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IIE IlEliriE DER ([[[MUT
MEDIGINISGH-CHIRORGISGHE RUNDSCHAU
FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE.
(44. Jahrgang.)
Leiter Mitwirkung hervorragender Fachmänner
herausgegeben von
PROF. DR. G. KLE AI DERER
H E R E I X.
Neueste Folge. Y. Jahrgang.
URBAN & SCHWARZENBERG
BERLIN
N. F;-ie Jr:chstrasse 106 b.
WIEN
I., MaximihanstrasEf A .
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1903.
Original ftom
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Alle Rechte Vorbehalten.
<>edruckt bei Julius Sittenfeld in Berlin W.
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Original frorn
UMIVERSITY OF CALIFORNIA
INHALTS -VERZEICHNISS.
Origmalmittheilungen, zusammenfassende Uebersichten, Congresse
und therapeutischer
A.
Actinogrammc, Gleichzeitige Gewinnung mehrerer
—. Schuppenhauer 143.
Agurin, klinische Beobachtungen Ober —. F. Mon¬
tag 61.
Akromegalie, Ueber —. L. Hllismans 350. j
Albuminurie, Zur Frage der sogenannten febrilen ,
— nebst einigen Bemerkungen über die Bedeu- j
tung der Cylinder. H. Lüthje 491.
Anästhesirung, die — der oberen Luftwege bei
Tuberkulösen. E. Pollatschek 403. G.Bradt 565.
A n k y 1 o stomiasis, Ueber die Wurmkrankheit —
und ihre Behandlung. W. Zinn 529.
Anthrasol. Die dermatologisch wichtigen Bestand-
theile des Theeres und die Darstellung des -
H. Vieth 547.
Appcndiciiis acuta, Ein Beitrag zur Frühoperation
bei —. Schultz 190.
Aristochin bei Bronchialasthma K. Dressier 566.
Arsen und Phosphor, Ueber die Wirkung zweier
neuer Verbindungen des — . R. Kobert 59.
B.
Basedow’sche Krankheit, Zur Therapie der —.
Kirnberger 439.
Bismutose und Enterocolitis. Biedert 431.
Borax, Vergiftungserscheinungen nach dem Gebrauch
von — mittelst Sprayapparat. Dosquet-Manasse
384.
Borsäure, Bemerkungen über die Schädlichkeit der
—. C. ▼. Noorden 93.
—, Erfahrungen über Entfettungskuren mit —. K.
Senz 158.
Borsäurewirkung, Zur Kenntniss der —. M.
Cloetta 137.
Buttermilch als Säuglingsnahrung in der poliklini¬
schen Praxis. E. Kobrak 299.
B ro m i pinkly stiere, über — besonders in der
Kinderpraxis. A. Rahn 43.
C.
Chinaphenin, Ueber —. C. T. Noorden 7.
Chirurgisch wichtige Infectionen — über die ört¬
liche Behandlung der —. E. Lexer 9.
Chloroform — Anschütz, Die Vortheile des —
A. Rahn 56-5-* I
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Meinungsaustausch.
Creosotal, Erfahrungen mit — bei der Behand¬
lung der Er krankungen der Athmungsorgane. A.
Badt 426.
D.
Digitalispräparate, Ueber die physiologische Do-
sirung von —. A. Wolff 381.
Diphtherie, statistischer Beitrag zur Wirksamkeit
des Heilserums bei —. G. Bundt 137.
Dy mal, Ueber. J. Stock 334.
E.
Eisenlichtbehandlung, Casuistische Beiträge zur
—. E. Clasen 362.
Empyroform, Ueber —, ein trockenes, fast ge¬
ruchloses Theerpräparat. B. Sklarek 305.
Entfettungskuren, Ueber den Gang der Fettab¬
nahme bei —. E. H. Kisch 57.
—, Erfahrungen über — mit Borsäure. K. Senz t 58.
Erysipel, Die Anästhesinbehandlung des —s.
Henius 43.
—, Neuere therapeutische Versuche beim —. R.
Pollatschek 499.
F.
Fissura ani, Die Behandlung der M. Katzen-
stein 544.
CI.
Gallen- und Nierensteinkoliken, Zur Behand¬
lung von — mittelst neuconstruirtem Heissluft¬
apparat. R. Sachs 257.
Gehirnkrankheiten, Ueber die symptomatische
Behandlung raumbeengender —. D. H. di Gas-
pero 212.
Gelatine, ihre Gefahren und ihr Werth in der
Therapie. H. Doerfler 118.
Gonorrhoe, Zur Therapie der —. Walther Pick 71.
Gonorrhoische Gelenkerkrankungcn und
deren Behandlung mit lokalen Fangoapplikationen.
Schuppenhauer 451.
II.
Harnblaseninnervation, Störungen der —, und
die Pflege der Incontinenten. A. Homburger 106.
Heissluftbehandlung mit dem Vorstädter’sclun
Kalorisator. Fr. Bering 448.
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: il ■ ; UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
il)i 1 -
IV
Inhalts-Verzeichniss.
Herzgrössenbestimmung, zur Kritik der soge¬
nannten modernen Methoden der —. de la
Camp 343.
Herzkranke, Ueber die diätetische Beeinflussung
des Wasserhaushaltes bei der Behandlung —r.
F. Kraus 289.
Hüftverrenkung, Ueber die obere Altersgrenze
für die Behandlung der angeborenen —. Georg
Müller 69.
Ichtalbin. J. Marcuse' 1 40.
Infusionsbehandlung, Ueber —. W. Ercklentz 5.
K.
Kniegelenkserkrankungen, Zur Pathologie und
Therapie einiger —. A. Hoffa 14.
Kochsalz- und Flüssigkeitszufuhr bei Herz- und
Nierenkranken. Strauss 433
Kreosotal gegen Pneumonie. B. Friedemann 95.
L.
Leberaffecti onen — über die Behandlung mit
Quecksilber nebst Bemerkungen über fieberhafte —.
O. Rosenbach 101.
Leberschwellung, Fieber und Schüttelfröste mit
— geheilt durch Quecksilber. G. Klemperer 41.
A. Ewald 92
Lichttherapie, Beiträge zur — nach eignen Ver¬
suchen. P. Krause 538.
Lungenphthise, Beitrag zurMechanotherapie der —.
H. Cybulski 400.
Luxation der Hüfte, Beitrag zur Behandlung der
veralteten traumatischen — W. Klink 216.
M.
Magensaft, über die therapeutische Verwendung
natürlichen — (Dyspeptinc) bei Magenkranken.
L. C. Mayer 541.
Menstruelle Blutungen, Kussmauls Methode zur
Stillung übergrosser —. G. Klemperer 287.
C. Kasbaum 432.
Moorbäder und Moorumschläge nach Perityphlitis,
Beiträge zur Wirkung der —. F. Straschnow 142.
Morbus Basedowii, Ueber die speerfische Be¬
handlung des —. Burghart u. Blumenthal 337.
Myopathien, Ueber die diagnostische Bedeutung
und Behandlung functioneller —. O. Rosenbach
145.
N.
Nicrenblutung und Nierenschmerzen. W. Klink
252.
Nicrenchirurgie, Die neuesten Bestrebungen auf
dem Gebiete der —. M. Schede 225.
Nierenentzündung, Heilung der chronischen —
durch operative Behandlung. G. Klemperer 170.
Nierenentzündung, Ueber die Behandlung der
acuten — mit Eis. L. Stembo 504.
Nierenkrankheiten, Neuere Arbeiten über die
operative Behandlung der —. Th. Brugsch 368.
Nierensteinkrankheit, Die Behandlung der —.
G. Klemperer 385.
Nieren wassei sucht, Zur Behandlung und Ver¬
hütung der —. H. Strauss 193.
P.
Perityphlitis, Die Behandlung der —. Bäumler
49. 105.
P hthisopy rin, Ueber das, — und seine Ver¬
wendung bei fiebernden Tuberkulösen. E. So*
botta 527.
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Pleuritische Exsudate, Zur Nachbehandlung
der —. D. Rothschild 160.
R.
Rahmgemenge. Die — und ihre neuere Ergän¬
zungen. F. Gernsheim 65.
Rahmgemenge, Die Besprechung der * im
Februarheft, S. 65 der Therap. d. G. und ihre
Kritiker. F. Gernsheim 383.
Renoform, Erfahrungen über — und — Präparate.
| B. Goldschmidt 332.
Rheumatische Erkrankungen, Zur externen Bc-
I Handlung der —. J. A. Goldmann 428.
| Rhizoma scopoliae carniolicae, Klinische Er¬
fahrungen über —. L. v. Ketly 117.
Röntgen-Verfahren, Eine Methode zur wesent¬
lichen Vereinfachung und Verbilligung des
F. Kronecker 45.
! Röntgen-Verfahren und interne Therapie, de la
Camp 241.
S.
Salicyl präparat, Ueber ein neues ausser'.ich
verwendbares — . R. PfeifFcr 284.
Säuglingsckzem, Zur Frage der inneren Er¬
krankungen und plötzlichen Todesfälle im An¬
schluss an die Heilung eines —. M. Cohn 259.
Säuglingsernährung, Sammelreferate über neuere
Erfahrungen in der — H. Finkeistein 550.
Sauerstofftherapie, Zur —. F. Kraus 1.
Schlafmittel, Ueber eine r.eue Klasse von —
E. Fischer u. J. v. Mering «96. ^7
Schwangerschalt, Die Complication von — mit
Herzfehler. J. Veit 17.
Schwindsuchtstherapie vor 133 Jahren. S. Ka-
miner 47.
Scopolamin, Zur Kenntniss der Verwendung des
— bei Magenleiden. M. Pickardt 286.
Scopolaminum hydrobromicum,Ueber diethera¬
peutischen Indicationen des —. M. Kochmann
202.
Soolbad, Nimmt das — unter den Bädern eine
Sonderstellung ein? F. Bahrmann u. M. Koch¬
mann 393.
Speichel, Der — als Heilfactor. J. Bergmann 200.
Syphilis. Die Behandlung der — mit Caloinel-
injectionen. E. Lesser 21.
T.
Tanocol. H. Schirokauer 262.
Theocin, Bemerkungen über die Wirkungen des —.
H. Schlesinger 115.
Thiosinamin, Zur Anwendung des —. E. Roos
525.
Thiosinamin, und seine Anwendung. A. Lewan-
dowski 441.
Tuberkulosefrage, Zur —. F. Klemperer 24.
166. 367.
Tuberkulöse, Die Anästhesirung der oberen Luft¬
wege bei —n. E. Pollatschek 403. Bradt 565.
Typhus, Ueber die Bekämpfung des —. F. Klem¬
perer 74.
U.
Uterus, Ueber die Totalexstirpation des septischen
puerperalen —. O. Feis, 220.
V.
Veronal, Einfluss des — auf die Stickstoffausschei¬
dung. C. Trautmann 438.
—, Therapeutische Erfahrungen mit —. M. Rosen¬
feld 164.
Vorderarmbrüche, Zur Behandlung der —. G.
Müller 239.
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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Inhalts -Verzeichniss.
V
w.
Wasserstöflsuper oxy d als Vcrbandmittcl. E.
Ungcr 94.
\V urmkra n k he i t, über die — Ankylostomiasis
und ihre Behandlung. W. Zinn 529.
Y.
Yohimbin, das — (Spiegel) als lokales Anästheti«
cum, besonders in der Behandlung der Ohren«
und Nasencikrankungen. Haike 223.
Sachregister.
A.
B.
Acetonurie 327.
Arne 476.
— rosacca 266.
Acoin 557.
Actinographic 45. 143. 187. 229.
241. 314. 323. 376. 468. 563.
Actinomycose 557.
Adenoide Vegetationen 187.
Adnexerkrankungen 270.
Adrenalin 34. 126. 270. 323.
Agurin 61. 414.
Akromegalie 350.
Albargin 71.
— clysmen 176.
Aibuminurie, febrile 491.
A kaiische Reaction des Blutes
325.
Alkohol 84.
— als Nahrungsmittel 519.
— Umschläge 37 7.
Alkoholismus. Verhältnis djs, zur
Chirurgie 85.
Aramenfrage 554.
Amputalio interscapulo thoracica
271.
Anästhesie, allgemeine uud locale
410
Anästhesirung der oberen Luft¬
wege 403. 565.
— nach Schleich 4 12.
Anästhesinbchandlung des Ery¬
sipels 43.
Banti’sche Krankheit 17 7.
Bärentraubcnblätter 232.
Basedowsche Krankheit 126. 337.
439.
Beckenhochlagcrung 308.
Becquerelstrahlcn 520.
Bismutosc 127 431.
Blasensteine, Spontanzertrümme¬
rung von — 230 371.
Blasentuberkulose 413. 521. :
Blut 325. |
Blutes, Veränderung des — 128. j
Blutgefässsystem 521.
Blutstillung' 118. 126. 280. 560.
Bluttransfusion 314. 1
Borsäure 93. 137. 158 384. !
Bottim'sehe Operation 38. 310.
Bromipinelystire 43. I
Bronchialasthma 566. j
Bulbärparalyse 81. i
Buttermilch 299. j
Calomelinjcctionen 21. j
Cancroid 314. 323. j
I Caramel 329. '
! Carcinom 275. |
I - - des Magens 418. 4 7 7.
1 — der Mamma 376.
I — des Rectums 421.
— und Diabetes 273. I
— und Röntgenstrahlen 314. 323. |
Anästheticum 223. 412.
Angiosclerose der Darmarterien
176.
Ankylostomiasis 412. 529.
Antithyreodin 127.
Anthrasol 54 7.
Antitoxinbehandlung bei Tetanus
177.
Appendicitis acuta, Frühoperation
bei — 190.
- und Leukocytose 469.
Argentum nitricum 73.
Aristochin 413. 566.
Arsen 59.
Arsonvalisation 124.
Arteriosclerosc und Fettleibigkeit
266 .
Arythraie des Herzens und des
Pulses 271.
Asepsis 314.
Atoxyl 17 7.
Atropin 85.
Aureol 34.
Autointoxicationen^ intcstale 326.
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| 468. 563.
j Cardiolysis 312. 4 7 7.
| Castration 558.
J Catgutsterilasation 4 70.
; Chinaphenin 7.
| Chinin 34.
j Chinoformin 370.
Chirurgische Infectionen 9.
| Cblorcalcium zur Blutstillung 281.
I Choledochus, Tumor des - - 309.
| Chorea 274.
i — electrica 128.
! — rheumatische 230.
Chromsäure 73.
| Citrophen 34.
I Chlorbarium 410.
I Chlornatrium-Entziehung 413.
i Chloroform-Anschütz 565.
Colitis ulcerosa 274.
j Coordination, die Physiologie und
| Pathologie der — 175.
| Cortex rad. punice granat. 275.
| Coxa vara 318.
I Creosotal 95. 419. 426.
(Turin 476.
Curorte des Auslandes 372
Cylinder 491.
Cytodiagnostik 413.
D.
Darimlilatation 469.
Darminvagination 469.
Darmstenose 308
Daumenplastik 128.
Dermoid des Mediastinum 4 69.
Dextrin 275.
Diabetes 327. 372. 558. 559.
— und Carcinom 273.
Diarrhoen der Phthisiker 323.
Dickdarmkatarrh 328.
Digitalisblätter 231.
Digitalispräparate 381.
Diphtherie mit Heilserum 137.
Diphtherieheilserum 329.
Diphtherienieren 135.
Diurese 464.
Diuretin 414.
Dj f mal 334.
Dyspeptine 541.
E.
Eisenlichtbchandlung 3ö2.
Ei weissaufbau 129.
Eklampsie 329.
Empyroform 305.
Entartung, erblicht? durch sociale
Einflüsse 460.
Entbindungen nach L'tcrusruptur
35.
Enteritis bei kleinen Kindern 415.
Entero-Colitis 431.
Entfettungskuren 57. 158.
Enuresis nocturna 510.
Epididymitis, gonorrhoische 521.
Epiduralinjertionen 269.
Epilepsie 179. 312. 470.
Ernährungstherapic und Diätetik
324.
Erysipel 43. 85. 499.
Eukinase 82.
Extractum filicis maris 412.
F.
Fangoapplieationen 451.
Fermenttherapie bei Säuglingen
467.
Fettsucht der Kinder 231.
Fettleibigkeit , arteriosclerotische
266.
Fieber mit Leberschwellung 41. 92.
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VI
I nhalts -Verzcichniss.
Fissura ani 54-1.
Fliissigkeitszufuhr 433.
Folia uvae ursi 232.
Fracturbehandlung 311.
Furunkulose 82. 415.
O.
G:illensteinkolik 257.
Gallensteinoperation 560.
Gallenwege 415.
— Desinfection der — 470.
Gastroenterostomie 308.
Gastrophor 308.
Geburtscomplikationen 275.
Gefässtransplantation 312.
Gchil nkrankheiten, raumbeengende
212 .
Geisteskranke, Strafvollzug an —
512.
Gelatine 118. 476. 560.
Gelenkerkrankungen, gonorrhoische
451.
—, hereditär-syphilitische 415.
Gelenkrheumatismus und Serum-
therapie 463.
Gemüthsbewegungen und Krank¬
heiten 268.
Gcnitalorgane, männliche 35.
Genitaltuberkulose beim Weibe 37 3.
Gicht 173. 330.
Gluconsäure 328.
Gonorrhoe 71. 131. 278. 451. 4 70.
521.
Guajakpräparate 325. 475.
H.
Halsrippen 319.
Harnblaseninnervationsstörungen
406.
Harncylinder 39.
Harnröhrenstricturen 130. 416.
Harnverhaltung 557.
Hautcarcinome 275
Hautkrankheiten 83. 270. 520.
—, Atlas 229. 556.
Hefe 35.
Heilquellen, chemisch-physikalische
Beschaffenheit der — 32.
Heilserum und Diphtherie 137.
Heiratsverbot 471.
Heissluftapparat 179. 257. 448.
Helmholtz-Biographie 31.
Helmitol 373.
Hemiplegie 81.
Hereditäre Syphilis 378. 415.
Hernien 308. 513.
Heroin 85. 232. |
Herpes progenitalis 476. I
Herzfehler und Schwangerschaft 17. I
Herzgrössenbestiramung 343. 466. |
Herzkranke 289. 433.
Herznaht 313. 373.
Herzverletzung 313. 373.
Heilbehandlung 232. 424.
Heufieber 130. 180.
HirngeschwQlste 320.
Hirnsyphilis 321.
Hirschsprungsche Krankheit 469.
Hüfte, veraltete traumatische Luxa¬
tion 216.
Hüftverrenkung 69. 216.
Husten und Schnupfen 180.
Hydrargyrum colloidale 233.
Hvdrocephalus 321.
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Hysterie 82.
— im Kindesalter 507.
Ichtalbin 140.
Ichthargan 180.
Immunität bei Infcctionskrankhciten
172.
Immunität und Narkose 181.
Incontinenz der Harnblase 406.
Infectionen, chirurgisch wichtige 9.
—, leichte 276.
Infectionskrankheiten, Immunität
bei — 172.
Infusionsbehandlung 5.
Intoxicationen, Lehrbuch 123.
Intubation 513.
Invagination des Darms 469.
Ischialgische Beschwerden 47 7.
Ischias 560.
J.
Jacksonsche Epilepsie 312.
Jahrbuch, ärztliches 33. !
Janetsche Methode 131. I
Jodausscheidung 132. I
Jod in Acetonlösung 82. I
Jodkodein 374. I
Kali hypermanganicum 417.
Kalorisator 448.
Kardiolysis 312. 47 7.
Katalysatoren 462.
Kehlkopfpapillome im Kindesalter
417.
Keuchhusten 87.
Kinderkrankheiten 33. 125. 231.
Kinderheilkunde 124.
Kinderkrankheiten — Lehrbuch
der — 33.
Kinderlähmung 316.
Klumpfuss 312.
Kniegelenkserkrankungen 14.
Kniescheibenbruch 311.
Kochsalzinfusionen 374. 433. 513.
Kochsalz und Oedeme 324. 371.
Kochsalzentziehung 413.
Kohlensäure bei Magenverdauung
36.
— Bäder bei Herzkranken 371.464.
Kopfschüsse 312.
Kopftetanus 375.
Krebs 87. 1. 32.
Krebs des Ductus choledochus 87.
Kreosotal und Pneumonie 95. 419. ;
426.
Kretinismus 417.
Kryoskopie 310.
Kryptorchismus 311.
L.
Labferment 467.
Labyrintherkrankung 267.
Lactagoga 552.
Lactagol 552.
Lageveränderungen der Leber 513.
Lähmungen, spondylitische 133.
Landrysche Paralyse 81.
Laparatomie bei tuberkulöser Peri¬
tonitis 522.
Laryngitis aphthosa 506.
Lävulose 328. 376.
Leberarterienaneurysma 557.
Lebercirrhose, Organtherapie bei —
267.
Leberschwellung mit Fieber 41.92.
—, Behandlung mit Quecksilber
101 .
Lehrer, Nervosität der — 512.
Leukämie 36.
Licht, physiologische Wirkungen
des — 461.
Lichtbehandlung 266. 362.461.538.
—, nach Finsen 418.
—, des Scharlach 30.
Liebigsuppe 236.
Lipämie 328.
Liquor van Swieten 29.
Littlesche Krankheit 29. 81.
Lufteinblasung gegen Neuralgie 31.
Lumbalpunction 134, 267. 269.
Lungenerkrankungen, chirurgische
Behandlung der — 522.
Lungenabscess 522.
Lungenphthise 400. 403.
Lungentuberkulose und Ozaena 236.
Lungcnverletzung 312.
Luxation der Hüfte 69. 216. 319.
M.
Magenerweiterung 513.
Magenkrebs 308.
Magensaft, Künstlicher 541.
Magenverdauung 36.
Mammacarcinom 376.
Mastitis 554;
Mastdarmcarcinom 421.
Mediastinaltumor 312.
Mediastino — Pericarditis 312. 47 7.
Menstruelle Blutungen 287. 432.
Menzersches Serum 463.
Mesotan 182. 524.
Methylenblau 323.
Metrorrhagie 123.
Milchanalyse 553.
Milchserum 376.
Milzbrandpusteln 233.
Milzexstirpation 311.
Mittelohrentzündung 88.
Moorbäder und Umschläge nach
Perityphlitis 142.
Morphium, Einfluss auf die Mngcn-
saftsecretion 233.
Morphiumvergiftung 276.
Myopathien, functioneile 145.
N.
Nährklystire. sterilisirt 463.
Nährpräparate 182.
Nährzucker 236.
Narkose, Schneiderlin-Korff’sche
202 .
Nasenathmung, zweiseitige 125.
Nasenkrankheiten 125.
Nasenmuschel 132.
Naturwissenschaft und Weltan¬
schauung 458.
Nephropexis 183.
Nervenkranke, Volksheilstätten für
78. 283.
Nervenkrankheiten, Diagnostik
der — 556.
Nervenkrankheiten und weibliche
Geschlechtsorgane 514.
Nervensystem, Pathologie des — s
268.
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Inhalts -Verzciehniss.
VII
Nervosität der Lehrer und Lehre¬
rinnen 512.
Neuralgie (Lufteinblasung) 31.
Neurasthenie 82.
Nieren 135. 170. 189. 225. 235.
252. 310. 385. 504. 524.
Nierenchirurgie 1 70. 225. 368. 470.
Nierenblutung und Nierenschmerzen
252.
Nierenentzündung, acute, Behand¬
lung mit Eis 504.
—, operative Behandlung 170.
368. 470.
— nach Scharlach 135. 524.
Nierenkranke, Ernährung 235. 433.
Nierenruptur 310.
Nieren Wassersucht 193. 323.
—steinkolik 257. 385.
Nordseeinseln, Klima der — 181.
O.
Obstipation und Hypnose 463.
— bei Kindern 467.
Oes jphagotomie 134. 278.
Opium Vergiftung 276.
Otitis, Behandlung mit Sauerstofl —
88 .
Ozaena und Lungentuberkulose
236.
P.
Pankreas 415.
Pankreasblutung 310.
Paraffininjectionen 88. 134. 308.
Paraldehyd 36.
Paralyse und Tabes 411.
Pawlow's Arbeiten über Verdau¬
ung 90.
Pegnin 467.
Perforation des Kindes 277.
Peritonitis 135. 419. 478.
— tuberkulöse 277. 331. 522.
— pneumocoecen 309. 419.
Perityphlitis 49. 105. 142. 190.
309.
— mit Moorbädern und Moor¬
umschlägen 142.
Perorale Intubation 513.
Pestinfection 462.
Pfählung 513.
Pharyngitis sicca 419.
Phlegmone, perioesophageale 278.
Phosphor 59.
Phosphorkreosot 370.
Phosphotal 370.
Phthisopyrin 527.
Physicalische Heilmethoden 481.
— und Nervensystem 519.
Physiologie, Ergebnisse der — 32.
Physiologische Psychologie 458.
Physostigmin 85.
Pilocarpinbehandlung der Pneu¬
monie 478.
Placenta praevia 184.
Pleuritische Exsudate 160.
Pncumococcenperitonitis 309. 410.
Pneumonia chronica interstitialis
463.
— crouposa 419. 478.
Pneumonie und Kreosotal 95.
Polydactilie 319.
Polymyositis 377.
Polyurie 420.
Praesclcrose 371.
Primäraffcct 561.
Prostatahypertrophic 37. 278. 563. i
Prostatitis 278.
Pruritus 31.
Psoriasis vulgaris 279.
Psychologie der Gefühl«- und
Affectc 458.
Psychosen 279
Pulmonale Narkose 513.
Purgatin 420.
Pyramidon 282.
Pyrenol 186.
q.
(Juccksilbereinwirkung vor der
Geburt 421.
(Juecksilberpräparate, lösliche 267.
R.
Rachenmandelhyperplasie 187.
Radiotherapie 229. 241. 3 76.
Rahmgemenge 65, 383.
Recht des Arztes 472.
Rectumcarcinom 421.
Renoform 332.
Rctroflexio uteri 518.
Rhachitis 509.
Rheuinatin 421.
Rheumatische Erkrankungen 428.
Rhinosclerorn 85.
—, mit Thiosinaminversuchen 189.
Rhizoma scopoliae carniolicae 117.
Röntgen-Verfahren 45. 143. 187.
241. 314. 323. 376. 468. 563.
Rückenmarkstumoren 39.
S.
Salicylpräparate 39. 284. 428.
— Vasogen 429.
Salmiakgcistvergiftungen 279.
Samenblasen 279.
Sanduhrmagen 308.
Sauerstoffnfusion 524.
Sauerstoffinhalation bei Kindern 1 35.
Sauerstoffinjectioncn 560.
Sauerstofftherapie t, 135. 280 524.
Säuglingsekzem 259.
Säuglinge — gastrische Intoleranz
266.
Säuglingsernährung 236. 299. 411.
550.
Salzwirkung auf die Haut 465.
Scharlachnieren 135. 524.
Scharlach und rotes Licht 30.
Schenkclhalsbruch 311.
Schenkelhalsvcrbiegungen 317.
Schilddrüsentabletten 417.
Schlafmittel-96. ?
Schleimkolik des Darms 187.
Schnupfen und Husten 180.
Schreibkrampf 511.
Schulhygiene 459.
Schwangerschaft und Herzfehler 17.
— — und Tuberkulose 470.
Schwarz, L., Nekrolog 336.
Schwefel 331.
Schwindsucht 411.
Schwindsuchtstherapie 47.
Scoliose 319.
Scopolaminum hydrobromicum 202.
286.
Seebäder und Stoffwechsel 465.
Seehospize 507.
Seekrankheit 237.
Sehnenoperationen, plastische 315.
Selbstmord bei Syphilis 322.
Scxualneurasthenikcr 188.
Sitophobie 524
Soolbad 393.
Speichel, als Heilfactor 200.
Spirituscomprcssen 37 7.
Spondylitis 318. 320. 513
Staphylococccninfection 8 5.
Stillende Frauen. 550.
! Strafvollzug 512.
Streptococceninlection 85.
Stridor congenitus 506.
Strychnin gegen Polyurie 421.
j Südwestafrika als klimatischer Kur-
I ort 464.
Syphilis 237. 41 1. 415. 42^.
j —, Calomelinjectionen 21.
— des Gehirns 321.
- fötale 90. 421.
—, hereditäre 378. 4 15
I — und Paralyse 321.
— und Selbstmord 322.
, — und Tabes 81. 321.
j —, Vererbung der — 378.
■ —, viscerale 425.
Syphilitische Familie 89.
I — Primäraffeet 561.
T.
Tabes und Syphilis 41 I.
Tannoforin 378.
Tanocol 262.
Taxis bei Hernien 513.
Tetanie 237.
Tetanus des Kopfes 37 5.
— mit Antitoxinbchandlung 17 7.
479.
— nach Gelatincinjection 280.
— traumaticus 422.
Tetanusgift 378.
Theer 379. 547.
Theocin 115. 238. 423. 564.
Therapie, Handbuch der — 228.
Thiosinamin 441. 525.
Thiosinaminversuchc bei Rhino-
sclerom 189.
| Thorax Verletzungen 564.
i Thymusvergrösserung 506.
Thyrcoidin 417.
| Trachom 379.
Tuberkulose 24. 135. 27 7. 331.
373. 400. 403. 411. 413 4 17.
424. 521. 522. 527.
, Bekämpfung der - 459.
— , Entstehung <ler — 508.
—, Immunisirung gegen — 479.
Tuberkulosefrage 24 166. 367.
Typhus 74. 282.
— atypischer 281
U.
Ulcus molle 239.
Unterkieferbrüche 311.
Urnisches Kind 468.
Uropurin 232.
Urethramassage 376.
Urethritis anterior 424.
Uterusrupturen 283.
Uterusruptur, Entbindungen nach
— 35
Uterus, Totalcxstirpation des sep¬
tischen puerperalen — 220.
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
VIII
Inhalts -Verzeichntes.
V,
Vaginifixur 518.
Vanadinsäurc 323.
Varicen 275.
Variola vera 425.
Vaseline-Injection 90.
Vegetarianische Diät 229.
\ T enerische Krankheiten 84. 270.
— Erkrankungen, Atlas 229.
— Krankheiten, Lehrbuch 84.
Ventrifixur 518.
Verdauung, Pawlow 90.
Störungen der — bei Säug¬
lingen 467.
Veronal 96. 164. 380. 438. 480.
Vial’s tonischer Wein 189.
, Virchow als Ar 2 t 462.
Visceralsyphilis 425.
Volksheilstätten för Nervenkranke
! 78. 283.
Vorderarmbrüchc 239.
Vorgeschichte des Menschen 460.
W.
Wägen, tägliches 40.
Wanderniere 189.
Wärmereize 521.
Warzen 314.
Wasserhaushalt, diätetische Beein¬
flussung bei Behandlung Herz¬
kranker 289.
Wasserstoffsuperoxyd 94.
Wochenbettsmorbidität 40.
Wurmfortsatz 380.
Wurmkrankheit 529.
Y.
Yohimbin als Anästheticum 223.
Autorenregister.
|44ie Seitenzahlen der Original-Mittheilungen sind fett gedruckt.)
A.
Abraham 35.
Achard 371.
Albu, A 229.
Aldor 328.
Alexander, A. 236.
Alsberg 460.
Alter 279.
Anten 132.
Aronheim 480.
Aschaffenburg 512.
Asher 464.
Aue 88.
Axenfeld 321.
B.
Babinski 267.
Bade 320.
Badt, A. 426.
Baedecker 124.
Baermann 521.
Bahrmann 393.
Bang 25.
Banti 177.
Bardenheuer 319.
Bai det 370.
Bartring 376.
Baudouin 267.
Baur 552.
Bäumler 49. 105. 321.
463.
Bartrina 34.
v. Behring 28. 459. 479.
Belawenz 270.
Bendix 33. 554.
Bergmann, J. 200.
— K. J. 420.
Bering, Fr. 448.
Berlioz 267.
Bertelsmann 513.
Biedert 33. 431. 509.
Binswanger 517.
Block 237. 412.
Blondei 323. 376.
Blumenfeld, F. 419.
Blumenthal 337.
Boas, J. 273. 274.
' v. Bökay 134.
Bollinger 551.
I Borchardt 312.
, Borchgrevink 135 522.
! Borszeky 564.
, Bradt 565.
| Bramann 314.
i Bransford Lewis 278.
Brauer 313 477.
Braun 312. 469.
j Brodnitz 308.
f Brok 189.
| Bronstein, J. 413.
: Brosius 321.
! Brugsch, Th. 368.
v. Brunn 309. 419.
i Bruns 128. 507.
I Budin 551.
Bumke 36.
! Bumm 329.
I Bundt 137.
! v. BOngner 415. 513.
Burghart 337.
Byk 283.
C.
Cahen-Brach 467.
j Calmette 322.
i de la Camp 241. 343.
| Cantrowitz 232.
| Carrion 82.
j Casper 521.
Castelvi 560.
| Cathelin, F. 269.
! Ceni 179.
| Chantemesse 413.
| Chevalier 323.
| Choltzoff 416. ,
Chauffard 280.
Chiari 178.
Clairmont 308.
Clasen, E. 362.
Clemm 176.
i Cloetta 137.
! Codivilea 316.
Cohn, M. 259*
Cohn, P. 268.
Cohnheim 90. 129. 55
Comby 125. 551.
Conwentz 460.
Cordier 31.
Crha 419.
v. Criegern 182.
Crouson 31.
Czerno-Schwarz 413.
Czerny 275. 553.
Cybulski 400.
D.
Daconto 557.
Dänisch 463.
Dappcr 187.
David 323.
Delius 463.
Determann 283.
Deutsch, E. 270.
I Disse 29.
Doerfler 118.
Dollinger 313.
Döring 239.
Dornblüth, O. 237.
Dosquet-Manasse 384.
Doumer 323.
Dreslcr 566.
Dreuw 279.
Dührssen 314.
Dumont, F. L. 410.
Dunbar 130. 180.
Dunin 82.
Düntzmann 275.
E.
t
Ebstein 462.
Edcbohls 170. 368.
Edel 181.
, Ehrhardt 314.
, Ehrmann 476.
Einhorn 524.
Eiseisberg 313.
Eiselt 275.
Elsässer 422.
Elsner 127.
Embden 129.
j Engclmann 271.
! Ercklentz 5.
Escherich 555.
Eulenburg 515.
; Ewald 92. 281.
; Exner 376.
F.
Falk 47 1.
Federmann 309.
Federschmidt 233.
Feilchenfeld 420.
Feis, O. 220.
Fellner 471.
Ficssir.ger 266.
Finkeistein 550.
Fisch 464.
Fischer, E. 96.
Fischl 33. 411.
Flachs 552.
Fleiner 237.
Fleischl 476.
Flügge 472.
Focke 231.
Foerster 175.
Fournier 322.
Fracnckel, P. 325.
Frankenhäuser 465.
Frank 232.
Franz 460.
Freudenberg 310.
Freund, L. 229.
Freymuth 276.
Frieboes 325. 475.
! Friedemann 95.
| Friedenthal 325.
| Friedländer 277.
i Frotscher 177.
Frucht 236.
! Fueth 372.
Fürst, L. 376.
Fürstner 320.
Galliard 267.
Gallois 29. 81. 82.
Ganghofer 467.
Ganghofner 508.
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Inhalts -Verzeichniss.
Gärtner 314.
di Gaspero 212.
Gassaöt 31.
Gaupp 321.
St. Gene 35.
Gerhardt 321.
Gernsheim 65. 383.
(.las 189.
Goldmann, J. A. 428.
Goldscheider 556.
Goldschmidt, B. 332.
Görl 230.
Grasset 81.
Grätzer 320. 551.
Gregor 553.
Griesbach 45?.
Grinjewitsch 85.
Gröber 182.
v. Grolmann 33.
Gross 134.
Gumprecht, F. 228.
Grunmach 466.
v. Guerard 518.
Guthrie 331.
H.
Haasler 308.
llaberer 513.
Hackenbruch 311.
Hahn 189
Haikc 223.
Halkin 520.
Haller 34.
Hallion 82.
Hanszel 85.
Harmer 417.
Hecht 135.
Hecker 90.
llefelmann 552.
Hegar 551.
Heinzeimann 557.
Helbing 319.
Heller 507.
Hcllcsen 231.
Henius 43.
Hermes 380.
Hess, K. W. 238.
Heubner 135. 553.
Heusner 319.
Heusser 232.
Hippel 415. 470.
Hirschfeld 468.
Hirschsprung 469.
Höbcr 325.
Hochsinger 506.
Hock 134. 310.
Hoff 232.
Hoffa 14.
Hoffmann 513.
Hofmeier 277.
Holländer 561.
Holsti 233.
Homburger 406.
Höpfner 312.
1luchard 371.
Huismans, L. 350.
Hüppe 25.
I.
Impens 373.
J.
Jacobäus 40.
jacobi, E. 229. 556.
Jensen 461.
Jesdik 87.
Joachimsthal 318.
Jonas 125.
Jordan 311. 415.
Jullien 2ö7.
Kader 308.
Kalinin 85.
| Kami ne r 47.
Karewski 522.
j Karg 314.
Kasbaum 432.
Katz 464.
Katzenitein 544.
Kayser 524.
Keferstein 519.
Kehr 87. 557.
Keller 507.
Kessler 279.
v. Kelly 117.
Kieseintzky 554.
Kirnberger 439.
Kirstein 239.
Kisch 57.
Kittel 413.
Klautsch 236.
Klemperer, F. 21. 74.
166 367.
—, G. 41. 170. 287. 385.
464.
Klink 216. 252.
Knoop 129.
Kobert 59. 123.
Kobrak 230. 299.
Koch. Robert 24.
Kochmann, M. 2Q2. 330.
, 393.
Köhler 24.
I Kolbassenko 377.
I König 308.
, Körte 309. 310.
I Kötschau 518.
I Kramer 238.
I Kraske 308.
j Kraus 1. 289. 462.
Krause 312.
—, Paul 538.
Krawkoff 270.
Kronecker 45.
Kronfeld 468.
, Krönig 514.
I Krotoff 379.
1 Kröger 371.
Kuhn 470. 513.
Kukula 183.
Kömmell 310. 312. 369.
Kutner 310.
Köttner 314.
Kutvirt 88 .
L.
I.abadie — Lagrave 374.
Labhardt 132.
Ladenburg 458.
Länderer 232.
Lange 126. 316.
Langstein 129.
I Lanz 126. 127.
' assar 314.
ulmonier 370.
>.eblond 323.
I Ledderhose 470.
Lemoinc 323.
Lcreddt* 30. 2 56 411.
Lesscr 21.
Lewandnwski, A. 441.
Leser. E 9.
v. Leyden 187. 324.
Lilienfeld 380. 480.
Lilienstein 510.
Ljubomudroff 37 4.
Lttwi 129. 465
Lucke 557.
Ludlotr 312.
Lumierc 4 76.
Lüthje 30. 491. 558. 559.
M.
Madelung 469.
Magnus — I.evy 4 17.
Maragliano 1 78.
Marchand 1 7 7. 178.
Marcusc 140.
Marfan 553.
Marie 31.
Martin, A. 521.
Matzenhauer 378.
Mayer, L. C. 541.
Mayer, P 275.
Mayer (Köln! 319.
Memerts 238.
Menge 516.
Mcnzer 463.
v. Mering 96.
Mery 266.
Metschnikoff 1 72.
Meyer, H., 378.
I McycrhofTcr 32.
Minkowski 173.
Mocbius 78. 127.
Möhring 513.
Moll 560.
Montag 61.
Monti 124 .
Moran 1 30.
Moro 236.
Mosauer 414.
Moszkowicz 134.
Mott, F, W. 268.
Motz 413.
Mracek 83.
Möller, Franz 465.
Müller, Georg 69. 239.
Müller iStuttgarti 319.
N.
Nagel 412.
Nägeli 459
Narath 308.
Nebesky 270.
Neuber 314.
Neu leid 4 79.
Neumann 33. 79.
Nicoladoni 128.
Nicdcrle 421.
Neumann-Caspari 84.
Nocard 25.
v. Noorden 7. 93. 187.
Nordheim 551.
O.
Oettingen 312.
Oppenheim 39. 377. 513.
Oitncr 176.
| Oäscndowski 128.
I Ostroxvsky 378.
Digitized by
Gck igle
IX
! P.
Payr 309.
' Pehu 476.
Pel 235.
1 Peis-Leusden 278
Pelzl 478.
Pcnzoldt 36.
Perthes 314. 563.
Pctersen 308.
Pfaundler 555.
Pfeiffer, R., 284.
Pfister 510.
i Pllüger 232.
' Pick, W. 71.
j Pickardt 286.
Pinclcs 564.
i Pletzer 552.
I Pluinier 130.
1 v. Pöhl 462.
Polak 85.
: Pollatschek, E. 403.
—, R. 499.
j Poly 480.
| Preobraschcnsky 27 1
0.
I (Juillier 552.
(Juincke 36. 425.
R.
I Rahn 43. 565
| Ramsay 459.
j Ransom, Fred. 37 8 .
Rattncr 423.
' Rautenberg 179.
Reckzeh 279.
Rchfisch 27 1.
Rehn 469.
Reich 415.
Reiner 316. 318.
Renon 323.
Richter 34.
Riedel 309. 311.
Rieder 461.
Riegel 233.
Riehl 421.
Riese 310.
Robin 266. 323.
Rolin 374.
Rommel 236. 509.
Roos, E. 34. 525
Rosemann 519.
Rosenbach 101. 145-
Rosenberg 125.
Rosenfeld, M. 164.
—, C. 180.
Rosinski 378.
Rothschild 160.
Rovsing 37.
Rubeska 283.
Rumpel 369. 462 .
Ruppinger 506
Rzad 477.
S.
Saalfeld 331.
Sachs, R. 257.
Sack 379.
Salomon 418.
Sbarigia 180.
Schaffer 517.
Schanz 316. 31c*
j Schdan-Puschkin 413^
I Schede, M. 225.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
X
Inhalts-
■Verzeichniss.
Schedel 410.
Senz 158.
Thiemich 507. 553.
Weissbein 236.
Scheube 84. j
Siegel 421.
Tillmanns 133.
I Weljamowitsch 276.
Schild 177. |
Siegert 467. 509.
Tobias, E. 232.
Wenkebach 271.
Schilling 88. !
Sklarek 305.
Topolanski 90.
Werter 232. 233.
Schirokauer 262.
Snel 181.
Trautmann, C. 438
, Wichmann 512.
Schlesinger 115. 186.
Sobotta, E. 527.
Trunecek 275.
Widal 413.
Schloflfer 308. i
Sonnenburg 39. 309.
Tschcrcpnin 375.
Widowitz 524.
.Schlossmann 467. 551. .
Soubeyran 417.
U.
Wieland 329.
Schmidt, Ad. 463
Souques 31.
Wilbcrt 187.
Schmidt, H. E. 418. j
Spitzer 131.
Unger 94.
v. Wild 518.
Schoemaker 310.
Spitzy 317
Wildermuth 78.
Schönhölzer 477. !
Sprengel 309.
V.
Wille 516.
Schott 560.
Ssaweljew 377.
Valcntini 282.
Wilms 312.
Schottelius -462.
Steiner 308.
Variot 266.
Wirth 480.
Schoull 30.
Stembo 504.
Veit 17. 470. 517.
Wischnewsky 425
Schramm 522.
Stern 476.
Velten 372.
Wittek 316.
Schuckmann 17 7.
— (Düsseldorf) 4 70.
Vierordt, O 481.
Wolff, A. 373. 381.
Schultz 190
Stock 334. 424
Vieth 379. 547.
—, M. 25.
Schulze-Berge 470.
St rasch now 142.
Vigne 31.
Wroblewski 132.
Schuppenhauer 143. 451.
Strassmann 184.
Völker 563
Wullstein 308. 314.
Schütze 375.
: Strauss 193. 232. 433.
Vii 1 pins 315.
Schwalbe 460.
StroganotT 35
W.
z.
Schwatz, L. 327.
| Stucrtz 280. 326 524.
Zabludowski 35. 51
Schweizer 411.
; Suzor 35.
Wälsch 278.
Zahradtiicky 271.
Schwenk 424.
Warnckros 311.
Zangenmeister 4 0.
Schwerin 313.
X
Weber 478.
v. Zeissl 84.
Seggel 317.
1 •
Weil 476.
Ziehen 458.
Scllhcim 373.
Tarnowsky 89.
Weinberger 188.
Zinn 529. 566.
Senator 1 77. 178.
Temesvarv 552.
Weiss 555.
Zu ritz 129. 182.
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Original ftom
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1903
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Januar
Nachdruck verboten.
Zur Sauerstofftherapie.
Klinische Vorlesung
Heine Herren! Die Besprechung neuerer
Behandlungsversuche der Pneumonie hat
uns auf therapeutische Bestrebungen ge¬
führt, welche ihre Entstehung den vertieften
Untersuchungen Ober das Blut bei Pneu¬
monie verdanken. Ausser der Infection
soll hier die Blutbeschaffenheit auch von
dem veränderten Respirationsmechanismus
beeinflusst werden können, und diese Be- \
einflussung der Blutbestandtheile soll dann |
weitere, über die unmittelbaren Grenzen j
des Gaswechsels reichende Folgen (Oligurie) !
nach sich ziehen. Oxygeninhalationen gegen i
die dyspnoischen Zustände der Pneumonie¬
kranken ist in jüngster Zeit eine besonders
wohlthätige, wenn auch vorübergehende
Wirkung zugeschrieben werden.
Das lenkt unser Interesse wieder einmal
auf die Sauerstofftherapie überhaupt. Um¬
somehr als auch sonst gerade hier in Berlin
der praktische Werth dieserTherapie jüngst
viel studirt und discutirt worden ist.
Planeten können bekanntlich auf zweierlei
Art entdeckt werden, manchmal am Schreib- ,
tisch durch Rechnung, andere Male mittelst des
Fernrohres auf der Sternwarte. Auch beim
Sauerstoff haben geistige Augen die Ent¬
deckung eher und richtig gemacht Schon seit
Democritos war man darüber einig, dass die
Luft dem Blute einen zum Leben nothwendigen
Bestandtheil liefere, und der als Künstler so
hoch verehrte Leonardo da Vinci schreibt
zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts), dass das
Feuer die Luft verbraucht, welche es ernährt,
und dass, wenn die Luft sich nicht im nor¬
malen Zustand befindet, darin weder eine
Flamme brenne, noch ein Thier der Erde oder
Luft leben kann. Mayow stellt dann 1668 den
Satz auf: der Spiritus aero-nitrosus ist das vitale
Princip der Luft, welches Verbrennung und Ath-
mung unterhält Er macht nur einen Theil
der Luft aus, welchen Thie.e durch ihre Ath-
mung ebenso verbrauchen, wie ein brennender
Körper. Die absorbirten Theile der Luft sind
dazu bestimmt, das venöse Blut in arterielles
umzuwandeln, und diese Absorption ist auch
die Ursache der Körperwärme. Am 1. August
1774 stellte endlich Priestley aus calcinirtem
Merkur wirklich das Sauerstoffgas dar und be¬
merkte sogleich, dass eine Flamme in dem¬
selben bemerkbar lebhafter brennt. Dass dieses
Gas wirklich identisch ist mit demjenigen,
welches für die physiologischen Vorgänge von
so dominirender Wichtigkeit sich erweist, er-
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von Fr. Kraut -Berlin.
kannte aber Priestley erst, als er am 8. März
1775 unter eine mit Sauerstoffgas gefüllte
Glocke gebrachte Mäuse doppelt so lange
leben sah, als wenn die Glocke gewöhnliche
Luft enthielt. Schon Priestley suchte darauf¬
hin die Luft in abgeschlossenen menschen¬
gefüllten Räumen zu verbessern. Er glaubte
zwar, ein Moralist könnte wohl den Ein¬
wand erheben, dass die uns von der Natur
gebotene Luft jedenfalls die beste sei; auch
fürchtete er, dass der Sauerstoff uns im ge¬
sunden Zustand nicht eben vortheilhaft sein
möchte, denn wir könnten darin vielleicht zu
schnell leben. Zu einer Zeit, da bloss zwei Mäuse
und Priestley selbst den Vorzug gehabt. Sauer¬
stoffgas einzualhmen, meint aber Priestley:
„Ich .... athmete eine ziemliche Quantität
desselben durch einen Heber ein, wobei ich
in den Lungen keine andere Empfindung als
von gewöhnlicher Luft hatte. Nachher schien
mir aber die Brust auffallend erleichtert zu
sein. Wer weiss, ob nicht später solche
Lebensluftathmungen als Luxus getrieben wer¬
den?" Endlich schloss Priestley, dass man
Sauerstoff mit Vortheil werde bei solchen
Lungenkrankheiten therapeutisch verwenden
können, bei weichen gewöhnliche Luft nicht
hinreicht, das „putrid-phlogistische Effluvium"
zu entfernen. Von den durch Priestiey’s
Entdeckung angeregten vielseitigen Bemühun¬
gen, der Wissenschaft auf dem neu eröffneten
Wege auch neue Errungenschaften zuzuführen,
hatte zunächst die Physiologie viel Vortheil,
die praktische Medicin aber sehr wenig. Ingen-
Housz fand (1785) den Sauerstoff heilsam für
Asthmatiker, deren Krankheit „nicht auf ex-
cessiver Reizbarkeit beruht“, ferner bei „bi¬
liösen und putriden Fiebern", in der Pest,
der Phthisis, „wenn kein entzündlicher Zustand
vorhanden ist". Weiters sei Sauerstoff ein
praktisches Mittel, Erstickte wieder ins Leben
zu rufen, er vermag die letzten Augenblicke
bei Greisen zu verlängern, etc. Im Jahre 1785
stellte die Sociötö royale de Mödecine eine Preis¬
arbeit über die Nützlichkeit der Eudiometrie
und die Vortheile, welche die Heilkunst von
ihr erwarten dürfe, auf. Jurine’s preis¬
gekrönte Antwort beschäftigt sich aber nicht
speciell mit der therapeutischen Wirkung
des Sauerstoffs. Doch glaubt er, dass man
durch Untersuchung der Exspirationsgase
bei verschiedenen Krankheiten in denselben
charakteristische Unterschiede finden werde,
und hieraus dann Indicationen wird ableiten
können, concentrirte, bezw. verdünnte Lebens¬
luft oder Kreidesäure (Kohlensäure) athmen
zu lassen. Eine sehr günstig gefärbte casuistL
1
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
2
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Januar
sehe Beobachtung Jurine’s nebst einer grossen
Anzahl anderer in der damaligen Tagesliteratur
veröffentliche über die ausgezeichnete Wir¬
kung der Lebensluft brachte die ganze gelehrte
und Laienwelt in Bewegung, und die französi¬
sche Regierung gab einem allgemeinen Wunsche
nach, als sie von der Academie des Sciences
ein Urtheil über das Heilmittel verlangte, das
sich bei Lungenschwindsucht so wirksam er¬
wiesen haben sollte. Fourcroy, der Che¬
miker und Arzt, der sich während eines grossen j
Theils seines Lebens mit der medicinischen j
Anwendung des Sauerstoffs beschäftigt hat,, ;
wurde damals beauftragt, sich über den thera- j
peutischen Werth des Sauerstoffs auszu- i
sprechen. Als Priestley's Entdeckung noch ;
nicht 10 Jahre alt gewesen, hatte sich dem \
philosophischen Geiste Fourcroy*s, welcher j
immer daran dachte, die Chemie auf die Bio¬
logie anzuweuden, schon eine Aussicht der J
Wichtigkeit derselben eröffnet Er sah den
Sauerstoff eine volle Revolution hervorrufen!
Um 1789 herum findet man solche Ideen ver¬
ständlich. Die Resultate seiner Untersuchungen
über die Wirkung des Sauerstoffs auf den
Organismus und seine therapeutische Verwend¬
barkeit hat Fourcroy in zwei Memoires (1787
und 1798) niedergelegt. Er scheint darin ganz
von der Mission erfüllt, jene wissenschaft¬
liche Umwälzung mit allen Kräften herbeizu¬
führen. Indem er dabei die physiologische Chemie !
für sich allein in Anspruch nehmen zu dürfen
glaubte, und sehr streng einschlägige Be¬
strebungen anderer Forscher beurtheilte, ver¬
wickelte er sich z. B. mit A. v. Humboldt in
einen unerquicklichen gelehrten Streit. Aus
praktischem Gesichtspunkt beurtheilt, sind beide
erwähnte Fourcroy’sche Abhandlungen von
geringem Werth. Die chemischen Irrthümer
Fourcroy *s beruhen natürlich auf der mangel- i
haften Entwicklung dieser Wissenschaft zu |
seiner Zeit. Die klinischen Beobachtungen 1
Fourcroy’s aber gründeten sich sehen gar ■
grössten theils auf die Anwendung eingebil¬
deter Sauerstoffträger (Sauerstoff* überladener
Salzsäure, oxygenirte Salben etc.). Da er
glaubte, dass die Lebensluft die Lungen-
gefcsse entzünde, dieselbe mit Wärme erfülle !
und eine Art von Fieber erzeuge, so schloss j
er, dass man den Sauerstoff nicht bei Krank- ,
heiten anwenden dürfe, bei welchen Wärme |
und Blutbewegung sehr intensiv seien; da- j
gegen werde man die Lebensluft bei den in ;
dieser Beziehung entgegengesetzten Krank- j
heiten mit Vortheil gebrauchen (Chlorose, Skro- ;
pheln, Asthma, Obstruktion, Hypochondrie, Rha-
chitis, Dyspepsie). Auch Chaptal und Dumas
(Montpellier) schlagen die Wirkung des Sauer¬
stoffs sehr hoch an, der erstere in gutem, letz¬
terer in schlimmem Sinne, und Fourcroy s
Schüler gingen in durchaus unfruchtbaren
Systemen womöglich noch weiter als Fourcroy
selbst. Rollo z. B. theilte alle Krankheiten in
zwei Klassen, je nachdem im Organismus Ueber- t
schuss oder Mangel an Sauerstoff* vorhanden sei, j
speciell die Zuckerharnruhr stelle das Extrem |
der Ueberoxydation des Blutes dar! ln der }
gesammten Materia medica meinte er, solle es
ferner bloss überoxydirende und desoxydirende
Mittel geben. Alyon, Fournier, Burdinund
Baumes führten diese phantastischen Doc-
trinen auf den Gipfel. Es ist traurig-heiter,
dass diese Männer allerhand Verbindungen
(wie Salpetersäure, Citronensäure, Kochsalz,
Acidum muriat. „oxygenatum“, die Aetherarten
etc.) anwendeten, dass sie dabei immer den
Sauerstoff die Hauptrolle spielen liessen, dass
es aber in Wirklichkeit gar nicht der Sauer¬
stoff war, mit dem sie doch zu experimentiren
glaubten. Gewissermassen hat also Fourcroy’s
Schule in höchster Verehrung des Sauerstoffs
gerade dieses Gas aus der Therapie hinaus¬
geworfen! Auf etwas praktischere Weise als
Fourcroy hatte dagegen BeddoÖs. der
vor Allem Arzt Chemiker aber bloss aus Be¬
darf war, die ganze Frage aufgefasst. Er
sagte sich, der Sauerstoff ist die Lebensluft;
welche Wirkung wird es hervorbringen, wenn
die Atmosphäre zwei, drei und mehrere Male
soviel enthält als gewöhnlich? Die Physio¬
logie von damals liess ihn eine allgemeine
Steigerung der Vorgänge im Körper erwarten
und es kam bloss auf eine passende Verwen¬
dung des vermeintlich so universellen Heilmittels
an. Bei Skorbut setzt Be ddoös einen Mangel
an Sauerstoff Im ganzen Organismus voraus.
Da Matrosen nach starken Stürmen, also
unter Bedingungen, wo sie aussergewöhnliche
Anstrengungen durchzumachen gehabt, von
einer „Art vorübergehenden Skorbuts" befallen
werden, nahm er an, dass der Sauerstoff zur
Muskelcontraction nöthig. der Anreiz zur
Muskelconiraction sei, ja, dass die Wirkung
des Gases sich besonders im Muskelsystem
localisire. Auch Fettanhäufung sieht Beddoös
als Folge von OrMangel im Körper an. In
der Schwangerschaft soll (Behinderung der
Zwerchfellthätigkeit) eine Verminderung der
Sauerstoffabsorptior; eintreten. „Sollte nicht
diese die (in der Schwangerschaft momentan
zu beobachtende) Hemmung der Phthisis ver¬
ursachen, und sollte man nicht hiervon aus¬
gehend ein Mittel zur Heilung dieser verderb¬
lichen Krankheit finden?“ Beddoös war jedoch
wenigstens genug Arzt, um einzusehen, dass
der Sauerstoff im Allgemeinen Phthisikern nichts
nützt; leider machte er sich ganz unglückliche
Hypothesen darüber und wurde zu der Meinung
geführt, dass bei diesen Kranken eine der
Therapie gegen Skorbut ganz conträre Behand¬
lung am Platze wäre (Schlafen in sauerstoff¬
armen, abgeschlossenen, niedrig temperirten
Räumen!) Weiters empfohlen wurde der innere
Gebrauch des O* von Beddo£s auch noch bei
Asthma, Chlorose, Lepra, ln Deutschland nah¬
men Stoll und Ferro die neuen Ideen enthu¬
siastisch aui (1792), und Hufeland wurde durch
glückliche Erfolge, deren Zeuge er zu sein
glaubte, bestimmt, die pneumatische Therapie
in seinem Journal (1790—1800) zu empfehlen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gerieth die
Sauerstofftherapie, nachdem soeben Beddoös,
von der Presse unterstützt, den Gedanken, durch
Nationalsubscription ein Institut speziell zur
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Gck igle
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Behandlung der Krankheiten mit Ga c en zu
gründen, zu verwirklichen vermocht hatte (1794).
wieder fast ganz in Vergessenheit (Demarquav).
Mir scheinen die chemiatrischen Be¬
strebungen dieser ersten Epoche der Sauer¬
stofftherapie. von welchen praktische Früchte
auf unsere Zeit kaum gekommen sind, gleich¬
wohl auch heute noch sehr lehrreich Sie ge¬
mahnen an Boerhave’s Ausspruch der von
der Chemie sagte, sie sei die beste Magd der
Medicin. aber ihre schlechteste Herrin. Und
einzelne der neusten Schilderungen der Sauer¬
stoffwirkung machen beinahe den Enthusiasmus
von Fourcroy lebendig.
Sollen und dürfen wir aber annehmen,
dass alle Forscher jener früheren Zeit sich
in simmtlichen ihrer Beobachtungen wirk¬
lich stets grob getäuscht haben? Ruht
nicht doch im Sauerstoff ein mächtiges
Hülfsmittel der Therapie, bedarf cs nur
einer gereifteren wissenschaftlichen Kritik
und einer geeigneten Technik bei seiner
Verwendung? Bei dem heutigen Stande der
physiologischen Wissenschaft und unserer
Diagnostik lässt sich wenigstens sicher
erwarten, dass man bei Wiederaufnahme
der älteren Bemühungen zu exacteren Re¬
sultaten gelangen kann. Sehen wir nun
einmal, in wie weit sich die einschlägigen
Versuche im 19. Jahrhundert diesem Ziele
thatsächlich genähert haben.
In diesem Jahrhundert lernten wir erst¬
lich innerhalb des Organismus die Stätten
kennen, an denen die Oxydationen zu
Stande kommen. Durch Untersuchungen
von Hoppe - Seyler, Pflüger und
Schmiedeberg wurde die Erkenntniss
gewonnen, dass die Oxydationsprocesse
im Wesentlichen sich in den Zellen ab¬
spielen; dem Blute fällt daneben die Auf¬
gabe zu, den Organen den nothwendigen
Sauerstoff zuzuführen. Pflüger hat weiter
nachgewiesen, dass der Verbrauch in den
Zellen als wesentlich bestimmender Factor
der Grösse des Sauerstoffverbrauches im
Organismus betrachtet werden muss. Seit
Reg nault-Reiset darf der Satz gelten,
dass innerhalb verhältnissmässig weiter
Grenzen der thierische Organismus gleich¬
viel Sauerstoff absorbirt und gleich viel
Kohlensäure abgiebt, welches auch der
Partiardruck des eingeathmeten 0 % sei.
A. Löwy’s aus neuester Zeit stammende
exakte Versuche präcisirten schärfer
die Grenzen dieses Gesetzes nach unten,
ohne im Wesentlichen etwas daran zu
ändern. Vermehrungen des Sauerstofl-
gehaltes bis auf das Doppelte der gewöhn¬
lichen Luft vermag weder die Sauerstoff¬
aufnahme noch die Kohlensäureausschei¬
dung dauernd zu ändern. Es ist völlig unver-
I ständlich, wenn heute noch angesehene
i Physiologen behaupten, dass die Sauerstoff-
! aufnahme in den Körper entsprechend der
I Zunahme seines Partiardruckes im Ath-
| mungsgemisch zunehme. Natürlich wächst
I (vorübergehend) die Sauerstoffaufnahme
| beim Uebergange zu Gasgemischen höheren
| O^-gehaltes, die Lungenluft wird (Vreicher
j und auch der Gehalt der Körpersäfte an
j Oj wächst entsprechend dem erhöhten
Partiardruck. Ich selbst habe oft bis zur
Dauer von mehr als einer Stunde möglichst
reinen Sauerstoff geathmet. Unter ent*
| sprechend bequemen mechanischen Bedin¬
gungen (Zuntz*scher Respirationsapparat)
habe ich dabei gar keine besonderen sub-
jectiven Wahrnehmungen gemacht. Auch
i meine Pulsfrequenz war keine andere als
beim Athmen gewöhnlicher Luft. Nur die
| Athemfrequenz wurde (begreiflich) ein
I wenig niedriger, die Athmung dafür
tiefer. Ich habe aber solche Versuche
| an mir und passend ausgesuchten Kran-
: ken auch unter ganz speciellen Bedingungen
! vorgenommen. Ich verrichtete Dreh¬
arbeit am Ergostaten, während ich sehr
sauerstoflreiche Gasgemische einathmete:
; ich arbeitete dabei aber weder überhaupt
I leichter oder absolut mehr bei maximaler An¬
strengung, noch arbeitete ich ökonomi¬
scher, noch war die Erholungszeit kürzer.
< Und genau so wie mir ging es anämischen
| und diabetischen Versuchspersonen. Die
Versuche wurden wegen ihres negativen
Ergebnisses nicht in extenso publicirt: viel¬
leicht haben sie gerade jetzt ein gewisses
Interesse. Auf die Bedeutung des, wie
erwähnt, bei vermehrter Sauerstoffzufuhr
erzielbaren Plus von nicht durch Hämoglo¬
bin gebundenen, sondern ins Plasma absor-
birtem Oj, komme ich noch kurz zurück.
Hier möchte ich bloss betonen, dass die
vorstehenden Sätze nicht als Waffe
gegen die Sauerstofftherapie gebraucht
werden sollen oder dürfen, dass sie aber
leider der Sauerstofftherapie ziemlich enge
Grenzen stecken. Nach Untersuchungen
von Koväcs (Klinik Koränyi) sinkt bei
Pneumonie der Kochsalzgehalt des Blutes
in verschieden hohen Graden. Bei 10 cy-
anotischen Pneumoniekranken betrug der
Gefrierpunkt desBlutes —0,58 bis —0,78. Ich
gestehe ganz offen, dass ich Werthe wie
— 0.78 für ganz unglaubwürdig halte. Nach
Sauerstoffdurchstr ömung betrug der Gefrier¬
punkt bloss —0,54 bis—0,60, derNaCI-Gehalt
hob sich me rklich. Im Zusammenhang mit
bekannten Versuchen von Hamburger
und v, Limbeck schloss Koväcs, dass
die Ursache dieser Erhöhung des osmoti-
Difitized
by CjQOglc
Qrtg i na I fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
4
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Januar
sehen Druckes, welche er auch bei cyanoti-
schen Herzkranken gefunden zu haben an-
giebt, die C0 2 -Uebersättigung des Blutes
sei. Da ich selbst bereits gelegentlich der
Discussion über Sauerstoff therapie auf dem
Internistencongress 1900 die Möglichkeit
hervorgehoben hatte, dass die vermehrte
Sauerstoffzufuhr im Sinne der Versuche
von Hamburger und v. Li mb eck wirken
könne, veranlasste ich Petry, bei Fällen
von croupöser Pneumonie, welche mit sehr
starker Cyanose einhergingen, den Chlor¬
gehalt des Serums in dem vor und
nach einstündiger Sauerstoffathmung durch
Aderlass entleerten Blut zu ermitteln. Einen
solchen Versuch will ich hier anführen. Ich
verschweige nicht, dass sich die 23jährige
Patientin nach der Sauerstoffinhalation „er¬
leichtert“ fühlte. Puls und Diurese wurden
aber gar nicht beeinflusst. Der Chlor¬
gehalt betrug im Serum des vorher ent¬
nommenen Blutes 0,635%, im Serum des
nach der Inhalation entnommenen 0,63%.
Die berechnete Differenz von 0,005 o/ 0 liegt
zu sehr innerhalb der Fehlergrenzen, als
dass man ihr ein Gewicht beilegen könnte.
Die Beweiskraft der Koväcs’sehen Ver¬
suche wird übrigens auch durch in vitro
ausgeführte anderweitige Versuche Pe-
try’s, über welche er vor kurzem in Hof¬
meisters Beiträgen berichtete, in gleichem
Maasse erschüttert, so dass man sich nach
anderen Methoden zur Prüfung der Lei¬
stungsfähigkeit der Sauerstofftherapie wird
umsehen müssen. Beiläufig bemerkt sei noch,
dass bei Gesunden durch selbst lange Sauer¬
stoffinhalation der Gefrierpunkt des Blut¬
serums nicht geändert wird. Endlich ist in
neuerer Zeit der eigentliche Mechanismus
der physiologischen Oxydation, speciell die
Natur der sie einleitenden und befördernden
Substanzen zu einem viel bearbeiteten |
Forschungsproblem geworden. Soviel steht
bereits fest, dass zur Oxydation im Thier¬
körper ausser dem Sauerstoff des Blutes
noch ein und zwar wechselnder (ferment¬
artiger) Factor in der Organisation hinzu¬
kommen muss (verschiedene Oxydasen).
Es giebt ferner, wie zuerst Geppert für die
Blausäure wahrscheinlich gemacht, eine Er¬
stickung bei reichlichem Sauerstoffvorrath
(„innere“ Erstickung). Die experimentelle
Säureintoxication ist, wie Chvostek auf
meine Veranlassung nachgewiesen, eine
solche innere Erstickung. Wie complicirt
aber beim kranken Menschen die Verhält¬
nisse liegen können, geht z. B. daraus
hervor, dass in Fällen von Diabetes mit
Acidose reichlich 0-Oxybuttersäure im Harn
ausgeschieden, in’s Gewebe gebrachte
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Oxybuttersäure aber noch oxydirt wird!
Jedenfalls ist auch durch die letztange¬
führten Thatsachen eine weitere Einschrän¬
kung des praktischen Werthes der Oj-The-
rapie bedingt.
Soweit sich die Angaben von Michae¬
lis auf dyspnoische Zustände in Folge von
Stenosirung der oberen Luftwege beliebi¬
ger Art, auf Dyspnoe in Folge von ge¬
wissen Bronchitiden, selbst auf Emphysem
beziehen, muss ich auf Grund zahlreicher
früher gemachter Erfahrungen im Allge¬
meinen zustimmen. Gerade bei Pneumonie
habe ich fast nur schlechte Erfolge gesehen.
Auch den Todeskampf des Patienten er¬
leichtert die 0 2 - Inhalation nicht. Bei Tu¬
berkulose ist in den allermeisten Fällen
das Einathmen von Sauerstoff nutzlos.
Bei Insufficientia et Dilatatio cordis aus ver¬
schiedenen Ursachen bringt Sauerstoff-
I athmung öfters Erleichterung. Nie habe
ich jedoch die Cyanose wirklich schwinden
sehen, trotz subjectiv verbesserter Athmung,
Von anhaltender Hebung des Pulses
kann nicht die Rede sein. Bei gewissen
Vergiftungen ist der Werth der Sauerstoff¬
therapie nicht zu bezweifeln (Kohlenoxyd-
intoxication). BeimComa in folge Morphium¬
vergiftung ziehe ich aber weitaus Tracheo¬
tomie und künstliche Respiration (über
24—36 Stunden fortgesetzt) vor. Ueber
Strychnintoxication besitze ich keine spe-
cielle Erfahrung. Bei Anaemie ist die Sauer¬
stoffathmung nutzlos. Ich habe mich über¬
zeugt, dass speciell nach starken Blutungen,
der möglicherweise ins Plasma absor-
birte 0 2 bei Einathmung von sauerstoff¬
reichen Gasgemischen das Leben nicht
rettet. Bei Leukämie, Diabetes und ande¬
ren „constitutionellen“ Erkrankungen fand
ich die 0 2 -Therapie völlig ohne Erfolg.
Für mich giebt es also hauptsächlich
eine Indication zur Sauerstoffinhalation:
Stenosirung der Luftwege. Flache Ath¬
mung betrachte ich bloss als bedingte An¬
zeige, im schweren Coma mit Aussicht auf
Wiederherstellung ziehe ich meist künst¬
liche Respiration vor. Es ist klar, dass
unter solchen Umständen die Sauerstoff¬
aufnahme gesteigert werden kann, wenn die
in ungenügender Menge zu den Alveolen ge¬
langende Luft sauerstoffreicher gemacht ist.
Hinsichtlich der Technik werfe ich zum
Schlüsse die Frage auf, ob nicht die In-
jection von Sauerstoffgas ins Venensystem
(Demarquay-Gaertner) bei drohender
Gefahr vorzuziehen sein wird?
Möge man die in den letzten Jahren mit
viel schärferer Kritik und besseren tech¬
nischen Mitteln wiederum hervorgetretene
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Januar
Die Therapie der G eg e n wart 1903.
5
Sauerstofftherapie studiren und Oben, ohne fordern. Gerade auf diesem Gebiet kann
zu abertreiben. Zurückhaltung kann die und soll die physiologische Erfahrung die
Verbreitung der Methode innerhalb der Richtschnur abgeben ihr den Versuch an
natürlich gesteckten engen Grenzen nur Kranken.
Au dem pharmakologischen Institut und der medieinlschen Klinik der Universität Breslau.
Ueber Infusionsbehandlung.
Von Privatdocent Dr. Wllhalai Ercltlsotz.
Als Infusionsbehandlung bezeichnen wir
die zu Heilzwecken systematisch ange¬
wandte Einführung grosser Mengen isoto¬
nischer Kochsalzlösung in den kranken,
menschlichen Organismus. Ursprünglich
lediglich zur mechanischen Verbesserung
des Kreislaufs wesentlich auf solche Zu¬
stande beschrankt, bei denen in Folge von
Blut- oder Safteverlusten bedrohliche Er¬
scheinungen auftraten, und in ihrem Werth
gerade für jene Zustande nach Thierexpe¬
rimenten und klinischen Beobachtungen
nicht allseitig anerkannt, hat diese Behand¬
lungsmethode bei der Bekämpfung von In-
fectionskrankheiten und Intoxicationen
immer zahlreichere Anhänger gefunden.
Ein Ueberblick über die klinische Litte-
ratur dieses Themas lasst erkennen, dass
sehr viele günstige, sicher keine ungünsti¬
gen Wirkungen der Infusionstherapie be¬
obachtet sind. Dje der Infusion zuge-
schriebenen therapeutischen Eigenschaften
sind zahlreich. Von den wesentlichen
nenne ich hier: die auffallende Besserung
des Allgemeinbefindens der Kranken; die
Anregung des Herzens; die durch v. Ott
erwiesene schnellere Regeneration der
rothen Blutkörperchen, die Hebung des
arteriellen Druckes durch Mehrfüllung des
Geftsssystems bei Versagen der Vaso¬
motoren im Verlauf von Infectionskrank-
keiten. Ganz besonders aber muss ich
zwei Punkte hervorheben, welche heute
als die wesentlichsten angesehen werden:
die Verdünnung der im Organismus
circulirenden Giftstoffe und deren
schnellere Elimination auf den natür¬
lichen Excretionswegcn, zumal durch
die Nieren vermittelst vermehrter
Diurese. Die günstige Beeinflussung
urämischer Zustande durch die Infusion,
bei denen eine Diurese nicht eintrat,
steht damit nicht in Widerspruch. Für
die schnellere Elimination durch ver¬
mehrte Diurese liegen mehrfache Beobach¬
tungen vor. Durch altere Untersuchungen
von Genth, Mosler, Oppenheim,
Eichhorst, Sahli u. A. war festgestellt
worden, dass die Ausfuhr stickstoffhaltiger
Substanzen durch den Harn mit der
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Menge des ausgeschiedenen Harns parallel
geht: Vermehrung bei steigender, Vermin¬
derung bei sinkender Harnmenge. Sahli
besonders wies eine beträchtliche Vermeh¬
rung des Trockenrückstands im Harn unter
dem Einfluss der Infusion nach. Der Ge¬
danke liegt nahe, dass ausser den Abbau¬
produkten des normalen Stoffwechsels bei
Krankheiten auch wasserlösliche Giftstoffe
in erhöhter Menge unter dem Einfluss der
Infusion den Organismus verlassen können.
Italienische Autoren, u. A. Sanquirico,
berichten über Entgiftungsversuche, welche
sie bei Thicren mit geradezu glanzenden
Resultaten angestellt haben; so soll die
Infusion bei Vergiftung mit Morphin,
Strychnin etc. direct „lebensrettend*
gewirkt haben, d. h. bei einer Dosis,
welche die letale überstieg. Bei einer
Reihe von Entgiftungsversuchen, die ich
im Breslauer pharmakologischen Institut
anstellte, gelang mir eine günstige Einwir¬
kung auf den Ablauf der Vergiftung bei
Anilin und bei Kal. chloricum; dagegen
nicht bei Strychnin, Arsenik, Ricin, Can-
tharidin sowie bei Infectionen mit Staphy-
lococcus pyog. aureus, obwohl sich in der
Mehrzahl dieser Versuche eine sehr reich¬
liche Diurese einsteHte. Bezüglich der
Einzelheiten muss ich auf die demnächst
in der Zeitschrift für Klinische Medicin
erscheinende ausführliche Publication ver¬
weisen. Hier nur soviel, dass bei den
Versuchen mit Anilin wiederholt ein
direkter Schutz durch die Infusion bewirkt
wurde, indem die vergifteten, mit Infusion
behandelten Thiere überlebten, und nach
der einige Zeit spater erfolgten Tödtung
keine oder nur geringe Organverände¬
rungen zeigten, während die unter den
gleichen Bedingungen vergifteten und nicht
durchspülten Thiere eingingen und sehr
schwere Organveränderungen aufwiesen.
Der quantitative Nachweis des Kalium
chloricum im Harn einfach vergifteter und
solcher nach der Vergiftung der Infusions¬
behandlung unterworfen gewesener Thiere,
und der Vergleich der in bestimmten Zeit¬
abschnitten festgestellten Werthe hat die
Annahme einer „entgiftenden* Wirkung
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UNIVER3ITY OF CALIFORNIA
6
Januar
Pic Therapie der
der Infusion im Sinne einer „Auswaschung“
als berechtigt erkennen lassen, denn die
Infusion bewirkte eine Mehrausscheidung,
welche allerdings im Hinblick auf die
grossen Harnmengen klein genannt werden
muss. Merkwürdig ist dabei, dass nicht
die isotonische, sondern die 0,6°/ 0 Koch¬
salzlösung die günstigste Wirkung ent¬
faltete, während die 0,9% die Ausschei¬
dung eher verminderte als beschleunigte.
Als wesentlich ist aus den Versuchen, ab¬
gesehen von dem Beweis einer thatsäch-
lich möglichen Beschleunigung der Gift¬
ausscheidung, hervorzuheben, dass die In¬
fusion dann am intensivsten wirkt, wenn
es gelingt, sie lange Zeit hindurch „conti-
nuirlich“ anzuwenden.
Den Grund für die grössere oder ge¬
ringere Auswaschbarkeit bestimmter Gifte
Hessen Dialysirdoppelversuche erkenne n,
welche mit den verschiedenen Giften ein¬
mal mit Eiereiweiss und einmal ohne dieses
angestellt wurden. Für einen Theil der
Gifte Hess sich nun ein verlangsamter
Durchtritt beim Zusammensein mit dem
Eiweiss nachweisen. Ueber den Misserfolg
bei anderen hinwiederum gab das Ver¬
halten der Nieren Aufschluss, deren |
schnelle und intensive Zerstörung das Zu¬
standekommen einer Diurese und damit
bewirkter Entgiftung einfach unmöglich
machte. Die Wichtigkeit der Intactheit
der Nieren für die Entfaltung der Wirkung
der Infusion war auch aus den Versuchen
mit Kal. chloric. zu erkennen.
Bei anderen Versuchen war eine so
Gegenwart 1903.
gendes: Septische Zustände lassen sich
durch die Infusion ganz wesentlich beein¬
flussen; sie erfahren eine erhebliche Besse¬
rung, einen Abfall der Temperatur, ein
Zurücktreten der Krankheitserscheinungen.
So wurde bei einer an maligner Endocar-
ditis mit äusserst schmerzhaften Gelenk¬
metastasen erkrankten Frau das Krankheits¬
bild wie mit einem Schlage verändert:
Schwellung und Schmerzhaftigkeit der Ge¬
lenke verschwanden fast momentan. Eine
Patientin mit puerperaler Sepsis erwachte
in Folge der Infusion aus ihrer Benommen¬
heit und konnte die an sie gestellten Fra¬
gen beantworten. Ein zweiter ähnlicher
Fall wurde durch systematische continuir-
liche Infusionsbehandlung zur Heilung ge¬
bracht.
Auf die urämischen Erscheinungen
übte die Infusion ebenfalls augenblicklich
günstige Wirkung aus: der Anfall wurde
in der Mehrzahl der Fälle durch die In¬
fusion unterbrochen und im Anschluss
daran stellte sichmeistensreichliche Diurese,
Besserung Und oft Heilung ein.
Auffallend war hierbei, dass sehr häufig
das specitische Gewicht des Harns hoch
blieb und trotz steigender Harnmenge noch
anstieg.
Bei der Infusionsbehandlung der schwe¬
ren Anämien schliesslich hatten wir stets
befriedigende Resultate, einmal einen ganz
eclatanten Erfolg. Im Anschluss an die
Infusion trat bei dem aufs Höchste ent¬
kräfteten, der Auflösung nahe stehenden
Manne eine Remission ein, welche zu fast
schnelle und feste .Verbindung des Giftes
mit der Substanz der Nervenzellen wahr¬
scheinlich, dass die Infusion eben zu spät
kam, zwar eine Diurese hervorrief, aber
auf die Ausscheidung des Giftes keinen
Einfluss mehr gewinnen konnte. Das nega¬
tive Resultat der Infectionsversuche schliess¬
lich, wird durch eine Mittheilung von
Kleeki’s erklärt, welcher nach wies, dass
wohl die Produkte der Bacterien, nicht
aber diese selbst durch die Infusion in
ihrer Ausscheidung beschleunigt werden.
Die Ergebnisse der Versuche mit Anilin
und Kal. chloricum stehen im Einklang mit
den in der Klinik gewonnenen Erfahrungen.
In der Breslauer medicinischen Klinik konn¬
ten wir speciell bei drei verschiedenen j
Krankheitszuständen Beobachtungen über
den Werth der Infusionsbehandlung an- j
stellen: bei septischen Erkrankungen, j
bei Urämie und bei schweren Anämien. |
welche nach der heute herrschenden An- i
schauung auch als toxische Erkrankungen j
angesehen^werden. 1 Dabei zeigte sich fol- j
□ igitized by (QIC
vollständiger, wenn auch nicht lange an¬
haltender Besserung führte. Der Hämo¬
globingehalt stieg von 20% auf 85%; die
Zahl der rothen Blutkörperchen von 368 000
auf 4800000. Die morphologischen Blut¬
veränderungen gingen zurück. Die kleinen
Temperatursteigerungen verschwanden so¬
gleich nach der Infusion. Diesem ähnliche,
wenn auch nicht so augenfällige Besserun¬
gen durch die Infusionsbehandlung beobach¬
teten wir wiederholt.
Die von anderer Seite veröffentlichten
Resultate, welche bei der Behandlung der
Cholera, Dysenterie, Peritonitis, überhaupt
bei Infections- und Intoxicationszuständen
jeder Art gewonnen sind, decken sich mit
meinen eigenen.
Für die praktische Anwendung der In¬
fusion kann nicht nachdrücklich genug
darauf hingewiesen werden, dass sie con-
tinuirlich angewandt werden muss, wie
Samuel für die Cholera, Lenhartz für
die Bekämpfung einer Reihe innerer Krank¬
heiten dies hervorgehoben haben. Am
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Januar
7
Die Therapie der Gegenwart 1903.
besten verfährt man in der Weise, dass so
lange Krankheitserscheinungen ernsterer
Art noch vorhanden sind, täglich 1 oder
2 Liter einmal oder mehrmals am Tage
subcutan beigebracht werden. Die von
Lenhartz veröffentlichten Krankenge¬
schichten bieten hierfür eine deutliche
Illustration. Nur dort, wo es auf eine
schnelle Wirkung ankommt, wie bei der
Urämie, wird man die intravenöse Anwen¬
dung vorziehn, bei letzterer eventuell nach
vorangegargenem depletorischem Aderlass.
Weiterhin muss betont werden, dass die
zur Infusion benutzte Kochsalzlösung eine
0,9 o/ 0 bis 0,92 0/ 0 sein soll, weil mir diese
wegen ihrer Isotonie eine für das Blut und
seine Elemente indifferente Flüssigkeit dar¬
stellt.
Hinsichtlich der Technik sei Folgendes
kurz bemerkt: Als Flüssigkeitsbehälter
diene das Gefäss eines Irrigators oder ein
Trichter, aus dem die Kochsalzlösung durch
einen Gummischlauch geleitet wird. Hat
man ein solches Gefäss nicht zur Hand,
so bediene man sich einer grösseren Spritze.
Am Ende des Schlauches befindet sich eine
ziemlich starke, scharfe Metallcanüle, die
man in eine Falte der vorher sorgfältig
desinficirten Haut von Brust, Bauch,
Schulterblatt oder Oberschenkeln einsticht.
Durch Heben des Gefässes kann man
die Einströmungsgeschwindigkeit beliebig
regeln. * Die Temperatur der Infusions
flüssigkeit — am besten 40° C. — regulire
man durch Zusammengiessen von heisser
und kalter Lösung unter Controlle des
Thermometers. Die Flüssigkeit strömt
meist schnell in das Unterhautzellgewebe
ein und kann durch Massage der Haut
! noch rascher vertheilt werden, so dass man
’ binnen kurzer Zeit 1—2 1 zu infundiren
| vermag. Jst sehr schnelles Handeln er-
i wünscht, so kann man gleichzeitig an zwei
; verschiedenen Stellen infundiren.
| Zur Vut nähme der intravenösen Infusion
lege man e.ne Gummibinde an einen Ober-
j arm an und präparire eine der grösseren
| Venen des betreffenden Armes frei. So-
| dann löse man die Umschnürung und führe,
1 nachdem man durch einen Scheerenschnitt
i die Vene quer geöffnet, in deren centrales
[ Ende eine stumpfe Canüle ein, während
| man das periphere Ende abbindet. Die
■ Kochsalzlösung fliesst dann langsam ein.
] Nach Beendigung der Infusion wird die
Canüle herausgenommen, das centrale Ende
I der Vene ebenfalls unterbunden und dann
i die Wunde geschlossen. Man kann auch
I eine scharfe Canüle durch die Haut hin¬
durch direct in die gestaute Vene flach
hineinstossen und dann infundiren; doch
gehört hierzu einige Uebung.
Nach den bisherigen fremden und
J eigenen Erfahrungen kann die ausgedehnte
I Anwendung der Infusion nur wärmstens
empfohlen werden für solche Fälle, in denen
eine Verdünnung der im Organismus circu-
lirenden Giftstoffe und ihre vermehrte Aus-
j Scheidung durch Anregung der Diurese
j erhofft werden kann und bei denen nach
I dem Stand unserer heutigen Kenntnisse
j eine ätiologische Therapie unmöglich ist.
Ueber Chinaphenin.
Von Carl V« Noorden -Frankfurt a. M.
Vor einigen Jahren habe ich das Eu- |
chinin als ein neues Chininpräparat in die ‘
ärztliche Praxis eingeführt. Das Präparat •
hat alles, was ich damals von ihm rühmte,
gehalten und bei fortgesetzter Beobachtung
noch manche andere gute Eigenschaften an
sich entdecken lassen, so dass das Euchinin i
ein sehr beliebtes Medicament, namentlich in j
den Malariagegenden Italiens geworden ist. j
Sehr zahlreiche Veröffentlichungen und Em- •
pfehlungen sind ihm inzwischen gewidmet. :
Vor zwei Jahren sind mir von der
gleichen Fabrik (Vereinigte Chininfabriken
Zimmer & Co. in Frankfurt a. M.) einige
neue Chininpräparate zur Prüfung über-
geben worden, von denen mindestens das
eine das allgemeine ärztliche Interesse er- !
wecken wird, Ich erlaube mir hier kurz j
darüber £\J^^htek#[£ |
1. Aristochin 1 ), das Diehinincarbo-
nat oder Chinincarbonsäurechininäther,
aoHtsNaO
SoHjßNaO
dargestellt durch Einwirkung von Phosgen
oder von Phenolcarbonat auf Chinin, bildet
weisse geschmacklose Crystalle, die bei
186,50 schmelzen und unlöslich in Wasser,
aber leicht löslich in Alkohol und Chloro¬
form sind. Therapeutisch hat es nach
meinen Prüfungen genau den gleichen
Effect, wie salzsaures Chinin, und zwar in
den gleichen Gewichtsmengen, wie dieses.
Seine Unlöslichkeit in Wasser ist nur dann
von Nachtheil, wenn man darauf besteht,
Co/''
NC
J ) Ueber dieses ? J rAparat ist inzwischen auch
eine pharmakologische Mittheilung Ctt'PSinitfl' fßrrf se r
erschienen. Deutsche Aerzte-Zeitupg 1902, Heft
QMVtRSITYuF CALIFORNIA
Januar
das Chinin in Lesung geben zu wollen,
eine Form der Anwendung, die ja aber
sehr selten gewählt wird. Seiner völligen
Geschmacklosigkeit wegen eignet sich das
Präparat sehr gut für die Kinderpraxis, wo
man es am besten in Form kleiner Cho-
koladenplätzchen. mit 0,1 oder 0,05 g Ge¬
halt in Anwendung ziehen wird.
2. Bromochinal, Chinin dibrom-
salicylicum acidum.
C*HuN,O t — 2 (C«HfBrs — OH — COOH).
Das Chininsalz der Dibromsalicylsäure
bildet gelbliche, bei 197—198* schmelzende
Crystalle, die in Wasser, Alkohol und
Aether schwerlöslich sind. Das Präparat
ist von mir nur in beschränktem Maasse
geprüft worden und zwar bei Fiebernden
(im letzten Stadium des Typhus abdomi¬
nalis und bei Streptococcensepticämie,
ferner bei Pneumonie). Es beeinflusst in
Mengen von zweimal täglich 0,6 bis 0,75 g
die Temperatur der Patienten ähnlich wie
Halbgrammdosen von Chininum muriaticum
und wurde sehr gut vertragen. Wegen
seiner Bromcomponente gab ich das Prä¬
parat namentlich in solchen Fällen, wo
gleichzeitig auf den Schlaf eingewirkt
werden sollte. In der That schien es nach
dieser Richtung einen guten Erfolg zu
haben. Doch ist es ja recht schwer Ober
die Wirksamkeit eines Schlafmittels gerade
bei Fiebernden etwas Zuverlässiges zu er¬
fahren. Meine Beobachtungen sind nicht
umfangreich genug, um ein sicheres Urtheil
abzugeben. Ich möchte daher nur auf
diese Indication des Präparates (Schlaf¬
mittel bei Fiebernden) kurz hinweisen, in
der Hoffnung, dass auch andere sich an
den weiteren Prüfungen des neuen Arznei-
körpers betheiligen werden.
3. Chinaphenin. Gegenüber den viel¬
fach angewendeten Mischungen von
Chinin mit den neueren Antipyreticis er¬
schien eine chemische Verbindung von
Chinin und Phenetidin um deswillen von
besonderem Interesse, weil darin neben
dem Chinin der wirksame Bestandtheil des
Acetphenetidins (Phenacetin) enthalten ist.
Genannte Verbindung ist als Chininkohlen-
säurephenetidid aufzufassen und wird von
der Fabrik kurz als Chinaphenin bezeichnet.
Ihre Herstellung geschieht durch Ein¬
wirkung von Chinin auf Paraäthoxylphenyl»
carbaminsäurechlorid oder auf Paraäthoxy-
phenylisocyanat; die Zusammensetzung ist:
>NH C,H 4 -OC a H»
CO'
\0C*H„N,0
Der Körper steht auch in naher Be¬
ziehung zum Euchinin
Digitized fr,
Go gle
/OC.H,
CO'
\0C»H„N f 0
das als der Aethyläther dor Chininkohlen¬
säure aufgefasst werden kann.
Das Chinaphenin bildet ein weisses,
geschmackloses Pulver, das sich sehr
schwer in Wasser, leicht dagegen in Alko¬
hol, Aether, Chloroform, Benzol und Säuren
löst. Mit letzteren bildet es Salze, z. B.
mit Schwefelsäure ein in Wasser leicht¬
lösliches aus gelben Crystallen bestehendes,
schwefelsaures Salz. Mit den gebräuch¬
lichen Alkaloid-Reagentien giebt China¬
phenin Niederschläge, auch liefert es die
Thalleiochin-Reaction, dagegen einen gelben
Herapathit. Durch Kochen mit alkoholischer
Kalilauge wird der Körper zersetzt. ,
Die ausgedehntesten Erfahrungen über
Chinaphenin wurden bei keuchhusten¬
kranken Kindern gesammelt. Die Dosis
betrug bei Säuglingen dreimal täglich 0,15
bis 0,20 g, bei etwas älteren Kindern drei¬
mal 0.2 bis 0,3 g. Der Erfolg war ent¬
schieden günstig, insofern sich alsbald
nach Beginn der Behandlung die Anfälle
nach Zahl und Heftigkeit verminderten.
Bei keinem der 14 mit Chinaphenin behan¬
delten Keuchhustenkinder überstieg, wäh¬
rend der Darreichung des Mittels, die
Zahl der Anfälle 8 bis 9 täglich. Schon
nach 8 bis 10 Tagen trat jedesmal eine
weitere Verminderung der Anfälle ein.
Alle Fälle kamen zur Heilung, obwohl
unter den Kindern mehrere sehr schwäch¬
liche Individuen waren, die in grosser
Lebensgefahr zu sein schienen. Das Me-
dicament wurde ausgezeichnet vertragen.
Irgend welche störende Nebenwirkungen
traten nicht ein. Die beste Form der Gabe
bei Kindern ist die Unterbringung des
völlig geschmacklosen Arzneimittels in
Chokoladenplätzchen, bei sehr kleinen Kin¬
dern in Milch oder in Suppen. Die An¬
wendung des Chinaphenins bietet bei klei¬
nen Kindern noch weniger Schwierig¬
keiten, als die des Euchinins, weil letzteres
bei längerem Verweilen im Munde nicht
so völlig frei von bitterem Nachgeschmack
ist, wie das Chinaphenin.
Als Antipyreticum hat das China¬
phenin die willkommene Eigenschaft, ge¬
mäss seiner Zusammensetzung, zwischen
dem langsam wirkenden Chinin und den
schnell wirkenden Präparaten (Antifebrin,
Phenacetin, Lactophenin, Pyramidon) die
Mitte zu halten. In Mengen von 1,5 bis
2,0 g (auf zweimal vertheiit) beugt es die
Fiebercurve bei Abdominaltyphus und bei
Pneumonie ähnlich nieder wie etwa 1,0
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Januar
9
Die Therapie der Gegenwart 1903.
bis 1,5 g Chininum muriaticum. Das Ma¬
ximum der Wirkung ist nach 4 bis 5 Stun¬
den zu erwarten. Der Abfall der Tempe¬
ratur erfolgt ohne nennenswerthen Schweiss¬
ausbruch, der Wiederanstieg ohne Schüttel¬
frost Die Beinflussung des Allgemein¬
befindens ist günstig, insofern sich Einge¬
nommenheit des Kopfes und Kopfschmerzen
vermindern und der Eintritt des Schlafes
begünstigt wird. Man ist heute ja nicht
mehr so schnell bei der Hand, ohne be¬
sondere Indicationen die Temperatur der
Fiebernden durch Medicamente herabzu¬
drücken; wo man aber eine Veranlassung
dazu hat, eine auf mehrere Tage berech¬
nete antipyretische Interne Therapie ein¬
zuleiten, wird man sich des Chinaphenins
wegen seiner milden Wirkung sicher gerne
bedienen. Nebenwirkungen unangenehmer
Art wurden nicht bemerkt, abgesehen da¬
von, dass einigemale etwas Ohrensausen
geklagt wurde.
Sehr günstigen Erfolg hatte das China»
phenin einige Male bei Neuralgien ver¬
schiedenen Sitzes. In zwei Fällen von
Supraorbitalneuralgie nach Influenza war
es dem reinen Chinin entschieden über¬
legen und coupirte dieses Leiden mit der¬
selben Schnelligkeit, wie ich es sonst nur
vom Methylenblau gesehen habe. Ferner
sind günstige Erfolge zu melden bei zwei
Fallen von Ischias diabetica, bei einer In-
tercostalneuralgie auf chlorotischer Grund¬
lage, bei einer Intercostalneuralgie mit
Herpes Zoster und bei der Occipitalneu-
ralgie eines Gichtikers. Natürlich stehen
diesen guten Erfolgen bei Neuralgien auch
mehrere Misserfolge zur Seite, z. B. ein
Fall von Ischias, der durch Chinaphenin
sich geradezu zu verschlimmern schien und
dann durch Aspirin sehr schnell zur Ab¬
heilung kam. Bei dem proteusartigen
i Charakter der Neuralgien ist dies nicht
anders zu erwarten; doch wird man es be-
grüssen, ein weiteres Medicament zur Hand
zu haben, das ohne jede schädliche Neben¬
wirkung dazu dient, wenigstens in einer
Reihe von Fällen das gefährliche Morphium
von der Behandlung auszuschliessen.
Besonders wichtig erschien der Ver¬
gleich des Chinaphenins mit dem Chinin
bei Malariakranken. Ich hatte nur zwei¬
mal Gelegenheit, darüber Untersuchungen
anzustellen. In dem einen Falle (Malaria
tertiana duplicata) waren dreimalige Dosen
von je 1,5 g Chinaphenin ohne jeglichen
Einfluss auf die Krankheit; ebenso wenig
reagirte das Fieber auf Brillantblau, wäh-
! rend es nach der ersten Dosis Chinin so-
; fort verschwand. In dem zweiten Falle
| coupirte das Chinaphenin die Malaria (Fe-
bris tertiana) ebenso gut, wie wir es von
| der gleichen Dosis Chinin (1,5 g) hätten er*
I warten dürfen,und kehrte nicht wieder zurück.
In Anbetracht der Dürftigkeit unseres Ma¬
lariamaterials hat Herr College Dr. Ant
Mori in Campiglia es übernommen, spe*
cielle Untersuchungen über die Wirkung
des Chinaphenins bei Malaria anzustellen.
Er ist zu recht günstigen Resultaten ge«
langt und wird seine Beobachtungen an
anderer Stelle veröffentlichen.
| Ich glaube die neuen interessanten Chi¬
ninpräparate, insbesondere das China¬
phenin und weiterhin das Chinin dibrom-
salicylicum acidum den Herren Collegen
zur Beachtung und weiteren Prüfung em¬
pfehlen zu dürfen.
Aus der chirurgischen Klinik der Universität Berlin.
(Director: Geheimr&th Prot Dr. v. Bergmann, Exoellenz).
Ueber die örtliche Behandlung der chirurgisch wichtigen
Infectionen. 1 )
Von Dr. E. Lcxer, a. o, Professor.
Es mag vermessen erscheinen, mit
einem Thema, das wenig Neues verspricht,
vor Sie zu treten. Und doch, wer nament¬
lich durch ein grosses poliklinisches Material
Berührung mit der Praxis hat, dem müssen
gerade bei der örtlichen Behandlung der
chirurgisch wichtigen Infectionen scharfe
Gegensätze und ein ständiges Suchen nach
neuen Verfahren in die Augen fallen.
Eine schablonenmässige örtliche Be¬
handlung ist natürlich bei der Verschieden-
*) Nach einem Vorträge in der Berliner medicini-
seben Gesellschaft am 17. December 1902.
Difitized by Google
artigkeit dieser Infectionen ein Unding;
ebenso wie weder das Glüheisen der Alten
noch ein chemisches Mittel der antisepti-
; sehen Zeit überall gleichen Nutzen bringen
! konnte. Aber auch für die einzelnen
| Infectionsarten wird immer ein gewisser
i Spielraum der Behandlung bleiben, nur
I muss er vön festen Grundsätzen be¬
grenzt sein. Und diese lassen sich leicht
I aus dem Wesen der betreffenden
| Infection und besonders aus der Ent¬
stehungsweise ihrer schwersten
! Folgen ableiten, wodurch man gleichzeitig
Üri2 nal frem
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Januar
tO Die Therapie der Gegenwart 1903.
eine Kiatheilung in drei verschiedene
Gruppen gewinnt.
Bei der ersten Gruppe handelt es sich
um eine bestimmte, durch die lnfection
d h. wörtlich die Verunreinigung des Ge¬
webes eingebrachte Giftmenge, welche
im Körper nicht weiter vermehrungsfähig
ist. Das sind die rein toxischen Wund-
infectionen, als deren Typus der Biss
der Giftschlange gilt
Dass hier die Resorption der gelammten
Giftmenge nach Möglichkeit zu verhüten
:st, dass man also die Resorption hintanhalten,
die Gifte vermindern muss, das ist längst
dem Laien bewusst geworden, der bekannt¬
lich die Bisswunden sofort aussaugt oder,
wie es der Jäger macht, mit Pulver aus¬
brennt, und eine Umschnürung an dem
verletzten Gliede anlegt. Dadurch arbeitet
er in der That dem Arzte vor, welcher
dann sobald als möglich durch Excision
der Wunden und durch grosse Einschnitte
in das entzündliche und bei der Umschnü¬
rung noch durch die Stauung vermehrte
Ordern eine Menge Gift zum Abfluss
bringen kann. Zu vermeiden ist das plötz*
liehe Aboehmen der Umschnürung vot
den Incisionen, weil dann auf einmal eine
beträchtliche Giftmenge resorbirfc werden
kann. Da die Schnittwunde besser ab¬
leitet als die mit dem Brandschorf be¬
deckte, so ist das Messer stets dem
Thermokauter vorzuziehen. Auch erscheinen
grosse Incisionen zuverlässiger als subcu-
tane Einspritzungen von chemischen Stoffen
wie Chlorkalk, von denen man eine neu-
tralisirende Wirkung erwartet. Die baldige
örtliche Verminderung des Giftes bleibt auch
dann noch als Hauptregel bestehen, falls
man Calmette'sches Serum zur Allgemein*
behandlung zur Verfügung haben sollte.
Von drei Patienten, welche ich nach Kreuz¬
otterbiss in der v. Bergmann'sehen Klinik
habe heilen sehen, kann ich Ihnen den letzten
zeigen. Die recht erhebliche Schwellung am
Arme des am Abend vorher gebissenen Mannes
ging nach einigen Incisionen ebenso wie bei
den anderen Fällen schnell zurück.
in einer zweiten Gruppe lassen sich
diejenigen Bacterien-Infectionen zu-
saromenfassen, welche zu einer schwe¬
ren Allgemeinerkrankung führen
können, ohne das«: dies die un¬
bedingten Folgen dieser Infectionen
sind; so durch metastatische Verbreitung
der Bacterien im Körper, durch ihre Ver¬
mehrung im Blute und durch ausgiebige
Resorption ihrer Gifte.
Digitized by Google
Es gehören hierher der Milzbrand
und alle durch Eiter- und Fäulniss-
erreger erzeugten Wundinfectionen.
Bei der Behandlung des äusseren
Milzbrands treffen wir auf einen merk¬
würdigen Gegensatz, indem die Mehrzahl
der Chirurgen jeden Eingriff verwirft, die
Mehrzahl der Innern dafür ist. Beide
wollen das verhüten, was bisher bei dem
äusseren Anthrax des Menschen in etwa
einem Fünftel der Fälle zum Tode geführt
hat: die Allgemeininfection mit
Bacterien. Durch welche Behandlungs¬
art diese Gefahr aber am ehesten vermieden
werden kann, lernt man deutlich aus dem
Ergebnisse zweier Thierexperimente an
der sehr empfänglichen Maus.
Inficirte Schimmelbusch die Schwanz¬
wunde mit Milzbrand, indem er in ihr den
Kulturtropfen etwas mit dem Messer ver¬
rieb» so trat so schnell die Allgeroein-
infection ein, dass selbst die Amputation
des Schwanzes 10 Minuten nachher zur
Rettung des Thicres zu spät kam. Brachte
dagegen Friedrich den an der Spitze
durch Amputation verwundeten Mäuse¬
schwanz sofort in eine Bouilloncultur, indem
er das Thier stundenlang so befestigte,
dass der Schwanz in das Culturröhrchen
hineinhing, so kam es trotzdem nicht zur
allgemein inficirenden Resorption und zum
Tode des Thieres, da jegliche mechanische
Beeinträchtigung der Wunde unterblieben
war.
Aus derartigen Experimenten, die ich
aus vielen herausgreife, ergiebt sich vollauf
die Berechtigung einer schonenden
Behandlung des äusseren Milzbrands,
bei welcher es also dem Gewebe allein über¬
lassen bleibt, mit den Erregern fertig zu
werden, da die geringste Störung den ge¬
fährlichen Uebertritt virulenter Bacterien
in die Blutbahn heraufbeschwören könnte.
Dazu kommt die Thatsache^ dass die Milz¬
brandbacillen bei der äusseren lnfection
des Menschen in der Regel schon in kurzer
Zeit geschwächt werden und zu Grunde
gehen.
Darum darf man jeden Eingriff (ob
Excision oder Cauterisation des Carbunkets,
massenhafte Carbolinjectionen oder Exstir¬
pation der Lymphdrüsen u. s. £)* wenn er
keine schweren Folgen nach sich zog, als
gänzUch unnöthig bezeichnen, während
cs da, wo der Operation ein schwerer
tödtlicher Verlauf gefolgt ist, zum mindesten
fraglich bleibt, ob sie ihn nicht verschul¬
det hat.
Es genügt die Bedeckung des Carbun-
kels mit einem dickbestrichenen Salben-
Qriginal fro-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
JttMISf
Die Therapie der* Gegenwart 1903.
II
tappen, der jeden Insult von ihm abhalten
soll, und die Anlegung eines ruhigatellen-
den Fixationsverbandes, wenn am Anne mit
Suspension, um einen schnellen Abfall des
Fiebers herbeizgfiQhren und die entzQndliche
Schwellung zur Rückbildung zubringen.
Aus den letzten elf Jahren keime ich 14
Falle von Süsserem Milzbrand aus der Klinik
mit theil weise recht bedrohlichen Erscheinungen.
Sie sind unter solcher conservativer Behandlung
genesen bis auf den letzten Fall, der einer
Pneumococcenpneujnonie erlegen ist, ohne in
den inneren Organen Milzbrandbacillen aufzu¬
weisen.
Ein Patient, den ich Ihnen vorstellen kann,
hatte einen grossen Karbunkel am Vorderarm
mit starker Lymphangitis und Lymphdrüsen«
Schwellung. Am Tage nach Anlegung des Ver¬
bandes fiel das hohe Fieber. Bacillen waren
nur in den ersten Tagen, nicht mehr nach
einer Woche nachzuweisen. In der zweiten
Woche kam neues Fieber durch einen ly mph*
angitischen Abicess in Folge von Mischinfec-
tion Es fiel sofort nach der Incision.
Als abschreckendes Beispiel erwähne ich
noch eine Laboratpriumeinfection. bei welcher
man durch Carboiumschläge allerdings die Ent¬
stehung einer Pustel verhütet, dafür aber eine
Carboinekrose am Finger herbeigefübrt hat.
Diese Furcht vor der Allgemeininfec-
tion durch Bacterien in Folge des opera¬
tiven Eingriffes, der ja beim Milzbrand-
carbünkel höchst gefährlich ist, solange er
virulente Erreger in sich birgt, spielt auch
eine gewisse Rolle in der Geschichte der
Behandlung acuter Eiterungen. Noch
heute giebt es Chirurgen, welche Furunkel
und Phlegmonen statt mit dem Messer mit
dem Paquelin’schen Brenner spalten,
um der Gefahr einer bacterHlen Allge-
meininfection vorzubeugen, einer Gefahr,
die in diesem Maasse nicht besteht. Denn
bei den meisten schweren eitrigen Entzün¬
dungen und wohl solange, bis Abkapselung
eingetreten ist, gerathen nachweisbare
Bacterien mengen in den Kreislauf. Darin
kann man ebenso wie in der Bacterien-
resorption von der frischen inficirten
Wunde aus eine Abwehrmaassregel des
Körpers erblicken, um eine Menge von
Erregern mit den bactericiden Kräften des
Blutes und der Organe in Berührung zu
bringen. Deshalb hat man selbst Fälle
heilen sehen, in denen die gefährlichen
Streptococcen tagelang im Blute kreisten ;
ich habe sie in später genesenen Fällen
von Gelenkeiterung und Osteomyelitis so¬
gar bei Kindern und bei Phlegmonen im
Blute gefunden und Staphylococcen in
einem später geheilten Falle von multipler
Osteomyelitis sogar bis zum 25. Tage aus
dem Blute ^.g^züchtet.
Digitized b 1
ck >gle
In solchen Fällen liegt nur eine U eber-
schwemmung der Blutbahn mit Bacterien
und natürlich auch mit ihren Giften vor, die
sofort aufhört, sobald alle Quellen versiechen.
Zu einer Vermehrung der Erreger im
Blute kommt es dagegen nur dann, wenn es
sichum sehr virulente Bacterien oder um einen
sehr widerstandslosen Körper handelt.
Unter solchen Umständen besteht aber die
gefährliche Blutinfection schon längst
vor dem Eingriffe und ist meist nicht ein»
mal mehr durch die Amputation zu be¬
seitigen, die wir auf Grund der schweren
klinischen Erscheinungen und der Fort¬
dauer der Blutinfection trotz gründlicher
Spaltungen vornehmen, — kann also
niemals dem Eingriffe selbst in die
Schuhe geschoben werden.
Wohl aber können rohe Eingriffe
• in der Incisionswunde, wie Au- wischen.
| Auswaschen, Auskratzen, Reissen mit
j Fingern und Haken, Bohren mit der
! Sonde u. a. m. oder heftige Muskelbewe¬
gungen bei Deliranten mit schlechten Ver¬
bänden das entzündete Gewebe in einer
Weise verletzen, dass auf einmal eine
massenhafte Resorption von Bacterien und
Bactcriengiften durch Lymph* und Blut¬
bahnen oder die Losreissung von Throm¬
ben erfolgt, was sich bald nur durch hohes
Fieber und Schüttelfrost, bald durch Fort¬
schreiten der Phlegmone. Erysipel am
Wundrand oder Lymphangitis, oft aber
auch durch Entwickelung metastatischer
Herde und durch gefährliche Lungenembo¬
lien äussert.
Das ist der Grund, warum wirbei
jeder Operation in entzündetem Ge¬
biete und auch noch bei der Nach¬
behandlung die allergrösste Scho¬
nung verlangen und jeden mechani¬
schen Reiz verdammen.
Wer es einmal gesehen hat, wie aus
einem harmlosen, aber durch Quetschen
und Stochern maltraitirten Oberlippen¬
furunkel eine Thrombophlebitis der Ge¬
sichtsvenen mit tödtlicher Meningitis ent¬
standen ist, wer sich vor Augen hält, dass
selbst der kleinste Furunkel zur Quelle der
schwersten eitrigen Osteomyelitis werden
kann, der muss sich auf diesen Standpunkt
stellen.
Nach der Spaltung 1 ) folgt Drainage
*) Zur Spaltung grosser Phlegmonen und tief¬
liegender Eiterungen ist die Narkose und an der.
Extremitäten die Blutleere unbedingt erforderlich,
will man alle befallenen Interstitien finden und alle
wichtigen Nerven, Bänder etc schonen.
Für Entzündungen an den Fingerspitzen eignet
sich die Oberst'sche Anisthesirung, wobei nach
Anlegung eines Gummifichlauchcs um die Grund«
Original from
UNIVERsffY OF CALIFORNIA
12
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1903,
tiefer Höhlen und lockere Tamponade der
Wunde. Dabei nützt der trocken ein*
gelegte Tampon in zweierlei Richtung:
er stillt, indem er sich festsaugt, die Blu¬
tung und entfernt dabei infectiöse Stoffe
von der Schnittfläche und Oberfläche der
ganzen Wunde, wirkt also einer post¬
operativen Resorption aus der Wunde
entgegen.
Diese Eigenschaft, welche anerkannter-
maassen dem Jodoformgazetampon
am meisten zukommt, dem feucht einge¬
legten Tampon aber abgeht, macht den
Gebrauch des Paquelin'schen Brenners
vollkommen unnöthig, der ausserdem noch
erheblichen Schaden bringt, da der Brand«
schorf der hinter ihm liegenden infecti$sen
Gewebsflüssigkeit den Weg ins Freie ver¬
sperrt und die Entzündung zu neuer Wan¬
derung zwingt Denselben Nachtheil hat
der Schorf, den auch die kürzeste Anwen*
düng der von v. Bruns für die Phleg^
monenbehandlung empfohlenen reinen
Carbolsäure auf der Wundoberfläche
hervorrufen muss, und der bei allen
Palververbänden ebenso wie beim Ge¬
brauche der Schleieh’schen Wund*
präparate^GlutoI, Glutolserum) sich bildet
Während der Nachbehandlung, deren
Grundsätze ja vollkommen bekannt sind»
wird das Gewebe am leichtesten beim
Herausnehmen des Tampons verletzt*
weshalb man ihn vor allem mindestens
24 Stunden liegen lassen soll. Begiesst
man ihn beim Entfernen mit etwas Wasser¬
stoffsuperoxyd (1 —3%), so wird er schnell
und ohne jegliche Blutung unter Schaum¬
entwickelung gelöst
Ist dann die Entzündung zurückgegangen
und schiessen Granulationen auf, so kann
an Stelle des trockenen Tampons die
feuchte Compresse, z. B. mit essigsaurei
Thonerde treten; denn unter ihrer Wir¬
kung stossen sich die nekrotischen Fetzen
schneller ab und reinigen sich die Granu¬
lationen. Dasselbe erreicht man durch
Salbenverbände aller Art, welche auch in
der schmerzstillenden Wirkung den feuch-
phalanx die Cocaineiospritzung in gesundes Ge^
webe gemacht wird.
Zu verwerfen ist jede Einspritzung ins
entzündete Gewebe selbst, da hierbei die infec-
tiöse Gewebsflüssigkeit des entzündlichen Infiltrates in
die Umgebung und Tiefe gepresst wird. Deshalb kommt
daa Schleich’sche Verfahren an der von Berg-
mann’sehen Klinik bei acut entzündlichen Processen
(Furunkel, Phlegmone etc.) niemals zur Anwendung,
ganz abgesehen von der grossen Schmerzhaftigkeit
solcher Injectionen.
Kleine Abscesse, Furunkel, kleine Cairbunkel in-
tidirt man am besten unter Anwendung von Athyl-
chlorid.
Digitized by Gousle
ten Verbänden gleichkommen, ohne die
Haut wie diese zu maceriren.
Die vielfach bei allen entzündlichen
Processen beliebten feuchten Verbände,
Priessnitz schen Umschläge und Kata-
plasmen haben nur bei ganz gelinden
Entzündungen einen günstigen Einfluss.
Für gewöhnlich kommt es unter ihrer
Wirkung viel schneller als ohne sie zur
Bildung von Eiten Ist aber einmal Eiter
nachzuweisen oder nach Lage und Zunahme
des Infiltrates zu vermuthen, so richtet die
Fortsetzung dieser Behandlung grossen
Schaden an: denn sie fördert die
Eiterung, und der Eiter zerstört das
Gewebe. 1 )
Durch nichts wird z. B. das ossale Panaritium
häufiger erzeugt als durch solche feuchte B< -
handlung, denen zu Liebe man oft auch noch auf
genügend ruhig stellende Verbände verzichtet.
Man kann das alle Tage sehen, trotzdem sich
König schon längst in seinem Lehrbuche ganz
energisch dagegen ausgesprochen hat.
Ja ich operirte eine Monate lang mit Brei¬
umschlägen behandelte Mastitis und fand die
ganze Brustdrüse nekrotisch als faustgrossen
Sequester überall gelöst und umspült vom Eiter.
Der riesige Karbunkel, welcher bei unse*
rem dritten Patienien den ganzen Nacken ein¬
nahm, war unter zweiwöchentlicher Behänd?
lung mit Kataplasmen so gross geworden.
Ein kräftiger kreuzschnitt brachte ihn sofort
zum Stillstand und das Fieber zum Abfall, so
dass die Wunde schon nach zehn Tagen gut
granulirte.
Liegen faulige Zersetzungen in der
Wunde vor, also richtige septische Pro*
cesse, wie sie sich manchmal nach Ent¬
zündungen und Operationen in der Nähe
der Mundhöhle und des Afters öder bei
Urin- und Gasphlegmonen finden, so ziehen
wir Anfangs die trocken aseptische,
später zur Abstossung der gangränösen
Fetzen die feuchte Tamponade der
Jodoformgaze vor; denn gerade von solch
septischen Wunden aus kommt es leicht
zur Jodoformvergiftung, da das Mittel
schneller als bei der Eiterung durch die
Fäulnissprocesse zersetzt wird.
Zur dritten Gruppe vereinigen sich die¬
jenigen Infectionen, deren Folge stets
eine allgemeine Gift- oder Bacterien-
Verbreitung und -Vermehrung im
Körper ist, welche auch in den acuten
Fällen fast ausnahmslos zum Tode führt.
Vertreter dieser Gruppe sind der Wund¬
starrkrampf, die Hundswuth und der
*) lm Uebrigen verweise ich auf: E. von Berg¬
mann, Die Behandlung der acut • progredienten
Phlegmone Berlin 1901. Hirschwald.
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Januar
Die Tlierapi« der
Gegenwart 1903.
13
Rotz, abgesehen von den schon erwähnten
schwersten Eitercocccninfectionen.
Beim Tetanus findet bekanntlich nur
an der Eingangspforte eine Vermehrung
von Bacillen statt, welche von hier aus
immer neue Mengen ihres fürchterlichen
Giftes in den Kreislauf senden. Es müsste
demnach in radicalster Weise die Stätte
der Giftproduction beseitigt werden, sobald
die ersten Zeichen der Giftwirkung die
Art der Infection verrathen.
Da nun, wenigstens im Experimente,
das in der Blutbahn kreisende Gift, so
lange es noch nicht im Centralnerven¬
system gebunden ist, durch Antitoxin un¬
schädlich gemachtwird,so finden diejenigen,
welche sich auch beim Menschen auf die
Antitoxinwirkung verlassen, eine örtliche
Behandlung unnöthig. Wer aber die
Heilserumbehandlung allein nach ihrer
häufig schlechten Wirkung bei acuten und
schweren Fällen für unzuverlässig hält, der
muss auch zu verhüten trachten, dass
immer neue Toxinmengen an der Eingangs¬
pforte gebildet und resorbirt werden.
Die Hoffnung durch desinficirende Mittel
die im Gewebe liegenden Bacterien zu ver¬
nichten, hat der Chirurg schon lange auf¬
gegeben. Wohl aber kann man durch
Herausnehmen des eingedrungenen, oft
auch schon eingeheilten Fremdkörpers eine
Menge von Erregern, die an ihm haften,
entfernen, und durch Erweiterung und
Glättung tiefer buchtiger Wunden und
durch ihre offene aseptische Behandlung
schwere Wundstörungen und Fäuiniss-
processe abhalten, welche eine Virulenz-
Zunahme der Tetanusbacillen begünstigen
können.
Für kleine Wunden ist die Excision am
besten, besser als die Cauterisation, da der
Brandschorf Reste von Erregern im Ge¬
webe absperren kann. Am schlimmsten
steht es um die grossen mit Strassen-
schmutz inficirten Zertrümmerungsheerde
der compiicirten Fracturen. Für diese
Fälle verlangen wir auch heute noch trotz
energischer Serumbehandlung, wo es mög¬
lich ist, die Amputation und zwar sofort
nach dem Ausbruche der Erscheinungen,
falls sie heftig, und in der ersten Woche
nach der Verletzung auftreten. 1 )
So ist der einzige acute und sehr schwere
Tetanusfall, welcher in der Klinik mit Hülfe
von Antitoxin geheilt ist, am siebenten Tage
nach der Verletzung, einer compiicirten Vorder-
armfractur, am Oberarm amputirt worden, nach-
l ) Vergleiche Lexer f j Zur Tetanusbchandtung.
Therapie w G^r^n Jim 1901.
dem am Tage vorher die ersten Zuckungen
aufgetreten waren,
Aehnliche Gesichtspunkte für die ört¬
liche Behandlung würden auch bei dem
Biss des wüthenden Hundes gelten,
wenn es sich hier nicht um ein langes,
1—2 Monate dauerndes Incubationsstadium
handelte, das ja bekanntlich Pasteur be¬
nutzt hat, um inzwischen den Körper an
steigende Dosen des Virus zu gewöhnen.
Da also das unbekannte Wuthvirus beim
Menschen längere Zeit zur Entfaltung seiner
Wirkung braucht, so kann man hoffen, es
durch die örtliche Behandlung noch recht¬
zeitig zu vernichten.
Dazu genügt die Excision der Wunde
im Gesunden, wo dies ihre Grösse, Form
und Tiefe erlaubt. Im Uebrigen muss sie
vollkommen glatt sein und muss offen
bleiben, damit nicht Reste des Virus in
Gewebsnischen Zurückbleiben, sondern da¬
mit sie in die aufsaugenden Verbandstoffe
geleitet werden. Aus demselben Grunde
verwenden wir lieber Messer und Scheere
zur Glättung grosser Wunden als den
Brennapparat.
Sehr ungünstig liegen die Aussichten
der örtlichen Behandlung beim acuten
Rotz, der ja fast stets zum Tode führt
und oft auch aus der milderen chronischen
Form hervorgeht. Stets folgt der Invasion
die Entzündung der Lymphstränge und
-Drüsen und die baldige metastatische
Verbreitung der Erreger in Muskeln und
Organen. Die einzige Behandlung, welche
retten könnte, die Amputation, müsste
sofort nach der Infection noch vor dem
Befallensein der Lymphbahnen vorge¬
nommen werden. So früh aber wird nur
ganz ausnahmsweise die Art und die
Schwere der Infection sicher stehen.
Gewöhnlich muss man sich mit Inci-
sionen der örtlich und der metastatisch
entstandenen Abscesse begnügen; dabei
aber sollte man alles verhüten, was eine
Resorption herbeiführen könnte, ich meine
jede mechanische Reizung, wie z. B. das
Auskratzen der Rotzherde, das so häufig
empfohlen wird. Gerade dadurch ist wohl
mancher chronische Fall plötzlich zum
acuten geworden ?
So sind wir also bei der örtlichen Be¬
handlung der chirurgisch wichtigen Infec
tionen bald zum schärfsten Angriff, halt*,
zur grössten Enthaltsamkeit gezwungen,
je nach dem Wesen der betreffenden Er¬
krankung.
Bei einer Reihe von Infectionen steht
der eine Grundsatz obenan; -iasl schwer
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
14
Januar
Die Therapie der
inficirte Gewebe bei der nothwendigen
Oeffnung nach Möglichkeit au schonen und ;
es nicht in seinem harten Kampfe zu
stören und zu schädigen. Freilich heilen |
tausende von gelinden örtlichen Infee- 1
turnen auch nach anderen Grundsätzen;
sonst worden nicht täglich neue und alte 1
Behandlungsarten empfohlen und geübt,
die schwere Insulte setzen — ebenso wie
Gegenwart 190T.
schon tausende von frischen Wunden gate
ohne Behandlung oder gar unter abge¬
lecktem Heftpflaster und noch Schlimme¬
rem rcactionslos zur Heilung gelangt sind«
Aber nicht solche Zufallserfolge,
sondern die schweren Folgen« welche
aus einer örtlichen Infection her*
Vorgehen können, sollen unserThun
und Lassen bestimmen.
Zur Pathologie und Therapie einiger Kniegelenkserkrankungen.
Von Ä. Hoffa-Berlin.
In den folgenden Zeilen möchte ich die
Aufmerksamkeit auf einige recht häufige
Kniegelenksleiden richten, die das gemein¬
sam haben, dass uns die mit diesem Leiden
behafteten Patienten wegen Schmerzen
in ihren Kniegelenken aufsuchen.
Untersucht man dann das Kniegelenk, so
findet man keine Spur einer Entzündung
des Gelenkes oder doch nur die Spuren
einer vorhergegangenen Entzündung in der
Form einer mehr oder weniger erheblichen
Crepitation im Gelenk. Gelenkergüsse be¬
stehen nicht, ebensowenig Verdickungen
der Gelenke durch eventuelle Zotten¬
wucherungen. Trotzdem entspricht den
Klagen der Patienten ein objectiver Be¬
fund und zwar handelt es sich entweder um
eine von mir sogenannte arthritische
Muskelathrophie nach früher be¬
standener Kniegelenksaffection oder
um ein sogenanntes Derangement in¬
terne des Kniegelenkes oder um ein
sogenanntes solitäres Lipoma, das sich
im Gelenk entwickelt. Eine sorgfältige
Untersuchung gestattet in jedem Falle die
Differentialdiagnose sicher zu stellen; von
der richtigen Diagnose aber hängt unsere
Therapie ab und die Möglichkeit, den oft
sehr durch die Leiden gequälten Patienten
dauernde Heilung zu bringen.
Ich beginne mit der Schilderung der
arthritischen Muskelatrophie und wähle
einen typischen Fall. Ein kräftiger, sonst
völlig gesunder Mann fällt auf das Knie
und zieht sich einen Bluterguss in das Ge¬
lenk zu. Das Kniegelenk schwillt an und
der Patient hat heftige Schmerzen» Thera¬
pie: Bettlage, Hochlagerung des kranken
Beines, Compressionsverband, dazu nach
4 Tagen Massage. Nach 8 Tagen verlässt
Patient das Bett und geht, allerdings unter
Schmerzen, seinem Berufe wieder nach.
Dabei wird das Kniegelenk mit einer
Flanellbinde tixirt gehalten. Weitere Mas¬
sage des Kniegelenks. Trotzdem hören
die Beschwerden! beim Gehen nicht auf.
Digitized by
Eine Badecur in Wiesbaden bringt wohl
Linderung der Schmerzen, aber keine völlige
Beseitigung derselben. Die Schmerzen
werden immer an eine bestimmte Stelle,
meistens an die innere Seite des Gelenkes
unterhalb der Patella localisirt. Da trotz
Massage, Lichtbädern, Compressionsverbän-
den, Fangoumschlägen keine Heilung er¬
folgt, cönsultirt uns der Patient. Wir finden
nun bei sorgfältiger Untersuchung keine
Spur einer Entzündung mehr im Gelenk.
Dasselbe ist völlig normal; dagegen finden
wir eine hochgradige Atrophie der
zugehörigen Streckihuskulatur. Der
betreffende Quadriceps ist schlaff und welk,
in seinem Volum der gesunden Seite geg
übeF wesentlich vermindert Fordern wir
den Patienten auf, beide Beine energisch
zu strecken, so sehen wir, wie in ddm
Relief der Muskulatur die kranke Seite der
gesunden gegenüber zurückbleibt. Diese
Quadricepsatrophie ist der Grund
der noch bestehenden Beschwerden.
Der Quadriceps ist der Spanner der
Kniegelenkskapsel. Ist der Quadriceps in
seiner Kraft geschädigt, so leidet damit
die Spannung der Gelenkkapsel, je atro¬
phischer der Muskel, desto schlaffer ist
auch die Gelenkkapsel. Ist aber die Kapsel
Schlaff, so kommt es sehr leicht da2u, dass
sie sich zwischen Patella und Femurcondy-
len oder zwischen den Femur und Tibiacoit-
dylen einklemmt. Durch diese Ein*
klemmung der Kapsel aber entsteht
der Schmerz. Das habe ich, ich kann
wohl sagen hundertfältig beobachtet Un¬
sere Therapie aber giebt uns den Beweis
für die Richtigkeit unserer Diagnose. Wir
brauchen nur den Quadriceps durch Mas¬
sage und Gymnastik, namentlich durch
eine rationell geleitete Widerstands-
gytnnastik zu kräftigen, was in der Regel
etwa 6 Wochen dauert, um die Spannung
der Gelenkkapsel wieder zur Norm zurück¬
zuführen, und die Beschwerden des Pa¬
tienten sind ein für allemal dauernd be-
ungirai rrcm •
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
J&auar Oie Therapie der
seitigt. Durch diese einfachen Ma߬
nahmen habe ich mir eine grosse Anzahl
dankbarster Patienten erworben. Die
Kenntniss der den betreffenden Kniege¬
lenksleiden zu Grunde liegenden Ursachen,
der. artbritischen Muskelatrophie, ist auch
keineswegs, selbst in Specialistenkreisen,
verbreitet. Das ersieht man daraus, dass
bei diesen Patienten immer das Kniegelenk
selbst behandelt wird. Die Patienten wer¬
den massirt, bekommen feucht-warme oder
Fangoumschläge, Lichtbäder oder werden
auch wohl gar eingegypst* Dadurch wird
das Leiden natürlich immer schlimmer,
denn unter dem fixirenden Verband atro-
phiren die Muskeln nur noch mehr.
Die arthritische Muskelatrophie ist, wie
ich gezeigt habe, eine reflectorische,
durch Reizung der Gelenknerven bedingte.
Immer und immer wieder liest man und
findet man scheinbar durch Experiment
bestätigt, dass es sich bei diesen Atro¬
phien wesentlich um eine Inactivitäts-
atrophie handelt Das ist sicher nicht
der Fall Die Inactivität kann wohl secunf-
där zum Fortschreiten, der einmal ein»
geleiteten Atrophie beitragen und thut das
gewiss; sie ist aber nicht da9 primum
iuovens. Das lehrt die tägliche klinische
Erfahrung, denn die Schlaffheit und
Welkheit der später atrophirenden
Muskeln findet sich schon wenige
Tage nach dem Einsetzen dex sie
veranlassenden Gelenkaffection, sei
es nun, dass diese in einem Träuma oder
in einer Entzündung des Gelenkes bestand.
Schon nach 3, 4 Tagen kann sich der
Muskel nicht mehr so contrahiren wie der
gesunde Muskel der anderen Seite, man
ffUiit deutlich die mangelnde Kraft die
Schlaffheit des Muskels. Das ist so sicher,
das* sidh da absolut nichts dagegen sagen
lässt; von einer Inactivitätsatrophie kann
da gar nicht die Rede sein; oft genug
habe ieh die Atrophie auch bei Patienten
eintreten sehen, die gar nicht zu Bett ge¬
legen und nie einen das Gelenk fixirenden
Verband getragen hatten. Ich bin ein
klassischer Zeuge dafür, denn ich habe
selbst die Quadricepstherapie mit ihres
Folgen an mir beobachten können nach
einem Bluterguss in das Knie, den ich mir
hei einer Bergtour zugezogen hatte.
Aus dem Gesagten möchte ich die Lehre
abstrahiren bei Klagen Ober Kniegelenks»
schmerzen niemals die Untersuchung der
Kraegelenksstreckmuakulatur zu unterlassen,
eventuell die geeignete oben angegebene
Therapie zu befolgen.
Digitiz^fby^ö^l^ 1 * aU< Welche Wir
Gegenwart 1903. *5
bei der Differentialdiagnose der beregten
Leiden fahnden müssen, ist das sog. De¬
rangement interne des Kniegelenks.
Das Derangement interne ist ein Knie¬
gelenksleiden, dessen Kenntniss wir der
operativen Therapie verdanken. £s han¬
delt sich hier um eine Abreissung resp.
Luxation einer, viel seltener auch
wohl beider Kniegelenkamenisken.
Nachdem zuerst englische und franzö¬
sische Collegen auf dieses Leiden hinge¬
wiesen hatten, ist es durch zwei vor¬
treffliche Arbeiten von P. v. Bruns (1892)
und von Vollbrecht (1896) in Deutsch¬
land genau beschrieben und erläutert wor¬
den. Immerhin ist es in den Kreisen der
Praktiker noch nicht bekannt genug und
hoffe ich durch diese kleine Mittheilung
zür weiteren Verbreitung der Kenntniss
desselben beizutragen.
Es ist bekannt, dass zwischen den Con-
dylen des Femur und der Tibia zwei
Knorpelscheiben, die sogenannten Menis¬
ken eingeschaltet sind. Diese Menisken
können nun durch gewisse Gewalten
an ihrer vorderen oder hinteren
Haftstelle abreissen und 9ich dann
verschieben* daher der Name Luxation der
Menisken. Thatsächiich handelt es sich
nie um eine wirkliche Luxation, sondern
um eine einfache Ruptur der Bandscheiben.
Am häufigsten reisst die vordere Insertion
des inneren Meniscus an der Tibia ab.
Das so beweglich gewordene Stück ver¬
schiebt sich nun fast regelmässig bald
nach vorn, bald nach hinten in das Ge¬
lenk. Dabei verändert es auch seine Form,
indem es bald gefaltet, bald in Fransen
gespalten erscheint. Seltener reisst das
Band an seiner hinteren Haftstelle ab.
Aehnlich liegen die Verhältnisse beim
äusseren Meniscus.
Die Gewalten, welche zur Abreissung
der Bandscheiben führen, brauchen gar
nicht sehr erheblich zu sein. Sie wirken
indirect ein und zwar stets im Sinne
einer mehr oder weniger heftigen Rota¬
tionsbewegung des Unterschenkels. Ge»
legenheitsursachen sind Unfälle beim Tur¬
nen, Reiten, beim Fussball, Lawn Tennis
unii Crickettspiel.
Gelegentlich sieht rnaa auch wohl eint
Abreissung des Meniscus durch eine Reihe
wiederholter kleinerer Traumen äu Stande
kommen, so bei Arbeitern, die ihre Arbeit
im Knieeh verrichten müssen.
Das klinische Bil4 des Derangement
interne ist ein ungemein typisches. Die
Kranken erleiden den Unfall, klagen dann
über Schmerzen; das Gelenk schwillt an
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
16
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
und wird functionsunfähig. Unter Ruhig¬
stellung, Umschlägen und Massage gehen
die krankkaften Erscheinungen bald zurück,
damit bessert sich auch wieder die Func¬
tionsfähigkeit des Gelenks. Das Gelenk
wird aber nicht wieder völlig normal, son¬
dern es bleiben charakteristische Beschwer¬
den zurück. In kürzeren oder längeren
Zwischenräumen treten ganz plötzlich
Anfälle von Schmerz und Bewegungs¬
hinderung % auf. Gelegenheitsursachen
sind irgend eine schnelle Bewegung, wie
Treppensteigen u. dgl. Der Kranke fühlt
plötzlich einen intensiven - Schmerz im
Kniegelenk, welches nun in leichter Beu¬
gung feststeht und mehr oder weniger
lange Zeit nicht bewegt werden kann.
Zuweilen sinkt der Kranke in Folge des
blitzartigen heftigen Schmerzes um, und
hat dabei auch wohl das Gefühl, als be¬
wege sich etwas im Gelenk oder schnappe
mit einem deutlichen Ruck ein.
Untersucht man nun einen solchen Pa¬
tienten , 60 ist zunächst hervorzuheben,
dass da9 Gelenk selbst völlig intact zu
sein scheint. Es fehlen Schwellung und
Ergüsse meist vollständig. Dagegen wird
das Kniegelenk meist leicht gebeugt ge¬
halten und es besteht auch wohl bei Ab-
reissung des inneren Meniscus eine Rota¬
tion des Unterschenkels nach aussen, bei
Abreissung des äusseren Meniscus dagegen
eine Rotation des Unterschenkels nach
innen. Charakteristisch ist nun die
Untersuchung der Kniegelenksspalte.
Tastet man den Spalt zwischen* den Con-
dylen des Femur und der Tibia ab, so ist
die Stelle, an welcher der abgerissene
Meniscus liegt» ausserordentlich druck¬
empfindlich. Dieser locale Druckschmerz
ist ungemein typisch und für die Diagnose
von grösster Wichtigkeit Er wird kaum
je vermisst und genügt allein schon, die
Abreissung des Meniscus zu erweisen.
Häufig kann man aber den abgerissenen
Meniscus selbst noch der Betastung zu¬
gänglich machen. Man fühlt dann an der
inneren oder äusseren Seite in der Ge¬
lenkspalte eine schmale harte Leiste,
Welche bei Streckung des Beins deutlicher
hervortritt, bei Beugung des Knies aber
im Gelenk verschwindet.
Das beschriebene Krankheitsbild hat
entschieden Aehnlichkeit mit dem einer
Gelenkmaus. Die Differentialdiagnose
ist aber durch das Röntgenbild leicht zu
stellen, welche die Gelenkmaus erkennen
lässt, während beim Dörangement interne
das Gelenk normal erscheint. Selbstredend
kann sichern Anschluss an die intraarticuläre
Digitized by (jjOOQlC
Verletzung eine arthritische Muskel-
atrophie entwickeln. Namentlich sieht
man oft hochgradige Atrophie des Qua-
driceps, wenn die Patienten zum Schutz
des Gelenkes längere Zeit Tutoren getragen
haben. Hier lässt sich die Differential¬
diagnose dadurch stellen, dass bei der
reinen arthritischen Muskelatrophie, die
nach Ausheilung des ursprünglichen Ge-
lenkprocesses zurückgeblieben ist, das
Gelenk sich ganz intact zeigt Bei der Ab¬
sprengung der Menisken findet sich dagegen
ausser der Atrophie des Quadriceps noch
der charakteristische Druckschmerz in der
Gelenkspalte, eventuell der directe Nach¬
weis des Hervortretens des abgerissenen
Stückes der Bandscheibe in der Gelenk¬
spalte.
Als Therapie macht man beim De¬
rangement interne am besten die Exstir¬
pation des abgerissenen Stückes des
Zwischenknorpels. Unter aseptischen
Cautelen ist diese Operation absolut un¬
gefährlich und in ihrem Erfolg sicher.
Eine Functionsstörung tritt im Kniegelenk
durch die Entfernung des Zwischenknorpels
nicht ein. Ich habe wohl über ein Dutzend
derartiger abgerissener Zwischenknorpel
entfernt und alle meine Patienten dauernd
geheilt. Man hat auch wohl die Reposition
des abgerissenen Stückes versucht und
Bandagen und Stützapparate tragen lassen,
meist aber resultatlos. Ich habe einen
Patienten durch die Operation geheilt, der
IV 2 Jahr lang ohne jeden Erfolg einen von
Hessing gearbeiteten, sehr sinnreich con-
struirten Stützapparat getragen hatte. Einen
besonderen Tutor für diese Fälle hat auch
Griffith empfohlen. Man kann ja wohl
einen solchen Retentionsapparat für einige
Zeit tragen lassen, sicherer und schneller
erfolgt die Heilung aber jedenfalls durch
die Operation.
Handelt es sich in einem der beregten,
uns consultirenden Fälle nicht um eine
einfache arthritische Muskelatrophie oder
um eine Abreissung der Menisken, so kann
der Symptomencomplex drittens noch
durch die Entwickelung einer Fett¬
geschwulst im Gelenk hervorgerufen sein.
Die Entwickelung von Lipomen im
Kniegelenk ist keine Seltenheit. Entweder
handelt es sich dabei um ein sogenanntes
Lipoma arborescens, das durch fettige Ent¬
artung der Gelenkzotten entsteht, oder um
ein solitäres, subsynpyiales (König)
Lipom. Nur letzteres kommt hier in Be¬
tracht. Es handelt sich um kirsch- bis
wallnussgrosse Tumoren, die ganz aus Fett
bestehen, gewöhnlich an der inneren Seite
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der
des Gelenkes gelegen sind und mit einem
Stiel in das Gelenk hineinreichen. Sie ent¬
wickeln sich von dem subsynovialen Fett
und sind in dieser Beziehung vergleichbar
den subperitonealen Lipomen (König),
v. Volkmann, König, Riedel, Lauen¬
stein, Timmer u. A. haben einschlägige
Fälle mitgetheilt.
Diese solitären Lipome machen nun
dieselben Symptome, wie wir sie bei un¬
seren Patienten mit arthritischer Muskel¬
atrophie oder mit Absprengung eines
Theiles der Bandscheiben kennen gelernt
haben. Es handelt sich im Wesentlichen
um Einklemmungserscheinungen, die sich
in Form plötzlich einsetzender
Schmerzen äussern. In der Regel ist
auch ein Trauma, Fall auf das Knie oder
ein heftiger Stoss gegen den Fuss voraus¬
gegangen, der heftigen Schmerz im Knie
verursachte. Das Gelenk selbst war dabei
aber nicht besonders geschwollen. Oefter
war auch wohl ein leichter, zuweilen auch
blutiger Erguss als Folge des Traumas im
Gelenk nachweisbar gewesen. Durch Ruhe¬
lage, Eisumschläge, Massage geht in der
Regel der erste Anfall vorbei. Es be¬
stehen aber trotzdem dauernde Beschwer¬
den beim Gehen. Anfallsweise treten
Schmerzen auf, in der Regel an der
innern Seite des Gelenkes. Daneben be¬
stehen Functionsstörungen; die einen Pa¬
tienten können das Knie nicht ordentlich
beugen, bei anderen ist im Gegentheil das
DurchdrQcken des Knies nach hinten un¬
möglich.
Untersucht man nun diese Patienten, so
erhält man einen charakteristischen objec-
tiven Befund. Zunächst besteht auch oft
eine erhebliche Quadricepsatrophie. Dann
aber ist auch eine, ich möchte fast sagen,
typische Anschwellung des Kniegelenkes
vorhanden. Diese Anschwellung sitzt bei
sonst intactem Gelenk dicht unterhalb und
nach innen von der Patella. Es ist eine
pseudofluctuirende Anschwellung, die das
Lig. patellae in die Höhe hebt. Der obere
Gegenwart 1903. 17
Recessus des Gelenkes ist frei, die Gelenk¬
spalten an den Seiten bleiben frei. Sobald
man aber den oberen, inneren Theil der
Gelenkspalte prüft, fühlt man eine teigige
Anschwellung, die sich bis unter das Lig.
patellae verfolgen lässt Dieser Befund ist
ausserordentlich charakteristisch, doch ist
die Differentialdiagnose zwischen einem
sich einklemmenden Lipom und einem
abgerissenen Meniscus keine leichte
Sache. Es sind eine ganze Anzahl von
Fällen publicirt worden, in denen man das
Lipom fand, während man bei der Opera¬
tion einen abgerissenen Meniscus zu finden
wähnte.
Als Therapie kommt nur die Exstirpa¬
tion in Betracht, die jä unter aseptischen
Cautelen absolut ungefährlich und in ihrem
Erfolg sicher ist. Einpinselungen vonjod-
tinctur, Massage, Gymnastik, Compressions-
verbände, Badekuren werden in der Regel
erst vorher versucht, ehe endlich die ein¬
zig richtige Operation das Leiden heilt
Schneidet man nun in ein solches Gelenk
ein, so quillt einem sofort nach Eröffnung
des Gelenkes eine fettige Masse entgegen.
Ich habe erst vor einigen Wochen wieder
einen solchen Fall mit vollem Erfolg ope-
rirt, in dem die Fettgeschwulst die Grösse
einer Wallnuss hatte. Der Stiel hing mit
der Synovialis entsprechend dem Ansatz
des inneren Meniscus zusammen. Man
fasst die Fettgeschwulst mit einer Kugel¬
zange, zieht sie heraus und schneidet sie
ab. Nach erfolgter Wundheilung sind dann
die Beschwerden der Patienten vorbei.
Soviel über die Diagnose und die The¬
rapie dieser drei sich sehr in ihren Sym¬
ptomen gleichenden Kniegelenksleiden. Ich
könnte wohl noch die freien Gelenk¬
körper des Kniegelenkes zur Differential¬
diagnose heranziehen. Bei diesen ist aber
doch die Symptomatologie so charakteri¬
stisch, dass sie leicht auszuschliessen sihd.
Wie sich der freie Gelenkkörper von einem
abgerissenen Meniscus unterscheiden lässt,
habe ich ja schon oben hervorgehoben.
Die Complication von Schwangerschaft mit Herzfehler.
Nach einem klinischen Vortrage
von J. Veit-Leiden.
M. H.! Die Kreissende, die ich Ihnen
hier vorführe, hat einen ernsten Klappen¬
fehler, es besteht Stenose und Insufficienz
der Mitralis und nebenbei hat sie ein all¬
gemein verengtes Becken. Die beiden
ersten Geburten verliefen langsam — wohl
wegen der Beckenverengerung — aber doch
ohne jede Störung von Seiten des Her-
Digitized by Google
zens, Diesmal hat der Arzt die Patientin
hergeschickt, weil einmal vor einem Jahr
ohne nachweisbare Ursache heftige Dy¬
spnoe auftrat und er mit Recht Bedenken
hat, in der ärmlichen Wohnung eine
schwere Gebuitscomplication zu behandeln.
Bis jetzt sind wir vom Glück begünstigt
worden; mit Ausnahme einer leichten
3
Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
18
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Bronchitis, die nach vier Tagen ver¬
schwand, ist die Schwangerschaft und Ge- ]
hurt völlig ungestört verlaufen. Jetzt in
d«:r Eröffnungsperiode der Geburt ist die
Cyanose des Gesichtes nur gering, die
Pulsfrequenz ist nur mässig erhöht, die
Respiration 30, Albuminurie besteht nicht:
Sie haben das Bild eines völlig compensirten
Herzfehlers vor sich und wir haben alle |
Veranlassung zu hoffen, dass die Geburt |
weiter gut verläuft Nur wollen wir auf
unserer Hut sein; denn so wenig man bei
diesem Bild es ahnen kann: schwere Sorge
für das Leben der Frau kann plötzlich
eintreten und nicht jedesmal verläuft diese
Complication so einfach, Ich erinnere Sie
an einen Fall, den einige von Ihnen vor
etwa einem Jahre hier beobachteten; eine
Schwangere in den letzten Wochen, die
an einem schweren Herzfehler litt und
starke Dyspnoe hatte, schien sich bei Ruhe
und guter Pflege zu erholen; als die Wehen
begannen, nahm jedoch die Dyspnoe plötz¬
lich in bedrohlicherWeise zu; bei kleinem,
kaum zählbarem Puls und einer Respira¬
tionsfrequenz von 50—60 mussten die Ei¬
häute zerrissen werden und als auch dies
keine Erleichterung brachte, wurde nach
Ausführung der Wendung durch den noch
engen Cervicalcanal das Kind extrahirt;
Sie erinnern sich, dass die Frau sich bald
erholte und dies Jahr wiederum schwanger
schon zehn Wochen vor dem Ende der
Schwangerschaft sich aufnehmen liess.
Während dieser Zeit war das Befinden
leidlich, nur einmal nahm die Dyspnoe
vorübergehend sehr stark zu, doch bevor
ernstere Maassregeln erwogen wurden,
besserte sich der Zustand und ehe ich die
Patientin Ihnen wieder vorführen konnte,
begannen leise Wehen, das Kind stürzte
auf die Erde, als die Kreissende eben in
das Kreisszimmer gebracht werden sollte.
Das Allgemeinbefinden wurde in keiner
Weise gestört, die ersten Tage des Wo¬
chenbettes schienen sogar etwas Erleichte¬
rung zu bringen, jetzt in der dritten Woche
nach der Geburt treten jedoch erneute
Zeichen von Dyspnoe auf. Ich erwähne
Ihnen diese Krankengeschichte vor Allem,
um Sie darauf hinzuweisen, dass Herzfehler
sich in bedrohlicher Weise während der
Geburt geltend machen können, dass dies
aber keineswegs stets der Fall zu sein
braucht, nicht einmal bei derselben Frau;
hier das eine Mal Bedrohung des Lebens
während der Geburt, das andere Mal spie¬
lend leichter Verlauf der Geburt.
Die Complication von Herzfehler mit
Schwangerschaft oder, besser gesagt, der
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Eintritt einer Schwangerschaft bei einer
Herzkranken gilt mit Recht als eine ernste
Störung; Stauungserscheinungen, Dyspnoe»
Anasarkä, Ascites, Albuminurie sind wäh¬
rend der Schwangerschaft zu fürchten, die
mechanischen Folgen der Geburt, die
schnelle Entleerung des Abdomen, die
neuen Anforderungen an das ohnehin
schon angestrengte Herz unter plötzlich
veränderten Blutdruckverhältnissen galten
früher als besonders bedrohlich und zwar
sollte je nach der Art des Herzfehlers bald
während der Schwangerschaft, bald erst
nach der Geburt die Gefahr zu fürchten
sein. Die neuere Zeit legt aber, wie mir
scheint, mit vollem Recht viel mehr Werth
darauf, ob die Compensation des Herz¬
fehlers noch besteht und ob der Herz¬
muskel sich seine Leistungsfähigkeit noch
bewahrt hat. Ich habe unter den ver¬
schiedensten Verhältnissen Herzkranke
während der Schwangerschaft und Geburt
beobachtet, und es immer wieder bestätigt
gefunden, dass nicht die Art des Herz¬
fehlers, sondern der Zustand des Herz¬
muskels von entscheidender Bedeutung ist;
auch habe ich mehrfach durch die schnelle
Entbindung eine etwa vorhandene Com-
pensations-Störung rasch beseitigt Ich
will Sie mit Krankengeschichten nicht er¬
müden, kann es mir aber nicht versagen,
Ihnen ganz kurz folgende Beobachtung zu
berichten. Eines Abends wurde ich von
zwei Aerzten telegraphisch zu einem
Kaiserschnitt in der Agone gerufen; in
Folge einer Verstümmelung des Tele¬
gramms über diese Absicht im Unklaren,
kam ich nach längerer Fahrt über Land
zu der Kreissenden, die aufrecht im Bett
sitzend die schwerste Athemnoth hatte;
der Puls war minimal, eine Frequenz 160
bis 180 in der Minute. Seit 34 Stunden
in Wehen war die Cervix noch lang, eben
für einen Finger durchgängig, das Allge¬
meinbefinden während der letzten Stunden
sehr verschlechtert, eine genaue Diagnose
des Herzfehlers unmöglich, der Tod schien
unvermeidlich. So entschied ich mich zur
Wendung und Extraction, nachdem ich
etae ganz oberflächliche Narkose zum Ein¬
führen der ganzen Hand in die Scheide
eingeleitet hatte. Es gelang mir, ein leben¬
des Kind zu extrahiren, ein blutender Cer¬
vixriss liess sich schnell durch die schon
vorher zurechtgelegte Naht schliessen;
ich verliess die Patientin in noch wenig
aussichtsvollem Zustand, war aber sehr
erfreut, als mir am nächsten Tage die Mit¬
theilung gemacht wurde, dass die Frau ge¬
rettet sei; ein Jahr später stellte sie sich
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
19
mir gelegentlich eines Besuches als gesund
vor, übrigens mit allen Zeichen einer
schweren, aber compensirten Mitralinsuffi-
cienz.
Soll ich Ihnen daher auf Grund solcher
Erfahrungen für die Behandlung wäh-
rend der Schwangerschaft praktische
Rathschlflge geben, so kommen sie darauf
hinaus, dass man wegen eines compensir¬
ten Herzfehlers bei einer Schwangeren im
Allgemeinen nur diätetische Maassregeln
empfehlen soll; mit noch grösserer Sorg¬
falt als sonst soll die Schwangere alle
hygienischen Regeln der Schwangerschaft
befolgen, aber ich kann Ihnen nicht den
Rath geben, wegen eines compensirten
Herzfehlers an sich die Schwangerschaft zu
unterbrechen; so gross ist meines Erach¬
tens die Gefahr für die Patientin nicht; die
Bedrohung des Lebens erfolgt nicht ohne
Vorboten und wenn die Zeichen der Com-
pensationsstörung ernst werden, dann hat
man noch Zeit einzuschreiten. Daran kann
für mich kein Zweifel bestehen, dass bei
andauernder Compensationsstörung ohne
Rücksicht auf das Kind die Unterbrechung
der Schwangerschaft anzurathen ist. Ich
will auf die in neuerer Zeit mehrfach er¬
örterte principielle Frage, wie weit man
bei unausgetragener Frucht das Recht hat
als Arzt, diesen Rath zu geben, nicht aus¬
führlich hier eingehen; die Indication ist hier
sehr einfach: man räth zur Operation, so¬
bald man die Ueberzeugung gewinnt, dass
die Patientin ohne Unterbrechung der
Schwangerschaft sicher verloren ist; dann
rettet man, da beim Tode der Mutter doch
auch die intrauterine Frucht verloren ist,
von den beiden bedrohten Leben wenigstens
vielleicht das eine. Es ist dabei klar, dass
man um so leichter sich zur Unterbrechung
entschliessen wird, je weiter die Schwanger¬
schaft vorgeschritten ist, aber im Princip
rathe ich Ihnen stets erst bei ernster Stö¬
rung der Compensation oder bei InsufBcienz
des Herzmuskels daran zu denken.
Die Frage ist nur, ob man schon bei
den ersten Zeichen einer Compensations-
störung sofort die Schwangerschaft unter¬
brechen soll oder ob man erst medicamen-
töse Behandlung gepaart mit körperlicher
Ruhe anwenden soll. Hier gehen die An¬
sichten theoretisch etwas auseinander, prak¬
tisch kommen sie auf das Gleiche hinaus.
Findet man eine Schwangere in Folge eines
Herzfehlers bedroht, so kann man es erleben,
dass wenn man zur Vorbereitung der Früh¬
geburt 12—24 Stunden warten muss, in¬
zwischen durch die nur als palliativ ver-
ordneten Cardiotonica der Zustand sich
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dauernd besserte und man deshalb natür¬
lich nunmehr mit der Frühgeburt wartet Ist
übrigens die Uterusentleerung nothwendig,
so ist die Technik derselben relativ einfach,
ich will an dieser Stelle nicht darauf ein¬
gehen, nur betonen, dass wir sichere und
gefahrlose Mittel dazu genügend besitzen.
Aber die Schwangerschaftsunterbre¬
chung ist an sich nicht durch den Herz¬
fehler geboten.
Ebenso wenig wie ich an sich des Herz¬
fehlers halber die Schwangerschaft unter
breche, ebenso wenig kann ich mich dazu
entschliessen, herzkranken Frauen den
Rath zu geben, anticonceptionelle Mittel
anzuwenden. Eine Zeit lang schien es
modern zu sein über die verschiedenen
Vorschriften dieser Art leichtfertig zu
denken; trügen mich nicht manche Zeichen,
so beginnt glücklicher Weise unter den
Aerzten die Erfahrung über die nach¬
theiligen Folgen dieser Mittel immer grösser
zu werden und das Publikum scheint mir
noch schneller bereit zu sein diese unheil¬
vollen Vorschläge und Grundsätze zu ver¬
lassen. Hier bei herzkranken Frauen mit
compensirtem Herzfehler liegt für mich
keine Veranlassung vor, Vorschriften dieser
Art zu geben; die Patientin, deren eine
Entbindung mit schweren Symptomen von
Seiten des Herzens einherging, während
die folgende ohne jeden Nachtheil verlief,
mag Ihnen als lehrreiches Beispiel dienen.
In einer Zeit, in der man durch Uebung
des Herzmuskels versucht den Compensa-
tionsstörungen vorzubeugen, ist es schwer
zu begreifen, warum es so bedenklich sein
soll die mässige Erhöhung der Arbeitskraft
des Herzens in der Schwangerschaft an¬
ders anzusehen.
Für das noch leistungsfähige Herz sehe
ich in der allmählich eintretenden Arbeits¬
vermehrung der Schwangerschaft nur einen
Reiz, um sich auch weiteren Anforde¬
rungen gegenüber kräftig zu erweisen.
Der Nachtheil der anticonceptionellen
Mittel für das Nervensystem ist bei weitem
bedenklicher.
Sie wissen, dass wir hier in der Klinik
versuchen, den Einfluss zu studiren, den eine
Schwangerschaft auf den weiblichen Orga¬
nismus hat; mancherlei Arbeit wird noch
nöthig sein, um zu einem abschliessenden
Unheil zu gelangen. Bis jetzt haben wir
keine Veranlassung in der Schwangerschaft
einen Nachtheil für die Frau zu erblicken
oder irgend eine Schädigung für ihre Ge¬
sundheit durch dieselbe zu fürchten. Erst
wenn vereint mit der Mitarbeit gleichge¬
sinnter Facbgenossen mit allen neueren
3*
Original fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
20
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Januar
biologischen Methoden die Wirkung einer
Schwangerschaft auf die verschiedensten
Organe studirt ist, werden wir an die wei¬
tere Arbeit gehen dürfen, die Veränderung
dieses Einflusses unter pathologischen Um¬
ständen kennen zu lernen. Vorderhand
haben wir eine Schädigung der gesunden
Frau durch die Schwangerschaft nicht
erkannt. Natürlich wird die Frau nicht
jünger während der Schwangerschaft,
natürlich schreitet ein chronisches Leiden,
das auch sonst nicht still stehen würde,
in der Schwangerschaft weiter fort;
die Frage ist nur, ob nicht unter normalen
Verhältnissen eine Frau durch die Schwan¬
gerschaft ihre jugendliche Frische sich
länger erhält — ich bin jetzt schon davon
überzeugt, dass die Mehrzahl der Ge¬
burtshelfer diese Frage bejahend beant¬
wortet; die weitere Frage ist die, ob nicht
unter pathologischen Verhältnissen die
Widerstandsfähigkeit einer Frau durch
eine Schwangerschaft gestärkt wird; die
Antwort hierauf muss je nach der Art der
vorliegenden Erkrankung wahrscheinlich
verschieden lauten; vorläufig wissen wir
darüber nicht allzuviel; wir sind an die
„Erfahrung“ gewiesen und diese stimmen
beim Internisten und Geburtshelfer nicht
immer überein. Ich halte dies für sehr
begreiflich; wir sehen eine ganz andere
Art von Patientinnen als der Internist; der
Geburthelfer wird gebeten einer Frau bei
der Entbindung beizustehen: oft genug
constatirt man eine Abweichung am Her¬
zen, aber nur ganz ausnahmsweise wird
während der Schwangerschaft oder der
Geburt das Allgemeinbefinden gestört und
trotzdem besteht ein Klappenfehler. Der
innere Mediciner dagegen sieht diese Fälle
als Consultirter überhaupt nicht; ihm wer¬
den die Patientinnen erst zugeführt, wenn
die Compensation gestört ist oder der
Herzmuskel selbst erkrankt ist; er muss
natürlich eine etwa bestehende Schwanger¬
schaft als Ursache der Verschlimmerung
ansehen und ist nur allzu geneigt zu ver¬
allgemeinern. Die Lösung dieses Wider¬
spruchs ist leicht, denn die Wahrheit liegt
in der Mitte; eine Reihe von Frauen mit
einem compensirten Herzfehler vertragen
die Schwangerschaft und die Geburt gut
oder mit nur unbedeutenden Störungen;
eine weitere Reihe zeigt deutlich Jnsuffi-
cicnz des Herzmuskels während der
Schwangerschaft, eine letzte Reihe hatte
schon vor dem Eintritt der Schwanger¬
schaft eine gestörte Compensation, die
natürlich nunmehr nicht verschwindet.
Therapeutisch ist aber die Er-
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fahrung von grösster Bedeutung,
dass man oft mit den gewöhnlichen
Medicamenten für das Herz noch
eine erhebliche Besserung erreicht
und dass man, wenn dieser Erfolg
nicht eintritt, man immer noch Zeit
hat, den Uterus zu entleeren.
Fassen Sie den Eintritt einer Schwan¬
gerschaft bei einer Herzkranken nicht an
sich als eine Lebensbedrohung auf; seien
Sie überzeugt, dass ein noch gesunder
Herzmuskel die vermehrte Arbeit noch
leisten kann; erst wenn sich zeigt, dass
dies nicht möglich ist, scheint mir die Zeit
zum Handeln gekommen.
Ob man einem jungen Mädchen mit
einem Herzfehler von der Ehe abrathen
soll, ist schwer zu beantworten; glück¬
licherweise werden wir Geburtshelfer nur
selten hierüber gefragt. Eine junge Dame,
der wegen eines Herzfehlers der Rath
gegeben wurde, nicht zu heirathen, folgte
diesem Rath nicht; ich habe mich bei zwei
Entbindungen überzeugen können, dass sie
es nicht zu bereuon hatte, ihrem eigenen
Kopfe (oder vielmehr ihrem eigenen Herzen)
und nicht dem ihr gegebenen Rath gefolgt
zu sein.
Die Behandlung einer Herzkranken
während der Geburt verlangt besondere
Aufmerksamkeit; natürlich werden Sie es
als Consequenz meiner Ansichten über die
Behandlung während der Schwangerschaft
begreifen, dass ich während der Eröffnungs¬
periode an sich nichts vorzunehmen rathe;
kleine Dosen von Morphium scheinen mir
nicht unzweckmässig zu sein, um psychi¬
scher Aufregung vorzubeugen; in der Aus¬
treibungsperiode bin ich dagegen geneigt,
das Kind bald zu extrahiren, um einer
übermässigen Arbeit der Frau und einer
nicht minder grossen Arbeit des Herzens,
wie sie beim Mitpressen nöthig wird, vor¬
zubeugen; die Extraction mit der Zange
oder am Fuss ist bei völlig erweitertem
Muttermund, nachdem die Austreibungs¬
wehen begonnen haben, dann meist so ein¬
fach, dass man ruhig prophylactisch dazu
schreiten kann. Ist das Kind geboren, so
darf man mit der Expression der Placenta
nicht überstürzt Vorgehen; ist die Nach¬
geburt gelöst, und hat man sie dann her¬
ausgedrückt, so habe ich die Compression
des Abdomen durch Auflegen eines Sand¬
sackes oder schwerer Wäschestücke gern
angerathen. Es ist dies vielleicht noch ein
Ueberbleibsel aus der Zeit, in der wir die
schnelle Entleerung des Abdomens durch
bedrohliche Druckschwankungen als Ur¬
sache von Störungen fürchteten, aber das
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
21
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Januar
Mittel ist so einfach und so ungefährlich,
dass ich es ungern missen möchte.
Gegenüber dieser Diätetik steht die ein¬
greifendere Therapie, wenn während des
Beginnes der Geburt das Herz Störungen
der Compensation oder Zeichen der In-
sufficienz darbietet, die sich nicht beseitigen
lassen und das Leben bedrohen. Hier ist
die Wahl der Methode minder wichtig als
das Princip, da3S man so schnell wie mög¬
lich entbinden muss, sobald man die Ge¬
fährdung des Lebens der Kreissenden er¬
kennt. Die Schwere der Operation selbst
steht mit dem Verhalten des Cervicalkanals
in Verbindung; welche Art des Acouche-
ment force man dann wählt, wird von
Ihrer eigenen Geschicklichkeit und Ihrer
Erfahrung abhängen; an sich sind auch
diese Eingriffe jetzt ungefährlich geworden.
Im Wochenbett sind Störungen natür¬
lich möglich; für den Geburtshelfer von
Wichtigkeit 6ind nur diejenigen, die im un¬
mittelbaren Anschluss an die Geburt oder
in den ersten Tagen danach sich zeigen.
Sie sind sicher viel seltener, als man früher
meinte; sie zeigen sich meist, wenn schon
vor der Entbindung der Herzmuskel Zeichen
der Degeneration vermuthen Hess; extrem
selten erfolgt der Tod plötzlich durch Herz¬
lähmung. Besonders möchte ich Sie noch
einmal darauf hinweisen, dass unabhängig
von der Art des Klappenfehlers die Be¬
endigung der Geburt eine Erleichterung
der Symptome bewirken kann. Im Allgemei¬
nen haben Sie jedenfalls, wenn die Geburt
glückHch beendet ist, nicht mehr viel zu
fürchten. Dass ausnahmsweise der Tod durch
einen Herzfehler eintreten kann, wissen Sie.
Die späteren Tage des Wochenbettes
können auch ausnahmsweise eine Ver¬
schlimmerung der Symptome von Seiten
des Herzens bringen; ich glaube diese
nicht mit der überstandenen Geburt, son¬
dern mit dem weiteren Ablauf des Herz¬
fehlers in Verbindung bringen zu müssen.
Im Allgemeinen sehen Sie daher, dass
Sie den Eintritt einer Schwangerschaft bei
einer Herakranken nur als eine Complicatioh
auffassen müssen, die zur Vorsicht und zur
genauen Beobachtung auffordert, dass Sie
aber mit der Unterbrechung der Schwanger¬
schaft und mit dem Accouchement force
warten können, bis weitere ernste Symptome
auftreten.
Die Behandlung der Schwangerschaft
bei Patientinnen an anderweiten inneren
Krankheiten kann man nicht ohne weiteres
in gleicher Weise einrichten wollen, wie
ich es Ihnen bei Herzkrankheiten anrathe;
ebenso wie Sie die Schwangerschaft bei
Herzkranken nach den Verhältnissen des
besonderen Falles behandeln, ebenso muss
man mit seinem Urtheil auch bei anderen
Schwangerschaftscomplicationen vorsichtig
sein ; besonders muss man sich hüten, aus
wenigen Fällen hier allgemeine Schlüsse zu
ziehen.
Aber neben dieser strengen Individuali-
sirung unserer Therapie ist die Geburts¬
hülfe für Sie auch von grosser Bedeutung,
weil Sie lernen, möglichst scharf die An¬
zeigen für unser ärztliches Handeln zu
stellen. Schwangerschaft und Geburt bei
herzkranken Frauen giebt vielfach Gelegen¬
heit dies zu bethätigen; nicht die Sorge
vor möglichen Folgen dieser Combination
beherrscht hier unsere therapeutischen
Maassregeln, erst der Eintritt ernster Er¬
scheinungen giebt die Indication; diese
präcis zu stellen müssen Sie lernen. Man
muss wissen, wann man noch warten darf,
wann man schnell einschreiten muss; in der
heutigen Zeit der Polypragmasie und der
immer noch verbreiteten laxen Auffassung
der Bedeutung eines künstlichen Abortus,
hoffe ich von Ihnen, dass Sie sich vor
allen Eingriffen, die nicht streng angezeigt
sind, gerade bei der Complication von
Herzkranken mit Schwangerschaft hüten,
aber dass Sie auch im Stande sind zur
rechten Zeit, Wenn es nöthig ist, die ein¬
greifenden Maassregeln anzurathen.
Die Behandlung der Syphilis mit Calomelinjectionen.
Von B. Lasstr- Berlin.
Eines der Themata, welche für die Ver¬
handlungen der dermatologischen Section
des internationalen medicinischen Con-
gresses in Berlin im Jahre 1890 aufgestellt
war, lautete: Die speciellen In di cationen
der verschiedenen Applicationsweisen des
Quecksilbers. Das Thema war von mir
aufgestellt — zu seiner Beantwortung
haben die Verhandlungen des Kongresses
Digitized by CjOOCJlC
herzlich wenig beigetragen, Und doch ist
diese Frage von der grössten Wichtigkeit
für jeden Arzt, welcher nicht in rein sche¬
matischer Weise die Behandlung der Sy¬
philis betreibt, welcher nicht schon damit
zufrieden ist, im gegebenen Falle die Dia¬
gnose „Syphilis“ zu stellen und nun,
gleichviel weiche Erscheinungen der Sy¬
philis er vor sich hat, das Quecksilber in
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
22
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Januar
irgend einer ebenfalls wieder beliebigen
Form zu geben. — „Das Quecksilber be¬
seitigt ja unter allen Umständen die Er¬
scheinungen der Syphilis“! Die genauere
Beobachtung lehrt nämlich doch, dass den
verschiedenen Applicationsweisen des
Quecksilbers ein ganz verschiedener Werth
zukommt, nicht nur bezüglich der Intensität
ihrer Wirkung im Allgemeinen, sondern
auch — ich möchte sagen — bezüglich der
Qualität ihrer Wirkung im Besonderen,
diesen oder jenen Symptomen gegenüber.
Je genauer wir diese Verschiedenheit der
Wirkungen der einzelnen Quecksilberappli-
cationen kennen, um so sicherer werden
wir hn einzelnen Falle die gerade für diesen
Fall beste Behandlungsweise anwenden und
so den Patienten am schnellsten und sicher¬
sten hersteilen können. Aber leider sind
wir noch weit davon entfernt, in jedem
Falle von Syphilis diesen Anforderungen
genügen zu können, und nur für einzelne
Anwendungsweisen des Quecksilbers ist
über die besondere Wirkung gewissen Er¬
scheinungen der Syphilis gegenüber Ge¬
naueres bekannt
Eine solche in ihren Indicationen besser
gekannte Anwendungsweise des Queck¬
silbers ist die Behandlung mit Calomel-
injectionen, eine Methode, welche zuerst
von Scarenzio bereits im Jahre 1864 ange¬
wendet wurde, dann aber wegen der
grossen Unbequemlichkeiten für die Kran¬
ken wieder in Vergessenheit gerieth. Erst
durch Srairnoff wurde im Jahre 1883
diese Methode wieder zu Ansehen ge¬
bracht und seitdem hat dieselbe ein dauern¬
des Interesse erregt und — je nachdem —
Befürwortung oder Ablehnung erfahren.
Zunächst wurde die Methode, wie dies
ja mit neuen oder von neuem wieder in
Erinnerung gebrachten Methoden so häufig
geschieht, von manchen Seiten mit dem
grössten Enthusiasmus aufgenommen und
als die beste Behandlungsmethode der
Syphilis überhaupt angepriesen. Aber in
dieser Hinsicht kann ich Fournier nur
Recht geben, der sie als „methode d*ex-
ception“ bezeichnet und nach Aufzählung
der verschiedenen Nachtheile und Unzu¬
träglichkeiten von ihr sagt: Pour toutes
les raisons susdites, eile ne saurait ötre
agr€e en tant que methode usuelle,
courante, en tänt que traitement de lon-
gue haieine ä proposer ä nos malades.
A ce titre, ce serait la pire methode a
choisir. 1 )
Der Hauptgrund, der zu dieser Zurück¬
haltung und schliesslich vielfach zu einer
>) Traitement de la Syphilis, p. 341.
Digitized by Google
noch viel weiter gehenden Ablehnung
führte, waren die bei der häufigeren An¬
wendung der Calomelinjectionen in grösserer
Zahl beobachteten schweren, ja tödtlichen
Quecksilbervergiftungen. Es genügt hier,
auf die bekannten tödtlich verlaufenen
Fälle von Smirnoff, Kraus, Runeberg
und Gaucher hinzuweisen. 1 ) Diese und
andere schwere, wenn auch nicht tödtliche
Vergiftungsfälle führten dazu, dass viele
Aerzte die Calomelinjectionen und mit
ihnen die Injectionen der anderen unlös¬
lichen Quecksilberverbindungen auf den
Index schrieben und als zu gefährlich voll¬
ständig verwarfen.
Dafür, dass dieser Standpunkt nicht der
richtige ist, möchte ich wiederum Four¬
nier anführen, der trotz seiner durch das
obige Citat gekennzeichneten Vorsicht und
Zurückhaltung das Studium der Wirkungs¬
weise der Calomelinjectionen nicht aus dem
Auge verloren hat und im Jahre 1896 in
der französischen dermatologischen Gesell¬
schaft eine Reihe besonderer Indicationen
für dieselben aufstellte. Er hatte gefunden,
dass die Calomelinjectionen von einer be¬
sonders günstigen, ja manchmal geradezu
von einer überraschenden Wirksamkeit
sich erwiesen:
1 . bei schwerem, phagedaenischem Schan¬
ker der Zunge,
2. bei maligner Syphilis (mit frühzeitigem
Auftreten schwerer ulceröser Erschei¬
nungen),
3. bei tertiärer sclerotischer Glossitis,
4. bei schwerer Laryngitis,
5. bei hartnäckigen secundären Zungen-
affectionen,
Ganz besonders für die gallopirende
Syphilis und für die tertiäre Glossitis, die
unter der Form der syphilitischen Schwiele
auftritt, kann ich diese Aufstellung nach
meinen zum Theil schon weit zurückliegen¬
den Erfahrungen auf das Vollste bestätigen.
Es ist geradezu erstaunlich, wie in den
Fällen von gallopirender Syphilis die zahl¬
reichen, den ganzen Körper bedeckenden
Geschwüre nach zwei bis drei Injectionen
von je 0,1 Calomel meist völlig geheilt
sind. Und ganz besonders muss hervor¬
gehoben werden, dass dieses Resultat sich
fast nie mit einer Schmierkur oder einer
Sublimatinjectionskur erreichen lässt. Ja,
früher perhorrescirten sogar Viele — zu
denen auch ich gehörte — in diesen Fällen
die Anwendung des Quecksilbers über¬
haupt, weil sie die Erfahrung gemacht
hatten, dass unter dieser Behandlung die
0 cf. die Arbeit von Neubeck, Dermatol.
Zeitschr. Bd. IX Heft 4.
Original from
UNIVERSITf OF CALIFORNIA
Januar
23
Die Therapie der
Geschwüre nicht nur nicht heilten, sondern
sich sogar verschlimmerten. Und dasselbe
gilt von der tertiären indurativen Glossitis.
Diese Fälle sind noch beweisender, weil
vielfach bereits Schmierkuren und Dar¬
reichung von Kalium jodatum in hohen
Dosen bei derartigen, unter Umständen
schon Monate und selbst Jahre bestehen¬
den Zungenaffectionen ohne Erfolg ge¬
macht sind — nach einigen Calomelinjec¬
tionen verschwinden die Infiltrate völlig
oder fast völlig!
Diese Fälle beweisen auf das Unwider-
leglichste, dass eben doch den Calomel-
injectionen unter diesen Umständen eine
ganz besondere Wirksamkeit zukommt.
Auch für die schweren Iritiden giebt es
kein zuverlässigeres Mittel als die Calomel-
injcctionen.
Diese Erfahrungen bei schweren, von
den anderen Applications weisen des Queck¬
silbers erheblich weniger zu beeinflussen¬
den Syphiliserscheinungen legen den Ge¬
danken nahe, ob nicht Oberhaupt bei allen
schweren Syphiliserscheinungen der inne¬
ren Organe und ganz besonders bei den
Erkrankungen des Centralnervensystems,
wo es doch so sehr auf die rasche und ener¬
gische Wirkung ankommt, Calomelinjec-
tionen anzuwenden seien. Ein abschliessen¬
des Urtheil über diese Frage ist zur Zeit
noch nicht möglich; jedenfalls sehen wir
bei frischen gummösen Erkrankungen des
Gehirns so ausgezeichnete Erfolge von
einer mit der Darreichung von Kalium
jodatum combinirten Schmierkur, dass für
diese Fälle ein Grund, zu den Calomel-
injectioncn zu greifen, nicht vorliegt. In
alten Fällen aber, bei denen die gewöhn- {
liehe Behandlung den Erfolg versagt, ist es
gewiss berechtigt, schliesslich als ultima
ratio die Calomelinjectionen anzuwenden.
Die Technik und die Dosirung dart ich
als bekannt voraussetzen und möchte nur
erwähnen, dass ich als Suspensionsflüssig-
keit stets Oleum olivarum nehme, dass als
erste Dosis 0,05 und später je 0,1 Calomel
zu injiciren ist Die Injectionen sind in
achttägigen Intervallen zu machen und
mehr als vier bis fünf Injectionen sind nie
hinter einander zu appliciren.
Die Calomelinjectionen führen nun, wie
ich schon oben angedeutet, häufig zu un¬
angenehmen Nebenwirkungen und zu
schweren toxischen Erscheinungen.
Von relativ geringer Bedeutung sind die
lokalen Nebenwirkungen an der Einsprit¬
zungsstelle, schmerzhafte Infiltrate, die
nicht ganz selten zur Erweichung und zum
Durchbruch nach aussen führen. Aber
□ ifitized by Google
Gegenwart 1903.
diese immerhin manchmal recht störenden
Ereignisse sind bedeutungslos gegenüber
den toxischen Wirkungen, die wir bei den
Calomelinjectionen beobachten. In diesen
Fällen treten unter hohem Fieber univer¬
selle Erytheme, schwere Stomatitiden,
Nephritis und vor allem Enteritis, die
hauptsächlich den Dickdarm betrifft, mit
ruhrartigen Erscheinungen auf — kurz die
Symptome der Quecksilbervergiftung.
Wie gewöhnlich bei den Quecksilberver¬
giftungen prävalirt in dem einen Fall das
eine, in dem anderen Falle das andere
Symptom, während die übrigen zurück¬
treten oder gar nicht vorhanden sind. In
einer nicht ganz kleinen Zahl von Fällen
ist der Verlauf ein ungünstiger gewesen
und hat die Krankheit mit dem Tode ge¬
endigt. Und wenn auch bei den anderen
Applicationsweisen des Quecksilbers, selbst
bei der Schmierkur, derartiges auch Vor¬
kommen kann und thatsächlich vorge¬
kommen ist, so lässt sich doch nicht leug¬
nen, dass den Calomelinjectionen — ich
möchte hier etwas allgemeiner sagen den
Injectionen mit unlöslichen Quecksilber¬
verbindungen oder mit metallischem
Quecksilber — eine grössere Gefährlichkeit
zukommt als den anderen Methoden.
Die Ursachen hierfür sind ja leicht
zu verstehen. Bei der Anwendung der
unlöslichen Quecksilberverbindungen wird
auf einmal eine verhältnissmässig grosse
Menge Quecksilber dem Körper einverleibt,
von dem wir erwarten, dass es allmählich
in eine lösliche Verbindung umgesetzt und
resorbirt wird. Aber die Vorgänge, welche
diese Modification herbeiführen, sind uns
unbekannt und es scheint, dass dieselben
manchmal in langsamerer und manchmal
in rascherer Weise vor sich gehen. So
kann es entweder bei Idiosynkrasie, bei
Intoleranz gegen das Quecksilber über¬
haupt, zu einer Vergiftung kommen da¬
durch, dass selbst die erste halbe Dosis
schon zu hoch für das betreffende Indivi¬
duum ist, und zweitens kann auch bei nor¬
mal dem Quecksilber gegenüber reagiren-
den Menschen eine cumulative Wirkung
eintreten, wenn die anfänglich nur lang¬
sam vor sich gehende Resorption nach der
Anlegung mehrerer Depots plötzlich in
rascher Weise erfolgt. Dann versagen die
Regulirungsvorrichtungen, die bei einer
gleichmässigen Zuführung des Quecksilbers
in geringen Mengen den Körper vor den
toxischen Wirkungen geschützt haben
I würden, und die Vergiftung tritt ein.
Hieraus ergiebt sich bereits, dass es
bei den Calomelinjectionen viel schwieriger
Original frn-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
24
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Januar
ist als zum Beispiel bei der Inunctions-
oder Sublimatinjectionscur die Intoxica-
tioncn zu vermeiden, denn die ersten Er¬
scheinungen treten auf entweder gleich
nach der ersten Injection oder nachdem
der Kranke 2, 3 oder 4 Spritzen erhalten
hat. Die Verhältnisse liegen im letzteren
Falle ähnlich wie bei der Röntgen Verbren¬
nung, bei der auch kein Symptom dem Arzt
bemerklich macht, dass der Kranke schon
genug und übergenug hat, so dass die Be¬
lichtung noch fortgesetzt wird, obwohl der
üble Ausgang in heimtückischer Weise
sich schon vorbereitet.
Und sind die Vergiftungserscheinungen
da, dann ist der grosse Uebelstand der,
dass im Körper noch unresorbirtes Queck¬
silber liegt, von dem weiter und weiter
gelöste Mengen in den Säftestrom über¬
gehen und so die Gefahr vergrössern. Es
ist die Exstirpation der Injectionsstellen
vorgeschlagen und zweimal auch ausgeführt
worden. Aber in Wirklichkeit wird dieses
operative Vorgehen nur sehr selten aus¬
führbar oder wenigstens mit Vortheil aus¬
führbar sein. Denn wenn mehrere Injec-
tionen gemacht sind, würde die noch dazu
an einer ungünstigen Stelle zu machende
Operation sich zu einem schweren und an
sich möglicherweise verhängnissvollen Ein¬
griff gestalten. So muss der Arzt mit ver¬
schränkten Armen dem leider manchmal
unheilvollen Gange der Dinge Zusehen.
Möglich wäre es vielleicht, dass durch
Mittel, welche die Schweisssecretion, die
in diesen Fällen stets gänzlich darnieder¬
liegt, anregen, ein Nutzen geschaffen und
eine raschere Elimination des Quecksilbers
bewirkt werden könnte.
Diese üblen Erfahrungen machen es
dem Arzte zur Pflicht, bei der Anwendung
der Calomelinjectionen mit der grössten
Vorsicht vorzugehen und sie nur da an¬
zuwenden, wo sie wirklich nothwendig sind
wegen eines schweren Symptoms, welches
auf anderem Wege nicht oder nicht güt
beseitigt werden kann. Die Calomel¬
injectionen sind eine exceptionelle Me¬
thode, die niemals als landläufige
Behandlungsart der Syphilis, sondern
nur unter ganz besonderen Umständen an¬
gewendet werden darf.
Zusammenfassende Uebersicht.
Zur Tuberkulosefrage.
Referat von Privatdoceot Dr. F. Kl SOI per er- Berlin.
Die Frage der Uebertragbarkeit der
Rind er tuberkulöse auf denMenschen,
die R. Koch in seiner bekannten Mitthei¬
lung auf dem Londoner Tuberkulosecön-
gress entrollt hat, steht in so enger Be¬
ziehung zur praktischen Thätigkeit des
Arztes, dass es gerechtfertigt erscheint,
sie in allen Phasen ihrer weiteren Ent¬
wickelung in diesem Blatte zu verfolgen.
Anlass, heute auf diese Frage zurück¬
zukommen und ihren gegenwärtigen Stand
darzulegen, giebt die kürzlich in Berlin
abgehaltene internationale Tuber-
kuloseconferenz (22.—26. Oktober 1902),
auf der Koch selbst das Wort ergriff, und
ein im Anschluss an dieselbe gehaltener
Vortrag von E. v. Behring. Der Stand¬
punkt Beider soll im Folgenden wieder¬
gegeben werden.
Auf der Tuberkuloseconferenz eröffnete
Kaiserlichen Gesund¬
heitsamtes, Geh. Rath Köhler, die Dis-
cussicn mit einem ausführlichen Referate, 1 )
das nach kritischer Würdigung der seit
Koch’s Mittheilung publicirten Experi-
l ) Deutsch med. Wochenschr. 1902, No. 45.
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mente und Beobachtungen zu dem Schlüsse
kam: Weder die Gleichheit, noch die
Verschiedenheit der Rinder- und
der Menschentuberkulose, noch end¬
lich die Uebertragbarkeit der Rin¬
dertuberkulose auf den Menschen
ist bisher abschliessend bewiesen
oder widerlegt worden; es bedarf noch
weiterer wissenschaftlicher Arbeit. Bezüg¬
lich der hygienisch - praktischen Conse-
quenzen äusserte Köhler, dass wir von
jeher in Deutschland die Uebertragbarkeit
der Tuberkulose durch thierische Nahrung
nicht für so wichtig gehalten haben, wie
diejenige vom Menschen auf den Menschen.
