne herumfihrt und sich und andern einreden
will, was wunder fur ein Genie er sei, — das musste den Berlinem
freilich imponieren: das war nicht nur Heinrich Hart, das war geradezu
Bruno Wille. Warum doch reizte es Hauptmann immer wieder, die sen
Typus hinzustellen ? Den begabten Menschen, dem zum Genie das
^Letzte" fehlt? Erst hiess er Vockerat, dann zog er ein Lederkoller
an, das ihm zu gross war und nannte sich Florian Geyer, dann stieg
er als Glockengiesser hinauf in den M&rchenwald aus Leinwand und
Pappendeckel, zuletzt philosophierte er als Michael Kramer. Es scheint
ein bdses ^Erkenne dich selbst*" iiber Hauptmanns Arbeitszimmer zu
stehen . . • •
In den Einsamen Menschen hatte Hauptmann die Grenzen seiner
unleugbaren Begabung ausgefullt; er hatte gezeigt, was er konnte, als
Organ einer Zeit, das feine aber schwichliche Organ einer morschen
Cbergangszeit. Von da ab arbeitet er mit deutlicher Absicht auf das
Publikum. Seine spateren Werke konnen nur zeigen, was ihm versagt
ist. Sein Streben sich in den hohen Stil hinaufzuringen hat in seiner
nutzlosen Tragik etwas ruhrendes. Die Weber! Man versprach sich
eine Revolution, wenn nicht der Gesellschaft, so doch des Theaters von
dem Stucke. Hauptmann widerfuhr das grosste Heil, das einem deutschen
Dramatiker widerfahren kann: er wurde verboten. Und heute? Kein
Mensch spricht mehr von dieser Serie Musserlich aneinandergereihter
kinematographischer Bilder. Hauptmann war nur der Regisseur, nicht
der Dichter des Weberaufstandes. Er sah sich zum erstenmal einer
grossem Aufgabe gegeniiber: seine Kraft versagte, und von da an miss-
riet ihm jeder neue Versuch. College Crampton wurde sofort von
Hauptmanns gut gedrillter Heulsarmee als Erholung nach dem Riesen-
werk der Weber verkundet. Stolz stand auf dem Titel das Wort
^Komodie"*, das seither von alien mdglichen Undramatikern missbraucbt
worden ist. Als ob man durch rotgoldne Baucbbinden eine Sieben-
pfennigzigarre zu einer Henry Clay, machen konnte! College Crampton
war eine fleissige Studie, ein scheinbar flott skizzierter LenbacJb. Kein
55
guter Lenbacb. Immerbin aber eine Konzession an die Tbeater. In
Hanneles Himmelfabrt scbloss der Dicbter vollends seinen Frieden mit
den Hoftbeatern: seinen Getreuen bot er die Riipelszenen des Armen-
hauses, seinem zu gewinnenden Fiinfmarkpublikum die weibevoll par-
fumierten Verse des verlogenen Traumbimmels. Die Hauptmannioten
waren entziickt: ibr Favorit war auf dem Wege, Klassiker zu werden.
Berlin W. war nicbt minder entziickt: Zagbaftere spracben von Tolstoi,
die Mntigeren, deren Ignoranz sicb aucb auf die Scbwesterkunste erstreckte,
wagten Vergleicbe mit Ubde, mit Parsifal, mit Rembrandt. Beim Biber-
pelz erdreisteten sicb literariscb gebildetere Reporter bereits, an den
Zerbrocbenen Krug zu erinnem, obgleicb das Werk bdcbstens mit der
cotnddie roste eines Becque, Ancey, Jullien in einem Atem genannt wer-
den darf. Wie jene war aucb Hauptmanns Stiick oppositionell und
pessimistiscb in der Auffassung der gesellscbaftlicben Erscbeinungen,
brutal und kleinlicb in der Zeicbnung entwicklungsunrabiger Cbaraktere.
Die wteilnabmslose genaue Scbilderung der Sicbtbarkeit^, die einst Herder
in seiner Adrastea Goetben vorgeworfen batte, verbalf dem Scblesier
zu einem Erfolge. Fiir einen Scbwank zu langweilig, sittlicb widerlicb,
fur eine soziale Satire zu verstimmend absicbtlicb mit Possenmltzcben
aufgeputzt, obne recbte Lustigkeit, obne Mut zur freien politiscben
Satire, verbreitete der matte Scbwank, wie sein Abklatscb, der Rote
Habn, wieder jene mufflige KleinleuteatmospbMre, von der sicb der
Bildungspdbel so angebeimelt fublte. Beiden, dem Dicbter und seinem
Publikum, feblte die Gesundbeit und der triumpbierende Obermut, der
allein die Komddie recbtfertigt, feblte der Geist, der mit Gestalten und
Sinnbildem scbaltet und spielt, feblte die vornebme MMnnlicbkeit. Nocb
mebr zeigte das der Florian Geyer, anlSsslicb dessen einige Anbdnger
Hauptmanns zum ersten Male Goetbes Goetz in der Reclamausgabe lasen,
um seine Inferioritat der neuen Historie gegeniiber nacbweisen zu
kdnnen. Docb als Hauptmann den Scbatten des frinkiscben Ritters
heraufbescbwor, konnte er ibm jenes Eine nicbt geben, das allein die
Scbatten zwingt und lockt: Blut. Kein Wunder, dass der von so obn-
mScbtigem Banne Gerufene lautlos in dunkle Vergessenbeit zuriick-
glitt Erst in der Versunkenen Glocke scbuf Hauptmann das Werk,
nacb dem sein Publikum bninstig verlangte: das Ideendrama obne Ideen
und das Mircbenstiick fur den reiferen Spiessbtir^jer. Mit jenem Fleisse,
der seine eigentlicbe StSrke ist, las er die 1000 Seiten der Deutscben
Mytbologie von Jacob Grimm durcb, besonders das secbzebnte Kapitel:
Wicbte und Elbe. Aus unsem lieben berrlicben MUrcben zerrte er die
ergreifendsten Ziige auf die Bretter; er pliinderte resolut den ganzen
reicben Scbatz volkstumlicber Vorstellungen, Sagen und Briucbe. Er
konstruierte sicb Fabelwesen, bei deren Anblick die bdbere Tochter vor
Entziicken laut aufkreiscbte: ^Jotte docb, der reene Beckliebn!" Als
Handlung iibernabm er die der Einsamen Menscben, und ubersetzte sie
aus dem Burgerlicb-Lamoryanten ins Opernbaft-Dekorative. Das Un-
zulingliche ward f&nfaktiges Ereignis in sirupsussen Jamben. Frau
Adah Barzinowsky fublte sicb als Rautendelein, wie sie sicb einige
Jahre spSter als Monna Vanna fuhlen sollte. In SMtzen wie dieser:
»Ich weissy dass Leben Tod ist und Tod das Leben'' kundigte sich der
weihevolle Schinarren des Papa Kramerschen Nekrologes leise an. Es
ist unglaublich, dass dieses durch und durch verlogene Werk anfaoglich
von dem grossten Telle der deutscheo Kritik ernst genommen wurde.
Eine Zeitlang gab's ftir philosophisch gebildete Schmocke kein pro&t-
licheres Geschlftchen, als uber den Sinn des ahnungsvollen Gebimmels
eine Broschure zu fabrizieren. Noch mehr: auch der mit der ^Modeme''
kokettierende Teil der Literaturprofessoren schwenkte mit fliegenden
Fahnen ins neue Lager. ^Meine jungen Leute haben sich brav ge-
halten" ruhmte am Tage nach der ersten Auffuhrung ein bekannter
Germanist von den zum Applause kommandierten Mitgliedem seines
Seminars. Aus dem MIrchenwalde in die Sauerkrautatmosphare des
Fuhrmanns Henschel, vom Ausstattungsfaust zum Proletariermelodram
— es gehdrte die geistige NeutralitUt Hauptmanns dazu, einen so weiten
Schritt zu tun, und die KautschukHsthetik der Berliner Kritik, auch
diesen Schritt mit verzuckten Hymnen zu begleiten. Die rude Shake-
speareverballhornung Schluck und Jau, der larmoyante Michael Kramer,
der gSnzlich verungltickte Arme Heinrich — Misserfolg auf Misserfolgl
„Wie fing sich der Handel so gliicklich an und wie fast gewaltig, und
wie gehet er gar so kldglich aus!" Als Hauptmann diese Worte im
Schlusse des Florian Geyer schrieb, ahnte er nicht, mit welch gutem
Rechte sie auf sein eigenes Schaifen einst angewendet wiirden. Die
Schuld aber fMllt vor allem auf jene zuriick, die den ausgesprochenen
Nicht-Dramatiker zum Dramatiker fMlschten, ihn aus den Gleisen seiner
feinen und zarten novellistischen Begabung herausrissen, ihn zum Kurs-
papier fur ihre Theaterborse emiedrigten und ihm jedes Jahr ein neues
Stuck abpressten.
Das einzig Wertvolle, das sich aus der Betrachtung von Haupt-
manns Werken ergibt, ist die Erkenntnis vom unvenlnderlichen Charakter
des Dramas. Das Drama kann vor allem die Handlung nicht entbehren,
die ungestum nach vorwMrts drMngende, aus den Charakteren selbst
entspringende Handlung. Das Drama steht und fallt mit dem tragischen
Kausalnexus; Susserliches Aneinanderreihen von Szenen, sei es noch
so fein und genau beobachtet, gibt nie ein Drama. Das Drama lebt
von Leidenschaften, die sich bekMmpfen, von der Entfaltung des Willens,
der sich durchsetzen will, von Kraft und Wucht; es kommt einher nicht
wie unausgesetzt tr&ufelnder grauer Landregen, sondern in Sturm und
Gewittem, mit Donner und Blitz. Zustandmalerei ist kein Drama.
Der beste novellistische ist der schlechteste dramatische Dialog. Die
tragischen Probleme sind ewige, keine Zeit- oder gar Tagesprobleme.
Das Drama als ein lebendiger Organismus besteht uberhaupt nicht aus
Einzelheiten. Tragische Menschen sind wollende Menschen, kimpfende
Menschen, keine deterministischen Marionetten, die sich vor dem Schicksal
wehleidig auf die Seite legen. Nicht zart get5nte DImmerungskunst
wollen wir im Theater sehen, sondern starke, kuhne Linien, kriftige
leuchtende Farben. Nicht gedriickt und gedemtitigt wollen wir das
-t^ 57 8->-
Tbeater verlassen, sondern in festlicher Begeisterung, stolz und hoch-
gemut, und noch im Trauennarsche wollen wir feme Triumphfanfaren
vernehmen. Danim weisen wir Hauptmann und seine ganze, im kleinen
grosse Kunst zuriick. Er ist kein Tragiker, weil er uns nicht er-
schuttert. Kein Dramatiker, weil er keinen Sinn fiir Komposition und
innere Notwendigkeit hat. Kein grosser Dichter, weil ihm eine Haupt-
sache fehlt: die grosse, tiefe Weltanschauung.
5)et ttlefftasjuc^tet.
Sine Srsa^lmtd oon SBtUelm SBetganb tn W&nd)tns9^tnkan\tn.
1.
Tin etnem ^etgen 3u(tnad)mtttage gtng ber 2)?&nc^ener Sttteraturboftor
9)Iarfu^^9Rt(tner mit etnem {ufammengebaOten 3ettungdb(atte in ber «Oanb
in feinem 3(rbeit*jimnter awf wnb ob. @r toat einfad) wfitenb!
Sinige Sage }ut)or war in einer f(einen @tabt @i&bbeutfd)(anb« ein
®<ftuS gefatten, ber in bem fogenannten beutfd)en ©Idttermalbe ein mer^
tt>firbig faute* (Sdfo gewecft ^otte: ein ftebjel)nidl)riger bid)tenber ^rimaner,
namen« Subn>ig «0a(6fd)eib/ \)atte ffc^ eine ^uge( bnxd) ben ^opf gejagt^
unb in einem ^riefe^ ben man 6ei bem gefaUenen Singling fanb^ flanb }u
lefen, bag er am gfeic^en 2age fein Seben^werf, einen „3d)^9loman" in
filnf ©4nben abgefd)fo(Tcn l)abe unb nun al^ Sollenbeter ber fdjafen f eben*^
poffe entflietje, hit felbft ein ©onnenmanberer aud bem @amen 3Atatl)uflra^
nidft au£)u^a(ten t)erm6ge« jDiefer ®rief, ber in ben J^erjen aOer jungen
libenoinber einen l)eigen ®d)auer brfiberfid^er (g[)rfur*t „au*gel6(l" tjatu^
gab inbeffen einigen 3^i((nfd)inbem ®elegeni)eit )u fibelriec^enben Aommen^
toren^ bie eine unglaub(id)e Unerfal)rent)eit in aOen J^6t)enbtngen Derrteten.
IDiefe bI6ben @c^mierfinfen fatten ofenbar feine blaffe 3(t)nung t)on bem
eigent(id)en Seben ber neuen ®6tter^ bie foeben^ in ber 3eit ber neuen
Stenaiffance^ n>ieber auferflanben maren unb in itberlangen ®e^r6cfen^ fdynoen
miltig ober fdtimpfenb^ aber fiet^ in ®d)6n^eit^ burd) bie ©tragen 3farat^en£
nad^ bem (Saf6 @tefanie manbeUen^ n>o fic^ bie Serf(^me[)ung alter 35itiU
onf^auungen tm ^toMxd^t moffabuftiger 92dd)te k)oll}og; benn ^ier fam ed
tot, bag Sungfrauen^ bie burd) Bnfafl ober auc^ mit 2(bftd)t ein ^inblein
onf bie 9Qe(t gebrad)t^ aid fDt&tter moberner «Oei(anbe angebetet n>urben unb
tNm Zitantn, bit im BlJ^mp tti ®d)aufpie(t)aufed bie SBelt in $e$en reigen
fa^ett, ben SBei^ehtg ber neuen 3^iten auf ben lauten flRunb empfingen.
58 ^
^ier Dcrfcl)rtcn bit 2Refiiaffc, beren ©eelen grfinlic^ glAttjteit me ber Tlh^
(Tnt^, ben (ic fd)Iiirften, bercn J&offnungen feurig waren wit bit „7lnxoxa"
9?te$f(f)e«, belt jie nid)t lafen, unb beren 5IBAfct)e ben iWonbfd)ein jener
Sndc^te getrunfen ijattt, bit ©tern nm ©terne fatten fallen; I>ier fagen ffe
unb tranfen mtt ben dZeu^eUenen, bie nt(f)t nur ben alten J^omer fibertrafen,
tnbem ffc ben ganjen Jag »erf(f)fiefen, fonbern and), aW wanbefnbe (Spl)eben,
bie *e^rfeiten be* gried)ifd)en 2eben« in bie moberne 3eit tjtxiibtx ju retten
fud)ten, bamit nur ja feine fd)6ne ®e|le Derloren gef)e auf bem Jepptd^ be«
8eben*.
3n einem ber unenblicft l)dmifc^en 2frtifel, bie bad gefattene 5itAn(^en
in aSerbinbung mit ben jungen SWcjftaffen 6ract)te, war auc^ ber ^oftor
iD?arfu6 9)2i(tner ali beren $6rberer unb ®6nner genannt; ja/ ber S^itung*^
fdjreiber fdyeute (id) nid)t ju fagen, ber *ritifer trage bie J^auptfdjulb an
bem mefiianifdjen Unfug, ber in 25eutfd)Ianb bie SGBelt auf ben *opf (lette,
inbem er {uerfl Heine ^ird)en ober neue @emeinfd)aften gr&nbe, urn nac^^er
ben baju ge^6rigen ^tilanb }u ermarten. Ser 3(nn)urf fd)fo0 ntit ber
SGBenbung, gegen fofdjc iWejfiadjftcftter foUte eigentfid) im Sntereffe aHer
3ihttx p^antafieDoKer 3fing(inge ber Qtaati^antoaU einfd)reiten«
Diefer Xrtifel.alfo war ber (Srunb, warum SKarfn* STOiltner in groHenber
ffiut in f einem Xtbeitdjimmer auf unb ab ging unb feine ©tirn, toe bit
©ebanfen b(i$ten, gewitter^aft {ufammenjog: 9Bie burfte, fo fragte er fic^
felbfi, biefer namen(ofe ®d)mierftnf ed wagen^ tf)n mit bicfen Aafee^aud^
litteraten, biefen ®timinung«afrobaten, biefen Duftlern in SSerbinbung ju
bringen? Seit jet)n 3a^ren wurbe er nid)t milbe, bie felige @efunbl)eit ju
prebigen, bie nad) ©djoHenbrobem buftet unb burd) bad abgr&nbtge ?eben
xoit burd) eine Via triumphalis fd)reitet/ an beren ®rabbenfm&(em nod)
ber ©inn bed Sebend in t)immlifd)en ®efia(ten ®d)Ant)eit Iad)t; feit )et)n
Sa^ren fimpfte er, aid einflugreidjfter Slebafteur ber „®ftbbeutfd)en ^reffe'%
ben t)eiligen ^ampf ber ©d)6n^eit gegen ©anaufen unb ^ro^eU/ gegen ©ier^
feligfeit unb 93aud)fried)erei, gegen dfll)etifd)ed SRucfertum unb Senben^
la^m^eit; feit je^n Sa^ren fud)te er ben 35arbaroffagei|l feined SBoffed )U
wecfen unb bie Slaben, beren 3^1)1 auf eine unge^eure gdufnid fc^Iiegen
lieg, in golbne Xbler 3arat^u|irad umjugfid)ten; feit jeJ)n 3at)ren flopfte fein
junged 2alent, fein unbefannter ^id)ter, feine fel)nenbe ^rauenfeele — (ad^,
ed flibt fo Dief grauenfeelen, bie bem ?id)t entgegenlangen!) — Dergebli^
an feine befdjeibene ©d)reiber(iube; feit je^n Sabren rieb er ffd) fixmiidf
auf, um ?icftt unb ®d)6n^eit unter bad SSoIf ju bringen unb bem ungeffigen
9ltefen 2Rid)eI jenen ^an{ beigubringeu/ ber nur fiumme Xnbac^t i(t
9Bo^( mod)te ed allerbingd aud) il)m begegnet fein, bag er bie
f(^&d)terne @infenbung eined jungen aRanned, bie it)n im Xugenblicf an bie
^imm(ifd)e X)umpft)eit bed jungen ®oett)e erinnerte, ober gar bit fd)mer{<
fid)en 3(uffd)reie etner briknfligen ^rauenfeele {u giinfiig beurteift unb ba^
burc^ J^ofnungen gen>ecft tfattt, bit fid), in Tlnbttxad^t ber Unffd)er^eit aSed
©ee(en(e6end, nun einmal k)ieaeid)t nid)t gang erffiden fonnten* 9Bo^(
mod)te )un>ei(en feiner $eber fogar bad 9Bort 9Befftad entfc^I&pft fein, wenn
and ungeffigen ©tropJ)en eine ofenbare J&eilanbdfeele ju lobem fd^iem
3(0ein, mar ed benn feine ©c^ulb, bag {urjett tin rid)tiged «i^ei(anbdfe^nen
59 8*^ *
biefe fficit burc^jitterte? Unb toet burfte ffd) rA^mcn, ba* 3Bad)*tum ciner
aRenfd^enfeele t)Draudiufet)en? SBar ntc^t auf ade ^AOe 6effer, bad arme
^I&mmd^en einer ®6tter^ofnung {u ^eDen ®(uten an{ufaci)en/ aid bad arme
iidjtUin, aud bent am @nbe etn ^etlfamer ®e(t6ranb ent(}et)en fonnte^ mtr
nidjt^, bit nidjtd awdjnblafen unb einer jartbefaiteten Bidjterfeele, bie ^UU
leid)t in fd)m&^(tc^en SBer^<ntffen k)erfc^maci)tete, mtf )u tun? J^atte er ffe
nic^t alle geltebt^ bte^ tm Sertrauen auf feme mdc^ttge ©timme^ ju tl)m
famen: bte Slaturaliflen unb ©pmboltfleu/ bte 9tea(tfien unb ^bealtfleu/ bte
^effimilien unb Optimiflen, bie J^eibendjriften/ bie J^etfenilien, bie Xrcftaiflen,
bie ^olorifieU/ bie J^eimatdf&nfl[er unb ©c^ottenriec^er/ ot)ne fe(b|l bie
Berliner audiufcf)Iie^en? ^attt er uic^t^ urn auc^ jene ®(f)6n^eit^ bie mit
nacften ^ii^en auf eifigen ®ipfe(n ge^t^ nid)t ju beleibigen^ k)or furjem erfl
bie ©riinbung bed „^SJtaxab\i*i" gut ge^eigen^ beffen {art At^erifc^ed $in^
(eitungdgebid)t, aud ber gitternben ®ee[e bed tiber&fi^eten @mfi 9tuboIf
dtaffelfamp^ bad ^rogramm atfer liberjarten aufgefieOt ijatte: ,Mit tDotfen
etwad glicHic^ fein?"
@ein 3ngrimm muc^d^ aid er ben 3(rtifel ein jweited ^Dtal &6erlad
unb nun bad barin t^erborgene ®ift erfl rect)t erfannte« @r n>arf ffd) in
feinen ®d)reib(iu^( unb fiarrte finfieren 93Ii(fed br&tenb Dor ffd) ^in. 9Bad
foDte er nun tun? 9teben ober fd)n>eigen? @r entfd)ieb ffd), nad) langer
IJiberlegung/ f&r t)orne^med ®d)n)eigen^ oI)ne inbeffen in biefem @ntfd)(uffe
eine <Sr(eid)terung }U finben^ ba er im flitfen bie ^a^r^eit mandjer 93om)firfe
anerfennen mu^te; Dielme^r quotf ein ®efik^I unf&g(id)en Sfeld Dor biefem
ganjen ©d^reiberfeben^ in bad il)n SBiOe unb @d)i(ffal Derflod^teU/ (angfam
unb m&d)tig in ibm auf. $d n>ar nid)t bad erjle ^SJialf ba^ i^n biefed
®ef&^( ibermannte unb bie ©e^nfuc^t nad) einem reineren^ ebleren ?eben^
nad^ freier «Oimmerdn>eite unb bem fommer(id)en £ufte gofbener ^efber^
Dor benen er ein abgeflArted ffierf ju Dollenben l)offte, in feiner tieffien
©eele wecfte.
SBenn er auf bie leftten 3al)re feined fauten ?ebend jurfirfblidte, fa^ er
eine [ange @d)ar Don 9)2&nnern unb Don gri&nen ^i^ngfingeu/ Don jungen unb
Don dlteren jungen Samen in ber (Srinnerung Dorubermanbeln^ unb bod)^
wie feUen bficfte i^n ein reined gfttiged iRenfc^enauge an! SBer aber trug bie
®d)ufb baran? Der STOofod) ®rog|labt, ber bie a»enfd)cn ber SHatur ent^
frembet? Der Swi^fp^It jn)ifd)en ©ein unb ©c^ein, ber jeben qudft, ber ffd)
f&r einen ©c^ipfer ^&It? SBie manege ^err(id)e 3bee toar nid)t aid reine
Senud Slnab^omene ber neuen 3nt bem SReere einer 9rufl entfliegen unb
boc^ in ffirjefler B^K in ^inem Sa^re ober )n>eien^ }u einer fd)mu|igen
Sime ^erabgefunfeu/ bie fd)amIod auf bed ^6beld ®affen ging!
Unb n>teber toanbelte er mit ^afligen ©c^ritten in bem 9taume auf unb ab^
wo ftd) bad Seben eined ^fic^ermenfc^en abfpielte. £a aber ^ob fid) pliijlid) Dor
feinem inneren 2Iuge eine ®eflalt empor, ber er nur felten geflattete/ and bem
9teid)e ber Srinnerung in fein tagmac^ed Seben ^erein)ufd)reiten. J^eute
aber mod)te fie mit anbereu ®efltalten fommen, um bie bittere ©timmung
fetner ©eele )tt Derfl&rfen! (Sr ging an feinen ®d)reibtif(4 unb entna^m
etnem ©eitenfac^e ein fd)maled Sic^tbilb in fllbernem 9ta^men^ bad eine
^od)geti>a(^fene jugenblidye ^rauengeflalt in gtted)if(^er ®en>anbung getgte^
60 8^
mit einem ^errltd^en ®eficf)t t)on mitfen^after ^tlbung unb gefenften 3(ugen^
bie uber i^r etgened @d)icffa( nacbjufinnen fcf)etnem ^tefed ®t(b war bte
Ie$te (Srtnnerung an etn g(&n{enbed ^Dfl&mfefl im J^oft^eater; gait) nnten
am Stanbe fianb ber 92ame @tep^ante J^Ubert in f(f)6ner flarer @d)rtft unb
bad Saturn, bcr 13. Sanuar 1896. 3fuct) (fc war einft, aW jungc Un^
befannte, mit einem ^Md^tn garter Sieber )u i^m gefommen, and benen
eine feine, gcbrficfte ^rauenfeele flagte. @r ^atte (ic ermuntert, bie ?ieber
in 3eitf(f)riften ber i6f entKd)feit mitgeteilt unb bie fd)6ne X)id)terin, bie im
J&aufe eine« STOfindjener 35rauer« aW arme (Srjie^erin lebtc, in bie *reifc
eingeful)rt, too aDe J^ofnungen ber neuen Sett in jungen ^enfd)en (ebten*
TM er jebod) )u bemerfen glaubte, ba^ it)m bai flRdbc^en ein tiefered
3ntere|fe entgegenbringe, tfattt er langfam oon itft {ur&cfge)ogen, troQ^
bem i^n biefed ®effi^l ^eimlid^ tief beglficfte; er war bamafd nid}t gefonnen,
ein frembed @d^i(ffal mit alien Afimmemiffen unb ®orgen auf ffcf) ju
ne^men unb fein Seben, bai nod) in unbefannten SQunbern t)or i^m I)er^
gl&n}te, in ben golbenen Adftg einer Siebedet^e einjufperren unb um affed
Sugenbgl&cf ber iR&nnerfreif)eit ju bringen. Die ge(iebte Siditerin aber,
bie fein Surficfweic^cn wo^I gefjil)It ^aben mugte, tfatte balb barauf in bem
aufgeregten ^oetenfreife einen jungen fD^ann fennen gelernt, ber eben aH
ber (eibenbe aSeffiad bed 3ai)red burd) bie @tra^en fD^ftnc^end fd^ritt. 9Rit
i^m, bem affe jungen SJeutdner bie ^errlid)fle Sufunft propbejeiten, war ffe,
in beren ®ee(e ein tiefed a3er[angen nat^ QSeglficfung (ebte, bann nad)
Berlin gegangen, wo man ba(b niditi me^r Don bem $aare ^6rte. SRarfud
SRiltner felbfl gebad^te ber Sntfd^wunbenen nur nod) )uwei(en mit jenem
fd)W&renben Unbe^ageU/ bai an ben ©eflalten ^aftet, benen wir ein Un^
red)t )ugef> ^aben. 3n biefem 3(ugenb(icf jebod^ lie^ it)n ber 3(nb(icf ber
t)erfd)onenen ©eflaft bie i6be feined eigenen Sebend nur nod) tiefer empftnben.
9Qad t)atte er, aK SRann t)on ffebenunbbreigig 3al)ren, benn felbfl erreid)t?
£ein I)oIbe« ^Beib fag it)m Doff ©I&cf an (angen SBinterabenben )ur @eite;
fein felled ^inberlad)en ffiHtc feine 9ldume mit bem ®Ianj ber Sugcnb;
feine 5urd)t unb feine J^offnung Derbanb feinen SBBerftag mit einer fd)6nen
frozen Sufunft.
$in wunberfamed @et)nen/ wie ein J^eimwel) nad) ben (id)ten ^agen
feiner 3ugenb, quoS in feiner 9rufi empor. ^ern, fern aui J^6^enbuft unb
@d)immcx ratten bie SRauern bed 9auernf}&btd)end ®ir)t)eim/ feined ^eimati^
orte*, in ben ®Ianj ber frAnfifd)en 8uft, unb tief im Sale, and weid)erem
®(an)e, fut)ren bie Sftrme ^ranfent^ald, wo er bai ©pmnafTum btindjt, in
feltg feibened J^immeMbfau. Sort raufd)ten in bem @i(berbuft ber furjen
@ommern&(^te bie 9t6^renbrunnen auf ben alten ^(&Qen a(te SD7&ren. Sort
ftel ani bunf(en @tuben, wo ertofc^ene ®efd)[ed)ter fro^ ge)ed)t, weinfe(ige6
®tliid)Ux in bie engen ®affen, wo in ber S&mmerung bie SD7&bd)en paar^
weife gingen unb mit leifer Stimme, in benen eine a(te felige @e^nfud)t
flagte, k)om ®d)eiben unb t)om SReiben wunbe Sieber fangen. Sort (ag in
^o^en gotifd)en ^enjlerrofen bci Za^ti letter @d)ein, unb ilber bem fd)attigen
®ewirr ber fpi^en Stege(b&d)er fianb ber breite golbne SBonb. Sort war bie
wetc^e Suft t)om Suft ber Stofen unb t>on dlacfttigallenliebem, t)on St&ffen
unb t>on f&gen ^licfen fd)Wer* Sort flanb mit einem ^alben ftinb tin junger
61 g.^
^di&Ur t)Dr einem flte^enbeti ^runnett unb tand)te gag^aft etne J^anb in
(filled 9Ba|fer^ in beffen Siefen fid) jmei Ai))fe )ueinanber bogen^ aU nooOten
fte fid) fd)n>anfenb fuffen in ber IDunfel^eit; in bie ber @d)(ag ber aften
U^ren mdd)tig br6^nenb nieberffang* Sort gab bai Sungenfpiel bed be^
rul)mtrn 97{ot)renfopfed auf bem a(ten SBac^tturm bem feligen ®ebi(^t gu
fetnen S&0en erfl bie ^eOe Seutung, ba^ fetne Sr&ne aui bem Xug^ bed
9Ranned queQe^ ber &berf(f)attet i(l »om SBanbel aOer B^it. S'^it feud^tem
2(uge (larrte er bem 3ug ber @d)atten nac^, bie and golbenem jDnfte ju
t^m ^er&bergru^ten.
£a aber )ucfte pliglid) mie ein ©ommerbK^ bie Srinnerung burd) bie
@ee(e bed ^r&umenben^ ba^ einflmald auc^ and $ranfentl)al brei IDid^ter^
briefe an i^n gefommen waren, bie i^m, bem granfen, ben ©eweid geliefert
tyatten^ bag auc^ bie fc^infie aOer ^ranfenfl&bte^ in beren fflhtie ®oetl)e
feinen erfien @c^rei getan, enb(id) gemiOt mar, nene !Did)ter l)ert)or)ubringen*
(5d n>drc auc^, fo mugte er jid) fagen, ein 3Bunber gemefen, wenn ber ®ei(l
biefer @tabt nid)t nad) fd)6ner Smigfeit in @ang unb @agen oerlangt ^dtte«
dv entfann (id) nod), ba^ er, ^Dd)erfreut unb gl&cflic^ ilber biefen ^(uffc^mnng
feiner ©d)ul(labt, biefe ©riefe fofort in feller ©egeijlerung beantwortet ^atte.
Unb fd)Dn flanb er k)Dr einem fleinen @d)ranfe, n>o er feine menfd)^
(id)en Sofumente auf}uben>a^ren pflegfe, um biefe J^eimatbriefe nun ein
}n>eited iWal ju erfeben. Swar ^atte er, tro$ feiner eifrigen Srmunterung,
niched me^r oon ben brei bi(^terifd)en ®ee(en $ranfent^a(d gel)6rt; aOein
n>enn er biefed ®d)n>eigen red)t uberbac^te, fo fprad) ed nur ffir bie ddjtijeit
ber ©egabung, beren erjlen Xuffc^rei er belaufc^t t)aUe; benn aUed @d)te
of enbarte fic^ eben t)on je nur baburc^, ba^ ed, feufc^ unb tief, bad @d)n>eigen
liebte, in n>e((^em ade gro^en Singe, bie SD^enfc^en unb bie ®6tter fikr ben
Sag ^eranreifen, an bem fid) i^r @d)i(ffal erf&Ut
Snb(i(^, nad) (angem 2Bu^(en in bem t)oQgepfropften @d)r&nf(^en, bem
ein fu^Iic^^ranjiger SD7ifc^buft entflieg, ^ie(t er bie brei gefud)ten ©riefe in
feiner J^anb* 2)er erfle n>ar auf einen rofenroten ©ogen gefc^rieben, auf
bem nur ganj unten ein mdd)tig grower ^ettfled gl&njte, unb jeigte bie
flftd)tigen 3&ge einer fiarfen ^rauen^anb; er n>ar nid)t batiert unb lauUU:
J^ocftDere^rtefler J^err ©oftor!
@oeben ^abe ic^ 3l)ren TlxtiUl &ber bad neue SQeib gelefen unb
fann ic^ nid)t um^in, 3i)nen, menu and) unbefannter SQeife, meine
gfii^enbe 93en)unberung aud{ubrfi(fen« @ie ^aben bad er(6fenbe 9Bort
gefunben: Sad neue Seib ifl ba! 3a, ed ifl nid)t met)r ju (eugnen:
Sad neue 9Beib ifi ba! ®o (angfam ifl ed in ber @tiae, mie eine
r6fl(ic^ f&^e ^ruc^t ^erangereift an bem 93aum ber 9Be(ten, ba^ aOe, bie
ed aid |lral)(enb|le ber ^r&c^te aufteuc^ten fa^en, t)erb(&f t bat)or flanben.
Sad SQeib fefbfi am aOermeiflen! Um eine br&nflige @n>igfeit ifl bad
neue 98eib feinen jurfidgebliebenen @d)n)eflern Doraud* 3(ud bem m9flif(^
unterfd)iebd(ofen Srange nad) bem ^ann an fTc^, and ber felbflftd)eren
$riebdgen>alt feined niebergel)a(tenen Urbemu^tjfeind t)at fein n>al)lfid)erer
®ine ficft eine (icfttfe^enb gen>orbene $f9(f)e gefcftafen, bie um bie @(^auer
neuer lIBonnen unb neuer Seiben meifl. Sad 9Beib ifl enblic^ fD^enfd)
62 ^
getDorben! Tlui bent ^raummanbel in ber erbtgen ^inftexnii ifl feiit
(Se^trn cmadjtf )u ©c^merien ermacf^t; benn je$t fie^t fein ®e^trn^ ba^
feine l)err(tcf)en Setben nut felten in ber gebenben unb net)menben Stebe
tt)re 9Qefen&gan)t)eit ofenbaren f6nnen. fllodj ift ber neue SD7ann tttd^t
ba^ ber nad) ber J^errltc^fett be^ neuen 3Betbed ^ungert. (Z)er SD^ann
Itebt nur ba& aHe aQetb!) 92oc^ finb bie 3(ugen bed SD^anned ffir bie
neuen SD7orgenr6ten ntd)t flarf genug. 92o(l^ ntmmt er unfere t)arrenben
®ee(en aid etn>ad 3(ugenerg6$(t(t)ed^ bie @tnne dtetjenbed. fHod) ^laubt
er md)t an unferen SCBiKen gur »^6l)e, an bie gro^e *atl)ar|id be«
neuen SBerbend^ bie fic^ aui ben ^inflemiffen unfered Urfeind )u
@onnentdIern ^ob unb unfere ^f^d^e mit bem 9tei) bed SOtittagdglficfd
umfpie(t
I)od) glauben @ie nic^t^ i}0(^k)ere^rter J^err Xiottot, ba^ eine 9){&nner^
l)aiferin )u 3t)nen fpric^t SBir ^affen nid)t ben SD7ann^ n>enn n>ir it)n
aud) anberd empftubeU/ aid bad alte 9Beib. 3(ud) n)ir bvaud)en nod) ben
fKann; benn er ifl unb bleibt bem 9Beibe bie Sriifung ju feiner Ie$ten
tiefflen @(^6nt)eit 9Bir flagen nur^ ba^ er ben neuen SRittag feined
©I&cfed nod) nic^t al)nt unb fennt.
Xd), foDiel nod) finnte id) 3t)nen, ^od)Deref)rter J&err Doftor, fiber
biefe neue ffieibedfe^nfud)t fd)reiben* IDod) werbcn ®ie meine 3fnfd)auung
fiber bie neue SDBeibdpf9d)e beffer aud ber SRoDelte fennen lernen, bie id)
3^nen beitege« 3cl) n>dre 3l)nen unenblic^ t^erbunben^ n>enn ®ie mir eine
(8mpfet)Iung an bie „Deutfd)e 9lunbfd)au", ober, tt>enn bied feine @d)n>ierig^
feiten ijabtn foltte, an bie ,,®artenlaube" geben tt>firben. 3d) bin fiber*
jeugt, bag mir ein SDBort Don S^nen alle 5firen 6ffnen wirb. SDBir bfirfen
nid)t Idnger fc^tt>eigen! fflir mfiffen enblid) reben! SDSir mfiffen unfre
®e^nffid)te in bie Sett ^inaudfd)reien! X^enn bie S^it unfred grogen
SKirtagd ifl gefommen!
X^arf id} um eine umge^enbe SCntmort bitten?
^df jeic^ne mit bid)terifd)em ®ruge
aid 3f)re begeiflerte SSere^rerin
^at^arina J^otfd)enreiter.
2»arfud STOiltner fonnte (Id) mit bem be(len SDBiUen nid)t an bie
SRoveOe entfinnen^ bie il)m mit biefem f(f)n)&rmerifd)em ^rauenbrief ind ^aui
geflattert mar^ fo n>enig i^m bie ^Intmort einfaOen motfte^ bie er bem
neuen SBeibe gefd)rieben l)atte. 92un fragte er jid) fclbfl im ©innen: ffiad
mag and biefer g&renben ^rauenfeele^ bie ba im unreifen liberfd)tt)ang ber
Sugenb ffd) felbfl ent^fiHt, in ber fleinen ©tabt geworben fein? Unb aid
Tlntwoxt jeigte il)m bie eigene ^^antafle ein bunfled ?otfen^aupt unb ^erbe
eble 3fige/ and benen t)eige blaue 3(ugen fragenb in bie 9BeIt t)ernieberf a^en;
mit jebem Slugenblicfe murbe bie ®e|lalt ein bigc^en beutlid)er unb flarer^
bid i^n enblid) bad ©ilb tjollenbet grftgte, Bann er|l griff er nad) bem
jn>eiten ©riefe, bejfen unflare I)a|lige ©c^riftjfige fd)on Dergilbt waren, unb
ber folgenbermagen lanUU:
-5^ 63 8^
^xanUnti)ai, im SBonnemonat 1891.
J&od)Derel)rter ^crr ^ottegc!
SBoCcn ®ic cinem Stingenben btc rettenbe J^anb rcict)cn? SBottcn
eic cinem Jotgefdjwieflencn 3t|re mdd^tige ©timme feil)en? 3cft barf
tootfl anne^meti, ba^ 3t)iifn, ber mit betannttx iitbe alle werbenben
Zaitnte Derfolgt, meiit 9?amc ni(t)t ganj unbcfannt ifl^ Sd) t)a6c finf
»Anbci)ett gprifa („©el)nfiicf)te", „Der griflcrnbe", „Dcr cntgitterte ®ott",
„J&6l)enIieber eine* ©dbtpangeren", „aBeIt6ranbfIammcn'0 auf ben 5ifd)
ber ©djfipfung geworfen, unb einige meiner ?icbcr |inb Don mcinem
grogen greunbe Xrt^ur ®eigler (bent genialen ©(f)6pfer ber gro^cn
fo^mifc^en ©^mp^onie ,,Die SBeftfcfjipfung unb bad 2BeItgerid)t" fur t)er^
(lArfte* Ordjefler unb gro^e Orgel)/ i)ertont worben unb im Serlag
,,5anienbe 9linge" in ?eipjig untcr bem 5itel „®e^et bie ©djmerjen, bie
»ir leiben!" erfdjienen. J^eute geflatte idf mix, S^nen mein neucHe*
fflerf „82arfenbe SRenfd^en, Saud^jen ber Sufunft!" mit einer perfinfid^en
SBibmung ju uberreidjen* i% xoit @ie fel)en, auf fleifd)far6ene* papier
gebrucft^ um aud) burd^ bad pt)9f(fd)e ©ubflrat ben neurenaiffance(id)en
®e\)aU bed fflerfed fpmbofifd) anjubeuten* 3* ^a6e barin mit aHer
Convention rabifal ge6rod)en. Xld ber @rfle! 3((d ber Sinjige! 2Bie
unfer Sanbdmann ^ntttn tarn idf fagen: 3d^ ^ab'd gemagt! ©e^en roiU
id)f tt>er ben STOut ^at, mir nadjjufolgen! ©ie n>erben in bem 9fid|lein (bad
not&rfic^ wieber totgefd^wiegen merben tt>irb!) weber Sleime nod) auc^ freie
9t^9tt)men finben* SRit biefen 6l6bf[nnigen Conventionen ^a6e ic^ auf^
ger&umt %&x immer! ^ad ift benn ein ©ebicf^t? @in ©timmnngd^
audf6fer! Dad tjci^t: je me^r ©timmung ein ®ebid)t aud[6(l, be(lo
bic^terifd)er ifl ed» Sd gibt ffiorte, bie bluten, wenn man jie anfc^neibet.
Cd gibt SBorte, bie buften. (Si gibt ffiorte, bie ganj Delinquedjenj jinb- Sd
gibt SBorte, bie aUe friedjenben ©djauer bed Unterirbifdjen ^aben» (5d gibt
SBorte/ beren ©timmungdge^alt reicf^er ifl^ aid ber ganje {mette ,,^au|l".
9lad^ folcften 9Borten t^abe id) getaflet. ®efud)t ®erungen« ®eb(utetl 3Qie
©ie fel)en^ bef}el}t jebed ®ebid)t meined 9Berfed nur and einem einjigen
8erfe. Bwerll jn>6lf 9lei^en ®ebanfen(lrid)e; bann, um ein ©eifpiel an^
juu^ren: „Du mft^tefl mir burcft bie ®emdd)er fd^reiten!'' ©ie fefjen, id)
mad)e bie ^t)anta{ie mit ®en)a(t jur ©d)6pferin. ©ie erg&njt bie ©uggeflion,
bie ic^ fotttjerAn f)in(leUe, 3ebe ^^antaffe mu^ biefe ©d)reitenbe in
©c^6n^eit ju Snbe bic^ten. 2Bir mfiffen ©d)6pfer werben. Unb mir
mfiffen atte ju ©d)6pfern mad)en. 35efonberd bie grauen! Ober ne^men
©ie ein anbered ©eifpiel and ber ©ammlung: r,Der aWonb|iral)I ijl Don
nacftem ©d)i(ffa( fd)tt>anger!'' Die 9tuf}e bed aRonbf}ral)(d unb bie 2Bet)en
ber ©c^tt>angerfc^aft (inb ®egenfA$e, bie gerabeju trandjenbente ^erfpef^
tioen er6ffnen. Dod) — id) n)iU 3i)nen nic^t meine 21)eorien Dortragen*
9Bad liegt auc^ an ben ^^eorien eined Dic^terd! 92id)td! £)ber nic^t
Diel! Ober aOjumel!
SWir ijl ber 3fuf|iieg nid)t leic^t geworben. 3d) ^abe fd)on Diel
unter mir. Dber fiber mir. Dber nod) nic^t »or mir. 3d) t)abe fd)on
mele ®prad)en gefprod)en. Xber bie ©prad)en f)aben nic^t mic^ gefproc^en.
64
X)a^ tfl ber Unterfc^tebl Da^ tfl abet and) aUt^l 3e$t tebe id) nur
meineit ^Idnen. 3cf) trdume )oon einem fo^mifdjen @po« „ J)ie ©c^ipfungd^
leitcr'' (obcr r,Da* ?ieb bet aReiif(t)l)eit'0/ in a(f)tunb»ierjifl ©cfdngen,
auf ber bte ®ef(i)6pfe in eioig brunfttger dntrndluni anito&vti fletgeit,
urn jid) fobami beim J?od)gcitdma^I bed erjlen libermenfdjenpaarc* ben
93erm&t)(ung«fu$ bed ©etfled unb ber ®tnne auf bie rDfenumfrdn{te @tirne
}u brii(fen« (Wtein genialer ^reunb Hxtiiux ®et^(er t)at fc^on bte J^od){ettd^
mufif baju fft{}tert: ©ittermorgenb&mmerungdmuftfl) 3(4 benfe au^ an
ein Drama „®anctud Diabolud". (^erfonen: ein aRonb(lral)I, eine *r6te,
ein Jtird)enfeniler, ein @pl)e6e, eine ®rabfpinne, ber 2eufel, ein ©ra^mine
unb Srnll J^&cfel.) Sd) m6d>te — bod) nein, id) will Don meinen
®d)merjen idimiQtn. Denn meine SBBcrfe jlnb meine ©djmerjen. Unb
mel)r! X)ad @d)i(ffa( l}at mid) in biefe Heine @tabt t)erf(^(agen. SRod)
wei^ id) md)t, ob id) ed fegnen foO« Doc^ — id) (iebe bad ®d)i(ffa(!
Amor fati — bad ifl aud) mein ?eitfprud)* Dad i|l auc^ meine Stu^e.
Unb aud) t)ier flet)e id) auf bem l)ei(igen ©oben ber Sragibie!
fflerben ©ie mein ©ud) 6efpred)en?
flRit foUegia(ifd)em ®ruge
3l)r Dtto (Sric^ ©teinbeid.
92ad)bem SRarfud 9Ri(tner biefen ©rtef gelefen tfatU, &6erf(4(id) i^n
ein n>ad)fenbed Unbet)agen/ bad inbeffen bod) einem ®eful)( fliUer Sfc^tung
n)id), aid er fid) bed t)ornet)men anbauernben @d)n>eigend entfann^ mit bem
biefer unreife J^imme(dflftrmer feine SBorte ber @rmunterung ^ingenommen
l)atte. Sr griff nun gleid), um biefed ®eful)f ganj lodjujoerben, nac^ bem
britten ©riefe, ber eigentlid) nur eine fd)male A^arte toax, unb fiberflog bie
feinen Beilen, bie wie f)ingeperlt auf ber fc^malen glAd)e (lanben.
©el)r geel)rter J&err Doftor!
Darf (td) eine Unbefannte^ bie feine anbere @mpfe^(ung tjat, a(d
eine gefegentlicfte ?eferin 3t)rer A>itifen ju fein, bie 35itte eriauben, 6ei.
folgenbed ^acfet einer freunblid)en ^rufung ju unterjieljen ? (5d ffnb
®ehid)U, unb id) bin it)re SSerfafferin. 3d) n>ei@ nic^t^ 06 id) talent
^abe« @ine meiner ^reunbinnen^ bie aud) ©ie fenneU/ meint ed/ unb id)
fetbjl glaube ed }un>ei(en. 3(ber id) m6d)te ed gerne and berufenem
fTOunbe t)6ren. 3d) Derad)te jebe a)?itte(md^igfeit^ befonberd aber bie
Did)terei gewiffer Damen. Denfen ®ie, ®ie t)dnen bie 3frbeit eined
^oUegen ju beurteilen unb t)er{eit)en @ie mir meine Unbefc4eibent)ett^ bie
einem aufrid)tigen ©eburfnid nac^ *Iarl)eit entfpringt
3n audgejeic^neter J^o(4ad)tung unb mit t)erbinb(i(4flem Danf }um
Doraud ergebenfl
aRa(tt)ine Dte$.
@ine faubere @ee(e^ wenn and) t)ie(Ieid)t ein bi^d)en niid)texn^ bad)te
9Rarfud SRiltner^ aid er bie ^arte ju ben beiben ©riefen tegte. Dod) and)
f)ier jeigte i^m feine ^l)antafie, bie uberalt ®d)6n!)eit fa^ unb fe^en mu^te, bad
aOSefen, bad Ijinter biefer *arte jlanb: and beu Seilen (iieg ein ©lonbf opf empor
65 8^
mit etnem ©c^elmenauj^ DoK iid)t, mit etner fraufen ^flUc flra^Ienb golbeiten
J&aare^, ba« feincn ©ct)immer auf ein tt)ciged J^&Wdjen warf, unb mit cinem
fcinflen ^urpumunb, ben etn 9Be6en golbner iannc frot) umfptelte* Sod^
aW bie Sfige nerfifc^ in bem Duft jcrrannen, ber urn werbenbe ®c|lalten
fd)»imnit, fam and) bad bunffc J^aupt ber erjlen Did)terin wiebcr ^erbei,
tinb bo{n>if(f)en }eigte fid) n>ie etn fd)6ned 9tdtfe( etn ernfler S&nglingdfopf
mil ebfen lDid)teraugen« Unb finnenb fpielte er nttt ber ^rage^ n>ad n)D^{
aui biefen bret SD7enfd)enftnbern gen)orben fetn mod)te«
Unb p(6$(td) burc^flammte itjn tt)ie etn fd)6ne« ®[ficf ber @ebanfe^
bag ed nur an il)m [tege^ biefe J^ofnungen ber J^etmat nod) etnmal )u
grfigen unb babei eine fd)6ne .©ommern)od)e in ber alten SKainflabt ju Der^
leben; and) entgtng er burd) biefe rafd)e 9leife bem ®erebc, ba* ber giftige
3(ngrtff M ©c^mterfinfen auf fcine weitragenbe yerf6nlid)feit tod) erregen
n>jtrbe, unb augerbem l)offte er in ber ©erfil)rung mit ber ^eimifc^en Srbe
n>ieber einmal jene *raft aufjufrifd)en, bie il)n bid je$t mit jlarfen ©auern^^
fugen fiber aDed 9larrenelenb ber ®rog|labt ^inweggetragen ^atte. Sr 6e^
fd)ro6^ feinen 6l)ef ju bitten, i^m morgen fd)on Dier ober ffinf 2age ^erien
{u geben; benn aW feiner ®d)merfer wufte er, bag bad ®fficf rafd) gepflficft
unb ebenfo rafc^ gcnoffen werben mfiffe.
3fuf ber (?iIfaJ)rt burd) bad gidnjenb grfine Sommcrfanb fcifteten itjta
bie brei bid)terifc^en ®e|lalten, beren ©riefe er in feiner 5afd)e forgfam
mit ftc^ fu^rte, prdd)tig|ie ®efeKfd)aft; menu er mube war, bad ebfe bunfle
J^aupt ber einen 2)id)terin f(ar unb beut(id) t)or feine @ee(e ju jwingeU/
tand)U ber berficfenbe ^(onbfopf ber anberen mie ein golbned SBiddyen
bal)inter auf unb jeigte (id) Don me^r unbeftdnbiger Tltt, bie fein fibers
mfitiged ^erienbe^agen nur noc^ feliger burc^fonnte. 92ur in Sfirjburg,
wo er fid) om 95o!)n^of ben ^^^rdnfifc^en ©oten" faufte, fam pl6$Iid) ein
b6fed ©c^mdcflein bed ererbten ?itteraturefenbd auf feine 3wnge: bad Xnfangd^
fapitel bed 9tomand ,,lDie flRiaionenbraut ober ber @egen ber 2Crmur von
J^erbert t)on 9lorben erfd)ien t^m fo folportagemdgtg fcbled)t, bag er fid)
t)orna^m, mit feiner 9)?einung fiber biefe fd)md^(i(^e Solfdfunfl }undd)fl in
feiner @d)ul(labt ntd)t ^interm 3aun in fatten.
2.
liber ber betfirmten Stetc^dflabt 9ranfenti)a( (lanb ein flammenbed
®en>itter/ old ber 3wg/ ber ben Doftor SOtiltner unb feine J&offnungen lang^
fam ba^ertrug, in ben fleinen 35al)nl)of and rotem ©anbflcin einful)r. * ^er
fXeifenbe fibergab feinen J&anbfoffer einem I)afbn)fid)(igen Singeborenen unb
blieb ern)artungdt)o(I in ber SBorljaae fiet)en, bid fid) bad rafd)e ^Better, bad
in l)etten ©tfirjen nieberging, t)erjogen l)atte; benn er tt)finfd)te bie erjlen
^inbrfitfe aid n>eit)et)oI(er ^uggdnger gentegen* (Sine noonnige beraufd)enbe
grifc^e tag in ber fommerfid)en ?uft, aid er in Ieid)ter Srregung bie fummenbe
ffierftagdflabt bctrat, burd) beren ©offen trfibe ©dd)e gurgelnben ©emitters
wafferd fc^ofen* Doc^ ein feltfamed ©taunen fiberfam it)n, aid er bie alte
^eimifd)e *OerrIid)feit, bie Dor feiner ^^antafie in alter ®r6ge tjergegldnjt,
SOddeutscbe Monatthefte. 1, 1. 5
66 8^
fo fletn gen>orben unb n>ie {ufammeitgefd^rumpft Dor fetnen 3(ugeii (iegetr
fa^. (5d war ifjm fa|l jumute, aW gerate er in cine frcmbe SDBelt, in bcr
itftn nur ba^ unattft)6rltd)f ®ef(inge( ber 2abenfd)e((en unb ber ^on eine^
fd^mtnbffic^tigen XlMxexi, auf bem etne ungeubte J^anb ben r^Sraum einer
3ungfrau" trAumte, t)crtraut t)orfam, nnb ganj aamAl)lid) legte (id) ein »er^
(orened ®efu^f ber (Sinfomfeit, ba^ nac^ 2Renf(^en Derlangte, fd^wer auf
feine I)eimat(ic4e ®ce(e.
SRad)bem er ba« bcfle Simnter im „®oIbenen (gngel" bejogen flatter
mad)U er (id) unDerjfiglic^ boran, bie bicfe 38irtin, bie won bem ^SJtitteU
fenlier bed ©auernjintnterd aud ben STOarft bel)errfd)te, fiber bie Bame
J&otfd)enreiter audjufragcn. ©ie (Sngcfwirtin ton^tt anfangd gar nic^t, um
tt)en ed ffd) l)anbelte; bann aber fiel e« ij)r pl6$fid) ein, ba* *dt^erle, bie
„fiberfpannte ©ret^el", ^abe ben 8eimbad)d SSaltin gel)eiratet unb n>ol)ne
l)inten im 2od)boben, Jg>audnummer (Teben. STOarfud STOiftner tt>oIItc nic^td
tt)eiter wiffen; er nal)m rafd) 3fbfd)ieb bon ber freunblid)en grau, um nid)r
l)6ren ju mfiffen, wie eine fpiegige *Iein|labtfeele eine Did)terin beurteilte^
unb mad)te fid), t)oI{ feltfamer Unra(l, fofort auf ben SS^eg nac^ bem iod)^
boben, n>o er alfo nid)t nur ein neued 9Beib, fonbern and) einen neuen
^Sflann ern>arten burfte, ben er mit audgefud)ter J^6f(id)feit ;u bel)anbeln:
gebad)te.
@r fanb bie Slummer (Teben an einem alten, l)od)giebeIigen J^aufe^
an* beffen genflern ein brennenb roter 9?eIfenflor I)era6l)ing; eine fd)male^
audgetretene Jreppe and rotem ganbftein ful)rte auf einen breiten glur,
ber burd) ein ?attengitter mit einer Sure in jmei Jg>Alften abgeteilt war
unb in bem e* nad) altem 9Bein rod), ^cr ©cfud)er jog uuDerweilt an
eincm @(ocfen(irange, ber neben bcr Sitr l)crabi)ing, jeben 2(ugcnb(icfd gc^
wdrtig, eine mufenl)aft I)errlic^c @rfd)einung and ciner (gcitentfire l)crt)ori^
treten {u fcl)cn. @d bauerte inbcffcn cine geraumc SBBeifc, bid eine altc^
runjclige STOagb in niebergctrctcnen gifjpantoffcin bal)crfc^furftc unb i^n auf
feine grage, ob er grau ?eimbac^ fprcd)cn finne, in ein Simmer treten
lieg, nad)bcm ffe feine *arte, ol)ne ein ffiort ju t)erlicrcn, in Smpfang ge^^
nommen ^atte* Dad fippige ©lumengittcr t)or bem Render bdmpftc bad^
?id)t bed f)ot)en ®emad)ed, bad mit tjerfdjoffcnen roten ^Ififc^mAbeln aud^
flaffiert war, bie fiber unb fiber mit weigen gel)4fcltcn 15erfd)en in alien
gormatcn, mit ©ternen unb ^reujen unb 33dnbcrn beberft unb befiecfr
waren. Xuf einer baucftigen ^ommobe |lanb ein ficincr Xmor aud 3flaba(ler,.
ber ein jerbrod)ened J&erj in ber J&anb f)iclt unb mit tt)cinerlid)em ®c(id)tr
auf ben unl)eilbaren ©rud) Ijerabfal), unb t)or bem gcnfter l)fipfte ein
*anarien»ogeI in einem fleinen ^Aftg auf unb ab. Den ©efuc^er fibers
fc^lic^ ein fc^eued STOitleib, aid et ben 9laum gemuflcrt unb begriffen tjatU,.
ba0 ^ier eine Did)terfeele leben unb reifen mu^te«
fflad) einer jiemlid)en SSeile 6ffnete fid) enblid) eine ©eitenture unb
eine mAd)tige grauengcjlalt, bie fa|l ebenfo breit aid lang war, wAljte ffd^
gewanbt herein* Dcr *opf ber bfagblonben Dame, bie in einem fd)warjen
*Ieibe wie in einem ^anjer (lecfte, war flein unb runb, unb itfx glAnjenbed-
^inn legte ficft in breifad)er galte auf einen fibermAd)tigen ©ufen.
,,grau ?eimba(^?" fragte STOarfud SKiltner mit unjTd)erer ©timme.
67
„^a, ba^ bin id)! 3(d)^ bad freut mtd) aber^ ha^ id) ®te einmal
ffnnen terne, J^err Lofton ^'^fi^er, toie id) nod) metiv 3«t ge^abt tiab\
ha tfaV id) atte 3l)re @ad)en gefefen. @ic fd)rei6en grogartig. SSJir ^oben
frgar einmal mit einanber forrefponbiert. SBie l)aben ©ie'd benn erfal)ren,
baf id) t)erf)eiratet bin? Son ber iSngelipirtin?"
SKarfud STOiltner wu^te nid)t fogleid), toa^ ex ber leb^aften grau t)or
iJ)m entgegnen fottte; ed roar itjm, aW mfijfe er bie audeinanber geftoflfene
®eflalt bemitleiben, weil ffe nic^t bem gWnjenben Sbealbilbe entfprad), bad
er (id), t)oH ber fd)enfenben ®fite, t)on ber Did)terin gemad)t ^atte. Dod)
bie runbe Dame, t)on ber ein (larfer Duft guten SEBeineffig* audging, fu^r
ganj unbefangen eifrig fort: „9BoHen ©ie nid)t ^Ia$ nel)men, J&err 2>oftor?
93itf fd)in! Dad ifi etgentlic^ fe^r f(^mei(^elf)aft ffir mid), bag ©ie fi(^ nodi
an metne Dumml)eit erinnern/'
SWarfud STOiltner brad)te nur ein geprefted „Dtj" l)erau*; bod) bic
Jranfent^aferin fu^r fort: ,,©ie mfiffen fd)on entfd)iilbigen, bag id) ©ie fe
(ang ^ab' toarten (affen. Tibet id) IjaV QxaV fiige ^fefergurfen ein^emad^t,
unb bad Derfle^^ nur id) fo, n[)ie fie mein Wtann i)aben wilt )um Slinbfleifd).
£er ifl n&m(id) furd)tbar ^eifeL Der igt nic^td ©c^Iec^t'd. ©ie lieben bod)
and) ©uged?"
Der ^ritifer nicfte ernfi^aft }um 3cid)en, bag and) ex ©figigfeiten nid)t
»erfd)m4l)e.
r.3d) l)ab* n&m(i(^ ein ganj audgejeic^neted 9te)ef)t Don meiner Ur^
grogmutter geerbt; bie l)at'd Don einer ^6d)in, bie beim feligen 55ifd)of »on
«0&ber[e gebient t)at unb in ^firjburg in ber SRaingaffe geflorben ifi* Die
geiflKd)en J^erren Wten 3^nen mad auf ein gut^d Sffen. Da fann einc
tud)tige *6d)in fd)on mad lernen. SBBenn id) benP, mad mir meine ®rog^
mutter immer erjd^It ^at )Don ben geifilic^en «Oerreneffen! Die t)aben gleid)
funf ©tunben gebauert. ®ott, t)erbenfen fann man'd ben J&erren ^rdlaten
and) nid)t, bag fie gern mad ®ufd mirfein/'
„llnb mad mad)en 3^re (itterarifd)en Xrbeiten?" fragte SKartud SWiltner,
beffen 93Iicf nic^t Don ben Hetnen fetten «$&nben ber $rau Dor il)m todfam,
fafl fd)&d)tern*
Die ^ranfentijalerin aber brad) in ein fd)aUenbed ®el&d)ter aud: ,,®e(t^
id) bin 3l)nen mo^I red)t fiberfpannt Dorgefommen? ©agen ©ie^d nur."
SD^arfud SRiltner protefiierte leb^aft; er tjatte nod) niemald eine meib^
Iid)e ©eete ffir fiberfpannt get)a(ten.
Dod) bie runbe $rau fu^r (eb^aft fort: „^a, bad ifi i^alt bamald fe
jugegangen: 3d) tfab^ grab fet)r Diet 3eit ubrig gel)abt )um Sefen, unb
eine ^reunbin in 9R&nd)en, bie f&r ©ie fc^m&rmt, i)at mir aU ben neuen
©d)unb gefd)icrt, ber jebed 3at)r l)eraudfommt (Sin bigle fiberfpannt bin
id) ia mtrflid) aud) gemefen, unb meinen ®r&utigam f^aV id) aud) noc^ net
gefannt. Dad lH^iditen ifi mir bamald fo furd)tbar leid)t Dorgefommen, unb
meitn id) ijie unb ba eine ^ritif iiber eined Don ben neuen ©fid)ern gelefen
i)ab', ba ^ab' id) mix Qehad)t: ©omad fannfi bu aud) mad)en! ©p&ter,
mie id) bann meinen ^SJtann fennen gelernt t)ab^ unb mir get)eiratet ^aben
unb ein ^inb nad) bem anbern gefommen ifl, ffnb mir bie Dummt)eiten Don
felbfi Dergangen. SRein SOIann, ber 3iaUin, mad)t {id) and) gar nid)td aud
5*
G8 %^
ber iitUxatux. Sr liefl nur ©ufd). (Sr i(l aud) fall immer auf iReifen. (Sr
reid in ffieinen fur ba* J^aud ©ramlid). (Sr fommt er(l in brei ®oc()eit
tt)icber J)eim. ©cfcab^ bag ©ie iljn tjerfdumt J)aben* 3cf) werb'd i^m fagen,
bag er 3l)nen einen ^rofpeft fdjirfen foK. ^ic STOftudjcner J&emn Didyter
trinfen gewig aud) tt)ad ®ut'*/'
^®n&btge ^rau ()a6en ^tnber?'' fragte fTOarfud fSSlUtntx^ ber gar ntd)t
wugte^ iDie er bad ®efpr&d) wteber tn t)6()erc 9tegtonen }urucfffi()ren foDte.
,,©ed)d, unb jwei finb ge|lorben. ©ie jinb gen)ig aud) ein ^inberfreunb?
2(Ue guten SD^enfc^en ^abeti bie ^inber gern. Sarf id) 3i)nen net meine
^(einen jeigen?'' Unb ol)ne eine Tlntxoext abjutDarten, lief ffe an bie ^fur^
tfire unb rief mit fd)aHenber ©timme in ben %lut l)inaud: ^Sofef, gabian^
3(ugufi! aSalt, 9Ra(i! 9Bo flecft i^r benn fc^on mieber! ifi ein frember
Cnfel ba^ ber eud) fe^en mid! ^ommt ein bigfe t^ctl" Z)a fid) aber fein
^inb fet)en lieg^ lief bie Stuferin in bie 2)Aninierung bed weiten J^audflurd,
um ii)re ©d)ar ^erein}ui)o(en.
SRarfud fD?i(tner aber fag me {u Soben gefd)mettert in gebrficftem
©d)n>eigen ba: 2(Ifo bied war bie Z)id)terin? 3((fo bied toav bie Sitanibe!
2(ud einer feinen ^rauenfeefe mit ^itanenflfigeln unb ber grogen Sebend^
fei)nfud)t i)atte bie (Si)e mit einem ©pieger ein «Oa(btier gemad)t^ bad fid)
offenbar feiner @ntn)firbigung nid)t einmal ben)ugt n)ar! jDod) ber Sintritt ber
Sautter, bie ffinf b(onbf6pftge 93uben in 35ad)dtud)fd)&r)en Dor fid) i)erfd)ob
unb ein fleined roffged SO^&bc^en^ bad ein ®ummipfif)f)d)en in ber «Oanb
bielt/ auf ben Tlxmen txuQ, mad)te feiner nad)benf(i(^en ^raurigfeit rafc^
ein @nbe.
,,©0, gebt bem fremben Onfel eine ^atfd)l)anb," fagte bie STOutter,
beren fippiged ®ef[d)t in fanfter 9tite fira^Ite^ ju i^rer ©d)ar. fD^arfud
SOfiftner befam ber 9teii)e nac^ bie J^inbt t)on ffinf ^naben ju faffen, bie
n[)ie eine fd)arf&ugige ©d)U$n)et)r um it)re SD^utter l)erumfianben; nur bad
f(eine 3R&bd)en t)erbarg fein ®ef[d)t(^en an ber ©d)u[ter feiner SD^utter^ bie
in &bern)aOenber 3&rt(id)feit bemerfte: ^,(^d latjnt grab, ©onfl ifl fie gar
net fd)eu. ®ert, SRari?"
,,©ie t)aben 3l)re ^flid)t an ber aRenfd)f)eit erfiittt/' fagte ber ©efud)er
nad) einer ffeinen ^aufe leife^ w&^renb ein feltfamed ®ef&l)( feine 3(ugen
mit einem tiefen ©d)immer fADte*
,^3tt>ei finb mir geflorben. ^nber ffnb ein ©orgengut/^ entgegnete
bie ^ranfent^alerin mit leid umflorter ©timme^ bie aber gleic^ bie alte
^laxtjtit tt)ieber eriangte, aid ffe mit feid)tcm Swinfern fagte: ^^SD^ein SD?ann
mirb 3(ugen mad)en/ noenn er erf&^rt/ mad ffir feinen ^efuc^ id) ge^abt tjab\
3d) l)ab^ i^m n&mlid) bie ®efd)id)te mit bem 93rief einmal er)&l)(^/ n>ie er
grab^ ein flein^d iK&ufd)[e ge^abt ^at. (Sx ijat mir^d gar net fibel genommen.
(Sr ^at mid) nur ind C^rldppfe gejmicft. Sad tut er aOe t)eiligen ^ftngflen
nur einmaL 98enn er ein bigle befpi$t id^ ijaV id) i^n n&mlid) gar )U
gern. X)a tfat er mad^ n>ad nid)t aSe Sag in i()m ^eraudfommt. fReine
SRoDelle l)ab' icft il)m aber boc^ net )u lefen gegeben^ tjatja — "
,^Sieneid)t ^abe id) noc^mald bie (Stfxe, gn&bige %xan/^ entgegnete
SKarfud SD^iltner^ ber ffc^ nid)t me^r gefe$t ^atte unb nun txad^Ute, rafc^
aud bem .^aufe ^inattd)ufommen. f^^d) ^abe t)or^ einige Sage ^ier )tt
60 8^
ileibenf um aUt (Srtnnerungen auf)ufrtf(i)en. i)a6e noc^ eintge 93efud)e
{u mad)ett — "
„®cft, l)ier fd)4n/' fagfe bie granfent^alerin unb rcic^tc il)m bie
^ant )um 3(bf(()teb; er aber b&cfte ffc^ in etner pl6$(td)eti 3(ufn[)aaung barauf
nteber unb briicTte einen (etd)ten £ug barauf, mit bem er gleidyfam 3(bfc^ieb
k)on etnrm f(b6nen ^raume na^m*
Srau^en aber, in ber tt)onnig frif(f)en ©ommerluft, bie Don taufenb
X)uften fr&nfifd^er @rbe buftete, jogen bie 93ilber ber (e$ten SD?inuten nod)
einntal an feinem ®eiile t)or&6er, unb er legte fid) ben %a1l fofort aK
^itifud jured)t, inbem er au« feinem J5il)enbafein grubelnb gofbene (Sebanfen^
fdben in biefen ffiinfel J)erunterfpann: SBBeib, ®ei6, bu ewige* 9l4t1ef,
fd)neiber^afte^ ®efd)Ied)t! 3(u* att ben golbcnen ®ett)eben, tt)efd)e bie Saljr^
hunberte, bie grogen SBeber, gett)o6en, fd)neibern ffe mit flinfen gingern
^leiber ?ured)t ffir itjxt ©eelen, aW ^u$ unb 5anb unb glittcrfdjmucf.
SBoju? 9}ur um bad uralt ewige ®jpid in neuen @ee[enfd)[eiern audju^
fpielen unb ein ®d)6n^eitder6e ju tjerfdjwenben, im fd)Iaucn SBBerben um
ben aWann, ber bie erborgte ober auc^ ge(lol)Iene ®d)6n^eit erfi in SD?utter^
gfucf unb ©orgen f6fe. 2)ie SD?obe l)errfd)t, unb ©itten, $6ne, tt>ilber 3Serfe
3>uft finb noeiter nid^ti aK J^uUeU/ ^OuOen, bie fie neui)eitdluflern tragen.
(Srtrug benn je ein 3Beib ben 3fn6Iicf feiner nadten ®eele? D 5IBeibedpf9d)e,
en>ige @d)neiberin, bie auc^ in Sumpen unb in ^e^en get)t, menu ed ber
aRann t)er(angt!
STOitten im rafd)en ®el)en burd) bie alten ©affen empfanb er ben
pod)enben 9ll)9tl)mud ber ®ebanfen, bie i^n mit fiberlegener ^lar^eit erffittten,
a(d freied ®ee(eng(ud, unb bie ®efla(t bed 2)id)terd Ctto @rid) @teinbeid
befam etmad t)on biefem ®(anie ab, ber Don bem )erfl6rten $raum in feiner
©eefe gebfieben tt)ar; er nal)m ffd) and) fofort Dor, biefe* abgrfinbige ^apitel
fo balb aid migtic^ einmat mit einem erprobten tenner {u befprec^en unb
babei rildf[d)td(od auf ben tiefflen ®runb )u ge^en.
3fuf bem Wtaxttfla^e, auf bem ffc^ fd)on bie abenb(id)en ®iebe(fd)atten
ber J&Aufer flrerften, fragte er einen ffeinen barfiigigen granfentl)aler, ber
in einer ®tra0enrinne ba^erpantfd)te, nad) ber SBo^nung bed J^errn £oftord
©teinbeid; ber £(eine mad)te fofort ^e^rt, o^ne bie iXinne }u Derlaffen,
unb n>ied ben fremben J^errn in einer ®eitengaffe in ein f(^mu$iged ®eb&ube,
an beffen erfler ^(figeltfire rec^td )u (efen flanb: „9tebaftion bed ^r&nfifd^en
©oten."
jDer ©efud)er nirfte DerfiAnbnidooH: alfo and) biefe geuerfeefe toav
Derurteift, bad bittere Seitungdbrot {u effen, beffen ®efd)marf nid)t einmal
bie aHtt)iffenben ®6tter fennen! 2fld fTOarfud SRiftner an ber 26re Wopfte,
brfiltte eine l)eifere SBBeinflimme „J&erein'V unb auf feine ^rage nad) bem
J&erm ^oftor ©teinbeid wurbe er Don einem fleinen fd)mierigen SWdnnc^en,
bad mit einem ^leiflertopf in ber «Oanb mitten im Simmer flanb, in ein
bufiered J^intergemad) gefd)idt. «Oier fag unb fd)rieb an einem rot)en
fd)mu$igen ^ifd) and l£anneni)o[} ein bider 3Rann Don etn>a breigig 3al)ren;
er war in J^emb&rmeln unb auf feiner gl&nsenben ®(a$e fag ein Derwafc^ener
Sintenfleden n>ie ein f(^n)inbffid)tiger fRonbfrater. Steben itjxa flanb ein
l)oi)fd ^albgeleerted ®(ad ©c^orlrmorle.
70 g.^
„3Bomit tann id) bienen?" frogte ber ®d)reiber mit mftrrifdyer 9Ri<ne
unb ^od)ge}ogener Stafr^ er ben fetn Qttleibettn QJefuc^er bmevttt, of^nt
auf)uflel^en.
„a)?ein SWome ifl Doftor 9)?arfud SWiltner."
£er iXebafteur bxad)tt etn (anggebe^nted ^eraud unb eri)o6 ffdy
(angfam t)on feinem ®t$e.
SD^arfud fTOtltner reid)te bent AoUegen bie J^anb unb fagte l)erj(i(f|:
n[)ar mtr ein toixtHd)e^ ^er)en^6eb&rfntd/ @te 6et metner 3(nn)efen()ett
in 3i)rer 9Ba^(i)etniat )u begrii^en unb etner fdyriftltdyen 9efanntf(()aft enbltd^
and) bie perf6nli(t)e folgen ju lajfen — "
„^ai tfl fe()r (iebendtt)urbtg t^on 3()nen", entgegnete ber Stcfe o^ne
fonber[id)ed (^nt}&cfen/ unb ba er bte umt)erfd)n[)etfenben 99[tcfe fetned ^e^
fud)erd benterftf, ffigte er nac^ etner ^aufe fduerlid) l^tnju: ,r@ie f!nb toeifi
erflaunt, mid) in etner foldyen Umgebung {u finben? Sad Seben^ bad Seben^
metn Dere^rter J^err ^oUege! 3cf) t)abe mtr bad ^rflaunen abgewi^nt.
Ste \)aben ed ja wetter gebrad^t."
fTOarfud iUtiUntx mpfanh etntged Sefremben barAber^ ba$ fid) ber
®d)u$befol)Iene mit etner ©rimajfe bed SWeibd fo ol^ne weltered auf bte
J^i^e fd)tt>ang, auf weldyer er fidy felbfl aid k)erbtenflt)oaer Wlti^tx ffli)(te;
bann fragte er wetter: „@te (Tub tn btefer ^albl&nb(td)en ©ttOe gewi@ red)t
flei^ig gewefen? ®ie fdjrieben mtr bantald bon einem fodmifd)en Spod — "
£)tto Srtc^ ®teinbeid ntac^te etne Sewegung, afd woUe er anbeuten^
ba^ ber^oDege Don etner SagateUe fprec^e^ unb fagte: ,,3*^ id) trug mid)
mat mit einem fofc^en ^(an. Stgentlid) eine feine ©ac^e!. (Sd ifl nid9t
meine ®d)u[b^ bag nid)td baraud geworben tfl — "
„7lbex —", wottte SKarfud STOiltner beginnen; boc^ Otto dxid) Steinbeid,
ber wieber ^(a$ genommen \)atu, lieg it)n nid)t }u 9Qort fommen: ,,@ie
t)aben gut reben, )Derei)rter .^err College. ®ott, \a, id) i)abe aud) meine
3eit gel)abt, wo id) t)on ber neuen fD?enfd)^eit tr&umte^ ffir bie man in
@d)6nl)eit (eben unb t)or allem bid^ten mfiffe* Unb bod) f[$e id) Ctto
Srid) ©teinbeid, wie ®te fe^en, l)ier auf biefem Seffel, in biefem bl6b^
finnigen 3Qeinnefi. X)ad ifl eine ^atfad)e, &ber bie id) mid) fibrigend
(&ngfi nid)t mt\)x wunbere. (Slauben @ie mir^ mein S3erei)rtefler^ unter
foId)en Umfl&nben ju (eben^ wiU mei)r t^eigen^ aid ein fodmifd)ed (Spod in
bte SOBelt }u fd)Ieubern ober fo 'n moberned Sntruflung^brama binjufleUen."
STOarfud SRiltner wugte nid)t fofort, wad er entgegnen follte; bod)
Otto Srid) ©teinbeid l)atte nun bie J&6l)e gefunben, auf weld)er er ffd) »or
feinem ber&t)mten ^oUegen ju l)alten gebad)te: r^Sott \ci, id) tarn mix un^
gefd^r Dorfiellen, wad ©ie benfcn: 3d> l)abe mic^ gebucft. 3d) bin unter^
9efrod)en. 3d) bin ^rot)injjournaIi|l geworben! Mais que voulez-vous?
aWan mug ja leiber leben. 3Iber nidjt jeber IjAtte bad fertig gebrad)t, wad
id) fertig gebrad)t ^abe, bad fann ic^ 3i)nen fagen. 3d) weig^ wie bad Q3rot
ber t&glid)en SSerfennung fd)mecft; aber bag id) ed t)ier audgei)alten t)abe^
bad i|l meine 9lad)e an biefer fpicgigen 2BeIt — "
//3c^ Derfle^e nid)t — fagte 9Rarfud 3RiItner^ ber einen ©tu^I l)eran«
gejogen unb fic^ gefe$t \)attt, gan) nait) unb erwartungdDoK.
Otto (&xid) ©teinbeid befd)rieb mit feiner fetten J^anb einen ^reid in
^er ?uft, al^ moUe er etwa* l)inn)egf(^Icuben!, unb ful)r fort: „®ott, —
febe tjitv unter biefen ffieinfpiegern unb fd)reibe i^nen il)re Seitung, unb
feiner fennt mid) cigentlid). 3d) fi$e mit if)nen an ii)ren! ©tammtifd), unb
ffiner {)at eine 2fl)nung, tt)cr id) eigentlid) bin. 3d) fef)e ju, wie biefed
l)tmm(ifd)e SSoIf (ebt unb t)crbaut^ n>ie J^od){etten t)&(t unb ^inber in
bie SBelt ff$t^ unb feiner mi^, mld)er 9Renfd) eigentlid) unter it)nen
wanbelt. ?Kand)maf mid)te id) aufmucfen unb fd)reien: 3^r ocrbammted
i£d)tt>einepacf — unb fo tt>eiter! 3(6er bann benf id) mir: Slein, lieber
ntd)t! SRan muf miffen^ mit mem man fprid)t. ®d)&$e finnf i(^ i()nen
bintt>erfen, unb id) tu' ed nid)t. 3been fJnnf id) it)nen geben, Don benen
fie feine 3ft)nung ba^^n* 2(ufrutte(n finnf id) fie au^ ii)rem t)unbertj&l)rigen
Sd)raf; aber — id) l)fite mid). Dad ifl meine 9tad)e an biefer ffiinfelwelt,
^ag fie nie mein n)al)re* 3(ngefid)t ju fc!)in befommt. SRit einer n)al)ren
^ot(u(l i)&te id) bad/ mad id) mir errungen l)abe. £enn id) i)abe gefdmpft —
„®ie leben in innerer J&errlid)feit", entgegnete STOarfud fRiltner mit
leiiem ©potte, ben bcr Did)ter inbeffen nid)t merfte.
/^b id) ed leben nennen foU/ meig id) nid)t. 9Qer (ebt benn uber^
^aupt bei und? Dad, wad id) lebcn ^eige? ®ie oieKeid)t — ?"
aSarfud STOiltner aber war ed )u SKute, aid ob i^m t)ier ein fp6ttifd)ed
($d)0 eigener ©ebanfen entgegenf(&nge unb ein fred)er SRunb ein reingeborcned
®effil)f feiner ©eele entvotitjU.
Dod) in bicfem Xugenblicf fam ein bfaubefd)firjted a)?Annd)en ^erein^
gelaufen unb rief, mit einem unwiUigen ©eitenblicf auf ben ©efud), weinerlid):
,,Dad SBBort in bcr ^extU^nn^ ba faun id)^ abfofut nid)t lefen. ®ie fd)reiben
aber and) gar ju fd)Ied)t, J^err Doftor. 3d) l)abe 3^nen bod) fd)on oft
^efagt, bag ®ie beffer fd)reiben follen. J&eigt ed *on(lipation ober *on*
aeHation?"
,,@d i)ei0t ^onfieOation^^, entgegnete J^err ©teinbeid wfirbeDoU ru^g,
n>&l)renb er nad) bem SQeinglafe langte unb einen m&d)tigen 3ug tat. Dad
9R&nnd)en aber oerfd)n)anb fofort wieber unb bie beiben Wlhnnev ber ^eber
fagen einige Sfugenblicfe fd)n)eigenb t>ot einanber, of)ne fid) anjufel)en. —
SRarfud SRiltner brad) juerjl bad ©d)n)eigen: „3d) win ®ie ni<^t I&nger
in 3^rer Xrbeit (l6ren, J&err Doftor. 3d) bleibe ubrigend einige 2age l)ier,
unb ed w&rbe mid) fet)r frcuen, mid) einmal mit 3i)ncn uber aUerlet Dinge
aud}ufpred)eh. 93ie((eid)t mad)en @ie mir einmal bad aSergnfigen, mit mir
JU 3(benb ju effen? 3d) wol)ne im Sngef. 3il 3l)nen ber morgige 3fbenb
»ielteid)t re*t?"
Otte (&xid) ©teinbeid Derneigte fid) )uftimmenb unb jog feine 3unge
uber feine fetten ?ippen: „SKan igt fel)r gut im Sngcf; nur ein bigle tcucr.
?afFen ®ie jid) nur ja 95ratwfir(ie Don ber ffiirtin mad)en. Die (inb ndm^
lid) grogartig —
SKarfud SRiltner Dcrfprad), fid) biefen ®enug nid)t entgel)en ju laffen
unb trat aufatmenb in bie ©tabt jur&cf, bie nun »om ©raud bed fommer^
(id)en 3(benblebend wiber^aUte. (Sin (eid)ted ®effit)( ber 93efd)&mung (ag in
feiner 95ru(i; er empfanb bad bringenbe ©ebfirfnid, fein ?ciblid)ed ju flArfen,
unb eilte rafd)en ©c^ritted bem golbenen Sngel ju, wo in einer (Scfe bed
4^errenjimmerd fd)on fftr i^n gebecft war. 3fld er aber »or feinem ofenen
72
®d)oppen ^anUnttfaUr SBeigen fag unb bte rifdyen ©ratwfirfie t)or ifym
bampften^ fiberfam t()n f)l6$Itcf) etn unf&gltdyed ®efiii)[ tnnerer «Oeiterfeit:
er toax Ql&dlid), bag er bad fd^imtnernbe @f)iel bed Sebend toieber dnmai
burd)fd)aut i)atte, unb um ben Zac^ mfirbig abjufd^ltegen^ pro6icrte er }u«
si&(()fl einige 6e(fere ^ranfentljafer ^einforten burd) unb (teg fid) bann^ {ur
it&d)t(t(^en 91a(^feier, eine $(afd)e ®teinn)etn geben^ beffen n>Ar{tg golbener
^uft few l)eimifd)ed ©e^agen er(l red)t burd)»4rmte. dt wax nun au(3^
barauf gefagt^ am n&d)(ien $age feine britte @nttdufd)ung }u erfeben unb
xnaUt \idf in ^eDer Sorfreube bte {loeite 2)td)tertn tn mtlben ^arben an^,
bte er bent ipptgen ®t(be ber ^rau Setmbad) entliel); ia, er bad)te fid)/
n>e(d) etn famofer @pag ed boc^ etgentltd) wire^ bie bret entgletflen £id)ter^
feelen {u einent lufltgen fD?ufenmal)I )u t^eretntgen unb ben J^errn Ctte
(Srid) ©teinbeid im ^reife ber-grauen gu geniegen.
3(n einent runben 9}ebentifd)e fcftippelte injn)ifd)en eine bucfntdufige
®efellf(ftaft einl)eintifd)er J&onoratioren, bie il)m nid)t bie minbefle 93ead)tung
id^entten, cbn>o^( er wugte^ bag f!e ffd) genau nad) bent fremben ®a^e, ben
ffe ol)net)in fennen ntugtett^ erfunbigt fatten. (&i fd)ien/ aH woUten fie
t^ren ^r&$er ffil)I eri)a(ten/ fo unnat)bar unb eif[g t)ocften ffe mit ein^
gejogenent i&ucfe( an il)rem Sifd) beifantmen.
»f3a, fo (inb ffe, nteine lieben granfentl)afer", bac^te STOarfud SRiftner,
ali er ntit ^eiteren 3(ugen vor bent (e$ten ®lai M ebeln Staffed fag;
,,treu>goIbig wie ii)r SOein, unb doU f6fl(id)er @d)a(fi)aftigfeit! Tibet aud)
ffe gleid)en, aid ed)te £eutfd)e, bent berui)mten Sempel @a(ontonid: itjxe
J&errlid)feit i(l innen unb nid)t augen; ffe oerfd)Iiegen ffe in il)rer bieberen
©rufl, bantit ffe ja nid)t fd)immelig werbe, anfiatt ffd) gegenfeitig eine
^reube ju ntad)en unb bad t)err(id)e @f)ie( bed Sebend itn 2(udtaufd) il)rer
a)7enfd)Iid)feit ju geniegem Unb jeber weig ganj genau, bag fein ®miit
in reinfier ®d)6nt)eit bl&tjt; wenn er nur tt)oHte, finnte er bie l)afbe SDBeft
burd)fonnen* SoUte bad @d)i(ffa( roixttid) n>i$ig fein unb 9Bi$e ntad)en?
Siel(eid)t pagt biefer Ctto dxidj gar nid)t fo &be( ^ier herein in biefe fliOe
J&errlid)feit"
3([d SIRarfud SIRifnter gleid) barauf ntit ffeg^aften @d)ritten an ben
J^onoratioren t)orbeiging, um in fein Simmer ^inaufiufleigen, grfigte er ffe
mit DoUenbeter «Oiftid)feit
3,
2fld i^m aber am uAd)flen SKorgcn in bem alten breiten ©ette, beflfen
^ffifmen wie ein weiger ©erg ffd) tjor i^m tiirmte, bie Srinnerung an hit
^^rlebnifFe bed entfd)n[)unbenen Xaged iiberb&mmerte, geriet er fofort in eine
iberm&tige ^timmung: je$t mar er in ber Saune, in ber man gl&cf (id)e
Xbenteuer nid)t nur ju mfirbigen, fonbern aud) a(d ^&n(l(er, ber &ber
feinem ©toffe fle^t, ju meiflern unb mit ?iebe ju geniegen meig. 3(fd
SRorgengrug grfigte i^n im ®eifle fd)on bad ^aDenbe Q3ed)erge[&ute bed be^
fd)(ofrenen Z)i(^terfd)maufed, mit bem er feinen 3(ufent^alt in ^ranfent^al
-t^ 73
w&rbtg {U frinen gebac()tc. Seem ^ru[){lucf^ t)effen Ijeden ()eimifd)en «Ootitg
rr btcf auf bad f6(l(td)e 9toggcn6rot firidt^ erful)r er bantt and) {u fetner
^reube t)on bcr @nge(n[)trt(n^ bag bad ^r&ulein iDIaftotne jDte$ nod) tmmrr
aid felbfl&nbiged 3Befcn erifliere unb im ^rcfTetitotnfel tjintcn wo^ne; er
)9ermteb cd abcr forgf&Ittg^ meitere ^ragen tiac^ bcr btd)tenben £ame }u
(leUen/ bamit er bad ^ommettbe ja in fd)6nfler Unbcfangent^eit unb J^etter^
frit gentegen fdnne.
Um fid) jebod) auf aKe gdllc bie n6tige ©timmung ju fid)ern, befdjlog
er, nod) {ut^or in bent 6cr&i)mten 3Qetnf}ubd)rn jum 9tebfldcfle, mo bic aud^
gepid)ten granfentl)a[er, aid »ertt)6l)ntc *o(lgAnger ®otted/ feit Urt)Aterieiten
itft grfil)fd)ippd)en )u trinfen pflegen, ein fftl)fed ®tfinbd)en ju oerfi^en.
(&r fanb ben (etd)ten wcigen SOBetU/ ber ba Dom fitl)(en ^ag t)er)af)ft wurbe,
gang audge}<td)net unb bie runbrid)en J^erren, bie ba an ben braunen, un^
gebecften ^tfd)en ii)re SQeinmi^e ntad)ten unb Dii)ibenben abfd)&$ten, lim^
lidi gentegbar, obn)oi)I ffd) einige ber ianUn @ted)er aUjuna^e an il)n
^eranntac^ten, um auf Umwegen {U erfai)ren/ n>ad ber feine fd)(anfe ^l^err,
ber feinen blonben ^nebelbart in i)orne^mer «Oa(tung (irid), eigent(id) in
tt)rem $ranfentl)a( mode. SRarfud 2}?i(tner (ieg jebod) nic^td baDon t)er^
fauten, unb nad) einer ®tunbe fliUen 3ul)drend unb anb&d)n'gen ^rinfcnd
in ber a(ten 3ed)ilube mar er mieber fomeit, bie t)erfd)iebenen @orten fofaler
ffieinfimpfe audeinanberl)aften ju finnen; nur blieb er im imifel, in
n)e(d)er ©orte ber ^eitere ®eniud bed Ortcd am atterfpagigflen fein 3Befen
treibe, in ben Sapperldtern ober ben Jtud)enmid)e(n, bie l)on 3eit }u 3eit
fd)nuffefnb in bem angeraud)ten gfur »erfd)n>anben, ober in ben SSSnxp
mampfern, ober gar in ben ^raut^ unb Srbfenfreffern, bie ffd) and alien
@t&nben erg&njten. (St)e er bie ffi()(e @tube Derlieg/ um feinen ®ang an^
}utreten^ fd)rieb er nod) ein paar 3(i(^n an bie Came ieimbad)^ ob fie ii)m
bad Sergnfigen mad)en moKe, am t)eutigen 2(benb mit ii)m unb einigen
^efannten im (Sngel }u fpeifen. Sann 6eg[&cfte er bie ffeine 6(onbe
£eUnerin mit einem fanften ^iff in bie pfirf[d)iarten 35acfen unb mit
einem fetten Sriufgelb, taufd)te einige faftige J^&nbebriicfe mit feinen freunb^
[id)en dladjbaxn and unb trat flra^Ienben 2(ugcd in ben fommer[id)en SD^orgen^
glanj l}tnaud, gefofgt t)on einem feinen 2(bsugdge[&ute jufammenflingenber
@f&fer/ in bcm bie }urfi(fbleibenben ®(^o))penfied)er ii)re 3D2einung fiber ben
l)ereingefd)neiten gremben }u tinenbem SCudbrucf brad)ten.
SD^arfud SRiltner aber mar je$t )um erflen ^Dlalt mieber gau} im^
flanbe, bie t)erblid)ene @d)6ni)eit ber alten ®tabt ju geniegen : er fuUte bie
l)err(id)en 55aIfone, bie, mit i^rcm retc^en feinen ©d)miebemerf and ber
be(len 3(it bed 18. 3al)r^unbertd, funftooDen ^rumenfirben glic^en, aud
benen an feligen ^eflen noc^ tmmer ber fc^inflc ^rauenflot in bie ©affen
nieber(ad)te, mit golbenem Seben unb freute fid) aid tenner an ben alten
¥abenfd)tlbern/ ober an ben SKo^ren, Xurfcn unb Stittern, bie fiber ben
alten gefd)ni$ten ^firen prangten. @r marf aud) einen ^lid in bie alte
j£iltandfird)e, an bcren SEBdnben, im ffil}Ien Dunfel ber ©eitenfd)ife, bie
alten ®rabbenfm&Ier ber ®efd)Ied)ter flanben, unb (aufd)te t>or ben fleinen
®&rten, bie ffd) mit t^ren Stofen an ben fXeflen ber alten Stingmauer ^in^
iogen, auf bad geb&mpfte 9toUen ber Aegelfugeln, bie mie bad bumpfe
74 8^
©djicffaWgroHcn einer kunten ©iiljitc m bad fommerftcf^e ?e6cn tjtttin^
Mangen.
@o gelangte er enb(idi, betja^Ud^ fcf)(enbernb, in ben ^reffenn)tnrel
t)or ein ein(l6cfiged fcf)niarcd J&au«, bad ffd) mit ber J&intemanb an bie
altc ©tabtmauer Iel)nte, unb bcffen Sorberfront in einen l)oljen fpi$en
®iebe[ audlief, m ben ein jopfiger l)eiliger Oeorg mit feinem ^rac^en
[)inein8emalt war. Die 6rcite ©eite bed ©aued ging auf einen ein^
gefcfjioffenen ©arten^ unb jur ?infen (lieg ber fleife SflSalb^ang bed ©t6cfi(f)t
empor unb erfftUte ben alten winfeligen ^fa$, ber im fallen SWorgen^
fcf)atten balag, mit feinem wiirjtgen Dufte. SRarfud SRiltner a6er betrat
nad) furjer Umfrfjau ben fd)mafen glur bed J&aufed unb flopfte gleid) an
ber erflen 5iire red)td.
Sine jarte grauenflimme rief J)erein, unb Dor bem (Sintretenben erl)ob
fid) »on einem ©tul)I, ber auf einem nieberen ^obium »er einem offenen
®artenfen(lcr flanb, ein mittcfgro^cd grAuIein in einem gefben ©ommerffeib,
bad in lofen galten an if)rcr fd)Ianfen ®c|la[t tjernieberfief. 3fld STOarfud
SRiltner l)6flid) gru^enb feincn Stamen nannte, uberflog ein feiner J&aud)
bad fd)male, feine ®e(Td)t ber jungen Dame, unb il)re ©ficfe fenften fid)
auf ibre J^Anbe; erft nad) einer fleinen ^aufe brad)te ffe bie S^age l)eraud:
,/IBad t)erfd)afft mir bie @l)re 3l)red ©efud)ed, J^err Doftor?"
„3d) bin auf ber Durd)reife l)ier unb m6d)te mir bei biefer ®elegenl)eit
nur gejlatten, ciner ^orrefponbeuj, bie mir afd fiebe Srinnerung im ®ebAd)tnid
geblieben ift, aud) bie perf6nlid)e ©efanntfd)aft fofgen ju laffen/'
Die junge Dame »er[)arrte immer nod) im ©d)»eigen; ba feine ©lirfe
auf itjxem ®e(id)t ru[)ten, bemerfte ev, bag ffd) ein leid)ter ©d)atten bed
Unmuted auf il)re 3fige fegte; er »erfor mit einem SWafe feine @id)erl)eit
unb ful)r Ieid)t flottemb fort: ,,3d) m6d)te 3J)nen in feiner ffieife inbidfret
erfd)einen, mein gndbiged ^rdufein; nur — "
Da traf itjtt ein ernfier ©licf aud il)ren ^etten grauen 3(ugen, unb f[e
fagte mit rul)iger, fanfter ©timme: ,,Darf id) bitten, ^fa$ gu nel)men,
J&err Doftor."
9)7arfud fDtiltner war in einiger a3er(egenf)eit, wie er bad ®efpr&d)
mit bem wortfargen ^rdufein weiter ffitjren foKte; er mad)te einige ©e^
merfungen iiber bad t)err(id)e ©ommermetter unb feine ©d)ulflabt unb betrat
bann mieber, einigermagen jagenb, ben 9Beg, ber iljn bal)ergefu^rt l)atte:
„SigentIid) war ed nur ber afnfang einer ^orrefponbenj, bie mir Dor einigen
^agen guf&Uig wieber unter bie «0&nbe geriet unb ben 30unfd) erwecfte, bei
meiner 3fnwefenl)eit in granfentl)al bie ©d)reiberin perf6nlid) fennen ju
lernen. ©ie l)a6en meine 3fufmunterung allerbingd mit ftoljem ©d)weigen
beantwortet — "
„©oIt id) 3l)nen fagen, warum?" entgegnete fDIafwine Die$ na* einer
ffeinen ^aufe, ol)ne Don ber 3frbeit auftufel)en.
„35itte fet)r, mein gndbigcd grdulein."
„3l)re Xntwort erfd)ien mir n(d)t ganj e^rlid) — "
SRarfud STOiltner err6tete unb entgegnete Iebi)aft: „llnb bod) war fTe
ed, woUen ©ie mir g(auben. 'Xber wenn man Don i5erufdwegen fo Diet
fd)reiben mug, begegnet ed einem, bag man mand)ma( ben ©inn fur bie
75 8^
SRuance »erliert nnt }u »iel obcr ju iwenig fagt. 3ci) Ijoffc, @ie finb bed*
noegeti nid)t ber SKufe untreu grworben* ©le Ijaben 2alent — "
Sad ^r&uletn fd^fittelte ganj Ietd)t tt)ren ^o)}f unb emtberte: „(Sin
bigd^en/ — fitr ben «Oaudgebraud). IDamtt ^at man ntct)t bad 9led)t^ bie
SBeU, in ber ed fo »iele gate @ad)en gibt, ju belAfligen. 3a, unb bann ifat
and) bad Seben bad fetntge ba}u getan, nttr metn bi^d^en jDtd)ten a6}ugen)6t)nen.
3cf) tfabt in ben legten 3al)ren ju Dtel @(enb gefe()en. Wlcine Zante, bie
mtc^ er}ogen tfat, touxU franf unb (ag ^ier im J^aufe brei 3al)re ge(&l)mt
ba. 3ci) l)abe fie gepflegt bid }u if)reni feligen @nbe/^ ®ie l)ie(t inne unb
Micfte mit geneigtem ^opfe (aufd)enb in ben ®arten ^inaud, ber mie ein
ftefer 99(umen{orb, beffen Soben t)on ber ^eOflen ^(nmenffiUe uberquoU,
jmifci^en ben alten grauen SRauern aufgl&n)te. Ser ®(t)inimer eined S&c^elnd
hufdyte jiber il)r ®ef[d)t unb t)erfd)n)anb »icber, aid jle fortful)r: „llnb ein
3al)r fp&ter i)at man eine anbere ^ote f)ier i)inaudgetragen, beren ®d)icffa(
tntr gejeigt tjat, ba@ bad Seben ber fd^recflid^fle Tixd)tev ifl, ber und fd)n)eigen
lebrt. Stephanie J^ilbert i(l in biefem J^aufe geftorben."
@in j&^ed Sntfegen ri^ iTOarfud fD^iltner Don feinem ®i$e auf unb
noortlod fiarrte er bad ^r&ulein an, beffen «0&nbe mfif ig auf iijvex 91&t)arbeit
rul)ten/ n>di)renb bie ©ilber ber Srinnerung, benen er nod) ge|lern nad)^?
gebangen, in wifbem ®turme unb mit ber Seutlid)feit einer emigen ©egenmart
burd) feine @ee(e iagten.
„®tepl)anie ifl geftorben?" flammefte er mit }ugefd)nurter ^ct)fe,
n>&t)renb er fetn 2(uge t>on ber ®d)n)eigenben Derwanbte, aid m&ffe er nun
etnoad ®rauent)oUed t)6ren, bem er nid)t entflieljen finne.
Sod) fOtalmne fntjx mit leifer ©timme, in ber einc tiefe Srregung
nac^^jitterte, fort: „3a, i)ier, im Simmer nebenan l)at fie ber Sob erl6fl oon
aHem ?eib."
„3n — in weld^er SBerbinbung fle^en ®ie ju ber — 5oten?" fragte
aSarfud STOiltner-
„©ie tt>ar meine bejle greunbin. 3Bir finb aid 9?ad)6ardfinber auf*
gen>ad)fen. 3t)r Sater, ber aid 3(r}t nid)t mei)r praftijieren fonnte, ^atte
fid) ffierljev }urftcfge)ogen. S)a brfiben i)aben fie gewo^nt. ©pdter nal)m fie
bie ©telle einer @riiel)erin in 9)2&nd)en an. ©ie mar ed aud), bie mid)
eigent(id) ermunterte, an ©ie )u fd^reiben."
Sa nidte SRarfud SRiltner, aid ob er nun aUed Derflfinbe. X)od)
SWalwine fuljr mit J^erber ©timme fort: „©p&ter in il)rem namenlofen Slenb
l^at fie fid) }u mir ^ierl)er geflAd)tet. 3n mir aber jittert nod) immer bie
^mpirung nad), menu id) baran benfe, mad bad Seben and biefem l)errlid)en
@efd)6pf gemad)t l)at. Unb mie ed bie ^Jfrmfle an ?eib unb ©eele gefd)dnbet
bat. ®arum? SBBeil fie it)re ©eele einem iTOenfd^en ^ingegeben ! ©eit jener
3eit fel)' id) bie ganje fflelt mit anberen ^ugen an."
„@d ifl entfe$Iid)/' fagte er mit matter ©timme, m4l)renb jugleid) ber
®ebanife in it)m aufbligte, ba@ and) er in biefed jdmmerlid)e ©d)idfal Der*
firtcft fei unb jeben 2(ugenblid nod) me^r bed @ntfe$Iid)en erfat)ren f6nne.
9RaImine aber redte il)re fd)Ianfe ©eflalt, aid ob fie einen @ntfd)Iug
gefa^t l)abe, unb fprad) metter: „©eit id) gefe^en l)abe, mie ein ^xanenMnx
jugrunbe gel)en fann, uerfie^e id) erfl bie J&ofnungen, bie in ben ©eelen
76 8^
unferer ebelflen %xanen febenbig ftnb. 3d) bin jwar nur eine fleine
3ufd)auertn uub teile ntd)t aUe btefe J^offnungen, bte in ber 9QeIt brau^en
laut loerben. Tiber ba^ fie (eben, ifl mtr ein i^etfiger ^rofl/'
9Rarfu^ STOiltner fdywieg. aRaftt>ine abcr fu^r mit milberer ©timme
fort: ya, fo trifiet man ficf)^ tnbem man fid^ Don einem folc^en ®d)tcffa(
tt)efl in* 3(Ugemcine flftd)tft i(l jrnar fin id)Ud}ttv 2rofl; aber .
fDlidf i)at ber (ange 3(n6Iicf be* ^urd)tbaren ganj (liK gemac^t/^
SDZarfu* SRiItner, in bem nur ein einjiger ®ebanfe lebte^ fragte nad)
einer SBeile, urn nur etwa* ju fagen: ,/Bic leben ganj aUein?^^
(Sin ?eud)ten ging fiber bie 3fige be* grdulein*, unb n)icber faufd)te
ffe einen SRoment in ben fonnigen ®arten t)inau*/ ber Don ^infenrufen unb
bem ®e)&nfe ber Xmfein miberbaUte. ^^9tid)t ganj. @* ifl and) fo traurig^
n>enn man gar niemanb tjat, ffir ben man leben fann. 2)}and)ma( benf id)
mix abet and), ba0 id) e* ganj gut aKein au*t)a(ten f6nnte. 3d) meine:
ein fleine* ^I&$d)en auf bem SKantelfaum ®otte* ifl and) fur mid) ubrig^
unb ba (egt man fid) bann t)in unb fie^t ffd) bie @terne an/^
„2)a* ifl ^errlid), tt)a* ©ie ba fagen," woHte 9Rarfu* SRiltner ent^
gegnen; bod) in biefem 2(ugenb[icfe 6fnete fid) bie ^fire unb ein cttca mer^
j&^riger braungelocfter £nabe, mit i)eOen blauen 3(ugen, ber eine ^eitfc^e
in ber «Oanb ^ielt, (ief l)erein unb rief feurig: ^^Sftama, SD^ama, bie iTOarie
tjat im ®arten ein 9?efl gefunben."
a){arfu* S)?i(tner flanb {um jweiten 9Ra(e fprad)Io* Don feinem
©effer auf.
„@in SWefl ijat bie SWarie gefunben?" fragte STOalwine mit gefpieltem
(SrflauneU/ n>&t)renb ffd) ber ^(eine {u it)r f{fid)tete unb ba, iid) anfc^miegenb
unb p(6$(id) eingefd)fi(4tert, auf ben fremben SKann flarrte.
„©iel)t er feiner 9Kama nid)t dljnlid)?" fragte STOafwine, um beren
Sippen ein flrat)(enbe* S&d)e(n fpiefte. „@r tjat ganj i^re lieben 3(ugen/'
fD?arfu* SRiftner, bem e* nun f(ar war, weffen ^inb Dor tt)m flanb,
n>u6te nid)t* anbere* ju tun, a[* bem ^naben feine fr&ftige J^anb i)iniu^
t)a(ten. @l)e er inbeffen eine n>eitere ^rage an 9Ra(n>ine tun fonnte, famen
anbere Ainber, ^naben unb fD?&bd)en an* ber 9}ad)barfd)aft l)ereingetripf)e(t,
fo bag er f[(^ ba(b Don neugierig gl&njenben 3(ugen umgeben fa(). SD^atn^ine
aber fd)ien feine ^(nmefen^eit mit einem 9)2a(e ganj Dergeffen }u i)aben; ffe
jupfte bem einen fein ©d)ur)d)en gured)t unb ^ob bem anbern, lad^enb unb
fragenb, ba* rofige *inn empor, mit glftcffid)er 55en)eglid)feit, bie itjx fd)male*
®effd)t mit flrai)Ienbem Seben erffiUte. 9)a(b ffitlte l)eiterer Jtinberl&rm ben
Heinen 9taum.
SRarfu* 9Ri[tner, ber ingwifc^en nur an ba* ®ei)6rte bad)te unb babei
©tepl)anie* ®eflaft, fo me ex ffe ba* erflemal gefel)en, mit feltfamer
Seutli(f)feit empfanb, fat) bem finblid)en Sreiben mit flarren 2(ugen eine
3BeiIe )u; er lieg feine i&Iicfe, bie bod) nid)t* fa^en, and) fiber bie alt^
D&terifd^e $inrid)tung be* ®emad)e* fd)n)eifen, an beffen getfind)ten SS&nben,
neben einigen ^amilienbilbern, 9tiebingerfd)e 3agbflficfe in fd)malen braunen
«$o(}r&i)md)en i)ingen* fUnn trippelten and) ein paax neugierige alte
iE3eibd)en i)erein, bie einen 9teiger nad) bem anbern Dor bem fremben ^exxn
mac^ten unb aUe in i&mmer(id)en 26nen befl&tigten, bag e* fe^r l)eig fei.
77
iRarfud SRUtner blieb nod) etn ^eUd)tn flutntn auf fettient ®tul)( fT$eti; baitn
abtr uberfchKdj ber ©ebanfr^ bag er ^eutc nicfctd inel)r Don ©tepljanie
}u l)iren befommen loerbC/ unb er er^ob (id) f)l6$[td)^ um 3fbfd)teb ju
nebmen. SRahotne gefettete il^n bid an bie Sftre^ unb ber ®efud)er bacfcte
n>&t)renb bed ®el)end mtt unf&gltd^em ^tbemtden an bad ffetne ^e(lmat)(^
JU bem aucf) SRalwine aid ®a(i erfdyetnen foUte. Sod) ber ®ebanfe^ bag
H)m ber 3(benb n>o^( ®e(egen^ett bteten tvtvht, nod) einmal mtt iijt &ber
bad @d)icffat ber 25al)ingegangenen ju fpred)en, erffittte il)n mit pI6ond)er
SB&mte; er blieb in ber Surifnung flet)en unb fagte mit (eifer^ btttenber
©timme: „^d) l)abe f&r i)eute 3(benb etnen ^oOegen unb eine anbere Same
]u ®a(l gelaben. Um ad)t ll^r in ben @ngef. 98o0en and) ®ie mir bie
greube mad)tn, metn ®afl )u fein? 3d) bitte barum. 3d) tjitte fo Die(
mit 3l)nen ]u befpred)en — • ®eben ©ie mir feinen *orb — *'
„®ut, id) merbe mir erfauben — fagte SKatmine nad) einer ffeinen
SBeile, ol)ne iljre 3fugen ju er^eben, n>4t)renb er feinen ©licf Don bem feinen
SRunb Derwanbte, um bejfen ?ippen wieber ein QdjatUn l)erber ©trenge lag. —
a)7arfud 9Ri(tner blieb nod) einen 3(ugenb(icf Dor ber fd)[anfen ®e(lalt
ffei)en; ed fd)ien i^m^ aid mfijfe er ein DoOed marmed J^erjcndmort finben^
bad wie eine {id)ere ©rucfe in bie ^utunft l)infiberfiil)re; aDein er fanb
nid)td, n>ad er ii)rer n[)urbig tjieU, unb fo nai)m er rafd) unb etmad firmlid)
t)oIlenbd 3Ibfd)ieb/ }U bem fie il)m i^re fd)male «Oanb reid)te.
(^r fd)Iug aber nid)t ben SQeg in bie @tabt ein^ fonbern flieg auf ben
9BaIbpfaben bed @ticftd)t empor bid jur mulbigen ^od^ebene, toe er nun^
{ugleid) erregt unb traumDerfunfen^ im ®Ian} bed flra()Ienb blauen ®ommeri>
taged/ burd) fflbern einl)ern)ogenbe iltoggenfelber^ bai)inging. Sie ®efialt
ber armen Soten n>oUte nid)t Don feiner @eele tDt\d)en, unb ed mar ibm
jumute^ aid f&^e it)n ein emig flarred 3(uge^ bem ein ungel)eured Unredvt
angetan morben mar^ mie eine bange ®d){dffaldfrage an: ^rug er nid)t and)
eine l)albe Sc^ulb an biefem traurigen Sod? dx ^atte ffe ^ineingeful)rt
in biefed Seben^ bad ii)r {um ®d)i(ffal merben foOte, unb mugte fid) nun
frageU/ wad tt>ol)I and biefer fonnigen @eele Dott ber ©el)nfud)t tiefflen
tebend gemorben mdre, menu er bamald feinem eigenen ®ef&i)I geflattet
^Atte^ }ur %reitieit bed ®Ificfed emporgureifen? 91un (lanb er jum jmeiten^
mat Dor il)r unb il)rem ©d)icffal, bad aber aid ein llntt>ieberbringlid)ed
abgefd)Ioffen mar, unb i&Iid unb ^ffiort unb ®efle, bie it)m nod) nac^Ieud)tenb
tn ber (frinnerung lebten, befamen in bem ®(^mer)e bed 3(ugenblicfd eine
9ebeutung/ bie il)n immer mieber Don neuem nad)grfibeln lieg, meld)e 9&ben
biefed armen 9)2enfd)enIofed er felbfl gemoben ober jerriffen ijattt. Sunt
erflenmal bemegte itjxi tin nieberbrfitfenbed ®efft^I ber a3erantn>ortIid)feit,
gegen bad er fein 3Qort i)eimlid)en ^rolled fanb unb bad nur in bem
®ebanfen an fTOalmine, and beren SRunb er DoIIe ^lart^eit liber @tep()anied
Seben erfai)ren mugte, ben me^mutDoDen SSorgenug einer milben 9tu^e in
reiner a)?enfd)enn4^e empfanb.
®eine ®d)I&fen brannten unb immer rafd)er ging er auf bem alten
^elbwege hatpin. Um ben @d)reitenben glik^te bie i)eimatlid)e glur in DoDer
Niger @ommerprad)t; ^od) im 93Iauen triDerten bie Serc^en im Ieid)ten
SBinb/ ein %alU flanb auf 9eute lauernb Aber einem ^uc^enmalbe, unb
-chJ 78 8^
bort gl&njteti and) bte altevibvamcn 3iegelb&d)er feinc^ ^timatoxM t)on
etncm fanfteti J^6i)eti^an9 t)eruber. 3(((em fd)ien tl)m je$t tit biefrr
tttnern fSlot unmdgltd^/ nod) anberen Srtntteruttgen nad^jugel^ett^ unb fo febrte
er benn auf etnem anbertt ^elbiDeg^ ben er etnfl aH @cf)itler Za^ f&r Sag
}ur @tabt t)erabgegangen n>ar^ jurficT^ n>&i)renb ber (Sfanj ber ^et^en bufttgrn
®eft(be^ bte jttternb {arten ®Iocfenb[umen am 9tanbe be^ SQege^^ bte
bufd)eli9en Stbed)fen am 9latn, ba^ ®efumm ber J&ummefn^ bte taumefnben
falter unb SBelt unb Se6en in etn bang empfunbene^ SQtrrfptel ungei)eurer
Srauml)aftigfeit, bie to* tieffled 5ftl)fen war, »or feinen ^ugen ineinanber
floffen. —
4*
$rau £ar()artna Seimbad) raufd^te am 3(benb aid bte erfle fetner ®kftt
in einem fd)n)eren fd)»arjen ©eibenfleibe an, auf bem bad regefmd^ig Der^
teifte ®oIb i[)red ®d)murfn>erfed gfdnjenben ©peftafel mad)te; bann fam
9)?afn>ine, mit einem feinen golbnen ^ettfein um ben J&al*, unb enblid)
ftettte jld) and) J^err Otto Srid) ©teinbeid ein, ber, tro$ ber fommer(td)en
J&i$e eine braune ©amtjarfe trug, bie an ben (SHenbogen wie aBonbfd)ein
auf einem 2Beit)er gffinjte. @r wu^te nid)t red)t, mad er aud ber 2(nn)efenl)eit
ber beiben IDamen mad)en fottte, in beren ®efeUfd)aft it)n ein lecfered ^Diatjl
erwartete; benn er ^atte, el)e er bad J&errenjimmer befdyritt, einen 3(b(ted)er
in bie Mid^e gemad)t, um feine fflaU mit einem SSorgerud) ju fuUen unb
babei ben Speifejettel {u prufen. @r f)ie(t bie $ranfentl)a[erinnen, bie er
nur bem SHamen nad) fannte, fur iDefannte bed ^oUegen t)on beffen
@d)u(ieit i)er, unb nai)m fid) Dor, bem l)ubfd)en ^rduCein jDie$, bad it)m
nid)t bie J^anb jum ©ru^e gereid)t i)atte, aid SOIann Don 9Qe(t unb ®eifl
get^6rig ju imponieren.
STZarfud 9)2i(tner tjatte in bem Heinen ®tubd)en neben bem J^erren^
jimmer becfen (affen. 3(Id er (id) mit feinen ®d(len {U 2ifd)e fe$te,
beberrfd)te i^n ber trfibe ®ebanfe, n)ie gan{ anberd er fid) biefen Z)i(^ter»
fd)maud audgemalt l)atte, n&mlic^ aid ein AbermAtiged Spmpoffon, mo er
Don einem fd)6nen ^raume in ^albem @eIbflfpott glucflid) 3(bfd)ieb nel)men
monte. 9}un mugte er ftd) )u l)eiterem ®efpr&d)e jmtngen unb burfte mit
SKalmine, beren DorneI)m flitted SBefen il)n in eine Icidjte (Srregung Derfe$te,
fein SBBort Don bem fpred)en, mad feine @eele ben Jag fiber tief unb fd)mer
bemegt [)atte.
J&err Otto @rid) ©teinbeid itberl)ob if)n inbeffen balb ber ^flid)t bed
9tebend; ber Sic^ter mar nad) einigen Umfd)meifen fiber $ranfenti)al fofort
auf bie Sttteratur gefommen, unb ed jetgte fic^, bag er ben meiflen fibein
©d)Iid)cn auf ber ©pur mar, bie ba braugen in ber ®elt ber grogen
97amen im gemeinen ©d)mange maren; er mar unbarmt)erjig mie ein Soten^
rid)ter, unb fein Sngrimm murbe erfi red)t lebenbig, aid bie erflen ®Idfer
bed beflen granfentl)aler UBeifen fiber feine 3unge gelaufen maren. (Sr rig
Don einigen berfi^mten X)id)terbfiuptern fo Dtele ungered)t errafte Sorbeer^
frfinje l)erunter, bag bie $ranfentt)aler auf Sa^re i)inaud mit ben fc^maleti
79
iDfirjigeti 9(&ttcrti ffir i^rc ©rdteii t^erforgt tt)aren; er feI6(l aber na^m
fetn datt baDon oor ben fDIunb uitb er}&t)(te oon einigen gemad^ten Seuten
®efd)t(()ten, bie^ wie er feI6(l bemerfte, toixiUd) md)t mel)r fd)6i! tt)aren*
„^te ganje Sttteratur ifl ein @d)n>etneflaO. bin frol), ba^ id) l)erau^
bin. 3^ie gatije SQelt tfl itber()aupt etn @cl)n)emeflaUI" f(f)Io@ er t)oa
grtmin^ ben er aber fofort burc^ etn i)oUgeme{fened &ia^ ^ranfent^aler
fofdjte. —
,,aBo und ba^ @cf)icffal mddet/' ergdnjte SRarfud JWiftner, ber ba*
©eburfni^ ful)(te, ettioad ju entgegnen, „3t)r ©pejiette*, J&err College!"
g^rau ieimbaiS), bte fRa(n>ine mit uberfreunblidyer «$od)a(()tung begegnete^
l)atte fid) fofort auf beren ffeined 3(boptit)f6l)nd)en gcfiurjt, unb bie beiben
^amen waren balb tief in bie entjucfenbflen Unarten ber ^tnber Derflricft
©er Su^irer erful)r bei biefer ®elegenl)eit and), bag bie Heine Dame ^unft^
fitrfereten fiir ein granffurter itaufljaud fcrtige, unb ber ®ebanfe, bag and)
fie einen 5eil i^red 8ebendunterl)aUed mit ibrer J&dnbe Xrbeit erwerben
mfiffe^ erfuUte ii)n mit einem mobligen ®eful)Ie unb ^albem ®(ficfe.
2fW aber bie Derbcigenen JJranfentt)aIer Spejiafitdten, bie fiblid)en
g6ttlid)en ©rattt)ur|le crfdjienen, Derlieg Otto Srid) ©teinbeid ba^ unf[d)erc
Jelb M beutfd)en @d)rifttumd unb jeigtc jicfc al^ edjter, eingefebter 9Bal)U
franfentbafer: „l5ad i(l bad einjige, n>ad man l)icr l)at/' fagte er mit
Iei(fttem ®d)ma$en, wdbrenb er bie braunen gfdnjenben ®ebilbe mit fenner^
baftem @rnft jerfdgte unb ein jweited unb brittcd flWal ba»on nal)m, nur,
urn bem ^oUegen ju jeigen, loie man fie in @(^6n^eit il)rer ^ejlimmung
entgegenfubren mfiffe.
„t^ie STOc^ger ncbmen gu »iel ^feffer/' meinte grau ?eimbad), bic
ben I)uft mit i^rer Slafe prfifte. „Unb bann weig man nie, mad in einer
SSSnvft aDed brinftecft* ®ir effen nur bflMdgemad)te. 3d) nel)me and) immer
ein paar 9?4gele baju. 9Rein SKann ifl barin fet)r inbtH/^
„35ie SDSurfl ifl eigentlid), aW pl)iIofopl)ifd)ed ®erid)t, bad beutfd)Cf
(Sffen par excellence", mif^te fid) nun SWarfud SRiltner ein, ber, tro^
feiner unbeiteren ©timmung, gern ein i&djdn auf fTOalminend Stppen
gefei}en l)Atte. —
„SGBie meinen ®ie bad, J&err College?" fragte Otto @rid) ©teinbeid
mit ooUen Cacfen.
„®ott, bie «Oaut ba ifl fojufagen ber Segriff, in ben man ben 3ni)alt
{uerfl i)ineinflopft, $ett unb ^feifd) unb ®en>iir{e, um il)n bann mieber
^eraud}unet)men unb aid burd)aud notmenbiged ^fiUfel einer tiefffnnigen
Xnal^fe ju untcrwerfen!" Da fein Sinfall aber nur mdgige Jjeiterfeit
enoerfte, ful)rte er il)n, o^ne innered ©ebagen, nod) nAJ)er and, inbem er
bei einigen Sutaten ocrmeilte. ^crr Stcinbcid aber l)atte ffd) inj»ifd)eii
rebenb ju grdulein 2)ieft geneigt, unb aid SBarfud 9RiItner mit feinem
3n>tfd)enfpiel }u Snbe mar, ^irte er ben fauenben Dic^ter fagen: „^ir allc
m&ffen und eine neue ©eele anfd)affen."
SWalmine, bie nod) immer nid)t auftauen mollte, fonbern jiemlid) ein-
filbig bafag unb aud) feinen SBein tranf, begrugte biefe ^orberung mit
einem Ieid)ten Slirfen iljred feinen A'opfcd. 3n grau ?eimbad) aber, bie im
9H)9tbmud iljre 9?afe rumpfte, ern>ad)te pl6§Iid) bie eingefc^Iafene ^^antafie.
80 8^
Kkl^ man auf bie fr&nftfd)e St&dje im aOgemeinen ju fprecf^en tam^ unt) ba(b
fegelte xljx fd)n)er Relabelled ^ucl)enfd)iff in Doller ^rad)t baJ)in. Otto Srid)
©tettibetd^ ber ein ®(ad 3Qetn nacf) bem anbern f)inabfl&r{te^ fofgte t^r anf
t)iefer ^t(f)terfal)rt mit f^rifdyer SJegeiflerung* IDer frfil)ere ^oet rriDied ffd)
1)ier6et nicftt nur aW ein feiner ©djmecfer, fonbern aud) aid ein n>4l)ferifd)er
-tenner ber Sofafgen)&d)fe, bie it)ren [eid)ten Suft aud einem eigenen
9te6enn)infe( faugen^ foioie ber fc^ma^enben ©efd^m&cTer aUer ^ranfenti^aler.
SRarfud fTOiItner erful)r, iDefc^e 3wnge ber J^err ?anbgerirf)tdrat a. ^.
1Beinf)6ppeI be(T$e, unb ed blieb il)m md)t mborgen^ bag ber ^^pfifud
gan) unni6g[id)e ®efd)id)ten er)&^(e, tDenn er ju Die! gelaben ()a6e. ^ie
gilHe bed ?ebend, bie in SEBein unb 9lofen buftet, Augerte ffd) in jebem
liefer ®d)6pplein(led)er aid ein anberer Durfl, ber mit feinfier 3unge Drt
unb 3eit unb ©timmung roli\)Ue, urn {u feinem angeflammten 9ted)t }U
fontmen; benn bie 5rinf(itten ber Singeborenen waren ojfenbar fo ge^eiligt,
bag (le aid ®(t)i(ffaldmdd)te bei aUen anberen 9r&bern 2(nerfennung fanben.
%i\d), ffiifbbret^ 9Ba(b unb 98eibe n&brten in ber alten ffieinflabt @ee[en^
in benen ber unenblirfje Sleidjtum bed ?ebend aid ererbte J&eimatfd)mecferei
fein ®efen trieb, grau ^atl)arina 8eimbad), bie nid)t iibel tranf, eriAl)Ite
enblid) mit breitem Sadden \>on einem 9Ifirnberger £od)bud)/ beffen merf^
^tpfirbiger Sitel alfo lautete: „35er aud bem ^arnaffo el)emald entlaufenen
"t)ortref Iid)en ^6d)in^ melc^e bei ben @6ttinnen Sered, T)iana, Pomona t)iele
3at)re gebient, t)interlaffene unb bidi}ero^ bei unterfc^ieblidyen^ ber I6blid)en
^od)funfl befliffenen ^rauen ju Stfirnberg jerfireut unb in grower ®et)eim
^ei)alten gewefene ®emerf^3ettul^ woraud ju erlernen^ wie man fiber
anbertl)albtanfenb fon>ot)I gemein aid rare ©peifen: in ©uppen, SD^ufen^
*^afleten, ^xixljen, ©ffigen, @alaten, ©aljen, ©uljen, Sorrid)ten, 9?ebeneffen,
ffiiern, gebraten, gebacfen, gefotten unb gebdmpften ^i^d)tnf SBBilbpret,
-©eflfigel, %Ui^d), aud) eingemad)te ®ad)en^ Morten unb 3ucfern>erf be(lei)enb;
mit SQo^Igefd^macf unb lecferbaft nad) eined 3eben iDeutel )u bereiten unb ju
fod)en." ©ie leierte biefen 5itel Iad)enb wie eine ®ebetdmafd)ine ^erunter
4inb n>ugte and} bie 3ai)red}abl bed @rfd)einend biefed flaffifc^en SBerfed^
1691, genau anjugeben.
Otto @rid) ©teinbeid aber, in beffen Sadden fid) je$t ein ®Iucffen
mifd)te, lieg fid) t)ernel)men: „©iefe flaffifd)e ^6d)in ifl famod. @d ifl ewig
i'd)abe, bag n>ir nid)td wiffen, n)ad bie t)ot)en ®dtter eigentlid) neben il)rem
Steftar unb 3(mbrofia nod) gewicfelt ^aben^ t)oraudgefe$t, bag iebe ber t)Ol)en
^errfd)aften eigene Mdft geffii)rt t)at. ©ie miffen nid)t, ob bie flaf(lfd)e
^fid)enfee ein Sagebuc^ ^interlaffen l)at? Nunc pede libero — bie ^amen
'fntfd)ulbigen! 3d) ^abe n&mlid) aud) einmal ^^ilologie flubiert. ^rofl.''
gran ?eimbad), bie ben J&errn 9tebafteur gottt)oH fanb, wugte nid)td
-t^on einem ^fid)entagebud)/ unb Otto (Sxidf ©teinbeid begann bie ®efd)i(^te
^er i)om ^arnag entlaufenen ®6ttin toeitex audjufpinnen, inbem er jminfernb
^udmalte, njelc^e ©ebeutung ber ^latfd) in ber flaffifd)en ®6tterfftd)e eigentj»
lid) f&x bie menfd)Iid)e Xulturgef(^id)te ^aben mftgte^ n^enn er befannt mfirbe.
^ud) bad ber&^mte golbene ®ebuft um ben Olpmp fei, aOer 3Bai)rfd)einIid)^
*feit nad), nur gl&njenber £iid)enraud) gewefeu/ toit er nod) jeben ^ag golb^
»>burd)n)oben t)en 9ranrentl)al aud in ben emigen ^t^er emporfd)n>ebe. Itnb
81 3*4-
fo t)er6anb tin baxedti Sod)1)udf bad mobernfle itbcn in einem fommer(id)ett
SBet]tn[)itife[ mit bent marmornen «i&oc4fi| ber emtgen ®6tter. —
9)Iarfud S}2i(tner aber bacbte an ben 9nef bed Stc^terd @tein6eid unb
an bad «Ooc^jeitdnia^.( bed erflen libermenfc^enpaared^ )u bem ie$t ber Speife^
]ette( unb bte flafflfd^e ^id^tn gefunben n)aren. (Sr ^ob (tin ®(ad empor
unb tranf SKalwinen £te$^ bte l&c^elnb bafa^^ be^agltd) )u.
grau Setntbad) ffi^rte tnbefTen bad ©efpr&dy aud g6tt(i(()en «06^en
iDteber in bie J^eimat jurficf, inbem pe ju Otto (Srid) ©teinbeid fagte:
„©ie foUten einmaf in einem iXoman eine altfr4nfifd)e ^runffud)e fdjilberm
SieKeid^t tun (te ed nod^ in ber ,aStntonenbraut'? fRad^en @ie nur^ ba^
(SlSa ii)ren armen ®rafen befommt @onil foU ©te'd SS&udle bei^e,
^a^a." —
HU SD^arfud ^SJliltntt, ben ber SBein mctjx unb ine^r burc^m&rmte^
^6rte^ bag ber 2)id)ter ber „9)2iUionenbraut" neben ii)m tafle^ fla^I fid) ein
milbed Hdjein fiber feine Sfige unb feiner ©orge urn bie 35i(^terfeele feined
£oIlegen^ ben er auf bem l)ei(igen ®oben ber ^rag6bie )u ftnben gen)&i}nt,
n>ar er nun mit einem ^SJlaU (ebig^ befonberd aid er merfte, bag ber
Srtitane and) mit bem inttmfien iotaittat^d), ber nun an bie 9teii)e fam^
aufd innigfie t)ertraut mar. Otto (Sric^ (Sttinbei^, ber einen fanften 3Bein
tranf^ n>urbe babei immer mtfber; )un>eilen bucfte er ffc^ beim $ad)en/ unb
fRarfud ^iltntt, n>e(d)er feine Sanbdieute fannte^ entfann fid) biefer ®efle
aid eined 3uged, an bem er jeben ^ranfent^aler felbfi am *ongo ju er^
(ennen f^laubtt. Tlud) ^SJlaltoint roar etwad l)eiterer gen>orben; fte n>arf bin
unb mteber eine fd)a(f^afte 93emerfung in bad ®ef)}r&d)^ bie aber in fRarfud
SWiltnerd 95rufl ein leifed ®efuf|I ber ®iferfud)t ertt>erfte, n>eil if|m felb|i
nod) fein befonberer ®rug and biefer 3(nmut {uteif gemorben koar; feine
SRiene murbe immer f&uer(i(^er, to&tjttnh ber ©c^immer um ben feinen
fc^malen SD^unb feiner 9}ad)barin immer ^&uftger erg(&n}te. 3m (Sifer bed ®e^
fpr&d)ed bemerften ffe inbeffen nic^t^ bag bie 9?eben)immertfire (eife geifnet
morben mar unb braugen ber flumme Qtjot ber £om6bie in ®efla(t (aufd^en^
ber granfentbaler flanb^ ffir bie bad ^eflma^t ba brinnen ein gefunbened
Steffen mar; fie budten fid) )umei(en grinfenb unb jminferteu/ menu ber
fette 3ettungdfd)reiber ©teinbeid eine faftige Semerfung mac^te; feit t^r
fRitbfirger SSaltin ®ram(id) ben Derforenen a)2ol)renfof)f bed SOBac^tturmed
in einem falfd^en J^finengrab miebergefunben unb feiner SBaterflabt ffir bie
n&c^fle (Smtgfeit gejiiftet t^atte, mar i^nen fein folc^ gelungener 3ujr me^r
begegnet.
3([d bie £amen^ bie jpli^Ud) an xtjxe ^[einen haditen, meld^e )u J^aufe
fd^ltefeu/ enblid) aufbxadienf exbot fic^ STOarfud iSJtiUnex^ ffe ju begleiten^
m&^renb Otto Srid) ©teinbeid wn ben neugierigen ^onoratioren im J^erren^
(immer feflgei)a(ten murbe. ^rau Xat^arine Seimbad) lieg ed ffd) nid)t
ne^meu/ bad ^r&ulein Sie^ in ben ^effenminfel )u begleiten^ unb fo ging
benn fD^arfud SD^iltner fd^meigenb neben ben beiben Samen ijtx^ burd)
fd^Iummernbe ®a^tn unb fiber monb^eOe ^(&$e^ auf benen fitegenbe
9ti^renbrunnen raufd)ten. $rau Seimbac^ fprady im ®ei)en mit (auter
©timme t)on taufenberlei Singen: wn ©enfgurfen unb 2Qeinbeerb(a$^ t)om
©ocfenflricfen unb t)om 3a^nen^ k^on ^leigjettefn unb k)on il^rer a(ten 9Ragb
S&ddeacsche Moamtthefte. 1, 1. 0
82
^Bltaiitnt, einer reiiten ^erre, toit jie nidjt mttjx xoad)Un. iHftavtui SRiftner
empfanb einen wadyfenben SBibemiOen gegen biefe fette ©piepbftrgeriii, bie
t()m bie ^reube nai)m/ fid) mtt ber f(f)(anf etn^frn>anbe(nben ®efla(t an
fetner @eitf ju unter^alten/ unb er r&(f)te fid^ an bem 3bea(6Ube einrr t&bnen
2Qeibfid)feit, ba* er einen Sag fang in feiner ©eele getragen, mbern er (le
in bad $feffer(anb n>unfd)te. (Sr begrif nid)t^ wit SOZalwine fo(d)en
fpie^igen ®ef))r&(i)en mit offenbarer Sfufmerffamfeit )ul)6ren fonnte. THi
bad fd)(anfe ^r&ulein in bem aften ^ani bed Areffenminfeld t)erfd)n>unben
roar, o()ne i^nt/ mie er meinte, einen freunbfic^en 3rbfd)iebdgru9 ju ginnen^
unb aucf^ ^rau ^at^artne ieimbaib, bie fTc^ laut unb marm Don ii)m t>er^
abfcf)iebete, ben Jjeimweg nad^ bem ?o(l)boben angetreten l)atte, ging er
langfam burd) bie ^aOenben ©affen in bic ©tabt jurficf, »on einem Sore
bid jum anbern unb ^inab jum fSJtain, ber in ber milben J^eOe ber
Iauf(^enben ®ternennad)t leife ba^erjog. Sin leifed SBBe^en, »on ^uft unb
^rifc^e fd)n>er/ fam gumeilen t>on ben na^en Se(bern bed fanft anfieigenben
xedften Uferd ^ergefiridyen/ unb feier(id)en flanged t^r^allte ber ®d)rag ber
@tunbeng(o(fen/ bie ffd) t)on nat) unb feme 3(nttt)ort gaben^ im namenlofen
^rieben ber 3uJinad)t ©o ijatu er jid) biefen Sid)terf(ftmaud tt)al)r^afHg
nid)t gebad)t, unb aud) S)7a(n)inend k)orne^m anmuttge ®ef)a(t t>er(or im
iid)te biefed S)7a^rd/ bad nun and) Doruber n>ar*
@in ®d)auer tieffler Sinfamfeit unb (eifer Srauer iiberfdylid) aUmhtftid)
ben ?aufcftenben: bort oben manbelte^ in ewig bJfi^enber Slein^eit, ©tern
an ©tern/ unb l)ier unten atmtte unb fd)Iief bad bange Seben^ bad and
armen 3(ugen tr&umt unb glAngt 98ie t>itU t>on ben ©ternenaugeu/ bie
i^m fefbjl gegfdnjt, waren fd)on erIofd)en in ber ewigen 9iad)t, unb bod)
ging nod) ein fefier ©d)icffa(dfaben ^er ju i()m unb fpann flc^ meiter ju
ben anbern, bie fid) einfl mit i^m an ®(an} unb iidjt gefreut fatten. Sin
munberbared/ grauenDoOed, gofbened SSermobenfein t)on Son unb Suft unb
^lang unb 2Renfd)entt>err/ bamit ein jeber, wa^nDoO barein t)er|lrirft, Un^
audff)red)fid)ed erfa^re! Dad ?eben, bad er »or einigen Sagen nod) gefu^rt,
fd)ien iijm im atemfofen ©d)tt)eigen biefer 92ad)t wie ein bumpfer Sraum,
ber meilenfern am bunfein ^Oorijonte fag unb branbete, unb bod^ faf bort,
im SBirrmarr ^eifen Drangd unb einer ru^elod gemeinen SBett, bad arme
©d)ifd)cn feined ?ebend feft. SBogu? 2Qoju? Sin ®efiiijl unf4glid)er Ser*
(affen^eit unb bittern Sfeld quo0 (angfam in i^m empor, unb jielfod ging
er, umfangen Don ber unge^euren Sinfamfeit ailed ^ebenbigen, burd) bie
©ommemad)t ba^in, in ber ein Htm unb ein 9Beben ging, ^on ©tern ju
©ternen unb Don Sraum ju Sr&umen.
2ffd er ffd), fange nacft a»ittemad)t, bem ®a(l^of wieber nd^erte,
torfelte gerabe ber Did)ter Dtto Srid) ©teinbeid im ©elbflgefprdd) bie
breite ©anbfteintreppe ^erunter; er war gdnjJid) betrunfen unb ^ielt feinen
©tocf n>ie einen ©pief Dor fid) ^in.
,,9ia, ijaben ©ie 3l)re SRac^barin nad) J&aud gebrad)t?" lallte er mit
C9nifd)em ?ad)en, aid er ben ^ollegen fo fpAt bal)erfommen fal).
^STOenfd), ©ie ffnb ja befofen," entgegnete STOarfud SWiltner, ben biefed
beutlid)e ?ad)en mit einem ingrimmigen Sfel erffillte, ol)ne ben Dirfen, ber
fid) faud)enb Dor i^n f)inpflanien woUte, meiter eined Glided ju mfirbigen.
-<-S 83
SB&^renb er tie alte bttitt J^oI}treppe iti ®a^ofti ^tnanflieg^ flanb bit
(Sfflaft bti ^rdulftnd ani bem ^effenminfel tit munberfamer Z)eut(td)rett
t>et fetnen 3(ugen^ unb etne t>ertt>egene ^rage er^eOte mit etnem Wlale hai
Sunfff femer ©eefe: 2Ba« wfirbe tt>oJ)f au« bem (litteit ©artenglfirfe werben,
tpenn ei in etner freieren Sielt gutn ^oOeit Siu^eit fdnte unb in ))oHer
SRenfcf^rnfreube (eud^tete? 3(u(f^ ber ®ebanfe^ baf ber @o^n ber tnU
fc^tounbenen greunbin an 9RaIn>men« Jjanb in fein itbtn tttUn unb ba,
jtt (finer eigenen ©u^ne, gu etnem a3oHmenfd)en ^eranmadyfen foflte^ n>ar
nur etn SRe^rer bed 3au6erd/ ber k)on i^rer fltOen anmutigen fflatux aui^
ging* 3n ber (etd)ten ^runfen^eit unb ^errlid)en Unrafi^ bie i^n aKm&^(id)
ikberfameu/ fdyien ti t^m^ ali ^inge bie (SrfAHung biefer Srdume nur Don
ftnem einjigen 9Borte ab, bai er nur gur red^ten ©(ucKjeit fpred^en burfe*
di n>ar i^m gan} unmdglid)/ ein 'jfuge }U}utun/ unb fd)(af(od in bem
nnge^euren ®ette liegenb (aufdyte er auf bie ^etmlid^en iantt, bie jld) aud
ben a(ten SJdnben (6(len unb braufen atmenb burd^ bai mdrjige £unfe(
gtngen, bii in ber fd^auernben @m>artung ber erflen ^r&^e jeber iaut i)tr^
finmmte. £ann fi6er^aud)te tnbUd) ein UidjUt ®d)immer bie fatjle ^inflernid/
unb (angfam, in ®o(b unb StofeU/ fam ber reine @ommertag ^erauf/ beffen
3rn6rud) er mit einem fefien (Entfd)(ufr( in feiner ®ee(e ern>artete.
5.
£er (Ira^fenb t)tUt @onntagdmorgen n>iber()allte t)om ^xaui bti ftp
lichen itbtni unb bem ®e(dut ber ®lo(ftn, ali Wtaxtni fSJtiUntx feinen 3Beg
in ben ^e{fenn>infe( antxat. 3u feinem Srflaunen mu^te er im ®e^en
bemerfeu/ baf einige ^rimaner^ bie an einer ©trafenecfe beifammenflanbeu/
t)oO fc^euer S^rfurd^t bie greHrote Wtit^t ))or i^m abjogen/ unb er entna^m
ani biefem (Sxn^ ber 3ugenb/ ba^ er nic^t me^r unerfannt in ^ranfent^al
tpeife, fonbern aW erfannter J^rfl be* ®eified ba* e^rmdrbige ^flafler ber
alien Stabt trete.
7M er gegen }e^n Utjx ben $(ur be* ffeinen J^aufe* im ^reffenminfef
betrat, fanb er ju feinem @d)re(fen bie Sinimertdre redyt* t)erfd)(offen; eine
junge fonntdg(id) gepu$te S)7agb^ n>e(d)e bie J^au*ture ge^en ge^6rt Ijattt,
toie* i^n jebod) burd) eine ^interpforte in ben ®arten/ mo er SRa(n>ine
mit bem ffeinen 3rifreb, ber in einem ^auftn bti fd)6n(len STOainfanbe*
t>erumfd)aufe(te/ in etner ®et06(att(au6e an ber aften 9tingmauer traf. Sine
^d^enfc^drje fdumenb^ faf fie ganj im marmen ®d)atttn, ani bem i^m
i^re Sfugen text jmet tiefe @terne entgegenleudyteten^ Dor einem alten
fleinemen Ziidi, auf bem eine SRaio(ifafd)aIe doK frifc^er Stofen ne6en
etntgen btcfen bfauen J^eften (ianb. ®te trug ba* gfeic^e «Oau*gett>anb mie
am Dor^erge^enben ^age; nur um ba* red)te J^anbgelenf ^atte fie ein feine*
3fnnbanb gelegt, an bem eine afte fD^dnge ^ing. @te begrd^te ben 93efud)er
mit t^etterer ^reunblidyfeit unb flaren QJIicfen; aber i^m fdyien e* ))(6$(td>
ganj unm6g(id)/ »or ber 3fnmut biefe* feinen Jrauenwefen* and) nur ein
einjigr* SBort Don bem oorjubringen^ ma* i^n im Sunfel ber entfc^munbenen
dladit ali ^etm(id>er SBunfd^ unb mdd)tige* SSerlangen bemegt t^atte. @r
6»
84
na^m i)or bem $ifcl)f ^fa$; fte unter^iefteit ficfj juerfl Don ber ^ad^t bed
@ommern>etterd/ uitb baitn mu^te er bad (tocfenbe ®ffpr&cf) auf Stephanie
{u (ettten* S)7a(n)iite fprad) ^eute tnit tni(ber 9tu^e t)on bem Sod ber ba^im
gegangenen ^r^wnbin, unb er erfu^r ungefd^r bad, wad er fid) felbft gebadjt
^atte: ber SReitfd)/ mtt bem fie nad) Berlin gegangen war, ^atte ffe nadj
»ier 3a^reii »erfaffeti, unb fte ^atte fid>, an ?eib unb ©eele franf unb ge^
brod^eu/ mit i^rem Atnbe ju ber eingigen ^reunbin QtfliidjM, in beren Sfrmen
fie ^in&bergegangen mar* Sr empfanb ed a(d eine unge^eure @r(eid)terung/
ba^ i^n feine SinjeJ^eit biefed armen ?ebend fiberrofc^te, fonbern baf Die(*
me^r and) bad ®d)(immfle feinen Snoartungen entff)ra(^*
J^terauf trat etne ^aufe ein, unb er fa^ bem ®pie(e t^rer mi^tn finger
JU, bie fleiftg bte 9}abe( fA^rten. jDann begann er p(6$Iid)/ in einer (eicf^ten
SfufmaOung, Don ben ©rfinben unb ber SSeranlaffung fetner 9teife ju erj&^Ien.
SVafmine ^ob jumeilen ben £opf unb fab tbn nitt forfcf^enber^fufmerffamfeit an^
wd^renb er fprad), unb einmal, aid er ben ©rief ber J&otfd^enreiterin mit
Jeic^t nert)6fer libertreibung jerpflfirfte, entflo^ tin Md^M ?a(ften il^rem
SRunbe^ bad t^n mit wonniger (Srregung erffiKte* Tiud) bad £id)terma^C
batte je$t in fetnem ®eifle jene ^drbung angenommeu/ bie er am Hbtnh
felbjl Dermi^te^ unb bie J^eiterfeit einer gemeinfamen Srinnerung lie^ i^n
range bei bem Sidyter Otto (Srid^ Dermeilen^ ber feinen Dlpmp^ feinen
Sleftar unb fein Xmbroffa in Jranfentbat gefunben ^atte. 3m ?aufe bed
®ef))r&d)d fam er bann auc^ auf fein $D7&nd^ner itbtn, beffen fd)infte ®eiten
er mit Uid)ttt libertreibung ^eraudflrid^. Sabei (iefen i^m neben ben
glAnjenben ®cbanfen, bie er Dor feiner 3u^6rerin audbreitete, nod) anbere
®ebanfen n>ie auf bunfein ©eitenpfaben ^er^ unb er (iaunte juweileu/ ba^
SRalmine^ bie nic^t me^r Don i^rer Slrbeit aufblirfte, gerabc biefe ®ebanfen
erriet unb toit fd)6ne @d)metterfinge auffpiefte. 3w»eifen ^atte er and}
bad ®effibf/ bied ober jened ffiort pafft nid)t in biefen (iillen, fommertic^en
®artentt>infe(/ unb bann geriet er jebedma( in ein Uid)tei ©tottent/ bad bie
Crregung feiner ©eele nur nod) fleigerte. ©o n>urbe er im bewegten ®e^
fprdd)e immer mitteilfamer^ unb er Dertraute ber 2aufd)enben allmd^(i(^
^inge au/ Aber bie er nod) mit feinem S)7enfd)en gefproc^en f^attt. dx
merfte balb^ baf 2){a(n>ine Die(e gute ©ad)en ge(efen b^ben mu^te, unb bie
6inf[d)t in bie ®d)attenfeiten feined ©erufed, bie and einigen i^rer ©e^
merifungen ^erDorging/ beru^rte ibn gan} feltfam; ffe meinte ndm(id) mit
^albem Hd^eln, ed muffe bod) eigent(id) fd)recf(id) fein, f&r jebed ©ud) unb
jeben 9Renfd)en gfeid) ein ffiort bereit ju ijabtn, ba bod) sroenfd)en unb
£inge i^r 3(ngeftd)t erfi nad) unb nad) entt)&Hen f6nnten* S)7arfud S)7i(tner
fprad) bagegen mit (eid)ter iSlbertretbung/ bie er felbfl a(d fo(d)e empfanb/
Don ber en>ig frifd)en Srneuerung ber ®ee(e im @trom bed Sebend/ unb
babei Derwanbte er fein 3fuge Don STOalwinend fd)malem ®ejid)t, Don bem
ber Sfbglanj einer g(eid)mdfig rubigen innem J^eiterfeit nid)t ipid)* @r
bemerfte, baf fte in regefmdf igen ^aufen Don ibrer Tixbtit aufblitfte, um
ben fpiefenben Jtnaben nid)t and ben Xugen ju Derlieren; afd er enb(id)
anfing, feine 3(nf[d)ten fiber bie f&nftige ©rjie^ung ber euro|)difd)en SWenfc^^
t)eit DorjutrageU/ fam ein tiefered itben in itft ganjed SEBefen* ®ie meinte,
ber fleine Tilftti mftffe Tltit ober Sanbmirt merben, unb auf biefem ®rnnbe
85
)tminerteit f!e nuti eiit g(&n)ftibfd S)7enf(^fnf(^i(ffa( iurtd^t, ittbem iebed wn
feinett etgenen J^ofnungen etmad baju gab. SEBenn iD^arfud iD^Utner in ben
®arten jurficfbltcfte, mufte er bie Sfugen fc^Iiefen t)or ber blenbenben @onnen^
fLut, in ber aUe ^<^rben brannten unb iliijUn, unb bann taud)te i^n bad
(tc^tburd^mobene @d)attenbunre( ber Saube^ in bad ber fifberne 9tuf eined
^infen nteberflang/ aUmitiUd) in einen l)a(ben Sraumjuflanb/ in bem er ii)re
®egenn>art unb bie ganje friebtid^ fcf^immembe Umgebung in einem einjigen
®ef&i)( empfanb.
Tin er enblid) eine ^aufe mac^te^ er^ob fid) SOIafmine p(6g(id) unb
fagte (dc^elnb: /^@ntfd)ulbigen @ie mid)^ bitte^ nur einen ^TugenbHcf. ^Dtein
Wtibd^tn i(i in bie Mixd)t gegangen unb ba (iegen gemiffe J^audfrauen^
p{Iid)ten auf mir. SieDeid^t merfen ®ie inbeffen einen 93(i<f in biefe J^efte
bo- 3a?"
9Barfud SRiftner fa^ ber SAc^elnben^ bie rafd)en ©d^ritted burd) ben
®arten auf bad J^aud }ugtng/ mit einigem Q3efremben nad) unb grif bann
nad) bem bicfjlen ber Jjefte^ beffen erfle ©eite ben 5itef trug: ,,gatifina"*
Sine Sragibie in f&nf Utttn Don 3(bo(pt} ©tubenraud). 9eim flild^tigen
®(&ttern fa^ er, baf bie gefd)tt>offenen Santben, in benen bie ^id)tung
ein^erflimtte, nur fo t)om 93Iute ebler 9t6mertt>unben unb k>on tugenbl)aftem
(Ebelmute trieften. Sr (egte bad J^eft mit einem 3n>infern ber (Srinnerung
an eigene ©finben beifeite unb griff jum jweiten: bied mar nun eine
S^ebrud)dfom6bie im bfutrftnfligflen ©ti( bed SRaturaHdmud, in n>e(d)er er
fofort auf eine ©cene fiieg, bie an J?u^nt)eit nidit^ }u n>ftnfd)en &brig (ief.
J)cr ^idfer fpi$te feine ?ippen ju einem furjen ^fiff unb nat)m rafd) bad
britte SWanuffript, ein feined 3ffbum in ®oIbfd)nit^ jur Jjanb: ed ent^elt
bie ?ieber eined „®Jfil)enben", ber mit bem Subelrufe begann, bag fein Jjerj
Aber ber SBelt fd)n>ebe unb mit ber S3erf[d)erung fd)(of, bag fein J^aupt
ein 9}efi ooUer TlhUt fei, bie 3^ud bemndd^fl fiber bie fOtetxt f(iegen (affen
tperbe.
IDad ®effi^I, bad ber ?efenbe beim ®enug bed ^ranfent^afer ^tumi
ttnb Srangd empfanb, fe^te fid) and ben t)erfd)iebenflen SO{ifd)ungen jufammen.
f/^eV mid) ber Conner!" badjte er, „bie jungen J&erren finb auf bem ?aufenben;"
unb )u Wlaiwin^, bie foeben mit einem 93rett, auf ber eine baudfiQt AriflaO^
flafd)e t)o(I tjtUtn SBeined unb imi ®(&fer mit ®eb&tf fianben, burd) ben
®arten bal)erfam, fagte er: „3d) bin, fd>eint^d, in einen titterarifc^en
Jjintertiaft geraten?"
„(5d ifl nid)t fo fdjiimm," entgegnete fie mit einem ?4d)efn, beffen
J^eiterfeit i^n mit einem (eid)ten jauben^oHen ubermut erffiOte* „£ie jungen
ientt, ©6^ne befannter ^amilien, mdren gfficMid), menu ©ie 3i)nen ein
9Bort ber Stufmunterung fagen woOten. Dort ^inten jle^en fie. ^abe
t^ren "ibitten nidft tt>iberfiet}en t6nnen, bem ber&^mten ^ritifer i^re (Erfllinge
)u jeigen."
9Barfud iD^iftner manbte ffd) um unb fa^ brei iunge ®9mnafTafien,
j»ei Iangaufgefd)offene blaffe ©engef mit ©ritten neben einem fleinen Siden,
am (Stngangdpf6rtd)en fiei)en. THi er bie brei jungen J^erren, bie fein
Stttge k^on i^m t)ern>anbten, auf einen 9Bint $D7a(n>inend n&^er fommen fa^,
^0nf itin ber l^bermut ber ©tnnbe. Z)er Sicfe fragte inbeffen fofort
86 8*4-
faut: ,^abtn ®te meine Aomibte ge(efen?'' 2)od> SfSarfud SRiltner gmg
auf biefe ^rage ttid^t tin, fonbern n>anbte fid) mit bem 93fn>uftfein^ ba^ er
eine fd)6ne 3ufd)auerin ^abe, an bi'e brei jungen Jpemn unb fagte: „®ie
t}a6eit mtr bie (S^re erjeigf^ tnir (?tn6(itf in 3^re Srflltnge g6nnen* ^od)
@tf fennen wUtid)t bie ©c^icffafe aOer SrfHinge: fTe merben immer geof)fert!
Dpfern audf ®ie 3^re Srfifinflr Unb fommen ®ie in iel)n 3at)ren wieber
)u mir! ®if ftnb bann SR&nner geworben/ unb mnn tin Sic^ter unter
3bnen ifl/ foil er mir boppeft toiUtommtn fein^ aK 2)2ann unb ali Dici^rer.
ffienn ber ®ott — id) bin etwa^ altmobifd) — ©ie jwingt jum ^id)ten, fo
tun ®ie bad im fliHen Xhmmtvitin, unb benfen ®ie an nid)td^ meber an
9tu^m/ noc^ an ®tlb, nod) an bie ®en&ffe ber @rbe. Safien ®ie bie Spa^en
t)on fd)mu$igen £&d)ern pfeifen, unb t)ergeffen ®ie nid)t, baf man noc^
immer mit Sorfiebe ®d)tt)eindf6pfe mit bitteren gorbeerbfdttern jiert. Unb
menu etned Za^ti bai ^iimmd^tn, bad ®ie ffir eine ^fingfiflamme fatten,
in S^rer ®rufl er[6fd)en foUte^ fo benfen ®ie nid)t, ba^ ed umfonfl gebrannt
tfabt. SDBoHen ®ie fid) lieber meined SOorted erinnern, ba^ nur ganj felten
tin £id)ter geboren mirb. di genfigt nid)t, ba$ man Serfe mad)e unb im
eigenen 9taufd) t>erge^e, um Sic^ter ju fein; bie J^anb bed ®d)icrfald/ bad
t)on ®tern }U ®tem 9&ben fpannt unb tm ^autropfen bad 9ilb ber ®onne
fpiegelt, mug auf ben ^erjen rufjen, bie berufen (Tub, bie ®d)6n^eit ber
Sielt unb ben innigen Sufammen^ang aHed Sebend ju mfftnben. £enn
bie 9Qe(t fefbfi ifl nid)td anbered aid ein fd)mer}[id)ed ®et)eimnid/ bad t^on
3eit )u 3eit einen 9»enfd)en erwecft, bag er ed in ®d)6nl)eit I6fe. SKan
nennt biefe 9Senfd)en Dic^ter, unb bie Swigfeit fennt feine notn^enbigeren
®tflaUtn aid biefe Wt&nntx, bie einem unbefannten ®otte bienen unb ger^
btodftn merben^ menu fie bad SQort gefprod)en ^aben^ ju beffen Sertfinbigung
ffe gefanbt wurben/'
9Bd^renb SRarfud SKiltner rebete^ bemerfte er^ bag ben Wtnnh bed
^irfen ein C9nifd)ed ?4d)eln umfpielte; er ^ielt inne, n)4l)renb eine Iei<^te
9t6te an feinen ®d)Idfen emporwante^ unb fu^r im Sone leic^ten ®potted
fort: ^^®ie I&d)eln^ mein Dere^rter junger ^reunb. 3d) fenne btefed 2&d)eln^
id) fenne ed fogar fet)r gut. ®o I&d)elt man and) in 9){iind)en unb in
Berlin. @d ifi bad 2&d)eln ber l)bern>inber/ n)elc^e i^re Saufba^n mit ber
l)bern>inbung ber SQelt begtnnen* Sod) gtbt ed &Itere 9){&nner^ n>eld)e
be^aupten^ bag man fo nur mit unreifer ^i)antafTe I&d)eln f6nne. £enn
and) biefe J^immeldtoc^ter n)&d)fl unb reift unb melft^ toit aUt ^IfiteU/ bie
in i^rem ^eld) ein ®e()eimnid tragen. Sunge Seute fe^en in anberen
sroenfd)en gar ju geme i^re eigene unreife ^^antaffe »oraud. gaffen ®ie
»or aHem S^re ^l)antaffe reif merben. 3d) »erffinbe 3J)nen feine IDegmem
3d) fage 3l)nen nur, wad id) fft^Ie. SBenn ®ic aber eine anbere i|t()etif
n>finfd)en/ fo fann 3^nen and) ge^olfen merbem J^ier am Orte felbfl
fprubelt ber fa(lalifd)e Duett!"
Unb S)7arfud SOIiltner griff in feine ®eitentafd)e; t)oIte ben alten^
Dergilbten ©rief bed J&erm Otto @rid) ®teinbeid ^ert)or unb 4berreid)te i^n
bem Siden: ,/Sietteid)t tjabtn ®ie bie ©fite, biefe t)iflorifd)e @piflel mit
meinem 3Ibfd)iebdgrug ^errn Otto (frid) ®teinbeid ju &berbringen* (St
xoiti ®ie k)erfie^en. Sad ®d)i(ffal f&^rt bie immer gufammen, bie ju ein^
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anbtx gefyiren. Unb IfitT, meme J^erren, finb 3^re STOanuffripte. wirb
mtr fine (S^re fein/ erne fd)6ne ©ommerbefanntfc^aft in )ef)n 3a^reit mieber
jii crneuem/'
Sir jwei magem £t(f)ter/ beren ^acfeit n>ie ^(ammeit gfu^ten, mad^ten
einen oerlegetien ©firflmg unb fcf)Itd)en mit H)xtn ffierfen burd) ben
®atttn ^inaui; nur ber Dtcfe pftf im ®e^fn t)or ftcf) ^in. Tlli ftc^ SSarfu^
9)fi(tner ju SRalmtne manbte, fat) er^ baf in i^ren 3(ugen fin tiffed itud)ttn
1^9) f<i9^^ rafd): ^/®o, nun foHen ®ie aber t)on nteinem J^audmein foflrn*
©if u>erben ©ur(l befommen ^aben/'
®ie fd)enfte ein unb er ijatte SRuf bie (eicf)te 3(nmut ju bewunbern^
mtt ber fie ben SQein eingo^ unb ftcf) urn ben fd^attigen Sifd) ^erum bemegte.
7M bie feinen ®(dfer }ufammenr(angen unb ber jarte J&ad unter bem
ianbtnbadi t)erfc^n>ebte^ fiberfam it)n ber ®ebante/ mie fd>6n ed mdre^ mit
etiter ffc^eren J^offnung t>on l)ier megjuge^en.
/,®a^ ftanb benn in bem ©riefe?" fragte SKafwine, bie nur an bem
(8o(b be^ SQeined nippte^ mit einem t}eiteren 3n>infern i^rer tiefen SCugen.
^,®ir looDen an fd^6nere Dinge benfen/' fagte er audn>eic^enb.
//SBiffen (Bit, baf ba^ itben, bad mand^mal fo unenblid) traurig ift, ju^
ti>ei(en and) (ufliger unb fd)6ner fein fanU/ mie unfere Srdume?^^
„Da* b&rfen menige iD^enfc^en fagen/' entgegnete (le (dd^elnb.
,,9Bei( fie bie Jfunfl nid^t r>trfttt)tn, ben Singen if)re ®d)6n^ett ab)u#
lanfc^en unb i^re eigene ®d)6n^eit in bie SQelt ^ineinjulegen/^
f/Dai iebtn f&mmert fid^ nid^t um bai, xoa^ xoir ®d^6n^eit nennen/^
^/l>arum eben mfiffen tt>ir bem ?e6en unfere ©eele fc^enfen. %x&iitx,
ali id) mid) fe(6(i noc^ f&r einen Sid^ter ^ieft^ gfaubte id) bit ®d)6n^eit
in ben ©ituationen ju finben^ mo bie iD^enfd^en mit ^at^od aufeinanber
p(a$en. 3e$t weif idf, baf aUti St6HUd)t unb ®xo^t fliff in bie 30e(t
fommt unb baf jebe SOIinute H)x eigened ©Idnjen ^at unb nur einmal auf»
blinft ani bem bunfein ®trom^ ber und aUt ba^intr>/^
Z)od) 9Ra(tt)ine, bie mit (eud)tenben 3(ugen k)or ffd) ^inblicfte^ gab
feine Sfntwort.
Sin ®d)atten fiberb&mmerte }piii}lid) feinen ®inn; er empfanb ti
pli^Ud) mit emeuter '^tnttid)ttit, baf ber iB3unfd)/ ber feine ®ee(e in ber
ent^offenen 92ad)t 6eraufd}t ^atte^ an biefem Sage nodt feine 9Borte
brauc^en b&rfe, unb mit p(6$[id)em (Sntfd^Iuffe (lanb er auf^ um ju ge^en.
,,^arf id) wieberfommen, wenn mid^ bad ©d^icffal wieber einmal in bie
J^imat fii^rt?" fragte er ganj fd)fid>tern, inbem er i^re fdjmafe Jjanb fe|l
^ie(t^ bie (ie ii}m and) }6gernb lief.
/,Sd n>irb micf^ freuen/' fagte ffe nad> einer ^aufe/ inbem fie i^n ^eH
unb Har anfa^.
,,3d) banfe S^nen/' fagte er (eife. „®ie geben mir eine liebe J^offnung
mit auf ben SQeg. Saffen ®ie ti fid) xtd)t gut ge^en/^ dx b(ieb nod)
einen Sfugenblicf tyox itfx fiei}en, um bie ®e|la(t t>oU in feine ®ee(e aufju^
ne^men unb ging bann in ben fd)immemben ®arten t)inaud. Slid er t)or
ben eifrig fcf^aufelnben ^naben fam^ bem bie iodtn um bie btd^enben
SBangen ^ingen^ ergriff er i^n Xilhiilid) in einer 3Cnn>anb(ung &bermfitiger
3&rtltd^feit unb ^ob i^n ^od^ in bie i^uft empor; aber er wagte ti nid)t,
-4^ 88
eineti Au0 auf ben fRunb be« erfd^retften ^(emen )u brficfen, fotibem fe^te
t^n mit etnem ^ofewort uttgef&0t mieber titeber. burcf^fd^rirt aud) ben
®arten, ol)ne (ic^ umjufeljen unb ttat mit »erfonnenen ^Cugen ouf ben
(aufd)tgen ^(a$ ^tnau«^ auf bem in fd)atti9en Scfen Jtinber fpielten unb
afte eeute in t^rem ©onntag^flaat fd)n>eigenb 6etetnanber fa^en* 3n bet
®tabt Idrmte unb pod^te hai fefi(t(^ ^eitere ?e6en be« ®onntag^; gepu$te
SWenfd)en flingen burd) bie fd)atti8en ®afien; ein ®efpann roBte bonnemb
bntd)i $or; bie ^runnen raufd^ten unb ein J^aH Don feligen Jfinberflimmen
DerHang im ©lanj ber ^ii)t, bnxd) beren ©onnenbl&ue @d)n>a[ben 6(i$ten.
Dod) ii}m war e« }umute/ aK 06 Dor feinen 3Cugen ein golbener
©d^Ieier webte, ber alien Dingen feinen ©c^immer lie^; burd) ben J)uft er^
gldnjte, tt)ie aud einer gerne, bie bod) natjt war, tin ®arten, bejfen
©lumenflut bie ?uft mit il)rem ^urpttrfd)ein erfuUte, unb ein lid)te« Xuge
fd)»ebte wie ein fd)6ner ©tern barfiber. „3d) t)a6e meine 3nfet ber ©eligen
gefunben/' fagte er ifalblant Dor (fd) l)in^ inbem er feine frdftige ^anb auf
ben 931onbfopf eined ^dbleind (egte^ bai grab' mit einem Stofenflrauf in
ber J^anb an ii)m Doruberging.
Ttu^etodftlte ®eb{d)te oon Martin ®retf in W&nditn.
triorgengang*
Q99o(f foufenb (gfufen fc^Men
Q^on (S^Afb unb (SKefen (er,
S)te aife tropft^ fouen
(Pon ebfen (perfen f(e9iDer.
3(9 6re(9' mtr tin 6ef(9metbe
(Pon naffen dlofen aii
(fi^irp btt an metner ^tiU^
^on ber seMumt i(9 MM
3<9 Pfe(' in tTrinen ^anj.
3ugenWiebe.
®ettSpE btt an ben ^ommerfas,
S)a iptt frtt( ttn0 fanben
(Ijlnb affetn am ^runen l^ag
Sun^e (flofen Banben?
£er(9en in bet Sfauen Buft
^angen un^efeQen,
j^evne fa^ bet (Hlorsenbttft
^Ber affen 1^ ^Bem
^fonben fHtt mm iu^tmnltf
QUocBten (riumenb f^einen —
(fi^oBf t<B fuBfte beine l^anb
(^McBmof tn bet metnen*
(pfo^ftcB fcBftisP! btt Mf ltn(gtid,
JUfe0 war ^ePfanben —
woBin ipE (£tttB' unb &t&d,
^Ht iptr borf ttn0 fanben?
3ttmni(Bt^» Pfemenfofe,
3n bem Qg^fiUenmonb bet (£lofe!
®a bae Ban^e l^ei^ baju
£teB* bttr(Br<ttrm(e oBne (Siu^\
(gK^ge^ttcS unb (BE^etterfeu^B^^!
^nb bie Q[la(B%Aff feucB^en,
^ttBenefjfen (gufcBe <ief
(S^unbetBare Baute vtef*
^ 90 g-i-
Qgffidien in ben 5faninienr<9ein
^ie im itefen tTrAuni (tnein.
@4>attenleben.
^<iff ifl'e, 190 Me 6rd6er ftn»
Qlleinet £{e6e«
^ttt 6t0we{ren ita^t bet QS^in)
^ang un> truSe*
^eQ' he ^(iatttnmtt auf 6t»en
(Sttn^e 9evge(en,
J^tt^fe affee fpuvfoe werben
Qjlnb veme^en.
nd4>tltc^e (Crauer*
(B^M mttt t(r ^(eme fo feuc^ien
^ttf metn etnfamee £(iger (in?
(Pief fieBet bie (BE^ofSen, Me feuc^ten,
ttttS ic9 vortiSerfKeK'n.
®ie ^(eme t6nnen nur f(9einen
nanb r^a^fen in feKger (prac^'i
wU (P^oAen |tnb bunSef unb weinen
Qjlnb weinen in meine Q[la<9f.
®ie ^ieme |t(9 broBen umfc^Kegen
3n 6f&(enber SwigSeit,
S)ie QSbpfllen verwe^'n unb 5erfKegen
Oi^nb perSen mSt^t' i(9 no<9 (eut
91 8^
Tlbmblkb.
Zitf ttfUen tm Zat,
Qllit perSen^em ^tta^t
(HaQe me feme
Oer ^focften 6efitt(,
£eu(9<en^e $(eme
Am l^immef ^etpreut
j^tteien unb ^(^Attnmer
39t Se6re< nun etn,
^<itu<9tt Itn Kummev
Q^nt fofet lit 0>etm
(BEKe feme ^vttte (orp fc^affen,
®o(9 tvett um^er ifif m(9te feQ'n,
Af0 wie lit {gt&tttx feaumenb faffen
Qjlnb rAttfcQenb mit tern (S^tnb verwe^'n.
65 Wngf fervor wie fetfe Itfagen,
®te mmev neuem ^((tner^ tnifUi\
QS)te (fi^eQruf aue entfe^wunb'nen ^agen,
^e fUUt Kommen unb (Per^e^V
S)tt (otfit wte bttrc^ lit oSfaume 6ipfef
®ie ^<ttn»en unaufiatifm je^'n,
®et QfleBef regnet in We (BJtpfef,
S)tt weinp unl tamfi es nid$< verfte^'n.
®ie ^tobt ftegf no4 ^erfttoserauc^e
Q^n» fpfeseft UiS* im fTug M 06,
®a <6n< uraft mt< fanffem J^auc^e
^umi (eraS.
02
®e0 iiftjtB mUsiita^'nt ^timmtn
Bvf<iatttn in Itn retnen "$6^%
®te ^<eme fangen an gKmmen
tntttagefltUe.
(nut £er(9en 96r' t(9 un^ 6vtffen
(IJln^ fuminenbe %ifit lajvu
Kein (gfaft ruM M (Saum,
@temenna4>t.
(Don frirc^er ICuQfe anse^osm
^i<i fodenb uitx mm
®er (Hlonb aus feifer (neBef^uffe
^(reut fac^ten Cbnj; umQer,
®er 1^6(en reine JItQerfuffe
6in je^er ^Utn an feiner ^(effe,
O mef(9e (e(re (prac^f!
2)er l^tmmef pra^ft in ^MBer^effe,
93—94
miert von Hans Pfitzner.
Leidenschtftlj \»m ^ ^^_^fL.
=1=
fr.
Seh'i
11
und den letz-ten Klang ver-
fr-
fr.
2 ,n 8va con 8v«
Ret
ech, wenn's sonnig auf den Ber-gen,
^ r ^P.
1^1
Stuttgart vorbehalten.
wie du ge - sta
^ wur - zi
«ze Fermftte.)
mich ail
streni
iso con8va basso II
95—98
p
nen spot-tend noch ein-mal ver-kiu-fen, ob-ne Kla-ge^ Wunsch und SeKi-^ien
in der Fd - sen Mar-'ke, und em
por zu Him-mels Lich-ten,
r
9
1=
-F
-1^
Svs
f - - -
im Tempo.^
rich-ten.
-3^
Peda/.
Vertntwortlich :
r&r den politlschen Tell : Fr. Naumtnn in SchOneberg,
fGr den wlssenschaftl. Tell : P. N. Cossmann In MQnchen,
r&r den litterarischcn Teil : Jos. Hofmiller In MQnchen,
fOr den kOnstlerischen Teil : Willi. Weigand in MQnchen-Bogen-
hausen.
Nachdruck nur auszugswelae und mil genauer Quellenangabc
gesuttet.
ROmische Herrschaft
Von Friedrich Naumann in Schdneberg.
Es ist ein Unterschied, ob man von deutschem oder italienischem
Boden aus iiber das Zentrum schreibt. Sasse ich jetzt in Berlin, so
vurde ich mir wohl die neuesten Reden der Nachfolger Windthorsts aus
dem Zeitungsschranke holen, wurde Abstimmungen vergleichen, Wahl-
ziffern zusammenstellen, Programme kontrollieren und was dergleichen
mehr ist. Das alles flllt hier, in Nervi bei Genua, weg, wo ich mich von
einem Jahr vieler Arbeit kurze Zeit erhole. DaFur aber stellt sich
etwas anderes ein: die Umgebung eines rein katholischen Landes, die
Nihe Roms und ein gewisses Echo der politischen Kflmpfe dieses
Stammlandes des Ultramontanismus. Man verstatte, dass ich mit diesem
letzteren beginne:
Italien hebt sich. Das ist der allgemeine Eindruck aller derer,
die Gelegenheit gehabt haben, das Land frtiher und jetzt zu sehen. Be-
sonders Oberitalien wird etwas anderes, als es gewesen ist. Es ist noch
nicht viel uber ein Menschenalter her, da war es hSchst zweifelhaft,
ob die liberale Einigung imstande sein wurde, die Nation zu einem
lebendig pulsierenden Korper zu machen. Es war graues, ruinenhaFtes
Elend, aus dem sich Italien herausarbeiten musste. Ich vergesse ein
Gesprdch nicht, das wir vor 5 Jahren in Athen hatten. Damals wurden
am deutschen Tische allerlei Spasse uber die neuen Hellenen gemacht,
uber ihren staubigen Pomp und ihre legendenhaften SchuldverhlUtnisse.
Da sagte ein kluger, felner Italiener zu uns: „lVleine Herren, Sie
kdnnen nicht wissen, wie es den Griechen zu Mute ist, aber wir
Italiener wissen es, denn wir sind gerade so elend gewesen wie sie.*
Dieses Wort ist in aller seiner Schlichtheit der Hintergrund der neueren
italienischen Geschichte. Noch ist das Elend nicht vorbei, [aber man
setzt neue Fenster ins alte Gemluer, man fiillt die leeren RMume mit
JHenschen, man baut nette Elementarschulen bis in alle Berge hinein,
Sfiddctttsche Monttshefte. 1,2 7
98 ^
das Betteln nimmt ab, der Verdienst nimmt zu. Die junge Generation
macht schon flusserlich den Eindruck der grdsseren Selbstachtung. Noch
Ist viel Mangel, aber der tote Punkt ist uberwunden. Und das ist
geschehen, wlhrend die Kirche sich nicht an der Politik beteiligte. Jetzt
wird beraten, ob auch die frommen Katholiken sich am italienischen
Staat beteiligen sollen oder nicht, jetzt, wo das grdsste, was ein fast ver-
lorenes Volk leisten kann, schon geleistet ist. Die Neugeburt Italiens hat
ohne den Segen seiner Priester begonnen. Das spricht nicht gegen die
Religion an sich, wohl aber dagegen, dass klerikale Politik das Heil-
mittel der Vdlker sei. Auch diejenigen, die Italien emporgehoben
haben, sind Katholiken, nur keine von der Partei des Priestertums.
Man kann angesichts der italienischen Entwicklung nicht sagen, dass
es auf katholischem Boden uberhaupt keine politische Verjiingung gebe*
O jal diese gibt es, nur aber da, wo die Leitung der Politik sich dem
Dienste des Kirchentums entwindet.
Bei uns in Deutschland gewinnt es so leicht den Anschein, als sei
jeder Kampf gegen das Zentrum zugleich Kampf fur den Protestantismus.
has weiss die Zentrumspresse auszunutzen. Wo jemand ihr ins Gewebe
greift, nift sie, dass man die Konfession als solche verletze. Es ist
deshalb fur uns alle heilsam, die Vorgange in katholischen Landem im
Auge zu behalten. In Italien, Frankreich und Belgien ist es nicht der
Protestantismus, der die klerikale Politik bekampft, denn dazu ist er
in diesen LIndem viel zu schwach. Hier sind es Katholiken, die die
Formen der Neuzeit den Priestern abringen miissen, und auch bei uns
in Deutschland wiirde es einen starken katholischen Kampf gegen das
Zentrum geben, wenn wir nicht die Fehler des Kulturkampfes noch zu
tragen hStten, durch die fast alle Katholiken zur politischen Einheit zu-
sammengepresst wurden.
Nun ist es ja fiir uns jetzt relativ leicht, von den Fehlem des
Kulturkampfes zu reden. Heute will eigentlich niemand daran schuld
gewesen sein, dass wir katholische Mdrtyrer gemacht haben. Aber es
muss zugegeben werden, dass es kaum eine schwerere Aufgabe gibt,
als das richtige VerhMltnis des modemen weltlichen Staates zur Kirche
zu finden. Eben komme ich aus der Predigt eines deutschen Jesuiten
in Nervi. Davon, dass er die Reformatoren als Leute hinstellt,.
deren innerste Tendenz war, weggelaufene Nonnen heiraten zu konnen^
will ich nicht reden. Das gehort zum Handwerk und hat mit Politik
nicht viel zu tun, hat nur die uble Folge, dass vorhandene Ver-
bitterung nicht geringer wird. Politisch wichtiger ist der tiefe Zug von
Abneigung gegen den Staat, der in der ganzen Rede war und an ver-
schiedenen Stellen durchbrach. Es war nicht der deutsche, franzosische
Oder italienische Staat, der angegriflfen wurde, nein, es war der Staat an
sich, der „sich an Christus drgert." Schon Herodes, der Staatsmann,.
verfolgte einst das Kindlein und nahm dann ein trauriges Ende. Die
vgrossen Rauber*", die ganze LInder rauben, lasst man laufen, wShrend
man die kleinen Diebe hangt. Es war das Gegenteil von politischem
Denken, was mit Bewusstsein und Klarheit gegeben wurde. Es war
99
Anripolitik. Nun hat ja diese eine Predigt hier in Nervi gewiss wenig
geschadet, aber man hat Ursache genug, sie fur typisch zu halten. Eine
solche methodische Volksbeeinflussung im antipolitischen Sinne ist es,
was der Staat ruhig ertragen muss, weil diese Volksbeeinflussung von
ihm gar nicht beseitigt werden kann, in der Tat eine schwere An-
forderung an die, die fur diesen Staat die Verantwortung haben!
Man kann Strafgesetze machen, dann stdrkt man nur die anti-
politiscbe Tendenz. Das ist die Not der Staatsminner gegentiber
diesen PredigemI
Wir brauchen bei dieser Darlegung mit Absicht das Wort
vAntipolitik."* Es trifft die Sache besser als der gelMufigere Ausdruck
, ultramontane Politik,* denn das, was wir so nennen, ist nicht mehr
Politik im eigentlichen Sinne des Wortes, war es schon lange nicht
mehr. Um das verstlndlich zu machen, muss man etwas weit in die
Vergangenheit zuriickgehen und muss uber die Grenzen der europdischen
Einzelstaaten hinausschauen. Die ganze europMische Zivilisation ist
in gewissem Sinne die Fortsetzung des alten grossen westrdmischen
Reiches. Man kann die Geschichte vom Kaiser Konstantin bis heute als
die Geschichte der Dezentralisation der romischen Macht darstellen. Die
Macht riickte von Rom nach Madrid, Paris und Wien und von da
nach New -York, London und Berlin, ahnlich wie sie im Osten von
Konstantinopel nach Petersburg zog. Je weiter sie sich entfernte,
desto unrdmischer wurde sie. Die alte romische Einheit aber lebte
fur die westeuropMische Kultur im Katholizismus weiter. Der Kreis
der Machtorte Madrid, Paris und Wien blieb romisch, der neue weitere
Kreis ist auch kulturell dezentralisiert. Nichts ist falscher als den
Unterschied des neuen vom Slteren Machtkreis nur in verschiedenen
Glaubenslehren zu sehen. Die Glaubenslehre ist nur der theologisch
formulierbare Teil der Angelegenheit. Im Grunde ist es eine in sich
zusammenhingende Tradition des ganzen Lebens in Sitte, Gewohnheit,
Denkweise, ein Kulturzustand in seiner ganzen Breite, der uns im
Katholizismus vorliegt, es ist die alte rdmisch-europiische Gesellschaft,
aus der sich im Laufe der Jahrhunderte die neuen Staaten heraus-
gearbeitet haben. So lange diese Staaten nur Glieder der einen in
Rom zentralisierten Gesellschaft bleiben wollen, so lange sie romische
Provinzen sein wollen, fugen sie sich dem alten Weltbilde harmonisch
ein, sobald sie aber souverin, unrdmisch, modem politisch sein wollen,
so wird diese Zentrifugaltendenz in Rom als Abfall, Untreue, Ge-
schichtslosigkeit empfunden, dann bekSmpft Rom den Staat, der sich
ihm entzieht. Dieses kdnnte man nun Politik im eigentlichen Sinn
des Wortes nennen, wenn das kirchliche Rom selbst noch daran dSchte,
staatbildend im Sinne eines abendlMndischen Riesenreiches aufzutreten.
Darin liegt aber eben das unfassbare des ganzen Verhiltnisses, dass
Rom nicht mehr staatbildend in diesem Sinne sein kann, dass seine
politische Zeit vorbei ist, und dass es doch den grandiosen Traum der
alten Rdmermacht nicht fahren lassen kann. So stirbt ein Weltreich!
So erklirt sich die Doppelheit in allem rdmischen Wesen^ das be-
100
stMndige Arbeiten in grosser Politik und dabei die Behauptung, wir ver-
treten nur einen Glauben, keinen StaatI
Wenn der Katholizismus nur als Religion gedacht wird und als
nichts anderes, so hat er kein anderes politisches Bedurfnis als die
Freiheit seiner religidsen Propaganda innerhalb des Staates. In diesem
Fall hdrt er im grundsatzlich liberalen Staate auf, parteibildend zu sein.
So konnen gute Katholiken die Sache ansehen, ohne ihrem Glauben
etwas zu vergeben, und konnen von da aus der Liberalisierung des
Staates im Interesse ihrer Religion dienen. Aber ob der Katholizismus
nur als Religion gedacht werden kann und nicht gleichzeitig als Fort-
wirkung eines lingst nicht mehr existierenden Staates, das ist die
Vorfrage, die innerhalb katholischer Kreise ausgefochten werden muss.
Der offizielle Katholizismus hat noch seine eigene politische Ver-
tretung, ganz wie ein Staat, obgleich er kein Staat ist. Er hat Diplomatie,
und Staatssekretariat und hilft mit, Staaten zu gruppieren und Macht-
verhaltnisse ohne Militar zu verschieben, ein merkwtirdiger waffen-
loser Korper mitten in den bewaffineten Staatsgeftigen. Dieser Katho-
lizismus ist es, der den Untergrund der deutschen Zentrumspartei bildet.
Was ist es nun, was die romische Macht im deutschen Gebiet
erreichen will? Die Beantwortung dieser Frage ist deshalb so schwer,
weil das Zentrum selbst nur die eine Seite der Machtwirkung dar-
stellt, wahrend uber ihm die Diplomatie und Kabinetspolitik lauft,
und weil auch das Zentrum sich niemals grunds&tzlich daruber Mussert.
Alles was gesagt wird, sind Selbstverstandlichkeiten und AUgemeinheiten :
Freiheit der Religion, Schutz des Glaubens usw. .Die Schwierigkeit
vermehrt sich dadurch, dass oiFenbar selbst im innersten Kreise der
katholischen Politik zwei Tendenzen noch unausgeglichen mit einander
ringen und dass man naheliegende Grtinde hat, die neuere Tendenz
nicht unverschleiert auszusprechen, auch wo sie klar durchgedacht vor-
liegt. Es handelt sich darum, ob man die Machtzentren des weiteren
Kreises, New- York, London und Berlin als zu bekSmpfende oder zu ge-
winnende Stellen ansieht. Dass die Gedanken uber London schwankende
sind, weiss man. Die Versuche, die anglikanische Kirche wieder zu
romanisieren, horen nicht auf. Ahnlich steht es mit Berlin. Als
auF dem Schlachtfeld von KdniggrStz sich der Machtwechsel von Wien
nach Berlin voUzog, war der erste Eindruck in Rom, dass die neue
Macht gebrochen werden musse. Inzwischen aber hat sich eine andere
EmpSndungsweise eingeschoben. Man hat gelernt, die neue Macht als
gesichert zu betrachten, und halt es ftir schwer moglich, die katholische
Bevolkerung dauemd in Gegensatz gegen diese Macht zu erhalten,
gleichzeitig wachsen die Zweifel an der Dauerhaftigkeit der alten Macht
in Wien. Das Ergebnis ist die stille Absicht, Berlin an Rom zu
binden, an jenen unsichtbaren, gewesenen Staat, von dem wir vorhin
sprachen. Dieses geschichtliche Projekt hat aber fiir Rom selbst seine
sehr unbequemen Seiten. Es verstosst gegen die Tradition alter Be-
ziehungen zu Wien und es passt wenig zu dem Gedanken, Frankreich
als fuhrende katholische Macht zu betrachten, Grtinde genug, nicht
-HJ 101 8^
deutlich vorzugehen. Immerhin darf angenommen werden, dass der
^grossdeutsche* Gedanke jetzt von katholischer Seite aus in neuer Form
gedacht wird. Solche Gedanken gehen langsam. In vielen KopFen
werden sie nur halb gedacht. Zweifellos ist es sehr auftallig, wie jetzt
der Schutz der deutschen Katholiken im Ausland nicht mehr Frankreich
sondem Deutschland zugeschoben wird und wie sehr der deutsche
protestantische Kaiser wegen seines Glaubens geruhmt wird. Dem
Kaiser macht sich das Zentrum und wohl auch die romische Diplomatie
je langer desto mehr unentbehrlich, und Bulow, der in Rom gearbeitet
hat, ist der rechte Mann fur diese Periode.
Wenn man das alles im Auge hat, wird man nicht einfach sagen,
der neu zu Tage tretende deutsche Patriotismus des Zentrums sei
unwahr. Er kann in dem Masse wahr sein, als die Aussicht steigt,
Berlin an Rom anzugliedern. Nur ist dieser Zentrumspatriotismus nie
die reine nationalpolitische Hingebung an sich. Das ist eben das, was
wir vorhin Antipolitik genannt haben, das Einbeziehen des Staats-
gedankens in das Reich der gewesenen Macht. Es ist nicht die deutsche
Staatsidee als solche, die die Gemiiter beherrscht, sondem gerade der
Bnich dieser Staatsidee durch Einordnung in das Romerreich. Man
bewilligt dem Kaiser seine Flotte, weil auch diese Flotte einmal dem
in der Luft noch fortlebenden Imperium dienen kann. HMtte man Berlin
endgultig auFgegeben, wiirde man nicht bewilligen.
Wie anders dachte sich der Liberalismus vor 30 Jahren dieses
neue deutsche Reich! Als Treitschke der Herold des neuen Reiches
wurde, da zog er eine gerade Linie von Luther bis Wilhelm I. und liess
das preussische Deutschland ein Ergebnis der Wittenberger Geistes-
bewegung sein. Dass jetzt Graf Ballestrem den Sitz einnimmt, den
damals Simson hatte, erscheint wie ein Schlag in das Gesicht jenes
Geschlechtes. Man dachte es sich so leicht, sich vom alten Rdmer-
reich zu dezentralisieren. Die damals Geschlagenen fangen aber an,
wieder Herren zu werden. Was sie uns bringen werden, kann kein
Mensch sagen, soviel nur ist klar: kurz wird die Zentrumsperiode nicht
sein, in die wir eingetreten sind.
Um diese Periode in ihrer Besonderheit zu erfassen, geniigt aber
das noch nicht, was bisher gesagt wurde. Es ist notig, den inneren
Aufbau des deutschen Zentrums sich zu vergegenwMrtigen. Er ist im
allgemeinen bekannt. Den Kern des Zentrums bilden die konservativen
Bestandteile der katholischen Gebiete. Das Zentrum ist der Konser-
vatismus dieser Landesteile. Daran andert es nichts, dass das Zentrum
gelegentlich recht demokratisch auftritt. Das tun selbst die pro-
testantischen Konservativen, wo es ihnen passend scheint. Das Wesen
des Konservatismus ist es ja IMngst nicht mehr, alle Demagogie von
sich zu weisen. Dieses Wesen liegt in der Vertretung des altgewohnten
agrarisch-handwerkerlichen Wirtschaftszustandes. Konservativ sein heisst,
gegen den werdenden Industriestaat protestieren. In diesem Sinn ist
das Zentrum konservativ und hat seit 1893 die Fiihrung in dieser Rich-
tung. Es ist nicht so extrem wie die Agrarier im preussischen Osten,
102 8^
desto mehr aber geeignet, seine Wirtschaftspolitik durchzusetzen. Nach
alter menschlichen Wahrscheinlichkeit bekommen im Reichstag die
protestantischen Konservativen die Fuhning nie wieder. Ihr letzter Sieg
war 1887, ihr Abschied war 1890. Im preussischen Landtag behalten
sie ihre Macht, bis — bis im Reichstag das Zentrum uberwunden ist.
Beide stiitzen sich gegenseitig and verteidigen ihre alte Welt vor
der neuen.
Diese neue Welt aber ist es, in der wir Deutsche leben mussen.
Das ist nicht unsere Willkur, sondem eine geschichtliche Notwendigkeit.
Entweder wir werden das erste Industrievolk Europas oder wir ersticken
an der FuUe von Leben, das sich auf unser begrenztes Territorium
ausgiesst. Wir haben kein Ruckwirts mehr. Die wachsenden Millionen
von Menschen sind unsere Dringer. Alles hMngt davon ab, wie schnell,
wie intensiv wir technisch werden. Die QualitSt unserer Leistungen ist
unsere Zukunft. Wir brauchen eine Periode, wo alle Geister losgelassen
werden, wo gearbeitet, geschafft, gelemt, erfunden, konstruiert und
kalkuliert wird wie noch nie. SpSter, spSter mogen unsere Enkel ruhen!
Jetzt ist die Zeit, wo der Wettlauf mit Nordamerika beginnt, wo die
Englinder unsere Konkurrenz tief emst zu nehmen anfangen, wo die
Asiaten die billige Massenarbeit an sich zu reissen suchen, wo die Erd-
• kugel ein Markt wird, der nur wenige grosse Verkaufer vertragt. Jetzt,
wo wir jeden Nerv anspannen sollen, um alten Trddel hinter uns zu
lassen, wo wir nicht veraltete Betriebe weiterschleppen und nicht zu den
Lasten der Arbeit selbst uns noch kunstliche Tribute auflegen durfen,
da steigt die alte Macht und halt uns nieder im alten Gang, im alten
Trott. Die Vergangenheit kommt und schlingt ihre Arme um uns. Das
Zentrum treibt agrarisch-antikapitalistische Wirtschaftspolitik, Handwerker-
politik, Mittelstandspolitik, eine Politik der Angst vor dem Weltmarkt,
vor der Wissenschaft, vor der freien Schule, eine Politik der Angst vor
der ganzen noch unbekannten aber uberall an unsere Turen klopfenden
neuen Zeit, in der erst die Maschinen sich ausleben kdnnen und wir
uns mit ihnen.
Jetzt brauchen wir in Deutschland keine in Devotion gebrochenen
Willen. Nie sind uns selbstdndige Persdnlichkeiten in alien Volks-
klassen ndtiger gewesen als jetzt. Wir sind ein Volk, das einem Wagnis
entgegengeht. Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser. Am Lande aber
steht der Zentrumsmann und ISsst uns nicht in die Salzflut der ruck-
sichtslosen ModemitMt. Er mag es gut meinen. Wer meint es schliess-
lich nicht gut ? Aber wir miissen ihm trotzdem die Hflnde zerschlagen,
mit denen er uns halten will, denn es handelt sich ums Leben der
Nation.
Wohin sind alle die LInder gekommen, die im ersten Umkreis von
Rom gelegen sind? Wir sehen nach Madrid, Paris und Wien. WoUen
wir ebenso sein wie sie? In Paris kdmpft man, um sich noch jetzt zu
Idsen. Zu spMt ! O die Vergangenheit ist michtig ! Wir haben es uns
so leicht gedacht, ein neues deutsches Reich zu sein. Es war, als sei
mit einem Male alles anders geworden. Nun aber kriecht das alte
103 8*^
heilige romische Reich deutscher Nation wieder aus alien seinen LSchern
herans. Und wenn wir gerade unseren Kaiser nicht hStten, so krSche
es noch schneller. Wir fragen in Rom an, ob wir Schiffe bauen durfen.
Wir lassen uns unsere Schulbucher vom Mittelalter korrigieren. Und
Goethe? Und die Philosophen? Und die Naturforscher? ' Und die
Kunstler? Die neue Lex Heinze wird kommen, das neue Schulgesetz,
die zwangsweisen Berufsorganisationen, das Berufsparlament, die Klein-
krimerei in Permanenz. die Stagnation, die Scholastik. Im Namen
Gottes und der Tugend wird man uns mude und murbe machen wollen
— Vestigia torrent.
Und wer soil da helfen ? Die beste Hilfe kdnnte aus katholischen
Kreisen selbst kommen, die nicht im Verdacht stehen, der Religion
feindlich zu sein, wenn sie der rdmischen Politik entgegenarbeiten.
Aber wir wissen, wie schwach selbst die Kraft eines Ddllinger war.
Der AutoritMtsbegriff liegt den moisten von ihnen zu sehr im Blute und
die AutoritSt selbst ist sich ihrer Macht bewusst. Die Bischdfe sind
nicht mehr die freien deutschen Herren, wie damals, wo Wessenberg in
Konstanz sass und Graf von Spiegel in Kdln. Dazu wirkt der Kultur-
kampf nach. Das Volk glaubt noch an das Mdrtyrertum seiner Kirche.
Man lasse darum mdglichst bald die letzten Paragraphen fallen, die als
Ausnahmerecht gelten! So unangenehm es sein mag, Bulow hat Recht:
Das Jesuitengesetz muss fallen ! Wir diirfen nur Gesetze haben, die
jeden Staatsbiirger in gleicher Weise treffen. Kein Katholik soil sagen
konnen, er sei als solcher geringeren Rechtes. Aber dann wende man
die Staatsgesetze, die man den Sozialdemokraten gegenuber so virtues
zu handhaben weiss, auch gegen alle in gleicher Weise an! Wenn der
Jesuit Bevdlkerungsklassen „verhetzt*, dann ist er nicht besser als
irgend ein Antisemit oder Sozialdemokrat, der dasselbe tut.
Aber freilich die Schutzlinge der herrschenden Schicht werden es
bei ihrer Heimkehr leichter haben als die Vertreter der beherrschten.
Und Zentrum bleibt trotz allem und allem mindestens fur weitere
zehn Jahre Trumpf! Daran kann niemand etwas indem. Da es, wie
schon gesagt, eine protestantisch-konservative Fuhrung des Reiches
infolge der Ziffem der konservativen Parteien nicht wieder geben kann,
und da es eine liberale Fuhrung beim heutigen Zustand des Liberalismus
und der Sozialdemokratie noch nicht geben kann, so bleibt das Zentrum
ausschlaggebend, bis es sich durch seinen Sieg selbst zersetzt und bis
die Linke fihig geworden sein wird, die Stelle des Zentrums einzu-
nehmen.
Dass Parteien sich durch ihre Siege selbst ruinieren, ist eine alte
politische Erfahrung. Das wird sie aber nie abhalten, nach Sieg zu
streben. Das grdsste Beispiel der Ruinierung durch Erfolg ist die
nationalliberale Partei. So grundlich wie bei ihr wird aber die Ruinierung
beim Zentrum nicht sein, weil das Zentrum durch die Organisation des
katholischen Klerus eine unvergleichlich viel festere Grundlage hat.
Immerhin kann auch das Zentrum nicht ungestraft mSchtig sein, denn
nun wird es zeigen sollen, was es positiv verwirklichen kann. Jetzt
104 Sh^
geht es nicht mehr, die feindlichen Michte als verantwortlich fur alle
Schdden, sich selbst aber als Garanten aller Bessening hinzustellen.
Jetzt wird es immer schwerer, den Agrariern and den Arbeitern gleich-
zeitig Gerechtigkeit zu versprechen. Das grosse Spiel geht an. Der
Versuch, eine belgische Herrschaft in Deutschland zu machen, beginnt.
Aber Deutschland hat glucklicherweise noch andere Krdfte des Wider-
standes als Belgien.
Jetzt zwar liegt der Gedanke der romfreien deutschen Nation sehr
damieder. Mit einer SelbstverstMndlichkeit, die wunderbar ist, Iftsst
unser Volk die neue Ankettung an die alte Zentrale geschehen. Noch
wird der Umschwung der politischen Lage des Deutschtums nicht
eigentlich gefiihlt. Das Zentrum ist klug, die Kurie ist kiug, und wir
werden langsam an das Joch gewdhnt. Aber die Geschichte der vorigen
Generation ist doch noch nicht vdllig erstorben. Wenn erst das deutsche
Volk begreift) dass es sich urn seine ganze technische, kommerzielle
und geistige Kultur handeit, dann wird auch wohl wieder ein anderer
politischer Wind zu wehen anfangen. Noch ist es nicht so weit. Alles
was heute geschehen kann, ist kleine Vorarbeit fur den noch fernen
Tag, wo links vom Zentrum eine MajoritSt regierungsfahig sein wird.
Diese neue MajoritMt wird die Trigerin des romfreien deutschen Staats-
gedankens sein miissen. Dass diese Majoritiit nicht ohne Sozial-
demokraten moglich ist, ist jedem klar. Hier beginnen aber neue
Probleme, die fur sich allein besprochen werden wollen.
EinfUhrung in das Studium des Krieges.
Von General Wilhelm von Scherff in Munchen.
1. Solange Staaten bestehen, d. h. in kurzer, aber ftir den vor-
liegenden Zweck ausreichender Begritfsbestimmung: solange auf eigenem
Besitzstande in sich abgeschlossene Vereinigungen von Menschen
ihre eigenen Angelegenheiten, im Gegensatze zu und in voller Un-
abhdngigkeit von anderen solchen Gesamtheiten, selbstherrlich
(souverMn) zu ordnen und diese Ordnung nach innen und nach aussen
aufrecht zu erhalten gewillt und imstande sind: solange gilt als die
ideale Grundlage solcher Einheit: das Recht, als ihr reales Fundament:
die Macht.
105 8^
Das Recht verkdrpert sich innerhalb der staatlichen Gemeinschaft
im Gesetz, die Macht in der Gewalt.
Das Gesetz umfasst die Gesamtheit der Beziehungen unter den
eigenen Staatsangehorigen^ die Gewalt behauptet dieses Gesetz gegen
seine inneren Obertreter und vertritt die staatliche Seibstherrlichkeit
gegen ihre Musseren Feinde. (Widerstrebende KrMfte.)
Die Gesetzgebung ordnet Gesetz und Gewalt im Staate, die
Staatsgewalt handhabt die gesetzliche Ordnung durch die Regierung,
das geordnete Gesetz durch die Rechtspflege und die Gewalt durch
die bewaffnete Macht.
Bin Zerrbild allerwege: der Staat, wo die Macht sich uber das
Gesetz hinwegsetzt; ein Jammerbild von jeher: der Staat, wo die Gewalt
das eigene Recht nicht zur Geltung zu bringen vermag.
Insofem im modernen Staat die Gesamtheit der Staatsangehdrigen
der in ihrem pers5nlichsten Interesse erfolgenden Ordnung und Hand-
habung von Gesetz und Gewalt mit gleichen Rechten und gleichen
Pflichten gegeniibersteht, ist sie an jener Ordnung auch persdnlich
durch das (mehr Oder weniger) allgemeine Stimmrecht, an dieser
Handhabung durch die (mehr oder weniger) allgemeine Dienstpflicht
beteiligt.
Bilden hiemach: die Regierung <als administrative), die Gesetz-
gebung (als legislative) und die Rechtspflege (als regulative Staatsgewalt)
die drei Grundfunktionen eines jeden staatlichen Organismus
unter (normalen) Friedens-Verhaltnissen, so erscheint demgegenuber
der Krieg als derjenige (anormale) Zustand, welcher allein die vierte
Grundfunktion staatlicher Machtentfaltung (als aussere Exekutive) in
Titigkeit zu setzen beruFen ist.
Damit stellt sich jenen drei, zur Erhaltung staatlicher Lebens-
tltigkeit notwendigerweise immer ununterbrochen wirksamen Kraften
die staatliche Wehrkraft zunSchst nur als die »in der Regel ruhende*
d. h. nur gelegentlich zur Wirksamkeit berufene Staatskraft gegenuber,
und es mag vielleicht schon in diesem Umstande eine gewisse Er-
klirung dafiir gefunden werden konnen, dass in manchen Staatskorpern
die Entwicklung dieses vierten Organes oft stark »verkummert^ er-
scheint.
Nun steht aber doch auch andererseits unzweifelhaft fest, dass
das eigentlichste Wesen eines jeden (wie auch immer innerlich eigen-
ausgestalteten) Staates auf seiner gewMhrleisteten Abgeschlossenheit
in sich, d. i. auf seiner personlichen Souver^nitit beruht, und dass
somit die Fihigkeit (Macht!), diese Seibstherrlichkeit feindlichen Einfliissen
jeder Art gegenuber ndtigenfalls mit Gewalt wahren zu konnen: zu
alien Zeiten als die unentbehrlichste (elementare) Hauptfunktion
staatlicher LebensfMhigkeit betrachtet werden musste und betrachtet
worden ist I
WShrend erfahrungsmassig ein Staatskorper sich von dem inneren
Siechtum selbst schwererer Schaden und Mangel in Verwaltung, Gesetz-
gebung und Justiz durch rechtzeitigen Eingritf der Staatsgewalt oft ohne
106
ernstere Folgen vollkommen auszuheilen vermocht hat, beweist die Ge-
schichte seit alten Zeiten, dass der Verfall gesunder Wehrkraft (freilich
oft die Nachwirkung jenes inneren Siechtums!) entweder den Tod —
die nicht hintanzuhaltende Auflosung — des staatlichen Organismus
als solchen herbeigefuhrt hat, oder doch jedenfalls nicht ohne dauernde
Nachteile (an Landverlust) fur das an diesem Organ „erkrankte" Staats-
wesen geblieben ist.
So ist es denn aber auch einfach nur die Natur der Dinge selbst,
welche die Wehrkraft des Staates bei seiner internationalen Wert-
absch&tzung jedesmal an erste Stelle schiebt und schon allein damit
seine Wehrordnung zur schlechthin wichtigsten (weil Lebens-) Frage
seiner inneren Einrichtungen erhebt.
Keine, wie auch beschatfene Staatsverfassung kommt schliess-
lich fiber diese Tatsache fort, oder wurde, wo sie dieselbe missachten
wollte, das immer nur auf Kosten ihres personlichen Selbst tun
konnen, und sogar eine ,»Internationale Friedensliga", die als eine (so-
weit darin nicht schon ein Widerspruch in sich liegt) ^universal-
staatliche Institution"* zwischenstaatliche Gegensatze durch Schieds-
gerichte schlichten will, musste unvermeidlicherweise in diesem Sinne
ihre praktische TStigkeit — mit der Bildung einer internationalen
Exekutions- Armee beginnen!
So beruht denn aber doch, solange Staaten bestehen: ihre Eigen-
Persdnlichkeit immer nur auf der Eigen-Kraft ihres Heeres;
wird, solange Einzelstaaten bestehen werden, immer nur darauf beruhen,
und der ^StaatsbegrifT'' deckt sich in letzter Instanz praktisch immer
schlechthin mit seinem ^Machtbegriff, wie er ja umgekehrt dem-
selben allein auch seinen ersten Ursprung verdankt!
Es war notwendig, sich diese Verhiltnisse — sei es auch nur in
groben Umrissen — noch einmal kurz zu vergegenwMrtigen, ehe hier in
spiterer Fortsetzung dieser Erdrteningen den eigenartigen Anspriichen
nShergetreten werden soli, welche die Losung ihrer kriegerischen
Aufgabe dadurch an die bewaifnete Staatsmacht stellt, dass sie — im
Gegensatze zu der friedlichen TStigkeit der drei anderen staatlichen
Grundfunktionen — statt das Gesetz hinter sich zu haben: aller-
wege nur die Gewalt gegen sich hat I
2. Dem Beamten, dem Gesetzgeber, dem Richter tritt in der Hand-
habung, der seinem Sonderberufe eigentumlichen Seite allgemeiner
^Staatskunst' (wenn man in Analogie mit anderen ^Kiinsten^ so sagen
darf) sein ^Stoff* jedesmal nur als ein „dem Gesetze unterworfenes"* und
damit dem Gesetze gegenuber nur immer ^passives Objekt* entgegen.
Die ^Kriegskunst* hat es dagegen angesichts ihres .Feindes"
immer nur mit einem ^gegentdtigen Subjekt'' zu tun.
Umgekehrt ruft ja denn auch der Staat, wo seinen Gesetzen gegen-
uber der Staatsburger zur subjektiven Gewalt greift, letztinstanzlich —
107 8^
nach dem SoldatenI und dusserstenfalles wird dann auch der ^Burger-
krieg" zu einem — ausser dem Gesetze stehenden Gewaltzustande!
Die Gegensitzlichkeit (nach Objekt und Mittel), in welcher hier-
nach die Handhabung der «fur den gewollten Zweck in Tatigkeit zu
setzenden KHLfte* in Krieg und Frieden zu einander steht, hat von
altersher die «Kriegskunst' als eine von der ^Staatskunst im engeren
^ortsinne" durchaus getrennte FMhigkeit erscheinen lassen, und die
^Kriegswissenschaft"*, als „Lehre von der zweckentsprechenden
Anwendung der verfugbaren Mittel im Kriege"") hat sich deshalb auch
ihrerseits den .Staatswissenschaf ten^ im iiblichen Sinne immer
als eine in sich selbstdndig abgeschlossene Gedankenreihe
gegeniibergestellt.
Insofem nun aber doch der „ Krieg selbst" (wo er nicht etwa als
vdlkerrechtswideriges Freibeutertum auftritt) nur eine besondere Art der
Betatigung der Staatsgewalt darstellt, bildet auch die ^Kriegskunst^ nur
einen Teil der ^Staatskunst im Vollsinn des Wortes" und ihre ,Wissen-
schaft* nur einen Zweig der ^allgemeinen Staatswissenschaften", dessen
fachminnische Beherrschung fur die ausubenden — .kriegfiihrenden'
— Organe der Staatsgewalt im Kriege und ihren militSrischen
Beruf ebenso unerlMsslich ist, wie das — fur jeden anderen staatlichen
Beruf heutzutage nicht minder der Fall ist I
Trotz dieser allgemein anerkannten Notwendigkeit fachmannischer
Vorbildung auch fiir die Handhabung der verschiedenen „friedlichen"
Staatsfunktionen hat es nun schon lange, ehe die Gesamtheit des Volkes
im modemen Staate (in Gemeinde, Gesetzgebung und als Geschworene)
wieder zur Teilnahme an diesen verschiedenen Seiten staatlicher Lebens-
iusserungen berufen war, doch immer als eine Anforderung ^allge-
meiner Bildung" gegolten, daniber mindestens soviel wis sen zu
sollen, als zu einer richtigen Wurdigung ihrer unerlMsslichen Lebens-
bedurfnisse ndtig erschien, und die grossen staatlichen Bildungs-
stStten haben denn schon seit alters Sorge getragen, auch dem Lai en
solches Wissen wenigstens in seinen Grundlineamenten zugMnglich zu
machen.
Es bedarf einer kurzen Erkldrung, warum noch bis zur Stunde
allein das militlrische Wissen von solcher Allgemeinverbreitung
so gut wie ginzlich ausgeschlossen erscheint.
3. Der erste und wohl auch triftigste Grund fiir diese, an sich
einigermassen auffUlige Erscheinung wird in der historischen Ent-
wicklung der Dinge gesucht werden mtissen.
Der Krieg, der in den barbarischen UranfMngen staatlicher Gebilde
schlechthin den normal en Zustand im Wechselverkehr der Vdlker
gebildet hatte (und noch bildet); der bis uber die mittelalterlichen
Zeiten weit hinaus mindestens immer noch eine keineswegs seltene
Erscheinung zwischenstaatlicher Beziehungen geblieben war, tritt heut-
108
zutage, unter dem Einflusse der politischen, wirtschaftlichen und tech-
nischen Wandlungen, namentlich des letztverfiossenen Jahrhunderts,
zwischen modernen Kulturstaaten mehr und mehr nur noch als ein
Ausnahmszustand auf.
Obgleich nun zwar spater hier nachgewiesen werden soil, dass
gerade deshalb dem „Wissen vom Kriege'' fur die Gesamtheit der Nation
erst recht eine erhohte Bedeutung werde beigemessen werden mtissen>
so erklSrt zunMchst doch jene Tatsache selbst zur Genuge, dass das
dfFentliche Interesse an kriegerischen Fragen sich in der Gesamtheit
entsprechend abmindern konnte!
Anderes und vielleicht noch einflussreicheres kommt hinzu.
Mit der Vervollkommnung der Waf fen (namentlich seit Erfindung
des Pulvers), war die Kri egf iihrung, als »eigenartige Arbeit der
bewaffneten Macht**, eine immer schwierigere und verwickeltere
Aufgabe geworden, zu deren Losung es im wachsenden Masse denn
auch eines durchaus dafiir vorgebildeten Instrumentes
bedurfte !
Dem «bewaifheten allgemeinen Volks- Aufgebote" alterer
Zeiten hatte sich damit eine fiir den Krieg „besonders organisierte
Kdrperschaft^, als ein in sich abgeschlossenes Ganze gegenuber-
gestellt, welche in dem Grade, wie sie sich zur „stehenden Armee**
herausbildete, auch mehr und mehr die Fiihlung mit den Friedensorganen
staatlichen Lebens verlieren musste.
Umgekehrt gewohnte man sich von dieser Seite immer mehr an
den Gedanken, dass die „bewaffnete Macht'* einen durchaus selb-
stMndigen Organismus im Staate bilde, fiir den ausschliesslich
nur die oberste Staatsgewalt die Verantwortung zu tragen habe, mit
dem gemeinsame Beruhrungspunkte aber im ubrigen nur in rein ausser-
lichen (im Grunde nur: Geld-) Fragen bestehen konnten.
Solange ^Friede war**, lebte denn auch tatsachlich dieser Organismus,
von der ubrigen staatlichen Gemeinsamkeit unberuhrt, von ihr je
nachdem bald mehr oder weniger bewundert, bald mehr Oder
weniger missachtet, sein mehr oder weniger ^pflichttreues*" Leben in
voUer Vereinzelung dahin.
Wenn es dann aber » Krieg gab**, so bildete jene aussenstehende
staatliche Gesamtheit nur das, an den Vorgdngen in der Arena wohl
mehr oder weniger interessierte, auch jetzt aber daran doch selbst so
gut wie unbeteiligte Zuschauertum, welches erst „nach Schluss der
Vorstellung"* sich mit ihren Ergebnissen abzufinden hatte.
Es ist hier nicht der Ort, noch der Zweck dieser Ausfiihrungen :
die Umwandlung historisch zu verfolgen und zu begriinden, welche
mit dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts in diesem
Verhiltnis zwischen „Heer und Volk des Staates** sich vollzogeo
und heutzutage (mit wenigen, durch ausserordentliche Verhiiltnisse be-
dingten Ausnahmen) wieder „die Armee zum Volk in Waf fen"
gemacht hat.
Es genugt, dieses erneute Hineinwachsen des „Heeresorganes
109 8^-
in den staatlichen Gesamtorganismus*' als eine Tatsache festzustellen,
die aus sich selbst heraus die gegenseitigen Beziehungen von Grund
aus umzugestalten geeignet erschelnt.
4. In diesem Sinne wird zunachst im Zeitalter der allgemeinen
^ehrpflicht und weitgreifender verfassungsmassiger Einfliisse der Volks-
vertretung auf die Ausgestaltung des staatlichen Heerwesens, angesichts
einer Wehrordnung, welche einen grossen Prozentsatz der gebildeten
minnlichen Jugend in verantwortliche Fuhrerstellen der bewafFneten
Macht zu berufen gewillt ist: ein gewisses VerstMndnis fiir die eigen-
artigen Aufgaben der Armee ftiglich schon um deswillen wieder als ein
allgemeines Bediirfnis empfunden werden miissen, weil doch nur
eine richtige Vorstellung von den Anforderungen des Krieges
^estattet, sich ein begriindetes Urteil tiber die notigen Vorbereitun-
gen im Frieden zu bilden.
Tatsachlich ist ja denn auch durchaus nicht zu verkennen, dass,
seit »Wehrpflicht und Staatsbiirgertum'' wieder in ein em Begriff zu-
sammengeflossen sind, und die Armee damit wieder ,,Blut vom Blute
der Nation selbst" geworden ist: das offentliche Interesse an den Wehr-
institutionen des Staates gegen fruhere Zeiten sich wieder wesentlich
gesteigert hat.
Schon in der Publizistik tritt diese Tatsache in der lebhaften
Teilnahme hervor, mit welcher hier die Vorgfinge im inneren Leben
und ausseren Auftreten der Armee verfolgt, ihre physischen und
moralischen Bedurfnisse erortert, ihre scheinbaren und wirklichen
MSngel aufgedeckt werden.
Insofem nun aber — wie das doch wohl unbedingt beabsichtigt
ist — solch offentliche Beteiligung an den Angelegenheiten des Heeres
diesem selbst und damit weiterhin dann auch dem Staatsgan zen
wirklich zugute kommen soil: steht unbedingt fest, dass das
nur in dem Grade mit Erfolg wird geschehen konnen, als solche
Erdrterungen iiber die Lebensbedurfnisse der Armee im
Frieden sich auf eine klare Einsicht auch in die Eigenart ihrer
Lebensftusserungen im Kriege zu stutzen vermdgeni
5. Nun ist schon oben betont, dass solche » Eigenart kriegerischer
Tatigkeit* der Tatsache entspringt, dass hier ausschliesslich nur Gewalt
der Gewalt gegenubersteht, und damit fur diese TMtigkeit ein durch-
aus anderes Grundprinzip, als leitendes Motiv zum Handeln in
Wirksamkeit tritt, wie da, wo im friedlichen Wechselverkehr Recht
gegen Recht sich zur Geltung zu bringen strebt.
Die Gewalt anerkennt fur ihr Handeln nur ihr eigenes Gesetz,
fiir dessen Handhabung in vollster Willensfreiheit der Gegner erst
110 ^
eine spdtere Kultur im .internationalen Kriegsrecht' einige geringfugige
Schranken gezogen hat.
Wo angesichts solcher Sachlage aber die moralische Gewalt des
Rechtes, mangels einer hdheren irdischen Instanz versagt, da ent-
scheidet solcher Streit sich immer nur nach Massgabe einer iiber-
legenen physischen Kraft - BetatigungI
Der Krieg in seiner tatsdchlichen Erscheinung tritt damit zunlchst
(wie spiter ausfiihrlich darauf zuruckzukommen ist) immer nur als eine
Abmessung dieser physischen Krifte gegeneinander auf, in welcher
geistige KrSfte sich nur innerhalb der fur solche Wechselwirkung
gultigen (bezw. als gtiltig erkannten) Gesetze materieller Natur gel tend
zu machen vermogen, und die Kenntnis dieser Gesetze in ihrer ^zweck-
entsprechenden* Anwendung bildet denn auch bekanntlich die recht
eigentliche Aufgabe aller «Kriegswissenschaft*.
Wahrend im tSglichen Leben (z. B. auch der bildenden Kunste)
solche Handhabung physisch-materieller Krafte (von Werkzeug und
Materie) fiir einen bestimmten Zweck aber jedesmal nur nach einheit-
lichem Willen Platz greift, stellt sich im Kriege der von der einen
Seite als ^zweckentsprechend'' erkannten Anwendung dieser Mittel der
feindliche Wille jedesmal mit der Absicht entgegen, diesen ^Zweck**
zu vereiteln.
Die Erreichung des erstrebten Zweckes — d. h. hier kurzhin: eines
^kriegerischen Erfolges** — erscheint damit einerseits ebenso sehr von
der (jeseitigen) Gross e und (wirksameren) Handhabung der ver-
fugbaren physischen Mittel, wie andererseits von der St&rke
der (jeseitigen) Willenskraft abhangig.
Beide Faktoren des Erfolges sind im Kriege — wieder im Gegen-
satze zu ihrer Wechselwirkung im Frieden! — immer nur einseitig
b e k a n n t , indes ihre Grosse und Starke auf feindlicher Seite nur alien-
falls ann^hemd geschMtzt, niemals zweifelsfrei bestimmt werden konnen.
Angesichts solcher Verhdltnisse bewegt sich die kriegerische
Handlung ununterbrochen in dem alle ihre Entschlusse erschwerenden
Element einer Ungewissheit, der gegenuber zunMchst nur soviel fest-
steht, dass zwar eine an und fiir sich unzweckmissige (ihrer
Natur widerstrebende) Handhabung der gegebenen Mittel wohl un-
bedingt den Erfolg ausschliessen, ihre (den naturlichen Wirkungs-
gesetzen entsprechende) zw eckmMssige Anwendung darum aber noch
keineswegs den Erfolg auch dagewdhrleisten wird, wo der Gegner
ihr seinerseits mitgleichzweckmSssigen Massnahmen entgegentritt.
So kann denn aber doch das ^zweckentsprechende" Handeln im
Kriege sich jedesmal nurauf eine Wahrscheinlichkeitsrechnung
sttitzen, die schon ihrem innersten Wesen nach, den Irrtum nicht
hintanzuhalten vermag.
Mit dem mdglichen Irrtum ist dann aber weiterhin auch dem
Zufalle Tiir und Tor geoffnet, und Gliick und Ungluck iiber-
nehmen damit eine Rolle im Kriege, wie in anderweitem menschlichem
Tun ein Gleiches nur noch — im Spiel der Fall ist!
111 8^
Und in gleicher Richtung wirkt noch ein zweites Moment.
Wie im Element der Ungewissheit, so verlauft die kriegerische
Handlung in gleicher Ununterbrochenheit auch in dem Element einer
andauernden Gefahr, der gegenuber die unerlMssliche Grundtugend
des Kriegers: der Mut sich je nach dem Charakter der handelnden
Persdnlichkeiten in wieder nur unberechenbarer Weise geltend
machen wird. Je nachdem ob dieser Mut sich mit Vorliebe im kuhnen
Wagen oder in zlher Ausdauer betMtigt, vom Gliick begiinstigt, vom
Ungluck verfolgt wird : gestaltet dann aber auch der Verlauf des Spieles
sich jedesmal andersl
In letzter Instanz stellt sich somit alter Erfolg kriegerischer
Titigkeit im ganzen, wie in jedem ihrer Einzelakte — durchaus Mhnlich
den Stichen im Kartenspiel — als das zusammengesetzte Produkt:
einerseits einer auf der stindigen Natur der anzuwendenden
Mittel beruhenden — damit wissenschaftlich festzulegenden —
Handhabung dieser Mittel (^nach bestimmten Spielregeln'')^
andererseits einer Reihe, unter sachlichen und persdnlichen Ein-
flussen ununterbrochen wechselnder — damit jeder
Vorausberechn ung entzogener — Einwirkungen auf
diese Handhabung dar.
Es erschien notwendig, schon hier vorgreifend auf diese D o p p e 1 -
seitigkeit in dem Wesen praktischer Kriegfiihrung hinzuweisen>
weil erfahrungsmassig der Laie auf militarischem Gebiete nur allzu ge-
neigt isty vom Standpunkte des ihm allein gelMufigen BegrifTes eines
gesetzmissigen Verlaufes aller Dinge aus die Imponderabilien
kriegerischer Aktion zu iibersehen und in diesem Sinn es namentlich liebt:
uberall wo der kriegerische Erfolg ausbleibt:
allein dasHeeresinstirumentdafurverantwortlich
zu machen!
6. Politische, wirtschaftliche und technische Einflusse haben in
der Neuzeit mehr und mehr sich geltend gemacht, um den Krieg
zwischen Kulturstaaten schon um deswillen seltener werden zu lassen,
weil der Einsatz an Gut und Blut, der unter obwaltenden
modemen Umstlnden im Kriegsfall verlangt wird, sich gegen friiher
g^inz ausserordentlich gesteigert hat und mit dem erbdhten Risiko
selbstredend auch die Scheu vor solch «emstem Spiele** wachsen musste*
Wenn angesichts dieser Tatsache die ^Friedensfreunde'' sich der
Hoffinung hingeben, dass mit der Zeit diese Einfliisse stark genug werden
wurden, kunftige Kriege uberhaupt unmoglich zu machen, so
steht solcher Erwartung doch zunachst noch die unleugbare Erscheinung
gegenuber, dass nach Massgabe gesteigerter eigener innerpolitischer
Individualisierung (bezw. ^Nationalisierung*) der (grossen) Staaten
in sich auch ihre nationalen Gegensatze untereinander sich
112 8^
sehr viel scharfer herausgearbeitet haben, und dass nach
Massgabe des An wachsens der eigenen wirtschaftlichen Ent-
w i c k 1 u n g innerhalb dieser abgeschlossenen Gebiete die Schwierig-
keiten eines allseits bef riedigenden Ausgleiches dieser
konkurierendenlnteressengegeneinanderimmergrosser
zu werden drohenl
Ob unter solchen Verhlltnissen dietechnischen Fortschritte
im Kriegswesen allein ein genugend schweres Gewicht in die
Wagschale des ^ewigen Friedens* zu werfen imstande sind, um die
modernen Staaten lediglich aus ^Blutscheu*' zu verhindern: ihre per-
sdnliche Eigenart und ihre materielle Lebensexistenz
notigen Falles auch jetzt noch mit Gewalt zur Geltung bringen
zu wollen: darf um so mehr bezweifelt werden, als es nach Analogie
fruherer Erfahrungen durchaus nicht feststeht, dass dieverbesserten
Waff en den — bei richtiger Ausnutzung ihrer Leistungsfihigkeit
— noch jedesmal zu ermoglichenden Ausgleich ihrer Vor- und
Nachteile fur Freund und Feind jetzt plotziich zur »Unmdglichkeit*
machen miissteni
So hat sich denn auch bis zur Stunde noch kein modemer Staat
geneigt erwiesen, den Anfang zur »Abschaffung des Krieges**
auf dem Wege der ^Abschaffungbezw. AbschwMchung seines
notwendigen Werkzeuges" (durch sogenannte „Abrustung") zu
machen, und schwerlich auch wtirde solcher Versuch zu einem gunstigeren
Ergebnisse fiir den Weltfrieden fiihren, wie die etwaige Absicht „Streit
und Ungerechtigkeit zwischen den Menschen" auf dem Wege der »Ab-
schaflFung der Gerichte** hintanhalten zu wollen.
Uberall vielmehr zeigen die Staatsgewalten sich bestrebt, gerade in
richtiger Wurdigung der ,,Werte^, die bei einem mdglichen Kriege
fiir sie ,,auf dem Spiele stehen", ihrer Wehrkraft (zu Lande und zu
Wasser) nach ziffermassiger Starke und innerem Ausbau diejenige Aus-
gestaltung zu geben, die nach dem Stande modemer Kriegswissenschaft
allein ihre wirksame Verwendung in einem solchen Kriege zu gewahr-
leisten verspricht und etwaige, seitherige VersSumnisse in dieser
Richtung nachzuholen.
0
7. Dass und warum die Verwendung dieser Wehrkraft im
Emstfalle nur in die Hand fachmannisch vorgebildeter
Fuhrer gelegt werden kann oder doch nur gelegt werden sollte: ist
oben bereits nachgewiesen.
Gegeniiber der gleichfalls hier schon erwShnten Notwendigkeit,
die bewaffnete Macht — angesichts der modernen Waffen heute mehr
noch, als schon immer — auf ihre kriegerische Aufgabe bereits im
Frieden vorzubereiten, unterliegt es keinem Zweifel, dass auch fiir solche
Ausbildung ausscbliesslich nur fachmdnnische Lehrer verantwort-
lich werden gemacht werden kdnnen.
113 8^
Fur beide Aufgaben bleiben lediglich die Anforderungen der
reinen Kriegswissenschaft, als »Lehre von der zweckentsprechenden
Handhabung der Kriegsmittel'* massgebend und ihre Losung wird um
so vollkommener gelingen, in je weitere Schichten der „Fiihre'rschaft"
die Beherrschung solcher Wissenschaft vorgedrungen ist.
Insofem es sich dann aber vorerst doch immer um die Auf-
st el lung einer bewaffneten Macht fur den Bedarfsfall handeln muss,
wird es allerwege die Aufgabe einer abwdgenden Staatskunst
bilden: in der Wehrverfassung den fiir das Staatsganze zweck-
entsprechendsten Ausgleich zwischen den besonderen Kriegs-
und den allgemeinen F r i e d e n s-Bediirfnissen nach Massgabe der
eigenartigen VerhMltnisse zu finden, welche die innerenLebens-
bedurfnisse des betreffenden Einzelstaates und seine iusseren
Beziehungen zu anderen Staaten beberrschen.
Der Kriegswissenschaft als solcher stellt sich damit eine ,Wissen-
schaft von den Bedingungen des Heerwesens' zur Seite,
von der zunMchst hier nur soviel zu sagen ist, dass sie in ihrer prak-
tischen Handhabung die Anforderungen der ^Kriegslehre** auch da jeden-
falls nicht durchkreuzen darf, wo andere Riicksichten fur sie
massgebend werden miissen wie die rein kriegerischen.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, steht zunflchst fest, dass
bei der Gleichartigkeit der modernen Kriegsmittel (namentlich Waffen),
die Heere heutiger Kulturstaaten in ihrer Zu sa mm ens etzung (nach
Waffengattungen), ihrer Gliederung (nach Kommandoeinheiten) und
ihren inneren Einrichtungen (nach Heeresanstalten) eine nahezu
vollkommene Obereinstimmung aufweisen, dank deren die ^mobilen
Armeen** sich heutzutage im Grunde nur noch nach ihren StMrken
unterscheiden werden.
Die HeeresorganisationfiirdenKrieg bildet hiernach denn
auch einen nahezu konstanten Faktor, an den in der Heeresverfassung
moderner Staaten immer nur auf Kosten der Kriegsbrauchbarkeit der
Armee gertihrt werden kdnnte und auf dessen, den Kriegsbediirfnissen
entsprechender Aufrechterhaltung — selbstverstindlich abgesehen
von gelegentlichen, die GrundsMtze nicht beruhrenden Varianten — deshalb
auch die fur diese Kriegsbrauchbarkeit verantwortliche Staatsgewalt
niemals wird verzichten konnen.
Ganz anders liegen dann aber freilich die Dinge der Heeres-
einrichtung fiir den Frieden gegenuber, in bezug auf welche die
Bedurfnisse des Staates als Gesamtpersdnlichkeit den Vorrang vor den
Anforderungen e i n e s — sei es immerhin noch so wichtigen — seiner
O r g a n e mindestens insoweit zu beanspruchen berechtigt sind, als damit
nicht die Lebensfunktionen dieses Organs selbst unterbunden wtirden.
In der geschichtlichen Entwicklung staatlicher Heeres-
verfassungen stehen sich nun bekanntlich in diesem Geiste: Miliz-
und Sdldner-Wesen als die beiden Sussersten GegensStze gegeniiber,
zwischen denen eine Reihe sehr verschiedener Abstufungen sich ein-
^elagert hat.
SQddeutsche Monatahefte. 1, 2. 8
114 8^
Wieder liegt es nicht in der Absicht und Aufgabe dieser Aus-
fuhrungen hier den Vor- und Nachteilen dieser wechselnden Grundlagen
fiir die Aufstellung eines Heeres niherzutreten, die ja eben gerade ihres
nur ^kriegvorbereitenden" Charakters wegen ausschliesslich in
das bier nicht weiter zu behandelnde Gebiet der „Lehre vom Heeres-
wesen" — nicht in die .Lehre von der Kriegfuhrung'' selbst gehoren.
Nur auf e i n e n Punkt dieser Gegensitzlichkeit kommt es hier
insoweit an, als in demselben sich die Wege gabeln, von denen der eine
die Notwendigkeit eines gewissen Verstindnisses fur die eigentliche
Kriegswissenschaft der staatlichen Volksgemeinschaft als solcher nahezu
ganz entruckt, der andere — wie ich glaube — ftir dieselbe mindestens
ein gewisses Mass solchen Wissens geradezu alsstaatsburgerliche
Pflicht erscheinen lisst.
8. Nach welchen organisatorischen Gesichtspunkten nimlicb
auch ein Heer gebildet sein mag, man wird in seiner Zusammensetzung.
stets die Fuhrerschaft von der Mannschaft zu unterscheiden
und die berufsmSssige Fachkenntnis immer nur bei ersterer
zu suchen haben.
Auch wo ein Heer im wesentlichen nur aus Berufs-Soldaten
besteht, wird doch schon allein der Bildungsstand dieser „ Masse** die-
s5elbe von ^der „Kriegs- als Fiihrer-Wissenschaft** fast ganzlich aus-
schliessen, und umgekehrt kann es erfabrungsmassig nicht schlechthin
als eine Unmoglichkeit bezeichnet werden, eine neu zustromende
Mannschafts-Masse da noch wMhrend der kriegerischen Operation selbst
einigermassen kriegsbrauchbar »auszubilden**, wo nur gentigend starka
Berufs-Fiihrerrahmen (Cadres) verhanden sind.
Nichtsdestoweniger wird niemand bestreiten wollen, dass gleich-
gut vorgebildete Ftihrer und ebenbiirtige sonstige Verhiltnisse vor-
ausgesetzt: eine aus vgedienter*" Mannschaft bestehende Armee ein
ausgesprochenes Obergewicht uber ein «erst im Bedarfsfalle auf-
gestelltes** Heer besitzen wird, und dass die Verantwortung fur ein
solches Experiment deshalb nur unter ganz ausnahmsweisen Ver-
haltnissen oder da wird getragen werden kSnnen, wo es gilt „aus der
Not eine Tugend zu machen*.
Auch dann aber wurde die fachminnisch unterlegene Armee
den moglichen Ausgleich fur ihre anderweiten Schwachen ausschliesslich
nur in ihren gesteigerten moralischen Eigenschaften finden kdnnen,
die vor allem auch gross genug sein mussten, den Vorsprung ein-
zuholen, den unbedingt der ^ausgebildete** Gegner in der Ertragung
kriegertscher Miihsale und Wechselfalle vor ihr voraus haben wird.
Derartige seelische Krifte konnen nun aber die Mass en einer
heutigen Armee unzweifelhaft immer nur aus dem Urquell der
nationalen Eigenschaften desjenigen Volkes schopfen, dem
sie entstammen, und wir stehen damit an demjenigen Punkte, wo di&
115 8.*-
kriegerischen Erfolge einer Armee sich als ein Produkt nicht nur
aasschliesslich ihrer eigenen, sondern auch der kriegerischen Ver-
anlagung ihres Volkes darzustellen beginnen.
Unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, wird man nun zundchst
sagen musseo, dass weder ein auf langdienende Berufssoldaten abzielendes
(englischesi), noch ein auf kurzzielige Erwerbssoldaten gestutztes (ameri-
kanischesl) Werbesystem dem Heere dasjenige Mannschaftsmaterial
wird zufuhren konnen, welches auch nur annihernd als Ausdruck der
kriegerischen Eigenschaften der Nation wurde angesehen werden durfen,
und umgekehrt wird man deshalb beiden Systemen der Heeresverfassung
eine Berechtigung nur solange zugestehen kdnnen, wie ganz besondere
Verhdltnisse (lokaler Isolierung gegen einen uberlegenen Feindl) vor-
aussichtlich immer die Mdglichkeit zu bieten versprechen, das kriegerische
Spiel ndtigenfalls fruher abbrechen zu konnen, als es zu einem
die eigene Selbstherrlichkeit oder die vitalen Interessen der Gesamt-
bevolkerung blossstellenden Einsatze zu fuhren imstande ist.
Uberall dagegen, wo der nicht mehr hintanzuhal tende
Krieg unter lokal nicht in erwahnter Weise abgeschlossenen Verhllt-
nissen, gerade um so entschiedener zumaussersten zu fuhren droht,
je linger vorher die Spannung schon gedauert hatte, und wo damit
auch der hochste Krafteinsatz gleich von Hause aus zur
unabweislichen Notwendigkeit wird: da kann allein die allgemeine
Wehrpflicht dem Heere dasjenige Menschen-(als Mannschafts-)Material
zufuhren, dessen es unter solchen Umstanden bedarf, um aufdie Dauer
den Anforderungen eines solchen Krieges gentigen zu konnen. Gerade
weil die Kriege der europSischen Kontinentalmachte seit Napoleonischen
Zeiten jedesmal diesen Grundcharakter anzunehmen drohen, haben nach
und nach alle diese Staaten auch zur Annahme jenes Wehrsystems fiir
die Aufbringung ihrer Heere sich gezwungen gesehen.
In dem Masse, wie damit der Kern der Nation wieder zum ur-
eigentlichsten Mittelpunkt der Armee geworden ist, wird jetzt aber:
in solchem Heere der — kriegerische oder unkriegerische —
Volkscharakter sich als ein wichtiger Faktor auch fur seine
militirische Leistungsfahigkeit erweisen und — nament-
lich kriegerischen WechselfSllen gegeniiber — die heimische
Volksstimmung niemals ganz ohne Widerhall bleiben konnen;
wird andererseits auch:
von solchem Volke erwartet werden miissen, dass es sich unter
alien Umstanden der Zusammengehdrigkeit mit seinem Heere
bewusst bleibt und — namentlich auch unerwarteten Unglucks-
schlagen gegenuber — die Ausdauer eines gerei ften Ver-
st&ndnisses fiir die naturlichen Schwankungen modemer Krieg-
fuhrung zu beweisen imstande sein wird!
Wird so eine klarere Einsicht in das, was der Krieg verlangt
and wie allein im Kriege die erwarteten Erfolge errungen werden
kdnnen, die Nation beflhigen: die persdnlichen und materiellen
8*
116
Lebensbedurfnisse der Armee im Frieden ricbtig zu
beurteilen, so wird sie andererseits im Kriege selbst dem
Volke diejenige Hdhe seelischer Kraft verleihen, die der
Armee aucb den ndtigen moraliscben Nachersatz zu liefem
imstande ist.
Wo die allgemeine Wehrpfiicht die Muttererde des Heeres bildet,
da sucht naturgemiss in schweren Stunden das waffengerustete
Volk am Feind seine Antduskrifte in der Ber&hrung mit dem
wissensgertisteten Volke daheim!
Dass es sie wirklich finde: dazu soli das Nachfolgende seinen
kleinen Beitrag liefem.
T^raTiarainraTnrainfaT»ra'ir>rainrai»rai»ra'i^faT»ra'i*fa'"iraT>faT»fa'iiiraT>fai»faTnfaTnraT>fa'
Hygiene der Milchversorgung.*>
Von Franz von Soxhlet in Mtlnchen.
Der Ruf nach einer hygienisch besseren Milchversorgung wird
allgemein mit dem Hinweis auf die grosse Kindersterblichkeit in den
Stidten begriindet. Es sei Pflicht der 5ffentlichen Gesundheitspflege,
dabin zu wirken, dass die erste Nahrung der Kinder, denen die Wohl-
tat der Mutterbrust versagt ist, in tadelloser Gute der Bevolkerung ge-
liefert werde. Aber alle hierauf gerichteten Bestrebungen waren bis
jetzt ohne Erfolg, well man die gestellte Forderung auf die ganze Milch-
versorgung der Stadt ausgedehnt und damit eine unerfullbare Forderung
gestellt hat. Sieht man von der zur SSuglingsemfthrung bestimmten
Milch ab, so liegt irgend ein dringendes Bediirfnis fur eine Reform der
bisherigen Art der stMdtischen Milchversorgung nicht vor, vorausgesetzt,
dass die Michbeschau nach den geltenden Grundsatzen und bestehenden
Verordnungen ordnungsgemiss gehandhabt wird. Was aber die Be-
schaffung einer zur SMuglingsemdhrung tauglichen Milch betriift, so ist
nur fur die wohlhabende Minderheit der Bevolkerung gesorgt, der eine
zwar teure, sonst aber billigen Anforderungen entsprechende Kinder-
milch zur Verfiigung steht. Die minderbemittelte Mehrheit der Bevdlkerung
dagegen ist auf die gewdhnliche Marktmilch angewiesen, die den Forde-
rungen, die man an die Nahrung der Siuglinge stellen muss, nicht ent-
spricht und nach den einmal gegebenen Produktionsbedingungen auch
*) Vortrag gebtlten am 5. November 1903 zum Besfen des Fetter. kofer-Hauses.
117 ^
nicht entsprechen kann. Hier ist also eine Anderung der bestehenden
Verhiltnisse dringend geboten, und sie ist auch durchftihrbar. Zur Be-
griindung meiner Auffassung von Gegenwart und Zukunft der stadtischen
MilchversorgUDg muss ich auch die Frage der Sluglingsemihrung in den
Kreis meiner Betrachtungen Ziehen.
Von den zwei Millionen Neugeborenen im Deutschen Reiche sterben
im ersten Lebensjahre uber 400000. Nach Russland hat das in der
Kultur so hochstehende Deutschland die grdsste Kindersterblichkeit.
In den Jahren 1894—98 starben in den deutschen Stadten durchschnitt-
lich 22% der S&uglinge und davon uber Magen- und Darm-
krankheiten. Die Sachverstlndigen berechnen aber, dass mittelbar und
unmittelbar die Hilfte aller TodesfMUe auf diese Art von Erkrankungen
zuruckzufuhren sei, so dass man mit der Tatsache rechnen musse: es
sterben alljahrlich in Deutschland 200000 Siuglinge an den Folgen von
Magen- und Darmerkrankung. Statistik und arztliche Erfahrung zeigen
weiter, dass alljlhrlich in den heissen Sommermonaten explosionsartig
Brechdurchfallepidemien auftreten, und dass dieser Wurgengel die meisten
seiner Opfer sich aus dem Kreise der kunstlich emihrten Sauglinge
holt, wogegen er die Brustkinder, aber auch die Flaschenkinder der
Reichen fast ganz verschont.
Aus der Kenntnis dieser Tatsachen hat sich zunMchst eine lebhafte
Bewegung fur die Rtickkehr zur naturlichen Emahrung entwickelt, die
in erscbreckender Weise abgenommen hat. Unserm Mitbiirger Dr. Hirth
gebuhrt das Verdienst, in seiner Schrift iiber die Unentbehrlichkeit der
Mutterbrust, den Miittem besonders eindringlich ins Gewissen geredet
zu haben. Wohlgcmerkt, die Mutterbrust und nicht die Ammenbrust.
Das Ammenwesen trigt nichts zur Verminderung der SMuglingssterb-
lichkeit bei und auch nichts zur Erstarkung des Menschengeschlechts.
Im Gegenteil: Wie der Grazer Hygieniker Professor Prausnitz unwider-
leglich gezeigt hat, stirbt kaum jemals ein Flaschenkind der Reichen an
Verdauungskrankheiten, dagegen stirbt daran, wie allbekannt, fast sicher
das Kind der Amme, weil es unter den ungtinstigsten hygienischen Ver-
hSltnissen ktinstlich ernlhrt werden muss. Das vielleicht lebensschwache
Stadtkind wird uber Wasser gehalten, das lebensstarke gesunde Landkind
muss dafiir sterben. Gesamtwirkung: Absolute Zunahme der Sterblichkeit,
allerdings nicht in der Stadt, sondem auf dem Lande und Verschlechterung
der Rasse im ganzen.
Ober die Ursacbe des zunehmenden Nichtstillens sind die Meinungen
geteilt. Die einen behaupten, dass die grosse Mehrzahl der Frauen physisch
dazu un^hig sei. Am scharfsten vertritt diese Meinung der geistvolle
Baseler Physiologe Bunge. Die Unflhigkeit zu stillen sei erblich und
die einmal verlorene Fihigkeit sei unwiederbringlich fur alle kommenden
Generationen verloren. Die Unfihigkeit zu stillen sei ebenso ein Symptom
der Degeneration, wie |die geringe Widerstandsfihigkeit gegen Tuberkulose,
gegen Nervenleiden und Zahnkaries; diese Entartung sei hauptsicblich
durch den Alkoholismus hervorgerufen worden. Von dieser erblichen
Entartung kdnne die Menschheit nur durch Zuchtwahl befreit werden;
118
es sollen zur Erreichung dieses Ziels alle Midchen von der Ehe aus-
geschlossen werden, die aus tuberkuldsen oder psychopathisch belasteten
Familien stammen, die einen Trinker zum Vater oder — karidse Zihne
haben. Das zuletzt genannte Ehehindernis allein schon erweckt eine
venig erfreuliche Aussicht fur die Viter unverheirateter Tdchter; man
denke nur an die tiberftillten Wartezimmer der Zahnirzte!
Die andem, und dazu gehdren jetzt wohl fast alle Arzte, wollen als
Ursache der beklagenswerten Erscheinung das Unvermdgen nur als seltene
Ausnahme, als Regel aber die Bequemlichkeit, die Eitelkeit und die Vor-
urteile der Mutter gelten lassen; sie mussen aber auch zugeben, dass
ein grosser Teil der Mutter aus wirtschaftlicher Not sich dem Still-
geschSft nicht widmen kann. Gegen Lissigkeit und Torheit kann Wamung
und Belehrung niitzen, Erscheinungen die der Armut entspringen, mussen
aber anders bekimpft werden und sie werden immer nur zu einem kleinen
Teil beseitigt werden kdnnen. Frankreich, dem ja die Entvolkerung drohte,
versucht durch PrSmien die wenig bemittelten Miitter zum Stillen anzu-
spomen und fur den Arbeitsentgang zu entschSdigen. Keineswegs aber
darf das Eintreten fur die naturliche Erndhrung uns davon abhalten, das
Verfahren der kunstlichen Emahrung zu verbessem und die gewonnenen
Vorteile denen zuganglich zu machen, die ihrer bedurfen. Die Kinder,
denen die Natur oder die Ungunst der wirtschaftlichen Verhaltnisse die
Wohltat der Mutterbrust vorenthalten hat, bedurfen doppelt unserer Fur-
sorge. Es konnen nur Fanatiker unter den Bekampfem der kunstlichen
Emahrung sein, die immer und immer wieder darauf hinweisen, dass
alle Erfolge in der Verbesserung der kunstlichen Emahrung nur den
Bemuhungen entgegenarbeiten, die auf die Ruckkehr zur Natur abzielen;
je sicherer die kunstliche EmShmng gestaltet werde, um so mehr werde
es den Muttem erleichtert, sich ihrer Pflicht zu entziehen. Der Miss-
brauch einer Einrichtung spricht aber nicht gegen ihre Zweckmdssigkeit,
und iiberdies ist zu beachten, dass er sich mehr in den Kreisen der
Wohlhabenden eingeburgert hat, die sich auch danach noch der geringsten
Kindersterblichkeit erfreuten. Sicherlich hat auch der .Soxhlet'' in diesen
Kreisen weniger der Mutterbrust als dem Ammenwesen Abbruch getan,
was aus den bereits angegebenen Griinden nicht zu beklagen ist.
Mit trefPenden Worten entgegnet den Ubereifrigen der Kinderarzt
Dr. Paffenholz in Dusseldorf: Sollen wir etwa den Muttem zurufen:
nihr habt eure Kinder ' nicht gestillt, sie werden also im Sommer er-
kranken und viele werden sterben; wir konnen dies zwar verhindera,
werden es aber nicht tun, damit ihr seht, dass es besser ist, die Kinder
zu stillen Der praktische Volkshygieniker muss sich auf den Boden
der Tatsachen stellen und diese sind ftir unsere Frage die folgenden:
Die Grdsse der SterblichkeitszifTer wird durch die Zahl der Todesfalle
an Krankheitcn der Verdauungsorgane, und zwar hauptsichlich an
Sommerbrechdurchfall, beherrscht; bei den Kindern der Reichen findet
man die geringste Sterblichkeit und fast nie stirbt, auch bei kunstlicher
ErnMhrung, ein Kind aus dieser Klasse an einer Verdauungskrankheit;
bei den andem Bevdlkemngsklassen ist die Kindersterblichkeit um so
-4^ 119 gHH
grdsser, je irmer sie ist, und die hohere Sterblichkeit wird hier fast nur
durch das hiufigere Erkranken des Verdauungsapparats verursacht, was
vieder um so hiufiger eintritt, je mehr die kiinstliche Ernihning vor-
herrscht. Wenn der Wohlhabende zur kunstlichen Ernihning greift, so
virkt auf sein Kind nur diese eine Schidlichkeit ein und er vermindert
auch diese dadurch, bis auf einen kleinen Rest, dass er ohne Rucksicht
auf die Kosten sich des relativ besten Ersatzmittels fur die Muttermilch
bedient; auf den Singling des Armen sturmen die Schidlichkeiten schlechter
Wohnung, schlechter Luft, mangelhafter Pfiege, ungeniigender Reinlich-
keit und des Mangels an Srztlicher Hife zusammen ein, und wenn die
Mutter nicht stillt, kommt noch dazu: eine an sich nach Menge und
BeschaCFenheit unzweckmissige Nahrung und vor allem die Schidlich-
keiten, die aus dem Verderben dieser Nahrung entspringen. Wenn man
die Armen nicht reich macht, wird es nie gelingen, alle Ursachen einer
nnnatiirlich grossen Kindersterblichkeit^ zu beseitigen; aber der oITent-
lichen Wohlfahrtspflege muss es gelingen, die Hauptursache des Ubels,
nimlich den einen Unterschied zwischen arm und reich zu tilgen, der
darin besteht, dass der Reiche sich ein taugliches Ersatzmittel fur die
Muttermilch beschaffen kann, der Arme nicht. Das ist in Deutschland
bis jetzt so gut wie nicht geschehen und so erklart sich die Tatsache,
dass alle Errungenschaften auf dem Gebiete der kunstlichen Emihrung
in den letzten 20 Jahren die Kindersterblichkeit nur unwesentlich ver-
mindert haben.
Die Hygiene, die Wissenschaft die sich die Aufgabe stellt, Krank-
heiten zu verhindem, hat in der Kuhmilch eine reichlich fliessende
Quelle krankmachender Ursachen erkannt, und sie war seitdem auch
eifrig bemuht, Abwehrmassregeln gegen diese Schidlinge ausfindig zu
machen. Bei hygienischen und irztlichen Kongressen findet man die
Frage der Milch versorgung fast regelmassig auf der Tagesordnung und
im Mai 1903 fand in Hamburg sogar eine besondere Ausstellung fur
bygienische Milchversorgung statt, bei der Hygieniker, Kinderirzte,
Nahrungsmittelchemiker und Milchtechniker in Vortrigen und Berichten
das Wort ergrifiPen.
Bei der Beurteilung der Milch als Nahrungsmittel im allgemeinen
spielen ihre Verfilschungen eine verhiltnismissig untergeordnete Rolle,
deshalb dient die Miichbeschau nach der Art ihrer jetzigen Handhabung
mehr dazu, uns vor Vermogensschidigung als vor gesundheitlichen
Nachteilen zu schutzen. Die Milch wird durch Zusatz von Wasser oder
durch Entrahmen, manchmal gleichzeitig auch durch beides verfilscht.
Andere Filschungsarten, wie Einquirlen von Pferdehirn, Zusatz von
Mehl, Seife oder gar mineralischen StoCTen, stehen wohl in den Buchem,
kommen in Wirklichkeit aber nicht vor. Man braucht sie auch nicht,
weil die zuerst genannten bequemer und auch nicht leicht nachzuweisen
*) .Es ist Pflicbt der 6flPentlicben Gesundbeitspflege, die V51ker und Re-
aiernngen auf den engen Zusammenhang zwischen Pauperismus und
Sterblichkeit im allgemeinen wie der Kindersterblichkeit im besonderen binzu-
wetsen.* (Wasserfuhr, Ber. a. d. 43 NaturPorschcr-Versamml.)
120
sind, sobald nur der Filscher sich mit bescheidenem Nutzen begnugt.
In 90 von 100 FSllen besteht die Fdlschung in der Beimischung von
Wasser. Wenn das Wasser nicht selbst gesundheitsschadliche Eigen-
schaften hat, z. B. Typhusbazilien enthilt, dann schidigt diese Filschungs-
art nur unsem Geldbeutel. Der Singling, dem ja meist gewisserte
Milch verabreicht wird, korrigiert die Nachteile grdsserer Verdunnung
dadurch, dass er von solcher Milch mebr trinkt. Bedenklicher ist schon
das Entrahmen, oder, was dasselbe ist, die Beimischung abgerahmter
Milch zu Vollmilch. Solche Milch verhilt sich wie eine schon iingere
Zeit gestandene, sie ist der Verderbnis n&her geruckt; ausserdem ist
sie, wegen des Entzugs von Butterfett, in ihrem NShrwert vermindert^
und dagegen kann sich der Siugling durch Mehrtrinken nicht ungestraft
wehren. Die Kuhmilch ist im Vergleich zur Muttennilch ohnedies
schon zu eiweissreich und im VerhMltnis dazu zu fettarm. Man muss
sie um den schidlichen Oberschuss an KMsestoff zu verringem mit
Wasser oder ei'ner Zuckerlosung verdunnen, womit aber auch der Fett-
gehalt verringert wird. Mischt man z. B. nach der am meisten befolgten
Vorschrift Kuhmilch mit gleich viel einer Q^l^igen Milchzuckerlosung,
so hat das Gemisch die Zusammensetzung einer halb eingedickten aber
abgerahmten Frauenmilch, der man zu allem Uberfluss auch noch die
Hilfte des Milchzuckers entzogen hat. Unsere Bemuhungen, mit Ge-
mischen von Kuhmilch und Wasser oder Kuhmilch und Milchzucker-
Idsung einen Ersatz fur die Muttermilch zu schaifen, haben zu nichts
anderm gefuhrt, als zu einem Ersatz ftir abgerahmte Frauenmilch.
So etwas ISsst sich ein Kalb nicht bieten; es IMsst sich in den ersten
Lebenswochen abgerahmte Kuhmilch als Nahrung absolut nicht gefailen
und antwortet auf diese Zumutung mit Durchfall und elendem Wachs-
tum. Dass sich der menschliche Saugling mit einer Nachahmung abge-
rahmter Frauenmilch meistens zufrieden gibt, spricht nur fiir seine er-
staunliche Anpassungsfihigkeit, nicht aber fur die menschliche Weisheit.
Das Brustkind wird gewissermassen hauptsdchlich mit Butter und Zucker,
das Flaschenkind hauptsichlich mit Kase emahrt. An solchen Verkehrt-
heiten kann noch manches geSndert und gebessert werden.
Der Zusatz von Konservierungsmitteln zur Milch ist verboten und
gliicklicherweise auch leicht und sicher nachzuweisen. Diese Stoffe
sind als gesundheitsschidlich zu betrachten, well alles, was die Ent-
wicklung der Lebewesen in der Milch hemmt, auch der menschlichen
Zelle nachteilig sein muss.
Aus dem Futter der Ktihe kdnnen manche Stoffe mit dem Blut
in die Milchdruse eintreten und damit in die Milch gelangen; wohl-
schmeckende ebenso wie schlechtschmeckende; die einen wirken wie
die Genussmittel gtinstig auf die Verdauung und unser Wohlbefinden,
die andern als ihre Gegenfiissler in der entgegengesetzten Richtung.
Welchen Anteil das Futter an diesen Eigenschaften der Milch hat, ist
noch wenig bekannt. In der Regel stammt der uble Geschmack der
Milch aus der Stallluft. Das in der Milch fein verteilte Fett verschluckt
Riechstoffe sehr begierig. Oft wird die Milch im Stalle selbst gekuhlt;
121 ^
wenn sie uber die wellige Flache des Milchkuhlers lauft, wird jeder
Liter in dunnen, etwa Sqm grossen Flussigkeitsscheiben im Stalle aus-
gebreitet, und dann haben die in einem Liter Milch enthaltenen 4000
Milliarden Fetttrdpfchen die beste Gelegenheit, sogenannte gesunde Land-
luft zu verdichten und festzuhalten.
In die Milch konnen dann weiter ebenso wie gewisse Arzneistoffe
— namentlich Jod, Quecksilber, Arsen — auch Giftstoffe aus den Un-
kriutem des Heus ubergehen. Vor wenigen Jahren hat Dr. Sonnen-
berger in Worms den Futtergiften als Ursache von Verdauungsstorungen
besondere Bedeutung beigemessen und Professor Braungart in Munchen
bringt die grosse Kindersterblichkeit in gewissen kalkreichen Gegenden
Bayems mit der dort besonders gedeihenden Herbstzeitlose in Zusammen-
hang. Obennedizinalrat Hauser in Karlsruhe hat aber fur Baden ein
seiches Zusammengehen von Kalkboden und grosser Kindersterblichkeit
nicht gefunden.*) Ganz sicher ist es, dass die Hauptursache der grossen
Kindersterblichkeit, der Sommer-Brechdurchfall, mit der Herbstzeitlose
Oder andem Giftkrautem nichts zu tun hat. Da indes ein gut beob-
achteter Fall vorliegt, wo das Herbstzeitlosengift — Colchicin — in die
Milch von Ziegen tiberging und zur Erkrankung Erwachsener fuhrte, so
trete auch ich dafur ein, dass Giftpflanzen aus dem Futter ferngehalten
werden sollen, besonders wenn es sich urn die Gewinnung von Kinder-
milch handelt.
Ungemein harmlos sind alle die SchMdlichkeiten, die auf die
chemische Zusammensetzung der Milch zuruckzufiihren sind, im Ver-
gleich zu denen, die dem Bakterienleben entspringen. Die unmittelbar
aus dem Enter kommende Milch kann krankmachende Bakterien ent-
halten oder es konnen welche von aussen in die Milch gelangen und
dort einen geeigneten NShrboden finden, oder es gelangen, und zwar von
aussen, Bakterien in sie, die gewisse Milchbestandteile zersetzen und
giftig wirkende Stoffe — Toxine — ausscheiden.
Obwohl es bis jetzt nur ein Mai gelungen ist, Typhuskeime in ver-
dachtiger Milch nachzuweisen, so war doch mit Sicherheit eine grosse
Anzahl von Unterleibstyphusepidemien auf den Genuss von Milch zurtick-
zufiihren, die durch Beruhrung mit den Ausscheidungen Typhuskranker
Oder durch verunreinigtes Wasser infiziert war. Professor Jensen in
Kopenhagen, ein guter Kenner dieser Verhaltnisse, spricht die Ansicht
aus, dass in alien Stadten mit hygienisch geordneter Wasserversorgung
die Verschleppung des Unterleibstyphus durch die Milch am meisten in
Betracht komme. Nicht ganz so scheint es sich mit den ziemlich haufig
beobachteten Diphtherie-Milchepidemien zu verhalten; es uberwiegt die
Meinung, dass diese nicht auf den Genuss infizierter Milch, sondern auf
*) Die Statistik, von einigen als ^zweiscbneidiges Scbwert** bezeicbnet, von
einem GynSkologen gtr «Dirne* gesctaolten, gibt, je nacb der Fragestellung, eine
ricbtige oder unricbtige Antwort. So starben 1871/73 in Baden von protestantiscben
Singlingen 25,2 von katboliscben 28,4 und von judiscben l,76o/o. Selbstverstftndltch
darf man daraus nicbta anders folgern, als, dass drei Bevdlkerungsklassen von
verscbiedener Wohlbabenbeit verscbiedene Sterblicbkeit baben.
122 ^
den Verkehr mit erkrankten Milchaustrdgern und dergleichen zurtickzu-
fuhren waren, und fur die Verbreitung des Scharlachs durch Milch IMsst
man uberhaupt nur diesen Zusammenhang gelten.
Von den Krankheiten der Kuh kdnnen auf die Menschen uber-
tragen werden: Die Tuberkulose, die Maul- und Klauenseuche, die ToU-
wut, die septische Darmentziindung und auch die verschiedenen Arten
der Euterentziindung, deren Erreger Darmentztindungen beim Menschen
herbeifuhren konnen.
Seitdem Koch die unter den Rindern so stark verbreitete Perlsucbt
als Tuberkulose erkannt hat, hat man der Gefahr besondere AuFmerk-
samkeit geschenkt, die dem Menschen aus dem Genuss des Fleisches
Oder der Milch solcher Tiere erwachsen kann. Da trat bekanntlich Koch
im Jahre 1901 beim Tuberkulose-Kongress in London mit der Behauptung
auf, Kinder- und Menschentuberkulose seien nicht identisch. Diese
Behauptung stiess aber sofort auf fast einstimmigen Widerspruch, dem
auch der Kongress durch eine Resolution Ausdruck verliehen hat. Ganz
entschieden hat sich v. Behring, der beruhmte Bakteriologe und Ent-
decker des Diphtherieheilserums, vor kurzem bei der Naturforscherver-
sammlung in Kassel gegen die neue Kochsche Lehre ausgesprochen.
Seine Ausfiihrungen gipfeln etwa in folgenden Satzen: Die Rindertuberkel-
bazillen sind fur den Menschen bosartiger und giftiger als die Menschen-
tuberkelbazillen. DieSiuglingsmilch istdieHauptquellefur
die Sch windsuchtsentstehung. Der menschliche und ebenso der
tierische SSugling entbehrt in seinem Verdauungsapparat der Schutzein-
richtung, die beim Erwachsenen das Eindringen von Krankheitserregem
in die Gewebesilfte verhindert. Die Darmschleimhaut des SMuglings ist
im Vergleich zu der des Erwachsenen ein grossporiges Filter. „Ein
bisschen tuberkulos ist jeder von uns,** aber die Infektion Erwachsener
fiihrt nicht zur Lungenschwindsucht. Fur die ErnMhrung sehr jugend-
licher Kinder soli unter alien Umstinden nur tuberkelbazillenfreie Milch
verwendet werden.
Wie mir von sachkundiger Seite versichert wird, stossen auch die
Ausfuhrungen v. Behrings uber die Entstehung der Schwindsucht in
massgebenden arztlichen Kreisen auf entschiedenen Widerspruch, und
auch dem Laien drMngt sich der Gedanke auf, dass der Hauptsatz der
Behringschen Lehre: „Die Sduglingsmilch ist die Hauptquelle fur die
Schwindsuchtsentstehung^ sich nicht gut mit der Tatsache vertrdgt, dass,
in Deutschland wenigstens, die ktinstlich emShrten Sauglinge doch nur
mit gekochter Milch ernihrt werden, die ja frei von lebensfihigen
Tuberkelbazillen ist. Jeden falls wird man gut tun, nicht auf die voile
Klarung dieser Frage zu warten, sondem mit der Mdglichkeit der Tuber-
kulosetibertragung durch Milch als einer Gefahr fur den Siugling und
Erwachsenen zu rechnen.
Ober Rindertuberkulose und ansteckungsflhige Milch ist noch
folgendes zu sagen: Die Statistiken aller LMnder verzeichnen einen er-
schreckend grossen Prozentsatz tuberkuloser Kinder. Nach den Schlacht-
hofberichten sollen in Deutschland 20% der Rinder, etwa 3 Millionen
123 8^
Stuck, mit iusserlich erkennbarer Tuberkulose behaftet sein; bei Kiihen
noch mehr, so z. B. in Sachsen 35%. Bei der Prufung der mehr als
4 Jahre alten Kiihe mit Tuberkulin wurden in Berlin 99 % tuberkulos
befunden. In Danemark ist bei 31, in Schweden bei 42% der Kinder
Tuberkulose festgestellt worden. Bei Eutertuberkulose entbSIt die Milch
immer Tuberkelbazillen. 4% der tuberkulosen Kuhe sollen mit Euter-
tuberkulose behaftet sein. Auch ohne dass Eutertuberkulose vorliegt,
kann bei vorgeschrittener Tuberkulose die Milch tuberkelbazillenhaltig
sein. Die Marktmilch und die zusammengemischte Milch der Molkereien
enthilt ungemein hMufig nachweisbare Mengen lebender Tuberkelbazillen.
Man ist uberall eifrig an der Arbeit, die Tuberkulose unter den Rindern
auszurotten, schon im eigenen Interesse der Landwirte. Dabei hat die
Priifung der Kuhe mit Tuberkulin die wertvollsten Dienste geleistet und
Behrings neues Verfahren, die KMlber durch Impfung fiir die Tuber-
kulose unempfanglich zu machen, rtickt uns dem Ziele noch naher.
VorlSufig werden aber die Organe der Lebensmittelaufsicht noch daruber
wachen mussen, dass Milch von Kiihen mit klinisch erkennbarer Tuber-
kulose nicht auf den Markt komme. Von einer Kindermilch verlangen
sogar manche SachverstMndige, dass sie von Kiihen stamme, die die
Tuberkulinprobe bestanden haben. Das zuverlassigste Mittel, die Uber-
tragung der Tuberkulose durch Milch zu verhindem, wird aber immer
das Erhitzen der Milch auf Siedetemperatur bleiben.
Der Erreger der unter den Rindern so verbreiteten Maul- und
Klauenseuche ist noch nicht bekannt. Es steht aber fest, dass die
Krankheit mit der Milch auf den Menschen ubertragen werden kann.
Die erste Nachricht dariiber stammt schon aus dem Jahre 1695; 1834 hat
Hertwig durch einen Versuch an sich selbst die Ubertragbarkeit be-
wiesen. Innerhalb der Jahre 1 878-- 96 wurde 16mal ein seuchenhaftes
Auftreten der Krankheit beim Menschen mit zusammen 75 Todes-
fillen beobachtet. In den Jahresberichten des Kaiserlichen Gesund-
heitsamtes fiir die Jahre 1886—96 sind 172 Falle der Ubertragung
verzeichnet; in 66 FMllen fand sie durch Genuss ungekochter Milch,
in einem Falle durch den Genuss von Butter statt. Der Verkauf
ungekochter Milch aus verseuchten Stallungen ist seit 1880 reichs-
gesetzlich verboten.
Bei der bakteriellen und septischen Darmentziindung der Kuhe
kann die Milch durch Darmausscheidungen infiziert werden. Eine Chole-
rine-Epidemie in Christiania im Jahre 1888, bei der 6000 Personen er-
krankten, war durch solche Milch heraufbeschworen, und einzelne Falle
dieser Art sind wiederholt festgestellt worden. Die Erreger der Krank-
heit, die Eitererreger: Staphylokokken und Streptokokken werden durch
Aufkochen der Milch getdtet.
Dieselben Bakterien sind die Urheber der Euterentztindungen, die
bei den Kiihen ungemein hSufig auftreten. Die Milch solcher Art er-
krankter Kiihe kann im rohen Zustande bei Siuglingen ebenso wie bei
Erwachsenen Magen- und Darmkatarrhe hervorrufen und muss immer
als gesundheitsschadlich betrachtet werden. Bei vorgeschrittener Enter-
124
entzundung ist die Milch auch Susserlich verSndert und unappetitlich.
Euterentzundungen treten manchmal als ansteckende Seuchen auf und
ebenso kdnnen Dannerkraokungen von Siuglingen, die durch die Milch
euterkranker Kiihe entstanden sind, durch Ansteckung auf gesunde Siug-
linge tibertragen werden.
Gegen alle diese Gefahren gibt es nur ein, aber unbedingt sicheres,
Mittelt nSmlich das grtindliche Kochen der Milch. Auf einen Ersatz da-
fiir, das Pasteurisieren komme ich noch zurtick.
Die zweite Gruppe der Bakterien, die nichtpathogenen, gelangen
nur von aussen in die Milch; so lange die Milch im Euter ist, ist sie,
wenigstens bei gesunden Tieren, so gut wie keimfrei. Die Luft spielt
bei der nun folgenden Verunreinigung nur eine untergeordnete Rolle,
aber alles librige, was mit der Milch in Beruhrung kommt, macht sie
reich an Bakterien aller Art. Die Hinde und Kleider der Melker, die
Susseren Telle des Enters, das Putter, die Streu, eingetrockneter Kuh-
kot an der Haut der Kuhe, Kuhhaare, der Melkeimer, der Milchseiher,
der Milchkiihler, die Milchkanne, das MessgefMss und zum Schluss der
Milchtopf im Hause — alles gibt die Bakterien, die gerade da sind, an
die Milch ab; ihnen alien bietet die Milch eine zusagende Wohnstatte
und die gunstigsten Bedingungen zur Vermehrung. Auf ihrem Leidens-
wege vom Euter bis in den Mund hat sie sich oft bis zur Unkenntlichkeit
verfindert, und zwar um so mehr, je langer dieser Weg war und je warmer
sie gehalten wurde. Im Jahre 1886 habe ich zuerst ausgesprochen, dass
jede Milch Kuhkot enthalt, und im Jahre 1892 habe ich bei einem Vor-
trage dem Miinchner arztlichen Verein auf einer Kristallschale einen
veritablen Kuhfiaden prasentiert, den ich mittels der Milchzentrifuge aus
200001 Milch herausprfipariert hatte; daran habe ich die Frage gekntipft,
ob jemand, der dabei zugesehen hat, von einer Milch trinken wollte, in die
ich diese Masse wieder hineingequirlt hStte. Renk hat dann eine Methode
angegeben, die Menge des sogenannten Milchschmutzes zu bestimmen
und die Milchbeschau macht jetzt von dieser Priifung vielfach Gebrauch.
Er fand so in 1 1 Milch in Miinchen bis 28, in Berlin bis 50 und in
Halle bis 72 mg trockenen Milchschmutzes. Man kann schon zufrieden
sein, wenn im Durchschnitt 10 mg gefunden werden. Bei solchem
Schmutzgehalt werden in Munchen mit der Milch alljahrlich etwa 50 Ztr.
Kuhkot mitverzehrt. Das konnte man sich am Ende noch gefallen lassen,
wenn nur dieser StofP nicht der Haupttrager der bosartigsten Girungs-
erreger wMre. In den grossen Blindsacken des Darms der WiederkSuer,
wo der Futterbrei tagelang bei Brutwirme sich aufhSlt, gehen machtige
GarungsvorgMnge vor sich; der Kuhkot ist demgeniMss ausserordentlich
reich an Bakterien und die Arten von Bakterien, die sich darin finden,
hangen von der Art des Putters ab, so dass die Art des Putters indirekt
auf die Natur der bakteriellen Milchverunreinigung von Einfluss ist. Sonst
ist ein besonderer Einfluss des Putters auf die Gedeihlichkeit der Milch
weder erwiesen noch auch anzunehmen, und man kann auch fur die Ge-
winnung von Kindermilch einen weiten Spielraum in der Auswahl unter
den bekannten und gebrauchlichen Futtermitteln zulassen, wenn nur
125 8^
an der Forderuog festgehalten wird, dass bei dem Futter die Ktihe
dauernd gesund bleiben.
Die verbSltnismSssig unschuldigste Art der Milchzersetzung, die
anch am meisten in die Augen fSllt, ist die MilchsMuerung oder die
Zerlegung des Milchzuckers in Milcbsdure ; geflhrlicher sind die Zer-
setzungsprodukte des KSsestofFes, worunter sich Giftstoffe, Toxine, ahnlicb
dem Wurst- oder KSsegift, befinden; daneben treten BurtersauregSning
und Gdrungen auf, die mit starker Gasentwicklung verbunden sind.
Haben sich einmal Giftstoffe gebildet, dann lindert selbstverstlndlich
Sterilisieren oder Pasteurisieren nichts mehr an der gesundheitsschUd-
lichen Beschaffenheit der Milch. Die ZersetzungsvorgSnge in der Milch
setzen sich im Magen und Darm des Menschen und namentlich in dem des
SSuglings fort; sie sind nach der iibereinstimmenden Meinung der Sach-
verstandigen die Hauptursache der Verdauungsstorungen beim kunstlich
emShrten SSugling und insbesondere die Ursache der gefiirchteten
Sommerdiarrhden. Je weniger reinlich eine Milch gewonnen, und je
hdher die Temperatur ist, bei der sie aufbewahrt wird, um so rascher
geht die Verderbnis vor sich. Eine ganz besonders reinlich gewonnene
Milch enthSlt kurz nach dem Melken in 1 ccm, das sind etwa 15 Tropfen,
9000 Bakterien. Bewahrt man sie kuhl auf — bei 15** C — so hat
sie nach 6stundigem Stehen ihre Menge verfiinffacht, und nach 24 Stunden
enthilt sie 5 Millionen Keime. In 1 ccm gewohnlicher Marktmilch hat
man im November bis 6, im August bis 45 Millionen Keime gefunden.
Um nun eine Verbesserung der bestehenden Verhaltnisse herbeizu-
fiihren, hat man an die Milchproduktion, die Beaufsichtigung und die
Organisation des Milchhandels verschiedene Forderungen gestellt:
1. Tierarztliche Oberwachung des Gesundheitszustandes der Kiihe.
Sie ist in dem Umfange, wie sie notwendig ware, um eine Gewahr fur
das Freisein der Milch von pathogenen Organismen zu erlangen, nicht
durchfuhrbar. Ebenso notwendig wSre eine Uberwachung des Gesund-
heitszustandes der Personen, die bei der Gewinnung und beim Verkauf
der Milch beschiftigt sind; aber auch diese Massregel wird sich ganz
allgemein nicht durchfuhren lassen.
2. Die Verzettelung des Milchhandels auf Hunderte und Tausende
kleiner Milchhindler macht eine wirksame Uberwachung, insbesonders in
hygienischer Hinsicht, fast unmdglich. Wie die stfidtischen Verwaltungen
aus hygienischen Rticksichten den Schlachthauszwang eingeftihrt haben,
soUte auch der Milchhandel zentralisiert werden, oder es sollten von
den Milchproduzenten oder von Untemehmem grosse Zentralmolkereien
eingerichtet werden, denen alle Vorteile des Grossbetriebs zur Ver-
fuguog stehen und die viel leichter strengeren Forderungen der Hygiene
gerecht werden kdnnten. — Dagegen kann geltend gemacht werden, dass
den Konsumenten eine zuweitgehende Zentralisierung des Handels mit
Milch ebenso unerwiinscht ist, wie die des Handels mit andem Lebens-
mitteln: Fleisch,Gemuse,Obst, Brot, Butter und dergleichen, und dass auch
aus andem Rucksichten die Vemichtung zahlreicher kleiner Existenzen
nicht erwiinscht sein kann. Dagegen konnen die kleinen MilchhMndler
-^g 126
zu einer Vereinigung zusammentreten uod dann selbst zar Besserung
der bestehenden VerhSltnisse sehr viel beitragen: Gemeinsamer Einkauf
von Eis, gegenseitige Oberwachung und Verbreitung von Fachkenntnissen
unter den Mitgliedern.
3. Grosste Reinlichkeit bei der Gewinnung der Milch ist jeden-
falls die wichtigste Forderung, die die Hygiene zu stellen hat. Aber
die i^aseptisch gewonnene Milch"*, nach der jetzt so viel gerufen wird,
wird ein Gelehrtentraum bleiben. Wer die Verhaltnisse kennt und
weiss, dass sie durch guten Willen allein nicht geandert werden konnen,
wird sich von dem Glauben an das weitere Bestehen des jetzigen Zu-
standes nicht abbringen lassen. Dagegen ist es ausfiihrbar, dass in
einzelnen grossen Stallen, allerdings bei erheblich hoheren Produktions-
kosten, eine Milch gewonnen wird, die alien billigen Anforderungen an
Reinheit gentigt, worauf ich noch zuruckkomme. Von einer nachtrMglichen
Reinigung schmutziggewonnener Milch durch Zentrifugieren oder Fiitrieren
ist wenig zu erwarten. Es kann damit nur die Musserliche Unappetit-
lichkeit von ihr genommen werden, die ohnedies meist nicht sichtbar
ist, nicht mehr aber die bakterielle Verunreinigung. Die Filtration kann,
wenn sie ohne bakteriologisches Gewissen vorgenommen wird, eher
noch zur Verunreinigung der Milch beitragen. Oberhaupt je weniger
Gefasse, Gerate und Operationen, urn so besser.
4. Die Kuhlung der Milch unmittelbar nach dem Melken und die
Ktihlerhaltung der Milch wahrend des Feilhaltens, ebenso aber auch
wMhrend der Aufbewahrung im Hause, muss allgemeiner als es geschieht
durchgefiihrt werden. Bei einer Milch von mittlerer Haltbarkeit stellen
sich die ersten Anzeichen der Zersetzung ein, wenn sie bei 35^ C,
also ^kuhwarm** aufbewahrt wird, nach 8 Stunden, bei 17,5** C, also
bei gewohniicher Zimmertemperatur aufbewahrt, nach 33 Stunden und
bei lO*' C erst nach 70 Stunden. Da die Kuhmilch zweimal an jedem
Tage gewonnen wird, die heutigen Verkehrsverhdltnisse es ermoglichen,
die Milch vom Orte der Gewinnung innerhalb 2, ISngstens 3 Stunden in
die Stadt zu bringen, und well auch die langere Aufstapelung von Milch-
vorrSten ganz uberflussig ist, so genugt es reichlich, wenn die Milch
von der Gewinnung an bis zum Verbrauch etwa auf der Temperatur
frischen Trinkwassers erhalten wird. In Berlin hat sich eine Gescll-
schaft mit beschrSnkter Haftung unter dem stolzen Namen «Allgemeine
hygienische Milchversorgung'' gebildet, die Berlin mit Milch nach dem
Prinzip der sogenannten Tiefktihlung versorgt. Die von den Produzenten
abgesandte Milch wird nach dem Eintreffen in Berlin mittels KMlte-
maschine nahezu auf den Gefrierpunkt abgekuhlt und erst am nichsten
Tage verkauft. Damit wird der Vorteil einer ruhigeren Abwicklung der
Milchan- und Ablieferung geschaffen aber irgend etwas „Hygienisches*
kann ich daran nicht finden, da ja alles andere davon unberuhrt bleibt,
namentlich das, was beim Produzenten und was bis zum Eintreffen in
die Stadt mit der Milch geschieht.
5. Von vielen wird die Forderung erhoben, dass alle in den Handel
kommende Milch pasteurisiert sein soil.
127 8^
Unter Pasteurisieren versteht man ganz verschiedene Dinge: Das
Erhitzen der Milch bei Temperaturen, die zwischen 60 uhd 100" C
Hegen, wahrend einer Zeltdauer, die, je nach der Temperaturhohe, 1 bis
30 Minuten betragt. In den moderaen Apparaten fiir den Grossbetrieb
wird die Milch innerhalb 2 Minuten auf 85* C erhitzt und darauf rasch
abgekiihlt: dies soil zur Totung aller Krankheitserreger geniigen. Selbst-
verstandlich kann mit dem einfachen Aufkochen in den Haushaltungen
nicht weniger, sondern es muss damit mehr erreicht werden, denn urn
die Milch zum Kochen zu bringen, muss sie von 85 noch auf 100^ er-
hitzt werden und sie muss von da wieder auf 85^ abkuhlen, wobei
mindestens 15 Minuten verstreichen. Pasteurisierapparate bedurfen einer
sehr sorgfiltigen Bedienung, wenn sie zuverlMssig wirken sollen. Ausser-
dem gehen die Angaben der verschiedenen Autoren iiber die notwendige
Dauer des Erhitzens bei Temperaturen unterhalb des Siedepunktes sehr
auseinander. Deshalb trete ich entschieden fur grundliches Kochen der
Milch im Haushalt ein.
Vor zwei Jahren hat das Kaiserliche Gesundheitsamt Versuche uber
das Pasteurisieren in Molkereibetrieben angestellt und in dem Bericht dar-
nber heisst es: Voraussetzung sei, dass saubere, frische und von Tieren
mit gesunden Eutem stammende Milch erhitzt wird ; es leuchte ein, dass
die WSrme in der kurzen Zeit in Kotbestandteile und andere Schmutz-
stoffe nicht gleichmassig eindringen konne; das durchschnittlich vor-
handene Molkereipersonal scheine nicht imstande zu sein, die Erhitzung
der Milch auf einen bestimmten Temperaturgrad auch nur annahernd
genau durchzufuhren und deshalb sei eine haufige und eingehende
Kontrolle der Molkereien notwendig. Das Reichsgesetz, betr. die Ab-
wehr und Unterdriickung der Viehseuchen, verlangt deshalb mit Recht,
dass die Milch aus Stillen, wo Maul- und Klauenseuche herrscht, vor
dem Verkauf abgekocht, oder dass sie mindestens ^4 Stunde lang auf
mindestens 90^ C erhitzt werde.
Als Beispiel fur die Unzuldnglichkeit des Pasteurisierens fuhre
ich den folgenden Fall an: Auf dem schwedischen Gute Nasbyholm hat
man zur Erzielung eines tuberkelfreien Rindviehstammes die isolierten
Kalber mit pasteurisierter Milch aufgezogen; 16,67o davon bestanden
die Tuberkulinprobe nicht. Spater verwendete man nur Milch die
mindestens 15 Minuten lang grundlich aufgekocht war, mit dem Ergebnis^
dass dann kaum mehr 1®/^ auf Tuberkulin reagierte.
Auch der weitverbreitete Glaube, dass die im Grossbetriebe pasteuri-
sierte Milch den Vorzug grosserer Haltbarkeit habe, beruht nach meinen
Erfahrungen auf einem Irrtum. Wenn man es beobachtet hat, so war dies
mehr auf das gute Abkuhlen zuriickzuftihren, das nach dem Erhitzen folgt,
als auf die kurze Hitzewirkung. Ich kann deshalb auch nicht der all-
gemeinen Ansicht beipflichten, dass die Girungs- und Zersetzungserreger
in solcher Milch wesentlich geschwScht oder gar vernichtet sind. Soweit
dieses stattfindet, erstreckt es sich auf die gutartigen Milchsiurebakterien ;
diese i^umen den sehr widerstandsfihigen und schnellwachsenden FSulnis--
bakterien das Feld, die dann erst recht die Milch verschlechtem.
128
Wenn man daran zuruckdenkt, was denn eigentlich zu dem Ruf
nach einer hygienisch besseren Milchversorgung gedringt hat, so kommt
man zu Folgendem: Die bisherigen Bemuhungen waren von venig Erfolg
gekrdnt, weil man zu viel verlangt und weil man schwer erfullbare
Forderungen nicht auf die Fille beschrMnkt hat, wo sie unbedingt ge-
stellt werden mussen. Sieht man von der Milch fur Siuglinge ab, so
bestehen in Stidten mit guter Milchbeschau nicht wesentliche Missstinde.
Man kann nicht verlangen, dass alle Marktmilch tadellose Kindermilch
sei, aber man kann verlangen, dass es auch der weniger bemittelten
Mehrzahl der Bevolkerung ermoglicht werde, ihre Kinder mit tadelloser
Kindermilch zu emShren. Der Reiche kann sich zur Ernlhrung des
SMuglings die teure Kinder- oder Vorzugsmilch aus der Milchkuranstalt
zweimal tiLglich frisch beschaffen, ihre GSrungserreger durch passendes
Erhitzen in abgeteilten Trinkportionen unschadlich machen und vor
Wiederinfektion bewahren; er kann durch Kiihistellen der so behandelten
Milch abgeschwSchte aber noch lebensflhige Keime am Erwachen ver-
hindern und er kann durch passende Zusatze und zweckmSssige Ver-
dunnung die Kuhmilch, soweit dies uberhaupt mdglich ist, der Frauen-
milch ihnlicher machen. Der Arme kann dies alles nicht: er ist auf die
unreinlich gewonnene und schlecht behandelte Marktmilch angewiesen,
in seinem Hause verdirbt sie noch weiter und zwar um so rascher, je
unreinlicher die Weiterbehandlung ist und je wSrmer die Milch bis zum
Verbrauch aufbewahrt wird. Darin liegt die Hauptursache dessen, dass,
wie Prausnitz gezeigt hat, von den SMuglingen, die an Magen- und
Darmerkrankungen sterben, 0^/^ auf die Reichen, 5% auf den Mittel-
stand und 95^0 auf die Armen und Notleidenden treffen. Damit ist
auch gezeigt, wo der Hebel anzusetzen ist, wenn man die grosse Kinder-
sterblichkeit bekampfen will. Diese Betrachtung lehrt weiter, dass es
mit der behaupteten Nutzlosigkeit aller Bestrebungen zur Verbesserung
der kiinstlichen Emahrung keineswegs seine Richtigkeit hat. Diese
Verbesserungen haben nur deshalb den erhofften Nutzen noch nicht
gezeigt, weil sie nur den Reichen und einem kleinen Teil des Mittel-
standes zugSnglich gemacht worden sind. Es ist andererseits aber auch
nngerecht, wenn die tatsacbliche Besserung, wenigstens in manchen
Stidten Oder Gegenden, nicht anerkannt wird. Gegenuber der Periode
1881 — 85 ist die S^ugiingssterblichkeit in der Periode 1894—98 in Berlin
um 5,8, in Mtinchen um 4,1 und im Durchschnitt von 10 deutschen
Stadten um 3,3^/0 zuruckgegangen. Von den Neugeborenen sind in den
letzten Jahren mehr als in fruheren am Leben geblieben, und von
diesen haben sicherlich nicht wenige ihr Leben den Fortschritten in der
Icunstlichen EmShrung zu verdanken gehabt.
Eine Stadt mit 100000 Einwohnern verbraucht tiglich 330001
Milch; sie hat tSglich 4000 SMuglinge zu ernShren, von denen die Hilfte
auf kunstliche Ernihrung angewiesen sein und 15001 Milch verbrauchen
wird. 95^0 des Milchverbrauchs kdnnen also, wie die Erfahrung gezeigt
hat, ohne Nachteil fur Ernlhrung und Gesundheit in der bisherigen
Weise produziert und verkauft werden; dann kann man al e Vorsicht
^ 129 ^
und die ganze Strenge der Lebensmittelaufsicht nur auf das eine
Zwanzigstel, die Kindermilch, konzentrieren; dann sind auch die strengsten
Forderungen erfiillbar, die an die Gesundheit der Tiere, an die Gesund-
heit der mit der Milch in Beruhrung kommenden Personen, an die
zweckmissige Fattening der Kuhe, an die Reinlichkeit bei der Gewinnung
nnd an die Frischerhaltung der Milch gestellt werden miissen. In einer
Verhandlang des niederrheinischen Vereins fiir dffentliche Gesundheits-
pRege fiber diesen Gegenstand hat der sehr verdienstreiche Bericht-
erstatter, Dr. Paffenholz in Dtisseldorf, empfohlen, es sollten die StMdte-
verwaltungen selbst die ganze Kindermilchproduktion ubemehmen. Diesem
Vorschlage kann ich mich nicht anschliessen, weil ich es fur besser
halte, dass die Behdrde scharfe Aufsicht fiihrt, als dass sie selber melkt,
ausmistet und die Kiihe striegelt. Aber die Stidteverwaltungen werden
sich nicht langer ihrer Pflicht entziehen kdnnen, die Versorgung der
Minderbemittelten und Armen mit guter Kindermilch in ihr Programm
der dfFentlichen Wohlfahrtspflege aufzunehmen, und sie werden nicht
linger zusehen diirfen, wie die Kinder der Unbemittelten und Airmen
der Gefahr einer schidlichen Nahrung schutzlos preisgegeben sind.
Dabei handelt es sich nicht nur urn die Herabminderung der Sterblich-
keitsziffer, sondem auch urn die Verhinderung spSteren Siechtums. Die
Stidte, die zur Gesunderhaltung ihrer Bewohner mit Recht Riesensummen
fur Kanalisation und Beschaffung von gutem Trinkwasser aufwenden,
mussen auch die Mittel finden, den SSuglingen der Armen gute Kuhmilch
zu verschaffen. Dem Bedarf der Wohlhabenden genugen die sogenannten
Milchkuranstalten und fur die Minderbemittelten und Armen werden sich
in der NShe der Stadte genug grdssere Stallungen finden lassen, die fiir den
Zweck passend eingerichtet werden konnen und wo unter standiger Auf-
sicht und nach bestimmten Vorschriften Kindermilch erzeugt werden kann.
Damit ist aber freilich die ganze Aufgabe der dffentlichen Fiir-
sorge fiir die SauglingsernHhrung nicht erschopft. Auch die beste
Kindermilch wird in den Wohnungen der Armen zu gSrendem Drachen-
gift, weil sie dort unreinlich behandelt und in der Warme aufbewahrt
wird. Da wo man die Armut riecht, gibt es keine Milch-Aseptik. Die
Meinung der Sachverstindigen geht fast einstimmig dahin, dass bei der
Bekampfung der Sommerdiarrhden es vor allem darauf ankommt, die
schSdliche Einwirkung der hohen Sommerwarme auf die Nahrung zu
verhindem. Dies und der Ausschluss jeder Verunreinigung kann nur
dadurch erzielt werden, dass den Minderbemittelten sterilisierte Kinder-
milch in verschlossenen Flaschen und abgeteilt in Trinkportionen ge-
liefert wird. Diese Forderung hat bereits im vorigen Jahre der nieder-
rheinische Verein fur ofTentliche Gesundheitspflege gestellt und wohl
einer unserer ersten AutoritMten unter den Kinderarzten, Geheimrat
Heubner in Berlin, hat in seinem Vortrage bei der Hamburger Aus-
stellung im Mai 1903 ausgerufen: ^Wiire es nur moglich, gerade das
Soxhlet-Verfahren der minder giinstig gestellten MajoritMt der Be-
volkerung zugSnglich zu machen, fur deren Kinder es ganz besonders
BOtig wMre!**
S&ddeutscbe Monttshcfte. 1,3. 9
130
Die Bewegung fur diese Art von SMuglingsftirsorge geht von Frank-
reich aus, dem Lande mit seiner bedenklich niedrigen Geburtenziffer.
Anstatt auf die Wirkung der F6condit6 Zolas zu warten, bekimpft es
schon seit IMnger als zehn Jahren die SSuglingssterblichkeit durch seine
fiber das ganze Land verbreiteten „Milchtropfen* — ^gouttes de lait* —
und durch seine Laiteries philanthropiques, die sterilisierte Milch in
Mahlzeitsportionen zu billigem Preise oder an Arme kostenfrei abgeben.
In England haben die StSdteverwaltungen gleiche Einrichtungen mit ihren
, Infant Milk Depots getroifen, so St. Helens, Ashton under Lyne, Leith
(Schottland), Liverpool and der Londoner Bezirk Battersea. Auch in
Schweden sind seit zwei Jahren von Vereinen ^Milchtropfen** ins Leben
gerufen worden, zuerst in Stockholm, dann in Gotenburg, Malmo und
Norrkdping. Nebenbei bemerkt sind zur Bekimpfung des Missbrauchs
geistiger GetrSnke in Stockholm sieben Warmmilchautomaten auf ofFent-
lichen PlStzen aufgestellt, die fur 5 ^2 Pfennig einen Becher — 7* I^it^r —
warme Milch liefem; im Winter 1903 wurden diesen Automaten 70000
Becher Milch entnommen.
In Deutschland, im Lande der grossen Kindersterblichkeit, hat merk-
wurdigerweise das Beispiel anderer LInder noch keine Nachahmung ge-
funden,*) auch nicht in Bayern, das unter alien Bundesstaaten neben
Sachsen die grosste Kindersterblichkeit hat, und dessen StMdte Regens-
burg und Ingolstadt in diesem Punkte auch alle ausserdeutschen Stadte
weit tiberragen. Es ist ein dringendes Gebot der offentlichen Gesundheits-
pflege, der Humanitat und auch das einer gesunden Sozialpolitik, dass
man in Deutschland endlich einmal mit der Bek^mpfung eines schlimmen
Volksubels anfange und sich dazu eines Mittels bediene, dessen Wirk-
samkeit einleuchten muss und das sich tatsachlich in andem Lindem
auch als wirksam erwiesen hat. Die zu errichtenden Kindermilch-Anstalten
sollen keine Wohltdtigkeits-, sondern dffentliche Wohlfahrtsanstalten sein,
and sie sollen von den Stadteverwaltungen errichtet werden. Die Anstalt
soil aus Staliungen grosserer Guter in der NMhe der Stadt Kindermilch
beziehen, die nach ihrer hygienischen Beschaffenheit mindestens der einer
gut geleiteten Milchkuranstalt gleichkommt. In der Anstalt ist die Milch
nach Srztlicher Vorschrift passend zu verdunnen, mit geeigneten ZusStzen
zu versehen und, in Mahlzeitsportionen abgeteilt, zu sterilisieren. Die
Abgabe muss an mdglichst viel Stellen der Stadt erfolgen. Der Verkaufs-
preis soil nach den Erwerbsverhdltnissen der Abnehmer bemessen werden.
Arbeiterfamilien soil die Milch zum Preise gewdhnlicher Marktmilch,
Armen noch billiger oder auch umsonst geliefert werden.
Da voraussichtlich und leider die Einrichtung anfangs in den Kreisen,
fur die sie bestimmt ist, nicht voiles Verstindnis finden wird, so kann
zundchst mit kleineren Mitteln ein Anfang gemacht werden, und an die
sicherlich langsam steigenden Ausgaben wird sich der StadtsMckel ohne
*) In Hamburg ist, wie mir der Vorstand des Medizinalamts mitteilt, kiirzlich
bei der Patriotischen Gesellschaft eine Kommission gebildet worden, die die Ein-
richtung von ^Kinder-Milchkiiehen* fur die irmere Bevdlkerung in die Hand
genommen hat
131 ^
allzugrosse Beschwerden gewohnen. Solchen Einrichtungen ist, wie schon
besprochen, der Vorwurf gemacht worden, dass sie der iiberhand nehmenden
Volksunsitte des Nichtstillens nur Vorschub leisten. Das soli verhindert
werden. In Paris wirken dem Missbrauch der gouttes de lait die con-
sultations de noorrissons entgegen, die an die maternit6s angegliedert
sind. Da vir in Deutschland Anstalten wie die maternit6s nicht haben,
so werden die Polykliniken und Sluglingsheime Oder freie Arzte-Ver-
einigungen als Beratungsorgane unbemittelter Mutter dafiir zu sorgen
baben, dass die natiirlicbe Emlihrung nicht von der ktinstlichen durch
Leichtfertigkeit oder Unwissenheit verdrMngt werde. Denn daruber kann
nicht der leiseste Zweifel bestehen, dass die kunstliche EmShrung nur
ein unvollkommenes Ersatzmittel der natiirlichen ist und fur alle Ewig-
keit bleiben wird.
Ich schliesse mit dem Ausspruch, den ich daruber in einem Vortrage
im Hamburger irztlichen Verein gemacht babe: Die Mutterbrust liefert
allezeit in richtiger Zusammensetzung, in richtiger Konzentration, in
richtiger Menge und von richtiger Temperatur dem SSuglinge die Nahrung,
frisch, unzersetzt und nicht verunreinigt und, was die Hauptsache ist,
nichts kann an dieser EmShrungsart — der menschliche Aberwitz ver-
schlechteml
Ober Buddhismu^ reden und schreiben ist llngst bessere Mode
geworden. Tausend Bticher und Broschuren haben den Gegenstand
immer populSrer gemacht: so popular, dass wir schon ein dutzend
Bunnenwerke haben ein Steeple-chase laufen sehn, wo der Weltschmerz
des kdniglichen Prinzen und nachmaligen Heiligen und Reformators
paisifalistisch schwergewichtet zum Ziele gebracht werden sollte, und
der ginzliche Mangel historischen und pragmatischen Ballastes iiberidies
gestatten konnte melodramatisches Milieu mit Tanzeinlage, Lotusweiher-
dekoration, prachtvollem elektrischen Gluhlicht nebst anderen dergleichen
stilvollen Dingen noch mitzufiihren. Hatte doch der Meister der modemen
Tragodie, Richard Wagner, schon vor einem halben Jahrhundert dieSkizze zu
einem solchen Drama, freilich genial konzipiert, entworfen. Dass er sie
Das buddhistische
Von Karl Eugen Neumann in Wien.
I. Propadeutischer Prodromus.
HHg 132 8^
spiter beiseite gelegt, schreckte die kuhnen Nachfolger keineswegs ab:
sie konnten ja nun aus eigenem den so dankbaren Stoff effektvoll be-
arbeiten. Hatte auch Richard Wagner in jener Skizze alles bloss
Historische vdllig ausgeschieden um nur das innig Verstindliche auf
der BOhne vorzuftihren, also den Buddhismus etwa so darstellen wollen,
wie er im Parsifal das Christentnm darstellt, so war man inzwischen
uber solche ktinstlerische Beschrinkung and Einfalt mutig hinweggekommen
und liess nun das Leben des Buddha in einer Reihe sinnvoller Akte
an uns vorbeiziehn, als gelangweilter Prinz, als glucklicher Familien-
vater and endlich als predigender Prophet mit Schlussapotheose: gleich-
sam wie ein erbauliches Gegenstuck zu Werken einer vergangenen
Epoche, etwa den drei Tagen aus dem Leben eines Taugenichts, u. s. w.
Diese dramatischen Schopfungen haben ohne Zweifel dazu bet-
getragen den Buddhismus noch populirer zu machen. Zu bedauem
bleibt dabei nur, dass eine solche Art von Vulgarisierung ein Bild ge-
schafFen, das dem antiken so ahnlich sieht wie etwa Offenbachs Schone
Helena der des Homer, oder der Wilamowitzische Herakles dem des
Euripides; wobei allerdings die Parodie eine ungewollte, durchaus naive
geworden.
Freilich haben verdienstvoUe Forscher in den letzten Jahren viel
getan um uns buddhistische Art in einem anderen, helleren, heimischen
Lichte erscheinen zu lassen. Aber Geiehrte bleiben in der Regel
Gelehrte. Auch sie gehn mit ihrer Zeit, geben sich oft die Alluren
des Handikappers, behandeln den Stoff wie er ihnen passt und gefSllty
kritisieren wo es gilt nachzudenken und zu verstehn; und wo die alten
Denkmale ein Kiinstlerauge verlangen um erklSrt zu werden, da be-
trachten sie sie mit der Brille vorgefasster Begriffe. Auch diese Manier
den Buddhismus zu behandeln ist hinldnglich bekannt. Hatten wir
vorhin eine Offenbachische Parodie, so haben wir hier eine Travestie
k la Max MCiller wiederzuerkennen.
Wer kann da wohl den Buddhismus richtig darstellen? Das wird
einmal einer konnen, der ein Kiinstler ist und als solcher an dieses
merkwiirdige Denkmal herantritt: also, mit Schopenhauer zu reden,
hubsch wartet bis er von ihm angesprochen wird, und nicht gleich
selber damit beginnt.
Sehn wir uns einmal bei bekannteren Dingen um. Glaubt irgend
ein Verstandiger, dass uns das Christentum durch salonflhige Renan-
iaden oder Hamackische enzyklopMdische WMlzer wieder n&her gebracht
sei? Oder merkt er nicht auf den ersten Blick wie unendlich tiefere
Auf^chltisse uns etwa aus den Propheten, Sibyllen und Bussem
Michelangelos entgegenleuchten, Aufechlusse iiber den eigentlichen
Inhalt des Christentums? Meint jemand im Ernste, dass z. B. Chamberlains
Grundlagen des XIX. Jahrhunderts — del fortunato secolo in cui siamo,
wie Leopardi es pries — das Christentum erst neu beleben miissen,
wo ein einziger Blick auf die Gestalten Correggios lehrt, dass das echte
Christentum nie aufgehdrt hat zu leben und zu leuchten: so lange
nimlich Augen da sind seinen Geist zu sehn. Oder meint irgend ein
133 8^
anderer, dass die susslichen Mucker- and Duckergestalten Uhdes un$
mehr Christentam zu geben venn5chten als die Christustragodien des
mivergleichlichen Rembrandt? Hier also, urn nur eine Gattung als
Beispiel zu wihlen, bei solchen Kunstlem haben wir den Geist und
die Gdtter des Christentums nicht vergeblich zu suchen, finden sie
jeden Augenblick allgegenwirtig.
Wie aber eben alle echten Kunstwerke doch nur fur sehr, sehr
wenige vorhanden sind, und ftir die vielen immer nur die Marktware
dafur gilt, so wird aucb nur fiir sehr, sehr wenige die Kunst des
Buddhism us sichtbar werden konnen. Ftir die vielen, wenn sie wohl-
wollend sind, sind Kompendien, Traktate, Katechismen usw. da; und wenn
sie ubelwollend sind, Orden und Akademien: fur jene wenigen aber die
Monumente selbst, die alten, uns erhaltenen Urkunden. In diesen
Urkunden mag einst der KUnstler blittem und weiterblSttem und
erstaunen iiber den Inhalt, erstaunen fiber die Form, erstaunen uber
die Gleichnisse, die er da antrifft, Bilder des Lebens wie sie nur eine
urkraftig ursprungliche Kunst darzustellen vermag. Nicht drei Tage
Oder drei Jahre aus dem Leben eines Propheten oder Wahrsagers oder
dergleichen wird er da vorfinden: grosse und gewaltige Gemilde wird
er erblicken, die in unverloschlichen Farben vor seinem Auge sich beleben.
Keine Histdrchen und Mirchen und Makarismen wird er zu lesen
bekommen, aber Bilder werden sich ihm erschliessen wie sie michtiger
und schoner kaum je gemalt sind. Keine Predigten wird er vemehmen,
fur schwache Stunden und Gemiiter, aber Gesprache fur starke Geister
wie sie auch beim Gastmahl des Plato nicht heiterer gefuhrt wurden.
Keine Drohungen und Verheissungen wird er horen, aber Gedanken
immer feiner und kdstlicher verstehn lemen wie sie jenen stillen
Denkem erschienen, als sie das bunte Schauspiel der Welt betrachteten
und wie sich selber zum Spiele IMchelnd noch aussprechen mochten;
Abzeichen und Stempel von Kunstlem wird er entdecken, die ihm eine
reiche Welt ewiger Gestalten, erhaben und leicht wie sonnige Vogel,
Oder auch hdllisch and wuchtig wie nichtige Ungeheuer, vor Augen
fuhren. Dann wird er das Buch schliessen und hingehn unter freien
Himmel: und erst dann wird jene IMngst verwichene Vorzeit beginnen
in ihm zu erwachen, wieder zu leben und zu zeugen, unbegreiflich hohe
Werke, so herrlich wie am ersten Tag.
Das wird nun gewiss manchem wie ein Hexeneinmaleins klingen.
Kunst, herrliche Werke — und Buddhism us, Pessimismus: wie reimt
sich das? Eine pessimistische Kunst wire ja hdlzemes Eisen. Die
Kunst kann doch immer nur das wirkliche Leben anschauen und dar-
stellen, also bejahen: eine pessimistische Kunst hobe sich selber auf.
Der Buddhismus aber geht doch darauf aus die Welt zu vemeinen, wie
das langst alle Spatzen und Tauben von den Ddchern zwitschem und
gurgeln. Freilich, der Begriff Welt enthSlt mancherlei und ist ein viel-
deutiges Ding. Man darf also wohl billig einmal die Frage aufwerfen,
was denn der Buddhismus, oder sagen wir lieber genauer: was Gotamo
mit seiner pessimistischen Weltansicht gemeint haben mag. Wenn wir
134
den Gedanken, die nns die Urkunden darbieten, trauen durfen, zeigt es
sich, dass die Welt da niemals als eine gegebene Grosse betrachtet
wird, die bestimmt sei in Leiden zu beharren : denn das ware der rechte
Ausdruck des Pessimismus. Gotamo dagegen legt nichts anderes als die
Relativitit aller Dinge dar. Das Leiden ist immer nur relativ vorhanden,
nie absolut. Das ist der Sinn jener spezifischen Lehre Gotamos von
der Entstehung aus Ursachen. Leiden besteht solange als die Be-
dingungen zum Leiden da sind. Wo diese Bedingungen aufgehoben
sind, ist auch das Leiden aufgehoben. Wo wire da noch ein richtiger
Platz fur den Pessimismus? Vielmehr kdnnte es scheinen als ob nun
einem unbeschHLnkten Optimismus zugesteuert wiirde. Bei nSherem Zu-
sehn zeigt es sich aber, dass Gotamo beide Extreme vollkommen ge-
kreuzt hat: nicht etwa um in der goldenen Mittelstrasse zu landen,
sondem in heiligem Emste jenseit von Gut und Bose. Kunftigen
Forschem mag es vorbehalten bleiben Untersuchungen anzustellen, in-
wieweit Nietzsche sich diese letzten und subtilsten Gedankenreihen
Gotamos zu eigen gemacht, allerdings in einem mehr traumhaft phan-
tastischen als deutlich bestimmten Sinne: fur uns kommen jetzt nur
jene alten Urkunden in Betracht, wo wir den Standpunkt zum erstenmal
eingenommen sehn. Die Entstehung aus Ursachen ist aufgehoben, die
Mdglichkeit des Leidens somit weggefallen, Gut und Bose iiberwunden.
Was bleibt iibrig? Giuck, Seligkeit? Gewiss nicht, das wfire ja gut.
Obel? Viel weniger, das wire ja bose. Stoische Apathie? Nein, denn
das wSre Stumpfheit. Man ist hier wirklich versucht, das reine Subjekt
des Erkennens Schopenhauers zur Erklirung heranzuziehn und zu
sagen, der Zustand jenseit von Gut und B5se sei die Verwirklichung
des lichelnden Weltauges. Offenbar in diesem Sinne haben denn auch
die Jiinger und Zeitgenossen Gotamos diesem den Titel »Auge der
Welf* beigelegt: wohl zu unterscheiden von dem, doch nur praktischen
Interessen (Himmel, Holle usw.) dienenden, »Licht der Welt"" des
Evangelisten. Vollkommen frei von der Absicht, irgend einem Zwecke
zu dienen, kennt Gotamo auf solcher Hohe keinerlei Kausalitit mehr;
jede Bedingung, jede Beziehung nach oben oder unten ist abgeschnitten.
„Der Denker, der stille,'' heisst es dann, ^entsteht nicht, vergeht nicht,
erstirbt nicht, erbebt nicht, verlangt nicht. Das eben gibt's nicht bei
ihm, dass er entstande; weil er nicht entsteht, wie sollt' er vergehn?
weil er nicht vergeht, wie sollt' er ersterben? weil er nicht erstirbt,
wie sollt' er erbeben? weil er nicht erbebt, wonach sollt' er verlangen?*
— Oder an einer anderen Stelle: „Eingepflanzt erzittert man: nicht ein-
gepfianzt erzittert man nicht; erzittert man nicht, ist man still: still ge-
worden neigt man sich nicht; neigt man sich nicht, kommt man und
geht man nicht: kommt man und geht man nicht, erscheint und ver-
schwindet man nicht; erscheint und verschwindet man nicht, gibt
es kein Huben und kein Druben noch inmitten sein: es ist eben
das Ende vom Leiden." — Oder wiederum: «Mehr und mehr mag
der Monch Obacht uben, dass ihm da wie er Obacht tibt nach aussen
das Bewusstsein nicht zerstreut, nicht zerfahren werde, innen nicht zu-
-6-8 135 8^
stindig, ohne anzuhangen unerschutterlich sei; ist nach aussen das
Bewusstsein nicht zerstreut, nicht zerfahren, innen nicht zustdndig,
wird man ohne anzuhangen unerschiitterlich ein Entstehn und Hervor-
gebn von Geburt und Alter, Tod und Leiden kunftig nicht mehr finden.*^
Man merkt, denke ich, wie hier iiber die heilige Wahrheit vom
Leiden fern hinausgewiesen, wie der Pessimismus in sich zerf9ilt und
verschwindet. Eine weite Aussicht eroffhet sich, eine weite Ode, einst-
weilen; aber man erkennt allmlhlich die Umrisse eines langen Weges,
der nun beschritten wird, der genau und genauer gekennzeichnet wird,
Schritt um Schritt. Dieses allmihiiche Fortschreiten ist dann oft wie
eine ideeile Reiseroute mit grosster Sorgfalt geschildert; wie etwa in
der Stelle: »Da hat ein Monch den Gedanken ,Wald^ entlassen, den
Gedanken ,Erde^ entlassen; den Gedanken ,Unbegrenzte Raumsphare^
nimmt er auf als einzigen Gegenstand. Im Gedanken ,Unbegrenzte
Raumsphire^ erhebt sich ihm das Herz, erheitert sich, beschwichtigt
sich, beruhigt sich. Also erkennt er: ^Spaltungen, die aus dem Ge-
danken ,Wald^ entstanden, die gibt es da nicht, Spaltungen, die aus dem
Gedanken ,Erde^ entstdnden, die gibt es da nicht; und nur eine Spaltung
ist iibrig geblieben, nimlich der Gedanke ,Unbegrenzte RaumsphMre^ als
einziger Gegenstand. Er weiss: ^Armer geworden ist diese Denkart um
den Gedanken ,Wald^", weiss: .Armer geworden ist diese Denkart um
den Gedanken ,Erde*; und nur einen Reichtum weist sie auf am Ge-
danken ,Unbegrenzte Raumsphare^ als einzigen Gegenstand. Um was
denn also weniger da ist, darum armer geworden sieht er es an; und
was da noch ubrig geblieben ist, davon weiss er: „Bleibt dieses, bleibt
jenes.* Also aber kommt diese wahrhafte, unverbrtichliche, durchaus
reine Armut iiber ihn herab.« — Es ist ein Aufsteigen zu immer
hdheren Sphiren, aber ohne jede Mystik anschaulich vorgestellt, klar
und bestimmt. Oder wieder an einer anderen Stelle wird uns sozu-
sagen das physiologische Wachstum und die Entwicklung des inneren
Menschen wie mit Handen zu greifen vor Augen gefuhrt: „Zu einer
Zeit wo der Monch beim Korper iiber den Korper wacht, unermtidlich,
klaren Sinnes, einsichtig, nach Verwindung weltlichen Begehrens und
Bekummems, gewMrtig hat er zu einer solchen Zeit die Einsicht, un-
vernickbar; zu einer Zeit wo der Mdnch die Einsicht gewSrtig hat,
unvernickbar, der Einsicht Erweckung hat er zu dieser Zeit erwirkt,
der Einsicht Erweckung vollbringt er da, der Einsicht Erweckung wird
da von ihm zur Vollendung gebracht. Also besonnen weilend zerlegt
er weise den Sinn, zerteilt ihn, dringt in seine Tiefe ein; zu einer Zeit
wo der Mdnch also besonnen weilend weise den Sinn zerlegt, ihn zer-
teilt, in seine Tiefe eindringt, des Tiefsinns Erweckung hat er zu dieser
Zeit erwirkt, des Tiefsinns Erweckung vollbringt er da, des Tiefsinns
Erweckung wird da von ihm zur Vollendung gebracht. Also den Sinn
weise zerlegend, ihn zerteilend, in seine Tiefe eindringend erwirkt er
Kraft, unbeugsame; zu einer Zeit wo der Mdnch also den Sinn weise
zerlegend, ihn zerteilend, in seine Tiefe eindringend Kraft erwirkt, un-
beugsame, der Kraft Erweckung hat er zu dieser Zeit erwirkt, der Kraft
136
Erweckung vollbringt er da, der Kraft Erweckung wird da von ihm zur
Vollendung gebracht. Hat er Kraft erwirkt, erhebt sich in ihm eine
iiberweltliche Heiterkeit; zu einer Zeit wo der Monch Kraft erwirkt
hat and in ihm eine iiberweltliche Heiterkeit aufgeht, der Heiterkeit
Erweckung hat er zu dieser Zeit erwirkt, der Heiterkeit Erweckung
vollbringt er da, der Heiterkeit Erweckung wird da von ihm zur Vollen-
dung gebracht. Hat er Heiterkeit im Herzen, wird er lind im Leibe,
Hnd im Gemiite; zu einer Zeit wo der Monch Heiterkeit im Herzen
hat und lind im Leibe, lind im Gemute wird, der Lindheit Erweckung
hat er zu dieser Zeit erwirkt, der Lindheit Erweckung vollbringt er da,
der Lindheit Erweckung wird da von ihm zur Vollendung gebracht.
Hat er selig den Leib gelindert, wird ihm das Gemiit einig; zu einer
Zeit wo der Mdnch selig den Leib gelindert hat und das Gemut ihm
einig wird, der Innigkeit Erweckung hat er zu dieser Zeit erwirkt, der
Innigkeit Erweckung vollbringt er da, der Innigkeit Erweckung wird da
von ihm zur Vollendung gebracht. Also einig geworden im Gemiite
hat er es wohl ausgeglichen ; zu einer Zeit wo der Monch also einig
geworden im Gemiite es wohl ausgeglichen hat, des Gleichmuts Er-
weckung hat er zu dieser Zeit erwirkt, des Gleichmuts Erweckung voll-
bringt er da, des Gleichmuts Erweckung wird da von ihm zur Vollen-
dung gebracht.
Solche Streiflichter auf eine und die andere Stelle der Urkunden
lassen nun freilich nicht erkennen, was denn der Buddhismus eigentlich
mit der Kunst zu schaffen habe: sie gewShren nur einen fliichtigen
Blick auf die Hohe seiner Weltanschauung und zeigen diese wohl so
ziemlich frei von weltschmerzlerischen Wolkengebilden. Die gestaltende
Schopferkraft des Buddhismus findet man in seinen Gleichnissen, in
seiner Schilderung des taglichen Lebens in all den so unendlich
mannigfaltigen und verschieden gearteten Erscheinungen. Und auch
da ist er ebensowenig pessimistisch wie jeder andere bildende
Kiinstler. Hochste Anschaulichkeit, frei von hineingetragener Manier,
ist das ZieU das er da erstrebt und erreicht hat, so vollkommen wie
einst Lysippos oder in unseren Tagen Meunier. Kein Pessimismus
und kein Optimismus, Wahrheit spricht da zu uns — nicht das alte
Weib Nietzsches, sondem jene immer relative Wirklichkeit, die kurz
das Leben geheissen wird. Wer da aus der Ftille seiner Kraft unmittel-
bar ansprechende Gebilde hinzustellen vermag, Jder ist eben der echte
Kiinstler, ob er nun mit Meissel oder Pinsel oder Worten jwirke. Diese
Kunst zeigt sich also bei Gotamo in den Gleichnissen, die er gibt, sei
es dass er Landschaften schildere wie Ruisdael, dass er Anatomien male
wie Rembrandt, oder dass er Schlachten entrolle wie Salvator Rosa, oder
aber uns Gesichter ofFenbare wie Luini und Leonardo. Aus den mehr
als dreihundert Gemdlden der Galerie, die mir zur Verfiigung stehn,
bei welcher alle menschlichen und irdischen Dinge und VerhMltnisse,
vom Kdnig bis zur Magd, vom Helden bis zur Buhlerin, vom Elefanten
bis zum Wurme, vom Himalayo bis zum Sandkom, vom Ganges bis
zum Meere und allumfassenden Ozean, und wieder von den Wundem
137
der Tiefe bis zum giitzernden Tautropfen an uns voriiberziehn, aus dieser
reichen Sammlung, deren wohlerhaltene Tafeln mit unzerstdrbaren Farben,
noch besseren als sie selbst die Kdlner Meister kannten, gemalt sind,
greife ich zum Schlusse nur eines der Stucke als Beispiel heraus, das
Gleichnis vom Rennpferd, das sich zwar durch keine besondere Pracht-
entfaltung and keines der zarteren Lichter auszeichnet, aber so frisch
wie vor 2400 Jahren auch heute noch den Beifall des erfahrenen Trainers
finden wird: ein Beifall, der wertvoller sein mag als Kommentare
Gelehrter oder Pfaffen beider HemisphMren.
«Gleichwie etwa ein gewandter Rossebandiger, wann er ein schones
edles Ross erhalten hat, zu allererst am Gebisse Ubungen ausfuhren
lisst; und wahrend es am Gebisse Ubungen ausfiihrt zeigt es eben
allerlei Ungebuhrlichkeit, Ungebardigkeit, Unbandigkeit, weil es nie
zuvor solche Ubungen ausgeftihrt hat: aber durch wiederholtes Uben,
durch allmShliches Uben gibt es sich damit zufrieden. Sobald nun das
schdne edle Ross durch wiederholtes Uben, durch allmihliches Uben
sich damit zufriedengegeben hat, dann lasst es der Rossebandiger weitere
Ubungen ausfuhren und schirrt es an ; und wahrend es angeschirrt Obungen
ausfiihrt zeigt es eben allerlei Ungebuhrlichkeit, Ungebardigkeit, UnbMndig-
keit, weil es nie zuvor solche Ubungen ausgeftihrt hat: aber durch
wiederholtes Uben, durch allmdhliches Uben gibt es sich damit zufrieden.
Sobald nun das schone edle Ross durch wiederholtes Uben, durch all-
mahliches Uben sich damit zufriedengegeben hat, dann lasst es der
RossebMndiger weitere Ubungen ausfuhren und im Schritt gehn, im
Trab gehn, Galopp laufen, er ISsst es rennen und springen, bringt ihm
kdniglichen Gang und konigliche Haltung bei, er macht es zum schnell-
sten und fluchtigsten und verlasslichsten der Pferde; und wMhrend es
also Ubungen ausfiihrt zeigt es eben allerlei Ungebiihrlichkeit, Ungebardig-
keit, UnbSndigkeit, weil es nie zuvor solche Ubungen ausgefiihrt hat:
aber durch wiederholtes Uben, durch allmahliches Uben gibt es sich damit
zufrieden. Sobald nun das schone edle Ross durch wiederholtes Uben,
durch allmahliches Uben sich damit zufriedengegeben hat, dann lasst
ihm der Rossebandiger noch die letzte Strahlung und Striegelung an-
gedeihen. Das sind die zehn Eigenschaften, die ein schones edles Ross
dem Konige schicklich, dem Konige tauglich, eben als ,Konigsgut^ er-
scheinen lassen. Ebenso nun auch sind es zehn Dinge, die einen
Mdnch Opfer und Spende, Gabe und Gruss verdienen, heiligste StMtte
der Welt sein lassen: und welche zehn? Da eignet einem MSnche
untriiglich rechte Erkenntnis, untriiglich rechte Gesinnung, untriiglich
rechte Rede, untriiglich rechtes Handeln, untriiglich rechtes Wandeln,
untriiglich rechtes Muhn, untriiglich rechte Einsicht, untruglich rechte
Vertiefung, untriiglich rechte Weisheit, untriiglich rechte Erlosung. Das
sind die zehn Dinge, die einen Mdnch Opfer und Spende, Gabe und
Gruss verdienen, heiligste Stitte der Welt sein lassen.
138 8*^
Aus dem Kiinstlerbund.
Von aasgezeichnet informirter Seite wird uns geschrieben:
Die Ziele des deutschen Kunstlerbundes scheinen vollkommen
geeignet, eine h5here Entwicklungsstufe unseres Kunstausstellungswesens
herbeizufiihren. Obwohl dieser Weimaraner Bund hauptsSchiich aus Mit-
gliedern der Sezessionen hervorgegangen ist, haben sich doch auch Ver-
treter der ubrigen Kunstlervereinigungen eingefunden, aus welchem
Umstande das Bestreben hervortritt, dass dieser neue Bund keines-
wegs einseitige Interessen vertreten will, sondem Fuhlung mit alien
kiinstlerischen Bestrebungen anzubahnen sucht. Wenn man schon da-
mit begonnen hatte, Kiinstler aus alien Lagern zum Beitritt aufzufordem,
so ergibt sich daraus von selbst, dass auch jetzt mit der personlichen
Aufforderung fortgefahren werden musste. Denn hatte man ganze
Kunstlervereinigungen in corpore aufzunehmen versucht, dann ware das
gluckliche Resultat der Weimarer Verhandlungen nur unndtig verzogert
Oder gar in Frage gestellt worden, weil niemand der dort Versammelten
fur das vollkommene EinverstMndnis der zu Hause Gebliebenen mit den
in Weimar gefassten Beschlussen einstehen konnte. Die Weigerung
einzelner kann jetzt die neue Grundung in deren Bestand nicht mehr
gefahrden, was bei einem abschligigen Bescheid einer ganzen Sezession
wohl der Fall gewesen ware. Es ist also jedem tuchtigen Meister die
Mitgliedschaft des Kunstlerbundes ermoglicht, jedoch mit der Klausel,
dass die Stimmberechtigung erst durch einige mitgemachte Ausstellungen
erworben werden kann. Damit ist der Unfug, dass ausstellungsschwache
Kunstler in den Generalversammlungen das Wort fiihren und gute Rat-
schiage erteilen, fur immer beseitigt. Nie mehr hlngt dann das Wohl
und Wehe der deutschen Kunstlerschaft von Leuten ab, die nur darauf
bedacht sind, das eigene Nachtlicht leuchten zu lassen und zu dem
Zwecke alles Ubrige im Dunkel zu halten verstehen. Wir konnen so-
mit aus dem Vorgehen des deutschen Ktinstlerbundes mit Deutlichkeit
ersehen, dass hier Manner von weitsehendem Blick den Grundstein
gelegt haben zu einem Bau auf solidester Grundlage. Schon die Namen
der bis jetzt bekannt gewordenen Mitglieder burgen fur die vielseitigste
und glanzendste Vertretung der deutschen Kunst. Unter einer solch
ausgezeichneten Fuhrung wird sich die deutsche Kunst bald eine hervor-
ragende Stellung im Wettkampf der Vdlker errungen haben zur Freude
und zum Nutzen der ganzen deutschen Nation.
Wenn auch hier und dort einige zungengewandte Geister es unter-
nehmen, ihre warnende Stimme gegen den neu geschaffenen Verband
zu erheben, so ist dieses Beginnen unserer Beurteilung nach nicht
anders zu bewerten, als wenn einige Heringe sich gegen den Niagara-
fall anstemmen woilten.
139 s^P-
Anselm Feuerbach und sein VermUchtnis.
Von Wilhelm Weigand in Munchen-Bogenhausen.
1.
Die moderne Kunst ist auf das Individuum gestellt. Wer die
Wahrheit dieses Satzes voll erkannt hat, wird auch das Schicksal jener
Ktlnstler verstehen, die wihnen, durch die Pflege einer schdnen Tradition
den Folgen ihrer Vereinzelung entgehen zu konnen.
Je bedeutender der Einzelne als Mensch und Schopfer hervortritt,
desto stronger ist or auch auf sich selbst zuruckgewiesen. Welt und
Seele, Kunst und Handwork, die Vergangenheit, wo die Meister thronen
und die Gegenwart, wo das Leben seine Forderungen stellt, sind
Mdchte, die zu Bedringem werden, wenn nicht ein allmachtiger Natur-
trieb die Sicherheit des Schopferglucks verleiht. Es verlohnte sich der
Miihe, einmal den Griinden nachzuforschen, warum gerade das Leben
so vieler modemer Kunstler eine Tragodie bedeutet. Es gentigt nicht,
die Verkennung oder den Widerstand der Welt hierfur allein ver-
antwortlich zu machen; es gentigt auch nicht, die vermeintliche
Morbiditit des Genies als Erklirungsgrund heranzuziehen. Die Ur-
sachen liegen tiefer: der moderne Mensch ist, um es mit einem Wort
zu sagen, zum theoretischen Menschen geworden, der einer
Rechtfertigung seines Tuns vor sich selbst bedarf, und er tibt die
Selbstzergliederung mit einem Eifer, der wie Freude aussieht.
Als Anselm Feuerbachs ^Vermichtnis'' (1881) erschien, waren alle
Einsichtigen sofort der Meinung, dass eine Kiinstlertragddie Worte und
damit, in gewissem Sinne, auch die Siihne gefunden habe. Es darf
wenigstens als sicher gelten, dass die WertschMtzung des lang ver-
kannten Meisters mit dieser kleinen Schrift auch in jene Kreise drang,
die keine Ahnung von den KImpfen dieser leidenschaftlichen Natur
haben konnten. Wir aber werden gut daran tun, vor dieser Wirkung
eines kleinen Buches nicht zu vergessen, dass unsere deutsche Kultur,
soweit wir iiberhaupt von einer solchen reden dtirfen, rein literarischer
Natur ist. Wir sind, um es kurz zu sagen, kein Volk der Anschauung:
damit ist eine Erkenntnis gewonnen, die jede Lebenstragodie eines
bildenden Kiinstlers zu erkliren vermag. Diese Einsicht liegt wohl
auch dem Ausspruch Goethes zu Grunde, dass zwischen Wissenschaft
und Kunst eine Kluft bestehe, die nur ein ganz gliickliches Naturell
iiberspringen kdnne.
Auch heute noch kommt es der Kunst des Meisters zugute, dass
Feuerbach, um sich zu befreien, zum Worte greifen musste. Sogar
der Geist wird verziehen, wenn er erlaubt, eine Welt zu beschreiten,
die Gliick verheisst. Wir sind ausserdem nur allzuwohl mit der
Forderung vertraut, dass hinter jedem Werke ein Leben stehen soil
140 ^
Ein Leben aber ist ein Schauspiel und, bei den grossen Lieblingen der
Gotter, zuwellen eine schmerzliche TragSdie.*) —
2.
Talent und Schonheit sind Mdchte, die in ihrem tiefsten Wesen
jeder Analyse widerstehen. Wir wissen heute, was wir von dem
Versuch zu balten haben, den Menschen aus seiner Umgebung, aus
seiner Zeit oder aus einer dominierenden Fahigkeit heraus zu erkliren.
Die Tainesche Methode, die zudem einen halben Kiinstler bei der An-
wendung verlangt, weist allzudeutlich auf die Bediirfnisse einer Nation
zuriick, die in dem Verstand den allein seligmachenden Regulator ihrer
altgewordenen Kultur verehrt. Vielieicht ist dieser Versuch, der Kunst
Oder der Geschichte beizukommen, nur ein KunstknifF, um durch die
Abgrenzung ein sicheres Gebiet zu gewinnen und durch die Darstellung
den Vorteil einer ktinstlerischen Bewiltigung der Welt auf einem Gebiet
der Wissenschaft zu geniessen. Die Usthetische Kritik ist keine Wissen-
schaft. Jeder vermag einer Natur oder einem Buche nur soviel
abzugewinnen, als er selbst mitbringt. Uns selbst lesen wir aus den
Kunstwerken heraus, oder wir legen uns hinein, je nach der Stimmung
beim Genusse, die kritisch oder schopferisch sein kann.
Bedeutsamer ist bei der Betrachtung einer wirklichen Natur die
Abstammung oder die Rasse, wie Feuerbach zu sagen pfiegte, ohne in-
dessen dem Worte jenen Sinn beizulegen, den es neuerdings im Munde
einer problematischen Wissenschaft angenommen hat. Auf alle Falle
diirfen wir uns gliicklich schatzen, wenn irgend ein Talent oder eine
Fahigkeit in einer Familie fortvererbt wird und in verschiedenen
Naturen zu jener Bliite gelangt, die nur den Reichtum des Lebens
enthullt.
Die Familie Feuerbach verlangt es, dass man bei den allgemeinen
Charakterzugen verweile, die das Leben ihrer hochbegabten Sdhne offen^
bart. Der Grossvater unseres Malers, der Ritter Anselm von Feuerbach
(1775 — 1833), gehdrt zu jenen Mannern, welche die deutsche Kultur
der klassischen Periode wohl gellutert, aber nicht gezihmt hatte. Sein
Nachlass**), den sein Sohn, der Philosopb Ludwig Feuerbach, heraus-
gegeben, ist in mehrfacher Hinsicht von hochstem Interesse: als
Denkmal eines hochbegabten Willensmenschen, der von sich das
*) Veranlassung zu den folgenden Betrachtungen bot das schdne Werk
„Anselm Feuerbach Yon Julius Allgeyer*. Zweite Auflage auf Grund der zum
erstenmal benutzten Originalbriefe und Aufzeichnungen des Kunstlers aus
dem Nachlasse des Verfassers berausgegeben und mit einer Einleitung begleitet
von Carl Neumann, Professor der Kunstgescbichte in Gdttingen. 2 Binde,
522 und 570 Seiten. Berlin und Stuttgart 1904. Verlag von W. Spemann.
**) Anselm Ritter von Feuerbachs weil. kdnigl. bayrischen wirkl. Staatsrats
und Appellationsgerichtsprisidenten biographischer Nachlass. Ver5ffentlicht von
seinem Sohne Ludwig Feuerbach. Zwet BSnde. Leipzig. Verlagsbucbhandlung
von J. J. Weber. Leipzig 1853.
141
Hdchste fordern konnte, und als Dokument einer Zeit, in der die
franzdsischen Ideen der Aufklarung mit den morschen Zustanden eines
zasammengewurfelten Staates in Beruhrung kamen. Die Verdienste
des seltenen Mannes als Rechtslehrer und Beamter, als Patriot und
AufklSrer hat die bayerische Geschichte verzeichnet. Als Mensch ge-
hdrte er zu jenen Gewaltnaturen, die jeden Willen brechen, der sich
ihnen entgegenstellt, ohne indessen die Verehrung einzubtissen, die
ausserordentliche Eigenschaften des Geistes und des Herzens einflossen.
Seine Sdhne blickten, wie Ludwig Feuerbach sich ausdruckt, mit »innig
heiliger Ehrfurcht** zu dem ausserordentlichen Manne empor, in dem
Wille und Erkenntnis sich zuweilen arg befehdeten: denn der Mann,
der seinem Sohn erklarte, der Mensch diirfe, wenn es der emsten Be-
stimmung seines Lebens gelte, nicht bloss seine Lust befragen, trennte
sich im vierzigsten Jahre von seiner Familie, um einer schonen Frau
zu folgen. Es geht, um es gleich zu sagen, ein damonischer Zug
durch die ganze Familie Feuerbach: die Manner dieses leidenschaft-
lichen Geschlechtes haben alle ihren Dtoon, dem sie auf Kosten ihres
Gluckes und Behagens gehorchen mussen.
In den Sdhnen des Juristen erscheint die Leidenschaftlichkeit des
Stammvaters gemildert; aber hier gedeihen die glanzenden Gaben des
Geschlechtes zum Teil schon auf rein morbidem Boden. Der Vater
des Malers, Anselm Feuerbach der Archdologe, ist eine weichere Natur,
in der das Kraftgeftihl des Vaters zur dsthetischen Feinftihligkeit einer
leicht verwundbaren, hypochondrischen Seele herabsinkt. Sein Sohn,
Anselm der Maler, der die aristokratische FShigkeit der Selbstbeob-
achtung, wie sie oft in alten Familien zu Tage tritt, von ihm geerbt
hatte, nennt ihn gemutskrank. Seine zweite Gattin, Henriette Heyden-
reich, die geistvolle Stiefmutter des Kiinstlers, hat dem ersten Band
seiner nachgelassenen Schriften*), deren Herausgabe Hermann Hettner
besorgte, das bezeichnende Geleitwort mitgegeben: Des Menschen
Schicksal ist sein Gemut! Die Msthetische Reife des Gelehrten, der
erst spMt das klassische Land seiner Sehnsucht, Italien, erbiicken sollte,
zeigt sich vor allem in der klaren Form seines Hauptwerkes »Der
vatikanische Apollo das, als Kunstwerk, auch heute noch lesbar ist.
In dem Enkel Anselm (geboren am 12. September 1829 in Speyer)
erscheinen die Eigenschaften des Grossvaters und des Vaters in jener
Mischung, die in ihrer Deutlichkeit ein seltenes Schauspiel gewihrt.
Von dem Vater hat er den isthetischen Sinn, der alle seelischen Ein-
drucke mit leidenschaftlicher Gewalt empfindet und zum Ungluck der
Oberfeinen vorher bestimmt erscheint. Damit ist eine mimosenhafte
Feinfuhligkeit und Verstimmbarkeit der Seele verbunden, wie wir sie
nur bei grossen Dichtematuren oder Phantasiemenschen finden; aber
*) Nachgelassene Schriften von Anselm Feuerbach. Vier Binde. Braun-
schweig bei Vieweg & Sohn, 1853.
^ Der vatiktnische Apollo. Eine Reihe isthetisch-archiologischer Be-
trachtungen yon Anselm Feuerbach. Campes Verlag, NQmberg, 1833. Die zweite
Auflage ist 1855 bei Cotta erschienen.
142 8^
im Verfolgen der kunstlerischen Ziele, die aus einer solchen Anlage
entspringen, offenbart er jene unbeugsame Wiilensenergie, die in seinem
Grossvater lebendig war.
Neben der Abstammung ist die Atmosphere des vaterlichen Hauses
zu beachten, wenn man den Kiinstler Feuerbach richtig beurteilen will.
Der schdne hochbegabte Knabe, dessen dunkle Lockenfiille an einen
antiken Jungling gemahnt, wMchst in einer rein asthetischen Umgebung
auf, der Kunst und Musik alltlgliche Lebensbedurfnisse sind. In dem
Vater, der weiss, was Kunst und Schonheit bedeuten, sind die Gotter-
gestalten der Antike lebendig, und in der Stiefmutter, die sich den
Namen einer Mutter in herrlichster Weise verdient hat, darf er eine
vomehme, liebevolle Erzieherin verehren. Die Einrichtung des Hauses
bietet seiner jungen Phantasie die beste Nahrung: der Vater hatte aus
Munchen und Italien Munzen, Gipsabgiisse und Stiche mitgebracht,
deren Gestalten einen michtigen Eindruck auf den nbersprudelnden
Knaben ausubten. Die Eltem, welche die Begabung ihres Kindes fruh
erkennen, legen seinem Wunsche, Maler zu werden, kein Hindemis in
den Weg: im Alter von sechzehn Jahren bezieht er die Dusseldorfer
Akademie, wo er mit seinem grosseren Zeitgenossen Bocklin und dessen
Freund Knoller, mit Alfred Rethel und Knaus in Beruhrung kommt.
Wir sind durch Anselms Briefe ganz genan uber alle Stimmungen
unterrichtet, die ihn in jener Zeit des ersten Lerneifers beherrschten.
Was an diesen Ausserungen eines jungen Feuerkopfes auffallt, ist die
unheimliche Klarheit, mit der er sich selbst beurteilt: ^Ich bin auch
mit meiner Richtung noch nicht im Klaren. Mein grosster Fehler ist
diese sprudelnde Fulle von Geist, die in sich gShrt und wutet, dass es
mir manchmal fast den Kopf zersprengt . . . Habe keine Angst, dass ich
so werde wie Vater: ich bin nur zu friihe reif und weiss, was ich soil,
ehe ich es kann ; kommt die Zeit der uberwundenen Technik, dann bin
ich der, der ich sein will." — (Aus einem Brief vom 2. Jan. 1847.)
Ein solches Bekenntnis, das die Tragik eines halben Lebens
vorausahnt, gibt zu denken. Vielleicht wird uns seine Bedeutung noch
klarer, wenn wir den Wert und die Bedeutung der Msthetischen Kultur
fur den Einzelnen etwas naher betrachten. In jeder Kultur, die sich
ihres Besitzes freut, ist das Bewusstsein der Vergangenheit in hohem
Grade michtig. Jede Ausserung freien Lebens, in der sich der Kultur-
mensch geniesst, weist auf Viter und Ahnen zuruck: — denn alles
Geschaffene behMlt seine Macht auf wahlverwandte Geister, und unser
VerhMitnis zur Vergangenheit ist nicht minder unser Schicksal, als
unser VerhMltnis zur Gegenwart. Doch zum Wesen des Lebens gehdrt
es, dass es nur GegenwSrtiges kennen will. Kultur ist Form, und jede
Form ist ein Bann, den wir nur dann als Gluck empGnden, wenn wir
ihn zugleich als Forderung preisen konnen. Ein junger Mensch aber,
in dessen schonheitstrunkener Phantasie die Gestalten der Antike leben,
wird anders in das Leben treten, als ein genialer Naturbursche, der
nichts mitbringt, als seinen Willen, emporzukommen und sich, alien
zum Trotz, zum Ausdruck zu bringen. Schdnheit ist eine Lebens-
143
macht, die nur dann rein segensreich wirkt, wenn wir sie selber schafFen.
Die feine asthetische Kultur des Elternhauses ist dem Maler Feuerbach
in mehrfacher Hinsicht zum Schicksal geworden: sie gab ihm jene
Klarheit, die fiber schwere Zeiten hinweghilft, und sie bestimmte
seinen Geschmack, der bei einem ^denkenden Kiinstler* — wie
Bdcklin spottet*) — von anderer Bedeutung ist, als bei einfachen
Naturen, die sich beim Schaffen einfach selbst ausgeben und dabei
glucklich sind.
Es gehort zum Wesen des Geschmacks, dass er seine Neigungen
zu rechtfertigen sucht. Bin vomehmer, grandioser Eklektizismus vermag
allerdings eine Persdnlichkeit ebensogut zu offenbaren, als individuelles
Beharren in den Schranken eines kleinen Gotterwinkels. In Zeiten des
Niedergangs ist ein sicherer Geschmack zudem von anderer Wichtigkeit
als in schdpferiscben Epochen, die das schaffende Individuum sicher
dahin tragen, indem sie ihm voile Freiheit gewahren. Eine andere
Briefstelle aus der Diisseldorfer Zeit des AnfUngers gibt uns weiteren
Aufschluss fiber den Seelenzustand des jungen, asthetisch gestimmten
Malers: ^Ich glfihe vor Sehnsucht, das darzubringen, was ich fuhle
und will. Ich mochte nicht nur Nachdffer und Anstreicher der Natur
werden, ich mochte gem Seele, Poesie haben ... Ich furchte mich vor
der Nfichtemheit und Hohlheit, die die jetzige Welt regiert. Man muss
sich zurfickfluchten zu den alten Gottern, die in seliger, kraftiger^
naturwahrer Poesie den Menschen darstellen, wie er sein sollte. In
die Zukunft flfichten geht auch nicht , denn welche Zukunft steht
unseren Geld- und Maschinenmenschen bevor.*" (I, 103).
Diese romantische Stimmung, welcher der Geist wichtiger ist, als
die Form, weist mit Notwendigkeit auf eine Welt verklirter Kunst-
gestalten bin. Es ist femer, was man nicht vergessen wolle, ein
schdner Jfingling, der sich nach der herrlichen Gotterwelt einer
lebendigen Welt sehnt und seinen Schonheitsbedfirfnissen mit naiver
Eifelkeit frohnt. Der junge Feuerbach malt sich selbst so oft er kann,
und er sorgt dafur, dass eine »ungeheure Vomehmheit'' auf diesen
Bildem zum Ausdruck kommt. Selbst Gottfried Keller, der den Kunst*
schuler in Heidelberg kennen lernte, bekannte, niemals in seinem Leben
einen „idealisch schdneren Jungling*" gesehen zu haben; allerdings fugte
der junge Dichter, dessen Strenge aus einer herben Seeleneinfalt floss,
hinzu, er zweifle, ob jemals etwas aus dem jungen Feuerbach werden
wfirde.
3.
Die Bedeutung der Lehrjahre Feuerbachs in Dusseldorf, Munchen
and Antwerpen (1845 — 1851) ist in vieler Hinsicht rein negativer Art:
*) Zehn Jahre mit B5cklin. Aufzeichnungen und Entwfirfe von Gusttv
Floerke. Mfinchen 1001. Verlagsanstalt F Bruckmann. <Seite 233). Dts hoch-
interessante Buch ist allerdings, wie bier bemerkt sein mag, mit eioiger Vorsictat
zu l>enutzen.
144 8k-
der junge Maler, der die hochsten Forderungen mit sich herumtragt,
sieht ganz einfach ein, dass die Deutschen, trotz des ewigen Kunst-
geschreis, nicht malen konnen. Die Urteile, die er uber Cornelius,
Kaulbach und die Modegotzen des Tages fallt, verraten zudem einen
sicheren Geschmack, der sich frtihe an Rubens und van Dyck geschult
hatte. Es ist ganz nattirlich, dass er trachtete, nach Paris, auf die hohe
Schule der Welt zu kommen; diesen Zug hat er mit den meisten tiich-
tigen Talenten seiner Zeit gemein. Noch als reifer Meister ruhmte er
sich seines fruhen Entschlusses, nach Paris zu gehen, wo man wirklich
etwas lernen konnte. Es war damals, wie auch spSter noch, nicht ohne
Gefahr, sich dieser franzosischen Lehrjahre zu ruhmen; denn die
NationalitMtsphrase war in dem Munde der Streber und Macher von je
ein Mittel, sich Amt und Einfluss zu sichern und unbequeme Neben-
buhler unschddlich zu machen. Es ist allerdings, wie zugegeben werden
mag, schlimm bestellt um eine gflnzlich heimatlose Kunst. Die Kunst
soil bodenstandig sein! Nicht der Verstand oder ein gebildetes Auge,
das keine Heimat kennt und liebt, sind beim Schaffen die Hauptsache,
sondern jene Gemutsmachte, die in den edelsten Kraften einer Volks-
gemeinschaft ihre Rechtfertigung und ihre Stiitze haben. Aber An-
regungen von Land zu Land, von Volk zu Volk sind stets von aller-
hochstem Segen. Wirkliche Naturen werden mit alien Einflussen fertig,
die sie bedrohen: — man sehe doch nur, in welcher Weise Leibl oder
Triibner die Einfliisse einer fremden Schule in den Dienst einer person-
lichen Naturauffassung gestellt haben! Jede Kunst ruht auf dem Hand-
work, und als Handworker soli der Kunstler dahin gehen, wo er am
meisten lernen kann.
Feuerbach hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er sein Konnen
den Italienem und den Franzosen verdanke. Indessen genugt es nicht,
den wohltMtigen Einfluss seines Lehrers Couture (1815 — 1879) zu be-
tonen, dessen Wort von der .grande peinture** allerdings von ver-
ftihrerischer Wirkung auf einen jungen Feuerkopf sein musste.
Man hat, um die Kunstrichtung Coutures und verwandter Maler zu
bezeichnen, von Cinquecentismus gesprochen; allein dieses Wort hat in
Frankreich, als in einem Lande, wo selbst die Schule Davids malen
konnte, eine andere Bedeutung als in Deutschland. In einer Nation,
wo die Tradition stark oder allmachtig ist, macht man Revolutionen um
kleiner Nuancen willen. Wir finden bei ndherem Zusehen, dass das
Verhdltnis der Franzosen zu den Venezianem ziemlich locker, das heisst
rein eklektisch ist: als Feuerbach einige Jahre spater seinen »Dante mit
den schonen Frauen* in Paris ausstellte, ging man daruber hinweg, in-
dem man es als reine Nachahmung der Italiener ausgab.
Die Bilder Coutures bedeuteten, wie gesagt, fur Feuerbach mehr
als die Leistung eines Meisters, der das Malen lehren konnte; wir sehen
es an den ^Romains de la decadence (im Louvre), welches Bild zwar
nicht zu den besten Werken des Malers gehort, aber wohl gestattet,
seinen Einfluss auf Feuerbach zu schStzen. Dieser Klassizismus, der
aus kiihler Berechnung hervorgeht und seine akademischen Gestaltea
145 8*^
ohne jedes Temperament hinstellt und gnippiert, steht allerdings den
spiteren Werken des Deutschen ziemlich ferne. Allein Einzelheiten
sind, wenn es sich um Schulerschaft handelt, oft wichtiger als die Ge-
samtanschauung, die auf einer Natur beruhen muss. Als Kolorist ver-
rdt noch der sp3teste Feuerbach den Einfluss Coutures: ein gewisses
Grun zum Beispiel, das auch der Franzose hat, kehrt sogar auf den
Wiener Deckenbildem der Akademie wieder. Meines Wissens hat noch
niemand auf diesen dauemden EinBuss des franzdsischen Malers im
Detail hingewiesen.
Hier wire der Ort, einiges tiber die jSmmerlichen Schicksale des
heimgekehrten Kiinstlers in Karlsruhe zu sagen, wo er eine Behandlung
^rfuhr, die er nie verziehen hat. Indessen sind solche 3usseren Schick-
sale, so bitter sie auch sein mogen, nur insofem von Bedeutung fur
«inen Kiinstler, als sie ihn nur tiefer in sein Schicksal und seine Welt
hineintreiben. Es gehdrt zur Bestimmung auserwihlter Naturen, dass auch
die schwersten Bitternisse, die den iVLenschen oft fur immer zeichnen,
nor jene Krifte wecken, die ihr Ddmon leitet Dieser DMmon zog
Feuerbach nach Italien.
Im Mai 1855 traf er, als Stipendiat des Karlsruher Hofes, mit
Viktor Schefifel in Venedig ein, um die .Assunta** zu kopieren. Die
Stimmung, in die ihn die tote Stadt versetzt, zeigt deutlich, dass der
angehende Meister endlich die Heimat seiner Seele gefunden hat. Hier,
wo er auf Marmor geht und als armer Schlucker in Palasten wohnt,
weicht seine nordische Melancholie einer ,inneren Freude, die die Brust
xu zersprengen droht". (8. Juni 1855.) Hier kann er aufs neue ftihlen,
dass der Begriff Schdnheit zu den sieben Weltwundem und Ratseln ge-
hdrt; hier sieht er, wie die reine Natur sich in grossen Meistern, durch
4as Medium innerer Anschauung, gleichsam zu einer hoheren Form der
Erscheinung umbildet. Er sagt: „Was soil ich von den Venezianem
sagen? Das ist eine Bruderschaft der echten Farbe, kurz, sie mtissen
so sein, wie sie sind. AUe unsere modeme Kunst macht mir keine
Schmerzen mehr. Ich bin da, wo ich sein muss. Und hitte ich zu
ihrer Zeit gelebt, so wurde sich vielleicht in mancher dunklen Kirche
ein Bild finden, was sich still an die grosse Kette als bescheidener
^ng anschliessen wurde. Die Venezianer sind emst in ihrer Heiterkeit
und heiter in ihrem Ernste. Sie brauchen nichts zu suchen, weil sie
^ schon haben." (8. Juni 1855.)
Hier erkldrt er, »dass er sich nicht einspannen lasse** ! (Aug. 1855.)
Das mdgen Maler tun; er ist mehr, er ist Ktinstler. Seine nichste
Vergangenheit, der Aufenthalt in Paris, die reizvollste Gegenwart und
4ie herrlichste Zukunft schliessen sich wie Ringe einer meisterlichen
Kette aneinander. Der Kritiker, der sich seiner Bildung bewusst ist,
scheut sich auch nicht, seine Meinung tiber die ganze Kunst seiner Zeit
zu sagen: »Eins habe ich jetzt heraus, dass unsere modeme Kunst
nichts ist, als geschminkte Leichenpoesie. Und Gott gebe mir den
Segen und die Kraft, mit Hilfe der Toten und dessen, was mir die
Xatur gegeben, noch einen Fusspfad zu finden, der auf den Olymp
SQddeutsche Monatshefte. 1,2. 10
^ 146
fiihrt ... GleicbtnSssige Ruhe muss eine Errungenschaft sein,
keine Gabe der Natur." (1. Sept. 1855.)
Meisterschaft ist nichts anderes als Ruhe oder auch voUer Uber-
mut der Existenzfreudigkeit. «Jetzt ist ein anderes Gefuhl uber mich
gekommen, wie GlockengelMute nach Gewitter. Die Grazie, die SchSn-
heit ist mir aufgegangen.* (14. November 1855.)
Aus dieser festlichen Stimmung vermag ihn selbst die be-
leidigende Antwort nicht zu reissen, die ihm die Heimat auf die Sendung
seiner .Poesie'' gibt: er weiss, welchen Weg er zu gehen hat, und
z5gert nicht, ihn einzuschlagen. Wihrend sein Bild auf einem Speicher
des Schlosses in Karlsruhe an der Wand steht, macht er sich nach
dem Siiden auf; er bleibt zunflchst in Florenz, wo er andere be-
stimmende Eindrucke erf9hrt, deren er in seinen Lebenserinnerungen
gedenkt: »In spdter Nachmittagsstunde betrat ich die Tribuna; da war
eine Empfindung fiber mich gekommen, die man in der Bibel mit Ofifen-
barung zu bezeichnen pflegt. Die Vergangenheit war ausgeloscht« die
modernen Franzosen wurden einfache Spachtelmaler und mein kunftiger
Weg stand einfach und sonnig vor mir. Dass totale seelische Wand-
lungen pldtzlich kommen, habe ich an mir selbst erfahren. Das erste
romische Bild ^Dante^ und die ganze Reihenfolge der bei aller Strenge
doch weichen Werke ist nur der Nachklang jener ersten Empfindung in
der Tribuna,* (I, 337.)
Am 1. Oktober 1856 traf Feuerbach in Rom ein, das er bald
darauf als sein Schicksal empfinden sollte. Es ist oft genug aus-
gesprochen worden, dass Rom die kleinen Leute auslosche und nur
den starken Naturen forderlich sei.*) Feuerbach der angehende Meister,
der den prSchtigen »Tod des Aretino (1854) und den „Hafis vor der
Schenke* (1851) in Deutschland gelassen, empfindet die Landung an der
^gottbegnadeten Insel stilien Denkens* als ein Hineinschreiten in ruhige,
sichere Verhaltnisse, trotz aller Unsicherheit, die ihn bedruckt. «Rom
— bei diesem Namen hort alles Traumen auf, da fangt die Selbst*
erkenntnis an, und Rom, die alte Zauberin, weist einem jeglichen
Menschenkind seinen Platz an.* (12. Februar 1857.) Feuerbachs end-
gultige Meinung fiber Rom und seine dortigen Schicksale fasst eine
Stelle des Vermichtnisses (S. 80) in trefflicher Weise zusammen: ^Es
ist eine alte Erfahrung, dass der Deutsche in Rom sich aller Romantik
entkleiden muss. Rom weist einem jeden die Stelle an, ffir die er be-
rufen ist Eine heisse und klare Sonne beleuchtet diese Trfimmer in
sch3rfstem Detail, so dass unser leicht phantastisch erregtes Gemut oft
sehr derb an die Wahrheit anrennt und sich nicht selten daran stdsst,
wie sie denn fast immer eine bittere Arznei ist. Das, was wir Poesie
*) Zweiunddreissig Jabre spSter scbreibt ein modemer Kunstler aus Rom:
9E8 ist die grdsste Verkebrtbeit, einen jungen Menscben ntcb Rom zu scbicken,
denn er muss zugrunde gehen an der zu grossen Dosis, die er bier zu scblucken
kriegt; Rom ist ein Aufenihalt fur Mlnner, die wissen, was sie wollen.* (Karl
Stauffer-Bem. Sein Leben. Seine Briefe. Seine Gedicbte. Stuttgart. CO.Gdschen*
tche Verlagshandlung 1882. S. 140.
HNg 147 8^
nennen, kdnnen wir nicht brauchen; es kommen Zeiten der Ratlosigkeit
and der Niedergeschlagenheit ; doch nach and nach wachsen die em-
phngenen Eindrucke in der Seele and fallen sie aus; dieselbe Sonne
beginnt anser Inneres za beleachten and za erwirmen.* Zugleich
mag daraaf hingewiesen werden, dass das Rom jener Tage noch nicht
das laate Rom des geeinigten Kdnigreichs Italien war, sondem eine
stille Stadt, wo die ^Melancholie der Rainen" in einem zarten Gluck
aasklingen konnte. ^Rom ist so tief still, dass man hier in gdttlicher
Rahe empBnden, denken and schaffen kann.*" So schrieb Gregorovius,
der den Namen Feaerbachs ubrigens nie erwShnt, einige Jahre zavor,
am 10. November 1852, In sein «R5misches Tagebuch".*) Freilich
liegt in solcher Eilandstille auch eine Gefahr: sie gewohnt den Kunst-
ler an eine Gesellschaft erlaachter Schatten, and in einer solchen ver-
gisst aach der uberquellendste Schdpfermensch nar allzaleicht die tieferen
Bedurhiisse seiner Zeit.
4.
Die Ansichten eines Kunstlers uber seine Kanst und seine
Werke haben immer nar bedingten Wert, insofem sie als Schltissel
zam Verstandnis ihrer Mdngel and Vorzuge dienen.
Wer in ein richtiges Verhaltnis za der Kunst Feaerbachs kommen
will, wird gut daran tun, die Ansichten des Meisters selbst iiber Stil
im allgemeinen za hdren: »Der wahre Stil kommt dann, wenn der Mensch,
selbst gross angelegt, nach Bewaltigung der unendlichen Feinheiten der
Natur, die Sicherheit erlangt hat, frei ins Grosse gehen za kdnnen. Stil
ist richtiges Weglassen des Unwesentlichen. Realismus in der Kunst
ist die leichteste Kunstart und kennzeichnet stets den Verfall. Wenn die
Kunst bios das Leben kopiert, so brauchen wir sie nicht.' (II. 447.)
Hier mag auch gleich die oft zitierte Stelle iiber Kolorit Platz finden:
.Kolorit ist das konzentrierte, potenzierte Spiegelbild der uns umgebenden
Dinge, die in der Schdpfung zerstreut liegen: ihr verklSrter Abglanz
in einer poetischen Seele. Es basiert stets auf dem innersten Natur-
gefuhl.^ (Aus dem Aufsatze .tJber den Makartismus. Pathologische Er-
scheinung der Neuzeit." II. 451.)
Mit diesen Forderungen, die im Grund nur eine Rechtfertigung
eigenen Schaffens bedeuten, sind wir aber doch wieder bei dem Indi-
viduum angelangt, das von seinem Talent oder seinem Dimon beherrscht
wird: — denn nicht wir diktieren unserem Talent die Richtung, sondem
der DImon ist es, der uns seine Wege fuhrt und zuweilen, voll Ehrlichkeit
und List, zu Bekenntnissen anspomt. Wir aber fragen: — Was ist
nberhaupt das Unwesentliche in der Kunst? Jede einzelne Kunstler-
natur wird eine andere Antwort geben, and damit ist das, was Stil sein
soil, noch immer nicht dem Reiche der persdnlichen Willkiir oder
souverlner Laune entruckt.
*) R5mi8cbe Tagebiicber von Ferdinand Gregorovius. Herautgegeben von
Friedrich Althaus. Stungart 1803 I. G. Cottasche Verlagsbuchbandlung. S. 5.
10*
148 ^
Feuerbach selbst wird allerdings nicht mude, sein Verhiltnis zur
lebendigen Natur zu betonen; er spottet fiber die Gliederpuppen, die
Accessoirmalerei, den Makartismus, den ganzen leeren Kleinkram, der
Slit dem Schlagwort Realismus die seelische Durftigkeit verbrSmt. Aber
sein VerhMltnis zur Natur ist nicht, um einen grossen Gegensatz aus
der Geschichte zu wShlen, Durerisch; er tritt immer nur als Maler,
in dem eine ungeheure isthetische Kultur lebendig oder auch tyrannisch
wirkt, an die Natur heran; er ist ihr Herr, nicht ihr Anbeter. Er wihlt
die Frauen und die Kinder, die er mit dem Fleiss des Einsamen als
Modelle verwendet, nach den Bedurfnissen eines persdnlichen Ideals,
das die MonumentalitSt der Formen auf ihren Gehalt an edler Seele hin
pruft. Er liebt das rdmische Kind und die rdmische Frau, weil aus
ihren Gestalten eine vollere, reichere Welt der Schonheit spricht. Er
gehdrt auf keinen Fall zu jenen Kiinstlern, die die grossen Formen des
Sudens zu furchten haben; er ist, seinem ganzen Gefuhl nach, ein halber
Romane, der weiss, dass in der bildenden Kunst Form und Seele in
in einem anderen Verhiltnis zu einander stehen, als der Deutsche glaubt.
Freilich sieht auch er die edlen Gestalten, die mit sicheren Fussen auf
klassischer Erde wandeln, mit den Augen eines gebildeten Deutschen,
dessen Bildung vorwiegend isthetisch-literarisch ist. Wohl darf er von
sich selber sagen: „Meine Kunst ist ohne alle Sentimentalitat'^; aber
das Gefuhl ruhiger Sehnsucht oder unendlich milder Trauer, das in seinen
Iphigenien lebt, atmet doch halb und halb jene veredelte Sentimentalitit,
die in einer klassischen Bildung wurzelt und unsterbliche Gdtter, die
ewig unerreichbar bleiben, in edeln Landschaften wandeln sieht. Es
mag hier daran erinnert werden, dass auch Burckhardt und Bdcklin die
Seelenheimat ihrer Kunst an den odysseeischen Gestaden des Mittel-
meeres, die den Gdttern heilig sind, gefunden haben; allein Bdcklin war
durch seine ganze Natur dazu gezwungen, diese sonnige Welt za
steigem und seinen Gestalten jenes drastische, uberstrdmende Leben zu
geben, das keinen Zweifel an der Fulle aufkommen IMsst. Er bleibt die
reichere Natur, die der Forderung, dass jeder Kiinstler seine eigene
Welt aus sich heraus erschaffen musse, mit der Ruhe einer wirklichen
heidnischen Heldennatur nachgekommen ist, die sich von jeder Wirkung
Rechenschaft zu geben versucht, ohne die Unmittelbarkeit einzubiissen.
Wir wissen, dass Feuerbach, als er zum erstenroal einige Werke
Bdcklins zu Gesicht bekam, voller Besturzung davor stand und dem
Freund Allgeyer bekannte: „Ich muss von vom anfangen.' (1. 359.)
Allein dieser uberwaltigende Eindruck konnte, seinem ganzen Wesen nach,
nur voriibergehend sein; denn die Klarheit seiner Natur, die mit einem
malerischen Problem immer Nebenabsichten verband, wies den geborenen
Klassizisten auf eine andere Bewiltigung der Erscheinungen hin.
Das Verhdltnis zur Natur bei vielen modemen Kunstfreunden, die
vom „paysage intime^^ herkommen und fiber den Naturalismus nicht hin-
auskommen kdnnen, mag Schuld daran sein, dass sie zu einzelnen Studien
Feuerbachs ein engeres VerhSltnis haben, als zu seinen grossen Bildem^
Einige seiner Meerstudien aus Porto d'Anzio, die um die Mitte der
149
sechziger Jahre entstanden, offenbaren einen kSstlichen Sinn ftir intime
Naturstimmungen, die umso bezanbernder wirken, als auch sie, trotz
liebevollster Versenkung, keine naturalistischen Abschriften sind, sondern
in jedem Pinselstrich die meisterliche Sicherheit einer grossen, reifen
Personlichkeit zeigen, die sich stets in klassischer Einfachheit zu geben
weiss. Ich kenne Maler, die ziemlich kiihl von den grossen Werken des
Klassizisten sprechen und doch vor diesen herrlichen Studien, die mit
den einfachsten Mitteln das Allerhdchste erreichen, in belles EntzQcken
geraten. Wer dazu in einer personlichen Auffassung der Natur etwas
Hdberes sieht, als reine temperamentlose Abschrift, kann diese monu-
mentalen Studien gar nicht hoch genug schStzen; es sind, wie auch viele
Handzeichnungen des Kunstlers, reine Meisterwerke, deren Wirkung
keiner Mode unterworfen ist.
In seinen grossen Bildem schwMcht Feuerbach, urn der stilistischen
Gesamtwirkung willen, seine Naturstudien ab, und dies geschieht, wie
jeder sehen mag, in vielen Fillen auf Kosten des Lebens. Das Meer,
vor dem seine Gestalten weilen, ist manchmal blechem und der Vorder-
grund zuweilen langweilig. Freilich erfolgt diese Abschwichung, die
immer aus einer malerischen Gesamtauffassung entspringt, niemals aus
rein dekorativen Motiven. Das Urteil Bocklins, dass Feuerbach niemals
zuerst den Gedanken eines Bildes im Sinn gehabt habe, sondern immer
nur von einzelnen Farbeneffekten ausgegangen sei, erscheint mir im
hochsten Grade ungerecht.*) Wir sind durch die Briefe Feuerbachs, die
michts verschweigen, viel zu gut uber seine Arbeitsweise unterrichtet, als
dass wir es ruhig hinnehmen konnten, und auch Bocklin hat spater zu-
gegeben, dass die Bilder seines Zeitgenossen dekorativ sehr zusammen-
hingend seien, wie denn Feuerbach uberhaupt eine ausgezeichnete Be-
gabung fur das Dekorative habe.^
Allerdings ging Feuerbach nicht, wie etwa Puvis de Chavannes, von
grossen dekorativen Gesichtspunkten aus, die eine stilistische Auffassung
der Natur bedingen. Aber die Komposition seiner grossen Bilder ist,
wie auch das Kolorit, immer von jener einheitlichen Stimmung, die eine
gianzende BewEltigung des einzelnen Problems bedeutet. Die Augen
der Zeitgenossen hatten allerdings wenig Sinn fur die koloristischen
Feinheiten des .Gastmahls'' (1867 — 1860), auf dem der kuhle Silberton
so gut das Licht der ersten Fruhe wiedergibt. Wie meisterhaft ist femer
die Ruhe des Symposions, wo Sokrates in Schweigen dasitzt, durch die
Linie der Komposition ausgedriickt, die nach rechts zu gerade verliuft!
Wie hat es der Meister verstanden, in der zweiten Fassung, die durch-
aus keine einfache Wiederholung ist, die Komposition reicher, gedrdngter,
geschlossener zu machen, indem er diese Linie durch eine aufrechte
Gestalt bricht und einen anderen, tieferen Gesichtspunkt fur das ganze
*) Rudolf Schick, Tagebucbaufzeichnungen aus den Jahren 1866, 1868, 1860
iber Arnold Bdcklln. Herausgegeben von Hugo von Tschudi. Berlin 1001. F.
Fontane & Co.
^) Ebenda S. 306.
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Bild wUhlt! Freilich muss man sich oft, wie z. B. bei der ^Amazonen-
schlacht*, an Einzelheiten halten, urn zu einer gerechten Wurdigung der
Leistung zu kommen, die der Kunstler, trotz aller UnzuUnglichkeiten,
vollbracht hat; diese Einzelheiten, die allerdings wieder auf einen grossen
Ahnherm, auf Michelangelo hinweisen, sind von monumentalstem Ge-
prige. Die Form ist ihm heilig; aber die Mittel, die er anvendet, um
sie zu beleben, sind niemals auf ein espressivo um jeden Preis be-
rechnet: der Tadel Bdcklins, dass auf der Amazonenschlacht kein
Leben sei, triflft den Nagel auf den Kopf, wenn man das Leben in der
leidenschaftlichen Bewegung sieht, die z. B. auf dem herrlichen Bilde des
Rubens in der alten Pinakothek herrscht. Es ist selten, dass Literatur-
maler — und ein solcher ist Feuerbach in gewisser Hinsicht — grosse
Farbenzauberer sind, und wer in der statuarischen Ruhe des Lebens
ein Ideal sieht, wird leicht geneigt sein, die Farbe, deren Sinnenzauber
nicht nur ein Ausdrucksmittel, sondem ein Symbol des Lebens ist,
seinen andem kunstlerischen Absichten unterzuordnen. Vergessen wir
es nicht, dass Feuerbach zu den Geschmacksaristokraten gehort, die
jedes Obermass, das nicht schon durch eine wiirdige Vergangenheit
geheiligt ist, als unleidlich empfinden und von dem Beschauer ver-
langen, dass er Sinn fur zarte Nuancen und Tdne habe, dass er die
Bescheidenheit der Natur, die allerdings zuweilen recht unbescheiden
ist, zu wurdigen wisse. Es ist bezeichnend fur den Kunstler, dass er,
dessen Fruchtbarkeit eine dimonische Lebensfulle verrat, seinen Studien
nur einen bedingten Wert beilegt: sie sind ihm nur Mittel, um den
Geist zu entbinden, den er auf einem Bild verkorpem will, welches er oft
jahrelang mit sich herumtr>, weil ihm irgend ein Motiv, das ihm vor
der Seele schwebt, noch nicht im Leben entgegengetreten ist: so ver-
dankt die ergreifende ^Piet^** in der Galerie Schack ihre Entstehung
dem Anblick eines armen Ciociarenweibes, das Feuerbach auf einer
romischen Treppe liegen sah. Aber auch dieses Bild weist, wie alle
Werke Feuerbachs, in die Vergangenheit, das Land der Schdnheit und
der grossen Meister zuruck: diese Monumental kunst, die vom Leben
und vom Tode Schonheit des Leibes und der Seele verlangt, erhalt ihre
Rechtfertigung durch den Geist, der die Leidenschaft nur in jenen
Augenblicken liebt, wo sie die Linie, die man, wie Hebbel meint, nur
um tausend Meilen iiberschreiten kann, noch um keines Haares Breite
iiberschritten hat.
5.
Bdcklin hat das herbe Wort ausgesprochen: ^Die Kunst ist nicht
fur alle I* und kein Einsichtiger wird dieses Kunstlerwort bezweifeln,
trotz der modemen Bestrebungen, die hdchsten Werke jedem zuginglich
zu machen. Bei uns Deutschen kommt ein anderes hinzu, dessen ich
schon gedacht habe: Wir sind kein Volk der kunstlerischen Anschauung;
auch hochgebildete Manner bemlchtigen sich eines Kunstwerkes gem
auf dem Wege der Reflexion, die sich nicht an die ktinstlerische Be-
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wftltiguog Oder an die Gestaltung des Problems halt, sondem von dem
aovellistischen Gehalt eines Gebildes ausgeht. Ein Kopf, unter dem
der schone Titel Beatrice steht, wird hdheres Interesse erregen, als ein
unbetitelter Studienkopf, mag er auch die hochste Meisterschaft ver-
raten. Die zeitweilige Gewohnheit Bdcklins, ein Bild ohne Namen in
die Welt gehen zu lassen, entsprang einer Kfinstlerlaune, die keine
Duldung finden durfte. Der Laie will von einem Bild etwas nach Hause
tragen, von dem er erzfthlen kann; nur was sich in Worte fassen lasst,
hat fur ihn Wert, wMhrend doch nur das Unaussprechliche gdttlich ist.
Vielen Menschen ist der Sinn fiir die bildende Kunst iiberhaupt ver-
sagt; es fehlt ihnen, urn ein Wort Bayersdorfers zu gebrauchen, das
Kunstorgan. Es wSre an der Zeit, dies offen einzugestehen.
Durch die VerdfTentlichung der Allgeyerschen Biographie Feuer-
bachs hat das » VermMchtnis*, als Dokument genommen, eine Minderung
erfohren: wir wissen heute, dass das ^Vermachtnis'' ein arrangiertes
Buch ist. Der Nachlass Feuerbachs in der Nationalgalerie gestattet
die ursprungliche Fassung der Dokumente, die zu seiner Abfassung
gedient haben, zum grossten Teile festzustellen, und damach ist das
Vermachtnis, in seiner iusseren Form, ein Werk der Mutter Feuerbachs,
deren Motive bei der Veroffentlichung ziemlich klar liegen: diese seltene
Frau, die allein die reizbare Natur ihres Stiefsohnes kannte und seine
ewigen KMmpfe gegen eine stumpfe Welt mitgekdmpft hatte, war offenbar
von dem Bestreben beseelt, das Bild des Heimgegangenen in seinem
ganzen Glanze zu zeigen. Sie hielt es fur erlaubt oder sogar fiir geboten,
eine kunstlerisch abgerundete Darstellung seiner Schicksale in die Welt
zu schicken. Diese gemeine Welt, an deren Widerstand eine edle
Kunstlerseele zugrunde gegangen war, sollte einen Feuerbach sehen,
wie er in seinen besten Augenblicken in ihrer emp^nglichen Mutter-
seele gelebt hatte. Dies Bedurfnis nach Verklarung ist nicht nur
mutterlich, es ist echt weiblich. Dazu kommt, dass sie, wie der milde
Allgeyer andeutet, in einer Zeit aufgewachsen war, die es fur uber-
flussig hielt, philologische Treue zu bieten und den Wert eines Doku-
ments in seiner Genauigkeit zu sehen. Die vomehme Gesinnung, aus
der die Ordnung und Beschneidung des Nachlasses entsprang, ist uber
jeden Zweifel erhaben; in einem Briefe an den Herausgeber der
Biographie, Professor Karl Neumann, schreibt die seltene Frau: «Ich
babe stets das Gefuhl, dass man jetzt nur an das Aufsteigen denken
sollte und zwar so boch, dass der Schmutz der Erde und die KSmpfe
mit der Gemeinheit und dem Irrtum nur undeutlich noch zu sehen
sind. Je hdher er schwebt, desto tiefer bleibt der Unverstand zuriick.
Mit den fortgesetzten Negationen werden die Gegner selbst in die Hdhe
gezogen und stirken sich an ihrer Gemeinsamkeit . . . Den Schmerz
muss der einzelne still tragen; Untrostlichkeit taugt nicht fur die Licht-
gestalten der Geschichte. Dies ist nur mein eigenes Recht, das ube
ich aus bis zum letzten Atemzug.* (I,XVI.) Dies ist deutlich. Und wer
wird es einer Mutter ubel nehmen wollen, wenn sie die Tragddie ihres
Sohnes im Lichte der Verkldrung zu sehen wunscht, die das Andenken
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des Siegers umglflozt? H. Werner hat die Originale der Briefe und
Aafzeichnungen Feuerbachs in der Nationalgalerie mit dem , VermSchtnis*
verglichen und berichtet daruber in der »Kunst fur Alle*" (XIX, I). Die
Abweichungen, die auch aus dem Allgeyerschen Buch hervorgehen,
zeigen deutlich, was sich Frau Feuerbach im Interesse eines teuren
Angedenkens erlaubt hat: sie datiert Briefe um, wenn es ihr ndtig
erscheint. Sie fuhrt die Lebensennnerungen ihres Sohnes selber fort,
wo diese eine Unterbrechung aufweisen, um die Eindrucke, die ent-
sohwundene Zeiten und Tage in dem Kunstler hinterlassen haben, zu
verstarken oder abzurunden. Sie fugt Fragmente aus Schriften Feuer-
bachs ein, die aus einer glMnzlich anderen Stimmung herausgewachsen
sind und in einer neuen Nachbarschaft ganz anders wirken: das Heftige
wird sanft und das Verletzende oder die Schmdhung erstrahlt in der
Heiterkeit des Erkennenden, der sich befreit, indem er seinen Leiden
schdnen Ausdruck verleiht. Wenn man erwdgt, dass eine Reihe der
abgeklHrtesten Aphorismen in dem VermSchtnis einer Schmahschnft
entstammen, die Feuerbach im Jahre 1874 schrieb, um an seinen
Wiener Peinigem Vergeltung zu uben, wird man die Verschiedenheit
der Wirkung und des Tones begreifen. Die grenzenlose Verbitterung,
in der Feuerbach aus Wien geflohen war, passte nicht in den Rahmen
eines Buches, das einen Helden kurz nach seinem Heimgange zeigen
sollte. Auch die Mutter des Kunstlers gehdrte dem Geiste nach zu
dem Geschlechte der Feuerbach, denen die Schdnheit ein anderes
Lebenselement bedeutete als den Zeitgenossen, welchen die Wahrheit
Oder die charakteristische HSsslichkeit hoher steht als die edelste Attitude.
Die Briefe Feuerbachs zeigen einen leidenschaftlich kimpfenden
Menschen, dem es nicht gegeben ist, den Widerstand der Welt mit
Fassung hinzunehmen. Er weiss es zwar, dass dem Genius kein anderes
Los hienieden beschieden ist, dass die MittelmMssigkeit, die immer
recht wdgt, eine falsche Wage hat, dass kein echter Ktinstler unter-
gehen kann; aber es ist ihm, trotz aller Einsicht in das Getriebe der
Welt, doch unmdglich, jene heitere Gelassenheit zu erwerben, welche
die Welt von dem Heroen verlangt, der sich im Bewusstsein seines
eigenen Wertes und eines einzigen Schicksals uber alle Unbilden und
Stdsse hinwegsetzt. Freilich ist es keinem Menschen gegeben, die Not
der Zeit als ein Gott zu tragen: — auch den Edelsten haucht zuweilen
jene Verbitterung an, die zu den Menschlichkeiten erlauchter Geister
gehdrt. Wer nicht, wie Michelangelo, in grossen Werken abseits leben
kann, muss reden. Schopenhauer hat es getan, auf die Gefahr bin,
seinen Ruhm bei jenen Tropfen zu mindem, die ihre eigenen Mflngel
an andem doppelt rugen; denn die Welt ist, wie die Kinder, von einera
moralischen Rigorismus beseelt, der dem schaffenden Menschen keine
SchwSche und keinen Flecken verzeiht. Sie vergisst es niemals, wenn
ein Heros sich gegen das platonische Urbild. des Helden versundigt,
das im Einzelfalle auch Nichtidealisten anerkennen, die sonst mehr in
die Pfutzen als in die Sterne schauen.
Wenn man die Feuerbachschen Ergusse liest, so fallen zunlchst
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zwei Eigenschaften des Menschen auf: er ist von unglaublicher Reiz-
barkeit, die in erblicher Belastung ihre ErklMrung findet, und er hilt
mit seiner Zufriedenheit mit der Herrlichkeit der eigenen Leistung
nicht hinter dem Berge. Er erspart der Mutter keine Klage, die der
Not des Augenblicks entspringt. Er muss reden oder schreiben, er
kann einfach nicht anders. Der Augenblick, den er als Kunstler lebt,
ist alles, mag er bitter oder gdttlich sein, mag er ein gequSltes Mutter-
herz aufs Tiefste verletzen oder mit Jubel fullen. Die gleiche F&higkeit
des Ausdrucks steht ihm aber auch fur die heiteren Stimmungen zu
Gebote: er weiss sie in gewdhlten Worten festzuhalten und das »geistige
Reinlichkeitsbedurfnis', dessen er sich rtihmt, lisst* ihn jede schiefe
Wendung vermeiden. Er ist wirklich, als Grosster seiner Rasse, ein
Grandseigneur des Geistes, der weiss, dass der Mensch, der zu den
Gebildeten zMhlen will, schreiben und sprechen konnen muss. Mitten
in einer Klage blitzt oft ein Wort auf, das, als Gegensatz, umso starker
wirkt und die Heiterkeit der Welt reiner Erkenntnis offenbart. Allein
diese olympischen Stimmungen sind nur dazu da, den Kunstler, der
tr&umen und hofFen muss, aufrecht zu erhalten; als Mensch ist Feuer-
bach der ewig Rastlose, Gehetzte, der nichts vergessen und nichts ver-
zeihen kann, zumal er weiss, was das Leben fur ihn sein konnte. Mit
welcher Feinheit betrachtet er das allgemeine Verhiltnis der Kunstler
zu den Frauen! Ich kenne nichts treCfenderes, vom Standpunkt der
Schaffenden aus betrachtet, als die paar Absatze im Vermachtnis, die
von den Frauen handeln : Die Kunst ist eine strenge gdttliche Geliebte,
sie steht der irdischen immer im Wege. Welches Weib begreift und
duldet dies ? — Es gibt wenig Frauen, welche Rhig sind, den Mann um
des Genius willen zu lieben. Es ist die Person und der Erfolg, den
sie begehren. — Hoch oben uber dem kleinen Getriebe alltiglicher
Sorgen ein wahrhaftiges Kunstlerleben in Glanz, Ehre und Reichtum —
und dies alles auf ein liebes, schdnes Haupt niederlegen, das liesse ich
mir gerne gefallen; sonst lieber allein den Flug zur Sonne wagen und
mit verbrannten Flugeln in die Nacht versinken, wenn es denn sein
soil. (Vermachtnis, 187, 188).
Nur unsere Sehnsucht ist schdpferisch. Die moderne Kunst und
Dichtung verdankt eine Reihe ihrer herrlichsten Frauengestalten jener
lieblichsten der Dichterstinden, die, wie Gottfried Keller singt, darin
besteht, ,schdne Frauenbilder zu erfinden, wie die bittre Erde sie nicht
trigt." Auch die Frauen, und besonders die weiblichen Studienkdpfe
des Meisters verraten eine Kunstlersehnsucht, die ihre Modelle aus
innerem Zwange wihlt. Man mag den Hauch herber Melancholie der
auf ihnen liegt, aus der Lebenslage eines armen Mannes erkldren, dem
das Leben nicht hold ist; aber die Auffassung und die Formgebung
zeigt wieder den Sinn Feuerbachs fur das Monumentale, der die Poesie
im Positiven sucht und sein wetbliches Ideal nur in der Romerin, als
einem Wesen findet, das schon durch seine Abstammung mit einer
grossen Welt verbunden ist. Feuerbach wird nicht mude, sein Modell,
die schone Nanna zu malen: er malt damit sein Ideal, das den einen
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Zag seiner Natur zum Grossen, zum Schdnen, im Gegensatz zum
Hubschen, in glinzender Weise belegt Auch die Heiterkeit, die auf
einzelnen seiner Bilder, wie auf den ^Balgenden Buben", dem .Stindchen",
dem ,Urteil des Paris** herrscht, ist eine Heiterkeit sudlicher Formen,
die das Leben noch nicht beschmutzt hat.
Wir haben uns daran gewdhnt, den Menschen und den KQnstler
nicht zu trennen: von einem solchen Standpunkt aus miissen wir, bei
der Lekture der Briefe Feuerbachs, sagen : Was der Mensch durch seine
Bekenntnisse vielleicht verliert, gewinnt der Kunstler doppelt wieder.
Man mag Qber viele Werke des Klassizisten denken, wie man will, der
unvergleichlich hohe Ernst, aus dem sie geflossen, ist tiber jeden Angriff
erhaben. Der Dflmon seines Geschlechtes, der ihn aufwfirts fuhrt, ist
seine Stiitze und sein Stachel ; er Idsst ihn keinen Augenblick vergessen,
wozu er als Auserwdhlter auf der Welt ist. In seinem Bann ertrMgt er
alles: Hohn und Verkennung, Schmach und Not. Ja, dieses Kunstler-
leben ist in Wahrheit eine furchtbare Tragodie, deren schleppende Ent-
wicklung wir jetzt zum ersten Male iiberblicken konnen. Das Bewusst-
sein eines gehemmten Lebens wird in dem reizbaren Manne noch da-
durch gescharft, dass es immer nur an einer Kleinigkeit fehlt, um dem
Ringenden den Becher des Lebens zu ftillen. Das Ausserste, der nackte
Hunger, bleibt dem Vereinsamten zwar erspart; aber seine isthetische Natur,
die weiss, dass sie Gluck und Glanz, Heiterkeit und Verstandnis brauchte,
um in reiner Menschenfreude aufzubltihen, kann nicht zur Ruhe kommen,
weil ihr die voile Sicherheit des Lebens immer fern und femer weicht.
Selbst der MMcen, den die Welt mit seinem Namen in Verbindung
bringt, war nicht der Mann, als welcher er vor der Menge dasteht.
Es geht nicht mehr an» in dem nachmaligen Grafen Schack den auser-
lesenen Kunstfreund zu sehen, als welcher er selbst gelten m5chte : die
Briefe, die der dichtende Mecklenburger Baron an die Mutter des
Kunstlers schrieb, — man findet sie im Anhang des zweiten Bandes
der Allgeyerschen Biographie abgedruckt — sind ganz einfach un-
quali6zierbar. Der Mann hat oflfenbar das Gefiihl, hoch tiber dem armen
Kiinstler zu stehen, den man, so meint er wohl, vielleicht im Interesse
seines ungebMrdigen Talents von Zeit zu Zeit ducken miisse. Von der
schlechten Bezahlung der Bilder will ich nicht reden, obwohl dieser
Umstand zu der verichtlichen GehMssigkeit beigetragen haben mag, die
noch heute unter den Kiinstlern, die mit dem MScen zu tun batten,
gegen den Sammler herrscht und auch die Heimgegangenen beseelte.
Nur die Gesinnung, die der Baron im Verkehr mit seinen Kiinstlern
betitigte, verdient den schirfsten Tadel. Feine Naturen haben in ihrem
Urteil iiber den dichtenden Grafen nie geschwankt. Ich kann mich
hierin auf eigene Erinnerungen stutzen: der geistvolle, mit Feuerbach
befreundete Ludwig von Hagn, mit dem ich oft iiber die romische Zeit
Feuerbachs und dessen Verhflltnis zu Schack gesprochen babe, hat aus
seiner Beurteilung des Sammlers nie ein Hehl gemacht. Man weiss
desgleichen, wie Lenbach und Bdcklin uber diesen geurteilt haben. Es
ist bier auch nicht der Ort, auf die einzelnen Unrichtigkeiten, die das
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Bach des Grafen fiber seine Sammlung enthilt, einzugeben; aber man
darf die Frage stellen: Was bStte aus der Galerie Schack werden
kdnnen, wenn der Graf den Kunstlem Feuerbach, Bdcklin, Lenbacb,
Schwind voile Freiheit des Schaffens gesichert hStte? Welch feinen
Takt hat Konrad Fiedler, der freilich keine Sammlematur war, bewihrt,
indem er Hans von Mar6es, der allerdings sein schwereres Schicksal
einzig and allein in der eigenen Brust trug, die Sicherheit des Lebens
schenktel Und doch verdankt die Welt dem Grafen Schack eine der
kdstlichsten Bildergalerien und auch Feuerbachs Name wird durch sie
hi schdnster Weise lebendig erhalten. Bei gewissen Grundungen muss
man die Mittel und Wege vergessen, die zu ihrem Dasein geftihrt
haben.
6.
Alle .Kunstschreiberei'', von der die Kiinstler, wie billig, nicht
allzuviel halten, wenn sie nicht vorziehen, ihr jeden Wert abzusprechen,
ist sozusagen Historie, die dem einzelnen den Zugang zu auserlesenen
Werken erleichtert, indem sie Zeit und Ort der Entstehung, Natur und
Wesen des Urhebers, Form und Mittel des Ausdruckes, die Bedurhiisse
der Kunstfreunde und die Basis des Handwerks erortert. In das Tiefste
eines Kunstwerkes, das diesen Namen verdient, kann kein Wort fiihren;
jenes verlangt ein untrugliches Auge und angeborenen Kunstsinn, das
,Kunstorgan*<, welches wohl entwickelt, aber nicht gegeben werden kann.
In gewissem Sinne ist nur der ausubende Kunstler zum Kritiker berufen,
well er allein weiss, unter welchen Bedingungen ein Kunstwerk ent-
stehen kann, oder entstehen muss. Die unglaublich schiefen oder
oberflachlichen Urteile, die man von Kiinstlern iiber Kiinstler hdren
kann, andem nichts an dieser Tatsache: wir sind nur fruchtbar um den
Preis der Einseitigkeit, die jeden in seinen Winkel bannt, von wo aus er
das Getriebe der Gestalten oder die Schauspiele der Natur betrachten mag.
Auch Julius Allgeyer (geb. 29. Mdrz 1829 in Haslach, gest. 1900
in Munchen), der Freund und Biograph Feuerbachs hat sich um die
Knnst bemuht: er war Kupferstecher und diesem Beruf verdanken wir
manch verstindiges Urteil uber den Maler, dem er nahe stehen durfte.
Er gehdrt zu jenen Naturen, die zum Freund geboren sind. Fur sie
besteht das Gluck darin, als stille Heldenverehrer in hdheren Naturen
aufzugehen, die auch ein hdheres Schicksal haben. Ftir den stillen Ge-
Rhrten waren die Schopfungen des Meisters und Freundes mehr als
blosser Schmuck des Daseins, sie waren eine Welt, die einem ganzen
Zuscbauerleben Wurde und Bedeutung verleiht. Solche Apostelnaturen
messen alle andem Erscheinungen an den Leistungen ihres Gottes; aber
Allgeyer, der sich durch eigene Kraft in die Hdhe freier Bildung empor-
gearbeitet, war vomehm genug, auch die Einwendungen zu erwShnen, die
eine gotterlose Zeit gegen den halben Hellenen vorzubringen pflegte.
Es ist nicht das erste Mai, dass eine Geistesrichtung, die
strebende Vflter begluckte, in einem SpStgeborenen ihre Vollendung er-
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hielt: die Romantik hat sich, in ihrem ganzen Oberschwang, erst in
Richard Wagner ausgesungen, und die Hoffnungen und Fordeningen der
Generation, die in Goethe und Hegel ihre dsthetischen Lehrmeister ver-
ehrte, hat erst Feuerbach erfiillt, zu einer Zeit, als ein neues Geschlecht
von einer andem Naturauffassung aus die ganze Kunst zu emeuem ge-
dachte, indem es den Stil ganz einfach in dem freien Ausdruck der
Qualitflten eines Meisters sah. Als Feuerbach auftrat, gait er den Zeit-
genossen als iiberschwinglich oder verletzend im Kolorit, und als er
starb, sprach ihm ein rohes Geschlecht, das von andem Meistem her-
kam, die Farbe ab, ohne zu bedenken, dass Form und Farbe nur in
einem bestimmten Verhfiltnis zu einander steben konnen, als zwei MIchte,
deren jede nur auf Kosten der andem ein Oberniass von Leben offen-
baren mag. Viele der rohen Schreier, die nichts ftir sich batten, als
ein gebildetes Auge und eine geschickte Hand, tibersahen dabei ganz
das personliche Element, die vHandschrift'', die Feuerbach trotz seines
bewussten Verhiltnisses zur Renaissance, in fast alien seinen Werken
zeigt; sie vergassen feraer, dass Feuerbach allein schon als Bildnis-
maler und als Darsteller des Kindes eine Bedeutung besitzt, die in die
Zukunft weist. Manche seiner Kopfe verraten ohnehin einen feurigen
Koloristen, der allerdings wusste, dass in seinen Kompositionen, die ein
adeliges Geschlecht heroischer Menschen zeigen, die Farbe, um der
dekorativen Gesamtwirkung willen, zuriickgedringt werden musste. Den
Gegern des Klassizisten konnte man tibrigens mit Ausserungen dienen,
die aus ganz anderm Munde kommen und doch wie eine Rechtfertigung
seines Schaffens klingen. Bocklin meint,*) „die Malerei sollte nur Er-
hebendes und Schones oder doch unbefangene Heiterkeit darstellen
woUen und nie Elend," und Courbet, der unverdSchtigste Zeuge, den man
sich wunschen kann, erklSrt geradezu: La beaut6, c'est rexpressionl*"
Freilich beweisen solche Ausdriicke, in denen ein reines Geschmacks-
urteil liegt, nur, dass man mit Allgemeinheiten, mogen sie auch noch
so treffend sein, jedes Werk rechtfertigen kann, das eben immer wieder
auf eine Natur, als auf ein granitenes Fatum, zuriickfuhrt.
Vielleicht schadet es der strengen Kunst Feuerbachs, dass sie sich
zu sehr an den Intellekt wendet. Es ist begreiflich, dass moderne
Kunstler, die in der Treue der Naturbeobachtung ein Dogma sehen und
vor allem dem Problem des Lichtes mit fanatischem Eifer nachgehen,
nichts von einer verschonerten Natur, von Grossheit der Form und
Shnlichen Forderungen wissen woUen. Schdnheit und Betonung des
Charakteristischen schliessen sich in vielen Fallen aus, schon weil die
Schdnheit im Menschen immer nur ein Glucksfall ist, den man suchen muss.
In Feuerbach ist aber die Kultur fast noch michtiger als der
Naturtrieb, der ihn auf gewisse Motive hinlenkt und erst dann ge-
staltend wirkt, wenn irgend eine zuflllige Anschauung oder Farben-
empBndung mit einem seelischen Erlebnis zusammenschmilzt.
Jede Kunst ist ein SicherinnemI Damit aber ist der Persdnlichkeit
Schick, Tagebucb. S. 200.
157 ^
ihr altes Recht eingerSumt, die hdchsten Momente ihres Lebens fest-
zuhalten und in einer stilvollen Wiedergabe zu verklSren.
Schdnheit selbst ist im Gninde nichts anderes als die Wiedergeburt
eines Natureindrucks. Dieser Satz rechtfertigt nicht nur die Kunstler,
velche der Farbe, die das Leben gibt, allein Ssthetische Wirkung zu-
gesteben, sondern auch jene Naturen, die den empfangenen Eindruck
reinigen mussen, weil sie ein SchSnheitsideal in der Seele tragen,
das ibre Hand leitet und ibr Auge tyrannisiert
Das Verzeicbnis der Werke Feuerbacbs umfasst 772 Nummem,
ansgefubrte Werke, Studien und Zeicbnungen. Eine solche Produktions-
kraft ist wabrbaft damoniscb und nur durcb Feuerbacbs souverines
Verbaitnis zur Natur, die er unaufborlicb studiert, und zu den alten
Meistem erklflrlicb. Als Tecbniker, den keine modemen Licbtprobleme
bewegen, ist der Ktinstler Musserst solid: seine Bilder, die er oft ein
Jabr lang ungefimisst dasteben Hess, baben sicb alle vortrefTlicb gebalten.
Die neueste Zeit bat es vergessen, dass Menscb und Ktinstler in
innigstem Verhflltnis zu einander steben. Icb meine, nur ein grosser
Menscb kann aucb ein grosser Kunstler setn. Die Grdsse eines
Menschen, der berufen ist, Scbdnbeit zu scbafFen, beruht aber in erster
Linie auf der Treue gegen sicb selbst, die Fieiss und Ausdauer, Selbst-
verleugnung und Mut, reine Gesinnung und Bildung des Herzens und
der Sinne verlangt. Feuerbach bat diese Treue im allerbochsten Grad
bewiesen. Wie viele seiner Werke im Bewusstsein der Nation weiter-
leben werden, wird die Zukunft lebren; in ein inniges Verbiltnis zu
dieser Welt abgeklSrter Gestalten werden immer nur einzelne gelangen,
und wir diirfen uns gestehen, dass es aucb mit grosseren Meistem
nicht besser bestellt ist. Wer aber ein Gott ist, findet immer seine
Gemeinde, und das reinste Wort des Trostes, das allerdings eine edle
Seele voraussetzt, hat Feuerbach selbst gesprochen, indem er seine
Aufzeichnungen mit der Ausserung abschloss: .Die Gerechtigkeit wobnt
in der Geschicbte, nicht im einzelnen Menscbenleben.*
Hugo Wolfs kOnstlerischer Nachlass.
Von Max Reger in Miincben.
Es wire eine bocbinteressante Aufgabe, festzustellen, wie oft der
Name Hugo Wolf in den Jabren 1903 und 1893 in den Programmen
unserer Liederabende und sonstigen Konzerte vertreten ist, beziebungs-
-tHg 158
weise war. Das Resultat dieser Untersuchung, die allerdings gar nicht
so einfach wire, wurde selbst fur den Musiker der sich um die Pro-
graromentwicklung der letzten zehn Jahre gekummert hat, geradezu
verbluffend sein. Vor einem Jahrzehnt ginzlich unbekannt — und
heutzutage als Franz Schuberts Freund und Bruder im Geiste von alien
Seiten anerkannt, bewundert, bejubelt! Selbst das Publikum fSngt aller-
orten an, Hugo Wolfs Lieder zu — kaufen. Unsere Dilettanten singen
mit Begeisterung schlecht und recht Hugo Wolf. Sogar unser Munchener
Hoftheater, das bekanntlicb die Neubeiten dutzendweise auffuhrt, —
Verzeihung, verschiebt, — hat den i^Corregidor*" zu erfolgreichster Auf-
fuhrung gebracht, und eine Menge anderer Hof- und Stadttheater haben
eben falls die Absicht, die Oper noch in dieser Saison ihrem » Wolfs-
hungrigen' Publikum zu bieten. Unsere Tageszeitungen und schdn-
geistigen Organe verdffentlichen zahllose Charakteristiken und AufsStze
fiber Hugo Wolf. Ja, demnlchst soli in Wien das erste Denkmal des
Gefeierten enthiillt werden, und — o hehre Emingenschaftl — sogar
Ansichtspostkarten mit Hugo Wolfs Bildnis gibt es zu kaufen I Es steht
wahrbaftig herrlich, einzig, unubertrefflich um die Kunst Hugo Wolfs.
Wie aber stand es um Hugo Wolf im Jahre 1893?
Unsere deutsche Kunstgeschichte, die ja ohnehin schon tiber eine
imponierende Menge tadellosester, aber hochst trauriger Blamagen ver^
fugt — ich erinnere an die AfFMren Bach, Mozart, Beethoven, Schubert,
Schumann, Wagner, Bruckner — kann den Fall Hugo Wolf mit be-
rechtigtem Stolz zu ihren Schatzen legen, die nie von Motten zerfressen
werden konnen, da diese Blamagen unsterblich sind. Die Zeiten, in
denen Hugo Wolf in einer Berliner Kritik mit dem ehrenvollen Titel
eines „verminderten Quartsextaccordfexen** belegt wurde und es von
den eingMnglichsten, entzuckendsten Schopfungen des Komponisten hiess,
dass i,diese Lieder bei Wiederholungen nicht gewinnen", sind noch gar
nicht lange her. Eine Zeitlang gait es geradezu als Narretei, Hugo
Wolf zu singen, und unsere SSnger und Sangerinnen waren, mit sehr
seltenen Ausnahmen, nicht dazu zu bringen, auch nur ein Lied des
verminderten Quartsextaccordfexen in ihr Repertoire aufzunehmen.
Selbst von emsthaften Musikem wurde man mit mitleidtgem LScheln
betrachtet, wenn man den Namen Hugo Wolf nicht spottisch aussprach.
So wird von einem einflussreichen Musiker, den jungst alle Zeitungen
beweinten, erzihlt, dass er auf die Bitte, doch Hugo Wolf aufzufuhren,
die klassische Antwort gegeben babe: »Nein, blamieren tu' ich mich nicht.*
Unser gutes deutsches Publikum glaubte und glaubt naturlich alles,
was ihm eine urteilslose Kritik (deren hochst ehrenwerte Ausnahmen
ich ubrigens bier ausdrucklichst anerkennen mdchte) in unzflhligen, ver-
nichtenden Besprechungen fiber den Tondichter vorsetzte; und dieses
selbe Publikum wfirde sich heute, ein Jahr nach Hugo Wolfs Tode, in
einem Ihnlichen Falle genau wieder so verhalten. (Siehe Hans Pfitzner!)
Selbst der Berliner Musikkritiker, der neulich Beethovens grosse b-dur
(Hammerklavier-) Senate im Berliner Tageblatt ein .konzertfeindliches
Studienwerk" nannte, vermag den alleinseligmachenden Glauben des
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deutschen Zeitungslesers nicht zu erschuttern. Es ist ja viel, viel
bequemer, das Urteil des Herrn X. itn langjMhrigen Leibblatt zu lesen,
zu acceptieren, sich ^leithammeln'' zu lassen, als sich ein eigenes
Urteil auf Grund genauer Kenntnis und wahrhaften Verstdndnisses
zu bilden. Mit welch himischem Vergnugen las man da, dass sich
dieser Hugo Wolf herausnehme, Lieder zu komponieren, die ganz
anders seien, als die mit Recht so beliebten sanglichen, gefSlligen
Lieder von Hildach, Meyer-Hellmund u.s.w. Und dabei ubersah man
vollst&ndig, dass es fur die Herren Referenten viel ehrenvoller gewesen
wire, wenn sie ihre eigene krltische Impotenz in hdflicherer Weise
zur Schau getragen batten, als so hahnebuchen zu schimpfen, wie es
tatsichlich Hugo Wolf gegenuber geschehen ist.
Wundem wir uns nicht! Es gibt auch heute noch Leute, die mit
sauersusser Miene den Konzertsaal verlassen, wenn irgend ein Werk
von Brahms gespielt wird. Und wieder andere, die manchmal sogar
Musiker oder selbst Komponisten sein wollen, sitzen wfihrend eines
Brahmsschen Stuckes in einer Unruhe da, als batten sie getauften
KrStzer getrunken. Man erinnere sich auch der Begeisterung, mit der
unser Publikum vor kurzer Zeit das Uberbrettl begrusste; und noch
heute ist es entzuckt und hingerissen von vielen Uberbrettlliedern,
Kompositionen von unheimlicher Banalitit und Gemeinheit. Mit welcher
Gier werden all die ^verruchten'', entsetzlichen Lieder verschlungen, die
von einigen Komponisten mit beneidenswertem pekuniSrem Erfolg auf
den Markt geworfen werden!
Wie aber 'passt Hugo Wolf, dieser weltabgewandte, so tief ver-
innerlichte Tonpoet zu der nicht wegzuleugnenden Tatsache des ver-
schlechterten Geschmacks? Und doch, es ist nicht zu leugnen: Hugo
Wolf, der nie um die Gunst des Volkes, um die Anerkennung seiner
Zeitgenossen buhlte, ist Mode geworden! Vor einigen Wochen meldeten
die Zeitungen, dass eine grosse Verlagsfirma einen Teil der GesSnge
Hugo Wolfs um den Preis von 200000 Mark erworben babe. Der
Tondichter hat in seinem ganzen Leben aus seinen samtlichen Kompo-
sitionen nie soviel eingenommen, als die jMhrlichen Zinsen dieser
Ankaufssumme betragen. Es gehdrt heutzutage zum guten Ton, fur
Hugo Wolf zu schwirmen. Ob es mit Verstandnis, mit Kenntnis ge-
achieht, das ist gleich; danach fragt kein Mensch; die Hauptsache ist,
dass geschwMrmt wird und man sich dadurch ein unendlich vomehmes
Air gibt. Bis aber Hugo Wolf dem deutschen Volke wirklich das wird,
was ihm Schubert und Schumann sind, dazu wird es noch einer langen
Reihe von Jabren und vieler Muhen bedurfen. Mochten sich diejenigen
unserer Blotter, die seit Jabren das Banner des Komponisten hochhalten,
nie verdriessen lassen, immer und immer wieder auf den Tonpoeten
Hugo Wolf erlSutemd und belehrend hinzuweisen, damit wir es noch
erleben, dass er nicht Mode, sondem Herrscher im liederreichen Herzen
des deutschen Volkes werde.
Die Schitze, die dieser gottbegnadete Musiker uns hinterlassen hat,
Hegen da und brauchen nur mit Begeisterung und freudigster Bewunderung
^ 160
geboben zu werden. Doch vergesse man dabei nicht, dass wir nicht nur
kostbarste Lieder and Gesdnge von ihm besitzen, sondern, dass er uns fast
auf jedem Gebiete der musikaliscben Produktion wertvoUste Schdpfungen
geschenkt hat. Diesen fast gSnzIich unbekannten Werken, die erst seit
dem Tode ibres Autors der Offentlicbkeit zuganglich sind, wird sicher
ein besseres Los beschieden sein, als es im Anfang seiner Lyrik ver-
gdnnt war. Denn er, der Schdpfer, ist hinQbergegangen, und damit die
Hauptbedingung, dass man diese Werke auffiihre, beklatsche und bejuble,
erfullt.
Unseren Chorvereinigungen bietet Hugo Wolf in seinem nach-
gelassenen Chorwerk „Christnacht* (von Platen) fur gemichten Cher
mit Orchester eine nicht warm genug zu empfehlende Aufgabe. Die
Behandlung des Chors ist, wie selbstverstSndlich, meisterhaft; nirgends
werden an die LeistungsfShigkeit der Sanger nur irgend welche nennens-
werten Anforderungen gestelit. Trotz der fast durchweg homophonen
Behandlung des Chors ist dteser doch von reizvollster Charakteristik,
und diese wird durch den feinsinnigen Orchesterpart aufs glucklichste
untersttitzt. LeistungsfShige Kirchenchore oder auch weltliche Vereine
sollten, um ihrem zuweilen recht tristen Repertoire aufzuhelfen, fleissigst
die sechs geistlichen Lieder nach Gedichten von Josef von Eichendorff,
<a capella) singen (wie auch die weiterhin besprochenen Werke bel
Lauterbach und Kuhn in Leipzig erschienen). Es sind das ganz aus-
gezeichnete Chorsachen, von denen einige als schonste zu bezeichnen
nicht gut moglich ist, da sie alle von kraftvollster Eigenart zeugen.
Dieselben Chore sind auch in einer Bearbeitung fur MMnnerchor
zu haben, und es wire als wahres Labsal zu begrussen, wenn durch
diese ernsten, allem Seichten und Oberflachlichen so gSnzlich abholden
GesMnge eine gehdrige Bresche in die chinesische Mauer der unseligen
Liedertafelei gelegt wurde. VerschwSnde dadurch vollends das .deutsche
Lied** des bdhmischen Komponisten Wenzeslaus Kalliwoda, so ware das
auch welter kein Ungluck. Treibhauspatriotismus gedeiht nicht! Leider
hat sich bis jetzt nur eine einzige Chorvereinigung gefunden, die diesen
herrlichen Werken nSher getreten wSre.
Sehr erfreulich ware es femerhin, wenn unsere Streichquartett-
vereinigungen recht fleissig das gleichfalls nachgelassene, d. h. sozusagen
zufillig aufgefundene Jugendwerk Wolfs, ein Streichquartett in d-moll,
spielten. Dieses Werk, das ja unverkennbar alle Merkmale eines Jugend-
werkes an sich trSgt, birgt aber doch soviel des Schdnen und Inter-
essanten in sich, dass man ihm schon aus pidagogischen Grunden recht
oft in den Programmen begegnen sollte. Man kdnnte dadurch von ihm
aus die bequemste Brucke zum spSteren, wirklichen Hugo Wolf schlagen.
Dass das Werk Mingel hat, ist schon angedeutet worden. ZunSchst fillt
eine nicht wegzuleugnende, gelegentlich zu bemerkende Unkenntnis des
technischen Satzes fur Streichquartett sehr ins Auge; sodann ist die
Melodik an manchen Stellen noch etwas unfrei. Man fuhlt, was der
Komponist woUte und nicht erreichte, weil ihm das rein technische
Kdnnen fehlte. Hier und da hapert es auch mit der Reinheit des
^ lei
Satzes. Dafur entschSdigt aber eine herbe, tiefgefuhlte Leidenschaft*
lichkeit der Tonsprache, ein fortreissendes Temperament, das sich
besonders in den Ecksitzen sturmisch Bahn bricht; und auf Scbritt
und Tritt begegnet man auch scbon dem echten Wolf in Stellen, die
eben nur er zu schafFen vermochte. Weniger kann ich mich mit den
soeben erschienenen Jugendliedern befreunden. Naturlich ist es von
hdchstem Interesse, die Uranflnge Wolfscher Lyrik kennen zu lernen.
Aber der Unterschied zwischen diesen unter dem Titel ^Aus der
Jagendzeit'' erschienenen Liedem und den GesMngen, die Wolf selbst
herausgegeben hat, ist zu gross, als dass es ratsam wire, diese Jugend-
sachen ins Kohzert zu verpflanzen. Vergleicht man diese Anfinge
Wolfscher Lyrik mit seinen reifen Meisterliedem, so ahnt man erst,
mit welch unerbittlicher Selbstkritik, mit welch eisemem Fleiss er an
sich selbst gearbeitet haben muss, so dass er ofifenbar wirklich keine
Zeit hatte, sich viel mit .seelischen und innerlichen Erlebnissen* ab-
zugeben, und man errSt auch, dass er gleichfalls nicht zu jenen frommen
Komponisten zdhlte, die immer nur sich selbst anbeten. In dieser seiner
enormen Selbstkritik ist Hugo Wolf unserer allerjungsten Komponisten-
generation ein leuchtendes, nicht oft genug in bedeutsamste Erinnerung
zu bringendes Vorbild. Die Jugendlieder Wolfs geben den jungsten
Titanen, welche jungen Herren ja symphonische Dichtungen, Symphonien
und grosse GesMnge nur mit grdsstem Orchester in einem Alter gebSren,
in dem andere Sterbliche noch die harte Schulbank zieren, die fatale
Lehre: ^Klein beginnen, gross endigen!"
Auch als Erzieher kdnnte Hugo Wolf Grosses wirken.
Gleichwohl ist die Herausgabe dieser Jugendlieder insofern nur
ft-eudigst zu begriissen, als deren leichte Ausftihrbarkeit sowohl was
die stets bequem sangbare Singstimme, als auch die fast immer sehr
einfache Klavierbegleitung betrifft, daftir gewissermassen garantiert, dass
die Masse des musikalischen und unmusikalischen Publikums, das ja stets
nach technisch leichteren Sachen greift, dabei seine Rechnung findet.
Im gleichen Verlag ist sodann aus dem Nachlass weiter erschienen
die .Italienische Serenade fur kleines Orchester**, von welchera Werke
leider nur der erste Satz vollendet vorliegt. Dieses reizende Werk, das
zu dem Entzuckendsten gehort, was wir iiberhaupt auf dem Gebiet der
Serenade besitzen, wird wohl bald Repertoirestlick aller besseren Orchester
sein. Dieser eine Satz — Gott sei's geklagt, dass wir nur diesen Satz
babeni — ist von solch bezaubemdem Klangreiz, von solch bestrickendem,
hochoriginellem Kolorit, dass er sicherlich bei entsprechend feinsinniger
Ausfiihrung hellste Begeisterung entfachen wird. Die Orchesterdirigenten
mache ich darauf aufmerksam, dass es sich empBehlt, die Solo-Bratsche
dieses Stuckes durch eine Alt-Hoboe zu ersetzen, wodurch die Wirkung
zweifellos gesteigert wird. Hugo Wolf selbst hat von dieser italienischen
Serenade eine Bearbeitung ffir Streichquartett hinterlassen.
Die Krone aller Hugo Wolfschen Orchester-Kompositionen ist aber
unstreitig seine symphonische Tondichtung ,Penthesilea«. Was hatte
der so fruh verstorbene Meister — vorausgesetzt, dass er gesund ge-
S&ddeutsche Monatshefte. 1,2. 11
162
blieben "vdre — auf diesem so heiss umstrittenen, von so vielen Be-
rufenen und Unberufenen bebauten Feld der symphonischen Dichtung
fiicht noch Oberragendes schaffen kdnneni Ich halte seine symphonische
Dichtung ^Penthesilea' (nach Helnrich von Kleists gleichnamigem Trauer-
spiel) unbedingt fur eine der bedeutendsten, lebenskriftigsten Schdpfungen^
die uns die letzten Jahrzehnte gebracht haben. Die Themen sind von
genialer Prignanz; die Erfindung erlahmt nirgends. Auch frdhnt Hugo
Wolf — in meinen Augen ein gar nicht hoch genug zu schatzender
Vorzug — nie dem heutzutage so beliebten, selten seine Wirkung ver-^*
sagenden Stimmungsdusel. Schlag auf Schlag, ohne jedwede uberflussige^
mehr oder minder jammerliche, abgedroschene Phrasenmacherei, braust
das wundervolle Tongedicht voriiber. Gleich das erste Thema, den
Aufbruch der Amazonen nach Troja symbolisierend, ist von elementarer
Wucht und in hochst fesselnder Steigerung aufs uberzeugendste weiter
entwickelt. Man beachte wohl, wie in dieser ersten Abteilung so ziem-
lich alle Themen des ganzen Werkes, in geistvollster Weise kontra-
punktierend, nach und nach auftreten. H5chst originell ist die Oberleitung
zur scharf sich abhebenden, einen wohltuenden Kontrast bildenden Episode
«Der Traum Penthesileas vom Rosenfest**. Grosse edelgeschwungene Linien
der Melodik, Susserst duftige Instrumentation, gewahlteste Harmonik^
(hoffentlich nicht pervers fur gewisse Ohren), verleihen dieser Episode
eindringlichst poetischen Reiz. Eine knappe, immer leidenschaftlicher
werdende Steigerung fuhrt zu dem Absatze ^KSmpfe, Leidenschaften,
Wahnsinn, Vernichtung" — dem Hohepunkt des ganzen Werkes. Was
Hugo Wolf hier an Charakteristik und SchMrfe des Ausdruckes, an voll-
endeter Beherrschung des musikalisch-technischen Apparates bietet, ist
hochsten Lobes wert. Erbarmungslos sausen die stahlharten Harmonien
hemieder; mit ganz eminenter kontrapunktischer Kunst werden die
Motive gegen einander gefuhrt. Der tosende Aufruhr beruhigt sich
allmahlich, um zu einem visionaren Auftauchen des Tonsymbols des
Traums vom Rosenfest zu fuhren. (Seite 83 der Partitur.) Aber nicht
lange dauert der beseligende Traum Penthesileas; die Tonsprache wird
immer leidenschaftlicher, immer drMngender, um schliesslich in einen
wahren Taumel der Raserei zu geraten. Was Hugo Wolf hier (besonders
von Seite 80 der Partitur an) an geradezu diabolischem Charakterisierungs-
vermogen leistet, ist unbeschreiblich. Wie hier die Motive in unerhdrter
Ktihnheit aufeinanderplatzen, wie besonders die Harmonik alien guten
alten Regeln Hohn spricht und viel, viel Periickenstaub aufwirbelt, wie
sich da alles so unwiderstehlich steigert und steigert, bis schliesslich
das eheme, von drdhnenden Posaunen gebrachte Vemichtungsmotiv den
rasenden Taumel mit elementarer Wucht zerschmettert: das alles Idsst
wieder so recht fuhlbar werden, welch unersetzlichen Verlust die Kunst*
welt in Hugo Wolf erlitten hat. Nach dieser ungeheuren musikalischen
Katastrophe (Seite 105 — 110 der Partitur) erscheint nach gespenstisch
sich verlierenden Bissen in den Streichem wieder das Motiv von
Penthesileas Traum vom Rosenfest. Die Holzblaser greifen es in
zartesten Farben auf. Es folgt ein erneuter Ausbruch wildester Ver-
^ 163
zweifluog, vom erbarmungslosen Vernichtungsmotiv zerstampft; alsdann
in geteilten ersten Violinen das Symbol des Traums vom Rosenfest,
dampfe, gerissene Schlige der Streicher, und die gewaltige Tragddie
klingt in einem lang gehaltenen f-moU-Accord der Holz- und Blech-
bliser aus.
Hitte Hugo Wolf nur dieses eine Werk geschrieben, die Kunst-
geschichte musste ihn in die erste Reihe alter Tondichter stellen. Es
ist deshalb mit unverhohlenster Freude zu begrussen, dass dieses kolossale
Werk schon diesen Winter eine Reihe von Auffuhrungen erleben soli
<ich bdre von 25). Da der Komponist der Penthesilea tot ist, liegt eben
die Sache sehr gunstig fur ihn. Tote Komponisten vermSgen selbst
komponierenden Dirigenten nicht mehr gefihrlich zu werden.
Wie ich kurzlich hdrte, sollen sich noch einige Werke im Nach-
lasse Hugo Wolfs vorgefunden haben. Ob es sich um Jugendwerke oder
reifere Schdpfungen handelt, welchem Genre der Komposition dieser
Nachlass angehdrt, ist mir unbekannt. Ich habe mich vergebens bemuht,
Naheres zu erfahren. Sobald ich aber in der gliicklichen Lage sein
verde, mir die in Frage kommenden Schopfungen, darunter das Opem-
fragment ^Manuel Venegas"* zu verschaffen, werde ich nicht sftumen,
auch dariiber ein Wortlein zu sagen.
Vielleicht hat das Beispiel Hugo Wolfs die Nachwirkung, dass sich
alle die zusammenschliessen, die frei von jeglichem Parteihass, Cliquen-
wesen und alien riickwirtsblickenden Tendenzen an eine gesunde, frucht-
bare Weiterentwicklung unserer deutschen Musik glauben. Sollte es
aber immer noch Musiker, Komponisten oder engere Komponistenkreise
geben, die durch gesellschaftliche und andere Verbindungen sozusagen
einen Ring geschlossen haben, und denen Hugo Wolfs Erscheinung und
unser Bestreben, Wolfs wunderbare Kunst im edelsten und weitesten
Sinn zu popularisieren, an und fur sich unbequem oder schrecklich
wire, so mdchten wir diesen Herren die Versicherung geben, dass wir
nicht Gdtter zum vergeblichen Kampfe gegen sie aufrufen werden. In
Anbetracht seines schweren Schicksals ist es tief zu bedauem, dass
Hugo Wolf keine Denkwurdigkeiten hinterlassen hat, denen er das
Gustav Falkesche Gedicht zum Geleitwort hItte geben kdnnen:
Mit Peitschen will ich euch schlagen
Mit flammenden Peitschen,
Bis ihr aufschreit:
Halt ein,
Wir haben gefreveltl
Wo Bind die gemordeten Seelen,
Die Opfer eurer schlangengiftlgen Klugheit?
Leicht, froh sprang er ins Feld,
Der Genius mit dem KinderUchen,
Seine Hand klatschte Lust
Und sein Mund t5nte
Freudengeslnge.
-5-8 164 8^
Und ihr schlugt ihiiy
Und kreuzigtet ihn mit Hunger
Und lacbtet:
Sehty welch ein Narr!
£s gehort zum Wahn der Nachlebenden, dass sich die Tragodie
des Genius nicht mehr wiederholen werde. Inwieweit die Musiker, nicht
das grosse Publikuniy an gewissen ZustSnden Schuld tragen, set hier
nicht erdrtert. Vielleicht darf man vielen der selbstgef911igen Herren
empfehlen, ein wenig mehr die Fachorgane zu lesen, und den Redak-
teuren die Mahnung nahelegen, doch ein bisschen mehr auf KQnstler zu
horen, die etwas konnen, und nicht auf das Geschrei der MIrkte und
Macher. Wenn es sich um ,Menschenbeifall* handelt, warden freilich
immer die Worte Hdlderlins gelten: ,Ach, der Menge gefillt, was auf
den Marktplatz taugt. An das Gdttliche glauben die allein, die es
selber sind.*
Die Tagebttcher von Alban Stolz.
Von Josef Hofmiller in MCinchen.
Am 16. Oktober waren es 20 Jahre, dass Alban Stolz starb. Im
Novemberhefte seiner Zeitschrift ,Auf der H5he* widmete ihm Leopold
von Sacher-Masoch einen Nachruf, den er also einleitete: »Vor kurzem
schied ein deutscher Autor von uns, dessen Verlust nicht allein fur die
katholische Welt, in der er vorzuglich glanzte, sondem fur ganz
Deutschland ein schmerzlicher ist» denn er war in jeder Richtung
eine Zierde unserer Literatur. Alban Stolz war ein guter Katholik, das
ist richtig, und es gereicht ihm zur Ehre, denn als katholischer Priester
wire er zu verachten gewesen, wenn er es nicht gewesen wire; aber
er war kein Ultramontaner; wire er es aber gewesen, so wiirde auch
dies uns nicht hindern, den edlen Menschen, den mutigen, uberzeugungs-
treuen Mann, den geistvollen Schriftsteller in ihm anzuerkennen. Es
ist leider von Berlin aus ein arger hisslicher Ton in unsere Tages-
presse gekommen; im besten Falle ist der Standpunkt einer Partei, in
der Regel aber nur jener einer Clique massgebend. Alles, was nicht
in dasselbe Horn blist, wird mit blindem, gehissigem, und — sagen wir
es einmal ungeschminkt — mit albemem Eifer bekimpft. Dieses klein-
liche Treiben deutscher Kritik, das uns in den Augen des Auslandes
165
als eine Philisterbande par excellence, als das unsterblicbe literarische
KrShwinkel erscheinen und gelten lisst, mahnt uns immer wieder. an
Molidres Femmes savantes:
Nul n'aura de resprit, hors nous et nos amis.
Nous chercherons partout k trouver k redire,
Et ne verrons que nous qui sachent bien 6crire.
In Frankreich ist dieser Standpunkt der sich brustenden Mittel-
mlssigkeit und Borniertheit vollstdndig uberwunden.''
So schrieb Sacher-Masoch vor 20 Jahren. Inzwischen ist es ja un-
vergleichlich besser geworden, wie wir alle wissen.
Als ich beuer in Genf wieder einmal das Journal Intime von Henri
Fr6d6ric Amiel vomahm, ging mir plotzlicb der Gedanke dnrcb den
Kopf, ob wir denn in Deutschland nicht auch einen Tagebuchschreiber
von ahnlicher Geistesanlage bitten. Da erinnerte ich mich des katho-
lischen Theologen Alban Stolz, dessen Tagebucher ich seinerzeit mit
Begeisterung gelesen hatte. Nach der Ruckkehr suchte ich sie wieder
vor und hatte abermals den Eindruck, dass Stolz in dem von ihm sehr
wenig geliebten Frankreich sicher mehr Anerkennung gefunden hatte,
als bei dem Volke, das jemand vor sehr langer Zeit das Volk der
Dichter und Denker genannt hat; in Frankreich wire Stolz langst als
ein klassischer Tagebuchschreiber geehrt. Wenn man sich, wie ich,
einige Zeit mit dem deutschen Theater der Gegenwart befasst hat, be-
kommt man eine Art Heisshunger nach reinerer Luft, nach besserem
Umgang, nach Ideen; eine Personlichkeit wie Alban Stolz erquickt einen
dann wahrhaftig.
Hier sind die Hauptdaten seiner Biographie: Geboren am 8. Februar
1808 als das sechzehnte Kind einer dltlichen Mutter, 8 Jahre Lyceist
in Rastatt, 3 Jahre Theologe in Freiburg, dann in Heidelberg, wo er
auch Philologie und Jurisprudenz studierte, 1833 zum Priester geweiht,
Vikar zu Rothenfels im Murgtale, dann in Neusatz, Lehrer fur Religion,
Latein, Franzdsisch und Griechisch am Gymnasium zu Bruchsal, von
hier wegdenunziert und weggeekelt, 1843 — 47 Repetent am Freiburger
Priesterseminar, von hier wegdenunziert und weggeekelt, 1847 — 1883
Professor der Pastoraltheologie an der UniversitUt Freiburg, von wo ihn
wegzudenunzieren und wegzuekeln viele, jedoch erfolglose Versuche
nntemommen wurden. Seine gesammelten Werke fullen 19 BMnde;
daneben existiert eine billige Volksausgabe in 10 BMnden. Seine be-
kanntesten Bucher sind .Spanisches fur die gebildete Welf* und »Be-
such bei Sem, Cham und Japhet*". Am bedeutendsten erscheinen mir
die drei Binde seiner Tagebucher: ^Wltterungen der Seele* — ^Wilder
Honig'^ — ^Dfirre Kriuter''. Von ihnen soli hier ausschliesslich die
Rede sein.
L
.Ich wusste nicht, wozu ich in frtiheren Jahren meine Tagebucher
schrieb; es war ein Naturtrieb, nicht aber ein fiber den Augenblick
^ 166 8^
des gefuhlten Bedurfnisses hintusgehender Zweck/ sagt Stolz einmal
von seinen Tagebucheintragen, die uberall den Eindruck reiner Echtheit
nnd Ehrlichkeit, nirgends den der selbstgefailigen, frisierten und drapier-
ten Pose machen. Die Echtheit ist ja schliesslich nur ein einziges, and
noch nicht einmal das entscheidende Kriterium fur den psychologischen
Wert von Selbstbetrachtungen : auch Eintrige, in denen der Schreiber
vor sich und vor der unausbleiblichen Nachwelt ein wenig Komodie
spielt, gew§hren dem neugierigen Psychologen einen feinen Genuss.
Rein menschlich jedoch tut es unsdglich wohl, in drei dicken Binden
keine merklichen Spuren widerlicher Eitelkeit und Filschung des eignen
Bildes zu finden. Es hdngt dies zum Teil damit zusammen, dass Stolz
in seinen Tagebuchern zugleich sein Gewissen erforschte und die Bilanz
seines geistlichen Lebens zog. Man glaubt hinter all seinen Selbst-
erforschungen und Selbstanklagen die mahnenden Worte des Evangeliums
zu hdren: ^Lernet von mir, denn ich bin sanftmutig und demtitig von
Herzen.* Der reichbegabte Theologe schwebte in unaufhdrlicher Furcht,
ob er denn auch demtitig genug und ob seine Demut auch echt sei,
nicht nur eine sublime Form der Eitelkeit. Als ihm ein derber Freund
einst lachend den Vorwurf machte, er habe ihn stark im Verdacht der
OriginalitMtshascherei und glaube, dass er vor lauter Hochmut ob seiner
vermeintlichen Demut schier zerplatze, antwortete Stolz nach einer
Pause in ungewdhnlichem Emste: „Sie konnten recht haben.*" Die Furcht,
Eitelkeit mochte das geheim treibende Motiv sein, hielt ihn lange zuruck,
seine Tagebiicher herauszugeben. Dann aber siegte der Wunsch, Gutes
zu wirken. Aus Briefen, Begegnissen und Mitteilungen wusste er, wie
tief manche seiner Schriften auch auf Andersgldubige gewirkt batten.
Seine Freunde bestStigten ihm das eigne Gefuhl, dass der Inhalt seiner
Tagebucher anziehender sei, als die Mehrzahl seiner verdfFentlichten
Bucher. So gab er selbst sie heraus; sie soUten wirken, trosten, zum
Nachdenken anregen. Nicht ein Nachlassverwalter sollte sie nach Gut-
dunken der OfFentlichkeit preisgeben. Schliesslich aber stand Stolz auch
seinen eigenen psychologischen Dokumenten mit einer gewissen kuhlen
Fremdheit gegenuber. Auch fur ihn erzfthlten seine Bucher nur von
seinen Uberwindungen.
II.
Dass der Schreiber dieser Tagebucher ein katholischer Priester
und Theologe war, erhdht ihre Originalitit und ihr psychologisches
Interesse. Der katholische Priester ist gegenwSrtig nicht sehr beliebt;
man IMsst dem Stand die Fehler einzelner Vertreter entgelten. Kaum
ein Stand aber ist so vogelfrei und wehrlos den Angriffen gewisser
WitzblStter ausgesetzt, die aus den geschmacklosesten Beleidigungen des
katholischen Priesterstandes eine stehende Rubrik gemacht haben; ge-
liefert und belacht wird diese Rubrik insbesondere durch unreife
Burschen, denen die christliche Moral ebenso unbekannt ist wie irgend
eine andere. Man mag uber manche Priester denken wie man will,
167 8*^
msg in vielem ihr Gegner sein und ihr Auftreten in der dffentlichkeit
nicht iminer billigen, aber dariiber muss jeder anstindige Mensch empdrt
sein, dass gegen keinen Stand solch ehrenriihrige und krankende Witze
seit Jahr und Tag systematisch fabriziert werden, wie gegen den des
katholischen Priesters. Ich hebe als Gegenbeispiel einer ungeschmeichelten
tind kunstlerischen Behandlung des Problems das priesterliche Milieu
von Max Halbes ,,Jugend^* mit Auszeichnung hervor.
Die grossere Intensitit des religidsen Innenlebens hat der Priester
vor andem Menschen als Standespflicht voraus. Er hat seine Welt der
Probleme fur sich, ein weites reiches Gebiet innerlicher Erfahrung*
Durch Katechese, Predigt und Beichtstuhl wird er zum Psychologen
erzogen. Das Zdlibat bewahrt ihm Selbstandigkeit und das unschatzbare
Gluck einsamer Entwicklung. Viele Beurteiler des geistlichen Standes
glauben, oder geben sich den Anschein zu glauben, als sei die Ehe-
losigkeit dem Priester ein bestindiger Stachel, sein Hauptkummer, und
der eine Punkt, von dem aus all seine Leiden zu kurieren seien; sie
verkennen, dass die Mehrzahl dieser armen Zolibatare froh und gluck-
lich sind nicht verheiratet zu sein, und uber das bertihmte Familien-
gliick ihnlich skeptisch denken wie' Stoiz: ^Nahrungssorgen, Sorge um
Behaglichkeit und Annehmlichkeiten, Unfriede, akut oder chroniscb,
Abhaspeln in hSuslichen Arbeiten, Hoffhung, Sorge, Angst wegen Zukunft,
Krankheiten, Genesung und Jammer am Totenbett!" Als beim Pro-
fessorenjubilSum eines Kollegen im Damentoast angedeutet wurde, der
Mann sei ohne das Weib kaum ein vollkommener Mensch, notierte sich
Stolz, genau das Gegenteil sei richtig: ein Mann, der aus alien KrSften
fur eine schwere Aufgabe wirke, empfinde ein Weib als Belastigung.
Die „kostbaren Professorenfrauen^^ seien eigentlich nur dazu gut, ihrem
Mann den Tee einzuschenken und seine Schriftwerke zu bewundern.
Der BSrbeissige war aber trotz alledem kein unverstMndiger Verdchter
des Weibes; manchmal finden sich bei ihm Anwandlungen einer geist-
reichen Galanterie, die geradezu an Nietzsche anklingen. So verglich
er einmal das Weib einem Trunk goldenen Weines im Zustand des
Durstes und der Ermattung, und, als er ein blumentragendes Madchen
sah, notierte er sich den liebenswurdigen Gedanken: junge Mddchen
und Blumen gehdrten so recht eigentlich zusammen, das eine sei nur
ein Sinnbild fur das andere. Fur sich selber allerdings dachte er so
streng, dass er uberhaupt kein weibliches Wesen in seiner NMhe duldete,
nicht einmal als Wirtschafterin, wie er andererseits das Unterlassei^
jeglichen Wirtshausbesuches als Korrelat des Zdlibats ansah und fur
sich durchfuhrte.
Streng gegen sich selbst, bemerkte er auch die Fehler seiner geist-
lichen Mitbruder und riigte sie mit einem Freimut, den er sich jetzt
kaum mehr erlauben diirfte. Es missGel ihm, «an dem einen und
andem der geistlichen Hirten einen nicht ganz gut verhehlten Triumph
zu bemerken, dass jetzt ihre Angelegenheiten obenauf schwimmen;*
die .dickste Selbstsucht, wenn sie sich auf das Religidse wirft und zum
Fanatismus ausartet*, war ihm ebenso widerlich wie der geistliche Maul-
hhS 168 8^
wurfy der «nur noch seine Gange sieht und kennt und fur die ubrige
Welt wie abgestorben isf* (er meinte die Pfarrer, die ganz in den An-
gelegenheiten ihrer Okonomie aufgingen), oder die ,Betsch western-
PSeger" und die grimmen Bedringer der armen Menschenseele, die stets
«das hdllische Feuer anzunden und die Gerichtsposaune blasen**, die
Wirtshaussitzer, die dadurch genau so weltlich und unfrei werden wie
durch die Ehe, und die Geistlichen, ,die sich nicht an die kirchlichen Vor-
schriften halten und sonst doch eifrig wirken.* Er verglich diese
letztem mit den Franktireurs. Es unterliegt keinem Zweifel, dass Stolz,
80 sehr auch Einzeliusserungen dagegen ins Feld gefuhrt werden kdnnen,
doch den sogenannten Reformkatholizismus unserer Tage aufs be-
stimmteste abgelehnt hStte. Er unterwarf alle seine Ansichten bedin-
gungslos dem Urteil der Kirche, und hgtte sich schdnstens bedankt fur
das Kompliment, er sei kein Ultramontaner. ^All das Gerede und
Gehetz gegen vaterlandslose Ultramontane geht durchaus nicht gegen
den Katholizismus bloss, sondem tiberhaupt gegen alle Christen, welche
bei ihrem Tun und Lassen auf das ewige Leben nach dem Tod Ruck-
sicht nehmen."*
Es ist lehrreich, in diesen Tagebuchern zu verfolgen, wie un-
aufhdrlich Stolz von der Furcht gepeinigt wird, sein ganzes Leben sei
wertlos vor Gott; die armseligste und einfiltigste Bauernmagd sei Gott
wohlgefiUiger als er, der gelehrte Theologe. Immer wieder bohrt in
ihm der Zweifel, ob nicht er, der so vielen Seelen ein Werkzeug
der Gnade geworden sei, einst verdammt werden wtirde; ob nicht
gerade der am reichsten Begabte am strengsten gerichtet wurde. Die
nagende Ungewissheit uber das Los im Jenseits, die Furcht vor den
ewigen Hdllenstrafen, der stete Wechsel zwischen glSubiger, inbriinstiger
Hofhung und zitternder Zerknirschung, das Umdeuten leiblicher und
seelischer Stimmungen und Verstimmungen ins Religiose, das Un-
behagen in dem Zustande gelassener NeutralitMt, das verzehrende Be-
durfhis nach starken Emotionen, tiberwiltigenden AfFekten, das leiden-
schaftliche Hinhorchen, ob denn Gott nicht seinen Willen, seinen
Entschluss, seine Gnade unmittelbar kundtun werde — das alles ver-
leiht diesen Bllttem eine ungeheure, fast krankhafte Spannung und
Erregung, die erst im Greisenalter sich beruhigt. Unsere Zeit ist der
religidsen Grundstimmung des Christentums so grundlich entfremdet,
selbst die frommsten Naturen leben in solch behaglicher Gewissheit
ihrer ewigen Seligkeit dahin, dass das religidse Ringen von Stolz sie
wie etwas l&ngst Vergangenes und Uberwundenes anmutet, wie Dokumente
aus dem Heroenzeitalter des Christentums, Bekenntnisse einer tieferen,
innerlichen Natur, die sichs hart machte, die in allem Trost eine
Versuchung und in jeder Beruhigung ein Ermatten der Seele arg-
wdhnte. Mit dem religidsen Massstabe Stolzens gemessen, sind die
Mehrzahl der heutigen Christen laue Duodezchristen. Gleich Sdren
Kierkegaard, ist auch Stolz von einem Gedanken beherrscht: mit dem
Christentum Ernst zu machen.
Ungeheuer empfindet er seine Verantwortlichkeit als Priester.
160 8^
Immer wieder klagt er sich an: ich habe meine Pflicht schlecht getan,
zu venig Eifer bewiesen, zu wenig an das Seelenheil meiner Ndchsten
gedacht, ich bin zu lau, zu nachsichtig gegen mich selbst, zu weltlicb.
Bitter bereut er, dass er in seiner Jugend sich ofters geschSmt habe,
vor einem Kreuze das Haupt zu entblossen. Dann wieder klagt er
sich an, dass er gar nicht zum Gebet gestimmt sei; selbst die Messe
sei ihm ein Zwang. Die wenigsten Menschen haben eine Ahnung von
den Noten und Angsten eines gewissenhaften Priesters; gerade den
Frommsten ist die tSgliche Messe manchmal eine Qual, weil sie sich
fur unwurdig halten, die Konsekrationsformel zu sprechen; es gibt
manche Priester, die zu stammeln anfangen, die kein Wort hervor-
bringen, die vor Furcht beben und die Messe nicht zu Ende fiihren
konnen, wenn sie die Worte der Wandlung sprechen sollen: Hoc est
enim corpus meum. So fiirchterlich empfinden sie ihre Unwiirdigkeit
vor Gott und ihre Verantwortlichkeit, Es gibt andere, die all ihre
Gebete, Kasteiungen und frommen Werke fur vergeblich halten, weil
sie nicht sicher sind, sie in guter Meinung Gott geopfert zu haben.
Wer je einen Blick in diese Welt der Gewissensqualen, des ruhelosen
Ringens und der zermalmenden Ungewissheit uber das ewige Leben
getan hat, wendet sich mit trauernder Verachtung ab von den Karikaturen
des Priestertums, wie sie in witzigen Zeitschriften einer kenntnislosen
Leserschaft vorgefUlscht werden. Gewiss hat auch dieser Stand Mitglieder,
die ihm nicht zur Ehre gereichen; aber er hat das Recht, nach der
Regel, und nicht nach der schMndenden Ausnahme beurteilt zu werden.
Die Regel aber ist: arme, suchende, in einem strengen, freudenarmen
Berufe sich aufreibende Menschen, die noch ein Ideal kennen und fiir
dieses Ideal leben und sterben.
III.
Man kann den Zustand solch echter Priesterseelen am besten noch
mit dem des Kunstlers vergleichen, der nur in den goldenen Augen-
blicken des SchafFens das Leben lebenswert findet; dann vergisst er,
was je ihn bedruckte und erniedrigte; als SchafFender schwingt er sich
fiber sich selbst empor. Auch Stolz hatte Momente tiefsten Gluckes
and wunschloser Seligkeit. Der Kenner und Schtiler Susos und Taulers,
Berchtolds von Regensburg und des Thomas von Kempen hatte von
Natur Neigung zu mystischen Gedankengangen. Er empfand jeden be-
gltickenden Einfall als Inspiration, jedes Bild als Vision. »Beim Auf-
wachen stand der Gedanke vor mir* — „Es wurde mir innerlich ge-
predigt* — »Mich hauchte das Wort an* sind Wendungen, die dutzende-
mal in seinen Tagebuchem vorkommen. Aus den drei Binden liesse
sich eine ganz merkwurdige mystische Anthologie herstellen voll zarter
und tiefer Gedanken. Einiges sei hier mitgeteilt: «Ich ging gestem
nachmittag bei ziemlich grosser Kilte nach Haslach spazieren. Da kam
nich dann eine grosse Seligkeit in Gott an. Meine Seele uberschwellte
170 8^
so sehr, dass ich laut anfing, Gott zu loben und zu preisen. Lobet ihn
mein Geist und mein Herz, lobe ihn mein Verstand, lobe ihn mein Ge-
dEchtnis, lobet ihn meine Augen, lobet ihn meine Ohren, lobe ihn meine
Zunge, lobet ihn meine HSnde, lobet ihn meine Fusse, alle Haare meines
Hauptes lobet ihn, lobet ihn alle Schneefldckchen; und wenn ich in der
Hdlle sitze, so will ich ihn auch dort noch ewiglich loben.** — «Ich
ahnte gestern in der Kirche, dass Gott von jedem lebenden Menschen
ein Bild, ein Ideal in sich trage. Jedes Individuum hat eine Gestalt in
Gott. Dm des schdnen Urbildes willen, welches in Gott ist und das
mein Original ist, und dessen Kopie ich bin, kann ich hoffen, dass Gott
auch mich in meinen Sunden noch liebe und suche.** .Mein Gott, zer-
schlage all mein Gluck, zernitte meine Gesundheit, zerschmettere meine
Ehre, nimm mir Geld und Auskommen, ingstige mich schwer von innen,
wenn du keinen andern Weg voraussiehst, auf dem ich einstens zu dir
kommen konnte." »0 Gott, das bete ich fur und fur, lass mich tun
und werden, was auch du fur mich bestimmt hast; ich will lieber ein
taubstummer blodsinniger Kretin sein, wenn es so dein Wille ist, als
ein Cherub ohne deinen Willen.** „Es ist mir nicht mehr viel daran
gelegen, ob ich noch mehr Kenntnisse sammle oder nicht; denn ich ahne
jetzt die Unendlichkeit des Seins: so dass, wenn ich alles allein wiisste,
was je die Menschen, die es gegeben hat und noch geben wird, wussten
und wissen, die Summe davon ein unbedeutendes Trdpflein wSre aus
dem Meer des ungekannten Seins. Was liegt nun daran, ob ich dem
Nichts, welches mein Wissen ist, noch ein anderes Nichts hinzusetze,
nMrnlich weiteres Wissen?" ^Was miisste das fur ein kleiner Gott sein,
der von uns Geistesameisen begriffen wurde?" „Ich werde es mehr
und mehr inne, dass meine Gedanken und Gefuhle nicht meine Person
sind. Sie haben wohl vielfUltig den Charakter und die Farbe meiner
Seele, sehr oft aber auch nicht; viele sind besser als ich, und nur die
schlimmen mogen insgesamt echt sein. Wie diese Gedanken und Gefuhle
nicht immer Produkte meines Wesens sind, so wirken sie auch wenig
auf mich zuriick; sie kommen und gehen wieder, ohne dass sie mich
weiter bringen; sie umschwMrmen meine Seele und mein Leben, ohne
dass sie es bewegen, wie die Fliegen das Pferd, es mag gehen oder
liegen.'' ,»Die Seele ist so verwandelbar, dass sie alle denkbaren Naturen
annehmen kann, so dass es nicht eine Tiergattung gibt, vom Wurm, der
Auster und der Krdte bis zum Paradiesvogel, die nicht symbolische Dar-
stellung sein konnte von irgend einer Menschenseele, so wie sie ge-
worden ist.** .Gewiss geschieht vieles in der Welt der Engel wegen,
welche die Geschichte und Verflechtung davon kennen, so dass Gott in
dem Ereignis vor den Engeln in seiner Gerechtigkeit verherrlicht wird,
w^hrend wir Menschen es unbegreiflich finden. Kein Blatt im Wald,
kein Grashalm auf endlosem Wiesengrund bleibt unbeschaut; Engel
studieren daran uber die Weisheit und Herrlichkeit Gottes.*"
Dem Betrachtenden wurde alles zum Symbol. Hand in Hand mit
seiner Versenkung in die Welt des Geistes ging eine wachsende Ent-
fremdung der Natur gegeniiber. Er sah zuletzt in der bunten Fulle der
-^171 8^
Erscheinungswelt nur mehr Themen, fiber die er seine oft wunderlichen,
oft tiefsinnigen, immer aber hdchst eigentumlichen Variationen schrieb.
Mehr und mehr verlemte er es, die Dinge dinglich zu sehen; er sub-
jektivierte Pflanze und Stein, Wasser und Blume, und sah in den Dingen
nur mehr Gefisse, die einen geheimen Schatz enthielten, Schleier fur
fromme Gedanken, oder nur leere Formen, denen erst seine Inter-
pretation Sinn und Wert verlieh. Uberall erblickte er Geheimnisse und
Beziehungen; mit Vorliebe nahm er recht unscheinbare Dinge als Aus-
gangspunkte seiner Betrachtungen: ilber ein altes Ziegelsttick hdtte er
Binde fullen kdnnen, tiber ^Farbe, Bruch, Substanz, Alter, Verwitterung,
Gebranntsein, friiheren Zustand vor dem Brennen, Feuer, Wasser, Luft,
die darauf wirkten, Schicksal des Steines, Verhdltnis und mystische Be-
ziehung des Bruchstucks zu den fehlenden Stiicken.*' Es ruht ein
schmerzlicher Schimmer fiber der Naturanschauung Stolzens. Sie hat
nichts von der liebenswfirdigen NaivitUt der italienischen Renaissance-
heiligen, mit der ein Franziskus von Assisi Gestime, Pflanzen und Tiere
als Brfider begrfisste und ein Antonius von Padua den Fischen predigte.
Fur Stolz war die Natur „die tausendjShrige Sirene, die sich jShrlich
schmfickt mit wundervoller Herrlichkeit und leise Millionen jShrlich
hold an sich und in Tod und Verderben zieht." Er sah wie einen
dunkeln Flor den Fluch der Sfinde auch fiber der Natur liegen und ihre
ursprfingliche unschuldige Schonheit beeintrMchtigen. Besonders fern
und fremd war ihm das Grfin in der Natur, das ihm einen melan-
cholischen Hauch von Trauer und Tod, Verwitterung und Verwesung
auszuatmen schien; er argwdhnte, dass die schonere und angemessenere
Farbe verloren gegangen sei infolge des Fluches fiber die Erde. Im
Anfange seiner Tagebficher hatte er noch Schilderungen niedergeschrieben
von einer sonderbar schwermfitigen Sfissigkeit, die ganz an Amiel ge-
mahnt, oder kleine Stimmungsbilder, zart gestrichelt und impressionistisch
wie ein Gedicht von Wordsworth. „Zum erstenmal horte ich dieses
Jahr die Lerche, zum erstenmal sah ich das GMnsblfimchen und die
Ranunkel. Auf den Vogesen lag Schnee, wie auf Alpen, und um mich
schwamm Sonnenschein und warme Frfihlingsluft. Die Weihe wogte hoch
unter dem blauen Himmel.'' Gewdhnlich scbeint Stolz bei schlechtem
Wetter produktiver gewesen zu sein, bei Nebel, Regen und Sturm; selten
ist ihm eine Sommerlandschaft so eindrucksvoll gelungen wie die folgende:
«Ich ging fort in grimmiger Sonnenglut und fand eine sfisse Lust in
diesem silberigen Feuermeer. Ich wandelte langsam und trSumend in
diesen glfihenden Silberstrahlen und es ward mir ganz indisch ums Gemfit.
Ich stand unter einem Baum und Hess das wundersame DMmmem des
Sommermittags auf mich eindringen. Es ist so schleierhaft alles ffir
Aug und Ohr; leises Zirpen und Spielen weniger Vdgel in den Zweigen,
das Summon der Fliegen, das stumme Weben der Schmetterlinge, das
Kochen der Berge in glfihender Luft, die Nebelhaftigkeit der hohen
Vogesen. Wie girt und reift und quillt alles dort in fernem Wald, und
jede Tannennadel hat ihr eigenes Leben, ihr eigenes Schicksal und ihre
eigene Bedeutung fur das Ganze.*
172
IV.
Stolzens Tagebucher sind eine Monographie des frommen Christen.
Sie enthalten Fragen, die heute nur wenige interessieren, Stimmungen,
die den meisten Lesem hdchst wunderlich vorkommen, Gedanken, die
zu den modernen Ideen in keiner Beziehung stehen. Sie sind eine
Welt ganz fur sich, geschlossen und konsequent. Die religiose Grund-
stimmung verleiht ihnen Einheit. Probleme der Erkenntnis fehlen;
Stolz hatte seinen Junglingszweifeln durch einen resoluten und un-
bedingten Glaubensakt ein fur allemal ein Ende gemacht. Skrupel fiber
die individuelle Verantwortlichkeit des Siinders bewegten den eifrigen
Beichtvater zwar manchmal, aber er schnitt sie mit dem Hinweise auf
die Unerforschlichkeit der gdttlicben Ratschliisse ab.
Alles ist zu Innenleben geworden in diesen Bl&ttem. Nur gelegent-
lich spielen Zeitereignisse herein, wie der Krieg von 1870, uber dessen
Folgen Stolz ahnlich dachte wie Friedrich Nietzsche. Auch die Kunst
kommt nur wenig zu Wort, am ehesten auf Reisen. Er schwirmt ftir
die spanischen Heiligenmaler, fur Dolci und Corregio. Uber Musik hat
er manchmal sehr feine Bemerkungen. Absolute Musik schMtzte er am
hdchsten; in Quartetten horte er das Hineintonen des Naturgeistes in
die Menschenseele. Gute Musik musste nach seiner Meinung ein Natur-
erzeugnis sein, organisch und unverbesserlich ; die Melodie als das Un-
lembare schien ihm das letzte Geheimnis des musikalischen Ausdrucks.
Als Dokumente einer durch und durch religiosen Natur sind diese
Tagebticher bedeutsam. Unserer Zeit fehlt die eigentliche religidse
Passion; sie hat, um mit Stolz zu reden, ^in dunnen Portionen ein paar
Tropfen Christentum zu sich genommen, nicht genug, um zu genesen,
aber gerade so viel, um in einen Zwitterzustand zu kommen, eine IScher-
liche und verichtliche moralische Fledermaus zu werden.** Ecce Christi-
anus! scheint jede Seite dem modernen Leser zuzurufen. Es ist gut,
sich von Zeit zu Zeit zu vergegenwMrtigen, dass das Christentum ent-
weder eine auch heute noch lebendige religidse Macht ist und das ganze
Leben durchdringen muss, oder dass es eine historische Religion ist,
der das moderne Leben keinerlei Konzession zu machen hat. Der Stand -
punkt der meisten Heutigen ist unlogisch und sinnlos; sie fassen die
Religion als eine Art idealen Zylinder auf, den sie bei Hochzeiten,
Kindstaufen, Begribnissen und offiziellen Gottesdiensten auf das teure
Haupt pflanzen, sonst aber in der Tiefe ihres Kleiderschrankes vor Licht
und Motten schtitzen. Sie bedienen sich der religiosen Attittide wann
und wo es ihnen gefillig ist und verkennen, dass die Religion gerade
dann am meisten Anrecht auf ihre Gefolgschaft hStte, wenn es ihnen
nicht gefSllig ist, sich ihrer Zugehorigkeit zu einem christlichen Be-
kenntnisse zu erinnem. Sie sind zu allem zu feige: zu feige, Christen
zu sein und zu feige, keine Christen zu sein. Sie wollen von allem
ein wenig sein: ein wenig oppositionelU well das Schimpfen in trautem
Vereine wohl tut, ein wenig modem, weil es zur Bildung gehort, ein
wenig national, weil sich das an Kaisers Geburtstag gut macht (Kuvert
173 ^
ohne Wein 5 Mark), und ein wenig christlich. Diesen harmlosen Spiess-
burgern gegenuber hebt sich die Gestalt des Alban Stolz scharf und
unversShnlich ab. Aber Reinrassigkeit scheint mir nicht nur bei Renn-
pFerden und Jagdhunden, sondern aucb bei Menschen die unumgSngliche
Voraussetzung, dass man sie schltze. Oder, um mit einem Zitat zu
schliessen, das nicht von Stolz ist: .Wogegen man sich allein zu wehren
hat, das ist die Falschheit, die Instinkt-Doppelziingigkeit, welche diese
GegensStze nicht als GegensHtze empfinden will. Diese Unschuld
zwischen Gegensitzen, dies gute Gewissen in der Luge ist modern par
excellence, man definiert beinahe damit die ModemitSt. Der modeme
Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werte dar, er sitzt
zwischen zwei Sttihlen, er sagt in einem Atem ja und nein. Wir alle
baben, wider Wissen, wider Willen, Werte, Worte, Formeln, Moralen
entgegengesetzter Abkunft im Leibe, wir sind, physiologisch betrachtet,
f alsch.*
90er fed)^ 9tog tm ©taO fie^en t)at^ tfl etn 93auer^ unb ff$t im
9Btrtdl)aud beim 93&rgenneifier unb betm 3(udfd)ug. 9Qenn er bad SRauI
auftut unb &6er bie fd)(ed)ten Seiten unb ikber bit @teuern fd)tmpft^ gtbt
man ad)t auf t^n unb bie Heinen Seute er}&t)(en nod) am anbern Sag^ ba0
gfflem ber «Oar (anger ober uoie er fonfl iid^t, exnmal rtd)ttg feine SRetnung
gefagt tfaU
9Ber ffinf 9to^ unb mentger tjat, ifi etn ®ftt(er unb fd)tmpft au(^«
Tiber ti t)at nid^t bad ®mid)t unb tfl ntd^t mert^ bag man ti miUt gibt«
SQer aber gar (etn 9to0 t^at unb feinen $flug ^on etn paar mageren
£)d)fen )tel)en l&9t, ber tfi etn J&&ud(er unb mu0 bad fBtaul t)a(ten. 3m
9Btrtdt)aud^ tn ber ®emetnbet)erfamm(ung unb u6erall. Seine SD^etnung tjl
ffir gar ntd)td^ unb fetn rtd)ttger Oauernmenfd) pagt auf ben ^retter auf*
Der 93efT$er t)om ®(^u^n>afitontt>efen ^ani 92ummer ad)t in Xtn^ofen^
mit Stamend ®eorg ^ottmx, toax tin J^&udler. Unb ein rec^t armfeliger
nod) baju. £)d)fen l)at er einen ge^abt^ ^fi^e rec^t noenig^ aber etnen
J&aufen ^inber. aSter SKabern unb brei ©uben; madjt (leben nad) 3fbam
SXtefe^ unb menn bad ${fen faum ffir bie jmet HUtn langte^ braud)te ed
gut red)nen uub bimbteren^ bag bte Sungen and) nod) mad frtegten.
174 8^
Tihtx auf bent ianbe tfl nod^ fettter t^ertyungert, unb aud^ 6etm ©d^u^^
noaflf 6ra(f)ten fie tl)re ^inber burd^. SOar etned nur erfl ad}t ober neun
Sa^re alt, bann fonnte ed fd)ot! ein wenig »ad tjerbienen, unb t)oraud mdj
ber ®d)uljeit ^atte e^ feine ®efa^r me^r.
t)ie SO^abeln gtngen fr&f)}etrtg in Stenfl, Don ben 93u6en biteb ber
iltere, ber ®d)oxW hatjtim, ber {weite, Sttud mit SRamen, fam {tttit
©djuHerbauern, unb ber britte — Don bent will id) eudj erjifjfen.
a)2atl)ta^ t)at er get)etgen, unb fant lange nad) bent fed^fien jttnbe auf
bte 3Qe(t/ unb red^t unDer^oft
£er ^ottner n>ar bantaK fd)on f&nfjtg 3a(^re alt unb fetn 90et6 flanb
in ben SSierjigern*
£a ^&tte nad) ber 9){einun9 aCter 93efannten red)t noo^f unter^
6Iei6en f6nnen, bag fie ju ben fed)fen nod) ein ftebente^ ^'nb friegten.
Siefed war in ben erfien Sebendja^ren jfd)tt>&d)Iid) unb fleber bet^
fantmen; feine @Itern meinten oft, ti t)&tte ben 7(nfd)ein, aid fei ed nic^t
gefunb unb toivte 6a(b ein @ng(ein im J^immeL X)a^ gefd)a^ aber nic^t;
ber a}{atl)iad gebie^, n>urbe fp&terl)in ^farrer unb n>og in ber 93Ifite feine^
Mtni britt^albe 3entner, unb fein ^funb noeniger*
3um geijllidjen ©eruf fam er un»erfel)end, unb burd) nid)tt anbered,
aW bie ®en>iffendbiffe bed oberen ©rucflbauem Don Xin^ofem
Ser ^atte Diet ©etb, feine ^inber, unb eine fd)n>ere ©ftnbe auf bem
J&erjen, bie iljn bebrficfte. 9Sor 3al)ren ^atte er in einem ^rojeg mit feinem
92ad)bam falfd) gefc^moren unb baburd) gen>onnen.
@r mad)te ffd) juerfl n>enig baraud, benn er tjatte Dorftd)tigertDeife
beim ©d)w6ren bie ^in^tx ber finfen J&anb nad) unten ge^alten. Die e^r*?
n)&rb{ge Srabition fagt, bag auf biefe Tlxt ber ®d)n>ur Don oben nad) unten
burd) ben £6rper ^inburd) in ben 9oben f&^rt unb aK ein falter @ib feinen
@d)aben tun fann.
3lber ber QSriidrbauer mar ein jagf)after SKenfd), unb mie er diter
murbe, ffnnierte er Diel fiber bie ®efd)id)te nad) unb befd)fo§, ben (Sd)aben
gut {u mad)en. Dad i^eigt, nid)t ben @d)aben, ben ber 9?ad)bar eriitten
^atte, fonbern bie92ad)tei(e, meld)e feine eigene unflerb(id)e @eele nel)men fonnte*
SBeil man nid)td gemiffed meig, unb meil DieOeic^t ber aOm&c^tige
9tid)ter fiber ben falten @ib anberd bad)te unb fid) nid)t an bie 3(ini)ofener
Jrabition t)ielt.
3(Ifo fiberlegte er, mad unb mieoiet er geben mfiffe, bamit bie 9ted)nttng
(limme unb feine @d)Ied)tigfeit mit feinem Serbienfl glei(^ aufgel)e*
Dad mar nid)t einfad) unb (eid)t, benn niemanb fonnte i^m fagen,
mit fo unb foDiel SO^effen bifl bu quitt, unb ed mar mig(td), bag er ffc^ blog
um eine Deri&l)Ite unb a&ed Derlon
Der QJrficflbauer mar bei feinen irbifd)en ®efd)&ften nte bumm ge^
mefen, unb Ijatte oft ju menig, aber nie juDief l)ergegebem
9)ei biefem ^imm(ifd)en «Oanbe[ aber bad)te er, bad {Ke^r fei beffer,
unb ba er fd)on ifter in ber Seitung gelefen tiattt, bag nid)td eine beffere
3(nmartfd)aft auf bad 3enfeitd gdbe, aid fD^it^ilfe jur TibfltUmQ bed ^Hellers'
mangeld, fo befd)[og er, auf eigene ^oflen unb ganj aUein einen 93uben auf
bad gei|ilid)e ^ad) flubieren }U (affen.
175 8^
@emf 9Bal}I*fieI auf 2l7at()iad ^ottner^ unb bad reute tt)n nod) oft.
@r ^dtte fid) bejfer uberfegen foDen^ mie ti mit ben geifligen ®a6en
M @d)u^n>afl(buben befc^affen n>an
Unb er ^&tte fid) mtl SSerbru0 unb t)ie( 3(ng(l erfpart^ n>enn er fid)
3eit gelaffen unb etnen anbern audgefud)t tjhttt.
(S^ preffierte ii)m }u flarf, unb wetl bet Secret ntd)t bagegen rebete^
unb bet alte ^ottner gletd) mit ^reuben einfd)Iug^ n>ar ed t^m red)t
6r nal)m fid) tt>ol)[ cin ©eifpiel ab am Xin^ofer ^farrcr unb meinte,
wai ber f6nne^ m&^t nid)t fd)n)er )um Semen fetm
8lun n>ar ber SRat^tad ntd)t gerabenn^egd bumm ; aber er tfatu (etnen
guten .5topf jum Sernen^ unb feme ^reube baran roar and) nid)t unmd^tg.
TM man ti)m fagte, bag er getfllid) n>erben fodte^ wax er einberfianben
bomtt^ benn er begrtff )u aUererfl/ bag er aKbann me^r effen unb mentger
arbeiten f6nne,
@o fam er alfo nad) ^reifing in bte !atetnfd)ule. £te erflen bret
3ai)re ging ed. 9{id)t gldnjenb/ aber fo^ bag er fein Seugntd im ^farrt)of
^erjeigen fonnte^ n>enn er in ber SSafanj l)etm fam.
Unb tt>enn ber J&err ^farrer fad, bag ber @d)uler SWat^iad gottner bei
mdgigem ^alente unb $(etge genfigenbe $ortfd)ritte gemad^t ^abe, bann
fagte er jebedmal mit feiner fetten @timme: magnos progressus fecisti,
discipule I
Der SSatbiad t)erflanb ed nid)t; fein SSater, n>eld)er baneben flanb,
auc^ nid)t, aber banad) fragte ber ^farrer nid)td.
(Sr fagte ed nur noegen ber ^Reputation, unb bamit gen^iffe 3n>eifler
fa^en, bag er ein gelet)rter J&err fei.
9Benn man in 3(ini)ofen barfiber rebete unb ffd) er)&Ite, bag ber
^ottner J&ied fd)on lateinifc^ f6nne, n>ie ein Xlter, bann freute fid) niemanb
^drfer, n>ie ber ©rficflbauer.
£ad ifl begreiflid). 2>enn er tyatte auf bie @elet)rfamfeit bed @d)u()^
waflfbuben fpefuliert, unb beobad)tete biefelbe mit gefpannter 3(ufmerffamfeit,
tote eine anbere ®ad)e, in bie er fein ®e(b i)ineinfle(fte.
dx freute ftc^ a(fo im aQgemeinen, unb ganj befonberd, afd J^ied im
britten 3ai)re mit eiuer ^riOe auf ber SRafe t)eimfam unb fd)ier ein geifl^
(td)ed 3(nfel)en l)atte.
Sad gefiel il)m fd)on audne^menb, unb er fragte ben Se^rer, ob in
3Inbetrad)t biefed Umflanbed, unb mil ber ^ied bod) fateinifc^) f6nne —
inel)r, aid man fiir bad STOegtefen braud)t — ob ed ba nid)t m6glid) fei,
bag bie Beit abget&rjt werbe.
Xfd il)m ber 8e^rer fagte, foId)e 3(udnal)men fJnnten nic^t gemad)t
»erben, fanb er ed begreifli(^; aber tt>ie ber @d)ufmei(ler t)erfud)te, il)m bie
®riinbe ju erffdren, bag ein ^farrer nid)t blog bad SKegfefen audwenbig
(enten, fonbem nod) mttjx f6nnen muffe, megen ber allgemeinen ©ilbung
unb fiberbauptd, ba fd)fittette ber ©rftcHbauer ben *opf unb Iad)te ein
wenig. ©0 bumm mar er nid)t, bag er bad gfaubte. 3« wad tdt einer
mefyr lemen m&ffen, aid n>ad er brand) t? J^a?
3fber bie ©ad)e tt>ar t)alt fo, bag bie ^rofeffer in ^reifing ben J&ied
red)t (ang bel}a(ten woUten, n>ei( fte ®elb bamit oerbienten.
^ 176 8^
3n biefcm ®Iauben tt>urbe cr fcl)r Sefi&rft, aW ber ©d)uler aWatljiad
^ottner in ber Dierten Sateinflaffe ft$en 6(ei6en mu^te* SBegen bem ®ried)t^
fcben. SBetl er ba^ ®n6(t)if(f)e nic^t lernen fonnte.
3([fo ^at man beutltd) gefet)en/ benn je$t fragt ber 93rucf(6auer
einen SO^enfc^en^ ju n>ad brauc^t ein ^farrer gned^ifdj f6nnen/ n>enn 3Cmt
unb 97?e9 auf (ateinifdy ge^alten n>erben?
Z)ad mugten fd)on gan} fetne fein^ bie «Oerren m ^retffng/ red^t ab^
bre^te @pi$buben*
dx tjatte einen mentifclien 3orn auf fte^ benn bem Sd^u^noafltbubett
fonnte er teine @d)ulb geben.
£er ^iti fagte {u il)m/ er t)&tte ed nie anberd gebad)t unb gewuft,
aK ba$ er auf bad (lubieren mfiffe, n>ad ber ^farrer wn 3Cin^ofen f6nne.
jDen ^abe er aber fetner Sebtag nie mad ®rie(()ifd)ed fagen t)iren^ unb bed^
tt>egen fei er auf fo toa6 nid)t gefagt gemefen.
2)agegen (ief (id) ni(f)td einmenben; auf ber @eite t)om J^ied n>ar ber
J^anbel rid)tig unb in Drbnung. Die Sumperei flecfte bei ben anberen^ in
g^reiffng brinnen. Der ©rficffbaucr ging jum ^farrcr unb befdjwerte (id).
2fber ba l)ifft einer bem anberen, unb ber 93auer i|l allemal ber 3fud^
gefdjmierte. Der ^farrer ladite juer(l unb fagte, bad fei einmat fo ®efe$
unb er t)abe ed and) lernen mu(fen; me aber ber 9)r&cflbauer baran
jttjeifctte unb meinte, wenn bad maljr fei, bann foHte ber ^farrer einmal
auf gried)ifd) jelebrieren, er ja^Ie, n>ad ed fofle, ba n>urbe ber «Ood)n)&rbige
grob unb l)ief ben 93r&cf(bauern einen audgefd)dmten 9){i|iIacfeL 9BeiI er
um eine rid)tige 3Cntn>ort tjerlegen war, t)er(lel)(l?
Seftt fag bie ®ad)e fo, bag ber ©rurflbauer fiberfegen mugte, ob er ed
nod) einmaf mit bem «Oied probieren, ober einen anberen nad) $rei(ing
fd)icfen foUte, ber (id) oon oornl)erein auf bad ®ried)ifd)e einfiej.
3Benn er bad le^tere tat, ^ernac^ bauerte ed mieber um brei 3al)re
I&nger unb bad ®e(b fftr ben @d)uf)n>a(i(buben war t^iOig ))erloren. Unb
augerbem fonnte fein Wtenidj miifen, ob ffe in Srei(Tng nid)t wieber wad
anbered erftnben wfirben, wenn (Te ben neuen ©tubenten mit bem ®ried)ifd)en
nid)t fangen f6nnten. Sedwegen entfd)Io9 er (id), ben J^ied bie @ad)e noc^
einmal probieren )u (a(fen, unb erma^nte i^n, bag er (id) ^aft red)t ein#
fprei^en follte.