Deshalb dürfte, was bei uns an Maass¬
regeln zum Schutze nach dieser Richtung
getroffen sei, auch in Zukunft, wenn auch
vielleicht mit etwas abweichender Begrün¬
dung, beizubehalten sein. Insbesondere
werde an der Abkochung der Milch vor
dem menschlichen Genuss schon um des¬
willen festgehalten werden müssen, weil
die Milch sich auch für die Erreger anderer
Krankheiten, z. B. Typhus, Scharlach, Maul¬
und Klauenseuche, als ein günstiger Nähr¬
boden erwiesen hat; für das Fleisch tuber-
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Januar
Oie Therapie der Gegenwart 1903.
27
kulöser Thiere dagegen beständen schon
in dem neuen Gesetze Ober die Schlacht¬
vieh- und Fleischbeschau vom 3. Juni 1900
sehr maassvolle Bestimmungen, 1 ) die in
naher Zukunft schwerlich zu ändern wären.
Die sich anschliessende Discussion be¬
stätigte durch ihren Verlapf die Fest¬
stellung Köhler’s, dass ein Abschluss und
eine Einigung in der Frage noch nicht er¬
reicht sei. Die Mehrzahl der Redner
aber — Nocard (Paris), Hüppe (Prag),
M. Wolff (Berlin), Bang (Chrisriania) —
wendete sich gegen Kocli’s Anschauung
von der Verschiedenheit der Menschen-
und Rindertuberkulose und hielt nach wie
vor an der Gefährlichkeit der Producte
tuberkulöser Thiere fest, die deshalb
streng von dem Gebrauch als Nahrungs¬
mittel ausgeschlossen werden müssten.
Zur Entgegnung führte Koch Folgendes
aus:*) Die bisher gesammelte Statistik
über primäre Intestinaltuberkulose
sei etwas unsicher und zu sehr mit
Widersprüchen behaftet, als dass sie
als ausschlaggebendes Beweismaterial ver-
werthet werden könnte. Aus England, wo
nach Angabe einiger Autoren diese Form
der Tuberkulose besonders häufig sein
soll, liegen andere Berichte vor, welche die
primäre Intestinaltuberkulose als weniger
häufig (Carr sah nur 5 Fälle unter 53
tuberkulösen Kindern) oder sogar sehr
selten bezeichnen. Auch die amerikani¬
schen Berichte gehen weit auseinander:
Councilman zählt in Boston 37,1%, Bo-
vaird in New-York nur 1,4<>/ 0 (unter 369
tuberkulösen Kindern nur 5 mit primärer
Intestinaltuberkulose). In Deutschland steht
Heller (Kiel), der 37,8% primärer Darm¬
tuberkulose bei den Obductionen tuber¬
kulöser Kinder fand, vereinzelt da; alle
anderen Autoren und auch Koch's per¬
sönliche Erkundigungen lassen die primäre
Darmtuberkulose als ein recht seltenes
Vorkommniss erscheinen. Virchow hat
Koch einen Fall von primärer Darmtuber¬
kulose*) zur Verfügung gestellt und dabei
J ) „Fleisch van Thieren, welche in Folge von
Tuberkulose abgemagert sind, sowie Fleischtheile,
welche durch tuberkulöse Vorgänge verändert sind,
dürfen schon mit Rücksicht auf ihre ekelerregende
Beschaffenheit nicht in den Verkehr gelassen werden,
während, wenn nur ein einzelnes Organ erkrankt
ist, das Ausschneiden desselben auf alle Fälle ge¬
nügen dürfte, um das Übrige Fleisch genusstauglich
zu erhalten. 11
*) Deutsche med. Wochenschr. 1902, No. 48.
s ) Von diesem Falle züchtete Koch eine Rein-
cultur von TuberkelbaciUen, die sich als vollkommen
avirulent für das Rind erwies, ein Befund, der dafür
spricht, dass die Infection vom Menschen, nicht vom
ausdrücklich bemerkt, dass derartige Fälle
in seinem Institute nicht oft, etwa drei- bis
viermal im Jahre vorkämen.
Aus diesen auffallenden Widersprüchen
in den statistischen Angaben über primäre
Intestinaltuberkulose folgert Koch, da für
die Annahme örtlicher Gründe nicht der
geringste Anhaltspunkt gegeben ist, „dass
das subjective Urtheil darüber, was man
unter primärer Darmtuberkulose zu ver¬
stehen habe, noch recht unsicher ist und
dass manche die Bezeichnung noch auf
Fälle anwenden, bei denen andere sie nicht
gelten lassen würden.*
Koch geht dann auf die bisher mitge-
theilten Beobachtungen von Hautinfec-
tionen bei Thierärzten, Fleischern und
Schlachthofarbeitem über, die alle das
Gemeinsame haben, dass die durch Ver¬
letzung der Hände oder Arme beim Zer¬
legen perlsüchtigen Viehs acquirirte tuber¬
kulöse Affection localisirt blieb und nicht
zu einer Tuberkulose der inneren Organe
führte, vielmehr als ein unbedeutendes, oft
von selbst heilendes Leiden der Haut ver¬
lief. Nur ganz vereinzelte Fälle finden sich
in der Litteratur, in denen es zu einer
Allgemeininfection gekommen sein soll
Diese Fälle aber halten der Kritik nicht
Stand. In dem Pfeifferschen Falle eines
Thierarztes, bei welchem sich % Jahre
nach einer Verletzung am Finger eine im
Verlauf von weiteren 1 Vs Jahren zum Tode
führende Lungentuberkulose entwickelte,
erwiesen sich bei der Obduction die
Achseldrüsen frei von Tuberkulose,
woraus gefolgert werden muss, das zwi¬
schen der Infection am Finger und der
Lungentuberkulose ein Zusammenhang
nicht bestand. In einem anderen Falle,
wo in Berlin ein Thicrarzt sich ft bei der Ob¬
duction einer perlsüchtigen Kuh am Zeige¬
finger verletzt haben, in Folge dessen
lungenkrank geworden und an Haemoptoe
gestorben sein sollte, stellte sich bei so¬
fortiger Nachfrage heraus, dass der Be¬
treffende aus tuberkulöser Familie stammte
und schon vor der Verletzung un¬
zweifelhafte Symptome von Lungentuber¬
kulose gezeigt hatte. Diesen spärlichen
und mangelhaften Beobachtungen, denen
eine Beweiskraft nicht innewohnt, stellt
Koch das von Baumgarten mitgetheilte
perlsüchtigen Rinde stammte. Doch muss erwähnt
werden, das 9 M. Wolff, wie er in der voraufgehen¬
den Discussion mittheilte, mit Material von dem¬
selben Falle Perlsucht bei einem Rinde er¬
zeugte. Koch behält sich die Erörterung der
Gründe dieser widersprechenden Resultate für ein¬
andere Gelegenheit vor.
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Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
26
Januar
Die Tht-mp e der
Experiment 1 ) der subcjtanen Injection von
Perlsuchtbacillen bei Krebskranken ent¬
gegen, welches nur die eine Deutung zu¬
lässt, dass die betreffende Perlsuchtcultur ]
bei subcutaner Injection keine Virulenz für
den Menschen besessen hat.
Den Beobachtungen über primäre Inte¬
stinaltuberkulose und über local bleibende
Hautinfectionen aber schreibt Koch für
die Entscheidung der Frage von der Ueber-
tragbarkeit der Rindertuberkulose auf den
Menschen überhaupt keine so grosse Be¬
deutung zu — er hält sie nur für in-
directe Beweise: bei der primären ln-
testinaltuberkulose bleibt immer noch die
Frage zu entscheiden, ob sie auch wirk¬
lich durch Perlsucht bedingt ist und nicht
vielmehr durch menschliche Tuberkulose,
mit welcher wir doch wegen ihrer ausser¬
ordentlichen Verbreitung in jedem ein¬
zelnen Falle zu rechnen haben; das Vor¬
kommen localer Perlsuchtinfection nach
Verletzung der äusseren Haut andererseits
beweist noch keineswegs, dass die Perl¬
suchtbacillen nun auch im Stande sind,
die unverletzte Darmschleimhaut zu infi-
ciren oder, wenn sie dieselbe spurlos zu
passiren vermögen, die Mesenterialdrüsen
tuberkulös zu machen und von ihnen aus
eine Allgemeininfection zu erzeugen.
Wichtiger wäre der directe Beweis,
welcher nach Koch’s Meinung der Be¬
obachtung nicht entgehen könnte, wenn die
tuberkulöse Infection durch den Genuss
von perlsüchtigem Fleisch und Milch in
Wirklichkeit so häufig vorkäme, wie be¬
hauptet wird, d. i. das Vorkommen von
Gruppen- und Massenerkrankungen,
wie sie bei anderen Infectionskrankheiten,
welche durch den Genuss von Fleisch und
Milch auf den Menschen Übertragen
werden — bei den sogenannten Fleisch¬
vergiftungen, ferner bei den Erkrankungen
in Folge des Genusses von Fleisch milz¬
brandkranker Thiere, auch bei der Ueber-
tragung von Typhus durch die Milch —
längst bekannt sind. Bei der Tuberkulose
liegen die Verhältnisse insofern freilich an¬
derswie bei den angeführten Infectionskrank¬
heiten, als die Inkubationsfrist der Tuber¬
kulose eine erheblich längere ist und die
Erkrankungen darum zeitlich nicht so zu¬
sammengedrängt zu erscheinen brauchten,
wie z. B. beim Typhus. Andererseits
würde die Tuberkuloseinfection wieder da¬
durch begünstigt, dass die Ingestion der
Tuberkelbacillen sich bei denjenigen Men¬
schen, welche auf den Genuss von perl¬
süchtigen Nahrungsmitteln angewiesen sind,
Vergl. diese Zeitschr. 1901, S. 445.
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Gegenwart 1903.
vielfach wiederholt und über einen länge¬
ren Zeitraum erstreckt, wodurch die Wahr¬
scheinlichkeit für das Zustandekommen der
] Infection wesentlich erhöht wird.
Koch sieht nun die Litteratur nach
Mittheilungen über derartige Gruppen¬
oder Massenerkrankungen nach Genuss
tuberkulöser Nahrungsmittel durch und es
ergiebt sich bezüglich des perlsüchtigen
Fleisches ein vollkommen negatives
Resultat: Trotzdem „tagtäglich ungezählte
Mengen tuberkulöser Organe in den Ver¬
kehr kommen und verzehrt werden*
(Ostertag), findet sich doch in der gan¬
zen Litteratur keine einzige Beobachtung
von Gruppen- oder Massenerkrankung in
Folge von Genuss perlsüchtigen Fleisches,
ja nicht einmal eine Einzelerkrankung ist
beschrieben worden; es fehlt also voll¬
ständig an Berichten über Gesundheits¬
schädigungen durch perlsüchtiges Fleisch.
Dagegen liegen mehrfache Mittheilungen
vor, die das Gegentheii beweisen; man
fand bei einer nach dieser Richtung ange-
stellten Sammelforschung viele Familien,
ja ganze Dörfer, welche gewohnheits-
mässig perlsüchtiges Fleisch verzehrten,
ohne dass die Tuberkulose in ihnen häu¬
figer vorkam, als anderswo. In Folge
dessen herrscht denn auch in Bezug aut
die Gefährlichkeit des perlsüchtigen Flei¬
sches unter den Autoren eine sehr milde
Auflassung, die auch die Gesetzgebung
sich zu eigen gemacht hat (s. oben).
Es erscheint Koch als ein unlösbarer
Widerspruch, dass neuerdings der Milch
tuberkulöser Thiere gegenüber eine erheb¬
lich schärfere Auffassung Platz gegriffen
hat, da doch die Perlsuchtbacillen im
Fleische unzweifelhaft identisch sind mit
den in der Milch vorkommenden.
Bei der Verbreitung der Eutertuberkulose
unter den Kühen ist das Vorkommen von
Tuberkelbacillen in der Milch 1 ) und in der
Butter („welche erwiesenermaassen sehr
häufig lebende Perlsuchtbacillen enthält*)
ein so häufiges, dass Koch sich zu der
Behauptung berechtigt glaubt, „dass wohl
fast alle Menschen im Laufe ihres Lebens
mehr oder weniger oft und auch in nicht
so sehr geringen Mengen lebende Perlsucht¬
bacillen genossen haben.*
Und dem gegenüber findet Koch in der
gesammten Litteratur nur 2 Gruppen¬
erkrankungen und 28 Einzelerkran-
l ) Koch betont, dass einfaches kurzes Aufkochen
der Milch in GefAssen mit weiter Oeffnung die Tu-
berkelbacilien nicht abtötet, hierzu vielmehr ein gleich-
missiges Sieden während mehrerer Minuten erforder¬
lich ist (Beck).
Original fro-m
UNIVERSITf 0F CALIFORNIA
Joftttar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
27
kungen, die auf den Genuss von Perl-
suchtmilch zurückgeführt werden. Die
beiden Gruppenerkrankungen sind von
Ollivier und Hüls mitgetheilt. In Olli-
vier's Fall (Acad. de Mddecine, 24. Febr.
189!) erkrankten 13 Schülerinnen eines
Madchenpensionats, in dessen Stallung seit
Jahren eine mit Eutertuberkulose behaftete
Kuh gehalten wurde, im Laufe von wenigen
Jahren an Tuberkulose und 6 starben.
Ollivier selbst aber hat später mitgetheilt,
dass die Milch der fraglichen Kuh nicht
von den Pensionärinnen getrunken wurde, j
sondern nur von dem Unterrichtsperbonal j
und den Dienstboten der Anstalt — unter
diesen aber erkrankte kein Einziger. Da¬
mit scheidet natürlich Ollivier’s Fall aus.
Hüls* Beobachtung (Münch, med. Woch.
1902) betrifft eine Müllerfamilie von 9 Per¬
sonen, welche angeblich jahrelang Milch,
Butter und Fleisch von tuberkulösen Thieren
genossen hatte und sonst keine Gelegen¬
heit zur Icfection gehabt haben soll. Sieben
Mitglieder dieser Familie starben an
Schwindsucht. Die Reihenfolge der Er¬
krankungen aber (zuerst erkrankte die
Mutter, im folgenden Jahre das jüngste
Kind u. s. f.), ihre zeitliche Ausdehnung
über 4 —5 Jahre (bei Entstehung aus ge¬
meinsamer Nahrungsmitteiinfection hätten
die Erkrankungen nach Koch im Laufe
eines halben Jahres oder höchstens eines
Jahres erfolgen müssen) lässt Koch die
Ueberzeugung gewinnen, dass es sich hier,
wie so oft, um eine fortlaufende Kette
von Contactinfectionen gehandelt hat.
Die 28 Fälle von Einzelinfectionen, denen
Koch sich danach zuwendet, halten seiner
Kritik erst recht nicht Stand. Wir können
auf diese Fälle und die Ausstellungen, die
Koch bezüglich ihrer Zuverlässigkeit macht,
hier nicht näher eingehen und begnügen
uns, die Forderungen wiederzugeben, die
Koch aufstellt, damit „an Stelle des jetzt
vorliegenden, völlig unbrauchbaren Ma¬
terials zuverlässige Beobachtungen ge¬
sammelt werden". Ein Fall von angeblicher
Infection nach Genuss von Perlsuchtmilch
soll, um beweisend zu sein, folgende Be¬
dingungen erfüllen: 1. muss der sichere
Nachweis der Tuberkulose überhaupt, wo¬
möglich auch des Ausgangspunktes der¬
selben geliefert werden (Obduction);
2 . müssen andere Infectionsquellen mit
Sicherheit ausgeschlossen werden; 3. ist
das Verhalten der übrigen Personen, welche
dieselbe Milch getrunken haben, zu berück¬
sichtigen; und 4. ist auf die Herkunft der
Milch zu achten (Nachweis der Euter¬
tuberkulose).
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Diesen Anforderungen genügt keiner
der bisher mitgetheilten Fälle und deshalb
kommt Koch zu dem Schlüsse, dass bis¬
her die schädliche Wirkung der Perl¬
suchtmilch und ihrer Producte nicht
erwiesen ist.
Maassregeln in Bezug auf Perlsucht¬
fleisch und Perlsuchtmilch, welche zur Be¬
kämpfung der menschlichen Tuberkulose
dienen sollen, lassen sich daher nachKoch’s
Ansicht zur Zeit nicht begründen und er
räth, statt Mittel für etwas auszugeben, was
noch garnicht bewiesen ist, sie vielmehr
für solche Maassregeln zu verwenden,
welche mit Sicherheit eine Abnahme der
menschlichen Tuberkulose zur Folge haben
müssen. Das ist in erster Linie die Sorge
für diejenigen Phthisiker, welche
eine beständige Gefahr für ihre Um¬
gebung bilden. Es sind dies ersichtlich
nicht so sehr diejenigen Fälle, welche die
Verfechter der Heilstättentherapie, so wie
dieselbe sich in den letzten Jahren entwickelt
hat, ins Auge fassen, als vielmehr die vor¬
geschritteneren Fälle. Für diese soll
durch Schaffung günstigerer Verhältnisse
z. B. in Bezug auf Wohnung oder durch
Unterbringung in geeigneten Anstalten ge¬
sorgt werden. Koch schliesst mit dem
dringenden Rath, diese Aufgabe in Zu¬
kunft mehr in den Vordergrund der Tuber¬
kulosebekämpfung zu stellen, als es bisher
geschehen ist
* *
*
Diese Mahnung, die Koch in seinem
Londoner Vortrag bereits ausgesprochen
hat, verdient die ernsteste Beachtung. In
dem neuerdings mehrfach hervorgetretenen
Bestreben, die Zweckmässigkeit und die
Erfolge der modernen Heilstättenbewe¬
gung einer kritischen Prüfung zu unter¬
ziehen (vgl. Th. d. Geg. 1902, S. 500),
scheint sie auch bereits eine erfreuliche
Wirkung zu äussern. Die Forderungen
aber, die Koch an einen Fall stellt, damit
er für die Uebertragbarkeit der Tuber¬
kulose vom Rind auf den Menschen als
beweisend angesehen werden könne, sind
kaum im ganzen Umfange zu erfüllen. Ein
sicherer Ausschluss aller anderen Infections¬
quellen ist wohl so gut wie unmöglich und
auch das Verhalten der übrigen Personen,
die von demselben tuberkulös inficirten
Nahrungsmittel genossen haben, kann nicht
als entscheidend in Betracht kommen. Es
steht ja nicht in Frage, dass Perlsuchtmilch
beispielsweise alle Personen, die sie ge¬
messen, inficiren muss, sondern nur, ob
sie die eine oder andere von ihnen inficiren
Üri^tral frem
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
28
Januar
Die Therapie der
kann. E. v. Behring, der in einem un¬
mittelbar nach der Tuberkuloseconferenz
(am 1. November 1902 auf der 37. General¬
versammlung des Vereins Kurhessischer
Thierärzte) gehaltenen Vortrage x ) zu K o c h ’s
Ausführungen Stellung nimmt sagt darüber:
„Nun stelle man einmal ähnliche Forderun¬
gen auf für den Beweis, dass ein Mensch
tuberkulös geworden ist durch die Ein-
athmung von tuberkelhaltigem Staub, oder
von Flügge’schen Tröpfchen, oder durch
die Infection mit tuberkelhaltigem Nagel¬
schmutz! Ist doch Jahrhunderte und Jahr¬
tausende lang die Uebertragbarkeit der
Tuberkulose von Mensch zu Mensch über¬
haupt geleugnet worden, und die gegen¬
wärtig geltenden Lehren über die Art der
epidemiologischen Uebertragung sind wohl
auch mehr Glaubens- als Wissenssache!“
Behring hält an der Artgleichheit
der Rinder- und der Menschentuberkel¬
bacillen und an der Infectiosität der Rinder¬
tuberkelbacillen für den Menschen fest.
Seine neuesten, hochinteressanten For¬
schungsergebnisse über die Hühner¬
tuberkelbacillen geben ihm eine wei¬
tere Stütze für diese Anschauung.
Die Hühnertuberkelbacillen zeigen
nicht unwesentliche Verschiedenheiten von
den Säugethiertuberkelbacillen und lassen
sich durch ihr morphologisches wie cultu-
relles Verhalten unschwer von diesen
trennen. Sie wurden deshalb — mit
.wenigen Ausnahmen (Nocard) — bisher
ziemlich allgemein für eine stabile Son¬
derart gehalten. Behring erweist nun
ihre Artgleichheit mit den Rindertuberkel¬
bacillen. Er erhielt 2 schwerkranke
Hühner von einem Waldgut nahe bei Mar¬
burg, auf welchem vor etwas über 2 Jahren
ca. 40 Hühner von einem ausgeschlachteten,
auf dem Gutshof liegengebliebenen stark
tuberkulösen Rinde die Eingeweide ge¬
fressen hatten. 3 Monate später wurden
einige Hühner krank und starben, bald
häuften sich die Todesfälle und schliesslich
blieben nur die zwei Hühner übrig, die
Behring übergeben wurden und von
denen (die Section ergab Tuberkulose)
seine Hühnertuberkelbacillencultur stammt
Diese hatte morphologisch und culturell
alle Charaktere der Hühnertuberkelbacillen,
aber während Hühnertuberkelbacillen sonst
für Säugethiere nur wenig virulent sind,
zeigten die von den 2 Hühnern stammen¬
den Culturen für Meerschweine, Kaninohen
und Rinder annähernd die krank-
‘) Berliner ThierArztliche Wochenschrift. 1902.
47,
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Gegenwart 1903.
machende Energie von Rindertuberkel¬
bacillen. Vollends erwiesen aber wurde
die phylogenetische Zusammengehörigkeit
dieser Hühnertuberkelbacillen mit den Er¬
regern der Rindertuberkulose, welche
durch die Vorgeschichte derselben bereits
sehr wahrscheinlich war, durch die weiter
von Behring ermittelte Thatsache,
dass „gegen Rindertuberkelbacillen
immun gewordene Rinder auch
gegen die Hühnertuberkelbacillen
Immunität erlangt haben und umge¬
kehrt*.
Es scheint, als ob an diese Feststellung
v. Behring’s sich wichtige Consequenzen
für seine grossartigen ;Immunisirungspläne
zur Bekämpfung der Rindertuberkulose,
über die wir neulich berichtet haben (1902
S. 261), knüpfen sollten. Behring sagt,
dass er „den Eindruck gewonnen habe,
dass es leichter ist, mit den besser
resorptionsfähigen Hühnertuberkelbacillen
zu iromunisiren, als wie mit den Bacillen,
die vom Menschen oder vom Rinde
selbst abstammen“.
Hühnertuberkelbacillen und Rinder-
tuberkelbacillen sind also artgleich und
Behring hält es für höchstwahrscheinlich,
dass die Hühner, wie vom Rinde, so auch
vom Menschen» z. B. durch Fressen tuber¬
kulöser Sputa, tuberkulös werden können.
In gleicher Weise sind auch Menschen¬
tuberkelbacillen und Rindertuberkelbacillen
phylogenetisch zusammengehörig, artgleich.
Morphologisch und culturell sind beide
nicht zu unterscheiden — stehen sich also
erheblich näher, als z. B. Rindertuberkel¬
bacillen und Hühnertuberkelbacillen, ja
sogar als Menschentuberkelbacillen und
Arloingtuberkelbacillen, die doch nur durch
eine besondere Behandlung abgeschwächte
Menschentuberkelbacillen sind — und die
verschiedene Virulenz, die allein sie unter¬
scheidet, ist eine veränderliche. Behring
findet, „dass es vom Menschen her¬
stammende Culturstämme giebt, die eine
sehr geringe krankmachende Energie für
Rinder besitzen, und andere, welche ebenso
oder noch mehr virulent sind für Rinder,
als manche vom Rinde stammende Tuberkel-
bacillen“; und er findet weiter, „dass die
Rindertuberkelbacillen ganz im All¬
gemeinen eine höhere Virulenzstufe
der Tuberkelbacillen repräsentiren,
und dass sie auch für den Menschen,
ceteris paribus, schädlicher sind als
Menschentuberkelbacillen (von Men¬
schen stammende Tuberkelbacillen)".
Trotzdem freilich ist der tuberkulöse
Mensch dem Menschen gefährlicher, als das
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
20
tuberkulöse Rind, aber nur, weil die Ge¬
legenheit zur Infection des Menschen mit
Rindertuberkulose nur unter besonderen
Umstanden gegeben ist
Dem Einwand Koch’s, dass bei der so
grossen Verbreitung der Rindertuberkulose
die Darmtuberkulose des Menschen, wenn
sie von inficirtem Fleisch, von Milch und
Butter ihren Ursprung nehmen könnte, sehr
viel häufiger gefunden werden müsste, stellt
Behring den Hinweis entgegen, dass die
Darmtuberkulose bei erwachsenen Men¬
schen überhaupt relativ selten vorkommt,
selten auch im Vergleich zu der enormen
Zahl Lungentuberkulöser, die doch zweifel¬
los immerfort mit dem Speichel ihren In-
testinaltractus zu inficiren Gelegenheit
haben!
Für die Infection kommt eben ausser
der Virulenz und der Dosirung des Infec-
tionserregers und ausser der Infections-
pforte noch ein sehr Wesentliches in Be¬
tracht, das ist der physiologische Zustand
des infectionsbedrohten Individuums.
Für ausserordentlich wichtig nach dieser
Richtung hält Behring die durch Unter¬
suchungen von Prof. Disse festgestellte
Thatsache, dass die Darmschleimhaut des
Neugeborenen der continuirlichen Schleim¬
zone der Epithelzellen und der stärkeren
Schleimsccretion. welche die Intestinal¬
schleimhaut des Erwachsenen besitzt, noch
entbehrt Die Darmschleimhaut des neu¬
geborenen Pferdes, constatirte Behring,
ist für viele Dinge durchgängig, die schon
3 Wochen nach der Geburt nur noch nach
Verletzung der Schleimhaut resorbirt
werden können.
Für die Frage nach der Infectiosität
tuberkelhaltiger Nahrungsmittel bei sto-
machaler Einführung zieht Behring aus
diesen Befunden folgende Nutzanwendung:
„Erwachsene Individuen besitzen im Nor¬
malzustand vermöge ihrer die innere In¬
testinaloberfläche bedeckenden Schleim¬
zellenschicht und vermöge der Schleim-
zellenthätigkeit einen Schutzwall gegen das
Eindringen der Tuberkelbacillen. Neu¬
geborene aber und ganz junge Individuen
sind der Infectionsgefahr in hohem Grade
ausgesetzt, wenn sie beispielsweise mit
tuberkelhaltiger Milch ernährt werden. Das
gilt für den Menschen, wie für das
Rind.“
So löst Behring den vermeintlichen
Widerspruch, den Koch rügt (s. oben), dass
der Perlsuchtmilch gegenüber eine schärfere
Auffassung stattfindet, als dem Perlsucht-
fleisch: In dem von tuberkulösen Rindern
stammendem Fleisch und in tuberkel¬
haltiger Butter sieht er keine grosse Ge¬
fahr, weil sie Nahrungsmittel für Er¬
wachsene sind. Für um so grösser aber
hält er die Gefahr, welche den Säug¬
lingen nach Genuss von tuberkel¬
haltiger Milch droht, mögen die Tu¬
berkelbacillen vom Menschen oder
vom Rinde herstammen. —
Therapeutisches aus Vereinen und Congressen.
Aus der Pariser Sociötl de th6rapeutique.
Die Aetiologie des in ziemlich breiten
Grenzen variirenden, unter dem Namen
der Li ttle’ sehen Krankheit bekannten
Symptomencomplexes, ist noch nicht ge¬
nügend aufgeklärt Einige Autoren be¬
kennen sich jedoch zur Meinung, dass die
genannte Erkrankung syphilitischer resp.
parasyphilitischer Natur (im Sinne Four-
nier’s) ist. Einen Beitrag zu dieser Ansicht
lieferte, in der Sitzung vom 22. October
der Socidtd de therapeutique, P. Gallois,
der ein vierjähriges mit der Little’sehen
Krankheit behaftetes und durch eine interne
Quecksilberbehandlung sehr rasch und be¬
deutend gebessertes Mädchen vorstellte.
Die Kleine stammt aus einer neuropathi-
schen Familie und wurde vorzeitig, im
siebenten Monate der Schwangerschaft,
geboren. Der Vater ist ein gewohnbeits-
mässiger Trinker, jedoch weder bei ihm,
noch bei seiner Frau konnte etwas Positives
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in Bezug auf Syphilis festgestellt werden.
Als vor einigen Monaten Gallois das
Kind zum ersten Male sah, konnte dasselbe
weder gehen noch stehen, hatte einen
blöden Gesichtsausdruck, sprach nur wenig
und wies einen convergirenden Strabismus
auf. Die Untersuchung ergab, dass die
Bewegungsstörungen hier nicht auf Para¬
lysen beruhten, sondern durch spastische
Muskelkontraktionen, wie es bei derLittle-
schen Krankheit der Fall ist, bedingt waren.
In Anbetracht der Frühgeburt des Mäd¬
chens und trotz Mangel anderer Anhalts¬
punkte, entschied sich Gallois für eine
antisyphilitische Therapie. Er Hess das Kind
20 Tropfen Liq. van Swieteni (1 g Sublimat,
100 Spiritus, 899 aq. dest.) pro die nehmen.
Das Resultat war frappirend: schon nach
elftägiger Behandlung war das Mädchen im
Stande, ohne Beihülfe zu gehen. Zwei
Wochen später war der blödsinnige Ge-
Qriginal from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
30
Die Therapie der Gegenwart 19C3
Januar
sichtsausdruck geschwunden; das Kind
wurde munter, spielte fortwährend und
sprach verhältnissmässig viel. Es wurde mit
der Dosis des Liq. van Swieteni langsam
bis zu 60 Tropfen pro die (3 mg Sublimat)
gestiegen. Die Besserung schreitet fort,
aber langsamer als froher. Der Stra¬
bismus blieb aber bis jetzt unverändert. —
Da die Kinder den internen Gebrauch des
Sublimat in Form von Liq. van Swieteni
bekanntlich gut vertragen, kann die inter¬
essante Beobachtung Gallois’ zu weiteren
Versuchen der specifischen Behandlung
der Little’schen Krankheit nur ermu-
thigen. Für die syphilitische Natur der
spastischen Diplegien der Kinder bringt
sie jedoch keinen direkten Beweis, da das
Quecksilber eine auflösende Wirkung
auch auf nicht-syphilitische Produkte, wie
bekannt, entfalten kann. Wenn aber in
dem von Gallois beschriebenen Falle die
Krankheit wirklich syphilitischer Natur
wäre, so würde hier das therapeutische
Resultat im Widerspruch mit der Lehre
Fournier's stehen, nach welcher para¬
syphilitische Erkrankungen — zu denen
auch der Little’sche Symptomenkomplex
zu rechnen ist — der merkuriellen Be¬
handlung widerstehen. Gegen diese Lehre
wird in der letzten Zeit von den jüngeren
französischen Syphilidologen, besonders
von Leredde, ein lebhafter Kampf ge¬
führt. Für Leredde ist die Parasyphilis
nichts anders als Syphilis und muss wie
diese behandelt werden.
In der Sitzung vom 26. November wurde
eine Mittheilung von Schoull (einem in
Tunis prakticirenden französischen Arzte)
über einige neue durch das rothe Licht be¬
handelte Fälle von Scharlach vorgelesen.
In dem ersten dieser Fälle wurde der Kranke
gleich nach dem Erscheinen des Ausschlages
in das „rothe Zimmer*' gebracht, wo er
fünf Tage lang verblieb. Hier verlief der
Scharlach (es handelte sich um eine leichte
Form) ohne jede Complication, ohne jede
Albuminurie. Nach fünf Tagen verschwand
der Ausschlag gänzlich und keine Ab¬
schuppung kam zu Stande. In der zweiten
Beobachtung hatte man es mit einem un¬
bändigen Knaben zu thun, welchen die
Eltern nicht länger wie 2 Tage im rothen
Zimmer halten konnten, weswegen hier die
Abschuppung nicht vermieden wurde. Der
dritte Knabe wurde in das rothe Zimmer
erst am dritten Tag nach Erscheinen des
Ausschlages gebracht. Wahrscheinlich
wegen einer so späten Anwendung der
Lichttherapie und trotz eines viertägigen
Verbleibens im rothen Zimmer entstand
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hier eine leichte Abschuppung, die am
Bauche einen kleienartigen Charakter be¬
hielt; nur an anderen Stellen lösten sich
etwas grössere Epidermisfetzen ab. Be¬
sonders prägnant war die günstige Wirkung
der Lichttherapie beim vierten Patienten,
einem zehnjährigen Knaben, welcher vom
ersten Krankheitstage an 6 volle Tage
unter dem Einfluss der rothen Strahlen
verblieb. In diesem Falle fehlte die Ab¬
schuppung vollkommen.
Was die Art der Anwendung der rothen
Strahlen betrifft, so ist sie eine recht ein¬
fache, da es leicht ist, jedes Krankenzimmer
in eine rothe Kammer zu verwandeln.
Dazu genügt es, Thüre und Fenster mit
rothen Tüchern zu verhängen. Die Vor¬
hänge aber soll man so anbringen, dass
sie das Lüften des Gemaches nicht ver¬
hindern. Die Thüren müssen von innen
und auch von aussen mit rothen Vorhängen
versehen werden, damit bei ihrem Oeffnen
das Tageslicht ins Zimmer nicht eindringen
könnte. Lampen müssen mit rothen
Schirmen versehen sein. Stearinkerzen
können aber ohne solche angezündet
werden. Patient soll unter keinem Vorwand
das rothe Zimmer auch momentan ver¬
lassen; er verbleibt darin bis zum völligen
Verschwinden des Scharlachausschlages.
Kurz, man soll streng nach den von Finsen
für die Behandlung der Pocken mit rothem
Lichte aufgestellten Principien Vorgehen.
Es ist leicht einzusehen, welch grosse
Bedeutung die Lichttherapie bei dem
Scharlach gewinnen könnte, wenn sie sich
bei den meisten Fällen dieser Krankheit
einigermaassen bewährte. Schon die Ab¬
wesenheit der Abschuppung würde die An¬
steckungsgefahr bei dieser Krankeit erheb¬
lich verringern.
Einen interessanten Beitrag zur Frage
über Ansteckungsfähigkeit der epider-
moidalen Abfälle Scharlachkranker und über
die Dauer der Incubation bei der Scarlatina
lieferte folgendes von Schoull mitgetheiltes
Factum. Ein Postpacket mit Büchern, von
einer Familie stammend, wo 13 Monate
vorher zwei Kinder an Scharlach laborirten,
wurde von Tunis nach Tripolis geschickt.
Zur Zeit war in dieser letzten Stadt kein
einziger Scharlachfall vorhanden. Das
Packet wurde morgens früh, gegen 8—9
Uhr, in der Nähe eines gänzlich gesunden
kleinen Knaben, der noch im Bette lag,
geöffnet, und seine papierne Bedeckung
blieb eine halbe Stunde lang am Fusse
des Bettes liegen. Am selben Tage, gegen
5 Uhr Nachmittags, fing das Kind zu
frösteln an und musste sich legen. Am
Original from
UNIVERSITtf 0F CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
anderen Morgen bekam es Kopfweh mit
hohem Fieber, Delirien und Angina;
einige Stunden später erschien ein charak¬
teristischer Scharlachausschlag. Der Schar¬
lach nahm in diesem Falle einen schweren
Verlauf mit Complicationen seitens der
Nieren, der Lungen und der Gelenke.
Wenn der Knabe wirklich, wie es scheint,
durch in die Bücher gelangte Hautschuppen
Scharlachkranker angesteckt worden war,
so würde daraus folgen, dass diese
Schuppen ihre Ansteckungsfähigkeit drei¬
zehn Monate lang bewahrten und dass die
Incubation bei dem durch sie inficirten
Knaben nur acht bis neun Stunden ge¬
dauert hatte.
ln den änderen Pariser gelehrten medi-
cinischen Gesellschaften findet man in der
letzten Zeit wenig Nennenswerthes in Bezug
auf therapeutische Neuigkeiten. Folgendes
mag jedoch erwähnt sein. Erstens, die von
Gassaet in der Sitzung vom 8. November
der Soci£t£ de biologie angegebenen Er¬
folge der Behandlung des Pruritus und der
Urticaria, hauptsächlich der nach Ein¬
spritzung von Diphtherieheilserum ent¬
stehenden, durch innerliche Anwendung
eines aus Lebersaft gewonnenen Extraktes.
Ferner die von Souques in der Sitzung
vom 14. November der Soci£td raödicale
des höpitaux mitgetheilten günstigen Re¬
sultate subcutaner Einspritzungen von
0,0005 Adrenalin (0,5 ccm einer Losung
von 1 : 1000) zur Bekämpfung der Hämoptoe
bei Phthisikern. Endlich die durch Marie
und Crouzon in der Sitzung vom
12. December derselben Gesellschaft ge¬
brachte Bestätigung der schmerzstillenden
Wirkung, welche bei Neuralgien durch das
Einblasen filtrirter Luft in der Nähe der affi-
cirten Nerven eintritt (nach dem bereits be¬
kannten Verfahren der Lyoner Kliniker
Cordier und Vigne, das sich freilich nach
einer in dieser Zeitschrift gemachten Mit¬
theilung von Hester (Freiberg) nicht be¬
währt hat). W. v. Holstein (Paris).
Bücherbesprechungen.
Hermann V. Helmholtz. Von Leo Kö¬
nigsberger. 1. Band. 375 Seiten mit
3 Bildnissen. Verlag von Fr. Vieweg &
Sohn. Braunschweig 1902. (8 Mark).
Die gross angelegte, ausgezeichnete
Helmholtz -Biographie des Heidelberger
Mathematikers L. Königsberger, deren
1. Band kürzlich erschien, hat in der gan¬
zen gebildeten Welt Aufsehen erregt und
Beifall gefunden. Auch in diesem Blatte
darf ihrer wohl Erwähnung geschehen:
Haben an dem grossen Naturforscher und
Denker, dessen Denkmal als schönster
Schmuck und als stolzes Wahrzeichen den
Eingang zur ersten deutschen Hochschule
ziert, wir Aerzte doch ein besonderes An¬
recht, da er selbst als Arzt seine Laufbahn
begann und bis zur Höhe seines Lebens
medicinischen Fac ul täten angehörte. Frei¬
lich sein Genius führte ihn bald über die
Grenzen der Anatomie und Physiologie,
die in Königsberg, Bonn und Heidelberg
sein Lehrfach bildeten, hinaus in die tief¬
sten Probleme der Physik, Mathematik,
Philosophie. Aber was er auf anatomisch-
physiologischem Gebiete, speciell in der
physiologischen Optik und Akustik, ge¬
schaffen, ist unvergänglich und den Aerzten
gab er eine seiner schönsten Entdeckungen,
ein königliches Geschenk, den Augenspiegel!
Königsberger analysirt eingehend
jede einzelne der erstaunlich zahlreichen
Arbeiten von Helmholtz und führt den
Leser so in das Verständniss seiner wissen-
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schaftlichen Entwickelung und Bedeutung
ein. Daneben giebt er — soviel als mög¬
lich in Briefen von und an Helmholtz
— ein Bild seiner menschlichen Persön¬
lichkeit und seines äusseren Lebens. Die
überaus gelungene Durchflechtung dieser
beiden Theile giebt dem ganzen Werke
einen ausserordentlichen Reiz und macht
seine Lektüre leicht und angenehm.
Von besonderer Anmuth ist die Schil¬
derung der Jugend- und Jünglingsjahre.
Rührend ist das Bild der Mutter, die dem
30jährigen Professor schreibt: „Gerade
mein erstes Kind, Du nämlich, mein Wun¬
derkind, wie ich Dich von Deiner Geburt
an nannte, wurde von allen unschön ge¬
funden; mich beunruhigte aber das alles
nicht, ich bewunderte mein Kind, es lächelte
mich, wie es die Augen öffnete, an, ich
sah nichts als Geist und Verstand". Und
köstlich ist das Verhältniss zum Vater, der
aus der alten philosophischen Schule her-
vorgegangen der Richtung des Sohnes an¬
fangs ablehnend gegenübersteht, dann
neidlos von dem grösseren Sohne lernend
ihm mehr und mehr sich nähert, wenn
auch ein Rest von Fremdheit zurückbleibt.
Aber die Differenz in der Lebensanschau¬
ung beider wird glänzend überbrückt durch
die stolze Liebe des Vaters, der nur für
den Sohn Wünsche hegt: dass er ein
reicher Prophet der Wahrheit, ein Mehrer
der Erkenntniss werde, dass er als ein Eck¬
pfeiler für die ewige Menschheit für ewig
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
32
Pie Therapie der
auch auf Erden lebe; „dann tröste ich mich
gern, dass mein Leben so resultatlos vor¬
übergegangen ist“ — und durch die herz¬
liche Pietät des Sohnes, der (um ein Bei¬
spiel anzuführen) dem Vater, als dieser
dem bereits weltberühmten Sohne 1851
gelegentlich der Correspondenz über ein
Buch des jüngeren Fichte schreibt; „Was
nun aber das betrifft, was Du über Philo¬
sophie schreibst, so urtheilst Du doch wohl
ohne gründliche Ueberlegung . . . be¬
scheiden antwortet: „Der Gesichtspunkt,
von welchem aus Du das Fichte sehe Buch
betrachtest, ist mir sehr interessant, ich
habe diese Betrachtungsweise allerdings
nicht an das Buch angelegt. Mit den
Grundsätzen über das Philosophiren, die
Du dabei aussprichst, stimme ich ganz
überein, und wenn ich das Buch auch nur
als einen etwas gelungenen Versuch be¬
trachten darf, diese Grundsätze durchzu¬
führen, so will ich es mir gelegentlich, wenn
ich Zeit finde, wieder vornehmen“.
Wir dürfen auf Einzelheiten hier nicht
eingehen und können nur kurz hindeuten
auf die anmuthige Erscheinung der ersten
Gattin, der Helmholtz, als sie nach zehn¬
jähriger Ehe an Phthise stirbt, nachruft:
„Ich habe das reichste und schönste Glück
genossen, welches die Ehe bieten kann;
es war für diese Erde zu schön“.
Von hohem Interesse für uns Aerzte
sind auch die Lernjahre auf der Pepiniere,
die Gestalten der Freunde, unter denen
Du Bois-Reymond den ersten Platz ein¬
nimmt, das eigenartige Licht, das auf die
damaligen Facultäts- und Berufungsverhält-
nisse fällt u. v. a. m.
Der gewaltige Reichthum von Helm¬
holtz' Geist und Leben spiegelt sich in
dem Reichthum dieses Buches wieder.
Wer es liest, lernt Helmholtz als For¬
scher und Mensch kennen. Und den Ge¬
winn solcher Bekanntschaft möchte ich mit
den Worten bezeichnen, die Helmholtz
selbst gelegentlich gebraucht, als er von
seiner Freundschaft mit Brücke und
Du Bois-Reymond spricht: „Wer einmal
mit einem oder einigen Männern ersten
Ranges in Berührung gekommen ist, dessen
geistiger Maassstab ist für das Leben ver¬
ändert, zugleich ist solche Berührung das
Interessanteste, was das Leben bieten kann“.
F. Klemperer (Berlin).
Ergebnisse der Physiologie, Herausge¬
geben von L. Asher und K. Spiro.
Erster Jahrgang, I. Abtheilung. Bio¬
chemie. 929 S. Wiesbaden, Verlag
von J. F. Bergmann. 1902. (25 Mark).
Mit diesem Bande, dem Zwillingsbruder
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Gegenwart 1903. Januar
des unlängst besprochenen, sind die „Er¬
gebnisse“ für dieses Jahr abgeschlossen.
Namen wie Hofmeister (Ueber Bau und
Gruppirung der Eiweisskörper), Pawlow
(Die physiologische Chirurgie des Ver-
I dauungskanals), Bredig (die Elemente der
J chemischen Kinetik mit besonderer Berück¬
sichtigung der Katalyse und Fermentwir¬
kung) und zahlreiche andere legen Zeugniss
I davon ab von dem hohen Niveau, auf dem
| sich auch der chemische Theil dieses phy¬
siologischen Sammelwerkes bewegt. Da¬
durch, dass er die dem Arzte besonders
naheliegenden Kapitel aus dem Gebiet des
Stoffwechsels, der Ernährung, der Ver¬
dauung weitgehend berücksichtigt, ist es
uns besonders willkommen. Auf den reichen
Inhalt der verschiedenen Essays näher ein¬
zugehen, ist uns an dieser Stelle unmög¬
lich, so verlockend es auch wäre. Wir
müssen uns damit begnügen, in vollstem
Maasse anzuerkennen, dass die Heraus¬
geber es verstanden haben, ihre Unter¬
nehmung auf einem glänzenden wissen¬
schaftlichen Niveau zu halten, so dass es
sicherlich als eine der besten litterarischen
Erscheinungen des eben vergangenen
Jahres gelten muss. F. Umber (Berlin).
W. Meyerhoffer. Die chemisch-physi¬
kalische Beschaffenheit der Heil¬
quellen. Vortrag gehalten auf der Karls¬
bader Naturforscher-Versammlung. Ham¬
burg-Leipzig. L. Voss, 1902. (1 Mark).
Den Vortrag von Prof. Meyerhoffer
bringe ich nicht um seines eigentlichen Gegen¬
standes willen hier zur Anzeige, sondern
deswegen weil die grössere Hälfte des¬
selben einer allgemeinen Betrachtung über
osmotischen Druck und Ionentheorie ge¬
widmet ist. Aus den Kreisen der Leser
dieser Zeitschrift sind oft Anfragen an mich
gelangt, welches Buch ich zur Einführung
in die physikalische Chemie empfehlen
könnte. Ich habe meist die Vorlesungen
von Cohen genannt, habe aber wohl
stets dazu gesagt, dass ich vorläufig die
Zeit noch nicht gekommen glaube, in der
ärztliche Praktiker sich mit diesem Gebiet
beschäftigen müssen. Es ist wohl noch
lange Zeit eine ausschliessliche Domäne
der wissenschaftlichen Forschung, deren
bisherige Ergebnisse noch fast alle der
Discussion unterstehen und auf das prak¬
tische Handeln kaum irgendwo Einfluss
gewonnen haben, geschweige denn, dass
ein praktischer Arzt nöthig hätte, sich die
Untersuchungsmethoden anzueignen. Be¬
greiflich allerdings und für diejenigen, die
es fühlen, sehr ehrend finde ich das Be-
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Januar
33
Die Therjipie der Gegenwart 1903.
dürfniss, sich im Allgemeinen Ober die Er¬
rungenschaften der physikalischen Chemie
xu orientiren, und dieser Wunsch wird,
ebenso wie durch den Vortrag von His auf
derHamburgerNaturforscher-Versammlung,
durch die sehr klar und anschaulich ge¬
schriebene Auseinandersetzung von Meyer-
hoffer erfüllt. G. IC
Dp. V. Grolmann. Aerxtliches Jahr¬
buch. IV. Jahrgang 1903. Frankfurt a. M.
J. Alt. (2 Mark.)
Das vorliegende Jahrbuch, welches
äusserlich in Form und Ausstattung eines
Medidnal-Kalenders auftritt, unterscheidet
sich sehr wesentlich durch die Reichhaltig¬
keit und Selbständigkeit seines Inhalts von
den übrigen Kalendern. Es berichtet in
kurzen zum Theil kritischen M Mittheilungen M
über die wesentlichen litterarischen Ergeb¬
nisse des letzten Jahres (z. B. über Heiss¬
lufttherapie, Serumtherapie des Morbus
Basedow, über den Stand der Tuberkulin¬
bewegung u. v. a.); dazu kommen Berichte
über die neueren Arzneimittel, die wissen¬
schaftlich gut charakterisirt und praktisch
treffend gekennzeichnet sind, sowie ein
sehr brauchbares Register der Nährpräpa¬
rate. Das Verzeichniss der Sanatorien ist
Von besonderer Vollständigkeit Alles in
allem bietet das Büchlein weit mehr als
tnan von einem Medicinal-Kalender erwartet
und verdient wohl, den Collegen zur An¬
schaffung besonders empfohlen zu werden.
G. K.
B. Bendix. Lehrbuch der Kinderheil¬
kunde für Aerzte und Studirende. 3. Auf¬
lage. Berlin-Wien 1903. Urban &
Schwarzenberg. (12 Mark.)
ILVenmann. Ueber die Behandlung
der Kinderkrankheiten. Briefe an
einen jungen Arzt 3. Auflage. Berlin
1908. Oscar Coblentz. (9 Mark.)
Ph. Biedert n. R. FischL Lehrbuch
der Kinderkrankheiten. 12. Aufl. des
Lehrbuches von A. Vogel. Stuttgart 1902.
Ferdinand Enke. (15 Mark.)
Fast gleichzeitig erscheinen die ver¬
besserten und vermehrten Neu-Auflagen
dreier vortrefflicher Darstellungen der
Kinderkrankheiten, die nur durch kurze
Zeitspannen von den vorhergehenden ge¬
trennt sind. Man .darf darin wohl ein
Zeichen sehen, wie gross zur Zeit das In¬
teresse ihr diesen Zweig der Heilkunde in
der ärztlichen Welt ist.
Die Eigenheiten und Vorzüge der zwei
erstgenannten Werke sind bereits in dieser
Zeitschrift besprochen worden. Das Ben-
dix’sche Buch bildet in seiner knappen,
dabei umfassenden Darstellung einen zu¬
verlässig und schnell orientirenden Be-
rather, Neumanns Briefe, die wir schon
bei ihrem ersten Erscheinen der originellen
Idee wegen begrüssten und denen wir
einen grossen Erfolg voraussagten, wenden
sich vor allen an den Praktiker, in alle
Einzelheiten der Therapie eingehend und
auch die Schilderung technischer Einzel¬
heiten, die sich meist ja der angehende Heil¬
künstler oft erst mühsam, zuweilen mit
fatalen Erfahrungen erwerben muss, nicht
verschmähend. Gerade diesem ungemein
praktischen Zug des Ganzen ist wohl die
schnelle Folge der Auflagen zuzuschreiben.
Biedert, dessen Lehrbuch, das schon
früher mit zu den ersten hat in R. Fischl,
dem ausgezeichneten Prager Pädiater,
einen Mit- und Umarbeiter gewonnen. Wir
bedauern, dass, wie aus der Vorrede er¬
sichtlich, die schwankende Gesundheit des
hochverehrten früher alleinigen Verfassers
diese Theilung nöthig machte, aber des Re¬
sultates der gemeinschaftlichen Mühe kön¬
nen wir uns nur freuen. Das Buch giebt eine
umfangreiche, trotz aller Kürze die klein¬
sten Einzelheiten berücksichtigende Schil¬
derung und ist ausserordentlich reich an
Literaturnachweisen, deren Benutzung frei¬
lich in Folge der eigenen Art der Ver¬
weisung nicht so leicht ist, wie das an ent¬
sprechender Stelle ausgedrückt ist Wenn
es erlaubt ist, auch noch einen zweiten
Punkt zu berühren, der nach unserem Em¬
pfinden speciell in Hinblick auf die gerade
in den letzten Jahren so intensive For¬
schung über Nahrungsbedarf etc. etwas
ausführlicher hätte gestattet werden dürfen,
so ist das das Kapitel über die Ernährung
des gesunden Kindes.
Dass alle drei Werke durch Neu- und
Umarbeit auf allen Gebieten bis zu den
jüngsten Erscheinungen den Fortschritten
der Pädiatrie gerecht geworden sind, be¬
darf kaum besonderer Erwähnung.
Finkeistein.
Difitized by
Gck igle
Original fro-m
UMIVERSITY OF CALIFORNIA
84
Die Therapie der Gegenwart 1903
Januar
Referate.
Bartrina empfiehlt das aus Neben¬
nieren hergestellte Adrenalin für uro-
logische Zwecke. Er verwendet eine
l°/ooige Lösung des salzsauren Adrenalins
in Kochsalzwasser. Das Mittel wirkt local
aufgedrückt blutstillend durch Ischämie und
anästhesirend.Bei kleinen Operationen, Circ-
umcision etc , ist es deshalb Zur Blutstillung
empfehlenswert!*. Ganz besonders gute
Dienste leistet es aber bei der Behandlung
von Stricturen; hier wird mit einem feinen
Göuyon’schen Instillateur ca, 1 ccm der
Lösung an die Strictur herangedrückt und
durch Massage in der Urethra veftheilt.
Es wirkt hier auch den congestiven Zu¬
ständen, die häufig bei Stricturen eintreten
und gelegentlich die Behandlungerschweren,
entgegen, wirkt blutstillend bei kleineren
Verletzungen. Für die innere Urethro-
tomie, die ja in Frankreich viel mehr als
bei. uns zur Behandlung von Stricturen
angewandt wird, hält der Autor dte
Application des Medicaments für unnöthig,
weil die Blutung hierbei von selbst schnell
steht. Bei Blasenblutungen wird es auch
keine wesentlichen Dienste leisten» weil es
nür vorübergehend wirkt und hier nicht
dauernd die Causa morbi hebt. Vielleicht
ist es differentialdiagnostisch zwischen
Käsen- und Nierenblutungen verwerthbar.
Auch von v. Frisch wird das Andrealin
empfohlen: bei der cystoskopischen Unter¬
suchung von vesicaler Hämaturie füllt er die
Blatie zun ächst mi tt00—150ccm einer Lösu n g
von 1:10000 und beginnt dann erst mit den
Spülungen; die Blutung steht dann ganz
oder ist so gering« dass die Untersuchung
nicht gestört wird« Bei der Exstirpation
von Tumoren mittelst Sectio alta hat Frisch
die Tumoren mit der gleichen Lösung ge-
pinselt und nun. fast ganz ohne Blutung
operirt Da aber durch die nachfolgende
Dilatation der Blutgefässe eine, sehr starke
Nachblutung folgt, so muss man.am Schluss
4er Operation die Wunde —- wenn man
nicht näht — verschorfen und die Blase
Umponiren, Bei der endo-vesicalen Be¬
seitigung von Btasenpapillomen genügt
Füllung der Bläse mit obiger Adrenalin¬
lösung. Ebenfalls empfiehlt Frisch das
Mittel bei Behandlung von Stricturen, ferner
bei schwierigem Katheterismus bei Prostata¬
hypertrophie. Ferner konnte durch täg¬
liche Adrenalineinträufelungen in die Urethra
posterior bei Harnverhaltung von Prosta¬
tikern mehreremals Besserung der Urinent¬
leerung bewirkt werden. Frisch benutzt die
(auch^von B a r t r i i a gebrauchte) Lösung von
Adrenalin hydrochU . 0*1
Natri chlorati ... 0*7
Cfdoreten . 0*5
Aqu . dest. ...... 100*0
Buschke (Berlin).
(Wiener klin. Wochenschrift 1902, No. 31.)
Das Aureol ist als Haarfärbemittel von
Richter empfohlen worden Und wird auch
in anderer Weise so vielfach erwähnt, dass
es zweifellos häufig in Gebrauch genommen I
wird. Es wird in der Weise benutzt, dass
die Haare vorher mit Seifen- oder Soda¬
lösung gewaschen werden, dann werden |
gleiche Theiie des Mittels mit Wasserstofl-
superoxydlösung gemischt mit einem Pinsel 1
auf das noch feuchte Haar aufgetragen. i
Wolters macht nun auf Grund von drei
Beobachtungen darauf aufmerksam, dass
das Mittel keineswegs unschädlich ist,
sondern neben localen Entzündungen auch
allgemeine Erytheme wohl toxischen Ur-
fprungs erzeugen kann. Er warnt deshalb
vor der Anwendung des Medikaments.
Buschke (Berlin).
(Dermatologische Zeitschr. 1902, Haft 3.)
Die grosse Differenz der Wirkungsweise
des Chinins bei interner oder subcutaner
Darreichung erhellt aus folgendem Fall,
i Haller berichtet über einUlcus der hinte¬
ren Rachenwand, welchesgrosse, diagno-
stischeund noch mehr therapeutische Schwie¬
rigkeiten bot. Das makroskopische Aus¬
sehen, sowie die mikroskopische Untersu¬
chunggaben keinerlei Anhaltspunkt. Patient
litt an Malaria; aber weder Chinin und Arsen
innerlich genommen, noch eine antiluetische
und antituberkulöse Behandlung waren von
Erfolg begleitet Ein ganzes Arsenal von
Mitteln, sogar blaues Licht wurde ange¬
wandt. Als die Ernährung schon 9ehr ge¬
litten und schmerzhafte Drüsenschwellungen c
auftraten, entschloss sich Verfasser zu sub-
cutanen Chinininjectionen, welche in Kurzem
zur Heilung führten. Uebrigens bezeichnet
M aragliano im Handbuch vonPenzoldt-
Stinzing auch die subcutane Chinin-
darreiehung als die sicherste und rascheste
Art der Verordnung.
F. Alexander (Frankfurt a. M.)
(Monatsschrift für Ohrenheilkunde 1902, Nö* tl).
Das Citrophen, das im Jahre 1899 von i
Roos eingeführt worden ist, ist bekannt- i
lieh eine Verbindung der Citronensäure
mit Paraphenitidin, welch letzteres die
chemische Grundlage einer grossen Zahl
unserer Antipyretica aus der Phenacetin-
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Jamur
Die Therap** der G-genwnrt 1903.
35
gruppe darstellt (vergl. das Ref. in dieser
Zeitschr. 1901, S. 82). Es hat in unserer !
Litteratur seither als Antipyrin- oder Phena-
cetinersatz nur günstige Beurtheilung ge¬
funden, und wird vielfach anderen Anti-
pyreticis vorgezogen, weil es ebenso prompt j
und vielleicht sicherer wirkt, dabei besser
löslich und von angenehmerem erfrischen¬
dem Geschmack ist (Stomberger,
Steckei, Kornfeld, Hirschkron,
Frieser, Silberstein u. a.) Auch die in
Frankreich damit gemachten Erfahrungen
lauten seither wenigstens ganz ermunternd.
So hat R. Suzor das Citrophen als Anti-
neuralgicum und Antipyreticura bei den
verschiedensten Erkrankungen mit Erfolg
Angewandt, und hat Tagesdosen von 6,0 g(!)
angeblich ohne unangenehme Nebenwirkung
gegeben. Auch Bolognesi (Paris) hat das
Mittel in 12 Fällen als Antipyreticum und
Antineuralgicum erfolgreich ordinirt und
empfiehlt es besonders gegen Migräne,
Neuralgieen verschiedener Art und Lum¬
bago. Freilich macht er ausdrücklich auf
ein Moment aufmerksam, das alle Autoren
mehr oder weniger betont haben, dass
nämlich fieberhafte Kranke, vor allem
fiebernde Phthisiker, nach dem Gebrauch
des Mitttls durch starken Schweissausbruch
belästigt waren. Er verabfolgte es in Dosen i
von 0,5 g, mehrmals bis zu 3,0 täglich. '
Aehnlich lauten auch die Mittheilungen j
Saint-G£ne’s (Paris), der vor allem seine j
günstige Wirkung bei der Behandlung des
Rheumatismus als Salicylersatz hervorhebt.
Irgend welche unangenehme Neben¬
wirkungen, wie wir sie bei den andern
Antipyrcticis zuweilen sehen, sind bisher
vom Citrophen nicht bekannt .geworden,
und so dürfte es denn auch unter den
modernen Antineuralgicis seinen legitimen
Platz finden. F. Umber (Berlin).
(La mtdecine moderne 1901. — Bulletin gdntral
du Th£rapeutique 1901. — Le progres medical 1902).
Stroganoff theilt zwei der bisher sehr
seltenen Fälle von £ätbindQOg0S p&Gh
Uterasruptar bei einer früheren Ge¬
burt mit. Beiden Patientinnen war von
Stroganoff selbst die zerrissene Gebär¬
mutter unter Erhaltung des gesammten
Genitalapparates mittelst L¶tomie ge¬
näht worden. Der Verlauf der späteren
Entbindungen lehrt, dass es sich empfiehlt
starke Gcburtsthätigkeit abzukürzen, also
entbindende operati veEingriffe anzuwenden.
Bei genügender Beweglichkeit der Frucht
und stehender Blase ist die combinirte
Wendung, bei Steisslage Herabholen eines
Fusses da^bQorM^J^eignet. Auf das
bei Gebärmutterruptur besonders häufige
enge Becken ist ebenso wie auf sonstige
Complicationen nach den Grundsätzen der
operativen Geburtshülfe Rücksicht 2U
nehmen. Nach der Entbindung ist eine
intrauterine Untersuchung unbedingt
nöthig. ln beiden Fällen wurden auf diese
Weise lebende Kinder erzielt
P. Strassmann.
(ZeitttAf. f. Geh. u. Gyn. B d. XLVUI, Heit I.)
Zur Behandlung verschiedener Störun¬
gen im Bereich der männlichen Genital-
Organe empfiehlt Zabludowski Massage
der Organe in schnlgemässer, der speciellen
Indication angepas^ter Weise. Die Art
der Ausführung wird des genauesten ge¬
schildert und durch Abbildungen erläutert.
In einem Referat lässt sich über diese
technischen Dinge, wo es auf jeden Hand¬
griff ankommt, nicht kurz berichten. Was
nun aber die Indication betrifft, so empfiehlt
der Autor das Verfahren in chronischen
Fällen vpn Orchitis, Epididymitis, Funi-
culitis, wie sie sich im Anschluss an
Traumen und Gonorrhoe entwickeln, ferner
bei functionetlen Störungen, wie Impotenz,
Priapismus mit unbedeutenden anatomischen
Veränderungen in den Hoden und ihren
| Adnexen, sodann auch bei Functions¬
störungen im Bereich der Urogenitalorgane
aus psychischen, nervösen Ursachen. In
Fällen, wo durch unzweckmässige All¬
gemein- und Lokalbehandlung Irritations¬
erscheinungen im Bereich der Organe
selbst und auch allgemeine Depressions¬
zustände erzeugt sind, ist vorsichtige
Massage von Nutzen. Wichtig erweist sie
sich ferner bei Retraction des Samen¬
strangs, sei es angeboren, sei es später
entstanden, bei atrophischen Zuständen in
Folge von Inactivität, bei Hyperäsfhesieen,
Neurosen, Anästhesie, Pollutionen, 2ü
schneller Ejaculation, Spermatorrhoe, man¬
gelhafter Erectkm, schliesslich auch bei
chronischer Gonorrhoe, Prostatorrhoe.
Büschke (Berlin).
(Anaales de« mal. d«s org. G£n. Ur. T902.
No. 12).
O. Abraham hat durch chemische und
bacteriologische Versuche festgestellt, dass
Hefe im Stande ist Gonococcen zu töten.
Ihre bactericide Wirkung geht von einem
Enzym aus. Sterile Dauerhefe wirkt nur
bei Zuckerzusatz bactericid, lebende Hefe
auch ohne diesen. Die Wirkung der letz¬
teren wird durch Zusatz von Asparagin
gefördert. Hefe und Asparagin lassen sich
mit Gelatine zu Vaginalkugeln verarbeiten,
UNIVERSffY 0F CALIFORNIA
36
Januar
Die Therapie der
die die Hefezellen längere Zeit lebensfähig
erhalten und sich leicht von der Patientin
selbst einführen lassen. Die Kugeln werden
durch einen Paraffinmantel gegen Zer¬
setzung geschützt. Die Hefevaginalkugeln
werden, ohne Beschwerden zu verursachen,
mit gutem Erfolg gegen blennorrhoische
Erkrankungen der Vulva, der Scheide und
des Uterus angewandt. Die Urethritis wurde
durch Scheidenkugeln nicht beeinflusst. Für
Cervix- und Corpuskatarrhe kamen Hefe-
Asparaginstifte zur Verwendung.
P. Strassmana.
(Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. XVI.)
Die Wirkung der Kohlensäure auf die
Magenverdauunff, die keineswegs ein¬
wandsfrei klargestellt ist, sucht F. Penzoldt
in einer ganz stattlichen Versuchsreihe
* genauer zu analysiren. Er berücksichtigte
dabei vornehmlich die Aufenthaltsdauer der
Speisen im Magen und das qualitative Ver¬
halten des Magensaftes nach Verabreichung
eines Probefrühstücks, das sich aus einer
Semmel und Vä 1 kohlensaurem Wasser
zusammensetzte; als Vergleichswerthe dien¬
ten die Zahlen, die nach Darreichung der
gleichen Menge Semmel und kohlensäure¬
freiem Brunnenwassers erhalten wurden,
ln ähnlicher Weise wurde die Verdauung
einer fleischhaltigen Probemahlzeit unter
dem Einfluss gleichzeitig genommenen
kohlensauren Wassers geprüft. Die Aufent¬
haltsdauer der Nahrung im Magen sowie
die Säureverhältnisse des Magens (Ge-
sammtacitität durch Titriren mit Normal¬
lauge sowie Gesammtsalzsäure nach Sjö-
qvist) wurden allemal festgestellt. Das
verabreichte kohlensaure Wasser war ein
künstliches Mineralwasser, das ca. 0,16%
feste Bestandteile, vornehmlich Chloride
und Carbonate, enthielt, manchmal auch
ein kohlensäurehaltiges Wasser, das nicht
mehr feste Bestandteile (0,012%) enthielt,
wie Brunnenwasser; der Gehalt an Kohlen-
, säure betrug etwa 1 1 in Va 1 Wasser. Es
wurden im Ganzen einige 50 Einzelver¬
suche ausgeführt, die zu folgenden Ergeb¬
nissen' führten: Die Aufenthaltsdauer der
Speisen im Magen wurde, besonders bei
Amylaceennahrung deutlich, wenn auch
nicht sehr erheblich verkürzt. Die Ab¬
scheidung der Salzsäure im Magen beginnt
dabei früher und erreicht durchschnittlich
höhere Grade. Ihr schnelleres Abfallen
hängt mit dem schnelleren Ablauf der
Magenverdauung zusammen. Wenn auch
Penzoldt keine weitgehenden Schlüsse
auf die diätetische Verwendung der Kohlen-
säure^^^Krmk^n daraus ziehen will,
Gegenwart 1903.
so scheint ihm jedenfalls die Anwendung
der kohlensäurehaltigen Wässer in Mengen
von nicht über V 2 1 nach dem Essen bei
Kranken mit Säuremangel und leichter
Atonie des Magens nicht unzweckmässig.
(Wieviel von dieser günstigen Wirkung
freilich auf Conto der Kohlensäure oder
aber auf Conto der veränderten osmotischen
Bedingung im Magen zu setzen sei, scheint
auch aus diesen Beobachtungsreihen noch
nicht ganz eindeutig hervorzugehen. Ref.)
F. Umber (Berlin).
(Deut. Arch. f. klin. Med. Bd. 73.)
Quincke hatte Gelegenheit zwei Fälle
von myelogener Leukämie zu beobachten,
bei denen sich Miliartuberkulose als
Secundärerkrankung hinzugesellte, und nun
— wie Quincke annimmt — infolgedessen
ein deutlicher Rückgang der leukämischen
Erkrankungen zu constatiren war. Die
Hyperleukocytose sowie die Milzschwellung
| nahmen in den letzten Lebenstagen bei
fortschreitendem Kräfteverfall beträchlich
ab, und an Stelle der leukämischen Blut¬
beschaffenheit trat nun eine hydrämische.
Aehnliche Erfahrungen machte Quincke
an einem Fall, den er als vorwiegend lienale
„Pseudoleukämie" deutet. Auf Grund dieser
klinischen Beobachtungen hält er bei Leu¬
kämiekranken therapeutische Versuche mit
Tuberkulin für indicirt, in welchem wir
wenigstens einen Theil der in Betracht
kommenden Toxine, die nach seiner Vor¬
stellung die Rückbildungsvorgänge im leu¬
kämischen Krankheitsbild günstig beein¬
flussen, in bequem dosirbarer Form besitzen.
Einige, wie er freilich selbst sagt, nicht
ganz eindeutige Resultate in dieser Rich¬
tung lassen ihm weitere derartige Versuche
empfehlenswerth erscheinen. Er vermuthet,
dass das Tuberkulin vielleicht nicht nur
zerstörend auf die bereits gebildeten farb¬
losen Zellen, sondern auch hemmend auf
deren Neubildung wirke, wodurch sich ^
vielleicht eine „Umstimmung der in ab¬
normen Bahnen sich bewegenden forma-
tiven Thätigkeit von Knochenmark und
Lymphdrüsen erreichen Hesse".
F. Umber (Berlin).
(Deut. Ärch. f. klin. Med. Bd. 74.)
Für Paraldehyd als Schlafmittel tritt
Bumke an der Hand der Erfahrung der ■j
Freiburger psychiatrischen Klinik sehr |
energisch ein. Es wird dort seit Jahren
als alleiniges Hypnoticura angewandt. In !
Dosen von 3—6 g bewirkt es bei allen
Arten von Agrypnie, ausgenommen die
durch Schmerzen bedingte, in 5—IS Min.
einen 6—Bstündigen Schlaf. Nfebenwirkun-
UNIVER3ITY OF CALIFORNIA
Januar Die Therapie der
gen und unangenehme Nachwirkungen
kommen, von seltenen Fällen von Idio¬
synkrasie abgesehen nicht vor. Selbst
schwere Herz-, Nieren- und Gefässerkran-
kungen, sowie Störungen des Respirations¬
und Magendarratractus bilden keine Contra-
indication. Schwere acute Vergiftungen
sind, trotzdem das Mittel schon seit
20 Jahren im Gebrauch ist, bisher nicht zu
verzeichnen. Chronische Intoxicationen
(Delirium paraldehydicum) kommen nur ge¬
legentlich bei lange fortgesetztem Gebrauch
von mehr als 30 g pro die vor. Gewöhnung
tritt gemeinhin nicht ein.
Referent kann diesen Ausführungen, was
die psychiatrische und speciell die Anstalts¬
praxis betrifft, im Ganzen beistimmen. Par«
aldehyd ist sicher eines der besten, billig¬
sten und relativ ungefährlichsten Schlaf¬
mittel. Leider ist, im Widerspruch zur
Meinung des Verfassers, in der besseren
Privatpraxis die Abneigung gegen den un¬
angenehmen Geruch und Geschmack des
Mittels trotz aller Corrigentien oft so gross,
dass man von dauernder Darreichung ab¬
stehen muss. Auch scheinen hier Magen-
und Appetitstörungen, wenn auch nicht ge¬
fährlicher Art, doch viel häufiger als bei
Anstaltspatienten vorzukommen.
Laudenheimer (Alsbach bei Darmstadt).
(Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie
Decexnber 1902.)
ln einer die Behandlung der Pro«
ctfttahypertropliie betitelten Arbeit hat
Rovsing das Ergebniss seiner zahlreichen
Erfahrungen niedergelegt. Er hat ver¬
sucht, das Gebiet der verschiedenen Be¬
handlungsmethoden gegen einander abzu¬
grenzen und einer jeden die besonders
geeigneten Falle auf Grund klinischer Be¬
obachtungen zuzutheilen. Das Wesen der
Protastahypertrophie sieht Rovsing in
einer Vermehrung der drüsigen Elemente.
Sonst pflegt zwar als Alterserscheinung
überall eine Atrophie der drüsigen Organe
einzutreten und es besteht hier insofern
ein Widerspruch. Rovsing glaubt den¬
selben beseitigen zu können durch die
Annahme, dass die Hypertrophie ein rein
reflectorischer Versuch der Natur sei, die
beginnende Insufflcjenz zu compensiren,
also durch quantitative Vermehrung dem
qualitativ verminderten Werth des Secrets
abzuhelfen.
Die neuerdings viel getheilte Ciecha-
nowski’sche Auflassung, dass die Hyper¬
trophie eine chronische Entzündung auf
gonorrhoischer Basis sei, verwirft Rov¬
sing völlig. Einmal ist das Endresultat
jeder langdauernden Entzündung die Binde-
Digitized by GOOSlC
Gegenwart 1903» 37
gewebsneubildung und das Zugrundegehen
der drüsigen Elemente, sodann fanden sich
unter Rovsing s 142 Patienten nur 14, die
| Urethritis posterior und Prostatitis gonor¬
rhoica hatten. In solchen Fällen pflegt fflr
das Gefühl die Prostata mehr derb und
fibrös zu sein gegenüber der weichen,
schwammigen Beschaffenheit der echten
Hypertrophie.
Ein breites Feld räumt Rovsing der
Katheterbehandlung ein. Sie heilt zwar
nicht den Kranken von seiner Hypertro¬
phie, befreit ihn aber im glücklichen Fall
von den Symptomen, welche die Hyper¬
trophie zu einem wirklichen Leiden machen,
von dem übermässig häufigen Drang zu
uriniren und dem schmerzhaften Tenesmus,
beides hervorgerufen durch die mehr oder
minder grosse Retention des Urins. Von
126 Patienten waren 10 auf längere Zeit
von Reteotionsanfellen frei, wenigstens so
weit, dass sie nicht mehr behandelt zu
werden brauchten. Es handelte sich aber
ausnahmslos um Fälle massiger Hypertro¬
phie, die früh in Behandlung gekommen
waren. Die Katheterentleerung der Blase
nimmt Rovsing nur einmal täglich vor.
Weitere 10 Patienten wurden gebessert,
Die Behandlung hatte nach 2—4 Wochen
das Ergebniss, dass die Patienten ihn»
Blase am Tage vollständig entleeren konn¬
ten. Nach wenigen Wochen oder Monaten
stellte sich aber das alte Leiden wieder ein.
In der grossen Zahl von 91 Fällen blieb
der Retentionszustand durch den Käthe«
terismus völlig unbeeinflusst
Eine weitere interessante Gruppe von
15 Fällen zeigt, wie die Katheterbehand¬
lung geradezu den Zustand verschlimmern
kann. Die Patienten hatten bisher spontan
uriniren können, litten also nur an par¬
tieller Retention. Mit Einführung der Ka¬
theterbehandlung stellte sich jedoch ent¬
weder sofort oder nach kurzer Zeit ein
völliges Unvermögen ein, den Urin spon¬
tan zu entleeren. Dass nach der Entlee¬
rung einer stark gedehnten Retentions¬
blase öfter völliges Unvermögen eiqtritt,
spontan Urin lassen zu können, ist ja eine
seit langem bekannte Thatsache; dass
jedoch schon eine Paralyse der Blase ein-
treten kann, wenn nur ca. 200 ccm Reten¬
tionsharn entleert wurden, das lehren zum
ersten Mal die Rovsing’schen Beobach«
tungen.
Es handelt sich nun darum für die Fälle,
in denen die Katheterbehandlung versagt,
ein geeignetes operatives Verfahren anzu-
wenden. Da kommt zunächst die Kastra¬
tion in Betracht. Sie stützt sich auf das
Original fram
UNIVERSITtf OF CALIFORNIA
38
Die Therapie 8er Gegenwart 1903.
Januar
Thierexperiment, welches zeigt, dass bei
gesunden Thieren der der Seite der Ka¬
stration entsprechende Lappen der DrQse
stark atrophirt oder sogar ganz schwindet,
ln 5 Fällen wurde die doppelseitige Ka¬
stration ausgeführt, davon in 3 Fällen mit
ausgezeichnetem Erfolg. Es Hess sich
zwar spater immer noch eine bedeutende
Vergrösserung der Prostata nachweisen,
aber die Retentionserscheinungen, auf die
es doch allein ankommt, waren geschwun¬
den. Einer dieser 3 Patienten war ein
U5jähriger Greis, der in 11 Jahren absolut
ausser Stande gewesen war, die geringste
Menge Urin spontan zu entleeren. Wenige
Monate nach der Operation erhielt er das
Vermögen wieder, seine Blase auf natür¬
lichem Wege zu entleeren. Bei den beiden
folgenden Leuten hatte die Operation
keinen Erfolg. Es waren eben Leute mit
gonorrhoischer Prostatitis, und es musste
naturgemäss die Vergrösserung unbeein¬
flusst von dem Eingriff bleiben.
Mit der Kastration rivalisirt sehr stark die
doppelseitige Resection des Vas deferens.
Rovsing hat dieselbe an 40 Patienten
ausgeführt Von denen sind 27 geheilt,
d. h. eine Zeit lang oder sogar für immer
von den lästigen Retentionssymptomen
befreit; 9 sind gebessert und nur bei 4
trat keine Aenderung des Zustandes ein.
Der Eingriff ist leicht und schnell ausführ¬
bar, unter localer Anästhesie. Es handelte
sich meistens um partielle Retention, aller¬
dings bis zu 400 ccm, jedoch waren auch
eine ganze Anzahl mit totaler Retention
darunter. Drei von den nicht Geheilten
waren in einem ausserordentlich weit vor¬
geschrittenen Stadium: die Prostata war
colossal vergrösscrt, die Blase enorm an¬
geschwollen und die Retention total. Dieser
Zustand contraindicirt jedoch die Opera¬
tion nicht, denn unter den Geheilten be¬
finden sich vier, bei denen der Zustand
ebenso ernst war.
Für die Fälle, die mit einer der bisher
genannten Methoden nicht zu beeinflussen
sind, bleibt ein anderes Verfahren, näm¬
lich die Bottini'sche Operation. Rov¬
sing hat sie an 14 Patienten ausgeführt.
Davon sind nur 2 geheilt, 5 sind gebessert;
bei 6 verschlimmerte sich der Zustand und
1 starb an den Folgen der Operation. Die
Geheilten waren mittelstarke Retentions¬
fälle; bei dem einen war 11 Monate vorher
die Vasectomie ausgeführt, mit anfäng¬
lichem Erfolg, aber späterem Recidiv.
Bei der Gruppe der Gebesserten gelang
es nicht, den Residualharn unter 200 bis
300 ccm herunterzubringen, so dass Käthe*
Digitized by Gooole
terismus in Zwischenräumen von einigen
Wochen erforderlich blieb.
Die Fälle der Verschlimmerten und der
Todesfall zeigen uns die Unannehmlich¬
keiten und Gefahren des Bottini'schen
Verfahrens in einem grellen Licht. In
einigen Fällen blieb die Residualmenge
zwar dieselbe, aber die Tenesmen wurden
häufiger und schmerzhafter, ln einem an¬
deren steigerte sich die Residualmenge,
die vor der Operation nur 70—200 ccm be¬
trug, bis zu totaler Retention. Dem Pa¬
tienten konnte noch durch Vasectomie ge¬
holfen werden, die besser zuerst versucht
worden wäre. I n den beiden letzten Fällen
bedrohten heftige Hämorrhagien das Leben.
Die Blutungen waren einmal arterieller,
einmal venöser Natur und traten erst ein
resp. mehrere Wochen nach der Operation
ein, als die Brandschorfe sich abstiessen.
Durch Sectio alta verschaffte man sich den
Zugang zur Blutung. Die Blase wurde
lange drainirt. Gleichzeitig konnte man
die wichtige Beobachtung machen, dass
3—4 Wochen nach den Operationen noch
keine Spur einer beginnenden Schleimhaut¬
bekleidung an den Wundflächen vorhan¬
den war.
Der Fall, der zum Exitus kam, be¬
leuchtet die enorme Schwierigkeit, die
Tiefe der Verbrennung zu berechnen, da
man im Dunkeln operirt. Einer der beiden
seitlichen Schnitte, die in den Mittellappen
hatten geführt werden sollen, hatte di«
Blase perforirt. Es entstand Urininfiltra¬
tion und der Mann starb an der septischen
Phlegmone. Die Bottini'sche Operation
ist also mit unvorhergesehenen Gefahren
verbunden und man sollte sie nur dort an¬
wenden, wo die anderen Methoden im
Stich lassen, resp. dann, wenn die Pa¬
tienten sich gegen die noch erübrigenden¬
den operativen Eingriffe: die Cystostomie
und die Exstirpation des Mittellappens
sträuben. Das letztere Verfahren eignet
sich besonders für die Fälle, wö der
Mittellappen als kugliger oder klappen¬
förmiger, mehr oder weniger gestielter
Tumor in der Blase liegt und das Orifi-
eium urethrae ventilartig verschliesst. Man
kann sich von der Gestalt des Tumors
durch die Cystoskopie ein Bild machen.
Rovsing hat 6 mal diese Operation mit
gutem Erfolg ausgeführt.
Was nun die Anlegung einer dauern¬
den Blasenfistel anlangt, so ist dieselbe
primär indicirt, wenn es sich um eine ad
maximum angeschwoliene, inficirte Blase
handelt, die entweder gar kein oder nur ein
geringes Contractions vermögen mehr besitzt
Original frn-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Jtftutr
Die Therapie der
Secundär indieirt ist sie, wenn die cu-
rativen Eingriffe wirkungslos bleiben und
auch dann nur, wenn die Katheterisation
so schwierig ist, dass sie dem Patienten
das Leben zur Last macht; oder, wenn es
sich um eine Infection der Blase handelt, die
allen Heilungsversuchen Trotz bietet, oder j
oft wiederkehrt und das Leben bedroht; j
endlich auch dann, wenn beim Katheteri-
siren die Prostata häufig und stark blutet.
Wenn alle Versuche misslingen, ein
natürliches Uriniren wieder herzustellen,
sei es durch Vasectomie, Kastration, Pro-
statatectomie oder Bottini, so bleibt die
Wahl zwischen regelmässiger Katheterisa¬
tion und Cystostomie. Das erste würde
man wohl Leuten rathen, von denen man
erwarten darf, dass sie es an der nöthigen
Reinlichkeit nicht fehlen lassen. Dagegen
thut man gut, zur Cystostomie zu rathen
bei Patienten des Arbeiterstandes, denen
es oft an dem Nöthigsten fehlt, den Appa¬
rat io Ordnung zu erhalten; ferner in allen
Fällen, in denen der Katheterismus
Schwierigkeiten bereitet und in der Händ
der Patienten oft misslingt.
Wich mann (Altona.)
(Langenbedps Archiv Bd. 68, Heft 4» S. 934.)
Die noch immer kleine Casuistik der
operativ - geheilten Rüekenm&rks-
tumoren, wird durch eine interessante
Veröffentlichung H. Oppenheirn’s um
einen weiteren Fall vermehrt. Die Krank¬
heit begann mit Stichen in der rechten
Bauchseite, zu der bald spastische Para¬
parese, besonders rechts, hinzutrat. Ba-
binski rechts positiv Hypästhesie und Hypal-
gesie des linken Beins. Abdominalreflex
im rechten Hypogastrium fehlend. Wäh¬
rend der nächsten Wochen Steigerung
dieser Symptome, namentlich deutliche
Hypästhesie innerhalb des XI. Dorsal- bis
I. Lendenwurzelgebiets. Lagegefühls¬
störungen in beiden Fuss- und Zehen¬
gelenken. Ausser leichter Dorsalskoliose
links kein äusserer Wirbelbefund.
Tuberkulinprobe negativ. Versuchsweise
Gewichtsextension vermehrte die Sym¬
ptome. Später Erschwerung der Harn-
und Stuhlentleerung. Aus diesem in 6 bis
8 Monaten sich abspielenden Verlauf, über
den Genaueres im Original nachzulesen
ist, besonders aus dem Beginn mit ein¬
seitigen Wurzelsymptomen wurde auf
einen extra - medullären Rückenraarks-
tumor geschlossen und demgemäss Ope¬
ration empfohlen. Die Niveaudiagnose,
lautete, da im Bereich der X. Dorsalwurzel
fast complet ^Anästhesie bestand, somit er-
Digitized by (jQOOlC
Gegenwart 1908 39
fahrungsgemäss Betheiligung der nächst¬
höheren Wurzel anzunehmen war, auf die
Höhe des VIIL Dorsalwirbels fixirt.
Es wurde dann durch Sonnenburg
nach Entfernung der VUI. und IX. Brust¬
wirbelbögen ein dattelgrosses Fibrom, das
mit der Arachnoidea verwachsen unter der
Dura lag, exstirpirt. Die Wunde verheilte
primär. Der durch Exstirpation der Wirbel-
bögen entstandene Knochendefect wurde
durch eine Schutzplatte gedeckt. In der
Zeit von weniger als 8 Wochen gingen
alle Symptome vollständig zurück. — Der
Fall ist, abgesehen von diesem raschen und
vollkommenen Heilerfolg, therapeutisch
bemerkenswert!! durch die haarscharfe
Niveaudiagnose, welche die glatte Ent¬
fernung des Tumors nach Wegnahme nur
zweier Wirbelbögen ermöglichte.
Laudenheimer (Alsbach bet Darmatadt)«
(Berl. klin. Wochenachr. 1902 No. 39.)
In 33 Beobachtungsreihen an Kranken
der Greifswalder Klinik hat Lüthje die
Erfahrung gemacht, das Salicylpräpar&te
eine ganz beträchtliche Reizwirkung
auf die Nieren und Harnwege ent¬
falten, und zwar alle Präparate, ganz gleich¬
gültig aus welcher Bezugsquelle sie
stammten. Dass daran die Salicylsäure an
sich die Schuld trägt geht auch daraus her¬
vor, dass Arzneimittel, in denen die Salicyl¬
säure nur als einer der Componcnten ent¬
halten ist, vor allem Aspirin, Salipyrio,
Salol die gleiche Reizwirkung auf die Harn¬
wege entfalten. Dieselbe besteht häufig in
Albuminurie, fast constant in zeitweise so-
g:r sehr beträchtlicher Ausscheidung von
Lpithelzellen aus den verschiedenen Ab¬
schnitten der Harnwege, sowie von weissen
und rothen Blutkörperchen und Kalkoxalat-
krystallen. Cylinder verschiedener Art
und Cylindroide waren constante
Befunde in allen untersuchten Fällen.
Die Beobachtungen wurden an solchen
Personen ausgeftlhrt, deren Urin bei mehr¬
facher Untersuchung vor der Darreichung
keine pathologischen Harnbestandtheile ent¬
hielt, und geschahen in fortlaufenden Reihen,
bis die Reizung nach Aussetzen des Mittels
nicht mehr nachzuweisen war. Die verab¬
reichten Dosen von Na. salicylicum oder
den erwähnten Ersatzpräparaten bewegten
sich innerhalb des klinisch Gebräuchlichen.
Das Aufsuchen der Formbestandtheile
geschah im Centrifugat von den Boden¬
schichten des sedimentirten Harnes. Da¬
durch, dass Verf. den Urin vor der Salicyl-
raedication controlirte und nur Patienten
mit an Formbestandtheilen freiem Ham in
Beobachtung nahm, begegnete er dem
Original from
UNIVERSITtf OF CALIFORNIA
40
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Einwand, dass die aufgefundenen Form*
elemente in dem centrifugirten Harn an
sich noch nichts pathologisches bedeutet
hatten. Giebt es doch bekanntlich Autoren,
welche Cylinderbefunde nur dann als etwas
Pathologisches gelten lassen wollen, wenn
sie im nichtceritrifugischen Harn erhoben
wurden! Lüthje hat übrigens in 39 Einzel¬
untersuchungen an gesunden Schulkindern,
und in 10 Einzeluntersuchungen an ge¬
sunden Studenten niemalsCylinder gefunden
und betrachtet also das Vorkommen von
Cylindern im Harn von Gesunden als
grösste Seltenheit.
Die beschriebenen Symptome, die in
dem schwersten Falle 30 Tage, meist aber
nur 9 bis 14 Tage lang das Aussetzen des
Salicylpräparates überdauerten, haben nach
Lüthje’s Meinung eine richtige Nephritis
zur anatomischen Grundlage. Hunde, die
auf Salicylverabreichung mit den gleichen
Erscheinungen am Harn reagiren, wiesen
auch bei der pathologisch - anatomischen
Untersuchung der Nieren Zeichen be¬
ginnender nephritischer Erkrankung (Hyper¬
ämie, körnige Trübung der gewundenen
Harnkanälchen, schwere Fettmetamorphose
der Markstrahlen) auf.
Diese Constanz der Erscheinungen bei
Salicylsäure steht in einem gewissen auf¬
fälligen Gegensatz zu der geringen Zahl
von solchen Beobachtungen in derLitteratur.
Lüthje sie erklärt daher,dass man eben seit¬
her Nephritis nur dann diagnosticirte, wenn
auch Albumin vorhanden war und auf das
alleinige Vorkommen von pathologischen
Formelementen zu wenig Gewicht legte,
während doch hyaline Harncylinder oft die
alleinigen Anzeichen der Nierenreizung
darstellen, F. Umber (Berlin).
(Deut Arck. f. klm. Med. Bd. 75«)
Jacobäus empfiehlt in einem Vortrag:
„lieber das tägliche Wägen als dia¬
gnostisches Hülfsmittel, besonders bei
Herzkrankheiten*, sehr warm tägliche Ge¬
wichtsbestimmungen. Man kann mittelst
solcher Wägungen leicht ein Urtheil be¬
kommen, z. B. über die Zu- oder Abnahme
eines fiauchergusses, eines Pleuraexsudates
und hydropischer Anschwellungen des
Unterhautzellgewebes. Die Bestimmung der
Urinmenge allein genügt nicht, da andere
manchmal sehr wechselnde Factoren der
Wasserausscheidung (Lunge, Perspiratio
insensibilis) dabei ausser Betracht bleiben.
Bei diesen täglichen Wägungen und den
daraus gezogenen Schlüssen bezüglich des
Wachsens oder der Abnahme von patho¬
logischen Flüssigkeitsansammlungen gewinnt
Digitized by Gck sie
man zugleich auch eventuell ein Urtheil über
die Wirkung resp. das Versagen der jeweils
getroffenen therapeutischen. Maassnahmen,
Bei den Wägungen ist zu beachten,
dass dieselben täglich zu gleicher Zeit und
möglichst immer nach vorheriger Entleerung
von Darm und Blase vorzunehmen sind«
Die graphische Darstellung der Wägungs-
resultate in Curven orientirt in schneller
und einfacher Weise über die vorliegenden
Verhältnisse. Lüthje (Tübingen).
(Zeitschrift für di&t. u. phys. Ther. Bd. VI, 7.)
Zur Frage der Woehenbettsmorbidität
hat Zangemeister an der Leipziger
Frauenklinik bedeutsame klinische Unter¬
suchungen angestellt. Durch die An¬
wendung der Gummihandschuhe ist be¬
kanntlich jede Möglichkeit der Ueber-
tragung von Händekeimen ausgeschaltet.
Es liess sich nun feststellen, dass die
Handkeime keine wesentliche Rolle bei
Entstehung der „kurzen Fieber* (Eintags-
Fieber) spielen können, da die mit Hand¬
schuhen Touchirten dieselbe Morbidität
zeigten, wie die ohne Handschuhe unter¬
suchten. Ebenso liess sich kein nennens¬
werter Unterschied auffinden, ob Unter¬
suchungen (mit Handschuhen) oder über¬
haupt keine Untersuchungen stattfandem
Der „Eingriff der Untersuchung (Hand des-
inficirt und mit Kaliseife schlüpfrig ge¬
macht)* beeinflusst die Morbidität nicht
Eine Selbstinfection in diesem Sinne scheint
also nicht vorhanden.
Auch in der Stuhlverhaltung liegt kein£
Ursache für Fieber. Wenn versuchsweise
auf alle Abführmittel verzichtet wird, so
erfolgt durchschnittlich der 1. Stuhl natür¬
licher Weise am 6. oder 7. Tage; künst»
liches Abführen erhöht weder, noch ver¬
mindert es die Zahl der Fieber. Auch
begünstigt der verhaltene Stuhl nicht die
Verhaltung von Lochien. Die grosse Zahl
der heut noch vorkommenden — nicht tödt-
lichen oder nicht sehr schweren — Wochen¬
bettsfieber ist nicht durch Infection, son¬
dern durch Resorption bedingt, welche
von puerperalen Wunden, insbesondere
der Cervix nach Zersetzung der Lochial-
secrete durch Saprophyten bedingt wird
Diese durch den Geruch zu erkennende
Zersetzung ist vom Untersuchen ebenso un¬
abhängig wie vom Stuhl. Die Leistungen
der Anti- und Asepsis werden daher viel
weniger in der Morbidität als in der Mor»
talität zum Ausdruck kommen.
P. Strass mann (Berlin).
(W. Zangemeister: Klin. Beitr. z. Frage der
WochenbettsmorbidiUt. Zeitschr. f. Geb. u. Gyn.
Bd. XVI, 47, 3.)
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
41
Therapeutische Casuistik.
Fieber und Schüttelfröste mit Leberschwellung (ulcerirte Lebergunimata?)
geheilt durch Quecksilber.
Von Q. Klemperer.
Am 14. August suchte mich ein 30jähriger
Kaufmann aus Landsberg a. W. auf; er war
blass und mager und machte einen kachele-
tischen Eindruck. Er klagte, dass er seit
Anfang Juni an Fieber mit Schüttelfrösten
leide; seine Aerzte hätten ihn wegen Ver¬
dacht auf Wechselfieber zuerst mit Chinin,
dann wegen Verdacht auf Typhus mit ver¬
schiedenen Mitteln behandelt, aber trotz
wochenlanger Bettruhe wäre das Fieber
Bkht gewichen, er habe im ganzen 30 Pfund
verloren und sei matt und arbeitsunfähig.
Zuletzt hätten ihn 3 Aerzte in Chloroform¬
narkose untersucht und ihm danach mit-
getheilt, er solle nur aufstehen und viel
spazieren gehen und sich gut ernähren,
das Fieber würde von selbst schwinden. —
Die Körpertemperatur hatte Patient von
Anfang Juli regelmässig gemessen und die
Tagesmaxima in eine Curve eingetragen,
die ich hier wiedergebe (S. 42); die Tem¬
peraturen hatten sich meist um 38,5 bewegt
und waren nur einigemal über 390 gestiegen.
Fast allabendlich hatte er Frösteln gespürt,
das danach in Hitze und Schweiss über¬
gegangen wäre; mehreremals war richtiger
Schüttelfrost eingetreten. Der Appetit war
dauernd schlecht, der Schlaf oft gestört.
Bei der nun vorgenommenen Unter¬
suchung konnte ich die Ursache des Fiebers
nicht leicht aufdecken. Lungen und Herz
fand ich vollkommen gesund, speciell an
den Lungenspitzen und den Herzklappen
nichts abnormes. Die Beklopfung der
Stirnhöhlen, der Highmorshöhlen, der
Warzen fortsätze zeigte keine Schmerz¬
haftigkeit, die Rachenorgane waren gesund.
Alle Gelenke frei; die Geschlechtsorgane
in Ordnung, auch an der Prostata nichts
zu bemerken. Nirgends verdächtige Drüsen.
— Anhaltspunkte ergab nur die Betastung
des übrigens normal aussehenden Ab¬
domens. Die Leber war etwa 2 Querfinger
breit nach abwärts vergrössert, auf Druck
etwas schmerzhaft, dabei von ebener Ober¬
fläche, normaler Consistenz, glattem Rand.
Die Milz war ebenfalls vergrössert zu
fühlen, sie erreichte bei tiefen Inspirationen
gerade den Rippenbogen. — Die später
vorgenommene Urinuntersuchung ergab
ganz normale Verhältnisse. — Ich machte
nun die Combination, dass das Fieber mit
der Schwelhing und iSchmerzhaftigkeit der
Difitized by (jOOQlC
Leber Zusammenhängen könnte; die vor¬
gekommenen Fröste Hessen an Leber-
abscess denken.
Eine Ursache der eventuellen Leber-
affection konnte ich nicht feststellen; weder
Gallenstein noch Echinococcus war wahr¬
scheinlich; auch im Darm konnte die Ursache
nicht liegen. Da kam mir die Erinnerung
an ähnUche Fälle, bei denen eine syphi¬
litische Aetiologie nachgewiesen werden
konnte. Anfang der 90 er Jahre hatte ich
einen jungen Rechtsanwalt gesehen, der
monatelang an erratischen Frösten mit
Icterus und Leberschwellung litt, sodass
die Diagnose Leberabscess zweifellos und
die Prognose sehr traurig erschien. Er
wurde ins Krankenhaus Moabit gebracht,
um operirt zu werden; aber ehe es so weit
kam, stellte Geheimrath Renvers fest, dass
Patient vor Jahren eine luetische Infection
durchgemacht hatte und leitete ein Sub-
limatspritzcur ein, die einen unerhörten
Erfolg hatte; die Fröste hörten auf, der
Icterus verschwand, die Leber verkleinerte
sich, Patient wurde ganz gesund und ist bis
heut ganz gesund geblieben. Ueber diesen
Fall habe ich seitdem wiederholt mit
Herrn Renvers gesprochen; derselbe
war überzeugt, dass es sich um ulcerirte
Lebergummata gehandelt habe, und dass
es unter der specifischen Einwirkung zu
einer glatten Vernarbung gekommen wäre.
— Ich selbst habe 1896 in meiner Privat*
klinik einen 36jährigen Herrn behandelt,
der in mehrwöchentlichen Zwischenräumen
Anfälle von sehr hohem Fieber mit Schüttel¬
frost ohne Kolikschmeizen gehabt hatte,
bei dem zur Zeit der Beobachtung Leber¬
schwellung und Icterus ohne Fieber bestand.
Auch hier wurde eine lange zurückliegende
luetische Infection zugestanden. Ich leitete
eine Schmiercur ein, unter der Leber¬
schwellung und Icterus zurückgingen: das
Fieber ist seitdem nicht wiedergekehrt.
Diese Erfahrungen gingen mir durch
den Sinn, als ich bei meinem Patenten
die Schwellung und Druckschmerzhaftigkeit
der Leber constatirte. Ich fragte nun nach
Lues und erfuhr, dass er vor 9 Jahren ein
Ulcus durum gehabt, eine kurze Schmier*
cur durchgemacht, auch 10—15 Fkschen
Jodkali getrunken habe; vor 8 Jahren waren
anscheinend Condylomata ad anum dage-
* urigi raT fron
UNIVERSITY &F CALIFORNIA
42
wesen, die nach einer neuen Jodcur ver¬
schwanden.
Es erschien mir nunmehr nicht unwahr¬
scheinlich, dass es sich um eine luetische
Leberaffection, d. h. zerfallende Leber-
gumraata handele und dass die Resorption
necrotischen Gewebes das Fieber verur¬
sache. Von diesem Gedanken ausgehend,
verordnete ich dem Patienten eine Queck-
silbercur, in Form von Sublimateinspritzun-
gen zu gebrauchen. Dieselben in der
bekannten Form der Lewin’schen In-
jectionen, in einer Spritze 1 ccm einer
Lösung von 0,2 Sublimat, 2,0 Kochsalz
auf 10 Wasser, sind denn auch regelmässig
angewandt worden, zuerst in einem hiesigen
Krankenhaus, dann in der Heimath des
Patienten. Das Resultat zeigt sich in
der Curve, auf der jedes X eine In-
jection von 0,02 g Sublimat bedeutet. Das
Fieber ist nach der 14 Injection fort¬
geblieben und seitdem nicht wiedergekom¬
men. Die Leber ist auf die normale Grösse
zurQckgekehrt und auch ein Milztumor ist
nicht mehr nachweisbar. Patient hat wieder
guten Appetit, isst sehr ordentlich und hatte
am 27. October 18 Pfund zugenommen. Seit
dem 1. October ist er wieder in seiner
alten Stellung thätig, thut einen anstren¬
genden Dienst, fühlt sich ganz gesund.
Die letzte Nachricht ist vom 15, December,
es ist kein Recidiv eingetreten.
Man darf wohl mit einer an Sicherheit
grenzenden Wahrscheinlichkeit annehmen,
dass in diesem Fall Fieber und Leber¬
schwellung als tertiäre Erscheinungen der
Lues aufzufassen sind, und es ist gewiss
erlaubt, ulcerirende Lebergummata als Ur¬
sache der klinischen Erscheinungen anzu¬
sehen. 'Die Syphilislitteratur kennt mehrere
Beispiele von Erweichung und Resorption
von gummösen Leberherden, welche in
dem grossen Werk von Neumann (Noth¬
nagels Pathologie Bd. 23 S. 466) zusammen¬
gestellt sind. Indessen habe ich nichts
über einen fieberhaften Verlauf mit Schüttel¬
frösten, der das klinische Bild eines Leber-
abscesses hervorriefe, in der Litteratur
finden können; auch in dem jüngst er¬
schienenen Vortrag von Senator „über
die acut-infectiösen Erkrankungsformen der
constitutionellen Syphilis“ (Berliner klin.
Wochenschr. 1902 No. 20) finde ich nichts
davon erwähnt. Deswegen möchte ich dies
„luetische Leberfieber“ hier gewisser-
maassen zur Discussion stellen; vielleicht
werden aus dem Kreise der Leser weitere
Beobachtungen zu diesem Gegenstand be-
□iiÄfigö
Januar
43
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aus der medicinisehen Abtheilung des Städtischen Krankenhauses Frankfurt a. M.
(Oberarzt: Prof. v. Noorden.)
Die Anästhesin-Behandlung des Erysipels.
Von Dr. HeoillSf Av^sten/ai il.
Unter den neueren in die Therapie ein- j Dauer der Krankheit auch schmerzfrei 2u
geführten Anästheticis spielt das „An- ; halten, so dass damit eine der grössten
ästhesin" eine grosse Rolle. Wir haben , Beschwerden der Kranken weggenomnien
uns in den letzten Jahren vielfach mit wird Wir wandten das Anästhesin bei
dem Anästhesin - Ritsert beschäftigt (conf. j unsern Erysipelfäilen, deren Zahl sich auf
v. Noorden, D. naed. Wochenschrift 1902 25 beläuft, in Form einer 10°/ 0 igen La-
No. 17). Wir suchten nun dieses neue i nolin Vaselinsalbe an. ln den ersten
Präparat auch für die Therapie des Ery- | Stadien der Erkrankung, wo es zur Blasen-
sipels nutzbar zu machen. Gegen das Ery- j biidung kommt und zu starker Hautröthung
sipel kennen wir keinerlei Heilmittel, durch , und Spann mg. wurde die Anästhesinsalbe
die wir entweder das Erysipel zum Ver- | dick auf das Gesicht aufgelegt und mit
schwinden bringen oder auch nur den j einer Bindenmaske bedeckt, m späteren
erysipelatösen Process aufhalten könnten j Stadien wurde es auf die gerötheten Stellen
„er muss, wie Henoch sagt, seine Phasen in dünner Schicht aufgetragen. Die An¬
unaufhaltsam in sich durchmachen und ästhesirung der Haut ist eine vollständige,
vollenden. 41 Der Arzt hat daher sein Haupt- so dass auch Berührung und Druck der
augenmerk darauf zu richten, das Allgemein- entzündlichen Theile keinen Schmerz mehr
befinden des Kranken zu überwachen und auslösen. — Ueble Nebenwirkungen hat
zu versuchen seine Beschwerden zu er- das Präparat nicht Anhangsweise sei er¬
leichtern. Zweifellos haben sich für diesen wähnt, dass wir das Anästhesin Ritsert auch
Zweck manche der bisher üblichen Maass- zur intraduralen Anästhesirung ver¬
nahmen gut bewährt; uns selbst erschienen suchten und zwar in zwei Fällen schwerer
die vielfach empfohlenen Alkoholumschläge * gastrischer Krisen bei Tabes dorsualis.
am meisten zur Erleichterung der localen i Wir spritzten das Anästhesin in Form einer
Beschwerden beizutragen, wenn wir auch sterilisirten 30/ 0 igen öligen Lösung in den
einen deutlichen Einfluss auf den entzünd- Duralsack des Rückenmarks. Im Gegen¬
lieben Process nicht gesehen haben. Das satz zur Cocaineinspritzung schlug der Ver-
neue Anästhesin-Verfahren aber scheint such vollkommen fehl. Dies stimmt mit
uns der Alkoholtherapie weit überlegen zu der Angabe v. Noorden's überein, dass
sein. Es hatte immer den unverkennbaren Anästhesin nur auf die Nervenendigungen
ausgezeichneten Erfolg, die vom Erysipel und nicht auf freigelegte Nervenstämme
befallenen Hautpartien vollständig schmerz- anästhesirend einwirke,
frei zu machen und während der ganzen j
Ueber Bromipinklystiere, besonders in der Kinderpraxis.
Von Dr. A. Raho -Krippen a. d. Elbe.
Bromipin Merck, eine Verbindung des Brom messer 1 ) wie sic in jedem Bandagengeschäfte
mit Sesamöl, empfehle ich in allen Zuständen, zu haben sind. Ist die Kanüle durch Ein¬
weiche die Bromanwendung nützlich erscheinen tauchen in die Mischung gleitsara gewor-
lassen. und zwar in der Anwendung perClysma, * den, dann lässt man den Kranken sich auf die
weil auf diese Weise jede Reizerscheinung von ! linke Seite legen und die Beine anziehen. Mit
Seiten des Magens ausgeschlossen ist. Ich ver- * einer Klystierspritze von 60 ccm und mehr
ordne folgende Dosen: bei Säuglingen soviel j Inhalt spritzt man die Bromipin-Mischung ein,
g, wieviel Monate sie zählen, bei Kindern über j oder man lässt aus einer Spülkanne den Ein-
1 Jahr weiterhin 10 —12—15 g, bei Kindein j lauf aus gelinder ('/a — 1 in) Höhe vornehmen,
über 4 Jahre 15—20 g, bei älteren Kindern Selten wird das in den MastiUrni hingegossene
25—30 g, bei Erwachsenen 30 — 40 g Diese j vom Kranken wieder ausgepresst.
Dosen rührt man je nach dem Alter des j Ich habe oben die Üewichtsmengen von
Kranken auf Ä /*— ^ V* Tasse lauen The cs, am 1 10%igem Bromipin angegeben, bin aber der
besten Leinsamen- oder auch Moosthee oder j Meinung, bei grösseren Brom-Mengen lieber
mit Milch oder Thee und Mikhmischung 33 l /s°/o>ges Bromipin anzuwenden, da dies schon
ein. In die ölige Flüssigkeit taucht man eine lj Ach beziehe die mir sehr gefällig erscheinende
Gummikar.ülc von grauem Patentgummi und Form von solchen grauen Klystier-Kaoülenj von der
von l2cnMJtafge hl&chstens */s cm Durch- Firma Alexander Schade^ Leipzig-
44
Die Therapie der Gegenwart 1903,
Januar
pekuniär bei dem an sich nicht gerade wohl¬
feilen Mittel praktischer ist. Meine Versuche
sind mit 10% Bromipin angestellt, da
solches wiederholt in gefälligster Weise von
der Firma £. Merck zur Verfügung gestellt
wurde. Bei Kindern jedoch würde ich im
Interesse der leichteren Dispensirung und aus
anderen weiter unten anzugebenden Gründen
weiter das 1Ö%ige Bromipin anzuwenden Vor¬
schlägen
Das Bromipinklystier ist von besonderem
Nutzen .in der Kinderpraxis! ln dieser ist
Brom schon lange und vielfach angewendet
worden, aber gerade bei denjenigen Er¬
krankungen, wo die Indicationen für Brom
vorliegen, ist der Darmtraktus der Kinder sehr
häufig mit ergriffen oder wenigstens gefährdet.
Wegen des lästigen Geschmackes erzeugten
die Bromsalze beim Eingeben Aufregung der
Kinder und im Darme per Clysma machten
sie Reizung, denn sonst gute Einhüllungsmittel
wie Salepschleim, Gummi arabicum und ähn¬
liche Mischungen können die Salzwirkung der
Bromalkalien nicht unterdrücken. Darum er¬
scheint das Bromipin-Ses&möl empfehlens-
werther.
Wirklich mannigfach ist die Wirkung des*
Bromipins bei der Eklampsia infantum, mag
sie idiopatisch oder symptomatisch, namentlich
in Folge von Darm- und Verdauungsstörungen
aufgetreten sein. Die Wirkung tritt 10 Minuten
nach dem Klystier ein. Die Spannung im
Körper lässt nach, nur leises Schütteln noch,
noch hier und da Schauern mit den Armen,
Zucken mit den Augenlidern ürid eine An¬
deutung von Zähneknirschen, und das Kind
legt sich auf die Seite, um zu schlafen; der
Schlaf wird tief und von regelmässiger Athmung
begleitet.
Ist diese Wirkung aber nicht auch schon
mit der billigeren Bromsalz -ülhloralhydrat-
Mischung (Soltmann) zu erreichen? Mag sein,
aber wir wollen doch nur eine Brom Wirkung
haben, und dies erreicht rhan eben nur im
Bromipin und im Clysma, und nicht mit der
bisherigen einfachen Bromsalz-Mischung. Mit
dem Bromipin reize ich den Darm nicht, im
Gegentheil, ich mildere sogar die all fälligen
Reizzustände daselbst durch das Oel und
durch den Schlejmzusatz, der hier nun wirk¬
lich einhüllend wirken kann, nachdem im
Bromipin die Bromreizung in Folge der Bin¬
dung mit Sesamöl in Wegfall gebracht worden
ist Ich darf also sogar froh sein, wenn beim
Clystier möglichst Alles im Darmfe zurück¬
bleibt. Aber' hauptsächlich kommt mir bei
Bromipin die ruhige Einschläferung, der
Dauerschlaf und namentlich die andauernde
Nachwirkung auf das seelische und körper¬
liche Allgemeinbefinden der Kinder zu Nutze.
Die Grilligkeit, die Nörgelei und die Schlaf¬
losigkeit, die nach überstandener Eklampsie
sich bei den Kindern zumeist einstellte, sie
bieiben aus'nach den ersten* 4—5 Bromipin-
clystieren. In diesen Fähen liess ich eine Woche
lang früh und abends 1 Bromipindystier geben
und, wie bemerkt, mitm ach haltigem Erfolge.
□ igitized by )Q1C
Bromipin half ferner bei Keuchhusten. Im
Stadium convulsivum brachte ich die Eltern
dazu, wenigstens 10—14 Tage früh und nament¬
lich Abends ein Bromipinklystir vorzunehmen,
meist Hessen sich’s die Kinder gut gefallen,
zumal die weiche Gummicanüle schnell und
leicht eingeführt werden konnte. Wenn ich
diese Manipulation mit dem Einlöffeln von
Arzenei vergleiche, so ist das Klystieren bei
weitem einfacher und sicherer. Dadurch habe
ich in der oben genannten Frist die Keuch¬
hustenanfälle recht bedeutend nachlassen und
auch in der Zahl ziemlich progressiv zurück¬
gehen sehen; und namentlich fiel es mir auf,
dass die Nahrungsverweigerung, der man doch
sonst so oft begegnet, den Kindern gamicht in
den Sinn kam. Später, d. i. in der dritten und
vierten Woche, liess ich den Kindern nur noch
einmal früh, bisweilen auch, wenn nächtliche
Schlaflosigkeit vorherrschte, Abends ein Bromi¬
pinklystier geben. Eine Nachprüfung meiner
Angaben möchte ich bei Keuchhusten beson¬
ders empfehlen, weil die so behandelten Kinder
niemals an Gewicht abgenommen haben.
Bei Atrophie der Säuglinge, bei den gleich
von Hafus-äus zurückgebliebenen oder durch
Schwcizermikh oder Kihdermehl oder durch
Ueberfütterung und Nahrungsüberstürzung oder
durch Trinken im Galopprhythmus abgemager¬
ten Kindlein, den Voltaire-Ebenbildern, da
klagen die Mütter fast ausnahmslos über das
wehleidige Wimmern, über das „erbarmungs¬
würdige“ Schreien, das Tag und Nacht sie ver¬
folgt. Bromipin ist hier ein zuverlässiges Se¬
dativum, ein Tonikum und auch 'ein Nutriens;;
mir wenigstens hat's drei ganz kümmerliche*
SäugUnge zum Stolze der vorher fast „ver¬
legenen“ Eitern gross ziehen helfen: die Eltern
konnten sich mit ihren Kindchen getrost überall
wieder sehen lassen. Als Nutriens, eben bei
diesen kleinen atrophischen Kindern, bewährt
sich, gerade das 10%ige Bromipin wegen .der
reichlichen darin enthaltenen Sesamölmenge.
Ein Zusatz von 10—12g Oel ist für die Unter¬
stützung der Ernährung nicht zu unterschätzen.
In einem vierten Falle von Paedatrophie
bei einem nach 20 jähriger Pause nachgekom¬
menen Kinde, da gehörte allerdings alle Ueber-
zeugungskraft des Hausarztes dazu, das Ver¬
trauen zu Bromipin zu erhalten, denn das
Schreien und das Wimmern und das Stühlen
in jede Windel wollte gamicht erst nachlassen;
aber die Geduld der Eltern machte sich be¬
lohnt, vom zwölften Tage ab, wie mit einem
Schlage, wurde das Kind ruhig, es nahm die
beiläufig gamicht geänderte Nahrung und war
fortan lebhaft und gleichgelaunt.
Selbst bei tuberkulösen Processen der
Kinder, vor Allem bei Bronchialdrüsen-und bei
Himhauttuberkulose sind die HustenanftHe
durch Bromipin in zwei Fällen wesentHch ver¬
ringert und abgeschwächt worden, und bei
den die Hirnhautentzündung complicirenden
Krämpfen schwerster Form habe ich ebenso,
wie bei den eklamptischen Krämpfen schnelles
Einschläfem erreicht; allerdings der Natur des
Leidens gemäss repetirten die Krämpfe hart-
UN1VERSITY 0F CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
45
näckig und bald hintereinander, und so musste
drei-, in dem anderen Falle sogar viermal inner¬
halb 24 Stunden das Klysma wiederholt wer¬
den, aber die einfache Brom Wirkung hielt doch
immerhin 6—8 Stunden an. Merkwürdig ruhig
war auch hier der Schlaf und das mag ein
Grund sein, warum ich selbst bei der einmal
diagnostisch feststehenden Hirnhautentzündung
für Bromipin eintrete, natürlich dann, wenn
gerade auf die Kosten des Mittels keine Rück¬
sicht genommen zu werden braucht.
Auch in drei Fallen von Brechdurchfall
unter den Erscheinungen von acutem Hydro-
cephaloid schien mir das Schlucken, die Un¬
ruhe, das Hin- und Herdrehen der Kinder, das
jAhe Aufschreien nicht so zum Ausbruch zu
kommen wie sonst bei Kindern derselben Ver¬
hältnisse, desselben Alters und ebenderselben
Constitution. Ein 8monatiges Kind, das sofort
in die Behandlung kam. erholte sich nach drei
Tagen sogar, kamauch bald wieder zur Genesung,
ohne dass sich nachher Neurasthenie geäussert
hätte; und zwar erhielt es 14 Tage lang früh
und Abends 8 g Bromipin 10°/o.
Schliesslich haben sich mir die Bromipin-
klystiere bei rhachitischen Kindern ausser¬
ordentlich bewährt, um das echauffirte Athmen
und das Geifern und Röcheln der Kinder zu
beruhigen. Einem 7jährigen imbecillen Kinde mit
Schlaflosigkeit und Enuresis nocturna gab ich
im Ganzen 1400 ccm 10°/oiges Bromipin per
clysma (und zwei je I 1 /* Esslöffel mit wechsdn-
den Zusätzen von Thee und Milch) und erzielte
damit sehr gute Erfolge.
Was wir über Bromipin in der Kinder¬
praxis sagten, das schien mir je nach den
Aenderungen der Indication auch an Erwachse¬
nen Geltung zu gewinnen. Ausdehnen und
l systematisch durcharbeiten konnte ich meine
| Versuche nur in der Kinderpraxis; aber ein¬
zelne Krankheitsgruppen habe ich auch bei
| Erwachsenen verfolgt, um sie für die Bromipin-
Cly^mabehandlung zu fixiren und weiter im
' Auge zu behalten.
! Die Varietäten der Epileptischen- und Neu-
j rastheniker-Aequivalente sind sehr mannichfach
i und zahlreich. Bei Frauen selten, wohl aber
| bei Männern sind mir mehrmals periodische
i Kopfschmerzen mit Gedächtsnisschwäche be-
| gegnet, die mich zur anamnestischen Nach-
! forschung über früher durchgemachte Krämpfe
| führten und zweimal wurde ich durch die Be-
; handlung in der Berechtigung der anamnesti-
, scheu Prämissen bestärkt. Ich scheute mich
| nicht, auch dort Clysmata zu verordnen und
| diese wurden in dem einen Falle — ein 58jäbri-
I ger Mann — dreimal fünf bezw. sechs Tage
I in Zwischenpausen und im anderen Falle zwei-
i mal eine Woche mit einer Unterbrechung von
zwei Wochen regelmässig Morgens genom¬
men. Beide hatten keine Störungen bei den
verordneten Bromipin-Einläufen und keine Er¬
scheinungen von Bromismus trotz grosser Dosen
(6—8 g Brom pro dosi).
Auch bei neurasthenischen Zuständen von
Phthisikern, insbesondere bei Reizhusten, haben
sich die Klystire bewährt, ebenso bei Erregungs¬
zuständen nach Apoplexien und Kopfcontu-
sionen.
Ich möchte also auf Grund meiner Erfah¬
rung die Bromipinklystiere den Herren Collegen
bestens empfehlen, indem ich glaube, dass die
Worte von Kräpelin „es werden durch Brom
i innere Spannungszustände gemildert oder be-
| seitigt", insbesondere auf die Bromipinklystiere
I Anwendung verdienen.
Eine Methode zur wesentlichen Vereinfachung: und
Verbilligung des Röntgen-Verfahrens.
Von Dr. med. Franz Kronecker- Berlin.
(Mit 2 Tafeln am Schluss des Heftes).
V. Mangold (Dresden) und Andere haben
darauf aufmerksam gemacht, dass die bisher
ziemlich kostspielige und umständliche Actino-
graphie (Anfertigung von Photogrammen mit
Hülfe der Röntgenstrahlen) sich erheblich ein¬
facher und wohlfeiler gestalten * lässt, indem
man die Aufnahmen anstatt auf der photo¬
graphischen Platte auf Bromsilberpapier macht.
Ich habe in letzter Zeit mit meinem Tech¬
niker, Herrn Photographen Engelmeyer, in
dieser Richtung experimentirt und zwar mit
recht gutem Erfolg. Es hat sich herausgestellt,
dass jenes Verfahren, bei welchem man der
kostspieligen und zerbrechlichen Platte völlig
entrathen kann, zur Untersuchung besonders
chirurgischer Fälle, namentlich wo es 6ich um
Feststellung von Verletzungen und Erkran¬
kungen der Knochen und Gelenke der Extremi¬
täten handelt, vollkommen ausreicht. Wir be¬
nutzen das hochempfindliche Bromsilberpapier,
Marke „M*, der Firma Dr. Stolze & Co. (Char-
Digitized by Google
lottenburg-Westend, Kirschenallee 19—21), wei¬
ches man in der erforderlichen Grösse ge¬
schnitten in der Dunkelkammer bei schwachem
rothen Licht in eine lichtdichte schwarze Tasche
legt. Dieselbe wird nun bei der Aufnahme
mittelst der Röntgenstrahlen dem zu unter¬
suchenden Körpertheil genau so angelegt, wie
die in der Cassette eingeschlossene photo¬
graphische Platte. Es empfiehlt sich nach
unserer Erfahrung nicht, die mit dem Papier
beschickte Tasche so fest anzudrücken, dass
sie sich dem zu untersuchenden Gliede in allen
ihren Theilen anschmiegt etwa wie eine Papp¬
schiene, da man auf diese Art keine klaren
Bilder erhält. Man begnüge sich vielmehr da¬
mit, dieselbe genau wie eine mit Glasplatte
gefüllte Cassette einfach in einer Ebene anzu¬
legen. Die Expositionsdauer betreffend, so
ist zu beachten, dass man drei bis vier Mal so
lange belichten muss als bei einer stark em¬
pfindlichen Schleussnerplatte. Indessen kann
Original frorn
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
46
Januar
Plc Therapie der
man sich hier des Verstärk u ngsschirms
bedienen und zwar mit ungleich grösserem
Vortheil als bei der Aufnahme auf einer
Röntgenplatte, da das störende, oft sehr grobe
Korn bei dem Bromsilber-Actinogramm voll¬
ständig wegfällt Es beruht dies auf derThatsache,
dass die Bromsilberpapierbilder in auffallen¬
dem Lichte betrachtet werden, nicht in durch-
fa! len de in wie die Negativplatte. Bedient man
sich des Verstärkungsschirms, so braucht man
zur Aufnahme von Hand und Vorderarm unter
Verwendung einer Standardplatte (um die
Hälfte billiger als die sehr empfindliche
Schleussnerplatte): 4 Secunden, unter Be¬
nutzung von Bromsilberpapier 15 Secun¬
den. Bei Aufnahme von Unterschenkel und
Knie: Standardplatte = 20 Secunden, Brom¬
silberpapier: 70 Secunden; Thorax und Schulter-
gelenk eines mageren Mannes: Standardplatte:
30 Secunden, Bromsilberpapier 90 Secunden. —
Ist die Aufnahme fertig, so wird das exponirte
Bromsilberpapier in der Dunkelkammer bei
schwach rothem Licht unter strengstem Ab¬
schluss gegen alles weisse Licht aus der
lichtdich Tasche genommen, in eine mit
Wasserleitungswasser gefüllte Schale ein-
geweicht, um es zu glätten, und hierauf mit
dem Eisenoxalatentwickler (1:3) unter Zusatz
einiger Tropfen 10 o/o Bromkaliumlösung
langsam entwickelt, dann in einem Wasserbade,
welchem ein Theelöffel bis ein Esslöffel Eis¬
essig zugesetzt ist, geklärt, abgespült, in dem
bekannten unterschwefligsauren Natronbade
üxirt, hierauf gründlich gewässert, in heisser
Luft oder Alkohol getrocknet, mit Negativlack
lackirt und auf Carton aufgezogen. So wird
das Bild in 1—2 Stunden fix und fertig.
Beim Entwickeln hat man darauf zu achten,
dass der Process gründlich und vollständig zu
Ende geführt wird. Die von dem Körpertheile frei¬
liegenden Partien des Papiers müssen glänzend
schwarz imponiren; nur wenn dieses der Fall
ist, werden hinreichend scharfe Contraste der
Körpergewebe auf dem Negativ erzielt werden.
Da man’bei Anwendung des Bromsilber-
Papiers 3-4mal so lange zu exponiren hat
wie auf Platte, so scheint dieses Verfahren bei
sehr schwer leidenden oder sehr unruhigen
Patienten, namentlich Kindern, nicht gut ver¬
wendbar. Ebensowenig eignet es sich für die
Actinographie sehr dicker, mit starker Musku¬
latur und Fettpolster bedeckter Körpertheile
wie des Beckens und der Bauchorgane Er¬
wachsener, und endlich auch nicht für solche
Regionen, wo es auf ganz besondere Nüancirun-
gen an kommt, wie für den Gesichtsschädel,
den Bulbus und die Lungen, soweit nicht feste
Tumoren, sondern Abscesse oder tuberkulöse
Heerde, Cavemen u. dergl. in Frage kommen.
Hingegen dürfen sich die Fälle von Hyper¬
trophie und Dilatation des Herzens, von
aneurysmatischen Erweiterungen der grossen
Brustgefässe, von Lungen- und Mediastinal-
tumoren neben den obenerwähnten Knochen-
und Gelenkerkrankungen, sowie Fremdkörpern
innerhalb der Extremitäten sehr wohl zur
Actinographie auf Bromsilberpapier eignen.
Digitized by (^ QQ ole
Gegenwart 1903.
Es bleibt also immerhin ein grosses Gebiet für
jenes schnelle und billige Verfahren übrig.
Der Hauptvorzug desselben dürfte in seiner
grossen Wohlfeilheit gegenüber der Platten¬
aufnahme bestehen.
Während z. B. eine der verhältnissraassigen
billigen Standardplatten in Format 13x 18 zur
Aufnahme der Hand gerade ausreichend, ca
20 Pf. kostet, wozu die Auslagen für den Ab¬
zug auf Celloidinpapier mit etwa 30 Pf. kommen,
beträgt der Preis eines Blattes BroirSilber¬
papier in gleicher Grösse 12 Pf., das macht
dann mit Aufziehen auf Carton u. s. w. eine
Ausgabe von 15—20 Pf. Will man zum Ver¬
gleich neben der kranken auch die gesunde
Hand actinographiren, so braucht man hierzu
eine Platte 24 x 30, welche im Minimum 75 Pf.
kostet. Mit Abzug auf Celloidinpapier stellen
sich dann die Auslagen für eine derartige Auf¬
nahme auf 1,50—2,00 M. Ein Blatt Bromsilber¬
papier in Format 24x30 kostet hingegen 35 Pf„
sodass die Selbstkosten eines derartigen
Actinogramms sich auf ca. 50 Pf. steilen. Für
eine Thoraxaufnahme beim Erwachsenen be¬
darf man einer 40x50 cm grossen Platte:
Kostenpunkt zum Mindesten 2 M., Auslagen,
welche sich durch Anfertigung eines Abzuges
genau verdoppeln. Der Preis eines Stückes
Bromsilberpapier gleicher Grösse stellt sich
auf 1 M., sodass die Selbstkosten der Aufnahme
sich hierbei auf ca. 1,50 M. belaufen» Unter
Umständen genügt ja freilich dasPlatten-Negativ.
Aber wie vergänglich ist dieses. Man darf ja
kaum wagen, dasselbe, namentlich eine Platte
grösseren Formats, einem nicht sehr vorsichtigen
Patienten in die Hand zu geben. In anderen
Fällen aber kommt man ganz und gar nicht da¬
mit aus, sondern braucht nothwendig einen Ab¬
zug, namentlich wenn das Bild den Akten einer
Unfall-, Invalidität- oder Berufsgenossenschaft
beigelegt oder in wissenschaftlichen Gesell¬
schaften herumgegeben werden soll. Und wie¬
viel Umstände und Mühe macht dann häufig
das Copiren besonders einer grossen Röntgen¬
platte? Das Tageslicht ist in unseren Breiten
zumal während des Winters oft Tage lang ganz
unzureichend, so dass der Process entsetzlich
langsam vor sich geht und das Bild zu dem
Termin, wo man seiner bedarf, nicht fertig
wird. Alles dies fällt bei Röntgenaufnahmen
auf Bromsilberpapier fort. Exponiren, Fixiren,
Wässern, Trocknen in Alkohol oder am wannen
Ofen, Lackiren und Aufziehen auf Carton
nehmen bei einiger Uebung selbst bei Bildern
von der Grösse 40x50 knapp 1 l /t Stunden in
Anspruch, wobei man ganz unabhängig von
der Witterung bleibt und inzwischen sogar
noch andere Aufnahmen machen kann.
Wenn daher auch, wie ich oben erwähnte,
bei jenem letztgeschilderten Verfahren eine
derartige Schönheit und feine Ausarbeitung
namentlich der Knochenstructur kaum erwartet
werden kann, wie sie die Aufnahmen von der
Röntgenplatte zeigen, so treten doch die gröbe¬
ren Anomalien deutlich genug hervor, um, was
ja den Kernpunkt des gesammten Röntgen¬
verfahrens bildet, eine exacte Diagnose zu ge-
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
4 i
statten. So eignet sich das Bromsilberverfahren | dass es mit Hülfe jenes Papiers möglich sein
vorzüglich für den Massenbetrieb, nament- wird. Aufnahmen in einer Grösse zu machen,
lieh in der poliklinischen Praxis, wo bis- wie sie bei Platten unmöglich sein dürften, cia
her die Verwendung der Actinographie der der Guss solcher Riesenplatten unerschwing-
hohen Kosten wegen eine sehr beschränkte ge- theuer werden würde. Die Firma führt Formate
blieben ist Man wird sich hierbei auch in jeder Grösse und Rollen beliebiger Länge bis
Anbetracht der unbedeutenden Preisdifferenz zur Breite von SO cm. Mit Hülfe zweier Blätter
eher dazu verstM'ien, ein grösseres Format zu 63x80 bezw. 70x90, das Blatt zu 2,30 M. bezw.
wählen und häufiger das gesunde Glied zum 2,90 M., wird es, wenn man beide Blätter zu-
Vergleichc mit aufzunehmen, was wiederum | sammenlegt, möglich sein einen ganzen er-
einer exarten Diagnose zu Gute kommen dürfte wachsenen Menschen mit Röntgcnstrahlen zu
Zum Schluss soll nicht unerwähnt bleiben, | photographiren.
Schwindsuchtstherapie vor 133 Jahren.
Von Dr. Siegfried Kaminer- Berlin.
Durch die Liebenswürdigkeit des Kollegen
Eiger, der einem Zufall den Erwerb ver¬
dankte, gelangte vor Kurzem ein Büchlein in
meine Hände — eine deutsche Uebersetzung
einer französischen Abhandlung über die
Schwindsucht aus dem Jahre 1770. Es sind
die Erfahrungen des Dr.Buchoz, Leibarztes des
Polenkönigs, Mitglieds der Akademie zu Nancy,
über die Diagnose, Prognose, besonders aber
über die Therapie der Krankheit. Bei dem
heute so überaus starken und regen Inter¬
esse, das der Bekämpfung der Tuberkulose
als Volkskrankheit entgegengebracht wird,
wird es möglicherweise nicht uninteressant
sein, die wissenschaftlichen Hypothesen und
Ueberzeugungen dieses scheinbar sehr er¬
fahrenen Praktikers durch die Lupe moderner
Kritik zu betrachten, und staunen wird man,
schon dort und dann Anklänge zu finden ap
Behandlungsmethoden, die, heute Gemeingut
aller Aerzte, doch wohl für Errungenschaften
neuerer Zeit gehalten und gepriesen werden.
Man denke vor 133 Jahren!
Die allgemeine Definition der Krankheit ist,
wie dies bei den pathologisch - anatomischen
Kenntnissen der Aerzte damaliger Zeit nicht
anders sein konnte, eine Definition dei Sym¬
ptome der Krankheit. „Schwindsucht 4 *, so sagt
Buchoz am Anfänge des Büchleins, „ist eine
langwierige Lungenkrankheit, die ein besonders
des Nachts und des Abends sich äussemdes
Fieber, ein fürnehmlich auf der Brust sich be¬
merkbar machender Sehweiss. eine Schwierig¬
keit im Athmen und ein Husten begleitet,
der gegen Abend und den Anbruch des Tages
heftiger wird. Der Auswurf dabei ist Anfangs
mit Blut, später mit Eiter vermischt, und auf
diese Krankheit folget allezeit eine Abnahme und
eine völlige Auszehrung des Körpers.“ Das
Wort „Tuberkel“, das ja zuerst bei Celsus,
wenn auch nicht in der Bedeutung, die ihm
heute zukommt, später durch Bonnet und
Manget richtig gebraucht wird, findet sich
in dem Buche nicht. Für das pathologisch- j
anatomische Substrat der Phthise hält Buchoz |
eine „Verschwärung* oder eine „Sammlung !
schwüriger Beulchen* in den Lungen. Den j
Grund aber für das Zustandekommen dieser >
Processe sieht Buchoz in verschiedenen I
Ursachen. Deutlich unterscheidet der Verfasser |
Digitized by Gougle
2 Arten der Phthise, um moderne Ausdrücke
zu gebrauchen,
l. die hereditäre.
II. die erworbene oder infectiöse,
und es wird bei der Bedeutung, die in neuerer
Zeit den Thorax-Anomalien für die Genese der
Lungenschwindsucht beigemessen wird, nicht un¬
interessant sein zu erfahren, dass schon Buchoz
für die häufigste Ursache der Lungenschwind¬
sucht den Mangel einer guten Einrichtung der
Brust erklärt; Leute, die eine beklemmte enge
Brust, einen langen Hals und hohe Schultern
haben, sind nach ihm unfehlbar zur Schwindsucht
prädisponirt. Bei solchen Leuten kann wegen
der Engbrüstigkeit die Lunge sich nicht genug
ausdehneh und das Maass von Blut einlassen,
welches bei jeder Zusammenziehung der Lunge
dorthin geworfen wird, und diese partielle
Ischämie führt nach Buchoz zu einer Ver¬
dehnung der Lungengefassc, zu einem Zer¬
reissen derselben und endlich zum Geschwür.
Streng trennt Verfasser von der ererbten die
erworbene Phthise, von der er angiebt, dass
sie bei manchen Volksarten endemisch, bei
manchen Volksklassen als Berufskrankheit auf-
tritt. So als Infectionskranklieit, die auf Ehe¬
gatten, auf Personen, die den Kranken pflegen
oder besuchen, übertragen werden kann; doch
ist die Bedingung der Uebertragung
regelmässig eine Disposition, die aber
nicht immer in dem schlecht gebauten
Thorax zu suchen ist. Die „zufällige*
Schwindsucht ist aber für ihn eine leichtere
Krankheitsform als die erbliche: „denn körper¬
lichen Uebeln, die von unsern Eltern zu uns
kommen, können ärztliche Mittel nicht leicht ab-
hetfen * Auch die Beziehungen zwischen
der Lungenschwindsucht und den ge¬
werblichen Schädigungen sind diesem
Arzte nicht entgangen. Im Allgemeinen werden
nach ihm die Leute schwindsüchtig, die in Berg¬
werken oder chemischen Laboratorien sich
aufhalten, wo scharfer Spiritus destillirt oder
korrosiv&che Pulver herumgerührt werden,
und er macht mit Nachdruck darauf aufmerk¬
sam, dass für diese Leute besondere
hygienische Maassregeln zum Schutz
der Lunge nothwendig seien.
Ist man schon beim Lesen des Büchleins
von der Beobachtungsschärfe des vor fünf
Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
48
Die Therapie der Gegenwart 19C3
Jai.uar
Generationen schreibenden Verfassers bezüg- Was die von ihm vorgeschlagene
lieh der Genese und Aetiologie der Krankheit Palliativcur betrifft, so bemerkt der
aufs äusserste überrascht, so wird das Erstaunen kritische Verfasser, dass dieselbe nur
noch grösser, wenn man liesst. dass schon eine symptomatische sein kann. »Jeder
Buchoz die Lungenschwindsucht in Arzt,* sagt er, „muss ein solches Mittel zn
3 Stadien eingetheilt hat, die sehr viel erdenken suchen, das die Verschwörungen in
Aehnlichkeit haben mit den heute ge- der Lunge heilen kann, aber da kein Mittel
bräuchlichen. Für das 1. Stadium betont vorhanden ist, dies zu bewerkstelligen, so wird
Buchoz mit Nachdruck die Möglichkeit der man sich begnügen müssen, die Zufälle zu ver-
Heilung. Das 2. Stadium kann manchmal ge- hindern und durch Beförderung des Auswurfs,
heilt werden, doch ist dies bedeutend seltener, durch Linderung des Hustens, durch Abtreiben
und nur das 3. Stadium erkennt er als völlig des Fiebers die Beschwerden der Kranken zu
unheilbar an. vermindern." Auch hier nimmt eine Haupt-
Auf Grund dieser Eintheilung und aus stelle für ihn die Milch ein, die ihm
diesem Gedankengange heraus verlangt Bu- in allen mit ihr vorzunehmenden Zu-
choz als Vorbedingung für die Mög- bereitungen eine „süsse, temperirende
lichkeit der Heilung das frühzeitige Er- und stärkende Nahrung ist*
kennen der Krankheit. „Wenn diese Krank- Der Verfasser führt dann zum Schluss eine
heit einmal stark eingewurzelt ist, so ist es Menge eigener und anderer Krankheits¬
unmöglich, eine solche zu vertreiben.* Weil geschichten an, die von einer grossen Kritik,
man aber die Anfangsschwindsucht heilen, von einer besonderen Schärfe der Beobachtung
leichter aber noch dieselbe verhindern kann, und von einer eminenten Sicherheit auch in der
so giebt er 2 Arten von Curen an: die Prä- Differenzialdiagnose zeugen, was um so mehr
servationscur und die Palliativcur. zu verwundern ist, als er die Diagnose nicht
Wenn ich von dem damals allein selig- nur des III., sondern auch des I. Stadiums ohne
machenden Mittel des Aderlasses, welcher von Percussionshammer und Stetoskop und ohne die
Buchoz durch verschiedene Theorien als Errungenschaften moderner bacteriologischer
besonders werthvoll für die Lungenphthise Forschung zu stellen gezwungen war. Inter-
begründet wird, absehe, so schlägt er besonders essant sind auch die Angaben, die er bezüglich
hyrotherapeutischeProceduren vor, Umschläge, der Complicationen der Krankheit macht; so
Fuss- und Halbbäder, die nach ihm einen be- | beschreibt er die Schwindsucht als eine Folge
sonderen Werth für die Verminderung der pemieiöser Lues, und es ist ihm auch nicht
Expectoration und des Fiebers haben. Doch entgangen, dass das Puerperium einen dele-
mehr noch wie diese hyrotherapeutischen tären Einfluss auf den phthisischen Process
Proceduren sind nach ihm diätetische Maass- ausübt. Er schliesst seine Abhandlung mit
nahmen zu berücksichtigen, besonders die der Beschreibung eines Apparats, von dem er
Milch und die Mehlspeisen; denn wenn sich eine neue Aera in der Behandlung der
es auch nach ihm viele Mittel in seinem Schwindsucht verspricht, und dervon einem hol-
Ar.zneischatze giebt, die bei der an- ländischen Lehrer erfunden war: eines Inhala-
fangendenSchwindsucht symptomatisch tions-Apparats, des ersten, der in der medi-
von Werth sind, so geht ihm doch nichts cinischen Litteratur wohl beschrieben worden
über eine gute Diät. „Setzt man diese ist. Da er annimmt, dass alle vom Magen auf-
Dinge bei Seite, so wendet man die Heil- genommenen Mittel niemals zu der erkrankten
mittel umsonst an.* Und so findet man schon Lungenstelle gelangen können, so glaubt er
bei Buchoz die ersten Anregungen zu der durch diesen Apparat zu grossen Hoffnungen
modernen Schwindsuchtsbehandlung, die von berechtigt zu sein, da man ja so local auf die
Brehmer inaugurirt und die in allerneuester erkrankten Lungentheile wird wirken können.
Zeit durch die Verdienste hervorragender Ich möchte endlich noch eine kleine von
Phthisio - Therapeuten zu unverrückbaren ihm fast in jedem Falle vorgeschriebene Medi-
Grundsteinen der Phthisio-Therapie geworden cation erwähnen: die Kälberlunge in allen
sind. Auch den Werth der Luftveränderung möglichen Zubereitungen. Vielleicht eine Vor¬
verkennt Buchoz nicht. Er räth dem ahnung organo-therapeutischer Bestrebungen.
Kranken, Reisen zur See zu machen, da späterer Generationen.
die Bewegung des Schiffes nebst den aus Wenn man den heutigen Stand der Diagnose
dem Meere aufsteigenden Dünsten bei dieser und der Therapie mit demjenigen zur Zeit von
Krankheit wohl zu statten kommen. Nur Buchoz vergleicht, so wird man sich des Ge-
bezüglich des Höhenklimas sind seine An- dankens nicht erwehren können, dass die Nü-
sichten von den modernen diametral ver- ancen sich geändert, die wissenschaftlichen Be-
verschieden. Er hat bemerkt, dass sich die gründungen sich vertieft, das allgemeine In-
Schwindsüchtigen in der dicken Luft besser teresse an der Bekämpfung der Seuche sich
befinden, als in der dünnen, und dass sie sich vermehrt hat, dass aber die Grundzüge der
an morastigen Orten, an Flussufern und in Behandlung im Allgemeinen dieselben geblieben
grossen Städten, woselbst beständig eine sind, trotz der Zimmtsäure und trotz der neu
Menge von Ausdünstungen in die Höhe steigen, aufsteigenden Tuberkulin-Aera. Qui bene nutrit-
unendlich wohler fühlen als in der Bergesluft bene curat.
Für die Redaction verantwortlich: Prof. G. Klemperer in Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Oesterreich*Ungarn:
Eugen Schwär xonb erg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban & Sch wartenberg.
in Wien and Berlin.
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Die Therapie der Gegenwart
1903
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Februar
Nachdruck verboten.
Die Behandlung: der Perityphlitis.
Von Ch. Blumler- Freiburg i. Br.
Immer wieder aufs Neue drängt sich
die Frage nach der Behandlung der am
Wurmfortsatz und in seiner Umgebung
sich abspielenden entzündlichen Vorgänge
in den Vordergrund des ärztlichen Inter¬
esses. In den Zeitschriften wie auf Con-
gressen ist sie seit einem Jahrzehnt nicht
mehr von der Tagesordnung verschwunden
und in allerjüngster Zeit wieder ganz be¬
sonders lebhaft erörtert worden. Aber
mehr und mehr hat sich die Frage princi-
piell zugespitzt. Auf der einen Seite steht
die wachsende Zahl derjenigen, welche
jeden Fall von vornherein baldmög¬
lichst durch Laparotomie und Entfernung
des Wurmfortsatzes behandelt wissen
wollen. Es sind dies nicht bloss Chirurgen,
die Hunderte von Fällen bereits operirt
haben; auch ein hervorragender innerer
Kliniker, Dieulafoy 1 ) in Paris, hat, von
verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend,
seit Jahren diesen Standpunkt energisch
vertreten. Auf der andern Seite steht
neben einer Reihe sehr namhafter Chirur¬
gen die grosse Mehrzahl der inneren Kli¬
niker und erfahrener, vielbeschäftigter
Praktiker, welche in einer übergrossen
Zahl der Fälle bei geeigneter interner Be¬
handlung haben Heilung eintreten sehen.
Einen sofort vorzunehmenden operativen
Eingriff halten sie nur dann für nöthig,
wenn von vornherein aus den Erscheinun¬
gen einer blitzartig schnell sich entwickeln¬
den Bauchfellentzündung der Schluss auf
Durchbohrung oder brandiges Absterben
des Wurmfortsatzes gemacht werden kann,
oder wenn ein umschriebener Abscess sich
an dem abgeschlossenen Entzündungsherd
gebildet hat, oder wenn plötzlich Erschei¬
nungen von Durchbruch eines solchen in
die freie Bauchhöhle auftreten. Die Ent¬
fernung des erkrankten Wurmfortsatzes
nach völligem Ablauf des acuten Ent¬
zündungsanfalls, „ä froid“ nach der fran¬
zösischen Bezeichnung, halten sie für ge-
rathen, wenn örtliche Erscheinungen oder
öftere Wiederholung acuter Zufälle auf das
J ) Dienlafoy’s letzte Aeusserung ist betitelt:
Attendre pour op£rer que l’appendicite soit „refroi-
die“, c’est exposer le malade ä la mort. La Presse
medicale, 9. VII. 1902.
Fortbestehen gefahrdrohender Verände¬
rungen im Wurmfortsatz hindeuten.
Wie soll sich bei diesem Widerstreit
der Meinungen der praktische Arzt,
dem doch die grosse Mehrzahl derartiger
Fälle zunächst in die Hände kommt, ver¬
halten?
Wo, wie in oder in der Nähe von
Städten, die Möglichkeit vorhanden ist,
den Kranken alsbald einem erfahrenen
Chirurgen, dem ein Krankenhaus mit allen
Einrichtungen für derartige Operationen
zu Gebote steht, zu überweisen, wird der
zunächst zugezogene Arzt, der vielleicht
selbst schon Gelegenheit hatte, Erfahrun¬
gen über derartige Operationen zu machen,
sehr geneigt sein, diesen Weg einzu¬
schlagen. Er wird damit die in einem
solchen Fall unter allen Umständen
schwere Verantwortung noch von einem
erfahreneren Collegen mittragen lassen,
oder er wird auch unter Umständen, seiner
eigenen Ueberzeugung folgend, die Ope¬
ration selbst ausführen. Dem Chirurgen,
| welchem ein Fall von Perityphlitis mög¬
lichst frühzeitig zugeführt wird, ist schon
dadurch die Entscheidung sehr erleichtert.
Wie aber auf dem Lande, weit entfernt
von einer Stadt und von einem ent¬
sprechenden Krankenhaus? Ist da ein
solcher Fall etwa einem eingeklemmten
Bruch oder einer acuten Kehlkopfverenge¬
rung durch Diphtherie, ist der in Frage
kommende operative Eingriff also einer
Herniotomie oder Tracheotomie gleichzu¬
stellen? Diese Operationen muss jeder
Arzt, auch ohne geschulte Assistenz, selbst
ausführen, um das bedrohte Leben zu
retten. Ist der operative Eingriff bei einer
acuten, vom Wurmfortsatz ausgehenden
Bauchfellentzündung, selbst noch so
frühzeitig vorgenommen, nicht doch
etwas viel weniger Einfaches, sowohl un¬
mittelbar als in seinen Folgen, als jene
Operationen? Gewiss kann die Operation
eine sehr einfache sein, wenn bereits in
den allerersten Stunden nach Eintritt
der Erscheinungen vorgenommen, solange
nur der Wurmfortsatz theilweise oder in
seiner ganzen Ausdehnung entzündlich ge¬
schwollen, kaum noch durch zarte Fibrin-
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50
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Februar
auflagerungen mit dem Netz, dem Blind¬
darm und anliegenden Dünndarmschlingen
leicht verklebt und von einer mehr serösen,
kaum eitrig getrübten, etwas hämorrhagi¬
schen Flüssigkeit umspült ist. Ganz be¬
sonders leicht kann die Operation sein,
wenn der Wurmfortsatz die am häufigsten
vorkommende Lage hat, wenn er vom
vorderen untersten Theil des Cöcums ent¬
springend über die Linea innominata nach
dem kleinen Becken hinabhängt. Schwie¬
riger schon wird sie, wenn dessen Lage
eine ungewöhnliche ist, was sehr häufig
vorkommt; wenn mühsam nach ihm ge¬
sucht, die Bauchwunde entsprechend er¬
weitert werden, eine Darmschlinge nach
der andern zur Seite geschoben werden
muss. Damit wächst die Gefahr der Ver¬
breitung der Infection auf bis dahin un¬
beteiligte Partieen des Bauchfells. Mit der
grösseren Wunde wachsen aber auch die
Schwierigkeiten, eine solche Wiederver¬
einigung der Wundränder herbeizuführen,
dass nicht nachträglich Bauchbrüche ent¬
stehen.
Dass erfahrene und geübte Chirurgen
jene unmittelbaren Schwierigkeiten über¬
winden und diese entfernteren unange¬
nehmen Folgen zu verhüten verstehen,
braucht nicht hervorgehoben zu werden.
Aber bei dem weniger erfahrenen und in
derartigen Operationen wenig geübten
Arzt wird dies nicht der Fall sein. Er
wird deshalb lieber darauf verzichten, eine
Behandlungsmethode anzuwenden, die zwar
vielleicht theoretisch die beste, aber bei
ihrer Ausführung für den Kranken neue
Gefahren in sich schliesst, für ihn selbst
aber voll von Schwierigkeiten und von
Gefahren für seine Stellung ist. Er wird
darum eher geneigt sein, die günstigen
Erfahrungen, welche die Gegner der „Früh¬
operation“ für ihre Anschauung anführen
können, zur Richtschnur zu nehmen und
aus denselben die Beruhigung zu schöpfen,
dass er dem Kranken gegenüber nichts
versäumt habe, wenn er ihn nach den fest¬
stehenden bewährten Grundsätzen ab¬
wartend behandelt. Und wie selten kommen
Fälle von Perityphlitis überhaupt so früh¬
zeitig unter ärztliche Behandlung, dass
noch von einer „Frühoperation“ gesprochen
werden kann? In der Mehrzahl der Fälle
wird es sich in praxi um die Frage handeln,
ob die Operation in einem mehr oder
weniger, immer aber bereits vorgerückten
Stadium der perityphlitischen Entzündung
vorgenommen werden soll.
Zweifellos ist heute die Zahl der Aerzte,
welche die Geschicklichkeit und Erfahrung
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besitzen, um eine derartige „Früh¬
operation“ bestmöglichst auszuführen,
die Zahl der Anstalten, in denen dies mit
grösster Aussicht auf Erfolg, soweit der¬
selbe von äusseren Umständen abhängt,
geschehen kann, bereits eine ziemlich
grosse. Ausserordentlich sind auch die
Fortschritte, die auf dem Gebiet dieser
Operationen gemacht wurden, seitdem
Ende der 60 er Jahre zuerst in Nord¬
amerika gegen Blinddarmentzündungen in
zielbewusster Weise vorgegangen wurde.
Mit nachhaltigerer Wirkung, als schon
1843 1 ) und 1846*) A. Volz auf den Wurm-
forsatz als Ausgangspunkt der Bauchfell¬
entzündung in der Blinddarmgegend hin¬
gewiesen hatte, that dies Fitz im Jahre 1867.
Die von ihm zuerst gebrauchte Bezeichnung
„Appendicitis “ hat nicht bloss in Amerika,
sondern auch in Europa fast alle anderen Be¬
zeichnungen verdrängt. Es ist dies verständ¬
lich, da sich thatsächlich um den Wurm¬
fortsatz, die Appendix vermiformis,
nicht nur die wichtigste ätiologische,
sondern auch die chirurgische Cardinal-
frage dreht. Vielleicht war es auch praktisch
wichtig und förderlich, indem durch diesen
Namen die Aufmerksamkeit nicht nur der
Aerzte, sondern auch der Laien auf diese Fons
et origo mali fortwährend gelenkt wurde. Aber
pathologisch ist es unrichtig, bei dem, was
ärztliches, speciell chirurgisches Eingreifen er¬
fordert, von Appendicitis, als der Hauptsache,
zu sprechen. Die Veränderungen am Wurm¬
fortsatz verlaufen meist ganz latent, oft
für lange Zeit. Oder es können gewisse von
dort ausgehende Erscheinungen vorhanden sein,
die aber an eine Störung in irgend einem
anderen Organ der Bauchhöhle, am Magen,
der Gallenblase, einer Niere, eher denken
lassen, als eine solche im Wurmfortsatz und
die zur Aufstellung einer Appendicitis larvata
(Ewald) geführt haben. Wenn die Erschei¬
nungen einer acuten Entzündung auftreten,
dann handelt es sich bereits um eine Peri¬
tonitis, die wohl immer alsbald über die
Grenzen des Serosaüberzugs des Wurmfort¬
satzes auf die anliegenden, vom Bauchfell
überzogenen Theile übergeht, also um eine
zunächst umschriebene Peritonitis am oder um
den Blinddarm, um eine Epi- oder Peri¬
typhlitis, zu allererst um eine Periappen-
dicitis, welche aber wohl meist nur ganz
kurze Zeit am Appendix sich abspielt. In der
Regel wird dieselbe alsbald den anliegenden
Bauchfellüberzug des Cöcums, angrenzender
Dünndarmschlingen und das Netz in Mitleiden¬
schaft ziehen. Perityphlitis scheint mir
daher immer noch die richtigere, den ganzen
Vorgang besser charakterisirende Bezeichnung
1 ) Haescr’s Archiv, Bd. IV, 1843.
2 ) Die durch Kothsteine bedingte Durch¬
bohrung des Wurmfortsatzes, die häufig ver¬
kannte Ursache einer gefährlichen Peritonitis, und
deren Behandlung mit Opium. Karlsruhe 1846.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Februar
51
Die Therapie der Gegenwart 1903.
zu sein. Selbst in den Füllen, welche man
früher als Paratyphlitis abgegrenzt hat, in
welchen wegen der Lage des ganzen Wurm¬
fortsatzes oder nur seines kranken Theiles
hinter dem Peritoneum und seitlich vom Cöeum
das retroperitoneal auf der Fascia iliaca ge¬
legene Bindegewebe Sitz der Entzündung ist,
hat die Bezeichnung Perityphlitis ihre Berech¬
tigung, da auch in diesen Fällen das Cöeum
(Typhlon), hinter welchem der Hauptsache
nach die Entzündung sich abspielt, wenn auch
in geringerem Grade, von den entzündlichen
Veränderungen mitbetroffen wird.
Unsere Kenntniss von den Veränderungen,
die im Wurmfortsatz sich abspielen, ist durch
die operativen Eingriffe, die in den letzten
Jahren in zunehmender Häufigkeit in Fällen
von Perityphlitis gemacht wurden, ganz ausser¬
ordentlich gefördert worden. Hat ja doch diese
Autopsie in vivo einen ganz anderen Werth,
als die postmortale Untersuchung, bei welcher
häufig gerade die Vorgänge, welche ursprüng¬
lich zu einer Entzündung um den Wurmfortsatz
Veranlassung gegeben haben, durch das, was
während der tödtlich verlaufenen Kiankheit
hinzugekommen ist, völlig verwischt wurden.
Hat man unter solchen Umständen, nach acht-
bis zehntägiger oder gar wochenlanger Dauer
der Krankheit, doch oft bei der Section die
grösste Mühe, den Wurmfortsatz überhaupt zu
finden.
Am Lebenden ist das Bild der entzünd¬
lichen Veränderungen durch den Blutgehalt
und die Turgescenz der Gewebe ein ganz
anderes als an der Leiche, und über die Vor¬
gänge, welche zur Bildung von Kothsteinen, zu
Verengerungen, zu schleimigem oder eiterigem
Katarrh der Schleimhaut führen, haben wir
hauptsächlich erst durch die Untersuchung der
bei solchen Operationen gewonnenen Präparate
Aufschluss erhalten. Roux, 1 ) Sonnenburg,*)
Riedel 3 ) u. A. verdanken wir die wichtigsten
Aufschlüsse über die acuten und chronischen,
im und am Wurmfortsatz sich abspielenden
Processe. Abgesehen von Kothsteinen, sind
am wichtigsten chronisch entzündliche Vor¬
gänge, die von Riedel als „Appendicitis gra-
nulosa*bezeichnete Veränderung. Dabei handelt
es sich um Bildung von Granulationsgewebe
in und unter der Schleimhaut, durch welches
die tubulösen Drüsen auseinandergedrängt und
zum Schwund gebracht werden, also um einen
chronischen Entzündungsprocess. Dieser kann
doch nur von der Schleimhautoberfläche aus
angeregt worden sein. Mechanische, chemische
und bakterielle Reizungen können dazu den
ersten Anstoss geben. Blutungen in dieses
Granulationsgewebe können, wie Riedel meint,
einen acuten entzündlichen Anfall mit.Ueber-
greifen der durch Bakterien hervorgerufenen
Entzündung auf die Umgebung auslösen.
1 1 Revue m£d de la Suissc romande 1890 Nos. 4
et 5, 1891 Nos. 9, 10 et 11, 1892 No. 1.
Q ) Pathologie und Therapie der Perityphlitis.
4. Aufl. 1900.
*) Archiv f. klin. Chir. Bd. 66.
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Bei der ungemein grossen Häufigkeit der
Darmkatarrhe, die namentlich auch im Cöeum
sich oft hartnäckig festsetzen, wird der Wurm¬
fortsatz gewiss nicht selten in Mitleidenschaft
gezogen. Insbesondere scheinen mir, worauf
ich an einem anderen Ort 1 ) bereits aufmerksam
gemacht habe, Gährnngen in dem dünnflüssigen
oder dünnbreiigen Inhalt des Cöcums zu vor¬
übergehender Gasauftreibung des Wurmfort¬
satzes oder zum Eingetriebenwerden von in
Zersetzung begriffenem Darminhalt Anlass
geben zu können. Je länger derartige Reizun¬
gen der Schleimhaut andauem, je häufiger sie
sich wiederholen, desto eher können chro¬
nisch-katarrhalische Zustände an der Schleim¬
haut des Wurmfortsatzes sich ausbilden, desto
leichter kann es bei auf einzelne Stellen be¬
schränkter. etwas heftigerer entzündlicher Rei¬
zung auch zu einer ungeregelten Peristaltik
des Wurmfortsatzes und damit zum Liegen¬
bleiben des Inhalts an den sich weniger stark
zusammenziehenden Stellen, die dann passiv
ausgebuchtet werden, kommen. Solche Reste
von Darminhalt können, auch ohne dass sie
Fremdkörper enthalten, durch Wasserresorption
eingedickt, von dem reichlicher abgesonderten
Schleim eingeschlossen und durch Ablagerung
von Salzen aus dem Schleim allmählich in
einen Kothstein umgewandelt werden. Ob im
W’urmfortsatz Koliken, d. h. durch stellenweise
krampfhafte Zusammenziehung der Muscularis
und durch Ausdehnung des schlaft' bleibenden
Theiles, der dann durch den andrängenden,
zum Theil gasförmigen Inhalt ausgedehnt wird,
hervorgerufene Schmerzanfälle Vorkommen,
scheint mir nicht sicher erwiesen zu sein.
Dass aber eine lebhafte Peristaltik in dem¬
selben vorhanden sein muss, beweisen manche
harte, mit glatten Facetten versehene Koth-
steine. Ich besitze einen solchen Doppelstein,
von welchem der grössere,. gegen 2 cm lange
und 1 cm dicke an seinem oberen Ende eine
glänzend abgeglättete Fläche darbietet, auf
welcher ein kleinerer krei sei förmiger, mit ent¬
sprechender glatter Fläche sich offenbar herum-
bew T egt hatte. Sein ausgezogenes Ende bildet
eine scharfe Spitze.
Eine sehr wichtige, weil die Prophy¬
laxis der schweren und lebensgefährlichen
vom Wurmfortsatz ausgehenden Entzün¬
dungen berührende Frage ist nun die, ob
die in demselben, vor dem Uebergreifen
auf die Serosa und auf die Umgebung sich
abspielenden Vorgänge während des
Lebens erkannt, mit anderen Worten,
ob eine reine „Appendicitis“ dia-
gnosticirt werden kann. Ich glaube
nicht. Vermuthet kann sie werden, aber
wer will mit einiger Sicherheit entscheiden,
ob, wenn bei einem Kind oder einem Er¬
wachsenen plötzlich Schmerzen in der
Cöcalgegend auftreten, nicht lediglich eine
ganz vorübergehende Störung im Chemis-
! ) Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. 73, S. 121.
7 *
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52
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
mus oder der Peristaltik im Cöcum, son¬
dern eine Veränderung im Wurmfortsatz die
Ursache der Schmerzen ist, ob es sich da¬
bei um einen Kothstein oder um eine Re¬
tention von Schleim oder gar von Eiter
handelt?
Sehr heftige Kolikschmerzen in der Cöcal-
gegend können als Theilerscheinung einer
Stercoralkolik auftreten. die im Colon descendens
oder der Flexura sigmoidea ihren Ausgangs¬
punkt hat. Eine solche kann bei im Uebrigen
ganz gesunden Menschen zu Stande kommen,
wenn dieselben aus irgend einem Grunde
mehrere Tage an Stuhlverstopfung oder un¬
genügender Entleerung gelitten haben. Nach
den Erscheinungen zu urtheilen, kommt es
zuerst im S romanum, also an der oberen
Grenze der zurückgebliebenen Kothmassen,
wahrscheinlich unter dem Einfluss von Bakte¬
rien, zu Zersetzung des breiigen oder flüssigen
Darminhalts mit starker Gasbildung. Letztere
ist es wohl hauptsächlich, die durch A Samm¬
lung der rasch sich bildenden Gase im Dick¬
darm bis zum Cöcum hinauf die stürmische
Peristaltik hervorruft, welche unter anfänglich
heftigen Kolikschmerzen zur Entleerung des
Darmes von den zum Theil festen, grössten-
theils aber verflüssigten Massen und dem von
oben her nachrückenden dünnflüssigen Darm¬
inhalt führt. Mit der Entleerung des Darmes
sind alle wesentlichen Erscheinungen beseitigt,
die durch die Heftigkeit des Schmerzes an den
gerade geblähten Stellen des Darmes und durch
das verfallene Aussehen des Kranken leicht
die Befürchtung erwecken konnten, dass eine
Peritonitis im Anzuge sei. Das Wichtigste für
die richtige Deutung der Schmerzen ist deren
Wechsel nach Ort und Heftigkeit. Auch
die Druckempfindlichkeit zeigt den gleichen
Wechsel.
Dagegen scheint mir eine bei wieder¬
holter Untersuchung immer wieder an
der gleichen Stelle, da, wo der Wurm¬
fortsatz liegen kann, aber bei der grossen
Variabilität seiner Lage nicht nothwendig
liegen muss, nachweisbare Druckempfind¬
lichkeit das wichtigste Zeichen zu sein,
das zur Vermuthung einer „Appendi-
citis“ berechtigt. Der Mac Burney-
sche Punkt ist gewiss eine Stelle, der immer
eine besondere Beachtung geschenkt wer¬
den sollte, doch glaube ich, dass die Be¬
deutsamkeit derselben häufig überschätzt
wurde. Nach Sir Frederick Treves 1 ),
der sich auf Untersuchungen stützt, welche
K e i t h auf seine Veranlassung an 50 Leichen
gemacht hat, entspricht diesem Punkt die
Lage der Ileocöcalklappe Die Ansatzstelle
des Wurmfortsatzes liegt 3 cm tiefer.
Dass man einen erkrankten Wurmfort¬
satz unter Umständen durch die Bauch-
J ) Lancet, 18. Juni 1902.
decken hindurch abtasten könne, bezweifle
ich nicht, vorausgesetzt, dass derselbe nach
vorne oder nach auswärts vom Cöcum ge¬
legen, in seinen Wandungen verdickt ist,
oder einen grösseren Kothstein beherbergt,
und dass die Bauchdecken dünn und nicht
gespannt sind. Aber wie selten werden
diese Vorbedingungen zutreffen! Gewiss
fühlt man zuweilen in der Cöcalgegend
einen länglichen, dünnen Strang, der mög¬
licherweise sogar auf Druck etwas empfind¬
lich ist. aber wiederholte Untersuchung
lässt deutlich erkennen, dass es nur ein
Muskelbündel der Bauchwand ist, das sich
unter dem andrängenden Finger zusammen¬
zieht.
Nicht so selten ist es, dass man bei zu
Darmstörungen geneigten, namentlich auch bei
neurasthenischen Menschen, welche unter psy¬
chischer Eiregung lebhaftere Peristaltik be¬
kommen, in der Cöcalgegend eine harte, läng¬
liche oder rundliche Geschwulst findet, etwas
druckempfindlich, etwas beweglich, und dass
dieselbe, während man sie unter den tastenden
Fingern hat, mit oder ohne ein gurrendes
Geräusch verschwindet. Es hat sich also
lediglich um eine vorübergehende Gasauftrei¬
bung des Cöcums gehandelt, wahrscheinlich
dadurch entstanden, dass unter dem Einfluss
der psychischen Erregung oder der Abkühlung
der Haut bei der Entblössung die Peristaltik
beschleunigt wurde und gashaltiger Dünn-
daiminhalt rascher in das Cöcum einströmte,
oder dass die Cöcalwandungen sich rascher
und stärker um den Inhalt zusammenzogen,
der nicht schnell genug nach dem Colon as-
cendens entweichen konnte. Seine Fortbewe¬
gung wird durch die Betastung beschleunigt,
darum verschwand die geschwulstartige Auf¬
treibung. Aehnliches kann man bei Darm¬
katarrhen, welche mit Kolikanfällen einher¬
gehen, auch an anderen Stellen des Dickdarms,
namentlich am Quercolon und insbesondere
am S romanum, zuweilen beobachten. Eine
derartige Ga>auftreibung, um welche die Wan¬
dungen vorübergehend sich fest zusammen¬
ziehen, mag zuweilen schon für eine Anhäufung
von festem Koth im Cöcum gehalten worden
sein, denn auch der Peikussionsschall kann
über derselben gedämpft sein. Er bleibt es
aber nur solange, als die Contraction der
Darmmuskulatur anhält, dann macht er sofort
einem tympanitischen Platz.
Anhäufungen von festen Koth¬
massen im Cöcum anzunehmen, war man
seit Dupuytren nur allzu geneigt. Sie
spielten lange und spielen bei Einzelnen
heute noch eine Hauptrolle in der Ent¬
stehung der Perityphlitis. Auch als man
erkannt hatte, dass der Wurmfortsatz
nahezu ausschliesslich der Aus¬
gangspunkt der Erkrankung ist, fuhr
man doch fort, von „Typhlitis sterco-
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
Februar
53
Die Therapie der Gegenwart 19Ö3.
ralis“ zu sprechen, weil unklare Vorstel¬
lungen über die Beschaffenheit des Darm¬
inhalts in den einzelnen Abschnitten des
Dickdarms eine solche Annahme nahelegten.
Gehört nun aber auch, namentlich nach
dem Stoss, den die Lehre von der „Ty-
phlitis stercoralis“ durch Sahli im Jahre
1892 auf der Schweizer Aerzteversammlung
in Genf und im Jahre 1895 auf dem Con-
gress für innere Medicin in München er¬
litten, der Kothpfropf im Cöcum als Grund¬
lage der bei der Perityphlitis so häufig
auftretenden Geschwulst nicht mehr in
gleichem Maasse wie früher zum Glaubens-
bekenntniss der Aerzte, so gilt doch ziem¬
lich allgemein die Stuhl Verstopfung als
eine der wichtigsten prädisponirenden
Ursachen für die „Appendicitis“. Selbst
Sir Frederick Treves betont noch in
seinen jüngsten Aeusserungen 1 ) über diesen
Gegenstand die „Ueberladung des Cöcums“
als eine wichtige Ursache derselben. Oben
ist bereits auf die Art und Weise hinge¬
wiesen worden, wie Ueberladungen des
Cöcums zu Erkrankung des Wurmfortsatzes
Veranlassung geben können. Wenn solche
sich häufig wiederholen, so wächst damit
selbstverständlich die Gefahr, dass Verände¬
rungen, die zu schweren Folgen, wie zur
Appendicitis granulosa Riedel’s führen
können, sich im Wurmfortsatz ausbilden.
Aber ich möchte hier den Ausdruck „Ueber-
ladung des Cöcums“ nicht in dem Sinne
verstanden wissen, den Manche damit ver¬
binden, und der gleichbedeutend ist mit
festem Kothpfropf.
Feste Kothmassen im Cöcum der Art»
dass dasselbe ganz damit ausgefüllt wäre, wie
dies im Rectum öfter vorkommt, sind ganz
ausserordentlich selten. Am ehesten noch
findet man solche in Fällen von organischer
theilweiser Unwegsamkeit des Colons, selten
bei nervöser Unregelmässigkeit der Peristaltik
bei neurasthenischen und hysterischen Kranken,
bei welchen dann gewöhnlich ungenügende
Nahrungsaufnahme die Hauptveranlassung zu
der chronischen Verstopfung ist. Bei alten
Leuten, namentlich alten Frauen mit sitzender
Lebensweise, mit Enteroptose und mit oder
ohne mechanische Hindernisse (Uterusmyome ,
u. dgl ) können feste Scybala zuweilen in dem
bogenförmig herabgesunkenen Colon trans-
versum und noch weiter aufwärts, dann selbst
im Cöcirtn, gefunden werden. Aber bei den
so ungemein häufigen Fällen von sogen, „habi¬
tueller Obstipation“ finden sich feste Massen
gewöhnlich nur in der Ampulla recti, die nebst
dem angrenzenden S romanum zuweilen un¬
glaubliche Mengen beherbergen kann Meistens
handelt es sich bei habitueller Obstipation um
ältere Leute. Bei jungen Individuen sind
l ) Lancet, 1. c.
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Formen hartnäckiger Verstopfung fast immer
verbunden mit neivösen Störungen, insbeson¬
dere mit nervöser Anorexie, wobei dann die
Fäcalretention gewiss auch rückwirkend das
Nervensystem ungünstig beeinflusst. Auch dies
sind aber seltene Fälle.
Wäre chronische Stuhlverstopfung
ein besonders häufiges prädisponirendes
Moment für Appendicitis und deren Folgen,
so müsste deren grösste Häufigkeit auf die
vorgerückteren Lebensjahre fallen. Erfah¬
rungsgemäss ist aber das gerade Gegen-
theil der Fall. Die Perityphlitis ist
eine Krankheit hauptsächlich des
jugendlichen und des Kindesalters.
Im Krankenmaterial der hiesigen medicini-
schen Klinik kommen 77% aller Fälle auf
die Altersklassen vom 11. bis 25. Lebens¬
jahr, nahezu 43% auf das zweite Lebens-
decennium, in dem 228 Fälle umfassenden
Beobachtungsmaterial von R. Fitz 38%.
Die Statistik Einhorn’s, welche gerade
im Gegentheil eine mit den höheren
Lebensjahren zunehmende Frequenz auf¬
weist, bezieht sich auf das Material des
Münchener pathologischen Instituts,
also auf Veränderungen am Wurmfortsatz
überhaupt, nicht auf Erkranken durch
dieselben.
Im jugendlichen Alter, in welchem
die Krankheit mit grösster Häufigkeit auf-
tritt und bei der arbeitenden Klasse,
unter welcher in unserem Material das
männliche Geschlecht ebenso überwiegt,
als in anderen Statistiken (hier 66,3% der
Fälle, bei Bamberger 74%, bei Fitz 80° o, .
in der Zusammenstellung Tal am on’s 79%)
spielt habituelle Stuhlverstopfung
keine hervorragende Rolle in der
Entstehung der Appendicitis und
Perityphlitis. Bei vielen unserer Kran¬
ken wurde geradezu festgestellt, dass Un¬
regelmässigkeiten der Darmentleerung nicht
vorhanden gewesen sind. Wohl aber sind
gerade im jugendlichen und im Kindesalter
Darmkatarrhe, auch solche, die sich in
die Länge ziehen, in Folge von diätetischen
Unvorsichtigkeiten häufig, und diese sind,
wie bereits hervorgehoben, von sehr
wesentlicher Bedeutung für im Wurm¬
fortsatz sich ausbildende Veränderungen.
Meist ist wohl das Zuviel, häufig das Durch¬
einander der Nahrungszufuhr, in manchen
Fällen auch die Beschaffenheit der Speisen
Ursache von Darmstörungen und von sich
ausbreitendem oder schliesslich auf ein¬
zelne Darmabschnitte sich beschränkendem
Katarrh. Ueber derartige in früherer Kind¬
heit durchgemachte Katarrhe erfährt man
aber anamnestisch nur in den Fällen etwas
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
54
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Sicheres, in welchen, wenn es sich um ein
Kind oder heranwachsende junge Leute
handelt, eine sorgsame Mutter bestimmte
Mittheilungen darüber zu machen in der
Lage ist. Bei Hospitalkranken ist die Anam¬
nese in dieser Hinsicht für weiter zurück¬
liegende Zeiten gewöhnlich ganz unsicher.
In vielen Fällen unserer Beobachtung waren
vor dem acuten Anfall, wenn es der erste
war, keinerlei Darmstörungen irgend
welcher Art vorausgegangen. Es war
in denselben also die zu Grunde liegende
chronische Appendicitis mit ihrer Kothstein-
bildung u. s. w. gänzlich latent verlaufen.
Dies könnte wohl kaum der Fall sein,
wenn, wie Riedel 1 ) annimmt, in den doch
immerhin häufigsten Fällen von Perityphlitis,
die mit der Bildung eines „perityp hlitischen
Tumors" einhergehen, dieses Infiltrat nur
dann zu Stande kommen könnte, wenn
bereits vorher Adhäsionen vorhanden
waren, in welche der Wurmfortsatz förmlich
eingewickelt ist. Dass das Infiltrat nur dann
tastbar werden kann, wenn die Lage des
Wurmfortsatzes der Art ist, dass es sich in
der Ileocöcalgegend dicht unter den Bauch¬
decken oder nicht sehr tief * unter
ihnen bilden kann, ist einleuchtend. Aber
dass bindegewebige Adhäsionen, wie sie
Riedel als Vorbedingung für das Zustande¬
kommen des klassischen perityphlitischen Tu¬
mors voraussetzt, entstehen können, ohne dass
zur Zeit ihres Entstehens deutliche Erschei¬
nungen vorhanden gewesen wären, scheint mir
nicht erwiesen zu sein. Ihr Zustandekommen
setzt doch eine ziemlich heftige Entzündung
voraus, die bei der Empfindlichkeit des Peri¬
toneums nicht ohne Schmerzen vorübergegan¬
gen sein wird.
Wenn man Gelegenheit hatte, Jahr und
Tag nach einer günstig abgelaufenen um¬
schriebenen oder allgemeinen Peritonitis die
Bauchorgane zu untersuchen, ist man erstaunt,
wie wenig im Verhältnis zu dem, was an der
Pleura oder dem Perikard nach einer Ent¬
zündung an Verwachsungen zurückbleibt, am
Peritoneum noch als Rest jener Entzündung
sich findet. Wo eine erhebliche peristaltische
Ortsbewegung der Eingeweide möglich ist,
kommt es in der Regel zu gar keinen Ver¬
wachsungen. sondern finden sich höchstens
leichte diffuse oder feinstreifige weisse Trü¬
bungen in der völlig glatten Serosa. Da, wo
keine oder nur geringe Verschiebungen möglich
sind, kann es zu flächenhaften Verwachsungen,
an einzelnen, auch beweglichen Punkten, an
welchen die Entzündung eine besondere Heftig¬
keit erreicht hatte, zu brückenartigen Verbin¬
dungen derselben mit einander kommen. In
derartigen Fällen waren aber die erheblichsten
und schwersten Erscheinungen seiner Zeit vor¬
handen gewesen. Eine Entzündung von der
1 ) Wie oft fehlt die typische Dämpfung in der
rechten Fossa iliaca bei Appendicitis? Bcrl. klin.
Wochenschr. 4. August 1902.
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Heftigkeit, dass bindegewebige Adhäsionen um
den Wurmfortsatz herum Zurückbleiben, kann
wohl nur durch Uebergreifen einer Geschwürs¬
bildung der Schleimhaut und der anderen
Schichten auf den Peritonealüberzug, in man¬
chen Fällen wohl durch wirkliche Perforation
desselben, also durch eine wirkliche Peri¬
typhlitis. zu Stande kommen. Sie auf eine
völlig latent verlaufende Appendicitis zurück¬
zuführen, wird wohl kaum angehen. Denn
was von anderen Darmabschnitten gilt, wird
wohl auch vom Wurmfortsatz gelten. An jenen
sehen wir doch häufig genug recht tiefgreifende
typhöse oder tuberkulöse Geschwüre der
Schleimhaut, ja die Muscularis blossliegend,
und doch kann der Peritonealüberzug völlig
glatt und normal sein. Selbst wo Tuberkel¬
knötchen in den Wandungen der Chylusgefässe
sich entwickelt haben, findet sich an der Serosa
oft kaum eine Trübung oder nur geringfügige
Gefässinjection. Auch am Wurmfortsatz selbst
kann der Bauchfellüberzug ebenso unbetheiligt
sein, trotzdem in seiner Schleimhaut vorhandene
typhöse oder tuberkulöse Geschwüre durch
blauröthliehes Durchschimmern und durch um¬
schriebene Verdickung schon von aussen sich
zu erkennen geben. So werden wir also auch
nicht erwarten können, dass die gewöh nliehen
Veränderungen einer chronischen Ap¬
pendicitis zur Bildung bindegewebiger Ver¬
wachsungen mit der Umgebung führen. Sind
doch in den Fällen schleichender Obliteration
des Wurmfoitsatzes, die von Ribbert 1 ) gerade
auch mit Rücksicht auf dieses Fehlen entzünd¬
licher Residuen als ein Involutionsvorgang ge¬
deutet wird, Adhäsionen in der Regel nicht
gefunden worden.
Mehrfach ist in neuerer Zeit, namentlich
in Frankreich, als Ursache des, wie ange¬
nommen wird, in den letzten Jahr¬
zehnten sich häufenden Vorkommens
der Perityphlitis die vorwiegende Fleisch¬
nahrung der wohlhabenden Klassen und in
den Städten beschuldigt worden. Es wird
schwer sein, dies zu beweisen. Vor Allem
aber fragt es sich auch noch, ob denn
wirklich die Krankheit in gewissen
Bevölkerungsklassen, in gewissen Län¬
dern oder Landestheilen eine Zu¬
nahme erfahren hat. Riedel hat jüngst
ein erschreckendes Bild von der Häufig¬
keit derselben in Deutschland entworfen
und die Sterblichkeit an derselben mit der
eines mörderischen Krieges zahlenmässig
verglichen. Er schätzt die Zahl der seit
Beendigung des deutsch-französischen Krie¬
ges bis jetzt an den Folgen der Appendi¬
citis Gestorbenen auf mehr als das Drei¬
fache des Menschenverlustes, den Deutsch¬
land in jenem Kriege erlitten.
Bei dieser Berechnung setzt Riedel voraus,
dass die Krankheit überall im Deutschen Reich
Virchow's Archiv Bd. 132.
Original ffom
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Februar
55
Die Therapie der
gleich häufig auftritt. Eine genaue Statistik
darüber existirt nicht. Aber es wäre sehr
wichtig, wenn über diesen Punkt mit der Zeit
zuverlässige statistische Erfahrungen gesammelt
würden, da sich aus eventuellen grossen Ver¬
schiedenheiten in den verschiedenen Gegenden
Rückschlüsse auf vorwiegende Ursachen, vor
Allem auf den Einfluss der Ernährungsweise,
die ja in verschiedenen Theilen des Deutschen
Reiches eine sehr verschiedenartige ist. ge¬
macht werden könnten, ln Riedel’s Beob¬
achtungskreis scheint die Krankheit ungewöhn¬
lich häufig zu sein, wobei jedoch zu berück¬
sichtigen ist, dass einer chirurgischen Klinik
Kranke oft aus weiterer Entfernung zugeführt
werden. Mir selbst stehen zwei klinische Beob¬
achtungsgebiete zu Gebote, das deutsche Hospital
in London mit einer damals während einer
dreijährigen Thätigkeit als Hausarzt desselben
auf durchschnittlich 800 Aufnahmen im Jahr
sich belaufenden Frequenz und die hiesige
medicinische Klinik. Im deutschen Hospital
in London kamen auf das Jahr nicht mehr
als 5 bis 6 Fälle von acuter Peritonitis einschliess¬
lich der Perityphlitis. Dazu kommen dann noch
die Fälle, zu denen ich consultativ beigezogen
werde. Während der ganzen 28 Jahre meiner
hiesigen Thätigkeit habe ich durchschnittlich
sicher nicht mehr als 3—4 Fälle im Jahre in
der Stadt und auswärts gesehen. Dies würde
für 28 Jahre höchstens 112 Fälle ausmachen.
In der Klinik kamen in den Jahren 1877 bis
1891 einschliesslich, also in 23 Jahren, unter
31 '236 (17340 männlichen und 13896 weiblichen)
überhaupt aufgenommenen Kranken 187 (124
männliche und 63 weibliche) Fälle von Peri¬
typhlitis vor. Wie sich dieselben auf die ein¬
zelnen Quinquennien vertheilen, zeigt folgende
Uebersicht:
Aufnahmen
An Peri¬
In % der
Gesamtnt-
überhaupt
typhlitis
aufnahm.
1877—1881 .
. . 4364
26
0,57
1882—1886 .
. . 5812
48
0,82
1887—1891 .
. . 6426
32
0.49
1892-1896 .
. . 7041
30
0,42
1897—1901 .
. . 7593
51
0,67
Es ergiebt sich daraus eine sehr ungleiche
Vertheilung auf den Zeitraum der Beobachtung.
In den letzten 4 — 5 Jahren sind wohl öfter als
früher Fälle der chirurgischen Klinik zugeführt
worden. Erheblich ist der Abgang, den die
medicinische Klinik dadurch gehabt hat, nicht.
Die absolute Zunahme der Aufnahmen an
Perityphlitis hält nicht einmal Schritt mit der
Bevölkerungszunahme. Die Einwohnerzahl be¬
trug im Jahre 1877 : 35 000, 1885 : 42 000, 1902:
65 000. Würde man unter Zugrundelegung der
hier gemachten Erfahrungen eine Statistik nach
dem Muster der RiedePschen aufstellen, so
würde dieselbe doch eine erheblich gerin¬
gere Gesammtzahl für das ganze Deutsche
Reich ergeben. Immerhin ist aber die Zahl
der alljährlich an Perityphlitis sterbenden
Kranken noch eine beklagenswerth hohe und
keine Anstrengung ist zu gross, die gemacht
werden kann, um diese Zahl herabzumindern.
Digitized by Google
Gegenwart 1903.
Dafür ist aber vor Allem nothwendig eine
noch viel allgemeiner verbreitete Kenntniss
der wichtigsten pathogenetischen Momente
unter den Aerzten und eine Klärung der noch
strittigen Punkte hinsichtlich der Behandlung.
Ist nun aber auch vielleicht eine Zunahme
der Krankheit nicht sichergestellt, so ist um
so sicherer die Thatsache, dass die Krank¬
heit seit 25 Jahren viel häufiger erkannt
und diagnosticirt wird, als früher. Der
i Grund dafür ist die ungemeine Bereicherung
unserer Kenntnisse über die Krankheit, welche
wir der operativen Chirurgie bezw. dem Auf¬
schwung, den die Bauchchirurgie seit den
70er Jahren genommen, zu verdanken haben.