Dad tat ber ^ottner )war nid)t, benn er war fein ^reunb ^on ber
mfil)famen ^opfarbeit, aber fein ^rofeflfor war fefber ein ®ei(Hid)er unb
wugte, bag bie Diener ®otted and) ol)ne ®e(e^rfamfeit amtieren f6nnen*
Dedwegen woUte er nid)t and (auter ^^ic^teifer bem J^ied @d)aben guffigen
unb lieg itjn bad gweite 3al)r mit d)ri(iric^er Q5arml)erjigfeit t)orriicfen*
Der J&ied fam aid ©d)ufer ber fiinften ?ateinffa(re l)eim unb faf) aud,
wie ein rid)tigcr ©tubcnt,
dx gdl)lte bereitd (iebenjel)n 3al)re unb war f6rperfid) fe^r entwirfelt
Den ^ooperator t)on !Xufl)aufen uberragte er um J^auptedl&nge unb
aUe feine ®(iebmagen waren grob unb ungefd)(ad)t* 3(ud) t)erIor er ju ber
felbigen 3eit feine ^nabenflimme unb nal)m einen raul)en ©ag an.
SBenn er mit feinen ©tubienfreunben, bem 3ofef ©d)arl t)on ^etten^
bad) unb bem SO^artin 3oUbred)t toon ®(onn {ufammenfam, bann jeigte ed
177 ^
fid^f bag er mei'tau^ am metflen tnttfen fonnte unb tm ^terfomment fc^pn
9ttfe AenntntlTe i^atu.
dv befag ein UbifafM @taitbedgeffi^[ unb fang mit feinen SommiiU
tottfn bte ®tubenren(ieber^ ali „3iom ^o^^n Clpmp t)era6 n>arb uni bte
^reube" ober „T}vnm 93rftberd)en er-her-go biba-ha-mus!" fo txaftDoU uni
laut, bag bet 93rucf[6auer am 92ebenttfd^e fiber bte (iubentifdie 93t(bung be«
@€i)u^n>afl(bu6en erflaitnte.
Unb ati ber ^ie^ feinen QSefucft im ^farrfjofe mad)te, bat er nid>t tt)ie
in frft^eren 3a^ren bte Xidiin, fte m6d)te t^n anmeften/ fonbern er fibers
retcf)te t^r etne Stfttenfarte^ auf n^elct^er mit f&uberHd^en 93u(^flaben ftanb:
SKat^ia* ^ottner
stud. lit. et art.
J^etgt studiosus literarum et artium, etn 93efltffener ber fc^inen 9Biffen^
fc^aften unb ^nfle.
£er alte ^ottner n>ar jiol} auf fetnen Qotftt, auf bem fc^on je$t ber
Sfbglan} fetner (finftigen SBfirbe rut)te, ber t>em ^farrer )um @ffen ein^
gelaben nourbe^ ber mtt bem ^ooperator fpa}teren ging unb mit bem Se^rer
unb @tationdfommanbanten tarofte.
Unb ber 93rji(frbauer noar ei and) )ufrteben^ n)enn er fd>on ^ter unb
ba ben 2fuftt>anb be* J&errn ©tubenten etwad grog fanb. 2f6er er fagte
nicf)t*^ benn er ffird)tete^ bag er iu(e$t noc^ aud(ajfen f6nnte^ noenn er i^m
gar {U wenig J^afer t)orfd)&tten n>urbe.
@o t)er(ebte J^ie* etne luflige Safan) unb }og neu gefi&rft im IDftober
nac^ ^retfing.
Seiber gtng er einer truben 3eit entgegen. X)er Orbtnariu* ber
ffinften ^(a{fe noar ein unangene^mer WttnSd}^ fireng^ unb rec^t bifftg unb
baju.
SDBie er ba* erflemal ben ^immedangen ©ouemmenfdfen faf), ber ffd)
in ben @cf)ulb&nfen munberltd) genug au*nat)m^ lad)U er unb fragte i^n^
ob er au(^ am @eifle fo ^od) fiber feine 2){itfd)fi[er ^tnaudrage. Z)ag bie*
ntd)t ber %aU tear, fonnte fetn ®et)etmnt* bleiben^ unb bann nal)men bie
@p6tte(eien fein (Snbe. Xnfangd gab ffcii ber ^rofeffor nod) ^Dtiit|e, %nnten
aui bem Stein ju fd)(agen; n>ie er e* aber nid)t ferttg bradyte^ gab er bie
J^ofnung balb genug auf.
£em 9Ratt)ia* ^ottner mar e* gau) xed)t, ali man feine 97{einung
&ber ben gallifdyen ^ieg be* Qaiui 3uliu* Saefar nic^t metjt ein^olte^ unb
bie gried)ifd)en 3eit»6rter o^ne feine STOttwirfung fonjugierte.
Sr (ac^te gutmfitig, noenn in feinen ©d^ulaufgaben jebe* SQort rot
ttnterfhic^en n^ar^ unb er munberte (td) fiber ben Stirgei) ber f(einen Sburfd^en
t>or unb neben il)m, bie miteinanber (Iritten, ob etwa* falfd) ober red)t fei.
Xber frei(id), bei einer foldjen ©effnnung war ba* (Snbe Uidit )u
erraten unb im 3Cugufl flanb ber Srficflbauer bor ber n&m(id)en 9Qa^(/ ton
}tt)ei 3a^re bor^er^ ob er fein Sertrauen auf ben ®d|ut|n>afllbuben aufrec^t
i^alten foKte ober nid^t.
£a* ^eigt^ er t}atte eigent(id) bie 9Qat|[ nid)t met|r^ benn je^t^ nad)
fed)* 3a^ren^ fonnte er nid)t me^r gut ein neue* (Erperiment mit etnem
anberen mad)en*
S&ddeuttche Monattbefte. 1.2. 12
M 178 8-9-
Ulio triftete er ftc^ mit bem ®ebanfen^ bag etn ^uM 9to9 {noeimal
iietjt, unb big tn ben fauren TipfcL
Sai ®ef[d)t ^at er babet mtji berjogen, unb fetne ^reube am ^iti
roar urn etn fd^ined (Stficf Hetner geworben; ed regten fid) arge 3n>eife( tn
fetnem J^erjen^ 06 ani bem langen ®oItat etn rtd^ttger ^farrer merben f6nnte.
@etne &b(e 9aune toax aber ntdit anflecfenb^ wentgflend ntc^t fitx ben
J^errn ^attflai Conner*
Dt'efer tt>ar wA^renb bet SSafanj etn gnter ®a|l in alien ®irW^dufern
auf brei @tunben tm Umfretd; unb tt>enn t^m au^m&rM bai ®e(b audgtng^
bann bebadyte er^ bag neben jeber ^trdye etn ^farrl^of ftef)t^ gtng t^tnetn
unb bat um etn SStattfum^ mte e^ ti)m {ufam aid studioso literanim, einem
i&efltffenen bet fd)6nen ^itnfle unb 9Bi^enfd|aften.
£abet trajf er mtfl ^ter unb ba etnen jungen Aooperator, SReompflen
ober 3((umnud^ n)e(d)er mtt tl)m ^retfinger (^rtnnerungen anitan^d}te unb
nad} ber }et)nten J^albe 9ter tn bte fd)6nen Steber einflimmte: „fliom ^o()'n
Clpmp ^erab watb un« bte greube" unb ,,tDriiberd|en^ er-her-go bi-ba-
hamus!"
Titi er tm Oftober n>ieberum tn fetner 9t(bungdfldtte etntraf^ mar fetn
^opf um etn gutei btcfer, fetn tDag eri^ebltd) ttefer^ aber fonfl biteb aUti
beim alten*
Den (Satud 3u(tud Saefar tiatU er tn ber 3n>tfd)eniett ntd^t Iteben
unb bte grted)tfd)en 3ettn>6rter ntd)t fd)d$en gefernt; fetn ^rofeffor mar fo
jumiber mie frfi^er unb ba* ©d)Iugrefuftat mar nad> Hbtanf be* Sa^re*
mieberum^ bag ber J^te* ntd)t auffletgen burfte*
Sugleid) murbe ti)m er6fnet, bag er ba* juldfftge Xlter Aberfd^rttten
f)abe unb ntd)t noc^ etnmaf fommen bfirfe. 3e|t mar ICrecf Srumpf*
Seftt fatten aHe ba* 9lad)fel)en; ber alte gottner, mefdjer fo (lofj mar,
ber SBirt, me(d)er fcd> fd)on auf bte ^rimij gefreut l^atte unb bie fatl)o[tfd)e
Aird^e, ber btefe flatrttd)e @dule Derloren gtng*
3(ber am muflen ber obere tDrficflbauer bon SCtn^ofeU/ bem ba* gauge
®ef(4dft mtt unferm .^^trgo tt t)erborben mar. £reu)teitfel, ba foOfi ntc^t
m&ttg merben unb flud)en!
®teben lange 3a^re ^atte er brab ja^fen muffen, ntd)t* mte ja^Ien,
unb ntd)t mentg; ba* bfirft t()r gfauben. SRan fa^ e* bem @d)U^ma(i(^
buben bon meitem an, bag er in fetnem fd^Ied^ten gutter geflanben ^atte*
Unb aKe* mar umfon^; auf bem i)tmmltfd)en £onto be* 99rficf(bauem {lanb
tmmer nod) ber fafte @tb, aber fetn btjfel ma* auf ber ®egenred)nung.
jDenn ba* mar bod) ntc^t benfbar, bag unfer J^errgott bte flubentifc^e
9tlbung be* J^te* ffd) ali Bene aufred)nen Keg.
@o etne mtferabltge, au*gemad)te Sumperet mug nod) nie bagemefen
fetn, folange bte SBelt fiel)t!
2)te*ma( gtng bie 90ut be* ^rficflbauern ntd)t b(og gegen bte %rtu
fTnger ^rofeflToren; ber ^farrer J)atte tt)n aufgefldrt, bag e* beim J&ie*
i&beraU gefe^It ^abe, au*genommen ba* Sarofen unb ^tertrtnfen. £er
J^aberlump, ber nt(^t*nu$tge!
Seftt (tcf er in 3Cin^ofen t)erum, mit ber QSriUen auf ber Slafen, unb
einem 93aud), ber nid)t fd)Ied)t mar. Q^r fa^ au*, mie nocf^ mal ein rid)ttger
179
Steoptxator, ber fcfton morgen bai aWcpUfcn anfangt, bertt>eil xoax er ntcf)td,
a6fo[ut bur(()aud gar nt(f)tj^.
Dcr cinjige, bcr bet biefen @ct)tcffaWfct)fAgen rnt)ig blieb, war ber
e^emaltge stud. lit. SRat^tad ^ottner.
J&dtte er linger unb metjx flubiert getjabt, bann m6cf)te id) glauben,
ba^ er biefe (Seefenrut)e oon ben ffeben SBeifen be* Xltertumd gelernt Ijabe.
@o mug id) annebmen^ bag f?e it)m angeboren n)ar.
Sr ^atte |cd) tt>ot)I feinen flaffifd)en ©ilbungdfd)a$ fur fein ffinftige*
?eben crworben, aber er red)nete fo, bag if)m ffir aBe ffeben fette
3af)re befd)ieben n>aren^ bie il)m feiner me^r n^egne^men fonnte* Stud) ber
©rurffbauer nid)t, mit famt feiner 3But.
3n wa« foH ber SRenfd) ffd) mit ©ebanfen an bie Bufuuft abmartern?
I)ie SSergangenijeit ifl auc^ voai mxt, nod) baju fo eine luftige, mie bie im
t)eimlicften ^neipjimmer Ui ©ternbrdu gewefen war! 9Bo er mit feinen
^ommilitonen betfammen fag unb nad) unb nad) bie ^ertigfeit erfangt IjatU,
eine 3J?ag ©ier o^ne 3(bfe$en au^jutrinfen.
2Bo er aHe feinen ?ieber bed *ommerdbud)ed gefungen l^atte, bad
^Crambambuli" unb bad „^iex la ia'* unb nid)t )u Dergeffen bad en>ig
fd)4ne „15rum 35rfiberd)en er-her-go bi-ba-hamusi"
@o(d)e Srinnerungen bifben and) einen @d)a$ fur bad Seben; unb
»enn ed bie fuftgefefditen ©auernrammet in 3finl)ofen and) md)t t)er|lef)en,
lufiig n>ar ed bod)!
Unb gar fo fd)(ed)t fonnte and) bie Sufunft ntd)t werben.
aSorerfl entfdjlog er ffd), jum STOifitdr ju get)en; feine brei Sa^re
mugte er bod) abbienen^ unb ba xoax ed beffer^ n>enn er fid) g(eid) je$t
mefbete. Xuf bie SBeife ging er bem Q3r&cf(bauern and bem 9Beg unb
^atte feine !Rul)e. dx flellte fid) beim ?eibregiment unb n>urbe angenommen.
Unb tt>enn ber ©r&cffbauer woUte, fonnte er je§t in aj?find)en bom
J^ofgarten and ben gffigefmann ber jweiten ^ompagnie mit ©tolj betrad)ten.
Der *opO ber fo bicf nnb rot and bem Uniformfragen ragte, ber war
auf feine ^ojlen t)eraudgefreffen, unb wenn er and) gut anjufet)en gewefen
wire 6ber bem fd)n>argen Zalax mit ber 5onfur l)inten brauf, fo mugte
bod) jeber gered)te a)2enfd) {ugeben^ bag er and) fo nid)t fd)(e(I)t audfa^^
fiber ben weigen Sigen unb ber bfi^blauen Uniform.
greilid), gottgefdKig war ber je|ige ©eruf bed ©d)uJ)n)a|Hbuben nid)t;
aber il)m felber geftef er.
2)ie *o(l war nid)t fd)red)t, unb bie @injd{)rigen jaf)Iten bem fangen
^erl gerne eine SRag iDier^ wenu er ffd) a(d jfommilitone borfleOte unb fic^
rft^mte, bag er nid)t ber ©d)Ied)te(le gewefen fei, wenn bie J^erren confratres
eine tleine @aufmette i)ie(ten*
Unb wet( er ftd) and) bet ben Seibed&bungen anfleUig jeigte^ errang
er bie ®unfl bed J^errn ^auptmanned unb wurbe fd)on nad) ad)t SRonaten
wo^[ befiaKter Unterofft)ier.
Dad wdre nun ailed rec^t unb fd)6n gewefen^ unb bie ganje aRenfd)^eit,
eingefd)Iofren bie ju 2finl)ofen, l)dtte mit bem ?ebendfd)t(ffale bed SRat^iad
^ottner jufrieben fein f6nnen.
Tlbtx im «@er)en bed ®rii(f(bauern fag ein 9Qurm*
12*
180 2^
Set fra^ an ti)m unb (ie^ t^m fetne 9tu()e bet ^ag unb 92a(f)t
HQenn anberen ^Ottn^dftn aUt Uni^idiUn Dertoren ge^en/ bann binben
(fc fcufjenb eincn fcf^toeren ©tein an i^rc J^ofnnngen unb berfenfen fie in
bai STOeer ber Serge(fenl)eit
din )&^Iebiger ®auer ^anbelt nidit fo; ber uberlegt ffd) noc^ immer^
ob rr nt(f)t etnen Set( ju retten bermag^ n>enn er bai ®anie nid^t ^aben fann.
Unb me fid) bte &rgfle 9Sut be« 93r&cf(bauern gelegt t|atte^ fing er
wieber an ju ftnnteren unb ^(&ne )u fdjmteben*
9BeiI ed fict) aber urn eine @ad)f ber ®e(ef)rfamfett ^anbelte, tt>ar er
fid) felber nid)t gefd)eit genug; er befd)!©^ beimegen, gfeid) tn bie red)te
®d)mtebe )u ge()en unb bet etnem ^farrer um 9tat )u fragen*
jDent 3(tnl)cfener tvantt er ntd^t; bon bamaK ^er^ noo er t^m wegen
bcm ®ried)ifd)en fo aufgefegte ?figen erjAl)It ^atte*
2fber in ©finj^aufen, bier UBegllunben entfemt, fa^ einer, ber f)od»^
no&rbige Jjcrr Sofef @d)u^bauer, ju bem man Sertrauen faffen fonnte-
£ad noar ein gang feiner; ein 3(bgeorbneter im Sanbtag, breimal fo
fat()0lifd) noie bie anbern @eelen^irten unb ein ^i$iger @treitl}amme(^ ber
bie Siberalen auf bem £raut fra^ unb ben ST^iniflem bie gr6b(len ^dnje
auffpielte^ bid er enb(id) bie eintr&g(id)fle ^farrei im ganjen 9idtum er^ielt
3u bem ging er^ benn ber tougte ganj gemi^ ein SRittel baffir^ ba0 ein fo
robufler iadl, wit Wtattjiai ^ottner mar, ber ^ird)e nid)t t)er(oren ging*
3((fo fragte er i^n^ ob man nid)t bad ©^mnafium in S^eiflng mit einem
orbentlic^en @tfi(f ®elb abfc^mieren f6nnte^ ober ben 9ifd)of/ ober fonfl n>en.
„(5in berbien|llid|e* SCBerf ifi ti immer," fagte ber ^od)nDfirbige Jjerr
@d)ut)bauer, Mtoenn man fein ®elb fiir fat^o(ifd)e Btoetfe anlegt^ aber in
bem %aVi ^ilft ed ntc^t t)ie(^ benn bad iReifejeugnid filr bie Unt))erflt&t friegt
man blog burd) eine ^r&fung. ^enigflend fo (ang bie n>eir[id)e aRad)t
— (eiber ®otted — in bie @d)u(bi(bung nod) toad brein )u reben i)at
3Cber n>ad anbered gel)t/ i&rfidlbauer/' fagte er^ ^toenn bu ben ^ottner J^ied
burd)aud geifllid) ()aben n>i&fl* X)a if} in 9tom ein Collegium Germanicum,
in noelc^em beutfd)e 3itng(inge audgebilbet merbeu/ bon ben 3efuiten. ^ic
ne^men ed fe^r genau mit bem ®Iauben^ aber megen ber S&ifbung^ ba brftrfen
pe ein 3fug' ju^ im Sntercffe bed ®Iaubend."
„J&m/' meinte ber ©rfirf Ibauer, ,,ob aber bie aWeffen, bie tt>o fo einer
lefl^ ber too aud iXom fommt, bie ndmlid)e ^raft ^aben?''
r,(S^enber nod) eine grigere^ menu bad i^berl)auptd m6g(id) no&r/' fagte
ber J^o(4n)urbige/ ^benn^ 93rficflbauer^ bu barfd nid)t ))ergeffen/ ba^ bie
@d)ur in fXom ganj in ber SRdt) bom ^etligen Sater ift/'
,,Db fte aber ba aud) bad ®ried)ifd)e unb fo(d)ene @d)n>inbelfad)en
Dcrlangen?"
,,9lur fd)eind{)alber. ®urd)faHen tut bedwegen feiner, tt>enn er fe(i im
®(auben ifi unb feine ®ad)^ in 9tid)tigfeit unb Orbnung )at)(t. Xber,
i&rftcffbauer, bei und in Z)eutfd)(anb fann ber SRat^iad ^ottner nicftt
Vfarrer n>erben."
„3a, warum nad)t)er net?"
r^SQeil bie SRalefiipreu^en ein ®efe$ bagegen gemac^t t)aben/'
„£6d fan aber fd)o n>irf(i f(f|(ed)te a}tenfd)en/'
181 ^
,,£a ^afl Sted^t; noc^ t)tef fd^Iediter, afd bu glaubfl. 2)er ^ottner
w&rbe l)aU n)a()rfd)einlicf) em STOiffiondr wcrben mfiffen* ^ad mugte bid>
mit $reube erffittcrt/ bcnit bo* i(l fd)ier nod) t)erbien|Hid)cr, aW tt>cnn er
bti nni arret wirb."
hii abtx aa g^tot^? fliet, bad t no ma( be gro0en 3ludga6en
1) &n unb e* toaar 6(0^ a t)a(6ete &ad^."
„(ii ifl 9en>i^ unb unbeftreit6ar, benn tmmer toaren bte ®(aubend^
boten am t)ic4flen gee^rt/'
£er SDr&cffbauer n)ar gCficf(tc^ unb gtng freu}fibel k)on @finit)aufen t)etm.
3e$t mu0te nod) aOed red)t noerben, unb fetn ^(an gtng ti)m t)tnau«*
jDie fodten fd)auen in ^reiftng^ noenn ber @d)u^nDafl(^te* rro$ aOebem
nedf etn geifl(id)er «Oerr n^urbe, ober QUid} gar ein ©(aubenibote^ ber bie
•Oinbianer befei}rt, unb bent feine SO?ejTen noc^ nte^r gelten*
Unb bie Xin^oferer^ bie i^n je|t aOen>ei( im ®irtd()aud fragten^ toai
fein rateintfd)er Unterofftjier ntad)e^ bie foSten bie 3Cugen nod) aufrei^en.
®(eid) am n&d)(len Sag fu^r er nat^ Wt&ndj^n. Xeinc ^reube ifl
ooDfommen^ unb bie ^a(me bed Sieged ifl niemafen mit leid^ter SRu^e )u
erringen.
X)ad erfutir ber ®rfid(bauer, aii er bem finiglid)en Unterofftjier
fRat^iad ^ottner feinen ^fan mitteilte*
Diefer erf t&rte runbweg^ ba^ er n>eber flubieren^ nod) ju ben «Oinbianern
ge^en weUu
TM ifym ber TUtt t^orfleKte, bag er gan) wenig (lubieren m&ffe, meinte
€t, gar nid)td fei nod) beffer^ unb afd ber ®rftcf(bauer il)m I)0(^ unb teuer
mfid)erte, bag er ein J^eiliger n>firbe/ genau fo n>ie bie gipfernen SJ^anner
in ber 2(in^ofener £ird)e, gab er }ttr Tlntwoxt, bag it)m bad gan) n)urfd)t fei.
Sd ^alf ailed nic^td. X)er 9rft(flbauer mugte ab}ie^en unt)errid)teter
2) inge unb mit feinem aften^ beigenben 9Burm im J^er}en. Srogbem^ er
gab bie J^offnung ni*t auf, er (lecfte fid) Winter ben alten gottner unb t>exf
fprac^ il)m bie fd)6nflen @ad)en ffir feinen «Oied.
Sange n>ar ed umfonfl^ aber nad) etwa jmei 3a()ren grif ber J^immel
felber ein unb fdiuf eine gunflige ffienbung.
£er J^auptmann ber jmeiten ^ompagnie bed f6niglid)en 3nfanterie^
geibregimentd n>urbe SRajon 3fn feine ©teUe trat ein giftiger J&err, welc^er
iD7annfd)aft unb Unterof|t}iere gleid)ermagen fd)u^riegelte unb baburd) ein
®erfjeug ber *ird)e nourbe-
Senn SRat^iad ^ottner entfd)(og fid)/ a(d er {um jmeiten SJ^ale mit
SSittelarrefl befhraft murbe^ fernert)in nid)t (dnger ju bienen unb feine 7lb^
fic^ten auf Capitulation g&ni[i(6 aufjugeben. @erabe in biefer ieit er^ieft
er einen ^rief bon feinem Sater^ welc^er folgenbermagen tanteU:
,,?ie6er J&iad!
fSlad^ langem n>arben noill idi Z)ir ent(id) @d)reiben/ bad gefling ber
93rigg(bauer toibex ba ©en^efl id unb inbem ^u ein «Oeufiger n>erben fun)t
unb bod) gar nid)td )un (ernen brauc^db aid miebadb nad) 9tom gefl.
(ieber ^iai, ti)ud Sir gnau fiberlegen n>anfl £u 93farrer wurjt bei bie
J^tnbianer aber bte brtmd, bie 9rtmind id betm SBfirt^ unb intern ber
182 8k-
S&ngglbauer fagt^ er )a(t Sir nod) egdbra breibaufab ^Dtaxd} n>annfl firtt
bi(l. Sicber J&iad, tf)ud jDir fern gnau iibcrlegcn, toa^ fir cine freute
SDBar fir X)cmcii aSater* Dfiflfen ©ricf f)obe icf) ?nid)t 9cfd)riben. Die
Senji i)at gefd)riben. 3d) mu^ mein fd)reiben fd)tte@cn^ benn bad ?icf)t
tjat nid)t met)r gebranb. Unber ^ielc ©ru^e t)erb(eibe id) Dein Did)
liebenber Sater ®ute 9{ad)t! @d)Iaf n>o^( unb ^rdume @u$. Zuf
tt)icberfeJ)n mad)t greubc. ®d)rribe mit)r fofort ben id) fanj nid)t me^r
erwarten auf 3fnbn>ort."
Der ©rief tot feine SBirfung. J5er Unterofft}ier ^ottncr bebad)te, bag
e« bei ben 9eifllid)en J&erren in 9lom nid)t fd)Ied)t )u leben fei, jebenfaOd
belTer^ aid in ber ^aferne unter einem J^auptmann/ ber mit bent 3(rrefl fo
frei9ebig mar.
3C(fo fagte er )U/ unb toie nad) bent S)7an6t)er feine Dien|l)eit ab^
gefaufen tear, ging er nad) 3(int)ofen ttnb lieg (ic^ t^om Q3r&(f(bauern bad
Serfpred)en wegen ber 3000 STOarf fd)riftrid) geben.
3((d biefe @ad)e in Orbnung n>ar^ unb er nod) baju ein fd)6ned
9teifegelb befontmen tjattt, fu^r er nad) iXom.
@ieben 3ai)re fa^ man it)n nid)t wieber^ jieben 3at)re (ebte er aid
Fottnerus Ainhofenensis int ®erntanifd)en ^oOeg unter ben ntilben Sefuiten,
tt)eld)e an biefem t^iererfigen ^foft and ?eibedfr4ften feiften unb fd)Iiffen.
Sine fd)6ne ^olitur befant er nid)t^ aber bie e^rn>&rbigen SSdter iadjUn,
fiir bie SGSilben fangt ed fd)on unb fagten ibnt, bag bie ^aft bed ®laubend
bie 9Biffenfd)aft red)t tt)ol)I erfe|en ttnne.
a){at^iad ^ottnerud bad)te and) n>ad unb fagte ni(i)t^.
©ieben 3a()re fag ber alte @d)u^n)afll in feinem J^aufe^ SRumnter ad)t
{U 3fin^ofen unb freute ffc^ fiber bie ffinftige J^eiligfeit feined ©ol)ned; (feben
Sa^re ret^netc ber ffiirt im t)or^inein and, tt>ie t)ie(e J&eftoliter 95ier bei
einer fc^6nen ^riminj getrunfen tt>erben, unb fceben Sa^re lang ging ber
i&r&dlbauer alle SSonate jum @rpebitor nad) ^ettenbad) unb Iie| eine $ofl^
ann^eifung abgef)en nad) Roma, Collegio Germanico.
Die Seute murben alt unb gran; balb n>ar eine .&od)ieit unb balb
ein S&egr&bnid; ber «l&aberlfd)neiber brannte ab, unb ber ^(oiber fant auf
bie ®ant.
Die fleinen Sreigniffe nte^rten fid) in Hintjoftn, wit bie grogen in
ber SBelt
©id eined 5aged ber ^farrer — ber neue ^farrer, benn ber alte tt>ar
bor brei 3aj)ren ge(lorben — t)on ber ^anjel t^erffinbete^ bag am 25* Suli,
am $age bed t)ei(igen !2(pofieId 3acobud, ber t)od)n>&rbige ^^rimijiant
SWat^iad gottner feine er(le ^eiligc SWeflfe in 3finl)ofen jelebrteren n>erbe.
Dad noar eine Slufregung unb ein @taunen in ber ganjen @egenb! 3u alien
9Birtdt)Aufern erjdl)lte man bat)on, unb ber alte ©rfirflbauer, ber^ feit i^n
ber @d)Iag getroffen ^atte^ nur felten met)r audging^ ^ocfte ie^t aSe Sage
in ber ®aftflube unb gab bie Sr&mpfe jux&d, bie er frfit)er ^atte einflecfen
m&ffen.
Xc^t Sage Dor ber ^rimi) fam SO^at^iad 0ottner an. 3nt gefd)mik(rten
183 8^
Sagen murbe er t)on bcr 93a^nflatton ab^ttfoU, brei^tg 9urf(f)en ga6en i^m
)u ^ferb tai @tUit
(Sine t^aibe @tunbe ^on 3(tn^ofen entfernt (lanb ber erfle Zxinmpi^f
boQtn, ber mit frifdjen Jidjtcnjwcigen unb blauweigen gAl)nIem gefc^mftcft war*
Sfm (Singange bti £orfe^ flaitb n)teber eitter^ bedgletd^en in ber fflitje
tti ^ixtit)auUi* SSom Xitd^entnme n>e^te bie ge(6n)et^e Sat)ne^ bie 936ller
frad^tett auf bent .^ftg^t I)tnter^a(6 bent ©tacflanmefen, unb bad 3Cuf^aufener
fRufinorpi (ie^ feine ()enflingenben 9Beifen ert6nen.
jDa (^te(t ber SBagen t)or bent etUttidttn UnmUtt bed ^rimt)tanten;
SKat^iad ^ottner (Iteg ab unb ertetfte fetnent Sater, fetner flutter unb
femen ®efd)»i(lem ben erften ®egen»
^df mu^ fageU/ er ^atte ein getflHcIied 3Cnfel)en unb SBefen. @eine
3(ugen fatten etnen fanffen SDItcf^ fetn ^tnn n)ar bereitd boppeU unb bie
^emegungen fetner fetten ^&nte fatten etwad 3(6gerunbeted^ fd|ier gar
Sierlic^e*.
(Seine ®prad)e war fdjriftbeutfdi, ntit ©etonung jeber ©ifbe; er fagte
U^t, bag er gef&tttget fei unb bag man il)m me(e Siebe bet&ttget I^abe*
SSon bent ^(figelntanne ber )n)etten ^ontpagnie tm f6ntgKd)en 3n^
fanterte^eeibregimente n>ar nid)td nte^r ilbrtg, ali bie (ange ^igur unb bie
ungefc^(ad^ten S&ge unb ^ragen*
(Seine ®efTnnung n>ar ntilbe unb liebreid). Sr t)ergab aOeU/ bie i^n
einfhnaK jur ®&nbe t)erf&^ret ^atten^ er t)ergab feinen (SUern unb Ser^^
wanbten unb 92ad^barn^ bag (le an i^m gejn^eifeU ^atten^ er t)ergab bent
^x&dlbantXf bag er it)m jornige SBorte gefaget tjattCf unb t)ergab aOen aDed*
Unb er fa^ erbarniungdt)oII unb mitleibig auf bie ST^eufdyen t^erunter^
n>e(die bent $^rone ©otted nid)t fo natft (ianben n)ie er.
9Qd^renb ber 3Bod)e/ bie ber ^rinti) t)oranging, fd^ritt er t>on <0<tud
)U J^aud unb fegnete bie Seute; aud> ben ©r&dlbauern^ n>e(d)er t)on @tunbe
an bed feflen SBertrauend n>ar^ bag er wegen bent fatten (Sib ntit unfernt
J^errgotr quitt fei.
Sie ^rimi) n>urbe ntit feltener ^raci^t gefeiert; k)on meit^er famen
bie itutt, benn ber @egen eined neu gewei^ten ^riefierd f)at eine befonbere
^aft unb ein afted (3prfid)n>ort fagt^ bag man ftc^ gerne barum ein ^aar
(Stiefelfo^fen burd)ge^en foil.
©ie gefiprebigt tjielt ber ^od)»6rbige J?>err Sofef ©c^ul)bauer, wefd^er
fc^on feit 3af)ren geiflfid)er !Kat unb f)dpfl(id)er J^audprdlat n>ar.
(&x eri&i)Ite ber anb&d)tigen Serfammlung/ in toai f&x einen iiotj^n,
er^abeneu/ ^eiligeU/ aKer^eiligfien, aUerfeligflen @tanb ber junge ^riefler
einfrete^ unb er ru^mte it)n auf bie iiberfd)n>englid)fle 9Beife.
jDenn bad mug man xoi^cti, bag 3efud Sl)riflud niemald fo gelobt
noorben ifl auf dxbcn, noie ^eute ein Dierecfiger ^rimi)iant gefobt noirb.
92ad^ bem firc^Iid^en ^efle fam bad mUUd)e im SBirtd^aufe, unb
man faun fed) feine 33orflellung t)on ber ©rogartigfeit mad^etu
3mi Cc^fen, bret khlie^ ein ®tier^ ac^tjeijn £d(ber^ in>an)ig @d|n)eine
^atte berSBirt gefd)Iad)tet; baju mugten unidt)(ige ©dnfe, J^fit)ner unb @nten
bad Seben laffen. (Sinunbneun}ig ^eftoliter ©ier n>urben getrunfen^ fafl
t^ier)tg me^r^ aid ber SGBirt gerec^net ^atte.
184 ^
HH w&^renb M %e{imatiM bte @c^&ffel jum @infamme(n ber @penben
tierumgereic^t murbe, f(offen bte ®aben fo reidylid)^ ba^ ffir ben $nmt}tanten
2000 SRarf bKeben.
@d n>ar etne er{)ebenbe g^eten
Sie 3(in^oferer gfaubteii/ ba^ ber neugetoet^te ^rte(ler fc^on mit bem
it&d)flen ®€(^tf )u ben n>{(ben J^inbtanern fai^ren n>erbe. Z)ie aUt ^ottneritt
weinte tm iDoxaui, unb tm ganjen £otfe er}&t)Ue man fid) Don ben ®efa^ren^
n>e(ct)e bte ©laubendboten erbntben mfiffen unter ben a)7enfd)enfre{fern/ bte
fo etnen fTOartprer ^erne^men^ il)m etnen (Spte^ t)on t>orn btd ^tnten burd)^
jie^en unb Ijernacf) fiber bem ^ener langfam umbrel)en, bi* er fdjin braun mirb.
3Cber fie fannten ben gefeterten ®o^n 2(tn^ofend, mit 92amend 3Ratl)tad
^ottner fd)(ed)t, n>enn fie glaubten, ba^ er ffd^ auf foldye Sadden einlaffen
tt>erbe*
5Der befag je$t ein a3erm6gen »on 5000 STOorf; 3000 Dom ©rficfl*
bauern unb 2000 »on ber ^rimijfpenbe l)er. STOit biefem Capital ging er
in bie ©c^meij unb tt>urbe ^farrer im (Sraubfinbener ^anton^ reben
bie Seute and) X)eutfd)^ unb am @pie^e braten fie blo^ J^fi^ner unb ®dnd/
aber feine ®(aubendboten.
£ort n>irfte ^ottner in 9tu^e unb ^rieben unb tt>og balb britt^albe
3entner, fein ^funb tt>eniger.
^ur ben ^rficflbaueru/ ber ben J^ied gerne ali J^etltgen gefe^en i^&tte^
tt>ar bad eine @nttdufd)ung*
Unb ffir bie J^inbtaner auc^.
£)enn bie 3(udftd)t n>irb i^nen nie me^r b(fit)en/ ba^ ein Unterofftjier
t)om baprifdyen Seibregiment ali SRifjtonar ju i^nen fommt
Vcrftntwoitllcb : F&r den polltischen Tell: Frledrich Nftumtnii In Scbtfneberg; fOr den wltsenschtfdlchcn
Tell: P«al NlkoUus Costmann In MQncben; far den lltertrlschen Tell: Josef HofknlUer in MQncben;
' f&r den kCnstlerlseben Tell : Wllbelm Welstnd In MQncben-Botenbausen.
Naehdruck der einzelnen Beltrige nur auszugswdse und mit genauer Quellenangabe' testattM.
Die Illusion in der Politik. ^
Von Friedrich Ntumtnn in SchSneberg.
Auch der grdsste Philosoph kann nicht genau sagen, was Illusion
ist, da alles Irdische in dem bestindigen Verdacht steht, unwirklich zu
sein. Es gibt wenig Wahrheiten, die nicht, ehe sie Wahrheit wurden,
Ulusionen genannt worden wSren, und die nicht, nachdem sie Wahrheit
gewesen sind, sich wieder in den Illusionsbereich hinein verfluchtigen.
Wenigstens gilt das sicher von den politischen Ideen. Irgendwann
tauchen sie als feme, phantastische Zaubergestalten auf, kommen niher,
werden menschlicher, wirklicher, wahrer, werden geglaubt und befolgt,
bis ihr Glanz zur Erinnerung verbleicht und nur noch die Romantik
Oder die berufsmissige Heuchelei sich mit ihnen befasst.
Man denke an das Naturrecht von Rousseau! Oder an den Traum
der deutschen RepublikI Oder an den Gedanken des ewigen FriedensI
Oder an den Gottesstaat der protestantischen oder katfaolischen ReaktionI
Oder an das Legitimititsprinzip der Herrscher von Gottes GnadenI
Die politische Luft war voll von Wolken, die sich bildeten und die sich
zerstreuten. Hundert kleine Wolken werden oft von einer grossen
verscblungen; die grosse Wolke bedeckt den Himmel, es blitzt, es
donnert, es regnet, und die Athmosphire wird wieder frei fur neue
Bildungen.
Ganz falsch ist es zu sagen, dass Wolken nichts sind. Sie sind
nur nicht das, was sie in ihrer stolzen Pracht zu sein scheinen. Der
Regen, der von ihnen kommt, beweist, was und wieviel sie sind. Sie
sind keine ganz neue Welt, sondern nur eine Befruchtung der alten,
aufgestiegen aus den alien Bergen und Tdlem, die dann wieder nach
ihnen dursten. Ohne sie wird das Land zur Wuste, vertrocknet,
schattenlos und tot.
Mit nuchtemen Worten: wir kdnnen ohne politische Generalideen
nicht leben, obwohl wir den nur relativen Charakter dieser Ideen er-
S&ddeuttche Moafttshefte. 1,3. 13
186 Sn*-
kannt haben. Jede Zeit hat ihre eigenen Generalideen, da aber jede
Zeit gleichzeitig Vergangenheit^ Gegenwart und Zukunft in sich tragt,
so hat sie auch gleichzeitig Ideen, die erst noch Illusionen, die eben
Wahrheit geworden und die schon wieder verblasst sind. Ein gewisses
Stadium in der erst werdenden Idee heisst Utopie*
Was ist Utopie? Wenn hohe Wolken sich hoch uber der Erde
ttirmen und wenn die Sonnenstrahlen diese Wolken mit seligem Lichte
bewerfen.
Es war einroal, da glaubten die Ftirsten, sie seien dazu da, die
Vdlker von oben her glucklich zu machen, und die Volker nahmen
vielfach an diesem Glauben teil. Wir reden dabei von der Zeit des
wohlwollenden Absolutismus.
Es war ein anderes Mai, da glaubten die Vdlker, sie kdnnten nur
von unten her glucklich werden, wenn sie alle Fiirsten zu Privatleuten
machten und durch Majoritdten die Autorititen erdriickten. Wir reden
von der Zeit, in der der Sturmgeselle Sokrates jung war.
Und heute sind beide Glaubensarten noch vorhanden, aber der
Sonnenschein ist hier und dort von den Wolken hinweg. Man gesteht,
dass es schwer ist, immer gute Fiirsten und immer verstlndige Ma-
joritlten zu haben, und weiss, dass keine Regierungsform fur sich allein
das Gltick verbtirgt. Ohne Zweifel waren aber doch beide Illusionen
heilsam, denn ohne sie wiirden erst die Fursten und dann die Vdlker
weit weniger geleistet haben. Der grosse Fortschritt der Staats-
verwaltung zwischen 1750 und 1850 und der grosse Fortschritt des
Staatsbiirgertums zwischen 1803 und 1903 ist ohne lebhafte Illusionen
gar nicht denkbar. Wir danken den Illusionen vieles, was die nuchteme
Wahrheit nie erreicht haben wurde, und freuen uns, dass es in der
Vergangenheit Utopisten gegeben hat, ja, wir fuhlen, dass es immer
welche geben muss, wenn man Fortschritt haben will.
War denn nicht auch in der nationalen Idee, aus der heraus das
Deutsche Reich entstand, etwas von Utopie? Gerade der deutsche
Siiden hat sich die Sache doch noch anders gedacht, als sie gekommen
ist. Das Nationale wurde viel breiter, weiter, freier, lustiger und
luftiger gefasst. Es war so unendlich viel Jugendpoesie in den HotF-
nungen der ersten Zeit der nationalen Idee. Das war die Zeit, wo die
Sonne an die Wolken schien, dann kam das Gewitter und der Regen,
und nun wichst es nuchtem und brav, wie eben das Ackerkraut zu
wachsen pflegt, wenn das Wetter gut war. Bedauem wir die, die einst
noch anderes hoflpten? Gewiss nicht! Bedauem wir uns? Nur dann,
wenn wir innerlich Mrmer sind als jene, das heisst, wenn wir nichts
mehr hoflTen.
Es gibt Illusionen der Wachsenden und Illusionen der Sterbenden.
Die Sterbenden bilden sich ein, noch immer jung, noch immer
-<-8 187 8^
welteroberndy noch voll von Herz und Feuer zu sein. In ihrem Gehirn
sind noch Reflexe von Dingen, die lingst verkalkt, vennorscht und ver-
loren sind. So sieht der Stolz der Spanier aus, so arbeitet noch immer
die Seele des Mohammedanismus, so bleiben die Formen der Souverinitit
auch da, wo Iftngst alle wirkliche Souverinitit zum Fenster hinaus- •
geflogen ist, so werden alte Parteifonnen erhalten, wenn niemand mehr
recht weiss, was sie bedeuten. So redet ein Handwerksmeister davon,
dass es verboten sein soil, Schuhe fabrikmissig herzustellen, ein
Priester, dass es strafbar sein soli, sich nicht kirchlich trauen zu lassen,
ein Bauer, dass Mtinchen ohne Gerste aus Osterreich und ohne Vieh
aus Tyrol existieren soli. Sie alle haben ihre einstige Jugend wie einen
Schatten im altemden Kopf.
Die Wachsenden aber bilden sich ein, dass sie schon morgen die
Herrschenden sein werden. Alles, was vor ihnen gethan und gedacht
worden ist, ist nichts; der Weltentag beginnt mit ihnen. So schrieb
Bebel sein Buch von der Frau, so gebirden sich die kleinen Nationen
in Osterreich, so verachtet die neue Aristokratie die alte. Der Unter-
schied ist nur, dass die Wachsenden eine viel reellere Grundlage ihrer
Triume haben, als die sinkenden, weil eben das Wachsen selbst ihnen
zu Hilfe kommt. In alien ihren Obertreibungen liegt kommende Wirk-
lichkeit verborgen. Wer also Illusionen beurteilen will, muss nicht die
Illusion an sich beurteilen, sondem die Menschenschicht, aus der sie
aufsteigt. Nicht das entscheidet, ob die Gedanken ^an sich"* klug oder
dumm sind, sondem das, ob die Triger dieser Gedanken gesund sind
Oder krank. Damit erspart man sich unendlich viel unnutze Theoretisirerei.
Es gibt aber auch sehr merkwtirdige Zwischenformen zwischen
sinkenden und steigenden Illusionen. Als Beispiel diene die polnische
Politik. Die Idee des polnischen Staates ist die Illusion eines Sterbenden
und die Idee der Selbsterhaltung des Polentums ist der Gedanke eines
Wachsenden. Altes und Neues aber ist unentwirrbar verschlungen.
Solche Fille sind das dunkelste, was es in der politischen Seelenlehre
gibt. Es kommt vor, dass eine sachlich neue Bewegung, wie einst der
Liberalismus in Wiirttemberg, als Kampf fur ^das alte Rechf* auftritt.
Die Arbeiterbewegung in England trug in ihren Anfangen ihnliche
Formen. Auch die agrarische Bewegung im konservativen Mantel kann
hierher gerechnet werden. Deshalb ist es oft peinlich schwer, zu
wissen, ob eine Strdmung reaktionir ist oder nicht.
Man kann noch einen Schritt weiter gehen und sagen: alle grossen
Illusionen bestehen in der Mischung untergehender und neu auftauchen-
der Denkweisen. Die nationale Idee des vorigen Jahrhunderts hatte
ebensoviel deutschen Weltgeist wie Kantonligeist in sich. Auch die
Sozialdemokratie von heute entgeht demselben Schicksal nicht. Auch
sie umkleidet die Kinder ihrer Prophetie mit Kostiimen, mit denen
schon friiher in ilteren Stucken Theater gespielt wurde.
13*
188
1st es aber eigentlich richtig, die Gedanken der Wachsenden,
mdgen sie auch noch so nebelhafte oder veraltete Elemente enthalten,
als Illusionen zu bezeichnen, sobald man von ihnen eine merkbare Ein-
wirknng auf die Gestaltung der Dinge erwaitet? Kann etwas Illusion
heissen, das Gestaltungen aus sich gebiert?
Wie ist es eigentlich beim Einzelwesen? Jeder von uns hat
Illusionen gehabt, die fur sein privates Schicksal von durchschlagender
Bedeutung geworden sind, die er nie aus seinem Leben streichen
mdchte, da sie der Inhalt seiner Jugend waren, und die er doch heute
vor sich ausgebreitet sieht wie einen orientalischen Teppich. Wir alle
wissen, dass die Natur die ^Illusion' braucht, um die Art zu erhalten.
In diesem Sinn ist das Wort Illusion nichts einfach torichtes oder gar
etwas krankes. Im Gegenteil: Jugend ohne Illusion ist krank! Das
Wesen der Illusion besteht nicht darin, dass nichts durch sie geschaffen
wird, sondem nur darin, dass die vorausschaffende Phantasie sich freie
Triume gestattet und in diesen Triumen gliicklich ist. Niemand soli
sich schimen, politisch jung zu sein oder jungen Ideen zu huldigen,
wenn ihn das Schicksal in die Mitte oder an die Seite einer wachsenden
Schichtung warf. Und es schadet gar nichts, wenn man dem Feinde
das Wort « Illusion* aus seinen Fingem windet und es selbst im eigenen
Schild mit anbringt. Fruher nannte man dieselbe Sache «Idealismus".
Das Wort Idealismus aber hat Schiffbruch gelitten, denn in ihm fehlte
eben das, was in dem Wort Illusion vielleicht etwas zu stark aus-
gesprochen ist, das Zugestindnis von der Relativitat alles Erhoiften und
Erdachten. Es liegt im Wort Idealismus eine alt gewordene Welt-
anschauung, nimlich der Glaube, als seien die Ideen selbst die
lebendigen Wesen. Sie sind es aber nicht. Das Lebendige sind die-
jenigen, die die Ideen haben, und die Ideen sind nichts als Symptome,
sei es des Sterbens, sei es des Wachsens.
m
Es wird von Weltpolitik geredet. Schon das Wort ,Welt"politik
ist nicht ohne Illusion. Damit aber ist die Sache selbst in keiner
Weise verurteilt. Es ist notig, zu sehen, welche positiven Knlfte hinter
diesem Worte stehen. Man sieht unseren Handel, unsere Fabrikation,
begleitet im Geist unsere Waren tiber die Erdkugel, sieht deutsche
Ansiedlungen in alien Zonen, fuhlt den Pulsschlag, der durch Hamburg
geht, fingt an, Kiel und Wilhelmshaven als ErgMnzungsbestandteile von
Hamburg und Bremen zu erfassen, vergleicht den Expansionstrieb
anderer Vdlker, und gewinnt dem vorher kritisch verdichtigten Worte
grossen Inhalt ab. Das Wort ist eine flatternde Fahne, ein Symbol,
ein Willensbekenntnis, ein Gelobnis von Unermiidlichkeit und Opfer-
bereitschaft. Es mag Obertreibungen in sich bergen, ja es muss sie in
sich enthalten, denn es ist Pflicht, neue Gedanken grdsser zu denken,
als die Geschichte sie spiter herausarbeiten wird.
Dort steht der Kunstler vor dem RohstolF. Er weiss, dass zwischen
^ 180 8^
ihm und seinem Stoif viel verloren geht. Weil er das weiss, muss er
seine Idee so scharf, hell, farbig im Gehirn konzentrieren, wie nur
immer mdglich. Er darf nicht bloss das denken, was dann wirklich
fertig wird, er muss mehr tun. Tut er es nicht, so leistet er weniger.
In diesem Sinne gSnnen wir der Weltpolitik ihren Schimmer. Es muss
Musik dabei sein, wenn in den Kampf marschiert wird, helle, todes-
frohe, lebenslustige Musik!
Und nochmals die Sozialdemokratie ! Hier ist an Illusion das
Menschenmdgliche gesammelt. Alle alten TrMume, die je den Abend
in dunklen Hutten beseligten, sind hier gesammelt. Eine Welt ohne
Herren und Knechte, ohne Fronvogte und Liktoren, ohne Armenhiuser
und Gefangnisse, ohne Hunger und Krieg! Wer das will, der soli sich
anschliessen! Willst du es denn nicht? Ja, ich wurde es wohl wollen,
wenn es nicht — eine grenzenlose Illusion wire! Es ist aber Missbrauch
des Wortes „ich will'', wenn es vor Dinge gesetzt wird, die nicht sein
konnen.
Wir sind also einig, dass die Sozialdemokratrie voll von Illusion
ist. Daraus folgert nun der gebildete Unverstand, dass sie nichts ist.
Die Wolke ist nichts! Graf Bulow schligt den Zukunftsstaat tot, und
seine Rede wird so eifrig verbreitet, dass die Fliisse voll weissen
Papieres sind. Es hilft aber nichts, denn nicht so steht es, dass die
Illusion aus sich heraus die Arbeiterbewegung geschafFen hat, sondern
die Arbeiterbewegung entstand und aus ihr wuchs die Illusion. Illu-
sionen sind, wie wir sagten, soviel wert wie die Schichten, von denen
sie getragen werden. Die Schicht aber, die diese Illusion trSgt, wird
durch Btilows nette Rede nicht um einen Mann verringert. Die Massen-
verbreitung dieser Rede ist darum eine Illusion im kleinen und ge-
wdhnlichen Sinne des Wortes. Die grosse Illusion aber will ihren
naturlichen Gang gehen, das heisst, sie will langsam verblassen, indem
sie Wirkungen schafft. Kein Rebel wird sie ewig frisch und jung er-
halten, und kein Biilow wird sie von heute auf morgen nach Sibirien
blasen.
Die Arbeiterbewegung selbst ist eine reale Grosse. Dass sie
wSchst braucht niemandem erst bewiesen zu werden. Man wird sich
also darauf einrichten mussen, dass sie merkbare politische VerSnde-
rungen herbeifuhrt. Diesen realen Kern aber sehen viele Leute heute
noch nicht, weil sie sich nur mit der Illusion herumschlagen, die sein
Wachstum begleitet. AIs einst Israel durch die Wtiste zog, da ging,
wie die Bibel erzEhlt, tags eine Wolkensdule und nachts eine Feuer-
siule vor dem Volke her. So wandert die Illusion vor dem neuen
Volke des Industriezeitalters. Wenn der Kampf um den Jordan wirklich
beginnt, verschwindet die SSule.
190
Irgendwo in einer Ecke sitzt die Weltgeschichte. Ihr Gesicht ist
das wunderlichste Gemisch eines Gesichtes, das es geben kann. Man
weiss nicht einmal, ob sie alt ist oder jung, ob gut oder bdse, ob eine
Matter oder eine Hexe. Wenn sie lacht, da glauben die einen, dass
alle Glocken IMuten und die anderen, dass Erdteile von Warmern zer-
fressen werden. Nie ist das Wort, das sie spricht, nur einer Deutung
fShig. Im Streit um ihre Worte aber ist es, wo die einen den anderen
vorwerfen: Illusion! Das ist der Streit, der auch uns alle umflutet
Ein Hoch auf MOnchen/)
Von Georg Friedrich Knapp in Strassburg L E.
An unserer heutigen Tafelrunde klafft eine Liicke; ein leerer Stuhl
bezeichnet die Stelle, wo der Vertreter dieser Stadt, der Burgermeister
Brunner, sitzen sollte — aber er ist ausgeblieben. Weiss er vielleicht,
dass ein Schulfreund von ihm den Auftrag hat, die Stadt zu begrussen?
Hat er sich vielleicht aus Bescheidenheit zuriickgehalten, weil er fiirchtet,
zu viel des Lobes zu hdren? Eine Stadt freilich errotet nicht — aber
der Btirgermeister will uns nicht das Schauspiel gonnen, dass er fur
seine Stadt errotet.
Gliickliches Munchen, dessen magistratische Spitzen bereits die
Verborgenbeit aufsuchen, weil es zu gefihrlich ist, sich der Fulle des
Lobes auszusetzen!
Mit welchem kurzen Worte sollen wir die bayerische Hauptstadt
preisen? Wire es Wien, so witrden wir sagen: das lustige Wien. W&re
es Mainz, so wtirde jeder rufen: das goldene Mainz. Selbst ein unheiliger
Dichter, wenn er Koln zu nennen hatte, pflegte unbedenklich zu schreiben:
das heilige Kdln. Und wenn uns ein gutes Geschick nach Rom gefuhrt
hat, wovon anders reden wir dann zu Hause, als vom ewigen Rom.
Als der Verein fQr Sozialpolitik im September 1001 in Miinchen tagte,
schloss er seine Verhandlungen mit einem Festmihle im Kiinstlerhiuse tb (Be-
richt z. B. in .Die Zeit*, Nationalsoziale Wochenschrift, Bd. I Seite 24, unter
jpKunst und Wissenschaft"). Damals hielt Herr Professor Knapp eine Tischrede,
die alien Teilnehmem des Kongresses in unausldschlicher Erinnemng geblieben
ist; der ihm von Mfinchen aus zugegangenen Bitte, die VerdflTentlichung dieser
>Rede zu gestatten, hat Herr Professor Knapp gfitigst entsprochen, indem er den
Trinkspruch aus der Erinnemng aufschrieb und den Sfiddeutschen Monatsheften
4m Dezember 1903 zur Verffigung stellte. Die Redaktion.
191
Kehren wir aber von Mtinchen zuriick, gleichgultig, ob wir da ge-
malt Oder studiert haben, so fillt uns nach kurzem Besinnen nicht leicht
etwas anderes ein als das Wort: wir kommen aus dem gemutlichen
Munchen.
Und weshalb? Der unerfahrene Student erinnert sich vor allem
an den StofF; der Kleinburger denkt an die hemdarmeligen Abende auf
der Kegelbahn, der Bauer an das bunte, wimmelnde Oktoberfest.
Keiner von diesen alien aber hat eine Ahnung davon, was hoheren
Geistern so sehr an Munchen gefMllt.
Was fesselte hier den grossen Maler aus Waldeck, was bezwang den
unerschdpflichen Novellisten aus Berlin, was bestrickte den geistreichen
Redakteur der AUgemeinen Zeitung, seinen Landsmann? Wie kommt
es, dass Hunderte von Fremden sich hier einwurzeln, lauter hervor-
ragende Manner, die man nur selten auf Kellerfesten antrifft und die
auf der Theresienwiese mit der grossten Regelmissigkeit — fehlen?
Auch ihnen ist Munchen vor allem die gemutliche Stadt.
Es muss also, wie es eine hdhere Mathematik geben soli, auch eine
hohere Gemutlichkeit geben, unerreichbar fur den farbentragenden Fuchs,
fiir den beschrMnkten Handwerker, ftir den schlichten Bauer — und
doch unleugbar vorhanden fur den Mann der hoheren Kreise, und am
meisten geschStzt vom Norddeutschen. Man hore nur den Mann des
Nordens reden, wenn er von einem bayerischen Landaufenthalt zuriick-
kehrt, etwa aus Tdlz oder Garmisch: «Kein einziger Geheimrat ist dort
gewesen* ruft er mit Befriedigung aus; kein einziger — nattirlich ausser
ihm selbst!
Da liegt es. Wie an jenen kleinen Orten, so hat auch in Mtinchen
ein (Jbel keine Herrschaft, das anderswo so leicht jede Erholung stort:
in Munchen kommt die Fexerei nicht auf. Nur ganz leise wagt sich
mitunter der Bergfex hervor; aber er bleibt ungeflhrlich, da er sich
nur auf dem Wege zum Bahnhof oder vom Bahnhof zeigt. Sonst aber
ist das Fexentum nur selten und in einer Beziehung fehlt es ganz: es
gibt keine Berufsfexen, oder noch kurzer: Munchen duldet die Fachfexen
nicht, die doch sonst in Deutschland auf^ schSdlichste wuchem. Denn
der Deutsche will etwas Ttichtiges sein; er lemt ^sein Fach"" und
ySimpelt Fach^, bis er in lauter Fachgedanken erstickt und als fertiger
Fachfex dasteht.
Als Gelehrter liest er und wiederholt er alle Rezensionen; als
junger Dozent zShlt er alle Universititen auf, an denen er in Vorschlag
war; als Leutnant betet er die Rangliste her, vorwirts oder riickwSrts;
als Beamter kennt er das Klebegesetz auswendig, und in manchem un-
bewachten Augenblick entschlupft ihm davon ein Paragraph. Jeder findet
es beim andern grftsslich, und jeder tut es doch.
Nur in der dtinnen Luft der bayerischen Hochebene gedeiht der
Fachfex nicht.
Der Bayer wird freilich auch seltener Spezialist als der Mittel-
deutsche oder Norddeutsche. Er wartet lieber ab, ob es ihm der Hebe
Gott gegeben babe und Iflsst es laufen, wenn es ihm nicht gegeben ist.
192 8^
Aber wenn es ihm als Geschenk zufillt, dann wird er was Rechtes
und redet nicht davon, ausser wenn's notig ist. Denn der Bayer und
sein Bruder, der Osterreicher, will nicht in seinem Benife verkummem.
So heilige Namen wie Mozart oder Schwind wollen wir nur im
Vonibergehen mit Ehrfurcht nennen; sie waren ja Ktinstler, und die
Kunst ist nun einmal die Schdpferin und Huterin der Ganzheit.
Aber hier in Miinchen haben auch andere Berufe das Schdne,
dass sie ihren Trigem nicht das Mark aussaugen, sondem ihnen die
Gesundheit bewahren. Dass sogar Konige hier Menschen bleiben, hat
uns Ludwig der Erste gezeigt. Freilich bietet eine so hohe Stellung
tausend Heilmittel gegen die Verkndcherung dar. Aber auch in be-
scheidenen Lebenslagen bewdhrt es sich, dass der Bayer, und alien vor-
aus der Miinchner, gegen die Berufskrankheit des Fexentums geschtitzt ist.
Nehmen wir einmal als Beispiel den Apotheker. In der Residenz
wohnte einmal ein solcher, der Hofapotheker Pettenkofer. Seine
Rezeptur verstand er so gut, wie je einer es tat, und sein Geschlft
betrieb er musterhaft. Aber er konnte noch mehr. Setzte man ihn
in das kdnigliche Munzamt, so war er ein Scheidekunstler ersten Ranges,
der unversehens aus den Brabanter Krontalem das verborgene Gold und
die Spuren von Platin herausholte. Trug man ihm auf, Vorlesungen
uber Hygiene zu halten, so fand er zwar nichts vor, das er hStte lehren
kSnnen, schuf aber so nebenbei das ganze Fach und bildete die Schuler
heran, die jetzt auf alien Universititen Lehrstiihle inne haben. Man
fragte ihn urn Rat wegen des Nachdunkelns der alten GemSlde in der
Pinakothek — und Pettenkofer gab sofort ein Verfahren an, die mikro-
skopischen Risse im Fimis zu schliessen und die alten Farben wieder
aufleuchten zu lassen.
Im Jahre 1854 flllt ihn die Cholera an; er iibersteht die morderische
Krankheit und richt sich, indem er sie in alle Schlupfwinkel verfolgt,
bis nach Malta und Indien. In wenigen Jahren ist er dahinter gekommen,
wie sie sich verbreitet — und ehe man's denkt, hat er die Sanierung
der Stftdte in Gang gebracht.
Ein Fachmann — wire er das gewesen, so hitte ihm seine Apotheke
geniigt; nein, er war ein Mann der Wissenschaft und sogar mehr als das.
Bei Festlichkeiten, als Rektor der UniversitMt, in seinem Talar —
wie wusste er den beinahe kdniglichen Mantel kSniglich zu tragen! So
bewegt sich in diesen weiten Falten nur eine ktinstlerisch angelegte
Natur. Und wie liebenswtirdig blitzten dabei seine dunkeln Augen.
Noch viel mehr aber leuchteten sie, wenn er die Gedichte eines
ganz unbekannten Mannes vorlas, der jetzt ein bekannter und verehrter
Mann geworden ist, die Gedichte Hermann Linggs. Diesen Dichter hat
Pettenkofer entdeckt und ans Licht gezogen. Wer weiss, ob je Emanuel
Geibel das erste BIndchen der Gedichte Linggs herausgegeben hitte,
hatte nicht der Munchner Hofapotheker durch meisterhaften Vortrag die
Neugierde und Teilnahme geweckt und genMhrt.
Ganz davon zu schweigen, dass Pettenkofer selbst, wenn er wollte,
ein glSnzendes Sonett zustande brachte, dem niemand anmerkte, dass
193
es aus der Residenz und aus welcher Ecke dieses weitl&ufigen GebSudes
es stammte.
Man wird durch diesen Mann an Italien erinnert, dessen grosse
Minner ebenfalls alles konnten, was sie wollten. Dort wachsen sie empor
ohne die Stiitze und die BeschrSnkung dessen, was der Deutsche sein Fach
nennt. Dort heisst es: Sei ein bedeutender Mensch, aber bleibe dab^i
ein Mensch — eine Anschauung, die sich in Deutschland leicht ver-
liert, von der aber in Bayem ein kostbarer Rest geblieben ist. In Bayem
wieder am hiufigsten in Mtinchen; in Munchen niemals so deutlich aus-
geprigt wie bei Pettenkofer, der sozusagen das hSchste mdgliche Mass
des Miinchnertums darstellt.
Kdnnten wir, die versammelten Mitglieder des Vereins fiir Sozial-
politik, es ihm nachtuni Wir haben allerdings andere Aufgaben als er;
much wird man uns hoffentlich nicht der Fachfexerei beschuldigen, ob-
gleich wir Fachminner sind.
Aber so allseitig frei entwickelt, so jeder geistigen Regung zugang-
lich, so unverkummert im Fachwesen, wie er es war, ist in unserem Ver-
ein doch nicht gerade jeder.
Ein en haben wir schon unter uns, der die Allseitigkeit und den
ktinstlerischen Zug des Wirkens in seiner Zeitschrift, genannt .Hilfe"",
allwdchentlich vor dem erstaunten Vaterlande ausbreitet — ich will ihn
nicht anblicken, sondem ihm den Riicken zuwenden, damit er nicht
merkt, dass ich ihn meine. Vielleicht werden es mit der Zeit mehr, und
dann konnten wir von uns rtihmen, dass auch wir etwas von dem Wesen
besitzen, das den eigentlichen Kern des hdheren Miinchnertums bildet.
Dankbar ergreifen wir unsere Gldser: es lebe die Stadt, die den
Deutschen vor dem Fexentum des Berufs bewahrt; die Stadt, die vom
Tiichtigsten fordert, dass er noch ein ganzer Mensch bleibe. Neben das
lustige Wien, das goldene Mainz, das heilige Koln setzen wir das ge-
mutliche Mtinchen: es lebe, wachse und gedeihe!
Betrachtungen anlSsslich des Kaiser- ManOvers.
Von Major z. D. und Bezirksofflzier Ernst Filler in Frankfurt am Main.
Jena oder Sedan? In einem vor einiger Zeit unter diesem Titel
erschienenen Sensations^Roman werden die deutschen HeeresverhSltnisse
bezuglich der Einrichtungen, der Ausbildung, wie auch in geistiger und
194
moralischer Richtung in so schauerlicher Weise als auf schlimmen, ab-
wSrts gerichteten Bahnen sich bewegend dargestellt, dass dem Un-
kundigen, falls er dem Verfasser glaubt, seine Schilderungen entsprachen
der Wirklichkeit, um unser schdnes Heer allerdings angst und bange
werden konnte. Dass dieses Werk in kurzer Zeit es zu einer bedeutenden
Zahl von Auflagen bringen konnte, ist ein Beweis vielleicht einerseits
des allgemeinen grossen Interesses, das unserem Heere entgegengebracht
wird, anderseits aber auch dafur, dass der um Aufsehen zu erregen
geschickt gewihlte Titel mit dem Tendenz-Fragezeichen nebst dem Titel-
blatt in den deutschen Farben und mit dem Eisernen Kreuz seine
Schuldigkeit getan hat; ausserdem mogen dazu die reichlichen sinn-
lichen Szenen aller Art, die sich fast in jedem Kapitel abspielen, bei-
getragen haben.
Aber gerade die Wahi des Titels, die Gegeniiberstellung von Jena
und Sedan, zeigt uns von vorneherein, dass der Verfasser auf militarische
Sachkenntnis und Urteilskraft keinen Anspruch macht. Denn abgesehen
davon, dass es an sich schon ein milit&rischer Nonsens ist, zwei in
ihren Ursachen und Wirkungen so durchaus verschiedene Kriegs-Ereig-
nisse so kurzer Hand zu einem Vergleich einander gegeniiberzustellen,
so weiss heute jeder, der nur einigermassen sich mit Kriegsgeschichte
befasst und einen verstSndnisvollen Einblick in die Fortentwicklung der
deutschen Armee in alien ihren Teilen seit 1870 getan hat, dass diese
sich jedenfalls nicht auf dem Wege nach Jena befindet, denn bei Jena
unterlag nicht eine in sich schlechte Armee — im Gegenteil! , sondem
eine veraltete Art der Kriegfuhrung tiberalteter Offiziere und Ftihrer
gegeniiber einem ganz neuen System der Kampfweise, in uberraschendster
Weise zur Anwendung gebracht durch ein seltenes Feldherren-Genie und
untersttitzt durch Unterfuhrer im krSftigsten Mannesalter. Kann nun
behauptet werden, dass unsere Gefechtsgrundsiitze, die ganze Art der
Kriegfuhrung seit 70, im Vergleich zu anderen Armeen, in hergebrachten
Formen erstarrt waren oder zu erstarren begdnnen? Sind wir in unserer
Kriegskunst hinter anderen Armeen zuruckgeblieben und konnen wir
wieder in die Lage kommen, unvorbereitet einer neuartigen fremden
Kampfweise gegenubertreten zu mussen? Wir glauben, dass wer mit
ofFenem, unbefangenem Blick beobachtet, wie rastlos und eifrig an alien
Stellen der Truppenfiihrung und Heeresverwaltung an der Weiter-
entwicklung itnseres Heerwesens gearbeitet wird, wie eingehend alle
Ereignisse und VerhMltnisse bei anderen Armeen studiert und die ent-
sprechenden Lehren daraus gezogen werden, wie alle Neuerungen auf
technischem Gebiet fiir die Armee nutzbar gemacht werden, welch
reger Geist in der MilitHr^Literatur herrscht — mit gutem Gewissen die
voile Oberzeugung haben darf, dass die deutsche Armee weit ab von
der Gefahr eines Jena sich befindet, dass sie vielmehr auch heute noch
wie bisher das gefiirchtete Vorbild fur die anderen Nationen ist und
bleiben wird, und dass tiberall darauf hingearbeitet wird, auch ktinftig-
hin den Sieg an unsere Fahnen zu fesseln, soweit dies eben nach
menschlichem Ermessen beurteilt werden kann.
195 3^
Eine der wichtigsten Voraussetzungen hierzu ist allerdings, dass
die Disziplin mit eiserner Energie um so schSrfer aufrecht erhalten
wird, als die heutigen Kampfesarten und Gefechtseinwirkungen Ordnung
anflosend und Nerven erschutternd auf die truppen wirken, wobei noch zu
beachten bleibt, dass das Mannschaftsmaterial in seiner naturlichen Gtite
vielfach gegen fruher zuriickgegangen ist und dass bei den zahlreichen
Kriegs-Neufonnationen der Massenheere und in Folge der kurzeren
Dienstzeit, viele weniger gut ausgebildete und gefestigte Elemente sich
daranter befinden werden. Wodurch wird nun diejenige Disziplin er-
reicht, die auch unter schwierigen Gefechtsverhftltnissen, in unglfick-
lichen Lagen standhilt? Nur durch einen gewissen Drill, und hiermit
kommen wir auf den wohl schwerwiegendsten Vorwurf zu sprechen,
der in dem genannten Roman der heutigen Ausbildungsart gemacht wird :
diese sei nimlich nicht kriegsgemiss, und zwar wegen des Paradedrills
und der unsachgemftssen Art der Herbstubungen. In letzterer Be-
ziebung geben uns die vor kurzem beendeten Manover erwiinschte Ge«
legenheit, uns hierzu uber einiges zu iussem. Was zunichst den Drill
anlangt, so mochten wir nur kurz darauf hinweisen, wie wenig An-
spruche an das formale Exerzieren das heutige Exerzierreglement (von 88)
macht, im Vergleich zu dem friiheren, noch lange Zeit nach 70 giltigen.
Diese wenigen tibriggebliebenen Exerzierformen miissen aber um so
vollkommener und griindlicher eingeiibt werden, um jene Strammheit,
Anspannung und Leistungsflhigkeit, jenen unbedingten Gehorsam und
jenes Pflichtbewusstsein zu erzielen, wodurch auch noch in den
kritischsten Stunden des Gefechts dem Befehle des Fiihrers Geltung ver-
schafft und den schwankend werdenden moralischen Eigenschaften des
Soldaten Unterstutzung gewihrt wird. Das ist das ganze Geheimnis
des Paradedrills, der eben nicht als Selbstzweck, sondem als die wohl-
berechtigte Grundlage fur den Aufbau der Disziplin anzusehen ist.
Diese Grundlage bildet gerade fur die Erziehung des Mannes zur
SelbsttStigkeit und Selbstandigkeit im Gefecht das unbedingte Erfordemis
fur den Erfolg, denn ohne sie werden die einzelnen Schutzen wie die
Schtitzenmassen der Einwirkung der Fuhrer noch mehr entzogen sein,
als dies ohnedem zu befurchten ist. Nur ^Murr, Zuck und Ruck in
der Kolonne* erzeugt auch Willenskraft zur Ertragung der Kriegs-
strapazen, stihlt die Nerven zur Oberwindung der vielfach schauer-
lichen Kriegsmomente, wflhrend Schlapp- und SchlafPheit das Grab der
Tapferkeit der Massen ist. — Welch lehrreiches Beispiel fiihrt uns der
Burenkrieg vor Augen: selbst dies sonst so tuchtige und in Einzel-
leistungen hervorragend tapfere Kriegsvolk unterlag nicht zum wenigsten
aus Mangel an strammer Schulung. — Dass in langer Friedenszeit da
und dort der Drill eine ungebuhrliche Zeit in Anspruch zu nehmen
droht, dass da und dort damit auch unndtige QuSlereien verbunden
werden kdnnen, braucht wohl kaum besonders erwihnt zu werden, dies
liegt in der menschlichen Natur und gehort zu den menschlichen
Schwftchen, wie sie eben auf jedem Gebiet sich zeigen; dass aber die
eigentliche Gefechtsausbildung auch in diesen Fallen nicht allzusehr da-
196 8^
runter leidet, dafur sorgt allein schon das Vorhandensein unserer vor-
zuglichen Felddienstordnung und Schiessvorschrift mit ihren bestimmten
Anforderungen.
Werfen wir nun einen Blick auf Anlage und Durchfuhrung der
Herbstubungen, so steht vor allem die Tatsache fest, dass unsere
Methode als die kriegsgemSsseste Vorbereitung und Ubung der Truppen
wie der Fuhrer vom Auslande anerkannt und nachgeahmt worden isf.
Sofort nach Bekanntgebung der AllerhSchsten Bestimmungen uber die
Abhaltung der grSsseren Tnippeniibungen, die meist schon im Februar
erfolgt, werden von den betreffenden GeneralstSben die Vorarbeiten
begonnen. Auf alles das, was hierbei zu berucksichtigen ist: Auswahl
und Erkundung des Obungs-Celdndes , Unterkunft, Transport, Ver-
pflegung der Truppen, Anlage der Ubungen — kann heute nicht naher
eingegangen werden, es muss indessen betont werden, dass alle Mass-
nahmen von dem Gesichtspunkt getrofFen werden, dass die Ubungen,
so weit es die Friedens-Rticksichten irgend gestatten, den kriegsgemassen
Verhiltnissen moglichst nahe kommen; je grosser die zu beruck-
sichtigenden Truppenmassen sind, desto schwieriger gestalten sich die
Verhiltnisse infolge der notigen BeschrSnkung an Zeit, Raum und
Kosten. Man bedenke nur, dass selbst die Gefechte ganzer Armee-
korps sich in wenigen Stunden abspielen mussen, wahrend der
kriegsgemiisse Aufmarsch eines mobilen Armeekorps allein 4 — 5 Stunden
in Anspruch nimmtl Und doch sind solche grossen Truppenzusammen-
ziehungen, wie in dem letzten Kaisermanover (4 Armeekorps und
2 Kavallerie-Divisionen), zur Erprobung, wie sich die zuktinftigen
Massenheere im Emstfalle bewegen, entwickeln und verpflegen lassen
werden, zur Ausbildung der Ftihrer und Truppen in bezug auf die
RaumverhSltnisse, gegenseitige Einwirkung, Waffenwirkung und vieles
andere mehr von grosster Bedeutung. — Allen Ubungen liegt eine vom
Leitenden ausgegebene Voraussetzung (Generalidee) zugrunde, die die
Kriegslage der beiden Parteien scharf kennzeichnet, die aber jedem
Fuhrer nur insoweit bekannt gegeben wird, als er auch im Ernstfalle
davon Kenntnis haben kdnnte. Alle weiteren Anordnungen sind dem
Fuhrer tiberlassen, keine Bewegung wird ihm vorgeschrieben, kein
Moment im voraus bestimmt, keine Weisung beziiglich eines beabsich-
tigten Ausganges gegeben, jeder Fuhrer hat voile Entscheidungsfreiheit
fur seine Tdtigkeit. Von gegenseitig abgekarteten Massnahmen kann
gar keine Rede sein. Dass vielleicht einmal zwei feindliche sich be-
gegnende Patrouillen freundschaftlichst ihre Kenntnisse gegenseitig aus-
tauschen, mag vorkommen, jedenfalls muss aber ein solches Verfahren
als ein seltener Ausnahme-Scherz bezeichnet werden. — Unnatiirlich-
keiten und nicht kriegsgemisse Erscheinungen werden aber trotz allem
nie ganz zu vermeiden sein, infolge von Bebauungs- und manchen
anderen nicht zu beseitigenden FriedensverhSltnissen und -Riicksichten,
und insbesondere auch dadurch, dass eben nicht scharf geschossen
wird, dass also die schwer einzuschStzende Waffenwirkung ebensowenig
manchmal richtig zur Geltung kommt wie der moralische Zustand
197 8^
der Truppen. — Hierbei sei noch die vielerorterte Frage der
grossen Kavallerie-Attacken gestreift. Wenn es wohl unbestritten
ist, dass einerseits die HaupttStigkeit der Kavallerie in einem
zukOnftigen Kriege im allgemeinen im grossen und kleinen Auf-
kliningsdienst und in der Verfolgung bestehen wird, und anderseits
eine Schlachtentitigkeit gegen unerschutterte, in Stellung beflndliche
Truppen als erfolglos betrachtet werden muss, so kann doch nicht ge-
lengnet werden, dass auch in Zukunft die Verwendung grosser Kavallerie-
Kdrper in der Schlacht nicht ausgeschlossen ist, vielmehr unter Urn-
stinden von entscheidender Bedeutung und grossen Erfolgen sein kann.
Jeder, der im Feldzuge eine von Panik ergriffene Truppe gesehen hat,
wird dies fiir diesen Fall ohne weiteres zugestehen — da ist es dann
ganz gleichgtiltig, ob diese Truppe die beste Waffe in HSnden hat, man wirft
sie weg, flieht oder ergibt sich! Solche moralische Erschutterungen einer
Truppe kdnnen aber gerade infolge der heutigen gesteigerten, entnervenden
Waffenwirkung, die grosse Verluste in kurzester Zeit erzeugt, gar pldtz-
lich eintreten, und um so 5fter und eher, je kurzer die Dienstzeit und
je milizartiger die Truppe ist. Das Heranbrausen grosser Kavallerle-
massen ubt schon an und fur sich einen gewaltigen Einfiuss aus;
Artillerie wird auf dem Marsche, beim Abprotzen oder fur Angriffe aus
Flanke und Rucken manchen gunstigen Attacken- Augenblick bieten, ebenso
die zahlreichen hinter der Front befindlichen Trains und Kolonnen.
Auch muss sich unter UmstSnden die Kavallerie opfem, um fiir das
Heil der Armee zu retten, was noch zu retten ist; selbst wenn in
diesem Fall Vemichtung ihr Los wSre, so wire ibre Verwendung doch
eine gerechtfertigte und ihre Attacke eine erfolgreiche. Fur eine solche
SchlachtentStigkeit mtissen aber unsere Kavallerie-Regimenter umsomehr
vorgeubt werden, als wir bis jetzt im Frieden noch keine Kavallerie-Divisionen
besitzen, wie dies in Frankreich und Russland der Fall ist, sondem
solche erst im Mobilmachungsfall formieren — dies ist der bedeutsame
Zweck der grossen Kavallerie-Attacken in den Kaisermanndvem, wobei
es gar nicht darauf ankommt, ob die kriegsgemisse Situation gerade eine
Attacke erlaubt, sondem vor allem darauf, dass die Entwicklung zu
einer solchen und ihre Durchftihrung iiberhaupt getibt wird.
So sind unsere Kaisermanover nicht als prdchtige Bilder zur
Augenweide arrangiert, sondern sie haben und erftillen den emsten
Zweck der Vorbereitung und Belehrung aller Beteiligten fur den Ernst-
fall, an den vorkommenden Fehlem wird gelemt.
Wenn wir zum Schlusse feststellen kdnnen, dass die simtlichen
bei den letzten Kaisermanovem beteiligten Truppen auf jedermann
in ihrer Ausbildung wie Leistungsfihigkeit einen vorzuglichen Eindruck
machten, dass sie trotz erheblicher vorhergehender Marschleistungen
bei gluhender Hitze und dickem Staub den Gefechtsaufgaben noch mit
frischer Ausdauer gewachsen waren und dass der Gesundheitszustand
ein vorztiglicher blieb, so darf wohl mit Fug und Recht der Schluss
gezogen werden, dass das Ausbildungssystem das richtige war und ist,
indem es seinen Zweck, die Truppe moglichst kriegsbrauchbar zu machen,
-H>^ 198
erreicht hat und audi kunftighin erreichen wird, dass somit der
praktische Beweis geliefert ist, dass unsere Armee sich nicht auf dem
Wege nach Jena befindet, wie dies der Roman .Jena oder Sedan?*
glauben machen will.
Bei Jesuiten.
Von Alfred Leonpacher in Munchen.
Im Jahre 1761 forderte Ludwig XV. von seinen Landesbischdfen
ein Gutachten uber Seelsorge, Unterricht, Kirchendisziplin und* Loyalitit
der franzosischen Jesuiten. Es war Kriegszeit: die portugiesische Ordens-
provinz war bereits vemichtet und eben hatte das franzdsische Parla-
ment die bluhenden Jesuitenschulen unterdruckt Unterm 30. Dezember
1761 reichte der Episkopat sein Antwortschreiben ein; es war in alien
Punkten eine beredte Rechtfertigung: ,Der Unterricht", heisst es da,
I, den die Jesuiten in unseren Didzesen erteilen, geschieht otFentlich.
Menschen aus alien Stinden, aus alien Klassen der Nation sind Zeugen
und hdren, was sie vortragen . . . Man befrage jene, welche in ihren
Kollegien erzogen worden, ihren Missionen beiwohnten, in ihre Bruder-
schaften eingeschrieben waren und unter ihrer Leitung in frommer Ab-
geschiedenheit sich geistlichen Obungen unterzogen haben, und gewiss
wird unter alien diesen vielen Tausenden kein einziger auftreten und
behaupten, je eine der Sicherheit des Souverins oder des Staates ge-
fihrliche Lehre von ihnen gehort zu haben.""
Dieser Vorschlag bleibt fiir alle Zeiten beherzigenswert, man wird
dabei besser beraten sein, als durch die lautesten Brandreden der Poli-
tiker. Solche Zeugen, Zdglinge, Missionshdrer und Exerzitienbesucher,
sind allerorts zu flnden, ja ndtigenfalls auch ihre Lehrer, die an den
verschiedensten deutschen Bibliotheken, Archiven und Universitlten ein
gastliches Asylrecht geniessen: »Eines Mannes Rede ist keines Mannes
Rede, man muss sie billig hdren beede.*
Ein Familienbild aus dem Jesuitenkolleg zu Innsbruck wollen diese
Zeilen bieten; ein dankbarer Gast schreibt sie, kein Klager und kein
Anwalt.
Wie eine hohe SSule zeugt das Kolleg zu Innsbruck von jenen
Zeiten verschwundener Pracht, wo jede grossere suddeutsche Stadt, wie
Augsburg, Dillingen, Ingolstadt, Regensburg, Munchen usw., ihr Jesuiten-
199 8^
kolleg besass. Neben Freiburg in der Schweiz hat Innsbruck jetzt nocb
die einzige Fakultit, deren Lehrstuhle der Staat einem Orden anver-
traut hat, wihrend zahlreiche Mittelschulen in Osterreich, Bayern und
in der Schweiz zum finanziellen und ethischen Vorteil des Staates von
den wetteifemden Orden der Benediktiner, Zisterzienser, Primonstra-
tenser, Franziskaner, Augustiner, Redemptoristen und Jesuiten geleitet
werden.
Der diesen Knotenpunkt der Vdlkerstrasse zwischen Nord und Sud
zn einem Jesuitenquartier, in damaliger Zeit (1562) zu einer Feldzugs-
basis, ausersah, hatte einen hellen Blick; es war der erste deutsche
Jesuit, Canisius.
Hier sammeln sich die GewSsser und berieseln dann den deutschen
Suden, hier ist ein Windfang fur den schwulen Scirocco und den frischen
Talwind, hier ist eine Wegkreuzung ftir Touristen alter Linder, die
Hdhenluft, Leibessport und Alpenflor suchen. Was die Felsen scheiden,
binden die TSler. Wie in der lusseren Stadt, so steht es auch hinter
den frostigen Klostennauem an der Universitdts- und Sillstrasse. Hier
entspringt eine Literaturquelle, die weite Theologen- und Volkskreise
befruchtet, hier ist ein Passubergang und eine Wasserscheide rdmischer
und deutscher Theologie und Religiositat; hier ist das Jahr tiber ein
Internationales Theologenheim, in den Ferien aber eine Herberge fur
Geistliche, Lehrer, Studierende, die gruppenweise den viertdgigen geist-
lichen Ubungen des hi. Ignatius obliegen; sie verbinden die Ferien-
reise mit dieser Hohenkur bei einsamer Betrachtung und Andacht und
kehren heiter wie nach einer Badereise zu ihrem Beruf zuriick.
Der Oktober ftihrt die Theologen wieder zuruck, wie die Zug-
vdgel steuem sie sUdwirts, ca. 300 besuchen alljahrlich die Fakultat;
ihrer 200 beherbergt das „ Convict*.
Der Fremdling hat keine Ahnung von dem magischen Zauber,
den das Sigill S. J. auf die katholisch erzogene Jugend ausubt. Die
dffentliche Fehde vermag nicht den leisesten Argwohn in die Herzen zu
streuen, sie mehrt nur ihre Sympathie. Die Jungen kennen die Stifter,
die Heiligen, die Missiondre des Ordens. Sie kennen das Martyrium
seiner Aufhebung und seiner Verbannung; sie lesen die Lieeraturkataloge
katholischer Verlage, Jugendschriften von Spillmann, Geschichtswerke
von Kobler, Michael, Grisar, und etwa noch weniges von T. Pesch und
H. Pesch, von Cathrein, Baumgartner, Dressel, Wasmann. Endlich
wirken die Schilderungen des Studienlebens im Germanicum zu Rom^
wie sie in Hettingers ^Welt und Kirche" stehen, mit magnetischer An-
ziehungskraft auf jugendliche Enthusiasten.
Das ist die Fernwirkung des Jesuitennamens.
Die theologische Berufswahl und der Eintritt in ein geistliches und
g^ in einstreng jesuitisches ErziehungshauswSre eine intime Seelenstudie
fur sich. Dem einen liest man ja wohl an den weichen Zugen und sanften
Augen die naturliche Vorbestimmung ftir Altar, Kinderlehre und Kranken-
sorge ab; andere aber, vollblutige GlutSugtge, mussten doch wohl nach hartem
Ringen sich entschlossen haben. Wohin mag der schuchterne Dorfsohn
-t*^ 200 §^
streben, wohin der geschmeidige Aristokrat? Was treibt sie alle fort
aus ubennu tiger Freundesninde?
Mit reinem Opfersinn uberschreiten sie die Schwelle, mit frommem
Schauder sehen sie sich in den Wandelgingen des geheimnisreichen
Hauses um, mit klopfendem Herzen stehen sie zum erstenmal vor
einem Pater, vor dem Regens des Hauses, und nicht ohne bescheidene
Verlegenheit dulden sie's, dass ihnen der vSterlich sorgende Vorstand
selbst ihr Zimmer anweist.
Hier sollen sie allein oder mit einem Sozius vereint .geistlich''
werden. Alles ist sehr viel anders als am Gymnasium. Kein unruhiger
Studiensaal, kein Massenquartier, kein Aufseher. Endlich allein I Dass
die Winde so nuchtern, Pult, Bett, Schrank und anderes Inventar so
schmucklos einfach sind, das ist ja gerade erwunscht. Zum Fenster
schaut das Brandjoch und Frau Hutt herein und unten umschlingt ein
herbstfarbiger Gartenkranz die hochragende Kuppel der UniversitMts-
kirche.
Wie ein freundliches Gastgeschenk liegt die Hausordnung zum
Gruss am Pulte. »Consuetudines' nennt sie sich milde und liest sich
in ihrer ehrwurdigen LatinitUt so anmutend wie eine alte Kloster-
regel; sie birgt einen Schatz kostbarer Regeln fur das freundschaftliche
honette Zusammenleben, fur die religidsen Ubungen und die Haus-
disziplin, fur die Tages- und Studienordnung, fur die Erholungszeit in
und ausser dem Hause.
Kein Wort steht drinnen von Zwang, Kontrolle, Strafe. Wie heller
Sonnenschein gldnzt tiberall das Vertrauen der Oberen, unwiderstehlich
lockt es maiblutengleich den guten Willen hervor.
Das ist das Geheimnis dieser PSdagogik. Wer eingetreten ist, ist
frei gekommen, frei kann er wieder Ziehen, frei fuhlt er sich zwischen
den Mauem und Regeln und Vorgesetzten. Auf diesem Grund wdchst
ein Charakter sowie auf Fels die Alpenrose.
Die Erstlingsstunden und Tage in solchem Haus schwinden rasch;
uberall in den weiten Gingen summt es wie bei einem Bienenvolk.
P. Regens dirigiert freundlich ein dienstbereites Altsemester dem Neuling
tiuk Gemach. Der Gutige besorgt Gepdck und Bucher und Kollegien-
hefte, einen Ballen Immatrikulationspapiere und muntre Bruder aus der
Heimat, und so beginnt die ermudende Ubung, die 200 Kollegen kennen
zu lernen.
Dann kommt wie staubreinigender Platzregen der offlzielle Er-
dffnungsabend in der Aula. P. Regens sprach; er sprach nicht wie die
andem, er sprach wie einer, der Macht hat, aus seiner gluhenden West-
falenbrust; er wusste wie man rufen muss, wenn man Echo will; er
wusste, wo der Ziindstoff lag in den unverderbten Herzen und er ver-
stand den Brand zu schuren. Er sprach oft zu uns, jedesmal in frischer
Form und Herzlichkeit: Erst ein Appell an den Idealismus der Kandidaten,
gleich der Ordensdevise „ Alles zur grosseren Ehre Gottes"; von der
lichten Hohe wies er dann auf die kleinen Bilder der AUtagstiefe nieder:
auf die Tagesordnung, die Hausruhe, den Studienbetrieb und andre
201 8^
PMdagogenschmerzen. Von der ersten Stunde an kannte er jeden beim
Namen und etwas tiefer noch ; lichelnd wusste er Wunsche zu versagen
ond Bittsteller zu vertrosten; er hStte als Diplomat reussieren konnen»
Mog' er sanft ruhen im felsumschlungenen Friedhof zu Meran. „Ach
sie haben einen guten Mann begraben, Und uns war er mehr.*
Von da ab begann der Erast der Hausordnung; die modischeft-
Gehrocke verschwinden, der Neuling lernt im vallenden Talare schreiten,
die Gange werden grabesstill, die Glocke ruft erfolgreich zu Studien und
Kollegy Besuche bringt nur mehr die Mittagsstunde. Bei Tisch und in
der Gartenpromenade wihlt man den Gesellschafter nicht mehr frei nach
Alter und Nation.
Die intemationale Mischung ist der Hauptreiz des Hauses. Die
Mehrzahl der Kandidaten sind AuslSnder, Reichsdeutsche, Schweizer,
Nordamerikaner; vereinzelt wird etwa ein EnglSnder, Spanier, Grieche
Oder pseudonyroer Russe dazu verschlagen; darein mengt sich die
Sprachverwirrung Osterreich-Ungams; die Ungam, Tschechen, Polen
und Stidslaven sondem sich in kleine Gruppen ; meist sind es gescheite
Kdpfe, zu Promotionszwecken vom heimischen Seminar entlassen; sie
glanzten auf den Disputationen, in Gesellschaft waren sie naiv heiter,
in Politik ungeniessbar. Abgesehen von Kaisers Geburtstag schieden
sich Preussen und Suddeutsche meist sSuberlich. Das preussische Auf-
treten, gepaart mit studentischen Alluren, fand im allgemeinen wenig
Anklang, doch ebensowenig fand die Susserliche Selbstvemachlissigung
mancher Siiddeutscher Schonung. Bei den Bayern hospitierten gerne
die Wurttemberger, Badenser, Hessen, Reichslinder und — Kroaten..
Die Schweizer waren stille Streber und meist gute Sangesbruder
and Theaterimpresarii. Eine Welt fur sich machten die 40 Amerikaner
aus, Ball- und Bergsport schien ihre Leidenschaft. Sie stammten von
den verschiedensten Staaten der Union, sie gaben sich geme als Welt-
iind Geidmacht, als Demokraten und Niggerfeinde und sprachen ein
schauerliches Latein.
Von diesen Gruppen hoben sich noch zwei Antipoden ab; Orden
und Aristokraten. Vertreter von etwa einem Dutzend Ordensgesell*
schaften, Schwarze und Weisse, Schwarzweisse und Weissblaue, Braune
mit und ohne Strick huschten durch die dunkle Masse, Laxe und Strenge,
Fleissige und Ubergemiitliche, wie sie in Osterreich wachsen. Unter
den Adeligen gab es mehr klingende Namen als markante Charakter-
typen; meist kennzeichnete sie der Stempel weicher Frauenerziehung;
sie passten sich den demokratischen Sitten des Hauses willig an und
wirkten durch ihre Formen wie Sauerteig auf die Masse.
Mit besonderem Respekt wurden endlich gewesene Referendare,
Arzte und Reserveoffiziere, gezeichnete Korpsstudenten, Witwer und
Lokomotivfuhrer a. D. beehrt.
Es war ein buntes Familienbild. Eisen schSrft sich am Eisen. Wo
Starkes sich und Mildes paarten, da gibt es einen guten Klang. Gross
war der gesellschaftliche Gewinn aus diesem Milieu fdr alle Telle.
Jeder gab und empflng. Finer trug des anderen Lasten. Zflm Spazier-
SQddetttscbe Monatshefte. 1,3. 14
-04? 202
gang wurden jedem zwei Begleiter auf einer Namentafel zugewiesen, mit
denen schweifte man frei in Wald und Berg. Erst musste ein Jargon
gefunden werden, womit man sich mit amerikanischen oder schweize-
rischen Neulingen verstdndigen konnte, dann ein Thema fur den Land-
fremden ; das eintdnige Studienleben tdtete mit der Zeit das belletristische,
isthetische, politische Interesse, daruber wucherte eine ungezugelte
Fachschwlrmerei ; wir waren imstande, besonders in der sommerlichen
Fieberzeit der Examina, diewurzigsten Bergeinsamkeiten mit scholastischen
Disputen zu entweihen. Doch gab es auch viele bessere Elemente; die
fanden sich an „Ferialtagen** zusammen zu frohen Klettertouren. Im
spSten November noch hinterliessen wir unsere Spuren oben bei Fran
Hiitt, „wo schroff die Strasse und schwindlich jSh hemiederfallet zum
Inn'S Im Winter rodelten wir mit hochgeschiirztem Gewande von
St. Magdalen oder Schonberg zu Tal, im Fruhjahre fuhren die Kuhnen
schneeumstSubt auf den Lawinenrinnen am Hafele Kar nieder; an Ostem
durchschwSrmte^ wer es vermochte, Oberitalien oder Sudtyrol ; am Grun-
donnerstag stand alljMhrlich unsere Deputation vor dem Papste; zu
Pfingsten wimmelte der ganze Achensee und Karwendelblock von ent-
sprungenen Theologen. An freien Sommertagen aber, sowie zu Ferien-
beginn, streiften die Talmenschen durch die Bauemdorfer am Mittel-
gebirg, die Hdherveranlagten aber bezwangen die einzelnen Stubai- und
Duxer Gipfel.
Die Ordensregeln der Patres wurdigen vollauf die Notwendigkeit
korperlicher Abspannung, deshalb soil jedem Kollegium ein Landhaus
zugehoren; hier soil die Klostergemeinde in freier Natur ihren wochent-
lichen Rasttag halten. Sie brauchen's. 6 Stunden Schlaf ziemt dem
Monch, 7 dem Kranken, 8 dem Faulen, heisst der alte Klosterspruch.
Daran halten sie sich, und das wirkt auf ihre Nerven ebenso wie die
Einsamkeit und die Studienpflichten; drum sieht man sie allwdchentlich
hinauspilgem an die schSumende Sill, abseits von der Brennerstrasse^
zum Zenzenhof; hier mdgen sie, der Zelle entflohen, wie Faust am
Ostermorgen, den Fruhlingsglanz der Natur geniessen. Die Woche uber
sitzt dort nur ein silberhaariger Einsiedler, ein sinniger Troubadour der
Gottesminne ; das katholische Volk kennt seinen Namen weit und breit;
an den Bach hat er sich ein Riesenkreuz gebaut und darunter den Vers
geschrieben :
„UoeDdlich gross ist deine Spur — O Gott im Tempel der Natur!
Doch wilUt du ihn noch grdsser sebn — So musst du bin zum Kreuze gehn.^
Die gastlichen RSume offnen sich auch den Studierenden mehr*
mals und mancher Bucherwurm lernt hier wieder lachen, wenn nach
Lied und «Mimik" der Schalk sein Fehmgericht uber Hoch und Niedrig
hSlt. Die Obrigkeit macht gute Miene zum bosen Spiel, und die Jungen
dfirfen's auch nicht ubel nehmen.
Es ist erstaunlich, welche Seelenkunde, welches J ugendverstindnis
diese Briuche geschafPen hat. Wie das alles wirkt auf Nerven und
Laune und Arbeitsfreude ! Der junge Mensch spurt kaum, wie er er*
203 ^
zogen und poliert wird; alles geht von selber, meint man; der Regisseui"
ist unsichtbar.
Die Frucht dieser hiuslichen und geselligen Erziehung ist eine
hohe Schaffenslust. Theologen gelten allgemein als fleissig; das ist
nicht mehr wie billig. Dort im Convict ist aber nicht nur das Benifs-
ideal und die Weltabsonderung, sondern auch harte Konkurrenz Trieb-
feder gesteigerten Strebens. Kein Provinzlyzeum kann eine solche Elite
gttter Kopfe produzieren, wie man sie hierher von alien LSLndern
und Klostern zusammenschickt.
Hier erringt keiner billige Erfolge und keiner braucht im Ver-
borgenen zu bluhen; dagegen sind die wdchentlichen Disputationen
gut; hier ist der Fechtboden ,,scholasti$cher Spitzfindigkeit und jesuitischer
Dialektik'^; muhsam lernen diejungen das Defendieren und Opponieren
in Philosophie, Dogma, Bibelkunde und Moral, vorher aber die lateinische
Konversation und das ^Collegium Logicum*^
„Dt wird der Geist eucb wobl dressiert
In sptnische Stiefeln eiageschntirt»
Dass er bedichtiger soforttn
Hioschleicbe die Gedtnkenbahn,
Und nicht etwt die Kreuz und Quer
Irrlichteliere bin und her/^
Es ist also eine alte Methode aus Mephistos Tagen, auch der In-
halt der Thesen ist alt. Vor 150 Jahren schickten die bayrischen Pri-
laten einander Kunstblitter als Einladung zu kldsterlichen Disputationen;
es stehen die gleichen Thesen darauf wie bei den heutigen Disputen;
daher die Vorwiirfe von Stagnation, Antiquierung und Petrefaktenart
der Philosophia perennis. Man denke sich jugendliche Sturmer bei
dieser Kost und dazu trafen noch die Freundesbriefe von Wtirzburg
ein, wo die Anfinger schon mit den pikantesten Problemen aufwarten
konnten — mir war wie dem Gefangenen zu Chillon, wie ihn die
pUtschemde Brandung und das Vdglein am Fenstergitter ins Blaue locken
wollte. Dennoch verkenne ich den Nutzen dieser Karenz nicht; man
woUte uns das literarische Spielen und Naschen abgewdhnen und una
strenge Formen des Denkens und Disputierens lehren.
Mit Mephistos spanischen Stiefeln ist die Schlussfolgerung aus
Ober- und Untersatz gemeint. Bei diesem Schema ist es Aufgabe der
Defendenten, Untersatz, Schluss und Konsequenz zu prufen und subtil
zu distinguieren ; das macht den Geist scharfsichtig, den Mund schlag-
fertig. Den bedeutenderen Schulem gibt man immer schwierigere Streit-
firagen und Dissertationen und bei Quartalsschluss wird dem einen Oder
mnderen die Ehre, vor den geladenen VorstSnden und Professoren einen
Waffengang untereinander oder mit einem der noch besser geschulten
Jungjesuiten austragen zu durfen.
So lemt und erprobt man nach der Logik aristotelische Meta-
)[>hysik, Kosmologie, Psychologie und Ethik. Abgesehen von der Psycho-
logie wurden uns nach der positiven Darlegung sparsame Ausblicke auf
die einschligigen Probleme der englischen und deutschen Philosophie
14*
204
verstattet; wir hitten naturlich mehr gewunscht, gescfatchtlichen und
genetischen Uberblick und speziell Fuhlung mit den radikalen Psycho-
logen der Neuzeit; zum Notbehelf suchten wir Ersatz, in den philo-
sophischen Publikationen etlicher deutscher Jesuiten, wie T. Pesch,
Hontheim, Kathrein etc. und holten das Verslumte tunlichst splter ein;
ich halte das fur leichter, als sich autodidaktisch in die Scholastik ein-
zuarbeiten. Ebenso hungerte manchen nach naturwissenschaftlichen
Kollegien; aber niemand gab sie ihm. Die Patres selbst gehdrten der
theologischen FakultMt an und durften nur philosophisch-theologische Pro-
pideutik lesen, den Kollegen von der anderen FakultMt aber vertrauten sie
uns nicht geme an aus Grunden des einheitlichen Studienganges und der
Orthodoxie. Wir batten ihnen in anderem so viel zu danken, dass wir uns
dariiber trosteten und zufrieden waren, wenn wir nur ein paar vertrauener-
weckende Philosophenkollegien frequentieren durften. Nach der Philo-
sophic begann ein drei- oder vierjihriger Dogmatikkurs, wlhrend dessen
man die iibrigen Disziplinen, wie Moral und Kirchenrecht, Bibelkunde
und Kirchengeschichte. Pastoral und soziale Frage belegte. Die
Dispute und Dissertationen wurden fortgesetzt und durch Predigtproben
noch vermehrt. Man hdrte geist- und klangvolle Mustervortrage beim
ofBziellen Universitltsgottesdienst ; um so schwieriger war die Rolle des
Probekandidaten, der bei Tisch sich vor den Kollegen produzieren und
nachher kritisieren lassen musste; Orator fit: jeder hatte seine eigenen
Unarten. Die Geistreichigen schnitten schlecht ab; man hielt es mit
Pauli Prinzip: ,,Lieber will ich funf Worte bloss mit VerstSndnis
sprechen, um andere zu erbauen, als zehntausend Worte in Wunder-
sprachen."
Hier wie in den andem Disputen prdsidierten die Fachprofessoren;
Stimmen aus dem Publikum hdrten sie immer geme; ubrigens war jeder
Schiller berechtigt und ermuntert die Patres in Zweifeln zu konsultieren.
Wohl scheute man sich die Zelebritlten und Schriftsteller zu belSstigen;
wir wussten, wie sie arbeiteten und Zeit sparten bei Tag und Nacht.
Scharf geschnittene Typen gab es neben dem Durchschnitt. Das
Ordensleben nivelliert nicht, es prMgt unbeugsame Eigenart.
Der Senior des Hauses war der emeritierte Kirchenrechtler; des
Alters Schnee umsaumte die abgeklarten vSterlichen Ziige. Aus vier
Weltteilen schlagen ihm dankbare Schiilerherzen entgegen. Auch der
alte Dogmatiker ragt wie eine Bergtanne uber die Vegetationsgrenze der
osterreichischen Hochschulen hinaus. Werden ihm seine 45 Lehrjahre
und seine dogmatischen, patristischen und kirchenhistorischen Werke
einmal als Stufen der Himmelsleiter angerechnet, dann kommt er hoch;
noch ist seine zShe Schweizerkraft unermiidlich; in die Spekulations-
hohen steigt er nimmer geme, aber er weiss mit seinem farbenreichen,
praktisch lebendigen Vortrag die Jugend mehr zu fesseln, als alle andem.
Als Gegenbild davon batten wir einen anderen Dogmatiker; das
war ein echter, weltfremder Professorentyp. Gott verzeih' mir, dass ich
so wenig merkte von seinem Kirchentraktat, von dem er kaum ein Vier-
teil in Jahresfrist fertig brachte und von seinen Spekulationen iiber
^ 205 8^
Gnade, Predestination, ungetaufter Kinder Los und andre unbekannte
Dinge.
Wie der Weinstock neben der Ulme, wirkte neben ihm ein weiterer
Dogmatiker, aus dem Rheinland geburtig, das reichste Talent im Hause,
eine vomehme herzgewinnende Erscheinnng, der Liebling alter, immer
gleich bescheiden, ob er nun gerade ein Bundel alter Schulbeweise zer-
pfliickte und ehrlich verwarf oder ob man ihn auf dem Zimmer uberraschte,
wie er nach Ordensvorschrift mit dem Kehrbesen in der Hand den Bucher-
stanb zusammen scheuerte. Other Protest folgte seiner Amovierung
und treuer Dank dem allzufruh Hingegangenen.
Eine andre Tonart liebte der Kirchengeschichtler — man hat seine
Geschichte des deutschen Volkes mit anerkennenden, seine Dollinger-
Biographie mit gemischten Gefuhlen aufgenommen. Er liebte scharfe
Polemik, mit schneidender OfBziersstimme warf er seine Pointen in den
Saal; wir verdanken ihm unter anderem praztse Untersuchungen iiber
die Kontroversfragen der Infallibilitit, des Inquisitions- und Hexenwesens
und mit Freude denke ich an die Unbefangenlieit, womit er Luthers
Jugendcharakter gerecht wurde.
Auf exponiert hohem Piedestal der Orthodoxie stehen wehrhaft
die beiden Bibelwissenschaftler; selbst ihre deutschen und romanischen
Ordensbriider lassen sie in wichtigen Streitpunkten allein auf weiter Flur;
der altere, ein altbayrisches Original, ist mit seiner Geradheit, Kraftsprache
und treuherzigen Vatersorge, das Entziicken aller Neulinge.
Doch als die liebenswiirdigste Erscheinung eines Jesuiten, wie man
ihn malen soli, gilt alien der Moralist. Klein und blass, mit hageren
Dozentenfingem und tiefen Rdtselaugen, mit der diinnsten Stimme, aber
dem klarsten Vortrag, ewig freundlich und nachsichtig gegen Fremde und
streng gegen sich selber, so schwebt uns sein Bild vor.
Er hat uns alle angesteckt mit jener probabilistischen Moral, die
den Beichtpriester so streng gegen sich und so verstandig nachsichtig
gegen die andem macht und die lingst Norm der vemiinftigen Welt ist;
er hStte uns statt der kasuistischen Fasson wohl auch eine systematisch
konstruktive Moral und Ethik zu bieten vermocht, doch hitte er sich
damit nicht so sehr den Dank der Praktiker verdient. Er also hat
uns all die bekannten Paradefille von Mentalreservation, Restitution,
Schmuggeln, Fasten, gemischten Ehen, Beichtfragen vorgelegt. Was tut
es, wenn er vielleicht in ein oder zwei Fillen zu milde urteilte; weh
ihm, wenn er fanatisch rigoros gerichtet hitte. Wie jedes Moralbuch,
wie jeder Fachkollege, wie so und so viele romische Kongregationsent-
scheide, forderte er von uns die zuriickhaltendste Diskretion im Beicht-
stuhl, verbot uberhaupt Nachfragen tiber Gegenstande, die der Ponitent
nicht selbst angedeutet hatte. Kommen trotzdem anstossige Fragen vor,
so dunkt mich, ist meist nicht verfehlte Unterweisung, auch nicht Liistern-
heit, sondem krankhafte Angstlichkeit des Priesters Schuld. [Selbst der
ehrliche und gut unterrichtete Jentsch (Zukunft X, 3> hitte mit seinen
3 Fragen: 6. Gebot? Allein? Mit wem? noch bittere Vorwurfe be-
kommen, denn die dritte Frage ist missverstindlich und nach dem Breve
206
•Benedicts XIV. v. 7. 7. 1745 unter Sunde verboten, ihre Urgiening und
doktrinelle Empfehlung aber mit Amtsenthebung und Exkommunikation
«trafbar.] In stiller Abendstunde sass das Anditorium des iltesten Jahrgangs
um den greisen Lehrer, der nach einem zitteraden Gebet vprn 6. Gebot
zu sprechen begann; was er sagte, war vorsichtig, zart-schamhaft, zweck-
massig praktisch, vielleicht der Pathologie zu wenig Rechnung tragend*
So konnte nur einer reden, der Herz und Nieren von tausend Priester-
ufld Laienseelen erkundet hatte. — Das war lange vor Grassmann und
Hoensbroech.
So waren unsere I^hrer, noch konnte ich manch andem nennen;
den Schnlem sind sie alle gleich lieb geworden. Wir lesen in der Feme
ihre Aufsatze in ihrer theologischen Zeitschrift und ihrem frommen
Sendboten; wir frischen in den Ferien unsere priesterlichen Ideale in
den altgewohnten RMumen wieder auf.
Ja, diese priesterliche Erziehung und ihr makelloses Beispiel war
schliessHch noch das Kostbarste, was sie uns gaben. Ordnung lehrten
sie unsy segensreiche, heilige Ordnung, die da frei und leicht und freudig
bindet. Sie lehrten uns den Tag mit Gebet beginnen und schliessen.
Jeden Abend gaben sie uns eine Anweisung zum innerlichen, mystisch
betrachtenden Gebet, sie lehrten uns die Heilige Schrift lieben; sie
lehrten uns grenzenlose PietSt vor der kirchlichen AutoritSt, so will es
ihr Ordensstifter ; sie lehrten uns einsam und alleine mit sich selber
vollbeschlftigt durchs Leben gehen, wie der Priester muss; sie lehrten
uns launenlose Dienstfertigkeit im Umgang mit jedermann; sie lehrten
uns Entsagung von Komfort und Genuss, Ungebundenheit und Unter-
baltungsfreude. Ihr Nachwuchs, die von uns getrennten Scholastiker,
waren unser Vorbild; mit Worten durften sie uns nicht hinuberlocken,
so taten sie's durch stummes BeispieL Die waren filter als wir, oft an
die 30 Jahre alt, nervig wie ein borghesischer Fechter und doch gezogen und
gedrillt wie Kinder; schuchtem, schweigend sahen wir sie zur Universitit
Ziehen, die Askese hatte Furchen in die jungen Wangen gezogen.
Rosegger hMtte sie nicht fehlerhafter zeichnen konnen, als da er
in den Schriften des Waldschulmeisters den nachmaligen ^Einspannig*
vor seinem Jesuitennoviziat den siissesten Becher der Welt bis zum
ubersatten Ekel leeren ISsst, bevor er am Altar den Kelch des gott-
lichen Opferblutes trinken soli.
So sind sie nicht. „ Agendo contra muss man sich das Leben mog-
lichst ungemtitlich machen** horten wir als ihren ausgesprochenen
Grundsatz. Wie der Stab in der Hand des Greises, gehorchen sie dem
Wort des Obem. »Mir kommt nichts beschwerlicher vor, als nicht
Mensch sein durfen,** jammert der Bruder Martin im Goetz.
Die Seelenstirke zu solchem Naturkampf fliesst in diesem Hause
aus dem kleinen Heiligtum in der Mitte. Oft und oft wie die alte
Christenbrudergemeinde einen und starken sie sich in der Gemeinschaft
des Brotbrechens, die wiederholte Beichte macht sie gewissenhaft und
dpch nicht dngstlich, der Name und das Herz Jesu sind die Embleme
iles Hauses. Die briiderliche Devise aber, die uns bis zu den Philippinen,
207
bis zur nngarischen Gesandtschaft in Tokio, bis Australieriy Brasilien
und zum Westen der Union verbindet, heisst Cor unum et anima una.
Bischofe, Abte, Professoren, Politiker, Missionare und Dorfkaplfine,
selbst jene, die mit Trinen im Auge Abschied nahmen und eine andere
Laufbahn wahlten, alle bleiben sie eine geheime Bruderfamilie : Cor
unum et anima una. Alle segnen die Quelle, aus der sie getrunken.
So waren die Jesuiten dort, wo ich sie sah mit meinen Augen.
Seht Ihr sie anders, so sind Eure Jesuiten anders oder Eure Augen.
Aus der Pathologic.
Neue Antworten auf alte Fragen.
Von Eugen Albrecht in Munchen.
IV.
Von unserer vorldufigen Orientierung fiber das Wesen der Ge-
scbwulstbildungen fuhrt uns der nacbste Schritt zur Besprechung ibrer
Entstebungsursachen.
In aller Forscbung wecbseln wie bier zwei Fragen unablMssig ab — jene
beiden, mit denen scbon das Kind seine ,WeltrMtsel^ in Angriff nimmt,
die durch das ganze Leben bindurcb fur jeden Menscben die weitaus
baufigsten bleiben und bei keinem Menscben und in keinem Punkte voile
und letzte Antwort finden: ,Was ist dies?" ^Warum ist dies?" Jede
Umgrenzung des Gefundenen, der ^Tatsacben", jede Antwort fiber Ur-
sacbenzusammenbfinge ist eine provisoriscbe: neue Augen werden weiter
scbauen, neue HInde tiefer graben, in neuen Kopfen werden unsere
alten Probleme andere Formen annebmen und neue binzu wacbsen,
die wir nocb nicht einmal zu abnen vermogen. Das gilt nicbt bloss von
den letzten und bdcbsten Fragen, die eine Generation der andern ebenso
getreulicb vermacbt wie ibre angeblicb ricbtigste und definitivste Losung,
die eine jede Generation dennocb wieder von vome beginnen und auf
ibre Forme! und » letzte Wahrbeit" bringen muss: es tritft zu ffir alle
Gebiete, in denen wir zu wissen begebren. Und zugleicb erneuert sicb
aucb fur ein jedes Gebiet dieser glficklicbe, zuversicbtlicbe Optimis-
mus, der die eigne Frage und Antwort nun endlicb ffir die ganz ricbtige
bllt, wlbrend er die Verblendung der Fruheren vielleicbt kaum zu be-
greifen vermag. Erinnem wir uns docb nur, wic oft wir uns selber
zum »vollen Verstindnis" in unserer letzten und reifsten Anscbauung
^ 206 8^
fiber irgend einen Vorgang gelangt fanden seit jener Zelt, da die Mutter
nns den Regenbogen oder der Lehrer den Kreislauf des Wassers und
das Spiel der Sonnenstrahlen zu unserer vollsten Befriedigung erklirte !
wie wir jedesmal schnell die fruhere Ldsung abtaten und vergassen und
bei der neuen nunmehr zu bleiben gewiss waren I Welches wird unser^
wirklich letzte Antwort uber den Regenbogen sein? Jene, bei der wir
zu frag en aufhdren.
Ein melancholischer Prolog fur eine Erdrterung iiber das Was und
Warum, uber Wesen und Ursachen der Geschwulste! Nun batten wir
mtihsam uns eine Anzahl von Vorstellungen uber das Tatsachengebiet
gemacht und hofften fiber das Warum ins Reine zu kommen — und
schon tauchen, wie Banquo's Nachkommen im Hexenspiegel, die Schatten
kfinftiger Fragen und Antworten auf und weisen spottend auf ibre
eigene Reihe zugleich und auf den langen Zug der veigangenen
Untersucher bin, die gerade so wie wir ^^fast alles** zu kennen glaubten
und „in der Hauptsache** das Richtige gefunden zu haben gewiss waren —
wenn sie auch, gerade wie wir, bereitwillig zugaben, dass im einzelnen
noch viele Lficken auszufullen sein mdchten I In der Tat : die Geschichte
der Geschwulstlehren weist die Spuren dieses allgemeinen Verbingnisses
menschlicher Forschung an alien Orten auf bis zum beutigen Tag. Da
war eine Zeit, in der es selbstverstlndlich erscbien, dass die bdsen Ge-
wlchse aus einer Verderbnis der Sdfte hervorgingen wie die meisten
andem Krankheiten, und nur fiber die Art und Ursachen dieser schlechten
Mischung verschiedene Meinung moglich war; eine andre, in der sie
aus einer besonderen Entartung lange kranker, entzfindeter Kdrperteile
entstanden sein mussten, so wie andere Zehrkrankheiten ; da waren
Forscher, welche klar bewiesen, dass die ganzen Geschwfilste Eindring-
linge, Parasiten seien, die auf und in den Kdrper gelangt waren und
ihn anfrassen und sich von ihm nahren liessen. Die Beobacbtung, dass
in manchen Fallen fast alle Organe von den weissen oder roten oder
schwarzen Knoten durchsetzt sein konnten, erwies wieder anscheinend zur
EvidenZy dass eine schwere Stoning im ganzen Kdrper, eine eigenartige
«Zersetzung^^ von Siften und Geweben da sein mfisse, eine „Geschwulst-
diathese^'. Langedauernde und bewundemswerte Beobacbtung ffihrte
im Anfang des 10. Jahrhunderts den grossen franzdsischen Patbologen
Cruveilhier zu einer Unterscheidung der f^organischen Entartungen* —
als solche fasste er die bdsartigen Neubildungen auf — in barte, krebsige
und davon zu unterscbeidende gallertige Degenerationen: schon 6JiAre
vor seiner letzten Verdffentlichung war Virchows Zellularpathologie er-
schienen, deren Auffassung rasch zur Erkenntnis von der Zusammengehdrig-
keit beider Formen ffihrte und in alien Punkten eine vollstandige Um-
wSlzung erzeugte. Die angeblichen Parasiten wurden jetzt als Gebilde
aus Zellen des eigenen Korpers erkannt; an Stelle der „schlechten SIfte**
und Mischungen traten Erkrankungen, Entartungen,Wucherungen von Zellen;
VerschiedenheitenderZellarten und ihrerEigenschaften gegeneinander und
gegenfiber dem Normalen liessen sich als Ursache ffir die Differenzen
in Form und Verhalten der Geschwulstbildungen erweisen; andererseits
209 8^
erlaubte der Vergleich mit den Zellen des jeweiligen Mutterbodens so-
wie der verschiedenen Geschwulstzellarten und ihres Aufbaus unter-
einander doch auch wieder, das Zusammengehdrige und Gemeinsame in
alien diesen Knollen und Flatten, Auswuchsen und Geschwuren zu er-
kennen; so wurden die Einteilungen der bdsartigen in Karzinome und Sar-
kome, der gutartigen nach den verschiedenen angefuhrten Gewebeformen
moglich, und gleichzeitig wurde fur die grosse Zahl der gutartigen Gewlchse
erst ihre prinzipielle Zugehdrigkeit zu der gleichen Gruppe der krank-
haften Gewebsbildungen wie die Krebse sicher nachweisbar.
Aber dies i s t doch nun ein endgtiltiger und entscheidender Fort-
schritt? Ein Programm, das nur mehr der Ausffihrung bedarf? Ge-
mach, lieber Leser. Gewiss, ein unvergingliches Fundament ist ge-
schaffen und wird nicht vergehen: aber wissen wir, ob es ausreicht
fur diese Fragen? wissen wir, was sich darauf schliesslich erbauen
wird? Trotz aller VervoUkommnung nnserer Beobachtungsmittel und
-methoden sind unsere Forschungsweisen nicht prinzipiell, sondern nur
dem Grade der Vervollkommnung nach verschieden von jenen, wetche
alien friiheren Zeiten zur Verfiigung standen: Beobachtung ist ihr eines
Element) Urteil, Deutung, liickenfullende Hypothese und zusammen-
bindende Theorie noch immer das andere. Das sicher Gefiindene freilicb
bleibt und erweitert sich bloss durch neue Funde: die Deutung ist ein
ewig wiederholter Versuch, die neuen und alten Wahmehmungen in
eins zu schweissen.
Sehen wir zu, wie heme die Antworten in der Geschwulstlehre seit
Virchow sich gestaltet haben. Es versteht sich, dass die Untersuchung
vom zellpathologischen Standpunkt aus in der Geschwulstlehre eine un-
gemein reiche Emte brachte. Jede Geschwulst war aufzulosen in Zellen
und wieder nachzubauen aus solchen; Wachstum, Verdnderungen der
Geschwtilste und der betroffenen Organe, Verwandtschaftsbeziehungen
und Uberglnge waren in Zellfragen umzuwandeln; schliesslich waren
die feinsten noch wahmehmbaren Vorgange* in den wuchemden und den
geschSdigten Zellen zu erforschen. Kaum iibersehbar ist die JVlengedes
herbeigeschaiften Materials; klar und sicher lassen sich in den meisten
Punkten die einzelnen Geschwulstformen, ihre Zellcharaktere und
Strukturen, ihr Entstehen und Vergehen beschreiben und unterscheiden
von denen anderer Geschwulste und der normalen Gewebe.
Dies sind sichere und gewaltige Fortschritte von bleibendem Wert.
Aber all diese Funde und die daran gekniipften Erdrterungen haben uns
eines nicht gebracht, was man vor 50 Jahren als eine zwar vielleicht
feme, aber gewisse Frucht erwarten durfte. Die Ursache der Ge-
schwulstbildungen, das W e s e n der Geschwulste als lebendiger Bildungen
des lebenden Korpers stehen auch heute noch, und lebhafter als je, iti
Diskussion. Statt ei ner soliden Schulmeinung, die vielleicht vor hundeft
Jahren in die Hefte diktiert wurde, existieren heute z w e i grundsStzlich
entgegengesetzte Hauptrichtnngen in der Auffassung der Geschwulst-
ursachen, und jede hat mehr Unterabteilungen als vor der Ara der Zell-
pathologie uberhaupt Meinungen mdglich waren. Was wird die nichste
210
Oder ubernMchste Generation von unserer Auffassung der Geschwulste
denken?
Trotzdem haben wir keinen Grund, mit dem Erreichten unzufrieden
zu sein oder die gegenwSrtige Art der Forschung fur unrichtig zu balten.
Es gibt nun einmal in den Landen der Wissenscbaft keine Expressziige
mit fester Fabrzeit zu den Endstationen. In der praktiscben, also der
fur das allgemeine Wobl ausscblaggebenden Bedeutung steben die auf
Grund der zellularpatbologiscben Auffassung allein ermoglicbte fruhe
und sicbere Unterscbeidung gut- und bdsartiger Gescbwulste und die
bieraus und aus der Kenntnis der Wacbstumsart und Verbreitungswege
gezogenen Anforderungen an die Bebandlung, ein Ergebnis der gemein-
samen, ergMnzenden Arbeit der Cbirurgen und Patbologen, weit uber
allem Fruberen. Und in tbeoretiscber Hinsicbt konnen wir rubig darauf
binweisen, dass es gerade die Fiille des neu und sicber Beobachteten und
die ausserordentlicbe Vertiefung und Vervieiniltigung der aufgeworfenen
Fragen ist^ die einen endgtiltigen Abscbluss unserer Vorstellungen zur-
zeit so scbwer erscbeinen lassen. Das ist auf den ersten Blick weniger
befriedigend als die scbeinbare Klarbeit alterer Auffassungen ; aber es
ist bei allem Pessimismus binsicbtlicb der »letzten ErklMrung*', ein gewisser
und verbeissender Fortscbritt. Unsere Erorterung der gegenwSrtigen Auf-
fassungen wirdy so kurz sie naturgemiss ausfallen muss, dies zeigen.
Man kann jene beiden Hauptricbtungen kurz als die parasitSren
und die z e 1 1 u 1 M r e n Gescbwulsttbeorien bezeicbnen. Die ersteren ver-
legen die Ursacbe in einen kdrperfremden Parasiten nacb Art der
Infektionserreger;die andere Ricbtung lebnt die Einreibung der Ge-
schwiilste unter die infektiosen Erkrankungen ab und sucbt die wesentlicbe
Ursacbe in der, durcb verscbiedenartige aussere Reize oder durcb innere
Ursacben bedingten Verdnderung jener Korperzellen, welcbe durcb
ibre Vermebrung die Gescbwulst erzeugen. Naturlicb bestebt uber den
Aufbau der Geschwulste aus Korperzellen zwiscben beiden Anscbauungen
vollkommene Ubereinstimmung; insoweit sind sie beide ^zellular". Wir
wenden uns zuerst zu der Tbeorie vom parasitHren Ursprung der
Gescbwulste.
V.
Die Bakteriologie, Robert Kocb's geniale Scbopfung, bat in der
mediziniscben Wissenscbaft eine ebenso tiefgreifende UmwSlzung erzeugt
wie die Vircbowscbe Zellularpatbologie. Wir konnen uns die Auffassung
der Krankbeiten vor dieser ^neuen Zeitrecbnung" der Medizin kaum mebr
deutlicber vorstellen als die Astronomie vor Kopemikus und Newton, die
Pbysik vor Galilei, die Cbemie vor Lavoisier, die Pbysiologie vor Harvey
Oder Jobannes MuUer. ,,Hall6 un nuevo mundo": wie von Columbus kann
man von Vircbow und Koch sagen, dass jeder von ibnen eine neue
Welt fand und uns scbenkte. Fur das grosste Gebiet menscblicber und
tieriscber Krankbeiten gab die Entdeckung der Metboden zum sicberen
Nacbweis der mikroskopiscben Kleinwesen, die sie erzeugen, den
-o^ 211
SchlQssel zum Verstlndnis. So uberwiltigend war der Siegeslauf der
Bakteriologte, dass es zeitweise fast scheinen konnte, als ob der Begriff
der .iasseren Krankheitsursache" uberall durch den eines krankmachenden
Bakteriums, derjenige der Krankheit durch den Begriff der Infektions-
krankheit inhaltlich gedeckt und ersetzt werden wurde. Wo fruher,
wie vor der Tuberkulose, der Lungenentzundung, den eitrigen Pro^essen
usw., die medizinische Erkenntnis mit einem oder vielen unklaren Worten
halt machen musste, war hier die Ursache sichtbar, erweisbar ein-
gesetzt; ja, die gemeinsame nachweisbare Ursache erlaubte jetzt erst z. B.
die vielgestaltigen krankhaften Korperprodukte des Tuberkelbazillus oder
der Eitererreger mit Sicherheit von alien anderen zu unterscheiden und
zusammenzustellen : mit der neuen Antwort auf das ^Warum'* Mnderte
sich auch Gruppierung und Inhah, das »Was* der Krankheitsbilder, tief-
greifend um.
Es versteht sich danach von selbst, dass nicht bloss fromme
Wunsche, sondem emsthafte Versuche auftauchten, auch die Geschwulst-
lehre in eine Dependenz der Bakteriologie umzuwandeln. Auch ana-
tomische und physiologische Grunde konnten dafur angefiihrt werden.
In der Tat besteht eine Reihe von Ahnlichkeiten zwischen dem Ver-
balten der Geschwulste und gewisser Erzengnisse von Krankheits-
erregem. ZunSchst sitzen auch die gutartigen Tumoren im Korper,
an und in seinen normalen Bildnngen wie Parasiten. Sie zehren, wie wir
sagten, ohne im allgemeinen etwas zu leisten, sie schldigen hSufig; und in
ihren bdsartigen Formen zeigen ihre Zellen ein ganz Mhnliches Verhalten^ wie
wir es von den meisten, besonders von den bosartigsten der parasitischen
Kleinwesen kennen. Sie dringen zerstorend, aufldsend in die Gewebe
ein und werden mit dem Blut- oder Lymphstrom ebenso verschleppt
und an anderen Orten angesiedelt, wie etwa die Eitererreger bei der Eiter-
vergiftung des Korpers oder wie die Tuberkelbazillen, welche, in eine
Blutader durchgebrochen, in alien Organen des Korpers kleinste Kndtchen
hervorrufen. Da einzelne Infektionskrankheiten, beim Menschen ins-
besondere Syphilis und Tuberkulose, richtige geschwulstartige umschriebene
Knoten mit Gewebsneubildung erzeugen kdnnen, so erscheint die Ana-
logie auf den ersten Blick eine schlagende.
Gegenuber einer derartigen Auffassung ist jedoch sogleich ein
wichtiger Unterschied in den Verschleppungen der Tumoren gegen-
uber denjenigen bei infektidsen Krankheiten hervorzuheben. Bei diesen
letzteren sind es stets die betreffenden Bakterien selbst, welche ver-
schleppt werden und durch ihre Vermehrung an der neuen Ansiedelungs-
stelle eine mehr oder weniger charakteristische Reaktion seitens des
Kdrpers hervorbringen; diese Reaktion kann zu Knotenbildungen fuhren,
so dass alsdann diese wiederum ebenso wie die Ausgangsknoten, wenigstens
in den Anfingen ihrer Entwicklung, stets zwei Bestandteile enthalten
mussen: die verschleppten und vermehrten Bakterien und die vom
K5rper gelieferten herangewanderten oder durch Zellteilung an Ort und
Stelle entstandenen Zellen.
Im Gegensatz dazu werden bei den malignen Geschwtilsten stets
212
die betreffenden charakteristischen Geschwulstzellen verschleppt und
sie erzeugen die neue Bildung. Also bei einem Krebs der Leber um-
gewandelte Leberzellen» bei einem solchen der Haut die Deckepithelien,
bei einem Sarkom die jugendlichen Bindegewebszellen; und in der Mehr-
zahl der Fdlle reprisentieren auch die am Orte der zweiten Ansiedelung
neu entstandenen Bildungen wieder den besonderen Charakter
der Ausgangsgeschwulst, also im einen Falle drOsenschlauchartige
Formationen, im andem StrSnge and Ballen verhomenden Epithels,
in einem dritten vielleicht spindelige Zellen jungen Bindegewebes mit
neugebildeten Knorpelstiickchen vermengt, als Metastase eines Knorpel-
Bindegewebs-Sarkoms. Die verschleppten Zellen haben also nicht bloss
die Formen, sondem auch wesentliche physiologische Eigenschaften
ihrer Mutterzellen mitgebracht.
Wenn sonach die Analogie mit parasttdrengeschwulstartigen Bildungen
herangezogen werden soil, so bleiben nur zwei Mdglichkeiten ubrig. Es
kdnnten die betreffenden Geschwulstzellen selbst als die Parasiten an-
gesehen werden. Das wurde aber angesichts der angegebenen Formen-
kreise der Geschwulstzellen ebensoviel heissen, als dass jeder Art von
Korperzelle ein ihr gleicher oder Shnlicher von aussen hereingelangter
zelliger Parasit entspreche. Diese Annahme ist absurd; trotzdem steht
sie in den Annalen der Krebsparasitenforschung eingetragen. Die andere
Mdglichkeit wire die, dass die Geschwulstzellen selbst ihren Parasiten
mit sich oder in sich forttrugen. Eine Analogie zu diesem Gedanken
stellt z. B. die nicht seltene Verschleppung von Bakterien durch
weisse Blutkdrperchen dar, welche dieselben in sich aufgenommen,
aber nicht abzutdten vermocht haben, und nun gerade dadurch ihre
Weiterbefdrderung nach anderen Stellen ermoglichen. Diese zweite
Mdglichkeit werden wir nachher besprechen.
Vorher muss noch ein im letzten Abschnitte schon gestreifter
Unterschied nachdrucklich betont werden. Alle sogenannten infektidsen
Geschwulste, — beim Menschen also vor allem jene der Tuberkulose
und der Syphilis — sind nach einem und demselben nur geringgradig
variierenden Schema gebaut. Die vom Korper gelieferten zelligen Be-
standteile der Bildung bestehen immer, abgesehen von untergehenden
Zellen und zufllligen Bestandteilen, aus herangewanderten farblosen
Blutzellen und aus mehr oder weniger gewucherten Zellen des Binde-
gewebes, der Saftspalten, eventuell der GefSsse; die anderen etwa be-
troffenen Zellarten (z. B. Epithelien) gehen nicht in die ^Neubildung*
ein. Diese letztere zeigt dementsprechend trotz mancher Abwechslung
im einzelnen ein in der Hauptsache recht einformiges und einfaches
Geprlge: Knotchen von meist nicht betrichtlicher Grdsse, in denen der
Infektionserreger sich in Gesellschaft von mehr oder weniger reich-
lichen gegen ihn mobilisierten weissen Blutzellen, gewucherten Saft-^
spalten- und Bindegewebszellen befindet. — Dies Schema trifft man
nun bei Geschwulstverschleppungen hochstens, insoweit gleichzeitig
eine Kombination mit Entziindung vorhanden ist. Das Wesentliche
bei alien echten Neubildungen ist die Wiederkehr mehr oder weniger
213
charakteristischer und komplizierter, aus den jeweiligen verschleppten
Geschwulstzellen zusammengesetzter Gebilde, sowohl an der Ursprungs-
stelle, als eventuell an den Orten der Metastasen. Endlich ist noch zu
betonen, dass zwar am Orte der Geschwulstmetastase ebenso wie in
neuen Infektionsknoten Stutzgewebe (z. B. fur Krebse) und GeRsse
neugebildet werden kdnnen: aber nur bei den Geschwulsten dienen
sie zur Emfthrung und zum Aufbau des Eindringlings, der sie zur
Frone zwingt; bei den infektidsen Neubildungen dienen neugebildete
Gefisse wie Bindegewebe nur der Abwehr und Absperrung des feind-
lichen Ankommlings.
Diese Unterschiede weisen schon darauf bin, dass eine einfache
Analogie mit den parasitiren geschwulstartigen Bildungen nicht zulMssig
ist Immerbin kdnnte man unter gewissen Voraussetzungen daran denken,
diese Eigentumlichkeiten doch mit einer parasitiren Entstehung der
Geschwulste vereinbar zu machen. Es konnte z. B. die Moglichkeit
in betracht gezogen werden, dass der betreffende Parasit abweicbend
yon den gewohnlichen Infektionserregern an der Stelle seines Ein-
dringens in alien Arten von Organzellen eine tiefgreifende Ver-
Inderung derart bervorbringen konne, dass sie fortan zum intensivem
Wachstum und tur Vermehrung angeregt werden. Eine derartige
Annahme einer tiefgreifenden ,Umstimmung der Zellen"* wSre nichts
Unerhdrtes. Wir wissen, dass z. B. durch chemische Reize —
solche gehen ja auch von Bakterien aus — Wucherung von Zellen
hervorgebracht werden kann; und in letzter Zeit haben Versucbe
ergeben, dass sogar die ersten Teilungen der Eier von Seeigeln,
anstatt durch BePruchtung mittels des eingedrungenen Samenkdrperchens
durch einfache Konzentrationsdnderung des Meerwassers hervorgebracht
werden kdnnen; ebenso, dass der durch entsprechende Filter hindurch-
gepresste Saft von Samenzellen genugt, um die ersten Entwicklungs-
vorglnge des Seeigeleis hervorzubringen. Auch die eigenartigen Gallon-
bildungen der Pflanzen stellen komplizierte Gehduse dar, welche der
Parasit (z. B. die Stechmuckenlarve) sich von der Pflanze bauen ISsst,
ofTenbar durch Abscheidung bestimmter wucherungserregender Stoffe.
Man kann demgemass sehr wohl sich vorstellen, dass ein derartiger
Parasit, etwa durch ein von ihm produziertes Ferment, den Teilungsreiz
fur die erste Geschwulstzelle lieferte, und dass daran allein eine grossere
Reihe, oder, bei tiefgreifender Umstimmung der Zelle, eine kaum be-
grenzte Folge von Teilungen sich notwendigerweise anschlosse, Ihnlich
wie die Vereinigung von Samen- und Eizelle zum Aufbau des ganzeq
Oi^nismus durch fortgesetzte Zellteilung ftihrt.
Nachdem die Zellen bosartiger Geschwiilste auch nach der Ver-
schleppung sich weiter vermehren, muss noch an eine zweite Moglichkeit
gedacht werden: ein derartiger Parasit konnte dauemd an oder in der
Zelle schmarotzen, sich selbst mit ihr vermehren und auf ihre Nach-
kommen mit iibertragen werden. Damit wire naturlich die einfachste
JErklMrung fur die fortdauemde Teilungswut der Zellen bosartiger Tumoren
^geben. Auch hier haben wir Analogien. Man weiss, dass z. B. bei
214
der Pebrine-Krankheit der Seidenraupe der Parasit mit dem Ei sscb
entwickelt und dementsprechend in dem fertigen Organismns enthalten
ist; ebenso ist es nicht unmdglich, dass der Tuberkuloseerreger oder
das noch unbekannte Gift der Syphilis l)ereits von den ersten Ent-
wicklungsstadien an im Embryo enthalten sein kann und in und mit
dessen Zellen sich weiter zu entwickeln vermag.
Mit den angefuhrten anatomischen Grunden lasst sich also etwas
Entscheidendes weder fur noch gegen die Parasitentheorie der Ge-
schwiilste ableiten. Der Leser wird daraus, dass ich sie uberhaupt so
ausfuhrlich diskutiere, schon den Schluss gezogen haben, dass der ein-
fachste und unwiderlegliche ^anatomische** Beweis, der Nachweis eines
sichtbaren Infektionserregers, bisher wenigstens, nicht gegluckt ist
Und dies trotz einer enormen Summe von Arbeit, die gerade dieser Aufgabe
zugewandt wurde. Biszumjahre 1001 waren, die ausserdeutschen ein-
gerechnet, schon ca. 4500 Schriften tiber Krebs erschienen, von denen
ein grosser Teil sich mit der Parasitenfrage beschSf dgte ; seitdem ist
die Produktion von Gedanken und Parasiten munter weiter gegangen.
Alle Klassen von Kleinwesen, die je parasitenfahig erschienen waren,
und viel andere Dinge, sind schon Krebserreger gewesen.
Ich muss hier einschalten, dass die Frage der Geschwulstparasiten
im wesentlichen als Frage nach dem Erreger des Krebses, weniger schon
des SarkomSy behandelt wurde ; dass wir also im ndchstfolgenden wesent^
lich, so wie es der Laie pflegt, nur nach dem ^Krebsbazillus'' und seinen
Kollegen fragen. Wir werden spater sehen, dass diese einseitige Frage-
stellung eine Hauptquelle von Irrtiimem geworden ist.
Der Stammvater der Krebsparasiten ist nattirlich wirklich ein Krebs-
bazillus. Sein Grab liegt in einem dunklen Fache der Krebsbibliothek. Eine
ganze Legion von Parasiten tauchte seitdem auf und verschwand wieder;
einige wenige hielten sich bis heute und bevolkem — die Schriften, die fur
und gegen sie geschrieben werden. Da bei den Infektions-Geschwulsten,
wie gesagt, das Epithel nicht am Aufbau sich beteiligt, wMhrend es bei den
Krebsen dominiert, lag es nahe, nach besonderen Epithelschmarotzem zu
fahnden. Solche existieren nun unter einzelnen Klassen der sog. Ur-
tierchen (Protozoen) und Urpfignzchen (Protophyten) und bewirken be-
stimmte Erkrankungen auch bei Saugetieren. Nur erzeugen diese
Lebewesen, wie wir jetzt wissen, nirgends Krebse, und flnden sich
nirgends in Krebsen. Trotzdem war es natiirlich berechtigt und ge-
boten, sie eingehend zu studieren; umsomehr, als seit dem Jahre 1888
Jahr um Jahr in Zellen von Krebsen Einschlusse beschrieben wurden, die
gewisse Ahnlichkeiten mit jenen Protozoen hatten und als solche erklirt
wurden. Es bedurfte eines umfassenden Studiums der in Krebs- und
anderen Zellen vorkommenden Einschlusse, um diese Krebsparasiten
Stuck fiir Stuck als Entartungs- oder zuflllig aufgenommene Gebilde
(gefressene weisse und rote Blutkorperchen usw.) zu erweisen. Die
Totung von neu aufgestellten Krebsparasiten war eine zeitlang eine
amusante Beschaftigung pathologischer Anatomen. In Sarkomen wurden
ferner einigemale Hefezellen gefunden, aus ihnen geziichtet und auf Tiere
215 8^
tragen. Es wuchsen Geschwulste, die zuerst ftir wirkliche Sarkome gt^
halten wurden, sich nachher aber als Infektionsgeschwulste erwiesen;
Auch diese Arbeiten waren nicht umsonst ; sie brachten die ersten Kennt-
nisse von pathologischen Neubildungen am Menschen durch Hefepilze;
aber sie lieferten keinen Sarkomparasiten. Der Parasit einer Pflanzenkrank-
keit, des sog. Kohlkropfs, gleichfalls ein Protozoon, wurde noch in jungster
Zeit als Krebserreger proklamiert, ihm zur Seite eine Chytridiacee, ein algen-
Ihnlicber Pilz. Ihnen abnliche Gebilde flnden sich, obwohl nicht hMufig,
in Krebsen, lassen sich aber gleichfalls hier als Entartungsprodukte
erkennen. Einen Krebs damit zu erzeugen, ist noch niemand gelungen.
Es wSre sehr beruhigend, wenn diese Zuriickweisung der bisher
prisentierten Krebsparasiten die Parasitentheorie abzulehnen erlaubte.
Aber dies ist, wie unsere vorhergehenden Erwdgungen zeigten, damit
noch durchaus nicht der Fall. Soviel zwar lasst sich heute schon sicher
sagen, dass von den bisher vorgefuhrten relativ grossen und Shnlichen
Zellschmarotzern keiner der Krebsparasit ist; bei unserer jetzigen
genauen Kenntnis der Zellstrukturen und ihrer pathologischen Ab-
weichungen konnte uns ein solch grober Eindringling, wenn er einiger-
massen hiufig in den befallenen Zellen vorhanden wire, gar nicht
entgehen. Aber wie, wenn der Parasit kl einer ware als unsere kleinsten
Infektionserreger und Zellkdmchen ? oder wenn er in unseren durchweg
mit FiLrbung behandelten Zellpraparaten sich nicht firben Hesse? Vor
der spezifischen Firbung, welche Koch ftir den Tuberkelbazillus angab,
war es unmdglich, die Zellverinderungen, die er erzeugte, auf ihn zu
beziehen: die schlanken StSbchen unterschieden sich nicht vom ubrigen
Zellinhalt. So wire es denkbar, dass es vielleicht nur einer spezifischen
Firbung der auch unseren feinsten Zelluntersuchungsmethoden ent-
gehenden Erreger bedurfe, um vielleicht in alien Krebsen diese Gebilde
wahmehmbar zu machen. Mit Hilfe bestimmter Flrbemethoden sind
nun auch in manchen Krebsen eigenartige kleine rundliche Korperchen
gefunden worden, die bei den gewohnlichen Untersuchungen der
Beobachtung entgehen. Indessen ist auch fur diese der Erweis als
misslungen anzusehen, dass sie wirklich Krebserreger sind, denn sie
finden sich nur in vereinzelten Krebsen und regelmdssig unter Be-
dingungen, welche ihre Entstehung durch Zellentartung so gut wie
sicher machen.
Noch schwieriger ist die andere Mdglichkeit auszuschliessen. Wir
kennen heute eine ganze Reihe von Infektionskrankheiten, deren Erreger
so klein sind, dass sie mit unseren mikroskopischen Hilfsmitteln nicht
wahmehmbar sind; dieselben lassen sich z. B. dadurch nachweisen,
dass man die betreffenden SMfte durch feinste, fiir andere Bakterien
nicht mehr durchglngige Porzellanfilter treibt und mit dem Filtrat die ent-
sprechenden Krankheiten auf Versuchstiere und von diesen auf weitere
Tiere iibertrMgt. Damit ist erwiesen, dass der betreffende Infektions-
erreger die Poren des Filters passiert hat, und in den Versuchs-
tieren nach Art der lebenden Krankheitserreger sich zu vermehren
vermocht hat. Derartiges ist u. a. fur die Lungenseuche des Rindes
216
nachgewiesen worden, deren Erreger eben noch an der Grenze der
mikroskopischen Sichtbarkeit stehen, fur eine bestimmte Geflugelseuche,
fur das Gift der Maul- and Klauenseuche u. a.
Unter derartigen Umstdnden wSre es wohl denkbar, dass ein
ultramtkroskopischer Organismus, der naturlich von den feinen Komchen
der Zelle sich in keiner Weise unterscheiden liesse, in die Tumor-
zellen einbriche, in ihnen sich vermehrte, mit ihnen wanderte usw,
Aus dem Misslingen des empirischen Nachweises IMsst sich demgemSss
kein prinzipielles Argument gegen die parasitdre Theorie Schmieden;
wir miissen auf andere Weise ins Klare kommen oder die Frage vorlaufig
stehen lassen. Hdren wir also zunichst noch welter, was fur, was gegen
den .Krebsparasiten'' angeftihrt werden kann. Der Vereinfachung halber
werde ich diese Grunde derart anfuhren, dass ich ftir jeden sogleich an-
gebe, warum er nichts fur die parasitMre Theorie beweist — denn dies
trifft fur jeden derselben zu — ; im Anschlusse daran werden wir prufen,
ob die Annahme eines Krebsparasiten wirklich ndtig, ob sie uberhaupt
brauchbar ist, oder ob wir uns nach anderen ErklMrungen umzusehen haben.
Wenn fur irgend eine Infektionskrankheit ein mikroskopisches
Lebewesen als Erreger erwiesen werden soil, so verlangen wir hierzu
die Erfullung von drei Forderungen: dass es stets bei der betreffenden
Erkrankung gefunden werde; dass es durch kunstliche Zuchtung auf
geeigneten Nihrboden rein, d. h. frei von Beimischung anderer Bakterien
und von Bestandteilen des kranken Kdrpers, erhalten werde; dass es
drittens gelijige, nicht bloss durch Ubertragung erkrankter Organteile,
sondern auch durch Einimpfung der so erhaltenen ^Reinkulturen*
die Erkrankung bei geeigneten Versuchstieren wieder tn erzeugen.
Fur die Mehrzahl der bekannten Infektionskrankheiten ist dieser Nach-
weis vollstMndig oder fast voUstindig erbracht. Naturlich gewShrt es aber
fiir die Auffassung einer Erkrankung als Infektionskrankheit schon eine
ganz wesentliche Stutze, wenn nur eins der drei obigen Postulate ganz
•Oder in wesentlichen Teilen erfullt ist. Wenn man bisher den Krebs-
erreger weder hat zeigen noch auf irgend einem unserer kunstlichen Bak-
lerienndhrbdden ziichten konnen, so mag das beides am Ende auf tech-
nischen Schwierigkeiten beruhen ; es wMre ja gar wohl denkbar, dass er
4ils subtiler Gourmand nur innerhalb lebender Zellen, und da nur in
bestimmten zu leben vermochte und bei der Herausnahme aus seinen
Wirten oder nach deren Zerstorung zugrunde ginge. Wir wurden also
nach dem obigen Schema den Krebs trotzdem mit Wahrscheinlichkeit
lur eine Infektionskrankheit halten mussen, wenn auch nur seine Uber-
tragung durch krebsige Gewebsteile — in denen der Parasit als in
«inem «lebenden NShrboden* stUke — moglich wire. Wie steht es
damit? Gibt es eine naturliche oder kunstliche Ansteckung durch Krebs?
Die Antwort .lautet scheinbar paradox. Es gelingt unter gewissen
Umstinden, Krebse durch Ubertragung von krebsigem Gewebe zu uber-
tragen: trotzdem beweist diese Uberpflanzung nicht das mindeste fur
die Ansteckungsfihigkeit und parasitare Entstehung des Krebses. Der
Grund liegt, wie sich gleich zeigen wird, darin, dass unsere Reihe der
217 8^
Fragen und FordeniDgen zu eng war; das klassische Schema fur den
Nachweis der Erreger von Infektionskrankheiten reicht hier nicht zu.
Von Ratten auf Ratten, von MSusen auf Mduse sind wiederholt
Krebse, die zufSllig bei einem Exemplar der betreCPenden Tlerart ge*
funden wurden, mit Erfolg uberpflanzt worden. Es bildeten sich neue
Geschwulste, deren Obertragung wieder gelang. Ja, es ist vor einiger
Zett von Jensen sogar der Nachweis erbracht worden, dass man Shnlich
wie gegen Bakterien durch Verimpfung der Zellen eines solchen Mause-
krebses auf K^inchen von diesen ein Serum gewinnen kann, dessen
Einimpfung bei den mit dem Krebs ^infizierten'' Miusen die Geschwtilste
zum Schwunde bringt — also geradeso, wie wenn man zur BekMmpfung
einer Tierseuche ein gegen die betreffende Bakterienart wirksames Serum
einimpft! Und doch soil der Krebs keine Infektionskrankheit sein? In
der Tat: diese beiden Feststellungen, .so fundamental sie sind, beweisen
nichts fur unsere Frage.
Die Ubertragung und das weitere Wachsen der Geschwulstteile erweist
nlmlichnur, dass die Zellen des betreffenden Krebses bei der gleichen
Tierart zunichst einheilten: das vermag aber auch normales Epithel,
^ie die oft gemachten Oberpflanzungen von Haut dartun; dass sie sich
weiterhin entsprechend ihrer gesteigerten Wachstumstendenz auf dem
neuen Tier wie an dem urspriinglichen Wachstumsort, oder wie in irgend
einer Organmetastase des ersten Wirtes vermehren konnen: das war
jedoch wieder eigentlich vorauszusehen, wenn die Einheilung uberhaupt
gelang und das zweite Tier, das ja der gleichen Art angehdrte, nicht
besondere Schutzeinrichtungen besass oder entwickelte. Aber das
Krebsserum ? Vor ein paar Jahren wiirde dieser Fund wohl noch als
ein Beweis fiir eine parasitSre Entstehung gelten haben mussen, Heute
hat sich der Kreis der uns bekannten Tatsachen schon wieder um so-
viel erweitert als notig ist, um die Wirksamkeit eines solchen Serums
anders, allgemeiner zu deuten. Denn wir wissen jetzt, dass der Kdrper
^egen alle mdgltchen Zellen der eigenen wie fremder Art, die ihm
kiinstHch einverieibt und von ihm zerstdrt werden, in seiner Blut-
flussigkeit StofTe bildet, welche die wunderbare Eigenschaft besitzen,
gerade die betreffende Zellart, und nur diese, aufzuldsen. Die Bakterien-
zerstorung durch das Serum von Tieren, welche durch eine leichte In-
fektion «immun* geworden sind, ist sonach nur ein besonderer Fall
eines anscheinend sehr allgemeinen Gesetzes; gegen einverleibte rote
Blutkdrperchen, gegen Leber-, Nieren-, Samenzellen usw. werden gleicb-
falls spezifische, je die betreffende Zellart aufldsende «Zellgifte* gebildet;
und so fein ist diese Reaktion, dass man z. B. im Kaninchenserum
durch wiederholte solche Einverleibung von Blut etwa der Ziege, des
Rinds, des Meerschweinchens Stoffe erhalten kann, die nur gerade die
Blutkdrperchen der Ziege, des Rinds, des Meerschweinchens auflosen.
Wenn es also nicht eins der seltsamsten Wunder des Organismus wire,
dass er so auf alle mdglichen fremden Zellen mit ganz besonderen
ehemischen Schutzeinrichtungen zu reagieren vermag, so mdchte man
fragen: was Wunder, wenn ein Kaninchen nach Vorbehandlung mit
Saddeutsche Monttshcfke. 1, 3. 15
218 S*^
MSusekrebszellen ein diese zerstdrendes Serum erzeugt? Es wurde das
gleiche ja auch gegenuber MSuseblutkorperchen oder -leberzellen tunt
In dieser Herstellung eines speziflschen Serums gegen Krebszellen liegt
also zwar eine unserer grdssteu HofTnungen fur eine kunftige unblutige
Krebsbehandlung — aber fur die Entstehung des Krebses durcb einen
Susseren Parasiten beweist es nicbts.
Es ist femer noch hervorzuheben, daiss auch bei diesen Krebs-
ubertraguDgen stets die Geschwulstzellen selbst es sind, welche weiter
wuchem, welche das Bindegewebe und die Gefisse des neuen Wirtes-
sich wieder dienstbar machen ; so wenig wie bei den Metastasenbildungen
im Kdrper des Krebskranken werden etwa die anstossenden Epithelzellen
des neuen Wirts zur bdsartigen Wucherung gebracht. Wie sollte sich
dies mit der Annahme eines Epithelzellschmarotzers reimen? Derselbe
musste nicht bloss als ein ausschli6sslich in Zellen wachsender Parasit an-"
gesehen werden, wie wir oben annahmen: er musste mit seiner besonderen
Wirtszelle so innig verbunden sein, dass er nicht einmal auf andere
Zellen uberginge; er musste so fest in ihr haften wie — irgend ein
wesentlicher Zellbestandteil. Gleich einem wichtigen »ZeIlorgan* auch
wiirde er sogar bei der Teilung der Zelle sorgfUltig in jede der beiden
Tochterzellen, die ja weiterwuchem, tibemommen. So fuhrt uns gerade
die eingehendere Prufung der scheinbar fiir die Parasitentheorie am
meisten sprechenden Grunde wieder auf ein Irgendetwas in der Zelle
selbst als wesentliche Ursache ihrer «Entartung* zuruck. Wir ndhem
uns mit Notwendigkeit den ^zellularen Theorien der Krebsentstehung*.
Ein paar andere Argumente, die man oft noch hdrt, schliessen sich
hier an. Es soil Krebsgegenden, z. B. ^Krebsdorfer*, Krebshauser geben;
von cancer & deux, also Ansteckung z. B. zwischen Ehegatten, oder Eltem
und Kindem, wird gesprochen. Mit den wenigen Beispielen, die hier-
fur angefuhrt werden, ist indes nichts anzufangen: sie miissten viel
hiufiger sein, um nur einige Beweiskraft zu gewinnen. In ihrer Selten-
heit beweisen sie eher fiirs Gegenteil: denn weshalb sollte z. B. neben
den unendlich zahlreichen Fallen, in denen nur ein Ehegatte erkrankt,
nicht auch einmal der Zufall beide an Krebs erkranken lassen? Femer
kann, solange iiber die Wirksamkeit von nichtparasitlren SchSdigungen
z. B. in Nahrung, Wohnung, oder fiber die Bedeutung der Vererbung^
fiir den Krebs nichts Genaueres bekannt ist, mit solch allgemeinen Fest-^
stellungen, wie derjenigen des gehfluften Vorkommens von Krebs an
einzelnen Orten, auf bestimmten Bodenarten, in diesem und jenem
Hause fur die Sache des Krebsparasiten gar nichts gewonnen werden.
Auf einzelnes kann und brauche ich hier wohl nicht mehr einzugehen*
Es versteht sich nunmehr auch wohl von selbst, dass die Hlufigkeit
von Krebsen an Stellen, die besonders Susseren Schddlichkeiten unter-
liegen, nichts fur die parasitSre Entstehung beweist. Wenn z. B. bei
Schomsteinfegem und Paraffinarbeitem die Haut-, bei Pfeifenrauchem
*) Das Wort ist hier stets nur im Sinne der Obertragung von Eltem auf
Nachkommen gebraucht, nicht im Sinne von Ansteckung.
219
die Lippenkrebse relativ hSufig sind, bei Minnern die Krebse des bei ihnen
80 hflafig erkrankten Magendarmkanals, beim Weibe jene der Geschlechts-
organe weitaas iiberwiegeii, wenn in den einzelnen Organen gewisse
One am stflrksten betroffen werden, die SchSdigungen in hervorragender
Weise ansgesetzt sind, z. B. die Seitenrftnder der Zunge, die den Zihnen
anliegen, die Schlund- und Pfdrtnerdffnang des Magens, die unbedeckten
Teile der Haut usw., so ist es fur all diese Ffllle leicht, mechanische,
chemische and andere lang einwirkende Schfldlichkeiten nachzuweisen,
darch welcbe allein eventuell eine Entartang der Zellen ebensogut er-
klflrt werden kann, wie durch Hinznfugnng eines in die gescbadigten
Zellen eingedrungenen Parasiten. Von diesen Schldigungen and ihrer
Bedeatung wird im nflchsten Kapitel nochmal die Rede sein mussen.
Man hat endlich auch die angebliche Zunahme des Krebses
aaf Infektion bezieben wollen. Der erbdhte Verbrauch von rohem Ge-
mlise and Obst and die Obertragung daran haftender Parasiten sollten
schald sein; nach anderen wSre es die langsam fortschleichende
Obertragang von Mensch zu Mensch, die flhnlich wie bei der Tuber-
kulose den Bnstem Oast allmflblich sich ausbreiten and mehr und mebr
Fuss fassen liesse.
Indessen sind vor allem Beweise fur eine sichere Zunahme des
Krebses nicht erbracht; denn die wirklich beobachtete absolute Vermehrung
der Zahl von Krebskranken in Krankenhflusem und bei Sektionen ist mit
grosster Wabrscbeinlichkeit aufdiebSufigere Diagnose derErkrankunggegen-
iiber friiher zuriickzufuhren. Speziell die Sektionen sind es, die in einer
grossen Anzahl von FMllen den Nachweis erbringen, dass ein verstecktes
Carcinom die Todesursache war, wo fruher vielleicht auf dem Totenschein
Herztod, Altersschwflche oder ihnliches stand. Ausserdem leiden aber
derartige statistische Feststellungen an den allergrdssten Schwierigkeiten.
An Orten, wo eine einigermassen einwandfreie Statistik geliefert werden
konnte, wie z. B. in Miinchen von Bollinger, hat sich eine Vermehrung in
der Zahl der Krebskranken gegenOher der Zahl der Lebenden nicht
feststellen lassen. Aber auch wenn dies der Fall wire, kdnnte naturlich
eine derartige Zunahme ebensogut durch andere Momente — z. B. all-
gemeine Zunahme gewisser Schfldlichkeiten in der Lebensfiihrung —
bedingt sein, als durch eine grdssere Verbreitung des Anstecknngsstoffes.
Ich furchte, der geduldige Leser fiingt allmihlich an, ungehalten
darfiber zu werden, dass er gezwungen werden soil, so umstflndlich und
langwierig einen erstens nberhaupt nicht vorhandenen, zweitens oben-
drein fast nicht denkbaren Parasiten mit aus der Welt zu rflumen.
Venn Pathologen und Bakteriologen um diese Frage einen schon etwa
20jflhrigen Krieg fuhren, was geht das den friedlichen Leser einer
Monatsschrift an? Leider finde ich den Krebserreger noch immer nicht
tot genug und muss ihm noch einiges versetzen. Zu meiner Entschul-
digang und seiner Beruhigung darf ich den Leser deshalb vielleicht
darauf hinweisen, dass wir in diesem Kapitel doch nicht bloss dem
Parasiten den Boden abgegraben haben : wir haben auch, und fast mehr,
den Grund gelegt und bearbeitet fiir das VerstSndnis der samtlichen
15»
220
wesentlichen Fragen, die nunmehr fur die Auffassung der Geschwulste
in Betracht kommen; und hier und dort ist auch schon ein Korn ein-
gesHt, das uns fur kunftige andere Abschnitte der Krankheitslehre Fnicht
tragen soil. Richtige Fragen zn stellen lemt sich ja bekanntlich am
schwersten, und diese ganze Geschichte der Krebsparasitenfrage, deren
vorMufig letzte Ergebnisse wir hier uns vorfuhrten, ist ein typisches
Beispiel fur solches Richtigfragenlemen. Ebenso wie in der Geschichte
der Wissenschaften und anderswo oft e i n erfolgreicher und befruchtender
Gedanke ein ganzes Reich von Erscheinungen und Gesetzen eroberte
und sich unterwarf, ebenso hat hier umgekehrt eine auf anderem Ge-
biete machtvoll verwendete Vorstellung tnr lange Zeit den Blick gebannt
und die Fragen und Antworten verwirrt. Auch dies ist ja keine seltene
Erscheinung; jede irgendwo beherrschend gewordene Idee hat die Tendenz,
sich auf weitere Gebiete auszubreiten und ihrerseits reaktionflr sich
gegen andere Vorstellungen zu stemmen. Aber es liegt in der Frage der
infektidsen oder nicht infektidsen Entstehung des Krebses noch mehr:
wie nicht leicht anderswo in der Wissenschaft hat sie eine dramatische
und fast tragische Seite. In ihrem Gesamtverlauf: aus kleinen Funden
und Vermutungen wflchst die Vorstellung: »Der Krebs eine Infektions-
krankheit^ zu einem Thema an, das die ganze Welt, die gelehrte und
ungelehrte, in Spannung versetzt; sogar zu persdnlicher Befeindung und
Befehdung erhitzt sich hier und dort der Kampf wissenschaftlicher
Meinungen — und am Ende so langen SchafTens und Ringens steht das
nuchteme Ergebnis: Umsonst; der Gedanke war falsch. Ja, wenn es
noch eine gleichgiiltige Lehrmeinung gewesen wSre; aber diese Vorstellung
gab die HofTnung, eine der furchtbarsten Geisseln von der Menschheit
zu nehmen, indem sie den heimlich schleichenden Feind aufzuspiiren
gedachte wie den Pest- oder Cholera-Erreger und ihn zu bekflmpfen
wie diese. Und nun sollen wir wieder im Dunkel stehen wie zuvor
und machtlos die HSnde sinken lassen gegentiber dem Unsichtbaren und
Unfassbaren? — Aber nicht bloss in der grossen Entwicklungslinie dieses
Problems liegt ein tragischer Zug: wie alle anderen Menschheitsfragen
stuckt sich ihr Verlauf zusammen aus Hunderten und Tausenden von
Fragen, die von Einzelnen gestellt wurden; sie ist Erlebnis, Arbeit,
Kampf, Schicksal von Hunderten, die sie zu Idsen vergeblich versuchten.
Welch eine HofPnung: den Krebserreger aufzuspuren, den ersten Schritt
zu tun in jenes Gebiet, in welchem die Hilfe gefunden werden muss!
Welch eine Spannung bis zu der scheinbar endgtiltigen Oberzeugung:
der Parasit i s t entdeckt, ich halte ihn hier, im Reagensglas, unter dem
Mikroskop zum ersten Male I Und dann die Peripetie, die immer
gleiche: andere sehen anderes, beachten Ubersehenes, entdecken die
Fehlerquellen, die der Arbeit anhafteten; die Wissenschaft geht zur
Tagesordnung tiber • . Hundertmal ist dies das Ergebnis langer, red-
licher, muhevoller Arbeit gewesen; was unserem heutigen Wissen un-
richtig und oft fast Idcherlich erscheint, hat einer, haben viele als
Letztes erarbeitet, die ebenso logisch dachten und genau zu arbeiten
meinten wie wir; die wenigen Schritte, um die wir erobemd vordrangen.
221
baben Hunderte von Opfern verlangt, die hinter uns liegen blieben ; die
wenigen, nocb immer so wenigen Antworten, die uns wurden, hat eine
ganze Generation muhselig und in immer neuem Anlauf erkMmpfen
mussen. Und bier das Fazit: die Annahme eines Krebserregers steht
in der Luft, sie ist aufs ausserste unwahrscbeinlich, sie leitet nicht zum
Verstlndnis, nicht zur Hilfe . .
Der Leser weiss bereits, dass dies negative Ergebnis nicht alles
ist. An und aus der verfehlten Arbeit wuchs die richtigere; auf zahl-
losen Irrpfaden gelangte die Forschung dennoch auf eine Menge neuer
Ausschaupunkte; mlhlich und m&hlich taten sich einzelne grossere Wege,
alte und neue, wieder auf, zu denen die einzeln Wandernden sich
fanden: die Gegenwart arbeitet mit ungeschwSchter Lust und Hoffnung
an dem grossen Problem. Auch hier gilt, wie iiberall in der Wissen-
schaft, die Wahrheit, dass es nur einen wirklichen Ruckschritt gibt:
das Stehenbleiben. Alles andere fiihrt vorwHrts.
So soil es, wie ich denke, auch unsere Geschwulstfri^e wieder ein
Stuckchen vorwSrtsfuhren, wenn wir noch einmal ein wenig zu dem
Krebsparasiten zuruckkehren mit der Frage: Was hfltte er alles eigentlich
leisten mussen, wenn — er existierte?
Da sehen wir nunmehr leicht, dass dies unendlich viel mehr ist,
als wir von irgend einem der bekannnten Infektionserreger verlangen und
Ton irgend einem verlangen konnen. Dass er jede der verschiedenen
Gewebssorten zur Vermehrung anzuregen imstande sein mtisste und zur
Hervorbringung von Geschwulsten der ihr eigenen Art, woUen wir ihm
nicht wieder vorhalten; aber er musste ja auch nicht bloss Wucherung
der Zellen erzeugen, sondem sie zu der fur jede Geschwulstart cha-
rakteristischen Zusammenordnung veranlassen; und nicht bloss zur
Ordnung unter Zellen der gleichen Art, sondem auch zur Heranziehung
von Hilfszellen, von Stutz-, GefSss-, Blutzellen, die sich in vielen gut-
artigen Geschwiilsten ja so typisch gliedem und einfiigen, wie in ein
normales Organ. Er musste, mit einem Worte, bei alien gutartigen
Tumoren ungefihr eben soviet, bei den bdsartigen, auf deren Architektur
wir schon eingangs hinwiesen, nicht viel weniger leisten als die Gesam t-
heit jener Ursachen, die im Laufe der normalen Ent-
wicklung die normalen Organe entstehen lassen. Von
diesen aber wissen wir, dass alles Wesentliche, charakteristisch Be-
stimmende derselben im Kdrper, in den besonderen Eigenschaften der
aus der befruchteten Eizelle durch fortgesetzte Teilung hervorgegangenen
und sich nach geheimnisvollen Regeln ordnenden Zellen und Zellgruppen
gelegen ist; dass alles Aussere nur als Entwicklungsbedingung oder
Entwicklungsanstoss wirksam sein kann. Schon fur die einfach ge-
bauten Geschwulste also musste der .Parasit' einen mehr oder weniger
betnlchtlichen Bruchteil jener Anregungen liefem, welche fur die
normale Entwicklung des Eies von der Samenzelle, also von einem
Produkt des hochorganisierten vielzelligen Korpers selhst, gegeben werden,
und die nur in einer gerade fur diese Entwicklung und gesamte Organ-
bildung ganz speziell ausgerusteten Zelle zur Wirknng gelangen kdnnen.
222
Noch umbssender und unvorstellbarer wurde aber diese Wirkung eines
solchen Eindringlings sein, wenn vir eine aus verschiedenartigen
Geweben oder Organanlagen zusammengesetzte Geschwulst, eine Misch-
geschwulst Oder ein Teratom, von einem solchen Parasiten erzeugt sein
lassen wollten: von einem Parasiten, der dabei nicht einmal vermag,
von einer Geschwulstzelle aus die benachbarte gesunde Zelle zu befallen
und anzusteckeni Alles Wesentliche, Charakteristische muss auch hier
in der Natur der wachsenden Zellen gelegen sein; der Parasit kdnnte
bestenfalls den ersten Anstoss zur Wucherung geben.
Hier sei endlich noch eine der merkwiirdigsten Geschwiilste an-
gefuhrt, die wir kennen, und deren genaues Studium sehr viel zur
KlUrung wichtiger Geschwulstfragen geleistet hat. Es ist dies das so-
genannte Chorionepitheliom : eine zumeist iusserst bdsartige Neubildung,
welche ausgeht von — den zottigen Auswiichsen der EihuUen, mittels
deren der Embryo sich in das mutterliche Gewebe gewissermassen ein-
hakt und einsaugt, mittels deren er seine gesamten Nflhrstoffe von
der Mutter bezieht, einschliesslich des ndtigen Sauerstoffs, und aus
denen er Kohlensdure und andere Abfallprodukte seiner Lebenstitigkeit
ans miitterliche Blut zur Ausscheidung ubermittelt. Diese Zotten
wachsen, brechen direkt in weite Gefisse der umgewandelten Geblr-
mutterschleimhaut ein; in ihren feinen Gefissveristelungen rollt das
Blut des Kindes, zwischen diesem und dem umspiilenden Blute der
Mutter bildet neben Bindegewebe ein eigenartiges zweischichtiges Epithel
die Scheidewand und Vermittlung zugleich. Und dieses Epithel ist es,
welches zuweilen, anstatt sein Wachstum auf das notwendige Mass zu
beschrtoken und wiederum ausgestossen zu werden, auch nach der Geburt
des Kindes welter und weiter in die miitterlichen Gef3sse wichst und
ausgedehnte Metastasen besonders in den Lungen macht. Hier Uegt
also ein vom Ei gebildetes Gewebe vor, das von Anfang an die Be-
stimmung hatte, in gewisser Ausdehnung ins Gewebe , ja in die
Blutgefasse des miitterlichen Kdrpers unter Zerstdrung der trennenden
WSnde einzudringen; hier dreht sich demnach sozusagen die Frage um,
und wir erstaunen fast weniger daruber, dass diese Zotten zuweilen
nach Art bdsartigster Geschwulste in der Geflssbahn weiter verschleppt
werden und sich neu ansiedeln als daruber, dass dies nicht in jedem
Falle geschieht ! dartiber, dass die Natur zu der wundervollen Einrichtung
solcher nach Anhaftepunkten und nach Nahrung suchender, grabender
Gebilde auch die uns unbekannten Schranken gab, welche ihre Wirk-
samkeit auf das niitzliche Mass einschrSnken. Zum ersten Male fuhrt
uns hier auch die Geschwulstlehre zu jener Erkenntnis, die aus anderen
Erwigungen sich wiederholt und auch am Schlusse unserer Erorterungen
wieder ergeben wird : wie es bei nihiger Betrachtung der uns allzeit um-
drMngenden Gefahren nicht eigentlich wunderlich ist, wenn wir einmal
erkranken oder sterben, sondem dass wir gesund sind, iiberhaupt noch
existieren — so ist bei all der unglaublichen Verwicklnng des Baues, der
Entstehung, der Vorgflnge des organisierten Kdrpers es viel weniger zu
verwundern, dass hier und dort etwas abnorm, „falsch* gebildet ist oder
223
unrichtig reagiert — als dass uberhaupt je eine solche Entwicklung aus eiii
paar verscbwindend kleinen Zellen stattgefunden bat, dass sie ihren
richtigen Gang in und aus lauter, wie wir sagen, unbewussten Elementen
nehme und am Ende des Aufbaues fur mebrere Dezennien nnser organiscbes
Ganze eine unausdenkbar fein regulierte Harmonie nicht bloss zwischen
seinen Teilen, sondern auch zwiscben sicb und seiner Umgebung besitzt
und zu erbalten vennag. Aber nocb ist unsere Erorterung nicbt so
weit, dass wir das Rfltsel der Gescbwulstbildungen in das grdssere des
Lebens versinken lassen miissten; wir baben vorlSufig nur die Frage
anzureiben: was soil uns tiberhaupt ein Parasit angesichts einer derartigen
Gescbwulst? Hier erklflrt er ja nicbt einmal den Wucherungstrieb, der
scbon von Haus aus vorhanden ist; zu den von den Eibullen gelieferten,
den miitteriichen Organen fremden Gebilden schafft er nichts, gar nicbts
binzu, sie bleiben dem pbysiologiscben Verhalten wie den Zellformen
nacb im Grunde bis zuletzt, was sie waren I Das Kind selbst, ein von
ihm gebildetes Organ und Gewebe ist bier der ^Parasit**, der die Mutter
durcbwucbert und zerstdrt!
Wir seben also, dass an alien Stellen, wo in der Entstebung der
Gescbwtilste ein parasitiscber Erreger zunflchst wabrscbeinlicb oder mog-
licb scbien, an seiner statt eingesetzt werden kann: die ,unbekannte
U r s ac h e"* der Gescbwulstbildung. Wir seben, dass eine solcbe Annabme
fiir das Verstflndnis der eigenartigen AufbautHtigkeiten, die wir uberall
bei den Tumoren Bnden, nicbt das mindeste zu leisten vermag; dass
wir iiberall auf die Eigenart der aufbauenden Zellen und ibre FMbig-
keiten zuruckgreifen mussen, um nur einige Einsicbt zu gewinnen. Wir
beacbten endlicb aucb, dass wir uberall nicbt bloss die Wucberungs-
ilbigkeit, sondern aucb die Aufbauflbigkeit der gescbwulstbildenden Zellen
als Problem, und vielfach scbon jetzt als das grdssere Problem baben er-
kennen mtissen. Alles bisherige drSngt uns dazu, dieGescbwulstzellen
selber auf ibre Eigenscbaften und Fahigkeiten zu priifen. Wir werden
desbalb sogleicb mit denjenigen Ldsungsversucben beginnen, welcbe die
.zellulSren' Theorien bieten. Dabei wird der Leser freilich als Resultat
einen Einwand und eine HoflPnung der Parasitensucber wabmebmen, die
icb ihm in der vorausgehenden Kritik vorentbalten babe: es wird sicb
nimlicb zeigen, dass aucb die zelHilflren Tbeorieen keine befriedigende
Ldsung geben, dass sie in der Vemeinung des Parasiten viel einiger
sind als in ibren eigenen Erklflrungsversucben — dass jene ,unbekannte
Ursacbe" der Gescbwulstbildung aucb die zellulMren Tbeorien nicbt
klarlegen. Solange aber die Dinge so liegen, wird derjenige, der von der
parasitiren Entstebung der Tumoren einmal iiberzeugt ist, immer nocb
unsere Parasitenwiderlegung mit jenen Urteilen vei^leichen, welcbe die
Existenz von Antipoden, die Mdglicbkeit der Luft- und Eisenbabnfabrt
vemeinten, oder welcbe etwa bei den ersten Nacbricbten von kdrper-
durchdringenden Strahlen, von RadioaktivitMt und Sichtbarmacbung ultra-
mikroskopiscber Teilcben kategoriscb erkUrten: ,Das gibt es ja gar nicht!"
— anstatt zu sagen: «Davon haben wir bisber nichts gewusst.*
In diesem Umstande liegt einer der wesentlichsten Grunde, und
224
sicher ein nicht ganz unberechtigter, weshalb auch heute noch die Suche
nach dem Krebsparasiten so verbreitet ist und der ^entdeckte Krebserr^er*
in den Zeitungen noch immer viel regelmflssiger wiederkehrt als die See-
schlange, freilich um auch regelm&ssig ebenso geschwind wieder unter-
zutauchen. Solange .die Ursache* der Geschwulstbildungen nicht wirk-
lich erkannt ist, wird der totgesagte Parasit immer wieder auf der Bild-
fliche erscheinen; und auch das feierliche Begribnis, das wir ihm in
diesen Blflttem zuteil werden liessen, wird selbstverstSndlich einem
hoffnungsgewissen Parasitensucher hdchstens die mitleidige Frage ent-
locken: ,Und wenn ich den Krebsparasiten morgen finde?'
1^ f i» ra'ia ra"» ra'ia ra'ia f t f t rai^ ra'ia ra'ia ra'ia ra'ia ra'ia raifc
Die Stunden bei Schopenhauer.
Von Julius Bahnsen.
Aus dem Nachlass des Philotoptaen mitgeteilt von Rudolf Louis in Mlinchen.
Julius Friedrich August Bahnsen*) wurde am 30. Mirz 1830 zu
Tondem in Schleswig als Sohn des Lehrerseminar-Direktors Christian
August Bahnsen geboren. Bis zum 15. Lebensjahre wurde er zu Hause
vom Vater und anderen Lehrkriften des Seminars unterrichtet. DarauF
hesuchte er die drei letzten Klassen des Gymnasiums zu Schleswig, von
wo er im Sommer 1847 nach Tondem zuruckkehrte. Die politischen
Wirren jener Tage hielten ihn bis zum Herbst des folgenden Jahres im
Vaterhause zuruck. Jetzt erst bezog er die Universitit Kiel. Als der
deutsch-dftnische Krieg einen fUr Schleswig-Holstein unheilvollen Aus-
gang zu nehmen drohte und die Herzogtumer, von Preussen und dem
deutschen Bunde verlassen, sich daranf angewiesen sahen, mit dem
Die wenigen taier gegebenen biographischen Daten gehen auf folgende
Quellen zur&ck: Sommerfeldt, Dr. Julius Bahnsen, Eine Charakterskizze (Jahres-
bericht des Progymnasiums zu Lauenburg i. P., 1882); L. Schemann, Schopen-
hauer-Briefe (Leipzig 1883), S. 45ir.; S. Rubinstein, Eine Trias von Willens-
methaphysikern (Leipzig 1896), S. 79ff.; J. Bahnsen, Wie ich wurde, was ich
ward (Manuskript) und dann vor allem auch das von Bahnsen bei Gelegenheit
seiner Promotion der philosophischen Fakultftt der Tiibinger Universitit eingereichte
Curriculum vitae, sowie die anderen auf die Promotion beziiglichen Stficke aus
den Fakultiltsakten, in die ich an Ort und Stelle Einsicht nahm.
225
eigenen Schwerte ihre Unabhingigkeit zu wahren, trat Bahnsen gleich
den meisten waffenf3higeii Sdhnen des Landes Ende Jul! 1849 als Frei-
williger in die scbleswig-holsteinische Armee ein, der er bis zu ihrer Auf-
Idsung (Ende Januar 1851) angehdrte.
Znnlchst nach Kiel zuriickgekehrt, wandte er sich zu Ostern nach
Tubingen. Wihrend der im Scbwabenlande verbrachten vier Semester,
die Bahnsen stets zu den gliicklichsten Zeiten seines Lebens gezihlt
hat, waren es vor allem zwei Eindrucke, die fur seine geistige Ent-
vicklung von Bedeutung wurden: der mflchtige persdnliche Einfluss
eines Mannes wie Friedrich Theodor Vischer, bei dem er neben literar-
und kunstgeschichtlicben Vorlesungen Asthetik horte und im April 1853
mit einem «Versuch die Lehre von den drei Isthetischen Grundformen
genetisch zu gliedem nach den Voraussetzungen der naturwissenschaft-
lichen Psychologies promovierte, und die erste Bekanntschaft mit der
Philosophie Schopenhauers. Ausser Vischer sind Jakob Friedrich
Reiff (Geschichte der Philosophie; Metaphysik; Kritische Geschichte der
Religionsphilosophie; Praktische Philosophie; Psychologie; Logik), F. K.
A. Schwegler (Geschichte der griechischen Philosophie; EncyklopMdie der
Philosophie) und K. Chr. Planck (Einleitung in die Philosophie nebst
Logik) Bahnsens philosophische Lehrer in Tiibingen gewesen. Nach dem
Abschluss seiner Studien, die neben der Philosophie hauptsSchlich auf
Philologie gerichtet gewesen waren, folgte eine ISngere Zeit, in der sich
Bahnsen als Haus- und Privatlehrer durchzubringen hatte. 1858 trat
er in den preussischen Staatsdienst. Zunflchst am Gymnasium zu Anklam
beschflftigt, kam er Michaelis 1862 als Oberlehrer an die hdhere B&rger-
schule nach Lauenburg i. P., die 1875 in ein Progymnasium umgewandelt
wurde. Hier blieb er bis zu seinem Tode, der am 7. Dezember 1881
unerwartet an einem anflnglich fur leicht gehaltenen Fall von Diphtherie
erfolgte.
Oberblickt man die Hussere ,,Laufbahn' dieses Mannes, so fSllt es
einem schwer, zu glauben, dass er tatsdchlich identisch ist mit dem
philosophischen Schriftsteller, dem kaum ein wirklicher Kenner seiner
Werke, welcher geistigen Richtung er auch angehdre, den Ruhm eines
der tiefsten und eigenartigsten Denker aller Zeiten streitig machen kann.
Das einzige Talent der Schopenhauerschen Schule, wie ihn sein sonst
so vielfach ungerechter philosophischer Gegner Eduard von Hartmann
nennt, neben Nietzsche die originellste und am schflrfsten charakterisierte
Individualitit unter alien denen, die sich nach Schopenhauer einen Platz
in der Geschichte der deutschen Philosophie erobert haben, dazu eine
Persdnlichkeit, die in der strengen Lauterkeit ihrer Gesinnung, der
Hoheit ihres flammenden Idealismus und in der unbeugsamen Ober-
zeugungstreue, mit der sie ihre Weltanschauung nicht nur lehrte,
sondem auch lebte, wahrhaft vorbildlich genannt werden darf, —
sie war dazu verurteilt, als Oberlehrer eines Progymnasiums im
hintersten Winkel Hinterpommems zu verkHmmem, an einem Orte, der
nicht bloss selbst keine geistige Anregung irgend welcher Art bot,
sondem auch so ausser der Welt gelegen ist, dass es wenige Flecken
226 8^
deutscherErdegeben durfte, die von alien geistigen Zentren, k&nstleriscben
wie wissenschaftlichen, gleicb weit entfernt wiren. Man spricht so gem
und viel davon, wie eifrig und liebevoll unser moderner Staat sicb aller
geistigen und wissenscbaftlichen Interessen annebme. Dass es aucb da-
mit, wie mit so vielem anderem, dessen wir uns nur allzu selbstgefUlig
rubmen, nicht gar weit ber sei, das wird an einem solcben Beispiele, wie
dem der .Staatscarri^re** Babnsens, wieder einmal besonders klan Und
in der Tat glaube ich ohne Ubertreibung bebaupten zu kdnnen, dass der
preussische Staat durch das an diesem Manne begangene Verbrecben
mebr gesundigt bat, als er durcb alle Aufwendungen und Dotationen Klt
wissenscbaftliche Zwecke je wieder gut macben kann. Denn der Wert
einer eigenartigen geistigen Persdnlicbkeit ist unersetzlicb, und was von
ibr ungenutzt bleibt, bedeutet einen unwiederbringlicben Verlust.
Zunflcbst scbien es, als ob eine begltickende Hfluslicbkeit dem
Pbilosopben wenigstens einigermassen Ersatz bieten soUte fur das berbe
Scbicksal, das ibm zeitlebens einen seinen hoben Fabigkeiten ent-
sprecbenden Wirkungskreis versagte. Docb starb die in wabrbaft idealer
Herzens- und Seelengemeinscbaft ibm verbundene Frau, die er 1862
nacb schweren Kimpfen um ibren Besitz beimgefubrt batte, scbon im
Sommer 1863. Die ^BeitrMge zur Cbarakterologie" sind ibrem Andenken
gewidmet. Eine zweite Ebe, die Babnsen spflter einging, entwickelte
sicb in ibrem Verlaufe weniger glucklicb und fubrte scbliesslicb zur
Scbeidung. Der Pbilosopb bat selbst mebr als einmal bingewiesen auf
die »zablreicben und • tiefen Narben, die er aus dem Kampfe des Lebens
in seinen allerbittersten Formen davongetragen". Und da darf
es denn aucb nicbt wundernebmen, dass der Ton und die Stimmung
seines Pessimismus bisweilen die Spuren persdnlicber Verzweiflung und
Verbitterung in einem Masse tragen, das der gerechten Wurdigung seines
Denkens durcb das pbilosopbiscbe Publikum nicbt eben fdrderlicb sein
konnte. Dass er trotzdem aus diesem Kampfe als ein wabrer Held
bervorgegangen ist, kann aber die Bewunderung vor dieser in jeder
Beziehung seltenen Erscbeinung nur erbdben.
Scbon frub im Verfolg von Scbopenbauerianiscben Studien auf
Babnsen aufmerksam geworden, erfubr icb aus Ludwig Scbemanns
^Schopenbauer-Briefen**, die eigentlicb zum ersten Male wieder ein weiteres
Publikum auf den Verfasser der ^Realdialektik^ aufmerksam macbten,
dass eine Tocbter Babnsens in Hamburg lebe. Icb wandte micb an sie
mit der Anfrage, ob ein ungedruckter literariscber Nacblass ibres Vaters
vorbanden sei. Ibrem liebenswurdigen Entgegenkommen verdanke icb
es, dass eine grdssere Anzabl bdcbst interessanter Babnsenscber Manu-
skripte in meine HSnde kam. Unter ibnen fesselte micb zunflcbst und
vor allem das Fragment einer Art von Autobiograpbie, die der Pbilosopb
im Jabre 1875 begonnen und bis kurz vor seinen Tod fortgesetzt
batte. Scbon der Titel der Scbrift: „Wie icb wurde, was icb ward*,
zeigt, dass Babnsen nicbt im Sinne gebabt bat, ein eigentlicbes erzflblendes
Memoirenwerk zu scbreiben. Vielmebr kam es ibm darauf an, seinen
geistigen Entwicklungsgang zu verfolgen und alle die Ereignisse und
227
Erlebnisse seines Erdenwallens darauf hin zu betrachten, wie sic auf
ibn eingewirkt und sein Wachsen und Werden beeinflusst batten. Er
wollte alle die Elemente nacbweisen, die zusammen mit seinem angeborenen
und ererbten Individualcharakter zu dem Product concrescierten, als das
ihm selbst seine Persdnlichkeit erscbien.
Diese Eigentumlicheit der Babnsenscben Selbstbetrachtungen diirfte
es vielleicht verschulden, dass der kleine Abschnitt, den ich vorliuBg dar-
aus mitteile, Erwartungen erregt, die bei der Lectilre unerftillt bleiben.
Man wird nicht das finden, was man sncbt, nflmlich einen erzablenden Be-
richt iiber Bahnsens Zusammenktinfte und Unterbaltungen mit Schopen-
hauer, die Oberlieferung charakteristischer Ausspriiche des Meisters
und dergleichen mehr. Wenn aber auch ^Die Stunden bei Schopen-
hauer" mehr einen Beitrag zur Kenntnis Bahnsens, als zur Vermehrung
unseres Wissens von Schopenhauer liefern, so glaube ich doch, dass es
nicht ohne Interesse ist, aus diesem schdnen Bekenntnis zu erfahren,
wie stark und mflchtig nicht nur der grosse Denker, sondem vor allem
auch die moralische Persdnlichkeit des Frankfurter Weisen auf seinen
bedeutendsten und edelsten philosophischen Junger gewirkt hat:
„Die Stunden bei Schopenhauer.
Lbg. 9. XI. 1877. Die IMngst zur Phrase gewordenen »epochemachenden
Ereignisse" sind doch auch in der reichsten Erlebnisreihe nur spMrlich
zu finden; mir war ein solches unzweifelhaft mein erster Besuch bei
Schopenhauer. Doch schreibe ich bier keine Memoiren, beschreibe uber-
haupt nicht, erzahle kaum hin und wieder, sondem betrachte alles nur
unter dem Gesicbtspunkte, wie es auf mich — auf das, was man so gemein-
hin die Entwicklung des inneren Lebens nennt — eingewirkt hat; halte
mich deshalb so wenig bei dem Rahmen unseres ersten Begegnens wie
bei den Details unserer Gesprflche auf — berichte lieber, wie vorbereitet
ich bei ihm eintrat, den ich von da an als meinen Meister verehrt und
bekannt babe.
Zuerst in Tubingen — wenn ich mich recht entsinne, bei der Psy-
chologie des Gesichtssinnes in der Vorlesung Reiffs^ — hatte ich vom
.sonderbaren Herm** gehdrt und war auf den gemeinsamen Ruckwegen
von der Aula durch den botanischen Garten von Reiff auf das wParadoxe**
seiner Werke aufmerksam gemacht. Da packte er mich denn zunSchst
vom hintem, dem pessimistischen Ende, und in meiner Doctordisser-
tation berief ich mich im Capitel vom Tragischen auf seinen Text zur
^Karfreitagspredigt der Menschheit". Als ich dann spflter als Haus-
*) J. Fr. Reiff (1810—1879), ursprilnglicb Hegelianer, spftter dem Standpunkte
Fichtes sich nfthemd (Hauptwerk: .Das System der Willensbestimmungen oder die
Grundwissensctaaft der Ptailosophie", 1842), ist, gleich seinem Tfibinger Kollegen
K. Chr. Planck, dem von Kant ausgehenden Retlisten, nicht obne noch lange nach-
wirkenden Einfluss auf die philosophische Entwicklung Bahnsens geblieben.
228
lebrer mein erstes Geld mir verdiente — nicht soviel, wie heutzutage
eine ordinflre Gouvernante bezieht — hatte Brockhaus grade mal
wieder die zweite Auflage des Hanptwerks im Preise so herabgesetzt,
dass sie mir nicht mehr unerschwinglich war — so wurde es mir das
erste selbsterworbene Buch — und bald hemach, wo icb den Bruder ver*
loren, ersetzte es mir Postille und Dogmatik ( — so ungefMhr, wie es
jetzt Busch,*) mit fremden Citaten ausstaffiert, herausgegeben und ge»
meint hat.)
Fiir den frischgebackenen jungen Doctor war auf der Heimreise
der als .grimmig** unboflich verschrieene Menschenfeind und Pudel-
freund doch zu sehr noch «blosse Curiositit' gewesen, als dass er sich
— Mai 1853 — hMtte ein Herz fassen mdgen, die Schwelle des Hauses
Schdne Aussicht No. 17 zu uberschreiten. Als aber denselben
im Sommer 1856 in nur vierzehntSgigen Ferien ein tiefgewurzeltes
schwftbisches Heimweh von Altona gen Suden getrieben hatte, da fuhlte
er sich durch das inzwischen Erlebte schon mehr geweiht, um solcher
Adeptenschaft sich nicht ganz unwurdig zu wissen, und so schrieb ich
getrost jene Zeilen, die mir den Zutritt zu dem gestrengen Herm er-
schliessen sollten. Mir war dabei zu Mute wie im Vorzimmer eines
Weltpotentaten — und aus demselben Gefiihl heraus flusserte ich S^^ Jahre
spiter, als mir das, nach abermals 12 Jahren durch Diebstahl abhanden
gekommene Velinpapierexemplar der dritten Auflage als danum autoria
zugesandt worden war: solche Freude kdnnte mir die Verleihung k eines
Ordens bereiten.
Die Aufnahme, welche ich als »ganzlich Unbekannter" fand, war
freundlich genug, um mir aus diesem klaren Feldhermauge die Innig-
keit menschlichen Wohlwollens entgegenstrahlen zu lassen — und zu
einer, ich mochte sagen, mfldchenhaften Wflrme sah ich es erglflnzen,
wie er, als Priester seiner letzten «Glaubens^-Lehre vor mir stehend,
das Wort des Augustin: vtmam fiai^ ut completus sit numerus sanctorum!
mit wahrer Inbrunst wiederholte.
Ich zog von dannen mit dem Bewusstsein, nicht nur einen Genius
des Denkens, sondem auch einen Charakter echtester Erhabenheit von
Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. — Wie ein treuer Sohn sich
gelobt, nichts eines grossen Vaters Unwiirdiges sich zu schulden kommen
zu lassen, wie ein begeistert gliubiger Confirmand mit einem vom soeben
empfangenen religidsen Weihesegen gehobenen Herzen vom Altar der
ersten Communion zuriicktritt, getrflnkt mit dem heiligen Vorsatz, bin-
fort nichts zu tun, womit er „solch Wein und Brot unwiirdig empfahe*,
dass er ,sich nicht selber zum Gericht esse und trinke", so fuhlte ich
mich wie in ein ganz neues Dasein entruckt, — der Seligkeit der Nir-
wana zustrebend. Franz von Assisi und die anderen Helden der Askese
waren meine Ideale geworden, und wenn ich noch gewohnte Studien-
wege an gewissen Hamburger Fenstem voruberging, so wollte ich mich
O. Busch, Arthur Schopenhauer, Beitrag zu einer Dogmatik der Reli-
gionslosea. Heidelberg 1877. 2. glnzlich umgearb. Aufl. MUnchen 1878.
229
dabei jetzt nur vergewissern, Fortscbritte zu machen in der ,Ertdtung
des Fleisches*.
Alles, was an Schwflrmer-Anlagen in mir geschlummert haben
mochte: jetzt war es mit einem Scblage erwacbt und entfesselt. Mit
einer gewissen Freudigkeit malte icb mir die scbon wenige Monate
spiter drobend auftaucbende Lage aus, als Trainkutscber dritter Klasse
mit angeblicb verwirktem Recbt der Stellvertretung persdnlicb der
Demutigung micb nnterziehen zu soUen, einem verbassten daniscben
Offizier Stiefel und Kndpfe putzen zu mtissen,*) — wollte ich doch ein
zweiter Filippo Neri oder Raimundns Lullus werden, und geheimes Ver-
senken in die nenerfasste Lebre sollte der Seele Spannkraft beleben, so
oft ich micb wurde scbwacb werden fiiblen. — Nur eines scbien mir
uberaus bedenklicb: die fast von alien ,Heiligen" berichteten Ruckf311e ~
am naivsten gescbildert von Benvenuto Cellini. Aucb fur die ekelbaften
Kasteiungen der Guyon konnte icb micb nicbt erwarmen — denen gegen-
uber reagierte das naturliche Gefubl zu mflcbtig: — mit einem ver-
abscbeuten Manne aus Askese geduldeter Coitus deucbte denn docb
selbst dem angebenden Realdialektiker mebr paradox und widerlicb als
gross und nacbabmungswurdig.
Aber die Gegenstrdmung sollte mScbtiger und eindrucksvoller von
einer andem Seite ber auffluten.
Jetzt gait es, all die tbeoretiscben Voraussetzungen dieser bocb-
gespannten Vemeinungsdoktrin sich anzueignen — und eben damit
haperte es sebr bald. Trotz dreissig wdcbentlicber Lebrstunden und
ungezdblter Correcturen (Aufsfltze aus drei Mittelklassen von 20 bis
40 Scbiilem alle paar WocbenI) setzte icb es durcb, alle meine Freistunden
dem gewissenbaftesten Studium jeder Zeile, deren ich aus der Feder des
Meisters habhaft werden konnte, zu widmen. Langsam genug ging es
vorwirts. Dafur aber batte ich die Genugtuung, dass beim nflcbsten
Wiederseben — nacb 14 Monaten — der Meister im Bescbeid-
wissen in seinen Werken micb dem einzigen FrauenstHdt verglich; —
aber ich batte mir aucb gleichzeitig ein durch zwei Binde gefuhrtes
Gesamtregister zu seinen Schriften angelegt.
Wiewohl ich nun aber literariscb debutiert batte mit einer zum
22. Februar 1857 eingesandten Abhandlung iiber den Bildungswert der
Matbematik,^ liessen doch zwei Punkte mir keine Rube, und von ihnen
sollte die Zermurbung der Fesseln ansetzen, in deren unbedingtem Bann
^) Bahnsen, der als Freiwilliger von 1849 bei der dftQischen Regiemng
schlecht angeschrieben war, sollte trotz ausgesprochener Amnestie eine ^Ordnungs-
strafe" f&r verspfttete Anmeldung zum Militlrdienst erleiden, d. h. mit 26 Jahren
vier Jahre den gemeinen Soldaten spielen, — wie er selbst damals an den Meister
schrieb: .eine Situation* in welcher Scbopenhauer wohl bistaer noch keinen seiner
Schiller geseben babel" Schliesslich wurde ihm die Stellung eines Stellvertreters
gestattet. Vgl. Schemann, Schopenhauer-Briefe p. 348 u. 453.
^) Erschienen in der ,»Schulzeitung fur Schleswig-Holstein* 1857, No. 21,
25, 26 (21. 11., 21. u. 28. III.); eine Entgegnung auf Bahnsens Ausf&brungen von
H>*8 230 8^
ich mich ein paar Jahre lang befunden habe: es war das famose »61oss*
in Kants transcendentaler Asthetik,^ welches daruber entscheidet, ob einer
sich anstflndigerweise zum Realismus bekennen kann Oder nicht — und
es war am andem Ende die Mdglicbkeit erfolgreicher Askese, welche
mir nicht nur nicht dargetan, sondem mit den meuphysischen Voraus-
setzungen des Systems in unversdhnlichem Widerspruch zu stehen schien.
AUein nur mit flusserster Schuchtemheit habe ich mich mit diesen
sofort tiefempfundenen EinwSnden hervorgewagt; in den ^Beitragen znr
Charakterologie' sind sie noch kaum angedeutet — das zog mir den
Vorwurf der Unentschiedenheit meines Individualismus zu. Erst in der
Polemik, erst an der Seite von, spflter gegen E. v. Hartmann erstarkte
meine Zuversicht, bis ich allmflhlich vorbehaltslos mich zu einer in-
dividualistischen Realdialektik als meinem eigenen System bekannte,
nachdem ich mir lange genug hatte sagen lassen, es sei nicht nur zu
bescheiden, sondem auch sachlich inkorrekt, mich immer nur noch als
blossen Anhflnger Schopenhauers einzufuhren. Jetzt nennt man mich
wohl noch seinen Schuler, auch mal Junger, — aber nicht bloss Apostel,
sondem — die Freundlichstgesinnten — auch schon Fortfuhrer und
Vollender."
J. C. Becker flndet sich in den Nummem vom 19. u. 26. XII. dieses Jahres in der-
selben Zeitscbrift Seiner geringen Meinung von dem Bildungswerte der Mathe-
matik ist Babnsen auch spftterhin treu geblieben.
Nlmlich dass Raum und Zeit ^bloss* subjective Anschauungsformen
seien, ohne jegliches objective Correlat im ^Ding an sich*.
-Mg 231 g«»-
Bunte iEcinnecungen oue 5et Bunftf4)ul$eit
93on ^and 3(^oma in %arteru(^e.
„@it fprady )u t^m^ fte fang ju t^m; ba toafi urn t^n gefd^e^n; ^a(b
jog fie Ufti, tjalb fanf er ijin — unb warb" t)cranlagt nod) me^r
{U fd)reiben* 92&mlid| bte ©d^rtftfleOeret, bte ^(aubemtre in ben SOajfern
ber j6ffent(td)feit ^at ed mit mir fo gemad)t — 92ad)bem ed urn mid) ge^
fc^e^en^ wollte id) nur nod) fiber funjlt^eoretifd)e Dinge fpred)en — j. ©.
barfiber^ xoit tin ^unflprofefTor feine ®d)filer ju erjie^en l^&tte, barfiber^ n)ae
rrc^t unb unred)t in ben Z)ingen ber ^unfl fei u. bgL me^r^ and) fiber
aJIa(red)nif.
Tlli ^ortfe^ung }u ben r,3(nf&ngen ber ^unfl'' f6nnte man auf biefem
®ege fe^r balb ju bem @nbe ber £un{l gelangen^ bort^in too ffe mtt
^tiniipitn unb $l)eorien feflgenagelt n>irb unb man fagt: fo barf ffe fein
unb nid)t anberd^ auf a fo(gt jmeimal jmet ifl t)ter/ ffe ifl ganj fo toie
tc^ e« meine, ffe i|l l)ier .
Tluiti id) moOte ungef&^r in ber Hxt etne $ortfe$ung fd)reiben/ id)
blieb aber balb flecfen unb mu^te mir immer in gar mand)em felbfl xoiitxf
fpred)en.
£)ie ^un(l ifl ^olt bod) eine eigne @ad)e^ am @nbe ifl ffe gar fein
^njip, feine Ztjtoxit, fonbern eine tebend&u^erung^ bie an ^erf6nlid)feiten
gfbunben ifl unb nur burd) ^erfinlid)feit am Seben eri)alten merben fann.
^reilid) loei^ id) ti audi, ba^ ed nid)t gerabe fd)tcflid) ifl, immer nur
t>on fid) felbfl ju fpred)en — ein ^rinjip, eine $^eorie, eine Sbee, eine
®ad)e Dorfd)ieben, ba* madjt ffd) ))ortei(t)after. Tfber id) fd)reibe je^t
bod) t)on mir felber totittr unb jwar Don meiner 3(fabemie^ unb Stubierjeit.
(S* ifl niditi 95ebeutenbe*, toai id) ju bertd)ten ^abe; id) fage ba*
je$t fd)on, um nid)t ?efer ju bemut)en, bie in ber ©rwartung tttoai Snter^
rffante* ju finben ober gar 3(uffd)Iu9 )u erfat)ren fiber Dinge, bie niemanb
fo red)t mei^, — e* gibt foId)e IDinge, e* ffnb fogar bie fiber bie am meiflen
geft>rod)en wirb, xoit }. 95. bie ^unfl — mein ®efd)riebene* bi* jum @d)Iufre
(efrn unb bann firgeriid) fiber ben 3^itt)erlufl fein m6d)ten. 90enn man
t)on ff(4 felber fd)reibt, fo (iegt immmer etn>a* t>on 3(nmafung barin; man
fommt ntd)t um ba* ®effii)I ^erum, a(* fei man ber SRittelpunft ber 3&tlt,
um ben fid) aOe* brel)t — ba* merben aber bie «Oerm Slad^baxti nidft iibeU
nr^men^ menu man it)nen t)ertrautid) auf bie @d)u(ter flopft unb fagt: 9tid)t*
f&r ungut/ J^err flladibax, ®ie ffnb ja ebenfaO* fo ein fRittelpunft
Surd) biefe umfl&nblid)e @inleitung mill id) befagen, ba0 id) tro$
aSebem/ n>a* id) nun erj&bl^n n>ill, ein l)6flid) befd)eibener SRenfd) bin, ber
fid) r&ufpert, ber gletd)fam auffallenb bie ®d)ut)e pu$t um nid)t jemanbem
fiberrafd)enb in* «&au* ju fallen — aber enblid) mu^ fo ein l}6flid)er SJIenfc^
boc^ ^inein, fonfl mid)te ber, ben er btSnd^t, ungebulbig merben.
232 ^
di til betanntf ba^ fd^&cf^fmie Snenfd^en oft gerabe in bai ©cgeittetf
umfd)Iageit — fo)ufagen frcd) werben — bcnii ba* «0&fele in bcm bit
oerfc^tebenrn (St9enfd)afteit bed STZenf d)en betfammen iDo^nen, tfl gar Hein.
fflun, toil tooKen fe^en^ tote ti fcmmt unb tit loelc^er Utt matt mtc^
^tnaudfompltmenttert.
Aaunt totrb loo^I jemaK ettt junger fRettfd^ mtt me^r f>tet&t nttb
Stefpeft ttt etite ®(f)u(e etngetreten fettt^ aK id) tnt Cftober 1859 tn bie
^unflfd)u(e tit AarKru^e.
3tt Qdiirmtxi TlUlitx iat) id) feine 9i(ber; ti toar meitt ^id)(ler ffiuitf^^
and) eiitmal berartiged ^eroorbrittgen ju f6ttnett — id) ^atte tai freubige
®ef&^(^ ba^ t(4 nuit ^ier ooOe ©elegett^eit i)abt, mix aUti t^ierju n6ttgf
hnxd) eifriged Sentett attjueignen.
SOeittt matt fo oom Sorfe fommt, fo ifi eiiiem bie Stabt mit i^rer
Stegfatnfeit eitt Sing, bad man fiber bie SRa^en anflaunt^ man fd)eint unter^
jugei)en unb bod) f&tjlt man fid) and) getragen* — 92un burfte td| ja mid)
ifftntUd) ali SRaler befennen^ burfte mcine ganje 3eit auf bie mir fo Kebe
$&tigfeit oerwenben* ®em unb n)iDig folgte id) ber nun beginnenben dx^
jie^ung jur Aunfl*
®d)irmer tjattt fid) mit oiel 9B&rme fiber bie oon mir eiugereid)ten
Tlxbtittn audgefprod)en unb „tn^d)itttn" baju gerateU/ ba^ id) ^nfller
merbe. 3d) n)urbe in bie Sfnttfenflajfe aufgenommen^ in ber mid) f>rofejTor
des Coudres ju grofer ®enauigfeit unb ®rfinblid)reit anieitete. Siefe
®rfinblid)reit xoaxi mix bod) fp&ter ))on gro^em 9}u$en; id) }eid)nete ben
SGBinter fiber^ na^m and) am f>erfi)ertiounterrid)t teir^ auf beren ®efe$e t<^
burd) bad ote(e Seid^nen nac^ ber 92atur k>orbereitet mit befonberer ^reube
einge^en fonnte.
Tili ber ^rfil)(ing fam unb ed tm Aunflfcf)urgarten {U grfinen unb
blfi^en anftng^ fam Ungebulb fiber mid) unb ber 3(ntifengi)[>d (am mir gar
6be oor unb burd) bad (Sntgegenfommen ®d)irmerd nourbe mir auc^ erlaubt,
aid SSorbereitung ffir bie ©ommerflubteU/ bie id) im ®d)n)ar}n>a(b madjtn
tooUttf einige feiner J6(flubien fopteren )u bfirfen; biefe ftelen }u feiner
ooDen Sufrieben^eit and — id) malte fobann and) im Stnn9id)nlijef einen
®radbufd)e( mit @teincn. 9Rit ben J6(farben xon^U id) ted)nifc^ fe^r gut
um}uge^en k>on meiner 3(nflretd)eri' unb U^renfd)i(bma(er}eit ^er. — Sad
3(ntifen)eid)nen n>urbe mir nun freilid) noteber um fo faurer; nad) Ud)i*
monatlidjtm Unterrtd)t in ber 3(nti(en(Ia{fe burfte id) @d)irmerfd)fi(er n)erben/
b. if. id) ging in ben ®d)n)ar}n)a(b unb matte bort nad) ber 92atur/ unb
mir n>eld)em @ifer! 9xad)t, mein aRitfd)fiIer^ fam and) unb in unferm
@ifer gingen toix oft bed ST^orgend fort^ imi @tunben n>eit in ein n>i(bed
Zal, um — einen @tein^ einjelne ^flanjen ju malen^ bie n>ir/ n>ie mir
-1-8 233 8^
ti^tntiid) (fiber fa^ett/ ebenfo gut ^titter bem J^ani in 9)emau ffhtUn maUn
f6nnen; n>tr jlritten uni too^I and) nm bit ^SJtotiot, bit jeber juerfl tnU
htdt ifabtn woUtt, tit toix abtx boc^ jule^t fxittlidj, metfl Qtmtin^djaftlidi
malttn. Stefe ®tubten waxtn wn Au^erfler ®rfinb(t(f)feit unb ®ad)lidiftit
— 4ber nid)« witrbe ^tnweggegangen. di gab bamaW nod) feine Ziftoxit
^mobemer (Smtngenfc^aft" tm Sarbenfet)en — bad war andj gut f&r nni.
Xai ted)ntf(i)e Serfa^rett war tn6g(ic^fl tinfad), ti wurbe prima gemaU
intt jiemnc^ fl&ffiger i6(farbe ; bte Sad^en^ ^on benen id) itoc^ etnige befl$e^
^aben flc^ t)or}fig(td» ge^alteU/ wai id^ ijitx anf&^re ber i6(fetnbfd^aft
gegenAber/ bie j^eutjutage mtlfad} bte ^Btalttdinit beuitru^igt.
Tin id} tm 4^erb(le btefe ®tubten ®d)irmer jetgte, fragte er mtc^:
„iRaIen ®te ben mtt etnem ®d)n>arifptege(?" toai idj ntdyt rec^t t)erflanb;
cril fp&ter entbecfte td^, ba^ btefe Tixbtittn ttwai t)on ber jufammengefa^ten
J^armonte ^atten^ bie mancf^mal Don SRalem bnxdi tai 9ttxad)ttn in etnem
©d^nDarjfpiegel angefhrebt wirb.
£o(4 wo fomme id) tfin, wenn id) fo fortfa()ren wtO; id) er}&^(e
Z)tnge^ bte ntemanb ^6ren wtIL (Stgentit(4 woKte id) tin wentg fiber
bie 3(fabemten (o^tte^en unb nun^ wenn idi auf metne (Sriebntffe {urficf^
ff^e^ fo mu^ id) fa(l bet aOem fagen: ti war tiQtntiid) ganj gut, ba0 ti
fo war.
93teUetd)t fommt bad ®ut^et0en bod) bal)er, ba0 tc^ )e$t erfl btefe
Tlb^anblung fc^retbe; tc^ ^&tte ffe fur) nad) metner 3Cfabemte}ett fc^retben
foKen, ba ^Atte t(4 ber afabemtfd^en (Srjte^ung wo^I \)itlfad) f(4n(b gegeben
an aDer Aunflmtfere/ bte mtc^ unb anbere jemaK betrofen ^at; tc^ ^&tte
vox etwa 30 Sa^ren mand) )&nbenbed 3Bort ber Sntrfiflung gefunben. 9lun
6tn id) abtx fxoi), ba0 id) bamaK nid)t gef(4rteben ^abe^ obgfetc^ id) benfe,
tai id), befonberd unter ben X&nftttxn, mttfx genetgte 9efer ffir mtc^ ge^abt
tf&ttt, obg(etd) id) wet^^ wte etn mtt aK fetnem Sc^tcffat {ufrtebener^SRenfc^
^en anberen metfi tiid)ft (angwetlig t)orfommt.
9l6rgefn unb frtttein war fxtilid} nit metne ®ad)t\ and) aU tc^ iung
toar nid)t
Tbnxd) bit 3a()re 60 bid 66 war tc^ immer im Sinter im — ©inter
auf ber ^unflfd)u(e unb wenn ber ®ommer fam, gtng id) nad) ^txnan unb
ma(te bort ©tubien.
3d) war in ber SWalftaffe unb malte bort *6pfe unter f>rofe(for
<les Coudres Seitung. — Tlnd) ^ier war des Coudres ein DortrefKd^er
?e^rer^ obgleic^ &berm&tige ®d)filer fiber feine^ wie ffe meinten^ gar
)U arge ©rfinbHc^feit flc^ fufltg mac^en woOten — man ffe^t ti fxtHid)
oft erfl fp&ter^ toai fo eine @runb(age wert i(l. 3unge 9eute nennen
ffe wot)f p()iliflr6d; bod) oergleic^e it^ fit mit einer guten (Srjie^ung im
v&ttxUd)tn J^aufe^ bie auc^ fd)on oft einen Wttnfd)tn andi bann nod)
^eleitet i)at, wenn er felber unb aOe ®eU gemeint ^at, ba0 er fiber bie
®trdnge ^aue.
Sine befonbere Spifobe in bejug auf bie malte(4nifd)e (Sr)iet)ung war
ter UnftntijaU Sanond in AarKru^e, feine fpflematifc^e fRaIted)nif jog fafl
ade jfingern Afinfller fe^r an; wir fatten bad ©effi^I, bnxd) biefe ®d)ulun9
<ini bem ewigen ^robteren ^eraudjufommeu.
SOddeutBche Montuhefte. 1,3. 16
234
@einc 9Ret^obe bcfianb tm «$crau^mobcatcrfn ber $orm unb ber
Stdytgebung mit aufge^it>tem SBctg auf bunf(ercm ®runbf* Die ^arben^
flebuhg wurbe fobann burc^ gafuren erjielt^ bic freiKc^ in it)rer (eud)tenbeit
SmatltDirfung tnaitd^ &bcrrafd)fnbeti Stnbrucf t)ert)orbra(^ten. SebenfaH^
(mite man^ burd) Sanott angmgt^ eine @umme wn malted^ntfc^en Tlui^
btuMmitUin fennen^ bie ^erniinfrtgem @inn )u grogem 93ortei( gereid^eti
fonnten/ jugletd^ au(^ iDurben n>tr burd) Sanon juerfl auf bie SRa(ted)itif
ber gro^en SReifier aufmerffam gemad^t entbrannte aber ein Aampf
{loifd^eit ber me^r nad) ber fliliflifc^en @eite ^inffi^renben Safurbe^anblung
unb bent naturatiflifd)en Z^idprimamalen^ ber bie ©etfier entjweite unb ber^
oerquicft mit aUerlei perf6n(id)en 9Biber^aarigfeiten^ eine red^t unerfreulid^e
®eflalt anna^m — bie @ad)e wurbe bogmatifd).
Siefe )n>ei tec^nifd) t)erf(^iebenen SSorgdnge fe^en fid) aud) burd) unfere
ganje mebeme SRalerei in gewifTer Xrt fort* din 3(u^ff)rud) 9on bem fhreng
prima malenben ieibl ifi ^ierfur d^arafteriflifd): aU er in SRfind)en ein
93i(b fa^/ ba^ i^n fonfi intereffterte^ fagte er migtrauifd): „id) glaub' ber
Stttl (aflert!" in bem Zon, in bem man im @pie( t)on iemanb fagt: er
mogelt 3n biefen fec^^jiger 3ai}ren ma(te id) and) einige 93i(ber^ meifl
fleinere Sanbfdjaften unb audi ^igurenbilber^ Don benen id) ^ier unb ba
eined an einem ^unfberein Derfaufte, bad ®e(b reic^te aber meifl red^t
tnapp ben SBinter fiber; im ^rfi^Iing — b^Ib mugte ic^ — gan} jog ed
mid) — ging id) nac^ 9emau* 9Rit jugenb(id) feligen ©effi^Ien ei(te ic^
immer t)on ^reiburg aui fiber bie 93erge t)inauf in mein (iebed ^al;
Den ^(dneu/ mad id) nod) maien moKte. 9Benn bann and) bad SSoU^
bringen Winter bem SBoUen jurficfbiteb, fleigig mar id) unb ed entfianben
Sti^e Don 3^id)nungen unb i6l|lubien^ mit benen ic^ aber red)t (eid)t{Innig
umging — Derlor unb Derfd)enfte (le — Demid)tete auc^ Dieled bei fpdtem
3(ufentl)a(tdtt>ed)fe(n — menn id) nid)t gerabe eine ^ifle baffir ^atte.
Sin )iem(id) in ber bama(igen 3(rt abgefdjloffened 9i(b ifi noc^ mo^I^
er^alteu/ ed ifi ein (ebendgroged ^ortrdt meiner SJIutter unb Sc^mefler in
ber Sibel fefenb; id) ^abe ed im @ommer 1866 in Sernau gemalt in unferer
fleinen @tube^ mo id) mit meiner @taffe(ei faum ^Ia$ ^atte. Sad 93i(b ifl
ganj in 6anonifd)er Xrt mit flfifiigen Safuren ^erDorgebrac^t unb ^at fid^
augerorbentlid) gut er^alten^ — tro^bem id) ed mit bem DielDerrufenen
(Siccatif be (Sourtrap in 2ein6( gemalt ^abe.
@e(^d 3ai)re t)intereinanber mieberi)o(te fid) ber SBec^fel jmifc^en
£ar(drul)e unb Sernau; i(^ miK i^n nid)t fed)dma( fd)i[bern/ aber Don einem
ber f(^6nen @ommertage^ an benen id} ber «$eimat jueilte^ miH i(^ boc^
er)dt)len*
Sd mar anfangd 3uni, in ^retburg ^atte ic^ fibernad)tet unb mad)te
mid) am SRergen auf )u bem ad)tf}finbigen 98eg nad) ^ernau. X)ad gauge
@ommerg(fi(f ru^te auf meiner @eele^ aid idi rfifiig burc^ SBdIber t)inan in
bie 9erge t)inauffd)ritt. @e ganj im iugenb(i(^en SSoKgeffi^Ie^ ber SRitteU
punft ber fficit — benn allcd gel)6rte ja mein mad id) fa^, ffir mid) mar
bie @e(t ba. 3d| ffit)(te mtd) a(d bad^ mad man feit 9?te$fd)e I)eut2utag
eine ^J&errennatur" nennt* 3fm 3ffittage^ aid id) bie t)6d)fle »06l)e meiner
H&anberung erflieg^ bie „^alie'% baUten ffd) bie ben Sormtttag Derfldrenben
235 8-0-
»etf en SQoIfen )u einem ©etottter jufammen^ bad fiber ber St^etnebene flanb^
fafl unter mir; feme 9[i$e jucften bid in bie 9erge ^infibcr^ ber 'Conner
Mang mir wie ein 3aud))en bed libermuted in ber dlattxr — Stegenfd^auer
iDecf)fetten mit ®onnenb(i(fen. (Ed tarn fo etwad n)ie @d|ipferfreube fiber
«tt^ — benn war nid)t biefe ®rogartigfeit unb ^ra^jt ffir mic^ ba? —
war id) md)t baju berufen/ fie )u fe^en?
®tille 3(nbetung unb frd^Iid^ed 3ube(n erffiHten meine @ee(e unb
^itte id) SQorte gefunben^ fo tt>fire mein ®efang ein ^fa(m gen>efen.
aKan mug freific^ jung fein, um bied SBonnegeffi^l^ bied J&errfc^er^
geffit)! fo ganj ju ))erflet)en — aber id) tfabe ed noc^ gar flarf in ber
Qhrtnnentng, unb fo fd)dme id) mid) and) gar nid)t meiner bamaltgen
«&od)gemutl)eit — fo aOein auf bem 9erge^ g(eid)fam mit ben 93(i$en
fptetenb*
Dad ©emitter Derjog fic^^ ein prfid)tiger SRadimittag begleitete mid)
ind Zal l)inunter an ben 9dd)en/ burc^ bie blumigen SBiefen entlang an
ben ®d)n)arin)a(b^&ufern vorbei* Da man fid) nun nid)t all{u(ang auf
bem ©tanbpunft einer er^abenen @timmung fefi^alten fann, fo murbe mir
toteber menfd)(id) {umute^ id) murbe fr6^(id)en J^erjend unb fo grfigte id)
aOe mtr Segegnenben*
92un mug i(^ aber ein Sefenntnid ablegen: ed fam eine Tltt wn
(iiUlUit fiber mic^ — ed war mir^ a(d ob mein 3(ngefi(^t gf&n)te^ fo bag
bie aRenfd)en ed mir g(eid) anfe^en mfigten^ bag id) etwad (Srtrad fei —
fo einer^ ber nod) Saten ju Derric^ten ^at — ein ^Sorjugdmeufd)"^ n>ie id)
feitbem ^unfiler ftc^ nennen ^drte*
Btoti @tunben Don ^ernau^ um mid^ jum neuen unb (e$ten 3(nflieg
auf ben 9erg )u (Idrfen, fe^rte id) im „J&irfc^en" ein.
Die fflirttn, eine be^dbige ©auerdfrau, bvadiU mir bad „(Bd)ippUiti
»om ©eflen", bad id) ein menig grogtuerifd) befleflt t)attt — nun famen,
wie id) ed n>ol)I ern>artete^ bie gebrdu(^lid)en ^ragen^ im SBerfauf berer id)
))ori)atte^ ber SOSirtin fo nac^ unb nac^ beijubringeu/ n>ad ffir eine Tltt Don
9Renfd)enfinb ffe Dor ffd) ^abe.
,,SBBo^er bie SReif'?" 33on Jtarrdrube fagte id). ,,®o fo, Don ^arlidrui,
bed ifd) n>it l)er! 9Bo go^t je) b' fReid t)in?" 3c4 n>i([ je$t noc^ nad)
©emau ^inauf. — ,,®o fo ffnb ffe do ©emau?" 3a aber — id) wo^ne
ie$t fd)on rdngere 3eit in StavHtni)e ! — 9lun foflte bie enoartete Jrage
fommen, wad id) fei, — aber ru^ig fal) bie gran mid) an unb fagte: ^®o,
fo/ ffe finb gewig en ©d)niber!" — Dad fagte fie treu^erjig o^ne alien
tronifd)en J^intergrunb, bag ic^ alien SDIut baju Derlor, nod) weiter mit
meiner 9Qid)tigfeit imponieren ju moUen, mein @d)6pp(ein }at)lte unb ben
©erg ^inanfiieg — id) gefle^e ed, ein wenig gebucft — bod) mugte id)
balb fiber mid) felbfl unb bie gan}e Situation t)er}lid) lad)en. Died ®e^
budtwerben war aber auc^ ganj gut {wei ©tunben Dormer, e^e id) in
ittifer armed ®d)War{walbft&bre wieber einfe^rte. Xrm war bie «$eimat,
aber reic^ burd) unerfd)6f)fli(^e SRutterliebe, bie mic^ ^ier wieber um^ng —
bte mid) gleid) umfangen i)aben wfirbe, ob id) a(d groger Afinfller, aid
®4neiber ober fogar aid SBagabunb ^eimgefe^rt wdre. J^ier war id) un^
6efMtten ber ,,Sorjugdmenfc^".
16*
236
3n ber fd)6nen SAmmerflunbc fam idj burd^ bai ffeebuftenbe Zat,
fe^nffic^ttg cxtoavtet wn abutter uitb ®d)n>efler!
Stun toax id) n>teber f&x etn paar SRenate in bic groge 3(fabemie ber
dlatux ))erfe$t^ fo ba^ auc^ t)ter ^Cug tttib J^anb )ur &un^ erjogen n>urben; benn
idl toax fc^r flet^tg unb ))erfu(^tc gar t>itM nad))umad)en, n>te bit fflatvLt
mir ))ermad)tf. 3(ud) 9id)fr tiatu id) aui ber ®tabt mitgebrad^t; au^er
®oet^ed ®ebt(^ten^ bie mic^ burc^ ^elb unb SBalb begleiteten^ ennnere id)
mid) befenberd an Dfitan unb 3ean ^aut — bad Snibelungenlteb unb
®ubrun (emte fennen^ and) J^omer unb Z)ante. (ii fontmt wx, bag
etn ^irfler^ ber in ber ®(^u(e fo(d)e Dinge nid)t fennen (ernte, Hd) fp&ter
fe^r begierig barauf (hlrjt Die 9ibe( noar mir fe^r oertraut unb
pfalmenartig ipxad) oft bie SRatur ju mir.
2)ie 9t&(ffe^r in bie fleine Tltabtmie in AarKru^e fc^ob ic^ immer
fo (ang tt>ie miQlid) ^inaud. J6fterd ging id), um nidyt in Freiburg fibers
nad)ttn ju miiffen unb ben Bug ttac^ Aarldru^e )u exxtid)tn, in 9emau
fp&t nad^ 9Rittemad)t fort Surd) bie fi^neereic^e, mit Sd)toad)m SRonb^
Hd)t befeud^tete 92o))embernad)t^ nac^ fd^noerem 3(bfd)ieb Don ben ^iebeU/
ging id) in* Zal ^inunter — bie ^elfen unb bie raufd)enben SDBafferf&He
gebdrbeten ffc^ gan} n>i[b in ber un^eimlid^en f!lad)tftiUe; toie toax mix
bod) fo id)tO€x um* J^erj^ n>ie fo gar bunfel lag bie Sufunft Dor mir —
bie @orge^ n>ie e* weiter mit mir ge^en n>erbe. dlad) Dierftfinbigem
SBanbern ging ber iRonb unter^ unb id} mugte burc^ einen bunflen ®afb/
in bem ber befc^neite 9Beg mic^ (eitete — aber and} ©orgen mac^en fnxd)U
M unb ffe waren ftdrfer aH aUe Snad^tgefpenfler. Unf ber J^alben^i^e^
Don too id) einft in ba* @ommergen>itter ^ineingejubelt \}atte, begann ein
®d)ein, toit Don einer id)toad)tn Z)&mmerung/ bie @d)nee^a(ben aufju^eHen
— ein SXofaDiofett er^ob i\d) an* bem Dunfel — ein faum merflid^er
^axbtnljand), ber nur auf ber fRein^eit be* weigen ©d^nee* ffd) geltenb
madden fonnte — an* biefem Slofa tond)i ber SWorgen ^erauf. Xuf ber
Ie$ten J&6^e uber ^reiburg (ag biefe* unb ba* gauge !Ht)einta( einge^&Kt in
bid)tem SRebel — oben auf ben ©ergen war ber ^elle 9Rorgenfd)ein — bie
®onne bxad) ^erauf — aber id) mugte ^inunterjleigen in ben SRebel; grau
war ^reiburg/ grau bie ^a^rt nac^ AarKru^e^ unb e* bfieb mir lange
ba* ®efii^(^ a(* ob ber ®(^n>ar{n>aib golben n>&re.
3n ^arKru^e padte id) bann meine @tubien ani, t^egierig^ n>a*
^rofefforen unb SRitfc^&Ier baju fagen n>&rbem Die ^itif xid)ttU \td) faft
immtx gegen bie grofe ®enauigfeit unb 3(u*ffi^r(i(^feit; unb &ber einen
98eibenbufd)/ ber Hd) fiber ben braunen ^ad) neigt^ ben id) jiemlid) gro0
toie tin StiUeben ma(te — jebe* V^latt, {wifd^en ben @teinen gan} Dome
jeben ®ra*^a(m — an bem id} im ®ommer 1864 mod^enlang gearbeitet
f}atu, tonxbe id) eigentlic^ an^itlad)ti woju benn fo etma* ma(en^ e* fei ja
fein SRotiD* — 3d) bin nod) im 9eff$e biefer @tubie unb freue mid) an
biefem inttmen @piege[abbi(b eine* fd^inen &thdUini fllatnx, — jebenfaO*
^abe id) metfx 92u$en baDon ge^abt^ aK tt>enn id) Z)u$enbe Don mobemen
^arbenfe^en*errungenfd|aft*momentffi{{en gemadjt ^&tte*
(Si famen bie SEBinter^ n>o id} al* 9Reiflerfd)&Ier Silber malen burfte»
Z)a* id eine gar ^eifle 3eit — n>a* foO man nun malen? n>ie foUen bie
237 ^
93t[ber au^fe^en? — 2)ad @enrebi(b fiatib tjodi im ^Cnfe^ctt/ and) id) )9tu
iudjtt aOcrlet^ aber jeigte fidi eiii ^onfltft — bte Srfd^etnung ber dlatnx
Sptad} fe^r )u tntr — aber bie (ErjA^fung^ bie bai ®enrebtlb tnc^r ober
minber geifhreid) audbrficfett foUte^ tarn babei ju Sdyaben. Xud) ba6 Sanb^
fc^aft^malen t)attf feine«Oa(feit; in ber ®c(^trmerfd|u(e mugte man {ompomeren
lemeit — ba« fonnte id) gen)6^nlid> nic^t mit ben (Sinbrftrfen, bie mir ber
@d)tt>aritt)a(b Qemadft \)attt unb Aber^aupt mit bem^ n>a^ id) bt^^er gefe^en f)atu
an Sanbfc^aft^natur^ Dereinigen; bie @d)n>ar}tt>d(bertannen mUten fid) fd)on
gar nic^t f&gen^ and) bie (angen tDergr&cfen nic^t^ unb gar bie langt^in fid)
(ie^enben bunten 9Biefen — bie ju malen burfte man gar nidft benfen.
3d) bac^te bann mit anbem^ ed mu^ n)o^( Sdnber geben mit brauc^barerer
Serrainbtfbung unb n>o bie 9&ume nic^t g(eid) )um 2Ba(be werben unb bie
SBiefen faum eine dtoUe fpielen* Z)er (iebe @d)n>arin)a(b mn^tc, fo (eib ei
mit and) tat, f&r unmalerifd) erfl&rt noerben. 3n Stalien mirb mo^I bad
ric^tige fein; barauf freuten wir nni.
diner ber @(^innerf(^&(er ifl aud) toittUd) audgejogeu/ urn bie rid)tige
Serrainbilbung )u ftnben; er fanb in 3talien and) nod) nid)ti ttd)tt^ unb
fam nac^ Samadfud^ too er enb(id) ein tt>irf(id) gut gebauted/ )um 93i(b
braud)bared terrain fanb; aK er fi(4 <iber ^infe$te^ ^aben i^n (eiber bie
9)ebutnen mit @teinn)firfen Derjagt — fo mar feine 9tetfe eigent(id) jmecflod/
n>ie er felber eingeflanb*
(Erfl ber Unftnttjalt in 9emau befreite mic^ Don biefen Stnnittotiif)titif
jmeifeln; b* ic^ ^ie(t 9emau ffir unma(erifd)^ aber ba id) boc^
arbeiten nooUte^ ma(te id) ©tftcfe and ber ^atnt, toit fie mir gerabe gefielen
— man nannte bad @tubie unb ed frifiete in ber £unfiben>ertung eine arm^
felige aiofle; e* war ja nur aSittel jum 3»ed^ Die 3»ede (lanben im
^nftoerein bie fomponierten ©ilber. J&ier fd)(ie9e id) meine ®d)reiberei;
benn bad Silbermalen fle^t Dor berSfir^ unb bie SReinungen ^ier&ber Der^
f&^ren einen fo(d)en ^jptttaM, bafi mir bie geber entf&dt.
£m XOott,
Son TCbolf ®d)mittbenner in ^etbetbers.
1.
SBBA^renb feiner ganjen 3Banberfd)aft ^atte auf ben ©ddergefetten
Tinton SBur) and @enfenbad) nic^td einen fo tiefen (Sinbrucf gemac^t
ali tin 98ort ber 9Qeidt)eit^ bad er jmifc^en Singen unb (Sit»iUe
238 8^
aud bem SRunbe einti bet iRainj geb&rttgen ^anbwerKburfd^en t)m
nommen ^atte.
Stefer loar in £6(n cingcfitegen unb tfattt bid in bie ®egenb ))on
93a(^arad^ untcn tm @d)ifdraume bed @c4Ie))perd in irgenb einem bunfein
SBtnfel gefc^Iafem Sann fant er mit blinjelnben Xugen aufd Serbetf ^erauf
unb fpojierte im greHen ©onnenfc^ein auf unb nieber. 3fnton fflurj ge*
fellte fid) )u i^m^ unb bafb f&^rten bie beiben etn befe^renbed ®efpr&(^
liber bie SRa^rungdmittel ber Derfcffiebenen S86lfer, tt>ie ber Jriedl&nber,
ber ffleflfolen, ber (Smmeric^er, ber Ailner unb ber @enfenbad)er. Uli ber
&d)kppex gegen ben 2ur(eife(fen tftxanhod^, {og ber snainjer fetne ®tiefe(
and/ fe$te fid) auf eine Aifte^ tjoUe and feinem ^^Ueifen 93&rfie unb 9&d)dd)en
unb begann feine ®tiefe( }u wid^fen. @r na!)m flc^ 3eit )U bem ©efd^dft
unb n>id)fte funflgerec^t unb (iebeDoU. liberaud ^dufig fpudte er in bad
werbenbe ®erf. 3ebedma(^ tt>enn er bied getan tiatte, htif er 3(ugen unb
ivppcn )ufammen^ unb bie 93iirfle faufle i)in unb wieber^ a(d ob fie Don
einer 9Rafd)ine getrieben w&rbe* 3(Um&^(id) Derlangfamte ffd) i^r ^fug^ bie
3(ugen unb bie iippcn tattn Hd) frdbfid^ auf^ unb bie gf&njenb fd)n>arse
^[ddie bemfi^te fld)^ ein @piege( {u fein* dlod) n\d}t ^eK genug^ fagte ber
SSainjer )u bem bemunbernb jufd^auenben 3(nton SBurj^ ff)ucfte wn neuem
mitten in bad Aunflwerf^ mad)U tin grimmiged ®eftd)t unb micelle toit
ein $einb. ^urg t)or Wiibed^eim mar ber STOainjer fertig geworben, 3e$t
bin id| ba(b ba^eim^ fagte er unb flieg wieber in ben @d)iffdbaud) ^in^
unter. dlad} einer SEBeile fam er J^erauf mit offener Sade unb offener
SBefte^ n)oraud eine fd)neen)ei0e, n>unben)o(( gen>6(bte J^embenbrufl Uudjtett.
3a, fagte er, (dd^elte unferen Unton SBur) freunbKd) an unb meibete
fic^ an feiner ©ewunberung*
9Ber ein mei^ed J^emb unb gen>ic^iie @tiefe( tfat, ifl ein feiner SRenfd).
3Hfo fprad) ber STOainjer.
2.
Diefed 9Bert mac^te auf ben SdcfergefeOen einen tieferen dinbtud
aid ber «Oamburger «^afen unb aH ber A6tner X)em* Tinf ber (Sifenba^n^
fa^rt »on SRainj nad) ber *^eimat »er|ledte er bie gftge unter ber ©anf,
benn er fd^dmte (Id) feiner ungepu^ten ©tiefel, 3n ^eibelberg faufte er
fid) eine ©dju^burfle unb eine 2Bic^dfd)a(^teI, einen ^apierfragen unb eine
gejldrfte baummoHene J&embenbru(L 3m ©eftfie biefer 4&errlid)feiten fragte
er fid) burd) bid jur @d)togruine, fa^ aber ^ier weber red)td noc^ linfd,
weber ^inauf nec^ ^inab, fonbem fuc^te ein bdmmeriged unb einfamed
^(d$(^en* dt fanb ein fe(d)ed in bem ^eUergewMbe bed £)ttt)einri(^baued.
J^ier Derfd)n>anb er im J^intergrunb^ unb nac^ einer 93ierte(flunbe fUeg er
aid ein feiner iRenfd) in bie ®tabt ^inunter. 3((d er brunten n>ar, ftel
239
tl)m cin, bag in «Oeibe(berg etne beru^mtc @e^endn>&rbtg(ett Q&be, nhmlidj
ta€ groge ^ag* dt fragte etnen Dtcnflmaitn/ n>o bad groge ^ag tt>dre,
unb n>urbe itac^ ber $ui)rmanndfnetpe gen)tefen ,,3tini gregen ^ag". @r
a§ etnett J^anbfdd unb tranf etn ®la^ 93ter. 2(K er bamtt ferttg wav^
toarrete er auf bte Singe/ bie ba fommen foUten. @d tarn abet ntdytd
weiter, aid bag bie ^eKnerin it)m fliOfd^weigenb etn {Weited ®Iad brad)te.
TCnton ®ur) ja^Ite unb fagte: 3e$t wiU id^ mir aber bte ®c^d)idite an^
Utftn, id) i)abe nimmer (ang ber S^it — ^itv tfl nidjtd wetter anjufe^en^
fagte ba* 9»Abd)en; wad wollen @ie benn? — Sad groge 5<^g! — J&a,
(ad^te bad iDIdb^en^ bad (iegt ja broben auf bent @(i)[og tm SttUex. —
jDrum waren fo Dtele Seute breben^ fagte er! dv ging aber nid)t nod)
etnmal ^inauf^ fenbern faufte (id) int n&c^iien 93ud)btnberraben eine ^^oto^
grap^ie k)em grogen %a^. dv betrad)tete ffe anb&d)tiQ, (ieg fte fid) in
®eibenpapier einwicfein unb fagte: 3e$t ift ed gerabefo/ aid ob idy'd felber
gefe^en ^Atte.
3(Id er ba^eim angelangt war unb fid) audgerut)t t)atte/ trat er bei
feinem Sater/ ber and) ein 9dcfer war^ in Sienfl. Z)ed SIbenbd/ wenn er
bei feinen fdjwabronierenben ^ameraben auf ber ©trage flanb, blieb er
(litte unb t^er^ielt jid) fo, aid 06 feine SBanberfdjaft nid^t weiter aid bid
ttad) SQetbad^^aufen gegangen w&re. ^ber wenn er mit einem eber mit
SWeien beifammen war, befenberd bei ber Hxbtit, rficfte er aOmd^Iic^ mit bent
l)eraud, wad er eriebt unb gefet)en ^atte in ber weiten ffielt (Sr erjd^Ite,
wie birf (le in (Smmerid) bie ©utter aufd ©rot fd)mieren, unb wie man im
<J^amburger Sierlanb beim ®d|weinefd)Iad)ten t)erfd^rt, unb bag er auf ber
ffieferbrfltfe )u ©remen einen 9Rann gefe^en ^abe, ber flc^ eine Sigarre an^
)finbete mit einem Sfinb^olj, bad mitten im ©turmwinb nid^t eriofd)* Tiber
bad 98ort bed SRainjerd blieb fein perf&nli(^er 9Beid^eitdf(^a$, ben er fftr
ffd) allein be^ielt Urn fo ^eOer fhra^Ite bad Sid^t feiner ge^eimen 98iffen^
fc^aft and feiner (Erfd^einung.
@o gldnjenbe @tiefel wie er trug feiner im ©tdbtd^en, unb ba in
@enfenbad) fein @ee Dor^anben ifl, worinnen ^d) bie Sonne ^dtte fpiegein
finnen, befa^ fte itft fc^ined Xngeffc^t am liebften in ber J^embenbruii bed
©drferd 3(nton iffiur}.
98eil er fleigig unb fittfam war, mod^te i^n jebermann leiben. @r
aber meinte, feine ©eliebt^eit rfi^re bat)er, bag er bem ®runbfa$ bed
aXainjerd nad^Iebte. Sarum tat ed i^m unenblic^ wo^I, wenn er beffen
tnne wurbe, bag man i^n mod)te, unb er Sd)antt bam wol)I in gerfi^rter
Sanfbarfeit an fid) ^inunter fiber bie fhra^Ienbe 9B6lbung feiner «Oemben^
brufi md) ben @pi$en feiner ®tiefeL
3n einem foId)en Tlugenblicf war ed, bag er fein ©e^eimnid einem
9)?enfd)en mitteilte; biefer einjige flRenfd^ war feine ©rant Z)ad ging fo
}u. Sr ^alf i^r beim SBdfd^eaufftetfen, wenige Sage Dor ber J^oc^^eit (Ed
war ein fd^iner ®ommerabenb, ein «0dnfling jwitfc^erte im ^flaumenbaum,
unb neben ber SBiefe murmelte ber ^ad). Z)a warb ed beiben wetd^ umd
J^er). @ie liegen bie Xrbeit fein unb Iel)nten ftd^ aneinanber.
Z)ad fann id) n\d)t begreifen, bag bu mid^ ^aben magii, ftng bad
andbc^en an; bin id) bod) weber jdfin nod) veidf.
240 ^
Z)a fc^Iang Tlnton 98ur} bcwegt ben 7(xm utn feme ^tant, gab ii)r
etneit ^fl unb fagte:
@te^V intf gerabe umgefe^rt ali btr; td^ fann fe^r gut 6e^
gretfen/ ba^ bu mid} (teb ^afl. Daratt t(i ber SD^atnjer fc^ulb. ®ott foE^^
t^m fo^nen* Sid) )ie^t ed gum ^ettten ^tn. 9Qer etn toei^e^ J^emb unb
getotd^fle ®tiefe( t^at^ ber ifi ein fetner SRenfd).
Tim @tiefe(n>id)fen unb am SBafd^en jotVi bei und etnmal ntd)t fe^Ien^
lad^te bie 35raut.
Unb fe gef^a^ e^ auc^^ unb aUei gtng gut @te (ebten ftitbtid} unb
t^ergnigt nttt etnanber unb gewannen ffc^ tmmer (ieber.
* *
9a(b nad) ber ^aufe bed jweiten ®6^n(etnd n>urbe 3(nton SBurj )u
fetner le^ten ?anbn>e^rfibung etnberufen* 9Bar ed bidt)er fein ®tof) ge^
wefeu/ ba^ in feinem SO^ilitdrjeugnid fetne einjige @trafe Dermerft n>ar/ fo
fe^te er aU feine Araft baran^ aud^ biefed (e$te ®t&(f feined @o(batenIeben«
mit diften }u befte^en* 3fnten war fein Hvammev^ abet tin fe^r orbentridyer
unb ubetaui fauberer 9&ff(ier, unb n>enn er and) gerabe (einen friegerifd^en
Sinbrucf tfcvoonief, fo gab er fid) bod) bie reblid)fie SRfi^e, ailed red)t ju
niad)en, unb er empftng manc^en Sobfprud) wn feinem «^auptmann.
3u btefem feinem J^auptmann l)atte 3Cnton 3Bur} eine SBere^rung unb
etne Siebe gett>onnen^ n>ie nod) {u feinem anberen 9Renfd)en* @r fa^ }u
i^m ^inauf n>ie )u einem ^i^eren SGBefen. Z)ie ^oflfarte^ bie er an feine
$rau fd)rieb^ ^anbelte Don jfeinen ©trflmpfen unb Don feinem «&auptmann;
er pried biefen mit ben Xudbr&cfen/ bie er (id) and ben 3ufd)riften feiner
SBBei^e^IIieferanten angeeignet ^atte: 3d) fag^ X)ir/ J^anndyeU/ unfer J^aupt^
mann ift fein^ prima^ erfle @orte, non plus ultra; er tjat mid) geflem
wieber gelobt^ ba IjaV idj nid)t gewu^t^ n>o id) ^infd)auen foil.
Xld bie Dfpjiere ber ^ompagnie itfv 3(bfc^iebdmat)l feierten, wurbe
Tlnton 9Bur} mit )tt)ei anberen 2anbn>e^rmdnnem auderlefen^ bei 2ifd)e
auf)utragen* 3(nberen Sagd rief ber J^auptmann nad) ber libung bie bret
}U ffd)^ gab jebem ein ©olbfliicf unb f>e ^inju: 9ringt euren ^rauen
etmad J^fibfd)ed mit!
9B&^renb Tlnton 9Bur) mit bem ®o(bflficf in ber ^anb an ben Sdben
ber J^auptfhra^e ^inn>anberte/ erging er ffd) in bem @ebanfen : SD^eine ^rau
bat einen Bug }utn ^eineu/ bedtiafb tjat ffe mid) fo Iteb. Unb er trat in
einen @d)mucflaben unb faufte fid) brei golbene J^embentnipf^en. Sflid}t
meit t>on bem ®oIbfd)mieb tt>ar ein SQei9tt>arengef(^dft «Oter faufte [fid)
Tlnten Don bem 9tefle bed ®elbed nod) eine tt>unberfc^6ne «Oembenbrufi mtt
brei gefiidten £nopfl6c^em.
S^ann flanb er noc^ eine ffieile Dor einem iabtn, tt>orinnen 3(nbenfen
241 8*4^
an tit ®amtfoti }u faufen toaten. 9Bettn id) betttett 9Iainen itnb bcinen
ffie^nert toi^U^ ba^te bie trcue @ee(e^ fo toflrbe td^ bit etn 9ilb ))on
9taftatt fdytcfen^ bu fteber S)7ain}er* £enn tttrmanb tfl fc^ulb baratt/ bafi
mtd^ ber «Oatiytinann fo gent tfat, aU bit adetn.
Tim 3(beiib ti>ar bie (e$te SorfteOuttg in ber Aaferne* Die bret 2attb^
toe^rm&tttter^ bie bei ber Zafel aufgenoartet \)atttn, flanben nebett einanber.
SBBad ^abett ®ie benn gefauft? fragte ber «Oaupttnaittt bett erften.
Sinett Stegenfd^inn ttnb eitt ^opftud^ fAr ttteitte ^rau.
©0 i|l'« red^t. Unb ®ie?
£(eiberflof f&r unfre brei ^nber*
Z)er J^attf)ttttantt nicfte freunblic^. Unb Knton SBttrj? fragte er mit
gfttigem Sddyeln.
Srei golbene An6t)fd)en fir meine «$entbenbnt(l*
£a lourbe ber <Oauptmann bfutrot im ®efTd)t unb manbte ft(^ un^
tDtfiig ab.
Sine ^a(be @tunbe fp&ter^ aK 9Bur) in b&rgerfidyer ^(eibung ntit
bent Steifefacf in ber J^anb 6ber ben ^afemen^of ging, flanb ber ^awpu
mann am Zot.
©ri^en ®ie 3^re grau^ fagte ber J^auptntann {u einem ber SSorber^
(rute; grfi^en ®ie 3^re ^inber jum {tt>eiten* 3d) t)&ne nid)t gebad)t/ ba^
Gie ein fo eitler 9Iarr ffnb/ fagte er jn SGBur} unb bre^te i^m ben StAcfen.
3d) bin ber einjige, bent er nid)t bie J^anb gegeben l^at, fagte ber
arme 3(nton brau^en Dor bent ^afernentor ju ffd) feibft^ unb bie Sr&nen
liefen i^nt iiber bie 93acfen*
3fuf ber J&eimfa^rt fa^ er t)er|l6rt and. dx idjante (iarr burd) bie
®d)eiben in ben Stegen ^inau^. X)ie ^anteraben fangen ein ?ieb unt4
anbere; er bKeb teilna^mlo^. @eine ^rau ^olte it)n ant 93a^n^of ab. ®ein
gebr&cfted^ fd)eue4 SBBefen fie( i^r auf. @ie fd^rieb^d ber Smiflbung ju.
Hbtx ali ed an ben folgenben Sagen nid)t anber^ wurbe^ fing fte an^ fid)
)u bef&ntmem* @d tarn itft Dor/ aK ob it)r SRann im tieffien Jtem feine4
itbtni Denpunbet fei. Tibet ei war i^r nic^t nt6g(id)^ ben ^feil )u ftnben^
ber bort fiat ®o ^eig ffe in i^n bringen ntod)te^ er fd)n>ieg fliS auf aE
t^re ^ragen^ ober er fagte nur: ifl nid)t^^ aK ba^ id) ein 9tarr bin*
3(nt nteiflen beunru^igte ffd) bie gute ^rau baruber^ ba^ i^r 3(nton
anfing/ feine ^(eibung )u ))emad)(&ff[gen* @r ^atte feine ^reube nte^r an
feinent fd^fin gefl&rften ©onntagd^emb^ unb man fa^ i^n mit unfauberen
®tiefeln jur £ird)e ge^en.
(&i xoat, ob mit bem @pru(^e be^ aSainjer^ aud) aSer @egen
Don bem armen 3(nton gett>td)en fei. Sr f&^Ite ffd) nimmer fro^ unb
nimmer gefunb*
(Sine4 Sage^^ ati er ba^ J&o(} im Sacfofen fc^ic^tete, trat feine ^rau
Winter i^n unb rief:
aBa« ifl benn ba^, 3(nton?
®ie \fitU eine neue^ ungetragene J^embenbrufl in bie «&6^e^ an beren
glingenber %tlid}e brei golbene Stnipfditn blinften*
Z)a« ^ab' id) in beinem Steifefacf gefunbeU/ gan) unten brin. SBBo
l^afl bu benn bad ^er?
242
2rnton SEBurj wurbe feuerrot, iinb ber ©arfofcn war bodi talt ©H$^
fcf^neK tDanbte er fein ©eficfyt ber ?(rbett }u. (Sine Tlnttoort gab er titc^t
Tin biefem Sage war er nod) fltder uitb gebrficfter aid fonfl/ unb
tmmer loteber unb wieber mugte t^n ^rau Jeanne anfd^auen* Sa^er tarn
ed n>et)0 bag it)r je$t erft bie ge(6e ®e(icf)tdfarbe t^red 9)7anned auffieL
@te fc^tcfte )um TCrjt Z)er rebete wn etnem fd)n)eren libef^ bad ftc^ ))oit
(anger «Oanb ^er Dorberettet ^abe unb je$t )um m&d)ttgen 3(udbruc4 gefommen
fei* 9»onate fang ^fifielte er im *^aufe l)erum. Dann mugte er ffrf) ju
Sett (egen. @r ftanb ntmmer auf. Tin etnem fatten SRoDembertag tjat
man itjn begraben.
Unter unenbHrfjen Sr&nen Keibete bie ©icferdfrau bie geid^e t^red
®atten an* @ie tihUte feine $&0e in bie neuen @tiefel/ bie fie fptegetblanf
gen)td)fl ^atte; auf bad Seidyen^emb ^eftete fte bie J^embenbruii^ bie tm
aieifefad gefegen n>ar Die golbenen ^6pfe ^atte fee t)orl)er betfeite getan.
7(nb&d)tig fc^aute fie auf ben Soten nieber unb fagte: 3e$t bifl bu
mieber ber (iebe alte 3(nton* 9Ber ein n>eiged J^emb unb gewic^fle @tiefel
tjat, ifl ein feiner SRenfc^. ?Cfd ein Reiner get)fl bu in bie Sn>igfeit 95e^&f
bi(^ ®ott^ Heber Xnton!
Unb fie ffiflte i^m bie fatten ?ippen«
4*
9ted)t unb fd)Ied)t febte fie in i^rem 98itn>enflanbe. @d fanb fic^
®e(egen^eit^ bie ^dcferei gut ju ))erfaufen* @ie cmavb fic^ ein fteined
J^&uddyen am (Snbe bed @tdbt(^end/ unb mit J^ilfe i^rer Der^etrateten
^rfiber baute fee bie ^cfer i^red f07anned unb i^r etgened fleined Srbgut
Die beiben @6^ne er}eg fie fergfditig*
@d maren }n>ei ^fibfdye ^aben. X)er dttere war fdytanf unb btonb^
t)on )ierK(^em unb boc^ frdftigem ^irperbau mit anmutigen 93en>egungen.
Der j&ngere war Don berberer ?Crt; er fd^Iug me^r in ber SRutter ©efd^tec^t
unb tfatu beren rafd^e, ^eftige Tltt. Tib unb ju brad) bie Serfd)ieben^eit
ber beiben 92aturen ^eraud in (autem Swift* Z)od) fatten fte nic^t ^duftger
@trett aid anbere 9r&ber and), unb ba fte an 3a^ren nai)e beifammen toattn,
\ati man fte and) tmmer bei einanber* Durd) einen gemeinfamen Bug unter^
fd)ieben fte fid) Don alien itjvtn ^ameraben. @ie waren immer fduberlic^^
ia {ierlid) gefleibet, unb fd)on aid Ainber ^ielten fte auf ^Abfc^e ®ewanbung/
flattlid)ed 3(udfei)en unb ein gewd^lted Sene^men. Son i^ren Aameraben
wurben fte bie ®affengrafen genannt.
2)a f[e in einem 3a^re geboren toaten, wurben fte auf einen Sag
fonftrmiert Z)ad war ein freubiger unb ein trauriger Sag fir bie 9Rutter.
Ded 92ad)mittagd ging fTe mit i^ren ®i^nen ^inaud auf bed Saterd ®rab.
Dort weinte fte ^er)bred)enb* Die 9uben ftanben Derlegen babei. Tlld ffe
243
wieber ba^etm toaren unb ben ^eflfafee getrunfcn fatten, tooUun bit
^abeit ^tnau^ )u i^ren SRitfonfirmanbrn. 9Bartet nod), id) toiU end) tttoai
)etgeit^ fagte bte SOfutter^ )og bte unterfle ®d)u6Iabc bcr ^ommobe, framte
ettie 9Bei(e barinitcn unb txat n>teber an ben Ziidj mit etner fleinen
@d)adiUl in ber «Oanb.
@te tat ben Z)e(fe( ah unb t)o(te and ber met^en 98atte, bte bad
A&fld)en ffiUte^ brei golbene J^embenfn6pfe ^eraud.
IDie flammen t)on eurem SSater ^er^ fagte ffe.
SBer friegt |Te? fragten bte Anaben etned SOfunbed unb jeber grif
na(^ etnem ^6f)fci)en.
Z)ad werbet tl)r fd|on fe^en, emtberte bte SRutter. SSorerfl ^ebe tc^
fie nod) auf.
@te (egte bte ^6pfe mteber in bte Qdjadjtel unb tat btefe an t^ren
Ort. —
Sa^re Dergtngen. Tlu^ ben Anaben waren Surfd^en gemorben.
befler Aanterab tjattt J^ed^jett. @te waren aK (S^rengefellen
gelabem Sagd guDor faufte ^^tltpp, ber jfingere, bte betben ©trdu^e aui
funii(td)en 93funten^ bte bte ®e(etter bed «Ood){etterd tm £nopf(od) ju
tragen l)aben*
@d n>aren nur nod) }n>et ba, fagte er^ aid er jur&cffam. Z)ad ba tft
ber beine.
UK fte am anberen SRorgen ffir ben ^trdygang ^eraudpu^ten^ iatf
£onrab, ber &(tere, baf ber Strang fetned 93ruberd griper unb fd)6ner
u>ar^ aid fetn etgener* (&x fagte ntc^td/ aber ed wurmte tt)n. Unterwegd
fe^rte er urn unb bat bie SRutter^ t^m bed Saterd golbene An6pfe )u let^en.
£te abutter fonnte t^rem jflteften nid}t kid)t etmad abfd)Iagen, ba er
tntmer me^r auf ben Sater t^eraudfam; f[e tat t^m ungern ben SBtUen.
SBd^renb bed J^od))ettdfd)ntaufed fa^en ffd^ bte ^rfiber gegenflber. @d
nourbe t^ei^ tm ®emad|^ unb bte 9Rdnner (n6pften ffd) bte !H6cfe auf* 93on
ungef&t)r ^ob ^t)iltpp fetne 2(ugen unb fa^ bad ®oIb an fetned ^ruberd
«Oembenbruft bitnfen* dr wurbe blag Sngrtmm unb flfirjte etn ®Iad
iEBetn ^tnunter.
3n ber 9lad)t nac^ btefem Sag war tm le^ten «0&udd)en bon @enfen^
badf ^eftiger 3anf, SWan ^6rte bte ^etferen ©ttmmen ber trunfenen ©urfdjen
unb {lotfc^en l)inetn bte fle^entltdyen bitten ber SRutten @nbltd) n>urbe
ed jiia, —
3Die golbenen *nipfe lagen feitbem unge(l6rt an iljrem Ort, unten tn
ber britten @4ublabe ber ^ommobe, aber bte ^rfiber waren ffd) gram
getoorben. ®te boten einanber nidft me^r bte 3<tt^ fprad)en fetn
SBort bet ber gemetnfamen Tltbtit, unb bed @onntagd gtngen fie gefonbert
itftc SBege.
Z)te STOutter wetnte t)teL @te fr&nfelte unb glaubte ntd)t lange me^r
}tt leben*
*
hhS 244 1*4-
5.
Z)er Ic$te ^ag be^ 3a^re^ fam ^eran. @te n>aren allc in bet birdie
gcwefen unb t^atten barauf (htmm mtt einanber ju fnad)t gegeffen* Sann
toaren btc @6^ne audgegangeit/ jeber in ein anbered 98irtd^aud*
Z)em)ci( ffe mit il)ren ®enoffen [Armten^ ging bie SRutter mit fc^meren
®ebanfen in ber fiiOen ®tu6e auf unb ntcben Tlli ti Dom ^rc^tunn ^er
e[f U^r fd)Iug ^erd^te fte auf unb {dt)Ue bie Derjittemben ®d^[dge. Sann
fauerte fie Dor ber Aemmobe nieber unb )eg bie unterfte ®d)ub[abe ^eraud.
Sine SBeile fd^aute fte ei)rf&rd)tig ^inein. Z)ann na^m fte i^r Seten^emb
^eraud unb ein Heine^ ®(f)&d^te(ein* @ie t)erfd)(o^ bie Sabe unb fitecfte ben
@d)(fiffe( in bie Safd^e^ fte eri^ob fid^^ brficfte mit bem linfen Hxm ^ai
J^emb unb bie @d)ad)te[ an bie 99rufi/ na^m bie ^ampe in bie anbere «Oanb
unb ging in i^re hammer ^inein* 9Iad^ einer 9Bei[e tarn ffe tt>ieber ^erau^^
in ber einen «Oanb trug fie bie ®(^ad)tel^ in ber anberen bie Sampe. @ie
fe$te beibed auf ben ZHd} nieber. £ann tjoUt ffe t>em @d)ranf ^erunter
ein fleined $intenf{&fd)d)en unb einen ^eber^atter. Die ^eber war abge^
brod^en. bauerte eine SOSeile^ bid fie eine neue gefunben ^atte. 'Cann
)eg fie and ber Siefe bed @d)ranfed einen ^ad B^itungen. 3n bem unterfien
Beitungdblatt (agen einige Sogen liniierten ^apitt^. jDie nal)m fte ^eraud
unb (egte ffe mit einer gen&genben S^itungdunterlage Dor bie Sampe auf
ben Sifd). Snad)bem ffe bie ibrigen Seitungen mieber an i^ren Drt getan
unb ben @c^ranf Derfd^Ioffen tiatte, jog ffe ben fd)tt>eren ®ro^Daterflu^( ani
bem 98infef, fe$te ffd)^ tawkte bie $eber in bad ^Idfd^d^en unb ftng )tt
fd^reiben an.
„©e|lene bein J&aud, benn bu mu^t flerben/' war ber ^rebigttert bed
^farrerd gemefen.
3((d ed breiDiertel auf )n)6(f U^r Wuq, (egte ffe ffir einen 3(ugenb(id
bie ^eber nieber unb feufjte tief auf. TIH ffe bie ^<ber n>ieber eintaud)te,
Derfe^Ite ffe einma( unb )n>eima( bie enge i6fnung bed ^I&fc^c^end^ benn
i^re J&anb jitterte. 3fld aber bie ©pi$e ber ^ehtr n>ieber bie Seile ge*
funben t^atte, and ber ffe gewid^en war, wurbe ffe (l&t unb wanberte i^red
SOSeged ru^ig weiter bem 3i(k entgegen.
SRittemad^t fam ^eran.
Sautlod gfitten bie beiben SRad^en ber 3(it an einanber Dor&ber; ber
eine flieg and Sanb, ber anbere fu^r ^inaud in bad bunfle SReer.
3(ud ber SBirtdfhtbe jum golbenen Hbltt tarn eine wAfie SRifd^ung Don
®efc^rei unb ®efang unb begegnete bem fc^riUen ®eiot)(e, bad aud ben
^eDer(eud)teten ^enfiem bed roten Hmn brang.
9B&^renb bie $6ne Don ^ier unb Don bort fiber bem SBipfel ber
SRarftlinbe miber einanber praOten, entfiel ber fc^reibenben ®rei((n bie
9eber, unb ^art fd^lug i^re @time auf bad Sifd^brett.
245 8^
6.
Unbettifatb Stunben mdi ^itttmadft Uijvtt Stonvab, bcr iltere Srubcr^
nad^ J^aufe jurficf. Die iampe htannte nod^ auf bent Ziid)e. dr txat UiU
herein. 2)ie iRutter fa^ auf tt)rem @tit^(^ t^r Xopf lag auf bem Ziidj,
hie grauen @trdl)nen ^tuflen Aber bte ©ttrne unb bie J^&nbe.
£onrab tooUtt bie ©c^lafenbe totdtn. Da bemerfte er ba^ befd^riebene
9latt »or i^r. Cr trat Teife ^eran unb fad:
Renter oemiad^e idi meinen beiben @6^nen bie golbenen J^embfn6pfe
mnne^ feHgen 9»anne*, Seber foil einen l)aben; ber britte ber
0tefl war burdy ba^ 3(nt(i6 ber ®reiftn Derbecft
Steben bem Sintenjeug (ag bie mo^Ibefannte ^diad^UU Aonrab 6fnete
fi^/ gnf ^inein unb l)o(te fTd) feinen Anopf ^erau^*
Z)a ^irte er bie britte feine^ Sruberd braugen auf ber @trage.
Stafd) blied er bie ^ampe aui unb woUte in bie Aammer entmeid^en* 3(ber
^ier}u war ed )u ff)&t ^^ilipp trat therein unb jfinbete ein @treid)t)o() an.
9)7utter^ feib 3^r nec^ ba? fagte er^ ali er im b[du[id)en Sid^te bed
©(^wefeW bie ®reifin erblicfte. 3n ber STOitte be« ®a$e« tiatte er bie
&timnte geb&ntf)ft^ urn bie ®d)(ummembe nid)t rau^ )u wecfem Dann
truc^tete er mit bem J&ifjdjen auf ben 2ifd), j&nbete fid) ein jmeite* an
nnb (a^ in beffen ®d)ein:
Renter Dermadye id) meinen beiben ®6^nen bie golbenen J^emben^
fnipfe meine* feKgen SWanne*. Seber foil einen baben; ber britte
Dad «&if)d)en er(ofd). 3(ber ^t)iftpp ^atte bemerft^ wo bad ge6fnete
@d)dc^te[c^en lag. (&t taflete banad), grif ^inein unb fuc^te unb
wi^lte in ber 9Batte* @d ifi ja nur nod) einer brinnen^ murmelte er
i»or fid) ^in.
Da ^ob er feine 3(ugen^ bie fid) an bie ^inflernid gew6^nt fatten,
unb er fai) eine bunfle ®eflalt im 98infe( fle^en.
Du bifi^d, bu Dieb! fdjrie er in ^eHer ySnt, bu ^afl ben britten
^opf geflo^len! Unb er warf ftd) feinem Sruber an bie 9ru(l.
@in f&rd)ter(icl^ed 9tingen er^ob ftd) in ber engen ©tube. Die ^enfier
nirrten^ bie Z&un frac^ten. 3e$t fliegen fte an ben Sifd), unb bie ^ampe
fi&r}te )u 9oben. Der bet&ubenbe Dunfi bed toergoffenen i6(ed erftiUte bie
©tube. Aonrab glitt and auf ber g(itfd)igen Diele unb rif feinen Sruber
im ^aQen mit fid), ^t)i(if)f) griff nad) einem J^aft unb patfte ben @tu^(
ber SRutter an ber Ce^ne unb fci^leuberte i^n mit ffc^ ju 9oben.
(Sin bumpfer %aU ert6nte^ ein eigentfim(id) 6ber Xuffc^Iag.
Sd wurbe totenfiiO in ber ©tube.
Die abutter ifl gefifirjt^ feuc^te Aonrab unb lie^ ben 9ruber (od.
f>^t(ipp rid)tete fid) ^alber auf unb taflete um^er.
J^ole bie 3(mpe( and ber ^ftd)e!
Da ergriff ^onrab bed ©ruberd Tlvm mit jitternber gaufl unb feud)te:
Die abutter!
Da warb auc^ ber ©ruber Don Sntfegen gepacft.
aRac^e eid)t! ^auc^te Aonrab.
246 8^
entjunbete etn J&6I}cf)cn. @tne bunfle SRaffe [ag nebcn bem
Sifd). toat bit 'iBtuttet. Dad J^aupt (ag {tDifd^en ben ©c^erbcn ber
}erbrod)cncn iam^pt in einer ?a(^e t>M.
iendjttl fififlerte £onrab.
^t)i(tpf) ijitlt it)t bad breitncnbe J&6(}d>eit ini ©efidyt £a f((|riett
betbe 93r&ber auf*
3(K bte crfte @onnc bed neuen 3a^red aufgtng^ (ag bie fDhttter in
ii)rer hammer auf bem ^ette. Aonrab unb ^^tltf)f) fnieten neben etnanber
nnb brficften bie fa(te J^anb ber SOfutter^ bte fie jufammen umfa^t ^ie[ten«
Uli ber Severn ber SRorgenfonne aufd 93ett fte(^ rtc^tete ^dj ^onrab
auf nnb f&0te bie abutter an ben SRunb*
Sen britten Anof)f t^at fte ftd^ ind «Oemb gefietft/ fagte er*
Die ^rfiber gtngen and ber hammer in bie @tttbe an ben Zi^d) nnb
(afen ben begonnenen ®a$ ju (Snbe:
r^Der britte foD in meinem Setcffen^embe bleiben/'
Da fa^en fid) bte Srfiber in bte TCugen. @d n>ar etn (anger^ ranger
93(i(f. Unb fte reic^ten einanber fd|n>eigenb bie ^anb*
im f mim C mim f mim f mim f mim C mym f mym c mym tm 'm f mym fmim rmim f^in f mim (mTm (mTm (mTm tmim f Ta fai^f^
* VVwV ^W^W"^^ wK9 n/W^^^ owW^wW^wW^CW TfkW'^V *
247
®ebtd)te Don SBtUelm 3a t§ tn ^etbelberg.
T^eneriamfc^e 5ejhia4)t-
Qflun war lit Bc^U lie Mirage itimsif<ittnlttt,
(lint entftcQ wart tae BtBtn mith unt mut;
®te 6tnramftetf fftej von erfiforSenen (Binten,
Qjlnt von tern fmen (Jlleere Cam ein £tet;
Sin (eitree J!tet, las mit ten ^(emen fpUffe,
5n tem vetfunftene jRBentsftif verftfong —
VOM Sjftuen (nieer (eruSer,
(gie meine ^eefe wetferfang.
Zot fiejen tie iBaffen,
Saft Sommf ter Qllorjen;
nur mein l^erj iff wa<9
unt fintef nic^f (£l^e.
§dion Sfaffen tie ^teme,
f(c9on fiit^i mitt ter ^au um,
aSer mein l^er5 M( tunftef
unt Aranenfoe*
(gaft wetten (Pogef ftngen,
Saft praJR ter Za^
ta wixfi tu geporSen fein
Summervoff 1^er5.
248
^0 jeQ ic9 iatl Me vottt ^tunlt
CPor beinem l^aufe (in unb 0et.
Qjlnt in »U iBaffe fe^n Me ^(eme.
®et l^mmef mitfeniicQtftcS (<imx,
®ttnn, fetn, me femes Sfauee Qtleer
l^c^weSf er unt fdimnit bte weite (Etunbe —
^0 fiti t<9 Bafb Me voffe l^tenbe
(Por beinem l^aufe 9tn unt 9et.
(P^e fcQfa^ mem l^ttj nacQ betnem l^evsem
(^te Sang^ mein (niunb nacQ bemem llauc^t
SttmpfK »rudU Me (SLa^t; >er Jlfem pocfU Mr;
£e8fo0 fun (gtaU an (gtaU am ^ttaud.
S)te £te8e (<9wantd wte Qllorsenratu^f
QJlnb meine ^eefe tringfo feQerjen —
(P9ie fcQfajf mein l^erj nac9 »einem l^ev^en,
Qp^ie Sangt mein Qltunb na<9 teinem I^aucS*
■T^^ ^^S0 ^^SS 1
VeraDtwortllch : FQr den politlschen Teil: Friedrich NtumtoD Id SchfiDcberg; f&r den wlMeDMhalUlchea
Tell: Ptul NlkoUut CoMmftnii in MQncheD; fQr den literaritchen Tell: Josef Hoftnlller in M&acbeo;
f&r den k&nstlerlschen Tell: Wllhelm Welgand In MQnchen-BogenhAnsen.
Nachdruck der einzelnen Beitrige nur AutzugswelM and mit tenauer Quellenangabe ge«ttttet>
Die Sozialdemokratie in Sttddeutschland.
Von Friedrich Naumaiiii in Schdneberg.
Es ist leider unmoglich, politisches VerstSndnis vdllig muhelos
Sewinnen zu wollen. Wenn Politik nur aus Aneignung allgemeiner
Ideen bestinde, dann konnte man ja bei guter sonstiger Bildung schnell
ein politischer Mensch werden, aber unterhalb der Ideen gibt es Tat-
sachen, die man wissen muss, und diese Tatsachen sind ihrer Natur
nach nicht wie Poesie zu geniessen. Zu ihnen gehoren die Ziffern der
Parteigeschichte, von denen wir jetzt reden wollen. Wer sich vor Ziffern
furchtet, der soli diesen Aufsatz uberhaupt nicht zu lesen anfangen!
Von Dr. Neumann-Hofer erschien bereits in dritter Auflage eine
sehr sorgflltige Arbeit uber «Die Entwicklung der Sozialdemokratie bei
den Wahlen zum deutschen Reichstag*. Da sie auf den Angaben der
Reichsstatistik beruht, kann sie mit Sicherheit benutzt werden. Wir
schlagen von ihr diejenigen Seiten auf, wo von Suddeutschland geredet
wird und zwar interessiert uns zun^chst wenigen in welchen Kreisen
schliesslich der Sozialdemokrat gewShlt wurde, als wie er uberall sich
vermehrt hat. Oberall ! das ist das Charakteristische. Es gibt in Sud-
deutschland nur zwei Kreise ohne sozialdemokratische Stimmen und
«inen weiteren Kreis (Mulhausen) mit Stimmenabnahme. Diese drei
Kreise gehdren zu Elsass-Lothringen und bedeuten wenig fur das
Gesamtbild, weil es ganz besondere Lokale und personliche Verhdltnisse
"sind, die gerade in ihnen mitsprechen. Ganz Siiddeutschland signalisiert
im tibrigen, ebenso wie die meisten anderen Teile Deutschlands, steigende
^ozialistische Niederschldge.
Es fanden sich sozialdemokratische WShler
1880
1893
1898
1903
in Bayem
101000
126000
138000
213000
in Wilrttemberg
27000
43000
62000
100000
in Btden
30000
38000
50000
72000
in Hessen
32000
38000
49000
69000
in Elsass-Lothringen
19000
46000
52000
68000
209000
291000
351000
522000
•SQddetttsche Monttshefte. 1,4.
17
250
Suddeutschland hat also jetzt etwas uber eine halbe Million soziai-
demokratischer Wihlerl Das kann man fiir wenig halten, wenn man
vergleicht, dass das Konigreicb Sachsen allein 442000 aufweist und
dass die Stadt Berlin allein 218000 besitzt. Immerhin stebt es doch
so, dass zwar der Anteil Suddeutschlands an der Gesamtmasse der
Sozialdemokraten unter Reichsdurchschnitt bleibt, dass aber das Wachstum
in der letzten Wahlperiode ein hdchst betrichtliches ist. Neumann^
Hofer sagt:
In SiiddeutschUnd, wo das vorige Mil sich sehr ungleichmissige Ver^
hSltnisse zeigteo, ist diesmal durchweg eine ausserordentlich starke Za**^
ntbme der sozitldemokrttischen Stimmen zu verzeichneo, die in Baden
und Hessen 40 und in Btyem und Wurttemberg gar 50 Prozent ubersteigt
Hessen, Btden und Wurttemberg batten tuch schon bei der vorigen Wtbl
recht bedeutende Steigerungen der sozitldemokrttischen Stimmenzthlen
tufzuweisen, so dass bier im letzten Jabrzehnt die Fortscbritte ausserordent^
lich gross sind. Dtgegen wtr der Fortscbritt in Btyem das vorige Mtl nur
unbedeutend und wtr ftst gtnz tuf dts Konto der industriellen RheinpCalz
zu setzen. Wihrend bei der vorigen Wthl vier btyrische Regierungsbezirke
einen Stimmenruckgtng zeigten, der von dem Stimmen zuwtchs in den
ubrigen vier Bezirken nur wenig ubertroffen wurde, sind jetzt in tllen
Bezirken erheblicbe Steigerungen eingetreten.
Selbst in den festesten Zentrumskreisen steigt die Sozialdemokratie.^
Oft sind es noch sehr kleine ZifFem, aber uberall, uberall werden es
mehr. Dem Eindruck dieser Tatsache kann man sich auch dann nicht
entziehen, wenn man darauf hinweist, dass die Wahlbeteiligung im ganzen
gestiegen ist. Gewiss, das ist wahr, nur stieg die Sozialdemokratie
viel stSrker! Das Vertrauen des Volkes wendet sich ihr auch in Sud*
deutschland in fast sturmischer Weise zu. Den Verlauf zeigt fur
Bayern folgende Tabelle, in der absichtlich nur die drei grosseren
Parteien aufgezahlt werden:
Das, was heute die Sozialdemokratie in Bayern besitzt, ist also
erstens fast der ganze Ertrag der Bevolkerungsvermehrung und zweitens
ein gewisser Toil der alten Parteibesttode des Zentrums und der
Liberalen. Das Zentrum hat von 1893 bis 1903 gegen 90000 alte
Wahler, wenn man beim Wechsel der Generationen so sagen darf»
wiedergewonnen, die Sozialdemokratie hat fast 90000 WShler neu ge-
wonnen. Die Frage ist nun, ob das Zentrum gegenuber der neuen
gegnerischen Werbekraft seine jetzt wiedergewonnene H6he sich er-
halten kann. Die Liberalen aber sind in Bayern, und zwar wie es
scheint endgultig, von der zweiten Stelle in die dritte verschoben worden.
Es ist alles mogliche, dass sie ihren Bestand so gut halten konnten,
aber mehr als das, ging uber Menschenkraft. Der Kampf gegen das
Zentrum kann in Zukunft nicht mehr ohne Sozialdemokratie gefuhrt
werden.
Zentrum
482000
350000
334000
423000
NttiontUibertle
Sozitldemokrtten
1874
1884
1803
1903
169000
164000
141000
154 000
17000
35000
126000
213000
251 2^
Der Verlauf in Wurttemberg ist folgender:
Zentrum
Deutsche Partei
Volkspartei
Sozitldemokrtten
1874
47000
83000
27000
9000
1884
54 000
62000
50000
9000
1883
67000
69000
106000
43000
1903
90000
61000
63000
100000
Hier flllt zunSchst das Wacbstum des Zentrums ins Auge. OlFen-
bar hat in Wurttemberg das Zentrum vor 30 Jahren nicht mit voller
Kraft eingesetzt und erst im Lauf der Jahre seine Reserven nachgeholt.
Ob es an der Grenze seiner SteigerungsHhigkeit angekommen ist, kann
bei diesem Verlauf nicht mit Sicherheit gesagt werden, immerhin spricht
die sehr hohe Wahlbeteiligung gerade der katholischen Bezirke bei der
letzten Wahl fur diese Annahme. Die Sozialdemokratie aber hat selbst
die Starke Zentrumssteigerung iiberboten und ist zur zahlreichsten Partei
Wurttembergs geworden, solange man die getrennten liberalen Gruppen
als sachlich verschiedene Korper rechnet, was deshalb berechtigt ist,
weil die deutsche Partei in protestantischen Gegenden teilweis das ist,
was der Konservative in Mitteldeutschland ist. Aber selbst dann, wenn
man sich in Gedanken einen wurttembergischen Gesamtliberalismus
konstruieren wollte, bleibt die Sozialdemokratie auch hier die zweite
Macht Einen Hauptgewinn hat sie aus den Kreisen der Volkspartei
gezogen, deren Aufstieg und Sinken ein besonderes Stuck wurttem-
bergischer Parteigeschichte darstellt.
In Baden freilich ergibt sich ein etwas anderes Bild:
Zeotrum Nttiontlliberale Sozialdemokrtten
1874 97000 119000 4000
1884 63000 93000 11000
1893 81000 85000 38000
1903 134000 104000 72000
Hier ist die Sozialdemokratie ganz offenbar noch nicht so weit, die
zweite Stelle zu besetzen und wird wohl noch ziemliche Zeit dazu
brauchen, denn sie hat eine Steigerung des Zentrums gegen sich, die
geradezu in Erstaunen setzt und eine Kraftigung des Nationalliberalismus,
die weit uber das hinausgeht, was in Bayem und Wurttemberg zu
beobachten war. Fur norddeutsche Politiker ein lehrreiches Land!
In Hess en stehen sich Nationalliberale und Sozialdemokraten
fast gleich gegenuber. Die Nationalliberalen haben 31 Stimmen mehr
and behaupten mit ihnen die erste Stelle (zu ihnen kommen 10000
Volksparteiler).
Zeotrum Nttiontllibertle Sozialdemokrtten
1874 27000 84000 7 000
1884 23000 540G0 20000
1893 17000 56000 38000
1903 33000 69000 69000
Auch hier wachsen durch grossere Wahlbeteiligung wie in Baden
alle Hauptparteien, die Sozialdemokratie aber wSchst am stdrksten und
zehrt besonders iltere freisinnige Bestande auf. Voraussichtlich erlangt
hier die Sozialdemokratie bis zur nSchsten Wahl die grosste ZiflFer.
17*
^ 252
In Elsass-Lothringen ist es sehr schwer, ein ubersichtlicbes
Bild zu geben. Schon in den bisher besprochenen LIndern mussten
um der Obersichtlicbkeit willen bisweilen nicht unbetrichtlicbe Minder-
heiten (Bauernbund, Bund der Landwirte, Volkspartei, Freisinn, Konser-
vative) ubersehen werden. HMtten wir alle uberhaupt vorbandenen
Zahlen geben wollen, so wurden wir den nicht fachminnischen Leser
von vom herein verscheocht haben. In Elsass-Lothringen besteht aber
alles, was nicht protestlerisch oder sozialdemokratisch ist, aus wechselnden
Gruppen. Die jetzige Lage ist diese: 102000 Protestler, 68000 Sozial-
demokraten, 29000 Nationalliberale, 20000 Zentrum, 17000 freisinnige
Vereinigung, 14000 Konservative, 9000 Volksparteiler, 8000 Reichs-
partei usw., in der Tat eine Musterkarte zufUliger Angliederungen an
reichsdeutsche Parteien! Erst wenn in die liberalen Gruppen Einheit
hineinkommt, entsteht Durchsichtigkeit. Das Verhdltnis von Protestlem
(Autonomisten, Elslssem usw.) und Sozialdemokraten ist folgendes:
Protestler Sozialdemokraten
1874 128000 1000
1884 161000 3000
1893 114000 46000
1903 102000 68000
Man sieht auch hier die Sozialdemokratie als zweiten Faktor und
traut ihr weiteres Steigen zu. Sie hat in 20 Jahren den Protestlem
60,000 Stimmen abgenommen, wenn -man den Verlust der einen Seite
als Gewinn der anderen einsetzen darf.
Und nun das Gesamtbild der Parteien im ganzen SGdenl
Zentrum 700000 Wihler
Sozitldemoknitie 522000 ^
Nationalliberale 418000
Bauembund u. Shnl. 168000 »
Protestler u. ibnl. 102000 »
Volksptrtei 83000 ,
Freisinn 65000
KoDsenrttive 55000 »
Antisemiten 15 000 ^
Verschiodene 20000
Summt 2148000 Wibler
Natiirlich entspricht die Vertretung der Parteien im Reichstag
diesen Wihlerzahlen nicht, wer aber Volksstrdmungen beurteilen will,
wird weniger auf die Abgeordneten als auf die Stimmen sehen mussen.
Das Zentrum hat 41 Abgeordnete, die Nationalliberalen 18, die Sozial-
demokraten 13, Protestler 9, Bauembund und Bund der Landwirte 8,
Deutsche Volkspartei 6, Freisinn 4, Konservative 3, Unbestimmt 1.
So wenig driicken sich Wahlziffem in Wahlen aus! Das Zentrum hat
7 Abgeordnete mehr als es bei gleichmissiger Einteilung der Wahlkreise
haben wurde.
Das Hauptergebnis der letzten Wahl, das Aufrucken der Sozial-
demokratie an die zweite Stelle, ist es, das uns zu denken gibt. Noch
sind die Liberalen, wenn man sie als Einheit rechnen will, stirker als
-5-8 253
die Sozialdemokraten, denn zusammen haben sie 566000 Stimmen, aber
die Sozialdemokraten warden voraussichtlich auch diese gemeinsame
ZifFer erreichen. Dann ist es ganz klar, dass die Parole in immer
weiteren Kreisen heissen wird: Zentnim oder Sozialdemokratie ? Die
Sozialdemokratie ubemimmt einen Teil des alten liberalen Kampfes
gegen den Klerikalismus. Der Liberalismus aber sieht begreif licherweise
diesen neuen Antiultramontanismus der Masse mit gemischten Gefuhlen
auf^teigen. Keine Partei kann diejenigen lieben, die ihr Gebiet ver-
kleinem, und doch freut sich der Liberale, der es wirklich ist, dass
eine Macht aufsteigt, die irgend einmal mehr Wahler haben wird als
das Zentrum. Von da aus sagt der Liberate: der Sozialdemokrat ist
uns unbequem, aber er ist doch das kleinere Obel! Das wenigstens ist
der Geist, in dem wir das Ergebnis der Wahl betrachten.
Und wenn der Liberalismus seine alte Bedeutung fur Suddeutschland
auch in der neuen Zeit bewahren will, dann darf er gerade jetzt nicht
unsozial sein. Es gibt hunderttausend oder mehr Wihler in SUd-
deutschland, die zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie in der
Mitte stehen. Diese werden Sozialdemokraten, wenn sie den Liberalis-
mus fur unzuverlissig ansehen. Es gilt also, sich durch den Erfolg der
Sozialdemokratie doch nicht zu Gegnern der Arbeiterbewegung machen
zu lassen. Je offenkundiger es ist, dass „innerhalb der heutigen Ge-
sellschaftsordnung** die Liberalen alles tun, was mit politischen Mitteln
fur die Masse getan werden kann, desto fester wird der Liberalismus
stehen. Oftenkundig wird aber dem Volk etwas derartiges nur durch
klares gesetzgeberisches Handeln. Der Liberalismus darf sich darum
nicht darauf beschrinken, soziale Konzessionen zu machen, sondem
muss mit eigener WSrme Sozialpolitik treiben. Tut er das nicht, dann
voUzieht sich die Verschiebung des Volksvertrauens zur Sozialdemokratie
hin immer schneller. Die Zeiten sind vorbei, wo der Stiddeutsche die
Sozialdemokratie als wesentlich norddeutsche Erscheinung auffassen
konnte. Die letzten Wahlen haben ganz Suddeutschland mehr als je
ein friiheres politisches Ereignis vor den ganzen Ernst der sozialen
Frage gestellt. Die halbe Million Sozialdemokraten gibt in Munchen,
Stuttgart, Karlsruhe und anderswo zu denken. Was will diese Menge ?
Warum geht sie mit Bebel? Was muss geschehen, damit diese im
letzten Jahrzehnt so gewaltig sich ausbreitende Volksbewegung ein
Gluck und Vorteil fur die Gesamtheit werde? Aufgaben genug ftir
Staat und Gesellschaft !
254 ^
X r Die beabsichtigte Neuorganisatipa der
^ deutschen Volkswirtschaft.
Von Lujo Brenttno in Munchen.
Am 29. Oktober 1888 habe ich in der volkswirtschaftlichen Ge-
sellschaft in Wien einen Vortrag uber Kartelle gehalten. Das Thema.
war damals noch wenig behandelt. Dem 1883 erschienenen Buche
KleinwSchters uber Kartelle fehlte die Hauptsache, die Untersuchung
liber die Ursachen, welche zur Kartellbildung fuhren, und abgesehen
von einigen Rezensionen dieses Buches gab es in Deutschland noch
keine wissenschaftliche Kartellliteratur. Auch waren die Erfahrungen
damals noch vergleichsweise gering. Wir standen damals noch in der
langen Depressionsperiode, welche mit dem Krache i. J. 1873 begonnen
hatte, und die namhaftesten National5konomen verschiedener Lender
dachten pessimistisch iiber die Aussichten auf Wiederhebung von Handel
und Wandel. Die deutschen Kartelle waren, soweit bekannt, in dieser
Depressionsperiode entstanden als ein Fallschirm, wie ich mich damals
ausdnickte, dessen die zu hoch geflogene Produktion sich bediente, um
wieder auf festen Boden zu kommen. Es schien mir zweifelhaft, ob
sie sich wurden halten konnen, wenn ein wirtschaftlicher Aufschwung
wieder einsetzen wtirde. Gehdrten doch damals zu den Kartellen weder
die schwachsten noch die bedeutendsten Firmen; die schwichsten nicht,
weil sie in einer Steigerung ihrer Schmutzkonkurrenz die einzige
HolFnung, ihr Leben zu erhalten, erblickten, die iibermMchtigen nicht,
weil ihnen der Eintritt in das Kartell die Moglichkeit nahm, die ge-
ringeren zu unterdrucken. Die Kartelle waren damals die Organisationen
der Betriebe mittleren Umfangs, um bei sinkender Konjunktur sich so-
wohl der Schmutzkonkurrenz der schwSchsten Firmen als auch der
Aufsaugung durch die grdssten zu erwehren. Bei sinkenden Preisen
erschienen sie, wie Lorenz von Stein sich ausdriickte, als das Mittel,
das Existenzminimum des Unternehmers zu garantieren, analog den
Arbeiterkoalitionen, deren Aufgabe es ist, durch Hochhaltung des Lohnes
-das Existenzminimum des Arbeiters zu sichem. Um dessentwillen nahm
•der Untemehmer alle die BeschrHnkungen der SelbstMndigkeit, welche
■die Organisationen den Teilnehmern auferlegen, willig in Kauf. Indes
bei steigenden Preisen erschienen die Kartelle entbehrlich; und nach
den bis dahin gemachten Erfahrungen glaubte ich damals schliessen zu
diirfen, dass bei steigender Konjunktur das Streben nach Selbstindigkeit
und Erweiterung der eigenen Wirkungssphare zur Wiederauflosung der
Kartelle fuhren werde.
Dies ist, wie die Entwicklung der seitdem verflossenen 15 Jahre
zeigt. ein Irrtum gewesen. Unter dem Einflusse der steigenden Kon-
255 8^
karrenz auf deni Weltmarkt hat sich ebenso wie der Charakter unserer
Industriezolle auch der der Kartelle geindert. Jene sind aus Schutz-
zdllen Agressivzdlle geworden und die Kartelle die Voraussetzung, dass
3ie als solche benutzt werden kdnnen. Nun wurde die Zugehdrigkeit
zn den Kartdlen auch fur die grossten Firmen wertvoll; gerade bei
steigender Konjunktur konnte nun das Kartell auch den kapitalkrMftigsten
Firmen in ihrer Konkurrenz auf dem Weltmarkt eine Stutze bieten;
dabei yerzichteten sie durch ihren Beitritt zu einem Kartell gar nicht
auf die Vemichtung von heimischen Konkurrenten ; es wurde, wie wir
sehen werden, diese Vemichtung nur aus den friiheren Stadien
des Produktionsprozesses in die spSteren verlegt. So haben sich denn
in der Zeit des Aufschwungs von 1895 — 1900 die Kartelle, statt sich
aufzuldsen, gemehrt. Im tibrigen aber hat sich die Auffassung, der
ich in jenem Vortrage Ausdruck gegeben, in erstaunlichem Masse be-
wahrheitet; nur in einem weiteren Punkte habe ich sie, wie sich
zeigen wird, zu modifizieren. Im-fganzen hat die Neuorganisation
unseres Wirtschaftslebens, die ich damals als im Anbrechen signalisierte,
Riesenfortschritte gemacht, so dass wir sagen kdnnen, der ganze Charakter
unserer Wirtschaftsordnung hat sich in den letzten 25 Jahren gedndert.
Noch reden wir, als lebten wir im Zeitalter der Gewerbefreiheit
und der Konkurrenz. Ein merkwtirdiger Beweis, wie uns die Dinge,
die wir erlemt haben, oft die Erscheinungen, die uns umgeben, zu
sehen tind zu beurteilen hindern. Konkurrenz und Gewerbefreiheit ge-
h5ren heute zur Vergangenheit. Wir leben im Zeitalter des mehr
and mehr sich ausbreitenden Monopols.
Das Monopol ist keine neue Erscheinung in der Geschichte. Mehr
als ein Jahrtausend ist das gewerbliche Leben Europas unter seiner
Herrschaft gestanden. Von den Tagen des niedergehenden Romerreiches
bis zum Anbruch der modemen grossindustriellen Ara finden wir die
Zunft. Schon im Konstantinopel der ersten christlichen Imperatoren
herrschte eine monopolistische Ordnung mit beschrSnkten Absatzgebieten
der einzelnen Gewerbetreibenden, Regelung der Preise, Gewinn-
kartellierung, wie in einer mittelalterlichen Stadt des Abendlandes, und
von da ab verlassen uns nicht mehr diese Prinzipien und analoge Ein-
richtungen zu ihrer Verwirklichung bis zur DSmmerung unserer Zeit.
Warum wurde mit dieser Ordnung gebrochen?
Von zwei Gesichtspunkten aus wurde man zu diesem Bruche ge-
fuhrt: von dem des naturlichen Rechts und von dem der Zweck-
mSssigkeit.
Durch die zunftige Ordnung war zwar fiir die durch sie Privi-
legierten gesorgt, aber Tausende waren durch sie davon ausgeschlossen,
durch die Arbeit ihr Brot zu verdienen. Dies stand im Widerspruch
mit der Gleichberechtigung aller Menschen, alle ihre Krdfte und An-
lagen zur Entfaltung zu bringen. Aber auch ftir den Gewerbbetrieb
war die alte Ordnung verhdngnisvoll. In ihrem Nahrungsstande ge-
schutzt, blieben die Privilegierten nicht nur in der Technik zurtick, sie
suchten auch jeden Fortschritt, von dem sie eine Stdrung In ihrem be-
-tHg 256
haglicben Dasein befurchteten, zu unterdrucken. Die Folge war, dass
Deutschland, das so lange der Sitz gewerblicber Blute gewesen, von
den LMndern uberflugelt wurde, welcbe den entstebenden Grossbetrieb
zuerst von den Schranken jener tausendjShrigen Ordnung emanzipierten.
Denn das Verlangen dieses Grossbetriebes war Freiheit, Freiheit sowohl
von jedweder Einmischong des Staates als auch von den Schranken^
welcbe die gewerblichen Korporationen der freien Entwicklung der
einzelnen gezogen batten. Und dieses Verlangen wurde getragen von
den Lebren der aufkommenden NationalSkonomie. Das Selbstinteresse
sage einem jeden am besten, was zu seinem Wohle fSrderlicb sei. So«
bald man nur einen jeden seinem eigenniitzigen Streben, alle seine
Krifte zur Anwendung zu bringen, iiberlasse, werde das grosstmdgliche
Wohl aller einzelnen und damit der Gesamtbeit verwirklicht.
Daber nun eine erbitterte Feindschaft der Doktrin und der von
ibr und dem aufsteigenden gewerblicben Grossbetrieb beeinflussten
Gesetzgebung gegen alle Arten von gewerblicben Vereinigungen. Scbon
A. Smitb batte gescbrieben: .Gewerbetreibende derselben Klasse kommen
selten aucb nur zum Zwecke des Vergnugens oder der Unterhaltung
zusammen, obne dass dabei scbliesslich eine Verschworung gegen das
Publikum oder irgend ein Plan zur Erbdbung der Preise ausgebeckt
wiirde." Die iusserste Konsequenz dieser Auffassung zog das franzdsiscbe
Gesetz vom 14/17. Juni 1791. Es verbot jedwede Assoziation von
Arbeitem, Arbeitgebem und Wareninbabem, sowie jedwede Koalition
von Genossen desselben Gewerbes. Die Gesetzgebung Englands und
die der deutscben Staaten war nocb ungerecbter; sie verbot nicbt die
freien Verabredungen selbstindiger Gewerbetreibender, sondem bedrobte
Jabrzebnte lang mit scbweren Strafen die Verabredungen und Ver-
einigungen lediglich der Lobnarbeiter zu gemeinsamer Wabrung ibrer
Interessen.
Diese Verbote waren nun keineswegs im Sinne der dkonomiscben
Doktrin. Ganz im Gegenteil. Sie bielt sie fur positiv schddlicb. Alle
Arten von Koalitionen, sobald sie nicht, wie zur Zeit der alten gewerb-
licben Ordnung, gesetzlich gescbtitzt seien. lehrte sie, mussten infolge
des entgegengesetzten Interesses einzelner alsbald wieder zerfallen und
niemand wurde sie weiter anstreben, wenn nicbt jene Verbote die Vor-
stellung erweckten, obne sie wurden alle, die sich in ihren Existenz-
bedingungen bedruckt fublten, auf dem Wege der Koalition ihren Vor-
teil zu wabren imstande sein. Die Nationalokonomie stand eben damals
unter der ausschliesslicben Herrschaft der deduktiven Methode. Aus
dem verstandigen Eigennutze der einzelnen wurde a priori das gesamte
volkswirtscbaftlicbe Lebrgebiude abgeleitet. Die Verbaltnisse, in denen
die einzelnen lebten, wareh aber so mannigfaltig, dass der Forscber
unmdglicb a priori vorbersehen konnte, zu welcbem Verbalten eben das
Selbstinteresse die einzelnen in diesem oder jenem Falle veranlassen
werde. Die Verbaltnisse, die ibm vorscbwebten, waren einzig und allein
die eines Kapitalisten, der sein Kapital, je nacbdem da oder dort der
grdsste Gewinn winkt, aus der einen Anlage zuruckziebt, um es in
257 8^
einer anderen nutzbar zu machen; das einzige, was der Forscher aus
dem Selbstinteresse ableitete, war die Konkurrenz. Allein augenschein-
licta hat die Richtigkeit dieser Lehre die unbedingte Ubertragbarkeit von
Arbeit und Kapital zur Vorausetzung. „So oft dagegen die UnShigkeit,
das Angebot der Ware vom Markte zuriickzuziehen, die vereinzelten
Verkdufer bei Konkurrenz jeder Mdglichkeit, den Preis ihrer Ware auf
dem Niveau der Produktionskosten festzuhalten oder ihn daruber zu
steigern beraubt, fuhrt das Selbstinteresse, sobald es erkannt ist, zur
Koalition statt zur Konkurrenz.* Mit diesen Worten habe ich in meiner
Schrift uber den vArbeiterversicherungszwang, seine Voraussetzungen
und seine Folgen'', Berlin 1881, S. 20, das zur Koalition fuhrende
Prinzip formuliert, und die Entwicklung seitdem hat mir recht gegeben.
Das erste Dementi, welches die Lehre der deduktiven National-
dkonomie im Leben erhielt, kam von seiten der Lohnarbeiter. Wie ich
schon oft dargelegt habe, befinden sie sich als Arbeitsverkdufer in einer
von alien ubrigen Warenverkiufem verschiedenen Lage. Sie, und mit
ihnen ihre Arbeitskraft, kommen zur Welt, nicht weil sie produziert
worden wSren, um einer Nachfrage zu dienen, sondem, als Wirkung
nicht wirtscbaftlicher Faktoren; sind sie aber einmal da, so notigt sie
ihre Armut, ihre Arbeit ununterbrochen anzubieten; ohne Organisation
sind sie somit vollig ausser Stand, das Angebot ihrer Arbeit entsprechend
der Nachfrage zu regeln. Daher vereinbarten sie Minimalsfltze, unter
denen ihre Arbeit nicht verkauft werden sollte. Sogar etwas bedenkliche
Massnahmen der fruheren Zunftpolitik wurden fortgesetzt, n&mlich Be-
schrinkungen der von den einzelnen zu leistenden Produktionsmenge,
um ein Driicken des Preises der Arbeitsleistung zu verhindem, das
bente sog. Ca-canny, das Vorbild der Produktionsbeschrinkungen der
Untemehmerkartelle. Eine planmissige Anpassung des Angebots an die
Nachfrage wurde durchgefuhrt, indem die Organisation Arbeiter an den
Orten zurilckzog, wo ihre Arbeit nicht begehrt wurde, um sie dorthin
zu senden, wo diese begehrt wurde. Und wie heute die kartellierten
Untemehmer bei sinkender Nachfrage oft einzelne Werke still legen
and deren Inhaber dafur entschidigen, so suchten die Arbeiter in
gleichem Falle durch UnterstGtzung Arbeitslose vom Angebot ihrer
Arbeit zurtickzuhalten, damit der Lohn nicht allzutief sinke, oder sie
suchten in der Herabsetzung der Arbeitszeit eine Kontingentierung der
einem jeden zufallenden Arbeitsmenge. Im kollektiven Arbeitsvertrage
endlich wurde eine gemeinsame Verkaufsstelle fur Arbeit geschafFen.
Um erfolgreich zu sein, war aber unentbehrlich mdglichst wenig Out-
sider zu haben, damit diese, die neuerdings sog. Arbeitswilligen, nicht
dnrch Unterbieten die Kartellpolitik der Arbeiter durchkreuzten; daher
das Streben, alle Angehorigen des Gewerbes in die eine Organisation
bereinzuziehen und, bei DifFerenzen mit den KSufem ihrer Arbeit, die
Arbeiter, die mit der Sachlage unbekannt wiren, von dieser durch
Inserate und Ausstellen von Streikposten zu unterrichten.
Trotz aller Lehren der Nationaldkonomen von der allein selig
machenden Kraft der Konkurrenz hielten die Lohnarbeiter an diesen
^ 258 8^
aus den Zunftzeiten ihnen uberkommenen Organisationsprinzipien fest;
trotz der strengen Strafen, mit denen der Staat ihre Verabredungen und
Vereinigungen verfolgte, bildeten sie fortwdhrend neue Organisationen;
lieber ins GefSngnis wandern, als in angeblicher Freiheit tats&chlicb in
Abhdngigkeit von der Willkur anderer leben; die Ungerechtigkeit der
Gesetzgebung bewirkte nur, dass die Organisationen der Arbeiter geheime
wurden, und erfiillte sie mit Hass gegen die bestehende Ordnung. Das
erkannte schliesslich auch der Gesetzgeber und beseitigte jene Verbote;
aber er tat es widerwillig; im Gegensatze zu der neuerdings anerkannten
Klagbarkeit der von den Untemehmem iibemomnienen Kartell-
verpflichtungen, sind alle auf das ArbeitsverhSltnis bezuglichen Ver-
abredungen gewerblicher Arbeiter rechtlich noch immer unverbindlich;
der Abfall von ihnen wird vom Gesetzgeber noch immer sogar als
lobenswert angesehen, der Arbeiter, der dem Abtrunnigen den Woit-
bruch zum Vorwurf macht, wird noch immer bestraft, und, wie die
VorgSnge in Crimmitschau zeigen, vermag die Handhabung des Ver-
sammlungsrechts seitens der Verwaltung noch jeden Augenblick die
Kartellpolitik der Arbeiter zum Scheitern zu bringen.
Nachdem die Lohnarbeiter den Anfang gemacht, kamen trotz aller
entgegenstehenden Lehren die Organisationsversuche auch bei den
selbstandigen Gewerbtreibenden. Zuerst im Bergbau. H. G. Heymann
hat Kartellierungen gefunden, welche bis in die Zeit der alten gewerb-
lichen Ordnung zuruckgehen, und neue Kartellierungen finden wir bereits
tn den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in England. Sehr be-
greiflich. Wer einen Schacht bohrt, einen Stollen treibt, kann das darin
fixierte Kapital nicht mehr zuriickziehen, auch wenn der Preis so tief
sinkt, dass er gar keinen Gewinn abwirft. Ja wir kennen sogar Petitionen
der englischen Grubenarbeiter aus den vierziger Jahren, worin sie die
Bergwerksbesitzer angehen, statt auf Kosten der Arbeiterldhne eine
ruinierende Konkurrenz zu treiben, sich doch lieber zu kartellieren.
Dann kamen die Eisenbahnen. Auch hier ist das Anlagekapital nicht
der Art, dass man es, wenn der Gewinn unter den iiblichen Satz sinkt,
nach Belieben zuruckziehen kann; auch hier fuhrte eine voraus-
gegangene Konkurrenz zu deren Aufhebung in Tarifverabredungen,
Absatzkartellierungen, ja zu Fusionen. In dem Masse, als die Zunahme
des uniibertragbaren Kapitals in den verschiedenen Industriezweigen
fortschritt, dann auch Kartellierungsversuche in den ubrigen Industrie-
zweigen. Denn iiberall, wo das einmal festgelegte Kapital nicht beliebig
zuruckgezogen werden kann, um es anderwarts anzulegen, bedeutet das
Sinken des Gewinns eine entsprechende Einbusse am Vermogen, und
da fuhrte iiberall eine vorausgegangene ruinose Konkurrenz zu deren
Gegenteil. Man sagte sich: Wir werden doch nicht solche Toren sein,
uns gegenseitig zugunsten der Konsumenten die Kehlen abzuschneiden;
weit besser, wir vereinigen uns, dem Konsumenten die Kehle abzu-
schneiden, um selbst zu leben. Dabei wiederholte sich dann eine oft
wiederkehrende Erscheinung. Wenn ein Mittel sich in den Verhilt-
nissen, fiir die es geschaffen, bewMhrt hat, wird seine Anwendung Mode,
259 g*4-
and es kommt dann auch zur Anwendung in Verhaltnissen, in denen
alle Bedingungen seiner Existenz und seines Wirkens fehlen. So auch
hier. Die Unternehmerverbinde, die in Betrieben mit grossem unuber-
tragbarem Kapitale ihre Entstehung gefonden, wurden auch in solchen
Betrieben nachgeahmt, in denen das ubertragbare Kapital die Hauptrolle
spielt. So wuchem denn heute die Kartelle auf alien Gebieten, von dem
der sog. schweren Industrie angefangen bis zu dem des Vertriebes von
Buchem im kleinen; ja selbst da, wo jedes Kapital fehlt, finden wir
heute Kartelle: die Dichter haben ein Kartell geschlossen, den Wieder-
abdruck der Erzeugnisse ihrer Phantasie nicht unter funfzig Pfennig die
Verszeile zu gestatten.
Die Abmachung der Dichter, wenn wir sie ndher betrachten, macht
uns auf eine hochst wichtige Beschrankung in der Anwendbarkeit des
Kartellprinzips aufmerksam. Die Dichter haben sich nicht etwa ver-
pflichtet, nicht unter einem gewissen Preise zu dichten, und zur Aufrecht-
haltung des Preises die einzelnen Kartellmitglieder je nach ihrer
Leistungsfihigkeit auf eine bestimmte Zahl von Versen kontingentiert.
Dichterische Leistungen sind etwas hochst individuelles, und, da nicht
ein Gedicht so gut wie das andere, kann nicht der Vers des einen den
des anderen ersetzen. Aber wo sie als Ftillsel von Feuilletons auftreten,
verlieren sie diesen individuellen Charakter; sie werden eine vertretbare
Ware; und daher die BeschrMnkung der Kartellierung auf die Verwertung
der Gedichte, da, wo sie solchen Warencharakter angenommen haben,
auf den Wiederabdruck in Zeitungen. Kartelle konnen nMmlich, wie ich
im 45. Bande der Schriften des Vereins fiir Sozialpolitik bereits dar-
gelegt habe, nur in den Produktionszweigen stattfinden, welche Massen-
artikel nach feststehenden Typen herstellen, fungible oder vertretbare
Waren, res, quae pondere, numero, mensura consistunt. Das sind die
Produktionszweige, auf denen in alien modernen LSndem vorzugsweise
der Nationalreichtum beruht, wie Kohle, Eisen, Petroleum, Spiritus,
Zucker, Salz, BaumwoUgam, Zellstoff usw. Auch wo wir sonst die
Herstellung von Bedarfsartikeln nach allgemeinen Typen finden, wie in
der Herstellung von Druckpapier u. dgl. ist ihre Sphare. In alien
Produktionszweigen dagegen, welche Waren in Anpassung an das
individuelle Bedurfnis herstellen, muss die Produktion sich anpassen an
die Bedurfnisse in ihrer besonderen und wechselnden Gestaltung. Wo
das Produkt individuell ist, muss auch der Preis ein besonderer sein.
Hierher gehdren vor allem alle Industriezweige mit kunstlerischem
Charakter, sodann die meisten, in denen fur das besondere Bedurfnis
des Tages gearbeitet wird.
Dazu kommt, dass es noch ein Erfordemis erfolgreicher Kartell-
bildung gibt, das bei Betrieben mit grossem fixem Kapitale, die Massen-
produkte herstellen, regelmdssig gegeben ist, wMhrend es bei Betrieben
mit itberwiegend leicht ubertragbarem Kapitale und individuellerer Pro-
duktion regelmdssig fehlt. Die Kartellbildung setzt voraus, dass man
mit einer relativ beschrSnkten Anzahl von Werken zu tun hat; je grosser
die Zahi der Betriebe, desto schwieriger wird die Kartellbildung. In
260
der sog. schweren Industrie haben wir es mit Werken zu tun, die wenis
zahlreich sind, entweder weil, wie bei den Bergwerken, ihre Produkte
von Natur nur in besctarSnkter Menge gegeben sind, oder weil, wie in
der Hochofenindustrie, ein sehr grosses Kapital zur Errichtung eines
Betriebes notwendig ist ; je geringer die Zahl der Betriebe, desto leichter
ist es, zur Monopolbildung zu gelangen; je wetter man dagegen in die-
Fertigfabrikation kommt, desto leichter wird es, neue Betriebe Z]u er«
richten, desto zahlreicher die Konkurrenten ; schliesslich wird es un«
mdglicb, samtliche Kopfe unter einen Hut zu bringen, wo nicht, wie bet
den Arbeitem, das durch die Gemeinsamkeit der Interessen erzeugte
Klassengefuhl die Koalitionsbestrebung verstirkt.
Mit dieser Betrachtung der Bedeutung der Zahl der Konkurrenten
fur den Erfolg der Monopolbestrebungen gelangen wir nun naturgemiss
zu einer der wichtigsten Fragen, zu der nach der AbhMngigkeit der
Kartelle von der Musseren Handelspolitik. Ist der Bestand der Kartelle
und ihr Wirken an den Ausschluss auswirtiger Konkurrenz durch Zdlle
geknupft? Havemeyer, der Leiter des amerikanischen Zuckertrusts, hat
erklSrt, er wurde es nicht gewagt haben, diesen zu bilden, wenn die
amerikanische Zuckerraffinerie nicht durch hohe Zdlle geschutzt ware.
Andererseits ist das bis jetzt jedenfalls noch freihSndlerische Gross-
britannien nicht ohne eine ganze Anzahl Kartelle, darunter solche, die
recht erfolgreich gewesen sind. Zu den letzteren gehort, wie Evelyn
Hubbard im Economic Journal, 1902, dargetan hat, ein Kartell in der
Baumwollspinnerei und eines in der Fdrberei. Damit ist die Mdglichkeit
erfolgreicher Kartelle auch unter der Herrschaft des Freihandels jeden-
falls dargetan, und ausserdem gibt es ja nicht unerhebliche Ansltze zu
intemationalen Kartellen. Allein die Frage nach der Bedeutung der
Zollpolitik ftir die Kartelle ist damit noch nicht erledigt. Es besteht
ndmlich eine wesentliche Verschiedenheit sowohl hinsichtlich der Leichtig-
keit der Kartellbildung als auch der Nutzlichkeit oder Schldlichkeit ihres
Wirkens, je nachdem in einem Lande Schutzzoll oder Freihandel herrscht.
Indes sind es keineswegs die Zolle allein, welche Bildung und Wirken
der Kartelle in einem Lande erleichtem. Die Sache liegt vielmehr
folgendermassen :
Alle Kartellierung bezweckt die Aufhebung der Konkurrenz. Sie
ist ihr direkter Gegensatz. Wie ich eben gesagt habe, kann der Zweck
um so leichter erreicht werden, je geringer die Zahl der mdglichen
Konkurrenten. Diese Zahl kann aus naturlichen Ursachen beschrSnkt
sein, wie im Bergbau; die ProduktionsstStten der Montanprodukte sind
nicht beliebig vermehrbar. Jene Zahl kann femer aus Skonomischen
Ursachen beschrdnkt sein. So ubt die Lage eines Landes zu den grossen
Welthandelsstrassen, vor allem zum Meere, eine Wirkung auf die grdssere
Oder geringere Leichtigkeit der Monopolbildung. Kein Zweifel, dass in
Grossbritannien und Irland, auch abgesehen vom Freihandel, die Kartell-
bildung nicht so leicht ist, weil bei dem relativ geringen Umfang des
Binnenlandes der Inseln die Konkurrenz von aussen weit weniger
schwierig ist, als in den Binnenlandem Europas oder Amerikas. Und
-o^ 261 8^
ebenso wirkt, wie schon bemerkt, als BeschrSnkung der Konkurrenz
die Grosse des zu einem erfolgreichen Betrieb notwendig festzulegenden
Kapitals, wie z. B. wenn zur Anlegung eines Thomaswerkes mit alien
dazu bendtigten Kohlen- und Erzgniben heute 55 Millionen Mark er-
forderlicb sind. Die Zahl der Konkurrenten kann aber auch kunstlich
beschrinkt sein, und zwar nicht bloss durch Zdlle. Wo eine verschiedene
Behandlung der Bin- und Ausfuhr von Waren in den FrachtsMtzen der
Eisenbahnen stattfindet, kann die Konkurrenz dadurch noch weit wirkungs-
voller als durch irgend welche Zollsdtze beeinflusst werden. Zeigt doch
die Geschichte des Standard-Oil-Trust, welche Wichtigkeit Frachttarife fiir
die Kartellbildung haben; das ganze Riesenmonopol wurde aufgebaut auf
Grund der Refaktien, welche Herm Rockefeller seitens der amerikanischen
Bahnen gewihrt wurden. Gewiss, eine Mhnliche differenzielle Behandlung
einzelner deutscher Geschiftsleute diirfen wir, soweit nicht landwirt-
schaftliche Genossenschaften in Frage kommen, als bei unserem Staats-
bahnsysteme ausgeschlossen betrachten. Allein wir haben hdhere Fracht-
sitze fur Waren, welche von der Grenze nach dem Inland gehen, als
fur Waren, die nach der Grenze gefahren werden. Das bedeutet selbst-
verstlndlich eine Erschwerung der Konkurrenz fur alle fremde Produkte
auf unserem Markte, die besonders bei schwer verfrachtbaren Waren
fuhlbar wird. Kommt, wie bei der Kohle, dazu, dass die Ware von
Natur nur in beschrSnktem Masse vorhanden ist, so bedeutet dies die
kunstliche Verstarkung einer von Natur erleichterten Monopolstellung
durch staatliche Massnahmen und damit die Erleichterung der Kartell-
bildung und der Durchfuhrung aller Kartellmassnahmen auch ohne alle
Zdlle. Kommt aber noch, wie beim Eisen, die kunstliche BeschrMnkung
der auswSrtigen Konkurrenz durch Zdlle hinzu, so ist die Kartellbildung
unstreitig erleichten. Denn die auswSrtigen Betriebe werden alsdann
von der Konkurrenz ganz ausgeschlossen, oder die Konkurrenz wird
ihnen wenigstens erschwert. Der Monopolbildung durch Kartelle ist
somit eine grosse Arbeit abgenommen. Denn die Kartellbildung findet
um so leichter statt, je geringer aus naturlichen, okonomischen oder
kunstlichen Ursachen die Zahl der Betriebe, und die Kartellpolitik pflegt
nm so rucksichtsloser nach den hochsten Preisen zu streben, je weniger
das Auftauchen einer Koncurrenz zu befurchten ist. Dass ich mit dieser
Behauptung nichts Unberechtigtes sage, zeigt die Zustimmung, die ich
fand, als ich in der Kartellkommission das Prinzip der Preisregelung
der Kartelle dahin formulierte: In der nichsten Umgebung der kartel-
Herten Werke werden die relativ hdchsten Preise gefordert, weil man
hier eine Monopolstellung hat; dagegen sinken die Preise, je weiter die
Entfemung vom Werke, je mehr man auf bestrittenes Gebiet kommt;
dem entsprechend fordert man im Ausland, da dort die Konkurrenz am
grSssten ist, die niedrigsten Preise. Somit stellen sich, je hdher die
Zdlle und je entfemter ein Empfinger von der Zollgrenze wohnt, um
so hShe^ fur ihn die Preise.
Damit sind wir bei der wichtigsten Titigkeit der Kartelle, ihrer
Preispolitik, angelangt. Aus dem eben formulierten Prinzipe erhellt.
262 ^
dass die Kartelle, wie jeder Kaufmann, im grossen und ganzen den
hdchsten Preis nehmen, den sie nach Lage des Marktes erzielen konnen.
Ich sage absichtlich: im grossen and ganzen: denn im einzelnen finden
sich Abweichuogen von diesem Prinzipe, je nachdem die Leitung, kurz-
sichtig, nur das momentane oder, weitsichtig, das dauernde Interesse
des Gewerbes ins Auge fasst. Und diese Weitsichtigkeit in der Leitung
scheint wesentlich abhSngig von der Art der Organisation dieser Monopol-
bildungen. Ich muss daher zunichst hieniber das ndtigste sagen.
Hinsichtlich dieser Organisation herrscht im Leben eine schier
unerschdpfliche Mannigfaltigkeit, je nach den besonderen VerhSltnissen
der kartellierten Produktionszweige und der Entwicklungsstufe, welche
die Monopolbildung erreicht hat.
Wir in Deutschland sprechen von Kartellen, und verstehen darunter
alle Vereinbarungen zwischen selbstSndigen Unternehmungen, welche
diesen noch ein grosseres oder geringeres Mass von Verfugungsfreiheit
gestatten. Sie bestehen in Preisvereinbarungen, Verabredungen fiber
die Kundschafty Produktions- und Absatzkontingentierungen, Gewinn-
und Vertriebskartellierungen. Alle sind, wie ich bereits dargelegt habe,
nichts anderes als die sachgemdsse Anwendung derselben Prinzipien,
deren Ausfuhrung lange vor den Unternehmerkartellen von den Arbeiter-
koalitionen versucht wurde, um ihre Ldhne hochzuhalten oder zu erhohen.
Alle ihre Massnahmen bezwecken, wo sie verkaufen, die Regelung des
Angebotes, wo sie kaufen, die Regelung der Nachfrage, dort um den
Preis nicht sinken zu lassen, hier, um ihn zu drucken, in beiden FSllen
selbstverstlndlich zur Erzielung des grosstmoglichen Gewinns. Zu diesem
Zwecke wird, wie von den Arbeiterkoalitionen gegenuber den sogenannten
Arbeitswilligen, so gegenuber den Outsiders Zwang geubt. Bewegt er
sich auch in anderen Formen, so ist er doch als Regel empfindlicher
und daher weit wirksamer, die Outsiders zum Anschluss zu vermogen.
Werden doch die Outsiders regelrecht boykottiert, indem man HSndlern
und Frachtfuhrern untersagt, mit ihnen in Geschdftsbeziehungen zu
treten, ja sogar an Firmen zu liefern verbietet, welche auch von
Outsiders kartellierte Produkte beziehen. Dabei ist die Disziplin, welche
das Kartell fiber seine Mitglieder fibt, weit strenger als die der Gewerk-
vereine. Geht doch das Recht des Kartellvorstands bis zur I$[ontrolle
der Verladung der von den Beteiligten vcrfr^chteten Ware und bis zur
Einsichtnahme von ihren sfimtlichen Bfichern und SchriPtsificken. Und, wie
ich schon betont habe, schfitzen die Gerichte, in Deutschland wenigstens,
die eingegangenen Kartellverpflichtungen der Unternehmer, wlhrend der
Abfall von denen der Arbeiter vom Rechte begunstigt wird.
Als die wirksamste Vereinigung verschiedener selbstSndiger Unter-
nehmungen erscheint diejenige, bei welcher, wie bei dem heute nicht
mehr bestehenden deutschen Walzwerksverband nach der Vereinbarung
von 1887, die einzelnen Werke auf das Recht des selbstandigen Ver-
kaufes verzichten und den Vertrieb ihter Produkte einer einzigen ge-
meinsamen Verkaufssietle ubertragen. Wirtschaftlich, wenn auch nicht
technisch, erscheinen die zum Verbande gchorigen Werke hier fast nur
263
mehr als WerkstMtten eines einzigen grossen Unternehmens. Ahnlich
nach der Organisation des rheinisch-westfllischen Kohlensyndikats. Hier
ist eine eigene Aktiengesellschaft, ausschliesslich zum Ankauf und Verkauf
von Kohlen, ins Leben gerufen; die syndizierten Zechenbesitzer haben
sich verpflichtet, alles, was sie an diesen Produkten herstellen, ausser
dem, was sie zu eigenen Zwecken verbrauchen, und anderen unter-
geordneten Mengen, an diese Aktiengesellschaft zu verkaufen; diese
verkauft die Kohlen selbst weiter; an Produktion und Absatz sind die
einzelnen Zechen nach Massgabe ihrer eingeschitzten Leistungsfahigkeit
beteiligt. Analog sind das Kokssyndikat, der Brikett-Verkaufsverein
organisiert.
So straff diese Organisation ist, so bleiben doch auch hier aus
der Vielheit selbstandiger Untemehmungen unvermeidlich hervorgehende
Interessenkonflikte. In Amerika dagegen gibt es Trusts, bei denen die
Selbstlndigkeit der dazu gehdrigen Werke vdllig aufgehort hat; diese
sind da vielfach in einer riesigen Aktiengesellschaft aufgegangen, stehen
unter einem einheitlichen Untemehmerwillen, so zwar, dass fiir einen
bestimmten Markt Bezug resp. Lieferung von Waren und Leistungen
zu anderen als von diesem einheitlichen Untemehmerwillen festgesetzten
Bedingungen dkonomisch nicht in Betracht kommt. Nicht alle ameri-
kanischen Trust sind auf dieser Entwicklungsstufe angelangt, und die
Amerikaner selbst nennen Trusts alle monopolistischen Bestrebungen
von der losen Preisvereinbarung selbstSndiger Untemehmer bis zur
Konzentration der Leitung aller Werke in einer Hand. Wir in Deutsch-
land aber gebrauchen, freilich etwas willktirlich, das Wort Trust nur
fur die eine Art der Monopolbildungen, bei welcher jede Selbstlndig-
keit der einzelnen Werke aufgehdrt hat.
Und allerdings ist es von der grossten sowohl sozialen wie volks-
wirtschaftlichen Bedeutung, in welchem Masse die vereinigten Werke
ihre Selbstlndigkeit verloren haben. Das deutsche Kartell selbstdndig
bleibender Untemehmungen, durch welches die Konkurrenz durch Preis-
vereinbarung und Produktions- und Absatzkontingentierung beschrinkt
wird, bedeutet fiir die Teilnehmer die Garantie ihrer Existenz gegenuber
Ubemidchtigen; die deutche Erfahrung seit 1888 hat vollauf meinen
vielangefochtenen Vergleich (Schdnlank, Bticher, Pohle) seiner Wirksam-
keit mit der der alten Zunfte bestdtigt. Das dagegen, was wir in Deutsch-
land allein mit Trust bezeichnen, hat zwar die Selbstandigkeit der ein-
zelnen Untemehmungen vernichtet, dagegen bietet es den Vorteil, dass
es die Beteiligung kleiner Kapitalisten an den Vorteilen des Gross-
betriebes gestattet. Also Konzentration des Betriebs ohne Konzentration
des Kapitals. Dabei soil nicht geleugnet werden, dass die kleinen
Kapitalisten in Amerika hMufig durch Oberkapitalisation bei der Gnindung
des Trust Schaden erfahren haben; indes erscheint dies lediglich als
Folge der mangelhaften amerikanischen Aktiengesetzgebung, nicht aber
als etwas dem Wesen des Tmst Eigentiimliches, was nicht durch Ver-
bessemng der Gesetze behoben werden konnte.
Mit diesem sozialen Unterschiede zwischen Kartell und Trust
264 8^
hftngen nun die wichtigsten volkswirtschaftlichen Verschiedenheiten zu-
sammen. Dieser Unterschied beruht nicht in einer verschiedenea
Stellung von Kartell und Trust zum Handel. Ihm gegeniiber ist ihre
Wirkung voUstdndig dieselbe. Bei beiden ist derjenige, der die Produloe
vertreibt, zu einem blossen Agenten geworden. Ganz abgesehen davon^
dass ihm vorgeschrieben ist, bei wem er kaufen darf, nimlich allein
beim Kartell, wird ihm auch vorgeschrieben, was er kauft, zu welchem
Preise er kauft, das Absatzrevier, wohin er verkaufen darf, die Ver-
kaufspreise, die ihm zu nehmen eriaubt ist. Die vor der Kartell-
kommission vernommenen Kaufleute geben zu, dass das Kartell sie
materiell nicht schlecht gestellt hat, und sie beteuern in submissester
Weise ihre heissen Wunsche ftir Fortbestand und Wohlergehen des
Kohlenkartells. Trotzdem kann der aus den Tiefen des Herzens auf-
steigende Seufzer nicht unterdruckt werden: »Wir sind keine Kaufleute
mehr, uns ist die freie Bewegungsmoglichkeit vollstandig genommen,
die Intelligenz des einzelnen ist absolut ausgeschaltet* und in unuber-
trefflicher Weise wird die Situation gekennzeichnet durch den Kohlen-
grosshSndler Vowinkel*Dusseldorf, wenn er ruft: Ave Caesar morituri te
salutant. Ganz genau so ist die Verdnderung der Stellung des Kauf-
manns beim Trust. Bei beiden liegt in dieser Anderung nichts, was
im Interesse des Ganzen beklagenswert wire. Bringt sie doch durch
Wegfall der Reklamekosten und bei dem Interesse sowohl von Kartell
wie Trust, den Konsumenten vor Ubervorteilung durch den Hindler zu
behuten, Erspamisse.
Allein ganz anders das Verhiltnis von Kartell und Trust zur
Produktion und dem entsprechend zur Preisbestimmung. Beim Trust
liegt nicht nur die Verwertung der Produkte, sondem auch die tech-
nische Leitung und die Verwaltung der einzelnen zugehorigen Werke,
in einer Hand; beim Kartell liegen sie in der Hand einer grosseren
Oder geringeren Anzahl von Untemehmungen. Dieser Unterschied hat
die weittragendsten Folgen, nicht nur privatwirtschaftliche sondem fur
die gesamte Volkswirtschaft.
Es ist nMmlich volkswirtschaftlich von dem grdssten Interesse, dass
die Produktionskosten einer Ware, selbstverstindlich soweit dies ohne
Verschlechterung der Lebensbedingungen der bei ihrer Herstellung titigen
Menschen geschehen kann, mdglichst gemindert werden. Es liegt dies
sowohl im Interesse der nationalen Wirtschaft als auch in dem der
Stellung des Landes auf dem Weltmarkt. Unter der Herrschaft der
Konkurrenz wird diese Minderung der Kosten dadurch erreicht, dass
die leistungsfahigeren Betriebe die leistungsunfihigen unterbieten, bis
diese vom Markte verschwinden. Der Trust bewirkt dasselbe in weniger
grausamer Weise, indem er den leistungsunfihigen Betrieb aufkauft und
stillestellt. An die Stelle der Erdrosselung tritt der Morphiumtod. Das
ist humaner und wahrt in noch hoherem Masse das Interesse des Ganzen.
Nach Ausschaltung der leistungsunfShigen konzentriert der Trust dann
den Betrieb in den leistungsfihigsten Werken. Das bietet Vorteile der
verschiedensten Art. Die Betriebe, die fortgeftihrt werden, konnen nun
265 8^
vol! beschMftigt werden und zwar ohne Unterbrechung. Nebenprodukte
tind AbflLlle werden besser ausgenutzt. Wo das Produkt schwer ist, so
dass die Frachtkosten einen grossen Teil der Kosten aasmacben, findet
«ine grosse Frachtersparnis statt durch geeignete Verteilung der Betriebe
in den verschiedenen Landesteilen. Desgleichen findet grosse Erspamis
statt durch Durchfuhrung einer Arbeitsteilung unter die technischen Be-
triebe je nach ihrer Etgnung ftir das eine Oder andere spezielle Produkt.
Femer trotz hoherer Gehilter Ersparnis durch BeschrSnkung der Zahl
der hoheren Beamten. Steigerung der Tuchtigkeit in der Leitung, das
letztere sicher freilich nur da, wo die Leiter auch grosse Trust-Aktionftre
sind; sonst macht sich der Nachteil des minder intensiven Interesses
<ler Beamten geltend. Ganz besonders: Erleichterung einer grossartigen
Entfaltung des Ausfuhrhandels; ihr grosses Kapital gibt den Trusts die
Mittel, uber den ganzen Erdball hin Agenten zur Erweiterung ihrer
Kundschaft zu besolden. Also als Ergebnis grdsstmdgliche Leistung bei
mindesten Kosten. Dem entsprechend auch die Preispolitik der Trusts.
Sie wollen, wenigstens nach ihrer Angabe, den grdsstmdglichen Gewinn
erzielen nicht durch Steigerung der Preise, sondem durch Minderung
der Produktionskosten. Tatsichlich kann man ihnen auch nicht vor-
werfen, dass sie die Preise bis jetzt getrieben hfttten. Im Gegenteile;
die Preise ihrer Produkte sind vielfach nicht unerheblich herabgegangen.
Dabei ist allerdings eines zu beachten. Selbst den umfassendsten Trusts
1st es noch nicht gelungen, alle Betriebe eines Produktionszweigs in
sich zu vereinen ; immer noch verfugen sie nur uber den grosseren Teil
der Produktion einer bestimmten Ware; noch fehlt nirgends vdllig die
Konkurrenz. AUein die tatsftchliche Herrschaft uber den grossten Teil
eines Produktionszweigs reicht aus, einen weitgehenden Einfluss auf
die Preise zu geben, wenn auch kein Zweifel ist, dass die Rticksicht
«uf die Konkurrenz, die noch vorhanden ist, und auf die, welche neu
entstehen kdnnte, dem Missbrauch dieses Einfiusses eine Schranke zieht.
So kann man der Preispolitik der Trusts heute hochstens vorwerfen,
dass, wenn sie auch die Inlandspreise nicht mutwillig getrieben hStten,
diese ohne sie noch niedriger sein wurden, etwas, was schwer zu be-
weisen ist, und ferner dass sie zur Erweiterung ihres Absatzes, ebenso
wie die Kartelle, ans Ausland billiger als ans Inland verkaufen.
Ganz anders die Preispolitik der Kartelle. Bedeutet der Trust die
Aufeaugung leistungsunfEhiger Betriebe durch die leistungsfahigsten, so
suchen im Kartell die schwScheren gerade den Schutz gegen Vernichtung
ihrer selbstindigen Existenz. Sie woUen nicht sterben, weder durch
Erdrosselung noch in weniger schmerzvoller Weise durch Morphium, und
«uchen durch die vertragsmSssige Garantie ihres Absatzes vor beidem
bewahrt zu werden. Dies iibt aber eine notwendige Ruckwirkung auf
die Preispolitik des Kartells. Soli durch dieses auch das wenigst
leistnngsflhige Werk am Leben erhalten werden, so muss der Preis
4iugenscheinlich so hoch sein, dass er auch die Produktionskosten des
leistungsunffihigsten deckt. Daher wird denn in der Kartellkommission
•stets nur die Erzielung eines .angemessenen* Preises als Zweck der
S&ddctttscbe Monattbcfte. 1,4. 18
HH| 266 8^
Kartelle angegeben; von einem Einfluss derselben auf die Kosten^
wenigstens von einem direkten, h5ren wir nichts. Nur ein Fall wird
erwfthnt, in welchem eine Bergbaugesellschaft eine Zeche, die nicht mehr
leistungsfahig war, aufkaufte, um deren Beteiligungsziffer an der Produktion
zu erlangen, und sie still stellte. Die Beteiligungsziffer der einzelnen
kartellierten Werke ist namlich fur die Dauer des Kartells eine Art
Realgerechtigkeit, die auch verSussert werden kann. Als ^angemessener'^
Preis aber erscheint der, bei welchem auch die schlechtesten Anlagen
noch prosperieren. So z. B. wenn uns erzihlt wird, wie man Ende der
achtziger Jahre geglaubt babe, dass der eigentliche alte Ruhrbergbau
seinem Ende entgegensehe. „Die meisten Zechen wurden fur abgebaut
gehalten; sie waren nach Lage des ganzen westfdlischen Marktes nicht
mehr existenzfihig/* Es waren dies die Magerkohlenzechen. Da kam
das Kartell. Durch dieses wurden die Preise so gestellt, dass diese Zechen
nicht nur wieder existenzRhig wurden, sondem der ganze Ruhrbergbau
wieder zu neuem Aufbluhen gelangt ist.
Daher femer die grossen Schwierigkeiten einer ttichtigen Kartell*
leitung, wie sie uns aus den Ausfuhrungen des Geheimrats Kirdorf-
Gelsenkirchen vor der Kartellkommission so anschaulich entgegentreten.
Eine weitsichtige Kartellleitung wird nimlich stets die dauernden Inter*
essen des Gewerbszweiges ins Auge fassen. Sie wird stets daran
denken, dass auch das eigene Gewerbe nur dann dauernd zu gedeihen
vermag, wenn auch seine Kunden kauffMhig bleiben. Daher wird sie in
Zeiten des Aufschwungs die Preise nicht bis zu dem Satze treiben, der
sich nach Lage des Marktes irgend erpressen Usst, und in Zeiten des
Niedergangs, trotz ihres Monopols, mit den Preisen soweit herabgehen,
dass seine Abnehmer ihre Existenz fortzufristen vermogen. Geheimrat
Kirdorf aber zeigt, welchem Widerstand eine solche Preispolitik seitens
der weniger leistungsflhigen Betriebe begegnet. In Zeiten des Auf*
schwungs drSngen sie, die Konjunktur bis aufs Susserste auszubeuten;
in Zeiten des Niedergangs mochten sie die Monopolstellung zur Aufrecht-
haltung der Hochkonjunkturpreise ausnutzen. Nur mit Muhe bringt sie
dann die Kartellleitung zu einem Kompromiss, und auch nach diesem
bleiben die Preise noch tiber dem Satze, der den Kunden die Fort*
fristung ihres Lebens ermoglicht.
Damit stellt sich die Preispolitik der Kartelle in scharfen Gegen-
satz zu dem allgemeinen volkswirtschaftlichen Interesse. Sie erscheint
nicht als im Interesse des Fortschritts der nationalen Wirtschaft, sondem
einfach als eine von den Gesichtspunkten nickstSndiger, aus irgend einer
Ursache leistungsunfahiger Betriebe beherrschte Zunftpolitik. Auch wird
dieser Widerspruch ihres Interesses mit dem der nationalen Wirtschaft
gar nicht geleugnet; nur wird geltend gemacht, dass die Kartelle in
erster Linie eben nicht das volkswirtschaftliche, sondern ihr eigenes
Interesse zu verfolgen hStten. Und es wSre ungerecht zu leugnen, dass.
jedwede Art von ErwerbstStigen genau so zu denken pflegt. Allein wo
freie Konkurrenz herrscht, bringt diese von selbst die Korrektur jedweder
Ausschreitung engherzigen Sonderinteresses. Die freie Einfuhr wurdet
-o^ 267 8^
alsbald jeden Versuch scheitern lassen, in Zeiten niedergehender Kon-
junktur Hochkonjunkturpreise zu halten. Haben jene Sonderinteressenten
ein Monopol, so ist dieses Heilmittel ausgeschlossen, und damit zeigt
der eingenLumte Widerspruch zwischen dem Sonderinteresse der Mono-
polisten und dem allgemeinen volkswirtschaftlichen Interesse die Gefahr,
welche jede Art von Monopolbildung birgt. Diese Gefahr mag dann
noch leicht ertragen werden, wenn durch die Monopole nur diejenigen
geschSdigt werden, die man heute als i,nackte'' Konsumenten zu verachten
pflegt. Gewiss erscheint diese Verachtung als unberechtigt, wenn wir
uns vergegenwirtigen, dass zu diesen ^nackten Konsumenten* Millionen
gehdren, denen jedwede Mdglichkeit fehlt, cntsprechend der Verteuerung
ihres Verbrauchs auch ihre Einnahmen zu steigem. Allein mag man je
nach der individuellen Denkweise auch dem Armsten mitleidlos zumuten,
durch gesteigertes Darben sein Scherflein zur Erhaltung LeistungsunfEhiger
beizutragen, ganz anders stellt sich die Gefahr, wenn jene Preispolitik
Konsumenten bedroht, welche nur kaufen, um weiter zu verarbeiten,
die Fertigfabrikation in ihren verschiedenen Stadien.
Dies fuhrt uns zu der Frage, in welchen Produktionsstadien einer
gebrauchsfertigen Ware die Monopolbildung am leichtesten, ergiebigsten
aber auch geflhrlichsten fUr andere ist.
Das Hauptstreben des Monopolisten ist stets darauf gerichtet, die
Stellung im Produktionsprozess einzunehmen, in der alle, von denen
sie kaufen oder an die sie verkaufen, von ihnen abhSngig sind. Rockefeller
hat dies fur die Petroleumraffinerie erreicht, indem er sich die Herr-
schaft uber alle Transportmdglichkeiten von Rohdl zu den RafHnerien bin
verschaffte und die Kontrolle uber alle Raffinerien erlangte. Ohne selbst
erhebliche Petroleumquellen zu besitzen, brachte er sie so nahezu alle
in Abhingigkeit und schuf damit das Monopol des Standard-Oil-Trust.
Bei uns dagegen, wo eine solche Beherrschung der Transportmdglichkeiten
durch das Staatsbahnsystem ausgeschlossen ist, erscheinen die fruhen
Stadien des Produktionsprozesses einer gebrauchsfertigen Ware als die-
jenigen, welche den darin titigen Monopolbildungen die Herrschaft oder
mindestens einen sehr weitgehenden Einfluss auf alle folgenden Stadien
verleihen. Kohle, Koks, Roheisen sind die Produkte, von deren regel-
missigem und billigem Bezug die Existenz nahezu alter deutschen Pro-
duktionszweige abhSngig erscheint. Namentlich ist es bei uns die Kohle,
welche die Stellung einnimmt, wie sie in fruherer Zeit dem Getreide
zukam. Gewiss, ohne Getreide kdnnen wir heute so wenig wie friiher
leben, allein Getreide haben wir heute im Oberfluss, nicht aber Kohle,
und ohne sie stockt heute unsere gesamte Produktion. Die Kohle er-
scheint heute als das wichtigste Lebensmittel.
Auf das Deutlichste tritt uns diese Bedeutung von Kohle, Koks
und Roheisen aus den bisherigen Verhandlungen der Kartellkommision
entgegen, namentlich aber die der Kohle. Die Abhdngigkeit, in welcher
sich alle Stadien der Fertigfabrikation, und zwar in alien Arten von
Produktionszweigen, selbt in scheinbar femliegenden, wie der Papier-
fabrikation, von dem Monopole der Grubenbesitzer befinden, ist der
I8»
268 8^
tiefste Eindruck, den man vom Lesen der Verhandlungen erhalt. Da-
bei ist anzuerkennen, dass die Leitung, namentlich des rheinisch-west-
ffilischen Kohlensyndikats, eine massvolle Preispolitik verfolgt hat, soweit
es ihr die Zugehdrigkeit der weniger leistungsfihigen Zechen gestattet
hat, und auch die ursprunglich sehr heftigen Klagen uber das Koks-
syndikat haben im Laufe der Verhandlung an SchSrfe verloren. Nichts-
desto weniger, was ist das Ergebnis? Dass alle Betriebe, die auf den
Bezug von Kohlen und anderen Rohstoffen von anderen Betrieben an-
gewiesen sind, in wirtschaftlichen Niedergangszeiten gegenuber den ge-
mischten Werken, welch^ diese Rohstoffe selbst produzieren, so un-
gunstig stehen, dass sie sich auf die Dauer nicht zu halten vermogen.
Die Benachteiligung der im Gegensatz zu diesen gemischten Be-
trieben sog. reinen Werke findet in doppelter Weise statt: Einmal durch
Hochhalten des Preises des kartellierten Produktes im Inland, und zweitens
durch billigeren Verkauf desselben ins Ausland.
Durch das erstere: Die weniger leistungsfShigen Betriebe verlangen,
dass der Preis so hoch sei, dass er nicht nur ihre hohen Produktions-
kosten deckt, sondem auch moglichst hohen Gewinn dariiber hinaus ab-
wirft. Was ist dann die Lage der Betriebe im spateren Stadium der
Produktion? Ihre Produkte sinken im Preise; infolge des Hochhaltens
des Preises der Rohstoffe bleiben ihre Produktionskosten aber nach wie
vor hoch. Wer also irgend kann, sucht Kohlen-, Koks-, Hochofenwerke
mit seinem Betrieb zu verbinden. Nun wird er von dem Hochhalten
des Preises seiner Rohstoffe nicht nachteilig beruhrt. Ganz im Gegen-
teil; produziert er die von ihm verarbeiteten Rohstoffe im eigenen Betriebe
billiger als zu dem Preise, zu dem das Kartell seinen Konkurrenten sie
liefert, so kann er den Preis seines Fertigprodukts auf dem Inlandsmarkt
niedriger wie diese stellen; er kann sogar unter die speziellen Produktions-
kosten des Fertigfabrikates herabgehen; denn was er hier etwa voruber-
gehend verliert, wird ihm durch das ersetzt, was er an dem selbsterzeugten
Rohstoff gewinnt, und dadurch, dass er die sog. reinen Betriebe, die sich
nunmehr nicht halten kdnnen, als Konkurrenten in der Fertigfabrikation
fur die Zukunft verliert.
Die reinen Betriebe werden aber zweitens dadurch benachteiligt,
dass die kartellierten Werke ihre Rohprodukte und Halbfabrikate billiger
ins Ausland verkaufen. Ihre Generalkosten sind durch die hohen Preise,
die sie dem heimischen Konsumenten abnehmen, gedeckt; sie konnen
daher ohne Verlust viel billiger, selbst unter ihren Kosten, an das Aus-
land verkaufen. Ein Fall dieser Art hat besonders die Verhandlung uber
das Kokssyndikat beschSftigt. Inlindische Eisenwerke wurden durch die
Andeutung, dass man nicht wisse, ob man im kommenden Jahre Koks
fur sie haben werde, in Angst versetzt und so veranlasst, auf einen
fur das bestehende Jahr bereits vereinbarten Preis von 14 Mk. per
Tonne zu verzichten, und dafur zu einem Preis fur zwei Jahre zu 17 Mk.
abzuschliessen; unterdessen aber lieferte man auf Grund fruherer Vertrige
an die Prager Eisenwerke nach wie vor zum Preise von 8,10 Mk. Das ist
aber nicht der einzige Fall billigen Verkaufens ans Ausland; vielmehr
260 8^
zieht sich die Klage fiber diese Praktiken durch die ganze Kartellenquete
hindurch. Die Folge ist, dass die reinen Betriebe auch die Konkurrenz
des Auslands nicht mehr zu bestehen vermogen, selbst da nicht, wo
die Rohstoffkartelle ihnen Ausfuhrprftmien fur die von ihnen ausgefuhrten
Mengen bewilligten. Denn diese waren nie so hoch, dass sie die Ver-
teuerung des Inlandpreises der Rohstoife wettmachen konnten. So er-
scheint in einer Reihe von Produktionszweigen die Stunde der reinen
Betriebe geschlagen zu haben, wenn nicht Abhilfe kommt. Der Schutz
der leistungsunfShigen Betriebe in der Rohproduktion durch horizontale
Konzentration der Betriebe ffihrt zu einer vertikalen Konzentration der
Betriebe, indem die Betriebe der spSteren Produktionsstadien sich nicht
zu halten vermdgen. Die Preispolitik der Kartelle rettet die Leistungs-
unflhigen vor Ausschaltung im fruheren Stadium durch Auschaltung
von Betrieben, die sonst leistungs^hig geblieben wSren, in einem spdtem
Produktionsstadium. Nur die Betriebe der spSteren Stadien vermdgen
sich zu halten, welche mit Betrieben der vorhergehenden sich zu ge-
mischten Betrieben vereinen.
Das sind die sog. MissbrSuche unserer Kartelle, welche die ofTent-
liche Meinung in den letzten Jahren so sehr erregt haben, dass sie zur
Niedersetzung einer Untersuchungs-Kommission gefuhrt haben. Und
wenn auch die Art und Weise, wie hier die Untersuchung gefuhrt wird,
keineswegs der Art ist, dass sie die ganze Wahrheit ans Tageslicht zu
bringen vermag, so ist doch genug bekannt geworden, um die Klagen
der reinen Betriebe in der Hauptsache zu rechtfertigen. Dies gilt nicht
nur hinsichtlich der Preise, die sie bezahlen mussen, sondem nicht
minder hinsichtlich der ihnen gelieferten Mengen und Qualitlten. Sie
erscheinen als in voller AbhSngigkeit vom Monopole und durfen froh
sein, wenn sie uberhaupt noch etwas bekommen, gleichviel zu welchem
Preise, in welcher Menge und Gute und zu welchen sonstigen Bedingungen.
Es ist nun hochst interessant zu verfolgen, in welcher Weise sich
das Mass der Abhingigkeit der verschiedenen Produktionsstadien der
gebrauchsfertigen Ware in den Ausserungen ihrer Vertreter spiegelt.
Die Roheisenindustrie hat nur Lob fur das Kohlensyndikat, wenigstens
in Rheinland-Westfalen. Sie ist nSmlich gleichfalls stark kartelliert;
was sie gegen das Kohlen- und Kokssyndikat sagen wtirde, wurde also
auch gegen sie selbst gelten; auch ist sie unter der Herrschaft des
Schutzzolls durch ihr Kartell in Stand gesetzt, eine etwaige Verteuerung
ihrer Kosten auf ihre Abnehmer weiterzuwSlzen. Zudem haben die
Hochofenwerke, ausser denen im Siegerland, selbst eigene Zechen;
ebenso die schlesischen Hochofenwerke mit Ausnahme eines einzigen;
und dieses klagt allerdings laut gegen die oberschlesische Kohlenkonvention
und wSre, wenn nicht der preussische Staat ein Funftel der schlesischen
Kohlengruben beslsse, Musserst geflhrdet, und auch so war es in letzter
Zeit ausser Stand, eine Dividende zu zahlen. Was fur das Roheisen
gilt, gilt auch fur die Herstellung von Halbzeug. Dagegen mindert sich
die uberwiegende Anerkennung, welche den Kartellen der vorausgehenden
Produktionsstadien zuteil wird, je mehr wir in die Fertigfahrikation
270 8^
hineinkommen. Zwar sagt ein jeder, dass er es sehr bedauern wurde,
wenn diese Kartelle aufhoren wurden. Wer aach wurde es mit den
UbennSchtigen durch zu lautes Klagen verderben woUen. Aber durch
alle Lobspniche durch sieht man die ZMhren rinnen. Sie fliessen noch
sanft in den Ausserungen der Walzwerke uber das Kohlensyndikat.
„Sag ihm, aber sag's bescheiden," gilt fiir ihre Klagen. Es wurde alles
vortrefflich sein, wenn, — ja wenn man nur auf diese oder jene Lebens-
bedingung der Klagenden grossere Rlicksicht ndhme. Bei den Kleineisen-
industriellen wird das Klagen schon lauter; ihre Lobeserhebungen machen
den Eindruck der Versicherungen des gepriigelten Knaben, wie sehr er
seinen Lehrer liebe, wenn dieser nur aufhdren wolle, ihn zu hauen;
aber auch die Kleineisenindustriellen rufen »Alles Heil und recht viel
Segen"*, wenn man nur die dringendsten ihrer Wiinsche beriicksichtigen
wollte. Hier verwandeln sich die Verhandlungen vor der Kommission
nahezu aus einer Untersuchung in ein Markten um Zukunftsbedingungen.
Die Maschinen-, die Zink-, Blei- und sonstigen Metallindustrien er-
kliren ehrlich, dass sie mit dem Kohlensyndikat sich abgefunden haben,
denn seit dessen Grundung hMtten sie so viel an die Bergwerke verkauft,
dass sie bei dessen Bestehen ihre Rechnung gefunden. Nur die Ver-
treter agrarischer Interessen zeigen in den Verhandlungen tiber das
Kohlensyndikat ihre erfrischende Rucksichtslosigkeit in ihren Klagen
fiber die Hintansetzung ihrer Einkaufsgenossenschaften gegenuber den
HUndlem; allein es wird ihnen entgegnet, sie seien unzuverlSssige Ab-
nehmer; nach einigem Zureden erklirt man sich indes bereit, zusehen
zu wollen, ob man ihnen entgegenzukommen vermdge. In den Ver-
handlungen tiber den Verband deutscher Druckpapier-Fabrikanten treten
sich deren Verkaufsstelle und die Einkaufsstelle der Drucker schon als
weit heftigere Gegner gegenuber; allein auch hier endet die Aussprache
mit einer fast demutigen Bitte der KMufer, die ausgeteilten Nadelstiche
doch vergessen zu wollen. Ganz anders freilich in den Verhandlungen
tiber die sehr viel schlechter als das Kohlensyndikat organisierten
Kartelle der zoUgeschutzten Eisenindustrie. Da platzen die Gegensatze
zwischen den Roheisensyndikaten und den weiterverarbeitenden In-
dustrien geradezu leidenschaftlich aufeinander. Verletzung von Treu
und Glauben, von guter Sitte und Recht ist der Vorwurf, der den
Roheisensyndikaten entgegengeschleudert wird. Vermoge der durch sein
zollgeschutztes Monopol erlangten Machtstellung notige es seine Ab-
nehmer unter Vorspiegelung nicht vorhandener Eisennot zu langfristigen
Vertragen bei hohen Preisen, halte sie dann selbst nicht ein, noch dazu
bei ungleichmflssiger Behandlung der Kunden, verbote seinen Abnehmern
den Wiederverkauf der ihnen auf Grund seiner Praktiken aufgenotigten
zu grossen Mengen, wenn die sinkende Konjunktur deren Weiter-
verarbeitung unmoglich mache, und verweigere die Garantie fur die
bedungene Qualitit der gelieferten Ware. Vor allem aber: seine Mit-
glieder verkauften billiger an die ausldndischen Konkurrenten der Weiter-
verarbeiter und raubten ihnen damit den Absatzmarkt. In dieser Klage
sind alle weiterverarbeitenden Industrien einig, die Erzeuger von
271 8^
Giessereiroheisen, von Puddelroheisen, die Maschinenfabrikanten, darunter
besonders die suddeutschen, und in unversdhnter Dissonanz schliessen
die Verhandlungen uber den Roheisenverband. Aber noch leidenschaft-
licher gestalteten sich am folgenden Tage die Verhandlungen uber den
Kalbzeugverband, d. h. des Verbands der Werke, welche Blocke,
Knuppely Platinen, kurz alles Material, welches zu Fertigfabrikaten
weiterverarbeitet wird, herstellen. Das Kohlensyndikat hatte wegen
der weisen Missigung in der Ausnutzung seines Monopols uberwiegende
Anerkennung gefunden; das Kokssyndikat wurde schon scharf an-
gegriffen; die Klagen nahmen beim Roheisenkartell an StSrke in dem
geschilderten Masse zu, um beim Halbzeugverband den Hdhepunkt zu
erreichen. Der immerwahrende Refrain der Fertigfebrikanten lautet:
die Spannung der Preise zwischen Halbzeug und Fertigfabrikat ist zu
gering; die Inlandspreise sind zu hoch, wdhrend die zum Halbzeugverband
gehdrigen Werke ans Ausland allzu billig verkaufen. Die Folge ist,
dass die Fertigfabrikation, welche nicht das von ihr benotigte Halbzeug
selbst herstellt, nicht linger bestehen kann. Die reinen Betriebe
werden auf dem inlandischen durch die Konkurrenz der gemischten
Betriebe, auf dem auswirtigen Markte durch die Konkurrenz der Eng-
linder und Amerikaner, denen deutsches Halbzeug billiger als den
Deutschen geliefert wird, erdrtickt. Und diese Klagen werden bestfttigt
durch das bertibmte Blaubuch, das die englische Regierung aus Anlass
des Vorgehens Chamberlains im September vorigen Jahres verdffentlicht
hat. Da ist wiederholt von den Vorteilen die Rede, welche der eng-
Hschen Fertigfabrikation erwachsen sind aus der Lieferung deutscher
Halb- und Ganzfabrikate zu billigeren Preisen, als sie ihren deutschen
Konkurrenten geliefert wurden. »Auf dem Banner so schliesst der
Vertreter der reinen Walzwerke seine zahlreichen Auslassungen, „auf
dem Banner, das wir reinen Walzwerke tragen, steht: Schutz der
nationalen Arbeit. Den Schutz der nationalen Arbeit finden Sie in dem
Zollschutz, der ihnen gewShrleistet ist, fur Halbzeug; wire dieser Schutz
nicht da, dann wurden wir in diesem Augenblick sehr billiges Halbzeug
vom Ausland kaufen konnen. Die (gemischten) Werke Ihres Verbandes
aber verkaufen Stabeisen zu so billigen Preisen, dass wir dafur Stab-
eisen bei heutigen Halbzeugpreisen entfemt nicht herstellen konnen.
Den Schutz der nationalen Arbeit, den Sie fiir sich in Anspruch nehmen
und den wir Ihnen auch geme ^egonnt haben, den haben Sie uns, Ihren
treuen Abnehmem, mit diesen Unterbietungen genommen.*
So weit also hat das protectionisti^che SolidaritStssystem es gebracht^
dass der Vertreter eines geschutzten Erwerbszweigs den Vertretem anderer
diese Worte zurufti
Was nun sind die vorgeschlagenen Mittel gegeniiber diesen sog.
Kartellmissbr&uchen, fiber die man so leidenschaftlich klagt?
Es entspricht einer weit verbreiteten Gemutsstimmung, dass man
gegenuber einem Missbrauch zunlchst nach der Polizei schreit. So
auch hier. Vor allem wird ein Kartellregister verlangt, in das alle be-
stehenden Kartelle sich eintragen sollen. Dagegen ist von keinerlei
272 8^
Standpunkt aus etwas einzuwenden. Ausserdem verlangen viele OfPent*
lichkeit der Kartellverhandlungen. Niemand aber, der die Kartellenquete
verfolgt und dabei gesehen hat, wie dabei jedwedes Verhor der Inter*
essenten, durch welche allein die Wahrheit auch nur annahemd hitte
festgestellt werden kdnnen, ausgeschlossen wurde, wird emstlich glaoben,
dass das Reichsamt des Innem sich zur Einfuhrung der Offentlichkeit
der Kartellverhandlungen als organischer Einrichtung verstehen werde.
Auch kdnnen Kartelle ihrer geschiftlichen Natur nach Geheim-
haltung ihrer Beratungen und Beschlusse geradezu bendtigen. Weiter-
gehende verlangen sodann Unterdruckung der Kartelle durch die Gesetz-
gebung. In den Vereinigten Staaten, wo die Bildung von Monopolen
zudem den Grundsitzen der Verfassung ausdrucklich widerspricht, hat
man in der Tat die Gesetzgebung zur Unterdruckung der Trusts in Be-
wegung gesetzt. Es hat dies aber nicht die Folge gehabt, die Trusts zu
beseitigen, sondem zu stirken; an die Stelle der fniheren Vereinigung
selbstindiger Untemehmungen trat lediglich ihre geschilderte Ver-
schmelzung in einer einzigen Aktiengesellschaft. Es IMsst sich nicht
absehen, wie ein gesetzgeberischer EingrifF zur Unterdruckung der
Kartelle auch bei uns eine andere Folge haben kdnnte als die, die
Konzentration der Betriebe zu einem mdchtigen Monopole, die man be-
kimpfen will, zu verstirken.
Allein auch nur an Versuche, die Monopolbildung auf dem Wege
der Gesetzgebung zu unterdrucken, ist bei uns nicht zu denken. Das
Reichsamt des Innem ist vielmehr im hdchsten Masse kartell freundlich.
Vergleicht man die Ausserungen der die Kartellenquete leitenden Beamten
mit denen des Mannes, den die Kartellenquete als die Seele des deutschen
Kartellwesens geoffenbart hat, des ausgezeichneten und weitsichtigen
Leiters des rheinisch-westfalischen Kohlensyndikats, Geheimrats KirdorF-
Gelsenkirchen, so scheint vielmehr die weitestgehende Obereinstimmung
zwischen dessen Anschauungen und denen des Reichsamts des Innem
zu herrschen, und die ganze Kartellenquete tritt uns entgegen weit
weniger als eine Untersuchungskommission zur Feststellung der Wahrheit,
als vielmehr als der Johannes, der dem kommenden Messias die Wege
zu ebnen berufen ist. Und was erscheint als das Programm, das nach
der Auffassung der Regierang die Losung aller Schwierigkeiten bringen
soli? Der Rat, der erteilt wird, heisst .Kapitalisten aller Gewerbe ver-
einigt euch!" Die Leiden der Fertigfabrikation haben nur darin ihren
Gmnd, dass nicht auch sie kartelliert ist. Mdgen doch die weiter-
verarbeitenden Industriezweige sich zusammenfinden und uber eine
Organisation sich verstindigen. Die bestehenden Syndikate konnen
doch nicht mit jedem der unzfthligen bestehenden Werke der Fertig-
fabrikation gesondert verhandeln und mit ihm in freiem Vertrage be-
sondere Bedingungen vereinbaren; da bleibt nichts anderes, als diese
nach dem einseitigen Ermessen der Syndikate festzustellen. Anders,
wenn die verschiedenen Zweige der Fertigfabrikation, in Verbanden
organisiert, ihnen gegenubertreten. Dann kann, ihnlich wie im Einigungs-
amt zwischen den Organisationen der Arbeitgeber und Lohnarbeiter, in
273 ^
gemeinsamer Verhandlung ein Ausgleich der entgegenstehenden Interessen
gefanden werden. Als Spitze dieser Neuorganisation der Industrie denkt
man sich dann wohl ein Generaleinigungsamt, das Kartell der Kartelle.
Bis dahin scheint freilich der Weg noch weit. Zeigt doch die
Fertigfabrikatlon schier untiberwindliche Schwierigkeiten der Organisation.
Nicht als ob diese fQr alle Zweige der Weiterverarbeitung gllten. Wo
Massenprodukte hergestellt werden, haben wir allerdings bereits sehr
stark organisierte Kartelle gehabt und bestehen dermalen noch eine
ganze Anzahl. Aber tiberall, wo QualitMtsprodukte hergestellt werden,
sind bisher aus schon dargelegten Grunden alle Kartellierungsversuche
gescheitert. Es gibt sogar SachverstSndige aller ersten Ranges, wie den
bekannten Carnegie, welche die ganze Monopolbildung fur eine nur
vorubergehende Episode im modernen Wirtschaftsleben erachten, welche
sehr bald wieder dem entgegengesetzten Streben Platz machen werde,
wo der Staat sie nicht kunstlich unterstutze. Aber nehmen wir an,
Carnegie habe unrecht. Nehmen wir an, die Schwierigkeiten der Kartell-
bildung in den Zweigen der Fertigfabrikation seien uberwunden. Alsdann
wiirden Konsequenz und Gerechtigkeit erheischen, dass auch die Kartelle
derjenigen in die grosse Neuorganisation von Einigungslmtem auf-
genommen wurden, welche ihre Arbeitsleistung als selbstSndiges Gut
an die Betriebsuntemehmer verkaufen. Sie sind es, welche seit dem
Untergang der alten gewerblichen Ordnung das Organisationsprinzip
gegenuber dem Konkurrenzprinzip unentwegt aufrecht erhalten haben,
and von denen die Kartelle der Betriebsuntemehmer die Anpassung
des Angebots an die Nachfrage erst wieder gelemt haben ; die bestehende
gesellschaftliche und staatliche Ordnung gibt ihnen ein Recht, dass ihre
VerbSnde genau so wie die aller ubrigen Verkiufer von Produktions-
elementen in die Organisation aufgenommen werden, ein in unseren Tagen
des entstehenden deutschen Arbeitgeberbunds allerdings vermessenes
Verlangen. Allein je stSrker auf dieser Seite die Abneigung, desto
grosser die Pflicht aller materiell nicht Interessierten, auf das Not-
wendige dieser Ergtozung zu verweisen. Bedroht doch ohne sie die
Kartellorganisation die Lohnarbeiter in die Lage von Hdrigen herab-
zudrucken. Die bestehende Gesetzgebung hat den Verkiufer von
Arbeitsleistungen lUngst anderen WarenverkSufem rechtlich gleich-
gestellt. Ohne Anerkennung ihrer Organisationen als gleichberechtigte
Glieder in der geplanten industriellen Neuorganisation w&rde ihnen ihr
heutiges Recht verschlechtert. Wie heute die Fertigfabrikanten der
Willkiir der Syndikate, tiber die sie sich so heftig beklagen, so wMren
dann die Lohnarbeiter derjenigen der vereinigten Arbeitgeber hoffnungs-
los preisgegeben, und selbst der Besitzer und Drucker der rheinisch-
westfllischen Zeitung, Dr. Reismann Grone, hat ja in den Verhandlungen
fiber das Druckpapier-Syndikat indirekt wenigstens zugestanden, dass es
auch Arbeiterausstinde gebe, an denen die Fabrikanten schuld seien.
Auch ist die Gleichberechtigung der Arbeiter in anderen Lindem ja
lingst nicht nur in der Gesetzgebung, sondem auch praktisch anerkannt.
Die Industrial Commission der Vereinigten Staaten fuhrt in ihrem Be-
-•-8 274 8^
richte von 1900 aus, fast alle Trusts seien keine Gegner der Arbeiter-
organisationen; sie seien im ganzen geneigt, sie zu fordern, und ebenso
seien die koalierten Arbeiter keine Gegner der Trusts. Nach den Er-
klSrungen des Grafen Posadowsky in der Reichstagsverhandlung vom
ao.januar 1904 iiber die Berufsvereine der Arbeiter, lisst sich nunmehr
hoffen, dass auch das Reichsamt des Innem sich der Folgerichtigkeit
des Gedankens, die Berufsorganisationen der Arbeiter in die Einigungs-
Smter zum Ausgleich der Interessen der verschiedenen im Produktions-
prozess titigen VerkHuferarten aufzunebmen, nicht verschliessen werde.
In derselben Weise wie die Losung der InteressengegensStze zwischen
Robproduktion und Fertigfabrikation muss die Losung der Interessen-
gegensStze zwischen den Verkiufem und KSufem von Arbeitsleistungen
erstrebt werden. Gibt es doch kein anderes Mittel, um auf Grundlage
der bestehenden Rechtsordnung Konvulsionen zu vermeiden, wie wir sie
jungst erst erlebt haben, und wie sie fur unser ganzes Wirtschaftsleben
verhfingnisvoll sind.
Als selbstverstSndlich darf wohl angesehen werden, dass sich die
Regierung bei den von ihr geplanten Kartell-EinigungsSmtem ein Recht
der Teilnahme und Beaufsichtigung vorzubehalten gedenkt Toils ist
dies notigy damit die Interessentenorganisationen dem Staate nicht uber
den Kopf wachsen, toils um einen Missbrauch der Monopole auf Kosten
des ^nackten Konsumenten'' zu verhindern. Damit wire dann eine
Neuorganisation des Wirtschaftslebens geschaffen, welche dem von dem
grossen englischen Grubenbesitzer Sir George Elliot im Jahre 1893 ent-
worfenen Programme annShemd entsprlche. Wlhrend des grossen
Arbeitsstillstandes in den Kohlengruben entwarf er einen Plan, wo-
nach alle englischen Kohlengruben zu eii^em grossen Trust zusammen-
gefasst werden sollten ; eine enorme Ersparnis an Kosten wurde dadurch
ermoglicht werden; infolgedessen wurden ohne Steigerung der Kohlen-
preise Dividenden wie Lohne erhdht werden kdnnen; ausser den Ver-
tretem des Kapitals sollten die Organisationen der Grubenarbeiter als
Vertreter dieser und das Handelsministerium als Vertreter des konsu-
mirenden Publikums Sitz und Stimme im Verwaltungsrate des Trust
haben. Denken wir uns an die Stelle unserer Kohlenkartelle einen
Kohlentrust, so ware in dem bis in seine Konsequenzen ausgebildeten
Gedanken des Reichsamts des Innem dieses von mir schon 1894 in
den Wiener Verhandlungen des Vereins ftir Sozialpolitik mitgeteilte
Programm verwirklicht.
WSre die Industrie so neuorganisien, so wurde eine entsprechende
Organisation der Landwirtschaft um so weniger ausbleiben, als darauf
gerichtete Antrige und Anbahnungen einer solchen hier Ungst vor-
handen sind. Ich denke dabei nicht etwa an die Forderung hoher
Agrarzolle. Mit Agrarzollen lassen sich, wie ich anderwarts dar-
gelegt babe, selbst wenn sie der heimischen Landwirtschaft ein Monopol
auf dem Inlandsmarkte verschaffen, in einem Lande, das auch die
leistungsunfShigsten Bdden zur Deckung seines Bedarfes heranzuziehen
gendtigt ist, die Landwirte vor Not nicht bewahren. Dazu ist eine
-t^ 275
Einrklrtung ndtig, welche den schlechten Boden auch in den Jahren der
Tciohscen Ernteertrignisse Misserntepreise sichert. Dies leistet das von
-dem franzdsischen Sozialdemokraten Jaur^s beftirwortete Projekt, das
Oraf Kanitz zu dem seinen gemacht hat, nSmlich ein Getreidehandels-
monopol des Staates. Der Antrag Kanitz wiirde bei Durchfuhrung der
:gedachten Neuorganisation unzweifelhaft wiederkommen und dann an-
:genomfnen werden. Immerhin wurden die Gutsbesitzer auch dann nicht
£egen Not auf die Dauer geschutzt sein, wenn nicht gleichzeitig die
iluckwirkung der kunstlich hochgehaltenen Getreidepreise auf die Boden-
preise ausgeschlossen wiirde. Hierfur wtirden der von der preussischen
Regierung veroffentlichte Entwurf eines Fideikommissgesetzes und der
^on Zentrumsabgeordneten und Konservativen im Reichstag eingebrachte
JBntwurf eines HeimstMttengesetzes sorgen. Durch die Annahme des
ersteren wurden die grossen, durch die des zweiten die kleinen Grund-
besitzer von der Ruckwirkung der Bodenpreise auf die landwirtschaft-
lichen Produktionskosten befreit. Wir stiinden dann wieder mitten im
17. Jahrhundert: Einerseits grpsse geschlossene Zunfte, andererseits eine
beschrinkte Zahl von Familien im gesicherten Besitze des Grund und
Bodens, und als notwendige ErgSnzung konnte wie damals nicht aus-
bleiben die Verweisung der durch diese Ordnung von der selbstandigen
Betatigung im Wirtschaftsleben ausgeschlossenen Sdhne der Grossgrund-
besitzerfamilien auf die Beamten- und Offizierstellen und der nicht
heiratenden Tdchter auf Damenstifte und Kloster. Wer denkt da nicht
an Adam Muller, als er 1816 die damalige Gegenwart bezeichnete als
^einen blossen Zwischenzustand, Ubergang der natiirlichen, aber be-
wusstlosen okonomischen Weisheit der VMter durch den Vorwitz der
Kinder zu der verstandigen Anerkennung jener Weisheit von seiten
der Enkei"*?! Dabei hat A. Miiller allerdings nicht die Million voraus-
gesehen, um welche das deutsche Volk ein Jahrhundert spSter Jahr ftir
Jahr zunehmen wiirde. Ftir die durch die Auferstehung der Wirtschafts-
politik der Vergangenheit Privilegierten wSre allerdings gesorgt; fur die
Neuhinzukommenden dagegen wSre die Existenzmdglichkeit entsprechend
beeintrichtigt. Sie wiren abermals darauf angewiesen, um mit Turgot
zu reden, „nur ein prekares Dasein unter der Herrschaft der Meister
<dh. der Privilegierten) zu fiihren, in Diirftigkeit zu schmachten, oder eine
Industrie ausser Landes zu tragen, die ihrem Vaterlande hStte nutzlich
sein kdnnen."* Auch hat A. Muller verschwiegen, dass Deutschland
zur Zeity da jene Gebundenheit sein Wirtschaftsleben beherrschte, von
den Nationen uberfltigelt wurde, in denen im Widerspruch zu derselben
das Individuum alle seine Anlagen und FMhigkeiten zur freien Entfaltung
zu bringen vermochte, und dass Deutschlands Wiedererneuerung erst von
dem Tage und in dem Masse datiert, als einem jeden der Zugang zu alien
Stellen, Gewerben und Beschlftigungen wieder eroffnet wurde. Adam
Miiller hat dies wohlweislich verschwiegen, denn er war ein Gegner
der .Freiheit und Gleichheit"', welche von Hardenberg in seiner Denk-
schrift uber die Reorganisation des preussischen Staates vom 12. Sep-
tember 1807 als Hauptgrundsatz hingestellt worden war; er wollte einen
276 8^
auf der Verschiedenheit des Standesrechtes aufgebauten Staat, fthnlich
dem, zu dem wir auf Grundlage der geplanten Neuorganisation des
Wirtschaftslebens zurQckkehren wurden.
Wie nun steht es mit den Aussichten auf Verwirklichung des
Programms des Reichsamts des Innern? Bei gleichzeitig hohen Zdllen
wurde ein jeder der kartellierten Industriezweige den Inlandsmarkt
monopolistisch beherrschen, nur soweit in seinen Preisforderungen ein-
gedimmt, als die Kartelle der ubrigen Industriezweige ihm Rucksichten
abndtigen wurden. In diesem Monopole liegt die Schwdche des Pro-
gramms. Der Zweck der Kartelle ist, wie in der Kartellkommission
immer und immer wieder betont worden ist, lediglich der, ihren Mit-
gliedem einen .angemessenen Preis" fur ihre Produkte zu sichem.
Wie aber Geheimrat Kirdorf- Aachen in der Kartellkommission sagte:
„So lange K&ufer und VerkSufer existieren, so lange werden sie nie-
mals uber die Angemessenheit der Preise einig sein; der VerkSufer
wird stets seinen Preis fur zu niedrig halten, und der Klufer wird ihn
immer ftir zu hocb halten.* Wer dann Recht behdlt, hMngt von der
Stflrke der VerbSnde ab, in der die einen wie die anderen organisiert
sindy und werden diese VerbUnde in Einigungslmtem zusammengebracht,
so wird der Preis, wie er dann wirklich festgestellt werden wird, vom
guten Willen beider Kontrahenten bedingt werden. Dass dieser
gute Wille immer vorhanden sei, vermag doch nur der anzunehmen,
der nicht die Verhandlungen iiber das Roheisensyndikat und den Halb-
zeugverband gelesen hat. Auf Nachgiebigkeit ist stets nur dann zu
hoffen, wenn die anderweitige BeschaCfungsmoglichkeit der vom Kaufer
begehrten Ware den Verkdufer zur Nachgiebigkeit notigt. Bei einem
Zoll, der die auswftrtige Konkurrenz ausschliesst, und bei Monopolisierung
des Inlandsmarktes durfte niemals darauf zu rechnen sein.
Wie dagegen bei Freihandel? Dass Kartelle auch bei Freihandel
die guten Wirkungen, die sie auszuuben vermogen, ausuben konnen^
geht aus der schon erwMhnten Tatsache hervor, dass es auch in Eng-
land bei Freihandel Kartelle gibt. Einer der eifrigsten Verteidiger so-
wohl von Kartellen wie von hohen Schutzzdllen, der Generalsekretar
Bueck, ist nicht miide geworden, dies vor der Kartellkommission immer
und immer wieder zu betonen, und hat dieser eine lange Liste eng-
lischer Kartelle vorgelegt. Was aber bei Freihandel nicht moglich ist,
ist das Bestehen jener Kartellmissbrduche, welche nicht nur die darunter
Leidenden, sondem auch die oiTentliche Meinung so sehr erregen. Der
schlimmste dieser MissbrSuche ist der, dass bei Hochhaltung des Inland-
preises deutsche Produkte zu billigeren Preisen bis zu Schleuderpreisen
auf den Weltmarkt geworfen werden. Allerdings haben diese durch
Hochhalten der Inlandspreise ermoglichten billigen Auslandsverkiufe ihre
eifrigen Verteidiger gefunden, und ich habe umsomehr Ursache bei
Betrachtung ihrer Argumente zu verweilen, als ich selbst fruher zu
diesen Verteidigem gehdrte und eine ErklSrung schulde, warum ich
alles, was ich 1888 und noch spater zugunsten der Kartellausfuhrprimien
gesagt habe, fur unzureichend erachte, sie zu rechtfertigen. Nicht als
277 8^
ob diese billigen Ausfuhrverklufe nicht im Interesse der Werke wSren,
die sie vornehmen. Sie vermogen infolge des so gewonnenen Absatzes
ihren Betrieben eine grdssere Ausdehnung zu geben und ausserdem in
Zeiten des Ruckgangs ihre Betriebe ohne EinschrSnkung weiterzu-
fnhren. Allein alle diese Vorteile werden von ihnen lediglich auf
Kosten der nationalen Volkswirtschaft gewonnen. Denn einmal tst es
eine nicht zu leugnende Tatsache, dass eine jede Volkswirtschaft^ die
offene oder versteckte, staatliche oder private AusfuhrprMmien gewihrt,
dadurch verliert, dass sie dem Ausland mehr an eigenen Kapitalnutzungen
und Arbeitsleistungen hingibt, als sie von diesem dafur empflngt. Der
Schaden, der hieraus erwSchst, obwohl er der grossere ist, pflegt
indes weit weniger Eindruck zu machen, als ein weiterer, der sich,
alien sichtbar, unmittelbar als Schaden einzelner bestimmter Interessenten
erweist. Das sind die Interessenten, welche ihre Betriebe in dem
Masse einschrinken mussen, in welchem sich die Betriebe, welche in-
folge der hohen Inlandspreise ins Ausland billiger verkaufen konnen,
vermoge dieses vergrdsserten Absatzes erweitern; es sind dies die
welter verarbeitenden Industrien, welche, wenn die Rohproduzenten in-
folge ihrer billigen Auslandsverkiufe bei nickgHngiger Konjunktur ihre
Arbeiter ohne EinschrSnkung weiterbeschSftigen kdnnen, dafur eine
urn so grdssere Zahl ihrer Arbeiter entlassen mussen. Die Frage stellt
sich also auf dem industriellen ebenso wie auf dem agrarischen Gebiete:
Hat Deutschland ein grosseres Interesse an der Erhaltung seiner
leistungsunfMhigen Betriebe in der Rohproduktion oder an dem siegreichen
Fortschreiten seiner Fertigfabrikation ? Die Antwort kann nicht zweifel-
haft sein. Beruht doch, wie bei alien Kulturvdlkem, so auch in der deutschen
Volkswirtschaft mit einer geistig und technisch geschulten Bevdlkerung,
wie sie keine andere besitzt, der Schwerpunkt in der Fertigfabrikation.
Hierin ist die enorme Mehrzahl ihrer Betriebe titig; hier die grossten
Werte der erzeugten Produkte ; hier die grossere Zahl der beschiftigten
Arbeiter. ZShlte doch im Jahre 1902 z. B. die deutsche Roheisenproduktion
nur 108 Hochofen werke mit 32367 Arbeitern gegen 152668 Werke mit
1032873 Arbeitern, welche das Eisen weiterverarbeiten. Und wenn
von den Verteidigem der billigen Auslandsverkiufe weiter geltend ge-
macht wird, es werde die Konkurrenz der weiterverarbeitenden Industrien
selbst zunehmen, wenn man nicht die Inlandspreise ihrer Rohstoffe
kunstlich hochhalte, und damit werde sich ihre Lage aufs neue ver-
schlechtem, so vergisst man ginzlich, welche Riickwirkung die gesteigerte
Kauffahigkeit des Konsumenten bei niedrigeren Preisen nach Fertig-
fabrikaten auf die Nachfrage nach diesen zu iiben pflegt.
Gegen die dargelegten, der deutschen Volkswirtschaft durch das
Wirken der Kartelle erwachsenden SchSden gibt es nun ein einfaches
Heilmittel. Haben wir doch gesehen: Das einzige, was die Monopole
im Zaume hMlt, ist drohende Konkurrenz. Dem entsprechend Beseitigung
jener Frachttarife, durch welche unseren Fertigfabrikanten der Bezug
der Rohstoffe aus dem Ausland erschwert wird, wenn die Rohstoffkartelle
ihre Machtstellung missbrauchen. Femer Herat>setzung unserer Zolle
278
auf ein Mass, das nicht ISnger gestattet, dem Inland hdhere Preise ab-
zunehmen, um damit dem auswdrtigen Konkurrenten unserer Fertig-
fabrikanten den Rohstoff, den er verarbeitet, bilHger liefern zu konnen.
Zum mindesten aber Gewfthrung des Rechts, ins Ausland ausgefuhrte
deutsche Rohstoffe zollfrei und zwar zu den niedrigen FrachtsStzen^
welche unserer Ausfuhr gewShrt werden, wieder einzufuhren. Als Gegen-
stuck femer zum Schutze unserer Industrie Zuschlagszdlle auf fremde
Produkte, welche vom Ausland mittelst Zufubrprdmien auf den deutschen
Markt geschleudert werden. Femer Befreiung der Abnehmerverbdnde,
namentlich der Konsumvereine, von alien Schranken, welche Gesetzgebung
und Verwaltung ihrer WIrksamkeit heute entgegenstellen.
Wie die in England bestehenden Kartelle zeigen, wiurden die Kartelle
damit nicht unmdglich werden. AUein sie wurden auf ihre wohltfttigen
Wirkungen beschrinkt. Denn wenn es gelegentlich auch unter dem
Freihandel vorkommt, dass ein Produzent ins Ausland billiger als im
Inland verkauft, so geschieht dies doch nur ausnahmsweise im Falle
der Not; dagegen wird den systematisch billigeren Auslandsverkaufen
als einer Institution das Ende bereitet, sobald den zum Kartell gehdrigen
Werken durch Drucken der Inlandspreise die Mittel entzogen werden,
die ihnen die billigen Auslandsverkiufe ermdglichen.
Einstweilen aber hat eine Herabsetzung der Zolle noch ebensowenig
Aussichten wie die von den Vertretern der Rohstoffkartelle den Fertig-
fabrikanten empfohlene Kartellierung. Zwar erklSrt eine ganze Anzahi
von Fertigfabrikanten, insbesondere die Vertreter unserer Maschinen-
fabriken, dass sie fiir sich keines Schutzzolles bedurfen wurden, sobald
der Roheisenzoll in Wegfall kSme. Es ist dies eine ErklSrung, auf welche
jeder deutsche Patriot mit Stolz blicken kann. Es ist dies die Wirkung
der die Leistungen aller iibrigen Nationen ubertreffenden Leistungen
unserer Ingenieure; lediglich an dem Materialpreise liege, dass unsere
Maschinenfabriken einen so schweren Standpunkt gegenuber den Ameri-
kanern hMtten. ^Wenn Sie,*" erklirt Baurat Dr. Rieppel, ,in Betracht
Ziehen, wie die Maschinenzolle nach Annahnie des Antrags KardorCf sind,
so sind diese Zolle fiir uns kein Schutz mehr« denn die Zolle fur die Roh-
materialien und Halbfabrikate, die wir als Maschinenfabriken gebrauchen,
sind teilweise 100 % tioher als die Zolle fiir die fertigen Maschinen.*
»Unsere Auslandskonkurrenz bekommt also indirekt eine PrMmie fiir die
Einfuhr fertiger Maschinen.* ^Die Maschinenfabrikanten haben zurzeit
keinen Zollschutz.*' Und selbst der Generalsekretir des Vereins deutscher
Eisen- und Stahlindustrieller Bueck sieht sich durch diese AuNfuhrungen zu
der fiir den Antrag KardorfP und die, seiche ihn annahmen, vemichtenden
Erklarung veranlasst: «In dem Urteil uber den neuen Zolltarif mit
seinen Widerspriichen und Unstimmigkeiten stimme ich voUstSndig mit
Herrn Baurat Rieppel iiberein, und es kann keiner so bedauem wie ich,
dass er so ausgefallen ist.*" Allein ebensowenig wie diese Erklirung
dtirfen die Erklarungen der Fertigfabrikanten als Erkldrungen fur Frei-
handel gedeutet wtrden. Auch die Fertigfabrikanten, die noch so sehr
betonen, dass sie keines Schutzzolls bendtigen wiirden, wenn der Roh-
%
279 8^
eisenzoU nicht bestlnde, erkllren sich doch prinzipiell fur den ZoUschutz
der nationalen Arbeit, urn ihrerseits dasselbe tun zu konnen, was der
ZoU den Rohstoffproduzenten zu tun ennoglicht; das einzige, was sie
wunschen, ist eine andere Bemessung der einzelnen ZollsMtze. Noch
weniger aber sind diejenigen, welche fur diese verantwortlich sind, die
Beamten des Reichsamts des Innem fur Herabsetzung der Zolle zu
haben. Vielmehr hat Regierungsrat Dr. Voelcker ausdrucklich erklSrt:
9 Die Reichsverwaltung in Obereinstimmung mit den weitesten Kreisen
der Eisenindustrie steht auf dem Standpunkt, dass die Grundlage des Zoll-
schutzes der inlftndischen Eisenproduktion nicht verschoben werden darf.*
Nun hat der Mann, der als die Seele der geplanten Neuorganisation
unserer Industrie., zu betrachten ist, Geheimrat Kirdorf-Gelsenkirchen am
3. Dezember vorigen Jahres eine Erklftrung abgegeben, aus welcher un-
streitig seine Anerkennung der tiberwiegenden Bedeutung der Fertig-
fabrikation hervorleuchtet. Um ihr Rechnung zu tragen, geht sein Wunsch
dahin, dass es dem zu schaffenden Kartell der Kartelle gelSnge, zwischen
den einzelnen Kartellen solche Beziehungen herzustellen, «das all das
Material, was heute zu billigen Preisen als Halbzeug oder Rohmaterial
ins Ausland geht, dem Inlandsverbrauche zugefuhrt wird*. Er erklart
es fur sein Ideal, »wenn durch solche Verbindung der einzelnen zu
bildenden Kartelle wir dazu kdmen, dass fiir RohstoCfe, fur Halbzeug,
mdglichst jeder Verkauf nach dem Ausland zu Notpreisen ausgeschlossen
wire, dass wir dazu kftmen, die Ausfuhr, die wir haben miissen, mdglichst
auf die Fertigfabrikate und die vollkommensten Fabrikate schliesslich zu
konzentrieren*'.
Was hier als Ideal hingestellt wird, ist das Ideal gewesen, welches
auch dem Merkantilsytsem vorgeschwebt hat, und es ist charakteristisch
fur den Neo-Merkantilismus unserer Tage, dass es neben der Erneuerung
der ubrigen wirtschaftlichen Ordnungen jener vergangenen Zeit heute
aufs neue auftaucht. Wie bei diesen ubrigen bestehen aber auch bei
der hier geplanten Gestaltung Unterscbiede zwischen damals und heute.
Das alte Merkantilsystem suchte sein Ideal zu verwirklichen, indem es
zur Ermdglichung der Ausfuhr der Fertigfabrikate die Rohprodukte
mdglichst niedrig im Preise zu stellen bemiiht war. Nach dem Plane
Kirdorfs dagegen erscheint es als Aufgabe der Kartelle in jedem der
verschiedenen Produktionsstadien die Preise so hoch zu treiben, dass
auch die leistungsunfShigsten Betriebe dabei bestehen kdnnen. Zu
welchen Preisen aber wurden wir dabei gelangen? Direktor Mannstddt-
Kalk hat vor der Kartellkommission ausgefiihrt: Jedes Kartell hat als
Folge die Produktion zu regulieren, als Zweck hdhere Gewlnne zu er-
zielen, als solches im freien Wettbewerb moglich wMre. Das Kohlen-
syndikat erhohte nun zunachst seine Preise in massvoller Weise. Die
verlangten Mehrpreise walzte das Kokssyndikat mit entsprechend hdherem
Gewinnzuschlag auf das Roheisenkartell ab. Dieses iibertrug sie mit
weiterem Zuschlag auf das Halbzeugsyndikat, um von diesem mit noch
erheblicherer Steigerung auf die reinen Walzwerke ubertragen zu werden.
Diese Preissteigerungen betrugen nach den Schroderschen Tabellen und
-^^ 280
wflhrend der hiesigen Verhandlungen bekannt gegebenen Zahlen im
Jahre 1902 gegen das Jahr 1896 bei
Kohlen Koks Qua!. Roheisen Thomasroheisen
+3,06 +3,50 +5,87 +5,63
Flusseisenknuppel Trdger
+7,75 +7,50.«
Aus dieser Berechnung erhellt, in welchem Masse die Verwirklichung
des Kirdorfschen Gedankens zu einer Steigerung des Preises der Fertig*
fabrikate fuhren musste, auf je spltere Stadien der Fertigfabrikation die
Preispolitik der Kartelle zur Anwendung kime. Alles was an leistungs-
unRhigen Betrieben im Lande vorhanden ist, wurde al^erdings geschutzc
Sie konnten im Inland Preise fordem, so hoch es die Z511e gestatteten.
Allein wo die InlandskSufer herkommen sollen, welche diese Preise zu
zahlen imstande wfiren, bleibt dunkel. Schliesslich miissen doch alle
Preise aus dem Einkommen des Konsumenten gezahlt werden; wurde
das Einkommen aller Konsumenten in gleichem Masse durch die kunst-
liche Erhdhung der Preise gesteigert, so hdtte ja kein Produzent von
dieser Vorteil; der Witz derselben besteht ja eben darin, dass der eine
den anderen zu notigen hofft, ihm mehr von seinem Einkommen ab-
zu lassen, und alsbald wire der Geschropftean der Grenze seiner Leistungs-
fihigkeit angelangt; seine Nachfnige wurde eingeschrdnkt; damit wiirden
aber auch die Mittel versiegen, aus denen die AusfuhrprSmien bezahlt
werden miissten« ohne welche die Ausfuhr der im Preise getriebenen
Fertigfabrikate ein Ding der Unmoglichkeit ware. Und wie, wenn nach
dem Muster der Brusseler Zuckerkonvention das Ausland solcher PrSmien-
gestutzten Ausfuhr von Fertigfabrikaten mit entsprechenden Zuschlags-
zollen begegnen wiirde?! Schon hat der englische Premierminister
Arthur Balfour dies als sein handelspolitisches Programm hingestellt.
Damit verschwindet das Kirdorfsche Ideal in die Dammerung
utopistischer Zukunftstriume. Fur den niichternen Politiker aber bleibt
als wertvoUes Zugestftndnis die ihm zugrunde liegende Einr&umung
der uberwiegenden Bedeutung der Fertigfabrikation und ihrer Gefihrdung
durch die bestehenden Monopolbildungen. Ganz besonders fur Bayem
erscheint diese Gefahr iussert bedrohlich; denn wenn in irgend einem
Lande, so liegt bei uns der Schwerpunkt der Industrie in der Fertig-
fabrikation. Was wir an Kohle und Roheisen produzieren, ist ginzlich
ungenugend, um den bayerischen Bedarf zu decken. Wenn irgend ein
Land ein volkswirtschaftliches Interesse an der Beseitigung des Roh*
eisenzolles hat, so sind es wir. Aber trotzdem Kohlen und Koks nicht
zollgeschiitzt sind, so stehen wir fiir den Bezug dieser beiden Lebens-
bediirfnisse nicht nur der Industrie, sondern ebenso vieler landwirtschaft-
licher Betriebe doch noch weit schlimmer; denn aus geographischen
Griinden haben die deutschen Werke ein weit stirkeres Monopol in der
Versorgung Bayems, als blosser Zollschutz ihnen gewdhren konnte.
Nun hat uns die Kartellenquete gezeigt, welche dominierende Stellung
das rheinisch-westfilische Kohlensyndikat, das Kokssyndikat und die
281
oberschlesische Kohlenkonvention auf dem deutschen Markte erlangt
haben. Hat das Kohlensyndikat sie bisher nur massvoU ausgenutzt, so
ist doch auch das entgegengesetzte Verhalten in die Macht seiner Leitun^
gegeben. Dagegen wird, wit wir gesehen, uber das Kokssyndikat schon
jetzt geklagt, und von der oberschlesischen Kohlenkonvention wird, wie
bereits berichtet, behauptet, dass infolge ihres Wirkens Eisenwerke, die
nicht eigene Zechen besitzen, in Oberschlesien nicht mehr bestehen
konnten, wenn nicht der preussische Staat ein Funftel der schlesischen
Zechen besasse.
Damit zeigen sich fur die wirtschaftliche und als unausbleibliche
Folge auch fur die politische Selbstdndigkeit Bayerns die allergrossten
Gefahren.
Wo aber die Abwehr derselben suchen?
Ich habe zuerst gedacht, eine Abhilfe konne von der Technik uns
kommen. AUein von sachverstandiger Seite wurde ich belehrt, dass
dies eine Illusion sei.
Eine Emanzipation von der Kohle durch den Diesel-Motor hatte
freilich auch ich fiir ausgeschlossen erachtet, so lange im Interesse der
Spiritus-Industrie der Petroleumzoll so hoch wie bisher bleibt. Wohl
«ber hoffte ich, dass die zahlreichen WasserkrSfte einen Ausweg uns
bieten wtirden. Wie aber Baurat von Miller ausgefuhrt hat, liefem die
in Bayem sudlich der Donau verfugbaren WasserkrSfte nur ca. 500000
PferdekrSfte. Das ist, nach Abzug der 100000, welche die Eisenbahnen
bei Elektrisierung bendtigen wurden, zu wenig, um unsere Industrie von
<ler Kohle unabhdngig zu machen. Immerhin ist es ein Hilfsmittel,
welches gepflegt werden muss. Daher erscheint es dringend geboten,
dass der Staat rechtzeitig zusehe, dass nicht auch die Wasserkrftfte
monopolisiert werden. Leider hat der Entwurf eines bayerischen Wasser-
gesetzes m. E. die Interessen der Gesamtheit an Abwehr einer Monopolir
sierungsgefahr nicht ausreichend ins Auge gefasst. Auch wflre zu dieser
Abwehr ausser einem Wassergesetz ein Gesetz uber Enteignungsrecht
notwendig.
Auf einen anderen Ausweg hat Professor Lotz aufmerksam gemacht.
Das bayerische Verkehrsministerium musste die Frachttarife fiir Kohlen
so stellen, dass eine lebhafte Konkurrenz zwischen rheinisch-westfdlischer
und bohniischer Kohle auf dem bayerischen Markte entstinde. AUein
auch dieser Ausweg scheint zweifelhaft. Denn das bayerische Verkehrs-
ministerium ist nicht unabhSngig in der Feststellung der Frachttarife;
es ist selbst durch eine Art Kartell mit den ubrigen deutschen Staats-
bahnen gebunden. Sodann aber blieben wir fur den Bezug von Koks-
kohle und Koks damit noch immer auf Rheinland-Westfalen angewiesen.
Es scheint mir also nur eine Sicherung gegen die Mdglichkeit,
dass die bayerische Volkswirtschaft durch Kohlenentzug und Kohlen-
teuerung ausgehungert werde, gegeben. Der bayerische Staat muss zu-
sehen, dass er selbst Eigentumer ergiebiger Kohlenzechen im Ruhrgebiet
werde, oder durch Erwerbung der Mehrheit der Aktien in einer ge-
nugenden Zahl von Werken die Kontrolle uber diese erlangen. Dass die
SGddctttsche Monitsbefte. 1,4. 10
282
kluge Leitung, selbst dsterreichischer Werke, es auf diese Weise ver«
sttnden hat, diese gegen Kohlen- und Koksnot zu sichern, zeigt uns»
dass lange Jahre der Direktor der Prager Eisenindustrie im Aufsichtsrat
der ,«Gel8enkirchen^^ gesessen hat, und die dsterreichische Alpine Montana
gesellschaft Grossaktionlr schlesischer Gruben ist, und auch der wurttem^
bergische Staat hat neuerdin^ Kohlenfelder im Ruhrreviere gekauft.
Solche Erwerbungen wlren aber nicht bloss im Interesse der bayerischea
Industrie, sondern nicht minder in dem der bayerischen Landwirtschaft^.
Man lese doch in der Kartellenquete die heftigen Klagen der landwirt-
schaftlichen Einkaufsgenossenschaften uber ihre Benachteiligung zugunsten
der Syndikatshftndler !
Es handelt sich hier um bayerische Interessen, denen gegenuber
die Angelegenheiten, die zurzeit die dffentliche Diskussion beherrschen,
als Bagatelle erscheinen. Da steht noch immer die Abldsung der Boden*
zinse im Vordergrund, wihrend, von alien anderen Bedenken abgesehen^
es nur ein Teil der Landwirte ist, der daran interessiert ist. Man redet
uber Guterzertriimmerungen, als ob von ihrer Verhinderung das Heit
des Bauemstandes abhinge, wdhrend, von den wiinschenswerten Guter-
zertrummerungen abgesehen, die Statistik zeigt, dass in den Jahren
1894 — 1902 etwa der tausendste Teil der landwirtschaftlichen Betriebe
zertrummert worden ist. Wieder andere erhitzen sich noch immer, als
ob durch Einfuhrung des BeRhigungsnachweises das Handwork gegenuber
den uberlegenen technischen und wirtschaftlichen Vorzugen des Gross-
betriebs zu halten sei. Dann wieder scheint es sich um die Feststellung
zu handeln, welcher von zwei Abgeordneten als der grdssere Grobian
gelten miisse. Derartige Quisquilien erinnem an die Etikettestreitig-
keiten des Regensburger Reichstags, wer berechtigt sei, seinen Stuhl auf
einen Teppich zu stellen und wer nicht, wihrend, von den Streitenden
unbeachtet, im Westen ein Wetter aufstieg, das sie alle hinwegfegte.
Wie unerheblich ist nicht all dieser Zank gegenuber der Gefahr, das&
wir fiir die Beschalfung des Lebenselements der modemen Wirtschaft,
der mechanischen Triebkraft und der zu verarbeitenden Rohprodukte,,
vom guten Willen monopolistischer Gesellschaften abhingig werden. Fur
diese Gefahr aber hat z. Z. niemand ein Auge.
Munchen, den 7. Februar 1904.
^^S^^^S0^S0^^S0^^S^^^S^^^S^ ^^S0 '^HS0 '^HS0 '^HS0 '^HS0 ^HS0 '^HSS
283 1^
Aus der Pathologie.
Neue Antworten auf alte Fragen.
Von Eugen Albrecht in Miinchen.
VI.
Aus dem bisher Erorterten hat sich zweierlei ergeben: erstens,
dmss wir keinen Grand haben, an eine infektidse Ursache des Krebses
and der ubrigen Geschwulste zu denken; zwekens, dass, welches auch
immer diese Ursache sein mag, das Wesentliche, Charakteristische, Spezi-
flsche der verschiedenen Geschwulstbildungen in den besonderen Eigen-
schaften und Fdhigkeiten der zum Aufbau zusammentretenden und
zusammenwirkenden Zellen des Korpers gelegen sein musse. Wenn
also eine Sussere, aus der Umgebung den Organismus trefTende Ver-
anlassung eine Geschwulst erzeugen sollte, so wurde ihre Wirkung
sich zu dem schliesslichen Ergebnis ebenso und nur so verhalten wie
alie jene auf den Kdrper treffenden iusseren Einwirkungen, die wir als
Reize bezeichnen. Reize sind die Anstdsse, die Ausldsungsursachen,
welche die eigentumlichen BetStigungen der Lebewesen und ihrer Teile
in gleicher Art in Gang setzen wie etwa der Druck auf den Gewehrhahn
den Schuss losgehen Idsst, wie der Druck auf einen Knopf eine elektrische
Batterie und ein Ldutewerk, oder das Umdrehen eines Uhrschlussels
das Rddergefuge der Uhr in Bewegung setzt. Das Gemeinsame in diesen
Beispielen, auf das es fur uns ankommt, liegt darin, dass eine Einwirkung,
die an anderen Gebilden keine oder nur eine geringe Veranderung
erzeugen wurde, hier eine mehr oder weniger komplizierte Reihe
ineinandergreifender Verinderangen nach sich zieht, die nur aus einer
ganz besonderen vorbereiteten Einrichtung, Zusammensetzung und einer
daraus sich ergebenden Veranlagung, Disposition des betroffenen Gebildes
zu eigenartigen «Antworten* verstftndlich sind. Solcher Uhren und
Batterien und anderer Antwortsysteme besitzt nun jeder Organismus eine
enorme Zahl; fast die ganze Physiologie und Pathologie berichten von
derartigen Anstdssen, die durch die ftusseren Einflusse ebenso wie durch
das Aufeinanderwirken der Teile im Kdrper geliefert werden und das
Spiel der Lebensfunktionen in Bewegung setzen und unterhalten. Fiir
jedes Bundel von Lichtstrahlen zum Beisplel, das von einem Gegenstand
aus auf die Hornhaut unseres Auges trifft, steht eine ganze Reihe optischer,
chemischer, elektristher Apparate bereft, um an der richtigen Stelle auf
der Netzhaut das verkleinerte umgekehrte Bild zu entwerfen, um dann in
noch unbekannter Form die Erregung bis in die Rinde der Hinterhauts-
lappen des Grosshirns, von da wieder vermdge vorgebildeter Nerven-
Leitungen an andere reizempfindliche Zellen der Hirnrinde, von da
vielleicht wieder in die Muskeln der Hand oder des Kehlkopfes zu
19*
284 ^
tragen: bis dort als Endeffekt etwa das Wort geschrieben oder intoniert
werden kann, das als .Reaktion* auf den Sinneseindruck den Namen
des Gegenstandes angibt. Eine Mauer oder eine Hautstelle unseres
Kdrpers wurde von dem gleichen Strahlenbundel vielleicht nur unmerklich
erwdrmt worden sein: sie sind nicht darauf eingestellt in jener Weise
zu reagieren. Alle ^Reflexe* sind bekannte Beispiele fiir solche Prozesse,
die durch Vermittlung von Vorrichtungen des Nervensystems auf eine
aussere Veranlassung bin in TItigkeit treten und bier z. B. den Scbluss
der Augenlider bei drobender Berubrung der Hombaut, dort das Zucken
der Streckmuskeln am Oberscbenkel auf Beklopfen der Sebne unterbalb
der Kniescbeibe bervorbringen. Aber aucb die ganze Kette der Vor-
gange, die sicb z. B. von einer Hautwunde oder einem Knocbenbruch
bis zur vollendeten Heilung erstrecken, ist eine solcbe bdchst verwickelte
Reaktion auf den Reiz der Verletzung, die sicb von dem ersten Anstoss
an dank der Vorbereitung des Korpers ebenso folgerichtig abwickelt wie
ein aufgezogenes Ubrwerk.
Dabei kommt es fur die Auffassung einer ausseren Einwirkung als
Reiz (oder uberbaupt als j^Ausldsung*") nicbt darauf an, ob dieselbe an
sicb ein einfacber oder komplizierter Vorgang ist — man vergleicbe
etwa den leicbten Luftzug, der eine Zusammenziebung der Haut und
ibrer GefMsse, eine ^Ggnsebaut", bewirkt, mit einer langen Rede, die
vielleicbt nur ein Gibnen erzeugt; aucb nicbt darauf, ob der aussere
Vorgang einer grossen oder geringen Kraftentfaltung entspracb — das
leise Klopfen an der Tur und ein Donnerscblag konnen unter Umstlnden
beide einen nervos erregten Menscben gleicb beftig auffabren macben,
einem Vertieften bloss ein „ Herein I entlocken. Von Belang ist nur,
dass derjenige Vorgang, welcber an das in besonderer Weise empf^ng-
licbe lebendige System berantritt, welcber die „erste Veranderung'' in
ibm erzeugt, eine Reibe von inneren Verlnderungen des betroffenen
Gebildes nacb sicb ziebt, welcbe nicbt von den besonderen Eigenscbaften
des ausldsenden Vorgangs, sondern von der eigentumlicben Einricbtung
des .erregten*" Systems abbdngen. Demgemiss konnen in solcben
Systemen oft verscbiedenerlei aussere Anstosse nur eine bestimmte Art
von Reaktionen erzeugen: auf alle Einwirkungen, welcbe die Netzbaut
iiberbaupt erregen, erfolgt eine Licbtempfindung, seien es nun Sonnen-
oder Radiumstrablen oder ein Scblag aufs Auge; die verscbiedensten
Arten der Verletzung: Durcbscbneidung, Verbrennung, Atzung, erzeugen
immer wieder im Prinzip gleicbe Arten von WiederberstellungsvorglUigen.
Andrerseits wirkt die gesamte .Aussenwelt'' auf jedes solcbes System
nur insoweit als Reiz, als sie dessen besondere Eigenscbaften in Tdtig-
keit setzt: unzMblige Strablenarten mogen uns dauernd durcbfliessen,
obne dass irgend einer unserer Sinne davon erregt wird; die ganze Welt
des Licbts und der Farben, die wir unserem Auge verdanken, ist fur
das Seelenleben des Blinden so gut wie nicbt vorbanden. Aucb jene
Einwirkungen, die unseren Kdrper in gleicber Weise wie irgend einen
anderen, etwa einen Stein oder ein Stiick Holz, verSndern — der Fels-
block, der uns zerscbmettert, der Sticb, der ein Gefass zerreisst und
285 S*^
sofortige Verblutung erzeugt — sind zwar ^Einwirkungen auf den lebenden
Korper*, aber nicht Reize: sie wecken nichts von den ihm eigentiimlichen
sonderartigen Reaktionsvorgftngen.
Kehren wir von diesen Erwigungen, die uns auch fur spatere
Kapitel wichtig sein werden, wieder zu der Frage der Geschwulstent-
stehung zuruck. Wenn es keinen Krebsparasiten gibt, so kann doch
noch an vielerlei Sussere Ursachen gedacht werden, die moglicher-
weise den Reiz zur Geschwulstbildung fur die betreffenden K3rperzellen
abgeben. Es konnte ferner auch in ErwSgung gezogen werden, dass nur
einzelne Individuen im ganzen oder an einzelnen Korperteilen so beschaffen,
so .eingestellt'' sein mogen, dass jene normalen oder krankhaften Reize des
tiglichen Lebens, die bei hundert anderen keine abnonnen Zustlnde oder
etwa bloss Entziindungen und dhnliches erzeugen wurden, gerade bei
ibnen zu Geschwulstbildungen fuhren. Es konnte sein, dass eine solche
besondere Veranlagung, Disposition, wie bei anderen Erkrankungen —
z. B. Halsentziindungen oder Lungentuberkulose — nur eine unter be-
sonderen Susseren Umstanden, z. B. durch vorhergegangene schwftchende
Krankheiten erworbene, oder aber dass sie bereits angeboren ist — wie
z. B. eine gewisse Schwiche des Nervensystems, eine besondere Empfind-
lichkeit der Haut fiir SchMdigungen auf angeborene Anlagen zuriickgehen
konnen. Endlich wird man im vorhinein auch mit der Mdglichkeit
rechnen miissen, dass die Geschwulstentstehung an besondere geschwulst-
erzeugende Reize der Aussenwelt gar nicht gebunden sei, dass die
Geschwtilste aus den einmal im Korper vorhandenen Anlagen mit der
gleichen Notwendigkeit hervorgehen wie etwa die Leber oder das Auge
Oder ZShne und Haare: dass die Aussenwelt nur die Bedingungen,
aber nicht die ausldsenden Ursachen fur die Entstehung von Tumoren
aus inneren Ursachen liefert.
Welche von diesen Mdglichkeiten ist die zutretTende? oder ent-
sprechen mehrere der Wirklichkeit? Keine Theorie vermag daruber
Auskunft zu geben; nur die Erforschung der Tatsachen kann uns viel-
leicht hier Aufschliisse bringen. Sie sprechen recht dunkel vorlaufig,
die Tatsachen, die wir kennen und zu sichten versucht haben; wie
delphische Orakel kiinden sie dem einen dies, dem andem andres.
Ich will nur einige wichtige Punkte hervorheben; einzelne deshalb, well
sie gemeinhin ftir wichtig gehalten werden und allgemein bekannt sind,
andre, weil ihre Bedeutsamkeit wenigstens im Prinzip erwiesen scheint.
Es kann als eine der wichtigsten und unaufschieblichsten Aufgaben
unserer Generation bezeichnet werden, Tatsachenmaterial aller Art fiir
die Fragen der Vererbung auf jedem Gebiete zu gewinnen. Wir
haben gegenwMrtig die verschiedenen unklaren Vorstellungen, welche in
dieses Problem seit unvordenklichen Zeiten hineingemengt waren,
herauszuschSlen gelemt. So sprechen wir z. B. bei Erkrankungen,
welche das Kind bereits vor der Geburt erfahrt, nur dann von Ver-
erbung, wenn sie aus einer fehlerhaften Anlage des Keimes
hervorgegangen gedacht werden mussen, nicht aber dann, wenn z. B. das
Kind einer syphilitischen oder tuberkuldsen Mutter mit diesen Krank*^
286 ^
heiten behaftet zur Welt kommt, oder wenn abnorme Druckverhftltnisse
Oder Abschnuning durch krankhafte Fadenbildungen in den Eihiuten
etwa Klumpfussbildung oder Verlust eines Fingers oder einer ganzen
Extremitit erzeugt haben. Selbst wenn solche Abnormitdten mehrfach
bei Kindern derselben Mutter vorkommen, liegt die Ursache der Miss-
bildung bier in der Umgebung, in den dusseren Lebensbedingungen des
Fdtus. Und in den Fallen von Ubertragung infektioser Erkrankungen
insbesondere ist natiirlich nur eine infektidse Erkrankung im Fdtal-
leben gegeben, keine Vererbung. Femer bat sich aus der Sichtung des
vorhandenen Erfahrungsmaterials und vielen planmftssig angestellten
Versucben ergeben, dass eine Obertragung (besser: ein Wiederauftreten
beim Kinde) von Eigenschaften, die eines der Eltem wahrend seines
Individuallebens n e u erworben bat, fur keinen Fall sicber erwiesen und
aus vielen Griinden bochst unwahrscheinlich ist; speziell gilt dies fur
die bekannte Frage der Vererbung von Verletzungen und Verstummelungen,
wShrend fur andere Gebiete noch nicht genugende Klarheit geschaifen
ist: so z. B. in der Frage, wie weit durcb tiefgehende cbemische oder
physikalische Anderungen im Elter (z. B. Immunisierung der Eltem; oder
Beeinflussung von Schmetterlingen usw. durch TemperaturdiCferenzen)
in den Nachkommen gleichartige Veranderungen erzielt werden konnen.
Wir werden dem Thema der pathologischen Vererbung spMter einmal ein
besonderes Kapitel widmen und Ziehen aus dem Angefiihrten nur die
doppelte Frage: gibt es Anhaltspunkte dafiir, dass uberhaupt Ge-
schwiilste der Eltem in den folgenden Generationen wiederkehren? und:
haben wir, bei Bejahung dieser Frage, Grunde zu der Annahme, dass
es sich hierbei urn eine urspningliche abnorme Anlage der Keim-
zellen, oder urn mehr zufMllige, im Laufe der fotalen Entwicklung
entstandene Abnormitaten, also um gestorte Entwicklung und
nicht um ^Geschwulst vererbung" im strengen Sinne des Wortes htodle?
Die Wichtigkeit auch der letzteren Frage leuchtet ein: denn nur ira
ersteren Falle bestande fur das Wiederauftreten der Geschwulst bei den
Nachkommen der nachsten oder ubemlchsten Generation eine grosse
Wahrscheinlichkeit — ungeflhr dieselbe wie fiir das Wiederauftreten
irgend einer, dem einen Elter charakteristischen Bildung; im zweiten
Falle wurde die Wahrscheinlichkeit sehr gering erscheinen, dass die
zufailigen VerhSltnisse, welche das eine Mai eine Entwicklungsstomng
^rzeugten, sich fur die n&chste Generation wiederholen sollten.
Was sagt die Erfahmng? Sie lasst uns im Stiche. Das ist nicht
Terwunderlich. Wir sind, wegen des relativ selteneren Vorkommens
Xsagen wir gleich: auch wegen der friiheren geringen Beachtung) von
Tumoren bei Tieren hauptsHchlich auf Feststellungen beim Menschen
angewiesen. Diese konnen nun bestenfalls hier und da auf zwei bis
drei Generationen zuruckverfolgt werden; fur die Mehrzahl der Menschen
verschwinden Krankheiten und Todesursachen der Grosseltem bereits
im Dunkel. Aus solchen Daten lassen sich allgemeine Gesetze nicht
ableiten. Dazu kommt, dass in den jedem Arzte vorkommenden Fdllen,
jn denen z. B. Angaben von Krebsvererbung gemacht werden, die Art
287 1^
der. Geschwulste der Vorfahren schon deswegen nicht sicher gestellt
werden kann, weil vor der mikroskopisch-zdiularpathologischen Ara ein
Carcinom von einem Sarkom uberhaupt nicht, oder nur unklar, oft nicht
einmal von einem tuberkuldsen oder andern Geschwur unterschieden
werden konnte. Naturlich ist es aber fur die Beurteilung nicht gleich-
gultig, ob wirklich gleichartige oder verschiedene Geschwulstformen bei
den Eltern und Nachkommen vorlagen. Endlich ist auch in Betracht zu
Ziehen, dass oft die angeblich vererbten Geschwulste in den ver-
schiedensten Stellen sassen. Wenn aber z. B. in einem Falle der Vater
einen verkriimmten Arm, der Sohn ein verkrummtes Bein mit auf die
Welt brSchte, wurde selbst der Laie nicht ohne weiteres von «Ver-
erbung** sprechen.
Diese Unkenntnis in einem der wichtigsten Punkte der mensch-
lichen Pathologie ist verzeihlich fiir die zweite Generation, die seit der
Entdeckung der Zellularpathologie auf dem Plane steht: der vermeint-
liche Oder wirkliche Erfahrungsschatz der Ahnen ist fur uns nicht in
wissenschaftliche Munze umsetzbar. Ein nicht entschuldbarer Vorwurf
fur unsre Zeit aber wurde es sein, wenn dieser Mangel an festem Wissen
auch in der ubemftchsten Generation noch beklagt werden musste. Vor-
liufig scheint es freilich, als ob noch immer, auch in den gebildeten
Stinden, es fur viel wichtiger erachtet werde, die Titel und Orden des
Vaters und Grossvaters dem Gedachtnis festzuhalten als zu wissen,
welches der Bau seiner Organe, welches die wichtigsten Krankheiten
seines Lebens, welches die Todesursache gewesen sei — und es ist bei
der Scheu, die noch immer abhftlt von der Erorterung kdrperlicher Dinge
Oder bei der menschlich ja so begreiflichen, von weiteren Gesichts-
punkten aus aber im Interesse der Familie nicht zu rechtfertigenden
Abneigung gegen die Vomahme von Sektionen immerhin ganz gut
moglich, dass trotz aller Sammelforschung und Krebsstatistik das nSchste
Jahrhundert iiber die Frage der Geschwulstvererbung keinen gesicherteren
Fonds von Tatsachen besitzt als das begonnene. Hoifen wir, dass auch
auf diesem Gebiete die allgemeinere Durchsetzung mit naturwissen-
schaftlichen Kenntnissen Vorurteile beseitige und vorwSrts fuhre:
Hunc igitur terrorem animi tenebrasque necesse est
Non radii soils neque lucida tela diei
Discutiant, sed naturae species ratioque.')
Die Statistlk hfttte gerade in unserer Frage eine so dankbare Auf-
gabe: denn es ist im Grunde keine schwierige Sache, an dem genau
gebuchten Verhalten wenigstens eines grossen Teils der Individuen von
drei aufeinanderfolgenden Generationen festzustellen, ob eine konstante
Viederkehr von Krebs oder Sarkom in gewissen Familien, namentlich
in solchen mit doppelseitiger Belastung von Vater- und Mutterseite her,
*) Lucrez, De rer. nat. II, 59:
Solcherlei nichtigen Spuk det Geistes alto, ihn mfitten
Nicht die Strahlen der Sonne, det Tages lichte Geschosse,
Sondem Naturantchau'n und reifet Erkennen verscheuchem
288 %^
wirkiich hlufig vorkomme oder nicht. Vorllufig versagt die sonst so
willige Dienerin der Voikswirtschaft bei unserem Probleme vollig, so
dringend wir sie rufen. Es nutzt uns auch nichts, wenn wir zur
provisorischen AusfuUung der Lucke die anscheinend zutreffende Er*
fahrung heranziehen, dass gewisse harmlose Geschwiilste zur Wiederkehr
in mehreren Generationen neigen. Hierher gehdren vielleicht gewisse
Arten von .Muttermilern*, sowie manche, besonders die in bestimmter
Anordnung zu Nervenstlmmen verlaufenden Bindegewebs- und Fett*
geschwulste. Bei den ersteren handelt es sich indessen wohl nur um
belanglose Hemmungsbildungen, bei letzteren liegen vorliufig unklare
besondere Beziehungen zum Nervensystem, vielleicht auch zum Stoff*
wechsel vor, welche es nicht erlauben, das Verhalten dieser Geschwulst*
arten als typisch fiir alle Formen anzusehen. So konnen sie uns fur
die Frage der Krebs- oder Sarkomvererbung nichts bieten. Im ganzen
machen es die nachfolgenden mehr positiven Daten iiber Entwicklungs-
stdrungen und abnorme Sussere Einwirkungen im splteren Leben, die
zu Geschwulstbildungen fuhren konnen, unwahrscheinlich, dass im Keime
mehr als hdchstens eine gewisse allgemeine Disposition zur Entstehung
von Tumoren mitgegeben werde.
Aber von der unbefruchteten oder befruchteten Keimzelle bis zum
Neugebomen ist ein langer Weg; ein rastloses Bauen und Schieben,
Trennen und Ftigen der sich immerzu rapide vermehrenden Zellen ist
die Signatur der fotalen Entwicklung: wie viel leichter konnte es hier
geschehen, dass durch kleine oder grosse Fehler im Aufbau des Korpers die
Bedingungen geschatfen wurden fur eine spStere Geschwulstentwicklung!
Dass z. B. Zellen irgendwo aus dem festgefugten Verbande verdringt«
im Kdrper an falsche Stellen verlagert wurden; oder dass sie einfach
liegen blieben, ohne ^sich an der normalen Weiterbildung der Organe
zu beteiligen: dass solche Zellen alsdann fruher oder splter, auf einen
belanglosen Anlass hin oder auch ohne erkennbaren neuen Anlass bloss
in einer Art verspateter und ungeregelter Betdtigung ihres gehemmten
und lange schlummemden Vermehrungstriebes, zu wachsen und zu
wuchem beginnen — dass aus solchen liegen gebliebenen Zellen
Geschwiilste entstunden!
Es ist ein hochst unbehagliches Gefuhl, sich etwa im eigenen
Kdrper hier und dort verstreut solche kleine Rotten eingeschlafener
Wegelagerer zu denken, denen es eines schdnen Augenblicks einfallen
kann, aufzustehen und uns den Garaus zu machen. Indes, es gilt nicht,
gegenuber unangenehmen Moglichkeiten die Augen zu schliessen, sondem
sie fest und genau zu besehen und sich uber sie klar zu werden. Wir
mussen nun in der Tat, Ihnlich wie Solon keinen vor dem Tode glucklich
preisen hiess, sagen: nur die genaueste Sektion kann Gewissheit daruber
geben, ob irgend ein Mensch wirklich frei von jeder mit blossom Auge
wahmehmbaren Geschwulst gewesen sei; wShrend uber das Vorhanden-
sein mikroskopisch kleiner Geschwulstchen selbst dann noch nur der
Zufall, der sie vielleicht einmal gerade finden l&sst, entscheidet. Und
ebensowenig kann irgendwer, auch wenn ihm sein Spiegel beteuert, dass
HMg 289 S*^
er fehlerlos gebaut sei, daruber je Gewissheit erhalten, ob nicht aa einer
t>der vielen Steilen in seines Kdrpers Tiefe solche kleine oder gr5ssere
Oberreste von Zellen aus seiner Entwicklungszeit noch liegen, die den
Anschluss an die organbildenden Zellen verslumt haben. Hier sind
vorabergehend Spalten gewesen, z. B. die Anlagen einer Kiemenspalte
am Halse, oder eine breite Verbindung zwischen urspriinglicher Luft-
rohre und Speiserdhre, die sich erst allmdhlich verschloss; oder noch
fruher fand sich an Stelle des spitem Bnistbeins eine klaffende Liicke;
eilig mussten sie, vielleicht einmal etwas verspitet, oder unter un-
gunstigen mechanischen Verhiltnissen verschlossen werden; schnell
wurde iiber der Kiemenspalte innen die Schleimhaut des Rachens und
aussen die Haut des Halses geschlossen, zwischen beiden aber blieb
in der Tiefe die Lucke mit den umkleidenden Zellen; oder die Speise-
rohre erhielt bei der raschen Abtrennung ein Stiickchen Knorpelanlage^
das eigentlich einem Luftrdhrenknorpel hfttte zur Ausbildung dienen
sollen; oder beim Schluss der vorderen Brustwand wurde ein Stuck
Hautanlage nach innen verzogen und schlummert nun zwischen Herz
und Lungen und Brustwand. In dem ersten Beispiel sind embryonale
Zellen unverbraucht liegen geblieben; in den beiden andem geschah
eine fdnnliche Verlagerung embryonaler Zellen. Solche Stdrungen an
Steilen, wo es besonders schwierige .technische Aufgaben* tur die
Embryonalzellen zu losen gibt, sind nun neben anderen an den gleichen
Orten lokalisierten Abnormititen nichts gerade seltenes. Die uberlegene
Kunst der .blind schaffenden Natur*, wie unser zuschauender Eigen-
diinkei sie wohl nennt, zeigt sich aber darin, dass solche kleine Un-
genauigkeiten sie zumeist nicht abhalten, den Bau des Lebewesens zu
voUenden. Hier wird etwas umgemodelt; aus den Spalten wird vielleicht
ein kleiner Hohlraum, der sich sptiter, langsam mitwachsend, mit Flussig-
keit fQllt; der versprengte Knorpel wichst ein wenig und wird als Wand-
einlage verwendet usw. Auch in der Kleidungs- und Verkleidungskunst
ist die Natur uns iiber: mit glatter Haut deckt sie die verwegensten
Kleisterungen und Flickarbeiten, um ihr Werk zu retten; und ein heutiger
Gulliver wiirde die naiven Huyhnhnms wohl darauf verweisen, dass ihre
Entrustung iiber die heuchlerische Verkleidung der Menschen sich gegen
die Natur selbst wenden musste, als die erste und genialste Kleidungs-
nnd Verkleidungskiinstlerin*
Es kommt vor, dass auf solche oder flhnliche Weise ganze Organ-
teile wie vergessen liegen bleiben oder an falsche Orte geraten. So
findet sich gelegentlich in den Knochen der SchSdelbasis, welche sich
erst im Laufe der Entwicklung ausbilden um eine ursprunglich knorpelige
und auf noch fruherer Stufe gallertige stabfdrmige Anlage, von der einen
Oder andem ein Rest: sowohl der Knorpel als dieses Gallertgewebe konnen
liegen bleiben, ein Stiick weit mitwachsen und. spiter als Geschwulste
imponieren. Telle der Nebennieren gelangen bald an, bald in die Niere ;
dort bleiben sie entweder als kleine, auch in ihrem mikroskopischen Bau
normale Nebennieren, oder sie wachsen zu mehr oder weniger grossen
und unregelmissigeren Geschwfilsten heran.
200 Si4^
Es ist in diesen und zahlreichen anderen Fillen kein Zweifel, dass
wirklich solche liegen gebliebene oder verlagerte Keime
das Material fur Gesch wulstbildungen abgeben. Da sich
gerade in den angefuhrten Beispielen eine besondere dussere Ursache,
ein ReiZy nicht auffinden noch als wahrscheinlich annehmen lisst, wurden
diese Fdlle fur eine Entstehung von Geschwulsten rein aus
vinnerenUrsachen* im oben gedachten Sinne sprechen — voraus-
gesetzty dass nicht doch unbekannte Stdningen, die sich im inneren
Haushalt des Organismus an diesen vKeimen* geltend machen, den
direkten Anlass zur Geschwulstbildung aus ihnen abgeben. Fur die
angeborenen und im fruhen Kindesalter auftretenden Tumoren hat diese
Erklflrung als die allemichstliegende wohl vor jeder anderen den Vorrang.
Aber gilt diese Anschauung ftir all e Geschwulste? Gilt sie ins-
besondere fur die das mittlere und hdhere Lebensalter fast ausschliesslich
betreffenden Krebse?
Fur eine Anzahl der letzteren bilden sicher gleichfalls Keim-
verirrungen, liegen gebliebene Keimzellen den Ausgangspunkt» das
Material. An den oben erwShnten Spalten, in verlagerten Nebennieren
sind Krebse keineswegs selten. Man konnte daraufhin vielleicht an-
nehmen, dass an alien Stellen, wo Krebse oder Tumoren tiberhaupt
entstehen, solche Anlagen in Form ruhender wucheningsflhiger Zellen
gegeben seien, die wir nur im Einzelfalle wegen der zur Zeit der Unter-
suchung schon aus ihnen hervorgewachsenen Geschwulstwucherung nicht
mehr finden. Eine derartige Ansicht wurde zwar bei der Menge der Orte,
an denen solche Keime vorkommen, unwahrscheinlich, an sich aber nicht
unmoglich scheinen. Indes widerspricht einer derartigen Verallgemeine-
rung mit Bestimmtheit eine Tatsache. Man kann namlich beobachten, dass
Krebse entstehen auf alten Geschwuren, deren ursprunglicher Epithel
ebenso wle das darunterliegende Bindegewebe Iftngst durch neues Ersatz-
gewebe ein- oder vielemale ersetzt sind; oder in alten Narben, die auf Grund
einer besonders tiefen Verbrennung oder VerHtzung des ganzen Gewebes
sich bildeten und erst von den RSndem her mit neuem Gewebe sich
deckten; oder sogar in der Tiefe von Knochen, die durch jahrelange
Eiterungsprozesse sich in sog. Fistelgftngen nach der Haut gedCFnet
haben, und in welche herein, also an Stellen, wo vorher sicher kein
Epithel sich fand, das Deckepithel der H^ut sich langsam wachsend
schoby um den Verlust zu decken. An all diesen und fthnlichen Stellea
ist das in Krebswucherung schliesslich iibergehende Epithel vorher sicher
nicht an Ort und Stelie der spdteren Geschwulstentwicklung gewesen;
es stammt in der so und sovielen Generation ab von Zellen der Um-
gebungy die ihrerseits lange Zeit vollig nach Art normaler Epithelien
den Verlust zu decken versuchten. Hier kann also von vorgebildeten
Keimen nicht die Rede sein. Und nun erinnem wir uns wieder an
friiher schon erwihnte Beispiele: Krebse sind u. a. besonders haufig
in dem mechanisch und chemisch so viel insultierten Verdauungskanale;
und hier sind es wieder die Lippen, besonders bei Pfeifenrauchem, die
Zunge an den Seitenrindem, da wo sie von schadhaften ZShnen leicht
291
and immer wieder verletzt werden kann; der Anfangs- und Endteil des
Schlundes, die enge Gegend des Magens, der Anfangs- und Endabschnitt
des MastdarmS) die besonders oft befallen sind. Unvergleichlich hdufiger
flndet an diesen Stellen, die in besonders hohem Masse immer wieder-
kehrenden Schddigungen ausgesetzt sind, Krebsentwicklung statt als in
den dazwischen gelegenen Teilen des Verdauungsrohrs. Das Gemein-
same aller dieser und dbnlicher Falle (Schornsteinfegerkrebs usw.) scheint
also die langdauernd wiederholte Schldigung der betreCfen-
den Partien, ein ^chronischer Reiz*. Es ist femer klar, dass die Zer-
storung der oberflSch lichen Schichten an diesen Orten zu einer darauf
immer wieder antwortenden Neubildung von Zellen, sowohl des
Epithels, welches diese OberflSchen uberkleidet, wie auch des darunter-
liegenden Bindegewebes fuhren wird.
Damit sind wir an dem Punkte angelangt, wo die zellularen
Theorien des Krebses einsetzen. Gegeben ist in diesen FSllen einer-
^eits ein chronischer Reizzustand. der das an sich normale Gewebe
nie zur Ruhe kommen llsst, immer aufs neue zur Wiederherstellung des
Verlorenen, zur Regeneration zwingt. Der Reiz besteht in der Zellzer-
st5rung; der immer neu ausgeloste organische Vorgang ist urspriinglich
in nichts von demjenigen nach einer geringfugigen Verletzung ver-
schieden: es ist ein in die LSnge gezogener, fruchtlos stets erneuter
Heilungsvorgang, der allerdings je linger je mehr sich mit dem Bilde
einer Entzundung und Geschwiirsbildung vermischt, mit Auswanderung
weisser Blutk5rperchen, Bindegewebsneubildung etc. — Gegeben ist
zweitens der Endzustand: in dem alten Geschwur hat das Epithel
krebsig zu wuchern begonnen; das Geschwur ist zum Krebsgeschwiir
geworden.
Was liegt dazwischen?
Die Antwort scheint im Prinzip einfach. Mit den Epithel-
Zellen muss eine Anderung vor sich gegangen sein. Alles andere
ist geblieben wie zuvor: der Reiz, die Umgebung, Bindegewebe und
Gefisse. Das Geschwur konnte an sich» wie so manches alte Unter-
schenkelgeschwur, noch Jahrzehnte fortbestehen, ohne krebsig zu werden.
Worin besteht also die Anderung in den Epithelzellen?
Es bieten sich zwei Vermutungen. Entweder muss angenommen
werden, dass das Wesen der Geschwulstzellen selbst durch irgend-
welche Anderungen in ihnen derart gegeniiber der entsprechenden nor-
malen Zelle venlndert wird, dass sie die FShigkeit zu unbegrenzter
Wucherung und zum Vordringen in die Tiefe gewinnen; oder es muss
sich um eine tiefergreifende Anderung der Bedingungen handeln,
unter welchen sie stehen, der Art, dass sie anstatt der begrenzten
regenerativen Leistung im Dienste des Kdrpers unter mehr oder weniger
vollstlndiger Vemachlflssigung dieser letzteren sich von ihm emanzi*
pieren, zu seinen Parasiten und ausgesprochenen Feinden werden.
Beide Arten von Ansichten haben Vertreter gefunden. So er-
klirte man als das Wesentliche bei der Krebsbildung das Zuriick-
^ehen der Zellen von ibrer vollausgebildeten Form zu einer einfacheren.
292 8^
weniger differenzierten, oder wie man auch wohl sagte, zu einer
mehr der embryonalen genaherten Form. Mit dieser einfacheren, zuriick-
gebildeten Form sollte eine erhohte Wucherungsflhigkeit verbunden sein»
welche ihrerseits auch u. tu durch mannigfache Eigentumlichkeiten und
Unregelmissigkeiten der Kemteilung sich manifestiere. In der Tat ist
mit der Hervorhebung dieser Merkmale etwas fur die bosartigen Ge-
schwulste sehr Kennzeichnendes betont; sie zeigen, wie das Fur das
Sarkom bereits erwihnt wurde, eine besondere Tendenz zur Verein-
fachung sowohl des Zellcharakters als auch der aus der Zusammen-
fiiguDg der Zellen entstehenden Bildungen. Wfthrend z. B. die gut-
artigen Geschwulste der Dnisen-Epithelien bei ihrem Wachstum m. w.
genau die Zellen ihres Mutterbodens wieder enthalten und immer wieder
driisenartige Schlduche bilden, auch hlufig noch das Sekret wie im
normalen Zustand weiter produzieren, geht bei den Krebsen der Drusen
diese FShigkeit zur Bildung von Schliuchen hSufig fruhzeitig verloren,.
und es bilden sich unregelmissige Epithelhaufen; oder aber die wieder-
kehrenden Neubildungen von Drusen tragen einen hochst primitiven
Charakter und die betreffenden Zellen liefem kein oder ein weit vom
normalen abweichendes Sekret. So bestechend indes eine derartige
Auffassung der eingetretenen VerSnderung im Wesen der Zellen zu-
nMchst erscheinty so wenig ist sie fur eine generelle Auffassung brauch-
bar, da sie weder allgemein anwendbar ist, noch auch das Eigentumliche
der Krebse genugend charakterisiert. So ist es zwar die Kegel, das&
sich die Zellen bosartiger Geschwulstformen fruhzeitig vereinfachen
und ihre Funktion mehr oder weniger friih verlieren; aber es kommen
doch auch hdchst bemerkenswerte Ausnahmen vor. Z. B. ist mehrfach
beobachtet worden, dass die Zellen eines Leberkrebses in der Leber^
ja, wenn sie in die Lunge verschleppt wurden, auch dort noch Galle
bildeten nach Art normaler Leberzellen, oder dass schleimbildende Zellen
z. B. aus Krebsen des Darmes oder eines Luftr5hrenastes an den Stfttten
ihrer sekunddren Einpflanzung (z. B. in der Leber oder im Gehim) fort«
fuhren, Schleim zu bilden. Die krebsige Schilddruse macht gelegent-
lich in der Lunge oder im Knochenmark sekunddre Knoten, welche das
spezifische Produkt der Schilddrusenlippchen, das sogenannte Kolloid^
in der gleichen Weise absondem, wie dies in der normalen Schilddrilse
der Fall ist. Auch Krebse der Haut sehen wir, an Ort und Stelle oft
sehr lange, gelegentlich auch noch nach ihrer Verschleppung, z. B. in
der Niere, das eigenartige, aufs engste verzihnte Zellennetzwerk weiter-
bilden, welche den Zusammenhalt der HautoberflSche gegenuber den
vielen Schidigungen der Aussenwelt verstindlich macht.
Diese Ruckbildung und Vereinfachung (Anaplasie oder Kataplasie
genannt) der Krebszellen kann demgemiss nicht als charakteristisches
und allgemeingtiltiges Merkmal angesehen werden. Ihr Eintreten ist
wahrscheinlich vielfach bloss von der Intensitit der Wucherung ab-
hdngig: je stMrker diese, desto fruher verlieren meist die Zellen die
Ahnlichkeit mit den normalen Zellen des Mutterbodens. Ebenso sind
die abnormen Kern- und Zellteilungen nur als der Ausdruck» nicht als
. 293 %^
die Ursache der erhohten und vielfach auch gestdrten Zellvennehrung
zu betrachten.
Die Entstehung dieser Steigening der Wucherungstendenz fiber
das Mass hinaus steht aber gerade in Frage. Bin geistreicher Erkllnings-
versuch dieser Umwandlung ist der folgende: Bei der Entstehung von
Krebsen an Stellen, weiche dauemd Reizen und SchMdigungen ausgesetzt
sind, wird das Epithel zu einer dauemden Neubildung gezwungen.
Dadurch erfolgt, wie bei alter einseitig gesteigerten Zelltdtigkeit, eine be-
sonders starke Ausbildung dieser ZelltStigkeit, der Teilung, und der Zell-
teile, die zu ihrer Ausubung notig sind. Die Zelle bildet gewissermassen
ihre Flhigkeit zur Vermehrung auf Kosten z. B. ihrer sekretliefernden
Tfttigkeit einseitig aus. Von einem gewissen Punkte an uberwiegt bei
der so und so vielten Zellgeneration diese TStigkeit und Ffthigkeit, so
dass sie nunmehr voUkommen das veitere Verhalten der Zelle be-
herrscht. Sie hat ihre funktionelle Tatigkeit ganz oder fast ganz auf-
gegeben und beschiftigt sich nur mehr mit Aufnahme von Nihrmaterial
und fortlaufenden Teilungen.
Auch dieser Gedanke, so ansprechend er ist, genugt nicht. Denn
wir kennen Organe, in denen die hier vorausgesetzten dauemd wieder-
kehrenden SchUdigungen nicht nachweisbar sind, und aus denen doch
Krebse hervorgehen. Hierher gehoren die Krebse der Niere, der
Nebenniere, des Rippen- und des Bauchfells. In andern wieder erlischt,
wie eben angefuhrt, die urspriingliche Funktion erst sehr spit.
Auch die zweite Reihe von Moglichkeiten, die wir oben andeuteten,
ist fur die Erklirung der Krebsentstehung verwendet und im Zusammen-
hang mit den Feststellungen fiber tatsSchliche embryonale Absprengungen
zu einer allgemeinen Geschwulsttheorie verwendet worden. Nicht das
Wesen der geschwulst-bildenden Zelle soil zuerst verftndert sein, sondem
die Abtrennung von Epithelien aus dem normalen Verbande mit den
fibrigen sei die erste Ursache. Das entzfindlich wuchemde und ins
Epithel dringende Bindegewebe wire hiernach der eigentliche Stdren-
fried. Die unter gewissen UmstSnden abgetrennten Epithel-Zellen sollen,
ohne zunSchst ihren Charakter einzubfissen, liegen bleiben und unter
gfinstigen EmiUirungsbedingungen dadurch, dass die unter gewdhnlichen
Verhaltnissen ihr unbegrenztes Wachstum hemmende normale Einffigung
unter die andern Epithelien wegflUt, zur Entfaltung ihrer latent vor-
handenen, nur schlummemden VermehrungsBlhigkeit gelangen. Dadurch
wfirde natfirlich der Anstoss zur Neubildung gegeben sein.
Auch gegen diese Auffassung sprechen gewichtige Grfinde. Der-
artige abgesprengte Zellen kdnnen nachweisslich auch bei chronischer
Entzfindung liegen bleiben, ohne geschwulstartige Bildungen zu liefem.
Damit ist erwiesen, dass die einfache Losung aus dem Gewebsverband
nicht ausreichend ist, und dass auch unter diesen Umstlnden noch irgend
etwas besonderes, sei es in, sei es ausser der Zelle, dazu kommen muss,
um sie zur Wucherung zu veranlassen. Ferner muss hervorgehoben
werden, dass diese Anschauung gerade ffir das Carcinom in vielen Fftllen
sicher nicht zutriCft; denn in Fftllen von beginnendem Krebs Iftsst sich
-t-S 204 §^
hftufig mit Bestimmtheit eine primire Verbreitening der Epitheldecke bei
geschlossenem Epithelzusammenhang, bei noch mangelnder oder nicht
irgend erheblicher Wucherung des Bindegewebes wahrnehmen; demgemlss
ist es in diesen Fftllen augenscheinlich das Epithel und nicht das Binde-
geWebe, das zuerst vordrang.
Somit muss auch dieser zweite Versuch, aus der Betrachtang der
Verinderungen der Epithelzellen deren Wucherungstendenz abzuleiten,
als unzureichend angesehen werden. Wir sehen auch das zellulare Pro-
blem der Krebsentstehung durch die zellularen Theorien nicht geldst: sie
umschreiben nur, soweit sie stimmen, ein Stuck weit die Tatsache
der erhdhten Wucherungsflhigkeit.
Diejenige RoIIe, welche in der Entstehung der Krebse die chro-
nische Reizung spielt, wird in der Entstehung der Sarkome vielfach
e i n m a 1 i g e n starken Reizen, wie Schlfigen, Quetschungen, Knochenbruchen,
zugeschrieben. Wenn man bedenkt, wie viel solche sogenannte .Traumen*
vorkommen, wie selten im Verhftltnis dazu die Sarkome, sowie dass viele
Sarkome mit besonderer Vorliebe an ganz bestimmten Stellen entstehen
— z. B. im oberen Obi^rarmdrittel, im oberen Ende des Schienbeins,
im oberen Oberschenkelabschnitt — , so wird man auch fur sie sehr nach-
drucklich auf irgendwelche besondere Anlage des betreffenden Individuums
hingewiesen; und das um so mehr, als die Sarkomzellen, wie wir sagten,
sehr oft den Charakter sehr jugendlicher und ganz enorm wucherungs-
fMhiger Zellen tragen und die Sarkome auch uberwiegend im jugendlichen
Alter sich bilden. Femer enthalten manche Sarkome, besonders die der
Niere, hiufig kleine Einschlusse von Epithelgebilden usw. und gehdren
also eigentlich schon zu den Mischgeschwulsten, von deren Entstehung
aus embryonalen Gewebsresten unten die Rede sein wird; umgekehrt
sind diese letzteren Geschwtilste in ihrem Grundgewebe oft sarkomartig.
Endlich aber ist der angebliche Zusammenhang zwischen .Traumen* und
Sarkomentstehung oft hdchst unklar; bald liegt die Schidigung zeitlich
so weit zuruck oder ist so geringfugig, dass sie kaum in Zusammenhang
mit der Sarkomentstehung gebracht werden kann; bald auch lisst sich
die Mdglichkeit nicht ausschliessen, dass ein entweder gutartiger oder
schon in stErkerer Wucherung beflndlicher Tumor z. B. in einem Knochen
bereits enthalten war, deshalb die verdunnte Schale des letzteren leicht
brach und nun die Geschwulst erst in uppiger Wucherung zum Vor-
dringen kam. Andrerseits fehlt, z. B. beim Sarkom innerer Organe, viel-
fach wieder jeder Anhaltspunkt fur einen derartigen UnfalL
Wir kdnnen also als Ergebnis dieses der Bedeutung von ausldsenden
Ursachen und den zellulfiren Theorien der Geschwulste gewidmeten Ab-
schnittes nur etwa Folgendes notieren:
Fur viele Geschwulste kommen tatsEchlich Stdrungen in der Ent-
wlcklung (Liegenbleiben und Verlagerung von Zellen) in betracht. FGr
die Entstehung vieler Krebse genugt eine solche Annahme jedoch nicht;
hier sind es uberwiegend lange andauemde Reizzustftnde, welche auf
eine nicht niher gekannte Weise zur Krebswucherung fuhren kdnnen.
Fur die Entstehung von Sarkomen scheinen einmalige heftige Schftdigungen,
285 1^
vielleicht dadurch, dass sie verborgene Keime oder kleine Geschwulste
treffen, in manchen Fallen die Ausldsungsursache abzugeben.
Es ist, ehe wir dies Kapitel abschliessen, an der Zeit, wieder ein-
mal mit Nachdruck zu betonen, was in der Diskussion tiber das Carcinom
irielfach vergessen worden ist: dass eine Auffassung der Geschwulste
entweder fur alle — auch die gutartigen — brauchbar sein, oder aus-
drucklich die Griinde verstindlich machen muss, weshalb sie nur fur eine
Art von Geschwulsten annehmbar sein soli. Wir kennen so viele Beispiele
dafur, dass urspriinglich gutartige Geschwulste gewissermassen unter
unseren Augen in bdsartige ubergehen, dass an eine prinzipielle Scheidung
nicht gedacht werden kann. Wir wissen, dass z. B. aus einem braunen
Muttermal, wenn es unvollstindig ausgeschnitten oder geitzt wurde, nach-
dem es vorher jahrelang ruhig an seiner Stelle geblieben war, eine der
bdsartigsten Sarkomformen hervorgehen kann. Ebenso wissen wir, dass
gewisse Warzen in hdherem Alter gelegentlich sich zu Krebsen umwandeln,
dass eine urspriinglich gutartige Wucherung des Hautepithels in der Urn-
gebung eines jahrelang bestehenden Geschw&rs der Ausgangspunkt eines
Krebses werden kann. Eine scharfe Grenze zwischen den Zellen gut-
artiger und bosartiger Geschwulste Msst sich ebensowenig Ziehen, wie
zwischen ihren Ursachen; und eine Theorie, welche nur die unbegrenzte
Wucherungsfihigkeit der Zellen bosartiger Tumoren zu erkllren versucht^
ist schon aus diesem Grunde fur die gutartigen Tumoren nicht anwendbar.
Das allgemeinere Problem der Entstehung und des Wesens der
Geschwulst wird also durch jene zellularen Theorien so wenig wie durch
die Parasitentheorie gelSst. Ist es uberhaupt in den Fragen, die zu diesen
Antworten ftihrten, in seinem ganzen Umfang erfasst worden ? Die Un*
zulinglichkeit der Antworten Iftsst schon vermuten, dass dies nicht der
Fall sei.
VII.
Erdrtem wir nunmehr noch einmal im Zusammenhange, was bet
den verschiedenen zellulftren Erkllrungsversuchen ubersehen ist, was von
ihnen nicht geleistet werden kann. Daraus werden sich ganz von selbst
die Anforderungen ergeben, welche an eine Geschwulsttheorie gestellt
werden mtissen.
Wir haben schon mehrfach betont, dass die bisherige Auffassung;
des Wesens der Geschwillste an einer auffilligen Einseitigkeit kranke.
Wenn man die angefuhrten Theorien liest, so mdchte man meinen, dass
es iiberall sich nur um Verftnderungen an und in der Geschwulstzelle
handle, welche dieselbe zu einer Wucherung veranlassen, und durch
sekundflr hervorgebrachte Reaktionen der ubrigen betroffenen Gewebe
die Geschwulstbildungen hervorgehen lassen.
Dem gegeniiber ergibt, wie ich meine, eine vorurteilslose Be*
trachtung besonders der gutartigen Geschwulste schon in Hinsicht auf
ihren Aufbau, ihre Architektur, dass wir mit solcher Auffassung der-
selben als blosser .Wucherungen' ihnen nicht entfemt gerecht werden.
-t^ 296 %^
Ein paar Beispiele mdgen dies zeigen. Die schon mehrmals er-
wlhnten Fettgeschwtilste zeigen sich in ihrem Bau vollkommen ebenso
zusammengesetzt, wie das Fettgewebe, das wir z. B. unter der Haut vor-
flnden. Charakteristisch ist fur sie hluflg nur, dass sie grdssere and
schdrfer umgrenzte Ansammlungen von Fett darstellen, und vor allem,
dass sie unter UmstMnden auch dieses Fett behalten, wenn etwa im Fall
lingeren Hungers die ubrigen Fettdepots ihr Fett zum besten des
Kdrpers wieder abgegeben haben. Hier handelt es sich also offenbar
urn eine nur in ganz wenigen Eigentumlichkeiten von dem physio-
logischen Fettgewebe abweichende Bildung. Ahnlich verhalten sich
viele Knochengeschwulste und Auswuchse an Knorpeln oder Knochen;
im Nervengewebe gibt es Bildungen, welche in allem wesentlichen die
Bestandteile des Nervengewebes wiederholen und nur durch ihre Ab-
trennung uns als Geschwiilste kenntlich sind. Auf den Schleimhauten
finden sich hiufig in Ein- oder Mehrzahl sogenannte Polypen, das sind
mehr oder weniger langgestielte, hiufig pilzformig aufsitzende Gebilde,
welche fast voUstindig in ihrem Bau und in ihren Funktionen sich ver-
halten wie die umgebende Schleimhaut, also eigentlich nur durch die
abnorme Form des Ganzen sich von dieser unterscheiden. Daraus ergibt
sich bereits klar, dass wir unter den Geschwulsten solche kennen, deren
Zellen keinerlei wesentliche Abweichung weder nach Form noch
Zusammenfugung gegenuber den Zellen der normalen Organe zeigen.
Und daraus wieder folgt, wenn wir ja diese Bildungen mit Recht zu den
Geschwulsten zahlen, dass von einer Betrachtung der Zellcharaktere
all ein eine geniigende Auffassung fiir das Besondere aller Geschwulste
gegenuber den physiologischen Bildungen nicht gewonnen werden kann.
Alle bisher aufgefiihrten Annahmen bringen fur diese Verhiltnisse keinerlei
AufklErung bei.
Wir kdnnen an dieser Stelle gleich noch einen weiteren Grund wieder
anfuhren dafur, dass eine ausschliesslich zellulire Betrachtungsweise tm
gedachten Sinne von dem Wesen der Geschwiilste eine geniigende Vor-
stellung zu geben nicht imstande sein kann. Bei alien Geschwulst-
bildungen, gutartigen wie bosartigen, haben wir es zu tun nicht mit der
Wucherung einer Zellart, sondem stets mindestens zweier, d. h. der be-
treifenden geschwulst-bildenden Zellen im engeren Sinn und der emihren-
den Geflsse, in vielen FEUen dazu des tragenden und trennenden Binde-
gewebes. Es kann also fur das Beispiel etwa einer Warze oder eines
Krebses nicht genugen, auf die VerhMltnisse der Epithelzellen zu rekur-
rieren, sondem es muss auch dargetan werden, wieso durch diese Ver-
dnderung resp. mit ihr gleichzeitig auch das geflssbildende, eventuell
das Bindegewebe in entsprechende Wucherung gerat. Wenn wir erwSgen,
dass in alien Geschwtilsten — wir werden darauf noch wiederholt und
eingehender zurtickkommen — nicht bloss unregelmissige Zellwucherung,
sondem in den meisten ein, wenn auch vom normalen abweichender,
so doch kompliziert und kunstvoll durchgefuhrter Aufbau vorhanden ist,
der nur einem in seiner Art sinnvoUen Zusammenwirken der genannten
zwei Oder drei Gewebsarten seine Entstehung verdanken kann: so ist es
-HT 297
Mar, dass eine Tbeorie der Geschwulstbildung, welche nicht gerade dieses
eigenartige Zusammenarbeiten der Zellen mit zu erkldren vermag, den
Tatsachen nimmermehr genugen kann. Ich will zu letzterem Punkte
nur ein Beispiel noch anfuhren.
Eine Cystengeschwulst des Eierstockes ist z. B. ein in seiner Art
ebenso staunenswert zusammengesetztes Gebilde, wie nur irgend eines
der Organe. Der haufig mehr als mannskopfgrosse flussigkeitsgefiillte
Sack, den es darstellt, ist nicht etwa bloss von Epithelzellen aufgebaut,
sondem diese Epithelzellen bildeten bei der Entstehung der Geschwulst,
ebenso wie die Embryonalzellen bei der Orgiinentwicklung tun, Drtisen-
rdume, durch regelmissige Nebeneinanderlagerung in Form von kugeligen
Oder schlauchfdrmigen Wftnden; sie werden ebenso wie in embryonaler
Zeit genau entsprechend ihrem Sprossen und Wachsen umschlossen
von Bindegewebe, welches ausserdem zwischen den Epithelwinden vor-
springt, hiufig kleine Pfeiler treibt, und andererseits der Spannung
des im Innem sich allmihlich ansammelnden Sekretes entsprechen-
den Druckwiderstand leistet. Sie werden iiberzogen von einem mit-
wachsendem Uberzuge des Bauchhohlenepithels, eben so gut wie etwa
die Leber oder die Milz, oder ein anderes in die Bauchhohle vor-
ragendes Organ, ohne dass in dem Aufbau dieser deckenden Lamelle
ifgendwelche Anzeichen der Stdrung oder entzundlichen Reizung vor-
handen wdren. Sie erhalten endlich ihr Blut nicht bloss durch kleine
und schlechtentwickelte Geflsschen, sondem zu ihnen und aus ihnen
verlaufen ebenso michtige Schlagader- und BlutaderstMmme, wie nur bei
irgend einem anderen Organ und oft viel mdchtigere als zum normalen
Eierstocke. Um es mit einem Wort zu sagen, eine derartige Bildung
reprSsentiert in exquisitester Weise alle jene Eigentumlichkeiten des
Aufbaues und des Wachstums, welche wir in unseren Organen wieder-
finden; und es ist kein Zweifel, dass, wenn wir z. B. bei alien Individuen
eine bestimmte Art solcher Geschwulstbildungen regelmdssig wieder-
finden, wir ohne weiteres nach einem bestimmten verborgenen Zweck und
Sinn derselben mit dem gleichen Rechte forschen wurden, wie vor nicht
langer Zeit die Forschung den Sinn der Schilddruse und Nebennieren
muhsam zu ergrunden suchte, wie wir etwa heutzutage nach dem Sinn
und Zweck des Himanhangs forschen; bezw. wir wurden umgekehrt die
betreffende Bildung eben so wenig als eine Geschwulst ansehen, wie wir
z. B. die sogenannte Zirbeldruse als solche betrachten, obgleich wir
deren eventuelle funktionelle Bedeutung in keiner Weise ahnen. (Ihrer
historischen Entwicklung nach stellt die letztere ein ruckgebildetes drittes
Auge dar.)
Aber die Geschwulstbildungen unterscheiden sich doch dadurch
^harakteristisch, dass sie keine nutzbringende Leistung fur den
Kdrper ausuben, dass sie ihm im Gegenteile stets, wenn auch in ver-
schiedenem Grade, schaden?
Hier ist zu bemerken, dass die Geschwulstzellen z. B. in einer
Eierstockcystengeschwulst eben so gut Schleim und ihnliche Stoife ab-
sondem, wie dies die Epithelien des Darmes oder der Schleimdrusen
SBddeutsche Mooatthefke. 1,4. 20
208
tun; und class es vielleicht bloss der Mangel eines Ausfiihrganges^
fur die produzierten Schleimmassen ist, welcher deren mangelnde Ver-
wendung und unter Umstinden kolossale Anstauung erklart. Denken
wir uns aber nur einmal eine Druse oder einen Muskel an einem Orte
gebildet, wo der Zusammenhang mit der zugehdrigen Schleimhaut resp.
mit Sehne und Knocben mangeltl Was werden sie dem Kdrper nutzen? —
Es kommt gelegentlich vor, das ein uberzihliger Lungenlappen ohne
Luftrohrenast auf dem Zwerchfell aufsitzt. Hier liegt es uns fern von
einer Geschwulst zu sprechen, obwohl das Gebilde funktionslos ist: es
entspricbt eben in allem wesentlichen dem normalen Lungenbau. Wit reden
hier von einer entwicklungsgeschichtlichen StSrung, Absprengung usw.
Wir haben auch schon daraut hingewiesen, dass z. B. die Polypen des
Darmes und andere Geschwiilste in ihrer Weise auch tatsichlich dem
Kdrper ebenso mit ihrer Funktion zu Gebote stehen wie die benach--
barten normalen Stellen. Auch der Leberkrebszellen, welche nach ihrer
Verschleppung in Metastasen noch Galle produzieren, wurde bereits
gedacht. Was aber wurde etwa normale Leber ins Gehim oder Gehim
in die Leber verpflanzt von physiologischen Funktionen zu leisten
vermdgen?
Es ist nach dem Gesagten offenbar, dass fur den Mangel einer
Funktion, wenigstens in den angefuhrten und vielen fthnlichen Beispielen^
die Berechtigung besteht, ungunstige Lagerungs- und Einordnungs-
verhdltnisse, Stdrungen im Aufbau und Shnliches verantwortlich zu
machen. Damit wurde dem angefuhrten Charakter der mangelnden
Funktion das Prinzipielle genommen und er zu einem zufailigen, wenn
auch uberwiegend hiufigen Merkmale gestempelt sein.
Wir mussen aber hier noch weitergehen. Es gibt sogar Bildungen^
welche zunftchst vollkommen als Geschwiilste aufgefasst werden mussen,
und welche trotzdem eine ausgesprochene Funktion fiir den Kdrper
dauemd und regelmissig ubemehmen, gelegentlich sogar in einem
hdheren Masse als die entsprechenden normalen Zellen. Solches trifft
zu fur gewisse Knotenbildungen in der Leber, in welchen die Fett-
speicherungsRhigkeit der Leberzellen gegeniiber ihrer Fifaigkeit zur
Galleproduktion einseitig ausgebildet erscheint, wahrscheinlich wegen
entwicklungsgeschichtlicher Stdrungen im Aufbau der betreffenden Ab-
schnitte. Dabei sind diese Knoten ganz richtig ins ubrige Gewebe
eingepflanzt und stellen bei genauer mikroskopischer Untersuchung
nichts anderes dar, als umgrenzte, einseitig differenzierte Telle des
Organs.
Ahnliche Bildungen lassen sich gelegentlich nachweisen in der
Milz. In den weiten Blutriumen dieses Organs werden untergehende
Blutkdrperchen von grossen, die Wand auskletdenden Zellen aufgenommen
und zerstort. Es gibt nun hier und da Geschwulstbildungen in der Milz,
welche in umschriebenem Bezirke Erweiterungen, Vergrdsserungen dieser
blutfiihrenden RMume darstellen. In denselben fliesst das Blut lang-
samer, entsprechend dem weiteren Strombette, und die Blutkdrperchen
haben dadurch lingere Zeit Gelegenheit, mit den Wandzellen in Be-
^ 209 8^
rShning zu kommeiir Damit mag e$ zusammenhflngen, dass in diesen
Fillen die letzteren viel grdsser ausgebildet sein konnen, als unter
gewohnlichen Verhiltnissen und viel reichlicher mit roten Blutkdrperchen
and deren Zerfallprodukten angepfropft erscheinen als gewdhnlich. Auch
hier 1st die geschwulstige Bildung mit kleinen Abweichungen in der
gewdhnlichen Weise in das Organ eingefugt.
Ahnliche Beispiele Hessen sich leicht in ziemlich grosser Menge
bringen. Von Fettgeschwulsten, die ebensogut Fett speichem wie ihre
Umgebung, war bereits die Rede. Ebenso warden Nervenzellengeschwtilste
erwihnt, bei welchen es wahrscheinlich nar der mangelnde Anschlnss
an Nervenbahnen ist, der sie an der Funktion hindert. Hiufig flnden
sich in der Haut kleine GeKssgeschwiilste, welche im wesentlichen aus
etwas geinderten Gefissen bestehen, und an den betreffenden Stellen die
blaurote Fftrbung gewisser Muttermller hervorbringen^ im ubrigen aber
ganz regelmissig in das Gewebe eingefugt sind and der Blutzirkulation
im ganzen ebenso dienen wie die gewdhnlichen Gef3sse.
In alien diesen FMlIen lehrt also eine einfache Betrachtung, dass
Fehlbildungen vorliegen, deren Geschwulstcharakter viel weniger
durcb die Abinderung in ihrer Funktion und die Heraushebung aus dem
Ganzen der Organe gegeben ist, als durch Zufllligkeiten in ihrer Ein-
fugung und der Zusammenordnung ihrer Zellen, welche ihre Form und
Farbe gegentiber dem umschliessenden Organ hervortreten lassen.
Es ergibt sich sonach aus diesen Beispielen, dass eine scharfe
Grenze auch hinsichtlich der Funktionsfihigkeit und der Nutzlichkeit
far das Ganze, sowie hinsichtlich der Einfugung im Gewebsverband,
zwischen Geschwulsten und Organen nicht gezogen werden kann. In
den extremen Formen ist die Nutzlosigkeit und Schftdlichkeit der Ge-
schwtilste hervortretend; in den Obergangsformen zeigen sie sich in
abgeflnderter oder gleicher Weise, unter Umstinden sogar in erhdhtem
Masse, titig und nutzbringend fur den Organismus: zwischen beiden
Extremen liegt eine grosse Reihe von Bildungen, fur welche die Annahme
nach dem Gesagten mdglich erscheint, dass nar ihre^abnorme Einfugung
sie hat zu wertlosen oder schSdlichen Bildungen werden lassen.
Es ist klar, dass bereits auf die hiermit gestellten Fragen mit
Anschauungen nicht geantwortet werden kann, die sich mit einer Ent-
diflferenzierung der Zellen, mit einer Erklirung der Wachstumssteige-
ning derselben begnugen. Gegentiber der Menge hier hervortretender
Gesichtspunkte erscheinen diese Fragen beinahe als nebensftchlich. Wir
werden gleich sehen, dass dies ebenso sehr und noch mehr fur die
anderen Arten zugehdriger Bildungen zutrifft, zu denen wir nunmehr
ubergehen.
Wihrend wir es im Vorhergehenden mit geschwulstartigen Ein-
lagerungen zu tun batten, deren Besonderheit sich ungezwungen aus der
abnormen ZusammenfQgung eines Teils der normaliter das Organ kon-
stituierenden Elemente herleitete, charakterisiert sich eine gleichfalls
grosse Reihe geschwulstartiger Bildungen dadurch, dass in ihnen Ver-
lagerungen ganzer Organteile in mehr oder weniger grosser Modi-
20^
300 9^
fikation der betreifenden Organe vorliegen. So iLommt es, wie schon
erwahnt, sehr hftufig vor, dass kleine Knoten vom Bau der Nebennieren-
rinde eingesprengt erscheinen in die Nieren, gelegentlich in die Leber.
In manchen FMUen reproduzieren sie genau den Bau des Organs und
werden dann als verlagerte Nebennieren betrachtet, denen wir auch hSufig
als Miniaturdriischen an verschiedenen Orten im Bauchfell begegnen.
In anderen Fdllen zeigen dieselben Gebilde eine kleine Variation, in dem
Sinne, dass sie abnorm reichliche und abnorm angeordnete Gefisse ent-
wickeln; sie stellen dann eine Art der sogenannten Nebennierengeschwdlste
z. B. in der Niere dar. Wir wissen, dass von diesen Abweichungen alle
ObergEnge vorkommen, bis zu grossen, die ganze Niere durchsetzenden
und bdsartigen, in die Geflsse vordringenden Geschwulsten. In diesem
Beispiel verschwimmt uns also auch die Grenze zwischen einem normal
gebildeten und bloss verlagerten Organ und der Geschwulstbildung aus
dem verlagerten Keim.
Bin etwas abweichendes Beispiel ist folgendes. Die Schilddriise,
deren L&ppchen gewissermassen als ebensoviele zu einem grosseren
Ganzen zusammengefugte kleinste Druschen betrachtet werden konnen,
zeigt hftufig kleine iiberschtissige Druschen in ihrer Umgebung, die als
Nebenschilddrusen bezeichnet werden. Sie uben die der Schilddrtise
eigentumliche Funktion so trefflich aus, dass sie z. B. nach Entfernung
eines Kropfes oder bei der experimentellen Entfernung der Schilddriise
bei Tieren, das Organ in seiner Funktion zu ersetzen vermogen und so
den Eintritt der schweren Folgen des Schilddrusenausfalls hintanhalten.
Nun kommt es nach neuen Untersuchungen gar nicht selten vor, dass
derartige winzige Schilddriischen im Knochenmark der Wirbel ver-
sprengt liegen. Soil man sie hier als Geschwiilste, wohl gar als bds-
artige, auffassen? Mir scheint kein Grund dagegen vorhanden, diese
kleinen versprengten Schilddriischen in der gleichen Weise funktionierend
zu denken, wie etwa die Nebenschilddrusen; denn auch die normale
Driise hat keinen Ausfuhrgang, ihre Funktion ist nur von dem Vor-
handensein der Blutzufuhr abhSngig. Wie nun soil man aber jene ganz
analog gebauten Schilddrusen auffassen, welche z. B. bei ^teren Hunden
hMufig in grosser Anzahl in der Lunge sich finden, und oifenbar von
einem bei dem betreifenden Tiere vorhandenen Kropfe der Schlddriise
verschleppt worden sind, demnach ganz eigentlich als bosartige Ge-
schwulste aufgefasst werden miissten ? Wo ist hier die Grenze zwischen
der noch physiologischen, der relativ harmlosen und der bdsartigen patho-
logischen Versprengung des sonst ganz normal gebildeten Organes?