Wenn es trotzdem, wie oben ausein¬
ander gesetzt wurde, mit der Diagnose
! einer „Appendicitis“ (im engeren Sinne
des Wortes) noch schlecht bestellt ist, wie
steht es mit der Diagnose einer mitDurch-
bruch drohenden Eiteransammlung
| im Wurmfortsatz, wie sie hinter einer Ver-
I engerung sich ausbilden kann oder eines
! submucösen Abscesses in seiner
Wand, oder irgend eines der anderen
Vorkommnisse, die zur Perforation
und damit zur Perityphlitis Veranlassung
1 geben können: Fremdkörper oder Ko th-
stein, Phlebitis oder Lymphangioitis
am Wurmfortsatz oder seinem Mesentorio-
lum, als Ursache einer umschriebenen oder
ausgedehnten Nekrose? Es mag sein, dass
| ein längere Zeit bestehender fixerSchmerz
i mit Druckempfindlichkeit an einer
i Stelle, an welcher der Wurmfortsatz in
Betracht kommen kann, daran denken lässt,
dass etwas Derartiges sich an ihm ab-
| spielt, insbesondere, wenn Temperatur-
i erhöhung und ein auf eine Eiterung hin¬
deutender Blutbefund (s. u.) vorhanden ist.
I Mit einiger Sicherheit aber lässt sich
i erst die Perforation oder das Ueber-
j greifen der Entzündung auf die Se-
rosa und auf die Umgebung erkennen.
Denn nun erst treten die Erscheinungen
auf, welche auch sonst den Durchbruch
eines Eingeweides und die daran sofort
sich anschliessende Bauchfellentzündung
begleiten: plötzlicher, sehr heftiger
Schmerz, Erbrechen und mehr oder
weniger rasch sich ausbildende leichtere
oder schwerere Collapserscheinun-
gen, welchen fieberhafte Temperatur¬
erhöhung folgt. Die Untersuchung ergiebt
dann umschriebene grosse Druckempfind¬
lichkeit und starke reflectorische Spannung
der Bauchmuskulatur über der betreffenden
Gegend.
Sehr schnell sich ausbildender
schwerer Collaps ist wohl immer als
Shockwirkung des Durchbruchs anzu-
Original from
ÜNIVERSITY OF CALIFORNIA
56
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Februar
sehen, während die langsam sich ent¬
wickelnde, dem Collaps entsprechende Blut-
vertheilung mit fadenförmigem, frequentem
Puls, Cyanose und starker Abkühlung der
peripheren Theile, mit kaltem Schweiss,
Eingesunkensein der Augen und Facies
Hippocratica, wenn nicht in ihrem ersten
Auftreten, so doch in ihrem Fortbestehen
durch Tage hindurch auf die Wirkung ge¬
wisser toxischer Substanzen auf die Blut¬
gefässnerven zurückzuführen ist.
Wo derartige Erscheinungen rasch sich
entwickeln, wird ein möglichst früh¬
zeitig vorgenommener operativer
Eingriff die einzige Rettung des Kranken
sein. In Fällen der zweiten Art, in wel¬
chen dann auch gewöhnlich die Erschei¬
nungen einer allgemeinen Peritonitis sich
ausbilden, sind die Aussichten einer Er¬
öffnung der Bauchhöhle ausserordentlich
geringe. Nicht selten sind in solchen Fäl¬
len Ileuserscheinungen vorhanden, ja
wenn das volle Krankheitsbild sich sehr
rasch entwickelt hat oder wenn man einen
Kranken erst in diesem Stadium zu sehen
bekommt, kann es unmöglich sein zu ent¬
scheiden, ob dieselben durch Darmlähmung
oder durch eine plötzliche Unwegsamkeit
des Darms hervorgerufen sind. Ungemein
reichliche Indicanausscheidung durch den
Harn kann in beiden Fällen vorhanden sein.
Bei einigermaassen begründeten Zweifeln
dieser Art wird man sich zur Laparotomie
entschliessen, um den Kranken nicht an
einer nicht gehobenen inneren Einklem¬
mung zu Grunde gehen zu lassen, wenn
der Allgemeinzustand nur einigermaassen
eine Operation noch gestattet.
Der Uebergang einer entzündlichen
oder mit Gewebsnekrose einhergehenden
Erkrankung des Wurmfortsatzes auf die
Umgebung kann jedoch auch zunächst
allmählich und schleichend stattfinden.
Unter wenig ausgesprochenen Erscheinun¬
gen bilden sich zunächst Verklebungen.
Ohne Erbrechen, aber unter leichten
Fieberbewegungen und Verdauungs¬
störungen, insbesondere Appetitlosigkeit mit
belegter Zunge, mit langsamer Auftreibung
der Cöcalgegend, in welcher mehr ein un-
angenehmesDruckgefühl als heftige Schmer¬
zen, aber etwas Druckempfindlichkeit
vorhanden ist, kann sich ein Abscess
entwickeln, der bei einer gewissen Grösse
des Herdes und je nach der Lage des
Wurmfortsatzes sich mit der Zeit auch als
ein Tumor darstellen kann. Der sub¬
acute Verlauf lässt eher an Tuber¬
kulose oder Aktinomykose, als an eine
gewöhnliche Perityphlitis denken. Und doch
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kann sich bei der Eröffnung des Abscesses
ein Kothstein, frei im Eiter liegend, der
Wurmfortsatz durchlöchert oder zum Theil
brandig abgestorben vorfinden. Meist han¬
delt es sich in derartigen Fällen um
ältere Individuen, die dann frühzeitig ein
etwas verfallenes Aussehen bekommen,
aber mit bereits schweren Veränderungen
im Leib noch herumgehen. Plötzlich kann
aber in einem solchen Fall auch der Ab¬
scess durch stärkere peristaltische Ver¬
schiebung einer ihn begrenzenden ange-
lötheten Darmschlinge oder durch rasche
Zunahme der Spannung in ihm, wie sie
namentlich durch Gasentwicklung hervor¬
gerufen werden kann, in die bis dahin
freie Bauchhöhle durchbrechen und dann
rasch die Erscheinungen einer septischen
Peritonitis hervorrufen.
Die Bildung eines derartigen Abscesses
wird sich vermuthen lassen aus einer
langsam zunehmenden Auftreibung
und Dämpfung des Perkussionsschalls
in der Cöcalgegend mit wachsender
Druckempfindlichkeit.
Ist eine aus gesprochen abgegrenzte
Dämpfung vorhanden und tritt inmitten
derselben eines Tages tympanitischer
Schall auf, so kann letzterer ein Zeichen
für Gasbildung in dem Abscess sein.
Gestattet die Empfindlichkeit ein stärkeres
Aufdrücken des Plessimeters, so kann je
nach dem Druck die Höhe des tympanischen
Perkussionsschalls einen Wechsel dar¬
bieten. Die gleiche Erscheinung kann
selbstverständlich auch über einer etwas
geblähten Darmschlinge, aus welcher die sie
aufblähenden Gase nicht unter dem Druck
nach vor- oder rückwärts ausweichen, sich
finden. Das Wichtige für die vorliegende
Frage ist aber eben das Auftreten des tym-
panitischen Schalls inmitten einer bis dahin
mehrere Tage hinter einander in gleicher
Weise nachweisbar gewesenen Dämpfung.
Sehr zu beachten ist in derartigen Fällen
das Auftreten einer teigigen, wenn auch
noch so geringen Schwellung des
Unterhautzellgewebes gegen das Lig.
Pouparti oder den Darmbeinkamm oder die
Lumbalgegend hin. Dieses Oedem ist wohl
meist durch venöse oder Lymph-Stase her¬
vorgerufen und kann in seltenen Fällen
auch wieder von selbst verschwinden.
Dass in Fällen dieser Art der langsam ent¬
standene Abscess eröffnet und womög¬
lich gleichzeitig der kranke Wurm¬
fortsatz entfernt werden sollte, sobald
die Diagnose gestellt ist, darüber besteht heut¬
zutage wohl keine Meinungsverschiedenheit
mehr. (Schluss folgt im nächsten Heft.)
Original from
__ UNIVERSITY OF CALIFORNIA^
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
57
Ueber den Gang der Fettabnahme bei Entfettungscuren.
Von E. Heinrich Kisch -Prag-Maricnbad.
Um eine genauere Einsicht in den Gang
der Fettabnahme bei der Durchführung
meiner Entfettungsmethode in Marienbad
zu haben, liess ich vor einiger Zeit Ta¬
bellen anfertigen, deren Schema ich hier
aus mehreren Gründen empfehlen möchte.
Vorerst ist aus denselben ersichtlich, wie
viel Körpergewichtsverlust der Fettleibige
täglich und während der ganzen Dauer
einer Cur erleidet, und es ist dem Arzte
jederzeit möglich, sich rasch darüber zu
orientiren und darnach seine Verordnungen
zu modificiren. Besonders in Kranken¬
häusern, Sanatorien und Curorten
wäre solch übersichtliche Controle bei
Entfettungscuren von Nutzen. Dann haben
diese Tabellen, welche ich auch dem Fett¬
leibigen einhändige, einen mächtigen er¬
ziehlichen Einfluss auf die Personen, indem
diese durch die graphische Veranschau¬
lichung gleich vom Beginne der Cur Ver¬
trauen zu der Methode fassen und sich
gerne dem Detail der Verordnung, deren
Effect sie täglich verfolgen, fügen.
Es braucht nicht des Näheren ausgeführt
zu werden, dass zu einer exacten
Verwerthung derTabellen nothwendig
ist, den Fettleibigen täglich im nackten
Zustande, des Morgens nüchtern, nach
Entleerung der Blase, abwiegen zu
lassen.
Die beifolgende Tabelle zeigt den
Gang der Gewichtsabnahme bei einer
Entfettungscur (nach meiner Methode)
eines 40jährigen Mannes von 104 kg
70 dkg Körpergewicht, während der
Dauer von 28 Tagen, mit dem Ge¬
wichtsverluste von 9 kg 30 dkg (End-
wägeresultat 95 kg 40 dkg).
Aus einer Reihe derartiger Beob¬
achtungen habe ich über den Gang
der Fettabnahme entnommen, dass
die Körpergewichtsabnahme bei
einer solchen Entfettungscur in der
Regel in den ersten 3—4 Tagen am
grössten, ja zumeist überraschend
gross ist. Bei hochgradig Fettleibigen
mit einem Körpergewicht von über
100 kg U/2* 2 bis 21/2 kg in diesen
Tagen des Curbeginnes. Dann findet
täglich ein geringerer, ziemlich gleich-
mässiger Gewichtsverlust von etwa
20 50 dkg täglich statt. Im Cur-
verlaufe kommt es nicht selten durch
einige Tage zu einem Stillstände der
Abnahme oder gar einem leichten
Anstiege des Körpergewichtes.
Digitizer! by Google
Der Grund des sehr bedeutenden Ge¬
wichtsverlustes im Curbeginne liegt wohl
in der plötzlichen Aenderung der Ernäh¬
rung, in der raschen Entziehung der Fett¬
bildner in der Kost, in der stärkeren kör¬
perlichen Bewegung und Anstrengung,
dann in dem Wasserverluste des Körpers
durch die diuretische und leicht purgirendc
Wirkung des Mineralwassers wie durch
den Bädereffect. Der Stillstand oder An¬
stieg des Körpergewichtes im weiteren
Verlaufe ist zumeist auf Unterlassungs¬
sünden in Bezug auf die gegebenen Vor¬
schriften der Diät und Bewegung zurück¬
zuführen.
Als Gesammtresultat zahlreicher solcher
Beobachtungsfäile ergiebt sich, dass die
plethorischen hochgradig Fettleibigen wäh¬
rend ejner 4—6wöchentlichen Entfettungs¬
cur im Durchschnitt eine etwa 6,5% ihres
Körpergewichtes betragende Abnahme er¬
zielten. Der geringste Gewichtsverlust be¬
trug 2,7 %, der grösste Verlust 13,2 % des
Körpergewichtes.
Was die Körperlocalitäten betrifft, in
UNIVERSITtf OF CALIFORNIA
58
Februar
Die Therapie der
denen das übermässig reichlich aufge¬
speicherte Fett abnimmt, so schwindet nach
meinen Beobachtungen und Messungen zu¬
erst das Fett am Panniculus adiposus der
Brüste und am Nacken; die weiblichen
Brüste werden schlaffer, ihr Umfang nimmt
ab, die Fettwulst am Nacken verliert ihre
Prallheit. Nachher erfährt das am Kinn
und im Gesicht abgelagerte Fett, sowie das
Fettgewebe an den Schenkeln und Armen
eine sichtliche Abnahme; erst später ist
ein Schwinden der Fettpolster am Gesäss
und am spätesten in den Bauchdecken
nachweisbar.
Trotz der vielleicht Manchem etwas
gross erscheinenden obigen Ziffern des
Körpergewichtsverlustes bei meiner Ent¬
fettungsmethode sind alle ängstlichen Be¬
denken einer Schädigung des Eiweiss¬
bestandes des Fettleibigen vollkommen un¬
gerechtfertigt, wenn man die wichtigen
Cautelen beobachtet, stets während der
Entfettung eine sorgfältige Controle über
die Muskelkraft des Individuums durch das
Dynamometer und speciell über die Kraft
des Herzmuskels durch genaue Pulsbeob¬
achtung und mittelst des Sphygmographen
zu üben, eventuell sich auch durch Stoff¬
wechselbestimmungen darüber Aufklärung
zu schaffen, ob das Körpereiweiss wesent¬
lich angegriffen wird.
Dass aber eine strengere Entfettungscur
im Allgemeinen in den Curorten besser
vertragen wird, liegt in mehreren günstigen
Begleitumständen: in der Kräftigung der
Herzthätigkeit durch die kohlensäurereichen
Mineralbäder; in der Anregung des ge-
sammten Nervensystems durch Veränderung
des Aufenthaltes und die neuen Eindrücke,
dann in der Förderung des Eiweissansatzes
durch das systematische Spazieren und
Steigen im Freien. Bezüglich des letzten
Momentes könnte man meinen, dass das
Entgegengesetzte eintritt, wenn die Muskel¬
arbeit, welche den Stoffumsatz erheblich
steigert, sich noch zur Entziehungsdiät
hinzugesellt; allein von Noorden hebt
mit Recht hervor, dass der Grund dieses
paradoxen Verhaltens „sowohl auf soma¬
tischem wie auf psychischem Gebiete liegt;
die Muskelarbeit fördert bei den Fettleibigen
sowohl den Eiweissansatz (Muskelneubil¬
dung) wie das Kraftgefühl".
Mit wenigen Worten möchte ich noch
die Entfettungsmethode skizziren, wie ich
sie in einer überaus grossen Zahl von
Fällen plethorischer uncomplicirter Fett¬
leibigkeit in Marienbad erprobt habe:
Des Morgens, zu recht früher Stunde
(um 5 bis 6 Uhr) Trinken von 3—4 Gläsern,
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Gegenwart 1903.
je 150—200, zuweilen auch 250 g Marien¬
bader Glaubersalzwasser, in Pausen von
15—20 Minuten, dann 1—2 Stunden Be¬
wegung in systematisch allmälig steigender
Promenade durch Wald und Berg. Dann
Frühstück: 1 Tasse (150 g) Kaffee oder
Thee ohne Milch oder mit Zusatz von
1 Esslöffel voll Milch, ohne Zucker, 50 g
Zwieback, der weder fett noch süss sein
darf, 25—50 g mageren Schinken oder
Fleisch.
Vormittags: Ein kohlensäurereiches
Säuerlingsbad von 26 o R. und 15 Minuten
Dauer mit nachfolgender kalter Regen-
douche über den Körper (mit Ausnahme
des Kopfes), dann 1 Stunde Promenade.
Bei vollkommen intactem, kräftigen Herzen
2mal wöchentlich ein russisches Dampfbad
oder römisch-irisches Bad mit nachfolgen¬
der kalter Abreibung, Douchen, Ein¬
packungen.
Eine Stunde vor dem Mittagsmahle:
Trinken von 1 Glas Säuerling mit Zusatz
von Saft einer Citrone, ohne Zucker.
Mittags zwischen 1 und 2 Uhr: Meist
keine Suppe, 150—200 g gebratenes, nicht
fettes Fleisch kräftigster Sorte (Schweine¬
fleisch, Gänsebraten ausgeschlossen), auch
Fische mit Ausnahme von Lachs, 25 g
Zwieback, Gemüse nach Wunsch 50—100 g
(Kartoffeln verboten), als Dessert frisches
Obst. Getränke 1—2 Gläser (150 g) weissen
oder rothen leichten Weines. Bei Tische
kein Wasser, auch nicht Sauerbrunnen.
Nachmittags, nicht unmittelbar nach
dem Essen, Promenade von 3 Stunden
Dauer, Ansteigen in die Berge, dann eine
Tasse Kaffee oder Thee ohne Zucker und
Milch. Um 6 Uhr Nachmittags 1 Glas
Glaubersalzwasser.
Abends zwischen 7 und 8 Uhr: 150 g
warmen Braten oder kaltes Fleisch oder
mageren Schinken, Gemüse oder zucker¬
freies Compot, 15—20 g Zwieback. Nach¬
her 1 Stunde Promenade, worauf zuweilen
allgemeine Körpermassage durch ein ge¬
schultes Individuum.
Vor dem Schlaf, welcher nicht länger
als 7 Stunden dauern darf, kalte Waschung
oder Abreibung des ganzen Körpers.
Mit dieser Kostnorm gewähre ich dem
Fettleibigen durchschnittlich pro Tag 160 g
Eiweiss, 11 g Fett und 80 g Kohlehydrate,
ungefähr 1090—1100 Calorien. Die körper¬
liche Bewegung beim Gehen soll im Durch¬
schnitt 20 000—25 000 Schritte täglich be¬
tragen, was am besten durch den Pedo¬
meter controlirt wird, einen uhrartigen
Apparat, welcher die Schrittzahl verzeichnet.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Februar Die Therapie der Gegenwart 1903.
Es soll jedoch ausdrücklich hervor- körperliche Grösse, die Lebensgewohn-
gehoben werden, dass sowohl der Calorien- heiten, die BlutbeschafFenheit und den Zu¬
gehalt der Kost, wie das Ausmaass der stand des Herzens des Individuums Rück-
körperlichen Bewegung sorgfältig auf den ! sicht nehmen muss.
Grad der Fettleibigkeit, auf das Alter, die
Lieber die Wirkungen zweier neuen Verbindungen des Arsens
und Phosphors.
Von R. Kobert-Rostock.
1 . Ueber das Phosphorsuboxyd.
Die eminent giftige Wirkung des Phos¬
phors kommt den dem Mediciner geläu¬
figen Oxydationsstufen desselben, d. h. der
unterphosphorigen Säure, der phosphorigen
Säure, der Phosphorsäure und der Gly¬
cerinphosphorsäure nicht zu. Als was der
Phosphor im Organismus wirkt, ist nach
Kunkel noch immer eine nicht gelöste
Frage. Einige denken an eine Wasser¬
stoffverbindung, andere an eine Eiweiss-
veibindung. An eine SauerstoffVerwaltung
wird nur deshalb nicht gedacht, weil den
bisher bekannten erfahrungsgemäss die
typische Phosphorwirkung sicher nicht zu¬
kommt. Sollte aber eine noch niedere
Oxydationsstufe gefunden werden, so müsste
nach den jetzigen Anschauungen der theo¬
retischen Pharmakologie durchaus erst deren
Wirkung geprüft werden, ehe von einer
Unwirksamkeit derselben gesprochen wer¬
den dürfte. In der That hat nun mein
Rostocker Kollege A. Michaelis, einer
der besten Kenner der Chemie des Phos¬
phors, in mehreren Abhandlungen 1 ) im
Verein mit seinen Schülern Pitsch und
R. v. Arend die Existenz einer sehr tiefen,
früher unbekannten Oxydationsstufe des
Phosphors dargethan und die gegen die
Einheitlichkeit dieser Verbindung gerich¬
teten Angriffe von Chapman und Lid-
bury 2 ) widerlegt. Er nennt dieselbe Phos¬
phorsuboxyd. Sie hat die Formel P 4 O.
Ihre Stellung zu den bisherigen Oxyda¬
tionsstufen zeigt die nachstehende Zu-
sammmenstellung:
Oxyde Säuren
Pnosphorsuboxyd P4O
Phosphoroxydul PjO
Unterphosphorige
Säure H3PO9
Phosphortrioxvd P1O3 Phosphorige Säure
H3PO3
1 1 Annalen der Chemie Bd. 310, S. 45 und Bd. 31 4,
S. 259.
a ) Journal of the Chemical Society, vol. 75,
S. 973.
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Oxyde Säuren
I Orthophosphorsäure
H3PO4
Metaphosphorsäure
Tllf-Il 1 < i\ \ < 1 i m rt ^ r
Hl Us
Pvi ophosphorsäure
H4P3O7
Ph*»sphortetroxvd P3O4 Unterphosphorsäure
h 4 p 2 o 6
Das Phosphorsuboxyd wird erhalten,
wenn man gewöhnlichen Phosphor in
wässrig-alkoholischem Alkali löst und die
Lösung mit verdünnter Säure fällt. Es
wird zweitens erhalten, wenn man Essig¬
säureanhydrid auf eine Essiglösung von
unterphosphoriger Säure einwirken lässt.
Dass der auf diese zwei Methoden her-
j gestellte Körper nicht etwa in der Haupt¬
sache Phosphor ist, geht daraus hervor,
dass es sich in einer eiskalten Lösung von
i alkoholisch-wässrigem Alkali immer völlig,
immer ohne Gasentwicklung und immer
' so schnell etwa löst wie zerriebenes Koch-
i salz in Wasser, während Phosphor selbst
1 sich stets nur langsam, stets nur unvoll¬
kommen und stets unter Gasentwicklung
| löst.
Dafür, dass das Phosphorsuboxyd nicht
etwa, wie Chapman und Lidbury wollen,
j der Hauptsache nach Phosphor ist, spricht
nun auch der von mir mehrere Male an-
gestellte Thierversuch. An einem Mittel-
1 hunde brachte nämlich die Darreichung
von Phosphorsuboxyd in Dosen von 0,5
bis 1,0 frühmorgens unter Fleisch einige
Tage hinter einander keinerlei Störungen
des Wohlbefindens hervor. Das Thie
wurde der Vorsicht halber mehrere Mo¬
nate beobachtet. Erst durch diesen Ver¬
such ist endgiltig dargethan, dass die für
Phosphor specifischen Giftwirkun¬
gen nicht einer Oxydationsstufe
sondern wohl dem Phosphor als
solchem zukommen. Gleichzeitig liefert
dieser Versuch auch den Beweis, dass
das von Prof. Michaelis dargestellte
Phosphorsuboxyd frei von Phosphor
war, denn sonst hätte mindestens Er-
8 *
Original fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
60 I)ic Therapie dei
brechen und Appetitlosigkeit oder gar
schwere Vergiftung eintreten müssen, selbst
wenn die vorhandene Phosphormenge nur
bis 1 % des Präparates betragen hätte.
Wie weit das Phosphorsuboxyd therapeu¬
tisch verwendbar ist, mögen die Collegen
in der Praxis, falls sie Lust haben, fest¬
stellen; ich vermuthe, dass es ärztlich
werthlos ist.
2 . Ueber das Triphenylarsinoxy-
chlorid.
An modernen organischen Arsenpräpa¬
raten haben wir bekanntlich keinen Mangel.
Ich nenne 1. die Dimethylarsinsäure oder Ka-
kodylsäure und deren Kalium-, Natrium-,
Calcium-, Magnesium- und Eisensalz, 2. das
Metaarsensäureanilid oder Atoxyl, 3. das
metaarsinsaure Natrium, genauer Dinatrium-
Methylsarsinat oder Arrhenal, 4. das dem
vorstehenden nahe verwandte oder damit
vielleicht identische Präparat Neoarsyko-
dile, 5. das Calcium glycero-arsenicicum
oder Arsitriol, 6. Salze arsensaurer
Albumoseverbindungen, zur Zeit noch
ohne Patentnamen, 7. Salze arsensaurer
Gelatosen, ebenfalls noch unbenannt,
8 . arsenhaltige Hefepräparate. Be¬
treffs einiger dieser Verbindungen äusserte
sich kürzlich ein sehr kritischer Fachmann,
Riehl 1 ), folgendermaassen: „DasBestreben
die gebräuchlichen älteren Arsenpräparate
durch organische Arsenverbindungen zu er¬
setzen und so die Nebenwirkungen zu ver¬
meiden hat zur Empfehlung einer Reihe
neuer Präparate geführt z. B. der kakodyl-
sauren Salze, des Atoxyls u. s. w. Ob sich
diese als vorteilhafter bewähren, wird die
Zukunft zeigen; eigene Versuche des Ver¬
fassers machen dies zweifelhaft." Unter
solchen Umständen können wir mit Sicher¬
heit darauf rechnen, dass noch eine weitere
Serie auf den Markt gebracht und geprüft
werden wird. Da unter diesen wohl auch
das von mir voruntersuchte sein dürfte,
möchte ich einige Worte über dasselbe
zur Orientirung sagen.
Wir besitzen über aromatische Arsen¬
verbindungen zwei ausserordentlich inhalt¬
reiche chemische Abhandlungen aus der
Feder meines schon oben genannten Col¬
legen A. Michaelis. 2 ) In der zweiten der¬
selben wird unter andern auch das Tri-
phenylarsinoxychlorid beschrieben. Es hat
die Formel
(C G H 5 ) 3 As [° H -
Der Arsengehalt beträgt 20,9%
M Schmidts Jahrb., Hd. 276, 1902, S. 5.
Bcr. (1. D. C hem. Ges. Jahrg. 34, 1901, S. 565.
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* Gegenwart 1903. Februar
Es wird sehr leicht und schön erhalten,
wenn man eine Auflösung von Triphenyl-
arsin in Chloroform mit Chlor sättigt, das
überschüssige Chlor mit Kohlensäure aus¬
treibt und nun wasserfreien Aether bis zur
Trübung zusetzt. Beim Stehen scheiden
sich dann glasglänzende Nadeln unserer
Substanz aus. Sie schmilzt bei 171° und
ist in kaltem Wasser und in Alkohol leicht
I löslich. Gegen chemische Agentien
ist die Verbindung sehr resistent;
das darin enthaltene Arsen ist lar-
virt, lässt sich mit Schwefelwasser¬
stoff nicht als Schwefelarsen ab¬
scheiden, sondern wird energisch
festgehalten. Nach F. Krafft und
R. Neumann 1 ) spielen in den Phenylver-
bindungen des Phosphors, Arsens und
Antimons diese Elemente dem Phenyl gegen¬
über die Rolle des negativen Radikales.
Als Maassstab für das Verhalten im Or¬
ganismus kann man bei vielen organischen
Arsenverbindungen das Verhalten zu Peni-
cillium brevicaule ansehen. Was von
diesem Pilze nicht unter knoblauchartigem
Gerüche zersetzt wird, dürfte auch im Or¬
ganismus nicht zersetzt werden. So ge¬
lingt es z. B. leicht Atoxyl damit zu zer¬
setzen. Ich betone dies, da einzelne Der¬
matologen die Zersetzbarkeit des Atoxyls
anzweifeln. In meinem Institute Hess sich
nicht nur aus Atoxyl, sondern auch aus
dem Harn von Menschen, welche mit Atoxyl
durch Prof. Wolters behandelt worden*
der typische Knoblauchgeruch mit Hülfe
der Reincultur von Penicillium brevicaule
entwickeln. Die Zersetzung des Triphenyl-
arsinoxychlorids mittelst des Pilzes gelang
jedoch nicht. Ebenso war dieser Pilz auf
die im Harn der Patienten zur Ausschei¬
dung kommende Substanz ohne Einwirkung.
Unter solchen Umständen erschien der
Versuch am Thier doppelt wichtig. Einem
Hunde von mittlerer Grösse wurden meh¬
rere Tage hintereinander mit dem Morgen-
futter Anfangs 0,5—0,6 g Triphenylarsin-
oxychlorid in Pulverform verabfolgt. Es
trat keine Erkrankung ein. Auch Dosen
von 1,0 Morgens gereicht waren ohne Wir¬
kung. Bei Steigerung der Dose auf 1,5 g
kam es zu leichten cerebralen Erscheinun¬
gen, welche ich auf die Triphenylcompo-
nente schieben möchte; dieselben gingen
aber vorüber, ohne dass binnen Monaten
irgend welche an Arsen vergiftung erinnernde
Symptome sich dafür einsteliten. Jede Por¬
tion Harn des Thieres enthielt reichliche
Mengen des verfütterten Präparates in un¬
verändertem Zustande. Durch Ausfällung
: mit Schwefelwasserstoff Hess sich dasselbe
Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Februar Die Therapie der
in Form von — nach dem Umkrystallisiren
aus Alkohol — schneeweisser Triphenyl-
arsinsulfid aber nicht etwa als Schwefel¬
arsen dem Harn leicht entziehen. Wären
auch nur Spuren von Schwefelarsen dabei
gewesen, so hätte die Penicilliumreaction
mit dem Harn eintreten müssen.
Ich bin der Meinung, dass fast die Ge-
sammtraenge des verfütterten Präparates
zur Resorption und auch diese Gesammt-
menge zur Ausscheidung in unverändertem
Zustande gekommen ist. Allerdings habe
ich den Versuch nicht quantitativ angestellt.
Wie das Präparat bei oftmals wiederholter
Einspritzung kleiner Dosen unter die Haut
wirkt, soll noch festgestellt werden. Dass
die Subkutaneinspritzung grosser Dosen
eine Wirkung hat, ist nicht auffällig, denn
auch andere Triphenylverbindungen wie
Phenylblau, Triphenylphosphat und Tri-
phenylalbumin sind nicht unwirksam.
Wir haben also im Triphenyl-
arsinoxychlorid die erste überhaupt
bis jetzt dargestellte relativ un¬
giftige Arsenverbindung. Diejenigen,
welche nach einer solchen suchen, werden
sich daher mit Eifer auf dieselbe stürzen.
Vielleicht wird dieser Eifer aber etwas
nachlassen, wenn ich hinzufüge, dass Pro¬
fessor Wolters bei geeigneten Hautkranken
mit diesem Präparate in Dosen, bei denen <
< auf gleichen Arsengehalt berechnet) Fowler-
sehe Solution bereits deutlich wirkt, keiner- j
lei Arsenwirkungen wahrnehmen konnte i
und zwar weder schädliche noch nützliche.
Trotzdem empfiehlt es sich bei Patienten,
welche andere Arsenikalien nicht vertragen,
mit diesem relativ unschädlichen Präparate
weitere Versuche zu machen. Es wäre ja
nicht ganz unmöglich, dass der kranke Or¬
ganismus sich dem Präparate gegenüber
Gegenwart 1903. 61
unter Umständen anders verhält als der
gesunde.
Vom Standpunkte der theoreti¬
schen Pharmakologie aus muss diese
Substanz, auch wenn sie therapeutisch
gänzlich bedeutungslos bleiben sollte, als
eine ungemein interessante bezeich¬
net werden.
In dem wichtigen Werke „über die
Arzneimittelsynthese“ behandelt Sigm.
Fränkel bekanntlich die Beziehungen
zwischen chemischem Aufbau und pharma¬
kologischer Wirkung. S. 474 bespricht er
auch die Arsenpräparate und entscheidet
sich dahin, dass es besser ist Arsenik zu
geben als die modernen organischen Arsen¬
präparate. Von uns hier angehenden Prä¬
paraten bespricht er die Mono- und die
Diphenylarsinsäure. Von letzterer, der
die Formel (Cß^)? AsO’OH zukommt, sagt
er, sie sei ein ziemlich schnell wirkendes
Gift und Hesse sich ihrer Wirkungsweise
nach mit Rücksicht auf die analoge Con¬
stitution der Dimethylarsinsäure an die
Seite setzen. Die Monophenylarsinsäure
scheine im Organismus langsamer, aber
sonst ebenso zu wirken. „Der Ersatz von
Hydroxylen durch die organische Radicale
in der Arsensäure AsO(OH)s verzögert
die specifische Arsenwirkung nur für so
lange, bis die organische Componente ab-
gethan ist, aber das Substitutionsproduct
wirkt qualitativ der Grundsubstanz gleich.“
Da mir dieser Fränkel’sche Satz im Ge¬
dächtnis war, hatte ich Anfangs gar keine
Lust das Triphenylarsinoxychlorid zu unter¬
suchen, denn ich war überzeugt, es würde
dabei eine langsame Arsenvergiftung ein¬
treten. Meine im Laufe des letzten Jahres zu
wiederholten Malen angestellten Versuche
haben mich aber vom Gegentheil belehrt.
Aus der medicinisclieu Klinik der Universität Jena.
(Director: Prof. Dr. Stintzing.)
Klinische Beobachtungen über Agurin.
Von Dr. F. Montag.
Unter dem Namen „Agurin“ bringen die ! Im Folgenden will ich über die in der
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Cie. | hiesigen Universitätsklinik gemachten Be-
Elberfeld, seit ca. einem Jahre ein neues i obachtungen berichten.
Diureticum in den Handel, das zuerst von ' Das Agurin wurde den Patienten meist
Impens, einem Schüler Destrees in I als abgewogenes Pulver in Oblaten gegeben,
Brüssel hergestellt wurde. Dasselbe ist da auch die Tabletten den unangenehmen
bereits von verschiedenen Autoren in Geschmack des Mittels nicht ganz ver-
überwiegend günstigem Sinne begut- I loren haben. Wir begannen regelmässig
achtet worden; die bisher vorliegenden mit einer Dosis von dreimal täglich
Aeusserungen sind bereits in dieser Zeit- 0,5 g und gingen eventuell bis dreimal
schrift besprochen worden (vergl. Jahr- * täglich 1,0 g. Auch hierin ist ein Vor¬
gang 1902. S. 247). zug des Agurins vor dem Diuretin be-
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Februar
f-2
gründet, das in grösseren Dosen gegeben
werden muss.
I. Fall. R., Tischler aus Z.. 19 Jahre.
Diagnose: Neurasthenie.
Tag,
Dosen
Urinmenge
in ccm
Spec. Gew.
1.
ohne Ag.
2300
| 1111
2
2270
• 1015
3. i
Ag. 3x0,5 g
1680
1015
4.
it
1990
1015
5.
n
2780
1013
6.
ii
2180
1014
7.
i>
1180
1018
8.
n
1530
1017
9.
FF
3500
1010
10. ,
| 1400
1020
11.
1 2170
1013
12.
ohne Ag.
1290
1022
Das Agurin wurde gut vertragen bis zum
11. Tag, wo es wegen Durchfällen ausgesetzt
werden musste. Eine wesentliche Steigerung
der Urinmenge ist nur am 5., 9. und 11. Tage
wahrzunehmen, und zwar hatte der Patient
jedesmal mehr Flüssigkeit zu sich genommen,
als sonst. Es entspricht dies ganz den v. Im-
pens und andern gemachten Erfahrungen, dass
Agurin nur dann die Urinmenge steigern
kann, wenn ein grösseres Quantum ver¬
fügbarer Flüssigkeit im Körper vor¬
handen ist. Dass diese Steigerung der Urin¬
menge am 5., 9. und 11. Tage wirklich dem
Agurin zuzuschreiben ist, und nicht allein auf
der vermehrten Flüssigkeitseinnahme beruht,
beweist die am 12. Tage ausgeschiedene Urin¬
menge, die nur 1290 ccm betrug, trotzdem Pa¬
tient dasselbe Quantum Flüssigkeit zu sich ge¬
nommen hatte, wie am 5., 9. und 11. Tage.
II. Fall. Frau Sehr, aus J., 49 Jahre.
Diagnose: Aorteninsufficienz, Mitralstenose.
Keine Oedeme.
Das Agurin wurde zehn Tage hindurch
dreimal täglich 0,5 g gegeben und gut ohne
alle Beschwerden vertragen. Die Flüssigkeits¬
aufnahme blieb während der Zeit der Beobach¬
tung (ca. 20 Tage), so gut es sich ermöglichen
liess, dieselbe. Eine Steigerung der Diurese
war nicht zu beobachten. Die Controlle des
Pulses und Blutdrucks ergab, dass beide nicht
durch das Agurin beeinflusst wurden. Der
Puls bewegte sich während der Beobachtungs¬
zeit zwischen 84 und 100 per Minute und der
Blutdruck zwischen 133 und 145 mm (bestimmt
mit dem Apparat v. Riva-Rocci).
III. Fall. Frl. Schm, aus S., 21 Jahre.
Diagnose: Chlorose, Hysterie. Keine Oedeme.
Die Beobachtung erstreckte sich über
18 Tage; zehn Tage hindurch erhielt Patientin
dreimal täglich 0,5 g Agurin. Es wurde gut
vertragen. Puls und Blutdruck wurden wieder
controllirt. Das Ergebniss war: Keine Steige¬
rung der Diurese, keine Beeinflussung des
Blutdruckes, letzterer zwischen 135 und 148 mm.
IV. Fall. K., Stalljunge aus Gr. O., 15 Jahre.
Diagnose: Acuter Gelenkrheumatismus. Mitral-
insufticienz und Stenose. Keine Oedeme.
Patient bekam sechs Tage hindurch Agurin
dreimal 1,5 p. d. und äusserte keinerlei Be¬
schwerden. Vor der Agurin Verabreichung be¬
trug die Urinmenge 1700—2400 ccm, während
derselben schwankte sie zwischen 2300 und
3000 und nachdem zwischen 2500 und 1700.
Wir können also wohl von einer Steigerung
der Diurese reden, und zwar ist dieselbe wieder
wie bei Fall 1 auf vermehrte Flüssigkeitszuluhr
an den betreffenden Tagen zurückzuführen.
Puls und Blutdruck wurden wieder nicht
beeinflusst.
V. Fall. F,, Schäfer aus L., 66 Jahre.
Diagnose: Myodegeneratio cordis.
Patient wurde schon 1901 wegen desselben
Leidens behandelt und erheblich gebessert ent¬
lassen. Urin enthält Eiweiss, keinen Zucker. Mikro¬
skopisch sind nurBlasenepithelien und Leukocy-
ten, keine Cylinder nachzuweisen. Beide Extremi¬
täten zeigten starke Oedeme. Da dieselben
trotz Verabreichung von grösseren Dosen Di¬
gitalis nicht nachliessen, wurde rnit einer
Agurincur begonnen, nachdem einige Tage
vorher die Digitalis ausgesetzt war. Aus der
unten folgenden Tabelle geht die Wirkung des
Agurins auf die Diurese hervor. Die Beobach¬
tung des Pulses vor und während der Agurin¬
cur ergab, dass sich derselbe in keiner Weise
veränderte. Beschwerden hat F. nach Agurin
nicht geäussert; in den ersten Tagen traten
multiple Durchfälle auf, die aber auf' einen
Diätfehler zurückzuführen waren.
Tag
Dosen
Urinmenge
in ccm 1
i
Spec.
Gewicht
Körper-
1 gewacht
1—5.
ohne Agurin
1000 bis ;
1013 bis
i
i
1400
1025
—
6.
Ag. 3 x 0,5
1800
1022
1 —
7.
1700 "
1025
—
8.
1700
1024
—
9.
1700
1013
76,6 k
10.
1800 ,
1012
—
11.
n
1600
1012
—
12.1
n
1400 :
1012
—
13.
n
1600 !
1013
—
14.
FF
1800
1011
—
15. j
3 x 1,0
1600
1012
—
16.
n
1500
1010
73 k
17.
n
1600
1010
18.
2x1,0
1500
1011
—
19.
1700
1012
—
20.
1400
1017
—
21.
1600 (
1016
71,2 k
Die Abnahme
der Oedeme geht
aus den
folgenden Massangaben hervor: Umfang der
beiden ödematösen Unterschenkel
Ober den
Knöcheln
am unteren
Rande der
1 Patella
Am Tage vor der
Agurinverabrei-
chung
R. 29 cm
L. 307a cm
R. 41 cm
L. 41 cm
3 Tage nach der Ver- j
abreichung von
Agurin
R. 28 cm
L 297a cm
R. 40 cm
L. 397a cm
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
63
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
I Ober den
Knöcheln
am unteren
Rande der
Patella
9 Tage nach der Ver¬
abreichung von
A gurin
14 Tage nach der
Verabreichung
von Agurin
R. 27 cm
L. 27 1 /a cm
R. 26,5 cm|
L. 27 cm
R. 38 Vj cm
L. 387a cm
R. 36,5 cm
L. 37 cm
VI. Fall. Frau St. aus Schw„ 36 Jahre.
Aufgenommen den 13. April 1902. Diagnose:
Mitralinsufficienz, Aortenstenose, relative Tri-
cuspidalinsufficienz.
Beine beiderseits stark ödematös. Abdomen
sehr stark gespannt, die abhängenden Partien
gedämpft, oben Tympanie. Urinmenge spär¬
lich. kein Albumen. Auf Digitalis steigt die
Urinmenge von 600 ccm auf 3400 in den ersten
drei Tagen um nach Aussetzen desselben am
zweiten Tag wieder auf 1700 zu sinken. Unter
Agurin dreimal 0,5 p. d. steigt die Urinmenge
wieder 3700—2000. Die Aguringaben wurden
gesteigert bis auf dreimal 1,0 p. d. und es er¬
folgt eine Abnahme der Oedeme der Beine
und des Abdomens, dessen Umfang über den
Nabel gemessen bei der Aufnahme 98 cm. jetzt
84^2 cm beträgt. Weitere Abnahme des Ascites
und der Oedeme folgt nicht. Agurin wird aus¬
gesetzt. Digitalis und wegen eines Recidives
eines seit längerer Zeit bestehenden Gelenk¬
rheumatismus Natrium salicylicum in Dosen
von dreimal 2,0 4 Tage hindurch verabreicht,
haben ebenfalls keinen Erfolg, die Urininenge
sinkt wieder bis auf 900 ccm, der Leibesumfang
nimmt wieder zu bis 88 cm. Auf Agurin drei¬
mal 1,0 p. d. tritt wieder Steigerung der Diu¬
rese ein bis 2700 ccm. Der Umfang des Ab¬
domens nimmt wieder ab. Am 30. Mai kann
Patientin zum ersten Mal aufstehen, am 1 . Juni
wird sie entlassen.
VII. Fall. Herr Sch. aus A.. 75 Jahre. Auf¬
nahme den 4. Juni 1902. Diagnose: Insuffi-
eientia cords, Arteriosklerose, Hydrothorax.
An den unteren Extremitäten bis zu den
Hüften teigiges Oedem, ebenso am Hodensack
und Penis. Urin: Eiweiss in Spuren, Zucker
Spärliche granulirte Cylinder. Weder auf Digi¬
talis noch auf Agurin Abnahme der Oedeme.
Dieselben nehmen sogar noch zu. Am 21. Juni
Exitus.
VIII. Fall. II..Dienstmädchen ausJ., 16Jahre.
Aufnahme: 17. Juni 1902. Diagnose: Pericar-
ditis.
Aus dem Status: Am 17. Juni Spitzenstoss
etwas ausserhalb der Mammillarlinie, Verbreite¬
rung nach rechts bis zur Mitte des Brustbeins,
oben normal, an der Spitze ein systolisches
Geräusch. Puls normal.
18. Juni. Herzdämpfung nach rechts und
links weiter verbreitert, nach oben im 2 . Inter-
costalraum. Kein Reiben, die Herztöne leiser,
rein. Action unregelmässig.
21. Juni. Nachdem gestern die Dämpfung
fast die ganze Vorderseite des Thorax ein¬
genommen hatte, der Puls stark unregelmässig,
die Athmung sehr erschwert, dabei mässiges
Fieber, trat heute Digitaliswirkung nach 2,0 g
auf: 2500 ccm Urin, 1013 spec. Gew. Bedeu¬
tende Erleichterung, aber die Dampfung auf
demselben Stand, wie am 18. Juni.
Vom 22. an erhielt Patientin dreimal 0,5 g
Agurin pro die. Am 24. hellt sich die Däm¬
pfung an den Seiten auf, an der Spitze und
Aorta ist schönes deutliches Reiben zu hören.
Der Urin ist frei von Eiweiss. Die Urinmengen
sind anhaltend gross, 1900—2600.
Am 29. wird das Agurin ausgesetzt, die
Dämpfung geht weiter zurück. Patientin wird
später geheilt entlassen.
IX. Fall. St.. Schuhmacher aus W.-J.,
38 Jahre. Aufnahme: 6 . März 1902. Diagnose:
Aorteninsufficienz, Tricuspidalinsuflicienz, Pleu¬
ritis exsudativa dextra.
Die Urinmengen waren sehr gering, stei¬
gerten sich auch nicht nach Digitalisgebrauch.
Am 11. März trat Temperaturerhöhung ein,
auf der rechten Seite hinten und unten liess
sich eine 5 cm hohe Dämpfung nachweisen, es
bestand leichtes Reiben an der Stelle, Stimm-
fremitus und Athemgeräusch waren abge¬
schwächt.
Am 15. bekam Patient Agurin dreimal täg¬
lich 0,5 und zwar in Tablettenform; da er
Widerwillen gegen die Tabletten zeigte, wurde
ihm das Agurin weiterhin in Pulverform ver¬
abreicht. Fs wurde gut vertragen. Schon nach
drei Tagen steigerten sich die Urinmengen von
600 auf 1200 ccm und die Dämpfung im Rücken
verschwand rasch.
X. Fall. Dienstknecht A. V. ausSp., 22 Jahre.
Aufnahme: 9. April 1902. Diagnose: Broncho¬
pneumonie, rechtsseitige Pleuritis serosa.
Aus dem Status bei der Aufnahme: Thorax
llach, Manubrium eingesunken, Spitzen aus¬
gefüllt, Gruben normal. Grenzen links o. B.,
rechts hinten unten etwa handhohe Dämpfung.
Athemgeräusch verschwunden, einzelne gross¬
blasige Rasselgeräusche von fern zu hören.
Stimmfremitus aufgehoben.
Patient bekommtdreimal täglicheineTablette
Agurin ä 0,5 g. Die Urinmenge steigert sich
bis zu 2900 ccm. Schon nach zwei Tagen ist
ein Rückgang des Exsudats wahrzunehmen,
nach weiteren zwei Tagen ist es verschwunden.
Beschwerden hat Patient vom Agurin nie ge¬
habt. Puls und Blutdruck zeigten keine Beein¬
flussung durch das Agurin.
XI. Fall. Herr R., Kaufmann aus B.,
54 Jahre. Aufnahme: 12. Juli 1902. Diagnose:
Nephritis parenchymatosa.
Am Thorax beiderseits hinten handhohes
Transsudat; das Abdomen ist aufgetrieben,
deutlich Ascites nachweisbar. An den Hüften
und Beinen hochgradige Oedeme bis zum
Oberkörper hinauf. Urin enthält viel Eiweiss,
keinen Zucker, hyaline und granulirte Cylinder,
keirre Blutkörperchen.
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Gck igle
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
64
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Patient bekommt zuerst dreimal täglich
0,5 g Agurin, dann dreimal täglich 1.0 g, aber
ohne Erfolg. Die Urinmenge nimmt nicht zu, j
die Oedeme bleiben unverändert. Am 24 . Juli
wird Patient auf eigenen Wunsch entlassen,
ohne dass Besserung eingetreten ist.
Im Anschluss an diese Beobachtungen will
ich noch einige Blutdruckbestimmungen an¬
führen, die ich an zwei Patienten mit dem
R i va-Roc c Eschen Apparat ausgeführt habe.
I. Patient.
4 Uhr 20
Vlin.
205
mm
0,5
S Ag
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unn
210,
205, 210 mm
4
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5
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Patient.
9 Uhr 55
Min.
bis 10 Uhr 15 Min.
172,
168,
165,
168
mm
10
„ 15
V
1,0 g Agurin
11
,, 50
bis 12 Uhr 10 Min.
158,
154,
158,
158
mm
12
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n
1,0 g Agurin
4
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bis
\ Uhr 25 Min.
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1,0 g Agurin
6
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„
bis
Uhr 25 Min.
152-
-158
mm
Die an der Hand der hier angeführten
klinischen Beobachtungen gemachten Er¬
fahrungen dürften uns wohl berechtigen,
uns dem Urtheil der übrigen Beobachter,
die das Agurin als gutes Diureticum
empfehlen, anzuschliessen. Und wenn wir
auch zugeben müssen, dass das Diuretin
denselben diuretischen Effect haben kann,
und dass bei manchen Fällen die Digitalis
dieselben und bisweilen bessere diuretische
Wirkung erzielt, so müssen wir doch dem
Agurin deswegen den Vorzug geben, weil
ihm die Wirkung der Digitalis auf die
Circulation und die schädlichen Neben¬
wirkungen des Diuretins fehlen, es also
bedeutend länger als diese beiden Mittel
angewandt werden kann. Denn in den an¬
geführten Fällen wurde es zum Theil recht
lange verabreicht, aber stets ohne irgend
welche Beschwerden gut vertragen, ab¬
gesehen von den leichten Durchfällen bei
Fall I. Was den Blutdruck anbetrifft, so
liess sich da, wo derselbe nur täglich ein¬
mal controllirt wurde, keine Beeinflussung
constatiren, dagegen scheinen mir die zu¬
letzt angeführten Beobachtungen la und II b
dafür zu sprechen, dass ein geringes Sinken
desselben durch Agurin herbeigeführt wird.
Dass dasselbe bei den täglichen einmaligen
Bestimmungen nicht beobachtet wurde,
spricht wohl für einen rasch stattfindenden
Ausgleich. Dabei darf man jedoch nicht
ausser Acht lassen, dass den Blutdruck¬
bestimmungen am Patienten doch immer
ein gewisses Maass von Ungenauigkeit an¬
haftet, wegen der verschiedenen uncontrollir-
baren Einflüsse, denen der Blutdruck den
Tag über ausgesetzt ist. Ausserdem ist
auch die Zahl der hier angeführten Blut-
druckcontrollen viel zu gering, um ein be¬
stimmtes Urtheil darüber abgeben zu
können.
Was die Indication für Agurin an¬
belangt, so ist es nach unseren Beob¬
achtungen wohl am meisten bei den durch
Herzerkrankungen bedingten Hydropsien
zu empfehlen, ebenso bei den mit Ergüssen
einhergehenden Pleuritiden und Pericar-
ditiden. Der Misserfolg bei Nephritis
parenchymatosa dürfte wohl noch kein
Grund sein es bei diesen Erkrankungen
für contraindicirt zu halten, vielmehr dürfte
es sich wohl empfehlen gerade da noch
eingehende Studien zu machen, zumal doch
Berichte über gute Erfolge genügend vor¬
liegen.
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Original fro-m
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Februar
65
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Die Rahmgemenge und ihre neuere Ergänzung. 1 )
Im Einvernehmen mit Herrn Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Biedert -Hagenau,
dargestellt von Dr. Gernsheim- Worms.
Die Rahmgemenge sind die Nahrungs-
compositionen, welche für Säuglinge be¬
wusst ein klares Princip mit natürlichen,
wohlbekannten Hülfsmitteln verfolgen. Sie
verwenden die frischen, unveränderten Ele¬
mente der Kuhmilch, um eine Annäherung
in Eiweiss-, Fett- und Zuckergehalt an die
Muttermilch zu erreichen und zwar so, dass
sie von dem stoffarmen, der Muttermilch
näherstehenden Grundgemenge durch ge¬
haltvollere Stufen zur unveränderten Kuh¬
milch hinführen. Da es doch noch nicht
möglich ist, die Bestandtheile der Kuhmilch
denjenigen der Muttermilch ähnlich zu
machen, so sind jene zunächst in etwas
schwächerer Menge in den ersten Mischun¬
gen vorhanden und passen sich so den
schwächeren, der Kuhmilch selbst noch
nicht gewachsenen Verdauungen an, um
diese allmählich an die Kuhmilch zu ge¬
wöhnen.
Darauf, dass sie selbst in tadelloser Be¬
schaffenheit zu dieser Verwendung kommen,
wird bei der Herstellung des natürlichen
Rahmgemenges nach Biedert im Gross¬
betrieb alle Aufmerksamkeit verwandt: Aus
guten Viehstapeln mit einwandsfreier Fütte¬
rung und Pflege, reinlich gemolken, wird
die Milch entweder sofort durch Centrifugiren
noch einmal vom Schmutz befreit, oder
seltener durch Kühlung zu kurzem Trans¬
port nach der Verarbeitungsstelle haltbar
gemacht und da centrifugirt, dann die
Mischung aus Rahm, Magermilch etc. her¬
gestellt, sofort 20 Minuten bei 101—102°
sterilisirt — so auf Grund besonderer Ver¬
suche von Winter — alsbald wieder ge¬
kühlt und weiter kühl gehalten bis zum
Verbrauch. Dies wird durch nachdrück¬
liche Instruktion der Hersteller und wieder¬
holtes Einprägen mittelst Gebrauchsanwei¬
sung für die Abnehmer sicher gestellt.
Die Mischungen sind an controlirenden
Centralstellen darauf geprüft, dass alle min¬
destens einige Tage, fast alle über vier
Tage, gewöhnlich eine oder mehrere
Wochen Bruttemperatur aushalten, alle
aber ausnahmslos wochen- oder monate¬
lang so unverändert bleiben, dass sie nach¬
her mindestens noch einen, selbst viele
Tage Bruttemperatur ertragen. Dies in
Verbindung mit der Einschärfung des Kühl-
*) Nach einem in der IX. Versammlung nieder- j
rheinisch-westphälischer Kinderärzte in Düsseldorf 1
von Dr. Gernsheim gehaltenen Vortrag weiter aus¬
gearbeitet.
haltens im Vertrieb und Verbrauch zugleich
mit Angaben der Kennzeichen von allen¬
falls doch einmal zufällig verdorbenen
i Flaschen in der Gebrauchsanweisung giebt
weitgehende Garantie, dass das Biedert -
| sehe Rahmgemenge im Grossbetrieb in
unverdorbenem Zustand zur Verwendung
kommt. Dazu unterziehen sich die An¬
stalten gewöhnlich noch der Controle ört¬
licher Aufsichtsstellen und wird stets Kinder¬
ärzten und Aerztevereinen nahegelegt,
durch zeitweisen Einblick das Vorhanden-
I sein jenes tadellosen Zustandes im ge¬
meinen Interesse sichern zu helfen.
Dass das Präparat nur aus frischen un¬
veränderten Bestandtheilen angefertigt ist,
verstärkt die Wahrscheinlichkeit, es in ver¬
lässlichem Zustande zu erhalten.
Ganz dieselben Garantien bei der Milch¬
gewinnung und -behandlung während seiner
| Herstellung giebt das künstliche Rahm-
[ gemenge, die Rahmconserve, Ramogen der
! vereinigten Ramogenfabriken Zwingenberg-
Stendorf. Nur kommen dabei noch drei
Dinge hinzu, welche eine wahrscheinlich
unbegrenzt dauernde Haltbarkeit verbürgen:
1 ) Sterilisirung in luftdicht gefalzten Büchsen,
2 ) Eindickung des Präparates bis zu steifer
Pastendicke, 3) Beimischung grösserer
Zuckermengen, nämlich von so viel Zucker,
als später nach der Verdünnung zum vor-
schriftsmässigen Gehalt darin sein muss.
Diese glückliche Combination von beab¬
sichtigtem, also später nicht übergrossem
Zuckergehalt mit grösseren Fett- und ge¬
ringeren Eiweissmengen, als in der Kuh¬
milch sind, wie sie aber beim Rahmgemenge
verwandt werden sollen, liefert für die
Dauer der Aufbewahrung einen so starken
Zuckergehalt in der Conserve, wie er zur
Erhaltung einer solchen dienlich und früher
schon in unglücklicher Combination für
den Nährerfolg, aber gleich wirksam für
die Conservirung in der „condensirten
Schweizermilch 41 zur Verwendung gekom¬
men war. Der eingedickte Zustand verhin¬
dert dann eine Aenderung in der Zusammen¬
mischung der Bestandtheile, besonders eine
Ausscheidung des Fettes, wie in dünneren
Milchconserven. *) Da auch der Verschluss
*) Eine unerwünschte Erfahrung wurde dagegen
im Sommer 1902 gemacht, dass im Ramogen sich
Zuckcrkrystalle ausschieden bei Verwendung einer
sonst ausgezeichneten Milch in der Holstein’schen
Filiale der Ramogenfabriken. Es sind noch Unter¬
suchungen darüber im Gange worauf das Phänomen
beruht. Soviel steht bereits fest, dass es zu ver-
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66
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
unbedingt sicher ist, so sind diese Ramogen-
büchsen ein von äusseren Umständen un¬
abhängiges, überall bereites Hülfsmittel zur
Annäherung der Kuhmilch an die Mutter¬
milch durch Fettanreicherung; oder auch
wo eine brauchbare Kuhmilch einmal gar
nicht vorhanden ist, um eine Zeit lang für
sich allein als Kindernahrung zu dienen.
Es sind in solchen Fällen, z. B. wo ein
Kind eines Arztes (Oberstabsarzt W.) die
Kuhmilch am Ort bis weit in das zweite
Halbjahr hinein nicht vertrug, von dem j
Vater erst die Ramogenverdünnung für
sich, dann unter Zusatz von Löflund -
scher Kuhmilchconserve, in anderen Fällen
das Ramogen ganz für sich, zuletzt in
wesentlich concentrirterer Mischung und in
beiden Arten von Fällen mit sehr gutem
Erfolg angewandt worden. Sowohl mit
Milchconserve zusammen, als in der aus¬
schliesslichen Verwendung von Rahmcon-
serve wurden blühende Kinder erzielt.
In diesen letzten Fällen wurde die Con-
serve noch 1:5 — 4 x /2 verdünnt, eine
Mischung, die wir uns ohne Weiteres nicht
getraut hätten, zu empfehlen, wegen ihres
hohen Fett- und Zuckergehaltes und welche
von den betreffenden Kindern anstandslos
vertragen wurde. Sogar eine Frühgeburt,
ein armseliges Kind von 2250 g, wurde in
dieser Weise in den ersten sechs Wochen
mit 8 Mal täglich 1 :13 —12, in den zweiten
sechs Wochen mit 7 Mal täglich 1 :11 — 10
anfangs Kaffeelöffel, schliesslich Esslöffel
genährt und erzielte dabei bis zur zwölften
Woche ein Gewicht von 4480 g, eine Zu¬
nahme von 2230 g, d. i. 26 g im Tag, was
für ein solches Kind sehr beträchtlich ist,
um so mehr, als es am Ende der vierten
Woche nur 2270 g, wie am Anfang, ge¬
wogen hatte. Danach hatte die Zunahme
in den letzten acht Wochen allein die
2210 g oder beinahe 41 g pro die aus¬
gemacht. Auffällig sind die grossen Flüssig¬
keitsmengen, ca. 1500—1600 ccm, welche
nach diesen Angaben dem Kind in der letzten
Hälfte dieser Periode schadlos gereicht und
die auch recht beträchtlichen Nährwerthe,
über 200 Kalorien für das kg, die im An¬
fang gegeben wurden, am Ende dann aller¬
dings nicht mehr als 100, worauf dann Ver¬
abreichung in mächtiger Concentration bis
1 :6 und selbst 1 :4,5 folgte mit 185 und
245 g der Conserve und 610 bezw. 808 Kal.
pro Tag, das sind 156—117 —134 Kal.
meiden ist und dass es, wenn auch unerwünscht und
für den äusseren Eindruck des Präparates nicht vor-
theilhaft, doch nach richtiger Lösung der Krystalle
bei den üblichen Verdünnungen unschädlich zu sein
scheint.
pro kg. Bis zur 18. Woche wurde damit ein
Gewicht von 5,53 kg, also noch eine täg-
lichö Zunahme von 25 g erzielt. Nach nun
allmählichem Milchzusatz ergaben sich mit
sieben Monaten 7 kg, d. i. eine erklecklich
höhere Schwere, als sonst bei so geringem
Anfangsgewicht der Fall ist. Während hier
die Rahmconserve, das Ramogen, sowohl
erst in grossen Mengen und starker Ver¬
dünnung, wie nachher in ungewöhnlicher
Concentration erstaunlich gut vertragen
wurde und nährte, erzielte es bei einem
anderen Kinde denselben Erfolg durch an¬
dauernd grosse Volumina starker Ver¬
dünnung, diesmal aber von einer anderen
| Form der Conserve, dem Milchsomatose-
ramogen.
In diesem neuen Präparat ist in Folge
ausgezeichneter Erfahrungen, die wir im
Hagenauer Bürgerspital mit Zufügung von
Milchsomatose zu natürlichen Rahmmischun¬
gen bei Kindern gemacht hatten, die in
Folge von hartnäckigem, chronischem Darm¬
katarrh, trotz Ernährung nach den ver¬
schiedensten alten und neuen Methoden,
immer zurückgingen, dem Ramogen 25o/ 0
seines Eiweisses noch in Form von Milch¬
somatose zugefügt. Ueber die Wirksam¬
keit dieser Combination werden wir reden,
nachdem die schon angedeutete Ernährung
eines Kindes damit besprochen ist. Zwei
Zwillingsknaben von 3825 g und 3300 g,
am 14. September 1901 geboren, wurden
Anfangs gestillt und gediehen dann mit
Backhausmilch „prächtig“, so dass sie nach
fünf Wochen 4800 und 4250 g wogen; mit
dem Schwereren ging es so gut weiter:
er hatte mit zwölf Wochen 6700 g und am
11. Dezember 1902 mit 21 Wochen 8050 g.
Der Kleine aber fiel ab auf nur noch 4150 g
mit sieben Wochen und dann trat auf das
vom Hausarzt verordnete Biedert*sehe
Milchsomatoseramogen 1:13 ein Umschwung
ein, so dass das Kind mit neun Wochen
4700 g, mit 14 Wochen 6500 g wog und
jetzt nach 21 Wochen seinen Bruder mit
8200 g überholt hat, sich dabei ausge¬
zeichnet befindet. Von der zwölften Woche
ab wurde bei Neigung zur Verstopfung
Ramogen nach und nach ohne Milchsoma¬
tose gegeben. Das Kind bekam im Tag
2000 — 2500 ccm Ramogen 1 :13 Wasser,
darin 186—260 g Ramogen mit 610—830 Ca¬
lo rien, also im Beginn etwa 500 ccm mit
147, schliesslich 300 ccm mit 100 Calorien
auf das kg Körpergewicht und hatte ent¬
sprechend dieser beträchtlichen Zufuhr die
noch enormere Gewichtszunahme von 4050g
in 14 Wochen, d. i. fast 42 g pro Tag. Die
lange Dauer der grossen Zunahme ist
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Februar
67
Die Therapie der
ebenso bemerkenswert!!, wie das gute Ver¬
tragen erst der grossen Nährwerthe und
stets der gewaltigen FlQssigkeitsmengen.
Bekanntlich besteht zur Zeit eine über¬
triebene theoretische Angst vor Verdünnung
und grösserer Flüssigkeitszufuhr, die nicht
stärker Lügen gestraft werden kann, als
bei unserem Anfangs sogar jedenfalls ver-
dauungsschwachem Kind. Dasselbe wird —
wie hier zwischengeschoben zu werden
verdient — bei natürlichem Rahmgemenge
beobachtet, wo Aerzte und Eltern unan¬
gefochten von theoretischer Beschränkung
dem Appetit der Kinder entsprechend,
grössere Mengen der dünneren Mischung
zu geben pflegen und die Kinder ausge¬
zeichnet gedeihen. Einmal kam in einer
Consultation Biedert zufällig dazu, die
etwas langsame Entwicklung eines auf
1000 ccm gehaltenen Kindes zu sehen und
durch Rath zur Vermehrung der Menge
jene Entwicklung zu einer plötzlich üppigen
zu machen. Das fünf Monate alte Kind mit
5650 g Gewicht am 6. August hatte bis
dahin im Tage 1000 ccm Rahmgemenge
No. 4 erhalten. Es bekam nun 1200 ccm
derselben Nummer, nachher von No. 5.
Und darauf hin stieg das Gewicht auf
dl 20 g am 28. August, auf6630 g am 11. Sep¬
tember und 7130 g am 26. September. Das
Kind hatte vom 18. März bis 6. August
2890 g, d. i. pro Tag 20,5 g zugenommen.
Vom 6. August bis 26. September nahm es
dann noch 1480 g = 29 g pro die zu, also
eine in diesen späten Monaten ungewöhn¬
lich hohe Zunahme mit der vermehrten
Menge verdünnter Mischung.
Die gute Wirkung des Ramogens gerade
bei dem vorerwähnten Zwillingskind und
in der dortigen Darreichungsform ist für
dessen Leistungsfähigkeit ebenso bemer-
kenswerth, wie in den beiden vorher be¬
schriebenen Fällen zugleich wiederum das
gute Resultat bei reiner Conservenernäh-
rung, von der man eben auch Rhachitis
und Barlow’sche Krankheit herleiten will.
Nach weiteren 14 Tagen bis drei Wochen
wird durch den Hausarzt festgestellt, dass
dieser „mit der körperlichen und geistigen
Entwicklung sehr zufrieden ist, die K n o c h e n-
bildung eine sehr gute sei“ und das
Kind brillante Fortschritte mache, besonders
in den letzten Wochen. Es wurde nun
aber doch angerathen, durch Milchzusatz
in der für die Rahmgemengeernährung
typischen Weise auf den Uebergang zur
Kuhmilch hinzuwirken.
Wir haben ausser in dem letzten Fall
früher schon die Beobachtung gemacht,
dass nach einem Misserfolg mit Backhaus-
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Gegenwart 1903.
ernährung Rahmgemenge und dabei Milch-
somatosebeifügung einen guten Erfolg hatte.
Das bestätigt unsere sonst gebildete An¬
sicht, dass Caseinverbesserung, Eiweiss-
vorverdauung durchgehend keinen Vortheil
vor der einfachen Verdauungserleichterung
durch Verdünnen und Fettvermehrung hat.
Wenn aber der Milchsomatosezusatz uns
und anderen doch einen nicht zu verken¬
nenden Nutzen gab, so ist es wahrschein¬
lich, dass eine an dieses lösliche Eiweiss
gebundene kleine Tanninmenge, die mit
jenem den ganzen Darm durchwandert, an
der rothbraunen Färbung der Stühle und
der guten Consistenz derselben (manchmal
auch Rothfärbung mit Lugol) noch kennt¬
lich ist, auf die Dauer in diesen kleinen
gelösten Mengen wohlthätiger wirkt, als die
grossen Mengen unlöslicher Pulverpräpa¬
rate, die eine Zeit lang gut thun, oft aber
schliesslich mechanisch reizen. Ganz über¬
sehen darf man übrigens doch nicht die
Möglichkeit, dass nach längerer Anwendung
der Milchsomatose einmal die bekannte
Reizwirkung der vorverdauten Eiweisspräpa-
rate über die günstige Wirkung der Tannin¬
beigabe den Sieg davontragen und sich in
weicheren Stühlen und Abnahme äussem
kann. Biedert wurde einmal davon in
einem sehr empfindlichen Fall überrascht,
der dann nach Weglassung der Somatose
besser ging unter Beifügung des ausge¬
zeichneten Darmadstringens G1 u t a n o 1
(Hundhausen’sAleuronatfabrik, Hamm i. W.)
Doch ist das noch nicht ganz sicher und
in den kleineren Dosen, in denen die Milch¬
somatose im Ramogen vertreten ist, dürfte
es noch weniger der Fall sein. Immerhin
sei man gegebenen Falls aufmerksam
darauf.
Uebereinstimmend mit unseren Erfah¬
rungen lauten erfreulich über Milchsoma¬
tose diejenigen von A. Schmidt-Bonn;
ausserordentlich günstig über Milchsoma-
toseramogen bei Kindersommerdiarrhoeen
spricht sich auch Schmid - Monnard aus
und lauten meine ganz neuen Erfahrungen
ira vergangenen ziemlich mit Brechdurch¬
fällen gesegneten Sommer. Dabei war mir
häufig Gelegenheit geboten. Vergleichs¬
beobachtungen der Wirkung sowohl des
einfachen Ramogens und des Milchsoma-
toseramogens, als auch des natürlichen,
vorzüglich und durchaus einwandsfrei her¬
gestellten Rahmgemenges bei vollständiger
Fernhaltung jeglicher Arzneimittel (wie
z. B. Tannalbin, Tannigen, Tanocol, Bis-
muth u. a.) zu machen. Fast durchweg
war deutlich zu erkennen, dass wenn unter
Verwendung dünner Ramogenmischungen
9*
Original from
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68
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Februar
oder des natürlichen Rahmgemenge No. 1
die Production einwandsfreier kothiger
Stühle — selbstverständlich bei gewöhn¬
licher und nicht bei Fettdiarrhoe —
sich auf die Darreichung des Milchsoma-
tose-Ramogens in einer dem Alter des
Patienten und der Heftigkeit der Diarrhoe
entsprechenden Verdünnung alsbald gleich-
mässig zusammengesetzte, reichlich kothige
braune und bald ganz schleimfreie Stuhl¬
massen entleert wurden. Ganz besonders
aber hervorgehoben werden müssen die
schönen Erfolge bei Verwendung des Milch¬
somatose - Ramogens gegenüber den
Misserfolgen mit Buttermilch bei Brech¬
durchfällen. Herr Geh. Rath Biedert und
ich haben unabhängig von einander bei
Atrophien mit und ohne chronischem
Darmcartarrh die Buttermilch sehr viel
Gutes leisten sehen und ich begrüsse die
Gelegenheit, jetzt für manche Fälle von
Darmcatarrh diese neue Nahrung warm
empfehlen zu können, nachdem ich meiner
Skepsis ihrer Verwendung gegenüber auf
der Hamburger Naturforscherversammlung
Ausdruck gegeben hatte. Das ist aber
sicher, bei acutem Brechdurchfall, auch
älterer Säuglinge, hat sie uns fast durch¬
weg im Stiche gelassen und das Befinden
der damit gefütterten Kinder, die sie in
der Regel gerne nahmen, verschlimmert,
anstatt verbessert, so dass wir von ihrer
weiteren Verwendung bei acuten Brech¬
durchfällen dauernd Abstand nahmen.
Ausser A.Schmidt(Bonn) undSchmid-
Monnardt (Halle) haben uns noch eine
grosse Zahl von Aerzten und speciell
Kinderärzten, unter diesen anerkannt her¬
vorragende Forscher (wie z. B. Selter-
Solingen), mündliche und schriftliche Be¬
richte über die vorzüglichen Erfolge
der Verwendung der Rahmgemenge und
insbesondere des Milchsomatose-Ramogens
bei acuten und chronischen Darmstörungen
kleiner Kinder zukommen lassen. Aber
auch einige wenige (2) Stimmen haben
sich gegen ihre Verwendung ausgesprochen;
wahrscheinlich haben die betreffenden Col-
legen die Präparate (es handelte sich um
Ramogen) in Anwendung gezogen in
Fällen, in welchen Fett in keinerlei Form
ertragen wurde und die Darreichung der
Rahmmischungen geradezu contraindicirt
waren, oder aber — es fehlt uns die ge¬
naue Kenntniss des Verlaufs der einzelnen
Fälle und der Art der Rahmgemengedar¬
reichung — die betreffenden Collegen
haben sofort Mischungen gegeben, die zu
concentrirt waren, d. h. die in Anbetracht
des Erkrankungsgrades zu viel Fett ent-
Digitized by Google
hielten und von dem insufficienten Ver¬
dauungsschlauch nicht verarbeitet werden
konnten. Bei dieser Gelegenheit will ich
nicht versäumen, wieder einmal darauf hin¬
zuweisen, dass gute Erfolge mit der Ra¬
mogen- und Rahmgemengedarreichung um
so sicherer erreicht werden, wenn die An¬
fangsmischungen in weitgehenden Verdün¬
nungen verfüttert werden. Von dieser Er¬
fahrung ausgehend beginne ich z. B. jetzt
bei heftigen Erkrankungen meist mit
Mischungen, die 1 Theil Ramogen und
25 Theile Wasser enthalten oder aber ich
gebe das natürliche Rahmgemenge No. 1
mit dergleichen oder auch mit der doppelten*
Menge Wasser verdünnt — selbstverständ¬
lich noch einmal und zwar am besten in
der Trinkflasche selbst kurz aufgekocht.
Werden diese starken Verdünnungen zwei,
drei Tage lang gut vertragen und erfolgen
wieder kothige Stühle, so enge ich bei
gleichen Nahrungsmengen die Grösse des^
Wasserzusatzes allmählich ein, bis ich beim*
natürlichen Rahmgemenge auf die Grund¬
mischung, d. i. Rahmgemenge No. 1 und
und bei den Ramogenverdünnungen auf
die Mischung 1:13 gelange, zu welch’ letz-
terer dann vorsichtig und stetig vorwärts¬
schreitend einwandsfreie Milch theelöffel-
weise zugesetzt wird. Wo ein Verdacht
auf nicht auskömmliche Fettverdauung vor¬
liegt, nehme ich auch — nach dem Vor¬
gang Biederts — von vornherein schon
1 —2 Löffel Milch auf 30 Löffel Wasser
hinzu (s. Biedert, K. E., S. 228 und Kinder¬
heilkunde, 12. Aufl., S. 267.)
Ich bin mit Herrn Prof. Biedert weit
davon entfernt, die Rahmgemenge als Pa-
nacee hinzustellen oder sie als Normalnah¬
rung zu bezeichnen, wie ja auch Herr Prof.
Biedert von jeher darauf aufmerksam ge¬
macht hat, dass es immer wieder Fälle
geben wird, wo die genannten Präparate
den gewünschten Erfolg vermissen lassen*
und in denen an die Stelle fetthaltiger
Nahrung vollständig entrahmte Milch oder
Abkochungen von Kindermehlen (z. B.
Theinhardt) treten müssen. Deshalb be¬
tont er auch wieder und immer wieder mit
Nachdruck die Forderung strengster Indi-
vidualisirung mit dem Hinweis auf die Vor¬
theile, die eine genaue Beobachtung und
besonders die Reactions- und mikrosko¬
pische Prüfung der Säuglingsfäces (siehe
Biedert, Kinderernährung im Säuglings¬
alter) dem Therapeuten an die Hand geben.
Alles in Allem gewähren die langjährigen
ausserordentlich günstigen Beobachtungen
mit den verschiedenen Rahmgemengen,
überhaupt, dann neuerdings die beträcht-
Qriginal from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
(F ebruar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
69
liehen Erfolge, die sich bei den guten und
ständig controllirten Herstellern des natür¬
lichen Rahmgemenges und insbesondere,
welche sich bei Dr. Sauers gewaltigem
Absatz des künstlichen Ramogens heraus¬
stellten, eine breite Möglichkeit, Vortreff-
diches damit zu erzielen.
Vielleicht stellt sich jetzt heraus, dass
gerade die Fälle, in welchen Rahmgemenge
nicht zum guten Ende führt, in das Bereich
•des Nährmittels gehören, das mit vermin¬
dertem Fett die Feingerinnung des Caseins
.zu Stande bringt, die sonst durch relative
Fetterhöhung im Rahmgemenge erzielt
wird, in das Bereich der Buttermilch. Um
nach dieser Richtung die Möglichkeit der
diätetischen Behandlung überall zu er¬
gänzen, wird jetzt in einzelnen Anstalten
für Rahmgemenge im Grossbetrieb die
Herstellung einer der Buttermilch analogen,
vielleicht sogar überlegenen, „Ferment¬
milch“ begonnen. Etwas Aehnliches be¬
zweckt ja die Pegninmilch, die, auch
nach einzelnen von uns gemachten Erfah¬
rungen, mit Recht von Siegert gepriesen
wird. Aber die Verwendung dieser ist
unbequem, weil vor jeder Darreichung der
Pegninzusatz zur unverdünnten Milch statt¬
enden und dann noch die Verdünnung be¬
werkstelligt werden muss, da die Pegnin-
wirkung in verdünnter Milch nicht zu Stande
kommt. Die Feingerinnung, die bei der
Pegninmilch bei jeder einzelnen Darreichung
erzielt werden muss, hat man in der Butter-
bezw. „Fermentmilch“ von vornherein
fertig.
Wir haben nun festgestellt, dass sehr
zweckmässig die Buttermilchdarreichung in
bereits sterilisirten Einzelflaschen geschehen
kann und haben das sowohl an Präparaten,
die im Spital im Einzelnen (Biedert), als
auch an solchen, die in einer Biedert’schen
Anstalt in grösserem Maassstab (Biedert
und Gernsheim) hergestellt wurden, ge¬
prüft und trefflich bewährt gefunden.
Dr. Sauer - Zwingenberg hat auch eben
eine Buttermilchconserve hergestellt, deren
Verwendbarkeit zu prüfen ist.
Die Schwierigkeiten, die in der Un¬
möglichkeit liegen, regelmässig eine zuver¬
lässige Buttermilch zu bekommen, werden
vielleicht mit einem Schlage beseitigt durch
Herstellung der „Fermentmilch“ nach
Biedert in jenen Anstalten. Diese Her¬
stellung der Fermentmilch wird in gleicher
Weise, wie die des Rahmgemenges den
betreffenden Anstalten überlassen werden
und sie wird eine Abrundung der An¬
wendung des Rahmgemenges als Nährheil¬
mittel ergeben für die wiederholt berührten
Fälle, in denen der Fettreichthum des
Rahmgemenges als weniger zuträglich sich
erweist. Es wird nur nöthig sein die Her¬
stellung der „Fermentmilch“ genauer zu
lehren, die Benutzung einer im Fettgehalt
verschiedenen Milch hierzu in Betracht zu
ziehen und sowohl die unvermischte Dar¬
reichung, als auch die Zusätze und Ver¬
dünnung für geeignete Fälle zu modi-
ficiren.
So ausgerüstet nach beiden Richtungen
der Verwendung fettreicher wie mehr oder
weniger fettarmer Gemische neben der na¬
türlichen Kuhmilch wird man dann viel¬
leicht zu einer allen Möglichkeiten gewach¬
senen und somit vollkommenen diätetischen
Behandlung der Verdauungsstörungen der
Säuglinge gelangen.
Ueber die obere Altersgrenze für die Behandlung
der angeborenen
Von Dr. Georg
Als ich vor etwa Jahresfrist meine |
ersten Mittheilungen über die von mir bei j
der angeborenen Hüftverrenkung erfolg- t
reich angewandte mechanische Behandlungs¬
weise veröffentlichte, gab ich mich der
Hoffnung hin, Nachahmer zu finden, die |
dann ihrerseits über ihre Erfahrungen be¬
richten würden. Nur so glaubte ich, dieser i
Behandlungsmethode ein unanfechtbares
Urtheil sichern zu können. Ich nehme an,
dass für Manchen der Zeitraum eines Jahres
ein noch zu kurzer ist, um schon mit dem
Ergebniss gemachter Erfahrungen hervorzu¬
treten, zumal die Erlernung der Technik
bis zu ihrer Beherrschung immerhin eine !
Hüftverrenkung.
Mtlller-Berlin.
gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Ich habe
inzwischen reichlich Gelegenheit gehabt,
Kollegen in die Methode einzuführen und
in der Technik auszubilden, und zweifle
ich nicht, dass dieselben ihre Erfahrungen
zur Zeit mittheilen werden. Vorausschicken
möchte ich, dass ich die Methode inzwischen
in manchen Punkten modificirt habe, so¬
wohl was den Streckapparat, als auch den
portativen Apparat anbetrifft, und dass seit¬
dem meine Erfolge noch günstigere ge¬
worden sind. Ueber dieselben, sowie über
die Statistik der von mir behandelten Fälle
gedenke ich mich in einer besonderen
Monographie zu äussern, die noch dadurch
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
70
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Februar
an Interesse gewinnen wird, dass darin
manche Fälle figuriren, die vorher ander¬
weitig ohne dauernden Erfolg unblutig ein¬
gerenkt waren. In diesen Fällen wird man
zu meiner Methode greifen müssen, da sie
zweifellos überall da, wo die Flachheit
oder völliger Mangel der Pfannenanlage den
Erfolg der unblutigen Einrenkung vereitelt,
als alleinige Erfolg versprechende Methode
in Betracht kommt. Für heute möchte ich
nur einen anderen Punkt behandeln, näm¬
lich die Altersgrenzen, innerhalb deren die
Behandlung der angeborenen Hüftverren¬
kung noch Erfolg verspricht. Man nimmt
jetzt allgemein an, dass die Behandlung
nicht vor dem zweiten und nicht nach dem
achten bei doppelseitiger, nicht nach dem
zehnten Lebensjahre bei einseitiger Luxation
Aussicht auf Erfolg bietet.
Ich möchte aus der Fülle meines Mate¬
rials hier nur eine Krankengeschichte kurz
skizziren:
Toni K., Rentmeisterstochter, geboren
am 10. August 1886, fing mit l 1 /^ Jahren zu
laufen an. Schon bei den ersten Gehver¬
suchen wurde bemerkt, dass sie linkerseits
hinkte. Mit dem vierten Jahre wurde sie in
das orthopädische Institut des Dr. T. ge¬
bracht, wo sie mit einem Schienenapparat
behandelt wurde, den sie ständig bis zu
ihrem siebenten Lebensjahre trug, ohne
dass sich der Gang besserte. Seitdem ist
sie nicht behandelt worden und hat sich
der Gang ständig verschlechtert.
Am 9. November 1901 — also 1574 Jahre
alt, trat sie in meine Behandlung.
Die Patientin ist ein schlankes, grosses
Mädchen, ihr Gang ist linkerseits stark
hinkend. Es besteht starke Lendenlordose
und bei jedem Schritt knickt der Ober¬
körper in der linken Lende stark ein. Der
Trochanter steht 7,5 cm über der Roser-
N61 aton'sehen Linie. Das Röntgenbild
bestätigt die Diagnose der angeborenen
Hüftverrenkung mit starkem Hochstand des
atrophirten Femurkopfes. Die Pfanne ist
ausserordentlich flach. Die Muskulatur der
Glutaeen ist stark geschwunden, die Adduk¬
toren sind stark verkürzt.
Die Patientin wird zunächst fünf Wochen
lang mit Massage und Streckung behandelt
und wird dann mit ihrem Gehapparat nach
Hause entlassen. Derselbe wird tagsüber
getragen und früh und Abends 20 bis
30 Minuten der Streckapparat angewandt.
Am 3. April 1902 stand der Kopf nur noch
3 cm. über der Roser-Nelaton’schen
Linie und am 15. September 1902 fühlte
man die Trochanterspitze genau in der¬
selben. Der Beinapparat wurde nun weg-
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gelassen und die Patientin nur mit dem
ßeckengurt nach Hause entlassen. Am
19. December 1902 konnte vollständige Hei¬
lung constatirt werden. Der Kopf steht fest
an seiner normalen Stelle und verschiebt
sich weder beim Gehen, noch durch passiven
starken Stoss nach oben. Die Patientin
geht ohne erhöhten Schuh vollkommen
normal, ohne zu hinken und ohne den
Oberkörper zu wiegen. Die Lendenlordose
ist verschwunden. Das Röntgenbild zeigt
die Stellung des Kopfes in der Gegend der
noch immer abgeflachten Pfanne.
Aus dieser Krankengeschichte ist er¬
sichtlich, dass man weit über die bisher
übliche äusserste Altersgrenze von zehn
Jahren hinausgehen kann. Allerdings möchte
ich nicht verhehlen, dass es mir immer
noch nicht gelungen ist, bei doppelseitiger
Verrenkung über das zehnte Jahr hinaus¬
vollkommene Heilung zu erzielen.
Bei einem vierzehnjährigen, doppelseitig'
luxirten Mädchen erreichte ich nach
17a Jahren eine Fixation des Kopfes 3 cm
über der Roser-Ndlaton’sehen Linie,
nachdem er bei Beginn der Behandlung:
6 cm oberhalb derselben gestanden hatte*
ferner bedeutende Verminderung der Lor¬
dose und wesentliche Besserung des Ganges,
mit fast völligem Verschwinden des Ober-
körperwiegens.
Ermuthigt durch diese Erfolge bei selbst
älteren Kindern bin ich noch weiter ge¬
gangen und habe z. B. ein junges Mädchei*
von 28 Jahren mit doppelseitiger Hüftver¬
renkung behandelt und zwar deswegen*
weil sich bei ihr unerträgliche Schmerzen,
in den Hüftgelenken eingestellt hatten. Ich*
habe die Patientin mehrere Wochen ge¬
streckt und ihr dann ein Stützcorsett mit
doppeltem Trochanterenbügel gegeben.
Durch letzteren wurden die Trochanteren-
und damit die Schenkelköpfe bei Belastung:
des betreffenden Beines am Hinaufgleiten
verhindert. Die Schmerzen verschwanden
sehr schnell und der Gang besserte sich
allmählich derart, dass, als ich die Patientin
mit dem Corsett und angekleidet in meiner
Vorlesung vorstellte, keiner meiner Hörer
eine doppelte Hüftverrenkung aus dem»
Gange zu erkennen vermochte.
Noch kürzlich habe ich mich auf Zu¬
reden des Hausarztes entschlossen, eine-
49 jährige, sehr corpulente Dame in Be¬
handlung zu nehmen, welche bei einem
Hochstand des Trochanters von 9 cm über
der Roser-Nelaton’schen Linie an be¬
trächtlichen Rückenschmerzen litt. Die
Schmerzen sind fast völlig verschwunden,
während der Gang sich merklich gebessert
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Februar
71
Die Therapie der Gegenwart 1903,
hat Dass hier von einer anatomischen
Besserung oder gar Heilung gar keine
Rede sein kann, ist selbstverständlich.
Immerhin kann man aber auch solchen
Patienten ungemein nützen.
Ich hatte die Absicht, zu zeigen, dass
auch in einem Alter, in welchem die un¬
blutige Einrenkung erfahrungsgemässkeinen (
Erfolg mehr verspricht, die Apparat-Be¬
handlung heranzuziehen sein wird, da man
durch dieselbe bei einseitiger Verrenkung
zuweilen noch Heilung, in sehr vielen |
Fällen und zwar einschliesslich der doppelten
Luxation Besserung des objectiven und
subjectiven Zustandes erreichen wird.
Dass durch die glänzenden Resultate
der unblutigen Einrenkungs-Methode, be¬
sonders nachdem sie von Lorenz und •
Hoffa in genialer Weise ausgebildet worden
ist, die Apparat-Behandlung etwas in
Schatten gestellt worden ist, ist begreiflich.
Dieselbe aber ganz zu ignoriren, würde
einen bedauerlichen Schaden für viele
Kranke bedeuten, nicht zum Wenigsten für
die grosse Anzahl derer, bei denen die
unblutige Einrenkung keinen dauernden
Erfolg hatte, und muss man deshalb
Häusner beipflichten, wenn er in einer
kürzlich erschienenen ausgezeichneten
Arbeit über die angeborene Hüftverrenkung
(Zeitschrift für orthopädische Chirurgie,
Band 10) sagt:
„Es ist neuerdings Mode geworden,
über die früher übliche Apparat-Behandlung
mit Extension im Umhergehen mittelst
Schienen - Hülsen - Apparates mit einem
geringschätzenden Lächeln oder wegwer¬
fenden Bemerkungen hinweg zu gehen."
Diese Geringschätzung der Apparat-
Behandlung ist um so weniger berechtigt,
als, wie ich gezeigt zu haben glaube, durch
die von mir angegebene Verbesserung der¬
selben ihre Leistungsfähigkeit noch wesent¬
lich erhöht worden ist.
Aus der dermatologischen Klinik der k. k. Universität Prag.
(Director: Prof. P. J. Pick.)
Zur Therapie der Gonorrhoe.
Von Dr. Walther Pick.
I. Albargin.
Die Anwendung adstringirender Mittel
in der Therapie der acuten Gonorrhoe,
welche lange Zeit die allgemein geübte
Behandlungsmethode darstellte, tritt gegen¬
wärtig mehr und mehr gegenüber der Be¬
handlung mit antiseptischen Lösungen
zurück, in dem Maasse, als die Neisser¬
sehe Grundsatz an Boden gewinnt, der
besagt, dass unser erstes Ziel die Beseiti¬
gung des Gonococcus sein muss, während
erst in zweiter Linie die Bekämpfung des
durch denselben hervorgerufenen Sympto-
mes, des Ausflusses, steht.
Die Thatsache, dass es nicht allein auf
eine adstringirende Wirkung ankommt,
und dass nicht alle Adstringenden dem
gonorrhoischen Process gegenüber gleich-
werthig sind, war schon vor Entdeckung
des Gonococcus auf empirischem Wege
erkannt worden, und wenn wir in Büchern
aus dieser Zeit lesen, dass durch die
Argentum nitricum-Injectionen der „speci-
fische" Katarrh des Trippers in einen
„avirulenten“ verwandelt würde, so liegt
hierin schon eine Würdigung der anti¬
septischen Wirkung dieses Mittels.
Nachdem die bactericide Kraft des
Argentum nitricum auch experimentell fest¬
gestellt war, ging das weitere Bestreben
dahin, Mittel zu finden, denen die unan¬
genehmen Nebenwirkungen des Arg. nitr.
nicht anhafteten, welche insbesondere nicht
durch das ei weisshaltige Urethralsecret
gefällt würden, und denen so der Weg auch
in die tieferen Schichten der Schleimhaut
; nicht verschlossen wäre. Von diesem Ge¬
sichtspunkte aus wurden die verschiedenen
organischen Silbersalze, insbesondere die
Eiweissverbindungen des Silbers in die
I Therapie eingeführt, und specieli dem von
! Neisser zuerst empfohlenen Silber-Nu-
cleoalbuminat, dem Protargol, gelang es
rasch, grosse Verbreitung zu finden, und
fraglos war das Protargol, wie ich aus
I mehrjähriger eigener Erfahrung bestätigen
kann, unter den vorhandenen Mitteln das
beste. Da es aber kein „Specificum" war,
ging die Suche nach einem solchen weiter,
und diesem Umstande verdanken wir das
Albargin, eine wasserlösliche Verbindung
von Arg. nitr. mit Gelatine, welche vor
dem Protargol einen grösseren Silber¬
gehalt, die Fähigkeit durch thierische Mem¬
branen zu dialysiren, neutrale Reaction,
endlich den Vortheil eines viel niedrigeren
Preises voraushaben sollte. Namentlich
dieser letztere, praktisch wichtige Factor
war es, der das Mittel empfahl, voraus¬
gesetzt, dass es alle anderen klinisch zu
fordernden Bedingungen (rasches Ver-
schwinden der Gonococcen aus dem Secret,
Reizlosigkeit) erfüllte.
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72
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Februar
Die bisher veröffentlichten günstigen
Erfahrungen, von denen ich nur die von
Bornemann, Chrzelitzer, Hackett,
H. G. Klotz nenne, schienen diese Er¬
wartungen zu rechtfertigen, und veran-
lassten auch uns, Versuche mit diesem
Mittel anzustellen.
Eine seiner Zeit von Dr. Schwarz,
gewesenem Secundararzt der Klinik, an-
gestellte Versuchsreihe ergab bezüglich
des Zeitpunktes des Verschwindens der
Gonococcen aus dem Secret folgende
Resultate:
Die Gonococcen schwanden:
Nach 4 Tagen in 2 Fällen
J) 6 n v ^ tt
1 4
» # n w ' »»
n ® tt n ^ 1 tt
„ 14 „ „9 „ acuter Gonorrhoe.
Die Behandlung geschah in diesen
Fällen in der Weise, dass den Patienten
mit Lösungen von 72000 bis 7sooo die
Urethra mittelst Katheters ausgespült
wurde. Bei den klinischen Patienten ge¬
schahen diese Spülungen 2 bis 3 Mal des
Tages, bei den ambulatorisch behandelten
nur 1 Mal täglich, doch machten diese
ausserdem noch selbst Injectionen mit
gleich concentrirten Lösungen.
Diese Versuche ergaben zwar schon
die Thatsache, dass das Mittel von den
meisten Patienten gut vertragen wurde
und ihnen keine Beschwerden verursache,
sie waren aber trotzdem nicht geeignet,
ein definitives Bild über das Mittel zu
geben, da die Einführung eines Katheters
und die Bespülung mit grösseren Flüssig¬
keitsmengen an und für sich schon eine
Wirkung auf die Schleimhaut ausüben
musste, die theils reizender, theils adstrin-
girender Natur sein konnte.
Ich selbst habe nun das Mittel bei
einer grossen Zahl, vorwiegend ambulato¬
risch behandelter Patienten, im acuten
Stadium der Gonorrhoe verwendet, und
konnte die völlige Reizlosigkeit des Mittels
sowie seinen beschleunigenden Einfluss auf
das Verschwinden der Gonococcen mit
Sicherheit feststellen.
Die Gonococcen schwanden:
Nach 3 Tagen
in
4 Fällen
4
tt
»»
2 „
„ 5
n
tt
5 „
„ 7
tt
tt
1 Fall
„ 10
n
rr
3 Fällen
„ 12
tt
tt
4 „
„ 14
„
7)
2 „
„ 17
tt
tt
2 „
„ 18
tt
1t
1 Fall
Wie hieraus ersichtlich, schwanden die
Gonococcen durchschnittlich am achten
Behandlungstage. Hierbei muss der Um¬
stand in Betracht gezogen werden, dass
gerade das Krankenmaterial der Ambulanz
ein sehr unzuverlässiges ist in Bezug aut
die Durchführung ärztlicher Verordnungen,
und man wird auch für die grosse Zahl
jener Patienten, welche bei einem ein¬
maligen Besuch Albargin verordnet be¬
kamen und dann aus der Behandlung fort¬
blieben, eine rasche Besserung der Er¬
scheinungen annehmen dürfen, da erfah-
rungsgemäss bei einer Verschlimmerung
ihres Zustandes die Patienten den Arzt
immer wieder aufsuchen.
Die Kranken erhielten die Weisung,
3 mal täglich Injectionen von 5 Minuten
Dauer vorzunehmen, anfangs mit einer
74 % Lösung, nach einer Woche mit einer
1 h %• nac h einer weiteren Woche mit
einer 1 °/o Lösung. Die Patienten klagten
durchwegs über leichtes Brennen, das
ihnen die Injectionen, aber nur während
der ersten 2 bis 3 Tage, verursachten,
das während der Injection auftrat und mit
der Entleerung der Flüssigkeit aus der
Harnröhre aufhörte. Ein so hochgradiges,
direct schmerzhaftes Brennen, das die
Patienten gezwungen hätte, mit den In¬
jectionen auszusetzen, trat niemals ein,
wohl aber haben wir selbst in den drei
letzten Fällen der obigen Zusammenstellung
ein zeitweises Aussetzen der Therapie an¬
geordnet, als es zu leichten Reizerschei¬
nungen seitens der Ur. posterior gekommen
war. Nach Abklingen dieser Reizerschei¬
nungen konnten wir auch in diesen Fällen
Albargin neuerlich verwenden, ohne unan¬
genehme Nebenwirkungen zu bemerken.
Stärkere als 1 °/o Lösungen wurden
nicht verwendet, nur mit der Dauer der In¬
jection wurde auf 10 Minuten gestiegen,
und auch diese protrahirten Injectionen
wurden ohne wesentliche subjective Be¬
schwerden ertragen, wenn sie auch einen
starken desquamativen Katarrh, mit reich¬
lich Epitiielien und Fibrin im Secret, zur
Folge hatten.
Der Verlauf einer acuten Gonorrhoe
unter Albarginbehandlung stellt sich dem¬
nach so dar, dass wir unter der 74 %’
Lösung ein baldiges Seltenerwerden oder
auch vollkommenes Verschwinden der
Gonococcen eintreten sehen, ohne dass
sich an der sonstigen Qualität des Secretes,
betreffend Leucocyten, Epithelien und
Fibrin, eine wesentliche Aenderung zeigen
würde. Unter der 7>%*Lösung nimmt
zumeist der Gehalt an Fibrin und Epithelien
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F ebruar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
73
im Secret zu, wobei sich aber stets noch
reichlich Leucocyten finden. Die 1 o/ 0 -
Lösung endlich, von welcher Gebrauch zu
machen, man nur selten genöthigt ist, wirkt,
wie bereits erwähnt, stark adstringirend.
Auf welcher der drei Stufen wir die
Gonococcen zum Verschwinden bringen,
ist individuell verschieden und lässt sich
demnach nicht bestimmen; was sich aber
mit voller Bestimmtheit sagen lässt, ist,
dass, wenn wir die Gonococcen zum Ver¬
schwinden gebracht haben, dieser Effect
ein dauernder ist, die Gonococcen dauernd
fortbleiben. Es ist das m. E. ein nicht
genug zu schätzender Vorzug des Mittels,
der möglicherweise mit seiner hohen Dia-
lysirbarkeit zusammenhängt und von wel¬
chem wir uns in jedem Falle überzeugen
konnten. Es genügt, wenn wir einmal so
weit sind, das Mittel auszusetzen und unter
allgemein diätetischem Verhalten der Harn¬
röhrenschleimhaut Zeit zur Restitutio ad
integrum zu lassen, welche in den Fällen
acuter Gonorrhoe niemals ausbleibt.
Wir besitzen demnach im Albargin ein
Antigonorrhoicura, das in Bezug auf
Raschheit der Wirkung und Reizlosigkeit
sich den besten bisher bekannten
Mitteln gleichwerthig erweist, bezüg¬
lich der Sicherheit in der Dauer der Wirkung
dieselben scheinbar noch übertrifft, so
dass wir dessen Verwendung in allen Fällen
acuter Gonorrhoe angelegentlichst em¬
pfehlen können.
II. Chromsäure - Argentum nitricum.
In den Fällen subacuter und chronischer
Gonorrhoe, und diese sind es, welche das
Hauptcontingent der zur Behandlung kom¬
menden Urethritiden bilden, kommen wir
mit einer antiseptischen Therapie nicht
zum Ziele, hier müssen die Adstringenden
einsetzen, und für diese Fälle brachte ich,
angeregt durch die guten Erfolge, welche
die von Boeck empfohlene Methode bei
der Behandlung anderer Schleimhautaffec-
tionen, insbesondere luetischer Plaques er-
giebt, Chromsäure und Argentum nitricum
combinirt zur Anwendung.
Die Art der Wirkung dieses Mittels ist
noch gänzlich hypothetisch, und nur em¬
pirisch ist festgestellt, dass die gleichzeitige
Anwendung dieser Mittel, die Wirkung
jedes einzelnen allein angewendet über¬
trifft, was möglicherweise auf der Bildung
von Chromsilber im Gewebe beruht. Nach
Unna’s Ansicht ist es die frei werdende
Salpetersäure, welche die Wirkung dieser
Aetzmittel bezüglich der „Häutchenbildung“
noch verstärkt.
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Die Resultate, die mir diese combinirte
Therapie bei der Behandlung der subacuten
und chronischen Gonorrhoe gegeben, er-
muthigen mich, dieselben mitzutheilen und
die Anwendung dieser Therapie zu em¬
pfehlen.
Es wurden stets beide Mittel in gleicher
Concentration verwendet, mit 1 :4000 be-.
gönnen und bald auf 1 : 3000 und später
auf 1 : 2000 gestiegen. Die Kranken wur¬
den angewiesen, früh und Abends, dann
nur Abends, endlich jeden zweiten Abend
Injectionen vorzunehmen in der Art, dass
sie nach dem Uriniren zunächst eine Ein¬
spritzung mit der als Injection I bezeich-
neten Chromsäurelösung machten, und die¬
selbe durch 1—3 Minuten in der Harnröhre
hielten. Dann wurde die Spritze einige
Male mit Wasser ausgespült (für jede der
beiden Lösungen eine eigene Spritze zu
verwenden verbot sich aus practischen
Gründen) und hierauf die Injection des als
Injection II signirten Argentum in gleicher
Dauer vorgenommen. Die Chromsäure
machte den Patienten gar keine Beschwer¬
den, wohl aber verursachte die nachfol¬
gende Argentuminjection zuweilen heftiges
Brennen, wie auch die Injectionen in eini¬
gen Fällen die vorhandenen Entzündungs¬
erscheinungen steigerten; doch konnte
meist durch Verminderung der Concentra¬
tion und der Dauer der Einwirkung eine
Gewöhnung an das Mittel erzielt werden.
Wo wir diese Gewöhnung nicht erreichen
konnten, wo wir immer wieder durch die
Injectionen acute Exacerbationen entstehen
sahen, dort setzten wir diese Art der Be¬
handlung nicht weiter fort, da uns die Er¬
fahrung lehrte, dass wir nach Abklingen
der Exacerbation den Status quo ante
wieder vorfinden würden. Es war dies jedoch
nur eine Minderzahl der Fälle, in der über¬
wiegenden Mehrzahl machte sich nicht eine
die Secretion steigernde, sondern eine aus¬
trocknende Wirkung auf die Schleimhaut
geltend in der Art, dass etwa noch vor¬
handene Secretion versiegt, die Fäden im
Harn an Zahl bedeutend abnehmen und in
denselben die Menge der Leucocyten mehr
und mehr verschwindet, während die Epi-
thelien, an Zahl rasch zunehmend, allmäh¬
lich allein das Feld beherrschen. Nach
Aussetzen der Behandlung klingen auch
die Erscheinungen dieses desquamativen
Katarrhs ganz oder theilweise ab, die Fäden
im Harn verschwinden.
Wir haben es hier also mit einer hoch¬
gradig adstringirenden Wirkung zu thun,
welche aber nicht gleichzeitig, wie wir
dies bei allen anderen Adstringenden zu
io
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
74
Die Therapie der Gegenwart 1903*
Februar
sehen gewohnt sind, mit einer starken
Reizwirkung einhergeht; und auf diese j
Reizlosigkeit ist besonders zu achten: sie
ist ein Indicator dafür, ob wir mit den In- i
jectionen fortfahren sollen oder nicht, nicht |
etwa weil wir befürchten müssten, durch
Fortsetzung der Behandlung Complicationen j
hervorzurufen — solche konnte ich in
keinem Falle beobachten —, sondern weil
die Wirkung des Mittels eine ganz eclatante,
schon nach wenigen Tagen eintretende
sein muss, oder sie tritt überhaupt nicht ein.
Das Hauptgewicht werden wir auf eine
stricte Indicationsstellung zu legen haben
und werden das Mittel nicht wahllos in
jedem Falle und bei jedem Stadium der
Erkrankung anwenden dürfen. Bei acuter i
Gonorrhoe, bei Complicationen der Gonor¬
rhoe, endlich in jenen Fällen, wo sich zwar
keine Gonococcen mehr finden, wo aber
noch immer reichliche Eitersecretion be¬
steht, erscheint das Mittel contraindicirt.
Nur in jenen Fällen, wo die acuten Ent- |
Zündungserscheinungen abgeklungen sind,
wo sich nur mehr schleimige Secretion,
wo sich ein Morgentropfen vorfindet, wo j
der diffuse Entzündungsprocess sich auf
mehr circumscripte Herde beschränkt hat,,
nur in diesen Fällen können wir von dem
Mittel Gebrauch machen.
Wenn dies auch eine starke Einschrän¬
kung der Indicationen zu bedeuten scheint,,
so ergiebt sich in praxi doch, dass diese
Fälle gerade die überwiegende Mehrzahl
der zur Behandlung kommenden Urethri-
tiker bilden und dass gerade sie sich gegen¬
über der Therapie am meisten refraetär
verhalten.
Mir hat nun gerade bei der Behandlung
dieser Fälle die combinirte Chromsäure-
Argentumtherapie ausgezeichnete Dienste
geleistet, insofern sie die Erscheinungen
rasch behebt, in den ungünstigsten Fällen
den leucocytären Katarrh in einen epi¬
thelialen verwandelt. Und wenn ich auch
durchaus nicht auf dem Standpunkte stehe r
dass die Gonorrhoe erst dann als geheilt
anzusehen ist, wenn der letzte Leucocyt
aus dem Secrete geschwunden ist, so er¬
schien mir doch die Empfehlung eines
Mittels, welches den, Patienten undAerzte
in gleicher Weise beunruhigenden post¬
gonorrhoischen Katarrh in günstiger Weise
beeinflusst, hinreichend berechtigt.
Zusammenfassende Uebersicht.
Robert Koch: Ueber die
ln einem Ende vorigen Jahres gehal¬
tenen und kürzlich im Druck erschienenen
Vortrage 1 ) theilt Robert Koch seine An¬
schauungen über die Verbreitungsweise des
Typhus und seine Bekämpfung mit. Die¬
selben sollen hier ausfürlich wiedergegeben
werden, weil Koch mit der ihm eigenen
Energie sogleich die praktischen Conse-
quenzen derselben gezogen und auf ihrer
Grundlage den Kampf gegen den Typhus
in verschiedenen Gebieten Deutschlands
bereits aufgenommen hat.
Der Typhus hat in den letzten Jahr¬
zehnten in unseren Grossstädten und selbst
in den Mittelstädten ganz erheblich ab¬
genommen, stellenweise ist er sogar fast
verschwunden. Die Ursache dieses erfreu¬
lichen Rückganges ist, wie allgemein ange¬
nommen, die Besserung der sanitären Ver¬
hältnisse, insbesondere die Regelung der
Trinkwasserversorgung und der Kanali-
*) Die Bekämpfung des Typhus. Vortrag
gehalten in der Sitzung des wissenschaftlichen Senats
bei der Kaiser Wilhelms-Akademie am 28. November
1902 von Prof. Dr. Robert Koch. (Veröffent¬
lichungen aus dem Gebiete des Militär-Sanitätswesens.
Heft 21. Verlag von A. Hirschwald. Berlin 1903.)
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Bekämpfung des Typhus.
sation. Die Fäkalien sind es, welche die
Typhusbacillen aus dem menschlichen Kör-
| per in die Aussenwelt schaffen und nur*
| überallhin verbreiten; werden sie sofort
i aus den Häusern herausgespült und durch
| die Kanäle oft auf grosse Entfernungen
I abgeleitet, so kommen sie nicht mehr mit
j dem Menschen in Berührung und können
| zu Neuinfectionen keinen Anlass geben: so
i muss der Typhus mehr oder weniger auf-
| hören. — Eine unvermeidliche Schatten¬
seite dieser Einrichtungen ist es, dass
Störungen in der Wasserversorgung und
Kanalisation sogleich auf ungezählte Indi-
| viduen ihre Rückwirkung üben und zu
I Massenerkrankungen an Typhus Veran¬
lassung geben können, wie dies in der
letzten Zeit mehrfach vorgekommen ist.
Diese Verhältnisse aber gelten nur für
; die financiell leistungsfähigen Städte und
grösseren Gemeinden, auf dem Lande
sind die Zustände andere. Hier sieht es
j mit der Wasserversorgung trübe aus und
I trüber noch mit der Beseitigung der Faeces.
| Erstere wird sich nach Koch’s Ansicht in
J nicht zu ferner Zeit erheblich verbessern
i lassen, bezüglich der letzteren aber liegen
Original fro-m
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
Februar
75
Die Therapie der Gegenwart 1903.
die Aussichten auch für die Zukunft un¬
günstig. Denn die Fäkalien sind auf dem
Lande von ganz anderer Bedeutung als in
der Stadt; sie müssen als Dungstoffe dienen
und werden deswegen sorgfältig gesammelt
und auf die Felder geschafft; sie kommen
dann leicht wieder mit Gemüse und der¬
gleichen in die Haushaltungen zurück oder
sie können in Flussläufe, Brunnen u. s. w.
hinein gelangen. Ueberhaupt wird von den
Landbewohnern, denen die Rücksichten,
welche die dicht wohnenden Städter auf¬
einander nehmen müssen, fremd sind, mit
den Fäkalien sehr ungenirt umge¬
gangen: Man findet sie überall, auf den
Wegen, neben den Häusern, von wo sie
mit den Füssen der Menschen sehr leicht
wieder in die menschlichen Wohnungen
verschleppt werden. Von einem typhus¬
durchseuchten Dorfe in der Umgegend
Triers schreibt Koch: „Ich habe mich
zwar selbst davon überzeugen können, dass
Abtritte vorhanden sind, die gewöhnlich
am Rande des Düngerhaufens aufgestellt
oder etwas darüber hinweg gebaut sind.
Ich glaube auch, dass die Erwachsenen die
Abtritte benutzen, die Kinder thun dies
aber nicht. Man konnte regelmässig die
Beobachtung machen, dass unmittelbar
neben der Hausthür ein Kothhaufen neben
dem andern lag, welche von Kindern her¬
rührten, so dass es eigentlich gar nicht
anders möglich war, als dass, wenn unter
diesen Fäkalien sich Typhusentleerungen
befanden, sie an den Füssen der Kinder
wieder in das Haus hineingeschleppt wur¬
den.“
Auf diese Weise wird es erklärlich,
dass der Typhus auf dem Lande noch die¬
selbe Bedeutung behalten hat, wie früher;
einen Rückgang der Erkrankungszahl, wie
wir ihn von den Städten kennen, hat Koch
bei seinen Nachforschungen auf dem Lande
nicht constatiren können.
Besondere Bedeutung hat dies für die
Armee, deren Verhältnisse Koch mit Rück¬
sicht auf den Ort seiner Publication (siehe
die Anmerkung S. 74) besonders ins Auge
fasst. Sie kommt mit den Typhusherden
auf dem Lande schon in Friedenszeiten in
regelmässige Berührung — es ist eine be¬
kannte Thatsache, dass nach den Manövern
die Truppen fast regelmässig Typhus mit
in die Garnison bringen; bedenklicher
würde diese Gefahr für den Kriegsfall sich
gestalten.
Deshalb muss der Kampf gegen den
Typhus auch auf dem Lande aufgenommen
werden. Den rationellen Feldzugsplan für
diesen Kampf entnimmt Koch seinen
I Forschungen und Erfolgen bei zwei anderen
Infectionskrankheiten, bei der Cholera und
der Malaria. Bei diesen beiden Krankheiten
ist er von dem früheren, gewissermaassen
mehr defensiven Verhalten (Schutz vor der
Ansteckung durch hygienische Maassnah¬
men: Reinlichkeit, Sorge für gutes Trink¬
wasser, Kanalisation etc.) zur Offensive
übergegangen: Es wurde mit Hilfe der
bakteriologisch - diagnostischen Methoden
jeder einzelne Erkrankungsfall, auch der
klinisch nicht in Erscheinung tretende, auf¬
gesucht und dann unschädlich — d. h. in
hygienischem Sinne unschädlich — ge¬
macht, bei der Cholera durch Isolirung der
Kranken und Desinfection ihrer Abgänge^
bei der Malaria durch zweckmässige Chinin¬
therapie (Blutdesinfection). Der Durchfüh-
I rung dieser Principien schreibt es Koch
I zu, dass die Cholera, obgleich sie von
| allen Seiten her und häufig in das Land*
' geschleppt wurde, seit der Hamburger Epi¬
demie in Deutschland erloschen ist, und
dass er berüchtigte Malariaherde, wie z. B.
I Stephansort auf Neu-Guinea, innerhalb we-
i niger Monate nahezu malariafrei machen
| konnte.
Zwei Bedingungen sind also zur Be¬
kämpfung einer Infectionskrankheit zu er-
! füllen: Wir müssen im Stande sein, erstens
den Infectionsstoff leicht und mit
* Sicherheit aufzufinden, und zwei-
i tens, ihn zu vernichten. Es fragt sich
I nun, ob diese beiden Bedingungen für den
1 Typhus erfüllt werden können,
j Bezüglich der ersten Bedingung, der
frühzeitigen und sicheren Diagnose, war
f >dies bisher nicht der Fall. DieWidal’sche
| Reaction, so werthvoll sie sich erwiesen
I hat, giebt meist erst in der zweiten Woche
| des Typhus ein sicheres Resultat, und der
I Nachweis der Bakterien im Stuhl war bisher
bekanntlich wegen der ausserordentlich
schwierigen Trennung der Typhusbacillen
von den Colibakterien für praktische Zwecke
kaum brauchbar, bestenfalls aber erst in.
einer Reihe von Tagen durchführbar.
Koch hat nun im Institut für Infections¬
krankheiten nach dieser Richtung hin zahl¬
reiche Untersuchungen anstellen lassen und
von v. Drigalski und Conradi ist dabei
ein Verfahren ausgearbeitet worden, das
den Kochschen Anforderungen entspricht*
indem es gestattet, in der Zeit von
20—24 Stunden eine ganz zuver¬
lässige Diagnose zu stellen. Es ist
unnöthig, das Verfahren hier des Näheren
zu schildern, da die bakteriologische Dia¬
gnose des Typhus nach Koch’s Intentionen
nicht dem ärztlichen Praktiker zufallen.
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10 *
Original frnm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
16
Februar
Die Therapie der
sondern in speciellen Instituten von beson¬
ders vorgebildeten Bakteriologen geübt
werden soll. Das Wesentliche an dem
Drigalski'sehen Verfahren ist ein beson-
* derer Nährboden, der die Typhusbacillen
im Wachsthum begünstigt, einen grossen
Theil der Darmbakterien dagegen hemmt
{im Gegensatz zu den bisherigen Methoden,
welche typhushemmende Zusätze in den
Nährmedien aufweisen — so El sn er's Kar¬
toffelgelatine, Piorkowski’s Harngelatine);
.zur Scheidung der Coliarten von den
Typhusbacillen wird die Säurebildung be¬
nutzt, die beim Typhus bekanntlich erheb¬
lich geringer ist, als bei Coli: der mit
‘ Lakmus gefärbte Nährboden ist in seiner
Reaction so abgestimmt, dass die Typhus-
colonien noch alkalisch bleiben, während die
Colicolonien schon sauer sind; daher er¬
scheinen die Typhuscolonien blau, die
Colicolonien roth. — Koch glaubt, dass
<ias Drigalski-Conradi’sche Verfahren
für den Typhus fast dasselbe leistet, wie
die bekannte bakteriologische Diagnose der
Cholera für die Ermittelung der Cholera.
Er hat mittelst desselben die Diagnose auf
Typhus in einer Reihe von Fällen schon
in den allerersten Tagen stellen können,
•und zwar nicht nur bei ausgesprochen Er¬
krankten, sondern auch bei bloss Verdäch¬
tigen und bei scheinbar Gesunden in
<ier Umgebung der Typhuskranken,
die selbst klinisch kaum erkennbare oder
überhaupt keine Symptome boten. Mithin
erfüllt das Verfahren das erste der oben
genannten beiden Postulate: Es ist mög¬
lich, die Typhusdiagnose frühzeitig und
sicher zu stellen, den Typhusbacillen in den
inficirten Menschen nachzuspüren.
Die zweite Frage ist: Lassen sich die
aufgefundenen Typhusfälle auch unschäd¬
lich machen? Die Dejectionen sind natür¬
lich leicht zu vernichten, von dem er¬
kannten Fall braucht also bei genügender
Sorgfalt kein Infectionskeim lebend in die
Aussennatur zu gelangen. Aber kommen
die Typhuskeime denn nur im Menschen
vor, mit andern Worten: Ist der Typhus¬
bacillus ein obligater Parasit? Das
ist die Frage, um die sich alles dreht.
Koch bejaht sie. Während früher ange¬
nommen wurde, dass der Typhusbacillus
im Wasser lange sich hält, dass er im
Boden, wenn er mit dem Wasser in den¬
selben hinein gelangt, Monate und Jahre,
ja Jahrzehnte und länger leben bleibt, ist
Koch von dieser Auffassung, wie er an-
giebt, je länger, je mehr zurückgekommen.
Es ist ihm aufgefallen, als er häufiger in-
ficirte Brunnen untersuchte, um die rings
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Gegenwart 1903.
herum eine Anzahl von Menschen erkrankt
war, dass nur ein einziges Mal Typhus¬
bacillen darin nachweisbar waren. Und
ähnlich ist es ihm in Bezug auf den Boden
gegangen; „die Typhusbacillen können sich
vielleicht — schreibt Koch — in einem
feuchten Boden, wenn sie etwa mit Dung¬
stoffen u. s. w. dahin gelangten, ein paar
Wochen, selbst einige Monate halten; es
ist möglich, dass sie sich einen Winter hin¬
durch auf den Feldern lebend erhalten
können, wenn sie durch Latrineninhaltu.s.w.
dahin gekommen sind, aber viel länger
nicht.“
Dementsprechend fand Koch bei den
kleinen Typhusepidemien auf dem Lande,
die durchsichtig sind, regelmässig, dass die
einzelnen Fälle unter einander in Verbin¬
dung stehen, dass sie Ketten bilden, indem
ein Fall vom andern abhängt. Er zieht
daraus den Schluss: dass auch die Typhus¬
bacillen, analog den Cholerabacillen und
den Malariaparasiten, obligate Parasiten
sind, „die sich vielleicht etwas länger
ausserhalb des menschlichen Körpers hal¬
ten können, namentlich im Boden, als die
Cholerabakterien, aber schliesslich doch
auch zu Grunde gehen.“
Beide Bedingungen, die ihm zur Be¬
kämpfung einer Infectionskrankheit erfor¬
derlich scheinen, sieht Koch somit für
den Typhus als erfüllt an, und er ist
daraufhin im vorigen Jahre bereits zu
einem praktischen Versuch der Typhus¬
bekämpfung übergegangen. Derselbe wurde
in Trier und dessen Umgebung angestellt,
wo viel Typhus vorhanden war. In einer
kleinen Gruppe von Dörfern aut dem so¬
genannten Hochwalde unweit von Trier
wurde ein richtiger Typhusherd festge¬
stellt; in Zeit von mehreren Monaten wur¬
den von den dortigen Aerzten im Ganzen
8 Typhusfälle angemeldet. Als Koch
nun mit Hilfe mehrerer ihm zur Verfügung
gestellter Militärärzte an Ort und Stelle
in der oben angedeuteten Weise den
Typhusfällen nachspürte — die Leicht¬
erkrankten und die Verdächtigen, die ge-
sammte Umgebung der Kranken wurde
bakteriologisch untersucht; Geistliche und
Lehrer, besonders auch die Schulversäum-
nisslisten, halfen zur Entdeckung der
Typhusverdächtigen — stellte er im
Ganzen 72 Typhusfälle fest, die
innerhalb der Zeit, wo jene 8 Fälle
gemeldet waren, vorgekommen sind.
Von diesen hatten die grosse Mehrzahl
sich nie an einen Arzt gewendet — daher
auch den Aerzten aus der geringen Zahl
der gemeldeten Fälle nicht der geringste
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Februar
77
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Vorwurf erwächst — was zum Theil darin
seine Erklärung findet, dass unter den
72 Typhusfällen sich nicht weniger als
52 Kinder befanden (davon 3 gemeldet).
Diese überwiegende Betheiligung der Kin¬
der erklärt Koch einmal mit der bei der
endemischen Verseuchung der Gegend
sich allmählich entwickelnden Immunität
der Erwachsenen, dann aber mit den be¬
sonderen Lebensgewohnheiten der Kinder. !
lieber ihre Nachlässigkeiten bez. der
Defäcation ist oben bereits berichtet; er¬
wähnt sei noch, dass die Schulkinder,
die viel untereinander verkehrten, einen
besonders hervorragenden Antheil an der
Verschleppung der Krankheit hatten. In
allen 72 Fällen konnte die Ansteckung
durch Contact, d. h. die directe Ueber-
tragung der Infection von einem Menschen
auf den andern, festgestellt werden; von
einer Beziehung zum Wasser war nicht
die Rede, eine Brunneninfection lag nicht
vor. Die Fälle in einem Hause bildeten
immer eine Kette, es erkrankte eine Person,
dann 2 oder 3 Wochen später wieder eine,
einige Wochen später noch eine und so
weiter.
Nach Feststellung sämmtlicher vorhan¬
denen Fälle wurde eine Döckern’sche
Baracke errichtet, in welche die 32 schwer¬
sten Fälle aufgenommen wurden. Die in
den Häusern verbleibenden Fälle wurden
durch angenommene Krankenschwestern
und einen Desinfector überwacht, welche
für die richtige Durchführung der ange¬
ordneten Isolirung und Desinfection Sorge !
trugen. Die nur Anfangs etwas miss¬
trauischen Leute setzten diesen Bemühun¬
gen, da ihnen nicht die geringsten Kosten
erwuchsen, bald keinen Widerstand ent¬
gegen. Kein Kranker wurde aus der Be¬
obachtung entlassen, ehe nicht drei auf
einander folgende Untersuchungen das
Fehlen von Typhusbacillen erwiesen hatten.
Das Resultat war, dass nach drei
Monaten überhaupt keine Typhus¬
bacillen mehr zu finden waren; die
Kranken waren geheilt, frische Fälle
kamen nicht mehr vor, der Typhus
war also ausgerottet. Dem Einwand,
dass er auch ohne die geschilderten Be¬
mühungen geschwunden wäre, begegnet
Koch mit dem Hinweis, dass in vielen
anderen Dörfern des Hochwaldes, die unter
ganz ähnlichen oder fast den gleichen
Verhältnissen leben, in derselben Zeit der
Typhus nicht geschwunden ist, sondern
nach wie vor in gleicher Stärke haust.
Auch ist der Typhus in den behandelten
Dörfern seither, d. i. etwa V 2 Jahr, nicht
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wieder gekommen, auch in den Monaten
August und September nicht, in denen er
sonst am stärksten auftrat und auch im
vorigen Jahre in der ganzen übrigen
Gegend zugenommen hat.
Koch sieht danach seinen ersten Ver¬
such als gelungen an; derselbe erweist
nach seiner Meinung, dass es in der That
keine andere Quelle für die Typhusinfection
giebt, als den Menschen und dass sich eine
offensive Typhusbekämpfung, ganz nach
dem Schema der Cholerabekämpfung,,
durchführen lässt.
Der Versuch soll nun in grösseren Ge¬
bieten wiederholt werden. Dazu ist ausser
grossen Geldmitteln auch die nöthige Zahl
von Aerzten erforderlich. Die letzteren
bedürfen besonderer Schulung und müssen
ihre ganze Zeit oder doch ihre Haupt-
thätigkeit der Seuchenbekämpfung widmen.
Die praktischen Aerzte und selbst die
Kreisärzte können deshalb nach Koch’s
Ansicht nicht für diese Aufgaben heran¬
gezogen werden, es bedarf vielmehr be¬
sonderer Institute, welchen die Bekämpfung
des Typhus und daneben event. auch
anderer Seuchen, z. B. der Ruhr, zu über¬
tragen ist. Solcher Institute hat Koch
bereits 3 ins Leben gerufen, das erste in.
dem grossen Industriegebiete des Ruhr¬
kohlenbeckens, wo der Typhus besonders
stark endemisch herrscht und vor etwas
über einem Jahre durch Verunreinigung
der Wasserleitung eine Epidemie aus¬
brach, die Tausende von Fällen umfasste.
Dort wurde aus privaten Mitteln ein Institut
gegründet, das jetzt etwas über V 2 Jahr in
Thätigkeit ist. Ein zweites und drittes
wurde vor Kurzem aus öffentlichen Mitteln
in zwei anderen grossen Industriecentren*
in Saarbrücken und in Diedenhofen in der
Nähe von Metz, gegründet.
Zum Schluss hebt Koch noch hervor,
dass die Principien, nach denen hier die
Bekämpfung des Typhus durchgeführt
wurde, ganz allgemein gültige sind. Wie
sie für die Cholera, die Malaria und jetzt
für den Typhus sich bewährt haben, wür¬
den sie auch für die Ruhr anwendbar sein ;
„ferner würde die Diphtherie auf diese
Weise sicher auszurotten sein, und nament¬
lich müssten sich diese Grundsätze auf die
Tuberkulose an wenden lassen!“
Wir dürfen dies Referat wohl mit dem
Ausdruck der zuversichtlichen Hoffnung
schliessen, dass die Weiterbefolgung des
von Koch entwickelten Plans die Zahl der
Typhuskranken ganz erheblich einschränken
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
18 Die Therapie der
wird. Was in den Städten Kanalisation
und die Wasserversorgung, das wird auf
dem Lande die Koch’sche Offensive, d. h.
die Ueberwachung der Dejectionen der Er- i
krankten und ihrer Umgebung leisten. Ob 1
dabei das von Koch empfohlene neue j
Culturverfahren eine entscheidende Rolle |
spielen, bezw. ob es sich dauernd bewähren
wird, mag dahin gestellt bleiben; bisher hat
ja leider jede neue anscheinend unfehlbare
Methode zur schnellen und sicheren Früh¬
diagnose des Typhus doch immer in ein¬
zelnen Fällen versagt. Die Hauptsache bleibt
die Aufsuchung der Typhusherde, die syste- (
matische Desinfection der Dejectionen |
aller Personen, die mit dem Kranken zu
thun hatten. Es ist kein Schade, wenn
dabei auch manchmal Dejectionen sterili-
sirt werden, die vielleicht hier und |
da den Krankheitserreger nicht enthielten. I
Bei dem unbestrittenen Ansehen, dessen |
sich zum Glück Robert Koch bei den I
maassgebenden Behörden erfreut, ist
wohl zu hoffen, dass die grossen Mittel,
welche zur Ausdehnung des Koch'sehen 1
Feldzugs gegen den ländlichen Typhus j
nötig sind, in Zukunft in steigenden Maasse j
bereit gestellt werden, und dass damit
immer mehr Quellen verstopft werden, aus |
denen der Typhus wieder in die assanirten j
Städte eingeschleppt werden kann. I
Gegenwart 1903 Februar
Für die practischen Aerzte, die an der
Koch'sehen Seuchenbekämpfung keinen
activen Antheil nehmen können, ergiebtsich
aus der Veröffentlichung Kochs vor allem
der neue Gesichtspunkt, auch der Umgebung
der Typhuskranken und namentlich den
Kindern erhöhte Aufmerksamkeit zu
schenken; es wird besonders darauf zu
achten sein, dass deren Dejectionen stets
in den Abtritt entleert und in ausgie¬
biger Weise mit Desinficientien behandelt
werden.
Es versteht sich von selbst, dass die
aus der Erkenntniss des Typhusbacillus
gefolgerte persönliche Prophylaxe da¬
durch nicht überflüssig gemacht wird und
dass die grösste Sauberkeit jedes Einzelnen,
der mit Typhuskranken zu thun hat, nach
wie vor das beste Mittel gegen Infection
und Verbreitung der Seuche bleibt. Aber
gerade dafür müssen wir Koch Dank sagen,
dass er durch seine feurige Energie Maass¬
regeln durchzusetzen weiss, welche mit
der Förderung der öffentlichen Hygiene
auch die Einzelnen zur Hygiene erziehen.
Wie viel glücklicher und erfolgreicher wird
das Wirken der Aerzte an solchen Orten
sein, an welchen die Bevölkerung durch
die Koch'sche Offensive erzogen, wichtigen
Grundgesetzen die Hygiene sich nicht mehr
verschliessen wird. Felix Klemperer.
Therapeutisches aus Vereinen und Congressen.
Von der 33. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte
in Stuttgart am 1. und 2 . November 190a.
Bericht von Dr. LlHenstein -Bad Nauheim.
Unter den zur Verhandlung stehenden
Gegenständen verdienen namentlich die
Referate über die Volksnervenheil-
stätten ihrem actuellen Interesse ent¬
sprechend eingehende Berichterstattung.
Wildermuth (Stuttgart) gab einen
historischen Ueberblick über die bisherige
Entwicklung und suchte aus derselben dieln-
dicationen und Contraindicationen für die
zu errichtenden Anstalten abzuleiten. In
letzterer Hinsicht sei besonders vor der
Aufnahme der „leicht Verstimmten“ zu
warnen, die meist in geschlossene Anstal¬
ten, jedenfalls aber unter sehr sorgfältige
Beobachtung gebracht werden müssen. Das
Hauptcontingent sollten die chronischen,
organischen Nervenkrankheiten stellen. Die
Frage der Unfallnervenkranken ist schwie¬
rig. Wahrscheinlich dürften sie nur in ge¬
ringer Zahl vorhanden sein. Ebenso die
Alkoholisten. Im Stadium der Entziehung
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dürften diese nicht aufgenommen werden.
Eine geeignete Stätte würden dagegen die
leichteren Herzkranken, speciell solche mit
hervortretenden nervösen Symptomen, in
den Heilanstalten finden.
Die von Möbius angeregten Anstalten
mit Gelegenheit für zweckentsprechende
Beschäftigung für die Kranken, die Arbeits¬
sanatorien, kommen nach der Ansicht des
Vortragenden nur für eine geringe Zahl
von Kranken in Betracht, da es sich viel¬
fach um Erschöpfte handelt, bei denen die
Erholung durch Ruhe in erster Linie anzu¬
streben ist.
Der Alkohol soll in den neuen Anstal¬
ten völlig verboten sein. Nach Wilder¬
muth's Ansicht würde hierdurch die Be¬
schaffung des Pflegepersonals schwierig.
(Diese Ansicht bestätigt sich in den be¬
stehenden Privatsanatorien und Irrenanstal¬
ten nicht. Ref.)
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1c cbruar
Die Therapie der Gegenwart 1903. 79
Wildermuth ist gegen die Verbindung
der neuen Anstalten mit den Irrenanstalten, j
Es sei nicht „das Märchen“ von den Zu¬
ständen in Irrenanstalten, das dieser Ver¬
bindung entgegenstehe, sondern vielmehr
-das Gefühl der meisten leicht nervös Er¬
krankten, das sich sträuben müsse, mit
Geisteskranken — meist bürgerlich todten
Existenzen — zusammen zu sein. Da es
sich häufig um Psychopathen handle, die
von der Furcht gequält werden, geistes¬
krank zu werden, so werde für diese die
Aufnahme in eine mit einer Irrenanstalt
verbundene Nervenheilstätte direct schädi¬
gend sein.
Die neuen Anstalten werden, wenn sie
ihren Zweck erfüllen sollen, theuer sein,
und zwar nicht durch Comfort etc., son¬
dern durch die nöthigen sehr grossen, luf¬
tigen, hellen Räume, das Personal, die
Badeeinrichtungen u. s. w. Erwünscht sei
der Anschluss an die Krankenhäuser der
Landesversicherungsanstalten, Reconvales-
centen- und Erholungshäuser. Staat und Be¬
rufsgenossenschaften scheinen für die Kosten
der neuen Anstalten nicht aufkommen zu
wollen. Die Initiative müsse von den Aerzten
ausgehen; und zwar könne man sich dem Plan
von Möbius („Friedau“ in der Schweiz)
anschliessen. Ein principielles Bedenken
gegen die Errichtung der Volksnervenheil-
stätten ausserhalb Deutschlands bestehe
nicht, wie sich das ja auch bei den Lungen¬
heilstätten (Davos) gezeigt habe.
Neumann (Karlsruhe) führte als Cor-
referent aus, dass anlässlich der Discussion
auf der vorjährigen Versammlung in Karls¬
ruhe von keiner Seite das Bedürfniss nach
Volksheilstätten für Nervenkranke in Ab¬
rede gestellt wurde. Das bestehende Be¬
dürfniss zahlenmässig zu belegen, ist bei
dem bis jetzt vorhandenen statistischen
Material nicht leicht. Zwecks Klarstellung
der Bedürfnissfrage hat Referent die Ver¬
hältnisse der deutschen Landesversiche¬
rungsanstalten bezüglich der unterstützungs¬
bedürftigen Nervenkranken des Näheren
studirt und sich durch Fragebogen, die von den
Versicherungsanstalten ausgefüllt wurden,
die nöthigen Angaben verschafft. Er fand,
dass die Zahl der Rentenempfänger unter
den Nervenkranken unverhältnissmässig viel
grösser zu sein pflegt, als die Zahl der Fälle,
in denen ein Heilverfahren eingeleitet wurde,
während für die Lungentuberkulose das Ver-
hältniss gerade umgekehrt ist. Für die Ver¬
sicherungsanstalt Baden gestaltet sich das
Verhältniss zwischen Heilverfahren und
Invalidisirung
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in toto.wie 2 : 3
i für die Nervenkranken 1 ) . „2:7
„ „ Lungentuberkulose „ 2:1!
Und weiterhin: Während bei den Heil¬
verfahren erst auf 10 Tuberkulöse 1 Nerven¬
kranker kommt, entfällt bei den Renten¬
empfängern bereits auf jeden zweiten Tuber¬
kulösen ein Nervenkranker.
Dies Missverhältniss erklärt Referent
aus dem Mangel an geeigneten Heilstätten
für Nervenkranke. In Berlin, wo seit drei
Jahren die Volksheilstätte „Haus Schönow“
besteht, tiberwiegen die Heilverfahren¬
fälle die Rentenfälle, und es haben in den
letzten vier Jahren die Heilverfahrenfälle um
das Vierfache zugenommen. Die Umfrage
bei den einzelnen Landesversicherungsan¬
stalten nach der Stellung der Anstalten
eventuellen Heilstätten gegenüber ergab
eine verschiedenartige Beurtheilung der
Bedürfnissfrage. Die Anstalten, aus deren
Antworten ein richtiges Verständniss
für die nervösen Erschöpfungskrankheiten
spricht, stehen auch der Errichtung von
Heilstätten wohlwollend gegenüber. Fünf
Anstalten erklären sich im Princip zu finan¬
zieller Unterstützung bereit.
Die für die supponirten Heilstätten ge¬
dachten Kranken sollen sich rekrutiren aus
dem grossen Heere der nervös Erschöpf¬
ten, einschliesslich der Reconvalescenten
und der Anämisch-Chlorotischen mit func-
tionell-nervösen Störungen. Im Grossen
und Ganzen soll als massgebend für die
Aufnahme gelten eine günstige Prognose
hinsichtlich der socialen Wiederherstel¬
lung.
Einer gemeinsamen Behandlung der
Nerven- und Trinkerheilstättenfrage gegen¬
über äussert sich Referent ablehnend,
im Interesse beider Arten von Anstalten.
Hingegen tritt Vortragender entschieden
dafür ein, dass die zu gründenden Nerven-
heilstätten von vornherein und grundsätz¬
lich alkoholfrei gehalten werden sollen.
Die Unfallkranken will Neumann zwar
nicht principiell und rigoros ausgeschlossen
wissen, hält sie aber zum grösseren Theil
für nicht geeignet zur Behandlung in den
gedachten Heilstätten und empfiehlt spe-
cielle Sanatorien für dieselben nach Art
des im Königreich Sachsen bestehenden.
Das Bedürfniss nach Volksheilstätten ist
auf Seiten des weiblichen Geschlechts zum
Mindesten in gleichem, wenn nicht in
l ) Unter Einschluss der Hälfte der Anämisch-
Chlorotischen und der an „Muskelrheumatismus"
Leidenden, da man mindestens 50°/o dieser beiden
Krankengattungen zu den „Nervösen“ rechnen kann.
Original fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Februar
80 Die Therapie der Gegenwart 1903.
höherem Maasse vorhanden, als aufSeiten
des männlichen. Ob für beide Geschlechter
gemeinschaftliche oder getrennte Anstalten
zu gründen sind, ist vorzüglich eine Geld¬
frage: Reichen die Mittel für mehr als eine
Anstalt, dann ist einer Trennung der Ge¬
schlechter unbedingt der Vorzug zu geben.
Der heutige Stand der Heilstätten¬
bewegung in den verschiedenen Bundes¬
staaten ist folgender:
Die badische Regierung suchte die Be-
dürfnissfrage durch eine Umfrage bei den
Stadtverwaltungen, den Bezirks- und
Krankenhausärzten und den Organen der
socialen Gesetzgebung zu klären. Ein um¬
fangreiches, vielfach gegensätzliche^ Aeusse-
rungen enthaltendes Aktenmaterial ist da¬
durch gesammelt worden. Die Directoren
der badischen Landesirrenanstalten treten
in einer Denkschrift für Angliederung einer
Volksnervenheilstätte an die Irrenanstalt
lllenau ein. Der Minister kann bestimmte
Zusagen betr. Errichtung einer Nervenheil-
stätte nicht machen.
In Sachsen-Weimar verhandelten Re¬
gierung und Landesversicherungsanstalt
einerseits und Universitäts-Irrenklinik an¬
dererseits — auf Anregung der letzteren —
über eine Volks-Nervenheilstätte, bis jetzt
ohne positiven Erfolg. Auch die Carl
Zeiss-Stiftung in Jena hat sich mit der
Angelegenheit befasst und wird vielleicht
noch am ehesten zur Realisirung schreiten.
Im Grossherzogthum Hessen hat der
Irrenhilfsverein in jüngster Zeit einen
energischen Appell an die Wohlthätigkeit
der privaten Kreise gerichtet zu gemein¬
samer Fürsorge für die bedürftigen Nerven¬
kranken. Bis zu der geplanten Gründung
einer eigenen Heilstätte werden die betr.
Kranken, so weit angängig, in den schon
vorhandenen Sanatorien des Landes be¬
handelt. Für das laufende Jahr hat der
Verein aus seinen Mitteln hierfür 9000 Mark
ausgeworfen.
In der Rheinprovinz betreibt der ber-
gische Verein für Gemeinwohl die Grün¬
dung einer Volks-Nervenheilstätte.
In Frankfurt a. M. hat die Stadt 400000
Mark zur Errichtung einer Villencolonie
für Nervenkranke bewilligt (die an die
städtische Irrenanstalt bezw. deren Depen¬
dance in Köppern (Taunus) angegliedert
wird. Ref.).
Die einzige bereits im Betriebe befind¬
liche Volks-Nervenheilstätte besitzt die
Stadt Berlin, in Gestalt der aus privaten
Mitteln entstandenen bekannten Anstalt
„Haus Schönow“.
In der Schweiz geht die Heilstätten-
Bewegung Hand in Hand mit der Ab¬
stinenzbewegung. Durch Vereinsthätigkeit
ist dort ein „Alkoholfreies Kurhaus“ auf
dem Zürichberg bei Zürich entstanden.
Ausserdem soll die von Moebius inaugu-
rirte „Colonie Friedau“ auf Schweizer
Boden gegründet werden. 75000 Frs. sind
bis jetzt dafür gezeichnet worden. —
Bei Besprechung der Frage, ob die ge¬
planten Heilstätten an bereits bestehende
Einrichtungen angegliedert werden könnten,,
wendet sich Ref. entschieden gegen den
öfters erörterten Vorschlag eines An¬
schlusses an die Landesirrenanstalten. Für
allein geeignet, Mutterinstitute für Nerven-
heilstätten zu werden, hält Ref. die länd¬
lichen Reconvalescentenhäuser* erklärt je¬
doch als das eigentlich zu erstrebende
Ziel die Gründung selbstständiger An¬
stalten.
Was die Beschaffung der Mittel be¬
trifft, glaubt Ref., dass der einzig gang¬
bare Weg, einigermassen rasch zum Ziele
zu kommen, in der planmässigen Mobilisi-
rung der privaten Wohlthätigkeit gegeben
ist, und zwar durch Gründung von Heil¬
stättenvereinen. (Der Vortrag erscheint in
der „psychiatrisch-neurologischen Wochen¬
schrift“.)
Die von beiden Referenten gemein¬
schaftlich der Versammlung vorgeschlage¬
nen Thesen lauten:
1. Die Versammlung südwestdeutscher
Irrenärzte erachtet die Errichtung von
Volksnervenheilstätten als eine Noth-
wendigkeit.
2. Es ist die Errichtung von selbst¬
ständigen Instituten zu dem genannten
Zwecke anzustreben.
3. Die Versammlung erwählt aus ihrer
Mitte eine Commission, deren Aufgabe es
ist, die Bewegung für Errichtung der
Volksnervenheilstätten im geographischen
Bereiche der Versammlung zu fördern.
Die Commission hat über ihre Thätigkeit
nach zwei Jahren an die Versammlung zu
berichten.
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Februar
8!
Die Therapie der (ic^er, wart 1°L>3
Therapeutisches aus den Pariser medicinischen Gesellschaften.
In der Sitzung vom 4. December des j
vergangenen Jahres der Societe de Neu¬
rologie de Paris machte der bekannte fran¬
zösische Neurologe Prof. J. Grasset (aus
Montpellier) eine Mittheilung über fünf
Fälle schwerer organischer Erkrankung des ;
Centralnervensystems, welche, trotz Mangel |
aller Anhaltspunkte für Syphilis — weder
bei den Kranken selbst, noch bei ihren
Ascendenten —, unter dem Einfluss einer
gemischten specifischen Behandlung rasch
in Heilung übergingen.
Bei der noch verbreiteten, allerdings
nicht unbegründeten Meinung, dass die
specifische, besonders die merkurielle Be¬
handlung bei Hirn- und Rückenmarks¬
erkrankungen unter Umständen schädlich
wirken kann und dass dieselbe sogar bei
unzweifelhaft syphilitischem Ursprung der
genannten Krankheiten oft, ja sehr oft im
Stiche lässt, erscheinen die von Grasset
mitgetheilten Beobachtungen interessant
genug, um hier in Kürze referirt zu werden, j
In der ersten von ihnen handelte es *
sich um eine progressive linksseitige Hemi¬
plegie bei einem vierzigjährigen Manne,
d. h. um eine Krankheitsform, die, wie be¬
kannt, sehr oft letal endigt. Der Process
nahm einen raschen ascendirenden Verlauf,
so dass in 22 Tagen schon die ganze linke
Körperhälfte sammt einigen Hirnnerven
gelähmt war. Jetzt wurde erst mit Ein¬
reibungen von grauer Salbe begonnen;
daneben erhielt der Kranke Jodkali in
steigenden Dosen bis zu 8,0 pro die. Schon
am sechsten Tage zeigte sich eine unver- >
kennbare Besserung, welche nach zwei
Monaten in vollkommene Heilung über¬
ging.
Der zweite Patient, 38 Jahre alt, hatte
eine ascendirende Paralyse nach dem be¬
kannten, von Landry zuerst beschriebenen
Typus. Nachdem die Krankheit schon 25
Tage gedauert, unter stetiger Verschlimme¬
rung der Symptome, fing man an, graues
Oel in der Dosis von 0,05 wöchentlich
einzuspritzen und gab zugleich 6,0 Jodkali
täglich. Unter dieser Behandlung trat nach
zwei Monaten gänzliche Genesung ein. (
Der dritte Fall betraf einen 65jährigen |
Herrn, welcher zuerst transitorische An- |
fälle von Hemiplegie mit Schwindel und !
Dyspnoe aufwies; später wurde die Hemi- |
plegie ständig und zugleich zeigte sich i
eine besorgnisserregende Abnahme der
geistigen Fähigkeiten. Unter dem Einfluss |
von Einreibungen grauer Salbe und des
internen Gebrauches von Jodkali (4,0 pro
□ igitized by Google
die) genas der Kranke rasch und so voll¬
kommen, dass er wieder arbeitsfähig wurde.
Im vierten Falle hatte man es mit einer
asthenischen Bulbärparalyse (Erb) bei
einem 62jährigen Manne zu thun. Es kam
schon zu Erstickungsanfällen zu einer Zeit,
wo man sich zur gemischten specifischen
Behandlung entschloss (Einspritzungen von
Hydrarg. bijodati und innerlich Kali jodati
4,0 pro die). Auch hier wurde Heilung
erzielt.
Die fünfte Beobachtung ist weniger
überzeugend. Sie betrifft einen tabischen
Officier, der zugleich ausgesprochene
neurasthenische Symptome zeigte. Er genas
nach einer einjährigen gemischten speci¬
fischen Behandlung.
Es sei hier wiederholt, dass nämlich bei
keinem dieser Kranken weder objective Sym¬
ptome noch anamnestische Daten für früher
vorhandene oder ererbte Syphilis bestan¬
den. Es waren also Fälle, bei welchen —
nach der herrschenden Anschauung — Indi-
cationen für eine antisyphilitische Kur voll¬
ständig fehlten. Und doch erwies sich hier
diese Behandlung als eminent wirksam: als
lebensrettend und heilend. Es fragt sich
nun, ob bei den Grasset’schen Kranken
vielleicht eine Syphilis ignota bestand oder
ob hier die Quecksilber-Jodbehandlung
nicht-syphilitische Hirn- und Rückenmarks¬
läsionen zum Verschwinden gebracht hat?
Die Frage bleibt natürlich ungelöst. Aus
den angeführten Beobachtungen zieht
Grasset den Schluss, dass in gewissen
organischen Erkrankungen des Central¬
nervensystems, ohne klinische Anzeichen
ihres syphilitischen Ursprungs, eine ener¬
gisch durchgeführte specifische und zwar
gemischte Behandlung lebensrettend wirken
könne. Man wird diesen Schluss natürlich
nicht ohne weiteres beipflichten dürfen, da be¬
kanntlich in schweren Nervenerkrankungen
toxischer oder entzündlicher Natur oft auch
ohne Behandlung überraschend günstige
Wendungen eintreten. Doch mögen Gras-
set’s Fälle jedenfalls zeigen, dass so ener¬
gische specifische Curen oft ohne Schaden
vertragen und also zur eventuellen Nach¬
ahmung anregen.
Zur Stütze dieser Ansicht kann man
auch den von Gallois in einer früheren
Sitzung der Societe de thörapeutique be¬
richteten Fall erfolgreicher mercurieller
Behandlung der Little’schen Krankheit
anführen. (Siehe „Therapie der Gegen¬
wart“, Januar 1902, S. 29.)
Aus der Sitzung vom 24. December der
Original fro-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Februar
B2 Die Therapie der Gegenwart 1903.
Pariser Societe de th£rapeutique seien die
folgenden zwei Mittheilungen erwähnt.
B. Gallois sprach über die günstigen
Resultate der Abortivbehandlung von
Furunkeln mit einer Lösung von Jod in
Aceton, welches vier Mal so viel Jod auf-
lösen kann wie der Alkohol. Zu seiner in
der Spitalabtheilung Professors Chante-
messe bei Typhusreconvalescenten (die sehr
oft an Furunkulose laboriren) angestellten
therapeutischen Versuchen hat sich Gallois
einer Lösung von 4,0 Jod in 10,0 Aceton
bedient. Dieselbe hat zuerst das Ansehen
der Jodtinctur, aber schon nach zwei
Wochen wird sie schwärzlich und syrupös
(durch Bildung von Monojodaceton und
Bijodaceton), zugleich aber weniger ätzend,
als die frische Lösung. Man taucht in
diese Flüssigkeit einen kleinen um ein
Stäbchen gewickelten Wattebausch ein und
berührt damit die Furunkeln. Es bildet
sich ein bräunlicher Belag, unter welchem
der Furunkel — wenn er auch schon etwas
Eiter enthält — rasch zurückgeht und ver¬
heilt. Bei schon etwas aufgegangenen
Furunkeln ruft das Jodaceton einen ziem¬
lich heftigen Schmerz hervor, so dass hier
vorher cocainisirt werden muss. Multiple
Jodacetonapplicationen können auch die
Symptome eines allgemeinen Jodismus be¬
dingen, wie es sich in einem Falle er¬
eignete. Aber Solches erlebt man auch
bei der abortiven Behandlung der Furun-
culose mit Jodtinctur, welche Behandlung,
nach den Versuchen von Gallois, weniger
leistet als die Jodacetonapplicationen.
Letztere haben auch in der Abtheilung
von Chantemesse die früher üblichen
Jodtincturanstriche gänzlich verdrängt.
Hallion und Garrion demonstrirten
ein neues von ihnen dargestelltes Präparat,
die aus der Duodenalschleimhaut des
Schweines gewonnene, für die Behandlung
intestinaler Dyspepsien bestimmte Euki-
nase. Wie bekannt, haben die Versuche
Prof. Pawlow’s gezeigt, dass das pankrea-
tische Ferment (Trypsin) an und für sich
keine digestive Kraft besitzt und nur in
Anwesenheit der von der Duodenalschleim¬
haut secernirten Enterokinase als Verdau¬
ungsferment wirkt. Nun sei die von
Hallion und Carrion dargestellte Euki-
nase nichts anderes als eine ausserordent¬
lich thätige Pawlow’sche Enterokinase.
Durch Association dieser Eukinase mit
dem Pancreasextract (Pancreatinum) haben
ferner die genannten Forscher ein angeb¬
lich noch wirksameres Präparat, die Pan-
creatokinase, erhalten.
W. v. Holstein (Paris).
Bücherbesprech ungen.
Th. Dunin. Die Grundsätze in der Be¬
handlung der Neurasthenie und Hy¬
sterie. Berlin, Hirschwald 1902. M. 2,—.
Die Charcot’sche Auffassung von der
psychogenen Ursache der allgemeinen
oder sogenannten functioneilen Neurosen
gewinnt auch in der Therapie Bedeutung;
und wenn man sie wie es Freud, Moe-
bius thun, zum Ausgangspunkt und Cen¬
trum aller therapeutischen Indicationen
wählt, so fällt den physikalisch-diätetischen
Behandlungsmethoden nur die Rolle eines
adminiculirenden Beiwerkszu. Einen solchen
Standpunkt nimmt auch der Warschauer
Kliniker Th. Dun in ein; eine grosse kli¬
nische Erfahrung ist in den „Grundsätzen
der Behandlung der Neurasthenie und
Hysterie" niedergelegt. Diagnostisch ver¬
wirft Dunin die scharfe Trennung der
Neurasthenie, Hysterie, Hypochondrie als
Krankheitsbilder, die im Uebrigen in typi¬
schen Fällen pathogenetisch oft sehr ver¬
schieden sich verhalten.
Alle neurasthenischen rein somatischen
Beschwerden sind in nuce auch bei Ge¬
sunden vorhanden, so die Phobien, die
Wallungen, die leichte Ermüdbarkeit; nur
die Objectivität und die Distanz, mit der
der Kranke seine Beschwerden einschätzt,
und zu ihnen Stellung nimmt, sie kenn¬
zeichnen den wirklich Erkrankten. Die
dauernde, höchst subtile, registrirende
Selbstanalyse, die Angst und den Willens¬
mangel führt Dunin im Einzelnen als cha¬
rakteristisch auf und belegt dies durch
ausführliche physiologische interessante
Schilderungen. Die praktische Folge¬
rung, dass Aerzte durch Hinleitung von
Nervösen, z. B. auf Herzbeschwerden car-
diale Symptome auslösen, ist beherzigens-
werth; die Entstehung des Egoismus der
Nervösen aus der permanenten Angst um
ihr eigenes Ich ist einleuchtend. Die Ana¬
logie zwischen normaler Ermüdung und der
gesteigerten Erschöpfbarkeit der Patienten
will Dun in nicht zu weit ausgedehnt wissen.
Das Ziel der psychischen Behandlung
muss in der Ablenkung von der Selbst¬
analyse und in der encouragirenden
Festmachung und Willenskräftigung be¬
stehen, dahin und darum wirken auch die
heterogensten Methoden der Therapie. Du¬
nin verlangt, dass der Arzt den Kranken
aufkläre, nachdem er ihn somatisch und
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Februar Die Therapie der Gegenwart 1903. 83
psychologisch gründlich durchleuchtet, ihn
erziehe und zur Selbstzucht anrege und ist
darum ein Gegner aller Polypragmasie und
ein Anhänger der Apragmasie, der Einlei¬
tung curloser Zeiten, die durch passende Ar¬
beit, philantropische Beschäftigung, Sport
zur Genesung überführen ; alle diese „Hülfs-
constructionen ohne die es nicht geht", um
den Fontane’schen Ausdruck zu gebrau¬
chen, sollen nur temporär angewendet wer¬
den. Die Befriedigung des Kranken in
pflichtgemässer, verantwortungsreicher Ar¬
beit sei das höchste und endliche Ziel der
Behandlung.
Die Frage der Isolirung des Kranken,
der seine Umgebung terrorisirt — auch
Kinder thun dies nicht selten 1 ) — oder den
sie umgekehrt verhätschelt und so ent-
muthigt, die Behandlung der Angstkranken,
der Willenlosen, die Indicationen der Mast-
curen, die Hypnose werden von Dunin
sachgemäss besprochen.
Der Klimato - Hydro - Elektro - Therapie
spricht Dunin wie oben erwähnt eine nur
auxiliäre Rolle in der Therapie zu; Wie¬
dergewinn des Kraftgefühls, Abhärtung
leisten sie jedoch. Die Rolle des Eisens
wird von Erb in seiner zu KussmauTs
80. Geburtstage im Deutschen Archiv für
klinische Medicin erschienenen Abhand¬
lung weniger skeptisch beurtheilt als dies
Dunin thut.
Unter Hinweis auf seine frühere Ar¬
beit „über periodische Neurasthenie“ be¬
zeichnet Dunin als Hauptwegweiser in der
Therapie der Neurasthenie den Entsteh¬
ungsmodus.
Die Hysterie behandelt Dunin in sei¬
nem Aufsatze etwas kürzer; sie ist immer
eine Psychose; ihre Symptome beruhen
einerseits auf den sogenannten hysterischen
Stigmata, andererseits auf den sogenannten
ideogenen unbewussten, aber auf einer
reellen Basis fussenden Vorstellungen.
Einzig rationelle Behandlung der Hy¬
sterie ist für Dunin die Hypnose und
zwar streng nach der Methode von Jan et
bezw. Breuer und Freud (Hervorholung
der primären Ursache der Hysterie, Ver¬
nichtung derselben durch Gegensuggestion
u. s. w. posthypnotisch). Gefährlich ist nur
das Abhängigkeitsverhältniss, das sich zwi¬
schen Arzt und Kranken herausbildet.
B. Laquer (Wiesbaden).
Franz Mracek. Handbuch der Haut¬
krankheiten. Wien 1902, bei Alfred
Hölder. In Abtheilungen ä M. 5.—
Während ein Mangel an kleineren und
1 > Oppenheim, Nervenleiden und Erziehung.
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grösseren Lehrbüchern der Hautkrank¬
heiten nicht besteht, besassen wir bisher
kein grösseres Handbuch, in welchem die
gesammte Materie auf breiter Basis voll¬
ständig und eingehend dargestellt wird.
Und doch war es an der Zeit dieses
Capitel der Medicin, dass nicht nur Fach¬
interesse hat, sondern wegen der vielfachen
Beziehungen zur Gesammtmedicin auch
den Nicht-Dermatologen angeht, kritisch
und vollständig darzustellen, sowohl um
dem Praktiker eine klare und umfassende
Orientirung zu ermöglichen, wie auch ganz
besonders dem Forscher ein erschöpfendes
Bild des jeweiligen Standes unserer Kennt¬
nisse zu geben. Denn die Litteratur ist
bei dem eminenten Fleiss gerade auf diesem
Specialgebiet der Medicin so kolossal an¬
gewachsen, dass es dem Einzelnen nicht
mehr möglich ist, sie zu beherrschen. Das
vorliegende Handbuch, welches von Mra¬
cek unter Mitwirkung zahlreicher Fach¬
genossen herausgegeben wird, und nun¬
mehr in seinem I. Band vollständig und
dem Beginn des II. Bandes vorliegt, ver¬
spricht nun nach allen Richtungen diesen
Indicationen zu genügen. Als Einleitung
dient eine ausgezeichnete Darstellung der
Anatomie der Haut von Rabl. Es folgt
dann von Kreidl die Darstellung der
Physiologie, über welche gerade wegen
der Zerstreutheit der bezüglichen Arbeiten
in den verschiedensten Zeitschriften eine
Orientirung ausserordentlich erschwert ist.
In den übrigen Capiteln ist die allgemeine
Aetiologie und Therapie der Dermatosen,
die allgemeine Pathologie der Circulations-
störungen dargestellt. Die letztere von Felix
Pinkus ist durch die geschickte Gruppirung
des mit grossem Fleiss gesammelten Ma¬
teriales eine der besten bisher. Es sind
ferner die Schweiss- und Talgdrüsen-
aflfectionen, Erytheme, Herpesetc. bisher zur
Darstellung gelangt. Ein ausführlicher
Artikel von Unna behandelt das Ekzem.
Durch eine grosse Zahl von guten Ab¬
bildungen wird das Verständniss erleichtert.
Von ausserordentlichem Werth sind die
ausführlichen Litteraturverzeichnisse, die
jedem Capitel folgen. Für den Praktiker
von grosser Bedeutung ist, dass nicht nur
Theorie und Diagnostik, sondern auch die
Therapie einen breiten Raum einnimmt.
Es erscheint unmöglich bei einem so gross
angelegten Werk auf Einzelheiten einzu¬
gehen. Was dem Buch ferner z. B. vor
dem zur Zeit erscheinenden grossen Werk
französischer Autoren: „La pratique der-
matologique“ den Vorzug giebt, ist, dass
es eine viel vollständigere Berücksichtigung
11*
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
84
Februar
Die Thcr.ipie der Gegenwart 1903.
der Litteratur bringt und — mit einigen
Ausnahmen — ein nicht zu subjectives Ge¬
präge hat, was derartigen umfassenden
Werken oft nicht nützlich ist. Ich werde
nach Abschluss des Werkes noch einmal
darauf zurückkommen und hoffe, dass die
gute Prognose, die nach dem Beginn des
Unternehmens gestellt werden kann, am
Schluss sich als richtig erweist.
Buschke (Berlin.) \
Maximilian V. Zeissl. Lehrbuch der
venerischen Krankheiten (Tripper,
venerisches Geschwür, Syphilis). 532 S.
Stuttgart bei Ferdinand Enke. 1902. M. 10,—.
Es handelt sich bei dem vorliegenden |
Buche um eine Neubearbeitung des in fünf |
Auflagen -erschienenen Buches des be- !
rühmten Vaters des Autors, H. v. Zeissl.
In ausserordentlich conciser Form, klarer
und präciser Darstellung, dabei mit ein¬
gehender Berücksichtigung der gesammten
neuesten Litteratur fast bis in die kleinsten
Einzelheiten bringt dies Buch eine aus¬
gezeichnete Darstellung der venerischen
Krankheiten. Der Autor, welcher auf vielen
Gebieten an dem Ausbau unserer Kennt- t
nisse über dieses Capitel mitgearbeitet hat, i
wird durch eine langjährige, ausgedehnte I
eigene Erfahrung bei Beurtheilung der An¬
schauungen Anderer geleitet, und überall
begegnen wir einem klaren und sachlichen
Urtheil, selbst dort, wo wir nicht jeder |
Ansicht des Autors — wie es bei einem
so viel umstrittenen Gebiet nicht anders I
sein kann — ohne weiteres beipflichten, j
Neben einer ganz eingehenden theoreti¬
schen Darstellung — ich weise nur auf die
Schilderung der Ulcus molle-Aetiologie hin
— ist der Behandlung der Krankheiten der |
weiteste Raum gegönnt. Und hierbei giebt
es kaum ein zweites Buch, welches z. B.
die Behandlung der Gonorrhoe mit gleicher
Sachkenntnis wie die der Syphilis bringt.
Hinzu kommt, dass der Verfasser einzelne
Capitel, wie die Frauenkrankheiten, die
Larynxaftectionen von Sachkundigen hat
bearbeiten lassen. Wir haben keine grosse
Auswahl an guten Lehrbüchern der veneri¬
schen Krankheiten. Das vorliegende Werk
ist zu den besten zu zählen. Es sei so¬
wohl dem Specialisten wie dem praktischen
Arzt auf’s Wärmste empfohlen.
Buschke (Berlin).
B. Scheube. Die venerischen Krank¬
heiten in den warmen Ländern.
Sonderabdruck aus „Archiv für Schiffs¬
und Tropenhygiene.“ Bd. VI, 1902. Leip¬
zig. Joh. Ambr. Barth. 1902. M. 1,60.
Bei dem Interesse, welches die Tropen-
krankheiten jetzt in vielfachen Beziehungen
haben, ist es dankenswerth, dass Scheube,
einer der besten Kenner derselben, sich
der Mühe unterzogen hat, eines der am
wenigsten bearbeiteten Capitel derselben,
die Geschlechtskrankheiten, in Bezug auf
ihre Verbreitung in den Tropen und die
Art ihres Auftretens darzustellen. Theils
auf Grund eigener Erfahrungen, theils durch
eine Rundfrage bei Tropenärzten hat
Scheube Material über die Frage zu¬
sammengestellt; ein zutreffendes und voll¬
ständiges Bild zu geben ist bei dem zeitigen
Stande unserer Kenntnisse unmöglich, und
doch bietet die Schrift viel Interessantes
und Anregendes. Bei der Wichtigkeit,
welche die Geschlechtskrankheiten in so¬
cialer und auch nationalökonoraischer Hin¬
sicht haben und den engen Beziehungen
zwischen Colonien und Mutterland heut¬
zutage, ist es sehr werthvoll, dass hier¬
durch die Aufmerksamkeit auf dies Capitel
gelenkt wird. Die Arbeit sei jedem, der
sich für Tropenkrankheiten interessirt, zur
Lektüre empfohlen. Buschke (Berlin).
Referate.
Die Frage, ob der Alkohol im Orga¬
nismus oxydirt wird, ist gegenwärtig dahin
entschieden, dass 95 %. nach Untersuchun¬
gen von Atwater und Benedikt sogar
99%, im Körper verbrannt werden. Die
zweite Frage ist die, ob der Alkohol bei
seiner Oxydation auch die Rolle eines
Nahrungsmittels übernimmt, das heisst
schützt der Alkohol durch seine Zer¬
setzung andere Nährstoffe oder Bestand¬
teile des Körpers. Die Messung des
Sauerstoffverbrauches konnte hier allein
entscheiden.
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Zahlreiche Versuche zeigten, dass der
Alkohol in diesem Sinne als Nahrungsmittel
zu betrachten war.
Die Frage war aber noch zu entschei¬
den, ob der Alkohol ein Eiweisssparer ist
wie Fett und Kohlehydrate und leimgebende
Substanz. Denn der Alkohol ist neben
einem Nahrungsmittel auch noch ein Gift.
Die Versuche von Neumann, Clopatt und
Rosemann haben bewiesen, dass der Al¬
kohol in kleinen Dosen bis zum Eintritt
der Gewöhnung seine Giftwirkung durch
vermehrten Eiweisszerfall documentirt.
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Februar
Die Therapie- <1. r
Kasnewitz geht deshalb so weit, zu
sagen, dass ein Gift nie ein Nahrungsmittel
sein kann.
Die Versuche Neumann’s zeigten aber
weiter, dass, sobald Gewöhnung eingetreten
ist, der nachtheilige Einfluss des Alkohols
aufhört und der Stoffwechsel verläuft, als
ob dem Organismus statt Alkohol die äqui¬
valente Menge Fett geboten worden ist.
Caspari selbst nimmt zu der Frage,
ob der Alkohol als Nahrungsmittel zu be¬
trachten ist, folgende Stellung ein. Der
Alkohol ist ein Nahrungsmittel, das Eiweiss
zu sparen vermag, wenn er auch nicht den
isodynamen Mengen Kohlehydraten oder
auch Fett vollkommen gleichwertig ist.
Aber der Alkohol ist auch ein Gift, das
namentlich beim Ungewohnten einen nicht
unerheblichen Eiweisszerfall hervorrufen
kann und durch seine Wirkung auf das
Nervensystem, besonders bei der Muskel¬
arbeit, den Energieverbrauch derart ver¬
mehren kann, dass seine ernährende Wir¬
kung dadurch compensirt, ja sogar übercom-
pensirt wird. M. Rosenfeld < Strassburg).
(Fortschritte d. Medicin 1902, No. 33.)
Ueber das Verhältniss des Alkoholis-
mus zur Chirurgie schreibt Poläk (Prag).
Der Alkoholismus hat in jeder Form einen
gewissen, ungünstigen Einfluss auf ver¬
schiedene chirurgische Krankheiten. Der
acute Alkoholismus ist öfters Ursache ver¬
schiedener Verwundungen, auf den Ver¬
lauf der Heilung aber hat er keinen Ein¬
fluss. Der chronische Alkoholismus in
seinen verschiedenen Abarten behindert
öfters die Heilung per primam intentionen,
septische Erkrankungen verlaufen unter
viel schwereren Symptomen, so dass die
Prognose hier immer etwas weniger günstig
ist. Etliche Formen von Gangrän werden
sehr oft direkt oder indirekt durch den
Alkoholismus bedingt. Das Delirium tre¬
mens ist immer eine Folge von Alkoholis¬
mus und ist immer bei der kleinsten Wunde
oder chirurgischem Eingriff eine sehr ernste
Complication. Stock (Skalsko.)
(Sbomik klinick^ B. UI H. 6.)
Ueber die Wirkung des Atropins und
Physostigmins auf die Blutversorgung des
Kopfes berichtet kurz A. M. Kal in in. Er
experimentirte an Hunden mittlerer Grösse
mit Hülfe der sogenannten Blutuhr von
Hürthle, die gleichzeitig den Blutdruck in
der zu untersuchenden Arterie (Carotis
communis) und das Volumen des durch¬
strömenden Blutes anzeigt. Verfasser kommt
auf Grund dieser Untersuchungen zu fol-
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Gcp'invart 19U3. 85
genden Schlüssen: Die Atropinisirung ruft
bei Thieren eine vermehrte Blutversorgung
des Kopfes hervor, wobei auch das Volumen
des durchströmenden Blutes gesteigert ist.
Er erklärt dies dadurch, dass durch das
Atropin die Herzthätigkeit beschleunigt
wird, während die Energie der einzelnen
Contractionen nur unwesentlich geschwächt
wird. Umgekehrt ist die Wirkung des Phy¬
sostigmins: sowohl das Volumen des durch¬
strömenden Blutes, als auch die Strom¬
geschwindigkeit ist herabgesetzt. Offenbar
reicht die gesteigerte Energie der Herz¬
systole nicht aus, um die stark ausge¬
sprochene Verlangsamung der Herzthätig¬
keit zu compensiren, wodurch die Blut¬
versorgung des Kopfes erhebliche Nach¬
theile erleidet. N. Grünstein (Riga).
(Russki Wratsch 1902, No. 35.)
Den Einfluss der Erysipel-StreptO-
coccen- und Staphylococceninfection
auf maligne Neoplasmen und chronische
Entzündungsprocesse konnte Hanszel in
zwei Fällen beobachten. Bei einem Rhino-
laryngosclerom kam es in Folge eines
intercurrenten Gesichtserysipel zu einer
fast vollständigen Involution der Infiltrate:
ferner führten bei einem Rundzellencarcinom
des weichen Gaumens und seiner Um¬
gebung, welches ursprünglich das Bild eines
peritonsillitischen Abscesses bot, mehrfache
Incisionen, die in dieser Annahme gemacht
wurden, zur Entleerung einer jauchigen
Flüssigkeit, deren Untersuchung Strepto-
und Staphylococcen ergab. Jedoch war
hier die folgende Verkleinerung des Tumor
nur von kurzer Dauer; nach einigen Wochen
begann sein Wachsthum wieder, nach zwei
Monaten Exitus. Nach den bisher beobach¬
teten Fällen, in denen intercurrente Infec-
tionen, wie Erysipel, Typhus exanthema-
ticus, Streptococcen u. s. w. zu mehr oder
minder vollständiger Involution von ma¬
lignen Tumoren etc. führten, ist Verfasser
geneigt, besonders Gewicht auf die Höhe
des Fiebers zu legen; nur wenn eine be¬
deutende Reaction des Gesammtorganis-
mus erfolgt, scheine ihm ein therapeuti¬
scher Einfluss aussichtsreich.
F. Alexander (Frankfurt a. M).
(Monatschrift für Ohrenheilkunde 1902, Heft 7.)
Ueber den Werth des Heroins ist in
dieser Zeitschrift bereits mehrfach be¬
richtet worden (Rosin, Juni 1899; Sturs¬
berg, November 1900).
Grinjewitsch, der zu etwas abwei¬
chenden Resultaten gelangte, stützt sich
aui 2000 Fälle, die er im Laufe der Zeit
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
86
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
mit Heroin behandelte. Er verabfolgte das
Mittel nur an Erwachsene (der jüngste Pa¬
tient war 18 Jahre, der älteste 94 Jahre
alt) in Pulverform ä 0,0025—0,01, durch¬
schnittlich ä 0,005 pro Dosis. Alle ver¬
trugen das Heroin sehr gut; selbst bei
einem 94jährigen Greis, der es (3 mal
täglich ä 0,005) zwei Wochen lang ge¬
brauchte, traten keine unangenehmen Sym¬
ptome auf. In 40 Fällen jedoch consta-
tirte Verfasser als Nebenwirkung Uebel-
keit und bisweilen auch ^Schwindelgefühl.
Die Wirkung des Mittels trat nach 10 bis
15 Minuten ein. Gewöhnung findet nicht
so leicht und nicht so schnell statt. So
nahmen einige Phthisiker mit geringen
Unterbrechungen bereits drei Jahre das
Heroin zu sich, ohne dass man die Dose
zu erhöhen brauchte. Lässt die Wirkung
nach, so setzt man das Mittel für kurze
Zeit aus. Die dann gereichten üblichen
Gaben äussern sich wieder in normaler
Weise. Einen krankhaften Hang zum He¬
roin, wie er z. B. beim Morphium besteht,
hat Grinjewitsch nie beobachtet.
Im Vordergründe steht die (von Ros in
bei seinen Patienten meist vermisste) Hu¬
sten mildernde Eigenschaft des Heroins.
Oft wurde der Husten schon nach einer
Einzelgabe coupirt, während das früher zu
gleichem Zweck verabfolgte Morphium
(ä 0,02 pro dosi) diesen Effect niemals
hervorbringen konnte.
Das Heroin wurde in 700 Fällen von
acuter Bronchitis angewendet, häufig mit
geradezu frappantem Erfolg (nur in 1%
war er geringer). Der quälende Husten
hörte nach 15—20 Minuten vollkommen
auf, die begleitende Athemnoth nahm ab.
Die Wirkung hielt 12—24 Stunden an, so
dass man meist zwei, zuweilen eine und
nur selten drei Gaben zu verordnen
brauchte. Bei der chronischen Bronchitis
(78 Fälle) trat der Effect nicht so deutlich
zu Tage; zweimal aber blieb er ganz aus.
Besonders gut wirkt hier das Mittel zu Zeiten
der Exacerbation. Im Allgemeinen wurde
der Husten besser coupirt, alsnach Morphium.
Bei der Lungentuberkulose (60 Fälle
aller Stadien) zeigte sich die hustmildernde
Eigenschaft sehr deutlich. Fünfmal jedoch
war die Wirkung gering, dreimal fehlte
sie ganz. Oft wurden auch die Nachtschweisse
coupirt. Das Mittel reichte Verfasser meist
nur zur Nacht. Einen Einfluss auf den Cir-
culations- und Digestionsapparat vermochte
er nicht zu constatiren.
Bei der katarrhalischen Form der In¬
fluenza (52 Fälle) wirkte das Heroin, wie
bei der acuten Bronchitis.
Gegen allerlei gastrische und enteri-
tische Schmerzen wirkte das Mittel 16 mal
nur wenig, in 19 Fällen aber gar nicht,
während Morphium oder Codein die Be¬
schwerden beseitigte.
Bei Laryngitis (26 Fälle) trat vor allem
die hustmildernde Eigenschaft zu Tage.
Das Gefühl von Brennen, Jucken und
Trockensein nahm zusehends ab.
In 17 Fällen von Emphysem liess der
Husten meist deutlich nach. Die Athem¬
noth wurde, die hochgradigen Fälle aus¬
genommen, recht günstig beeinflusst. Eine
gewisse Vorsicht ist jedoch bei erschwerter
Expectoration geboten. Das gilt übrigens
nicht nur vom Emphysem, sondern von
allen Erkrankungen der Respirationswege,
bei denen viel Sputum gebildet wird. Das
Heroin kann, da es den Husten coupirt zu
einer Eindickung des Secrets führen; aus
diesem Grunde hält Verfasser das Mittel
für contraindicirt bei reichlicher Sputum¬
ausscheidung, namentlich wenn es sich um
entkräftete oder bewusstlose Patienten
handelt.
Bei der croupösen Pneumonie (12 Fälle)
wurde das Heroin nur im Beginn gereicht.
Der Husten nahm ab, desgleichen die
Athemnoth. Die Schmerzen, Stiche und
das Gefühl von Schwere verringerten sich
ganz erheblich. Bei Stauungsbronchitiden
infolge von incompensirten Herzfehlern
(8 Fälle) erzielte man 6 mal geringen, 2 mal
gar keinen Effect, Gut wirkte hier jedoch
die gleichzeitige Darreichung von Digitalis,
jedenfalls viel besser, als die Verabfolgung
jedes Mittels für sich allein.
Günstige Resultate bezüglich des Hu¬
stens und der Athemnoth constatirte man
bei Pleuritis exsudativa (7 Fälle), während
die Schmerzen bei Ischias durch Heroin
nicht bekämpft wurden.
Gute Erfolge erzielte man ferner bei
cardialer und urämischer Athemnoth,
Bronchialasthma, sowie Oophoritis; nega¬
tive dagegen bei Carcinom und Magen¬
geschwür.
Einen Einfluss aufs Herz hat das Mittel,
welches sogar in hohem Alter gut ver¬
tragen wurde, nie geäussert. Als Analge-
ticum wirkt das Heroin (infolge einer Ab¬
nahme der Excursion des Thorax) viel
schwächer und inconstanter als Morphium
oder Codein. Ganz hervorragend ist neben
seinen hustenlindernden Eigenschaften die
Wirkung auf die durch Erkrankung der
Respirationswege bedingte Athemnoth
(Rosin hat sie bei seinen Patienten nicht
constatiren können). M. Urstein (Berlin).
Wratschebnaja Gazieta, 1902 No. 5.
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Februar
87
Die Therapie drr
Bei der Behandlung des Keuchhustens
durch Formalindämpfe lässt J e i d (k
(Hlinsko) die Kinder in ihrer Wohnung
die Formalindämpfe einathmen, und nach
Entfernung der Patienten wird die Woh¬
nung mit verstärkter Dosis nochmals des-
inficirt. Das Verdampfen des Formalins
geschieht womöglich mittelst einerFormalin-
lampe, da dieselbe regulirbar ist, doch
kann dies auch durch Auflegung einer
Pastille auf eine warme Platte ersetzt wer¬
den, denn gewöhnlich genügt auf 20 cnv*
Raum eine langsam verdampfende Pastille.
Der Aufenthalt im Zimmer dauert 15 bis
30 Minuten. Länger zu verweilen ist un¬
nütz, weil bei unvollständigem Erfolge den
nächsten Tag die Inhalation wiederholt
werden kann. Ausser einer anfänglichen
Reizung der Conjunctiva und eines Husten¬
reizes im Kehlkopfe wären keine anderen
Symptome zu verzeichnen. Manchmal
schlafen die Kinder nach der Inhalation ein.
Auf Grund seiner Erfahrungen nun, die
Verfasser mit dieser Behandlungsmethode
gesammelt — in allen Fällen schwand der
Husten in wenigen Tagen — glaubt er be¬
haupten zu können:
1. Durch die Einwirkung einer nöthigen
Menge von Formalindämpfen ist es mög¬
lich, die ursächlichen Vermittler des Keuch¬
hustens zu vernichten, und zwar sowohl
diejenigen, welche sich auf den Schleim¬
häuten der Athmungsorgane, als auch die,
welche sich in der Umgebung des Kranken
befinden. Auf diese Art ist es möglich,
die Krankheit zum Stillstände zu bringen
und weitere Infection zu verhüten.
2. In Anbetracht dessen, dass schon die
Uebersiedelung des Kranken bei Keuch¬
husten für heilwirkend angesehen wird, ist
es möglich, dass schon die alleinige Des-
infection der Wohnung zur Heilung des
Keuchhustens genügt.
3. Nach den Erfahrungen des Verfassers
verdient eine zeitweise vorgenommene Des-
infection von Schulen, Krankenhäusern,
Kirchen u. s. w. eine besondere Berück¬
sichtigung. Stock (Skalsko).
(C^sopis ceskych lökarii 1901, No. 37.)
Bislang theilten wohl die Internisten mit
den Chirurgen die Anschauung von H. Kehr
und Kraus dass man bei Krebs des Ductus
choledochus von einem operativen Ein¬
griff lieber Abstand nehmen solle, da man
Angesichts des mangelhaften Erfolges dabei
höchstens die Gallensteinchirurgie in Miss¬
kredit bringen könne. Nach der jüngsten
Publikation Kehr’s hat man vielleicht ein
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(u r-nwart 19C3
gewisses Recht, diese Anschauungen etwa
zu Gunsten des chirurgischen Eingriffs zu
modificiren. Kehr theilt da nämlich einen
Fall mit, der ihm von den behandelnden
Aerzten mit der Diagnose Carcinomver-
schluss des Ductus choledochus überwiesen
war. Es handelte sich dabei um einen
53jährigen Herrn bei dem etwa 3 Monate
lang andauernder Ikterus, grosse pralle,
leicht druckempfindliche Gallenblase, ver-
grösserte Leber, und beträchtlicher Ge¬
wichtsverlust zu constatiren war. Kehr
operirte und fand ausser einem hasel¬
nussgrossen Stein im Ductus cysticus,
einen runden sehr harten kleinen Tumor,
der an der Einmündungsstelle des Duc¬
tus cysticus ringförmig im Ductus chole¬
dochus sass und dessen Lumen völlig
verlegte. Kehr resecirte das erkrankte
Stück des Ductus choledochus mitsammt
der Gallenblase und implantirte den aufdiese
Weise verkürzten Ductus hepaticus direkt
in das Duodenum. Die Operation dauerte
I 1 /? Stunden ohne Störung, und der Patient
wurde nach ca. 5 Wochen als geheilt ent¬
lassen !
Damit ist zum ersten Mal die Resection
eines krebsigen Ductus choledochus aus¬
geführt, und zwar mit sehr schönem Er¬
folge. Um freilich zu entscheiden, ob
damit ein dauernder Erfolg erzielt ist, muss
man die Nachrichten abwarten, die nach
3 Jahren über den Operirten verlauten
werden. Aber wenn auch kein Dauer¬
erfolg erzielt worden ist, so ist dem Kranken,
der sonst einem baldigen sicheren Tode
verfallen gewesen wäre, doch sicher
wesentlich damit genützt worden.
Begreiflicherweise fasstK e h r, Angesichts
dieser ersten ermuthigenden Erfolge, auch
sofort den Entschluss, von nun ab in jedem
Fall von Carcinom des Ductus choledochus
oder Carcinom des Pankreaskopfes die
Radikaloperation zu wagen. Dabei stellt
er die Forderung auf, dass man bei chro¬
nischem Ikterus, der auf eine Verstopfung
des Choledochus hindeutet, spätestens 3
Monate nach Beginn des Ikterus operiren
soll, besonders dann, wenn die Gallenblase
als prall gefüllter Tumor die Bauchdecke
hervorwölbt, sowie Kachexie und hoch¬
gradiger Kräfteverfall eintritt. Wesentlich
ist dabei, dass die Operation schnell aus¬
geführt wird und womöglich nicht länger
als eine Stunde dauert.
Ueber die Technik der Operation ist
das Original nachzusehen.
F. Umber (Berlin).
(Münch, med. Wochensohr. 1903, No. 3.)
Original ffom
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
88
Die Therapie 8er fiepen wart 1903.
Februar
Das gleichzeitige Auftreten weisslicher,
fibrinhaltiger Membranen und des Pseudo¬
diphtheriebacillus bei acuter Mittelohrent¬
zündung konnte Schilling beobach¬
ten. Im weiteren Verlaufe wurde die reine
Eiterung vorherschend und damit traten
allmählich an Stelle der Pseudodiphterie-
bacillen Coccen. Während das gleich¬
zeitige Auftreten echter Diphteriebacillen
und fibrinöser Membranen einige Male im
Mittelohr nachgewiesen ist, steht diese
Beobachtung wohl vereinzelt da, und lässt
die Annahme zu, dass auch der Pseudo-
dyphteriebacilles diphtheritische Mem¬
branen zu bilden im Stande ist.
F. Alexander (Frankfurt a. M.).
(Monatsschrift für Ohrenheilkunde 1902, No. 10*.
Ferreri’s Methode der Behandlung
frischer Otitis mit Sauerstoff l ) benutzte
Kutvirt (Prag) in 48 Fällen von ver¬
schiedensten Ohrenkrankheiten mit gutem
Erfolge. Die Erfolge in acuten Fällen
können nicht als massgebend angesehen
werden, denn durch andere Behandlung
können auch gute Erfolge erzielt werden,
entscheidend sind die chronischen Fälle.