Wir erwdhnten oben den Fall der versprengten Lungen. Auch
hier gibt es andere FSlle, bei welchen ein iiberzihliger Lappen ent-
wickelt ist, der aber durch einen Luftrohrenast in normaler Verbindung
mit den Luftwegen steht und demgemMss durchaus funktionsttichtig ist
und funktioniert. Wir sehen in dem Beispiele der versprengten
funktionsunfMhigen Lunge einen Beleg fiir die bemerkenswerte Tatsache,
dass der Korper gegentiber derartigen durch eine Entwicklungsstdrung
verlagerten Gebilden sich merkwurdig tolerant erweist, wenigstens in
HN« 301
alien den Fillen, in welchen sie nicht in irgend welcher Weise reizend
auf die Umgebung wirken. Eine derartige vollkommen nutzlose, uber-
dem noch etwas raumbeengende Lunge wird ebenso sorgsam ernfthrt
wie z. B« eine kleine Cyste, die als Uberbleibsel eines Kiemenganges
in der Tiefe des Halses stecken blieb, oder wie ein versprengtes Knorpel-
stuck, das z. B. in der Tiefe eines Knochenschaftes vollkommen wertlos
persistiert. Auch nach dieser Hinsicht hat also das oben angefiihrte
Liegenbleiben von nutzlosen Keimen im Kdrper keinen Widerspnich in
einem .Sparsamkeitsgesetz* der Natur: die Natur ist nicht sparsam;
besser gesagt: ihre ^Ansichten* fiber Sparsamkeit und Verschwendung
sind von den ansrigen in vielen Punkten himmelweit verschieden.
Derartige Absprengungen aus dem normalen Verbande mit Port-
bestand der einmal geformten Gebilde, gleichviel ob sie nutzlich oder
nntzlos sind, lassen sich fur die meisten Organe anfuhren. Ihr Vor-
kommen und die angegebene Beziehung zu den Geschwulsten stellen
wiedemm ein Gebiet von Problemen dar, mit welchen eine Geschwulst-
theorie rechnen, fur welche sie Aufklftrung geben muss. Ist es not-
wendig zu wiederholen, dass die bisher gebrachten ErklMrungsversuche
auch hier vollkommen versagen?
Vir wollen noch eines hervorheben. In der Einleitung sprachen wir
davon, dass neben den sogenannten einfachen Geschwulsten gemischte
Geschwulste existieren, sowie davon, dass deren Kompliziertheit eine
sehr wechselnde ist, dass von ihnen eine fortlaufende Stufenleiter der
Kompliziertheit und Ausbildung fuhrt bis zu den Bildungen, die uns
direkt an embryonale Organbildungen, an Missbildungen, Teilbildungen
eingeschlossener Embryonen gemahnen. Auch hier ISsst sich nur will-
kurlich eine Grenze Ziehen. Es ist neuerdings mit gewichtigen Grunden
die Zusammengehdrigkeit der Mischgeschwulste mit den Teratomen er-
hirtet, und fur beide die Entstehung aus irgendwie abgetrennten oder sonst
unverwendet liegen gebliebenen Purchungszellen herangezogen worden.
Wenn man erwftgt, dass hier und da auch in scheinbar einfdrmigen Ge-
schwulsten sich in geringer Menge Einsprengungen einer andersartigen
Zellform nachweisen lassen, welche eine derartige Geschwulst streng-
genommen unter die Mischgeschwfilste einreihen, so ist es wiederum
klar, dass fur eine Theorie der Geschwiilste die Deutung dieser Misch-
geschwulste und auch der Missbildungen innerhalb des Korpers ebenso
sehr ein unbedingtes Postulat ist, wie die Klarlegung ihrer Beziehungen
zu den Geschwulsten im engeren Sinne.
So sehen wir denn ffir den letzten Abschnitt unserer Betrachtungen
uber Geschwulste unsere Aufgabe vdllig neu gestellt: wir mtissen ver-
suchen, die Geschwfilste in ihrer Bedeutung als Ganzgebilde, als
Strukturen und gewissermassen als eigenartige biologische Wesen
zu erfassen suchen. .Und es verkundet der Chor cun geheimes Gesetz*:
wird dieses Gesetz sich fassen und formulieren lassen?
^ 302 9^
Aphorismen.
Von Adolf Oberlinder in MGnchen.
Es gibt kein Formenrezept fur die Schdnheit. Ver sie nicht uberall in
dem anendlich reichen Formenschatz der Schdpfung herausfinden kann,
dem ist nicht zu helfen!
Bildende Kunst.
Den ftusserlichen Flimmer einer Erscheinung kann auch der Photograph
^eben ; — erst beim Erfassen des Seelischen einer Erscheinung beginnt
die Kunst.
In der Art, wie wir das Wesen des Humors auffassen, zeigt sich unser
Charakter.
Die Erkenntnis Gottes.
Ich hab' einen Kanari, einen recht possierlichen Kerl. Meine Nase und
meinen Bart liebt er zartlich, meine Fingerspitzen hasst er, vom Armel
meiner woUenen Joppe ist er entziickti mein Strohhut aber erfiillt ihn
mit Entsetzen — dass alle diese Dinge zu einer Person gehdren, begreift
er nicht.
Wenn die Weisen das Wesen Gottes zu erkldren suchen, muss ich immer
an meinen Kanari denken.
303
Aus dem Lager des musikalischen
Fortschrittes.
Vom Allgemeinen deutschen Musikverein.
Jeder Freund des Fortschritts auf musikalischem Gebiete sollte
dem Allgemeinen deutschen Musikverein beitreten. Kunstfreunde werden
als ordentliche Mitglieder aufgenommen. WIe die neue, in der letzten
Hauptversammlung des Vereins zu Basel beschlossene Satzung besagt,
ist sein vornehmster Zweck: ,Pflege und Forderung des deutschen
Musiklebens im Sinne einer fortschreitenden Entwicklung.* Er ist
«in Kampfverein, und hat nur als solcher seine Lebensberechtigung.
Eintreten soli und will er fur alles beachtenswerte Neue, das sich schwer
(furcharbeitet, das bei den stSndigen Veranstaltungen der deutschen
StSdte, in denen emste Musik gepflegt wird, keine ausreichende Be-
rucksichtigung erfShrt. Je mehr im Wandel der Zeiten, bei wachsender
Einflusssphire aufrichtig neuzeitlich gesinnter Dirigenten, ein fortschritt-
licher Geist in die Konzertsile einzieht, um so entschiedener hat der
Allgemeine deutsche Musikverein seine TStigkeit auf die Forderung der
Bestrebungen derer zu konzentrieren, die in unseren Tagen am hMrtesten
zu ringen haben: der begabten, ftir die Buhne schreibenden deutschen
Tonsetzer. — Im Sinne der neuen Satzung wSre in jeder einigermassen
grosseren Stadt Deutschlands, Deutsch-Osterreichs und der deutschen
Schweiz eine Ortsgruppe des Musikvereins zu bilden, die als Zen t rum
der fortschrittlich musikalischen Bestrebungen des betreffenden
OrteSy beziehungsweise der um diesen geistigen Kern gelagerten Provinz
zu gelten hStte. Die Ortsvertretungen waren dazu berufen, alle noch
bestehenden, vom Fortschrittsgeist durchdrungenen Sonderverbinde in
sich aufzusaugen, also auch die Erbschaft der Wagner- und Lisztvereine
anzutreten. Einen Verein auf ein en Namen bin grunden — Hugo
Wolf-, Ansorge-Verein — heisst die KrMfte zersplittern. Die Ortsgruppe
tritt, nach Zeit und UmstMnden, fur den Tonsetzer mit besonderem
Nachdruck ein, der just in der betreffenden Stadt fur die Musikfreunde
noch ein «neuer Mann* ist, oder eine seiner Eigenart entsprechende
Wurdigung noch nicht gefunden hat. Wo es um die Konzertverhiltnisse
einigermassen besser bestellt ist, miissen die Hauptanstrengungen der Orts-
vertretung auf eine Hebung der heimischen TheaterzustMnde abzielen.
Und umgekehrt. Sehr zu befurworten ist die Einrichtung von Volks-
symphoniekonzerten und Musikalischen Volksbibliotheken, mit hin-
langlicher Beriicksichtigung der originalen, emsthaften Tonwerke der
Gegenwart. Den Zugang zur Kunst vermitteln dem Mann aus dem
Volke erst in zweiter Linie die abgeklSrten Schopfungen der alten
Meister, in erster Linie die Bilder, Skulpturen, Kompositionen der
304 %^
Gegenwart, die aus dem gleichen Zeitempfinden herausgeboren sind,
das auch ihn beseelt. Anzustreben wftre des weiteren eine Einfluss-
nahme auf den musikalischen Unterricht, gemftss einer entschieden
fortschrittlichen Anschauung. — Es empflehlt sich, die TEtigkeit einer
Ortsgruppe mit Vortrilgen (Diskussionen) einzuleiten, die ihr Budget nicht
belasten; vor allem soUte da uber Wechselwirkungen und -strdmungen
im modernen Entwicklungsleben der verschiedenen Kunste gesprochen
werden. — Eine ^Ortsgruppe Munchen'^ beginnt jetzt mit ihrer Arbeit;
die Bildung verschiedener anderer wird demnSchst erfolgen.
Besondere Aufgaben der Ortsgruppen in Siiddeutschland: Fdrderung
Aller bodenstindigen, volkstumlichen und hdheren musikalischen
Kunst, die Fortschrittskeime in sich trigt. Unter anderem, in Bayerh:
Fflege edler kirchlicher Musik, unter zeitgemasser Weiter-
bildung der Regensburger und Miinchner Traditionen und Studien*
Disziplinen, im Ausbau der jiingsten, durch Liszt eingeleiteten Periode
der religidsen Tonkunst. Femerhin: Weiterfiihrung der Wagnerischen
Reformen. Energisches Eintreten fur den Gedanken und das Werk von
Bayreuth. Einbiirgerung der gehaltreichen Tondramen selbstftndiger^
zielkrSftiger, auf Wagner fussender Tondichter im Prinzregenten-
Theater. — Fur Deutsch-Osterreich : intensive Verwertung der aus
einer liebevoUen Pflege der Symphonien und Messen Bruckners, der
GesMnge Hugo Wolfs zu gewinnenden Anregungen. — In der deutschen
Schweiz: Veredelung der MSnnergesangs-Literatur durch bedeutenden^
formadligen, modernen Einschlag. (Cornelius.) — In Stuttgart wie in
Karlsruhe ist die .Theaterbaufrage'' spruchreif. Ihre Ldsung im Sinne
des AUgemeinen deutschen Musikvereins: deutsche, auch eine Wieder-
gabe der Tragodie Schillers und Shakespeares in grossem Stil allein
ermdglichende Spielhiuser mit amphitheatralisohem Zuschauerraum und
.verdeckter Orchesteranlage.
Zur Konzertreform.
Ihr wesentliches: Keine Gesellschafts-, sondern Musiksale. Ver-
deckung des Musikapparates. Massige Verdunkelung des Zuhorerraumes
wihrend der VortrMge. Kurze, mdglichst stileinheitliche Programme, mit
Ausschluss der Virtuosen-Nummem und des Liedersingsanges bei Kon-
zerten symphonischen Charakters. — Seit dem denkwiirdigen, durch
den energischen Wolfrum zu Heidelberg mit schdnstem Gelingen ver-
anstalteten, ersten wahrhaft neuzeitlichen Musikfest vom Oktober ver-
flossenen Jahres haben Konzert-Aufftihrungen mit ganz oder teilweise
verdecktem Musikapparat stattgefunden in Augsburg, Bremen, Heidel-
berg, Schwerin, Wurzburg, Znaim. — Eingehende prinzipielle Darlegungen
uber Konzertreform sind zu finden in einer Reihe von Heften der
*) ihr Obmtnn ist Professor LudwigThuille; Anmeldungen sind zu richten
40 den Schrifkfuhrer Max Roger, Preysingstrasse lb; Einzthlungen to den Ktssen-
wan VerUgsbuchhindler Georg M filler, Kdniginstrtsse 59.
-0-1 305
yMusik'", vom Beginn des zweiten Jahrganges dieser Zeitschrift ab.
<1. Oktober 1902 ff.)
Notwendige Besserung der wirtschaftlichen Lage der
deutschen Tonsetzer.
Die Genossenschaft detitscher Tonsetzer hat eine Denkschrift ver-
offentlicht, mit der ein jeder sich ernstlich zu befassen verpflichtet ist,
der am Wohl und Wehe unserer schaffenden Kunstler Anteil nimmt.
Die Broschure handelt von der Anstalt fur musikalisches Auf-
fuhrungsrecht. Diese trat ins Leben, nachdem die erforderlichen
Vorbedingungen von Staats wegen, durch die neueren gesetzlichen Be-
stimmungen uber das musikalische Urheberrecht gegeben waren. Sie
dient als Zentrale, als Vermittlnngsstelle zwischen den Tonsetzem
nnd all denen, die offentliche Auffuhrungen gesetzlich geschiitzter
musikalischer Werke veranstalten. Durch ihre Vermittlung erhalten
die mit ihr in Verbindung stehenden Tonsetzer eine «Tanti6me*
von jeder dffentlichen Auffiihrung ihrer Kompositionen. Eine ein«
fache Forderung der Gerechtigkeit, mit der auch solche Verleger,
Kapetten, Konzertdirektionen, die ungern die Hand vom Beutel tun,
sich im wohlverstandenen gegenseitigen Interesse sehr bald befreunden
werden miissen. Die Kunst hat ebensowenig dem materiellen Erfolg
nachzulaufen wie um die Gunstbezeugungen der grossen Menge zu
buhlen; aber der Kiinstler soil nicht in einer demiitigenden Abhingigkeit
von den Unternehmem bleiben* soil, wie jeder ehrlich Arbeitende, fiir
seine TStigkeit die verdiente unverkurzte Gegenleistung erhalten.
Wie den schaffenden, so wird auch den ausfuhrenden Kunstlem
ein sorgenfreies Dasein erkarapft werden. Mit einer Agitation zur
dringend notwendigen Hebung der wirtschaftlichen Lage der Orchester-
musiker werden der Verfasser und seine Gesinnungsfreunde wShrend
des nichsten Sommers oder Herbstes beginnen.
Paul Marsop.
— « 306 !-»-
Offner Brief. •>
Von Siegmund von Htasegger in Frankfurt tm Main.
Sehr geehrter Herr Doktor Gdhler!
LSngst schon hatte ich die Absicht, Ihnen in Angelegenbeit der
Tantieme-Frage zu schreiben. Leider hat mir mein angestrengter Beruf
bisher nicht gestattet, Ihnen meine Anschauungen in der wunschenswerten
Ausfuhrlichkeit mitzuteilen. Da Sie mich nun aber in Ihrem letzten, in
Heft 9 des Kunstwarts erschienenen Artikel direkt auffordern, meinen
Standpunkt zu vertreten, so darf ich nicht linger schweigen. Sie wundem
sichy mich im gegnerischen Lager zu finden. Ich muss Ihnen gestehen^
verehrter Herr Doktor, dass ich mich schon nach Erscheinen Ihres ersten
Aufsatzes (Heft 3 des Kunstwarts) fragte, wie es kommt, dass wir, die
wir uns sonst auf so entscheidenden Gebieten kiinstlerischer Uberzeugung
*) Vorttehenden Brief hatte ich ursprCingHch an die Redaktion des Kunst-
warts in dem der Auf^atz Dr. Gdhlers erschienen war, gegen den sich die nacb-
folgenden Ausfuhrungen richten, mit der Bitte um Aufoahme gesendet. Diese
wurde mir aber mit der BegrQndung verweigert, es seien Monate seit dem Er-
scheinen des ersten Artikels von Gdhler verstricben, ohne dass einer der Kom-
ponisten die Gelegenheit zur Erwiderung wahrgenommen habe. Nan sei es zu
spit dazu. Da der letzte Aufsatz Dr. Gdhlers die direkte Frage enthilt, weshalb
Minner wie Nicod6, Humperdinck, Thuille, Hausegger usw. nicht der Berliner
Genossenschaft den Rucken ketaren, finde ich es seltsam, dass die Beantwortung
diese Frage intaibiert wird. Dadurcb, dass die Komponisten vom Kunstwart zum
Stillschweigen verurteilt werden, erhalten die Ausfiihrungen GSblers den Charakter
eines erteilten Verweises, zu dem ich ihm, trotz aller Hochachtung, jedes Recbt
abspreche.
Fur diejenigen Leser dieser Blitter, welcbe sich bis jetzt mit der Frage des
musikaliscben AuffQbrungsrechtes noch nicht beschifdgt habeo, sei folgendes t>e-
merkt: Bis zum 1. Jan. 1902 hatte nur der dramatische Komponist gesetzlich das
Recbt fur Auffutarungen seiner Werke eine Tantieme zu erbeben. Das Gesetz
vom I.Jan. 1902 gestebt nun simtlicben, nicht nur den dramatischen Komponisten
die alleinige Verfugung Qber das Auffiibrungsrecbt zu, und ermdglicbt ihnen so,
von derselben Vergunstigung der Tantiemenforderung Gebrauch zu machen, wie
die Opemkomponisten. Da der einzelne aber nicht in der Lage ist, mit simtlichen
Konzertinstituten selbst in Unterhandlung zu treten und da dies andrerseits auch
fGr die Institute eine kaum durchfGhrbare Erschwerung ihrer Geschiftsgebarung
bedeutete, haben die in der Genossenschaft deutscher Tonsetzer vereinigten Kom-
ponisten die Anstalt fur musikalisches Auffuhrungsrecht zu Berlin gegriindet,
welcbe die geschiftliche Vertretung simtlicher Mitglieder ubemimmt. Die Abgat>en
der Konzert- und sonstigen Veranstaltungen sollen nicht in der Bezahlung ftir
einzelne Werke, sondem in Pauschsummen besteben, da dies nicht nur eine Ver-
einfachung, sondem auch eine wesentliche Verbilligung bedeutet. Der Pauscb-
betrag wird im Verhiltnis zu den Einnahmen der betr. Institute festgesetzt
Im ubrigen m5chte ich auf die Verdffentlicbungen der Genossenschaft, und
auf die AusfGhrungen Prof. Hans Sommers und Dr. Altmanns in Heft 11 der JHusik
hinweisen. Siegmund v. Hausegger.
307 8^
als engere Gesinnungsgenossen gefunden haben, in dieser Frage diame-
tral entgegengesetzter Ansicht sind. Vor allem fragte ich mich aber, wie
eine derartig missverstlndliche Beurteilung des Verhiltnisses, das zwischen
schaffendem Kunstler und Konzertveranstaltung herrschen soil, bei einem
Manne von Ihrem Weitblick mdglich ist.
Sie sagen, die Auffiihning eines modernen Werkes, das der Kasse
Defizit verursacht, sei ein dem Komponisten erwiesener Gefallen. Ich
meine, in dem Augenblick, als ein Dirigent von dem kunstlerischen Wert
einer Schdpfung uberzeugt ist, erfullt er nur seine Pflicht und Schuldig-
keit, wenn er es auffuhrt. Gefallen wird hdchstens dem Publikum er-
wiesen, fur welches das Konzertinstitut das Geldopfer der Auffuhrung
bringt. Der Komponist hingegen bietet eine ganz bestimmte Leistung,
nimlich sein Werk, fur das er Gegenleistung beanspruchen kann. Den
finanziellen Wert dieser Leistung nach dem augenblicklichen Ertrignis
zu beurteilen, heisst die Sachlage vollkommen verkennen. Bei Eintags-
erscheinungen trifft dies zu; diese aber allein als vmoderne** Geldopfer
fordemde Werke in Betracht zu Ziehen, geht nicht an. Bei Behandlung
unserer Reformfrage mussen wir doch in erster Linie die fQr die Zu-
kunft geschriebenen bleibenden Werke ins Auge fassen. Gestatten Sie
mir, an einem konkreten Beispiel, in welchem wir, weil riickblickend,
kunstlerischen und finanziellen Wert klar sehen, meine Ansicht nSher
zu erliutem. Versetzen wir uns in die Zeit, in welcher Beethovens
Eroica NovitSt war. Einige wenige mutvolle Dirigenten wagen, in rich-
tiger Erkenntnis der hohen Bedeutung der Neuschopfung, Auffuhrungen.
Das Publikum ISsst sich durch den Namen des kiihnen, verruckten
Modernen abschrecken, Saal und Kasse sind leer. Trotzdem, haben diese
Dirigenten Beethoven mit der Erstauffuhrung einen Gefallen erwiesen,
Oder nicht vielmehr sich selbst eine Ehre, fur die sie ihm Dank schulden?
Bei wiederholten Auffiihrungen wichst das Verstindnis. Endlich ist die
Eroica Zugstuck geworden. Tausende von Mark sind seit Dezennien in
die Kasse der Konzertinstitute durch Beethovens Symphonie geflossen.
In welcher Weise nahm der Komponist an dem materiellen Vorteil, den
sein Werk Andem schuf, teil? Bei der ersten Auffuhrung wurde das
Notenmaterial um vielleicht 100 Mark erworben, die wohl grosstenteils
in die Tasche des Verlegers flossen, von alien folgenden Auffuhrungen
hatte Beethoven auch nicht einen Pfennig. Wie ist dem abzuhelfen?
Es wftre eine schreiende Ungerechtigkeit, wollte in solchem Falle der
Komponist gleich bei der ersten Auffuhrung eine Gegenleistung fordem,
die zum finanziellen Gewinn, den sein Werk zu bieten verspricht, in
richtigem Verhaltnis steht. Gewiss aber wird es nur billig sein, wenn
der Komponist von jeder Auffuhrung den Betrag von 1 i^^^ht ein-
roal ausschliesslich ihm, sondem auch dem Verleger zugute kommt,
beansprucht, und der zudem auf dem musikalischen Markte ob seiner
Hdhe umso weniger Verwunderung erregen darf, als man beispielsweise
Agenten ihre Forderung von 10% ftir Leistungen anstandslos zu be-
willigen gewdhnt ist, die jedenfalls nicht im Verhiltnis des Zehnfachen
zu Beethovens Eroica stehen. Sie werden mir zweierlei entgegnen:
308 ^
1. «Das ist eben Beethoven.* Wurde aber der Fall einer einmal schoo
dagewesenen so in die Augen springenden Unbilligkeit nicht vollauf ge-
nSgen, die Notwendigkeit einer derartigen Besteuerung darzutun? Auch
bitte ich zu bedenken, dass zwar die Dimension, nicht aber das Wesen
des Missverhiltnisses zwischen Leistung und Gegenleistung bei minder-
bedeutenden Werken sich ftndert. 2. .Tatslchlich haben doch damals
die Konzertinstitute ein Geldopfer flir das Beethovensche Werk gebracht
und miissen schliesslich mit den Ziffern der augenblicklichen Ausgaben
rechnen, nicht aber sich auf allfallsige zuktinftige Einnahmen vertrdsten!**
Ganz richtig! Aber es fragt sich, ob nicht auf anderen Wegen derartige
Ausgaben gedeckt werden kdnnen. Nehmen wir an, der mutige Dirigent,
welcher die Eroica vor leerem Saale gebracht hat, ist so klug, im fol-
genden Konzert Meister der Uteren Zeit zu Wort kommen zu lassen
und hierdurch gldnzende Einnahmen zu erzielen. Doch darauf werde
ich spiter noch einmal zuruckkommen.
Dass nahezu kein schaffender Kunstler die Friichte seiner Arbeit
selbst emten kann, ist ja allbekannt. Aber sich deshalb einfach damit
abzufinden und den Komponisten ruhig weiter hungem zu lassen,
dazu liegt keine Notwendigkeit vor, und es ist nur zu verstMndlich, dass
er, wenn ihm von aussen nicht geholfen wird, selbst auf Mittel und Wege
sinnt, die ihm die Mdglichkeit bieten, seinen schdpferischen Benif un-
behindert auszuiiben. Tatslchlich werden Sie mir, sehr geehrter Herr
Doktor, kaum einen Konzert-Komponisten nennen kdnnen, der nicht
darauf angewiesen ist, neben seiner Kompositionstitigkeit eine Zeit und
Kraft raubende, ihm den Lebensunterhalt sichemde Stellung zu suchen.
Wie viele Werke von Bedeutung, aber hierdurch ungeschrieben bleiben,
miissten Sie ats Kunstler am besten beurteilen kdnnen. Wenn den
Komponisten nun durch das Gesetz das Recht zugestanden ist, eine
minimale Bereicherung ihrer Einnahmen zu erzielen, so zwingt sie ein-
fach die Not, sich dieses Rechtes auch zu bedienen.
Sie selbst, Herr Doktor, haben den Vorschlag gemacht, die be-
deutenden Komponisten sollten durch Geldsammlungen erhalten werden.
Dieser Vorschlag hat mich, offengestanden, aus Ihrem Munde und im
Kunstwart Wunder genommen. Er bedeutet nichts anderes, wie dass
Menschen auf Gnadengehalte und Almosen angewiesen sein sollen, die
etwas von ideell und materiell greifbarem und glMnzend ausnutzbarem
Werte schaffen, die also wohl mindestens denselben Anspruch erheben
durfen wie jeder gewdhnliche Arbeiter, nEmlich fur ihre Arbeit ein
gesetzlich geregeltes Entgelt zu erhalten. Ich musste erwarten, dass der
Einblick in die Art, wie heute in der Allgemeinheit iiber Kunst gedacht
wird, Sie schon IMngst gelehrt hdtte, welche Gefahr sich darin birgt,
wenn der Gesellschaft, die in so unklaren Begriffen iiber den Wert des
geistigen Eigentums befangen ist, auch noch aus Kiinstlerkreisen das
Recht zugestanden wird, freiwillige, von ihrer Mildherzigkeit und ihrem
Belieben abhSngige Gaben an Schaffende zu verabreichen. Herr Ave-
narius schligt eine Nationalsammlung fur Draesecke vor. Die Teilnahme
der besitzenden Kreise fur eine solche zu wecken, wire in erster Linie
Avfgabe der Kunstlen GUnben Sie, dass Ihr Chordirigent, dem in seinem
grossen Ideallsmus die paar Mark Auffuhrungshonorar fur den vChristus"*
schon eine ^himmelschreiende* Ungerechtigkeit scheinen, in seiner dngst-
lichen Sparsamkeit dem von ihm so verehrten Komponisten gegenuber,
dnrch sein leuchtendes Beispiel sehr dazu beitragen wird, Stimmung und
Verstindnis fur eine Nationalsammlung zu wecken? — Und wie es mit
dem Idealismns des deutschen Volkes bestellt ist, wenn es sich um den
Geldbeutel handelt, das haben wir wohl alle von der Grtindung Bayreuths
her in treuem Gedichtnis. Damit durfen die Kfinstler nicht recbnen.
Es ist nicht abzuleugnen, dass ein Ausgleich in dem Missverhiltnis
zwischen augenblicklichem und zuktinftigem Wert eines Werkes ange-
strebt werden muss. Dem Komponisten stehen hierzu keine Wege offen.
Dies kdnnen nur Verleger und Konzertinstitute, indem sie fiir den
anfilnglichen materiellen Schaden in der Nutzniessung anderer schon
anerkannter Werke Deckung suchen. Dass statt dessen die Komponisten
fiir den materiellen Schaden durch modeme Werke verantwortlich gemacht
werden und dafur biissen sollen, wo die Schuld im UnverstSndnis des
Publikums liegt, beruhrt hdchst eigentumlich, wenn nicht komisch. Ich
denke, die Konzertinstitute sollten sich doch vor Augen halten, dass ihr
etnziger Daseinszweck der ist, durch Aufftihrung der alten und modernen
Musikliteratur zu lebendigen Faktoren der Kunstentwicklung zu werden.
Sich aber einer Boykottierung von Werken, die NB. geringe Geldopfer
fordern, so stolz zu rtihmen, wie dies in einer der letzten Nummem des
Musikalischen Wochenblattes Herr Prof. Weber (Augsburg) gelegentlich
der abgesetzten romantischen Ouverture von Thuille tut, bedeutet eine
vdllige Verkennung der ktinstlerischen Aufgaben eines Dirigenten. Mit
sehr gemischten Gefuhlen musste man ein Konzertprogramm betrachten,
bei dessen Zusammenstellung nicht der kiinstlerische Wert der Werke,
sondem die Erwagung der Steuerfreiheit massgebend war.
Wiederholt wurde von seiten der Veranstaltungen die Gegeniiber-
stellung Mlterer anerkannter und modemer Werke gebraucht. Hierzu
kime noch jene andere: Komponisten, denen man den Gefallen erweist
und solche, die man auffQhren «muss". Wo liegt die Grenze? Doch
nur dort, wo die Einnahmen anfangen. Vor dreissig Jahren waren
Wagnerabende nach dieser Auffassung wohl ein Gefallen fur den Kom-
ponisten; jetzt sind sie eine pathetisch ausgesprochene heilige Pflicht.
Warum? Weil Wagner jetzt ein GeschSft bedeutet. Sie werden sagen:
,pDaraus kdnnen Sie den Konzertinstituten keinen Vorwurf machen; sie
miissen eben leben." Ganz gewiss, aber auch die Komponisten miissen
^leben**. Was dem einen recht ist, ist dem andem billig. Den Kom-
ponisten wird mit d^n verletzendsten Worten vorgehalten, dass sie, die
bis dato immer das Nachsehen batten, sich endlich darauf besinnen, dass
auch sie Anspruche an das Leben zu stellen haben. Meiner Meinung
nach hat niemand auch nur das leiseste Recht, ihnen darum „Geschifts-
macherei** oder ^Griinderehrgeiz*' vorzuwerfen.
Viele Ihrer und der iibrigen Gegnerschaft Behauptungen brauche
ich nicht erst zu benihren, da sie auf das treffendste in der kiirzlich
310
erschienenen Broschure der Genossenschaft deutscher Tonsetzer wideriegt
worden sind. Nur einem Vorwurf muss ich noch krdftig entgegentretea.
Es ist nicht richtig, dass die Institution hauptsachlich den schon
akkreditierten Komponisten zugute kommt. Solche sind in der Lage,
fur sich Auffuhrungshonorare zu fordern, die in dieser Hdhe in der
ersten Zeit sicher nicht von der Genossenschaft ansgezahlt werden
konnen; wohl aber werden weniger bekannte Komponisten durch die
Tantieme der Genossenschaft einen kleinen Verdienst erzielen — vielleicht
den ersten, da ja in so und so vielen FlUen die Verleger ihnen iiber-
haupt keinen Gewinn zugestehen. Dass durch diese Aussicht mancher
yerleitet wlrd, der Mode zu huldigen, soli nicht geleugnet werden, aber
ich denke, dieses Streben nach dem Beifall des Tages hatte fruher genau
so Verlockendes in sich. Auch wird man solch schwachen, dieser Ver-
suchung so leicht erlegenen Charakteren im Interesse der Kunst keine
TrSne nachzuweinen brauchen.
Ich kann mir zuletzt nicht versagen, mein Bedauem dariiber aus-
zusprechen, dass von gegnerischer Seite der Kampf in so gehissiger,
selbst vor ehrenruhrigen Anschuldigungen nicht zuriickschreckender Form
gefuhrt wird. Wer mit mir aufmerksamen Blickes die Verdffentlichungen
in so manchen Musikzeitungen verfolgt, wird mir Recht geben, dass die
Kampfesweise nur zu oft durchaus unparlamentarisch ist, und dass es
sich in vielen Fillen gar nicht um den bedrohten, so aufdringlich stets
im Munde gefuhrten Idealismus, sondern um das bedrohte Geschlft
handelt, das nach Ansicht solcher Leute in letzter Linie auf Kosten der
Komponisten bluhen soil. Wohltuend aber muss es jeden unparteiischen
Beobachter beruhren, wie massvoll und vornehm der Fall von der
Genossenschaft behandelt wird. Gottlob verschlossen sich auch eine
grosse Anzahl von Verlegem und Konzertinstituten nicht der Einsicht
in die kunstlerische Notwendigkeit dieser Institution.
Doch lassen Sie mich nun meine schon zu lang geratenen Aus-
fuhrungen schliessen, obwohl, wie ich ja weiss, dieselben trotzdem nicht
Anspruch auf Vollstindigkeit erheben kdnnen.
Mit hochachtungsvoilem Gruss
Ihr sehr ergebener
Siegmund von Hausegger.
311 fH-
Zur Stiddeutschen Volkskunde I.
Die Jager.
Srudien nach der Natur, von Ludwig Ganghofer in MGnchen.
Im Laufe der dreissig Jahre, seit ich das Weidwerk ube, ist eine
Tielkdpflge Reihe von Berufsjigem an mir vorbeigegangen. Die meisten
waren mir freilich wie Menscben auf der Strasse, die vorubergehen und
kaum gesehen schon wieder vergessen sind. Mancher aber hat sich
unausloschlich in meine Erinnerung eingebrannt und seinen Namen in
meia Leben geschnitten, wie man tiefe Zeichen in die Rinde eines
Baumes schneidet, in der sie niemals wieder vemarben.
Wenn ich zunickdenke iiber diese dreissig Jahre, tauchen harte,
eigensinnige Kdpfe vor mir auf, frohe und gutmutige Gesichter, MSnner
von eiserner Energie und hilfslose, weiche Triumer, wilde, heissbliitige
Kerle und kindlich besaitete Gemiiter, wunderbar kluge Leute und rat-
lose Narren, Sdhne der tollenden Lebensfreude und stille Kinder des
Schmerzes.
Kunterbunt, wie sie aus meiner Eriunerung aufwachen, will ich
sie schildem. Und diese absichtslosen Studien, treu nach dem Leben
gestrichelt, mogen beitragen zur Erkenntnis unserer heimatlichen
Menschen, zum Verstlndnis der seltsamen Linien, mit denen die Natur
be! der Bildung des Volkes die Kopfe und Herzen zeichnet, und zur
Entwirrung des abstrusen Fadenschlages, mit dem sie so hiuflg das
simple Lebensgewebe des Dorfes durchschiesst. Zahlreiche Ztige, die
uns da wie dunkle RItsel erscheinen, werden fur unser Verstindnis
geldst, sobald wir erkennen, dass sie nichts anderes sind als Urformen
des LebenSy die sich aller Entwicklung der Menschheit und aller Kultur
zum Trotz erhalten haben durch Tausende von Jahren.
Wie im Pels der Berge, so steckt auch im Blut des Volkes eine
zihe Kraft des Erhaltens. Wer das Volk vergangener Jahrhunderte er-
kennen will, wird sich aus Btichern wenig Gescheites holen. Sein
bester Lehrmeister wird das Volk von heute sein. An den Menscben^
die da draussen und da droben umherlaufen, welt vom zivilisierten
Gleichheitsschliff der Stadt, haben alle Farben der Vergangenheit eine
uberzeugende Kraft bewahrt: die tiefen, rticksichtslosen Raubtierinstinkte,
die Zuge des unbekehrbaren Misstrauens, die eiserne Festigkeit des guten
GlaubenSy alle HIsslichkeit des kMmpfenden Lebens und all jene kindlich
zarten, reinen Seelenkllnge, fur die wir StMdter von heute nicht mehr
die hdrenden Ohren haben.
Das gilt von allem Volk, das abseits der grossen Lebensstrassen
wohnt, nicht nur von den JMgern. Aber unter alien Menschen des
312 ^
Dorfes hab ich gerade den Jigern am schlrfsten dtirch Herz and Nieren
geguckt. Menschen, die das Leben in der Einsamkeit fur Jahre an uns
fesselte, mit denen wir Tausende von Wegstunden Seite an Seite wanderten,
die den Trunk and das Lachen mit uns teilten, das Brot und die Ge-
fahr, und die am gleichen Feuer hundert Nichte mit uns verschwatzten
— die lernt man kennen bis auf die Neige ihres Wesen. Was ich an
ibnen gesehen, will ich erzlhlen.
Der ,»Machtnix'%
Mit seinem richtigen Namen hiess er Sebastian Locher. Warum
gerade e r als erster aus meiner Erinnerung auftaucht? Ich weiss nicht.
Vielleicht, weil er einer der letzten war, die ich verloren habe.
Er wurde mir, als ich einen JSger suchte, von einem befreundeten
Forstmann warm empfohlen, mit dem Bemerken, dass Locher ftir den
Dienst im kdniglichen Leibgehege vorgemerkt wire, dass es aber wohl
noch lange dauem wiirde, bis er zur Anstellung an die Reihe kime.
Ein schlanker, geschmeidiger Bursch mit hiibschem Gesicht, braun-
haarig, auf der Oberlippe ein kleines Blrtchen, nur wie ein dunkler
Hauch. Als er sich meldete, gewann er durch seine verstMndigen
Antworten gleich mein Zutrauen. Und wir tauschten den Handschlag.
Schon woUte er aus der Stube gehen. Da sah ich, dass er zwischen
Ohr und Wange eine kleine offene Wunde hatte, von der Form einer
Bohne.
9 Locher? Was haben sie denn da am Ohr?*
„So a bissel ebbes ausschwieren thuat mer. D5s macht nix. Da
schiesst grad 's schlechte Bluet aussi.** Und draussen war er.
Als jungster Jiger hatte er den Schutzdienst im entlegensten
Revierteil zu versehen und kam nur alle vierzehn Tage ins Jagdhaus.
Bei seinem ersten Rapport gewahrte ich, dass die Wunde an seinem
Ohr bis zur Grosse eines Markstiickes gewachsen war. Und recht
hisslich sah die Sache aus.
9 Sie, Locher, das diirfen Sie nicht so gehen lassen! Da mussen
Sie etwas tun I*
9 1 thua scho ebbes.*
,Was denn?*
«An Pfeifensaft schmierb i oni. Der beisst 's Hitzige alles
aussi.*
„Sie dummer Kerl, da konnen Sie sich schon zurichten.*
9 Ah na! D5s macht nix I*
«Warten Sie!* Ich holte aus unserer Hausapotheke ein Pjickchen
Watte und ein FlMschchen mit Karbolsiure, und erkllrte ihm, wie er
die Siure verdiinnen und die Wunde ein paarmal des Tages reinigen
musse. Er hdrte zu, aufmerksam wie ein Star, der das Reden lernen
soli. Dann tibernachtete er in der beim Jagdhaus gelegenen Jigerstube.
Am Morgen, als er wieder davon war, brachte mir der Oberjiger das
Fllschchen KarbolsMure, das Locher gar nicht geoffnet hatte, und das
313 8^
Pickchen Watte, von der keine Flocke fehlte. ^Da hab i in der Jaager-
stnben ebbes gfunden, dos mnass in d' Hausaperthecken ghorenl''
Nach vierzehn Tagen, als Locher wieder kam, war die Wunde so
gross wie ein Taler. Damit ich sie nicht sehen soUte, hatte er um
die Ohren, wie bei Zahnweh, ein rof und blau gewurfeltes Schnupftuch
herumgebunden, dessen Zipfel ihm wie Eselsohren vom Kopfe abstandem
Aber das Tuch musste herunter.
,Du Heber Herrgott, Locher, das dUrfen Sie doch nicht so weiter-
fressen lassen!"
»Ah, d5s macht nix I'
»Das macht freilich was! Warum haben Sie denn nicht getan,
was ich Ihnen gesagt habe?*
„Verentschuldigen S', Herr Dokter . . . aber ebbes, was der Mensch
net kennt . . . und do Sach weard von eahm selm aa wieder guat!"
£r spuckte auf die Fingerspitzen und strich den Speichel fiber die Wunde.
Da wurde ich grob. Und mit zweitlgigem Urlaub schickte ich
ihn die funf Stunden nach Mittenwald zum Arzt. Als er wiederkam,
mit dem rot und blau gewurfelten Schnupftuchl um die Ohren, erzlhlte
er: ,Zum Schmierben hat er mir ebbes geben." Dabei zog er aus der
Joppentasche einen kleinen, mit buntem Papier verschlossenen Porzellan-
tiegel hervor, den er misstrauisch betrachtete. » Wer woass, was da drin is!*
«Wird schon das Richtige drin sein ! Schmierben Sie nur fleissig!*
Am anderen Morgen erschien der Oberjager wieder und brachte
das Porzellantiegelchen, das der ^Machtnix" in der Jigerstube zuruck-
^elassen hatte, noch mit dem schdnen, bunten Papierl druber. Und
lachend berichtete mir der OberjMger von der Schilderung, die Locher
den anderen JUgem von seinem «Metzgergang* zum Doktor gemacht
hatte: »Wie a Narr hat 'r allweil einigspritzt ins Loch und mit so an
<jluatstangerl umanander gsabeit! Sakra, hab i mir denkt, der strapa-
ziert si ja, als ob eahm ebbes fehlen taat! Und d' Hitzwag hat er
mer einigschoben unter d' Irxn. Und fur'n Hoamweg hat er mer so
ebbes Dreckets aufGpappt. Aber dds hat mi so viel kitzelt, dass i 's
^ei wieder abigrissen hab!*
Die emste Sache begann ffir mich komisch zu werden. Aber ich
wollte radikale Hilfe schaffen und Hess den Sebastian Locher von der
Jagdhutte holen. Ganz verdrossen trat er in meine Stube: „Mei Gott,
was haben S' denn allwei, Herr Dokter ? So a bissel ebbes I Dds macht
doch nix!"
Aber da half ihm jetzt kein » Macht nix* mehr. Er musste direkt
vom Jagdhaus weg nach Munchen in die Klinik fahren, mit einem
Empfehlungsbrief an einen mir befreundeten Arzt. Nach acht Tagen
kam er wieder, um die Ohren das rot und blau gewfirfelte Tuch, unter
dem ein Stuck Heftpflaster herausguckte.
»Sind Sie denn schon geheilt, Locher? Hat man Sie denn so
schnell wieder entlassen?*
Er lachte. »Na! I hab mi selm wieder davongmacht. In so an
Krankengstanken hitt i 's koan Tag nimmer ausghalten. Der Locher
Sfiddeatsche Mooatshefte. 1, 4. 21
314 8^
muass gsunde Luft haben! . . . Und an Briaf hab i kriagt!" Strahlend
vor Freude reichte er mir ein grosses Amtsschreiben: die unerwartet
eingetroffene Nachricht von seiner Anstellung als JSger im Leibgehege.
Nach Berchtesgaden kam er. Ich wunschte ihm Gluck zn diesem Posten,.
liess ihn ohne Kundigung aus unserem Dienst treten and gab ihm noch
den eindringlichen Rat, sich grundlich auszukurieren, bevor er seine
Stellung antrdte.
.Ah na, i roas glei nmni! Dds bissl da am Ohrwaschl, d5s macht
mer nix! Is eh scho halbert wieder guat!**
Unter lustigem Gejodel wanderte Sebastian Locher davon, die
blitzblanke Buchse auf dem Riicken, ein gelbes Aurikelstrdnsschen auf
dem grunen Hut » und urn die Ohren das rot und blau gewurfelte
Schnupftuch.
Acht Tage spiter brachte mir der Oberjiger ein Zeitungsblatt.
.Haben S' es scho glesen, Herr Dokter? Den Machtnix hat's grissen.
Ebbes Sauers is eahm ins Bluet einigfahren. Glei am andem Tag, wie
er auf Bertlsgaden kemman is, hat's 'n derkeit! . . . Weil er allwei
gmoant hat, es macht nix! Hat's eahm halt deacht ebbes gmacht! Da
hitt 'r si d' Roas auf Bertlsgaden sparen kinna! So an Haufen Geld,,
was dds kost!*
Jochei Schuemacher.
Eine wilde Sturmnacht hat ihn von meiner Seite fortgeveht, aber
eine traumhaft schdne Sonnenstunde war's, die sein Leben mit dem
meinen verknupfte.
Vor ISJahren, in der letzten Juliwoche, kam ich zur Gemspirsche
ins Salzkammergut. Das waren Tage, so schdn, als hitten sie beweisen
mdgen, dass die Sonne treu sein kann. Am friihen Nachmittag langte
ich in dem einsam gelegenen Forsthaus an und wollte gleich hinauf zur
Jagdhutte. Der bestellte Triger, der meinen Rucksack und den Proviant
fur eine Woche die drei Stunden hinaufschleppen sollte ins Gemsrevier,
sass schon wartend auf der Hausbank — ein junger Bursch, der mir
auf den ersten Blick geflel, und der mich Fremden mit jener lachenden
Herzlichkeit begrusste, wie sie nur gute Freunde beim Wiedersehen fur
einander flnden. Er war nicht gross, nur so der Mittelschlag, aber breit-
schultrig und krdftig gebaut. Was mir gleich an ihm auf&el, war die
wundervolle, geschmeidige Ruhe seiner Bewegungen — da ging alles so
glatt und lautlos, wie eine Maschine IMuft, wenn sie frisches Ol hat.
Kurzgeschnittenes Blondhaar umschimmerte den derben Kopf, und trotz
seiner 25 Jahre hing ihm schon ein welliger Kapuzinerbart bis halb
auf die Brust herunter. Wenn der Jochei lachte, ging's immer wie ein
feines Rieseln durch den Schimmer dieser seidenen StrMhne. Und aus
dem sonnverbrannten, gutmutigen Gesichte glinzten zwei ruhigblaue,
heitere Augen heraus. Er war mir lieb geworden, noch eh' ich ein
Dutzend Wortchen mit ihm geredet hatte.
Als die Kraxe mit dem halben Zentner Gewicht auf seinem Riicken
315
lag, stieg er so stramm berganf, dass ich in Hemdinneln und mit der
leichten Buchse Muhe hatte, gleichen Schritt mit ihm zu halten. Am
Ende liess ich ihn rennen und blieb zuruck, um bei behaglichem Anstieg
die Augen trinken zu lassen.
Was war das ein Tag! Die Luft so leicht und suss, wie ein
schmeichelnder Gedanke von schdnen Dingen, alle Farben durchzittert
von einer milden Glut Der Wald wie ein Lied der Rube, das du
taundertmal schon hdrtest und jetzt zum erstenmal verstehst, die Berge
beinah unkdrperlich, wie ein silbernes Gespinst hinaufgehaucht ins
Blau, und Himmel und Erde getrinkt mit Sonne, die nicht brannte, nur
leuchtete — einer von jenen Tagen, an denen du weinen mdchtest,
wenn sie dich nicht zwingen, zu jauchzen.
Nach dritthalb Stunden, als ich die Passhdhe erreichte — ein
struppiges Weideland, von grossen Felsbldcken durchwurfelt — floss
durch die Sonne schon das rote Blut des Abends. Und da hdrte ich
leisen Gesang — nicht wie einer singt, der von seinem Liede weiss
— so, wie einer unbewusst in Kllngen denkt und empflndet.
Neben dem Wege hob sich aus dem Gestrupp ein klobiger Pels
heraus, von der niedergehenden Sonne gluhend angestrahlt. Ein alter
Viehhirt stand mit dem Kinn uber seinen Stecken gelehnt, und Jochei,
ganz rot von Sonne, sass mit baumelnden Fiissen auf dem hohen Stein.
Die beiden batten wohl von allerlei emsten oder frohen Dingen ge-
schwatzt und waren still geworden — und was dem Jochei von diesem
Geplauder noch in der Seele geblieben, das sang er jetzt in den Glanz
des Abends hinaus, ganz leise, wie ein Triumender. In den Augen, die
regungslos ins Weite gerichtet waren, blitzte scharf und starr ein Reflex
der Sonne, und ein Klang von Wehmut zitterte durch die heitere Lindler-
weise, die er sang.
.Du, dein Herri* sagte der Viehhirt und stupfte mit seinem
Stecken nach dem Jochei. Der wachte auf, sprang lachend vom Stein
herunter und hob mit einem Jauchzer die Kraxe auf den Rucken.
Wfthrend wir Uber das Almfeld hinuberwanderten zur Jagdhfitte,
liess ich mir ein bisschen was von seinem Leben erzlhlen. Vater und
Mutter hatte er schon verloren, und in der Militlrzeit hatte er sein
kleines Anwesen der Schwester verschrieben, damit das MMdel heiraten
konnte. »'s hat halt a wengl pressierti" meinte er lachend. Aber im
Gutl der Schwester war jetzt kein Platz mehr fiir ihn — warum, das
sagte er mir nicht — und so brachte er sich eben durch, wie es ging,
bald als Zimmermannsgesell, bald als Holzknecht und als Triger bei
den Jagden. Ein armer Teufel, aber heiter, gliicklich und verliebt.
Das letztere merkte ich gleich. Alles, woven wir schwatzten, wurde
fur ihn zu einer Briicke, auf der er zu seinem »Nannerl" hinuber-
sprang. Wie der Jochei von diesem MIdel sprach — mit diesem frohen
Lachen, mit diesem Glanz in den Augen — musste das ein seltenes
Geschdpf sein, bildsauber und klug, ein Ausbund von weiblichem Reiz
und holder Tugend, ein Wesen, das aus des Herrgotts Hinden als ein
unverdientes Geschenk herabgefallen war auf die schlechte Erde.
2l»
316 8^
Die Liebe war da, aber mit dem Heiraten hatte es noch weite
Wege. Denn die Rocktasche des Nannerl war ebenso leer wie der
Joppensack des Jochei. Er sagte lachend: „Mier haben's scho so in der
FamilH, dass mer allwei hinfallen, wo koa Bankl net is!* Da hiess es
eben sparen und zuwarten, bis sie ein kleines Giitl pacbten konnten.
Vier, ftinf »Jahrerln'' konnte das freilich dauem. „Abr bal oanr woass,
auf was er warft, da verdriasst 'n koa Zeit net!'
Eine Woche blieb ich auf der Jagdhutte. Herrliche Tage fur den
Freund der Natur wie fur den JMger. Aber das Liebste an all diesen
schonen Tagen war mir der Jochei. Der prdchtige Bursch war von einer
unverdrossenen Heiterkeit, immer bereit zu jedem Dienst, immer ge-
fillig, immer Sink wie ein Wiesel, und dabei doch von einer Rube, dass
man, wie ein Volkswort sagt, seinen Schnaufer nicht hdrte. Gait es
einen Gemsbock, der an einem »verteufelten Platzl* stand, vor meine
Buchse zu bringen, so war dem Jochei keine Wand zu steil, kein
Graben zu tief. Aber am besten geflel er mir am Abend in der Hiitte.
Wenn er da nach dem Kochen gesptilt, gekehrt und geputzt hatte, bis
das Hiittchen wieder blinkte vor Sauberkeit, dann setzte er sich mit
baumelnden Fussen auf die Kreisterkante, sang seine kleinen, lustigen
und schwermutigen Liedchen, blies auf dem „Fotzhobel*^ einen Landler
um den andern herunter — Oder wShrend der Jagdgehilf die alte, ver-
staubte Zither maltrdtierte, auf der die Hilfte der Saiten fehlte, tanzte
der Jochei ein Schuhplattlersolo mit einem Feuer und einer Grazie, dass
ich mich an dem Burschen nicht sattschauen konnte.
Wenn ich dann bei der qualmenden Pfeife mit dem Jagdgehilfen
bis spUt in die Nacht hinein vom Weidwerk schwatzte, sass der Jochei
schweigend dabei mit grossen Augen und passte auf wie ein Haftl-
macher. Und sagte einmal, mit brunnentiefem Seufzer: ^Herrgott,
d' Jaagerei, dos waar so ebbes fiir mil*
Als die schone Woche da droben vorliber war, fiel es mir schwer,
vom Jochei zu scheiden.
Anderthalb Jahre spater ubemahm ich mit ein paar Freunden eine
Jagd im Wienerwald. Bei der Suche nach einem Jager fiel mir mein
Jochei ein, mit seiner Sehnsucht, Jager zu werden. Ich schrieb an den
Forster, ob der Jochei Schuemacher vielleicht Lust hStte usw. Acht
Tage, und der Jochei trat bei mir an — mit einer recht zweifelhaften
Buchse, die er ,»unter der Hand* um 12 Gulden gekauft hatte — aber
mit einem Gesicht, brennend vor Gluck und Freude uber die Stellung,
die er als Jager gefunden. Dreissig Gulden im Monat! So was hatte
sich der Jochei bei aller Verwegenheit seiner Lebenshoffnungen niemals
trMumen lassen. Aber bei allem Gluck, das aus seinen Augen lachte,
fiel mir zwischen seinen blonden Brauen eine kleine, tiefgeschnittene
Furche auf. Die musste ich damals ubersehen haben. Oder war sie
neu in dieses frohe Gesicht gefallen?
.Was macht denn das Nannerl?* fragte ich.
*) Mundharmonika.
317 ^
In seinem Gesicht ging ein Glanz auf, wie wenn an hellem Abend
der Vollmond steigt. ^Aaaah, mei Nannerl!' Mehr sagte er nicht.
Aber aus Dankbarkeit fur meine Frage druckte er mir die Hand, dass
ich eine Stunde lang die Finger nicht mehr ruhren konnte.
Seinen Dienst packte der Jochei an, wie man Biume umreisst
Freilich fallen sie nicht immer. Auch beim Jochei blieben die meisten
stehen. Von der heiter zugreifenden Frische, die mir damals so gut
an ihm gefallen hatte, war etwas ausgeloscht. In seinem Wesen war
jetzt was Bedichtiges und Sinnierliches, das ihn zumeist den Moment
verpassen liess, in dem es gait, zu handeln. So unermudlich er auch
mit den Beinen bei seinem Dienste war, es woUte ihm nie was glucken,
und die beiden andem Jiger begannen ihn als minderwertig fiber die
Achsel anzusehen und derb zu hinseln. Ich musste fur den Jochei
manche Lanze einlegen, um ihm Ruhe zu verschaifen. Aber zuweilen
bab ich auch mitgeholfen, um den guten Kerl zu quMlen. Die Jiger
hatten es herausgebracht, wie leicht man den Jochei zu Tranen riihren
konnte. Und da musste ich, wenn wir in der Jagerstube beisammen
sassen, allerlei traurige Geschichten erzShlen, von einem lieben, un-
schuldigen MMdel, das von ungerechten Menschen drangsaliert wird, oder
von einer tragenden Rehgeiss, die sich in der Schlinge zu Tode zappelt,
Oder von einer tapferen HSsin, die ihre Jungen nutzlos gegen eine
Rabenschar verteidigt. Wenn solch eine Geschichte zur tragischen
Wendung kam, durfte ich nur die Stimme ein bisschen tremolieren
lassen . . . «das aaahrme Haserl** . . . dann ging dem Jochei plotzlich ein
Zucken fiber das birtige Gesicht. Er drehte den Kopf auf die Seite,
krfimmte die Schultem unter der Joppe und ballte die Fluste, um sich
gegen die aufsteigenden TrMnen zu wehren. Aber es half nichts, sie
kollerten ihm schliesslich doch fiber die Backen in den schimmemden
Kapuzinerbart. Und dann ging das Gelachter los.
Aber trotz mancher Dummheit, die er im Dienst anrichtete, hielt
ich meinem Jochei durch dick und dfinn die Stange. Wenn ihm auch
nichts glfickte — sein Fleiss war unermfidlich bei Tag und Nacht, sein
Wort verllsslich bis aufs Haar, und anstSndig und ehrenhaft war er bis
zu seinem Nachteil.
Als er drei Monate bei uns war, kam er einmal mitten in der
Nacht und trommelte mich aus dem Schlaf. Keuchend vor Aufregung
und das bleiche Gesicht von Schweiss fiberronnen, stand er vor meinem
Bett. »Herr Dokter! Jatz hab i amal ebbes! Endli amal hab i ebbes!**
Einen Rehbock mit abnormem Geweih, auf den ich seit Wochen
ebenso eigensinnig wie resultatlos pirschte, hatte er am Abend beobachtet,
und jetzt wusste er ganz genau den Fleck, auf dem sich der Rehbock nieder-
getan hatte. ,Den schiassen S', Herr Dokter I Passu S' auf, den schiassn SM"*
Wahrend der zwei Stunden, die wir in der Nacht zu marschieren
hatten, lief dem aufgeregten Jochei das Maulwerk wie ein Radl. Lange
vor Tagesanbruch waren wir an Ort und Stelle. Der schwere Mensch
zitterte neben mir, als stfinde er vor seiner Hinrichtung. Aber die
Sache glfickte — ich schoss den Rehbock.
318
.Geltn' S', jatz habn S' a Freid? Geltn S', jatz habn S' a Freid?"
Dieses gleiche Wort haspelte er ein dutzendmal heninter, ganz nirrisch
vor Wonne und Aufregung. Und als ich ihm beteuerte, dass ich uber
die selten schdne Jagdbeute wirklich eine grosse Freude hltte, quetschte
er meine Hand und stotterte: »Jatz muassen S' mer aber aa oane machen!
Herr Dokterl Lassen S' mer mei Nannerl heireteni* Ein wurgendes
Schluchzen fuhr ihm in die Kehle. »Vor vierzehn Tig bat's mer ge-
schriebn, dass 's Kinderl da is! Herrrrgott, muass dos a liabs Dingerl
sein!" Seine Augen trdpfelten. »Und da kon i dos brave Madl do aa
net dahoam so sitzen lassen!'
Nach einigen Tagen konnte ich's dem Jochei mitteilen, dass ich
bei der Jagdgesellschaft den Heiratskonsens und eine Gehaltsauf-
besserung fur ihn herausgeschlagen hitte. Er heulte vor Cluck und
wollte die paar Gulden, die wir ihm zur Reise schenkten, gar nicht
nehmen. Den Blick der Freude, die in seinen Augen brannte, als er
zur Stube hinaustorkelte, hab ich nie vergessen. Aber hundertmal hab
ich schon diese Stunde seines .Gluckes* verwunscht! HMtt' ich ihm
damals nicht den Willen getan — wer weiss, vielleicht wire der Jochei
Schuemacher heute ein froher, brauchbarer Mensch!
An einem Regentage kam er angeruckt, mit dem Nannerl und mit
dem Kind. Ein Schreck fuhr mir durch alle Knochen, als ich das
Frauenzimmer sah — eine magere, widerliche Person, verschlampt vom
Halstuchzipfel bis zum Rocksaum hinunter, mit diinnem, strohfarbenem
Haar, mit schlierigen Augen und einem grossen Maul, dem man die
Gefrissigkeit schon ansah, noch bevor es aufklaffte, um die gelben
Hamsterzihne zu weisen. Und auf dem Arm dieses Weibsbildes lag in
Lumpen gewickelt ein rachytisches, hissliches Kind, das funf Wochen
alt war und schon mit den Augen stumpfer Lebenstrauer in den Tag
guckte. Aber der Jochei war unentwegt glucklichi Und lachte: »Jatz
haben mer's! Gott sei Lob und Dank! Jatz haben mer'sl Vergeltsgott
tausetmal, Herr Dokterl*
Beim Anblick dieser Freude, die ich schaffen geholfen, dachte ich
mir: , Vielleicht irrst du dich! Du siehst nur das Ausserliche, er aber
kennt sein Gltick! Und es gibt doch auch hissHche Menschen, die
Berge von Gold in ihrem Herzen verhiillen und gute, gliickschaffende
Hlnde besitzen!*"
Aber das ^brave Nannerl** hatte solch ein Herz nicht, und nicht
diese HInde. Sie hatte nur dieses Maul, vor dem ich erschrocken war!
Schon nach wenigen Wochen gab es zwischen den Jagerfamilien
einen Verdruss um den andem. Das Nannerl legte Feuer unter alle
Herde, auf denen man nicht kochen wollte. Und machte Schulden
beim Krimer und in den Wirtshlusem — denn sie naschte geme und
liebte die sussen Likore, weil sie behauptete, dass man von sussen
Likoren schone Kinder beklme — eine Hofhiung, zu der sie schon
wieder Ursach hatte.
Bei allem Hader, den es absetzte, verteidigte Jochei sein Nannerl,
wie ein Held seine Burg. Wenn ich ihn um der Schulden willen, die
^ 319 %^
bei der Jagdgesellschaft angemeldet wurden, ins Gebet nahm, gab er
nur zvLy dass sich das Nannerl halt nicht so recht aufs Hausen ver-
stlnde. Aber sonst! «Aaah, mei Nannerl!*
Die reine, treue, gllubige Seele, die in diesem blinden, schwachen,
verlorenen Menschen zuckte, bezwang mich immer wieder. Als Jagd-
leiter konnte ich ihm mancherlei Vorteile zuschanzen, die ihn iiber
Nasser hielten, von einem Monat zum andern. Aber es wurde mit
seiner Wirtschaft und mit dem Nannerl immer schlimmer. Doch dem
Jochei gingen die Augen nicht auf. Ein Jahr lang brauchte er, bis sie
nur ein bisschen zu zwinkem begannen, so dass sie das Grobste sahen.
Dann wurde er nachdenklich und schwermutig, fuhlte sich von alien
Menschen zuruckgesetzt und gekdinkt, fuhrte geheimnisvolle Reden und
rannte mit dem Gesicht eines todlich Beleidigten in Wald und Feld herum.
Alle anderen Leute waren schuld an seinem Ungluck, nur nicht das Nannerl.
Manchmal, wenn wir nach guter Jagd in lustiger Gesellschaft bei-
sammen sassen, taute er bei einem Schoppen Heurigen aus seiner chro-
nischen Schwermut auf, wurde fur ein paar Stunden wieder der prichtige
Jochei von damals, sang seine kleinen Liedchen und tanzte den Schuh-
plattler mit einer Grazie, dass die Wiener JagdgMste applaudterten.
Nach solchen Abenden hielt bei ihm der gute Humor wieder ein
paar Wochen an, und der Lebenswille machte in seiner schwachen, blinden
Seele einen Ruck nach aufwirts. Er redete seinem Nannerl „im Guten*"
zu, gewohnte sich das Rauchen ab, tat keinen Schritt in ein Wirtshaus,
sparte an Kleidern und Schuhwerk bis zum aussersten und hungerte,
um die Schulden bezahlen zu konnen, die das brave Nannerl wieder
einmal gemacht hatte. Stiegen ihm die Sorgen bis an den Hals, so
setzte er dieses gekrankte Gesicht wieder auf und begann wieder dieses
verlorene Rennen durch Wald und Feld. In solchen Zeiten nahm er
eine merkwiirdige Gewohnheit an: er redete reines Hochdeutsch! Wenn
ich von Wien herauskam, und der Jochei Schuemacher stellte sich stramm
vor mich hin, liess den vorgestreckten Kapuzinerbart zittem und sagte:
»Herr Docktohr, ich bitte, heute gMb es einen f einen Pirschgang zu
macheni" . . . dann wusste ich gleich, dass mir draussen im Wald ein
trauriges, trSnennasses Sttindchen bevorstand, und dass der Jochei ein
paar Zentner Sorgen vor mich hinschiitten wurde, die erdnickend auf
seinen Schultem lagen. In Gottesnamen, dann half ich halt wieder.
Aber auf dieses Weibsbild hatte ich eine Wut — zehn Rosse hStten mich
nicht mehr in Jocheis Stube gebracht, in diesen Schweinekotter seines
Gltickes, in dem ein braver Mensch verwahrloste und zwei Kinder
zwischen Schmutz und Lumpen hungerten, wMhrend das Nannerl gemut-
lich mit den HamsterzShnen kaute, vom Morgen bis zum Abend.
Da kam es, dass ich Wien verliess und nach Mtinchen tibersiedelte.
Die Jagd im Wienerwald blieb meinen Freunden, und mit der Jagd blieb
ihnen auch der Jochei Schuemacher und das Nannerl.
Zwei Jahre hdrte ich nichts mehr von ihm. Aber als ich im Hoch-
gebirg eine Jagd ubemommen hatte, war eines Tages ein verzweifelter
Brief vom Jochei da. Im Wienerwald hatten sie ihn mit dem Nannerl
320 8^
Yor die Tur gesetzt. So nahm ich ihn halt wieder zu mir, ins Hocta*
gebirg. Als er kam, tat mir das Herz weh vor Erbannen um diesen
braven Menschen. Dreissig Jahre! Und wie grau schon! Wie ein Funf-
ziger sah er aus! Sein bleich durchschossener Kapuzinerbart zitteite^
als er mir die Hand hinstreckte: »Melde mich gehorsamst zur Stelle^
Herr Docktohrl Und sage vielmals Dank!* Jochei Schuemacher redete
jetzt n u r noch hochdeutsch. Und wie ich bald erfahren konnte, lautete
eins von seinen hochdentschen Lieblingswdrtchen: .Dieses verfluchchchte
Weibl-
In dem kleinen Gebirgsdorf lief die Wirtschaft mit dem Nannert
auf den gleichen Fiissen weiter, wie sie im Wienerwald gegangen war.
Aber der Jochei hatte offene Augen bekommen. Er brachte so viet
Energie aus sich herans, dass er beim KrHmer, bei den Nachbam und
bei alien Wirtsleuten erkllrte, fur die Schulden seines Weibes nicht
aufzukommen. Und wenn ihn der jahzom packte, redete er mit dem
Nannerl nicht mehr «im Guten**, sondem im Bdsen — er prugelte sie,
bis sie winselnd vor ihm auf die Knie Bel und Besserung gelobte. Aber
dieses Versprechen hielt immer nur so lange an, bis die blauen Flecken
vergangen waren. Schliesslich bekam der Jochei das Prugeln satt^
und stumpf ergab er sich in sein Schicksal. Auf seine Bitte liess ich
ihn vom Friihjahr bis zum Winter einsam in einer Jagdhiitte hausen.
Da tat er ruhig und gleichmlssig seinen Dienst, schickte jeden Monat
von seinem Gehalt, der 45 Gulden betrug, 40 Gulden fiir Weib und
Kinder ins Dorf hinaus und lebte vier Wochen mit den restlichen 5 Gulden.
Wie er das fertig brachte, weiss ich nicht. In unserer Kuche hatte ich
den Auftrag gegeben, dass immer etwas bereit stehen sollte, wenn der
Jochei zum Rapport ins Jagdhaus kMme. Er behauptete dann immer,
keinen Hunger zu haben, und ass erst nach langem Zureden — nur
um nicht ungefSUig zu erscheinen.
Nahm ich ihn als Begleiter mit auf eine Pirsche, so philosophierte
er mit mir im droUigsten Hochdeutsch (iber die Erschaffung der Menschen,
iiber das Wesen des Todes und den ^unexplizierlichen*' Zweck des Lebens,
uber die unsterbliche Seele, uber .Gottes Wohnort* und uber das «er-
hoffenswierdiche* Driiben, „wo es aber vermutttlich auch ganz anderster
aussieht, als man sich das denkt mit seinem dalkichten Menschverstehst-
mich!" Dieser sein Hang zu spekulativen Gesprdchen verleidete den
anderen Mitgliedem der Jagdgesellschaft die Lust, mit dem Jochei zu
pirschen. Auch unsere Gfiste schossen lieber ihren Hirsch- und Gems-
bock, als dass sie zusammen mit dem Jochei die WeltrMtsel losten. Er
wurde uberflussig, und man hMtte ihm geme den Dienst gekiindigt. Aber
ich hielt ihn.
So ging es ein paar Jahre mit ihm weiter — und mit Schreck be-
gann ich zu merken, dass seine beiden heranwachsenden Midchen ganz
dem braven Nannerl nachgerieten und dem armen Jochei das Leben
noch um ein paar harte Pfunde schwerer machten.
Als ich eines Friihjahrs nach langem Winter wieder hinauskam ins
Jagdhaus, ftihrten die Jilger ganz merkwurdige Gesprdche uber die
321 8^
Schuemacherin und den Jochei, von dem sie nur immer per vdummer
Lapp* und .Schaf" und «Esel<* redeten. Und schliesslich sagte mir's
einer, dass das brave Nannerl mit dem Knecht eines Nachbam ein
.Gspusi* angefangen hitte, das augenscheinlich nicht ohne Folgen wire.
,Um Gotteswillen! Dieses Scheusall Findet denn die noch einen?*
^Ah jal* Der jager lachte. «Jedes Haferl kriagt sein Decker! I*
Ich Hess den Jochei kommen und sagte ihm, dass er diesen
Redereien ein Ende machen musse. Stramm, ohne einen Laut zu reden,
stand er vor mir und liess den Bart zittern. „Aber Jochei? Ko nnen sie
\ielleicht nicht klagen? 1st denn ^irklich ^as Wahres dran."*
.Man sagt es, Herr Docktohrl Und es diirfte auch kaum ein
Zweifel hiewegen zu erheben sein.""
. Aber warum werfen sie dann das Weibsbild nicht aus dem Haus?"
.Nichts Gewisses weiss man nicht von wegen dem Kind. Kann
anch von mir sein.**
Gegen diese Philosophie war nichts einzuwenden.
Im Laufe des Sommers kam das Kind — ein Buberl mit pech-
schwarzen Haaren. Und der Jochei, der einmal blond gewesen, erzUhlte
jetzt mit Vorliebe, dass seine Grossmutter und sein Urahnl ^kohlrappen-
schwarze" Haare gehabt batten.
Die Leute vergassen den Skandal, und ein Jahr war ausserlich
wieder Ruhe. Nur dass der Jochei immer schlechter aussah, immer
verwahrloster umherging, kein ganzes Hemd und keinen brauchbaren
Schuh mehr hatte und uber »Gottes Wohnort*" immer konfusere Reden
fuhrte. Alsjager wurde er volHg untauglich, niemand wollte mehr mit
ihm pirschen, auch ich nicht — und die anderen Jagdgehilfen sagten:
«Der Jochei spinnti''
Eines Tages kam er mit aschfahlem Gesicht und meldete, dass er in
einem Revierteil, in dem jeder Abschuss dem Personal aufs strengste ver-
boten war, den stMrksten Hirsch, einen Zwolfender, niedergeschossen hitte.
,Aber Jochei I*
.Mich hat so ein Rappsch gepackt, Herr Docktohr! Da hab ich
mich was umzubringen fur verpflichtet gefunden, und sozusagen gleich
das Allerbeste."
Diesen . Rappsch in dem er hatte morden mussen, verstand ich.
Und damit der ungliickliche Kerl nicht brotlos wtirde, verschwieg ich
die Sache vor den Mitgliedern der Jagdgesellschaft. Aber nach einigen
Tagen kam der Jochei selber: .Herr Docktohr, es thut keinen Guttt
mehr mit mir! Ich bitte gnddigst, mich zu kiindigen."*
Mit Muhe war er zu beruhigen. Aber ich begann im Flachland
draussen einen Posten fur ihn zu suchen, auf dem er leichteren Dienst
hitte — fur den verantwortungsvollen Beruf eines Hochgebirgsjigers
war dieser zernittete Mensch nicht mehr zu brauchen. Auch bednickte
mich immer die Sorge: der Jochei springt im .Rappsch* einmal wo
binunterl
Wenige Wochen spMter gab's wieder ein Getuschel — uber das
Nannerl und einen alten Tagldhner, der im Armenhaus wohnte. Eines
322 8^
Abends, als Jochei zum Rapport ins Jagdhaus kam, brachten ihm die
JSger das bei. Und spit in der Nacht erschien er bei mir, in einer
Aufregung, dass sich an seinen Augen das Weisse herausdrehte. »Herr
Docktohr, ich bitte gnidigst urn Urlaub bis morgen.* Und wie ein Irr-
sinniger rannte er uber das Almfeld davon, in die sternhelle Nacht
hinaus, dem zwei Stunden entfernten Dorf entgegen.
Am folgenden Mittag kam er, mit dem Gesicht und den Bewegungen
eines Betrunkenen. „Herr Docktohrl Jetzt ist die Angelegenheit iiber
alien Zweifel erbaben. Heute Nacht habe ich das Luder erwischt.*
»Und hinausgefeuert?''
,Jawolll, Herr Docktohr! Aber das verfluchchchte Weib ist wieder
herein und hat sich am Ofen angesprissen, dass ich gar nichts nicht
mehr habe machen konnen.** Sein Bart zitterte. „Weil die Kinder
auch so geschrien haben.*
Dem Jochei war nicht mehr zu helfen. Und doch versuchte ich
noch einen letzten Weg. Zuerst riet ich ihm zur Scheidung. Aber da
schiittelte der Jochei Schuemacher hartnickig den Kopf. »Herr Docktohr,
da ist keine Aussicht nicht vorhanden. Ich bin ein guttter Christ, und
die Ebe ist ein allerheuligstes Sakrament. Nach diesem elendiglichen
Leben will ich mindestenfalles zu Goltes Wohnort kommen.**
Als ich dann eine gute Stelle fiir ihn gefunden hatte, sagte ich
ihm, dass er sie nur antreten durfe, wenn er das Nannerl von sick
wegschobe. Er solle sie heimschicken zu ihren Verwandten und ihr
jeden Monat 10 Gulden geben. Brauche sie mehr, so musse das brave
Nannerl eben arbeiten. Der Rest seines Gehaltes wire ja bei seiner
Sparsamkeit fur ihn genugend, um eine ordentliche Magd ins Haus zu
nehmen, die seine Wirtschaft instand halten und ihm helfen sollte,
seine beiden verwilderten Kinder zu erziehen.
Er streckte den Bart vor. „Bitte, Herr Docktohr, ich habe drei
Kinder I"
^Naturlich, ja, ich habe mich nur versprochen.*
Ich nahm seine Hand, zog ihn zu mir auf die Bank, stellte ihm
vor, wie das mit seinen Kindem werden miisse, wenn es das brave
Nannerl in der gleichen Couleur so weiter triebe, und suchte ihn zu
uberzeugen, dass es fur ihn keinen anderen Ausweg aus seinem Blend
gibe, als die Trennung von seinem Weib, wenn auch ohne kirchliche
Scheiduug. Er schien das einzusehen, nickte zu allem, was ich ihm
riet und gab mir schliesslich Wort und Handschlag, dass er alles g^nau
so machen wolle, wie ich es ihm vorgeschlagen hatte.
Einige Tage vor seiner Abreise kam er: „Bitte, Herr Docktohr,
nehmen Sie mich heut noch einmal mit auf die Pirsch.** Seine Stimme
schwankte. »Eine Freid muss der Jochei Schuemacher noch haben!*
„ Aber Jochei, schauen Sie doch zum Fenster hinaus, wir bekommen
ja grobes Wetter."
Ruhig, in seiner sinnierlichen Art, sah er die treibenden Wolken
an. ^Nichts aewisses weiss man nicht, es kann auch wieder guttt werden.'
Da tat ich ihm den Gefallen. Aber es wurde nicht gut. Ein
323 8^
schauerliches Unwetter uberfiel uns, und ehe wir die Jagdhutte erreichten,
gerieten wir unter Blitz und Donner in eine Finsternis, in der man bei
jedem Schritt den Hals hitte brechen konnen. Der Jochei kam in einen
Zoniy wie ich ihn nie gesehen. Seine »letzte Freid** war ihm verdorben!
Wenn ein Blitz uber die Felswinde hinzuckte, hob er die geballte Faust
und schrie in das Brausen des Sturmes und in die schwarze Finstemis
binauf: „Derschlag mich halt! Derschlag mich, du! Wirst doch einen
braven Weidmann derschlagen konnen, der eh schon umbracht is!
Derschlag mich! Halleluja! Halloriodirio . . Und mit kreischender
Stimme begann er im strdmenden Regen eines von seinen kleinen,
heiteren Liedchen zu singen.
In der uberheizten Jagdhiitte, an deren Ofen wir unsere Kleider
trockneten, betlubte mich der schwiile Dunst, dass ich in einen Schlaf
mit widerlichen Trdumen fiel. Mitten in der Nacht erwachte ich. Der
Hiittenraum war kiihl geworden, draussen wehte der Sturm, und driiben
auf dem anderen Kreister hdrte ich den Jochei Schuemacher im Finstem
leise weinen. Ich ging zu ihm hiniiber, setzte mich auf das Bett, packte
ihn am Kapuzinerbart, redete ihm eindringlich zu und Hess mir wieder
Wort und Handschlag von ihm geben, dass er alles so machen wurde,
wie ich es ihm geraten hatte. Ganz ruhig schwatzte er mit mir, und
in seinem Herzen schien ein warmes Funklein von Hoffnung und Zuver-
sicht zu erwachen.
Drei Tage spSter reisten die Schuemacherischen ab. Das bisschen
Hausrat, das sie in ihrer ewigen Not noch nicht verkitscht batten, fuUte
kaum das leichte Wlgelchen. Der Jochei hielt das kleine Buberl mit
dem schwarzen Haar auf seinen Armen, und das brave Nannerl kaute
mit den gelben HamsterzMhnen, gnisste zum Abschied lachend all ihre
guten Freunde und versicherte jedem: ,Jatz kriegen wir's nobel! Jatz
weard mei Jochei a Baronischer!*
Nach ein paar Wochen hdrte ich von einem meiner Jiger, dass
das Nannerl nicht daheim im Salzkammergut, sondem draussen im
Flachland beim Jochei wire. Ich wollte das nicht glauben. Aber der
Jdger meinte: „Do hat si halt wieder angsprissen am Ofen! So oane
woass, wo Gottes Wohnort is!"
Mir schrieb der Jochei nie. Die letzte Nachricht, die ich von ihm
hdrte, brachte mir der Forster, dem der Jochei eine bunte Ansichtskarte
geschickt hatte — mit einem Fasan drauf, der im Feuer aus den blauen
Luften stiirzt. Auf der Karte stand mit zitteriger Hand geschrieben:
wGelibter Bruhder in Huberto! Filmaligen Dank fur deine libe
Karde mit den sdnen Hirsch. So einen Statzkerl mecht ich halt widder
einmahl in natuhribus sechen aber bei uns hir ist das nichs. Nuhr
Hassen und sole kleinwunzichte Vicherln ubereinand. Aber sonst gets
mir gutt. Das Nannerl is widder fest bein Zeig. hat schon wilder ein
Schbusi, lasst nicht aus! Dein ergehbener Freind
Jakob Schuemacher,
baron Maudnerischer RefirjSger und
Fasannwirder.
324 8^
Gris mir den Herrn Dogter filmalich und sag ihm, halt nichts fur
ungutt! Gelt!*
Seit drei Jahren hab ich keinen Laut mehr vom Jochei gehdrt.
Wie es ihm geht, ob er noch lebt, ob er noch leidet — ich weiss nicht.
Aber ich vermute: das Nannerl lasst nicht aus!
Bachmayer.
Von ihm weiss ich nur wenig zu erzlhlen. Es war nichts be-
sonderes an ihm, nur dass er ein bisschen stotterte, namentlich in Wdrtem,
die in der ersten Silbe ein i hatten. Ein Jiger wie hundert andere sind.
Ich habe auch nur ein einziges Mai mit ihm gejagt, vor etwa 12 Jahren,
droben im Wettersteingebiet, beim Kdnigshaus auf dem Schachen. Kaum
weiss ich mich noch zu erinnem, wie er aussah. Und doch ist er mir
im Gedachtnis geblieben, um zweier Worte willen, die er mir sagte.
Das eine war emst und gab mir viel zu denken. Das andere war heiter
und machte mich lachen.
Bachmayer diente als Jiger auf dem Schachen noch zu jener Zeit,
in welcher Konig Ludwig seine einsamen N&chte in dem steinemen
Schweigen dort oben vertriumte. Der Jiger war beim K5nig wohlgelitten,
sah ihn hiufig und konnte mir viel von ihm erz&hlen, von seinen
menschenfemen Spaziergingen, seinen nichtlichen Kahnfkhrten auf dem
Schachensee, von des Kdnigs merkwiirdigem Zahnarzt, der nicht im Hause
wohnen durfte und fiir den man eigens ein Huttchen bauen musste, von
des Konigs Leben, in dem sich Tag und Nacht vertauschte, von seinem
freundlichen Wohlwollen fur die Sennleute, von seiner warmen Sympathie
fur alle Tiere — und besonders von einem Ziegenbock, der des Kdnigs
Liebling war und allzeit freien Eintritt zu alien Gemachem des Konigs-
hauses hatte.
Eines Abends wurde Bachmayer zum Konig gerufen, und als er
den maurischen Saal betrat, sass der Konig in heiterer Laune auf dem
Diwan und sah lachend dem Ziegenbocke zu, der mit Liufen und Hdmem
die Seide des Diwans zerfetzte und auch sonst den Saal in recht ublen
Zustand verwandelt hatte.
»Da hab i mi ninininimmer halten konna und hab zum Herm Koni
gsagt . . . Maleschdit, hab i gsagt, wia kdnnen S' denn da so a Min;ii-
mimistviech so umanandhausen lassen! Und wiwissen S', was er gsagt
hat, der Herr Koni? Didieses Tititithierl, hat 'r gsagt, didieses Tititithier,
das llllugt nicht!*
Wie viel Unwahrheit muss Konig Ludwig in seinem Leben gehdrt
haben, um heiter und geduldig alle Unart eines Tieres ertragen zb
kdnnen, nur weil es nicht lugt!
Und hinter dieses emste Wort will ich den Satyrklang des anderen
setzen, das ich von Bachmayer hdrte. Damals war mein innerer Mensch
nicht ganz in Ordnung, und nach einer anstrengenden Gemspirsche
musste ich immer einen Guss Kognak mit Wasser nehmen, um meine
revoltierenden Magennerven zu beruhigen. Nun kamen wir damals am
325 ^
crsten Tag nach einer vierzehnstundigen Pirsche spat abends in die
Hiitte am Schachensee. Die Kraxe, die mit meinem Zeug vor der Hutte
stand, wurde abgepackt, und ich brach eine frische, dreistemige Flasche
an, urn meinen Beschwichtigungstrank zu brauen. Die ^Butalli'' — wie
Bachmayer das nannte — stellte ich in der HOtte auF die Bank. Dann
assen wir, schwatzten und tranken Flaschenbier dazu. Vor dem Schlafen-
gehen woUte ich den Kognak vors Fenster in die Kiihle setzen. Aber
zu meinem Schreck fand ich die Flasche, die ich voll auf die Bank
gestellt hatte, leer bis auf den letzten Tropfen.
vUm Gotteswillen, Bachmayer, was haben Sie denn da gemacht?*"
„Marundjosef ! Muass i rein aus Versechn dos Flaschl einigossen
habcn in mein Masskrug.* Er guckte in den Krug. Doch der war schon
leer. «Hab mer aber allwei denkt, warum dos Bibibibierl gar so stark is I*
Aber geschadet hat's ihm weiter nicht.
Der Waldpriester.
Bin Satyrspiel von Paul Heyse in Munchen.
Naturam expellas furca —
Am Abhang des Hymettos eine kleine Waldbldsse, darin ein ehemaliges
Tempelchen der Artemis, jetzt zu einer Marienkapelle umgestaltet, ein Kreuz auf
dem Giebel, das Artemisbild mit einem Heiligenscbein umgeben. Daneben ein
kleiner Glockenturm, an den eine Kanzel aus rohen Brettem angebaut ist.
Eioige Stufen f&hren hinauf.
Nahe bei dem Kirctalein eine niedere Hiitte, ein Zaun daneben, der einen Stall
und ein Girtctaen einftisst Vom neben der HaustQr ein Tisch und ein paar Binke/
Theodores, der Waldpriester, ein noch junger Mann, sitzt zuriickgelebnt
gegen die Huttenwand auf der Bank und siebt den Berg tainunter in die Feme.
Theodoros.
Gott sei gelobt, 's ist Sonntag heut,
Der Tag, der mich vor alien freut.
Da man von aller Wochenplag'
Im Dienst des Herm ausruhen mag.
Die meine zwar ist nicht gar gross:
Das G&rtchen zu bewSssem bloss.
Die Raupen vom jungen Kohl zu lesen.
-cMg 326
Den Weg zu siubern mit dem Besen
Und was noch sonst fur Zeitvertreib.
Alle schwere Arbeit tut mein Weib,
Damit ich jeder Sorg' entledigt
Studieren mag auf die Sonntagspredigt.
Nun, dass ich's sage frank und frei,
Auch das ist just keine Hexerei,
Denn die Gemeinde, die auf mich hdrt,
Ist gar einfiltig und ungelehrt
Und schon sich ganz zufrieden gibt.
Sag' ich, Gott hat die Welt geliebt
So sehr, dass er von Huld entbrannt
Ihr seinen eigenen Sohn gesandt,
Von Siindenschuld und Fluch des B5sen
Die arme Menschheit zu erldsen.
Das horen sie vergnugt und heiter
Und sundigen unverdrossen weiter.
Nun, gross ist Gottes Barmherzigkeit! —
Wo aber bleibt mein Weib nur heut?
Sie kdnnte lingst mit Brot und Wein
Und etwa einem leckren Fisch
Fur unsem mageren Fastentisch
Vom Dorf herauf zurucke sein,
Kann aber drunten kein End' gewinnen
Des Schwatzens mit ihren Gevatterinnen
Und weiss doch, dass ihr lieber Mann
Nicht eine Predigt mag beginnen,
Eh' er einen guten Trunk getan.
Nun, fang' ich immer zu liuten an,
Ohne mich just zu ubereilen;
Sie reitet herauf wohl unterweilen.
(liutet die Glocke. Erbllckt den Satyr und die Nymphe, die scbiicbtem aus dem
Walde hervortreten.)
Hilf Himmel! Was kommt da fur ein Paar?
Es scheint ein Mittagsspuk furwahr:
Ein greulich Mannsbild im Zottelrock,
Gleicht ganz und gar einem Ziegenbock,
Nur dass den Kopf er aufrecht trigt,
Sich auf zwei durren Beinen bewegt.
Doch neben ihm wie lieblich — schau!
Gar rank und schlank eine junge Frau,
So wohlgeschaffen, ich muss gestehn,
Wie ich mein' Tage nichts gesehn,
Nur etwas kurz ihr flattemd Hemd.
Sie scheinen hier zu Lande fremd,
Auf Reisen vom rechten Weg verirrt,
Halten vielleicht mich fur den Wirt
327
Von einer Herberg — heiliger Christ!
Nun erst erkenn' ich, wer es ist:
Ihm wichst ja aus dem struppigen Haar
Bin richtig Teufelshornleinpaar,
Und funkeln nicht auch dem schdnen Kinde
Die Augen wie die leibhaft'ge Sunde?
Mich zu versuchen kommen die Zwei;
Die sollen erfahren, wer ich sei!
(ergreift ein Knizifix, das auf dem Tiscbe steht, scbwingt es gegen die Beiden.)
Ha, Hollenunhold, weich zuriicke!
Ich kenn' dich wohl und deine Tucke,
Und du auch, Frau Luxuria,
Ich rat' euch, kommt mir nicht zu nah!
Dieser Bezirk bier ist geweiht. —
Ihr riihrt euch nicht? So frechlich seid
Ihr in eu'r teuflisch Gewerb verbissen?
Geduld nur! werdet schon weichen mussen.
Ich hole mir meinen Weihbrunnwedel,
Damit bespreng' ich euch den Schidel,
Dass ihr mit Stank im Augenblick
Fahrt in die tiefste HoUe zuruck!
(will ins Haus.)
Der Satyr.
Halt, guter Freund! Wo willst du bin?
Nichts feindlichs haben wir im Sinn.
Dein Bimmelglockchen lockt' uns her,
Ob hier ein gastlich Obdach wir',
Ein guter Trunk auch zu erlangen,
Wie uns in Tagen ISngst vergangen
Hier am Hymettos ward gewahrt,
Da man uns noch als Gdtter ehrt'
Auf unsrer schweifenden Wanderfahrt.
Theodoros.
Gdtter? mit solchem Ziegenbart?
Hor' eins die albeme Prahlerei!
Der Satyr.
Ach wohl, die Zeit ist nun vorbei.
Da meine Freundin in der Schar
Der Artemis eine Jigerin war
Und ich, nun leider irr und arm,
Ein Haupthahn in des Bakchos Schwann.
Hast du von Satym nie vemommen?
Theodoros.
Sind nur in Fabeln mir vorgekommen.
328 5^
Satyr.
Nun, einer steht leibhaFtig hier,
Und was mit dem sich zugetragen,
Lass nach der Wahrheit jetzt dir sagen.
Vor dreissig Jahren schwarmten wir
Mit Paukenlirm und Saus und Braus
Dem Meister nach talein, talaus,
Da kam in ihren Jagdgehegen
Die grosse Gdttin uns entgegen.
Das Felsgeiand und Busch und Wald
Von trunknem Jauchzen widerhallt',
Als wir bei FlSt' und Cymbeltakt
Die schlanke Nymphenschar gepackt,
Sie schwangen hoch in wildem Reigen.
Auch Bakchos wollte sich artig zeigen
Und hot der Schwester zum Tanz die Hand,
Die naserumpfend sich abgewandt;
Sie sah, er war nicht allzu nuchtern.
Doch ihre Gespielen, erst noch schuchtern,
Gaben sich bald mit offner Brust
Und fliegenden Haaren hin der Lust,
Bis ihre Herrin in hellem Zom
Stiess in ihr guldenes Jigerhom,
Ihr Volk zu sammeln von nah und fern.
Mich diinkt, nicht Eine gehorchte gem.
Auch Die hier wollte mir entschwinden,
Sich strSubend meinem Arm entwinden,
Ich aber hielt die Willige fest
Und trug sie dicht an mich gepresst
Durch Busch und Dom in eine Schlucht,
Wo uns kein Spaherblick gesucht.
Da kauerten wir im Dickicht still,
Bis Korybanten- und Panthergebrull
Und Hornerruf der Nymphenschar
In Femer Weite verklungen war,
Und wir aufatmend ohne Sorgen
Sahn uns in Waldesnacht geborgen.
Theodoros.
Ha, tischest du mir Mirchen auf?
Doch sprich nur weiter!
Satyr.
Tags darauf
Haben wir sacht auf fliicht'gen Sohlen
Gen Mittemacht uns fortgestohlen,
Stets wandernd, bis wir Leute fanden.
329
Die Griechenwort nicht mehr verstanden,
Taten uns aber nichts zuieid.
Da sahen wir uns in Sicherheit,
Galten fur ein vermfihltes Paar
Und lebten friedlich so manches Jahr,
Vom Hirtenvolklein jungen und alten
Gastfreundlich hoch in Ehren gehalten.
Ich iehrte die Vfiter Reben pflanzen,
Die Jugend F15te blasen und tanzen,
Indes die Freundin ihren Spiess
Nach manchem Waldtier sausen Hess,
So dass es nie an Fleisch gebrach.
Doch ward's einfdnnig allgemach,
Wie also Jahr um Jahr verrann,
Auch wandelt' uns ein Heimweh an,
Mich nach den weingefullten Schlfluchen,
Faunensprungen, Bakchantenbriuchen,
Meine Liebste nach ihren Jagerinnen.
So schieden wir eines Tags von hinnen
Und wanderten siidwarts Tag und Nacht,
Fanden's aber anders, als wir gedacht.
Theodoros.
Will's meinen.
Satyr.
Verwandelt Alles umher,
Keine Tempel unsrer Gdtter mehr,
Nach denen rings wir vergebens fragten,
Und wo noch Mauem und SSulen ragten,
Ein Kreuz hoch auf dem Giebel stand.
Wir selber den Menschen unbekannt
Erweckten Abscheu, Furcht und Graus,
Und niemand nahm uns in sein Haus.
Meine Hdmlein schauten sie an mit Grauen,
Wiesen sich ingstlich meine Klauen,
Ganz wie uns hier bei dir geschehn.
Da batten wir vieles auszustehn,
Hunger und Unglimpf aller Art,
Wenn sich das Volk zusammenschart',
^ Mit Steinwurf uns hinwegzujagen.
* Du aber wollest uns freundlich sagen,
Scheinst ja ein Mann von mildem Sinn:
Wo kamen die alten Gdtter bin,
Zumal, die wir so lange Zeit
Gemieden, was nun uns bitter reut?
Monatthefte. 1, 4. 22
330 g-v-
Theodoros.
Mein lieber Herr, ich sag' es frei,
Ihr seid furwahr, ihr werten Zwei,
Indes ihr euch durch die Welt getrieben,
Weit hinter der Zeit zuruckgeblieben,
Dass ihr noch heutzutag nicht wisst,
Wie Gottes Sohn, Herr Jesus Christ,
Den alten Gdttern macht' ein End'
Und selbst ergriff das Regiment.
Wo Vater Zeus sich hingewandt
Samt Allen, die ihm blutsverwandt,
Ais ihn Gottvaters einiger Sohn
Herunterstiess vom Herrscherthron,
Kann ich nicht sicher offenbaren.
Zur Hdlie, heisst's, sei'n sie gefahren,
Alldort mit andern Fluchdimonen
Der Menschheit zum Verderb zu wohnen.
So hdrt' ich aus des Bischofs Mund,
Doch ob es wahr, ist mir nicht kund.
Gewiss ist nur: der neue Thron
Steht ein halbhundert Jahre schon;
Die Gdtter, denen ihr verbunden,
Sind mit den iibrigen verschwunden,
Und ihr — es tut mir wahrlich leid —
Passt nicht mehr in die neue Zeit.
Satyr.
Hat dtese Zeit denn neuen Branch,
Und gibt es neue Menschen auch,
Menschen, die nicht mehr durch den Wald
Hinschwirmen, wenn die Pauke schallt,
Das Feuerblut der Rebe trinken,
Bis ihnen schwer die Wimpem sinken,
Oder abseits vom wilden Schwann
Sich schleichen in eines Liebchens Arm
Und immer wandeln auf der Spur
Der alten Mutter, der Natur?
Theodoros.
Natur? Das Wort ist heut verpdnt.
Wer ihrer sich nicht streng entwohnt
Und huldigt fromm dem Geist allein,
Kann hier und dort nicht selig sein.
Der alten Gotter arge Sitten
Heut werden nimmer sie gelitten,
Und wer nicht bind'gen mag sein Blut,
Nicht Trunk und Buhlschaft von sich tut,
331 8^
Wird nach dem Tode in Flammenqualen
Die Busse fur seine Sunden zahlen
An einem ewig finstern Ort.
D e r Satyr (zu der Nymptae).
Sunde? Was meint er mit dem Wort?
(Sie zuckt die Achseln.)
Th eodoros.
Mich dau'rt, wie ihr unwissend seid
In aller Lehre der Christenheit
Und drum zur Hollen einst verdammt.
So will ich, wie gebeut mein Amt,
Des neuen Glaubens euch belehren.
Der Satyr.
Spar deine Muh'! Ich mag nichts horen
Von neuen Gdttem, will den alten,
So heut entthront, die Treue halten,
Mag kommen, was da will, dereinst.
Nur sage, wenn du's gut uns meinst,
Wie fangen wir's an, dass wir geborgen
Vor Feinden seien und Nahrungssorgen?
Theodores.
Hm! Rat zu diesem wusst' ich auch.
Ihr musset nur nach Christenbrauch
Von meiner Hand die TauP empfahn.
Der Satyr.
Taufe? Was ist das? Sag mir an!
Theodores.
Es ist wohl leichter, als ihr glaubt.
Mit Wasser netz' ich euch das Haupt,
Wenn ich zuvor den Glauben sprach.
Sonst spricht ihn mir der Taufling nach,
Doch da ihr zwei erwachsne Lent'
Noch dumm und blind wie Kinder seid,
Genugt's, wenn es der Priester tut.
Alsdann treib' ich aus euerm Blut
Den Teufel aus samt seinen Werken.
Das wird euch wundersam bestirken,
Hinfort zu leben nach der Schnur
Und abzusagen der Natur.
Der Satyr
(nachdem er mit der Nymptae ein Wort getausctat, die dann nacta dem Kirchlein getat).
Meinthalben tu', wie du gesagt.
22*
^ 332 SH-
Dass uns nicht ferner der Hunger plagt,
Woli'n wir uns sonder Schimen und GrSmen
Dem, was du Taufe nennst, bequemen,
Wenn's dann nur bald zu Tische geht.
Theodoros.
Noch eins! So wie ihr geht und steht,
Durft ihr die Kirche nicht betreten.
Im Kimmerlein mdgt ihr nackend beten,
Doch ziemte sich's, dass beim Gottesdienst
In zucht'gen Kleidem du erschienst,
Und auch an deiner Frau gewiss
N&hm' die Gemeind' ein Argemis.
So musst ihr denn nach Landesbrauch
Euch kleiden und betragen auch.
Ich hoi' euch etliches Gewand,
So gut mir's eben ist zur Hand.
(ab ins Haus.)
Der Satyr (ibm nachrufend).
Nur flink! Vor Durst verschmacht' ich schier.
Die Zunge klebt am Gaumen mir
Wie*n durres Blatt.
(nacb dem Kirctalein blickend)
Ha, aber du,
Was spMhst du dort und winkst mir zu?
Ist was Besondres dort zu schauen?
Die Nymphe (kommt zuriick).
Kaum kann ich meinen Augen trauen!
Denk, was im Tempelchen ich fand:
Ein Marmorbild steht an der Wand,
Das gleicht genau — wahr und gewiss —
Meiner grossen Gottin Artemis,
Obwohl eines langen Kleides Falten
Verhtillt die schlanken Glieder halten.
Der Satyr.
Nein, was du sagst!
Die Nymphe.
Nur fehlt der Bogen,
Und um das Haupt ward ihr gezogen
Ein goldner Reif von lichtem Schein,
Auch hingt vor ihr ein Limpchen klein,
Das brennt, obwohl es heller Tag.
Sage, was das bedeuten mag.
333
Der Satyr.
Der Priester soil's uns offenbaren.
(Thttpdoros aus dem Haus, trigt Kleider, einen Hut und Schuhe.)
Theodoros.
Nun musst ihr rasch in die Kleider fahren.
Du bist an Schultera mfichtig breit,
Zersprengtest mir mein Werktagskleid,
So hinge dir bequemlich urn
Dies alt verschlissene Pallium,
Den Hut tief in die Stirn gednickt,
Dass man die Hdmlein nicht erblickt,
Und deine Bocksfuss' zu bekleiden,
Musst an den Klau'n die Schuhe leiden.
Doch Kr das Fraulein hab' ich — schau! —
Bin altes Fahnchen meiner Frau,
Nicht schmuck und prunkhaft uberaus,
Doch nimmt sie drin sich ehrbar aus,
Kann so zur heiligen Taufe gehen.
Die Nymphe (lacbt).
Der Plunder wird mir lustig stehen!
Der Satyr
(wibrend er sich ankleiden lisst).
Sag, guter Freund, wenn hier zu Land
Die alten Gdtter sind verbannt,
Wie kommt's, dass man im Kirchlein liess
Das Bild der JMgerin Artemis?
Myrrhine hat sie gleich erkannt.
Theodoros.
Torheit! Maria ist sie genannt,
Die drinnen abgebildet ist,
Die Mutter unsres Herren Christ.
Die Glorie zeigt's um ihr Gesicht,
Dazu des ewigen Limpchens Licht.
Ist gar ein uralt heilig Bild,
Mit micht'ger Wunderkraft erfullt;
Wir halten grosse Stucke drauf.
Doc^ seht, da kommt vom Dorf herauF
Mein Ehweib, Anastasia.
Nun, liebes Herz, bist endlich da?
(leise zum Satyr)
Nur gut, dass sie euch nicht gesehn
In eurer BlSsse vor ihr stehn,
Denn zuchtig ist sie uber die Massen.
(laut)
334 ^
Hast dich ja lang erwarten lassen,
Indessen kamen uns Gflst' ins Haus.
Nun, pack nur erst deine Waren aus!
Anastasia
(steigt von dem Esel ab, an dessen Sattel recbts und links ein Scblaucb mit Weln
und ein Korb mit Brot, Kise, trocknen Feigen und anderem Vorrat bingt, be-
trtcbtet erstaunt die Fremden).
Gott gruss' euch! Saget, wer ihr seid!
Du, Frauy wie kommst du zu meinem Kleid,
Und du zum Pailium meines Manns?
Theodores.
Sie waren abgerissen ganz,
Verhungert halb und halb erfroren.
Der Mann hatt' seinen Rock verloren,
Des Frfluleins Kleid hing nur in Fetzen;
Wir woirn mit Speis' und Trank sie letzen.
Sie zeigen eine grosse Begier,
Die Taufe zu empfahn von mir.
Kommt! Eh' der Gottesdienst beginnt,
Stflrkt euch mit Brot und Wein geschwind,
Auch Kfis' und Feigen hat wohlbedacht
Meine Stasi aus dem Dorf gebracht.
Nun hebt zum leckem Mahl die HSnde!
Anastasia
(die Fremden misstrauisch betrachtend, leise zu ibrem Manne).
Wenn's fahrend Gesindel wSr* am Ende — !
Er schaut ganz wacker aus den Augen,
Sie aber scheint nicht viel zu taugen.
Theodoros.
Ei was! Verirrte Wandrer laben,
Wird immer Lohn vom Himmel haben,
Da fragt man nicht erst wer und wie.
(setzt sich, indem er Myrrtaine an den Tisch fuhrt und dem Satyr winkt, ebenftdls
zu kommen. Die Frau trigt die Speisen aus dem Korbe auf, holt dann Bectaer aus
dem Hause und einen Krug, den sie aus dem Schlauch fullt. Diesen setzt sie
dann zwischen sich und dem Satyr auf die Erde.)
Theodoros.
Nun seht, ihr Freunde, so lebt man hie,
Begniigt mit dem, was Gott beschert,
Zuchtig, bieder und ehrenwert,
Von allem uppigen Schwelgen fern,
Dankt Fur das Wenige Gott dem Herm
Und bittet ihn, von allem Bdsen
Uns schwache Menschlein zu erlosen.
335 §^
Nicht in Versuchung uns zu fiihren,
Dass wir nicht Zugel und Zaum verlieren,
Wie in der gottlosen Heidenzeit. —
FrSulein, gar hubsch steht dir das Kleid.
(streictaelt ihr die Sctaulter.)
Anastasia (zum Satyr).
Ich merke wohl, du bist galant,
Doch lass von meinem Arm die Hand
Und ruck ein wenig weiter ab!
Theodores.
Trink, Freund! Was mir der Himmel gab,
Mit meinen Briidern tell' ich's gem.
Behagt der Wein dem fremden Herm?
Haha! statt Antwort mir zu sagen,
Nimmst du den vollen Schlauch beim Kragen.
Ha, du verstehst es? Gluck — gluck — gluck —
Lass auch uns Andem noch einen Schluck!
(nimmt itam den Schlauch vom Munde, tut einen langen Zug )
Hast Recht: das ist der wahre Branch,
Zu schlurfen aus dem vollen Schlauch.
Probier's nur auch, du holdes Kind,
Wie sanft er durch die Kehle rinnt,
Dann reich' ihn meiner Stasi Mund,
So geh' das Trinken in die Rund.
Schon will die Welt mich schoner dunken,
Zwei lichte Sterne seh' ich blinken.
Wie ist dein Name, Fraulein zart?
Die Nymph e.
Myrrhine.
Anastasia (zum Satyr).
Ei, dein Fuss ist hart.
Der Satyr.
Ist zMrtlich doch und gut gemeint.
Anastasia.
Du bist ein Schlimmer, wie mir scheint!
Der Satyr.
Ich bring' es dir.
Theodoros
(entreisst ihm den Schlauch).
Her mit dem Wein!
Auf! Lasst uns singen und lustig sein!
(slngt)
336
Bakchos lebe!
Lasst uns trinken
Biut der Rebe»
Bis wir sinken,
Kussen jede schlanke Hebe!
EvoS, evoS, ailalala!
Der Satyr (singt).
Schwingt euch im Reigentanz
Rebenbekrinzt,
Rufet die gdttliche
Jdgerin Artemis,
Ruft den Di6nysos,
Dem im MSnadenschwarm
Tninken das Auge, das flammende, glinzt
Evo^y evoe, ailalala!
(Theodores und die Frauen wiedertaolen die letzten Zeilen. Dann erhebt tich
TheodoroSy ergreift Myrrhine und schwingt sie henim, der Satyr folgt mit Anastasia.
P15tzlich hdrt man Schellengeliut von unten herauf. Alle stehen still.)
Theodores.
Himmel! Da kommt vom Dorf zuhauf
Zur Predigt die Gemeinde herauf;
Die durfen uns nicht so lustig finden.
Myrrhine, komm, lass uns verschwinden!
(eilt mit ihr in das Girtchen.)
Anastasia.
All ihr Heil'gen, wie seh' ich aus!
Zerzaus't, verwustet! Geschwind ins Haus!
(liuft hinein, der Satyr folgt ihr.)
(Von unten kommt der Dorfschulze auf einem mit Schellen aufgeschirrten Maul-
tier geritten, hinter ihm Bauem mit Weibem und Kindem.)
Dorfschulz (steigt ab).
Da wfiren wir! Der Himmel weiss:
Der Weg zur Andacht kostet Schweiss,
Nicht mir sowohl, als meinem Tier.
Nun mag sich's auf der Wiese hier
Und wir an Gottes Wort erquicken.
Doch lisst sich noch kein Priester blicken.
Geh einer nach dem Kirchlein hin.
Wohl auf den Knieen liegt er drin,
Sich vor der Gottesmutter neigt,
Bevor die Kanzel er besteigt.
Doch wie? Dort auf dem Tisch die Reste
Von einem schwelgerischen Feste,
Wo Wein in Strdmen ist geflossen.
337
Vier Becher, zweie umgestossen,
Der grosse Schlauch schier ganz geleert?
Hier sind wohl Gftste eingekehrt,
Haben den Gottesmann verfuhrt,
Dass er unmissig pokuliert*
Muss einmal nachschauen doch im Haus.
(Indem er sich dem Hause nlhert, h5rt man drinnen Anastaiia leise schreien,
zugleicta einen Angstruf Myrrhine's aus dem Girtchen.)
Was dringt fur ein Geschrei heraus?
Ha, Sund' und Schand'! Am Sonntag heut!
Da kam ich just zur rechten Zeit!
(eilt ins Haus. Zwei Bauern laufen in den Garten. Gleich darauf kehrt der
DorfBchulz zurQcky den Satyr am Otarlippchen herauszerrend.)
Dorfschulz.
Ha, grober Lummel, Bestie du!
Noch grade recht kam ich dazu,
Hottest sonst in deiner Niedertracbt
Das biedre Weib in Schande bracht.
Nun sollst du deinen Frevel bussen.
He, bindet ihn an HMnden und Fussen,
Alsdann noch heut, wie sich's gebuhrt,
Werd' ein Exempel an ihm statuiert,
Denn wissen musst du, schndder Wicht:
Der Dorfschulz ist's, der mit dir spricht.
(Der Satyr will eben antworten, da kommen die beiden Bauern aus dem Garten
zurfick, Myrrbine f&hrend, der die Kleider halb vom Leibe gerissen sind. Theodores
fblgt mit einer Armsundermiene.)
Ein Bauer.
Herr Schulz, im Garten fanden wir
Das fremde Frauenzimmer hier,
Die wehrte sich und kratzt' und biss,
Da sie nicht los der Priester Hess.
Da kommt er selbst. Verhdrt ihn nur!
Dorfschulz (zu Myrrhine>
Ha, du zuchtlose Kreatur,
Geht mit so wenigem Gewand
Ein ehrbar Weibsbild durch das Land?
My rrhine.
Das fragt den Pfaffen, der mag's wissen,
Wollte mit aller Gewalt mich kussen
Und riss mir, da ich mich gewehrt.
Das Kleid in Fetzen.
338 8^
Dorfschul^.
Hdrt nur, h5rt!
Theodorosy der Gottesmann,
So grosser Sund' klagst du ihn an?
Ha, LSgenbnit, ins Loch mit dir
Und dann bestraft gleich Diesem bier!
In Fesseln legt mir alle Zwei!
Der Satyr (stdtst die Bauern zurQck).
Wer Beulen liebt, der komm' herbei!
Meint ihr, wir trugen gross Verlangen,
Noch mehr Gastfreundschaft zu empfangen?
Scheinheilige Tropfe, die ihr seid
Und prahlt mit eurer Ehrbarkeit,
Und lodert doch auch euch im Blut
All Sinnenbrunst und Gier und Glut,
Wodurch der Gott, den ich verehre,
Gibt eurer Heuchelwelt die Lehre,
Dass sie auch steht im Banne nur
Der grossten Gottin, der Natur.
Und ihr woUt mich in Ketten schliessen?
Den Staub schleudr' ich von meinen FiissenI
Da, nehmt die Schuh', die mich beengt.
Den Rock, drein ich den Leib gezwingt.
Den Hut, den ich mir aufgesetzt
Zum Mummenschanz. Kennt ihr mich jetzt?
Dorfschulz.
Der Gottseibeiuns! Heil'ger Christ,
Am Homerpaar er kenntlich ist.
Apage, apage, Satanas!
Der Satyr.
Haha! Behagt euch nicht der Spass?
So woll'n wir uns hinwegbegeben,
Wunschen euch alien wohl zu leben
Und wandem weiter in Hdh'n und Griinden,
Bis wir die alten Gotter finden.
Doch du, mein Gastfreund, grtiss mir ja
Meine Freundin Anastasia!
(schligt ein Gelichter auf, bebt die Nymphe auf seine Scbulter
und liuft mit itar davon.)
Dorfschulz.
Herr Gott, dich loben wir! Du hast
Befreit uns von dem Hdllengast.
Nun wollen wir mit Herz und Hinden
Aufs neu zu deinem Dienst uns wenden.
339 8^
Theodoros.
Mich aber lasst hinfort allein,
Kann nicht mehr euer Priester sein,
Nachdem ich heut straflichermassen
Vom Satan mich betdren lassen,
Und will nun Busse tun im stillen.
Dorfschulz.
Das kann nicht sein nach Gottes Willen.
Sundlos ist Einer nur gewesen,
Und wer zum Priester von Gott erlesen,
Bleibt doch ein Mensch, so wie wir all.
Du aber, Freund, in deinem Fall
Hist noch entschuldbar uberaus.
Denn dass zu deinem frommen Haus
Der Teufel in Person gekommen,
Noch gar eine Teufelin mitgenommen,
Das zeuget klar, wie hoch er's schltz',
Just dich zu locken in sein Netz,
Da weit und breit du hier zu Land
Als sonderbarlich fromm bekannt.
Und 80 ersteig die Kanzel dort,
Uns zu erbau'n aus Gottes Wort
Und uns zu weisen den rechten Pfad.
Theodoros.
So heilige mich Gottes Gnad'!
(w\gt auf die Kanzel.)
Meine Bruder und Schwestem in Jesu Christ,
Der Text der heutigen Predigt ist
Zu lesen im Evangelio
Sanct LucS am elften und lautet so:
Wenn ein starker Gewappneter seinen Palast bewahret, so bleibet das
Seine mlt Frieden. Wenn aber ein Stirkerer uber ihn kommt, so
nimmt er ihm seinen Hamisch und teilet den Raub aus.
Nun, teure Christen, euch insgemein
Leuchtet des Textes Sinn wohl ein,
Da sichtbar euch vor Augen steht,
Worauf die Nutzanwendung geht.
Dunkt' ich mir doch in eitlem Wahn
Mit Wehr und WafFen angetan.
Den stirksten RHuber zu besiegen,
Und musste schmShlich unterliegen.
Da eines Stirkeren Hdllenkraft
Der Tugend Hamisch mir entrafFt.
So bringt der Rausch uns Sunder all
Als ein Gewappneter zu Fall.
-Ng 340 8^
Doch, meine Geliebten in dem Heim,
Versteht mich wohl; das sei mir fern,
Dass ich euch je verargen sollf,
Wenn ihr am Wein euch laben wollt.
Nur sollt ihr's euch zur Sunde schStzen,
Den Schlauch selbst an den Mund zu setzen.
Da, wer so aus dem Vollen trinkt,
Alsbald in Vdllerei versinkt.
Hingegen sei's euch nicht verwehrt,
Dass Becher ihr um Becher leert,
Der Gottesgab' euch fromm erfreut
Wofern ihr aber Schlemmer seid,
Gleich nimmt der Teufel euch beim Schopf
Und steigt euch hinterrucks zu Kopf.
Ein Manches davon zu sagen bliebe,
Doch ist mein Haupt noch schwer und tr&be,
Auch dringt es mich, nach meiner Frauen,
Die drin im Hause stShnt, zu schauen,
Dieweil zu meinem Grimm und Gram
Auch uber sie ein StSrkrer kam.
So geht denn heim in Gottes Namen
Und hutet euch vorm Teufel I Amen.
Explicit
Verantwortlieh : F&r den poHtischen Teil: Friedrich Naumann in SchOneberg; f&r den wleseasehafUicbcB
Tell : Paul Nikolaus Cossmann in Miinchen ; ftir den IcQnstlerischen Teil : Wilhelm Weignad In MBncken»
Bogenhausen.
Naehdnick der einzelnen Beitrige nur auszugsweise und mit genauer Quellentngabe gecttttet.
Liberalismus als Prinzip.
Von Friedrich Naumann in Sch5neberg.
Es ist im Liberalismus, auch in Suddeutschland, nicht mehr sehr
an der Tagesordnung, vom Liberalismus als Theorie oder als Prinzip
zu reden. Man nimmt an, dass jedermann weiss, was Liberalismus ist,
und auf Reinheit der Lehre oder Strenge des Stiles wird kein besonderes
Gewicht gelegt. Am ersten findet man Prinzipienlehre noch gelegentlich
bei der deutschen Volkspartei, am seltensten begreiflicherweise bei
den Nationalliberalen. Dort wird vor ^oder Prinzipienreiterei^ gewamt,
weil, nun well Prinzipien, die man selbst bisweilen verletzt hat, unbequem
wirken konnen, fast wie das moralische Gewissen im einzelnen Menschen.
Naturlich bestreiten wir auch nicht, dass blosse Deklamationen von Aller-
weltsgrundsdtzen keinen Wert haben. Parteien werden vom Volk nach
ihren Handlungen beurteilt, nicht aber nach dem, was in der Programme
urkunde geschrieben steht. Wer im Programm fur gleiches Recht aller
Staatsburger ist, und in der Wirklichkeit einen Teil der Staatsburger
bedruckt, verletzt oder herabsetzt, dem wird es in alle Ewigkeit nichts
helfen, dass er seine feierlichsten Bekenntnisse irgendwo eingemeisselt hat.
Immerhin aber gibt es ernsthafte Leute, die es fur hochst dringlich
halten, dass wieder liberale Prinzipienlehre getrieben wird. Warum
eigentlich? Aus zwei Grunden. Einmal ist alles Reden iiber Einheit
des Liberalismus von nur sehr geringer Oberzeugungskraft, solange nicht
klar gesagt wird, was denn der geistige Kern dieser Einheit ist, und dann
bleibt die grosse Debatte uber das VerhMltnis des Liberalismus zum
Sozialismus notwendig im Gebiete dunkler Stimmungen, solange man sich
nicht entschiiesst, dasjenige reinlich zu formulieren, was der Liberalismus
zu den Fragen des vierten Standes zu sagen hat. Es ist geradezu ein
Lebensbedurfnis des Liberalismus in seiner Gesamtheit, dass er sich
seinen eigenen theoretischen Problemen wieder stirker zuwendet.
Die nachfolgenden Darlegungen beabsichtigen keineswegs, alles zu
■sagen, was ttberhaupt zu dieser Sache gesagt werden kann. Sie wollen
nur den Teil des Problems schlrfer herausarbeiten, der das Verhlltnis
der liberalen und der sozialistischen Theorie enthltt. Als Ausgangspunkt
SOddeutsche Monatshefte. I, 5. 23
dazu soil uns ein kleines aber inhaltreiches Schriftchen dienen, das
Professor Jellinek in Heidelberg vor kurzem in zweiter Auflage hat er^
scheinen lassen „Die Erkl&ning der Menschen- und Burgerrechte, ein
Beitrag zur modemen Verfassungsgeschichte^ (Leipzig bei Dunker &
Humblot, 1904, Preis 1,80 Mk.). Jellinek fuhrt uns in die Zeit der
Entstehung der liberalen Gedanken. Am 26. August 1789 wurden in
Paris die Rechte des Menschen und Burgers erkl&rt. Diese Erklarung
wurde der Ausgangspunkt alter europlischen VerfassungskMmpfe im ver-
gangenen Jahrhundert, und verdient deshalb in ihrem Werden verstanden
zu sein. Paul Janet, ein namhafter franzdsischer Rechtshistoriker, fuhrt
sie, darin vdllig der herrschenden Tradition folgend, auf den Ein-
fluss der Theorie Rousseaus zuruck. Das ist die Stelle, wo Jellinek
einsetzt. Gegeniiber seinem franzdsischen Kollegen fuhrt er die Be-
hauptung durch, dass die Menschenrechte nicht zum Gedankensystem
Rousseaus gehdren, sondem nordamerikanischen Ursprungs sind.
Soweit nun diese Untersuchung rein geschichtlichen Inhaltes ist>
bleibt sie eine Sache fur die Fachleute, denn wie kdnnen wir anderen,
die wir nicht in den Urkunden jener Tage leben, nacbpriifen, welche
Gedanken bei Rousseau vorkommen und welche nicht? Aber das, was
Jellinek bietet, geht weit uber das rein Geschichtliche hinaus. Indem
er die politische Theorie Rousseaus einerseits und die Formulierung der
Menschenrechte in den nordamerikanischen Einzelverfassungen anderer-
seits darstellt, gibt er uns ein sehr scharf gezeichnetes Bitd vom urspriing-
lichen Liberalismus in seinem doppelten VerhSltnis zum Staat.
Rousseau geht nach Jellineks Darstellung einzig und allein vom
Gesamtwillen aus. Die Gesellschaft ist alles, die Rechte des einzelnen
sind nur Teile dei* volont6 g6n6rale. Der Gesellschaftsvertrag macht
den Staat zum Herm aller Guter seiner Glieder, die nur als Depositare
des dffentlichen Gutes zu besitzen fortfahren. Die btirgerliche Freiheit
besteht einfach in dem, was dem Individuum nach Abzug seiner biirger-
lichen Pflichten tibrigbleibt. Die Vorstellung eines urspriinglichen
Rechtes, das der Mensch in die Gesellschaft hinubemimmt, wird von
Rousseau ausdriicklich verworfen. Man ist erstaunt, wenn man liest»
dass Rousseau nichts von Religionsfreiheit wissen will: wer es wagt zu
sagen, dass ausserhalb der Kirche kein Heil sei, soli vom Staate verbannt
werden! Politische Vereine, die das Volk spalten, hindem den wahren Aus-
druck des Gemeinwillens und sind daher nicht zu begunstigen! Rousseaus
Staatslehre ist vollendeter Republikanismus mit voUendeter Staatsallmacht.
Diese Staatsallmacht aber ist es gerade, wogegen sich die Menschen-
und Burgerrechte wenden. Das Wesen dieser Rechte besteht darin, das
Einzelsubjekt vor der Vergewaltigung durch Tyrannei, Willkur oder
Schematismus des Staates zu schiitzen. Es sind wesentlich negative
Rechte, das heisst, Rechte, die in der Freiheit von dem Regiertwerden
bestehen. In diesem Sinne reden die Amerikaner von Religionsfreiheit^
Auswanderungsfreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit , Petitions-
freiheit, Freiheit der Person von Sklaverei und freier Verwendung des
Privateigentums.
343 8^
Beiden TeileD, Rousseau und den Amerikanern ist gemeinsam, dass
sie die Gleichheit aller Staatsburger von vornherein als Prinzip nehmen.
Ihr Unterschied ist, dass bei Rousseau der Liberalismus darin besteht,
dass alle den Staat regieren, bei den Amerikanern aber darin, dass alle
das gleiche Recht haben, vom Staate unbehelligt zu sein. Naturlich ist
diese Formulierung etwas tiberscharf, wie sie es sein muss, wenn man
GegensMtze zunMchst verst&ndlich machen will. Auch Rousseau hat in
dem Satz, dass der Staat nur Vorschriften machen darf, die fur alle
zngleich gelten, ein Korrektiv seiner Staatsallmacht, und die Amerikaner
sind selbst, in eben dem Moment, wo sie sich vor dem Staate schutzen
wollen, damit bescbMftigt, den Staat aufzurichten und zu verteidigen.
Aber was soil nun uns, die wir heute leben, diese alte Geschichte?
Sie zeigt in unvergMnglichen Typen die doppelte Haltung, die der
Liberalismus gegenuber dem Staat hat. Er willihn vom Wi lien aller
Beteiligten abhangig machen und er will ihn in seiner Wirk-
samkeit eingrenzen. Beide Tendenzen sind so geartet, dass sie fur
sich allein bei exakter Durchfiihrung entweder die Persdnlichkeiten oder
den Staat zerstdren, aber so sind ja Prinzipien meist, dass sie ins
Extrem verfolgt, tdtlich wirken. Das Wesen des Liberalismus besteht
geradezu im gemeinsamen und harmonischen gleichzeitigen Gebrauch
beider Methoden.
Die Voraussetzung dieses Liberalismus ist, dass der Staat vor-
handen ist und zwar als absoluter Staat, den die Untertanen als Gefahr
empfinden. Nur als Gegenbewegung in einem aristokratisch oder
monarchisch geleiteten Staat ist die Doppelmethode verstlndlich. Auch
die Amerikaner batten den absoluten Staat vor Augen, den sie nicht
wollten, ihren damaligen englischen Heimatsstaat. Der Staat wurde im
17. und 18. Jahrhundert zum Grossbetrieb, zu einem Machtinstitut, das
dem Menschentum verhdngnisvoll zu werden drohte. Diesen Gross-
betriebsdrang im modemen Staat wollte der Liberalismus hicht an sich
tdten, aber seiner schidlichen Nebenwirkungen entkleiden. So wuchsen
beide als Korrelaterscheinungen miteinander, der Staat und in ihm der
Liberalismus. Die Staatsbejahung des Liberalismus liegt in der demo-
kratischen Richtung auf Parlamente, Wahlrechte und Selbstverwaltung.
Die Staatsvemeinung liegt in der individualistischen Richtung auf
Menschenrechte, Gewerbefreiheit, Handelsfreiheit, Freizugigkeit, Kultur-
und Religionsfreiheit. Man kann verfolgen, wie zeitweise die eine oder
die andere Richtung mehr in den Vordergrund getreten ist. Bei uns
liegt es so, dass die Sozialdemokraten st&rker an Rousseau anknupfen
und die Liberalen entschiedener Richtung mehr an die Amerikaner.
Damit aber ist der Gegensatz zwischen unseren Liberalen und
Sozialisten nur teilweis erkl&rt, namlich nur soweit, als es sich um die
Stellung zum Staat im engeren Sinne des Wortes handelt. Die Lage
aber hat sich seit 1789 wesentlich dadurch verschoben, dass ein neues
Faktum eingetreten ist, mit dem man damals uberhaupt noch nicht
rechnen konnte. Das neue Faktum ist, dass die Tendenz zum Gross-
betrieb sich nicht auf den Staatsbetrieb beschrinkt hat, auch nicht auf
23»
344 1^
die alten Betriebe der Kirche und der Feudalherrschaften. Das ganze
gewerbliche Leben ist von dieser Tendenz erfullt. Das Zeitatter des
kapitalistischen Maschinenbetriebes schafFt vor unseren Augen neue
Herrschaftskdrper, die an Gefahren fur die Einzelpersonen nicht drmer
sind als es der Betrieb des Staates in seiner absolutistischsten Periode
gewesen ist. Ein Fiirst der alten Zeit, den die Liberalen einen Despoten
nannten, hatte uber seine Untertanen keine grossere Macht als sie heute
der Kopf eines starken Syndikates oder der Leiter eines industriellen
Riesenuntemehmens hat. Die Zahl der abhSngigen Menschen wdchst
Abh&ngigkeit aber ist das alte Problem des Liberalismus. Die neue
Frage ftir den Liberalismus ergibt sich aus dem Gesagten. Sie lautet:
soil er seine alte Doppelmethode auf alle Formen des Gross-
betriebes ausdehnen oder gilt sie nur fur den Staat?
Der Soziatismus als Theorie besteht wesentlich in extremer An-
wendung der altliberalen Formeln auf jede Art von Grossbetrieb. Man
mache sich das nach folgendem Muster klar. Der Grossbetrieb soil
einerseits nach Rousseau behandelt werden: Obergang der Produktions-
leitung in die Hand aller Beteiligten ist das Endziel, demokratische Mit-
wirkung an der Leitung durch parlamentarische Formen ist das nachste
Ziel. Der Grossbetrieb soli andererseits Menschenrechte gewahren;
Achtstundentag als Endziel, ZeitbeschrSnkung als nichstes Ziel und da-
zu Freiheit der Koalition, der Gesinnung, Schutz der Gesundheit, der
Jugend, der persdnlichen Eh re.
Es kann kein Zweifel sein, dass im sozialistischen Programm alt-
liberale Elemente in Anwendung auf neue Herrschaftsformen vorliegen,
aber dieser strenge Gedankenzusammenhang beider Strdmungen wird
bisher von beiden Seiten verkannt, well die Sozialdemokratie ihre
Forderungen mit dem Unterbau einer Geschichtsauffassung versieht, die
dem Liberalismus nicht gel&ufig ist und deren Einordnung in den alten
liberalen Gedankenbestand grosse Schwierigkeiten macht, namlich mit
dem Unterbau der materialistischen Geschichtskonstruktion. Oder
anders ausgesprochen: der Sozialdemokrat stellt seine Ideen als Er-
gebnisse des Klassenkampfes hin und der Liberalismus die seinen als
Ergebnisse kritischer Vernunft. Es streiten sich zwei Philosophien,
von denen vielleicht jede etwas Wahrheit in sich hat. Will man aber
das Prinzip der beiden Strdmungen reinlich erkennen, so muss man
sich zunichst einmal von allem diesem philosophischen Beiwerk frei-
machen und nur fragen: was ist es, was die Liberalen woUen, und was
ist es, was die Sozialdemokraten wollen? Sobald man das tut, springt
die innere Gleichartigkeit in die Augen. Der Sozialismus ist die
denkbar weiteste Ausdehnung der liberalen Methode auf alle
modernen Herrschafts- und Abhangigkeitsverhaltnisse.
Die gegenwirtige Frage des Liberalismus aber hat deshalb folgenden
Inhalt: ist es richtig, dass wir uns nur darauf beschrlnken, Gegenwirkung
gegen staatlichen Despotismus zu sein? Die Frage ist deshalb so
schwer, weil der Kampf gegen die Nachteile der neuen Grossbetriebe
ofTenbar nur mit Hilfe des alten Grossbetriebes Staat gefuhrt werden
-v^ 345
kann. Der Staat, den man in seiner Wirksamkeit einengen wollte, muss
mit neuen Aufgaben betraut und also direkt gestMrkt werden, wenn er
helfen soil, die Menschenrechte im gewerblichen Grossbetrieb zu schutzen.
An dieser Stelle setzte der alte und erste Widerspruch der strengen
Manchesterleute gegen den Sozialismus ein. Man musste die liberate
Lehre vom freien Spiel der Krifte im Wirtschaftsleben einschrinken,
wenn man staatliche Zwangsversicherungen und Arbeiterschutzgesetze
gutheissen wollte. Das hat man nun trotzdem fast im ganzen Liberalis-
mus tatsachlich nicht vermelden konnen, aber es ist das Gefuhl
einer Schwichung des Prinzips iibrig geblieben. Gewdhnlich legte man
sich die Sache so zurecht, dass man sagte: erst durch diese Staats-
eingrifFe entsteht die Freiheit des einzelnen, die wir anstreben! Das
ist sacblich unbestreitbar richtig, tiberwindet aber den Umstand doch
nicht ganz, dass der Liberalismus staatssozialistische Elemente aufnehmen
musste, die ihm von Haus aus fern lagen. Ein gutes Gewissen beim
weiteren Beschreiten dieses Weges wird der Liberalismus gegenuber
seinen eigenen Prinzipien erst dann bekommen, wenn er das ganze
Gewicht der Neuerung begreift, die darin liegt, dass es nicht der staat-
liche Grossbetrieb allein ist, sondem aller Grossbetrieb, den er als ge-
fahrlich fiir die Personlichkeit zu begrenzen und auf parlamentarische
Basis zu stellen sucht. Erst von da aus ist es unbedenklich, die Krifte
des am meisten liberalisierten Grossbetriebes zur Liberalisierung der
noch rein absolutistischen Formen zu verwenden.
Doch auch diese grundsMtzliche Erweiterung des liberalen Gesamt-
problems wird im Liberalismus selbst nur mit viel Sorgen und Zuruck-
haltung aufgenommen werden konnen, denn der Liberalismns steht uberall
dort, wo er lebendig ist, auf seiten des technischen Fortschrittes und
dem entsprechend in der Mehrzahl der Fllle auf seiten des grossen
Betriebes. Teilweis beruht das auf materiellen, kapitalistischen Grunden,
teilweis auf ganz allgemeinen volkswirtschaftlichen Oberzeugungen. Und
beides hat sein gutes Recht. Wir miissen kapitalkriftig und technisch
fortschrittlich sein, wenn wir auf dem Weltmarkt Erfolge erringen wollen.
Von diesem Grundsatz lasst sich der Liberalismus nichts abhandeln,
selbst wenn man ihm mit der schonsten Logik seiner eigenen Prinzipien
kommen wiU. Man wirft lieber die Prinzipien ins Wasser als die Ge-
winne. Wer also liberale Prinzipien aufrecht erhalten oder gar aus-
dehnen will, wird sich nicht damit begnugen diirfen, rein dialektisch
cine Methode darzustellen, er muss auch darauf eingehen, welche prak-
tischen Folgen die Methode haben wird, die er vorschligt. Und in dieser
Hinsicht konnen wir etwas relativ Entscheidendes gerade dann sagen,
wenn wir den oben ausgefuhrten Gedanken, dass der Staat die erste
Grossbetriebsform ist, nochmals aufnehmen.
Ist der Staat dadurch zugrunde gegangen, dass er liberalisiert
worden ist? Im Gegenteil, er gewann dabei an Kraft! Die Staatskdrper,
die am reinsten liberalisiert worden sind, die angelsMchsischen, stehen
mit athletenhaften Muskeln vor unseren Augen. Was haben sie im letzten
halben Jahrhundert politisch geleistet! Je exakter der Doppelweg be-
346 8^
schritten wurde: Demokratisierung der Gesetzgebung und Verwaltung auf
alien ihren Stufen (und nicht wie in Frankreich nur der Zentralstelle) und
Garantie der personlichen Rechte der Staatsburger, desto lebendiger wurde
die Staatsgesinnung selbst. Die Heizfliche des grossen Untemehmens ver-
grosserte sich. Das haben die Staatsleiter einst nicht glauben wollen. Ihnen
schien es, als ginge ihre Welt unter, wenn sie dem Stimmzettel und
den Menschenrechten Raum gew&hrten. Die Geschichte aber ist tiber
ihre Sorgen hinweggegangen und hat denen Recht gegeben, die an die
Kraft jenes doppelten Prinzips geglaubt haben. Und wenn wir in
Deutschland den Staat von heute mit dem alten Staat vor 1830 und 1848
vergleichen, so wird kein Mensch sagen, dass die Liberalisierung den
Staatsbetrieb getotet habe. Solange n&mlich der Wachstumsprozess an sich
lebendig ist, ist der Liberalismus eine aufbauende Kraft. Nur bei sinkenden
Korpem kann es sich fragen, ob er nicht den Zerfall beschleunigt.
Das aber ist die Lage unseres Wirtschaftslebens: der Grossbetrieb
erhebt sich in hundert Formen wie ein Riese. Vorliufig ist er absolutistisch.
Er selbst h< diesen Zustand fiir den einzig mdglichen, so wie es vor
100 Jahren die Kdnige taten. So wenig aber das absolute Konigtum die
endgultige Hohe des Staatswesens bezeichnet, so wenig ist ungemilderter
und unbeschrMnkter Monarchismus die letzte und hdchste Form des
modemen Gewerbes. Auch der gewerbliche Herrscher wird stSrker,
wenn er seine Souverinitat verteilt und ihr Grenzen gibt, die nicht von
Zufall und Wohlwollen abh&ngen.
Soil aber, und damit kommen wir auf unseren Ausgangspunkt zuruck,
der Liberalismus noch eine neue Periode in Deutschland erleben und
seinen jetzigen zerbrochenen Zustand uberwinden, dann muss er bis zur
untersten Tiefe seiner eigenen Prinzipien hinabsteigen und sich aus
dieser seiner alten Brunnenstube neues Wasser herausholen. Von dort
aus nur findet er sein rechtes Verhiltnis zum Liberalismus der Masse,
zur Sozialdemokratie.
Zur Psychologic des wtirttembergischen Bauem.
Von Albert Esenwein in Langenbeutingen.
Wer unter Bauem lebt, wird bald bemerken, wie jedes Dorf seine
besondere Eigenart hat, die kurz zu charakterisieren meist unmSglich
ist. Man muss sich das vor Augen halten, um -von vomherein sich
347
daruber Mar zu sein, dass die psychologische Beschreibnng und Be*
urteilung des Bauerntums eines ganzen Landes — und wire es so klein
wie Wtirttemberg — es mit einem uberaus komplizierten Gebilde zu tun
hat. Die Wirklichkeit wird immer sehr viel mannigfaltiger und reicher
sein, als die noch so gewissenhafte Darstellung. Und so machen auch
die folgenden Ausfiihrungen in keiner Weise den Anspruch, eine irgend-
wie erschopfende Formuliening der charakteristischen Merkmale des
wurttembergischen Bauernstandes zu geben; sie sind nicht viel mehr als
skizzenhafte Andeutungen.
Wir unterscheiden im wurttembergischen Bauernland drei Haupt-
gebiete: das altwurttembergische Schwaben, das frSnkische (besonders
das hohenlohesche) Gebiet und das neuwurttembergische katholische
Oberschwaben. Letzteres kenne ich nicht aus eigener Anschauung; der
oberschwibische Bauer ist deshalb im folgenden nicht beriicksichtigt.
Schwabische und frMnkische Bauem haben zwar viele gemeinsame Zuge,
und zwischen beiden ist ein ziemlich breites Grenz- und Ubergangsgebiet;
aber andererseits weisen Schwaben und Hohenloher sehr scharf ausge-
prigte Verschiedenheiten auf. Der Schwabe ist im lusseren Benehmen
formlos, schwerfallig bis zur Plumpheit, derb bis zur Grobheit, verschlossen,
etwas langsam im Auffassen, aber zMh im Festhalten, querkopfig, grtiblerisch,
entbehrungsfahig; der Franke, zumal der Hohenloher, ist viel temperament-
voUer, gewandt und lebhaft, hdflich und schmiegsam, genussfroh und weniger
tiefgrundig als der Schwabe; sein Grundsatz ist: leben und leben lassen.
Man hftlt vielfach den Schwaben fur zuverlMssiger und aufrichtiger, und
zweifellos hat die frankische Hoflichkeit und Schmiegsamkeit ihre nahe-
liegenden Schattenseiten und Gefahren; allein andererseits darf man
Derbheit oder gar Grobheit nicht mit Aufrichtigkeit gleichsetzen. Jeden*
falls ist die wohlbekannte geriebene Bauemschlauheit in den schwibischen
Ddrfem so gut daheim wie anderswo. Nach obiger Charakteristik durfte
es fast auffallend erscheinen, dass der schwdbische Bauer zweifellos
mehr Ssthetischen Sinn hat als der hohenlohesche. Auch der Hohenloher
singt gerne, aber der Schwabe ist unstreitig musikalischer; auch im
Frinkischen hilt der Bauer etwas auf einen schdnen Hof, aber in der
Ausstattung der Wohnungen sieht der Schwabe weit mehr auf hubsche
Gefailigkeit.
0 0
■ 0
Ich habe mich schon oft iiber die Frage besonnen: haben unsere
Bauem Standesbewusstsein? Jedenfalls noch kein sehr entwickeltes;
energisch aufgeweckt wurde es eigentlich erst durch die agrarische Be-
wegung der letzten Jahre. Der ^Bauernstolz'' hat mit dem, was wir
Standesbewusstsein nennen, nichts zu tun; dieser seit lange schon be-
kannte Bauemstolz ist nur beim reichen Grossbauem zu finden und bezieht
sich keineswegs auf dessen Eigenschaft als Bauer, sondem rein nur auf
seinen Besitz; er macbt sich auch weit mehr dem Kleinbauem gegen-
uber geltend als dem Stidter.
Wie wenig ausgeprMgt das bSuerliche Standesbewusstsein ist, glaube
348
ich u. a. daran erkennen zu mussen, dass das, wodurch sich der Bauer
iusserlich vom Stidter anterscheidet, in der zweiten H&lfte des vorigen
Jahrhunderts unter dem Einflusse der Verkehrssteigerung teilweise rapid
dahingeschwunden ist. Ich denke da vor allem an den Riickgang und
das Verschwinden der fruheren, vielfach sehr hiibschen Bauemtrachten.
Es gibt ja in Wurttemberg noch einige Trachtenoasen inmitten der
grauen Wuste der alles nivellierenden Kleidermode. Aber zu der ubrigens
ziemlich muhsamen Erhaltung dieser alten Trachtenbestlnde trigt gewiss
nicht wenig der Umstand bei, dass sie von den Stidtem jetzt bewundert,
vom Verein zur Erhaltung der Volkstrachten gefdrdert werden und so
gewissermassen Modeartikel geworden sind. Auf die Dauer werden auch
die Oberreste nicht zu halten sein, und jedenfalls wird keine Macht der
Welt die einmal abgelegte Bauerntracht wieder einfuhren kdnnen. Der
heutigen Bauerngeneration kommt die fruhere Tracht durchaus nicht
schon vor, sondern sie empfindet deren Verschwinden als einen Fort-
schritt, der sie der allgemeinen stSdtischen Kultur naher gebracht hat.
Wie mit der eigenartigen Kleidung, so geht es auch mit anderen
alten DorfbrSuchen. Sie schwinden, soweit kein praktischer Zweck dabei
zu ersehen ist, mehr und mehr; der Bauer hSlt sie fur altmodisch und
,altbacken' und schSmt sich ihrer. Er hat nicht das geringste Bedurfnis,
sich durch derartige in die Augen fallenden Sitten und BrSuche von der
iibrigen Bevolkerung zu unterscheiden.
In stetem, wenn auch ungleich langsamerem Riickgang ist ebensa
der biuerliche Dialekt begrifFen. Das zeigt sich am deutlichsten in den
Grenzgebieten zwischen Schwaben und Franken, wo der Gegensatz
zwischen dem ^Herrendeutsch^ und dem ^Bauerndeutsch' am meisten
aufeinanderstdsst. Das wurttembergische ,Herrendeutsch" ist nMmlich
nicht das Schriftdeutsche, sondern das ^Stuggarter* Schwabisch; dieses
gewinnt allmihlich den Sieg uber die von ihm abweichenden Dialekte.
In hohenloheschen Grenzdorfem kann man horen, wie der alte Bauer
noch sagt: „i hunn* (= ich habe), der junge dagegen: ,i hab* usw.
Der Bauer hat es gar nicht geme, wenn ein StMdter oder sonst ein
.Herr'* im ausgeprigten heimischen Dialekt mit ihm redet; er glaubt
sich dadurch verspottet, und schon mancher Dorffremde, der, um sich
popular zu machen, in der Unterhaltung mit Bauern Dialektiibungen an-
stellte, musste bald erfahren, dass er da einen ganz verkehrten Weg
eingeschlagen hatte.
Ich habe schon oben darauf hingewiesen, dass dieser Riickgang
bSuerlicher Eigenart Hand in Hand geht mit der einst vom Bauern mit
grossem Misstrauen betrachteten Hebung des Verkehrswesens. Heute
ist in unseren Dorfem von der alten Eisenbahnscheu so gut wie nichts
mehr zu spuren; man hat gar keine Freude dariiber, wenn etwa durch
den Widerstand der VMter und Grossvater ein Dorf einst vom Eisenbahn-
netz ausgeschlossen wurde — zumal da es damals ohne Kosten fur die
Gemeinde abgegangen wire. Heute mussen unsere Bauerngemeinden
oft ungeheure Opfer bringen — und sie tun es meist — , um eine Bahn
zn erhalten.
-o^ 349 8^
Einen Beweis bauerlichen Standesbewusstseins mdchte man vielleicht
im ISndlichen Genossenschaftswesen sehen, das in Wurttemberg im
ganzen schon entwickelt ist. LMsst das nicht auf ein starkes SolidaritMts-
gefiihl der Bauern schliessen? Nicht ohne weiteres. Denn wahrend die
Gewerkschaftsbewegung aus den Arbeiterkreisen selbst herausgewachsen
ist und allein durch sie gehoben wird, sind die Iftndlichen Genossen-
schaften erst von aussen, d. h. im wesentlichen von der Regierung in
die Bauernschaft hineingetragen worden und sind heute noch vielfach
sehr auf die Fdrderung durch die Beamten angewiesen. Allerdings sehen
unsere Bauern je linger je mehr den Nutzen des Genossenschaftswesens
selbst ein und gehen da und dort aus eigener Initiative vor, so dass
vielleicht die Klagen der Genossenschaftler uber Mangel an Solidaritats-
gefuhl unter den Bauern bald verstummen kdnnen. Ich glaube, dass
auch hierin die agrarische Bewegung einen Fortschritt gebracht hat und
noch weiterhin bringen wird, trotz manchem, was dagegen zu sprechen
scheint.
m
Politisch angesehen ist der wurttembergische Bauer Demokrat.
Nicht im Sinne eines antimonarchischen Republikanismus — f311t ihm
gar nicht ein. Aber antikonservativ sind unsere Bauern: sie wollen
nichts wissen von einer politischen Ftihrung durch den Adel — im
Hohenloheschen denkt der Bauer nicht mit Wehmut an die einstige
Furstenherrschaft zuruck — , und gegen die Regierung und ihre Beamten
herrscht, besonders beim schwabischen Bauern, ein fast unbesiegbares
Misstrauen — zum guten Teil eine Nachwirkung des beruchtigten alt-
wurttembergischen despotischen Bureaukratismus. Diese demokratische
Grundstimmung hat sich allerdings lange Zeit nicht partei politisch ver-
dichtet; der Bauer blieb Jahrzehnte hindurch der Spielball der Parteien.
Vor 10 Jahren schien es, als wolle er sich endgtiltig der demokratischen
Volkspartei verschreiben — da brachte der Bund der Landwirte eine
durchschlagende Wendung. Das Verdienst kann ihm nicht abgesprochen
werden, dass er unsere Bauern politisch gesammelt und — cum grano
salis — selbstandig gemacht hat. Aber ist damit nicht der Beweis
erbracht, dass der wurttembergische Bauer konservativ denkt? Ganz
und gar nicht; der wiirttembergische Bauernbund ist von Grund aus
demokratisch im obengenannten Sinne. Er ist radikal agrarisch, weil
der Bauer sich durch den Industrialismus (in seiner kapitalistischen wie
in seiner sozialistischen Form) bedroht glaubt, aber mit dem preussischea
Konservativismus hat er nichts zu schafPen. Der einzige konservative
Reichstagsabgeordnete Wurttembergs ist bei der letzten Wahl durch-
gefallen, und ich vermute, dass ihm viel mehr als sein Agrariertum
seine Zugehdrigkeit zur konservativen Partei geschadet hat, obwohl er
sich von den Kreuzzeitungsleuten in mehr als einer Hinsicht unter-
schied. Gewonnen haben in Schwaben wie in Hohenlohe die reinen
Agrarier nichtkonservativer Art. Als in einem Kreis ein Graf sich zum
350 8^
Bauernkandidaten aufwerfen wollte, da gab man ihm sehr klar zu be-
deuten, dass die schwibischen Bauern keinen Grafen wlhlen.
Schliesslich noch ein Wort iiber das kirchlich-religidse Leben der
wiirttembergischen Bauern. Sie sind fast durchweg kirchlich gesinnt.
Zwar haben wir schwSbische Bauerngemeinden von ausgesprochener Un-
kirchlichkeit und fast iiberall im SchwSbischen einzelne robe Religions-
verachter unter den Bauern — allein das sind seltene Ausnahmen.
Allerdings nocb kirchlicher als der Schwabe ist der Franke,, besonders
der Hohenloher. In diesem Punkte ist letzterer durch und durch
konservativ, wShrend der Schwabe Neigung zur mystischen Grubelei
und darum auch zum Pietismus und zum Sektentum hat. Ein Mann
wie der originelle biuerliche Theosoph und Mystiker Michael Hahn
(f 1819), der heute noch in der schwMbischen Bauemschaft zahlreiche
Anhinger hat, ist im Hohenloheschen nicht wohl denkbar. So stellt
man oft geradezu der ^subjektiven Frdmmigkeit'* des Schwaben die
„objektive Kirchlichkeit*" des Hohenlohers gegeniiber, womit man dann
meist zugleich dem letzteren eine gewisse religiose OberflMchlichkeit
nachsagen will. In dieser Allgemeinheit ist jedoch der Vorwurf nicht
berechtigt. Auch der hohenlohesche Bauer hat seine subjektive
Religiositit; wollte sie jemand auf einen BegrifF bringen, so ware er
versucht zu sagen: vorwiegender Rationalismus in ziemlich unvermittelter
Verbindung mit magischer Sakramentsauffassung. Ich musste aber da-
gegen protestieren, wenn damit nur ein abschitziges Urteil abgegeben
werden wollte. Gerade bei der Beurteilung des religiosen Lebens ist
die begrifFliche Formulierung immer nicht ganz zutrefFend; die Wirklich-
keit ist auch hier zum Gluck mannigfaltiger und reicher als das
theologische oder philosophische Schema.
^ Nahrikele.
Ein sozialstatistisches Kleingemilde aus dem schwabischen Volksleben.
Von Gottlieb Schnapper-Arndt.
Vorbemerkung.
Ein ganzes Stiick intensivsten geistigen Lebens und Schaffiens des Miuines,
den die nacbfolgende Untersuchung zum Verfasser bat, und vor allem ein aimer-
351 8^
ordentlicb cbarakteristiscbes Stuck Schaffens, wird den Lesern mit dem unten-
stebenden Lebens- und Arbeitsbild einer suddeutscben WeisszeugnSberin vorgelegt.
Gottlieb Scbnapper-Arndt, den wir vor wenigen Wocben trauerad zu Grabe
trugen, binterliess in dieser Monograpbie ein Denkmal seiner wissenschaftlicben
and literariscben Originalitit, Griindlichkeit, Ebrlichkeit und Vielseitigkeit, das
wir mit boher Freude und Genugtuung in die Offentlicbkeit stellen. Nicbts kann
den unermiidlicben Forscher, der zugleich Kiinstler und unbeugsamer Freund volks-
tumlicben Wesens in seltener Vereinigung war, besser zeichnen, als dies erste
Stuck seines reicben wissenschaftlicben Nachlasses.
Aus seiner Vaterstadt Frankfurt a. Main bracbte ScbnapMr-Arndt die freie
kritiscbe Auffassung, aus seiner Familie die Sorge um peinlicbste Gewissen-
baftigkeit mit. Wenn man den Besitzem der ersteren EigenschaR oft den Mangel
der zweiten vorgeworfen bat — bier waren beide sicber vereinigt. ^Und Scbnapper-
Amdt betitigte sie vom ersten Tage seiner wissenscbaftlicben bnd kulturellen
Studien ab, als er sich in den 70er Jabren des vorigen Jahrhunderts den nach dem
wirtscbaftlicben Aufschwung und der Krisis aufbluhenden sozialen Forschungen
zuwandte, und diese nicht bloss k5stlicb bereicherte, sondem segensreich be-
fnicbtete. In des genialen Franzosen Le Play Arbeiten fur Miniaturstatistik und
Miniaturscbilderung fand er ein Vorbild, das ihm kongenial war und das er nicbt
bloss als uni?erseller Forscber der deutschen Wissenscbaft und Kulturschilderung
aabe bracbte, sondem auch wesentlicb weiterbildete und vervollkommnete. In
seiner letzten Schrift «Zur Tbeorie und Gescbichte der Privatwirt-
scbaftsstatistik* von 1903, im Bulletin des Intemationalen Statistischen
Instituts, die nebenbei alle Reize der unvergleichlicben, kiinstlerisch empfindenden
Vielseitigkeit Scbnapper-Amdts aufweist, hat er die „Grundbedeutung* des selbst-
gesuchten und gefundenen Meisters dankbar mit den sch5nen S2uen aqerkannt: «in
dem auf einen Scblag Hervorbringen einer den scbliessenden Verstand ebenso be-
schiftigenden, wie das Gemiit anregenden Methode, namentlich aber in dem grossen
moraliscben Mute, in Details auf das Liebevollste einzugehen, die man nocb Jabr-
zehnte spiter solcher minuti5sen Beacbtung zu wurdigen f&r kleinlicb bielt, hierin
liegt Le Plays Verdienst, das ist seine geniale Tat. Er steht fur die Sozial-
scbilderung etwa so epocbemachend da, wie Zola fur den Realismus in der
Literatur.** Scbnapper-Amdt war, wie alle grossen Cbaraktere, viel zu bescheiden,
nm an diese Sitze mebr als einen Hinweis darauf zu kniipfen, dass es ibm «immer
eine Hebe Erinnerung sein werde, seinerzeit als erster in Deutschland nacb der
Le Playschen Metbode gearbeitet und nachdriicklich die Beacbtung auf sie gelenkt
zu baben*. Wir aber dGrfen jetzt sagen, da er die Augen leider so frub ge-
scblossen hat, dass Scbnapper-Amdt fur Deutschland der Klassiker der
sozialen und kulturellen Miniaturscbilderung geworden ist In einem
1879 im Frankfurter Verein fur Geograpbie und Statistik gehaltenen Vortrage gab
er bereits die, freilicb fmchtlos gebliebene, Anregung, dass der Verein zum erstenmal
in Deutschland die Erbebung von Hausbaltungsbudgets wissenschaftlich organisieren
und in die Hand nebmen mdchte. 1880 erscbien in der .Tubinger Zeitschrift
fQr die gesamte Staatswissenscbaff' seine Erstlingsscbrift, seine prlchtige und
ftische .Bescbreibung der Wirtscbaft und Statistik der Wirtscbafts-
recbnungen der Familie eines Uhrscbildmalers im badiscben Scb^arz-
wald*. Die Kulturbewegung f&r EindSmmung der furcbterlicben Heim- und Scbwitz-
arbeit in Deutschland, die eben wieder mit einem neuen Vorstoss eingesetzt bat,
darf ibn und Emanuel Sax mit seinem Werk iiber die Thuringer Hausindustrie
als ibre Bahnbrecher feiem. Drei Jabre spiter folgte die Verdffentlicbung
seines Hauptwerkes, der „Fiinf Dorfgemeinden auf dem Hoben Taunus*
(Leipzig, Dnncker & Humblot 1883), mit dem er zeigte, welcbe ungebobenen
Schitze far die kulturgescbicbtlicbe Erforscbung des „Kleinbauemtums, der Haus-
industrie und des Volkslebens^' auch sein beimatliches Gebirge nocb einschloss.
Wie er, namentlich im zweiten Abschnitt dieses Werkes, die Menscben und ihr
Leben im kleinsten Winkel kulturbistoriscb und bescbreibend erftisst and ibnlicb
liebevoll, wie Riebl, nur nocb weit tiefer und grundlicber scbildert, und die
-t^ 352 8^
sozialstatistische Untersucbang zu einem anziehenden Kapitel Kultnrgeschichte
erweitert: das wird immer mustergildg bleiben. 1887 bat er dann begutacbtend
ricbtiger aber tonangebend an der Erbebung der 1800 vom Freien Deutscben
Hocbstift verSffentlicbten .Prank farter Arbeiterbudgets* teilgenommen und
mit der acbon erwibnten Arbeit von 1903 im Bulletin des Intemationalen
Statistiscben Instituts eine Art Abacbluss fur die tbeoretiscbe Bearbeitung dieses
Gebietes geliefert.
Das bis ins kleinste gewissenbaft . ausgearbeitete Bild der Existenz einer
annen suddeutscben Weisszeugniberin, dem diese Zeilen vorangeben, er-
scbeint bier zum erstenmal und zwar vornebmlicb nur im bescbreibenden
Text, obne dass simtlicbe Tabellen, Ziffemnacbweise, Quellenangaben und pby-
siologiscbe Untersucbungen beigefugt sind. Mit diesem ganzen wissenscbafdicben
Zubebdr wird die Arbeit spftter verdffentlicbt werden. Aus einem Dutzend von
Mappen mit den sorgflltigsten Berecbnungen und luckenlos gesammelten Mate-
rialien ist in den nacbfolgenden Kapiteln ein wissenscbaftlicbes Kunstwerk modemer
Kulturgescbicbtsscbreibung erstanden, das zu dem erlesensten gebdrt, was das ein-
fticbe Volk wie der Feinscbmecker geistig und gemutlicb kosten kann. Dass ein Werk
dem scblicbten Mann aus dem Volke wie der b5cbsten Bildung und Kennerscbafk
gleicben Genuss bringt, ist ja wobl aucb ein Zeicben fur die Meisterscbaft seines
Urbebers. Und in den Rabmen dieser Zeitscbrift passt es so vorzuglicb, well
es, wie aucb alle die anderen Scbriften Scbnapper-Arndts dieser Art, so recbt
aus lebendiger Selbstbeobacbtung stiddeutscber Zustinde an Ort und Stelle ber-
ausgewacbsen ist.
So m5ge denn die Gescbicbte des bescbeidenen Nibrikele als Probe
ecbter Heimatkunst das scbdnste Denkmal sein, das wir dem nunmebr auf dem
Frankfurter Friedbof Scblummemden aus seiner eigenen Geisteswerkstatt zunScbst
setzen I
Frankfurt a. Main. Die Herausgeber.
Ober den Friedbof des schwibischen Dorfchens Pf. . . weht der
Herbstwind und das Kreuzchen erzittert fiber dem Grabe, in das sic vor
einigen Jahren Rikele, die kleine WeisszeugnSherin, eingebettet haben.
Ich will versuchen zu schildem, was mir fiber sie bekannt geworden ist,
als mein Lebensweg sich mit dem ihren kreuzte und dem Laser die
wirtschaftlicbe Biographie vorffibren, welcbe ich damals fiber sie nieder-
geschrieben babe. Grosse, weite, sch5ne Welt — wie schmal ist der
Ausschnitt, den Myriaden von dir zu sehen bekommen, und wie genfigsam
hast du dich, Rikele, gefreut fiber jeden schwachen Sonnenblick, den du
erhaschtest. . . Ihr, die ihr erhobenen Hauptes durch frfichtenreiche
GMrten schreitet, schenkt der Gescbicbte einer armen Kreatur Gehor,
ffir die an dem mfihsamen Weg, der zu jenem Friedhdf lein geleitet, nur
karge Beeren gewachsen sind. . . Nicht das Leben eines Menschen, das
Leben Vieler wird erzMhlt, wenn immer wir uns in die Gescbicbte eines
Einzigen ernstlich vertiefen. . .
Quelle n.
Quellen meiner Aufzeichnungen waren zahlreiche Gesprftche, die
ich mit dem Rikele geffihrt, wahrend sie ffir meine Frau arbeitete: sie
hitte ja nichts erzMhlen mogen und wMre in Verwiming geraten, wenn
sie mit unbeschlftigten Hftnden hitte dasitzen sollen. Aber arbeitend^
war sie mitteilsam und dabei rfickhaltlos und aufrichtig. Sie machte
353 8^
einmal einen bemerkenswerten Vergleich: sie habe sich, sagte sie, in
einem Krankenhause freiwillig zu einer medizinischen Untersuchung
bergegeben: warum sollte sie nicht auch fur meine Zwecke bereitwillig sein.
Quellen waren ferner mehrfache Besichtigungen ihrer Wohnung, und end-
lich, um das schwere Wort zu gebrauchen, urkundliches Material. Briefe,
Quittungen, Steuerzettel, gerichtliche Dokumente, ein Sparkassenbuch,
vor allem ein durch mehrere Jahre hindurch gefuhrtes Einnahme- und
Ausgabebuch. Wunderbar, und in diesen Kreisen hdchst selten: aus
eigenem Antrieb hatte sie dieses Buch gefuhrt; ohngefShr von ihrem
35. bis zu ihrem 48. Lebensjahre (so alt war sie zur Zeit meiner Unter-
suchung) hatte sie fleissig aufgezeichnet, was sie als NMherin in dem
stiddeutschen Stadtchen, in dem sie lebte, in kleinen Betrlgen mUhselig
erworben, und in noch kleineren fiir ihren Lebensunterhalt aufgewendet
hatte. Ihre Mlteren Aufzeichnungen waren zu ihrem grossen Kummer
verloren gegangen; erhalten waren nur diejenigen der letzten vier Jahre,
ein Quartheft mit steifem, griinen Deckel, das ich noch heute besitze.
Auf den linken Seiten die Einnahmen und die Arbeitstage; auf den
rechten die Ausgaben. Nur auf der linken Seite hat sie sich mit Blei-
stift Kolonnen gezogen und die Posten untereinander gestellt: die Posten
der rechten hat sie jedoch fortlaufend geschrieben, um am Papier zu
sparen. Hieraus eine fatale Wirkung. Sie hatte die Kolonnen der Ein-
nahmen addiert, zur Addition der Ausgaben es jedoch nicht gebracht.
Sie hatte gebucht und gebucht, daruber aber, was ihre bescheidene
Existenz in einem Jahre erfordert hatte, niemals bislang etwas genaues
erfahren. Wie gespannt und mit wie Ingstlicher GebHrde sass sie jetzt
da, als ich in ihrer Gegenwart an das Addieren ging. Und als ich die
Gesamtsumme des letzten Jahres herausbrachte — 190 Mk. — «Ach
Gott ist das aber viell' rief sie aus „mir graust's ganz". — Rikeles Buch
war ubrigens kein blosses trockenes Rechenbuch; es war eine Art kleiner,
an die naiven Aufzeichnungen alterer Zeiten erinnemde Chronik. Ihr
vertraute sie an, was in frohen oder peinlichen Stunden in stiller Ein-
samkeit das Herz bewegte. Sorgflltig geschwungene Linien, welche diese
Bemerkungen umrahmen, deuten auf die gehaltene Stimmung hin, in
welcher sie niedergeschrieben sind. Ihr Sohn besucht sie: ^Das waren
mir wieder einmal gluckliche Stunden,' schreibt sie nieder. SchwMchlich
und dabei ingstlich, wie sie ist, fiihlt sie sich krank. «Lieber Wilhelm,
wenn ich sterbe, dann halte doch AUes in Ehren, ich hab' mir's drum
sauer werden lassen, verkaufe nichts davon, miethe eine Kammer,
schliess Alles zu und versiegle es, Du wirst spiter Alles wohl brauchen.
Es kostet mich nicht mehr viel in der Feuerversicherung^).*" Nach einer
kleinen Reise, welche sie als Zeugin zu einer Gerichtsverhandlung
machen musste: ^Reisegeld verbraucht und doch Hunger gelitten**. Auch
was in ihrer Kundschaft bemerkenswertes sich begab, Verlobungen,
Hochzeiten, TodesfSlle trug sie teilnehmend ein.
Der Schlusssatz beziebt sich offenbar darauf, dass Rikele, als nunmebr
5 Jahre versichert, nach den Statuten der auf Gegenseitigkeit berubenden Gesell-
schaft, in den Genuss von Dividende gekommen war.
354 8^
Zi vilstand.
Zunichst einige Worte uber die .Zivilstandsverhiltnisse'' Rikeles^
des ^Nahrikele** wie sie sich selber nannte.
Sie war im Jahre 1835 in Stuttgart geboren als Tochter eines
gelernten Schneiders, der auf der Wanderschaft einen hoheren Beamten
kennen gelemt hatte und bei ihm als Diener eingetreten war. Der
Beamte war ledig und speiste ausserhalb; dadurch lemte der Diener
eine Restaurationskdchin kennen, welche er heiratete: Rikeles Mutter.
Auch nach Grundung eines Hausstandes durfte er noch bei dem Herm
bleiben, wurde aber dann kranklich und kehrte, als Rikele acht Jahre
war, in sein Heimatdorf zuruck. Daselbst starb er 1857; die Mutter
starb im Spitherbst 1875.
Rikele hatte ftinf Geschwister gehabt, wovon drei im frtiben Kindes-
alter gestorben waren. Noch lebten ein verheirateter Bruder, ein kleiner
Handwerker, und eine Scb wester, deren Mann unbeilbar krank war: eine
Landbotin. Beide in dem Heimatdorfe.
Rikele selbst war ledig. Sie besass einen Sohn von 23 Jahren^
welcher seines Gewerbes Schneider war, damals aber (zur Zeit der Unter-
suchung) in Strassburg seiner Militirpflicht nachkam. Seit 14 Jahren
hatte Rikele ununterbrochen in der kleinen, aber nicht unbedeutenden
Stadt gewohnt, in welcher ich sie kennen gelemt habe.
Besitz.
Zweiundsiebzig Mk. hatte das Rikele bei der Oberamtssparkasse
verzinslich angelegt. Als nimlich die Mutter gestorben war, hatte Rikele
eine Erbportion von 197 Mk. 70 Pf. zu empfangen gehabt. An ver-
anschlagter Fahrnis wurden ihr davon laut ^in Hinden habenden Los-
zettels<< 33 Mk. 40 Pf. zuteil; 10 Mk. 97 Pf. betrugen die Teilungskosten:
Rest also ohngefShr 153 Mk. Von diesem Rest waren 63 Mk. sofort
fur einige kleine Anschaflfungen bei eingetretener Krankheit und fur
Bezahlung noch einer Schuld der Mutter aufgegangen, wogegen die iibrigen
90 Mk. Rikeles erste kapitalistische Rucklage gebildet hatten. Die Kasse
vergutete „Dienstboten, Gewerbegehilfen, Lohnarbeitem, Taglohnem und
derartigen in Privatdiensten stehenden Personen* 4Vs7o- liierdurch An-
wachsen jener Summe bis Ende 1878 auf 99 Mk. 1 Pf. Von diesem
Gipfelpunkt herab jMher Absturz: Rikele schafFt dem Sohn eine NSh-
maschine an und leert seinen Schatz bis auf 1 Mk. 1 Pf. Dann widerum,
im Verlauf der folgenden vier Jahre, langsames Ansteigen auf den erst-
genannten Betrag, namentlich infolge von Ruckzahlungen des Sohnes
und well Rikele niemals wieder der Kasse erwas entnimmt. Das Maximum
der Einlagen, das bei der Kasse zulissig war, belief sich statutenmSssig
auf zweihundert Gulden. Ob sie jemals so hoch wohl kommen werde,
frug ich. Da musse sie ^Geld Schmieden kdnnen* meinte sie.
Erwerb.
Rikele war Weisszeugnaherin; sie flickte, fertigte Morgenhiubchen,
Chemisetten, Kragen, Manschetten und half beim Kleidermachen, nicht
^ 355
ininder unternahm sie zuweilen das selbstandige Schneidern einfacherer
Oberkleider. Das alles meist in den Hausern ihrer Kunden; von den
Tagen, welche sie bei sich zu Hause verbrachte, waren nur wenige
durch Lohnarbeit in Anspruch genommen. Im Sommer um halb sechs
Uhfy im Winter um 7 Uhr aufstehend, erschien sie bei ihren Kunden
je nach der Jahreszeit zwischen 7 und 8 oder kurz nach 8 Uhr, bekam
gewohnlich eine grosse Tasse Kaffee mit zwei Stuck Zucker und einem
Week, und begann dann die Arbeit. Um 10 Uhr das ortstibliche »GlSsle
Wein* nebst Butterbrot oder auch Brot mit Wurst, bei einer Familie
manchmal zwei Eier. Um 12 Uhr Mittagessen. Das Rikele teilte seine
Kunden in Professoren und ^Burgersleute"" ein. Bei diesen gab's Suppe,
Gemiise und Fleisch, dort zuweilen auch noch Braten. Bei diesen ass
sie am Tische mit, bei jenen besonders fiir sich! Um drei Uhr eine
Tasse Kaffee mit einem oder zwei Milchbroten. Abends, nach Schluss
des Arbeitstags — im Sommer zwischen 7 und 8 Uhr, im Winter um
8 Uhr — Tee oder Kaffee mit zwei Semmeln und Wurst; in einigen
Familien wurden statt des Abendmahls 30 Pf. Kostgeld gegeben. Im
ganzen ein 11- bis 1 1 ^4 stundiger Arbeitstag. Denn das zweite Friih-
stuck und die Vesper wurden nebenher am Arbeitstisch genommen; bei
den .Burgersleuten^, welche selbst rasch assen, sass sie auch nicht
linger als eine Viertelstunde beim Mittagstisch. Bei vielen Familien
ging sie nach dem Mittagsmahl noch funf Minuten im Zimmer auf und
ab; das war eine Erholung, die man ihr stillschweigend gewShrte, und
auf die sie, als auf etwas Besonderes, einigen Stolz bekundete.
Was soli man zur subjektiven Entschuldigung der Frauen, welche
ihren NSherinnen, Wischerinnen, Dienstboten keine Arbeitspausen
anbieten, sagen? Zur Entschuldigung der Frauen des Mittelstandes darf
man wohl geltend machen, dass diese Frauen selbst vielfach eine ununter-
brochene Arbeit verrichten. Sie linden es dann naturgemfiss, dass der
Armere sich nicht weniger muhe, als sie selbst; sie vergessen zunachst
dabei, dass das, was ihren eigenen Miihen entspricht, jenen Armeren
ja teilweise als eigene hiusliche Arbeit auch noch vorbehalten bleibt.
Sie vergessen die Entschadigungen, die ibnen selbst das Leben immerhin
bietet und die eine anstrengende Arbeit zweifellos leichter ertragen
lassen. Uberhaupt: bei der Arbeit sind Reiche, Mittelstehende, Arme
sehr hSufig Kameraden; bei dem Genusse sind sie es nicht. Mit dem
Hinweis auf die eigene Arbeit, die er neben dem armeren Untergebenen
verrichtet, beruhigt der Wohlhabendere sich selbst, und er nimmt es tibel,
wenn dieser nicht willig mit ibm schafft. Selbst alsdann zur Erholung
eilend, verliert er jenen wie physisch, so auch geistig aus dem Gesichte
and denkt wenig daran, ob jener sich weiter mtihe, oder was ihm die
eingetretene Feierstunde bringe.
Rikele hat ihre Kunden nie hoch im Preise gehaiten: sie erhielt
1864 pro Tag 12 Kreuzer (34 Pf.), 1865 15 Kreuzer (43 Pf.), 1866 bis 1870
15 — 18 Kreuzer (43 — 51 Pf.). Nach 1870 setzten sich diesem beschei-
denen Wesen gegenuber die Kunden teilweise selbst hinauf und gaben
bis zu 70, vereinzelt bis zu 80 Pf. Zahlreiche kleinere Zuwendungen
356 ^
an Naturalien neben der ublichen Verkdstigung, an Weihnachten auch
kleine Geldgeschenke mogen teilweise noch als ein Lohnzuschuss be-
trachtet werden. Ich berechnete, dass sie sich, bei ihren Kunden
arbeitend, immer noch besser stand, als bei dem Stucklohn ohne Kost
im eigenen Haushalt. Fur ein feines Herrenhemd erhielt sie z. B. 1 Mk. ;
daran arbeitete sie, wenn sie sich der Maschine bediente, einen Tag.
Man konnte vermuten, dass sie vielleicht an den Zutaten regelmlssigen
Profit gemacht habe, aber sie war ehrlich, Sngstlich und kein Finanzgenie.
Lange Jahre hat mich ein Nihgamrolichen, das ich mir verwahrte, an die
grossartigste Spekulation erinnert, welche Rikele jemals unternommen
hatte. Es entstammte einem Ankaufe von 3 Dutzend Rollen, zu dem
sie ein reisender Handelsmann veranlasst hatte. «Da habe er etwas fur
sie, da kdnne sie ein GeschSftle machen.'' Sie zauderte zunachst; sie
dachte «es wiirde ihr bleiben**. Aber sie hat bei einem raschen Absatz
an 15 obigen Rollen 75 Pf. verdient. »Das ischt aber auch ein beson-
derer Treffer gewa.* An den Zutaten zu einem einer „Pfarrmagd*
gefertigten Rock wollte sie, und ich halte es fiir glaubhaft, nur 5 Pf.
verdient haben. Sie hatte sich uberhaupt erst spUt in ihrer Laufbahn dazu
entschlossen, solche aus Rabatten entspringende kleine Verdienste, sich an-
zueignen. „Ein ungerechter Heller,* hatte ihr Vater gesagt, «frisst zehn ge-
rechte Gulden auf.** Leider war die Zahl ihrer ausw&rtigen, also lukrativen
Arbeitstage, in den letzten Jahren decrescendo gegangen. Ursache, wie
das Rikele meinte, dass ihre Familien sich immer mehr an das Einkaufen
fertiger Waren gewohnt hatten; auch hfitten sich viele von ihnen Maschinen
angeschafft und wtirden demnach, selbst wenn man sie zu deren Bedienung
annehme, in weniger Arbeitstagen mit ihrem Bedarf fertig als vorher.
Fiir die Unterhaltung und ErgSnzung ihres Inventars an Arbeits-
gerMtschaften hatte das Rikele keinen grossen Aufwand zu machen. Sie
wiirde fur Nadeln jihrlich etwa 1 Mk. gebraucht haben, wenn sie
dieselben nicht meist zum Geschenk erhalten hStte. Sie bevorzugte die
englischen Nadeln, und tat sich etwas zugut darauf, dass sie dies, der
Wahrheit zu Liebe, obschon eine Deutsche, unverhohlen gestehe. »Die
englischen laufet, aber die deutschen krachet, weil sie nicht schlupfet
und selbige werden bloss krumm*". Trennmesser und Scheren sollten
jedes Jahr regelmMssig geschliffen werden, wurden es aber nicht. ^Man
schleift nichts hinzu,* meinte Rikele, „ich versprech's ihnen immer denen
Scheren, dann schneiden sie allemal wieder^.
Inventar der Arbeitsgeratschaften.^)
Ein weiss und rot geflochtenes Nflhkdrbchen, Weibnachtsgeschenk (81;
/4 50;) 1 auf der Messe gekaufter „Spahn'-Korb (78; ^ 50; beide Kdrbe
durften noch mindestens 10 J. halten) 1 gekaufte Pappschachtel mit Fachem
{Jt 1,10) 4 dergl. und 4 Cigarrenschachteln von Kunden bez. einem Kaufmann
geschenkt 40). Ein 1809 selbstgemachtes, ein 1880 von einer Kundin ge-
scbenktes Nadelkissen 60); Nadelbiichse mit ungeflbr 100 grossentheils ge-
schenkten Nadeln. 1 desgl. verailbert, geschenkt (75; 50) 4 geringe Finger-
^) Abbreviature n. Die in Klammer gesetzten Zahlen geben das Jahr
des Erwerbs an (81=1881 usw.), femer den Einkaufspreis bzw. den ge-
357
bute (/^ 48) und 1 versilberter, gescbenkt (75; ^ SO) 2 grSssere Scbeeren
(64 & ^ 1,40) und 1 Knopflocbscbeere (77; 4 80) 1 geringes, 1 Perlmutter*
und 1 Schildpatt-Trennmesser (letztere gescbenkt; ereteres 66 gekaaft fQr
Jl 1,37) 1 Metermass von Holz und eins von Leder (1873 bez. 78 zus. 70 y^)
1-2 Rollen Faden.
Grover & Baker Mascbine. mit Radausldsung (79; J$ 89,90) zur Zeit bei
ibr deponirt (dem Sobn gebSrig).
Auf gute personliche Behandlung durch ihre Kunden legte sie
grosses Gewicht, von einem ihrer Hiuser ruhmte sie es, dass man sich
dort immer wieder ganz erhoben fuhle und empfinde, dass man ein
JVlensch sei. Den Dienstboten wollte sie nicht gem unterstellt sein.
Die Lohnarbeit war Rikeles Haupteinnahmequelle. Nebenher
^pielten die Gratiszuwendungen, die ihr von einigen Kunden zuteil
burden, eine kleine Rolie; eine grdssere die Eigenproduktion in ihrem
Kleiderbudget. Der Sohn hatte die Mutter gem unterstutzt, hatte ihr
Afters zu ihrem Geburtstag Geld geschickt und bei Besuchen zuweilen
einige Mark unter den Teppich gelegt. Offentliche Unterstutzung ausser
der Gewihmng billigeren Bezugs von Brennholz war dem Rikele nie
zuteil geworden. Von Vorteil war ihr die Aufnahme des Sohnes in ein
Intemat, freilich in der Zeit, die vor unserer Untersuchung liegt.
Ditriam f&r 1879, 1880 und 1881
aut Rikeles Htusbuch zustmmengestellt.
I. Arbeitstage in den Hiusem von Kunden.
a) Tage k 70
b) „ k 75
c) « k 80
d) , k85 ]
it) ^ k 90 I mit uberzeit bez. obne
f) ^ k \ Jt I Abendkost
g) , k 1,10 und 1,20 j
II. Zu Hause mit verzeichneter Lohnarbeit
III. Zu Hause mit dem Vermerk «krank* b)
IV. Auf Reisen abwesend
V. Sonn- und Feiertage
VI. „Zu Hause" notirt obne weitere Bemerkung
VII. Werktage, Ciber die keine Notiz vorbanden, die aber
fast aile zu Hause verbracbt worden sind c)
1879
1880
1881
181
169
149
10
7
24
11
7
2
I
3
t)6
7
1
6
218
199
167
24
15
16
9
3
2
4
60
60
58
46
63
19
8
24
101
365
366
365
a) Hierbei ein Tag Kinderaufsicbt am Pflngstmontag.
b) Die Tage, an denen gleicbzeitig Lohnarbeit ausgeflihrt worden, sind
bier nIcht inbegrilTen.
c) HIerunter diirften nocb einige durch Stucklobnarbeit okkupierte Tage
beflndlich sein (1879 und 1880 u. a. durch Scbirmnihen), ausserdem einige Tage,
an denen sie bei Gesellschaften in Kundenhiusem Hilfe geleistet hat. — Die
genaue Obersicht pro 1882 im Budget.
schitzten Wert zur Zeit des Erwerbs. — Die tellweise ursprunglich in stid-
deutscber Guldenwihrung berechneten Preise sind (wie die alten Masse) ent-
SQddeutsche Monatthefte. 1,5. 24
358 8->-
Nahrung.
» Kinder, schafft Euch nur ein kleines Magele an* hatte
ihr Vater oft gesagt. Rikeies schmSchtige Konstitution und ihre fabel-
hafte Bedurfhislosigkeit machten es ihr mSglich, sich zu nihren, ais ob
des Vaters selfsame physiologische Vorstellungen berechtigt gewesen
wiren. Das ist einer der UmstSnde, deren man sich erinnem muss,
wenn man sich staunend fragt, wie mit einem Einkommen, wie dem-
jenigen Rikeies, ohne gSnzlichen dkonomischen Schiffbruch uberhaupt
auszukommen war. Dass sie ein kleines MIgele habe, glaubte sie selbst,
und es freute sie. Die Tage, an welchen sie bei ihren Kunden arbeitete^
waren gleichsam ihre fetten Tage, an denen sie sich fur die mageren
einigermassen mit hiniiber ass, teils indem sie aus dem Genossenen
Kraft fur diese schdpfte, teils indem sie Ungenossenes mit nach Hause
nahm, Geschenktes oder .Erspartes' wie sie zu sagen pflegte. Man gab
ihr zuweilen ein wenig Mehl, ein wenig Gemiise. . . Am planvollsten
waren ihre Weck-Erspamisse angelegt. Je nachdem es bei den Kunden
morgens, zur Vesper oder abends mehr Wecke gab als das kleine
MSgelchen bedurfte, trug sie das Zuviel nach Hause — ein Vdgelchen,
das sich seinen Proviant zusammenpickt. Wie vorsorglich konnte man
sie verwenden, wenn man sie in Scheibchen schnitt, in ein leinenes
Sickchen hing und trocknen liess! Im Bedarfsfall eine Greifhand
(1^2 Wecke) dem Sickchen entnommen, mit soviel Wasser gekocht^
dass es zwei Teller gab, dazu Butterschmalz fur hochstens 3 Pfennige,
auch wohl Kfimmel ^Peterling** und ^wenn man will' etwas Zwiebel —
so hatte sie eine j^Brotsuppe**. Den Kummel hatte sie sich selbst auP
den Wiesen gesucht, wie man denn bei dem Rikele, wenn man sein
Gesicht in strenge wissenschaftliche Falten legen wollte, sehr wohl von
einem okkupatorischen Erwerb neben dem Erwerb aus der Niharbeit
und dem ^karitativen*' sprechen kdnnte. Sie wusste, wo Sauerampfer
wuchs, wo Schmalzblumenblitter, holte Brunnenkresse aus einem
nGrible*" an den Herrenberger Wiesen; Majoran site sie in einem
Blumentopfe aus.
Hier ungeRhr Rikeies hSusliches Kuchenprogramm, wie sie es
darlegte:
Morgens:
Eine grosse Tasse KaflPee oder Milch (gut Schoppen) nebst
Brot Oder einem 3 Pfennig- Week.
Um 10 Uhr:
V5 Liter Milch und fur 3 Pfennig Brot. Butterbrot nur wenn sie
solches ^erspart** hat. Manchmal uberhaupt nichts.
sprecbend amgerechnet worden. — Den Angtben tiber die AnscbaffliDgszeit wurde
durcb AnknQpfuDg tn iussere Ereignisse, KontrolieruDg durch Quittungen, das
Hausbuch usw. rodglicbste Sicberheit zu geben gesucht, einzelne kleine Gedichtnis*
fehler sind indes selbstverstindlich nicht ganz ausgeschlossen. — D«b Dauer (mut-
masslicbe) c = circa; n«=noch; also: D. n. 1 J.«=matma8tlicb noch 1 Jahr vor-
haltend. Das Zeicben 00 steht zuweilen bei Dingen, die aller Wahrscheinlichkeit
nach wihrend Lebzeiten der Arbeiterin in Gebraach bleiben werden.
359 8^
Mittagliche Kombinationen:
Die geschiiderte Brotsuppe, dazu allenfalls Kartoffein oder sonst
eine ^ersparte'' Kleinigkeit, die gewohnlichste Mahlzeit.
Gebrannte Mehlsuppe mit eingeschnittenem Brot.
«Riebele^ (Eiergerst-)suppey eine Fieischbruhe, nebst dem fur deren
Bereitung gebrauchten V4 Pfund Fleisch oder aber ein in Fleischbruhe
gekochtes Gemtise, ebenfalls mit dem zubehdrigen V4 Pfund. Wenn das
Rikele Fleisch kochte, so folgten sich allemai 2 Fleiscbmaliizeiten, denn
weniger als ^/^ Pfund konnte sie nicht wohl kaufen, und das balbe Pfund
zehrte sie nicht auf einmal auf.
SpMtzle aus geschenktem Mehl, wozu allenfalls ein Salat oder ein
saures ^Sosle**, ein ^Zwiebelsdsle** (V12 Pfund Mehl und 2 Eier auf das
Gericht SpStzle).
Zwetschgengemus und ein ^Pfannkuchle** (Eierkuchen).
Kaflfee und Brot (wenn sie gar zu schlecht „bei Kasse** war).
Vesper:
Eine Tasse Milch oder Kaflfee und um 3 Pfg. Brot. In Ausnahme*
fallen Dickmilch, wenn Milch iibrig geblieben war.
Abends:
Meist Kaflfee. Hie und da ein Schussele Milch.
Im kleinen StSdtchen, in welchem das Rikele lebte und wirkte,
wurde auch von den unbemittelteren Klassen immer noch etwas Wein
als Haustrunk genossen/) auf den grunen Hugeln rings umher wuchs
ein leichter billiger Stoflf. Der Weinbau bildete sogar den Hauptnahrungs-
zweig eines erheblichen Teils der Bevolkerung: der „Gogers*. Wer es
irgendwie konnte, sorgte sich fur seinen Vorrat. Ich liess in T. einmal
das Manuskript zum Budget einer blutarmen Familie Mitteldeutschlands
kopieren; als der eingeborene Kopist dazu kam, den Grundriss der Hutte
meiner Familie nachzuzeichnen, rief er skeptisch aus: „Ja, abber wo tun
denn die ihren Moscht hin r^^ ^ Das Rikele partizipierte an dem Wein-
genuss seiner Landsleute nur in den Fruhstucksglischen, welche sie bei
ihren Kunden bekam; bei sich trank sie nur hochst selten ein Glischen,
wenn sie sich schwach fiihlte. Ab und zu wurde ein Glas Bier zu
ihrer Zimmemachbarin, der Kleiderniherin, getragen. y,Mag sie als Bier
trinke, i bin au zufridde^^ sagte dazu das Rikele etwas bitter; bitter nicht
aus Lustemheit, sondem aus einem verzeihlichen Gefuhl der Eifersucht,
das sie der dkonomisch stMrkeren Nachbarin gegentiber beschleichen
musste.
Rikeles GetrMnk und ihr Hauptnahrungsmittel bei sich zu Hause
war, wie wir gesehen, Milch: das kindliche Wesen erhielt sich auch
') In den Jahren 1880/81 bis 1884/85 warden in Wurttemberg jihrlich durch-
achDittlich 20,8 Liter pro Kopf der BevSlkening verbraucht (Wtirttemb. Jahr-
bScher, Jabrgang 1894).
Hier ist wohl ^Apfelmost" gemeint.
24*
360
wie ein Kind. Von den 20 Pfennig Geldauslageo, mit denen sie ihrem
Buch zufoige wihrend der vier Jahre pro zu Hause verbrachtem Tag
ohngefihr ausgekommen ist, entfiel auf Milch rund der dritte Teil;
dies stimmt damit, dass sie ihren gewohnlichen Milchverbrauch fur
Morgen, Vesper und Abendimbiss auf durchschnittlich einen Schoppen
(V, Liter; 1 Liter kostete 14 Pf.) angab. 60 Kaffeebohnen gingen im
ganzen bei diesen Mahlzeiten auf, ohngefihr 5 — 6 Gramm dem Gewicht
nacb. Ein Quantum Bohnen, wie das Rikele sie pro Tasse abzumessen
pflegte, hat das Rikele selber iiberlebt; in einem Dutchen liegt es noch
bei meinen ^Akten"*. Dem Kaffee setzte das Rikele etwas Zichorie zu,
obschon sie deren Geschmack nicht liebte, aber sie mochte als Schwabin
auf die fur unerlisslich gehaltene „sch5ne Farbe'' nicht verzichten.
Wohnung.
Ein altes, dtistres, aber solid gebautes Burgerhaus: in den unteren
Stockwerken wohlhabendere Familien, im Mansardenstock das Rikele,
eine Kleidermacherin, mehrere Studenten. Hauptbestandteil von Rikeles
Wohnung: eine Kammer 5,04 m lang, 3,05 m breit und im Maximum,
— die Decke fiel schrSg ab — 2,04 m hoch. Ganz freundlicher Anblick,
wenn man die Ture oflfnete und den Raum uberschaute. Auf der gegen-
tiber liegenden Schmalseite das Fenster, welches ein reichliches Licht
einliess, mit Mullvorhangen versehen; ein Epheustockchen draussen.
An den beiden Langseiten Mdbel nach Mdbel. Links Bett, Tisch,
Pfeilerschrinkchen; rechts Nachttisch, Schrank, Kommode, NShmaschine;
Nippsachen auf Schrfinkchen und Kommode, Schildereien und Zieraten
verschiedenster Art an den Wanden. Auf dem Boden zwei Stucke
alten Liuferstoflfes als Teppiche. Nirgends Unordnung trotz des Platz-
mangels, trotz des Umstands, dass die Insassin die Kuche mit der
Kleidemfiherin, welche ebenfalls auf der Etage wohnte, zu teilen hatte.
Aber was sie von Kuchensachen und Gerumpel im Stubchen unter-
bringen musste, hatte sie durch einen gelben Vorhang dem Blick ent-
zogen. Auch nichts schadhaft war an dem Hausrat ... In einem
reizenden Schriftchen «der Kanzleirat** stellen Hausvater und Haus-
mutter am Ende des Jahres ihr Budget auf, und da es sich zeigt, dass
mancherlei Unkosten durch Fahrlassigkeit der Kinder veranlasst worden
waren, wird alles Zerbrechen fiirderhin «zur Unmdglichkeit" erklart.
Rikele scheint die Kraft besessen zu haben, eine ahnliche Deklaration
tatsachlich durchzufuhren: sie nimmt von all ihrem Tischgeschirr eigent-
lich nur zwei Kaflfeetassen, zwei Suppenteller und das geringste Wasser-
glas in Gebrauch, hatte in den ganzen vier Jahren, uber welche ihre
Buchfiihrung vorlag, nichts Neues derart anschaflfen mussen, ja innerhalb
derselben noch nicht einmal einen einzigen Lampenzy Under zerplatzt!
Mit welcher Genugtuung ruhte aber auch ihr Blick auf uns, als wir
an die Durchmusterung ihres Hausrats gingen, vollends dann, als wir
ihr Bett inventarisierten. In der Tat, welch ein Bettwerk! Zusammen-
gekommen aus Erbschaften, Gelegenheitskaufen und -Erwerbungen reichte
es fast bis an die hier schief abfallende Decke hinauf. An seiner
361 8^
Zusammensetzung hatte Rikcle wie an dem Erwerb einer Kunstsammlung
gearbeitet: es enthielt nicht nur das, dessen es sclbst bedurfte, sondern
auch das Ehebett in nuce fur den Sohn. In der Sorgfalt, welche auf
es gewendet worden war, erkannte man gewiss auch noch den Einfluss
der bSuerlichen Traditionen, unter denen Rikele aufgewachsen war.
Inventar des Bettes und Bettwerks.
Eine tannene Bettlade (73; JL 13,71) eine Bettscheere, „damit das Bett
nicht rutscht" (74; 4 50) ein Nachttischchen, Zwettchgenbaam, alt gekauft
(73; Ji 3,43) Porzellangeschirr {Jf 1) eine zinneme Bettflasche (74 be! Krankheit
angeschafft; 6,86). Ein Roach (Sprungfedermatratze) mit Seegras aammt dto.
Polster (Kopfkeil); (71; Ji 30,86). Ein Oberbett (Deckbett) und ein Unterbett
Im Oberbett 7 Pfd., im Unterbett 9 Pfd. Federn k 3 p. Pfd. (billig); zu
jenem 6,4 m Drillich 60 cm breit fQr JL 8,36; zu diesem 5,9 m Barchent fur
Jt 6,51; zus. also JL 62,87 (AngeschaflPt 71. In das Unterbett ist dann noch
ein Sickchen Federn, von der Mutter geerbt, gekommen.) Die meisten
der bisher genannten Dinge werden ,,sie aushalten'; der Rosch wird in 10
Jahren aufgearbeitet werden mussen. — F&r das Deckbett sind vorhanden
6 Oberzuge, selbstgefertigt, 3 davon von karrirtem ^Zeugle' (viele Jahre vor
jenem erworben) 3 von farbigem Kattun. (77) An jedem 5,8 m Stoff & 1,31
das Zeugle und 0,56 der Kattun. (Letztere noch ca. 10 Jahre haltend, erstere
viel dauerhafrer.) Fur das Unterbett ist ungewdhnlicher Weise zur besonderen
Schonung ein Ueberzug aus ungebleichtem Baumwolltuch vorhanden. {Jt 3.)
4 Haipfel (Rissen, uber die ganze Breite des Bettes reichend, bestimmt,
unter den eigentlichen Kopfkissen zu Hegen; 3 davon, welcbe eigentlich nicht
in das Bett gehOren, sind Aufbewahrens halber neben einander auf die Matraze
gelegt. Eins ist geerbt Ende 75; zu einem andem, fQr den Sobn bestimmt, ist
der ^Schlauch" 75 um 3 ^ gekauft, die Federn sind gegen ein geerbtes Bett-
stiick eingetauscht. An den beiden tibrigen, 71 gleichzeitig mit dem Ober-
bett angeschafft, sind zus. 4,27 m Barchent k 1,97 und 6 Pfd. Federn
& 3 Ay Zu den Haipf^ln im Ganzen 11 Ueberziige, selbstgefertigt, jeder von
2,14 m vorhanden, davon 8 von weissem Shirting, 2 von Zeugle, 1 von Kattun
(k ^ 66; Jl 1,32 und 56 p. meter. Angeschafft 70/78. Haltbarkeit der
Ueberzuge ahnlich wie oben) — zu einem 12ten Ueberzug ist der Stoff vorrSthig.
2 Kopfkissen, Barchent mit Gansfedem, eins geerbt, eins gekauft (dies 79
Jk 2,60) 16 KissenQberzuge, nimlich 1 von Zeugle, der haltbarste und werth-
vollste (um A 2 gleichzeitig mit dem iltesten Ueberzug zum Oberbett) 2 leinene
(1879 ersteigert 75 ^) 1 kattunener (75; 4 50) endlich 12 baumwoUene (70 er
Jahre, nach und nach; jeder von 1,52 m k /ij 66 p. Meter). Ausserdem noch
4 vSchutzztigle* (kommen unter die Ueberzuge; 73/75; an jedem 1,52 m
weisses Baumwolltuch k 56 >4 p. m.)
8 Bettficher, nimlich 2 aus alter grober Leinwand, geerbt (3 Jt im
Anschlag) und 5 nach und nach angeschaffte leinene und 1 baumwoUenes;
an jedem 4,27 m Stoff (der Baumwollstoff k S2 ^ P- ni) ~ 3 abgenihte
Converts, Stoff 4 A.
1 braunwollne gesteppte Decke, Geschenk einer Kundin (77; A 3;
wird nach c 6 J. neu tiberzogen). Bettuberwurf, gelb, mit grossen Blumen
und einer Borte, Kattun, 4,9 m i 56 4 p. m. (75; nachgeflickt; muss noch
5 Jahre halten).
An Miete hatte das Rikele fur das Stubchen, den Kuchenanteil und
einen Speicheranteil (4 qm) fur Unterbringung von Holz 69 Mk. per Jahr
zu bezahlen. Ebensoviel hatte sie fiir eine bis vor kurzem innegehabte,
etwas geriumigere Wohnung bezahlt. Und pdnktlich bezahlt hatte sie
immer. ,Der Hauszins ist bei mir das allererst, dann komm' erst i«*^
^ 362 8^
Hier das genauere Inventar uber das Mobiliar und das Hausgerlte :
Standmdbel.
1 Tisch, Birn- und Nussbaum (Jt 3) 1 dreieckiges Eckiischchen, eichen
(Jf 4) beide ererbt. 1 Tischcben, Zwetschgen- u. Birabaum, ereteigert {Ji 5,14)
2 Stuble, Nassbaum mit Rohr- bez. Strohsitz (73; Ji 4) 1 Schemel (75; 3}
1 Kleiderschrank, tannen (73; 24) 1 Pfeilerschrilnkchen, eichen, ersteigert
(76; 13,71) 1 Pfeiler-Commode, tannen (73; 20,56; tbeuer, ea kam yerdienter
Lohn dabei in Veirechnung) 1 Regal (fainter dem Vorhang; ereteigert, 79;
^ 40) 1 Spacknapf, Gescfaenk einer Kandin (.4 1) 4 diverse Kisten and Be-
hilter (fainter dem Vorfaang, theils ersteigert; Jt 9,40) 1 Wiscfaekiste, fiir den
Sofan, ereteigert (75; S) — Die Gegenstinde sollen sie simmtlich ausfaalten,
teils noch auf den Sofan ubergefaen.
Vorhinge, Teppicfae.
2 Rouleaux mit Palmen und grossen rothen Rosen, ereteigert (78; Ji 4)
4 Vorfaangstangen sammt Eicheln (74; Ji 1,70) Vorhinge fiir 4 Fenster, (74;
17,06 m 2t 65 halten nocfa c. 10 J.) kleine Vorfainge, sog. ^Neidhimmel*, in
dieser Wofanung nicfat benutzt (74; .4 3) 4 Fliegen fenster, grune Seide in
Rafamen, wegen Kopf^cfamerzen, zum Schutz, ereteigert (78; 1; D: 10 J.)
1 yKaffeedccke' als Tiscfateppicfa, leinen, mit Blumen, gelblicb (im Ausverkauf
78; J$ 2) 2 Kommodedecken, Woll-Musslin, aus efaemaligen Halstiichem (59;
3; D: noch 3 J.) 1 Liufer, wollen, 2 m lang (75; Ji 1,40; D: n. 5 J.)
Bodentucher, leinene, blau u. roth karrirt liegen eben nicfat auf (75; 6 m It 66 /^).
Wandgeritfaschaften, Zimmerschmuck.
1 Spiegel, viereckig, braun Holz (64; .4 2) 1 desgl. schwarz mit Gold-
leisten, Weifanachtsgeschenk einer Kundin (72; .4 2) 2 Eckbrettchen, tannen,
(74; Ji 1,50) 1 Scfawarzwilder Ufar mit Gewicfaten, ZifPerblatt von Goldblecfa,
oben ein Adler (74; J^ 9,26; eret einmal repariert fur 50 /i) 1 Wandkdrbcfaen,
rotfabraune Baumwolle mit weissen Perlenbefaingen, von der Mutter gearbeitet
und gescfaenkt (72; Ji 1) Notiztafel (76; 1).
Auf der Kommode und dem Scfarinkcfaen, bez. in den Kisten ver-
scfalossen: 3 porzellanene Blumenvischen, Gescbenke von Kundinnen (80 u.
82; Ji 1) in einem beflnden sicfa ^botanisirte Griser* (s. u.) 1 Ddscfaen,
darauf ein Scfaiferpircfaen, von Italienem, die bei einer Kundin wohnten, ge-
kauft (77; 1,30) 3 Laubsigepiecen, simmtlich gescfaenkt, darunter ein Toilette-
spiegel und ein Miniatur-Cigarrentiscfachen, von einer Kundin, deren Mann
dieselben zu seinem Vergniigen gefertigt hat (c. 69 u. 70; Ji 2,75).
Ein Epheustdckcfaen, Gescfaenk (40 /^).
9 Pfaotographien in Visitenkarten format von Bekannten und Kunden
(in schwarzen RSfamcfaen 2t 20 z^) 13 andere Scfaildereien verecfaiedener Art,
etne ereteigert, eine ererbt (Heimatfasort der Mutter mit Schloss daretellend)
die Qbrigen simmtlich gescfaenkt, zumeist von Kundinnen Oder Hauswirtfainnen.
Sujets: 4 religids und 9 profan; unter jenen die Madonna della Sedia von der
Kdcfain einer Kundin, unter diesen: Ansichten von Rikeles jetzigem Wohnort,
Hermann und Dorothea (Oeldruck) Romeo und Julie (desgl.) FQret Bismarck
(der in einem Kundenhaus beseitigt werden sollte, den Rikele aber fiir einen
von Gott gesandten Mann failt), Kind mit HSscfaen etc. Rafamen tfaeiis scfawarz,
teils Gpldleisten; einer aus Strofageflecfat, Handarbeit einer Kundin (alles er-
worben in den 70er Jafaren; c. 20 Jl).
Fast sflmmtlicfae faier aufgezafalten Dinge werden „sie ausfaalten*.
TiscfagerStfa.
Zinn: 1 geerbte Suppenscfaiissel mit Deckel und Handfaaben {Ji 3)
1 yPortionenschussel*' ohne Deckel, ersteigert (65 /^) beide zum Aufbewafaren
der Speisen.
363 8^
Porzellan: 1 Portionen-Scbussel mit Deckel (73; ^ 1) 4 Sappenteller,
2 geerbt, 2 gekauft (70 k 12 y^) 4 Dessertteller geschenkt (62; >4 68) eine
Ktffee- und eine Milchktnne mit Goldrandern, Geschenke der Mutter (73;
^ 2) 4 KaffeetMsen mit Goldrandern, ereteigert (74; ^ 70) 4 gewOhnliche
desgl. woven 2 von der Mutter, 2 gekauft (73 u. 78; 60).
Glas: Ein Crystallglas vom Vater (1857; J$ 2) ein geschliffenes Deckel-
glas, Geachenk (75; J12) 2 geschliffene Trinkgliser von einer Freundin 50)
1 gewdhnliches Wasserglas (78; ^ 12) 1 Salzfass, Geachenk von einem
Midele (63).
3 Easldffel (1,80) 2 KaffeelSffel (68; 4 80) 2 Tiachmesser (69; 4 80)
2 Gabeln (69; 80).
1 Kaffeebrettchen, erateigert (79; incl. einea Trichtera 20 ^).
Geritb fur Heizunga- und Beleucbtungazwecke.
1 Feuerklemme und 1 Feuerschaufel (74 u. 69; Jl 1,20. D: oo bz. n.
5 J.) 1 Holzkorb, achwarz, Weidengeflecht (76; 70; n. 5 J.) 2 SScke von
Bodentticbern zu den Tannipfeln, aelbat gemacbt; 1 Erddllampe mit Metallfuaa
(78; Jt 5) 1 Meaaingleuchter, erateigert (79; £0; D: 10 J.) 1 bSlzemer
Leuchter mit Meaaing verziert, Kundengeachenk (78; 4 80) eine Lichtacheere,
Meaaing, erateigert (79; ^ 10) 1 Lateme (64; ^ 1,37) 1 Petroleum Kanne (78; J$ 1).
Kiicbengerath, Irden-Geachirr.
2 eiaeme Kochtdpfe geerbt (/^ 80) 1 deagl. Pfanne (76; 1,80) Schmelz-
pfSnncben (76; ^ 70).
2 zinnerne Schaum- bez. Sch5pfl5(fel (73; J$ 1,40) 2 hdlzeme KochlSffel
vom Hauairer (79; 19; D: n. c. 10 J.).
1 Reibeisen (73; ^ 70) 1 Theeaieb (75; 4 20) 1 Tricbter, erateigert (a. o.)
1 ,,Wigle' ebenao (79; ^20) 1 Kaffeemuble, defekt geerbt (/^ 40, abgSngig)
1 Spauenbrettle (82; ^ 27).
Kaffeebuchae, Blecb (75; ^ 50) Theedoae, feinea Steingut, geerbt 50)
Salzacheffel, geachenkt (80; 4 60).
1 WaaaerkQbel (78; .il 1; D: n. 2 J.) 1 Waaaerkrug (77; 80).
6 Glasflaschen, meist geachenkt, fur Essig, ^WachholdergeaSlz'' etc. (60
Irden-Geachirr: 2 Caaaerolen k Vl% liter 70;) 2 Milchhifen k liter
(78 u. 82; /4 24) 1 KaffeetOpfcben k Vs 1* geachenkt (75; ^ 12) 1 Zucker-
bCichse (/4 72).
Sonatige Utenailien.
2 Kdrbe, Geflech:, der eine erateigert (70er Jahre 2,20 D: n. 2 u. 4 ).)
,»Stupfer* (= Schrupper; 79; J§ 1,40; D: n. 2 J.) Kehrbeaen (80; JL 2,50; D:
n. 10 J.) 1 AbreibbQrate (78; 50; n. 3 J.).
1 altea Bell, 1 Hammer u. 1 Zange geerbt, 1 Nagelbohrer, erateigert (12 ^)
1 Korkzieher (alle Weihnachten einmal gebraucht) 1 Biigeleiaen mit 2 StShlen
(79; J$ 5,55; Rdatle dazu ^ 50).
Vorhingachloaa u. Verachluaa-Vorrichtung (82; J§ 1,60).
Tintenzeug, Blecb, grtin lakirt, erateigert (76; ^ 69).
Weiaazeug.
13 Handtucher (davon 3 gekauft 74; Jt 1,20; zu 10 anderen im Aua-
verkauf 7,32 m i^ 49 4, aelbat geaiumt; D: c. 15 J.) 2 Tiachtucher «gebild«-
leinen, geerbt (Ji 3) 6 Servietten, geerbt und geachenkt (75 u. 76; 3; n. 5 J.).
Kleidung.
Brauche ich zu sagen, dass das Rikele sehr sauber, aber hSchst
einfach gekleidet ging? An den Wochentagen meist barhSuptig mit glatt
gescheiteltem Haar; sie riihmt as dicsem Haar nach, dass es anspnichs-
364
los sei und der Pomade nicht bediirfe. Des Sonntags trigt sie Hute: auP
einem derselben prangt sogar eine Feden Freilich eine geschenkte
Feder. »Das ziert den Mann und koscht nit viel, ich tu' mich immer
mit fremde Federn schmucke*'. Noch manche andere Geschenke fanden
sich unter ihrem Kleidervorrat, welcher uberhaupt ansehnlicher war als
man es bei ihrem minimalen Geldeinkommen erwartet haben soUte.
Als Nflherin hatte sie sich in ihrer freien Zeit vieles selbst gefertigt^
und was einmal hergestellt war, ging so leicht nicht wieder zugrunde.
Bekam sie doch keinen kleinen Schrecken, wenn sie des Sonntags zum
Fenster hinausschaute und es ihr pldtzlich einfiel, dass es ihr »gutes Kleid*^
war, mit welchem sie sich auf die Briistung gelehnt hatte!
Inventar des Kleidungsvorrtths.
Oberkleider.
Fur Festtage und besondere Gelegenheiten:
1 schwarz und 1 braun Casimirkleid (jenes 68; 8,5 m k 2,80; dies
82 (7 Meter) 12 A Zuthaten 3 JH; D: c. 20 J.) 1 blau Rips Kleid (74;
6 m 2 ^ 80 D: n. 3 J.) Tuchjacke, schwarz (81; Stoff J$ 12; D. 10 J.)
Jacke, Rips, schwarz (78; Stoff J$ 3; D: n. 6 J.) Schtirze, Seide, geerbt
H 50).i
FCir Werktage:
1 grau Lamakleid (82; Stoff und Futter ^ 9, 67; D: 6J.) 1 braun Rips-
kleid, altes Sonntagskleid (79 geflrbt, D: n. 1 J.) 2 Lustrekleider (an jedem
8 Meter It 80 bez. ^ 1; D: 6—7 J.) 1 Kattunkleid, altes Sonntagskleid,
seit 77 Werktags; (6 m Stoff, ein Rest, ^2,50 D: n. 1 J.) Tuchjacke,
Gescbenk einer Kundin (77; 2,50; D: n. 1 J.) 1 grau wollene und
3 schwarze Orleans Schtirzen, fast s^mmtlich Geschenke von Kunden
(78—82; Stoff ^ 3; D: n. c. 1 J.) 6 Zeugle Schurzen (c. 78 u. 79; D:
6 J.) Die angefuhrten Stucke (bis auf einige geschenkte) simmtlich
selbstgefertigt; der Lohn fur Fertigung der Kleider wurde auf 2—3
der Jacken auf 1 Ji; der Schurzen auf 20 zu veranschlagen sein.
Kopfbedeckungen.
4 Hute, nSmlich ein Sammet-(Winter-)Hut und 3 Strohhute. Einer davon
ganz alt, werthlos; unter den Qbrigen 3 beflnden sich 2 von Kundinnen ab-
gelegte und ein urn 1 gekaufter; sie hat sie sich alle selbst hergerichtet
und ausgeputzt. (78/82; urspr. Werth der fertigen Htite 1,50—2^) 1 Kaputze,
wollen, Geschenk 76; 2 J$) 6 Betthauben und 2 Morgenhauben (Stoff 3,20 D:
gut 10 J.; jene nur im Winter getragen).
Halstiicher etc. Handschuhe.
1 Pelzthierchen, Geschenk (77; Jt 1) 1 Schleife, seiden, Geschenk (82;
50) 8 seidene Halstuchlein, Foulards und ShSwlchen, meist geschenkt und
zunSchst an Sonntagen getragen (60 4 — M 1 pr. Stflck; D: von 2—10 J.).
6 wollene Tficher, Kragen und Shiwlchen (dabei 1 Abendtuch k JL 4;
die ubrigen 60 bis 2 ^), zumeist Geschenke (D: 4—10 J.) 12 Tiichle,
ShSwlchen, Shlipse und Barben von Mull und Tull, Stoff dazu meist ge-
schenkt. Vieles davon hSlt sie „fur so unndthig'' Jt 6,30).
1 Paar Handschuhe, Seide, Sonntags in der Kirche (80; Jt 1,50; n. 4 J.)
1 Paar schwarzwollene Winterhandschuhe, selbst gestrickt (80 D : c. 6 J.).
7 Tuchle aus Piqu6 und Kattun {JL 1,90) 6 Chemisenen (1,80) Stoff zu
jenen und diesen meist geschenkt; Rusche zu Halskrausen gleichfalls ge-
schenkt (82; 1; D: 3 J.).
H>^ 365 ^
Unterkleider und Leibw^sche.
5 Sonntagsunterrdcke aus Flanell, Trikot und Piqu6, alle selbstgefertigt,
Stoff zu zweien geschenkt (75/81; Werth pr. St. ^2,80 — 4 4,50 D: 5— 10 J.);
dann meist noch fur Werktage.
6 Werktagsunterrocke aus Flanell, Moir6e, Orleans, einer wattirt, einige
dienten fruher an Sonntagen; StofF zu zweien geschenkt, zu einem ererbt, alle
selbstgefertigt. (Von 74 ab; meist lange Dauer bis zu 10 J.; die gekauften
urspriinglich 3,50—5 Jt p. Stuck).
1 Corsett (79; J$ 3,30) 4 Paar Beinkleidcr, Baumwoll-Flanell (1 Paar ge-
schenkt, zu 3 Paar 5 m Stoff gekauft k 60 y^).
3 Hemden, Baumwoll-Flanell (2^1% m pro Hemd), StofP theilweise ge-
schenkt; 1 gekauft (81; k 2,90), 22 Paar baumwollene Strumpfe, weiss, blau
und braun, datiren theils noch von 66 her; 8 Paar sind schon angestrickt, die
andem werden es noch {Jt 22y durften innerhalb der nlchsten 6 Jahre aufgehn)
4 Paar grauwollene Strumpfe, selbst gestrickt, angestrickt; an jedem urspriinglich
fur 70 Gam, werden noch einmal angestrickt; (halten noch 2 J.) 1 Paar
weisse wollene Strumpfe, schon angestrickt, Wolle von einer Kundin (1879)
geschenkt. 1 Paar StrumpflSngen (82; Ji 1,70).
6 Hemden aus Leinwand. Der StofF von der Mutter theils geschenkt,
theils ererbt; 4 Hemden hat sich Rikele erst jetzt gefertigt. (An jedem Hemd
2,4 m k 1,12 Ji) 9 aus Shirting (nach und nach seit 1876 den m k 65 /i&) 3 Paar
Manschetten {A 1,20).
5 Paar Beinkleider 2t P/i m Shirting (2t 65 p. m. Seit 1870. D: n. 5 J.)
selbst gefertigt; 4 Tuchle, Shirting, Nachts umzubinden (/i 48; D: 6 J.).
32 Taschentiicher, worunter 24 weisse Leinwand, die andem bunt. 15 sind
Weihnachtsgeschenke. Die meisten sind gesSumt; 3 liegen noch ungeslumt
fur den Sohn da. (58/82 ; 25—80 p. Stuck} D: sehr verschieden).
Schuhwerk.
1 Paar Kidlederstiefel (79; 11 ^; D: 4 J.) 1 Paar Zugstiefel (81; 6^;
D: 3 J.) 1 Paar Filzstiefel (82; .il 7 D: n. 2 J.) 1 Paar Hausschuhe „End-
schuhe*' geschenkt (80; 1).
Gegenstflnde zum Nachtragen, Schmuck.
2 goldene Ringe (\ 6—8 ^), eine Elfenbeinbrosche (Jt 3), 2 Aufsteck-
klmme (1,70;) 1 desgl. Schildpatt, Geschenk.
3 Armkdrbchen, gekauft und gesteigert (64/83; J^ 5) 1 kleines Kdrbchen,
Weihnachtsgeschenk (72; 30) 1 schwarzes Ledertlschchen, Geschenk (69;
A 4) Reisetasche (69; 3).
1 Regenschirm, schwarz Zanella (79; ^ 6; D: n. c. 8 J.) 1 Sonnenschirm
(81; .^2,50; D: c. 10 J.)
Gesundheit.
Mit ihrer Gesundheit hatte Rikele ihr Lebtag viel zu schaffen ge-
habt, und in mehr als einer Glosse ihres Hausbuchs hatte sie Klagen
iiber reelle Leiden, zuweilen von Mngstlichen Pro- und etwas zweifel-
haften Diagnosen begleitet, niedergelegt. ,17 ten und 18 ten sehr krank,
Fieber, Kopf- und Gesichtsschmerzen, ich furchtete ich bekime einen
Hirnschlag.'' Seitdem sie sich in dem Stidtchen als NSherin etabliert,
also seit 14 Jahren, hatte sie zweimal an Darmentziindungen danieder-
gelegen. Das eine Mai sechs Wochen im Krankenhause, das andere
Mai vier Wochen in der eigenen Wohnung. Nach der zweiten Krankheit
wollte sie nur 83 Pfund gewogen haben. Fortwihrend geplagt war sie
366 8^
von gewissen Leibesbeschwerden, durch welche sie schon „fast wahn-
sinnig*" geworden sei. Einen Arzt indessen hatte sie seit 8 Jahren
nicbt konsultiert. Teils batte sie Gelegenbeit, wenn sie bei den Frauen
von Medizinern nihte, einen sachlicben Rat einzuheimsen, teils blieb sie
bei fniher verschriebenen Mitteln oder half sie sich mit ihrer eigenen
Weisheit durch. Auf diese war sie nicbt wenig stolz. Der Barbier
babe zu ihr gesagt: »Sie sind der Instinkt** und wenn sie nicbt selbst
die Mittel wusste, so miisste sie das ganze Jahr beim Doktor stehen.
Sie nahm regelmissig des Morgens 5 bis 7 Wacholderbeeren, womit
„die SchleimkanMle gereinigt" werden sollten. Ihre Mutter babe schon
immer gesagt, vor dem Wacholderstrauch^) solle man den Hut ab-
ziehen, da sei aiies gut von der Wurzel bis zum Gipfel. Manche Heil-
pflanzen, Baldrian, auch wohl Kamillen, suchte sie sich selbst, wogegen
sie fur die 1 — 2 Rhabarberpillen, die sie seit einer Reihe von Jahren
allabendlich nahm, an Geld ohngefihr soviel wie fur ihr Brot verbraucht
haben mochte. Nach Schluss ihrer Arbeitstage ging sie regelmassig
aus Gesundheitsrucksichten spazieren, gewdhnlich 20 Minuten, im
Sommer, bei schonem Wetter wohl auch eine Stunde lang. Der geringe
Umfang des StMdtchens machte es ihr mdglich, bei diesen Spaziergangen
leicht das Freie zu erreichen, und sie wurde somit eines Vorteils teil-
haftig, fur welchen die grosseren StMdte ihren weniger wohlhabenden
Einwohnem noch keineswegs die wtinschenswerten Aquivalenten ge-
schaffen haben. In den Grossstadten ubertrifft der Umfang der Areale,
innerhalb deren Parks sich nicht befinden, immerhin noch bedeutend
den Umfang einer Mittelstadt. Man muss sich huten, etwa bestochen
durch die Regsamkeit der hygienischen Wissenschaft, die praktische
Tfitigkeit der jilngsten Zeit in dieser Hinsicht — der SchafFung von
Ptfrks — gegenuber dem was z. B. das achtzehnte Jahrhundert aus bloss
philantropischen Regungen geleistet hat, zu sehr zu uberschatzen.
Gegenstlnde zur Toilette, Korper- und Gesundheits-
pflege.
1 Waschschussel, ererbt {/^ 60) 1 Gesichtsschwamm {Jt I, Versuch, soil
nicht erneuert werden) 1 Nagelscheere, geschenkt {Jt I) 1 Clysopompe (bei
einer Darmentztindung 75 angeschafFt J$ 6; eine Reparatur kostete Ji 1) 1 Haar-
burste, wenig gebraucht, nur wenn sie Kopfschmerzen hat (77; ^ 30; D: 10 J.)
1 Zahnburstchen (77; 70 4j; D: n. 5 J.) 1 Kleiderburste (78; J6 1,80; D: 00) 1 altere,
ersteigert (56; 4 50; bald abgSngig) 1 Wichseburste (78; Jt \) 1 Anstreich-
Burstchen (78; 12, bald abgSngig) 2 FrisirkSmme (79; 90 y^).
Psychisches Leben, Vergnugungen.
In Rikeles Kopfchen und sonderlich in ihrem Gemut war es stets
lebendig. Nicht immer schlug diese Regsamkeit fur das einsame, arme,
^) „Von Gestrauchen ist fur die Volksmedizin das Wichtigste: der Kranawitt
(Wacholder . .) . . der Kranawittbusch wurde vom Volke als ein gates und wohl-
tUtiges, die KrankheitsdSmonen beseitigendes Wesen in Strauchform angesehen
u. a. m. s. bei Hofler, Volksmedizin und Aberglaube in Oberbaycms Gegenwart
und Vergangenheit. Miinchen 1888 p. I23f.
367
empfindsame Wesen zu einem Segen aus. Sie fuhlte sich leicht zuruck-
gesetzty verietzt, unglucklicb, ohne besonderen momcntanen Grund. In-
dessen war der Grundzug ihrer Stimmung zur Zett meiner Untersuchung
doch wesentlich ein Zug der Zufriedenheit und des Stolzes daruber, wie
weit sie es gebracht habe. Sie habe von nichts getriumt als von einem
Stiibley einem Tisch und einem Kasten (Schrank). Ais sie in T • . .
sich niedergelassen, habe ihr jemand bange machen wollen und gesagt:
»Du wirst herauskommen wie der Nussemann!* Sie aber habe gedacht:
^Wartet, ich will's Euch schon zeigen;*" und wie die Person ihr spMter
^inmal gekommen sei, habe die grosse Augen gemacht und geguckt.
Zuweilen brachen auch andere Gefuhle durch: »Wenn die Leute sagen:
Wo bringen Sie denn Ihr Geld hin? — Ach, das tut mir so weh, da
denk ich immer, wenn Ihr nur in mein Buch sehen konntet; da sag ich
ailemai gar nix.** Zu ihrer Zufriedenheit trug bei, dass sie^ die freiiich
ungewdhnlich sparsame und arbeitsame Person^ sich einbildete, alles
durch Arbeit und Sparsamkeit erworben zu haben, dass sie dabei ofters
die ihr gewordene kleine Erbschaft vergass und in verzeihlicher Selbst-
tluschung zu leicht hinweg ging iiber eine immerhin in einigen Anschlag
zu bringende Unterstiitzung, die ihr aus einem VerhMltnis, — das sie
freiiich nicht des Gewinns wegen gehabt — geworden ist.
Rikele besass einen nicht ganz unansehnlichen Vorrat von Broschuren
und Buchem. Hier das
In ventar.
Bibel, Neues Testament, 4 Gebet- und Andachtsbucher, Gesangbuch,
1 Communions Btichlein, Thomas a Kempi9, Luthers Leben, Perlen der Wahr-
heit. Zus. 12 Bde., alle gebunden, nur eines davon ersteigert, die ubrigen theils
Ge^chenke, theils ererbt. (Thomas a Kempis vom Vater ererbt; das Gesang-
buch Konfirmationsgeschenk des Pathen.)
12 bessere Bucher profanen Inhalts, dabei Wilhelm Tell, 2 Bde. Aus-
wahl aus Goethe, KSthchen von Heilbronn, Novellen, Rheinsagen, theils ge-
bunden, theils broschirt; alle geschenkt.
2 Kalenderzugaben von Zeitungen und Zeitschriften.
4 populSre kleine Broschuren und Jugendschriften, alle geschenkt. —
(7 desgl. die eigentlich dem Sohn geschenkt worden sind wie „die Wasser im
Jahre 1824", „der Postraub zu Wurges", „des Uhlanen Kampf, Liebe und Sieg«,
„Fritz Heiter". — Demsclben gchorig 1 Bd. HauflP, Geschenk der Fortbildungs-
schule.)
Rikele war auf zwei Blatter abonniert, auf das Lokalblatt und auf ein
wdchentlich erscheinendes religidses Blatt: „Das ist mein Luxus"* sagte
sie. Das Sonntagsblatt schickte sie ihrem Sohn, der las es und schnitt
dann Muster daraus. — Im Schreiben war Rikele nicht faul, sie hatte ja
ihr .Hausbuch" zu fuhren, und mit ihrem Sohn hat sie in ziemlich
regelmissigen Briefwechsel gestanden. Sie schrieb eine gleichmMssige
deutliche Hand und machte kaum orthographische Fehler.
Rikele als Kind eines streng evangelischen, vielleicht auch erwas
pietistisch angehauchten Vaters, war selbst sehr religios gesinnt. Sie
besuchte sonntMglich und an Festtagen regelmMssig die Kirche, an den
368 8.^
hdchsten Feiertagen strickte sie nicht und las nur geistliche Schriften.
Ihr poHtischer Standpunkt hatte eher als Loyalismus, denn als Konser-
vatismus bezeichnct werden konnen.
Ihre Erholungen und Vergnugungen waren selbstverstlndlich
nicht geriuschvoller Natur. Vor ciner Reihe von Jahren hatte sie einige
Mai das Sommertheater besucht, aber nicht auf eigene Kosten. Die
Frau Direktor, fur welche sie arbeitete, hatte ihr die Billette geschenkt.
Geme nahm sie mit einer ihrer biirgerlichen Kundinnen an dem jahr-
lich stattfindenden Kinderfest teil; sie steckte nicht viel Geld in die
Tasche, sie furchtete es auszugeben. Von den 24 Pfennigen, die im
letzten Jahre daraufgegangen waren, kamen nur 6 Pfennige fur Brezeln
auf ihr eigenes Teil; fiir 10 Pfennig hatte sie die Kinder ihrer Haus-
frau Karussell fahren lassen, und in 8 Pfennig hatten sich ihre beiden
kleinen Milchmidchen geteilt. Rikele war uberhaupt ,die Person, die
verschenkt." Fur Uberschwemmte hatte sie (im Budget-Jahr) getragene
Kleidungsstucke und neue fur den Sohn gestrickte Socken gegeben.
Ihre wesentlichste und regelmissigste Erholung bildeten die Sonntags-
nachmittagsspazierglnge. Sie ging in den ganz naheliegenden Wald, und
hdrte dort die durftige Musik, die von einer Gartenwirtschaft zu ihr
heruber halite, ging dann heim und trank ihr Schussele Kaflfee oder
Milch. Von den Passanten glaubte sie sich, in ihrem gniblerischen
Wesen, ob ihrer Enthaltsamkeit, bald bewundert, bald ausgelacht.
Oder sie suchte das Feld auf: „Wenn ich ins Feld n'ausgeh', geh' ich
botanisiere, ich nehm' KrSutle mit zu Tee, Kamille, Baldrian, Drei-
faltigkeitstee, ich nehm' Moos mit und mach' KrSnzle draus; spreche
tut niemand mit mir, da nehm' ich allemal das Sonntagsblatt mit, und
sitz' an ein Plfitzle und les.*
Welch bescheidene Existenz! Und doch, welch ungeheure An-
strengung war vonndten, sie zu grunden ! Tantae molis erat . . .
Geschichte der Arbeiterin.
Man sah es dem unscheinbaren Rikele nicht an, welch ein be-
wegtes Leben hinter ihm lag. Zwar nicht viele Lflnder hatte es ge-
sehen, aber in kleinem Umkreis hatte es eine Odyssee der Armut
durchgemacht; war herumgeworfen worden lange Jahre, von Dorf zu
Dorf, von Stadt zu StSdtchen, hatte gekSmpft und gehofft, gelitten und
geliebt.
Noch in die Schule ist Rikele gegangen, als sie bereits fur andere
arbeiten musste; sie ist wihrend eines Sommers KindermSdchen bei
einem reichen Bauer gegen 2 Gulden*) Gehalt; im Winter strickt sie
Striimpfe um 12 Kreuzer^ das Paar. Bei demselben Bauer bringt sie,^
nachdem sie die Schule verlassen, ein weiteres Jahr zu, jetzt bei ihm
wohnend; da bekommt sie 6 Gulden, ein Paar Schuhe und ein Hemd;
vom Marktag zu Unterjesingen erhilt sie auch noch einen Vierling
>) 1 Gulden » c Mark l,7h
«) 1 Kreuzer = 2«/7 y^.
369 8^
(^4 Pfund) Wolle; gelegentlich einiger grdsseren VerkMufe wendet ihr
der Bauer jeweils 12 Kreuzer zu. Dann kehrt sie in das elterliche
Haus zuruck; aber nicht lange darf sie unter seinem Dache weilen.
,Die Mutter hatte ein schdnes Granatnuster (Halsband) und ein
goldenes Kreuz und einiges mehr, das hat sie Alles nach und nach in
den fiinfziger Jahren verkauft. Der ^Jude' kam und wollte was handeln;
da sagte der Vater, sein Wetb hab einen Schmuck, den hat er gekauft
und dann gesagt, er wolle das MMdele, seine Frau brauche eins; und
der Vater sagte ihm zu. Mir ist es gewesen, als ob ich wMr verhandelt
worden. Am selben Tage ging ich mit ihm weg; er trug einen Zwerch-
sack, ich meine Sachen in einem Tiichle. Wie wir nach Beisingen
kommen in sein Haus, macht er die Thur auf, und ruft: ^ettchen, sieh,
ich habe Dir Deinen Wunsch erfiillt." Die Frau hat mich sehr gut
empfangen, als ob sie mich schon gekannt hMtte. Ich hab damals noch
nicht viel gekonnt, auch noch kein Brot schneiden, denn zu Hause
hab ich das nie diirfen, das that der Vater. Ich bin dort Kinder-
mldele gewesen und gekocht hat die Frau. Lohn bekam ich 12 Gulden.
Ich hab aber bald Gliederweh bekommen von dem kalten Wasser, mit
dem ich putzen und arbeiten musste. Das Wasser wurde aus einem
tiefen Brunnen in der Kiiche selbst heraufgezogen. In den mochte ich
gar nicht hineinsehen, ich ftirchtete mich so, der Teufel wolle mich
hinunterziehen, weil ich unten immer mein Bild im Wasser ge-
sehen hab. Die Frau hat mich eingerieben mit Klemmergeist^) und mir
eine Bettflasche gegeben. Ich hab aber nur bis Martini bleiben konnen,
weil die Arbeit bei meinen Schmerzen zu schwer geworden ist. Es
sind recht fromme Leut gewesen; jeder Mensch, der noch Religion
besitzt, mit dem kann man auskommen, aber die Andern haben keinen
Werth, da ist Alles Politur, Alles oberfiMchlich. Alle Sonntag hab ich in
meine Kirch diirfen; wenn ich Zeit hatte, ging ich nach Metzingen;
sonst in die katholische Kirch lieber als in gar keine.*"
Fiinrzehn Jahre alt, verliess sie die Stelle. „Die Mutter holte mich
ab und brachte mich nach Hause und ich hab geglaubt, ich diirfe zu
Hause bleiben. Sagt der Vater: ^Lass nur Deine Sachen beieinander!'
Ich hatte soviel geschenkt kriegt, drei Ellen Kattun zu zwei Schiirz, und
ein Tuchle und' zwei Sacktuchle und Gam zum Stricken; man hat so
melirtes Gam gehabt, blau und weis. Das hab ich schon oft erzdhlt,
wie man damals die Geschenke geachtet hat. Den andern Tag also hab
ich nach Herrenberg gemusst in Dienst. Der Herr war friiher ein Schul-
meister, hatte aber eine reiche Frau geheiratet und Guter gekauft. Die
Frau hat Gliederweh gehabt und hat sich nicht regen kdnnen. Da hab
ich noch viel hUrter schaffen mussen auf dem Feld und immer uber
Kraft. Da hat man mir eine Ladung Klee aufgeladen, dass ich hin-
gefallen bin, wie ich damit die Staffeln von einem Weinberg hinunter
gegangen; ich bin ein paar Tage liegen geblieben, dann that es mir immer
so weh und ich hab mich von da an schief gehaltea.^^
^) Ameisenspiritus.
370 iK-
Bei dem Schulmeister blieb sie ein Jahr. „Meiii Vater hatte ge-
meint, es sei eine Schande, ich sei so kurz im Dienst und woUte nicht
schaffen. Und ich wir auch noch da geblieben, aber ich hab doch zuletzt
fort miissen wegen meinem Herrn, der hat nichts rechts von mir gewollt."
Nun ging sie in die Residenz, wo ihre Schwester ihr bei einem
Schreiner einen Dienst ausgemacht hatte. Sie war damals gerade 16 Jahre
alt. ,,Dort hats auch wieder vier kleine Kinder gebe. Mein Vater hat
gesagt, man solle Gehorsam leisten und wenn man das Wasser umsonst
'auf Buhne' (Speicher) musse tragen und herab. Nur wenn was Schlechtes
verlangt werde, musse man aufbegehren und den Streitigen machen, oder
gehen. ^Dienet nicht allein den Giitigen und Gelinden, sondem auch
den Wunderlichen', sagte er.*^ — Sie erhielt im ersten Jahre 18, im
zweiten 20 Gulden Lohn. Zweimal jMhrlich 1 Gulden und zu Weih-
nachten 1 Kronthaler.^ ,,Das ist etwas Grosses gewesen, aber ich hab
miissen alle Kreuzer hergeben, sogar das Trinkgeld, auch nach dem hat
der Vater gefragt.*^ Und sie habe sich doch Kleider machen miissen,
denn solche habe sie ja nicht bekommen, nur die Mutter des Schreiners
habe ihr zuweilen alte Sachen verehrt, Strumpfe, die ihr aber zu gross
waren und dergleichen. Sie habe sich noch mit ihren KonGrmations-
kleidem behelfen miissen. „Ich mdcht' die Zeit nicht mehr durchleben,
ich hab die Bleichsucht gehabt und die Waden sind mir ganz auf-
geschwollen gewesen; ich bin gewesen, wie der Schatten an der Wand.
Ich hab gedacht, ich kann nicht mehr schaffen und meine Leute glaubten
mir nicht. Da habe ich auf einmal gedacht, ich geh' in's Wasser. Ich
hab' gedacht, ich stell die Kinder von dem Schreiner, die ich bei mir
gehabt hab', bei meiner Verwandten unter und geh' in den Feuersee.^^
— Wie stellte sich der Umschwung der Stimmung, den Rikele auf dem
Wege erfahren, in ihrer Phantasie dar? — Sie meinte, es seien ihr
Schulkinder begegnet, die aus dem Gesangbuche das Lied lemten: „Von
dir, 0 Vater, nimmt mein Herz Gliick, Ungluck, Freude oder Schmerz,
Von dir der nichts als lieben kann, Voll Dank und voll Vertrauen an^S
und da habe sie gedacht: „Ei, du hast ja Gott ganz vergessen, das Lied
hast du ja auch gelemt.*^ Da bin ich denn zuruck mit den Kindem zu
meiner Verwandten und hab dort KaCFee getrunken und naturlich nicht
gesagt, was ich vorgehabt hab. Ich hab mich ganz drein geschickt und
gedacht, der Hebe Gott kann mich sterben und mich auch gesund werden
lassen; er kann's ja machen wie er will.^^ Dann habe sie aber einen
schlimmen Finger bekommen und der Arm sei ihr geschwollen bis zur
Achsel hinauf. Sie kam dann in das Krankenhaus und blieb daselbst
vier Wochen. Der „Herr Hofrat" sagte, sie durfe nicht mehr dienen
und der Vater kam, sie abzuholen.
^^Nachmittags sind wir aus der Stadt hinausgelaufen; man hatte
vergebens herumgeschrieen, ob niemand mit uns fahren wolle. So sind
wir nach Echterdingen gelaufen; ich bin bis uber die Kndchel ein-
gesunken im Schnee und der Vater hat mich Ziehen miissen, denn ich
1) 1 Kronthaler = c. Mark 4,62.
371 8^
war halb im Schlaf. Uber Nacht blieben wir im Hirschen, von dem
man sagt: ^Wenn mer auf der Welt nit mehr z'sammekommt, kommt
mer in Echterdingen im Hirsche noch emal z'samme.' — Von da aus
ging auch ein Omnibus; der Vater aber hat des andem Morgens gemeint,
wir konnten auch laufen bis Waldenbuch, denn es koste schon weniger^
und ich sei ja ausgeruht. Jetzt freilich ist das alles anders: ^friiher
haben die Bettelleut Herren gefiihrt, und jetzt fuhren die Herren Bettel-
lent.") In Waldenbuch haben wir also auf den Omnibus gewartet; der
ist um elf Uhr gekommen mit einer Beichaise, darin sind ^Herren^
(Studenten) von Tubingen gesessen und es hiess, wir mtissten mit den
Herren schwitzen. Die Herren frugen, ob ich nicht eine ansteckende
Krankheit gehabt habe. Das hat mir so weh gethan, da hab' ich geweint.
Da haben die Herren gesagt, so sei das nicht gemeint; sie haben mich
hineingenommen und mein Vater hat auf dem Bock fahren durfen.
Nach einiger Zeit hat der Kutscher geklopft, der Vater falle herab und
er kdnne vor KMlte nicht mehr sitzen; da hab' ich die Htode gefaltet
und gebittet, da haben die Herren ihn in den Wagen genommen und
uns in Tubingen in der Post Wein geben lassen. Elf Uhr nachts ist
gewesen, wie wir endlich in meinem Heimatsdorf angekommen sind.
Dahin haben wir wieder laufen mussen; ich hab' fast keinen Fuss mehr
gespurt vor Kilte und der Vater hat oft erzMhlt, wie er mich hat
schiitteln miissen; es war ganz dunkel, der Mond war verschlupft, von
Unterjesingen ist der Schulheis mit uns gegangen, der abwechselnd mit
dem Vater eine Lateme getragen hat.** — Sie bleibt nun einige Monate
zu Haus, dann neue Stelle, dann wiederum in das Eltemhaus, weil sich
daselbst ein kranker blinder Stiefbruder des Vaters in Verpflegung ge-
geben hatte. Jetzt muss Rikele ihn warten, seine WSsche reinigen.
Eine recht widerliche Arbeit habe sie mit ihm gehabt; sie habe vor
Ekel das Brot nur noch mit der Gabel gegessen. Da habe er ihr sein
Bett verschrieben und auch dem Vater Geld. Aber eines Tages sei die
rechte Schwester des Kranken angekommen und habe ein Gewisper mit
ihm gehabt, und wie sie' spater einmal ruhig in der Stube gesessen, sei
der Blinde hereingeschlichen und habe ein Papier in den Ofen geworfen:
Rikele meinte, das musse die Verschreibung gewesen sein. Wie der
Blinde endlich starb, war kein VermMchtnis da. Die Schwester uber-
trug ihr (Rikele) freilich eine Schuldforderung, die jener an den Vater
gehabt, aber der Vater hat sie niemals eingelost. Zwei weitere Jahre
dient sie in benachbarten Ortschaften, verrichtet auch Erntearbeiten,
blMttert Tabak ab und zieht Bindfaden durch die Rippen (fiir 4 Batzen*)
tiglich); es will sie auch einmal einer ihrer Herren heirathen, aber
Rikele tut es nicht, denn er habe sie schlecht behandelt. «I hab ihm
immer misse Kichele backe und wenn er Fleisch gehabt hett, hat er nit
gewusst, wie wenig er mir gebe sollt.** Jetzt wird der Vater schwer
krank und der Bote der den Doktor holt, nimmt sie mit nach Hause,.
Hiemnter ist gemeint, dass der Staat und grease Gesellschaften auf ihren
Eisenbahnen ^kleine Leute" befSrderten.
*) 1 Batzen » 4 Kreuzer » c. 11 4.
372 8^
denn der Vater will, sie solle fur sein geistiges Wohl sorgen, die Mutter
fiir sein leibliches, die Mutter sei noch nicht erleuchtet genug. Nach
wenigen Tagen stirbt der Vater und Rikele, nunmehr in ihrem 23. Lebens-
jahr stehend, versucht aufs neue in der Residenz sein Gluck. Sie dient
zunMchst bei einem Bruder ihrer fruheren Herrschaft, dann bei einem
Hofkoch, bei dem sie 28 Gulden Lohn erhalt. Aber nicht lange kann
sie diese Stelle behalten und aus einem recht bdsen Grund.
Wir miissen da ein wenig zunickgreifen in jene Zeit, wo das
Rikele auf vielen Ortschaften herumgekommen ist und die wir vorhin
etwas summarisch behandelt haben. Damals hat es auch einmal in
Z . . . gedient bei einem Schulmeister und da hab ihr ein junger Mensch
gar sehr gefallen (wir wollen ihn Konrad Schutz nennen), der auch
Schullehrer hatte werden wollen, aber weil die Eltem es nicht litten,
zu einem Schuhmacher in die Lehre ging. «Ich sah ihn zuerst in der
Kirch, da hab ich gedacht, die habe alle nette Gesichter, aber die habe
alle Lederhose an, die thMte dir nicht gefalle; aber der Konrad Schutz
hat mir gefalle, der hat so schone schwarze Auge und so Krollhaar
gehabt, auch keine Lederhose hat er angehabt und er ist gewese wie
ein Provisor. Aber ich hab ihn nie gesprochen. Ich bin oft mit den
Kindern meiner Herrschaft zu seiner Mutter gekommen, aber da ist er
nie gewesen, weil er bei dem Schuhmacher geschlafen hat und die
Mutter hat immer nur gesagt: ^Ach wie schade, eben ist der Konrad
gerade fortgegangen ;' und mir war lieb, wenn ich nur was von ihm
gehort hab. Wenn ich nach ihm guckt hab, hat er mich so im Aug
gehabt und auch seine Schwester hat zu mir gesagt: ^Du, der Konrad
thfit so gem mit Dir schwitze.' Da hab ich aber gesagt, das gab eine
schone Geschichte, wenn das BMsle das meinem Vater sagen th§t. Und
so hab ich ihn nicht gesprochen und nichts von ihm gesehen oder
gehort, bis ich in die Residenz gekommen bin. Da bin ich einmal mit
einem andern MMdele zur Parade gegangen, die uns etwas Neues ge-
wesen ist, und da hab ich gesehen, wie druben an der Seit am Konigs-
platz zwei Soldaten immer gestanden sind, und da hab ich gesagt, wir
wollen fortgehen, die schwatzen von uns; aber die sind uns nach-
gegangen, und da hab ich gesagt, der eine sieht aus, wie ein Z — inger,
er lacht gerade wie der Konrad Schutz. Da hab ich ihm nicht mehr
angucken konnen, so roth bin ich worden. Dann bin ich mit dem
MSdele zu ihrer Schwester, die auch gedient hat und wie wir herunter-
gekommen sind, stehen die auch wieder. Dann ist der Schtitz auf mich
zu und hat sich entschuldigt und hat gesagt, ob ich nicht das Rikele
sei, das in Z . . . gedient habe. Da habe ich ja gesagt und da hat er
mir gleich die Hand geben und da haben wir eine rechte Freud gehabt.
Dann hat er mich gefragt, ob er mich hie und da besuchen durfe; da
hab ich aber gesagt: ,Nein,^ ich wolle nicht, dass man sage, ich sei ein
SoldatenmMdele. Dann ist er aber immer durch die Rothstrasse und
wenn er nur hat hereinpfeifen diirfen, ist .er froh gewesen. Dann hat
er ein MMdele vom Haus gefragt, wann ich Wasser holen thSt, und da
hat er mich am Brunnen abgefasst, und so haben wir uns fast alle
373 8^
Abend gesprochen. Zuerst hab ich ihm freilich immer gesagt, ich wollt
so keine Geschichte haben, so oft hMtt ichs nicht gemeint, und da hat
er gesagt, er hUtt seiner Mutter schon geschrieben. Seine Mutter hat
mir anch geschrieben und immer so gut, dass ich fast mehr Lieb bei
ihr gefunden hab, als bei meiner Mutter. Sie hat mir sogar das Geld
fur ihn geschickt, weil so besser damit hansgehalten wiirde. Und
Tiachher, wie ich zu dem Koch gekommen bin, hat er Gelegenheit
gesucht, mir nMher zu kommen und auch gefunden. So gem ich ihn
Anfangs hab mdgen, so gehMssig bin ich dann auf ihn gewesen. Ich
bin noch in meinem Dienst ^eblieben bis Jakobi.*"
Das arme Rikele muss sich jetzt auf eine komplizierte Weise
veiterhelfen. Ihre erste Stuttgarter Herrschaft hatte sie das N§hen
lemen lassen. Diese Fertigkeit nutzt sie jetzt aus. Sie arbeitete also
Tags uber um Lohn bei einer NIherin, teilweise schon auf der Maschine,
die damals .anfgestanden" war. Morgens besorgt sie einer Putzmacherin
die Haushaltung, woftir ihr diese die Schlafstelle gew§hrt. Mittags holt
sie ftir Schreinersleute das Essen bei deren Tochter der ^^Birenwirtin''.
Zum Lohn fur diese GSnge erhMlt sie etwas Mittagskost. — Bald darauf
geht sie heim.
„Ich war kaum zu Haus, so hat die Mutter erfahren, was vor-
^egangen ist; denn ein Madele aus dem Dorf hats von der Stadt aus
seinen Eltem geschrieben und da haben die zu meiner Mutter gesagt:
,Nun, du musst jetzt bald ein Soldatenkind aufziehn^ ,Da hab ich
meiner Schwester gesagt, sie sollten mich in Ruhe lassen, Oder ich tMte
mir den Tod an, und ich hab alle zwei Tage ein Kamisol gestrickt und
das Geld meiner Mutter geben. Der Konrad Schiitz schrieb, ich kdnnt
zu seinen Eltern kommen, das Wochenbett halten, ich bin aber nach
Ttibingen ins KHnikum. Nach acht Tagen hat meine Schwester das
Kind, es war ein Bub, abgeholt; ich aber bin vier Wochen dort krank
gelegen. Die Bauchfellentzundung hab ich gehabt. Wie ich wieder besser
geworden bin, hab ich die andem Kinder trinken lassen, bin dann nach
Haus und hab mein Kind angelegt und hab es trinken lassen einige
Wochen liber ein Jahr. Ich hab zu Haus genMht und gestrikt fur andere
Leute, Strumpfe, WMmser, was die Leute gebraucht haben. Nun ist
meine Schwester um Ostem nach Z . . . gegangen zum Schulmeister
und auch zu den Schtitzen. Und da fragt des Konrads Mutter wie's
dem Rikele geht. ,Ja, der gehts gut.^ ,Wer hat sie gesund gemacht?^
Und da hat meine Schwester gesagt, ich hab ein Kind. ,Und der
Schlingel sagt gar nichtsS „ruft die Mutter da, ,ich hab's ihm schon
lange angemerkt, dass er was hat.^ Der alte Schiitz ist die Stiege
heraufgekommen: ,Was, der sagt kein Wort, und ISsst das MMdele da
unten, morgen muss er gleich hin.^ Am andem Tag sag ich zu meiner
Mutter: Horch, wer springt denn da so die Stieg herauf? Und da klopfts
an und da ist der Konrad hereingekommen und auf mich zu und das
ist ein Augenblick gewesen. Meine Mutter hat geschrieen: ,Um Gottes-
willen das Kind! Ihr verdmckts jal^ ,Und da hat er gesagt, sein Vater
Schick' ihn, er war schon lange gekommen, wenn's nicht so weit war.
S&ddeutsche Monttthefte. 1,5. 25
374 8*^
Jetzt sei er da, jetzt woH' er mir vorlMnfig etwas Sohriftliches geben,,
wenn er einrucken musse, nnd kMm um. Man hat nicht viel gewusst,
was in der Welt vorgeht, da hat Niemand Zeitung gelesen wie der
Pfarrer. Zwanzig Gulden hat er mir versprochen jihrlich zu geben nnd
wenn er sterben wtirde, wMr mein Wilhelm sein Erbe gewesen. Das ist
am selben Tag schriftlich gemacht worden, bei meinem Pfleger. Damals
ist zwanzig Gulden viel gewesen; da hat ein Kind nicht mehr gekostet
als 25 Gulden in Pflege. Wir haben auch acht Jahr so ein Kostkind
gehabt. Von da hat des Konrads Mutter von Zeit zu Zeit Butter ge^
schickt, sie hat mir Tuch (Leinwand) geschickt, sie hat mir Geld ge-
schickt; der Briefwechsel ist erst recht fortgesetzt worden. Ich bin noch
zu Haus gewesen bis Georgi. Gekommen ist er inzwischen nur
einmal. Das ist mir nicht aufgefallen, denn ich hab gedacht: ,das kostet
Geld; wenn ich reis, kosts nichts, aber die MMnner, die haben Durst/
Ich hab zu Haus genlht und gestrickt, das hat aber meiner Schwester
nicht geniigt, sie hat gesagt, ich wollf immer die Hausjungfer machen
und nicht schaffen (im Feld). Deshalb bin ich um Georgi nach T . . ^
und bei einer alten Jungfer in D i e n s t getreten, wo ich 24 Gulden
gehabt hab. Sie hat mir versprochen, wenn ich bei ihr bleibe, bis sie
stirbt, bekomme ich 600 Gulden. Bei der hat mich der Ekel fast um-
bracht. Die hat eine Fontanelle gehabt und die hab ich tiglich zweimal
verbinden mussen und da hab' ich gedacht, ich kann's nicht mehr aus-
halten, ich geh'. Wlhrend ich in dieser Stelle war, hatte mir auch um
Jakobi der Schutz geschrieben, ich solle heim kommen und meine Sachen
richten, er wolle jetzt heirathen. Da hab ich aber einen Brief vom
Schulmeister bekommen, in dem gestanden hat, ob ich nicht wisse, dass
das Mariele P . . . jetzt Bekanntschaft hab mit dem Schiitz und ein Kind
bekomme.'^ Das Rikele behauptet, es habe nun dem Schutz die Be^
dingung gestellt, dass er sich in seinem (des Rikele) Heimathsdorf nieder*
lassen solle, es tMte sonst doch kein gut; dass dieser aber hieraus Anlass
zu einem Bruch genommen habe. Noch bis zur Konfirmation des Knaben
habe er indes das Kostgeld gezahlt; anfMnglich habe auch sein Vater
einige Mai Geld, Leinwand und Kartoffel geschickt.')
Wie das Rikele die Jungfer mit der Fontanelle verlisst, beginnt
es (27 Jahre alt) seine friiher erworbene Nihfertigkeit andauemder
zu verwerten . . . Welche M&hseligkeiten, welche Zwischenstadien, bis
die Etablierung endlich gelingt! Sie schlift und isst zunichst bei einer
Wischerin, niht fiir diese und bekommt 6 Kreuzer den Tag; auch fiir
fremde Kunden arbeitet sie zuweilen dort, dann aber erhilt die Wischerin
das verdiente Geld; sie war nur froh, einen „UnterschlupP^ zu haben^
Fur eine Frau, deren Tochter heiratet, fertigt sie sodann die Aussteuer
an; sie hat Schlafstelle bei ihr im Hause und 10 Kreuzer Taglohn. Als.
die Ausstattung fertig ist, quartiert sie unter ihnlichen Bedingungen bei
einer andem Frau. Da habe sie aber keine Ruhe gehabt, da des Nacht&
immer etwas Bdses gekommen sei. „Ich habe meine Thtir geschlosseui,
^) S. Die Geschichte des Sohnes.
375 JK-
doppelt geschlossen, und da ist mir meine Decke immer heruntergezogen
worden; dann hab ich bei der Frau im Zimmer geschlafen, und da hab
ich immer gemeint, ich miisse ersticken. Der Buchbinder F . . . klagte
auch, der wohnte im gleichen Haus/^ (Frage meinerseits) ,Wie er-
kllren Sie sich das?^ (Antwort): ,Ich weiss nicht, wars ein Geist, oder
sonst bdse Leute, Hexen/ (Frage): ,Glauben Sie denn an Hexen?^
(Antwort): ,Ja, ich glaub an Hexen; ich bin oft einer Frau begegnet,
da hab ich jedesmal vor mich hingesagt: ,Thu' ich dir Recht, behut
mich Gott, thu' ich dir Unrecht, verzeih' mir's Gott' und hab die drei
hdchsten Namen ausgesprochen. Die ist von ihrer Tochter selbst fur
eine Hexe gehalten worden. Sie war 70 Jahre alt. Sonst ist sie gut
gewesen; sie hat auch viel Gutes gethan an den Leuten. (Frage): ,Was
wurde Ihr Pfarrer dazu sagen, wenn er wiisste, dass Sie solche Dinge
glauben; der wurde gewiss recht bose sein?^ — (Antwort): Ja die
miissen so thun, aber die glauben selbst daran.^
Es ist unmoglich, all die ModalitMten aufzufuhren, unter welchen
Rikele, nachdem sie das ihr durch die Hexerei verleidete Haus verlassen,
nachmals bei verschiedenen Personen Aufnahme gefunden hat. Sie
kommen auch im wesentlichen darauf hinaus, dass sie entweder den
Wirtsleuten umsonst nMhte, oder wenn sie auswirts besch§ftigt war, fiir
die Schlafstelle gewisse andere hiusliche Verrichtungen ausiibte. In
einer Schlafstelle hat sie, wie sie angibt, infolge der Feuchtigkeit Glieder-
weh bekommen. ^Ziehen Sie aus, aus dem Loch** habe der Arzt gesagt.
Nicht ubel habe sie es bei Gewerbsleuten gehabt, bei denen sie hiufig
Beschiftigung fand und die sie fur 3 Mark den Monat bei ihrem Dienst-
madchen schlafen liessen. Bei ihren Stadtkunden erhielt sie in den
ersten Jahren 15 Kreuzer, spiter fand sie Kundschaft in wohlhabenderen
Hiusem. Nach einer Reihe von Jahren kam erst Rikele zu einem
eigenen Stubchen, wobei Bettstelle, Schrank und einige andere Mobel
zunachst nur geliehen waren. Die kdufliche Erwerbung dieser Gegen-
stdnde ward ihr nachmals durch den Umstand erleichtert, dass sie
damals fur ihren in einer Anstalt untergebrachten Sohn zwar von dessen
Vater noch Kostgeld empGng, jedoch weil jener in den Genuss mehrerer
Frei jahre getreten war, nichts mehr zu zahlen hatte.^)
Ein paar Jahre vorher hat ubrigens das leicht erregbare Herz und
die leicht geschmeichelte Eitelkeit dem Rikele wiederum einen schlimmen
Streich gespielt. In einem ihrer .vornehmen** Kundenhiuser hat sie
einen jungen »Doktor" kennen gelemt; der hab sie immer beobachtet,
und als sie ihn einmal hat zum Essen in dieses Haus einladen mussen,
hab er ihr einen Gulden in Papier eingewickelt, da fand sie hinein-
geschrieben:
Friederike — Deine Blicke
Kdnnen BMren — Tanzen lehren,
Und dein Bildniss — Lockt den litis
Aus der Wildniss.
') S. Geschichte des Sohnes.
25*
376 ^
^Sonntag bin ich spazieren gegangen nach ,LuschtnauS Da ist er hinter
mir hergekommen und hat gesagt: „Bescheidenheit, das schdnste Kleidl^
Er hat mich angeredet und gefragt: Wanim so allein und ob er mich
begleiten durfte. Da hab ich gesagt: Ich diirft den Weg nicht mit-
nehmen. Und so sind wir eben alle Tage zusammengekommen . . ."^
Und wieder blieben die Folgen nicht aus . . . Auf dem Amtshause be-
fragt, wer der Vater des Kindes sei, verweigert sie die Auskunft; »ich
hatte geschworen, ich sag's nicht und wenn sie mir die Haut hemnter-
ziehen.'' Sie hatte sich von dem jungen Manne versprechen lassen,
dass er fur das Kind sorgen wolle; sie meint, dass dies auch sein red-
Hcher Wille gewesen sei. Wenn es aber stfirbe, brauche er ihr nur
einige Wochen Arbeitsun^higkeit zu bezahlen, denn sie wolle nichts
.verdienen*'. — Das Kind wurde aufs Land in Kost gegeben. Einige
Wochen alt, starb es; das VerhMltnis Rikeles mit dem jungen Manne
dauerte noch einige Jahre bis zu dem Weggange desselben aus der
Stadt fort.
Geschichte des Sohnes.
Wir miissen nun noch einige Worte iiber den Lebenslauf des
Sohnes unseres Rikele beifiigen, an dem die Mutter alle Zeit mit grosser
Zartlichkeit gehangen, und der seinerseits dieser mit treuer Liebe er-
geben war, so dass hier ein inniges Verhiltnis obwaltete, wie man es
in solchen Fallen gewiss selten findet. Rikele erzihlt, dass der Vater
(Konrad Schutz) ihr den Knaben, als derselbe sein siebentes Jahr erreicht,
habe abnehmen wollen. Das habe sie aber nicht zugegeben. Sie hitte
ihn nicht hergegeben und wenn sie hMtte arbeiten mussen, bis ihr das
Blut unter den NSgeln herausgekommen wSre. Demnach blieb es dabei,
dass der Vater ein Kostgeld zahlte, und zwar wie schon gesagt, 20
Gulden bis zu des Kindes vierzehntem Jahr. Zunachst wurde Wilhelm
in seinem Heimatsdorf aufgezogen. Es scheint, dass Rikele von der
Behandlung, die ihm daselbst zuteil wurde, nicht befriedigt war. «Mein
Bruder hat ihn geschlagen, als ob er schon 16 Jahr alt gewesen wir.**
Darum beschloss sie — nicht etwa aus Ersparungsrucksichten — den-
selben einer sogenannten ^Rettungsanstalt" zur Erziehung zu ubergeben.')
Beim Eintritt in dieselbe musste der Knabe mit gehdriger Kleidung
versehen sein; weiterhin waren jMhrlich 36 Gulden ^Kostgeld* (fiir
Nahrung, Unterricht und Kleidungsbediirfnisse) zu zahlen. Wihrend der
letzten Jahre fiel, wie erwahnt, die Zahlung dieses Kostgeides weg.^
Mit der KonGrmation verliess er die Anstalt. Sein Wunsch war es.
^) Die Anstalt nahm statutengemiss nicht nur verwahrloste Kinder, sondem
auch seiche auf, »die in der Gefahr stehen, es zu werden.*
^ Zur Zeit des Aufenthalts des Knaben waren durchschnittlich 26 Knaben
und 11 M&dchen in der Anstalt. Von den ersteren waren j&hrlich 10 von elnem
Kostgeld v511ig befreit, indem f&r dieselben ein zu diesem Zwecke gegebener
Beitrag des Landesfursten aufkam. Zur gedachten Loyalitit Rikeles hat die ihm
hieraus gewordene Erleichterung nicht wenig beigetragen. „Darum laufe sie auch
noch heute, wenn der Kdnig komme, hinaus vor die Stadt und rufe *hurrah"*.
377 ^
Mechaniker zu werden, es wurde auch im Anfang ein Versuch in dieser
Richtung gemacht; aber der Knabe erwies sich schwMchlich, spie Blut
und musste auf Anraten des Arztes von diesem Geschftft abstehen.
Dann gab Rikele ihn wieder nach Hause zuruck zur Grossmutter,
welcher sie 72 Pfennige wochentliches Kostgeld zahlte. Da babe er im
Feld gelegen und sei mit den Waldarbeitern in den Wald gegangen. Da babe
er wieder rote Bicklein bekommen und Fleiscb auf sich. Nun babe er
gesagt: ^Mutter, mir trMumt alleweil, ich sei ein Scbneider." In ihrer
zu einem gewissen Mystizismus neigenden Anscbauungsweise, scbeint
sicb Rikele nacbtrlglich einzureden, dass diese Triume ftir die Wabl
des Berufes bestimmend gewesen wiren; sicher ist, dass sie ibn wieder
zu sicb in die Stadt nabm und zu einem Scbneider in die Lebre gab.
40 Gulden babe sie fur die ganze Lehrzeit zahlen mussen, 20 Gulden
zu Beginn und nacb Verstricb der balben Zeit den Rest. Rikele ist
nicbt gut auf den Lebrberm zu sprecben. Er babe den Wilbelm nicbt
wollen in die Fortbildungsscbule lassen und sei uberbaupt ein gewalt-
tMtiger Mensch gewesen. »Er bat einen Lebrling gehabt, der ist ein
scbwacher dummer Jung gewesen und vergesslich, den bat er einmal
so gescblagen, dass er acbt Tage hat im Bett bleiben miissen, und
meinem Wilbelm hat er die gleichen Schlig versprocben.*' Bald sei der
Wilbelm gekommen und habe geklagt, dass sein Meister nichts mehr
zu schaffen habe, als Hosen fur ein grosseres Gescbift, und dass er
nur noch die Kindsmagd machen musse. Da habe sie ihn zu einem
andem Meister gethan, indess nicbt ohne vorher einen Kampf mit dem
alten wegen eines von diesem verlangten Reugeldes fuhren zu mussen.
In der neuen Stelle bekam er 1 Mark wdchentlich und freie Station.
Dann ging's auf die Wanderschaft. 6 Mark gab sie ihm mit, Stiefel
und Felleisen. Sechs Wochen zog er herum, ohne Arbeit zu finden;
da schaffte er, um durchzukommen, bald bei den Bauem auf dem Feld,
bald fiickt er Wirtsleuten die Kleider aus, um freies Obdach zu finden.
4ch hab Gluck gehabt,' hat er immer gesagt; habe ich gesagt: ,Das
kommt, weil ich auch nie einen Handwerksburschen habe gehen lassen.'
Endlich findet er eine Stelle in Urach und ziebt nach einem Jahre
'wie eben die Wanderlust als kommt' wieder fort. „Ich meine, wenn
sie so in viele WerkstMtten rum kommen, lernen sie iiberall wieder
mehr." Von Ehingen aus, wo er l^a Jahre verbringt, schickt er zum
erstenmal seiner Mutter Geld, 25 Mark. In Gaildorf, einem Flecken,
geht's ihm weniger gut. Da hat ihm ein Nebengesell seine zwei Hemden
genommen, da haben sie Streit kriegt und da hat's Schlig gegeben.
Auf einer abermaligen ^anderung erfror er die Fiisse und kam endlich
in sein Heimatsdorf zuruck, dort auf eigene Rechnung arbeitend, bei
seinen Verwandten schlafend. »Er bekam viel zu schaffen und ist zu
mir gekommen und hat gesagt: Wenn ich nur eine Maschine hitte.
Da hab ich gesagt: Daran soil's nicbt fehlen. Da hat er mich umarmt
und eine Freude gehabt und gesagt: Wenn Du nur gesund bleibst, dass
ich Dir's auch vergelten kann." Er versprach, das vorgeschossene Geld
ibr zuriickzuzahlen. „Ich habe wohl gewusst, dass wenn er verdient,.
-HJ 378 ^
er mir giebt, was er kann.** Sie holt demnach, wie bereits Eingangs
initgeteilt und durch das Sparkassenbuch belegt ist, 98 Mark von ihren
auf der Kasse lagernden 99 Mark; es gingen bei dieser Gelegenheit
zugleich einige Mark fur Stiefel des Sohnes drauf. Ob das jene Sdefel
sind, deren er bednrfte, als er schrieb: »Du darfst nicht glauben, ich
sei eigensinnig, nein, das schreibe ich in aller Liebe, sei doch so gut
und lass mir Stiefel anmessen." Selten, dass er so dringend schrieb;
umgekehrt lese ich z. B. in einem andem Schreiben: „ Darfst auch
nimmer mir Esswaaren schicken, ich bin ja nimmer klein, esse Du es
nur selbst, wenn Du etwas geschenkt bekommst.'^
Nochmals ergreift ihn der Wandertrieb, er deponiert die Maschine
bei seiner Mutter, arbeitet bald da, bald dort, bis er ^spielen*" muss und
endlich nach Strassburg in Gamison kommt.
Schlusswort.
Auf den Sohn war die ganze HoChung Rikeles gestellt. Das, was
man einen Fehltritt zu nennen pflegt, erweist sich in seinen Folgen als
segensreich. Der Sohn lohnt die miitterliche Treue mit kindlicher An-
hinglichkeit . . . Mit ihren geringer werdenden Einnahmen war ja
schon von Jahr zu Jahr Rikeles Ausgabebudget im Sinken begrifTen
gewesen; wurde ohne Hilfe durch den Sohn oder fremde Hilfe ihr
Sparpfennig nicht jener Zehrung geglichen haben, die man zum Ver-
hungem Verurteilten noch fiir eine kurze Zeit mit in das GefMngnis zu
geben pfiegte? Auch der kleine Vorrat an Mobiliar und Kleidungs-
stticken, auf dessen Zusammenbringung sie so stolz war, wiirde sie ihn,
ohne solche Hilfe, in ihrem Alter haben fest halten kdnnen? In dem
guten Willen ihres Sohnes hatte sie sich nicht getluscht. Zwar nicht
als „Kindsmagd'S wie sie einst erhofft, lebt sie bei ihm, denn er hat
es sich versagt, eine eigene Familie zu griinden, fur die er doch nicht
hinlinglich Brot gehabt hitte. Aber zusammen Ziehen sie aus der
kleinen Stadt in ihr Heimatdorf, wo Rikele eine bescheidene Titigkeit
an der Nih- und Strickschule findet, wlhrend der Sohn sein Schneider-
handwerk dort und auf den umliegenden Ortschaften weiter treibt. Sie
sehen sogar bessere Tage als fruher aber es bleibt nicht lange
so gut. Die niemals robust gewesene Gesundheit Rikeles wird schwicher
und schwMcher, die fleissigen Finger erlahmen, die Augen wollen nicht
mehr recht sehen.
Vor mir liegen die Briefe der letzten Jahre: „Diesen Sommer war
ich ziemlich schwer krank,** heisst es, „und mein Sohn war in derselben
Zeit 12 Tage eingeriickt, spMter bekam ich Gesichtsros. Mein Sohn
schafft immer noch nach T . « Zwei Jahre sp&ter klagt sie tiber
das Alter, das sich nicht mehr verbirgt, und dass die Kraft nicht mehr
kommen will. Aber immer noch ist sie zufrieden, dass sie ihre Haus-
haltung besorgen kann und freut sich iiber die Zuwendungen der
Nahrungsmittel, wie Kaffee, Tee, Schokolade, Reis, Gries, Nudein usw.,
die ihr eine Gonnerin von Zeit zu Zeit sendet. Bald aber werden diese
Zuwendungen ein Hauptfaktor, mit dem sie rechnen muss und dankend
379
schreibt sie: »Ich dachte oft, ich mochte nur auch einmal wieder Kaffee
trinken, aber das Geld reichte nie dazu; an Sonn- und Festtagen ist
jetzt Chokolade unser Mittagessen and Nachts Thee, das schmeckt jedes-
mal sehr gut, Reis und Griesbrei schmeckt auch sehr gut, sowie Nudeln
mit Butter geschmilzt zu Zwetschgen. Fleisch kdnnen wir keines kaufen,
«s ist fur uns zu theuer, wir sinds auch gar nicht mehr gewdhnt, ich
weiss kaum mehr wies schmeckt. Ich kaufe alle Donnerstag ^9 P'und
Butter fur 50 Pfennig und alle Tag IV4 Liter Milch fur 15 Pfennig,
fliit dem kommen wir aus und sind dabei recht zufrieden." Und dann:
3ie k5nne nichts mehr verdienen, sie gehe «ins Schlehen sammeln**,
dafur bekomme sie Brot und Most, sie hoffe, dass es auch wieder
besser werde, wenn es Gottes Wille sei. Das Gottvertranen Rikeles ist
unerschutterlich. Ja es scheint zu wachsen, je schlechter die Zeiten
werden. Zuletzt sehen wir, wie sie gleichsam durch briinstiges Gebet
ihrem Gott Hilfe in der Not abringen will und wie sie aus ihrer er-
regten Stimmnng heraus die Unterstutzungen, die ihr zuteil werden, als
den Ausfluss einer Vorsehung, welche die Herzen der Geber zu ihr^hin-
gelenkt hat, mit frommem Danke entgegennimmt Aber wieder
und wieder stellen sich Sorgen ein, Sorgen um den Hauszins und um
die Abzahlung einer Schuld fur eine ndtig gewordene neue NIhmaschine
(die dann von Gdnnem fur sie bezahlt wurde).
Und dann hdren die Briefe auf, und der Sohn meldet, dass nach
einer Influenzaerkrankung, zu der eine Lungenentztindung hinzngetreten
war, die Mutter sanft und selig in dem Herm entschlafen sel, im Alter
von 58 Jahren, 12 Tagen.
Alle eigene Anstrengung, alle kleinen Zufllle, deren wir gedacht
haben, alle jene eiseme Sparsamkeit, die sich keinen Moment vergisst,
air jene List, mit welcher der Anne das Leben um die Anforderungen,
die es stellt, zu betrOgen, mit der er auf tausend Schleichwegen um sie
herum zu kommen sucht, sie alle hatten nicht ausgereicht, um Rikelen
bei.den allerbescheidensten An§pruchen ein sorgenfreies Alter zu sichem.
Das Kreuzchen auf dem Gottesacker deckt die Hulle eines Menschen,
der ausruht von zihem Lebenskampfe.
H>.8 380 8^
Briefe aus Italien. L
Von Friedrich Th. Vischer. •
Alte, vergilbte Blitter — verblasste Zeilen von seiner noch jugend^
lichen Hand — gerichtet an seinen Bnider: den Pfarrer August Vischer
in Hausen an der Lauchert und an seine Schwester: Frau Professor
Nanny Hemsen in Gdttingen, zugleich aber auch an andere Verwandte
und an Freunde, bei denen von jedem Brief eine in Hausen besorgte
Abschrift herumging: an Hofrat von Bressand, Frl. Heinrike Bemer
und David Friedrich Strauss in Stuttgart, an Kaufmann Fischer in Cann«
statt, an seine originelle Hausfrau : Oberjustizratin Dann, an Oberjustiz-
Prokurator Lang, Privatdozent Dr. K. Kdstlin und Frau Pfarrer Rau in
Tiibingen, Frau PrilMtin von Bengel in Pfullingen, Diakonus Chr. Mftrklin
in Calw, Pfarrer Ernst Rapp in Enslingen (O. A. Hall), Pfarrer Eduard
Mdrike in Cleversulzbach (O. A. Neckarsulm), und an seine mutterliche
Freundin: „die gute Majorin" von Bilfinger in Ludwigsburg.
Er war damals ein angehender Dreissigen In seinem »Lebensgang*
(Altes und Neues, Stuttgart, Bonz, 1882, III, 300 f.) gedenkt er der Frucht>
welche seiner Anschauung die klassischen Linder, Italien und Griechen-
land, boten, mit den Worten: „Ich wusste gar nicht, wer der ist, der
noch iibrig bleibt, wenn ich es verm5chte, von mir auszuscheiden, was
ich dieser Reise verdanke. — Sehr wenig vorbereitet zog ich damals
aus, man kennt die Armuth der Literatur jener Zeit uber Italien und
seine Kunstgeschichte. Fr. Kuglers eben erschienene Geschichte der
Malerei und Otfried Mullers Handbuch der Archiologie waren fast mein
gauzes Vorstudium. Statt aller anderen Liicken meines Konnens will
ich anfuhren, dass mir die vorraphaelischen Schulen und Meister nur
Namen waren.*
Die Grundlage vorhandenen historischen Wissens war noch nicht
so gross, aber die humanistische Bildung um so lebensvoller und der
Sinn des Reisenden um so frischer, um so empfinglicher. Man hatte
von der Technik noch nicht so viele Hilfsmittel, aber auch nicht so
viele Gleichform und Beunruhigung, fuhr nicht so rasch durch, erfuhr
desto mehr und konnte noch die ganze Romantik des Landes ultra montes
geniessen.
Mein Vater spricht an der genannten Stelle namentlich von Fiesole,
Ghirlandaio, Perugino, Fr. Francia: »Das Entzucken fiber die ruhrende
Unschuld, innige Anmuth und herrliche NaivetMt dieser Quattrocentisten
hitte mich zum Nazarener gemacht, wire nicht sonst dagegen gesorgt
gewesen. Doch ich muss abbrechen, sonst kdnnte ich kein Ende finden»
musste von den grossen Cinquecentisten, von den spiteren Meistem,
von der Antike, von Land und Leuten schreiben, wie alles das auf mich
gewirkt, und es wurde doch nichts zu Tage kommen als ein neues
Beispiel der TrMnkung, Umbildung, Befruchtung nordischer, subjektiver.
381 8^
zu sehr nach innen lebender Menschennatur durch die grosse, freie,
objektive Natur des Sudens, der klassischen Kunst und der Renaissance.''
Sprechende Zeugnisse dieses Vorgangs sind seine damals ge-
schriebenen Briefe, die nun hier und in den spMteren Heften der »Siid-
dentschen Monatshefte** veroffentlicht werden.
Gottingen. Robert Vischer.
Lieber Bruder und liebe Sch wester I
Mude von Visiten u. Packen u. Mrgerlich, dass ich 4 Stunden auf
den Eilwagen warten musste u. also unndthig um 2 Uhr aufgestanden
war, lag ich in Metzingen im Adler auf dem Bett. Bin zweiter Mensch,
der in mir ist und mir Alles zu entleiden sucht, ein hMmischer, miirrischer,
widerwMrtiger, hypochondrischer Kerl fitisterte mir zu: wohin will denn
eigentlich der Mensch da? „Nach Italien." Hier erhob der Andre ein
hdhnisches GelMchter. Sie nach Italien? Der Hans Unstem, dem das
Butterbrod immer auf die gestrichene Seite fiillt? Sie werden auf der
ersten Station die Bdrse verlieren; wenn Sie die schdnsten Gegenden
sehn wollen, wird es eben regnen; Ihr Hiihnerauge, mein Verehrtester,
wird Ihnen, wie ktirzlich in Mtinchen, das Gehen unmoglich machen,
und endlich wenn Alles gut geht, was thut denn ein solcher nordischer
Mensch, wie Sie, der nichts rein geniesst, sondern in jedem Genusse
uber den Genuss grtibelt und sich ihn dadurch verderbt, was thut, sage
ich, ein solcher Esel in Italien? „Sie werden etwas grob, mein Anderer,
sind wir ein Esel, so sind wir es zusammen, muss aber Einer hinaus,
so wollen wir sehen, wer es gewinnt, ich Oder Sie, also mit nach
Italien!*' Am 3. Abends kam ich in Bregenz an, u. hier unterhielt
mich, wie schon fruher einmal, der Anblick des schdnen ungarischen
MilitMrs, das dort liegt. Die starken Wirbel des Zapfenstreichs er-
innerten mich an Aspem und Wagram, wo namentlich die Ungarn so
tapfer fochten. Am andern Morgen sah ich einen ungarischen MilitMr-
gottesdienst im Freien. Es wurde eine alte Kirchenmelodie mit ungarischem
Text gesungen, dann das Evangelium ungarisch vorgelesen etc. Was
hat dieses Oestreich fur ein Kriegsmaterial. Aus den Ebenen u. Bergen
Ungarns zieht es diese schlanken, braunen Menschen, die zum Soldaten
geboren sind, aus Deutschland seine trefflichen Schiitzen und schweren
Reiter, aus Polen seine unvergleichlichen Lanciers, von der tiirkischen
Grenze die wilden RothmMntel. Und doch war es niemals im Kriege
gross. Man darf aber nur die alten, fetten WSnste von Generalen an-
sehn, in deren HMnde dieses vortreffliche Werkzeug gegeben isu so hat
man die ErklMrung. Die jtingeren Offiziere sind lebendiger und scheinen
mir sehr gebildet, ich konversirte in Bregenz, Verona u. a. gem mit
ihnen. Auch haben sie die Soldaten-Renomage, das Schnauzbartgesicht
gegen den Civilisten nicht, das unsere Offiziere so ubel kleidet.
Mein weitrer Weg durch Vorarlberg und Tirol. — Das schone
Gebirgsthal, das mit Feldkirch beginnt, ist voU von Spinnfabriken. —
Spinne nur zu, miide Menschheit, bis dn endlich abgesponnen hast u.
382 8^
der HeiT in seinem Zorn irgend ein naturwildes, aber gesundes Volk,
wie einst die Deutschen, benift, um dir die Webstuhle nm die Kopfe
zu schlagen und ein neues Blut in deine Adern zu giessen. Ein sehr
feiner und gebildeter Geistlicher aus Feldkirch, mit dem ich bis Landegg
reiste, sagte mir, dass die tigliche u. einzige Nahning dieser Leute
aus Kartoffein und Caf6 bestehe. — In Meran, wo ich am 6. ankam,
fuhlt man und sieht man das Sudliche schon deutlich. Der Duft der
Fernen tlef blau, die Weinrebe an dachformigen UberhSngen gezogen,
so dass die Chauss6e oft unter dem lieblichsten Gitter von Reben
hinfuhrt, treffliches Obst, frische Feigen. Die Gegend ist wundervoll.
Die Hitze war schon, nachdem ich kurz vorher in den hdchsten Alpen
an ewigem Schnee u. Alpenrosen voruber sehr frostig gefahren war,
gltihend. Der Menschenschlag weist immer stirker nach Italien, die
Tiroler dieser Gegend sind an Grosse und Stirke deutsch, aber fast
durchaus von schwarzen Haaren, dunkelbrauner Gesichtsfarbe, schwarzen
Augen. — Bozen ist die Grenze der deutschen Sprache, liier wllscht
schon der Hausknecht u. die Kellnerin. — Am 7. Abends von Bozen
nach Salum im Stellwagen (Omnibus, sonst nicht mal bonnet). — In
Salum iibemachtete ich. Den 8. Morgens ab nach Trient. Vor Salum
ist die Grenze zwischen Deutsch- u. Walsch-Tirol. Hier erzMhlte mir
der Kutscher sei vor einigen Jahren um dieselbe Zeit in der Fruhe sein
Bruder von 5 RMubern aus einem der italienischen Ddrfer iiberfallen,
tddtlich verwundet u. fur todt in die Etsch geworfen worden. Sei's, dachte
ich, an den ist's eben gekommen, an mich wird es nicht auch kOmmen.
Donnerstag, den 8. in Trient. Hier, meine Freunde, machte ich
nun die auffallende Bemerkung, dass das Italienische nicht Deutsch ist
Lacht nicht, wtirdige Freunde, es ist mir Ernst Es ist doch so natiirlich,
ein Haus Haus zu nennen, warum denn casa? Es sind docb'Menschen,
sie sehen dir ins Auge, sie thun den Mund auf, und du verstehst sie
kein Wort! Welche Verstelluhg! Und doch hatte ich mir die Miihe ge-
geben, zu Haus noch etwas italienisch zu lemen. Wenig genug, denn
ich weiss nicht, was grdsser ist, mein Mangel an Talent in der Erlemung
neuerer Sprachen, oder meine Antipathie gegen dieselben. — Ich hatte
gedacht, das Nothwendige im Wirthshaus u. s. w. konne ich schon reden
und dann werde ich schnell weiter kommen. Aber — aber — wie hatte
ich mich geirrt! In Trient im Gasthof futterte der Kellner, der mich
empfieng u. nicht Deutsch konnte, ein Zeug an mich hin, von dem ich
kein Wort verstand, vl von meinem Italienisch verstand er keins.
Mein schSbiges bischen Franzosisch nutzt mich auch nichts, denn das
vermische ich jezt mit meinem eben so schiibigen bischen italienisch,
u. sage, donnez moi anche un bicchiere di vino etc. Kdnnte ich aber
auch 10 mal besser italienisch, als ich es kann, u. hMtte bios die
Grammatik zum Lehrer gehabt, wie man ja in Tiibingen nicht anders
kann, so wire die Verlegenheit dieselbe gewesen. Die ganze Physiognomie
der Wdrter ist, wenn man den Italiener hdrt, eine andre als im Buche,
man erkennt das sonst wohlbekannte Wort nicht wieden Ich las das
viaggio-Wiadscho, ogni-onji, man spricht es aber ganz anders, namentlich
383 8^
das erstere nnendlich weich u. schdn. Schreiben llsst es sich nicht.
Ohnediess wird verschlnckt, znsammengezogen, der Provinzial-Dialecte
nicht zu gedenken. Auf den Strassen fragte ich dfters italienisch nach
meinem Wege. Anfangs yerstand mich kein Mensch, wenn man die
Frage endlich verstand, so verstand ich die Antwort nicht. In
meiner Noth gabelte ich den Hausknecht auf, der deutsch sprach, und
schloss mit diesem uber die Stunden, die ich da war, einen bis ans
Zirtliche grenzenden Bund, ja ich h§tte rufen mdgen : Arm in Arm mit
dir, o Hausknecht, forder' ich Wilschland in die SchrankenI — In diesem
Zustand war mir der Anblick einer Katze von grosser Beruhigung. Ja
sol dachte ich, Katzen gibt es hier auch. Nun ja, die kdnnen auch nicht
italienisch und schimen sich doch nicht. Die Katze sass wirklich so
da, wie bei uns die Katzen, u. Hess sich gar nichts merken, dass sie
italienisch sei. —
Ubrigens gibt es hier, namentlich in Venedig, wundervolle Katzen,
von ungeheurer Grosse, Kerle wie Tiger, u. du, Freund Strauss, solltest
deswegen offenbar mit Tante Rike nach Italien reisen. Die Hunde
kommen mir schon etwas fremdartiger an Temperament u. Charakter
vor, sie pflegen beim heftigen Bellen sich zum Theil im Ring herum-
zudrehn, welches mein einst so geliebter, leider jetzt demoralisierter
Freund in Hansen sehr affektiert finden wird. Diesem sage man mit
meinem Grusse, dass gleich in Trient, als ich mich ein wenig aufs Bett
legte, das bekannte italienische Obel so stark auf mich lossturzte, dass
mir jene Kur mit warmem Wasser, Seife u. Alkohol, die ich] bei ihm
so oft anwandte, gar wohl bekommen wMre. — A propos — gestem verlangte
ich im Wirthshaus Seife statt Senf — sapone fur senape (mostorda).
Sehr vieie Mdpse gibt es auch in Italien. Doch davon lasst uns
jetzt abstrakiren und von Menschen u. zwar erstlich von Weibem
sprechen. Schon in Trient sah ich mehrere gar schdne, namentlich ein
MIdchen, das (wie man hier uberall dies im Freien thut) in der NMhe
der Kathedrale wusch, so nobel u. anmuthig, dass ich stehen blieb, um
ein Ornament an der Kirche abzuzeichnen. In Verona u. Venedig aber
beginnt erst vollends der rechte Schlag, der an alte rdmische Formen
erinnert, namentlich der michtige, voile Nacken, die beriihmte Schdn-
heit italienischer Weiber, der sehr weit ausgeschnitten getragen wird. —
Die Hitze ist weit stMrker als bei uns im heissesten Sommer.
Ich bin ganz bronciert, man zerfliesst. Da thut aqua fresca con ghiaccia
Oder sorbetto gut.
Nun ich war also in dem Land, wo auch der gemeine Mann nobel
und interessant aussieht, wo die deutsche Kartoffelnase verschwindet.
Der Deutsche geniesst sich in seiner S^bstantialitMt bei unglucklicher
Form, der Englinder ist stolz in seiner StMrke, der Franzose eitel in
seiner Eleganz u. seinem Point d'honneur, der Italiener geniesst in
leg^rem Behagen das Bewusstsein, ein klassisches Volk zu sein. Wo-
her die ital. Maler solche hdchst bedentungsvolle Kdpfe im Uberfluss
nahmen, darf man nicht mehr fragen, wenn man in Italien ist, man darf
nur an eine Gondel, man darf nur auf die Strasse gehen. M§nnerkopfe
"^•8 384 8'*
von grdsster Schdnheit bei gemeinen Schiffern, edle Linien der Knochen^
lauter gerollte Haare, schdne, glinzende Augen.
Mit dem Eintritt in Italien, in sein Volk, seine Luft, seine Alter-
turner fuhlt man siclt von jenem Geiste des Realismus angehaucht, aus
welchem die Alten ihre Grdsse in Kunst und Staat schdpften. Ein
Unvorsichtiger verliert hier den inneren ideellen Fond der deutschen
Natur, das Land ist wie eine schdne Frucht, wovon man, wenn man sie
issty ja den Butzen wegwerfen muss, es ist ein Giftstachel darin, der
Kluge, der Feste spurt sie und wird neu belebt. Goethe feierte hier
seine voile Durchgeburt zum klassischen Geiste. Er ist mir immer auf
den Fersen. Ich darf dem Grossen die Schuhriemen nicht losen, aber
„es lebt etwas in mir von seinem Geisf, u. dieses Etwas, der sudliche
Mensch in mir, wird vielleicht, ja ich hoffe es, endlich mit meinem
nordischen, skeptischen Menschen einen Frieden schliessen. Es ist eine
gute Ahnung in mir. Es wird mir leicht. Es geht. Va bene. Bleibt mir gut. —
Von Trient am 8 ten Abends nach Roveredo mit einem Vetturin,
der mir uber meine Fortschritte im Italienischen gute Zeugnisse gab.
Am 9. Morgens von Riva auf dem Dampfboot den Garda-See
hinab, welcher schdn, aber nicht so schon ist, als der Bodensee u.
Zurichersee. ^) An den Ufem sind schdne ZitronengSrten u. Oliven-
wSlder. Die Gesellschaft bestand aus lauter Italienem. — Einer um
den Andem kam mit grosser Hdflichkeit und zog mich in die Unter-
haltung. Beim Abschied kusste mich Einer sogar, da ich dies aber
(unter MSnnern) nicht leiden kann, musste er lange zielen, bis er mich
endlich doch traf.
Von Desenzano mit zwei Italienem und einem Vetturin naoh Verona«
Hier konnte ich die ital. Thierschinderei auf dem Gipfel sehen. Dass
das Pferd ein Belebtes, nicht eine Sache ist, weiss der Italiener gar
nicht, von Haber ist die Rede nicht, alle Pferde haben Heu-Bauche.
Endlich konnte ich, ein Mitglied des Vereins gegen Thierqualerei das
Ding nicht mehr ansehen und fluchte u. schimpfte auf den Kerl
italienisch u. deutsch durcheinander hinein — bestial Hund! Vieh! cane!
Brutto senza compassionel etc. Item, es that doch Fur dieses mal gut.
In Verona Abends angekommen, hatte ich schon ganz ein Bild italie-
nischen Lebens. Die Strassen waren tief in die Nacht vol! von Spazier-
gangem und SpaziergSngerinnen, an einer Strassenecke sangen gemeine
Handwerksbursche ganz kunstmSssig und mit herrlicher Stimme etwas
aus einer Oper. VerkSufer von Wasser-Melonen, Limonen, Pfirsichen
^) Ober diesem Satze (der Abschrift seines Bruders) stebt von der splteren
Hand Fr. Viscbers der Selbstanruf: O Esel iiber Esel, der du warst*. Vgl. seinen
»Aucb Einer'', Eine Reisebekanntscbaft, Stung, u. Leipzig, 10. Aufl. 1903, II, 253
Volksausg. 1904, S. 426 f. u. seine ^Kritiscben GSnge*, Neue Folge, Bd. I, Stuttg. 1860,
H. 1, S. 163 ff., 165 ff. Da scbreibt er: »Noch weiss ich deutlicb, wie einst vor
zwanzig Jabren, als ich bier zum erstenmal Italien betrat, dem ungew5bnten Sinn
die Reize dieser Natur verscblossen blieben: Das Auge suchte noch das lustige
Griin, die safdgen Wiesen, die kleineren, spielenderen Formen der Heimat; lulten
war mir noch eine stolze, abweisende Scb5ne; Alles so fremd, so vomebm u., wie
ich in der B15dheit des Neulings binzufugte, so kalt.* —
385 8^
schrieen wuthend. An dieses Geschrei, das hier in Venedig ist, hat
sich mein Ohr noch nicht gewdhnt, ich kann den Ton nicht anders
als mdrderisch nennen, es klingt wie: kaufe mir ab, oder .
— Liebe Majorin, ^) Du darfst aber fiber diesen vielen Reden von
Dolch u. Todschlag keine Angst bekommen. Es ist in Italien gar nicht
so gefShrlich, wie man es macht, u. will der Herr ein Ende mit mir
machen, so geschieht es nicht auf diese Weise, das weiss ich ganz ge-
wiss. Kommt ein Rfluber, so darf man ihm nur Geld geben, u. sich
nicht wehren, das ist einfache Hegel. Ich wollte Waffen kaufen, aber
jedermann rflth dies aufs flusserste ab.
— Was eine alte Stadt ist, in welcher vor grauen Zeiten eine
Baukunst, die in Deutschland nur sehr weniges hervorbrachte, (die
byzantische) herrliche PallSste u. Kirchen in Menge errichtete, das sieht
man in Verona, freilich noch mehr in Venedig. Ueber das Hereinwirken
griechisch-orientalischer Kunst in die des Mittelalters habe ich ganz
neue Ideen bekommen. Solche Beschflftigung ist mir hdchst wohl-
thuend. Philosophirt wird jetzt nicht, sondem angeschaut u. etwas Weniges
dabei gedacht. Am meisten Philosophie treibe ich in Beziehung auf
das Geld, denn dieses behandle ich ganz nach seinem innem Begriff,
welcher der ist, dass es kursiere. —
— Der Circus in Verona ist bis auf den obersten Bogengang
ganz erhalten u. etwas h5chst merkwurdiges. Die Phantasie belebt schnell
dieses Ganze, diese unendlichen Sitze mit jauchzenden Rhfltiem u.
Romem, diese arena mit kampfenden Bestien u. Sklaven. Die Bau-
kunst durchwandert hier alle Perioden. Auf das Rdmische folgen
Mauer-Reste von Theodorich, dann das byzantinische, dann das gothische,
dann der Zopf, der so barbarisch, so unverantwortlich als irgendwo, ja
natfirlich noch mehr in Italien, seinem Sitze, die Baukunst des Mittel-
alters verklebt hat. —
Sonntag am 10. durch die lombardisthe Ebne nach Venedig. In
der Lombardei sieht man doch deutlich den deutschen Schlag, der hier
erobemd eindrang, an den vielen blonden u rothen Haaren u. blauen
Augen. Ich fuhr die Nacht hindurch. Um 3 Uhr Morgens wurde ich
zu Maestre in eine Barke gesetzt u. fuhr in der Dflmmerung durch die
Lagunen Venedig zu, das feme mit seinen Lichtem aus den Wellen glinzte,
dann durch den grossen Kanal in die Stadt, unter dem beruhmten Rialto
durch. Auf beiden Seiten eine Reihe herrlicher PalSste, aber dd u. leer.
Die eigentliche Runde habe ich nun hier noch nicht gemacht,
sondem ich bin viel zu Haus u. leme italienisch. Balder, als bis ich
ordentlich sprechen kann, will ich von Venedig nicht weg. —
Der Marcusplatz ist etwas Einziges. Die Markuskirche mit ihren
Kuppeln, Marmor- u. Goldmosaiken, ihren phantastischen Ornamenten,
daneben der gothisch-maurische Dogenpalast — dann der Hafen — ein
Reich der Phantasie, ein wirklich gewordener Traum, ein Stuck aus
Tausend und Einer Nacht. Der grosse Platz mit glinzend glatten Stein-
') S. oben S. 380.
386 8^
platten belegt, ringsumher die herrlichen neuen Pallste mit Bogengingen^
nnter denen tief in der Nacht die ganze elegante Welt spazieren geht>
Oder im Freien an den Caf6hflusern sitzt u. wo man die schdnen Frauen
Venedigs tflglich im Schimmer der vielen Lampen bewundem kann —
so etwas gibt es nur hier. Die ganze Stadt ist ja etwas Unglaubliches^
eine Stadt mitten im Meer!
Montag, den 11. war ein kleines Volksfest, man fubr in Gondeln
in die Lagunen hinaus, mein Hausphilister nahm mich mit. — Das war
nun freilich etwas Andres als ein Spaziergang im botanischen Garten
zu Tubingen. Hundert u. hundert von Gondeln fuhren durcheinander,
die Ruderer suchten sich in pfeilschnellem Fahren zu iiberbieten, es
ging wie toll, u. dabei weichen sie doch aus, dass man nie anstdsst; am
Ufer tanzten braune Schiffer nach einem Tamburin Nationaltlnze u.
warfen die phrygischen Mutzen in die Hdhe, ein Improvisator machte
schlechte Witze, in der Feme sank das mSchtige Gestim blutroth in
die unendlichen Wasser. —
Vorgestem badete ich im Meere. Das ist etwas ! Ein eignes Ge-
fuhl, wenn man in dieser unendlichen Masse herumschwimmt: der Mensch,
der doch mehr ist als alle Berge u. Meere u. Ltifte, so klein, ein solcher
Knirps! — Als ich hineinging, kitzelte mich eine Meerspinne ein biscfaen
am Fuss, ich schleuderte sie weg und sah ihr zu, wie sie schflbs ^) durchs
Wasser hauderte. Ich dachte, der Hebe Gott habe doch allerhand Kost-
ginger, u. so bin ich eben auch einer u. hoffe zu ihm, er werde mir
auch kunftig passable Kost reichen.
Eine dstreichische Fregatte von 56 Kanonen habe ich auch gesehn.
Sie erscheint nicht so gross, als sie ist, weil das Auge durch die Um-
gebung einen sehr grossen Massstab mitbringt.
Ich denke im ganzen 3 Wochen hier zu bleiben, denn so lange will
ich meine Lehrstunden fortsetzen, also bis zum 1. September.
Meine Adresse ist: iff>':casa di Antonio Grueber, Calle Fiubbera
N. 869. —
Ich grusse euch Alle aufs Beste. Sie, meine verehrte Hausfrau, ^
sind, hoffe ich, ganz wieder gesund. Wissen Sie auch, wie sehr es
mir nach meiner Caf6maschine ahnd thut? Noch keine Tasse guten
Caf6 habe ich gefunden, aller, auch in den ersten CaKhSusem Venedigs,
ist zum Ausspucken. Freilich solchen Caf6 wie ein gewisser junger
Mann in Tubingen, der jetzt auf Reisen ist, macht nicht leicht jemand.
— Wie steht es mit Mdrklin? — Rapp soli seinem Bruder sagen, dass
ich dessen Brief an Herm Bofinger in Venedig richtig erhalten habe
u. dass dieser bald antworten wird. Ich war sehr erfreut uber die
Bekanntschaft mit Maler Bofinger, die ich durch diese Adresse machte. —
Tutto il vostro
Fr. Vischer.
Venetia. Geschlossen d. 16. Aug. 1839.
*
^) Schwlbiscta » scbief.
>) S. oben S. 380.
387 8^
Pisa, den 2. Sept. 1839.
Das seltsame Venedig liegt jetzt zu einem Bilde schdner Erinnerung
^erklflrt hinter xnir, mit seiner uralt byzantinischen Marcus-Kirche, deren
Facade u. WSnde von Gold u. Silber, Mosaik^ji. hunter Arbeit wie
orientalische Teppiche schimmem, seinem Dogenpallast, seinem Marcus-
Platz, wo unter den Colonnaden der umgebenden Palllste im nSchtlichen
Lampenschimmer die schdnsten Frauen sitzen, seinen unzihligen, jetzt
leeren und dden PallMsten, seinen herrlichen Galerien, wo Tizian u.
Paul Veronese mit ihren satten Farben, ihren finsterkrSftigen MSnner-
kdpfen, in dem unvergleichlichen Incamat der weiblichen Formen jedes
Ange fesseln, — mit seinen Lagunen, Kanfllen, Gondeln, dem wiithenden
Geschrei der VerkSufer, mit seinen grossen geschichtlichen Erinnerungen.
Mein Leben war hochst einfach u. auf wenige Genusse beschrMnkt.
Bis 2 u. 3 Uhr lemte ich italienisch wie ein Schulknabe, dann ass ich
(nie mit rechtem Appetit, denn die Kuche ist schlecht, unreinlich, u.
der Gestank halb-iibergegangener Fische, schmieriger Muschelthiere u. s. f.,
den man von der Strasse her immer in der Nase hat, verschlSgt den
Appetit). Ohne Eis war in der gluhenden Hitze kein Tropfen frisches
Wasser zu bekommen. Nach dem Essen sah ich einige Merkwurdig-
keiten, dann nahm ich eine Barke auf die Insel Lido, um dort im offenen
Meere zu baden. Ich badete oft bei ziemlich bewegtem Meere; das Ding
sieht im Anfang ziemlich unheimlich aus, die hohen Wellen, der dumpfe
Donner und Schaum der Brandung — aber wenn man nur erst im Wasser
ist, macht es sich ganz hiibsch, man schwimmt federleicht, eine hohe
Welle kommt drohend hoch iiber dich her, legt dich hubsch ordentlich
auf die Seite, u. du streckst den Kopf wieder ganz wohlbehalten aus
dem Wasser. Abends sah ich die schone Welt auf dem Marcus-Platz,
nahm ein Sorbetto (Gefromes) und trollte mich dann nach Haus, um
wieder italienisch zu lemen. Einmal hatte ich auf den Lagunen ein
kleines Abenteuer; ich fuhr mit drei Oestreichem, worunter ein Wiener
Handschuhmacher, ein reicher Mann, der nach Venedig gekommen war,
um einmal recht gut zu speisen (der Unglucklichel) nach der nahen
Insel S. Lazaro, wo ein Kloster armenischer Mdnche ist (meist herr-
liche Kdpfe, mit langen BIrtenI). Im Heimweg kam ein furchtbares
Gewitter, man sah keinen Schritt, der Regen stiirzte in Strdmen, Blitz
auf Blitz, u. nur Ein Ruderer. Wir mussten eine Zeitlang in ein HSuschen
eintreten, das auf Balken in den Lagunen steht, wo Soldaten der Dogana
uns sehr freundlich mit ihrem bischen Wein bewirtheten. Es half aber
nichts, man musste wieder auf das unwirthliche Element hinaus. Der
Handschuhmacher Iflcherte mich nicht wenig — nach Venedig kommen,
in der Hoffnung, so manches «backene Hindi*, so manche frische
Anster zu verzehren, u. so untergehen! Es war aber gar keine Gefahr,
denn es war kein Sturm (der ist auf dem Meere, nicht auf den Lagunen),
u. wir kamen ganz wohlbehalten, aber freilich auch ganz nass auf der
Piazetta bei den uralten SSulen mit dem Ldwen des h. Marcus u. dem
h. Theodor an.
Die Menschen sind, wie sich von einer Hafenstadt nicht anders
-4^ 388
erwarten Idsst, verdorben und betrugerisch. Mir wurde (trotz grdsst-
mdglicher Aufmerksamkeit) ein Schinn u. ein Taschentuch gestohlen.
Bin Preusse erzShlte mir, dass er einen Taschendieb im Moment er-
wischte, da er ihm eben das Nastuch stehlen wollte; er packte ihn, aber
der Kerl biss ihn so in die Hand, dass er ihn fahren lassen musste,
u. das Volk half ihm durch, da er ihn verfolgte; denn das Volk hilft
hier unter alien Umstinden immer gegen die Polizei. So verdorben es
aber hier u. iiberall in Italien sein mag, man sieht doch selbst dem ge-
meinen Menschen an, dass die edle und klassische Natur unter dem
Schutte nicht verloren ist. Italien hat mehr Pdbel, als irgend ein anderes
Land; aber betrachtet man als wesentl. Eigenschaft des Pdbels, dass die
Gemeinheit auch im Susseren Wesen durch unedle Formen sich Sussert^
so gibt es hier keinen Pobel. Ein Gondolier, der keinen Kreuzer wenh
ist, unterhSlt sich mit dir an der Spitze seiner Gondel mit einer nobeln
Bescheidenheit, er fuhlt sich als Mensch, als Italiener, ohne desswegen
indiscret zu sein. Handelt sich's um's Zahlen, so geht freilich die
Indiscretion an, aber auch da zeigt sich der Kerl talentvoll, indem er
die Rolle der gerechten Unzufriedenheit mit einer Art spielt, indem er
ein hohes Trinkgeld mit einem Ausdruck der Verachtung in der Hand
wiegt, dass du, so gut du dieses Spiel kennst, doch einen Moment an
deinem Rechte zweifelst. Grundgescheut und aufgeweckt sind sie alle,
verstehen einen Wink, wo man dem deutschen Jockel die Sache zehnmal
sagen muss; nichts von dem vernagelten, kameelartigen Wesen, das ein
oft noch so gescheuter junger Mensch in Deutschland an sich hat; alle
Eigenschaften des Geistes, die auf das sinnlich Deutliche u. Anschauliche
gehen, stehen in der Bliithe, aber die Tiefe, die Einkehr des Geistes in
seine Tiefen fehlt.
Ich fiihlte mich seltsam geruhrt, als ich in Venedig einmal den pro-
testantischen Gottesdienst besuchte, — deutsche Predigt, Gesang u. s. f.
AUes wie bei uns: hier konnte perfect der Schneider Riethmiiller mit
einer grossen Brille hinter seinem Gesangbuch sitzen, oder die Jungfer
Patschenfeldin, — aber plotzlich horst du draussen auf der Gasse ein
wuthendes Geschrei: Anguriel anguriel (Wasser-Melonen) sono molto
sane! molto leggieri! Acqua frescal Persicel u. s. f., und du erinnerst
dich, wo du bist.
Die besseren Theater waren geschlossen, nur das theatre giumo
(Tag-Theater) war offen; hier brachte ich einen Abend zu. Schiffer u. dgl.
bildete das ganze Publicum, dessen Naivetdt mich unendlich gaudirte,
denn hier war nun die Theilnahme rein stoffartig, der Schauspieler, der
einen Bosewicht spielt, wird, je besser er spielt, desto rasender aus-
gezischt, ausgetrommelt, ausgepfiffen. Einer wurde fur eine edle That,
die in seiner Rolle vorkam, dreimal gerufen u. mSchtig beklatscht, beim
Hinausgehen aber stolperte er iiber seinen Sibel, woriiber er in demselben
Moment eben so toll ausgelacht wurde. Bei der Musik pfiff das ganze
Parterre mit.
Die Natiirlichkeit ist wie im Suden uberall. Man kann ohne Aerger-
niss in den Kanilen (d. h. in den Strassen der Stadt) baden, u. ich hatte
-4^ 389 8.^
eininal meinen Spass, als ich bei dem Maler Robert, dem Bruder des
benihmten, mit drei dsterreichischen Offizieren war, und diese pldtzlich
sich auszogen, mit grossen SItzen aus der Hausthur fuhren, obwohl
Damen auf dem Balkon standen, u. im Kanal herumschwammen wie
Wasser-Enten. Wunderschdne MInner, zum Malen. In diesen Lindern
war eine Plastik mdglich; wir vermummten Leute wissen nicht mehr,
was eine Schulter, eine Brust, ein Schenkel bedeutet.
Am 3. Sept. nahm ich Abschied von dieser Stadt, deren wunder-
bare Situation ich oft von dem Campanile des Marcus-Platzes betrachtet
hatte. Mein Haus-Philister, ein echter Hungerteufel, den ich bis dahin
knapp gehalten hatte, war iiber ein gutes Trinkgeld, das ich ihm zuletzt
gab, so glucklich, dass er mir heftig die Hand kusste, wobei er sich
meinen Stock, den ich eben in der Hand hatte, ins Auge stiess. —
Noch einmal betrachtete ich mir die Palllste am grossen Kanal, durch
den die Barke fuhr, den Rialto, die Kuppeln, u. prMgte mir das grosse
Bild fur immer in die Phantasie.
Ich hatte mit drei Norddeutschen Bekanntschaft gemacht, recht
artigen Leuten, zwei davon sind Architekten, daher mir ein belehrender
Umgang. Diese reisten nach Bologna, u. ich, fur den dies ein grosser
Umweg war, der ich aber einen solchen nicht vermeiden konnte, wenn
ich Venedig und Genua sehen wollte, beschloss mit ihnen dahin zu
reisen, da ich Bologna auch nicht lassen wollte. Die erste Station war
Padua, die alte beruhmte Universitdt, die als solche einem akademischen
Wesen schon heimathlich sein musste; man fiihlt sich zudem behaglich
zu Hause, wenn man wieder auf dem ordentlichen festen Lande ist,
Pferde u. Wagen sieht; auch gab es hier — keine geringe Sache —
die unertrSglichen Schnaken nicht, die sich gegen den Schlaf des armen
Fremdlings verschworen haben. Padua ist reich an Kunstalterthiimem,
eine Kapelle enthSlt wundervolle Fresken; wenn du in die Kirche
S. Annunziata trittst, die ultramarinblaue Decke mit den goldenen Stemen,
die WSnde mit Fresken von der Hand des ehrlichen Giotto bedeckt
flndest, so fuhlst du dich in einen Weihnachtsabend aus deiner Kindheit
versetzt. —
Zwei Stucke sah ich von einer trefflichen Truppe auffuhren, ich
batte von dieser Precision u. Lebendigkeit im italienischen Schauspiel
nichts gewusst. Das Outriren u. zu scharfe Markiren pldtzlicher Ober-
^nge haben sie mit den Franzosen gemein. Das eine Stiick war der
Orest von Alfieri, — die Fabel iibel aufgestutzt und moralisirt, aber
viel gute Gelegenheit fur den Schauspieler.
Am 5. nach Rovigo, am 6. fiber Ferrara nach Bologna. Der Eintritt
ins pflpstliche Gebiet war mit Widerwdrtigkeiten alter Art verbunden, u.
wir gestanden uns Abends, dass es ein wahrhaft Nicolaischer Tag war.
In Ferrara stand ich unter dem Wirthshaus, als die drei Anderen schon
«ingesessen waren; ich hatte fur alle vier die Kasse und sollte noch
Einiges zahlen, nun zupfte mich an der einen Seite der Cameriere, an
der anderen der Facchino (d. h. derjenige, der die Effekten in die Chaise
trigt, denn das thut hier kein Kutscher etc.), von der anderen ein Vetturin,
SQddeuuche Monatihefte. 1,5. 26
390 8^
der uns vorher einen Weg gezeigt hatte, u. endlich eine Bettlerin. Icb
verlor doch die Geduld, stampfte auf den Boden, brannte zuerst eine»
24 Pfunder von einem guten deutschen Fluch ab, u. fuhr dann los: gente
cattiva! senza vergogna (ohne Scham), senza pudore u. s. f., dass die-
Kerle doch Respect kriegten und miuschenstill wurden.
Ans Padua muss ich noch nachholen; ich ging Nachmittags dnrcb
eine entlegene Strasse dieser einst so belebten Stadt. Gras wuchs au&
alien Ritzen, kein Mensch war zn sehen. Nur ein Orgelmann ging, sein
Instrument spielend, durch die dden Rlume u. sah vergeblich nach den
leeren Fenstem, ob kein Almosen herausgeworfen werde. Eine Scene so
voll tiefer Melancholie, dass sie mir immer eingeprigt bleibt.
Fortsetzung in Florenz seit dem 5. Oktober.
Am 7. Abends kamen wir in Bologna an, die zweite altberuhmte
italienische Universitit, die ich sah. Nach den listigen Erfahrungen
dieses Tags war es mir besonders erfreulich, einen Wurttembergischen
Kellner im Gasthof zu treffen, der aber nachher nicht Stich hielt. — Was
eine alte Stadt ist, kann man nur in Italien sehen, wo ein reiches, durch
Kunst und Geschichte bedeutendes, Leben bluhte, als Deutschland nocb
halb barbarisch war. An den Strassen sind in Bologna wie in anderen
StSdten links und rechts fast uberall Bogenginge mit den interessantesteo
SSulen, deren fast jede ein anderes CapitH hat. Ein fur sich bestehender
bedeckter Bogengang fuhrt eine Stunde weit nach S. Luca, einer Kirche
mit einem Marienbilde, das der Apostel Lucas selbst gemalt hat! Der
Campo Santo (Kirchhof) ist prachtvoll, ein schdnes Monument am anderen.
Kirchen — eine Menge der interessantesten, nur leider gerade die
durch alten Styl ausgezeichnetsten an der Fa9ade u. im Innem un-
verantwortlich durch den Zopf, d. h. Peruckenstyl der letzten Jahrhnnderte
(seit dem 16^^") verhunzt. Dieser schlimmste aller Style hat auch in
Deutschland, noch mehr in Frankreich, am meisten aber und mit einem
wahren Blutdurst in Italien gewuthet. In Ravenna ist eine Rotunde aus
dem 6*^° Jahrhundert, ihr Inneres war mit Mosaiken in alien Farben
Gold u. Silber bedeckt, man reisst die Mosaiken ab u. malt die Winde
mit peruckenhaftem Gesudel. In Parma sind in der Kathedrale herrliche
Fresken im Style Giotto's unter einem weissen Oberzug von Gyps u.
unter einem viereckigen Anwurf von Stuck runde byzantinische SSulen-
schSfte u. CapitSle vom schdnsten Marmor entdeckt wordeni Mdchte
man nicht mit Bomben u. Granaten drein schiessen?
Die Galerie von Bologna hat wundervolle Schfltze. Ein Perugina
(der Meister Raphael's) — man kann nicht wegkommen von diesen
KdpfenI KindertrMume von einer Seligkeit, die wir verscherzt haben,
schweben bittend und weinend um diese Leinwand. Raphael's beriihmte
Cicilie, die daneben hingt, erscheint in dieser Nihe des strengen
religiosen Styls, der eben erst in die freie Schdnheit uberzugehen den
Schritt gethan hat, sinnlich und profan. Unter den Aelteren flnden sicb
hier von meinem Liebling Francesco Francia drei herrl. Bilder, unter den
SpSteren viel PrSchtiges von Guide Reni.
In solcher Umgebung von solchen Gestalten ist mir wohh In
391
diesem Reiche seliger Schatten, herausgehoben aus dem Geschrei u.
Markte des Lebens, wo meine Rosen nicht bliihen u. wo ich mein
Gluck nicht zu suchen weiss, in staubigen uralten Kirchen gegeniiber
einem schonen Madonnen-Kopfe, da verdoppelt sich mein sonst so
einsames Leben. Aber diejenigen, die nach Italien reisen, in der
Meinnng, hier eine Welt von L e b e n s genussen nur pflucken zu
durfen, ohne Sinn fur Kunst, ohne Kenntniss ihrer Geschichte, ohne
Lust zur Anstrengung werden sich bitter getSuscht finden. Wenn
ich Abends recht mud u. matt vom Sehen nach Haus komme, haben
mit dieser genussreichen Anstrengung auch meine Genusse ein Ende.
Die Hauptgenusse des Italieners sind — Miissiggang, Maulaffen feil
haben im Caf6haus. —
Will der Reisende das einmal sein, was wir in Deutschland fldel
sein heissen, so ist er am falschen Ort. Es bleibt also die Kunst u.
die schdne Natur, die kunstlerische Anschauung der Landschaft, des
Volks, — das ist es, was ich suche, finde, worin ich gliicklich bin.
Von Bologna machte ich mit meinen Norddeutschen einen Ausflug
nach dem uralten Ravenna, wo romische Kaiser, griechische Exarchen,
gothische Konige gewohnt haben, und wenige, aber uralte Reste, so ein
Triimmer von Theodorichs Pallast und dessen Grabmal, an diese alter-
grauen Zeiten mahnen. Doch Usst sich auch die Gegenwart nicht schlecht
finden, denn das Auge hat hier eine reiche Weide an den schonsten
Midchen. Die pipstlichen Soldaten, die hier liegen, sind lauter Deutsche,
meist Schweizer, viele Wiirttemberger. Es war riihrend, wenn diese
Leute, die doch fast alle etwas Heimweh haben, stehen blieben, sich
anstiessen und zuflusterten: »Deutsch, deutschi" wenn sie uns im Voruber-
gehen reden horten. Ein junger Mann hdrte uns aufmerksam zu u.
sang, als er um die nSchste Ecke bog: »'s ist so schdn im fremden
Lande** n. s. w. Wir unterhielten uns viel mit nnseren guten Landsleuten
u. im Heimweg fand ich in Faenza den Trommler, von dem ich einen
Brief einschloss, u. den ich nebst einem anderen Wurttemberger durch
einen Scudo sehr begliickte. Der Bursch stand eben auf der Haupt-
wache u. trommelte, ich fixirte ihn u. dachte: das ist doch das Schte
Schwibische Hannesle's- u. Jockele's-Gesicht; er mochte etwas Aehn-
liches denken u. redete mich an, wo wir uns dann freundlich die Hand
druckten.
Ich war aber damals ubel auf, ja an der Schwelle einer Unterleibs-
Entziindung, die man sich in diesem heimtuckischen Klima leicht zuzieht.
Die grosse Hitze bewirkt nimlich die geShrlichsten ErkKltungen u.
diese (eine sonderbare Logik) innere Entziindungen.
Nach Bologna zuriickgekehrt, hatte ich nun aber das Stigige Zu-
sammensein mit meinen Landsleuten aus Norden, so ordentlich die Leute
waren, namentlich einer, ein Preussischer Lieutenant u. Architekt, der
mich sehr in Affection nahm, schon genug. Man lemte nichts italienisch,
snchte keine Bekanntschaft mit Italienem, sondern bildete ein insularisches
Deutschland in Italien, u. — was eine alte Erfahrung von mir ist — steckte
sich gegenseitig mit Zerstreutheit u. unpraktischem Wesen an. Man
26*
392
lief auf der Strasse hinter einander her, suchte einen Ort, u. jeder meinte,
Einer der Anderen habe schon gefragt, u. s. w. Es ging bis in's Simpel-
hafte, — ^sind sie in corpore, — gleich wird euch ein Dummkopf
daraus,** ja ich unpraktischer Mensch musste oft fur die praktischen
Norddeutschen handeln. In Bologna hdrten wir noch einer Controvers-
predigt von zwei Pfaffen uber den Dienst der Maria zu. Den andem
Morgen wandten sich die anderen Florenz zu, und ich sturzte mich
wieder in meine, trotz alien ihren Beschwerden und Verlegenheiten ge-
liebte, Einsamkeit. Im Postwagen, den Dragoner begleiteten, lemte ich
eine liebenswurdige Familie aus Alessandria in Sardinien kennen, einen
Particulier, der dem Schnapsprofessor in Tiibingen Shnlich gleich sah,
u. seine Frau, nebst einer Genueserin, eine Frau, der man nicht ansah
dass sie acht Kinder gehabt. Viel Spass machten mir ihre naiven Fragen.
Als ich sagte, dass ich ein eretico sei, wollten sie wissen, ob ich auch
getauft sei. Das bin ich schon dfter gefragt worden. Ob es in meinem
Land noch Sclaven gebe? u. dgl. In Parma besahen wir zusammen die
schone Galerie, wo ich namentlich wieder einen herrlichen Franc. Francia
bewunderte, u. wo man den, schon zu sussen u. sentimentalen, Correggio
am besten lemen kann, interessante Ausgrabungen aus der verschutteten
etrurischen Stadt Vellejae, und schdne Kirchen. Wie weit die italienische
Naturlichkeit geht, sah ich, als ich Abends in meinem Gasthofe zu den
beiden Frauen aufs Zimmer trat. Sie lagen auf dem Bett, als ich ein-
trat, hiessen mich aber ungenirt kommen, standen dann auf u. spazirten
in Corset u. Unterrock ganz unbefangen vor mir herum. Es waren ganz
honette und gebildete Damen. —
Piacenza passirte ich schnell u. sah seine schdne Kirchen im Flug,
wobei ich Gelegenheit hatte, den katholischen Gottesdienst in seiner
ganzen Versunkenheit kennen zu lemen. Vollstdndige Ballmusik in den
Kirchen, es fehlten nur die Schleifer, u. ein GlockengelMute, ein kindisches
unharmonisches Gebimmel, das nicht zum Hdren ist. Wenn unsere
Katholiken in Deutschland, die jetzt so fanatisch fur ihre Kirche sind,
die wahre Gestalt des Katholicismus hier in Italien ansehen wurden, so
wurden selbst sie sich ihrer Bruder schSmen. Es ist Srger, als man
glaubt, es ist unter dem Heidenthum^) . Unterwegs nach Mailand
fuhr mit mir ein interessanter, hagerer, bleicher Karmeliter M5nch
in seiner Kutte u. dem breiten weissen Hut, der mich u. A. belehrte,
dass der Konig von Preussen einen Bischof eingekerkert, weil derselbe
dem ordine divino mehr gefolgt, als dem umano, und dass es dort einen
Dr. Strauss gebe, der sage, Christus sei solamente eine idea. Ich machte
einen sehr belehrten Kopf hin. Deinem Buch, lieber Strauss, ist die
grosse Ehre widerfahren, dass es nicht nur, wie gewdhnlich, in den
index vetitorum aufgenommen, sondem durch einen ausserordentlichen
dffentlichen Anschlag verdammt worden ist.^
In Mailand angekommen hatte ich sogleich das Gluck, das Innere
Hiezu hat Fr. Viscber splter getchrieben: Tbut nichtt. Dummes Ztug.
^) Das Leben Je«u, kritiscb bearbeitet von David Friedricb Strauss, Tiibingen 1835.
-cHg 393 8^
des Doms in der schonsten Abendbeleuchiung zu treffen. Ein mystischer
Dlmmerschein fiel durch die Rose uber dem Eingang auf das Crucifix
im Chor. Eine gothische Kirche sollte niemals ein anderes Licht haben,
als durch gemalte Fenster. Denn so wie der ganze Charakter des Bans,
so soil auch die Art der Beleuchtung, ein Helldunkel, dem Eintretenden
sogleich sagen: Hier trittst du in eine andere Welt, heraus aus der ge-
meinen Wirklichkeit u. Deutlicbkeit der Dinge, dem Geschrei des Marktes,
ein Raum im Raume, geschaffen zwar aus dem Material, das die Natur
gibt, aber dieses umgebildet u. verwendet, einen idealen Raum zu schaffen,
der symbolisch ein Inneres, ein Insichgehen u. Insich-Einkehren anzeigt;
so ist es auch ein anderes Licht, das du hier triffst, ein Licht von
aussen, das in's Innere nilt, ein gebrochener, durch ein Medium ein-
dringender Strahl. — Dieser Dom ist wirklich etwas Wundervolles, ich
wandelte oben auf dem Dache in einer Marmorwelt von Millionen von
Omamenten, ich sah ihn im Mondschein, ein Feen-GebSude. — In der
Gem&lde-Gallerie verliebte ich mich. In wen rathet ihr? In die Ma-
donnen von Bernardino Luini. Ja wenn ihr die sehen konntet! Ihr
armen Leute im NordenI Diese Siissigkeit, diesen Schmerz, diese
ReinheitI Hier ist die Schdnheit, die himmlische, herab aus unbekannten
Hdhen in diese arme Welt, so fern und doch so vertraulich nah, Himmels-
giite, unaussprechliche Milde.
Mit Herm Tafel, an den ich addressiert war, speiste ich in den
Italienischen Trattorien. Mein Magen u. noch mehr meine Nase war
glticklicher Weise schon an Italien gewdhnt. Die unerlassliche Zugabe
in diesen Trattorien, wo man meist in einem freien Hofraum speist, ist
ein beissender Gestank, eine Folge der grenzenlosen Natiirlichkeit der
Italiener, die keine Strassen-Ecke schont, selbst die angemalten Kreuze
und das ,»rispettate la casa di Dio** nicht. In dem prachtvollen Theater
della scala verbreitet sich dieses Aroma mit sinnberaubender, herz-
bethorender Gewalt.
In Mailand machte mir ein ungarischer Husaren-Posten mit grosser
Attention die Honeur. Eine Folge des schdnen Schnurrbarts, den ich
mir habe wachsen lassen. Derselbe ist schdn goldfarbig roth, steht dicht
wie Kressich und gewShrt folgende Vortheile: 1. macht das Rasiren
weniger Muhe. 2. Kann man damit spielen, wenn die Hand Langeweile
bat. 3. flosst er Ehrfurcht mit Heiterkeit vermischt nebst Schrecken
ein. 4. komme ich mir selbst junger vor. So vieler Grunde sussem
Andrang kann doch wohl auch meiner gesetztesten Freunde strenges
Herz nicht widerstehen.
Am 21. Sept. ab uber Pavia nach Genua mit zwei Professoren aus
Padua. Ein italienischer Zug: Einer der Professoren, ein grauer Pedant,
stiess sich im Gasthof ein wenig an meinen Fuss u. machte nun, als
wire er entsetzlich gestolpert, im hellen Muthwillen den ganzen Saal
entlang die tollsten Hanswurstsprunge. — Genua ist herrlich, amphi-
theatralisch am Meere, voll von den reichsten PallSsten der alten Familien.
Aber das Volk grundverdorben, wie in alien Seehdfen u. in alien Misch-
RaQen, halb franzSsisch halb deutsch. Eine Icht italienische Scene sah
394
ich auf der Strasse, wo sich zwei Jungen wuthend um einen Esels-Koth
prugelten, wer ihn aufheben durfe. Meine Aussicht aus dem Gastiiof
war auf den Hafen, ich stand einnial Nachts auf, die Aussicht zu ge-
niessen, der Mond lag auf dem Meere, vor mir ein Wald von Masten,
feme das rothe Licht des Leuchtthunnes, Tdne einer Fldte in der stillen
Nacht. Dieses Schauspiel hat Schiller's Fiesko, da er ndchtig aus dem
Fenster blickt. Ich war auch im Pallast des Andrea Doria. Alte Zeiten!
An einem Laden las ich auf dem Schild: Andrea Calcagno — parruchiere.
Der hat es weit gebracht.
HMttet ihr meine Lieben in der Nacht vom 26. auf den 27. Sept.
das mittelldndische Meer zwischen Genua und Livomo sehen kdnnen,
so hdttet ihr daselbst das grosse Dampfschiff Pharamonde erblickt, auf
demselben auf dem Verdeck zwischen Felleisen und Kisten schlumemd
eine nicht unbekannte, nicht sehr schlanke Gestalt (« Hamlet ist beleibt').
— Dieselbe richtet sich bisweilen auf, der voile Mond hdngt iiber dem
weiten Meere, die RSder brausen im Schaume, unendliche Mollusken
leuchten in blSulichem Phosphor aus den Wellen, der Freund sieht diese
fremde Welt an: »Das wSre also vor der Hand etwas Anderes, als Nesen-
bach u. Ammer; dieser Mond ist aber doch auch der Kuppinger Mond
u. steht jetzt eben so fiber meinen Freunden", er nickt den Kopf und
schlgft wieder ein.
Sehr zufrieden, die Seekrankheit nicht bekommen zu haben, ward
ich in Livomo ans Land gesetzt, sah mir den schdnen Hafen an und
reiste noch denselben Abend nach Pisa. Hier sollte eben die grosse
Naturforscher-Versammlung beginnen, der Name eines Professors war
daher derzeit von gutem Klang, ich ward schon unter dem Thor zu
Allem eingeladen, liess mich in die zoologische Section einschreiben u.
genoss die rothe Charte, die ich bekam, alle Merkwurdigkeiten recht
ungestdrt zu sehen. Dom, Baptisterium, Krummer Thurm, vor Allem
der campo santo mit den herrl. Gemllden in Fresco! Eine rechte Weide
ffir meinen Kunsthunger! Ich sah auch den Thurm, wo Ugolino verhungert
ist. Erinnem Sie sich, verehrteste Frau Pnliatin,^) der schdnen Stelle aus
Dante? „Da kroch mein Taddo zu mir her •! Dabei fiel mir so
mancher schone Nachmittag ein, wo wir zusammen lasen.
Pisa ist ein stiller zutraulicher Ort. So ein bischen Ludwigsburgisch
mit dem Unterschied grosser Erinnerungen. Ich war auch einmal im
franzdsischen Theater u. wollte den gamin de Paris sehen, verstand aber,
obwohl ich ihn diesen Sommer gelesen, kein Wort, 1. weil ich uberhaupt
keins verstehe, 2. weil ich einen Z o p f hatte. Der elementarische Staff
desselben waren vortreffliche Franzweine, bei einem jungen reichen
Franzosen getrunken, den Ofterdinger, unser Landsmann, als Arzt be-
gleitet Dieser Stoff hitte mich aber nicht ausser Gleichgewicht gebracht,
hatte ich nicht die ersten GlMser in einem Zorn getrunken. Und dieser
Zom kam von einem Facchino, der sich geweigert hatte, alle meine
Effekten zu tragen, daher ich das Trinkgeld zwischen ihm u. einem
') S. oben S. 380.
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Jungen, dem ich das Andere auf lud, wie billig theilte. In Wuth daruber
fasste der Fachin den Jungen an der Brust u. schuttelte ihn, ich riss
ihm den Jungen aus den Klauen, packte ihn hinten am Kragen u. schmiss
ihn zur Thur hinaus. Bin Anderer thut so was mit ruhigem Bint, mich
regt es stark anf. — Inzwischen wird dies wie mein erster so mein
letzter Haarbeutel in Italien sein, denn man kann sich nicht genug in
Acht nehmen. — Fast alle Deutsche mussen Lehrgeld geben. Das Blut
ist entzundlich, die durch wanne Kleider und Betten verwdhnte nordische
Haut bei der ungewohnten Transpiration furchtbar empfindlich fur Er-
kaitungen; hier in Florenz habe ich mich uber der Jagd gegen die gott-
vergessenen Schnaken, welche der Herr grausam vemichten mdge, in
der Nacht entbldsst u. dadurch in einen ausserordentlichen heftigen
Katarrh gesttirzt, wobei man hier sich sehr in Acht zu nehmen hat.
Der Stich der Schnaken thut gar nicht weh, sie summen aber mit
scharfem Ton wie ein femes GelMute immer um's Gesicht, stets im
Begriff, sich zu setzen, u. daruber kann man nicht ein-
schlafen. Ich habe daruber schon viele NSchte ganz verloren u. war
dann den andem Tag matt u. unbrauchbar. Eben bemerke ich 2 in
meinem Zimmer u. weiss somit, dass ich heute Nacht nicht schlafen
werde. Denn fangen kann man sie nicht.
Bose Zugaben, aber wahrlich all das Schdne ist durch keine Be-
schwerde zu theuer erkauft. Hier in Florenz, wo ich mich auf 3 Wochen
angesiedelt, welche SchStzel Von Plastik nenne ich nur die Mediceische
Venus, den cymbelschlagenden Faun, die Niobiden-Gruppe, von Malerei
zwei der schdnsten Raphael, Titian's Venus, die schdnsten Perugino's —
es ist aber so viel Vortreffliches, dass ich wieder ganz uberschuttet
bin. Ich meinte, ausser dem Interesse u. Sinn auch einige Kunstkennt-
nisse zu haben. Sancta simplicitasi Jetzt eben brechen die ersteh
Breschen in die dicke Mauer meiner Ignoranz. Feuerbach ist hier, der den
vaticanischen ApoU geschrieben,^) und ein Dr. Gaye,^ zwei Archflologen,
an deren Gespnichen ich sehen kann, was ich nicht weiss. Glaubt mir
nur, meine Freunde, man kann viel Sinn haben, auch schon vielerlei ge-
sehen haben, u. ist jeden Moment noch capabel, ein geradezu schlechtes
Bild ftir schon zu halten und an einem guten voruberzugehen. Sehen
lemen, das ist nichts Kleines. Feuerbach ist ein seltsamer Mensch,
Kenner, Gelehrter u. doch Enthusiast, eine abstracte, scharf abgerissene
Natur, vor schdnen Gegenstinden driickt er aber eine wahre Ekstase
durch allerhand wunderliche Tdne, Mauzen, Aechzen, Blasen u. dgl.,
iins. — Kirchen, Architectur, eine Pracht! Der Campanile (frei stehender
Glockenthurm) aus lauter Marmor-Mosaik, das Battistero mit den ThQren
Ton Ghiberti, der Dom u. s. f. u. s. f., es ist eben schwer fertig werden,
Brunnen, Palliste, GSrten, die Zeit dauert mich, die ich mit Essen zu-
bringe. Es ist ja die Stadt der Mediceer.
') Antelm Feuerbach, 1798—1851, der Vater det gleichnamigen Malers.
*) G. Gaye, der Herausgeber det Carteggio inedito d'artitti del sec. XIV
— XVI, Fircnzc 1838-40.
396 8^
Abends gehe ich ins Theater, urn im Italienischen fortzukommen.
Aber dieses Publikum und dieses Spiel I Pnicisioii, Lebendigkeit ist
vielfach zu achten, aber das Obertreiben des Affects geht ins Ekelhafte.
Weinen ist nicht genug, der Schmerz steigert sich in ein Heulen,
Auchzgen,^) Husten, Riilpsen, im hochsten Zom bellen sie ordentlich;
dabei wurde bei uns unfehlbar das ganze Parterre lachen, hier stampfen
sie vor Entziicken. Das ist das gebildete Publikum, zu welchem
nicht zu gehdren ich mir stets zur Ehre rechnete.
Florenz liegt himmlisch. Es ist aber nicht die Schdnheit deutscher
Natur, nicht unser belles, frisches Grun, die Hugel meist, was die
niedrigere Vegetation betrifft, verbrannt von der Sonne, die vielen Oliven
haben ein grauliches, mattes Grun, aber diese weichen Linien, diese
Pinien, Cypressen, die tausend weissen Villen, die flachen DScber, die
dir sogleich sagen, dass hier kein Schnee liegen bleibt, der ewig klare
Himmel, der silbeme Duft uber der Feme, dieser noble classiscbe Anflug
des Ganzen, die Rebenguirlanden, die bluhenden Rosenhecken!
Und was machen denn Sie, Hebe Frau Ober-Justizrithin, getreue
Hausfrau?^ Glauben Sie, ich vergesse nicht mein Stubchen am Neckar,
nicht so manches vertrauliche Wort, was wir besonders diesen Sommer
geplaudert u. was wir nach meiner Riickkehr welter plaudem werdeo.
Ich wohne hier bei einem braven IrUnder (man verkehrt mit alien
Nationen, ich babe Griechen, Spanier, Illyrier, Englinder, Schotten,
Franzosen kennen gelemt, in Pisa einer vornehmen Corsin aufgewartet,
die mir die Zimmer ihres Pallastes zeigte, wo Byron gewohnt), aber
Frau Ranzin, meine Hausfrau, ist nicht Frau Ober-Justizritin Dann,^ und
ihre GefSUigkeit nicht die herzliche Freundlichkeit, die ich zu Hause finde.
Wir woUen brav zusammen haushalten, wenn ich wieder komme. Lassen
Sie den Hagestolz so geduldig in Ihrem Hause absterben.
Lebhaft wurde ich an Tubingen erinnert, als ich auf der Insel
Lido bei Venedig die Demoiselle Schwarz sah, mit einer Familie, bei
der sie Gesellschafterin zu sein schien. Kurzlich entdeckte ich in einer
Tasche noch Brosamen von den Cafdkiichlein, die ich aus Ihrem Hause,
Herr Procurator u. Gemahlin, dankbarlichst mitgenommen und ver-
zehrt habe.*)
In Florenz traf ich also O. Muller,*^) Schdll,®) Pressel. Sie reisten
aber nach zwei Tagen nach Rom ab, wo ich sie wieder finde.
Von Scribe sah ich ein neues, oder neuerdings in's Italienische
iibersetztes Lustspiel auffuhren: Ilcustode della moglie d'altrui. Ich kenne
den franzdsischen Titel nicht; wdrtlich: le gardeur de la femme d'un autre«
Es hatte das Interesse, dass Scribe selbst anwesend war. Ich sah ihn
ziemlich deutlich, ein iltlicher Kopf mit graulichem Teint. Den gamin
^) Schwabisch » Achzen.
*) Die »Frau Danne*. S. oben S. 380.
3) u. *) S. oben S. 380.
Otfiied Mfiller, Archaolog, geb. 1797 in Brieg, gettorben r840 in Athen.
S. oben S. 380.
*) Ad. Sch51l, Archaolog, geb. 1805 in Bninn, gestorben 1882 in Weimar.
397 8^
baben sie auch ubersetzt, il birichino; aber ohne den franz. Geist ge-
geben. Den Goldoni lerne ich bequem auf dem Theater kennen, den
Boccaccio babe icb mir gekauft, die Dichter lese ich nicht, sie sind
doch alle langweilig, die Hauptpartieen im Dante ausgenommen. Dem
Volk fehlt die Tiefe fur die hdhere epische u. dramat. Poesie, die
Novelle ist sein Gebiet und etwa das Lustspiel. Jetzt zehren sie von
der franzdsischen Romantik. Es sind im Ganzen Kinder, sie haben alle
guten und bdsen Eigenschaf^en der Kinder. Sie stecken bis uber die
Ohren in der lieben Natur drin.
Jetzt nicht mehr lang, so bin ich in Rom. Es ist mir bang vor
Freude, wie einem BrMutigam.
Noch ein curiosum aus Pisa. Ich bestieg den beruhmten krummen
Thurm daselbst gegen Sonnen-Untergang, verspMtete mich oben und
hdrte auf einmal die schwere Thtire unten mit GerSusch zuschlagen.
Ich eilte die dunkeln Treppen hinab, richtig — ich war eingeschlossen. Es
war hier in Wirklichkeit keine Gefahr, auf lautes Rufen horte man mich
aussen und der custode kam herbei zu dffnen, aber es fuhr mir doch
der Moment durch die Phantasie, wo in demselben Pisa einst Ugolino,
mit seinen Kindem in den Thurm gefuhrt, die Pforte donnemd zufallen
hdrte, der Schliissel im Amo versenkt ward u. der Ungltickliche sich
dem gewissen Hungertod geweiht sah.
Das Innere von Florenz ist gar nicht, wie man sich's vorstellt,
enge, schmutzige Strassen, finstere castellartige alte PallSste, u. die Nase
wird an ganz andere Dinge als Blumen erinnert.
Ich reise diese Woche noch nach Rom ab.
Florenz, d. 21. Okt. 1839. Euer Fr. Vischer.
Ungedruckte Briefe Hugo Wolfs an schwabische
Freunde.
An Edwin Mayser.
Stuttgart, den 18. Februar 1904.
An die Redaktion der Siiddetttschen Monatthefte, M&nchen.
Der freundlichen Aufrorderung, Ibnen meine Briefe von Hugo Wolf zur
VerOffentlichung zu (iberlasten, komme ich geme nach. Freilich tiutcben Sie tich,
wenn Sie dat>ei auf eine grosse Ausbeute recbnen. Es sind eigentlicb nur zwei,
b5cbttent drei Zutcbriften Wolf^, die einigermassen von weiter reicbendem Interette
tein k5nnen. Kleinere Kundgebungen, wie Antichttkarten, Gratulationserwiderungen,
398 8^
auch ein Telegramm zur Geburt meinet Sohnet oder Widmungen in Notenheften
kSnnen nictat in Betracht komnien. Ich lege alto in selbstgemachter, zuverlissiger
Kopie 2 llngere Briefe vom Jahr 1807 bei, sowie einen kurzen Neujahrswanacli
(von 1806), der mir einmal wegen seiner originellen Fassung, dann aber deshalb
beachtenswert erscheint, well ibn Wolf in der SFetlinschen Anstalt geachrieben
baty zu einer Zeit, da man den Verfkaser fQr geistesgestSrt balten mocbte.
Aus der kleinen Zabl dieser Briefe durfen Sie aber ja nicht scbliessen, dass
wir nicbt im regsten WecbseWerkebr gestanden wiren. Seit dem Jahre 1801, nach-
dem ich teila durch Schalks Aufeatz in der Muncbener Allgemeinen, teils durch
Emil KaufTmann in T&bingen auf Wolfs Lieder aufteerksam geworden, rahte ich
nicht, bis ich den Komponisten persSnlich kennen lemte, dessen Werke ich mic
wachsender Bewunderung aufhahm. Erst im Jahre 1804 gelang mir dies dnrch
Vermittlung meines Freundes Hugo Faisst, in dessen elterlichem Hause zu Heil-
bronn (wo ich von 1887^-08 als Gymnasiallehrer lebte) wir den verebrten Meiater
in Gesellschaft der Frl. Frieda Zemy begriissen durften. Seitdem babe ich wieder-
holt nicbt nur als ^Schreiber der Wolf^bande**, wie Wolf selbst mich nennt, sondera
auch bin und wieder in meinem eigenen und meiner Frau Namen als jeweiligen
Ausdruck unserer Verehrung und Begeisterung Briefe an Wolf geschrieben. Da ich
mit Faisst sehr hSuflg zusammenkam, durfte ich nicht selten die Briefe an ibn aia
Erwiderung der meinigen betrachten, wie ich auch so manche Mitteilung seinen
Briefen an Wolf beigab. Zum zweitenmal kam Wolf zu uns nach Heilbronn im
Jahre 1806, kurz vor der UraufrQhrung des Corregidor in Mannheim. Damala ge-
nossen wir die Anwesenheit des Unvergleicblichen an einem herrlichen Fruhlings-
tag. Er spielte uns fast die ganze Oper vor, mit jener unerb5rten Kunat des
Vortrags, die in jedem Ton zugleich den Sch5pfer erkennen liess; in die Wieder-
gabe lyrischer Gesinge teilten sich Hugo Faisst, schon damals Wolfs treuester
Freund «erprobt zu Lust und Fein*, und Kammerslnger Karl Lang aus Schwerin
(ein Heilbronner Kind), der eine Reihe M5rikelieder dem geruhrten Komponisten
zu Danke sang. UnFergesslich ist mir eine Spazierfshrt nach Weinsberg; hatte
Wolf schon von feme mit kindlicher Freude die regelmlssigen Formen der Weiber-
treu bewundert, so stieg er, am Kemerhaus angelangt, flink wie eine Gazelle den
Burgberg hinan und fand daneben noch Zeit, mich durch die eingehendsten
Kenntnisse der Beziehungen zwischen Justinus Kemer, Lenau und dem ganzen
schwabiscben Dichterkreis in Staunen zu setzen. Bald darauf sahen wir una bei
der AufrQbrung der Oper in Mannheim. Wolf sass unweit von mir in der Mittel-
loge, neben ihm Frau Mayreder, die Textdicbterin, und sein Jugendfreund Dr.
Potpeschnigg: aus dem bleichen Gesicht des ErgrifTenen blitzten wie gliihende
Kohlen aus einem Aschenhlufchen seine scharfen Augen hervor; sprachlos aass
er da und konnte nur mit Aufwand der Sussersten Oberredung veranlasst werden,
sich nach dem 3. Akt vor dem Vorhang zu zeigen. Als wir nach der Auff&hning
in gr5sserer Gesellschaft bis gegen Mittemacht beisammen gewesen, fragten ich
und meine Frau Wolf, ob wir ibn tags darauf besucben diirften? Jt bilder, je
lieber!" sagte er, „damit wir uns allein treffen.* Natiirlich fsnden wir uns schon
in fruher Morgenstunde bei ihm ein. Er sass, umringt von Lorbeerkrinzen, die
er nicht beachtete, beim Friibstiick; auf dem Fliigel lag die wunderbar geschriebene
Corregidor-Partitur, die er uns mit Stolz zeigte. Wir spracben nicht viel iiber die
Auff&hrung, um so mehr iiber das Werk. P15tzlich setzte er sich an den FlQgel
und sang und spielte zugleich seine noch ungedruckten «Itaiienischen* (II. Heft).
Es ist unsagbar, wie tief ergrifTen wir alle drei bei diesen reif^ten und voll-
kommensten Offenbarungen seiner Muse waren; manches spielte er uns zwei-, drei-
mai, selbst ganz entriickt und hingerissen. Er hob wiederholt hervor, daas in
diesen Liedem noch mehr absolute Musik stecke als in anderen; manches k5nnte
ebensogut als Streichquartett gespielt werden, meinte er. — Dies halte ich fQr den
Hdhepunkt unseres persSnlichen und kiinstlerischen Verkebrs. — Zweimal habe
ich Wolf 5ffentlich bei Liederabenden in Stuttgart geh5rt (1804 und 1806), jedeamal
war ich uberrascht und erschiittert von seiner unvergleicblichen Kunst
$eit 1806 und der Corregidor-Premidre, wohl auch im Zusammeahang
399 8^
mit den bitteren Erfthningen in Wien, ttieg zutehendt die Veretimmung Hugo
▼olfB. Faittt, der ihn wiederholt in Wien und Matzen beauchte, lockte ihn vtr-
^bent zurUck int SchwtbenUnd : er bttte unt tile in tein Herz getcblotteny aber
er ktm nicht mehr hertut.
Im Heimweh ntch dem innigst verebrten Meister scbrieb icb mebrmalt an
ihn. Ala wir an nichts dachten, kam im Sommer 1897 die ftircbtbare Nachricht
▼on seiner pldtzlichen Erkrankung. Wihrend der Remittiontperiode 1806 tchickte
er mir noch seine Michelangelogesinge mit freundlicber Dedikation — dies war
das letzte Lebenszeichen von seiner Hand.
Welchen Eioschnitt die Bekanntschaft und spitere Freundschaft mit Wolf
in mein ganzes isthetiscbes Ffiblen und Denken macbte, kann ich nicbt mit zwei
Worten sagen.. Jedenfalls ist der Genius Wolf fur mich mein bedeutendstes Er-
lebnis: seit vollen dreizehn Jabren stebe ich ganz und gar im Banne seiner
Kunst; seine Lieder, die mir am Klavier vertrauter sind als alle Ton ft^her
Jugend geQbten und geliebten klassiscben Werke der Alten, sind mein tigliches
Brot Immer wieder geben mir neue, ungeabnte Scbdnheiten auf in dieser nn-
begrenzten Welt des Schdnen; die Dichter selbst, die er interpretiert, sind mir
fiber ibre firfibere Grdsse binausgewachsen, Goethe habe ich grossenteils erst
durch ihn verstehen lemen. Eine ganz besondere Freude und Befriedigung ist es
mir seit Jabren, die Jugend zum reinen Bom zu fuhren, der aus Wolf^ unsterb-
licben Schdpftmgen jedem Empfinglicben entgegenquillt. Geme liess icb mich
auch im Frubjahr 1806 herbei, das erste hiesige Wolfkonzert (ohne Wolf selbst)
am Flfigel zu begleiten; Mitwirkende natfirlicb zwei Dilettanten: H. Faisst, Frl.
Dinkelacker (Kauffinanns Schfilerin) — und Konzertsinger Karl Diezel. Wenn ich
mich seitdem von der Olfentlichkeit ganz znrfickziebe, so bleibe icb im Herzen
treu der Kunst Wolfs, die ja hier in H. Faisst den berufensten, opferwilligsten,
tatkriftigstei^ Vorklmpfer hat Und der Erfolg krdnt seine Mnbe. —
Entschuldigen Sie meine weitliuflgen Expektorationen; wess das Herz voU
isty dess gehet der Mund fiber. Verwenden Sie nach Belieben beiliegende Briefe,
die wie gesagt ein matter Abglanz unseres Verkehres sind. Sehr f^euen wfirde
es mich, dieselben in glficklicher Umrahmung bald in Ibrer ySchwabennummer* zu
lesen; Iftsst doch der vortrelflicbe Aufeatz von Max Roger das Beste erwarten.
Mit vorzfiglicher Hochachtung
Ihr ergebenster
Dr. Edwin Mayser
Professor am Karlsgymnasium.
I.
Lieber Herr Professor 1
Eben im Begriffe nach tiberstandenen Briefbeschwerden die Feder
uregzulegen, treffen Ihre Zeilen mit der reizenden Beilage ein. Was
thun? naturlich schreiben, um so mehr als drei liebliche Engelskdpfchen
Furbitte einlegen und ich Kindem, namentlich aber hubschen Kindem
gegenuber wehrlos bin. Also „auf denn, an's WerkI*
Was Sie mir Schmeichelhaftes iiber meine Italienischen sagen,
kommt zumeist auf Rechnung Ihrer enthusiastischen Natur, von der Sie
mir schon einigemal ganz erschreckende Proben gegeben. Immerhin
aber freut es mich in Ihnen einen wirklich verstindnisvollen Freund
meiner Elaborate gefunden zu haben. Sie sind dunn genug gesdet als
dass man noch an ihnen mikeln sollte.
Demnichst werden zwei Hefte Lieder von mir erscheinen — 3 nach
Rob. Reinick und 3 nach Ibsen aus dem Fast auf Solhaug — worauf
ich Sie jetzt schon aufmerksam mache. Ein weiteres Heft folgt in
Bilde nach.
400 8^
Von der Musik zur 2. Hilfte des 4. Aktes wird wohl nicht viel
ubrig bleiben, da die Handlung einen ganz anderen Verlauf nehmen
soil. Dass ich davon aufs schmerzlichste betroffen werde, brauche ich
Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Mir grant fdrmlich, wenn ich an diese
Hdllenarbeit denke. Aber was will man machen? Wenn Sie in diesea
Tagen meine liebenswurdige Gonnerin und Freundin Frau Faisst sehen
sollten, bitte ich derselben meine schdnsten Grusse und Gluckwunsche
zu tiberbringen. Seien auch Sie mit all den lieben Ihrigen aufs herz-
lichste begnisst und begluckwiinscht von Ihrem treulichst ergebenen
Hugo Wolf.
Wien, 2. Januar 897.
[Adresse: Herren Edwin Mayser, Heilbronn.]
II.
Lieber Herr Professor!
Ihre jugendliche Schutzbefohlene hat sich bereits vor einigen Tagen
in Begleitung des Herm Haaga und seiner charmanten Tochter bei mir
eingefunden und ihren Geleitsbrief, dessen es freilich nicht bedurft hatte»
an Ort und Stelle abgegeben. Wir haben uns rasch befreundet und am
nichsten Tag eine gemeinsame Eisenbahnfahrt nach dem nahe gelegenen
Perchtoldsdorf unternommen, wo es den Herrschaften sehr gefallen hat.
Demnichst werde ich mich zu einer Gegenvisite aufschwingen. Schade
nur, dass Sie nicht mit dabei waren, denn wenn Sie auf mein Erscheinen
in Heilbronn zMhlen, durfte Ihr Rechenexempel nicht ganz stimmen, da
ich mich |etzt mit schweren Gedanken beztiglich einer neuen Oper
herumtrage, und dazu bedarf es vdlligster Einsamkeit und Ruhe. — Von
Mutterchen und Sdhnlein Faisst erhielt ich gestem eine freundliehe
Bierkarte aus dem Schwarzwalde. Freund Faisst scheint sich meine
^Fussreise*" sehr zu Herzen genommen zu haben, da er, freilich auch
mit gelegentlicher Zuhilfenahme eines Coup6s I. Classe — Blitzzug —
der Neidenswerthe! — so rustig in der Welt umherwandert. Der ver-
stehts doch zu leben! Wollt' ich k5nnts ihm nachmachen. Statt dessen
werde ich diessmal mehr denn je zu einer sesshaften Lebensweise ver-
urtheilt sein. Nun, jedes Thierchen hat sein Plaisirchen, und so sage
ich mit Mdrikes Prdceptor Ziborius:
^Freut's ihn, Canarienvdgel und EinwerfkMfige dutzend-
Weise zu haben, mich freut's tiichtigen Essig zu ziehn.*
Wtinschen Sie mir also Gliick zu dem tiichtigen Essiggebriu meiner
neuen Oper (Manuel Venegas) und seien Sie mit all den Ihrigen aufs
herzlichste begrusst von Ihrem
Hugo Wolf.
Wien, 1. Juni 897.
An Herm Lang einen schdnen Gruss, ditto an Halm.
401 8^
III.
Das aus «volIer Brust kommende prosit Neujahr'^.des liebens-
werthen Ehepaares und seiner vier putzigen, allerliebsten Orgelpfeifen
erweckt im Resonanzboden des Unterzeichneten ein freudiges und
hoffentlich bis Heilbronn bin schallendes Echo.
In alter Liebe und Treue
Wien, 3. Januar 898. Hugo Wolf.
An Emil Engelmann.
Hochgeehrter Herr!
Nehmen Sie diese Zeilen, wenn sie auch etwas verspitet eintreffen,
doch freundlich auf. Bei meiner Riickkunft aus Tubingen hatte ich
einigemale den energischen Versuch gemacht an Ihre Thure zu klopfen,
wurde aber immer durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall in meinem
loblichen Vorhaben verhindert. Da gab ich's denn endlich auf, nicht
ohne ein innigstes Bedauern uber mein permanentes Missgeschick. Ihre
freundliche Zusendung nach Tubingen, ich meine die Zusendung Ihrer
Pfingstfahrt und der Lenzlieder, waren mir ein frohlicher Willkomm in
der Musenstadt. Sobald sich mir irgendwie die richtige Stimmung ein-
finden sollte wird es mir ein Vergniigen sein an die Composition der
Lenzlieder zu gehen. Einstweilen ist daran noch nicht zu denken, doch
erhoffe ich mir Alles von der keimenden und strahlenden Kraft des
Fruhlings, der sich diesmal schon so vorzeitig ankundigt und hoffentlich
auch in meiner Brust eine verwandte Saite erklingen lassen wird.
Mit dem besten Dank fur Ihre freundlichen Wunsche zu meinem
Tubinger Erfolg begrtisst Sie und Ihre verehrte Frau
Ihr hochachtungsvoll ergebener
Wien, 2. MMrz 894. Hugo Wolf.
An Earl Grunsky.
Verehrtester Herri
Zu meinem jetzigen Bedauern hatte ich seinerzeit verabslumt, ein
von Ihnen an mich gerichtetes Schreiben zu beantworten. Ich ergreife
daher, anldsslich Ihrer so ungemein sachgemissen und wahrhaft profunden
Besprechung meiner Lieder in der schwdbischen Chronik, die sich mir
darbietende Gelegenheit, meine unverzeihliche Fahrlassigkeit wieder gut
zu machen.
Um es kurz zu sagen: Sie haben mir mit Ihrem treff lichen Auf-
satz eine wahre Herzensfreude bereitet.
Wenn ich bisher in den meisten FMllen Ursache hatte, mit dem
.Enttauschten*" zu klagen: „ich horchte auf Widerhall, und ich horte
nur Lob** — durfte ich auf Ihre herrliche Besprechung hin aus vollem
Herzen ausrufen: endlich ein Widerhall, und nicht nur ein Lob.
402
Ich glaube mit dieser Bemerkung alle weitern Expectorationen
uberflussig gemacht zu haben.
Genehmigen Sie, verehrtester Heir, den Ausdruck meiner respect-
vollsten Hochachtung und bewahren Sie auch weiterhin Ihre mir so
wertvolle Zuneigung.
In aller Ergebenheit Ihr hochverpflichteter
Wien, 27. MSrz 1897. Hugo Wolf.
Geehrtester Herri
Gleichzeitig sende ich mit bestem Danke die mir gutigst zuge-
stellten Rezensionen an Ihre werte Adresse ab. Das Schatzklstlein
Ihres poetischen Freundes habe ich mit grossem Interesse durchgelesen
und mich an dem gediegenen Gehalt sowohl als der vollendet schdnen
Form der Verse erbaut.
Mein Freund Dr. Haberlandt, der schon manches bMuerliche Genie
entdeckte, und dessen Hinden ich das Buchlein anvertraut habe, wird
demnlchst eine Besprechung desselben in den Spalten der neuen freien
Presse vom Stapel laufen lassen. Da der Verfasser sein Buch mit einer
Inscription versehen, zugleich aber auch ein paar artige Verse fur mich
sich vorfinden, weiss ich wahrlich nicht, wie ich mich dazu verhalten
soil. Ich mdchte Sie nur ungem um ein Autograf des Dichters bringen,
anderseits aber auch Ihre freundliche Dedication nicht so ohne weiteres
von mir weisen.
Befreien Sie mich aus diesem Dilemma. Dass Sie freiwillig auf eine
anzubahnende Correspondenz mit mir verzichten wollen, dafur bin ich
Ihnen ganz speziell verbunden, was immer ich auch dabei verlieren moge.
Bei der enormen Arbeitslast, die mir das sujet der neuen Oper Manuel
Venegas in ndchster Zeit aufburden wird, wiirde jegliche Correspondenz,
selbst mit meinen vertrautesten Freunden, als ein unleidlicher Zwang
von mir empfunden werden.
Nehmen Sie mir, hochverehrter Herr, diese Freimiitigkeit nicht
ubel und bleiben Sie trotzdem hold gesinnt
Ihrem freundschaftlichst ergebenen
Wien, 2. April 897. Hugo Wolf.
An Gertrud Lambert.
I.
Liebe gnidige Frau!
Ich bin Ihnen sehr verbunden fur den Fingerzeig, den Sie mir
meuchlings versetzten, denn ich war ohnehin in Verlegenheit wegen
eines Weihnachtsgrusses ftir N.'s. Zuerst dachte ich ihn oder vielmehr
^) Christian Wagner, aut Warmbronn bei Leonberg.
403 8^
beide mit einem Band der unlingst erschienenen neuen Italienischen
za fiberraschen, ein Ansinnen, das ich auch fur Sie in Bereitschaft hatte.
Da Sie aber als neugierige Evastochter mir zuvorgekommen sind und
ich flhnliche Neigungen auch bei Frau N. vorauszusetzen wagte, wusste
ich mir absolut keinen Rath. Nun kam mir Ihr Fingerzeig wie gewunscht.
Mit heutiger Post geht zugleich eine von mir bekritzelte Photo-
graphie an N.'s ab und trifft hoffentiich zu rechter Zeit auch ein. Dass
meine Italienischen als eine wahre Fundgrube fur Ihre Stimmlage sich
erweisen ist ftir uns Beide sehr erfreulich. Ich wunsche Ihnen bald
die nothige Musse sich eingehender mit dem Bande zu befassen. Was
Sie mir uber M. schreiben, iiberrascht mich gar nicht. Wie mir scheint
ist M. bereitl^ ein alter Knabe. Da wunderts mich nicht, dass er sich
schon fiir meine Sachen interessiert.
Lassen Sie ihn erst Methusalem's Alter erreichen und warten wir
noch bis er heiser sein wird wie eine Krihe und ich mdchte wetten,
dass er sich mit einer wahren Wuth auf meine Sachen stiirzen wird.
Ich kenne diese illustre Singerbagage. Wenn sich diese hohen und
hdchsten Herrschaften ausgegrdhlt haben, dann kommen sie zu mir»
dann wir* ich ihnen gut genug — aber — Hand von der Taschen —
dann giebts von meiner Seite nur Fusstritte und Rippenstdsse. Herr M.
mdge sich dies gesagt sein lassen.
Mit NIchstem werde ich das zweifelhafte Vergnugen haben die
zrWlfte des 4. Aktes meiner Oper im Verein mit Frau Mayreder
gSnzlich umzugestalten, da sich das Wiener Opemtheater an der ur-
sprunglichen Fassung, trotz vorgenommener Striche, stosst.
Das ist mir eine schdne Weihnachtsbescheerung. Wunschen Sie
mir Geduld und Fassung zu diesem heillosen Unternehmen und seien
Sie mit Ihrem Gemahl aufs schdnste begrlisst von
Ihrem sehr ergebenen
Hugo Wolf.
Alles Cute und Schdne zum neuen Jahr.
Wien, 21. Dezemb. 1896.
— Bezuglich der transponirten Lieder, — naturlich fur
tiefere Stimme — kann ich gegenwirtig nichts Bestimmtes mittheilen.
Vorllufig besteht nur die Absicht transp. Ausgaben zu veranstalten. So-
bald diese Angelegenheit spruchreif sein wird sollen Sie davon ver-
stindigt werden. Also noch ein bischen Geduld. Ganz der Ihrige
Hugo Wolf.
Wien, 4. Mai 1898.
Stuttgart, den 16. Februar 1904.
An die Redaktion der Suddeutschen Monatshefte.
Es ist mir eine Freude, meinen Wolfbrief in Ihrem getcbitzten Blatt und in
80 wdrdigem Rthmen erscheinen zu seben. Von Wert wire mir, wenn Sie auch den
paar Zeilen, die ich hier niederschreibe, Raum gdnnten. Ich mdchte gem damit
404 8^
belegen, diss Hugo Wolf der Transposition seiner Lieder nicht gmndsitzlich tb*
geneigt war. Jeder Komponist wird vorziehen, wenn seine Kompositionen in der
von ihm gewihlten Tonart wiedergegeben werden. Geht dies aber nicht, so ist
es ihm in den moisten Fillen gewiss lieber, wenn die Lieder in anderer Tonart,
als wenn sie gar nicht gesnngen werden. — Die Zeilen bilden den Schluss einer
Karte, deren Anfang Ton einem Besuch meines j Mannes in Wien handelt. Be-
kanntlich erkrankte Hugo Wolf im September 1806 anfs none.
Hochachtungsvoll
Gertrud Lambert.
An Adolf Nast.
Verzeihen Sie lieber u. hochverehrter Herr Nast, dass ich nicht
fruher schon an Sie geschrieben, aber Sie wissen nur zu gut, wie sehr
ich unter dem Andrang von Correspondenzen zu leiden babe. Ich wteder-
hole nochmals, dass die herrlich schdnen Tage, die ich in Ihrem gast-
lichen Heim verlebt, bleibend in meinem Gedachtnisse hafteti werden.
Haben Sie herzlichsten Dank ftir all die Liebe und Giite, die Sie und
Ihre liebe verehrte Frau mir in so reichem Masse angedeihen liessen^
Director Jahn habe ich nun doch nicht in Salzburg angetroffen, da er
Tags zuvor nach Wien reisen musste. Da ich aber nun einmal die
route uber Salzburg eingeschlagen, bendtzte ich dieselbe zu einem kleinen
Abstecher, urn Kocherts in Traunkirchen aufzusuchen. Das schlechte
Wetter, das jedoch inzwischen eingetreten (wir batten dasselbe am 15.')
notiger gehabt), verleidet mir einigermassen den Aufenthalt hier, und so
werde ich noch heute Abend mich auf die Socken machen und nach Wien
reisen. Falls Sie die Copien der italienischen Lieder noch nicht an
Meckel gesendet, bitte ich Sie dieselben nach Wien IV. Pldsfselgasse 4
zu adressiren. Faisst wird die zwei fehlenden Lieder wohl schon aus-
gefolgt haben, wenn aber nicht, moge er mir dieselben sofort nach Wien
senden u. z. an die oben angegebene Adresse. Sobald ich mit Director
Jahn mich verstindigt haben werde, sollen Sie Nachricht erhalten. In-
zwischen die alierherzlichsten Griisse an Sie und Ihre liebenswurdige Frau
von Ihrem dankbar ergebenen
Traunkirchen, 21. Juni 896. Hugo Wolf.
Lieber Herr Nast I Bis heute 27. Juni ist noch immer nicht der
Tannhauserklavierauszug eingetroffen. Bitte mir genau das Datum an-
zugeben, an welchem Tage die Sendung in Stuttgart resp. Degerloch
aufgegeben wurde, oder wollen Sie dieselbe reclamieren? Das Einrichten
^) Tag des Konzertes in Stuttgart
405
meiner neuen Wohnung macht mir jetzt viel zu schaffen. Ende nichster
^oche gedenke ich in die Schwindgasse 3 zu ubersiedeln. Einstweileo
bitte Pldsselgasse 4 zu adressiren. Herzlichste Grusse auch an Lamberts.
Letztere bitte telephoniscb von mir aus zu grussen.
Inimer Ihr dankbarer
Wien, 27. Juni 896. Hugo Wolf.
Lieber verehrter Herr NastI
Sie baben mir mit den zwei Binden der Kellerbriefe, die vorgestem
^oblbehalten bier aniangten, eine ganz besondere Freude gemacht Ihre
freundlicben Zeilen sind mir erst gestem zugestellt worden. Nebmen
Sie fur beides meinen verbindlicbsten Dank entgegen. Ibr gemutliches
Heim kann ich mir zur scbonen Winterzeit lebhaft vorstellen. Wie Sie
sicb's behaglich in der grossen luftigen Halle vor dem prasselnden Kamin
macben, den kdstlicben Duft einer Havanna einschltirfen, mit Ibrer lieben
Frau plaudem und ab und zu mit der schdnen Aussicbt liebflugeln. Wie
gem wurde ich Ibnen dabei Gesellscbaft leisten, mindestens am Klavier,
das jetzt wohl nicbt sonderlich strapaziert wird.
Ober das Schicksal meiner Oper kann ich leider nicht viel er-
freulicbes berichten; bis dato bat sich noch keine Biihne um das Werk
l>eworben. Wohl aber wurde mir von Kapellmeister Fuchs (von der
Jiiesigen Oper) bedeutet den 4. Akt umzugestalten, da die grosseren
Buhnen es nicht riskiren konnten ein Werk mit einem dergestalt
nproblematischen* Schluss aufzufiihren. Sie kdnnen sich denken, dass
-solcbe Eroffnungen nicht sebr ermuthigend auf mich einwirken. Wenn
ich nur schon die ganze Geschichte vom Halse bltte, um mit frischen
KrSften an ein neues Werk zu gehen, denn Anderungen und Umgestaltungen
machen eine Sache gewdbnlich schlechter als besser. Leider werde ich»
wie in letzter Zeit so hlufig, durch unwillkommenen Besuch unterbrocben.
Da ich ohnedies schon zu lange mit meiner Antwort gezdgert, will ich
Gileses Schreiben nicht wieder hinausschieben und eile somit zum Schluss
nicht ohne Ibnen zuvor noch ein herzliches prosit Neujahr zuzurufen
und Sie wie Ihre liebe verehrte Frau auf s allerschSnste und wflrmste zu
begriissen als Ihr treulichst ergebener
Wien, 4. Januar 897. Hugo Wolf.
Verzeihen Sie, lieber Herr Nast, diese etwas verspflteten Zeilen.
Die Neujahrswoche hlufte solcbe Massen von Correspondenzen an, dass
^ mir beim besten Willen nicht mdglich war alien meinen Verpflich-
tungen bei Zeiten nachzukommen
SOddeutsche Monauhefte. 1,5.
27
^ 406 8^
Wie geht es Ibnen, lieber Herr Nast, und was macht Ihre channante
Frau? In Ihrem verschneiten, aber iusserst gemutlicben Nest auf der
windigen H5he mag es jetzt wohl sehr traulich sein. Was gibe ich
drum, kdnnte icb melnen dennaligen Aufentbaltsort mit dem Ibrigen ver<
tauscbenl Sind Sie ein glucklicber Menscbl Besitzer einer scbonen
Villa in pracbtvoller Gegend auf waldiger H5b und dazu einer liebens^
wertben Frau — wabrlicb Sie sind beneidenswertb. Weiss Gott, ob
icb's jemals annibemd nur so weit bringen werde. Zu scbltzen wusste
icb jedenfalls ein solcbes Glfick. Aber icb bin ein prftdestinirter Pech-
vogel, der sicb's an seinen Luftscbldssem genugen lassen muss, was
freilicb verdammt wenig ist.
Grtissen Sie meine Freunde Keller und L4imbert und nicbt zuletzt
Ihre verebrte Frau.
In alter Herzlicbkeit und Ergebenbeit
ganz der Ibrige
Wien, 7. Januar 898. Hugo Wolf.
III. Leonbardgasse 3 — 5.
Eduard M5rike.
Rede bei der Jahrbundertfeier^) in Stuttgart gebalten
von Otto Gfintter in Stuttgart
Am Spfttnacbmittag des 6. Juni 1875 umstand ein kleiner Kreis
emster Mflnner und Frauen auf unserem Pragfriedbof ein offenes Grab.
In tief empfundenen Worten gab einer der Leidtragenden dem Aus^
druck, was sie alle bewegte. ^Du wirst nicbt bertibmt sein, rief er
dem dahingescbiedenen Freund nach, bei denen, die es nicbt fassen, dass
der Dicbter in diese unsere Welt eine zweite, eine Welt von bolden
^) Am 8. September 1904 werden et hundertjahre seitMSrikes Geburt Der
kleine Kreis derer, die schon zu seinen Lebzeiten die unvergleicblicbe Herrlicbkeit
seiner Poesie in ibrem voUen Wert erkannten und wurdigten, bat bald nacb MSrikes
Hingang fiber seinem Grab in Stuttgart ein Denkzeicben mit dem Reliefbild des
Dichters errichtet. Leider hat sicb der damals gewihlte Stein ala wenig widerstands^
407
und gewaltigen Wundern hineinstellt. Aber es gibt eine Gemeinde, die
sich labt und entzuckt an deinen wunderbaren Triumen, und sie wird
wachsen, diese Gemeinde, sich erweitern zu Kreis urn Kreis, Bund um
Bund wird sich bilden von Einverstandenen in deinem Verstlndnis.''
Der so sprach, war Friedrich Vischer, und wie begriindet sein voraus-
schauendes Vertrauen war, durfen wir heute mit Augen sehen, denn
der, dem diese Worte galten, war der Dichter, dessen Name uns hier
zusammengefuhrt hat, Eduard Morike.
Wohl batten die Freunde schon nach den ersten Werken Morikes
den reichen Lorbeer geschaut, der, andem noch unsichtbar, dieses
Dichters Stirn umkrlnzte, wohl batten sie ihn mit feinem und sicherem
Verstlndnis sofort an die richtige Stelie geruckt in ihrer Schitzung
und ihm seinen Platz in der ersten Reihe unserer Lyriker angewiesen.
Aber es blieben lange Zeit nur vereinzelte Stimmen, denen andere
gegenubertraten, die da meinten, dass diese Schwaben viel zu hoch
dichten von ihrem Landsmann. Eine seltsame Tfluschung! Denn die
Schwaben sind sehr kritische Leute und haben ihre Dichter nie ver-
wdhnt mit Lob, so lange diese lebten. So blieb denn auch in seinem
Heimatland Mdrikes Poesie lange Zeit nilr ein Besitz weniger, die es
ihm freilich Dank wussten, dass sie bei ihm gelemt, was wahre Poesie
sei, und noch Jahrzehnte dauerte es nach seinem Tod, bis im Norden
unseres Vaterlandes die Erkenntnis reifte, dass Mdrikes Dichtung «die
eigenartigste und duftigste Blute sei, die dem schwSbischen Gottesgarten,
der poetisch reichsten Landschaft Deutschlands, entsprossen*. Jetzt, wo
das 19. Jahrhundert hinabgesunken ist und alles, was in ihm nur Tages-
bedeutung hatte, immer mehr zusammenschrumpft, jetzt wird es immer
deutlicher und immer weiteren Kreisen erkennbar, was echt und bleibend
ist in der Kunst dieses Jahrhunderts, was |etzt noch aus ihm hervor-
ragt und wie hoch es emporragt. Kommt auch keiner seiner Dichter
an Umfang und Bedeutung seines Schaffens den ganz Grossen und Ge-
waltigen der vorangegangenen Periode gleich, so leuchtet doch mehr als
einer von ihnen in unvergflnglichem Glanz, weil er mit Eigenlicht strahlt,
und unter diesen nicht als der geringste unser Eduard Mdrike.
Als Mdrike in einem schmichtigen Bindchen seine Gedichte zum
erstenmal vereinigt erscheinen liess, da war die Zeit freilich nicht dazu
fihig erwiesen, so dass schon jetzt die Verwittening weit vorgeschritten itt. Der
Literarische Klub Stuttgart stellte sich daher die Aufgtbe, auf den hundertsten
Gebartstag M5rikes das Grabmal aus wetterbettindigem Material herzustellen. Die
Gedlchtnisfeier Stuttgarts fur Eduard M5rike wurde darum schon im November
V. J. gehalten, da der Ertrag dieser Feier, neben einer Sammlnng, die Mittel fCir
die Emeuerung des Grabroals bringen sollte. Dieser Zweck ist denn auch im
reichsten Mass erreicht worden, so dass noch ein Grundstock zur VerfQgung bleibt,
der die Erbaltung des Denkmals und eine entsprechende Bepflanznog des Grabes
daaemd sicher stellt Die Feier, die in Anwesenheit des Kdnigs von Wiirttemberg
und anderer Angehdrigen des Kdnigshauses stattfand und der zweieinhalbtausend
Ztth5rer anwohnten, wihrend hunderte anderer keinen Zuiass mehr flnden konnten,
legte beredtes Zeugnis dafur ab, wie sehr M5rike sich jetzt in weitesten Kreisen
die Herzen gewonnen hat.
27*
••8 408 8**
angetan, einen Dichter, der nichts als Dichter war, zu erkennen und zn
wurdigen. In den Jahren, in denen diese Gedichte ihren Weg hitten
machen sollen, tibertonte der Linn der politiscben Tendenzlyrik der
vierziger Jahre die feinen Klinge der Mdrikeschen Poesie, die nicht aus
dem Dunst und Gewdlk des Tages herausblitzte, sondem dent beitem
Himmel ew'ger Kunst entstiegen war, und keine andere Absicbt hatte,
als eben Poesie zu sein. Die Losungsworte der Zeit klangen in seinen
Dicbtungen nicbt wieder; dem Kampf der politiscben Meinungen stand
er fern. Das soil nicbt zu seinem Lobe gesagt sein, aber es darf ibm
aus dieser Tatsacbe aucb kein Vorwurf gemacbt werden. Er wusste,
was ibm gemiss war. Seine Natur braucbte die Stille; ^.Einsamkeit ist
deine Welt*, batte er sicb scbon auf der Scbule gesagt sein lassen. Er
liebte es, wie ein Kind aus einem stillvergnugten Winkelcben binaus-
zugucken in die Welt, vor der er sicb obne Hass verscbloss. So war's
ibm wobl und nur so konnte reifen, was in ibn gelegt war, und die
vergeblicben Versucbe, die er in jungen Jabren gemacbt bat, um in
andere VerbSltnisse zu kommen, baben ibn nur gelehrt, dass er dazu
nicbt gescbalTen sei, und ibn wieder zuruckgefiibrt in die umfriedeten
Kreise, wo er sicb zuletzt docb geborgen fublte, in die
stiUe Himmelsenge,
Wo nur dem Dicbter reine Freude blubt,
Wo Lieb' und Freundscfaaft unsres Herzens Segen
Mit Gdtterhand erscbaffen und erpflegen.
Und wie er bier das fand, was seiner Art zusagte, so wurde ibm aucb
bald klar, wo seine eigentlicbe Begabung liege. Als Jungling hatte er
geglaubt auf dramatiscbem Gebiet sein Hdcbstes leasten zu kdnnen; aber
das Drama, das seiner Bestimmung nacb nicbt langsam und still wirken
kann, sondem sofort und mit starkem Druck, muss mit groberen Stricben
zeicbnen, als sie Morikes feinem Stift zu Gebot standen. Wohl fubrt
er uns in dem Roman seiner Jugend, im .Maler Nolten*, in einem
dramatiscben Zwiscbenspiel in das Traumland seiner J iinglings jahre, und
wunderbare Scbdnbeiten leucbten aucb da uns entgegen, aber die
Stimmungspoesie dieses Scbattenspiels bewibrt ibn eben als Lyriker.
Fubren von diesem Drama Fiden zuruck zu der romantiscben Periode
unserer Literatur, so ist das aucb im erzMblenden Teil seines .Maler
Nolten** der Fall, und dieser romantiscbe Einscbuss im Gewebe der
Dicbtung beriibrt uns Kinder einer andem Zeit recbt fremdartig. Aber
trotz allem, was sicb einwenden lisst, welcb ein Meer von Poesie wogt
in diesem Roman an uns vorfiber, in einer Spracbe von wunderbarem
Woblklang und unerbdrtem Bilderreicbtum, und dabei docb mit einem
weisen Massbalten, das Erstlingswerken sonst nicbt eigen zu sein pflegt
So stand er als Erzibler sofort auf seiner vollen Hdbe: der junge
Dicbter, der von Welt und Leben wabrbaftig nicbt viel geseben batte,
erwies sicb als ein Scbdpfer von Menscben voll sinnlicber LebensfBlle
und Lebenswdrme, die in voller Rundung, in Fleiscb und Blut, vor uns
steben und ibren eigenen Gang durcbs Leben geben.
Und wie sein Roman nicbt als erster tastender Versucb erscheint.
409 8^
so 'finden wir auch unter seinen Gedichten keines, in dem er uns als
unmQndiger Sohn Apotlens entgegentrite. Mag im .Maler Nolten*'
manches an die Zeit seiner Entstehung erinnern: die herrlichen Lieder,
die er in ihn verwoben hat, sie wissen von keiner Zeit; wie am ersten
Tage blicken sie noch heute uns an in stiller ewiger Klarheit. Lyriker
ist Mdrike vor allem gewesen und im tiefsten Kern seines Wesens, und
seine Gedichte zeigen die gleiche Vollendung von dem ersten des
Junglings bis zu den wenigen, die ihm seine splteren Tage noch be-
schert haben. Wussten wir es nicht, wir warden es nicht vermuten,
dass ein Zwanzigjihriger jene wunderbaren, geheimnisumwobenen Pere-
grinalieder gedichtet hat, die uns erzlhlen, wie ein Irrsal kam in die
Mondscheingftrten einer einst heiligen Liebe, die wie heisse Blutstropfen
seinem blutenden Herzen entquollen, deren Gold in heiligem Gram ge-
diehen ist aus dem schwersten seelischen Kampf, den er durchgeklmpft
hat. Das persdnlichste Erlebnis, aber rein Bild geworden, so sind die
Mehrzahl seiner Gedichte, und eben das macht ihren hohen Wert aus.
Niemals finden wir bei ihm etwas Anempfundenes oder gar Gemachtes,
nichts als was aus seinem Innersten ganz von selbst emporstieg und
sich gestaltete, im grdssten wie im kleinsten die unbedingte Wahrheit
aller innerlich grossen Kunst. »Von innerem Gold ein Widerschein*,
sind diese Gedichte hervorgeflossen aus den Tiefen eines mit sich selbst
einigen und immer sich selbst treuen Menschen, der in sich etwas war.
Nur aus einer reingestimmten Seele konnten solche reingestimmte Tone
kommen, und wir verstehen es, wenn der Freund seiner Junglingsjahre,
wenn Ludwig Bauer an Mdrike schreibt: ,Es ist mir lieb, dass nur dann
Dein ganzes wunderbares Selbst vor mir steht, wenn sich die gemeinen
Gedanken wie miide Arbeiter schlafen legen und die Wunschelrute
meines Herzens sich zittemd nach den verborgenen Urmetallen hinab-
senkt.* Es sind die Sonntagstunden unseres Lebens, wo wir in des
Schdnen Gestalt ewige Michte uns nahe fiihlen, und es will nicht wenig
heissen, ein Dichter zu sein, zu dem wir uns hinwenden in den stillen
Augenblicken, wo der Mensch gleichsam mit angehaltenem Atem auf
den Grund der eigenen Seele niederschaut und den geheimsten Puis
seines ahnungsvolleren geistigen Lebens fuhlt, wo wir Einkehr haken
in uns selbst, und all das, was am Alltag in lautem Lftrm uns umgibt^
hinabsinkt und in der Feme verklingt und auch wir mit dem Dichter
ausrufen:
n\M9y 0 Welt, o lass mich tein! —
Ltstt dies Herz aileine haben
Seine Wonne, seine Pein!*
Mdrike war einer der Menschen, die uns etwas geben kdnnen, die
nach innen leben und nicht nach aussen, und die in ihrem Innem eine
Welt bergen. Diese Welt hatte nicht die Weite des geistigen Weltreichs
eines Goethe; es war ein weit engerer Bezirk, aber innerhalb dieser
Grenzen war' auch er ein Kdnig. Und so eng diese Grenzen sind, sie
umschliessen doch eine Fulle des Lebens. Er vemimmt eben, was
Tausende nicht hdren, und sieht, was sie nicht sehen. Wenn der freche
410
Tag verstummt und des Himmels klingende Heere heraufziehen und
ihren seligen Weg ewig gelassen dahin gehen, wenn auf Daft und Nebel-
bulle des Mondes leiser Zaubertag schwimmt, da llsst er uns die leisen
Stimmen boren, „der Erdenkrifte flfisterndes Gedringe*, und die Quellen,
<lie in der Stille keeker bervorrauschen und singen „voni Tage, vom
beute gewesenen Tage"". Tiefer als andere blickt er binein in das, was
unausgesprocbeuy aber docb nicbt unfiibibar, um uns lebt und webt, und
weiss ibm Wort zu ieiben, so dass wir oft auf seine Gedicbte selbst
die Worte anwenden mdcbten:
O hier ist's, wo Natur den Schieier reitst!
Sie bricbt einmal ibr ubermenscblich Scbweigen;
LAut mit sicb selber redend will ibr Geist,
Sicb selbst yeraebmend, sicb ibm selber zeigen.
Wer ihn kennen gelemt bat, den begleitet er durcb den Wechsel
der Jabreszeiten, wenn der Friibling sein blaues Band wieder flattem
llsst durcb die Lufte, wenn im Sommer die Bliiten beben und die Lufte
leben und in boberm Rot die Rosen leucbten vor, wenn der blaue
Himmel den Nebel durcbbricbt und berbstkr^ftig die gedimpfte Welt in
warmem Golde fliesst. Wir seben, wie er am Waldsaum liegt und
sein Gemute ofTen stebt, sehnend, sicb debnend in Lieben und HofFen,
und ein lieblicber Gedankenscbwarm ibn uberfillt, oder wie er in Er-
innerung verdammemd trMumt und denkt »alte, unnennbare Tage*, oder
wie er an einem Wintermorgen in der flaumenleicbten Zeit der dunkeln
Fruhe, dem Eindruck naher Wunderkrifte offen, von sanfter Wobllust
seines Osseins gltiht, und im Gefubl entzuckter StSrke der Genius in
ibm jauchzt und ibm docb der Blick von Webmut feucht wird. Der
ausruft: ^Erdenleben, lass dicb begen, uns ist wohl in deinem Arm^,
kennt aber auch die qualvollen Stunden, wo nicbtelang kein Scblaf das
Auge kiihlt, wo sein verstdrter Sinn bin- und berwiihlt und Nacht-
gespenster scbaflt, wo er angstvoll und vorwurfsvoll sicb am Boden
windet. Docb aucb dann beisst es wieder nsngste, quale dicb nicbt
linger, meine Seele^, und er verwtinscbt nicbt seinen Lebenstag, sondem
fasst sicb still im Herzen, das er kennt und das ibn kennt, und «es
bupfte ibm das Herz im Busen, das nocb erst geweinet batte".
Aber Morike versteht es aucb, von der Person des Dicbters vdllig
losgeloste Bilder zu geben. Von so vielen kdstlicben Perlen sei nur
die kostlicbste genannt, jenes Lied vom verlassenen Mdgdlein, dem
Trine auf Trane niedersturzt tiber dem unermesslichen Web ginzlicher
Verlassenbeit, ein Lied gesdttigt mif Empfindung und dabei von der
reinsten und klarsten Zeicbnung, wie es ausser Morike nur Goetbe
hStte macben konnen. Und wie dieser, so weiss aucb Mdrike immer
die recbte Form zu finden, oder vielmebr: Gebalt und Gesti^lt entfliessen
ibm wie mit innerer Natumotwendigkeit in wunderbarem Einklang. Dabei
verfugt er tiber einen staunenswerten Reicbtum an Formen und bewegt
sicb in alien mit gleicber Vollendung und Anmut, ob er nun von Kdnig
Ringangs Tocbterlein singt oder in geisterscbwuleo Balladen eine Welt
411
des Traumes- vorfuhrt, in Idylle und Legende alten Chronikenstil an-
scbligt und in Hans Sachsischen Ton sicb gehen lisst, ob sein Lied
wie ein Vdgelein zierlicb auf der Erde dabin bupft oder den bohen
Flug wagt, ob er ein Mausfallenspnichlein dicbtet oder uber seinem
Sange die Sonne Homers leucbtet und er wie Iphigeniens Dicbter in
reiner Opferschale den ecbten Tau der alten Kunst schdpft. Aus kleinen
Anregungen des Erlebens fublt er den dauemden Gebalt beraus und
stellt ibn bildmlssig vor uns bin. Er verstand es aber aucb, aus
Kleinigkeiten Lust und Begeisterung zu saugen, bis auf den letzten
verborgensten Honigtropfen alles aus der unscheinbarsten Lebensblute
berauszubolen. Das kleinste Erlebnis konnte in seiner iiberaus empfin-
dungsflbigen Natur nacbzittem bis in die feinsten Veriderungen seines
geistigen Wesens, um fruher oder splter bildgeworden wieder bervor-
zutreten. Oft erst nacb Jabren, denn er verstand es, zu warten, und
nie bat er mit stumpfem Finger die Saiten gerubrt. Er bat nie dicbten
wollen; still barrte er, bis ibm die Muse mit einem Liebesbauch das
Herz berubrte und er im Geist ein kdstlicbes Liedcben empfing. Wenn
ibm aber die Muse gunstig war, dann wusste er aus allem etwas zu
macben und was er berubrte, wurde dicbteriscbes Gold. Diese besondere
Gabe, das scbeinbar Wertlose in poetiscbes Leben zu verwandeln, bat
einem seiner Freunde das kdstlicbe Wort eingegeben: .Mdrike nimmt
eine Handvoll Erde, dnickt sie ein wenig — und alsbald fliegt ein
Vdgelchen davon*. Mit der ftussersten Konzentration von Wort und
Bild, die ibm eigen ist, vermag er in Einem Gedicbt, ja in Einer Stropbe
zu geben, was andere in einer Reibe von Gedicbten ausgesponnen
bitten. Dabei umspielt seine Worte ein milder Scbimmer goldenen
Licbts; es umwittert sie jener Haucb gebeimnisvollen Naturlebens, der
die wabre Blute unterscbeidet von der kunstlicben, und sie fugen sicb
zusammen in wunderbarem Wobllaut. Von jeber baben sie denn aucb
Komponisten gereizt, die entsprechenden Tone binzuzufinden. Die Freunde
der Musik wissen es Morike Dank, dass er mit seinen Dicbtungen so
mancben Meister des Tones entziindet und berrlicbe Lieder bervorge-
lockt bat, von den trefflichen Kompositionen seiner Freunde und Lands-
leute aus friiberen Jabren, eines Hetscb, Kauifmann, Scberzer, bis zu
Hugo Wolfs genialen musikaliscben Paralleldicbtungen zu Morikes
Liedem, die uns wie durcb ein Zauberglas ins Goldgewebe seiner
TrMume blicken lassen und Mdrike vielen Tausenden bekannt und ver-
traut gemacbt baben. Und ist es nicbt, als babe Mdrike der Scbwester-
kunst dies zum voraus vergelten wollen, indem er jenes Kleinod seiner
erzMblenden Poesie scbuf, Mozart auf der Reise nacb Prag?
So musikaliscb aber Mdrikes Lieder sind, niemals zerfliesst und
verscbwebt seine Dichtung in blossen Woblklang scboner Worte, immer
bleibt sie gestaltend und klar umrissen, aucb wenn er uns selbstge-
scbaffene Traum- und Mircbenwelten vorfubrt oder seinem pbantastiscben
Humor die Zugel scbiessen Iflsst. Denn mit einem ecbten Tropfen
kdstlicben Humors war Mdrike gesalbt, dem scbon bei der Geburt
jeglicbe Gabe und Kunst der scberzenden Muse gescbenkt ward. In
412
mat^itliger Laune springt er in seinen Erzihlungen gern fiber ins
ntanttstische, wo wir oft dae strengere Scheidung wunschen mdcfaten»
and am wohlsten ist ihm, wenn er seine humoristische Phantasie so
recbt nach Herzenslust sich fiberpurzeln lassen kann. Diese Welt des
Mircbens batte ffir ihn ebensoviel innere Wirklicbkeit und empfing voa
ibm ebensoviel Lebenskraft wie die Welt des Tatslcblicben, und mit
Recbt bat man eine Pbantasie mytbenbildend genannt, die einen Urwelt-
gSttersobn gescbaffen bat wie den .sicbem Mann* und eine so prflcbtige
Marcbengestalt wie die scbdne Lau. Die Nicbtschwaben wissen sicb
freilicb nicbt recbt bineinzufinden in ein Werk wie das Stuttgarter
Hutzelmflnnlein, und es muss dann eben fur uns ein kleines Reservat-
recbt bleiben, dass wir die Art von Humor, der bier sein nirriscbes
Spiel treibt, versteben, dass wir mitmacben und mitlacben kdnnen und
uns freuen, altvertraute 6rtlicbkeiten mit Mdrikes Gestalten belebt zu
seben. Aucb fiber mancber andem Stitte unseres Heimatlandes, in
dem er so still seinen Erdenweg dabingegangen ist, scbwebt sein Name,
von dem Ddrfcben im Unterland, wo seine und Scbillers Mutter neben-
einander rubn, bis zu den Tilem und Hdben unserer scbwflbiscben Alb,
fiber dem waldumkrinzten Tal von Bebenbausen mit seinem licbt durcb-
brocbenen Turm, wie fiber den glitzemden Gebreiten jenes Sees, fiber
dem im Glanz durcbsicbtiger Lfifte der Sftntis in bimmliscber Rub die
gewaltigen Schultem erbebet.
Denn der unsere warst du und bleibst du, an Herz und Sitte ein
Sobn der Heimat, so sebr du binausgewacbsen bist ins Weite und All-
gemeine, und uns vor alien geziemt daber deiner zu gedenken, wo die
bundert Jabre sicb dem Abscbluss zuneigen, die seit deiner Geburt
vergangen sind. Du lebst und wirst leben! Gescblecbt um Gescblecbt
werden deine Lieder erfreuen, unveraltend, so lange Poesie Poesie, Gold
Gold, Kristall Kristall bleibt, so lange es Menscben gibt, die das Wort
versteben, das du gesungen:
»Was aber scbdn ist, selig scbeint es in ibm selbst.*
413 8^
Ungednickte Briefe von Eduard M5rike.
Mitgeteilt von Rudolf Krauss in Stuttgart
Man denke sich, dass jemand vor einen mit den herrlichsten
Fruchten uberreich behangenen Baum gefuhrt wird, urn davon soviel
zu pflucken, als ein bestimmter Kerb fasst ! Er wird kaum wissen, was
er zuerst abbrechen soil, und beklagen, dass er so viel stehen lassen
muss, und schliesslich wird bei der schweren Wahl der Zufall nicht
unbeteiligt bleiben. Kaum anders ist es mir ergangen, als es gait,
Eduard Mdrikes Briefe fur eine Buchausgabe zu sichten und auszuwShlen,
deren Umfang aus guten Grunden zu beschrinken war. Es ist etwas
Scbdnes, aus dem Vollen zu schopfen, aber es kann auch Pein schaffen.
Wie viel Vollwertiges musste im angeftihrten Falle der Raumerspamis
zulieb mit innigem Bedauem ausgeschieden werden! Desto mehr verlohnt
es sich, Nachlese zu halten, und so konnen auch die Leser dieser Zeit-
schrift zum Genuss einer bunten Reihe wurdiger neuer Morike-Briefe
eingeladen werden.
Morike ist auch als Briefschreiber ganz er selbst und nur mit sich
selbst vergleichbar. An seinen Ergiissen ist nichts Gemachtes, nichts
Erkiinsteltes, nichts Erzwungenes. Er gibt sich durchaus naiv als der
liebenswurdige, zartfuhlende Mensch, der er gewesen ist, als der tief-
grundige, feinsinnige Poet, der mit seinen geistigen Interessen nur eine
kleine Welt umspannt, diese aber bis auf den letzten Rest ausschdpft.
Grossen stoCflichen Gewinn werden aus seinen Mitteilungen nur die
Ziehen, welche willens sind, in seinen Lebens- und Entwicklungsgang
bis ins einzelne einzudringen: aber an ihrem reichen Stimmungsgehalt
wird sich jeder erbauen, der dem Dichter auch nur oberflMchliche Toil*
nahme entgegenbringt oder iiberhaupt fur den unbewusst kunstlerischen
Ausdruck der feinsten Seelenschwingungen Empfinglichkeit besitzt. Es
ist eine reizvolle Beobachtung, wie hier angeborener Formsinn und von
Natur verliehene Sprachgewalt unbeabsichtigte Triumphe feiem. So
weht uns eine Fulle individuellen Lebens aus Mdrikes Briefen entgegen.
1. An die Mutter.^)
Der erste von den Briefen, die an dieser Stelle mitgeteilt werden
sollen, ist an die Mutter gerichtet. Mdrike hat eben eine der schwersten
Epocben seines Lebens hinter sich gebracht: er hatte sich von seiner
vorgesetzten Kirchenbehdrde einen llngeren Urlaub erteilen lassen, den
er dazu benutzte, sich nach einer Lebensstellung ausserhalb des ihm
wenig zusagenden theologischen Berufes umzusehen. Der Versuch ist
missgluckt. Nach sechswdchiger Beschflftigung als Journalist musste er
zur Einsicht gelangen, dass er auf diesem Wege sein poetisches Talent
zugrunde richte. Anfang 1829 hat er sich wieder dem Oberstudienrat
0 Die Urschrift im Goethe-Schiller-Archiv zu Weimar.
414 3^
zur Verfugung gestellt. Zu Scheer an der Donau in Oberschwaben, wo
sein Ilterer Bnider, Karl Mdrike, Amtmann ist, hant er der Dinge, die
da kommen sollen. Durch seine Mutter erf&hrt er, dass en zum
Pfammtsverweser in dem unweit von Scheer gelegenen Dorfe Pflummem
emannt worden set. Das folgende Schreiben ist die Antwort auf diese
Benachrichtigung.
Scheer, den 10. Februar 1829.
Gestem abends urn 8 Uhr erhielt ich Deine liebe Sendung und die
entscheidende Nachricht wegen Pflummems, die ich eine halbe Stunde
zuvor schon durch das liebe Dorchen^) aus einem Briefe ihrer Frau
Mutter vemommen hatte. So keck ich auch von jeher auf meinen
guten Stern vertraute, so uberraschend war mir dennoch diese kaum
verdiente Gunst des Schicksals. Ich ergriff sie, wie Du Dich selbst
ausdnickst, mit gemischten Empfindungen, bei denen jedoch Freude,
gute Hoffnung und der beste Wille bei weitem vorschlug. Tausendhche
Vorstellungen von meiner nichsten und entfemteren Zukunft spielten
in lebhaftem Gedringe durch meine Seele, und ein grosser Teil, beste
Mutter, war an Dein Bild geknupft. In diesem Sinne vermag ich so
manche Schwierigkeit, die sich mit meiner Situation besonders anflnglich
verbinden muss, leichter aufzunehmen, als sonst mdglich wire. Indem
mir nimlich der Gedanke, dass ich nun bald zu Deiner Erleichtening
etwas werde beitragen kdnnen, Mut und Eifer gibt, so hege ich uberdies
eine eigenniitzige Hoffnung, durch deren Erfullung Du den Zweck meines
neuen Standpunktes wesentlich befdrdem wurdest. Darf ich Dir sagen,
was ich damit meine? Du deutest selber nicht ohne Besorgnis auf die
Frage hin, wer meine okonomischen Bedurfhisse leiten werde, und ich
denke noch an ganz andere Bedurfnisse als jene: ich denke an meine
isolierte Lage tiberhaupt, an so manchen Fall, wo es mir an Rat, an
Anregung und Ermunterung gebrechen wird ; ich denke an die friedlichen
Gemdlde, die wir beide, ich und Du, und KlUrchen*) in ahnungsvoller
Erwartung meiner kiinftigen mehr fixierten Lage Zuweilen halb scherzend
entworfen haben. Der Vorschlag nun, den ich Dir jetzt tun mochte,
konnte Dir zwar leicht immer noch wie halber Scherz vorkommen, denn
ich habe wohl noch eine gute Zeit bis zum ordentlichen Pfarrer hin —
aber besieh meine Bitte doch genauer und sieh nur erst, wie bescheiden
sie vorderhand ist I Ich meine nimlich, wir sollten in Pflummem ein
kleines Vorspiel zu unserer kiinftigen gemeinschaftlichen Lebensweise
machen, und zwar entweder so, dass Du formlich zu mir zdgest oder
wenigstens fur den Anfang mit einigen Wochen den Versuch machtest.
Dann liesse sich ja schon weiter sehen, und wie gltickselig ware Dein
Eduard, wenn Du Dich zu einer vdlligen Niederlassung verstiindest, die
in betracht einer sehr mdglichen Aussicht auf die dortige Pfarrei selbst
gewiss der Uberlegung wert ist!^
>) Karl Mdrikes Frau.
Mdrikes Schwester.
') Der Schlttst det Briefet fehlt.
H>.g 415 8^
2—4. An Luise Rau.^)
Die leise Hoifaung Mdrikes, die eriedigte Pfarrei Pflummern uber-
tragen zu erhalten, erfullte sich nicht. Er musste den Wanderstab
weiter setzen. Zuerst Pfarrverweser im Dorf Plattenhardt auf den iiber
<ler Landeshauptstadt gelegenen Hdhen, dann Vikar im StSdtchen Owen
Fuss der Teckl In Plattenhardt verlobt er sich mit Luise Ran, dem
Tdchterlein seines vor kurzem gestorbenen AmtsvorgSngers. Luise lebt
mit Mutter und Geschwistem im Stidtchen Grotzingen, dessen Seelen-
hirte ein Schwiegersohn der Frau Rau, namens Denk, ist. Grotzingen
Hegt unweit von Owen, und auch Nurtingen, der Witwensitz von Mdrikes
Mutter, ist in nSchster N2he. So 12sst sich eine ununterbrochene Ver-
bindung zwischen den drei Orten und den sich nahestehenden Menschen
herstellen. Die zahlreichen Briefe, die Mdrike an die Braut gerichtet
hat, gehdren zu den schdnsten Denkmalen seines tiefen und reichen
Cemuts. Sie liefem zugleich den unumstdsslichen Beweis, dass er das
MMdchen innig und wahr geliebt hat. Und dennoch hat die Macht der
iLusseren VerhUtnisse das Paar nach mehr als vierjShriger Dauer der
Verlobung wieder auseinander gerissen.
Owen, Dienstag den 4. Mai 1830.
Abends 9 Uhr.
Tausend Dank, mein gutes, herrliches Kind, fur Deinen un-
vergleichlichen Brief vom Sonntag! Ich ging ihm gestem nach Tische
bis Dettingen entgegen und flng ihn glucklich vom Boten auf, lief gleich
nach dem nichsten Walde mit davon und las ihn wohl zwanzigmal
immer wieder an einem andem hubschen Plitzchen. Er ist gar zu
lieb und schon — das eine ausgenommen, dass Du krank warst
-(bist — will ich nicht mehr sagen). Du liebes armes Herz! Davon
wusst ich ja gar nichts ; Du hittest Dir deswegen Auch Deine Sorge um
meine Unruhe ersparen konnen, denn jene Nachricht durch die 1. Mutter,
woven Du sagst, und worauf Du Dich beziehst, hatte ich keineswegs
erhalten und habe sie noch immer nicht. Ein glucklicher Zufall hat sie
verzdgert, wiewohl ich die Boten deshalb eben nicht loben kann. Deine
Hebevolle Selbstanklage ruhrte mich aber tief, und statt dass ich Dir die
^rbetene Verzeihung erteile, mdcht ich Dir lieber tausendmal um den
Hals fallen; denn ein Engel bist und bleibst Du doch! Ich bitte Gott,
dass er Dein Obel ganz vortiber sein lasse.
Der Seitenweg, den ich mit Deinem Briefe machte, entdeckte mir
ein vortrefflich angenehmes drtchen, das ich bisher nicht gekannt hatte:
ein kleiner, von BMumen und Buschwerk besetzter, abhingiger Wiesen-
winkel an der lebhaften Lauter, in die sich eine andre Quelle vom Berg
her giesst. Dort sass ich nieder, las, dachte und fing mit Bleistift an
zu schreiben, was Du hier als poStische Beilage erhdltst. Dann stieg
ich voUends den Wald hinan und spann die Verse so fort. Sie kamen
recht aus meinem Innersten. Seitdem ist dieser Spaziergang mein
Die Urschriften auf der K. Landetbibliothek in Stuttgart.
416
Lieblingsweg. Ich machte ihn erst heute wieder und schnitt die Buch-
staben L. E. in die Rinde eioer jungen Erie dort am Bach. (W&hrend
des Eingrabens flel mir ein, man kdnnte recht sinnreich ein i e b zwischen
die beiden setzen.)
Noch weiss ich nicht gewiss, wo meine Gedahken Dich zu suchen
haben, in Nurtingen oder Grdtzingen; das erstere wire doch wobl kein
gutes Zeichen, und so w&nsch ichs auch nicht.
Die Maiblumchen — vom ersten des Monats — aus dem Hardter
Wald haben mich herzlich gefreut. Auch fur die andem sag ich Dir
meinen wehmutigen Dank.
Grusse alles zum schdnsten und sag mir bald etwas von Jettchen!^)
Lebwohl, wohl und gesund, meine Luise! und bleibe mit ganzem
Herzen Deinem
^ treuen Eduard.
Owen, den 5. September 1830.
Sonntag 2 Uhr N. M.
Meine teuerste, beste Luise!
Hatte ich bisher in unserer Korrespondenz immer einigen Vorsprun^
vor Dir, so bist nun im Gegenteil Du es, die mich beinah ein wenig
beschtot. In der Tat, als mir gestem unter den verschiedentlichen
Handschriften, die der Bote brachte, auch die beliebte Skriptur mit
k' k' ins Gesicht fie! (zum Gluck kommt der Buchstabe, dem Du immer
so ein naivs HSkchen beigibst, jedesmal doppelt auf den Converts vor,
so lange wenigstens als ich noch Vikarius bin, und dass er von meinem
Namen ganz unzertrennlich ist, mdcht ich mir nicht mit Gold abkaufen
lassen, da so ein k' von Deiner Hand in meinen Augen lingst der
Reprlsentant so mancher kleinen Eigenbeiten meines Kindes wurde^
welche fur den Liebhaber naturlich eben so viele Liebenswtirdigkeiten
sind — aber wo bleibt der Schluss meiner Periode? wahrhaftig der
blieb an dem Hikchen hSngen) — so bStt ich wohl etwas rot warden
kdnnen, wenn bei so was nicht alle Scham in der puren Freude unter*^
ginge. Dass aber mein Letztes verloren sein soil, ist mir insofem fatal,
weil es zu meiner Satisfaktion hStte dienen mdgen; doch sein Gegen-
stand ist traurig genug, um geme nie wieder an ihn erinnert zu werden.
Nur um eine artige Beilage von Karl wire mirs leid.
Wenn ich nicht furchten musste, Dir ein allzubekanntes Lied aufs
neue wieder zu singen, so wurde ich auch diesmal die Hilfte dieses
Briefs mit den lieblichen Betrachtungen anftillen, die mir der Nach-
genuss Deines Wiedersehens jedesmal zu machen gibt. Und doch, wie
geme lisst mein eigen Herz sich durch die Worte schmeicheln, womit
Du Deinerseits Dich so glucklich auf jene Freuden beziehst! Ich be-
gntige mich, Dir zu sagen, dass fur diese Tage in meinem Liebes*
kalender ein besonderer Heiliger angeschrieben wird. Ich betrachte sie,
in vollem Emste, zugleich als die schdnste Feier der Wiedergenesung
^) Eine Schwester von Luise Rau.
417 8^
unserer guten Mutter, und insoferne darften sie Nurtingen vorzugs-
weise gewidmet sein, dagegen ich nnn hoffen darf, das nSchstemal den
lieben Grdtzinger Kreis vollstdndig anzutreffen. Herzlich gratulier ich
Schfitten und Rike^) zu ihrem angenehmen Ausflug; ich kann mir
denken, wie dem guten Schwager auf diesem alt- und werten Schauplatz
kostbarer Freibeit das Herz wieder gelacht und getrauert haben mag.
Und Waldenbuch? Ich meine, dort mussten die beiden sich lassen
trauen, wenn Denk erst Pfarrer dort wSre. (.Waldabuech!* — weisst
Du noch?)
Fritz^ schrieb mir kurzlich einen ganz lieben, treuherzigen Brief.
Wo moglich, soil er noch Antwort haben vor der Schweizerreise • • •
Von Mihrlen") erhielt ich eine hdchst angenehme Sendung mit
nenen, noch ungebundenen Drucksachen, die mich Essen und Schlafen
vergessen liessen ; schade, dass ich mir von dieser Lekture fur Dich —
und zwar billigerweise — nicht ein gleiches Interesse versprechen kann ;
sonst solltest Du sie nichst mir zuerst haben . . •
Vor alien Dingen muss darauf gedacht werden, dass meine Augen
Grdtzingen wieder sehn. Ja, sage nur dem 1. Schwager, mich geluste
auch recht wieder nach ihm, nach alien. Am Mittwoch ist die edle
Disputation, das theologische Ringel-Stechen ; ich werde mich mit
Paragraphis nicht allzusehr erhitzen und dafur ein gut Glas Wein auf
meine Menschwerdung und auf das Wohl derjenigen Person trinken, der
zulieb ich doch eigentlich musste geboren werden . . .
Und so leb wohl, liebste Luise! ich kusse diesen Namen, dass
Dus weisst; wenn Du mit dem meinigen dasselbe tust, sagts mir mein
Esprit d'amour treulich wieder.
Ewig
Dein Eduard.
Erst heute hat die letzte Rose in unserm Garten verbliiht: ich
sah sie traurig mit dem Gedanken an, dass, als sie noch alle bluhten,
Luise dagewesen.
Kirchheim auf der Post, den 9. September 1830.
Morgens 8 Uhr.
Wenn vor meinem Parterrefenster eine Schar flugfertiger Tauben
sisse, woven eine auch den Weg nach Grdtzingen nShme, soUt ich da
die letztere nicht geschwind noch am Fittich erwischen und ihr ein
Zettelchen um den Hals binden? Das heisst mit anderen Worten:
Kdnnt ich mitten im Posthaus sitzen, ohne einige Zeilen fur Dich da
zu lassen, die heute noch abgehen?
Gestem also war Disputation, ein langweilig Ding, von dem nicht
Friederike (Hike) Ran, eine Schwetter Loitens, war mit einem norddeotschen
Theologen Schfltte, der in Ttibingen ttndiert hatte, verlobt.
Ein Bnider von Loite Ran.
^ Vcrgl. Brief 5.
H>^ 418
viel zu erzMhlen ist; doch machte ich einige angenehme Charakter-
bemerkungen und eraeute ein paar alte Bekanntschaften.
Das Mittagessen war auf der Post und fiel reichlich genug aus.
Die Herren betrachten das doch immer als eine Hauptsache. Ich machte
den nnmassgeblichen Vorschlag, man sollte schon wShrend des Dis-
pntierens (um des stSrkenden Vorgefuhls vom zweiten Akte willen)
Messer nnd Gabel in die Bucher stecken beim Aufschlagen und Be-
zeichnen der Paginas.
Um vier Uhr stahlen wir Jiingem, — Griesinger,^) Schmid (von
Kdngen), ein junger Pfarrer und ich — uns zu einem besondem Glas
Weine fort, es wurde spit und spiter, so dass der neue Vetter und ich
uns geme uberreden liessen, hier zu ubemachten. Ein hiesiger Ober-
amtsgerichtsaktuar, der artigste, bescheidenste Mensch, der mir je vor-
gekommen, gesellte sich an unsem Tisch, und nachdem das widrige
kommersierende Johlen einer Hohenheimer Studentenbande nach und
nach ausgetobt hatte, wurde es erst recht traulich und lustig bei uns.
Wir blieben bis Mittemacht auf und teilten uns dann in zwei Zimmer,
wo jeder ein vortreffliches Bette fand.
Der Griesinger, der mich duzen lemte, erschien mir in seinem
Humor und in allem doch weit gemHssigter und liebenswurdiger als
friiher.
Ich enthielt mich wihrend des frdhlicben Durcheinander-Schwitzens
nicht, einige verstohlene Blicke in Deinen letzten Brief zu tun, und
die Kameraden durftens wohl gemerkt haben; sass doch neben mir
auch einer, den die Liebe zahm und geschmeidig gemacht hat (G[riesinger]).
Diesen Morgen verloren sich die andern bald ohne Fruhsttick, well
allerlei amtliche Funktionen — Hochzeiten, Leichen usw. — sic er-
warteten. Ich liess mir eine Tasse KafFee bringen und forderte Feder,
Tinte und Papier, meinem SchStzchen zu schreiben (nur nichts weniger
als einen Abschiedsbrief — versteht sich).
Was mich aber besonders in Gedanken an Dich alarmierte, war
die Annonce in der heutigen Zeitung: Romeo und Julie!
Alle Fest- und Lustglocken von Po€sie schlugen und IMuteten in
mir zusammen ; augenblicklich formierte sich ein Plan in meinem Kopf,
wie es zu machen wSre, dass ich Dich und eins und das andere von
Euch morgen abend auf den bewussten griinen Binken hitte.
Aber schon nach fiinf Minuten platzte die herrliche Luftblase.
Ich sahe ein — was doch unerhdrt ist — Shakespeare muss an einer
Freitagskinderlehre scheitem, anderer Hindemisse nicht zu gedenken.
Der Montag w§re mir wohl auch dadurch benommen; kurz — ,Tunn
Ossa auf Pelion!'' (dacht ich): Du erreichsts nicht.
Gut! was mich trostet, ist Dein Briefchen und der Montag. Ich
wiederhole Dir meinen Herzensdank fur das liebliche Angedenken ; der
w&rmste Kuss wird das weitere hieriiber sagen. Lieb Mutterchen soil
Gustav Gtiesinger, Tbeologe, als Gelegenheitsdichter in Schwaben eiost
eine bekannte Persdnlichkeit
419 8^
machen, dass ich sie gesund antreffe, und Ihr ubrigen, Schiitte, Rike»
Denk und Jettchen, lebet wohl bis dahin !
Unverinderlich
Dein
treuster Eduard.
5. An Johannes MShrlen.^)
Vom hochgelegenen Albdorf Ochsenwang aus, wo Morike fast zwei
Jahre als standiger Pfarrvikar weilte, hat er im Herbst 1832 seine
einzige umfangreichere Schdpfung, den Maler Nolten, in die Welt gesandt.
Wir sehen im nachstehenden Brief den Dichter danim bemiiht, dem
Geisteskinde ein freundliches Schicksal auf seiner Pilgerfahrt zu bereiten.
Der Empflnger, Johannes MShrlen, nachmals Professor am Stuttgarter
Polytechnikum, stand ihm in dieser Periode besonders nahe. Er lebte
als Lehrer an der Gewerbeschule und Schriftsteller in der Hauptstadt^
hatte mancherlei literarische Verbindungen und war auch an einem neu
begriindeten demokratischen Organ, »Der Hochwdchter'', beteiligt. Er
nahm sich des Mdrikescben Romans mit WMrme an und unterstiitzte
den Freund nicht nur bei der Herausgabe nach Krdften, sondern sorgte
auch fur freundliche Aufnahme des Werkes.
Ochsenwang, Sonntag den 2. September 1832.
Mein Lieber und Getreuer!
Erst gestem abend spUt erhielt ich Deinen neuesten Brief ohne
Kalenderdatum — aber das wahre Datum sei mir die Nachricht von
Deiner Eroberung des goldnen Kleinods ! Bring Deiner Auguste^ meinen
herzlichen Gruss und Gluckwunsch ! Ich will mich mit ihr in Dich und
Deine Liebe so bescheidentlich teilen, als ich nur immer kann. Oder
vielmehr, ich will Dich ihr ganz fiberlassen und — ganz behalten.
Auf Deinen und Brutzers') Besuch freu ich mich weidlich. Ihr
werdet an meinem Telle der schwibischen Alb eine schone und gross-
artige Introduktion ins Ganze finden, aber begleiten werd ich Each nicht
kdnnen, so heiss mir das Wdrtchen Urach auf die Seele flel.
Dass ich neulich (von Grotzingen aus) in Angelegenheiten meine&
Karls mit dessen Frau, meiner Mutter und Braut auf ein paar Stunden
in Stuttgart gewesen bin, ohne Deiner habhaft werden zu kdnnen, wirst
Du wohl von Adolf^) gehdrt haben. Das Resultat unserer Reise (de&
Bruders nSchste Existenz betrefFend) war eben vorderhand — keines.
Den Freundschaftsdienst, welchen Du dem Maler Nolten im «Hoch-
wichter"" leisten willst, werd ich Dir hoch anrechnen. Indessen bin ich
ausser stande, Dir etwas uber Orplid^) zu schreiben. Ich weiss gar nicht,.
1) Urschrift tuf der K. Landesbibliotbek in Stuttsart
*) Tochter des Stattsrats SQskind, Mihrlens Braut.
*) Heinrich Bnitzer aus Riga, zuletzt Professor am Stuttgarter Polytechniknm.
Ein jQngerer Bnider Mdrikes.
^) Orplid, das von Mdrikes Phantasie geschaffene Zauberefland, das auch im.
Maler Nolten (das Schattenspiel „Der letzte Kdnig von Orplid*) eine Rolle spielt.
420
was die Leute woUen. Du kannst unmdglich fehl treffen, das zeigt mir
schon das allgemeine Raisonnement Deines letzten Briefs, wo Du vor-
treffliche Worte in meinem Sinne hinwarfst. Schiller sagt in einem
seiner Briefe, er mdchte behaupten, .dass es kein Gefiss gibe, die
Werke der Einbildungskraft zu fassen, als eben diese Einbildungs-
kraft selbst.''
Ubrigens mdchte ich Dich in Deiner Beurteilung insbesondre auf
Elisabeth und ihr Schicksalsgewebe (vorwarts und ruckwSrts weisend)
aufmerksam machen, was mir stets ein Hauptmoment beim Ganzen war.
Ebenso hofFe ich, dass Du der Grifln, wiewohl sie nur Neben-Medium
ist, Gerechtigkeit widerfahren lassest.
Hier ein Brief von Professor Hochstetter,^) den ich Dir abschreiben
liess. Sein Urteil ist mir von wirklichem Wert, sofem er als ein Mann
von feinem poetischen Sinn und seltener Bildung mir und andem lingst
bekannt war. Es ist viel, dass ein Professor matheseos so jugendlich
empfindet und die Phantasmagoric goutiert. Ich habe noch neulich
einige Aufsltze von ihm im Morgenblatt gelesen, welche sehr vie! tiefer
gehn als die neuesten Kunsturteile der Mss. X. und Z.
Du wirst aber nattirlich auch mtindlich nirgend keinen weitem
Gebrauch von diesem Briefe H[ochstetter]s machen, sondem, nachdem
Du ihn gelesen, bSte ich Dich, einen Umschlag darum zu machen und
[ihn] nebst zwei Worten an meinen Bruder K[arlJ unfrankiert zu schicken,
der sich fiir H[ochstetter] nicht minder als die Novelle interessiert.
Vergiss nicht!
Gruneisen,*) der auch ein Exemplar von mir uberkam, schreibt
mir kurz, aber fast enthusiastisch von dem Eindruck, den das Biichlein
4uif ihn gemacht. Von Schwab^ erwart ich heut einen Brief. Von
Tubingen lauten die Urteile vorzuglich gut. Bei Leuten wie der (Hegel-)
Strauss^) (ders nicht von mir aus hatte) ist mir das selbst verwundersam.
Ich habe nun einen neuen, rein poetischen Gegenstand in Versen
auf dem Kom, an dem ich mit ganzer Seele hinge. Du sollst aber vor
einem halben Jahr nichts davon erfahren.
Dem lieben Bauer^) lass ich von Herzen Gltick zur Reise wtinschen.
Ewig
Dein treuer Eduard.
6—8. An Wilhelm Hartlaub.«)
Keinem, der irgendwie in Mdrikes Leben bewandert ist, klingt der
Name Wilhelm Hartlaub fremd. Er war dem Dichter Freund und Bruder
^) Professor der Mathematik am Stuttgarter Gymnasium.
*) Karl Grfineisen, Hofkaplan, spiter Oberboli>redifer in Stuttgart, Dichter.
') Gustav Schwab, der Dichter.
^) Friedrich Strauss, der berlihmte kriiische Theologe, Freund Mdrikes.
Ludwig Bauer, Pftirrer, dann Gymnasiallehrer, Dichter, einer der ver-
trautesten Freunde Mdrikes.
^) Die Urschriften auf der K. Landesbibliothek in Stuttgart
421 8^
zugleich, der verstindnisvoUe Vertraute seines kunstlerischen Schaffens
wie auch der nie versagende Berater und Heifer in grossen und
Icleinen Noten. Als Uracher Seminaristen schlossen die beiden den
Freundschaftsbund, den sie als Tubinger Stiftsstudenten eifrig pflegten.
Dann wurden sie auseinander gerissen, und ein spirlicher Briefwechsel
liielt die Verbindung nur notdurftig aufrecht. Im Sommer 1837 sah
Morike, jetzt Pfarrer in Cleversulzbach, im Bade Mergentheim, das er aus
-Gesundheitsrucksichten gebrauchen musste, nach zehnjihriger Trennung
Hartlaub wieder, der selnen Pfarrsitz im benachbarten Wermutshausen
hatte. Und nunmehr entspann sich jener lebhafteste, innigste, persdnliche
tind schriftliche Verkehr, den Morike selber so schon als „ewigen Kreis-
iauf der Liebe* bezeichnet hat.
Mergentheim, den 9. September 37.
Morgens.
Im Nebel nihet noch die Welt,
Noch traunien Wald und Wiesen;
Bald siehst Du, wenn der Schleier flllt,
Den blauen Himmel nnverstellt,
Herbstkriftig die gedSmpfte Welt
In braunem Golde fliessen.^)
(1828.)
Und also fortan alle Morgen bis tief in den September und Oktober
liinein, wo ihr den Rauch der Sulzbacher Hiuser, die Wilder und Wein-
1)erge, den Garten, die Kapelle und den Kirchhof in dieser lieben Sonne
seht! — Ihr seid doch gut heimgekommen ?
KlSrchen und ich, wir haben diesen Morgen nachgerechnet, wieviel
kdstliche Tage Ihr hier uns geschenkt habt, und beide wir waren erstaunt
und geruhrt uber so viele Liebe und Giite.
Wenn nur die gestrige Nachtluft Konstanzen^ und Agnes ^) nichts
that ! Ich trat gestern noch split auf den Altan, den herrlichen Mond zu
beschauen, in dessen Licht Ihr heimrolltet.
Die Blumen auf der runden Platte sind noch so frisch wie vom
Garten hinweg und stehn gar schon zu der grunen Tapete in KlSrchens
Schlafzimmer.
Nun sitzest Du wohl schon tief in Deiner Predigt, und hier im
Haus wird gekocht und gebacken auf morgen zu dem Schutzenball, der
tins wahrscheinlich dem Herrn Norr wird in die Arme treiben. Ich
wollt, ich wMr bei Euch in jenem obem Sttibchen!
Sage doch Frau Konstanzen, der »Schampler* habe sich als ein
^anz praktisches Mobel erwiesen; es ist nur zu schon, um es immer
zu brauchen.
Adieu fiir diesesmal! Ich muss noch etwas malen. Tausend Ortisse
und Ktisse!
Dein Eduard.
^) «Septembermorgen'< (Gedictate S. 125).
S Hartlaubs Gtttin.
^ HartUttbs Tdctaterctaen.
SQddeutsche Monatshefte. I«5. 28
422 8^
Das nftchstemal bring wch Epistolas quisdam ab diversis mit!
Montag abend zwischen 5 und 6 Uhr steh ich auf der Laner.
Der Geisterhund (canis spectralis)
auf dem Anstand
<d. h. wie er Anstand nimmt, von der Taubefbrfick hinabzusetzen.
Den 7. September 1837).^)
Dieser Brief war anfangs bestimmt, einer Schachtel beigelegt zu
werden, in welcher Briefe von der Mutter, von Klftrchen, auch einer
von mir an Agnes befindlich. Nun will ich aber Gegenwirtiges ab*
gesondert durch Briefpost laufen lassen, und Ihr sollt uns dann schreiben,.
an welchen Tagen beides ankam.
Liebster!
Die Rlesenschachtel mit dem reichlichen Material zu Wermbrechts-
hiuser Kldsen ist neulich angelangt. Ihr seid aber herzgute Leute!
Das ist ja Proviant, um eine Reise bis ans Kap zu tun I Wir.haben
schon davon gespeist, recht im Andenken Euros Tisches vom vorigen
Herbst, und sie, wie damals, vortrefFlich gefunden. Dann noch die
StrumpfbSnder, erste und zweite Lieferung, woninter auch ein rotes
Paar f&r mich: sie haben mich in der Seele gefreut. Dazu Agnesens
Briefchen, welchem man Satz fur Satz anspurt, dass es aus ihrem
eigenen Munde floss. Das soil mir nicht verloren gebn.
Es darf Euch nicht befremden, meine Teuersten, dass wir so lange
schwiegen. Beinah seitdem ich wieder hier bin, ist mein Rheumatismus
am Hals mit neuer Heftigkeit erwacht, was mich oft missmutig machte
und zu einer vergnuglicben Mitteilung an Euch nicht kommen liess.
Auch Klirchen hatte viel mit Zahnschmerzen und dergleichen Flussubeln
zu leiden, und ich bin nun fast mit den Meinigen uberzeugt, dass
unsere Wohnung ungesund ist und Dispositionen jener Art in hohem
Grad begtinstiget. Dr. Elsisser behauptets auch; ich hatte es nie so
recht geglaubt. Nun ist es wieder ziemlicb besser bei mir, und so
schreib ich denn gleich. Verzeiht also, Ihr Besten. Auch den Stutt*
garter Freunden, dem Hardegg") besonders, der mir so viel Liebes
getan, hab ich bis jetzt nicht schreiben mdgen.
Nun aber seis fur heut auslamentiert ! Ich will Dir einige Novitlten
erfreulicher Art auftischen:
1.) wird die Anthologie nunmehr bei Schweizerbart gedruckt,,
nachdem Metzler den neuen, von uns beiden aufgesetzten Plan (12 fl.
30 k Bogen) abgelehnt hat. Ich habe zu Schweizerbart ein neues Zu-
trauen gewonnen und er, wie es scheint, auch zu mir, ungeachtet Herr
Maler Nolten noch in Menge bei ihm zu haben ist. Findet das erste
Bftndchen der Anthologie Absatz, so wird das Honorar erhdht.
1) Mit entsprechender Zeichnung; gemeint ist Mdrikes langjihriger Haus-
hand Joli.
*) Hermann Hardegg, spiter Obermedizinalrat ond Hoftrzt in Stuttgart
423 %^
2. ) erscheint in derselben Buchhandlung zu Ende dieses Monats
Oder zu Anfang M2rz ein Buchlein unter dem Titel «Iris*, was eine
Sammlung folgender Sachen enthSlt:
I. Der Schatz. — Wiederabdnick aus dem Jahrbuch schwSbischer
Dichter, und zwar unverlndert bis auf die Romanze am Schluss, die
ich Deiner Bemerkung zufolge wegstricb.
II. Die Regenbriider. Open Dass dieser Text gleichzeitig mit
der Auffuhrung des Stiicks ins Publikum kommt, wie die Absicht ist,
soil dem Verkauf des Btichleins zugute kommen.
III. Der letzte Konig von Orplid, Scbattenspiel aus M[aler] Nolten.
IV. Novelle aus der Urania (mit verinderten Kleinigkeiten, Titel etc.)^)
V. Arm-Frieder, das fur den Volkskalender bestimmt gewesene
MMrchen.*)
Das Bucb erhMlt 2 Bilder, Umrisse, gezeichnet von Dr. Fellnef
und Julius Nisle. Der erstere macht, meinem Vorschlag gemiss, die
Szene aus der Oper, wo die zwei BrCider zum erstenmal auf dem Theater
erscheinen und um Justina werben. (Diese Zeichnung aillein, abgesehn
vom Graveur, kostet den Verleger 6 Karolin.) Der andere liefert den
Moment aus dem Scbattenspiel, wo die Thereile vor dem alten Kdnig
tanzt. Dies Blatt hab ich fertig gesehn und sehr gut gefunden.
Das Beste an der ganzen Sache aber ist, dass mir Schweizerbart
2 Karolin fur den Bogen bezahlt.
Hier hast Du eine Probe vom Druck.
3. ) Fur den Spiegelvers") — wirst Du es glauben ? — hat mir ein
junger Stnttgarter Buchhindler, Etzel, bare dreihundert Gulden Honorar
bezahlt. Die Verlagshandlung der Europa wollte 100 fl. geben; andere
bitten ihn auch gem gehabt, wollten aber nichts mit riskieren. Es fragt
sich jetzt nur noch, ob Herr Etzel das Untemehmen splendid durch-
fiihren wird und kann^ woran einiger Zweifel ist. Es sollen zweierlei
Zeichnungen dazu gemacht werden, eine eigentlich kunstlerische fur das
feinere Publikum und eine modische fur die iibrige galante Welt. Den
Entwurf zur ersten hab ich noch gesehn ; er ist von Dr. Fellner (Fellner
ist — wie mir Professor Dieterich in Stuttgart, der Historienmaler, mit
Freuden zugegeben hat — einer der ersten jetztlebenden Zeichner in
Deutschland. Ich babe ihn persdnlich kennen gelemt und einen schdnen
Abend mit ihm und Nisle zugebracht) und ganz vortrefFlich, antike
Allegoric: Paris mit dem Apfel, eine sinnende Psyche, Sphinxen,
Amoren, wovon der eine mit einem Schlussel gegen den Spiegel
weist etc. — Aber die 300 fl. — ,es war, als ob die Erd sie ein-
gescbluckf* ! Ich babe den geringsten Teil davon genossen. Die
susseste Freude wir mir gewesen, das Geld so, wie ich es
empflng, nach Wermutshausen zu spedieren; allein die bosen GlSubiger,
weisst Du wohl, haben ja leider stets den Vorzug vor den guten. Nur
Lucie Gelmeroth.
Der Bauer und sein Sohn.
^ Das aU Sonderblatt herausgegebene, im Spiegel 2u lesende und darum
verkehrt gednickte Gedicht »Ein artig Lob, Du wirst es nicht verwehren*.
28*
424
siehst Du aus alien diesen Geschiften, dass Dein Freund noch immer
kein ganz desperater Schuldner ist.
Hetschs^) Brief war mir sehr angenehm zu lesen. Ich wunschte
von Herzen, ihm einmal mit der Tat einen Beweis meiner grossen
Anerkennung wie meiner aufriclitigen Freundsctiaft geben zu kdnnen.
Ruiirend war mir, dass er mit Pietit ftir Waiblinger^ ein Lied von
diesem komponierte, der ihn in Tubingen doch nur herabsetzte.
Auf beiliegendem Blittchen KaufFmanns^ findest Du diejenigen
meiner Lieder verzeichnet, die er komponierte. Ich kenne von den
neuen Melodien nur wenige. Den Kdnig Milesint hat mir Hardegg
gespielt und gesungen und die Soldatenbraut Emilie Zumsteeg. Letzteres
Stiick hat mir besser gefallen als ersteres, besonders ist der Abschluss
eines jeden Verses durchs Klavier von hdchster Lieblichkeit. — Apropos,
als Hardegg dem Bauer das A-Stiick von Haydn vorspielte — er war
jenen Abend ohnehin etwas durch Hardeggs guten Wein entzundet —
ward er ganz wild, gleichsam selig erbost uber dieser Schdnheit. Zuvor
waren ihm die Augen einigemal halb zugefallen, jetzt wurde er mit eins
wieder wie elektrisiert, und so oft es an jene unaussprechliche Stelle
kam, machte er, wie MShrlen sagte, mit einem wahren Uchruckers-
brummer «Hm!* Am Ende rief er aus: »Der Kerl, der Haydn, soil der
nicht die Krink knegen?*
Hat er Dir denn die beiden Lustspiele nicht geschickt ? Er musste
mirs bestimmt versprechen und wird es wohl noch tun. Als wir von
meiner klassischen Blumenlese sprachen, offerierte er mir auf die be-
kannte treuherzige Weise seine Obersetzungen aus dem Horaz, wie sie
in seinen Lektionsheften stehen. Es sind mehrere gereimte darunter,
woven ich ein paar auswUhlte. Einige andere Schick ich Dir hiemit in
Abschrift, die Du behalten darfst. Hie und da tritt Bauers ganze
Eigentumlichkeit sehr uberraschend draus hervor.
Unter anderem dank ich Dir auch fur die Nachrichten iiber
Ostertag,^) die Du doch immer fortsetzen wollest. Die Doktorin
K[rauss]^) hab ich freilich etwas vemachlissigt, was mir in Wahrheit
leid ist. Ich will ihr jene Iris schicken, sobald sie heraus ist (d. h.
zugleich mit Deinem Exemplar), und es wSre gut, wenn Du oder die
liebe Konstanze dies vorlMuflg andeutete.
Ich lege Dir ein Schriftchen von Griineisen bei, das Du gewiss
gem liesest/)
Nun hab ich aber die Bitte an Dich, Du mdchtest doch bei Jan ^)
in Niederstetten, den ich schon griissen lasse, bald mdglichst anfragen,
ob denn die Reiskesche Ausgabe des Theokrit, die er so gut war mir
^) Louis Hetsch, Komponist Mdrikesctaer Lieder.
^ Wilhelm Waiblinger, der geniiHsche, 1830 in Rom gestorbene Dichter,
Stttdienfreund Mdrikes.
*) Friedrich Ktuffmann, Jugendfreund Mdrikes and Komponist seiner Lieder.
^) Amtsrichter ia Niederstetten, Schdngeist und Dicbterling.
^) In Mergentheim.
*) Von KUra MSriices Hand: «Das Bach geht nicht mehr in Schachtel*.
^) Stadtpfarrer.
425 8^
zu leihen, nicht einen zweiten Teil babe, wie die Praefatio verspricbt,
welcher den Kommentar enthielte, und ob Jan nicht geneigt wSre, mir
diesen gleichfalls anzuvertrauen. Du hSttest dann die Gtite, mir das
Buch mit nichster Post zu scbicken. Oder Ihr bringt es selbst diese
Tage im Schlitten. Wetter! das wSr ein ganz unzahlbarer Gedanke.
Aufrichtig gesagt, wir trugen uns mit dieser Hoffhung die ganze letzte
Zeit herein so ziemlich stark, weil exzellente Schneebahn war. Und
sie ist noch. Was meinen Sie? was Frau Konstanze? Es konnte ihr
so wohl bekommen! Soil es nicht sein, so lasst uns doch unser tarn
longe non scripsisse nicht bussen. Deine Briefe sind mir eine ganz
unentbehrliche Nahrung geworden.
Lebt wohl, Geliebteste!
Euer
getreuer
Eduard.
Cleversulzbach, den 3. Februar 1839.
Cleversulzbach, den 2. Mai [1839].
Morgens 9 Uhr.
Griin steht das Tal schon rings, und der lichte Wald
Vertieft in Sehatten schon sich geheimnisvoll.
Die wilde Taube gurrt, der JMger
Schmiickt sich den Hut mit dem frischen Zweige.
(Fragment, welches ich neulich auf einem alten Wischchen von mir fand.)^)
So wirds nun allernachstens heissen, Liebster. Soeben komme ich
im Schlafrock von dem wohlbekannten Hiigel hinterm Kirchhof herunter.
Der Himmel ist bedeckt, die Luft durch Regen abgekiihlt, die jungen
Saaten breiten sich uberall aus, zwei Kuckucke rufen vom Walde her-
uber, und die Lerchen singen sich beinah die Seele heraus.
Morgen ist unserer teuren Konstanze Geburtstag, den ich im
stillen wie den einer Schwester begehe. Ein kleines donum natale, ftir
Euch beide bestimmt, liegt schon in Stuttgart bereit, das wir vielleicht
selbst uberbringen. KlSrchen ist noch nicht da; es scheint, sie muss
nun schon das Schillerfest abwarten. Apropos, den Handel mit den
Briefen hab ich nun abgemacht (zu 350 fl.), nachdem ich zweimal in
Mdckmuhl gewesen.^ Dabei hat sich ein merkwtirdiges ZusammentrefFen
ereignet. Der Kauf wurde nach vielen Schwierigkeiten am 28. April
geschlossen ; vom 29. datiert sich daher das kurze Vorwort, mit welchem
ich auf Schweizerbarts Wunsch die kleine Briefsammlung versah und
1) In das Gedicbt »An einen Liebenden* (Gedicbte S. 296) als 4. Strophe
mit leichten Anderungen aufgenommen.
*) Mdrike vennittelte der Schweizerbartschen VerUgsbucbhandlung in Stutt-
gart das Recht, die im Besitz des Kaufmanns KQhner in M5ckmuhl beflndlichen
Schillerechen Familienbrlefe zum Abdnick zu bringen, und gab sie selbst am
Schluss des 2. Bands der Boasschen vNachtrige zu Schillers simtlichen Werken**
heraus.
-Mg 426 ^
am gleichen Tag zum Druck abschickte. Nun findest Du in einem
jener Briefe Schillers ungeflhr folgende Steile <aus Weimar vom
August 1802 an seine Schwester in Cleversulzbach): «Wir haben unser
neues Haus im Fruhjahr bezogen. Allein es war ein ungl&cklicher Tag:
der Sterbetag unserer lieben Mutter (in Cleversulzbach). Ich gestehe,
dass Ich nicht wenig erschrak, als ich dies in des Schwagers Briefe
fand; denn es ist immer eine sonderbar traurige Verkettung des
Schicksals.* Die Mutter Schillers aber, musst Du wissen, starb am
29. April 1802 laut der hiesigen Kirchenbticher. Ich konnte nicht um-
hin, dies alles in der kleinen Einleitung zu bemerken. Es ist doch
wirklich sehr seltsam. Und dass ich von hier aus die Sache zu
besorgen bekam, da doch dieser Ort, dieses Haus in gar keiner wesent-
lichen Relation zu dem Handel steht ausser der 27,stundigen Nachbar-
schaft mit dem Wohnort des Kaufmanns ! (Schweizerbart wusste so wenig
wie ich bei meiner Hierherkunft von den fruhem Bewohnem des Hauses.)
Ubrigens enthalten die Briefe manchen schonen Beitrag zur
Charakteristik Schillers. Aus Anlass von seines Vaters Tode schreibt
er sehr bewegt unter anderm ungefihr folgendes: ^Es ist etwas Grosses
darum, eine so lange Laufbahn so zu vollenden, wie er es vermochte.
MSchte es mir vergdnnt sein, und w2rs mit Obemahme aller seiner
Schmerzen, so unschuldig von meinem Leben zu scheiden wie er!" etc.
Ich habe das schdne Schiller-Lengefeldische Wappen (mit Einhom und
Pfeil) nach dem schwarzen Siegel eines hieher gerichteten Schreibens
gezeichnet; der Verleger wills in einem Holzschnitt beigeben. Das
Couvert hab ich behalten, und Ihr sollt es druben sehn.
Wenn wir zu Euch kommen, ist noch nicht wohl auf den Tag zu
bestimmen. KlSrchen wird sich wahrscheinlich erst noch ein wenig hier
ausruhen wollen, eh sie den Fuss zu neuen und grosseren Freuden
wieder ins Geflhrt setzt. Allein ich werde ihr nicht allzu lange Rast
erlauben. Unter den projektierten Ausflugen hat mich Deine Schilderung
des unheimlichen Waldplatzes absonderlich gereizt. Ich will recht viel
zu Fusse gehn und wieder einiges Mergentheimer Wasser trinken.
Fur die Proben aus den gereimten Evangelien bin ich Dir sehr
verbunden. Ich hatte den Verfasser^ nachdem ich ihn friiher so gut
wie gar nicht gekannt, erst neuerdings schMtzen gelemt und kann ihm
vieles hingehn lassen; aber das heisst doch die Leute ein bischen stark
iiber die Ohren hauenl
Strauss schickte mir kurzlich seine Zwei friedlichen Blotter, die
Du schon anderwarts lasest. Vielleicht ist Dir aber die Vorrede noch
neu; dann brSchte ich das Bfichlein mit.
Hierbei einige Spisse fiir die Kinder. Das fremde Tier von
Louis^) fiir die Bada,') die zwei andem Bildchen fur Agnes von mir.
Hab ich das Gesichtchen nicht einigermassen getrofFen? Hebt es ihr
auf, dass sies noch in zehn Jahren sieht!
Ein Bruder Mdriket. ^
*) HartUttbs T5chterchen Ada.
-^•1 427
. Schliesslich muss [ich] Ihm sagen, dass man zwar Wermutshausen
fiiglich nicht von jenem bittern Kraut herleiten darf. Die rechte
Derivation weiss Er aber nicht. Es kommt von .wehren** und von
«Mttth", .wehrhaftem Muth*, wodorch sich holTentlich die Wehrmuths-
hftuser sehr geschmeichelt finden und gem drei h ffir eines in Kauf
nehmen werden.
Lebt wohl, motne Teuren!
Ewig Euer E.
Wir kdnnen uns wohl noch ein- bis zweimal schrelben.
9. An Klara Morlke.')
14 Jahre spMter! Mdrike hat sein Grctchen heimgeftihrt und sitzt
am eigenen Herd in einer Stuttgarter Mietwohnung, deren LSrm freilich
manche verdriessliche Stdrung verursacht. Er ist eben damit beschSftigt,
seine reizende Novelle .Mozart auf der Reise nach Prag" zu schreiben.
Schwester Klara, die Hausgenossin der jung verheirateten Gatten, weilt
gerade zu Besuch in Mergentheim, wo Mdrike mit dieser vor seiner
VermMhlung gewohnt, wo er die Gattin gefunden hat, und wo seine
Schwiegermutter, Frau von Speeth, noch lebt. Mit KlMrchen plaudert
der Dichter in unsrem Briefe von den Fortschritttn seiner poetischen
Arbeit, von einer beabsichtigten, aber nicht zustande gekommenen Reise
oacli Ayinchen in GeschSftsangelegenheiten, von einer Familien-Kaffee-
visite und andem kleinen Ereignissen des tigUchen Lebens.
27. Juni 53.
Ich habe mich heut friih, wie schon mehrere Tage, mit meiner
^pLandstrasse** der grdsseren Ungestdrtheit wegen in Dein Stubchen
heruber gemacht, liebstes K19rchen, auf Deine Matratze und bis jetzt
— nach 11 Uhr — auf der Patentschiefertafel geschrieben. Die Laden
sind zur HMlfte zu, der Sturmwind treibt die hohen BMume hin und
her, die Buben fangen sich im Hof, und oben wurde lang gebeethovelt,
so dass ich einmal wieder Gebrauch von meinen alten Ohrenstdpseln
machte und allerdings dann fast so still wie auf dem untersten Meeres-
grund lag. Die Arbeit ging diesmal auch sonst ertrfiglich vorwSrts, und
die Auspizien dafur sind gut. Vorgestem wollte der Zufall, dass, als
ich eben die Partie von dem italienischen Kunststuck mit den Orangen
<von Mozart erzdhlt) vor mir hatte, aus der Kaseme druben das erste
Finale des Don Juan gemacht wurde und zu gleicher Zeit Gretchen
dem Louis Auftrag wegen einer Pomeranze ftir die vorhabende Visite
gab. Ich nahm dieses Zusammentreffen als ein gunstiges Vorzeichen
fOr mein Geschift. Wenn ich mich nur so 14 Tage in das Dach-
kimmerchen bei Euch zu meinen alten Steinkisten^ setzen kdnnte, die
ich ja ganz gewiss fest zugenagelt lassen wollte. Von Bruder L[ou!s]
^) Urschrift im Besitz des Herausgebers.
Mdrike war eifriger Petrefiktensammler.
^ 428 8^
bin ich inzwischen nicht gehindert, er kommt nie mehr vor Abend, und
das Hebe Gretchen erleichtert mich auf alle Weise.
Und Du? wie geht es Dir? Gesundheitlich ? gesellig? musikalisch?
Wir haben gross Verlangen nach einer Nachricht und stellen uns einst-
weilen, um unsre Sorgen wenigstens von dieser Seite nicht zu ver-
mehren, das Beste vor. Jetzt gibt der Munchner Brief zu denken^
auch ftir Dich und die liebe Mutter. Ich weiss da wahrlich fur die
nichste Zeit noch entfemt keinen Rat. Ich muss notwendig jetzt ab*
brechen. Grusse die gute Frau Mama und alles ! Leb wohl, geliebtestes
Klfirchen, und sei des stetesten Andenkens versichert
Deines getreuen E.
Den 28., Dienstag, in Deinem Sttibchen.
Ich sage Dir, Geliebteste, tausendmal Dank fur die guten, lieben,
erschSpfenden BlStter, womit Du unsere Sehnsucht nach einem Wort
von Dir auf einmal zufrieden gestellt hast, und Gott Dank, dass Du
von Dir im ganzen doch Gutes, wenigstens nichts von dem Gegenteil
zu sagen hattest. Die liebe Mutter dauert mich um desto mehr, und
freilich ists ein schlechter Trost, dass Du fur ihre viele Gute etwas
durch Krankenpflege helfen kannst.
Was sagt Ihr denn zu unserem Munchner Plan, und wenn wir
Dich am Ende in Mergentheim selber abholten? Es ist mir selbst bis
jetzt noch gar nicht glaublich, und eh ein Mittel dazu sichtbar ist, bitte
ich Euch, noch niemanden davon zu sprechen. Nach Miinchen an sich
selber gelustet es mich bei Gott! nicht, allein es ist doch unertrlglich,
so stockblind in dieser wichtigen Angelegenheit zu bleiben. Denn weder
die Wurzburger noch Wilhelm^) noch das Gericht und unseren Advokaten
kann ich verstehn. Unter den mancherlei widerstrebenden Empfindungen,
die ich bei dem Gedanken an diese Reise habe, ist auch das Vorgefuhl,
wie sehr Deine Gegenwart und Mitwirkung uns fehlen werde. Genug
davon! das liebe Gretchen schreibt ausfiihrlich iiber alles.
Noch soli ich Dir sagen, dass letzten Sonntag die Neufifer-Butter-
sackische Kafifeevisite mit Lotte Sp[Mth] sehr vergniigt bei uns war*
Ich musste ihnen einiges von mir, z. B. den Essig-Prizeptor,*) vorlesen,
der alle ausnehmend ergotzte, besonders auch die Rommelsbacher.
Recht angenehm ist mir neben vie! em andern in Deinem Brief
so manche Ausserung iiber das Mirchen^ gewesen. Der ausfuhrlichere
Aufsatz Fischers^) dartiber, statt dessen der Merkur jenen kurzen
gebracht hat, wird jetzt im Morgenblatt erscheinen.
Femer: morgen verlSsst der Legationsratin^) Moriz das Haus; er
soil zu einem Geistlichen in die Schweiz, glaub ich, kommen. Der
^) von Speetb, ein Bruder Gretcbens.
*) ,Hius]iche Szene* (Gedichte S. 304-309).
^) Das auf Weihnachten 1852 erschlenene .Stuttgarter Hutzelminnlein*.
*) Johann Georg Fischer, der Dichter.
^) Mdrike wohnte damals im Haus der Legationsrats-Witwe Reuss (Hospital-
strasse 36).
429
taeftige Auftritt im oberen Stock, von welchem wir schrieben, hatte
keinen Verdniss, sondern den unvermuteten Tod eines Bruders der
LegationsrStin in Wien zur Ursache.
Nochmals die innigsten Griisse und Kiisse
von
Deinem Eduard.
Soeben hdr ich ZitherklMnge in oder neben unserm Garten. Wie
moss ich Dein dabei gedenken !
10. An Edward Schrdder.^
Zum Schluss noch ein paar fiuchtige Zeilen aus Mdrikes vorletztem
Lebensjahr, die nach zwei Richtungen bezeichnend sind: einmal fur
seine Saumseligkeit, die ihn zur Erledigung eines noch so geringfugigen
Geschdfts nur schwer kommen Hess, dann fiir die Liebenswurdigkeit,
mit der er alle an ihn herantretenden Wiinsche zu erfullen bestrebt
war. Der EmpfSnger des Briefchens, der jetzige Gottinger Germanist
Edward Schroder, hatte als Kasseler Obersekundaner den von ihm hoch-
verehrten Dichter zweimal urn ein Autogramm angegangen. Er trug
schliesslich als Beute neben jenem kleinen Begleitschreiben ein hand-
schriftliches Exemplar des Gedichts .Gefunden"* (Gedichte S. 96) davon.
Entschuldigen Sie, lieber Freund, die sehr verspStete Ubersendung
meines Beitrags zu Ihrer Handschriften-Sammlung. Ich war geraume
Zeit von Haus entfemt, Ihre beiden Briefe kamen spSt in meine HMnde,
nachher gab es noch manche Abhaltung, und jetzt, da ich eine ruhige
Viertelstunde finde und das Datum Ihrer letzten Zuschrift nachsehe, tut
es mir herzlich leid, dass ich in den Augen eines meiner schMtzbaren
jungen Leser so lange als ein ganz unfreundlicher Kauz gegolten
haben muss.
Sie bestens grussend
Stuttgart, den 13. MSrz 1874.
Eduard Morike.
m ^
m
Ursctarift im Besitz des Empfingers.
430 ^
Ittecanf4)e Jicbcn in XDitcttembecg.
93oit Sritft 3ae(f(^ in ^ibxonn.
3un&d|f) autoa^mdmetfe etne furje captatio benevolentiae, bte t^re
^rfinbung unb sugfetd^ i^re Sntfd^ulbtgung in ber Stgenart unfrer fd^m&btfd^eit
Seri)&[mifTe finben mag« di gefcf)tet)t au^ertyafb bed t)or 3 3at)ren t)oit mtr
i)eraudgegebenen r,®d)n>a6fafptegeM" je^t an biefer ®telle {um erflenma^
ba0, n>enn audy nur tm t)orgff4riebenen unb befd)r&nften 9taum unb 9tat)men
finer Sfijse^ bie 3(ufgabe mfucM toirb^ bad jfingfle (iterarifd)e 2eben bed
@(i)n>aben[anbd in feinen n>efent(ic^tt Stricken ju {eid)nen* ®o0en biefe
92ad)n>eife ii^ren nat&xlid^en B^oed etner iU&rung unb SSerfl&nbigung erffiUen/
fo mirb bie SRottDenbigfeit eined ofenen ®ortd jur ^id^t^ aud^ufpredKU/
toad ifl/ niemanb {ufieb unb niemanb juleib, t« aufriditigen £ienfi nur
unfrer gemeinfamen Stammedfadye.
@rd ifl etmad (Sigened um bad geiflige Seben in SUurttemberg. IDer
^6nig gab jungfl in einer ®eburtdfefiaubien} bem Cberbilvgtnneifler ber
9lef[benj eine 6l)arafteri(lif, bie l)ieri)ergei)6rr. dv fei ffrf) feit feinar ^ron^
befleigung — fo fagte ber £6nig — fletd ben>u0t gewefen^ bag ber politifi^
9er&tigung eined ®raared^ n>ie SBfirttemberg/ t)eri}&[tnidm&0ig enge ®ren)en
ge)ogen feien; auf bem ®ebiet fAnflferifdier unb miffenfdyofrfidyer ^e^
llrebungen aber ^aben bie beutfdien ^unbedflaaten etn ebenfo teid)ed^ tote
banfbared $e[b ber ^earbettung oor ftd)^ unb er fei bat)er aKejeit barauf
behadit gewefen, in 98firttemberg fojufagen etn ^uUurjentrum ju fdyafen
unb {u erl^aften, eine ®t&rte^ n>o mandyerlei Sntereffen ibea(er Blatur eine
(iebet)o(Iere unb n)ot)( and) eigenartigere ^irberung unb ^flege erfa^ren
f6nnen, a(d bad meUcidjt ba unb bort fonfl ber ^atl fein mige« Sin fold^ed
Jt6nigdn)ort tt)xt unb fennjeidynet ben @)oredyer n>ie bie ^efprodyenen, jenen
burd) bte ipiebert)D(te ^unbgebung feined ))orurtei(d[Dfen SBiUend {ur ^r&gnng
f)eimartid)er ffierte unb biefe burdj bad Sutrauen ju itjrer ®d|6})ferfraft.
Ob fie treiben mirb? ^rei(id): ba^eim unb braugen ifl audi eine anbere
SSorfieOung t)erbreitet/ eine, bie unfre Siteratur unfrer fd)n)dbifd)en ^anbfd^aft
t)erg[eid)t 3u und ragen nod) bie gletfc^eri^aften 3([penriefen aud ber
naffifd)en ^eriobe ber beutfdien ^oepe unb ^Ijifofopljie Ijerein, aber ®d)i0er
unb «Oege( ffnb bod) mei)r ©emeingut bed gan^en SSoIfd aid fd)tt>&bifd)er
eonberbef[$. 3ebod) bie a»6rire unb U^anb, bie gr. Ztf. 3Sifd)er unb
I>. gr. ©trauf, bie ?. ^fau unb 3. ®. ^i^dfcx fcnb ebenfo fd)tD4bifd) n>ie
unfre 3(Ib unb unfer ©d)n>arjn)alb* XDcin Snbe ber 70 er, anfangd ber
80er Satire fdUt ed merf (id) ab; eine bfinne J^fige(reil)e t)on Stamen fhrebr
nod) fiber bie 3(((tdg(id)feit empor. Unb ()eute? „^ft benn im ©dftoabtn*
(anbe t)erf(ungen aUer ®ang?"
Diefed J&eft foil barauf eine Unttoott geben, atlerbingd in einer burd)
9taumr&cfffd)ren bebingten 3(ud[efe, feine erfd)6pfenbe. Hud) ®d^roabtn ifat
feine Hittn unb feine 3ungen. ^ad Slebeneinanber ober — rid)ttger —
bad ®egeneinanber biefer beiben ®d)id)ten c^arafteriffert unfre ®egenti>art.
-cNg 431 9^
hit Abrtgend audi tiitxin auf etn fr&i)ere« &t)nU(bei 3icxtfUtni^ in bet
fd)n>&6ifd)en ^treratur t)ern>eifen fann. meinc ben ©egenfa^ t)or baih
100 3ai)ren {mtfcfyen bem tn ®tuttgart ^mfdyenben Alaffijtdmud unb fetner
Itterartfd^en Serfretung tm Sottafd)en MfRorgenbfart ffir gebtfbete ®r&nbe"
f tnerfett^ unb bcr tn S&btngcn flubtcrenbett 9tomanttf mtt tbrem |)o(emtfd)en
„®Dnntagdb(arr ffir ungebtlbete ®r&nbe"/ bem ^reunbedfretd urn Ubtanb^
J^enier unb Sd^toab^ ber f|)&ter fogenannten @(fyn>&btfdyen ®dyu(e auf bet
anbent ®ette. X)tefer SSergletd) gefdyief^t ntc^t wn ungef&i^r^ er eriaubt
7lnt)aMipunttt aud) f&r bte i^euttgen Ser^&Itntffe. Unfre 3(Iten unb unfre
3ttngen: bie ©egenfiberfleUung tnitj&U neben bem fe(bfh)erfl&nb[t(fyen burd)^
fdyntttlid^en 3((rerdunrerfd)teb etntge anbere Stfferenjmerfmale. 3un&d)fl
liu%tr\id): bte jffteren fi^en tn ber ^awpt^adft in ber Stefibenj tn fidyerer
unb bei)aglid)er ^offtton unb mtt perfinltdyem 3ufammeni)a(t unteretnanber,
fine ©ruppe. Z)te 3jtngeren beftnben ffdy metfl fern Don ber J^etmat, etnjeln
unb {erfireut^ mtt nur fdymadien ^&ben bortbin Derbunben, ober aber^ n>er
Don tt)nen bat)etmgeb(teben tfl^ bem fe^(t bte inhere ^ret^eit unb ®e(b<
(Idnbtgfett, Hd) unummunben audjufpred^en. ^Better prtnjt^teK: betbe Zetle
^eben tn it)ren ^unfhnitteln unb ^flofen je t^re etgenen 9Bege. Sad t|l
gefd)id)t[td) erfl&rltd). Uli bte erfle native ^reube ber getfitgen SQortffi^rer
tn ®dyn>aben liber bte Srfolge Don 1870/71 unb fiber ^®rAnbung hti
9tetd^d fld^ ttidnipft tjattc, begann ed ber fdymdbtfdyen ^tteratur ba(b an
fongentalen IDIatenen ju mangeln. Sb'^e Sertreter — bte &(tere ®ruppe —
fn&pften teild nod) mtt ))erf6n(td)em fRtterlebeU/ tetid fd)on tn Stemtntdjenjen
an iene gro^e Sett an^ fte baben Don btefer Srabttton mttgenoffen unb bleiben
in ibrem 9ann. IDte 2)id)tung gel}t bort burd) tai Wtthium ber 93i[bung^
fie tretbt in ben reid)en Sd^A^en ber 93&ter 3(rd|do(ogie unb a(d Srgebnid
crfd^etnt etne retfe 3(bf[&rung unb etne eb(e ^orm, eine gemiffe poettfdye
Semunft, etn 3(bn>enben Don ben ^roblemen bed unmittefbaren icben^,
baneben and) ab unb {u etn btd)terifd)er Silettantidmud in btefed SBorted
befler Cebeutung. Sd)te pr&dytige ^u^erungen Derbanfen n>ir biefen 2t(ten.
3d) Dermeife j. ©. auf bie ^roben ber brei ©tuttgarter in biefem J^eft,
JDberflubienrat (Sbuarb ^aulud^ ®enera(flaatdann>a[t ^arf @d)6nbarbt unb
^iteraturprofeffor «arl SBeitbredjt. ^aulud unb SBeitbredjt tjaben and) 1883
«in ,,®d)tt)4bifd)e« Did)terbud)" f)€van^e%tbtn. SBBie *arl SBeitbrec^t, be^
fanntlid) and) SSerfaffer einer ?itcraturgefc^id)te, tjat fid) and) beffen ©ruber
Widjarb SBeitbredjt, ©tabtpfarrcr im \)ef\^d)€n SKJimpfen a.©., ^^^^ bie
^ege bti fd^mdbifdyen X^iaUM in ©auemnoDeKen einen 92amen gemadyt.
^in gerabe}u fuggefiioed (Slement ifl aber bem ani bem SoKen gefd)6pften
munbart(id)en Stealidmud Don @buarb J^iDer eigen. 92eben ii^m flnb be^
fonber* ber ^farrer Otto ®ittinger unb ber frfiljcre 5enori(i unb ©ifbl^auer
7bo(f ®rimminger am befanntefien geworben* ®d)effe[fd)e S6ne dyarafteri^
(leren ben Slottweifer ?anbgerid)tdrat SXobert i)d)flen Sin flajficiflifd) glatter
„a3olKbid)ter" i(l ber ®d)omborfer Gfifenmibelarbeiter ?ubtt)ig palmer.
Samit n>&ren einige S9pen wenigflend angebeutet.
3Cnbre — ben 3al)ren nad) nur — iltere, wie, gleidjfaW ein ^SSolM*
bid)ter", ber SBarmbronner 95auer 6bnfti«« ffiagner mit feiner natur»ild)|Igen
UrfprfingHdirett, ber ®tuttgarter 3ufit)rat Sbuarb Cggert mit granbto« an^
432 8^
idfaniidftn 83i(bent im dpc^, unb 3fo(be Aurj, bie Afinfllertn ber SRoDene,
mit itjxm 9leaUdmud im ©rtf bcr flrofen ®d)n>eijer ®- better unb J^. ^. IReper^
— fie (eiren bereitd ju 3ung^®(()ti>a6en fiber*
(Sine 9tett)e Don $erf6n(id|fetten Derfirpern btefe fdyw&btfd^e SBoberne.
3l)r Xudbrucf ifl wefentii* ein fprifrfjen 3fW iljre *ennjetd)en erfdjeinen
mtr gegen&ber ber &(reren ®ruppe mtt t^rer Aont)entton eine befonbere Un^
mitteibaxUit ber (Smpfinbnng unb ber DarfleUung, etne tnaippt, fd^Iid^te
^rdgnanj bed lln^bxud^, Ijdufig bid jur epigrammatifd)en ^onsentration
gei}enb/ eine fuggeflit)e ^xaft in ber SBirfung* 2)ad baburd) (Sxxeidftt ifl
ein 3un>ad)d an ^(nfdyauungen unb an ^ulrur. SReben jarten Stimmungd^
gebid)ren ^nber fid) tiefe 98e[ranfd)auungdpoefte« ^uf ben gemeinfamen
dienner tttoa biefer @i)araftertfltf (affen fid) bet ader inbit)ibue(Ien Ser^
fdyieben^eit untereinanber eine 3(n{ai)( moberner felbfldnbiger Slaturen
bringeU/ beren audgefprod^ener ffibbeutfdyer 3(f}ent fte n)ot)(tuenb t)on ben
gewotjnren ©tilarten ber ©erfiner fRoberne unterfd)eibet: mit beren @turm
unb X)rang tjat biefed 3ung^@(4n>aben n>eber dufere nod) innere 93e}ief)ungen
met)r; ed ift gebiegener, fld)erer; mitunter ffingt eine SK6rifefd)e 9lote in
biefer Sprif an. 3fber wie ber ©lanj aR6rifefd)er Didjrung erfi t)on aufer^
^afb ffliirttembergd burd) bie J&ugo aBoIffd)e SWufif in* red)te ?id)t gefe$t
merben mufte, el)e man felbfl bat)eim ed fat), — &l)n(id) ergel)t ed biefen
mobernen ^rofilen. X)er befd)au(i(4e 9tat bed ,,9(eibe im Sanbe unb n&^re
bid) reblid)'^ fd)aft ii)nfn Sntjiagung. (Snrweber meifen fte jat)re[ang fd)on
feme t)on ber ^O^iwat, fo — t)on Sfolbe *urj tt>ar fd)on bie 9lebe — aud^
Sdfar glaifd)ren (gcb. 1864) and Stuttgart in ©eriin, J&crmann J&effe
(geb. 1877) aud 6aln> in ©afef, «arl ®u|laD SoDmoeOer (geb- 1878) aud
©tuttgart in Stalien; obcr bfeiben fie tt>o^I ober ffnb fie wieber in ber
«Oeimat^ fo ®ertrub 3ngeborg £(ett (and Salto) unb ^^erefe Aifllin (aud
STOauIbronn), @l)r[er, bcr Sc!)rer %x. gelger, Srnfl *rauf, aber ed
fei)(t ii}nen $6rberung; einige anbere fd)(ie^(id)^ ein Hxd^itett ®uflat) SBaper
ober ein ^unfimaler ^einxid) ©c^&ff tragen bad ^aindmal ber Q5oi)dme an
fid)^ aid t9pifd)e ^^^fiognomie etned berangierten Spniferd ber eine, aid
Dagierenber ^i)iIofopI) mit bem Sac^en auf ber .l^eibe ber anbere. 3Iber
Zaiente finb fit famt unb fonberd, eigenartige, Dom ®rabe bed bead)tend^
tt)ertcn bid ju bem bed bcbeutcnbeu mit bcflimmter f6nfllerifd)er Sntwirflung.
Unb tt>ieber eine $atfad)e: bie gro^e ©U(4i)anbeldflabt ©tuttgart t)at — mit
eincr 3(udnal)me — feined ber t)on biefen X)i(^tern erfd)tenenen ©fidjer
auf ben SRarft gebrad)t; ©eriiner ober ?eipjiger 33erleger ffnb ed, bie ben
bcfanntcflen, Sdfar glaifd)len, obcr neuerbingd J&ermann J^effe ober ©ammeU
bdnbe moberner beutfd)cr ij^xit l)eraudgeben, in benen aud) Don ben anbern
^octen ciniged }u finbcn ifi. @d ifl n>at)r, au^er SIaifd)Ien unb J^effe tjat
k)ielleid)t niemanb eine DoUmcrtigc ^robuftion auf)un)eifen, bie ein ganjed ©ud^
red)tfertigt. 3Iber )u einem 92cufd)n)dbifd)en X)id)terbud) reid)t fibergenug,.
mad ungebrucft in IDIanuffriptcn mir befannt ifl unb n)ad and) ju einem
foId)en 3tt)ed Don bem fd)on genanntcn ©d)rift(leller (Srnfl ^aug gefammelt
ifl. Cb n)oi}I aud) f){er}u ein nid)tfd)n)db{fd)er SSerlag n6tig werben muf?
©0 ffel)t bad Sntereffe obcr bad aSerfldnbnid ber einl)eimifd)cn Serlagd^anb*
lungen and. Unb gleid)erma0en fle^t ed burd)fd)nittlid) urn bie wfirttem^
433 ho-
htvQjiSdjt ^rejfe: eine ^eitSdftift, tint Hvt ©ammelpunft unb 3entralret)ue,
Qxbt ti bti un* nid)t me^r/) unb unfre ^age^jcirungen jeigen ficf) jebcr
litfrartfdyen ^robuftion gerabeju abl)oIb (mit einer Derfd)n>inbenben 3fu^*
naf)me) unb moKen fid) ni(i)t um btc ^uferungen unfrer X)td)ter ffimmerU/
tt)cber ber Afteren nod) bet jfingcren. 9Bo afcer fein ^apitaf tdtig ifl, fel)It
aud) ber *onfum. Die ©efonberbeit ber ffeinbiirgerfid)cn ^onftitution SBfirttem^*
berg* birgt weitere gefdjloflfene ®egcnfrAfte. 3ubcm wirfcn bie Sleigungen
ber Xlten unb ber Sungen jentrifugar. pit HUtn meiben bie Sungcn unb
— fenncn ffe faum. 1894 ifl in ©tuttgarr ber Urcrarifd)e «Iub in* ?eben
gerufen worben: ,,®Ab* unb norbbeutfcfte ®ele^rte, 2)id)ter unb 3ournan(len,
©eruf*^ unb fonftige ©d)riftflener, SWdnner, bie fid), wenn nid)t fflr ?iteratur,
fe bod) fir ©efeUigfeit interejfieren, fi$en barin frieblid) beieinanber. Ob
e* bem iungen Serein gelingen mirb^ aUm&t)(id) eine SQiebergeburt be*
(irerarifd)en 9eben* in ®tutrgarr an)uba^nen/ (iegt im ®d)0^e ber Sufunft
t)erborgen. 7km f(^meri(td)flen mift man augenblitf(id) jebe engere Ser^
binbung, jeben fefleren 3ufammen()aft ber tt)iirttembergifd)en Did)ter unter^
einanber." ®o tjat 9luboIf *raug in feiner ®d)n)4bifd)en ?iterarurgefd)id)te
im 3al)re 1899 gefd)rieben; fo i|l e* tftntt nod).. Die fepten 5 Saljre ^abcn
baran ni*t* gednbert. Der ^fub pflegt fd)6ne ©efeOigfeit; ein tdtige*
Xufenleben, ein J&eranjiel)en nod) nid)t burd) ba* ©iegef be* @rfoIg* 3(u*^
geieid)neter, nod) ©trebenber ifl feiner 98&rbe nidjt gemdf.
$ro$bem ifl e* nid)t wa^r^ ba* b6fe SQort Don ben M®d)tt>aben im
SBinfel''. ®oeti}e l)at einmal t)on Ut)[anb gemeint^ feine ®ad)en feien ja
gan) nett/ aber erma* ^elterfdifitrernbe* i}abe er nid)t {ufianbegebrad)t.
Da* gift bi* ju einem gewiffen ®rab fur bie gcfamte fd)n)dbifd)e *ultur
unb Siteratur. HUtin biefe ifl bod) eine $3e[t im Heinen unb fie gei)6rt
einem ®tamm^ ber bie @eifle*gefd)id)te Deutfd)(anb* befrud)tet i}at, n>ie
fein anbrer. 3Cud) je$t regt fid) ber yul*fd)lag eine* eigencn frifd)en
Seben*/ fo bag ba* ®d)[agn)ort be* @pigonentum* nid)t trijft 9lid)t fo
fafl poIirifd)e, af* fuItureDe SleferoatreAte finb e*, bie wir (Bdjtoabtn be^
n>ai)ren. ^reilid) fd)eint aud) im geifligen ^eben bic afre 9ea(ferung*rege(
ber Sauern nod) }u gelten: )n)ifd)ent)inein eine 3(u*rui)brad)e. 38ir fommen
aber bariibcr binau*. (Sin jufammenfaffenbc* k)orurtei(*(ofe* ©ifb be*
poetifd)en ®d)affcn* im ®d)n)abenlanb, in ber gorm eine* 9leufd)tt)dbifd)en
Did)terbud)*, f6nnre un* f)eute wieber ba* 9ted)t geben^ mit ®d)i(Ier ju
rufen: „3l)r, il)r bort aufen in ber UBelt, bie Slafen eingefpannti''
0 ^cffetitltd^ ^ibeme^men bie ^ettbbeutfc^en WHenatitftftt" biefe Kufgabe.