Von diesen bespricht Verfasser eine Com-
plication mit einem Polypen (Ausfluss seit
Kinderjahren), der vor 3 Jahren extrahirt
recidivirte, nach zweimonatlicher Behand¬
lung mit Sauerstoff — nach wiederholter
Extraction — Heilung. In einem Falle von
Diabetes (6, 7% Zucker), in welchem eine
Affection des Warzenfortsatzes vorhanden
war und eine Operation in Betracht des
Gesammtzustandes (Tbc.) nicht angezeigt
war, wichen die Schmerzen schon am
4. Tage, der Ausfluss verringerte sich, so
dass der Kranke nach 3 Wochen relativ
geheilt entlassen werden konnte. In Fällen
von chronischen Katarrhen der Trommel¬
höhle und von Sclerose, die mit Meniere-
schen Symptomen complicirt waren, ver¬
schwanden der Schwindel und das Er¬
brechen fast sofort, die Geräusche ver¬
minderten sich, ja in etlichen Fällen sogar
wurde auch das Gehör gebessert.
Obwohl man sich aus der Gesammtzahl
der so Behandelten ein schliessliches Ur-
Der Sauerstoff wird aus eisernen cylindrischen
Bomben (zu beziehen von der Firma El kan, Char¬
lottenburg bei Berlin) unter regulirtem Druck auf
eine halbe Atmosphäre, durch ein Kautschuckrohr in
den Katheter und weiter durch die Tuba Eustachii
in die Trommelhöhle befördert. Dies geschieht bei
chronischen Katarrhen und Otitiden mit kleinen
Ocffnungen. Bei grösseren Trommclfelldefccten kann
der Sauerstoff auch direkt durch den äusseren Ce- I
l.örgang eingelassen werden. I
theil noch nicht bilden kann, ist doch so
viel gewiss, dass in allen Fällen den
Kranken eine Erleichterung verschafft
wurde, und in etlichen Fällen von eitern¬
den chronischen Otitiden auch Heilung
erzielt wurde. In acuten Fällen immer
Heilung. Ein Nachtheil dieser Behandlungs¬
methode ist der verhältnissmässig hohe
Preis des Gases. Aus diesem Grunde,
sowie auch, weil die Abfertigung ähn¬
licher Fälle etwas zeitraubend ist, ist diese
Behandlungsmethode besonders in stark
besuchten Ambulatorien etwas schwerer
durchführbar.
Stock (Skalsko).
(Casopis fieskyeh lekaiTi 1902: No. 44.)
G Ch. Aue bestätigt die guten Erfah¬
rungen, welche man mit subcut&nen Pa-
rafflninjectionen bei der Behandlung ver¬
schiedenartiger Defectbildungen gemacht
hat (vergl. d. Zeitschr. 1902, S. 420). Nach¬
dem Verfasser sich durch zahlreiche Ver¬
suche an Thieren von der völligen Un¬
schädlichkeit dieses Verfahrens überzeugt
hat, wandte er dasselbe bei einer 44jähri-
gen Frau an, die bereits seit zwanzig
Jahren eine Sattelnase hatte. Das Paraffin,
welches bei 42—43° schmilzt, wird erst im
Sandbad V 2 Stunde lang b£i 200° sterilisirt
und darauf mit einer Stein’schen oder
auch Pravaz’schen Nadel in die bereits
vorgemerkte Stelle injicirt. Die Injection
muss möglichst schnell von statten gehen,
da das Paraffin leicht erstarrt. Meist tritt
nach der Injection eine heftige Reaction
ein: in Verfassers Fall röthete sich die
Haut der Nase und wurde ödematös. Das
Oedem verbreitete sich bald auch über die
Stirn, die Augenlider und Wangen. Die
Patientin empfand einen starken Druck und
ein heftiges Brennen im ganzen Gesicht.
Vom dritten Tage an begannen die Be¬
schwerden nachzulassen, um am Ende der
ersten Woche völlig zu verschwinden. Nur
die Röthung der Haut hielt noch zwei
Wochen an. Nachdem noch 2 g Paraffin
injicirt wurden, war die Deformität, wie
aus den beigegebenen Abbildungen ersicht¬
lich ist, vollständig verschwunden, die Nase
hatte die frühere Form angenommen. Das
Schicksal des injicirten Paraffins will Ver¬
fasser noch genau verfolgen, vor der Hand
dürften die von Iuckuff gemachten An¬
gaben genügen, wonach das Paraffin zu¬
nächst eine reactive Entzündung hervor¬
ruft und später von einem ganzen Netz
von Bindegewebsfasern durchsetzt wird.
N. Grünstein (Riga),
(kusski Wratsch 1902, No. 34.)
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
89
In einer kürzlich erschienenen Mono¬
graphie ober die syphilitische Familie
und ihre Descendenz kommt der bekannte
russische Syphilidologe Professor W. M.
Tarnowsky zu nachstehenden Schluss¬
folgerungen :
1. In der Stadt wird die Syphilis meist
von den Männern in die Familie importirt,
die in der Regel vor der Ehe von
Prostituirten inficirt werden
2. Die syphilitische Heredität tritt in
dreierlei Weise zum Vorschein: einmal in
Form von ausgeprägter Lues hereditaria,
dann in Form von Dystrophien verschie¬
denster Art und schliesslich in Form von '
hereditärer Immunität. j
3. In allen diesen Formen kann die
syphilitische Heredität bei aquirirter Lues i
der Eltern (der I. Generation) auftreten.
4. Der hereditäre Einfluss der erwor¬
benen Lues ist am stärksten bei der zweiten 1
Generation ausgesprochen und hat wieder¬
holte Aborte, Todtgeburten, Kinder, die !
im frühesten Lebensalter zu Grunde gehen,
oder mit Erscheinungen von hereditärer
Lues bezw. verschiedenen sowohl anato¬
mischen, wie auch functioneilen Dystrophien
zur Welt kommen, zur Folge.
5. Die hereditäre Immunität der zweiten
Generation (Profeta’sches Gesetz) ist, von
wenigen Ausnahmen abgesehen, nur eine
temporäre.
6. Der Einfluss der syphilitischen Here¬
dität auf die dritte Generation ist bedeutend
abgeschwächt, so dass die Zahl der Ab¬
orte u. s. w. beträchtlich geringer ist, die
Erscheinungen der hereditären Lues voll¬
ständig fehlen und Dystrophien sehr selten
und von geringfügiger Natur sind.
7. Die aquirirte Lues der ersten Gene¬
ration wird auf die dritte Generation nicht
übertragen, wenigstens nicht in Gestalt der
uns bekannten Form der hereditären Lues.
Ebenso wenig wird auf die dritte Gene¬
ration die hereditäre Immunität gegen Lues
übertragen.
8. Eltern, die während der Conception
bezw. der Gravidität deutliche Erschei¬
nungen der Lues hereditaria tarda auf¬
weisen, übertragen auf ihre Kinder keine
Syphilis.
9. Die hereditäre Uebertragung der
Syphilis von Grosseltern auf Enkel, ohne
dass die Eltern irgend welche Symptome
von Lues aufwiesen, ist nicht beobachtet
worden und kann auch schwerlich zuge¬
geben werden.
10. Die syphilitische Heredität der zweiten
Generation äussert sich auf die dritte aus¬
schliesslich in Form von Dystrophien.
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11. Die dystrophirende Wirkung der
Syphilis, d. h. der ungünstige Einfluss der¬
selben auf die Lebensenergie des erkrankten
Organismen geht meist Hand in Hand mit
der Zu- bezw. Abnahme der Krankheits¬
symptome sowohl bei der aquirtrten (I. Ge¬
neration) als auch bei der hereditären
(II. Generation) Form der Syphilis.
12. Der dystrophirende Einfluss der
II. Generation entspricht in der Regel dem
Degenerationszustande derselben, d. h. je
zahlreicher und schwerer die Degerations-
erscheinungen der zweiten Generation sind,
um so zahlreicher und schwerer sind die
Dystrophien der dritten.
13. Die Heilung des syphilitisch infi-
cirten Organismus ist nicht identisch mit
der Restitution seiner Lebens- und Pro¬
kreationsenergie.
14. Die von Luetikern abstammende
zweite Generation, bei der weder Zeichen
von hereditärer Lues noch Dystrophien
vorhanden sind, zeugt in der Regel gesunde
Nachkommenschaft, vorausgesetzt, dass sie
sonst hereditär nicht belastet ist.
15. Dystrophien der zweiten Generation
werden als solche auf die dritte Generation
nicht übertragen.
16. Man beobachtet hereditäre Lues der
dritten Generation, wenn ein Mitglied der
zweiten Syphilis aquirirt. Diese Doppel-
infection — die hereditäre und aquirirte —
die Verfasser als Syphilis binaria be¬
zeichnet, kommt nach Tarnowsky’s An¬
gaben besonders häufig auf dem Lande
vor, wird aber nicht selten auch in der
Stadt beobachtet.
17. Die dritte Generation kann auch Er¬
scheinungen von hereditärer Lues aufweisen
in jenen seltenen Fällen, wo Mitglieder der
zweiten Generation mit Personen in die
Ehe treten, die Lues aquirirt haben.
18. Die doppelte Syphilis weist einige
Formen auf, die in ihrem Verlaufe sowohl
von der aquirirten als auch von der heredi¬
tären Lues abweichen: die Syphilis binaria
abortiva, levis et atypica. In den übrigen
Fällen verläuft sie genau so, wie bei Per¬
sonen, die von gesunden Eltern abstammen.
19. Die Syphilis binaria hat einen viel
ungünstigeren Einfluss auf die dritte Gene¬
ration, als die aquirirte auf die zweite: die
Zahl der Aborte, Todtgeburten u. s. w. ist
erheblich vermehrt, desgleichen weist die
dritte Generation Zeichen von hereditärer
Lues neben zahlreichen und schweren
Dystrophien auf.
20. Die sowohl anatomischen, als auch
functioneilen Dystrophien der Geschlechts¬
organe der zweiten und dritten Generation
12
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90
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
von Luetikern ist für den geringen Zuwachs
der syphilitischen Descendenz verantwort¬
lich zu machen.
21. Die Syphilis binaria ist eine der
Hauptursachen der raschen Degeneration
bei endemischer Syphilis (auf dem Lande,
in Dörfern u. s. w.)
22. Die Ansicht, dass die Lues mit der
DurchseuchungderBevölkerungan Intensität
abnimmt, ist nicht stichhaltig.
23. Die Dystrophien der dritten Gene¬
ration sind weder an und für sich noch in
ihrer Gruppirung für die luetische Here¬
dität charakteristisch.
24. Der ungünstige hereditäre Einfluss
der aquirirten Lues der ersten Generation
ist geringer bei der zweiten, noch geringer
bei der dritten und fehlt vollständig bei
der vierten.
25. Für eine richtige Prognose und
Therapie der Lues ist es von grosser Be¬
deutung, sich wenigstens über den Gesund¬
heitszustand der Eltern zu informiren.
26. Die Syphilis ist zweifelsohne von
weit grösserer Gefahr für die Descendenz,
als für das Individuum selbst.
Der Abhandlung ist unter anderem eine
Tabelle über 30 syphilitische Familien bei¬
gelegt. N. Grünstein (Riga).
(Die syphilitische Familie und ihre Descendenz,
Petersburg 1902, Rick er).
Zur Erkennung der fötalen Syphilis
bietet nach R. Hecker makroskopisch die
Milz die meisten Anhaltspunkte. In zweifel¬
haften Fällen führt die mikroskopische Unter¬
suchung der Niere am ehesten zu einem
Resultat. Denn sie widersteht am längsten
der Maceration und ist in 90°/ 0 der Fälle ver¬
ändert; falls eine makroskopische sichere
Diagnose auf fötale Syphilis unmöglich ist,
untersuche man mikroskopisch auf Verän¬
derungen an den Gefässen, dem Bindege¬
webe, den Epithelien der Nieren und auf
Entwicklungsstörungen. Erst wenn diese
Untersuchungen negativ ausfallen, soll man
die übrigen Organe vornehmen, und zwar
in der Reihenfolge: Milz, Thymus, Pankreas,
Lunge und Leber. P. Strassmann.
(Deutsche med. Wochenschr. No 45 u. 46.)
Wir haben vor Kurzem über die günsti¬
gen Erfolge berichtet (s. diese Zeitschr.
1902, S. 420). die mit der Gersuny’schen
Vaseline-Injeetion von mehreren Autoren
erzielt worden sind. Neuerdings berichtet
Topolanski über sehr befriedigende
Resultate dieser Methode bei Anomalieen
der Augenlider. Er hält dieses Verfahren
bei Entropium und Ektropium, bei Trichiasis
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und bei Verwachsung des Lides mit der
knöchernen Unterlage für das einfachste
und für den praktischen Arzt brauchbarste.
Leo Schwarz (Prag).
(Wiener med. Wochenschr. 1902 No. 42.)
Die glänzenden Arbeiten des russischen
Physiologen Pawlow und seiner Schüler
über die Thätigkeit der Verdauungs-
driisen, die uns eine ganze Anzahl neuer
Thatsachen erschlossen haben, haben
unsere Vorstellungen über den Mechanis¬
mus der Verdauung ausserordentlich ge¬
fördert und z. Th. in ganz neue Bahnen
gelenkt. Die Erfahrungen Pawlow’s, die
er bekanntlich im Jahre 1898 in seiner be¬
rühmten Monographie „Die Arbeit der
Verdauungsdrüsen“ zusammenfassend nie¬
dergelegt hat, haben uns schon damals in
ungeahnter Weise die mächtige Herrschaft
nervöser Regulirungen über alle Ver¬
dauungsvorgänge offenbart und sind seit¬
dem durch seine Schüler nach den ver¬
schiedensten Richtungen hin bestätigt und
weiter ausgebaut worden. Der Vortrag
des Heidelberger Physiologen O. Cohn-
heim über die Eindrücke, die er selbst in
den Arbeitsstätten Pawlow’s aufge¬
nommen hat, geben uns von der Art und
den Erfolgen der dort eifrig betriebenen
Arbeit ein anschauliches Bild, das wir
schon deshalb gerne hinnehmen, da die
einschlägige Litteratur vielfach nur in
russischer Sprache niedergelegt ist. —
Die Arbeitsstätte des grossen Petersburger
Physiologen ist ein Beweis dafür, wie
fruchtbringend die einseitige Vertiefung
experimenteller Arbeit werden kann: Die
ganze ihm unterstellte physiologische Ab¬
theilung des bekanntlich mit reichen Mitteln
ausgestatteten kaiserlichen Instituts für ex¬
perimentelle Medicin ist nur für Versuche
über die Innervation der Verdauung ein¬
gerichtet! Seine Stärke beruht in erster
Linie auf der glänzenden Technik, mit der
die dazu nothwendigen Thieroperationen
ausgeführt werden, die Pawlow übrigens
kürzlich selber im ersten Jahrgang der Er¬
gebnisse der Physiologie beschrieben hat.
Die Versuchsthiere sind ausschliesslich
Hunde von 25—30 kg Gewicht.
Cohnheim erzählt uns zuerst von der
Gewinnung des „psychischen Magensaftes“.
Dem Studium desselben dienen Hunde,
die eine Magenfistel haben und denen zu¬
gleich der Oesophagus durchschnitten ist.
Wenn man die Magenschleimhaut eines
Hundes durch die Magenfistel hindurch
mechanisch reizt, so tritt keinerlei Magen-
secretion ein. Giebt man dem Hund zu
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Februar
9t
Die Therapie der Gegenwart 1903.
fressen, so fällt zwar das Futter durch die ; Dieselbe wird aber nur dann secernirt,
Speiseröhrenfistel wieder heraus, aber der j wenn Trypsin in den Darmkanal eintritt.
Magen beginnt nach 5^2 Minuten reich- j Ist das nicht der Fall, so ist der Darmsaft
liehe Mengen eines stark sauren (0,5—06o/ 0 ! kinasefrei! Das fettspaltende Ferment des
HCl-haltigen) Magensaftes zu produciren. Pancreassaftes wird in ganz ähnlicher Weise
Das verschlungene Futter fällt damit durch j durch Galle activirt. Nur das Ptyalin des
die Fistel immer wieder von neuem in i Pancreassaftes bedarf anscheinend einer
den Fressnapf, und kann unter Umständen I derartigen Activirung nicht. Eine bisher
Stunden lang denselben Kreislauf nehmen, j unaufgeklärte Erscheinung ist die, dass der
Sogar das blosse Vorhalten des Futters Pancreassaft Ptyalin und Steapsin immer
genügt, um die Magensecretion in Gang zu j in gleicher Form enthält, Trypsin dagegen
setzen. Merkt der Hund hingegen, dass j als Proferment, wenn die Nahrung sich
ihm das Futter nur gezeigt wird, so ge- j aus Brod, Milch oder Kartoffeln zusammen-
nügt diese Erkenntniss bereits, die Secretion j setzt, dagegen als fertiges Trypsin bei
zu hemmen. „Das erfolgreiche Necken“ der Fleischzufuhr.
Versuchshunde, durch scheinbar unbeab- Der Eintritt der Magensalzsäure in das
sichtigtes Zerschneiden und Präpariren des Duodenum ist der auslösende Reiz für die
Futters am Nebentisch ist, wie O. Cohn- Secretion des Pancreassaftes, der Eintritt
heim berichtet, eine dort besonders ge- von Pepton und Fett in das Duodenum ist
schickt geübte Kunst. Auf diese Weise das Reizmoment für die Secretion der
gelingt es auch, diesen reinsten aller bis- Galle; eine psychische Einwirkung auf die
her dargestellten Magensaft in grossen Galle, wie wir sie oben auf die Magen-
Mengen zu gewinnen. 4 grosse Hunde secretion kennen lernten, existirt nicht,
fabriciren im Laufe eines Vormittags nicht Von Bedeutung sind auch die Beob-
weniger als 6—8 Liter Magensaft, welcher achtungen Pawlow’s über Hemmungsvor-
auch an Aerzte und Apotheker abgegeben gänge in der Magenverdauung vom Duo¬
wird und therapeutisch an Stelle von Salz- denum her. Man wusste bereits, dass
säure in Russland vielfach Verwendung gleichzeitiger Genuss von Fett neben Ei¬
findet. weiss die Magensaftsecretion verlangsamt;
Erstaunliche Resultate haben auch die die jüngsten Studien Pawlow’s haben
Studien am sogenannten kleinen Magen uns die Erklärung dafür gegeben: Berüh-
ergeben, den Pawlow bei Hunden operativ rung der Duodenalschleimhaut mit Fett
anlegt. Am Fundus des Magens wird hemmt den Akt der Magenverdauung auf
dabei ein künstlicher Blindsack geschaffen, reflectorischem Wege,
der mit dem Magen nur noch in nervöser Geradezu erstaunlich aber sind die
Verbindung steht. Die Secretionsvorgänge Versuchsergebnisse über die Innervation
laufen in ihm parallel mit denjenigen im der Speicheldrüsen: Ihr Secret setzt
Magen ab. Merkwürdiger Weise wird nun sich zusammen aus dem dünnen Chorda¬
ein nach Menge und Fermentgehalt ganz Speichel — Pawlow nennt ihn seiner
verschiedenartiger Magensaft abgesondert, Function halber Verdünnungsspeichel —
je nachdem man dem Thiere Milch, Fleisch und aus dem dicken Sympathicusspeichel
oder Brod zu fressen giebt. Ja, es genügt — dem Schmier- oder Gleitspeichel. Flösst
sogar, die oben beschriebene Scheinfütte¬
rung, um mit diesen Nahrungsmitteln ganz
verschiedenartigen Saft zu erzielen.
Auch die krankhafte Magensecretion ist
in den Untersuchungsbereich hereingezogen
worden. Im Zustand acuten Magenkatarrhs
erzeugt die Schleimhaut einen alkalischen
Schleim statt des sauren Magensaftes. Bei
der Heilung tritt erst ein Stadium der
Hypacidität dann der Hyperacidität ein.
Noch interessanter sind die Ergebnisse
der Studien über die Darmverdauung. Das
Trypsin ist im Paucreassaft in Form einer
Vorstufe, des Zymogens, enthalten. Der
Darmsaft nun liefert einen Körper, der aus
dieser Trypsin Vorstufe das freie Trypsin ja gewohnt, die Wunde zu belecken!
abspaltet und somit wirksam macht. Diesen Dieser Speichel fliesst aber schon, wenn
Körper nennt Pawlow Enterokinase. man den Paquelin vor den Augen des
man einem Hund Salzsäure ein, so secernirt
er massenhaft Verdünnungsspeichel. Macht
man die Salzsäure für den Hund durch
Schwarzfärbung kenntlich, so verursacht
dann sogar schon das Hinhalten einer be¬
liebigen schwarzen Flüssigkeit einem solchen
Hunde Speichelfluss und zwar Chorda¬
speichelfluss! Aehnlich kann man durch
blosses Vorzeigen specifischer Reizmittel
für den Sympathicusspeichel — z. B. von
trocknem Brod — die isolirte Secretion
desselben anregen!
Wenn man einem Hunde eine kleine
Verletzung mit dem Paquelin setzt, so
fliesst sofort Parotisspeichel, denn er ist
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92
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Versuchshundes anheizt: so fein ist der
reflectorische Innervationsvorgang der
Drüse.
Wir haben etwas länger bei diesem
interessanten Bericht Cohnheim’s über
die Arbeit und die Arbeitsstätten des
grossen russischen Physiologen verweilt,
weil uns dessen Scharfsinn und vollendete
Operationstechnik einen fein abgestimmten j
Zusammenklang der ganzen Verdauungs- |
thätigkeit durch Vermittelung reflectori-
scher Innervationsvorgänge zeigt, der fast
ans Unglaubliche grenzt. Diese auf exacten
Experimenten begründeten Vorstellungen
sind aber für die Pathologie der Ver¬
dauung grundlegend und müssen es
damit auch für therapeutische Ueber-
legungen des Internisten werden.
F. Umber (Berlin).
(Münch, med. Wochenschr. 1902, No. 52.)
Therapeutische Casuistik.
Zu der Mittheilung G. Klemperer’s „Lieber Fieber und Schüttelfröste
mit Leberschwellung etc.“, d. Z. S. 41, Heft 1.
Von Prol. C. A. Ewald-Berlin.
Sehr geehrter Herr College!
Der von Ihnen in der letzten Nummer
der Therapie der Gegenwart mitgetheilte
Fall von „ulcerirtenLebergummata“ erinnert
mich an eine einschlägige Beobachtung,
die dadurch erwähnenswerth ist, dass in
dem betreffenden Fall die Autopsie der
Leber in vivo vorgenommen wurde.
Es handelte sich um einen 44jährigen
Herrn, der längere Zeit in Mittel- und Süd¬
amerika, später in Südafrika gelebt hatte.
Anamnestisch wurde eine Jahre zurück
liegende syphilitische Infection zugestanden
und eine längere Erkrankung an Malaria,
die aber auch schon einige Jahre zurück
lag, angegeben. Der Herr war wegen eines
hartnäckigen Fiebers, Leberschwellung und
starkem Kräfteverfall nach Europa herüber¬
gekommen und suchte mich im Herbst 1896
hier auf. Es bestand ein intermittirendes
mit Schüttelfrösten verbundenes Fieber, das
aber nicht den regelmässigen Typus eines
Wechselfiebers hatte, vielmehr ganz un¬
regelmässig verlief und wie ein Eiterfieber
aussah. Starke Nachtschweisse belästigten
und schwächten den Kranken in hohem
Maasse. Er war stark abgemagert, appetit¬
los, fühlte sich matt und elend. Objectiv
war eine Schwellung der Leber, die den
Rippenbogen um etwa zwei Querfinger
überragte, zu fühlen. In der Gegend der
Gallenblase eine höckrige harte Hervor-
ragung, die für die intumescirte Gallen¬
blase imponirte. Hier war auch bei Druck
eine ausgesprochene Empfindlichkeit vor¬
handen. Die übrigen Organe waren ohne
Abnormitäten, vor Allem die peripheren
Lymphdrüsen und die Milz ohne nennens-
werthe Vergrösserung. Eine geringe Schwel¬
lung wurde auf die frühere Syphilis resp.
Malaria geschoben. In den Ausscheidungen
nichts Besonderes. Kein Ascites, kein Icterus.
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Es lag am nächsten, an einen Leber-
abscess (oder mehrere) zu denken, der mit
einer Schwellung der Gallenblase verbun¬
den war. Da aber mehrere sowohl vorn
wie hinten ausgeführte Probepunctionen er¬
folglos waren — Chinin und andere Anti-
pyretica blieben ohne jede Einwirkung auf
den Zustand — und da der einzig greif¬
bare Anhaltspunkt der fragliche Gallen¬
blasentumor war, so nahm ich eine eitrige
Cholecystitis mit Gallensteinen an und zog
Herrn Collegen Sonnenburg zwecks eines
operativen Eingriffs hinzu. Gegen eine
maligne Neubildung sprach vor Allem der
lange Bestand des Fiebers — obwohl sie
ja auch mit positiver Sicherheit nicht aus-
zuschliessen war — gegen Syphilis der
Umstand, dass der Patient mehrere anti¬
syphilitische Curen Vorjahren durchgemacht
und seit der Zeit keine Zeichen von Sy¬
philis mehr gehabt hatte.
Die Laparotomie ergab ein ganz un¬
erwartetes Resultat. Die Leber zeigte sich
auf ihrer Oberfläche von fibrös schwieliger
Entartung und dadurch in mehrere grosse
Lappen abgeschnürt, deren einer, am vor¬
deren Rande des rechten Lappens gelegen,
den Eindruck der geschwollenen und harten
Gallenblase gemacht hatte. Mit einem Wort,
eine Hepar lobatum, die offenbar auf syphi¬
litischer Basis entstanden war. Auch fan¬
den sich Adhäsionen mit den Nachbar¬
organen, besonders am Hilus V. Port. Nach
Trennung derselben wurde die Bauchwunde
geschlossen und nach Verheilung derselben
eine antisyphilitische Behandlung eingeleitet
(Schmiercur). Der weitere Verlauf war nun
nicht so schnell und glatt wie in den
von Ihnen mitgetheilten Fällen. Immerhin
schwand das Fieber nach kurzer Zeit und
die Leberschwellung nahm ab. Aber eine
gewisse Empfindlichkeit in der Lebergegend
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Februar
93
Die Therapie der Gegenwart 1903.
und allerlei nervöse Symptome blieben
noch lange bestehen, wie denn auch das
Verhalten des Digestionstract noch manches
zu wünschen übrig Hess. Der Patient be¬
suchte später Baden bei Zürich, nahm einen
längeren Aufenthalt in der Schweiz, machte
eine zweite Schmiercur durch, war dann
einige Zeit in Wiesbaden, kurzum kam erst
im Jahre 1899 so weit, dass er sich wieder
im Vollbesitz seiner Kräfte fühlte und nach
Afrika zurückgehen konnte.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass
auch in diesem Falle das Fieber des Pa¬
tienten syphilitischer Natur war. Der Um¬
stand. dass es unter der Einwirkung der
specfischen Behandlung alsbald zurückging
und dann nicht mehr wiederkehrte, ist Be¬
weis genug dafür. Dass in der That eine
syphilitische Leberaffecdon vorlag, zeigte
die directe Besichtigung bei der Laparo¬
tomie und wenn wir auch bei der immer¬
hin nach Lage der Dinge flüchtigen und
nur auf einen kleinen Theil der vorliegen¬
den Leberoberfläche beschränkten Ocular-
inspection ein Gumma nicht wahrgenommen
haben, so ist bei der ausgedehnten peri-
hepatidschen Entzündung das gleichzeitige
, Bestehen von Gummata so gut wie sicher.
Auffallender Weise wird in den mir
l augenblicklich zur Hand befindlichen Spe-
| cialwerken dieses Vorkommnisses gar keine
I Erwähnung gethan. Dagegen hat C. Ger-
1 hardt in seinem inhaltsreichen Vortrag
1 „Ueber die Syphilis einiger innerer Or-
i gane“ (Berliner klinische Wochenschrift
1900, No. 46, S. 1046) auch das Fieber bei
der Lebersyphilis „meist hectischen Charak-
1 ters und mit Nachtschweissen verbunden“
| beschrieben und eine Darlegung der in
i Betracht kommenden differential diagnosti-
i sehen Momente gegeben. Der Schüttel-
I fröste thut er allerdings keine Erwähnung.
! Genehmigen Sie etc.
Ewald.
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Bemerkungen über die Schädlichkeit der Borsäure.
Von Professor Carl von Noorden -Frankfurt a. M.
In der letzten Zeit sind von ver¬
schiedenen Seiten Mittheilungen über die
schädliche Einwirkung der Borsäure auf
Schleimhäute erfolgt. Eine kurze Be¬
merkung darüber findet sich schon in der
Arbeit von C. Roese (Zeitschr. f. Hygiene,
1901, Bd. 36, S. 161). Bald darauf be¬
schrieb Le Clerc das Auftreten von So-
matitis nach Mundspülungei} mit 3.75 pro-
centiger Borsäurelösung (Semaine medicale
1903. pag. 48) Neuerdings tritt G. Merkel
der Ansicht von der Unschädlichkeit der
Borsäure sehr scharf entgegen und er¬
wähnt das Auftreten von Magen- und
Darmkatarrhen, ferner von Erythemen nach
ihrem Gebrauch (Münch, raed. Wochen¬
schrift 1903. No. 3).
Die neuerdings sich häufenden Angaben
über Schädigung der Schleimhäute durch
Borsäure veranlassen mich, auf gewisse
schon mehrere Jahre zurückliegende Er¬
fahrungen über Borsäure kurz zu berichten.
Es war von mir auf meinen Kranken- j
abtheilungen eingeführt worden, dassTuber- |
kulöse, ferner Patienten mit Diphtherie, j
Scharlach, Angina, Typhus und anderen ,
Infectionskrankheiten sich einer 3 l /a%'gen |
Borsäure-Lösung als Mundwasser zu be- j
dienen hatten. Nachdem die Verordnung |
schon längere Zeit bestanden, ohne dass ;
besondere Vorkommnisse zu meiner Kennt-
niss gelangt wären, kamen auf der Ab¬
theilung für leichtere tuberkulöse Lungen¬
erkrankungen in kurzen Zwischenräumen
mehrere Fälle von ausgesprochener, hefti¬
ger, diffuser Stomatitis vor (besonders
Schwellung der Schleimhaut an Lippen
und Zahnfleisch, Schwellung der Zungen¬
ränder, trübes Aussehen der Wangen¬
schleimhaut, Speichelfluss, Empfindlichkeit,
hier und da auch oberflächliche Geschwür-
chen). Während der Stomatitis benutzten
die Patienten eine sehr dünne Lösung
von Kali chloricum zum Mundspülen;
dies brachte die Entzündung in 2 bis 3
Tagen zum Verschwinden. Meine Ver-
muthung, dass die Borsäure an dem Auf¬
treten der Mundentzündungen Schuld sei,
erhielt dadurch eine Stütze, dass zwei Pa¬
tienten, sobald sie nach Abheilung der Sto¬
matitis wieder zu Borsäurespülungen über¬
gingen, schwerere Recidive bekamen. Na¬
türlich wurden nach diesen mir damals voll¬
kommen neuen Erfahrungen die Borsäure-
Gargarismen abgeschafft, und damit ver¬
schwanden auch die Mundentzündungen
sofort. Genaueres Nachfragen ergab, dass
auch schon früher einzelne Kranke die
Schwester ersucht hatten, sie möge ihnen
das Mundspülwasser nicht so stark machen,
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1903.
da sie darnach eine dicke Zunge und ge- erwähnt: eine Krankenpflegerin nahm in
schwollenes Zahnfleisch bekämen. Be- einem Anfall übler Laune 9 bis 10 g Boir-
achtenswerth ist, dass die Mundentzündungen säure in einem Glas Wasser (ca. 200 ccm),
immer nur bei einzelnen Kranken auftraten, Sie bekam darnach heftige Magenschmerzen
während die meisten dadurch nicht ge- i und Durchfälle und behielt noch mindestens
schädigt wurden. 6 Wochen lang einen starken Magen-Darm-
Anhangsweise sei noch folgender Fall Katarrh, der ihre Kräfte sehr reducirte.
Aus der Privatklinik von Dr. Karewski, Berlin.
Zur Verwendung des Wasserstoffsuperoxydes 1 ) als Verbandmittel.
Von Dr. Ernst Unger.
Das Wasserstoffsuperoxyd fand seit j
langer Zeit als Desodorans in der Praxis |
Verwendung; zu anderen Zwecken, ins- j
besondere als Desinficiens gebrauchte man I
es seltener, weil dem bisherigen Präparate j
mannigfache Nachtheile anhafteten. Erstens
war es die leichte Zersetzlichkeit, die be¬
wirkte, dass das Präparat unwirksam wurde,
und zweitens waren es Säuren (Salzsäure
und Schwefelsäure), die von seiner Dar¬
stellung herrührten und bei seiner Ver¬
wendung nachtheilig wirkten. Durch
Merck in Darmstadt wird nun seit zwei
Jahren ein Hydrogen, peroxydatum purissi-
mum, 30 Gewichtsprocente H 2 O 2 enthaltend,
hergestellt. Die bisher in den Apotheken
käufliche Lösung enthält meist kaum 3°/ 0
H 2 O 2 . Durch v. Bruns und Honseil ist
dieses neue Wasserstoffsuperoxyd speciell
für chirurgische Zwecke geprüft und em¬
pfohlen worden. Wir haben mit Proben,
die uns die Firma Merck zur Verfügung
stellte, sowohl in der klinischen, wie poli¬
klinischen Praxis Nachprüfungen angestellt
mit 1%. 30 / 0 . und 10%. Lösungen. Es
mag hier bemerkt werden, dass man diese
Lösungen nicht durch einen Kork ver-
schliessen darf; es genügt, eine Kappe aus
gewöhnlichem Papier oder Guttapercha¬
papier aufzusetzen.
Vor Allem ist hervorzuheben, dass das
Präparat vollkommen ungiftig ist; üble
Nebenwirkungen (Ekzeme und Intoxicatio-
nen) sind ausgeschlossen, eine Eigenschaft,
die bei Personen mit empfindlicher Haut
nicht zu unterschätzen ist. Die 1 %. und
3%. Lösungen werden in Form feuchter
Verbände verwandt. Bei oberflächlichen
Lymphgefässentzündungen, bei Panaritien,
insbesondere beim Erysipeloid leistet es
ebenso gute Dienste wie essigsaure Thon¬
erde oder Sublimat, ohne die Haut wesent¬
lich zu verändern. Vor dem Alkohol hat
es den Vorzug, die Haut nicht in gleicher
Weise wie dieser auszutrocknen; für Ver¬
bände im Gesicht ist wichtig, dass das
H 2 O 2 selbst völlig geruchlos ist. Bei ober¬
30% von Merk (Darmstadt).
flächlichen, wie tiefen Ulcerationen be¬
wirkt das H 2 O 2 schon in 24 Stunden eine
völlige Beseitigung des Geruches in oft
überraschender Weise. Daher ist seine
Anwendung auch bei jauchenden zerfallen¬
den Geschwülsten indicirt und wären Ver¬
suche, entzündliche Vorgänge im Uterus
zu beeinflussen, wohl aussichtsvoll. Bei
oberflächlichen Wunden ist die Secretion
schon nach 2—3 Tagen beträchtlich ge¬
ringer; die Wunde nimmt ein trockenes,
sauberes Aussehen an; der vorher zer¬
fallene, unterminirte Rand wird durch
weisse Streifen gesunder Epidermis, die
sich besonders im Beginn der Behandlung
schnell entwickelt, ersetzt. Tuberkulöse
Fisteln der Weichtheile werden mehrere
Tage hindurch mit 10%. HgOs-Gaze feucht
tamponirt; es erfolgt zunächst eine grössere
Abscedirung, wobei die necrotischen Ge-
websfetzen des Ganges abgestossen werden;
sodann bilden sich gute Granulationen.
Eine specifische Wirkung oder Heilung
darf man nicht erwarten.
In mehreren Fällen progredienter Phleg¬
monen der Extremitäten, sowie in 2 Fällen
ausgedehnter Vereiterung inguinaler Drüsen
wurde die Wundfläche zunächst mit der
10%. Lösung berieselt. Das H 2 O 2 bildet
mit dem Blut und Secret eine stark auf¬
schäumende Masse, kleine necrotische Par¬
tikelchen werden dadurch aufgewirbelt und
weggeschwemmt. Gleichzeitig wirkt diese
Lösung hämostatisch; kleinere capilläre
Blutungen kommen zum Stillstand. Wird
der Schaum durch Betupfen entfernt, so
zeigt sich das Gewebe oberflächlich geätzt,
ohne dass es zu einer tieferen Zerstörung
auch bei Anwendung dieser stärkeren
10%. Lösung käme; in den folgenden
Tagen wurde feucht mit der 3%. Lösung
tamponirt. Es gelang jedoch nicht, eine
völlige Ueberhäutung durch das H 2 O 2
herbeizuführen; um dies zu erreichen, be¬
streuen wir neuerdings die Wunden mit
Vioform oder verbinden mit Vioform-
Gaze, um eine völlige Vernarbung zu be¬
wirken.
Februar
95
Die Therapie der
Aus klinischen Erfahrungen ergiebt
sich, dass dem H 2 O 2 direct desinficirende ;
Wirkung zuzuschreiben ist ; Hon seil
schlägt dieselbe hoch an und stellt eine
3%. Lösung etwa auf die gleiche Stufe wie
1 °/ 00 . Sublimatlösung. Eine chemische Wir¬
kung des nascirenden Sauerstoffes auf j
Bakterien glaubt Honsell nicht annehmen i
zu können. Nach unserer Ansicht käme
vielleicht eine direct bactericide Wirkung
'Gegenwart 1903.
gegenüber anaöroben Bakterien in Be¬
tracht.
Das H 2 O 2 besitzt also verschiedene
Vorzüge vor anderen Desinficientien: seine
schnelle Wirkung als Desodorans, seine
Ungiftigkeit lassen es vielen anderen Mit¬
teln überlegen erscheinen, insbesondere ist
es, wie v. Bruns und Honsell betonen,
bei progredienten Phlegmonen und jauchi¬
gen Processen indicirt.
Kreosotal gegen Pneumonie . ] )
Von Dr. Bernhard Friedemann -Kaukehmen.
Ich habe von Anfang März bis Novem- i
ber des vorigen Jahres in 14 Fällen von
croupöser Pneumonie Gelegenheit gehabt, j
Kreosotal anzuwenden. Von diesen führe i
ich hier 10 Fälle an, da von den übrigen
nähere Aufzeichnungen nicht mehr vor- j
handen sind. Jedoch war auch in diesen
vier hier nicht erwähnten Fällen der Erfolg
ein gleich guter.
Fall 1. Besitzerfrau S. in B. t ca. 32 Jahre
alt, sehr schwächliche Frau, erkrankte am
10. März an Pneumonie und wurde von mir
am 11. März besucht und behandelt. Infiltration ;
des linken oberen Lungenlappens. Knister- :
rasseln, blutiger Auswurf. Temperatur 39,7.
Fieberphantasien, kleiner Puls. Verordnung:
6 g Kreosotal in 24 Stunden zu nehmen, feuchte
Brustumschläge.
13. März: Allgemeinbefinden vorzüglich.
Temperatur normal. Patientin sitzt im Bett
und hat bereits mit gutem Appetit gegessen.
In der Nacht zuvor soll sie etwas geschwitzt j
haben. Eine deutliche Aufhellung der früheren
Dämpfung ist bemerkbar. Der Auswurf ist
nicht mehr röthlich gefärbt. Weiterer Verlauf
der Krankheit regelrecht.
Fall 2. Besitzers, in B., der Ehemann der
vorigen, ca. 40 Jahre alt. erkrankte am 15. März
gleichfalls an Lungenentzündung. Ausgedehnte
Dämpfung auf der rechten Brustseite. Tempe¬
ratur 40,2. Heftige Seitenstiche und Luft- I
mangel.
Verordnung: Kreosotal 8,0. Feuchte Brust¬
umschläge. j
1 ) Kreosotal wird namentlich in Amerika viel als
Specificum gegen Pneumonie empfohlen. Die darüber |
bisher erschienenen Berichte sind natürlich mit
grösster Vorsicht aufzunehmen, weil bekanntlich bei
keiner Krankheit schwerer zu entscheiden ist, ob der
erzielte Heilerfolg wirklich von der geleisteten Kunst- 1
hilfe abhängt. Ueber den Heilwerth eines Mediea-
ments bei der Pneumonie kann erst nach hundert¬
fältiger Anwendung entschieden werden. Immerhin
erschien es uns nicht ohne Interesse, den obigen
Bericht zur Kenntniss der Collegcn zu bringen. Von
grossem Werth wäre es, wenn nun auch Berichte über
negative Erfolge nicht zurückgehalten würden. Diese
JRubrik ist jedem hierhergehörigen Beitrag geöffnet.
" Red.
Digitized by Google
17. März: Kein Fieber. Patient hat gut ge¬
schlafen, klagt aber noch über heftige Seiten¬
stiche. Die Dämpfung ist noch deutlich vor¬
handen. Nach einer abermaligen Gabe von
Kreosotal tritt rasch Besserung und Genesung
ein. Nach achttägigem Krankenlager steht Pa¬
tient bereits auf. Ueber eine Krisis konnte
nichts Bestimmtes ermittelt werden.
Fall 3. Arbeiter M. aus K. erkrankte am
11. März an linksseitiger Pneumonie mit hohem
Fieber. Er erhielt vom 12. März an Kreosotal.
worauf sehr bald Besserung eintrat. Am vierten
Tage Krisis mit Schweissausbruch. Rasche
Auf hellung der Dämpfung und Genesung.
Fall 4. Besitzer S. aus W., in mittleren
Jahren, Potator, erkrankte am 28. März. Links¬
seitige croupöse Pneumonie. Die Krankheits-
erscheinungen waren äusserst schwer. Tempe¬
ratur 40,3. Fieberdelirium. Fliegender Puls.
Benommenheit.
Verordnung: Kreosotal 8.0; Salipyrin,feuchte
Umschläge. Die schweren Erscheinungen, na¬
mentlich das hohe Fieber, Hessen am nächsten
Tage nach, doch hielten die Bruststiche noch
an. Am 1. April fand ich Patienten fieberfrei.
Die Dämpfung war bedeutend zurückgegangen,
das Allgemeinbefinden war gut. Baldige Ge¬
nesung. Eine deutliche Krisis konnte nicht
festgestellt werden.
Fall 5. Am 1. April berichtete mir die
Arbeiterfrau B. aus S., dass ihr 17jähriger
Sohn an Lungenentzündung erkrankt sei. Da
ich keine Gelegenheit hatte, den Kranken zu
sehen und zu untersuchen, verordnete ich zu¬
nächst Decoct. Althaeae und feuchte Brust¬
umschläge. Am 3. April fuhr ich zu dem 6 km
entfernt wohnenden Kranken und stellte eine
croupöse Pneumonie fest. Temperatur 39,4.
Dämpfung links über dem ganzen unteren
Lungenlappen.
Verordnung: Kreosotal 6,0 zum Verbrauch
in 24 Stunden. Am nächsten Tage war Pa¬
tient fieberfrei ohne Beschwerden. Eine deut¬
liche Krisis konnte nicht festgestellt werden.
Fall 6. Am 12. April wurde ich zu Frau
N. aus K. gerufen, welche am Tage zuvor er¬
krankt war. Ich fand eine rechtsseitige crou-
pöse Pneumonie. Keine besonders schweren
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Februar
Die Therapie der Gegenwart 19C3
96
Krankheitserscheinungen. Temperatur 38.4.
KlopfschaU über dem rechten unteren Lungen¬
lappen abgeschwächt. Knisterrasseln. Rost¬
farbenes Sputum. Veroidnung: Kreosotal 8,0.
Feuchte Kompressen.
Am 15. April, also am fünften Krankheits¬
tage, wurde mir berichtet, dass cs der Patientin
sehr gut ginge und dass sie bereits einige
Stunden ausser Bett zugebracht habe. Weitere
Beobachtungen fehlen.
Fall 7. Fleischermeister B. ausK., ca.30Jahre
alt, Potator, erkrankte in der Nacht vom 30. zum
31. April zum dritten Male an sehr schwerer
croupöser Pneumonie. Er hatte am Tage vor¬
her eine grössere Wagenfahrt gemacht, war
tüchtig durchnässt und hatte viel Alkohol zu
sich genommen. Ich wurde noch in der Nacht
zu ihm gerufen und fand ihn in sehr bedenk¬
lichem Zustand, im Fieberdelirium mit fliegen¬
dem Puls. Temperatur 40.6. Dämpfung über
dem linken unteren Lungenlappen. Rostbraunes
Sputum, mit Blut untermischt.
Verordnung: Kreosotal 8.0 in 24 Stunden
zu verbrauchen. Feuchte Kompressen um die
ganze Brust.
Am Nachmittage des 31. April waren alle
bedrohlichen Erscheinungen verschwunden.
Temperatur 37,8. Puls kräftig und regelmässig.
Athmung ruhig. Patient hatte bereits einige
leichte Speisen zu sich genommen und fühlte
sich garnicht mehr krank. Die frühere Dämpfung
war deutlich nachweisbar.
Am 1. Mai neue Verordnung von Kreo¬
sotal 8,0.
Am 2 Mai war die Dämpfung fast ganz
verschwunden, nachdem in der Nacht starke
Schweissabsonderung eingetreten war. Tem¬
peratur regelrecht. Schnelle Genesung.
Fall 8. Am 19. Mai wurde ich zu dem
11jährigen Besitzersohn M. aus B. gerufen,
welcher bereits am 16. d. M. an schwerer
Lungenentzündung erkrankt war. Dämpfung
fast über der ganzen linken Brustseite Tem¬
peratur 40.8. Heftige Fieberphantasien. Kleiner,
fliegender Puls.
Verordnung: Kreosotal 5,0. Feuchte Kom¬
pressen.
In der Nacht darauf trat starker Schweiss¬
ausbruch ein, dann baldige Besserung und
Genesung.
Fall 9. Besitzer A. aus J. erkrankte am
I.Juni an linksseitiger croupöser Pneumonie
ohne besonders schwere Krankheitserschei¬
nungen.
Am 2. Juni Temperatur 38,5.
Verordnung: Kreosotal 8,0. Feuchte Kom¬
pressen.
Am 4. Juni war Patient fieberfrei und ohne
Beschwerden. Ueber den Eintritt einer Krisis
konnte nichts ermittelt werden.
Fall 10. Fleischersohn P. aus K., 9 Jahre
alt, erkrankte in der Nacht vom 7. zum 8. Juni
an Lungenentzündung.
8. Juni: Ausgedehnte Dämpfung links unten.
Temperatur 40,4. Athemnoth und Benommen¬
heit.
Verordnung: Kreosotal 5,0. Feuchte Kom¬
pressen.
9. Juni: Patient sitzt im Bett, spielt und
hat bereits mit Appetit gegessen. Temperatur
37,5. Die frühere Dämpfung ist noch deutlich
vorhanden.
10. Juni: Der gleiche Befund. Patient hat
gut geschlafen und ist fieberfrei. Kreosotal
wird ausgesetzt.
11. Juni: Rückfall. Temperatur39,5. Seiten¬
stiche, Athemnoth.
Veroidnung: Kreosotal 5,0.
12. Juni: Patient hat in der Nacht etwas
geschwitzt und fühlt sich jetzt ganz wohl.
Temperatur 37,4.
Die Dämpfung bestand noch einige Tage,
um sich dann sehr bald aufzuhellen. In kurzer
Zeit trat Genesung ein.
Der letztere Fall ist ganz besonders inter¬
essant wegen des durch die zu frühe Aus¬
setzung des Kreosotal bedingten Rückfalles*
| In Fall 4 und 7 handelte es sich um ganz be-
1 sonders schwere Erkrankungen bei Potatoren,
welche einen das Leben bedrohenden Charakter
anzunehmen schienen, aber auch hier die gleiche
frappante Wirkung.
Man giebt das Kreosotal am besten in
Emulsion in möglichst grossen Dosen, da
es gut vertragen wird, bei Erwachsenen
etwa 6 bis 8 Gramm, bei Kindern von 8
bis 14 Jahren die Hälfte, bei kleineren
Kindern entsprechend weniger.
In welcher Weise sollen wir uns nun
die Wirkung des Kreosotal vorstellen?
Sicherlich muss dieselbe eine baktericide
und entwickelungshemmende sein für die
Erreger der croupösen Pneumonie. Das
beweist am besten das schon öfters beob¬
achtete Wiederaufflammen der Krankheit
bei zu frühzeitiger Aussetzung des Mittels.
Andererseits aber muss auch angenommen
werden, dass das Kreosotal den Stoff-
wechselproducten der Pneumococcen, die
doch jedenfalls die Ursache der schweren
Allgemeinerschainungen sind, direct ent¬
gegenwirkt oder doch sie beseitigt. Sonst
könnte man sich den schnellen Abfall der
Temperatur und die so schnelle Besserung
des ganzen Allgemeinzuatandes kaum er¬
klären; denn beides tritt gewöhnlich schon
nach 12 bis 24 Stunden ein. Jedenfalls
könnten darüber noch weitere Beobach¬
tungen und wissenschaftliche Untersuchun¬
gen näheren Aufschluss geben. Interessant
wäre es z. B., zu untersuchen, ob auch
bei anderen durch den Pneumococcus her¬
vorgerufenen Erkrankungen eine ähnliche
Wirkung des Kreosotal zu bemerken ist*
Für die Redaction ver..ntw<>r tlich: Prof. G. Klemperer in Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Orst.-rreicii-Ungarn:
Eugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban&Schwarienberg
in Wien und Berlin.
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Gck igle
Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1903
herausgegeben von Prof. Dr. Q. Klemperer
in Berlin.
März
Nachdruck verboten.
Ueber eine neue Klasse von Schlafmitteln.
Von Emil Fischer und J, v. Merlos*
Fast ebenso dunkel wie das Wesen des
natürlichen Schlafes ist trotz der nicht ge¬
ringen Zahl von synthetischen Schlafmitteln
der Zusammenhang zwischen chemischer
Constitution und pharmakologischer Wir¬
kung. Die seit der Einführung des Chloral-
hydrats in den Arzneischatz durch Lieb¬
reich im Jahre 1869 aufgefundenen Hypno-
tica ordnen sich chronologisch] in folgende
Reihe: Urethan, Paraldehyd, Amylenhydrat,
Sulfonal, Trional und Chloralformamid;
dazu sind in neuerer Zeit das Dormiol und
endlich das Hedonal oder Methylpropyl-
carbinol-Urethan gekommen. Betrachtet
man die Structurformeln der angeführten
Stoffe, so ergiebt sich ein so grosser Unter¬
schied, dass die schlafmachende Wirkung
offenbar ganz verschiedenen Atomgruppen
zukommt. Nach der chemischen Zusammen¬
setzung lassen sich die genannten Mittel
in 4 Klassen eintheilen. Zu dem Chloral-
hydrat gehören selbstverständlich sein di-
rectes Derivat, das Chloralformamid (Chlo-
ralamid) und aller Wahrscheinlichkeit nach
auch der Paraldehyd, der ja nichts weiter
ist als die polymere Form des Acetalde¬
hyds, von dem das Chloralhydrat abge¬
leitet wird. Eine zweite Klasse repräsen-
tirt das Amylenhydrat oder tertiärer Amyl¬
alkohol von folgender Structur
ch 8X
CHs^C—OH
in welchem ausser der Alkoholgruppe das
mit drei Alkyl verbundene Kohlenstoffatom
der Träger der schlafmachenden Wirkung
zu sein scheint.
Ein Mittelding zwischen dieser ersten
und zweiten Klasse bildet das Dormiol,
welches die Combination von Chloralhydrat
und Amylenhydrat ist. Die dritte Klasse
repräsentirt das Urethan und sein Derivat,
das Hedonal und die vierte Klasse endlich
bilden die schwefelhaltigen Disulfone, von
denen das Trional folgende Structur besitzt.
ch 3V/ so 2 *c 2 h 5
QHy'CxSOaCaHs.
Sie haben mit dem Amylenhydrat eine ge¬
wisse Aehnlichkeit, denn das Centrum des
Moleküls ist hier ein Kohlenstoffatom, das
mit zwei Alkyl und zwei sehr fest haftenden
Digitized fr
■V Google
Sulfonresten verknüpft ist Weiterhin ist dem
Amylenhydrat und den Disulfonen die An¬
wesenheit des Aethyls gemeinsam. Durch die
Beobachtungen von Thierfelder und dem
Einen von uns, 1 ) die später von Baumann
und Käst, 9 ) sowie von Schneegans und
dem Einen von uns 8 ) wesentlich vervoll¬
ständigt wurden, wissen wir, dass von der
Anzahl der Aethylgruppen die schlaf¬
machende Wirkung der Alkohole und Disul¬
fone stark beeinflusst wird.
Auf Grund dieser Betrachtungen schien
es uns interessant, andere Stoffe, die ein mit
mehreren Aethylgruppen beladenes und
tertiär oder quaternär gebundenes Kohlen¬
stoffatom enthalten, auf die schlafmachende
Wirkung zu prüfen, und es ist uns in der
That gelungen, eine neue grosse Klasse von
Schlafmitteln dieser Art aufzufinden. Sie
sind Harnstoffderivate. Die einen leiten sich
ab von den Dialkylessigsäuren; als Reprä¬
sentant derselben führen wir die Diäthylver-
bindung an, welche folgende Structur hat:
C 2 H 5W H
C 2 H5/ c \CO~NH—co—nh 2
und deshalb als Diaethylacetylharnstoff zu
bezeichnen ist.
Die anderen sind Abkömmlinge der
Diaethylmalonsäure mit cyklischer Structur
des stickstoffhaltigen Theiles.
Als wichtigsten Körper dieser Gruppe
nennen wir den Diaethylmalonylharnstoff
mit der Structurformel
C 2 H 5 CO—NH
>c/ >co
C 2 H 5 X x co-nh
Durch Verbesserung der synthetischen
Methoden ist es uns möglich gewesen,
nicht allein zahlreiche Glieder der beiden
erwähnten Klassen, sondern auch andere
ähnliche Derivate der Dialkylmalonsäuren
der pharmakologischen Untersuchung zu¬
gänglich zu machen und so einige über¬
raschende Beziehungen zwischen chemischer
Constitution und schlaferregender Wirkung
festzustellen. Die folgende Zusammen¬
stellung der Beobachtungen am Hunde ist
nach chemischen Gesichtspunkten geordnet.
*) Zeitschrift f. physiolog. Chemie 9, 511 (1885).
2 ) Zeitschrift für physiol. Chem. 14, 52 (1889).
3 ) Therapeutische Monatshefte 1892, 327.
13
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
98
März
Die Therapie der Gegenwart 1903.
A. Säuren.
1 . Diaethylessigsäure COOH
2 . Diaethylmalonsäure QHp^^COOH
c 2 h 6 \ 5
3. Diaethoxalsäure C 2 Hö-^C—COOH
HCk
4. Dimethylaethylessigsäure
CH 3 \
CHb —tC—COOH
c 2 h */
Alle vier Verbindungen waren bei einem
Hunde von 7,5 Kilo in einer Dosis von
5 g per os wirkungslos.*)
B. Amide.
1 . Diaethylacetamid
c 2 h 5X
c 2 h 5 ;ch-co-nh 2
c 2 h 5 /
2. Diaethylmalonamid
C 2 H 5 \ r /CO—NH 2
C 2 H5A\CO-NH 2
3. Dipropylmalonamid
CsHtvp/CO-NHs
c 8 h 7 A\co—nh 2
4. Trimethylacetamid
CH S v
CH S -)C—CO—NH 2
CH S /
Sie waren ebenfalls in Dosen von 4—5 g
bei einem Hunde von 7,5 Kilo Gewicht
ohne Wirkung.
C. Harnstoffderivate.
I. Abkömmlinge der Dialkylessig-
säure.
1. Diaethylacetylharnstoff
C2Hy>CH—CO—NH—CO—NH3
Ein Hund von 8 Kilo erhält Morgens 9 Uhr
2 g fein gepulvertes Präparat per os. 9 Uhr
30 Min. leicht schwankender Gang. 10 Uhr
stärkeres Schwanken und motorische Un¬
ruhe. 11 Uhr letztere geringer, das Thier
taumelt beim Gehen. 4 Uhr Nachmittags
erscheint es leicht betrunken, frisst mit
Appetit. Abends 6 Uhr normaler Zustand.
Ein Hund von 5 */ 2 Kilo erhält 3 g um
12 Uhr Mittags. 12 Uhr 15 Min. geringe
Unsicherheit in den Bewegungen, 12 Uhr
30 Min. taumelt das Thier hin und her.
1 Uhr liegt es schlafend am Boden. 4 Uhr
schläft es fest; aufgeweckt trinkt es mit
Unterstützung Milch, schläft aber sofort
wieder ein. 10 Uhr noch fester Schlaf.
Am andern Morgen geht es taumelnd um-
J ) Die früher von Schneegans und dem Einen
von uns gemachte Angabe, dass die Dimethylaethyl¬
essigsäure narkotisch wirke, hat sich bei neuen Ver¬
suchen mit einem ganz reinen Präparate nicht bestätigt.
Digitized b
■V Google
her, schläft aber nicht mehr. Mittags
1 Uhr normal.
2. Dipropylacetylharnstoff
QH^CH - CO—NH—CO—NHj
Ein Hund von 5 Kilo zeigt bald nach Ein¬
nahme von 1 g mehrere Stunden lang Un¬
sicherheit in den Bewegungen und Schläfrig¬
keit; bei demselben Thier ruft 1 g Diaethyl¬
acetylharnstoff keine Erscheinungen hervor.
o U ,U J • r*H S >C—CO-—NH
3. Diaethylhydantoin v |
NH — CO
1,5 g hatten bei einem Hund von 7V 2 kg
keine sichtbare Wirkung, nach 2,5 g war
geringe Unsicherheit und Schwerfälligkeit
der Bewegungen vorhanden, welche nach
einigen Stunden wieder verschwanden.
II. Abkömmlinge der Monalkyl-
malonsäure.
4. Monaethylmalonylharnstoff
C 2 H. CO—NH
>c< >CO
H x x CO-NH
5. Monopropylmalonylharnstoff
C 8 H 7 CO-NH
>C< >CO
H x N CO—NH
Beide Körper zeigten in Dosen von 3—4 g
bei einem Hunde von 6 kg keine be-
merkenswerthe Wirkung.
III. Abkömmlinge der Dialkyl-
malonsäure.
6 . Dimethylmalonylharnstoff
CH« .CO-NH
°\ r /
/ C \r
>CO
CH/ N CO-NH
Bei einem Hunde von 6 kg waren 3 g
wirkungslos.
7. Methylaethylmalonylharnstoff
C .CO-NH
>
< >co
Ki lt
C 2 H 6 ' N CO—NH
1 g erweisst sich bei einem Hunde von
7y 2 kg als wirkungslos. Dasselbe Thier
erhält 3 Tage später 3 g Morgens 9 Uhr.
Nach 20 Min. unsicherer Gang. 10 Uhr
fester Schlaf, der den ganzen Tag anhält.
Am anderen Morgen liegt das Thier halb¬
wach am Boden, zeigt Nachmittags grosse
Unsicherheit in den Bewegungen und
nimmt Nahrung. Freitag Morgen Zustand
normal.
8 . Methylpropylmalonylharnstoff
CHs^ ^CO-NH
c 3 h/ Cx co-isih
>co
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1903,
99
Nach Einnahme von 1 g um 9 Uhr Morgens
zeigt der Hund von 7 l h kg 7» Stunde
später Unsicherheit im Gang. 10 Uhr liegt
das Thier am Boden und macht einen sehr
schläfrigen Eindruck. 12 x /2 Uhr ist es
ziemlich munter, springt ungeschickt vom
Stuhle, findet aber mit Geschick vorge¬
worfene Fleischstücke, die es mit Lust
verzehrt. 3 Uhr ganz normales Verhalten.
9. Diaethylmalonylhamstoff
CaHjL CO—NH
yc/ >co
Q w/ x CO-NH
Der gleiche Hund wie zuvor von 772 kg
erhält Morgens 9 Uhr 1 g. Das Thier
zeigt 10 Uhr schwankenden Gang, legt
sich dann zu Boden und schläft. 12 Uhr
wach, aber schwer trunken, auf einen Stuhl
gesetzt versucht es herunter zu springen,
fällt aber zur Erde. Um 2 Uhr frisst es
mit Appetit und schläft dann. Auf Anrufen
hebt es den Kopf. Am folgenden Morgen
6 Uhr normal. Derselbe Hund bekommt
drei Tage später um 9 Uhr Morgens 1,5 g.
Um 9 Uhr 15 Min. taumelnder Gang, 9 Uhr
20 Min. legt er sich zu Boden und schläft
leise. 9 Uhr 30 Min. tiefer Schlaf, aus dem
er nicht zu wecken ist. Am anderen
Morgen liegt er noch in tiefem Schlaf auf
der alten Stelle. Mittags 12 Uhr wach,
taumelt ab und zu einige Schritte. Abends
8 Uhr liegt er noch zu Boden, aber ohne
zu schlafen. Am nächsten Morgen 7 Uhr I
normal. Das Thier hat über Nacht reich- j
lieh gefressen.
10. Aethylpropylmalonylharnstoff
QH* CO-NH
/C< >co
C 8 H 7 / n CN—NH
Hund von 8 kg bekommt 9 Uhr Morgens
1 g. Um 10 Uhr 20 Min. taumelt er beim
Gehen. Um 10 Uhr fester Schlaf, der
24 Stunden anhält. Beim Aufwachen zeigt
er stark schwankenden Gang. Abends
normaler Zustand.
11. Dipropylmalonylharnstoff
C 3 H 7 CO-NH
> c < >co
C 3 H 7 X X CO—NH
Hund von 772 kg erhält am 1. Juli Morgens
9 Uhr 1 g. Um 9 Uhr 30 schläft er fest
und reagirt auf keine Reize. Dieser Zu¬
stand dauert bis 3. Juli Mittags. Nach¬
mittags zeigt er unsichere Bewegungen
und trinkt reichlich Milch. Am 4. Juli
Vormittags normal. Ein Hund von 8 kg
schläft etwa 74 Stunde nach Einnahme von
2 g um 12 Uhr Mittags ein. Todähnlicher
Schlaf bis Abends 9 Uhr. Beobachtung
unterbrochen. Am andern Morgen ist das
Thier todt.
12. Diisobutylmalonylharnstoff
C 4 Ha CO-NH
/ c \ > co
C 4 H/ N CO—NH
Hund von 772 kg bekommt Morgens 11 Uhr
lg. 11 Uhr 15. Min. leicht und 11 Uhr
30 Min. schwer betrunken, liegt um 12 Uhr
am Boden und schläft fest bis 8 Uhr Abends.
Dann taumelt das Thier hin und her, findet
aber hingeworfene Fleischstücke. 1072 Uhr
noch geringe Unsicherheit in den Be¬
wegungen. Am andern Morgen 6 Uhr
normal,
13. Diisoamylmalonylharnstoff
C 6 H lK GO-NH
> c < >co
C 5 H 11 N CO—NH
10 Uhr Morgens bekommt ein Hund von
772 kg 1 g. Da um 12 Uhr keinerlei
Wirkung sichtbar ist, erhält das Thier noch
2 g. Um 1 Uhr 40 Min. schwankt es beim
Gehen, legt sich zuweilen auf den Boden
aber ohne zu schlafen. Um 3 Uhr taumelt
es stark, überschlägt sich einige Male, trinkt
um 4 Uhr Milch. Abends 9 Uhr Gang wenig
schwankend. Am andern Morgen noch ge¬
ringe Unsicherheit in den Bewegungen.
14. Dibenzylmalonylharnstoff
C 6 H 5 • CH 2 . CO-NH
>c< > co
c 6 h 5 • CH/ x co-nh
Bei einem Hunde von 77 2 kg zeigte sich
nach Einnahme von 3 g keine bemerkens-
werthe Wirkung,
15. CC - Diaethyl-N-Methylmalonylharn-
stoff
C 2 H 5 . CO-N-CH 3
X > c °
C 2 H 5 X x CO-NH
Ein Hund von 6 kg erhält 1 g um 10 Uhr
Morgens. 10 Uhr 10 Min. schwer betrunken
und nach weiteren 10 Min. fester Schlaf,
der 2 Tage anhält und mit dem Tode
endigt. Während des Schlafes waren
leichte Zuckungen des Körpers bemerkbar.
16. Diaethylmalonsäureuröid
C 2 H 5 \ r /'CO OH
C 2 H 5 / U \CO-NH-CO-NH,
Ein Hund von 7 kg erhält 3 g und zeigt
keine Aenderung im Allgemeinbefinden.
17. Dipropylmalonylguanidin
C 3 H 7 CO-NH
>C C ">C=NH
>C < >C=NH
. x gö-^inh*• ;,; ::;'
war ebenso wirkungslos wie die : vorher¬
gehende' ^Verbipdung. ' > ; ; \ ;
Digitized fr,
Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
100
Mär*
Die Therapie der Gegenwart 1903.
18. Diaethylmalonylthioharnstoff
G 5 H 5 . CO-NH
X >cs
C 2 U/ x CO-NH
Ein Hund von 7 kg erhält 1 g. Eine
Stunde später schläft er tief, reagirt auf
keine Reize und stirbt nach 8 Stunden.
Aus vorstehenden Beobachtungen er¬
geben sich folgende Beziehungen zwischen
chemischer Structur und hypnotischer
Wirkung in dieser Klasse. Säuren und
Amide sind wirkungslos. Zur Erzeugung
von Schlaf ist die Harnstoffgruppe erfor¬
derlich, aber sie genügt allein nicht. Es
muss dazu kommen ihre Combination mit
einem Reste, der mehrere kohlenstoffreiche
Alkyle enthält. Der einfachste Fall dieser
Art ist gegeben in den Harnstoffderivaten
der Diäthyl- und Dipropylessigsäure (I. No. 1
und 2). Ungleich stärker wird aber die
hypnotische Wirkung bei der cyklischen
Anordnung der Harnstoffgruppe in den
Derivaten der Dialkylmalonsäure. Hier ist
dann weiter die Natur des Alkyls von we¬
sentlicher Bedeutung. Die Wirkung, wel¬
che beim Dimethyl (III. No. 6 ) ganz fehlt,
ist gering beim Methylaethyl (7), steigt beim
Methylpropyl ( 8 ), wird recht stark beim
Diaethyl (9) und erreicht ihren Höhepunkt
beim Dipropyl (11). Beim Diisobutyl (12)
steht sie ungefähr auf gleicher Stufe wie
bei Diaethyl und beim Diisoamyl (13) ist
sie wieder sehr schwach. Das Dibenzyl-
derivat (14) scheint ganz inactiv zu sein,
was aber auch zum 1 heil durch die Schwer¬
löslichkeit bedingt sein kann.
Auffallend ist die Giftigkeit von CC-
Diaethyl - N - Methylmalonylharnstoff (15),
welcher sich von No. 9 nur dadurch unter¬
scheidet, dass das eine Stickstoffatom noch
ein Methyl bindet. Dies erinnert an den
bekannten physiologischen Unterschied
zwischen Acetanilid und seiner Methylver¬
bindung (Exalgin) oder zwischen Phenacetin
und Methylphenacetin.
Auffallend ist, dass die ringförmige An¬
ordnung der Harnstoffgruppe in dem
Diäthylhydantoin (C. I. 3) gegenüber dem
Diäthylacetylharnstoff (C. I. 1) keine Ver¬
stärkung, sondern eine Abschwächung der
Wirkung hervorruft.
Wie sehr selbst kleine Aenderungen an
dem Molekül die pharmakologische Activi-
tät beeinflussen können, zeigen am deut¬
lichsten die drei letzten Beispiele. BeimDiae-
thylmalonsäureureid (C. III. 16) ist der stick¬
stoffhaltigem Riug *des' Diaethykn^lonylharn-
stoffs; [9*1 jiorchr einfache Warenlagerung
auf^espalten. # Das genügt, um den Körper
gariz'; wtf kun’gslbs zu machen. ' Das Gftfiche
gilt für Dipropylmalonylguanidin (17), wo
der Sauerstoff des Harnstoffrestes durch
die NH-Gruppe ersetzt ist. Dem Diaethyl¬
malonylthioharnstoff (18) endlich giebt die
Anwesenheit des Schwefels einen ausge¬
sprochen giftigen Charakter.
Aus der Reihe der zuvor besprochenen Prä¬
parate treten durch ihre hypnotische Wirkung-
Diaethylacetylharnstoff
0fy>CH— CO- NH— CO
Diaethylmalonylhamstoff
QHs .CO—NH
AY/ 2
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,/
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yco
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CiH h ' N CO-NH
Dipropylmalonylharnstoff
C 3 H, CO-NH
)c( >CO
C Z H{ x CO—NH
so stark in den Vordergrund, dass ihre Prüfung
am Menschen angezeigt erschien.
Dabei hat sich nun ergeben, dass der
Diaethylacethylharnstoff an hypnotischer Kraß
ungefähr dem Su/fonal gleich steht , dass ferner
der Dipropylmalonylharnstoff etwa viermal so
stark ist, aber nicht selten eine auffallend
lange Nachwirkung hat .
In der Mitte zwischen Beiden steht der
Diaethylmalonylhamstoff und übertrifft dem¬
nach an Intensität der Wirkung auch noch
alle bisher gebräuchlichen Schlafmittel . Da
die Substanz relativ leicht herzustellen ist und
in Bezug auf Geschmack und Löslichkeit Vor¬
züge besitzt, so scheint sie von den Gliedern
der neuen Klasse für den praktischen Gebrauch
\ am meisten geeignet. Mit Rücksicht auf die allzu
1 unbequeme chemische Bezeichnung schlagen wir
i dafür den Namen ,, Veronal “ vor.
] Das Veronal 1 ) ist ein schön crystalli-
sirender farbloser Stoff, der bei lpi 0 (Corr.)
schmilzt, schivach bitter schmeckt, sich in
ungefähr 12 Th ei len kochendem Wasser und in
14g Theilen H asser von 20 0 löst.
Bei einfacher Schlaflosigkeit genügt in der
Regel o,s g. Zur Bekämpfung von Agrypnie,
die mit stärkeren Erregungszuständen ei?iher
geht, kann man die Dosis bis 1 g steigern.
Bei schwächlichen Personen, z. B. Frauen
kommt man manchmal schon mit o,j g aus.
Zur Erziehnig von Schlaf sind demnach Dosen
von o,j — 0,5 — o, 7j"— 1 g erforderlich . Mehr
als 1 g zu geben, dürfte selten indicirt sein.
Wird das Veronal in Lösung gegeben, so
tritt der gewünschte Effect in etwa J /2 Stunde
ein. Am meisten empfiehlt sich , das gepulverte
Mittel in einer Tasse warmen Thees durch
l ) Das Präparat wird von der Firma E. Merck,
in Darmstadt in den Handel gebracht.
Original frorn
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
März Die Therapie der Gegenwart 1903. 101
Umrühren zu lösen . Das Präparat wird \ gedehntem Gebrauch auf treten können, muss die
übrigens auch im festen Zustand von den j weitere therapeutische Untersuchung lehren,
meisten Personen mit oder ohne Oblate gerne Das Resultat unserer Versuche ist derart,
genommen. dass wir kein Bedenken tragen, das Veronal
Bei den bisherigen klinischen Beobachtungen den Klinikern und Aersten zur Prüfung seines
haben sich unangenehme Nebenwirkungen therapeutischen Werthes bei Schlaflosigkeit zu
nicht gezeigt; ob solche bei längerem und aus - übergeben.
Ueber die Behandlung von Leberaffectionen mit Quecksilber
nebst Bemerkungen über fieberhafte Lebererkrankungen
und den ätiologischen Schluss ex juvantibus.
Von O. Rosenbach-Berlin.
Die Mittheilung von G. Klemperer 1 )
Ober die günstige Einwirkung von Subli-
matinjectionen bei zwei mit Schüttelfrösten
und Fieber combinirten Fällen von Leber¬
schwellung ist durch die dort aufgeworfene
Frage vom luetischen Leberfieber theore¬
tisch und praktisch so wichtig, dass die vom
Verfasser gewünschte Discussion, wie ich
glaube, recht fruchtbringend werden kann.
So skeptisch man auch in der Deutung
des post hoc sein mag, so sprechen doch
so viele Erfahrungen für die Wirkung des
Quecksilbers bei gewissen Darm- und Leber¬
affectionen, dass in den mitgetheilten Fällen
kein erfahrener Arzt den Zusammenhang
zwischen Behandlung und Heilung leugnen
wird. Mir ist es überhaupt auffallend, dass
man in den letzten Jahrzehnten in Deutsch¬
land vom Quecksilber bei gewissen subacuten
und chronischen Unterleibserkrankungen,
deren Hauptsymptome Schwellung oder
Schmerzhaftigkeit der Leber und gewisse
Verdauungsstörungen sind, so wenig und
dann erst spät Gebrauch macht, während
die Engländer diesem Mittel in Form der
blue pills eine so grosse Bedeutung zu¬
schreiben. Ist doch auch der nicht zu be¬
streitende Erfolg der Anwendung grosser
Kalomeldosen bei Ascites und bei dem mit
besonders starkem Ascites verbundenen
allgemeinen Hydrops nach meiner Ansicht
am ehesten dort zu erwarten, wo die In-
sufficienz der Leber, die sich ebenso häufig
durch Verkleinerung wie durch Schwellung
des Organs kundgiebt, ausgesprochen ist. 2 )
Gegen die Annahme einer solchen tempo¬
rären oder partiellen Insufficienz spricht
auch, beiläufig erwähnt, abnorm starke
Gallenabsonderung nicht, da einmal nicht
Fieber und Schüttelfröste mit Leberschwellung,
Therapie der Gegenwart 1903, Januarheft.
O. Rosenbach, Grundriss der Herzkrank¬
heiten, Wien 1899, S 389. — Ueber lokalisierte
Stauungen etc., Münch, med. Wochenschr. 1901,
No. 14, u. a. a. O.
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alle Partieen des Organs insufficient zu sein
brauchen, und da gerade bei (rein moto¬
rischer) Insufficienz einiger Gebiete oder des
ganzen Organs immerhin relativ starke
Gallenbildung in noch gesunden oder stark
gereizten Partieen vorhanden sein kann, so
dass es zur Gallenstauung mit nachfolgender
Resorption von Galle in die Lymphwege
kommt.
Ich glaube nun, dass Quecksilberpräpa¬
rate in solchen Fällen als stärkster Reiz
für die Wiederherstellung der normalen
Leberthätigkeit wirken — die natürlich nicht
nach derStärke derGallensecretion schlecht¬
weg, sondern nur auf Grund genauer Unter¬
suchung der Beschaffenheit der Galle und
vor allem nach den (allerdings schwer
feststellbaren) Resultaten der inneren Se-
cretion beurtheilt werden kann — und
dass durch den Wiedereintritt normaler
Secretionsverhältnisse auch die abnormen
zur Gallenstauung oder Hemmung der Cir-
culation führenden mechanischen Verhält¬
nisse beseitigt werden. Mit anderen Wor¬
ten: Die normale Leistung des Leberparen¬
chyms, die ihren Ausdruck in normaler
Absonderung und Fortbewegung der Galle
findet, wird unseres Erachtens unter allen
Mitteln am ehesten durch Quecksilber be¬
einflusst, sei es direkt, sei es durch pri¬
mären oder gleichzeitigen Einfluss auf die
innere Secretion des Darmes. Meiner Er¬
fahrung nach ist übrigens gerade der Ein¬
tritt starker Darmerscheinungen (ausser-
wesentliche Bethätigung des Darmes) bei
der Quecksilberbehandlung Leberkranker
nicht von Vortheil für den Heilungsvor¬
gang, da dadurch die Zufuhr des Queck¬
silbers zur Leber — und somit die wich¬
tigste Wirkung, nämlich die auf das Pa¬
renchym der Leber — verhindert zu
werden scheint, wenn auch natürlich die
starke diarrhoische Wasserabscheidung die
hydropischen Erscheinungen etwas ver¬
mindert.
Original fram
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
102
Die Therapie der Gegenwart 1903.
März
Die Diurese bei allgemeinem Hydrops oder
Ascites ist, beiläufig erwähnt, in hohem Maasse
von dem Verhalten der Leber abhängig; sie
steigert sich meiner Erfahrung nach nur dann
dauernd, und es kommt zur Aufsaugung aller
Transsudate, wenn die Leberthätigkeit noch be¬
trächtlich angeregt resp. normalisirt werden
kann, was sich sehr früh durch veränderte Fär¬
bung der Fäces, durch Nachlass der epigastri¬
schen Schmerzhaftigkeit und gewisser Angst¬
gefühle, durch Hellerwerden des Urins und
schliesslich auch durch deutliche Verkleinerung
der Leber kundgiebt. Auch pflegt in solchen
Fällen die Dilatation des rechten Ventrikels sich
merkbar zu verkleinern, aus Gründen, über die
ich mich an anderer Stelle ausführlich aus¬
gesprochen habe. 1 )
Meiner Erfahrung nach kann man nun
auf um so stärkere Beeinflussung des Hydrops
resp. Ascites durch Quecksilberpräparate
rechnen, je stärker gallig die durch die
ersten Gaben, z. B. von Kalomel, bewirkten
Stuhlentleerungen sind, d. h. je mehr sie
Symptome stärkerer Leberthätigkeit bieten,
und ich möchte gerade das Ergebniss
dieser Erfahrungen hier zur Discussion
stellen. Auch bei den Kinderdiarrhöen
wirkt doch wohl das Kalomel durch stärkere
Anregung der Leberthätigkeit und nicht
durch die — bei den gebräuchlichen Dosen
der Kinderpraxis überhaupt nicht beweis¬
bare — Desinfection des Darmes stopfend;
die Prognose wird unseres Erachtens hier
erst günstig, wenn die Entleerungen wieder
gallige Färbung zeigen.
Für diese direkte Wirkung des Queck¬
silbers auf die Leber spricht nun wohl auch
eclatant der therapeutische Erfolg in den
von Renvers und Klemperer behan¬
delten Fällen, die durch Injection von
Sublimat geheilt wurden. Mir fehlt die Er¬
fahrung über Sublimatinjectionen, da ich
immer nur mit Kalomel behandelt habe,
und zwar auf Grund der Ansicht, dass der
direkteste Weg zur energischen Beein¬
flussung der Leber der Darm ist, indem
man, um nur auf die Leber einzuwirken,
nicht diarrhoisch wirkende Dosen ver¬
wendet Die beiden sehr interessanten
Fälle scheinen aber evident zu lehren, dass
die Einführung des Quecksilbers durch das
Blut mindestens ebenso wirksam wie die
vom Darme her ist, und dieser Weg ist
vielleicht manchmal sogar vortheilhafter,
weil man die schädliche Nebenwirkung auf
den Darm vermeidet.
II.
Mit dem therapeutischen Erfolge scheint
mir aber die Bedeutung der mitgetheilten
x ) O. Rosenbach, Die Krankheiten des Herzens
und ihre Behandlung. Wien u. Leipzig 1894/97,S. 773 ff.
Fälle nicht erschöpft; sie sind auch einer
besonderen Berücksichtigung in ätio¬
logischer resp. causal-therapeutischer Be¬
ziehung werth. Es handelt sich hier nicht
bloss um eine der wichtigsten theoretischen
Fragen der Medicin, sondern um eine von
grösster praktischer Bedeutung, nämlich
die von den specifischen Heilmitteln. 1 )
Die Ansicht nämlich, dass der Erfolg
der Quecksilberbehandlung ein Beweis für
die luetische Natur der Affection sei, muss
ich energisch bestreiten. Aus Raummangel
kann ich aber hier diese wichtige Frage
nicht eingehender behandeln und muss da¬
her auf eine in nächster Zeit erscheinende
Abhandlung verweisen. Ich möchte des¬
halb nur kurz betonen, dass meiner An¬
sicht nach alle sogenannten Specifica nicht
in dem Sinne specifisch wirken, dass sie
eine bestimmte (ontologische) Krankheits¬
ursache vernichten resp. eine Krankheit
im ontologischen Sinne heilen; sie dürfen
nur als maximale Erregungs- resp. Hem¬
mungsreize für gewisse Gewebe oder Or¬
gane betrachtet werden. 2 ) Sie wirken, weil
sie die Erregbarkeit bestimmter Gewebe
oder Organe günstig beeinflussen und so¬
mit die Reaction, die ja ebensowohl von
der Disposition wie vom Reize abhängt,
normalisiren. So wirkt, wie ich glaube,
Chinin dadurch, dass es die Thätigkeit der
Milz regulirt resp. die Protozoen vernich¬
tenden weissen Blutkörperchen stimulirt;
Salicyl fördert die Muskeln und serösen
Häute in ihrer Thätigkeit, und die antiphlo¬
gistische resp. resorptionsbefördernde Wir¬
kung des Jod beruht wahrscheinlich auch auf
einer directen Reizung der Leukocyten, die
dann eine regere Thätigkeit im gesammten
Gewebe (nicht bloss wie beim Chinin in
in der Milz resp. im Blute) entfalten. In
diesem Sinne betrachten wir also Queck¬
silber u. A. als specifisches Mittel zur An¬
regung der Leberthätigkeit und müssen
daher die mit Vorliebe ex juvantibus
gestellte Diagnose Lues ablehnen.
Abgesehen davon spricht aber noch
manches andere gegen diese Diagnose. In
der That wäre sie wohl ohne die Anam¬
nese und namentlich ohne den Erfolg der
Therapie auf Grund des Symptomencom-
plexes kaum gestellt worden. Man würde
nur, wie der Herr Verfasser es ursprüng¬
lich that, die Diagnose einer Eiterung im
Gebiete der Leber oder eines entzündlichen
i ) O. Rosenbach, Grundlagen, Aufgaben und
Grenzen der Therapie, Wien 1891, S. 59 ff.
*) O. Rosenbach, Arzt c/a Bacteriologe, Berlin
und Wien 1902, das Kapitel: Zur Lehre von der
Wirkung specifischer Mittel, S. 33.
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Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1903.
103
Processes gestellt haben, und hätte sich
dann allerdings, da man, wie wir erwähn¬
ten, bei fieberhaften, nicht luetischen, Leber-
affectionen Quecksilber nicht anzuwenden
pflegt, nach dem gewöhnlichen Gange der
Dinge des kräftigsten Mittels zur Anregung
der normalen Thätigkeit des Organs, also
auch des—in unserem Sinne— wirksamsten
specifischen Mittels zur Heilung solcher
Lebererkrankungen beraubt. Aber dass
ich dieses therapeutische Verdienst
anerkenne und sogar die von Renvers
empfohlene Anwendung des Queck¬
silbers in Form der subcutanen In-
jection für solche Fälle für einen Fort¬
schritt halte, kann mich der kritischen
Betrachtung der Schlussfolgerung ex juvan-
tibus nicht entheben, um so weniger, als
mir dadurch auch Gelegenheit gegeben
wird, Anschauungen noch einmal zur Dis-
cussion zu stellen, die ich bereits früher
über die Entstehung fieberhaft entzündlicher
resp. eitriger Leberaffectionen, 1 ) sowie über
gewisse Residuen' 2 ) älterer Lebererkrankung,
die der pathologische Anatom gewöhnlich
als Gummabildungen deutet, äusserte.
Das Kapitel der tertiären Lues (der
gummös-eitrigen Processe resp. der mannig¬
faltigen Aflectionen innerer Organe Lueti¬
scher) ist wohl eines der dunkelsten und
schwierigsten der ganzen Medicin; aber
so viel und so sorgsam ich klinisch und
anatomisch viele Jahre hindurch dieses
Gebiet durchforscht habe, so wenig habe
ich zu der Ueberzeugung kommen können,
dass gewisse Erkrankungen von inneren
Organen oder manche anderen Erschei¬
nungen, die man heut als (tertiär) luetisch zu
betrachten pflegt, irgend etwas für Lues cha¬
rakteristisches haben 8 ) und — trotz lueti¬
scher Anamnese — gerade auf Lues zurück¬
geführt werden müssen. Mit gleichem
Rechte könnte man sie, je nach den Um¬
ständen, von Erkältung, hämorrhoidaler
Diathese, von passagerer Melliturie, Skro-
phulose etc. ableiten.
Der für mich wichtigste Grund, den ich
gegen den Causalzusammenhang anführen
muss, nämlich dass solche Erscheinungen
*) O. Stirl, Zur Lehre von der infectiösen
fieberhaften, mit Icterus complicirten Gastroenteritis
(Weil’sche Krankheit). Deutsche med. Wochenschr.
1889, No. 39.
*) O. Rosenbach, Die Perihepatitis simplex etc.
Arch. f. Verdauungskrankheiten 1896, Bd. 1, S. 7.
3 ) O. Rosenbach, Die Krankheiten des Herzens
und ihre Behandlung, Wien und Leipzig 1894/97,
S. 591 u. a. a. O. Grundriss der Pathologie und
Therapie der Herzkrankheiten, Wien und Leipzig,
1899, (Vergl. Index). — Zur Lehre von der spi¬
nalen (muskulatonischen) Insufficienz (Tabes dorsalis),
Deutsche med. Wochenschr. 1899, No. 10—12.
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auch bei Nichtluctischen Vorkommen, wird
natürlich in den Augen der Specialisten
nicht genügen; denn sie werden an dem
Satze festhalten, dass diese Personen doch
einmal Lues gehabt hätten, und dass die
Infection nur entweder nach dem Satze:
Lueticus semper mendax in Abrede gestellt
worden sei, oder dass die Kranken von
einer kleinen Affection vielleicht kein
Wissen gehabt haben.
Es ist das eben dieselbe Art der Beweis¬
führung. mit der man meine, doch theoretisch
und praktisch gut gestützte, Ansicht, dass auf
das Tuberkulin auch ein Nicht-Phthisiker, bei
grösserer Dosis sicher, bei kleiner nur bei be¬
stimmter Disposition, reagiren müsse 1 ), damit
hinfällig zu machen glaubte, dass man mir ent-
gegnetc: Das von mir für gesund gehaltene
Individuum besitze eben doch einen verborgenen
tuberkulösen Herd, und da man den Betreffen¬
den nicht in mikroskopische Schnitte zerlegen
könne, so müsse man, so lange dieser Gegen¬
beweis nicht erbracht sei, die Specificität der
Tuberkulinreaction so lange als bewiesen an-
: nehmen. Mit demselben Rechte kann man
j allerdings auch die Ansicht für bewiesen an-
sehen. dass die Erdbeben von einem Erdgeiste
bewirkt werden; denn so lange nicht das ganze
| Innere der Erde durchforscht ist, hat man ja
eben seine Nichtexistenz nicht erwiesen. Jetzt
scheint man übrigens doch immer mehr der
Ansicht zuzuneigen, dass auch Nichttuberkulöse
auf Tuberkulin reagiren.
Abgesehen von diesen Erwägungen,
scheint mir aber auch das positive Sym¬
ptom des beträchtlichen und continuirlichen
Fiebers gegen die Diagnose Lues zu
sprechen. Warum sollen wir ein luetisches
! Leberfieber annehmen, nur um der Dia¬
gnose ex juvantibus resp. der specifischen
Wirkung des Quecksilbers gegen luetische
Aflectionen eine sichere Stütze zu geben?
Fieber ist, wie Klemperer selbst kritisch
bemerkt, der allgemeinen Erfahrung nach
kein eigentliches Attribut der sicheren
luetischen Erscheinungen; denn das Erup¬
tionsfieber ist so gering und relativ so
selten und hängt häufig wahrscheinlich so
sehr von der reactiven Disposition der
Patienten ab, dass man mit Fug und Recht
die acuten Erscheinungen der Lues zu den
nicht fieberhaften rechnet. Um so wahr¬
scheinlicher ist es a priori, dass auch die
chronischen, hyperplastischen und gum¬
mösen Bildungen ohne Fieber verlaufen,
und die Erfahrung bestätigt ja diese An¬
nahme; denn selbst bei flüssigen Produkten
des sogenannten tertiären Stadiums, die
*) O. Rosenbach, Grundlagen, Aufgaben und
Grenzen der Therapie Wien 1891, das Kapitel Ober:
Das Koch’sche Verfahren. — Arzt contra Bacterio-
loge, Berlin und Wien 1902.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
104
Die Therapie der Gegenwart 1903.
März
man zur Kategorie der kalten Abscesse
rechnen könnte, wenn sie sich nicht durch
die eigentümliche (honigartige resp.
gallertig-seröse) Beschaffenheit der Flüssig¬
keit und die Resorbirbarkeit als eine be¬
sondere Form der Exsudation erwiesen, —
selbst bei diesen Produkten subakuter
Entzündung oder Erweichung ist von keinem
Beobachter bisher Fieber constatiert
worden.
Dass bei Lues — oder um es ganz
präcis auszudrücken — bei einmal luetisch
Inficirten oder sogar bei Kranken mit
deutlichen luetischen Erscheinungen Fieber
bekannten und dunklen Ursprungs Vor¬
kommen kann, ist ja natürlich nicht aus¬
geschlossen; aber dieses Fieber hat eben
nichts mit der Lues, sondern nur mit secun-
dären oder accidentellen Erscheinungen,
die nichts Specifisches haben, zu thun.
Wem wird es einfallen, das eine Parulis
oder einen perityphlitischen Abscess bei
Luetischen begleitende Fieber resp. die
Producte dieser Erkrankung anders zu be¬
trachten als bei einem nicht Inficirten?
Man behandelt doch auch bis jetzt die
Zahnkaries in solchen Fällen nicht mit
Quecksilber, sondern erfolgreich nach der
gewöhnlichen Methode.
Ich möchte also annehmen, dass auch
in den vorliegenden Fällen das Fieber
nicht luetischer Natur war, und dass es
auch nicht aus dem Zerfall gummöser Bil¬
dungen abzuleiten ist, die ja meiner Er¬
fahrung nach, die in diesem Falle doch
wohl die allgemeine ist, gerade wegen ihrer
eigenthümlichen Beschaffenheit und wegen
ihrer Tendenz zur fettigen oder binde¬
gewebigen Umwandlung kein Fieber er¬
regen, wie ich auch in keinem der von
mir beobachteten Fälle der honigartigen
(gummösen, gelatinösen) Verflüssigung pe¬
riostaler oder sonstiger Producte — diese
finden sich meiner Beobachtung nach bei
Luetischen und Nichtluetischen — Fieber
beobachtet habe.
Wenn aber ein secundärer, entzünd¬
licher oder eitriger, Process Vorgelegen
hat, dann ist auch die Existenz sicherer
uetischer Bildungen für den betreffenden
Fall irrelevant; denn die Symptome wurden
eben nicht durch das luetische Virus resp.
einen specifischen Process, sondern durch
den secundären Vorgang der Entzündung
oder Eiterung erhalten, und das Fieber
kann nicht durch Einwirkung auf den
luetischen Process, sondern nur durch Be¬
seitigung der Eiterung, d. h. durch Ent¬
leerung oder Resorption, zum Verschwin¬
den gebracht werden.
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Ob es sich nun in den vorliegenden
Fällen wirklich um grössere oder kleinere
Abscesse in der Leber gehandelt hat, das
lässt sich nicht entscheiden, da Fieber,
Schüttelfröste etc. ja bei den mannigfachsten
Formen der entzündlichen Lebererkrankung
Vorkommen können, ohne dass in irgend
einem Stadium der Erkrankung Eiterbildung
anzunehmen ist. Dies beweisen nicht bloss
das gelbe Fieber, sondern auch die Weil -
sehe Krankheit und andere Formen der
Leberaffektion. Dass übrigens auch bei
eingeklemmten Gallensteinen Schüttelfrost
und Fieber, mit und ohne Icterus, vor¬
kommt, ist ja eine allgemein bekannte
Thatsache; aber wir wissen auch hier
nicht, wann und warum Fieber und Schüttel¬
fröste eintreten, obwohl es höchst wahr¬
scheinlich ist, dass sie — bei Gallensteinen
— nicht etwa durch den Krampf oder den
gehemmten Abfluss von Galle, sondern durch
abnorme, allerdings von der Einklemmung ab¬
hängige, Vorgänge in der Leber, d. h. durch
besonders starke reflectorische Reizung
oder vielleicht shockartige (Lähmungs-)
Zustände im Betriebe des Organs und
zum Theil nur durch Störungen der inneren
Secretion bedingt werden, wodurch ent¬
weder temporär abnorme Producte der
Leber in die Blutbahn gelangen oder die
in der Leber gebildeten (Schutz-) Stoffe
(§. die oben citirte Arbeit von Stirl) fort¬
fallen, die als Regulatoren des Stoff¬
wechsels, namentlich des Wärme-
bildungsprocesses (Factoren der Hem¬
mung) im gesammten Organismus oder in
einzelnen Organen (Darm, Muskeln), nament¬
lich in der Haut dienen.
Unsere diagnostischen Hilfsmittel ver¬
sagen, wovon ich mich leider genug über¬
zeugt habe, nur zu oft völlig, wenn es
gilt die Abscessbildung in der Leber von
den nicht eitrigen acuten parenchymatösen
resp. embolischen oder thrombotischen Er¬
krankungen des Lebergewebes incl. der
Gallenkanäle zu unterscheiden. Die rich¬
tige Diagnose gelingt bisweilen mehr durch
die Gunst des Zufalls als auf Grund sicherer
Symptome, meistens dort, wo es sich um
eine mehr oberflächliche, an der Vorder¬
fläche oder am Rande gelegene Eiterung
von beträchtlicher Grösse und relativ
langer Dauer und langsamer Zunahme der
Schwellung handelt. In den Fällen, wo
Heilung ohne Operation vermittelst Durch¬
bruchs in einen Gallengang oder in den
Darm erfolgt, werden wir, wenn der Abgang
des Eiters im Stuhl übersehen wird, über
die Natur des Leidens wohl immer im Un¬
klaren bleiben, da, wie uns die Erfahrung
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
105
I)ic Therapie der
gelehrt hat, aus den Symptomen ebenso
gut auf Abscess wie auf eine parenchy¬
matöse Erkrankung geschlossen werden
kann.
Acute parenchymatöse Vorgänge in der
Leber — die, mit Schmerzhaftigkeit in der
Lebergegend oder in der Nähe des Epi-
gastriums verbunden, unter dem Bilde eines
fieberhaften Gastricismus verlaufen und
gleichsam die Vorstufe der beiden patholo¬
gischen Extreme, der WeiEschen Krankheit
oder des Leberabscesses resp. der Eiterung
innerhalb der Gallenkanäle, bilden — würden
überhaupt öfter angenommen werden, wenn
man in der Praxis die Faeces genauer durch¬
forschte und auch den Urin genau auf das
Verhalten seiner Farbstoffe, namentlich des
Urobilins, untersuchte, da eben die Farb¬
stoffverhältnisse am ehesten feinere Stö¬
rungen des Leberbetriebes erkennen lassen.
Fassen wir das Gesagte zusammen, so
kommen wir zu folgendem Ergebnisse: Ob
überhaupt in den Fällen, die den Aus¬
gangspunkt unserer Erörterung bildeten,
Eiterung bestand, lässt sich nicht beweisen;
es spricht vor Allem dagegen, dass in den
so genau beobachteten Fällen nicht, ent¬
sprechend dem Absinken des Fiebers,
Eiterentleerung mit den Faeces nachge¬
wiesen ist; denn ein Durchbruch nach
anderer Richtung muss ausser Betracht
bleiben, und dass Eiterherde überhaupt
und so schnell resorbirt werden, ist nicht
gerade wahrscheinlich. Wenn man aber
auch die Auffassung, dass das Fieber von
blosser parenchymatöser Entzündung ohne
Eiterbildung abhing, nicht gelten lassen
will und einen eitrigen Process annimmt,
so ist gerade damit unseres Erachtens der
Vorgang auch aus der Kategorie,der
eigentlich luetischen ausgeschaltet.
Es handelt sich dann um einen acciden-
tellen Vorgang, der, wie das Ergebniss
aller Mischinfectionen (wenn man diesen
labilen, um nicht zu sagen charakterlosen,
Begriff anwenden will) durchaus nicht
charakteristisch ist für den ursprünglichen
Process und darum auch nicht der spe-
cifischen (antiluetischen) Wirkung des
Quecksilbers unterliegt.
Die Schwierigkeit, einen aetiologischen
Deu« nwart 190T
Zusammenhang zwischen dem fieberhaften
Processe in der Leber und der Lues zu
finden, wird aber auch dann nicht geringer,
wenn man annimmt, dass es sich um die (nicht
eitrige) Erweichung eines so genannten
Gumma handelt; denn die Producte eines
solchen Processes sind zwar, wie die Er¬
fahrung lehrt, eben weil sie nicht eigent¬
lich eitrig sind, leichter resorbirbar; aber
weder der Zerfall noch die Resorption ist,
wie nicht bloss meine eigene Erfahrung
lehrt — auch Klemperer bestätigt dies
aus eigener Beobachtung und der Litteratur
— von Fieber begleitet.
Aus den angegebenen Gründen können
■ wir dem aetiologischen Schlüsse ex juvan-
| tibus nicht beistimmen, trotzdem auch
i unseres Erachtens ein sicherer Zusam-
j menhang zwischen Behandlung und
I Heilung besteht. Die Mittheilung von
Klemperer ist zweifellos in höchstem
Grade therapeutisch wichtig, da sie mit
grösster Wahrscheinlichkeit lehrt, dass im
Quecksilber auch in anscheinend schweren
Fällen von Lebererkrankung ein — in
unserem Sinne (s. o.) — specifisches und
directes Heilmittel gegeben ist, das nun
auch in allen Fällen acuter und subacuter
Lebererkrankung und zwar möglichst so¬
fort, unter Umständen nur in Form der von
Renvers und Klemperer mit so glück¬
lichem Erfolge benutzten subcutanen Subli-
matinjectionen, angewendet werden sollte.
Das Mittel ist aber, wie ich noch einmal be¬
tonen will, nicht specifisch gegen eineKrank-
I heit im Sinne der ontogenetischen Krank-
j heitsauffassung resp. adäquates Gegenmittel
j einer ontogenetischen aetiologischen Einheit,
I eines specifischen, morphologisch characteri-
I sirten, Reizes resp. Microbiums oder einer
Serumform, sondern es ist specifisch im Sinne
eines bestimmten maximalen Erregungs¬
oder Hemmungsreizes für die abnorme
Leberthätigkeit, eine Wirkungsweise, die
sich allerdings nach dem heutigen Stande
unseres Wissens nicht genau präcisiren
lässt, deren Wesen aber bei häufiger An¬
wendung von Quecksilber in den ver¬
schiedenen Formen der parenchymatösen
Lebererkrankung resp.* Entzündung doch
wohl noch erkannt werden wird.
Die Behandlung der Perityphlitis.
Von Ch. Bäumler- Freiburg i. Br.
(Schluss aus dem Februarheft.)
Am schwierigsten gestaltet sich die in welchen bei jugendlichen Kranken oder
Frage, ob und wann ein operativer Ein- Kindern die Perityphlitis in der gewöhnlichen
griff gemacht werden sollte, in den Fällen, Weise sich acut entwickelt. Weitwenigerstür-
welche die grosse Mehrzahl bilden, misch als bei einer eigentlichen Perforations-
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106 Die Therapir der Gegenwart 1903. März
peritonitis treten plötzlich mehr oder we- : tonealduplicaturen, die als normale
niger heftige Leibschmerzen auf, die sich Bildungen, nicht als Ueberbleibsel frühe-
bald auf die Cöcalgegend concentriren. rer Entzünduug Vorkommen, sehr begünstigt
Meist erfolgt alsbald Erbrechen, auch kann werden kann. Solche Duplicaturen finden
die Reizung des gesammten Gastrointesti- sich aber an allen Stellen, an welchen Ein-
naltractus sich durch ein- oder mehrmalige geweide durch sogen. „Ligamente“ mit den
Darmentleerung äussern. In der Ruhe ver- Bauchwandungen in Verbindung stehen, in
mindern sich diese Erscheinungen wieder, sehr variabler Weise. Nirgends mehr als
während nun Fieber auftritt und die rechte am Wurmfortsatz, dessen Lage ja auch so
Unterbauchgegend sich etwas meteoristisch viele Varianten zeigt. Bald hängt der ganze
aufzutreiben beginnt. Rascher oder lang- Wurmfortsatz nur mit einer Andeutung
samer bildet sich nun inmitten der allge- eines Mesenteriolum versehen, frei von
meinen Auftreibung eine meist länglich ge- seiner Ursprungsstelle am Cöcum ins kleine
staltete, häufig dem Lig. Pouparti ziemlich ; Becken hinab, bald liegt er vollständig oder
parallel verlaufende umschriebene ge- ! nur bis an sein äusserstes Ende, das frei
schwulstartige Härte aus. Dieselbe ist | in die Bauchhöhle hineinragt, hinter dem
nicht, wie man vielfach geglaubt hat, durch ] Peritoneum, zum Theil unter dem Peri-
eine Kothansammlung im Cöcum bedingt, tonealüberzug des Cöcums. Wenn ein Theil
sondern besteht aus den mit der kranken retroperitoneal gelegen ist, kann das Peri-
Steile des Wurmfortsatzes verklebten an- toneum da, wo das Ende des Fortsatzes in
grenzenden Theilen des Netzes, des Cö- den Peritonealsack eintritt, eine mehrfache,
cums und des Dünndarms, mit entzünd- bogenförmige Faltung, gleichsam eine
licher Infiltration dieser, den eigent- Pforte mit mehreren Bogen für seinen
liehen Krankheitsherd umschliessen- Austritt aus dem retroperitonealen Binde-
den Abschnitte der genannten Organe, ge webe bilden. AU’ dies können ursprüng-
Je nach der Heftigkeit der Entzündung liehe Bildungen sein ohne eine Andeutung
findet auch mehr oder weniger reichliche ' dafür, dass es sich dabei um Adhäsionen
Ausschwitzungeiner serös-hämorrhagischen als Reste entzündlicher Veränderungen
Flüssigkeit statt, die sowohl den eigent- handle. Derartige mannigfach gestaltete
liehen Entzündungsherd vergrössert, als Faltenbildungen kommen an Stellen, an
auch jenseits der Grenzen desselben sich welchen Eingeweide, die z. Th. retroperi-
noch ansammeln kann. Durch dieses flüs- toneal gelegen sind, in die freie Bauch-
sige Exsudat wird die Geschwulst zwar höhle übertreten, häufig vor. Am Cöcum
grösser, aber nicht deutlicher fühlbar, wohl sind solche Taschen (Recessus) als mehr
aber wird durch dieselbe die Dämpfung oder weniger constante, aber in ihrer Ge-
des Perkussionsschalls eine deutlichere. Bei stalt variable Bildungen sogar besonders
gleichzeitigem freien Erguss kann sich j benannt worden,
schräg von der Cöcalgegend über die Sym¬
physengegend nach links, oder bis zum
linken Poupart’schen Band reichend eine
schwächere Dämpfung an den stark ge¬
dämpften Bezirk anschliessen. In solchem
Fall ist dann auch leichte Fluctuation
links von dem Tumor nachweisbar. Wie
bereits erwähnt, ist Riedel der Ansicht,
dass ein perityphlitischer „Tumor“ sich
nur dann entwickeln könne, wenn um den
Wurmfortsatz bereits ältere Adhä¬
sionen vorhanden sind und wenn der¬
selbe vor, hinter oder nach unten vom
Cöcum, d. h. nach dem Lig. Pouparti zu
liegt. Der Umstand, dass in vielen Fällen
von Perityphlitis bei j u gen dl i che n Kran¬
ken und erstmaligem derartigen Erkran¬
ken ein Tumor sich bildet, Hess mich
Zweifel an der Allgemeingiltigkeit dieser
Annahme aussprechen. Dagegen würde es
mir sehr sehr erklärlich erscheinen, dass
die rasche Bildung einer solchen Geschwulst
durch entzündliche Infiltration von Peri-
Diese Verhältnisse, sowohl die Lage des
Wurmfortsatzes als seine Beziehungen zum
Peritoneum, sind von grosser Wichtigkeit für
den Weg, den eine vom Wurmfortsatz aus¬
gehende infectiöse Entzündung nimmt und für
die Schnelligkeit, mit der sich eine Infiltration,
welche in Verbindung mit sich unter einander
verlöthenden Nachbartheilen als Geschwulst
fühlbar wird, ausbildet. Findet der Uebergang
einer infectiösen Entzündung im Wurmfortsatz
oder einer zunächst nur punktförmigen Nekrose
in seiner Wand auf die Umgebung an einer
Stelle statt, an welcher der Wurmfortsatz retro¬
peritoneal liegt oder wo die beiden Blätter
seines Mesenteriolum ihn umfassen und nahe
seiner Ursprungsstelle, so kann sich ungemein
rasch eine phlegmonöse Infiltration des retro¬
peritonealen Bindegewebes oder in letzterem
Fall des subserösen Bindegewebes, nicht nur
am Fortsatz selbst, sondern auch am Cöcum,
ausbilden. Liegt der Wurmfortsatz schnecken¬
artig gewunden grösstentheils unter der Serosa
des Cöcums, so wird die Infiltration haupt¬
sächlich das subseröse Bindegewebe des letz-
! teren betreffen und kann sich nach aufwärts
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März
107
Die Therapie der Gegenwart 1903.
am Colon ascendens fortsetzen. Fühlbar wird
die Geschwulst, wie Riedel mit Recht hervor¬
hebt, nur werden, wenn die Lage des
Wurmfortsatzes eine hierfür geeignete
ist. Wenn ein langer Wurmfortsatz ins kleine
Becken hinabhängt, und die zur Entzündung
in der Umgebung führende Veränderung nahe
seiner Spitze ihren Sitz hat. entsteht eine Ver-
löthung mit dem Rectum, und bei weiblichen
Individuen mit dem Ovarium, oder Uterus oder
breiten Mutterband und kann eine Geschwulst
oberhalb des Ligamentum Pouparti nicht fühl¬
bar werden. Bei derartigen periappendiculären
Abscessen in der Tiefe des Beckens scheint
mir die Gefahr einer Lösung der Verklebungen
wegen der Beweglichkeit der daran sich be¬
theiligenden Organe, namentlich des Rectums,
eine besonders grosse zu sein. Einen Fall
dieser Art habe ich im Deutschen Archiv für
klinische Medicin x ) mitgetheilt. In solchen
Fällen würde möglichst frühzeitige Operation
sicher viel mehr angezeigt sein, als in den ge¬
wöhnlichen. mit rascher Entwickelung eines
perityphlitischen Tumors.
Auf die Lage- und Verlaufsverhältnisse des
Wurmfortsatzes sollte bei Leichenöffnungen
jeder Art zu weiterer Ansammlung casuisti-
schen Materials noch viel mehr Aufmerksam¬
keit verwendet werden. Es würde mit der
Zeit unsere Kenntniss der überaus mannig¬
faltigen Lage- und Gestaltsverältnisse des
Organs vervollständigt und damit gewiss auch
ein Einblick gewonnen werden in manche
ohne Berücksichtigung dieser Momente unklar
bleibende Erscheinungen und Eigenartigkeiten
des Verlaufs bei derartigen Kranken. #
Während des Lebens wird man in
einem Fall von Perityphlitis über die Lage¬
verhältnisse des Wurmfortsatzes nur
dann bis zu einem gewissen Grade Aufschluss
gewinnen können, wenn man den Fall von
Anfang an beobachten konnte, ehe sich aus¬
breitender Meteorismus die örtlichen Erschei¬
nungen mehr oder weniger verwischt hat. Vor
Allem wird der palpatorische Befund in Bezug
auf Druckempfindlichkeit und Sitz einer Re¬
sistenz von Wichtigkeit sein. Riedel 9 ) hat
bereits werthvolle Angaben darüber gemacht.
Von grösster Bedeutung für den Verlauf
der zunächst am Wurmfortsatz selbst und dann
in der Umgebung sich abspielenden Vorgänge
ist dessen Gefässversorgung. Diese ist in
den Fällen, in welchen der Fortsatz nach ab¬
wärts ins Becken hinein verläuft, beim weib¬
lichen Geschlecht, worauf schon Sonnenburg 3 )
aufmerksam gemacht hat, eine bessere als beim
männlichen, insofern, als eine zweite Blutver-
sorgung von der Arteria ovaria her vorhanden
ist. Hierdurch ist bei Kreislaufsstörungen ein
collateraler Ausgleich leichter möglich, anderer¬
seits aber auch ein Uebergang der Entzündung
von einem Organ auf das andere.
l ) Bd. 73 S. 1 18.
9 ) 1. c. S. 726.
*) 1. c. 5. 16.
Kehren wir nach dieser Abschweifung
zurück zur Betrachtung des gewöhnlichen
perityphlitischen Krankheitsbildes, so können
in einzelnen Fällen alle krankhaften Ver¬
änderungen, auch nach anfänglich heftigen
Erscheinungen, bei völlig ruhigem Ver¬
halten, in 3 bis 4 Tagen ganz zurückgehen.
In der Mehrzahl der Fälle aber nehmen
die Erscheinungen zu: der schon deutlich
abtastbar gewesene Tumor wird durch
den zunehmenden Meteorismus mehr und
mehr verdeckt, die sich ausbreitende Auf¬
treibung des Leibes fängt an, die Athmung
durch die Empordrängung des Zwerchfells
zu beeinträchtigen. In den mechanischen
Wirkungen des Meteorismus auf Athmung
und Herzthätigkeit können neue Gefahren,
vor Allem die der Hypostase in den hin¬
teren unteren Lungentheilen, sich hinzu¬
gesellen. Das Rückgängigwerden einer
durch solche Erscheinungen und die Ver¬
breitung der Schmerzen und Druck¬
empfindlichkeit am Bauche sich kund¬
gebenden Ausbreitung der perityphlitischen
Reizung nimmt längere Zeit in Anspruch,
hängt aber, ebenso wie eine Verschlimme¬
rung, von sehr verschiedenen Umständen,
vor Allem von dem, was im ursprünglichen
Entzündungsherd vor sich geht, ab Von
Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde
kann das Krankheitsbild wechseln. Für
den behandelnden Arzt ist das Haupt¬
augenmerk darauf zu richten, ob Er¬
scheinungen einer umschriebenen,
grösseren Abscessbildung sich mehr
und mehr in den Vordergrund
drängen, oder ob in schleichender Weise
die Perityphlitis sich auf weitere
Strecken des Bauchfells, namentlich
rechts entlang dem Colon ascendens nach
dem Zwerchfell hin, ausbreitet (subphre¬
nischer Abscess), oder ob Complicatio-
nen seitens der Pleura, wiederum
mit Vorliebe rechts, hinzugetreten sind.
In dieser Art Fällen handelt es sich
vor Allem darum, den Zeitpunkt zu be¬
stimmen, wann der sich von Tag zu
Tag vergrössernde Abscess geöffnet
werden soll, sei es, wenn möglich, extra¬
peritoneal, sei es, bei intraperitonealer
Lage, durch Laparotomie, wo möglich
mit gleichzeitiger Entfernung des
kranken Wurmfortsatzes. Ein sehr
werthvolles Hilfsmittel zur Indications-
stellung für diese operativen Eingriffe
scheint nun in dem Verhalten der Zahl
der weissen Blutzellen gegeben zu
sein. Es ist Curschmann’s 1 ) Verdienst.
l ) Münchener med. Wochcnschr. 1901. No. 48
und 49.
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108
März
Die Therapie der Gegenwart 1903,
die Methode der Leucocytenzählung zum
Nachweis einer Eiterung auch in Deutsch¬
land heimisch gemacht zu haben, nachdem
dieselbe in Amerika schon vielfach zur
Sicherstellung von Eiteransammlungen bei
Perityphlitis und zur Erkennung drohender
Perforation bei Ileotyphus verwendet
worden war.
Im Allgemeinen kann man auf Grund
der bis jetzt vorliegenden Beobachtungen
sagen, dass bei Perityphlitis mit der Zu¬
nahme der Entzündung bis zum Auf¬
treten eines eigentlich eiterigen Exsudates
eine rasche Zunahme, vorwiegend
der polymorphonucleären, 1 ) Leuko-
cyten von der normalen Durchschnittszahl-
von 5—6000 im emm auf 25 bis 30000 statt¬
findet. Darin darf zugleich ein Beweis
gesehen werden, dass der Organismus fähig
ist, die ihm in dieser Hinsicht zur Ver¬
fügung stehenden Schutzkräfte in einer
der entzündlichen Reizung entsprechenden
Weise mobil zu machen.
In Fällen mit schweren septischen Erschei¬
nungen kommt es nach den Untersuchungen
von J. C. da Costa, 2 ; Longridge und Kütt-
ner 3 ) nicht mehr zu dem Auftreten einer
Leukocytose. Ebenso fehlt dieselbe bei älteren
Abscessen mit dicker bindegewebiger Wand,
welche den Austausch der Bakterientoxine mit
dem Blut- und Säftestrom verhindert.
Die grosse praktische Wichtigkeit einer
sorgfältigen Verfolgung der Leukocytenzahl von
Tag zu Tag liegt, wie aus Curschmann’s,
A Kühn’s 4 ) u. A. Zahlenreihen sich ergiebt
und wie besonders d a C o st a hervorhebt, in dem
Einblick, den dieselbe in den Verlauf des ört¬
lichen Entzündungsprocesses gewährt. Ein sehr
rasches Ansteigen der Leukocytenzahl auf 20000
und darüber ist in der Regel von anderen Er¬
scheinungen begleitet, die eine Zunahme der
Entzündung bedeuten: höheres Fieber, ver¬
mehrte Druckempfindlichkeit an einer um¬
schriebenen Stelle, teigige Beschaffenheit des
Unterhautzellgewebes in der Umgebung, oder
auch Fluctuation.
Das Zuströmen der Leukocyten zu dem
Entzündungsherd und ihre Vermehrung in der
ganzen Blutbahn deutet darauf hin, dass ge¬
wisse Producte der Entzündungserreger eine
chemotaktische Wirkung auf die Leukocyten
ausüben. Das öfter bereits beobachtete Aus¬
bleiben einer Leukocytenvermehrung in Fällen
von foudroyanter Gangrän am Wurmfortsatz
lässt daran denken, dass, abgesehen von der
l ) C. J. Nepeau Longridge, Leukocytosis in |
Appendicitis. Lancct, 12. VII. 1902.
3 ) J. C. da Costa, The blood in Appendicitis.
Amer. Journ. of med. Sc. Bd. 122, Nov. 1901, S. 645. j
Derselbe, Clin. Hematology. 1902.
3 ; Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für j
Chirurgie. Kongress 1902.
4 ) Münchener med. Wochenschr. 1902, 49. Ent¬
hält zahlreiche Littcraturnachweise.
ungünstigen Rückwirkung des örtlichen Brandes
auf den Gesammtorganismus, die besondere
Art der Krankheitserreger an beidem, der
rasch entstehenden Gangrän und dem Aus¬
bleiben der Leukocytose, die Schuld trägt. All-
; gemein nimmt man an, dass Colibacillen und
Streptococcen die Erreger der schweren Er¬
krankungen des Wurmfortsatzes und deren
Uebergang auf die Umgebung sind. Nament-
! lieh für die Fälle von Gangrän ist jedoch
1 neuerdings verschiedentlich, von Veilion 1 )
j und Huber, Friedrich, 2 ) Weich sei bäum 3 )
| und seinen Schülern, Axel Wallgren 4 ) darauf
| aufmerksam gemacht worden, dass anaörob
| wachsende Bakterien dabei eine Hauptrolle
| spielen. Bei Frühoperationen wird sich Ge-
! legenheit ergeben, die Bakteriologie der Ap-
| pendicitis und Perityphlitis und damit vielleicht
! auch manche noch dunkle Frage hinsichtlich
j der klinischen Erscheinungen, vor Allem die,
welche die Pulsfrequenz oder das Auftreten
von Collapserscheinungen, Gasbildung im Eiter
eines A^scesses, die Neigung zum Oertlieh-
bleiben oder zum Fortschreiten der Peritonitis
u. A. betreffen, zu klären.
Der percussorische Nachweis von
Gasbildung in einem perity phli ti -
sehen Abscess oder von Gasaustritt
aus einem perforirten Wurmfortsatz
ist oft sehr schwierig und unsicher, da der
Erkrankungsherd häufig auch gashaltige
Darmschlingen einschliesst. Man wird, ehe
| man bei Auftreten von Erscheinungen, die
j auf freies Gas in einer abgegrenzten Eiter¬
ansammlung oder in der Bauchhöhle hin¬
deuten, alle Hülfsmittel der Untersuchung
beiziehen, ehe man eine sichere Entschei¬
dung trifft. Unter Umständen würde ich
auch eine Probepunction für statthaft halten,
die ich sonst in Fällen von Perityphlitis
zum Nachweis eines Abscesses, weil nicht
ungefährlich, vermeide. Vor Allem würde
unter vorsichtiger Lageänderung des Kran¬
ken die Verschieblichkeit des der vermuthe-
ten Gasansammlung zugehörigen tympani¬
schen Schallbezirks zu prüfen sein, ebenso
der Wechsel der Tonhöhe bei mehr oder
weniger starkem Aufdrücken des Plessi¬
meters. In einem im letzten Sommer aut
der hiesigen medicinischen Klinik vorge¬
kommenen Fall traten eines Tages im Ge¬
biet der perityphlitischen Infiltration Er¬
scheinungen auf, welche den Gedanken an
Gasentwicklung in einem Abscess sehr nahe
legten. Da der Fall auch sonst Bemerkens-
werthes darbot, sei er kurz mitgetheilt:
l; Vgl. Rist, Centralbl. f. Bakt. u. Parasitenk.
1901, No. 7.
a ) Zur bakteriellen Aetiologie und zur Behand¬
lung der diffusen Peritonitis. Arch. f. klin. Chir.
Bd. 68, S. 524.
3 ) Centralbl. f. Bakteriol. Bd. 32, 6, Abth. I.
4 ) Centralbl. f. Gynäkol. 1902, 42.
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Die Therapie der Gegenwart 1903.
109
Frl. M. B., 23 Jahre alt, Ladnerin, wurde j
am 16. Juli 1902 (Journal-No. 421) in die Klinik j
auf genommen. Erste Erscheinungen am 12. Juli j
Mittags, in Form leichter Schmerzen in der
Cöcalgegend, die wieder verschwanden. In der
Nacht vom 13. auf den 14. erwachte sie plötz¬
lich mit starken Schmerzen, stand abei trotz¬
dem Morgens auf und war mit fortdauernden
Schmerzen im Geschäft thätig, bis sie Nach¬
mittags sich zu Bett zu legen gezwungen war.
Der beigezogene Arzt sorgte, da am 16. Mor¬
gens eine Temperatur von 39,6 gemessen
wurde, für ihre Verbringung in die Klinik. Am
15. Juli, acht Tage zu fiüh, Eintritt der
Menses.
Bei der Aufnahme das Abdomen, nament¬
lich rechts etwas aufgetrieben, die ganze rechte
Hälfte sehr druckempfindlich, etwas stärker
gespannt, der Percussionsschall unterhalb des
Rippenbogens nach der Lumbalgegend hin
nochtympanitisch, in der Cöcalgegend tiefer
und etwas gedämpft. Temperatur Mittags 39.2.
Puls 120. Kühlschlange auf den Leib, 5 mg
Morphin subcutan. Abends Temperatur 40,0.
Nachts 12 Tropfen Tr. Opii. Am 17. ein dünn¬
flüssiger Stuhl.
In den folgenden Tagen unter Rückgang
der Temperatur und Pulsfrequenz Abnahme j
der Druckempfindlichkeit und Verkleinerung ;
des resistenten Bezirkes, der etwas über der ;
Nabelhöhe beginnt und mit einer Breite von
6-7 cm sich gegen das Ligamentum Pouparti
hinzieht. Die Schmerzen erforderten täglich
nicht mehr als 12 Tropfen Tr. Opii und eine i
Morphineinspritzung von 8 mg des Abends.
Am 20. Juli Abends Ansteigen der Tempe¬
ratur, die bis dahin 39 nicht mehr überschritten
hatte, auf 39,4. auch am Morgen des 21. 39,2,
Mittags 39.7, Puls 100 bis 108, das Allgemein¬
befinden dementsprechend, aber ohne sonstige
auffällige Erscheinungen.
Am 21. Mittags: Linke Unterbauchgegend
bis zur Mittellinie ziemlich weich und leicht
eindrückbar, rechts grössere Resistenz, be¬
ginnend 2 cm von der Linea alba und den
ganzen unteren Quadranten, bis 2 Finger breit
oberhalb der Nabelhöhe in der Parasternallinie,
in der Mammillarlinie bis zum Rippenbogen
hinauf einnehmend, nach rückwärts bis zur
Axillarlinie reichend. Der Percussionsschall in
derMittc dieses Bezirks gedämpft. Die Dämpfung
erstreckt sich auch nach rückwärts bis zur
Lumbalgegend. Daselbst, ebenso wie vorne
ziemlich starke Druckempfindlichkeit. Teigige
Beschaffenheit des Unterhautzellgewebes nir¬
gends nachweisbar.
30 200, am 22. Morgens 23 600, von Hrn. Dr.
Sch lei p gezählt, der weiterhin den Fall in
dieser Richtung verfolgte. Temperatur 38,4,
Puls 96, von guter Beschaffenheit. Nachts nichts
Besonderes. Am Morgen gleichmäßige Wärme-
vertheilung. Hände warm. Haut und Sklera
etwas gelblich.
In dem ganzen, gestern gedämpften
Bezirke heute t v m p a n i t i s c h c r Schall,
nach aussen von der Parasternallinic gegen die
Axillarlinie hin und nach abwärts gegen die
Spina a. s. höher als medianwärts. Nach
oben reicht der tiefe tympanitische Schall bis
zur 7. Rippe in der Parastei nallinie und wird
von der Leberdämpfung begrenzt. In der
Axillarlinie tympanitischer Schall bis zur
10. Rippe hinaufreichend. In der Lumbal¬
gegend der Schall tympanitisch, von anderer
Höhe als vorne.
Die fühlbare Resistenz reicht bis zur hinte¬
ren Axillarlinie (in Rückenlage der Kranken),
hat vorne die bisherige Ausdehnung, ist am
stärksten über der Spina a. s.. Spannung
daselbst sehr erheblich, Unterhautzell¬
gewebe nicht teigig. Di uckempfindlichkeit heute
viel geringer als vor einigen Tagen.
Bei dem befriedigenden Allgemeinbefinden
wird in dem Befund am Abdomen und der
starken Leukocytose kein Anlass zu einem ope¬
rativen Eingriff gefunden, zu dem man sich
jedoch gegebenen Falls sofort entschlossen haben
würde. Unter Tags massiger Rückgang der
Temperatur und der Pulsfrequenz (Temperatur
Mittags 38,0, Puls 92, Nachmittags 4 Uhr 38,3,
Puls 96, Abends 8 Uhr 37,8).
Am 23. Morgens Temperatur 37,4, Puls 88.
Die Auftreibung geringer, grössere Resistenz
nur um die Spina a. s. herum, nach abwärts
bis zur Mitte des Lig. Poup., Betastung und
| Percussion daselbst schmerzhaft. Percussions-
schall im höher tympanitisch klingenden Gebiet
rings um den vordersten Theil des Darmbein¬
kamms herum etwas mehr gedämpft, im Ver¬
gleich zu der medianwärts gelegenen Gegend
noch wie gestern höher klingend. Vorsichtige
i Lagerung der Kranken etwas mehr auf die
I linke Seite hat keine Verschiebung dieses tym-
' panitischen Bezirks zur Folge. Leukocyten:
| Mittags 19600. Temperatur Abends 37.4,
; Puls 82.
| Am 24. Morgens Temperatur 37.5, Puls 80.
i Mittags Temperatur 36 8, Abends 37,8, Puls 76.
Auftreibung und Resistenz im Ganzen ge¬
ringer, gegen die Spina a. s. hin etwa wie
gestern, desgleichen das Verhalten des tympa-
nitischen Schalls.
Die Leberdämpfung wie bisher etwas empor¬
gedrängt. Erscheinungen von Pleuritis nicht
nachweisbar.
Harnentleerung frei. Harn enthält etwas
Eiweiss (Menses hatten bis zum 20. gedauert),
kein Indican, keine Diazoreaction.
Die abendliche Morphindosis muss auf 1 cg |
erhöht werden.
Die an diesem Tag von Hrn. Dr. Sobotka
zuerst ausgeführte Leukocytenzählung ergiebt:
Am 25. Temperatur Morgens 37,0, Puls 72,
Abends 37,5 und 80. Leukocyten 23200.
Am 26. Temperatur Morgens 36,9. Puls 76,
Abends 37,7. Leukocyten: 21800. Im Ham
eine Spur Indican. Auf Glycerinsuppositorien
etwas Stuhl. Die Kühlschlange wird durch
feuchten Umschlag ersetzt. Morphin vom 29.
an auf 8 mg Abends herabgesetzt, wird am
5. August ganz fortgelassen. Opium bereits
seit dem 21. Juli nicht mehr gegeben.
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110
Die Therapie der Gegenwart 1903.
M&rz
Am 27. Abends noch 37,6 bei 76 Pulsen.
Von da an Normaltemperatur. Der Harn eiweiss¬
frei, giebt nur ganz schwache Indicanreaction,
obwohl vom 17. bis 30., also innerhalb 13 Tagen,
nur eine geringe Darmentleerung (am 27.) vor¬
handen gewesen war. Dabei hatte mit dem
Rückgang des Fiebers am 22. die Auftreibung
des Leibes von Tag zu Tag abgenommen. Am
28. keine Assymmetrie beider Bauchhälften
mehr sichtbar, etwas stärkere Resistenz noch
oberhalb des Darmbeinkamms und bis zur
Spitze der 11. Rippe fühlbar. In dieser Gegend
der Percussionsschall etwas weniger voll, vor
und unterhalb der Spina a. s. heller tympani-
tischer Schall. Hinten am Thorax nur Hochstand
der Leber nachweisbar.
Am 30. erfolgte auf Oeleinlauf, der am
29. gegeben worden war, mehrmalige reich¬
liche Darmausleerung ohne auffällige abnorme
Beimischungen (Eiter, Blut). Am 31. gebunde¬
ner, normal aussehender Stuhl.
Am 5. August war nur noch in der Mitte
zwischen Nabel und Spina a. s. eine etwas
stärkere Resistenz nachweisbar, ohne Druck¬
empfindlichkeit. Vom 1. August an war feste
Kost verabreicht worden, und vom 5. August
an erfolgte fast täglich von selbst Stuhl. Zwischen
13. und 27. August fand eine Gewichtszunahme
von 2 kg statt, und am 2. September konnte
die Kranke noch etwas anämisch, aber sonst
völlig genesen entlassen werden.
Leukocyten am 28. Juli 16800, 31. Juli
11800, 11. August 10800, 2. September 8000.
In diesem schweren Fall mit 14tägiger
Fieberdauer und mehrfach sehr hohen
Temperaturen war es zu einer ziemlich
ausgebreiteten peritonitischen Reizung in
der ganzen rechten Bauchhälfte, aber nicht
zur Bildung eines gewöhnlichen perityphli-
tischen Tumors gekommen. Der eigent¬
liche Entzündungsherd musste mehr in der
Tiefe gelegen sein, wahrscheinlich hinter
dem Cöcum, was auf eine ungewöhnliche
Lage des Wurmfortsatzes hindeutete.
Vielleicht lag der letztere von seiner Ur¬
sprungsstelle nach rückwärts umgebogen
hinter dem Cöcum und medianwärts vom
Colon ascendens. Am 21. Juli konnte man
bei dem Wiederansteigen des Fiebers und
der hohen Leukocytenzahl an rasche
Abscessbildung denken, ja die Perkussions¬
verhältnisse konnten sogar den Verdacht
auf Gasbildung in einem Abscess wach¬
rufen. Der weitere Verlauf zeigte, dass
es sich um gashaltige Darmschlingen ge¬
handelt hatte. Der rasche Rückgang des
Fiebers am 22. und die schon an diesem
Tage angedeutete sonstige Besserung
Hessen von einem operativen Eingriff Um¬
gang nehmen. Ob ein Abfluss des Eiters
durch den Darm stattgefunden hat, liess
sich nicht feststellen. Die Darmentleerun¬
gen zeigten nichts, was darauf hingedeutet
hätte. Und doch sprach die eine Zeit
lang sehr deutliche Dämpfung des Per¬
kussionsschalls für eine ziemlich erheb¬
liche Infiltration, die der schnellen Re¬
sorption zufolge wohl von vorwiegend
seröser Beschaffenheit war.
Beachtenswerth ist an dem Verlauf auch
der gleichmässige Rückgang der
meteoristischen Auftreibung, wiewohl
im untersten Theil des Darmes Koth-
massen angesammelt waren und
ebenso das Fehlen einer stärkeren Indi¬
canreaction des Harns trotz dieser Stuhl¬
verstopfung. Wie in diesem, so hatten
wir in zahlreichen Fällen unserer Klinik
beobachten können, dass trotz 8 bis
lOtägigen Fehlens von Darmentleerung,,
dieselbe dann ohne Schwierigkeit, oft von
selbst oder unter Nachhilfe eines Oel-
einlaufs, leicht erfolgt.
Nachdem wir im Vorausgegangenen
uns hauptsächlich mit der jetzt im Mittel¬
punkt der Diskussion befindlichen Frage
der sogenannten „Frühoperation M bei
Perityphlitis beschäftigt haben, — die
Operation zur Fortnahme eines erkrankten
Wurmfortsatzes nach Ablauf eines oder
mehrerer Anfälle von Perityphlitis ist kaum
mehr Gegenstand sehr getheilter Meinungen
— veranlassen mich, einige neuere Aeusse-
rungen angesehener französischer und
amerikanischer Chirurgen und eines inne¬
ren Klinikers, einige Punkte der internen
Behandlung derjenigen Fälle, in welchen
man sich nicht zu einer sofortigen
Operation entschliesst oder in
welchen die äusseren Verhältnisse
den Gedanken an eine solche gar
nicht aufkommen lassen, noch einmal
zu berühren.
Wenn Chirurgen, von der festen Ueber-
zeugung ausgehend, dass jeder kranke
Wurmfortsatz, als eine dauernde Gefahr
für die Gesundheit seines Trägers, ent¬
fernt werden müsse. Alles in der Behand¬
lung derartiger Fälle vermieden wissen
wollen, was trügerische Hoffnungen er¬
wecken und damit den richtigen Zeitpunkt
für die nothwendige Operation versäumen
lassen könnte, so lässt sich ein derartiger
Standpunkt vollkommen billigen, wenn
man auch im Einzelnen mit den Aus¬
stellungen, welche an allgemein geübten
Behandlungsmethoden gemacht werden,
wie an der Opium- und der Eisbehand¬
lung, sich nicht einverstanden erklären
kann. Weniger verständlich aber ist es,
wenn ein innerer Kliniker, wie es neuer-
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März Die Therapie th
dings Bourget 1 ) thut, gerade die Chi¬
rurgen als der Opiumbehandlung günstig
gestimmt hinstellt, der er geneigt ist, nicht
bloss die Häufung der Perityphlitisfälle in
den letzten 15 Jahren, sondern sogar die
häufiger eintretende Nothwendigkeit. ope¬
rativ einzugreifen, 2 ) in die Schuhe zu
schieben. Zunächst möchte ich mir er¬
lauben, daran zu erinnern, dass nicht
Chirurgen, sondern zwei sehr hervor¬
ragende innere Kliniker, Graves und
Stokes in Dublin, es waren, welche Mitte
der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts
die Opiumbehandlung der Bauchfellent¬
zündung eingeführt haben, und dass der
Karlsruher Arzt A. Volz 8 ) zu ihrer Ver¬
breitung ebenso wie zur Erweiterung
unserer Kenntnisse über die Peritonitis I
und Perityphlitis und deren Ursprung in
einem kranken Wurmfortsatz sehr viel bei¬
getragen hat. Von den Chirurgen der
Gegenwart wird man im Allgemeinen *
wohl eher behaupten können, dass sie der j
Opiumbehandlung gegenüber etwas vor¬
sichtig zurückhaltend sind, als das Gegen-
theil. Ich habe an anderer Stelle 4 ) mich
über diese Frage bereits ausgesprochen
und will hier nur kurz zwei Punkte be¬
rühren. Der eine betrifft die Befürchtung,
dass durch Opiate eine Darmlähmung |
herbeigeführt werden könne. Dies ist
durchaus nicht zu fürchten, wenn nicht
ganz übermässige Mengen gegeben und
wenn die Wirkungen der einzelnen Dosen
sorgfältig beobachtet werden. Das andere
ist der zeitweise oder vorwiegende Ersatz
der innerlichen Verabreichung von Opiaten
durch subcutane Injection von Mor¬
phin oder Morphin und Atropin. Die
subcutane Einverleibung ist in Fällen von
einiger Schwere, namentlich wenn starke
Brechneigung über die ersten Anfangs¬
stadien hinaus fortdauert, nicht nur wegen
der rascheren schmerzstillenden Wirkung,
sondern auch deshalb vorzuziehen, weil in
schweren Fällen mit starkem Meteorismus
die Resorption aus dem Magen oft eine
verlangsamte ist.
Mit der Opium- bezw. Morphinbehand¬
lung steht eine andere Frage im engsten
Zusammenhang, bezüglich deren Bourget
gleichfalls in mehreren Veröffentlichungen
der letzten Jahre Ansichten gcäussert und
Rathschläge gegeben hat, welche von den
*) Bourget, Le traitement medical des intlam-
raations du Coecum. Genfcve, — Therap. Monatshefte
1901. Juli. S. 340.
3 ) Monographie S. 13—15.
3 ) L. c.
\> L. c. 5. 124 f.
Gegenwart 1903. 1 1 1
jetzt ziemlich allgemein befolgten Grund¬
sätzen der Behandlung solcher Fälle sich
prinzipiell unterscheiden. Die Erfahrung
nicht bloss bei Leichenöffnungen, sondern
mehr noch die der Chirurgen, diese Autopsie
in vivo, hat uns doch Vorgänge kennen ge¬
lehrt, durch welche ein durch Uebergreifen
der Erkrankung vom Wurmfortsatz auf
die Umgebung entstehender Entzündungs¬
herd lokalisirt und einer Ausbreitung auf
das ganze Bauchfell vorgebeugt werden
kann. Die entzündliche Ausschwitzung
und ebenso auch die meteoristische Auf¬
treibung der von Entzündung betroffenen
Darmschlingen, sie tragen beide dazu bei.
dass Verklebungen der erkrankten Theile
unter einander zu Stande kommen, die
den Entzündungsherd abschliessen. Der
Meteorismus wirkt, worauf Sir Frederick
Treves aufmerksam macht, durch die ver-
hältnissmässige Ruhigstellung der betr.
Darmpartieen in dieser Richtung günstig ein
und hilft die Verbreitung der Entzündungs¬
erreger auf immer weitere Strecken, wie
sie durch lebhafte peristaltische Bewegung
herbeigeführt würde, einschränken.
Von diesen Gesichtspunkten aus muss
die Behandlungsmethode, welche seit der
Mitte des vorigen Jahrhunderts mehr und
mehr an Verbreitung zugenommen hat,
und die sich zum Ziele setzt, durch mög¬
lichst absolute Ruhe des Kranken, nahezu
vollständiges Unterlassen von Nahrungs-
! zufuhr per os, Einschränkung der Peri-
I staltik durch Opiate möglichst früh-
! zeitig Verklebung und damit die Be-
1 schränkung der Entzündung auf
einen kleinen Herd herbeizuführen, als
der von der Natur selbst vorge-
i zeichnete Weg erschienen, die Heilung
, der Krankheit zu fördern. Gegen den
| Grundsatz der möglichsten Ruhigstellung
| des Darmes verstösst aber die Anwen-
| düng jedes Abführmittels, denn alle
Abführmittel wirken hauptsächlich durch
Verstärkung der Peristaltik. Durch eine
solche wird aber allen den erwähnten
nützlichen Vorgängen in der Nähe des
Entzündungsherdes geradezu entgegen ge¬
arbeitet. Bei bereits gereiztem Darm-
tractus, wie er es in vielen Fällen gerade
in den ersten Anfängen der Krankheit ist,
bewirken Abführmittel noch eine viel leb¬
haftere Peristaltik als bei Gesunden. Zeug-
niss dafür legt das so ungemein häufig,
selbst auf an sich milde Abführmittel als¬
bald eintretende oder sich steigernde Er¬
brechen ab.
Nun hat sich allerdings neuerdings der
Standpunkt, von welchem aus die Anhänger
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112
März
Die Therapie der Gegenwart 1903.
abführender Curen ihr Vorgehen motiviren, i
gegenüber dem, der in früheren Zeiten zu j
ihrem Gebrauch führte, etwas verschoben. ■
Ursprünglich als Bestandtheil des anti¬
phlogistischen Heilapparates angewandt,
liess später der Nachweis einer Geschwulst
in der Cöcalgegend, die man sich durch
Anfüllung des Blinddarms mit festen Koth-
massen erklärte, in der wünschenswerthen
Entfernung dieser zurückgehaltenen Massen
eine naheliegende Indication zu ihrer An¬
wendung erblicken. Nachdem Viele, die
sorgfältig derartige Fälle beobachtet oder
bei Autopsien verschiedenster Art sich
Einsicht in das Verhalten des Darminhalts
verschafft haben, von dieser Annahme zu¬
rückgekommen sind, nachdem Sahli in
bestimmtester Weise dieselbe zurückgewie¬
sen hat, ist jetzt an ihre Stelle bei Man¬
chen die Furcht vor der Autointoxi¬
kation von sich zersetzendem Darm¬
inhalt aus getreten. Zweifelsohne sind
mancherlei Erscheinungen, die wir unter
Umständen, unter welchen eine Zersetzung
des Darminhalts stattfinden kann, an Ge¬
sunden wie an Kranken beobachten, auf
diese Ursache zurückzuführen. Aber auf
Grund des von mir selbst in Perityphlitis¬
fällen Beobachteten bin ich der festen
Ueberzeugung, dass man mit dieser Be¬
fürchtung viel zu weit geht. In einer ver¬
mehrten Ausscheidung von Indican oder
der Aetherschwefelsäuren im Harn, die ja
in Fällen von Peritonitis häufig vorhanden
ist und in den Fällen von Perityphlitis,
welche mit Ileuserscheinungen einhergehen,
ihre höchsten Grade erreicht, darf man,
abgesehen von Fällen der letzterwähnten
Art, noch kein Zeichen einer gefährlichen
Autointoxication vom Darminhalt her er¬
blicken. Ich habe in der früheren Arbeit
und weiter oben bereits erwähnt und
möchte es hier, um ängstliche Gemüther
zu beruhigen, ausdrücklich wiederholen,
dass bei Perityphlitis 8—9tägige Stuhlver¬
stopfung bestehen kann und dass trotzdem,
wie in dem oben mitgetheilten Fall, die
meteoristische Auftreibung des ganzen
Leibes, die Schmerzhaftigkeit desselben
und die Geschwulst in der Cöcalgegend
von Tag zu Tag zurückgehen und dass
dann nicht selten ohne weitere Beihilfe,
wenn nöthig durch einen kleinen Oelein-
lauf, reichliche gebundene Ausleerung er¬
folgt. Günstiger, als diese Dinge in
vielen unserer schweren Fälle ver¬
liefen, konnten sie unter keiner Be¬
handlung verlaufen.
Unter dem Einfluss der heutigen An¬
schauungen über die Wirkungen der Bak¬
terien im Darmkanal und der von ihnen
selbst gelieferten Toxine wie der unter
ihrer Mitwirkung zu Stande kommenden
Zersetzungen des Darminhalts, wodurch ja
gewiss manche Erscheinungen im Krank¬
heitsbild ihre Erklärung finden, ist der
Gedanke ja ungemein naheliegend, dass
diese Vorgänge nach Möglichkeit einge¬
schränkt werden müssten. Im Princip ist
dies gewiss ganz richtig. Aber sind wir
denn, abgesehen von möglichster Vermin¬
derung der Nahrungszufuhr, wirklich im
Stande, in einem solchen Falle den
Darmkanal auch nur annähernd von allem
vielleicht Schädlichen zu befreien und
wiegen die Nachtheile, welche Versuche in
dieser Richtung im Gefolge haben können,
nicht den Vortheil, der möglicherweise er¬
reicht werden kann, vollkommen auf? Ich
fürchte vielmehr, sie überwiegen sogar be¬
deutend; denn alle Methoden, welche dieses
Ziel verfolgen, also auch die von Bourget -
gepriesene Anwendung von Ol. Ricini mit
Salacetol per os und die Eingiessungen
einer 4%o Ichthyollösung mit Olivenöl in
den Darm, wirken doch, auch soweit sie
antiseptisch und antitoxisch wirklichen
Effect haben, hauptsächlich durch Ver¬
mehrung der Peristaltik und dadurch
herbeigeführte Entleerung des Darminhalts.
Durch diese aber können kaum zu Stande
gekommene entzündliche Verklebungen
wieder gelöst werden.
Wie bald ist man von der anfänglichen
Vielgeschäftigkeit, um der Indication der
Antiseptik Genüge zu leisten, in der Behand¬
lung der Wunden, der inneren Tuberkulose,
in der Gynäkologie zurückgekommen! Und
gerade im Darmkanal ist dieselbe noch
viel schwieriger zu erfüllen als anderswo
im Körper. An keinem andern Ort scheint
aber auch Vielgeschäftigkeit gefährlicher
zu sein, als gerade am Darmkanal und bei
den Erkrankungen desselben, welche zu
Perforation führen können, oder bereits
durch solche hervorgerufen sind.
Wie weitgehend andererseits die Wir¬
kungen der natürlichen Vorgänge sind,
welche Heilung oder Unschädlichmachung
lebensgefährlicher Zustände im Gefolge
haben können, davon haben wir ja häufig
genug Gelegenheit uns zu überzeugen. Wie
erstaunlich wenig bleibt oft zurück von
ausgedehnten Bauchfellentzündungen, deren
Heilung wir zu Stande kommen sehen und
deren Ueberreste wir nach Jahren, wenn
die Betreffenden zufällig an etwas Anderem
zu Grunde gingen, aufzusuchen in der
Lage sind! Wie oft finden wir feste Ver¬
löthungen an Stellen, an welchen Durch-
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März
113
Die Therapie der
bohrung eines Eingeweides, des Magens,
des Darmes, des Wurmfortsatzes drohte!
Welch* werthvolle Lehren haben nicht die
Erfahrungen des jüngsten südafrikanischen
Krieges in Bezug auf Verletzungen des
Darmes und deren spontaner Heilung ge¬
bracht!
Dass heilende Vorgänge zuweilen auch
neue Gefahren im Gefolge haben können,
wie Einschnürungen und Knickungen an
Eingeweiden, die Möglichkeit innerer Ein¬
klemmungen unter Verwachsungsbändern
oder von Achsendrehung eines Darmab¬
schnittes, nimmt der Thatsache, dass die
physiologischen und Krankheiten gegen¬
über reactiven Vorgänge im Körper
wunderbare Schutz- und Heilkräfte
darstellen, nichts von ihrem Werth. Wenn
irgendwo in der praktischen Medicin, heisst
es hier auf diesem Gebiet „minister na-
turae* nach Möglichkeit zu sein und nicht
sie meistern zu wollen. Auch wo der
Chirurg mit dem Messer eingreift, um
einen Abscess zu entleeren oder einen
kranken Wurmfortsatz zu entfernen, folgt
er den Fingerzeigen des natürlichen Hei¬
lungsvorgangs, der zur Abgrenzung, in
manchen Fällen zur spontanen Ausstossung
des Krankhaften führt. So heilbringend
und lebensrettend es sein kann, wenn die¬
ser vorgezeichnete Weg durch einen ope¬
rativen Eingriff abgekürzt wird, so ver¬
derblich kann es werden, wenn durch
unzeitgemässes Eingreifen dieStetig-
keit des Ablaufs der durch die Krank¬
heit in Bewegung gesetzten Vor¬
gänge gestört wird. Darauf würde es
aber, meiner festen Ueberzeugung nach,
hinauskommen, wenn man jetzt, nur von
einem etwas andern, modern aufgeputzten
Standpunkt aus, wieder zu der alten Me¬
thode der Purgiercuren zurückkehren
wollte. Bedenkt man dabei, dass in nicht
wenig Fällen eine Perforation des Wurm¬
fortsatzes bevorsteht, wenn sie nicht schon
erfolgt ist, so kann der durch das Abführ¬
mittel mit Beschleunigung in das Cöcum
eingetriebene Dünndarminhalt, der dann
auch, soweit die Schwellung der Schleim¬
haut dies nicht verhindert, in den Wurm¬
fortsatz eindringen kann, die Durchbohrung
des letzteren an der schadhaften Stelle
bewirken, oder, worauf Sahli bereits auf¬
merksam gemacht hat, den Darminhalt
durch die Perforationsöffnung austreiben.
Auch wo diese Gefahr nicht vorliegt, kann
die Füllung des Wurmfortsatzes mit flüssi¬
gem Darminhalt, der dann in Folge der
Lähmung seiner Muscularis nicht wieder
so leicht in das Cöcum zurückentleert wird,
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Gegenwart 1903.
erst recht einen günstigen Nährboden für
die in Massen daselbst vorhandenen Bak¬
terien abgeben.
Dass einzelne Kranke auch trotz einer
derartigen Behandlung genesen, ist noch
kein Beweis für die Richtigkeit des Ver¬
fahrens. Ist es doch erstaunlich, was solche
Kranke zuweilen aushalten und glücklich
überstehen.
Nicht minder absprechend als gegen die
Anwendung der Opiate ist Bourget und
ebenso auch in einer Aeusserung jüngsten
Datums Lucas Championniere 1 ) gegen
die Eisbehandlung. In der hiesigen Klinik
wenden wir fast ausschliesslich denLeiter’-
schen Kühlapparat, aus Gummiröhren ge¬
bildet, an, durch welchen ständig Eiswasser
geleitet wird. Er wirkt schmerzlindernd
und ist vielen Kranken angenehm. Manche
verlangten wieder darnach, nachdem er be¬
reits weggelassen worden war. In der
Regel wird er fortgelassen, wenn die Tempe¬
ratur normal geworden ist. Er wird dann
durch Priessnitzumschlag oder zuweilen
auch durch Cataplasmen ersetzt. Nachtheile
haben wir von der abkühlenden Behand¬
lung nie gesehen.
Fassen wir zum Schluss den heutigen
Stand der Frage, wie er sich unter voller
Berücksichtigung des chirurgischen Stand¬
punktes nach den Erfahrungen einer
inneren Klinik darstellt, zusammen, so
können wir sagen: der Perityphlitis liegen
in der grossen Mehrzahl der Fälle schwere
Erkrankungen des Wurmfortsatzes zu
Grunde, die sich vorwiegend im jugend¬
lichen, häufig schon im kindlichen Alter
entwickeln und in allen Lebensaltern Vor¬
kommen können.
Ein Theil dieser Fälle, aber nur ein
kleiner, ist in Folge der Art der Verände¬
rung am Wurmfortsatz und des Uebergangs
derselben auf das Bauchfell von vornherein
hoffnungslos, wenn es nicht durch eine
ganz frühzeitige Operation gelingt, den
Kranken zu retten. (Gangrän oder Perfo¬
ration des Wurmfortsatzes mit alsbald auf¬
tretender allgemeiner Peritonitis.)
In der grossen Mehrzahl der Fälle
mitErkrankungsformen des verschie¬
densten Grades ist Heilung ohne
operativen Eingriff möglich, und zwar
selbst in Fällen, in denen die Bildung eines
grösseren Eiterherdes um den erkrankten
Theil des Wurmfortsatzes herum angenom¬
men werden muss. Ein solcher Eiterherd
kann durch den eröffneten Wurmfortsatz
sich in das Cöcum entleeren (Sahli) oder
*) Sem. mödicale, 1902, No. 52, p. 423.
15
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114
März
Die Therapie der Gegenwart 1903.
in Darm, Blase oder Vagina durchbrechen
und ausheilen, ein kleiner Eiterherd wohl
auch resorbirt werden.
Von 187 (124 männlichen und 63 weiblichen)
in 25 Jahren vom Jahre 1876 bis 1901 in die
hiesige medicinische Klinik aufgenommenen
Fällen genasen 93,6 % der männlichen und
90,5 % der weiblichen Kranken. Dass unter
den Genesenen sich eine grosse Zahl zum
Theil sehr schwerer Fälle befand, ergiebt sich
aus der Dauer des nothwendigen Hospital¬
aufenthalts. Es mussten in der Klinik ver¬
bleiben :
bis zu
Von den
männlichen weiblichen
Kranken
10 Tagen 16,0% 11.0%
» »
20
n
29,0 %
22.0%
» n
30
n
15.0%
15.7%
tt n
40
n
12,0%
17,6%
n n
50
n
13,0%
9.8%
» n
60
n
6.0%
7,8 %
über
60
und
bis zu 200 Tagen die Uebrigen.
Welchen Verlauf der einzelne Fall dieser
Kategorie nehmen wird, lässt sich im.
Anfang nicht voraussehen. Bei jugend¬
lichen, vorher gesunden Menschen, bei
denen, ensprechend der Lage des Wurm¬
fortsatzes, sich frühzeitig eine typische Ge¬
schwulst ausbildet, ist bei geeigneter Be¬
handlung ein günstiger Verlauf in Aussicht
zu nehmen. Zweifelhafter ist die Prognose
in Fällen, in welchen wegen der ungewöhn¬
lichen Lage des Wurmfortsatzes ein fühl¬
barer Tumor nicht nachweisbar wird. In
Fällen dieser Art können unerwartet
schlimme Erscheinungen auftreten und der
Tod auch trotz operativen Eingreifens un¬
abwendbar sein. Durch eine wirkliche Früh¬
operation hätte der Kranke wahrscheinlich
gerettet werden können.
In einem Theil dieser von Anfang an
ohne schwere Erscheinungen verlaufenden
Fälle kommt es allmählich zur Ausbildung
eines nachweisbaren Abscesses, der selbst¬
verständlich alsbald eröffnet werden muss.
Ob der kranke Wurmfoitsatz gleichzeitig
aufgesucht und entfernt werden soll, hängt
von den Verhältnissen des Falles ab.
In nicht wenig Fällen wird durch
die acute Perityphlitis der kranke
Wurmfortsatz nicht unschädlich ge¬
macht. Es treten früher oder später Reci-
dive ein. Wo immer nach Ablauf einer
Perityphlitis örtliche Erscheinungen, wenn
auch nur zeitweise, sich geltend machen,
ist die Entfernung des Wurmfortsatzes ge¬
boten, eine Operation, die in geübten
Händen als gefahrlos bezeichnet werden
kann, wenn sie auch oft Schwierigkeiten
darbietet.
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Die grosse Mehzahl der Perityphlitis¬
fälle wird wohl auch in der Zukunft, mögen
die Fortschritte in der chirurgischen Aus¬
bildung der Aerzte noch so grosse sein,
schon aus rein äusseren Gründen intern
behandelt werden. In Hospitälern wird
voraussichtlich auch bei uns in Deutsch¬
land die operative Behandlung noch häufiger
werden, als jetzt schon. Jeder Arzt, der,
sei es bei einer Operation, sei es auf dem
Sectionstisch, einen brandigen oder durch¬
löcherten Wurmfortsatz mit einem oder ein
Paar Kothsteinen in demselben gesehen
hat, wird die zahlreichen neuen Veröffent¬
lichungen über frühzeitig oder auf der
Höhe der Krankheit vorgenommene Ope¬
rationen von Roux, C. Beck 1 ), Sonnen¬
burg, E. Rose, 2 ) Riedel, Payr, 8 )
B. v. Beck, 4 ) Friedrich, 5 ) O’Conor 6 )
u. A. nicht ohne einen tiefen Eindruck da¬
von zurückzubehalten, lesen können, ins¬
besondere wenn er sich dabei der sorgen¬
vollen Stunden erinnert, die er selbst bei
der Behandlung solcher Fälle wochenlang
durchlebte, bis die Kranken endlich nach
mancherlei Zwischenfällen ohne Operation
genesen waren.
Wer chirurgische Neigungen und bereits
einige chirurgische Erfahrung hat, wird
vielleicht geneigt sein, auf Grund derartiger
aufmunternder Mittheilungen in Zukunft
auch diesen kürzeren Weg zu beschreiten.
Welche Fülle von Fragen jedoch auch da
bei zu berücksichtigen ist, wird ihm klar
werden, wenn er das sehr umfassende
Sammelreferat von H. Bohm 7 ) über die
Indicationen zur chirurgischen Behandlung
der Perityphlitis liest. Auch wird er die
Stimmen derer nicht unberücksichtigt lassen
dürfen, welche auf Grund einer reichen
persönlichen chirurgischen Erfahrung in
der Indicationsstellung zur Operation gleich
zu Beginn oder auf der Höhe der Erkran¬
kung vorsichtig oder zurückhaltender ge¬
worden sind, als sie es früher waren,
Sonnenburg wie Broca in Paris haben
noch im letzten Herbst auf der Jahresver¬
sammlung der Belgischen Gesellschaft für
Chirurgie in Brüssel 8 ) sich gegen die „Früh¬
operation" ausgesprochen. Ein Chirurg von
>) Berliner klin. Wochenschr. 1896. 38. — Samml.
klin. Vorträge. Neue Folge. No. 221.
a ) Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie. Bd. 57, 58, 59.
3 ) Beitr. z. Frage der Frühoperation der Appen-
dicitis. Arch. f. klin. Chirurgie. Bd. 68, S. 306.
4 ) Beitr. z. klin. Chirurgie. Bd. XX. — Aerztl.
Mitth. aus und für Baden 1902. 18 u. 19.
5 ) Arch. f. klin. Chirurgie. Bd. 68.
Lancet, 19. August 1902
Fortschritte der Mcdicin 1902, No. 22.
8 ) Ref. in Münchener mcd. Wochenschr. 25. No¬
vember 1902.
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März
115
Die Therapie der
so grosser Erfahrung wie Sir Frederick
Treves sprach sich noch unlängst 1 ) dahin
aus, dass die abergrosse Mehrzahl der Fälle
spontan heile und dass in den Fällen, in
welchen keine unmittelbare Indication zur
Operation vorliege, die Frage eines opera¬
tiven Eingriffs nur selten vor dem fünften
Tag discutirt zu werden brauche.
Auch der allein stehende Arzt auf dem
Lande wird in die Lage kommen können,
einmal eine FrQhoperation ausführen zu
müssen, wenn er frühzeitig genug zu
einem foudroyanten Fall gerufen wird.
Unter allen Umständen wird er einen
deutlich nachweisbaren perityphli tischen
Abscess eröffnen müssen. Für Operatio¬
nen zur Wegnahme des kranken Wurmfort¬
satzes nach Ablauf einer acuten Perityphlitis
oder zu operativem Eingreifen auf der
Höhe einer solchen möge er über die sehr
verschiedenartigen Vorkommnisse, die unter
Bemerkungen über die
Von Prof. Dr. Herrn.
Im verflossenen Jahre wurde an meiner
Spitalsabtheilung die diuretische Wirkung
des Theocin (Theophyllin) an einer ziem¬
lich erheblichen Zahl von Patienten ge¬
prüft. Aus sogleich näher zu erörternden
Gründen wurden dann die therapeutischen
Versuche abgebrochen, nach der Publica-
tion Minkowski’s (Therapie der Gegen¬
wart 1902 S. 490) aber wieder aufgenom¬
men. Da meine Erfahrungen sich auf mehr
als 40 Beobachtungen erstrecken und einige
praktisch sehr beachtenswerthe Ergebnisse
über die Anwendungsweise des Theocin
und die Gefährlichkeit des Mittels geliefert
haben, sei in möglichster Kürze das Re¬
sultat der klinischen Untersuchungen mit-
getheilt.
Wir können die Angaben Minko wski’s
bezüglich der diuretischen Wirkung des
Theocin nur bestätigen. Es wurde das
Präparat zumeist bei Hydropischen in An¬
wendung gezogen und zwar überwiegend
bei Kranken mit Herzfehlern oder Herz¬
muskelerkrankungen mit allgemeinen Oede¬
men, weiter bei Kranken mit Arterioskle¬
rose, bei Nephritikern. Mehrmals habe ich
auch Theocin bei Patienten mit entzünd¬
lichen Ergüssen (Pleuritis, Peritonitis) an¬
gewendet.
Die diuretische Wirkung des Theocin J
bei Oedemen cardialen Ursprungs ist eine
überaus zuverlässige. Sie hat uns nur in
ganz vereinzelten Fällen in Stich gelassen.
Lancet, 19. August 1902.
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Gegenwart 1903.
Umständen eine Operation ausserordentlich
erschweren können, in den trefflichen Ab¬
handlungen von Roux, Sonnenburg,
Lenzmann, 1 ) Graser 2 ) u. A. sich Raths
erholen, ehe er zum Messer greift. Aber
trotz der grossen Fortschritte, welche die
Chirurgie im letzten Jahrzehnt namentlich
auch auf diesem Gebiet gemacht hat, und
trotzdem die Zahl chirurgisch gut ausgebil¬
deter Aerzte in dieser Zeit ebenso zu¬
genommen hat, gilt auch heute noch und
wird für lange Zeit ein Ausspruch, den
Malthe 3 ) im Jahre 1890 in einer Discussion
der medicinischen Gesellschaft in Christiania
gethan hat: „falls die Aerzte auf dem
Lande und in kleinen Städten sich ver¬
pflichtet fühlen sollten, acute Appendicitis
zu operiren, würde die Operation gewiss
schlechtere Resultate ergeben, als con-
servative Behandlung“ seine volle Geltung
behalten.
Wirkung des Theocin.
Schlesinger -Wien.
In der Regel war bereits in den ersten
24 Stunden nach Darreichung des Theocin
eine bedeutende Steigerung der Diurese
eingetreten, welche am darauf folgenden
Tage noch eine weitere Erhöhung erfuhr,
noch 1 —3 Tage stark blieb und dann
wieder allmählich abklang. Fast immer
waren aber mit dem Rückgänge der Diu¬
rese auch schon die Oedeme verschwun¬
den. Unter den Hydropischen befanden
sich Kranke, bei welchen alle möglichen
anderen internen Medicationen vergeblich
gegeben worden waren und bei denen ein
Rückgang der Oedeme auf innerliche Mit¬
tel hin schon sehr unwahrscheinlich ge¬
worden war. Die Diuresen waren oft ganz
beträchtliche. In einem Falle betrug sie
über 6 Liter in 24 Stunden, zu wiederholten
Malen registrirten wir Diuresen von über
4 1, Diuresen von über 3 1 pro die gehören
nach Theocindarreichung bei cardialem
Hydrops zu den gewöhnlichen Vorkomm¬
nissen.
Da wir keine Albuminurie oder Cylin-
drurie nach Theocingebrauch auftreten
sahen, entschloss ich mich, das Mittel auch
bei Flüssigkeitsansammlungen in Folge von
Nierenaffektionen zu versuchen. Es zeigten
nun auch diese Versuche die gleiche
prompte diuretische Wirkung wie bei Herz-
1 ) Die entzündlichen Erkrankungen des Darms
in der Regio coecalis und ihre Folgen. Berlin 1901.
2 ) Penzoldt und Stintzing, Handbuch der
Therapie innerer Krankheiten. 3. Aufl. Bd.IV, S. 740f,
3 ) Referat im Cbl. f. Chir. 1900, No. 39.
15 *
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116
März
Die Therapie der
affectionen in mehreren Fällen von sub¬
acuten Morbus Brighthii und von Ren
granularis mit universellen Oedemen. Die
Eiweissausscheidung wurde durch das Prä¬
parat nicht ungünstig beeinflusst.
Weit weniger günstig gestaltete sich
die Wirkung bei entzündlichen Affectionen
der Pleura und das Peritoneum. Mitunter
stieg die Diurese mässig an, zeigte aber
in der Mehrzahl der Fälle keine wesent¬
liche Beeinflussung. Den gleichen un¬
günstigen therapeutischen Effect sahen wir
in zwei Fällen von Lebercirrhose mit
Flüssigkeitsansammlung in der Bauchhöhle.
Nach diesen Erfahrungen hatte es den
Anschein, wie wenn wir im Theocin wegen
seiner ausserordentlich harntreibenden Wir¬
kung ein Diureticum ersten Ranges gefun¬
den hätten. Von unangenehmen Neben¬
erscheinungen hatten die Patienten nur
öfters über Kopfschmerz, selten über
Brechreiz, hier und da auch über Durch¬
fall geklagt, im Allgemeinen wurde aber
Theocin gerne genommen und gut ver¬
tragen.
Wir machten aber nun rasch hinter¬
einander zwei Beobachtungen, welche uns
zeigten, dass das Theocin nicht nur ein
ungemein wirksames, sondern auch unter
Umständen ein recht gefährliches Mittel ist.
Einer unserer Kranken mit universellem
Hydrops (Vitium cordis ohne Erkrankung
der Nieren) bekam am zweiten Tage der
Darreichung von Theocin (5 X 0,2 g pro
die, also noch nicht ganz 2 g in 48 Stunden)
allgemeine Convulsionen vom Charakter der
epileptischen. Dieselben waren von Be¬
wusstseinsverlust und Zungenbiss begleitet
und dauerten mehrere Minuten an. Am
nächsten Tage (bei Fortgebrauch des
Theocin) Wiederholung des Anfalles in
gleicher Weise. Patient Hess während des
Anfalles Urin und Stuhl unter sich. Nun
wurde das Theocin ausgesetzt, es stellte
sich bis zu dem mehrere Wochen später
erfolgenden Exitus kein neuer epileptischer
Anfall ein.
Fast zur selben Zeit war bei einer
Kranken mit universellen Oedemen in Folge
von Vitium cordis (combinirter Klappen¬
fehler ohne Erkrankung der Nieren) nach
Gebrauch von 5 mal 0,2 g Theocin ein ganz
analoger Anfall aufgetreten; auch bei dieser
Kranken trat nach Aussetzen der Medication
keine Wiederkehr der Anfälle ein.
In beiden Fällen wurde die Diurese
durch die Anfälle nicht ungünstig beein¬
flusst, sondern war an den Tagen mit Con¬
vulsionen eine ziemlich hohe (über 3 resp.
272 1 ).
Gegenwart 1903.
Da bei beiden Kranken nach meinen
nachträglichen Erhebungen früher keine
Zeichen einer Epilepsie oder eines orga¬
nischen Hirnleidens beobachtet worden
waren, die Nieren nicht geschädigt waren,,
die Convulsionen sich nach Gebrauch des
Theocin einstellten, nach dem Aussetzen des
Mittels verloren, da weiters bei Katzen
(Dreser, cf. den Aufsatz von Minkowski)
durch Einverleibung grösserer Dosen von
Theocin (0,1 g pro kg Körpergewicht) Krämpfe
erzeugt werden, kann es keinem Zweifel
unterliegen, dass in unseren beiden
Fällen die allgemeinen Convulsionen
durch den Gebrauch des Theocin
hervorgerufen wurden. Dabei muss
hervorgehoben werden, dass keineswegs
besonders grosse Dosen gegeben worden
waren, da Minkowski öfters über 1 g
hinausging, in einem Falle sogar 1,6 g
durch 14 Tage ohne Schaden gab, während
ich nie über 1,0 g pro die verabfolgte.
Durch die günstigen Ergebnisse Min-
kowski’s angeregt und unter Berücksichti¬
gung meiner früheren, sehr günstigen Er¬
fahrungen habe ich neuerlich die thera¬
peutischen Versuche aufgenommen, aber
versucht, gleichzeitig mit Theocin ein Prä¬
parat zu geben, welches die erregenden
Wirkungen mildern, aber den diuretischen
Effect nicht beeinflussen sollte.
In der That gelingt es bei gleichzeitiger
Anwendung von Brompräparaten oder
Narcoticis die erregenden Eigenschaften
erheblich zu mindern, jedoch wurde in
meinen Beobachtungen bei gleichzeitiger
Anwendung dieser Mittel die Diurese un¬
günstig beeinflusst.
Ich habe nun mit Rücksicht auf den
Umstand, dass Adonis vernalis in der
Behandlung der Epilepsie neuerlich mit
Erfolg verwendet wurde, 1 ) versucht, durch
gleichzeitige Darreichung des Mittels einer¬
seits die diuretische Wirkung zu unter¬
stützen, andererseits aber auch die krampf-
erregenden Eigenschaften des Theocin zu
vermindern. Die Digitalis ähnliche Wir¬
kung der Adonis vernalis auf das Herz
konnte ausserdem nur als vortheilhaft bei
den Kranken betrachtet werden, bei wel¬
chen wir das Theocin in Anwendung:
zogen. Unseren gemachten Erfahrungen
zufolge habe ich vermieden, Theocin durch
längere Zeit zu geben oder gar mit der
Tagesdosis zu steigern, wenn Kopfschmerz
oder Erbrechen als Intoxicationserschei-
nungen sich einstellten.
*) v. Bechterew: Ueber die Bedeutung der
Cardiaca bei der Behandlung der Epilepsie. Neurologe
Centralblatt 1898 No. 7.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1903.
117
Die Medicadon wurde in folgender
Weise von mir verschrieben:
Infus. Adonid. ver-
nalis . 5*0:180*0 aquae
Theoein . 0-6 (-T0)
Syrup. simplic. . . 20*0
S. In 24 Stunden zu verbrauchen,
oder auch
Herb . Adonid. ver-
nalis Dlalysat. Oo-
las . 2*0
Aq. destilL .... 180*0
Theocin . 0*0 (-1*0)
Syrup. cort. Aurant. 20*0 •
S. In 24 Stunden zu verbrauchen.
Bis jetzt — ich habe in dieser Ver¬
schreibungsweise das Präparat bei circa
20 Kranken in Anwendung gezogen — ist
der Erfolg ein durchaus befriedigender.
Die diuretische Wirkung des Theocin ist
bei dieser Combination der Mittel nicht
vermindert, Krämpfe habe ich bisher nicht
wieder beobachtet, ja ich habe sogar den
Eindruck, wie wenn Kopfschmerzen und
Brechreiz seltener auftreten würden, als
bei Anwendung des Theocin allein.
Die früher mitgetheilten Beobachtungen
zeigen, dass das Theocin ein sehr
werthvolles und mächtiges Diureti-
cum darstellt, auf dessen Anwen¬
dung trotz seiner krampferregenden
Eigenschaften nicht verzichtet wer¬
den soll, da es mitunter noch diu¬
retische Eigenschaften entfaltet,
wenn die andere interne Medication
versagt. Man soll aber bei seiner
Anwendung sich bewusst sein, dass
es ein heroisches Mittel ist und die
Gefahren seines Gebrauches durch
gleichzeitigen internen Gebrauch
von Adonis vernalis zu vermindern
trachten.
Aus der H medlcinisclien Klinik der Universität Budapest.
(Director: Prof. K. v. Ketly.)
Klinische Erfahrungen Ober Rhizoma scopoliae carniolicae.
Von Dr. Ladislaus V. Ketly, I. Assistent der Klinik.
Gegen den hochgradigen Tremor bei
Paralysis agitans, welcher die Beschäf¬
tigung der Kranken ja sogar die zum alltäg¬
lichen Leben nothwendigen Bewegungen in
störendster Weise erschwert und verhindert,
besitzen wir in neuerer Zeit mehrere
Mittel; so empfahl Charcot das Hyosci-
aminum, Erb das Hyoscinum hydrobromi-
cum, Mendel das Duboisin. Nach unseren
eigenen Erfahrungen sind die besten Re¬
sultate mit dem Hyoscinum hydrobromi-
cum zu erreichen, indem es auch den
stärksten Tremor plötzlich zum Schwinden
bringen kann. Obzwar die Wirkung ge¬
wöhnlich nach 4—5 Wochen oder 1—2
Monaten aufhört und der Tremor wieder
zurückkehrt, kann dennoch nach einer kür¬
zeren oder längeren Pause das Mittel wieder¬
holt und eventuell neuerdings eine mehr oder
weniger lange Besserung erreicht werden.
Der Hauptnachtheil des Mittels liegt
darin, dass bei behutsamster Dosirung
manchmal sehr schwere Reizungserschei¬
nungen, ja sogar gefährliche Vergiftungs¬
symptome auftreten und in solchen Fällen
muss das Mittel natürlich ausgesetzt wer¬
den. Deshalb musste das von Podack 1 )
im Jahre 1897 empfohlene Rhizoma sco¬
poliae carniolicae mit Freude begrüsst
*) Podack, Zur Behandlung mit Rhizoma sco¬
poliae carniolicae bei Paralysis agitans. D. med.
Wochenschr. 1897.
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werden, da dies pflanzliche Medicament,
welches der Wirkung nach mit dem Hyos-
cin übereinstimmt, angeblich viel weniger
oder überhaupt nicht toxisch wirkt. Er
entdeckte das Mittel aus Zufall, da ein
Bauernpatient, der seit 26 Jahren an Para¬
lysis agitans litt, 30 Jahre lang täglich das
Rhizom der Scopilia carniolica ass (ver¬
rückte Rübe). Dadurch nahm sein Tremor
ständig ab, ohne dass es in seinem Organis¬
mus die geringste schädliche Wirkung oder
Intoxicationserscheinungen erzeugt hätte.
Die Wirkung des Mittels ist daraus erklär¬
lich, dass es Hyosciamin und Hyoscin, resp.
Scopolamin enthält und ein grosser Vortheil
ist, dass es Intoxicationssymptome auch
nach längerem Gebrauch nicht verursacht.
Neuerdings wurde das Mittel auch bei
uns an zwei Fällen von Paralysis agitans
und in einem Falle von Neurosis träum,
erprobt; und das hochgradige Zittern,
welches die Kranken in allen drei Fällen
auch im Gehen hinderte, Hess spätestens
in zwei Tagen in zwei Fällen nach, beim
Dritten hörte es ganz auf. In keinem
Falle konnten wir weder Irritationserschei¬
nungen, noch unangenehme oder toxische
Symptome beobachten, obzwar wir das
Mittel monatelang verabreichten. In zwei
Fällen von Paralysis agitans recidivirte der
Tremor nicht einmal nach Monaten, hingegen
bei der traumatischen Neurose der Tremor
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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
118
März
Die Therapie der Gegenwart 1903.
nach Aussetzen des Mittels von neuem auf¬
trat; nach Polybrom zeigte sich da keine
Besserung, hingegen Rhizoma scopoliae von
neuem verabreicht den Tremor wieder er¬
heblich verminderte. Dieser Fall beweist
demnach eclatant die Wirkung des Mittels.
Die Krankengeschichte des einen Para¬
lysis agitans-Falles theilen wir hier kurz mit,
da hieraus die Unschädlichkeit des Mittels
dem Hyoscin gegenüber klar hervorgeht:
E. N. 53 Jahre alt. Diagnose: Paralysis
agitans. Ist seit Mai 1897 krank, vorher be¬
gannen die rechte, nach einem halben Jahr
die linke obere Extremität, bald auch die un¬
teren Extremitäten zu zittern. Seit Juni 1899
geht er schwer, die Muskeln sind steif; seit
December zeigt sich beim Gehen Propulsion.
Am 15. Mai 1900 kam er auf unsere Klinik
und war damals Hypotonie in den Muskeln,
hochgradiges Zittern des Kopfes und der Ex¬
tremitäten, beim Gehen Propulsion zugegen.
Am 16. Mai bekam er 0,0001 Hyoscin. hy-
drobrom. subcutan.
Am 17. Mai eine ebensolche Dosis; nach der
Einspritzung wird der Patient sehr erregt, er
schreit und delirirt.
Am 18. Mai Wiederholung der Injection;
15 Minuten darnach wird der Patient gut ge¬
launt, bald 10 Minuten nach delirirt er und fällt
in einen tiefen Schlaf; erwachend hörte der
Tremor ganz auf.
Am 19. Mai bekommt er keine Injection.
Am 20.—21. Mai tritt der Tremor von Neuem
auf.
Am 22. Mai bekommt er wieder Hyocinin-
jection; darnach wieder drei Stunden hindurch
Irritationserscheinungen.
Am 24. Mai Injection; darnach mehrere
Stunden hindurch Unruhe und Delirium.
Am 25. Mai bekommt er keine Injection,.
der Tremor besteht.
Infolge dieser unangenehmen Neben¬
wirkung des Hyoscins bekommt der Pa¬
tient vom 26. Mai täglich 0,30 g Rhizoma
scopoliae carniolicae auf einmal in Pulver¬
form. Schon vom zweiten Tage ange¬
fangen, verminderte sich erheblich das-
Zittern; vom 5. Tag? war der Gang schon
sicher, die Sprache verständlich und der
Tremor bloss an den Händen sichtbar und
auch hier so gering, dass es ihn weder
am Essen noch an anderen Bewegungen
hinderte. Abgesehen von einem geringen
Trockenheitsgefühl im Gaumen, verursachte
das Mittel gar keine Unannehmlichkeiten
oder Irritationssymptome. Der Kranke ver-
Hess am 1. Juni mit hochgradiger Besse¬
rung die Klinik.
Auf Grund dieser an drei Fällen ge¬
sammelten Erfahrungen empfehlen wir
das Rhizoma scopoliae carniolicae der
Aufmerksamkeit der praktischen Aerzte*
da mit demselben der Tremor bei Para¬
lysis agitans meist rasch und erheblich
vermindert, ja sogar auf längere oder kürzere
Zeit eingestellt werden kann. Bezüglich
der Wirkung besteht es die Concurrenz
mit dem Hyoscin vollkommen, ohne dass
es dessen toxische Eigenschaften besitzen
würde.
Die Dosis beträgt pro die und pro dosi
0,30—0,40 g.
Zusammenfassende Uebersicht.
Gelatine, ihre Gefahren und ihr Werth in der Therapie.
Von Dr. Heinrich Doerfler- Regensburg.
In den letzten 2—3 Jahren haben sich
allenthalben die Publicationen über meist
tödtliche Zufälle nach subcutaner Gelatine¬
anwendung in beunruhigendster Weise ge¬
häuft: septische Thrombosen, Phlegmonen,
Abscesse foudroyanter Art, malignes Oedem,
Gasphlegmonen und insbesondere häufig
die gefürchtetste aller Infectionen: Tetanus,
fast ausnahmslos mit Todesfolge, wurden
gemeldet.
Ich selbst habe leider in der Familie
eines nächsten Verwandten einen derartigen
traurigen Fall erlebt, ein zweiter Fall wurde
mir s. Z. von Kollegen Dr. Stillkrauth
hier freundlichst zur Verfügung gestellt.
Die beiden Fälle stammen aus der Zeit
(1889), als man noch nicht ahnte, woher
der plötzliche Tetanus mit seinen trüben
Folgen entstanden war.
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Frau Dr. D., Arztgattin in B., II. p. mit
relativ rasch und leicht abgelaufenem Partus.
Mitte Dezember 1899. Placenta ist nach zwei
Stunden noch nicht abgegangen. Plötzlich
spontan furchtbare Blutung in Folge localer
Atonie des Uterus. Da alles schon vorbereitet,,
so kann sofort leichte rasche manuelle Ent¬
fernung der Placenta erfolgen. In Erinnerung
an eine bei früherer Geburt beinahe erfolgte
Verblutung war alles sorgfältig bereit gestellt
worden. Auch nach Entfernung der Placenta
hält die Blutung an, sie war enorm, die Gebär¬
mutter so schlaff, dass sie kaum zu fühlen
war. Patientin sofort bewusstlos, kleiner rascher
Puls, kalter Schweiss. Rasch ausgiebige Tam¬
ponade des Uterus unter streng aseptischen
Verhältnissen. Darauf zieht sich der Uterus-
zusammen, wird aber immer dazwischen schlaft
und blutet wieder. Kochsalzinjectionen, starkes
Reiben des Uterus! Blutung steht allmählich.
Patientin reagirt zeitweise. Es wird in Folge
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März
119
Die Therapie der Gegenwart 1903.
der starken Aufregung des Gatten und des
noch anwesenden zweiten Arztes noch ein
dritter Kollege gerufen! Als er kommt blutet
es noch leicht. Im Consilium wird eine Ge-
latineinjection vorgeschlagen. Mit Freuden und
dem Gefühl grosser Erleichterung wird der Vor¬
schlag acceptiert, ahnte man ja damals nicht,
dass mit dem Recepte das Todesurtheil der
jungen armen Mutter unterschrieben wurde.
Nach */i ständigem Warten kam die noch
kochend heisse Gelatinelösung mit der Etikette:
sterilisirte und neutralisirte Gelatinelösung. Die
Injection wurde gemacht, trotzdem es nur noch
wenig blutete. Jedoch wollten die drei Aerzte
allen Eventualitäten Vorbeugen, prophylaktische
Vorkehrungen treffen. Kannte man damals ja
nur die guten Erfolge, nicht aber die Gefahren
der Gelatineinjection. Die ein oder zwei bis
dahin veröffentlichten Fälle war man geneigt,
einem ungünstigen Zufalle zuzuschreiben.
Blutung steht fast sofort! Patientin erholt
sich rasch, bekommt aber leichten Frost, 38,6
und schauderhafte Schmerzen an der Injections-
stelle (die Einspritzung war am rechten Ober¬
schenkel gemacht worden), welche eine Mor¬
phiumeinspritzung nothwendig machten. Am
nächsten Tage sind die Schmerzen verschwun¬
den, von der Stelle der Einspritzung verbreitet
sich jedoch eine schmerzhafte erisypelartige
Röthung der Haut bis zur Lendengegend und
bis zum Knie. Temperatur 39,4, Abends 39,2.
Zunächst wurde an eine acute, rasch fort¬
schreitende Phlegmone gedacht. Am nächsten
dritten Tage w r ar jedoch die Temperatur ab¬
gefallen, 37,4, Abends 37,9. Schwellung, Röthung,
Schmerz bedeutend zurückgegangen, sehr gutes
Allgemeinbefinden. Am vierten Tage Schwel¬
lung und Röthung nur noch in Handtellergrösse
um die Injectionsstelle. Keine Schmerzen.
Gutes Befinden. Patientin fieberfrei. Am
fünften Tage starke ziehende Schmerzen im
Bein (sicher schon beginnender Tetanus, da¬
mals natürlich nicht geahnt). Temperatur 39,0.
Sofortige Incision. Eröffnung einer fast faust¬
grossen Abscesshöhle, aus welcher sich eine
stinkende Flüssigkeit, bestehend aus Eiter und
viel Gelatine, und Gasblasen unter gurgelndem
Geräusche entleeren. Danach momentan grosse
Erleichterung. Etwa drei Stunden nach der
Incision klagt Patientin über Schmerzen im
Kiefer, nach kurzer Zeit ausgesprochener Tris¬
mus! Wie schauderhaft diese Erkenntniss für
den Gatten und Bruder, beide Aerzte, war,
brauche ich nicht zu schildern. Wie mit
eisernen Klammern wird der Kiefer geschlossen
gehalten. Sofort wird telegraphisch Tetanus¬
heilserum bestellt. Noch fehlt Opistotonus,
noch die Extremitätenkrämpfe, nur Trismus ist
vorhanden. Relativ gute Nacht. Darauf Morgens
Opistotonus und Trismus. Temperatur 38,2.
Exoision der ganzen Abscesshöhle, Ausbrennen
derselben, Ausspülung mit 2% Lapislösung,
Jodoformgazetamponade! Patientin frisch, bis
Abend noch keine Streckkrämpfe. Um 10 Uhr
Abends Heilseruminjection, also 36 Stunden
nach dem Auftreten der ersten Erscheinungen.
Um 11 Uhr Abends beginnen plötzlich all-
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gemeine Krämpfe. Um 3 Uhr Nachts der erste
Erstickungsanfall. Dann Krampf auf Krampf,
jeder Ton, jede Bewegung löst einen furcht¬
baren Krampfanfall aus. Um 7 Uhr schwerster
Stickanfall. Um 8 Uhr Morgens (sechster Tag)
Exitus.