-Hg 434 8^
(Bcbid)tc von C(^ttf)ian tt)agnec.
&tkitwott
tftt eigenarHgfle uitter ben f(i)n>&6tfd)eit 1Dtcf)rmi ber ®egenti>art i(l
tDo^I S^ttfltan SBagner^ ber aii Qauer ju SBarmbronti bei ^eonberg (ebt^
mofelbfl er tm 3ai)r 1835 ba« ?tdyt ber SBitU erblicfte. din ^prifer t)on
urf|)rfing(id)er Cegabung^ etn Zr&utner^ ©riibler unb @ei)er^ baju etn ^rebtger
t)on flarfem fittltd^en ^at^od nadf ber Ijumanitdreti iRtdihtng' ^tn — ba^
enoa ffnb bte Umrtgftnien^ mit beneit man etne 3etd)nung fetner getfHgen
3nbtt)tbua(tr&t )u beginnen ()&ttc. 3tt ben bret 9&nbd)en ber ,,®onntagd^
g&nge", bte er jnoifdyen 1886 unb 1890 t»er6{fenr(td)t ^ar, unb in ben ^S^euen
Dtd^tungen" (1807) finben fid) tn grower 3ln)at)( ®ebid)re t)on feltener
®d)6nt)ett^ &berraf(f)enb unb merfwfirbig burd) tt)ren ®ebanfenget)a(t unb bie
Origtnalitdt ber in tl)nen gebotenen btlblidyen 3(nfd)auung, gewinnenb and)
burd) ^ir^nntgfett unb bte 9B&rme itjtt^ Zone^. Cingelned, toenn anif
nur tomtged/ t)on gfeid^em bid)terif(^en SBerte bringen bie „9Bei^egefd)enfe"
(1803). din libe(flanb ftnb firetltcft bte nid)t fehenen 9}ad)(&fllgfetren^ Un^
gelenftgfetten unb Unferrtgfeiren, bie tn ber ®)orad)e (Sf^rifltan ^agner^ —
nur in ben ,,9Ieuen Dtd)tungen" i|l bie ^orm reiner — mit unterfaufen;
barf man fte bem burd) fetne n)tffenfd)afr(td)e ober ffinfHerifc^e ®d)u(ung
t)inburd)gegangenen ^idfttx nid)t doU anred)nen, fo rvhtt itfxn bod) me^r
@elb(ifrittf nad)gerabe bringenb jn n>Anfd)en, unb faum f6nnte er in ber
Sufunfr beffered tun, aW bag er bie bi*t)er enrflanbenen ^inber feiner SBufe
in be}ug auf bie ®prad)fDrm einer ernfKid)en ^r&fung unb Steinigung unter^
)6ge. 3nbeffen ifl bed Sabedofen nid)t nur, fonbern bed Cewunberungd^
n>&rbigen eine betr&d)t[id)e ®umme t)ori}anben, unb tj&tttn wir tint n>eife
3(udti>ai)( ber Sprif S^riflian 9Bagnerd, einen ®amme(banb feiner beflen
®d)6pfungen, fo wfirbe bie ®d)ar feiner 33eret)rer rafd) ti>ad)fen. 3m britten
®&nbd)en ber „®onntagdg&nge" („9anaben unb ^umenlieber") ifl bad (prifc^
Sortreff[id)e )i>itViti<t)t am bid)teflen gel)&uft, fafl intereffanter nod) burd) Steid)^
turn an ®eifl, mannigfaltigen 3nl)a(t unb ©ebanfenreife finb bie „92euen Sic^^
tungeU/" bie aud ben 3(brei(ungen ^J^erbflblumen" unb ,,Cdti>a(b unb Stlaxa.
din ®tfi(f Smigfeitdleben" btftttjtn.
(Sd ffnb, n>ien)o^( unter ffd) nid)t oi}ne Sufammen^ang, l)auptfA(^(i(^
brei 3been^ unb SorfleKungdfreife, brei gro^e Zl^emata, bte ben 3nl)a(t ber
Sid)tung di)v. 9Qagnerd abgeben. £ie ®d)6pfung bon ^ftanjenmird^en ifl
bad eine. 9Bagner befeelt bie 9latur, bie ^f[an}enti>e(r, bie il}m bei feinen
t&g(id)en ®&ngen burd) 9Ba(b unb^ ^lur unter bie 3(ugen tritt, er ffel)t in
ber ®eflaU unb Oifbung, ben SJac^dtumdbebingungen unb ben ®efd)i(ren
pflan)[id)er 9Befen Spiegelungen menfcf)(id)en ®eind unb Xund, SBieber^
erfcfteinungen menfd)(id)en {ebend; eine 9laturumbeutung finbet flatt, unb
biefe Umbeutung erflretft f[d) auc^ auf bad ^ierleben, auf (anbfd)aft[i4)f
@inbrikcfe unb 9Bitterungdt)l)&nomene. @d ifl aber feine n>iDffir(id)e unb
®e(tfamed audflfigelnbe 9tefIerion, n>e(d)e babei toaltet, fonbern ntc^t minber
435 8^
merftDiirbtg aii bte Sinntgfeit ber 9tlbfd)6pfun9 unb bie S&Ke ber m&rd)en^
bilbettben SittuiHon dtfx. 9Qagiterd tfl bte Slatunoa^r^etr in feinem bt(fytenfcf)en
$frfat)ren/ infoferit ber ^tfanta^tatt^ ber bie Itmbeutung etned |>flan)ftd)ett
SKJefen* t)oKjie^t, auf bem Orunbe einer ungemein frfjarfcn ©rfaflfung be^
SBefentltdyen^ bed fiir hai 3(uge @i)araftenflifd)en etner pflan)[t(4eti ^orm
unb 3(rt ru^t. Hud) tfl btefed gan)e Ser^alten M '^idjttti {ur unter^
mfnfd^Itc^en dlatut nidit nur bad ^l^antaffefpiel^ aid n>efd)ed ed }un&d)fl er^
fd^etnt; fonbern in bie ifll^etifd^e ^ufl .bed @e^end. nnb ®e(lalrend mengtftdy
6ei Hjm ein religi6fer ®fau6e^ etn pl^ilofopiytfdyed Qeb&rfntd^ eine fein 3(uf^
faffen ber (SrfdjeinungdweU be^errfrfjenbe Sbee: ber ®ee(enti>anberungdg(aube^
ertoeitert unb Dergetfligt, freiltdy and) ind 2){ateria(ifiifd)e gewenbet^ entmicfelt
fid) bei atjx. SBagner, ber bie popul&r gemorbenen natum)iffenfd)aftli(^en
iie^ren bom ^eidlauf bed ®tofed unb ber 9Banberung ber ®tofftei(cf)en in
fid) aufgenommen tjat, }ur 3bee bed ewigen 9ormn>ed)fe(d ailed @eind, ber
emigen SQieberfe^r bed Sergangenen^ unb i)iermtt begegnen mtr bem )n>eiten
grogen Ztjma unb 9)2oti))enge6iet feiner Sic^tung. ®on>eit bie eigent(id)e
Sbee ber Seelenwanberung i)ert)ortrttt^ werben wir an bie Set)ren ber Snber^
indbefonbere ber Cubb^iflen erinnert^ tion benen 6l}r. SIQagner bod| nid)t ab^
i)&ngig ifl unb fid) aucft beflimmr genug unterfd^eibet: benn fein SRinoana
(ocft ii)n, unb ber 3(dfefe bed 93ubbi}idmud fe$t er bie Sobpreifung bed X)afeind^
gl&tfed/ ber ^ebendfreube unb feinen ®d)6n()eitdfu[t entgegen* (Sine in fid)
t>6atg gefl&rte 98e(tanfd)auung barf man bei e()rifiian SQagner fvtilidj nid)t
fud)en; er gibt fid) t)on >)f9d)oIogifd>en ©egriffen feine ftrenge 9ted)enfd)aft^
unb-mit feiner Don ben ^(tomDorfleUungen beeinflu^ren 93etrad)rungdn>eife
ge^en bie ©timmungen unb ©eficftte^ bte bem i^m innetoo^nenben J^ang jur
SOIpflif entf>)ringen, nidit vtd)t jufammen. 2fber auf fet>r intereffante ®ebid)te
flo^en wit ^ier bod)^ unb afd bebeurfam unb fvud^tbav in etl)ifd|er 9tid|tung
ertoeifen fid) feine i^m }ur (ebi)afteflen ^l)antafie^3(nfd)auung geworbenen
tnteKeftueden liberjeugungen. Son ber 3(nerfennung bed ^ffierted bed Sebend^
Don ber 9Qertfd)&9ung ber IDafeindfreube aud^ bie ii)m aid ein nottoenbiged
©t&rfungdmittel )ur 33erDoOfommnung bed 2)?enfd)en erfd)eint^ ifl er )um
®runbfa9 ber ,,m6g(id)flen @d)onung ailed Sebenbigen" gelangt «&iemir ifl
bad britte gro^e S^ema feiner ^oefTe genannt; ia, man fann fagen^ ber
®ebanfe ber ®d)onung bed Sebenbigen^ ber „9ted)tdanerfennung aOed
^ebenbigen", ber ©ebanfe bed 9ted)ted aKed Sebenbigen auf Unoer(e$(td|feit;.
ifl bie fldrffle Sriebfraft feined bid)terifd)en ®d)afend^ ifl bie ®ee(e feiner
^oeffe* ^ein 1Did)ter Dor ii}m tjat mit folc^er 3nnig(eit unb Unermfib(id)feir;.
foId)em (Srnfle, fo(d)em SCufmanb Don ^euer unb folc^er 98eill)er{igfeit bie
erbarmenbe iitbe {u aOer Jhreatur geprebigt toic er^ unb toenn and ben
®ebanfentiefen bed 9ubbt)idmud ein wo^fmoKenbed unb mirteibiged fBtttfalttn
gegen aUe 9Befen flo^, menu bad 6()riflenrum in feinen reinflen £)fenbarungen
bte Stebe {um „dliidiHtn**^ ju ben 9)7itmenfd)en (et)rte^ fo ifl ed Dor)figIid)
bie Zierfd)onung unb and) bie ^an}enf(^onung (93aumfd)onung {umaO/ in
beren SSerffinbigung ber ©auer unb Z)id)ter ju 9Barmbronn feined ^ebend
®tnn^ Sn^alt unb 3iel erfannt^ feine SDIiffton, fein $rot)^etentum gefunben
^at Sin (SDangelium bed ^riebend toiK er ben (Srbenben)oi)nern bringen^
er(6fen mid)tc er bie Xienoelt Don ber tanfenbfad)en SRi^^anblung/ mid)t
436 8^
tie SRenfc^^eit aud ®xaniamUit unb ^Arte, aud gebanfettlofer ®eii)6^nttng
Sufikgt/ er(6fen mid)tt tv hit 9)2enfcf)en Don ber ©efbfKudyt unb ®en>a[t^
tdtigfeit, bie il)re arm madyen^ aufget^eti (affen tnic^te er iibtx bai
ganje 9tctdy bed ^ebenbtgett bte ®onne etner mtlben^ Dergetflt^ten ^reube:
baffir bon neuem bie 9Bege {u ebnen^ an btefem grof en SQerfe mit{ui)e(fen^
iff ber ©eruf, beffen fid) Sljriflian SBagner bewuft Die ®ebi(^te^ bie
unter biefem S^icl^^n gefdyriebrn ftnb^ tragen benn and) ben ©tempel ber
3nf|)irarion^ ftnb bie ^robufte einer inneren 92otn>enbigfeit^ fonientrierter
Hu^ixud feiner ^erf6n(i(f)feit^ finb bad Cefle^ n>ad er ber SSSdt )u geben tjattt.
3cf) l^abe geglaubr, bie (e$ten biefer ®d$e and bent Cudie n^ieber^ofen
{u bfirfen^ bad idf unter bent Xitel ,,6t)rifiian SQagner^ ber 9auer unb
X)i(f)ter )U SQamtbronn'' aid eine nid)t audfd)[ief[i(f) (iterart)iflorif(^e unb
biograpl)ifd)e^ fonbem )uglei(^ fojialett^ifdye ®tubie t)er6fent(id[)t t^abe* X)en
Sefern biefer flitter aber feien aid ^roben ber SBagner^dyen ^oefTe bie
folgenben &thid)tt gebotem 9tic()arb SSSeltxidi.
I.
Oflerfamflag.
(Sd ifl Oflerfantflag. 98inter[id) fle^t ber ^alb^ unb bie :2Inemonen^
bie Xijpfdjtn t^&ngenb^ ba unb bort in ffeinen ®ru))t)en beifamnten:
9Bie bie ^rauen
3iond n>o^( bereinfl beint matten ®rauen
3ened Xrauertagd beifamnten flanbeu/
SBorte nid)t mei)r^ nur nod) Zr&nen fanben;
@o nod) l)eute
®tel)en, afd in feme 3eit Derfhreute
93leid)e 3iondt6d)ter/ 3[nemonen
3n bed SRorbend n)inter[id)en 3onen.
Som ®en)imme[
2)id)ter ^lorfen ift er trfib, ber J^immef;
Zraurig ilet^en fie bie £6))fd)en i)dngenb
Unb in ©ruppen fid) }ufammenbr&ngenb.
3I[fo einfam,
3et)n unb }n>6lfe tjitx fo feibgemeinfam,
Da unb bort Derftreut auf grauer Sbte,
9Qei^e $ud)[ein aufgebunben jebe.
Sffo trauernb,
Snnerlid) oor g^rofl gufammcnfd)aucrnb,
®tei)n allj&^rlid) ffe aid ^lagebilbnid,
3n bed winterlic^en SBalbed SBilbnid.
437 ho-
II.
2tuf ber ^Surgruine/)
3it bem 92efle
Droben auf bem geW ein ®dtiger*) lag,
(Singeferfert bort fd)on 3al)r unb Jag
3(uf ber 93efle.
3fu* bem *erfer
©rac^ er einjl bei mittem&difger SBeiP,
fffiofff l)erab fid) raffen an bem ®et(
93on bem Srfer.
Docft jerfdjmetterr
Sanben i^ti bie 9B&d)ter morgen« fd|Ott;
n>ar tm ®p&t^erb(l, unb ber Q3ud|en jtron*
?aubentbl4trert. —
3fud ben weffen
(Srauen ^ledyten, bie fein ©lut bene^t,
®{nb nun aufgefprogt unb blUftn ie$i
^elfennelfen.
3(ud ben 9Roofen/
TCud ben ®tetnen, bie fetn Q3(ur befpri^t,
®tnb nun aufgefpro^t unb blfif^en i^t
®fabiofen.
TCugeufpiegel*)
®d)n>eben um bie SleCP unb ©fabiof,
Um bie n>eif unb rote fffialbe^rof
Tlnf bem J^AgeL
Xugenfpiegel
®d)n>eben ^ter im blauen $reii)eiMfaa(,
©fufge Jr6pflein wie ein bfuf ge« SKat
3fuf bem glflgeL —
Sag ba^ Jrauem!
Son bed Setbe« Qanben audgefdytrrt,
®eine ®ee(e nun ali falter irrt
£)b ben 9)2auern*
•) Rifobemu« ffrtWUn f 4690.
SBddeutsehe Monatthefte. 1, 5. 29
438
III.
3cr6r6cfle, wcnii id) tot bin, fel'ge* ?id)t,
3tt fffierrtag«fd|(a(feti mtr mctn SQefcn nidftt
3u buft'geii Qtumen in bem Xenjgefilb
Uitb )tt ber Stofeti tietfcm ®d)6n^eit«6i(b
Unb ju ber ?ieber fel'flen SRetobten,
edfatlmVitn, bit buxdj SRenfc^etifeelett {ie^n
Unb fte ert)e6en in ber Tlniadft X)om,
aBoU'fi bu Dertoetiben iebe« Staubatom!
IV.
Son ®e(tgfetten tr&umfl bn nadj bem l)arten
Unb mit{)et)olIen ?e6en unb ®eto«;
iCte Wliititn, hit bu ^aft in biefem ®arten^
ajlitfamt ben ^reuben wirfl bu fie nur loi;
SBo^I anbre ^renben n>erben bid) erwarten,
Tiodf anbre SWifyen werben fern bein ?o*,
me^r unb meiyr bai Don btr au^gefc^teben^
9&ai beinem ffiefen mtnbern fann ben ^rieben.
V.
Z)e« ®d)t(rfaK 9Ba(ten/ taub ift e« unb bitnb/.
(fin n>t(bgen>orbne« fdyeued 9Betberinb.
€in ©fiffel i^% ber graft auf grfiner J&eib'
Unb (eudyten fTe^t t>on fern ein roted Aletb:
din (Sbler natjt in fetnem j^6ntg«f(fymu(f^
Dem ©iffet bftnft er wirrer J&eibefpuf.
iDte Jg»6mer fenft er unb er^bt ben ^dftotif^
®ein 3(uge fa^t ben ^ur))ttr unb ben 9teif !
Hx (Ifirjt l)eran, burc^bo^rt il>n mit bem J&ont
Unb tritt itjn unter in feinem 3exn. —
«arfreitag tjcut\ — JD unglicffePger 5ag,
Hn bem ein ®ott bed J&ome« ©to^ eriag! —
430
VL
9i tfi ittd)t alte^ gaii} btin, roai bu bcin nennefi; ti ifl eigcnt(id) gar
ntc^M gait) bettt ali bte SBertfadyen in bettter 9ru(i^ in bcm feuer^efien unb
btebe^flc^mn Aaf)Vitfd)ranf beiner @eele. IDeiite @&rten^ beine ifcfer unb
9Btefen ^afl bu erfauft unb beja^It; aber wad bu ntd)t erfauft unb 6e)a^(t
^a(i^ iai ifi ber Sau unb ber Stegcn^ ber beine ®en)&(i)fe tv&ntt, bad ifl bie
?nft unb ber fireubige ®onnenf(i)ein. — ^rum fielje: Slidit ganj bein ifl
beine Srnte* — ®iel>e, ber J&err ber (Srbe, ber ?uft, bed Stegend unb ®onnen^
fd)eind tfat bir mitunter arme $D?enfd)enKnber^ and) Siere^ mitunter ®(f)n>ad)^
ffnnige unb Unmfinbige^ and) «&er6ergd[ofe — id) ni6d)rc fagen — ind Tlni^
gebing gegeben mit ber gemi^ nid)t fd)n>er br&(fenben 95ebingung^ ffe ein
n>enig ju bufben. — 3a ed jinb geringe 3(udbinger^ bie ddu beinen ^elb^
frftd)ten nafd^en^ ^elb^&^ner^ 9Ba[bk)6ge[ unb Sauben — ja nod) geringere :
®))er(inge unb SR&ufe^ SBau(n>&rfc unb 9Raif&fer; aber glaube ia nidjt, bag
biefelben i^rem ®d)6pfer aud) fo gering unb mxtloi erfd)einen aW bir. —
IDu to&tefl mit ^cucrro^r^ mit ®ift unb ®d)[inge unter biefen f (einen nafc^en^
ben Tfudbingem. ®ie^e tool)! }U/ bag bid) biefelben nid)t Derflagen! «Ofite
bic^^ ottf bag bir bein Se^end^err bie Derlie^enen Slu^niegungen nic^t mieber
ne^me — bie 9tu$niegungen bed 9tegend unb Sonnenfc^eind, bie 9tu$^
niegungen ber fril)[id)en ®efunb^eit unb bed ®ebeit)end! — Unb fie^e n>o^(
pi, bag beine Sfteligion nidjt in beiner 3oi)(ttngdf&i)tgfeit befle^e!
VII.
SBer mar ed, ber mic^ Hxmcn in ber «Oaft
£ed fleinen X)6rfleind rfiflete mit Jtraft?
1Durd)Ieud)tete mein fd)attenbunfe( 9}id)td? —
£) eine ®abe toar'd bed en>*gen 9id)td!
Sad meine Hein* unb meine grcge 9Be(t
^SJtit feinen 9tofen(}ra^Ien mir er^eOt
Unb ®egenti>art unb Sufunft mad)et Har
Unb bad SSergangene mir ofenbar.
tiatV ni(^t 3Biffenfd)aft, id) ^att' nic^t Aunfl^ —
Wtix wurbe beibed burd) ber ®6tter ®unfl,
Unb ^6nigen unb ^firflen fle^^ id) g(etd)^
Dod) in ber Sufunft fd)(ummert nod) mein 9teid).
29^
440 8^
IDic bcibcn Bt^iute.
(:6<aiAt>f.)
93ott 3fo(be Stuxi in ^loren).
5tAtt £(ertrttb, feg' ben ^otbf<$muA an,
S)tt fofffl bie M^e (graut ewpfo^'n.
(BOarum faffen i^r bie ^ranen auf bte (^M^e?
Qjlnb atB bte QgFraut 5um l^ofe ritt,
Jtau £fer(riib i(r entgegenfc^ritt,
9te Seut t^r ^frug^ unb BcAtwtin.
— (B9a0 i^f fo ihi4 bie l^c^wefZev bein?
(BSarum faffen i^r bte Cranen auf bte (SSan^e?
S)te $<9i9epev metn iff Sfeic^ unb truB,
$ie txauitt urn verfome £ieS%
flnetn ^ttulbtntai mad^t Hv Qg^efc^wev,
^er t^re fc^etnt wo^f ntmmeme^r*
(BSarum faffen i(r bte Cranen auf bte (^ange?
JSf0 nun bae Qpoar jut Kammer ^ng,
frau £(er(rttb bienenb fie empfing,
te fop ber (grant bae ^fofbgefc^meib:
^4taft fuff unb ntemafs treff euc9 Betb!
(Sbarum faffen t^r bie ^Tranen auf bte ^an^e?
I^err Q^atner, ma<$t bte (B9a9r9et( ftunb^
^0 traurig ffti^t tiHn ^c^wepemunb:
fotg', 3[8r fefSer fetb ber Qllann,
Qjlm ben fie l^erjenenot gewann.
(Barum faffen t^r bte ^Tranen auf bte (^an^e?
5a, ebfe frau, tc9 ntc^t,
(S9etf jeber Crug vor 6uc9 5er6rtc9t:
^evor 3[9t etnjogt 9ter afe Qg^raut,
(B9ar fie mtr manc^ee ^a^t vttitavU.
(Barum faffen t^r bie i!^rdnen auf bie ^ange?
l^aSt 39r 5ur Crautoi |te SegeM
Qinb iatUt lie bee Q^inoe nic^t wert?
S)er von |tc9 ftieg fo ebfe (nUgb!
(B^arum faffen i^r bie ^ranen auf bie (BSan^e?
^rau £fer^ub, fag bae ^rauem ftin^
(niein rolee £fofb iff affee bein*
P^tg' 5u (pferbe fonber l^arm,
%u ru^e fanfl in (Slainere iSrm.
(BDarum faffen i^r bie ^ranen auf bie (^^an^e?
441
Xl)urttembetgif(^e JirtiUt.
(geborett am J. mat) 1833 in Btuttgart).
©or 5- «. 5tfc0er0 S)enSmae.
|u ^ffen Q>faben fteStePt »u 5tt ^ucftttn,
(PevfunStn in bern jStnnen unb bein S)ic9(en,
Oer jSc^opfting reinen Urafi{en SinsegeSen*
1|ier, 190 bu9 an ber Ij^afbe beine Q^eSen,
S)ie9 pan ben Ij^o^en (jntglen beine f^id^ten,
Ij^ier Sommen wir, bein (gifbnia auf^uri^ten:
l|ier foffp btt Mn in frifc^er JSiipe (BJeSen-
S)ann na$et wo^f ein Jreunb unb fte9re( meber;
06 bir
Oen a^nenb, benSi ev beine jieber*
CUnb wenn tm QRaien beine ©rofTefn fc^fagen,
S)a f&^tt unb bie Crane fc^feic^t Urn nieber:
Ott feSff une, me in beinen 6rbe(agen«
(cieborcn am 16. (Dftober J$37 in Stuttgart).
Qpafmpro.
S)er 0)erfe gfeic^ ergfan^tep bu im ^anbe
S)er Sraunen (BSuPEe, (pafmenmpfef 9o6en
urn bie Cempef; — ^fieCef unb (Hletopen
Srgfu^n att0 purem £fofb im j&onnenSranbe.
£^rog ifi bae Q^eic?, vom 9afBen (morgenfonbe
(»irb $ier ber ja^rfieje Ztiiut er^oSen,
(Unb ma€9% $errfc9<, pom S)iAbem ummoSen.
lenoSia mi< gottficQem ©erftanbe.
|tt i^ren S^^&en fUft £ongin unb fpric^t
(Pom ewig ^c96nen, pon bem ^nabenfic?!,
(»omi< manc9 ^ofbee (Wttnber fc^on gefc^o^.
$ie 5udU em^r: (Bob fliegt ba fur ein iS^eer
3[m (por««u0? — „®a« ifiE bos (|t6ttier9eer,
^an Bringt bie Uetten bir, ^enoBia!''
442 ^
^ fU^n fie einfam in ^en engen ^^affen,
(IRtt (gfumenwerl Sefe^t an affen 'Ranten.
$0 sftt^n lie gfiei^ (£lu6tnen unl S)eman(en,
(B9tnn f^on ber ^nnenfcdein bie ^tabt verCaffen,
Qlnb itinoitn, iptm bie ^(eme fanfi^ erSCafTen,
®en Qnorgengrug bem ^rogen (jjlnSilannten*
O Qnenfc^enftmb in ^ufifemie verfentt,
S)eni t^ob gmet^t unb affen t^obeefe^mer^en,
Qjlnenbfic^ ^eigt atia beinem wunben l^erjen
S)ie ige^nfttc^t auf, bie (immfifc^e, unb fpren^
S)ie (B9ofllen9ttffe, unb im <;ft<9erfic9(
(B9irb une ein ^tra^f aue &ottu JKngeMt
^arl tOettbrec^t
(gcborcn am $. lOt^tmhtt J$47 in neu^gflm).
iBrug an C^uStngen.
<3u0 bdmmrtg SuSfer j^eme
Jltt0 2e6en0 Uampf unb Qtot
^ie benft ic9 bein fo geme,
S)tt ^ialt voff (niorgenrot!
^on beinev Q^cfic nieber
3n0 BKitenweige t:af
(ni6c9< it9 fe^auen unb traumen wieber
^ur noc9 ein ein5i^af!
S)ort Sommen bie (SDeffen ge^ojen
S)e« (neclar0 in Sfi^enbem iauf,
<Sn bev aften (grude (gogen
(glattfc^en |te muvmefnb auf;
^nb bie grauen £fie6ef fc^auen
90 ttnfi iinai in bie $fu(,
O^nb bie femen QgFerge Sfauen
j||ertt6er fo ^eu unb fo gut
nb mi< ben (B9effen jie^en
n rtt9fo0 f<:9i9effenbem £fang
^ieftaufenb (JAefobteen
%^ie grunenben (Ijlfev entfong.
443
^ieftaufen^ Qllefobteen
An bet ^eefe voruBerfKe^en
Jfn (runtener Ztauti^tiU
l^ier fragt' tc9 juerfl bae BeBen:
(^906 Btp btt? (O9a0 wiiift|! bu mtr ju?
— (Tlur tTriume mtr*0 jt^iitn,
^€ gfn^tn mt iTraume ^ur ^iiB!
O fo vafc^ ftnb bte dtofen petrBfuBt,
Bter an bee BeBene ^^weffe
QTlir vevB^^enb en^egengesKiBt!
S)o4 6tn0 tflf mir Aufsegangen
(B9ie feucBtenbe (Hlorgensfut
Jltt0 ^raumen unb itaurnvtrtan^tn:
Bin ttoiM freier Qtlut!
Oer foir picB nimmer Bettgen
%n 2eBen0 Uampf unb Qtott
9otr pete von bit mir ^eugen,
Ott ^fobt votr (niorsenrot!
Sum 29. ^dmrnhn ±902.
Qnorjenrot unb finpre (HlitfemacBty
^ircBenmonbftcBt uBer l^etnutfBuseAi,
l^agenfcBa^e unter S)ra^tn^3efn
^nb ba0 jefb bev fauten (HlannerfcBfacBt —
Jlttf bem lUffipetnfefe ein ragenb &4to%
S)rttnten in ber 6rbe titfm ^cBog;
S)ev verBannte Qllann in iTropfflfeinBfttfiten
(l]tnb ba0 l^irfcBBomBanner in ben Btifien —
^urfcBenf^^afi^ unb Beifigee (Paterfanb —
JnfeBer Uampf mii Bfanften (B^i^sefcBolTen
fifegen QtamnvofB unb (niobetanb —
^riumereien an ber ICefferwanb,
£(o(bnen (Weines Ceiper ^^enofTen —
Jungee, Beiteremr^ee i>i4Ut^aufi,
^cBon 9on bicBtem 2orBeerftran5 umfauBi
Qlnb um^n^t von mifber BieBe l^iraBf —
®ann ein friiB^ ^ob nacB rafcBew l^iege:
JRir biee Beff^ (fi^unber fcBfief einmaf
^iitt borf oBen in bev enjen (^tege.
l^id)atb XOtithted)t
(0cborett am 20. ^cbruar )$5) tit ^Kuittabett).
(B9ta mer0 fait
(gro0 tmmt en a'^Cf^xA^) a'l
Oo<9 wenne en a'immt, rpoi^t er fTuge
,,15^ OJerforper", tuat er fa,
i>t$^m6t war t f^i^i^SAr^) ei^ganga!''
€>nl ndc9e mit em Ooiter goOt
6v bur ba' (B9afb, a'e %f<9t f^au fpdt,
Onb flotfttt ttSer fo^iua* (S^ur^ef,
Onl vo^n^m (gada itopft em 0 (^(iiat.
6r fc^nauft, fio^t uf, fuac^^ ndc9 em l^uat:
,,®{a ®onnber6fc9ua9, wann fe frifc^ gfoSft!
j^d^iergar 9&t^ mi ber tTeufef g^oftr
({Id wieber gd^t er mi^ em Q}farr
QJlf eBner j&frdg — i^mt fom^' Qlarr
^0' (flabfer, fa(rt en en ba' ^iraBa.
®er Q}farr, ber fpreng^ em topfer 5 l^iff:
,,6 mrb bo4 iei* O'sfttdl geSa QaSa?"'
^er ^ovfitt pfM<it^) unl mii ^egiff^)
"ZuaU au0 em ^raSa auger Sromma:
y^c^iergar mar i en l^emmef Somma/^
(Dtto (Sunrrer
(0cborcit am 30. Oftobcr J$5$ tit Stuttgart).
Beatl mortui.
60 mar in (flom. (Pom (Hlonte Q>incio fa^
^ir Sonigfic^ bie ^onne nieberfleigen,
Qinb vor ber gofbnen 5^^^ (oS |tc9 U^r
S&er fc^one Binitn^vij Hx Q}eter0iu{>pef.
^erfunien fc^au^en wir (inmeg 90m
^er raftfoe mogenb ftc9 voruBer fc^oB;
09ir maren mirftficQ jirembe in ber (Hlense.
^tumm ffiejen mir (inaB ^ur often
flyinb fentten tan^fam in bie (gUi^en ein*
Vie nac9 j&an Carfo i(re j&^ritte manbten.
') ItufoS. «) Wno»f. ») tut fc^irft. *) Qk^^n.
445 ^
(lln^ i(B9et9rauc9i9otten fiftesen vom JKftar,
(PerfclweBen^ in bem ^ammemben ^fewofBe.
(ffiiv fltSttn une tn etner ^iutt jSc^afien
fljinb faufc^ten, wte lit Ov^tt nun 6ea[ann,
S)en Cti^tn wetc^e ^ne fanf^ en((|ttoffen,
Oer €(or bann anfing fetfe mt^uUftgeiu
j&ie fangen ^um ^febacQhite affer ^ofen.
Qjlnb tc9 vergag Ht ^t&tU, m i<9 war.
^or meinem Q^ficft (oB ftc9 etn fTtfcQec 6raB,
(nitt (BE)tn(erarifeni votttj uittltAi
QOm> tiatitniutf urn bae fte oft gefpieft,
6in fr6(ftc9 Kinb, unb erne rajP(ie (oc^,
®ie net^te ftc9 unb f<9voantiit M^i m (B9mbe.
®aru6er fag etn norbtfcQer ^atOerSftaSenb,
6tn matt (Perbammem etnee (ruSen ^430.
^0 war tc9 von bem l^iigef ^ort sefc^ieben
^or wentg (B^oc^en erft; in Bitferm j^c^mer^
%aU' ic9 mi^ fosgeriffen von lev &i&tU,
S)te (eifig mir, fei< 1x4 aufgenommen.
^ief (ififfe war'e, nur (ntutterc^en unb i($
JKffein noc9 in ^em wei^en <St&itrftth.
ninb nie^er fifur^ten mir bie (eigen ^ranen,
S^)ag ic9 auf immer Mc9, mein %ii(b, verforen,
®ag ^etn fieBee ^(tmmc^en nie meBr (ore,
®ein ilrmc^en mir ^en l^afe nic9^ meBr umitammtH^
®ein l^&n^c^en nic^t in meine me^r M f^S^
(lfloc9 an ^e0 ^e^jee (BE^enbung Bieft i<9 inne
Qjlnt foB 5urucB nac( teinem ^fumen^ugef
^nl fai Hi JRfifem ftc9 noc9 einmaf neigen,
^nt bunftfer immer loarb ec um ttn0 B^*
O marum mugtefif auc9 pon una geBn,
®u wugteft boc9, i9ie mr fo 9^ig »i<B fieBfen,
(PE)ie mir, oBnmac^tig, (aften fuc^ten.
Jib mir tic9 unfrer l^anb enfgfeiten fuBftem
(BE)a6 ffieseft bu fo fruB ^inai vom Bi^i
%M tunftfe 6raB. O fteO, wm lu gefon,
^ie e0 in unfrer j&eefe ^iefen reigt
®a Bfang vom (o(en CBore eine j&Hmme
npie einee Sngeb SmigCeitenPfimme,
i)er nur, moe f^fig er sefc^auf, vertuntef:
Beat! moptul! — O Mefer ^Ton,
^0 ftti^ fug mie (Ketgemottoes Sic^t,
%tingt unverfterBar for< in meiner ^eefe*
Beatl mortal I ^efig lit Zottnl
446 8^
Attfs neue BracQ bte ^rane mit JSi^tf
®oc9 mc9( mt^v mt'$t hit ^rane Stttem ^(^er^es,
iSNe fSPfe fan^ ben Ztam^pf in mtlntt (gtuft.
€fepviefen fti, U% in votttnlti (afl
rfii ttu^te meOr wetgif von offem 2eib unb j&4mir),
^er Atmen €ftUnmtnf4tn iaxim BobI
rttt unmet xUttti in lev i&eefe na<i
^et r<»n^e 1^Atu9: Beatl mortal I
SeBen.
£eBen iff etn Buntee ^ief
^e<9feftiber ^fepof^^t
®te in SAfeineAififsefuBf
j^c9 fur bauemb Batten
Qjlnt boc9 r^wtnben wit tin ^ug
gotten, wtnbgeineBen,
0nbftcB sanj jerpteBen,
Ober i9ie etn fuger tCCangt
®er m (BE>aft M BeBet,
Qjlnb am noBen (B^tefenBang
Itttemb fete verfcBweBet.
^tttit AucB nocB To BocB bet (gaum,
0tnmaf mug tt |tnBen;
$cB&um( aucB nocB To BocB Itv ^d^um,
Bani mtl tt ni(9i BKnien*
l^eBp bu nocB fo flof^ »en Kopf
Qjlnb BefiftmmPf bte (nio^,
6tnmAf bocB ab amer ^topf
Bit^fi unferm Qgfoben.
(BE)o ftcB bAnn etn l^ttjef BeBt,
3P Baft gruneif (Etafen,
Qjlnb tn Bunberf ^aittn gtiit
(nian baruBer j&tragen.
®te bort tpoBnen, gfauBen aucB
j&tcB bet 6rbe l^erren,
^te atuB wtrbt nacB attem (gtau(9,
^cBetn bee BeBena n&rren.
Btitn ifl tin ^auBefTptef
^ecBr^fnber ^feftotten,
i)it in OaretneAir^sefnBf
^tcB fur bauemb Batten.
447
(Drto ^trttnger
(gcboren am BJ.tltAr) J$9I in lauffcn a. Vt).
5uv nen^ 6'^4<^fi^ em 5^^^ 9^ ?^^t
lett fiferBeeirani em (gett ber S^ne,
QJlfs 5^^^ ^^9n onb ^oQne.
6v s'^eBt fe r<9wer, btna goBt'e net maiB,
6Bm ifc^i an ieiB on^ 9eef To watQ.
,tJk9!'' fait er, Jf($t Itnn affee fort?
^aii miat Bern (Hlenrc^ Bein c^rtfc^tfic^e (B9ort?
Olluag t tenn fterBa muafere' fetn?''
9orc9t Bommt ^6 50m 5^^$^^ ^^^^
®d finefa Bfetne (Hla^fe ^raug
^c^uaAnetfc^terfe'e vor'e CBnee l^aue.
^y&c^B'^orerfee Bommt ^'erfc^to ^am?
„Kommt Bet tBt ^efe^ieten'' fangt eine an
Otib ma fe ferttc^ tfc^f ItxmU,
Uommt gfet be anber onb be britt
Onb affe but mi< B^ffe j&temma.
®et £9ne (orc^t, b' l^anb fatBt er j;'fmma
Onb Betot mt< mxt l^ttj onb 1$£nb,
Qg^t0 attt Uenber feriicQ fenb.
Onb i9ta'0 no Betg<: ay Benna!''
did nicBt er fete em ^i&Ut brenna,
^€Bnaufi^ no mdf ftaf onb '0 l^erj fto^t fiitt
0m Jrteba — monfr* am Kenberfptef.
Il^eobor Wand)
(fftbovtn am I. 2(prtl 1893 in <56ppingen).
£te8e0<rattm.
<Sf0 etne0 bem anbem iM JRuge gefc^attt
®a (at e0 bem Jluge ba0 JRuge verfrauf —
6B l^er^ |tc9 noc9 Bangenb ^um l^erjen gefc^mie^
(B^ar ^eefe r<9on fe^nenb in j&eefe sefugt
QJlnb ^cBwure seftfpeft von (niunb (JTlunb
(PerwoBene ^um Qgfanbe, f(9to\(tn6 jum Qgfunb —
j&o manbeften metter ^wei l^anb in l^anb
Ah rewritten fte Bin an ber j^efijen ^ttanl.
Kenberfpief.
448
(gcborcn am 2d. ^ptcmbcr J $66 tit Vt^^^^nba^, O, U (Bdppingcn).
<A Uittb mt( (Petgefe in ^ l^anb
Koww< aufer ftti am (B^iefeVanb,
tn^ uf 'm CKinlfe f%t por'm l^ue
>r ffoiaft Jf(ne unb gadt tiaue;
€fttcft< naite tn UtB ^unber von j&onnerc9et\
Sttcftt nau6, afe fur^f V, I6*t fdrc^tmdr Baft fet*.
\ 9d( jd net grngt maii, bag ^eft fo f<96' if^t,
Or (^ter unb '0 Jitter (en( dffe^ verwird^f!
3e% (rinfti V M r<^« an bem $onner<9^'
QJln» r^fo^ baSet ganj Mte ei' . * .
fl^nb ttiumi unb (riuwt von f^ffer |eit,
oimdf unb net wiener geit,
^nb (r&umt ftc9 tn fiV ICtnb^ett ^rudl,
Jlfe 08 fit' (niueter uf en gad . . .
QJlnt um tQn f^ieft a Uinberfc^ar,
^nb uf bem ®ac9 f^fi ft^t a ^tar,
%)er ftngf jue ^rauw unb ^tef fet* BiU,
j&et* urafto Bieb unb mtin net mueb,
Oeee £teb, beec iote gnueg (aire Sa':
,,2)r Srue^Kns fangt a'l''
<Bfertru6 3ngeborg !Rlett
(geborm am I. Juli i$7I In lubwigsburg).
j^tiffe
15^ttt — tm tTaumef frojer BeBenefeier —
l|oB mein ^d^idfat fetfe fetnen ^c^feter:
— Jiff metn QVlufn unb l^apen tft vergeBene,
®a nur Btft bte Beuc^te metnee ieBene.
Qlnb tc9 fac^efte oB aff ben 5<4v^>
Vie mir oBne bic9 verronnen waren.
nnieine t!^ranen fofc^ten jebe jStunbe,
®ie mir ffog in frember <B6tter (glunbe.
<Sffer SieBeefc^immer frember l^er^en,
Qgffic9, ivie r^wac^er Kerjen.
Affe $c9ritte, bie mit mir segan^en,
^cQwanben in bie S^^^ ^^^^ verBfangen.
449 8^
QJln^ ic9 ftt^f in wunbervoffer (BE)aMetf'
(B^eber mtinu BeSen^ Hefpe Ufar^eti:
Jiff metn etgnee l^affen verjeSeiK —
®u ttur Sip He Btu($U wetnee BeSene!
j^eutt^, an metnee BeSena j&onnenwen^
"Zvaifi auf niic9 mit fHffem ^frug.
0tne 5*^(ftef Ani^en ^etne l^anbe,
^c^mngen (rugen tetnen rafc^en S^g,
^ottecfeuc^fen fag auf ^tintn (Hltenen,
Qjlm He ^tittii ^ng etn (effer ^ffan^,
(P9o He ^onnen beinet JKugen fc^tenen
^ianl bet ^og im gof^nen j&ommerSranj*
Qlletne i&eefe ffog — pom Btc^f entjunbet —
^famment um ber j^acftef Pfumme titut
(Bie ber ^(um, ber neuen S^u^ftng iunbet
^ttfc^te btttc^ mem l^ttj Im junge (gfut
^Ber tetnee JKngeftc^tee ^c^tvetgen
<Sxni etn Bac^efn, jung wte Qtlorgenrot —
Qjlnb ic9 r<^( Hc9 fiEiff bte S^cK^' netgen.
Jreunb, t€9 fteSe Hc^. iifi ber t^ob.
(geboreit am 2$. ^cbruar J$72 in Btamm^etm bet €alw).
Amop fati.
<lltt0 tunftefn ^itntn ffvx($t tin (ei% ^ort:
<S>tini\ j&ferSftc^er, metner (^u^e fort!
I^ter ivtrt etn tt^ag mit me verSfet^ten Ben^en
^e0 em'gen &tudn Uv betnen j&c^etfef itin5en.
I^erwovmer Baut vom BeSenefloSpmiQ:
%ov(9f mt er (ier l^avmomen tinntl
9ter fc^ifttej^ ftc9 (Bfan^ unb {B9e9, unb Q[la9 unt
fur etn^'gen Q^rac^t enffbmmter l^ltmmefefleme*
®oc9t nur ein fauSer offnet Hr He (ga^n. —
niiib br&ngto mt( ^touS unb ^ftiten |tc9 (eran,
^c^fagi Qetg {$r (^rotem uSer Hr 5urammen:
®u 9e6f(E bae l^aupt unt manUffl burc9 He 5^mmen»
450 §^
(gitnn'B §tAd um §kud ^iv von »er ^uU viifft.
Hermann ^effe
(gcboren am Z 3ult I$77 tit Calm).
j&off tc9 fagen, wae tc9 (raume?
<Sn Be^fdtt^ien, foniienptffen
l^ttgeftt l^atne bunifer Qgfaume,
*!efBe fefTen, wetge (»tffen!
6tne ^fobf, tm Zat gefegen,
6tne ^fobf mt( mamoirwetgen
IKtrcQen feuc^fet mtr entgegen,
QJlnt fie tft Sforen; geBetgen.
(Unl in etnem aften ^fatrien
&nit^€gl von fcQmafen ^faffen
flUttl ^06 iBf&cft noc9 auf «ic9 watitn,
i>M i($ tort jurucftsefaffen.
^tuitini,
Jn bawmrtsen €^ntfi^en
^r£uw(e i(9 tang
(Pon betnen Qg^aumen unb Sfauen £ufieen,
(Pon tetnem Quft unt (Posefgerans !
Qflun Kegft bu erfc^fofTen
^on £t4t ttSitrgofTett
(BE)te etn (BE^unber vox mtr.
®u Sennfif mtc9 meter,
®u focKefif iiit<9 jari,
60 ^ttert tttrc9 aff metne ^fteber
®eine feftge ^fegenioart.
451 8^
(geborcn am 30. Xtlai J$77 in maulbronn).
3|$r ftttj^ warum fo ttui metn ^tngen?
3(v frajt, watum To (tuS mein i^tngen?
iann von l^erjen fr6(Kc9 fein,
%)oc9t wurbe mtr tin Bitl, fo ftKngen
Qflic^t etgnee ^eQ ti%i mtc^ erfiefien,
®enn 9eff un^ freunbftc^ fief metn £00;
®a6 £etb, von bem tc9 mge umgeSen,
®a0 £et^ ^er (B9eft mrb mtr fo svog.
®te Jltmen in »en tuniefn ^faffen,
®te (gletc^en, ^te ber l^atm umrptnnf,
SHe punter, bte M Fitter ^afTen,
®er KranSe ml Im (B^atfeniinb,
Ote €;fau8en0^ ml lit "^ffnunintoftn,
<S)it ftummt tCteatur tm Q5<^nn, —
aSt fc^auen mtc9 mt( grogen,
(Pevweinfen Jtujen fragenb an.
(Pon atttm Btil, von affem Qg^ofen,
(Von aff tern lUmpf unb off Itt Q>ein
(m64t' tc9 tm Biibt |te erfofen,
Bx^t fte unb mt^ Seftetn.
2)oc9 attjutitf iat mix txf^itttxt
®er anltxn (gOt^' bae etgne 1^ev5,
®ag immer in ben ^aiten jiiitxt
®er sanjen (Hlenrc^M Kampf unb ^(fimtxj.
3c9 gfauSe ein eivi3e0 Btitn . . *
3fc9 gfauBe ein eivi3e0 BeSen . * •
(niir fagen e0 toufenb
^npCerSft^e ^tunben,
(niir f^gen e0 foufenb
iic^tgebanSen,
®ie ungerufen
<llu0 fenten (BSeffen
Swi^er ^(^onitiif
Bwistx (Sda^xitit
IgerttSeme^ien
%n meine vingenbe,
$ttc9enbe, fti^mpfenbe erbenfeefe ...
-H>*8 452 1^
3m (£Utc9 bet t^6iu,
(Pom fetfe fflupemben
Qgfte 5u bee j&ttttmee
^onttetgefirAttfe
^d^ti€%i fi(9 mii mtinit
j&eefe ^ufammeii
Jfn etneti jaucQ^^^en,
ft34 sCiittBe etn miitn £eSen!''
ra T fa T T f ^-^ *^ f ^ *li T# M M Ti ^ ffct^^fc
V f.W^Tkw^fH'^^."* i'liW^wW^klW^kW^liW^Tw^ JffkV IIWV <IW <ffbV iKV ■
VerantwortHch : F&r den poUtischen Tell: Friedrlch Naumann in Sch6neberg; fiir den witseaacliafdleliea
Tell : Paul Nikolaus Cossmann in M&nchen ; fCr den IcQnstlerischen Tell : Wiihelm XTeigand in Mftndicfi-
Bogenhausen.
Nachdruck der einzelnen Beitrlge nur auszugsweise nnd mit genauer Quellenangabe geatattet
Was ist der Friede?
Von Friedrich Naumann in Schdneberg.
Friede ist Abwesenheit von Krieg, Krieg aber ist methodische Er-
ledigung von Streit, Streit aber ist Naturzustand der Menschheit. Man
mag sich den Urzustand der Menschen so oder so denken, als Frieden
denkt ihn keiner mehr, der auch nur etwas von ihm weiss. Der Kampf
um Brot und Weib, um Lagerplatz und Waffe, der Kampf um die Hilfs-
mittel des Daseins, ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass immer
Menschen dagewesen sind, die irgend einen ungestillten Hunger batten.
Erst dort, wo die Wunschlosigkeit vollkommen ist, verstummt der Streit.
Wunschlosigkeit aber ist schwer als allgemeiner Seelenzustand freier
Menschen zu denken. Der Einzelne kann wunschlos sein, wenn er ein
Philosophy Oder wenn er schwach, oder wenn er unter feuchter WSrme
faul geworden ist. Ein Stamm kann wunschlos sein, wenn er nur wenige
einfachste Bedurfhisse kennt und gerade diese Befurfhisse reichlich be-
friedigen kann. Aber die Erdkugel im ganzen ist nicht so, dass es uber-
all Apfel Oder Fische im Uberfluss gibt, und — selbst die Apfelesser
finden noch immer etwas, um das sie sich streiten. Wo also Friede ist,
wtirde er im allgemeinen den Menschen aufgezwungen und zwar dadurch,
dass man Streite methodisch behandelte.
Wer am besten streiten kann, ist am ersten in der Lage, Ruhe
zu schaffen. Er umgibt sich mit einem Gebiet, das bei Todesgefahr
nicht beschritten werden darf, sei es ein Gebiet sichtbaren oder un-
sichtbaren Lebens. Dieses Gebiet ist sein Machtgebiet. Macht ist die
HerstelluDg von Friedensgebieten durch Streit. Im Friedensgebiet durfen
die Unterwurfigen zwar leben, sobald sie aber aufhoren, Unterwtlrfige
zu sein, beginnt der Streit. Der Unterworfene kann Frieden haben, der
Herrscher nie, denn selbst wenn er Herrscher einer Insel ist, die fern
von allem Begehren einer Aussenwelt liegt, kann jeden Tag ein Unter-
worfener seine Wunschlosigkeit vergessen und damit den Streit wieder
wecken. Hat er dann verlernt, Herrscher zu sein, das heisst sieghaft
zu streiten, so beginnt der Streit von neuem.
Saddentscbe Monatshefte. 1,6. 30
454 8^
Der Streitbdndiger lernt es, dem Unterwurfigen das Streiten ab-
zugewdhnen. Das kann er mit der Peitsche tun oder mit der Predigt.
Ob er mehr Tyrann oder mehr Priester ist, seine letzte Frage bleibt
immer, ob er genug gefurchtet ist, um auch den WiderwSrtigsten seiner
Befriedigten noch gerade in Zucht zu halten. Bin Mensch, der stftrker ist
als Priester und HSuptling, wird der Sturz von beiden. Es gilt also
die Stirke methodisch zu sichem. Man muss sie sammeln wie man
Getreide sammelt, um im Kriegsfall Brot zu haben. Die Sammlung
von StMrke heisst Heeresverfassung, Strafrecht, Polizei, Konigstreue, Er-
ziehung. Auf diesen Dingen beruht der Friede. Darum ist es kein
ubles Wort: das Kaiserreich ist der Friede! Friede ist Folge von Be-
herrschung.
Es gehort zur ewigen Ironie, von der unser Dasein so voll ist,
dass der Friede nicht aus sich selbst geboren werden kann, sondem
nur aus dem Krieg. Diejenigen Leute, die man die friedlichsten nennt,
kdnnen ftir den Frieden das wenigste tun, denn selbst wenn sie
sich aufregen wollten, wiirde man sie bald irgendwo an eine Mauer ge-
bunden oder in eine Grube geworfen haben. Wer ndmlich nicht im-
stande ist, unfriedlich aufzutreten, der hat fur den Frieden nur eben
den Wert, den jetzt der Kaiser von Korea hat. Ist etwa dieser Kaiser
deshalb eine Friedensmacht, weil er als Kriegsmacht nichts bedeutet?
Ja, die Ironie geht noch weiter. Wer den Frieden herstellen will,
muss kriegerisch gesonnen sein. Es hat fur die Streitbandiger, die man
Friedensfursten nennt, sein sehr bedenkliches, wenn sie uber ihre
Friedensrolle allzu glticklich sind, denn in dem Mass, als sie sich inner-
lich dem Krieg entfremden, werden sie unfihig, Kriege richtig kommen
zu sehen, vorzubereiten und zu verhindem. Auch hierfur gibt es Bei-
spiele.
Selbst den Unterworfenen ist es nicht zu raten, unkriegerisch zu
werden. So gem der Friedensfurst gehorsame Untertanen hat, so muss
er doch wunschen, dass sie nicht so friedfertig werden, dass nur Stock-
schlige sie ' in Schlachtordnung halten kdnnen. Auch der friedlichste
Untertan soil etwas Pulver in seiner Seele haben. Wenn die Menschen
gar zu kriegsscheu werden, kommt gerade uber sie der Krieg. Man
denke an China!
O Wirnis iiber Wimis: je besser die Entwdhnung von Streit gelingt,
desto grosser wird die Gefahr! Je braver der Burger wird, desto un-
brauchbarer wird er als Patriot. Der Friedensgeist wird Gift fiir den
Frieden, wenn er zu tippig gedeiht. Ich kannte eine Dame, die es tin-
erhort fand, dass man den Knaben Bleisoldaten schenkte. Diese Dame
dachte, dass sie fur den Frieden arbeitete.
455
Die Fursten also sind dadurch, dass sie bis an die Zdhne gerustet
stehen^ Wdchter des Friedens. Bin merkwurdiger Gedanke: an jedem
Pfeiler steht ein Mensch in voller Rustung und ist ganz friedlich, bis
zu dem Augenblick, wo er sieht, dass ein anderer Gewappneter miide
wird Oder unachtsam! Eine grosse Stille ist zwischen den Gewappneten,
eine Stille, in der Wurde und Angst sich nebelhaft mischen.
Das Volk aber sagte: seht diese Fursten in ihren schweren Rustungen;
sie sind die Friedensstdrer, wir aber, wenn wir regieren wurden, wir
wurden die Schwerter weglegen und die Welt zum Paradiese hannlosen
Wetteifers machen ! Die MSnner im Tuchrock wollten die im Eisenrock
beseitigen, damit der Friede grosser wurde. Aber wie wirft man eiseme
Manner hinaus, wenn man nicht selber klirrt und drdhnt? Das sahen
auch einst die Redner der Paulskirche ein, dass man mit Gesinnungen
keine HerrschaftsmSchte brechen kann, es sei denn, dass auch die Ge-
sinnung sich in metallener Weise materialisiert. Da ist die Ironie wieder
da: um des Friedens willen mochte man Revolution machen, Revolution
aber ist eine Form des organisierten Unfriedens.
Aber wenn denn elnmal mit Gewalt und List und ZusammenraCPung
aller Streitgewohnheiten die Fiirsten beseitigt sind, dann wenigstens, so
meinten die Gutgl&ubigen, wurden Republiken voll reichen Friedens
entstehen, denn «die Vdlker sind stets voll von Friedenssehnsucht^.
Welche Volker? Die Vdlker, die in Sachen ihres Ruhmes, sobald sie
sich selbst regieren, mindestens so empfindlich werden als es Fiirsten
je sein konnten? Die Volker, die in Sudamerika sich selbst regieren?
Oder die grosse Nation, die vor unseren Augen in Nordamerika entsteht?
Auch sie hatte ihren Biirgerkrieg, und auch sie wird unruhig, wenn
jemand anderes als sie den Panamakanal bauen und beherrschen will.
Man spottet daruber, dass die Fiirsten bei ihren Zusammenkunften
Friedensreden halten, wShrend sie Kriegskombinationen erwdgen. An
diesem Spott ist das eine falsch, dass man verlangt, sie sollten ohne
KriegsplSne vom Frieden reden, denn das wurde leeres GeschwStz sein.
Nur durch Kriegsbundnisse entsteht Friede. Aber richtig ist an dem
Spott, dass man dariiber lacht, wenn jeder der gewappneten Manner sich
als besonderen Friedensengel hinstellen will, als ob die anderen bose,
zanklustige Gesellen, er aber tugendhaft und giitig sei bis an die Grenze
des Erlaubten. Es soli so aussehen, als ob der Friede vom guten Herzen
irgend eines Cdsars abhinge. Dieser Schein ist es, der die Volker re-
volutionMr macht, denn dieser Heuchelschein veranlasst allerdings, dass
der einfache Mann sagt: sie konnten Frieden halten, wenn sie nur
wollten, sie wollen aber nicht I Das ist das Grosse an Bismarcks «Ge-
danken und Erinnerungen**, dass sie von diesem Schein frei sind.
Und doch wSchst der Friede. Europa hat Ruhe trotz aller Kanonen,
nein, nicht trotz der Kanonen, sondem durch die Kanonen. Man nehme
den Geschichtsatlas zur Hand und sehe sich das mittelalterliche Europa
30*
-Hg 456
an! Das war vol! Blut und SchSdelspalterei, well es viele Herrscher
hatte. Ob die Herrscher geistlich oder weltlich, agrarisch oder stidtisch
waren, machte nichts aus. Die Verminderung ihrer Zahl war der Weg
zum Frieden, der Krieg aber war es, der sie verminderte, Krieg oder
Kriegsdrohung. Die Geschichte des Friedens ist die Geschichte der
Konzentration der SouverinitSten.
Dieser Vorgang verlduft nach doppeltem Schema* Entweder die
kleinere Souverflnitdt wird einfach ausgeschaltet und ihre Rechtsnach-
folge geht an den Sieger liber, oder der kleine Souverdn wird als Bundes-
genosse mediatisiert und auf diese Weise der Entscheidung uber Krieg
und Frieden entkleidet. Nur die Grossen durfen sich noch streiten.
Darin besteht der heutige Weltfriede, soweit er vorhanden ist. Der
politische Grossbetrieb, das ist der Friede*
Einst waren es viele hundert Menschen, die imstande waren, Krieg
anzusagen. Das war damals, als die Politik noch wie kleines Handwerk
betrieben wurde. Die freie Konkurrenz fuhrte zu zahllosen Zusammen-
stdssen. AllmShlich wurde durch den Fortschritt der Grossbetriebe die
freie Konkurrenz der Staaten znr veraltenden Legende. Die Herrschaft
kam in die Hand der Syndikate der GrossmSchte. Zweibund, Dreibund
sind nur Formen dieser Syndikatsbildung. Kleine Staaten brauchen
einen Erlaubnisschein, wenn sie noch streiten wollen. Trifft man sie
ohne Erlaubnisschein auf dem Kriegspfad, so werden sie in Haft gebracht
Diese Methodik der Erledigung von Streit macht Fortschritte. Schon
dachte man daran, ein Bureau der Syndikate ftir Ausstellung und Ver-
weigerung von Erlaubnisscheinen einzurichten. Dieses Bureau sollte in
Holland sitzen und Schiedsgericht heissen.
Der heutige Zustand ist der: versteckt in Innerafrika und etlichen
asiatischen Gebirgen glbt es noch Landstriche, die von der Methodik
der Friedensherstellung unbertihrt sind, die ganze ubrige Erdoberfliche
ist reguliertes Terrain; die Mehrzahl aller Menschen und V51ker ist
ohne SouverMnitMt, und nur acht oder zehn Stellen kdnnen noch emstlich
mitreden. Diese acht oder zehn Stellen kdnnen innerhalb ihrer Inter-
essensphSre frei schalten und ihre Buren, ihre Hereros oder ihre Ar-
menier methodisch zum Frieden ndtigen. Zwischen ihnen selbst aber
wird gewtirfelt. Das ist die Form, die der Urzustand des Unfriedens
durch die Fortschritte der Waffen und der Kriegsuberlegung ange-
nommen hat.
Dasselbe, was sonst den Kleinhandwerker ruiniert hat, hat ihn
auch in der Politik depossediert: der Fortschritt der Technik, und zwar
nicht nur der Fortschritt der Waffentechnik im engeren Sinne des Wortes,
da auch Eisenbahnen, Landkarten, Komlager und statistische Handbucher
zum Krieg gehoren. Das Militarwesen ist das erste Gebiet menschlichen
Lebens, in dem die Tendenz zum technischen Grossbetrieb sich frei
ausleben konnte. Der Grossbetrieb, diese Fesselung der Individualitfiten
457 8^
zugunsten der Gesamtleistung, brachte den Frieden. Das haben die
alten Fortschrittstrflumer sich nicht gedacht, wenn sie von Fortschritt
redeten, und so, wie er kam, wollten sie den Frieden nicht. £r kam,
indem die Gebiete der Unfreiheit ansgedehnt wurden.
Und was kann nun den Frieden noch storen? Einerseits die Ab-
grenzung der InteressensphSren, andererseits das Ohnmdchtigwerden
einzelner Gewappneter. Beides kann unter Umstanden ineinander fiber-
gehen. Der jetzige Krieg in Ostasien ist ein fast reinliches Beispiel
fur einen Kampf zur Fixierung der Friedensgrenze im bisher unregulierten
Terrain, aber selbst dieser Kampf hat einen leisen Hintergrund vom
Kampf um einen Ohnmachtigen, denn die Mandschurei ist ja chinesisch
und China ist — Grossmacht. Ganz rein erscheint die erste Form,
wenn man sich der Streite um die Herstellung des Friedens in Samoa
erinnert. Ein Krieg aus derartiger Ursache ist immer moglich, denn
es gibt noch viele Plitze, die Faschoda heissen konnten, aber die Ob-
jekte sind meist zu klein, um die Gefahren und Ausgaben eines Re-
gulierungsstreites wert zu sein. Die eigentliche Gefahr liegt bei den
OhnmSchtigen.
Acht Oder zehn oder zwolf hungemde Menschen fahren in einem
Kahne fiber das Weltmeer. Wer schwach wird, ist verloren,> denn den
fressen die andem. Wenn einer den Kopf ein wenig vom fiberbeugt,
dann recken sich die HSlse der fibrigen. Die schreckliche Angst vor
einander hSlt sie alle aufrecht. AUe ffihlen, dass ein Todesfall die un-
ausdenklichsten Folgen haben kann. In diesem Sinne sagte schon Niko-
laus I. von einem seiner Nachbam: wir haben einen Kranken im Hause.
Es ist merkwfirdig, wie lebenverlMngernd die allgemeine Angst
wirken kann. Der ,kranke Mann** lebt noch immer. Auch andere
Kranke leben noch. Aber irgendwann beginnt die innere Zersetzung
und dann entsteht wieder unreguliertes Terrain, dann hat das System
der erdumspannenden Friedenssyndikate wieder ein Loch, dann scheidet
einer aus und ein anderer wird der nMchste dazu.
Der ewige Friede aber kommt nnr dann, wenn sich das Bibelwort
erffillt, ,eine Herde und ein Hirf*. Bis dahin ist es noch sehr weit,
und kein Mensch kann wissen, ob dieser Endzustand ein mdglicher ist.
Schon unseren jetzigen Zustand aber wurden frfihere Zeiten ffir un-
mdglich gehalten haben. Die Erde ist jetzt fibersehbar geworden. Der
Krieg in Ostasien spielt sich vor unseren Augen ab. Es gibt kein dunkles,
unberechenbares Hinterland mehr wie in den Zeiten des romischen
Friedensreiches. Aber was waren die 60 Millionen Einwohner des alten
Rdmerreiches gegen die Bevolkerung der Erde? Was war das Romer-
reich gegen China und Indien? Der Gedanke einer Menschheitsorgani-
458 g*^
sation zar Streitvermeidung uberstelgt alle verstftndige Oberlegung. Soviel
nur ist klar^ dass erst noch TodesRlle zu erledigen sein werden, deren
Ausgang die Zertrummerung grosser bisheriger StaatsverbSnde in sich
schliesst. Auch wir Deutschen wurden zu den Geopferten gehdren
mussen, denn es ist unwahrscheinlich, dass wir den letzten und einzigen
Hirten der Herde werden stellen k5nnen. Und vor uns wurden andere
fallen und von uns mit verzehrt werden. Was aber nutzt alles dieses
Spekulieren uns, die wir morgen oder Ubennorgen sterben und fur den
ewigen Frieden, selbst wenn er ein Ideal sein sollte, nichts, gar nichts
tun kdnnen?
Das, was wir tun kdnnen, liegt innerhalb des vorhandenen poli-
tischen Kdrpers zu dem wir gehSren. Nicht das letzte Ende der Welt-
geschichte kann das Ziel unseres Handelns sein, selbst wenn wir glauben
sollten, es ahnen zu kdnnen. Unser Tun muss darauf gerichtet sein,
dass unser Staat nicht ohnmichtig wird. Damit dienen wir nicht der
Friedensidee an sich, aber wir helfen mit, dass unsere Kinder nicht in
den tddlichen Bereich eines sich aufldsenden Korpers hineingeboren
werden. Je stftrker wir sind, desto grdsser ist die Aussicht, dass wir
nicht das Schlachtfeld liefem. Das Entstehen neuer Kriege kdnnen wir
nicht hindem, aber wir kdnnen hindem, dass wir es sind, deren Erbe
man verteilen will. In diesem Sinn gilt fur Grossstaaten: die Macht
ist der Friede.
Eins freilich ist fur jeden Staatsburger peinlich: er trigt zur Macht
mit bei und ist doch an der Verwendung der Macht im grossen poli-
tischen Betriebe unbeteiligt. So ist es in den Monarchien, kaum anders
aber auch in den Republiken, denn die Arbeitsteilung, die zu jedem
Grossbetriebe gehdrt, hat die Vorbereitung der Entscheidungen uber
Krieg und Frieden zur Angelegenheit eines eigenen Hilfsgewerbes
gemacht, dessen Schaffen wie jede andere Facharbeit den anderen ver-
borgen bleibt und nicht nur wie jede andere Facharbeit, da gerade hier
Geheimnis zur Methode gehdrt. Die Entscheidungen in der Offentlichkeit
sind nur unvermeidliche ZustimmungserklSrungen zu dem, was vorher nur
die Eingeweihten kommen sahen oder herbeifuhren wollten. Der Friede
gehdrt, soweit er greifbar und erzwingbar ist, uns alien, aber freilich,
er wird fiir uns gesponnen, gut oder schlecht, wir kdnnen es nicht
indem, und die Spinnerei arbeitet hinter festen Turen. Oder anders
gesprochen: je grdsser das Schiff ist, desto weniger kann der einzelne
Passagier mitreden; das einzig trdstliche ist, dass er sich sagt: grosse
Schiffe fahren im allgemeinen sicherer als kleine.
Was ist also der Friede? Er ist die Verallgemeinerung des ein-
heitlichen Zwanges uber die Erdoberfldche. Ihn ohne Zwang zu denken,
ist Gedankenlosigkeit. Das ist es, was seinen Siegesweg trotz un-
gezihlter Vorteile nicht einfach zum Weg des Gluckes werden lisst.
Auch mitten im Sieg des Friedens erwachsen neue Probleme, die
459
Probleme, deren Kern etwa ist: ob die, die zum Frieden gekommen
sind, noch Charakter haben konnen? Wenn aller Streit methodisch
geregelt sein wird, wenn alles im Grossbetrieb ertrunken ist, so wird
uns etwas fehlen, was oft gering geschitzt wurde: die Freiheit des
Streites. Die ist es, die auf Erden immer kleiner wird. Das aber ist
ja eben — der Friede.
"im'AymCmTmfmymCmymCmymCmTmCmTmCmTmrmTmrmTmCmTmCmTmrmTmrmTmfmTmCmTmfmymCmTmrmTmrmTmrmTmrmi
Technisches Beamtentum.
Von Ernst Mayer in Wurzburg.
Wie einst seit dem 16., insbesondere seit dem 18. Jahrhundert
zuerst von den Theoretikem der Gedanke gefunden wurde, dass der
Einzelarbeiter ganz und gar abzuldsen sei von der Einordnung in die
Produktionsverbdnde des Mittelalters, unabhftngig gestellt werden miisse
von der Grundherrschaft, der Zunft, schliesslich auch vom Schutz durch
die kleinstaatlichen Zollkorper, so haben wieder zuerst die Theoretiker
die kommende Notwendigkeit einer Eingliederung des einzelnen in einen
weit grosseren Produktionsverband verkiindigt: denn auf nichts anderes
gehen jene modemen Einschrdnkungen der Einzelwirtschaft, die mit
gelegentlichem Schutzzoll beginnen, die Staatshilfe fur die Landwirtschaft
fordem und die sich dann in abstrakter UniversalitMt zum Sozialismus
zusammenschliessen. Und mag man uber die einzelnen Anregungen
denken wie man will, das ist eben doch wohl jedem historisch Denkenden
klar geworden, dass die kommenden Zeiten genau so unter dem Zeichen
einer fortschreitenden Sozialisierung stehen werden wie die letzten Jahr-
hunderte an der Befreiung der Einzelkraft sich abmuhten. Es handelt
sich fur die Zukunft nicht mehr um die Richtung im ganzen, die fest-
gelegt ist, sondem um das entscheidende, die muhsame staatsminnische
Detailarbeit. Und da erhebt sich nun eine grundsdtzliche Frage, die
selten genug gestellt wird, so wichtig sie ist und so sehr sie unaus-
gesprochen hinter der ganzen preussischen Schulreform liegt. Die Frage
ist: hat der modeme Staat das Beamtenmaterial zu einer starken Be-
einflussung der Einzelwirtschaft sich schon bereitet?
Man kann die Frage nicht mehr mit jener Antwort abtun, welche
vergangenen Generationen gelMufig war, und die auch jetzt noch alt-
modische Politiker aller Richtungen im Mund fiihren, nUmlich damit,
dass man die Mdglichkeit eines solchen Beamtentums von vomhereln
460
ableugnet. Das war ja die alte Meinung, dass der einzelne stets viel
billiger und zweckmMssiger arbeitet wie der Beamte, und von keinem
Argument haben die Wirtschaftsbefreier mehr Gebrauch gemacht. Allein
die riesenhafte Verdrftngung des EinzelgeschSftes durch die Gesellschaften,
die Zusammenballung grosser Gewerbszweige in Syndikate haben uns in
der ganzen Welt ein privates Wirtschaftsbeamtentum geschaffen, das
gerade so wie di^ Staatsbeamten an dem wirtschaftlichen Gedeihen des
Betriebs eben auch nur mit dem Gehalt und mit der Ehre interessiert
ist. Die Gehaltsform ist ja freilich eine andere als die im Staate ge-
brduchliche. Leistungen, welche eine starke Personlichkeit verlangen,
werden hdher und im Akkord (Tanti&men) bezahlt, wihrend der Staat
Qberall einen niedrigeren aber stets gleichen Lohn gibt; dort ist die Be-
stellung widerruflich, hier dauemd. Umgekehrt verwendet, oft genug kann
man sagen verschwendet, der Staat ftir die niederen, rein mechanischen
Schreibergesch&fte ein viel hdher vorgebildetes und kostspieligeres Per-
sonal. Hier eine Anniherung an die Entlohnung, wie sie im Gesellschafts-
betriebe iiblich ist, durchzufuhren, ist eine mehr komplizierte als schwierige
Reform. Im iibrigen aber hat das verbreitete Privatbeamtentum unserer
Tage die Unrichtigkeit jenes alten Axioms schlagend erwiesen und gezeigt,
dass auch der durch richtig bemessenen Gehalt bestimmte Egoismus des
Betriebsbeamten eine ausreichend starke Kraft ist, um den Wettbewerb
des Betriebes zu ermdglichen. Wie es oft mit solchen Axiomen geht,
dass sie eine richtige Beobachtung unrichtig generalisieren, so ist es
auch hier: nicht das Beamtentum uberhaupt ist zu wirtschaftlichen Ar-
beiten unfihig, sondem unser geschichtliches Beamtentum ist dazu nicht
recbt geeignet, well es in der Masse nur ein juristisches und kein tecb-
nisches Beamtentum ist.
Am Anfang unserer deutschen Geschichte steht ja nur ein rein
technisches Beamtentum. Jene alten Schultheissen und Vogte, welche
die offentlichen Gef311e der Gewalthaber einzogen und von finanziellen
Gesichtspunkten aus allmShlich die Gerichtsverhandlungen in die Hand
bekamen, die Ministerialen und die Meier, welche die Domftnen der
regierenden Herren verwalteten, sie waren alle Techniker im Sinne jener
primitiv agrarischen Zeiten, bald mit den ganz rohen Mitteln der ger-
manischen Wirtschaft, bald mit den feineren des romanischen Gross-
besitzers arbeitend. Nur diese Form gait fur jene alten Gemeinwesen ohne
Geld, in welchen die NaturalgeRUle tiberwiegend wieder an der Ab-
lieferungsstelle aufgebraucht wurden, und nur ein kleiner Oberschuss
an die Zentralstelle kam. Seit dem spStem Mittelalter aber ist in einer
Entwicklung, welche von Westen nach Osten fortschreitet, der Staat zur
zentralisierenden Geldwirtschaft ubergegangen und damit ist jene staat-
liche Buchfuhrung notwendig geworden, die man die Bureaukratie nennt.
Die schriftliche Fixierung der staatlichen Geschafte, welche in den grossen
Kodifikationen des letzten Jahrhunderts ausklingt, wurde die wichtigste
Staatsarbeit, well sie die ungenaue, unkontrollierbare und doch mit einem
tibergrossen Menschenapparat wirtschaftende Verwaltung des Natural-
staates beseitigte und deshalb konnten nur diejenigen zu Beamten werden,
461
welche nach der Zeitlage allein ein staatliches Schreibwesen zu leiten
vermochten, nSmlich die rdmisch gebildeten Juristen: seit dem 14. Jahr-
hundert haben sie in der Stadt, seit dem 15. in den Territorien das
Regiment in die Hand bekommen. — Gerade wie es einer der geheimen
Mingel unserer modemen Wirtschaft ist und immer wieder zu einer
relativ berechtigten Reaktion fuhrt, dass der schreibende, buchende Faktor
im Verkehr, der Kaufmann die handarbeitenden, direkt produzierenden
Elemente bei der Gewinnverteilung zuruckdringt, ebenso hat der Jurist
in der Verwaltung seit dem 16. Jahrhundert immer mehr den Techniker
beseitigt. Noch im 17. und 18. Jahrhundert ist der Amtmann aft ein
juristischer Laie, und wihrend des 10. Jahrhunderts hat sich diese alte Form
in dem Landrat des preussischen Rechts erhalten. Wie aber in der preussi-
schen Verwaltung der Jurist gegenwirtig immer mehr die Herrschaft erlangt,
so ist in Suddeutschland, wo die altstindischen Verhiltnisse dem modemen
Staat gegenuber im guten und bosen geringere Widerstandskraft hatten,
seit Beginn des 10. Jahrhunderts der Jurist ausschliesslich Herr ge-
worden, und zwar ein in seinem Wissenszweig iiberfein ausgebildeter
Jurist. Denn das ist ein wesentliches und interessantes Element in der
Entwicklung, dass der bayerische und badische Verwaltungsbeamte ein
trefPlicher und soweit seine preussischen Amtsgenossen weit ubertrefFender
Verwaltungsjurist ist, dass aber gerade durch dieses Oberwiegen des
juristischen Elements in der Verwaltung immer mehr jede technische
Initiative verloren geht. Die Geschichte des bayerischen Staates in den
letzten 30 Jahren, wo alle technischen Fortschritte nicht von der Regierung,
sondem in oft sehr ungeordneter Weise vom Landtag ausgingen und
dadurch das jetzt in Bayem herrschende System heraufgefuhrt ist, be-
legt das auf das beste. Es ist naturlich verkehrt, abgeschlossenen histo-
rischen Erscheinungen gegentiber viel zu fragen, ob sie berechtigt sind:
sie sind eben einmal da und konnen nicht mehr geindert werden. Jeden-
falls ist dann auch der Mangel technischen Wissens kein sehr empfind-
licher gewesen, in einer Zeit, wo die Staatsaufgaben keine komplizierten
waren und umgekehrt die geringere Spezialisierung des menschlichen
Wissens den Beamten mehr zu einer Arbeit uber sein eigentliches Fach-
gebiet hinaus befihigte. Vor allem aber hat es sich, wie gesagt, eben
ftir die friihere Zeit darum gehandelt, Ordnung und Rechtsprechung in
die Verwaltung zu bringen, selbst wenn dariiber technische Interessen
vemachlSssigt werden mussten.
Solche VemachlHssigungen sind freilich vorgekommen und haben
manche riickstrebende Richtungen unseres jetzigen Parteiwesens bewirkt.
Der Jurist nicht erst des 10. Jahrhunderts war ein rucksichtsloser
Gleichmacher, weil ihm eben der technische Instinkt fehlt: er hat
seit dem 18. Jahrhundert die Zunftverfassung beseitigt, aber er
hat versiumt, an Stelte des Haltes, den diese Verfassung den
meisten gab, ein intensives gewerbliches Fortbildungswesen zu setzen,
welches den Obergang zum Kunstgewerbe und damit zu einer unverlier-
baren Position ermdglicht hdtte. Nur in Wurttemberg, wo in der ent-
scheidenden Zeit ein Techniker — Steinbeis — an der Spitze stand, hat
462
man in dem Sinne gearbeitet and sich dadurch auch gegen modernes
Zunftlertum geschutzt. Anderwarts ist man nicht uber die Realschule
hinausgekommen, welche den Staat mit Eisenbahn- und Postbeamten
iiberschwemmt and aach noch jange Kaafleute liefert, aber fur die
technische Produktion gar nichts aastrigt. Die Strafe fur solche Gedanken-
losigkeit ist, dass die gegenwSrtigen Handwerker wieder in einem ganz
gedankenlosen Zunftlertam ihr Heil suchen und die Staatsmaschine be-
denklich bremsen. — Die gleiche Versfiumnis ferner hat man bei Aufbebung
der Grundherrschaft begangen; man hat erst damals den bauerlichen
Besitz dem stSdtischen rechtlich gleichgestellt, ohne daran zu denken,
dass man mit der Grundherrschaft auch einen starken Schutz gegen
Uberschuldung beseitigte und dass auch die modemste Landwirtschaft,
wie die amerikanische Gesetzgebung lehrt, einen solchen Schutz braucht.
— Allein immerhin waren diese Fehler der Vergangenheit ertrdglich.
Wird aber auch in Zukunft ein ganz untechnisches Beamtentum
ertriglich sein? Ich sehe von der Rechtsprechung in folgendem ganz
ab, wenn auch hier Erscheinungen wie Geschwomen- und Schoffengericht,
Kammer fur Handelssachen, jetzt auch das Umsichgreifen der Gewerbe-
gerichte, der Versicherungsschiedsgerichte, ja vielleicht die neue Juris-
prudenz selbst, welche sich an dem burgerlichen Gesetzbuch bildet, nicht
jeden Zweifel benehmen, ob dem Juristen auch nur auf diesem seinem
eigensten Herrschaftsgebiet die Alleinherrschaft bleiben wird. Fiir diese
Bl&tter steht nur die Verwaltung in Frage. —
Wenn es sich in Zukunft darum handeln sollte, dass der Staat den
Kampf gegeniiber weltweiten Syndikaten aufnimmt, und nun selber als Kiufer
Oder Produzent im grossen eintritt, wenn z. B. einmal der Kanitzantrag seine
Auferstehung feiert, nicht mehr im Interesse der ostelbischen Grund-
besitzer, sondem um den deutschen Konsumenten gegen eine auslandische
Bewucherung durch monopolistische VerkaufsverbUnde zu schutzen —
wie das schon zur Zeit der 60er Jahre ein sehr massgebend und links-
stehender schweizer Politiker dachte — , wird da der jetzige Verwaltungs-
beamte den Kiufer und Hindler abgeben konnen? Konnen da etwa die
Intendanturbeamten ein Muster staatlicher Handler sein? — Oder wo
hat der Staat den tuchtigen Bankier, die ungeheuren Kapitalien zweck-
massig zu verwalten, die jetzt durch die Versicherungsgesetze in seiner
Hand zusammenfliessen? — Oder ein anderes: es ist ein grosser Fehlet
all jener politischen Gruppen, die man liberale nennt, und hat die Land-
wirtschaft einer Menge politischer Naturheilkiinstler zugetrieben, dass man
zwar immer wieder davon redet, der Landwirt solle zur Viehzucht uber-
gehen und werde dann gerade in einer aufbluhenden Industrie einen aus-
gezeichneten Absatz finden, dass man sich aber keine Gedanken daruber
macht, wie denn im Detail dieser Ubergang stattfinden soli. Wer, wie
Schreiber dieser Zeilen, in einem uberaus fruchtbaren Gebiet lebt, wo
innerhalb der letzten 10 Jahre durch Durre zweimal das lebende Kapital
der Landwirte auf das Heftigste angegriffen, einmal bis auf die Hilfte
reduziert wurde, der weiss, dass in einer solchen Gegend, in alien grossen
Korngegenden uberhaupt, der Ubergang nur durch gewaltige Bewftsserungs-
403 8^
anlagen mdglich ist und dass diese auf dem Wege der Selbsthilfe nicht zu
beschaffen sind. Es muss eben die Staatshilfe einsetzen: aber wo sind dazu ge-
eignete Beamte? — Sind sie uberhaupt geeignet fur jenes wichtigste Problem
der Zukunftspolitik, befihigt dazu, die Menschen durchaus nicht nur als
Landwirte, sondern vor allem auch als Industriearbeiter auf das Land
zu verteilen? Es werden einmal kommende Geschlechter von der un-
begreiflichen Torheit unserer Zeit reden, dass sie gedankenlos, entziickt
sogar, dem Wuchern jener riesigen sozialen Geschwulsten zusah, welche
zum Tod unserer Gesellschaft fuhren miissen, wenn sie nicht die Hand
eines geschickten Arztes schneidet: ich meine unsere grossen Stidte.
Denn was Gutes an unserer burgerlichen Gesellschaft ist, das ist nicht
dank, sondern trotz den grossen Stidten vorhanden; Schuld dieser un-
natiirlichen Bildungen aber ist jene geistige Verflachung, jene Armut an
Bildem und wesenhaften Vorstellungen, an Gemutsempfindungen, welche
zum Ersatz den furchterlichen hysterischen Hang nach sinnlicher
Sensation zeitigt; wie eine Schmutzwelle stromt es darum jetzt uber unser
Volk. Und Volker sterben uberall an sittticher Verfaulung, nicht an
Ungluck und wirtschaftlicher Verarmung. Unser ganzes Deutschtum,
die Gesittung uberhaupt, hSngt davon ab, dass unsem Kindem die
Naturfreude erhalten bleibt und dass die grosse Industrie uberall auf
das Land verteiit wird, wo noch jeder einzelne Arbeiter seine Rast und
sein Geniige unter Baumesschatten am klaren Bach finden kann. Soweit
man zu sehen vermag, sind genug technische Faktoren vorhanden, die
eine solche ortliche Verteilung unseres Lebens ermdglichen konnten; aber
das Privatinteresse allein wird die Zusammenballung in den grossen
Stidten nicht uberwinden, sondern hier muss der Staat eingreifen. Unser
Beamtentum aber sieht kaum das Problem, von dem zu geschweigen,
dass es imstande wire, dasselbe technisch zu losen. — So konnte man
in vielfiltiger Anwendung zeigen, wie die Zukunft dem Staat wesentlich
technische Aufgaben stellt, und wie es ilberall am Personal fehlt, die
Aufgabe zu losen. Keine Sozialreform ohne technisches Beamtentum. —
Allmihlich beginnt man ja das Unvermdgen unserer Verwaltung zu
fiihien. Entscheidend aber ist, wie man sich die Abhilfe denkt. Nattirlich
genligt das Rezept alter Aristokratien nicht, welches noch jetzt da und
dort, namentlich im Norden befolgt wird, nSmlich dass man in die Ver-
waltung Leute von guten Formen stellt, welche durch den Mangel alles,
auch des juristischen Fachwissens, gegen jede doktrinire Einseitigkeit
geschutzt scheinen. Der Grundbesitzer, der einige lustige Leutnantsjahre
hinter sich hat, oder als flotter Korpsstudent muhselig das erste Examen
bestand, ist nicht der Beamte der Zukunft, sondern wie gezeigt, ein
Beamter der Vergangenheit, ein Enkel jener alten Ministerialen. — NSher
liegt und wird von manchem beftirwortet, dass man dem Beamten gleich-
zeitig eine tuchtige wirtschaftliche Bildung mitgibt; in der Tat hat
namentlich im deutschen Siiden die Volkswirtschaft und Verwaltungslehre
grosse Bedeutung fur das Studium der angehenden Juristen gewonnen.
Allein den Kempunkt triCTt so etwas so wenig als jenes wtirttembergische
Kameralistentum, welches von den Verwaltungsleuten weniger theoretische
464
Kenntnisse in der Jurisprudenz, mehr theoretische in der Technik fordert
Denn all das wird sich niemals fiber einen flachen EncyklopSdismus er-
heben: er wird begabte Menschen allerdings zu einem verstlndnisvollen
Eingehen auf Reformen bef3higen, welche ihnen von Technikem nahe-
gelegt werden; aber es wird all das keine technische Initiative erzeugen.
Der Staat and gerade so die einzelnen Gemeinden gleichen auch da^ wo
dem Techniker bereits Konzessionen gemacht werden, etwa einer grosscn
Fabrik, deren bedeutende Amter alle in der Hand von Juristen liegen,
wShrend der Techniker fiber den Werkmeister und den kleineren Buch-
halter nicht hinauskommt; dass so eine Fabrik zugrunde gehen muss,
zugrunde gehen namentlich, wenn sie amerikanische Konkurrenten hat,
ist klar. Es bleibt nichts fibrig, als dass man in die Verwaltung und
zwar bis in die obersten Verwaltungsposten hinauf Techniker, — in-
dustrielle, landwirtschaftliche, kaufmSnnische — stellt. Der Jurist wird
auch in der Verwaltung nie ganz beseitigt werden; so Schlimmes wunscht
der Schreiber dieser Zeilen, der selbst Jurist ist, seinen Fachgenossen
nicht; denn an der Organisierung der VerbSnde, ohne welche jede
technische Reform unmdglich ist, wird jener immer entscheidend
mitarbeiten: er wird oft besser als der Techniker erkennen, dass ver-
schiedene menschliche Vereinigungen demselben technischen Zweck dienen
konnen, wie er freilich umgekehrt dadurch auch leicht opportunistisch
und als Spezialist der Organisation gleichgfiltig gegen die technischen
Zwecke selber wird. — Es wird weiter noch ein Tell der Verwaltung,
Verwaltungsrechtsprechung ganz und gar den Juristen reserviert
bleiben. Freilich, dass eine Hand die Verwaltungsrechtsprechung
mit der aktiven Verwaltung wenigstens ffir die unteren Instanzen
vereinigt, das wird fur die Zukunft nicht mehr angehen; denn
gerade daher stammt jene doktrinire Verlangsamung der Verwaltung, an
der wir z. B. in Bayern leiden. Entweder lokale Verwaltungsgerichte
erster Instanz oder vielleicht noch besser die Rfickkehr zu jener Forderung,
die man ursprunglich im Kampf urn die Verwaltungsgerichte oft erhoben
hat, die Zuteilung der publizistischen Justiz an die ordentlichen Gerichte
ist hier das Ziel. Im fibrigen aber denke ich mir am preussischen
Landratamte oder am bayerischen Bezirksamte einen Juristen und einen
Techniker nebeneinander, so dass der eine oder andere Amtsvorstand
sein kann; jeder der Beamten kann dann bis zum Minister hinauf
avancieren. — In den grossen Gemeinden aber mussen vollstandig aus-
gebildete Techniker die Mehrzahl der Beamten ausmachen. —
Die Schwierigkeit einer solchen Reform liegt nicht darin, wie mir
das von Politikern da und dort eingewendet worden ist, dass die heutigen
Techniker zu einseitig ausgebildet werden, die einen als Elektriker, die
anderen als Maschinentechniker; denn die \7ahrheit ist, dass in der Industrie
eine Menge von Fabrikdirektoren jene universelle Bildung besitzen, jenen
Einblick in alle Formen der Industrie und des Handels, den auch der
staatliche Techniker ndtig hat; und ist auch ein solcher vielleicht auf
dem einen technischen Gebiet nicht so erfahren, wie auf dem andem,
so ubertriCft er doch an Wissen und Konnen auf technischem Gebiet
465
den Juristen immerhin weit. Damit ist dann freilich nicht geleugnet,
dass es viele Arbeit und Nachdenken kosten wird, die VerwaltungsSmter
je nach der Art der Techniker einzuteilen, die dort ndtig sind: in Nieder-
bayem z. B. oder in der frMnkischen Getreidegegend werden Landwirt-
schaftstechniker ndtig sein, bei Numberg Industrielle. — Die Haupt-
schwierigkeit liegt aber doch, wie ich denke, in einem viel unscheinbareren
Punkt. Der Staat namentlich hat durch sein Pnifungswesen, so mangelhaft
es auch noch im Detail sein mag, in einer allerdings verdeckten Weise
dem gesnnden demokratischen Gedanken nachgegeben, dass der Wurdigste
das beste Recht auf das dffentliche Amt hat; die moderne Empfindlichkeit
gegen jede ungleichmSssige, ungerechte Handhabung ' der Staatsgewalt
steht in einer genauen Wechselbeziehung zu jenem System der Be-
amtenemennung. Dasselbe Priifungsrecht, das dem Staatstechniker gegen-
tiber sich nattirlich nicht auf eine Erprobung seines theoretischen Wissens
beschrftnken diirfte, wird nun auch fiir das neue Beamtentum hergestellt
werden mussen, um hier alles Protektionswesen zu beseitigen. Schwer
ist das besonders in den landwirtschaftlichen und kaufmiinnischen Materien.
Aber unmdglich ist es nicht. Vielleicht darf ich ein anderes Mai aus-
fuhren, wie ich mir das technische Vorbildungswesen denke.
Kommunale Hygiene.
^ Von Julian Marcuse in Mannbeim.
Zu den modernen Aufgaben, die Staat und Gesellschaft zu erfullen
haben, wollen sie der Erkenntnis vom Bau und Leben unseres sozialen
Organismus gerecht werden, gehdrt in erster Reihe eine planmissige
Gestaltung der ofTentlichen Gesundheitspfiege. Diese aus der Notwendig-
keit herausgeborene Erfahningswissenschaft, die das wirtschaftliche An-
einanderschweissen breiter Volksmassen erzeugt hat, umfasst alle Be-
dingungen fur den Gesundheitszustand des einzelnen und findet ihre
praktische Obertragung in Stadt und Haus durch die Institutionen
modernen Vdlkerlebens, durch Staat, Gemeinde und sozialpolitische
Organisationen. ^Der sozialen Hygiene ist es gelungen, die Ursachen
und die Natur der grossen volkervemichtenden Krankheiten, die Be-
dingungen der Ubertragung, der Aufnahme und der Entwicklung von
Giftstoffen, sowie den Zusammenhang der Volkskrankheiten mit den
dkonomischen Verhaltnissen von dem Gesichtspunkte der Prophylaxis
-(Ng 466
aus zu beleuchten, sie hat die Ursachen der Sterblichkeit und die Be-
wegung der Bevolkening mit Hulfe der Statistik aufgehellt, sie hat die
Hygiene des Bodens, des Wassers und der Luft, die der StSdte, Spitaler
and Schulen so griindlich bearbeitet, dass man heute in der Assaniening
der BrutstMtten menschlicher Krankheiten ruhig vorgehen kann, ohne
fiirchten zu miissen, unproduktive Ausgaben zu machen. So ist die
Sozialhygiene eine reife Wissenschaft geworden, deren Forschungen kein
einziger sich mehr verschliesst, deren Arbeitsgebiet von Jahr zu Jahr
grosser wird, deren Bedeutung in zivilisierten Undem mehr und mehr
wichst.* (Nossig.) Mit diesen theoretischen Grundlagen, der gefestigten
Erkenntnis, wie sie die Hygiene geschaffen hat, wachsen natiirlich auch
die Aufgaben der obengenannten Institutionen als der Trager modemen
gesellschaftlichen Lebens, die innerhalb des Machtkreises ihrer Sphare
zu den Exekutivorganen sozialhygienischer Erkenntnis und zu Pionieren
neuer, durch praktische Beobachtung und Erfahrung gewerteter Ideeo
auf dem grossen Gebiet der dffentlichen Gesundheitspflege werden. Das
ist und bleibt eine der vomehmsten und wichtigsten Aufgaben der Gegen-
wart, der sich vor allem die Kommunen nicht zu entziehen vermogen.
Ihre Aufgabe erschopft sich nicht mit der Durchfiihrung der Kanalisation
und der Assaniening des Bodens, mit der BeschaiFung guten Trink-
wassers und der Priifung der in den Handel gelangenden Nahrungs- und
Genussmittel : Viel weitere Befugnisse und Pflichten steckt ihnen in der
Melioration der Lebensbedingungen Gesetz und finanzielle FMhigkeit, so
die Verbesserung des Wohnungswesens, wohl die bedeutsamste aller
sozialhygienischen Fragen, die Bekimpfung der Tuberkulose, als der
verheerendsten der modemen Volkskrankheiten, die Erhaltung der
Widerstandskraft des einzelnen durch rationelle sanitare und hygienische
Massnahmen, und endlich der Schutz der Allgemeinheit vor betrugerischer
Ausbeutung in gesundheitlicher Hinsicht.
Dieses kommunalhygienische Programm selbst nur in seinen Grund-
ziigen zu skizzieren, wiirde Zweck und Umfang der vorliegenden Aus-
fuhrungen weit iiberschreiten, so dass wir uns darauf beschranken
mussen, nur einige der wichtigsten Punkte aus ihm herauszuheben und
an ihrer Erfiillung das Kriterium sozialen Erkentnisvermogens anzulegen.
Zu den verderblichsten Infektionskrankheiten der Gegenwart gehort die
Tuberkulose, deren Anteilnahme an MorbiditMt und Mortalitat der Be-
volkerung bekanntlich die aller anderen Volkskrankheiten so weit uber-
steigty dass sie nahezu ein Siebentel aller Todesf311e fur sich beansprucht.
Ihre BekMmpfung hat sich im wesentlichen in der Errichtung von Lungen-
heilstatten kristallisiert, die zum grossten Teil dem Eintreten der Landes-
versicherungsanstalten ihre Existenz verdanken. Aber die rtickhaltlose
Begeisterung, mit der die Heilstittenbewegung inauguriert wurde, ist
einer ruhigeren Auffassung gewichen, seitdem sich gezeigt, dass die Er-
folge durchaus nicht den Erwartungen entsprechen, die man an sie ge-
kniipft hatte! Wohl sind sie imstande, Leben und ArbeitsfMhigkeit des er-
krankten Individuums zu verlangern, wohl einen gewissen Stillstand des
pathologischen Prozesses herbeizufuhren, allein mit der Wiederverpflanzung
467 5^
in das alte Milieu beginnt von neuem der Kampf mit den zerstdrenden
Gewalten und in der uberaus grossen Mehrzahl der FUlle erliegt der
Organismus. Zeitliche und rdumliche Fesseln lihnien die Schwingen
der Infektion> diese Erkenntnis bahnt den Pfad, urn das Niveau der
Heilungsmoglichkeit wie des Schutzes weiter Volkskreise zn heben.
Auch hier teilen sich die Aufgaben der sozialpolitischen Organisationen
von denen der Gemeinden: Wlhrend es den ersteren obliegt, Mittel
und Wege zu finden, das Heilverfahren entsprechend umzugestalten,
fillt den Gemeinden im wesentlichen die Aufgabe der Prophylaxe, der
EindSmmung der Seuchenausdehnung, zu. Hierfur sind zwei Wege
gangbar: Einmal die Eliminierung der unheilbaren Schwindsiichtigen aus
der Gesellschaft und der Familie durch Unterbringung in HeimstHtten
und weiterhin die Zentralisierung der gesamten SchwindsuchtsbekSmpfung
in der Armenverwaltung. Dass die dffentliche Armenpflege es als ihre
Aufgabe zu erachten hat, in den Kampf gegen die Tuberkulose ein-
zutreten, bedarf bei dem sozialhygienischen Pflichtenkreis, den wir den
modemen Stadten zuweisen, kaum weiterer Begrundung: Zu allem Ober-
fluss sei aber bemerkt, dass die massgebenden Kommentare zum Gesetz
uber den Unterstutzungswohnsitz, sowie zahlreiche Entscheidungen des
Bundesamtes die vorliegende Frage bejahen und somit auch die gesetz-
liche Unterlage fur das Eintreten der Armenverwaltung schaffen. Auf
Grund derselben haben unter anderen die Stadte Charlottenburg und
Halle einen Modus der Mitarbeit eingefuhrt, der in dem engen Zu-
sammenwirken der dCFentlichen Armenpflege mit humanitlren Organi-
sationen eine Zentralstelle schafit, von der aus stotliche Hilfsquellen
fur ein Eintreten mit aller Kraft nutzbar gemacht werden konnen.
NMchst der Fursorge fur den Erkrankten und dessen Uberweisung in
Erholungsstdtten oder Heilstdtten konzentrierte sich die Tdtigkeit dieser
Zentralstellen vor allem auf den Schutz der gesunden Familienmitglieder.
Die Absonderung der gefihrdeten Kinder, die Beschaffung anderer, ge-
stinderer Wohnungen, mit einem Wort die Umwandlung eines ver-
seuchten in ein seuchenfreies Quartier war ihre Hauptaufgabe, und in
dem Gelingen derselben erschopft sich das souverMne Prinzip der
TuberkulosebekMmpfung, die Prophylaxis.
Dieser sozialen Pflicht sich zu erinnern, diirfte auch fur eine Reihe
stiddeutscher Stddte der Zeitpunkt gekommen sein, an die teilweise die
Wellen dieser Kulturbewegung kaum noch angebrandet sind. Wohl
haben die Landesversicherungsanstalten der suddeutschen Staaten, die
Parole des intemationalen Tuberkulosekongresses vom Jahre 1899 auf-
nehmend, Heilstatten errichtet, wohl hat Baden als erster unter den
deutschen Bundesstaaten die Anzeigepflicht der Tuberkulose eingefiihrt
und vielerorts sich die private Wohltitigkeit geregt, allein die Kom-
munen spielten, froh in dem Bewusstsein, ihre eigenen Pflichten auf
andere Schultem abwilzen zu konnen, die RoUe des wohlwollenden,
aber untMtigen Protektors. So reiften Zustdnde heran, die, wie in Mann-
heim zum Beispiel, die notgedrungene Folge einer systematischen Lethargie
und einer nach aussen gerichteten kommunalen Politik sein mussten.
A
468 8^
wUhrend im Innern vitale Interessen der Bevdlkernng der Vernach-
ISssigung anhelmfielen. Die suddeutsche Handelsempore hat in ihrer
wirtschaftlichen Entwicklung eine uberaus rasche Karriere gemacht und
sich auf dem Weltmarkt einen Namen von bestem Klang geschaffen.
Ein reger Erwerbstrieb paart sich mit im grossen und ganzen solider
Gesinnung und fest fundiert stehen die Mannheimer Handelshluser, von
Stiirmen der Krisis und schwindelhaften Spekulationen verhdltnismissig
wenig beruhrt. Aus der Kunststadt Karl Theodors, aus der schSumenden
Flut, die einen Schiller der Welt offenbarte, ist allerdings im Laufe der
Jahrhunderte eine niichteme, dem Daseinsgenuss und Erwerbsgeiste zu-
gewandte Stadt geworden, in der Kasten- und KrSmergeist nicht bloss
an der OberflMche haften, sondem in vielfacher Beziehung auch das
Lebensprinzip des autochtonen Geldadels bilden. Der furor poeticus
moderner Dichtergestalten, die bei uppigen Konvivien lukuUische Pracht
und gut gespieltes Mftcenatentum zu sehen bekamen, hat zwar jungst
gelegentlich eines Prunkbazars in Dithyramben Mannheims Bewohner
und ihre Metropole gefeiert, allein, was dem nuchtemen Beobachter, der
nicht lorbeerbekr&nzt zu Caste sitzt, von Mannheim bleibt, ist alles andere
eher wie Sinn fur das pulsierende Leben der Gegenwart, fur emste,
liber das Alltagsdasein hinaus sich erhebende Ideen, fur soziales Denken
und fur geistiges Emporringen! Wie der Geist der Bevdlkernng, so
ihre Politik: der Nimbus der Grossstadt zwSngt in der Peripherie ge-
legene Ortschaften in den Bannkreis, man paradiert mit Zahlen und mit
jedem neuen Tausend an Menschen schwillt die Selbstschatzung. Dieser
Grossstadtdunkel ist allerdings leider ein allgemeines Charakteristikum
moderner StSdteentwicklung und auf Mannheim nicht beschrankt, und
Hand in Hand mit ihm geht der Drang, nach aussen hin eine Gloriole
heimischer Institutionen und heimischer Verhiltnisse zu verbreiten. Das
.Kreuziget ihn* erschallt auch heute noch gegen jeden, der diese Kreise
zu storen wagt, nur sind die Zwangsmittel zum Widerruf, gemiss den
verlnderten Zeitepochen, andere geworden! Man schlSgt Korper und
Geist nicht mehr an den Holzpfahl, aber man sucht den Widerhall der
in die OCFentlichkeit gefluchteten Anklagen zu ersticken, indem man mit
dem Brustton sittlicher Empdrung alles leugnet und auf der schwanken
Leiter der Beschonigung die misera plebs zu beschwichtigen sucht.
« Alles ist aufs beste bestellt in der besten der mdglichen Welten.'' So
verkundeten es die Viter der Stadtgemeinde Mannheim im Juni 1903,
als kurze Zeit vorher auf der Versammlung des Deutschen Komitees
zur Errichtung von LungenheilstStten schwere Anklagen gegen die Unter*
bringung von Tuberkuldsen in Mannheim erhoben worden waren. Zur
Entlastung des Krankenhauses hatte man eine alte Notbaracke ausserhalb
des stddtischen Weichbildes den Lungenschwindsuchtigen eingerftumt und
hier nun in vdllig ungenugenden und unhygienischen Riumen eine Schar
von Kranken untergebracht. Aus dem amtlichen Gutachten, das der
Grossherzogliche Bezirksarzt uber diese Unterkunftsstdtte am 8. Mirz
1903 erstattete, seien folgende Wahmehmungen auszugsweise wieder-
gegeben: »Der Fussboden in der Baracke ist sehr schlecht. Seine Fugen
460 8^
sind im allgemeinen so gross, class man uberall fast einen Finger hinein-
legen kann, an einzelnen Stellen sind ganze Ausbruche aus den Brettern
sichtbar. Die Turen sind im ganzen Ban sehr schlecht gefugt, so dass
tiberall grosse Spalten vorhanden sind, durch welche Winters ilber starke
Kilte eindringt. Der Plafond der Krankensdle ist mit einfacher weisser
Kalkfarbe angestrichen worden, welche in trockenem Zustand, besonders
t)ei sttirmischem Wetter abfdllt and die Kranken in ihren Betten uber-
deckt. Durch die Ldcher in den Seitenwinden der Baracke dringt im
Winter die Kilte ausserordentlich stark herein, so dass das Wasser in
Kriigen und Lavoirs sich nachts mit einer Eiskruste bedeckt. — Die
vorhandenen Betten haben nur Strohsackmatratzen und sind zu kurz.
Dieselben sind recht hart, was bei Schwerkranken, die dauemd liegen
mUssen, leicht zu Druckbrand fuhrt. Die Ofen waren im letzten Winter
teilweise durchgebrannt. Man sollte sich vor allzu eiliger Anwendung
des nur der Ersparnis dienlichen Spruches hiiten ,Es tut es nochS Es
scheint, dass im letzten Herbst nach dieser Vorschrift verfahren wurde
iind dann stellte es sich im Winter heraus, dass die Ofen unbrauchbar
waren. Ich hatte diesem geradezu vernichtenden Urteil folgendes hinzu-
^efugt: «Die Gesichtspunkte, die mich bei der Verurteilung von Anlage
wie System dieses Gebaudes leiteten, sind damit noch nicht erschopft,
heute wie damals erblicke ich in dem Zusammenlegen von 23 Lungen-
Icranken in einen und denselben Raum, selbst wenn fur jeden Luftraum
tind BodenflMche in wissenschaftlich erforderlichem Umfange gesichert
sein sollten, einen Missstand irgster Art, der das elementarste Prinzip
der Tuberkulosebehandlung und -Wartung, die individuelle Selbsterziehung
tind damit den Schutz der Umgebung, vollig aufhebt. Zugleich aber in-
volviert dieses System in sich eine schwere kdrperliche wie psychische
Stdrung der Patienten, die vor ihren Augen das Schauspiel des lang-
samen Dahinsterbens ihrer unglticklichen Schicksalsgenossen sich ab-
spielen sehen und dadurch selbst in ihrer Widerstandsfihigkeit beein-
trMchtigt werden. Peinlichste Sauberkeit, das unentbehrliche Imponderabile
eines Aufenthaltes fur Lungenkranke, kann in derartig angefullten Rdumen
nie und nimmermehr herrschen! Damit in Zusammenhang steht die
mangelnde Auslese und es wire ein leichtes fur mich, an der Hand des
^orliegenden Materiales nachzuweisen, dass Tuberkulose I. Stadiums mit
solchen III. Stadiums wochen- und monatelang zusammenhausen und
<ladurch der Gefahr einer Verschlimmerung ihres Zustandes sich aus-
setzen mussten." Der weitere Verlauf der Dinge gab dem AnklMger die
<jenugtuung, die die leitenden Organe der Stadtverwaltung ihm versagt
hatten: Es wurden eine Reihe baulicher Anderungen vorgenommen, die die
^obsten MissstHnde beseitigten. Auch hier bewShrte sich ^wieder ein-
mal der Satz, dass, wo die Kraft der Oberzeugung treu einer einmal
erfassten Sache dient, selbst der frechste Finger redlichen Wirkens Spur
nie mehr v511ig verwischen kann! — Aber der vorstehend skizzierte
Fall hat nicht nur lokale Bedeutung, er ist typisch fur die Stellung-
nahme gewisser Stddte zu sozialhygienischen Aufgaben. Hat man die
^lementarsten Forderungen der otfentlichen Gesundheitspfiege, die Durch-
SQddeuttchc Montuhefte. 1,6- 31
470 g.^
fubrung der Kanalisation und der Assanierung des Bodens, die Be-
schafFung guten Trinkwassers erfullt, so bleiben alle ubrigen Fragen
curae posteriores. Die Toilette der Stadt, ihr Eindruck nach aussen
wird zum leitenden Gesicbtspunkt kommunaler Politik, und so erstehen
oft weit uber den Rahmen lokaler VerbSltnisse hinausgebende Pracbt-
bauten, die Millionen verscblingen and jedwede Ausgabe fiir unbedingt
notwendige Zwecke unmdglich macben. Auch dies ist ein Stuck Gross-
stadtdunkel, und wir seben diese Pbase der Entwicklung aucb in Mann-
beim vor uns. Bin grandioser Bau erstand, die Festballe, nahezu drei
Millionen beansprucbte sie zu ibrer Fertigstellung, obne dass der Grund
und Boden, dessen Wert wobl ebenfalls auf ein bis zwei siebenstellige
Zablen anzusetzen ist, darin einbezogen wSre. Und nur um die Zins-
scbuld dieses Pracbtbaues zu decken, muss der Stadtsackel aller Voraus-
sicbt nacb bereits im ersten Jabre einen Zuscbuss von uber 170000 Mark
leisten, und wie ein grinsendes Gespenst wird dieses » Debet" nun in
dem alljSbrlichen Hausbaltungsetat immer wieder erscbeinen und einen
dusteren Scbatten auf die laute Freude am Besitz werfen. Da ist es
kein Wunder, wenn es uberall bapert, wenn am notwendigsten gespart,
wenn das Prinzip des laisser alter selbst in bygieniscben Fragen mass-
gebend wird. Unbegrenzt ist die Leistungsfabigkeit der Gemeinden
allerdings nicbt, denn von Jabr zu Jabr steigen die Anforderungen an
sie, aber eine wirklich weise Politik sollte imstande sein, zu unter-
scheiden zwiscben unaufscbiebbaren und fur das dffentlicbe Wobl un-
erlMsslicben Postulaten und Luxusbauten, die, so kunstleriscb vollendet
sie aucb sein mogen, docb gegenuber vitalen Fragen des gesellscbaft-
lichen Lebensprozesses zuruckzutreten baben. Im Vordergrund dieser
stebt das Krankenbaus, dessen Bedeutung in der Gegenwart durcb die
verscbiedensten Momente zu einer souverSnen geworden ist. Einmal
sind es Momente mediziniscber und tecbniscber Natur — die Begriindung
der Antisepsis, die Vielgestaltigkeit und Kompliziertbeit des modemen
Heilverfabrens — und weiterhin sotcbe politiscber Natur, die bierfur
4iusscblaggebend geworden sind. Als solcbe sind zu nennen die Reicbs-
gesetze iiber den Unterstutzungswobnsitz und die Krankenversicherung.
Das erstere setzte fur die Gemeinden die gesetzlicbe Verpflicbtung fest,
jedem biifsbedurftigen Deutscben oder Ausldnder die erforderlicbe Pflege
in KrankbeitsfHllen zu gewSbren, ' das Krankenversicberungsgesetz gab
den Krankenkassen das Recbt, an die Stelle der Zablung von Kranken-
geld und Gewlbrung irztlicber Bebandlung die freie Kur und Ver-
pflegung in einem Krankenhause eintreten zu lassen. Aus dem Einflusse
dieser Faktoren erklUrt sicb die niscbe Zunahme der Krankenanstalten
in der Periode von 1870 an. Die wacbsende Inansprucbnabme der
Krankenbauser aber, die in vielen Fallen proportional grosser wie die
der Bevolkerungszunahme ist, erfordert eine Erganzung des Heilver-
fabrens und zwar nach der Ricbtung der Rekonvaleszenz bin. In diesem
Punkte vereinigen sicb die Forderungen der stidtischen Wirtscbaft mit
denen der modemen Krankenpflege. Die Krankenbauser gel ten daber
durcbaus nicbt als Plfttze, die fiir die Rekonvaleszenz geeignet sind,^
-Mg 471
denn die Pflege der Rekonvaleszenten erfordert eine weit andere Lage
der Anstalt und vollig andere Einrichtungen, als sie das Krankenhaus zu
bieten vermag. So gelangte als erste die Berliner Stadtverwaltung im
Jahre 1877 dazu, zwei Heimstatten fur Genesende zu errichten, die eine
ausserordentlich rasche Entwicklung durchmachten ; ihr folgten MOnchen
mit seiner hervorragenden Anlage bei Harlaching, weiterhin Breslau,
Dortmund, Dresden, Mainz und andere Stddte.
Auch diesen Problemen ist Mannheim bisher nicht niher getreten,
hat es ja selbst nicht einmal den Wettlauf der deutschen StMdte um
mustergiiltige Krankenhausbauten mitgemacbt. Bin alter HSuserblock,
der von Jahr zu Jahr durch Anbauten einen etwas ertrMglicheren An-
strich erhalten hat, inmitten der Stadt gelegen, von alien Seiten von
bewohnten Hiusem umschlossen, stellt das Mannheimer Krankenhaus
dar, dessen unwurdige VerhMltnisse allein schon dadurch gegeben sind,
dass die nicht bettligerig Kranken und Rekonvaleszenten die dumpfen
GSnge und den steinigen Boden des luftlosen Hofes als einzigen Er-
holungsraum besitzen. Kein fussbreit Garten steht diesem Territorium
zu Gebote, kein Blick ins Freie, in die Natur, dieser nie versiegenden
Helferin menschlicher Leiden ! Wo es daran ermangelt, da ist es auch
kein Wunder, dass alles Weitere zurucktreten muss, dass die Errichtung
einer grossen stidtischen Badeanstalt, dass die Kreierung von Schul-
Irzten und andere sozialhygienische Postulate fur utopische Probleme
angesehen werden! Und dies um so mehr, als die geborenen Leiter
des Volkes und seiner Gesundheit, die Arzte, sie, die in ihrer iiber-
wiegend grossen Mehrzahl die sozialhygienischen Aufgaben der Medizin
erkannt und sich wissensfreudig in den Dienst neuer, kulturfdrdemder
Ziele gestellt, in Mannheim vollig versagt haben. Dem Geiste der
dominierenden Klassen sich willig beugend, um des wirtschaftlichen
Kampfes praktisches Endziel einzig und allein bekiimmert, sind sie an
dem engen Gehluse haften geblieben, in dem die Medizin als ein
mechanisches Triebwerk jahrhundertelang lief und haben den Anprall
des pulsierenden Lebens nie vemommen, nie vemehmen wollen. Hier
kann kein Echo in der Volksseele geweckt, kein Finger auf eine eitemde
Wunde gelegt, kein Ansporn zu gemeinnutzigem Tun gegeben werden.
So fehlt den leitenden MSnnem des Gemeinwesens sachdienticher Rat,
es fehlen die freidenkenden Vertreter der Wissenschaft, die unbekummert
um Flustem und Raunen ihre Oberzeugung offenbaren, und dies mildert
der ersteren Schuld.
Nur der Sturmwind der dffentlichen Meinung, der Boden, auf dem
sich die Elemente kultureller Entwicklung Bnden und zu gemeinsamer
Arbeit vereinigen, kann hier Wandel schaffen und die Kommunen znr
Erf&llung ihrer sozialhygienischen Pflichten wachrutteln.
472 8^
Briefe aus Italien. II.
Von Friedrich Th. Vischen
Mitgeteilt von Robert Vischer in GOttingen.
Lieber Bruder and Schwigerin, Hebe Schwester nebst Kindern,
Freunde und wer mir gut ist! Lest mit Verstand, ich schreibe
aus Rom!
Ich sitze so in meinem freundlichen Stubchen in der via Sistina auf
Monte Pincio, dem alten collis hortulorum. Ein furchterlicher Platzregen
<wenn es in Italien regnet, so regnet's gleich recht) hat eben nachgelassen,
und ein Giessbach, der sich in der Strasse gebildet hat, macht der ganzen
Nachbarschaft Unterhaltung. Ein halbnackter teufelswilder Junge hat
eine Mulde, oder was es ist, gestohlen, watet bis ans Knie im Wasser
und treibt sein Holz als Schiff hinunter. Unten ist die Passage gehemnit,
da stehen nun die Passagiere wie die Ochsen am Berge, denn die
Italiener sind schlechte Gymnastiker; probirts hie und da Einer und
macht einen komischen Hopf, wie soeben ein langer Abbate, der dabei
seinen schwarzen Kittel gar zierlich bis an den podex hinaufschob, so will
die dunkelbraune, breitnackige, schwarzlockige Rdmerin, die da drUben im
Fenster liegt, sich zu Tode lachen; endlich kommt ein blonder deutscher
Maler und ist ohne Ansatz mit einem kriftigen Sprunge driiben: Ecco
il tedesco! Che salta bene! Da habe ich doch Respect. Ein alter
Bettler mit langem weissem Barte sturzt sogleich auf ihn zu, als wire
er nur heriiber gesprungen, ihm einen Bajocco zu geben: povero vecchio!
povero vecchio! per carit&! per la Madonna Santissima! Aber der
deutsche Bengel will nichts von der Madonna Santissima und geht weiter,
indem er einen wunderschdnen Kerl, der faul an der Ecke lehnt, das
classische Gesicht in einem Walde schongelockter rabenschwarzer Bart-
u. Haupthaare, obendrauf eine rothe SchifTermutze, scharf fixirt, ob er
nicht etwa als Modell zu haben wire. Ein kreischender, melancholischer
Ton von Schalmeyen erhebt sich, es Ziehen einige pifferari daher, Bauem
aus den Gebirgen mit Wdmsem aus Schaafspelz u. roth verbrimt, braune
Mintel daruber, spitze Hute, Sandalen an den Fussen, sie kommen seit
undenklicher Zeit um Weihnachten in die Stadt und blasen vor den Marien-
bildem u. in den Trattorien. Zwei Landmidchen im besten Staate ge-
sellen sich hinzu, der braune Kopf sticht trefflich von dem Dach aus
schneeweissen Linnen, das ihn breit bedeckt, und der braune Hals von
den schneeweissen Aermeln ab, grUne Sammtrdcke und ein rotbes Tuch,
das als Schaal und in andem Gestalten dient, materisch um die Hufte
geworfen und mit dem Arm in grossen Falten aufgezogen; das sind
2 Figuren und Kdpfe von alt-italienischem Schlag, aus der tiefen Briune
der Haut blitzt auf schneeweissem, blSulicht angeflogenem Grunde
ein stolzes, emstes, beerschwarzes Auge; da tappt Einer ungeschickt in
den Bach, und plotzlich Idst sich der Ernst in das lauteste Gelichter
auf, wobei sie eine Kette von Zfthnen zeigen.
473 8^
So ist es fretlich nicht immer and uberall in Rom. Unten auf
dem Corso ist man in einer rein modernen Stadt u. wird von eng-
lischen, franzos., russ. Equipagen fast iiberfahren. Rom ist eine Stadt
voll moderner raffinirter Corruption: aber dazwischen sehen wie in der
Architecture so in Sitte, Tracht, Gebftude, Haltung, Sinn doch uberall
noch die Ruinen untergegangener Grosse hervor, u. der gemeinste
Romer ist immer ein Romer. Was ist ein Klang in dem Wort! Roma!
Da hort man den dumpfen Donner der alten Siegeswagen auf der via
sacra, derselben, auf deren Resten ich jetzt wandle, und wo man noch
Spuren der alten Wagengeleise sieht, unter dem Triumphbogen des Titus
durchy wo auf dem Relief der judische Tempelleuchter noch heut zu
sehen ist, den die Sieger aus Jerusalem schleppten. — Es gibt Momente,
wo man es nicht glauben kann, dass man in Rom sei, dass es moglich
sei, hier, ganz ordentlich u. eigentlich hier, wo all die grossen und all
die schrecklichen alten Manner wandelten, hier als ein spitznasiger, blond-
und glatthariger Deutscher mit Handschuh u. Cravatte herumzugehen.
Ehe ich hieher kam, hatte ich das entgegengesetzte Gefuhl; jetzt glaube
ich nicht zu sein u. zu bestehen auf Einem Raume mit diesen ungeheuren
Erinnerungen; damals glaubte ich nicht recht, dass Rom existire. Ver-
steht mich nicht falsch, meine Trefflichen, ich meine es ganz wortlich.
Ich hatte aus Buchem u. Erzahlungen als Mann von Kopf allerdings
gemerkt, dass es eine solche Stadt gebe, welche das alte Rom ist, dass
Titus die Juden, M. Aurel die Quaden u. Marcomannen, Ciisar die Gallier
besiegt hat u. s. w. Ich dachte aber als feiner Kopf, all diese Sachen
erzlhlt man zwar, aber ich bin nicht dabei gewesen; weiss der Henker
ob sie wahr sind; die Zerstdrung Jerusalems, Carthagos, so viele andere
ungeheure Schauspiele sind wohl nur grosse Schattenspiele der Phantasie.
Aber siehe, da sind nun die handgreiflichen Reste: dieser Mortel ist
wirkllch von Menschen aus jener Zeit angemacht, da stehen noch die
SMulen, die Triumphbogen, in diesem Colosseum erhob sich wirklich
das Gebrull der Tiger u. Lowen, das Waffengeklirr der Fechter, — da
tritt aus dem Schulstaube, der die Classiker dir bisher umgab, plotzlich
die alte Welt vertraut und hell vor die Augen, du siehst ihr ins An-
gesicht, sie lebt. Ich bin hier, das kann man auch sagen, wenn man
in Degerloch, Lustnau, Derendingen ist, nur nicht hinzusetzen: CSsar
war auch hier, Pompejus auch hier, u. dieser Fleck Erde hat einst die
Welt erobert.
Aber ich vergesse ganz, dass ich erzdhlen wollte.
In Florenz studirte ich noch die KunstschHtze mit Genauigkeit durch
und genoss so manche schone Stunde in den reichen Silen der Uffizien,
die mit grdsster Liberalitit unentgeldlich alle Tage geoffnet sind, vor den
BroncethurendesGhiberti amBaptisterium, von denen einst M.Angelo sagte
sie wiren wtirdig die Pforten des Paradieses zu sein, in den Kirchen, wo
die interessantesten Fresken sowohl aus den ersten, naiven Zeiten des
Cimabue und Giotto, als aus dem grossen Fortschritt des herrlichen
Masaccio u. endlich der Bliitezeit des Fra Bartolomeo und Andrea del
Sarto die Hauptepochen der mittelalterl. Malerei darstellen. Es ist auch
474 8*»-
behaglich leben In Florenz, nicht theuer und ein hdfliches, gutes Volk
dort; die Toscaner sind die italienischen Sachsen. Gewdhnlich ass ich mit
dem Archiologen Dr. Gaye, ubrigens einem gar sluerlichen, ubermuthig
schweigsamen Menschen, gegen den ich zugleich immer anf den Hinter-
beinen sein musste. Mit grossem Genuss sab ich ein italienisches
Ballspiel, das ich einmal mundlich beschreiben will.^) Da sieht man
Minner, Kdpfe, Stellnngen, Leben, so antiki — Das Wetter hatte ich
gluhend heiss getroffen, zuletzt gieng es durch einige Gewitter mit Platz-
regen in empfindliche Kfllte uber. Ich reiste am 30. October nach Siena
ab. Gute Gesellschaft von lauter Italienem in der Chaise, woninter eine
Frau mit Gemahl, ganz honett, aber im Gesprich von einer Naturlich-
keit, wobey ein Deutscher, der es noch nicht gewohnt gewesen wire,
sich auf den Kopf gestellt hitte. Z. B. Es stiegen Einige aus ob certam
necessitatem. Die Fran sagte: Jo sono donna, non smonto mai, sono
stata a cavallo dieci miglia e non sono smontata mai. Das war aber
auf mein Wort eine ganz honette Frau von viel Anstand. Und doch
sind die Italiener in andem Dingen viel strenger decent als wir. Auf
dem Theater darf kein Kuss auf die Wange, auch nicht scheinbar ge-
geben werden, sondem nur auf die Hand. Ueberhaupt gilt Kussen als
etwas durchaus verfingliches. Ein Beweis der Verdorbenheit, denn je
verdorbener die Sitten, desto ingstlicher die Decenz. Selbst in der
Kirche ist mir zu Pisa ein schflndlicher Antrag gemacht worden, worauf
ich aber ganz still meinen schdnen, braungebeizten Reisestock von starkem
eichenem Kaliber dem Antragesteller dicht vor die Nase hielt, der dieses
deutsch augenblicklich verstand. Siena hat einen wunderherrlichen Dom
u. so vieles andere Schdne, das ich nur leider wegen des nasskalten
Regenwetters in schlechter Beleuchtung u. unbehaglichem Zustande sah.
Ich war da einem Sprachlehrer Cypriani empfohlen, einem gar ehrlichen
Mann, der in der italienischen Garde gedient hat. Die Sieneser sind
tiberhaupt nette Leute, u. ihre Sprache ist durch das Sprichwort beruhmt:
lingua Toscana in bocca (Mund) Romana. Im Caflfee hatte ich Abends
den eigenthumlichen Genuss, mit einem Bibliothecar, dem man in seiner
italienischen Sammtjacke und dem jugendlichen Lockenwald den Gelehrten
nicht ansah, tiber Schiller zu disp^tiren; die Italiener sind gewaltig fur
das Sentimentale, er nahm aber doch meine Bemerkungen zu Berichtigung
seiner Begriflfe sehr willig auf u. fasste im Moment den Unterschied
zwischen rhetorisch u. poStisch. Ueberhaupt was ist das fur ein Volk,
welche FassungskraftI welch liebenswurdiger Kern, wie heiter, wie frisch,
wie wohlgestimmtl Was wire aus dem Volke zu machen, da es ohne alle
Volkserziehung so wild aufwichst u. doch das ist, was es ist! Besonders
die Knaben liebe ich. Sie sind entsetzlich unartig, man sieht selten
eine Katze, der sie nicht den Schwanz abgeschnitten batten. Doch ab-
gesehen von diesen Strassen-Unarten, erscheinen sie so naiv klug, gegen
Erwachsene freimtithig und doch edel bescheiden, dass man nicht ohne
Unwillen an die verwunschte deutsche Erziehung denken kann, die den
^) Ballonenspiel.
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Menschen fast bis zum 30. Jahr als unfrei u. dumm behandelt, wovon
die Folge ist, dass er es wird. Im Rathe der Erwachsenen darf der
Knabe hier in Italien frei mitsprechen, da horcht er aufmerksam auf die
Hand gesttitzt, die dicken Locken fallen ihm leichtsinnig unter der Mtitze
auf die Stime herunter, da bringt er denn auch seinen Senf herbei, hat
zu fragen, zu urtheilen, zu erzihlen, u. die Alten lassen ihn billig mit-
ankommen. Sagt er was dummes, so belehrt man ihn lachend, sagt er
was kluges, so heisst es, der Kleine hat Recht u. s. w. Ebenso behandelt
man die Dienstboten als Menschen; im Anfang verwunderte sich meine
deutsche Corporalsstocknatur nlcht wenig, wenn eine Dienstmagd oder
ein Bedienter im Vorzimmer einer Familie auf eine Frage nicht einfach
antwortete, sondem eine Bemerkung machte, wodurch er sich mit mir
auf den Fuss der Unterhaltung zwischen Menschen von gleicher Wtirde
setzte. Dort flhrt eine glinzende Equipage uber den Corso, bei der
Familie sitzt eine Amme in ISndlicher Tracht u. unterhdlt sich mit Herr
u. Frau wie ein Glied der Familie, u. das ist von diesen keine Herab-
lassung, sondem Gefiihl der Menschlichkeit, Menschenwiirde. Man meine
nicht, das begtinstige die Unbescheidenheit, nein, der Sclave wird un-
bescheiden.
Von Siena nahm ich einen Vetturin nach Perugia auf 2 Tage.
Obwohl Cypriani mir ihn gerathen hatte (kein Italiener hindert je den
Andem in spitzbubischen Prellereien derFremden; kein noch so honetter
Wirth sagt dir: so u. so viel Geld ist vom Vetturin, Fachin u. s. w.
uberfordert, den oder jenen Vetturin nimm nicht u. s. w. Alle sind
im Complott), so war doch die Vettura grundschlecht und der Vetturin
ein Erzspitzbube. Ich fuhr fnih Morgens ab, hatte nicht gefruhstuckt,
es kam ein kalter Platzregen, ich verkiltete mich und sass in der
Trattoria des nSchsten Stidtchens in recht ublem Zustande auf dem
Heerde, wohin man mir den Stuhl gesezt, nach ublicher Manier, am
Feuer. Es regnete fort, der Vetturin hatte immer mit den Wirthsleuten
zu fliistem, er meinte, ich merke in meiner Apathie nichts. Seine
Absicht war, heute nicht weiter zu fahren, wodurch der ganze Contrakt
verwirrt worden wMre, zu diesem Behuf liess er sich ein Essen bringen,
das als Verzdgerungs-Vorwand dienen sollte. Ich liess alles geschehen,
als kdnnte ich nicht funf zShlen, weil ich bei m. Leibweh und dem
Regen selbst unentschlossen war, doch begannen die heiml. Umtriebe,
die der Vetturin aus reiner Lust zur Heimlichkeit oflfenem Vorschlage
vorzog, mich zu irgem. Endlich beschloss man, mir in einem eignenZimmer
das Kamin anzuzunden, was ich nicht befohlen hatte, um so mich zu
^ngeln und zu bestimmen. Plotzlich brach mir die Geduld, ich war
mit einem Sprung vom Heerde und vor dem Vetturin, schrie: wer ist
Herr? Ich oder ihr? In dem ndchsten Moment ist angespanfit oder ihr
bekommt keinen Quadrin Trinkgeld ! Das wirkte, und in derselben Viertel-
stunde war ich unterwegs, das Wetter wieder hell, das Leibweh weg. —
Den andem Tag sah ich das merkwiirdige Chiusi, das alte Clusium,
eine der IZ etruski^hen Republiken, deren Lukumone Porsenna war,
derselbe, der vor Rom zog. Es war ein grauer, melancholischer Tag,
476
ganz geeignet zu Erinneningen an das finstere Wesen der alten Etrusker;
die Stadt liegt hoch gegen Westen, init der Aussicht auf ernste Eichen-
wilder. Ausser dem Museum der ausgegrabenen Urnen, Bronzen u. s. w.
versdumte ich nicht, Eines der gefundenen GrSber zu besuchen, das
schdnste. Ich kannte die Form dieser Griber gut aus dem Werk von
Inghirami, aber wie anders, wenn man die Sache selbst sieht und das
Antike Einem pldtzlich wahr, wirklich, gegen wirtig wird! Eine Kammer
in die feste Lehm-Erde des Berges gehauen, mit steinemer Thur, mit
Farben undheitem Bildern vonTdnzerinnen, Gauklem u. dergleichen in dem
harten, aber doch edlen etrurischen Style bemalt, frisch und gldnzend, als
wiire es von gestern; hier standen nebst den Vasen u. Anderem die Aschen-
Umen, viereckige Kistchen mit Relief, auf dem Deckel hingestreckt das
Bild des Todten — die finstern, murrischen Etrusker-Kopfe, doch auch
liebliche Gruppen, eine Mutter, das kl. Tochterchen im Arm, das liebreich
zu ihr aufblickt. Der Tag war empfindlich kalt, hier unter der Erde
war eine dumpfe Hitze, was den eigentlichen Eindruck bei der mystischen
Lampenbeleuchtung vollendete. — Mit diesem Momente begann eigent-
lich ftir mich das Gefuhl des Antiken, d. h. das Gefiihl in der Heimath
des Antiken zu sein, bisher war es mehr das Mittelalter mit s. Baukunst
u. Malerei gewesen, was mich beschiftigte. Den Ort zu betreten, wo
handgreifliche Spuren darthun, dass hier einst «das Antike neu** war —
diess gibt dem Gemuth den ersten starken, durchgreifenden Eindruck.
Uebernacht in Citth della Pieve, dem Geburtsort des herrl. Pietro Perugino,
u. eine herrl. Freske desselben gesehen.
Am 3. Novb. nach Perugia, ebenfalls eine der etrusk. 12 Stadte,
spdter von Augustus erobert und formlich unter Rom gebracht. Es liegt
sehr hoch uber einem Bergrucken hingelagert, ein paar der bekannten
schdnen Ochsen Unter-Italiens zogen als Vorspann die Chaise hinauf.
Perugia hat mich nach alien Seiten dusserst gemiithlich angesprochen.
Die Leute sind gar freundlich und gutartig, gleich am ersten Abend, wo
ich mich nicht nach meiner Wohnung (casa Zannetti, dieser ist ein Bruder
der Bildhauerin Braun in Stuttgart) zurtickfinden konnte, ftihrten mich
2 Frauen, die mich fragen hdrten, der Kleidung nach vom Honoratioren-
Stande, mehrere Strassen weit selbst u. ohne Interesse, denn sie waren
bejahrt. Thite das eine deutsche Frau? Doch ja, du liebe Majorin^
thdtest es,*) u. uberhaupt lasse ich den deutschen Frauen nichts geschehen^
streiche sie auch den Italienerinnen hollisch heraus, u. diese, die fast
keine Kunst verstehen, als die ars amandi, von welcher der heidnische
Dichter Ovidius ein Buch in Versen verfasst hat, bewundern besonders
die zierlichen Werke ihrer kunstreichen Hande, u. deine Brieftasche
1. Schwigerin, geniesst verdiente Lobspruche. — In 2 Palldsten, von
denen der Eine ein gar kostliches Madonnenbild von Raphael besitzt^
fuhrten mich die jungen Besitzer selbst herum, mit Monchen in den
herrlich gelegenen Klostern conversirte ich gar behaglich, denn alle
Italiener horen gar gem ihr Land, ihr Besitzthum u. s. w. loben.
') S. oben S. 380.
477 ^
Kirchen und dfifentliche Bauten sind voll der tiefempfundenen Gemiilde
Peruglnos, der hier als Ehrenbiirger lebte u. Raphael unterrichtete. Die
Aussicht auf die Kette der Gebirge mit jenem tiefblauen Dufte, den nur
Italien hat u. der seinen Landschaften die Idealitat gibt, mit den herd,
gezogenen Linien, — hier verspurte ich endlich wieder das Ding, das
Gdthe Stimmung nennt, ich lege das Produkt, zwei Gedichte bei,
sie scheinen mir zu lang, ich weiss iiberhaupt nicht, ob sie etwas werth
sind; gemacht sind sie mit aller Neigung; sind sie's werth, so kannst
du, 1. Strauss, sie vielleicht in einem geeigneten Blatte als Gruss an
die entfemteren Freunde abdrucken. (Dass die Gothen nicht von Norden
sondem von Osten kamen, weiss ich, aber sie waren urspriinglich doch
nordisch, u. so mag der 2. Vers des 2. Gedichts stehen bleiben).^)
Einen Tag bestimmte ich fur das 3 Stunden entfernte Assisi, wo
der h. Franziscus s. beriihmten Wunder erlebt hat, uber dessen Grabe
2 wundervoUe gothische Kirchen erbaut sind, die Eine halb unterirdisch,
mystisch dunkel, blaues Gewdlb mit Stemen an den Wdnden, Fresken
der iltesten Florentiner Maler. Ich sass hier in den hochst malerischen
Dammerschein vertieft, u. wusste noch nicht, dass ich soeben meine Brief-
tasche mit Pass u. Creditbrief verloren hatte. Beim Herauskommen ver-
misse ich sie, stiirze zuriick, suche alles hundertmal durch, vergebens; Assisi
ist als ein completes Pfaffen-Nest auch ein completes Spitzbuben-Nest.
Die Bettler fressen einen fast, ich gab sie schon verloren, da redet mich
auf dem Marktplatz ein Lazzaroni an, ob ich etwas verloren, er hab's
gefunden, auf der Polizei niedergelegt, er sei ein galantuomo (ein Ehren-
mann), aber hoffentlich werde ich ein erkleckliches Trinkgeld geben.
Dass kein Geld in der Brieftasche war u. dass in demselben Moment
noch ein zweiter sie auf der Strasse bemerkte, der den Erstern controlirte,
das war meine Rettung. — Ich machte der Priorinn eines Klosters
deutscher Nonnen eine Aufwartung, die mich aber kein Wort verstand,
bis ich tyrolisch zu reden anfieng, und die nicht wusste, dass der Kaiser
von Oestreich einen Theil von Italien hat (was mir viel Sympathie
einfidsste, denn es sind kaum 7 Jahre dass ich es zufdllig erfuhr.)
Kaum aus dem Kloster, hMlt mich ein fetter Pfaffe auf der Strasse an
u. erzahlt mir unter dem behaglichsten Lachen, er habe eben zur Beichte
gesessen, als ich in der Nahe des Beichtstuhls einen Menschen verzweifelt
ausfragte, ob er nichts von meiner Brieftasche gesehen, der Mensch sei
aber halbtaub u. ein Simpel, er habe Alles so bemerkt und doch nichts
sagen konnen, weil er eben Beichte gehdrt. Ueber diese Situation wollte
sich der gemdstete Kalbsschlegel kropfig lachen, ob ich m. Tasche ge-
funden, Oder nicht war ihm ganz gleichgultig.
Am 8. Novbr. ab nach Rom. In der Vettura sass als Gesellschaft
fiir 4 Tage 1) eine hissliche Frau, verheirathet, aber jetzt nicht in Ge-
sellschaft ihres Mannes, sondem des Cicisbeo, 2) ein Federhiindler von
Florenz, 3) 2 Dominikaner, denn anders thut es die liebe Vorsehung nicht.
Diese Gedichte wurden im Morgenblatt verSffentlicbt, und auch Fr. Viscbers
Lyriscbe Gftnge, Stuttgart, Deutsche Verlagsansialt, 3. Aufl., S. 60 ff. enthalten sie.
478 8^
steige ich in eine Chaise, so hockt heilig ein Pfaffe drinn. So muss man ja
mehr und mehr fur den Himmel reifen. In Otricoli gieng, da es Sontag
war, die ganze ubrige Gesellschaft zur Messe, die Frau sagte mlr, sie
habe, als man an den Kirchengang dachte, die 2 Heiligen zu einander
sagen horen: jetzt muss es sich zeigen, ob er ein Protestant ist. Als
die Gesellschaft von der Kirche kam, sass ich unter der Osteria auf
einem Balken u. verzehrte behaglich Castanien, wo dann freilich ganz
klar wurde, dass ich Ketzer bin. — Abends sah ich den wunderschdnen
Wasserfall von Temi, — weit iiber allem, was ich von der Art gesehen. —
Der Kellner in Temi war unbescheiden, ich putzte ihn, wusste aber nicht
was Flegel auf Italienisch heisst, er woUte entfliehen, ich hielt ihn aber
fest am Frack mit der Einen Hand, indessen ich mit der Andem im
Lexicon aufsuchte. Man soUte es in ein Lustspiel bringen, es ist wie
gemacht dazu. —
Am 11. Novbr. zog ich Abends in Rom ein. Ich wusste vorher,
was von dem ersten Eindruck zu erwarten war, nftmlich wenig und
steifte mich nicht im mindesten auf grosse Gefuhle. Ueberhaupt nur sich
auf keine Geftihle for^iren, nur nicht sentimental sein, das ist nirgends
mehr zu rathen als in Italien. Wenn man nemlich von der Porta del
Popolo hineinfihrt, so sieht man zuerst nur das neue Rom, das so
ziemlich den Anblick einer gewdhnlichen modemen Stadt darbietet. Die
Architektur des ganzen neuen Roms an Kirchen u. PallSsten ist bekannt-
lich lauter Zopf. Rom war seine Wiege und fruchtbarste Residenz. Ich
will statt hundert anderer Beispiele nur das schauderhafte anfilhren, dass
in den von den schdnen Siulen des alten Tempels der Faustina ein-
geschlossenen Raum eine Zopf-Kirche mit der hier gezeichneten un-
ertrdglichen Facade gebaut ist. Dieser Styl nun gefiel sich bekannt-
lich besonders in der KuppeUorm, u. es geben die vielen Kuppeln neuerer
Zeit, so weit dieselben auch von der herrlichen, viel flacher gehalteaen
Kuppel des Pantheons abweichen, dem modemen Rom in der Perspektive
ein allerdings grossartiges Aussehen. Tritt man aber ins Innere dieser
Kirchen, so herrscht hier der Beminische Zopf in alien Formen des
Abgeschmackten. Die Peters Kirche ist bekanntlich ebenfalls bereits
Zopf und verfehlt ganz den grossen Eindruck, den ihre ungeheure Hdhe
beabsichtigte. Der Gmnd des letztera ist namentlich, dass aller Schmuck an
Gelenken, alle GemMlde, Statuen, welche die ungeheuren hohen Winde and
Kuppeln schmticken, perspektivisch so berechnet sind, dass die Figuren
fur das Auge in gewdhnlicher Grosse erscheinen. Sie sind neml. je
hdher, desto grosser ausgefuhrt, statt dass, wenn alle denselben Maas-
stab hStten, die Figuren, je entfernter, desto kleiner erschienen und so
dem Auge ein Maas der grandiosen Hdhe gdben. Im Style des Mittel-
alters hat Rom an PallMsten u. Kirchen fast nichts aufzuweisen, u. so
bleiben ihm nur die Ruinen der Rdmerzeit u. der Zopf. Man kann sich
das schon gefallen lassen, denn so haben diese Ruinen keine Nebenbuhler
und stehen in tragischer Einsamkeit um so ergreifender da. Dagegen sind
die byzantinischen Basiliken, meist ausser der Stadt, aus den ersten christl.
Jahrhunderten, hdchst lehrreich fur die erste Baukunst des Mittelalters.
479
Ich war kaum abgestiegen, so machte ich mich nach dem antiken
Rom, dessen Lage ich aus der Lecture ungefihr kannte. Es war nach
empfindlichen frostigen Tagen ein wanner heller, ja dumpfheisser Abend,
denn es wehte Scirocco. Nach einer halben Stunde hatte ich das
forum Trajani, das Colosseum, den Tempel des Friedens, Constantins-
bogen, Vesta Tempel ftir den ersten fluchtigen Anblick gesehen und
gerieth im Heimweg in der Dftmmerung auf das Kapitol, das ich im
Dunkeln nur an der Statue M. Aurels erkannte. Meine Freunde, da wir
nachher gemeinschaftliche Spaziergdnge machten, verwunderten sich nicht
wenig, da ich, wenn sie mich nach dieser, jetzt nach jener Ruine fuhrten,
fast uberall sagte, habs schon gesehen, und doch kaum angekommen war.
Zuerst fand ich den wackem Lieutenant der Landwehr u. Architekt Rdmer
im Caf6 greco, der mein hHufiger Umgang und naher Nachbar ist,
cine gar ehrenfeste deusche Natur, ich hatte ihn wie er euch geschrieben
in Venedig kennen gelemt. Bald fand sich Miiller mit seiner Gesell-
schaft u. waren manche neue Bekantschaften gemacht, worunter be-
sonders Secretdr Vollard, dem ich empfohlen war u. der mich sehr
freundlich in seine Familie einftihrte. Abends gehe ich in die Ktinstler-
Kneipe, eine wahre Spelunke, wo die liebe Natur zu alien Lochem herein-
pfeift, der nasskalte Regen durch die Thiire, die KMlte aus dem steinemen
Boden eindringt, aber die Unterhaltung um so heiterer ist Gar nette
Leute sind da, Reinick von Dusseldorf (der das Liederbuch mit den
allerliebsten Zeichnungen herausgegeben),^) Schirmer v. Dtisseldorf, ein
liebenswtirdiger Mann,^) der alte Landschaftsmaler Reinhard,^) in den 80,
aber so rustig, dass er jetzt noch in dieser kalten Nisse Sommerhosen
trigt u. 2 Flaschen trinkt, wo wir Jungen Eine, ein Fels von Mann, derb,
poltemd u. eifriger Protestant, der einst zu einem Cardinal auf die Frage:
voi siete catholico? sagte: No, grazie h Dio, sono protestante, dabei frei
an Geist u. ein Verehrer deiner Ansichten, 1. Strauss. Auch Rittmeister
Maler hat mich sehr freundlich aufgenommen. Ich miethete mich zuerst
bei einer alten Frau nebst Mops ein. Aber das Zimmer gefiel mir wegen
seiner melancholischen Farbe in die Lange nicht, u. dem Mops konnte
ich keine moralische Achtung zollen, da er nichts als fressen und
bellen konnte und gar keinen Humor hatte. Ich trat daher dieses Logis
dem Dr. C. ab, der sich nun auch hier eingefunden hat, aber durch
seine Hegelschen Phrasen, die er den Kiaaflem auf den Leib wirft, sich
etwas beschwerlich macht, u. zog in ein anderes Logis in der Nihe, wo
sich eine Katze fand, die an Herz u. Geist vorzugliche Eigenschaften
vereinigte.
In der ersten schonen Woche machte ich Ausfluge nach Ruinen
Villen Punkten schoner Aussichten. Das Colosseum sah ich besonders
eines Abends in wundervoll warmer, goldiger Beleuchtung, das Blau drang
so klar zwischen den altersgrauen Bdgen hindurch, die Lichter der Abend-
^) R. Reinick, geb. 1807 zu Danzig, gest. 1852 in Dresden.
*) Job. Wilta. Schirmer, geb. 1807 in JQlich, gest 1864 in Karlsrube.
*) J. Chr. Reinhard, geb. 1761 bei Hof in Oberfranken, gest 1847 in Rom.
480 ^
Sonne flossen an dem Epheu u. andenn Schlingkraut wie flussiges Feuer
nieder. Fast hdtte ich aber mein, nicht mehr junges, Leben eingebusst,
da wir uber einen diinnen Bogen von Backsteinen in bedeutender Hdhe
kletterten, u. ein Stiick unter meinen Fussen in die gewaltige Tiefe mit
dumpfen Getdse rollte. Himmlische Aussichten auf die Campagna habe
ich genossen. Diese weite Oede urn Rom, theilweise von den Albaner
und Sabiner Gebirgen abgeschlossen, an den iibngen Punkten als un-
endliche Flache sich im Horizont verlierend, bietet ein Farbenspiel, einen
bliulich silbernen Duft der Ferne, der den Maler entzuckt u. dem Laien
vielleicht besser als irgend ein Fleck der Erde sagt, was Schonheit der
Landschaft sei. Wenig Mittel, nichts Bestechendes, Alles einfach, aber
Grosse und Stille der Gotten Wer einmal die Campagna gesehen hat>
der eilt von den reichsten und glMnzendsten Landschaften Neapels sehn-
siichtig zu ihrer melancholischen Grosse, ihrer emsten Einsamkeit zurtick.
Ja, meine 1. Freunde, ich lerne, ich leme viel; als ich kam, war mein
Auge noch wie ein ungeschliffenes Glas, jetzt fange ich an zu sehen.
Die Kunstwelt Roms, der Statuen-Wald des Vatikans, die Stanzen
u. Loggien Raphaels eigne ich mir in kleinen, aber nahrhaften Portionen
langsam an. Es ist so viel, man taumelt; man muss sehr di3t leben.
Endlich wird mir Raphael klar. Ich betrachtete ihn friiher, weil ich ihn
nur von dieser Seite kannte, bios als religiosen Maler, und allerdings
steht mir noch jetzt seine Sistinische Madonna in Dresden am hochsten
unter seinen Leistungen, dieses Wunder der Malerei, an das ich nicht
ohne die tiefste Riihrung zurtickdenken kann, diese hdchste Vereinigung
heiliger u. menschlich naturgemMsser Schonheit, Spitze und Abschluss
der Malerei des Mittelalters. Hier in Rom lemt man nun aber Raphael
erst kennen in der Composition figurenreicher, zu einer Handlung ver-
einigter Gruppen; wie er dort als Abschluss der Malerei des Mittel-
alters steht, so hier als Beginn der historischen Malerei, wie sie nur
der neuern Zeit moglich, aber bisher freilich nicht erreicht ist, besonders
in den wundervollen Tapeten. — Doch genug von Kunst, denn wo auf-
horen, wenn ich recht anfienge?
Der Winter macht sich beschwerlich. Es regnet u. regnet immer,
man hat bestandig nasse Fiisse, u. der Italiener ist auf den Winter gar
nicht eingerichtet, auch viel hMrter und ausdauernder gegen Frost u.
ErkMltung als der Nordl^inder. Diess wird euch paradox scheinen: aber
es ist sehr natiirlich. Jede Nation schutzt sich so viel wie moglich
gegen das Uebel, das ihrem Clima eigen ist, und macht sich durch diese
Schutzmittel gerade gegen dieses Uebel empfindlich; wir verweichlichen
die Haut durch unsere unsinnigen Federbetten und andere WSrmemittel,
der Italiener fiirchtet die Hitze, schtitzt sich vielmoglichst gegen sie, sucht
daher besonders das Freie, und das hSrtet die Haut ab. Alle Deutschen
und andere Nordlander ertragen die Hitze Italiens leichter als den kurzen
italienischen Winter, der Italiener aber klagt wie ein Kind tiber massige
Hitze und ertragt die nasse KMlte leicht. Ich sah bei empfindlich kalt-
feuchtem Wetter halbnackte Kinder auf der nassen Chaussee, indem der
Vater daneben arbeitete, fest schlafen, sah bei Florenz be! ihnlichem
481 8^
Wetter einen Mann ganz nackt, bis auf einen Bund um die Hiiften,
Schiffe Ziehen — eine ganz plastische antike Erscheinung.
Lebt wohl behaltet mich lieb, furchtet nichts. Von Terni hieher
kam ich zum Theil be! Nacht durch die verrufensten Gegenden, wo
gegen die RSuber Militarposten von Punkt zu Punkt an der Strasse
postirt sind, die beiden Pfaffen standen grosse Aengsten aus, wdhrend
ich mit dem Federhdndler auf dem Bock getrost meine Cigarre rauchte.
Ich gehe an keinem gewaltsamen Ungluck zu Grand, sondera stolpere
fiber einen Strohhalm. — Den Papst sah ich in den ersten Tagen. — Addio.
Rom d. 5. Decbr. 1839.
W ih>W i^W i^W i^W ihtW IK9 I K9 f^W^W^wW^wW^wW^wW^wV nJ9 I^V IK
©er yi)ifofopl) flrebt t)on ber grofen »er^fi0ten ©eflalt^ bie in ber
dlatnx ali Hjx gefegmdfiged SQefen t)fr6orgen ift, tin }ufammen^dngenbfd
@tfi(f au^jugraben ober bie ganje $igur in i^ren Umriffen ju ffii)[fn; ber
92aturforfd)er ifl mit jebem aufgebecften unt)erflanbenen Q9rud)fi&cf jufrieben^ ob
ed mit ben anbern 3ufammeni)ang t)abe ober nid)t, wenn ed nur wirffid) ifl.
dditt ®ebanfen flrimen f^txtyox n>ie iat>a aui bem 9erg. @ie bringen bie
^drme einer unbefannten $iefe mit fi(^.
®enn wir in unfere 9)7afd)inen Urtei(toerm6gen einfe$en finnten^ wArben
SRenfd^en aui it)nen; wenn wir ti aui ben Organidmen ^eraudnei)men
f6nnten^ wirben 9Rafd)inen baraud. T^ai erflere f6nnte man (Id) audmalen,
bad }n>eite nidjt. Sie aRed)anifien aber ^alten bai }n>eite nid)t nur f&r
mbilidf, fonbern fogar f&r wirflid).
©er ^^ilofop^ begreift me^r, ali er betoeifen fann, ber SRaturforfd^er
erforfd^t metix, ali er begreifen fann; ber eine ijat me^r SinfTc^t, ali fein
Serflanb betodftigen fann^ ber anbere me^r ^enntntffe, ali fein Serflanb
bejwingen fann.
482
£er 9Bfg ber 9Btffenfd^aft ge^t ntc^t burc^ tfattt Stbpft iiinbnxdj, fonbem
an t^nen wtbtu
3it bem 9R{9t)rr^&[tntd^ weld^ed jtDtfc^en ber utiftberfe^baren WtttiQt t^oti Sat^
fa(f)en 6eilei)t^ bit toiv )u $age gef6rbert, unb bem aRititmum t)on {utreffenber
ti)eoreHfci)er (SxUnntnU, bte n>ir ffir biefe $atfa(f)eti aufge6ra(f)t ^abeti^ mirb
fid) ffir unfere 9Ia(4fommeii bad fOti^uxtjiltnii unferer Tlvbtitittaft ju unfent
Serfianbedfrdften mit etner gerabeju (dd)er[t(^en '^tutlidjUit audfprcc^cti.
(Sd tfl tttoa^ fDttTtto&xhi^ti urn fo etn ferttged Zitv, bad fetttc gan)e ^d^uU
btlbung tm fRutterletb bur(4gemad)t tjat unb nun ntc^M wetter brand^t^ aM
feine ^d^igfettett fptelen }tt laffett unb fidi unb feine Heine 98eft (u gentcfen.
£ie IGBeltgefc^tcf^te mac^t ed n>te unfere 9auem: wcnn ffe ^ferbe nid^t
tfahtn tanrt, fpannt fie Oc^fen etn.
Urtetle &6er 9)7enf(f)en unb Singe ber SBeft^ bte ale ^tlber in nnd
(tegen unb fo t>itl 3n>etge l^aben^ ali tin 9aum SBurjeIn ^at unb ebenfo
langfam gewacftfen f[nb n>ie ein folcfter, (affen fic^ nic^t in einem Sprung
aui einem £opf in ben anbem t)erpf[an}en.
2a0t i^nen aOen bie ^rei^eit )u fcftaffen unb and iidit ju fommen,
ben Qegabten n>ie ben Unbegabten, ben ®ef(^eiten n>ie ben Dummen, ben
SBem&nftigen wie ben 92arren. (Siner mirb ed babei boc^ immer am
^drtefien ^aben, burd^jufommen : bad ®enie.
%iit tyitlt finb Jtirc^en nur Serfic^erungdgefeOfc^aften gegen UnfdOe im 3enfeit^«
SOdrme unb Adlte unferer SBeft, if)r iid^t unb it)re Sunfel^eit ge^eit
t^on unferem ^ttitn and. ®ie felbfl liegt brau^en in i^rem unt)erdnber(i<^ni
98ert^ in i^rem en>igen ^reiben unb i^rer en>igen ®[eid^gjl[figfeit gegen ntid.
(Si gibt feine materieKe Wladft, totldit ben ffttlid^en Wlhdittn &ber ben
Aopf wad^fen titintt, otfnt ben Untergang i^rer felbfl k>oriubereiten.
HOilrbe ifi ein golbener ®atte(^ ber jebem <^el aufgelegt n>erben faun.
Sad 98eib t)erbirgt feine (Snoartungen unb Smpftnbungen nic^t nmr
nac^ augen^ fonbem aud) t)or fic^ felbfl. ®ie fhra^Ien nur bem ^A^Ienben
k>emei)mbar and feinem SBefen iitxwx, ahtx fein 3Bort beril^rt ffe. 2)a«
ifi nid)t blo^ ec^te 9Qeib(td)feit^ fonbem bie Hxt aUtx Slaturen^ unb ben
aRenfc^en aUer Staffen eigen, totld)t empftnben. Siefe wortlofen 0ef&^le
483
rebfit in ^Itcf unb Hu^htud, in ®ang unb ©ebdrbe cine feint Sprac^e imb
ftnb bad foflbarfle ®nt bed 9)lenf(f)en^ fein innered Seben^ ber 9I&t|r6oben
aOer A&nfle^ fein ©Ificf unb feine ®r6ge. @ie finb bad ®e6iee feiner
mdrmften @infamfei^ feiner grigten SQeltempfinbung; fte finb bie t)6(^flc
^iitte ber SBelt, w&rbig aU ber Seranflaltungen, weld^e in beren (Sntwid^
(ung auf (te abjielen. 9)lenfd)en^ n>e[d)e biefe SOBdrme, biefe Serfc^dmt^eit^
biefed innere iid^t gan) uxlovtn unb burd) einen faften Serflanb erife^t
baben^ i^abtn i^re fRatut, t)abtn ben 2(be( bed SRenfc^en t)er(oren.
SBenn TltUit bent fD^enfd^en nic^t me^r 3nt Id^t^ )u fi(^ fe(b|l }tt
tommtn, tytvaxmt {te ii)n unb feine Aultur. Siefe ®efabr bringen aUe
SBillendmenfc^en unb ^t)6[fer Hdj unb anbern*
Unter ben mannigfaltigen Sielen^ bie fidf ber Sb^geij Htdt, ift andf
ein feltened: einer gro0en 9Ba^rbeit gegenikber ber einjige 9tarr in ber
SBeU }tt fein, ber (ie nid^t glaubt.
®ie wiirben nic^t mit bem falfc^en ®elb ber J^bflidfttit }ufrieben fein, wenn
fie ft(^ bad tdfte &etb ber Sfc^tung t)erbtenen f6nntem
@ie flinb k>om ®(f)u^ bid jum ^nt, k>on ii)rer fD^einung fiber biefe bid ju
ibrer SReinung fiber ®ott bad SBerf 3Cnberer unb bfinfen ffc^ bodf ganje
«eure.
®tarfe 3nbit)ibua[itdten ffnb wiberfpenfiig gegen Srjiebung/ weil ffe f(f)on
einen @r)ieber in Hdf tiabtn, ber bem }n>eieen n>iberf))rid)t
@o ifl ed: bad (alte ®e(b enodrmt t^re ®ee(en, unb bie todrmfle Snnft
Id^t ffe fait
£er moberne fOlenfd) t)at feine Jtirperoberfldd^e fo fe^r t)ergeffen, ba&
t^m feine Aleiber beffer gefallen aid feine .Oaut
!!Bad bie SRenfc^en ®Ifi(f nennen, ifl bad ®emetnfle am teben, ben
8liebertrdd)tigflen am ietd^teflen erreic^bar.
Sad ifl bein t)on ber 98elt, n>ad bu in beiner Qrufi fammelfl unb warm
^dlrfl t)on it)x. @ie weif ni(f)td t)on beinem @d)a$, fie fd)eint fait gegen
t^n )u fein, aber fte \)at eine Unenblid)feit foI(^er ®(^d$e in flc^.
(Sin Wttnidf obne ^b^^n^^fte ifl tt>ie ein ©umpf. Z)er @tein, ben bu ^tnein^
toirffi, erjeugt feine SQeOien*
484 JK-
£er f(f)(immfle aUtv Jtunfl tH etn nnbeSdftittntv Serflanb/ ber il^re
@ffe$f bfffer fennen n>ta aH fie felbll.
gtbt tm ©eelenleben bed aSenf(i)en fetne^ Itebltd^e Stnge^ bie fo {art
finb/ ba^ fie {eril6rt toerben, n>enn man fie mit SBorten beri^rt
®ttoot)niitit tfl bie Argfle ^etnbtn ber f&nfllertfc^en SBa^r^eit
aRan benft ftd^ ben ^rtefler ber itunfl^ ber SBtffenfc^afe ober ber Steligton
fo fe^r in feine tbeafe SBelt t)erfunfen, ba^ t^m bie nu$en6ringenbe toirflictie
barftber ganj t)er[oren ge^t; in SQa^r^eit aber tytvQtfftn bit meifien t)on
t^nen nid)t biefe, fonbem jene.
2)er fid^erfle SQeg, an bem geifligen 3n^a(e eined Jtunfhoerfd t)orbei{uget|en^
tfl: ba^ man juerfl ben Serflanb }u it)m ^infd)icft.
(ommt eine 3^it in unferem Seben^ in midget toix mit Hditln auf
nnfere eigene Sergdng(id)feit t}erab6K(fen nnb ben Sag^ an bem fte fiA
erfilDen n>irb^ nid^t f&r n>id^ttger a(f)ten aid benjenigen^ an bem irgenb etn
befcfjeibene* ffeined-^ier fein (5nbe erieibet (Si ift bie 3«t, in ber wir
und fo eief in bad unaud[ifci)Iid)e Seben ber SQeU ^inein empfunbcn ^aben^
baf n>ir &ber ber ffeinen Srauer unfered Sobed bie nnenblicfte «Oeiterfeit
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Carl Spitteler.
Ein kunstlerisches Erlebnis
von Felix Weingartner in Miincben.
Ein junger Komponist? — Ein aufgetauchtes Dirigentengenle? —
Am Ende gar der Titel einer neuen realistischen Oper? — So werden
vielleicht viele Leser fragen, wenn sie Oberschrift und Verfasser dieses
Aufsatzes nebeneinander sehen. Nein, meine Verehrten, diesmal handelt
es sicb nicbt um Musik, wenigstens nicht um solche, die durch
Notenkdpfe darstellbar ist, sondern um einen Dichter, und zwar um
-e^ 485 ^
einen sehr grossen. — Wie kommt aber der Musiker dazu, daruber zu
schreiben? — Ja, sehen Sie, wenn ein Dichter, der eine betrSchtliche
Anzahl Werke von allerhdchstem Werte gescbaffen hat, beinahe das
sechzigste Lebensjahr erreicht, und sein Name nicht nur iin grossen
Publikum, sondem auch, mit Ausnahme etwa seines engeren Vaterlandes,
der Schweiz, in Kreisen, die in der zeitgendssischen Litteratur gut Be-
scheid wissen, fast unbekannt ist, so ist es schliesslich nicht zu ver-
wundem, wenn es sich in der benachbarten Schwesterkunst regt, und
ein Musiker die Eindrucke mitteilt, die er Carl Spitteler, dem Dichter
verdankt. Mehr will ich auch nicht versuchen. Ich will nicht kritisieren,
nicht polemisieren, will Spitteler mit keinem andem lebenden Dichter
vergleichen, was ich, nebenbei bemerkt, auch nicht konnte, will keine
gelehrte Abhandlung schreiben, will, mit einem Wort, sehr unlitterarisch
verfahren. Nur Anregung will ich geben, die Biicher, von denen im
weiteren die Rede sein soil, zu lesen, aus dem einfachen Gninde, weil
ich's Menschen, die mit einer Seele begnadet sind, von Herzen gonne.
Es war im Sommer 1901, als ich auf dem Bahnhof in Aussee
das gerade angekommene Morgenblatt der ,Neuen freien Presse*' kaufte.
Merkwiirdiges Spiel des Schicksals! Hatte ich einen andern der zahl-
reichen Sommerzuge benutzt, oder einen gedankenlosen Griff nach einem
andem Zeitungsblatt getan, so wSre mir einer der grossten und be-
deutendsten Kunstgenusse meines Lebens vielleicht noch auf Jahre hin-
aus vorenthalten geblieben, denn in keiner einzigen Zeitung bin ich
dem Namen, den ich an diesem Tage kennen lemte, wieder begegnet,
bis mich vor kurzem das Interesse antrieb, das wenige auszuforschen,
was bisher iiber seinen Trager geschrieben worden ist.
Das betreffende Blatt der «Neuen freien Presse** enthielt einen
»Hera, die Braut*' betitelten Artikel des bekannten Bemer Dichters und
Schriftstellers J. V. Widmann, der so beginnt: «Die anonyme Dichtung
,Primavera Olimpica^ (Olympischer Friihling), die Professor Gagliardi
im Palazzo Piccolomini in Siena neulich entdeckt hat, diirfte derselben
Zeit angehdren, in der Domenichino sein beruhmtes Bild ,Die Jagd der
Diana^ schuf (Galerie Borghese, Rom). Wenigstens strahlt uns aus dem
nun auch im Druck zug^inglich gewordenen Manuskript dieselbe Freude
an den schonen Gestalten der griechischen Gdtterwelt entgegen, der die
blendenden Reize jenes GemMldes ihren Ursprung verdanken." Es folgt
eine kurze Inhaltsangabe und zwei Zitate von wundervoUen deutschen
Versreihen. Widmann fMhrt nun fort: »Ich fiihle, dass ich hier von
den Lesem unterbrochen werde, und zwar mit der sehr berechtigten
Frage: ,Bitte! Von wem ist denn die sprachlich so originelle deutsche
Ubersetzung des italienischen Epos? Die ist ja an und fur sich ein
Kunstwerk. Etwa gar von Ihnen?^ ,Ach! Leider nein!^ muss ich der
Wahrheit gemSss und zerknirscht antworten, und meine Verlegenheit
wflchst, indem ich mir nicht verhehlen kann, dass mit dieser Unter-
brechung meine ganze Fiktion zusammenfillt.*' — Er gesteht nun, dass
es weder einen Professor Gagliardi, noch eine Primavera Olimpica gibt,
dass aber die gezogene Parallele ruhig bestehen konne, wenn man statt
SQddeutscbe Moiuitsbefte. 1,6. 32
486 8^
,Jagd der Diana** von Domenichlno «Spiel der Wellen** von Arnold
Bdcklin setzt, und statt der Primavera Olimpica eines fingierten italieniscben
Dichters der Renaissance das bei Eugen Diederichs in Leipzig 1900 und
1901 erschienene epische Gedicht .Olympischer Fruhling* von Carl
Spitteler, einem in Luzem lebenden Landsmann Bdcklins.
Warum er, Widmann nimlich, so ^rafSnierf* gelogen babe? Die
Antwort gibt er uns sofort selbst: «Man darf doch anstindigerweise
deutschen Lesem nicht so wie aus den Wolken herab mit einem lebendigen
deutschen Dichter — vollends mit dem Anachronismus eines Epikers!
— ins Haus fallen, man muss sich ihrer Wohlgeneigtbeit erst dadurch
versicbem, dass man ihn mit einem auslftndischen Geschmicklein und
Wurzgeruch parfumiert und ihm die interessante Blisse der Lingst-
verstorbenheit gibt." — Welch glucklicher Schachzug Widmanns, das
Interesse des Lesers von vomherein zu gewinnen, aber auch welch feiner
und herber Stich auf den Geschmack des deutschen Publikums, das
schlechten Obersetzungen auslindischer Romane zu zahlreichen Auflagen
verhilft, wertvolle deutsche Dichtungen aber skeptisch ignoriert, bis der
Verfasser gestorben ist, und sie mitunter auch dann nicht liest.
Der genannte Artikel war fur mich die Veranlassung, das so geist-
reich empfohlene Werk sofort zu kaufen. Die beiden missig starken
Bftnde trugen neben dem gemeinsamen Titel »01ympischer Fruhling*
die Untertitel »Die Auffahrt, Ouverture" und «Hera, die Braut**. Als
ich einmal begonnen hatte zu lesen, wurde es mir schwer aufiuhdren;
ndtigten mich dann iussere UmstMnde dazu, so konnte ich es kaum
erwarten, das Buch wieder zur Hand zu nehmen. Schliesslich zwang
mir die Oberfulle des zu Empfangenden ein ruhigeres Lesetempo auf.
Bilder auf Bilder zauberte der Dichter vor mein geistiges Auge mit so
handgreiflicher Deutlichkeit, dass ich meinte, sie malen zu mussen, und
mit so tiberzeugender Kraft, dass ich sicher wusste, sie nle vergessen
zu konnen, obwohl ich nichts Ahnliches fruher kennengelernt hatte.
Zwar waren es bekannte Namen, die ich las: Hades zunichst, dann die
Sibyllen. Sie sprachen von Hera, vom Olymp, von Kronos. Spflter
tauchten aus dem anfinglich summarisch behandelten Gdttergeschlechte
andere vertraute Gestalten auf, Zeus, Apollon, Aphrodite, Poseidon und
die ubrigen Grossen und Kleinen des griechischen Mythos. Aber was
sie taten und erlitten, war neu, ganz neu, unerhdrt neu vom Anfang
bis zum Ende. —
Zur Unterwelt fuhrt uns der Anfang der Dichtung; Hades, ihr
Gebieter, bewahrt und bewacht die Gotter der Zukunft, die in schlaf-
ihnlichem Zustande der Zeit barren, da ihnen bestimmt ist, die Herr-
schaft der Oberwelt anzutreten. Ein Bote meldet den Sturz des Kronos
und seiner Anhdnger. Dies ist der erwartete Augenblick. Hades weckt
die Schlafumfangenen und versammelt sie in der Tempelhalle. Dann
richtet er die feierliche Frage an sie:
^Brfider, — erst bekennt den Namen
Des, der dem Leibe Leben leiht und Saft dem Samen,
487 8^
Dem alles, hocta und niedrig, knechtiscta untertan,
Gdtter und Menschen; der nach seinem flnstern Plan
Der Sterae L^uf besHmmt und der Gedanken Gang.*
Er sprach's. Und Antwort gab ein Murmeln ernst und bang:
Sein Name taeisst Ananke, der gezwungene Zwang.*
Mit dieser Antwort ist der Grundton der ganzen Dichtung gegeben.
Dieser Grundton ist pessimistisch, denn wo Ananke, die unerbittliche
Notwendigkeit, alles Lebende beherrscht, da gibt es von Leid und Qual
kein Entrinnen. Darin deckt sich die Weltanschauung unseres Dichters
mit der der Griechen. So wie aber diese nicht zur Verleugnung des
Daseinswertes, zur Askese, gelangten, wie die buddhistischen Inder,
sondem die das Leben hemmenden Einflusse mit Kraft und Schdnheit
zu bezwingen suchten, und der Daseinsfreude ebenso ihr Recht liessen,
wie dem Schmerze, so predigt uns auch die vorliegende Dichtung trotz
ihres Pessimismus nicht von Entsagung, sondem entfaltet die Phinomene
des Lebens in uppigster Bltite. Wir erleben Greuel und Frevel in riesigem
Massstabe, denen sich hochherzige Gute entgegenstellt, aber auch Lust
und Schdnheit sttirmen mit einer Unblndigkeit auf uns ein, die ein
Empfinden, das im modemen, vielfach auf nivellierender Ubereinkunft
beruhenden Leben herangewachsen ist, vielleicht erschauem Idsst, bevor
es sich dem vollen Entzticken hingeben kann. Besser, im heutigen
moralischen Sinne, waren die Griechen gewiss nicht als wir, aber freier
waren sie, schdner, stSrker und aufrichtiger in alien Ausserungen
ihres Wesens; sie waren Ganz-Naturen im Guten wie im Bosen. Darum
blieb auch nach zwei und einem halben Jahrtausend den auf uns ge-
kommeq|m Wirkungsresten dieses herrlichen Volkes so viel Lebenskraft
bewahrt, dass sie der Jungbrunnen geworden sind, von dem bis in feme
Zeiten schaffenstrunkene Naturen um so begieriger trinken werden, je
mehr gewisse Richtungs-Menschlein glauben, uber die „verstaubte Antike*^
die Nase rumpfen zudurfen. Diese begreifen nicht, dass niemals veralten
kann, was das Ewigtypische der Welt zu packen und, sei es im grossen
Oder kleinen, darzustellen wusste, und dass nur das Halbe, das Angepasste
seine Eindmcksfihigkeit verliert, sobald die Zeit mit ihrer Geschmacks-
richtung vorbei ist, fiir die es gerade gemacht war. Unsterblich aber
vor alien andem werden die Griechen bleiben, denn niemals ist die
menschliche Natur auf eine solche Hohe erhoben worden, als in den
Jahrhunderten, da dieses Volk in der Blute seiner Entwicklung stand.
Unser Vollkommenheits - Ideal ist damals geboren worden, das kein im
Namen der gdttlichen Liebe geftihrter Schwertstreich und kein Fluch
von bleichen Busserlippen ausroden konnte. Entrang sich damm der
Phantasie eines Dichters eine Welt von Ubermenschen, oder wie es in
einem Luzemer Blatt fiber Spittelers Werk treffend heist: „ein weiter ent-
wickeltes Menschengeschlecht mit hervorragenden Edeltypen, Menschen
von kraft- und hoheitsvoller Erscheinung, voll physischer StMrke und
selbstfrohen Kraftgefuhls", so waren dies von selbst schon Griechen,
bevor noch der erste Vers geschrieben war, denn nur als solche,
wenn ich so sagen darf, im griechischen Milieu, konnten die Gestalten
32*
488
jene Grosse, Wahrhaftigkeit und von aller Convention freie Plastik ge-
winnen, die Spitteler ihnen gegeben hat
Auch das landschaftliche Element der Dichtung blieb davon nicht
unberuhrt. Zwar merkt man hier in zahlreichen Bildern und Vor-
gingen, dass Spitteler Schweizer ist und zu deutlichster Anschaulich-
keit voD dem angeregt worden ist, was ihn am nichsten und haufigsten
umgab. Er gleicht hierin jenen naiven Malern, die, ohne Riicksicht auf
das Historische, Romer und Judier im Kosttim der damallgen Gegenwart
und in der Umgebung ihres Wohnorts darstellten. Aber uber diesen
Fluhen und Matten, die Spitteler uns schildert, auf diesen Gipfeln und
Schroffen weht die dunstlose Luft des Stidens, liegen die Farben, der
Glanz und die unvergleichliche Perspektive der meerumspulten klassischen
Eilande. Dies ergibt Stimmungen von ungewdhnlicher Leuchtkraft.
Auffallen muss, dass Spitteler ein antikes Versmass vermieden hat.
Ist es nicht seltsam? Goethe wahlt fur sein kleinburgerliches « Hermann
und Dorothea* den Hexameter und ruckt dadurch den Stoff in die Feme,
indem er ihm gleichzeitig ein dem Epos angemessenes monumentales
Geprige verleiht. Spitteler schenkt uns griechische Gdttermarchen in
sechsftissigen Jamben, und gewinnt durch die unserem Gefuhle vertrauten
paarweisen Reime fur den femen Stoff die trauliche Nahe und WMnne.
Torheit, dem Dichter die Wahl dieses Versmasses zum Vorwurf zu
machen, weil es zu holperig, oder gar, weil es nicht mehr zeitgemiss
sei! Es kommt doch wahrhaftig verschwindend weniger darauf an, in
wefchem Versmass ein Gedicht verfasst ist, als darauf, dass die Verse
gut sind. „Diese harten Alexandriner ^) sind weder so kriftig, noch so
itherisch, dass sie Gotter tragen konnen, es sind rumpelnde (!) Streit-
vagen fur pelasgische (!) Ritter^S lese ich in einer Kritik. Nun hdre
man den Hymnus der aus dem Hades aufsteigenden Gdtter an die Sonne,
die sie zum erstenmal erblicken:
«Wer hist du, hohes Wesen, freundlich und erUucht,
Das Berg und Tal zumal in goldnen Frotasinn taucht?
Vom Himmel fern in stolzer Abgeschiedenbeit
Malat du das Weltall mit geschmolzner Seligkeit,
Erfullst mit sussem Inbalt den verdrosanen Raum
Und Schein und Wesen einigst du versdbnt im Traum.
Mit welchem Gruss und Namen soli iota dir begegnen?
Ich weiss ea nicht, doch deine Werke lass mich segnen.*
Rumpelnde Streitwagen fur pelasgische Ritter! ! Es mag ja aller-
dings recht bequem sein, sich aus isthetischen oder kunsthistorischen
Lehrbuchem einige UrteilsbegriflTe zusammenzuschachteln und, was da
nicht hineinpasst, mit geistreich sein sollenden Phrasen abzutun, aber
solche Art von Kritik muss eben gewSrtig sein, bei Gelegenheit wieder
kritisiert zu werden. Zu diesen Schachtelurteilen gehdrt auch, dass sich
heutzutage kein Mensch mehr fur Mythologie interessiere. Ich kdnnte
da eine schneidige Bemerkung Spittelers aus einem seiner Vortrige
^) Die Bezeichnung ^Alexandriner* ist nur zum kleinsten Teil richtig. Der
Alexandriner hat nach der 6. Silbe eine Ciaur, die bei Spitteler aehr selten yorkommt.
1
^ 489 8^
uber das Epos zitieren, unterlasse es aber und sage einfach: wer sich
nicht dafur interessiert, ei zum Teufel, der soil doch davonbleiben. Die
Sbrigen befinden sich dann wenigstens in besserer Gesellschaft. Doch
halt — ich versprach, nicht polemisch zuwerden, will also diese, meinem
Wahrheitsbediirhiis entspringende Neigung fortan in ein verschwiegenes
Kimmerchen meines Herzens verbannen.
Hier mdchte ich den Leser aufmerksam machen, dass bei Spitteler
Wortbildungen und -anwendungen zu finden sind, die iiberraschen.
Da ich die Ansicht vertrete, dass das Ungewohnte keinesFalls
schlecht sein musse, so rate ich, auch hier zu prufen, welcher Sinn in
dem Worte stecke und ob nicht gerade an der betreffenden Stelle jedes
andere Wort unangebracht wire. Z. B. Den Gottem, die den Erebos
verlassen woUen, schwirren unzihlige Listervdgel entgegen, ein elendes
Sumpfgeziicht, das jeden in den Kot Ziehen will, der nicht mit ihm
klappert und plappert. Als sie ihren giftigen Unrat nach den Gottem
speien, sagt Hades von ihnen:
Sie wiirden namlich ohne jegliches Bedenken,
Glaubt mir, wenn ich nicht wire, euch zu Boden s tan ken.
Jemand meinte tadelnd, es musse ^stinkem** heissen, was jedoch eine
ganz andere Bedeutung hitte. „Er stinkt etwas zu Boden** (oder will
es wenigstens) kann man von einem kleinlichen, rachsuchtigen, perfiden
Gegner sagen, der nachher, im Falle des Misslingen, es mit dem
^stankem" versucht. — Von einem Geier sagt der Dichter:
Dachauf, dachab vom Giebel bis zum Zinnenkranze
Hump Ft' er umher in schauerlichem Klauentanze.
nHumpfen**, weder „hiipfen" noch ^humpeln**, gibt die unheimlichen
Bewegungen des Leichenvogels mit onomatopoetischer Kraft wieder. —
Die Bergbiche, die Poseidon aufwirtszwingen will, lisst er, ihm zum
Trotz, ihre Gewisser frech zu Tale «schneuzen*; ein guter Ausdruck
fur die schnaubenden Wasserfille der Alpen. Den Sonnenwagen des
Helios nennt er ein ^^Schdngetum", d. h. Riesengrosse mit Schdnheit
vereinigt, im Gegensatz zum hisslichen „Ungetiim". Auch schweizerische
Dialektwdrter wird der Kundige herausfinden, die mit wenigen Silben
mehr sagen, als lange Umschreibungen.
Im folgenden habe ich nicht die Absicht, den Inhalt genau zu er-
zihlen. Das hiesse dem Leser des Werkes eines der schdnsten Gefuhle
bei der ersten Lektiire, die erwartungsvolle Spannung, vorwegnehmen.
Obrigens sei gleich bemerkt, dass der Genuss beim zweiten Lesen,
wenn man »weiss was kommt*", nicht etwa geringer wird. Im Gegen-
teil, die Freude am herrlichen Aufbau, an der bilderreichen Sprache
wichst, wenn die Beschaulichkeit des Geniessens durch jene erste
Spannung nicht mehr gestort wird. Es gibt geschickt gemachte Theater-
stiicke und Romane, deren Wirkung ausschliesslich im Erzeugei^ dieser
Spannung beruht. Man sieht, man liest sie einmal mk Interesse, und
ist das zweitemal emiichtert, weil man den Hergang nun kennt und
nichts Neues mehr erlebt. Bei grossen Kunstwerken fingt die Haupt-
400
Freude an, wenn man sie ganz genan kennt, well sie so relch sind, dass
man sie nie erschdpfen, nie mit ihnen feitig werden kann, durch die
Erkenntnis dieser Unmdglichkeit aber die Fiille ihres Reichtums erst
versteht. Zu diesen Werken gehdrt der .Olympische Frfihling*.
Ich will nun den Faden der Begebenheiten lose in der Hand be-
taalten und bei einigen besonders bemerkenswerten Episoden etwas ver-
weilen. WoUte ich's bei alien, so musste ich die Dichtnng einfach
abschreiben, denn da ist keine Zeile, die nicht inhaltreich, keln Wort,
das nicht bedentsam wSre.
Die Gdtter haben die Unterwelt verlassen, nachdem sie, von Hades
treulich gefuhrt, die sieben .erebinischen Gefahren", die uns der Dichter
mit knhner Phantasie schildert, ohne Schaden uberwunden haben und
steigen den .Morgenberg'' zur Oberwelt hinan. In einem Lawinenbett
begegnen sie dem gesturzten Kronos mit den alten Gdttem, die Anankens
Wille erbarmungslos in die finstem Tiefen hinabtreibt, denen ihre gluck-
lichen Nachfolger soeben entronnen sind. Diese Begegnung ist von
tiefster tragischer Bedeutsamkeit. Wer sie liest, ohne im Innersten
erschtittert zu sein, der lege das Buch aus der Hand; es ist nicht fur
Ihn geschrieben.
Als ecbter Kunstler kennt Spitteler sehr wohl die Wirkung und
Notwendigkeit des Gegensatzes. Darum sorgt er weise dafur, dass dem
dusteren ein heiteres Bild folge. Die Gdtter, kleinlaut und verzagt
durch die Begegnung mit Kronos, in dusterem Ahnen ihr eigenes, der-
einstiges Schicksal erschauend, klimmen schweigend nach oben, bis sie
auf weiten, schattenlosen Wiesen kraftlos in der Sonnenglut zusammen-
brechen.
Da blitzt ein Jauchzer fiber ihnen silberhell,
Der h&pft durch die blum'gen Matten froh und schnell.
Und sieh am Horizonte droben auf der Weld
Wucbs aus dem blauen Himmel eine schlanke Maid',
An Tracbt und Ansebn einer schlichten Hirtin gleich,
Doch scbimmerad wie ein Engel aus dem Himmelreich.
Die hohlen Hind' als Muschel hielt sie vor den Mund,
Draus stiess sie Jauchzerketten in den Alpengrund.
Leichten Fusses springt sie zu den Lechzenden herab und bietet
ihnen labende Speise zur Erquickung dar.
»Gesegnet seist du*, dankten sie, „und benedeit,
Du boldes Midchenangesicbt, in Ewigkeit.
Nie brachf ein schSn'rer Bote eine schSn're Post
Fiirwahr, dass nenn ich eine wundertit'ge Kost.
Wir spfiren lauter Wonne, keine Unlust mehr.
Doch sprich: wie heisst dein Name? und wo kommst du her?*
Uranos hat sie gesandt «der Herr des Stemgewimmels*, der Mit-
leid mit den Entkrflfteten empfand.
»Doch wolit ihr meinen Namen wissen, nennt mich Hebe."
Zum ,Baum der Hesperiden*,
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Von dem die Sage meldet, dass aus aeinem Samen
Simtliche Pflanzen aller Welt den Ursprung nahmen,
wandern die neugestirkten mit der holden Hebe und vertreiben sicb in
seinem wundersamen Schatten mit Erzlhlen von MSrchen, mit der
.Dicbtung Purpurbildern* die Zeit, bis sicb die Sonne znm Horizont
neigt. Doch aucb den fnrcbtbaren Ernst des Daseins mnssen sie wieder-
um kennen lemen.
«Oben in diesem Forst, in einer scbrofTen Kluft!"
Erklirte scbauderad sie,^) »starrt eine Mdrdergruft,
Von waldgekrdnten Mauerwinden ringsumgeben.
Das ist, die jeder fliebt, die Grotte ,Tod und Leben^
Zwei H5blen lugen oben aus dem Felsenhaus
Und jede H5ble liuft in eine Treppe aus,
Die Mien durcb ein Dickicbt, wo der Blick erlischt.
In einen Teicb, der immerfort im Aufrubr ziscbt
Und spelt und sprudelt listerlicbe Flucbgebete.
Willst du des Teicbes Namen wissen. nenn' ibn ,Letbe^ ^
Merkt: Aus der einen H5ble, grisslicb zu erziblen,
Verwirft des Todes Racben die erwQrgten Seelen
Der Tier und Menscben. Auf der anderen Treppe Stufen
Zieben sie empor, zu neuem Erdengang berufen".
Und alle steigen triefend aus dem Zauberbad
Und straucbeln auf die Treppe nacb dem Lebenspfad.
Wobl scbiitteln sie und scbleudem angstvoll Haupt und Glieder,
Docb aus dem Netz des Fleiscbes ziebt sicb keiner wieder.
Der beiPgen Seele ist der Scbleim nun Herr und Meister,
Du lebst, du klebst, verkittet in den blufgen Kleister.
UnglSubig IScbeln die Gdtter, docb Hebe fubrt sie auf die Brucke
oberbalb der verbSngnisvollen Grotte, nachdem sie ibnen erst Nusse
gegeben hat,
^deren Zimt,
Dem, der sie isst, den berben Scbmack des Mitleids nimmt*
Grausend erschauen sie den » Wirbelsturm der fnrchterlichen Geister-
mnhle''. Da stockt einen Augenblick der grausige Kreislanf und tranrig
»mit innigen Augen"* schauen die Tiere zn den Gdttem auf:
»0 sagt uns, welcb Verbrecben baben wir verscbuldet,
Dass solcb ein blutig Scbicksal wird von uns erduldet?
Aucb icb bin Geist, mit eurem Fublen f&blen wir,
Weswegen sind wir Tiere, aber G5tter ibr?*
Docb der Ton ibrer Stimme wird zu unverstindlichem Grunzen
und Grdhlen,
Und wie sie flebentlicb die Hinde streckten, boten
Sie keine Hinde, sondem Krallen, Tatzen, Pfoten.
In wildem Zome fluchen die Gdtter der Grausamkeit Anankes.
Der wild dahinstiirmende dritte Gesang erzlhlt uns von Aktaion,
der die Erde von den Ungeheuem siubert, bis der Unbezwingllche selbst
0 Hebe.
492
von der Liebe Wahnsinn grausam bezwungen wird. Der sechste schildert
mit feinem Humor die Eifersfichteleien zwischen Pallas und Aphrodite.
Die Krone des Ganzen aber, ein Gedicht, nach meinem Gefuhl nnr den
allerhdchsten Erzeugnissen der Weltlitteratur an die Seite zu stellen, ist
der vierte Gesang ,Apoll der Entdecker'. Apollon ist das Gegenstuck
zu Poseidon; ein vergleicbender Gegensatz dringt sich daher auch bier
unwillkurlich auf ; der emst strebende, bochfliegende, wahrhaftige Kiinstler
im Gegensatz zu dem nach KnalleiFekten lustemen Macber.
Zu seinem DImon spricht Apoll:
yWeisst du mir einmal einen friscbeo Himmelsbogen,
Hocby frei and rein, darin nocb niemals ward gelogen,
Den keine Pfifflgkeit befleckte mit Verrat,
Weil ibn kein Scblechter keont, kein Feiger je betrat. *
I, Was du bedingst," versprach der Dimon, »briog' icb dir:
In einen frischen Rauniy Entdecker, folge mir."
Ein .Fimlicht* siebt Apoll im Auge seines DSmons glinzen, auf
springt er, die Seele voll kubnen Wagemuts, und hinauf klettem sie ins
Hocbgebirg. Ein Weib kommt Apoll entgegen. Artemis ist's, die treue
Freundin, die ihm schon friiher im Wettlauf um Hera aufmuntemd zur
Seite blieb. Auf Bergeshdhen, das wusste sie, ist Apoll zu finden. Ein
freudiges Rauschen ertdnt, ein strahlendes Licbt zuckt auf und fiammen-
lodemd kommt der Sonnenwagen dahergeroUt, von Helios gefuhrt. Helios
erkennt Apoll nicht, belebrt ibn daber ausfubrlicb iiber das Triebwerk
der Sonnenschmiede und beantwortet dann seine Frage, warum er die
Sonne am Seile und den Wagen dngstlicb lings des Felsgelindes fubre,
und nicht lieber ins Freie, Weite schweife, mit den nicbt gerade b5f-
licben Worten:
9 Was einer nicbt verstebt, das lass' er unterwegen."
Von der lachenden Artemis uber seine Unkenntnis aufgeklirt,
tiberfliesst er von Entscbuldigungen, worauf ibm Apollon die scbdne
und grosse Antwort gibt:
»Den Vorteil deiner Lehre mochf icb gern geniessen.
Denn niemand ist so gross, und reicht er zu den Stemen,
Eh' dass er etwas kann, muss er's bescheiden lemen.*
Apollon Idst die Sonne von den fesselnden Stricken und besteigt
selbst mit Artemis den Wagen.
Jetzt gleicb, wie unterm Sattel ein erlesen Pferd
Scb5n bupft, wenn es den Reiter merkt, der seiner wert,
Und gleich dem Schwan, der stolzen FlQgelschlags den Gischt
Auf^eitscht uod aus gebognem Halse Hocbmut ziscbt,
So segelte die Sonne, als sie kaum verspiirte,
Dass selbst der kSoigliche Held Apoll sie fQhrte,
Mit aufgeblihtem Wimpelwald io ebnem Plug
Gltickaus ins Blau, durch Atherglanz und Wolkenzug.
Hinauf geht die Reise fiber den letzten Erdensaum binaus in den
unbewobnten Weltenraum, in die wesenlose Leere. Die Adler, die nocb
-e^ 493
eine Weile mitgeflogen, fallen ab, die Mucken, die letzten Lebensboten
der Erde, schwirren Unheil, und selbst Artemis erbangt, das Herz bedrlngt
von granenvoller Einsamkeit. Endlos scheint die Fahrt durch die Ather<p
wnste. Da — ein Rauchwdlkchen, ein Blatt, ein fremder Vogelschrei
ond vor einer Wolkenwand, dahinter wonnige Laute t5nen, hlU der
Wagen. Einen einzigen Punkt in dieser Wand, haarscharf, dem Auge
unsiclitbar, muss Apollon mit dem Pfeile treffen; ein Fehlschuss, nnd
sie bleibt fur ewig geschlossen. Bogen und Pfeile fliegen ihm zu. Er-
bangend, zweifelnd, erschauemd vor Unmdglichem ISsst er den Bogen
immer wieder entmutigt sinken, bis ein plotzlicher Entschluss ihm Kraft
verleiht, und er den Pfeil entsendet.
,,Weh mir und Mitleid! feblt* Ich?* frug der Scbtitze bang.
Doch sieb, da schwankte, teihe sich der Wolkenbang,
Und au8 dem Scbleier trat, gleicb einer Jungfrau hold,
Das Land der Oberwelt in Gluck und Farbengold.
Ein Wald von Blumen, ein Vulkan von Schmetterlingen
Und Berg und Tiler, laut von Silberquellen springen.
Die Hinde reichten sich, ergriffen, inverschwiegen
ApoU und Artemis, worauf ans Land sie stiegen.
Wir sind nach Metakosmos gelangt, der lichten Oberwelt. Sie
existiert vorstellbar nur im Kunstwerk und im Gleichnis; beides gibt
uns der Dichter. Unbetreten ist der Weg, unbeirrt muss ihn der Kunstler
wandeln und haarscharf muss er den Zweck — so nennt auch Spitteler
Apollons Ziel in der Wolkenwand — den idealen Zweck, nattirlich, erraten
und treffen, soil das Geschaffene vollkommen sein. Mit Muhsal, Serge,
Enttfluschung und Mutlosigkeit wird er kimpfen mussen, vergeblich wird
oft all seine Arbeit sein, bis ein Blitz niederzuckt und das Ziel erleuchtet,
dem er nun mit neugestSrkter Kraft zueilt. — Indem ich Spittelers Gleichnis
zu erkiaren versuche, fange ich selbst an, im Gleichnis zu sprechen; ein
Beweis ftir die Kraft dieser Poesie, die eine rein verstandesmSssige Deutung
nicht zulisst, somit nie zur eigentlichen Allegorie hinabsinkt, sondem,
wenn sie schon eine Umdeutung erfahren soil, nur eine solche ins Psychische
duldet. Ich zitiere hier ein Wort des Dichters aus einem seiner friiheren,
nachher zu erwahnenden Werke, das Klarheit gibt, wie er selbst daruber
denkt: «Der ,frostigen^ (rhetorischen) Allegorie rede ich nicht im min-
desten das Wort; wo aber die Allegorie nicht ,frostig* und rhetorisch,
sondem warm und poetisch au ftri tt, da gibt sie meines Erachtens einer
Erzflhlung, weit entfemt ihr zu schaden, einen vermehrten Reiz: der
tiefere Sinn gleitet parallel unter der Handlung dahin, wie die Spiegelung
eines segelnden Schiffes im Wasser** (Extramundana.)
.Gleichnis" wird hier aber wohl in jedem Fall eine bessere Be-
zeichnung sein als .Allegorie'*, und zwar mochte ich die soeben er-
wlhnte Art ideale Gleichnisse nennen im Gegensatz zu den realen,
wo der Dichter einen anschaulichen Vorgang der Natur zum Vergleich
mit einer Seelenstimmung heranzieht, z. B. wenn er am Anfang seines
Epos das allmlhlige Erwachen der Gdtter aus ihrer traumhaften Trauer
mit dem Knospen der Blumen vergleicht. Derartige Gleichnisse, deren
494 8^
es viele im .Olympischen Fruhling* gibt, bilden Parallelen — nicht
etwa Reminiszenzen — zu fthnlich gearteten Stellen der Homerischen
Gesflnge.
In Metakosmos blfiht und duftet es geradezu von Gleichnissen,
allerdings nur von idealen, denn Vorginge der irdischen Natur gehdren
dort nicht mehr hinein. Das schonste ist das vom »Tal Eidophane*,
wo jeder sein eigenes Ich, losgeldst von der Leiblichkeit, erblickt. Dort
erschanen auch Apollon nnd Artemis ihre schlackenlosen, goldreinen
Seelen nnd scbliessen den Freundschaftsbund fnr die Ewigkeit. Der
ganze Gesang aber schliesst mit den innigen Worten :
»uQd hoffe niemand zu entzweien.
Die einst ins Tal Eidophane geblickt zu zweien."
»Da war's, als ob ein Schatten aus dem Dickicht wankte,
Und riesenhaften Schrittes nach der Kanzel scbwankte.
Die Hand zum Griff bereit Von bleichem Schreck erfaaat,
Entflohen kreischend sie mit atemloser Hast. —
Der Einfluss Schopenhaners nnd der ehrwnrdigen indischen Lehre von
der Wiedergeburt auf nnsem Dichter ist bier nnverkennbar. Jedoch
gibt er, das Wesen seiner Kunst genan erkennend, nicht gereimte Philo-
sophie, sondem bier wie immer nnd uberall, ein anschanliches, er-
greifendes poetiscbes Bild.
Die folgenden Partien sind wobl die schdnsten im ersten Teil.
Wetter steigen die Gdtter anf Flugelpferden, die Uranos gesandt, von
der Erde aufwirts bimmelan. Sie seben
Die Sonnenrosse weiden auf den roten Fl&hen,
dann
.die Hindinnen der Nacht,
Die vor dem Tal der Trilume halten sdlle Wacht,
Wehm&t'ge Mirchen aus den grossen Augen staunend
Und ahnungstiefe Ritsel mit den Lippen raunend.
bis dass sie schliessHch kamen auf die Silbermatt,
Wo man den Mend zur Hand, die Welt zu Fiissen hat
Mit einer grossztigigen Naivetat sondergleichen ist dann die
Himmelsbnrg beschrieben und der EmpFang bei Uranos, dem gutigen
Greise, der viterlich fiir seine Gdste sorgt, sie bedient, ihnen die vom
Wandem wunden Fusse badet (worin der Kritiker eines klerikalen
Blattes eine unerlaubte Anspielnng auf Christus erblickt hat) nnd sie
mit Speise und Trank erquickt. Auf diesen Hohen, meinen die Gdtter,
gibe es nur eitel Glanz und Wonne. Doch Uranos belehrt sie bald
eines andem. Er erzdhlt den Staunenden vom hdllischen DImon, den
er allnlchtlich mit Schild und Schwert bektoipfen muss und zeigt ihnen
die Narben seiner Brust, die er im Kampfe davongetragen. Femer be-
richtet er ihnen vom Minotaurus, dem „ewigen Ochsen',
der das Himmelsftindament
Tagaus tagein mit nimmermudem Horn berennt.
Warum? Das weiss man nicht. Aus Dummheit offenbar.
495
Secbs Stunden tflglich schenkt ich ihm Belehrung zwtr,
Ihm klapp beweisend, dass der Himmel jedenfRlIs,
Wofern er einstiirzt, flllt auf seinen Hals.
Endlich begreift er'a, kratzt sicb, leckt die Ohren, muht,
Worauf er ungeaiumt den alten Unfug tut. —
Aber noch grdssere, ernstere DInge sollen sie schauen. Hier will
ich ein Beispiel unter zahllosen herausgreifen, wie es Spitteler gelingt,
mit wenigen Worten, oft mit dem Erwecken einer einzigen Vorstellung,
in uns die Stimmung hervorznrufen, die znm voUen Erfassen der nach-
folgenden Erzahlung notvendig ist. Uranos fuhrt
durch die Enge
Geheimer und verworr'ner Wendelginge.
Sie^) vor ein ritselbaftes, glisem Wagenhaus.
Ein blaaser Ampelschimmer zitterte daraua.
Und an den Fenstem hingen grosse fremde Fliegen,
Die eine andere Welt verrieten und verschwiegen.
»Dies*y sprach er, i^iat des HimmelskSnigs Reiaewagen.*
Nicht die umstandlichsten Verheissungen kdnnten die dlmmerungs-
schaurige Erwartung, in nie betretene Gegenden einzudringen, so vor-
bereiten, wie diese „grossen fremden Fliegen', die uns wie mirchen-
bafte Triume erscheinen, vorausgesandt als Vorgeschmack der Wunderwelt,
die wir bald erschauen sollen. In diesem Reisewagen fahren sie nun zu
einem llrmerfiillten Haus, wo mit eisernen Griffeln in ein stets sich
erneuendes Walzenband von Stein das i^Weltenklagebuch" eingemeisselt
wird. Jedes Weh der Kreatur ist dort aufgezeichnet,
»Auf dasa am jungaten Tag und schliesslichem Gerichte
Das Buch den namenloaen Schuldigen bezichte.*
Weiter geht die Reise zu einem morschen, spinnwebfiberzogenen
Pfdrtchen. Uranos entriegelt es, und — der See ^^Nirwana' beut sich
den Blicken dar. Hier erstirbt aller Lebenswille und Anankes Macht
hat ein Ende. Unendlicb scbeint die graue Flut, und mit dumpfem
Schall schlagen die scbweren, langgezogenen Wogen an die Kuste.
»Doch jenseits in den Wolken grusat ein Widerscheiny
Ala kSnnf ein weltenfemes Land dabinten sein."
^Man glaubt von einem L4inde Meon,^ dasa es wire.
Die Hoffiaung betet, dasa der Glaube sich bewihre.*
Uber Nirwana hinaus, wo die tiefste Philosophie endet, gibt es
doch noch ein Hdheres, das wieder zum Leben fuhrt, zu einem Leben
aber, das erhaben 1st uber Anankes Macht. Auch Uranos kann das
feme Land nur ahnen, nicht betreten. Ein Engel aber schlift in einem
Kirchlein unter einem Felsen, an der Scheidegrenze der Welt,
Und wenn den Atem zieht der Engel aua und ein,
Erblaut die Luft von seines Hauches Sonnenschein.
Es ist die Hoffnung, der urewige Trost aller Vdlker, aller Re-
^) Die G5tter.
^&ov = beaser.
406
ligionen, aller vernunftbegabten Wesen, jene Holfnung nach einem
Jenseits, die kein Realist, kein Zynlker und kein Nietzsche ausrotten
werden, nach einem Lande Meon, wo der ersehnte Erldser weilt, den ein
Engel, die HotFnung selbst, am ersten Scbdpfungstag aus Anankes
Morderband gerettet und bintibergetragen bat nach dem Lande, aus dem
jetzt, uber Nirwanas graue Flut, ein fernes Licht heruberschimmert. Dorther
wird er dereinst kommen, das Lilienbanner in der Hand, den Flammen-
stift auf der Lanze, die zischend in den unbeilscbwangem Weltenscboss
sausen wird, um aufleucbtend das Morgenrot des letzten Tag^ von
Anankes Herrscbaft zu verktinden. — Miissen wir aber in transzendentale
Vorstellungskreise schweifen, um des Dichters Bild zu verstehen?
Deutet es nicbt oft genug das tiglicbe Leben aus? — Dunkel ist es um
uns her. Von Trubsal belastet verrichten Leib und Seele nur miihsam
die aufgezwungene Arbeit. Da bringt ein unbedeutendes Ereignis, viel-
leicht nur ein Gedanke die Hoffnung mit. Es muss ja nicht so sein,
es kann ja anders werden, es wird . Der Blick wird hell, die
Arbeit leicht. Es blaut um uns die Luft und die Sonne schdnt, wenn
auch in Wirklichkeit der Regen recht dicht hemiederprasselt. —
Spat ist es am folgenden Tag, als die Gotter nach ihren ereignis-
reichen Weltenfahrten erwachen. Die sieben Tdchter des Uranos,
sanfte, schdne Wesen voll Cute und Seelensonnenlicht begrussen die
Giste. In heiteren Spielen fliegen die Stunden den Glucklichen dahin.
Sie geniessen das reine Glfick schuldloser Kinder und nie sich trennen
zu mussen ist ihr einziger Wunsch. Eos, die jungste und liebste Tochter
bittet den gestrengen Vater, Uranos gewdhrt, und die vorgeschriebene
Fahrt nach dem Olymp, der Gotter kunftigen Herrschersitz, wird ver-
sflumt, aufgeschoben ins Unbestimmte. Ich mochte aus diesem Gesang
nichts zitieren. Die Sprache wird hier zur heitersten, himmlischesten
Musik, und jedes Hervorheben einer Einzelheit wSre Sunde gegen die
Harmonie des Kunstwerks.
Die Harmonie der Seelen ist bald genug gestort. Wenn nicht
Sussere Begebenheiten eingreifen, so vemichtet gar oft der Oberdruss
das Gltick. Dies ist in der menschlichen Natur tief begrundet, und auch
Spittelers Gdtter, wie die Homers, haben menschliche Herzen. War's
nicht so, kein Mensch konnte sich fur sie interessieren. Gar mancher
Dichter hitte nun mit den feinsten psychologischen Zugen geschildert,
wie sich die Gotter allmahlich von den Himmelstochtem abwenden, bis
ihnen schliesslich verhasst wird, was vordem ibre Seligkeit war.
Spitteler aber, der Epiker von Gottes Gnaden, weiss, dass anschauliche
VorgSnge, und nicht nur erzihlte Gemutsstimmungen wichtige
Wendungen herbeiftihren mussen. Aber wiederum nicht auf loser Will-
kurlichkeit, sondem auf dem tiefen Grunde des Geschehens mtissen
diese Vorglnge wurzeln, sollen sie wertvoll genug sein, dass Himmel und
Welt sich dafur in Bewegung setzen. So ist es auch hier A n a n k e
«mit den runden Tigeraugen", der eingreift.^) Er hat nun einmal be-
^) Spitteler personifiziert Ananke als Herrn der Welt; das Won ist dtber bei
497 8^
stimmt, dass die Gdtter Herren des Olymp verden. Dagegen gibt es
keine Auflehnung, keinen Widerspruch.
»Ich will doch sehen ! Furwahr, das wir* ein tolles Stiick:
Ich glaube gar die Unverscbimten woilen Gl&ck.*'
«Luft und Erde b5ren
Mein Wort und eitle Migdlein wollen mich betSren?*
So ruft er hohnlachend und eilt nach seinem Schierlingsgarten,
,wo alle Gifte gierig auf Erlaubnis warten*'. Vom ^Krotenpilz** bldst
er den Samen und staubt ihn zur Himmelsburg hinauf, wo die dorn-
bewehrten Sporen .auf unhorbaren Schlitten durch der Freier Schlund"*
hinabgleiten i,in des Herzens dunklen Grund^. Sogleich ist des Gluckes
Quell .versduert und vergiftef und ^^der Kdnigstochter edles Angesicht,
ihr lockig Haar, ihr grosses Auge schdn und licht, und ihres keuschen
Leibes Gegenwarf" den Gottem zur Last. Abseits in einem Holz-
verschlag, in einem ^wildverstruppten Dornenhag' verstecken sie sich
schmollend und grollend, bis Uranos sie auffordert, ihrer Bestimmung
zu folgen und zum Olymp hinabzureisen. Das LuftschiCF ist gertistet,
kiagend nehmen sie von Uranos und den holden Schwestern Abschied,
nun erst erkennend, was sie verloren haben, und fort getit die Fahrt,
hinab zum farbigen Olymp, ihrem kunftigen Wohnort, wo sie feierlich
empfangen werden. Die Reise und die Ankunft sind mit einer Pracht
und einem Reichtum an Bildem geschildert, von denen ich dem Leser
hier nichts verraten will.
Hera heisst die Konigin des Olymp, von einem Gott gezeugt, von
einem Amazonenweib geboren. Darum ist sie sterblich. Beschlossen
ist vom Rate der Geronten und Prytanen, dass sie sich vermShle; einen
der jungen Gotter muss sie wdhlen. Im Kunstgesang, im Wettlauf und
in der Traumweissagung muss als Erster hervorgehen, wer sie besitzen
darf. In alien Pnifungen erringt Apollon die Palme, von seinem Sieges-
dimon geleitet. Doch Ananke hat es anders beschlossen. Die Herr-
schaft eines Licht- und Liebesgottes ist undenkbar in einer Welt, wo
die unerbittliche Notwendigkeit grausam gebietet. Darum muss Zeus,
gegen den Beschluss der Preisrichter, gegen den Willen des Volkes, ja
gegen seinen eigenen Willen, durch schmShlichen Verrat die Krone und
Hera gewinnen, die selbst den edlen Apoll verrSt. So ist die junge
Weltherrschaft schon in ihrem Anfange mit dem Fluche der Schuld be-
lastet. Dies ist im wesentlichen der Inhalt des zweiten Teiles unseres
Epos, dessen grossartigen Schluss ich wortlich anfuhre. Abseits der
Welt, in einem stillen Haine weilt Apollon, der um Ruhm, Krone und
Weib Betrogene. Am dritten Tage, nachdem Zeus Hochzeit mit Hera
gefeiert hat, rauscht ein schwarzer Schatten aus dem Walde hervor, und
der diistere Zeus spricht also zum lichten Apoll:
^yemimin denn meiner Ankunft Grand.
Willst du, 80 lass uns sctaliessen einen Fursienbund.
ihm minnlicb, wihrend es im Griechiscben ^ iafavxt] (Die Notwendigkeit) heisst,
also weiblich ist.
406
Zwar du bedarfet mich nicht, ich kann dir nichts gewihren,
Ich aber and mein Volk kaon deiner nicht entbehren.
In dieser Welt, von Obeln krank, von Blute rot,
Tut Geist und Scbdnheif, tut ein Fleckchen Himmel not,
Ein Glficklicher, der nichts vom Pfiibl des Jammers weiss,
Ein Edler, rein von Schuld, ein Held, des Helmbusch weiss.
Ich kann nicht dulden, dass du feindlich feme weilest,
Ich fordre dich, dass du die Herrschaft mit mir teilest
Zwar mir der Weltenlirm, der V51ker Not und Streit,
Die strenge Rute, waltend der Notwendigkeit,
Doch dir im lichten Atherglanz das Reich des Sch5nen,
Wo bocb im freien Raume die Gedanken t5nen.
Ich setz' dir im Gebirg ein unabhingig Schloss,
Darin als Ffirst du schaltest mit Gesind und Tross;
Vor seiner Schwelle ende meines Szepters Fug.
Ich heische kein Entgelt. Dein Dasein gilt genug.
Nun lass durchs Ohr ins Herz dir meine Rede rinnen.*
Apoll erwiderte: »Ich heische kein Besinnen.
Vom Bdsen bist du, Unhold, aber gross und wahr.
Die Freundschaft schlag* ich aus, das Bundnis nehm' ich dar.*
Er sprach's. Mit diesem schieden fdedlich und versSbnt
Er, der die Welt beherrscht und der, der sie verschSnt. —
Abseits von der rauchenden Werkstatt der Welt liegt unter femem,
reinem Himmel das Reich des Schdnen.
Ich habe mich absichtlich beim zweiten Teil nur kurz aufgehalten,
um ISnger beim jungst erschienenen dritten verweilen zu kdnnen. —
.Die hohe Zeif nennt sich das Buch, in dem uns der Dichter zeigt, wie
die G5tter, wdhrend Zeus und Hera ihre Flitterwochen feiem, mit Un-
gebundenheit die weite Welt durchstreifen. Jetzt ist der olympische
Fruhling in Wahrheit angebrochen. Dieses Buch bedeutet somit den
Mittel- und Hdhepunkt der noch nicht vollendetenDichtung. Die ersten
beiden Telle waren die Einleitung. Was auf den dritten noch folgt wird
gleichsam die Coda bilden.
Eine Vorbemerkung will ich hier einschalten, um einer missverstand-
licben Auffassung des Werkes, und speziell dieses dritten Buches, vor-
zubeugen. Es wire ganzlich verfehlt, wollte man zu ergrubeln versuchen,
was die kdstlichen Mirchen, die uns da erzlhlt werden .bedeuten*,
Oder was etwa der Dichter mit ihnen beabsichtigt habe. Dies wurde nur
vom einzig Wichtigen, nSmlich von der Dichtung selbst abziehen. Es
versteht sich von selbst, dass eine so kuhne und reiche poetiscbe Schdpfung,
wie der « Olympische Fruhling" im Leser Gedanken anregen wird, die
mit seinem Leben, seiner Umgebung, seinen Anschauungen und Ur-
teilen ubereinstimmen. In diesen Gedanken aber den Ursprung der
Dichtung suchen zu wollen, wire ein grosser Irrtum. Wie aus einem
schdnen Musiksttick sich jeder Hdrer eine ganze Geschichte heraus-
deuten kann, ohne dass dem Tondichter auch nur Ahnliches vor-
geschwebt haben mag, da diesem, wenn er kein Scheinmusiker ist, Auf-
bau, Klarbeit, Stimmungskraft und Ausdruck seiner Komposition mehr
am Herzen liegen wird, als poetische Fiktionen, so war Carl Spitteler,
dem echten Dichter, der abstrakte Gedanke stets Nebensache, alles
499 8^
hingegen der zu deutlicher Anschaulichkeit gesteigerte, in seinen grossten
and in seinen feinsten Zugen nnmittelbar wahrnehmbare Vorgang selbst»
Oder, wie Jacob Borkhardt einmal das, worauf es beim Epos ankommt,
einfach nnd treffend bezeichnet hat: «Die Frende am glanzvollen Ge-
schehen.'
Spitteler ist weder ein historischer, noch ein tendenzidser, weder |
ein archaistischer, noch ein moderner, weder ein idealistischer, noch
ein realistischer, sondem ein nai ver Dichter, der uns schlicht erzlhlt,
was in seiner Phantasie lebt und webt. Da gibt es kein Kostum und
keine Richtung, keine Predigt und keine Volksaufkllrung, mit einem
Worte keine von all den Krucken, die so mancher Dichter zur AuF-
richtung seiner Schopfungen bedarf, sondem alles lebt durch sich selbst
und ist aus sich selbst verstSndlich. Der Dichter scheut sich darum
auch nicht im geringsten, vollkommen anachronistisch zu verfahren,
z. B. das Luftschiff der Gdtter als Dampfmaschine darzustellen, im Olymp
▼on Klingelzugen zu sprechen, die verlotet werden mussen, oder uns
den Glockenturm zu schildem, von dem Moira die Friihlingsbotschaft
auslSuten ISsst. Wer dariiber ISchelt, lese zunichst das Gedicht selbst
und frage sich, ob er von dieser Darstellungsweise nicht frischer, un-
mittelbarer beriihrt wird, als z. B. von «Quo vadis?** oder Shnlichen
Romanen, wo es freilich keine historischen Ungenauigkeiten gibt. Er
erinnere sich femer, ob es ihn in Shakespeares ,,Winterm3rchen' be-/
listigt, dass Bohmen am Meer iiegt, oder dass im ^Julius Cdsar** ein
Rdmer von Brillen spricht, die einige Jahrhunderte spSter erfunden
worden sind. Gerade die Naivitat des sich um historische Einengung
nicht kummemden Stiles gibt der Darstellung rein menschliche Crosse
und unmittelbare Lebenskraft, dass sie auF unser tibermudetes Gefuhl wirkt
wie der DuFt der ErdflSche, deren Festes GeFuge der scharFe Pflug soeben
grundlich durcheinander gewtihlt bat. Wir kdnnen glauben an diesen
Zeus, diesen Apollon, an alle diese Wunderwesen der LuFt- und Wasser-
welt, als ob wir tagtSglich mit ihnen umgingen. Freilich ist es viel
schwerer, ein solches Epos zu schreiben, als z. B. ein soziales oder
politisches Schauspiel. Das bewusste Kunstschaffen des alle Mittel
voU beherrschenden Meisters wird durch den naiven Stil Spittelers
nicht etwa ausgeschlossen, sondem vielmehr im hochsten Grade er-
Fordert, denn das gSnzlich neue, von aller ErFahrung UnabhSngige muss
dem, der es empFangen soli, in weit FestgeFugterer Form, weit plastischer
und Fasslicher entgegen treten, soli es ihm auFnehmbar werden, als das
auF vorhandenen Voraussetzungen AuFgebaute, Ftir dessen VerstSndnis
er schon eine ganze Anzahl Faktoren in seinem Bewusstsein vorrStig
hat. Nicht nur in die Welt des Dichters sich hineindenken, sondem
leibhaFtig in ihr wandeln muss er kdnnen, sich darin heimisch Fuhlen
und sich als einen Teil von ihr empfinden. Wenn Floerke einmal un-
geFahr sagt, dass Boecklins Seejungfem, Tritonen und Kentauern wirk-
lich leben, nur werde sich Boecklin wohl huten, die Herren Natur-
wissenschaFtLer an die einsamen Orte zu Fuhren, wo er sie sah, so gilt
dies auch von Spittelers Gestalten. Da ist alles erschaut, erlebt in
500 8^
Pracht und Wabrbeit, mit bewundernswerter Kunst festgebalten and
wiedergegeben, nicbt aber auf dem Wege des Denkens mubsam kom-
biniert. Was er damit wollte? — Nicbts weiter als dass seine ,un-
nutzen Fabeleien**, so sagt er selbst, nicbt wieder vergessen wurden.
Das bat er erreicbt. —
„Das KnSblein Eidolon, mit Namen Gluck genannt,' ist vom
.GSrtlein Unbekannt* mit seinem scbemenbelasteten Wagelein ins Scbloss
zu Hera und Zeus getrippelt, und scbeucbt dem boben Paare die
scbweren Weltberrscbaftsgedanken von der Stime. Sogar die gestrenge
Scbicksalsgottin Moira, Anankes Tocbter, bekrinzt sicb beim Anblick
des Kindes und umgibt die Scbultem mit dem i,weissen Kleid der
Gnade*". Sie fordert und erbSlt von Ananke, ibrem Vater, die Erlaubnis
tn einem Weltenfrublingsfest. Mit urwucbsigem Humor wird nun ge-
scbildert, wie Erde und Himmel blank gescbeuert und geputzt werden,
wie die Luft ein ,wSrmer Blau*, der Wald ein „friscber Grun' erbilt
Zwolf Scbicksalsboten aber reiten, eine Tafel bocbbaltend, zum Olymp
empor.
ifDen G5ttem simtlich,*' schrieb die Tafel, »kund zu wissen:
Moira die ScbicksaisgSttiOy gnad- und huldbeflissen,
Gesttttet in Anankes Namen und gewihrt.
So lang die Fahne Olbia') auf dem Scblossdach wihi%
Eucb alien eine unumschrilnkte Anarcbie,
Keinem befeblend nocb verbieteod was und wie.*
Wie eines Knaben Stock den Ameisenbaufen, so nittelt die frohe
Botscbaft die i,gluckverscblafenen Gotter** auf. Bundnisse, Freund-
scbaften werden gescblossen und .jaucbzerfroben Jubels' rustet sich
Alt und Jung zur Wanderung. Dies der Inbalt des ersten Gesanges dem
acbt weitere folgen. Sie bSngen nicbt direkt unter einander zusammen;
jeder erzMblt ein Gotterscbicksal, bildet fiir sicb ein abgescblossenes Ganze
und kann ausser der Reibenfolge gelesen werden. Dennocb ist die tiefe
Wurzel einer gemeinsamen Grundidee unverkennbar und bestebt ein
innerer Zusammenbang, gleicbwie die Farben des Prisma, verscbieden
unter einander, docb alle dem einbeitlicben weissen Sonnenstrahle ent-
springen. Von Urkraft und scbrankenlosem Ubermut singt uns der
zweite Gesaug. In einem Wolkenscbiff sausen die Winde, an der
Spitze Boreas und die wilde Harpalyke, vorbei beim HSuscben des alten
murriscben Aiolos, wo die Nebelknecbte in Felsenbdblen scbmausen,
und die Gewitter mit den Tatzen durcb die Gitter ibrer Klfige bauen,
binab zum Erdenland. Auf dem Bergesriff .Emporion" wirft das Scbiff
Anker. Nacb alien Ricbtungen sturmen die luftigen Geister und peit-
scben die Erde auf. Mit dem Hiftbom bUst Harpalyke in die Hoblen
der Troglodyten, die «vor jedem Licbtstrabl bocken*", „vor tausend-
jdbrgem Unsinn Ebrerbietung rutscben* und «dem Quell, der Kraft,
dem Glauben HobngelMcbter zinsen*. Mit ,TugendkrIcbzen und Sittio*
fliebt das aufgescbeucbte Nacbtgescblecbt vor Boreas kraftbescbwingter,
ok/Sios » glucklicb.
501 8^
beherzter Geissel. — Bis zu der Erde Ende gelangt dann das Gotter-
paar, wo die Sphinx, die unerforschlich tiefe Gottin i^Ma** sich immer-
fort in den eigenen Hinterhuf beisst und dabei klagt:
wWer gibt, wer gibt mir vor den b5sen Zibnen Rub?*
Als Boreas ihr verwundert zuruft ,Lass es einfach sein*, strauben
sich emport die Borsten der Sphinx und ein greiser Eremit tritt mit den
strafenden Worten hervor:
Bet an dts Schdpfungswunder, dessen Sinn vergebens,
Erscbaffner Geist, du spurst die Tage deines Lebens.
Sieb dort von tausend Pbilosopben die Gerippe.
Es bat der Denkerblupter weise Stirn und Lippe
Docb niemals nocb, wie viel Systeme sie geschweisst,
Erklirt, wanim die tiefe Ma sicb selber beisst.
1st iiberhaupt ein Vergleich gestattet, so hdre ich aus dieser Scene
das Lachen des Humors, der mir aus manchen derletzten Schdpfungen
Beethovens erklingt. — Zuruck aus der Wustenei der unbegreiflichen
Ma sturmen Boreas und Harpalyke zu neuen tollen Streichen. Als sie
aber in ihrem Ubermut ein reifes Komfeld durchwtihlen, empfangen
sie eine tiberaus drastische Zurechtweisung von Erechtheus, dem Erd-
geist, der ihnen durch seinen Abgesandten die edle Mahnung zuruft:
»Genug, dass ibr die Welt mit Lust und Llrm betiubt,
Den Luftraum fegt, der Erde Oberflicbe stflubt
Docb innen munkeln dunkle Dinge allerhand,
Die liegen ausser eurem sonnigen Verstand.
Und geisselt nicbt den Grund und scbindet nicht dts Brot,
Denn Trinen kleben dran, gepresst aus heilger Not.*<
Von Giite und Edelsinn, der hier anklingt, erzlhlt uns vor allem
der letzte „ Hermes der Erloser"* betitelte Gesang. Den Gott, der
einsam durch den Erdenwald wandert, erreicht Kunde von Maja, der
Nymphenfurstin im Lande Gaia. Schmerzumwdlkt ist ihr Geist durch
den Tod Plutons, ihres michtigen Gemahls, und in der Knechtschaft
der Unterdruckung schmachtet ihr Volk. Zwar Majas GOte ist un-
verwandelt, docb:
»Von fremden Leicbnamspfaffen wird ibr Scbmerz verhandelt,
Die, um sicb Amter, Ebrea, Ansebn zu erscbleichen,
Dem abergStt'schen Witwenleid der F&rstin schmeicbeln.
Unnutze, unverscbimte, b&ndische Eunucben,
Die jeden Spuck und Druck des sel'gen Herren bucben.**
Um Hilfe flehen Hermes die Bewohner Gaias an. Zweimal weist er
sie zuruck, denn .Frauensiechtum, das aus Griberschollen schattet* ist
unheilbar, und dem Spiesse widersteht das ^ySchleimgezuchf. Erst
als er hort, dass Majas KnUblein heimlich gestohlen und lebend be-
graben ist in einem steinemen .Riesendenkhaus zu des Vaters Ehren*,
von dessen Dach die ,»Heuchelherde, lammsanft von Tritt, docb nicht
zu sanft zum Meucheimorde" den Namen Plutons mit „frechmSuligem
Lobtoben" predigt, «dass man nicht hore aus der Grube das Gewimmer*",
Siddentscbe Moaatabefte. 1,6. 33
-1^ 502
beschliesst er, die Furstin zu heilen, das Knablein zu retten und das
gezwungene Volk zu entketten. Mit tiberlegener Geisteskraft und kluger
Wacbsamkeit seines adeligen Herzens vollbringt er das schwere Werk.
— und scbOn und reich
Erbluht ein junges Gluck in Majas Kdnigreich.
Spitteler ist hier wie iiberall Meister der Stimmung. Seine Bilder
und Gesange entwacbsen einem Grundakkorde, sowie ein Musikstiick
einer Tonart, und jede, auch die scbeinbar sebr weit abliegende Einzel-
heit ist auf diesen Grundakkord abgestimmt, sowie die entlegenste
Modulation schliesslicb auf die Haupttonart zurtickfuhren muss.
Wie ein Komponist mitunter den Hauptsatz seiner Sympbonie
durcb eine Einleitung vorbereitet, so leitet Spitteler den tiefernsten
siebenten Gesang, betitelt ^Dionysos, der Seber**, durcb eine kurze,
wunderbar bildkraftige ErzSblung ein, die icb bier ganz wiedergebe:
Am splten Tag, als Dimmrung das Gefild umflng,
Geflel es Zeus, dass er die Stadt durchstreifen ging.
Sechs Minneraugen sab er aus dem DQster blitzen
Auf einer Bank, flat's uAzuviel euch beizusitzen?**
^Dein Haupt, erbabner Herr, ist uns erbetne Spende.
Willkommen, KOnig Zeus," und reicbten ibm die Hinde.
„Verwabit, du mdgest in Geduld dicb willig fugen,
Mit wunderlicbem Volk, wie wir sicb zu begnugen.
Der Mund ist unbered't, doch unsre Herzen danken.*
Zeus spracb: »Wo Minner schweigen, reden die Gedanken.*
Demalso setzt er sicb den diistern Minnem bei,
Mit spirlicbem GesprScb, ein Stiindcben zwei und drei.
Doch als die Nacbt jemebr die Stadtgerluscbe schweigte,
Im Schleierwolkenbof der leise Mond sicb zeigte,
Stand von den Minnern einer auf: »Micb zwingt's zu sagen.
Ob gem, ob ungern. Um Erlaubnis lasst micb fragen.
Von einem armen Knaben scbmerzt micb die Geschicbte."
»Erzibr uns von dem Knaben,** mahnte Zeus, ^bericbte.
Ist's denkenswert und fublbar, h5r icb's gliubig an."
,,'8 ist fublbar,* spracb der Unbekannte und begann:
Und nun folgt die ergreifende Erzablung von Dionysos, dem vom
Wabrbeitsrauscb begeisterten Jungling, der Heimat und Eltem verlisst,
Not und Entbebrung, Spott und Verbobnung erduldet, sein Ideal zu sucben
dem Gliick entfliebt, das ibm die lieblicbe Ariagne opferfreudig entgegen-
bringt, bis ibn fanatiscbe Priesterinnen zerreissen, weil er die stemen-
umstrablte Astraia seine Gottin nennt und nicbt Astarotb. Die Raben
sattigen sicb an seinem Propbetenfleiscbe: Aber als nacb langen, langen
Jahren ein Fremdling ins Land, kommt, gewabrt er den grossen, goldnen
Dom des Dionysos und einen feierlicben Zug, der zu einer Kapelle wall-
fahrtet, dem ^Gnadenort, der Wunderstelle, da unser Herr die beilige
Ariagne fand."
Hdrst du das Gescbrei:
„Obe! Ewd?**- Der ganze Adel ist dabei
Mit seinen stolzen Fraun und Jungfrauen, scbOnen, weissen.
Docb knie nun buriig ab, dass sie dicb nicbt zerreissen*
503
belehren ihn vorsorglich die Einheimischen. — Schweigend haben „beim
Mondenmankeln'' Zeus und die MSnner dem ratselhaften Erzahler ge-
lauscht. „Das hast du nicht erfunden, Freund, das ist gereift" sagt ihm
Zeus. Ein Lob spendet dann sein koniglicher Mund der holden Ariagne,
die in Fernem Grabesgrunde ruht. Dreimal unterbricht er seine Rede
mit dem feierlichen Ausnif „ Pathos Dies kann Leid und Leidenschaft
heissen. Obersetzt darf dieses Wort hier nicht werden; wer den Gesahg
richtig empfunden hat, wird auch das Wort verstehen. Ein kurzer Ab-
schied, und einsam wandert Zeus wieder hinauf zur Kdnigsburg.
Voll des wundersamsten Zaubers, einem hellen Lichtstrahl gleichend,
der uber Bluten dahinhuscht, leuchtet der achte Gesang ^Hylas und
Kaleidusa uber Berg und Tal**. Mit groteskem Humor rasselt der funfte
, Poseidon mit dem Donner**. Poseidon, der vom ^Ich-einzig-Wahn^
besessen ist, will es eben durchaus anders machen, ohne zu fragen,
ob Sinn in seinem Handeln sei, und leidet dabei klaglich Schiffbruch.
Hier liegen allerdings satirische Vergleiche mit so manchen modemen
Originaiitltshaschereien so nahe, dass sie kaum von der Hand zu weisen
sind. Doch das ist sekundHr. Das zyklopische Gedicht bedarf der Aus-
legung nicht. Es wirkt als Ereignis durch sich selbst. Die allererste
poetische Anregung mag der Dichter vielleicht durch den eigenttimlichen
Reiz empfangen haben, den es gewShrt, das unauf haltsame Herabstromen
des Wassers von der Quelle hoch oben auF dem Berg bis hinab zum
weiten Meere zu verfolgen. Noch einmal, in einer anderen Dichtung
(die Erdenwanderung Pandoras in « Prometheus und Epimetheus"), hat
er diesen Reiz poetisch verwertet, wie auch sonst ftlr viele seiner Er-
zfthlungen der unmittelbare Ursprung in Naturanschauungen erratbar ist.
Hiermit will ich die Betrachtung Uber den ,01ympischen Fruhling*
schliessen. Wie die jungen Gdtter aus dem Hades auferstanden sind,
so ist mit diesem Werke ein neuer inhalt- und bilderschwerer Mythos,
von einem iiberragenden Geiste erdacht, von einer Meisterhand geformt,
zum Licht des Tages emporgestiegen. Ftirwahr, ein beseligendes Unter-
pfand, dass die hohe Poesie lebt und immer wieder ihr leuchtendes
Antlitz uns zuwenden wird, wenn es auch von Zeit zu Zeit durch die
trtiben Nebel eines falschen Realismus verschleiert wird. Dem Dichter
aber gebuhren dieselben herrlichen Worte, die der Herr von Metakosmos,
der niemand anderer ist als Apollons eigener SiegesdSmon, diesem zuruft:
^Dreifach ist deines Ruhmes Furstenkrone:
Du hast's geglaubt, das zeugt, dass A del in dir wohne.
Du hast's gewollt, das spricht, dass Heldenmut dich stlhlt,
Du hat's gekonnt: du bist aus Tausenden erwahlt.''
In seinen jiingeren Jahren schrieb Spitteler unter dem Namen
C. Felix Tandem. „Der gliickliche Trotzdem" tibersetze ich mir's,
d. h. gliicklich ist, wer trotz allem, was ihm innerlich und dusserlich
feindlich entgegenarbeitet, unentwegt dabeibleibt, das zu tun, was er fur
33*
504 8^
gut und richtig hdlt. Ob dies Spittelers Gedanke war, will ich nicht
untersuchen, erwShne seines Pseudonyms auch nur, um die unter dem
Namen .Tandem* erschienenen Schrifren dem Leser auffindbar zu machen.
Es sind dies » Prometheus und Epimetheus* (erschienen bei Sauerldnder
in Aarau) und «Extramundana* (erschienen bei Haessel in Leipzig). Beide
Werke sind ganzlich unbekannt und barren der Auferstehung aus mehr
als zwanzigjdhriger Nichtbeachtung. Popularitit im gewdhnlichen Sinne
ist mit dieser Auferstehung nicht gemeint, ja, diesen beiden Dichtungen
vielleicht auch nicht zu wiinschen. Empfange ich einen grossen kiinst-
lerischen Eindruck, so keimt mir gleichzeitig immer der Wunsch auf, dass
nur solche Personen die Gelegenheit bekamen, denselben Eindruck zu
empfangen, die fMhig sind, ihn aufzunehmen. Um dies zu konnen, ist
es notwendig, den springenden Punkt zu erfassen, der das Charakteristische
eines Werkes und somit seinen eigentlichen Vorzug ausmacht. Dieser Punkt
liegt aber meistens tief verborgen, um so tiefer, je bedeutender das Werk
ist, und nur seine Ausstrahlungen sind es, die wir als die verschieden-
artigen vorztiglichen Eigenschaften einer Meisterschdpfung erkennen, die
aber eben gerade nur durch ihren einheitlichen Ursprung Wert und
Bedeutung besitzen. Gar viele begniigen sich nun, diese Ausstrahlungen
ganz Oder teilweise auf sich wirken zu lassen, sie mitunter vielleicht
auch nach innen zu verfolgen, ohne aber den Kempunkt selbst zu treffen,
wodurch sie dann in der Verschiedenartigkeit der Eigenschaften Wider-
spruche zu finden glauben, die ihnen, je festere Wurzel dieser Glaube
fasst, um so mehr die Freude am Ganzen verkummern. Daher kommt
wohl auch die immer und immer sich wiederholende Tatsache, dass ge-
rade die grossten Kunstwerke lange Zeit den grdssten MissverstMndnissen
ausgesetzt sind. Zwar ist es mitunter bedeutenden Werken, die die
FShigkeit besitzen, stark in einer Empfindungsrichtung zu wirken,
vergonnt, verhUltnismissig rasch ihr Publikum zu finden. Der .Frei-
schutz* entfachte sofort die gemutliche Neigung des Deutschen fur das
romantisch-gruselige Halbdunkel seiner Wilder, von dem sich Agathens
blonde Poesie liebreizend abhebt; vom bunten Kaleidoskop des ,Oberon"
hingegen ist trotz der an Melodie- und Klangzauber so reichen Musik
nur die Ouverture wirklich ins Publikum gedrungen. Wdhrend Goethes
,Werther" die TrMnendrusen aller Welt heftig affizierte, ist sein „Tasso*,
die am feinsten gegliederte Seelentragddie der Weltlitteratur, heute noch
unpopulir. Die vulkanische, feuergarbige C-moll Symphonic von Beethoven
war beliebt, als die Eroica mit ihren stemstrahligen Schonheiten noch
so selten als mdglich aufgefuhrt wurde, und untersuchen mochte ich
nicht, wie so mancher Zuhorer noch heute urteilte, wenn es mdglich
wSre, ihm den ersten und dritten Satz der neunten Symphonie mit ihrem
reichen Wechsel der Empfindungen als Werke eines unbekannten Kom-
ponisten zu suggerieren, wdhrend das durchwegs ddmonische Scherzo
schon bei der ersten Auffuhrung einen unmittelbaren Beifallsstunn ent-
fesselt haben soli, und wohl stets eines der auch dusserlich wirkungs-
vollsten Orchesterstiicke bleiben wird. Wie nun so mancher z. B. fur
ein besonders farbenprMchtiges Bild von Boecklin eingenommen sein
-SHg 505 8^
mag, bevor er sich klar gemacht hat, was da eigentlich gemalt ist, so
halte ich es nicht fiir unwahrscheinlich, dass die Bilderpracht und
schdnheitstrunkene Sprache dem .Olympischen Fruhling" Spittelers in
absehbarer Zeit zu einem Erfolge verhelfen werden, der zwar dem Werte
der Dichtung noch nicht anndhernd entsprechen, wohl aber des Dichters
Namen in die weitesten Kretse tragen wird. Sollten dann auch seine
beiden Mlteren Werke » Prometheus* und ^Extramundana* in den Kreis
der Lekture und Besprechung gezogen werden, so erwarte ich heute
schon mit Bangen die Urteile, die man vemehmen wird, wenn sie den
vier .Temperamenten* in die Hdnde fallen, ndmlich den Melancholikem,
die stets daruber jammem, dass der Kunstler nicht lieber etwas anderes
gemacht habe, als gerade das vorliegende, wozu er leider gar nicht das
Zeug habe, den Phlegmatikern, die sich nie aufregen, und uber Shakespeare
und einen Kolportageroman mit denselben schneckenweichen Phrasen
dahinschleichen, den Sanguinikem, die alles genau hdren, was der
Kiinstler nie gesagt hat, und endlich den Cholerikern, die schimpfen
und wuten, weil das zum Handwerk gehdrt. Gerade diesen beiden
Biichem wiinschte ich aber, dass sie Geheimschriften blieben fiir Aus-
erwdhlte, die sich in stillen, weltenfemen Stunden daran erbauen mogen.
Ich behaupte sogar, dass ihr tatsSchliches Populflrwerden eine hohere
Kultur voraussetzte, als sich das menschliche Geschlecht bisher er-
ringen konnte, denn sie stehen zu dem, was wir heute Bildung und
Fortschritt nennen, nicht in Ubereinstimmung, sondem im Widerspruch.
Ihr Inhalt ist ungewohnlich und ginzlich verschieden von allem, was
wir sonst gelesen haben. Wir werden in Gebiete, wohin sich nur ein
dunkles Ahnen wagte, vom Dichter mit so intensiver Vorstellungskraft
gefuhrt, dass wir dort klare Dinge erschauen, wo wir bisher mit un-
sicherer Hand getastet haben. Fast scheue ich mich, uber diese Dich-
tungen zu sprechen, und den geheimnisvollen Schleier, der begitickende
und erhabene, oft aber auch grauenhafte und furchterliche Mysterien den
Augen der Welt verhullt, zu luften. Ich tue es auch nur, indem ich
ausdrucklich die folgende Wamung Torausschicke: Wer Zerstreuung,
Unterhaltung, Lekture im gewohnlichen Sinne, womit man mussige Stunden
totschldgt, Oder ausruhende Ablenkung von des Tages Geschdften zu
finden hofft, der nehme sie gar nicht zur Hand. Die Enttduschung ist
unausbleiblich. Wer aber einem grossartigen Dichter durch Himmel und
Hdlle und daruber hinaus in nie betretene Welten folgen will, wer Neigung
verspurt, die tiefsten Empfindungen des menschlichen Herzens in Ver-
kdrperungen voll eigentumlichster Poesie zu erschauen, der lasse sich
von diesen Zeilen bewegen, mit ehrfurchtigem Gefuhl, so wie man sich
zu einer heiligen Handlung anschickt, diese Biicher aufzuschlagen und
mit hingebender Aufmerksamkeit zu lesen. Nicht Voreingenommenheit
will ich mit diesen Worten erzeugen, wohl aber einen Schimmer der
heiligen und ehrfurchtigen Empfindungen, die ich selbst den genannten
Schriften verdanke, ihren kiinftigen Lesem in die Seele werfen, damit
das Ausserordentliche, das sie erwartet, ihr Gemut nicht ganz unvor-
bereitet treffe und es vielleicht allzu gewaltig erschuttere.
-H! 506 8^
Auch ein freundlicher Rat moge mir gestattet sein. Scheint der
Sinn an manchen Stellen dunkel, so lese man gerade diese Stellen
wiederholt, langsam und grundlich. Findet sich die Aufklarung dann
noch nicht, so wird beim Weiterlesen vielleicht ein Ruckschluss von
einer spMteren auf die friihere Stelle, vor allem aber eine grossere, all-
mdhlich wachsende Vertrautheit mtt des Dichters Eigenart Licht verbreiten.
Vor allem suche man aber stets das poetische Bild zu erfassen, und
fahnde ntcht nach Erkl&ningen, wo diese sich nicht unwillkurlich auf-
drangen. Ich glaube dann, dass keinem offenen Gemute, das sich von
menschlichen und litterarischen Vorurteilen freizuhalten vermochte, auch
nur ein Wort unverstindlich bleiben kann, denn was da steht, ist einfach
und klar, schlicht und naturlich, so eigentumlich es ist. Wer durchaus
zu keinem Verstindnis kommen kann, der suche aber den Grund Iteber
in sich selbst, als in den Buchem, denn bekanntlich liegt es ja auch nicht
am Berge, wenn der Beschauer dessen Form und Grosse nicht richtig
beurteilt, sondem an der Stelle, von der aus er ihn betrachtet.
Ist der vOlympische Fruhling* das Schdnste, was Spitteler geschafFen
hat, so ist « Prometheus und Epimetheus'' wohl das Tiefste und Grosste.
Zunichst will ich bemerken, dass wir es nicht mit dem griechischen
Prometheus zu tun haben. Die mythologischen Namen sind bunt durch-
einandergewurfelt. Neben Prometheus finden wir Jehova, Doxa neben
Behemot, Messias neben Mythos und Adam neben Proserpina. Keines-
wegs sollen auch die Namen irgendwie wissenschaftlich gedeutet werden.
Spielend wShlt sie der Dichter, ^wie man auf dem Spaztergang im
Walde Blitter abrupft'', so sagt er einmal selbst. Leuchteten im «01ym-
pischen Friihling* die einzelnen Gleichnisse wie Edelsteine aus goldener
Fassung hervor, so ist bier das ganze Buch ein einziges Gleichnis. So
betitelt es auch der Dichter. Prometheus ist der freie Mensch, der
seiner Seele folgt, well er ihrer gewaltigen Schonheit folgen muss.
Epimetheus aber folgt dem Geiste der Klugheit. Er verhandelt seine freie
Seele fur ein Gewissen, das ihm deutlich melde ,Ja' und nNein*" und ihm
lehre wHeif und vKeif". — Ungefahre Auslegung: Die moralischen Be-
grifPe sind nichts von Ewigkeit zu Ewigkeit Feststehendes. Sie sind un-
fertig, vieldeutig und wechselvoll, jenachdem man sie anwendet, und ab-
htogig unter vielen anderen, von Zeit, Ort, Klima, Vdlkerschaft, allgemeiner
Wohlfahrt und Persdnlichkeit. Dem Durchschnittsmenschen mdgen sie
notwendig sein. Dem starken Individuum verhindem sie die eigenkriftige
Entwicklung. — Prometheus wird verstossen in Nacht und Elend,
Epimetheus, der Gefugige, auf den Thron der Weltherrschaft erhoben. —
UngefMhre Auslegung: Wer nicht mit den Wdlfen heult, wird von ihnen
zerrissen. — In Epimetheus' Reich ereignet sich Verfall, Verrat und
Zusammenbruch, bis Prometheus als Retter erscheint und aufrichtet. —
UngeFahre Auslegung: Die Kleinen und Abhingigen verfolgen die Grossen
und Freien, um sich an ihre Stelle setzen zu kdnnen. Ist ihnen dies
gelungen, so verderben sie alles so grundlich, dass die Verstossenen
wiederkommen und nach dem Rechten sehen mussen. Die Fahigkeit
dazu liegt aber gerade wieder nur in dem, was frtiher ihre Verfolgung
-<-g 507 8k-
herbeigeftihrt hat, ndmlich, dass sie »Heit'' und ^Keit** nicht kennen, auch
nicht immer Sngstlich ihr Gewissen nach jja'' und vNein** fragen miissen,
sondern von selbst wissen, was not tut, weil sie eine freie Seele haben,
die dort erst zu leben beginnt, wo die andern schon nicht mehr atmen
konnen, dann aber auch, weil diese ihre freie Seele nicht, wie die Ver-
folger meinen und hoffen, im Kampfe gebrochen und vernichtet, sondern
vielmehr gestMrkt worden ist zu immer neuem Aufflug ins Unendliche,
zu immer grosserem und seligerem Schaffen im Reiche des Ewigen und
Schdnen.
Dieses uralte und doch immer wieder neue Problem bildet im
wesentlichen den Inhalt der Dichtung, und ihm ordnen sich alle Einzel-
heiten unter. Die Reihenfolge der Begebenheiten wMre nun wohl wieder-
zugeben, aber die diirren, logischen Worte klSngen in vielen Fallen banal
und hulfen dem Leser im ganzen wenig zum Verstdndnis des uber-
quellenden Reichtums und der Urspriinglichkeit des Werkes, falls ich
mich nicht entschlosse, noch mehr Zitate zu bringen, als ich es bei der
Abhandlung iiber den „01ympischen Friihling*^ getan habe, was aber den
Umfang, den diese Schrift einnehmen darf, weit tiberstiege. Ich will
mich deshalb zunMchst darauf beschrSnken, eine einzige Episode, deren
schmerzliche Ironie mir gerade gegenwMrtige Zustinde besonders scharf
zu trefPen scheint, in gedrangtester Form, soweit dies moglich ist, zu
erz&hlen.
Pandora, die edle Gottestochter, trMgt erbarmungsvoll vom hohen
Himmel herab ein kostliches Kleinod zu den leidvollen Menschen auf
Erden. Unter einem prachtvoUen Nussbaum bettet sie es behutsam unter
hohen Halmen. Dort finden es sieben Bauern, von einem stummen Hirten-
knaben darauf aufmerksam gemacht, und beschliessen, nach langerem ver-
dutzten Hin- und Herraten, es dem Konige zu bringen, da es wohl ein
Schatz sei, der ihre Not lindern konne. Aber Epimetheus' sonst so sicheres
Gewissen gibt keine Antwort, und so weist sie der Konig zu den Priestern,
die im roten Dom »maassen ihrer taglichen Gewohnheit*" versammelt
sind. Als aber Hiphil-Hophal, der Oberpriester, das Kleinod gewahrt,
bekreuzigt er sich und ruft: ^Hinweg mit diesem Hohn, denn etwas
Widergdttliches beruht in ihm und fleischlich ist sein Herz und Frechheit
blickt aus seinen Augen.** Dann weist er die Bauern zu den Lehrern,
»die da wohnen bei der hohen Schule*. Aber diese Hochweisen lachen
dariiber und meinen, der Goldschmied wisse wohl eher, was mit dem
kuriosen Ding anzufangen sei; der konne es vielleicht nach dem Gewichte
vergiiten. Der Goldschmied pruft und brennt und gliiht daran herum,
erkldrt aber schliesslich das Bild fur unecht und seinen Glanz fur falsch.
Die entmutigten Bauern bringen nun ihren Schatz zum Markt. Die
dunklen Beeren in den vielen Korben spuren den Himmelsodem und
singen: „Du adeliges Kind aus einem hdhem Walde, der sich spiegelt
iiber reinerm Bach; welch Schicksal fuhrt dich her? und ist zu eng dir
deine schdne Heimat?** Aber des Marktes Huter herrscht die Bauern
an: „Wohnt auch ein Herz in eurem Leib, und ruht auch in eurer
Seele ein Gewissen, dass ihr solches wagt und leget also oflPentlich vor
508 8^
alter Augen diese blosse unverschSmte geile Nacktheit.*" Wie Diebe eilen
die Bauem davon. Fest eingehullt in einen Sack tragen sie ihr Kleinod,
dass es ja niemand gewahre. Vor den Toren der Stadt werfen sie es
ingrimmig auf die Strasse, dass es jammernd aufstdhnt; den stummen
Hirtenknaben aber, der zdgemd und harrend am Stadttor wartet, Uber-
fallen sie mit wutenden Schl&gen. Schliesslich verstecken sie das Kleinod
abseits unter etnem Strauch, als brMcht' es Pest und Unheil, and hasten
davon, froh, von der unnutzen Last befreit zu sein. — Bin Jude aber
ist ihren Schritten gefolgt. Mit sonderbarem Grinsen schleicht er zam
Strauch. «Und als er nunmehr wieder sich erhob, da war verwandelt
seine ganze Art and steifen Ruckens eilt er jetzt davon, erhobnen Haupts
mit krlft'gen Schritten! Der Hirtenknabe aber schrie und schluchzete,
wie wem die ganze Welt geraubt, und wem das Herz zersprengt ein
namenloses Sehnen.''
Der Sinn dieser schonen Erzihlung ist, dass die Kunst, das
herrliche Gescbenk einer Gottheit, durch der Menschen Unwert und
Unverstand in Mammons HInde geraten ist, und dass sie verkauft und
verschachert wird, wie jedes andere geringe Ding.
Die Form der ganzen Dichtung ist episch, die Sprache durchwegs
rhythmisch gehobene, ich mochte sagen, biblische Prosa. Ein einziges
Werk kann zum Vergleich herangezogen werden, nSmlich Nietzsches
, Also sprach Zarathustra', und zwar hauptsSchlich deshalb, weil Nietzsche
den vor 30 Jahren erschienenen .Prometheus* Spittelers gekannt hat
und, wie der Leser vielleicht schon aus einigen Andeutungen bemerkt
haben wird, sichtlich von ihm beeinflusst worden ist. Dies dussert sich
nicht nur darin, dass in beiden Werken der Held von zwei Tiergestalten
begleitet wird, Prometheus von Ldwe und Hundchen, Zarathustra von
Adler und Schlange, sondem auch vielfach in den Gedankeng&ngen, den
Bildem und der Sprache. Trotz den aus dieser Beeinflussung ent-
standenen Ahnlichkeiten bestehen aber zwischen beiden Werken die
schwerwiegendsten Unterschiede.
Nietzsche bemiiht sich, seine philosophischen Absichten in
dichterische Formen zu kleiden. Doch sein Bemuhen bringt nur blut-
lose Schemen hervor, die samtlich ein und dasselbe Antlitz, ndmlich das
ihres Erzeugers tragen, und durch deren pathetische Reden immer und
immer die Worte klingen: „Entratsle, was ich dir sage.* Keine Lebe-
wesen sind diese Gestalten, sondem kdrperlose mit dem Schein der
Personlichkeit ausgestattete Begriffe. — Spittelers Buch strotzt hingegen
von Anschaulichkeit. Nichts ist unglaubhaft, trotz der realen Ausser-
weltlichkeit, und plastische Bilder, Vorgdnge von tiefstem Stimmungs-
gehalt und Szenen von geradezu niederschmettemder Dramatik gibt uns
der Dichter auch noch dort, wo seine Phantasie in den transzendentalen
Femen der Metaphysik schweift. — Nietzsche ist scheinbarer, Spitteler
wirklicher Dichter.
Nietzsches Buch fliesst von Selbstbespiegelung tiber. Wie das
physische Auge seines Verfassers so kurzsichtig geworden war, dass er
eigentlich wohl nur noch sich selbst deutlich sah, so hatte seine Krankheit,
-cHg 509
vielleicht auch die unnaturliche Einsamkeit seines Lebens seinen Geist
schliesslich so umsponnen, dass er alles, was die Welt um ihn her
enthielt, nur auf seine eigene Person und sein eigenes Denken und
Fuhlen bezog und nur durch das Sieb seines Ich alles ausserhalb Liegende
zu sich gelangen Hess. Je grdsser nun durch sein Zerstoren, durch sein
^Umwerten* dessen, was er nicht zu sich einliess, oder gewaltsam aus
sich entfemt hatte, die Triimmerstitte um ihn herum wurde, desto mehr
glaubte er, selbst zu wachsen, bis er, da er nun an Stelle des Zerstorten
bauen, an Stelle des Umgewerteten positive Werte setzen woUte, keinen
Platz mehr fand, da er tiberall, wohin er in seiner Bedringnis irrte, nur
wieder sein scheinbar zur Ungeheuerlichkeit angewachsenes Ich, in
Wirklichkeit aber die TrummerstStte fand, die er selbst aufgeh&uft hatte,
und die ihm jeden Ausweg versperrte. Nun verwandelten sich die hoch-
strebenden Gedanken in seinem, schon vom Grinsen des Wahnsinns leise
entstellten Munde zu grellem Hohn und abenteuerlichen Schmlhungen,
mit denen er in steigender Ohnmacht gegen Kleines und Grosses wiitete,
bis er endlicb, ein trauriges Zerrbild dessen, was er unter glucklichen
UmstMnden hdtte sein konnen, kraftlos zusammenbrach. — Aus Spittelers
Buch spricht die geistesklare Schlichtheit des wahrhaft grossen Menschen,
der unbeugsame Kraft mit Bescheidenheit, stolzes Selbstbewusstsein
mit VerehrungsfMhigkeit in sich vereintgt. — Nietzsche vemtchtet,
Spitteler schafft.
Bei Nietzsche sind prachtvolle Einfdlle und hochpoetiscbe Ansdtze
mit grosstuenden Widerspriichen und bramarbasierenden Phrasen wahllos
durcheinander geworfen. — Spitteler hat den Uberreichtum seiner
Phantasie mit Meisterhand gefasst, gesichtet, geordnet und zu uber-
schaubarer Einheitlichkeit verdichtet. Nicht ein buntes Gemengsel
farbiger Steine gibt er uns, sondem herrliche Mosaiken. — Nietzsche
ist Experimentator, Spitteler K tins tier.
Ketn Buch ragt so seltsam in unsere Zeit hinein, wie » Prometheus
und Epimetheus*. Fast verletzt es mich, es im iiblichen kleinen Format
und gewdhnlichen Lettem, ein Buch unter Buchem, vor mir zu sehen.
Ich wiinschte es mir in riesiger Grosse, mit prachtvoU gemalten Initialen
und Randverzierungen, auf dickem Pergament mit kunstvollen Buch-
staben wie die Inkunabeln gedruckt, im Allerheiligsten der Behausung
aufgestellt.
Gottfried Keller schrieb fiber dieses Werk an Widmann: «Das
Buch ist Yon vom bis hinten voll der auserlesensten Schdnheiten.
Schon der wahrhaft epische und ehrwurdige Strom der Sprache in diesen
jambischen, jedesmal mit einem Trochdus abschliessenden AbsStzen
umhfillt uns gleich mit eigentumlicher Stimmung, ehe man das Geheimnis
der Form noch wahrgenommen hat. Ich bin geruhrt und erstaunt
von der selbstMndigen Kraft und Schdnheit der Darstellung der dunklen
Gebilde. Trotz der kosmischen, mythologischen und menschheitlich
zust&ndigen Zerflossenheit und Unmoglichkeit ist doch alles so glMnzend
anschaulich, dass man im Augenblick immer voll aufgeht. — Die Sache
kommt mir beinahe vor, wie wenn ein urweltlicher Poet aus der
510 8^
Zeit, wo die Religionen und Gottersagen wuchsen und doch
schon vieles erlebt war, heute unvermittelt ans Licht trate
und seinen mysteriosen und grossartig naiven Gesang an-
stimmte.*
Warum hat wohl Keller dieses sein Urteil niemals dffentltcb aus-
gesprochen? Hdtte sich eine so gewichtige- Stimme wie die seinige
fur Spitteler erhoben, so wflren diesem die zahllosen Bittemlsse jahr-
zehntelanger Nichtbeachtung vielleicht erspart geblieben. Wie dem auch
sei, Kellers Brief ist ein erfreuliches Zeichen der geisttgen Frische, mit
der der beruhmte Dichter auch einer ihm voUig entgegengesetzten Er-
scheinung gegeniibertrat, und die nochmalige VerofPentlichung — einmal
war er bereits vollstdndig in der Beilage zur Munchener Allgemeinen
Zeitung vom 12. April 1897 abgedruckt — soli nicht nur Spitteler,
sondern auch Gottfried Keller ehren.
Eine Stelle der Dicbtung will ich vollstSndig zitieren und dabei
die Oberzeugung aussprechen, dass ketn Philosoph jemals eine so tiefe
und herrliche Deutung des grossen RStsels vom unldsbaren Widerspruch
in allem Seienden gegeben hat, wie Spitteler in der nachfolgenden Er-
zahlung vom Gotteskinde Hiero (Prometheus II. Teil).
^Und es gescbab, ob dieser Stimme Rufen') widerballeten die Saiten und die
Harfen durch den gtnzen weiten Erdenplan, und iiber dieses Liedes Inbalt fing es
an zu keimen in den Ltiften, stiegen aus des Athers schwarzer unergrundlictaer
Versenkung die vergang'nen Dinge, senkte leuchtend sich die reine, duft'ge Gottes-
welt hemieder auf das plumpe Dasein.
Die Gotteswelt, die reine, die beseelte, wie sie Gott der Schopfer ahnte, als
er am verbingnisvollen Abend liebestrunken wankte zu Usia,') seiner angetrauten
keuschen Braut, doch fiberm Walde, wo am heissen Stein die Brombeer'n leuchteten
im Abendsonnenstrahl, da kam des Wegs entgegen Physis,') das gewalfge, iipp'ge
Weib, gemeio an Seele und Bewegung, klein von Geist und grausam an Gesinnung,
aber hefdg und gerade war ihr Wesen, samt von kriftiger gesunder Schdnheit ihres
Kdrpers prichf ger Bau und es geschah nach sanfter Leute Branch und Sine fasste
Leidenscbaft sein weich Gemtit, und da nun jene kunstlich spielte mit den Augen,
mit dem Munde, mit den weissen Gliedern, auch in Wahnsinn tobten seine Sinne,
irrt' er einen kleinen Augenblick, und ob auch alsobald ein nngezihmter Ekel ihn
befreite, ob er sie verfluchte mit den flirchterlichsten Schwiiren, ob in Reu' und
Gram er sich verzehrt* in alle Ewigkeit, so war's geschehen und alles Unheil
stammt daher und also ward geboren eine Bastardwelt, gemein von Wesen, aber
schSn von Gliedern, stark zugleich und grob und grausam, kraft der schlechten
Mutter treuem Ebenbild und Erbteil.
Und iene andre Welt, die ungeborene, darinnen herrscht Gemtit und Liebe,
senkte sich hemieder bei des ritselbaften Vogels sehnsuchtsvollem Singen, dass
von abertausend seligen Gestalten sich erfullete der ungeheure Raum — und
knieend auf dem Wagen starrte Hiero inmitten dieser Wnnder, konnf er alles nicht
bewiltigen in seinem kleinen Herzchen, rang und kimpfte mit ersticktem Atem,
well ein unverstand'nes Weh verletzte seine tiefete Seele."
Der Gedanke, der dieser Erzdhlung zugrunde liegt, beherrscht im
wesentlichen auch das dritte grosse Werk Spittelers, die „Extramundana«,
^) Die Stimme eines Vogels.
ovoia =8 Wesenheit.
3) ffvois = Naturkrafc
-^511
zu deutsch ungeRihr «Ausserweltliches''. Er ist gleichsam das Thema,
das in sieben poetischen Erzlhlungen variiert wird. Gibt es ein Gottes-
reich voll Frieden und Schdnheit, warum mussen wir dann kampfen und
leiden? Was bat uns abgetrennt von dort? Wer hat es verschuldet?
Wo ist — urn mit des Dichters eigenen Worten zu reden — „der bose
Bruch, von dem entfiel die Welt?"^) — Diese Fragen geben den ernsten
Grundton der Dichtung. Siebenfach ist die Antwort. — Gewandert sind
wir von einer lichten Urheimat zu immer ferneren Stfitten bis in die
Wuste, wo das Leben nur mehr mtihsam in Gribem von Sand rochelt.
Weltenkonig ist der furchterliche Samum. Aber Ajescha, die Furstin
des Himmels, kommt vom Paradiese hergeritten auf einem weissen
Zelter. Schnaubend stampft das edle Ross die GrMber auf, aus denen
zuerst zittemd und zagend, dann immer mutiger und vertrauender die
Seelen emportauchen, von Ajescha mit holdem Zuspruch gestarkt. Wutend
braust Samum daher, doch mit den blossen Armen wirft ihm Ajescha
den Sand entgegen, bis er tot zur Erde sinkt. Rtickwarts Ziehen die
Erlosten mit der hohen Ftihrerin aus der Wtiste tiber die StStten, woher
sie gekommen waren, der Himmelsheimat entgegen.
vWenn wir kommen zu dem goldnen Gitter,
Steigt die HimmelskSnigin vom Pferde
Und beginnt mit ihrer sussen Stimme:
,Al8o ist der schdne Sieg erruogeo,
Seid willkommen nun in meinem Hause,
Aber ehe wir zum Schlosse steigen,
Sollt ihr erst erwarten eure Kinder,
Die zu eurem Dienst ich herberufen.'
Welche Kinder sollen wir erwarten?
Sieh, da regt sich's in der weiten Feme,
Kopfe tauchen auf und vieles Fussvolk,
Und in reichen, buntgestickten Kleidern
Nahen jetzt die Migdlein und die Knaben,
Schdn und lieblich von Gestalt und Antlitz.
Aber bleich mit schuldbeladnen Mienen
Und die Kdpfchen hangend auf den Busen.
Sind die Leiden aus dem Weltengrabe —
Nicht die gottverfluchten Leibesleiden,
Nicht die Todes- und die Lebenskimpfe
Furchterlichen dummen Angedenkens —
Doch die segensvoUen Seelenleiden,
Jene, die in nichtlicher Erinnerung
Leuchten wie mit goldnen Traumesfarben.
Stummen Mundes fleh'n sie um Verzeihung,
Lauten Jubels werden sie empfangen,
Wie man annimmt Feiertagsgeschenke:
Glticklich wer die meisten nennt sein eigen.
Und Ajescha dffnet jetzt das Gitter
Und wir ziehn mit wogenden Geslngen,
^) Olymp. Frubling, 3. Teil, Seite 62.
512 '6^
Hold umschwirrt von tausend lichten Schwalben,
Froh und telig nach der letzten Heimat.
— Komme bald, du lieblictae Ajescha!*
In diesem poetischen Bilde stellt sich die Antwort der ersten Er-
zMhlung 9 Der verlorene Sohn"" dar.
Ihre Krifte wollen Adonai und Saun messen. Satan baut sich
eine riesige Kugel aus Erz, fullt sie, da sie ihm zu leicht erscheint,
mit schlechtem Kehricht, Scherben, Unkraut, Gewtinn und mit ,was da
immer dienen mag zur Fullnis". Mit ungeheurer Mfihe stemmt er sie
in die Hdhe und hat gerade noch die Kraft, sie Adonai in die Hand
zu legen. Doch dieser wigt sie leicht, trigt sie spielend hinauf zur
Zinne der Burg und schleudert sie mit gewaltigem Wurf in die Weite.
Die Lanze ergreift er dann und wirft sie der fliegenden nach. Mitten-
durchgespalten zerplatzt der gewaltige Ball; flammenlodemd saust sein
Inhalt in feurig durcheinanderkreisenden Kugeln durch die Liifte. —
Gott hat die Welt von sich gestossen. Dies die Antwort der zweiten
Erzlhlung ,Die Weltenkugel**.
Hart an der Grenze zwischen Poesie und AUegorie steht ^Lucilia',
die dritte Erzlhlung. Lucilia, das holde MSgdelein, ist das Licht, das
seine gdttlichen Strahlen liebreich senkt in die Seele Homos, des zur
femen Insel Tellus verbannten Bruders, damit er erstarke zu der ihm
bestimmten Weltherrschaft. Homo ist der Mensch, Tellus die Erde.
Die grosste poetische Kraft verrfit wohl die vierte »Der Prophet
und die Sibylle'' betitelte Erzlhlung, die uns auch gleich am Anfang
ein wundervolles Bild enthullt.
«Ring8 umscblossen liegt ein einsam Bergtal,
Das kein Auge jemaU hat ergrundet;
Stan des Nebels aus dem tiefen Ketsel
Steigt empor ein mittemichtiges Dunkel,
Statt der Wasterbiche von den Felsen
HSngt geheimnisvoll ein blasses Schweigen
Und die scbwarze Luft ist starr vom Tode.
Oberm Tal auf hohem Bergetgipfel
Steht ein Riese seltsam von Gebaren:
Scblafend steht er mit geschlossnen Augen,
Einwirts schauend nach dem Traumetleben,
Wlhrend er mit lauter, schdner Stimme
Unaufhdrlich dichtet durch das Bergtal
Ewige unsterbliche Geslnge,
Nicht Gesinge von vergangnen Taten,
Nicht von Dingen, die im Raum vorhanden,
Sondem prophezeiend seine Psalmen,
Einzig aus dem eignen tiefen Wesen,
Ihm entgegen tiberm dunkeln Tale,
Wo die Felsenmauer trotzig aufsteigt,
Sitzt ein Riesenweib auf einer Steinbank,
Eine Schulter an den Felsen lehnend
Und die Hinde in dem Scboss gefaltet;
Blickt hinCber nacb dem femen Singer
513 8^
Grotsen Blickes aus dem schdnen Auge,
Wie man blickt ins AntlUz des Geliebten."
Gott und die Natur sind die beiden Riesengestalten, die sich un-
verstanden gegentiberstehen. Er kann sie nicht sehen, weil seine Augen
im Dichtertraum geschlossen sind. Sie kann nicht sprechen, weil Stolz
ihre Lippen verschliesst. Wenn aber deretnst des Weibes Liebe so
tibennSchtig in ihr erstarkt, dass sie ihm das befreiende Wort entgegen-
jaucbzen kann, dann wird er die Augen ofPnen, das herrliche Weib er-
schauen, und die beiden werden sich finden, in seliger Vereinigung
ihre ewige Jugendhochzeit zu feiern. — Die uberaus reiche dichterische
Ausgestaltung dieses Gleichnisses hier auch nur anzudeuten, ist mir
unmoglich.
Als die verbrecherische Tat einer Hexe und eines von Eifersucht
verzehrten Mannes wird die Schopfung der Welt in «Kosnioxera, oder
die Armbandgeschichte", als Pfuscherei eines Strebers in der letzten
,Das Weltbaugericht* uberschriebenen ErzShlung geschildert. — Vorher
gestattet sich der Dichter einen Scherz, so wie etwa ein Komponist sich
erlauben wiirde, etne seiner Variationen trotz des dustem Themas in
burleskem Stile zu halten. In der vorletzten ErzShlung »Die Algebristen''
versucht Allah mit seinem Hofastronomen die Gottheit durch Ausrech-
nen der unendlichen Zahl zu gewinnen. Eines schonen Tages aber be-
gegnet ihm das Ungluck, eine 13 in sein Rechenbuch zu schreiben, die
sofort aus der bisher erreichten Summe herausspringt, ubermlssig an-
schwillt und alle anderen Zahlen auffrisst, bis sie sich selber in Blut
und Feuer verzehrt. Aus dem roten Unheilsmeer taucht aber unab-
wendbar und ftirchterlich die Teufelszahl 7 hervor, die sich zu einem
Weltall auseinanderspaltety das
Siebenfdrmig voo Gesicht und Misswachs,
Siebenartig nach dem innem Wesen,
Siebentdnig auch an faUchem Missklang.
Mit Differential- und Integralrechnung bemtihen sich nun die be-
sttirzten Gelehrten, ihr Werk wieder auf Null zu bringen, aber
jfEine bdae Sieben ist das Weltall,
Besser wlr* der Luftraum schwarz und einsam.
Wollten tuchen eine Gottesaumme
Und der Teufel ist herausgekommen.
Mdgen nunmehr ewig sich zermtihen
So mit Brillen als mit Almanachen,
So mit einem grossen Volk von Schreibern
Als mit roten Hof-Alkaligrapben,
Schwerltcb finden sie den Integralen.
Denn die Welt ist leichter, scheint's, zu recbnen
Als sie wieder weg zu dividieren.
Ahnlicb gebt's mit jedem bdsen Werke.
514 8^
Enthiillen uns die besprochenen epischen Dichtungen die grossaitige
dichterische Persdnlichkeit, so lernen wir in einer Sammlung von Essays,
die unter dem Titel „Lachende Wahrheiten^' bei Diederichs in Leipzig
erscbienen sind, den Menschen Carl Spitteler niher kennen. Als
Ausserungen eines unabhMngigen, schaifensfreudigen und kampfbereiten
Geistes werden diese in prachtvollem Deutsch geschriebenen Abhand-
lungen auch dort fesseln, wo unsere Ansicht zufallig nicht die des Ver-
fassers ist. Als Musiker mdchte ich dem Dichter bier danken fur seinen
wundervoUen Aufsatz uber Schuberts Klaviersonaten, der das Scbonste
enthMlt, was ich iiber Schubert gelesen babe, den ich, je ofter ich von
seinem Genius beruhrt werde, immer mehr geneigt bin, fur denjenigen
Tondichter zu halten, aus dem die Gottheit am allerunmittelbarsten zu
uns spricht. Wer nicht ubermusikalisch und daher unverdorben genug
ist, den herrlichen Zauber Schubertscher Sonaten, Quartette und Sym-
phonien zu geniessen, wird aufjubeln, wenn er folgenden Satz liest:
«Wenn wir Schubert zwischen Blumen im Grase liegen sehen — und
dies ist seine gewdhnliche Stellung^) — sind wir geneigt, ihn als harm-
losen SchMfer und Schlifer zu betrachten. Steht er aber einmal auf, so
erstaunen wir iiber seinen Riesenwuchs, iiber die Majestit seiner Be-
wegungen, uber die herkulische Kraft seiner Leistungen.* — Ja fur-
wahr, ein Riesenkind, das seinem himmlischen Heimatgau entlief, und
sich fiir eine kurze Weile auf unsem Erdball verirrte, — das war Schubert,
Von kleineren Dichterwerken Spittelers ragen hervor die .Balladen''
und die „Litterarischen Gleichnisse" (beide im Verlag von Adolf Muller
in Ziirich). Das zuletzt genannte Biichlein enthalt in seinen 85 Seiten
mehr Weisheit als manches Hundert dicker Folianten. Mit freundlicher
Erlaubnis des Verlegers lasse ich hier eines jener halb poetischen, balb
satirischen Gedichte unverktirzt folgen, da es einen scharfen und sehr
zeitgemissen Hieb auf die modeme Originalitdtsstreberei darstellt.
Abt Chilperich und die Schreiber.
Abt Chilperich der Zweite von Sanct Gallen
Ein Schalk und Original,
Fand am Charakteristischen Gefalleo,
Trivial, das war ibm Qual.
Aus diesen, wie aus andern Grtinden,
Liess er zu Ostern einen Preis verkQnden
Demjenigen Schreiber, der mit seinem Federstriche
Einzig sich selbst und keinem andern gliche.
Und siehe da, am andern Tag begannen
Ein unbeschreiblich Sudeln seine tapfem Allemannen.
NSmlich damit ein jeder keinem andern gleiche,
Ersannen allesamt dieselben dummen Streiche.
Verrenkten krankbaft sich die Muskeln,
Verdrehten und verschndrkelten Majuskeln und Minuskeln.
Die ganze Klerisei beklexte
Nach KrSften schief und krumm die Texte.
Von friih bis spSt, vom Vesper bis zur Mette
Pfuschte der Rhein- und Tburgau um die Wette.
^) D. h. als Lyriker.
-0^ 515 8^
Einzig ein Laienbruder Hregtnhard,
ErzShlt die Chronik, brummt in seinen Bart:
^Was brauch' ich jemand aoders nicbt zu gleichen?
HochwQrden siad ein Wisent ohnegleicben!
Ich pfeif auf seinen Preis und seine Gnade,
Ich schreibe einfach reinlich, richtig und gerade.^
Da kam der Abt. ^Freunde,* begann er, ^Sudeln
Ist keine Seltenheit und Pfuscher gibt's in Rudeln.
Auch hat gottlob die Kircbe niemals miissen darben
An Klexern jeder Tonart und von alien Farben.
Den Preis gewihr* ich Hreiner:
So schdn schreibt keiner
Einfach, reinlich, richtig und gerade ! So sollen es alle hahen, die
mit der Kunst zu tun haben. —
Der Laser, der mir bisher freundlich gefolgt ist, wird erstaunt sein
iiber die Fulle der wundersamen Dinge, die ich ihm erzahlen konnte.
Wenn ich ihm nun sage, dass ich nur einige Bliiten aus einem duft-
erfullten Garten gepfluckt habe, wenn ich weiter sage, dass bei Ab-
fassung dieser Schrift meine grosste Sorge nicht das betraf, was ich
sagen konnte, sondem das, was ich verschweigen mtisse, um nicht durch
zu vielerlei im kleinen Raum zu verwirren, und dass ich, um einen
Uberblick iiber den logischen Zusammenhang der einzelnen Werke zu
ermdglichen und eine Vorstellung ihres Wertes zu geben, mich begniigt
habe, ein durftiges Geriist zwischen den einzelnen Zitaten zu spannen,
so wird er ermessen, welcher Genuss ihm bevorsteht, wenn er die
Biicher, auf die ich hinwies, selbst zur Hand nimmt.
Warum der Weltruhm so bedeutender Werke bisher ausgeblieben
ist, heute, wo Beruhmtheit im Handumdrehen erworben wird? — die
Antwort ist unschwer zu geben. Hier steht ein Mann und Kunstler,
der nicht fragt, welcher Geschmack, welche Richtung gerade obenauf ist,
der nicht mit jedem Federhelden gemeinsame Sache macht, um in der
Zeitung gelobt zu werden, der vielleicht schon oft die Gelegenheit,
protegiert zu werden, vorbeigehen liess, weil er sie gar nicht wahrgenommen
hat, der aber einsam und ehrlich mit seinen Gedanken ringt, um sie in
edler Form darstellen zu konnen, weil er erkannt hat, dass Kunst nur in
edler Form mdglich ist, der nicht ruht, bis er in Vollendung gestaltet hat,
was ihm vorschwebte, der dann aber auch in vornehmer Zuriickhaltung
verharrt, bis die Welt ihn findet. — Und die Welt wird Carl
Spitteler fin den. — Noch leuchtender aber als ein Jtinglingsantlitz
umstrahlt der Ruhm ein Haupt, dessen weitschauende Augen uns von
den Freuden und Leiden eines reifen Menschendaseins erzMhlen und
dessen Mund bedeutsam verkldrt ist vom Hauch der schSnheitstrunkenen
Wahrheiten, die er nach langen Kdmpfen, von schwer erreichter Hdhe
aus, den andMchtig Lauschenden mit weithin tonender, klangvoller Stimme
verkiindigt.
516 K-
Sein @teg.
Sri^l^htng 9on ^elene Staff in 9Run^en.
T)ex 92ot)em6ern)inb fegte ^eulenb &bev bie 6ereiften @toppe(fe(ber^
fntcfte i}ter unb ba etnem 9aum ein paar bfirre Sn^^ige unb rafc^elte in
bem rofifarbenen^ am SQafbranb aufge^duften iaub. tJtit watfxtx 9Qut warf
er fid) auf bie «Odufer bed ((einen Sanbfldbtd)end/ bad fo red)t fd)u$Iod
mitten in ber Sbene (ag^ pftf burc^ bie engen Stragen unb mad)te ben
^dufern, bie fei(fd)enb an ben 9uben unb 93iel;fldnben ^erumfungerten^
tijren SD^arftag fo ungemut(id) aid m6g(id).
®ie r&rjten benn and) bie «Oanbe(fd)aft ab unb beetften fid), tt)re
leeren ober gefpicften ®e(bbeute( unter Sad) unb %ad) ju bringen. Die
meiflen fud)ten ben gafl(id)en ®d)u$ bed ,,goIbenen Hroen", eined alters
tftmlic^en ®iebe(t)aufed inmitten ber «Oauptflra0e/ mit bejfen t)ergo(beten
aBirtdfd)iIbe ber SBinb fein flirrenbed ®piel trieb unb fid) emfig btm&tjU^
bie bemalte «Oo(}figur bed ^eiligen ^lorian ibexm Singang ^erabjumerfen.
3m fflu wax bie niebrige ®aflflube im Srbgefd)of bed MS6n>en" V)on ®&fien
6efe$t, beren ungelfiftete SBinterffeiber, »ereint mit bem Sampf [&nblt(f)eii
3:abafd unb einem bren}(id)en ^ettgerud) and ber £&d)e eine }iem(id)e @ticf^
luft JU wege brac^ten. Der ffiirt unb bie *ettnerin fatten atte J&4nbe t)oH
}u tun. Se^tere^ liber bie t)ie(e Tlxbtit t)6d)fl unget)a(ten/ fu^r I&rmenb
umi)er^ rid)tete n>enig unb t)ergaf ailed. Der SBirt ern>ifd)te fie betm
©d)firjenjipfel unb fagte Ijalblaut, aber nad)brficf lid) : „1Du, l)6r': ben *opf
barffl ein bidi beffer }^fammnet)men; fo eine Stafel fann id) net bxaud)tn."
— @r felbfl ^^atte bie STugen fiberatt unb »erforgte feine ®4fle ber Sleilje
nad), o^ne )iberfljtr}ung, bidn>eilen einem Ungeflftmen ®ebulb prebigenb:
^SBillfl nad) Slmerifa, bu baf 'd gar fo preffiert?" — ober „gin SJier^inber
td unfereind net^ mein Sieber." — @o t)ielt er ftc^ unb bie 3(nbern bei Saunr.
3Benn man ein junger 3Birt tfl unb auf bem J&aufe^ bad man erfl
(urj ertDorben ijat, fein ®ebeil}en finben n>ill, fo muf man f!d) ru^ren unb
ben ?euten eine STOanier jeigen finnen. Der ?6tt>en»irt tat bad. dx f)attc
and) bem 2:rupp ilterer ^SJt&nnex, bie t)ori}in eingetreten iDaren^ in ^egleituna
finer grofen bunten ®eibenfa^ne^ felbfl bie ^I&$e an bem fftr fie anf^
bewaljrten Sifd)e gewiefen unb }um Danf ein gem&tlid) t)ertrattlid)ed 2&d)e(n
itjxei 3(nffii}rerd geerntet. Sd n>aren Seteraneu/ bie einem toten ^amerabrn
bad Ie$te ®eleit gegeben l)atten unb je$t im ®irtdt)aud )ufet)rten auf einen
®ebdd)tnidtrunf.
St)ebem moc^ten ed lauter flattlid)e iD7&nner gewefen fein; aber bit
Satire ijatten biefem ein ®pt$bdu(^Iein jugelegt^ jenen jufammenfc^rumpfen
laffeU/ baf er in feinem Oratenrocf t}erumfd)Iotterte unb mand)em bie Staff
(upfrig gef&rbt. 2ro$ ber Denfm&nje bed @ieben)iger Sieged unb bem
militdrifc^en dijxenicid^cn, bad fte fdmtlid) auf ber Srufl trugen, fp&rtftt
etlid)e ber jfingeren ®&fle etmad n>ie Aberlegened SDtitleib mit ben ^alten
Jattein".
517 8^
Sen a3orfi$ f&tjxtt tin n>o^(^&biger^ nod) rfifltger ®raufopf^ mit flarfem
Doppelftnn unb t)ergnfigt ((inj^Inben 3(ugen. Stefem fci)r4g gegenfiber fa^
fin anberer^ ber met)r etnen fnurrtgen Stnbrucf mac()te: bte [ange ^agere
dtafe ^ing t^m nacf) unten^ bte Snben bed grauen ®cf)nurbartd bedgletc^eii/
unb man fii^Ue beut(td)^ bag and) bte S)7unbn)tnfe( unter btefem tierabgejogen
feien. dx beteiltgte fid) n>entg an bem @efpr&d)^ bad fid) t)auptf&d)[id) um
bte Sugenben bed ))erflorbenen ^ameraben bre^te* 3(Um&t}Iid) geriet man
toon btefen auf anbre gemetnfame (Srtnnerungen^ auf bte ^riegdjett^ auf
^ranfretd). —
„^ei9tf um bte 3eit fan ma bajumal auf ^artd marfd)iert!" — rief
finer »om 5ifd)ettbe l)erauf, bem ®d)tt>eigfamen ju. Der naljm bte ^fetfe
4ud bem ^unb^ and ber er bidtang i)efttg gebampft tjattt unb fagte: ,,®timmt!" —
IDer 3Qot)[t)&bige t)atte inbeffen fletgtg fetnem J(ruge jugefprodjen unb
mit ben 92ebenft$enben angeflogen* 92un fat) er p(6$Iid) fein ®egen6ber an
unb ber ftbele 3(udbrucf in feinen Sfig^n manbefte ftc^* (Sx flanb [angfam
auf unb begnnn inbem er ffd) bmixijtt, tiax unb fejl }u fprec^en^ mad feiner
3unge nid)t ganj giftdte — meijx and innerer ©emegung aid infolge bed
mdgigen 3^d)end:
„SWeine J^erren! — 3fd)tung! STOeine J&erren! — 3d) !)ab bad ©prud)^
mac^en unb Sleben^aften fonfl nidjt an mir* ®'mif net. STber — ^m —
in biefer ©tunbe brdngt ed mid) — mand)mal id*d J^erj tjait »oIl. ffiir
^aben einen 9Serfu|l — fd)on »ief SBerlufle get)abt; fan 6berf)auptd nur me^r
iinfer 7(d)te* Unb mer meig, mie bafb! — afber grab bedjmegn id ed und
dne ©enugtuung — eine ©e^nug^tuung, fag id) — bag mir Ijier tterfammelt
ftnb unb bag unfer lieber Sliggl^STIiji nod) babei id! 2Bad bed fur einer
id, mad er Aberljauptd gefeiflet ^at, bad miffn mir attefam — ober net?
3((fo moKen mir anflogen unb auf fein fpejieUed ^oi)( trtnfen^ bag er und
nod) lange — Sliggf/ ^rofl; foHjl leben! ^odj, !)od), f)od)!"
£ie SSeteranen i)atten fid) einmftttg ert)oben^ aud) ber fo 3(ngetoaflete^
&ber beffen 7(nt(i$ ein gemiffed Sucfen ging/ ba jte aUe mit t^m anfliegen.
2fld er auf ben Slebner jufam, marb bad eiferne *reuj oome an feinem fd)marjen
Slorfe ftd)tbar. @r ^ieft nunmel)r feinem beleibten ^ameraben bie J^anb ^in
unb fogte mit (lodenber ©timme: „3rber meigt, @terjbad)er, bad id f(^ier
^j'oiel! 3d) banf bir red)t fd)6n! ffiir fennen einanb\" „3a, freilid)
fennen mir und" — beflAtigte ber anbere; f!e med)feften einen furjen feften
©licf unb J&Anbebrud, bann ging ber ^agere auf feinen ^fa$ jurfirf.
„SW6cftt fd)on mijfen, mad bie 3w^i mitfammen ge!)abt ^aben" —
bad)te ber 5Birt, ber ben SBorgang jufdllig beobad)tet Ijatte. 3lod) eine
ffieife fagen bie STften beieinanber, bid bad ©efprdd) immer einpfbiger murbe
unb bie *rfige fa|l aHe leer maren- Dann laijUtn bie aSeteranen, IjoUen
bie feibene Jaljne and bem SBinfel, in bem (le Iel)nte, unb brad)en einer
nad) bem anbern auf. STOit i!)nen and) ber 3nf)aber bed eifernen *reujed,
nad)bem er bem Sirfen nod)maI bie J&anb gefd)fittelt l)atte. Ber fetb|l biteb
adein jurficf in ber fafl (eer gemorbenen ®aflflube.
„7lu meb, au mel) — je$t mfiff'n ma !)oam fagte er ju bem auf^
rdumenben 9Birt unb marf einen unruljigen ©lid burd)d ^enjter auf bie
fallen ©Aume, bie ber ©turm nod) immer jur ©eite bog.
SQddeutsche Monatshefie. I, 6. '34
518
„©feib nod) cin bifl forfeit, bi« bcr SBinb naetjfa^t!" riet ber ®irt.
f,^ait ben fd)Ied)te(len J^eimiDcg/ fo n>ett brau^t^ wit bu iDo^nfl! Unb
f grab ber SBeif, baf t rec^nen f6nnt mit btr — t ijah bte ^(bjaf^Iung
„^ai brancftf* net, J)at feine (Sit!" we^rte ber Altere jwar ah, bo(ft
(tef er ffd) jum Sern>etfen bereben, unb ber iB3irt, nad)bem er nod) in ber
^iid^t einige Oefe^Ie gegeben, tarn mit etner 9rteftafd)e t)erein unb fe$te
iidj }U il)m. TM ber 9Birt Dor er(td)en SD^onaten bad «Oaud gefauft, ^atte
er bte t)oDe ^auffumme ntd)t in bar befeffen unb fid) bedmegen an ben
^fonomen @ter)bad)er gemanbt, ben man Hjxn ali etnen ber 9Serm6glid)fien
am £)rte unb einen brazen SRann bejeid)net ijatu. dlnn )ai}(te er feinem
«Oe(fer bad 2)ar(et)en pfinftHd) ab.
,,©i(l ein affurater SRenfd), bu" — fagte biefer, wA^renb er bic ©anf*
noten einfd)ob. „^iintHid) auf bie aStnuten. Z)ad ()ab i bir gleid) an^
fennt, toit bu i)er^fommen bifl: bei bem fei)(t fid) nir. Unb ba^ t Stec^r
b'l)alten f)abV fleljgfl, bed g'ft^ut mi an bin"
UnmiUfurlid) gebad)te ber junge SBirt bed Keinen TlnfttitM Don t>or^
!)in unb fragte: ,,®ag je$ einmal: ber 92igg( 3((ift id mot)! bein liebfler
®pe§i?" — ®terjbad)er lief ein leifed ^feifen t)emel)mcn* ,,^6nnt i grab
net fagen! ©einal) 'd ®egenteil id er amaf g'wefen."
„7lij ge^ ju! 3 l)&tt mir benft: im £rieg ba}uma( i)&tt er bir
t)ielleid)t 'd ?eben gerett't ober fo wad."
,/d ?cben, meinfl? Sigentlid) t)at er fi felber 'd ?eben g'rett't, ba^
l)eigt: mir aa — unb bie anbern — tt>ie man^d nimmt." — Cr weibetc
fid) an bed ^i^ngeren ffd)t(id)er Serfl&nbnidloffgfeit unb fragte bann gut^
m&tig fd)mun}e(nb, mie er ii)n fd)on t)ort)er beim Sintreten begrugt t)atte:
„®elt, ffiirt^ je$t f|)annfl erfl red)t nir? Die ®'fd)id)t t)om STfifi unb mir
tt>enn'fi erfa^ren f6nnt'fl, ba m6d)t'fl fpi$en."
»/3a" — gab ber 2Birt e^rlid) ju — „bie tdt mid) tterintereffieren.
@ei net fab, ®ter}bad)er — erjAl)! mir'd ^aft! 3d) trag nir weiter, unb
nir id mir lieber wie fo eine ®'fd)id)t t)om *rieg."
Der Seteran }og bie Sd)u(tern i)od) a(d friflle ed ii)n. ,,3Beift, id>
n>finf(4 bir fein net, bag b^ einen mitmac^en muft. SBad man ba ftec^t
unb tfixt — "
„@ei fo gut!" — bege^rte ber SBirt auf. ^STOir Sungen tdten unfem
SKann fo gut flell'n wie 3l)r feinerjeit, bad barffl fd)on glaub'n!"
2)er Tliu betrad)tete il)n mit einer Tltt Don D&ter(id)em 3Bo^(n>o0en.
rr3e$ g^aQfl mir! @d ifl bo wai ®d)6n^d um fo einen aufrid)ttgen unb ^er}^
baften sroenfd)en." — 6r fal) wieber f)inaud, „9>afb wirb'd irgenb »^
runterfd)nei'n; bann wirb 9lul), el)er net. 3a, meif wir bod) fo grubig bei^
einanbl)ocfen — unb bu fd)on eigentlid) wad wiffen foHfl »on bie ?eut,
bie einfei)ren bei bir unb Don bem, mad Dor beiner 3cit mar — metntd^
megen berffl bie ©egeben^eit gem inne merben. SBBenn ffe ffir mid) and)
feine dijx id, fo ifi ffe'd ffir 'n SliggI; unb bad g'fd)iel)t mir grab rtd)U
3rifo pag auf!"
-<-8 519 ^
„fDttin ^aui unb metn ®runbfli&cf t)or'n @tabt( bxau^t fennfl a fo.
£ad tfat fcf)on mein 2((ten get^6rt; unb i bin ba brauf geboren.
SBBciP^ in fo cinem ^au^, too oiel fBiedf unb wo'^ auf ein J&afcrl
fl'liecfeltc STOild) obcr eine ©d)6|fel ooU ^apfen am geiertag net j^fammen^
ge^t, ben 93u6en aKemeil gut g'faKf^ ftnb aKe meine @cf)ul(ameraben gem
jufe^rt bei ntir- Der Kebere tt>ar mir t)on aKe miteinanb ber 9liggI^3Hi(i,
©0 ein g'f(i)eiter ©urfd) unb fo g'fe$t; oid 2Bort ^at er jwar nie net
g'mad)t, aber toai er g'fagt Ijat — ba« ^at jebedmal J&anb unb ^ug g'^abt.
93[o9 ba^ i H)n mand^mal tfah ein bifl t^erunterfd)impfen unb einen «$eim^
tfirfer tfti^tn mfiffen, weil er mir oon (i net ^albeter fo oiel erjA^ft ^at,
tt>ie i itim oon mir. 3(ber be^j'weg'n bie greunbfct^aft boct^ net in bie
^t&dj gangen* 3 brandy net erfl oon aU bie Dummt^eiten j'reben^ bie
tt>ir ali junge ©d^Iiffel g'marf^t l)abn — ba« weigt fd)on a fo* *urj: tt>ir
(inb au^ ber ©(f)ul fommen unb Ijaben unfere fonfiigen ?e^rjat)r l)inter un«
g^babt unb ftnb ein jeber feim Sater im ®^fci)&ft an bie J^anb gangem
5Dem Xfiff ber feinige tt>ar Sn^aber Don an ©(I)nitttt)areng*fd)4ft SRo, unb
iDeit mir t)aU feine 93ette(buben maren unb and) fonfl fauber beieinanb^
ffnb toix bie jungen SBabeln jiemlid) in bie 3(ugen g'fioct^en, i fibrigend — in
aUer 3(ufrid)tigfeit g*rebt — no meljr toie ber 3fliff, totil i ber gibelere unb
2}erm6glid)ere g^toefen bin. STOeine ?eut Ijaben be^^alb in einer 3(ng|i g'febt,
i m6ct)t auf bie Ieid)te ©eiten fommen, unb SSater toie abutter ^dtten ntr
fo gem g'fe^n, ali bag i Ijeiraten foltt, wie ebnber tt>ie lieber.
Wtiv toav bad £ing no ju fx&ij, unb {>r(l t)ab i mi br&cfen tooKen
baoon — ber iWenfct) mug bod) tt>ad ^aben Don feine fd)6n|ien 3al)r —
aber ba ^aben bie anbern einen Slot^etfer friegt, ber ijat furjen ^rojeg mit
mir gemarf^t. ©o ein STOabel tt>ie bie — an ^a^nad^t ^aben wir tanjt
miteinanb, blog ein paar Wtal — unb g'^abt t)aV^ ml SBenn i fag: i war
Der(iebt n>ie ein SRarr, bad langt net. 9){inbefiend n>te )n>ei. ©ie tfat fo
eine Tlxt an ff ge^abt, fo finbgut unb treul)er}ig, gang aid ob fie Don fern
an fein fTOanndbilb net benfen t&t — unb bann mittenbrin fo ein ®^fcf)au,
fo ein merhourbigd, bad eim f6rmli(f) bie J&i$ Ijat auffieign laffen — bafia!
9Bir ^aben fte an eim $ag fennen gUernt auf bem $an}boben, ber 2((ift
unb i, unb t toar glei gan} toeg — i^m, obfd)on er ff nie fo audg^fprod)en
^at/ id f and) in bie 2(ugen g^flod)en. Sum 2(nfang ^at^d an^Q^id^ant^ a(d
mag fte ii)n Heber aid toit mid), DteDeid)t grab meil er^d nie fo mit bie
aSabeln g^b^^^ i)^^* ^ber nad)i)er id fte mir bod) )n>ifd)en brein fo freunb^
lid) g^noefen, bag i mir tt>ad ^ab einbilben mfiffen! @ine Don meine S6d)ter,
u>enn ^eutjutagd fo w&r, bie t&t eine 9Batfd)en fangen Don mir; bajumal
frei(id), aid junger @fel, b^b i g^meint: nir SQunberbarered gibf d &beri)auptd
nimmer. 3 mein i f[el)g% loie f mir einmal auf ber ©tragen in SBeg
fommt — ind J&od)amt noiU'd gebn, weil ©onntag id; unb i bleib fle^n,
tu metn ^nt fauber runter unb fag fo, per ©pag: ,,Sr&uIn ITOatbilb, tun
& fein fftr mid) and) ein paar SBaterunfer beten!" — ,,3a, ein ®reil*)
fallen laffen unb ntr fagen ber{u'' — gibt^d )ur 3(ntn>ort unb Sd)ant meg
Don mir, bag i merf, fte ^at noad gegen mi. 3 nat&xlid) fe$ i^r }u mit
0 &ttil, ^rrU oom 9iofmfvan}.
34*
520 ^
Sragett, unb auf tin SKal ^at f bte Xugen ooK SBaffer unb r&tft ganj f i&g^
lid) bamit tftxaui, tote t fif nur fo martem fann unb i)tni)a(tfn; ooUig ba^
J^txi m6(f)t*d if)r abbrucfen — ungefdljr fo l)at (ic*^ rau^bracf^t 3e$t bin
i mix ((^on n>ie ein rec^tc^ 9tinbt)ie^ unb ©(^eufal oorfommen unb t)ab
ben liebcn (Sngel nid^t (&nger (eiben laffen mign, fonbern mi glei crfl&rt
unb mit ii)r oerlobt S){eine 2((tcn )n>ar i^aben j^erfl einen argen S&rm auf*
g^fd)Iagen wegen ber 9rautfd)aft; ba bin i aber furteufeKmilb worn,
mollf d mi mit aUer ®n>alt )um (Siyefrilppel mad)en/ unb jti}, wo i bie rrd^r
g^funben ijah, ii wieber nir!'' — ®an) audeinanber war i t)or 3orn; benn
bad i)ab i no bid auf bie ^eutig @tunb, bag i mi gan) oerbeigen fann in
ein X)ing/ toon bem i mein^ bag ed fein mug/ unb bag mi jebe SBiberreb
^6aifd) fud)tig mad)t SReine SItern ^aben )^(e$t einfennt^ ed b(eibt il^nen
nir ft brig aid wie nad^geben — unb fo bin i ifalt 9r&utigam g^wefen —
ein giftcffeliger obenbrein.
IDer erile^ ben id) ber SRat^ilbe in unferm ^rautflanb oorg^fieQt t>ab/
war natfirii mein befier ^reunb, ber 2((ifi. Unb fte i(t fo lieb mit ii)m
g^wefen in aDer @i)rbarfeit unb 93efd)eiben^eit/ bag i mi net g'nug ^ab &rgern
f6nnen ftber bem anbem fei @teifl}eit unb ^ab^eit. ^aum, bag er i^r Ifat
2(ntwort geben m6gen! 3 i)ab i^n bedj^wegn and) net fd)(ed)t ang^fungen^
wie i aOein war mit i^m. Ser ganje 92u$en aber baoon aber id g^wefen, bag
er 'd n&d)(le ^SJtal, too i ii)n mit meiner Sraut i)&tt einlaben woUen/ ab^
g^fagt tfat unb 'd fibernddjiie Wlal wieber. r,3wingen tu i bi net, $ropf,
fpinneter" — tfah i mix benft unb mi blog g'wunbert, bag er fo fein fann,
nad)bem er j^erfl/ e^toor bag er fte fennt t^at, bie ®utmfttigfeit felber war
im 2(nt)6ren toon meine oerliebten ®d)mer}en unb ®^fd)id)ten. Um fo mttjt
bin i je$t auf itjti g'laben g'wefen unb i)ab mi ganj j'rfirfjogen t)on iljm,
benn meine Sraut ^at ft and) beflagt, fo ein uni)6flid^er SO^enfd) w&r i\)r
nod) net oorfommen. liber^auptd tjabn wir g^nug ju tun g^t^abt mit ber
2(udflattung unb bie papier )ur Srauung — fte feffieren eim ja beim Tlmt
bamit, bag eind g^Iangt! 3(0e 3(ugenb(icF tfab i nad) froftnd)en fa^ren bftrfen
— mein 3(Iter ^at and) immer ein ®efd)4ft unb eine ©eforgung ffir mi
g^i)abt — unb in WliLndjtn brin ^ab i *d erfa^ren, bag^d ^ubfd) winbig aud«
fd)augt in ber SQelt. £ie ^ranjojien i)eben ^ieg an mit bie ^reugen, ^af d
g^l}eigen, unb bal unfer £6nig )U bie ^reugen tjilft, fo fannd fein, bag wir
aud) )u^n J^anbfug fommen.
3 wetg nod) wie t)eut: grab bin i g^fd)icft g^wefen, bag id) l)eimfat)r
an eim Sag im 3u(i — ba t)6r i fo ein ®etu unb ®^fc^rei oon einer aRaffe
Sent! burd)einanber/ unb auf mein $ragen bin i berid)t^t worben: ber £6ntg/
unfer ?ubwig — ^err gib if)m bie ewig SXu^ — i)at ben ©finbnidfatt an*
erfannt, wir tBapern mftffen mit nad) ^ranfreic^!
3 g(ei i)eim mit meiner dteuigfeit, aber wad, meinfl, ^at mein THUx
g'fflgt? w^ad gibtd net, bag wir mit bie ^reugen geljn," ^at er g'meint,
,,unb in ber ®tabt fan lauter fo l^berfpannte brin, bie mad)en S&rm, wo
nir bran id." — Tinf ber 3(nfid)t id er etfid)e $ag oerblieben, bid er bo
t)at bran glauben mftffen — wte n&mlid) bie (Sinberufungdorbre fommen
id fftr mi!
®rab ertra fibel war i net, offen g'fianben: fo furj t)or ber ^oci^jeit
521 8^
jDie Wtntttx tjat i)eaauf g'lDrint; bet Sater^ je$t gan) g'fa^t^ t)at g'fagf^
,r3n ®otM dtamcit'' — unb mtr ang'fc^afft^ ba$ t etn ®(^netb^ {etgen foD
al^ ®o(bat Ste i)dtt t mir fo tote fo net abfaufen laffen! lllbrigend id
net otel Sett )um 93^flnnen g'wefen: grab bie n6ttgflen Sorberettungen tjat
man trefen f6nnen unb eine i^etltge SD^eff i)6ren; bann i)ab t g^fagt: „^Div^tttx''
— Ijab i g'fagt — „t fpring no g'fc^winb ju ber STOatljifb!, bag i i^r ^ffiat
®ott fag^ unb bent StHft btaud) i net fagen, benn ber mu^ fo )um aRtftt&r^
unb )ubem i)aben mtr un^ ja etn n>engl )erf)acFe(t/'
2((fo i ntmm bte $fig in bte J^anb unb renn )ur fTOatiytlb. Xiai ^aui
Don it)re Sent l)at ein Z&xt t)om J^of and gV^^/ nttr in bem %aU bai
^tebere n)ar; benn fo auf [e$te aRaI rebt man ft mtt fetm @(^a$ (etc^ter
oi^ne bie ganj %amilk. ®'fd)n>inb tnd J^au^ netn, bie f)tntere @tiegen nauf/
bte ^[infen t)on t^rer £ammer aufbrucft unb — J^immel ^errgottfafra: ba
»ar fd)on einer brin beim 3(bfct)ieb neljmen! —
3n fo eim 3(ugenblicf toti^t nimmct, too b bifl unb n>a& b tufll
3 I)ab bte 9WatI)irb auffreifrf^en I)6ren, aber net (te ang'fdiaut, fonbern ben
Tflifi^ ber fte and n 3(rm gMajfen tfat unb bag^flanben ifi n>ie beim jfingflen
&*vid)t. J5a i^ miV^ aufg'fliegen wie'd ^6llifd>e geuer — ganj wfttig tfab
i auf t^n }ufl&r}en moOen — aber bie Sf^at^tlb i)&ngt ft mir an bte £ntee
unb winfelt: „Um 3efu 6t)rifli n>tDen/ ®d^orf(f)( tu fetn Ungfficf an«
(leHen!" — 5 I)ab net lo^ f6nnen oon i^r unb bo net auf (le treten
migen; fo fcf^rei t mit gebaKter $au(l {u ti)m n&ber: „£u J^unb^fott bu
miferabliger eiifalter!" — „®timmt!" — tjat er ganj l)eifer g'fagt — ,,t)or
bir bin t einer g'wefen." — Snbem tt>irb'^ auf bem ®ang lebenbig — bem
iOt&bef feine @(tern i)aben bie 9){etten g^l)6rt unb ffnb rauffommen* £ie
ftnb bir toeiterd net erfcbrocfen^ n>ie t bie fTOat^ilb t)om S5oben aufjerr unb
il)r einen SHenner gib unb fd^rei baju: „t>a ijabVi ed euer fauber^ ^rfid)tl,
unb finnt'^ e^ g'^alten!" — ©arauf bin i fort, toie unffnnig ^eimg*rennt,
ol}ne Umfc^auem
Z)af;eim im J^audflur tfat bie Sautter fct|on auf mi pagt; i nel)m f
in mein ®t&ber( nein unb n>iD t^r fagen, n>ad t^, unb fann net; benn mtt
einem fSJtal id mir'd ®(f)(uc^}en anfommen unb tjat mi grab fo g^flogn n>ie
etn 9ubem IDa tjat fte fid, fcf^eint^d, )ufammen flauben f6nnen, n>ad loi
u>ar; fte f)at meinen Xopf an itjx $5rufl g'legt unb gau) flab g'fagt: bie
SBeiberleut ani ber Sermanbtfd^aft tjitttn itjx fd)on ein paarmal toai )u^
tragen n>oaen iibtx bte SRat^ilb, aber f!e ^Att ft tanb g'fleUt mir )^Iieb. —
SQie fte bann fo nad^ unb nadj aUci raudg^fragt i)at and mir, unb i fann
gar net ©c^elt^ unb %lud)tooxtc g'nug jufammenbringen ffir ben 3(Iif[, ba
tjat ffe mtr )n>ar 9lecfjt geben, aber bann tjat fie mir ein iidjt auf)&nbt,
toai fo ein miferabliged SBeibdbilb aDed burdjbrucft, bad burdj unb burc^
fa(f(4 unb Derlogen id. ®rab menu einer fl n>e^rt gegen bad ©TaUen, bad
er tjat an il)r, unb 'd ®rafen im fremben ®arten obenbrein fdjeut, bann id
fo eine am oerfeffenfien auf if)n. J^eut aid alter SWenfct), fenn t mi aud
unb weig, bag ber anfidnbigfle ^erl in feiner oerliebten Slarretei oft ein
gar anberer wirb — bamald aber Ijab i oon meiner 9){utter i^rem SBer^
fianb nir profttiert. 3 war wilb unb totflerbendungl&cflic^!
3n ber Serfaffung tjab t metne guten Tllttn ^ffiat ®ott fagen unb
522 8^
nac^ 9Rikncf)en ntin fa^ren m&fftn. Unb toifT^n, bag Winter meiner brr 2((tft
fa^rt! 2(6er meitt Sater f)at mi 6ei ber <Oanb genommen/ no in ber fe^ten
SWinutcn. ,,3Racf) fein feine ^ummfjeitcn, ©ctjorfc^I tjivdl Du unb ber,
il)r get)6rtd nimmer end) )n>et/ fonbem eurem SSaterfanb! 2)ad t)erff)tid^|l
mir 1)0* itnb Ijeilig!" — „3« fd)on red)t, Sater! Sergelf* ®ott, STOutter!
Sut'« beten fir mi!"
Unb bann ii bad 92&d)tigen in ber ^afem brin in SRund^en fommen,
unb bann bie 7lbfat)rt ini ^elb* Sie 3fig t)o((er froenf(f)en/ bie ba abgangen
ftnb! IDer reinfie SBied^trandport^ fo eng toaren mir beieinanb! Unb bie Seut,
bie too i)aben {u^aud bfeiben mi^ffen^ mein x, ^aben Zfid)er g^fd)n>enft unb
etiidje l)aben g^weint jum J^erjbreAen. 3(ber t)on und, barf id) fagen, tjat
feiner ber 92ot einen ®d)n>ung gHajfen/ fo I)art bad Sing bie fDlttjtcttn
anfommen ii. Sieber ifabtni bir g'fungen in jebem SQaggon^ unb benft
tjat ft jeber: „Z)enen 97Ia(eft)^Sran)ofen tt)oDen n>ir'd f(f)on jeigeu/ mad ein
rid)tiger ^aper id."
Son aUen mitfamm glaub i, toaxi mix beinai) am elenbigden jumut!
jDenn i ^ab mi net im J&erjen auf ben ^ieg t)orbereit, auf ©iegen ober
SterbeU/ fonbern aDemett meine SBut auf ben 2((ifi in mic^ nunter g^freffen.
@r id net ber g(eicf)en Xompagnie juteiU g'noefen noie i, aber bem g(eid)en
Stegiment; bad n>ar no bad ifrgere. X)en falfd)en ^erl fo unb fo oft fe^en
m&ffen unterm S^(ti{ug unb it)m in feiner 9Beif nir antun biirfen^ n>ei[ noir
hod} ©olbaten g'toejl (inb unb unter (hrenger SRanndjuc^t — i ^ab gemeint,
bad ^alt i net and.
@d id n>ot)( bumm ju fagen: bad i)at mir ben ganjen ^eg t)erbor6en^
benn fo ein ^rieg i|i j'erfl feine ®aubi* 3(ber bad 3(brid)ten im ?ager
?e(^felb unb bie erfien 9)?4rfd)e l)ab i mitg%ad)t wie in eim fd)n>eren 5raum —
tt>eif i mir bad Denfen an bie 3(nber, bad [(^ein^eilige Ding, and) erfl tjab
mit ®^n>a(t abg^mit)nen m&ffen. Dad Srfle, mad mir anfinnen tjat Don
augen ^er, war bie 8?ad)rid)t, bag bie ^ranjofen fc^on einmal ®d)l4g friegt
^aben, bei SBeigenburg — unb gleict) barnac^, wie'd gef)eigen ^at: 3e$t
marf(^ieren tt>ir Aber bie frang6(ifd)e ®renj.
9lid)tig tt>ad) tt>orben bin i burc^ einen Ttnblicf, bei bem 'd bie
meifien Don und beutelt tjat: bie erflen 5oten! @o ein ?eitern>agen Dott
(larre blutige ?eiber — ober mitten am 2Beg ein paar graue ®'(id)ter mit glaftge
Xugen unter ®otted freiem J&immel — Sliemanb fann (t'd benfen, »ie
bad einfc^lagt! Xber mitten in bad ®raufen 'nein, bad mid) ganj g'worfen
i}at^ id mir j&t)(ingd unb beut(id) ber ®ebanfe fommen: r#9Bad w&r^d je$t,
tt)enn ber 3IU(i fo ba liegen tdt? Sigentlid) bfirftfi iJ)m bann nir mctfx nad)^
tragen, unb il)r f)dtt'd eure SXuf), alle 3tt>ei!" — 2Bie eine ®rl6fung l)at
mir bad fd)einen moUen; unb Don ®tunb an f^ab i mi babrein Derbiffen: ber
Xlift barf net i)eimfommen, er mug ^in merben, gei)t^d mie^d toiU; unb noenn
ailed gar i(i, unb fein granjod l)at if)m berfd)offen, fo berfd)ieg i^n i!"
Dad id mein @rebo g^toefl, fojufageU/ tt)&i)renb bie anbern benft ^aben^
n>ie f iijx ®d)u(bigfeit tun n)oUen ffir ^d SBaterlanb. @t)r^ n>ard feine f&r
mi, bie Tluinatjml librigend: getan ^ab i f bod) auc^, mei Derf[ud)te
®d)ulbigfeit, n>o n>ir^d erfle ^al ind ^euer fommen ftnb, bei 9B6rt^ unb
^r6fd)n>ei(er. Du, bad mar n>ad ! Dad brennenbe SReft am Serg^ang broben
523 8^
unb toiv immn noieber tjinanftxaxtU unb ba^ S^affepotfeuer t)on bic SHot*
I)ofeten {um Smpfang! B^^tfl marfc^iert man in flrammer JDrbnung an,
abtv bann IjaV^ toa^, tanm ba^ man tm $euer flet)t^ gtbf^ fein $(an unb
Sorfa$ mcf)r. Slur brauf! fflxd)t j'rficfwcrfen laffen, l)auen unb fct^iegen,
n>ad g(l)t — nur brauf/ braufi 2Qte menn i etnen fTOorb^raufcf) g^ljabt ti&tt
fo id mir bie ganje ®^fd)t(^t t)orfomm(n. SRod^ i)eut n>ei9 i net/ n>i( noir
eigentlic^ ^inein fommen ftnb in bad J^mgottdnefl.
@rfi ba ^at man ft einmal audfc^naufen f6nnen unb fragen: Ubt man
ober Ubt man net! Unb ft mieber j^fammfuc^eu/ benn unfre 2(6tet(ungrn
waren mit aUe miglic^e anbere iroannfd)aftrn burd^einanber/ bie ®^fangenen
net t)ergeffen* 3e$t ^afl fir bie and) forgen burfen, unb fur bie SSer^
wunbeten! Unfre SSerlufle — t)eut nod) tut mir'd tt>el), wenn i bran benf!
©0 t^iel brat)e ^ameraben, fo »iel patente Solbaten — grab ber 3(IifT Ijat
net babei fein finnen.
@d id g'mefeu/ aid o6 feine ^uge( il^m anfann ober a(d ob^d ber
J&errgott mir unb meiner unc^ri(ilid)en SDBarterei mit gleig tut — andf bei
©ajeiHed ifi er !)eil blieben. 3a: 95ageiHed! SBenn gr6fc^noeiIer 'd ^^ge^?
feuer ijhtt t)orfleaen foKen, fo war 93a)eiaed bie J^iK! 3ebed J^aud bereitd
cine ^efiung/ and ber fo tin paar lumpen raud g^fd)offen ^aben auf und,
unb bad ®efd)n>irr t)on bie fafrifc^en SDlitraiDeufen um und^ unb in ^lammen
brin flel)n n>ie bie armen @ee(en/ bie man mand)ma[ auf 9)larter(n g^malt
fTei)t! 3 t)&tt ^d frfi^er net glaubt, ba§ fo unmenfc^(id) t)ie( ®reue( unb
9eiben auf eim %led bei einanb fein fann unb bag man^d fiel)t unb aud^
t)a[t in bem ein ®ebanfen: fSltt aud(affen! Durc^ mugt jeg! Unb ed lagt
ftd) tt>&t)renb ber ®(^(ad)t aUed noc^ el)er tragen toie binter^er. SBenn man
^unbertmal g^ftegt tjat unb flebt bann mitten unter bie Soten — ac^ mad:
2ot tfl nod) beffer! — aber unter bie SSermunbeten brin, bie fl6^nen unb
fd)reien unb bie armen Sierf^er, bie 9l6ffer! — »Oafl bu fc^on einma( ein
!Kog fd)reien tjittn^ din Slog, bad eigent(ic^ bie ®ebulb felber id unb )U
ber drgflen ®d)inberei 'd STOauI tfaWf?
93afla: mi n>unbert'd net, bag i mi am jweiten September in einen
ffiinfel )Dom 9in)acf brucft i)ab unb g^t)eu(t ba}u mie ein ^a(bL Sro$ ^n
gr6gten J^unger t)ab i nir effen migen, t)on megen bem %(utgerucf|! ^Dtit
etnem Wtal tfiv i bie fTOufff aufjie^n unb ftngen unb juc^ejen, n>ie net
g^fdjeit. Sine Orbonanj fommt Ijerg'fprengt — „bie 5^ft"«9 ®eban i)at
fapituliert — SRapoIeon ifi gefangen mit ber ganjen frang6|Tfd)en Xrmee/'
Slein, fo wad! dtlidjt l)aben g'jobelt, etlid)e ^aben J&eif unferm
*6nig ^eil ang'flimmt — SBilbfrembe SWenfdjen ffnb einanber um ben
J^ald g'faHen : ed id eine ®lficffeligfeit g'wefen mitten im Sammer, net jum
®agen ! Siner, ben f grab gum aSerbanbp(a$ g'fa^ren ijaben — feine
toax^n n)eg bid gum ^ie — ^ebt bie J^&nb auf unb fagt: ®ott im
J&immel, id) banf bir." — (Sine i^albt ©tunbe brauf war er ^in. — Unb
ba — ba in bem Subel fommt unt)erfel)end ber TlUii gu mir ^er, fd)aut mt
gang baffg t)on unten i)er an unb tfiU mix (angfam bie J^anb ^in; bad
ti&tt tfti^en foKen: „@inb wir wieber gut!" — fWi aber ^at ber 3orn
grab fo im J&ald g'wftrgt* — „9?ein" — tjab i g'fagt unb i^m ben ©ucfl
breljt, benn mi Ijat'd gang g^riffen, wie i i^n fo t)or mir fieljn fied). ^a
524 8^
Ijintcn fammein f bie ?eid)en »on unfcre Utbt g^aKene ?anb<(eut ttnb ber
iii}Ud)U *erl id frcuj mo^Iauf — unb i tnug mi frinfen fiber fein ?e6fii
wie fiber bie anbern it)ren $ob. „J&err ®ott, wo id ba bei ®ered)tiflfeit?!"
librigend l)aben toir g'meint: )e$t n>irb ^rieb; aber gar fein ©d^einl
— 2(uf nacb 9^arid! i^afd a(fo g'i^ei^en/ unb toir finb oorto&rtd g'fd)oben,.
gegen JDrfeand ^nauf, an bie Scire. jDad Z)ing i)at fein gnted ffir mid^
g'l)abt: bie ®trapa$en unb bad J^unger^ unb 2>urfl(eiben madden ben
fDIenfd^en flumpf unb mfirb; unb loeil i in ber B^it fo t)ie( ©roged unb
(Sntfe$(icf)ed l)ab erfeben mfiffen^ ifl mir^d aDrnd^fic^ oorfommen, xoit xocm
bad $5ittere^ bad mir bai^eim g'fc^ei^n ii, fd^on t)or oiefe t)ie(e 3at;re pafftert
no&r. ^SJtan g'n>6^nt ja aUed — fo toie xoit ben Sieblingdfprud) t)on unfre
J^erm Ouartiergeber g^n>ii)nt l)aben: .Bavarois caput!' X)ad war il)r
®egendtt>unfd^ ffir und. 92et aid ob toir net rec^t mitleibige 9eut unb tin
gan{ guted Ouartier mitunter aud) bern)ifd)t i)&tten — aber ben 9)Iei)rern
noaren n>ir n>ie bem Xeufel bad SQei^toaffer, begreiflid^enoeif* £ie toon
Crleand waren befonberd ted. (Srfl ganj nett unb jutraulic^ fou>eit; aber
wie toir JDrleand ^d erfle fTOal f)aben r&umen mfiffen, fud)tig bid bort ^naud^
mditiCT ^aben fie und berbfetft auf unoerfc^&mte Tlvt. ,,3Qart ^d nur^ mir
(ommen fd)on no amal )^famm" — f)aben n>ir und benft! ®ar fo
g'fd)n)inb ifl bad freilid) net gangen. Sajtoifd^en ^at SBiKepton fommen
mfiffen unb Soign^ unb Xrtenap. Dad toar bie 3eit/ too i felber g'nteint
tjabf i niad)^d nimmer (ang: meine ®(ieber ftnb oom ^rofl fo bocfflarr
g^wefen, ba$ i mi fd)ier nimmer ^ab rfi^ren finnen; unb g^fd)unben mar
i and} ein bifl oon ei^m ®ranatfp(itter, ber i)at mir ein @tfi(f and ^n
ifrmel g^riffen unb ein ied) in bie Tlxmiiant brennt. Tibet famt bem Ijab
i 'd burd)g^riffen. Z)er 2((if[ bagegen id t)on 2(rtena9 toeg ind ^elbfpital
fommen^ oenounbet }toar bfo^ Uiit)t, aber ganj unb gar marob. — ,,«Oat^d
bi and) einmal bermif dyt^ bu Sump! t;ab i mir benft unb mi meiter nir
metjx um ii)n ffimmert, benn toir toaren ia auf bem StficTmarfd) na<4
Crleand^ unferem Drleand^ bad und fd^on einmal burd)g^fd)Iupft toar. £er
@toIi^ mie toir toieber brin g'toefen finb unb einen Sag ^aben audraflen
bfirfen — enbtid)! Die ©tabt tjat mix riefig gut gTaSen^ bie *at^ebraf
namentlic^; fiberi)aupt ffnb fein munberfd)6ne Xirdien in bem g^ranfreic^
brin. Unb bad ©tanbbilb oon ber 3ungfrau oon Cr(eand — tjti^t bad: ed
ffnb itjxtx brei — aber bad groge auf bem J^auptp(a$e ifl mir am meiflen
im ®eb&d)tnid blitben, meiPd gar fo g^fpagig an^ie^d^ant tfat, mo ber @d)nee
mie ein Jfapperl auf ber 3ungfrau i^rem J^elm gHegen id ; unb grab unter
bem 93i(b ^at unfer ®enera( oon ber Sann g'l)alten^ mie mir ^d gmeite
9Ral einjogen ffnb.
fTOeinen (ieben TlUen t)ab t flei^ig Garten g^fd^rieben^ fo oft ®efegen^
tjeit mar — unb ffe mir natikxUdf and^, blog fiber bie eine malefijifc^e
2(nge(egeni)eit net, meil i ^n SBater bitt f^ab, er foK bie ®'fc^id)t mtt ber
SRat^ilb i^re Sent manier(id) jur 2(ufl6fung bringen — i mag nir mel^r
tjhxen baoon.
9Rit lauter 9?ot(etben unb ^ranjofenprfigeln ftnb mir bann fd^6n flab
bid oor $arid fommen. Da ^afl gegen bie £&(ten net empftnbKc^ fein
bfirfen — obfc^on mir marme @a(^en red)t}eitig g'fa^t ^aben — unb
525 8^
gfdjlerfig and) net! 3fu* ben SBBeinbergen Ijab'n bie ^fI6(f l)ernififfen )Uiti
(Stn^eijen; unb mit 'n (Sffen t)af« g'tjeigen: @d)au^ toai b friegfi! 3 I}a6
tinmal, tnbem ba^ i bad emtge J^amme(fletfcf) nimmer tfab fd)mecfen f6nnen^
mit tVm anbern jufammen ein J^aferl a(te ^artofel t)er}ei}rt Tlbtx mil
fte^ n>ie g'fagt^ fcf^on t}fi6fd^ alt maren^ ftnb bie audf net red)t 'nunteri^
gangen. Sa i)a6en n)tr ein ®trani$I tooU 3tntt^ bad ber anbre per 3ufaU
bet fid) g^i)abt i)at^ br&ber g^fd^fitt't; bamit i^aben n>tr fie bann geffen.
(Sigentficf) noar bad fd^on ein @Ienb! Unb fab id bie ®^fd)id)t g'wefen
obenbrein: alle 5ag t)on bie ^errn ^arifer 'naufg'fd)ofren tt>erben, noie fie
nur ^d 9}afenff)i$t t)on einem fe^n, unb i)emarten^ bid ed i^nen bod) ju
bumm »irb unb fie bie ©tabt fibergeben! — 3n ben fd)6nen 3«fta«b
l)inein id nod) eine ertra ^reub fitr mi g^aKen: bie Tlntnnft t)om Sriift^
ber f! mieber i)eraudflaubt ^at unb aid @rfa$mann in unfre Xomf)agnie
eing^fleUt morben id. r^Unfraut toerbirbt net'' — i)ab i mir benft unb ntir
miglid)fl fTOuf) geben, bag i i^n net t)iel fe^n mu^. X)enn menu auc^ bie
faute 2But Ijerum war, id bie jlabe aSerbiflfen^eit in mir um fo fefler g'feffen.
3Hfo einmal l)0(fen n>ir im 55in>af brin, in fo einem 95ortt>erf t)on
^arid, n>o wir in bie ©eriaffenen Jjiufer einquartiert tt>aren. fflir woUen
grab abfod)en unb ^aben 30affer g^fagt; i ^ab mi pla^t, bag i ein Sc^eitl
«0o[) 6berm ^nie Doneinanb brid) unb tjab mi mit bem Stftcfen gegen ben
XlifT g^fleUt, ber am ®^fd)irr ^antiert l)at. X)ie ^ameraben toaren aKe gan)
fd)nacferlfibef fott>eit.
^ pfeift'd Don braugt herein — fffft — uit! SBie ein 9la$ ober eine
SD^aud! ^errfc^aft: eine ^omben, ein @prengg'fd)og/ bad reinfliegt beim ^enfler
mitttn auf unfer alted toacfligd 2rumm t)on ^ifd)! ®o ein ®d)Iag Por ^d
J&im — einer fddttjeig tt>ie ber anbre; unb fo t)iel SRann ba ffnb, fo Pie!
paar ^fugen flarren auf ben $ifd). IDa (iegt f unb id nod) gan{, aber fte
mug ja p(a$en — in berfe(bigen fTOinuten mug ffe p(a$en* ^ir (tei)en ba
wie ang'malt: Reiner traut fid) ru^ren — auf bem 2ifd) liegt ber 2ob,
unb mir ffnb n&d^Uxn, net fo mie in ber @d)Iad)t! — 3(ber ba langt jemanb
mtt bie 3[rm fibern 5ifd), greift t)in, fo mduferlfiab, aid ob er mdf tVm
tt>fitigen J&unb fagt — Sefud: ber Xlifi!!
3(uf feine }n>ei J^&nb tragt er bie i&omben ^naud; fc^neOer aid eind
M^Imen'' fagen fann, ijat fi bad }utragen. 3rber grab fo fd)nell id auf^
g'fliegen t^or meiner: „©o, je$t fannft bein SBBiHen ja l)aben; je$ berreigfd
itjn fofort. 3el)n gegen eind, bag ed gleid) Iodfd)naat unb bem 2(Iifi fein
*opf fliegt ^fifl unb fein Tlxm l)ott. — ®o freu bid) bod), bu ©iftnirfel, bu
rad)ffid)tiger!"
Unb ba id ^d g'mefen, aid ob ft n>ad umbrai)t in mir, mit )ubru(fte
2(ugen i)ab i bett: „J^err ®ott, tu mir meine ©itnb net anred)nen unb bem
Xlift audi net — lag itjxi net ®runb gel)n!''
3 tt)eig nimmer — war'd eine STOinuten ober anbertljalbe — mir finb'd
wie eine fleine @tt>igfeit Dorlommen — ba tnVi braugen ben ^ad)er unb
i ^ab g^pitrt: meine ^iee laffen aud. Tibet toit i b 2(ugen aufmac^, fte^t
ber 3(Iifi g'funb unb aufrec^t in ber Zhx. 3 bin fo weg, bag i b 3Crm
weit audfhrerf nad) il)m — rf3fli(«/ alter ©pejil" fd)rei i — unb ba liegt
er mir fd)on am J&ald, unb tt>ir tun einanber abbuffein! — @o ru^ig roie
526 8^
er )ut)cr toax, ia ftnb i^m fo gut tin paar Sropfen tn ben ^djmttbaxt
g^ronnen n>te mix.
@d toax tin unb&nbige^ ®(ficf/ baf bad ^eufeKg^fump t^m ntd^t in hit
^dnb frejjicrt fonbem crfl im Xugcnblicf, tt>o tx^i totit weg g'fttjmiflren l)at
®rab etn paar ©plttter ftnb ^erg^flogen auf itfn, bte l^aben t^m ntcf)td getan.
— Jfber narArftd) (inb je$t bie ^amcraben l)erfommfn, ^aben i^m bie Jjanb
g'fci)fitte[t unb t^m g'lobt, ba^ ^d rein and n>ar. Unfer ^auptmann ijat
ganj tt>unberfd)6n mit ifjm g'rebt 66er feine J&elbentat; abcr ber Tttifi fagt
recf)t bagateOmd^tg: „?Efttin, ^txx ^anptmann\ tcf| tfab fjalt benft: S5effer
foUen bocf) meine ^ra$en ober meintdnxgen ber ganje ^erl l}tn fetn/ toit
fo t)iele brat)e ?eut." — ©o ein SWorbSmenfd), gelt? Unb ba« war mein
^reunb!
SBtr t^aben nimmer toiel btdfrtert 6ber bad anbere^ n>ad bod^ Dorbet
unb net jum dnbern war, fonbem ben ^ieg mitfammen bur(^g'mad)t toit
etnfhnafd unfere ®d)u(}eit. SQenn toix aUt )n>ei gf&cfltcf) ^eim nad) Oa^em
fommen, fo n>oDen toix nac^ 2((t6tting waUfa^rten unb nttteinanber ein
groped ^euj auffifc^fe))pen — fo ^aben noir und t)erfobt Unb wie n>tr
toixtlidi ^eimfommen f[nb nacf) ^n ^rtebendfc^Iu^, t^aben n>tr bad aucf) getan/'
*
X)er 7Ite ^atte feine (Sr{&^(ung beenbigt unb flanb nun auf. „(Bo,
je$ id 'd (iab braugen. 3 frieg ein guted J&eimgef)en." — ,,SBart einen
JTugenblicf unb tu mi mitneljmen" — fagte ber 3Birt — „i b'gleit bi ein
Bt&dV* @r fprang eilfertig nad) J^ut unb Sobenmantel; benn er ^atte
bad beflimmte ®efui)I, er f6nne ffd) nod) nid^t oon feinem @ef&^rten trennen.
@d)n)eigenb gingen bie beiben ^Dt&nntx unter bem abenblid)en tftU^
grauen J^immel iaijin, an bem nur ein paar @d)neen)6(fd)en flanben. Die
Suft war flilt unb f(ar« @ie gelangten bid an bie l)6r}erne Umfriebigung
brau^en, bie bad J^aud bed TlUen famt ^fonomiegeb&uben einfd^fo^. „^t^
I)itten wir'd ja" — fagte ©tergbad^er — „i banf fur 'd @Ueit, SBirt, unb
tjo^tntlid) tjab i bi net gUangwetIt mit meiner Steberei."
IDer SQirt fc^i^tte(te iijm met)rma(d bie J^anb, fo fr&ftig aid moUe er
bem unbdnbigen SXefpeft, ber il)n erffiUte, baburd) ?uft fd^affen. ^'d banfen
id an mir" — fagte er — „i fag Diefmafd SJergeltdgott — ed war mir eine
b'fonbere €t)r, bag bu jufeljrt bifl bei mir — wat)rl)aftig!"
Sr l)atte aber nod) ettoa^ auf bem J&erjen; aid ®terjbad)er feine
Sauntfire aufflinfte, Ijielt er it)n jurftd. — „aBit IBerlaub, ie$ m6d)t i blog
no eind wiffn, wad benn aud ber — ber 2»att)ilb, mein i, worben id?"
„3a bie!" — Der Seteran pftff burc^ bie Z&tjnt. „Die l)at net warten
m6gen, wie ber .Jtrieg aniQtijt, fonbem ff um einen britten g'fdiaut, einen
3(udwArtigen, ber (le and) g'{)eiraf t 1)at 3 meinedteild t^ab mir nir me^r
braudg^mad)t; ber 3(IifT aber, obfd^on er ju mir nie net baDon g^rebt tjat,
id red)t fc^wer brfiber 'naudfommen unb war noc^ lang lebig wie i fc^on
mitten im ®Iiid g'feffen bin mit mein je$igen brazen ffieib. 3d tfalt tin
tiefgriinbiger b'fonbcrer OTenfd), ber 3flif[. ^fiiat ®ott!"
--HI 527 8^
Ser junge 9Btrt txat (angfam feinen Stiicfnxg nac^ ber ©tabt an. 2(m
J^tmmeKranb^ beffen @en>6ff ftc^ mei)r unb me^r Iiif)tctf; tratett bie fBov^
berge ^eraud, ganj bebecft mit 9?eufd)nee« Ser 3Qirt tnbed toax nocf) DiDtg
tm Q3ann bed ®(^6rten uttb fetne SorfleDungen fonnten nidft bat)on fod.
©a t)or t^m, in bun|Kgen Umriffen, lag bie Heine ©tabt, 6efc^eiben
in (Id) jufammengefdjmiegt gut ben einfam Da^infc^reitenben aber ifattc
(le il)r afwdfeljen t)erAnbert. ©ie wud^d i^m )u einem enb(ofen J&iufermeer
mit ^uppeln unb $&rmen^ toon beffen SB&Ken ber Standi ber ®efd)&$e aufging.
(Sr fa^ nid|t me^r bie fatflt SJ^findiener J^odiebene urn ffc^/ mit ber
6efd)neiten fernen ©ergfette, fonbern bie winterlidjen gefber unb Slebgdrten
t)on ^ranfreid). Unb bad 3fbenb(id)t^ bad in (eud^tenben ®treifen iber bem
aSorgebirg emporflammte, fd)ien it)m rot wie ©tut.
5)a6 2(bcnteuec bee 5)eJane &^ttd.
Sine Srjal^lung t>on Stl^clm 'iBetganb in ^uncben^^ogenl^aufen.
3fllj4f)rlic^ um bie Beit ber SBBeinlefe, wenn ber Duft bed jungen
STOofled in ben ©affen ©iffingend lag, <)flegte ber I)od)tt>urbige ^farrl)err
Lilian @d)recf feiner S5afe ©abine, bie an ben fogenannten J^ofbauem in
®d)tt)arjenbrunn t)erl)eiratet war, einen ©efud) ju madden. Sinige S5Jod)en
t)or^er empfanb bie ©duerin regelmdgig bad fromme ©ebfirfnid, einem J^od)^
amt in ©ifftngen anjun>ol)nen, um ben l)od)tt>firbigen J&errn Setter, beffen
©timme noeit unb bteit berA^mt mar, (tngen }u i)6ren. Tin bem beflimmten
Sage fianb ffe in ber ^rfi^e um brei Ui)r auf, jog ein fonnt&gfidied
wanh unb eine feibene ©d|&r}e an, pacfte einen fleinen QSaKen golbgelber
Safetbutter, einen ^apaun ober ein fetted J^ui)n mit einem audgefud)ten
©d)infen in einen J^anbforb unb mac^te fidi auf ben 90eg nad) bem toetter^
(idien Sorfe, bad auf fd)Ied|ten $e(bn>egen in brei ©tunben rafd^en ®ei)end
ju erreid^en noar. ©ie ton^tt itjxtn ®ang fo abjumeffen, bag fte erfi nac^
©eginn bed ©ottedbienfled in bie ^irc^e fam, tt>o (le aid befd)eibene grembe
anb&d)tig ^inten an ber ^ird^enture fie^en blieb, bid ber SSetter fein »Ite,
missa esf mit lauter ©timme in bie ^atbleere 90er(tagdfird|e ^inetn^
gefungen ifatte.
X)ie a(te $farrf6d|in ©ofie, n)e(d)e jebem £ird)eng&nger Winter bem
feurigen ©lumenflor eined $farri}audfenflerd)end burc^ i^re J^ornbriOe nad|^
}ufe^en pflegte unb fidi in^n>ifd)en fc^on auf ben ©efud) eingerid)tet t^atte,
fam jebed 3at)r and ber Uberrafd)ung Aber biefen badfidjen ©efud) nic^t
528 8*^
\)eTani, unb felbfl itjtt J^&nbe nooDten t)or (f rflattnen nidjt }ur 9tut)e fommcn.
®te na^m bet S5efud)ettn btenflfertig listen ^orb ab, ntd)t o^ne rafc^ ben
Secfel tote aud 93erfei)en {u f&pfen^ urn }U fei)en/ ob er aud) rtci^tig toteber
bie aUen J^errfic^fetten ent^alte^ unb n6Hgte bann bte S5afe, an bem Md)en^
ttfd^e $Ia$ }u ne^men^ auf bem tm &d^atttn etner m&ditigen ^affeefanne
fd|on bte gebffimten Sajfen berett fianben. @te tat ti nid^t anberd^ bie
9&uertn mugte oon bem Aaffee trtnfen^ bet f&r ben ^ocbto^rbigen J^erm
felbfi befitmmt n>ar^ unb bte SDafe (teg fld)^ toit ed {id| fd|t(ft^ )ttr erflen
Sajfe )t9eima( unb )ur brttten breimal ober gar otermaf n6tigen.
SBenn bann bie betben ^rauen aOe SReuigfeiten berebet nnb ber J^err
Setter fetnen «i&onig^ feine @ier unb feinen £afee mit geiflKc^er Wlnft ge^
noffen l}atte, legte bie «0of b&uerin t^r (Seffcf^t in ^eifige ^a(ten^ na^m ii^ren
foftbareu/ in 9tom gemei^ten Stofenfran}^ bad ®e6etbucf) unb bai flein ge^
f&ftete Xafcftentud) in i^re Hnfe J^anb unb madjtt fic^ auf, um ben «Ocdy^
loikrbigen in feiner ©tube }u befud^en unb )U bitten, er mhdftt i^rem J^aud
bocf) aucf) wieber einmat bie dijtt feined geifificf^en $5efud^ed antun.
3(1* ffe (id) in biefem Satire ber ^farrftubentfire nd^erte, l)6rte fie ben
$farrf)errn innen fd)e(ten; augen an bem SArpfofien flanb eine (ange ®d)&fer'
fd|i))pe, unb oon ber ^farrl}au*trepf)e tjtx fam bai leife 9Qinfe(n eine* J^unbe**
Z)ie S5&uertn mugte )n>eima( ffopfen, el)e bie aufgeregte Stimme be*
^farter* „^erein" rief, unb al* (te befd)eibenen ®d)ritte* unb neugierigen
2(uge* ba* 3intmer btttat^ fai) fie neben ber Ziixt einen jungen, grogen
9Renfd)en flel)en, n>e(d)er einen abgefd)abten 9tabmante( an* $u(^, n>ie i^n
bie ®d)dfer in granfen tragen, um bie ©c^uftern I)dngen l)atte unb feinen
finfleren 93(i(f auf eine tuc^ene ©(^ilbmA^e gefenft ^ie(t, bie er mit )tttemben
«0&nbcn umbrel)te.
„®o, unb nun mad)', bag bu fort fommfl," rief ber ^farrer, cl* cr
bie S5afe eintreten faf). „Unb menu id) nod) einmal wa* ^6r\ follfi bu
mid) lennen lernen."
jDer 93urfd)e blieb, oi)ne bie 3(ugen }u eri)eben, einen 3fngenb(icf fle^en,
a(* ob er nod) etn>a* oorbringen moUe; bann fagte erf)l6$Iid): ,,®e(obt fei
3efu* 6i)rifiu*" unb t)erfd)n>anb eiligft burd) bie $&re. (Sleid) barauf erflang
t)on ber ©trage f)erein ba* (drmenb freubige ©ebeO eine* «Ounbe*.
w^ein 5ag t)ergel)t ol)ne ©orgen," fagte ber ^farer, ber bie ©afe
fei)r freunblid) ^ra$ nel}men l)ieg unb t)ierauf bie &btiibtn ^ragen nac^ i^rem
SD^ann, it)ren ^inbern unb ber (Srnte tat. Ser <Oof6duerin aber, bir ba*
brAl}enbe @efid)t be* geifl(td)en Setter* nid)t au* ben 3(ugen (ieg, ftel e*
fofort auf, bag ber i)od)n>&rbige «Oerr nid)t nieberfaf unb )un>ei(en i^re
3(ntn)orten gar nid)t abwartete, fonbern einigemale in faum )Der^et)(ter Unrafl
unb 3erflreuti)c:t um ben Sifc^ l)erumging, auf bem ein mdd)tige* ©d)reiben
mit rotem ©iegel (ag. Tlli fie ffd) enb(id) )Derabfd)ieben woUte, (ieg ber
^farrer, beffen gldnjenbe* ®eftd)t t)on innerem ®(Ade flraf)Ite, fd)etnbar
nad)(dffig bie 30orte faOen: ,,©oeben ift meine @rnennung }um Sefan ge^
fommen. 3a ja! SBieber eine Safl me{)r ju ben Abrigen Saflen"*
IDie $5duerin, bie unn>i((fAr(id) einen tiefen SReiger mad)te, fonnte fic^
nid)t enti)alten, il)re SReinung, bag ber J^err Setter biefe (St)re fd)on fdngfl
Derbient {)a6e, t)or bem 2(bfd)ieb breimal t)or)ubringen. 7(uf bem ganjen
529
«Oettnn)eg bac^te ffe angelegentltd) barfiber nad), in tDelc^er SBeife fie felbfl
btefe (St)rung/ bie ben J^errn Setter erfi in bie rid^ttge getfUic^e «06^e f)o6^
nad^ ®e6&^r feiern f6nnte-
Tin bet ^ocf)n)&rbtge Z)efan gnoei Sage fp&ter bie ))upurgeI6e J^erbfl^
prac^t ber DbflgArten^ bie bad Sorf umtr&njen^ burd)f(i)ntt^ urn feinen
@d|tt>ar)en6runner $5efucf) ju abfotoieren, begegnete er einem alten^ t)eri)U$e(ten
SBetblein/ bad einen SBeKen Stebtyolj anf bem 9t&(fen ba^erfcf^Ieppte. ^er
jDa^erwanbefnbe natftn feinen goIbbefn6f)ften @tocf unter ben (infen Tlxm,
freu)te bie J^&nbe anf bem Stficfen unb blieb toor ber 9&uerin fle{|en/ bie
t)or fofcf^er @^re fcfiier in ben 9oben finfen woOte unb gar nicf|t n>u9te^
roai (le mit i^rem J&olge macfjen fottte. 3t)r „®eIo6t fei 3efu« S()ri|lud"
flang tt>ie jitternbe @f)rfurrf>t t^or bem geifHict^en J&errn, ber (le mit milber
©timme antebete: „9?o, Uppdi^^tani, id) ^abe t)orge(iern mit bem ©rf^Aferd^
j6rg gerebet @r wirb Sure (Smerenj in Bnfnnft in 9luf)' TafTen, benf id)."
Sad SQeiblein fct|fug bie J^&nbe jufammen unb nicfte me^rmaU mit
bem *opfe: „3 foag Ijalt »ergelf* ®ott taufenbmol, J&ocf|n>firben. 'd i*'
fd)o' a rec^t'd ^reuj, noann mer a SBittfraa i*. 2Bann er nor net ©on
©irje tt>4rM Iwer meiner STOutter il)rem ©ruber fei' ©efc^wifierfinb*^
todjterdfraa tjot aflaweil g'foat, wann an'r »on ©ifje i«,^ i* er ^alt t^on ©ilje.
©unfdjt tt>4r er gor net undibe, un' broat) id er aa. iwer er l)ot f)alt gear
nir, mti, met^ unb tt)ann mer I)a(t goar nir ^at^ ijot mer l)alt gear nir."
„9Bo i|i benn Sure 5od)ter?"
„3m ®ald)eberig'd SDBingert boube/'
,,®o? Unb 3f(r ^abt feine 3(ng(l, bag ber ®cf|4ferdj6rg in ber £Rd^e
diten f6nnte?"
Die Tlipptli^^xani entgegnete nadi einer ^aufe: ,,3o, bie ©ct^oaf l)o'
i fd)o g'fe()e."
Der Defan fonnte fid) eined ?dd)eln« nid)t ertt)el)ren: ,Mo ®d)afe
finb, i|i auc^ ber ©d)ifer nid)t tt>cit".
r,Df), mei', ol) mei^ id bed a ^euj/' jammerte ba* SBeiblein, unb
etjt nodf ber Defan eine weitere ©emerfung mac^en fonnte, f)atte ed fein
HQen^of) mieber auf ben Sti^cfen genommen unb eiligfl ^e^rt gemad)t.
w3a, tt>o woHt 3l)r benn f)in, SfppeW^granj?" rief ber J)oc^tt>ftrbige
J^err ber Dat)on^umpeInben nad).
,,9}od)fei)e mug i, nod)fei)e/' ern>iberte bie Stlte, bie in ii)rem ©c^recfen
gar nidit baran bad)te, bag ed fid) nid)t fd)i(fe, ben i)od)n)firbigen J^errn
Defan fo mir nic^t* bir nidjti (iel)en ju laffen*
DerDefari aber blidte ber^CIten nic^t o^ne innere ©e(ufligung nad);
bann jog er feine filberne Dofe, flopfte mit ben runblid)en ^inQtvn auf ben
jDecFel unb entnaf)m ber buftigen ^fiUung eine mdd)tige ^rife; ja, er bot
fogar bem ©d)ufjen, ber grab' i^orbei fam, bie Dofe an, worauf er gemAd)Iic^
feinen SBBeg fortfeftte, ber burc^ bie breiten $al»iefen fiil)rte, auf benen je$t
tit ©tanf&t)e bed Dorfed ber ^erbflmeibe oblagen.
3n fiflHc^em ©ebagen ging er burd) ben ®Ian} bed golbenen Oftober^
nac^mittagd bai)in. ©ein geifl(ic^ed ®em&t glid) einem (laren ©ee, and
beffen Siefe i^n guweflen ©itber ber (Srinnerung angl&njten, wie 3BoIfenjf
bilber, bie in J&immeldtiefen flel)en. STOit einem 3»infem feined linfen Xuged
-<-8 530 1^
fa^ tt imi @onfratre^ ^rrauffd^telen^ bte ftcf) g(eid) ti)tn mtt ber f&^en
J^offnung getragen t^atten^ ber 9B&rben bed X)(fanatd tetfl^aftig }u loerben.
@r geflanb ficf) aber ru^ig etn^ ba^ er bem etnen ntd)t itur ^oreOen^
fcf)me(fer, fonbern and) ali gemtegter tenner frdnftfc^er 2(Itertfimer unb
®efct)i'd)fe, bcm t)on feinft 5ugenb l)cr nod) bad Ijeimartic^e ®e(&cf)ter alt*
fr&nftfd^en itbeni in ber ®eele nad[)t|aUte^ tt>ett uberlegen n>ar; benn t^m
aOein toerbanfte fetne etgene ®emetnbe bte Sr^aftung emer fleinen pr&d|tigen
^aptUt, in ber einji ber gro^e gfirflbi'fc^of 3uliu* Sd^ter »on SWeipefbrunn
ben gewaltigen ^ieg&^errn 3irg t)on fXtebern beigefe$t ^atte^ unb and)
fonfi befa^ fetn Xennern>ort gemid^tige ©eltung. IDen anberen fDIttbntber
aber t)atte er nad) longen ^impfen enb(id) jur fhrengen @(^6nl)ett be^
c&dliantfd^en ^ird^engefangd befet)rt unb bemogen^ bie alten t&nbe(nben
fRofofomeffen, bie nod) immeri^on ben @mporen ber Doriff irdjen l)erab erffangen,
tin ffir aUemal ab}ufd)afen. 3ur @tetgerung fetned fatten ®(ficfed ftel tl^m
nun DoHenb^ ein, bo^ er morgen bie SRummer einer 3eitfd)rift ermartete^ in
n>e(d)er er ntd)t nur /fir bie (hreng fird)Iic^e $onfun|i mit bem @ifer eine«
^ennerd eingetreten mar^ fonbern and) tin buftige^ fTOartenlteb fleben tjattt,
unb gan} im J^intergrunbe feiner ®eele fd)(ummerte ber ^(an }u einer grunb*
Ud)tn @tid)id)tt feined Sefanatd, bie nid)t nur bie ®d)icffa(e ber etn}e(nen
£6rfer unb @d)(6ffer bel)anbeln^ fonbern auc^ ein 3nt)entarium aDer Snn\lf
refle bieten foUte, bie in Sifbflocfen unb Xtrd)enbi[bern/ in 7(mtd(luben unb
@afri{leien nod) einen ^bglanj a(tfr&nfifd)er ^errKc^feit unb ec^ter Steligion
t)erbreiteten. Tlnd) bie (Sinjelgefd^icfe ber ®emeinben n>&^renb bed unfeligen
©auernfriege* fonnten einen tenner in bie ©tuben locfen, wo bie un*
gebobenen Dofumente fd^fummerten unb ber Duft tJerfdjoBenen ?ebend fiber
gilbenben ^apieren n>ebte* @r fa^ eine nai)e 3Be[t tooD geifKid^er unb toelt^
Ud)ex diftenf tooD 3(rbeit unb 9tu^m )Dor ffd) l)erg(&n)en; fein ®d)xitt murbr
fefier, unb feine ?ippen pregten fid) in feftem @ntfd)fug aufeinanben @r
mad)te ffc^ inbeffen fein J^e^I baraud/ ba^ er (id) bei t)ielen feiner 2fnitd*
brfiber/ bie in ber fib(id)en Serbauerung bai)inrebten^ feiner befonberen Ce^
(iebt^eit erfreute; aUein er n>ar gefonnen^ in aUen sbingen^ bie fein ^eiliged
Tlmt betrafeu/ feine 9tfid(id)t tt>a(ten )u fajfen unb ben SQeg, ber i^n aud
bittrer Sorgenarmut auf feine je$ige ^6i)e emporgeffii)rt^ mit jenem unbeug*
famen @inn )u get)en, ber einem 2(rbeiter in bem SQSeinberg bed «Oerni
gejiemt
SoO foId)er bemfitig^tro$iger ©ebanfen^ bie nur ^ier unb ba burc^ ein
J^irtenfinb unterbroc^en wurben^ bad fiber bie J^erbfi)ett(ofen ba^ergelaufen
fam^ um bem J^errn Sefan bie fromme J^anb ju ffijfen^ mar er an ben
aften 9Beg gefangt^ ber and bem SBiefental )ur «Ood)ebene emporffii)rt, bie
in einer i^rer SQeUenmuIben and) ben SBeiler ®d)mar)enbrunn birgt. Sort
oben auf bem ©afgenberge^ beffen ffibnd)er ^an^ bid tief t)erab!Keben trdgt/ mar
einfl bad ©d)Io^ ber %reitjmtn t)on SHiebem geftanben, bad im breipigjfi^rigen
^riege t)on ben ®d)n)eben bem @rbboben g(eid) gemad)t morben mar unb
im fTOunbe feiner ^farrfinber nur noc^ aid t)erfunfene ©tfitte ^errlic^er
@d)&$e einige SBic^tigfeit befa^; immer nod) fe^te toon Beit ju Stit ein
93&uer[ein ein ®fimmd)en taxan, um bad @e(b }u ^eben ober menigflend
jene SBeinfeUer aufjufinben^ in benen ^fiffer lagen^ gegen bie bad ^eibel^
531 8^
berger @d)Io9fa9 em reined ®))ie(}eug toax. 3m fibrigen toav ber ®a(gen^
berg noett unb breit £)rt tDerrufen^ an bem ed ^nic^t ric^ttg" fet, n>ei[
fid^ ba oben }u gen>i{fen B^iten ber @d)tinmelreiter unb anbere ®efpenfier
fe^en (iegem
IDer alte ge))flaflerte 9urgn>eg^ ben bid)te «Oafe(bufd^e umf&umten/ }og
fid) n)o^rer^a(ten unb in fanfter ®tetgung )n>ifd)en ben 9tebgutern f^tnan;
baneben aber f&ljtU ein in>etter ^fab in flarfer Steigung auf bie ^ilit^
unb ber Sefan^ ber ftc^ ali r&fiigen ^u^g&nger ffi{)(te^ befcf^Io^ biefen fietlen
^fab ju gel)en.
2(uf t)a(ber ^6^e mdU i^n ein fr&ftiged 3aud)}en/ bem ein
i)e((er ®dnrei and einem fro&bd)enmunbe Tlnttoott gab^ aud ber aSerfunfeni*
ijtit Ui ®teigend^ unb aii ex, flel^en bleibenb^ urn ftcf) blidtt^ fa^ er unter
fid) auf bem alten 93urgn)eg ein junge^ $&rd)en langfam aufb&rM flreben:
e* war ber ®d)Afer*i6rg unb bie Smerenj, bie ba mit gefenften *6<)fen
g(u(ffe(ig nebeneinanber i}ergingem 3un>eiren entjog ein golbbelaubter AaUU
bufc^ ba« ^aor ben ©liden feine* ^farr^errn, ber fpfort rafdjer ju fteigen
begann, um bie ©6nber oben, tt>o bie beiben 9Bege ineinanber liefen, mit
einem ^eiligen X)onnern)etter abjufangem dx pflegte ffd) fonfl im aOgemeinen
nidjt in bie J^eirat^^ unb Siebedfadjen feiner ^farrf inber gu mifd)en ; aflein
bie 3(rt unb SDBcife, »ie e^ biefer l)ereingefd)neite ©c^iferburfdje mit ber
(Smeren}/ gegen ben SOiOen ber 3fppe(^^$ran}, toor ber ganjen ®emeinbe
trieb, (egte itjxa bie geifl(id)e ^f{id)t auf, gegen bie Siebe^feute einjufd^reiten.
er aber oben auf ber J^6l)e (ianb, war tt>eit unb breit fein STOenfd)
{U fel)en; bad ^4rd)en mu^te ben geftrengen ^farr^errn bemerft ^aben unb
jn>ifd)en ben 9teben, beren roflbrauned ianb nod) fiberaU an ben ©ticfen
^ing^ )Derfd)n)unben fein.
2)er £efan bfieb flel)en, um mit finfleren ^rauen einen 2(ugenb(icf
bei bem 9i(be ju toenoeilen, bad toor feinen 2(ugen lag. ^ein Saut regte
ff(^ in ber m&rc^eni)aften ©tiUe biefer «06t)e; ein feltfam bitterer ®eru(4
fd)tt>amm in ber feud^ten Dftobertuft, unb nur juweilen ((ang au& bem ge^
tt)unbenen Zal, burc^ bad ber fffberne $aben eined frofi^(bad)ed lief, bad
f)eae 3aud)}en ber J^irtenfnaben ^erauf, bie um ein ^euer f))rangen, beffen
blauer Stand) ^df (angfam an bie braunen 9teben^&nge (egte. 3n ber burd)^
(Td)tigen Suft bed @p&tnad)mittagd gl&njte bie branbrote ^rad)t ber 93ud)en^
u>&lber,^ bie n>eiter aufto&rtd ilber bem S&Id|en ineinanberflammte, feltfam
na^e, unb nur bie fernflen <0&ge( t)erfd)n>ammen )art in einem n)&fferigen 93[au.
„3Bir befommen 9IebeI ober SXegen," bac^te ber gei(llid)e 4)err, inbem
er, rafd) audfd)reitenb, nad) feinem 93ret)ier grif, um bie @ebanfen (od {U
n>erben, bie bad t&di(d}e ""Paar in feiner 93rufi gemecft ^atte. Sod) )n)ifd)en
ben 3(i(en bed frommen Serted taud)te anm&i)(i(^ eine qu&(enbe @rinnerung
auf, ber er niemald geflattete, fid) in bad t)ene $aged(id|t feined Sebend
^eranf)ufiel)Ien: and) er mar einfl, a(d junger fDIann, ber ffd) bem ^riefler^
flanbe gen)eii)t, mit einem 9)?&bd)en felig burd) ben ®(an} eined bftober^
taged bai}ingegangen, unb nur mit SRul)e n>ar ed feiner flutter gelungen,
)Don feiner ^amilie bie @d)mad| abjumdljen, bie unaudb(eib(id) gemefen
tt)ire, tt)enn er nod) in letter ©tunbe »or ben l)eiligen SEBei^en fein ®el6bnid
t>erlaffen i)httt. Dad 9W4bd)en tt>ar fpdter, ^ergrdmt unb ^erffimmert, nad)
532 ^
Tlmtxita audgewanbert^ unb er felbfl t^ermieb bie ^rage, 06 er fine @(i)ulb
trage ober c6 er recf)t getan^ ben begonnenen SBeg md)t {u toeriaffen.
jDte J^ofb&uenn war/ wit iebed 3ai)r/ anger fid) t)or (Srflaunen, baf
ber J&err Setter iljr J&an« mit feinem priefterlid)en ©efncfie beel)rte, unb ber
Z)ef an, ber bie^mal ben (lattftd)en ^of mit tfti^m, ftnflerem ®efTcl)t
btttatf nai)m bte Satfacf^e^ bag bie Heine g^rau^ obmo^I ed SBerftag roar,
tint lilafeibene @onntagdfcf)&r)e trug, fliOfd^meigenb t)in. IDer l)C(bn)firbige
<Oerr murbe )uerfl in ein Simmer (inf^ toon bem mit ©anbfleinplatten btf
legten «0<tn^eingang ge(eitet, n>o ein alter Sid^entifc^ im ©c^mucfe eine^
blenbenb meigen Sifcf^tnc^ed gr&n)te. SRacf^bem er felber auf ber feden S5anf
am Render ^Ia$ genommen^ fe^te fid) bie $5&nerin auf einen Stu^I
bem Sifd) unb Heg il)re ^(icfe fnd)enb nad) ber ^lurt&re fc^weifen^ burd)
bie and) aldbalb eine junge fDIagb im @onntagdpu$e eintrat^ um etn S5rett
mit glAn^enber Xaffeefanne unb einem m&d)tigen ®uge(^upf toor ben t)cd)^
tD&rbigen ^efud) i)in)ufe$en. Cer £efan mibmete ffd) nnu/ o^ne t)te( ju
rebeu/ bem buftigen ®etr&nf unb bem fd)me(}enben ^ud)en/ nnb erfi naci^«
bem er fein britte Xaffe gefd)ffirft unb ba}mifd)en mit eingehtifenem linfen
^ng^ gtfragt Ijattt, oh bie 93afe bie alte ®tanbui)r/ bie in einer @cfe ticfte,
immer nod) nic^t um einen gnten 93a$en l)ergeben kDoKe, (am ti {u einem
red)ten gei(irid)en ®efpr4d)»
©iefe Ul)r, ein grogo&tertid)e« @rbfhirf ber ©afe, bot attj4f)rlirf) eine
genugreid)e ®e(egen^eit/ bie t)ern>anbtfd)aftlid)en 9e)iel)ungen/ bie {tt>ifd)en
ber ®rogb&uerin unb bem «Oerrn IDefan beflanben, t)on aOen ©eiten grfinb^
lid) }u tt)ftrbigen. Der ®rogt)ater ber J^ofbduerin war SHentamtmann ber
^rei^erren ^oon Stiebern gemefen; il)re 9){utter tjattt ben @ngeln>trt in
©iffingen geljeiratet, unb ffe felbfi war al^ ^ielumworbene SBirt^toc^ter in
bie ^of6auernfd)aft ()ineingeraten, and ber i^r jfingfier @ot)n, ber eben in
Duinta fag^ ba^ alte 93eamtenge6Iflt n>ieber in bie t)ii)ere froenfd)[id)fett
emporfft()ren foQte. £er £efan felbfl flammte aui $&if(^of&l)eim unb noar
ber ®o()n fleiner Stabtbauern, bie rafd) l)inn>eggeflorben noaren^ aK ffe ben
^od)miirbigen J&errn ©o()n aK Kaplan t)erforgt fa^en.
SRac^bem biefe genugreid)e M9reunbfd)aft'' in aDen ®raben nod) ein^
mal ftd)er fefigefieUt n>orben mar^ erfd)ienen and) bie Jtinber ber 93duerin
im ©onntagdflaat/ um bem ^oc^mftrbigen «Oerrtt Setter ii)re 2(ufn>artung ju
mad)en: e^ maren bied jmei btonbe S)7&bd)en mit geflod^tenen ^ipftn, im
TiUtx )Don ad)t unb neun "iatjxtn, unb brei flad)d(6pfige Sungen^ beren Sungfler
bie Dnintanerm&$e mit beiben «@&nben t)or bem Setb tjitlt TIH Xnbenfen
an ben 93efud) er^ielten fte «Oaud)bi(bd)en/ bie ber «Oerr ^etan feinem^retoter
entnal}m unb ben Ainbern mit ber feier(id)en 9)7ai)nung ikberreid)te/ and) fo
brat) n>ie bie lieben J^eiligen )u werben; unb enblid) fiapfte auc^ ber J^of^
baner ©ebafiian SUig ijtxtin, tin tja^txtx, ungelenfer SRann/ ber f!d> eben
frifd) raftert i)atte unb tin ifalbti Su$enb ^fldfierd)en im (ebemen
(StUdjt trug.
,,9Io, tun ®ie und and) wieber einmal bie S^r' an, J&err I)efan?^
fragte er mit unfTd)erer ©timme, m&t)renb fein ^ficT auf ber gefirengen ^anif
fxan xni)tt, bie ben ganjen ^of regterte. Ticm 35auern n>ar e^ offenbar
nid)t red)t gefjeuer in ber geifllid)en @efenfd)aft; benn er fpi$te Don Stit
533 8^
)u 3ett auft)orc^enb bte £)^ren unb fd^Itd) balb i^inani, urn fid) erfl beim
3(6f(^ieb bed i^o^en @afled wteber )u }eigen.
£ie (Sro^b&uertn abet, bte nor auf bad @nbe btefer Seremonie ge^
getoartet ^atte^ nou^te nun bad @efpr&c^ auf bad i)etltge $e(b bet Xljeologie
)u (enfen^ tnbem ffe feufjenb auf etn 93i(b feiner ^eUxQUit bed $a))(led
?eo XIIL blicfte, bad jwifdjen jn>ei genfiern f^ing unb mit jenem fegnenben
S&c^e(n in bie SBelt 6(i(f te^ bad nut frommen ^&^fien unb fc^6nen @itnbennnen
etgen tfi.
Z^amtt aber bad Setbltc^e bet biefen getfiltc^en ®efpr&cf|en nic^t )u
®d)aben tommt, erfd^ien and) bie ^SJta^b n>ieber unb brad^te bte Sorboten
bed Xbenbma^Ied in ©eflalt tiefer, bunter 5eCer, etniger fdjfanfer @l4fer
unb einer t)erfiege(ten ^fafc^e, bie fie mit bet Semut^ bie ber ^eiligen ^S}tatti|a
etgen mar, wt ben geifl(id)en «@errn i)inpflan)te. Unb aldbalb fotgten auc^
bte bampfenben ®d)&ffe(n bed ^Cbenbeffend: ba gab ed {uerfi ein golbbrauned
$(eifd)ffip))Ietn mit fSJtatttli^Uin, beren faftige Subereitung bie ei)emaltge
9Birtdtod)ter fofort mit einigen @eitenbliden auf bie funfKofe Afic^e ber
Unterbduerin erfl&rte* :Der I)efan aber fprad) (liH fein 5ifd)gebet t)or (Id)
i)tn unb I6ffelte feinen ^eUer mit bem anb&d)tigen ^e^agen eined ^ennerd
aud, worauf er fid) in ernflem Sone &ber bie Sage bed ^eiltgen Saterd
)Dernei)men lie^, bie ber gan}en 6t)nflenl)eit }ur Sc^mac^ gereid)e* Sie
^rage ber ©afe aber, ob ber l)eilige SSater tt>irflid), tt>ie fie t)on einem
terminierenben ^apujiner furj wxijtx gel)6rt, auf ©tro^ fd)Iafen mfiffe, be^
antn)ortete er, nad)bem er ein leid}te^ ^uflen unterbrfidt, mit ber @rf(&rung,
ba^ bamit nid)t mirflid^ed, fonbem fojufagen ein geifliged @trol) gemeint
Uh flwf bem ber e^no/irbige ^ap|i im SBatifan bie ^ein ber ®efangenfd)aft
erbulbe. J&ierauf mad)te er fid) baran, bie oerfiegelte ^laid^t ju 6ffnen,
n>efd)er ber Duft eined wunberbaren alten @teintt>eind entquoH; ben golb^
[|)eaen Zropfen aber go^ er mit ber ernflen ©orgfalt ein, bie mit i)eiligen
SQeinen um{ugel)en toti% unb bie erfien ®d)(ude (ie$ er anb&d)tig auf
feiner 3«nge warm tt>erben.
3n}n)if(4en n>aren fr&nfifd)e 93ratn)firfle mit @d)infen unb ®pinat
€rfd)ienen, unb and) t)ier fonnte ffd) bie 93&uerin, bie gleid)fam aid ju^
fc^auenber @l)or an bem WtaljU tei(nal)m, nid)t oerfagen, bie einjig rid)ttge
©ereitung biefer lederen *unfigebilbe granfend t)on it)rem 3(nfang bid )u
beren feligem @nbe anjugebem IDer 2)efan aber beantmortete ba}n)ifd)en
bie ^rage ber 9afe nad) bem J^auptunterfd)iebe itn)ifd)en bem fatl)o(ifd)en
unb bem proteflantifd)en @lauben furj unb b&nbig bai)in, bag proteflantifd)
gut leben, fatl}o(ifd) aber gut fierben fei.
3(uf bem ©runbe ber bebl&mten ^latte t)oDer @d)infenfd)nitten waren
inbeffen aHmd^Iid), g(eid) bunten 3nfeln, glAngenbe ©lumen anfQttanAt,
unb ber IDefan, ber bie n&d)fle Sufunft at)nte, fd)(o§ iun&d)(l biefen ®ang
mit einem (lillen ©eufjer ab. 3m gleid)en 3tugenb[id fe$te bie bienftfertige
SRagb aber and) fd)on einen m&ditigen ^albdbraten, ber etnen jarten X)uft
aniijaud^U unb in Jnufprig braunem @d)me() ergl&njte, mit bem n6ttgen
3ubel)6r, mit r6fd)em @a(at unb aUerlei eingemad)ten ^xiidfttn, auf ben Sifd)*
„9lofaIie, ®ie entwirfein fid)/' fd)erjte ber geiftlid)e Jg^err, ber nun
iufel)enbd munterer ju werben begann, unb ein feliger ®d)immer fibers
SQddeuttcbe Monttshefte. 1,6. 35
-e-g 534
mrnfd)(tcf)en ®(fi(fe« iibtrtjauditt bit b(fit)enben Cacfen be« Wlhtdjtnif aU
ti finer fo(d)en getfKid^rn 2(nf))racf)e gewirbt^t wurbe. jDie Cafe abtx, bie
je$t tntt tt)ren ^ragen bei ber totrffamen ®nabe angefommen n>ar^ lief bad
®lai bed l)o(i)n>firbtgfn J^errn Setter^ nt(f)t mei)r aud bent 3(ugf/ unb ber
jDefan^ ber aud) bem r6fd)en Craten aOe @t)re antatf toax fc^ott mitten in
ber jtveiten ^(afd^e, aU er enb (id) bad 2(benbe{fen mit eincm fliOen ®ebet;
bem bie C&uerin flet)enb ann)ol}nte^ beenbigte.
Sangfam unb {(d)er loar er auf bem ®ipftl geiflHd^en Cc^agend an^
ge(angt; er go^ je$t and) ber Cafe^ bie ffd) nidft met)r flrdubte^ ein ©fad
ein, )&nbete ftd) eine Bigarre an^ beren Ibuft bad Simmer mit 9Bot)[gerud)
erffinte^ unb (ief feinen (auten ®ebanfen unter breitem ®e(&d)ter it)ren Sauf.
Son ber Sage ber ^ird)e^ bie (id) ja in Z)eutfd)Ianb fei)r gebeffert ^abe^
fam er auf bie Jtird)cnmufff unb auf Cidmarcf; t)on ben S^^^maurern
fd)tt)enftc er auf bad 9Beingefe$ ab, unb and) bie Smerenj unb bie 2fppeld^
^ran) burd>fd)rttten einmal feine ®ebanfen. £ie J^ofb&uertn fonnte fid) ni(t)t
entftnnen^ ben geifl(id)en J^errrn Setter jemald in fo ^eiterer ©timmung ge^
fet)en )u ^aben; ja^ fo bac^te fie, t)ier jeigte ed (Id) n)ieber beuttid)^ bag bie
red)te Seutfeligfeit etgent(id) mit ber ®r6fe ber geifllid)en J^erren n>&d)fl,
unb a(d fie ben erflen ®d)[u(f t)om )n)eiten ®(ad nat)m^ ertappte ffe flc^
auf bem ©ebanfen, xoit t)errlid) unb txbanlidj ed erfl fein mii^tt, einmal
einen t)eiligen ©ifd)of tafein ju fel)en. —
@d war fp&t in ber fSlaibt, aid ber ®afl ftd) tnbUd), nad) bem (fut#
feligflen 3(bfd)ifb pon ber ganjen J^ofbauernfamilie^ auf ben J^eimn)eg mad)te.
3fuf ber Jreppe bed J^aufed blieb er mit etwad un(Td)eren ©einen n>o^I
eine SKinute long (le^en unb fog ben J^aud) ber warmcn, feuc^ttn J&erb(l^
nad)t eiU/ in ber ein fd)arffr 9taud)buft lag. Tim n&d)tlid)en J^immet noar fein
ein)iger @tern ju fei)en ; nur ein matter ®d)Ieier tfitU bad bunfle ^imament
umfponnen^ unb iiber ben Qu(fe(n bed ®el&nbed mebte eine ungen)iffe J^eKe*
SSit rafd)en @d)ritten ging ber $farrt)err t)orn)&rtd; er l)atte bad ®t*
f&ill, baf er beute bod) ein bifd)en )u Piel gefprod)en t)abe, unb freute flc^
nun bed rafd)en ®et)end in ber frifd)en Suft^ bad feine ®ebanfen auffommen
lief, fonbern nur eine 9Birr^eit feligen ©et)agend im (Sinflang mit bem
rafd)en ®ang erl)ie(t. jDie ®ebanfen aber^ bie nun toit Derfprengte fflad)^
)figter einer t)rrfd)oIIenen 9teit)e bod) aud feiner ®ce(c taud)ttnf trugen |'e$t
eine anbere ^arbe aid am 92ad)mittag; eine [eid)te $runfenl)eit totbtt hbtt
feinen ®innen.
Unb plbilid), mitUn im rafd)en jDai)infd)reiten^ fd)ien ed ibm^ aid ob
jemanb tappenb i)inter it)m i)erginge; er blieb flet)en^ um )u (aufd)en; adein
er i)6rte nid)td aid bad @aulen feined eigenen Cluted in ben D^ren. SQeit
unb breit t)errfd)te tieffie iobedflille ubcr ben fal)Ien l)erb(llid)en ®efilben,
unb nur ein blaffer 97ebflfheif, ber fid) &ber einer J^6l)enmutbe manb, mar
bie eingige (Srfd)einung, bie ffd) in feiner 8lAl)e regte.
9Rtt um fo m&d)tigeren ®d)ritten begann er n)ieber aud)ufd)retten ;
bod) bie ®ebanfen^ bie im mirren ®pie( unb ^reiben burd) feine ©eele
)ogen^ jeigten je^t bie Sfige necfifd)er ®ebi(be^ &ber bie er felbfl nid)t me^r
J^err toax. (Sr fat) bie X)orfmuftfanten^ mit benen er ftd) am t)ergangenen
©onntag erfl t)erumge)anft/ mit i^ren lebernen ®efld)tern unb b6fen^ f>fifftgen
535 8^
2fu9en buchndufig t)orfibcrtt)anbeIn unb f(t){nn)fenb im SDBirt^^aud bcim *rA$cr
(t$en^ torit (le t)on nun ab ntd^t mei)r bei ^etttgen ^mtern in ber ^trd)e
blafen unb ftcbein burften. ^od) bte feierKcj^e ^oge einer jlrengen a(ten
*{rd)enn)eiff I6f(t)tf bo* ©auerngclAdjter rafd) ou« unb fiittte fcinc birdie,
bie er &ber aUti (iebte^ mit bem m&d)ttg braufenben ®et6n uralter J^etltgi^
feit Sie i)et(tge 3ungfrau fe(b(l^ bte auf bem J^ocf)a(tar in {)imm(ifd)er
Serjficfung auf einer roffgen SQoIfe ipaniblidiQex Sngefdfdpfe t^ronte, fd)ritt
i^m nad) bem flange biefer SQeife ani ben Siefen be* buftburd)n)aQten
®otte*^aufe* entgegen^ ^u(bt)oU m&d)tig^ unb it)r jur @eite gingen flid unb
feierlic^ bie J^ei(igen ber 9}ebenaU&re : ber t}ei(ige ®enbe(in mit feiner
®d)&ferfcf)ippe unb bie ^eilige 92otburga mit it)rer golbenen @rnteffrf)eL IDie
fiberirbifd)e ®efe[lfcf)aft ben>egte ftcf) in jenem n)urbeDoI[en @d)ritt ein^er^
ben aOe @e(igen im J^immel am erflen 2ag fcf)on (erneu/ unb it)r S&cf^efn
fftOte ben farbenbunten 9taum ber Stofofofirc^e mit ftberirbifd) retnfm
©trablengolbe. Dod) el)' er jic^'* »erfet)en, quoUen and) fdjon wieber anbcre
SRelobien unter ben ^ufen ber ®d)reitenben auf: e* n>aren bie focferen
SBeifen eben iener^rdjenmeffen^ beren fd^mac^tenbe* ®etdnbe( feinen geifllid)en
£)i)ren frfi^er fd)on a(* ®d)&nbung be* ^eiligflen SD^^flerium* erfd)ienen xoax.
©ie tt)cid)cn ®cigen feufjtcn fdjmcfjenb, unb bie ^(fitentriDer (Ifirjten (Id)
n)ie @d)metter[inge au* bem @d)iffe auf bie anbdd)tig (aufd)enbe ®emeinbe
nicber: bie SKutter ®otte* felbjl fe$te jegt i^ren goIbbef(^ul)tcn guf au*
ber SngeKwoIfe ein ganj flein n)enig t^or, aH xooUe fte/ DcD innern ®(ii(f*^
oerfud)en, wie (id)'* nad) biefer ©c^elmenweife gel)en lief e, unb in ba* 3fug'
ber i)etligen SRotburga fam ein j&rtlic^ fiife* iidjU ^ie @nge(*n>oIfe unter
bem jlrat)(enben ^uf ber J^immel*ffirjlin aber (ifle (tc^ f)(6$(i(^ auf unb
fd)n>ebte^ mit ben ^I&ge(n fd)(agenb^ toit ein feller ^aubenffug, n)ie ein
986lf(^en ffigcr ^crlentriller an ber flad)en ^ird)enbecfe ^in, wo ber ffieftcns^
rid)ter fag unb mit mAd)tiger Il)eaterge(le bie @d)afe Don ben ©6cfen fd)icb.
Unb bort auf i)eitigen $(uren ging eine (eud)tenbe ®eflatt in fiberirbifd)em
S3erfldrung*glanj ein^er
(Sin l)alber ^lud) entful)r ben ?ippen be* ^efan*; er war fiber einen
grofen $e(bflein geflotpert unb fonnte ffd) faum noc^ aufred)t erl)a(ten; boc^
rafd) gefagt blicfte er Iaufd)enb um (Tc^^ um bie ®egenb )u erfennen; aOein
ein bfinne* 92ebe(gefpinfl tiattt (Ic^ um it)n jufammengejogen^ unb fomeit
fein !2fuge in bie weige ID&mmerung reid)te, fa^ er nic^t* al* taijU, ibe
©toppetfelber.
M^er @teinn>ein i(l bod) fldrfer^ a(* man annimmt/' fagte ber geifli*
(id)e «$err jwinfernb t)or ffd) ^in, unb biefe Srfenntni* gab it)m feine ganje
Spannfraft toieber* (^r nal}m ben ^fab nod) tfid)tiger in>ifd)en feine Q^eine
unb fein ®d)retten n>urbe ganj aam&t)(id) fafl )um 9aufen; benn er fei)nte
fid) bamad)^ enb(id) auf bie (!d)ere ®emarfung feine* eigenen ^ird)fpie(* ju
fommen* 3bod) mit iebem &d)tiUt, ben er mad)te^ fam er tiefer in ben
92ebe(/ unb wieber Hanb er flill^ um in bie 92ad)t l}inein ju (aufd)en. X)a
t6nte feme au* ben nebeligen Jiefen ber ©c^Iag ber ®Iorfen auf, Don red)t*
unb linM, won l)inten unb Don Dorn, wic ein Derlorener ^lang au* fcrner
Swigfeit; ein feltfamer ®d)auer fiberfd)(id) ben Saufc^enben^ unb wieber
(Ifir)te er in n>i(ber dilt Dorm&rt*.
35*
536 ^
Da^ enblicf)^ taud^tt aud bent ftndjten dltbtlmttxt^ bad ftd) btc^t unb
bid)ter urn ti)n fc^Io^^ bte tn&d)tigf SD^affe fined 93auntfd auf/ ben er )u
(ennen glaubte: ed toat bit fogenannte J^etbenu(me/ bie an ber ifdid^en
^entarfun^grenje feined ^ixdfipiM flanb.
®o tiattt er ben SDBeg bod) nid)t t)erIoren; er ging fofort gemeffener,
urn fetne eigene @t(i)eri)ett )u geniefen* HUtin ber 9tebe(^ ber nun and)
ben ^fab t)erfd)(ungen i)atte^ tooUtt unb woDte fein Snbe ne^men^ unb nad)
einer ^a(&en @tunbe^ bie i^m wie eine Swigfeit erfd)ien^ \ati er n)teber
einen fd)atren^aften Stiefenbaum )U feiner Sinfen aui bent Stebel n>ad)fen:
bod) mit Sntfe|en erfannte er, aii er bat)orflanb, in bent ragenben ^^antom
bie alte J^eibenulnte mtbtx, bie er fur) )ut)or )ur !Red)ten gelaffen ()atte. fD^tt
weiten 2(ugen b(ieb er fle^eu/ urn ftd) ben ilngflfc^toeif t)on ber @tirn ju
wifc^en unb in bie dlad^t ^inein ju (aufd)en: benn in bent bic^ten dltbtU
nteere i)atte foeben ein feltfanted fXaunen begonnen; ei fliiflerte in feiner
92&^e/ ^ajlig leife, unb feme ®d)ritte wanberten unb fc^wanben wieber ()in;
ein «Ounb toat Winter itjm unb beOte toitbtx aui ber ^eme; ein 9Bagen roDte
je$t eint)er; ein Htm ging/ unb ein (eifer 9tuf t)erl)ante. SSon ®rauen
gepacft^ ntac^te er ^eijxt, inbent er ftd) t)ornal)nt/ fiber @tocf unb @tetn in
geraber 9tid)tung oorm&rM )u eilen^ urn fo an ben 9tanb ber J^od)ebene )u
geraten unb burd) bie 9teben bie ^atflra^e )u erreic^en. Dod^ bad ebene
2fcferfe(b )og ftc^ unenb(id) i)in; er (ief unb (ief in einer Z)unfe(t)eit^ in ber
ed je$t n>ie ber SQSinb eined gei)eintnidt)oaen @d)icffa(d eint)er6rau(le. Z)if
®(o(fen fd)(ugen intnter n)ieber^ na^ unb fern; boc^ er war nid)t nte^r imf
(lanbe^ i^ren @d)(ag ju j&^(en* Sr ging unb ging, unb eine n)unberfame
tiefe 9t&i)rung liberfant it)n gau) aDnt&^tic^; ed n>ar i^nt }u ^SJtnte^ aid ntfi^te
er (td)^ feligntfibe, auf bie @rbe (egen, urn nur intnter auf ben ®(ocfenfIang
)u (aufd)en unb bie fernen ®d)(&ge mit finbtfd)em 9et)agen )u }&i}(en.
Z)o(^ i)6rte er erfl auf )u get)en^ aid fein ^uf an einen ungel)euren
©teinblocf ftit% ber mitten auf einem ®to)pptla<itx ba(ag. „^u — bu
A(o$/" fagte er/ finbifd) (aOenb^ unb (allenb unb flo())ernb taflet^ er flc^
(angfam um ben ®tein ^erum^ um bie a){&d)tigfeit bed Stocfed ju prikfen;
a(d er enblid) Utii ba^ ber Clocf fein J^irngefpinjl war^ fonbern flanb^ielt/
le^nte er fid) mit n)anfenben ^ien an bie feud)te ©eitenwanb bed @teind,
unb fein J^aupt fanf nicfenb unb fd)n)er auf feine Q)rufl ^erab*
jDa ^6rte er mit einemmale ein jaged f(eined ®l6(f(ein burc^ ben
na^en 9le&e( ffingeu/ unb e^e er^ mit weiten^ flarren Sfugen, nod) ikber^
benfen httnte, n)ol)er bad bfinne^ flagenbe ®e(&ute flinge, flanb bie @efialt
eined a(ten Sf^anned toit aui bem Coben gen)ad)fen t)or it)m* „@eine @e^
fhengen t&ft ben i)od)n)firbigen «Oerrn bitten/' fagte ber Hltt, ber in feiner
red)ten «Oanb eine «Oubertudmfi|e t)ie(t*
m9Bo — tt)o bin id) benn?"
jDie ®efla(t bed HUcn fd)ien ein leifed 9ad)en )U erfd)&ttem« „@d
geit ^eut Stegen/' fagte er^ inbem er feine a)2ii|e auffe$te unb bem 2)e(an
of)ne weitered ooranfd)ritt.
Q^alb n)ud)d and ber weifen 92ebernad)t ein t^ctjci, t)ie(gie&e(iged J&aud
mit einem flumpfen Zurm empor, bad bem Defan befannt fd)ien, obrno^I er
fid) Dergeblic^ befann, too er bicfcn ©au gefe^en l)aben f6nnte. ®ie fiber<»
-tHg 537 8^
f(f)ritten cine ©rficfe, unb bcm ©d^reitenben ftcl im wunbcrlic^en ®el)en
auf^ baf tl)rf rafc^en ©c^rttte feinen J^aD ertvecftett; bann gtngett jte buret)
ettten J^of^ n>o etn banned 9rfintt(ein raufd)te, unb gelangten uber eine
9Qenbe(tre))f)e in cin matt btUudiUM ®madi, toe i)intfr einem m&cf)tigen
Sifc^/ auf bem )n>ei f(f)(anfe jinnerne jtannen ftanben^ eine 2Rann«gefla(t in
einem SeberfoDer fa^ unb ru^ig ft$en 6(ie6*
,,3|l (it% ^oc^wftrbiger J^err?". rief eine tantjt ©timme. „Die 3lacf)t
ill niemonb* greunb. 3fI4 icf) 3^n ^eutc gcf)en fa^, ba tad)f id} mix: ba*
trifft ffc^ gut* 3(f) 6rauc()e ©etnen 9tat in einer @ad)^ bie mic^ nit wenig
tributiert. ©e| Sr jtd) ^er unb tu 93efd)eib. Z)er SQein ifl gut^ (ur^
main)if(^e& ®en)&(I)&.''
jDer ^efau/ ben ein fe(tfam ©taunen n)ort(o£ umf))onnen ^ielt^ Ke^
ftcf) am $if(I)e nieber unb t)ern>anbte fein 2(uge ^on bem f(I)atteni)aften
©prec^er^ bem an bem ^agern £inn ein fleine^ eidgraue^ 9&rt(I)en (febte*
IDer J^agere aber tat einen m&cf)tigen Srunf^ aid n)oOe er in ber Jtanne
itberna(f)ten^ unb ftng fofort wieber an:
,,@r ifat, i)o(t)n)firbiger J^err^ xoclji audi in atten ^oeten gelefeu/ ba^
Fortuna bie treulofcjlc aller ®6ttinnen fei, fo bie SWenfc^cn tribuHert unb
l)eimfucf)t. ^SJtid) b&nft aber^ biefe f&rforg(id)en ^oeten i)&tten nit rec^t
getan, ber feltfamen Fortuna folcfte Sliicfen unb 5ficfen auf ben J^aK )U
(aben; benn icf) tjait fit meiner ©eel aid bad treuejle SQeib^ ja treuer a(d
Penolopen erfunben, unb ijl auc^ i$t noc^ meine SWeinung, bag ffe bed
9la(^td, mnn bie aRenf(f)en fcf)Iafen, in einem blumigen Jjimmeldwinfel (i$t
unb gfifbne ^&blein fpinnet^ mit benen jte bie fDtcn^d)tn an itjx ©(f)icffal
binbet. ^enn baf bie brei ^arjen, Clotho, Lachesis unb Atropos Qetjci^m,
foIcf)C tjimmUidjt Slarrenfdblein fpinnen, mil mix nit ri(f)tig fcf)einen. afuc^
t)at ffe bad aDerbejle ^rauengeb&c^tnid^ unb fonberlicf)^ mnn 3^r n)ad getan
\)abt, bag @u(f) ?eib unb ©eele jwacft, forgt ftc baffir, bag 3^r ed nit
Dergegt; ba ge^t fte fein fraulic^ tjinUx dndj t)er unb fagt ^ucf) bied unb
bad ind D\)x, unb n>enn 3i}r (aufen tt)oOt^ f(f)neib^t dndj bad ©tricfleiu/
bad jie dndj o\)ne SBiffen fein um bad ®elenf gebre^t, ind gleifcf), unb 3I)r
(lo())ert unb faUet in ben aften ^recf.
„Item, er foD Utjtn, bag idj Uxiadj ^ab^ bie Fortuna ffir eine feine
©trirfleinfpinnerin $u ijaften. 3^r mfigt wiffen, bag icf) ju jener 3cit, ba
bie ©(f)n)ebif(f)en unter it)rem £6nig ®uflat)ud 3fbo(p{)ud nacf) ^ranfcn )u
)ie^en gebac^ten^ in Sienflen meined gn&bigen J^errn^ ©einer filr(lbifcf)6f{i(^en
®naben^ )u 9Bfir)burg flunb. Uli nun meinem gn&bigen «$errn gemefbet
tonxht, bie ©(^n)ebif(f)en t)&tten eine ©cf)fac^t bei Creitenfefb gen)onnen^ gab
er mir einen Derfiegeften Crieff ben follte id) ©einer furf&rflfic^en ®naben^
bem «$errn Srjfanjler unb (Sr)bif(f)of ®eorg ^riebricf) nac^ SRain) bringen.
3(^ burfte baju auc^ iwanjig SRann^ einen ^agen unb einen Srompeter
ne^men^ bamit er untern>egd meine «Oerr(i(^feit in bie Suft bfafen (6nnt
9Bad in obgefagtem 9rief geflanben, weig idf nit: toixb nit Don ®filt unb
3ind gewefen fein. Dad aber n)eig icf)/ bag ed ein fc^n)erer ®efd)&ft ifl/
ben ganjen «Ocfjlaat eined frcmmen i^urffirjleu/ bie Jfammerjunfer^ J^ofjunfer^
9t&te/ A&mmerer, Domt)erren unb ^apldne mit SQein )U)ubecfen/ aid )n>an}ig
SRaiblein in einer Cifc^offlabt/ too man oom Seten ^er fc^on l^bung i)at/
538 8^
)u (ei)ren^ n>te matt bettit ^uf bad SD^finbtetit fpi^ett fcQ. TIU tcf) nutt ber^
gejiaft tit 972atn} 6etm ©(^(emnten uttb Demmett uttb f)ofuIteren mctne
9ii(bnett Sagett iit SQBetttgoIb uittgen)e(i)feU^ xitt id) md) etnetn gn&btjett
Ubidfkb t)0n ©eincr furffirjllidjett ®ttaben mit eiitetit gleid)ett ©rief tDicber
i)etm* 3((d tvtr burd) Sranfenti)al {ogen^ fa^ ba grab eitt fptnnenburred
fRdntt(etit^ bad bie ,(Si)r6arfettett' ge(&flert^ rttt(ittgd auf einem (Sff( unb
{)if(t bett @(I)n)an} tit fetiter J^anb. £a id) beit Seiitfumpf fo )U9ertd)tet
burc^ bie ®a{fen rciten fat), iDu^t id) and), toatnm ti t)ei$t: Sr i)at ben
Sfel beim ®d)n)an) aufge)dumt ! SRid) I&d)erte aber bie ©ac^ mit bem
Sfefdreiter bermafen, baf id) eineit geivaltigeit J^unger t)erfpfirte unb bai)er
mit metnen Seuteit erfl f))&t in ben ®))e{fert fam, n>o ftd) bie 9Q6(f fonfl
gute 92ad)t geben* Uni aber i)aben fee nur guten Sag gegeben, unb mein
$age trug einen @d)(i$ tm SBamd unb etnen Ci^ im Hxm bat)on, ba@ id)
in 9Bfir)burg g(eid) )u einem S^irurgen ge^en mugt unb meinem gndbigen
J^erm nit met)r am gleic^en Sag t)erme(ben fonnte/ n)ie meine ®enbung
abgebffen.
,,aRein Irompeter ?orenj aber blied feine ^reube in ber Somgajfe fo
n&rrifd) in bie Suft, bag ic^ mir bad)te: bu SQeinfumpf, \}a{t bu ein
@(^&$(ein l)ier am Ort?
i(^ nun am n&c^flen ST^orgen in bad bifd)6f{id)e ®emad) (am^
fanb ic^ bei meinem gn&bigen J^errn itoti ^rangofen mit miUn «Oofen, bie
tt>aren in @amt unb @eibe unb mit iD&nbern fo bet)angen, bafi man meinte,
ein n>elfc^er ©ajajjo tjabc J^oflaunen befommen unb n>6ae merfen, toie ber
SQSinb an bifd)dflid)en Safein ge^t* 9ted)td unb (infd am ©eftc^t ^tngen
i^nen lange 3b)pf ^erunter, unb unter bie dtafen t)atte it)nen ber welfdie
SBinb imi fd)n)ar}e ^(6cf(ein ©art {)ingen)et)t ®eine bifd)6fli(^e ®naben
aber faf t)or jn)ei ^apejereien, bie ber Jtarbinal Sttc^elteu i^m aid 93erel)rung
)Ugefd)icft/ unb toaxtn bie beiben formibablen £at)a(iere bie ®efanbten
@einer ^mineu), ))on ber man, toit 3^nt toctfl befannt i(l, nit Die! gutd
eri&t)(te*
ro3^r feib'd?' fagtc Seine bifd)6flid)e ®naben, lieg pd) aber in ber
©etrad)tung ber Sapegereien nit (I6ren, beren eine Alexandrum magnum
barfieOte/ xoit er Dor bem gorbifc^en ^noten fle^t unb bad ©c^mert ^ebt,
um i^n burd)sul)auen, unb bad anbere bie ©irenen*
ro^ie Sirenen ffnb/ fo fagte Seine bifd)6fli(^e ®naben, ,n)ie 3^r
)^iefltid)t m$t, tt>unberfe(tfame ^rauenjimmer gewefen, bie ba unten am
mitteK&nbifc^en SReer in)ifd)en 3ta(ien unb Sijitien i^re 3Qot)nung gei)abt
^aben unb am Dberteil ii)red Seibed treffHc^ fd|6n gen>efen ftnb, g(eid)
jungen SRdgblein; unten aber ffnb bie geflaltet gen)efen n>ie grfine Sd^Iangen
unb 9Qa{feri)unbe. 2)iefe Sirenen t)aben aber bermagen fd)6n gefungen, bag
fte aUe Seute angelocft unb ^ernad) jerriffen t)aben/
,o©ei unferen Sirenen brauc^t man nit uberd SO^eer )u fatjxtn, fonbem
nur fiber ein ^ffi$(ein )u fpringen/ fagte idj barauf ju Seiner ®naben.
Da (ac^te ber gndbige J^err unb antmortete : ,2)ie Sirenen ffnb nid)td anbered
a(d bie 3QoDfifle/ metc^e bie SD^enfc^en ind SBerberben (Ifirjen, ob ffe aud^
anfangd fei)r fiig ju fein fc^einen/ Dann nat)m er metnen ©rief, t)ei^og
aber gleic^ beim 8efen fein ©effect, aid ob er Sd)Iel)en im Oftober t)erjet)rte*
539 8^
£a bai^V id) mir mein Zeii unb fagte nacf) einer 9Qei(: ,®fnn ed Suer
6if(^6fl{(hrn ®nabett rc(I)t ift, toiU id) I)fut t)eim reiten^ urn einmal nacf) bem
Stfc^ten in memem J^aufc ju feljen/
,o5ut ba«, mein liebcr Slicbent/ fagte ©eine ©nabcn, unb id) madftt
meittc Ste^errnj unb (ie^ ben ^o(I)f&rfl(icf)en ^tttn bet feinem gorbtfc^en
^noten unb ben @trenen ft^em
„71H id) abtv &ber ben ^Blattt gtng/ urn mein ieiblid)ei in ber «Oerberg
}u fldrfen unb metnen ®au( )u fattelU/ traf id) unt)erfet)en£ auf einen ^^Aufen^
ber urn jwei alte ©auren unb einen £)d)fen t)erum(lanb. Der eine ©auer
aber, ein olter ^rad)er, bcutetc auf ben Deafen unb fagte: id ein geifls?
Iid)er J^err!' Unb bann fniff er fein 'Xvlq* jufammen unb rebete bem SBiet)
tttoai ini O^r, bad id) nit t)erflanb. X)ie SBArjburger aber fd)rien unb
(ad)ten wie befeffen; benn bag ein 8ei|llid)er »Oerr ein Od)fe fein follt, ba«
l)atten fte nod) nit eriebt. 3d) (leBte mid) baju unb fagte: ,©d)elm erjA^I!'
5Da fagte er: ,®e|lern bin id) »om Od)fenfurter ®au ^ereingefaljren mit
iRraut, unb ba meine Od)fen ben ©eg fo gut fennen, tt>ie ein bifd)6flid)er
J^auptmann (baf bid), benf id)l\ l)ab id) auf bem ^raut gefd)(afem 3(K
id) anftoad), |le^t mein gut)rtt)erf ^art am SWain, unb ber eine Dd)d i(l weg;
aber baffir jte^t ein ^ater ^apujiner im Seug. Der lAflt mid) aber nit lang
wunbern unb erj4l)It mir, fein 2(bt ^Att itjn in einen Od)fen Derwanbelt,
tt)eil er lieber mit ben ^annen gelAut't aW mit ben *Io(lcrgIocfen, unb bann,
anflatt i^n im ^Io(ler(laB ju ffiltern, in Oc^fenfurt Derfaufen lajfen. (Dort
t)ab id) i^n gefauft, nit wiffenb, wen id) in meincn ©taC gebrac^t) 3e$unb
fei feine £)d)fenjeit abgeloffen unb er bittc mid) um ®ottedn)iQen um ein
2(Imofen. 3d) lag ben 9ei(Hid)en Jjerm aufffften unb er »erfprid)t mir nocft
am Zov, too er in eine J^erberg fd)(fif)ft, er n)oDe brei StcfenfrAnje fiix mein
en>ig @ee(en^ei( beten* Unb jegt finb id) ben gei(l(ic^en J^erm, ben ^annen^
(duter, jum jn^eitenmal ali &d)fen toiebev. £a gucft, ba t)orn am ^opf
fei)t 3^r bie ^(atte. Hbtx id) bin nit mel)r fo bumm unb mam and) jeben,
ba* 95ie^ )u faufen.'
,,Da fd)rie ber anbere ©auer«mann: ,^u ^noHfinf ! Der S>d)i i|l ed)t;
ic^ ^ab i^n Don einem ^ater Jtapujiner gefauft/ ^a fagte id): ,3t)r feib
gepreDt n>orben, Sanbdmann! itoei @d)e(me t)aben @ud) gepreDt; ber eine
t)at Sud), bern)ei( 3^r fd)(iefet, (Suern Dd)fen audgefpannt unb ber anbere
(Ic^ in bad Seug gejlettt/ Die SBBurjburger aber jeigten wieber, bag ffe nit
allein gei(l(id) (ad)en funnten. 3((d id) aber meiner 9Bege n)eiter ging, bad)t
id) mir: 9Bad bod) in einer i)eingen ©tabt ffir Sunber paffteren! Dod)
(aum tjab id) ben ®ebanfen audgebad)t, aid id) meinen ^rompeter mit einem
©te(fenfned)t ba{)erfommen fal) ; bem armen ®d)e(m waren bie «0&nbe freuj^
tt>eid gebunben, unb id) merfte gleid), bag ii)m etwad }uge(logen fein mfiffe.
,9leit bid) ber Jeufel, Sorenj,* fag id), ,wie fommft benn bu in bie ®efcll<'
fc^aft?* Da fagt ber®d)elm: ,Der 2eufel reit mid) nit; aber ein Dom^err
f)at mir bie ©uppe eingebrocft/
fn^a^ i)afl bu mit ber ®eiil(id)feit ju tun?' ,Dad wiU id) (Suc^ er#
jA^Ien, gnAbiger J^err, wenn 3f)r mitfommen unb beim ®md)t ffir mic^
gutflei)en moDt* ®eftern abenb, aid id) meinen ®aul Derforgt, bin id) gan)
audge^ungert ju meinem ©d)A$Iein gangen, um mir ®ut^d ju tun; ffe ifl
540 8^
aui meineni £)rt^ ani ^ntttjaxt^ unb btent betm ©tangenbecf in ber Dom^
gaffe. ®ie fp&fte in ber Md^t unb war fd)ier au^er (Icf) t)or ^reub, aK
f!e mid) fontmen (Ifl)t^ unb jleigt and) gleid) in ben ^eller^ um ffiein )U
j)o(en/ bern)ei( idf in ber Jtitd)e ft$en b(eib* IDa t)6r id) J^ungerm&u(d)en
aber pt6$(id) Sritte unb ©etufc^el auf bem @t)ren^) unb fd)(&)>fe, ba id)
nid)t n)ei9^ n)er fommt^ eilenbd in ben 9{aud)fang unb l^alt mid) an ben
9t&ud)erftan9en fefl. ^er aber (ommt l)erein? £ie ©tangenbecfin mit einer
^annen fafi }n>ei Stten t)od)/ einem iaib Srot unb einem ®d)infen/ unb
Winter brein tt)atfd)eft ein Domt)err. ,Z)ie ?ie« mug and bem J5au«/ f)6r
id) bai SBeibdbifb fagen. ,®ie will mir nit fofgen, toit 3l)r fclbft gefel)en
ijabt eben/ Dabei (egt fte fein aDed/ n)a& fie tr>^ auf ben ^ud)entifd)^
breitet ein (einen Zud) barfiber^ unb bie beiben itut fe$en ftd) nun baioor
auf einen ®tu^( unb fangen an )u fd)nabu(ieren. 92immt er einen @d)(ucf^
nimmt (te einen ®d)(ucf/ unb bajtt>ifd)en fpieten fte bad SD^finbleinfpiel, bet
bem man nit t)er(ieren (ann. Snblid) (tub fte fertig; ber t)od)n)iirbige «Oerr
n>ifd)t ftd) ben SSunb unb fagt: ,®ut toax'^l 3e$t fet)(t nur bie aRufif!'
Sa greif id)^ bem ber 9Beinrud) unb ber @d)infen in bie SlaU itid)t, nad)
meiner ^rompete^ bie mir am «Oa(d tj&ngt^ unb fd)mettere ii)nen bad 2ieb
,93ruber 9ieber(id)/ n)ad fauffl bid) fo t)oD?^ in bie^fid)e ^erunter, baf bie
ba unten t)cm @tut)( i)erunterfuge(n^ unb fort^ I)inaud finb fte! 3d)/ aud)
nit fau(/ (af mid) ^erunterfaDen^ ne^m ben ®d)infen unb ben fOtanttl, ben
ber J^crr jurfirfgelaffen, unb lauf in^d golbene ©n^orn, too mid) bie ©c^iffer,
bie ba bcifammen ^ocfen^ fiir n&rrifc^ ijalttn, totil id) nit effen fann Dor
lauter ?ad)en. ^en SD^antet aber t)erfaufte id) am n&d)flen $ag an einen
^(eiberjubeu/ ber mid) (annte; benn mein Oeutel ifl ^euer fo mager mie
eine ^ird)enmaud. @d muf mid) aber ber J^unb t^erraten tjabtn, benn
t^or^in fommt ber SRann ba unb wiD mid) aufd ®erid)t unb in bad ®tocf^
^aud ffif)ren/
,,3n)n)ifd)en xoaxen toix aufi ®erid)t gefommen/ unb a(d mir ein
®emad) betreten^ too brei ®(^reiber i)inter einem Sifc^ flgeU/ i)ir id) fd)on
meinen lComt)errn fd)reien: ,@r mug mir an ben ®a(gen/ ber S&ufebieb*
3n>ei neue SR&ntel t)at er mir geflo^Ien ! Sen einen tjaV id) ba^ ben anbem
^at er nod)/
„tia fragt ein fRdnnleiU/ bad Winter einem Sifd) qudflioniert^ wad tc^
mit bem SRanne wide. 3d) fage : ,Ser SD^ann ifl mein Xrompeter unb t)at
ben aWantel reblid) ^erbient/ ,SDBie woUt 3^r bad beweifen?* fragt ber
9tid)ter wieber. j(Si, er ()at «$od)}eitdmuft( gemad)t unb mug oon feinem
3(mt (eben. @o unb fo fte^t bie 9raut aud^ gelt/ Soren}?' Unb id} fang
an, bie ©tangenbecfin, bie ein lofed SDBeibdbilb i(l/ feibf)aftig ju befd)reibem
,,3(Id ber 5Dom()err merft, bag wir feine @d)Iid)e fenneU/ fagt er pli^Iid):
,Z)ad ifl gar nit mein SOJantef/' unb ge^t i)inaud. ®o befam id) meinen
Jrompeter lod, fagte i^m aber: ,SinmaI bifl bu ber ©t&rfere ge»efen, aber
ein {weited ^SJtal (ag id) bid) t)&ngen/'
J^ier tat ber (SrjA^Ier einen m&d)tigen 5runf unb fagte: ,,Serjeil) mir
ber tt)ot)IeI)rtt)urbige Jjerr, bag id) it)m foId)e gottlofen ®efc^id)ten auftif(^e ;
541 8^
abet bad jTnb Dcrganflene ^offen, unb id) glaube, unfer J^errgott l)at un*
ben t)erflucf)ten bcutf(t)en ^ricfl, ber ie$t ju (Snb ift, nur ttiijalb auf ben
J^aW (jefdjicft, bafi wir uiid in Demut befe^ren; bcnn toix finb allcfamt
hiU ®&nber uttb mangeltt ber ec^ten J^eiltgfeit ^te 38&r)burger Dom^
^emn aber finb je$t (auter t)et(t8e 9eut^ bie Sag unb dlad)t im l)ei(tgen
Xugujiinu* unb anberen frommen JBAtern fefen, SBaffcr trinfen unb auf
©o^nrnftro^ fdjfafen, wenn fic nit grab bieSKefl lefen ober *inb«tauf fatten.
„T>odi i(l) fal)r fort, bamit 3()r bie be« ©rficfcd, bad mir einen
^offen jugebacf)t, red|t erfagt: Diefer ®eridf)t«^anbet tfatu mid) aber bcr^
ma^en ^[inge()alten, bag id) er|l gen 3(benb auf mein ?>ferb gefommen bin.
Unb ali id) bie (Srofrinberfelber ®teig gegen ©ifd)ofd^eim fjerunterreite,
too mein liebmerter ^reunb/ ber Hmtmann ^adpar Serd) ju D&rnflein, eine
ffirtrefflic^e SBeinorbnung eriaffen, war ei finflere 92ac^t unb ein ®emtttx
im 3fnjug. (Si i\t aber felbiged Sa^r ein wunberfeltfam Sa^r gewefen; im
@e))tember t)aben nod) bie 93&ume unb 9tofen^ecfen gebl&{)t/ unb bie 28ein^
b(ut ifl erfl im Tfugufl ju Snb gegangen. 9Bie id) nun ali burfliger 9Rann
an bie ^aragrapt)od obgemelter Orbnung benfe unb meine ?efjen fecfe, fdngt
ti aiif einma( an, i)inter mir t)er)ubraufen, ali ob bie toUbc 3agb ober ber
@d)imme[reiter untern>egd wdren. SD^ein (Sani mad)t einen Sprung in ben
®raben, unb ba faufl'd and) fd)on Dorbei, ein SBagen, ber mit einer 35Iaid)e
jugebecft i(l, unb fein gu^rmann ifl ju fel)en. 3d) benfe, auf einem SBagen
fd^rt ber 5eufe( nit burd)« ?anb unb (lreid)Ie meinen ®auf, ber @ud) am
ganjen ?eibe jittert Sr gef)t and) wieber ^unbert ©d)ritt; bann bleibt er
(le^en unb i(l nit Don ber ©tell ju bringen- 3d) |leig Ijerunter, urn ju fe^en,
tt>ad ben SRappcn auftiAIt; ba ^6r' id) ein SDBeinen, wie wenn ein Meined
Ainblein mint, unb rid)tig: t)or meinem ®aul (iegt in einem 9&nb(ein ein
armed ffifirmlein eingewicfelt unb fe$t bad ©direien fort, mit bem ed in bie
SEBe(t gefommen; benn weinenb fommen wir alle in biefed Sammertal, aid
ob xoit toat)xUd) n)fiften, toai und ba ern)artet.
n^dj ne^m bad Jlinblein auf mein ^ferb, um ed in ©ifd)ofdt)eim im
@pitte( ab)ugeben; aber bie @pitte(n>eiber fd)(afen feft, unb toit id) and)
flopf, fein Siditlein I&^t fed) fe^en. ®ad foOt id) tun? ®o reit id) benn
mit meinem gfinbling im 2frm, in finHrer 3lad)t bei ffiinb unb SDBetter fiber
ben ©tammberg nac^ ©iffingen l)erein unb ben ®algenberg I)erauf um
jwei Uf)r in ber grfif). —
„7im SRorgen fet) ic^, ba^ mein Sern)a(ter bie 3(ugen t^oller SQaffer i)at,
unb aid id) frag, »ad i(|n gebiffen l)Att, fagt er, if)m fci ein STOAgbfcin weg^
geflorben. ,3d) I)ab Sud) wieber eind mitgebrad)t,* fag id) unb ffi^r il)n
t)or bie 9an(, auf ber mein ^finbling (iegt. (Sx fra|t ftc^ eine aQei(e Winter
bem Dtjx unb fagt: ,3n ®otted Slamen !*
„(ii toax aber fein SBinbtein ba, bad und ^&tte fagen finnen,
©tanbed bad SRdgblein gen)efen, bad fo in mein J^aud gefommen unb mit
bem ©fibfein bed SBerwafterd, bad jujl ein 3A^rIein diter gewefcn, auf^
gett)ad)fen ifl. 3t^ felber ^abe balb barauf nod) anbere 9litle in meinem
Sienfl tun mfiffen unb tjai and) in ber ©d)n)eben)eit me^r Drangfal aud^
geflanben, aid einem S^rijlenmenfc^en n6tig ifl, um feine fd)n>erflen ©itnben
abjubfifen. ^reimal ^aben mir bie fd)n)ebifd)en i^unbe, bie in ©(^Weinberg
542 8^
bru6en auf bent ®(f)(ofl gftegett/ tnein Dac^ attgqunbH unb ifl)ttmal meitten
^eOer au^epiiinttxt 3i)r fe^t aber^ mein 4^ani fle^et bennoc^^ ®ott fei
ge(o6t in (Swigfett Tftnen*
M^ad fletne ^ilnbflm&gblein aber^ bad totr ST^agbalene taufeit Kegeit/
{)a6 icf) nur ^te unb ba gefet)en^ n)enn mix ber t)erflud)te ^ieg 3<i^ S^I^fRn
nac^ bent aRetnigrn ju fe^em di mcdjtt jteben 3a^r nad) meinem SRatnjer
®efanbtfnrtttfftn/ba fomnt id) Qommtti einmat in mein Stofengdrttein unteit/
bad auf einem ^auemerf gen @iiben (iegt £a fi$en bie beiben ^nber^
bie meined Jtommend nit gen>a^r mcrben^ beieinanber in ber 9tofen(au6e^
bad i)o(bfenge id)toaxit Sing^ beffen 3(ugen toit Jtarfunfel gffil)en, neben
bem ©uben bed aSerwalterd. Dad Jlinb ijattt auf bem ^opf ein rotc^ Wofem
frdn)(ein unb ein ge(bed ^(eibc^en an* ®ie ^ielten fidj bei ben ^inbttin
unb fangen t)or (Id) t)in/ n)ie ^inber ftngeU/ baf (Suci) eine 3Bei)mut &ber^
fommt t)or fo((f)er Unfc^ulb^ bie ni(f)td n)ifrenb in bie SBelt blicft Dann
flanb bad brdunlidie Dinglein auf^ fa^te fein ge(bed (ofed 9t6criein mit ben
^ingerf))i$en^ (Irecfte fein nacfted ^{liUin Dor unb fing an^ Dor bem 9&b^
(ein ein^er)utan)en^ a(d ob biefed ber ^6nig Dat)ib n>dr^ ber ftc^ aufd ^anjen
n>o^( t)erfianben ^aben mu§^ n)ie'd in ber ^eiligen @(^rift ju (efen (le^t
Da fafte mid) ein n)el} ®ef&^(/ unb id) ging n)eg; benn ic^ i)ab felbfl fein
^inb^ mein @^gemat)( ifl mir im erjlen ^inbdbett weggeflorben unb ^at ben
Sngel gleic^ n>ieber mttgenommem
,,3([fo n)ud)fen bie ^inber n)ie burd) ®otted SQunber n)oI)Ibe^iitet in bem
t)erflud)ten ^ieg b^tan. Oftmald, tt>cnn id) bic ©teig IjcxanfQtxitten bin,
i)6rte ic^ bie SD^abiene, bie t)on 3a^r ju 3a^r an ®d)6n^eit )ugenommen,
fTngen unb bie @timme fc^n)ebte iberm «Oaud unb ben Cerg b^i'ttnter, ba^
bie $u^r(eute i^re @du(e unten flet)en (ie^en unb auf ben ffigen ^aU l)ord)ten.
Ded Sern>a(terd ®it)nd)en aber, ber aid mein ^atenfinb SBelten i^ti^t, Uef
immer l)inter bem (iebHd)en SRdgblein b^^^ nit anberd ali ein «0&ttbleim
,Die mfift ^t)x jufammen geben, J^andjirg/ fag id) einmal ju bem Tllttn.
Der fagt nit ja, nit nrin, unb id) merfte fc^on, ba^ er nit SQiKend xoav
unb anbre Dinge im ^opfe ^atte.
„2(Id id) in biefem ^x&iiiatjx mcinen 2(bfd)ieb genommen, — id) moc^te
nit mei)r bem neuen ^&rflen bienen — ba fagte mir beim «Oeim(ommen ber
a(te ^au), er t)abe feinen @o^n mit ber 3od)ter bed ®d)ro9t)em)a(terd in
*6nigl)eim berfprodien, tt)eld)er Drt, wie er, ^od)tt)6rbiger Jjerr, wot)! tt>eip,
ein Se^en ber ^one C6{)men mitten im 9anb )U ^ranfen ifl. ,Unb bie
aWablene?* fragf id)* ,©Ieibt auf bem ®d)Iog/ fagt ber Xlte, o^ne mid)
aniufe{)en. 3d) n)ugte aber, ba^ bie reid)e ^oc^ter bed @d)Io^em>aIterd,
ber ein fpi$nafTger 96t)m ifl, einen Heinen Cucfel ^at, unb fagte f)>6ttefnb
}u bem 3f(ten: ,2Qenn ^uer SSelten bie iD6t)min nimmt, wirb i^m feine S^e^
frau banfbar fein, wenn er it)r ben Cucfel abrdumt/
„7in bem Sag aber, too bie J^odijeit fein foDte, n>ar auc^ bie SRablene
t)erfd)n)unben unb nirgenbd aufju^nben. Tim Sag barauf in aOer ^rfi^e
ifl fie jebod) fd)on wieber ba, a(d ob gar nic^td gefc^eben n)dre* ®ie n)o([te
nur bie Craut fe^en, fagt fie )u mir, o^ne mid) anjugucfen, unb nimmt
(Ic^, wic t)orber, aH ber Dinge im J^aufe an, Idgt bie ©rficfe nieber, Idutet
bad ®(6cf(ein unb gibt ben 3(rmen gu effen; nur bad ®ingen t)at fie eingefleOt.
543
M^od) t$t/ ^od)n>iirt)tger ^txx, begmnt ein ©ommer^ n>ie idf tt)n nodi
nit exUbU Oft fnt)r id) be« 3lad)« on« bem ©d)Iaf ouf, bie J^nnbc brttten,
unb brau^en in ber dladjt ba mar ein ®e^en^ ein ^(fiflern unb ein ®e(&rm^
aH tohx ber Zeufe( loi. Tin einem SJ^orgen fanb man unten an ber SRauer
t)orm 9tofeng&rt(ein eined Q^auren ®oi)n and 9rel}men Kegen; ber tjatu ein
JKeflfer in ber ©ruft (lerfen, grab unterm Jjerjen^ 3»ei Socmen brauf liegt
an ber gleic^en @teD ein imittv tct, unb reit id) ani, fet) id) bie Seim^
(idngler nnb ©nl)Ier in bie •Oafelbfifdie ober 9leben fd)Ifipfen, ben ganjen
®ommer burd) iufl einen Sag mie ben anbern/'
»Oier fe$te ber J^agere wieber ab, tat einen nod) m4d)tigeren Srunf
nnb er^ob f)ierauf mit bem ^annenbecfet ein f(apf)embed ®e(&ute, bad and)
ben alten Wiener toitbtx ^ereinlocfte^ ber fofort (autlod mit ben (eeren ^annen
im T^nnM t)erf(^n)anb*
,,SWerft (&T nun, tt)ot)Ie^rtt)firbiger ^exv, tt>eld)en ^offen mir bad ®Ificf
gefpielt, aid ed mir bad ^inblein auf ben 9Beg ge(egt? 3d) fomme and
*rieg unb ?Marfereien f)eim unb toiU — o ebled ?eben! — in meinem J^aud
ber 3flterdru^e pflegen unb in meinem Sffieltgdrtlein aKer aRiiI)feIigfeiten
unb Segierben (od unb (ebig fein unb gerate in ein Troja, too otxbuijUt
Cauernrfipel eine Helenam belagern unb ben Diomedem unb Ulyssem
agieren. 3d) g(aube ein d)ri|llid) 3Berf ju tun unb ptumpfe in eine Seufeld^
gaufferei, oon ber id) nod) nit weig, toic pe an^^eift 2)iett>eil ein lofed
SBeibdbilb, bad nit auf i)ei(igen ^fif en ge^t, nit n)eif, n)ad geifKic^ ^a(len
ijti^t, fomm id) ju fp&t auf meinen ®au( unb ft$e nun mit 3t)m, t)0(^n)iirbiger
^err, beim ©orgenwein unb benfe: J^ol ber unb jener jeben ^rauenfc^ut),
in bem bad Sierlein ge^t, bad Bfipfc t)at. 3c^ bilbe mir ein, alle Dinge (Inb fo mit
©pott burc^trdnft, wie eine ©im mit ©aft, unb tt>ir (Tub ®ottednarren, bie
in einem ©piel mittun, bad nit fur und gefpielt wirb; unb (ac^t ein dlaxx
red)t (ant, fo (ad)t ein ®ott and i^m, ber (Id) bie ^offen immer wieber
agieren (&ft unb feiner eigenen golbenen 92arretei nit mi&be n>irb. Srum
i)at ber alte ^oet Homerus, ber (ieb(id)e ^^antafl, bie @6tter ber J^eiben
Iad)enb bargefleUt auf einem ^o{)en ©erg. Unb ailed feljret toitbcx auf
biefer SBelt, Helena unb Troja, nur t)erAnbert, toit bad tiicfifc^e ®rflcf ed
toiU in unferer armen ®otted)eit.
„7lii ©onntagd brauf mein Setter ^tirn ®amburg ^ergeritten
(ommt unb mir beim SBein unb ^onfeft ftgen, fagt er: ,9}un toiU id) auc^
bad ^txUin feJ)en!' ,9iBad J&erfein?' frag ic^. ,,9?un," fagt cr, „toa^
man in ber ®egenb rebet ^ad ©ecfen^^6r(ein i)at geflern auf ber Seiter
in Sauba befannt, fte fei auf bem J^erentan}))(a$ an ber ^Sinbe ju ^6nigd^
^ofen gewefen* ©a feien noc^ eine SRenge ?eutd gewefen; ein grfiner 3Ager
^abe mitten in ber Sinbe auf einem ^a^enfc^manj ben Zan} gepfiffen: fflnn
pfeifen wir ben ^irletanj, ben ©uriebanj! unb ber ©d)inberi?*afpar and
?auba f)abe nac^^er mit ber fd)n)arjen STOablene, bie fie oon ber b6I)mifc^en
^od)jeit t)er gefannt, fiber ©dume unb Domf)ecfen l)intt)eggetanjt/
,,38ir aber reben nod) Don ber «Oerenfa(be, n)ie man fte fod)t unb mad)t,
ba fdngt unten ein Sdrmen unb ein ©d)reien an; toix flel)en auf unb fteigen
bem Sdrm nac^ ind 9tofengdrt[ein ^inab. £a fte{)et bie SSablene oben
auf ber aWauer unb ffe^t $u, tt>ie (Id) jwei ©urfc^en unten in ben fXeben
544 8^
mtt {tvei SD^effcrn abtun. @ie fagt fetn 3Bort/ fte lad^t aud) ntt^ fte id)ant
nnv }u. fcf)ret: ,Z)ie J^unbe fiber eucf)!^ ®ie t|ireit nit unb ru^en
ttit, finer t)on ben ?ummeln ba liegt nnb ber anbere me tin J^afe blutet
„71H idj bad SD^&gbtein anfel)^ ge^t fte n>eg^ mtt einem 3(ug, wie id)
ed nie 9ffet)n^ fo t)oD bed fRenfcf^eniammerd/ ba^ ed mid) elenbigtic^ erbarmte*
3d) fang an^ }u fiberUgen^ n>ad ba im ^Jpitl fein m6d)t; benn in Stebed^
fad)en gfaub id) nit red)t an «Oererei^ unb bad a){dbd)en {Tebt ju traurig
in bie SDBelt. 3d) tt>eig nit, f)od)tt)firbi9er J^err, ob dt auf SRenfc^enblirfe
in feinem gei(Hid)en ?eben ad)t gegeben. Die einen get)n um^er unb feljen
and, afd l)4tten fte i^re Seele fc^on aufgegeben unb lebten mit ben ®ei|tern,
bie mit t)imm(ifd)en ^fi^^n in einem 3(bgrunb tt>anbe(n* ICie anbern ^aben
3(ugen fo tooD Srauer, bag man meinen f6nnt, fte i)&tten im i)eim[id)en
SKutterleib fd)on erfal)ren, toit ed mit biefer ©eft beftettt i|l, we felbfl ein roter
SRofenregen in einem Stegen fafjiger 2rdnen untergel)en mfift* Item, ber ©licf
bed aD2&gb(eind [ieg mir feine 97ui)e, unb id) Argerte mid) bod) bed 9Rit(eibd^
n)enn id) an bie 3ribu(ationen bad)te, ber id) fobalb aud) nit lebig mxben foDt
,,2(m ^rdutertag^) in ber ^rfi^ jie^ idj mein famten SDBamd an, um
in bad J^od)amt )ur Jtr&utern)ei^ nad} ^ifffngen ju reiten. Da ifix id)
wieber unten fd)reien, unb afd ic^ in ben J^of fomm, (le^t bie STOablene ba,
ijat einen ©ftfd)el Winter in ber J^anb unb gucft an bem Surm in bic
J&6^e, auf bem bad ®t6cflein l)Angt. Der lurm war mir Don ben ®d)tt)eben^
I)unben breimal angeflecft n>orben unb t)at fein Dad) me^r; aber oben ^&ngt
an einem Weinen ©afgen ein ®f6rflein unb tt)ad)fen SReffeln, wilbe fXofen
unb Saufenbgfilbenfraut, bad man jum 9Beit)bftfd)eI brauc^t Hn bem ©rocfen*
feil aber flettert ju|l ein STOAnnfein in bie J^6^e, unb unten (lel)t bie SWablene
unb Iad)t unb Iad)t ein b6fed iadjtn meiner ©eel, toit id) ed noc^ nic aud
einem 5^<*w^n«iw«^^ ttemommen. Unb wie ber Jlerl bad ?ad)en ^6rt, ba
(Agt er bad ®(ocfenfei( (od, a(d {)Att il)n ein b6fer 93[icf t)on ^inten ge(lod)en
unb (lurjt ^erunter in ben J^of unb brid)t ffd) bad ®enicf. SBer aber, raeint
3^r, i|t'd? Der STOann ber ©6^min, mein ^atenfinb, ber SBelten. ,Du J&er*,
fd)reie id) bie STOabfene an, ,tt>ad mad)jl bu ba?* Dod) (le fle^t ba mit
flummem 93(i(f, unb n)irb nit rot unb toixt nit bla^ unb gucft in einem
fort auf ben ?cid)nam, ber ganj erfd)r6cflid) anjufc^en i^ Da laufen meinc
?eut J)erbei unb fc^reien unb jammern burd)einanber, unb idj mug bie J^ere
in ben 5urm flccfen, bamit jie i^r nid)td an tun; benn ffe wugten aUe, bag
(le in *6nigd^ofen an ber ?inbe bcim STOaientanj gewefen. Da ffftt (le nun
flumm toit tin fTOarmorbilb unb fprid)t fein SBort unb xiifxt fein ^igletn
an. aBoUt fd)on )u 3()m, l)od)tt)firbiger Jjerr, l)inunterreiten, um mir 9latd
)u erI)oIcn. Unb nun crgel)t mein 35itte, 3br ni6gt bem STOAgblein ind ®e^
wiffen rebcn unb erfa^ren, ob jie ben STOann t)erf)ert, bag er fein ?eben
laffen mugte im ©turj, unb wie ed mit bem Jjerentang gewefen. J&e, ^orenj,
f&tjx ben ^od)tt)firbigen ^O^trn, bag er nit (loI})ert."
Dem Defan toax ed inbeffen jumute, aid ob ein 38anbe()ug feltfamer
©ilber t)or feinen 3(ugen ein^erfc^webe; er er^ob (id) unb folgte bem alten
Diener, ber eben jwei neue ^annen auf ben Sifd) gefe^t ijattt unb fid) nun
^) a^ari^ l^immrlfa^tt; am 15. Vugufl.
545 ^
an finem ®(i)Ififfe(6unb ju fdiafen mad)te. Drau^en auf bem ©ang na^m
ber TUtt tin tUinei iattxndjtn, iai auf ettter Ztnt^t (lanb^ itnb lcnd)Utt
bem ^farr^crrn t)oraii, ber, t)on einem Teifen ®raiien gefdjfittelt, folgte*
®ie (liegen eine (leinerne 2reppe l)ina6, gingen fiber cinen J^of unb betraten
einen feii(()ten ^eUergang. „^iex ifl ffe/' fagte ber Xlte, inbem er bie 5fire
)U einem ®ela$ 6ffnete unb fofort t)inter bem Smtretenben Derfcf)(o^, nacf)^
bem er bad ^Saternlein in eine fTOaueriffnung gefe$t ijattt.
^a tjodtt in ber (Scfe auf einem sbfinbe( @tro^ eine totiblidit ®e(la(t,
bie fic^ nid)t rfi{)rte unb nicf)t regte; nur in ben 3(ugen, bie aui ben
fc^n)anfen ^inflemiffen g(fibten, ali f&me ii)r ?id)t aud einer anberen 2Be(t,
war etwad me tin jlarred ?eben. fRegfod, toit gebannt t)on einem J^eren^
jauber b(ieb ber f>farrt)err t)or bem SQefen flet)en, bid ed it)n mit einem 9)2a(e
mie eine 3Qanb(ung bed @nrfe|end, toit fd)n>inbenbe Srinnerung/ toit tint
feligffige, jammerDoDe ©egenwart erfafte.
@r ti&ttt f(i)reien m6gen: 9Bie fommfl bu {)ier^er in biefed Slenb?
Sod) fein SOort n)iU fiber feine trocfenen Sippen, unb and) bie 3(ugen in
bem Sunfel bteiben ilumm unb fragenb, toit tin beraufc^enb n>i(bed ®Ificf
unb eine bunfle SlStU bed 3ammerd, in bie er fie einfl gei)en (ie@ in mailid)
^olber Btit Unb — l)ord) — ba flingt bad Xrmeffinberglficffein jag unb
fern; fein 3fuge flel)t — Sntfe^en! — einen ^oljjlof aufgetfirmt; fd)on
na^en Jritte, ein ©raufen toit Don einer STOenge tint tjercin; ed regt pd) in
ber @cfe unb — — eine ©timme t)or iljm grfigt erfiaunt unb fd)fic^tem:
„®erobt fei Sefud (5l)ri|lud!"
SRit n)eiten 2(ugen bticfte ber ^raumbefangene im 972orgengrauen um
fid); t)or il)m im SRebel ftanb ber ®d)&ferdj6rg unb flarrte ben geifltic^en
^errn n>ie ein ©efpenft an. ^ern aud bem a){orgennebe( t6nte ein fleined
^ird)eng(6cf(ein ^erauf.
„9Bo bin ic^ benn?" fragtc ber Defan, bem ed toit tin bumpfer SRing
um bie @tirne (ag unb ber bod) eine n>unberbare (Srleid)terung empfanb, ba^
aOed/ n)ad it)m biefe 92ad)f gejeigt, nur ein n>fifled $raumgeftd)t gemefen toax.
,,Ufpm ®ald)eberig, beim ©d)tt)eben^©d)Ioug."
w3d) b^b' mid) im Slebel Derirrt/' fagte enblid) ber f)od)»firbige J&err,
ber bad 93ebfirfnid ffiblte, feine Xnwefenbeit auf biefer ^btft )u erfldren.
,,3c^ fomm^ t)on ©d)marjenbrunn."
„3o, ber 3lebel id uf amol bog'wen/' fagte ber ©d)4ferdj6rg, bem ed
ie|t n)ieber unbe^ag(id) in ber 9ldl)e bed geifl(id)en «Oerrn jumute n)urbe;
Jdj 1)0 mein ^fcrd) bo t)orn/'
i,9Beid mir ben 9Beg/' fagte ber ICittan, in bem nun bie ®eftd)te
biefer ffladjt unb eine qudlenbe Srinnerung )U einer fd)mer)tic^ mfiflen
Sumpfbeit ineinanber floffen; aud) empfanb er einen flarfen 28ibern>i(len
gegen ben Curfd)en, ber i^n in einer ©tunbe irbifd)er &d)toadiijtit gefunben
batte. SRac^ einer 28eite rafd)en flummen ®et)end, aid fie an ber ©tefle
(lanben, tt>o bie bciben ©urgwege am ^O^b^n^^^nb fid) Dereinigen, blieb er
»or bem @d)Aferburfd)en fleben, beffen bfibfd)ed, treuberjiged ®efid)t eine
tt)ad)fenbe ©efangenbeit t)erriet; benn er gebad)te feined geflrigen ®anged
mit ber Smerenj unb meinte, bie Donncrprebigt mfiffe nun jeben 3(ugenblicf
lodge^en. Der geifllid)e J^err aber fing in geflrengem 5on an, ben 36rg
546 8^
iibtx fetne dlttrn, feme ^nbljtit, feme itijx^ itttb a){t(it&r)ett au^{ufragem
£er ^ecf)t gab oerfldnbige 3(ntn>orten, beren Cfinbigfett bem ^rager immer
beffer gefiel; ia, ber 9urf(f)e n>urbe berebt, a(d er auf bte ®cf)af}ucf)t )u
fprec()ett fatn itttb bem ^efan audeinanberfe$te^ wai ba aOed t)oit beit
®emeinben getati tocrben (6tine unb mii^t, urn fte )u I)e6eit/ Z)er Dcfan
gtng auf aOe Sinjel^eiteti ein^ urn fetnen Cauerti and) Ijierin ge(egent(t(^
ben Sfletfler jetgen )u f6nnen^ unb ntad^te fogar etn getfl(t(I)ed @(f)er}d)en
&6er bte itittj&mmti, bte nt(I)t nur in ber @d)af)ud)t etne 9to0e fpielen!
Sann burc^fut^r etn g(ft(f(t(f)er ®ebanfe bai tumpft ^itm bed ^fam
t)errn; er i)ord)te tn bte Siefe ijinab, too ed eben bad erflemal jur SReffe
I&utete^ unb fagte furj: „1^u (annji n&d)|len ®onntag nac^ bent 'Xmt )u mir
(ontnten; n>enn ailed wat^r if?^ toa^ bu mtr erj&t^ft ^a(l/ foKfl bu bte (Snterenj
^aben* 3cf) werb' mit iiivex STOutter reben/'
IDer ©(^dferdjfirg tou^tt oox liberrafdjung fein ffiort f)ert)orjubringen;
er flanb noc^ an ber gfetc^en ®ttUt, aid bte bunfle ®ejla(t bed Defand
fd)on tn bem mi^tm 92ebetmeer/ bad tn ber Stefe wogte, t)erfcf)n)unben n>an
,,^9rad/ ^^rad!" f(f)rte er p(6$(tcf)^ unb burc^ bte xo^i^e dla(bt bed
92ebe(d ftang bem Defan etn 3aud)ien nad)^ n)&l)i'^nb er rafd)en ®anged in
bte Stefe fd)rttt^ bem waOenben ®et&ure ber ®(ocfen entgegen, bad wte aud
einer bfauen feltgen «06l}e {)erab}uf(tngen fd)ten.
5)eutf(|)e ^ytih III
Tlngtbinbe.
93Dn .^and ^oacbtm SBagner tn 9Run(^n*
6tner 5^eunbtn, einee j^eunbee fei gebo^t*
Qjtnferm QBunbe ftni ite <Bar6en
^fleiner BkUt ^ugeBrac^t
5n ben ^[a^ren tvtrrer ^ruBuns,
3tt ben j^^ten Uiti^tx (fleue
QgffieB 9on affen ^a1ixt(itno\(tn,
^ie entfteimten, bte verbarBen —
39re ^tdfe, ftc^Ve ^reue
Bin (petmUic^tnie gutev (fi)eften
®ie 5U ^eugen, (Pertvefem
39rer ^c^on^etf une Bepefffen*
HHg 547
tT7d6cfeenKebe.
SSon (Smtl Srmattnger in 2Bmtert(^ur.
|[un3)Utt3ee 'Kini, iux^ ^tth uni l^ag;
4Dte i&onne tvofft tc^ fangen*
S)te (mutter 6an^ ein ^d^feterfetn
(Plir pore Ceftc^t: „Q§fe8aft fern!**
Qinb fcQwang bae ^uc^fem jatt uni (ini
tub warf >em j^ruQftnseivmt —
ei, war'e etn fttPftg ^fattem!
S)oc9 fc^on ant nac^p^n l^ugeffteig
2)a mugf etn gruner Q^ofenjtveis
®ae (SDeQ'tt^e mtr ergatterm
S)ie (niutter fc^aft Qtlir war nic^t Ban^*
3c9 Kef ^en fieBen ^omnter fang
^agiagftc^ ^trauc^e
Oitii fa9, ia0 3^er5 vott fug^er fiupt
®en ^c^feier fKittern aue bem (gfup
3in rofen^ttfttgen l^auc^e*
Qtun Uv j^ommer fdngp ^o^in.
34 3^9 Qinaue. S)ie QleBef ^te^'n,
S)te ^onne iviff nic^t fc^etnen.
(niein ^ttc^fein ^^ngt am fta^fen Jlp,
3Pf ivinb^erjfe^t un^ fonnverBfagftt
Qjlni weinen mug; ic^, tvetnen.
93Dn Smt( (Srmattnger m SBtntert^ur.
1^oc9 am OgfergSang im Cepein
ic9 uBerm wetten €afe«
Jlf0 etn fc^fummer^unftfer (fi)etn
l^(9voiSt iit ({lac9t in gruner ^c^afe.
(fi)te aue ^agee fautem Qtlunb
Better £lfoclenton vetftfungen,
l^at ftc9 att0 verfc^tvieg'nem ffrunb
1$etmt9e9 jittttnl foegerun^en*
^ieQ ^a! Q}f6^ftc9 in im Zat
QEffi^t att0 offnem l^uttenraume
S)ttrc9 »te Qlac^t ein rofer ^(ra^ft
Qjln^ tc9 fc^aue ivie im ^raume.
548 8*^
QOon Ut toi'tiUn Ctut nmmSt
etn QBiiii ic9 an im l^er^e,
1^oc9, von ^errfi^ev <SifiaH,
Qjln^ 5i9ei Ifttniet an Uv 6r^e.
— 9or6et! 6in ^untpfer ^c^fag*
(Von ^en &vffttn Bfetc^t ^ev ^ag.
— IgetmtveQ taunt un^ fflififert feife.
Tin bit nad?t.
SSon aSarttn Q3De(t$ m Sluntberg.
I^trte, (tetBe ietne l^erien
(fi)iff e0 en^ftc9 JlBen^ wer^en?
^teme, tvatum ^fuOt t^r ntc9<?
£ag; mtc9 ietne Qfl^e fj^uren,
Komm, 0 ftomm, geKeBte ({lac9<!
6ffne mir lit fefigen ^uren
Verantwortlleh : FQr den politischen Teil: Friedrich NauniAno in ScbSneberg; fQr den wl
Tell: Paul Nlkolaua Coaamann In MQncben; fQr den kQnatleriachen Teil: Wilbelm Weigiuid in M
Bogenhauaen.
Nacbdruck der einielnen Beitrige nur auazugawelae und mit genauer Quellenangabe geatattct.
t:ni;;L .... n ' ;* r,in r.i
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iicrlti'hcr-
uddeutscne Monatshefte
VON
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HANS iM-iTZN[fR HANS THoM \
li K RA If SGl'C. I: BI^N VON
V;iI.HFLM WCIGAN'r)
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crRChicnctu-f ''X'^r't..' \'\::ci] -if i:n-v-r a - •. . -
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I n ll . 1 . . d C S il PI 1 =^ . \\ ;i I ■ /
ersclieincnden 4. (Apri!-)He
r'aul^; <;-.jan-..,n.
W'jiiieim Trlibner: iv i .... . .
v-v-^v! :i^r: D.;i:t>cfK-.s Til.
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iiddeutsche Monatshefte
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HANS THOMA Hi:;- n VON
WlLHtLM W »:iUAND
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II. VIS". .
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GEOANKKN o o
CARL SPlTTEI.r-R -..
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L AGF; SI! OMUND DIF. TANTIP.Mr.N - AKGiXlK-FNHRIT
i,v. irjCHHANnFl, F.ri G.!;riKv.. V,, : LH^'
= BEILAGE =
zum
6. Heft des I. Jahrgangs der
SAddeutschen Monatshefte
Die Tantiemen-Angelegenh
und der Kunstwart
Von
Siegmund von Hausegger
Die Tantiemen-Angelegenheit und der
Kunstwart.
Von Siegmund von Hausegger in Frankfurt am Main.
An die Redaktion der Suddeutschen Monatshefte ist iolgendes
Schreiben gelangt:
Dresden-Blasewitz am 10. 4.
Sehr geehrte Herren!
In der Anmerkung zu seinem ^ofFenen Briefs an Gohler (Siid-
deutsche Monatshefte S. 306) tut Herr von Hausegger eine Ausserung,
die auf einem Missverstdndnisse beruht und deshalb selber miss-
verstanden werden kann, ich bitte deshalb die folgenden Worte der Auf-
klarung freundlichst in Ihr nfich^tes Heft aufnehmen zu wollen. Gohler
schloss seinen zweiten Aufsatz in Sachen der Konzerttantiemen im
Kunstwart (XVII, 9. S. 561) mit den Zeilen: »und dann antworte uns
ein Berufener, aber sachlich, unter der Beriicksichtigung aller Ver-
hiltnisse.** Mit keinem Worte ist davon die Rede, dass nach allem
Vorhergegangenen, nach dem langen bisherigen Schweigen derKomponisten
auf Gdhlers ersten Aufsatz und nach all den mittlerweile in der musika-
lischen Fachpresse erschienenen Artikeln, diese Antwort im Kunstwart
selbst erscheinen moge. Hatte dieser dann Hauseggers Replik auf-
genommen, so hMtte er auch Cohlers Duplik aufnehmen und schlie^slich
seinen wirklich knappen Raum zu Ungunsten der weit iiberwiegenden
Mehrzahl der Kunstfragen einer elngehenden Erdrterung von musik-
betriebs-technischen Spezialfragen widmen mussen, wie sie meiner Uber-
zeugung nach eben in die musikalische Fachpresse gehdrt. Die An-
nahme unsres verehrten Gegners Hausegger, wir liiden erst ausdriick-
lich zum Sprechen bei uns ein, um dann, wenn einer reden will, sofort
zu sagen: „nein, du darfst nicht', ist nicht eben schmeichelhaft fiir
unsre Intelligenz. In Wirklichkeit war unsres Amtes zweierlei: erstens
die Anregung einer solchen Diskussion zwischen den Sachverstandigen,
zweitens das Hervorhebcn ihrer prinzipiellen Wichtigkeit und der Frage,
ob nicht durch derartige Ausnutzungen des Urheberrechts ein grosseres
Gut zu Gunsten eines kleineren geschadigt werde. Von Ehren- oder
auch nur von Anstandspflichten konnen ja derartige Raumbeschrankungen
naturlich nicht entbinden: Wenn sich die Leiter der Anstalt fur muslka-
lisches AuffiihniQgsrecht durch Gohlers Aufsatz personlich verletzt
fuhlten, so stand ihnen selbstverstindlich der Kunstwart zu einer Ent-
gegnung ofPen, und ebenso selbstverstdndlich war es, dass ich die kurze
Antwort der Komponisten an Gohler sofort im Kunstwart zum Abdruck
brachte. Was Gdhler tiber die Konzerttantiemen in Hinsicht auf den
Musikbetrieb noch zu sagen hat, sagt auch er nicht mebr im Kunstwart,
sondern in seiner Antworts-Broschiire auf die Flugschrift der Genossen-
schaft. Das urheberrechtlich Prinzipielle dagegen werde ich im Kunst-
wart noch besprechen, und bei dieser Gelegenheit auch sagen, weshalb
mir Herm von Hauseggers sachh'che EinwSnde in diesem Falle nicht
zuzutreCfen scheinen.
Mit vorziiglicher Hochachtung
F. Avenarius,
Herausgeber des Kunstwarts.
In Beziehung auf Vorstehendes sei mir gestattet, den Hergang
meiner Korrespondenz mit dem Kunstwart zu skizzieren. Ich hatte am
10. Februar*) noch vor Absendung des Manuskriptes Herrn Avenarius
telegraphisch um Aufnahme meiner Erwiderung an Dr. Gohler ersucht.
Darauf erhielt ich den umgehenden Bescheid, das nMchste Kunstwartheft
sei schon unter der Maschine. ,,Ich mochte Sie aber drauf aufmerksam
machen, dass wir jetzt, nachdem wir Monate auf Monate gewartet haben,
unsererseits unmoglich die Erorterung fiber diese Frage wieder auf-
nehmen konnen. Ich habe deshalb auch bcreits Sommer eine Ent-
gegnung abgeschlagen.' Ich druckte hierauf mein Bedauern daruber
aus, dass den von Gohler apostrophierten Komponisten eine Antwort im
Kunstwart nicht gestattet sein solle und schloss den Brief mit folgenden
Worten «. . . doch glaube ich wohl Anspruch darauf erheben zu konnen,
dass meiner von Ihnen abgewiesenen Entgegnung im nachsten Kunst-
wartheft mindestens Erwahnung getan wird, weil ich vor dem Vorwurf
geschfitzt zu sein wunsche, als hatte ich auf Gohlers Aufforderung ge-
schwiegen.** Zu meinem grossten Erstaunen fand sich im nfichsten
Kunstwartheft kein Wort davon, ebensowenig erhielt ich auch nur eine
Zeile der Aufklirung, weshalb den Lesern des Kunstwarts so fursorglich
verheimlicht werden rousste, dass G5hlers AngriCfe eine Entgegnung
gefunden. Als ich daruber Beschwerde fuhrte, schrieb mir Avenarius
am 24. Februar: „Wie k6nnen Sie mir zutrauen, dass ich auf Ihre
Anfragen nicht geantwortet hStte. Ich habe Ihnen sogar in einem
langen Brief ausfuhrlich motiviert, weshalb ich Aufsatz und Anfrage
nicht bringen konnte. Es ist, nachdem Monat fiber Monat von seiten
^) Herrn Musikdirektor MuIIer Renter, der der ganzen Angelegenheit in der
«Rheinischen Musik- und Tbeaterzeitung'' Erwihnung tut, gab ich irrtumlich den
17. Februar an, da ich mich zu der Zeit auf Reisen befand und die Briefe nicht
bei mir hatte.
Ihrer Meinungsgenossen ungenutzt voriiber gelassen, ganz unmoglich,
in unserm Blatte jetzt Antworten zu bringen, da die Leser ein klares
Bild von Gdhlers Ausfuhrungen nicht mehr im Kopfe haben kdnnen.""
Avenarius befindet sich in einem oCFenbaren Irrtum, wenn er meint, er
habe mir raotiviert, weshalb der Kunstwart sich iiber das Eintreffen
meiner Antwort ausgeschwiegen hat. Einzig die Abweisung meines
Aufsatzes war mir in dem vom 10. Februar datierten Brief begrundet
worden; seit meinem zweiten, erst hierauf erfolgten, oben wort-
lich zitierten Ersuchen habe ich von Avenarius bis zu jenem 24. Februar
iiberhaupt keinen Brief, nur ein paar Karten anderen Inhalts erhalten.
Wenn Avenarius auf dem Standpunkt steht, nur prinzipielle Er-
orterungen der Tantiemenfrage konnten im Kunstwart Aufnahme Bnden,
so hatte er vor allem Dr. Gdhlers Aufsatz abweisen mussen, der durch-
aus polemische Angriffe gegen die Genossenschaft und ihre Mitglieder
enthSlt. Nachdem dies nicht geschehen, war meines Erachtens die
Konsequenz unvermeidlich, auch die AngegriCfenen an derselben Stelle
zu Wort kommen zu lassen. Avenarius verweist uns auf die Musik-
zeitungen. Das nimmt mich Wunder. Wenn wir im Kunstwart ant-
worten wiirden, besorgt Avenarius, seine Leser konnten nicht mehr
gentigend uber Gohlers Aufsatz in Heft 3 (meine Entgegnung bezieht
sich aber bekanntlich auf den zweiten, in Heft 9 erschienenen!) orientiert
sein. Meint er vielleicht, die Leser der andem Zeitungen seien besser
dariiber orientiert? Ich kann nicht umhin, diescn Standpunkt als
gSnzlich verfehlt zu bezeichnen, da er den Verdacht unabweisbar auf-
kommen ISsst, als sollten die Gegner Gohlers einfach mundtot gemacht
werden, was wohl von einem so ernsten Blatte wie dem Kunstwart nicht
anzunehmen ist.
^ Heoigkeiten aos dem Yerlage von Georg HQUer In MQnehen. ^
Die in diesem Heft zum Abdruck gelangte — IVovelle — von
== Wilhelm Weigand ==
erscheint, vereint mit vier andern, soeben in dem Bande:
Hiebael Seh&nherrs Liebesfrahling ond andere Ho¥ellen.
===== INHALT: =
Der zwiefache Eros. — Anselm der Hartheimer.
Sirene. — Das Abenteuer des Dekan Schreck.
o o Michael Schonherrs Liebesfnihling. o o
o Umschlagzeichnung von Karl SoffeL o
Gehefitet M. 4. — y gebunden in Leinen M. 5.—.
Das Buch an dieser Stelle den Lesern des ^Abenteuers des
Dekan Schreck" ausfUhrlich anpreisen zu wollen, wfire verfehlt.
Wer den Dichter Weigand liebt, wird ohnehin zu jedem neuen
Band von ihm greifen
Soeben erschien:
Jin all( frcttitiic nodenier
HQnehener BrOSehQren, herausgegeben von Georg Mailer. I:
== Hans Pfltzner. ==
Von Paul Nicolaus Cossmann.
^ 6 Bogen. 1— =
Wie jeder moderne Kiinstler, der Neues und Eigenes will, steht
auch Hans Pfitzner mitten im Streit der widersprechendsten
Wertungen. Das hat soeben wieder die Aufnahme seiner neuen grossen
Oper: Die Rose im Liebesgarten, gezeigt. Cossmann, dem der Mensch
und Kunstler Pfitzner gleich vertraut ist, zeichnet sachlich ein
Bild seines Entwicklungsganges, seines unablMssigen kiinstlerischen
Ringens, mit warmer Sympathie aber weit entfernt davon, in den
sonst so beliebten panegyrischen Ton zu verfallen. Er weist dabei
auch die AngrifFe der Reaktion zuriick, die auch hier mit alien
Mitteln gekSmpft hat, well den Kunstler eigene Wege suchte.
I
.
Meyers Reisebticher
fiir die deutscheit Mittelgebirge.
Scliwarzwald,
Odenwsdd, Bergatraaae, Heidelberg and Straasburg.
Neunte Auflage, bearbeitet unter Mitwirkung des Schwarzwald-Vereins.
Mit 25 Karten und Pmnen. Kartoniert 2 Mark.
ThUringen
nnd der Frankenwsdd.
Sechzehnte Auflage, bearbeitet unter Mitwirkung des Thttringerwald-
Vereins. Grosse Ausgabe: Mit 25 Karten und Pianen sowie 2 Panoramen.
Oebunden 2 Mark 50 Pf. — Kleine Ausgabe: Mit 14 Karten und Pianen.
Kartoniert 1 Mark 50 Pf.
Der Harz
nnd daa Kyftb&naergebirge.
Siebzehnte Auflage. Grosse Ausgabe: Mit 21 Karten, PlSlnen und
1 Brockenpanorama. Gebunden 2 Mark 50 Pf. — Kleine Ausgabe: Mit
10 Karten und PlMnen. Kartoniert 1 Mark 50 Pf.
Dresden, SSiChsisclie Scbweiz
nnd I,anaitxer Gebirge*
(Vereinsbuch des Gebirgsvereins fiir die SSchsische Schweiz.) Sechste
Auflage. Mit 21 Karten, Pl^nen und Grundrissen sowie 4 Panoramen.
Kartoniert 2 Mark.
Riesengebirge,
laergebirge nnd die Grafacbaft Glatx.
Vierzehnte Auflage, bearbeitet unter Mitwirkung der Gebirgsvereine.
Mit 18 Karten und PlMnen sowie 2 Panoramen. Kartoniert 2 Mark.
Die „Meyerschen Reisehandbiicher'' bedUrfen keiner besonderen Em-
pfehlung mehr. Sie zeichnen sich durch grosse Zuverl^sigkeit und praktische
Brauchbarkeit aus und lassen bei klarer Anordnung und Behandlungsweise
des Stoffes eine grlindliche Bearbeitung erkennen.
(„ VWhamUungen der Gesellschaft fur Erdkunde**, Berlin,)
Volllstandige Verzeichnisse der Sammlung von „Meyers Reisebtichem" stehen
zu Diensten.
Verlag des Bibliographisohen Instituts in Leipzig and Wien.
I J
II
SCHNEIDER'S KUNSTSALON
FRANKFURT am main
ROSSMARKT 23 (AM GUTENBERGDENKMAL)
stAndige ausstellung
verkauf von =
kunstwerken ersten ranges
STETS VERTRETEN SIND =
DIE NEUESTEN GEMALDE =
VON PROF. D«- HANS THOMA
ORIGINAL ALGRAPHIEN UND RADIERUNGEN
VON HANS THOMA
SAMTLICHE '
ORIGINALLITHOGRAPHIEN
VON WILH. STEINHAUSEN
ORIGINAL-RADIERUNGEN
VON FRITZ BOEHLE
TAXATIONEN = OBERNAHME
= HERVORRAGENDER EINZELWERKE =
= BEKANNTER PRIVATSAMMLUNGEN =
. SOWIE VON =====
nachlAssen bedeutender kOnstler
===^= ZUM
FREIHANDIGEN VERKAUF ODER ZUR AUKTION
III
PIE MUSIK
Herausgeber: Kapellmeister Bernhard Schuster
bringt im Mai
zwei aufeinanderfolgende aktucUc Hefte.
Am 10, bezw. 25. Mai erscheinen anlasslich des Musikf^tes in
Frankfurt a. M., Mannheim und Heidelberg ein
Tonkunstlcrfest-Heft
und zur Comelius-Gedachtnisfeier in Weimar mit der Wiederholung der
Urfassung des „Barbier von Bagdad"" (1858) und des »Cid'' (1865) ein
Peter Cornelius-Heft
Das TONKUNSTLERFEST-HEFT verheisst neben einer Aufsehen
erregenden Studie uber die wiederaufgefundene Jugendoperette „Don
Sanche^ von Franz Liszt und der Ouverture und einer Arie dieses
Werkes in Notenbeilage, neben ungedruckten Briefen Wagners
die ANALYSEN samtlicher auf dem Programm des Festes stehen-
den Werke, von den Komponisten selbst verfasst, und ca. 30 Portrats
der Komponisten, Dirigenten und mitwirkenden Kiinstler.
Das CORNELIUS-HEFT reiht sich in Wert und Bedeutung unsem
friiheren Sonderheften ebenburtig an. Es verspricht eine „Rettung** des so
lange verkannten vornehmen Dichterkomponisten und seinerHauptschopfung.
In sieben AufsHtzen von Max Hasse, Edgar Istel, Richard Batka,
Gustav Schoenaich, Natalie v. Milde u. a. werden bedeutsame
biographische und asthetische Punkte beriihrt; es wird u. a. die
Analyse der seit fast 50 Jahren verschollehen ersten Barbier-Ouver-
ture (h-moll) geboten, und etwa 15 Bilder, Faksimiles, Notenbei-
lagen nach seltenen, unbekannten und unverdfPentlichten Vorlagen
vcrvollstandigen den Wert dieses Gedenkheftes.
p«r pr«is «iti«s i«d«ii K<n«s Von i« 100 5«it(ti Vnfatig brtrSgt 1 JtUrt
Schuster & Loeff ler, Berlin SW. U.
IV
HERMANN COHEN, SYSTEM DER PHILOSOPHIE
ERSTER TEIL: LOGII DER REIlEi ERIEHHTIIS
XVII, 520 Seiten im Lexikon-Forraat M. 14.—, gebunden M. 15.50
IN HALT: VORREDE
EINLEITUNG UND DISPOSITION: Die vierfache Bedeutung von
Erkenntnis — Die Geschichte des BegrifFs der reinen Erkenntnis —
Verhaitnis der Logik der reinen Erkenntnis zur Kritik und Metaphysik —
Das Problem der Psychologie — Das Denken der Wissenschaft —
Das Denken der Wissenschaft und die Psychologie — Die Terminologie
des Denkens — Die Logik des Ursprungs — Umfang der Logik —
Das Urteil und die Kategorien — Das Urteil und das Denken — Die
Arten des Urteils und die Einheit der Erkenntnis
ERSTE KLASSE: DIE URTEILE DER DENKGESETZE: Das Urteil
des Ursprungs — Das Urteil der Identitat — Das Urteil des Widerspruchs
ZWEITE KLASSE: DIE URTEILE DER MATHEMATIK: Das
Urteil der Realitat — Das Urteil der Mehrheit — Das Urteil der AIl-
heit — Obergang von den Urteilen der Mathematik zu den Urteilen
der mathematischen Naturwissenschaft
DRITTE KLASSE: DIE URTEILE DER MATHEMATISCHEN
NATURWISSENSCHAFT: Das Urteil der Substanz ~ Das Urteil des
Gesetzes — Das Urteil des BegrifPs
VIERTE KLASSE: DIE URTEILE DER METHODIK: Das Urteil
der Moglichkeit — Das Urteil der Wirklichkeit — Das Urteil der Not-
wendigkeit
BESCHLUSS UND BEGRENZUNG: Die Logik des Urteils — Die
Logik des Idealismus — Die Logik und das System der Philosophie
Das ^System der Philosophie'^ ist auf vier Blnde berechnet
Der zweite Band erscheint im Herbst 1904
aBel dem neuen Aufbau der Logik, der hier unternommen wird, ist hauptsaclilich zwelerlei charakteristtsch,
einmal der engere Anschluss an die Prinzipien der mathematischen Naturwissenschaft, sodann die Auf-
fassung des Denkens als einer Tatigkelt, die sich ihren Stoff selbst erzeugt. Dass die Logiker in der Regel
noch zu wenig auf die GrundbegrifTe der positiven Wissenschaften RQcksicht nehmen, kann nicbt geleugnet
werden. Kaum ist in elner anderen Disziplin der Philosophic ein so ziihes Festhalten an veralteten Sche-
maten zu beobachten. Kein Wunder, dass die Logik Ciberhaupt in den Ruf der Unfruchtbarkeit kam.
Freilich hat eine Modemisierung der Logik im Sinne einer ausgiebigeren Verwertung des Ideengchalts der
positiven Wissenschaften auch ihre Gefabren. Man kann ein positiv-wissenschaftliches Prinzip UberschStzen.
Vlelleicht ist auch Cohen dieser Gefahr nicht ganz entronnen. Denn die Bedeutung, die er dem mathema-
tischen Infinitesimalprinzip vindiziert, wird mancher fiir iibertrieben halten. Die Mathematiker selbst urteilen
heute dartiber vlel vorslchtlger, seltdem durch Dedekind und andere Forscher einc rein arithmetlsche Be-
griindung der Infinitesimalrechnung gegeben worden ist In dem Urteil erblickt der Verfasser mlt Recht
das Grundphanomen des Denkens : die Urteile der Denkgesetze, die Urteile der Mathematik, die Urteile
der mathematischen Naturwissenschaft und die Urteile der Methodik unterscheidet und untersucht er als
besondere Klassen. Die zahireich eingestreuten feinsinnlgen Bemerkungen historlsch-kritischen Inhalts und
die Anwendungen, die von den logischen Einsichten auf grosse sachliche Probleme gemacht werden, ver-
lelhen dem Buche einen ganz besonderen Reiz. Die bei ihnllchen Schriften vielfach anzutreffende Trockenheit
der Darstellung ist hier glUckllch vermiedcn. Wir haben es ohne Zweifel rait einem erstklassigen philo-
sophischen Werke zu tun, dessen Fortsetzung wlr mit Spannung entgegensehen. (Lit. Zentralbl., 7. 2. 1903)
VERLAG VON BRUNO CASSIRER IN BERLIN W
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@el). a». 2 — , geb. in ?eineu 9R. 3.—
Cfin neue< Su(b be^ ^erfaffer€ t)on ,,a)Ir^r
©oet^e" i(l ber Wufmerffamfeit aUer terienigen
fitter, bie ber Gntwtcflung unferer 8tteratur
mit lebbaftem ^ntereffe unb manc^mal mit ^orge
folgen. 3n ber |»anglofen fBeife, bie wir an
einem geifheic^en 9)2anne lieben, frricbt ^uc^
uber bie ,/8age'' o^ne eine bejhmmte Xt^pofition
ein|ubalten unb boc^ nad^ unb nac^ faum eine
®eite be^ beuttgen @tanbe€ ber Gntwttflung
unbeleud^tet laffenb. (Strode Grfurfe liber ^^qlU*
fpeare, iiber bie mobernen 3Uuf<on^f^^^ii'^^/
(iber ^i^marcf unb anbere^ f!nb eingeflcc^ten,
benn bad %Beltbilb be« ^erfafferd ij) n?eit; unb
fo enil^ft er un€ aud^ mit einer 9(u6fubrung
uber ben ,/fei(^ten Optimidmud^', ber oon na^r^
^aft ^open^auerf(t|em Grnfle getragen ifl.
VII
Reuben unt Setten etne^
rMntTd)ett ^ubtldum^ptlgerd. <8on Jllbtrt SiAtr. Umfd)(agiet(^nun9 Don Albert
®e>ticf (SHom). giit (larfer ^anb »cn 672 ©eitcit. «preid 9K. 6.—, cleg. gcb. 9R. 7.50.
lii^atbVo$ ft^cirt tern ??frfofffr: ,,|io(^9ef^rtfr <)m! 3n Cfglritung trt fawofm Wcffot
0ffe mocker rri(h id^ tirfcr ta^t tuxis^ 3^^^^^^* ^"^^ ^i^^ tingrmein intetrffante unt amftfanff
^ilgnrfa^rt, f&t trd(^e tc^ 3f»nrn mit mtinm 9omp\imtnU |ug(ei0 metnen <X>anf au^pret^f.
propt^eirie 3^^^"* 9{^etnl6nber einen l:tiumrb|U9 but(^ ba« teutfc^e ^aterlant.
SvanffuvUv 3eitun0. Srit tcffrv a\i in ten ubltc^rn 9{ftfrbu<4mi Irrnen wiv ^ifc 8anb tinb
Srute frnnrn unb rrfa^ren fo man^H, mtan ht l>ur(^f(^nttt^befu4rr 3^«ill^^ ad^tM tcxuhev
gf^en . . . 3'^^ 3^<*li'nf«i^^'^ 9Iu|fn bie anfpirr(^mben 'I)ar^eUttndrn irfen unb gente t»on
brn barin gfgrbrnm Statfd^l&grn prcfitirrfn. fBrni abrr ni(^t Ofrg^nnt t{i, grit 3^^^^^ |u pUg^tn^
ber wirb au4 in ber ^inen 0aut^ oom fcnntgrn @{iben terfp&ren unb ben leb^ften Sunfd^
empfinbfn, bad €46nr, 9on bent if»m eri^^lt irirb, felber mitgenie^en |u f6nnen.
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Organ der deutsohen Riformkatholiken. J. Won and sAJiw Cltwalw • •
In Verbindung mit Prof. Dr. Schell, Prof. Dr. Kooh, Prof. Dr. Robling und aodem
hervorrtgenden MSnnem des fortschrittlichen Kdtholizismus herausgegeben von
Dr. Joaef MUller-Munchen.
MonatL 4 Bog. (64 Seiten). Preis pro Quart, 2 M,, per Kreuzband 2.1 S M.
Zu beziehen durch alle Buchhandiungen fKommission bei Lampart in Ai|8-
burg), durch die Post (No. 735 fur Bayern, 6376 fur das Reich) und direkt Yom
Herausgeber Dr. MfUler, Mflnchen, Blumenstrasse 221%.
Wichtigere AufsStze in Heft 1—5 1904: Hermann Scbell: Lehrende und lernende Kirche, Autoritic
und Wissenschaft <1— 3); Robling: Zur Reform des Gottes (1. 2); Dr. Ihm: Ironik Ira 20. Jtbrbuiidert
(1. Z 5.). Josef Mtiller: Babel und Bibel; Christus vor dem 20. Jabrbundert; Alfred Loisy: Zfilibat and
Priestertum; Emil Frommel: Reformliteratur. Gedlchte von MtfHin Grelf, Lorenz, Krapp, BrGbl uvw.
SWit Umf(t)fa9jeid)nung Don ^arf ©off el. 324 ©eiten.
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Vihtcv tVaU ift ein neuer name unb Mcfer Homan fein ttitۤ Sucft. - C^in SHenfA
fArcfbt bie ®cf(bi(l»tc feinet ihnb^eit, feinir Suoenb bts jn bet 6tunbc, in ber fein ©ater fHw.
'S)iefe (Stunbe tuerft in i^m aUe Shrdfte. ^ bertc^tet emft, etnfac^ bie Xat^adotn unb tnit ^|er^
Knfitauliibfcit. S)ct ^n\)aU feineS 9eri(^teS i|l tiicbtd Ungcwd^ntidjed. Unfere lebenbige 9(ntei(nal^me
wirb abet f of ortQcfcf flit, bcnn l)icr macbt teincr Citeratur um Cttcratur ttJiIIen, fonbem cr fcbceibt au5
feelifc^er 92ot. 3ioif(^en ben 35||aen ber 3udcnb3eit ftel^en ^Id^iic^ Suffcbreie unb ttnliUgen,
bie er0rcifcnber nie etkcbtn fkitb. iibev bie aucfi ber 5evti0e ttnb fltti uberU^en ^fUtlcnbe
nicf^ mit etnem Cttcbeln l^inwedlefen hann. 2)a8 Suc^ tft rin €tii(t 9ntobfd0vapltit, ein
Cnfwicftlundfttoman wie etwa 0«ttfrieb liener* „®ruuer ^einric^" ober Strinbhetd* gro&e
8eid)ten XVtv in ber Utinft ben menfdten fucfit, wirb ffier cinen finben, von bem er ni«^t
dIeicfidttlHd :ibfcfHeb nimmt.
©ebeutfamed @r|llingdtt>erf! ©oeben erf(f)ienen!
Wir bitten unsere Leser sich bei Bezflflen, Yeranlasst dureli
die Inserate in den ,,Sflddentselien MonatsheHer\ anf nnsere Zelt-
selirin m bezlelien,
Diesem Heft Hegt ein Prospekt der Verlagsbuchhandlung
Greiner & PfeiflFer, Stuttgart, bei.
FUr den Inieratentell verantwortlich : Georg MQller, Mbnchen, KOniglnstrasse 50,
Druck von Htrfotl & ZItmito, Wittenberg.