Epitritisch war damals zu bemerken, dass
J die Spritze wohl unschuldig war in der In-
l fection. Sie war nie bei einem Tetanuskranken
| benutzt, lag vor der Injection einen Tag in 1%
Salicylöl, wurde dann mit Alhohol und Soda¬
lösung gründlich durchgespritzt und sofort in
starke kochend heisse Lysollösung gebracht,
worin sie noch ca. eine Stunde vor der Be-
! nutzung lag und aus welcher sie direct vor der
Injection entnommen wurde. Ein Fehler beim
Waschen der Patientin ist nicht vorgekommen.
Sie wurde klinisch-strenge vorher sterilisirt.
Bettwäsche war selbstverständlich frisch ge-
I waschen. Tetanus uteri und daraus entstehend
I eine secundäre Infection der Einspritzungs¬
stelle ist ausgeschlossen, da nie Symptome von
i Seite des Uterus bestanden. Somit blieb nur
; die Gelatinelösung als Quelle des Tetanus
I übrig, obwohl sie fast 3 /i Stunden lang im
| Wasserbade gekocht hatte.
' Die Reste der Gelatinelösung wurden im
bacteriologischen Institut zu Stuttgart vom
württembergischen Medicinalcollegium unter¬
sucht. Der Abscesshöhleninhalt war leider
verloren gegangen. Die angelegten Culturen
ergaben keinen sicheren positiven Befund.
Dies beweist jedoch nichts. Denn ohne allen
: Zwang lässt sich annehmen, dass die betr. Ge¬
latine entweder nur Tetanustoxin enthielt oder
noch Tetanussporen, deren ungemein grosse
! Widerstandsfähigkeit durch das 3 /* ständige
1 Auskochen in keiner Weise gebrochen wurde.
Unter die Haut injicirt fanden sie hier den
günstigsten Nährboden, wurden wieder lebens¬
fähig und entwickeln rasch ihre tödtliche Lebens-
I thätigkeit. Vier Tage vorher war in Erlangen
ein 19jähriges Mädchen in der Klinik unter ähn¬
lichen Verhältnissen an Tetanus nach Gelatine¬
injection zu Grunde gegangen.
In unserem zweiten Falle handelte es sich
um einen 36jährigen Phthisiker mit starken
Hämoptoen. Am 9. Januar 1900 zwei- bis drei¬
mal täglich heftige Hämoptoe. Diese dauern
an bis zum 17. Januar. An diesem Tage erste
Gelatineinjection unter streng aseptischen Ver¬
hältnissen. Blutung steht bis zum 24. Januar.
An diesem Tage erneute Blutung, deshalb noch¬
mals Injection von Gelatine mit derselben Vor¬
sicht bezüglich Aseptik und Sterilisation der
Injectionsflüssigkeit. Blutung steht. Am 28. Ja¬
nuar Trismus, am 29. Januar Trismus und
Opistotonus. Am 30. Januar alle 5—10 Mi¬
nuten heftige allgemeine Krampfanfälle, speciell
im Oberkörper; Fieber 40,2, Tod Abends
9 Uhr am 30. Januar. Einspritzungsstellen
reactionslos, keine Röthung, keine Schwellung.
Den exacten Nachweis pathogener Bac-
terien in der Gelatine haben Levy und
Bruns, sowie Schmiedecke erbracht.
Levy und Bruns stellten in 13 Proben von
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
120
März
pie Therapie der
Gelatinetafeln acht Mal mit aller Sicherheit
die Anwesenheit von Tetanuskeimen fest.
Ausserdem fanden sich noch in fast allen
Proben der Bacillus des malignen Oedems,
das Bacterium coli, der Bacillus Proteus
und andere gefährliche Bacillenarten vor.
Diese überraschenden Befunde machen
es zur gesetzlichen Nothwendigkeit, dass
von jetzt ab nur noch die Gelatine an¬
gewendet werden darf, wenn sie sicher von
all* diesen todt- und gefahrbringenden
Keimen nach wirklich todtsicherer Sterilisa¬
tion befreit ist. Der Satz der Lehrbücher,
dass die Tetanussporen in strömendem
Wasserdampf bei 100° in 8 Minuten sicher
abgetödtet sind, ist falsch. Kitasato,
welcher zuerst den Tetanusbacillus und
seine Sporen fand und sie in Reincultur
zuerst züchtete, spricht gerade den Sporen
eine ganz ausserordentliche Widerstands¬
kraft zu. Demgemäss fanden die beiden
Autoren
nach 8 Minuten noch 80—100 Colonien
im Reagenzglase,
nach 74 Stunde noch 15 Colonien,
„ 20 Minuten noch 6 „
n ^ n 4 n
» 30 „2 „ und erst
„ 33 „ waren die Röhrchen
keimfrei.
Der Grund, warum nicht alle Colonien
gleichzeitig absterben, liegt nach Förster
und Brehme's Untersuchungen darin, dass
in ein und derselben Cultur die Wider¬
standsfähigkeit der einzelnen Individuen
verschieden ist, nicht allein also der Sporen,
sondern auch deren Wuchsformen.
Um also sicher keimfreie und gebrauchs¬
fähige Gelatinelösung zu haben, muss die¬
selbe nach obigen Autoren mindestens
40 Minuten auf 100—110 Grad erhitzt ge¬
wesen sein, und zwar die ganze Gelatine¬
masse. Diese hat nämlich die Eigentüm¬
lichkeit, dass die Randpartieen der Gela¬
tine oft, sowohl im strömenden Dampfe
wie beim gewöhnlichen Kochen, auf 100°
erhitzt ist, während der Kern der Lösung
hoch nicht diesen Temperaturgrad erreicht
hat. Bei 10%iger Lösung z. B. beträgt
die Zeitdauer, bis auch die centrale Partie
auf 100° erwärmt ist, bis zu 15 Minuten.
Es ist deshalb zweckmässig, diese soge¬
nannte „AnWärmezeit" von der „Sterilisa¬
tionszeit“ noch extra in Abrechnung zu
bringen, wenn man ganz sicher gehen will.
Im Reagenzglase beträgt diese Zeit nur
5 Minuten.
Allein die Keimfreiheit genügt nicht,
um die Gelatinelösung gebrauchsfähig zu
machen und um mit voller Sicherheit für
Gegenwart 1903.
ihre Unschädlichkeit garantiren zu können.
Eis muss auch volle Toxinfreiheit oder
wenigstens Toxinunschädlichkeit vor¬
handen sein. Bei der ganz enormen Gif¬
tigkeit des Tetanusgiftes müssen natürlich
die weitgehendsten Anforderungen gestellt
werden. Holtschmidt meint, „dass man,
wenn man die Gelatinelösung mehrere
Stunden kochend erhalten hat, wohl sicher
sein kann, alle Bacterien und Sporen ab¬
getödtet zu haben und die etwa noch vor¬
handenen Toxine dürften, in sehr geringen
Mengen dem Körper einverleibt, wohl
keinen besonderen Schaden anrichten.“
Den praktischen Beweis für die Richtigkeit
seiner Ansicht hat er geliefert in seinen
fünf Fällen von Melaena neoatorum, in
welchen bei besonders empfindlichen Indivi¬
duen, Neugeborenen, Säuglingen, die
Gelatine nicht bloss prompten blutstillenden
Erfolg, sondern auch die totale Unschäd¬
lichkeit seines Präparates bezüglich Tetanus¬
keime und Toxine ergeben hat.
Trotzdem muss die strikteste Forderung
gestellt werden, dass jedes zu Heilzwecken
verwendete Präparat vorher aufKeimfreiheit
und Toxinunschädlichkeit geprüft ist, ehe
es in den Handel kommt.
Es würde sich also für uns Praktiker
nach obigen Untersuchungen zunächst die
Consequenz ergeben, die ganze Zeit, also
15 Minuten An Wärmezeit und 40 Minuten
Sterilisationszeit = 55 Minuten oder rund
eine Stunde für die Sterilisation zu ver¬
wenden. Allein das genügt sicher nicht.
Denn keimfrei ist noch nicht toxin¬
frei. Ich muss deshalb meine Forderungen
höher stellen und stimme Krug im voll¬
sten Umfange zu, wenn er sagt: „Kein
Material ist so fragwürdiger Provenienz
und in so hohem Grade verunreinigt wie
eben die Gelatine. Es ist also die Sterili¬
sation der Gelatinelösung besonders schwer,
so dass sie mit der grössten Aufmerksam¬
keit und in der penibelsten Weise vor¬
genommen werden muss.“ Krug und
Kuhn gehen noch einen Schritt weiter und
verlangen, dass man die Gelatine aus ge¬
sundem, frischem, leimgebendem Gewebe
sich selbst bereite.
Dieser Anforderung kann der Arzt na¬
türlich nicht entsprechen und es ist daher
sehr erfreulich, dass neuerdings E. Merck
in Darmstadt eine „Gelatina sterilisata pro
injectione“ in den Handel bringt, welche
nicht nur der Krug-Kuhn’schen Forde¬
rung entspricht, sondern auch noch eine
Reihe weiterer Garantieen für völlige Keim-
und Toxinfreiheit bietet. Die Merck’sche
Gelatine wird durch stundenlanges Aus-
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März
Die Therapie der Gegenwart 1903,
121
kochen frischer Kalbsfasse in gespanntem relativ leicht auf die Spritze übertragen
Dampf bei 120 Grad gewonnen, rasch ge- werden können und dann keineswegs durch
filtert und in Gläser gefallt die sofort eva- kurzes Auskochen der Spritze in 10 bis
cuirt, zugeschmolzen und nochmals eine 20 Min. vernichtet werden. Wenn bei an-
Stunde bei 120 Grad sterilisirt werden, deren (als Gelatine) Injectionen verhältniss-
Nach 24 Stunden erfolgt eine zweite Ste- mässig selten Tetanus auftritt, so liegt
rilisation bei 120 Grad. dies offenbar auch daran, dass das an
Dass die Verwendung des gespannten und für sich schwierige Wachsthum der
Dampfes von 120 Grad für die Vernichtung Tetanusbazillen durch Gelatine besonders
aller Keime eine viel grössere Sicherheit begünstigt wird. Es ist also eine besonders
bietet als Dampf von 100 Grad ist jedem sorgfältige Sterilisation der Injectionsspritze
Bakteriologen bekannt und geht besonders bei Gelatine erforderlich, was in der Praxis
aus den Untersuchungen von Gl obig und wohl am sichersten durch ein halbstündiges
Christen hervor, welche nachwiesen, dass Auskochen in einer zweiprocentigen Lysol-
die resistentesten aller bekannten Sporen, lösung erfolgt.
die durch 16 ständiges Auskochen bei Ich selbst habe mir, bevor ich obige
100 Grad nicht getödtet wurden, durch Thatsache kannte, meine Lösung, aus der
gespannten Dampf von 120 Grad schon in Apotheke bezogen und dort sterilisirt, stets
fünfzehn Minuten sicher vernichtet werden, selbst nochmals gekocht und zwar min-
Obwohl nun bei dieser Darstellungsweise destens noch 1V 2 —2 Stunden und habe nie
die Anwesenheit von lebensfähigen Tetanus- ein unglückliches Ereigniss erlebt, obwohl
keimen und auch von Toxinen — welch ich relativ oft Gelatine injicirt habe. Die
letztere sich ja bei der raschen Filtration Wirksamkeit der Gelatine geht nicht ver-
unter Luftzutritt und bei 20 Grad nicht loren, wenn man sie noch so lange kocht,
bilden können — vollständig ausgeschlossen Holtschmidt, welcher empfiehlt, sich stets
ist, wird die Gelatine doch vor ihrer Ab- die Gelatine selbst durch mehrstündiges
gäbe von dem ärztlichen Leiter der Serum- Kochen zu sterilisiren, lässt seine Lösun¬
abtheilung der Merck’schen Fabrik durch gen 5 bis 6 Stunden im Wasserbade kochend
Thierversuche nochmals auf ihre Unschäd- erhalten und hat damit in allen seinen
lichkeit geprüft. Zu diesem Zweck erhalten Fällen eine volle Wirkung erzielt, dreimal
Mäuse und Meerschweinchen subcutan schon nach der ersten Injection, zweimal
möglichst grosse Mengen Gelatine und nach der zweiten resp. dritten Einspritzung!
werden dann mindestens 20 Tage auf et- Die blutstillende Wirkung der Gelatine
waige tetanische Erscheinungen beobachtet, ist ausser allem Zweifel festgestellt, die
Nur wenn die Thiere vollständig gesund totale Unschädlichkeit der Gelatine bei ge¬
bleiben, wird die Gelatine in den Handel ge- nügender Sterilisation ebenfalls! Diese
bracht. Die Merck sehe Gelatine ist 10%ig, beide Thatsachen genügen, um die Anwen-
enthält also die zu einer sicheren Wirkung düng dieses Mittels jeder Zeit zu bethätigen.
nöthige einmalige Dosis in 40 ccm, die für Dem Aneurysma der Aorta gegenüber
den Arzt wesentlich bequemer zu injiciren hat die Gelatine nicht die Hoffnungen er-
sind, als die 200 ccm der früher üblichen füllt, welche man Anfangs auf sie setzte.
2%igen Gelatine. Vor der 20%igen Ge- Immerhin sind auch hier neben einer grossen
latine hat die 10%ige den Vorzug grösserer Reihe von Misserfolgen recht befriedigende
Dünnflüssigkeit auch bei Zimmertemperatur. Erfolge einwandsfrei constatirt. Die intra-
Diese Gelatine bietet wohl die denkbar venöse Injection oder gar die ursprünglich
grösste Sicherheit gegen die Tetanusgefahr, geübte Injection in den Aneurysmasack
die sich überhaupt bieten lässt, und es wäre selbst werden wir nicht mehr ausführen,
dringend zu wünschen, dass dieselbe in allen Wohl aber können wir in solch* verzwei-
Apotheken vorräthig gehalten würde (zu- feiten Fällen, wie sie jederzeit die Aorten¬
mal da sie Jahre lang unverändert haltbar aneurysmen repräsentiren, stets die sub-
ist), damit der Arzt keine Veranlassung hat, cutane Gelatineinjection, am besten wohl
in dringenden Fällen ad hoc bereitete und in den musc. pectoralis in Anwendung
mangelhaft sterilisirte Gelatine zweifei- bringen. Dem Patienten wird es stets ein
hafter Provenienz zu verwenden. Trost sein, wenn er weiss, es giebt für ihn
Aber auch durch die Merck*sche Gelatine noch ein Mittel, womit sein verzweifelter
wird natürlich keine absolute Sicherheit Zustand wenigstens gebessert werden kann,
gegen Tetanus geboten, wenn sich der Und Besserungen nach Gelatineinjektionen
injicirende Arzt nicht vergegenwärtigt, bei Aneurysma sind sicher festgestellt,
dass Tetanussporen im Bodenschmutz un- Eine zweite, den Praktiker besonders
gemein häufig Vorkommen und daher auch interessirende Krankheitsform und deren
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ral fron
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122
Die Therapie der Gegenwart 1903.
März
rascheste Bekämpfung ist die Lungen-
blutung, die Haemoptoe. Gerade bei ihr
sind fast von allen Seiten ganz vortreff¬
liche Erfolge berichtet (Thieme, Ursch¬
mann, Wagner, Hammelbacher, und
Pischinger, Davezay u. A.) Ich selbst
verfüge über vier Fälle, wo ich bei nur
allerschwersten Haemoptoen die subcutane
Gelatineinjection in Anwendung gebracht
habe und ich kann sagen, ich bin gerade
durch den jedesmaligen prompten Er¬
folg in den oft ganz verzweifelten
Fällen ein Anhänger der Gelatinetherapie
geworden. In allen diesen Fällen habe ich
die ganze andere Therapie der Haemoptoe
erschöpft, ohne jeden Erfolg! Nur in
solchen Fällen schritt ich früher zur Gela¬
tineeinspritzung, künftig wenn wir sicher
(Merck) jede Gefahr vermeiden können,
werde ich früher zu derselben meine Zu¬
flucht nehmen! Ich verfahre bei der In-
jection folgendermaasen: die Spritze wird
1 bis 2 Stunden in Formalinlösung oder
starke Carbolalkohollösung gelegt und
mehrfach durchgespritzt, direct vor dem
Gebrauch noch mit reinem Alkohol noch¬
mals durchgespritzt und von obigen Lö¬
sungen gereinigt, die Nadel wird ausge¬
glüht oder ausgekocht (*/4 Stunde lang).
Die Injectionsstelle: vordere Brust- resp.
Pectoralisgegend der Seite, welche vermuth-
lich den Sitz der blutenden Stelle beher¬
bergt, vorsichtig abgeseift und mit Sublimat¬
lösung (1 :1000) und Aether ebenso vor¬
sichtig abgerieben. Sodann wird die sterile
Lösung, deren Behälter erst direct vor dem
Gebrauch geöffnet wird, tief unter den
Pectoralis hinein injicirt.
Die Injection ist meist recht schmerz¬
haft, trotz vieler gegentheiliger Berichte
und bleibt auch meist noch 3 bis 5 Tage
schmerzempfindlich. Diese Schmerzhaftig¬
keit hat einen grossen Vortheil: die kranke
Seite wird geradezu ideal ruhig gestellt
dadurch, dass sie der Patient in Folge der
schmerzhaften Spannung an der Injections¬
stelle fast vollkommen von der Athmung
ausschaltet. Der schwerste Sandsack wird
die kranke Brustseite nicht so ruhig stellen,
die stärkste Morphiumgabe wird nicht so
gut wirken wie der Wille des Patienten,
wenn er Schmerz hat und Schmerz ver¬
meiden will! Diese Ruhigstellung der
Thoraxhälfte und die blutgerinnende Wir¬
kung der Gelatine repräsentiren zusammen
einen grossen therapeutischen Werth. Was
von beiden am meisten nützt, ist ja schliess¬
lich praktisch gleichgültig, wenn beide zu¬
sammen nur nützen. Und sie nützen
prächtig. Erst vor drei Wochen hatte ich
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wieder in einer hiesigen Familie bei dem
22jährigen vorher blühend gesunden Sohne
in bangster Stunde bei schwerster Hae¬
moptoe einen ganz ausgezeichneten Erfolg l
(Mein fünfter Fall.)
Bezüglich Magen- und Darmblu¬
tungen soll die subcutane Gelatineanwen¬
dung nicht unversucht bleiben. Innerlich
verabreicht, habe ich in drei Fällen keinen
nennenswerthen Erfolg gesehen, ebenso wie
bei Haemoptoe Gelatine innerlich gegeben,
gänzlich versagt hat. Fast möchte ich im
Gegentheil davor warnen, weil die Gela¬
tine, von den Patienten in 5 bis lOproc.
Lösung mit Syr. cort. Aur. gerne genommen,,
sehr häufig heftigen Brechreiz und auch Er¬
brechen darauf bekommen, was man j a gerade
ängstlich zu vermeiden sucht bei allen der¬
artigen Blutungen. Curschmann, Polja-
kow, Bauermeister u. A. sind in letzter
Zeit warme Freunde der Anwendung der
Gelatine vom Magen aus geworden, ersterer
namentlich bei Nachbehandlung schwerer
Blutungen und als Prophylakticum bei
Neigung zu Rückfällen zu solchen. Auch
hier wird die Erfahrung klärend wirken.
Albert berichtet über einen prompten Er¬
folg nach subcutaner Injection von Gelatine
bei schwerer Darmblutung post operationem.
Ueber gute Erfolge bei haemorrhag.
Nephritis nachsubcutanerGelatineinjectioi»
berichtet Schwabe, Kehr über vier Fälle
mit promptem Erfolg bei cholämischen
Blutungen (dreimal) und einmal bei Blut¬
erbrechen post laparotomiam. Er spritzte
jedesmal 200 g einer 2proc. Lösung ein
und glaubt, ihr die Rettung seiner Patienten
zu verdanken. Er beobachtete rasches
Aufhöien des Blutens bald nach der In¬
jection, was bei der geringen Tendenz cho-
laemischer Blutungen zum spontanen Nach¬
lass derselben um so augenfälliger war.
Auf Grund seiner günstigen Erfahrungen
will er künftig bei der Operation Ikterischer
schon vorher aus prophylactischen Gründen
Gelatine injiciren.
Bei Blasenblutungen sahen Zupnik
(Prag) und Lorenz raschen blutstillenden
Erfolg. Sie spritzen 2% Gelatinelösung
in die Blase ein. In beiden Fällen prompte
Blutstillung, in beiden Fällen freilich auch
am 12. resp. 7. Tag Trismus, Tetanus und
Exitus letalis. Haben wir heute sicher
steriles Gelatinematerial, so wird nur noch
der Erfolg oder der Nichterfolg in die Er¬
scheinung treten, nicht aber solche trübe
Folgeerscheinungen unserer Therapie.
Bei Hämophilie haben Hahn, Hey¬
mann, Krausse u. A. sehr gute Erfolge
erzielt. Ueber die treffliche Wirkung der
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
123
Die Therapie der Gegenwart 1903.
subcutanen Injection von Gelatine bei
Melaena neonatorum berichten Com-
mandeur, Fuhrmann, Holtschmidt.
Letzterer hatte von 5 nicht ausgesuchten
Fällen 5 Heilungen, während früher 50
und mehr Procent Todesfälle bei dieser
Krankheit das Gewöhnliche waren, „weil
uns kein Mittel zu Gebote stand, die Blu¬
tung auch nur einigermaassen sicher zu
beherrschen 41 .
Was die blutstillende Wirkung der
Gelatine, subcutan angewendet, bei gynäko¬
logischen Blutungen betrifft, so sah ich ein¬
mal bei schwerer Metrorrhagie ohne
sonstige nachweisbare Ursache im Climac-
terium bei einer Blutung vollen Erfolg.
Glänzenden Erfolg dagegen sah ich in 2 Fällen
heftigster, jeglicher Tamponade und innerer
Medication (Ergotin etc.) trotzenden Blutung
inFolge Atonia Uteri post partum durch Tam¬
ponade des Uterus mit in sterile Gelatine
getauchter Gazestreifen; einmal prompte
Blutstillung bei stark blutenden Cer-
vixcarcinom auch durch Tamponade.
Carnot hat bekanntlich gerade diese An¬
wendungsform als besonders wirksam
empfohlen: Aufgiessen und Pressen von
Gelatine auf blutenden Wunden. Mani-
calide und Christodulo haben in 55
Fällen die Scheiden- und Cervix¬
tamponade mit Gelatinetampons bei hef¬
tigen Metrorrhagieen mit jedesmaligerso¬
fortiger prompter Wirkung in Anwendung
gebracht. Ebenso Bauermeister bei
Uterusblutungen (innerlich bei Hämate-
mesis etc.) mit Erfolg. Derselbe auch ein¬
mal bei Nasenbluten ebenso wie Freuden¬
thal. Gradenwitz berichtet in aller-
jüngster Zeit (September 1902) über einen
Todesfall (Tetanus) nach Gelatineinjection
bei inoperablem Portio- und Scheiden-
carcinom. Während die Blutung nur
schwer, später durch Tamponade gar nicht
mehr zu bewältigen war, stand dieselbe
1 U Stunde post injectionem vollständig,
ohne in den 6 Tagen bis zum Exitus an
Tetanus wiederzukommen. Die Injection
an sich hat sich also glänzend bewährt.
Die Gelatine war, wie wir heute wissen,
zu kurz sterilisirt: 1 Stunde im Wasser¬
bade. Daher der Tetanus. Gradenwitz
will trotz des guten Erfolges weitere Ver¬
suche mit Gelatine erst dann anstellen,
wenn wir im Besitze sicherer keim- und
auch sporenfreier, durch zahlreiche bereits
begonnene Thierversuche erprobten Gela¬
tine uns befinden, und weist ebenfalls auf
die von Merck jüngst in den Handel ge¬
brachte sterile Gelatine hin.
Soviel steht fest: kein Praktiker ist im
Stande, den Vorschriften, die eine sichere
Gelatinesterilisirung erheischt, zu genügen.
Der Praktiker soll sich deshalb nie auf eine
von ihm selbst angewandte Methode der Ge¬
latinesterilisirung verlassen; nur die Anwen¬
dung des Merck’schen Präparates erscheint
unter obigen Einschränkungen statthaft.
Ein weites Feld zuverlässiger Wirksam¬
keit hat sich somit heute schon die Gela¬
tinetherapie erobert. Wie die Gelatine
wirkt, ist noch nicht geklärt, ob nur durch
! Contactwirkung, wie einzelne Autoren be¬
haupten (Dastre), mit dem Blute, oder
durch eine specifische Eigenthümlichkeit der
Gelatine, die Gerinnungsfähigkeit des Blutes
zu erhöhen, oder durch ihren Kalkgehalt
oder anderes. Hier verweise ich auf die
treffliche Arbeit Zibells, Münch, med.
Wochenschrift 1901, No. 42. Jedenfalls hat
die praktische Verwendung der Gelatine
die theoretischen Erwägungen schon weit
überholt. Auch diese Frage wird unter den
praktischen Erfahrungen ihrer Lösung ent¬
gegenreifen.
Curschmann sagt, „dass er unter
allen, nicht chirurgischen oder überhaupt
unmittelbar auf die blutende Stelle an¬
wendbaren Methoden der Blutstillung keine
kennt, die dem Gelatineverfahren in Bezug
auf Wirksamkeit an die Seite gestellt
werden kann 44 . Ein grosses Lob aus dem
Munde des erfahrenen und verdienten Kli¬
nikers. Mit unserer eigenen Erfahrung in
relativ zahlreichen Fällen können wir uns
ganz diesem Leitsätze Cuschmann’s an-
schliessen und man kann sagen: die Gela¬
tine, wenn autoritativ zuverlässig keim- und
toxinfrei, ist eine vortreffliche Bereicherung
unserer therapeutischen Hilfsmittel bei Be¬
kämpfung jedweder Blutung.
Bücherbesprechungen.
Prof. B. Kobert Lehrbuch der Intoxi-
ca t io ne n. 2. Auflage. I. Band. Allge¬
meiner Theil. 1902. Stuttgart, Enke.
M. 16,—.
Gegenüber der ersten Auflage (1893)
hat Verfasser sein Lehrbuch der Intoxi-
cationen in zwei selbstständige Bande ge-
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thcilt, von denen der erste vorliegt. Seine
Sonderstellung unter den Lehrbüchern der
Toxikologie erhält Kobert’s Buch dadurch,
dass Verfasser einmal für einen möglichst
vielseitigen Leserkreis schreibt und dann
eine erschöpfende Wiedergabe der ein¬
schlägigen Litteratur anstrebt. In der auf
16 * ' 31 fron
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
März
124 Die Therapie der
eingehende Litteraturkenntniss und auf aus¬
gedehnte eigne Erfahrungen gestützten Dar¬
stellung liegt die Bedeutung dieses Buches.
Eine derartige allgemeine Toxikologie,
wie sie Kob ert hier bearbeitet hat, existirte
noch nicht.
Der Inhalt gliedert sich in „Allgemeines
über Intoxicationen“ und in „Nachweis von
Intoxicationen post mortem“. Hierbei werden
ebenso die den Gerichtsarzt interessiren-
den Fragen des pathologisch-anatomischen
Befunds und des chemischen Nachweises des
Gifts, als die physiologischen Methoden
zur Feststellung der Wirkungen der ein¬
zelnen Stoffe und die Zergliederung des
pharmakologischen Wirkungsbilds ein¬
gehend, namentlich unter Beschreibung der
Apparate und der Versuchsmethodik (S. 149
bis 284) behandelt. 69 Abbildungen, ins¬
besondere den Blutfarbstoff und seine Deri¬
vate, mikroskopische Befunde und Apparate
darstellend, sind dem Buche, das noch mehr
als die erste Auflage Anerkennung finden
wird, beigegeben. E. Rost (Berlin).
J. Baedecker. Die Arsonvalisation.
1902. Verlag von Urban & Schwarzen¬
berg, Berlin-Wien. Preis M. 2,—.
Verfasser giebt zunächst eine kurze Be¬
schreibung der bei der Arsonvalisation an¬
zuwendenden Apparate. Bei der Anwen¬
dung dieser Ströme hat man zu unterschei¬
den zwischen allgemeiner und localer
Arsonvalisation. Beide Methoden sind in
ihren Eigenschaften und in ihrer Wirkung
grundverschieden.
Das Wesentliche der localen Arson¬
valisation ist der Hautreiz; ausserdem ist
eine Nerven- und Muskelreizung nachweis¬
bar.
Zur Ausübung des Hautreizes wird die
Elektrode nicht direct auf die Haut gesetzt,
sondern in einigen Millimetern Entfernung
gehalten. Man empfindet ein Brennen und
Hitzegefühl und später eine Röthung. Bei
zu lange ausgeübter Reizung treten Brand¬
blasen auf.
Bei der allgemeinen Arsonvalisation ist
die Körperoberfläche selbst Condensator-
elektrode und strahlt selbst Funken auf
Gegenstände aus. Es fehlen also bei der
allgemeinen Arsonvalisation die Erschei¬
nungen des intensiven Hautreizes, wie bei
der localen.
Physiologische Wirkungen der Arson¬
valisation:
Arsonval fand, dass durch Einwirkung
auf Haut und Schleimhaut ein Grad von
Unempfindlichkeit erzeugt wird, der bis zur
vollständigen Anästhesie geht. Baedecker
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Gegenwart 1903.
kann diese Befunde absolut nicht bestätigen.
Er fand nach der Bestrahlung eine Hyper¬
ästhesie für Wärme und Kälte.
Der Einfluss der Arsonvalisation auf die
Athmung ist ebenfalls geprüft worden.
Baedecker findet, dass die Athmung
durch die Arsonvalisation in keiner Weise
beeinflusst wird (bei drei Thieren geprüft);
bei einem Versuchstiere übte diese Behand¬
lung eine Vermehrung der Athemzahl und
eine Erhöhung des Respirationsvolumens
von 6140 cm 8 auf 11 600. Andere Autoren
haben dieselben Resultate bekommen wie
Baedecker.
Auch die Einwirkung der Arsonvali¬
sation auf den Blutdruck, wie er von Ar¬
sonval behauptet wurde, wird von Bae¬
decker bestritten.
Ob die Arsonvalisation auf den Stoff¬
wechsel einen wesentlichen Einfluss aus¬
übt, bedarf noch einer genauen Nach¬
prüfung. Positive Resultate im Sinne eines
gesteigerten Stoffwechsels sind natürlich
schon gefunden worden. Ob diese Ver¬
suche mit genügender Kritik angestellt
wurden, ist eine andere Frage.
Ueber die therapeutische Verwendung
dieser Ströme berichtet Baedecker Fol¬
gendes:
Der Zuckergehalt bei Diabetikern wird
durch die Arsonvalisation nicht geändert.
Doch gelang es, einige lästige Symptome
günstig zu beeinflussen.
In Fällen von Hysterie und Neurasthenie
ist eine günstige Wirkung auf die Störun¬
gen nicht zu leugnen (im Gegensatz zu
Arsonval selbst, der die Arsonvalisation
Hysterischer und Neurasthenischer nicht
empfiehlt).
Locale Arsonvalisation wurde von Bae¬
decker angewendet bei Neuralgien, Myal¬
gien, Arthralgien, Erythromelalgien, Cephal-
algien (nicht aufNeuritis beruhend). Günstige
Resultate erzielte der Verf. eigentlich nur
bei Cephalalgie.
Nach den Mittheilungen Baedecker’s
dürfen wir also auf die therapeutischen Er¬
folge mittelst Arsonvalisation keine allzu
grossen Hoffnungen setzen.
M. Rosenfeld (Strassburg).
A. Montl. Kinderheilkunde in Einzel¬
darstellungen. 17. Heft. Erkrankun¬
gen der Respirationsorgane, der Thy¬
reoidea und der Thymus. 18. Heft. Er¬
krankungen der Circulationsorgane,
Basedow’sche Krankheit. Urban & Schwar¬
zenberg 1902. M. 4,— bezw. M. 2,—.
In Fortsetzung des nunmehr zum dritten
Bande gediehenen Werkes von Monti
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1903.
125
werden in gleicher Art der Darstellung wie
früher, die genannten Capitel behandelt.
Wie immer strebt der Autor, seinen Stoff
nach allen Seiten möglichst vollständig zu
geben, vielfach nach des Referenten An¬
sicht zu vollständig. Eine 2Vs Bogen lange
Einführung in die Untersuchung des Thorax,
die nur relativ wenig bringt, was nicht aus
den Lehrbüchern der klinischen Unter¬
suchungsmethoden zu schöpfen wäre, wird
man wohl in einer Specialschrift der
Kinderheilkunde für zu viel des Guten
halten. Noch sonst wäre dem Werke zu
wünschen, dass es weniger eine allgemeine
Pathologie mit besonderer Bezugnahme
auf das Kindesalter, als speciell und allein
die Verhältnisse in der Jugend im Gegen¬
satz zum späteren Alter zu geben beflissen
wäre, die allen Lebensepochen gemein¬
samen ätiologischen und pathologischen
Momente als bekannt voraussetzend. Monti
hätte dann ein wesentlich knapperes,
aber dem nach Belehrung gerade in
den speciellen Fragen Suchendem sym¬
pathischeres Werk geschaffen. Immerhin
darf es auch, so wie es ist, zum
Studium wohl empfohlen werden.
Finkeistein.
Jules Comby. Formulaire de Poche
pour les maladies des Enfants.
Paris, Rueff 1901. M. 11,—.
Seine früher erschienenen grösseren
Werke über Therapie und Prophylaxe der
Kinderkrankheiten hat Prof. Comby in
einem handlichen Format für Aerzte und
Studirende, für die Praxis und für den
Besuch der Klinik zusammengefasst; mit
grosser Gründlichkeit und seltener Lücken¬
losigkeit sind in der ersten Hälfte die
Krankheiten des kindlichen Lebensalters
in präcisen kurzen Hinweisen therapeu¬
tisch gewürdigt, während die zweite
Hälfte nicht nur die Heilmittel, sondern
auch alle Encheiresen aufführt und mit
grosser Anschaulichkeit beschreibt. Da
die französische Therapie an Mannig¬
faltigkeit der deutschen überlegen ist und auf
vielfach recht praktischer Basis aufgebaut
ist, so wäre eine Uebersetzung des Buches
wohl erspriesslich und lohnend, zumal
Comby zu den Ersten seines Faches in
Paris gehört und wir seit dem 1884 er¬
folgten Erscheinen des O. Silbermann-
schen nicht wieder aufgelegten Büch¬
leins kein wissenschaftliches und zu¬
gleich praktisches Recepttaschenbuch für
Kinderärzte besitzen.
B. Laquer (Wiesbaden).
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E. Jonas (Liegnitz). Die zweiseitige (ge¬
trennte) Nasen - Lungenathmung,
deren Einfluss auf die Thoraxbil¬
dung und die Erkrankungen der
Lunge und die oro-nasale Athmung.
Liegnitz. Carl Seiflarth. 1902. M. 1,_.
Der Verf., der schon mehrfach die Be¬
deutung einer freien Nasenathmung und
den Einfluss nasaler Anomalien auf die
Respiration und die Respirationsorgane
hervorgehoben hat, constatirte in seiner
Praxis, dass bei vorwiegender Erkrankung
einer Nasenseite eine sich hinzugesellende
Lungenaffection meist ebenfalls auf einer
Seite und sehr oft auf derselben Seite
ihren Anfang nahm, und dass einseitige
Veränderungen des Thorax bei nasaler
Stenose derselben Seite vorkamen. Dies
führte ihn zu der Annahme einer Doppel¬
strömung der Einathmungsluft, einer ge¬
trennten bilateralen Nasen-Lungen-
athmung. Durch zahlreiche praktische
Beobachtungen und Untersuchungen, so¬
wie durch physikalische Erwägungen und
Versuche sucht Verf. die Möglichkeit und
Wahrscheinlichkeit dieser Annahme zu er¬
weisen. Wir können die wesentliche
Grundlage aller seiner Schlüsse: dass näm¬
lich einseitige Thoraxanomalien oder Lun-
genaftectionen und einseitige Nasenano¬
malien häufiger gleichseitig, als anders¬
seitig sind, nach unseren eigenen Erfah¬
rungen nicht anerkennen und können da¬
her auch die Folgerungen, die Jonas aus
dieser vermeintlichen Thatsache zieht, uns
nicht zu eigen machen. Dies darf aber
nicht hindern, die zahlreichen Anregungen,
die Verf. in seinem lesenswerthen Aufsatz
giebt, anzuerkennen und die Aerzte zu
eigenen Beobachtungen auf diesem Gebiete
aufzufordern. F. Klemperer.
A. Bosenberg. Welche Nasenkrank¬
heiten kann man ohne technische
Untersuchungsmethoden erken¬
nen? Berliner Klinik H. 175. Januar
1903. Fischers med. Buchh. M. 1,20.
Rosenberg giebt seiner Abhandlung
den Untertitel: Praktische Fingerzeige
für den Arzt. Er wendet sich an den
Praktiker, der die rhinoskopische Unter¬
suchung nicht ausübt, und theilt für ihn die
Nasenkrankheiten ein in: 1) mit dem Auge
unmittelbar wahrnehmbare Veränderungen:
a) an der äusseren Nase und b) am vor¬
deren Theile des Naseninneren; 2) mit an¬
deren Sinnen wahrnehmbare Erkrankungen
und 3) aus subjectiven Symptomen erkenn¬
bare Erkrankungen. Mit grossem Geschick
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
126
Die Therapie der Gegenwart 1903. März
bringt er in diesem Schema so ziemlich alle ■ widmet, dabei aber doch ihre praktische
Nasenaffectionen unter; in der zweiten Bedeutung in das richtige Licht gerückt.
Gruppe bespricht er die Ozaena und an- So dürfte dem Verfasser gelingen, was er
dere mit nasalem Foetor einhergehende mit seiner Schrift erstrebt: das Interesse
Affectionen, in der dritten Gruppe alle mit | des Arztes für die Nasenkrankheiten wach-
Stenose verbundenen Erkrankungen, spe- zurufen, resp. zu erhöhen, so dass er für
ciell die adenoiden Vegetationen. Jeder ihr eingehenderes Studium gewonnen wird.
Affection wird nur ein kurzes Wort ge- F. K.
Referate.
Das Adrenalin, ein Präparat, welches
das blutdrucksteigernde Prinzip der Neben¬
niere in krystallinischer Form enthält (vergl.
darüber den Sammelbericht in dieser
Zeitschr. Jahrg. 1902, S. 364 ff.), ist nach
O. Lange’s Mittheilung im städtischen
Krankenhause in Baden-Baden in ver¬
schiedenen Fällen verzweifelter Blu¬
tungen mit sicherem Erfolge als Hämosta-
ticum angewandt worden. In dem ersten
der hier bezeichneten Fälle handelt es sich
um einen Hämophilen, der wegen einer
unstillbaren parenchymatösen Blutung aus
einem incidirten Panaritium eingeliefert
worden war und bei dem alle anderen
Hämostatica wie Tamponade mit Eisen¬
chlorid watte, Ferripyrin watte, Gelatinelösung
per os und per rectum, Subcutaninjectionen
von Extractum Sec. corn. dialys., ohne
dauernden Erfolg angewandt worden waren.
Austupfen der Wunde mit Gazestückchen,
die mit einer Lösung von 5 ccm käuflicher
Sol. Adrenalins hydrochlorici und 5 ccm
physiologischer Kochsalzlösung getränkt
waren, sowie nachheriges Auslegen der
Wunde mit derartig zubereiteten kleinen
Gazestückchen brachte die Blutung sofort
und dauernd zum Stillstand. Aus pro-
phylactischen Gründen wurde beim ersten
Verbandwechsel nach 3 Tagen Adrenalin
nochmals in gleicher Weise angewandt.
Mit gleich günstigem Erfolge wurde das
Adrenalin bei zwei an Perityphlitis
operirten Patienten angewandt, bei denen
schwere profuse Nachblutungen durch den
Verbandwechsel hervorgerufen worden
waren. Die Anwendung des Mittels ge¬
schah ganz in derselben Weise durch Aus¬
tupfen und Auslegen der Wunde mit
adrenalingetränkten Gazestreifen.
In einem weiteren Fall wurde auf diese
Weise heftiges und auf andere Weise un¬
stillbares Nasenbluten schnell zum Stehen
gebracht.
Bei einer schweren, andauernd sich
wiederholenden Hämoptoe sowie bei einer
periodisch wiederkehrenden schweren Hä-
matemesis wurde die Adrenalinlösung
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innerlich in wiederholten Dosen von je
20 Tropfen erfolgreich verabreicht.
Es wäre sicherlich zu wünschen, dass
die auch physiologisch wohl begründete
wirksame Substanz der Nebennieren die
wir ja heute sowohl in der Form des Adre¬
nalins, wie des Suprarenins in reiner
Form anwenden können, bei der Behand¬
lung solcher schwerer Blutungen immer
möglichst bald zur Anwendung käme, ehe
durch erfolglose anderweitige Stillungs¬
versuche Zeit verloren wird. Freilich ist
— wie auch Lange hervorhebt — das
Adrenalin ein theures Präparat (30 ccm
= 8,50 M.) aber die wirksame Dosis dafür
klein und die hämostatische Wirkung eine
sichere. Man muss sich indessen bei seiner
Anwendung immer wohl bewusst sein, dass
unter Umständen beim Nachlassen seiner
ziemlich schnell abklingenden physiolo¬
gischen Wirkung lokaler Gefässverengung,
Nachblutungen auftreten können, die aber
wohl meist durch erneute Application des
Mittels zum Stehen gebracht werden können.
F. Umber (Berlin).
(Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 2.)
Die Serumtherapie bei B&86dOW’SCh6F
Krankheit, die auch auf dem letzten Con-
gress für innere Medicin auf der Tages¬
ordnung war (vergl. diese Zeitschr. Jahrg.
1902, S 270f.), geht bekanntlich von der
Vorstellung aus, dass diese Erkrankung auf
einer abnormen Steigerung der Schild-
drüsenthätigkeit beruht, wodurch deren Se-
cretionsproducte den Organismus über¬
schwemmen. Wenn nun die Schilddrüse
normaler Weise die Aufgabe hat, gewisse
im Stoffwechsel auftretende Gifte zu neu-
tralisiren, so müssen sich dieselben in ab¬
normer Weise im Organismus anhäufen,
wenn die Schilddrüse durch Krankheit oder
operativen Eingriff (Myxödem, Cachexia
strumipriva) ausgeschaltet ist. Gelänge es
nun diese Cachexiegifte dem Basedow¬
kranken einzuverleiben — so sagen die
Vertreter jener Schilddrüsentherapie, zu
denen in erster Linie Moebius gehört —
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Aläxz
Die Therapie der Gegenwart 1903.
127
so könnte man vielleicht das hier über¬
schüssige oder krankhafte Schilddrüsen-
secret binden oder gewissermaassen neu-
tralisiren. O. Lanz, jetzt Professor an der
•chirurgischen Klinik zu Amsterdam, hat nun
schon vor Jahren, wie er in einem jüngst er¬
schienenen Aufsatz gegenüber anderweitigen
Prioritätsansprüchen (Burghart u. Blu¬
menthal) ausdrücklich noch einmal hervor¬
kehrt, experimentelle Studien darüber an¬
gestellt, ob sich das Serum und vor allem
die Milch von strumectomirten Thieren als
Heilmittel gegen Basedow’sche Krankheit
verwerthen lasse. Er führte das praktisch
in der Weise aus, dass er den Basedow-
kranken nach der Entlassung aus der kli¬
nischen Behandlung auch noch weiter
thyreoidectomirte milchliefernde Ziegen
zur Verfügung stellte. In seiner letzten
Mittheilung fügt er nun zu zwei Fällen,
über die er bereits früher günstig berichten
konnte, noch 4 weitere hinzu, bei denen
derartige Milchkuren günstigen Erfolg ge¬
bracht hatten, und unter denen besonders
ein schwerster Fall von Basedow als be-
merkenswerth hervorgehoben wird. Mit
Recht betont der Verf. ausdrücklich, dass
eine so geringe Zahl beobachteter Krank¬
heitsfälle noch nichts beweist; seine
Hauptabsicht ist die, zur Nachprüfung an¬
zuregen.
Aehnliches beabsichtigt auch Moebius
mit seiner Mittheilung über das Antithy-
reoidin, ein von Merck auf seine Veran¬
lassung bereitetes Heilserum aus dem Blute
schilddrüsenloser Pflanzenfresser. Er hat
dieses Hammelserum in süssem Wein per
os — subcutan wurde es nicht vertragen
— an zwei Kranke verabreicht, die seit 2
resp. 4 Jahren an gutartigem Basedow
litten. Der Erfolg war der, dass zwar die
Zahl der Pulse nicht beträchtlich abnahm,
aber der Halsumfang und die Spannung
in der Struma geringer wurde, sowie dass
die Kranken mit Bestimmtheit aussagten,
sie fühlten sich ruhiger und schliefen besser.
Störungen wurden nie beobachtet. Bei
Unterbrechung der Behandlung nahm der
Halsumfang nach einigen Wochen wieder
zu. Der Preis des Serums ist freilich
ein sehr hoher. Moebius drängt vor
allem auf klinische Prüfung des Heilver¬
fahrens.
Die Kritik kann sicherlich nicht strenge
genug sein bei der Bewerthung dieser
serotherapeutischen Versuche, im Hinblick
darauf, dass wir ja auch mit allgemein
tonisirenderBehandlung, die eines gewissen
psychischen Momentes bedarf, mit Arsen
und ähnlichem oft genug schöne Besserungs¬
erfolge, vornehmlich bei unseren leichten
Basedowkranken constatiren können!
F. Umber (Berlin).
(Manch, med. Woehenschr. 1903. No. 4.)
Ueber Verwendung der Bismutose bei
Magen-Darmkrankheiten berichtet Elsner
aus der Boas'sehen Poliklinik. Bekanntlich
stellt die Bismutose eine Verbindung von
Eiweiss mit Wismuth dar mit einem Ge
halt von ca. 21 % Wismuth. Die Em¬
pfehlung der Bismutose geschah aus fol¬
genden theoretischen Erwägungen: 1) dass
sie eine grössere säurebindende Eigen¬
schaft besässe als Wismuth, 2) dass sie
weniger giftig, 3) besser löslich sei. Aus
diesen Erwägungen wurde sie von Elsner
in der Boas'sehen Poliklinik vielfältig
verwandt bei reiner Hyperacidität, wo sie
in der That sich gut bewährte, so dass die
Menge der freien HCl unter dem Bismutose-
gebrauch herabgesetzt wurde. Freilich
trat ein Erfolg nicht immer auf.
In Fällen von Hyperacidität mit Hyper-
secretion liess sich allerdings bei nur zwei
Fällen ein strictes Urtheil nicht abgeben. —
Ein Fall mit gutem, ein Fall mit negativem
Erfolg. — Bei Ulcus ventriculi kann Elsner
die Bismutoseverabreichung als Unter¬
stützungsmittel der eigentlichen Ruhecur
empfehlen, nur muss man die adstringirende
Wirkung, die die Bismutose ebenso wie
das Bismut. subn. auf den Darm entfaltet,
berücksichtigen und für regelmässige Ent¬
leerungen sorgen, da Obstipation reflec-
torisch die Magensecretion steigern kann.
Diese adstringirendeWirkung im Darm kann
bei Enteritiden neben der Diät mit gutem
Erfolge verwandt werden, wovon der Ver¬
fasser bei einigen Fällen von Darm¬
katarrhen mit Durchfällen sich überzeugen
konnte.
Auch Referent kann die Empfehlung der
Bismutose durchaus unterstützen, möchte
aber auf einen Uebelstand bei der
Verwendung des Präparates aufmerksam
machen. Die Bismutose ist ein so fein ver¬
teiltes Pulver, dass es bei dem leisesten
Hauche, bei der Exspiration, verstäubt, sich
nicht mit Wasser, wie z. B. das Bismut. subn.,
verrühren lässt, so dass mitunter die Dar¬
reichung auf Schwierigkeiten stösst. Daher
ist es wohl zweckmässig bei der Verord¬
nung, die Betonung eines schleimigen Ve¬
hikels hinzuzufügen, wenn man es in
den leeren Magen bringen will; während
sonst das Hinzufügen zu den einzelnen
Speisen und das Verrühren in denselben
wohl am besten ist, z. B. in Kartoffelpurrde,
in Reis, Gries etc. Auch bei Flatulenz und
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
128
März
Die Therapie der
Gährungsdyspepsie sah Referent ent¬
schieden Nutzen von dem Präparate.
Carl Berger (Dresden).
(Archiv für Verdauungskrankheiten, Bd. VIII.)
Untersuchungen Ober die Veränderung
des Blutes unterm Einfluss der ver¬
schiedenen Methoden der Hg-Be-
handlung hat Ossendowski bei 30 Lue¬
tikern (im Alter von 19—39 Jahren) durch¬
geführt. Die Patienten, von denen sich
25 im condylomatösen und 5 im gummösen
Stadium befanden, wiesen im übrigen keine
Complicationen auf. 10 von ihnen wurden
bis zum Verschwinden aller Symptome mit
Einreibungen von grauer Salbe behandelt,
5 mit intramusculären Injectionen von Hy-
drarg. salicyl., 5 mit subcutanen Ein¬
spritzungen von Hydrarg. benzoicum, 5
innerlich mit Pillen aus Jodquecksilber-
Haemol und die letzten 5 (im gummösen
Stadium) mit Jodkali. Das Blut wurde um
dieselbe Zeit fast in gleichen Intervallen
vor, während und nach der Cur untersucht,
und Verfasser bestimmte jedesmal den
Haemoglobingehalt (Fleischl) die Blut¬
körperchenzahl und das Verhältnis der
rothen zu den weissen (Thoma-Zeiss),
ferner die Arten derLeukocyten im Trocken¬
präparat (Triacidfärbung). Auch wurde das
Körpergewicht dreimal bestimmt.
Bei jeder Behandlungsmethode steigerte
sich im Allgemeinen der Haemoglobingehalt
und die Erythrocytenzahl, die Anzahl der
Leukocyten nahm ab. Die Lymphocyten
vermehrten sich in den meisten Fallen,
wahrend die mononucleären Leukocyten
die Uebergangsformen, die polynucleären
Blutkörperchen und eosinophilen Zellen
sich eher verminderten.
Der Hämoglobingehalt nahm nach intra-
musculären Injectionen mehr zu als bei den
übrigen Verfahren. Subcutane Einspritzun¬
gen steigerten am meisten die Zahl der
rothen und verringerten die der weissen
Blutkörperchen. Einreibungen und intra-
musculäre Injectionen erhöhten insbeson¬
dere die Anzahl der Lymphocyten. Die
mononucleären Leukocyten und Ueber¬
gangsformen nahmen ab nach Einreibungen
und Jodkaligebrauch, sie vermehrten sich
meist bei der Darreichung von Hg-Pillen,
während bei den übrigen Verfahren ein
wechselndes Verhalten zu constatiren war.
Die polynucleären Blutkörperchen nahmen
nach Jodkaligebrauch meist an Zahl zu, bei
den Hg-Darreichungen jedoch ab. Das Ver¬
halten der eosinophilen Zellen ist nach intra¬
musculären Injectionen schwankend, bei den
übrigen Methoden nimmt deren Zahl meist
Gegenwart 1903.
ab. Bei jedem Verfahren bewegt sich das
Verhältnis der rothen zu den weissen Blut¬
körperchen in normalen Grenzen und
nähert sich dem physiologischen Minimum.
Die Steigerung des Haemoglobingehalts
ist allemal geringer, als die der Erythro-
cyten. Das Körpergewicht erhöht sich
am meisten bei subcutanen Injectionen, am
wenigsten nach Einreibungen.
M. Urstein (Berlin).
(Wratschebnaja Gazieta 1902, No. 19.)
Unter der Bezeichnung Chorea eleotrica
werden nach Bruns bisher 3 durchaus
verschiedenartige Erkrankungen zusammen¬
gefasst; gemeinsam ist allen die ticähnliche
rasche Zuckung (welche durch Vergleichung
mit der durch den galvanischen Strom
hervorgerufenen Zuckung den Namen ver¬
anlasst hat), die typische Lokalisation der
Zuckungen an Schulter und Nacken und
das Beschränktbleiben auf das Kindesalter.
Die Chorea electrica sensu strictiori steht
den echten Tics sehr nahe und ist wie
diese von schlechter Heilungsprognose.
Ausserdem giebt es aber noch eine auf
Epilepsie und eine auf Hysterie beruhende
Form. Die Differentialdiagnose von den
letzteren ist, wenn hysterische Stigmata
wie so oft bei Kinderhysterie — fehlen,
schwer. Rasch heilende Fälle sind wohl
immer der Hysterie zuzurechnen. Bei der
epileptischen Chorea electrica stellen die
Zuckungen eine Art rudimentäre Anfälle
dar, die durch das gleichzeitige Vorkommen
typischer epileptischer Anfälle oder petit
mal mit geistigem Rückgang der Kinder
von der echten Chorea electrica abzu¬
trennen sind. Die Behandlung ist hier
natürlich diejenige der Epilepsie überhaupt.
In den übrigen Fällen soll man selbst da,
wo sichere Differentialdiagnose von Hysterie
nicht möglich ist, immer die für Hysterie
erprobten Behandlungsmethoden, insbeson¬
dere die von Bruns so bezeichnete Me¬
thode der zweckbewussten Vernachlässi¬
gung anwenden; der Erfolg der Therapie
wird nach dem Gesagten in zweifelhaften
Fällen die Diagnose Hysterie sicher stellen.
Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt).
(Berl. Klin. Wochenschrift 1902, No. 51.)
Sehr bemerkenswerthe Erfahrungen über
Daumenplastik lesen wir aus der Feder
des jüngst verstorbenen Nicoladoni. Die
schweren Schädigungen, welche durch den
Verlust des ganzen Daumens bis zum Meta-
carpophalangealgelenk erwachsen, sind be¬
kannt. Nicoladoni hat nun bereits zwei
Mal, nach einer 1897 zuerst von ihm aus-
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
129
I>ie Therapie der (»egen wart 1903.
gesprochenen Idee, den fehlenden Daumen
durch Aufpfropfung der zweiten Zehe
derselben Seite in allen ihren Theilen mit
Glöck ersetzt. Nach gehöriger Anfrischung
von Knochen und Weichtheilen an dem
Daumenstumpf wird über dem Metatarco-
phalangealgelenk der zweiten Zehe ein
dorsaler Lappen mit distaler Basis gebildet,
der Knochen der ersten Phalanx nahe dem
Knorpel durchsägt und nun diese Knochen¬
fläche auf der des Daumenstumpfs mit
Metallnaht fixirt, ebenso die Dorsalsehnen
und die Lappenwundränder vernäht. Die
Plantarhaut bleibt mit der aufgepfropften
Zehe in Verbindung für 16 Tage, während
welcher Daumen und Zehe in unmittel¬
barster Berührung durch vorher auspro-
birten Gypsverband gehalten werden. Dann
Trennung des Lappens und Abschluss der
Naht (Genaueres in Lang. Arch. Bd. 61,
H. 3). In dem letzten Fall hat sich die
Zehe ohne jede Nekrose erhalten, und
wenn sie auch nicht activ beweglich ist,
so arbeitet doch der 25jährige Maschinen¬
schlosser wie früher und schreibt selbst,
dass er „ordentlich zugreifen kann“ und
„nicht einmal spürt, dass es ein anderer
Finger ist“.
Die guten Abbildungen machen das
glaubhaft und empfehlen die Methode, die
ja auch z. B. von v. Eiseisberg nach¬
geprüft wurde, zu geeigneter Anwendung.
(Lang. Arch. f. klin. Chir. Bd. 69, H. 3, Sp. 695.)
Fritz König (Altona).
Die Leser der Zeitschrift werden sich
erinnern, dass im vorigen Jahr an
dieser Stelle (S. 80) kurz auf die Ergeb¬
nisse neuerer Forschungen hingewiesen
worden ist, die sich mit der Möglichkeit
eines Eiweissaufbaues im Körper aus
niederen Spaliprodukten der Eiweissver-
dauung beschäftigen. Es war damals spe-
ciell einer vorläufig mitgetheilten Beob¬
achtung Loewi’s Erwähnung gethan, der-
zufolge ein Hund, bei dem alle Eiweiss¬
nahrung durch N-haltige Endproducte einer
Pankreasverdauung, bestehend aus Amido-
säuren, Diaminosäuren, Ammoniak, und
Purinbasen ersetzt worden war, 25 Tage
hindurch sein Körpergewicht aufrecht er¬
halten hatte. Diese Beobachtung war des¬
halb um so bemerkenswerther als kurz
vorher O. Cohnheim die Entdeckung ge¬
macht hatte, dass im Dünndarm ein Fer¬
ment vorkommt, er nannte es Erepsin,
welches die tiefere Spaltung der albu-
mosen- und peptonartigen Eiweissspalt¬
produkte in krystallinische Endproducte
sehr energisch weiter führt, ohne auf natives
□ igitized by Google
Eiweiss selbst, abgesehen von Casein,
einzuwirken. Diese Angaben Cohnheim’s
sind zwar nicht ganz ohne Widerspruch
geblieben und in jüngster Zeit erst haben
Embden u. Knoop auf Grund ihrer Unter¬
suchungen im Hofmeisterschen Labora¬
torium die tiefere Eiweissspaltung in die
genannten Endproducte lediglich auf Tryp¬
sinwirkung zurückzuführen versucht. Wie
dem auch sei, wir dürfen jedenfalls heute
die quantitative Rolle dieser Endproducte
bei der Darmverdauung den Albumosen
und Peptonen gegenüber nicht mehr unter¬
schätzen wie das früher nicht selten zu
geschehen pflegte. Jüngst hat nun Loewi
seine erwähnte vorläufige Mittheilung aus¬
führlich ergänzt und über eine Anzahl
weiterer Ernährungsversuche mit den ge¬
nannten Endprodukten an Hunden be¬
richtet, welche die Vorstellung begrün¬
den, dass wenigstens der Hund sein
Körpergewicht aus den genannten nicht
mehr eiweissartigen Endprodukten der Ver¬
dauung thatsächlich aufbauen kann. Be¬
sonders beweisend erscheint unter seinen
Versuchsreihen eine Beobachtung (Ver¬
such V), derzufolge sich ein Hund 11 Tage
lang mit Endproducten nicht nur im
N Gleichgewicht erhielt sondern sogar noch
Körpereiweiss ansetzte, und zwar täglich
etwa 3 g entsprechend 0,5 g N. Dabei
trat keinerlei Unregelmässigkeit von seiten
der Verdauung auf, wie das sonst so ge¬
wöhnlich bei derartigen Versuchen der
Fall war.
Diese interessanten Ergebnisse besagen
freilich noch nicht, dass auch für den
Menschen gleiche Verhältnisse Geltung
haben, wenn es auch wahrscheinlich sein
dürfte. Immerhin wäre es verfrüht daraus
den Schluss zu ziehen, dass alles Eiweiss
was wir aufnehmen erst bis zur Stufe der
krystallinischen Endproducte zerschlagen
werden müsse, ehe es uns zum Aufbau
unseres Organeiweisses taugt! Dagegen
sprechen z. B. Untersuchungen der jüngsten
Zeit von Zunz, denen zufolge Albumosen
und Peptone zu gewissen Zeiten der Ver¬
dauung einen sehr reichlichen Procentsatz
derEiweissverdauungsproducte im Darm aus¬
machen, dagegen sprechen Untersuchungen
von Embden u. Knoop, sowie von Lang¬
stein, welche auch eine Resorption von
albumoseartigen Spaltprodukten der Ei¬
weissverdauung nicht unwahrscheinlich
machen, da sie in der Blutbahn gefunden
werden. Offenbar giebt es verschiedene
Modi der Resorption und des Eiweissauf¬
baues aus verschiedensten Spaltprodukten
der Eiweissverdauung, gleich wie sie selber
17
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
130
Marz
Die Therapie der
sich aus den verschiedenen Stadien com-
ponirt. Es sei z. B. hervorgehoben, dass
Plumier kürzlich länger ausgedehnte Un¬
tersuchungen mitgetheilt hat, in denen es
ihm gelang durch längere Verabreichung
von Albumosen und Peptonen (Witte¬
pepton) Hunde ausreichend zu ernähren.
Das Körpergewicht blieb hierbei constant,
ja es nahm sogar nach vorausgehendem
Fasten zu. Jedoch gelang es Plumier im
Gegensatz zu Löwi nicht, durch Verab¬
reichung von Endproducten selbstverdauter
Pankreasdrüsen ein Thier auf Gewichts-
constanz zu halten. F. Umber (Berlin).
(Löwi, Arch. f. exp.Path u. Pharmak, Bd. 48, 1902.
Einöden u. Knoop, Zunz, Langstein, Hof¬
meisters, Beitr. zur phys u. path. Chemie 1902.
Plumier, Bull. Acad. roy. Belgique 1902. cit. ehern.
Cbl. 1903, Bd. I.)
Die elektrolytische Behandlung
der Harnröhrenstricturen wird neuer¬
dings von Morian empfohlen. Nach
Beobachtungen an 20 Fällen hält er
dieselbe für eine bequeme Methode,
welche ohne grosse Belästigung des Pa¬
tienten Stricturen soweit zu bessern im
Stande ist, wie jede andere operative oder
instrumentelle Behandlung. Auszuschliessen
von dieser Behandlung sind sehr harte,
lange Stricturen, wie sie besonders nach
Traumen entstehen; die zur Zerstörung
dieser Stricturen nothwendige elektrische
Kraft müsste so gross sein, dass hierdurch
unangenehme Nebenwirkungen entstehen.
Ist die Strictur sehr eng, so muss sie
instrumenteil zunächst erweitert werden,
sodass mindestens Charriere 10 passirt.
Selbstverständlich geht die Operation unter
allen Cautelen der Antisepsis vor sich.
Der Strom solle niemals 10 Milliampere
überschreiten. Zweckmässiger Weise an-
ästhesirt man die Urethra mit 1 °/ 0 iger
Cocainlösung. Nach der Elektrolyse solle
man das Instrument an der der durch¬
schnittenen Wand gegenüberliegenden
Circumferenz der Urethra zurückschieben.
Geht die Operation nicht leicht von statten,
so solle man zur inneren Urethromie seine
Zuflucht nehmen. Selbstverständlich muss
auch bei dieser Methode mit Bougis nach¬
behandelt und auf Recidive geachtet
werden.
Sowohl die Elektrolyse, wie die innere
Urethromie werden in Deutschland von
Chirurgen sehr wenig ausgeführt. Es
unterliegt nun keinem Zweifel, dass fast
alle Stricturen durch Bougibehandlung, in
geschickter und vorsichtiger Weise aus¬
geführt tractabel sind. Bei sehr schweren,
harten, langen, dieser Behandlung nicht zu-
Gegcnwart 1903.
gänglichen Stricturen ist die Urethrotomia
externa ev. mit Excision der Strictur das
beste Verfahren. Will man aber intra¬
urethral behandeln, was zweifellos viele
Fälle schneller vorwärts bringt als Bougi¬
behandlung, so dürfte die innere Urethro-
tomie der Elektrolyse vorzuziehen sein.
(Ref.). Buschke (Berlin).
(Annalcs des mal. gen. urin. 1903.)
In einer kürzlich erschienenen Mono¬
graphie: Zur Ursache und specifischen
Heilung des Heufiebers theilt Prof. Dun¬
bar (Hamburg) folgende wichtige Ver¬
suchsergebnisse mit.
Frisch isolirte Pollenkörner von Gra¬
mineen, die ein gelbliches Pulver dar¬
stellen, wurden mittelst Wattebäuschchen
einer Reihe von Personen auf die Augen¬
bindehaut, resp. in die Nase gebracht. Bei
3 von 6 Versuchspersonen traten weder
subjectiv noch objectiv irgend welche Reiz¬
erscheinungen auf; bei den anderen 3
traten heftige Reizerscheinungen auf, die den
im Heufieberanfall zu beobachtenden voll¬
ständig analog waren. Die 3 reagirenden
Patienten waren Heufieber-Patienten, d. h.
Personen, die Jahr für Jahr von Heufieber
heimgesucht wurden, die drei anderen Ver¬
suchspersonen nicht. Mechanische Reize
(Berührung mit den Wattebäuschen allein)
und verschiedene starke Riechstoffe lösten
bei den 3 Heufieberpatienten keine Er¬
scheinungen aus. Auch nicht alle Arten
von Pollenkörnern lösten die Reaction aus,
unter anderm auch solche nicht, die mit
feinen Stacheln dicht besetzt waren, ferner
Lindenpollenkörner und der Pollenstaub
von Rosen nicht, die bisher vielfach als
Heufieberursache angesehen worden sind;
sondern nur gewisse Gramineenpollen, ins¬
besondere die Roggenpollenkörner, führ¬
ten die typischen Erscheinungen am Auge
und Nase herbei, diese aber regelmässig und
— was Dun bar besonders hervorhebt —
auch ausserhalb der Heu fieberperiode
(im October und November). Die Gra¬
mineenpollenkörner sind demnach
die Erreger des Heufiebers.
Die Pollenkörner sind mit Körperchen
angefüllt, die sich bei starker Vergrösse-
rung als Stäbchen darstellen; dieselben
geben mit Jodlösungen die charakteristische
Färbung der Stärke und werden als Amy-
lumstäbchen bezeichnet. Dunbar stellte
fest, dass in diesen Stäbchen das die Heu¬
fieberanfälle auslösende Gift enthalten ist.
Die aus den Pollenkörnern extrahirbaren
öligen Bestandtheile einschliesslich der
ätherischen Oele erwiesen sich bei den
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der
Heufieberpatienten als wirkungslos. In Secre-
ten (Nasenschleim, Thränen, Speichel) und
Blutserum dagegen lösen sich die Amylum-
stäbchen von Pollenkörnern, deren äussere
Hülle zerstört oder gesprengt ist, inner¬
halb kurzer Zeit vollständig auf und diese
Lösungen erzeugen bei Verimpfung auf die
Schleimhäute heufieberempfänglicher Per¬
sonen typische Reizerscheinungen; ihr
Rückstand (die nicht gelösten Hüllen) ist
wirkungslos. Der Heufiebererreger
ist also ein lösliches Gift. Aus zer¬
riebenen Roggenpollenkörnern wurde das
Gift in 24 Stunden bei 37° durch physio¬
logische Kochsalzlösung extrahirt; behan¬
delt man das wässrige Extrakt mit Alkohol,
so fällt die wirksame Substanz in Form
eines flockigen Niederschlages aus. Die
Löslichkeit der Stärkestäbchen ist bei den
verschiedenen Pollenkörnern nicht gleich
gross, die Wirksamkeit der Lösungen ent¬
sprach stets dem Fortschritt der Auflösung
der Stärkestäbchen. Deshalb nimmt Dun-
bar an. dass die Amylumkörper selbst die
wirksame Substanz repräsentiren. Alle
Pollenkörner, die Heufieber auslösten, ent¬
hielten Stärkestäbchen. Doch fand Dun¬
bar reichlich Stärkestäbchen auch in
manchen unwirksamen Pollenarten. Es ist
also nicht die Stärke als solche, welche
das Heufiebergift bildet, sondern eine in
den Amylumstäbchen der Gramineenpollen¬
körner enthaltene Substanz. Welcher Con¬
stitution dieselbe ist, darüber kann Dunbar
bisher Positives nicht sagen: der durch
Alkoholfällung gewonnene Niederschlag
gab weder Stärke- noch Eiweissreaction.
Das Pollentoxin wirkt nicht bloss von
den Schleimhäuten aus. Durch subcu-
tane Injection einer geringen in Serum
gelösten Menge desselben erzielte Dunbar
bei einem Arzte (der Heufieberkranker ist)
einen geradezu beängstigenden Heufieber¬
anfall; ein anderer nicht an Heufieber lei¬
dender Arzt vertrug die gleiche Subcutan-
injection ohne jede Beschwerden. Dun-
bar fasst danach die Symptome des Heu-
tieberanfalles als die Folgen einer spe-
cifischen Vergiftung auf. Die Granii-
neenpollen allein scheinen das specifische
Heufiebertoxin zu enthalten; gelangen sie
in Nase oder Auge, gelegentlich auch auf
andere Schleimhäute oder in Wunden etc.,
so gelangt durch Auflösung der Amylum¬
stäbchen das specifische Virus zur Re¬
sorption und erzeugt die charakteristischen
Heufiebersymptome. Bedingung ist nur
eine specifische Empfänglichkeit, für
Personen ohne diese ist die wirksame
Substanz völlig ungiftig. Was das Wesen
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Gegenwart 1903. 131
dieser Empfänglichkeit, der sogenannten
individuellen Disposition betrifft, so lässt
sich die Annahme einer besonderen Be¬
schaffenheit oder Reizbarkeit der oberen
Luftwege, einer Affection des Trigeminus,
von suggestiven Einflüssen, von gichtischer
oder ähnlicher Grundlage der Heufieber¬
disposition und manches andere, was in
der bisherigen Litteratur eine Rolle spielt,
nach den Dunbar’schen Feststellungen
nicht mehr aufrecht erhalten. Das Vor¬
handensein neuropathischer Veranlagung
bei Heufieberkranken (Neurasthenie, geistige
Ueberanstrengung) dagegen und der Zu¬
sammenhang des Leidens mit voraufge¬
gangenen Infectionskrankheiten (Influenza
n. a.) lässt sich so deuten, dass das Heu¬
fiebertoxin ein Nervengift ist, für das
die Empfänglichkeit der Nervenzellen durch
gewisse Schädigungen erst herbeigeführt,
resp. gesteigert wird.
Die Feststellung der Thatsache, dass
der Heufieberanfall die Folge einer Intoxi-
cation ist, und die Möglichkeit, das Heu¬
fiebertoxin in Lösung zu gewinnen, führten
Dun bar naturgemäss zu dem Versuche,
ein Heufieberantitoxin darzustellen. Er
behandelte Kaninchen mit dem Pollentoxin
und erprobte mehrere Wochen nach der
letzten Injection ihr Blutserum. Dasselbe
neutralisirte das Pollentoxin in vitro (die
Mischung beider war bei Heufieberpatienten
unwirksam) und äusserte auch bei den
durch die Application der Pollenkörner
ausgelösten Anfällen einen deutlichen Er¬
folg. Dunbar’s Versuche nach dieser
Richtung sind, wie er selbst betont, noch
nicht abgeschlossen; man darf ihrer Fort¬
setzung aber mit grösster Erwartung ent¬
gegensehen. F. Klemperer.
(München und Berlin. Verlag von R. Olden-
bourg. 1903.)
Ueber die Janet’sehe Methode der
Urethral- und Blasenbehandlung liegen
bekanntlich ebensowohl enthusiastische
Empfehlungen, als absprechende Urtheile
vor. Es ist also sehr dankenswerth, dass
L. Spitzer (Wien) Erfahrungen über
dieses an einem sehr grossen klinischen
und ambulatorischen Krankenmaterial im
Lauf mehrerer Jahre geübte Verfahren
bekannt giebt. Er hält sich, was Concen-
tration, Temperatur, Quantität der Spül¬
flüssigkeit anlangt, streng an die Vor¬
schriften Janet’s und weicht von diesen
Angaben nur dadurch ab, dass er sich an¬
statt eines Katheters einer conisch endigen¬
den doppelläufigen Canüle (s. Abbildung
im Original) bedient, die nicht in die
17*
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
März
'132 Die Therapie der
Urethra eingeführt sondern nur in das
Orificium urethrae eingelegt wird.
Spitzer findet dass das Verfahren bei
ganz frischen Fällen von Gonorrhoe Re¬
sultate liefert, die von keiner anderen Me¬
thode erreicht werden.
Auch für die späteren Stadien hält er
es für gut brauchbar, ohne dass es ge¬
eignet wäre, die bisher üblichen Methoden
zu verdrängen. Eine Contraindication bildet
manchmal das Vorhandensein periurethraler
Infiltrate und alle schweren acuten Ent¬
zündungssymptome. Die Irrigation mit an¬
deren Substanzen, wie Ichthargan, Zink¬
oder Kupfersulfat, Tannin, steht hinter der
Wirkung desKalium hypermanganicum
deutlich zurück. L. Schwarz (Prag).
(Wiener klin. Wochenschr. 1902, No. 42.)
Im Heffter’schen Laboratorium zu Bern
hat Anten eingehende quantitative Unter¬
suchungen über den Ablauf der Jodaus-
scheidung nach einzelnen sowie wieder¬
holten Gaben von Jodkalium vorgenommen,
sowie den Einfluss verschiedener gleich¬
zeitig verabreichter Substanzen auf die
Jodausscheidung geprüft. Seine Ergeb¬
nisse, die uns hinsichtlich der Frage der
Intoxication und des Jodismus auch thera¬
peutische Fingerzeige werden können,
lauten dahin, dass nach einer einmaligen
Dosis von 0,5 Kal. jodat. die höchste stünd¬
liche Ausscheidung in der zweiten, nur
ausnahmsweise in der ersten oder dritten
Stunde statthat. Die mittlere nach der
Verabreichung einer derartigen Dosis im
Harne ausgeschiedene Menge beträgt 75%,
und bei wiederholten Gaben werden an¬
scheinend grössere Mengen ausgeschieden.
Die Ausscheidung des Jodes beginnt, wie
wir das schon von anderen diesbezüglichen
Untersuchungen her wissen, sehr schnell
nach der Aufnahme. So hat z. B. Roux
schon 1 Minute 45 Sekunden nach der
Einnahme Jod im Harn nachweisen
können. Im Durchschnitt tritt das Jod
nach 13 72 Minuten bereits in den Harn,
und etwas früher (7—12 Minuten) in den
Speichel. Die Dauer der Ausscheidung
beträgt nach Anten’s Versuchen bei einer
Gabe von 0,5 g etwa 40 Stunden, ein Zeit¬
raum, der mit der Zahl der eingenommenen
Dosen ansteigt. Nach 2 innerhalb von
5 Stunden genommenen Jodgaben dauert
die Ausscheidung 56 Stunden, nach 3
innerhalb 10 Stunden genommenen Jod¬
gaben 77 Stunden. Wenn gleichzeitig
colloidale Stoffe, wie Gummi und Pflanzen¬
schleim verabreicht wird, so wird dadurch
die Resorption wesentlich verzögert, wäh-
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Gegenwart 1903.
rend sie hingegen durch Salpeter oder
Kochsalz deutlich beschleunigt wird, offen¬
bar deshalb, weil durch diese Mittel die
Diurese angeregt wird; aus diesem Grund
ist Natriumbicarbonat wirkungslos. Ent¬
gegen einer älteren Angabe von Claude
Bernard, verschwindet die Jodreaction
im Speichel 5—6 Stunden früher als im
Harn. Das im Jodschnupfen producirte
Nasensecret enthält Jod in einer Menge
die 0,9—1,5°/o des aufgenommenen Jod¬
kaliums entspricht. F. Umber (Berlin).
(Archiv fflr experimentelle Pathol. u. Pharmak.
Bd. 48, 1902.)
Aus der auf grosses statistisches Ma¬
terial gegründeten Arbeit von A. Lab-
hardt über die Frage der D&uerheilung
des Krebses seien die, von dem bekann¬
ten Volkmann’schen Satze, der nach drei¬
jähriger recidivfreier Zeit nach einer Car-
cinomexstirpation eine fast absolute Sicher¬
heit der Heilung verspricht, nicht unerheb¬
lich abweichenden Schlusssätze des Autors
hier wiedergegeben: 1. Von den an Car-
cinom operirten Patienten, die gesund in’s
vierte Jahr nach der Operation eingetreten
sind, erkrankt noch ein erheblicher Pro¬
centsatz an Recidiven, und zwar meist an
Narbenrecidiv. 2. Diejenigen Carcinome.
die am meisten zu Spätrecidiven neigen,
sind die, die schon an und für sich einen
langsameren, relativ benignen Verlauf
haben, d, h. die Scirrhen. 3. Die Spät-
recidive verdanken ihre Entstehung Theilen
der Geschwulst, die bei der ersten Opera¬
tion zurückgelassen wurden. 4. Jemand,
der einmal an einem Carcinom operirt
worden ist, bleibt für die Dauer seines
Lebens in Gefahr, ein Recidiv zu be¬
kommen; allerdings nimmt die Wahrschein¬
lichkeit mit den Jahren immer mehr ab.
Leo Schwarz (Prag).
(Die Heilkunde 1902, No. 11.)
Die Hyperplasien der unteren Nasen-
muschel, welche circumscript oder diffus
auftreten können, bedingen oft eine Ver¬
legung der Nase und müssen, wenn man
die Durchgängigkeit wiederherstellen will,
total beseitigt werden, da schon ein ge¬
ringer acuter Katarrh in diesen Fällen
zu einer absoluten Nasenverstopfung führt.
Solche übermässigen Volumzunahmen
wurden früher mit allerlei Aetzungen be¬
handelt, ohne jedoch befriedigende Re¬
sultate zu zeitigen. Auch die Galvano¬
kaustik vermochte sich ein grösseres Feld
nicht zu erobern und zwar wegen der ge¬
legentlich auftretenden üblen Folgen und
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der
Complicationen (Verwachsungen der unteren
Muschel mit dem Septum, Otitis media,
Tonsillitis follicularis etc). Daher ver¬
suchte man in derartigen Fällen chirur¬
gisch vorzugehen. Wröblewski, der seit ;
mehreren Jahren solche Hypertrophien
nach einer von ihm modificirten Methode
operirt. hat 100 Resectionen der unteren
Nasenmuschel angeführt und daDei sehr
gute Ertolge gesehen. Zunächst anästhe-
sirt er die Schleimhaut mit 10 n/ 0 Cocain¬
lösung und geht dann mit der Hey- !
mann'schen Scheere vor, wobei er nur j
so viel vom hyperplastischen Gewebe
abträgt, als unbedingt nöthig ist. Wenn
die ganze Muschel beseitigt werden soll,
dann räth Wröblewki im Gegensätze zu 1
Kuttner niemals den Scheeren-
schnitt ganz bis an das Ende zu
führen, sondern die Muschel an einem
Gewebstückchen hängen zu lassen und
sie (während der Kopf des Patienten weit
nach vorn und unten gebeugt wird) mit |
der Schlinge herauszuziehen. Auf diese i
Weise kann man recht unangenehmen
Folgen Vorbeugen, da eine ganz abgetrennte
Muschel, wenn sie in den Rachen oder
Kehlkopf hinabgleitet, bedrohliche Er¬
stickungsanfälle zu verursachen vermag.
Die Dauer der Operation beträgt höch¬
stens 1—2 Minuten. Der Eingriff' ist nicht
unangenehm, so dass auch Kinder sich i
widerstandslos demselben unterziehen. Mit
Rücksicht auf stärkere Blutverluste und
aus Furcht vor grösseren Cocainmengen, !
dürfen nie beide Nasenhälften gleichzeitig
vorgenommen werden, dagegen können
etwaige Leisten am Septum oder Hyper- !
trophien der mittleren Muschel, wenn j
sie sich in der zu operirenden Seite be- 1
finden, während derselben Sitzung entfernt j
werden.
Die Operationsfläche wird mit Dermatol
bestreut, das anscheinend die Coagulation l
fördert. Die Blutung cessirt sehr bald und :
macht die für den Patienten so unan¬
genehme Nasentamponade überflüssig. Für
die ersten 24 Stunden empfiehlt sich Bett- j
ruhe, und Patient darf die Nase nicht aus- !
schnauben.
Ueble Nebenwirkungen oder Compli¬
cationen hat Wröblewski nicht beob¬
achtet (nur zweimal musste er die Nase
tamponiren). Er betont ausdrücklich, dass j
er bei Operationen mit der Scheere nie¬
mals secundäre Blutungen, die nach
Eingriffen mit der Schlinge verhältniss-
mässig häufig sind, auftreten sah. Nach- ;
trägliche Schmerzen, Schwellungen des
Naseninneren, septische Symptome fehlen,
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Gegenwart 1903. 133
und die Athmung durch die operirte Seite
wird sogleich ermöglicht. 1 )
M. Urstein (Berlin).
(Gazeta Lckarska 1901, No. 49).
In einer Arbeit „Lieber die Ent¬
stehung und Behändlung der spondy-
litischen Lähmungen“ weist Till man ns
nach, dass in ätiologischer Beziehung der
KompressiondesRückenmarks durchWeich-
theile (epidurales Bindegewebe, Granu¬
lationen, in den Kanal sich vorwölbende
Abscesse etc.) eine weit grössere Bedeu¬
tung zuzusprechen sei, als dem Druck
durch Knochengewebe. Bei jeder Läh¬
mung soll man zuerst die unblutige Be¬
handlung durch allmählich redressirende
Lagerungs- und Stützapparate versuchen.
Die Erfolge sind bisher sehr wechselnd.
Einige berichten von ausserordentlich
guten Erfolgen und einem grossen Procent¬
satz Dauerheilungen, während andere nicht
eine einzige dauernde Heilung durch ortho¬
pädische Behandlung gesehen haben. Dem
operativen Vorgehen stehen zwei Wege
offen, einmal die Eröffnung des Wirbel¬
kanals durch Resection der Wirbelbögen,
sodann das seitliche Vordringen zu den
Wirbelkörpern, in denen meistens der Er¬
krankungsherd zu suchen ist. Tillmanns
empfiehlt besonders die Costotransversec-
tomie von MOnard als eine geeignete Me¬
thode, die Wirbelkörper frei zu legen.
Dieses Vorgehen ist nach Tillmanns in-
dicirt bei Kompression des Marks durch
von den Wirbelkörpern ausgehende Ab¬
scesse und Exsudate, die sich in den Wir¬
belkanal vorbuchten, überhaupt im Allge¬
meinen bei einer noch nicht in Ausheilung
begriffenen Tuberkulose. Dagegen ist die
Laminectomie ausser bei Caries der Wir¬
belbögen angezeigt bei Lähmungen in aus-
geheilten Fällen, wo die Kompression des
Marks bewirkt wird durch neugebildetes
Knochen- oder Bindegewebe oder wo die
dura durch Adhäsionen wie eine Saite
’) Wir verweisen auf den Artikel von F. Klem-
perer (1902, S. 318) über die Principicn der Loeal-
behnmilung bei Erkrankungen der oberen Luftwege, zu
dem diese Mittheilung eine treffliche Illustration giebt.
„Der Eingriff ist nicht unangenehm - , dauert nur 1 bis
2 Minuten, ohne Blutung und ohne sonstige üble
Nachwirkungen! Da kommen dann leicht 100 Re¬
sectionen der unteren Muscheln zu Stande. Aber
die Indication zu dem Eingriff? Um die Durch¬
gängigkeit der Nase widerherzustellen, wie es oben
heisst, ist die Totalexstirpation der unteren Muscheln
gewiss nicht nötig. In der That ist dann auch die
radicale Operation, die Wröblewski beschreibt und
von der es durchaus nicht sicher ist, dass sie nicht
später doch schädliche Wirkungen im Gefolge hat,
nur sehr selten erforderlich. Red.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
134 Die Tlierapir der
über eine Knochenkante gespannt wird.
In solchen Fällen kann die Laminectomie
gute Erfolge zeitigen, aber bei noch florider
Tuberkulose reicht sie nicht aus. Till¬
manns führte 11 mal die Laminectomie
aus, darunter 9 mal bei noch bestehender
Tuberkulose; von denen sind 8 zu Grunde
gegangen, während in 2 Fällen eine Dauer¬
heilung erzielt ist. Im Allgemeinen sind
die operativen Resultate bis jetzt noch
nicht besonders erfreulich, aber sie werden
sich bessern, wenn der operative Eingriff
nicht wie jetzt nur als ultima ratio in Frage
kommt, sondern auf Grund einer exacten
Diagnose im Frühstadium vorgenommen
wird. Wichmann (Altona).
(La ngcnbeck's Archiv, Bd. 69, S. 134. Fest¬
schrift für v. Esinarch).
Ueber den Wert der systematischen
Lumb&lpunction bei der Behandlung
des Hydrocephalus chronicus in¬
ternus der Kinder theilt v.Bökay zwei Er¬
fahrungen mit. Im 1. Falle, — viermonatiges
Kind mit an 4 Wochen vorher beginnende
cerebrospinalmeningitische Erkrankung an¬
schliessendem starken Wasserkopf (44,6 cm
Kopfumfang) mit Spasmen, Opisthotonus,
Theilnahmslosigkeit wurden durch 8 Monate
lang etwa alle 14 Tage, später seltener
vorgenommene Punctionen insgesammt
283 cm entfernt. Schon nach der 4. Punc-
tion begann Besserung, die allmählich in
Heilung überging. Mit 3 72 Jahren be¬
trägt der Kopfumfang 54 cm; der Knabe
ist geistig und körperlich normal. Ein
zweiter Fall (postmeningitischer Wasser¬
kopf, Idiotie) ertrug ebenfalls 2 Jahre lang
durchgeführte Punctionen ohne Schaden,
besserte sich, starb aber an intercurrenter
Krankheit. Bökay empfiehlt deshalb wie¬
derholte Punction in nicht zu kleinen Inter¬
vallen und von nicht zu grossem Ausmaass
der entzogenen Mengen (30 —50 cm 8 ). Bei
angeborenem Wasserkopf wird wegen der
zumeist vorhandenen Entwicklungshem¬
mungen damit nur symptomatisch genutzt
werden; erworbener aber ist heilbar, es
sei denn, dass es sich um Unterbrechung
der Communicationen zwischen Ventrikeln
und äusserem Lymphraum handelt.
Finkeistein.
(Jahrb. f. Kinderheilk. 57, 2. H.)
Ueber Oesophajotomie wegen Fremd¬
körper bei Kindern unter 12 Jahren be¬
richtet auf Grund von 3 eigenen und 54
Litteraturfällen G. Gross. In Bezug auf
die Symptomatologie ist bemerkenswerth,
dass neben typischen Fällen mit initialer
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Gegenwart 1903.
Erstickungsattake, späterem Schmerz und
Schluckbeschwerden auch ganz symptom¬
lose Fälle Vorkommen. Auch die Sondi-
rung klärt häufig nicht auf. Bei ent¬
sprechender Natur des Gegenstandes ist
die Radiographie entscheidend. Die Be¬
handlung kann bei glatten Fremdkörpern
mit Extractionsversuchen beginnen, die beim
Kinde stets Narkose erfordern. Man be¬
diene sich entsprechend kleiner Münzen¬
fänger. Weiss führt eine am unteren
Ende mit einem Faden armirte weiche
Sonde ein; beim Anziehen des Fadens
biegt sich die Spitze und hakt günstigen¬
falls den Gegenstand an. Froelich ver¬
wendet zuweilen eine Sonde mit aufblas¬
barem Ballon an der Spitze. Die Ope¬
ration ist angezeigt bei bereits längerem
Verweilen des Fremdkörpers, in frischen
Fällen bei rauher, unregelmässiger, spitzer
Beschaffenheit, ferner bei Versagen der
Extractionsversuche. Aus der Schilderung
der Technik entnehmen wir, dass die Naht
der Speiseröhre nur bei gesunder Wand
empfohlen wird. Die Ernährung kann durch
2—4 mal täglich erfolgende Sondirung,
besser noch durch Verweilsonde erfolgen
oder man kann schlucken lassen und dabei
die Wunde comprimiren. Die Mortalität
der 57 Fälle betrug 17,56°/o; die voranti¬
septischen hatten 42,5%, die späteren
14,28 ü /o Von den Nachkrankheiten ist
weniger die Phlegmone wie die Broncho¬
pneumonie zu fürchten. Finkeistein.
(Rev. mens. d. malad, d. l'enfance F6vr. 1903.)
Moszkowicz (Wien), der unter Ger-
suny selbst arbeitet, bringt von neuem (vgl.
diese Zeitschr. 1902, S. 420) reiches casuisti-
sches Material über die Verwendbarkeit
der Gersuny schen subcutanen Paraffin-
injectionen bei und kann — ein Beweis
für den ausserordentlichen Anklang, den
dieses Verfahren gefunden hat — bereits
mehr als 50 einschlägige Publikationen
aufzählen. Er tritt mit Eifer dafür ein,
Paraffin vom Schmelzpunkt 36—40° C.,
d. i. Vaseline, als Injectionsmittel bei¬
zubehalten. Für Injectionen in straffes sub-
cutanes oder submucösesGewebe dürfte sich
eine noch weichere Paraffinsorte empfehlen,
Nur wo es auf unmittelbare Erzeugung
sehr harter Depots ankommt, wird das von
Eckstein empfohlene Hartparaffin anzu¬
wenden sein, das der Injection viel grössere
technische Schwierigkeiten darbietet. Die
Vaseline erzeugt, wenn sie durchwachsen
wird, knorpelharte Tumoren, so dass sie
von Hartparaffin nicht zu unterscheiden ist.
Zahlreiche klinische Erfahrungen beweisen.
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
März
135
Die Therapie dei
dass die Vaseline beim Menschen über¬
haupt nicht resorbirt wird. Sattelnase und
Hemiatrophia faciei sind die vorzüglichsten
kosmetischen, dazu kommt noch eine Reihe
functioneller Indicationen, die im Detail im
Original eingesehen werden müssen.
Ueber einen günstigen Erfolg durch
zwei im Abstand von einem Monat vorge¬
nommene Paraffininjectionen nach Ger-
suny berichtet ferner A. Hock (Prag) bei
einem Fall von hartnäckiger Incontinentia
urinae. Es handelte sich um eine im An¬
schluss an eine Steinoperation entstandene
Incontinenz bei einem Mädchen, bei dem im
Laufe von Jahren Torsion der Harnröhre,
Pessarien, Massage erfolglos angewendet
worden waren. Leo Schwarz (Prag).
(Wiener klin. Wochenschr. 1903, No. 2 und
Prager med. Wochenschr. 1903, No. 6.)
Ueber einen Fall von anatomisch
nachgewiesener Spontanheilung der
tuberkulösen Peritonitis berichtet O.
Borchgrevink (Christania). Die 16 jäh¬
rige Patientin, die im Jahre vorher eine
Pericarditis durchgemacht hatte, erkrankte
1897 mit einem peritonealen Erguss, von
dem im Juni 111, im October noch ein¬
mal nahezu 6 1 durch Punction entleert
wurden. Das specifische Gewicht des¬
selben betrug 1021, der Eiweissgehalt
4,8%; zwei mit demselben geimpfte Meer¬
schweinchen starben an typischer Impf¬
tuberkulose. Es handelte sich also sicher
um eine tuberkulöse Peritonitis. Das
Mädchen besserte sich allmählich und wurde
im November auf Wunsch entlassen. Im
März 1898 trat noch einmal eine An¬
schwellung des Leibes auf, die aber im
Juni bereits vollständig verschwunden war.
Die Patientin bleibt dann wohl und arbeits¬
kräftig bis 1900. Im Winter d. J. macht sie
eine schwere Influenza mit Erscheinungen
von Herzschwäche, jedoch ohne Symptome
von Seiten des Abdomens durch. Im April
1901 stirbt sie nach kurzer acuter Erkrankung
unter den Erscheinungen der Herzschwäche
mit Lungenödem und Hydrothorax.
Die Section ergiebt eine erhebliche Di¬
latation des Herzens, ausgebildete pericar-
ditische Veränderungen mit einer Reihe von
zum Theil verkalkten, zum Theil verkästen
Herden, die letzteren in augenscheinlichem
Zusammenhang stehend mit einer nuss¬
grossen, im Innern verkästen Bronchialdrüse
über dem linken Auriculum cordis. In der
Bauchhöhle das typische Bild einer chro¬
nischen Peritonitis (Verwachsungen der
Därme, Verdickungen und Narbenstränge
des Gekröses, Verdickung der Leberkapsel
u.s.w.), doch nirgends eine Spur von
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Gegenwart 1903.
I Tuberkeln, kalkigen oder käsigen
j Ablagerungen; auch die mikroskopisch
genau untersuchten Mesenterialdrüsen sind
frei von Tuberkulose. — Dieser Befund ist
nur so zu deuten, dass hier eine erweichte
Bronchialdrüse zur tuberkulösen Infection
des Pericards und secundär zu tuberku¬
löser Peritonitis geführt hat; die letztere
ist spontan ausgeheilt, nur fibröse Ver¬
dickungen, Adhäsionen und Pseudomem¬
branen sind zurückgeblieben.
Der Fall, an dem einmal die spontane
(ohne Laparotomie oder sonstige Ein¬
griffe zu Stande gekommen) Heilung von
Interesse ist, hat auch nach der Richtung
Bedeutung, dass er zeigt, dass das Fehlen
tuberkulöser Prozesse in peritonitischen Ver¬
änderungen bei der Section kein Beweis für
den nicht-tuberkulösen Ursprung derselben
ist. Die Existenz einer chronisch idio¬
pathischen Peritonitis, deren Annahme
sich wesentlich auf derartige Sectionsbefunde
stützt, wird dadurch zweifelhaft.
I F. Kl empor er.
( Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 3.)
Die Wirkung der Sauerstoffinhala-
tionen bei Kindern mit diphtherischer
; Larynxstenose hat Hecht auf der
Heidelberger Kinderklinik studirt. Nur in
2 Fällen fand eine Besserung der steno¬
tischen Athmung statt, dagegen fiel der
Puls ziemlich constant; auch die Cyanose,
die erweiterten Pupillen bei Asphyxie, ein
Fall von Chloroformintoxication und von
postdiphtherischer Herzschwäche wurden
günstig beeinflusst. Während aber dem¬
nach Tachycardie und Pulsspannung,
gleichgiltig ob Dyspnoe oder Intoxication
ihren Grund bildete, gebessert werden,
ebenso auch die Cyanose, schwindet die
Dyspnoe nicht. Daraus ergiebt sich die
Indication der Anwendung bei beginnendem
Nachlass der Herzkraft. Sie ist in ange¬
messenen Pausen so lange fortzusetzen,
als sie die Schlagfolge vermindert, zu be¬
seitigen, wenn sie durch Aufregung die
Tachycardie steigert. Die Ergebnisse sind
an hoffnungslosen Fällen gewonnen, da es
Verf. nur darauf ankam, festzustellen, ob
überhaupt objectiv zweifellose Wirkungen
bestehen. Finkeistein.
(Jahrb. f. Kinderheilk. 57, H. 2.)
Interessante Beobachtungen hat Heub-
ner an Scharlach- und Diphtherienieren
angestellt, die deutlich erkennen lassen,
dass die pathologisch-anatomische Schädi¬
gung der Niere bei diesen beiden Infec-
tionskrankheiten allemal eine partielle, auf
ganz bestimmte Abschnitte des Organs be-
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
136
März
Die Therapie der Gegenwart 1903.
beschränkte zu sein pflegt. So handelte es nälchen und nie aus den Glomeruli. Ge-
sich bei 2 Scharlachfällen, die mit Be- | wöhnlich handelt es sich dabei um auf-
theiligung der Nieren einhergingen und ! steigende Aeste der Henle’schen Schleifen
unter urämischen Erscheinungen starben, oder um einzelne dünnere Sammelröhren
um ganz exquisit hämorrhagische Er- und zwar in der Grenzschicht zwischen
krankung mit vorwiegender Betheiligung Rinde und Mark. Dabei finden sich pri-
der Glomeruli und erst secundärer Er- j märe Degenerationen der Nierenepithelien
krankung der Nierenepithelien und zwar l nicht in toto sondern in einzelnen streng
vorwiegend Degeneration und klumpige Zu- : begrenzten Abschnitten des Systems; so
sammensinterung des ausgetretenen Blutes waren in dem einen der 2 untersuchten
in den Tubuli contorti erster Ordnung. In I Fälle von Diphtherie die Henle’schen
den graden Canälen beobachte er dabei viel- j Schleifen und die Tubili contorti II. Ord-
fache Bildung von hyalinen Cylindern, Epi- 5 nung in ihrem Epithel geschädigt, im an-
thelabstossungen und vereinzelte Blutungen, dern Fall die Tubuli contorti I. Ordnung.
So ist also bei der Scharlachnephritis, vor- j Die grossen Sammelröhren waren allemal
wiegend und primär der Gefässantheil j gesund, höchstens mit abgestossenem Epi-
der Nierensubstanz erkrankt, was mit ] thel und hyalinen Cylindern verstopft. Da-
ihrem regelmässig hämorrhagischen Cha- mit übereinstimmend fehlte auch in dem
rakter sehr wohl übereinstimmt. ( klinischen Bilde der beiden Diphtherie-
Bei der Diphtherieniere liegen die nierenkranken die blutige Beschaffenheit
Verhältnisse anders. Blutungen können j des Urins bei vorhandenen Epitheleylindern
auch hier Vorkommen, aber sie stammen und Leucocyten. F. Umber (Berlin),
dann allemal aus vereinzelten graden Ka- (Münch, med. Wochenschr. 1903, No. a .\
Berichtigung.
ln einer klinischen Vorlesung, die in
dem Januarheft 1903 der „Therapie der
Gegenwart" veröffentlicht wurde, befasst
sich Herr Professor Fr. Kraus mit dem
therapeutischen Werth der Sauerstoff¬
inhalationen und unterwirft die experimen¬
tellen und klinischen Angaben über ihre
Wirkung auf das Blut einer eingehenden
Kritik, in welcher sich auf S. 3 folgender
Satz befindet: „Nach Untersuchungen von
Koväcs (Klinik Koränyi) sinkt bei Pneu¬
monie der Kochsalzgehalt des Blutes in
verschieden hohen Graden. Bei 10 cyano-
tischen Pneumoniekranken betrug der Ge¬
frierpunkt des Blutes 0,58 bis 0.78°. Ich
gestehe ganz offen, dass ich Werthe wie
0,78 für ganz unglaubwürdig halte."
Nach der Fassung der Ausführungen
des Herrn Prof. Kraus glaube ich annehmen
zu müssen, dass die citirten Zeilen sich
auf das Referat beziehen, das ich auf dem
Wiesbadener Internisten - Congresse vom
Jahre 1900 über die Behandlung der crou-
pösen Pneumonie hielt; nur hat sich Herr
Prof. Kraus in der Annahme geirrt, dass
dieser Gefrierpunkt-Befund von Herrn Dr.
Koväcs stammt.
Selbstverständlich erkenne ich die Be¬
rechtigung jeder wissenschaftlich begrün¬
deten Kritik über jede wissenschaftliche
Arbeit in vollem Umfange an, aber die Be¬
rechtigung, etwas, was ich als durch die
Congressleitung bestellter Referent als eine
in bestimmtem Zahlenwerthe ausgedrückte
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Thatsache hinstellte, für „unglaubwürdig“
| zu bezeichnen, kann ich Niemanden zuge¬
stehen. Eine bewusste Irreführung wird
I mir Herr Professor Kraus gewiss nicht
j zumuthen, aber auch einen leichtfertigen
Beobachtungsfehler wird wohl kein Billig-
| denkender von dem unter meiner Leitung
| stehenden Institute voraussetzen, aus wel-
I ehern eine ganze Reihe kryoskopischer Ar-
’ beiten hervorgegangen ist, die an der Be¬
gründung der klinischen Kryoskopie einigen
Antheil beanspruchen dürfen. Die in meinem
| klinischen Laboratorium vorfindlichen Dia-
! rien können wem immer sicher zeigen, dass
i der Gefrierpunkt 0,78 einer sorgfältigen
; Untersuchung und Ablesung des Blut¬
gefrierpunktes von einer allerdings äusserst
schweren, protrahirten, aber mit Heilung
j endenden Pneumonie während dem Be¬
stehen der Cyanose entstammt, und fehlt
es auch nicht an anderen gleichsinnigen
Befunden, so in dem von Hamburger
angeführten Experimente — i im Blute
aus der Vena porta eines Hundes 0,617,
aus der Vena jugularis desselben asphyk-
tisch gemachten Hundes 0,728. Bei dem
Apoplektiker Bousquet’s A einmal 0,59, ein
andermal 0,715. Bei einem Empyemkranken
mit Cyanose 0,77 (A. Koränyi). Und dass
ähnliche Erniedrigungen durch Kohlen¬
säure-Einwirkung in Vitro direkt erzielt
werden können, beweisen ausser unseren
Erfahrungen diejenigen von Branden¬
burg (Zeitschr. f. klin. Medicin 1902,
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
137
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Heft 3—4) sowie die jüngst veröffentlichten
Experimente Loewy’s (Berliner klinische
Wochenschr. 1903, No. 2, Versuch 3), wo
A des mit Sauerstoff gesättigten Pferde¬
blutes 0,585, nach Durchleitung von Kohlen¬
säure 0,835 betrug. — Ein Befund von A j
0,78 mag bei cyanotischen Pneumonikern
immerhin zu den Ausnahmen gerechnet
werden, dass er aber vorkommt, beweist
der von mir erwähnte Fall.
Budapest, den 29. Januar 1903.
Prof. Friedrich von Koränyi.
Erwiderung:.
Mit dem „unglaubwürdig“ habe ich bloss
einen sehr nachdrücklichen Zweifel an der
Richtigkeit eines Zahlenwerthes aus¬
sprechen wollen. Dass der Gefrierpunkt
des frisch aus der Ader durch Venaesec-
tion gewonnenen Blutes cyanotischer Pneu-
moniker — 0,78 beträgt, bezweifle ich
heute kaum weniger lebhaft. Noch mehr
aber bezweifle ich, und darauf kommt es
vor allem an, dass durch (^-Inhalationen
der Gefrierpunkt des Blutes pneumonischer
Patienten von 0,58—0,78 auf 0,59—0,60 ge¬
bracht wird. Was in vitro möglich ist, hat
damit gar nichts zu thun. Fr. Kraus.
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Zur Kenntniss der Borsäurewirkung.
Von Prof. M. Cloetta -Zürich.
Da man seit längerer Zeit die Borsäure
als ein brauchbares Mittel bei der Behand¬
lung von Schleimhautaflectionen kennt,
habe ich in letzter Zeit mehrfach versucht,
dieselbe bei der Behandlung des oft so
hartnäckigen Dickdarmkatarrhs zu verwen¬
den. Ich bin auch thatsächlich von den
Erfolgen befriedigt gewesen, doch ist dies
nicht der Grund, der mich zu einer Mit¬
theilung veranlasst, sondern vielmehr der
Umstand, dass ich 3 leichtere Intoxicationen
beobachtete, die vielleicht gerade jetzt ein
actuelles Interesse haben, wo die Borsäure¬
frage in ein sehr actives Stadium getreten
ist. Je mehr Beobachtungen mitgetheilt
und in unparteiischer Weise gesammelt
und gesichtet werden, um so eher darf
man erwarten, dass dieselben schliesslich
zu einem ausschlaggebenden Factor an-
wachsen.
Die Anwendung der Borsäure in den
betreffenden Fällen geschah in Form von
1.5 — 2 °/ 0 igen Lösungen als Darm¬
eingiessungen, körperwarm. Die Menge
betrug meist ca. 1 Liter und wurden die
Patienten angehalten, nach 5 Minuten den
Einlauf wieder zu entleeren. Bei drei unter
den so behandelten 7 Patienten traten nach
2, 4 und 5 Injectionen Erscheinungen von
Schwindel und Kopfweh mit leichter Uebel-
keit auf, die nach Aussetzen der Einläufe
verschwanden und bei erneutem Versuch
wiederkehrten. Irgend welche Geschwüre
oder grössere Schleimhautdefecte, die die
Resorption besonders begünstigt hätten,
lagen sicher nicht vor, und da jeweils fast
die ganze Spülflüssigkeit wieder ent¬
leert wurde, so kann die aufgenommene
Borsäuremenge keine beträchtliche ge¬
wesen sein. Da sämmtliche Patienten
schon früher mit anderen Spülungen be¬
handelt worden waren, so kann von einer
Reflexwirkung wohl nicht die Rede sein,
sondern die Erscheinungen sind sicher nur
der für diese Individuen offenbar besonders
activen Borsäure zuzuschreiben.
Statistischer Beitrag zur Wirksamkeit des Heilserums bei Diphtherie.
Von Dr. Gustav Bundt-Belgard a. Persante.
Im Folgenden berichte ich über 505 Fälle
von Diphtherie, von denen 33 Fälle vor
October 1894 ohne Serum, 472 Fälle mit
Serum behandelt worden sind.
Seit Einführung der Serumtherapie habe
ich es mir zur Regel gemacht, jeden Diph¬
theriefall, der in meine Behandlung kommt,
sofort zu spritzen, und zwar leichtere Fälle,
in den ersten 24 Stunden nach deutlich
gewordener Erkrankung mit SerumI (600 Ein¬
heiten), schwerere und ältere Fälle, alle mit
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übelriechendem Belag, jeden beginnenden
Croup mit Serum II oder häufiger mit zwei¬
mal Serum I (1000—1200 Einheiten), da ich
gewöhnlich nur mehrere Dosen Serum I
bei mir führe. Weiterhin habe ich dann
nach Bedarf, wenn die allgemeinen Krank¬
heitserscheinungen nicht schwanden, die
Membranen sich nicht lösten, croupöse Er¬
scheinungen einsetzten, wiederholt Serum I
nachgegeben. Die höchste Zahl der von
mir in einem Falle verabreichten Serumein-
18
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
138
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mfirz
heiten war 3400, bei einem Kinde, das an
schwerer Rachendiphtherie mit grau-grünem
stinkendem, septischem Belag litt. Es ist
sehr langsam nach schwerer Lähmung der
Beine, Arme, der Rachen- und Augenmus¬
kulatur, die bis zum vollkommenen Ab¬
klingen über 8 Monate gebrauchte, voll¬
kommen genesen. Bemerken möchte ich,
dass ich sehr viele prophylaktische Ein¬
spritzungen gemacht habe mit Serum 0
oder Theilen von Serum I, durchschnittlich
mit 200—300 Einheiten. In den letzten
Jahren bin ich soweit gegangen, auf den
Dörfern sämmtliche Kinder einer Familie,
in der ein Diphtheriefall vorkam, zu immu-
nisiren, und meist habe ich die Freude ge¬
habt, die Immunisirten von der Diphtherie
verschont bleiben Zusehen. Unter 150 im¬
munisirten Kindern sind nur neun später er¬
krankt; gestorben ist nur ein einziges von
ihnen. Ohne dass ich wieder hinzu gezogen
würde, soll es ganz acut, der Schilderung
nach unter dem Bilde schwerster, septischer
Infection zwei Tage nach der prophy¬
laktischen Einspritzung zu Grunde gegangen
sein. Die Eltern sagten mir mit einem
gewissen Vorwurf, da es gespritzt worden
sei, so hätten sie garnicht mehr an Diph¬
therie und die Möglichkeit des Todes
durch diese Erkrankung gedacht und des¬
halb auch nicht mehr den Arzt geholt.
Die Immunisiruug wurde in diesem Falle
zu einer Gefahr dadurch, dass sie die Leute
in Sicherheit wiegte und ihre Aufmerksam¬
keit einschläferte.
Aber dennoch gedenke ich auch in
Zukunft prophylaktisch das Serum zu ge¬
brauchen, denn jeder von uns weiss ja nur
zu genau, dass wir auch sonst gemeinhin
nicht gar zu früh zu diphtheriekranken
Kindern gerufen werden, so dass die Be¬
handlung mit Serum bisweilen doch zu
spät kommt und die Kinder trotz derselben
der Erkrankung erliegen. Verhüten ist auch
hier leichter als Heilen. Auf etwa drei
Wochen ist der Immunisirungsschutz ein
ziemlich absoluter. Innerhalb dieser Zeit
sah ich ausser jenem oben angeführten
Fall nur zwei Kinder erkranken, der Belag
war klein, die Allgemeinerscheinungen
waren geringfügig, die ganze Erkrankung
leicht und schnell vorübergehend. Ich er¬
kläre mir diese Fälle so, dass die Kinder
sich zur Zeit der Einspritzung schon im
Incubationsstadium der Diphtherie befunden
haben, dass jenes verstorbene eben schon
den Keim zu schwerer, septischer Er¬
krankung in sich trug, auf welche die Im-
munisirungsdosis sowohl wegen ihrer Klein¬
heit, als auch wegen der Schwere und Art
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der Mischin fection ohne Einfluss war.
Durch diesen dreiwöchentlichen Schutz
wäre freilich noch mehr, vielleicht alles
gewonnen, wenn eine geeignete Isolirung
und Desinfection des Kranken, der Kranken¬
räume und der inficirten Gegenstände all¬
gemein und allerorts durchzuführen wäre,
und zwar bei ärmeren Kranken eine unent¬
geltliche Desinfection auf Kreis- oder
städtische Kosten, so dass den Kindern nach
dem Erlöschen der leider so kurz bemessenen
Immunität nicht noch fortgesetzt reichliche
Gelegenheit zur Ansteckung gegeben wäre.
Eine vollkommene Sicherheit ist aller¬
dings wohl erst dann gegeben, wenn neben
der Desinfection eine weitere Beobachtung
der genesenen Kinder über Wochen hin¬
aus statthat. Lange in Kopenhagen hat
ja gezeigt, dass die Diphtheriekeime sich
noch lange nach der Lösung des Belages
im Munde, den Hals- und Rachenorganen
und der Nase diphteriegenesener Kinder
im infectionstüchtigen Zustande auffinden
lassen. Die Kinder bieten somit während
dieser ganzen Zeit eine Infectionsquelle
für Geschwister und Mitschüler, so dass
Lange fordert, sie so lange zu isoliren,
bis die bakteriologische Untersuchung ihre
Diphtherieorgane frei von virulenten Ba¬
cillen gezeigt hat.
Das werden allerdings immer ideale,
nicht im Allgemeinen, sondern nur in
einzelnen Fällen durchzuführende An¬
forderungen bleiben.
Ich meine aber, es lässt sich schon viel er¬
reichen, wenn man grundsätzlich und wo¬
möglich durch Gesetz die Zeit der Fernhal¬
tung eines an Diphtherie erkrankten Kindes
aus der Schule auf 6 Wochen verlängert
Im Uebrigen hat sich meine Behandlung
der Diphterie auf Gurgelungen bei grösseren
Kindern, Borsäurespray bei kleineren,
Reinlichkeit und kräftige Ernährung be¬
schränkt, hie und da habe ich ein China-
dekokt, wenn nöthig Expectorantien ge¬
geben, habe kalte Umschläge um den Hals
machen lassen und bei Croup regelmässig
Ganzpackungen.
Tracheotomirt habe ich elf Mal, von den
tracheotomirten Kindern sind 6 genesen,
5 gestorben an fortschreitendem Croup, an
nachfolgender Pneumonie, an secundärer
Herzschwäche. Die geringe Anzahl von
Luftröhrenschnitten bei der grossen Zahl
croupöser Erkrankungen ist durch die Un¬
gunst der Verhältnisse zu erklären, unter
denen meine meisten Diphtheriekranken
behandelt wurden. Es handelte sich in
mindestens 90 Procent um Kinder der
armen und ärmsten Klassen, bei denen auf
Original frn-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1903.
139
eine geeignete Pflege nach der Operation
nicht zu rechnen war.
Folgende Tabelle zeigt das Resultat
meiner Behandlung:
Ohne Serum behandelte Fälle.
Zeit, Ort and
Zahl der
Erkrankungen
Coniplicationen
I
Zahl
and Todesursachen
der Gestorbenen
1893
meist Belgard
1 Parese,
2 Croup
2 Croup
1894
Coesternitz
und Belgard
26
1
1 Parese, 1 Para¬
plegie, 9 Croup
|
5 Croup,
3 Tracheot.
g 4 Herz-
v schwäche in¬
folge sept.
Erkrankung
33 Fälle
j 11 Todesfälle
Mit Serum behandelte Fälle.
Zeit, Ort und
Zahl der
Erkrankungen
Coniplicationen
Zahl
und Todesursachen
der Gestorbenen
1894 X—XII 1 )
Coesternitz
und Belgard
12
1 Paraplegie,
4 Croup, |
1 Tracheotomie!
—
1895
2 Sepsis,
1 Sepsis mit
Butzke. Staffln
5 Croup,
Blutung
Stadt 37
2 Tracheotomie
* 3
1 Herz¬
schwäche
1 Pneumonie
1896 IX u. X
1 Paraplegie, j
\
Croup, tub.
Belgard,
7 Cioup, '
5
Meningitis als
Staffin, Lüll-
fitz 43
1897 VI-XII
2 Tracheotomie
16 Croup, 2 Para¬
j
*
Nachkrank¬
heit
Dt 54 Fälle
Belgard
Summa 125
plegie, 3 Urti¬
caria, 2 Tracheo¬
tomie
1 7 Croup, Sepsis
1898 I-IX
11 Croup, Sep¬
sis, Herz- |
1
5 Croup,
Stadt Satspe
U
3 Herz¬
136
schwäche !
1
schwäche
1899
Paraplegie, Sep-,
1 o
3 Herz¬
Grüssow 42
sis, 4 Croup 1/
schwäche
1900
4 Croup, !
Herz¬
Camissow 38
3 Herz- i
schwäche |
I 5
schwäche,
Croup
1901
1 Croup, 1 \
Herz¬
Belgard 24
1 Herz¬
schwäche
r
schwäche
1902 n u. m
Hasendam
Raffenberg 18
1 Croup
—
472 Fälle
32 Todesfälle
Also vor der Behandlung mit Serum
33 Diphtheriefälle mit 11 Toten, das ergiebt
eine Mortalität von 33o/ 0 . Ein Procentsatz
derungefährdem auch anderorts gefundenen
*) Die römischen Ziffern bedeuten die Haupt-
Monate der Erkrankungen.
Digitized by Google
entspricht. Die Berichte aus den Kranken¬
häusern vor der Serumzeit berichteten oft
von 40—50% Mortalität in einzelnen Epi¬
demien, doch ist hierbei, wie oben aus¬
einandergesetzt, in Betracht zu ziehen, dass
jenen meist die schwersten Fälle zugeführt
werden, an deren Gesundung Eltern und
Arzt zu Hause verzweifeln und daher die
Ueberführung in das Krankenhaus bewerk¬
stelligen, hoffend dass dort durch bessere
Pflege und der sachverständigsten Behand¬
lung das daheim für sonst unmöglich Ge¬
haltene gelingen werde.
Während der Behandlung mit Serum sind
mir von 472 Fällen 32 gestorben, die Morta¬
lität berechnet sich also nur auf noch nicht
ganz 7 %. Auffallend ist in dieser Gegen¬
überstellung auf den ersten Blick das so¬
fortige Nachlassen der Sterbeziffer im
Jahre 1894, sobald die Serumbehandlung
einsetzte. Zwar war die schwere Epidemie
in dem Dorfe Coesternitz, wo ich 13 Fälle
mit 5 Todesfällen behandelte, vorüber, aber
ihr parallel lief bis zum Ende des Jahres
eine kleine aber gleich schwere in der
Stadt Belgard. Hier zählte ich unter
13 behandelten Kindern 4 Tote vor der
specifischen Behandlung, und hatte vom
October ab, unter den übrigen 12 mit Serum
behandelten Fällen, keinen einzigen Todes¬
fall mehr zu beklagen. Am meisten be¬
weisend für des Serums Wirksamkeit ist der
Umstand, dass es sich um die Fortsetzung
einer bestehenden Epidemie handelte. Die
Fälle am Schlüsse des Jahres 1894 waren
ebenso geartet, ebenso schwer wie am
Anfang und dennoch verliefen sie unter
dem Einflüsse des Serums so ganz anders,
so sehr viel günstiger als vorher.
1901 und 1902 habe ich in Belgard,
Hasendam und Ernsthöhe 45 Kinder an
Diphtherie behandelt und gespritzt, davon
starb nur ein einziges, während in Hasen-
dam und Ernsthöhe in derselben Epidemie
4 Kinder an Diphtherie starben, bei deren
Erkrankung man keinen Arzt hinzugezogen
hatte, die also auch nicht des Serums theil-
haftig geworden sind. Deutlicher kann die
Sprache der Statistik kaum reden. Neben
17 Erkrankten in Hasendamm und Ernst¬
höhe habe ich 22 Kinder prophylaktisch
gespritzt. Von diesen ist kein einziges
nachher erkrankt.
Die so überaus günstige Wendung im
Herbst 1894 machte mich, obwohl ich mir
selbst entgegenhielt, dass bei so kleinen
Zahlen auch einmal der Zufall eine Rolle
spielen könnte, sofort zum Freund und
Verehrer des Heilserums und liess mich
hinfort von der Serumbehandlung nicht
18 *
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
140
Die Therapie der Gegenwart 1903.
März
mehr abgehen, obwohl ich später das
Serum auch hier und da versagen sah.
Es ist kein Allheilmittel, und wenn die
Diphtherie einmal die Muskeln und Nerven
des Herzens unheilbar geschädigt hat oder
croupöse Membranen die Luftwege derart
verstopfen, dass die Kraft der kleinen
Patienten nicht mehr ausreicht, sich der
Erdrosselung zu erwehren, dann kann auch
das Serum nichts mehr ausrichten. Mag
es auch jetzt noch die Toxine unschädlich
machen, verloren gegangene oder unheilbar
geschädigte Organsubstanzen kann es nicht
ersetzen, und leider sind ja bei der
Diphtherie die vornehmlich geschädigten
Organe so lebenswichtige, dass eine
regenerirende Thätigkeit der Körperzellen,
auch wenn das Serum durch Bindung der
Toxine die Bahn frei macht, oft zu spät
kommt.
So habe ich denn trotz des Serums
32 Kinder an Diphtherie sterben sehen an
Sepsis, Herzlähmung, Bronchopneumonie
und am Croup.
Von Nebenwirkungen des Serums habe
ich hier und da erythemähnliche und urti¬
cariaartige Röthung um die Injectionsstelle
herum bemerkt, bisweilen mit tagelang
dauernden geringen Schmerzen und Jucken,
aber ohne jeden weiteren Nachtheil, nie¬
mals mit Abscedirung. Hydropathische
Umschläge oder Verband mit Burow’scher
Lösung beseitigten die kleinen Leiden bald.
Dreimal sah ich eine über den ganzen
Körper ausgebreitete Urticaria 24—48 Stun¬
den dauernd mit quälendem Juckreiz. Die
Trägerinnen waren drei Schwestern, sodass
eine Familiendisposition zur Quaddel¬
bildung nicht unwahrscheinlich ist, zumal
dieselben nicht zu gleicher Zeit und nicht
mit derselben Serumnummer behandelt
wurden, also Injectionsflüssigkeit und In-
jectionsinstrumente nicht bei allen gleich¬
artig anzuschuldigen waren. Eine dieser
Patientinnen zeigte zugleich die schwerste
Complication, die ich bei Serum überhaupt
beobachtet habe, einen enorm heftigen
Gelenkschmerz an beiden Knieen, so heftig,
dass die Erschütterung des Fussbodens
durch leisen Schritt sie zu lautem Schreien
erregte. Unter Gebrauch von salicyl-
saurem Natrium war diese Affection schon
am nächsten Tage wesentlich gebessert,
am dritten Tage völlig beseitigt. Das sind
die ganzen Nebenerscheinungen die das
Serum mir gemacht hat, wenige und so
leichte, dass sie gegenüber dem unendlichen
Vortheil, die Sterblichkeit von etwa 30%
auf kaum 7 % herabgesetzt zu haben, gar
nicht in Betracht kommen.
Ueber Ichthalbin.
Von Dr. Julian MarctlSC-Mannheim.
Die Ueberwindung der Anorexie ist
eine der wesentlichsten Aufgaben der Er¬
nährungstherapie, und man sucht diese zu
erfüllen durch eine wohl charakterisirte
Diät und weiterhin durch tonisirende,
stärkende Stoffe. Die letzteren, den reinen
Nahrungs- wie den Arzneistoffen entnommen,
sind an Zahl Legion und kommen und
gehen je nach dem Stand der diätetisch¬
therapeutischen Bestrebungen der Zeit, und
häufig genug sehen wir aus dem Schutt
vergangener Perioden alte erprobte Mittel
in neuer glücklicher Combination, oft auch
in neuem Gewände, wieder hervortauchen.
Bei der grossen Gruppe der Diätetica
und Tonica spielt weniger die individuali-
sirende Behandlungsmethode wie der In¬
dividualismus des behandelnden Arztes
eine Rolle, und die Vorliebe für das eine
oder andere bestimmt hier oft die Direc-
tiven. Unbenommen dabei bleibt es, dass
in den Fällen, wo wir zu appetitanregen¬
den Mitteln zu greifen gezwungen sind,
in dem Princip selbst der Wechsel die
treibende Kraft ist; denn bald kehrt sich
die scheinbar überwundene Indiosynkrasie
auch gegen das neue Bemühen und ver¬
langt anders aussehende und anders ge¬
artete Reizmittel.
Die Gegenwart bemüht sich, dieselben
aus den Nahrungsstoffen zusammenzu¬
stellen. und in der Synthese der Kranken¬
diät liegt heute der Schwerpunkt des
Kampfes gegen die Anorexie. Allein völlig
zu entbehren sind die medicamentösen
Tonica und Hebemittel der Ernährung
nicht und wir werden sie, wenn sie nur
dem wesentlichsten Grundsatz des nihil
nocere entsprechen, in vielen Fällen mit
gutem Gewissen und gutem Erfolge an¬
wenden können.
Eins von diesen, die trotz glänzender
Erfüllung dieser letzteren Vorbedingung
auch den Wechsel der Zeiten zu kosten
bekommen haben, ist das Ichthalbin, das
ich auf der Grundlage einer Reihe von
Beobachtungen der Vergessenheit etwas
entreissen möchte. Das Ichthalbin, die
Eiweissverbindung des Ichthyols, wurde zu
Anfang des Jahres 1897 von der Chemischen
Fabrik Knoll & Co. in Ludwigshafen a.
Rhein in den Arzneischatz eingeführt und
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März
Die Therapie der Gegenwart 1903.
verdankt seine Entstehung einem Ge¬
dankengange von Sack und Vieth, die
nach dem Vorbild der Tannalbindarstellung
ein Ichthyolpräparat zu gewinnen suchten,
das aller unangenehmen Eigenschaften bar
den Magen unverändert passirt und erst
im Darm freies Ichthyol abgiebt. Dass die
Wirkungen des Ichthalbins imGanzen denen
des Ichthyols gleich sein müssten, erschien
a priori selbstverständlich. Es frug sich
nur einmal, ob die Ausschaltung der Ma¬
genresorption den therapeutischen Effekt
des Mittels zu erhöhen vermag, und zwei¬
tens, ob der infolge der langsamen Ichthyol¬
abspaltung innerhalb des Darms continuir-
lich vor sich gehende Zufluss von sozu¬
sagen „nascirendem" Ichthyol zur Darm¬
schleimhaut und ihren Resorptionsorganen
eine Steigerung seiner lokalen Darmwir¬
kungen, bestehend in Anregung der Pe¬
ristaltik und Desinfection der Darmwand,
bewirken bezw. auch die mit dem Stoff¬
wechsel zusammenhängenden Darmwir¬
kungen des Ichthyols ausserhalb des Darm-
tractus zu verstärken vermag. Theoretisch
waren diese beiden Fragen von Anfang an
mit „Ja* zu beantworten, praktisch fanden
sie ihre Entscheidung durch die Ergebnisse
der therapeutischen Versuche. Dieselben
bewegten sich nach zwei Richtungen hin:
Anknüpfend an die von Zuelzer s. Zt.
unternommenen Stoffwechselversuche mit
Ichthyol und seine Schlussfolgerungen, dass
dieses Mittel „in eminentem Maasse ge¬
eignet ist, die Bildung albuminhaltiger
Körperbestandtheile zu begünstigen und
deren Verfall einzuschränken*, führten
Rolly und Saarn 1 ) ihrerseits mit dem
Ichthalbin exacte Stoffwechselversuche aus
und fanden, dass dasselbe einen ausge¬
sprochen günstigen Einfluss auf die Er¬
nährung ausübt. Die Ausnützung des ein¬
geführten Eiweisses war während der
Ichthalbin-Periode eine so hohe, dass man
dasselbe als Eiweisssparmittel xaf i&>xh v
betrachten kann. Ihre weiteren Versuche
erstreckten sich auf die Prüfung der ört¬
lichen Einwirkung dieser Ichthyolverbin¬
dung auf die Darmschleimhäute. Auch hier
zeigte sich die Brauchbarkeit des Ichthalbin,
indem die Abnahme der Darmfäulniss eben¬
so prompt erreicht wurde wie durch grosse
Mengen Calomel, so dass mithin dasselbe als
ein vorzügliches Darmantisepticum anzu¬
sehen ist. Die Vereinigung beider Wir¬
kungen des Ichthalbins, die Aufhebung der
Darmfäulniss sowie die günstige Beein¬
flussung von Appetit und Ernährung, er-
*) Münchener Med. Wochenschrift 1900, No. 14
and 17.
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14
klären die übereinstimmend guten Resul¬
tate, die von den verschiedensten Beob¬
achtern, ich nenne nur Homburg er, Neu¬
mann, Vierordt etc., erzielt wurden.
Der Kreis der Indicationen ist gegeben
durch diese seine Eigenschaften. Bei den
chronischen Katarrhen des Darmes sui
generis, dann weiterhin bei den mit Darm¬
störungen einhergehenden Dermatosen re-
flectorischen und trophischen Charakters
wird das Desinficiens Ichthalbin, bei allen
chronischen consumirenden Krankheiten,
wie Tuberkulose,'Skrophulose, chronischen
Pneumonien etc. das Tonicum und Eiweiss¬
sparmittel Ichthalbin am Platze sein. Auch
hierüber ist die Zahl der gesammelten Er¬
fahrungen keine geringe: Auf der Neu-
mann’schen Poliklinik für Kinderkrank¬
heiten in Berlin, in der Vierordt’schen
Poliklinik in Heidelberg und an zahlreichen
anderen Orten sind die günstigsten Resul¬
tate nach diesen beiden Richtungen hin
erzielt worden. Absolute Unschädlichkeit,
willige Aufnahme, Zunahme des Appetits
und des Körpergewichts und eine prompte
und durchaus befriedigende Beeinflussung
der chronischen Darmkatarrhe sind die
gleichlautend berichteten Ergebnisse.
Eine Ergänzung dieser systematischen
Versuchsanordnungen bilden eine Reihe
persönlicher Beobachtungen aus jüngster
Zeit. Sie betreffen einmal Phthisiker und
skrophulöse, anämische Kinder und zweitens
einige Fälle von chronischer Enteritis. In
allen Fällen (8) von Tuberkulose trat bei
völligem Darniederliegen des Appetits nach
verhältnissmässig wenigen Dosen (im
Durchschnitt zwischen 3 und 8 Tagen bei
dreimal täglicher Darreichung einer Messer¬
spitze) eine auffallende Hebung desselben
ein, die Nahrungsaufnahme wurde reich¬
licher, Allgemeinbefinden und Körper¬
gewicht besserten sich in wesentlichem
Maasse (Gewichtssteigerungen von durch¬
schnittlich 1 Vj bis 2 kg innerhalb 4 Wochen).
Dasselbe gilt von 4 Fallen von infantiler
Skrophulose bei stark heruntergekommenen
Kindern in ärmlichen Verhältnissen, bei
denen Leberthran infolge unüberwindlicher
Idiosynkrasie nicht gereicht werden konnte.
Der Ichthalbinersatz zeitigte durchaus gute
Resultate: Aussehen und Allgemeinzustand
besserten sich sichtlich, das Körpergewicht
nahm in 3 Fällen innerhalb 4 Wochen um
950-1000 g, in 1 Fall um 1500 g zu. Der •
gesteigerte Stoffansatz ist allerdings in
allen diesen Fällen wohl mehr auf das
Conto der vermehrten Nahrungsaufnahme
wie auf das einer direkt eiweisssparenden
Wirkung des Ichthalbins zu setzen, aber
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
142
März
Die Therapie der Gegenwart 1903.
diese vermehrte Nahrungsaufnahme war
eben die einfache Folge der Hebung des
Appetits und die Ursache des letzteren die
Ordination von Ichthalbin. Was die beob¬
achteten Fälle von chronischer Enteritis
anbetrifft, so ist deren Zahl zu gering, um
ins Feld geführt zu werden, wenngleich
auch hier sich völlige Uebereinstimmung
mit den günstigen Resultaten der Vor¬
untersucher ergeben hat.
Die rein dermatologische Anwendung
des Ichthalbins habe ich aus meinen Betrach¬
tungen, die nur die allgemeine Wirkungs¬
weise dieses Medicamentes betreffen sollten,
ausgeschieden.
Jedenfalls ist das Ichthalbin Kn oll ein
seiner physiologischen Eigenschaften wie
seiner therapeutischen Wirkungen halber
durchaus beachtenswerthes Präparat, das
in der Stufenleiter der unschädlichen
Darmantiseptica wie der appetitanregenden
tonischen Mittel an vorderster Stelle zu
stehen verdient.
Die zu ordinirende Dosis beträgt bei
Erwachsenen: 0,5 bis 1,0 g dreimal täglich,
am besten direkt vor dem Essen, bei Säug¬
lingen: 0,1 bis 0,3 g in Schleimsuppe.
Bei Kindern ist es oft zweckmässig, das
Ichthalbin mit Chocolade gemischt zu
geben. Man lässt zu diesem Zwecke ein
achtel Pfund Tafelchocolade auf dem Reib¬
eisen zerreiben und etwa 15 g Ichthalbin
gleichmässig daruntermengen. Von diesem
Gemisch giebt man den Kindern 3 mal
täglich einen abgestrichenen Theelöffel voll,
sodass die Gesammtmenge in 8—10 Tagen
aufgezehrt wird. Die Kinder verlangen
dann von selbst nach dieser Chokolade.
Der Billigkeit wegen verordnet man am
besten Ichthalbin 10,0—20,0 als Schachtel¬
pulver. Der Preis beträgt nach der preussi-
schen Arzneitaxe 10 g M. 1,20.
Beiträge zur Wirkung der Moorbäder und Moorumschläge bei Exsudat-
Resten nach Perityphlitis.
Von Geh. San.-Rath Dr. F. Straschnow- Franzensbad.
So allgemein bekannt und gewürdigt
die heilsame Wirkung der Franzensbader
Moorbäder und Moorumschläge behufs
Resorption von Exsudaten nach Entzün¬
dungen des weiblichen Genitales, beson¬
ders nach Pelveo-Peritonitis ist, so wenig
versucht ward bisher die Wirksamkeit
dieser Heilmittel bei Exsudat-Residuen
nach Perityphlitis, resp. Appendicitis.
Es sind mir im Verlaufe meiner lang¬
jährigen ärztlichen Thätigkeit in Franzens¬
bad im Ganzen nur fünfzehn Fälle von
Rekonvalescenten nach Blinddarmentzün¬
dung zum Curgebrauche zugewiesen wor¬
den. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich,
dass Jeder der in Franzensbad thätigen
Aerzte über einige derartige Fälle berichten
könnte. Das Symptomenbild war, da es sich
bereits um eine längere Zeit (5—6 Monate
bis 1 Jahr) nach stattgehabter Erkran¬
kung handelte, mehr weniger dasselbe:
Druckempfindlichkeit und Spannung in der
Ileocoecal-Gegend, Flatulenz, Stypsis und
Schmerz bei forcirten Bewegungen. Bei
manueller Untersuchung fühlte ich in allen
Fällen einen theils derben, theils zarteren,
aber immer noch empfindlichen Strang in
der Gegend des Blinddarmes, resp. des
, Appendix. Bei zwei Frauen konnte ich
denselben bei vaginaler Untersuchung bis
an die rechte Kante des Uterus adhärent
verfolgen.
Da es sich nur um chronische Fälle
handelte und da keine entzündlichen Er-
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scheinungen vorhanden waren, demnach
die Sepsis erregenden Spaltpilze ihre
Lebensfähigkeit verloren hatten, so war
gegen den Gebrauch der Trink- und Bade-
cur, resp. gegen die Anwendung der
Moorbäder- und Umschläge kein Bedenken
mehr vorhanden; und ich stimme der An¬
sicht Kleinwächter’s vollkommen bei,
wenn er in seiner Arbeit: „Wichtige gy¬
näkologische Heilfactoren" diese Heil¬
mittel als wahrhaft specifisch bei perito-
noealen Exsudaten und deren Residuen an¬
sieht.
Von den betreffenden Kranken waren
drei weiblichen und zwölf männlichen Ge¬
schlechts, unter den Letzteren zwei Knaben
von 12 und 14 Jahren.
Bei einer jungen, sterilen Frau war
Senkung des Exsudates bis in die Crural-
Gegend erfolgt und musste der Eiter durch
eine tiefere Incision entleert werden.
Bei einem fünfunddreissigjährigen Manne
war der Durchbruch des Eiters durch die
Blase erfolgt (Februar) und war noch bei der
Aufnahme des Patienten im Juni Eiterab¬
gang mit dem Urine vorhanden.
Bei einem fünfundvierzigjähren Manne
hatte sich der Eiter durch den Mastdarm
entleert. Wie leicht, selbst nach vor langer
Zeit überstandener Entzündung, ein Reci-
div eintreten kann, zeigte sich bei einem
im Juni 1897 aufgenommenen Kranken,
welcher im Jahre 1890 eine Appendicitis
überstanden hatte und im Mai 1897 rad-
Ürigiraal from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
März
143
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Der warme Moorbrei wirkt nicht nur
kataplasmirend, sondern auch gleichzeitig
mild massirend. Eine örtliche Massage¬
behandlung halte ich, trotz aller abge¬
laufenen Entzündungserscheinungen, für
gegenangezeigt.
In den meisten Fällen war der Erfolg
ein guter. Die Darmthätigkeit war ge¬
regelt, das Aussehen besserte sich, die
Empfindlichkeit in der Ileocoecalgegend
war geschwunden und von den verdickten
Strängen war in den meisten Fällen nichts
zu fühlen. Nur in wenigen Fällen musste die
Cur im nächsten Jahre wiederholt werden.
Ich hatte Gelegenheit, manchen meiner
Kranken nach Jahren wiederzusehen und
hatte die angenehme Genugthuung, die¬
selben vollkommen wohl und beschwerde¬
frei zu finden. Es liegt mir fern, die
Franzensbader Moorbäder als einziges heil¬
sames Mittel gegen Blindarmexsudate an¬
zuzeigen, denn überall, wo Moorbade-
curen vorgenommen werden, können der-
28° R. von 20 bis 25 Minuten langer Dauer artige Erfolge constatirt werden. Ich wollte
verordnet. Gewöhnlich wurden zwei Bäder nur die Anregung zu Veröffentlichungen
genommen und am dritten Tage pausirt. derselben geben.
Aus dem Röntgenlaboratorium der Allgemeinen physikalischen Curanstalt und Fangocuranstalt.
Gleichzeitige Gewinnung mehrerer Actinogramme.
Vorläufige Mittheilung.
Von Dr. med. Schuppenhauer- Berlin.
Eine wesentliche Vereinfachung der all¬
gemein üblichen Röntgentechnik stellt das
schon früher von V. Mangold (Dresden)
und Anderen empfohlene, jüngst wieder von
Kronecker 1 ) (Berlin) beschriebene Ver¬
fahren dar, die Röntgenaufnahmen mit Um¬
gehung der Trockenplatten und des lang- | Aufnahme herstellen zu können,
weiligen Copierprocesses direct auf Brom- Die theoretische Erwägung, dass das in
Silberpapier zu machen. Inzwischen hat der lichtempfindlichen Schicht des Papiers
Kronecker seine Resultate in der fein vertheilte Bromsilber der Kraft der
Sitzung der Berliner medicinischen Gesell- Röntgenstrahlen wahrscheinlich keinen we-
schaft vom 11. Februar d. J. demonstrirt sentlichen Abbruch thun würde, wurde
und dabei als Nachtheil dieser Methode an- durch den Versuch bestätigt, und damit
gegeben, dass dieselbe nur ein Bild liefert, war das Problem gelöst.
Es müsste daher bei Bedarf mehrerer Bilder Für die Herstellung der in der Praxis
eine entsprechende Anzahl von Aufnahmen erforderlichen Bilderzahl (meist 2 bis 4) hat
gemacht werden. sich mir folgende Methode als die be-
Da nun meistentheils mehrere Bilder quemste erwiesen:
erwünscht sind, wäre dieses bequeme Ver- Bei rubinrothem Licht werden mehrere
fahren bei schmerzhaften Erkrankungen und Blatt Bromsilberpapier zwischen zwei Ver-
Verletzungen, bei Aengstlichkeit und leichter stärkungsschirmen in der Weise in eine
Erregbarkeit des Patienten nicht anwendbar. Cassette gelegt, dass die Schichtseiten dem
In den übrigen Fällen wäre aber für den Deckel — bei der Aufnahme also dem
Haushalt des Laboratoriums die Schädi- Object — zugewandt sind. Nun folgt die
gung der Röhre infolge der mehrmaligen Aufnahme, sodann bei rubinrothem Licht,
und langen Benutzung, die sich wegen der Einweichen in Wasser (ca. 2 Minuten lang),
! ) Die Therapie der Gegenwart 1903, No. 1 . Entwickeln mit Rodinal 1 :30 Wasser mit
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geringeren Empfindlichkeit des Bromsilber¬
papiers als nöthig erweist, in Betracht zu
ziehen. — Diese Nachtheile der sonst guten
Methode liessen in mir den Wunsch rege
werden, unter Verwendung von Bromsilber¬
papier mehrere Bilder mit einer einzigen
fahren lernte. Schon nach wenigen Tagen
stellten sich Schmerzen in der Ileocoecal¬
gegend ein, nur durch strengste Ruhe und
Antiphlogose kam es nicht zu einer neuer¬
lichen Entzündung.
Die ärztliche Behandlung war in allen
Fällen mehr weniger dieselbe. Um die
Darmthätigkeit anzuregen und die be¬
stehende Constipation zu beheben, wurde
die Trinkcur mit dem Gebrauche der Salz¬
quelle eingeleitet, gleichzeitig aber wurden
Stahlbäder verordnet, um durch die in
denselben so reichlich enthaltene Kohlen¬
säure einen Reiz auf die Hautnerven aus¬
zuüben und eine Beschleunigung des Stoff¬
wechsels herbeizufahren. Bei anämischen
Kranken wurde neben der Salzquelle auch
Franzensquelle verordnet. Am Abend
wurde ein nicht zu schwerer, etwa 28 bis
30° R. warmer Moorumschlag auf den Un¬
terleib für eine halbe bis ®/4 Stunden ge¬
legt. Nach fünf bis 6 Stahlbädern wurden
ausschliesslich mittelstarke Moorbäder von
Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
144
Die Therapie der Gegenwart 1903.
März
einigen Tropfen Bromkalilösung 1:10,
kurzes Abspülen, Fixiren, gründliches
Wässern, Trocknen, Lackiren, Aufziehen.
Somit ist die Herstellung mehrerer
Bilder, die sämmtlich scharfe Conturen
zeigen und sich unter einander vollkommen
gleichen, bei möglichster Schonung des
Patienten, ohne besondere Schädigung der
Röhre, in bequemer Weise, bei relativ
geringen Unkosten, in kurzer Zeit möglich.
Zur Heilbarkeit
Vor kurzem hat Sanitätsrath Dr. Meissen,
der dirigirende Arzt der Lungenheilstätte
Hohenhonnef, einen Bericht über 208
seit 3—11 Jahren geheilt gebliebene Fälle
von Lungentuberkulose veröffentlicht (Zeit¬
schrift fürTuberkulose und Heilstättenwesen
Bd. IV Heft 2). Die in Hohenhonnef erziel¬
ten Erfolge dürften denjenigen entsprechen,
welche auch sonst durch sorgfältige Behand¬
lung (Ruhe und Pflege in guter Luft) zu
erzielen sind. Von 1731 Patienten wurden
278 oder 16% als geheilt, 621 oder 36%
als annähernd geheilt, 412 oder 23,8% als
gebessert entlassen.
Von den 278 geheilten sind 248 unter
weiterer Controle geblieben. 40 hatten
sich wieder verschlechtert, vielfach oder
meist durch die Ungunst der Umstände,
den Zwang, mehr und anstrengender arbei¬
ten zu müssen als zweckmässig war, ge¬
legentlich auch durch Leichtsinn oder
Unvorsichtigkeit. Die Lunge war wieder
kränker geworden, neue Curen waren
gemacht worden, aber mit mangelndem
oder unvollständigem Erfolge, wie ja meist
bei Lungenkranken der Rückfall schlimmer
ist als der Anfall. Doch waren nur 9 ge¬
storben, zum Theil aus Gründen, die mit
dem Lungenleiden nicht zusammenhingen.
Ueber die übrigen 208 berichtet eine
genaue tabellarische Uebersicht, welche
die Art der Erkrankung, den Curverlauf
und die spätere Lebensgeschichte enthält,
und welche für jeden Phthisiotherapeuten,
also für jeden Arzt, von ausserordentlichem
Interesse ist. Besonders bemerkenswerth er¬
scheinen aber die Schlusssätze Meissen's,
die unsern Lesern zwar kaum etwas Neues
bringen, die ich aber doch wörtlich ab-
drucken möchte zu Nutz und Frommen
derer, die immer wieder in kritikloser
Weise den Heilerfolg neuer Methoden und
Medicamente gegen Tuberkulose rühmen.
„Meine Statistik sollte zeigen, dass in
Hohenhonnef nicht nur eine grosse An¬
zahl Patienten als geheilt entlassen werden,
sondern dass von diesen der bei weitem
grösste Theil durch die Jahre hindurch
bei vernünftiger Lebenshaltung gesund
bleibt, und sich im Berufe wieder bethätigen
der Tuberkulose.
kann. Sie ist zugleich ein Beweis für die
Leistungsfähigkeit der hygienisch - diäte¬
tischen Methode, der diese Erfolge sicher
in allererster Linie zu danken sind. Wir
brauchen von der Heilbarkeit der Tuber¬
kulose nicht pessimistisch zu denken, die
von allen chronischen Krankheitszuständen
unserer Behandlung noch am ehesten zu¬
gänglich ist, sobald wir ihr geeignete Fälle
anvertrauen, d. h. die frischen, noch nicht
zu weit vorgeschrittenen Fälle. Wir sollen
umgekehrt auch nicht optimistisch denken:
Auch schwere, vorgeschrittene Fälle er¬
reichen gelegentlich einen überraschenden
Heilerfolg — aber leider sind das Aus¬
nahmen, die nur die Regel bestätigen, dass
ein wirklicher und dauernder Heilerfolg
nur dann regelmässig erreicht wird, wenn
es sich um Fälle des ersten und zweiten
Stadiums handelt. Sicherlich aber ist eine
Statistik wie die vorliegende geeignet, die
Betrachtungen über die Heilbarkeit der
Tuberkulose freundlicher und tröstlicher zu
gestalten. Unter den Fällen sind ziemlich
alle Berufsstände vertreten: Kaufleute, Tech¬
niker, Beamte, Officiere, Aerzte, die alle
in ihrem Berufe thätig und gesund blieben;
Frauen, die ihrem Haushalte wieder vor¬
standen, Mädchen, die heiratheten und Kin¬
der bekamen. Wie gesund sich manche
dieser geheilten Patienten fühlten, geht
daraus hervor, dass eine Anzahl sich um
Aufnahme in eine Lebensversicherung be¬
warben !
Die Leistungen der hygienisch-diäte¬
tischen Methode haben ihre Grenzen; es
ist begreiflich, dass die Hoffnung auf die
Wirkung specifisch wirkender Arzneistoffe
trotz der vielen Enttäuschungen immer
wieder lebendig wird. Ueber diesen
Wünschen aber sollen wir nicht vergessen,
dass die genannte Methode ihre Erfolge
und auch die Dauer dieser Erfolge sicher
erwiesen hat, dass diese Erfolge regel¬
mässig eintreten, sobald man nicht die un¬
mögliche Heilung schwerer und schwerster
Fälle von ihr verlangt, sondern ihr die
gleichen Formen der Krankheit anvertraut,
die auch für die vermeintlichen Specifica
beansprucht werden."
Difitized b
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. G. Klempercr in Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Orstetreu h-Ungarn:
Fugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von IJ r b a n & S c li w a r z e n b e rg
** in Wien und Berlin.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
'V Google
Die Therapie der Gegenwart
1903
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
April
Nachdruck verboten.
Ueber die diagnostische Bedeutung und Behandlung
functioneller Myopathien.
Von O. Rosenbach- Berlin.
Es ist eine auffallende, aber erklär- |
liehe Thatsache, dass unter der Herrschaft !
der pathologisch - anatomischen Doctrin,
die als exacte Diagnose nur den Nachweis
intensiver Organveränderungen gelten
Hess und ihren schärfsten Ausdruck in
dem Versuche einer Localisation seeli¬
scher Functionen fand, die functioneilen
Erkrankungen so wichtiger Organe, wie
der Muskeln, von der wissenschaftlichen
Diagnostik ausserordentlich stiefmütterlich
behandelt wurden. Je mehr man beim
Studium mit der Nomenclatur und Topo¬
graphie der Muskeln geplagt worden war,
desto auffallender musste dem jungen
Arzte die geringe Bedeutung der Muskeln !
in der Pathologie erscheinen. Denn nur |
die zu Atrophie und Lähmungen führen¬
den Veränderungen wurden der Beach¬
tung und zwar als Annex der Neurologie
gewürdigt. Aber von der Functionslehre
der Muskeln, der Anatomie vivante Du- |
chenne’s kam zur Kenntniss des angehen¬
den Arztes ebensowenig, wie von den J
zahlreichen leichteren myogenen Functions¬
störungen. Nur der Hexenschuss war
unter dem wissenschaftlichen Namen Lum¬
bago ein mehr oder weniger dankbares
Object der Therapie, galt aber, trotz des
lateinischen Namens ebensowenig wie der
Muskelrheumatismus als ein der klinischen
Vorstellung würdiges Object. Jedenfalls
also hielt man es für exacter oder wissen¬
schaftlicher bei schmerzhaften Affectionen
im Muskelnervengebiete lieber die Diagnose
auf reine Nervenerkrankung, Neuralgie
oder sogar Neuritis zu stellen, und ich
erinnere mich noch lebhaft meines Erstau¬
nens über die Häufigkeit von reinen Mus¬
kelerkrankungen, als ich theils durch die
Bedürfnisse der Praxis, theils durch meine
Arbeiten über Reflexe veranlasst, mich
zuerst eingehend dem Studium der phy¬
siologischen Vorgänge im Muskelapparate
und seinen functionellen Störungen zu¬
wandte. Es gelang mir unschwer nachzu-
weisen, dass oft auch der reinen Myalgie
resp. der sogenannten rheumatischen Mus-
kelaffection die als charakteristisch für
Neuralgien angesehenen Symptome, näm-
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lieh Druckschmerzpunkte — neben diffuser
Schmerzhaftigkeit — und typische Periodi-
cität resp. Intermittenz der Erscheinungen
zukommt. Namentlich war ich erstaunt,
als ich von dem so gewonnenen Gesichts¬
punkte aus Fälle von angeblicher Ischias
resp. Neuritis ischiadica prüfte und nur
selten Gelegenheit hatte, reine Typen der
Nervenerkrankung zu finden, da sich theils
die klassischen Symptome doch nicht deut¬
lich fanden, theils wenn sie vorhanden
waren, sich leicht anders deuten Hessen,
und überaus oft Störungen vorhanden
waren, die sich überhaupt nur auf die
Muskeln selbst beziehen Hessen. Der beste
Beweis für die myogene Natur konnte in
solchen Fällen dadurch erbracht werden,
dass durch eingehende Untersuchung der
primär afficirte Muskel oder eine Gruppe
von solchen festgestellt und durch geeig¬
nete locale Therapie, selbst in sogenannten
veralteten Fällen, auffallend schnell Heilung
oder Besserung herbeigeführt werden
konnte, während elektrische oder ablei¬
tende Behandlung längs des gesammten
Nervenstammes erfolglos blieb. Vor allem
wichtig war die Feststellung — wir kom¬
men darauf später zurück —, dass in vielen
Fällen die typischen ausgebreiteten Stö¬
rungen an der Beugeseite des Schenkels
und sogar die Affection des anderen
Beines (also doppelseitige Ischias) nur
Folge der primären localen Muskelaffec-
tion sind, d. h. dass wegen der Schmerz¬
empfindung resp. Functionsstörung in einem
kleinen Muskelgebiete, das allerdings der
Durchtrittsstelle des N. ischiadicus ent¬
spricht, andere Muskeln, namentlich die
Wadenmuskeln, abnorm belastet werden
und allmählich in gleicher Weise er¬
kranken.
So wuchs aus praktischen und theore¬
tischen Gründen mein Interesse an diesen
Vorgängen, und ich kam im Verlaufe der
Zeit immer mehr dahin, den Antheil der
Muskeldecke an dem Symptomencomplexe
der Erkrankung innerer Organe festzu¬
stellen, d. h. nachzuweisen, dass dem in
seinem Spannungsverhältnisse so ausser¬
ordentlich labilen Muskelapparate eine
19
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
146
Die Therapie der Gegenwart 1903.
April
grosse Bedeutung für schmerzhafte
Empfindungen und abnorme moto¬
rische Erscheinungen im Gebiete
der inneren Organe zukommt, dass er
also in vielen Fällen der ausschliessliche
oder hauptsächliche Sitz des Leidens ist,
wo fälschlich eine tiefer liegende organische
Affection angenommen wird. Hierbei kann
es sich sowohl um directe Veränderungen
des Parenchyms, oder um reflectorische
Beeinflussung in seinem Tonus oder um
circulatorische von der Nachbarschaft aus¬
gehende Störungen handeln. Dies gilt
namentlich für die Muskulatur des Unter¬
leibes; doch auch für den Thorax und für
die motorischen Apparate des Pharynx
und Oesophagus kommen solche myogenen
Affectionen in Betracht (s. u.). Wie viele
Fälle von anscheinender Angina und Dys¬
phagie habe ich gesehen, wo nur Myalgie
der Hals- und Brustmuskeln die Ursache
der Störungen war.
Es scheint mir deshalb nicht unwichtig,
diesem — nicht bloss diagnostisch, d. h.
der Namengebung, sondern praktisch der
causalen oder symptomatischen Therapie
wegen — wichtigen Thema eine erneute
Erörterung zu widmen. Gerade das Gebiet
der Muskelerkrankungen hatte immer —
und hat gerade heute — eine besondere
Bedeutung, weil Pseudoheilkundige oder,
richtiger, ungeprüfte Heilkünstler hier die
besondere Domäne finden, in der sie allein
durch energische und darum oft besonders
wirksame mechanische Manipulationen (so¬
genanntes Ziehen der Glieder, Strecken.
Dehnen der „Magen- oder der Mutter¬
bänder“) oder durch combinirte Anwen¬
dung von Massage, Wärme und Pflastern
Erfolge erzielen, die dem ärztlichen The¬
rapeuten entgehen müssen, weil er, im
Streben nach exacter Organdiagnose zu
lange mit energischen localen Eingriffen
zögert, oder, wenn er seiner Diagnose
sicher zu sein glaubt, gerade in falscher
Richtung (unter Annahme einer Cardial-
gie, Stenocardie, Neuritis etc.) wirkt, d. h.
den eigentlichen Locus affectus, die Mus¬
kulatur, vernachlässigt. Wird aber die
Muskelaffection längere Zeit gar nicht oder
unzweckmässig behandelt — auch die so¬
genannten specifischen Nervenmittel wie
Phenacetin, Antipyrin wirken nur in einer
kleinen Zahl von namentlich frischen Fällen
causal —, so bilden sich im Anschluss an
die Functionsstörung relativ schnell auch
psychische Unlustgefühle und Hemmungen
aus. Es entstehen, in Folge der durch die
abnormen inneren Vorgänge bedingten
beträchtlichen Spannungsveränderungen in
!
den Muskeln, schmerzhafte Empfindungen
während der Ruhe, und schliesslich werden
relativ schnell auch andere Gebiete durch
Reflex oder stärkere Beanspruchung sym¬
ptomatisch afficirt, so dass es dann höchst
energischer therapeutischer Manipulationen
und psychischer Einwirkung bedarf, um die
primär physisch bedingten, aber durch
psychische Einwirkung unterhaltenen Stö¬
rungen im inneren Gleichgewicht des Mus¬
kels zu beseitigen, d. h. den normalen
Muskeltonus wieder herzustellen resp. die
perverse Innervation 1 ) auf sensiblem und
motorischem Gebiete aufzuheben.
Der von des Gedankens Blässe nicht an¬
gekränkelte Laienempiriker geht natürlich von
vornherein rücksichtslos vor. Er hat eigen-
thümliehe Vorstellungen von dem Wesen der
Krankheitsvorgänge in inneren Organen, denn
er kennt eben nur wenige Möglichkeiten resp
Formen der Störung, weiss aber durch die Er¬
fahrung oder Tradition, dass energische Ein¬
griffe bei subacuten und chronischen Leiden
vieler Art (durch Umstimmung oder Ableitung,
physisch oder psychisch) wirksam sind. Mit
anderen Worten: Ihm kommt in einer überaus
grossen Zahl von Fällen, wo die psychischen
Unlustgefühle, die Hyperästhesie, die Willens¬
schwäche, eine grosse Rolle spielen, seine Ein¬
seitigkeit zu Statten, namentlich dort, wo es
sich wesentlich um Störungen handelt, die
allein oder relativ am besten einer energischen
mechanischen Beeinflussung zugänglich sind.
So curirt er nach seiner Schablone und als Fa¬
natiker energisch darauf los. selbst auf die Ge¬
fahr hin zu schaden: denn leider ist sein Ri¬
siko nicht gross, weil ja der beim ungeprüften
Heilkundigen Hülfe suchende Kranke stets von
der Verschlimmerung seines Zustandes unter
ärztlicher Leitung überzeugt ist und wohl die
Besserung, aber nicht die Verschlechterung
seines Leidens dem Wunderdoctor zuzu¬
schreiben geneigt ist.
Es sei gestattet, hier noch eine Be¬
merkung über die antithermisch resp. anti-
neuralgisch wirkenden Mittel (Antipyrinetc.)
anzuschliessen:
Meiner Ansicht nach sind diese Mittel
in erster Linie Muskelmittel und erst
secundär Nervenmittel, da sie hauptsäch¬
lich die mit starker Muskelaffection ver¬
bundenen Neuralgien und vor allem die
myalgische Form der Migräne beeinflussen.
Auch der antithermische Effect ist wohl
besonders von ihrem Einflüsse auf die
Muskulatur abzuleiten. Sie beeinflussen
nämlich die abnorm hohe Erregbarkeit in
den Muskeln resp. setzen sie herab und
liefern Producte, die theils den Excess der
Wärmeproduction in der Muskulatur hem¬
men, theils den Antagonismus zwischen
1 ) O. Rosenbach, Nervöse Zustände und ihre
psychische Behandlung. Berlin 1897.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
147
April Die Therapie der
Haut und Muskeln im Sinne der Norm
regeln und somit der Wärmestauung im
Muskel in Folge ungenügenden Wärme¬
verbrauchs in der Haut entgegenwirken.
Heisse Haut ist bekanntlich nicht iden¬
tisch mit gesteigerter Wärmeproduction im
Hautorgan selbst, sondern kann nur der
Ausdruck besonderer Wärmeabgabe durch
die Haut, das heisst gesteigerter Durch¬
lässigkeit für strahlende Wärme, sein. Die
Function der Haut bei fieberhafter Er¬
schlaffung der Hautgefässe ist eine ganz
andere, als die tonisch gesteigerte Thätig-
keit des activ hyperämischen Hautorgans,
die sich namentlich durch Schweissabgabe
bei starker Muskelaction, z. B. in der Krise
kundgiebt. Hier besteht eben active Hy¬
perämie, dort passive (durch hyperther¬
mische Gefässerschlaffung). Hier ist die
Haut compensatorisch thätig zur Unter¬
stützung der Muskelleistung resp. zur Be¬
seitigung der abnormen chemischen Arbeit;
dort arbeitet sie nur palliativ am Ausgleich
der abnormen Wärmeverhältnisse im Mus¬
kel, d. h. sie führt Wärme ab. wie man
Oedeme durch Punction vermindert.
Die eigentlichen geweblichen Grund¬
lagen der Myalgie oder richtiger das
Wesen der inneren Betriebsstörungen, die
zu einer Erschwerung der Functionen
resp. Schmerzhaftigkeit in den Muskeln,
Sehnen oder Fascien führen, sind uns zwar
leider ebensowenig bekannt wie die Vor¬
gänge im Nerven, durch die Hyperästhe-
sieen, Hyperalgieen und Neuralgieen her¬
vorgerufen werden; aber wir kennen durch
Erlahrung die hauptsächlichen auslösenden
Momente und vermögen durch sorgfältige
kritische Anamnese in den meisten Fällen
die Ursache festzustellen. Wir wissen,
dass je nach der individuellen Disposition
1. zu starke Abkühlung, namentlich bei
schwitzender Haut, 1 ) 2, übermässige An-
l ) Fs scheint mir nicht unangebra« lit heute, da
man oft die ätiologische Bedeutung der Erkältung
leugnet und beständige Zufuhr frischer Luft auch in
der Nacht für ein besonderes Heilmittel hält, darauf
hinzuweisen, dass empfindliche und stark transpi-
rirende Personen häufig zum erstenmale über Muskcl-
beschwcrden gerade am frühen Morgen nach dem
Aulstehen klagen.
Abgesehen von den Fällen, die von einer durch
festen Schlaf bedingten mehrstündigen Zwangslage
herröhren, ist die Abkühlung unserer Meinung nach
die häufigste Ursache der Myopathieen, die am Mor¬
gen auftreten. Namentlich Personen, die angeben,
da^s sie in den ersten Stunden im Bett nicht
warm werden können, pflegen am nächsten
Morgen Steifheit und Schmerzen in den
Beinen und dem Rücken oder auch an den
Armen zu empfinden, deren Eintritt, wie ich mich
oft überzeugt habe, durch die Erwärmung des Schlaf¬
zimmers oder des Bettes verhindert werden kann.
Gegenwart 1903.
strengung, namentlich plötzliche und lang¬
dauernde Spannung, in seltenen Fällen
Trauma, solche Zustände hervorruft,
dass sie aber 3. auch durch Circulations-
störungen aller Art hervorgerufen wer¬
den und 4. unter dem Einflüsse ge¬
wisser Krankheiten, namentlich der Stoff¬
wechselkrankheiten resp. constitutioneller
Zustände (Diabetes, Nephritis, Menstruation,
Climacterium, nervöse Disposition) auf¬
treten.
Im Anschluss an diese Ausführungen
wollen wir kurz auf einige besonders wich¬
tige Formen von Myalgieen resp. functio-
nellenMyopathieen aufmerksam machen, die
theils wegen der herrschenden Neigung
„Organ“diagnosen (d. h. Diagnosen auf Er¬
krankung innerer Organe) zu stellen, theils
aus Unkenntniss der von Myopathieen ver¬
ursachten Beschwerden, leider nur zu häufig
mit ganz heterogenen Affectionen ver¬
wechselt werden, wodurch nicht nur die
Kranken beunruhigt, sondern die sonst
unschwer zu erzielende Heilung erschwert,
jedenfalls aufgehalten wird. Da wir dem
auf Myopathieen zurückzuführenden Symp-
tomencomplexe bereits mehrfach ausführ¬
liche Erörterungen gewidmet haben, so
verweisen wir betreffs der Einzelheiten auf
die unten citirten Arbeiten.
Myalgieen kommen z. B. auffallend
häufig bei gewissen Störungen im Ver¬
dauungsapparate vor, die sich nicht
genau präcisiren lassen, aber gewöhnlich
mit Anomalien des Stuhlganges und oft
mit deutlichen Veränderungen im Venen¬
system in charakteristischer Weise ver¬
gesellschaftet sind. Es handelt sich hier
mit einem Worte um das Gebiet der „hä-
morrhoidalenErkrankungen < ‘ 1 ), und so
I sehr man auch in früherer Zeit die Be¬
deutung der Hämorrhoiden übertrieben hat,
so wenig lässt sich leugnen, dass sie, ab¬
gesehen von den functioneilen Störungen
im Gebiete der Unterleibsorgane causal,
sekundär oder accidentell oft mit starken
Muskelbeschwerden, namentlich in den
grossen Rücken-, Becken- und Beinmuskeln
verbunden sind, und dass nach einer Blu¬
tung oder bei Regulirung des Stuhlganges
die Beschwerden geringer werden. Die
Erfahrung lehrt ja auch, dass zahlreiche
Fälle von sogenannter Ischias, nament¬
lich linksseitiger, mit Störungen im Darme
Zusammenhängen resp. durch ihre oder,
um nichts zu präjudiciren, mit ihrer Be¬
seitigung behoben werden. Ja, wir möchten
') O. Rosenbach, Beiträge zur Path. u. Ther.
j der Verdauungsorganc S. 24 u 30 ft',, sowie Arch.
! f. Verdamin-skrankh. Bd. I.
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19*
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
148
April
Die Therapie der
auf Grund unserer Beobachtungen glau¬
ben, dass Anomalien im Gebiete des Coe-
cum resp. Colon ascendens, vorzugsweise
mit rechtsseitiger und solche im Gebiete
des Colon descendens mit linksseitiger
Ischias, richtiger mit Muskelschmerzen oder
Störungen in den Extremitäten oder im
Rücken der betreffenden Seite auffallend
häufig verbunden sind.
Auch bei der Migräne 1 ), deren Aetio-
logie und Pathologie noch in ziemliches
Dunkel gehüllt ist, und bei der sicher
mehrere Formen mit verschiedener Aetiolo-
gie zu unterscheiden sind, kommen nicht
selten Fälle vor, wo die Erscheinungen
wesentlich von der AfFection bestimmter
Muskelgebiete des Kopfes und des Halses
abhängen und dadurch gewisse, für die
Diagnose und Behandlung des Falls we¬
sentliche Differenzen gegenüber dem Bilde
der auf nervöser Basis beruhenden Hemi-
cranie zeigen. Während diese Erkrankungs¬
formen, namentlich in den Fällen, in denen
eine lokale Nasen- oder Zahnaffection die
Ursache der Erscheinungen ist, deutliche
Schmerzpunkte, namentlich einen Tempo¬
ral-, einen Supraorbital- und einen Nasal¬
punkt (an der Verbindungsstelle des
knöchernen und knorpligen Teiles der
Nase etwas lateralwärts vom Nasenrücken),
aufweisen und stets mit Symptomen von
Seiten des Auges (leichter Conjunctivalin-
jection, Thränenträufeln, Lichtscheu, nicht
selten Pupillenerweiterung) vergesellschaftet
sind, finden wir bei der myogenen Migräne
ganz andere charakteristische Symptome.
Statt der Schmerzpunkte zeigen sich
schmerzhafte Regionen; Hals und Nacken
sind meist mitbetheiligt, die Symptome an
den Augen treten in den Hintergrund;
dagegen steht im Vordergründe das eigen¬
tümliche schmerzhafte rhythmische Klopfen
und Pulsiren, dessen Pathogenese sich
leicht erklärt, wenn man berücksichtigt,
dass theils die mechanische Erschütterung
durch die, sich bei jeder Herzsystole er¬
weiternden, grossen Gefässstämme, na¬
mentlich die Carotis, theils die systolische
Füllung der in die Muskeln selbst ein¬
tretenden Arterienäste eine rhythmische
Zerrung und Pressung der enorm schmerz¬
empfindlichen Muskelmasse bewirkt, die bei
beschleunigter und verstärkter Herztätig¬
keit, wie z. B. beim Erheben aus der hori¬
zontalen Lage, bei stärkeren Bewegungen
l ) O. Rosenbach, Ueber die auf myopathischer
Basis beruhende Form der Migräne und über myo-
pathische Cardialgie, Deutsche med. Wochenschr,
1886, No. 12 u. 13. — Nervöse Zustände und ihre
psychische Behandlung, Berlin 1897, S. 5 ff.
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Gegenwart 1903.
etc., einen hohen Grad von Schmerz¬
empfindung hervorzurufen wohl geeignet
ist, namentlich dann, wenn der untere Theil
des Sternocleidomastoideus und die Sca-
leni afficirt sind. Auf gleiche Weise er¬
klärt sich auch der am Schädel selbst loca-
lisirte Kopfschmerz, für den das Substrat
der Musculus frontalis ist. Da gewöhnlich
auch die die Kopfschwarte bewegenden
Muskeln stark betheiligt sind, so ist jede
Bewegung des Kopfes, jede Verschiebung
der Galea, das Stirnrunzeln, das Schliessen
und Oeffnen der Augen schmerzhaft. Die
mit der myopathischen Migräne gewöhnlich
verbundene Hauthyperästhesie unterschei¬
det sich von der auch andere Formen der
Migräne begleitenden meist dadurch, dass
sie nicht auf bestimmte Nervenäste localisirt
ist, sondern nur das die afficirten Muskeln
deckende Integument betrifft, dass die
Schmerzen nicht neuralgischer Natur, d. h.
paroxysmenweise auftretend, sondern dau¬
ernd sind, dass ihre Intensität weit hinter
die der Schmerzen der Muskelsubstanz
selbst zurücktritt, während ja bei der re-
flectirten Migräne die Muskeln wohl immer
auf Druck unempfindlich sind. Während
Uebelkeit geringeren Grades in einer be¬
trächtlichen Zahl unserer Fälle zu konsta-
tiren war, haben wir Erbrechen, welches
bei anderen Formen der Migräne so häufig
ist, nur einigeMale beobachtet. Bezüglich der
Pathogenese dieser Form der Hemicranie,
waltet wohl keine Schwierigkeit ob, da ja
bekanntlich nach Erkältungen und gewissen
körperlichen Anstrengungen bei dazu dispo-
nirten Individuen eigenthümliche Muskel¬
schmerzen auftreten, die, auf rein functio-
neller Basis beruhend, als rheumatische
bezeichnet oder (wenn das mechanische
Moment in den Vordergrund tritt) unter
dem Sammelnamen der Muskeldehnung
und Muskelzerrung rubricirt zu werden
pflegen. In unseren Fällen spielte die Er¬
kältung bei schwitzendem Körper übrigens
seltener eine Rolle, als die directe mecha¬
nische Schädigung des Muskels.
Gewöhnlich tritt diese Form der Migräne
früh morgens beim Erwachen nach einem
festen, aber unruhigen Schlafe auf, nach¬
dem am Abend vorher irgend welche
grösseren körperlichen oder geistigen An¬
strengungen, die mit einer Verkürzung
der Nachtruhe verbunden zu sein pflegen,
stattgefunden haben. Gerade unter solchen
Verhältnissen pflegt der Schlaf recht fest
zu sein, und die Schlafenden behalten
mehrere Stunden eine manchmal recht ge¬
zwungene und widernatürliche Körper¬
haltung bei. Diese Zwangslage scheint
Original fro-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegenwart 1903.
als mechanisches Moment hier, wie über¬
haupt bei einem grossen Theile der Myal-
gieen, die man des Morgens beim Erwachen
empfindet, eine grosse Rolle zu spielen.
Was die Erblichkeit anbetrifft, so wird,
wie dieses wohl selbstverständlich ist, nicht
die Disposition zur Migräne als solcher ver¬
erbt, sondern eine gewisse Disposition der
gesammten Körpermuskulatur, nach leichten
Schädlichkeiten in einer mehr oder we¬
niger schmerzhaften Weise afficirt zu wer¬
den. Wir haben seit einer Reihe von
Jahren eine grosse Anzahl von Beobach¬
tungen gemacht, die den Satz zu stützen
geeignet waren, dass die Disposition zu
Muskelerkrankungen functioneller (und
vielleicht auch organischer) Natur auf
einer familiären Heredität beruht,
und wir glauben ebenso zu dem Aus¬
spruche berechtigt zu sein, dass diese
Schwäche der Muskulatur nicht bloss die
Kopf und Halsmuskeln betrifft, also leicht
die Symptome der Hemicranie hervorruft,
sondern dass sie sich auf die Gesammt-
muskulatur bezieht. Eine genauere Beob¬
achtung der in unsere Kategorie gehören¬
den Migränekranken wird häufig zeigen,
dass auch andere, fälschlich nervös ge¬
nannte, Beschwerden, wie Cardialgieen,
Kreuzschmerzen, rheumatoide Schmerzen
in den Beinen und Armen vorhanden sind,
Beschwerden, die sich bei genauer Unter¬
suchung als Folge von reinen Myopathieen
entpuppen und einer verhältnissmässig
leichten Heilung fähig sind.
Der Umstand, dass Frauen gerade zur
Zeit der Menstruation so häufig ihre Mi¬
gräne haben, lässt sich in unseren Fällen
aus der angenommenen Pathogenese eben¬
falls befriedigend erklären, wenn wir be¬
rücksichtigen, wie stark der Gesammtorga-
nismus mancher besonders disponirten
Frauen während der Menstruationsperiode
in Mitleidenschaft gezogen wird, und wie
sämmtliche Muskelgebiete des Körpers,
namentlich die Rücken- und Oberschenkel¬
muskeln, während dieser Zeit afficirt er¬
scheinen. Die Migräne steht nur im Vor¬
dergründe der Erscheinungen, weil der
Kopfschmerz eben eminent heftig ist, und
weil die Ruhelage, zu der die Patientin
verurtheilt ist, die anderen Störungen we¬
niger oder gar nicht hervortreten lässt.
Dass diese Prävalenz der Kopfschmerzen
das Symptomenbild sehr verdunkelt, lässt
sich auch bei Männern demonstriren;
denn gewöhnlich werden dadurch, dass
man die Patienten zu stärkeren Körper¬
bewegungen veranlasst, auch die bis dahin
latenten Myalgien in den anderen Provinzen
des Körpers manifest. Dass die körper¬
liche Ruhe die Migräne symptomatisch
günstig beeinflusst, ist leicht zu erklären,
wenn wir erwägen, wie schmerzhaft jede
Bewegung der erkrankten Theile ist. Wäh¬
rend die meisten anderen Formen von
Kopfschmerzen durch die Bewegung in
frischer Luft, durch leichte Beschäftigung
etc. eher gemildert werden, muss natur-
gemäss die myalgische Migräne durch alle
Versuche, mässige Bewegungen mit dem
affici r ten Theile auszuführen, verstärkt wer¬
den, ein Verhalten, das zwar augenblick¬
lich das Leiden günstiger beeinflusst, die
Heilung aber entschieden verzögert. Line
wesentliche Stütze für die Annahme einer
Myalgie als Basis der Hemicranie liefert
denn auch die Art der Therapie, die in
allen zu der genannten Kategorie gehören¬
den Fällen sehr zufriedenstellende Resultate
giebt, da sie, in geeigneter Weise ange-
wendet, meist sehr prompt die Beschwer¬
den der Kranken vermindert und wesent¬
lich verringert, (s. u.)
Dass auch bei der Neurasthenie in
vielen Fällen die „reizbare Muskel¬
schwäche“ das Hauptsymptom ist, dass
also die Neurose nicht selten als Myose
(nicht zu verwechseln mitMiosis = Pupillen¬
verengerung) betrachtet werden müsste, ist
mir nach vielen Erfahrungen gar nicht
zweifelhaft. Der Muskel ist ja eine Haupt¬
quelle der Energie und der Energiespannun¬
gen im Körper, und für die bewusste
Willensthätigkeit kommt die Muskelenergie
fast allein in Betracht. Jedenfalls steht die
energetische Muskel- und Nervenfunction
resp. die der Haut und der Muskeln in
engster Beziehung, und es wäre deshalb
lichtiger, statt der beschränkenden Be¬
zeichnung Neurasthenie, die der Myoneur-
asthenie zu bevorzugen. Die eingehende
Betrachtung lehrt, dass der Muskel wegen
seiner Beziehungen zur Haut ihre Erreg¬
barkeit und dadurch die Stärke der centri-
petalen besonders sensiblen Ströme, durch
die der Tonus des Nervensystems regulirt
wird, in hohem Maasse beeinflusst. 1 ) So
ist es erklärlich, dass bei Neurasthenischen,
die ja häufig besonders kräftige Muskulatur
besitzen, oft ein Circulus vitiosus besteht,
indem die fehlerhafte Function der Muskeln
zur Schwächung des Nerventonus beiträgt.
Sehr häufig wird feiner Pleuritis (ja
sogar ein tuberkulöser Lungenkatarrh)
O. Rosenbach, Der Nervenkrcislnuf und die
tonische (oxygenc) Energie, Berl. Klinik 1896, H. 101.
— Zur Lehre von der spinalen (muskulotonischcn)
Insufficienz (Tabes dorsalis), Deutsche mcd. Wochen¬
schrift, 1899, No 10-12.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
150
Die Therapie der
durch schmerzhafte Affection der Thorax¬
muskulatur vorgetäuscht 1 ), zumal wenn die¬
selben mit gewissen akustischen Phäno¬
menen vergesellschaftet sind, die dann für
pleurale (bzw. pulmonale) Geräusche ge¬
halten werden, während es sich in Wirk¬
lichkeit lediglich um Geräusche handelt,
welche bei der respiratorischen Contraction
gewisser Muskeln entstehen. Im allgemeinen
schützt ja vor einer Verwechslung mit
pleuritischem Reiben in den Fällen, in denen
das Knarren als zufälliger Befund consta-
tirt wird, die diagnostisch besonders wich¬
tige Eigenschaft der Muskelgeräusche, dass
sie am Thorax fast stets symmetrisch auf-
treten, und dass sie während der ganzen
Beobachtungsdauer eine auffallende Con-
stanz zeigen, während das pleuritische
Frömissement bekanntlich seinen Charakter
häufig ändert. Wichtig ist ferner, dass die
Untersuchten in den gewöhnlichen Fällen
eben gar keine Erscheinungen von Pleu¬
ritis. wie Schmerz, Veränderung des Ath-
mungstypus, Dämpfung, Fieber zeigen, dass,
mit einem Worte, die Stärke des Reibe¬
geräusches in frappantem Gegensätze zu
der Abwesenheit aller Symptome und dem
Wohlbefinden der Betreffenden steht.
Schwierig kann aber die Unterscheidung
werden, wenn in Folge von besonderen
Complicationen respective von krankhaften
Vorgängen Symptome, wie sie auch bei
Pleuritis Vorkommen, vorhanden sind. Sie
können in Verbindung mit dem deutlichen
Reiben die Diagnose einer doppelseitigen
Erkrankung der Pleura anscheinend ganz
sicher machen. So steht es bei gewissen
Formen von Myalgie der Brustmuskeln,
die als Folge von ungewohnten resp. über¬
mässigen Anstrengungen der oberen Ex¬
tremitäten oder nach anderen schädlichen
Einflüssen (Erkältung) aufzutreten pflegen;
denn da hier bekanntlich die Athmung oft
ausserordentlich erschwert ist — die von
der Myalgie befallenen Individuen wagen
in Folge der durch die Athembewegung
hervorgerufenen Schmerzen kaum zu respi-
riren — so deutet alles auf eine Erkrankung
der Pleura, zumal wenn in Folge der rheu¬
matischen Affection noch Fieber besteht.
Namentlich schwierig wird die Diagnose
dadurch, dass bei starker einseitiger rheu¬
matischer Affection der Muskeln bekannt¬
lich auch noch andere Symptome bestehen,
l ) O. Rosenbach, Ueber einige seltener auf¬
tretende palpatorische und auskultatorische Phäno¬
mene, Berl. klin. Wochenschr. 1876, No. 22. —
Ueber pseudopulmonale und pseudopleurale Ge¬
räusche (Muskelknarren und Muskelknacken), Wien,
klin. Rundsch., 1899, No. 26.
Gegenwart 1903. April
die anscheinend nur auf eine Erkrankung
der Pleura bezogen werden können. Die
erkrankte Seite bleibt nämlich in ihren Ex-
cursionen bei der Respiration deutlich
hinter der anderen zurück; das Atherm
geräusch erscheint wegen mangelnder Aus¬
dehnung der Lunge sehr abgeschwächt,
und selbst der Percussionsschali ist auf der
leidenden Seite oft deutlich gedämpft,
wenn der erkrankte Muskel krampfhaft
contrahirt ist und so schalldämpfend wirkt.
Constatirt man nun, wie erwähnt, in solchen
Fällen noch auf der anderen Seite das
oben beschriebene Pseudoreibegeräusch,
so scheint eben die Diagnose der Pleuritis
duplex (exsudativa und sicca) gesichert.
Hier kann man die Diagnose oft nur
ex juvantibus stellen. Wenn man nämlich
starke Wärme einige Stunden hindurch
applicirt, so bessern sich gewöhnlich die
Erscheinungen des sogenannten Muskel¬
rheumatismus wesentlich und die der
sogenannten Muskeldehnung (nach Ueber-
anstrengung) immer, und damit ändern
sich die Symptome wie mit einem
Schlage. Das Athmungsgeräusch tritt wie¬
der auf, da die Athmungsexcursionen pro¬
portional der Abnahme der Schmerzen zu¬
nehmen, die Dämpfung verschwindet, und
das charakteristische Pseudoreibegeräusch
stellt sich (auf der des Exsudats verdäch¬
tigen Seite) ein und besteht, ohne dass
Schmerzen geäussert werden, fort.
Oft tritt bei einseitiger Myalgie dieser
Scenenwechsel noch schneller und präg¬
nanter ein, wenn man durch einen mög¬
lichst starken Inductionsstrom bei fest auf
den erkrankten Theil aufgedrückten Elek¬
troden, die Thoraxmuskeln zu energischen
Contractionen bringt. Dann zeigt sich nach
wenigen Minuten eine wesentliche Er¬
leichterung, ja häufig verschwinden alle
geschilderten Erscheinungen, während bei
der Pleuritis selbstverständlich keine Aen-
derung der Syptome, eher eine verstäikte
Schmerzhaftigkeit erzielt wird. Man scheue
sich nicht, die Procedur in energischer
Weise vorzunehmen, nachdem man den
Kranken auf die mässige Schmerzhaftigkeit
derselben aufmerksam gemacht hat. So¬
bald er nach der ersten Contraction den
sichtbaren Erfolg bemerkt, wird er sich
auch mit der, wie gesagt, nicht ganz an¬
genehmen Maassnahme schnell befreunden.
Der Eftect ist so zufriedenstellend und vor
allen Dingen so schnell, dass mit ihr die
anderen in solchen Fällen in Anwendung
gezogenen Methoden, Blutentziehung, De-
rivantien etc., in ihrer Wirkung gar nicht
verglichen werden können, abgesehen da-
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
51
von, dass diese einfachste Form der
Massage nicht nur den Vortheil hat, ein
diagnotisches, sondern (wegen der schnellen
Heilwirkung) zugleich auch ein vorzüg¬
liches therapeutisches Mittel zu sein.
Ein recht interessantes Kapitel der
Muskelei krankungen functioneller Natur
bilden auch die Myalgieen der oberen Theile
der Bauchmuskeln und der unteren
Rückenmuskeln; interessant nicht nur |
deshalb, weil sie eine typische Cardial-
gie 1 ) oder andere Form der Magen¬
erkrankung vorzutäuschen geeignet sind,
sondern vor allem weil sie einer bei Ma¬
genleiden sonst nicht üblichen Therapie
mit meist sehr günstigem Erfolge unter¬
zogen werden können. Nur wenige Kapitel
der Pathologie sind besser geeignet, den
alten Satz: qui bene distinguit, bene mede-
bitur, zu illustriren, und deshalb mag es
gestattet sein, das Wesen dieser, der Dia¬
gnose manchmal nicht unbeträchtliche
Schwierigkeiten bereitenden Fälle in Kürze
zu schildern.
Die Affection betrifft zum weitaus
grössten Theile Frauen und Mädchen, vor¬
zugsweise diejenigen, welche sich, ihrer
Thätigkeit folgend, körperlichen Anstren¬
gungen unterziehen müssen oder gewisse
mit einer Zwangshaltung des Körpers ver¬
bundene Beschäftigung treiben, wie Zeich¬
nen, Klavierspielen etc. Bei den meisten
von uns behandelten Patientinnen bestan¬
den nicht unbeträchtlicheGrade von Anämie
resp. Chlorose und die mit dieser Affection
gewöhnlich verbundenen nervösen Be- '
schwerden. Derartige Kranke zeigen einen
regelmässigen Turnus ihrer Anfälle, die
sich dann bei genauer Anamnese stets auf
eine bestimmte grössere Körperanstrengung
(Tanzen, langesMusicieren, Wäschewaschen
oder Plätten, grosses Aufräumen etc.) zu- j
rückführen lassen; bei einer Reihe von j
Kranken ist der Anfall mit der Menstrua- I
tionsperiode verbunden, oder er wird durch j
leichtere Schädlichkeiten in dieser Zeit
hervorgerufen. Ein Durchschnittsalter der
Patienten ist nicht sicher zu fixiren, da
alle Altersklassen ihr Contingent stellen;
die jüngeren Individuen wiegen allerdings
in unseren Beobachtungen vor, insofern
wohl, als ihnen körperliche Anstrengungen
in höherem Grade zugemuthet werden,
und auch wohl deshalb, weil bei ihnen
stärkere Grade von Chlorose häufiger Vor¬
kommen. Männer mit Cardialgieen auf
') O. Rosenbach, Deutsche med. Wochenschr.
1886, No. 12 fF. und Die Entstehung und hygienische !
Behandlung der Bleichsucht, Leipzig 1893.
myalgischer Basis kommen, wie schon er-
j wähnt, seltener zur Beobachtung; auch
j sind hier die Erscheinungen meist leichter
und stets mit Sicherheit auf vorangegan¬
gene starke körperliche Anstrengung (He¬
ben schwerer Gegenstände, Turnen etc.)
zurückzuführen. Manchmal scheint länger
dauernde gebückte Stellung, wobei das
Abdomen zusammengepresst wird, wie dies
z. B. beim Schreiben oder Zeichnen an zu
niedrigem Tische der Fall ist, manchmal
wohl allein der mechanische Druck des
Arbeitstisches gegen das Epigastrium an
dem Auftreten der Beschwerden die Haupt-
! schuld zu tragen.
Der wesentlichsteCharakterzugdesKrank-
heitsbildes ist die hauptsächlich im Epiga-
! strium localisirte Schmerzhaftigkeit, die
| von gewissen Anomalien der Verdauung
und Defäcation begleitet zu sein pflegt.
| Die Schmerzen werden als drückend,
pressend, bohrend oder stechend be¬
zeichnet; sie nehmen meist das ganze Epi¬
gastrium, vorwiegend seine linke Hälfte,
seltener bloss einen umschriebenen Bezirk
unterhalb des Processus xiphoideus ein.
Die Schmerzhaftigkeit ist meist längs der
beiden Rippenbögen, namentlich längs des
| linken, sehr ausgesprochen und erstreckt
sich häufig bis in den Rücken, wo nament¬
lich in der Gegend der Lendenwirbel,
dicht neben der Wirbelsäule, eine nicht
unbeträchtliche Hyperalgesie (spontan und
bei Druck) vorhanden ist. Neben den er¬
wähnten Schmerzen besteht gewöhnlich die
Klage über Aufgetriebensein der Magen¬
gegend und über leichte Uebelkeit; Appe¬
titlosigkeit ist in der Regel nicht vorhan¬
den. Bei der objectiven Untersuchung
lässt sich eine abnorme Gasansammlung im
Abdomen nicht nachweisen; die Bauch¬
muskeln sind meist straff gespannt und bei
Druck an gewissen Stellen im Epigastrium
ziemlich schmerzhaft; ebenso die Rücken¬
muskeln an der bezeichneten Stelle. Ein¬
zelne Hautbezirke zeigen deutliche Hyper¬
algesie. Lässt man die Kranken Bewe¬
gungen ausführen, so zeigt sich, dass das
Bücken und Wiederaufrichten, sowie die
Rotationsbewegungen des Oberkörpers,
namentlich nach links, nur unter mehr
oder minder heftigen Schmerzen ausge¬
führt werden können; die Kranken ziehen
in ausgesprochenen Fällen im Allgemeinen
eine Position mit stark erhöhtem Ober¬
körper vor. Die horizontale Lage von
längerer Dauer ist oft mit grösseren Be¬
schwerden verknüpft; überhaupt pflegt den
Patienten öfterer, vorsichtiger Lagevvechsel
angenehm zu sein.
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Original fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
152
Die Therapie der Gegenwart 1903. April
Der Act der Verdauung ist für die 1
Kranken zumeist mit beträchtlicher Steige¬
gerung der lästigen Symptome verbunden,
ein Umstand, der seine einfache Erklärung
darin findet, dass durch die Anfüllung des
Magens mit Speisen oder Getränken und
die damit verbundene Volumensvermeh¬
rung des Abdominalinhalts, vielleicht auch
durch die stärkeren peristaltischen Bewe¬
gungen, der Druck und die Spannung der
Bauchdecken vermehrt und die Schmerzen
in den betheiligten Bauchmuskeln wesent¬
lich verstärkt werden. Aehnlich liegen die
Verhältnisse beim Stuhlgange, da die Ac¬
tion der Bauchpresse stets schmerzhafte
Empfindungen in den afficirten Partieen
hervorruft.
Ich will hier noch auf eine auffallender¬
weise sehr wenig berücksichtigte Quelle
von Schmerzen am Abdomen hinweisen,
nämlich die permanente oder periodische
Schmerzhaftigkeit des Unter hau t-
resp. Fettgewebes, die isolirt vorkommt,
aber häufig mit Hyperästhesie der Bauch¬
muskeln verbunden ist. Diese Schmerz¬
haftigkeit kann zu sehr grober Täuschung
über die Natur von Abdominalbeschwerden
Veranlassung geben, da jede Veränderung
des Volumens der Bauchorgane auch die
continuirlichen Schmerzen ausserordent- I
lieh steigert. Mir ist es wahrscheinlich,
dass solche heftigen und manchmal cir-
cumscripten Schmerzen zur Diagnose der
Cardialgie, des Ulcus ventriculi, der Darm¬
kolik, Gallensteine, der perihepatitischen
Reizung etc. — und bei grosser Hart¬
näckigkeit der Schmerzen auch zu Ope¬
rationen — Veranlassung gegeben haben.
Und doch ist die Diagnose hier schon da¬
durch zu stellen, dass man eine emporge¬
hobene kleine Partie des Haupt- resp.
Fettgewebes seitlich comprimirt; dann
werden die heftigen Schmerzen in der
emporgehobenen Partie localisirt. Bleibt
der Schmerz auch bei Spannung der Bauch¬
decken (Pressen) in gleichem Maasse, wie
bei Entspannung bestehen, und empfindet
der Patient dabei sogar besonders starke
Schmerzen — der Druck auf die Abdo¬
minalorgane wird ja durch die Spannung
der Muskeln verringert —, so sollte man
von der Diagnose eines intraabdominalen
Leidens sofort Abstand nehmen.
Ich möchte hier gleich hervorheben, dass
meiner Beobachtung nach die in manchen
Fällen unbestreitbar günstige Wirkung der
Pflaster bei anscheinend Magenleidenden, die
ja sogar gewissen Arten der Pflaster das be¬
sondere Renommö als „Magenpflaster“ ver¬
schafft hat, vorzugsweise bei solchen Pseudo-
I cardialgieen zu erwarten ist. Ich selbst habe
I nicht gerade selten mit Erfolg von Pflastern
Gebrauch gemacht, wenn circumscripte Schmerz¬
haftigkeit der Bauchmuskeln, namentlich im
Epigastrium, bestand, und glaube, dass ausser
dem psychischen Factor die Beseitigung der
objectiven Hyperästhesie der Haut — per¬
manente Bedeckung resp. Einwirkung auf die
Wärmeregulation — an diesem Erfolge einen
grossen Antheil hat. (s. u.).
Besonders wichtig ist auch die That-
sache, dass (pseudo-) stenocardische
resp. asthmatische Anfälle auf rein
myogener Basis 1 ) Vorkommen können.
Die Diagnose dieser Zustände ist auf
Grund der physikalischen Untersuchung,
namentlich im ersten Anfalle, nicht immer
leicht zu stellen; denn die Kranken sind
schwer zu untersuchen, und bekanntlich
ist ja auch oft bei organischen Ursachen
der Befund sehr unergiebig. Auch der
schnelle Erfolg der Narcotica ist für die
Diagnose nicht verwerthbar, da ja auch
bei Angina pectoris vera dadurch die ecla-
tantesten Besserungen erzielt werden. Be¬
deutungsvoll ist, dass Pulsverlangsamung
stets, Arhythmie — ausser bei sehr unregel¬
mässiger Athmung — immer fehlt, und
dass auch Tachycardie relativ selten ist,
ausser dort, wo grosse, psychisch bedingte,
I Angst besteht. Besonders charakteristisch
ist die flache beschleunigte Athmung und
das Bestreben, die sich oft spontan ein¬
stellenden tiefen, seufzenden Inspirationen
zu hemmen.
Ich habe die Differentialdiagnose der
myogenen Stenocardie im vorigen Jahr¬
gang dieser Zeitschrift so ausführlich
beschrieben (Februarheft S. 60), dass ich
mir ein erneutes Eingehen auf dieselbe
jetzt ersparen darf.
Schliesslich wollen wir nicht unter¬
lassen kurz darauf hinzuweisen, dass auch
bei gewissen Constitutionskrankheiten
Myalgieen häufig zur Beobachtung kom¬
men, und dass unseres Erachtens manche
der als specifische Neuralgieen aufgefassten
Beschwerden, z. B. beim Diabetes, bei
chronischer Nephritis etc., ausgesprochene
Myopathieen sind, da die genaue Unter¬
suchung der schmerzhaften Partieen nach¬
zuweisen im Stande ist, dass die haupt¬
sächlichsten Schmerzpunkte mehr dem Ver¬
laufe gewisser Muskeln als dem der Ner¬
venbahnen (resp. der grösseren Nerven-
stämme) entsprechen.
Welche inneren Vorgänge nun auch
l ) O. Rosenbach, Die Krankheiten des Her¬
zens und ihre Behandlung. Wien und Leipzig
1894/97, S. 360ff. — Ucber myogene Pseudostcno-
cardie, Therapie der Gegenwart 1902, Februarheft.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegenwart 1903.
153
die Grundlage der Muskelveränderung sein
mögen, aus dem Gesagten und der Erfah¬
rung geht hervor, dass es sich um ver¬
schiedenartige oder wenigstens verschieden
bedingte innere Veränderungen handelt;
denn ein Mal ist die Muskelsubstanz selbst,
das andere Mal mehr das Gebiet der
Fascien, Aponeurosen, Sehnen betheiligt,
und die Haut oder Hautmuskelnerven
haben, je nach den Umständen, mehr oder
weniger grossen Antheil am Syptomen-
bilde. Ebenso sind das eine Mal rein me¬
chanische Vorgänge, das andere Mal ther¬
mische oder chemische resp. circulato-
rische Anomalien wirksam. Da also die
Ursachen und die Form resp. Localisation
der Erkrankung ganz verschieden sind, so
ist a priori sicher, dass nicht immer die¬
selbe Form der Behandlung zum Ziele
führen, oder bei der Erkrankung derselben
Muskelgruppen derselbe Ort für die Appli¬
cation der Mittel, namentlich im Beginn
der Störungen gewählt werden kann;
denn alle Mittel oder Methoden sind doch
nur gegen eine Form oder ein Stadium
der Betriebsstörungen, nicht gegen die
Functions (Betriebs-) Störung schlechtweg
wirksam.
Wenn auch gegen die rein mechanisch
bedingte Form der Muskelstörung (grobe
Verschiebung des inneren Gleichgewichts
resp. Functionshemmung durch Dehnung
oder Trauma) natürlich eine rein mecha¬
nische Behandlung und zwar des Muskel¬
gewebes allein (Massage im engsten Sinne)
mitunter specifisch wirksam ist, so hilft in
anderen Fällen Massiren gar nicht, und in
manchen darf wieder nicht das Muskel¬
gewebe selbst, sondern nur das der
Sehnen oder Fascien massirt werden. Wo
es sich gleichsam um die Wiederherstel¬
lung des verlorenen physikalischen Gleich¬
gewichts in den feinsten Theilchen han¬
delt (die Reckung, Dehnung resp. Zerrung
des Gewebes), da können zweckmässige,
sogar forcirte Rotations-, Streck- oder
Beugebewegungen (Ziehen, Spannen etc.)
als directes stärkstes Mittel des Ausgleichs
betrachtet werden; ebenso der starke elek¬
trische Strom (am besten Inductionsstrom
resp. Volta’sche Alternativen). Denn es
handelt sich dann oft nur darum die pa¬
thologische Innervation, die perverse
Thätigkeit eines durch den Ausfall seines
Partners tonisch innervirten Antagonisten,
zwangsweise aufzuheben oder die Bewe¬
gung eines durch Unlustgefühle paretischen
Muskels zu erzwingen, d. h. eine Bewegung
in der Richtung des mittleren Gleich¬
gewichts herbeizuführen, die weder der —
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oft schon der Anlage nach — schwache
Willen noch die regulirende Reflrxthätig-
! keit, eben wegen abnormer innerer Bedin¬
gungen, herbeiführen kann. Besonders
wirksam werden solche energischen me¬
chanischen Manipulationen sein, wenn der
afficirte Muskel überdehnt ist, also wegen
relativer Insulficienz den Antagonisten
nicht mehr überwinden kann, der, nament¬
lich wenn Schmerz die Bewegung hindert,
sich selbst überlassen immer mehr in
Contracturstellung geräth. Weniger wirk¬
sam werden sich therapeutische Eingriffe
dieser Art erweisen, wenn wegen acuter
entzündlicher Vorgänge oder starker Ver¬
änderungen der inneren Spannung im Ge¬
webe oder in den sehnigen Gebilden der
kranke Muskel primär contrahirt wird, wo¬
bei oft der gesunde übermässig beansprucht
wird; denn hier wirkt die Muskclthätigkeit
des gesunden Theils nicht günstig auf die
Function des kranken.
Während in den Fällen erstgenannter
i Art von rein functioneller Muskelschwäche
| und übergrosser myogener Schmerzem-
| pfindlichkeit oder bei perverser Innervation
| der Muskeln die Fixation der Theile in
1 starre Verbände unserer Erfahrung nach
! durchaus schädlich ist — sie begünstigt
die perverse Innervation und die Willens¬
schwäche —, ist sie bei wirklich entzünd¬
lichen Vorgängen resp. Gewebsverletzun¬
gen, die aber natürlich nicht allein aus der
Stärke des Schmerzes erschlossen werden
| dürfen, eines der wesentlichsten Mittel der
! Heilung, da es sich hier nicht um An-
! regung der Function, sondern zuerst um
Beseitigung intensiver geweblicher Stö¬
rungen resp. positiver Hemmungen der
Function handelt. Das Gleiche gilt natür¬
lich für intensive traumatische und ent¬
zündliche Veränderungen von Sehnen und
Fascien. Bei den leichtesten Formen des
| Traumas ist dagegen die Fixation entweder
! nicht nöthig oder darf, wenn sie nicht
schädlich wirken soll, nicht permanent
sein, sondern muss mit passiver Bean¬
spruchung der Theile periodisch abwech¬
seln. Die active Bewegung aber muss
wenigstens so lange unterlassen werden,
als grosse Blutergüsse, stärkere Schwel¬
lung der Haut oder gar Auftreibung des
Periosts nachweisbar ist, namentlich wenn
es sich um die unteren Extremitäten han¬
delt, auf denen beim Stehen und Gehen
die Last des Körpers ruht. Wenn irgend¬
wo, ist hier das Individualismen, so schwer
es manchmal ist, nothwendig und erfolg¬
reich. Wann und ob passive oder active Be¬
wegungsversuche gemacht werden müssen,
20
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
154
A pril
Die Therapie der Gegenwart 1903,
erfordert eine skrupulöse Untersuchung
und Kenntniss des psychischen Zustandes
des Patienten; denn zu späte wie zu frühe
Versuche können grosse Nachtheile für
die Heilung haben. Der Erfolg der mecha¬
nischen Eingriffe ist also vor allem da zu
erwarten, wo es sich nicht um schwere
Betriebsstörungen im Muskelgewebe selbst,
also um entzündliche oder andere anato¬
mische Läsionen, sondern nur um den
functioneilen (molecularen) Vorgang der
Ueberdehnung resp. Reckung handelt.
Die mechanische Behandlung umfasst
nicht nur die Kinesiotherapie in excessiver
oder moderirter Form, sondern ihr eigent¬
liches Gebiet ist die methodische Beein¬
flussung des Gewebes selbst (Massage der
verschiedensten Form). Für dieses stellt
sie, je nach ihrer Anwendung, einen der
stärksten und wirksamsten Reize dar, der
die innere Circulation resp. Gewebsthätig-
keit anregt. Durch mechanische Einwir¬
kungen wird also der Stoffwechsel norma-
lisirt und zwar nicht bloss dadurch, dass
Blutergüsse und andere abnorme Producte
aus den Gewebsinterstitien und Lymph-
gefässen mechanisch fortgeschafft werden,
sondern dadurch, dass die unter dem Ein¬
flüsse desShocks oder Schmerzes weniger
erregbaren, aber motorisch gesunden Zellen
maximal gereizt und zur excessiven Thätig-
keit angeregt werden. 1 ) Einen zweiten
wichtigen Einfluss übt die Massage — den
Begriff im allgemeinsten Sinne gefasst —
auf die Haut aus; denn Haut- und Muskel¬
apparate stehen ja in ausserordentlich
engen Beziehungen. Sowie im Fieber die
abnorme Thätigkeit des Muskels mit Hy¬
perämie und gesteigerter Thätigkeit der
Haut verbunden ist — die Wassersecre-
tion ist ja nur ein Theil der Hautfunction
—, so ist bei Myalgieen resp. Functions¬
störungen des Muskels besonders oft die
Haut, die ja häufig vorher während der
starken Muskelaction sehr stark bean¬
sprucht war, in einem auffallenden Zu¬
stande von Reactionsschwäche, die vor
allem durch Kühle oder Ueberempfindlich-
keit charakterisirt ist. Ich habe, nachdem
ich durch Angaben von Patienten, die an
Myalgieen resp. Myosen litten, einmal auf
diesen Punkt aufmerksam gemacht worden
war, eine grosse Zahl von solchen Per¬
sonen bezüglich der Temperaturverhält-
! ) Der schärfste Ausdruck dieser Störung der moto¬
rischen Function des Protoplasmas ist das Oedema
e functione impedita, das nicht mit Stauungs- oder gar
entzündlichem Ocdem zu verwechseln ist. (Fs tritt
bei langdauernder Zwanghaltung, bei vielstündigem
Sitzen, bei vieltägiger Bettlagc, im festen Ver¬
bände etc. auf.)
I nisse der Haut genau untersucht und ge-
j funden, dass erstaunlich häufig eine locale
Abnormität der Hauttemperatur mit Mus-
kelaffection aller Art verbunden ist, und
dass Personen, die einen solchen Wechsel
der Hauttemperatur an bestimmten Stellen
zeigen, beständig neurasthenische Sym¬
ptome aufweisen und stark zu Muskel-
affectionen disponirt sind. Gewöhnlich
sind die Hautpartieen an den heftig
schmerzenden resp. functionsschwachen
Muskeln auffallend kühl, während sie in
gesunder Zeit wieder auffallend warm sind
und stark transpiriren. Die Patienten em¬
pfinden nicht immer das Kältegefühl un¬
angenehm, aber sie haben gewöhnlich das
Gefühl der Spannung und der Beengung,
namentlich wenn die Thoraxpartieen be¬
theiligt sind, und vor allem eine starke
Hyperästhesie, so dass gewöhnlich schon
der Druck und das Reiben der Kleidungs¬
stücke wie auf wunder Haut empfunden
wird.
Die Art des Zusammenhanges zwischen
Haut- und Muskelthätigkeit lässt sich nicht
sicher nachweisen. Oft scheint die Ursache
der Muskelaffection gleichzeitig den Anlass zur
Veränderung der Hauttemperatur zu geben,
wie dies bei Erkältung der Fall ist. In anderen
Fällen, wo z. B. abnorme Belastung eines
Muskelgebietes ohne Kälteeinwirkung oder Ab¬
kühlung Schuld ist, muss angenommen werden,
dass erst durch den Process im Muskel die
Haut secundär zu stark beansprucht wird;
d. h. je mehr Blut der Muskel gebraucht, desto
mehr wird der Haut entzogen. Möglich ist es
aber auch, dass Haut und Muskel durch das
Bindeglied einer primären (vasomotorischen
resp. neurasthenischen) Veränderung Zusammen¬
hängen, ähnlich wie bei der vasomotorischen
Neurose der Extremitäten. Daran, dass diese
Temperaturabnormität der Haut bei Muskel¬
leiden so wenig berücksichtigt wird, ist wohl
die Methode der Untersuchung Schuld. Denn
der Untersucher darf die Temperatur nicht
nach der eigenen Hand bestimmen, sondern
muss die Wärme der Handfläche des Patienten
als Index benützen, aus demselben Grunde,
aus dem man die Prüfung der Temperatur der
Haut Fieberkranker erst nach Untersuchung
der Temperatur der Handfläche der Kranken
vornehmen darf. Wenn man z. B. nur nach
der eigenen Hand urtheilt, so wird man häufig
keinen Grund für die Angabe eines Patienten
über Hitze des Kopfes finden; wenn man aber die
Haut der Handfläche oder Fusssohle des Pa¬
tienten mit der der Stirnhaut vergleicht, so
wird man seine Angabe begründet finden ; denn
die Hand ist dann gewöhnlich viel kälter.
Der Zusammenhang von Haut- und
i Muskelfunction, von Hautneuralgie, die nur
bei oberflächlicher Untersuchung das allei-
i nige Leiden zu sein scheint, und sehr aus-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
155
Die Therapie der
gesprochener Myopathie, hat wohl den
Salben und Pflastern zu ihrem Ruhme ver-
holfen; denn die Erfahrung lehrt auch den
skeptischen Beobachter, dass — unter Aus¬
schluss jeder Suggestion — eine Reihe
von oberflächlichen und tieferen Myo-
pathieen nicht bloss durch warme Um¬
schläge jeder Art, sondern schon durch
energische Einreibungen und vor allem durch
feste Umhüllung mit Salben und Pflastern,
deren Natur unserer Erfahrung nach so gut
wie gleichgiltig ist, wenn sie nur Fett ent¬
halten, eine viel schnellere Besserung er¬
fährt als sonst. Ob nun hier die Verhin¬
derung der Wärmeabfuhr aus den abnorm
functionirenden Muskeln resp. der Haut,
die gleichmässige Fixation des Muskels
und der Haut, die Fettzufuhr oder die
blosse Abhaltung der Impulse der Aussen-
welt günstig wirkt, das lässt sich nicht
entscheiden; wahrscheinlich wirken oft
alle diese Factoren zusammen. Das Eine
steht fest, dass der günstige Effect, der
bei einer Gesichts- oder Armneuralgie
durch Bedeckung der kranken Theile er¬
zielt wird, auch bei Myopathieen bestimm¬
ter Form, namentlich der nach Erkältung,
Ueberanstrengung resp. leichter Dehnung
entstehenden, zu beobachten ist. Vieles
spricht dafür, dass die — durch Erfolg
gesicherte — Unterstützung der Massage
durch Salben oder Fett auch auf der wohl-
thätigen Beeinflussung der Hautfunction
beruht, sei es, dass die mechanischen Im¬
pulse nun gleichmässiger auf das ganze
Gebiet wie in die Tiefe wirken, sei es,
was uns wahrscheinlicher ist, dass durch
Imprägnation der Haut mit Fett die anä¬
misch-empfindliche Haut geschmeidiger und !
functionsfähiger wird, so dass sich durch
Zufuhr von resorbirbarem Fett zur Haut
die Wärmefunction und damit die Empfind¬
lichkeit ändert, wodurch auch wieder der
Muskel reflectorisch beeinflusst wird.
Wenden wir uns nach diesen allge¬
meinen therapeutischen Bemerkungen zu
der speciellen Behandlung der verschie¬
denen Formen der Myalgie, so ist klar,
dass sie ganz verschieden sein muss, je
nachdem es sich um constitutionelle oder
locale Abnormitäten handelt, ob zufällige
äussere Schädlichkeiten, Kälte, Trauma,
Ueberanstrengung, Muskeldehnung, über¬
mässige Anspannung, die Ursache sind,
und je nachdem die Fälle frisch sind oder
bereits längere Dauer haben.
Bei den acuten Formen der Mus¬
kelanstrengung ist Massage und Anwen¬
dung des Inductionsstromes event. elek¬
trische Massage von grösstem Vortheil.
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Gegenwart 1903.
Der Inductionsstrom ist aber nur wirksam,
wenn wirklich das Muskelgewebe selbst
: Sitz des Schmerzes ist. Ist die Affection
, in der Fascie oder der Sehne localisirt,
j so ist von der Faradisation fast nie ein
Erfolg zu erwarten. Hier wirken — ob¬
wohl die Massage das Hauptmittel bleibt —
in einer Reihe von Fällen Mittel wie An-
| tipyrin, Phenacetin, Salipyrin in individuell
zu dosirenden Gaben günstig, während
sie, ebenso wie der Inductionsstrom, in
chronischen Fällen — abgesehen von sehr
kurzdauernder Verringerung des Schmer¬
zes — ihre Wirkung völlig versagen. Je
älter der Fall ist, desto energischer muss
unseres Erachtens massirt werden, aber
die zu massirende Stelle muss mit grosser
Sorgfalt aufgesucht werden, was gewöhn¬
lich, meiner Erfahrung nach, verabsäumt
wird. Zuweilen geben nämlich die Pa¬
tienten den Sitz der Beschwerden nicht
richtig an, weil bereits irradiirte Schmer¬
zen oder abnorme secundäre Muskelaffec-
tionen stattfinden, und ferner haben die
die Massage ohne ärztliche Anordnung aus¬
führenden Personen gewöhnlich mehr Ver¬
trauen zu starker und allgemeiner Mas¬
sage, als zur localen, die oft gar keine
Kraftanstrengung erfordert. Die Prüfung
muss also sehr genau vorgenommen wer¬
den und zwar in den verschiedensten, oft
ganz ungewöhnlichen Lagen bis man auf
die wirklich schmerzhafte, oft nur ganz
circumscripte Stelle stösst. So ist z. B.
bei linksseitiger Ischias die hauptsächlich
schmerzhafte Stelle oft nur zu finden,
wenn der auf der rechten Seite Liegende
sich noch um ein bestimmtes Stück der
Bauchlage zu dreht und dabei das Knie
und Hüftgelenk möglichst stark beugt.
Wenn man dann lateral vom Tuber ischii
in die Tiefe geht, so wird man das schmerz¬
hafte Gebiet in der Sehne des Pyriformis,
Obturatorius oder in dem Gebiete des
Glutäus minimus entdecken und durch
wenige Minuten mechanischer Einwirkung
oft eine mehrstündige Besserung erzielen,
ein Erfolg, der mit dem stärksten Induc¬
tionsstrom und auch mit inneren Mitteln
nicht zu erreichen ist. Wenn die Haut
sehr empfindlich ist, dürfen natürlich die
Knetbewegungen nicht energisch geübt
werden; dann kommen die bekannten Va¬
riationen in Anwendung; aber dann ist ein
baldiger Erfolg für die tiefer gelegenen
Partieen ausserordentlich selten. So glaube
ich auch, dass das Gebiet der Vibrations¬
massage mehr bei allgemeiner Nervosität
und bei oberflächlicher Muskel- und nament¬
lich bei starker Hautempfindlichkeit von
20 *
Original frorn
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156
April
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Bedeutung ist. Aber um es noch einmal
zu wiederholen: Bei localisirter Erkrankung
und namentlich wenn Fascien, Sehnen,
Periost schmerzhaft sind, garantirt nur die
Auffindung der schmerzhaften Stelle den
Erfolg der Massage, und ich habe oft genug
bei Patienten, die bereits längere Zeit und
energisch mit Massage behandelt waren
und jeden Versuch damit für vergeblich
hielten, in relativ kurzer Zeit durch das
angeblich versagende Mittel Heilung her¬
beigeführt, nachdem ich durch mühevolle,
oft Viertelstunden dauernde Untersuchung
die afficirten Partieen festgestellt hatte.
Solche Stellen finden sich, um einige An¬
gaben zu machen (bei starker Flexion und
Adduction), an der Innenfläche des Ober¬
schenkels, in der Muskelfurche zwischen
Vastus int. und den Adductoren, etwas ober¬
halb des Condylus int., ferner längs der
inneren Kante der Tibia, dann lateral unter¬
halb des Peronealpunktes, ebenso an den
Metatarsalköpfen. Ferner werden Prädi-
lectionsstellen von Myalgieen bei starker Er¬
schlaffung der Bauchmuskeln unterhalb des
Rippenbogens resp. im Sitzen bei stark vor¬
gebeugtem Oberkörper gefunden. Des¬
gleichen unterhalb des Schlüsselbeines,
oberhalb der Spina scapulae, unterhalb
des Processus mastoideus, an den Nacken¬
muskeln und am Sternocleidomastoideus etc.
Sehr schwer ist dieFeststellung der afficirten
Partieen in der Fossa iliaca, da die meisten
Patienten erst nach vielen Versuchen die
Bauchmuskeln genügend erschlaffen kön¬
nen, und am schwersten ist die Auffindung
der sehr oft vorkommenden myogenen
Affectionen an den Muskeln der Wirbel¬
säule, namentlich an der Stelle, wo von
Patienten gewöhnlich die Nierenschmerzen
localisirt werden. Um dieses Gebiet an¬
nähernd festzustellen, muss man fast für
jeden Patienten eine specielle für die
Untersuchung besonders günstige Lage
aufsuchen; bei manchen findet man sie nur
im Stehen, wenn bei fest aufgestützten
Armen der Oberkörper etwas nach vorn
geneigt, oder beim Sitzen, wenn er bei
fest fixirten Becken nach hinten geneigt
wird. Wo die Stellen für die Massage
nicht zugänglich sind, muss man mit sehr
starkem Inductionsstrome — unter Anwen¬
dung mässig breiter, aber sehr feuchter
Elektroden — Vorgehen. Diese Behand¬
lung ist, wenn es sich nicht um sehr ver¬
altete Fälle handelt, fast immer wirksam,
da es sich hier stets um wirkliche Affec-
tion des Muskelgewebes selbst handelt,
und die Localisation namentlich dann nicht
genau zu sein braucht, wenn bereits an-
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dere Muskeln durch perverse Innervation
in Mitleidenschaft gezogen sind. Hier ist
es gut eine ganze Muskelgruppe zur er¬
giebigen Contraction zu bringen. Wenn
man damit nicht zum Ziele kommt, muss
man methodisch die Bewegung ausführen
lassen, die dem Patienten am schmerz¬
haftesten ist.
Dieselben Principien sind auch für die
Behandlung der myogenen Form der
Migräne maassgebend. Auch hier kommt
die Massage und der Inductionsstrom in
Betracht. Machen wir von der Massage
Gebrauch, so müssen im Wesentlichen
die schmerzhaften Stellen aufgesucht und
j Manipulationen unterworfen werden, die
I zwar im ersten Augenblicke sehr schmerz¬
haft sind, aber nach wenigen Minuten ein
Schwinden der lästigen Symptome herbei¬
führen. Die Massage verdient überall da
den Vorzug vor dem Inductionsstrom, wo
es gilt, die sehnigen Ausbreitungen an den
Insertionsgebieten des Muskels zu treffen,
weil letztere der Hauptsitz der Schmerzen
sind. Oft kann aber gerade an den
schmerzhaften Stellen der Inductionsstrom
nicht applicirt werden, weil seine Anwen¬
dung zu grosse Schmerzhaftigkeit bedingt,
wie z. B. an der Stirn, am Schlüsselbein,
am Proc. mastoid., also überall da, wo die
Elektroden direct am Knochen applicirt
werden müssen. In solchen Fällen ist an
und für sich von der Anwendung der In-
ductionselektricität nichts zu erwarten, weil
ja ihre Wirkung hauptsächlich auf der
starken Muskelcontraction und den durch
sie gesetzten mechanischen Veränderungen
im Muskelgewebe beruht. Das Haupt¬
gebiet für die erfolgreiche Application
der Inductionsströme bilden die Fälle, in
j denen weniger die Aponeurosen als die
Muskelbäuche selbst schmerzhaft sind. Hier
' sieht man nach einigen energischen Con-
; tractionen, die durch die auf den Muskel¬
bauch direct applicirten Elektroden her¬
vorgerufen werden, sofort eine wesent¬
liche Erleichterung des Patienten eintreten.
Es ist wohl selbstverständlich, dass diese
energischen Muskelcontractionen auch bei
leichteren Graden von Schmerzhaftigkeit
in den sehnigen Gebilden des Muskels
einen günstigen Erfolg haben können, in¬
dem ja die Muskelcontraction auch die In-
i sertionsstellen (die Aponeurosen) in höhe-
| rem oder geringerem Grade mechanisch
beeinflusst und somit in gewissem Sinne
denselben Effect ausübt, wie eine mässige
Massage. Vom constanten Strom, der ja
in einzelnen Fällen rein nervöser Migräne
zufriedenstellende Erfolge aufzuweisen hat,
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegenwart 1903.
157
haben wir bei der hier beschriebenen Form
des Leidens einen nennenswerthen thera¬
peutischen Effect nur dann gesehen, wenn
wir durch häufige Unterbrechungen oder
Stromschwankungen, die aber an den
hauptsächlich befallenen Partieen sehr un¬
angenehme Nebenwirkungen (Geschmacks¬
empfindungen, Blitzen vor den Augen etc.)
hervorrufen, energische Muskelcontrac*
tionen auslösten.
Dass durch ruhige Bettlage, wie sie die an
myopathischer Migräne leidenden Personen
vorzugsweise einnehmen, die Schmerzen wesent¬
lich vermindert werden, wird Niemanden Wunder
nehmen, der die Steigerung der Beschwerden
auch bei den leisesten Bewegungen des Kopfes
an sich zu erfahren Gelegenheit hatte; ebenso
wird man es erklärlich finden, dass durch
starkes Erbrechen nicht selten wesentliche Er¬
leichterung geschaffen wird, wenn man berück¬
sichtigt. dass die mit dem Acte des Erbrechens
nothwendigerweise verknüpften starken Muskel-
contractionen, zu denen die Kranken wider
ihren Willen gezwungen werden, in der eben
geschilderten Weise wohlthätig auf die Em¬
pfindlichkeit der afficirten Theile einwirken.
Muss ja doch eben unser ganzes therapeuti¬
sches Bestreben nur darauf gerichtet sein, mit
Einwilligung des Kranken oder gegen seinen
Willen, die betheiligten Partien in lebhafter
Weise mechanisch zu beeinflussen.
Die häufigen und periodischen, auf
Muskelaffection zurückzuführenden Be¬
schwerden der Neurasthenisehen,Chlo-
rotischen, Anämischen, Diabetiker,
müssen, wenn nicht der sichere Nachweis j
einer acuten Veranlassung zu erbringen
ist, mit allgemeinen Maassnahmen, die auf
Besserung des Grundleidens hinwirken,
behandelt werden. So sehr mässige Mas¬
sage hier zur Anregung des Stoffwech¬
sels, namentlich im Muskel, bisweilen wirk¬
sam ist, so sind in anderen Fällen diese
Maassnahmen schädlich; nur Ruhe unter
Mitwirkung von Brompräparaten, Antipyrin
und ähnliche Mittel bringen hier Linde¬
rung. In anderen Fallen ist wieder me¬
thodische, sehr vorsichtig betriebene Gym¬
nastik von Vortheil zur Stärkung der Mus¬
keln. Oft ist auch schon Regulirung der
Wärmeabfuhr durch warme Kleidung, vor¬
sichtige hydropathische Maassnahmen, Er¬
wärmung des Schlafzimmers, von grossem
Nutzen (s. o.).
Die Störungen, die auf hämorrhoi-
dale Beschwerden im weitesten Sinne
oder Obstipation zurückzuführen sind
(s. o.) müssen, abgesehen von der sehr
wichtigen Berücksichtigung constitutio¬
ne 11 er Verhältnisse, vor allen anderen
Maassnahmen durch Regulirung des Stuhl-
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ganges behandelt werden, wobei der Sitz
der Obstipation von grosser Bedeutung
ist. Unserer Erfahrung nach bringen näm¬
lich, wenn das Colon Sitz der schwachen
Function ist, die drastischen Mittel, in
manchen Fällen auch Bitterwasser, Erfolg,
während bei einer Aflfection von der linken
Flexur ab — hier sind die Angaben vieler
richtig beobachtender Kranken ebenso
maassgebend wie das Resultat der ärzt¬
lichen Untersuchung — lauwarme Ein¬
giessungen am meisten nützen.
Dagegen darf bei den Myalgieen der
Bauch- und Rückenmuskeln, die unter
dem Bilde eines Magenleidens verlaufen,
unter keinen Umständen eine Aenderung
der Diät vorgenommen werden, da hier¬
durch die Patienten nur geschwächt und
empfindlicher werden. Die Behandlung,
welche einzig und allein Erfolg verspricht,
besteht in vorsichtigem Massiren der sorg¬
fältig aufzusuchenden, schmerzhaften Par¬
tieen, der oberen Theile der Bauchmus¬
keln, der untersten Intercostal- und Rücken¬
muskeln. Da es aber, wie aus der Erwä¬
gung der anatomischen Verhältnisse her¬
vorgeht, nicht in allen Fällen möglich ist,
die vorzugsweise befallenen Theile den
mechanischen Manipulationen so zugäng¬
lich zu machen, wie es für eine energische
locale Behandlung wünschenswerth ist, so
ist für eine Reihe von Fällen der Induc-
tionsstrom ein bei weitem wirksameres
Mittel, da man durch ihn häufig, sei es
von den motorischen Punkten aus, sei es
durch directe Application auf die Muskeln
selbst, Totalcontractionen derselben aus-
lösen kann. Bei denjenigen Patienten —
und es giebt einzelne —, bei denen die
Application der erwähnten Agentien aus
irgend welchen Gründen nicht möglich ist
oder nicht zum Ziele führt, weil die be¬
fallenen Partieen der tiefen Rückenmuskeln
und Bauchmuskeln unzugänglich sind, sind
gymnastische Bewegungen massigen Gra¬
des — Beugen und Strecken des Ober¬
körpers, Rotation desselben etc. — am
Platze. Bei sehr schwächlichen, anämi¬
schen Individuen ist körperliche Ruhe am
ersten oder zweiten Tage sehr vorteil¬
haft; doch muss dann mit massigen Bewe¬
gungen oder leichter Massage der Anfang
gemacht werden, da die schmerzhaften
Theile später viel schwerer beeinflussbar
sind.
Sehr schwer ist auch die Behandlung
der im Klimacterium auftretenden Myal¬
gieen, die — als Anomalien, die von Cir-
culationsveränderungen abhängen — eine
Analogie zu den menstruellen bieten, die
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
158 Die Therapie der Gegenwart 1903.
natürlich erst behoben werden können,
wenn die Circulationsstörung ausgeglichen
ist. Aber es gelingt doch, die nach der
Menstruation zurückbleibenden und auch
einen Theil der klimacterischen Beschwer¬
den durch Behandlung nach den erwähn¬
ten Principien wesentlich zu beeinflussen.
Ueber die Behandlung der Myalgieen,
die unter dem Bilde einer Pleuritis oder
Stenocardie verlaufen, haben wir uns
bereits oben geäussert und möchten zum
Schlüsse nur noch bemerken, dass wir die
bei spinalen und arthritischen sowie im
Alter an den Muskeln auftretenden schweren
Functionsstörungen hier nicht erörtert
haben, da sie eben nicht mehr in das Ge¬
biet der rein functionellen Myopathien ge¬
hören. Sie sind ja entweder mit Verände¬
rungen an den Wirbelsäulegelenken ver¬
bunden oder von organischen Verände¬
rungen am Muskel selbst resp. den sehnigen
Gebilden oder von arteriosklerotischen Pro¬
cessen abhängig und können nur durch
absolute Ruhe und vor allem durch Nar-
cotica in gewissen Grenzen beeinflusst
werden.
Ueber Erfahrungen bei Entfettungscuren mit Borsäure.
Von Dr. K. Senz- Berlin.
Veranlasst durch die ziemlich günstigen
Resultate C. Gerhardt’s bei Entfettungs¬
curen mit Borpräparaten (Therapie der
Gegenwart 1902) habe ich im Laufe des
vergangenen Winters bei sechs Patienten
den Versuch gemacht, durch Verabreichung
von Boraten ohne Aenderung der Nahrungs¬
und Flüssigkeitsaufnahme und der Lebens¬
weise eine Abnahme des Körpergewichts
zu erreichen. Da nach den exacten Unter¬
suchungen Rubner’s (Hygienische Rund¬
schau XII, 4) der Gewichtsverlust bei Ein¬
nahme von Boraten durch vermehrte Fett-
und hauptsächlich Wasserabgabe eintritt,
so lagen die Versuchschancen darum noch
besonders günstig, weil alle sechs Patienten
dem weiblichen Geschlecht angehörten,
ihre Flüssigkeitsaufnahme durchschnittlich
eine weit geringere war, als die bei Män¬
nern übliche — die Menge der Flüssigkeit
schwankte zwischen 750 und 1100 ccm —
und ein eventuell fettsparender Alkohol¬
genuss fast ganz fortfiel. Die Borate wur¬
den zuerst als Natrium biboracicum in
Wasser gelöst, später, als Boraxdarreichung
häufige Magenbeschwerden verursachte, als
Acid. boricum in 1 / 2 — 1 % iger wässriger Lö¬
sung zu 2—3 mal täglich x /2 g gereicht. Die
Gesammttagesmenge überstieg mit Aus¬
nahme eines Falles nie 2 g.
Von den sechs Fällen, über die ich zu
berichten habe, kann ich über drei kürzer
hinweggehen: bei der einen Dame traten
sowohl bei Borax- als Borsäureeinnahme
so starke Störungen des Appetits mit Uebel-
keit und Brechneigung auf, dass sie nach
14tägigem Gebrauch die Fortsetzung der
Cur verweigerte. Eine Gewichtsabnahme
hatte nicht stattgefunden. Die Patientin,
die sich sonst eines vorzüglichen Magens
und gesunder Organe erfreute und nur oft
durch neuralgische Beschwerden gestört
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wurde, hatte während dieser 14 Tage keine
weiteren krankhaften Störungen gezeigt.
Im Fall 2, bei einer Dame im Anfang der
fünfziger Jahre, mit einem Körpergewicht
von 94 kg und gesunden Organen, trat
nach vierwöchentlichem Gebrauch von 2 mal
täglich 0,5 g Acid. boricum bei einer Nah¬
rungsaufnahme von etwa 1800—1900 Ka¬
lorien täglich und etwa 1000 ccm Flüssig¬
keit, worunter eine Flasche Bier, keine
Gewichtsabnahme ein. Beschwerden hatten
sich nicht eingestellt. Die Cur wurde wegen
mangelnden Erfolges nicht fortgesetzt. Bei
Fall 3, einer Dame von 59 Jahren, kleiner
Figur und einem Körpergewicht von 77,2 kg,
mit einem stark fettumwachsenen Herzen,
die wegen zunehmender Unbehülflichkeit,
Kurzathmigkeit und Herzerregbarkeit eine
Abnahme ihres Gewichts wünschte, traten
jedes Mal nach Einnahme von 2mal 0,5 g
Acid. boric. pro die Gefühl von starkem
Druck auf den Kopf, Herzklopfen und Puls¬
beschleunigung auf, so dass ihr Schlaf ge¬
stört wurde und sie sich sehr elend fühlte.
Ein zwei Mal nach längerer Pause erneuter
Versuch, Bor zu geben, hatte stets die¬
selben unangenehmen Folgen.
In meinem vierten Falle hatte die Dosis
von 1 g Acid. boricum pro die, in zwei
Hälften in heissem Wasser gelöst genom¬
men, eine recht gute Wirkung. Die Dame,
im Anfang der vierziger Jahre stehend und
von kleiner, graciler Figur, hatte bei län¬
gerem Aufenthalt auf dem Gut ihrer Eltern
an Gewicht erheblich zugenommen und wog
bei Beginn der Cur am 22. August 1902
63,8 kg. Sie ist Mutter von drei gesunden
Kindern und in den letzten Jahren nie¬
mals ernstlich krank gewesen. Die Unter¬
suchung der inneren Organe und des Urins
ergab vor wie während der Behandlung
nichts Krankhaftes. Die Nahrungsaufnahme
Original fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
159
Die Therapie der Gegenwart 1903.
war stets reichlich, die Kohlehydratzufuhr
während der Cur eher vermehrt; die Flüssig¬
keitsaufnahme betrug circa 1100 ccm. In
den ersten 14 Tagen des Borgebrauchs
traten leichte Neigung zu Diarrhöen, etwas
vermehrte Diurese mit Pollakiurie und zeit¬
weilige Schweisse in den Morgenstunden
auf. Der Appetit war stets gut; Herz¬
beschwerden, Kopfschmerzen, Erbrechen,
Schwindel kamen nie zur Beobachtung.
Der Stand des Körpergewichts war fol¬
gender:
22. Aug. 2mal tägl.0,5g acid.boric.63,8 kg
30. „
6. Sept.
13 . „
20. „
11. Oct.
25. „
1. Nov.
8 . „
II » If II
ii n »i ii
n n i» r>
ii » 11 »>
3 mal tägl.0,5g
ii ii ii ii
ii i» M n
u ii n ii
„ 62.9 „
i, 62,7 „
* 62,2 „
i, 61.8 „
id.boric.60 45 „
,i 60.675 ,,
„ 60,125 „
, „ 59,46 „
Hier hatten also mässige Mengen Bor¬
säure ein ziemlich gleichmässiges und all¬
mähliches Abschwellen des Körpergewichts
um fast 9 Pfund in etwa 11 Wochen herbei¬
geführt. So wirkungsvoll und bequem hier
die Cur verlief, ebenso vergeblich wurde
im fünften Falle erst mit Natrium biboraci-
cum, dann wegen starken Beschwerden mit
Acidum boricum gegen die Fettleibigkeit
der Patientin angekämpft. Es handelte sich
um eine Dame, in der Mitte der Fünfziger
stehend, von schwachemKnochenbau, einem
sehr reizbaren Nervensystem mit häufigen
Migräneanfällen, die in ihrem Leben viele
Erkrankungen durchgemacht hat: 72 Dy¬
senterie, 82 Recidiv der Dysenterie mit
Darmabscessen, 96 Cholelithiasis, um nur
das Wichtigste zu erwähnen. In den letz¬
ten Jahren hatte sie an Gewicht zugenom¬
men: als junges Mädchen 120 Pfund wie¬
gend, war sie im Jahre 1902 bis auf 155 Pfund
gekommen. Eine leichte Diätcur hatte sie
wieder auf 150 Pfund gebracht, mit welchem
Gewicht sie die Borcur begann. Sie nahm
zuerst 3 mal täglich 0,5 g Natrium biboraci-
cum mit dem Erfolg, dass das Gewicht in
14 Tagen von 75 kg auf 74,4 kg herunter¬
ging. Allmählich traten aber so heftige
Kopfschmerzen, Herzklopfen, Schwindel,
Erbrechen mit bleibender Uebelkeit auf,
dass das Mittel ausgesetzt werden musste,
worauf die Beschwerden sofort sistirten.
Nach einigen Tagen Pause wurde dann mit
3mal 0,5 g Acid. boricum die Cur wieder
aufgenommen, sofort aber dieselben Be¬
schwerden wieder hervorgerufen. Nach
nochmaliger Pause wurde dann 2mal 0,5 g
Acid. boricum pro die gegeben und besser
vertragen. Trotz vierwöchentlichem Ge¬
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brauch und leichter, gleichzeitiger Polyurie
wurde jedoch eine Gewichtsabnahme nicht
mehr erzielt.
Bei der nächsten Beobachtung handelte
es sich um eine Dame in den vierziger
Jahren mit ererbter Neigung zu Fettleibig¬
keit, die schon zu verschiedenen Malen
hatte bekämpft werden müssen. Der son¬
stige Befund war normal, nur bestanden
seit fast einem halben Jahr neuralgische,
rheumatische Schmerzen in den Armen und
Fingergelenken von wechselnder Stärke
ohne nachweisbare Veränderungen. Pa¬
tientin begann die Cur am 10. Januar 1903
und nahm missverständlicher Weise 3 g
Acidum boricum pro die in drei Portionen
in heissem Wasser gelöst. Das Gewicht
sank in fünf Tagen um über 3 Pfund, von
75 kg auf 73.4 kg. Zugleich traten sehr
starke Kopfschmerzen, Schwächegefühl und
Schwindel, Herzklopfen mit Herzschmerzen
ohne nachweisbaren Befund auf. Der Appetit
blieb gut; das Durstgefühl nahm auffällig
ab, so dass fast Widerwille gegen Trinken
sich einstellte. Die Diurese steigerte sich
nicht. Dagegen schwanden die oben er¬
wähnten rheumatischen Schmerzen, die
einer längeren Kissinger Cur im Sommer
1902 getrotzt hatten, vollständig. Nach
mehrtägiger Pause wurde mit der Borsäure¬
therapie wieder begonnen. Den Verlauf
illustriren die folgenden Zahlen:
18. Jan. ...lg acid. boric. 73 kg
19. „ ... 2,5 „ ,, ii ^3 „
20. „ 2 „ „ » ^3.7 ”
21. —23. Jan. je 3 „ „ „ 74.7 „
Hier musste wegen wieder auftretender
sehr heftiger Kopfschmerzen eine Unter¬
brechung in den Borgaben eintreten. Nach
zweiwöchentlicher Pause wurde die Therapie
noch ein Mal aufgenommen. Den Erfolg
dieser Cur erläutern die folgenden Zahlen:
7. Februar
2V4g
acid.
boric.
74,2
kg
8.
H
II II
ii
ii
73.8
7)
9.
II
»I II
n
ii
73,8
•1
10.
II
ii n
ii
ii
72,9
11
11.
II
Keine
Borsäure, wegen
stär-
kerer
Kopfschmerzen.
kg
12. Februar
1V4g
acid.
boric.
73,3
13.
n
II II
ii
ii
73,9
II
14.
•i
274 ..
H
V
73.7
II
17.
ii
n
II
73.8
11
19.
•1
ii
11
73 3
J>
22.
ii
,,
73,1
il
25.
ii
ii
11
72,9
ii
27.
n
i»
11
73
II
Mit Ausnahme des 11. Februar waren
an keinem Tage dieser letzten Periode Be¬
schwerden aufgetreten. Die Nahrungsauf-
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
April
160 Die Therapie der Gegenwart 1903.
nähme war dabei eine sehr reichliche, da
im Vertrauen auf die entfettende Wirkung
der Borsäure mehr Kartoffeln, als sonst,
Suppen, süsse Chokolade genommen wur¬
den. Hierdurch erklären sich auch die
leichten Gewichtszunahmen in der Zeit vom
18. Januar bis 23. Januar. Eine Gesammt-
gewichtsabnahme von 4 Pfund, völliges
Wohlbefinden bei freierer Beweglichkeit
und Schwinden der Schmerzen in Finger-
und Armgelenken war das erwünschte End¬
resultat dieser Cur.
Als Facit dieser Beobachtungen ergiebt
sich, dass die Borsäure bei manchen Per¬
sonen auch in kleinen Dosen recht unan¬
genehme Erscheinungen auslösen, in geeig¬
neten Fällen aber als brauchbares und be¬
quemes Entfettungsmittel gebraucht werden
kann. Worauf diese individuell verschie¬
dene Verträglichkeit beruht, lässt sich nicht
sagen. Man wird in der Praxis erst vor¬
sichtig mit kleinen Dosen die Cur beginnen
müssen, um dann allmählich zu den wirk¬
samen von IV 2 —2 g pro die vorzugehen.
Von Interesse wäre es auch, weitere Ver¬
suche mit der Borsäure bei den chronischen,
rheumatischen (event. gichtischen) Glieder-
und Gelenkschmerzen der Fettleibigen zu
machen, da ihre Wirkung im Fall 6, bei
dem alle gebräuchlichen Antirheumatica
vergeblich angewandt waren, anscheinend
eine recht zuverlässige war.
Zur Nachbehandlung pleuritischer Exsudate.
Von Dr. D. Rothschild, Arzt in Bad Soden a. T.
Im Ablauf der pleuritischen Erkrankun¬
gen giebt es eine Reihe von Erscheinungen,
welche bisher eine hinreichende Aufklä¬
rung nicht hatten finden können, obwohl
sie recht eigentlich das Wesen des in
Frage kommenden Krankheitsbildes be¬
treffen. Wie ich an anderer Stelle dar¬
gelegt habe, kommt es häufig vor, dass lang¬
bestandene, auch grosse Pleuraergüsse nach
einer vielleicht zu diagnostischen Zwecken
gemachten Probepunction rasch und voll¬
ständig verschwinden. Ich rechne zu den
einer exakten Erklärung noch harrenden
Punkten zweitens die immer wieder beob¬
achtete Erscheinung, dass pleuritische Ex¬
sudate nach vollständiger oder nach mög¬
lichst vollständiger Entleerung durch Punc-
tion oder Thorakocentese sich in ganz
kurzer Zeit, oft schon nach wenigen Stun- |
den wieder ansammeln, ohne dass Fieber
oder sonstige Erscheinungen auf ein Fort¬
bestehen des ursprünglich vorhandenen
Entzündungsprocesses hindeuteten. Drit¬
tens möchte ich darauf hinweisen, dass
abgekapselte Exsudate, deren Anwesenheit
durch die physikalisch-diagnostischen Sym¬
ptome festgestellt ist, oft monatelang un¬
verändert umhergetragen werden, ohne die
geringste Tendenz zur Aufsaugung, bis sie
schliesslich ganz bestimmten und in ihrer
Bedeutung am Schlüsse dieser Ausfüh
rungen zu würdigenden therapeutischen
Eingriffen weichen, viertens erinnere ich
an Vorgänge, wie sie von Litten beob¬
achtet sind, die ebenfalls durch die nach¬
folgenden Ausführungen eine Erläuterung
erfahren sollen, dass nämlich zwischen Ex¬
sudathöhe und Fieberhöhe absolut kein
congruentes Verhalten besteht, vielmehr
sehr häufig trotz fallenden Fiebers und
danach zu schliessendem Verschwinden
der Entzündungserscheinungen die Exsu¬
date unbekümmert ansteigen oder umge¬
kehrt trotz bestehenden Fiebers sich resor-
biren.
Die vier Momente, welche ich soeben
erwähnt habe, beziehen sich gemeinsam
genommen weniger auf das physiologische
als das physikalische Verhalten der Exsu¬
date; denn eine Flüssigkeitsansammlung im
Pleuraraum ist eigentlich in dem Augen¬
blick, in dem sie die Pleurawandung ver¬
lassen hat, eine todte Masse, ein Fremd¬
körper im Brustfellraum, eine mehr oder
weniger concentrirte Salz- und Eiweiss¬
lösung, die als solche physiologischen
Gesetzen nicht mehr unterliegt, sondern
i ein Gegenstand physikalischer Betrach¬
tung geworden ist.
Um ein Bild zu gewinnen von den Vor¬
gängen, die zur Resorption solcher pleuri¬
tischen Ergüsse führen, müssen wir uns
für einen Augenblick die Physiologie des
Resorptionsvorgangs ins Gedächlniss zu¬
rückrufen, wie sie sich in den jüngsten
Arbeiten zahlreicher Autoren, vor allem
von Grober darstellt. Alle neueren For¬
scher sind einig darin, dass bei unver¬
letzter Pleura zwei principiell von einan¬
der zu trennende Vorgänge der Weg¬
schaffung von Flüssigkeit aus dem Pleura¬
raume dienen. In dieser Richtung wirkt
erstens die Bewegung des Brustkorbes
und der Athmungsorgane beim Re-
spiratonsvorgang, und zwar üben, ganz
so wie das schon seinerseit von Dyb-
kowsky betont wurde, die Lymphge-
fässe der Costalpleura eine pumpen-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
161
Die Therapie der Gegenwart 1903.
artig saugende Wirkung auf im Pleura
befindliche Flüssigkeit aus. Die abwech¬
selnde Verbreiterung und Verengerung
der Intercostalräume dient hierbei als Be¬
wegungsagens. Der pulmonalen Pleura
kann eine eben solche Wirkung nicht zu¬
gesprochen werden, sie resorbirt bekannt¬
lich nicht, was auch durch die Grawitz-
schen Beobachtungen über die Ausschei¬
dung von Fremdkörpern durch die pulmo¬
nale Pleura bestätigt wird. Ebenfalls vom
Athmungsvorgange abhängig und die Re¬
sorption fördernd wirken der bei der
Respiration wechselnde Innendruck
des Pleuraraumes, durch den die Lunge
fester oder schwächer gegen die Pleura¬
wand gedrängt wird, sowie die Verschie¬
bung der einzelnen Punkte der Pleura¬
blätter gegen einander, wodurch der Inhalt
des Hohlraums in die Lücken der Wand
gepresst wird.
Ganz unabhängig von diesen physiolo¬
gischen Vorgängen, die übrigens alle eine
spezifische, gleichsam bewusste Resorp-
tionsthätigkeit der Endothelien der Pleura
nicht zur Voraussetzung haben, geht der
Resorptionsvorgang gleichzeitig durch die
rein physikalischen Gesetze der Os¬
mose und Diffusion vor sich. Der end¬
gültige Beweis, dass osmotische Vorgänge
thatsächlich bei der Resorption von Flüs¬
sigkeitsansammlungen im Pleuraraum mit¬
spielen, wurde dadurch erbracht, dass auch
an Leichen, bei welchen man künstlich
Flüssigkeitsmengen in den Pleuraraum ge¬
bracht hatte, ein Verschwinden oder Ab¬
nehmen derselben festgestellt werden
konnte. In vivo wurde der Beweis da¬
durch erbracht, dass auch nach Unterbin¬
dung des Ductus thoracicus, also des Ab¬
zugscanals für alle auf dem Lymphwege
entfernte Flüssigkeiten, eine ständige Ab¬
nahme der im Pleuraraume befindlichen
Flüssigkeitsmenge constatirt wurde, wäh¬
rend diese Verminderung auf hörte nach
der Unterbindung der Arteriae renales.
Wenn somit der Osmose mit Recht ein
integrirender Antheil an der Resorption
von Exsudaten aus dem Pleuraraum zuge¬
sprochen werden muss, so fragt es sich,
ob die sonst gültigen Gesetze der Diffu¬
sion auch hier objectiv nachgewiesen wer¬
den können. In der That gelang es
Leathes und Starling ebenso wie Ham¬
burger zu zeigen, dass die allgemein gül¬
tigen osmotischen Gesetze auch hier ihre
Bestätigung finden. Brachten die englischen
Forscher Salzlösungen in den Pleura¬
raum, die eine höhere moleculäre Concen-
tration, einen höheren procentischen Salz¬
gehalt als das Blut hatten, so trat nicht
nur keine Resorption auf, sondern im
Gegentheil saugte die stark concentrirte
Salzlösung aus den Capillaren Serum an
und verdünnte sich solange, bis ihre Salz-
concentration derjenigen des Blutes gleich
war. Erst dann begann der Resorptions¬
vorgang. Brachten sie hingegen hypoto¬
nische Lösungen, d. h. schwächer concen¬
trirte Salzlösungen als das Blut in den
Brustfellraum, so vollzog sich die Resorp¬
tion ohne weiteres. Diese eindeutige Be¬
obachtung, die auch dann gemacht werden
konnte, wenn durch thermische oder che¬
mische Reize jede vitale Thätigkeit der
Endothelzellen der Pleura aufgehoben war,
veranlasste die Aufstellung des jetzt all¬
gemein anerkannten Satzes, dass eine
Lösung aus dem Brustfellraum nur
dann resorbirt werden kann, wenn
sie dem Blutserum isotonisch ist.
Ist sie es nicht, so wird sie zunächst
durch osmotische Vorgänge zu einer
solchen gemacht.
Wenn auch nicht bestritten werden kann,
dass bei einer Entzündung der Pleurawan¬
dungen die Lymphgefässe und Stomata zum
grössten Theil verödet oder doch wenigstens
durch Fibrinauflagerung und andere Ent-
zündungsproducte verstopft, mit einem Wort
für den Durchgang und die Wegschaffung
von Flüssigkeit unbrauchbar gemacht sind,
so hönnte man immer noch gegen die An¬
nahme, dass in solchen Fällen osmotische
Vorgänge in allererster Linie der Weg¬
schaffung der Exsudate dienen, einwenden,
dass nach Herstellung des osmotischen
Gleichgewichts zwischen Exsudat und Blut
eigentlich kein osmotisches Gefälle mehr
existirt, das als Triebfeder für die Wande¬
rung des Exsudats aus dem Pleuraraum
in die Capillaren angesprochen werden
könnte. Um zu einer richtigen Erklärung
dieser Vorgänge zu gelangen, muss ich
an die Arbeit von Röth und Straussaus
der Senator’schen Klinik aufmerksam
machen. Röth hat gezeigt, dass die
lebende Capillarwand für Eiweissstoffe
schwerer durchgängig ist als für Salze,
und dass die Ausgleichsprocesse durch
eine Membran in dem Falle, wenn ein
Unterschied der gesammten molecularen
Concentration der beiden Flüssigkeits¬
schichten besteht, immer nur von der min¬
der concentrirten zur höher concentrirten
verlaufen, unabhängig von der partiären
Zusammensetzung der Flüssigkeiten. In
dem Falle jedoch, wenn die moleculäre
Gesammtconcentration auf beiden Seiten
gleich ist, richtet sich die Flüssigkeits-
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
162 Die Therapie der
bewegung nach der Seite, wo ein Ueber-
schuss an solchen Molecülen vorhanden
ist, für welche sich die Capillarwand im
Vergleich zu den anderen schwerer per¬
meabel zeigt. Als solches Molecül ist im
Organismus im Wesentlichen das Eiweiss
zu nennen. Senator hat in seiner Ab¬
handlung über die Transsudation und Ex¬
sudation in Virchow’s Archiv darauf
hingewiesen, dass die Exsudate trotz ihres
von x /2 pro Mille und noch weniger bis
zu 20 pro Mille und darüber schwanken¬
den Gehalts an Eiweiss (Gerhardt nimmt
den Gehalt von nicht entzündlichen Exsu¬
daten von 0,06 bis 2,68%, von entzünd¬
lichen von 2,40 bis maximal 6,90% an)
stets einen geringeren Eiweissgehalt
aufweisen als das Blutserum, dessen
Eiweissgehalt nach Hammarsten8,5o/ 0
beträgt. Der Eiweissgehalt ist ja, wie
Dreser gezeigt hat. von ausserordentlich
geringfügigem Einfluss auf die moleculare
Concentration des Blutes, denn nach Aus¬
fällung der gesammten Eiweissmenge steigt
der Gefrierpunkt des Blutes nur um
0,01° C.; trotzdem werden wir mit Rölh
annehmen, dass nach Herstellung des os¬
motischen Gleichgewichts durch osmoti¬
schen Wasserausgleich der höhere Eiweiss¬
gehalt des Blutes genügt, um einen dauern¬
den Wasserstrom aus einem Exsudat nach
den Blutcapillaren zu unterhalten und da¬
durch zu einer Resorption des Exsudats
zu führen. Man könnte schliesslich noch
einwenden, dass vielleicht die in den Ex¬
sudaten vorhandenen Eiweissmolecüle ge¬
ringere Grösse hätten als die im Blute
vorhandenen und dadurch diesen kein er¬
heblicherer Einfluss auf den Gefrierpunkt
zukomme als jenen. Demgegenüber muss
darauf hingewiesen werden, dass, wie
Senator schon mit grösstem Nachdruck
betont hat, die Eiweisskörper der Exsu¬
date dieselben sind, wie die des Blutplas¬
mas und dass Blum mit Hülfe seiner Me¬
thode der Bestimmung der Eiweisskörper
mit Hülfe der Jodzahl ebenfalls zu dem
Schlüsse gekommen ist, dass die in den
Exsudaten befindlichen Eiweissmolecüle
sich nicht von den im Blutserum vorhan¬
denen unterscheiden.
Was müssen wir aus diesen theoreti¬
schen Auseinandersetzungen für klinische
Zwecke lernen? Finden wir, dass ein
durch Probepunction gewonnenes
Exsudat eine geringere moleculare
Concentration als das Blut hat, also
einen Gefrierpunkt, der höher liegt
als der des Blutes, so können wir an¬
nehmen, dass die grössere wasser-
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Gegenwart 1903.
anziehende Kraft des Blutes ohne
weiteres die Absorption des Ex¬
sudats herbeiführen wird. Dass dem
thatsächlich so ist, konnte ich bisher in
12 Fällen beweisen, von welchen ich einige
auf der von Noordenschen Abtheilung am
städtischen Krankenhaus in Frankfurt a. M.
zu beobachten Gelegenheit hatte.
Im ersten Falle handelte es sich um einen
23jährigen Arbeiter J H. Derselbe erkrankte
unter Schmerzen an der linken Seite, Husten,
Mattigkeit, schlechtem Appetit und Schwindel
am 17. December 1900. Bei der am 18. Decem-
ber erfolgten Aufnahme in das städtische
Krankenhaus zeigte der kräftige, aber etwas
heruntergekommene, sehr blass und etwas
cyanotisch aussehende Mann eine handbreite
Dämpfung links hinten unten, über derselben
aufgehobenes Athmungsgeräusch und fehlen¬
den Stimmfremitus. Ausserdem zeigte die
linke Spitze die Erscheinungen von Infiltration
und Katarrh. Am 27. December steht das Ex¬
sudat bis zur Höhe des unteren Randes des
Schulterblattes. Bei der am 29. December vor¬
genommenen Probepunction wurde ein seröses
Exsudat entleert. Die Gefrierpunktsbestimmung
desselben zeigte einen Gefrierpunkt von—0.53,
also niedriger, als der des Blutes. Ich schloss
daraus, da^s das Exsudat ohne weiteres der
Spontanresorption anheimfallen werde, und
thatsächlich konnte bei einem am 14. Januar
1901 vorgenommenen Probepunctionsversuche
kein Tropfen Exsudat mehr zu Tage gefördert
werden.
Ebenso ging es mit dem am 31. December
1900 aufgenommenen A. B., welcher wegen
Gonorrhoe seit dem 28. December 1900 in der
Hautabtheilung des städtischen Krankenhauses
in Behandlung stand, am 31. December jedoch
wegen aufgetretener pleuritischer Erscheinun¬
gen auf die innere Abtheilung verlegt worden
war. Die Untersuchung ergab, rechts hinten
vom sechsten Brustwirbel an, vorn von der
zweiten Rippe abwärts bei aufgehobenem
Stimmfremitus Dämpfung. Das durch Probe¬
punction entfernte Exsudat hatte einen Gefrier¬
punkt von —0,57° C., also annähernd so gross,
als der des Blutes. Es war somit zu erwarten,
dass das Exsudat nicht mehr wesentlich steigen,
sondern allmählicher Resorption entgegengehen
werde. In der That fänden wir am 7. Januar
1901 in der Krankengeschichte verzeichnet:
„Exsudat unverändert", am 25. Januar jedoch
„Dämpfung zwischen der zehnten und zwölften
Rippe, hinten oben Athmung leise, Exsudat
verschwunden“.
In allen Fällen, die ich noch ausführ¬
lich publiciren werde und bei welchen die
moleculare Concentration der Exsudate
geringer gefunden wurde, als die des
Blutes, die ja bekanntlich — normale Niere
vorausgesetzt — immer einen Gefrierpunkt
von — 0,56° erzeugt, in allen diesen Fällen
trat eine spontane und vollständige Re-
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
163
Die Therapie der
sorption der durch den ersten Entztin-
dungsschub gesetzten Exsudate ein.
Finden wir dagegen ein Exsudat,
das einen wesentlich höheren Ge¬
frierpunkt aufzweisen hat als das
Blut, so ist nicht nur keine sofortige
Resorption zu erwarten, sondern die
Flüssigkeitsmenge im Brustkorb
muss zunehmen, indem der osmoti¬
sche Wasserstrom bemüht sein wird,
die moleculare Concentration des
Exsudats herabzusetzen, bis sie der¬
jenigen des Blutes gleich geworden
sein wird. Auch hierfür kann ich eine
Reihe von experimentell gefundenen Be¬
weisen erbringen.
Der 68jährige Grundarbeiter L. K. erkrankte
am 24. November 1900 mit Schmerzen auf der
linken Brustseite, Husten, Fieber, jedoch ohne
Auswurf. Bei der am 27. November vorgenom¬
menen Aufnahme im städtischen Krankenhaus
zeigte sich eine in der Höhe des unteren
Schuherblattrandes links beginnende intensive
Dämpfung, die sich nach der linken Axilla er¬
streckte. Ueber der Dämpfung hört man
Bronchialathmen, Pectoralfremitus nicht ver¬
stärkt. Bei der am 2. December vorgenomme¬
nen Probepunction wurde eine seröse Flüssig¬
keit zu Tage gefördert und am 5. December
900 ccm Exsudat herausgelassen. Das Exsudat
hatte einen Gefrierpunkt von —0,64° C , wäh¬
rend das gleichzeitig gewonnene Blutserum
einen solche« von —0,55° C. aufwies. Ich
schloss daraus, da man ja nicht annehmen
konnte, durch die Punction das ganze Exsudat
entfernt zu haben, dass der zurückgebliebene
Rest durch seine hohe moleculare Concentra-
tion zu einer raschen Wiederherstellung von
Flüssigkeitsansammlungen führen werde. Und
in der That konnten bereits am 10 December
wieder 1400 ccm Exsudat entfernt werden, das
einen Gefrierpunkt von — 0.60° C. aufwies.
Es war also bereits eine Verdünnung des Ex¬
sudats eingetreten. Offenbar hatten sich jedoch
Verwachsungen gebildet, die eine Verdünnung
des Exsudats bis auf die molekulare Concen-
tration des Blutes räumlich verhinderten. Bei
den am 23. Dezember 1900 und am 1. Februar
1901 vorgenommenen Punctionen wurden wieder
Exsudate zu Tage gefördert, die einen Gefrier¬
punkt von —0,60 bezw. —0,59° C. aufwiesen.
Es ist mir garnicht zweifelhaft, dass die
in diesem Falle entfernten Exsudatmengen
nicht immer aus demselben Raume stamm¬
ten, da wir ja wissen, dass abgekapselte
Exsudate häufig in mehrere Kammern ge¬
schieden sind; und gerade dieses Moment
ist es ja auch, welches der vollständigen
Entfernung der Exsudate durch die Punktion
^in unüberwindliches Hinderniss entgegen¬
setzt. , Da wir nun einerseits wissen, dass
Exsudate erst dann resorbirt werden, wenn
ihr osmotischer Druck dem des Blutes
Gegenwart 1903.
gleich geworden ist und auf der anderen
Seite gesehen haben, dass abgekapselte
Exsudate, die einen höheren osmotischen
Druck aufweisen als das Blut, durch die
räumlichen Verhältnisse verhindert sind,
ihren osmotischen Druck durch Verdünnung
herabzusetzen, so ist es klar, dass solche
Exsudate einer spontanen Reso rption
nicht anheimfallen können und, wenn
irgend möglich, durch Punktion zu entfernen
sind. Ist jedoch ein Exsudat, wie so häufig,
mehrkammerig, so dass es ausgeschlossen
erscheint, jede einzelne dieser Kammern mit
der Punktionsnadel anzustechen, so bleibt
dieser Weg aussichtslos, und wir können
nur durch eine vorübergehende Er¬
höhung des osmotischen Druckes
des Blutes bis auf die Höhe derjeni¬
gen des Exsudates die Aufsaugung
des Exsudates herbeiführen.
Zur vorübergehenden Erhöhung des os¬
motischen Druckes des Blutes stehen uns
eine Reihe von Mitteln zur Verfügung. Die
Diät ist, wie Koranyi gezeigt und worauf
auch Senator und jüngst erst Nagel¬
schmidt, der unter H. Strauss arbeitete,
hingewiesen haben, insofern von Einfluss
auf den osmotischen Druck des Blutes, als
eine eiweissreiche Nahrung durch den Zer¬
fall ihrer complicirten Molecüle in eine
grosse Zahl einfacher Molecüle den os¬
motischen Druck des Blutes erhöht. Grosser
Kochsalzgehalt der Nahrung bewirkt das¬
selbe. Auch Sch witzproceduren er¬
höhen den osmotischen Druck des Blutes.
Auf experimentellem Wege ist es gelungen,
durch endovenöse NaCl-Einspritzun-
gen dasselbe Ziel zu erreichen. Vor zwei
Jahren hat Hughes eine Arbeit veröffent¬
licht, die er zusammen mit mir im Bade¬
haus zu Soden angefertigt hat zum Zwecke
der Erforschung des Einflusses der Sool-
bäder auf den osmotischen Druck des Blutes.
Dabei hat es sich gezeigt, dass Soolbäder,
deren osmotischer Druck grösser ist als
der des Blutes, eine Erhöhung des osmoti¬
schen Druckes des Blutes herbeizuführen
im Stande sind, und es ist mir garnicht
zweifelhaft, dass auf diese Thatsache
die bisher unerklärte resorbirende
Wirkung der Soolbäder auf alte, ab¬
gekapselte Exsudate zurückzuführen
ist. Als weiteren Beleg für diese resor¬
birende Wirkung unserer Sodener Sool¬
bäder möchte ich auf 36 Krankengeschich¬
ten hinweisen von Patienten, die ich in den
letzten fünf Jahren zu beobachten Gelegen¬
heit hatte und bei welchen es im Laufe
einer systematisch durchgeführten, vier bis
sechs Wochen dauernden Soolbädercur zur
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21 *
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
164
Die Therapie der Gegenwart 1903.
April
vollständigen Spontanresorption von seit
Monaten bestandenen pleuritischen Ergüssen
gekommen ist. Nach den Arbeiten von
Dünschmann, Koskiewitsch, Strauss
und neuestens von Grube, müssen wir
auch dem systematisch vorgenom¬
menen Mineralwassergenuss einenEin-
fluss auf die Erhöhung des osmotischen
Druckes des Blutes zuschreiben.
Bei Anwesenheit von nicht resorbirten
hochconcentrirten Exsudaten wird somit
die Verbindung der Soolbädercur mit einer
Trinkcur den Erfolg beschleunigen. Wenn
ich hiermit den Werth der baineologischen
Maassnahmen zur Entfernung veralteter
Exsudate lediglich nach ihrem Einfluss auf
den osmotischen Druck des Blutes zu be¬
messen scheine, so verkenne ich keines¬
wegs die Bedeutung aller sonstiger Heil-
factoren in der Nachbehandlung pleuriti-
scher Ergüsse. War ich auch bisher nicht
genöthigt, bei den uns zur Behandlung an¬
vertrauten Patienten auf medicamentöse
Heilmittel zurückzukommen, so machte ich
von den systematischen Athmungsübungen,
der kunstgemässen Athmungsgymnastik um
so reichlicheren Gebrauch. Ich habe ja im
Beginne meiner Ausführungen darauf hin¬
gewiesen, dass der Bewegungsmechanismus
des Brustkorbes in hohem Masse der Re¬
sorption der Exsudate förderlich ist. Ver¬
tiefte Athmung bewirkt demgemäss, worauf
ja schon Penzoldt hingewiesen hat, einen
günstigen Einfluss auf den Resorptionsvor¬
gang. Zur Anregung forcirter Athmung
stehen uns eine Reihe von Hilfsmitteln zur
Verfügung. Neben den allgemein geübten
gymnastischen Vorschriften habe ich in
jüngster Zeit besonders durch Einathmung
verdünnter Luft günstige Erfolge bei Be¬
handlung der Exsudate gesehen. Der hier¬
bei entstehende Lufthunger zwingt den Pa¬
tienten zur Vertiefung der Inspiration und
bewirkt dann einen übenden Einfluss auf
die Athmungsstärke.
Ich möchte diese Ausführungen nicht
schliessen, ohne zu betonen, dass die hier
angeführten Heilfactoren nicht die sonst
übliche Behandlungsweise pleuritischer Ex¬
sudate ersetzen können, dass sie aber, sinn¬
gemäss angewandt, erfreuliche Resultate
zeitigen, wenn mangelhafte oder verzögerte
Resorption die Reconvalescenz hintan¬
halten.
Aus der psychiatrischen Klinik der Universität Strassburg.
(Director: Prof. Dr. Fürstner.)
Therapeutische Erfahrungen mit Veronal.
Von Dr. M. RoSCIlfeld, I. Assistent der Klinik.
Herr Prof. v. Mering übersandte uns
vor einigen Monaten ein neues Präparat,
das den Namen Veronal führte, und er¬
suchte uns, seine hypnotische Wirkung zu
prüfen.
Im vorigen Heft dieser Zeitschrift haben
nun Emil Fischer und v. Mering einen
Artikel über eine neue Klasse von Schlaf¬
mitteln veröffentlicht und über deren che¬
mische Constitution, soweit sie die Leser
dieser Zeitschrift interessiren kann, und
über die Stellung dieser neuen Mittel zu
den bereits bekannten Mittheilung gemacht.
Auch die chemische Zusammensetzung des
Veronals findet daselbst ihre Bespre¬
chung. Es steht mir also nicht zu, hier
theoretische Erörterungen über die Con¬
stitution des Veronals zu geben. Ich ver¬
weise auf jenen Artikel und beschränke
mich darauf mitzutheilen, welche Erfah¬
rungen wir am Krankenbette mit diesem
neuen Hypnoticum gemacht haben.
Wir haben das Präparat — es standen
uns etwa 280 g zur Verfügung — sowohl
an dem neurologischen wie psychiatrischen
Material geprüft, und zwar an ca. 50 Fällen,
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die den verschiedensten Krankheitsformen
angehörten und die mit Agrypnie einher¬
gingen.
Es waren Fälle von einfacher Agrypnie,
von Hysterie, Neurasthenie, Fälle von An¬
ämie und Unterernährung, die ausser functio-
nellen Störungen mannichfacher Art auch
an Schlaflosigkeit laborirten, ferner Fälle
von neurasthenischer Depression, klimac-
terischer und periodischer Depression,
von Delirium tremens, chronischem Alko¬
holismus, Fälle von Dementia paranoides
und Katatonie.
Auf die Mittheilung der einzelnen Pro¬
tokolle muss ich natürlich verzichten.
Die besten Erfolge erzielte man mit
dem Veronal in den zuerst genannten
Gruppen von Fällen.
In allen Fällen von einfacher Schlaf¬
losigkeit, ferner dann, wenn zahlreiche
Missempfindungen und Sensationen, ner¬
vöse Unruhe, Angstzustände und leichte
Depressionen die Schlaflosigkeit bedingten,
Fälle die bald mehr der Hysterie, bald
der Neurasthenie zuzurechnen waren,
leistete das Veronal gute Dienste. Einen
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegenwart 1903.
165
derartigen Fall möchte ich deshalb er¬
wähnen, weil in demselben weder durch
Bromkali (3 g). noch durch Trional (1 g),
noch durch Chloral und warme protra-
hirte Bäder Schlaflosigkeit erzielt wurde
und auf 1 g Veronal nach circ s /4 Stun¬
den tiefer Schlaf auftrat, der 10 Stunden
anhielt. Auch am Nachmittag desselben
Tages konnten die Patienten einige Stun¬
den ruhen, was bis dahin unmöglich ge¬
wesen war.
Am nächsten Tage erzeugte 1,0 Vero¬
nal ebenfalls vorzüglichen Schlaf. Beim
Sistiren des Mittels trat allerdings sofort
wieder die Schlaflosigkeit auf. Es han¬
delte sich um eine 35 jährige Frau mit
zahlreichen hysterischen Symptomen.
Später erzielte man mit 0,5 Veronal
denselben Erfolg, der jedoch nur so lange
anhielt als das Mittel gegeben wurde.
Solche Fälle wie diesen haben wir
mehrfach beobachtet. In zwei Fällen ge¬
lang es auch, nachdem einmal durch Ve¬
ronal (1 g) genügender Schlaf erzielt war,
unter langsamer Reducirung der Dosis
auf 0 25 wieder natürlichen Schlaf herzu¬
stellen. So z. B. in einem Falle, in wel¬
chem bei einer anämischen Kranken¬
schwester nach Influenza zahlreiche Miss¬
empfindungen, Angstzustände und völlige
Schlaflosigkeit sich entwickelt hatten.
Gute Erfolge waren bei den neurasthe-
nischen, klimacterischen und periodischen
Depressionen zu verzeichnen.
Der Schlaf trat meist in Vi— 8 A Stunden
ein und dauerte bis zu 11 Stunden, be¬
sonders dann, wenn die Dosis 1 g betrug.
Auf die Nebenwirkungen und die Dosirung
komme ich unten noch im Zusammenhang
zurück.
Bei chronischem Alkoholismus und De¬
lirium tremens waren die Resultate nun
etwas andere; der Erfolg war bei diesen
Fällen nicht so constant. So z. B. wurde
bei einem typischen Fall von Delirium tre¬
mens, der am 3. Tage der Erkrankung im
floriden hallucinatorischen Stadium hinein¬
kam, Abends um 8 Uhr 1 g Veronal ge¬
geben; um 10 Uhr, da gar keine Beruhi¬
gung eingetreten war, noch 1 g. Jedoch
ohne Erfolg. Am nächsten Tage trat unter
Opiumbehandlung Beruhigung und tiefer
Schlaf ein, der in Genesung überging.
In einem anderen Falle von Delirium tre¬
mens wurde durch 1 g Veronal guter
Schlaf erzielt. In einem Falle von pro-
trahirten Alkoholdelirien, der zu Hause
schon mehrfach mit Hypnotica behandelt
war, wurde am 1. Tage mit 1,5 g Veronal
tiefer Schlaf erzeugt. Am 2. Tage hat
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0,5 Veronal ebenfalls sehr guten Erfolg.
Dann waren Schlafmittel unnöthig.
Bei einer Frau von 44 Jahren mit pro-
trahirten Alkoholdelirien wurde mit 1 g
Veronal nur dreistündiger Schlaf erzeugt.
In einem Falle von asthenischen Delirien
nach Pneumonie bei einem Trinker, der
völlige Schlaflosigkeit hatte und plötzliche
Erregungen mit raschen motorischen Acten
zeigte, trat nach 1 g Veronal zwar Be¬
ruhigung aber kein genügender Schlaf auf.
Am 3. Tage wurde 1,5 g Veronal gegeben
und daduich tiefer Schlaf erzeugt. Am
4. Tage brauchte der Patient nur noch
0,5, um genügenden Schlaf zu erzielen.
In der letzten Gruppe von Fällen, in
der Veronal angewendet wurde, in Fällen
von Katatonie und Dementia paranoides
waren die Erfolge ebenfalls nicht so vor¬
zügliche wie in den zuerst genannten
Krankheitszuständen. Die Dosis 1,5, die
einige Mal angewendet wurde, erzeugte
zwar auch in diesen Fällen mehrstündigen
Schlaf, während aber geringere Dosen nicht
den gewünschten Effect hatten und oft nur
Schlaf von einigen Stunden erzeugten oder
ganz ohne Wirkung blieben. Unsere Er¬
fahrungen sind aber gerade, was diese
Fälle angeht, noch sehr gering.
1 Kranker mit schwerer Dementia para¬
noides, der auf Trional (1 g) keinen ge¬
nügenden Schlaf hatte, erhielt am 3. August
1 g Veronal, auf welches er gut schlief.
Am 4. August 0,5; der Schlaf war ganz
ungenügend. Am 5. August 1,5; Schlaf
sehr gut. Am 6. August 1 g Veronal;
Schlaf ganz ungenügend, am 7. August
wieder 1,5 g, auf welche der Schlaf für
9 Stunden eintrat. In einem anderen Falle,
welcher eine 37jährige Frau mit Dementia
praecox betraf, erzeugte 1 g Veronal Schlaf
von 9—6 Uhr; am nächsten Tage blieb
dieselbe Dosis ohne Erfolg. In einem Falle
von Dementia paranoides (27 Jahre alt)
blieb 0.5 Veronal ohne Wirkung, während
am nächsten Tage 1 g einen neunstündigen
Schlaf hervorrief.
Diese Beispiele mögen genügen, um zu
zeigen, dass bei diesen Krankheitsformen
die Wirkung des Veronals keine so ab¬
solut zuverlässige ist, wie bei anders be¬
dingten Zuständen von Agrypnie.
Was nun die unangenehmen Neben¬
wirkungen angeht, die nach Veronal auf-
treten können, so haben wir in dieser Be¬
ziehung nur Folgendes constatiren können.
Bei mehreren Frauen, die an den genann¬
ten functionellen Neurosen mit Agrypnie
litten, trat nach Verabfolgung von 1 g
beträchtlicher Grad von Schwindel, ge-
Qrigiraal from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
166
Die Therapie der Gegenwart 1903.
April
legentlich auch Brechneigung auf. So
z. B. in jenen Fällen, die ich oben citirte,
bei welchen andere Schlafmittel versagt
hatten. Die Patientin klagte am ersten
Tage nach einer guten Nacht über leichten
Schwindel. Am zweiten Tage, nachdem
Patientin wieder 1 g Veronal erhalten,
nahm der Schwindel so zu, dass Patientin
geführt werden musste. Bei einer Dosis
von 0,5 g blieb Schwindel fort. Ebenso
klagten einige Fälle von klimacterischer
oder periodischer Depression über leichte
Schwindelzustände, jedoch meist nur dann,
wenn die Dosis 0,5 überschritten wurde.
In einem Falle von schwerer Hypo¬
chondrie wirkte 1 g Veronal noch einige
Stunden über die Nacht hinaus, so dass
der Patient noch den ganzen Vormittag
halb schlafend im Bett zubrachte. Die ge¬
nannten Störungen glichen sich aber immer
im Laufe eines Tages aus.
Die (Jrinsecretion habe ich speciell in
den Fällen, welche leichte Intoxications-
erscheinungen boten, dann aber auch in
den Fällen, welche einige Tage grössere
Dosen erhielten, controllirt. Irgend wel¬
che Veränderungen in der Beschaffenheit
des Urins habe ich nicht finden können.
Nur in einem Falle erschien der Urin am
sechsten Tage des Veronalgebrauches etwas
dunkler als sonst.
Was nun die Dosirung des Mittels an¬
geht, so überschreiten wir jetzt die Dosis
1,0 g nicht Wie schon erwähnt haben
wir die Dosis 1,5 in vier Fällen (zwei
Fällen von chronischem Alkoholismus,
einem Fall von Katatonie, einem Fall von
Dementia praecox) gegeben, ohne dass
schädliche Folgen constatirt werden konn¬
ten. Frauen sind im Ganzen etwas em¬
pfindlicher gegen das Veronal; sie reagiren
leichter und meist ist die Dosis 0.5 ge¬
nügend. Man muss auch bei der Ordina¬
tion von Veronal, wie auch bei andern Hyp-
notica, Alter, Geschlecht und Constitution
sorgfältig berücksichtigen.
In mehreren Fällen kam das Veronal
längere Zeit hindurch zur Anwendung*
Länger als 14 Tage hindurch haben wir es
bis jetzt nicht gegeben. Auch in diesen
Fällen traten keine anderweitigen Neben¬
wirkungen auf Auch eine Gewöhnung,
die es nothwendig machte, die Dosis zu
steigern, kam nicht zu Stande.
In einer Anzahl von Fällen gaben wir
abwechselnd Trional und Veronal, um die
Wirkung des letzteren mit dem Mittel,
was uns täglich gute Dienste leistet, zu
vergleichen. Es zeigte sich dabei, dass
0,5 g Veronal die gleiche Dosis von Trio¬
nal entschieden an Wirksamkeit übertraf.
Die Patienten bekamen die genannten Mittel
in Oblaten, so dass dieselben gewechselt
werden konnten, ohne dass die Patienten
es merkten. In zahlreichen Fällen wurde
die Angabe gemacht, dass der Schlaf auf
Veronal leiser und länger dauernd gewesen
war. Dasselbe Verhalten zeigte sich, wenn
man die Dosis beider Mittel auf 1 g stei-
j gerte. Nur in einzelnen Fällen und zwar
| jenen Gruppen, bei denen die Wirkung
i des Veronals überhaupt nicht so zuver-
i lässig war, wie sonst, also in jenen Fällen
von Katatonie und Dementria paranoides
schien das Veronal das Trional nicht zu
übertreffen. Jedoch sind diese wenigen
Beobachtungen nicht im Stande unser sonst
günstiges Uriheil über das Veronal umzu¬
stimmen. Unsere Erfahrungen mit diesem
neuen Hypnoticum sind durchaus dazu an-
gethan, die Erwartungen, die Professor v. M e-
ring auf dasselbe gesetzt hat, zu erfüllen.
Zusammenfassende Uebersichten.
Zur Tuberkulosefrage.
Zur Frage der Identität der Rinder¬
und Menschentuberkulose haben die letzten
Wochen eine Reihe von Beiträgen ge¬
bracht, die zum Theil Antworten auf die
(im Januarheft dieser Zeitschrift — s. S. 25
— von uns wiedergegebenen) letzten
Aeusserungen Koch’s darstellen. Troje 1 )
theilt die „einwandsfreie Beobachtung
eines Falles von Uebertragung der
Rindertuberkulose auf den Menschen
durch zufällige Hautimpfung mit
nachfolgender Ly m ph drüsentuber-
kulose“ mit: Ein 19jähriger Fleischer-
*) Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 11.
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lehrling, kräftig, aus kerngesunder Familie
stammend, der mit Phthisikern keinerlei
Berührung hat, zieht sich im Juli 1900 beim
Schlachten einer nachweislich tuberkulösen
Kuh eine leichte Verletzung am linken
Unterarm zu. Die Wunde heilt unter sach-
gemässer Behandlung zunächst glatt; nach
sechs Wochen aber entwickelt sich an
ihrer Stelle eine eigentümliche, unter dem
Bilde des tuberkulösen Geschwürs auf¬
tretende, später den Charakter des Lupus
annehmende tuberkulöse Hautaffection, die
von einer regionären tuberkulösen Lymph-
drüsenerkrankung begleitet ist. Nach
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
April
167
Die Therapie der Gegenwart 1903.
4% Monaten werden die makroskopischen
Erkrankungsheerde, ein fünfmarkstück¬
grosses Hautstück an der Verletzungsstelle
und ein Lymphknoten am Ellenbogen, ope¬
rativ entfernt (beide erwiesen sich bei mikro¬
skopischer Untersuchung als tuberkulös)
und der Patient erscheint im December
1900, nach glatter Wundheilung, als ge¬
sund. Nachdem er ein Jahr lang frei von
Krankheitserscheinungen geblieben, treten
1902 wieder Schmerzen im linken Unter¬
arm auf; im Juni 1902 constatirt Troje
Röthung der alten Operationsnarbe, auf
der drei kleine Lupusknötchen sichtbar
sind, oberhalb derselben eine markstück-
grosse Vorwölbung der normal glatten und
weissen Hautdecke mit Fluctuation, in der
Achselhöhle eine bohnengrosse, leicht
druckempfindliche Lymphdrüse. Troje
excidirt die alte Narbe und die oberhalb
gelegene vorgewölbte Hautstelle; er ge¬
langt dabei in eine subcutane Abscesshöhle,
die mit der Abscesswand exstirpirt wird.
Im September wird dann noch „die linke
Achselhöhle und die linke Jnfracla-
viculargrube, in der sich mittlererweile
ganze Packete von erbsen- bis
bohnengrossen Lymphomen ent¬
wickelt hatten, ausgeräumt. Prof. Be¬
ne cke (Braunschweig), der das exstirpirte
Material mikroskopisch untersuchte, con¬
statirt den tuberkulösen Charakter des
subcutanen Einschmelzungsheerdes und
der Lymphdrüsentumoren: die Bilder sind
„etwas eigenartig* 4 , „haben mit echter
Perlsucht viel Aehnlichkeit“, „in¬
dessen kommen durchaus ähnliche Bilder
fibröser Heilung auch bei gewöhnlichem
Lupus, bei welchem eine Beziehung zu
PerLuchtinfection ausgeschlossen ist, vor.* 4
Es ist also eine sichere histologLche
Identificirung des Falles als Rindertuberkel-
bacilleninfection, i. e. als Perlsucht im Gegen¬
satz zu gewöhnlicher Tuberkulose, nicht
möglich gewesen; trotzdem — meint Troje
— hiesse es nach Lage der Dinge der
Logik Zwang anthun, wollte man nicht die
recidivirende tuberkulöse Erkrankung der
Haut, sowie die nachfolgende tuberkulöse
Erkrankung der Lymphdrüsen in diesem
Falle auf eine Uebertragung von Perlsucht¬
material vom Rind auf den Menschen
zurückführen. Koch selbst, dem Troje
seinen Fall vorstellte, hat diesem Schluss
„grosse Wahrscheinlichkeit“ zugesprochen.
Die Bedeutung des Troje’schen Falles
ist klar. Koch hatte behauptet, dass die
Hautinfection der Thierärzte, Fleischer etc.
mit perlsüchtigem Material stets als un¬
bedeutendes, von selbst heilendes Leiden
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verlaufe, dass in der gesammten Litteratur
kein einziger Fall vorliege, in welchem
nach einer solchen auf Infection mit Rinder¬
tuberkulose zurückführbaren localen Er¬
krankung eine regionäre Lymphdrüsen-
tuberkulose aufgetreten sei (vergl. d. Zeit¬
schrift, S. 25). Dieser Behauptung entzieht
Troje’s Mittheilung den Boden: die Haut¬
infection mit Rindertuberkelbacillen kann
beim Menschen zu sich ausbreitender Tuber¬
kulose lühren. Freilich rückt gerade Troje’s
Fall die Thatsache in scharfe Beleuchtung,
dass dies Vorkommniss ein seltenes,
ausnahmsweises ist, dass für die über¬
wiegende Mehrzahl der Fälle Koch’s Auf¬
fassung von der relativen Harmlosigkeit
und Unschädlichkeit solcher Hautinfection
mit Perlsuchtmaterial zutriffc.
X- *
In dem Umstande, dass in seinem Falle
eine sichere Differenzirung der histolo-
I gischen Erscheinungen von den durch
Tuberkelbacillen menschlicher Herkunft
erzeugten nicht möglich ist, sieht Troje
ein weiteres Beweismoment für die We-
i senseinheit der Menschentuberkel-
j bacillen und der Rindertuberkel-
I bacillen. Zu ähnlichem Ergebniss auf
anderem Wege gelangt v. Hanse mann 1 )
gelegentlich eines in der Berliner medici-
nischen Gesellschaft (Sitzung vom 4. Fe¬
bruar 1903) gehaltenen Vortrages über
Fütterungstuberkulose: Nach seiner
Meinung ist es für die Impfung mit tuber¬
kulösem Material in die Haut gleich¬
gültig, ob die Bacillen vom Rinde
oder Menschen stammten. Auch in
letzterem Falle verlaufe die Aflection local
und harmlos; das beweise der Leichen¬
tuberkel, „ein ungern gesehener, aber doch
keineswegs gefürchteter Gast.“ Das maass¬
gebende Moment sei die Disposition:
diese entscheide, ob eine Infection über¬
haupt erfolge und ob, resp. in welchem
Maasse sie sich ausbreite. Verletzungen
bei Sectionen tuberkulöser Menschen,
rechnet Hansemann, sind ungleich häu¬
figer, als die sog. Leichentuberkel. Er sah
solche in sieben Jahren, während welcher
ca. 250 Menschen bei den Sectionen in
seinem Institute beschäftigt waren, nur vier¬
mal. Wenn er diese Zahl selbst auf zehn
erhöhe und die Zahl der Secirenden auf
200 herabsetze, so würde das noch immer
95% nicht-disponirter Individuen ergeben.
Wegen der Nichtberücksichtigung des
Momentes der Disposition beanstandet
Hansemann auch einen anderen Punkt ir.
0 Bcrl. klin. Wochenschr. 1903, No. 7 u. 8.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
68
Die Therapie der Gegenwart 1903.
April
Koch’s Ausführungen, den Vergleich mit
dem Typhus und der Fleischvergiftung.
Wie bei diesen, so hatte Koch geschlossen
(vgl. S. 26), müssten auch bei der Tuber¬
kulose Gruppen- und Massenerkrankungen
Vorkommen, wenn wirklich Fleisch und
Milch perlsüchtiger Rinder als Tuberkulose¬
übertrager wirksam wären. Hansemann
hält den Vergleich der acuten Infectionen
mit der Tuberkulose überhaupt für unzu¬
lässig, weil bei letzterer zwischen dem Ein¬
dringen des Infectionserregers und dem
Hervortreten seiner Wirkung eine längere
Zeit liege, in der Schutzvorrichtungen in
Thätigkeit treten könnten, für deren Ent¬
faltung bei den acuten Infectionen keine
Zeit sei. Dann aber sei die Disposition
für den Typhus eine ganz andere — nach
Hansemann’s Ansicht eine viel höhere —
als für die Tuberkulose; insbesondere sei
die locale Disposition des Darms für
beide Infectionen eine verschiedene: der
Typhus ist eine ausgezeichnete Darm-
infection, während der Tuberkelbacillus im
Darme offenbar allerhand Hindernisse findet
und nur ganz selten durch ihn eindringt.
Mit letzterem Punkt, der tuberkulösen
Infection vom Darm aus, der eigentlichen
Fütterungstuberkulose, beschäftigt sich
Hansemann in seinem Vortrage besonders
eingehend. Sein Material umfasst 25 Fälle,
die innerhalb sieben Jahren zur Beobach¬
tung kamen. In fünf Fällen fand sich nur
ein tuberkulöses Geschwür im Darm und
sonst nichts von Tuberkulose. Esschliessen
sich zwölf Fälle an, in denen die Tuber¬
kulose von einem Darmgeschwür ausge¬
hend, auf die mesenterialen Lymphdrüsen
oder auf das Peritoneum sich fortgepflanzt
hat, während im übrigen Körper sich nichts
von Tuberkulose findet. In acht weiteren
Fällen schliesslich hat sich die Tuberkulose
ü6er den Bauchraum hinaus verbreitet, auf
das Perikard, die Pleura oder die Menin¬
gen übergegriffen, aber der Ausgang vom
Darm aus ist deutlich zu ersehen. In allen
Fällen — mit Ausnahme zweier, in denen
einige submiliare Tuberkel in der Lunge
sich fanden — sind die Lungen intact.
Dies hält Hansemann für wesentlich und
charakteristisch: „Die Lunge hat offenbar
keine Neigung, sich vom Darmcanal aus
zu inficiren.“
Die primäre Darmtuberkulose beim
Menschen bleibt somit in den meisten
Fällen eine gerinfügige AiTection: Es ent¬
steht an der Eintrittsstelle ein tuberkulöses
Geschwür, aber dieses kann so vollständig
ausheilen, dass eine Narbe nur schwer
oder überhaupt nicht nachweisbar ist. Ob
der Tuberkelbacillus die intacte Darm¬
schleimhaut passiren kann, ohne an der
Eingangspforte eine Veränderung zu er¬
zeugen, ist fraglich. Die Möglichkeit be¬
streitet Hansemann nicht, doch scheint
es ihm nicht erwiesen, auch nicht wahr¬
scheinlich; dagegen nimmt er an, dass
durch „irgendwie kranke, entzündete oder
ulcerirte Schleimhäute Tuberkelbacillen
hindurchgehen können, ohne an der Ein¬
gangspforte haften zu bleiben. * In den
mesenterialen Lymphdrüsen, in welche der
Bacill nun gelangt, ist die Verkäsung oft
wenig ausgedehnt, sie kann später durch
Verkalkung heilen; verkalkte Lymphdrüsen
im Mesenterium ohne sonstige Tuberkulose
sind nicht so seltene Befunde. Nur ein
kleinerer Theil der Fälle führt zu erheb¬
lichen Erscheinungen — Peritonitis, Peri¬
karditis, Pleuritis, Meningitis.
Die Disposition des Menschen für die
tuberkulöse Infection vom Darm aus hält
Hansemann danach für eine geringe.
Einen Beweis dafür sieht er auch darin,
dass er unter 40 Sectionen von lungen¬
tuberkulösen Kindern unter 10 Jahren, also
Individuen, die erfahrungsgemäss nicht ex-
pectoriren, sondern alles Sputum herunter¬
schlucken, nur 16 Mal Darm tuberkulöse
und einmal eine Magentuberkulose consta-
tirte. Also Tuberkelbacillen, die sicher
virulent sind, „in Massen, wie sie in perl¬
süchtiger Milch oder Fleisch nicht aufge¬
nommen werden könnten, selbst wenn man
sich die Perlsuchtknoten ausschliesslich zur
Nahrung aussuchte", erzeugen bei Indivi¬
duen, die besonders disponirt sind (Be¬
weis: die vorhandene Lungentuberkulose),
noch nicht in der Hälfte der Falle
eine Darmtuberkulose!
Nach allem kommt Hansemann zu
folgenden Schlüssen: „Die primäre Fütte¬
rungstuberkulose vom Darm aus ist eine
seltene Erkrankung. Sie kommt meist bei
Schwerkranken oder Greisen oder bei be¬
sonders disponirten Individuen vor. In den
meisten Fällen kann sie frühzeitig ausheilen.
Zuweilen nimmt sie grössere Dimensionen
an und kann durch Propagation auf andere
Organe oder allerhand Zufälligkeiten den
Tod herbeiführen. Es ist bisher in keinem
Falle beobachtet worden, dass durch In¬
fection vom Darm aus eine Lungenschwind¬
sucht entstanden wäre.“
* •
♦
Rückt Hansemann die Frage der
Disposition in den Vordergrund, so be¬
schäftigt die bakteriologischen Forscher
mehr die verschiedene Virulenz der
Tuberkelbacillen.
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Gck igle
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegenwart 1903.
169
Die Angabe Koch’s von der Nichtüber¬
tragbarkeit der Menschentuberkulose auf
das Rind findet insoweit allgemeine Be¬
stätigung. als es im Experiment nur schwer
und in geringem Umfange, wenn überhaupt,
gelingt, Rinder mit Menschentuberkel¬
bacillen zu inficiren. Einen beweisenden
Versuch dieser Art theilt neuerdings Ci-
pollina 1 ) mit: Er liess ein 1 Monat altes
Kalb Menschentuberkelbacillen durch eine
tracheale Fistel inhaliren, injicirte ihm
grosse Mengen derselben intraperitoneal
und fand bei der Section nach 2 Monaten
keine Spur von Tuberkulose. — Die Nicht-
resp. Schwerübertragbarkeit von Menschen¬
tuberkelbacillen auf das Rind aber ist nicht,
wie Koch seinerzeit annahm, ein Zeichen
der Artverschiedenheit von Rinder- und
Menschentuberkelbacillen, sondern sie er¬
klärt sich nach Behring und seinen Mit¬
arbeitern aus der geringen Empfänglichkeit
des Rindes für Tuberkulose einerseits und
aus der geringen Virulenz der Menschen¬
tuberkelbacillen andererseits.
Ueber die biologischen Verschieden¬
heiten der Tuberkelbacillenstämme
verschiedener Herkunft wurden in
Behring's Institut in Marburg ausser¬
ordentlich umfassende Untersuchungen an¬
gestellt. deren Resultate P. H. Römer 2 ) in
seiner eben erschienenen Habilitationsschrift
zusammenstellt. Danach sind die Rinder¬
tuberkelbacillen im allgemeinen virulenter,
als Menschentuberkelbacillen; sie rufen
durchweg im Thierexperiment einen schwe¬
reren und rascheren Krankheitsverlauf her¬
vor und bewirken meist ausgedehntere
Organerkrankungen als die Menschen¬
tuberkelbacillen. Neu ist in dieser Hin¬
sicht die Feststellung Römer’s, dass weisse
Mäuse bei intraperitonealer Einverleibung
einer grossen Dosis (0.01 g) von Rinder¬
tuberkelbacillen in wenigen Tagen unter
den Erscheinungen einer Septicämie (Tb-
Bakteriämie) sterben („dieses Verhalten
ist geradezu typisch für die Rinder¬
tuberkelbacillen und könnte fast als diffe¬
rential-diagnostisches Mittel in Betracht
kommen*), während die gleiche Dosis von
Menschentuberkelbacillen eine relativ lang¬
sam sich generalisirende Tuberkulose her¬
vorruft.
Freilich ist die Virulenz, wie bei allen
anderen Bakterien, keine absolut constante.
Unter den zahlreichen Stämmen, die in
Behring’s Institut gezüchtet wurden, fand
*) Berl. klin. Woch. 1903, No. 8.
*) Ueber Tuberkelbacillenstämme verschiedener
Herkunft, R. Friedrich’s Univ. Buchdruckerei 1903,
Marburg.
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sich gelegentlich auch eine Menschentuber-
kelbacillencultur mit ungewöhnlich hoher
und eine Rindertuberkelbacillencultur mit
ungewöhnlich geringer Virulenz; auch sind
Virulenzsteigerungen einer Cultur möglich,
wie andererseits langsame Virulenzabnahme
ein gewöhnliches Vorkommniss ist. Ein
absolut durchgreifender Unterschied in
der krankmachenden Energie besteht also
zwischen Menschen- und Rindertuberkel¬
bacillen nicht — Anzeichen von Ueber-
gängen sind überall vorhanden. Immerhin
wird die einem Tuberkelbacillenstamm zu¬
kommende Virulenz im Allgemeinen ziem¬
lich energisch festgehalten.
Es ergab sich nun bei den zahlreichen
Infectionsversuchen, die in Behring’s In¬
stitut vorgenommen wurden, „dass ein
Tuberkelbacillenstamm, welcher für
eine Thierart virulenter ist als ein
anderer unter allen Umständen auch
für alle anderen Versuchsthiere
sich infectiöser erweist als dieser“.
Ferner, dass sich „eine Empfänglich¬
keitsskala derart aufstellen lässt,
dass Meerschweine am meisten
empfänglich für das Tuberkulose¬
virussind, ihnen Kaninchen, hierauf
Pferde, Ziegen und Schafe und end¬
lich Rinder folgen“; „ein Stamm, der
beispielsweise für Kaninchen und Pferde
wenig virulent ist, wird dies erst recht für
Schafe, Ziegen und Rinder sein und ein
Stamm, der Rinder tödtet, ist erst recht
gefährlich für die in der Skala weiter oben
stehenden Thierarten.“
Diese Angaben bedürfen noch weiterer
Prüfung; wenn sie sich bestätigen, ge¬
währen sie einen Standpunkt, der Koch’s
Versuchsergebnisse und die zahlreichen
ihn bestätigenden Versuche (wie den oben
erwähnten von Cipollina) in gleicher
Weise verständlich macht, wie die wenigen
widersprechenden Resultate von gelegent¬
lichem Gelingen der Uebertragung von
Menschentuberkelbacillen auf das Rind:
das Rind wäre eben für Tuberkelbacillen
überhaupt wenig empfänglich und für die
Menschentuberkelbacillen ganz besonders
wenig, weil sie im allgemeinen wenig viru¬
lent sind ; Menschentuberkelbacillen aber von
stärkerer Virulenz als gewöhnlich oder in be-:
sonders grosser Menge dem Rinde einver¬
leibt, würden dasselbe zu inficiren vermögen.
Betrachten wir von dem hier ge¬
wonnenen Gesichtspunkt aus die Frage der
Uebertragung von Rindertuberkelbacillen
auf den Menschen, so ist zwar die Stel¬
lung des Menschen in der Behring’schen
22
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
170
Die Therapie der Gegenwart 1903.
April
Empfänglichkeitsskala natürlich nicht genau
festzustellen — sie dürfte eine tiefe sein,
etwas oberhalb des Rindes. Aber die Viru¬
lenz der Rindertuberkelbacillen ist ira all¬
gemeinen eine höhere als die der Menschen¬
tuberkelbacillen. Danach ist die Infections-
möglichkeit des Menschen durch Rinder¬
tuberkelbacillen ohne Zweifel vor¬
handen; wie gross dieselbe ist, bleibt offen,
doch ist sie wahrscheinlich grösser, als
die Infectionsmöglichkeit des Rindes
durch Menschenbacillen — was noch
keineswegs bedeutet, dass sie gross ist.
So führt die 'rein bakteriologische Be¬
trachtung zu demselben Resultat, wie die
anatomische Untersuchung und die Ca-
suistik: Die Infectionsgefahr für den Men¬
schen durch tuberkulöses Vieh ist gering,
aber sicher vorhanden. Die prophy¬
laktischen Maassnahmen gegenüber Pro-
ducten perlsüchtiger Rinder müssen des¬
halb bestehen bleiben.
* X
*
Zum Schluss sei noch kurz auf den
Vortrag über „Tuberkulosebekämpfung“
hingewiesen, den E. v. Behring kürzlich
in Wien gehalten hat. 1 ) Was Behring in
demselben über den Fortschritt seiner
Immunisirungsarbeiten berichtet, haben wir
in einem früheren Referate (vergl. diese
Zeitschrift 1902, S. 261) bereits mitgetheilt.
Hinzuzufügen wäre noch, dass Behring
jetzt dazu übergegangen ist, möglichst junge
Kälber zu immunisiren. Wenn er 0,00+ g
seiner getrockneten Menschentuberkel¬
bacillen Kälbern von durchschnittlich 7 Mo¬
naten intravenös injicirte, trat nicht selten
t in mehrtägiges Fieber ein. Es hängt dies
wahrscheinlich damit zusammen, dass die
Kälber schon Tuberkelbacillen aufzunehmen
Gelegenheit hatten, wenn sie auch noch
nicht tuberkulös geworden sind. Je jünger
die Thiere sind, um so seltener werden
Tuberkulose Infectionen angetroffen. Des¬
halb bevorzugt Behring in der Praxis
jetzt die Impfung von Kälbern unter
3 Monaten; diese reagiren niemals acut
auf die intravenöse Einspritzung.
Ueber den Werth seiner Schutzimpfung
urtheilt Behring jetzt mit gesteigertem
Vertrauen. Bestätigende Versuchsergeb¬
nisse von Thomassen (Utrecht), der bis¬
herige Erfolg in der landwirtschaftlichen
Praxis, das 1 l /j Jahre lange Freibleiben
seiner eigenen geimpften Rinder in tuber¬
kulosedurchseuchten Ställen — alles dies
lässt ihn mit Bestimmtheit aussprechen,
dass es sich nur noch darum handeln kann,
ob die Form der Impfung die richtige ist
oder einer Verbesserung bedarf, dass aber
an ihrer Wirksamkeit im Princip ein
Zweifel nicht mehr existiren kann.
Was die Uebertragung der Instituts¬
experimente in die menschliche Praxis an¬
langt, so hat Behring therapeutische Ver¬
suche noch nicht angestellt und stellt sie
auch vorläufig nicht in Aussicht. Dagegen
denkt er an die Immunisirung der
Kinder. Von einer intravenösen Ein¬
spritzung der Bacillen wird dabei natür¬
lich nicht die Rede sein können; eine
isopathische Immunisirung stösst beim
Menschen überhaupt auf sehr grosse
Schwierigkeiten. Behring hat deshalb an
eine Immunisirung durch Antikörper ge¬
dacht. Freilich hält diese nur eine kurze
Zeit vor, während das Tuberkulosevirus eine
ausserordentlich zähe parasitäre Existenz¬
fähigkeit besitzt. Aber es wäre schon viel ge¬
wonnen, wenn man den Säugling über die
ersten Lebenswochen, die nach Behring
„die gefährlichste Periode der Tuberkulose-
Ansteckungsgefahr“ sind, hinwegbringen
könnte. Gerade beim Säugling liegen die Be¬
dingungen günstig, weil bei ihm Infections-
stoffe wie Antikörper noch unverändert
durch die Intestinalschleimhaut hindurch¬
gehen. Behring regt deshalb die Idee
an, menschliche Säuglinge mit der
Milch von tuberkuloseimmunenKühen
zu ernähren. Ob diese Idee realisirbar
ist, lässt Behring noch dahingestellt. Vor¬
erst will er im Thierversuch erproben, ob
mit derartiger Immunmilch bei Kälbern eine
Tuberkuloseimmunität zu erzeugen ist.
F. Klemperer.
Heilung der chronischen Nierenentzündung durch operative
Behandlung?
Ueber die Heilung des chronischen
Morbus Brightii durch operative Behandlung
hat der New Yorker Gynäkologe Professor
G. M. Edebohls Anfang vorigen Jahres
l ) berliner klin. Wochenschrift 1903, No. 1t.
Vortrag, gehalten im Wiener Verein für innere
Medicin am 12. März 1903.
eine kleine Broschüre erscheinen lassen,
welche vor Kurzem durch die Ueber-
setzung von Dr. Beuttner in Genf 1 ) auch
dem deutschen ärztlichen Publikum zu¬
gänglich gemacht wurde. Edebohls’
*) Verlag von H. Kündig, Genf, Corraterie.
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegenwart 1903.
171
Schrift soll hier in ausführlicher Inhalts¬
angabe wiedergegeben werden, weil seine
Resultate sehr erstaunliche sind und weil
seine Angaben unter allen Umständen eine
Nachprüfung verdienen. Die operative
Behandlung der chronischen Nephritis will
uns ja auf den ersten Blick als etwas Un¬
logisches erscheinen; wie soll eine Ge-
webstrennung zu einer Beeinflussung cellu¬
larer Vorgänge in der Niere führen, die
doch sicherlich durch hämatogene Ver¬
giftungen verursacht ist? — Wir werden
aber gut thun, nicht schnell abzusprechen,
sondern erst die Thatsachen genau zu
prüfen. Es wäre nicht das erste Mal, dass
aus den Erfolgen chirurgischer Eingriffe
neue pathologische Anschauungen sich ge¬
bildet hätten. — Edebohls selbst ist zu
seinem operativen Vorgehen keineswegs
durch eine leitende Theorie, sondern durch
die bewusste Weiterverfolgung zufällig er¬
zielter Erfolge gedrängt worden. Unter
seinen zahlreichen Patientinnen mit Wander¬
niere, denen er die gelockerte Niere fest¬
genäht hatte, befanden sich sechs, bei
denen zugleich chronische Nephritis be¬
stand; bei vier von diesen verschwanden
Eiweiss und Cylinder aus dem Harn einige
Zeit nach Ausführung der Nephropexie.
Dadurch ist Edebohls auf die Idee ge¬
kommen, ganz unabhängig von der Wan¬
derniere die chronische Nephritis durch
Nephropexie zu behandeln. Zuerst meinte
er, dass die günstigen Resultate nur durch
die Lagecorrectur erzielt würden. Später
aber konnte er, bei Gelegenheit neuer
Operationen nach vorausgegangener Ne¬
phropexie, die durch die letzteren an der
Niere gesetzten Veränderungen in vivo
studiren. Er bemerkte dabei die Bildung
von starkem Bindegewebe, das die Niere
mit der Umgebung verband; in den neuen
Adhäsionen und bindegewebigen Bändern
verliefen zahlreiche zum Theil grosse Ar¬
terien, deren Blutstrom nach der Niere zu
gerichtet war. Er bildete sich danach die
Vorstellung, dass eine durch die Operation
gesetzte Hyperämie der Niere den Haupt¬
factor bei der Heilung nephritischer Vor¬
gänge bildete. In Folge dessen begnügte
sich Edebohls bei seinen letzten Ope¬
rationen nicht mit der blossen Annähung
der Niere, sondern suchte das Parenchym
derselben in innige Berührung, mit dem
Nierenfettgewebe zu bringen, um möglichst
grosse Gefässneubildung zu erreichen. Dies
geschah durch möglichst vollkommene Ex-
cision der Nierenkapsel (decapsulatio renum).
Die Ausführung der Operation beschreibt
Edebohls in folgender Weise: „Die
•
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Patientin wird in Bauchlage auf den Ope¬
rationstisch gelegt, während das Abdomen
von einem Luftkissen gestützt wird. Die
Incision beginnt unterhalb der rechten
Rippe und geht zur Crista ilei; die Muskel¬
fasern des Latissimus dorsi werden stumpf
getrennt und zur Seite gedrängt. Tren¬
nung der Fascia transversalis, wodurch das
perirenale Fett freigelegt wird. Dieses
wird über der Nierenconvexität getrennt
und so die Capsula propria erreicht; die
Fettkapsel wird allerseits stumpf abgelöst,
auch um die Nierenpole herum, bis der
Hilus erreicht ist. Die Niere wird nun,
noch von der Capsula propria bekleidet,
aus dem Bett der Fettkapsel herausge¬
hoben und vor die Wunde gebracht. Die
Capsula propria wird dann auf der con¬
vexen Nierenseite der Länge nach ge¬
spalten und die Spaltung auch noch um
die beiden Pole herum weiter geführt;
jede Hallte wird für sich von der darunter
liegenden Nierensubstanz abgestreift, bis
die ganze Nierenoberfläche freiliegt. Die
abgelöste Capsel wird an der Nierenbasis
abgetragen. Die vorhergegangene Luxation
der Niere gestaltet diesen Act, der sonst
sehr schwierig sein würde, zu einem
leichten Eingriff. Die Niere wird in die
Fettumhüllung zurückgebracht und die
äussere Wunde geschlossen. Beide Nieren
werden nacheinander der Operation unter¬
worfen.“
Im Ganzen berichtet Edebohls über
18 Patientinnen, an welchen wegen chro¬
nischer Nephritis operative Eingriffe ge¬
macht worden sind, meist doppelseitige
Nephropexie, in den beiden letzten Fällen
die jetzt zur Normaloperation erhobene
Decapsulation. Es muss nun gleich be¬
tont werdrn, dass die Berichterstattung in
keiner Weise den Anforderungen ent¬
spricht, die wir an solche Darbietung zu
stellen gewöhnt sind. Die Krankenge¬
schichte besteht fast immer nur in der
kurzen Angabe: „die Bright’sche Krank¬
heit bestand seit so und so lange“, wir
erfahren fast niemals etwas über das All¬
gemeinbefinden der Patienten, den Unter¬
suchungsbefund der inneren Organe, auch
die Hambefunde sind nur selten einiger-
massen genau angeführt. Die genaue Dia¬
gnose wird erst durch den Nierenbefund
während der Operation gestellt; höchst
auffallend ist dabei, dass in den meisten
Fällen nur einseitige entzündliche Ver¬
änderungen an der Niere gefunden werden.
In den meisten Fällen müssen wir die ge¬
stellten Diagnosen auf Treu und Glauben
hinnehmen. Desgleichen sind die Nach-
22 *
TSrigiral frem
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
172
Die Therapie der Gegenwart 1903.
April
richten über das Befinden der Patienten
nach der Operation sehr lückenhaft und
zumeist muss sich der Leser mit der Notiz
begnügen: bald nach der Operation Hei¬
lung eingetreten, Harn normal.
Unter den 18 Operirten ist keiner der
Operation erlegen, zehn haben ein mannich-
faches Schicksal. Mehrere haben gar keine
Nachrichten gegeben, bei mehreren war
die Zeit nach der Operation noch zu kurz,
um verwerthbare Resultate zu geben; einige
sind etwas gebessert und erwarten noch
Heilung. Wirklich geheilt sind nach Ede-
bohls acht Patientinnen, bei welchen Ei-
weiss und Cylinder, welche vorher reich¬
lich vorhanden waren, vollkommen ver¬
schwanden. DieZeit des Verschwindens nach
derOperation schwankt zwischen 1 und 12 Mo¬
naten; die Dauer der Heilung beträgt bis
jetzt 12—100, im Durchschnitt 44 8 / 4 Monat.
— Edebohls stellt sich nach den
oben wiedergegebenen Befunden vor, dass
die Heilung durch die postoperative Hyper-
ämisation bewerkstelligt wurde und beruft
sich auf folgende Worte aus Ziegler's
Pathologie: „Wenn ein Theil des Nieren¬
epithel durch einen krankhaften Process zu
Grunde gegangen ist, der das Bindegewebe
verschont hat, so kann dieser Verlust bald
wieder durch regenerative Proliferation aus
dem übrig gebliebenen Epithel ersetzt
werden; ist dazu die Circulation eine ge¬
nügende, so kann das neugebildete Epithel
die secretorische Function des zu Grunde
gegangenen Epithels übernehmen.“ Die in
Folge der Operation zunehmende Blut¬
zufuhr soll auch die Aufsaugung der in der
Niere befindlichen Entzündungsprodukte
begünstigen. Jedenfalls kann die Heilung
durch die Operation nur eingeleitet werden,
während der Fortschritt der Heilung ein
langsamer, von der Entwicklung der Hyper-
ämisation abhängender ist. Edebohls ist
nach seinen Erfahrungen überzeugt, dass
die Bright'sche Krankheit durch operative
Eingriffe geheilt werden kann. Er vertritt
den Standpunkt, dass jeder Patient mit
chronischer Nephritis der operativen Be¬
handlung unterworfen werden soll, der
nicht unheilbare Complicationen aufweist,
die ihrerseits die Narkose contraindiciren
und dessen Lebensdauer ohne Operation
muthmasslich noch mehr als einen Monat
beträgt. Die Operation kann nicht schnelle
Heilung bringen, aber sie bahnt eine all¬
mähliche Heilung durch Besserung der
Circulationsverhältnisse an. — Der deutsche
Leser wird mit Verwunderung wahrnehmen,
wie wenig Material zur Begründung seiner
Behauptungen Edebohls beibringt; so
schwerwiegende Fragen können durch
so wenig ausführliche Krankenge¬
schichten natürlich nicht entschieden
werden; auch das fast vollständige Fehlen
aller mikroskopischen und histologischen
Untersuchungen wirkt sehr störend. Trotz
alledem dürfen die von Edebohls berich¬
teten Thatsachen natürlich nicht ignorirt
werden. Es ist einigermassen auffallend,
dass 5 / 4 Jahr seit der Publikation Ede¬
bohls’ vergangen sind, ohne dass von
deutschen Chirurgen über ähnliche Ope¬
rationen berichtet ist. So augenfällig die
Lückenhaftigkeit der literarischen Leistun¬
gen des amerikanischen Operateurs ist, so
ist doch eine Nachprüfung seiner Angaben
dringend geboten. Da die Aussichten des
chronischen Morbus Brightii bei innerlicher
Behandlung wenig tröstliche sind, anderer¬
seits die „Decapsulation“ nach Edebohls
einen gefahrlosen Eingriff darstellt, so
möchte ich doch wenigstens in desolaten
Fällen von chronischer Nephritis zur Vor¬
nahme der Operation rathen, damit aus gut be¬
obachteten Verlaufsformen Klarheit hervor¬
ginge, ob wirklich die chirurgische Therapie
des Morbus Brightii in Zukunft ernsthaft in
Betracht zu ziehen ist. G. Klemperer.
r
Bücherbesprechungen.
E. Metschnikoff. Immunität bei In-
fectionskrankheiten. Uebersetzung
von Julius Meyer. Jena, Gustav
Fischer. M. 10.—.
Mit grossen Erwartungen durfte man an
die Lektüre des Werkes des hervorragenden
Pathologen gehen und es sei gleich betont,
dass die Hoffnung auf einen interessanten li¬
terarischen Genuss durchaus berechtigt war.
Verfasser giebt in fliessender Schreibweise
eine fesselnde Darstellung der Immunitäts¬
probleme, wobei weder das grosse That-
Digitized by Google
sachenmaterial, das namentlich durch die
Forschungen französischer und deutscher
Autoren gewonnen wurde, noch die wich¬
tigen, heuristischen Hypothesen und Theo¬
rien zu kurz kommen. Die umfassende,
zoologische und historische Bildung des
ideenreichen Autors heben das Buch über
das Niveau, das im Allgemeinen bei der
Zusammenstellung von Lehrbüchern erreicht
wird. Natürlich stellt Verfasser seine be¬
kannten, keineswegs allgemein getheilten
Anschauungen in den Vordergrund, wird
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegenwart 1903.
173
jedoch fast durchweg den abweichenden
Ansichten anderer Forscher gerecht. Die
Uebersetzung darf als mustergültig be¬
zeichnet werden.
Alle diese Vorzüge, insbesondere die
subjective Durchdringung der ganzen Lehre
von einer originellen Anschauung aus,
machen das Buch Demjenigen werthvoll,
der die wichtigsten Thatsachen des Gebietes
kennt und auf Grund eigener Untersuchun¬
gen beurtheilen kann. Zur Einführung
in die Lehre der Immunität kann das
Buch jedoch nicht empfohlen werden.
Martin Jacoby (Heidelberg.)
0. Minkowski. Die Gicht. Specielle Pa¬
thologie und Therapie. Herausgegeben
von Nothnagel. VII. Bd. III. Theil.
Wien 1903. Alfred Hölder. M. 9.-.
Wir dürfen ehrlich bekennen, dass dieses
Kapitel der Pathologie, die Gicht, so gut
wie keinen Fortschritt mehr gemacht hat,
seitdem Garrod sein klassisches Buch
darüber geschrieben hat, und das sind über
40 Jahre her! Trotz unermüdlichster For¬
schungsarbeit, die hier aufgewendet worden
ist, haben wir heute von dem Wesen dieser
Krankheit noch keine sichereren Vorstel¬
lungen wie damals und unser bestes
Wissen darin ist immer noch Empirie!
Nur in der Erkenntniss der Herkunft und
des Wesens der Harnsäure haben wir
heute etwas präcisere Vorstellungen, aber
selbst deren Rolle für die Pathologie der
Gicht ist eine umstrittene. Es war daher
gewiss eine schwierige und heikle Auf¬
gabe, gegenwärtig eine Monographie über
die Gicht zu schreiben. Ein Kliniker von
derBedeutungMinkowski’s, dessen gleich¬
zeitige experimentelle Erfahrung und Kritik
eine so unbestrittene ist, durfte wohl das
Wagniss unternehmen. Dass er ihm ge¬
wachsen war, zeigt sein Werk. Der Prak¬
tiker, der über reiche Erfahrung in einem
grossen Wirkungskreis gebietet, vereinigt
sich hier mit dem experimentellen Patho¬
logen zu einer guten Harmonie!
Wenn der Verfasser selber im ersten
Kapitel seines Werkes darüber Klage führt,
dass auch am Schluss des XIX. Jahrhun¬
derts die Ansichten über das Wesen der
Gicht nicht minder auseinandergehen und
nicht sicherer begründet sind als in den
frühesten Zeiten, in welchen man über die
Entstehung dieser Krankheit nachzudenken
begann, so verkennt er doch nicht „den
verheissungsvollen Ausblick in die Zu¬
kunft*, den uns das neue Jahrhundert ge¬
währt. Zwei Momente moderner Forschung
hält er für bedeutungsvoll zu der einstigen
Digltlzed by Google
Erforschung der Rolle der Harnsäure im
menschlichen Organismus und der Patho¬
genese der Gicht. Einmal die durch die
Arbeiten von Miescher und Kossel ge¬
schaffene Erkenntniss von dem Ursprung
der Harnsäure und ihrem Zusammenhang
mit den Kerneiweissen. und zum anderen
die Erforschung der chemischen Natur der
Harnsäure, die durch E. Fischer’s be¬
rühmte Untersuchung über die Purinkörper
abgeschlossen worden ist. — Freilich von
da bis zur Aufklärung des Wesens der
Gicht ist noch ein langer Weg! —
Wir müssen uns versagen, der aus¬
gezeichneten Darstellung des Krankheits¬
bildes und seiner einzelnen Erscheinungen,
den physiologischen, pathologisch-anato¬
mischen, ätiologischen, diagnostischen, pro¬
gnostischen und therapeutischen Kapiteln
im Einzelnen gerecht zu werden, und
möchten nur auf einige Punkte, die uns für
die ganze Anschauung des Autors wesent¬
lich erscheinen, etwas näher eingehen.
Minkowski hat bekanntlich im Jahre
1900 gleichzeitig mit Kossel’s Schüler
Goto die Beobachtung gemacht, dass man
nach dem Zusammenbringen einer alka¬
lischen Lösung von reiner Nucleinsäure
mit einer Lösung von harnsaurem Natron
in dem Gemisch weder durch Essigsäure
noch durch ammoniakalische Silberlösung
und Magnesiamischung Harnsäure mehr
ausfällen kann. Minkowski schloss dar¬
aus, dass dabei eine Harnsäure-Nuclein-
säureverbindung entstanden sei, die auch
bei saurer Reaction gelöst bleibt und mit
den gebräuchlichen Harnsäurereagentien
nicht mehr nachweisbar ist.
Auf Grund dieser Erfahrungen in vitro
hält er es nun für wahrscheinlich, dass
die Harnsäure, wie dies auch verwandte
Purinbasen vermögen, „im Blut und in
den Gewebssäften zunächst als Nu-
cleinsäureverbindung auftritt, und dass
durch diese Paarung mit dem Nuclein-
säurerest nicht nur der Uebergang der
Purinbasen in Harnsäure, sondern auch die
Lösung und der Transport, sowie das wei¬
tere Schicksal der Harnsäure im Organis¬
mus geregelt wird.“ Diese freilich durch¬
aus hypothetische Vorstellung Minkows-
ki’s zieht sich gewissermassen wie einrother
Faden durch seine Monographie hindurch;
in dem kurzen Kapitel „Theorie der Gicht“
wird diesem Gedanken sogar eine gewisse
beherrschende Stellung eingeräumt. Die
gemeinschaftliche Ursache, die seiner Mei¬
nung nach den beiden Haupterscheinungen
der Gicht, nämlich der Ueberladung des
Blutes mit Harnsäure sowie die Ablagerung
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
174
April
Die Therapie der Gegenwart 1903.
der Urate in den Gichtherden, zugrunde
liegt, ist ein abnormer Verlauf des Nuclein-
umsatzes. Infolge davon kommt es, dass
die Harnsäure nicht diejenigen Verbin¬
dungen eingehen kann, durch welche nor¬
malerweise ihr Transport im Körper und
ihr weiteres Schicksal vermittelt wird. Es
resultirt vielmehr eine abnorme Bin¬
dungsweise der Harnsäure, die nicht
mehr an die Stätten gelangen kann, wo sie
normalerweise zersetzt oder ausgeschieden
wird, vielleicht nicht mehr „harnfähig“ ist,
und deshalb nicht mit dem Harne eliminirt
wird. Die Folge davon ist die Anhäufung
der Harnsäure im Blut, resp. die Ablage¬
rung in den Uratherden. — Durch diese
Annahme einer abnormen Bindungsweise
der Harnsäure zur Erklärung der Harn¬
säurevermehrung im Blute des Gichtikers
sowie der Uratablagerungen begegnet
Minkowski zweifellos sehr geschickt dem
naheliegenden Einwand, den man gegen
seine Vorstellung von der Rolle der Harn¬
säure Nucleinsäureverbindung im Blut er¬
heben müsste, dass es nämlich unter diesen
Umständen überhaupt unmöglich wäre, eine
Harnsäurevermehrung im Blute mit den ge¬
bräuchlichen Methoden nachzuweisen! Die
Möglichkeit eines derartigen Nachweises,
muss also schon allemal eine pathologische
Bindungsweise der Harnsäure zur Voraus¬
setzung haben. Bei anderen nichtgichti¬
schen Uracidämieen, z. B. bei derLeukämie,
denkt Minkowski an eine andere Bin¬
dungsweise der Harnsäure als bei der
Gicht. Er hält es sogar für wahrscheinlich,
dass das Versagen der Garrod’sehen
Fadenprobe im Leukämikerblut auf seinem
hohen Nucleinsäuregehalt beruht, welcher
auch die Ursache sei für die Seltenheit der
Uratablagerungen bei der Leukämie. — Wie
kommt es dann aber, dürften wir wohl
einwenden, dass sich diese leukämische
Uracidämie durch die Harnsäurereagentien
überhaupt nachweisen lässt?
Wenn Minkowski gar so weit geht,
es für möglich zu halten, dass dem Gich-
tiker eine nucleinreiche Nahrung unter Um¬
ständen mehr Nutzen durch Mehrzufuhr
solcher harnsäurelösenden Nucleinsäure
bringen könne als Schaden durch die in
folge vermehrter Purinkörperzufuhr erhöhte
Harnsäurebildung, so lassen sich gegen
diese Auffassung gewisse Bedenken nicht
unterdrücken. Wenn dem nämlich so wäre,
so dürfte doch dann auch bei vermehrter
Nucleinzufuhr die Blutharnsäure infolge
ihrer Bindung als Harnsäure-Nucleinsäure
auf dem gewöhnlichen Wege nicht nach¬
weisbar sein. Nun hat aber Wein trau d
doch bei seinen bekannten Fütterungs¬
versuchen mit Thymus, die zu starker
Harnsäurevermehrung im Urin geführt
haben, auch eine beträchtliche Vermehrung
der Blutharnsäure mit den Harnsäure¬
reagentien nachweisen können!
Als bemerkenswerth möchten wir aus
dem Kapitel „über die pathologisch-anato¬
mischen Veränderungen bei der Gicht“
hervorheben, dass Minkowski da mit der
seit Ebstein’s Untersuchungen allgemein
acceptirten Vorstellung bricht, dass die
Nekrose der Gichtheerde die primäre und
die Uratablagerung die secundäre Er¬
scheinung sei. Minkowski ist, gestützt
auf eigene Untersuchungen an Präpa¬
raten von Gichtheerden, der Meinung,
„dass die neueren Autoren — im Bann
der Ebstein’schen Lehre — die Grund¬
frage zu sehr aus dem Auge gelassen
haben: Bestehen denn die Heerde, in
welchen die Uratmassen liegen, wirk¬
lich aus nekrotischem Gewebe?“ Diese
Vorstellung erscheint ihm aus verschie¬
denen Gründen unzutreffend, unter anderem
auch deshalb, weil nach seinen Erfahrungen
die nach Auflösung der Urate homogen aus¬
sehenden Gichtheerde bei der van Gieson-
schen Färbung nicht den für nekrotische
Gewebe charakteristischen Farbenton an¬
nehmen. Er betrachtet daher diese schwach¬
gefärbten homogenen Heerde als nichts
anderes „als die — höchstens mit den Ein¬
bettungsmassen (Celloidin und dergl.) an¬
gefüllten — Lücken oder allenfalls die
nach Auflösung der Krystalle zurück¬
bleibenden Einschlüsse, wie sie bei der
Krystallisation aus den, nichts weniger als
chemisch reinen, eiweisshaltigen Lösungen
mit den Uratkrystallen ausgefallen sein
müssen. . .“
Der Uratheerd umgiebt sich denn als
Fremdkörper nachträglich mit einem Gra¬
nulationswall, der entweder die Resorption
der abgelagerten Heerde auf dem Wege
der Phagocytose, und damit Rückbildung
des Heerdes besorgt oder zu einer Ab¬
kapselung der Uratmassen durch fibröses
Gewebe führt.
Auch die Ebstein’sche Vorstellung,
dass beim Zustandekommen der Gichtniere
eine Nekrose des Nierengewebes stets der.
Uratablagerung voraufgehe, betrachtet
Minkowski auf Grund fremder und eigener
anatomischer Untersuchungen als unwahr¬
scheinlich. Auch hier sieht er den pri¬
mären Process in krystallinischen Urat-
ausscheidungen, deren erste Anfänge sich
in den Epithelien der gewundenen Harn-
canälchen abspielen.
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
175
Die Therapie der Gegenwart 1903.
So wäre also die als Natriumurat aus
dem dauernd mit Harnsäure überladenen
Blut und Gewebesaft ausfallende Harnsäure
wieder als primäres Moment bei dem Zu¬
standekommen der Gichtheerde mit Ehren
eingesetzt!
Ein umfangreicher Abschnitt des Buches
ist der Therapie der Gicht gewidmet. Ihre
Aufgaben bestehen in einer Beeinflussung
der primären Stoffwechselanomalie in dem
Sinne, dass Schädlichkeiten ausgeschaltet
werden, die erfahrungsgemäss als günstige
Momente für die Entwickelung der Gicht
in Frage kommen. Einer der wichtigsten
Gesichtspunkte der Therapie ist, eine
Lieberladung des Organismus mit Harn¬
säure zu verhindern. Das geschieht durch
Verminderung der Harnsäurebildung in¬
folge verminderter Zufuhr von Harnsäure¬
vorstufen in der Nahrung, das geschieht
ferner durch Förderung der Harnsäure¬
ausscheidung mittelst Anregung der Harn-
secretion auf dem Wege reichlicher Flüssig¬
keitszufuhr, das geschieht weiter durch
Beschleunigung der Harnsäureoxydation,
wozu uns freilich nur die Erhöhung der
Arbeitsleistung des Organismus und da¬
mit der Gesammtsumme der Oxydations-
processe zur Verfügung steht; und endlich
arbeiten wir der Harnsäureüberladung des
Blutes entgegen durch Erhöhung der Harn¬
säurelöslichkeit. Die Verabreichung von
hamsäurelöslichen Salzen und Basen, wie
Lithium, Piperazin, Lysidin u. s. w. lässt
sich nach unseren heutigen Erfahrungen
schlecht rechtfertigen. Aussichtsreicher
sind — wie Minkowski mit Recht hervor¬
hebt — Bemühungen, die darauf ab¬
zielen, die Harnsäure im Organismus in
festere Verbindung mit organischen Atom-
complexen überzuführen, die bei der elek¬
trolytischen Dissociation ihrer Lösungen
nicht ein Harnsäure-Ion abspalten, wie die
salzartigen Verbindungen der Harnsäure
es thun müssen, sondern ein leichtlösliches
Ion, in dem die Harnsäure an ein compli-
cirtes Atom gekettet ist. Als solche Ver¬
bindung kennen wir die leicht lösliche
Formaldehyd - Harnsäureverbindung , die
vielleicht noch einmal für die Gichttherapie
praktische Bedeutung erlangt.
Gemäss seiner Deutung von der Rolle
der Harnsäure-Nucleinsäureverbindung im
intermediären Stoffwechsel, hat Min¬
kowski auch den Versuch gemacht, aus
der Nucleinsäure und ihren Spaltproducten
therapeutischen Nutzen zu ziehen. Er ver¬
abreichte zu dem Zweck eine purinbasen¬
arme Nucleinsäure, die Thyminsäure, an
Gichtische. Dabei schien es in einem Fall,
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als ob auch die vorhandenen Gichtknoten
sich etwas verkleinert hätten, bei gleich¬
zeitiger erhöhter Harnsäureausscheidung.
Die Resultate sind indess nicht eindeutig;
immerhin hält es Minkowski nicht für
aussichtslos, Versuche in dieser Richtung
fortzusetzen.
Wenn auch der weitere Fortgang in
der Entwicklung der Lehre von der Gicht
noch manche Wandlungen in unseren
Vorstellungen über das Wesen dieser
Stoffwechselerkrankung bringen wird, so
wird doch diese hervorragende Min-
kowski’sche Bearbeitung immer ein be¬
deutender Markstein ihrer Entwicklung
bleiben. Ein Werk, das wie dieses so
reich ist an Ideen, an eigener Arbeit
und eigener Erfahrung wird sicherlich in
unserer Litteratur, die keinen Ueberfluss
hat an guten Gichtmonographien, die
warme Anerkennung finden, die es in
höchstem Maasse verdient.
F. Umber (Berlin).
i Dr. Otfrid Foerster, Assistent der Psy¬
chiatrischen Klinik in Breslau. Die
Physiologie und Pathologie der
Coordination. Jena 1902, Gustav
Fischer. M. 7.—.
Im Vorwort zu seinem Buche weist
Verfasser darauf hin, dass eine zusammen¬
fassende Darstellung der Lehre von der
Coordination der Bewegungen bisher fehle,
und auch die Analyse der jeweiligen Effect¬
störungen eine lückenhafte sei. Man habe
sich viel zu sehr darauf beschränkt, bei
den einzelnen Erkrankungen des Nerven¬
systems künstlich gewählte Manöver zur
Demonstration der pathologischen Ver¬
hältnisse heranzuziehen und die Anomalien
in der Ausführung der natürlichen coor-
dinirten Effecte vernachlässigt. Letztere
Methodik habe aber eine besondere Be¬
rechtigung erlangt, seit die segensreichen
Folgen der rationellen Therapie der Be¬
wegungsstörungen mehr und mehr um sich
griffen. Diese physiologische Therapie —
die compensatorische Uebungstherapie —
setze eine genaue Kenntniss und Analyse
der Störung jedes einzelnen der Effecte
voraus. Ein Tabiker wolle wieder gehen
lernen und nicht blos dahin gelangen, in
Rückenlage mit dem Bein einen Kreis in
der Luft beschreiben zu können.
Verfasser theilt seinen Stoff in zwei
Theile und behandelt im ersten die Physio¬
logie und Pathologie der Coordination im
Allgemeinen, im zweiten umfangreicheren
die tabische Bewegungsstörung. Am
Schluss beider Theile ist die Therapie
Original fro-m
UNIVERSITf OF CALIFORNIA
176
Die Therapie der Gegenwart 1903.
April
besprochen, mithin am Schluss des ersteren
die Uebungstherapie im Allgemeinen: Da¬
rin, dass ein geschädigter Coordinations-
mechanismus durch Uebung wieder in sich
selbst verfeinert werden kann, liegt das
wichtige Element für die rationelle Therapie
der Coordinationsstörungen, insofern ist
sie eine „Uebungstherapie“; insofern denn
auch die Uebung der Compensation zu
Gute kommt, in der That eine compensa-
torische Uebungstherapie (Frenkel). —
Bezüglich der Tabes giebt Verfasser einen
ausführlichen Plan der therapeutischen
Maassnahmen. Principiell ist mit leichten
Uebungen, ev. Bettübungen zu beginnen
und allmählich zu complicirteren überzu¬
gehen. Zu warnen ist vor Uebermüdung,
die der Kranke oft selbst nicht merkt. Zur
Ausführung der Therapie bedarf es keines
grossen Apparates, mit den simpelsten
Vorrichtungen ist gleich viel zu erreichen.
An die Geduld und die Willenskraft des
Kranken ist permanent zu appelliren. Auch
die schwersten Fälle sind besserungsfähig;
dafür führt Verfasser drei Beispiele an.
Immerhin wird der Erfolg von der Pro¬
gredienz des Leidens abhängen; ganz aus-
bleiben, wenn auch nur relativ, wird er
kaum.
Auf die reiche, durch Illustrationen
geförderte Darstellung der physiologischen
und pathologischen Thatsachen und Er¬
scheinungen der Coordinationsstörungen
kann hier nicht eingegangen werden. Jeder,
der sich für die einschlägigen Fragen
interessirt, wird in dem Werke klare Be¬
lehrung finden, nicht nur der Fachkollege,
ein Jeder, der für eine rationelle The¬
rapie einer der häufigsten Erkrankungen
des Nervensystems begründeten Rath
und anregende Belehrung sucht.
de la Camp.
Referate.
Albarginclysmen empfiehlt Walther
Clemm, Darmstadt bei der Behandlung
von DickdarmafTectionen, besonders sol¬
chen, welche mit einer vermehrten Schleim¬
absonderung einhergehen (Enteritis (Coli¬
tis) membranacea). Verfasser ging bei der
Verwendung von dem Gedanken aus, dass
das Albargin — eine Verbindung von Pro-
togelatose mit Silbernitrat — nach Ab¬
spaltung der resorbirbaren Gelatose durch
das nun freie Silbernitrat günstig auf die
gereizten Becherzellen einwirken und sie
in ihrer Schleim-Ueberproduction heilend
beeinflussen würde. Die Anwendungs¬
weise dieser Clysmen besteht darin, dass
man 0,4 Albargin in V 4 1 körperwarmen
Wasser gelöst Abends bei erhöhtem Steiss
oder in linker Seitenlage in den Darm ein-
laufen lässt. Nachfolgender Lagewechsel
auf den Bauch und die linke Seite ist em-
pfehlenswerth. Diese Einläufe, die nicht
reizend wirken, werden vom Darm zurück-
gehalten und entfalten nach den Erfah¬
rungen des Verfassers, der seine Aus¬
führungen durch 9 Krankengeschichten
illustrirt, eine äusserst wohlthätige Wir¬
kung auf die Darmschleimhaut, besonders
in der prompten Beseitigung übermässiger
Schleimproduction und der so oft dabei
bestehenden Obstipation. Diese Wirkung
trat auch in Fällen ein, wo wochenlang
vorher Fleiner’sche Oelclystire mehr oder
weniger erfolglos angewandt waren, auch
scheinen sie bestehende Aflfectionen der
Gallenblase günstig zu beeinflussen. Die
Albarginbleibeclystire werden anfangs täg¬
lich, später dreimal und seltener pro Woche
wiederholt. Die bisherigen Erfahrungen
fordern zur Nachprüfung auf.
Carl Berger (Dresden).
(Archiv fQr Verdauungskrankheiten Bd. IX, H. 1.)
Als Claudicatio intermittens des
Darmes bezeichnet Ortner-Wien eine
eigenthümlichen Complex von anfallsweisen
Darmerscheinungen, die er auf Angio-
sklerose der Darmarterien zurückiohrt
Die Veranlassung zur Aufstellung dieses
Krankheitsbildes gibt ihm ein Fall, der
folgenden Verlauf nahm. Ein 55jähriger
Mann hatte etwa 2 Jahre hindurch im Leib,
und zwar in der Umgebung des Nabels, zeit¬
weilig anfallsweise Schmerzattacken, die 2
bis 3 Stunden nach jeder grösseren Mahlzeiit
einsetzten und 2—3 Stunden anhielten.
Dabei stellte sich eine mächtige Auftreibung
des Leibes und sehr starkes Spannungs¬
gefühl vornehmlich in der rechten unteren
Bauchgegend ein, mit Beklemmungen und
Kurzathmigkeit. Dabei Stuhlverhaltung,
bis zu mehrtägiger Obstipation, ausser¬
ordentlich übelriechende Entleerungen. Das
Colon ascendens und transversum war in¬
folge der starken Auftreibung schon von
aussen her als praller Wulst sichtbar. Es
wurde Probelaparatomie vorgenommen und
Patient starb zwei Tage nach der Lapara-
tomie an Peritonitis. Die Obduction ergab
eine stark atheromatöse Aorta und nament¬
lich vom Abgang der Coeliaca an nach ab-
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
177
Die Therapie di
wärts zahlreiche atheromatöse Geschwüre
der Innenwand der Aorta. Die Arteria
mesenteria superior und inferior ist bis in
ihre kleinsten Verzweigungen klaffend und
stark sklerosirt. Ortner stellte nun
dieses Symptomenbild in Analogiebeziehung
zu der Claudicatio intermittens der Extre¬
mitäten wie sie zuerst von Charcot be¬
schrieben worden ist. Auch sie hat arterio¬
sklerotische Gefässveränderungcn der be¬
fallenen Extremität zur Ursache, welche
wie schon Charcot annahm, durch Ischämie
eine funktionell nervöse Störung her-
vorrufen können: das intermittirende
Hinken. Ebenso glaubt Ortner, dass es
sich in seinem Fall um periodische Ischä-
mieen der vasomotorischen Darmnerven spe-
ciell der Vasoconstrictoren handelt, welche
auf dem Boden der Angiosklerose der Darm¬
arterien entstehen. Solche vasomotorische
Erscheinungen auf angiosklerotischer Grund¬
lage sind auch an der Retina beobachtet
worden. Diese Ischämie der Darmgefässe
führt dann, so meint Ortner, zur voll¬
ständigen Unterbrechung der Circulation
im betroffenen Gefässgebiete, damit zur
Bildung des localen Meteorismus und vor¬
übergehender Darmparese. Dyspragia inter¬
mittens angiosklerotica des Darmes lautet
die von Ortner vorgeschlagene Bezeich¬
nung für das von ihm gezeichnete Krank¬
heitsbild. Freilich ist es immer etwas ge¬
wagt auf Grund eines einzigen Falles und j
einiger Analogieschlüsse einen Krankheits- |
Typus konstruiren zu wollen, besonders
wenn die zu Grunde liegenden thatsäch-
lichen Momente so verschieden deut- ,
bare sind!
F. Umber (Berlin).
(Volkmann’s Sammlung klin. Vorträge 1903, j
No. 347.)
Die Resultate der Antitoxinbehand-
long bei Tetanus sind noch immer sehr
widersprechende. Nebeneinander finden
wir eine Mittheilung von v. Schuckmann
(Leubus) über einen letal verlaufenen und
in seiner Schwere durch 2 Injectionen an¬
scheinend gar nicht beeinflussten Fall und
einen günstig verlaufenen Fall von Frot-
scher (Rotenburga. d.Fulda). In Schuck^
mann's Fall betrug die Incubationsdauer
mindestens 10 Tage, aber die Tetanus¬
symptome traten plötzlich ein und ent¬
wickelten sich eminent rasch, der Patient
starb bereits 48 Stunden nach dem Auf¬
treten der ersten Symptome; der Fall war
also ein ausserordentlich schwerer. In
Frotscher’s Fall betrug die Incubations¬
dauer 13 Tage und die Entwickelung der
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Gegenwart 1903.
tetanischen Erscheinungen ging langsam
I vor sich (acht Tage vom Beginn bis zum
Höhepunkt) — beides prognostisch günstige
Momente, die den Fall als leichteren
charakterisiren.
| Die beiden Fälle sind natürlich weder
für noch gegen die Serumtherapie zu ver-
werthen, sie zeigen nur, wie nothwendig
es ist, weitere Erfahrungen zu sammeln.
Vielleicht darf bei dieser Gelegenheit wie¬
der auf die von v. Leyden vorgeschlagene
Methode der subduralen lnjection
j mittelst Lumbalpunction hingewiesen
[ werden (vergl. diese Zeitschrift 1901, S. 337),
die bei der Unsicherheit der subcutanen
j lnjection häufiger versucht zu werden
verdient. F. Klemperer.
, (Deutsch. Med. Woch. 1903, No. 10.)
I Schild hat nach Versuchen an Las-
sar’s Klinik das Atoxyl als Ersatzmittel
der arsenigen Säure zur Behandlung ver¬
schiedener Dermatosen bereits früher em¬
pfohlen. Das Atoxyl (Meta-Arsensäure-
Anilid) enthält circa halb so viel Arsen wie
die arsenige Säure; es wird eine 20%ige
Lösung benutzt; hiervon empfahl Schild
ursprünglich eine vollePravaz sehe Spritze
— also 0,2 Atoxyl — in 2 tägigen Zwischen¬
räumen zu intramusculären Injectionen, be¬
sonders bei Psoriasis, Lichen ruber. Das
Mittel hat vor der arsenigen Säure den
Vorzug, dass es keine localen Reizerschei¬
nungen macht, ferner scheint seine Wirkung
langsam durch allmähliche Abspaltung des
Arsen im Körper zu erfolgen. Aus letz¬
terem Grunde ist nun Schild jetzt zu dem
Modus gelangt, dass er nur 2mal wöchent¬
lich dieselbe Dosis verabfolgt. Und es er¬
gab sich, dass hierbei die gleiche Wirkung
zu constatiren war. Bei Psoriasis muss
ausserdem local behandelt werden. Herz¬
kranke dürfen mit dem Mittel nicht behan¬
delt werden, weil sie leicht Dyspnoe be¬
kommen. Buschke (Berlin).
(Dermatol. Zeitschr. 1903, Heft 1.)
Als Banti’sche Krankheit wird ein
Symptomencompiex bezeichnet, den der
italienische Kliniker Banti im Jahre 1894
zum ersten Mal als neue Krankheitsform
aufgestellt hat. Derselbe kennzeichnet sich
als sehr bedeutende Milzschwellung bei
gleichzeitiger Anämie, wozu später
Ascites und Leberschwellung hinzutritt.
Banti unterscheidet dabei drei Stadien:
Das erste erstreckt sich im Allgemeinen
über 3—5 Jahre und ist durch progre¬
diente Milzschwellung und Anämie kennt¬
lich. Er nannte es das anämische Sta-
23
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
178
April
Die Therapie der
dium. Das zweite ist ein Uebergangs-
stadium, das nur einige Monate dauert,
und einhergeht mit Verminderung der Harn-
secretion, reichlicher Ausscheidung von
Uraten, sowie von Urobilin und event. von
Gallenfarbstoffen. Das dritte Stadium endigt
nach 5—12 Monaten letal. Es treten
Ascites und cirrhotische Verkleinerung der
Leber, Verschlimmerung der Anämie und
Vermehrung der weissen Blutkörperchen
ein: Ascitisches Stadium. Banti sieht
als primären Sitz der Erkrankung die Milz
an und betrachtet die Veränderungen der
Leber als etwas secundäres. Dafür schienen
ihm ausser klinischen Gründen noch die
Erfahrung zu sprechen, dass eine Exstir¬
pation der Milz zu einer Besserung bezw.
Heilung der Krankheit führe. Auch die
Anämie hält er für eine Folge der Milz-
affection. In der Milz kommt es nach
seiner Vorstellung zur Bildung von Gift¬
stoffen unbekannter, nicht infectiöser Natur,
welche der Leber zufliessen und in ihr die
cirrhotische Bindegewebswucherung her-
vorrufen. Durch Splenectomie hat Banti
zwei von seinen Fällen heilen können, der
dritte starb einige Tage nach der Opera¬
tion. Andere Autoren, wie Maragliano
berichten, dass von 11 Fällen 9, Harris
und Herzog dass von 19 Fällen bereits
15 durch Splenectomie geheilt worden
seien.
Bei uns in Deutschland lenkte Senator
zum ersten Mal die Aufmerksamkeit auf
diese Erkrankung, indem er im Oktober
1901 in der Berliner medicinischen Gesell¬
schaft einen derartigen Fall vorstellte. Er
bezeichnete es als Verdienst Banti’s, dass
er bis dahin unter verschiedenem Namen
geführte Krankheitszustände zu einem ein¬
heitlichen Krankheitsbild zusammengefasst
habe. Fälle von primärem idiopathischen
Milztumor, Splenomegalie, Pseudoleukämie
(Cohnheim), Anämia splenica (Grie¬
singer) waren sicherlich oft nichts anderes
als Frühstadien der Banti’schen Krank¬
heit, deren Spätstadien wohl oft genug
unter der Diagnose Lebercirrhose mit
Ascites und Milzschwellung gingen. Die
primäre Rolle der Milzerkrankung giebt
Senator zu und hält als Ursache der
ganzen Erkrankung eine Infection oder
Intoxication von Darmcanal her für mög¬
lich. Gleich Banti betrachtet auch Se¬
nator den Ascites nicht als Folge der
Lebererkrankung, da er trotz einer Pro¬
gredienz des Leidens sowie in Folge der
Behandlung verschwinden könne. Das
dritte Stadium, das sich auch durch
heftige Blutungen aus Nase und Darm-
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Gegenwart 1903.
canal auszeichnet, lässt nach Banti die
Zeichen einer einfachen Anämie erkennen.
Senator vermochte indess eine unverhält-
nissmässig grosse Abnahme des Hämo¬
globins und in drei Fällen eine bemerkens-
werthe Verminderung der Leukocyten, also
eine Leukopenie zu constatiren. Viel¬
leicht liegt hier, wie Senator meint,
ein Mittelding zwischen Anämie und
Leukämie vor.
Chiari hatt dann (Prag. med. Wochen¬
schrift 1902) eine Reihe von Fällen publi-
cirt, die durchaus den Banti’schen Sym-
ptomencomplex darboten, aber dem Ob¬
duktionsbefund zufolge mit grosser Wahr¬
scheinlichkeit als Spätformen congenitaler
Lues aufzufassen waren. Dessenungeachtet
betrachtet auch er es als ein Verdienst
Banti’s, daraufhingewiesen zu haben, dass
bei gewissen Fällen von Anämie mit Milz¬
schwellung eine secundäre, von der pri¬
mären Splenomegalie abhängige Leber¬
cirrhose entstehen kann.
Neuerdings ergreift auch Marchand
(Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 11)
zu der Frage der Ban ti’schen Krankheit
das Wort, indem er Beobachtungen mit¬
theilt bei welchen klinisch der Morbus
Bantii vorzuliegen schien, die aber
seiner Meinung nach nicht in dem von
Banti beliebten Sinne gedeutet werden
können.
So erinnert er an einen in einer Marburger
Dissertation (Schlichthorst) beschriebe¬
nen Fall der als „Banti’sche Krankheit"
verlaufen war, nur dass es sich um eine
gelappte und nicht um eine granulirte
Leber dabei gehandelt hatte; dabei bestand
seit lange ein colossaler sehr zäher Milz¬
tumor. In Wahrheit handelte es sich aber,
wie die Obduction ergab, wiederum um
congenitale Lues.
Des Weiteren berichtet er über einen
eignen Fall, der in seinem Verlauf und seinem
anatomischen Verhalten dem von Banti
geschilderten Krankheitsbilde dermaassen
entsprach, dass man ihn „als ein typisches
Beispiel von Banti’scher Krankheit" be¬
zeichnen musste. Indess war nach dem
Obductionsbefund, den Marchand aus¬
führlich mittheilt, mit Wahrscheinlichkeit
auch hier eine congenitale Lues als Ur¬
sache anzunehmen. Nichts wies darauf
hin, wie Marchand sagt, dass die Milz¬
erkrankung in diesem Fall die ihr von
Banti zugeschriebene Bedeutung besessen
habe, sondern es ist viel wahrscheinlicher,
dass entweder die Lebererkrankung das
primäre Moment war, oder dass Leber und
Milz gleichzeitig erkrankten, zumal auch
Original fro-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegenwart 1903.
179
Bindegewebswucherurgen im Pankreas vor¬
handen waren. Es handelte sicii da um
einen 16jährigen Knaben, bei dem seit
Jahren ein grosser Milztumor bestand und
frühzeitiger Ascites; die cirrhotische Ver¬
änderung der Leber musste gleichfalls
schon lange vorhanden gewesen sein. Be¬
merkenswerth ist, dass der Ascites sogar
durch eine Probelaparotomie völlig zum
Verschwinden gebracht worden war, offen¬
bar durch Ausbildung von Collateralbahnen.
Wenn man also gelegentlich dieser Probe¬
laparotomie damals die Milz entfernt hätte,
bemerkt Marchand, so hätte das Ver¬
schwinden des Ascites und das drei Jahre
hindurch anhaltende Wohlbefinden leicht
in dem Sinne Banti’s gedeutet werden
können.
Schliesslich berichtet Marchand noch
von einem hierhergehörigen, höchst eigen¬
artigen Fall von schwerer Anämie mit
enormer Vergrösserung der Milz bei einem
Tuberkulösen. (Anaemia splenica.) Der
Kranke hatte den Chinafeldzug mitgemacht,
indess lag kein Anhaltspunkt für eine da¬
herzuleitende Infection vor. Der Dickdarm
war in seiner ganzen Ausdehnung ge-
schwürig erkrankt, aber nur ein Theil der
Ulcerationen war tuberkulös. So wäre es
also, wie Marchand hervorhebt, nicht un¬
möglich, dass durch diese schwere Darm-
affection eine infectiöse oder toxische Ur¬
sache Eingang gefunden hätte. In den
Pfortadercapillaren der Leber, in der Milz
und im Knochenmark fanden sich eigen¬
tümlicherweise ungeheure Mengen grosser
Phagocyten, die mit Zelltrümmern beladen
waren, welche vorwiegend aus Leukocyten
des Blutes herstammten, zum Theil auch
aus rothen Blutkörperchen. Hier betrachtet
Marchand die Milz gleichfalls nicht als
primär erkrankt, sondern vielmehr als se-
cundär, in Folge der schweren Alteration
des Blutes. Dass eine solche Splenomegalie
in Folge schwerer Bluterkrankung secundär
im Sinne von Banti zu cirrhotischer Leber¬
veränderung führen könne, hält Marchand
für unwahrscheinlich, er nimmt vielmehr
an, „das die fibrös indurirte, vergrösserte
Milz der sog. Banti’schen Krankheit eine
Folgeerscheinung einer primären Leber¬
erkrankung oder in einer Reihe von Fällen
das spätere Entwickelungsstadium einer
ursprünglichen durch Stauung complicirten
Milzvergrösserung bei congenitaler Sy¬
philis ist. Allerdings ist nicht auszu-
schliessen, dass es noch andere Möglich¬
keiten giebt, die wir noch nicht hinreichend
zu übersehen vermögen.“
Man sieht, wie der „Morbus Bantii“
□ igitized by Google
noch sehr erheblicher Präcisirung und
Klärung bedarf, und dass Chiari Recht
hat, wenn er dafür das innige Zusammen¬
wirken von Klinikern und pathologischen
Anatomen für unbedingt nothwendig hält,
F. Umber (Berlin).
DiePrincipien derSerumtherapie auch
auf die Epilepslebehandlung zu über¬
tragen, versucht Ce ni. Auf Grund früherer,
[dem Referenten nicht zugänglicher] Ver¬
öffentlichungen hält er Autointoxication
als Ursache der Epilepsie für erwiesen
und untersuchte nun, ob dies Gift, analog
den Mikrobentoxinen gleichzeitig die Fähig¬
keit habe, im Organismus immunisirende
und hellende Substanzen zu erzeugen. Er
stellte fest, dass im Blut der Kranken kein
Antitoxin vorhanden sei, wohl aber toxische
im Serum. Er suchte nun durch wieder¬
holte Einspritzung des Serums von Epilep¬
tikern die Menge des Toxins im Orga¬
nismus zu vermehren „um entweder eine
Steigerung des individuellen organischen
Widerstandes, oder durch Angewöhnung
Immunität zu erzeugen.“ Von zehn Fällen
schwerer Epilepsie wurden auf diese Art
I angeblich acht geheilt oder sehr gebessert,
zwei verschlechterten sich. Es handelt
sich bei diesem überraschenden Resultat
weder um Immunisirung noch Antitoxin-
| Wirkung, sondern nach Ceni’s eigenen
Worten um „specifische, den Stoffwechsel
anregende Elemente, welche auf die zelli-
| gen Träger des Stoffwechsels, in die man
I Ursache und Sitz der Epilepsie versetzt
1 (? Ref.) einwirken. Je nach Art des In-
i dividuums (!) reagieren diese Zellelemente
in pathologischer oder physiologischer
Richtung.“
Da auch das eigene Blutserum den
| früheren Inhaber gerade so günstig beein-
| flusst wie fremdes, so schliesst der Autor,
: dass das anregende Prinzip seine aktiven
Eigenschaften nur dann entfaltet, wenn das
Blut nicht mehr im Gefässsystem kreist;
im lebenden Blut ist dies Prinzip an ge¬
formte Elemente gebunden und dadurch
unwirksam. Aus letzterem Grunde ist auch
eine natürliche Selbstimmunisirung un¬
möglich.
Ob diese kühne Theorie wohl weiteren
Nachprüfungen Stand halten wird?
Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt.)
(Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie
1902. No. 146.)
E. Rautenberg hat in der Königsberger
medicinischen Poliklinik Versuche mit einem
neuen von Prof. Schreiber construirten
Heissluftapparat angestellt, der vor dem
23*
Original fro-m
UNIVERSITtf OF CALIFORNIA
April
180
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Bier’schen eine Reihe von Vorzügen zu
haben scheint. (Grössere Einfachheit und
bessere und gleichmässigere Vertheilung
der Wärme an der betreffenden Körper¬
stelle.) Unter den Behandlungsresultaten
des Verfassers sind als besonders günstige
hervorzuheben diejenigen der Pleuritis ex¬
sudativa. — Der Heissluftapparat — bezüg¬
lich dessen Einzelheiten auf das Original
verwiesen werden muss — wird geliefert
von der Firma C. S. Mehn, Braunschweig.
Lüthje (Tübingen).
(Zeitschr. f. diät. u. phys. Thor., Bd. VI, 9 u. 10.)
Ueber einige eigenartige Ursachen
von Husten und Schnupfen berichtet
G. Rosen leid (Stuttgart). Bei einer Dame,
die bei der Rückkehr von Reisen in ihr
Haus wiederholt einen sehr hartnäckigen
langdauernden Husten bekam, constatirte
Rosenfeld in discreten graulichen Pünkt¬
chen, die der Pharynxwand locker auflagen,
Gebilde, die sich theils als Hornsplitterchen
von den Federn, theils als Theile von den
Epidermisschuppen eines im Hause der Pa¬
tientin gehaltenen Graupapageis er¬
wiesen. Der Papagei wird auf einige Tage
aus der Pflege der Dame weggenommen
und in ein Zimmer gebracht, das sie nicht
betritt — nach einigen Tagen ist jeder
Hustenreiz verschwunden. Mit der Rück¬
kehr des Vogels tritt nach einem Tag schon
der Husten von Neuem auf, hartnäckiger
und quälender als vorher. Ein erneutes
Experiment mit Entfernen und Zurück¬
bringen des Vogels beweist auch der zwei¬
felnden Kranken, dass die Ursache des
Hustens nicht in einer „Erkältung“, sondern
in dem Papagei, seinen Federn und seinem
Staub, liegt.
Auf eine mechanische Ursache führt
Rosenfeld auch den sogenannten Pla-
tanenschnupfen oder Platanenkatarrh
zurück, eine lieufieberähnliche Erkrankung,
die zur Zeit der Blüthe der in den Stutt¬
garter Anlagen sehr zahlreichen Platanen,
von Mai bis Ende Juni, im dortigen Publi¬
kum regelmässig und ziemlich zahlreich
auftritt. Rosenfeld constatirte auf der
Unterseite der jungen Ahornblätter einen
braunen Anflug, der aus verzweigten Haaren
(„Sternhaaren“) besteht; diese fallen ab
und gelangen auf die oberen Schleimhäute,
die sie mechanisch reizen.
Die Dun bar'sehen Mittheilungen, über
die wir in der letzten Nummer dieser Zeit¬
schrift berichteten (S. 130), lassen es zweifel¬
haft erscheinen, ob in diesem letztrren Fall
wirklich eine mechanische Reizung vor¬
liegt, ob nicht vielmehr auch in dem Pla-
I tanenstaub ein chemisch wirksames Gift
! vorhanden ist.
i Dun bar selbst hat seine Untersuchun¬
gen über das Heufleber fortgesetzt und,
wie er kürzlich mittheilt, seine Resultate
jetzt an 9 Heufieberpatienten und 20 Con-
| trolpersonen im ganzen Umfange bestätigt
gefunden. Er hat dabei auch mit Sicher-
| heit konstatirt, dass das chemisch wirksame
! Toxin der Roggenpollenkörner und der
Maispollenkörner dasselbe ist: das Anti¬
toxin, ob mittelst Mais- oder Roggenpollen¬
körnern gewonnen, beseitigte prompt sowohl
die durch Roggen- wie die durch Mais¬
pollenkörner hervorgerufenen Reizerschei¬
nungen.
Es wird nöthig sein, nach Art der
T) unbar'sehen Versuche zu prüfen, ob der
| Platanenkatarrh ebenfalls durch ein
! chemisches Toxin verursacht wird und ob
dieses dem Roggen- und Maispollentoxin
gleich ist.
Für den ersterwähnten interessanten
Fall der Erzeugung von Husten durch den
Papageienfedernstaub ist der mechanische
! Ursprung wohl fraglos; eine Prüfung nach
der von Dun bar angegebenen Richtung
wird freilich in jedem derartigen Falle
künftig angestellt werden müssen.
F. Klernpcrer.
(Berk klin. Woch. 1903, No. 9. — Deutsch. Med.
Woch. 1903, No. 9.)
In der römischen Universitätsfrauenklinik
stellte Sbarigia Versuche mit Ichtharg&n
, an. Es handelt sich um das von der Ham¬
burger Ichthyolgesellschaft präparirte hell¬
graue, dicke, schwach aromatisch riechende,
auf der Zunge prickelnde, in Wasser leicht
lösliche Pulver, welches 30% Silber und
15% Schwefel enthält. Die chemische Be¬
nennung lautet: Argentum thyo hydro-car-
buro-sulphonicum. Schon die Versuche in
vitro fielen besonders ermuthigend zur An¬
wendung in der Praxis aus: so bewahrte
eine 0.3%ige Lösung leicht verwesbare
Flüssigkeiten (Urin, Bouillon u. s. w.) vor
jeder Zersetzung; eine Lösung von 1:50000
tödtete binnen 4 Minuten den Neisser’-
schen Gonococcus; in einer Va%igen Lö¬
sung aufbewahrte Gewebsstückchen wiesen
nach 16 Stunden eine weitaus intensivere
Silberimprägnation als nach ebenso langer
Behandlung mit einer Silbernitratlösung
auf. Zu therapeutischen Zwecken wurde
Ichthargan in 205 gynäkologischen Fällen
zur Anwendung gebracht, und zwar bei
Affectionen, die man heut zu Tage sonst
meistens mit Ichthyol behandelt, so bei
den verschiedensten acuten, subacuten und
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
181
Die I hcrapic der
chronischen septischen und specifischen
Entzündungen der Vagina, des Uterus und
der Adnexe. Die Wirkung war durchweg
eine auffallend prompte, jedenfalls eine viel
raschere und radicalere als die des Ich¬
thyols, so dass von den 205 Fällen nur 37
als unvollständig geheilt zu betrachten
waren. Applicirt wird Ichthargan in 2%iger
(selten, bei schwereren Fällen, in 5%iger)
wässriger Lösung mittelst der üblichen Va¬
ginal- oder Uterustamponade. Die Lösun¬
gen, ebenso wie das reine Pulver, sind, in
dunklen Glasgefässen aufbewahrt, auf un¬
begrenzte Zeit haltbar. Sbarigia kommt
nach eingehenderer Beschreibung einzelner
Fälle zu folgenden Schlussfolgerungen:
1. Das Ichthargan wirkt prompt und
sicher bakterientödtend.
2. Es stillt und bekämpft auf das
Rascheste sämmtliche entzündlichen Er¬
scheinungen, indem es die milde austrock¬
nende Wirkung des Ichthyols mit den ener¬
gisch bakterientödtenden Eigenschaften des
Silbers vereinigt.
3. Es dringt tief in die Gewebe ein,
ohne folglich nur an der Contactfläche zu
wirken.
4. Niemals hat man nach seiner Anwen¬
dung eine weitere Ausbreitung der Infec-
tion oder sonstige unangenehme Neben¬
wirkungen beobachtet.
5 Eine besondere Behandlung zurück¬
bleibender Katarrhe mit Adstringentien ist
nach Anwendung des Ichthargans niemals
nothwendig gewesen.
A. Bretschneider (Rom).
(Policlinieo 1902, VIII, No. 10.)
Einige interessante Versuche von J. J.
Snel über Immunität und Narkose mö¬
gen hier Erwähnung finden, weil sie einen
praktisch nicht unwichtigen Gesichtspunkt
für die Handhabung der Narkose eröffnen.
Meerschweinchen vertragen eine intra¬
tracheale Einspritzung von Milzbrandba¬
cillen in die Lunge ohne jede Schädigung,
wenn dabei eine Läsion der Gewebe in
der Trachea und an der Lungenoberfiäche
mit Sicherheit vermieden wird. Eine kurze
Aether- oder Chloroformnarkose von 10
Minuten beeinträchtigt die baktericiden
Kräfte der Lunge nicht. Längere Narkose
dagegen hebt die Immunität auf und zwar
entsprechend der Dauer der Narkose in
steigendem Maasse: Ein nach der Infection
45 Minuten lang narkotisirtes Thier stirbt
nach 75 Stunden, ein 60 Minuten lang
narkotisirtes nach 50 Stunden. Diese Wir¬
kung der Narkose hält nicht lange vor:
Unmittelbar nach längerer Narkose inficirte
Digitizer! by Gougle
Gegenwart 1903.
Thiere erliegen nicht. — Chloralhydrat-
injectionen wirkten in ähnlicher Weise die
baktericiden Fähigkeiten herabsetzend, resp.
aufhebend, Morphininjectionen dagegen
nicht.
Da eine directe Wirkung des Chloro¬
forms und Aethers auf die Milzbrand¬
bacillen für das genannte Versuchsergeb-
niss nicht maassgebend sein kann — denn
die Chloroform- und Aetherdämpfe schwä¬
chen die Bacillen eher ab — zieht Ver¬
fasser die Schlussfolgerung: Die Nar¬
kose hebt die Immunität auf. Ver¬
fasser sieht in diesem Satze eine Erklärung
für die Häufigkeit von Pneumonien nach
Narkose und er räth zu entsprechenden
Vorsichtsmaassregeln, besonders zu sorg¬
fältiger Reinigung von Mund- und Rachen¬
höhle vor jeder Narkose und zur Vornahme
von Operationen nur in Zimmern mit mög¬
lichst sauberer Atmosphäre.
F. Kl cm pc rer.
(Berl. klin. Woch. 1903, No. 10.)
M. Edel stellt in dem Artikel: „Lässt
sich das Klima der Nordseeinseln auch
im Herbst und Winter therapeutisch ver-
werthen?“ auf Grund 9jähriger Beobach¬
tungen folgende Sätze auf: 1) Der Herbst
ist die schönste Jahreszeit auf den Nord¬
seeinseln, der October ist ein besonders
warmer Monat. 2) Der Winter ist nach der
Höhe der Temperatur milder als in Wies¬
baden und wärmer als in Berlin. 3) Der
März ist verhältnissmässig kalt, der Früh¬
ling kommt spät. 4) Die Temperatur ist
Überaus gleichmässig, Temperatursprünge
gehören zu den grössten Seltenheiten.
5) Die mittlere Windstärke ist im Winter
wenig grösser als im Sommer. 6) Die mil¬
den Südwest- und Westwinde sind die
herrschenden Winde. 7) Der Regen dauert
meistens nur kurze Zeit und hindert fast
nie den Aufenthalt im Freien.
Der Aberglaube von dem rauhen „Nord-
I seeklima“ im Winter ist also unbegründet;
, die Nordseeinseln eignen sich vielmehr
: auch im Winter als Curorte für eine grosse
Zahl von Kranken, so zum Beispiel für
Tuberkulöse, die sich im AnfangSbtadium
der Krankheit befinden, sowie für die Re-
convalescenz und zur Nachcur nach fieber¬
haften Krankheiten. Lüthje (Tübingen).
(Zeitschrift für diät. u. phvs. Ther. Bd. VI, 9.)
Das Mesotan, ein flüssiger Salicylester,
der in jedem Verhältniss mit fetten Oelen
mischbar ist und im Verhältniss von 1:3 oder
stärker angewendet wird, ist bekanntlich
! zur Einreibung in die Haut empfohlen wor-
i den und scheint sorgiältige Beachtung zu
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
182
April
Die Therapie der Gegenwart 1903.
verdienen (vergl. die Untersuchungen von
Reichmann, diese Zeitschrift 1902. S. 532).
Gröber und v. Criegern (Leipzig) haben
die ursprünglich nur für rheumatische
Affectionen aufgesttllte Indication des Prä¬
parates zu erweitern versucht und resu-
miren ihre Erfahrungen ungefähr wie folgt:
Von den therapeutischen Eigenschaften
des Mesotans tritt am meisten die deri-
virende (hautreizende) in den Vorder¬
grund. Eine specifische Wirkung besteht:
die des Salicyls; aber sie ist schwächer.
Auf der Verbindung der überwiegenden
hautreizenden Wirkung und der speci-
fischen Salicylwirkung beruht der beson¬
dere Charakter des Mesotans gegenüber
dem Salicylvasogen. Dieses theilt sonst
mit dem Mesotan viele Indicationen, hat
aber geringere Salicylwirkung. Die Haupt-
indicationen bilden rheumatischeAffectionen
der Gelenke, aber auch Ischias, Neuritis etc.,
ferner Pleuritis und vielleicht auch Gefäss-
erkrankungen (Herz-, Aneurysma-Schmer¬
zen). Leo Schwarz (Prag).
(Die Heilkunde 1903, No. 2.)
Ueber neuere Nährpräparate in
physiologischer Hinsicht hat N. Zuntz
in der Berliner pharmaceutischen Gesell¬
schaft einen Vortrag gehalten, in welchem
er aus seinen fast 20jährigen experimen¬
tellen Erfahrungen werthvolle Mittheilungen
macht. Er betont, dass die rein chemische
Untersuchung eines Nährpräparates in
keiner Weise hinreicht, um die physiolo¬
gische Bedeutung erkennen zu lassen. Dies
zeigte sich in frappanter Weise bei der
Somatose, welche bekanntlich eine in
Wasser lösliche Albumose darstellt, deren
vollkommene Resorbirbarkeit man voraus¬
setzen sollte. Der Stoffwechselversuch am
Hunde (15 g Somatose) wie am Menschen
(33 g pro die) ergab aber, dass mehr als
der vierte Theil (beim Hund sogar bei¬
nahe die Hälfte) des Somatose*N unresor-
birt mit dem Koth ausgeschieden wurde.
Ja selbst von einem Verdauungsprodukt,
dass durch längere Einwirkung von Pepsin-
Salzsäure auf Fleischmehl hergestellt wurde,
kamen nur etwa 80% zur Resorption,
während 20,8 % des verdauten N mit dem
Koth in Verlust gingen. Es scheint also,
dass die Darmresorption eben nur für die
Abbauproducte des Eiweisses eingestellt
ist, wie sie die Darmverdauung selbst
liefert, während künstlich vorverdaute
Eiweisskörper trotz leichter Lösbarkeit j
keineswegs für die Resorption gut geeignet
sind, ln denselben Versuchen ergab sich |
aber andererseits, dass trotz der schlech- i
teren Resorption der Somatose von der
mit dieser zugeführten N-menge mehr zum
Ansatz kam als von gewöhnlichem Schinken-
eiweiss, und dieselbe Förderung der Assi¬
milation zeigte sich bei der Verfütterung
selbst dargestellter isolirter Produkte der
Pepsinverdauung, am stärksten nach Deu-
teroalbumose. Dass der eine Eiweisskörper
besser zum Ansatz verwendet wird, als der
j andere, findet seine Erklärung in neuen
Arbeiten von Pick, wonach die verschie¬
denen Fractionen der Albumosen in ihrer
Structur und ihrer Zusammensetzung er-
| heblich differiren. Der Körper muss ja
| sein eigenes Eiweiss aus den im Darm
entstandenen Spaltproducten auf bauen; es
ist plausibel, dass verschiedene Eiweiss¬
körper in verschiedener Weise zur Syn¬
these geeignete Substanzen liefern. Hier¬
aus wird auch eine ältere Erfahrung von
Zuntz verständlich, dass Gemische ver¬
schiedener Eiweisskörper bei gleichem N-
gehalt einen reichlicheren Eiweissansatz
erzielen, als jeder der Eiweisskörper für
sich. — Des weiteren berichtet Zuntz über
Messungen der Verdauungsarbeit, welche
von verschiedenen Eiweisspräparaten dem
Körper aufgebürdet wurde. Maassstab
dieser Arbeit ist die Steigerung der O-auf-
nahme und CCVabgabe, welche während
der Verdauung bestimmter Substanzen zu
erkennen ist; die Steigerung der Oxydation
beruht nur zum geringsten Theil auf den
mit der inneren Zersetzung verknüpften
Processen; zum grössten Theil hängt sie
ab von der mechanischen Arbeit des Darms,
die bei der Resorption geleistet wird. Es
zeigte sich, dass die Steigerung des
Nüchternwerthes der Oxydation bei der
Verdauung von Fleisch 10—20% beträgt,
während sie bei Somatose nur 2—10%
betrug. In dieser geringen Belastung des
Darms liegt ein Vorzug der Albumosen
gegenüber dem natürlichen Nahrungs-
eiweiss. Schliesslich wurden die genuinen,
nicht vorverdauten Eiweisspräparate Tro-
pon, Plasmon, Soson, sowie die Pflanzen-
eiweisse Aleuronat und Roborat geprüft
und gegenüber der Somatose eine weit
bessere Resorptionsfähigkeit (4—8 %) con-
statirt. In Bezug auf den Eiweissansatz
schreibt Zuntz den Caseinpräparaten, z. B.
Plasmon, eine stärkere Wirksamkeit als dem
Fleisch zu, während neuerdings Lüthje bei
Typhusreconvalescenten besseren Eiweiss¬
ansatz durch Fleisch als durch Casein er¬
zielte. — In Bezug auf die am Kranken¬
bett wichtige Anregung des Appetits und
der Secretion der Verdauungssäfte stehen
die eiweissarmen Fleischsäfte und Ex-
Digitized fr
’v Google
Original fro-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
April
183
Die Therapie der
tracte den eigentlichen Nährpräparaten
weit voran. — Aus seinen Studien über
Fettnährpräparate erwähnt Zuntz nur die
Untersuchungen der v. Mering sehen |
Kraftchocolade, in welchen der Cacao-
butter ein grösserer Gehalt an freien Fett¬
säuren beigemischt ist. Mittlere Gaben
dieser Kraftchocolade wurden nicht besser
resorbirt als reine Cacaobutter; bei Dar¬
reichung des Maximums der aufnehmbaren !
Dosis zeigte sich bessere Resorption der !
Kraftchocolade, welche durch ihre freie
Fettsäuren besser emulgirbar ist. Zuntz j
selbst konnte täglich 420 g dieser Kraft- ,
chocolade ohne Beschwerden aufnehmen.
(Es ist aber bekanntlich zweifelhaft, ob
man im Allgemeinen sagen kann, dass
Beimischung von Fettsäure ein Fett be¬
kömmlicher macht. Lipanin (Oel mit 6o/ 0
Oelsäure) wird nicht besser resorbirt als
feinste Butter.) Wenige Bemerkungen
macht Zuntz über den Bacteriengehalt j
künstlicher Nährpräparate. Sofern nur
keine pathogenen Bacterien gefunden wer¬
den, kann man die blosse Anwesenheit
reichlicher Bacterien nicht als schädlich
erklären, zumal man weiss, wie gut saure
Milch, Kefir und Buttermilch vertragen
werden und wie schlecht oft genug steri-
lisirte Milch bekommt Die Schädlichkeit
der letzteren führt Zuntz auf die anschei¬
nend schlechtere Resorption der Kalksalze
zurück. 1 )
In Bezug auf Säuglings-Nährpräparate
hebt Zuntz die Armuth der Milch an Eisen
hervor; der Neugeborene bringt in der
Leber Reserveeisen mit auf die Welt, von
dem er neun Monat zehren kann; länger
dauernde einseitige Milchnahrung gefährdet
die Blutneubildung. Von künstlichen Prä¬
paraten erwähnt Zuntz nur zwei, die
Rieth’sche Milch und v. Mering’s Odda.
Die erstere, durch Zusatz von Albumose
dargestellt, erwies sich als leichtverdaulich,
machte aber bei längerer Darreichung
schwere Nierenreizung, so dass das Prä¬
parat gänzlich aufgegeben ist. Mering
ging von der in Zuntz’ Laboratorium ge¬
machten Erfahrung aus, dass Lecithine
einen assimilatorischen Reiz auf die Gewebe
ausüben, so dass stärkeres Zellwachsthum
eintritt. Ueber diese Untersuchungen, die j
namentlich den grossen Werth des Eigelb |
*) Wenn Zuntz weiter meint, dass das Eiweiss
der sterilisirten Milch besser verdaulicli ist, so kann
ich ihm darin nicht folgen; es geht freilich weniger
N in den Koth über, aber das liegt darin, dass von
sterilisirter Milch mehr Ammoniak abgespalten wird, :
als von roher, so dass in Wirklichkeit mehr N resor- 1
birt wird. Aber der N des NH 3 dient nicht dem ,
Gewebsauf bau. 1
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Gegenwart 1903.
für die Ernährung demonstriren, hat Zuntz
in unserer Zeitschrift selbst berichtet
(Jahrg. 1901, S. 289). Maring’s Präparat ist
weiter dadurch ausgezeichnet, dass es kein
Buttersäure-Glycerid enthält, welches in der
Kuhmilch zu 6<y 0 enthalten ist und mög¬
lichenfalls manche Störungen im Säuglings¬
magen verursacht.
Zum Schluss bespricht Zuntz die Be¬
deutung der Nährmittel für die Muskel-
thätigkeit, wie sie durch die taktmässige
Arbeit an einem bestimmten Instrument,
dem Mosso’schen Ergographen gemessen
wird. Man wusste, dass der ermüdete
Muskel nach Zuckergenuss schnell wieder
arbeitsfähig wird. Der verstorbener re n tzel
hat in Zuntz’ Laboratorium gezeigt, dass
Eiweiss und Fett dieselbe rekreirende Wir¬
kung auf den Muskel haben, nur mit dem
Unterschiede, dass der schnell aufgesaugte
Zucker diese Wirkung am raschesten aus¬
übt, während die Eiweisskörper nicht so
schnell, aber dafür länger dauernd ein¬
wirken.
So bringt der Vortrag eine Fülle be¬
lehrender und anregender Mittheilungen,
die in ihrer prägnanten Kürze den Wunsch
des Lesers erregen, den verehrten Ver¬
fasser einmal ganz ausführlich über dies
wichtige Gebiet zu vernehmen.
G. Klcmperer.
(Berichte der Deutschen pharmaccutischen Gesell¬
schaft 1902, H. 9.)
Ueber eine neue Methode der Nephro-
pexis berichtet Kukula (Prag). Der un¬
günstige Erfolg, sowie verschiedene Mängel
der bisherigen Decortications- und intra¬
parenchymatösen Methoden bewogen den
Autor zur Erwägung, ob die Wanderniere
nicht auf eine andere Art fixirt werden
könnte, und zwar ohne intraparenchyma¬
töse Stiche, ohne Deccrtication der Niere
und endlich mit Ausschluss der Tampo¬
nade. Die Verwirklichung dieses Gedankens
schien Verfasser am nächsten in der Fixa¬
tion der Niere in ihrem kleinsten Quer¬
schnitt in einer Muskelspalte; und so kam
er zur folgenden Methode: Mit einem
Simon’schen Schnitt (vom oberen Rande
der zwölften Rippe längs des äusseren
Randes des M. sacrolumbalis bis zum
Kamme des Hüftbeines) wird successiv die
Haut, das oberflächliche, dann das tiefe
Blatt der Fascia lumbodorsalis, bis zum
M.quadratus lumborumdurchgeschnitten; in¬
dem dieser Muskel in seiner ganzen Länge
vorn von der Fascia perinealis, rückwärts
vom M. sacrolumbalis abgetrennt wird,
werden die Fasern stumpf in zwei läng¬
liche Hälften, von der Muskelinsertion an
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
184 Die Therapie der
der zwölften Rippe angefangen bis zu
seinem unteren Drittel getrennt. Dadurch
entsteht eine Muskelspalte, auf deren unterem
Ende sofort zwei Catgutnähte angelegt
werden, welche die Spalte nach Einbringung
der Niere verkleinern sollen. Nach Durch¬
schnitt der Fascia perinealis wird langsam
die Niere im ganzen Umfange der unteren
zwei Drittel bis zum Hilus von ihrer Fett¬
hülle befreit, worauf die Niere in die
Muskelspalte eingeführt wird, und zwar so,
dass sie mit ihrem Hilus auf dem unteren
Winkel der Spalte aufspitzt; nach Ver¬
knüpfung der erwähnten Catgutnähte, wo¬
mit eine Verkleinerung der Spalte und
feste Einschliessung der Niere durch die
Muskelränder erzielt wird, folgt noch die
Fixation der Niere mit etlichen Seiden¬
nähten, die von rückwärts durch die fibröse
Hülle und die Ränder des M. quadratus
lumborum durchgeführt werden und end¬
lich noch die Sutur der Fascienränder
und der Haut nur bis auf eine kleine Stelle,
wodurch ein kleiner steriler Gazestreifen
bis zum unteren Pol der Niere eingeführt
wird.
Diese Methode wurde bisher in drei
Fällen durchgeführt, und zwar in zweien
mit vollkommenem Erfolg; der erste Fall
endete letal, doch aus Gründen, die der
Methode fern standen. Stock (Skalsko).
(Öasopis öesk^ch Idkafö. 1902, No. 20, 21.)
Plaeenta praevia 1 ) wird nächst Ec-
lampsie mit Recht als schwerste Störung
und Gefahr für die Gebärende und die
Frucht bezeichnet. Unter Bearbeitung des
klinischen Materials der kgl. Charite und
eigener Beobachtung von 100 Fällen hat
P. Strassmann die Entstehung dieser
krankhaften Richtung der Fortpflanzung
untersucht und die klinische Bedeutung der
Plancenta praevia beleuchtet. Anatomische
Forschungen lassen das Auftreten der ab¬
normen Placentarform als Anpassung an
klinisch zu beweisende abnorme Beschaffen¬
heit des Endometrium und functioneile Um¬
wandlung der Eiwurzeln behufs Ernährung
erklären. Die verschiedenen Gruppen der
Totalis (centralis), Partialis (lateralis),
Marginalis (tieferSitz),vertheilen sich der¬
art, dass die Erstgebärenden am meisten
bei den geringeren Graden, die Mehrge¬
bärenden bei den höreren Graden betheiligt
sind. Frauen mit höherer Geburtsziffer,
zumal die. Vielgebärenden (über fünf Ge¬
burten), neigen zu Plaeenta praevia, be¬
sonders wenn das Endometrium schnell
*) P. Strassmann: Plaeenta praevia. Archiv
für Gynäkologie. Bd. 67, 1.
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Gegenwart 1903. April
hintereinander als Nährboden ausgenutzt
ist, oder wenn in vorgerücktem Alter nach
herabgesetzter Fruchtbarkeit Schwanger¬
schaft eintritt. Die Veränderungen des
Mutterbodens treten auch dadurch zu Tage,
dass über 37 % der Frauen mit Plaeenta
praevia partialis und totalis mehrfache
Aborte überstanden, so dass bei ihnen
ein Abort auf 4, 12 Schwangerschaften
kommt. Auch die Conception während oder
unmittelbar nach der Lactation veranlasst
heterotopische Zottenausbreitung. Weiter¬
hin gehen Katarrhe der Uterusschleimhaut
mit oder ohne anderweitige Anomalien,
vorausgegangene schwere Entbindungen,
dann alte Cervixrisse und in hervorragen¬
dem Maasseeine früher überstandene „mehr¬
fache Geburt“ (Zwillinge) der Entwicklung
der Plaeenta praevia vorauf. Auch Extra¬
uterinschwangerschaft mit späterer Plaeenta
praevia kommt vor und Recidive dieser ge¬
fährlichen Placentation sind — wenn über¬
haupt noch das Zustandekommen von
Schwangerschaft erfolgt — sehr häufig
(7,4 %). Die Fehlerhaftigkeit des
„Nestes“ wird corrigirt durch die Aus¬
dehnung der Plaeenta in Gebiete, die sonst
nicht von Zotten besiedelt werden, daher
findet man zumal bei den Partialisformen sehr
ausgedehnte Fruchtkuchen und functionelle
Formanomalien, die gewisse Aehnlichkeit mit
tierischen Placenten annehmen, aber nicht
als Atavismen erklärt zu werden brauchen,
weil sie als Prägungen in Folge abnormer
Nähr- und Raumverhältnisse zu erkennen
sind. Kommen auch ausnahmsweise grosse
Früchte bei Plaeenta praevia vor, so Hess
sich doch durch klinische Wägungen fest¬
stellen, dass sehr oft in Folge der ungeeig¬
neten Plaeenta eine Unterernährung der
F rucht auf diesem mangelhaften Nährboden
stattfindet und dass der normalen Länge
nicht das Gewicht entspricht. (Vom 6. Mo¬
nate an schon nachweisbar.)
Von grosser praktischer und klinischer
Bedeutung ist die Thatsache, dass die
Schwangerschaft bei Plaeenta praevia sehr
häufig vorzeitig unterbrochen wird.
Nimmt man die Zeit bis zum achten
Monat einschliesslich nach allgemeiner
Praxis als Grenze der Lebensfähigkeit, so
sind 33,3% der Schwangerschaften zu einer
Zeit unterbrochen, dass die Frucht von
vornherein keine Aussichten auf Erhaltung
hat. Nur 66.6% der Früchte kommen
lebensfähig zur Welt. Auffallend ist, dass
gerade bei totaler Plaeenta praevia eine
relativ grosse Zahl von Frauen (15,18%),
bis zur Reife austrägt. Eine Aenderung
der Therapie im Interesse der Kinder dürfte
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
April
185
Die Therapie der Gegenwart 1903.
nur wenig Aussicht auf Besserung ge¬
währen, da die Hoffnung auf Erhaltung nur
für die Hälfte bis zwei Drittel gerechtfertigt
ist.— Das Zusammentreffen von Hydramnios
mit Piacenta praevia ist jedenfalls nur ein
zufälliges. Die Einstellung der Frucht
zur Geburt wird durch die abnorme Pla-
centation beeinflusst. Die Zahl der Schädel¬
lagen ist verringert zu Gunsten der Becken¬
end- und Querlagen; die Querlagen über¬
treffen aber um ein ganz Bedeutendes die
Beckenendlagen. Es kann auch kaum
einem Zweifel unterliegen, dass der vor¬
liegende Mutterkuchen und die veränderte
Uterusform hier mitwirken. Die Zahl der
Querlagen bei Piacenta praevia nimmt mit
der Zahl der Entbindungen und mit dem
frühen Eintritt der Geburt zu.
Die Tamponade war wegen der Blu¬
tung vielfach vor Eintreffen der poliklini¬
schen Hilfe von Hebammen, Aerzten oder
Praktikanten gemacht werden und zwar in
gesteigerter Zahl mit Zunahme des Grades
des Vorliegens. Strassmann selbst hat
niemals tamponirt, sondern, den Lehren
Gusserow’s entsprechend, die sofortige
Eröffnung des Eies bezw. die kombinirte
Wendung bei jeder konstatirten Piacenta
praevia vorgenommen. Die Ursache für
dieses Vorgehen ist in der Häufigkeit der
Fieber gegeben, welche nach der Tampo¬
nade auftreten (66Tamponaden mit22Fieber
= 34,9 %, fünf todt = 7,93 o/ 0 ). Der Arzt
soll auf die Tamponade verzichten, die
Hebamme muss sie gelegentlich vor Ein¬
tritt ärztlicher Hilfe machen. Die Anwendung
des Metreurynters soll zur Beschleuni¬
gung der Geburt nur stattfinden, wenn die
Frucht reif ist und die Eltern ein leben¬
des Kind wünschen; principiell aber nicht
vor der 32. Woche, weil die Frucht keine
Aussichten hat und für die Mutter ein dop¬
pelter nicht ganz ungefährlicher Eingriff
nothwendig ist (Einrisse). Die vorsichtige
manuelle Dilatation wird zur Erleich¬
terung der Wendung (nicht zur Extraction!)
empfohlen. Der einfache Blasensprung
darf bei Piacenta praevia marginalis und
partialis zur Blutstillung vorgenommen wer¬
den, genügt aber bisweilen nicht, und die
Wendung muss nachgeholt werden.
Die äussere Wendung auf den Steiss
ist eine beachtenswerthe Maassnahme bei
der Behandlung der Piacenta praevia.
Sie gelingt, da das Fruchtwasser erhalten
ist, leicht und ohne Blutung nnd soll bei
Schädel- und Querlagen als vorbereiten¬
des Verfahren für das Durchziehen des
Fusses voraufgeschickt werden. Für das
Durchziehen des Fusses bezw. die Wen-
Digitized by Go ole
düng wird Querbett-, nicht Seitenlage be¬
vorzugt. Man sucht, wenn möglich, auch
wenn man den unteren Eipol eine Strecke
weit ablösen muss, eine Eihautstelle zu er¬
reichen, um die Verletzung der Piacenta
und grösserer Gefässe im Interesse des
Kindes zu vermeiden. Die Wendung kann
bei jeder stärkeren Blutung gemacht werden
auch mit einem Finger. Den Fuss stelle
man bei enger und langer Cervix auf die
Zehen und schiebe ihn durch Eindrücken
der Ferse von aussen über der Symphyse
allmählich durch den Kanal! Man zieht den
Fuss nur so weit an, dass der Scheiden-
theil der Extremität wie eine Hose anliegt.
Den Steiss bis zum äusseren Muttermund
herabzuziehen, kann zu Zerreissungen
führen. Strassmann hat mittelst einer
Schlinge öfter einen constanten Zug an
dem Fusse angebracht und gewissermaassen
die Frucht selbst als Metreurynter benutzt.
Dies beschleunigt die Entbindung. Bei der
combinirten Wendung soll man bei Schädel¬
lage möglichst die Lage der Frucht nicht
ändern, sondern mit zwei Fingern an der
Stirn in die Höhe gehen, während man
von aussen den Steiss fixirt; die Füsse
trifft man oft unmittelbar an der Stirn.
Die Extraction am Fusse nach der
combinirten Wendung ist auch in lang¬
samer Form zu verwerfen (Zerreissung,
Verblutung). Bei vollständig oder annä¬
hernd vollständig erweitertem Muttermunde
(spontan oder^ nach Metreuryse) ist die
Extraction ausnahmsweise dann gestattet,
wenn die Eltern ein lebendes Kind wünschen
und die der Zeit nach lebensfähige Frucht
sicher lebt, aber nachweisbar an den Herz¬
tönen Gefährdung zeigt. Bei der spontan
erfolgenden Beckenendgeburt ist es ge¬
stattet, bei zögernder Austreibung, wo es
sich um lebensfähige Früchte handelt, die
Arme zu lösen und den Kopf zu entwickeln,
also ebenso vorzugehen wie bei der ein¬
fachen Steisslage. Schlechtes Befinden der
Mutter ist keine Indication zur Extraction.
Die Zeit zwischen Wendung und Geburt
ist vielmehr zur Stärkung durch Flüssig¬
keitszufuhr (aber wenig Alkohol oder Kaffee)
zu benutzen.
Die Aussichten für die Früchte sind
bei Piacenta praevia schlecht: 52,4% todte
in der Poliklinik, 68,1% in der Klinik. Die
Prognose verschlechtert sich gleichmässig
von der Marginalis über die Partialis zur
Totalis: 25,0%: 52,8%: 76,9% Am un¬
günstigsten sind die Aussichten nach der
inneren oder combinirten Wendung, wenn
die Austreibung vollständig der Natur über¬
lassen wird: 74,3%; das Resultat bessert
24
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
186
Die Therapie der
sich, wenn extrahirt wird: 38 8%; die
besten Aussichten giebt es dort, wo weder
extrahirt noch gewendet wird, also Blasen¬
stich —- oder äussere Wendung mit Fuss-
anziehen: 37,5%.
Die Resultate bei Hystereuryse über-
treften die bisherigen Resultate kaum. Der
neuerdings vorgeschlagene Kaiserschnitt
bei Placenta praevia ist nicht erprobt
worden.
Die Mortalität von 100 Müttern betrug
bei Strassmanns eigenen Fällen 5%, zu¬
sammen mit der Klinik, der viel ungünstige
Fälle zugewiesen werden (12,9%) = 9,5%.
Die Gefahren für die Mutter steigern sich
mit dem Tieferrücken der Placenta: Die
Sterblichkeit war bei der marginalen Form
0%. bei der partiellen 2%, der totalen 15,3%
in der Poliklinik. Todesfälle an Verblutung
können auch ohne-Riss trotz rechtzeitiger
Uterustamponade nach der Geburt zu
Stande kommen, doch hat Strassmann
in den letzten Jahren keinen Todesfall
mehr erlebt, da er bei der Behandlung der
Nachblutung activer geworden ist, und mit
der Uterustamponade nicht mehr bis zum
letzten Augenblick wartet. Die Mortalität
betrug bei Geburten mit Extraction 20%,
bei Wendung mit spontanem Verlauf 8,6%,
bei Entbindung ohne Wendung und mit
spontanem Verlauf 1,45%. Die Extraction
verbessert die Prognose für das Kind um
28% und verschlechtert sie für die Mutter
um 11,4%. Cervixrisse können im unteren
Uterussegment auch bei spontanem Ver¬
lauf Vorkommen. Dieser Abschnitt ist
(wie die Tuba) nicht zum Placentarsitz ge¬
eignet. Mit der Zahl der Geburten und
dem Grade des Vorliegens steigt die Dis¬
position zu Rissen.
Die Nachgeburtszeit darf bei Placenta
praevia abwartend behandelt werden, wenn
es nicht blutet; oft aber (10%) ist die
künstliche Lösung der ganzen Placenta
oder von Theilen nothwendig. Vorbeu¬
gend empfiehlt es sich, gleich nach der
Geburt des Kindes 2 g Secale zu geben.
Die Verblutung kann aus der Placentar-
stelle auch ohne Riss und bei Ausgebluteten
schon durch sehr geringe Mengen erfolgen.
Deshalb ist es ausnahmsweise erlaubt, auch
prophylactisch zu tamponiren. Der Uterus
soll sonst nicht einfach gerieben, sondern ins
Becken gepresst werden, so dass er ge-
wissermaassen dieses tamponirt, während
die Fingerspitzen die Aorta durch die
Bauchdecken hindurch corr primiren. Später
wird durch einen Handtuchknotenverband
das Hochsteigen des Uterus verhindert.
Bei Anämie ersetze man zunächst die
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Gegenwart 1903. April
Flüssigkeit alle Viertelstunden durch mässige
Mengen Bouillon, Milch, Kaffee; letzteren
nicht zu stark und nicht zu viel, weil Er¬
brechen erfolgt. Bei schlechtem Pulse
macht man Mastdarminfusionen: 1 1 38° C,
warmen Wassers, 1 Esslöffel Kochsalz und
1 Glas Wein. Fehlt den hochgradig Anä¬
mischen die Kraft, die Flüssigkeit zurück¬
zuhalten, so führe man den Daumen in
den Mastdarm ein. Innerhalb 10 Minuten
pflegt genug aufgenommen zu sein. Die
im Rectum plätschernde Flüssigkeit lässt
sich in das Colon von aussen hinüber¬
streichen. Von Analepticis ist, damit der
Blutdruck nicht zu schnell gehoben wird,
nur ein bescheidener Gebrauch zu
| machen!
Im Wochenbett sind Thrombosen häutig,
j Besonders geeignet für Fieber sind
i solche, die tamponirt sind. Die Morbidität
von 209 Wöchnerinnen betrug 18,6% Von
den Fiebernden waren 56,4% tamponirt,
während der Gesamtprocentsatz der Tam-
! ponirten nur 27,2% betrug. Die erste,
| selbst hohe Fiebersteigerung nach der Ent-
i bindung ist noch kein Grund zu lokaler
| Behandlung. Sie geht bei Anämischen,
die leicht fiebern, oft schnell vorüber.
Spülungen sind nach Beendigung der Ent¬
bindung thunlichst zu vermeiden, höher
concentrirte antiseptische Lösungen wegen
der Resorption des offenen Placentar-
bodens unstatthaft.
Eine Verhütung der Placenta praevia
ist anzustreben durch Ueberwachung einer
guten Rückbildung nach jeder Geburt und
jedem Abort. Endometritis, Cervixrisse,
Knickungen sind zu behandeln. Nähren
schützt im Allgemeinen am besten vor zu
| schneller Folge der Geburten und Er-
j Schöpfung des Uterus. Die Conception
sollte bei der Nährenden nicht eintreten,
bevor der Uterus sich nicht durch Men¬
struationen als voll functionsfähig darge-
than hat. Zu schnelle Conceptionen von
Vielgebärenden (mehrals5), nach Zwillingen,
besonders aber nach überstandener Pla¬
centa praevia sind durch ärztlichen Rath zu
, verhüten. Andere Ursachen, wie späte
! Erstgeburten, Schwangerschaft im missbil-
deten Uterus, die ebenfalls verhältniss-
mässig oft zu Placenta praevia führen,
stehen freilich ausserhalb der Möglichkeit
| ärztlicher Einwirkung. P. Strassmann.
■ (Autoreferat).
Als ein besonders wirksames Mittel
gegen Keuchhusten und Asthma bron¬
chiale resp. nervosum wird Pyrenol von
E. Schlesinger, Berlin, empfohlen.
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
April Die Therapie der Gegenwart 1903. 187
Pyrenol — chemisch Benzoylthymyl-
natriumbenzoylooxybenzoicum — ist ein
weisses, in Wasser lösliches Pulver von
mild süsslichem Geschmacke. Seine her¬
vorstechendsten physiologischen Eigen¬
schaften sind Unschädlichkeit, auch in den
höchsten in Betracht kommenden Dosen,
und schnelle Resorbirbarkeit; den Blut¬
druck setzt es nicht herab, steigert ihn so¬
gar zeitweise.
Die therapeutischen Erfolge des Pyrenol
gründen sich auf folgende Eigenschaften:
1. wirkt es schmerzlindernd, 2. krampf¬
stillend auf die glatte Muskulatur, 3. ex-
pectorirend, 4. tonisirend, 5. fieberherab¬
setzend, 6. leicht diaphoretisch.
Im Ganzen sind 214 Fälle publicirt, deren
näheres Studium, wie Referent auch aus
eigenen zahlreichen Erfahrungen bestätigen
möchte, Folgendes ergiebt: In einer Anzahl
Affectionen wird es von analogen Mitteln (
an Intensität der Wirkung übertroffen, so
bei acutem Gelenkrheumatismus und Pleu¬
ritis exsudativa von Natrium salicylicum,
bei Neuralgieen von Chinin etc. Eine
deutliche Ueberlegenheit scheint ihm aber
zuzukommen: im Keuchhusten; hier setzt
es die Anfälle sehr schnell an Zahl herab,
mildert ihre Heftigkeit, beseitigt schnell
das Erbrechen und steigert den Appetit.
Es wird während der ganzen Dauer der
Erkrankung gegeben. Bequemste Verord¬
nung: Sol. Pyrenoli 2,0—4,0/100,0, 3—4 mal |
täglich 1 Theelöffel bis 1 Kinderlöffel, event.
vermischt mit einigen Tropfen Himbeer¬
saft; auch bei Asthma bronchiale,
scheint es eine der Pertussis ganz analoge
Wirkung zu haben, indem es den aus- ,
gebrochenen Anfall abkürzt und abschwächt |
und weiteren Anfällen vorbeugt. Ver¬
ordnung täglich 1,5 bis 3,0; im Anfalle
selbst: halbstündlich 0,5—0,75. Rp. Pyre¬
noli 0.5—0,75 Dosis X S. 3 mal täglich
I Pulver; eventuell in Gtlatinekapseln oder
Tabletten. Burchard (Berlin).
Eine sehr lehrreiche Statistik über die
Häufigkeit der Rachenmandelhyperplasie
und ihren Einfluss auf die körperliche
und geistige Entwicklung der Kinder
giebt Dr. Wilbert (Bingen a. Rh.) Er
untersuchte 375 Schulknaben im Alter von
6%—12V2 Jahren. Von diesen hatten
231=62% hyperplastische Rachenmandeln;
krankhafte Erscheinungen aber |
wurden durch dieselben nur bei 122
oder 33% hervorgerufen. Bezüglich
des Alters findet sich vom 6. bis 11. Lebens¬
jahr ein ungefähr gleich häufiges Befallen- !
sein, dann im 12. Jahre bereits ein erheb-
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licher Abfall. Den grössten Procentsatz
von 85%, resp. 77% zeigen die Gruppen
der nach Angabe der Lehrer geistig schwach
beanlagten, sowie der schlecht lernenden
Kinder. Diese Untersuchungsergebnisse
— schliesst Wilbert — sind geeignet,
besonders den praktischen Arzt, dem die
Pathologie der Rachenmandelhyperplasie
lange nicht genugsam bekannt ist, für
dieses höchst wichtige Kapitel der Er¬
krankungen desKindesalters zu interessiren,
für den Schularzt bietet sich hier ein
weites Feld erspriesslicher Thätigkeit zum
Heile der seiner Obhut anvertrauten Kinder.
F. K.
(Deutsch, med. Wochenschr. 1903, No. 6.)
Dass die RÖntgOgr&phie bei Rücken¬
markskrankheiten nicht nur von dia¬
gnostischer, sondern auch von prognostisch¬
therapeutischer Bedeutung sein kann, er¬
örterte von Leyden in einem Vortrag an
zwanzig schwierigen Rückenmarkserkran¬
kungen seiner Klinik. Es zeigte sich z. B.
in einem anfangs für luetisch gehaltenen
Fall von Dorsalmyelitis, eine (tuberkulöse)
Wirbelcaries, was erst zur Einleitung einer
rationellen Suspensionsbehandlung führte.
Namentlich bei traumatischen Myelitiden
kann das Röntgenverfahren zur Kontrolle
der Extensionsbehandlung mit Vortheil be¬
nutzt werden. Diagnostisch wichtig ist,
dass bei allen vorgeschritteneren Myelitiden
an den dem Sitz entsprechenden Wirbeln
osteoporotische Veränderungen nachweis¬
bar sind. Auch Wirbeltumoren und Häma-
tomyelie sind ev. dem Verfahren zugäng¬
lich. Bei negativem Röntgenbefund darf
man mit grösster Wahrscheinlichkeit die
Wirbelsäule als intact betrachten. In¬
wieweit man hieraus auf das Rückenmark
Rückschlüsse machen darf, ist noch un¬
sicher. Weitere Untersuchungen müssen
erst feststellen, ob und in welchem Stadium
auch bei beginnenden rein centralen Mye¬
litiden, bei Poliomyelitis anterior und bei
intrameningealen Tumoren aktinographisch
Knochenveränderungen nachzuweisen und
als Frühsymptome zu verwerthen sind.
Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt.)
(Beil. Gesellschaft für Psychiatrie und Nerven¬
krankheiten. 8. Dec. 1902. Bericht nach Berl. Klin.
Wochenschr. 1903. No. 9.)
In ihrer Abhandlung über die Schleim-
kollk des Darms (Colica mucosa) und
ihre Behandlung besprechen von Noorden
und Dapper auch eingehend die Therapie
dieses Leidens an der Hand von 76 be¬
obachteten Fällen. Die Verfasser vertreten
in der Auffassung der Erkrankung den
24*
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
188
April
Die Therapie der
unitaristischen Standpunkt und sagen: Es
handle sich stets um eine Secretionsneurose
des Darms, diese kann sich auch bei einem
Katarrh etabliren, braucht es aber nicht.
Sehr häufig entsteht sie auf dem Boden
einer chronischen Obstipation. Die Dauer
der Krankheit, die Intensität der Schmer¬
zen, die dabei bestehende Neurasthenie
oder Hysterie ist von untergeordneter Be¬
deutung, die Erkrankung des die Schleim-
secretion des Dickdarms beherrschenden
nervösen Apparates ist das Charakte¬
ristische. (Ewald hat hierfür zuerst die
zutreffende Bezeichnung myxoneurosis coli
eingeführt.) (Ref.)
Die symptomatische Behandlung des
Anfalls besttht in Bettruhe, heissen Um¬
schlägen auf den Leib, Narcoticis: Mor¬
phium subcutan resp. Zäpfchen von Opium
und Belladonna. Ein applicirtes nicht
zu grosses Clysma aus körperwarmem
Wasser ohne reizende Zusätze wie Gly-
ceiin, Seife oder Kochsalz befördert dann
grosse Mengen Schleim heraus. Hierauf
grosser Oeleinlauf 300—500 cm, der lange
zurückzuhalten ist. Häufig ist durch die
sich an dies Clysma anschliessende Ent¬
leerung von Koth und Schleim der Anfall
überwunden.
Die causale Behandlung hat das etwa
vorhandene Darmleiden — und das ner¬
vöse Allgemeinleiden zu berücksich¬
tigen. Die Verfasser empfehlen daher
die schon früher von von Noorden em¬
pfohlene schlackenreiche Nahrung: 250 g
Schrotbrot, Hülsenfrüchte einschliesslich
Schalen, cellulosereiche Gemüse, klein¬
kernige, grobschalige Früchte wie Johannis¬
beeren, Stachelbeeren, Weintrauben etc,
reichliche Zufuhr von Butter und Speck.
Eine solche Diät ist als leichtverdaulich
für derartige Kranke anzusehen. Zur
Unterstützung der Diät erwiesen sich Koch¬
salzwässer, Rakoczy und Homburger Eli¬
sabethquelle förderlich, während alkalische
resp. alkalisch - muriatische Quellen sich
nicht bewährten. Auch die Massage der
Flexura sigmoidea während der ersten 8
bis 10 Tage der Behandlung zeigte sich
von sehr grossem Nutzen.
Die Dauer einer solchen Cur währt in
der Regel 3—5 Wochen, hierauf kann man
allmählich zu der gewohnten Lebensweise
übergehen, nur hat man dafür Sorge zu
tragen, dass der Stuhlgang ohne Abführ¬
mittel regelmässig sich einstellt. Wenn es
sich nach Beendigung der eigentlichen
Cur, die am zweckmässigsten in einer
Klinik oder in einem Sanatorium absol-
virt wird, darum handelt, welchen Er-
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Gegenwart 1903.
holungsaufenthalt man anrathen soll, so ist
vor 2 Extremen zu warnen: Seebad und
allzugrosse Höhen. Mittlere Höhen mit
waldiger Umgebung und Gelegenheit zu
Spaziergängen haben sich als am besten
geeignet bewährt. Die Verfasser ver¬
wahren sich gegen den Einwand, als ob
ihre Methode die einzig richtige wäre,
sie vindiciren ihr aber, wie Referent bestä¬
tigen kann, mit Recht die Bezeichnung
einer durchaus bewährten, da sie von 76
behandelten Fällen 60 geheilt entlassen
konnten — 12 unvollständige Erfolge, zu¬
meist bedingt durch häusliche Behandlung,
4 Misserfolge wegen zu frühen Abbruchs
der Cur. —
Referent kann die vorgeschlagene Be¬
handlung aus reicher Erfahrung nur drin¬
gend empfehlen, wenn ja auch in einzelnen
selbst beobachteten Fällen nebenbei be¬
stehende Erkrankungen des Magens, des
Genitalsystems bei Frauen, Erkrankungen
des Darmes selber gewisse Abweichungen
von der beschriebenen Methode sich öfters
nöthig machten, so sind doch seit der
ersten Veröffentlichung von Noorden’s
alle Fälle in dieser Weise diätetisch be¬
handelt worden und haben sich recht be¬
friedigende Resultate erzielen lassen, spe-
ciell unter zeitweiser Verwendung grosser
Oeleinläufe. Carl Berger (Dresden).
(Sammlung klinischer Abhandlungen über Patho¬
logie u. Therapie etc. von Prof. Carl von Noor-
den, Berlin. Hirschwald 1903.)
M. Weinberger empfiehlt für SüXU&l-
neurastheniker mit pathologischen Pollu¬
tionen Curorte mit ruhiger diätetisch ge¬
regelter Lebensweise. Ist die Aufsuchung
eines derartigen Curortes nicht möglich, so
ist die Behandlung in Wasserheilanstalten
anzuempfehlen; bei weniger aufgeregten
Patienten sind kalte Leintuchabreibungen
zu machen; bei schwächeren sensibleren
Personen ist es angezeigt, die Cur mit
Halbbädern von 32—28° C einzuleiten und
erst dann zu Leintuchabreibungen überzu¬
gehen. Auch kühle Sitzbäder (25—20° C)
von kurzer Dauer werden mit Erfolg an¬
gewandt. Daneben kommt abwechselnd der
Winternitz’sche Psychrophor und der
Atzberger’sche Kühlapparat (in den Mast¬
darm eingeführt) zur Anwendung. Stark
gewürzte Speisen, reichliche Nachtmähler
und starkes Rauchen sind zu verbieten.
Alcoholica dürfen nur in beschränktem
Maasse und nicht Abends gestattet werden.
Bewegungstherapeutisch sind vor Allem
Schwimmen und ausgedehnte Spaziergänge
anzurathen (jedoch dürfen diese Bewegun¬
gen nicht bis zur Erschöpfung getrieben
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
I)ic Therapie der
werden). Das Rudern, der Fahrradsport
und das Reiten sind schädlich.
Die Behandlung der auf sexualneurasthe-
nischer Basis entstandenen Spermatorrhoe
stimmt im Wesentlichen mit der der patho¬
logischen Pollution überein. Es kommt hier
jedoch neben dem Psychrophor und dem
Atzberger’schen Mastdarmkühler auch die
Behandlung mit Sondencuren und Elektri-
cität (galvanischer und faradischer Strom)
in Betracht. (Sehr zweckmässig die von
Porosz eingeführte Faralisation der Pro¬
stata per rectum.)
Bei nervöser Impotenz sind solchen
Kranken, die durch geistige Arbeit er¬
müdet sind, Aussetzen der Arbeit und eine
längere unterhaltende Reise zu empfehlen;
Anderen ist die Anwendung von Wasser-
curen und der Besuch von Höhencurorten
anzurathen. Eine ausgezeichnete Wirkung
auf nervöse Impotenz haben auch kohlen¬
säurehaltige Bäder. Bei körperlich Er¬
schöpften, mageren Personen ist nebst ge¬
nügender Ruhe gute Ernährung, eventuell
Ueberernährung in Form von Mastcuren,
angezeigt. Lüthje (Tübingen).
(Zeitschr. für diät. u. phys. Ther., Bd. VI, 8.)
Gestützt auf die Erfahrung mehrerer
Autoren, dass Thiosinamin auf Narben¬
gewebe eine quellende und demulcirende
Wirkung ausübt, hat E. Glas (Wien)
Thiosinaminversuche bei Rhinosklerom
angestellt, indem er je 0,5 cm 3 15°/ 0 ige
alkoholische Thiosinaminlösung in Ab¬
ständen von mehreren Tagen subcutan in-
jicirte. Der Autor giebt folgende Zu¬
sammen fasssung seiner Ergebnisse:
1. Das Thiosinamin übt, wie klinische
und histologische Befunde ergeben haben,
seine Einwirkung ähnlich sonstigem Nar¬
bengewebe auch auf rhinoskleromatöses
Gewebe aus, indem die Gewebsmassen und
bindegewebigen Stränge weicher und dehn¬
barer werden, so dass die Tubagirung
resp. Bougirung leichter gelingt.
2. Das Thiosinamin an sich ohne me¬
chanische Nachhülfe führt zu keinem Bes¬
serungsresultat bei Rhinoskleromkranken.
Es muss hier ebenso wie bei den Oeso-
phagusstricturen zur Unterstützung durch
Bougien oder sonstige Dilatationsmittel
kommen, wodurch ein besserer und schnel¬
lerer Erfolg erzielt wird als bei rein me¬
chanischer Behandlung.
3. Es ist daher die Thiosinamintherapie
bei hochgradigen rhinoskleromatösen Ste¬
nosen der Nase als wirksames Adjuvans
der mechanischen Therapie anzuempfehlen,
während hochgradige subglottische Schwei-
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Gegenwart 1903. 189
lung mit Ausnahme der tracheotomirten
Fälle wegen der die Stenose vergrössern-
den Reactionserscheinungen eine Contra-
indication dieser Behandlungsmethode
geben. Leo Schwarz (Prag).
(Wiener klin. Wochenschrift 1903, No. 11.)
Es kann nicht bezweifelt werden, dass
für eine grösstmögliche Zahl von Stoma-
chicis ein Bedürfniss besteht. So mag in
Kürze darauf hingewiesen werden, dass
A. Brok (Wien) bei tuberkulöser Appetit¬
losigkeit, einfacher Anorexie, sowie bei
acuten Krankheiten, bei Anwendung von
Vial’s tonischem Wein in ca. 60 Fällen
den Eindruck günstiger Wirkung auf den
Appetit gewonnen hat. Es handelt sich
um einen spanischen Wein, dem China-
rindenextract, Kalklactophosphat und
Fleichextract zugesetzt sind.
Leo Schwarz (Prag).
(Wiener med. Presse 1902, No. 38.)
ln einer Arbeit über Wanderniere und
chirurgische Behandlung derselben
erörtert Hahn nach Auseinandersetzung
der anatomischen Lage und Fixirung der
Niere noch einmal die wichtigsten ätio¬
logischen Momente der Wanderniere. Die
bisher schon feststehenden Thatsachen des
häufigen Vorkommens beim weiblichen Ge¬
schlecht, besonders rechts, zumal nach
vorangegangenen Graviditäten, nach starker
Abmagerung u. s. w., gehen auch aus seinen
umfangreichen Beobachtungen hervor. Ein
Hauptmoment aber für die grössere oder
geringere Sicherung der Lage der Nieren
sieht Verfasser in der Ausbildung der die
Nieren beherbergenden, zu beiden Seiten
der Wirbelsäule gelegenen Nischen. Das
Vorhandensein solcher Nischen ist von den
russischen Autoren Woikoff und Delitzin
nach Gypsabgüssen an Leichen in über¬
zeugender Weise gezeigt worden. Diese
Gruben sind bei Frauen seichter und werden
in den Fällen, wo Wanderniere beobachtet
wird, ganz auffallend flach und zwar wieder
besonders rechts.
Zwischen dem Grad der Beweglichkeit
und den Beschwerden, die eine Wander¬
niere verursacht, besteht kein Parallelismus.
Nach Schilderung des sehr mannigfaltigen
Symptomenkomplexes (Magendarmkanal,
Genitalsphäre, Psyche u. s. w.) legt Hahn
sein operatives Verfahren dar, wie es sich
ihm auf Grund seiner langen Erfahrungen
als brauchbar erwiesen hat. Freilegung
der Niere nach Flankenschnitt und Vor¬
ziehung derselben. Spaltung der Fettkapsel
und Bildung eines grossen Lappens aus
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
190
April
Hie Therapie der Gegenwart 1903
der Capsula propria, wodurch die ganze lationsgewebe und ein sehr festes Narben-
Hinterfläche der Niere entblösst wird. Die gewebe. Aus dem Grunde ist die Tampo-
Fettkapsel wird an die Fascia, die Capsula nade dem primären Schluss durch die
propria an Haut oder Subcutangewebe be- Naht vorzuziehen. Nicht die Kapselnähte
festigt. Dann folgt die Tamponade der sondern die Narbenbildung hält die Niere in
Wunde, sodass die Gaze auf das ent- ihrer Lage. Wichmann (Altona.)
blöSSte Nierenparenchym zu liegen kommt. (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Band 67,
Es bildet sich so ein reichliches Granu- Festschrift fnr v. Esmarch.»
Therapeutische Casuistik.
Ein Beitrag zur Frühoperation bei Appendicitis acuta.
Von Dr. Schultz-Friedenau.
An der Hand eines jüngst erlebten
Falles will ich im folgenden zeigen, 1 ) dass
die frühe Operation der Appendicitis nicht
nur Heilung und Befreiung von einem
qualvollen, das Leben in hohem Grade
verbitternden Leiden bringt, sondern oft
direkt lebensrettend wirkt. Ich kenne aus
persönlicher Erfahrung die — leider —
traurigen Verhältnisse auf dem platten
Lande bei eingetretener Blinddarmentzün¬
dung, ich weiss positiv, dass dort noch
heutzutage viele Menschen unoperirt oder
„zu spät 44 operirt sterben, die hätten ge¬
rettet werden können. Und häufig das
nur, weil der behandelnde Arzt sich zum
Operirenlassen nicht zeitig genug ent-
schliessen konnte. Daher wende ich mich
in erster Linie an die praktischen Aerzte,
in deren Hand speciell auf dem Lande j
nicht selten das Schicksal der Blinddarm¬
kranken gelegt ist.
Die Krankengeschichte der Patientin,
um die es sich handelt, ist kurz folgende:
Anamnese. Else H., 15 3 /* Jahr alt. Eltern
und Geschwister gesund, mit Ausnahme eines
Bruders, der an leichter Epilepsie leidet. Ausser
Masern keine Kinderkrankheiten, seit dem drei¬
zehnten Jahr regelmässig menstruirt, stets ohne
Beschwerden. Im Sommer 1901 Infraction des
linken Schlüsselbeins (von mir behandelt). Stets
vorzüglicher Appetit. Stuhl regelmässig, niemals
Urinbeschwerden. Im August 1902 angeblich
ohnmachtsähnlicher Anfall in der Schule beim
Turnen. Am 5. November desselben Jahres
erkrankte die Patientin mit Schmerzen in der
rechten Unterbaucligegend, weshalb ich am
6. November gerufen wurde.
Status praesens. Sehr gut genährtes,
kräftiges Mädchen. Puls regulär, voll, ca. 70.
Temperatur 36,9 (Achselhöhle). Lunge und
Herz gesund. Abdomen nicht aulgetrieben,
weich. In der lleocöcalgegend keine Dämpfung,
') Im folgenden ist nur die Littcratur der letzten
beiden Jahre 1901 und 1902 berücksichtigt. Der
hochinteressante Artikel Bäumler’s (Thcr. d. Geg.
1903, Februar) ist mir erst Mitte März bekannt ge¬
worden, als das Manuskript meines Beitrages schon
fertig zur Absendung bereit lag.
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! keine Resistenz. Mc Burney’scher Punkt nicht
i druckempfindlich, dagegen eine ganz um-
I schriebene Stelle dicht oberhalb der
Symphyse, bei sanftem Druck nach dem
j kleinen Becken zu. 1 ) Hier anscheinend
I ganz leichte Abschwächung des Percussions-
i schalles. Keine Uebelkeit, kein Erbrechen, keine
Blasenbeschwerden. Zunge gut aussehend bei
! relativ geringem Appetit. Stuhl gestern etwas
hart, ohne Schmerzen. Oedeme und Exantheme
I fehlen.
I Diagnose. Appendicitis simplex levissima.
! Unter der üblichen Behandlung (Bettruhe,
j Diät, feuchtwarme Umschläge, leichtes Abführ-
| mittel (Cascara) 3 ) Auf hören des subjectiven
Schmerzgefühles der Blinddarmgegend. Ob-
jectiv deutliche Druckempfindlichkeit stets an
derselben oben bezeichneten Stelle.
25. November. Da niemals Temperatur¬
steigerung (tägliche genaue Messung!), nie¬
mals Uebelkeit und Brechneigung vorhanden.
Stuhl auf Cascara weichbreiig, regelmässig ist
und gänzlich schmerzfrei erfolgt, steht Patientin
vorläufig täglich circa eine Stunde auf bei vor¬
trefflichem Allgemeinbefinden und glänzendem
Appetit (breiige Diät).
3. December. Bis auf geringen, namentlich
beim Stehen und Gehen auftretenden „piken¬
den 4 * Schmerz oberhalb der Symphyse (rechts)
nicht die mindesten Beschwerden. Patientin
hält sich für völlig gesund und ist in über-
müthiger Stimmung. Allgemeinbefinden so vor¬
züglich, dass sie schon für später Pläne zum
Besuch der Eisbahn, zum Weihnachtsfest etc.
macht. Sie verlangt fortwährend „mehr zu
essen“.
5. December. Bei meiner Vormittagsvisite
finde ich die Patientin sehr verändert. Sie
fühlt sich matt, abgeschlagen, depri-
m i r t, hat schlecht geschlafen und
keinen Appetit. Temperatur 38,6 (Achsel¬
höhle), Puls ca. 96, voll, regelmässig. Localer
Druckschmerz anscheinend erheblich gesteigert,
Leib nicht aufgetrieben. Kein Erbrechen, keine
J ) Bäum ler (1. c.) macht ausdrücklich auf die
Wichtigkeit dieses Symptoms für die frühe Diagnose
der Appendicitis aufmerksam.
-) Ich glaubte in diesem Falle von der Anwen¬
dung des Opium absehen zu können, stehe aber
sonst in dieser Hinsicht ganz auf B äu m 1 e r's Stand¬
punkt.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Cegenwart 1903.
Uebelkeit, keine Urinbescliwerden. (iestern
Stuhl.
Abends 6 Uhr. Patientin erregt, hoch¬
rot he Wangen. Temperatur 39.2, Puls ca.
120, weich, viel Durst, phantasiert. In der ge¬
rechtfertigten Annahme, dass sich bei der
Patientin eine Katastrophe vorzubereiten be¬
ginnt. dringe ich bei den um ihre einzige
Tochter äusserst besorgten Eltern auf Zu¬
ziehung eines zweiten Arztes für innere Krank¬
heiten, der sich für Abwarten entscheidet
Da einerseits die Eltern entschlossen sind,
alles zu wagen, um ihre Tochter zu retten,
andererseits ich. durch frühere ähnliche Er¬
fahrungen aus der Landpraxis gewitzigt, nichts
unversucht lassen mochte, ziehe ich noch in
der Nacht den Chirurgen Dr. Mennig (Eli^a-
bethkrankenhaus) zu. Dieser erklärt sich für
die Operation und läth zu ihrer unverzüglichen
Vornahme, einer Ansicht, der ich beiptliehtc.
6. December. Morgens 8 Uhr linde ich:
Nacht leidlich, Temperatur 39,2 (Achselhöhle).
Puls 120. klein, regulär. Kräftezustand gut,
kein Erbrechen, keine Uebelkeit. Patientin
blass, aber nicht verfallen aussehend. Vor¬
mittags Ueberführung in das Elisabethkranken¬
haus, um 1 Uhr Operation durch Prof Rinne.
Operationsbefund. In tiefer Chloroform-
narkose üblicher schräger Seitenschnitt (von
Rinne 1 ) bevorzugt). Das sich darnach prä-
sentirende Cöcum absolut unverändert, die
Serosa glatt, glänzend und nicht injicirt. Der
Processus, ca. 8—9 cm lang, nach dem kleinen
Becken zu in der Tiefe gelegen, ist volu¬
minös, sieht starr wie e r i g i r t - > aus,
seine Serosa glatt, glänzend, keine Spur I
von Fibrin besch 1 ägen oder Adhäsionen, !
keine Eiterung, auch nicht in seiner Um¬
gebung. Der Operateur constatirt sofort beim
Abtasten einen im mittleren Drittel sitzen¬
den Kothstein. Abtragung mittelst Pacquelin
und Uebernähung des Stumpfes. Rechte Adnexe ,
üanz normal, Jodoformgazetamponade. Schluss
der Wunde im medialen Drittel durch Naht.
Im seiner ganzen Länge nach aufgeschnitte¬
nen Wurmfortsatz befindet sich im mittleren
Drittel ein zwickel- bezw. spindelförmiger, circa
1cm langer Kothstein von frischer Be¬
sch a I fe n h ei t. Die Schleimhaut des Pro- ,
cessus ist in der Ausdehnung seiner
ganzen Berührungsfläche ulcerirt und
bl au schwarz verfärbt, die Verfärbung
reicht bis in die Submucnsa.
6. December. Abends Temperatur 37,9.
Puls kräftig, regelmässig, ca 100.
7. December. Temperatur 37.3. 37,5, 37.1.
Puls kräftig, ca 100.
8. December. Es sind Blähungen abgegan¬
gen. Abdomen weich. Keine Harnbeschwerden,
Allgemeinbefinden vortrefflich. Tempcratur36.8.
Puls 90.
9. December. Verbandwechsel. Temperatur
36.4. Puls 80.
l i Deutsche med. Wochenschrift 1902, 28 S. 499.
a > cf. Rammstcdt, Deutsche med. Wochcnschr.
1902, 51, S. 902. Fast der gleiche Befund.
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31. December. Wunde geheilt bis auf eine
ca. 2 cm lange Stelle in der äusseren (lateralen)
Wundpartie.
2. Januar. Patientin wird mit Leibbinde und
Pelotte heilte nach Mause entlassen. Nach¬
behandlung durch Mausarzt. Vorzügliches All¬
gemeinbefinden bei glänzendem Appetit und
regelmässigem Stuhl.
Epikrise. Sehen wir uns den Fall
etwas genauer auf seinen ganzen Verlauf
an, so können wir, meine ich, hier wohl
mit gutem Grunde von einer „Frühopera¬
tion“ sprechen. Denn knapp 24 Stunden
nach Auftreten der bis dahin fehlenden
alarmirenden Symptome (Fieber, Deli¬
rium) wurde die Operation gemacht. Frei¬
lich, der allererste Beginn der Erkrankung
datirt ja zweifelsohne vom Anfang No¬
vember, aber dieselbe verlief doch so über¬
aus leicht, eigentlich ohne all und jedes „ty¬
pische“ Perityphlitisattribut 1 ) (cf. Kranken¬
geschichte), dass mit Ende November die
Patientin als geheilt gelten konnte, we¬
nigstens im klinischen Sinne, im ana¬
tomischen war sie es ja, wie die Autopsie
in viva (cf. Operationsbefund) zeigte, sicher¬
lich nicht. Es ist ja eine Thätsache, die
erst neuerdings wieder von Sonnenburg,
Fränkel 2 ) u. A. lebhaft urgirt wurde, dass
„die Schwere resp. Leichte der klinischen
Erscheinungen bei der Perityphlitis nicht
immer im Einklang mit den anatomischen
Veränderungen zu stehen brauche.“ Und
doch, die schlimme Wendung, das bös¬
artige Recidiv vom 5. December kam so
überraschend und war so frappant, dass
es fast den Eindruck einer Neuerkrankung
machte. In diesem Sinne kann man also
wohl von einer frühen Operation der
Appendicitis reden.
Was war nun die Ursache für die so
plötzliche Verschlimmerung der bis dahin
ungemein leichten Erkrankung? Darauf
giebt uns, denke ich, der Operationsbefund
verlässliche Antwort: Der im Wurmfort¬
satz aufgefundene Kothstein hatte
bereits die Schleimhaut gangränös
verändert, ulcerirt und befand sich
aufdem besten Wege durchzubrechen
und in die freie Bauchhöhle zu perfo-
riren, wenn nicht die Operation da¬
zwischen getreten wäre. Nach 24 bezw.
48 Stunden wäre diese, das lässt sich mit
einer hohen Wahrscheinlichkeit sagen,
voraussichtlich schon „zu spät“ gekommen:
Der Meinung Bänmlcr’s (1. c.), dass eine
reine Appendicitis während des Lebens nicht
oder nur sehr ausnahmsweise diagnosticirt werden
kann, möchte ich mich nicht anschliessen.
-) Deutsche med. Wochcnschr. 1902, 4 5. Ver¬
einsbeilage 45, S. 328.
Original fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
192
Die Therapie der Gegenwart 1903.
April
bei dem vollkommenen Fehlen aller Ad¬
häsionen und Abkapselungen hätte eine
foudroyante allgemeine, sog. „aseptische“
Bauchfellentzündung, wie so oft in ähn¬
lichen Fällen, ein blühendes Menschenleben
vernichtet. Die Frühoperation hat also
hier direkt lebensrettend gewirkt.
Was nun das Entstehen bezw. die Rolle
derKothsteine hinsichtlich der Aetiologie
der acuten Appendicitis anlangt, so will
ich darauf nur ganz kurz eingehen. In
seinem interessanten Artikel: „Die Appen¬
dicitis und ihr Zusammenhang mit Trau¬
men“, 1 ) sagt Sonnenburg: „Wie jetzt all¬
gemein angenommen wird, bilden sich die
Kothsteine in der Regel im Verlauf eines
Katarrhs des Wurmfortsatzes.“ Genau so
erkläre ich mir hier den Hergang. Primär
der Katarrh des Processus, der sich durch
die von Anfang November datirende Er¬
krankung leichtester Art dokumentirte,
secundär die Bildung des Kothsteins, die
etwa in den letzten Tagen des November
oder in den ersten Tagen des December
erfolgt sein wird. Für diese Ansicht spricht
das ganz frische Aussehen des Kothsteins,
die helle Farbe und das Fehlen jeder Fa-
cettirung. (Bäumler). Ferner auch das
Nichtvorhandensein der Veränderungen
um den Processus herum (Fibrinbeschläge,
Verklebungen).
Indem ich zum Schluss in aller Kürze
zur Erörterung des Standpunktes der aus¬
ländischen Aerzte bezüglich der Therapie
der akuten Perityphlitis übergehe, so er-
giebt eine Durchsicht der einschlägigen
Litteratur der beiden letzten Jahre, dass
ausser den Franzosen, z. B. Dieulafoy, 2 )
Longuet, 3 ) u. a. neuerdings gerade die
Amerikaner und Engländer die frühe Ope¬
ration mit aller Schärfe befürworten. Nach
Deaver u. Ross, 4 ) die über ein Material
von mehr als 400 Fällen verfügen, bedeutet
„frühe Operation Heilung“ und Taylor 5 )
betrachtet jeden Anfall heftiger akuter
Appendicitis wie einen eingeklemmten
Bruch, indem er ihn sofort operirt. Ganz
soweit, glaube ich, werden ja, wie ich
schon oben erwähnte, unsere Chirurgen
nie gehen, wenngleich, wie sich nicht ver¬
kennen lässt, die operationsfreundliche
Stimmung entschieden zugenommen hat.
J ) Deutsche med. Wochenschrift 1901, 38.
a ) Deutsche med. Wochenschrift 1902, 35. V.-B.
S. 276 Referat.
3 ) Sem. medicale 1902, 23.
4 ) The Journal of the American medical assoc.
1902, 17, 24.
5 ) The British medical Journal 1902, 8. Febr.
Remarks on appendicitis and its treatment.
Der praktische Arzt kann damit nur ein¬
verstanden sein, zumal wenn er bedenkt,
wie der Wurmfortsatz von der Natur gerade¬
zu prädestinirt erscheint — ein Danaer¬
geschenk xar i&x ojv — als Depot aller
möglichen und unmöglichen Gegenstände
zu dienen. Was hat man in ihm nicht
schon für heterogene Dinge gefunden? Da
finde ich erwähnt und zitire der Curiosität
halber: Stecknadeln , l ) Fischgräten, 2 ) Schrot¬
körner, 8 ) Haare, Fruchtkernchen, Kiesel¬
steine 4 ) und, last not least, Eingeweide¬
würmer. 5 ) Ja, selbst die so aktuellen Ba¬
cillen 6 ) dürfen nicht fehlen. Nimmt man
hierzu noch die vielfachen Coroplicationen*
die bei exspectativer Behandlung dem
wohl vom Anfall, aber nicht von der Krank¬
heit 7 ) Geheilten drohen — ich erwähne
nur den Darmverschluss durch Adhäsionen
des Processus infolge Schlingenbildung 8 )
und die für das weibliche Geschlecht so
überaus wichtigen und gar nicht so seltenen
Erkrankungen der rechten Adnexe 9 ) durch
Uebergang vom Wurmfortsatz (Lig. appen-
diculo-ovaricum) —, so verstehe ich wohl
den Standpunkt der Amerikaner, wenn sie
sagen: Lieber einmal zu viel als zu wenig
operiren. Vor allem aber so zeitig ein-
greifen, dass es gar nicht zu den eben
skizzirten deletären Folgeerscheinungen
„dieser so häufigen und verderblichen
Krankheit“ 10 ) kommt. Ich schliesse mit
dem beherzigenswerthen Appell Roses 11 )
an die deutschen Chirurgen: „Wer sonst
gesund ist, stirbt an der Wurmfortsatzent¬
zündung nur, wenn er zu spät operirt wird.
Gerade wie bei der Brucheinklemmung.“
*) Rose, Deutsche med. Wochenschrift 1902,
3. V.-B. S. 70. Malcolm, The Lancet 1902, 5. Juli.
a ; Fränkel (Nürnberg), Deutsche med. Wochen¬
schrift 1902, 27. V.-B. S. 208.
3 ) Holmes, cit. bei Rose, 1. c. 122 Stück im
Wurmfortsatz.
Rose, 1. c.
5 ) Genser, Wiener med. Wochenschrift 1901, 19.
Spulwürmer, dto. Metschnikow. Rammstedt,
I. c. Faden Würmer. Girard, Röle des trichoce-
phales dans Pinfection de l’appendice üeocoecale.
Annales de Tinstitut de Pasteur 1901, Juin. (2 Tri-
chocephalen).
®t J. de Quervain, Die Aetiologie der Pneumo-
coccenperitonitis. Corresp. für Schweizer Aerzte
1902, 16. Die Erkrankung ging vom Wurmfort¬
satz aus, in dessen Lumen sich Pneumococcen
befanden.
7 ) Sonnenburg, Pathologie und Therapie der
Perityphlitis, Leipzig 1900.
8 ) Hermes, Einklemmung einer Dünndarm¬
schlinge. Deutsche med. Wochenschrift 1901, 23.
9 ) Fränkel, Die Appendicitis in ihren Be¬
ziehungen zu den Erkrankungen der weiblichen
Sexualorgane. S. klin. Vorträge, N. F. 323, 1901.
10 ) Taylor, 1. c.
n ) Rose, Deutsche med. Wochenschrift 1902, 14.
1 iir die Red.iction verantwortlich: Prof. Ci. Klemperer in Berlin. — Verantwortlicher Kcdactewr ftir Oesterreich-Ungarn:
P.u^-n Schwarzenberg in Wien. — Druck von J ulius Sitt en fold in Berlin. —Verlag von Urban & Schwarzenuerg
in Wien und Berlin.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1903
herausgegeben von Prof. Dr. Q. Klemperer
In Berlin.
Mai
Nachdruck verboten.
Ans der UL medicinischen Klinik der Charite.
(Director: Geheimrath Prot Senator.)
Zur Behandlung und Verhütung der Nierenwassersucht.
Von Professor H. Strauss, Assistent der Klinik.
In mehreren früheren Arbeiten 1 ), von
welchen eine in dieser Zeitschrift erschienen
ist, habe ich auf Grund fremder und eigener
Untersuchungen gezeigt, dass bei chroni¬
schen Nephritiden Kochsalzretentionen
Vorkommen können, und gefordert, dass
diese Thatsache auch eine therapeutische
Beachtung bezüglich der Kochsalzzufuhr
erfahre. Die Gründe, die mich hierzu ver-
anlassten, waren folgende:
1. habe ich bei kryoskopischen Harn¬
untersuchungen und bei Studien über den
Kochsalzstoffwechsel, die ich nach der An¬
lage früherer Versuche über alimentäre
Glykosurie ausgeführt habe, feststellen
können, dass bei chronischen Nephritiden
im Zustande der Compensationsstö-
rung nicht bloss die Wasserabscheidung
sondern — und zwar nicht selten in noch
höherem Grade —die Kochsalzausschei¬
dung durch die Nieren herabgesetzt ist.
Es besteht in solchen Fällen häufig ein
„Torpor renalis“ derart, dass die Niere
die Ausfuhr nicht nur von Wasser son¬
dern auch von Kochsalz der Zufuhr
nicht gehörig anzupassen vermag.
2. haben Untersuchungen von Marisch-
ler 2 ), Achard und Loeper 8 ), Claude
und Maut6 4 ), Steyrer 5 ), sowie eigene
Untersuchungen 6 ) gezeigt, dass gewisse
Nephritiker auf die Zulage eines grösseren
Quantums Kochsalz zu einer sonst gleich¬
bleibenden Diät nicht diejenige Steigerung
der Kochsalzausscheidung erkennen lassen,
die man beim Gesunden beobachten kann.
3. haben Untersuchungen des getrennt
*) H. St rau ss, Die chronischen Nierenentzün¬
dungen etc. Berlin 1902, A Hirschwald, ferner
Berliner klinische Wochenschrift 1902. No 23, The¬
rapie der Gegenwart, Octoberheft 1902, Zeitschrift
für klinische Medicin. Band 47, Heft 5 und 6.
Marischier, Archiv für Verdauungskrank¬
heiten, Band VII, Heft 4 und 5.
3 ; Achard und Loeper, Bull, et mem. de la
soc. m6d. de höp. 1902, No 16.
4 ) Claude und Maut6 ibid. No. 15 und Arch.
generales de Medecine 1902, No. 16.
s ) Steyrer, Hofmeister’s Beiträge, Band II,
Heit 7 und 9 aöut 1902.
6 ) H. Strauss, Zeitschrift für klinische Medi¬
cin, 1 . c.
aufgefangenen Harnes bei einseitigen Nieren¬
erkrankungen (Albarran und Bernard 1 ),
Casper und Richter 2 ), Kövesi und
v. Illy^s 8 ) auf der erkrankten Seite eine so¬
wohl procentual als absolut geringere Koch¬
salzausfuhr ergeben als auf der gesunden
Seite.
Der Umstand, dass ich den „Torpor
renalis“ meist zusammen mit procentual
und in toto niedrigen Kochsalzwerthen
und meistens bei solchen Nephritikern an¬
traf, welche gleichzeitig mehr oder we¬
niger ausgeprägte Zeichen von Com-
pensationsstörungen (insbesondereOe¬
deme) erkennen Hessen — im Gegensatz
zu Nephritikern, deren Krankheit gut com-
pensirt war —, hat mich zu der schon in
früheren Arbeiten angedeuteten Auffassung
veranlasst, dass die Verminderung der
Kochsalzausscheidung bei Nephritikern
1. einen mehr oder minderengen Zu¬
sammenhang mit dem Eintritt der
Compensationsstörung besitze und
2. zum grössten Theile renalen Ur¬
sprungs sei. Eine Durchsicht der Kranken¬
geschichten der von den einzelnen Autoren
untersuchten Fälle zeigte mir in der That,
dass nicht nur die sub 1 ausgesprochene
Voraussetzung meist zutraf, sondern dass
auch die sub 2 ausgesprochene Anschauung
insofern berechtigt ist, als sich gegen die
einer solchen Anschauung entgegenstehen¬
den Auffassungen von Marischier sowie
Achard und Loeper begründete Ein¬
wände (cf. später) erheben lassen.
Auf dem Boden solcher Erwägungen
habe ich Herrn Dr. von Koziczkowsky
in diesem Winter veranlasst, bei Nephri¬
tikern systematische Untersuchungen
über den Salzstoffwechsel nach den
Fragestellungen zu unternehmen, die sich
aus den Resultaten fremder und eigener
kryoskopischer Harnuntersuchungen sowie
J ) Albarran und Bernard, Annales des mal.
des org. genito-urin.
*) Casper und Richter, Funktionelle Nieren¬
diagnostik, Berlin 1901.
3 ) Kövesi und v. Illyes, Berliner klinische
Wochenschrift 1902.
25
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Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
194
Die Therapie der
fremder und eigener Studien über den
Kochsalzstoffwechsel bei Gesunden und
Nierenkranken ergeben haben und hierbei
ganz besonders auf die Frage der Com-
pensation und der Decompensation und
auf den Einfluss der Diurese auf den Koch¬
salzgehalt des Urins zu achten. Da bei
diesen Untersuchungen weiterhin noch die
Thatsache zu berücksichtigen war, dass bei
den hier in Rede stehenden Fällen bisher
so häufig ein Unterschied zwischen den
Kochsalzwerthen und den die Gesammt-
zahl der anorganischen Molecüle anzeigen¬
den Werthen für die elektrische Leitfähig¬
keit des Urins zu beobachten war, so war
bei diesen Untersuchungen ausser dem
Kochsalzstoffwechsel auch noch das Ver¬
halten der wichtigsten anderen im Urin
vorkommenden Salze zu studiren.
Deshalb wurden die betreffenden Unter¬
suchungen in der Weise ausgeführt, dass
bei einer an den verschiedenen
Tagen gleichartigen Diät während
einer Reihe von Tagen die Kochsalz-,
Phosphorsäure- und Schwefelsäure¬
ausfuhr im Urin bestimmt und der Einfluss
einer an einem einzelnen Tage verab¬
reichten — aus 10 g Kochsalz, 2,5 g phos¬
phorsaurem Natrium und 2,5 g schwefel¬
saurem Natrium bestehenden — „Zulage“
auf das Verhalten der genannten Factoren
im Urin während mehrerer auf die „Zulage“
folgender Tage untersucht wurde.
In diesen Versuchen, bei denen auf
lange Versuchsreihen Werth gelegt wurde
und über deren Ergebnisse Herr Dr, v. Ko-
ziczkowsky in Bälde Genaueres berichten
wird, zeigten sich bei den untersuchten
Nephritikern nicht selten Störungen in der
Salzausscheidung, und zwar waren diese
besonders ausgeprägt bei Nephriti¬
kern mit Hydropsien. Bei letzteren
fand sich in der Regel;
1. eine niedrige procentuale und abso¬
lute Kochsalzausscheidung
2. keine oder eine nur unwesentliche
Erhöhung der im Allgemeinen ziemlich
stabilen procentualen und absoluten Koch-
salzwerthe nach Verabreichung der Salz¬
zulage;
3. dagegen keine Herabsetzung der
Phosphorsäure- und Schwefelsäureaus¬
scheidung (im Gegensatz zur Kochsalzaus¬
scheidung). Meist war sogar zwischen der
Kochsalz- und Phosphorsäure- sowie auch
Schwefelsäureausscheidung ein gewisser
Antagonismus in der Art zu bemerken, dass
beim Sinken der Kochsalzausfuhr eine Er¬
höhung der Phosphorsäure- und häufig auch
der Schwefelsäureausscheidung erfolgte;
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Gegenwart 1903. M*i
4. keine directe Beziehung zwischen
der Kochsalz- und Wasserausscheidung
während der verschiedenen Tage einer
länger dauernden Beobachtungsreihe. Die
Wasserausscheidung war im Gegensatz
zu der relativen Stabilität des procentualen
Kochsalzgehaltes oft recht sprunghaft und
es waren nicht selten normale oder sogar
erhöhte Urinmengen bei sehr niedrigen
Kochsalzwerthen zu beobachten;
5. nach der Salzzulage häufig eine Ver¬
minderung der Wasserausscheidung, wenn
die Salzzulage nicht zu einer Vermehrung
der Kochsalzausscheidung geführt hatte,
trotzdem bei den betreffenden Versuchs¬
personen sonst keine Tendenz zur Ver¬
minderung der Wasserausscheidung in der
betreffenden Zeit zu beobachten war;
6. ein Schwinden der Oedeme beson¬
ders dann, wenn nicht bloss eine Poly-
hydrurie sondern vor allem eine Poly-
chlorurie erzeugt wurde, in der Art,
dass trotz Erhöhung der Wasserabschei-
dung der procentuale Kochsalzgehalt er¬
heblich (und damit in unverhältniss-
mässig hohem Grade auch der absolute
Kochsalzgehalt) anstieg.
Wenn ich die Ergebnisse dieser mit
einer zur Entscheidung der vorliegenden
Fragen meines Erachtens ausreichenden
Versuchsanordnung gewonnenen Unter¬
suchungen mit den Resultaten früherer
Untersuchungen Zusammenhalte, über die
ich bereits Eingangs berichtet habe, so
glaube ich, aus ihnen den schon an früheren
Orten von mir angedeuteten Schluss
ziehen zu dürfen, dass die Hydrop¬
sien der hier in Rede stehenden
Nephritiker 1 ) nicht bloss mit einer
Kochsalzretention einhergehen son¬
dern auch höchstwahrscheinlich mit
dieser in ursächlichem Zusammen¬
hang stehen, und dass die letztere
selbst renalen Ursprungs ist.
Dieser Satz erscheint mir im Hinblick
auf die aus seiner völligen Anerkennung
sich ergebende therapeutische Con-
*) Anm,: Es sind hier diejenigen Hydropsien
Nierenkranker nicht ins Auge gefasst, die rein Kar¬
dialen Ursprungs sind. Bei den letzteren scheinen, so¬
weit meine bisherigen — noch nicht abgeschlossenen
— Untersuchungen ein Urtheil erlauben, die Dinge
etwas anders zu liegen, da beim Hydrops cardialis
im allgemeinen das Moment der Oligohydrurie aus¬
gesprochener und der procentuale Kochsalzgehalt höher
zu sein pflegt, als bei den Fällen von Hydrops re-
nalis im engeren Sinne. Meine bisherigen Unter¬
suchungen auf diesem Gebiete sind jedoch noch nicht
so weit ausgedehnt, dass ich mich fiber diesen Punkt
schon zu einem abschliessenden Urteil berechtigt
fühle und sollen deshalb noch fortgesetzt werden.
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart 1903.
195
Mai
sequenz von grosser praktischer
Wichtigkeit. Wenn man die Literatur
durchsieht, so findet man schon bei
v. Koranyi 1 ) die Angabe, dass man „die
Nephritiden auf Grund des Verhaltens von
NaCi * n ^ Typen teilen könne . . . Kli¬
nisch scheinen jedoch diese Typen nicht
wesentlich verschieden zu sein . . . Wenn
eine Abnormität von vorliegt, so bleibt
sie bei dem betreffenden Patienten constant. ]
Abweichungen von dieser Regel kommen
nur bei der Bildung und Entleerung von
hydropischen Ergüssen vor.“ An einer
anderen Stelle spricht v. Koranyi davon,
dass „wenn der Körper sein Plus an festen
Molecülen nicht entfernen kann, er sich in
der Weise hilft, dass zur Aufnahme dieser
überflüssigen Molecüle von aussen ein Plus
an Wasser geboten wird.“ Kraus 2 ; sagt
unter Bezugnahme auf die Untersuchungen
seines Assistenten Steyrer, dass „bei
kranken Nieren die Ausscheidung des Chlor-
natiiums Zurückbleiben kann und dass ins¬
besondere im Stadium der urämischen In-
toxication die anorganischen Molen oft stark
zurückgehalten werden.“ Claude und
Maut6 führen die in ihren Versuchen beob¬
achteten Störungen der Kochsalzausschei¬
dung direkt auf krankhafte Vorgänge in der
Niere zurück und messen dem Verhalten
der Kochsalzausscheidung bei Nieren¬
kranken eine gewisse prognostische Be¬
deutung bei. Ausserdem verlangen sie —
und damit betreten auch diese Autoren
den Boden einer praktisch therapeutischen
Forderung — für Fälle mit gewissen Stö¬
rungen der Kochsalzelimination eine „strenge
Hygiene, genaue Ueberwachung und zeit¬
weilige exclusive Milchdiät“. Im Gegensatz
zu den eben genannten Forschern spricht
jedoch Marischier die Ansicht aus, dass,
wenn „bei chronisch parenchymatöser Ne¬
phritis“ eine Kochsalzretention gefunden
werde, diese die Folge einer primären
Wasserretention sei. Achard und
Loeper sind geneigt, die Thatsache, dass
bei acuten und chronischen Nephritiden
Kochsalzretentionen beobachtet werden
können, auf exti arenale Momente zurück¬
zuführen, weil man dieselbe Erscheinung
auch bei acuten fieberhaften Krankheiten
ohne klinisch nachweisbare Nephritis beob¬
achten könne. Sieht man jedoch die
Krankengeschichten und Versuchsproto-
v. Koranyi, Zeitschrift für klinische Medicin,
Band 34 und 35.
Kraus, Deutsche mcdicinische Wochenschrift
1902, No. 49.
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colle von Marischier im Einzelnen kri¬
tisch durch, so ergiebt sich hierbei — auch
wenn man von der von mir bereits er¬
wähnten Beobachtung ganz absieht, dass
Kochsalz- und Wasserausscheidung bei
Nephritikern häufig divergiren — die Mög¬
lichkeit von Einwänden gegen die von
Marischier gewählte Deutung seiner Be¬
funde. ImUebrigen ist sehr interessant, dass
gerade derjenige Fall (III), welcher eine gute
Kochsalz- und Wasserausscheidung zeigte,
nach der Krankengeschichte den Eindruck
eines gut compensirten Falles macht. Aus
den Mittheilungen von Achard und Loe¬
per, die in der Mehrzahl der Fälle von
acuter, subacuter und chronischer Nephritis
eine Herabsetzung der Kochsalzausschei¬
dung feststellen konnten, lässt sich leider
über das klinische Verhalten der einzelnen
Fälle zu wenig ersehen, um die Frage des
Einflusses der Decompensation auf die
Kochsalzausscheidung genauer zu discu-
tiren. Bezüglich der Deutung der Be¬
funde ist aber zu bemerken, dass man bei
der Obduction von Patienten, die an
acuten oder subacuten Infectionsktankheiten
gestorben sind, nicht gerade sehr selten
mehr oder weniger ausgeprägte Erschei¬
nungen von parenchymatöser Nephritis
vorfinden kann, ohne dass bei diesen intra
vitam klinische Zeichen einer Nephritis
nachweisbar waren. Ich führe diese Beob¬
achtung — ohne die Möglichkeit bestreiten
zu wollen, dass extrarenal wirksame Mo¬
mente in dieser Frage noch eine Rolle
spielen können — mit Absicht gerade an
dieser Stelle an, weil ich den Ein¬
druck gewonnen habe, als ob ausser
Circulationsstörungen am Filtrations¬
apparat der Niere vor allem Störungen
am Epithelialapparat 1 ) für das Zustande¬
kommen der Oligochlorurie von Bedeutung
sind. Ich vermuthe dies nicht bloss des-
A n m.: Solche Störungen am Epithelialapparat,
zu welchem ich auch das Schlingen und Kapsel-
cpithel der Malpighischen Körperchen rechne, können
unter Anderem auch durch schwere Verände¬
rungen in der Nie renci rculation bedingt werden.
Wenigstens bin ich geneigt, einen hierher gehörigen
von mir bei einem Falle von paroxysmaler Tachycardic
mit sehr niedrigen Blutdruck erhobenen Befund (cf.
Zeitschrift lür klinische Medicin 1. c.1 und einige ähn¬
liche bei sc h w e rstcr Herzmuskehnsufficienz in den
letzten Tagen vor dem Tode gemachten Befunde in
di( sem Sinne zu deuten. Auch bei jenen schwersten,
jeder Therapie trotzenden, prognostisch ominösen
Formen der Herabsetzung der Kochsalzausscheidung
im Terminalstadium mancher Fälle von parenchy¬
matöser Nephritis dflrftc das circulatorische Moment
vielleicht in dem gedachten Sinne verschlimmernd
wirken, weil ein erkranktes Parenchym gegen eine
Herabsetzung der Circulationsgrösse von vornherein
empfindlicher sein muss als ein primär gesundes.
25*
Original ffom
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
196
Die Therapie der
halb, weil man Oedeme und Hydrämie —
welch letztere ich ja schon früher als eine
Folge der Kochsalzretention angesprochen
habe — besonders häufig und besonders
ausgeprägt gerade bei jenen Formen von
Nephritis vorzufinden pflegt, die man ge¬
meinhin „parenchymatöse“ nennt, sondern
auch aus dem Grunde, weil ich einige
Male einen Wechsel in der Befähigung der
Nieren zur Kochsalzausscheidung in der
Weise erfolgen sah, dass in der Zeit, in
welcher klinische Zeichen einer Exacerba¬
tion der Parenchymerkrankung (erhebliches
Ansteigen der Menge des Eiweisses und
der Formelemente sowie Auftreten von
Blut etc.) zu Tage traten, eine Verminde¬
rung der Kochsalzausscheidung zu beob¬
achten war. Ausserdem habe ich einmal
bei der mikroskopischen Untersuchung
der Niere eines Falles, in welchem ich bei
enormer Verminderung der Kochsalzaus¬
scheidung Oedeme auftreten sah, schwere
Verfettungen an den Harnkanälchen aber
fast völlig normale Glomeruli vorgefunden.
(Fall Peschat in Ztschr. f. klin. Med., Bd. 47,
H. 5 und 6). Einen ganz analogen Befund
hat auch Bujniewicz 1 ) unter besonders
günstigen Untersuchungsbedingungen er¬
heben können. Bei einer Frau welche eine
Zerreissung der rechten Niere erfuhr,
wurde diese bis auf geringe Reste exstir-
pirt. An dem Reste bildete sich eine
Nierenfistel aus. Der durch die Blase er.t-
leerte Urin der gesunden Seite erwies sich
durchaus normal, während der durch die
Fistel abgesonderte Urin eine erhebliche
Erniedrigung der Werthe für A und NaCl
zeigte 2 ) Bei der einige Monate nach der
ersten Operation erfolgten Entfernung des
zurückgelassenen Nierenfragmentes waren
die Glomeruli gesund, aber die Epithelien
der Tubuli contorti und der Tubuli recti
zeigten tiefgehende Veränderungen.
Wmn ich den hier gemachten Aus¬
führungen noch hinzufüge, dass, wie ich
in der Zeitschrift für klinische Medicin
Bd. 47 gezeigt habe, selbst bei Nephriti-
kern mit ausgeprägten Oedemen (aber ohne
Urämi«) die Ausfuhr der „Achloride“ im
Allgemeinen eine genügende zu sein
pflegt, so muss ich sagen, dass nichts auf
eine piimäre Zurückhaltung von „Achlo-
riden“ hinweist, von welchen man an nehmen
könnte, dass sie erst zu einer Zurückhal¬
tung von Wasser und — zur Erhaltung
M Bujniewicz: Le physiologistc russe 1901.
Anm.: Auf der gesunden Seite betrug (im
Mittel aus 7 Tagen) A *= — 1,24° und NaCl = 0.66 "/o,
aut der kranken Seite waren die entsprechenden
Werthe = — 0,29° bezw. 0,30 %.
Gegenwart 1903. Mai
des normalen procentualen Kochsalzgehaltes
im Blut und in den Körpersäften —
secundär zu einer Zurückhaltung von
Kochsalz führen würden. Wenn ich dazu
noch das wiederhole, was ich über
die Durchlässigkeit der hier in Rede
stehenden Formen von Nierenerkrankungen
einerseits für Wasser andererseits für
Kochsalz ausgeführt habe, so halte ich
die Forderung für berechtigt, 1 ) dass man
zum mindesten bei schon hydropischen
Nephritikern (neben den sonstigen für
die Bekämpfung der Hydropsien erprobten
Methoden) therapeutisch eine Ein¬
schränkung der Kochsalzzufuhr und
eine Vermehrung der Kochsalzausfuhr
anstreben soll.
Der ersten Forderung wird am besten
durch eine kochsalzarme Diät ent¬
sprochen, bei der die vor allem auch von
Senator — noch aus sonstigen Gründen —
stets empfohlene Milchkur (die selbst¬
verständlich nicht identisch ist mit einer
ausschliesslich en Milchdarreichung)
eine grosse Rolle spielt. Wenn ich der
Milch hier auch noch unter dem speciellen
Gesichtspunkt des Salzstoffwechsels
der Nephritiker das Wort rede, so veran¬
lasst mich hierzu ausser ihrer Kochsalz-
armuth auch noch die Erkenntniss, dass,,
wie ich bereits erwähnt habe, bei ödema-
tösen Nephritikern die Ausfuhr der Phos¬
phorsäure und Schwefelsäure und wohl auch
der meisten sonstigen „Achloride“ in der
Regel nicht vermindert ist. (Bezüglich des
letzteren Moments sei hier auch darauf
hingewiesen, dass nach neueren Unter¬
suchungen von Hans Meyer 3 ) und CX
Loewi 8 ) die Ausscheidung von Kochsalz
und Harnstoff auch beim Gesunden einen
anderen Weg geht, als diejenige der Phos¬
phate und der Harnsäure.)
Liegt in Fällen nephrogener Vermin¬
derung der Kochsalzausscheidung eine Ver¬
anlassung zur subcutanen „Kochsalzinfu¬
sionen“ oder zu rectalen „Salzwasserein-
giessungen“ vor, so rathe ich auch nicht
*) An m.: Selbst wenn das Kochsalz nur ein Indicator
für andere gleichfalls nephiogen zurückgehaltene
und zur Qedembil lung führende Substanzen sein sollte,
würde dies die hier gestellten Forderungen nicht ent-
krälten. Das gleiche gilt auch, wenn sich die Bedeutung
des circulatorischen Momentes tür das Zustande¬
kommen ,,renaler Hydropsien" grösser erweisen
sollte, als es z. Zt. den Eindruck macht. Denn wie
später ausgeführt ist, lege ich auf dieses Moment
für die Herstellung eines Ausgleiches renaler In-
sulhcienz einen besonderen Werfh.
*• H. Meyer, Sitzungsberichte der medic. Ge¬
sellschaft zu Marburg 1902.
O. Loewi, Arch. f. exp. Pathol u. Pharm.
Bd. 49, Heft 5 und 6
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
197
jtfai Die Therapie der
zur Benutzung blutisotonischer, sondern —
wie es Senator schon aus anderen Grün¬
den (Rücksicht auf den osmotischen Druck)
-empfohlen hat — hypotonischer Koch¬
salzlösungen. Noch rathsamer erscheint
mir jedoch zur Vermeidung der Kochsalz¬
zufuhr in derartigen Fällen die Anwendung
isotonischer Zucker- oder Natriumsaccharat-
lösungen (nach Schücking.) Dass ich
bezüglich der gerade in diesem Zusammen¬
hänge besonders interessirenden Frage der
Grösse der Wasserzufuhr bei ödematösen
Nephritikern den Forderungen von Noor-
den’s 1 ) nicht principiell, sondern nur mit
spezieller Wahl der Fälle beitreten kann,
habe ich nicht nur früher schon betont,
sondern ergiebt sich auch aus dem, was
ich an anderer Stelle über die compen-
satorische Bedeutung der Polyhydurie bei
Nephritiden und hier über die Rolle des
Kochsalzes für die Pathogenese derOedeme
(wenn Kochsalz in den Säften zurück¬
gehalten wird, muss auch Wasser zurück¬
gehalten werden, da der Kochsalzgehalt
der Säfte auch bei Oedemen unverändert
bleibt [6 g zurückgehaltenes Kochsalz
müssen ca. 1 1 Wasser im Körper zurück¬
halten)) sowie schliesslich noch über die
— auch bei Bestehen von Oedemen nicht
immer herabgesetzte — Durchgängigkeit
der Nieren für Wasser ausgeführt habe.
Im Uebrigen scheint es, als ob der Orga¬
nismus des Nephritikers retinirtes Koch¬
salz auch abseits vomSäftestrom inner¬
halb der Gewebe unterbringen kann
-(„ Historetention“ im Gegensatz zur
„Seroretention“), da bei Fällen von
Urämie Bohne 2 ) in der Leber 8 ) und
Achard und Loeper 4 ) in den Muskeln
und im Gehirn eine Vermehrung des Chlor¬
gehalts gegenüber der Norm feststellen
konnten. Aehnliches habe auch ich 8 ) be¬
obachten können. Da bei der Urämie
jedoch die Vorgänge verwickelt sind —
nach am Blutserum angestellten Unter¬
suchungen scheint hier das wesentliche
Moment in der Retention N-haltiger
*) v. Noorden, Sammlung klin. Abhandlungen
■der Pathologie und Therapie des Stoffwechsels und
Ernährungsstörungen, Heft 2. Berlin, A. Hirseh-
wald 1902 und a. a. O.
Bohne, Fortschr. d. Med. 1897, No. 4.
3 ) Anm.: So konnte ich einmal in einem Falle
von schwerster Urämie bei Granularatrophie ohne
Hydropsicen den ausserordentlich hohen Werth von j
0,54% NaCl und in einem zweiten ähnlichen Falle, ,
in welchem aber Ascites und Oedeme bestanden, den
gleichfalls hohen Werth von 0,223 °/ 0 NaCl in der
Leber feststellen. (Bohne hatte bei drei Fällen von
Phthisis pulm. bezw. Care, mammae im Durchschnitt
0,07 0 i NaCl gefunden").
L Aciiard et Loeper, Soc. de biol. 1901.
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Gegenwart 1903.
Stoffwechselschlacken gelegen zu sein, es
kommt aber nach Urinuntersuchungen
auch eine Kochsalzretention vor — so
behalte ich mir vor, die Frage der Koch¬
salzretention in den Geweben bei
Nephritikern unter specieller Bezug¬
nahme auf die klinischen Aeusse-
rungen der Krankheit, insbesondere
auf das Vorhandensein oder Fehlen von
Oedemen, noch weiter zu verfolgen.
Die zweite Forderung, die Anregung
der Kochsalzausscheidung wird durch
die Anwendung solcher Diuretica erfüllt,
die ausser der Wasserabgabe noch in be¬
sonderem Grade die Kochsalzausschei-
dung zu steigern vermögen.
Dies sind zunächst die Herztonica,
die durch Verbesserung der Circulations-
geschwindigkeit in den Nierengefässen nicht
| nur die Wasserabscheidung, sondern speciell
auch die Kochsalzausscheidung erhöhen. Das
wissen wir nicht nur aus der Betrachtung des
Factors zur Zeit einer guten oder
geschwächten Herzthätigkeit, sondern es
hat auch v. Koranyi gezeigt, dass bei
! Compensationsstörungen unter dem Ein¬
fluss von Digitalis und Strophanthus der
; Quotient j^q sinkt und Steyrer hat bei
der durch Digitalis erzeugten Polyhydrurie
gleichzeitig ein erhebliches Ansteigen des
procentualen Kochsalzgehaltes, also eine
Steigerung der gesammten Kochsalzaus¬
fuhr beobachtet, die grösser war, als der
Steigerung der Wasserausfuhr allein ent¬
sprach und damit auch den Namen einer
Polychlorurie verdient. 1 ) Die Steigerung
der Circulationsgeschwindigkeit in den
Nierengefässen erscheint für die Behandlung
der Hydropsien der Nephritiker aus dem
Grunde einer besonderen Beachtung werth,
weil dieser zur Erhöhung der Kochsalz¬
ausfuhr führende Weg nicht nur durch
keinerlei Nierenaffectionen contraindicirt
ist, sondern weil wir auch bemerken, dass
die Natur selbst diesen Weg betritt, um den
Defect in der Functionsleistung auszu¬
gleichen, wenn diese durch eine Erkrankung
des Parenchyms herabgesetzt ist. Sehen
*) Anm.: Von eigenen diesbezüglichen Beobach¬
tungen (näheres siehe bei v. Koziezko wsky) war
mir eine besonders interessant, in welcher bei einem
an diffuser — insbesondere parenchymatöser —
Nephritis mit Oedemen leidenden Kranken, dessen
eine Niere völlig in einen Eitersack auf¬
gegangen war, die combinirte Darreichung von
Digitalis, Scilla, Strophanthus und Liquor kalii acetici
neben einer sehr starken Polyhydrurie ein Ansteigen
des procentualen Kochsalz werthes auf das
Doppelte und damit gleichzeitig auch eine sta rke
Polychlorurie erzeugt hatte.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
198
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mai
wir doch, dass bei chronischen Nephri- j
tiden und nach einer gewissen Zeit auch
bei acuten Nephritiden eine Steigerung
der Herzkraft die durch die Erkrankung
gesetzten Störungen auszugleichen ver¬
sucht und zwar nicht nur bei den Fällen
von sogenannter chronisch interstitieller
Nephritis, sondern auch bei der soge¬
nannten chronisch parenchymatösen Ne¬
phritis. Ja es scheint sogar, wie ich schon
in meiner Monographie (1. c.) ausge¬
führt habe, als ob in manchen Fällen
der Uebergang einer chronisch paren¬
chymatösen Nephritis in eine sogenannte
secundäre Schrumpfniere zum grossen
Theile von der Fähigkeit des Herzens zu
hypertrophiren abhängt. Aus diesem
Grunde scheint mir, wie ich es schon an
jener Stelle betont habe, bei den par¬
enchymatösen Formen von Nephritis
von Anfang an die Sorge für eine
gute bezw. gesteigerte Herzthätig-
keit und die dauernde Ueberwa-
chungdesHerzens ebenso wichtig wie
bei denjenigen Formen, bei denen
vorzüglich das interstitielle Gewebe
erkrankt ist. In der That habe ich auch
bei den Oedemen der parenchymatösen
Nephritiker wiederholt von der alleinigen
Anwendung von Herztonicis guten Erfolg
gesehen.
Was die Darreichung der Diuretica
im engeren Sinne betriflt, so scheinen die
Coffein präparate speciell befähigt zu
sein, die Kochsalzausfuhr zu verstärken.
Wenigstens hat Dreser 1 ) beim Theocin
eine besonders starke Steigerung der Aus¬
fuhr der Elektrolyte beobachtet, unter
welchen ja die Kochsalzmolecüle beson¬
ders stark vertreten sind. Dreser knüpft
hieran die Bemerkung, dass uns dieses
Factum im Hinblick auf die Anschauungen
v. Koranyi’s einen Hinweis darauf gebe,
„dass der Circulus vitiosus des pathologi¬
schen Zustandes der Wassersucht auf die
wirksamste Weise durchbrochen werden
kann, indem zu allererst und besonders
die Salze aus dem Blut entfernt werden.
Das dadurch mobil gemachte Wasser kann
dann leicht nachfolgen“. Le Noir und
Camus 2 ) haben neuerdings gezeigt, dass
unter Einfluss von Coffein und Theobro¬
min ebenso wie unter dem Einfluss der
. . . AV
Digitalis —p- (= Valenzzahl pro kg Körper¬
gewicht) ansteigt, was wesentlich durch eine
] ) Dreser, 74. Versammlung Deutscher Natur¬
forscher und Aerzte zu Carlsbad 1902.
a ) Le Noir und Camus, Journ. de physiol.
et de palhol. gen. Bd. V, 1903.
Digitized by Google
die Zunahme der die Wasserausscheidung
überragende Vermehrung der Kochsalz¬
ausfuhr, also durch eine echte Polychlor-
urie, zu Stande kommt. Im Einzelnen fanden
die zuletzt genannten Autoren beim Ge¬
sunden das Coffein am wirksamsten, da¬
nach kam das Theobromin und an dritter
Stelle die Digitalis. Da wir selbst in
schweren Fällen von cardialen Hydrop-
sien und auch bei hochgradigen Hydrop-
sien in Folge von schweren chronisch
interstitiellen Nephritiden von der zu¬
erst von Fürbringer 1 ) warm em¬
pfohlenen combinirten Darreichung meh¬
rerer Herztonica und Diuretica sehr häufig
auch dann Erfolge gesehen haben, wenn
die isolirte Anwendung eines einzelnen
Herztonicums oder Diureticums nicht zum
Ziele geführt hatte, so haben wir auch
den Einfluss einer solchen Mischung auf
die Kochsalzausscheidung studirt und, wie
aus der Arbeit von Kociczkowsky’s
ersichtlich sein wird, hierbei nicht nur ein
starkes Ansteigen der Wasserausschei¬
dung, sondern auch eine erhebliche pro-
centualeSteigerungderKochsalzaus-
scheidung constatiren können. Es dürften
also in solchen Fällen von Hydrops renalis,
in denen der Anwendung der Coffeinprä¬
parate keine Bedenken im Wege stehen
— also vor allem in Fällen von chronischer
Nephritisohne stärkere acule Exacerbation —
diese allein oder in Verbindung mit Herz¬
tonicis zur Erzeugung der nach unserer
Erfahrung für die Beseitigung des
Hydrops so wichtigen Polychlorurie
einer besonderen Beachtung werth sein-
Wenn wir die hier entwickelten Grund¬
sätze, die sich beim ferneren Studium der
hier in Betracht kommenden Verhältnisse
sicher noch erweitern resp. genauer um¬
grenzen lassen und die ferner zunächst
nur für die chronischen Formen der Ne¬
phritis, wahrscheinlich aber auch — hier¬
über sind meine Erfahrungen noch nicht
abgeschlossen — für eine grosse Anzahl
acuter Nephritiden Geltung haben, zunächst
für alle diejenigen Fälle empfehlen, in denen
irgend eine Form von Hydrops renalis
vorliegt, so müssen wir doch noch hinzu¬
fügen, dass es auch solche Fälle von Ne¬
phritis giebt, bei denen man trotz mittlerer
Kochsalzzufuhr in einer gewissen Phase der
Krankheit ausgesprochene Oligochlor-
urie und einen an verschiedenen Tagen
wenig veränderlichen procentualen Koch¬
salzgehalt ohne Vorhandensein von
Hydropsien feststellen kann.
j Fürbringer, Deutsche med. Wochenschrilt
I 1890, No. 12.
Original from
UNIVER3ITY OF CALIFORNIA^
Mai
199
Die Therapie der (Gegenwart 1903.
Derartige Falle, die aus dem Grunde
möglich erscheinen, weil, wie angedeutet
ist, ein Unterbringen grösserer Kochsalz¬
mengen in den Geweben ausserhalb der
Säftebahn vorzukommen scheint und weil
auch nicht ganz unerhebliche Mengen von
Wasser im Körper zurückgehalten werden
können, ohne dass es zur Oedembildung
kommt (cf. meine diesbezüglichen Bemer¬
kungen in Ztschr. f. klin. Med. Bd. 47),
können im Gegensatz zu denjenigen Fällen
von Nephritis, bei welchen die Kochsalz¬
ausfuhr der Zufuhr entspricht, meines Erach¬
tens nicht als vollwerthig compensirt
angesehen werden, sondern sie stellen wohl
nur eine geringere Stufe einer Störung
dar, die bei stärkerer Entwickelung wohl
meist zur Oedembildung führen dürfte.
Aus diesem Grunde bedürfen derartige
Fälle einer ähnlichen Ueberwachung des
Kochsalzstoffwechsels, wie die Fälle, welche
deutliche Hydropsien zeigen. Wenn auch
die Mehrzahl derjenigen Patienten, die eine
ausgeprägte Verminderung der Kochsalz¬
ausscheidung zeigen, nach meinen Er¬
fahrungen mehr oder minder deutliche
Zeichen einer Störung des körperlichen
Befindens erkennen lässt, so giebt es doch
auch solche Patienten, die trotz einer Ver¬
minderung der Kochsalzausscheidung keine
klinische Zeichen darbieten, welche eine
Kochsalzretention vermuthen lassen. Des¬
halb müsste man eigentlich der Kochsalz¬
ausfuhr eines jeden Nephritikers von vorn¬
herein sowohl nach der diagnostischen als
auch nach der therapeutischen Seite eine
mehr oder weniger grosse Aufmerksamkeit
schenken, oder mit anderen Worten, man
müsste genaue quantitative Bestimmungen
des Kochsalzes im Urin unter Berücksichti¬
gung der Kochsalzzufuhr in jedem einzelnen
Falle von Nephritis ausführen. Trotzdem
habe ich vorerst im Allgemeinen den Ein¬
druck gewonnen, als ob es in praxi zu¬
nächst genügt, derartige Untersuchungen
gerade in solchen Fällen von chronischer
Nephritis vorzunehmen, die irgend eine
Störung des körperlichen Befindens darbie¬
ten. Ich benutze und empfehle für derartige
in praxi vorzunehmende Untersuchungen
eine im vorigen Jahr von Achard und
Thomas 1 ) angegebene „approximative“
Methode 2 ), die auch von Ungeübten am
1 ) Achard et Thomas, Bull, ct mein, de la
vj>:. rned. des hop. 1902, No. 22.
•) A n m.: Dieselbe wird mit Hülle eines dem
F. s bac h "sehen Albuminimeter ähnlichen Röhrchens in
der Weise ausgeführt, dass man 5 ccm titrirtc Silber¬
nitratlösung (29,075 u /ui) in das Röhrchen füllt und
hierzu 3—4 Tropfen Natriumchromatlösung (1 : 5 ) j
hir.zufügt. Nun lässt man unter langsamem Umdrehen I
Digltlzed by Google
Krankenbette leicht ausgeführt werden
kann und innerhalb weniger Minuten ein
Resultat giebt, das nach meinen Erfahrun¬
gen zwar nicht absolut genau, aber für die
Zwecke der vorliegenden klinischen
Fragestellung doch völlig ausreichend
ist. Bei der Vornahme derartiger der
Erforschung des Kochsalzstoffwechsels
dienender Untersuchungen interessirt nicht
nur der procentuale Kochsalzgehalt, son¬
dern auch der Gesammtkochsalzgehalt, und
es ist vor allem darauf zu achten, ob die
procentualen und absoluten Kochsalzwerthe
im Verhältniss zur Kochsalzzufuhr
auffallend niedrige sind und ob die
procentualen Kochsalzwerthe an verschie¬
denen Tagen trotz eventueller Aenderung
der Urinmenge und der Kochsalzzufuhr
eine auffallende Stabilität zeigen. In der
Mehrzahl derjenigen Fälle, in denen das
angedeutete Verhalten ausgeprägt ist, halte
ich zwecks Einleitung einer entsprechenden
Therapie einen typischen Versuch auf ali¬
mentäre Chlorurie nicht für absolut nöthig,
ja man muss sogar unter Umständen mit
der Möglichkeit einer Schädigung der Pa¬
tienten rechnen, weil es nach dem hier
Gesagten für Patienten, deren Fähigkeit zur
Kochsalzausscheidung vermindert ist, nicht
gleichgültig sein kann, ob sie viel oder
wenig Kochsalz zugeführt erhalten. Aller¬
dings wird das Untersuchungsergebniss
durchsichtiger, wenn man von vornherein
oder erst dann, wenn der Befund nicht
ausgeprägt ist, für eine Reihe von Tagen
eine „Probediät“ anwendet, deren Koch¬
salzgehalt und deren Einfluss auf die Koch¬
salzausscheidung beim Gesunden genau
bekannt ist.
Ich bin mir wohl bewusst, dass die hier
entwickelten theoretischen Auffassungen
und therapeutischen Grundsätze noch man¬
ches Hypothetische enthalten und einer
weiteren Erforschung und ausgedehnter
praktischer Prüfung bedürfen, ehe über
ihre Richtigkeit ein definitives Urtheil mög¬
lich sein wird, und ferner, dass nicht alle
allmählich von dem—sauren—-Urin solange zulliessen,
bis die durch den Natriumcln omatzusatz erzeugte
braunrothe Farbe einem gelblich-grauen Farbenton
IMatz macht. Mine am Röhrchen angebrachte Gra-
duirung ermöglicht es, aus der Menge des zur Er¬
zeugung des Farbenumschlags nöthigen Urins die in
einem Liter Urin enthaltene Kochsalzmenge in Gramm
zu bestimmen. Nach Verglcichsuntersuchungcn, die
ich mit der Vol h a rd'sehen Methode angestellt habe,
zeigt dieses von ihren Autoren nur „approximativ“
genannte Verfahren Fehler, die meistens zwischen 5
und 15 (, /o betrugen. Trotzdem ist cs für den vor¬
liegenden Zweck ausreichend, weil hier nur grobe
Differenzen ein klinisches Interesse besitzen.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
200
Die Therapie dir Gegenwart 1903.
Mai
Formen von Hydrops bei Nierenkranken
sich in den Rahmen des hier Besprochenen
einfügen. Trotzdem halte ich aber das zur
Zeit vorliegende Material für ausreichend,
um jetzt schon die hier ausgesprochenen
Forderungen an die Therapie zu stellen und
ich selbst habe auch in einer ganzen Reihe
von Fällen von chronischer Nephritis, in
denen ich die hier entwickelten therapeuti¬
schen Grundsätze praktisch zur Anwendung
brachte, den Eindruck gewonnen, als wenn
ich mich auf dem richtigen Wege be¬
fände. Allerdings gebe ich gern zu, dass
meine eigenen Beobachtungen noch einer
erheblichen Erweiterung und Nachprüfung
bedürfen, weil ein sehr grosses klinisches
Material nöthig ist, ehe es auf dem Wege der
Empirie möglich sein wird, über die Zweck¬
mässigkeit der hier entwickelten Grundsätze
ein abschliessendes Urtheil zu fällen.
An den Schluss dieser Darlegungen
möchte ich noch eine kurze theoretische
Bemerkung anfügen, welche die Bedeutung
des Faktors
betrifft. Wenn ich
/I
Na CI
mich auch auf Grund der von v. Ko-
ziezkowsky ausgeführten Untersuchungen
davon überzeugt habe, dass der genannte
Quotient in keiner Weise als Maassstab für
das Verhalten der Salze im Urin über¬
haupt betrachtet werden kann, so kann
!
I
ich ihm trotzdem eine specielle Bedeutung
nicht absprechen, weil das Kochsalz nicht
nur an Menge die anderen Salze im Urin
bedeutend übertrifft, sondern vor allem,
weil es in der Art seiner Ausscheidung
seinen besonderen Weg geht. In der That
werden, wie ich an anderer Stelle (Ztsichr.
f. klin. Med. 1. c.) gezeigt habe, die Werthe
für den osmotischen Druck des Urins bei
Nephritikern weit mehr von dem wechseln¬
den Verhalten der Chloride als von dem¬
jenigen der „Achloride“ beeinflusst, und
ich habe mich gerade aus dieser Erwäg;ung
zu eingehenderen chemischen Studien über
den Salzstoffwechsel bei Nephritikern an¬
regen lassen, die unter den hier entwickel¬
ten Gesichtspunkten meines Erachtens wieder
ein höheres Interesse gewinnen und einer
weiteren Bearbeitung bedürfen. Ja, man
darf vielleicht noch allgemeiner sagen: nach¬
dem Untersuchungen über den osmotischen
Druck des Urins neue Probleme aufgerollt
und der wissenschaftlichen und praktischen
Fragestellung eine Reihe neuer Wege ge¬
wiesen haben, scheint es jetzt am Platze,
die rein chemischen Untersuchungs¬
methoden wieder etwas mehr in den Vorder¬
grund zu rücken, um hierdurch unsere durch
physikalisch-chemische Methoden ge¬
wonnenen Kenntnisse weiter auszubauen
und zu vertiefen.
Der Speichel als Heilfactor.
Von Dr. med. J. Bergmann-Hanau a. M.
In der Volksmedicin hat der Speichel
seit den ältesten Zeiten eine grosse Rolle
gespielt. Bei den alten Juden war sein
Gebrauch zu Heilzwecken so gewöhnlich,
dass unter den am Sabbath verbotenen
Heilthätigkeiten ausdrücklich das Bestrei¬
chen der Augenlider mit Speichel genannt
wird. Die Evangelisten berichten an drei
Stellen, dass Christus bei seinen Heilungs¬
wundern die leidenden Theile mit seinem
Speichel benetzt habe. Dass auch das
klassische Alterthum vom Glauben an die
Heilkraft des Speichels nicht frei war, be¬
weist der Bericht des Tacitus, wonach
Kaiser Vespasian einen Blinden dadurch,
dass er ihm nach der Weisung eines Traum¬
orakels in die Augen spuckte, geheilt haben
soll. Und damit neben der biblischen und
Profangeschichte ein Beispiel aus der Litte-
ratur nicht fehle, so sei an den ergötzlichen
Bürgersmann ausHeine’s „Harzreise“ er¬
innert, welcher dem Dichter erzählt, „zu¬
weilen leide er an Hautübeln und dannkurire
er sich jedesmal mit nüchternem Speichel.“
Die moderne Medicin hat dieses Secret
aller ihm zugeschriebenen mystischen Eigen¬
schaften entkleidet und seine therapeu¬
tische Verwendung, mit anderen Kurio¬
sitäten der „Dreckapotheke“, wohlverdienter
Vergessenheit anheimfallen lassen. Obwohl
demnach der Speichel seine Rolle als Heil¬
mittel ausgespielt hat, so lässt sich doch
zeigen, dass sich derselbe, wenn auch nicht
als Träger, so doch als Vermittler von
Heilwirkungen verwerthen lässt. In diesem
Sinne giebt es 4 Krankheitsformen, gegen
welche der Patient vom Speichel, und zwar
natürlich von seinem eigenen, mit grösstem
Nutzen Gebrauch machen kann.
1. Halsentzündungen. Auf diesem
Gebiete, mag es sich um gewönliche ka¬
tarrhalische Mandelentzündung oder um
specifische Affectionen, wie Scharlach, An¬
gina oder gar Diphtherie handeln, nimmt
noch immer das Gargarisma eine domi-
nirende Stellung ein, deren Berechtigung
jedoch sehr in Zweifel zu ziehen ist.
Das Gurgeln kann einen doppelten
Original from
_ UNIVERSITY QF CALIFORNIA^
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
201
Zweck haben, einen hygienischen und
einen therapeutischen. Der erstere be¬
steht darin, die Schleimhaut der Mund¬
höhle zu reinigen und insbesondere von
zurückgebliebenen und anhaftenden Speise-
theilchen zu befreien. Diese leicht zersetz-
lichen und daher gesundheitswidrigen Re¬
siduen befinden sich jedoch ausschliesslich
im vorderen Theile der Rachenhöhle;
denn sobald etwas von ihnen in die hin¬
tere Rachenparthie gelangt, ruft es reflec-
torisch den Schluckact hervor und wird
durch denselben unweigerlich aus der
Rachenhöhle entfernt. Seine hygienische
Aufgabe als Reinigungs- und Erfrischungs¬
bad der Mundhöhle vermag also das Gurgel¬
wasser in vollstem Maasse zu erfüllen.
Anders steht es um den therapeutischen
Zweck desselben bei den verschiedensten
Formen der Angina. Denn es ist experi¬
mentell auf das Bestimmteste nachgewiesen
worden, dass es selbst durch das kräftigste
Gurgeln nicht möglich ist das Gargarisma
an die hinteren Rachentheile, besonders
nicht an die Mandeln, heranzubringen.
Diese Thatsache, von deren Richtigkeit
sich Jeder durch ein die Schleimhaut fär¬
bendes Gurgelwasser, z. B. durch eine Lö¬
sung mit Syrupus kermesinus, sehr leicht
überzeugen kann, raubt dem Gargarisma
jeden rationellen Heilwerth und lässt es
als therapeutische Spielerei erscheinen.
Dagegen besitzt der Patient in seinem
eigenen Speichel, den er herunterschluckt
und auf diesem Wege stets den Ort der
Entzündung passiren lässt, ein vortrefiliches
Mittel, die Mandeln und die anderen ent¬
zündeten Theile der hinteren Rachenhöhle
zu bespülen, nach Art eines Oleosum ein-
zubüllen und somit ihren Reizzustand zu
mildern. —
2. Superacidität des Magens,
saure Dyspepsie. Diese Affection, welche
entweder als Krankheit sui generis oder im
Gefolge und als Begleiterscheinung der
sauren Diathese auftritt, äussert sich be¬
kanntlich durch Sodbrennen, saures Auf-
stossen, Erbrechen, Druckempfindung im
Epigastrium, Gastralgie, kurz, durch eine
Reihe lästiger subjectiver Symptome, zu
denen sich nicht selten objectiv ein Ulcus
ventriculi hinzugesellt, und ist auf eine ab¬
norm vermehrte Menge von freier Salz¬
säure im Magensaft zurückzuführen.
So naheliegend auch der Gedanke ist,
dieses Säureübermaass durch Zuführung
von Natrium bicarbonicum, Magnesia usta
und ähnlichen Stoffen zu beseitigen, so hat
sich doch diese Alkalitherapie in der Praxis
längst als ganz erfolglos herausgestellt und
Digitized by Google
auch in der Theorie wurde ihre Unzuläng¬
lichkeit bewiesen durch Boas, welcher
zeigte, dass zur wirklichen Neutralisation
eines Magensaftes von 3 pro Mille HCl
nicht weniger als 12 g Natrium bicarboni¬
cum erforderlich sind, eine Dosis, welche
gewiss auf ebenso entschiedenen wie be¬
rechtigten Widerstand von Seiten des Pa¬
tienten stossen dürfte. Wagner in seiner
Arbeit „Zur Behandlung der Superacidität“
(Therapeutische Monatshefte 1896, Mai) be¬
zeichnet sogar die Alkalitherapie derSuper-
acidität und des Magengeschwürs nicht
bloss als nutzlos, sondern als direct schä¬
digend, indem er mit Recht darauf hin¬
weist, dass „bei der Einverleibung grösserer
Dosen von Alkalien dieselben mit der über¬
schüssigen Salzsäure NaCl bilden, welches
in grösseren Mengen stark reizend auf die
Magenschleimhaut wirkt und letztere zu
immer stärkerer Salzsäureausschei¬
dung anregt.“
Auch hier nun, in der Behandlung der
sauren Dyspepsie, bietet? sich uns im
Speichel ein wegen seiner Einfachheit
und Wirksamkeit höchst willkommenes'
Hilfsmittel dar. Der verschluckte Speichel
erscheint ja in Folge seiner alkalischen
Beschaffenheit schon physiologisch dazu
bestimmt, den Säuregrad des Magensaftes
zu reguliren. Jedoch besteht hier die
Schwierigkeit, dass der Speichel des Dys-
peptikers gewöhnlich eine zu geringe Al-
kelescenz besitzt, und es ist daher noth-
wendig, seine Speicheldrüsen durch an¬
haltendes und kräftiges Kauen zur Ab¬
sonderung eines reichlichen, hochalkalischen
Secrets anzuregen. Auf diesem Wege er¬
folgt die Bindung des Säureüberschusses
in einer Art, welche sich ganz dem phy¬
siologischen Vorgänge anschliesst und wel¬
che zugleich ohne die geringste Reizung
der besonders bei Magengeschwür so über¬
aus schonungsbedürftigen Schleimhaut vor
sich geht. Die Erfahrung zeigt denn auch,
dass die Beschwerden des Dyspeptikers
sich durch regelmässig verschluckten Kau¬
speichel mit grosser Sicherheit beseitigen
lassen.
3. Fettleibigkeit. Seit Oertel sieht
man in der Verminderung der Wasser¬
menge des Körpers eine der wichtigsten
Aufgaben jeder Entfettungscur. Es genügt
zu diesem Zweck nicht, die Wasserauf¬
nahme in der Nahrung des Patienten ein¬
zuschränken, denn diese Maassregel wird
in Folge quälenden Durstgefühls beinahe
undurchführbar und mehr oder weniger
illusorisch. Man ist daher weit mehr darauf
angewiesen, dem Patienten das in seinem
26
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
202
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Körper vorhandene Wasser zu entziehen,
eine Indication, welche man bisher nur
durch Dampfbäder und ähnliche Schwitz-
proceduren zu erfüllen wusste.
Statt der Schweissdrüsen lassen sich
aber mit gleichem Erfolge und grösserer
Bequemlichkeit die Speicheldrüsen in
Contribution setzen. Durch lange fortge¬
setztes Kauen und Ausspeien des hier¬
durch producirten Speichels ist es möglich,
dem Körper ganz erstaunliche Wasser¬
mengen zu entziehen und auf diese Weise
das Körpergewicht erheblich herabzusetzen.
Als Wright in einer Woche 250 Drachmen
Speichel zu Experimenten verbrauchte,
also seinem Organismus grössere Mengen
dieses Secrets entzog, verlor er in dieser
Zeit 11 Pfd. an Körpergewicht (nach einer
Mittheilung G. Stricker’s in seiner höchst
verdienstvollen Schrift „Die Bedeutung des
Mundspeichels“, 1889).
Ein besonderer Vorzug dieser Methode
der Entfettung liegt darin, dass sie im
Gegensatz zu den Schwitzproceduren das
Herz der Fettleibigen schont und daher
in jedem Falle anwendbar ist. Dazu kommt
noch, dass die Esslust des Patienten in
Folge des seinem Magen entzogenen Spei¬
chels beträchtlich nachlässt und ihm daher
die bei Tisch gebotene Enthaltsamkeit weit
weniger schwerfällt.
4, Wassersucht. Auf diesem Gebiete
war v. Leube der Erste, welcher die Ent-
speichelung an wandte« und zwar führte
ihn zu dieser Methode die Beobachtung
an einem Asciteskranken, welcher durch
einen spontan sich einstellenden Speichel¬
fluss von seinem Leiden befreit wurde.
Ueber die vortrefflichen Erfolge, welche
v. Leube mit der Entspeichelung erzielte,
lässt er sich im „Sitzungsbericht der Phy¬
sikalisch - Medicinischen Gesellschaft zu
Würzburg“, 1899, mit folgenden Worten
aus: „Durch energisches Kauen kann man,
wie mich die Erfahrung an Kranken lehrte,
eine stärkere Salivation als mit allen me-
dicamentösen Speichelmitteln erzielen und
im Tage bequem 400 bis 1000 ccm eines
wässerigen, aus dem Munde überschüssig
abfliessenden Speichels erhalten. Wäh¬
rend der Anwendung der Kautabletten
darf, damit der Salivationseffect derselben
richtig beurtheilt werden kann, natürlich
nicht mehr Flüssigkeit als gewöhnlich ge¬
trunken werden. In fünf Fällen von Pleu¬
ritis exsudativa war der Erfolg der Ptya-
lise jedesmal positiv, in einem der Fälle
weniger ausgesprochen als in den vier an¬
deren Fällen, in welchen eine vollstän¬
dige Resorption des Exsudats in
kürzester Zeit zustande kam.“ (Vergl.
diese Zeitschr. 1899, S. 480).
Diese Ergebnisse Leube’s eröffnen
unserer Therapie des Hydrops einen neuen
Weg, welcher schon durch die grosse
Autorität seines Urhebers der allgemeinen
Beachtung sicher ist. In der That giebt
es denn auch kein anderes Mittel, mit wel¬
chem sich die Entwässerung des Körpers
so sicher, rasch und einfach herbeiführen
lässt, als durch die Leube’sche Methode
der Entspeichelung.
Aus dem Gesagten geht wohl zur Ge¬
nüge hervor, dass der Speichel auch in
der modernen Therapie seine Stelle ein¬
zunehmen verdient. Jedoch bedarf es, um
ihn methodisch verwerthen zu können,
vor Allem eines Mittels, durch welches der
Patient in der Lage ist, Speichel stets in
ausreichender Menge zu produciren. Zu
diesem Zweck habe ich schon vor 7 Jahren
die Kaupräparate angegeben, welche von
der Firma Krewel & Co. in Köln a. Rh.
in vier verschiedenen Arten als Halskau¬
pastillen, als Magenkautabletten, als Kau¬
tabletten gegen Fettleibigkeit sowie als
Kautabletten gegen Wassersucht her¬
gestellt werden und in der ärztlichen
Praxis bereits vielfach Eingang gefunden
haben.
Aus dem pharmakologischen Institut der Universität Jena.
(Director: Prot Dr. Kionka.)
Ueber die therapeutischen Indicationen des Scopolaminum
hydrobromicum.
(Zugleich ein Beitrag zur Schneiderlin-Korff’schen Narkose.)
Von Dr. med. Martin Kochmann» Assistent am Institut.
Im letzten Jahrzehnt ist ein Mittel un¬
seres Arzneischatzes in grössere Aufnahme
gekommen, das von Psychiatern und Neu¬
rologen häufig angewandte Scopolamin,
welches durch die combinirte Scopolamin-
Morphinnarkose (Schneiderlin-Korff-
sche Narkose) in Folge der Publicationen
Kor ff s 1 ) und Bios’ 2 ) neuerdings ein
actuelles Interesse gewann. Das Scopol¬
amin ist ein Alkaloid aus den verschieden-
Difitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Mai
203
Die Therapie der Gegenwart 1903.
sten Pflanzen der Belladonnagruppe, wel¬
ches mit Sfluren gut crystallisirte Salze
giebt. Es besitzt die empirische Formel
C 17 H 21 NO 4 und ist zwar nach der Ansicht
Ernst's*) als reines Hyoscin, das Hyoscin
des Handels also als verunreinigtes Scopo-
lamin aufzufassen; nach neueren Arbeiten
jedoch sind beide völlig identisch. Als
Scopolaminum hydrobromicum ist es in
die deutsche Pharmacopoe aufgenommen.
Die Litteratur über Scopolamin und
Hyoscin ist eine ganz beträchtliche. Die
meisten Mittheilungen stammen von Psy¬
chiatern und Augenärzten und nur wenige
stützen sich auf experimentelle Unter¬
suchungen. Hier sind besonders die Schüler
Kobert’s, Ernst und Sohrt 4 ), sowie
Walter 5 ) zu nennen, denen wir die Kennt-
niss der pharmacodynamischen Wirkungen
des Scopolamins bezw. Hyoscins besonders
verdanken. Ausserdem habe ich an an¬
derer Stelle*) die Ergebnisse einer Reihe
experimenteller Untersuchungen veröffent¬
licht, welche eine Ergänzung der Lücken
in der Kenntniss der Wirkungsweise des
genannten Alkaloids bilden sollten.
Das zusammen fassende Resultat, welches
sich aus diesen Arbeiten über das Scopo¬
lamin ergiebt, ist Folgendes:
1 . Der Blutdruck wird durch kleine
Gaben von Scopolaminum hydrobromicum
in Folge Reizung des vasomotorischen Cen¬
trums gesteigert Durch grosse Gaben da¬
gegen stark erniedrigt. Letzteres beruht
nicht auf einer Lähmung des vasomotori¬
schen Centrums, sondern auf einer Schädi¬
gung des „excitomotorischen“ Apparates
des Herzens.
2. Der Puls ist bei kleinen Dosen des
Alkaloids nicht wesentlich gegen die Norm
verändert, auf grosse Gaben tritt durch
VagusreizungVerringerung der Pulsfrequenz
und Grösserwerden der Pulselevationen ein
(Vaguspuls). Auch beim Menschen ist bei
der therapeutischen Darreichung die Blut¬
drucksteigerung und Pulsverlangsamung zu
constatiren.
3. Der N. vagus wird selbst durch
grosse Dosen Scopolamins bei Hunden
nicht gelähmt, bei Kaninchen dagegen ist
schon auf mittlere Gaben eine Lähmung
des Vagus zu bemerken.
4. Die Erregbarkeit der Grosshirnrinde
für faradische Ströme wird durch Scopo¬
lamin herabgesetzt.
5. Hyoscin bezw. Scopolamin rufen selbst
in kleinen Dosen beim Menschen und Hunde
Schlaf hervor, dem motorische Unruhe,
*) Archivcs internationales de Pharmacodynamie
et de Therapie. Bd. XI.
□ igitized by Google
wahrscheinlich auf Hallucinationen beruhend,
vorausgeht. Analgesie besteht während des
Schlafes nicht. Bei Kaninchen kommt diese
sedative Wirkung nicht zum Vorschein, beim
Frosch ist auf Scopolamin hin eine cen¬
trale Lähmung und Retlexunerregbarkeit
nach vorangehender Irradiation der Reflexe
zu bemerken.
6 . Die Respiration wird beim Hunde
und Menschen durch therapeutisch schon
wirksame Dosen nicht geschädigt. Bei
grossen Dosen ist eine Schädigung der
Athmung immer zu constatiren. Bei Kanin¬
chen tritt sogar primärer Athemstillstand ein.
7. Die Speichel-, Schweiss- und Schleim-
secretion wird durch Scopolamin aufge¬
hoben.
8 . Sowohl bei localer Instillation ins
Auge als auch resorptiv treten Mydriasis
und Accomodationslähmung ein, welche
aber schneller vorübergehen als bei Atropin.
9. Scopolamin lähmt die motorischen
Endapparate des Vagus im Darm, hebt aber
den Splanchnicustonus auf.
10. Scopolamin wird durch die Nieren
ausgeschieden.
Auf diese durch experimentelle Unter¬
suchungen gefundenen Resultate stützt sich
die therapeutische Verwendung des Scopo¬
lamins, welches dem Hyoscin, bezw. dem
Scopolamin, natürlicher Weise immer vor¬
zuziehen ist.
Bevor ich mich aber über diese weiter
verbreite, möchte ich kurz auf die vom
toxicologischen Standpunkt interessanten
Thatsachen beim Menschen hinweisen. Es
giebt in der Litteratur eine Anzahl von
Hyoscinvergiftungen welche —- soweit sie auf
einwandsfreien Beobachtungen fussen — da¬
für sprechen, dass Todesfälle bei dieser Ver¬
giftung nicht möglich zu sein scheinen.
Auch bei den Thierversuchen konnte ich
zwar für Frösche und Kaninchen eine letale
Dosis aufstellen, aber weder Sohrt und
Ernst noch mir ist das Gleiche bei Hun¬
den gelungen, welche sich in Bezug auf
die Scopolaminwirkung anscheinend wie
Menschen verhalten. Selbst ganz enorme
Gaben des Scopolaminum hydrobromicum,
nämlich 0,5 g intravenös, auf einmal ein¬
verleibt, vermochten nicht den Tod eines
7 kg schweren, gesunden Hundes hervor¬
zurufen, welcher kurz vorher ebenfalls bei
intravenöser Application kleinere Dosen
des Alkaloids erhalten hatte, so dass ihm
innerhalb von ungefähr 2 Stunden im
Ganzen 1,5 g des Scopolaminum hydro¬
bromicum injicirt wurden. Wenn man be¬
denkt, dass die wirksame Gabe auch bei
Hunden unter 1,0 mg liegt, so ist der Spiel-
26 *
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
204
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mai
raum zwischen dieser und der letalen Dosis
ein ganz colossaler, er beträgt jedenfalls
mehr als 1500 mg des bromwasserstoff¬
sauren Salzes.
Die Symptome, welche beilntoxicationen
gesehen wurden, sind je nach der Reinheit
des Präparates und der Höhe der Dosis
ganz verschiedene gewesen. In dem einen
Falle riefen 48 mg Hyoscinum hydrochlori-
cum keine anderen Erscheinungen hervor,
als tiefen, langdauernden Schlaf. Nach Ab¬
lauf von 24 Stunden war der Patient wieder
völlig gesund (Githgens) 6 ). In einem an¬
deren Falle zeigte sich Lähmung des Be¬
wusstseins, nach ungefähr einer Stunde
Coma, Krämpfe, Anämie der Haut, My-
driasis und Lähmung der Speichelsecretion.
Puls klein, weich, frequent. Alsbald traten
Jactation und leichte Delirien heiteren In¬
halts auf. Nachdem der Patient kurze Zeit
wach gewesen war, schlief er wieder fest
ein. Am nächsten Morgen waren ausser
einer ziemlich erheblichen Mattigkeit und
Trockenheit des Halses nur noch die Er¬
scheinungen von Seiten des Auges, welche
an die Qberstandene Intoxication erinnerten
(Adler) T ). In wieder anderen Fällen kamen
noch einige andere Symptome, wie sterto-
röse Athmung, Röthung des Gesichts hinzu.
Im Ganzen mögen gegen zehn Fälle von
Hyoscinintoxication in der Litteratur er¬
wähnt sein, welche in kurzer Zeit, gewöhn¬
lich in 5 Stunden, immer aber nach 24
Stunden, die Vergiftung überstanden hatten.
Nur die Trockenheit des Halses und der
Haut, sowie die Mydriasis und Accomo-
dationslähmung am Auge bestanden noch
kürzere oder längere Zeit fort. Nur zwei
Fälle sind in der Litteratur bekannt, welche
zum Exitus führten. Der eine wird von
Wood 8 ), der andere von Ostermayer 9 )
berichtet. Doch hebt der erstere selbst
hervor, dass es ungewiss gewesen sei, ob
das scharlachkranke Kind in Folge der
Hyoscindarreichung oder aus einem an¬
deren Grunde gestorben sei, und der letz¬
tere publicirt nur einen nicht selbst beob¬
achteten Fall. Deshalb können die beiden
Todesfälle bei der Beantwortung der Frage,
ob tödtliche Intoxicationen mit Hyoscin
bezw. Scopolamin Vorkommen könnten,
nicht sehr in die Waagschaale fallen.
Was die therapeutische Verwendung des
Scopolamins angeht, so wäre etwa Fol¬
gendes zu sagen:
I. Die Anwendung des Scopolamins
in der Psychiatrie.
Schon Sohrt und Ernst empfahlen
das Hyoscin bezw. Scopolamin in allen
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Fällen von Geisteskrankheiten, welche mit
starken Aufregungszuständen verbunden
sind. Die theoretische Stütze für diese
Anwendung beruht auf der Thatsache, dass
Scopolamin die Erregbarkeit der Grosshirn¬
rinde für faradische Ströme herabsetze.
Das Alkaloid wurde bei den verschieden¬
sten Arten der Geisteskrankheiten gegeben;
bei Manie, Delirium tremens, Melancholie
und anderen. In neuerer Zeit scheint sich
die Ansicht ausgebildet zu haben und als
Directive für die Verwendung des Scopo¬
lamins bei Geisteskrankheiten angegeben
zu werden, welche unter anderem auch
Bumke 10 ) in einer erst vor Kurzem er¬
schienenen Mittheilung vertritt, und welche
sich etwa in folgenden Sätzen präcisiren
lässt:
1. Scopolamin ist in allen Fällen von
Geisteskrankheiten, welche von ausser¬
ordentlich heftigen Aufregungszuständen
begleitet sind, indicirt, und zwar besonders
dann, wenn andere Hypnotica und Sedativa
geringen Erfolg haben oder zu versprechen
scheinen oder die Art ihrer Application,
nämlich per os gegenüber der subcutanen
Injection des Scopolamin, nicht möglich ist.
2. Scopolamin wird also am Besten
subcutan in Dosen von 0,5—1,5 mg als
Scopolamin. hydrobromicum in frisch be¬
reiteten Lösungen gegeben. Aber auch
höhere Dosen können getrost angewandt
werden.
Wie mir Herr Dr. Berger, Privatdocent
und Hausarzt an der hiesigen psychiatri¬
schen Klinik (Geh. Rath Prof. Dr. Bins-
wanger) in liebenswürdigster Weise bereit¬
willig mittheilte, ist auch hier die Anwen¬
dung des Scopolamins auf Patienten mit
starker motorischer Unruhe beschränkt.
Ungefähr 15 Minuten nach der Application
des Präparates werden die Kranken ruhig
und verfallen in einen tiefen Schlaf. Der
Puls wird meistens ruhiger und voller, die
Respiration ist im Schlaf tief und regel¬
mässig. Als unerwünschte, aber verhält-
nissmässig leicht zu vernachlässigende
Nebenwirkungen kommen in Betracht die
manchmal noch tagelang anhaltende Mydria¬
sis und Accomodationslähmung,Trockenheit
im Munde und Rachen. Herr Dr. Berger
hat öfters vor dem Eintreten des Schlafes
Hallucinationen bei Patienten gesehen,
welche solche nie gehabt hatten oder später¬
hin zeigten, welche daher als Scopolamin-
wirkung aufgefasst werden mussten.
Diese Beobachtungen stimmen auch mit
denen überein, welche ich bei Hunden im
Experiment habe machen können. Auch
das manchmal bei Patienten auftretende
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UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
205
Muskelzittem findet seine Analogie in
meinen Thierexperimenten am Hunde.
Schliesslich machte mich Herr Dr. Berger
darauf aufmerksam — ich finde diese That-
sache in der Litteratur nicht angegeben,
konnte aber Aehnliches in meinen Ver¬
suchen beobachten — dass die meisten
Patienten am Morgen nach der Scopolamin-
injection erbrechen und die Nahrungsauf¬
nahme verweigern; letzteres mag wohl
einerseits auf der bestehenden Anorexie,
andererseits aber auf der Trockenheit des
Rachens, welche den Schluckact erschweren
kann, vielleicht aber auch auf einer Läh¬
mung oder Parese der glatten Musculatur
desOesophagus beruhen (s. Atropin), welche
das Schlucken Oberhaupt unmöglich machen
würde. Aus diesem Grunde kann Scopo-
lamin nicht dauernd gegeben werden, weil
dann die Patienten in ihrer Ernährung so
herunterkommen und so kachectisch werden,
dass sie gegen die leichteste Infection wider¬
standslos werden. Es muss deshalb als
dritter Satz für die Indication der Anwen¬
dung des Scopolamins zu den beiden ersten
die Forderung hinzugefQgt werden:
Das Scopolamin soll nur ab und zu,
aber nicht dauernd gegeben werden.
Das genannte Alkaloid wirkt natürlicher
Weise nur symptomatisch und palliativ,
niemals aber auch causal. Von einer Heilung
oderBesserungder Geisteskrankheiten durch
Scopolamin an und für sich kann daher
selbstverständlich nie die Rede sein.
II. Anwendung des Scopolamins in
der Neuropathologie.
Bei Nervenkrankheiten ist das Scopo¬
lamin ebenfalls häufig angewandt worden.
In dieser Beziehung sind die Beobachtun¬
gen von Erb ^.Buddee 12 ), Windscheid*)
und Anderen von Interesse. Auch hier
wirkt Scopolamin, wenn es überhaupt einen
Effect hat, nur symptomatisch. Von ausser¬
ordentlich günstiger Wirkung ist das Prä¬
parat bei Paralysis agitans, wo es das lästige,
heftige Zittern bis zu 12 Stunden beseitigt
und den erschöpften Patienten mehrstün¬
digen, ruhigen Schlaf verleiht. Bei Tremor
aus anderen Ursachen (Tremor alcoholicus
und senilis) erwies sich das Alkaloid eben¬
falls als brauchbares Palliativum, freilich
kehrte schon wenige Stunden nach der
Application das Zittern wieder. Andere
Krankheiten des Nervensystems wurden
nach Buddee durch Scopolamin nicht
beeinflusst, z. B. Chorea minor, Athetosis,
Tabes, Muskelspasmen aus irgend welchen
Ursachen etc.
*) Nach Buddee.
In neuester Zeit ist man wohl auch von
der Anwendung des Scopolamins bei diesen
Krankheiten immer mehr zurückgekommen,
einerseits hat man wirksamere therapeuti¬
sche Wege eingeschlagen, andererseits hat
man sich von der Nutzlosigkeit jeder Thera¬
pie überzeugt, nur bei der Behandlung der
Paralysis agitans erzielt das Scopolamin
so gute Erfolge in symptomatischer Be¬
ziehung, dass diese Therapie fast allgemein
beibehalten worden ist.
III. Anwendung des Scopolamins bei
anderen, meistens somatischen
Krankheiten.
Bei anderen Krankheiten, dem Asthma
bronchiale, Pertussis, Cardialgien und den
verschiedensten Arten von Neuralgien ist
das Alkaloid versucht worden. Aber auch
hier bestehen die widersprechendsten Be¬
richte über den gesehenen Erfolg. In der
Mehrzahl der angegebenen Fälle findet das
Scopolamin kaum noch Anwendung; die¬
selbe Hesse sich bei Neuralgien, Cardial¬
gien oder Schmerzen in Folge von Car-
cinom etc. auch garnicht rechtfertigen. In
meinen Thierversuchen habe ich — auch
andere Autoren machen darauf aufmerk¬
sam — selbst im tiefsten Scopolaminschlaf
niemals Analgesie beobachten können. Bei
den genannten Erkrankungen sind andere
Medicationen, z. B. elektrische und hydro¬
therapeutische Behandlung, Arsen, Chinin
und Morphin entschieden von günstigerem
Erfolge.
Schon eher wäre eine plausible theore¬
tische Basis für die Anwendung des Sco¬
polamins bei Asthma bronchiale vorhanden.
Wenn man annimmt — und das ist wohl
allgemein die herrschende Ansicht — dass
Asthma bronchiale auf einem Krampf der
Ringmuskulatur der Bronchien beruhe; so
ist es ohne Weiteres verständlich, dass
Scopolamin, welches ja gleich Atropin, die
glatte Muskulatur bezw. ihre Nervenendi¬
gungen zu lähmen im stände ist, diesen
Krampf aufhebe und dadurch die Asthma¬
anfälle beseitige. Vielleicht ist das Scopol¬
amin das wirksame Princip, welches in
den manchmal mit frappantem Erfolg ver-
ordneten Strammoniumcigarren enthal¬
ten ist
Ebenso erklärlich sind die Erfolge,
welche Edlefsen und Illing 18 ), sowie
CI aussen 14 ) und andere, mit Scopolamin
bezw. Hyoscin bei Enteralgien erzielten.
Wir wissen, dass manche Koliken, z. B. die
Bleikolik, durch krampfartige Contractionen
der Darmmuskulatur entstehen. Durch die
Lähmung dieser Muskulatur bezw. ihrer
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206
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mai
Nervenendigungen durch Scopolamin wer¬
den die Kolikschmerzen beseitigt. Ich glaube
aber, dass bei derartigen Affectionen das
Opium wirksamere Effecte hervorbringt,
denn es beseitigt nicht nur ebenfalls den er¬
höhten Muskeltonus und löst dadurch den
Krampf der Darmmuskulatur, sondern es
bleibt/ da es, wie angenommen wird, in
den ^Ganglienzellen des Darmes deponirt
wird, längere Zeit wirksam und entwickelt
ausserdem noch central analgesirende, nar¬
kotische Fähigkeiten, welche das Scopol¬
amin nicht besitzt. Auch beim Asthma
bronchiale dürfte dasselbe im Morphin einen
sehr erfolgreichen Concurrenten haben.
In letzter Zeit ist bekanntlich wiederum
auf die Behandlung des Ileus mit Atropin
aufmerksam gemacht und dieselbe warm
empfohlen worden. Die günstige Beein¬
flussung, welche dem Atropin in manchen
Fällen von Ileus zukommen mag, soll nicht
ohne weiteres bestritten werden, meistens
dürfte ein operativer Eingriff mehr zu
empfehlen sein. Sei dem wie ihm wolle,
der Streit wogt wie in vielen Fragen der
Therapie hin und her, und wenn man unter
besonderen Umständen einen Versuch mit
dieser Medication machen will, so möchte
ich daran erinnern, dass dem Scopolamin
dieselben wirksamen Eigenschaften auf den
Darm zukommen wie dem Atropin. Viel¬
leicht wäre aus diesem Grunde und in An¬
betracht der geringeren Todesgefahr selbst
bei hohen toxischen Gaben des Scopol-
aminum hydrobromicum dieses statt des
Atropins hier anzuwenden. Ausserdem
wird auch gerade in solchen Fällen die
sedative und hypnotische Wirkung ein sehr
günstiger Nebeneffect dieser Medikation
sein.
Unbestrittne Erfolge hat die Verwen¬
dung unseres Präparats zur Einschränkung
übermässiger Secretion der Schleim-,
Speichel- und Schweissdrüsen errungen.
Wir wissen durch die Versuche von Sohrt
und Ernst, dass die Secretion der ge¬
nannten Drüsen durch Scopolamin gelähmt
wird, ebenso wie es das Atropin thut. Die
ersten therapeutischen Versuche mitHyoscin
(Scopolamin) in dieser Hinsicht machten
Claussen, 14 ) Erb, 11 ) Fraentzel, 15 ) Bla¬
sius, 16 ) Sohrt, Ernst und andere. Die
Meisten hatten überwiegend günstige Re¬
sultate und zwar bei Phthisikern und Rheu¬
matikern. Wenn einige auf Dosen von
0,5 mg sehr bedenkliche Nebenerscheinun¬
gen gesehen haben, so wird das wohl daran
liegen, dass sie mit unreinen Präparaten
gearbeitet haben. Alle Autoren heben auch
bei dieser Anwendung des Scopolamins
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dessen sedative Wirkung hervor, welche
bei Phthise oder Rheumatismus articularis
als sehr erwünschte Beigabe betrachtet
wird. Die Dosen sind hier 0,5—1,5 mg
per os in Pillen gereicht. Blasius, wel¬
chem ein relativ grosses Material zur Ver¬
fügung stand, hat für gewöhnlich keine
Intoxicationserscheinungen bei diesen Dosen
wahrgenommen, nur bei empfindlichen Pa¬
tienten, die offenbar eine Idiosynkrasie
gegen Hyoscin hatten, traten auf 1,5 mg
die bekannten Erscheinungen, Trockenheit
im Munde, Uebelkeit, Erbrechen, Sehstö¬
rungen etc. auf. Dagegen bestätigt er die
Angabe Fraentzel’s, dass man mit Hyo¬
scin manchmal günstige Erfolge sogar da
erzielen kann, wo selbst das Atropin im
Stiche lässt.
Offenbar steht auch nichts im Wege,
das Scopolamin gelegentlich bei Ptyalismus
anzuwenden. Angaben darüber habe ich
in der Litteratur nicht finden können, Da¬
gegen liegen Mittheilungen von Wood 8 )
und Robinson 9 ) vor, welche von Hyoscin,
dem verunreinigten Scopolamin günstige
Erfolge bei Spermatorrhoe sahen. Von
anderer Seite konnten diese nicht bestätigt
werden. Und diese Anwendung des Sco¬
polamin dürfte wohl kaum noch geübt
werden.
IV. Anwendung des Scopolamins in
der Augenheilkunde.
Das genannte Alkaloid macht gleich dem
Atropin Mydriasis und Accomodationsläh-
mung. Darin sind alle Autoren, Hirsch¬
berg, 17 ) Emmert, 18 ) Walter, 8 ) welchem
wir eine Experimentaluntersuchung ver¬
danken, ferner Raehlmann, 19 ), Belljar-
minow,*) Illig, 21 ) und Schultz, 21 ) einig.
Die Erfahrungen, welche mit dem Sco¬
polamin gemacht worden sind, lassen
sich in Folgendem kurz dahin zusammen¬
fassen, dass Scopolamin schon in schwäche¬
ren Lösungen wirksam sei als das Atropin,
dass es in gleich starken eine energischere
Wirkung entfalte (Pupille wird weiter),
dass aber die Wirkung auf Pupille und
Accomodation eine schneller vorüber¬
gehende sei. Der intraoculäre Druck soll
garnicht oder doch nur wenig, trotz Iris-
reflung, durch Scopolamin erhöht werden,
was wahrscheinlich auf eine Verengerung
der Gefässe des Bulbus zurückzuführen
ist, welche von Ernst immer beobachtet
werden konnte. Eine von Raehlmann
behaupte antiphlogistische Wirkung des
Scopolamins konnte von anderen Klinikern
*) Citirt nach Ernst und Illig.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Mai
207
Die Therapie der
trotz der ebenerwähnten Thatsache nicht
constatirt werden.
Die Indication zur Anwendung des Sco-
polamins in der Ophthalmiatrie dürfte
heutigen Tages in der Arbeit Illig’s 20 ) aus¬
gesprochen sein, welche etwa lautet: Wenn
das Scopolamin auch nicht unter allen Um¬
ständen als absolut gleichwerthig dem Atro¬
pin zur Seite gestellt werden darf (kürzere
Dauer der Wirkung), so muss es doch als
der beste Ersatz für das Atropin angesehen
werden, in allen den Fällen, in welchen
Atropin von den Patienten nicht vertragen
wird (Idiosynkrasie) oder in welchen bei
Anwendung von Atropin ein Secundär-
glaucom zu befürchten ist. Schliesslich
dürfte unser Präparat auch da indicirt sein,
wo das Atropin nicht energisch genug wirkt
(Schultz). 21 )
V. Anwendung des Scopalamins in
der Schneiderlin - Korffschen Nar¬
kose (Scopolamin-Morphin-Narkose).
Im Jahre 1900 veröffentlichte Sehnei-
derlin 22 ) eine Arbeit unter dem Titel
„Eine neue Narkose" und schildert darin,
dass er durch die Anwendung des Scopol-
amins in der psychiatrischen Praxis dazu
gelangt sei, dieses Alkaloid in Verbindung
mit dem Morphin auch in der Chirurgie
als Narcoticum zu versuchen. Er that dies
in verschiedenen Fällen mit ausgezeich¬
netem Erfolge. Die Art der Application
und die Dosen waren von Schneiderlin
noch nicht genügend ausgearbeitet wor¬
den, als dass sich die Narkose schon für
die allgemeine Praxis hätte eignen können.
Korff 1 ) nahm sich nun mit Eifer der
neuen Narkose an und arbeitete ihre Me¬
thodik genauer aus. Nach mehreren Ver¬
suchen, deren Resultat er in einer kurzen
Arbeit niederlegte, theilte erin einer zweiten
Veröffentlichung mit, wie die neue Nar¬
kose schliesslich von ihm gehandhabt
werde. Eine halbe Stunde vor der ersten
Injection (0,01 g Morphin + 0,0012 g Sco-
polamin. hydrobromic.) wird dem Patienten
ein flüssiges Frühstück gereicht. Nach zwei
Stunden wird die zweite Injection (gleiche
Dosis) gegeben und nach weiteren 1 1 /s
Stunden die dritte. Bei 130 Fällen wurde
von Korff diese Narkose angewandt. Un¬
günstige Resultate sind nicht aufgetreten,
nur einmal zeigte sich bei einer kachec-
tischen Patientin nach der zweiten Injec¬
tion Herzschwäche, welche durch Kamphor-
injectionen erfolgreich bekämpft wurde.
Von Nebenerscheinungen machten sich
nach Korff eine GefässerWeiterung im
Carotidengebiet (?) und die bekannten
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Gegenwart 1903.
Augenerscheinungen geltend, die aber bald
vorübergingen. Auf Grund dieser Beob¬
achtungen und Empfehlungen Korff s
versuchte E. Bios 2 ) die Schneiderlin-
Korffsche Narkose (wie sie wohl mit
Recht genannt werden muss) an 105 Pa¬
tienten und hatte dabei einen Todesfall,
in zwei Drittel aller Fälle hatte er eine
geradezu ideale Narkose. Die Gefahr der
Narkose liegt nach diesem Autor im Ath-
mungsstillstand, bei einer guten Narkose
sollen die Pupillen erweitert sein. Die
Dosis, welche Bios an wendet, beträgt 4
bis 5 mg Scopolamin mit 0,02 g Morphin,
nachdem eine Probedosis von 2,5 mg Sco¬
polamin + 0,015 — 0,02 g Morphin versucht
worden ist. Da Scopolamin ein sehr zersetz-
liches Präparat sei, so solle man immer
frische Lösungen bereiten; die Scopolamin-
krystalle in Charta cerata, nicht aber in
einem Glas aufbewahren, da sie sich an
den Wänden des Gefässes zersetzten. Bios
giebt in seiner Arbeit eine genaue Ueber-
sicht über die einzelnen Fälle und schildert
die Erfahrungen, welche er bei der neuen
Narkose machte. Meistenteils trat eine
Pulsbeschleunigung auf (z. B. bei einer
eitrigen Pleuritis von 120—140(!)) und eine
Verlangsamung der Athemfrequenz. In
manchen Fällen soll das Herz günstig be¬
einflusst worden sein, indem der vorher
unregelmässige Puls regelmässig wurde,
manchmal trat auch das Umgekehrte ein.
Auch Cyanose wurde mehrfach beobachtet.
Der Todesfall war bei einem Individuum
mit Myocarditis, Empyem und Tuberkulose
zu verzeichnen. Da das Scopolamin mit
dem Urin ausgeschieden wird, muss man
bei Insufficienz der Nieren den Patienten
sehr sorgfältig überwachen, weil es sonst
bei einer mehrmaligen Injection zu einer
Cumulation kommen kann. Andere Pa¬
tienten zeigten eine Idiosynkrasie gegen
Scopolamin; zu diesen gehören vor allen
Dingen die hysterischen und neurasthe-
nischen Individuen. Erbrechen nach der
Narkose, doch meistens ohne vorherige
Nausea, ist öfters beobachtet worden.
Witzei 28 ) sah bei der Anwendung der
Korffschen Narkose bei einem an Arte¬
riosklerose leidenden Herrn einen Todes¬
fall, Und auch von anderer Seite scheinen
die Erfolge mit der neuen Narkose nicht
gerade günstig ausgefallen zu sein.
Betrachten wir einmal diejenigen Punkte,
welche als Vorteile der Scheiderlin-
Korff sehen Narkose geltend gemacht wer¬
den! Da ist erstens der Umstand zu nennen,
dass ein Assistent, welcher sonst der Nar¬
kose vorstehen muss, frei bezw. entbehr-
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
208
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mai
lieh wird. Dann wird auf die Gefahrlosig¬
keit der Narkose aufmerksam gemacht,
welche darauf beruhen soll, dass Scopol-
amin und Morphin Antagonisten seien,
ferner wird erwähnt, dass die Nachwehen
einer jeden Inhalationsnarkose und das
Excitationsstadium fehlten, schliesslich dass
mehrstündiger Schlaf der Narkose folgte.
Bei der kritischen Würdigung der an¬
gegebenen Vorzüge ist zunächst hervor¬
zuheben, dass das Freiwerden oder die
Entbehrlichkeit des Narkotiseurs in Wirk¬
lichkeit gar nicht einen so grossen Vortheil
bedeute. Der Patient muss nach Korff’s
Vorschrift schon vier Stunden vor der
Operation in Behandlung genommen wer¬
den, es wird dreimal, wenigstens aber
zweimal die Morphin-Scopolamincombina-
tion injicirt. Der Kranke muss während
dieser vier Stunden ärztlich überwacht
oder mindestens öfter eontrolirt werden.
Aus dem Gesagten ergiebt sich, dass zwar
ein Assistent während der Schneiderlin-
schen Narkose frei wird, die Einleitung der
Narkose und ihre ganze Technik keines¬
wegs weniger Zeit erfordert und einfacher
zu sein scheint, als die gewöhnliche In¬
halationsnarkose.
Dass ein Excitationsstadium bei der
Schneiderlin’schen Narcose nicht besteht,
kann für die meisten Fälle zugegeben werden.
Ob aber nicht manchmal vor Eintritt der
Narkose, besonders dann — wie Bios es
will —, wenn das Scopolamin das Ueber-
gewicht in der Wirkung über das Morphin
hat, delirienartige Zustände auftreten
könnten, möchte ich nach den Erfahrungen
in der hiesigen psychiatrischen Klinik nicht
ohne weiteres verneinen; immerhin werden
diese wohl durch das Morphin hintange¬
halten, meistens sogar gänzlich unter¬
drückt! Das Excitationsstadium kann aber
auch bei der Chloroform- oder Aether-
narkose durch Combination mit Morphin
(0,02 g) auf ein Minimum herabgemindert,
wenn nicht gar vollkommen aufgehoben
werden.
Was nun die Nachwehen anbetrifft,
welche wohl nach jeder Chloroform- oder
Aethernarkose auftreten, so sind dieselben
allerdings sehr unangenehm, aber auch bei
Scopolamindarreichung ebenso wie nach
Morphininjectionen kann man Erbrechen
beobachten, nicht nur im Thierexperiment
an Hunden, welche ein leicht erregbares
Brechcentrum haben, sondern auch an
Menschen. Auch Bios giebt zu, dass
am nächsten Tage Erbrechen eintritt, aller¬
dings ein ganz eigenthümliches Erbrechen
ohne jede Nausea. Es mag dies ein Vor¬
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theil für das subjective Wohlbefinden des
Patienten sein, für eine Laparotomiewunde
dürfte auch ein solches Erbrechen eine Schäd¬
lichkeit bedeuten. In der hiesigen psychiatri¬
schen Klinik waren übrigens schon bei
0,9 mg Scopolamin am nächsten Morgen
Erbrechen mit Uebelkeit und Verweigerung
von Nahrungsaufnahme zu beobachten ge¬
wesen. (s. o.)
Nun schliesslich der letzte Punkt, der
als der grösste Vortheil angegeben wird,
die Gefahrlosigkeit der Schneiderlin-
Korffsehen Narkose. Die citirten Autoren
stützen sich auf den von Binz constatirten
Antagonismus zwischen Morphin und Atro¬
pin. Nun sind Atropin und Scopolamin
wohl verwandte und ihrer Wirkung nach
ähnliche, aber keineswegs vollkommen
gleiche Alkaloide. Wie aus sämmtlichen
experimentellen Arbeiten hervorgeht, be¬
stehen bedeutsame Unterschiede.
Wenn nun Bios sagt, dass die Combi¬
nation von Morphin und Scopolamin des¬
halb eine so besonders glückliche ist, weil
sie sich in ihren narkotischen Wirkungen
summiren, in ihren übrigen aber geradezu
widersprechen, so ist das nicht ohne wei¬
teres zutreffend.
Schneiderlin sowohl als auch Korff
und Bios sagen über diesen Antagonismus
etwa folgendes:
1. Morphin verlangsamt den Puls, Sco¬
polamin beschleunigt ihn.
2. Morphin vermindert die Athemfre-
quenz und macht die Athmung oberfläch¬
lich, Scopolamin beschleunigt und ver¬
tieft sie.
3. Morphin lähmt die sensiblen, Scopol¬
amin die motorischen Nerven. (?)
4. Morphin macht eine Miosis, Scopol¬
amin eine Mydriasis.
5. Morphin wirkt gefässerweiternd, Sco¬
polamin gefässverengernd;
6. Morphin lässt die Secretion intact;
Scopolamin lähmt sie.
Dazu ist nun zu bemerken:
1. Nach den übereinstimmenden Resul¬
taten verschiedener Autoren macht Morphin
in kleinen Dosen eine Vermehrung der
Pulszahl, grosse Dosen vermehren die Fre¬
quenz anfangs, um sie dann zu vermindern.
Scopolamin macht nach den Untersuchun¬
gen von anderen und mir vielleicht manch¬
mal, jedenfalls aber nicht constant, Ver¬
mehrung der Pulsfrequenz, bei höheren
Gaben dagegen Pulsverlangsamung.
2. Scopolamin lässt bei kleinen Gaben
die Athmung zwar intact, vermehrt sogar
etwas die Athemgrösse, bei grossen Gaben
kommt es aber immer zu einer Schädigung
Original from
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Mai
Die Therapie der
der Athmung, indem sowohl Frequenz als
auch Athemgrösse geringer werden.
3. Dass Morphin die sensiblen und Sco-
polamin die motorischen Nerven lahme,
ist aus keiner einzigen Mittheilung der
Litteratur zu ersehen. Die Nerven werden
durch Morphin im Grossen Ganzen Ober¬
haupt nicht gelähmt, sondern nur das Cen¬
tralorgan, Scopolamin lähmt zwar einige
Nervenendigungen in der glatten Muskula¬
tur, die allgemeine Lähmung, welche ich
für den Frosch nachweisen konnte, ist
lediglich eine central bedingte.
4. Morphin macht in der That eine
Miosis, Scopolamin eine Mydriasis; das ist
richtig; aber wenn man bedenkt, dass letz¬
teres seinen Anpriffspunkt in den Endi¬
gungen des N. occulomotorius im Sphincter
iridis hat, jenes aber eine centraler be¬
dingte Reizung des Occulomotorius mache
(denn durch Instillation von Morphium¬
lösung kann man die Miosis nicht erzeugen),
so kann auch hierbei von einem antago¬
nistischen Spiele nicht die Rede sein.
5. Dass Morphin gefässerweiternd wirke,
ist insofern richtig, als die Hautgefässe er¬
weitert werden, die Innengefässe müssen,
da der Blutdruck nicht sinkt, im Gegensatz
hierzu enger werden. Schon daraus sieht
man, dass die Behauptung Bios’s und
Schneide rlin's in ihrer Allgemeinheit
nicht zutreffend sei, abgesehen davon, dass
Scopolamin nicht so ohne weiteres als ge-
fässverengerndesAlkaloid angesehen werden
darf, hat doch Ernst bewiesen, dass es
sogar an isolirten Organen die Gefässe er¬
weitere.
Gefahrlos ist die Narkose ja auch in
der That gar nicht, das giebt auch Kor ff,
der die ganze Sachlage offenbar richtig
und kritisch mit nüchternem Blick über¬
schaut, selbst zu. Der Todesfall von Bios
würde wahrscheinlich oder doch wenigstens
möglicherweise, auch bei Chloroform und
Aether eingetroffen sein, und derjenige,
den Witzei im Anschluss an die Schnei-
derlin-Korff’sche Narkose erlebte, hätte
sich ebenfalls bei den gebräuchlichen Nar¬
kosen ereignen können. Die in ungefähr
10°/o aller Fälle auftretende Cyanose, die
bei manchen Patienten sich zeigende Herz-
arythmie oder Herzschwäche sind viel eher
ein Beweis dafür, dass auch diese Nar¬
kose nicht unbedenklich sei.
Es geht auch schon aus den Mitthei¬
lungen Witze l’s und Bios’ hervor, wo
die Gefahren der Narkose zu suchen sind,
der eine Autor hat Herzschwäche bei einer
Arteriosklerose, der andere Athmungsstö-
rungen und auch Herzschwäche gesehen.
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Gegenwart 1903. 209
Die Athmungsstörungen fasst Bios nur als
Morphinwirkung auf, ich glaube, sie dürften
zum Theil auch auf Scopolaminwirkung
zurückzuführen sein.
Die üblen Zufälle einer jeden Narkose
beruhen ja auf einer Schädigung der Ath-
mung oder der Circulation oder beider.
Auch bei der Schneiderlin-Korffsehen
Narkose ist dies der springende Punkt.
Die Gefahren derselben sollen nach den
bisherigen Erfahrungen und experimentellen
Untersuchungen kurz skizzirt werden:
1. Die Hauptgefahr ist die Verschieden¬
heit in der Wirkung bei den verschiedenen
Individuen. So sind Neurastheniker und
hysterische Personen besonders empfind¬
lich gegen Scopolamin. Dann sind auch
eine Anzahl anderer, sonst ganz gesunder
Personen mit einer gewissen Idiosynkrasie
gegen das genannte Alkaloid belastet,
ebenso wie gegen Morphin. So kann es
kommen, dass verhältnissmässig geringe
Dosen des Scopolamins schon ernsthafte
Störungen der Circulation und Respiration
hervorrufen können.
2. Immerhin sind auch die Gaben, welche
von Scopolamin und Morphin gereicht
werden, garnicht so gering, betragen sie
doch bis zu 5,0 mg Scopolamin und 0,03 g
Morphin. Von einem gesunden Individuum
werden, wie die vorgekommenen Intoxica-
tionen und die experimentellen Arbeiten
zeigen, selbst ganz enorme Dosen von
Scopolamin vertragen. Aber die bisherigen
Erfahrungen (die beiden vorgekommenen
Todesfälle und einer meiner Versuche*)
lehren wohl, dass kranke Individuen hef¬
tiger auf Scopolamin reagiren als kräftige,
gesunde. Auch Bios sagt, dass Greise und
Kinder oder auch kachectische Patienten
schneller durch Scopolamin-Morphin in
Narkose zu versetzen seien als normale.
Dass eventuelle Schädigungen, von welchen
sich kräftige, gesunde Personen ohne wei¬
teres erholen, bei krankem Organismus zu
einer dauernden werden und zum Tode
führen können, ist ohne weiteres begreiflich.
Ein an Arteriosklerose und mithin an Myo-
carditis leidender Patient wird eine starke
Blutdrucksenkung, welche nach meiner An¬
sicht auf einer Schädigung des excitomo-
torischen Apparates des Herzens beruht,
eventuell nicht überstehen können. Das
Herz hält die neue Schädigung nicht aus,
"■) Ein an Staupe erkrankt gewesener Hund, der
auf einem Auge erblindet war und cerebrale Reiz¬
erscheinungen zeigte, ging auf 0,1 g Scopolaminum
hydrobromicum an Athmungslähmung zu Grunde,
während die anderen Versuchshunde selbst durch
1,5 g des Alkaloids nicht getötet wurden!
27
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
210
Mai
Die Therapie der
es versagt den Dienst. Der Tod durch
Herzcollaps nach der Schneiderlin-
Korff sehen Narcose (in der Witzefschen
Klinik) könnte auf diese Weise ziemlich
zwanglos erklärt werden.
Im anderen Falle, wenn ein Patient
schon vorher eine bedenkliche Lungenaffec-
tion hat, wird er bei einer Schädigung der
Athmung oder Circulation ebenfalls leicht
zu Grunde gehen. Und Scopolamin kann
eine Athmungs- und Circulationsschädi-
gung hervorrufen! Hierauf dürfte der von
Bios mitgetheilte Todesfall beruhen.
Ich will nicht bestreiten, dass bei Chloro¬
form und Aether ähnliche Schädigungen
vorliegen, und ich glaube, wie ich schon er¬
wähnte, dass die Todesfälle ebenso gut
bei Chloroform- und Aethernarkose hätten
Vorkommen können, aber es besteht nach
dem Gesagten kein Vorzug der Schnei¬
derlin-Korff’schen Narkose.
3. Eine weitere Gefahr scheint mir in
der Applicationsart der Scopolamin-
Morphinnarkose zu beruhen. Ich glaube
jede Injectionsnarkose hat gegenüber der
Inhalationsnarkose Nachtheile. Es ist z. B.
trotz Probedosis nicht immer ersichtlich,
ob der Patient nicht bei der nächsten In-
jection seine Idiosynkrasie zeigen wird;
oder ob nicht bei der dritten Injection,
vielleicht durch Cumulation eine Störung
eintreten werde. Zeigt sich aber etwas
derartiges, so ist das einmal applicirte
Narcoticum nicht mehr aus dem Organis¬
mus zu entfernen, sondern wird vollkommen
resorbirt. Bei der Inhalationsnarkose kann
durch Fortlassen des Narcoticums mittelst
weniger Athemzüge der Aether und das
Chloroform aus dem Körper entfernt
werden.
Aus alle diesem gehen die Folgerungen
hervor, dass dieSchneiderlin-Korff’sehe
Narkose mindestens nur bei sehr streng
ausgewählten Fällen angewandt werden
dürfte und empfehlenswerth sei. Die In-
dication müsste so formulirt werden: Die
Schneiderlin - Korff sehe Narkose ist
nur bei Personen in gutem Ernährungs¬
zustand, mit gesundem Herzen und ge¬
sunden Respirationsorganen, die weder
hysterische noch neurasthenische Symptome
zeigen, anzuwenden.
Bei einem solch engbegrenzten Kreis
könnte mit dieser Narkose Gutes geleistet
werden. Doch trotz mancher unbestreit¬
baren Vortheile, weicheich schon gebührend
gewürdigt habe, wird sich diese Narkose
nicht in die allgemeine Praxis einbürgein.
Mindestens ein bis zwei Stunden alles in
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Gegenwart 1903.
allem dürften verstreichen, ehe Narkose
oder wenigstens Analgesie eingetreten ist
Diesen Nachtheil ebenso wie den von Bios
schon beobachteten, dass trotz Analgesie
keine vollkommene Erschlaffung der Muskeln
eintrete, hatte ich bisher noch nicht er¬
wähnt; aber aus diesen beiden Thatsachen
ergiebt sich ersichtlich, dass die Indication
für die Schneiderlin - Korff sehe Nar¬
kose noch enger gezogen werden muss als
wir es bisher schon gethan haben. Handelt
es sich um einen sofortigen Eingriff, z. B.
in der Geburtshülfe, oder bedarf man, wie
zum Beispiel bei der Reposition mancher
Luxation, völlige Muskelentspannung, so
ist die Schneiderlin-Korff sehe Nar¬
kose nicht anwendbar.
Aus diesen Gründen sieht man wohl
am besten von der reinen Schneiderlin-
Korff sehen Narkose ab; in welcher
zweifelsohne (wie Korff sagt), ein guter
Kern steckt. Es war immerhin ein glück¬
licher Gedanke, das Scopolamin mit dem
Morphin combinirt als Narcoticum in die
Chirurgie einzuführen. Ich habe mich über¬
zeugt, dass durch Combination dieser bei¬
den chemischen Körper Wirkungen er¬
zielt werden können, welche jedes Alka¬
loid allein nicht zu erzielen im Stande ist.
Durch Versuche an zwei Hunden habe ich
festgestellt, dass 0,01 Morphin ausser einer
gewissen Benommenheit keine anderen Er¬
scheinungen hervorrufe, und dass 0,0005 g
Scopolaminum hydrobromicum allein sub-
cutan applicirt nur kurz dauernden Schlaf
ohne Analgesie hervorrufe. Wenn man
aber diese beiden Gaben mit einander ver¬
einigt, trat bei dem einen Hunde immer
ein tiefer Schlaf mit vollkommener Anal¬
gesie, bei dem anderen Hund Schlaf mit
bedeutender Herabsetzung der Schmerz¬
empfindung auf (individuell verschiedene
Wirkung des Scopolamins bei gleich
schweren Hunden). Und dieser Zustand
hielt in meinen Versuchen ungefähr fünf
Stunden an. Auch am nächsten Tage be¬
stand noch erhöhtes Schlafbedürfniss der
Thiere. Es tritt hier bei dieser Combination
ungefähr dasselbe ein, was Honigmann 34 )
von der Combination von Chloroform und
Aether zahlenmässig nachweisen konnte,
nämlich, dass wenn m % Chloroformdämpfe
der Inspirationsluft des Patienten beigemischt
sein müssen, um eine Narkose zu erzielen,
oder n % Aetherdämpfe, bei einer Mischung
dieser beiden nicht ~ % Chloroform 4 -
2 % Aetherdämpfe in der Inspirationsluft
vorhanden sein müssen, sondern schon
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
211
}lai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
m 10 °/o Chloroformdämpfe + ^°/ 0 Aether-
dämpfe genügen, um den gleichen Effect
zu erzielen. Aehnlich scheint es sich hier
zu verhalten. Trotz dieses Vorzugs der
Morphin-Scopolamincombination halte ich
eine allgemeine tiefe Narkose damit nicht
für opportun, was ich ausführlich zu be¬
gründen versucht habe. Aber dieser Vor¬
zug derMorphin-Scopolaminmischung weist |
beinahe gebieterisch darauf hin, dieselbe j
in Verbindung mit der Inhalations- j
narkose anzuwenden, wie es Korff schon
gethan hat, oder auch diese Injection von
M. -h Scop. der Operation vorauszuschicken,
welche unter Schleich’scher Infiltrations¬
anästhesie vorgenommen werden soll.
Nach meinen Thierversuchen würde eine
Injection von Morphin, hydrochlor. 0,01 g
+ Scopolamin. hydrobromic. 0,0005 g Va
Stunde vor Beginn der Narkose oder Be- I
ginn der Infiltrationsanästhesie vollkommen !
genügen.
Als allgemeine Narkose würde wohl
wegen der geringeren Gefahr die Aether-
narkose zu empfehlen sein, deren lästige
Nebenerscheinungen, die übermässige
Schleimsecretion, infolge der Lähmung der¬
selben durch Scopolamin vermieden werden.
Die Vortheile einer solchen combinirten
Narkose dürfte die Beruhigung der Pa¬
tienten vor der Operation, die leichte Nar-
kotisirbarkeit der Kranken mit Aether, das
kurze Excitationsstadium, der geringe
Aetherverbrauch und der lange anhaltende
Schlaf nach der Operation, ferner schliess¬
lich die Secretionsbeschränkung während j
und nach der Operation sein.
Eine Schädigung der Athmung und der
Circulation dürfte bei den geringen, oben |
angegebenen Dosen des Scopolamins und I
Morphins selbst bei empfindlichen Patienten !
(Idiosynkrasie. Alter, Ernährungszustand) ,
kaum zu befürchten sein. j
Litteratur. !
1) B. Korff, Die Narkose des Herrn Dr. J
Schneiderlin. Münchn. med. Wochenschrift |
1901, No. 29. S. 1169. B. Korff, Morphin- i
Scopolamin-Narkose. Münchn. med. Wochen- 1
schrift 1902. No. 27. S. 1133. Zur Morphin- j
Scopolamin-Narkose. Münchn. med. Wochen¬
schrift 1902, No. 33. S. 1408. — 2) E. Bios,
lieber die Schnciderlinsche Scopolamin-Mor¬
phiumnarkose. Beiträge zur klinischen Chirurgie
1902. S. 565. — 3) R. Ernst, zur Frage über I
die Wirkung des bromwasserstoffsauren Sco¬
polamins. Inaugural-Dissertat. Dorpat 1893. —■
4) A. Sohrt, Pharmacotherapeutische Studien
über das Hyoscin. Inaugural-Dissertation. Dorpat.
1886. — 5) O. Walter, Experimentelle und
klinische Beobachtungen über die Wirkung des
llyoscins in der Augenheilkunde. Inaugural-
Dissertation. Dorpat. 1887. — 6) W. Githgens,
Recovery from four fifths of a grain of Hyo-
scine. The Therap. Gazette 1887. — 7) Adler,
ein Fall schwerer Hvoscinvergiftung. Berl.
klin. Wochenschrift 1891. — 8) H. Wood, Hy-
oscine its physiological and therapeutic action.
The Therap. Gazette 1885. Note on Hydro-
bromatc of Hyoscine. The Therap. Gazette
1885. — 9) Ostermayer, lieber die sedative
und hypnotische Wirkung des Atropin und
Duboisin. Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie
1891. — 10) Bumke, Paraldehyd und Sco¬
polamin (Hyoscin) als Schlaf- und Beruhigungs¬
mittel für körperlich und geistig Kranke.
Münchn. med. Wochenschrift 1902. No. 47. —
11) Erb, über Hyoscin. Therap. Monatshefte
1887. — 12) Fr. Buddee, Zur Würdigung der
Wirkungsweise des Hyoscins am Krankenbett.
Inaugural-Dissertation. Berlin 1888. — 13)
Edlefsen und Illing, Heber die therapeutische
Verwendung des Hyoscinum, hydrochloricum
und hydrojodicum. Centralblatt für die med.
•Wissenschaften 1881. — 14) Th. Claussen,
Die Wirkungen des Hyoscinum hydrojodicum
und hydrobromicum im Vergleiche mit denen
des Atropins und des Extractum Hyoscyami.
Inaugural-Dissertation. Kiel 1883. — 15) L.
Fraentzel, lieber die Wirkungen des Hyoscins
gegen die Nachtschweisse der Phthisiker.
Charite-Annalen 1883. — 16) W. Blasius,
lieber die Wirkung des Hyoscinum hydrojodi¬
cum gegen die Nachtschweisse der Phthisiker.
Inaugural-Dissertat. Bonn 1886 — 17) Hirsch¬
berg, Anwendung des Hyoscins in der Augen¬
heilkunde. Centralblatt fürprakt. Augenheilkunde
1881. — 18) Emmert, Anwendung des Hyo¬
scins in der Augenheilkunde. Centralblatt für
prakt. Augenheilkunde 1882.— 19)Raehlmann,
lieber die Anwendung eines neuen Mydria-
ticum, des Scopolamins in der ophthalmolo-
gi sehen Praxis. Wiener medezin. Wochen¬
schrift XL. IV, 20. 1894. — 20) L. Illig, Bei¬
trag zur Kenntniss der Wirkungen des Sco-
polaminum hydrobromicum. Münchn. med.
Wochenschrift 1895 No. 33. — 21) H. Schultz,
Die älteren und neueren Mydriatica, Miotica und
Anaesthetica in der Augenheilkunde. Archiv
für Augenheilkunde. Bd. 40. 1900. — 22)
Schneidcrlin, Eine neue Narkose Aerztlichc
Mittheilungen aus und für Baden 1900. No. 10. —
23) O. Witzei, Wie sollen wir narkotisiren?
Münchn. med. Wochenschrift 1902. No. 48. —
24) F. Honigmann, Ueber Mischnarkosen.
Archiv für klinische Chirurgie. Heft 58.
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27*
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
212
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mai
Ueber die symptomatische Behandlung raumbeengender
Qehirnkrankheiten.
Von D. Heinr. di Gaspero, Graz.
Die wichtigste Frage bei der Radical-
behandlung einer Krankheit, die Indicatio
raorbi causalis, fällt bei raumbeengenden
Hirnkrankheiten mit Hirndrucksymptomen
fast ausschliesslich in das Capitel der Hirn¬
chirurgie. —
Die wenigen Fälle, wo bei specifischen
Proliferations- bezw. Exsudationsprocessen
durch Einleitung der causal indicirten Be¬
handlungsweise Heilung brachte (z. B. Lues,
Tuberkulose) oder wo die glückliche Punction
einer Echinococcusblase oder ein glücklich
operirter Oberflächentumor alle Krankheits¬
erscheinungen dauernd zum Schwinden
brachte, sprechen als Ausnahme nur für
diese Regel. Das Eine kann hier aus¬
gesagt werden, dass schon die Schwierig¬
keit in der Diagnostik und noch mehr in
der Topik, ferner die oft unüberwindlichen
technischen Schwierigkeiten und die Ge¬
fahr ernster Complicationen die radical
operative Therapie zu einer ausserordent¬
lich preeären, in gegebenen Fällen sogar
zu einer unmöglichen macht.
Diese Erfahrungssätze nöthigen uns zur
Ausgestaltung der symptomatischen Be¬
handlungsweise behufs einer rationellen
einschlägigen Praxis am Krankenbette.
Es müssen zu diesem Zwecke die
praktisch-empirisch bewährten ärztlichen
Erfahrungen herangezogen und durch eine
wissenschaftliche approbirte Grundlage ge¬
stützt werden.
Die Ansicht vieler Autoren, dass einer
energischen Jodcur bei Tumoren ein cau-
saler Heilwerth zukomme, ist vielleicht
etwas übertrieben; die sehr spärlichen
Fälle in der Literatur, nach welchen bei
innerlichem Gebrauche hoher Jodsalzdosen
Neoplasmen etc. zum Schwinden gebracht
würden (Wernicke, Baginsky) können
nicht als Beweis für eine causale Jod¬
wirkung hingestellt werden. In den weit¬
aus meisten Fällen hatte die Jodtherapie
keinen nennenswerthen Effect; zu versuchen
ist diese Therapie jedoch in allen Fällen,
wobei die Erscheinungen des acuten bezw.
constitutionellen Jodismus in Kauf zu
nehmen sind. — Dies eine kann der Jod¬
therapie zugesprochen werden, dass sie
regressive Metamorphosen und die Re¬
sorption derselben befördern kann, also
als Resorptionscur immerhin Ansehen ver¬
dient.
Am Krankenbette eines an einer raum¬
beengenden Hirnkrankheit Leidenden er¬
heischen in erster Linie die diffusen Er¬
scheinungen des manifesten Hirndruckes,
die entsprechende Behandlung. Darunter
ist zu verstehen: Kopfschmerz, Erbrechen,.
Benommenheit, Unruhe, Schlaflosigkeit,
Schwindelgefühl, Krämpfe, Verschlechte¬
rung des Sehvermögens, Respirations¬
störungen etc. — Die genaue Prüfung der
Herzaction, der Pulsqualität, der Carotiden-
spannung und des Blutdruckes giebt hier
in der Regel den Schlüssel zur Therapie. —
Es ist vor allem der Gefahr zu be¬
gegnen, dass die Correlation zwischen
Hirndruck und Blutdruck in den Hirn¬
arterien bezw. Capillaren sich zu Ungunsten,
der letzteren gestaltet. —
Es darf unter keinen Umständen der
Hirndruck den Blutdruck erreichen oder
gar übersteigen. — Es ist nämlich bekannt,,
dass Hirncompression, oder besser gesagt
erhöhter Hirndruck, lange Zeit hindurch
ohne wesentliche Störungen der physio-
i logischen Function und ohne schwerere
subjective Beschwerden gut vertragen wird
(Naunyn, Schreiber, Falkenheim„
Kocher u. A.), wenn der Blutdruck im
Gehirne ein entsprechend hoher und an¬
dauernd hoher ist, dass erst bei erheb¬
lichen Blutdruckschwankungen bezw. Sinke»
desselben oft wie mit einem Schlage alle
objectiven und subjectiven Erscheinungen
des manifesten Hirndruckes in die Er¬
scheinung bringt, sogar rasch tödlich
wirken kann. — Die Erfahrung am Kran¬
kenbette bestätigt dies vollauf, indem in
der Regel, wenn die beschriebenen Sym¬
ptome paroxysmal auftreten, die Herzkraft.
darniederliegt und der Blutdruck (Tono¬
metermessung) sich in unternormale»
Grenzen bewegt.
Die Gesichtspunkte für die Einleitung"
der Therapie sind also: Herabsetzung des
intracerebralen Druckes, Erhöhung des Blut¬
druckes, des Gefässtonus und der Vis a
tergo.
Man muss also Excitantien verabreichen,
Cardiotonica und Vasoconstringentia. —
In dieser Hinsicht wirkt am besten die
Digitalis und das Nebennierenextract; —
Digitalis entweder als Infus, als Tinctur,
oder subcutan als Digitoxin; Nebennieren¬
extract am geeignetsten stets subcutan als-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
.Mai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
213
Extractum fluidum suprarenale haemostat.
(Merck) in 10% Lösung. —
Es genügt unter Umständen nicht allein
<iie Anregung der Herzkraft durch Digitalis
und dadurch bedingte Erhöhung des
Aortendruckes, es muss auch das Vaso-
motorencentrum angeregt, die Arterien
spastisch verengert werden. Spastisch
verengerte, contrahirte Arterien bewirken
*ine Herabsetzung des Hirndruckes,
schaffen durch ihre Zusammenziehung ein
kleineres Volumen, also mehr Raum für
-das Gehirngewebe und bringen günstigere
Blutströmungs-, somit bessere Ernäh¬
rungsverhältnisse in den Hirncapillaren
zuwege. — Es wird dadurch das wichtigste
Postulat der Therapie erreicht: Herab¬
setzung des Hirndruckes, Versorgung mit
frischem Blut, rasche Entfernung der Ab¬
fuhrstoffe, Vermeidung einer venösen
Stase. — Es werden dadurch die
schweren drohenden Reiz- und Läh-
mungserscheinungen nach Thunlichkeit
verhindert.
Alle diese therapeutischen Aufgaben
vermag das Nebennierenextract, das Vaso-
constringens zaf zu erfüllen (Biedl,
Reiner, Spina u. A.). Ausser diesen
positiven Maassnahmen muss Alles ver¬
mieden werden, was eine Herabsetzung
des Blutdruckes und der Gefässspannung
bewirken, ausserdem eine Schädigung des
Herzmuskels etwa im Sinne fettiger oder
parenchymatös degenerativer Vorgänge zur
Folge haben könnte. — Es ist demnach
in paroxysmalen Himdruckzuständen die
Verabreichung von Chloralhydrat und
dessen Derivaten, sowie von Morphin z. B.
zum Bekämpfen von Unruhe, Schlaflosig¬
keit, Krämpfen, Kopfschmerz u. s. w. als
contraindiciert anzusehen und zu vermei¬
den, ausserdem eine Venaesection unter
allen Umständen zu unterlassen. — Bei
schlafbringenden und krampfstillenden
Chloraldosen wurde ein rasches und be¬
trächtliches Sinken des Hirnarteriendruckes
beobachtet (Bechterew - Laboratorium),
bei entsprechenden Morphindosen Er¬
schlaffung der Hirnarterien-Gefässwand,
Blutstauung und Steigerung des intracra-
niellen Druckes. — Choral lähmt in
grösseren Dosen das Grosshirn, und haupt¬
sächlich das für die Aufrechterhaltung der
wichtigsten physiologischen Körperfunctio¬
nen so wichtige Spiel der Reflexvorgänge
(Vasomotorencentrum).
Abschwächungen der Reflexvorgänge
können speciell bei Hirntumoren und ana¬
logen Processen unmittelbar todbringend
werden.
Da es eine bemerkenswerthe — und
durch eigene Beobachtungen auch mehr¬
fach bestätigte — Erscheinung ist, dass
die Hirndrucksymptome besonders Nachts,
gegen die Morgenstunden zu spontan exa-
cerbiren und oftmals gefährliche Wen¬
dungen annehmen, rasch eintretende Col-
lapszustände, sogar plötzlichen Exitus zur
Folge haben können — was wahrscheinlich
mit physiologischen Druckschwankungen
zusammenhängt — muss man bei der Ver¬
abreichung von Schlafmitteln überhaupt
vorsichtig sein, besonders in Fällen, wo
souveräne Hypnotica indicirt erscheinen. —
Eine principielle Vermeidung von Schlaf¬
mitteln wäre jedoch gewiss nicht am Platze.
Nach den bisherigen Resultaten ist das
Paraldehyd und das Amylenhydrat,
ausserdem das Trional und das Codein
zu versuchen. — Die beiden ersten Mittel,
die sich durch ihre rasche Resorbirbarkeit
und Ausscheidung und relative Ungefähr¬
lichkeit auszeichnen, können auch in höhe¬
ren Dosen angewendet werden, dann aber
mit einigen Tropfen Digitalistinctur com-
binirt, das Trional und das Codeln am
besten mit CoffeYn combinirt in den ge¬
wöhnlichen Gaben.
Brom salze versprechen nach dieser
Hinsicht nicht viel; in grösseren Dosen,
etwa von 3 g an, ist das Brom speciell
am Abend nicht angezeigt wegen der
Herabsetzung der Reflexerregbarkeit und
„ Bromanämie Ä der Hirngefässe, wiewohl es
gegen motorische Krampfzustände, Convul-
sionen, Rindenepilepsieanfälle wieder am
Platze ist.
Von den anderen in Betracht kommen¬
den Medicamenten ist das Antipyrin,
Antifebrin und Phenacetin hervorzu¬
heben.
Besonders dem Antipyrin und seinen
Verbindungen bezw. Derivaten, dem Anti-
pyr. coffeYno-citric., dem Pyramidon u. s. w.,
wegen der in der Regel günstigen und
raschen Wirkungsweise das Wort zu
sprechen. — Sie beeinflussen wirksam den
Kopfschmerz, die neuralgiformen Schmer¬
zen, Nackenschmerzen, die Schwindel¬
attacken, ja selbst das Erbrechen. Diese
Präparate haben bekanntlich eine günstig
erregende Wirkung auf die Medulla oblon-
gata und bedingen Steigerung des Blut¬
druckes. In besonders hartnäckigen Fällen
mit Vorwiegen der subjectiven Symptome
leistet eine Combination von Antipyr. coff.-
citr. mit Heroin oft gute Dienste, welch’
letzteres Opiat als ein vorzüglicher Ersatz
fllr das Morphin angesprochen werden
kann.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
214
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mai
Was die Venaesectio bei allgemeinen
Convulsionen oder tonischer Körperstarre
mit Sopor anbelangt, kann ich die Ansicht
einiger Autoren nicht theilen; denn in den
wenigen Fällen, wo ich die Venaesectio
nach der Vorschrift dieser Autoren an¬
wandte, sah ich kein ermunterndes Resultat,
einmal hingegen einen schweren Collaps
mit Sistiren der Athmung, was erst nach
einer einstündigen künstlichen Athmung
behoben wurde. — Die vielfach gerühmte
Wirkung der localen Blutentziehungen
(Schröpfköpfe etc.), die jedenfalls die
Stockung des venösen Abflusses im Gehirn
und dessen Hüllen bekämpfen sollen, kann
durch eine kräftige Halsmassage, durch
thermische und medicamentöse Hautreize,
durch Ableitung auf den Darm und durch
Anregung tiefer Inspirationen vollauf er¬
setzt werden. — Am ehesten kann bei tem¬
porären Amaurosen (Stauungspapille!)
oder rapider Verschlechterung des Sehver¬
mögens die Application von trockenen
Schröpfköpfen (Augenwinkel, Schläfe,
Warzenfortsatz, Emissaria Santorini) in
Anwendung kommen.
Nach diesen Erörterungen, welche die
Fragen der Erhaltung bezw. Erhöhung des
Blutdruckes und der Gefässspannung be¬
langen, muss noch die erste und eigentlich
näherstehende Frage der Druckentlast¬
ung des Gehirnes ventilirt werden, zumal
diese dem causal-therapeutischen Interesse
am nächsten kommt.
Ausgehend von der bekannten That-
sache, dass ein manifester Hirndruck in
der Mehrzahl der Fälle — oftmals einzig
und allein — durch vermehrten Hirn¬
liquor bedingt ist, muss hinsichtlich der
Therapie stets darauf geachtet werden, die
Hirnliquormenge zu verringern (Quincke,
Krönig, Fürbringer, Lenhartz, Boen-
ninghaus, Kocher u. v. A.). Die Wege
sind verschiedener Art; es ist zuerst immer
der Versuch zu machen, die physiologischen,
automatisch fungirenden Regulatoren und
Compensationsvorrichtungen zu beheben,
darunter in erster Linie den Abfluss des
überschüssigen Liquors in die Hirnvenen,
Sinusse, Diploövenen zu verstärken. Ander¬
seits ist die Quincke’sehe Lumbalpunction
als symptomatisch • palliative Behandlung
vorzunehmen. Die Meinungen über den
therapeutischen Werth derselben sind ver¬
schieden, z. Th. widersprechend. Wenn
auch in einigen Fällen üble Folgezustände,
sogar rascher letaler Ausgang gemeldet
werden (Fürbringer, Lichtheim, Krö¬
nig, Stadelmann, Wilms etc.), sind
andererseits weitgehende temporäre Linde-
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rungen, sogar entscheidende Wendungen
zu günstigem Verlaufe verzeichnet (z. B.
v. Ziemssen).
In manchen Fällen sogar, wo die Ursache
des Hirndruckes in abnormer Vermehrung
des Hirnliquors allein lag, bedingt durch
seröses Exsudat, hämorrhag. Extravasat,
Stauungstranssudat z. B. Meningitis serosa
acuta, (Boenninghaus), wirkte die Lum¬
balpunction sogar lebensrettend und führte
oftmals rapide Heilung für immer herbei
(eigene Beobachtung). — Für die benignen
Formen (Boenninghaus) der Meningitis
serosa acuta ext. und int. ist die Lumbal¬
punction daher Indicatio morbi, sie kann
aber auch bei der Meningo-Encephalitis
serosa als palliativer Eingriff von Werth
sein. Trotzdem wir in der Lumbalpunction
eine symptomatische Behandlungsform von
unzweifelhaft hohem Werthe besitzen, ist
sie immerhin als ein ernster Eingriff anzu¬
sehen, der nur bei gegebener Indication
angewendet werden soll, besonders dann*
wenn die übrigen therapeutischen Behelfe
sich als unzulänglich erweisen und rasche
Hilfe nöthig erscheint. Doch abgesehen
davon, dass die Lumbalpunction nicht
selten gänzlich im Stiche lässt, indem kein
Tropfen Liquor abfliesst, kann sie von
sehr unangenehmen Folgen begleitet sein*
wobei ausser dem schon erwähnten un¬
glücklichen letalen Ausgang noch Blutungen
in den Duralsack und Caudaverletzungen
gemeint sind.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass bei
hoher Druckspannung in den Ventrikeln
und Abschluss derselben nach forcirtem
Ablassen des äusserlichen, frei abfliess¬
baren, dem Ventrikeldruck Gegendruck
haltenden Liquors das Kleinhirn mit der
Medulla oblongata in das Foramen occipi-
tale stark eingepresst werden kann, was
sofortige Respirationslähmung bedingen
würde.
Durch die rasche Druckentlastung in
den Hirnkammern bei forcirtem Abfliessen
der Ventrikel fl üssigkeit kann es ferner zu
einem Durchbruch in die geleerten Ventrikel
hinein kommen, weil hier ein Locus mi-
noris resistentiae geschaffen wurde. — Be¬
steht ein Verdacht auf ein intracranielles
Aneurysma oder besteht abnorme Brüchig¬
keit der Gefässwandungen, so durch Ar¬
teriosklerose oder bei hämorrhagischer
Diathese, so ist wegen der hohen Ruptur¬
gefahr die Lumbalpunction zu unterlassen
(Oppenheim).
Aspiration bei der Lumbalpunction
ist unbedingt in allen Fällen zu ver¬
meiden.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
215
Es erübrigt noch, zwei andere Palliativ¬
operationen zu besprechen, welchen als
druckentlastende Eingriffe bei raumbeengen¬
den Gehirnprocessen eine symptomatisch-
therapeutische Wichtigkeit zukommt, näm¬
lich die palliative Eröffnung des
Schädels — die Trepanation — und die
Ventrikelpunction nach vorausgegange- ,
ner Trepanation.
Indicirt ist die palliative Trepanation,
sobald das Bestehen eines progressiven
Proliferationsprocesses — Tumors — mit
rapidem Wachsthum evident geworden ist,
sobald der Kranke objectiv rasch ad pejus
geht und sobald schwere subjective, durch
kein anderes Mittel, selbst nicht durch die
Lumbalpunction zu lindernde Beschwerden
vorherrschend sind. Dieser Eingriff kommt
besonders bei Neoplasmen zu seinem Rechte
(Henschen, Sahli, Bruns, Bergmann
u. A.). Es vermag diese Operation — ob¬
wohl nur eine palliative — bei unausschäl-
baren, das Hirngewebe infiltrirend durch¬
wuchernden Neoplasmen, oder bei mul¬
tiplen Tumoren durch Setzung eines per¬
manenten Druckventiles nachgewiesener-
maassen die Lebensdauer der betroffenen
Menschen erheblich — selbst um Jahres¬
frist — zu verlängern und denselben ein
halbwegs erträgliches Dasein zu gewähren.
— Selbstverständlich ist dieser Eingriff
stets ein zweischneidiges Schwert und die
gemachten statistischen Zahlen sprechen
zu gleichen Theilen von Erfolg und Miss¬
erfolg.
Die Trepanation soll am Besten stets
Ober den sogenannten „stummen Hirn-
theilen“ ausgeführt werden, ausser wenn j
gewisse Symptomencomplexe — z.B. Jack- i
son’s Epilepsie — einen ganz bestimmten j
Ort des Eingrifts indiciren. Die Dura soll
womöglich intact gelassen, eine darunter
liegende Cyste oder ein Hämatom durch
Punction entleert werden. — Die Ge¬
fahr, dass an der Trepanationsöffnung
durch den gesetzten Locus minoris resi-
stentiae ein Hirnprolaps oder eine Blut¬
geschwulst oder irgend eine andere Com-
plication entstehen könne, ist immer vor
Augen zu halten.
ln den nicht so seltenen Fällen, wo ein
abgeschlossener progressiver Ven-
trikelhydrops vorliegt, entweder idio¬
pathisch entstanden durch eine Meningitis
serosa acuta interna mit automatischem
Verschlüsse oder secundär z. B. nach einem
Tumor des Oberwurmes, Obliteration des
Aquaeductus Sylvii u.s.w., wobei die Druck¬
erscheinungen grösstentheils dem Ventrikel-
hydrops zugeschrieben werden müssen, ist
die Ventrikelpunction nach Trepanation
vorzuschlagen (Beck, Henschen, Schil-
ling, Robson, Hahn u. A.). — Indicirt
ist die Trepanopunction bei progressiver
Steigerung des Ventrikeldruckes mit unauf¬
haltsamer Zunahme derHirndrucksymptome,
so Sopor, Krämpfe, excessiven subjectiven
Beschwerden und weitgehenden Störungen
der Elementarfunctionen des Gehirns —
bei Verschluss der Ventrikel. In solchen
electiven Zuständen bietet die Trepano¬
punction günstige Chancen und ist bei allen
nöthigen Cautelen eine fast ungefährliche
Operation. — Auch hier ist Aspiration
verpönt.
Dass als unterstützende Therapie hier
Diurese, Diaphorese, resorbirende Medi-
cation (Jodpräparate — Jodvasogen, Jod-
eisensyrup, Jodipin etc., Hydrargyrumprä-
parate) und Application äusserer Reizmittel
in Betracht gezogen werden kann, braucht
nicht eigens bemerkt zu werden.
Bei Zusammenfassung des Vorliegenden
muss noch betont werden, dass in den
einzelnen Erkrankungsfällen immer der
Charakter der klinischen Symptome, die
Schwere und der Verlauf der Krankheit
dem Arzte die entsprechenden therapeuti¬
schen Maassnahmen dictiren muss, und
dass für die mannichfaltigen Arten der in-
tracraniellen Processe, die Hirndrucksym¬
ptome zur Folge haben, stets der nach
Indication und Contraindication zweck-
mässigste Eingriff in Frage kommen soll.
Wenn bisher die Behandlungsweise der
allgemeinen Symptome des manifesten Hirn¬
drucks zwischen dessen Beginn und dessen
Höhepunkte erörtert wurde, bedarf es der
Vollständigkeit halber noch die Therapie
der allgemeinen Erscheinungen des latenten,
noch compensirbaren Hirndrucks kurz zu
streifen.
Hier liegt das Hauptgewicht in einer
genau geregelten und genau einzuhaltenden
körperlichen und geistigen Diät, in Zufuhr
I reizloser, roborirender Kost, tonisirender
Mittel, in Sorge für reichliche Darm¬
entleerungen, für Schlaf, in Vermeidung
aller Gemüthsbewegungen, Erregungen,
Affectzuständen und Excedirungen, sowie
in Vermeidung jeglicher körperlichen sowie
geistigen Anstrengung. Die Cur soll den
Charakter einer direct vorbeugenden
tragen.
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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
216
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Beitrag zur Behandlung der veralteten traumatischen
Luxation der Hüfte.
Von Dr. W. Klink-Berlin.
Bei der heute allgemein üblichen anato¬
misch-physiologischen Repositionsmethode
der Luxationen bietet auch die Reposition
einer Luxatio iliaca femoris im Allgemeinen
keine Schwierigkeit, wenn der Verletzte
bald in Behandlung kommt, namentlich da
uns ja die Narkose als unschätzbares Hülfs-
mittel zur Verfügung steht. Erschwert, ja
unmöglich gemacht, wird in manchen Fällen
die Reposition durch Complicationen, wie
gleichzeitige Fracturen der betheiligten
Knochen, Zwischenlagerung von Kapsel-
theilen u. a. m. Die Prognose der frischen,
richtig behandelten Luxation des Ober¬
schenkels ist im Ganzen auch günstig, in¬
sofern das Bein meist wieder ganz ge¬
brauchsfähig wird.
Ganz anders verhält sich eine veraltete
Luxation des Oberschenkelkopfes nach
hinten ; und diese Veraltung tritt sehr bald
ein, meist schon nach einigen Wochen.
Allerdings soll in einigen Fällen die Repo¬
sition noch nach Jahren gelungen sein,
doch sind das seltene Ausnahmen. Der
Schenkelkopf bildet an seinem neuen Platze
eine Nearthrose und zwar eine solche von
oft sehr vollkommener Art. Trotzdem bildet
die ungünstige Stellung des verkürzten und
einwärts gerollten Beines ein grosses Hinder¬
niss beim Gehen. Die Verkürzung wird
noch dadurch verschlimmert, dass das luxirte
Bein bei jungen Individuen im Wachsthum
zurückbleibt; auch wird es bald in Folge
der schnell eintretenden Atrophie schwächer,
als das gesunde Bein. Dazu kommen dann
noch bisweilen Innervationsstörungen und
heftige Schmerzen durch Druck des luxirten
Schenkelkopfes auf den N. ischiadicus. Die
Kranken % müssen sich meist einer Krücke
oder eines Stockes bedienen. In Folge
dieser Momente sind sie in ihrer Erwerbs¬
fähigkeit stark herabgesetzt. Auch bietet
ein derartiges neues Gelenk mit seinen
pathologischen Bestandtheilen immer Ge¬
legenheit zur Entwicklung einer Arthritis
deformans mit ihren Beschwerden.
Selbstverständlich wird man in jedem
Fall von veralteter Luxation des Ober¬
schenkels, der in Behandlung kommt, zu¬
erst eine unblutige Reposition versuchen.
Führt dieselbe nicht zu dem gewünschten
Resultat, so wird man bei alten Leuten die
Beschwerden je nach der Beschaffenheit
des Falles zu lindern suchen; bei jüngeren
Personen aber wird man, unter Beobach-
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tung der strengsten Asepsis, auf blutigem
Wege möglichst normale Zustände herzu¬
stellen suchen.
Die Zahl der blutig behandelten Luxa¬
tionen des Oberschenkels ist erst klein, da
die Gefahren einer Eröffnung des Hüft¬
gelenks vor der Kenntniss der Anti- und
Asepsis zu gross waren. Immerhin be¬
rechtigt die Erfahrung, die in diesen wenigen
Fällen gesammelt wurde, die blutige Repo¬
sition in geeigneten Fällen zur Methode zu
erheben.
Da unter den bis jetzt blutig behan¬
delten Luxationen eine ganze Reihe von
„pathologischen Luxationen“ (der Ausdruck
ist schlecht, denn jede Luxation ist patho¬
logisch) nach Typhus, Scharlach, Variola,
Gelenkrheumatismus u. a. sich befindet und
dadurch die Zahl der traumatischen ver¬
alteten Luxationen, die auf diese Art be¬
handelt wurden, noch kleiner wird, so halte
ich mich für berechtigt, einen von mir ope-
rirten, einschlägigen Fall mitzutheilen, zu¬
mal bei demselben die Zeit zwischen Ver¬
letzung und Operation bedeutend länger
ist, als in den bisher bekannten Fällen.
Patientin ist eine Dienstmagd von 23
Jahren. Es besteht keine erbliche Be¬
lastung. Patientin ist nie schwer krank
gewesen. — Vor 4 Jahren fiel sie von einer
Leiter. Als sie wieder aufstehen wollte,
war ihr dies wegen grosser Schmerzen in
der linkep Hüfte unmöglich. Auf das linke
Bein konnte sie nicht auftreten. Es stellte
sich bald eine Schwellung der linken Hüfte
ein. Die sofort eingeleitete ärztliche Be¬
handlung bestand in Bettruhe und Streck¬
verband. Nach 6 Wochen musste sie wie¬
der arbeiten. Wegen heftiger Schmerzen
in der linken Hüfte konnte sie noch nicht
auf das linke Bein treten und benutzte
deshalb bis zum heutigen Tag eine Krücke.
Die Schmerzen in der Hüfte verschwanden
allmählich, aber es bestand eine grosse
Unsicherheit in der Hüfte beim Auftreten.
Seit einigen Monaten stellten sich auch
wieder Schmerzen beim Gehen und Stehen
ein, die von der Hinterseite des Hüftgelenks
bis in die Wade zogen, zeitweise sehr heftig
waren.
Als die Kranke in meine Behandlung
kam, bot sie folgenden Befund: Sehr fette,
kräftige, mittelgrosse Person. Innere Or¬
gane, Puls, Athmung, Psyche bieten nichts
Abnormes. Es besteht kein Fieber. Das
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UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mai
217
linke Bein ist dünner und kürzer, als das
rechte. Die genaueren Maasse sind fol¬
gende:
Rechts Links
cm cm
Entfernung von Spin. il. a. s.
bis Malleol. ext. . .
84
75
Umfang an Gesässfalte
67
66
„ 20 cm oberhalb
Patella.
der
55
54
Umfang 10 cm oberhalb
Patella.
der
44
42
Umfang an Patella . .
33
33
n an Wadendicke
31,5
31,5
„ oberhalb d. Knöchel
19
19
In Rückenlage der Kranken liegt das
linke Bein ohne jede Beugung oder Rota¬
tion oder sonstige pathologische Winkel¬
stellung auf der Unterlage. Durch Zug
lässt es sich ziemlich leicht auf die Länge
des rechten Beines bringen. Bei passivem
Auf- und Abschieben und Rotation des
linken Beines im Hüftgelenk, was sehr aus- |
giebig möglich ist, fühlt und hört man ein I
Krepitiren, wie wenn rauhe Knochen sich j
reiben. Wird das angezogene Bein los¬
gelassen, so schnellt es jedesmal in seine
verkürzte Stellung zurück. Bewegung des
Beines in der Hüfte, Druck auf den Tro¬
chanter oder Stoss gegen das Bein sind
nicht schmerzhaft. Die bedeckende Haut
ist unverändert. Spitze des Trochanter
major steht 3 Querfinger über der Roser-
Nelaton'schen Linie. Der Schenkelkopf ist
ausserhalb des Gelenkes nicht zu fühlen.
Die Untersuchung wird durch das unge¬
heure Fettpolster sehr erschwert. Bei Ro¬
tationen dreht sich der Oberschenkel um
einen sehr kleinen Radius, wie bei extra¬
kapsulärer Schenkelhalsfractur. Das linke
Bein wird activ bis zu 1300 (zur Wirbel¬
säule), passiv zu 1 R W. erhoben. Abduction
ist passiv bis zu 1100, Adduction zu 650
<zur Verbindung der Spinae iliacae) mög¬
lich. Das gesunde Bein kann bis zu 1350
abducirt werden. Innenrotation wie auf der
gesunden Seite, Aussenrotation weiter als j
rechts möglich, so dass die äussere Kante
des linken Fusses bei gestrecktem Knie
ohne Gewaltanwendung der Unterlage auf¬
zuliegen kommt. Patellarsehnen- und Fuss-
sohlenreflex links viel lebhafter als rechts.
Sensibilität ist ungestört. Beim Gehen und
Stehen, das nur mit Stütze möglich ist,
steht der linke Fuss auf den Zehen; das
Becken wird dabei nicht gesenkt, die Wirbel¬
säule bildet keine Skoliose: das kranke
Bein ist ausgeschaltet.
Die Diagnose war nicht leicht. Die
grosse Beweglichkeit des Beines, der kleine i
Radius bei Rotationen, die Krepitation, die
ungeheure Verschieblichkeit in der Rich¬
tung der Längsachse, das Fehlen eines fühl¬
baren Schenkelkopfes ausserhalb des Ge¬
lenkes, die gesteigerte Aussenrotirungs-
fähigkeit, das Fehlen einer Beugestellung,
das alles sprach für Fractura colli femoris
und zwar für eine extrakapsuläre. Eine
solche hatte ja wohl auch der behandelnde
Arzt nach dem Unfall angenommen. Das
Alter der Kranken sprach allerdings mehr
für Luxation und wenn wir annahmen,
dass neben der Luxation noch eine Frac-
tur, in erster Linie des Pfannenrandes be¬
stehen konnte, so waren alle Symptome
ebenso gut erklärt. Dagegen sprachen
allerdings die Rotationsverhältnisse. Das
Zurückschnellen des Beines in seine ver¬
kürzte Stellung bei Nachlassen des Zuges
an demselben war ja bewirkt durch die
Contraction der am Trochanter ansitzenden
Muskeln und diese traten ja bei beiden
Möglichkeiten in gleicher Weise in Thätig-
keit.
Die Kranke war in ihrer Arbeit sehr
behindert und durch die Schmerzen sehr
gequält. Sie wünschte Befreiung von ihren
Beschwerden und war mit einer Operation
einverstanden. Ich wollte mich durch die
Autopsie in vivo von der näheren Be¬
schaffenheit der das Gelenk bildenden
Knochen- und Weichtheile überzeugen und
danach handeln. Fand ich eine Fractur,
so beabsichtigte ich durch Draht und Stifte
möglichst alles zu vereinigen, was an
Knochen erhalten werden konnte und die
Weichtheile in möglichst normale Verhält¬
nisse zurückzubringen; fand ich eine Luxa¬
tion, so handelte es sich darum, die alte
Pfanne, die bekanntlich sehr bald verödet,
wieder herzustellen und den Kopf in der¬
selben festzuhalten. Um Entfernung eines
Repositionshindernisses konnte es sich
nicht handeln, denn ein solches konnte,
nach der Lage der Verhältnisse zu urtheilen,
nicht bestehen.
Nach gründlicher Desinfection der Haut
durch mehrtägige Sublimatumschläge wurde
zur Operation in Morphium-Chloroform¬
narkose geschritten. Die Operation wurde
in der von Kocher angegebenen Weise
ausgefühlt: Bogenförmiger Hautschnitt an
der Aussenseite der Hüfte von 20cm Länge.
Nach Durchtrennung des ungeheuren Fett¬
polsters und stumpfer Trennung der Fasern
des M. glutaeus maximus kann man zwi¬
schen M. glutaeus med. und piriformis
den Schenkelkopf dem Darmbein aufliegen
fühlen. Er macht alle Bewegungen des
Oberschenkels mit: es handelt sich also
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23
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
218
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mai
um eine Luxatio iliaca. — Die Fascie und
Sehnen der Glutaei werden auf der Aussen-
seite des Trochanter major von dessen
Spitze bis Basis ohne Verletzung des M.
vastus lateralis bis auf den Knochen ge¬
spalten. Dann wird von diesem Schnitt
aus mit breitem Meissei nach vorn und
hinten eine dünne Periost-Knochenschaale,
die die Ansätze der Glutaeen enthält, los¬
gelöst und auseinander geklappt. Nun hat
man bei stark gebeugtem und adducirtem
Oberschenkel einen guten Einblick. Die
sehr weite Gelenkkapsel zeigt keinen Riss
und umschliesst den Schenkelkopf. — Sie
wird an ihrer Oberseite breit eröffnet und
nun lässt sich der Kopf luxieren, d. h. aus
seiner luxirten Stellung noch mehr heraus-
sttilpen. Er ist abgeflacht, verbreitert, rauh,
sitzt auf einem sehr kurzen Hals. Ober¬
halb der alten Pfanne hat sich eine neue,
flache Pfanne mit glattem Boden und leichter
Erhebung am oberen Rande gebildet. Auf
dem Boden ist etwas Synovia. Von dem
Lig. teres ist keine Spur zu finden. Die
alte Pfanne ist ganz ausgefüllt, ihr Boden
rauh, ihre Ränder verstrichen. Das Kre-
pitiren kommt zu Stande, wenn der Kopf
über den flachen Rand zwischen alter und
neuer Pfanne streicht. Ein Knochenfrag¬
ment ist weder gelöst im Gelenk, noch an
der Kapsel hängend zu finden. Wegen der
starken Veränderungen des Schenkelkopfes
und der Verödung des Acetabulum ent¬
schloss ich mich zur Resection des Kopfes,
die mit einem Meissei sich leicht ausführen
Hess. Nun wurde mit einem Hohlmeissel
die knochenharte Ausfüllungsmasse des
Acetabulum etwa 1 cm tief ausgehöhlt, aus
der Gelenkkapsel ein grosses Stück rese-
cirt, so dass sie jetzt sich anlegte, wenn
der Trochanter sich im Acetabulum befand.
Die Kapsel wurde mit Pagenstecher-
schem Celluloidzwirn genäht, die abge¬
lösten Lamellen des Trochanter wieder
durch Naht vereinigt. Nach Einlegen eines
Drain, der zu der jetzt ausser Gebrauch
gesetzten Pfanne führte und eines Drain
unter die Haut, wird die Hautwunde ver¬
näht. Zu allen Unterbindungen und Nähten
wurde Pagenstecher’ scher Celluloidzwirn
benutzt, der zwei Mal in strömendem Dampf
sterilisirt war. Nach starker Polsterung
wurde das Bein durch einen ganz locker
angelegten Gipsverband, der das Becken
und das gesunde Bein bis zum Knie ein¬
schloss, in abducirter und aussenrotirter
Stellung fixirt. An einer im Gipsverband
befestigten Eisenschiene wird durch Gummi¬
züge an dem kranken Bein eine kräftige
Extension ausgeübt. Der Blutverlust bei
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der Operation war sehr gering. Antiseptica
wurden nicht verwandt. Es wurde mög¬
lichst instrumentell, ohne Berührung der
Wunde mit den Fingern, gearbeitet.
Der Schenkelkopf ist ungeheuer abge¬
flacht. Sein Breitendurchmesser beträgt
4 cm, während die Höhe nur 2 cm be¬
trägt. Von dem Lig. teres hängt ein sehr
dünner Rest von 1 cm Länge am Kopf.
Nur das hintere Drittel der Gelenkfläche
des Kopfes besitzt einen Knorpelüberzug,
doch ist auch er etwas rauh und zum Theil
bis auf den Knochen flach abgeschliffen.
Mitten über die Kuppel des Kopfes von
oben nach unten zieht eine tiefe Furche.
Der Schenkelhals war an seiner längsten
(unteren) Seite 2 cm lang, bildete mit dem
Schenkelschaft den normalen Winkel. Seine
grösste Dicke beträgt 2 cm. An ihrem
oberen Rande sass die Gelenkfläche fast
ohne Hals dem Schaft an. Die Ränder
des Kopfes fallen wie bei einem Pilz über
den Hals herab. Der Knochendurchschnitt
sieht gesund aus. Von einer früheren
Fraktur ist nichts zu entdecken.
Der weitere Verlauf war ein ungestörter
und fieberloser. Der Gipsverband wurde
nach 4 Wochen entfernt: Verband fast
trocken, Hautwunde primär geheilt. Fäden
und Drains werden entfernt. Oberschenkel
steht ziemlich fest in leichter Abduktion
und Aussenrotation. Anlegung eines neuen
Gipsverbandes mit Extension.
8 Wochen nach der Operation wird der
neue Gipsverband entfernt. Die Wunde
ist bis auf eine kleine Stelle, wo der Drain
gelegen hatte, geheit. Das linke Bein ist
5 cm kürzer, als das rechte.
Rechts Links
cm cm
Umfang der Mitte des Ober¬
schenkels . 48 44
Umfang oberhalb des Knies 38 37
» der Schenkelbeuge . 57 54
„ „ Wadendicke. . 31 30
ln Rückenlage kann Patientin aktiv das
Bein bei Streckung des Knies soweit heben,
dass die Ferse 20 cm über der Unterlage
ist; passiv kann es bis zu 1350 (mit der
Wirbelsäule) in gestreckter, bis zu 100o
in gebeugter Stellung des Knies gebracht
werden (rechts 90°, bezw. 45°). Die Ab-
duction reicht links passiv bis 125°, aktiv
bis 110° (rechts 115° bezw. 110°). Die
Aussenrollung ist links bedeutend weiter,
die Innenrollung viel weniger weit möglich,
als rechts. Grobe Kraft links viel geringer,
als rechts. Beim Gehen wird die linke
Beckenhälfte gesenkt, das linke Bein aussen-
rotirt und abducirt.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Mai
219
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Die kleinere Fistel schloss sich nach
Entfernung eines tiefens Fadens bald. Die
weitere Behandlung bestand in Massage,
Elektrizität, activen Bewegungen in Appa¬
raten, Gehübungen.
4 Monate nach der Operation konnte
die Kranke mit einem Schuh mit hoher
Sohle ohne jede Beschwerde und ohne
Stotze den ganzen Tag Ober umhergehen,
Treppen steigen, Haushaltungsarbeiten ver¬
richten. Das vorher stark atrophische Bein
nahm an Umfang auch schnell zu.
Ich habe die Patientin dann leider aus
den Augen verloren.
Das Resultat war, dank der streng
durchgefQhrten Asepsis und dem guten
Allgemeinzustand der Kranken, ein sehr
gutes. Man könnte einwenden, dass die
Resection des Kopfes nicht nöthig gewesen
wäre, und wirklich habe ich mich auch
erst bedacht, denselben zu reseciren. Aber
die Veränderungen an Kopf und Pfanne
waren zu gross. Namentlich bewog mich
der Umstand, dass der obere Rand des
Acetabulum ganz fehlte und dass ich bei
einer Aushöhlung von etwa 1 cm Tiefe
mich schon auf dem Boden der alten Pfanne
wähnte, den Kopf zu reseciren. Ich fürchte,
es wäre bald wieder zu einer Luxation
gekommen. Allerdings hätte man den Kopf
durch eine Reihe von Nägeln an der Stelle
des oberen Pfannenrandes in der Pfanne
festhalten können, wie das von Witzei
empfohlen ist, aber Ober diese Methode
fehlte mir jede Erfahrung, jedenfalls hätte
das Resultat nach Belassung des Kopfes
kaum besser sein können. Eine Osteoto¬
mie des Halses oder Trochanter, wie sie
bei veralteter Luxation vorgeschlagen ist,
kam im vorliegenden Fall natürlich nicht
in Betracht.
Sehr interessant war die ungeheure
Erweiterung der Gelenkkapsel und die
Vollkommenheit der neugebildeten Pfanne.
Ein neues Lig. teres hatte sich nicht ge¬
bildet, wie das schon beobachtet wurde
und von Volkmann in Thierversuchen be¬
stätigt wurde. Die alte Pfanne obliterirt
sehr bald und zwar durch bindegewebige
Massen, die mit der Zeit fast knochenhart
werden, so dass man selbst mit dem Hohl-
meissel Mühe hat, sie zu entfernen. Diese
Schwarten scheinen in einigen Fällen von
der metamorphosirten Kapsel abzustammen,
doch glaube ich dies für den vorliegenden
Fall ausschliessen zu können.
Auch im vorliegenden Fall machte sich
die Verkürzung der Muskulatur, die am
Trochanter major und minor inserirt, sehr
bemerklich. Sie ist in vielen Fällen eine
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Erschwerung der Reposition. Namentlich
kommen in diesem Sinne die Glutaei in
Betracht.
Am ehesten nach der Luxation hat
Helferich operirt, nämlich nach 16 Tagen.
Die längste Zeit, nahezu 2 Jahre, war in
dem Fall von Karewski und von Payr
verstrichen. Diese Zeit wird überholt von
dem vorliegenden Fall, in dem reichlich
4 Jahre seit der Luxation verflossen waren.
Was die Operationsmethode anbelangt,
so halte ich das Kocher’sche Verfahren
für das beste: Es zerstört am wenigsten
und giebt genügend Raum. Das Verfahren
nach v. Mikulicz scheint mir wegen des
Zuges der Glutaei am Trochanter unzweck¬
mässig; doch sind auch mit dieser Methode
gute Resultate erzielt; sie scheint mir aber
in Fällen mit starker Verkürzung gewagt.
Die Nachbehandlung kann natürlich in
verschiedener Weise geführt werden. Ist
man seiner Asepsis sicher, so ist wohl
Naht der Wunde mit Anlegung eines
lockeren Gipsverbandes und Extension das
zweckmässigste. Der Zug kann der Ein¬
fachheit halber an einem im Gipsverband
befestigten, den Fuss überragenden Bügel
ausgeübt werden mit Gummischläuchen
oder Spiralfedern. In anderen Fällen, wo
man den Verband bald wechseln muss,
also vor allem da, wo die Wunde nicht
genäht, sondern tamponirt wurde, wird
man am besten einen einfachen Extensions¬
verband anlegen, da ein gefensterter Gips¬
verband doch viele Unannehmlichkeiten hat.
Das Resultat der Operation hängt von
dem Alter des Kranken, seinem Allgemein¬
befinden, der Beschaffenheit der Gelenk¬
theile und dem Wundverlauf ab. Bei
frischen, traumatischen Luxationen jugend¬
licher Individuen kann man nahezu eine
Restitutio ad integrum erzielen. Ist der
Gelenkknorpel der Pfanne oder des Schen¬
kelkopfes zerstört, so ist natürlich das Re¬
sultat viel schlechter. Immerhin ist aber
ein nur wenig bewegliches oder ankylo-
tisches Bein in leichter Abduktion für den
Träger bedeutend werthvoller, als ein
luxirtes. Erfolgt die Heilung nicht per
primam, so wird das Resultat dadurch na¬
türlich auch beeinträchtigt. Für die Be¬
weglichkeit des Gelenkes ist es auch von
grosser Bedeutung, dass der Oberschenkel
möglichst wenig skelettirt wird bei der
Operation. Leider ist die völlige Skeletti-
rung des Trochanter in schwierigen Fällen
kaum zu umgehen.
Litteratur:
Gr aff, H., über die Spontanluxationen des
Hüftgelenks im Verlauf von akuten Infektions-
28 *
Original frorn
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Mai
220 Die Therapie der Gegenwart 1903.
kranklieiten. Deutsche Zcitschr. f. Chir. 1902. Luxationen des Hüftgelenks bei Erwachsenen.
LXli. S. 588. — May dl. K.. die operative Deutsche Zeitschrift für Chir. 1900. LVII.
Therapie irreponibler Hüftgelenksluxationen. S. 14. Hier auch die bis dahin erschienene
Gasopis lekaru ceskyeh 1903. No. 1 und 2. — Litteratur. — Schoemaker. Reposition einer
Payr, E , Verhandlungen d. deutsch. Ges. für veralteten pathologischen Hüftgelenksverren-
Chir. 1901. — Payr, E., über blutige Reposition kung. Deutsche Zeitschrift für Chir. 1902,
von pathologischen und veralteten traumatischen LX1I. S. 204.
Ueber die Totalexstirpation des septischen puerperalen Uterus. 1 )
Von Dr. O. Fels-Frankfurt a. M.
Das uns beschäftigende Thema stand
auf dem 4. internationalen Congress für
Geburtshilfe und Gynäkologie zu Rom zur
Discussion. Der eine Referent (Fehling)
fasste seinen Standpunkt in den Worten
zusammen: „Die Hysterectomie des puer¬
peralen Uterus kann rationell nur empfohlen
werden, wenn der Herd der Intoxication
oder Infection auf den Uterus beschränkt
ist, also bei Zersetzung durch Verhaltung
der Placenta oder Theilen derselben, bei
Verjauchung puerperaler Myome, bei ver¬
jauchten Eiresten nach Abort und Unmög¬
lichkeit der Entfernung derselben auf an¬
derem Wege. Die Indication hierzu wird
demnach sehr selten vorhanden sein.“
Ganz in demselben Sinne äusserte sich
auch der 2. Referent (Leopold). In der
anschliessenden Discussion wurden eben¬
falls die Grenzen für die Vornahme der
Operation eng gesteckt; darin war man
jedoch einig, dass es Fälle geben kann,
wo die Totalexstirpation das einzige Mittel
zur Heilung der septischen Wöchnerin
darstellt; es sind das hauptsächlich die
Fälle totaler oder partieller Placentarreten-
tion, wo es nicht möglich ist, die Nach¬
geburt auf natürlichem Wege zu entfernen.
Ausgeführt wurde die Operation zuerst
von B. S. Schultze, der 1886 einen septisch
inficirten Uterus mitsammt der noch darin
befindlichen Placenta supravaginal ampu-
tirte und dadurch die Patientin rettete.
Dieser berühmt gewordene Fall war fol¬
gender: es handelte sich um eine Früh¬
geburt im 7. Monat. Beim Versuch der
Hebamme die Nachgeburt zu entfernen,
wurde die Nabelschnur abgerissen. Der
hinzugerufene Arzt fand die Cervix so
eng, dass es unmöglich war zur Placenta
zu gelangen. Der Uterus war am Fundus
zweitheilig; nur ein Finger passirte die
Strictur, die in das rechte Uterushorn, in
dem die Placenta lag, führte. Dieselbe
war fest adhärent, nur ein kleines, stin¬
kendes Stück derselben konnte mit dem
*) Nach einem Vortrag, gehalten am 7. Marz
1903 in der 1. Sitzung der niittelrhcinischen Gesell¬
schaft für Geburtshilfe und Gynäkologie.
| Finger entfernt werden. Es wurde zu-
| nächst abgewartet, jedoch stieg am 4. Tag
! p. p. die Abendtemperatur auf 41,1°; es
j traten Schüttelfröste auf, sowie die An¬
zeichen peritonealer Reizung. Man be¬
schloss die Laparotomie vorzunehmen.
Schultze sagt: „als ich zur Laparotomie
! schritt, schloss ich die Möglichkeit nicht
| aus, diese als eine conservative, sozusagen
Placentarkaiserschnitt, zu vollenden oder
j mich mit Amputation der rechten Uterus-
| hälfte zu begnügen. Am wahrscheinlichsten
i war es, dass es nothwendig würde, den
ganzen Uterus zu entfernen.“ Es wurde
zunächst die die Placenta enthaltende
Uterushälfte abgetragen, jedoch zeigte sich
| auch die Entfernung der anderen Hälfte
i nothwendig. Die Uteruswand war morsch,
] ihr fauliger Zerfall reichte bis nahe an den
. Peritonealüberzug. Die Stümpfe wurden
i in die Bauch wand eingenäht; die Patientin
fieberte noch einige Zeit, genas aber dann.
; In den Fällen von Stahl 1 ) handelte es
I sich um einen myomatösen puerperalen
Uterus mit beginnendem Zerfall der My¬
ome; es wurde auch hier die supravaginale
Amputation mit glücklichem Ausgang vor¬
genommen.
Die 3. Beobachtung über unseren Gegen¬
stand rührt von Sippel 2 ) her. Es lag
eine septische Endometritis infolge Zer¬
setzung zurückgebliebener Placentarreste
vor; andere Maassnahmen, die Nachgeburt
zu entfernen, waren ohne Erfolg gewesen,
bis die supravaginale Amputation mit extra¬
peritonealer Stielversorgung Heilung
brachte.
Es kann hier nicht meine Aufgabe sein,
alle einschlägigen Fälle der Reihe nach
aufzuzählen, sondern ich werde den von
mir beobachteten Fall vortragen, um dann
daran anschliessend und an der Hand der
vorliegenden Litteratur die Indicationen
für den Eingriff darzustellen: Es handelt
sich bei meiner Beobachtung um einen
Abort. Die Frau hatte, als ich kam, einen
*) Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie,
Gcdenkschrilt, f. A. Heger, Stuttgart 1899.
y i Centralblatt für Gynäkologie, Bd. 19.
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Original frem
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
221
Schüttelfrost, 40o Temperatur, 140 Pulse
und machte einen verfallenen Eindruck.
Die Grösse des Uterus dem 3. Monat
der Gravidität entsprechend, Muttermund
geschlossen; es geht etwas Blut ab. Tam¬
ponade der Scheide, Ueberführung in die
Klinik. Am nächsten Morgen betrug die
Temperatur 36,6°, Puls 125. Es wird in
Narkose mit Hegarstiften dilatirt und der
Fötus leicht entfernt. Es gelingt jedoch
nicht, die Placenta von der Uteruswand ab¬
zuschälen, da der Finger nicht in die Grenz¬
zone zwischen Placenta und Uteruswand
gelangt, sondern sich in die Muskulatur
einwühlt. Auch der Versuch, die Placenta
mit einer Abortzange zu entfernen, miss¬
lingt, nur einzelne Stücke werden heraus¬
befördert. Unter diesen Umständen muss
auch von der Anwendung der Curette Ab¬
stand genommen werden. Es wird nun
mit Lysol ausgespült und mit steriler Gaze
tamponirt, in der Hoffnung, dass sich die
zurückgelassenen Placentarreste vielleicht
spontan eliminiren. Eisblase. Opium. Am
nächsten Morgen ist die Temperatur 38,2.
Puls 120, Abends 37,9, Puls 130. Ich ent¬
schlösse mich abzuwarten, zumal keine
peritonitischen Erscheinungen vorhanden
sind. Am nächsten Morgen ist die Tempe¬
ratur 39°, Puls 135, der Gesammteindruck
nicht gut, namentlich ist die Qualität des
Pulses gering, jedoch besteht keine Peri¬
tonitis. Es wird nun der 2. Versuch ge¬
macht, in Narkose die zurückgebliebenen
Placentarstücke zu entfernen, jedoch gelingt
dies wiederum nicht, der Finger dringt tief
in die Muscularis ein und die eingeführte
Abortzange fährt ohne jedes Hinderniss
durch den Uterus. Unter diesen Umstän¬
den, besonders im Hinblick auf das schlechte
Allgemeinbefinden, wird sofort die vaginale
Totalexstirpation mit Zurücklassen beider
Ovarien angeschlossen, die leicht und glatt
vor sich geht, die Bauchhöhle mit steriler
Gaze drainirt Einige Stunden nachher
sinkt die Temperatur auf 38° und Abends
auf 37° ab, der Puls geht an demselben
Tage noch auf 86 zurück. Während der
Puls nun andauernd gut bleibt und vom
4. Tag nach der Operation 100 nicht mehr
überschreitet, gebraucht die Temperatur
noch 8 Tage, um sich nicht mehr über die
Norm zu erheben. Besonders bemerkens-
werth ist bei Besichtigung der Temperatur¬
tabelle, dass sich der Puls viel eher als die
Temperatur zur Norm senkte, worauf ge¬
stützt ich die Prognose günstig stellen
konnte.
An dem entfernten Uterus bot sich das
Bild der putriden Endometritis. Die ganze
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deciduale Auskleidung des Uteruscavum war
in eine schwärzlich-grünliche, schmierige
Masse verwandelt; man sieht zahlreiche
Placentarstücke noch haften. Die Muscu-
latur ist ausserordentlich weich, jedoch lässt
sich nirgends Eiter aus den Gefässen aus-
drücken. Besonders muss noch hervor¬
gehoben werden, dass keine Perforation
des Uterus nachzuweisen, dass jedoch an
manchen Stellen die Musculatur bis nahe
an das Peritoneum aufgewühlt war. Bei
der Färbung auf Bakterien im Schnitt fan¬
den sich mehr oder weniger zahlreiche
Coccen in den Schichten der Mucosa. Je¬
doch finden sich die Bakterien nicht so
massenhaft, wie man nach dem makro¬
skopischen Bilde erwarten durfte. Die
tieferen Schichten des Uterus und be¬
sonders die Venen zeigen sich frei von
Bakterien.
Wenn wir der Operation ihre Berechti¬
gung zugestehen, und nach den vorliegen¬
den Erfahrungen können und müssen wir
dies thun, so ist die wichtigste Frage die
nach der Indicationsstellung. Wir können
uns dabei nicht zu viel auf die vorliegenden
Litteraturangaben verlassen, da viele Fälle
ungenau publicirt sind. Im Grossen Ganzen
ergeben sich aus den veröffentlichten Beob¬
achtungen ca. 50% Todesfälle (bei bis jetzt
etwa 120 publicirten Fällen) 1 ).
Pro.chownik 2 ) hat versucht, die Indi¬
cationsstellung klarer zu gestalten, indem
er in den betreffenden Fällen regelmässig
Blutculturen anlegte und nach dem positiven
Ausfall (Streptococcen) die Anzeige zur
Exstirpation erfüllt sah, selbstverständlich
unter gleichzeitiger genauer klinischer Beob¬
achtung des Falles und in der Voraussetzung,
dass der Process noch auf die Gebärmutter
beschränkt sei. Wie spätere Nachunter-
! suchungen jedoch ergaben, lässt uns gerade
in schweren Fällen die bakteriologische
Untersuchung des Blutes oft im Stich, so
dass wir vor der Hand noch hauptsächlich
auf die klinische Beobachtung angewiesen
sind.
Am Klarsten liegt unser Handeln vor¬
gezeichnet, wenn, wie in dem von uns mit-
getheilten Falle, wir der sicheren Ueber-
zeugung sind, dass der Herd der Intection
einzig und allein auf den Uterus beschränkt
ist und alle Versuche, die Ursache des Fie-
*) Bemerkenswerth ist, dass die Fälle von Braun
(Sitzg. der gyn. Gesellsch. Mai 1897). Gradenwitz
^ Münch med. Wochenschr. No. 51, 1902, eine Beob¬
achtung) und Wype Ipma (Inaug.-Diss. Freiburg
1895) innerlich während der Geburt nicht untersucht
worden waren.
®) Monatsschr. f. Geburtsh. Bd. IX, S. 761.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
222
Die Therapie der
bcrs zu beseitigen, vergeblich gewesen sind.
In solchen Fällen — selten werden sie ja der
Natur der Sache nach immer sein —, kann
man mit Recht die Exstirpation des Uterus
der Absetzung einer inficirten, nicht zu er¬
haltenden Extremität vergleichen. Wie an¬
geführt, gehören in dieses Gebiet: Pla-
centarverhaltung, die auf andere Weise
nicht zu beheben ist, in Puerperio ver¬
jauchte Myome, zersetzte Eireste etc., also
solche Fälle, wo grösstentheils Sapro-
phyten sich neben septischen Keimen im
Uterus angesiedelt haben. Die Indication
zur Entfernung des Uterus wird nur in
vereinzelten Fallen gegeben sein, und mit
Recht hat ein Redner (Treub) in der
Discussion zu Rom gesagt: „Derjenige, der
in diesen Fällen die Operation häufig aus¬
führt, operirt sicherlich zu viel“.
Wenn wir jedoch auf Grund genauer
Beobachtung die Ueberzeugung haben,
■dass alle conservativen Hilfsmittel erschöpft
sind, so dürfen wir bei diesen so traurig
liegenden Fällen den Eingriff nicht unter¬
lassen, wenn auch dadurch die Frau ver¬
stümmelt und sterilisirt wird.
Eine Publikation (aus der Klinik Döder-
lein’s) von Baisch 1 ) erwähnt einen Fall,
wo es infolge eines Totalprolapses zur
Frühgeburt kam; die Portio war mit stark
secernirenden Erosionen besetzt, infolge
dessen kann es unter der Geburt zur In-
fection des Uteruscavum. Da bei der Ri¬
gidität und Länge der Cervix auf eine
spontane Entbindung nicht gerechnet wer¬
den konnte, so wurde die Totalexstirpation
des kreissenden Uterus mit bestem Erfolge
vorgenommen.
In jüngster Zeit ist man über diese,
wohl allgemein anerkannte Indication hinaus¬
gegangen, indem man früheren Vorschlä¬
gen Sippel’s und Freund's folgend, bei
der puerperalen Pyämie, d. h. bei der sep¬
tischen Thrombose der Uterus- und Becken¬
venen chirurgisch eingriff. Es herrscht
dabei der Gedanke vor, durch Beseitigung
der primären, septischen Thromben und
durch Unterbindung der ableitenden Ve¬
nenstämme die Gefahren der Erkrankung
(Verschleppung der Thromben, Allgemein-
infection) zu beseitigen.
T rendelenburg 2 ) ging bei der Behand¬
lung der puerperalen Pyämie von derselben
Ueberlegung aus, die zur operativen Be¬
handlung der otitischen Pyämie führte.
Er schlägt ein extraperitoneales Verfahren
vor wie zur extraperitonealen Unterbindung
J ) Beiträge z. Geburtsh. u. Gyn. Bd. 6, 3. Heft.
u j Münch, med. Wochenschr. 1902, No. 13.
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Gegenwart 1903. Mai
der A. iliaca externa, das Parametrium wird
entfaltet und nach Thromben in den Venen
des Parametrium gesucht. Finden sich
solche, so sind sie auszuräumen und V.
hypogastricae und spermaticae zu unterbin¬
den. Eventuell hat man sich nur auf die
Unterbindung der grossen Venenstämme
zu beschränken. Da doppelseitige Throm¬
bose doppelt so häufig als einseitige ist,
so empfiehlt es sich zunächst, beide Hypo¬
gastricae zu unterbinden, und die Sperma-
tica, wenn sie keine Thromben enthält,
unberücksichtigt zu lassen. Bei wiederholtem
Schüttelfrost ist nach Trendelenburg
die Berechtigung zum Eingriff gegeben.
Auch bei der chronischen Form der Pyä¬
mie sind noch Erfolge mit dieser Methode
zu erzielen, wie folgender Fall Trendelen¬
bur gs beweist: Abort im dritten Monat,
Ausräumung, darauf Fieber und Schüttel¬
fröste. Nach 14 Tagen Eröffnung eines
Abscesses im Lig. lat. von der Vagina aus.
Die Fröste dauern an, leichte Pleuritis.
Daraufhin doppelte Unterbindungund Durch¬
schneidung der rechten V. hypogastrica
vor ihrer Vereinigung mit der V. iliaca
ext. Die nächsten zehn Tage tritt kein
Frost ein. Dann wieder Fröste, Kräfte¬
verfall, Gewicht sinkt bis 30 kg. Darauf¬
hin: Freilegen der rechten V. spermatica.
Resection eines 5 cm. langen Stückes, das
thrombosirt ist. Von jetzt an tritt kein
Frost mehr auf. Es wird nach einigen
Tagen ein subcutaner, metastatischer Ab-
scess in der rechten Scapulargegend er¬
öffnet, dann Genesung.“
In neuester Zeit ist auf die Veröffent¬
lichung Trendelenburgs eine Arbeit von
Bucura 1 ) erschienen, der an dem Ma¬
teriale der Klinik Chrobak nachweist,
dass zwei und mehr Schüttelfröste nicht
nur bei Pyämie, sondern auch bei andern
puerper alen Erkrankungen (Parametritis,
Endometritis etc.) Vorkommen, dagegen
werden mehr als fünf Schüttelfröste nur
bei Pyämie beobachtet. Ausserdem giebt
es auch Pyämie ohne Fröste.
Demnach wird man nicht ohne weiteres
dem RathTrende lenburg’s folgen können
und sich nach dem zweiten Schüttelfrost
zu einem operativen Eingreifen entschliessen,
zumal wir trotz zahlreicher Schüttelfröste
noch Heilungen von Pyämie eintreten
sehen.
Der Vorschlag Trendelenburgs ist,
besonders was die chronische Pyämie an¬
langt, für uns von grösstem Interesse; ein
*) Monatsschr. f. Geburtsh. u. Gyn. Bd. XVI,
Heft 4.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Mai
223
Die Therapie der Gegenwart 1903.
abschliessendes Urtheil Ober den Werth jetzigen Anschauungen unter den ange-
des Verfahrens werden wir jedoch so bald gebenen Anzeigen ein Verfahren, das bei
noch nicht abgeben können. strenger Indicationsstellung wohl im Stande
Die Exstirpation des puerperalen, sep- sein kann, ein sonst verlorenes Leben zu
tischen Uterus jedoch ist nach unsern retten.
Aus der Universit&ts-Olireiikliiiik der Königlichen Charite in Berlin.
(Director: Geh. Rath Prot Dr. Passow).
Das Yohimbin (Spiegel) als lokales Anästheticum, besonders
in der Behandlung der Ohren- und Nasenerkrankungen.')
Von Dr. Haike. Assistent der Klinik.
Ich möchte Ihnen über Versuche mit
einem Anästheticum berichten, das Ihnen
durch andere arzneiliche Wirkungen be¬
reits bekannt ist Das Yohimbin, das von
Spiegel aus der Rinde des in Süd-Kame¬
run wachsenden Yohimbehe-Baumes als
reines Alkaloid isolirt worden ist, wurde
von Oberwarth auf seine allgemeinen
Wirkungen und von Löwy auf seine Ein¬
wirkungen auf den Geschlechtsapparat an
Thieren studirt und ist auf Grund dieser
Versuche seit längerer Zeit unserem Arz¬
neischatz als Aphrodisiacum in der Form
des salzsauren Salzes einverleibt.
Meine Versuche begann ich, angeregt
durch eine mündliche Mitteilung des Herrn
Prof. Löwy von der landwirtschaftlichen
Hochschule, über eine von ihm beobachtete
Wirkung, dass nämlich Thiere, denen man
die Nasenschleimhaut mit einer Lösung
von Yohimbinum hydrochloricum pinsle,
auf Einathmen von Ammoniak nicht mehr
mit Athemstillstand, wie sonst, reagirten,
sondern völlig ungestört weiter athmeten.
Dieser Vorgang, welcher auf eine anästhe-
sirende Wirkung hinwiess, veranlasste Prof.
Löwy zusammen mit Herrn Dr. Franz
Müller, diese Eigenschaften des Yohim¬
bins durch physiologische Versuche weiter
zu studiren, deren Ergebnisse jüngst in
einem Vortrag in der physiologischen Ge¬
sellschaft mitgeteilt worden sind, während
ich inzwischen die praktische Verwerthung
des Präparates prüfte, wozu mir Herr Prof.
Löwy freundlichst ein kleines Quantum
desselben überliess.
Die Ergebnisse meiner Versuche möchte
ich Ihnen in Folgendem mittheilen:
Die Stärke der Lösung war vorge¬
schrieben durch die sehr geringe Löslich¬
keit des salzsauren Yohimbins in Wasser,
sodass ich zunächst nur eine 1 % ige Lö¬
sung zur Verfügung hatte. Diese versuchte
ich an der Conjunctiva und erreichte durch
*) Vortrag, gehalten in der Sitzung der Berliner
otologischen Gesellschaft am 10. März 1903. ;
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die Einträuflung einiger Tropfen völlige
Anästhesie nach etwa 10 Minuten unter
Eintritt einer Hyperämie. Danach begann
ich die Versuche an Nase und Ohr, zu¬
nächst ohne den erwarteten Erfolg. Die
Lösung, welche die Conjunctiva empfindungs¬
los machte, welche die Nerven der Nasen¬
schleimhaut gegen die Einwirkung des
Ammoniaks abstumpfte, genügte nicht zur
Anästhesie gegen Berührung, noch viel
weniger gegen Schmerzeinwirkungen. Eben¬
so verhielt es sich mit der Schleimhaut des
Mittelohrs. Deshalb erneuerte ich die Ver¬
suche mit einer Lösung, die ich durch Zu¬
satz von Alkohol concentrirter machte,
so zwar, dass ich eine 1,5°/o ige Yohimbim-
lösung in 30 % igem Alkohol erhielt.
Diese wirkte vorzüglich anästhesirend
auf die Schleimhaut des Mittelohres und
auch auf das Trommelfell, wenn die Epi¬
dermis gelockert war, aber sie war auf der
Schleimhaut der Nase nur dort anwendbar,
wo nicht der Alkohol, was ja gewöhnlich
der Fall, unangehmes Brennen verursachte.
Aus diesem Dilemma brachte mich die Er¬
fahrung, dass mit kochendem Wasser auch
2% ige Lösungen herzustellen seien, und
mit diesen habe ich auch für die Nase die
völlig anästhesirende Wirkung erreicht,
wenigstens an der Oberfläche, in einer ge¬
wissen Tiefe scheint auch diese Concentra-
tion nicht absolute Anästhesie hervorzu¬
rufen, denn beim tiefen Kauterisiren wurde
etwas Schmerz empfunden, obwohl die
Patienten gegen Aetzungen, z. B. mit Tri-
chloressigsäure, unempfindlich blieben.
Da wir nun in dem Cocain ein so vor¬
zügliches Anästheticum besitzen, fragt es
sich, ob das Yohimbin Eigenschaften hat,
die seine Verwerthung neben ihm oder statt
desselben erwünscht machen.
Wir kennen neben den Vorzügen des
Cocains als seinen bedenklichsten Nachteil
seine Giftigkeit, die nicht bloss von einer
bestimmten Dosis aufwärts, sondern oft
ganz unberechenbar schnell bei kleinsten
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
224
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mai
Dosen ihre fatale Wirkung auf das Herz
übt, die wir uns nur durch Indiosynkrasie
zu erklären vermögen. Eine ähnliche Ge¬
fahr scheint, so viel ich bis jetzt gesehen
habe, das Yohimbin in der gewöhnlichen
anzuwendenden Dosis nicht zu haben, und
es wird uns deshalb immer dort sehr er¬
wünscht sein, wo wir durch Erfahrung die
Intoleranz gegen Cocain festgestellt haben
oder wo, wie bei Kranken und Schwäch¬
lichen, von vorn herein eine ungünstige
Cocainwirkung zu befürchten steht. Wie
Yohimbin von Kindern vertragen wird,
habe ich an einer grösseren Zahl noch
nicht feststellen können. In den ange¬
wandten Fällen habe ich Nachtheile nicht
beobachtet.
Ein zweiter wichtiger Unterschied gegen¬
über dem Cocain ist das Ausbleiben einer
Anämisierung der Schleimhäute, die uns
ja vielfach sehr erwünscht, oft aber durch¬
aus unerwünscht ist und uns gerade des¬
halb in manchen Fällen, in denen wir die
Anästhesie brauchten, auf das Cocain ver¬
zichten lässt, so beim Entfernen von hyper¬
trophischen hinteren Muschelenden, die uns
oft unter Cocain fast vollständig verschwin¬
den und für die Schlinge oder Zange dann
schwer zu fassen sind. Ebenso ergeht es
uns beim Entfernen kleiner Granulationen
und Polypen aus dem Gehörgang und dem
Mittelohr. Für diese Fälle ist uns ein
Anästheticum, das die Gewebe nicht durch
Anämisirung zum Schrumpfen bringt, sehr
willkommen, und diese Postulate erfüllt das
Yohimbin.
Ueberall da, wo wir aber die anämisi-
rende Wirkung nicht entbehren mögen,
können wir die Vorzüge des Yohimbin doch
verwerthen, indem wir die Anämie durch
Nebennierenextrakt herbeiführen. Die Eigen¬
schaften dieser beiden Substanzen vereini¬
gen die Vorzüge des Cocains, ohne dessen
nachtheilige Wirkungen zu haben.
Ueber die Anwendungsweise im Einzel¬
nen möchte ich Folgendes bemerken: Die
Lösung wird am besten frisch bereitet, mit
kochendem destillirtem Wasser, wenn sie
sich auch wochenlang halten kann, beson¬
ders unter einem Zusatz von einem Tropfen
Chloroform. Sie muss in dunklen Flaschen
aufbewahrt werden. Ihre Wirksamkeit
scheint am schnellsten und intensivsten ein¬
zutreten in 1,5% iger Lösung in 30%igem
Alkohol, und so wende ich sie stets im
Ohr an. In der Nase, deren Schleimhaut
den Alkoholzusatz unangenehm empfindet,
ist die 2°/ 0 ige wässrige Lösung am wirk¬
samsten und für Aetzungen und oberfläch¬
liche Kauterisation anzuwenden. Bei tiefen
Kauterisationen scheint sie mir nicht bei
allen Patienten wirksam genug zu sein.
Ist eine völlige Anästhesie nicht noth-
wendig, z. B. bei Sondenuntersuchungen
der Nase und dem Katheterismus empfind¬
licher Patienten, sondern nur eine Herab¬
setzung der Empfindlichkeit, dann genügt
eine 1 / 2 — 1 % ige Lösung. Das Präparat ist
auch im Ohr schneller wirksam, wenn es
eingepinselt, als wenn es eingeträufelt
wird. Die Wirkung tritt etwa 3—5 Minuten
nach der Einpinselung auf und hält 20—30
Minuten an. Zu erwähnen bleibt noch die
Dosierung.
Innerlich sind V 2 —74 mg bisher gegeben
worden, subcutan hat Eulenburg bis 2 cg
3 mal täglich injicirt, ohne Nebenwirkungen
von Belang zu sehen. Von der 2% igen Lö¬
sung würden etwa 6—24 Tropfen der Höhe
der Einzeldosis entsprechen. An Neben Wir¬
kungen sind bei innerlichem Gebrauch
Speichelfluss, Frösteln und Schweissaus¬
bruch vorübergehend beobachtet worden.
Ich habe bei äusserlicher Anwendung
des Mittels diese Erscheinungen niemals
bemerkt. Ich selbst habe bei mir nach
mehrfachen Pinselungen der Nase etwas
Völle im Ohr verspürt, die etwa 10 Minuten
andauerte. Von meinen Patienten ist mir
Aehnliches nie mitgetheilt worden, auch
aphrodisiastische Wirkungen scheinen durch
die Pinselungen nie eingetreten zu sein.
Natürlich wird wie bei der Behandlung
von Nase und Ohr das Yohimbin (Spie¬
gel) auch auf die anderen Schleimhäute
gleiche Wirkungen entfalten, von denen
ich es nur bei der Conjunctiva habe prüfen
können, an der es auch Magnani 1 ) in Turin»
wie ich erst während meiner Versuche er¬
fuhr, schon vor längerer Zeit bei Operationen
erprobt hat.
Wie gross die Resorbirbarkeit des
Mittels durch die Schleimhäute ist, und bei
welchen Mengen der Pinselung etwaige
Nebenerscheinungen auftreten können, wird
uns, wie bei den meisten Mitteln, erst eine
lange Anwendung und die Erfahrung Vieler
von uns bringen können.
Clinica modema 1902 No. 35.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
225
Zusammenfassende Uebersicht.
Die neuesten Bestrebungen auf dem Gebiet der Nierenchirurgie.')
Von weil. Prof. M. Schede-Bonn.
Meine Herren! Seitdem in einem glück¬
lichen Zusammentreffen gerade im Beginn
der antiseptischen Aera G. Simon durch
seine so berühmt gewordene erste Exstir¬
pation einer functionirenden Niere den An-
stoss dazu gegeben hatte, auch allerlei
Nierenkrankheiten in das Bereich chirur¬
gischer Eingriffe zu ziehen, sind bekannt¬
lich in der kurzen Zeit von 3 Jahrzehnten
diagnostisch und therapeutisch Fortschritte
auf diesem bis dahin ziemlich stagnirenden
Gebiete gemacht worden, die mit zu dem
Ueberraschendsten gehören, was überhaupt
jemals in irgend einem Zweige unserer
Wissenschaft geleistet worden ist Die Ge¬
schichte dieser Entwicklung ist überreich
an den interessantesten Momenten. Im
Anfang bald vorsichtig zögernd und un¬
sicher tastend, bald über das Ziel hinaus-
schiessend, schreitet die junge Wissenschaft
zunächst nur langsam vorwärts. Die Si¬
mon* sehe Grossthat, die ihr das Leben
gab, Qbte anfangs einen geradezu hypnoti-
sirenden Einfluss, die Frage der Nieren¬
exstirpation war es eine Zeit lang, welche
die neue Nierenchirurgie sehr einseitig be¬
herrschte. Zunächst freilich beschränkten
ungenügende Methoden ihre Anwendung
und beeinträchtigten die Erfolge. Als aber
dieses Hinderniss überwunden war, als die
breiten Flankenschnitte eventuell unter
Zuhülfenahme von Rippenresectionen das
Operationsgebiet ganz anders freigelegt
hatten, als der alte Simon’sche Längs¬
schnitt, als für die ungefährlicheren retro-
poritonealen Methoden auch die grössten
Tumoren angreifbar und die gefährlicheren
transperitonealen Methoden in den Hinter¬
grund gedrängt wurden, da verführte die
naive Freude am operativen Können wohl
Manchen, die Indicationen zur Exstirpation
*) Gelegentlich des im vorigen Heft gebrachten
Referates über die operative Behandlung des Morbus
Brigbtii wurde ich aus dem Leserkreise darauf auf¬
merksam gemacht, dass der kQrzlich verstorbene
Bonner Chirurg Geh. Rath Schede kurz vor seinem
Tode in einem Vortrage im Aerzteverein des Reg.-
Bezirk Cöln sich Ober die Edebohls’sche Operation
geäussert habe. Durch das gütige Entgegenkommen
der Angehörigen Scbede’s wurde mir dieser Vortrag
zum Abdruck überlassen, der im Juli v. J. im Corre-
spondenzblatt der ärztlichen Vereine in Rheinland und
Westfalen erschienen ist. Jeder, der die ausgezeichnete
Uebersicht liest, wird von schmerzlicher Trauer erfüllt
sein, dass der Meister, welcher den Fortschritten seiner
Kunst mit so feuriger Theilnahme folgte, uns so schnell
entrissen worden ist. Der Herausgeber.
Digitized by Google
wesentlich weiter zu stellen, als sich einer
reiferen Erkenntniss als zulässig erwiesen
hat. Es kam die Periode, wo die Diagnose
einer Hydronephrose, einer Steinniere stets
schon an sich genügte, um die Indication
für eine Exstirpation festzusetzen, und be¬
kanntlich ist selbst die Wanderniere eine
kurze Zeit lang, wenn auch lange nicht all¬
gemein, einem gleichen Schicksal erlegen.
Aber das dauerte nicht lange. Der
Entwicklungsgang, den unsere ganze Chirur¬
gie durchgemacht hat, vollzog sich auch
hier, diesmal aber in unglaublich kurzer
Zeit. Das Gebiet der beraubenden Me¬
thode wurde nur erobert, um sofort wieder
verlassen zu werden. Auf der ganzen
Linie siegte die conservative Chirurgie.
Man lernte, die Wanderniere zu flxiren,
die Steine aus dem Nierenbecken und
mitten aus dem Parenchym oder auch aus
dem Ureter zu excidiren, bei Hydro- und
Pyonephrosen durch kühn erdachte Opera¬
tionen das Abflusshinderniss zu beseitigen,
Ureteren neu in das Nierenbecken oder in
die Blase einzupflanzen, Resection und
Nephrotomie an die Stelle der Nieren¬
exstirpation zu setzen. Schritt für Schritt
verlor diese, die den ganzen Anstoss zu
der mächtigen Bewegung gegeben hatte,
an Terrain, und eine Fülle von feinen und
genial ausgedachten Operationen trat an
ihre Stelle, die es ermöglichten, in jedem
einzelnen Falle zu erhalten, was irgend zu
erhalten war.
Eine so feine Differenzirung der Thera¬
pie hatte natürlich einen eben so feinen
Ausbau der Diagnostik zur Voraussetzung.
Zu den längst geübten Methoden der chemi¬
schen und mikroskopischen Nierenunter¬
suchung trat eine minutiöse Ausbildung der
Palpation, die Cystoskopie, die isolirte Ge¬
winnung des Urins einer jeden Niere durch
immer sicherer werdende Methoden, die
functionelle Nierendiagnostik, die unter dem
Namen der Kryoskopie zusammengefasste
Gefrierpunktsbestimmung des Urins und
des Blutes, die Durchleuchtung mit Röntgen¬
strahlen. Und mit der Verbesserung der
diagnostischen Hülfsmittel und der thera¬
peutischen Wege hielten die Erfolge glei¬
chen Schritt. Eine mühsame und sehr
verdienstvolle Zusammenstellung statisti¬
scher Daten, die kürzlich von Herrn Dr.
Schmieden gemacht wurde, hatte das
ebenso merkwürdige wie erfreuliche Er-
29
Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
226
Die Therapie der
gebniss, dass, wenn wir die Mortalität der
operativen Eingriffe im ersten Decennium
der neuen Nierenchirurgie *= 1 setzen, wir
dieselbe im zweiten Decennium auf
im dritten auf 3 /s sinken sehen. Und das
gilt von der Gesammtheit der Operationen
so gut wie von jeder einzelnen.
So ist die moderne Nierenchirurgie, zu
der Simon vor kaum mehr als 30 Jahren
den ersten Grundstein legte, heute ein
stolzes Gebäude geworden, das wohl noch
in manchen Theilen des inneren Ausbaues
und der Ausschmückung bedarf, das aber
doch längst unter Dach ist und auf festen
Fundamenten ruhend als gesicherter Besitz
betrachtet werden kann.
Lassen Sie mich nun, meine Herren,
nach diesem kurzen historischen Rückblick
auf einige Fragen kommen, die in neuester
Zeit aufgeworfen sind und vielleicht eine
neue und bedeutsame Phase der Entwick¬
lung einzuleiten bestimmt sind.
Ernstes Forschen auf irgend einem Ge¬
biet wird nicht immer dadurch belohnt,
dass man Gesuchtes findet. Zuweilen er-
giebt sich ganz etwas Anderes, zuweilen
noch Vieles über das Gesuchte hinaus.
Auch manche Bereicherungen unserer
Kenntnisse auf dem Gebiete der Nieren¬
chirurgie sind mehr zufälliger Natur ge¬
wesen.
So ist es den zahlreichen anatomischen
Untersuchungen in vivo zu danken, dass
unsere Anschauungen über die Ursachen
der Nierenkolik viel reifer geworden sind,
als früher. Wir wissen heute, dass sie
nicht nur durch eingeklemmte Steine, son¬
dern durch jede rasch ansteigende Ver¬
mehrung der Kapselspannung ganz in
gleicher Weise bedingt wird. Wir haben
die verschiedensten Ursachen einseitiger
Nierenblutungen kennen gelernt und wissen
ihnen im Nothfall zu begegnen durch Be¬
seitigung von Abknickungen, durch Spal¬
tung geschrumpfter Kapseln, durch Nephro¬
tomie. Wir haben gelernt, dass es eine
Reflexanurie giebt, der Art, dass eine
ganz gesunde Niere plötzlich aufhören
kann, Urin zu secerniren, bloss deswegen,
weil irgend ein Reiz, z. B. die Einkeilung
eines Steines, die sympathischen Nerven
der andern trifft; und wir wissen, dass die
Beseitigung dieses einseitigen Reizes ge¬
nügt, um sofort die Function beider Nieren
wieder herzustellen. Einige neue Erfah¬
rungen scheinen darauf hinzudeuten, dass
das chirurgische Messer auch andere Ur¬
sachen der Anurie und Oligurie zu besei¬
tigen im Stande ist, und auf diese Beobach¬
tungen, die eine neue Perspective für eine
Gegenwart 1903. Mai
erfolgreiche Therapie mancher bisher hoff¬
nungsloser Fällen zu eröffnen scheinen,
möchte ich Ihre Aufmerksamkeit einen
Augenblick lenken, da es gerade hier
wesentlich von der gemeinsamen Arbeit
der inneren Aerzte und der Chirurgen ab-
hängen wird, festzustellen, wie weit solche
Hoffnungen berechtigt sind.
Das Thema wurde unter dem Titel:
Renal Tension and its treatment by surgi-
cal means — Nierenspannung und ihre Be¬
handlung durch chirurgische Mittel — von
Reginald Harrison im vergangenen Jahre
zum Gegenstand seiner Präsidentenrede in
der Londoner Medical Society gemacht,
nachdem er schon 1896 seine ersten Beob¬
achtungen in dieser Richtung veröffent¬
licht hatte.
Harrison theilte zunächst eine Anzahl
von Fällen mit, die das Gemeinsame hatten,
dass einseitige Nierenerkrankungen Vorlagen
mit Albuminurie, Hämaturie, einseitigen,
theils dauernden, theils zu kolikartigen
Anfällen sich steigernden Schmerzen und
auffallender Herabminderung der Nieren-
secretion. Die klinischen Symptome waren
zum Theil so heftige, dass Nierensteine
oder Nierenabscesse diagnosticirt wurden
und Harrison sich auf Grund solcher An¬
nahmen zu chirurgischen Eingriffen ent¬
schloss. Und die Incision legte so extrem
gespannte und geschwollene, purpurrothe
oder blaurothe Nieren bloss, dass auf den
ersten Blick erst recht an Nierenabscesse
gedacht wurde. Eine Incision, eine Nieren¬
spaltung entleerte reichlich Blut und Urin,
liess aber weder Steine noch Abscesse
entdecken. Indess sofort nahm die Nieren-
secretion zu und stieg eventuell in Zeit
von 24 Stunden auf das Doppelte des
früheren; die Schmerzen und bald auch die
Albuminurie Hessen nach, urämische Symp¬
tome verschwanden und die Patienten
wurden gesund. Und der Verlauf war ganz
derselbe, mochten nun die bedrohlichen
Erscheinungen sich an Scharlach, Influenza,
wiederholte Erkältungen oder an ein Trauma
angeschlossen haben.
Harrison zog aus seinen Beobachtun¬
gen den Schluss, dass die extreme Span¬
nung der Kapsel und die dadurch herbei¬
geführte Stauung die Rückbildung eines
Entzündungsprocesses wie dieUrinsecretion
zu hindern im Stande sei. Er gewann die
Ueberzeugung, dass Aufhebung der Span¬
nung durch Incision der Niere genüge,
um dem Entzündungsprocess die Tendenz
zur Heilung zu geben und die Harnsecre-
tion wieder in Gang zu bringen. Er fand
ferner, dass es genüge, eine Niere zu in-
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
227
Mai Die Therapie der
cidiren, um auch die andere zu entlasten.
Ja, selbst die günstige Rückwirkung solcher
Entlastung auf schon entwickelte Herzhyper¬
trophie konnte in einem Falle demonstriert
werden.
In praktischer Beziehung schlägt Har-
rison vor, diese Erfahrungen in erster
Linie bei der acuten Scharlachnephritis zu
verwerthen, und zwar erstens dann, wenn
dieselbe nicht in der normalen Zeit zurück¬
geht, sondern in den chronischen Morbus
Brightii überzugehen droht, und zweitens
und ganz besonders dann, wenn im acuten
Stadium eine Suppressio urinae auftritt
und Urämie droht oder beginnt.
Der wohlthätige Einfluss der Nieren¬
spaltung auf entzündliche Processe der
Niere ist seit Harrison’s erster Mitthei¬
lung vielfach constatirt worden. Auf die
bekannte Arbeit von James Israel, der
die Nierenspaltung besonders bei Haemat-
urien und Nierenkoliken in Anwendung
zog, will ich hier nur im Vorübergehen
hinweisen. Aber wichtige neue Bestätigungen
und Erweiterungen jener Erfahrungen
brachte die letzte Sitzung der französischen
Gesellschaft für Urologie, in welcher
Loumeau und Reyn£s von Marseille,
vor allem aber Pousson eine Reihe von
einschlägigen Erfahrungen mittheilten. In
den Fällen von Loumeau, von Reyn£s
sowie in dem einen von Pousson handelte
es sich um Zustände, die als acute Con-
gesdon einer Niere beschrieben werden
mit so starker Spannung und palpabler
Vergrösserung, dass man eine Pyonephrose
diagnosticirte. Die Freilegung und Spal¬
tung bewies, dass es sich nur um ganz
ungewöhnliche Congesdonszustände ge¬
handelt hatte. In allen Fällen wurde der
bludge und eiweisshaltige Urin wieder
normal und die beängsdgende Oligurie
hörte auf.
Noch interessanter waren vier weitere
Fälle Pousson’s. In diesen handelte es
sich theils um chronischen Morbus Brightii,
theils um Schrumpfnieren, einseitige so¬
wohl wie doppelseitige. Schwere urämische
Symptome, enorme Kopfschmerzen, be¬
ängstigendes Sinken der Urinsecretion be¬
stimmten Pousson zur Nephrotomie, die
stets, auch in den doppelseitigen Fällen,
nur einseitig ausgeführt wurde. Auch hier
war der Erfolg zunächst immer ein über¬
raschend guter, insofern als die Urin-
secredon sdeg, Kopfschmerzen und Oedeme
schwanden und das subjective Befinden
sich gewaltig besserte.
Von ganz besonderer Wichtigkeit ist
die Beobachtung Pousson’s bei einer
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Gegenwart 1903.
31jährigen Frau: Linksseitige Nieren¬
blutungen, Oligurie (700—800), urämische
Symptome: Erbrechen, Kopfschmerz, Dys¬
pnoe, Sehstörungen. Nephrotomie. Urin¬
menge nach 48 Stunden 2000. Schnelle
Besserung!
Diese Besserung wich indess einer zu¬
nehmenden Verschlechterung, je mehr die
Wunde heilte, Abermals stellten sich
urämische Symptome ein. Da nun unter¬
dessen constatiert war, dass die rechte
Niere gesund war, wurde die früher nur
incidirte linke jetzt exstirpirt. Eine rapide
Heilung erfolgte, die Urinmenge hielt
sich dauernd auf 1600 und die Patientin
genas vollkommen. Ihre völlige Gesund¬
heit wurde nach zwei Jahren und zehn
Monaten festgestellt.
Das neue und ausserordentlich Inter¬
essante an den Pousson’schen Mit¬
theilungen, was früher nicht in dieser
Schärfe beobachtet war, sehe ich haupt¬
sächlich darin, dass sie die Existenz einer
Reflexanurie beweisen, die nicht durch
mechanische Verlegung der abführenden
Wege ausgelöst wird, sondern gelegent¬
lich auch durch eine einseitige Nephritis,
und dass dieser Reflex am sichersten auf¬
gehoben wird durch die Exstirpation
der kranken Niere.
Lassen Sie mich endlich noch kurz
die Bestrebungen des verdienten New-
Yorker Arztes Edebohls erwähnen, die
vielleicht die allerwichtigsten Fortschritte
in der Therapie von Nierenkranken an¬
zubahnen erlesen sind. Edebohls machte
die Erfahrung, dass von fünf nephritischen
Wandernieren drei durch die Spaltung der
Kapsel, die gelegentlich der Nephropexie
vorgenommen wurde, dauernd zur Heilung
gebracht wurden.
Edebohls erdachte in Folge dessen
eine Operation, die er „Decorticatio“ oder
„Decapsulatio“ nennt, und die im Spalten
und Abziehen etwa der halben Kapsel der
nephritischen Niere besteht. Nur zweimal
exstirpirte er die Kapsel ganz. Die so
von der Kapsel entblösste Niere wurde
dann angenäht.
Im Ganzen wurden 18 operirt, 14 ein¬
seitig, 4 doppelseitig. 13 mal handelte es
sich um interstitielle, 5 mal um parenchy¬
matöse Nephritis. Niemals trat ein Todes¬
fall, ausnahmslos dagegen Besserung ein.
Von den neun Patienten, bei denen seit
der Operation mehr und zum Theil der
beträchtlich mehr als ein Jahr vergangen
war, waren acht völlig geheilt, die neunte
ohne Frage sehr gebessert. Sie konnte
später eine einseitige Nierenexstirpation
29*
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UN1VERSITY OF CALIFORNIA
228
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mai
überstehen, um dann noch fünf Jahre zu
leben.
Meine Herren! Was jüngst noch Israel
in seiner Kontroverse mit Senator als
eine ganz ungerechtfertigte Unterstellung
zurückwies, die Meinung, als erstrebe er
eine chirurgische Behandlung des
Morbus Brightii, das sehen wir bei
Edebohls bereits klar und scharf aus¬
gesprochen in optima forma als bewusste
und scharf pointirte Absicht mit der vollen
Ueberzeugung nicht nur von der hypo¬
thetischen, sondern von der bereits be¬
wiesenen Möglichkeit des Erfolges. Ich
kann jedes weitere Wort sparen, die un¬
geheuere Tragweite eines solchen Ge¬
dankens auszumalen.
Wie kann man sich nun vorstellen,
dass so merkwürdige Heilungen durch so
einfache Mittel zu Stande kommen.
Edebohls giebt auch dafür eine Er¬
klärung, der wir eine gewisse Berechtigung
nicht absprechen können.
Er erinnert an die weitgehende, uns
allen ja bekannte Fähigkeit gesunden
Nierenparenchyms, vicariirend die Funktion
von zu Grunde gegangenem zu übernehmen.
Wie eine eine ganze gesunde Niere ein-
treten kann für den verloren gegangenen
Paarling, der zurückgebliebene Nierenrest
für den gesunden Theil, so können auch
gesund gebliebene Theile einer erkrankten
Niere durch Hypertrophie des übrigge¬
bliebenen noch funktionirenden Parenchyms
die zu Grunde gegangenen Theile ersetzen.
Die Möglichkeit einer vollkommenen
Heilung des Morbus Brightii beruht zum
Theil ohne Zweifel auf diesem Gesetz.
Aber Bedingung ist, dass die Blutcirculation
ungestört sei.
Edebohls fand nun 3 mal bei Opera¬
tionen an Nieren, die früher einmal ange¬
näht gewesen waren, starke bindegewebige
Cohäsionen zwischen Niere und Umgebung,
die von zahlreichen und blutreichen Ge-
fässen durchzogen waren. Alle arteriellen
Gefässe hatten die Richtung nach der
Niere, die Operation hatte also eine
wesentliche Vermehrung der arteriellen
Blut Versorgung für die Niere zur Folge
gehabt. Diese ist es vermuthlich, die „eine
allmähliche Resorption der interstitiellen
und intertubulären Entzündungsproducte
herbeiführt. Dadurch wird die Circulation
wieder eine normale und die regenerative
Neubildung von functionsfähigem Epithel
wird möglich.“ — So die Worte Edebohls!
Setzen wir an die Stelle der letzteren,
bekanntlich unrichtigen, Vorstellung die
Worte: „Die anatomische Hypertrophie
und die functioneile Leistungssteigerung
des erhalten gebliebenen secernirenden
Parenchyms wird möglich“, so haben wir
es in der That mit einer Vorstellung zu
thun, die wir nicht berechtigt sind, in das
Gebiet der Utopien zu verweisen.
Wir werden Edebohls vielleicht bei¬
stimmen müssen, wenn er dabei an den
günstigen Einfluss der Talma’schen Ope¬
ration auf die Lebercirrhose erinnert und
die Meinung ausspricht, dass Adhäsionen
zwischen Leber und Zwerchfell vielleicht
auch noch mehr leisten werden, als bloss den
Rückfluss des venösen Blutes zu erleichtern.
Edebohls räth, einstweilen einmal
jeden Morbus Brightii zu operiren, der
nicht an unheilbaren Complicationen leidet
und voraussichtlich mindestens noch einen
Monat zu leben hat. Denn die günstige
Wirkung der Decortication kann nicht vor
dem zehnten Tage beginnen uud sich nur
sehr langsam vollziehen.
Meine Herren! Es würde zweifellos
ein grosser Fehler sein, auf Grund der
wenigen bisher vorliegenden Thatsachen
allzu sanguinisch in die Zukunft zu sehen.
Was aber vorliegt, ist doch ernst genug,
um eine eingehende und sorgfältige Prü¬
fung zu verdienen. Erfüllt sich nur ein
Theil von den Hoffnungen, die man an
diese neueste Phase chirurgischer Eingriffe
bei Nierenkrankheiten knüpfen kann, so
stehen wir heute unzweifelhaft vor einem
der grössten therapeutischen Fortschritte,
die je auf dem Gebiete der Erkrankungen
lebenswichtiger innerer Organe gemacht
worden sind.
Ihre Aufmerksamkeit auf diese neuen
Anschauungen zu lenken, Sie um ihre
thätige Mitwirkung bei der Prüfung auf
ihren wahren Inhalt zu bitten, war der
Zweck meines Vortrags.
Bücherbesprech u ngen.
F. Gumprecht. Die Technik der spe-
ciellenTherapie. EinHandbuch für
die Praxis. III Auflage 1903. G. Fischer,
Jena. 8 Mk.
Dass dieses Buch in einem Zeitraum
von 5 Jahren 3 Auflagen erlebt hat, beweist
am besten, dass es einem wirklichen Be-
dürfniss des ärztlichen Publikums entgegen¬
gekommen ist. Die praktische und gefällige
Form in der es geschrieben ist, hat zu
seiner schnellen Verbreitung wesentlich
beigetragen und so bedarf diese jüngste
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Mai
229
Die Therapie der
Auflage schon keines Wortes der Empfehlung
mehr. Neu hinzugekommen sind die Kapitel
über Brustschnitt mit Rippenresecdon über
die Methoden zur Erzeugung von lokalen
Anästhesien und über die Narkose. U.
A. Albu. Die vegetarianische Diät;
Kritik ihrer Anwendung für Ge¬
sunde und Kranke. Leipzig 1903.
G. Thieme. 4 Mk.
Wenn ich das Geständniss an die
Spitze der Besprechung setze, dass ich
das Albu’sche Buch in einem Zuge und
mit anhaltendem Interesse bis zu Ende
durchgelesen, so bedeutet dies mindestens
eine Anerkennung der nicht langweiligen
Factur desWerkchens. Weit entfernt von
Phrasen und allzuscharf-schartigen Sätzen
geht der Verfasser seiner im Titel gezeich¬
neten Aufgabe ebenso vorsichtig als sorg¬
fältig zu Leibe; gerade als Einer, der theore¬
tisch und praktisch Stoffwechselfragen be¬
herrscht, eignet sich Albu trefflich zum
Verteidiger der wissenschaftlichen Diätetik
gegenüber den unwissenschaftlichen An¬
griffen seitens der Vegetarianer. Ge¬
schichte, Litteratur, Umgrenzung der Be¬
griffe: Vegetarismus und Vegetarier bilden
die allgemeine Einleitung; die sog. Beweis¬
mittel der Lehre, die sie sich aus allen
Zweigen und Unterlagen der Geistes- und
Naturwissenschaften, von der Entwicke-
lungsgeschichle, insbesondere der ver¬
gleichenden, von der Urgeschichte und
Physiologie bis zu ästhetisch - religiösen
Bekenntnissen herbeiholt, werden ge¬
wissenhaft und objectiv geprüft und der
Reihe nach widerlegt bezw. in ihrem oft
so einfachen Kern aufgeklärt; ich nehme
nur die klaren Auseinandersetzungen aus
zwei so verschiedenen Gebieten wie die
ethnologischen Grundlagen des Vegetaris¬
mus und ferner die oft behauptete Ueber-
wertigkeit der vegetarischen Lebensweise
für den Dauerlaufsport als besonders ge¬
lungene Theile heraus. — Im zweiten Theil
werden an der Hand der eigener Er¬
fahrung des Verfassers die therapeutischen
Indicationen, die Erfolge und auch die
Misserfolge der von Albu lactovegetabil
genannten Diät bei Neurosen sowohl bei all¬
gemeinen, als bei solchen des Magendarm¬
canals, bei Stoffwechselaffectionen etc. ge¬
schildert. — Mit einem zusammenfassenden
Schlusswort und ausführlichen Litteratur-
angaben (auch der populären Schriften)
schliesst das 168 S. starke Werk, dem wir
die beste Prognose auszustellen vermögen.
B. Laquer (Wiesbaden).
Gegenwart 1903.
L. Freund (Wien). Grundriss der ge-
sammten Radiotherapie für prak¬
tische Aerzte. 1903. Urban & Schwar¬
zenberg. Berlin-Wien. 12 Mk.
Der Versuch, den der Verfasser unter¬
nahm „die Grundsätze einer neuen The¬
rapie dem Verständniss eines grösseren
Kreises von Aerzten zugänglich zu machen
und nicht nur die Techniken, die Indica¬
tionen und die voraussichtlichen Resultate
der verschiedenen radiotherapeutischen Me¬
thoden in verständlicher Weise darzu¬
stellen, sondern auch durch Zusammen¬
fassung der fundamentalen physikalischen
Gesetze, welchen die hier besprochenen
Naturkräfte folgen, sowie deren soge¬
nannter physiologischer Wirkungen höhe¬
ren Ansprüchen gerecht zu werden“, muss
als ein wohlgelungener bezeichnet wer¬
den. — Das Buch fördert die Verbreitung
der Kenntnisse und der Vorkenntnisse
über Strahlenbehandlung unter den prak¬
tischen Aerzten und damit auch die Mög¬
lichkeit, dass auch der Praktiker in diese
Therapie sich einzuführen und sie auszu¬
üben vermag.
Die Elemente der Elektricitätslehre
werden im Kap. I behandelt.
Kap. II umfasst die Behandlung mit
Hochfrequenzströmen, ihre Indicationen;
im Anhang wird auch die elektromagne¬
tische Permea-Behandlung geschildert.
Kap. III schildert die Behandlung mit
X-Strahlen, ihre Methoden,Heilanzeigen, die
Vermeidung von Schädlichkeiten; Becquerel¬
strahlen Kap. IV, Phototherapie, Kap. V
folgen; wir können das mit Autoren- und
Sachregister versehene, treffliche Werk in
jeder Hinsicht empfehlen.
B. Laquer (Wiesbaden).
E. Jaeobl. Atlas der Hautkrankheiten
mit Einschluss der wichtigsten
venerischen Erkrankungen für
praktische Aerzte und Studirende.
I. Abtheilung. Berlin-Wien bei Urban
& Schwarzenberg. 1903. Preis 12,50 M.
Kaum in einem anderen Zweig der
praktischen Medicin ist das Bedürfniss
nach guten Bildwerken so gross wie in
der Dermato - Syphilidologie. Bei dieser
Specialität, wo es aufs Sehen in aller¬
erster Linie ankommt, kann eine gute Ab¬
bildung dem Verständniss förderlicher sein,
als ausführliche und eingehende Beschrei¬
bungen. Wir besitzen nun zwar schon
eine Anzahl Atlanten. Allein dieselben sind,
wenn sie gut sind, so theuer, dass der
Praktiker nicht auf sie recurriren wird, oder
sie sind wohlfeil, dann aber meistens doch
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230
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
nicht allen Anfordei ungen an eine gute
Reproduction vollkommen entsprechend.
Der vorliegende Atlas, dessen erster Theil
bisher erschienen ist, ist auf dem Wege
einer der neuesten photomechanischen
Methoden und zwar der von Dr. Albert in
München erfundenen Citochromie herge¬
stellt worden. Die Bilder sind nach Mou¬
lagen angefertigt worden, welche der
Breslauer, der Berliner Klinik, der Lassar-
sehen Sammlung, dem Hospital St. Louis
und einigen anderen Instituten entstammen.
Die Auswahl der Bilder ist so getroffen,
dass nicht gerade seltene, sondern die
wichtigen und häufigen Dermatosen abge¬
bildet sind. Im zweiten Theil werden
auch die venerischen Krankheiten in Be¬
zug auf ihre wichtigsten Erscheinungs¬
formen dargestellt werden. Die Repro¬
duction ist in der That ausgezeichnet;
und es ist ein grosses Verdienst des
Autors, das Verfahren in die medicinische
Praxis eingeführt zu haben. Von jeder
reproducirten Krankheit ist eine kurze,
die wichtigsten Momente berücksichtigen¬
den Beschreibung gegeben. Wir haben
einen Atlas, der von den bisher vorhandenen,
wie Neisser mit Recht in dem Begleitwort
hervorhebt, nur von dem grossen He bra¬
schen Atlas übertroffen wird. Keiner der
kleineren Bildwerke erreicht ihn. Für den
Praktiker, der fern von den medicinischen
Centren gerade in dieser Specialität oft
sich schwer orientiren kann, wird der Atlas
ein gutes Hülfsmittel, für den Studirenden
ein vortreffliches Nachschlagebuch sein zur
Auffrischung des früher Gesehenen. Ich
glaube, dass das Werk zur Verbreitung der
Kenntnisse unserer Specialität, welche na¬
türlich durch einen Atlas allein nicht, son¬
dern durch eigene Anschauung gewonnen
werden kann, die aber sehr durch ein
gutes Bildwerk ergänzt werden, ausser¬
ordentlich fördernd sein wird. Es sei gerade
denen, für die es bestimmt ist, den Studi¬
renden und dem praktischem Arzt empfohlen.
Buschke (Berlin).
Referate.
Spontanzertrümmerungen von
Blasensteinen sind ausserordentlich selten
beobachtete Vorkommnisse. Ganz interessant
ist eine Mittheilung von L. Görl (Nürnberg),
der zufolge er einen solchen Vorgang in
der Blase cystoskopisch controliren konnte.
Bei einem Kranken, der an Steinbeschwerden
und starker Fettsucht litt, konnte Verf. durch
das Cystoskop einen grossen Harnsäure¬
stein (2:1 cm) in der Blase erkennen.
Nach einer Entfettungscur waren die Stein¬
beschwerden verschwunden und es liess
sich auch cystoskopisch feststellen, dass
jetzt zwei erbsengrosse gleichmässig runde
Steine vorhanden waren. Von diesen ging
einer spontan ohneBeschwerden, der andere
spontan aber unter Schmerzen ab und da¬
mit war die Blase concrementfrei. Nach
Verfassers Meinung ist die Ursache dieser
Lösung und Spontanzertrümmerung des Stei¬
nes in der Blase die veränderte Beschaffen¬
heit des Urins gewesen, die sich infolge
der Entfettungskur bei gleichzeitigem Ge¬
brauch von Lithionwässern eingestellt hat.
F. Umber (Berlin).
(MQnch. med. Wochenschr. 1903, No. 14.)
In einer der H. Neumannschen
Poliklinik entstammenden Arbeit über
rheumatische Chorea und ihre anti¬
rheumatische Therapie bestätigt
Kobrak für seine Fälle zunächst den Zu¬
sammenhang des Leidens mit anderen
rheumatischen Symptomen am gleichen
Individuum, um weiterhin über die bei der
Behandlung gesammelten Erfahrungen zu
berichten. In 17 Fällen mit ausgesprochen
rheumatischen Antecedentien oder Begleit¬
erscheinungen kam 11 mal Aspirin zur
Anwendung, 9 mal war dabei ein Vergleich
der Arsen- und Aspirinwirkung auf die
Zuckungen möglich. 5 mal war Aspirin
dem Arsen überlegen, 2 mal gleich, 1 mal
sicher, 1 mal wahrscheinlich weniger wirk¬
sam. Im Ganzen wurde unter 11 Fällen
9 mal gute Wirkung gesehen. Von 5 nicht
mit Aspirin behandelten Fällen waren 4,
bei denen Arsen gegeben wurde. Nur
einmal war hier Erfolg zu sehen, 2 mal
wurde daneben noch glycerinphosphor¬
saures Natrium versucht; beidemal mit
gewissem, aber nicht sehr ausgesprochenem
Nutzen, 1 mal wurde nur glycerinphosphor¬
saures Natrium gegeben, ohne überzeugen¬
den Erfolg. Bei den exquisit rheumatischen
Fällen ist also Aspirin dem Arsen vorzu¬
ziehen.
In 7 weiteren Fällen, wo Rheumatis¬
mus weder in Anamnese noch im weiteren
Verlauf bemerkt war, zeigte sich Arsen
5 mal exquisit wirksam. 2 mal leistete
Aspirin mehr.
Völlig wirkungslos steht Aspirin der
Entwicklung von Herzfehlern gegenüber,
ebenso Arsen.
Neben den Medicamenten sind hydro-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
231
Mai Die Therapie der Gegenwart 1903
therapeutische Maassnahmen, beruhigende
Packungen, besonders Schwitzpackungen,
täglich 1 mal Vormittags sehr nützlich.
Die letzten sind zu unterlassen bei Herz¬
fehlern und schlecht genährten Blutarmen.
Bettruhe ist nöthig. Zu hohe Aspirindosen
sind nicht rathsam, Kobrak gab 3—4x0,5
pro die. Finkeistein.
(Archiv f. Kinderheilk. 36.)
Vor einiger Zeit hat Dr. Focke (Düssel¬
dorf) in dieser Zeitschrift (1902, S. 44) darauf
hingewiesen, wie sehr die Wirksamkeit der
Digit&lisblätter durch Lagern abnimmt,
so dass ein im Juli aus vorjährigen Blättern
bereitetes Infus viermal schwächer wirkt
als ein Infus, welches im selben Monat aus
eben geernteten Blättern bereitet wird. In¬
zwischen hat Focke in einer andern Arbeit
gezeigt (Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 46,
S. 377), dass die in der Litteratur be¬
schriebenen Digitalisvergiftungen fast
alle durch den Genuss von Infusen aus
frischen Blättern zu Stande gekommen sind.
Neuerdings hat der unermüdliche Autor
sich in eigener experimenteller Thätigkeit
der Werthbestimmungder Digitalisblätter
zugewandt. Die von ihm angewandte
Methode besteht in der Erschöpfung von
2 g getrockneter und gepulverter Digitalis¬
blätter mit 24 ccm kochenden Wassers;
das Filtrat wird auf 20 ccm gebracht und
hiervon einem Frosch in den Oberschenkel-
Lymphsack injicirt, bis systolischer Dauer-
Stillstand des freigelegten Herzens eintritt.
Der Giftwerth (V) besteht in dem Verhältniss
von angewandter Dosis (d) und nothwendiger
Zeit (t) zum Gewicht (p) des Frosches
In Bezug auf die Verwerthbar-
keit dieser Methode, welche für die hier
in Betracht kommenden Verhältnisse ge¬
nügend brauchbar erscheint, macht Verf.
selbst mehrere Einschränkungen, die event
im Original nachzulesen sind.
Fock es Untersuchungen erstrecken sich
zuerst auf den Standort der Pflanzen. Er
bestätigt die bekannte Thatsache, dass die
in Gärten cultivirte Digitalis weit weniger
wirksam ist als die wildgewachsene, und
dass die Kraft der letzteren in sehr
wechselnder Weise von ihrem Wuchsort
abhängig war; in dem einen Jahr war eine
Probe aus dem Harz besonders gut, im
nächsten Jahr eine aus dem Schwarzwald,
im dritten Jahre eine aus einem andern
Bezirk. Eine Gleichmässigkeit des Heil-
werthes wäre nur dadurch zu erzielen, dass
in Grosshandlungen verschiedene Posten
aus verschiedenen Gegenden durcheinander-
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gemischt werden. Ferner wurde das Ent¬
wickelungsstadium der Pflanzen studirt;
am wirksamsten sind die Blätter aus der
Zeit des Blühens, wie denn auch die ältere
Pharmacopoe folia e plantis florescentibus
verlangt; es blühen aber die zweijährigen
Pflanzen in den ersten Julitagen, die ein¬
jährigen Anfang August. — Neue Versuche
bestätigten die Erfahrung des „Alterns“ der
getrockneten Digitalisblätter in den Apo¬
theken, sodass sie im Laufe eines Jahres
den grössten Theil ihrer Wirksamkeit ver¬
lieren. Meist tritt die Zersetzung schon in
den ersten Wochen auf; eine Probe verlor
69% ihres Giftwerthes in 3 Wochen, eine
andere 76 % in 2s/ 4 Monat u. s. w. Hier¬
bei war nicht etwa das Licht wirksam,
sondern nur die Feuchtigkeit der Blätter,
die beim Trocknen zurückgeblieben oder
beim Aufbewahren wieder eingedrungen
war. Focke verlangt danach — und er
stimmt darin vollkommen überein mit den
Forderungen von Kobert und A. Wolff
(diese Zeitschr. 1902, S. 424), dass in den
Gross-Drogenhandlungen die Digitalisblätter
sofort nach dem Eintreffen schnell soweit
getrocknet werden sollen, dass der Wasser¬
gehalt unter 1,5 % betrage, dass hierauf
bei gleichmässiger trockener Wärme die
Blätter grob gepulvert und nun Quantitäten
von verschiedenen Standorten gleichmässig
gemischt werden. In den Apotheken sollen
diese groben Pulver in kleinen Quantitäten
(zu etwa 50 g) in luftdicht verschlossenen
Gefässen aufbewahrt werden. Die Anregung
Focke’s, dass so hergestellte Blätterpulver
an Stelle der ganzen Blatter in die Phar-
mokopoe aufgenommen werden sollten,
verdient allgemeine Unterstützung. — Bis
auf weiteres wäre den Aerzten zu empfehlen
Digitalisblätter bekannter Herkunft zu ver¬
schreiben, die in ähnlicher Weise präparirt
sind, also die Blätter von Siebert und
Ziegenbein (Marburg) oder Brunnen¬
gräber (Rostock); auch das Digitalis-
dialysat von Golaz, dessen Wirksamkeit
experimentell geprüft ist, vei dient empfohlen
zu werden. G. Klemperer.
(Archiv d. Pharmacie 1903, S. 128.)
Einen Beitrag zur Kenntniss des
N.-Stoffwechsels bei Fettsucht der
Kinder liefert Hellesen durch Bilanz¬
versuche bei einem 12V 2 jährigen, 48 kg
schweren Mädchen aus mütterlicherseits zur
Fettsucht neigender Familie. Die Versuche
umfassen Perioden mit Erhaltungskost,
Perioden mit starker und solche mit
schwacher Unterernährung bei vorwiegen¬
der Verminderung einmal des Fettes,
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UNIVERSUM OF CALIFORNIA
232
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Mai
andermal der Kohlehydrate. Es ergab
sich zunächst in Bestätigung aller bisher
bekannten Versuche, dass eine Herab¬
setzung des Stoff- oder Energieverbrauches
auch bei diesem Kinde aus den Zahlen
nicht herauslesbar war; der direkte Ver¬
gleich mit einem normalen, gleichaltrigen
Mädchen zeigte übereinstimmenden Bedarf:
Zwar verbrauchte das Vergleichskind pro
Kilo 51,1 Kalorien gegenüber 43,4 des fetten
Kindes, aber auf die (direkt gemessene)
Oberfläche berechnet verblieben gleiche
Werthe. Wahrscheinlich war eine ge-
wohnheitsgemäss geringe Muskelarbeit im
Spiele. — Weiterhin zeigte es sich, dass
es keineswegs leicht war, bei der Unter¬
ernährung N.-Verluste zu verhüten. Bei
stärkerer Unterernährung ( 2 /s der Er¬
haltungsdiät) war der N.-Verlust selbst bei
reichlicher Eiweisszufuhr überhaupt nicht
zu umgehen, bei leichterer wirkte Ent¬
ziehung von Kohlehydraten viel ungünstiger
auf die N.-Bilanz, als solche von Fett; bei
vorwiegender Eiweiss-Kohlehydratdiät ge¬
lang es sogar, trotz Abnahme des Körper¬
gewichts N.-Ansatz zu erzielen. Für die
Technik von Enfettungskuren beim Kinde
ergiebt sich hieraus als zweckmässig Ein¬
schränkung der Fettgabe bis herab zu
einem Kalorienwerth der Gesammtnahrung
der nicht unter 4 /§ der Erhaltungskost
fallen darf. Finkeistein.
(Jahrb. f. Kinderheilk. 57.)
Um die Bärentraubenblätter, Folia uv&e
UFSli die ja auch heute noch in der uro-
logischen Praxis besonders beim Blasen¬
katarrh ein werthvolles therapeutisches
Adjuvans darstellen, bequemer verabreichen
zu können, hat Werler ein Extractum
fluidum dargestellt, welches nach seinen
Erfahrungen die gleiche Wirkung entfaltet
— adstringirend und antiseptisch — wie
der Thee und vor letzterem den Vorzug
hat, dass nicht soviel Flüssigkeitsmengen
vom Patienten genommen werden. Er ver¬
abreicht es in folgender Weise:
JEkctracti fluid . uvae ursi . . . 15*0
S.: 3—4 mal tgl. 20—40 Tropfen auf Zucker
nach der Mahlzeit.
Ausserdem hat Werler ein Trockenextract
der Blätter in Tablettenform als zweck¬
mässig befunden. Er nennt das in diesen
Tabletten enthaltene Mittel ÜPOpurin und
lässt 3—4 mal täglich 1—2 Tabletten nach den
Mahlzeiten mit Wasser nehmen. Auch combi-
nirte Tabletten desUropurin mitSalol oder
Hexamethylentetramin oder Aspirin haben
sich ihm bewährt. Buschke (Berlin).
(Aerztl. Rundschau 1902, No. 16.)
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Für eine Reihe von Reizzuständen
im Urogenitalsystem empfiehlt Strauss
das Heroinum hydroehlorlcum als Seda¬
tivum, und zwar in Dosen von 0,01 inner¬
lich oder als Suppositorium. So hat es
ihm gute Dienste geleistet bei Pollutionen,
dann bei sexueller Neurasthenie, Sperma-
torrhoe; bei acuter Gonorrhoe gab er das
Mittel mit Erfolg bei schmerzhaften Erec-
tionen, Hodenschmerzen, Schmerzen in der
Harnröhre, bei Cystitis, Prostatitis; auch
nach operativen Eingriffen, wie Phimosen¬
operationen ist es empfehlenswerth. Selbst¬
verständlich werden gleichzeitig die sonst
üblichen therapeutischen Maassnahraen bei
den einzelnen Affectionen angewendet.
Vor dem Morphium hat es noch den Vor¬
zug, dass es nicht verstopfend wirkt.
Buschke (Berlin).
(MQnchener med. Wochenschr. 1902 No. 36.)
Die Erfolge, die Länderer mit der
Hetolbehandlung der Tuberkulose er¬
reicht haben will, hat Cantrowitz (Schmidts
Jahrbücher B. 271) durchaus bestätigt.
Ho ff-Wien (1901) behandelte Fälle von
Lungentuberkulose mit kräftigen Alkohol¬
verbänden über der vorderen Brustpartie,
die sich gegen das Fieber als durchaus
wirksam erwiesen. Nach Länderer*s
Veröffentlichungen machte Hoff Versuche
mit einer Solution die 3 % Zimmtsäure
enthielt. Daneben gab er 3 Mal täglich ein
Glas Peru-Cognac. Seine Erfolge damit
waren sehr gute.
Pflüger macht Mittheilungen über sub-
conjunctivale Hetolinjectionen bei Herpes
der Hornhaut, tiefen Hornhautgeschwüren,
parenchymatöser traumatischer Ceratitis,
recidivirender Scleritis. Pflüger injicirt
alle 2 Tage 0,4—0,4 cg einer 1 %igen
Hetollösung.
Frank kommt bei seinen therapeuti¬
schen Bemühungen mit Hetol zu dem
Schluss, dass die Hetolbehandlung bei be¬
ginnender Tuberkulose begründete Aus¬
sicht auf Besserung bietet. Auch bei tuber¬
kulösen Catarrhen empfiehlt sich diese Be¬
handlung.
Heusser rühmt ebenfalls die Hetol¬
behandlung die man allerdings noch unter¬
stützen soll durch Hochgebirgsklima, das
durch die trockene staubfreie Luft, Nebel¬
freiheit, Windstille mit viel Sonne beson¬
ders günstig wirkt. Soweit die Anhänger
der Hetolbehandlung.
E. Tobias macht darauf aufmerksam,
dass die Zahl der Gegner der Hetolbehand¬
lung nicht unbeträchtlich ist. Namentlich
sind die Erfolge, wie sie in Berlin an ver-
Orifinal from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Mai
233
Die Therapie d» r
schiedenen grossen Krankenhäusern ge¬
macht sind, nicht so günstig wie die
oben gegebenen Berichte. Tobias hebt
hervor, dass der Werth des Hetol viel- \
leicht auf dem Gebiete der Behandlung
lokaler Tuberkulosen zu suchen sein wird, |
wofür die oben erwähnten Erfahrungen j
von Pflüger aus der ophthalmologischen !
Praxis sprechen.
M. Rosenfeld (Strassburg).
(Fortschritte der Medicin 1902, No. 35.1
Durch eine grosse Anzahl von Arbeiten
hat Werl er bereits auf die Vorzüge und j
die praktische Brauchbarkeit des Hydrar- !
gypum colloidale einer in Wasser lös¬
lichen Form des metallischen Quecksilbers,
für die Syphilidologie und Chirurgie hin- I
gewiesen. In der vorliegenden Arbeit j
stellt er seine Erfahrungen, die an einem :
grösseren Material gesammelt sind, noch j
einmal zusammen. Für die Behandlung !
der Syphilis kommt in erster Linie in \
Betracht die Einreibungscur mit einer
10%igen Mercurcolloidsalbe. Hierbei
kommt es zu schneller und vollkommener
Resorption des Medikaments. Neben¬
erscheinungen hat Werl er nicht beob¬
achtet. Urinuntersuchungen ergaben, dass
die Ausscheidung des Quecksilbers lang¬
sam, allmählich vor sich geht, sodass eine
nachhaltige Quecksilberwirkung hierdurch
gegeben ist. Dem entsprechen auch die
guten therapeutischen Resultate. Die Menge
der applicirten Medikamente wird von der
Constitution des Patienten und der Inten¬
sität der Krankheitserscheinungen abhängig
gemacht. Als Anfangsdosis verwendet
Werler Einreibungen mit 2 g, geht als¬
dann allmählich zu 3 und 4 g über, so-
dass die Cur wie folgt verläuft:
erste 3 Tage = je 2 g
folgende 3 w = je 3 g
„ 30 „ = je 4 g
Bei sehr schweren Affectionen können
auch 5 g verwendet werden. Als höchste
Gesammtdosis genügen 240 g. Auch bei i
Kindern hat sich die Methode bewährt mit
entsprechend kleinen Dosen. Für prak¬
tische Zwecke wichtig ist, dass die Be- j
handlung nicht kostspielig ist. Neben der
Schmiercur bilden die Mercurcolloidpillen
für die interne Behandlung der Syphilis
eine brauchbare Form:
Hydrargyri colloidalis 0*3
Argillae alb •
Glycerini a. a, q. 8.
ut f. Fttulae No, 30
D. S. 3mal tgl. 1—2 Pillen
Digitized by Gougle
Gegenwart 1903.
Mercurcolloid . 3*0
Argillae alb, q, s,
ut f, rilulae No, 30
D. S. 3 mal tgl. 1—2 Pillen na< h der Malil/eit.
Verdauungsstörungen fehlen bei der An¬
wendung der Pillen fast gänzlich.
Zur lokalen Application von Queck¬
silber empfiehlt sich das Collemplastrum
Mercurcolloid oder Mercurcolloidsalbe ev.
mit Extractum Opii. Buschke (Berlin).
(Therapeutische Monatshefte 1902, Heft 1 und 4.)
Soll man Milzbrandpusteln bei Men¬
schen radical excidiren, oder exspectativ
behandeln? Die Ansichten darüber sind
bekanntlich noch keineswegs einheitliche.
Federschmidt (Duckelsbühl) theilt einige
einschlägige Beobachtungen mit, die er an
Arbeitern von Pinselfabriken seines Be¬
zirkes gesammelt hat. Es handelt sich um
10 Fälle von Pustula maligna, von denen
3 operativ vom Verfasser behandelt wurden
(Excision und feuchte Sublimatumschläge),
während die übrigen 7 Fälle nicht ope¬
rativ und nur mit antiseptischen Um¬
schlägen behandelt worden waren. Die
drei erstgenannten Fälle verliefen alle
ausserordentlich leicht, sogar ohne regio¬
näre Lymphdrüsenschwellungen, während
von den 7 übrigen 2 starben und 5 ge¬
nasen jedoch unter verhältnissmässig
schwererem Krankheitsverlauf. So geht
also auch aus dieser Beobachtungsweise
ein zweifelloser Erfolg der chirurgischen
Behandlung gegenüber der exspectativen
hervor. F. Umber (Berlin).
(MQnch. med. Wochcnschr. 1903, No. 14.)
Die Leser dieser Zeitschrift werden
sich noch des Aufsatzes von Riegel (Jahr¬
gang 1900, S. 337) über den Einfluss des
Morphiums auf die Magensaftsecretion
erinnern, in welchen er der fast allgemein
gültigen Meinung entgegentrat, das Mor¬
phium wirke auf die Magensaftdrüsen
secretionshemmend und sei desshalb bei
vermehrter Salzsäureabscheidung empfeh-
lenswerth. Riegel prüfte damals den Ein¬
fluss des Morphiums auf die Saftsecretion
bei Hunden mit Pawlow’scher Fistel und
konnte dabei stets eine secretionserregende
Wirkung konstatiren, die mit steigende
Dosis immer grösser wurde, Ergebnisse,
die sich ihm am Menschen bestätigten.
Das veranlasste ihn, die Verabreichung
von Morphium zum Zweck einer Ver¬
minderung der Salzsäuresecretion bei Ulcus
ventriculi direkt zu widerrathen. Diese
therapeutisch so wichtige Frage hat nun
Holsti (Helsingfors) wieder aufgenommen
30
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
234
Mai
Die Therapie der
und sie durch Beobachtungen an neun
Personen weiter verfolgt, denen in elf
Versuchen ein Ewald’sches Probefrühstück
zusammen mit Morphium in Dosen von
0,01—0,015 g verabreicht wurde, nachdem
Control versuche mit Ewald ’schem Probe¬
frühstück ohne Morphium vorausgegangen
waren. Neunmal hat sich dabei eine an¬
fängliche Hemmung der Saftsecretion be-
merklich gemacht, desgleichen in den beiden
übrigen Malen, sowie die Morphiumdosis
eine gewisse Höhe erreicht hatte (nämlich
0,015 g). Manchmal vermisste er sogar
die Salzsäure dabei gänzlich. Indess ging
dieses Stadium der Hemmung meist schnell
vorüber, um nach etwa eineinhalb bis zwei
Stunden von einer Erregung der Saft¬
secretion gefolgt zu werden. In drei Fällen
hatte Verfasser zwar anfangs eine Hem¬
mung der Saftsecretion und nichts von
Erregung derselben beobachtet. Jedoch
wirkte auch in diesen drei Fällen eine
geringere Dosis Morphium (0,01) deutlich
safterregend, 0,015 g Morphium dagegen
secretionshemmend. Aehnliche Resultate
ergaben auch entsprechende Versuche am
Nüchternen. Bei chronischer Verabreichung
kleinerer Morphiumdosen waren die Re¬
sultate noch wechselnder und nicht ein¬
deutig. Im Ganzen ist Verfasser der Mei¬
nung, dass die schädliche Wirkung des
Morphiums auf den Magen mehr einer
Störung der Motilität als einem Einfluss
auf die Magensaftsecretion zuzuschreiben
ist. Wenn auch zur definitiven Entschei¬
dung dieser Frage die Aushebungsversuche
am menschlichen Magen nicht wohl ge¬
eignet sind, weil dabei ja der nach dem
Duodenum hin entleerte Theil des Magen¬
saftes dabei ganz und gar vernachlässigt
werden muss — ein Einwand, den übrigens
Holsti auch selber nicht unterdrückt —,
so kann man doch wohl auch nach diesen
Beobachtungen an dem Riegel’schen Satz
festhalten, dass man bei Ulcus ventriculi
sowie bei Hypersecretio acida überhaupt
gut thut, die Darreichung von Morphium
nach Möglichkeit zu vermeiden.
F. Umber.
(Zeitschr. f. klin. Medicin, Bd. 49.)
In einer Arbeit: Beitrag zur Anwen¬
dung des Murphyknopfes bei Magen-
und Darmoperationen liefert Neu¬
weiler zunächst einen geschichtlichen
Ueberblick über die ganze bisherige Ent¬
wicklung dieser Frage, indem er die ge-
sammte europäische Litteratur und die haupt¬
sächlichsten amerikanischen Veröffent¬
lichungen berücksichtigte. Neu weil er
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Gegenwart 1903.
kommt zu dem Schluss, dass die Anwen¬
dung des Knopfes in Amerika viele, in
England und Frankreich dagegen fast
keine Anhänger habe, und dass derselbe
in Deutschland auch nur von wenigen
Chirurgen öfter angewandt werde. Auf
Grund von 28 eigenen Fällen und der in
der Litteratur niedergelegten, zieht Neu¬
weiler dann einen Vergleich zwischen
den Vorzügen und Nachtheilen der Knopf¬
methode gegenüber der Naht. Die Haupt¬
vorzüge sind die grössere Schnelligkeit
des Operirens, die für heruntergekommene
Kranke, mit denen man es doch in vielen
Fällen zu thun hat, eine entscheidende
Rolle spielen kann, ferner die Einfachheit
der Technik und die leichtere Handhabung
der Asepsis, weil man nur an einem
offenen Darmlumen zur Zeit zu arbeiten
braucht. Dann sollen sich an der Ana-
stomosenstelle weniger Adhäsionen und
Pseudomembranen bilden als bei der Naht.
Bei den cirkulären Darmverbindungen
ist in Bezug auf spätere Verengerung die
Knopfmethode der Naht etwas überlegen,
während sich sonst in funktioneller Be¬
ziehung beide Methoden ungefähr gleich
stehen. Ein Vergleich beider Methoden
bezüglich ihrer Leistungen bei den ver¬
schiedenen Operationen; Resection von
Dick- und Dünndarm, Pylorusresection
und Gastroenterostomieen bei gutartiger
und maligner Pylorusstenose führt zu fol¬
genden Schlüssen:
Bei der Vereinigung der zwei Enden
eines resecirten Dickdarmes ist die Ge¬
fahr der Verstopfung des Knopllumens und
der Perforation sehr gross. Bei seitlicher
Anastomose kommt noch der Nachtheil hin¬
zu, dass man die Oeftnung nicht beliebig
gross machen kann. Bei diesen Operationen
verdient die Naht den Vorzug. Bei einer
Anastomose zwische Dünn- und Dickdarm
darf man nur dann den Knopf verwenden,
wenn die Darmwände nicht zu sehr ver¬
dickt sind und eine Annäherung zur End-
zu End oder zur End- zu Seit-Anastomose
ohne Spannung möglich ist, sonst mache
man stets die Naht.
Bei Resection des Dünndarms wegen
Einklemmung in einer Hernie verdient
nach Verfasser der Knopf den Vorzug
wegen der Ungleichheit der zu ver¬
einigenden Darmlumina und derödematösen,
morschen Beschaffenheit der zuführenden
Schlinge, beides Dinge, die die Naht sehr
erschweren und weil grade in diesem Fall
die Gefahr der Perforation und der Ver¬
engerung der Nahtstelle sehr gross sein
soll. Bei Enteroanastomose am Dünndarm,
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Mai
Die Therapie der
ist ebenfalls wie am Dickdarm, die Naht
vorzuziehen.
Bei einer Gastroduodenostomie nach
Pylorusresection empfiehlt Verfasser ganz
besonders den Knopf, nicht zum wenigsten
wegen der Abkürzung der Operation, und
weil die Funktion ausnahmslos sehr gut
sei und der Knopf fast immer symptomlos
abgehe.
Bei der Wölfler’schen Methode der
Gastroenterostomie verwirft Verfasser unter
allen Umständen den Knopf, es sei denn,
dass man die Braun’sche Anastomose
(mittelst Knopf) dazu mache. Dagegen
soll die v. Hacker'sche Methode auch mit
dem Knopf stets gute Resultate geben, der
Knopf hierbei auch kaum je in den Magen
fallen, was doch bei der vorderen Ana¬
stomose recht häufig ist.
Doch sieht Verfasser einen Ausschlag
gebenden Unterschied in der Art der
Pylorusstenose, ob carcinomatös oder gut¬
artig. Im letzteren Fall, wo die Patienten
immerhin Aussicht auf ein längeres Leben
haben, hält er die Vereinigung durch Naht
für besser, einmal, um das Liegenbleiben
des Fremdkörpers im Magen von vorn¬
herein auszuschliessen, und dann, weil eine
nachträgliche Narbenstenose bei einer
exacten Vereinigung der Schleimhaut durch
die Naht wohl kaum vorkommt.
Wichmann. Altona.
(Langenbeck’s Archiv, Band 69, Heft 3 und 4.»
Die Ernährung unserer Nierenkran¬
ken bespricht der holländische Kliniker
P. K. Pel in einem sehr anregend ge¬
schriebenen Aufsätze, dessen Wieder¬
gabe unsern Lesern freilich wenig Neues
bringen dürfte. Pel weist mit Recht darauf
hin, das aprioristische Betrachtungen und
einseitige Verwertung experimenteller
Beobachtungen zu ergötzlichen Wider¬
sprüchen in den diätetischen Verordnungen
verschiedener Kliniker geführt hätten. So
will der eine die Nierenkranken ganz ohne
Fleisch ernähren, der zweite nur weisses
Fleisch gestatten, während ein dritter
gerade Kalbfleisch für schädlich hält; ein
amerikanischer Arzt rühmt gerade die
Fleischdiät als bestes Mittel zur Bekämpfung
der Albuminurie. Ueber Fischnahrung ist
ebensowenig Einigkeit unter den Gelehrten
wie über Eierspeisen; ja selbst von Ge¬
müsen wird von einzelnen abgeraten, weil
ihr Kaliumgehalt die roten Blutkörperchen
schädigen könne. Unter den Gemüsen
perhorresciren viele den Spargel, den
v. Noorden wiederum für ganz unschädlich
erprobt hat. Nur in Bezug auf ein Er-
Digitized by Google
Gegenwart 1903. -**5
nährungsmittel herrscht allgemeine Ueber-
einstimmung; die Werthschätzung der
Milch für Nierenkranke kennt keine Aus¬
nahme und keine Grenzen.
Pel seinerseits schliesst aus den besten
experimentellen Untersuchungen, dass
massige Mengen unserer gewöhnlichen
Nahrungsmittel (Brot, Kartoffeln, Kolonial-
waaren, Fleisch, Fisch, Eier, Fett, Gemüse,
Früchte) für chronisch Nierenkranke nicht
schädlich sind. Maassgebend auch für die
Ernährung Nierenkranker soll der allge¬
meine Grundsatz sein, dass über dem er¬
krankten Organ der kranke Mensch steht.
Der Arzt soll bei seinen Verordnungen
ein offenes Auge haben für individuelle
Reaction, Neigung und Lust der Kranken,
er soll besonders die gute Gemüthsstimmung
desselben erhalten, und wenn es nöthig
ist, dadurch erhöhen, dass er ihn so wenig
wie möglich durch beschränkende Vor¬
schriften, die täglich wiederkehren, an seine
Krankheit oder Invalidität erinnert. Jeden¬
falls soll sich der Nierenkranke von ge¬
mischter Kost ernähren und nur Stoffe
vermeiden, welche eine schädliche Wirkung
auf die kranken Nieren oder andere Organe
ausüben könnten oder wofür er beson¬
ders empfindlich ist. So muss er
ausserordentlich vorsichtig sein im Genuss
von Alcoholicis, Wild mit haut geüt,
scharfem Käse, reizenden Gewürzen
oder lieber diese Stoffe ganz ver¬
meiden. Vor allem soll er beim Essen
sehr mässig sein und sich vor Verdauungs¬
störungen hüten. Milch ist in jedem Fall
ein ausgezeichnetes Nahrungsmittel für
Nierenkranke, doch ist vor zu grossen
Mengen zu warnen; namentlich bei
Schrumpfniere kann dadurch das Herz
überlastet werden. 1—1V 2 Liter täglich
sollten genügen. Es empfiehlt sich die
Darreichung mit Mehlspeisen als Suppe
oder Brei, sowie die Zufügung von Thee,
Kaffe, Chocolade. Buttermilch ist be¬
sonders in der warmen Jahreszeit eine
köstliche Abwechslung. — Allein bei den
Kranken mit acuter Nephritis im ersten
Stadium der Krankheit oder bei den
peracuten Exacerbationen der chronischen
Nephritis empfiehlt Pel in den ersten
Tagen den beinah ausschliesslichen Ge¬
brauch von Milch und Milchspeisen in
massiger Menge. — Wir dürfen uns wohl
mit allen Aeusserungen Pels einverstanden
erklären, nur nicht mit der am Schluss aus¬
gesprochenen Behauptung, dass die Meisten
seinen liberalen Standpunkt nicht einnehmen,
wenigstens nicht danach handeln. In
Deutschland vertritt wohl die überwiegende
30*
Original frn-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
236
Mai
I>ic Therapie der Gegenwart 1903.
Mehrzahl der Kliniker und der Aerzte seit
lange die Meinung, „dass auch bei der
Regelung der Diät eines Nierenkranken
keine zu grosse Einseitigkeit in der Er¬
nährung angewandt zu werden braucht,
und das wenigstens für die chronischen
Formen ganz gewiss eine verständige
gemischte Diät die empfehlenswertheste
ist." G. K.
(Zeitschr. diät. phys. Ther. VII S. 3.)
Ueber die Beziehungen zwischen
Ozaena und Lungentuberkulose theilt
A. Alexander einige bemerkenswerthe
Daten mit. Unter 200 Phthisikern, die er
untersuchte, fanden sich nur 1 typischer
Ozaenafall und 6 Fälle von hochgradiger
Atrophie der Nasenschleimhaut, die mit
einiger Wahrscheinlichkeit als im klinischen
Sinne geheilte Ozaenafälle zu deuten
waren — also im ganzen höchstens 3 72 %
Ozaenafälle unter den Phthisikern, d. h.
die Ozaena ist keine besonders häu¬
fige Begleiterscheinung der Lungen¬
phthise.
Unter 50 ozaenösen Patienten dagegen,
deren Lungen untersucht wurden, fanden
sich nicht weniger als 22 mit sicherer Lungen¬
tuberkulose, ausserdem 7 auf Phthise Ver¬
dächtige. Alexander zieht daraus den
Schluss, das die Ozaena zweifellos eine
Disposition zur Erkrankung an
Lungenphthise schafft. Das Wesen
dieser Disposition erblickt er darin, dass
die Nase durch den Ozaenaprozess die ihr
normaler Weise eigenen Schutzvorrichtun¬
gen (Flimmerepithel, baktericide Fähigkeit
des Nasenschleims) eingebüsst hat und
statt eines Filters für die Athmungsluft,
vielmehr eine Brutstätte für die in ihr ent¬
haltenen Keime darstellt.
Diese Feststellung Alexanders ist
überraschend. Bisher ist eine derartige
Häufigkeit tuberkulöser Erkrankung unter
Ozaenakranken nicht bekannt gewesen.
Zufälligkeiten des Materials erscheinen
nicht ausgeschlossen. Da die Thatsache
des Zusammenhanges zwischen Ozaena und
Tuberkulose, wenn sie sich bestätigt, sowohl
für die prognostische Beurtheilung der
Ozaena wie auch für die Prophylaxe der
Tuberkulose nicht ohne Bedeutung ist,
verdient Alexanders Mittheilung mög¬
lichst ausgedehnte Nachprüfung. Zu solcher
anzuregen, ist der Zweck dieser Zeilen.
Von praktischem Interesse ist noch die
gelegentliche Angabe Alexanders, dass
er in 7 seiner Ozaenafälle säurefeste
Bacillen im Ozaenasecret fand, die von
Tuberkelbacillen im mikroskopischen Bilde
I schwer oder garnicht zu unterscheiden
| waren. Auch dieser Punkt bedarf sehr
der Nachprüfung (Ref. hat zahlreiche
I Ozaenasekrete bakteriologisch untersucht,
■ aber noch nicht ein einziges Mal säurefeste
I Stäbchen darin gefunden); aber wenn er
i sich bestätigt, berechtigt er zu dem Schluss,
j den Alexander daraus zieht: „Bei
I suspectem Lungenbefund und gleichzeitiger
| Ozaena auf das Ergebnis der Sputum-
I Untersuchung keinen entscheidenden Werth
| zu legen.“ F. Klemperer.
(FraenkeFs Archiv f. Laryngologie. XIV, 1. S. 1. I
i
! Unter den zahlreichen Präparaten, welche
, einen Fortschritt in der k&nstllchen Säug-
| lingsernährung anstreben, zeichnen sich
I zwei durch hervorragende Leistungsfähig¬
keit aus und verdienen weiteste Verbreitung.
Essinddernach denAngabenProf.Soxh lets
( von der Nährmittelfabrik Pasing hergestellte
Nährzucker und die verbesserte
i Liebigsuppe derselben Fabrik.
I Der Nährzucker stellt ein leicht lös¬
liches, Dextrin und Maltose in annähernd
gleichem Verhältniss enthaltendes, auf Grund
hier nicht zu erörternder theoretischer, die
Verhütung von Rachitis beweckender Er¬
wägungen mit 2 °/ 0 Kochsalz vermischtes
und leicht gesäuertes Pulver dar. Es wird
in Mengen von 10 g pro 100 cm 8 Milch,
unter Umständen auch reichlicher, den ge¬
wöhnlichen Milchmischungen an Stelle
anderer Zuckerarten zugesetzt. Die bis
jetzt vorliegenden Berichte von Frucht
i (Münch, med. Wochenschr. 1902 No. 2 ).
I Rommel (ibid. 1903 No. 6), Klautsch
' (Centralbl. f. Kinderheilk. 1902 No. 7),
j Weissbein (Deutsch, med. Wochenschr.
1902 No.2), Moro (Klin.therap. Wochenschr.
! 1903 No. 5) lauten übereinstimmend ausser-
1 ordentlich günstig und auch Ref. kann diese
empfehlenden Urtheile aus eigener Erfahrung
bestätigen. Rommel hat die Indicationen
präciser zu fassen versucht und räth zum
Nährzucker 1. als alleinige Nahrung in
acuten Fällen als Erstes nach der Wasser¬
diät, 2 in den meisten Fällen, wo Kellers
Malzsuppe angezeigt ist (vergl. diese Zeit¬
schrift Februar 1901), d. h. bei chronischen
Ernährungsstörungen, zumal solchen, die
bei Milch und fettreicher Nahrung aufge¬
treten sind. Das Fehlen unveränderten
Mehles lässt 3. den Nährzucker auch für
Kinder im ersten Lebensquartal geeignet er¬
scheinen. 4. Für ältere Kinder mit stinken¬
den alkalischen Stühlen ist die Keller sehe
Malzsuppe dem Nährzucker überlegen.
Die günstige Wirkung äussert sich bald
in gesteigerter Gewichtszunahme. Das
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
237
spätere Gedeihen der Kinder ist gut. Der
Stuhl wird fest, zuweilen sogar mehr als
wünschenswerth hart.
Die verbesserte LiebigscheSuppe stellt
das rühralichst bekannte Liebigsche Mittel
in leicht dosirbarer Pulverform dar und
unterscheidet sich vom Nährzucker durch
grösseren Gehalt an Maltose und durch
Gegenwart von pflanzlichem Eiweiss. Be¬
richte in der Litteratur liegen wohl noch
nicht vor. Ref. kann aus eigener, aus¬
gedehnter, fast zweijähriger Erfahrung das
Präparat als eines der Besten bezeichnen,
das unter ähnlichen Indicationen wie die
aufgeführten sehr Vieles, zuweilen Besseres
als der Nährzucker leistet und alle Vorzüge
der alten Suppe ohne die Schwierigkeit von
deren Herstellung besitzt. Es wird in
Mengen von 50—70 g pro Liter fertiger
Nahrung, der Süssung wegen mit etwas
Rohrzucker, zugesetzt. Finkeistein.
Eine wirksame Bekämpfung der See¬
krankheit sieht O. Dornblüth darin,
dass man während der Abwärtsbewegungen
des Schiffes, welche die unangenehmen
Empfindungen im Beginn der Seekrankheit
auslöst, tiefe Inspirationen macht, so dass
der Leib vorgetrieben und das kontrahirte
Zwergfell fest angespannt wird. DasTragen
einer fest anliegenden Leibbinde kommt
dabei wirksam zu Hülfe. Die Widerstands¬
fähigkeit gegen Seekrankheit sowie gegen
die Lieblichkeiten bei Bahnfahrten wird
erhöht durch abendliches Einnehmen von
2—3 g Bromnatrium während der letzten
Woche vor der Reise. Vor einer kürzeren
Bahnfahrt genügt es, diese Medikation
während der letzten 3 Tage durchzu¬
führen. Bei mehrtägiger Fahrt empfiehlt
Dornblüth auch während der Reise¬
tage die gleiche Dosis zu nehmen und
bei längeren Fahrten die Dosis allmählig
zu verringern. U.
(Münch, med. Wochenschrift 1903, No. 14.)
In einem sehr lesenswerthen Aufsatz
bespricht Block die grosse Bedeutung,
welche allgemeine und hygienisch diäteti¬
sche Maassnahmen bei der Behandlung der
Syphilis neben der eigentlichen specifi-
schen Therapie haben. Er geht hierbei
von dem Gesichtspunkt aus, alle diejenigen
schädlichen Momente auszuschalten, die
allein schon ähnliche Erkrankungen — be¬
sonders im Circulations- und Nervensystem
— hervorrufen können wie die Syphilis,
und ferner durch Reizung syphilitische Er-
krankungen in edleren Organen hervor-
rufen können.
DieBerufsthätigkeit kann aus praktischen
Gründen in der grossen Mehrzahl der Fälle
nicht unterbrochen werden, auch aus
psychologischen Gründen ist es oft zweck¬
mässig, dass der Patient seiner gewohnten
Beschäftigung nachgeht, wenngleich zweifel¬
los, besonders auch bei Patienten, die zu
Hause nicht unter so günstigen Bedingungen
leben, die Krankenhausbehandlung auch
wegen der Infectionsgefahr zweckmässig
ist. Block tritt für die Gründung von
Volksheilstätten für die Behandlung Syphi¬
litischer ein. Vor körperlicher und geistiger
Ueberanstrengung soll der Kranke bewahrt
werden; er soll genügend Erholungszeit
haben, Bewegung in frischer Luft ist sehr
nothwendig, deswegen ist auch Sport
in mässigen Grenzen empfehlenswerth,
während vor Uebertreibungen in dieser
Hinsicht zu warnen ist. Die Ernährung
soll kräftig und gut sein. Der Alkohot-
genuss soll möglichst auf ein in den
gewöhnlichen Grenzen sich haltendes
Quantum herabgesetzt werden. Starkes
Rauchen ist zu verbieten, mässiges in den
meisten Fällen nicht schädlich. Verbot
des Geschlechtsverkehrs, das aber in den
weiteren Jahren der Krankheit kaum ganz
aufrecht zu halten ist; immer muss der
Patient auf die Infectionsgefahr hingewiesen
werden. Wasserbehandlung ist als unter¬
stützendes Mittel, Erholung in Bädern
empfehlenswerth, psychische Beeinflussung
sehr wesentlich. Buschke (Berlin.)
(Zeitschr. f. diätetische und physikalische Therapie
Bd. 6, Heft 10.)
Die Tetanie gehört bekanntlich zu den
gefürchtetsten Complicationen derjenigen
schweren gastrischen Erkrankungen, die
mit hochgradiger Stenose des Pylorus oder
Duodenums und Gastrektasie einhergehen.
Ihr Auftreten ist prognostisch ungünstig,
da die Mortalität dabei noch über 70°/<>
hinausgehen kann. DieseTetanie gastrischen
Ursprungs ist nicht* grade häufig, und die
Litteratur berichtet bisher über etwa
40 Fälle. Eine grosse Zahl davon ent¬
stammt der Beobachtung Fleiners, dessen
kürzlichen Ausführungen über dieses Ca-
pitel wir einige bemerkenswerthe Punkte
entnehmen wollen, die lür unser thera¬
peutisches Eingreifen in solchen Fällen
bedeutsam sind. Wenn bei solchen Gastr-
ektasieen das Körpergewicht und die täg¬
liche Urinmengen trotz zweckmässiger
Diät und Körperruhe abnehmen, so ist — wie
Fl einer betont — die Gastroenterostomie
indicirt. wenigstens bei gutartigen Stenosen.
Dieses Stadium ist es, welches vor allen
zur Tetanie prädisponirt; sie ist mit um so
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Original frorn
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
238
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1903.
grösserer Wahrscheinlichkeit zu erwarten,
wenn die mechanische Erregbarkeit der
Muskeln und Nerven sich bei der Unter¬
suchung als gesteigert erweist, wenn vor
allem das Facialisphänomen und das Trous-
seau sche Phänomen leicht auszulösen ist.
Irgend eine erneute Störung, welche zu
dem gekennzeichneten Stadium eines mo¬
torisch insufficienten, zu Pylorospasmus
und Hypersecretion neigenden Magens hin¬
zutritt, kann den ersten tetanischen Krampf¬
anfall vorbereiten, der dann wie Fl einer
hervorhebt nicht selten durch profuses
Erbrechen oder Magenausspülung ausgelöst
wird. Kussmaul hat auf jene eigen¬
tümlichen convulsiven Anfälle, die wir
als Tetanie bezeichnen, zuerst hingewiesen
und ihren tonischen Charaker hervor¬
gehoben. Solche von leichten Zuckungen
unterbrochene Krämpfe spielen sich ab in
den Beugern der Arme, in den Waden¬
muskeln und Bauchmuskeln, und können
auch auf Gesichtsmuskeln, Kiefer- und
Halsmuskeln übergehen, in schweren Fällen
schliesslich auf die gesammte willkürliche
Muskulatur, sodass dann ein dem Tetanus
ähnliches Bild entstehe. Es giebt einseitige
und symmetrische Tetanien. Symmetrisch
pflegen vor allem die ersten Krampfanfälle
zu sein, und alle durch profuses Erbrechen
oder Magenspülungen hervorgerufenen
Attaken. Flein er betont besonders —
gestützt durch Beobachtungen an etwa
30 Krampfanfällen — dass bei entwickelter
Disposition zur Tetanie die willkürliche
Innervation der Muskeln von grosser Be¬
deutung für die Auslösung eines Krampf¬
anfalles ist. So sah er Anfälle ausgelöst
werden an bestimmten Muskelgruppen da¬
durch, dass dieselben in erhöhtem Maasse
in An>pruch genommen wurden, so z. B. bei
einer Frau an den Armen, nachdem sie sich in
sitzenderStellung im Bette frisirt hatte u. s. w.
Fl einer hält bezüglich der Frage nach
der Entstehung der Disposition zur Tetanie
bei Magenkranken an der alten Kuss¬
mau Tschen Erklärung fest, die rasche
Bluteindickung und Austrocknung der
Nerven und Muskeln dafür verantwortlich
macht. Die Eindickung des Bluts in Folge
der starken Wasservermehrung erklärt
auch die dabei gleichzeitig zu beobachtende
Vermehrung von Hämoglobin und rothen
Blutkörperchen gegen die Norm.
Daraus ergeben sich von selbst die
Geaichispunkte für die Behandlung der
gastlichen Tetanie. Wo Pylorusverschluss,
Hypersecretion und Ueberfüllung des
Magens besteht, da soll der Magen so
rasch und schonend als möglich ausge¬
Digitized by Google
waschen werden bis er völlig entleert ist.
Nach überstandenem Tetanieanfall soll er
ausser Funktion gesetzt werden und rectale
Ernährung eingeleitet werden (Fleischbrüh-
Weinklysmen). Energische Flüssigkeits¬
zufuhr geschieht durch Subcutaninjection
von steriler V 2 0 /o*’ger Kochsalzlösung
2 mal pro Tag je J /2 1* Nach 24 bis
48 Stunden werden alle Stunde 50 bis
100 g Vichywasser per os verordnet, bis
die Operation ausgeführt werden kann.
Denn der Ausbruch der Tetanie ist wie
Fl ein er angiebt, eine dringende Mahnung
zu möglichster Beschleunigung einer Ope¬
ration, welche das Hinderniss am Magen¬
ausgang oder Darmeingang beseitigt oder
umgeht, d. h. Resection oder Gastro¬
enterostomie. Flein er hat 8 Fälle von
gastrischer Tetanie, davon sind 6 operirt
worden, 3 davon heilten, 3 starben. Von
den beiden übriggebliebenen Fällen war einer
wegen zu grosser Schwäche nicht mehr
operabel, der andere genass spontan. Mit
diesen Erörterungen über die gastrische
Tetanie decken sich auch die Beobachtungen
Fleiners an einem interessanten Fall von
intestinaler Tetanie, der in extenso
mitgetheilt wird, hier hatten profuse
Diarrhoen die prädisponirende Wasser¬
verarmung der Gewebe herbeigeführt.
F. Umber (Berlin).
(Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 11.)
Das Dimethylxanthin oder Theophyllin,
das neuerdings als Theocin in den Handel
eingeführt worden ist, und über dessen
klinische Verwendung zuerst Minkowski
im November vergangenen Jahres in dieser
Zeitschrift berichtet hat, hat inzwischen
bereits in einer ganzen Anzahl von Publi¬
kationen günstige Beurtheilung als wirk¬
sames Diureticum erfahren. So liegen Be¬
richte vor von Mein er tz aus dem Char¬
lottenburger städtischen Krankenhaus über
23 damit behandelte Fälle von Herz- und
Nierenkrankheiten, Pleuritis, cirrhotischen
Ascites und Chlorose (Therap. Monatsch.
Februar 1903), von Döring über 20 Fälle
der Fränkel’schen Abtheilung am Urban
(Münch, med. Wochensch. 1903 No. 9), von
Kramer über 6 Fälle aus der Giessener
Klinik (Münch, med. Wochensch. 1903No. 13),
über einen bemerkenswerthen Fall von
K. W. Hess (Gera-Untermhaus), aus der
ärztlichen Praxis (Therap. Monatsh., April
1903), abgesehen von der den Lesern dieser
Zeitschrift bekannten Publikation H. Schle¬
singers- Wien (cf. diesen Jahrgang S. 115).
Die Beobachtungen haben einstimmig
ergeben, dass in erster Linie Flüssigkeits-
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
239
INIai Die Therapie der
an Sammlungen in den Geweben bei Circu-
lationsstörungen und Nierenerkrankungen
die Indicationen für die wirksame Anwen¬
dung des neuen Diureticums abgeben. Wo
pathologische Flüssigkeitsansammlungen im
Körper nicht bestehen, da scheint das
Mittel auch, den Erfahrungen Meinerts
nach, einen Einfluss auf die Diurese nicht
zu entfalten. Andererseits heben alle die
verschiedenen Autoren hervor, dass zum
Zustandekommen seiner Wirkung immer
noch ein einigermaassen ausreichend funk-
tionirender Herzmuskel nöthig ist. Wo
die Transsudatansammlungen in den Ge¬
weben auf Eikrankungen des Herzens und
der Gefässe zurückzuführen sind, da ist
die Wirkung des Mittels eine besonders
ausgiebige, während dieselbe, wie Mei¬
nerts hervorhebt, durch Schädigungen der
Nierenepithelien mehr oder weniger beein¬
trächtigt wird. In geeigneten Fällen ist das
Theocin nach der übereinstimmenden An¬
sicht der verschiedenen Autoren wirksamer
als unsere bisherigen Diuretica, sogar als
Diuretin und Agurin.
Indess haften dem Theocin auch ge¬
wisse Nachtheile an. Schon Meinerts
hebt hervor, dass zwar die Urinmenge
schon sehr bald nach der Verabreichung
des Mittels ausserordentlich ansteigt, bis
auf das 4- und 5 fache, dass jedoch die
Wirkung keine nachhaltige ist, sondern
spätestens nach einer Woche erlischt.
Diesen Vorwurf erhebt auch Döring, nach
dessen Beobachtung das Mittel, im Gegen¬
satz zu Diuretin, schon versagt, wenn es
längere Zeit hintereinander gegeben wird.
Indess bleibt dabei seine gesammte diure*
tische Leistung doch immerhin grösser als
die des Diuretins. Freilich hat Meinerts
in einem Fall von Intervallen 10 Wochen
lang in 7 Perioden von 4—9 Tagen Theo-
cin gegeben, ohne dass seine jedesmalige
Wirkung nachgelassen hätte, wie dies bei
einer entsprechenden Beobachtung von
Minkowski der Fall war.
Das Mittel ist ferner nicht ganz frei von
allerhand störenden Nebenwirkungen: es
führt leicht zu Appetitlosigkeit, Ueblichkeit
und Erbrechen, in zwei von Schlesinger
beobachteten Fällen verursacht es sogar
allgemeine Convulsionen von epileptischem
Charakter. Ein schädlicher Einfluss des
Gegenwart 1903.
Theocins auf die Nieren ist von keinem
der Beobachter konstatirt worden, Albu¬
minurie wird dadurch nicht hervorgerufen.
Irgend einen Einfluss auf den Blutdruck
hat Kramer mit dem Gärtner’schen Tono¬
meter nicht nachweisen können, und auch
Döring vermisst eine Wirkung auf das
Herz, wie wir ihn z B. vom Coffein her
kennen. Somit ist auch die Empfehlung
einer Combination von Theocin mit kleinen
Digitalisdosen oder mit Digitalis-CoffeVn,
wie sie Meinertz giebt, gewiss berechtigt.
Die ungünstige Beeinflussung des Schlafes
wird durch gleichzeitige Verabreichung von
0,5 Trional wirksam behoben (Döring).
Um die krampferregende Wirkung zu
compensiren, combinirt Schlesinger das
Theocin mit Adonis vernalis (cf. S. 117).
Was die Anwendungsform des Theocins
betrifft, so kann er als Pulver zu 2,5 oder
0.3 in Oblaten gegeben werden, oder in
Solution, am besten in Form der neuer¬
dings hergestellten Tabletten ä 0,25 g.
Döring bemerkt ausdrücklich, dass man
mit einer Tagesdosis von 0,75 g die glei-
| chen Resultate erzielt wie mit einer solchen
i von 1.2 g.
Was zu Gunsten des Theocins ins
Gewicht fällt, ist sein verhältnissmässig
wohlfeiler Preis (1 g = 50 Pfg.), den es
seiner synthetischen Darstellung verdankt.
F. Umber (Berlin).
Kirstein empfiehlt zur Behandlung des
UlCUS molle Betupfen mit Jodtinctur.
Darunter soll die Heilung schnell vor sich
gehen; event. wird nach 24 Stunden das
Verfahren noch einmal wiederholt. Der
Autor glaubt, dass diese Behandlung vor
der Aetzung mit flüssiger Carbolsäure, die
von Neisser empfohlen wurde, Vorzüge
habe; nach Aetzung mit letzterer soll eine
Geschwürsfläche von torpider Beschaffen¬
heit Zurückbleiben. Ref. hat die Carbol¬
säure zur Behandlung der Ulcera mollia
in zahlreichen Fällen verwendet und ist zu
der Ueberzeugung gelangt, dass sie nach
dem Jodoform das bisher beste und ein
sehr gutes Mittel zur Behandlung und Hei¬
lung des Ulcus molle darstellt.
Buschke (Berlin).
(Dermatol. Centralblatt 1903, No. 7.)
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Mai
240 Die Therapie der Gegenwart 1903.
Zur Behandlung der Vorderarmbrüche,
Von Dr. Georg Müller- Berlin.
In der Geschichte der Medicin finden
wir nicht selten, dass der Zufall eine wichtige
Rolle bei der Entscheidung schwebender
Streitfragen spielt.
Ein Fall von Radiusfractur, den ich
kürzlich zu beobachten und zu behandeln
Gelegenheit hatte, erscheint mir in dieser
Beziehung sehr interessant und will ich
nicht unterlassen, denselben mitzutheilen.
Bekanntlich haben sich, während man
früher einen Vorderarmbruch eo ipso mit
fixierenden Verbänden behandelte, in
letzter Zeit immer mehr Stimmen dagegen
erhoben, und jeden Verband, auch die
einfache Pappschiene verworfen. Ich
meinerseits hatte schon lange die Beobach¬
tung gemacht, dass, je länger und je inten¬
siver der fixierende Verband angelegt
wird, desto schlimmer die Functionsstörun-
gen waren, wie Gelenkversteifungen,Muskel¬
schwund, Oedem etc., ja, es gehörte garnicht
zu den Seltenheiten, dass ein Verletzter j
mit geheilter Radiusfractur, bei der
fixierende Verbände angewandt waren, j
einen geradezu erschreckenden Status auf¬
wies. Die Finger waren sämmtlich in Streck¬
stellung versteift, Hand-, Ellenbogen- und
Schultergelenk mehr oder weniger steif,
der Arm blau, kalt, ödematös und völlig
kraftlos. Zuweilen gelang es selbst einer
mehrmonatlichen Behandlung nicht, völlige
Functionslähigkeit wieder zu erzielen.
Unser Fall i*t folgender:
Der Arbeiter Otto W. aus Berlin. 34 Jahre
alt, verunglückte am 7. September 1902 dadurch,
dass eine herablallende Bogenlampe seinen
linken Arm verletzte. Er begab sich gleich
nach der Unfallstation, dann zum Kassenarzt,
der eine Einknickung des Radius 7 cm ober¬
halb des Handgelenks annahm und den Patienten
bis zum 6. X. 1902 mit kalten Umschlägen und
Massage behandelte. Von dieser Zeit an hat der
Patient wieder gearbeitet. Da er jedoch noch
über Schmerzen im Handgelenk klagte, wurde er
am 13. II. 1903 meiner Behänd.ung überwiesen.
Der am genannten Tage festgcstellte Befund
war folgender: Pat. ist ein gesund aussehender
Mann mit guter Muskulatur und geringem
Fettpolr-ter. Die Muskulatur des linken Armes
fühlt sich nicht wtlker an als die des rechten.
Die Umfänge betragen:
Oberarm rechts 22,0 cm, links 21.5 cm
Vorderarm „ 21.5 „ , „ 21.0 „
Hand ohne Daumen „ 19.5 * 19,5 „
7 cm üi.er dem Handgelenk fühlt man eine deut¬
liche Knochenverdickung der Speiche. Die Beweg¬
lichkeit ist im Schulter-, Ellenbogen-, Hand- und
sämmtlichen Fingergelenken activ und passiv
frei, nur sollen die extreme Pro- und Supination
empfindlich sein. Die Hand kann mit gebeugten
Endgliedern fest zur Kaust geschlossen werden.
Der Händedruck wird mit etwas verminderier
I Kraft ausgeübt. Pat. empfindet bei der Arbeit
noch Schmerzen im Arm
Obgleich die Diagnose der Einknickung
sicher schien, ergab die gewohnheitsmässige
Röntgenaufnahme das überraschende Re¬
sultat, dass es sich nicht um eine Infraction*
sondern um eine ganz reelle Fractur ge¬
handelt hat, die, wie aus dem Röntgenbilde
ersichtlich ist, geradezu ideal geheilt war.
Schon am 7. III. 1903 konnte Pat. mit nor¬
maler Functionsfähigkeit aus der Behand¬
lung entlassen werden.
DieZahl der Vorderarmbrüche, welche m
den letzten 10 Jahren mir zur Nachbehand¬
lung überwie*en wurden, beläuft sich auf
mehrere Hundert Fälle, welche durchweg
mit fixirenden Verbänden behandelt waren*
doch findet sich unter denselben auch kein
einziger, welcher quoad functionem ein so
ausgezeichneiesResultataufwies. DerZufall*
dass hier eine Fractur für eine Infraction irr-
thümlich angesehen war, hat im Streite der
Meinungen ein Urtheil gefällt, dem sich kein
Arzt wird entziehen können. Dass man aber
auch typische Radius-Rissfracturen ohne
fixirende Verbände behandeln soll, werde
ich an der Hand einiger so behandelter
Fälle in einer späteren Arbeit beweisen.
l'tir die Rejü^ion ver ntwg. tlich: Piof. G. Klempercr in Berlin. — Verantwortlicher Redactewr für Oi str-rTeicii-Ungarn:
DÄtäöi'gr
/ien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. —Verlag von Urba tfi& S‘C h:V a tft n ü e r £
in Wien -nd Berlin. (JNIVERSITY OF CALIFORNIA
Nicht von der Röntgentherapie, die sich 1 Nuitzeffect des Röntgenverfahrens für die
binnen weniger Jahre, insbesondere seit interne Therapie übernehme, so ist nach
der sachverständigen Besprechung auf dem : dem Gesagten damit dieselbe nach Form
Hamburger Naturforscher-Congress 1901, I und Inhalt als Skizze berechtigt und ent¬
ein eigenes Gebiet und ein specielles Stu- schuldigt, zumal für die Diagnose erst die
dium gesichert hat, soll in folgenden Zeilen 1 Wechselbeziehung der Untersuchungs-
die Rede sein, sondern es soll eine kurze methoden die einzelnen vollgültig er-
Darstellung gegeben werden, wann, wo scheinen lässt.
und wie das Röntgenverfahren in der Noch eine Einschränkung kommt hinzu,
inneren Medicin rathend und helfend, soweit nämlich der Internist in weitaus
mittelbar und unmittelbar in den Heilplan den meisten Fällen, in denen das Röntgen¬
einzugreifen geeignet ist. Insofern nun verfahren ihm therapeutischen Nutzen
die Therapie den Endzweck jeder wissen- bringt, seine Stelle dem Chirurgen abzu-
schaftlichen und praktischen Medicin dar- treten hat. Diese Grenzgebiete sind aber
stellt, und zwar in allgemeiner Gültigkeit, selbstverständlich in die folgenden Be-
nicht nur vom idealen Standpunkt der trachtungen mit einzubeziehen.
Humanität im weitesten Sinne oder vom Eine ganze Reihe neuerdings einge-
praktischen socialer Hygiene aus be- führter und weiter ausgebildeter Verfahren
trachtet, und insofern weiterhin eine be- verdankt seine Entstehung dem Bestreben,
rechtigte und aussichtsreiche Therapie sich den feinsten unserer Sinne, das Auge, zur
nur auf einer mit allen Erfahrungs- und Stellung der Diagnose und zur Ausführung
Hülfsmitteln begründeten Diagnose auf- der Therapie zu verwerthen; um so dank¬
bauen kann, würde also die Behandlung barer Hessen es sich die medicinischenDisci-
meines Themas identisch sein mit der Be- plinen angelegen sein, die Entdeckung der
antwortung der oft ventilirten Frage: »wel- Röntgenstrahlen in ihren Specialgebieten
chen Nutzen bedeutet das Röntgenver- nutzbar zu gestalten. Unter Röntgenver¬
fahren für die innere Medicin?“ Bezüglich fahren versteht man bekanntlich heute so-
der hülfsfreudigeren und hülfsreicheren wohl die Untersuchung mittelst des Fluo-
Chirurgie könnte eine derartige Identifici- rescenzschirmes, als auch die Verwendung
rung allerdings eine gewisse Berechtigung der photographischen Platte, Radioscopie
beanspruchen, für die innere Medicin ist und Radiographie. Beide sind, das muss
das leider keinesfalls angängig. Können immer wieder betont werden, gleich-
wir doch hier auf Grund der uns heute werthige, einander ergänzende, aber keines-
zur Verfügung gestellten exacten That- wegs sich ersetzende Untersuchungsmetho-
sachen nur ausnahmsweise und unter be- den. Während Bewegungsvorgänge, bei-
sonders günstigen Bedingungen dem Orga- spielsweise des Herzens, nur auf dem
nismus in seinem individuellen Kampfe Schirm und nicht, wie man anfangs meinte,
ums Dasein durch Aenderung der für ihn auch aus den Tiefenvariationen der Schatten¬
pathologischen Bedingungen und Vorgänge Silhouette auf der Platte erkannt werden
zu Hülfe kommen, — und haben doch hier können, so vermag wiederum die photo-
erst vor nicht allzu langer Zeit die biolo- graphische Platte durch Summirung ge-
gischen Wissenschaften ihre gemeinsame ringerer Helligkeitsverschiedenheiten, als
Arbeit aufgenommen! — Also nur unter sie dem Auge empfindbar sind, Resultate
besonderen und engen Gesichtswinkeln ist zu liefern. Reize summiren kann das Auge
hier der Nutzen, den die innere Medicin aus nicht, bezüglich einer Differenzerkennung
einem ihrer diagnostischen Hülfsmittel, muss die Reizschwelle überschritten sein,
dem Röntgenverfahren, zieht, zu betrachten. Die Helligkeitsdifferenzen sind aber ab-
Und wenn ich also die aus praktischen hängig von der Absorptionsfähigkeit der
Gesichtspunkten wünschenswerthe Beant- durchstrahlten Materie für Röntgenstrahlen
wortung der direkten Frage nach dem und diese wieder von deren Dichte und
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31
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242 Die Therapie der
dem Atomgewicht ihrer elementaren Theile.
— Werden nun die physiologischen Durch¬
leuchtungsverhältnisse des menschlichen
Organismus als bekannt vorausgesetzt, so
werden sich pathologische Resultate überall
da ergeben, wo erstens der eigene oder
reciproke Bewegungsmodus darstellbarer
Organe oder ihr Situs sich geändert hat,
und wo zweitens, Grösse, Dichte oder die
Elementargewichte derselben sich durch
Resorptions-, Infiltrations- oder Substitu¬
tionsvorgänge in einer die obigen Voraus¬
setzungen erfüllenden Intensität verschoben
haben. Die ersteren Folgezustände können
ohne die zweiten oder neben ihnen oder
durch sie entstehen. Damit wäre eine
Disposition auch unseres Themas gegeben,
der wir jedoch um Wiederholungen zu
vermeiden, nicht folgen wollen.
Aus dem Gebiete der sogenannten
akuten Infectionskrankheiten ist
nichts über einen therapeutischen Effect
des Röntgenverfahrens im angenommenen
Sinne zu melden, falls wir Secundärin-
fectionen, Complicationen und Nachkrank¬
heiten, wie septische und pyämische Er¬
krankung der Gelenke, des Periosts, Mus¬
kel- und Lungenabscesse, eitrige Pleuri¬
tiden u. s. f. ausschliessen und einer späte¬
ren Besprechung reserviren.
Unter den Krankheiten des Respira-
tionstractus bilden diejenigen der Nase
und des Kehlkopfes den Gegenstand eige¬
ner Fachwissenschaften. Der Vollständig¬
keit halber sei angeführt, dass hier specielle
therapeutische Resultate vorliegen. In
seinen Arbeiten „die Orientirung auf dem
Röntgenbilde des Gesichtsschädels und des
Studiums der oberen nasalen Nebenhöhlen
auf demselben“ und „in welcher Weise
kann bei eitrigen Erkrankungen der oberen
nasalen Nebenräume das Röntgenbild des
Gesichtsschädels den Operationsplan, diese
Hohlräume durch äussere Eingriffe frei
zu legen, modificiren?“ weist Win ekler
auf das Siebbein, als Mittelpunkt der durch
nasale Krankheiten entstandenen Herd¬
eiterungen hin, zeigt auf kritisch erläuterten
Röntgenbildern die Darstellungsmöglichkeit
der betreffenden Schädelpartien und fixirt
seinen Standpunkt so, dass vor Einleitung
jeder Therapie, wenn man eine Nebenhöhlen¬
eiterung richtig beurtheilen wolle, die Be¬
schaffenheit und Betheiligung der Siebbeins
an dem Process festzustellen sei, auch
wenn diese Ermittelung längere Zeit in
Anspruch nehmen sollte, und weiter, dass
das Röntgenbild bei der Wahl der Ope¬
rationsmethode jeweils von beachtens-
werthem Einflüsse sein könnte.
Gegenwart 1903. Juni
Auf dem Gebiet der Laryngologie
ist es besonders Sc hei er gewesen, der
durch eingehende Arbeiten die Verwen¬
dungsmöglichkeit der Röntgenstrahlen be¬
wies. Neben Fremdkörpern sind es die
Verknöcherungsprocesse am Kehlkopf, die
z. B. auf den Palpationsbefund eines extra-
laryngealen Tumors und seine Operabilität
Einfluss gewinnen können.
Unter den primären Erkrankungen
der Trachea und der grossen Bron¬
chien wird die Feststellung einer oder
mehrerer Stenosen nur einen minimalen
therapeutischen Werth haben. Vielleicht
Hesse sich in geeigneten Fällen von Syphilis
der grössten Luftwege, in denen der Haupt¬
bronchus einer Seite stärker betroffen
wäre, der Erfolg einer antiluetischen Cur
an dem Verschwinden oder Geringerwerden
der drei Symptome: Hochstand und min¬
dere inspiratorische Abwärtsbewegung des
Zwerchfells, Hinübergezogenwerden des
Mittelschattens in die stenosirte Seite bei
der Inspiration und steileres Abfallen der
enger an einander liegenden Rippen gegen¬
über der gesunderen Seite — verfolgen.
Dagegen kann die ätiologische Erklärung
einer sekundären Dislocation und Steno-
sirung der Trachea, z. B. in Gestalt eines
durch eine Spondylitis hervorgerufenen
Abscesses, von therapeutischer Bedeutung
werden.
Ein dankbareres Gebiet ist das der
Fremdkörper in den Luftwegen, aber
auch nur bezüglich geeigneter Fälle. Zu¬
nächst kann ein Fremdkörper als zufälliger
Befund, so als Grund einer Abscedirung
in den Lungen gefunden werden. Sodann
wird durch exacte Lokalisation, ev. unter
Einführung von Instrumenten die Entschei¬
dung getroffen werden können, ob der
Fremdkörper noch mittels der Killian-
schen Methode von der Trachea aus zu
erreichen ist.
Spiess theilte vor zwei Jahren einen
hierhergehörigen interessanten Fall mit:
Patient hatte vor ö 1 /* Jahren beim An¬
kleiden in Folge eines Hustenanfalls einen
Hemdenknopf „verschluckt“. Aus dem auf¬
gehobenen Geräusch über dem Unterlappen
war der Fremdkörper im zuführenden
Bronchus angenommen, eine sofort vor¬
genommene Tracheotomie lieferte damals
kein Resultat. Nach wiederholter Tracheo¬
tomie konnte nun Spiess 20 cm entfernt
von der Wunde die Fussplatte des Knopfes
sehen, tasten und mittelst aufgenommener
Röntgenbilder documentiren, dass die
Zange direct am Knopf in einer kleinen
Abscesshöhle lag. Die Extraction gelang
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903.
243
nicht, weil sich im Laufe der Jahre der I
Bronchus oberhalb des Knopfes stark ver- i
engt hatte. So musste der Patient zu |
Grunde gehen, während jetzt, nach Ent- !
deckung der Röntgenstrahlen, die vorge¬
nommene Untersuchung ihn wahrscheinlich ,
gerettet hätte. Dass es oft trotzdem nicht
gelingen kann den Fremdkörper zu ent¬
fernen, zeigt ein Fall von Thost (aspirirte
Federhalterhülse als quergestellter Schatten
vor der Wirbelsäule).
Maassgebend muss immer das Material
des Fremdkörpers sein, je specifisch schwe¬
rer er ist, desto leichter darstellbar wird
-er sein. Aehren, Gräten, Holzstückchen,
Bohnen, Erbsen, Kerne, Fleischstücke, Spul¬
würmer werden nicht, Knochenstückchen
nur, wenn sie etwas grösseren Kalibers
sind (z. B. Zähne), alle metallischen oder
mineralischen Gegenstände mehr oder min¬
der gut erkennbar sein. Wenn auch die
Fremdkörpertherapie an sich fast immer
eine chirurgische sein wird, so kann es
doch auch wünschenswerth erscheinen nach
Entfernung des Corpus alienum, die durch
Lagerung des Kranken, eventuell verbun¬
den mit künstlichem Erbrechen gelang, zu
erfahren, ob der noch längere Zeit em¬
pfundene Reiz auf Residuen eines zer¬
bröckelten Körpers beruht.
Die genauere Lokalisation der Bron-
chialcarcinome und Bronchialdrüsen¬
tumoren ist für die Therapie belanglos,
dagegen die Röntgenuntersuchung der
Bronchiectasen keineswegs. Zunächst
wird man über Grösse und Sitz einer
bronchiectatischen Caverne sich einwands¬
freier, als mittelst der Percussion und der
Auscultation allein, orientiren können, so¬
dann wird der Füliungszustand nach Ein¬
nahme einer bestimmten Körperlage und
eventueller Beeinflussung durch Inhalations¬
mittel einen therapeutischen Erfolg docu-
mentiren können, vor Allem wird aber die
Indicationsstellung einer operativen Be¬
handlung durch Feststellung der Abwesen¬
heit sonstiger Heerde möglich. Ausserdem
werden die Beziehungen zur Pleura und
zum Mediastinum demonstrirt werden. Die
Differentialdiagnose zwischen Bronchi-
ectasie, chronischem Lungenabscess und
mit dem Bronchialbaum communicirendem
chronischem Empyem ist allerdings ebenso
wie mittelst anderer Untersuchungsmetho¬
den oft unmöglich, da ja die Umgebung
bei allen dreien zum Theil in der ver¬
wachsenen oder verdickten Pleura be¬
stehen kann. Allen dreien ist ja aber der
operative therapeutische Modus gemeinsam, j
Neben weiteren hier nicht zu erwähnen
den Ursachen für eine Bronchiectasie kann
in ungemein seltenen Fällen intrapulmonal
entstandene und in die Bronchien gelangte,
oder auch in ihnen entstandene Concre-
cremente in Betracht kommen. DieBron-
chiolithiasis (Poulalion, Fraenkel
u. A.) äussert sich in asthmatischen An¬
fällen mit eventueller spärlicher Hämoptoe
und Aushustung eines oder mehrerer Con-
cremente. Damit kann Heilung eintreten.
Da ein solches Kalkconcrement in der Ein¬
zahl vorhanden sein kann (Ursprung meist
eine verkalkte und durch einen Einschmel-
zungsprocess in den Bronchialbaum ge¬
langte Drüse), so wäre eine Röntgenunter¬
suchung hierfür gleichwerthig, wie für einen
von aussen eingedrungenen Fremdkörper.
Eigene Fälle habe ich nicht beobachtet.
Zu Verwechselungen müsste die Pseudo-
phthisis calculosa führen können.
Wenn wir an dieser Stelle der übrigen
Formen von nicht cardialem Asthma ge¬
denken, so ist von denselben in unserem
Sinne nichts anzuführen. Das Studium des
typischen Bronchialasthma-Anfalles (Levy-
Dorn, Rumpf) konnte therapeutisch nicht
benutzt werden, auch hilft uns, wenn wir den
Namen beibehalten, bezüglich des Asthma
thymicum nichts die allerdings mit Röntgen¬
strahlen leicht darstellbare Grösse der Drüse.
Von den Röntgenuntersuchungen der
| Lungenkrankheiten liefert uns diejenige
des Emphysems ein doppeltes Resultat.
Zunächst ist durch die Darstellung der
wahren Herzgrösse, die für die Percussion
durch das Emphysem erschwert oder ver¬
eitelt, für die Röntgenuntersuchung er¬
leichtert wird, der Prognose, der Prophy¬
laxe und directen „Herztherapie* ein Dienst
geleistet. Zweitens ist die Möglichkeit ge¬
geben durch Betrachtung und Aufzeichnung
der Zwerchfellexcursionen neben anderen
Factoren Erfolge der manuellen oder ma¬
schinellen oder pneumatischen Therapie
zu constatiren und zu controliren. Die
begleitende Bronchitis verdunkelt allerdings
ein oder beide Lungenfelder, mehr die
unteren Partieen oder diffus; Verdichtungs¬
heerde sind ceteris paribus in emphyse-
matösen Lungen entgegen den übrigen
physikalischen Untersuchungsmethoden
leichter erkennbar, als in sonst normalen.
— Die radiologischen Resultate bei ausge¬
dehnteren Atelectasen, Lungenödem
und auch den Lobulärpneumonieen
sind unergiebig; schon der meist schwere
Zustand des Kranken lässt eine Röntgen¬
untersuchung nicht zu.
Günstiger steht es mit der Lobär¬
pneumonie. Der Nachweis central ge-
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Juni
244 Die Therapie der Gegenwart 1903.
legener pneumonischer Heerde gelingt vor
deren klinischem Nachweis (Lichtheim).
Vornehmlich sind es aber die Resolutions¬
vorgänge, die ein hohes Interesse bean¬
spruchen. An einer grösseren Zahl von
Pneumonikern konnte ich im letzten Win¬
ter beobachten, dass fast ausschliesslich
sich Helligkeits- und Zwerchfellbewegungs¬
differenzen zu Ungunsten der vorderen
erkrankten Seite in der Reconvalescenz
noch finden, wenn Percussion und Auscul-
tation nur noch minimale oder gar keine
Abweichungen vom Normalen ergaben.
Das entspricht nicht einfach der „ver¬
zögerten Lösung“, sondern es scheinen
doch die Autodigestionsvorgänge später
abgeschlossen zu sein, als man sich ge¬
wöhnlich vorstellt. Das könnte für die
Prophylaxe der Nachkrankheiten, ebenso
wie für den Begriff der Heilung Werth
erlangen. Die Verhältnisse am Herzen,
speciell am rechten, sind während der
Pneumonie auch in den Fällen, in denen
der Infiltrationsschatten nicht stört, unüber¬
sichtlich schon wegen der Massenänderung
der ergriffenen Lappen und des im Fieber
erhöhten diastolischen Volumens; dem
zweiten accentuirten Pulmonalton entspricht
eine ergiebige Pulsation des mittleren lin¬
ken Bogens. Prognostische oder thera¬
peutische Schlüsse für das Pneumonieherz
lassen sich nicht gewinnen. Dem Ausgang
der Pneumonie in Schrumpfung entspricht
natürlich ein entsprechender Röntgen¬
befund, über den in Gangrän oder Abscess
siehe weiter unten.
Viel discutirt ist die Frage: ist die
Frühdiagnose der Lungenphthise mit¬
telst der Röntgenuntersuchung ebenso gut,
besser oder schlechter zu stellen, als mit¬
telst unserer anderen Untersuchungs¬
methoden. Die zur Zeit zu gebende Ant¬
wort ist einfach: Unter Verzicht auf die
Controle der letzteren schlechter, als mit¬
telst dieser allein; in Verbindung mit ihnen
in einzelnen Fällen besser, in den meisten
Fällen ebenso gut, wie vordem. Aber schon
diese einzelnen Fälle fordern die ausge¬
dehnte Anwendung der Röntgenstrahlen
bei sonst zweifelhaftem Befund. Die Früh¬
diagnose ist das einzig sichere Fundament
einer aussichtsvollen Therapie. Die Dia¬
gnose: beginnende Lungentuberkulose ist
manchmal nur eine bacteriologisch begrün¬
dete. Das ist bezüglich zu erwartender
Röntgenresultate ebenso zu berücksich¬
tigen, wie der Umstand, ob wir es mit
einer frischen Infection oder mit einer Ex¬
acerbation eines theilweise abgeheilten
Processes zu thun haben. Die diffusen
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schwachen Schatten einer Lungenfeldspitze
sind selten in positivem Sinne stricte be¬
weisend. Es kommen hier auch ohne spe-
cifische Erkrankung entsprechend dem
Schallunterschied überden Spitzen Schatten¬
differenzen beim Gesunden vor. Ausge¬
heilte, eventuell verkalkte Heerde werden
sich viel deutlicher darbieten, als die frischen
Infiltrate. Ob nun neben ersteren frische
Processe vorhanden sind, das zu entschei¬
den, ist das Röntgenverfahren sicher nicht
berufen. Jene einzelnen Fälle, in denen
die Röntgenuntersuchung Specielles leistet,
sind zweierlei Art. Erstens sind es jene,
in denen bei einem frischen Infect die
Bronchialdrüsen miterkranken, oder viel¬
leicht den Ausgang der Infection bilden
(bei Kindern Vorsicht!) oder in denen ein
Symptom, das auch sonst bei Spitzen¬
erkrankungen oft (in meinen Fällen in
über 30 %) gefunden wird, ohne den siche¬
ren Nachweis einer solchen positiv ist.
Dies zuerst von Williams beschriebene
Phänomen beruht auf einer inspiratorischen
Minderbeweglichkeit der betreffenden
Zwerchfellhälfte und erklärt sich vielleicht
durch primäre, ohne sonstige Erscheinun¬
gen verlaufende trockene Pleuritiden zu¬
sammen mit nervösen Einflüssen. Wo wir
dies Symptom ohne weitere Anomalieen
des Thorax oder Abdominalorgane finden,
sind wir berechtigt an einen gleichseitigen
Spitzenkatarrh zu denken. — Die weitaus
ergebnissreichere Röntgendiagnose der vor¬
geschritteneren Processe kommt an dieser
Stelle nicht in Betracht.
Jeder Fall von Lungengangrän sollte,
wenn irgend möglich, heutzutage radio¬
logisch untersucht werden. Erstens ist es
mittelst geeigneter Versuchsanordnung fast
ausschliesslich angängig den Heerd genau
zu lokalisiren und sich von der Abwesen¬
heit sonstiger Schatten zu überzeugen, und
zweitens ist die vom Chirurgen erwünschte
Verklebung der Pleurablätter, jedenfalls
bezüglich der unteren Lungenränder, zu
demonstriren. (Die radiologischen Erschei¬
nungen der Verwachsung der unteren
Lungenränder sind, richtig gewürdigt, zu¬
verlässig; . . . An höher gelegenen Stellen
der Pleura ist die Diagnose der Oblitera¬
tion unsicher und an Zufälligkeiten gebun-
bunden. Holzknecht.) Vorher circum-
script gehörtes pleuritisches Reibegeräusch,
das bei Constantbleiben oder Fortschreiten
des Processes mehr oder minder plötzlich
verschwindet, ist bezüglich Verklebung
der Pleura fast beweisend. So erinnere
ich mich eines Falles, in dem das Röntgen¬
bild zusammen mit diesem Symptom einen
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Juni Dir» Therapie der
apfelgrossen Gangränheerd (typisches Spu¬
tum) im unteren Theile des rechten Ober¬
lappens mit Verklebung der Pleurablätter
annehmen Hess. Die Eröffnung an der
Stelle, an der früher das pleuritische Reiben
gehört war, Ausspülung und Verschorfung
mit dem Paquelin brachte die Gangrän zum
Stillstand und Heilung. Bei der Section
der später an Nephritis gestorbenen Frau
erwies sich die Ausheilung als manifest.
Der Lungen ab sc es s ist nach gleichen
Gesichtspunkten zu betrachten. — Unter
den Geschwülsten der Lunge kommt thera¬
peutisch wohl nur der Echinococcus in
Betracht. Die scharfe Abgrenzung gegen
das Lungenparenchym lassen eine exacte
Localisation und Grössenbestimmung zu.
Auch über den Infectionsmodus erfahren
wir unter Umständen etwas. So ging in
dem von Levy-Dorn und Zadek mit-
getheilten Falle von dem im Inneren hel¬
leren, mit dem Bronchialbaum (Sputum!)
communicirenden Sacke ein Schattenband
nach dem lungenwärts stumpfwinklig ab¬
geknickten Zwerchfell als Ausdruck der
Infectionsrinne von der Leber her. (Ausser¬
dem ein kleinerer Sack im linken Lungen¬
feld ; Lage und Grösse der Heerde konnte
mangels physikalischer Befunde am Thorax
— Bronchialkatarrh — nicht vermuthet
werden.)
Von den Erkrankungen der Pleura
kann die acute trockene Pleuritis hier
ausser Acht gelassen werden; wo sie sich,
nicht durch andere physikalische Methoden
nachweisbar, als Pleuritis diaphragmatica
durch Minderbeweglichkeit der betreffenden
Zwerchfellhälfte erkennen lässt, kann ihr
Vorhandensein allerdings wichtig genug
werden. Ein so hohes diagnostisches In¬
teresse ferner die kleinen pleuralen Er¬
güsse, Ort und Art ihrer Entstehung haben,
therapeutische Maassnahmen sind daraus
nicht abzuleiten. Anders steht es mit den
grösseren und grossen Ergüssen. Wenn
Gerhardt im Allgemeinen als Indication
für die Punction eines Exsudates drei
Hauptpunkte namhaft machte, nämlich:
1. Wenn das Exsudat durch seine Ver¬
drängungserscheinungen oder seine Grösse
lebensgefährlich wird, 2. wenn unerträg¬
liche subjective Beschwerden vorhanden
sind und 3. wenn trotz anderweitiger The¬
rapie in 2—3 Wochen das Exsudat nicht
abnimmt, so sind bezüglich des 1. und
3. Postulates wichtige röntgenologische
Daten beizubringen. Ebenso wie die Ver¬
drängungserscheinungen der Mediastinal-
organe, ist auch das Zu- und Abnehmen
der Flüssigkeit und die Beweglichkeit ein-
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Gegenwart 1903.
wandsfrei zu studiren. Auch für die Punc-
tionsstelle lassen sich durch das Röntgen¬
bild Resultate gewinnen. An dieser Stelle
sei übrigens darauf hingewiesen, dass wirk¬
lich frei beweglich nur das Exsudat im
Pneumothorax ist, selbst die beweglichsten
Transsudate stellen sich erst nach Secunden
bei Lagewechsel horizontal ein, die Exsu¬
date äusserst selten und niemals mit schar¬
fer geradliniger oberer Grenze, zumal wenn
sie etwas länger bestanden haben oder im
Abnehmen begriffen sind.
Von grösstem therapeutischen Interesse
sind nun die Röntgenbilder der sogenann¬
ten interlobären Pleuritiden, resp.
Empyeme, während das gewöhnliche Em¬
pyem sich nicht anders, als eine nicht
eitrige Pleuritis darstellt. Das klinische
Bild dieser interlobären Pleuraergüsse, zu¬
mal eitriger Natur, ist keinesfalls eindeutig,
dabei aber ein operativer Eingriff lebens¬
rettend. Beel er e hat speciell in seinem
Büchlein: „Les Rayons de Röntgen et le
Diagnostic des affections thoraeiques non-
tuberculeuses“ die Aufmerksamkeit auf dies
Krankheitsbild gerichtet und einen unge¬
mein instructiven Fall mitgeteilt: „J’en rap-
pellerai brievement un seul cas, celui d'un
enfant de cinq ans, pr£sentant tous les
symptömes d’une affection consomptive des
poumons, abondante expectoration puru¬
lente, fievre hectique, amaigrisseraent,
doigts hippocratiques, et qui, v^ritable
phtisique dans le sens £tymologique du
mot, etait depuis huit mois traite par plu-
sieurs medecins comme un tuberculeux
vulgaire. Chez cet enfant, l’examen
radioscopique contribua avec d’autres
signes ä rectifier le diagnostic; il montra
l’integritg du poumon et fit reconnaftre
Texistence d une pleur^sie interlobaire sup-
purde, d’origine pneumococcique, en com-
munication avec les bronches. Une Inter¬
vention chirurgicale, malheureusement trop
tardive, en mit l’existence hors de doute.
Voici quels £taient les signes radioscopiques:
l’image du poumon gauche etait entiere-
ment claire du sommet ä la base; celle du
poumon droit, parfaitement claire au som¬
met, pr£sentait, entre cette zone inter-
mediaire sup£rieure tres brillante et la
base moins brillante, mais encore claire,
une zone interm€diaire tout ä fait sombre,
nettement limitee en haut par un ligne
oblique qui correspondait assez exactement
au siege et ä la direction de la grande
seissure interlobaire; cette zone sombre etait
moins bien limitee ä sa partie inferieure.“
Nach geschehener Punction eines Pleura¬
ergusses orientirt die Röntgenuntersuchung
Original fram
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
246
Die Therapie der
über die BewegungsverhältnissederThorax-
seite und Zwerchfellhälfte, über vorüber¬
gehende Verklebungen, bleibende Ver¬
wachsungen, Schwarten, Adhäsionsstränge
u. s. f. Speciell in Fällen, die die Unfalls¬
versicherung betreffen (Thoraxtrauma durch
Quetschung, Stoss, Fall etc.), kann bezüg¬
lich der oft vagen, aber ständigen Klagen
der Rentenbewerber ein Röntgenbefund
geradezu erlösend wirken und im Verfolg
bestimmen, was durch eine rationelle phy¬
sikalische Therapie noch zu erreichen ist.
Die Röntgenuntersuchung eines Pneumo¬
thorax ergiebt zunächst Grösse eines be¬
gleitenden Exsudats, die Verdrängung des
Mediastinums und die Zwerchfellconfigura-
tion, eventuell dessen paradoxe Bewegung,
aber orientirt auch, was für unsere Zwecke
von grosser Bedeutnng ist, falls das Ex¬
sudat nicht zu bedeutend ist, über Lage,
Form und Grösse der collabirten Lunge.
Prognostisch und unter Umständen auch
therapeutisch ist z. B. doch ein Pneumo¬
thorax, in dem die Lunge völlig collabirt
dem Mittelschatten anliegt, von einem sol¬
chen, in dem sie durch Infiltrate, Ver¬
wachsungen etc. an dem Collaps mehr oder
minder gehindert wird, zu trennen. So¬
dann sind aber besonders die Heilungs¬
vorgänge mittelst des Röntgenverfahrens
controlirbar. Speciell für den auf trauma¬
tischem oder operativem Wege entstande¬
nen Pneumothorax lehrten Beck u. A. wäh¬
rend des Heilungsverlaufes die Grösse der
Höhle durch Wismuthausgiessungen etc.
darstellen, um zu entscheiden, ob bei Ver¬
schluss der äusseren Fistel am inneren
Ende eine Höhle besteht oder nicht. Dass
übrigens, ebenso wie mittelst anderer Me¬
thoden, ein abgesackter Pneumothorax
nicht von einer sehr grossen Caverne
durch die Röntgenuntersuchung unter¬
schieden werden kann, dafür erlebte ich
jüngst einen instructiven Fall, den ich an
anderer Stelle mittheilen werde.
Die Röntgenuntersuchung der Media-
stinaltumoren, die differentialdiagnostisch
so unendlich werthvoll ist, ist therapeutisch
unfruchtbar. Echinococcen, Dermoidcysten
und einfache Cysten, die übrigens durch
mitgetheilte Pulsation von der Aorta her
selbst dilatatorische Pulsation und damit
einen Aneurysmasack Vortäuschen können
(Pflanz), kämen höchstens operativ in Be¬
tracht. Die persistente oder vergrösserte
Thymus, die dann ihrerseits Ausgang einer
Neubildung sein kann, ist bisher nicht
Gegenstand einer Therapie geworden.
Die Pathologie des Herzens ist von
Anfang an Hauptgegenstand der Röntgen¬
Gegenwart 1903. Juni
forschung gewesen. Und doch müssen
wir dies Capitel an dieser Stelle kurz er¬
ledigen, insofern die Therapie, auch wenn
wir ihr die Prophylaxe in weitgehendstem
Maasse zurechnen, wenig profitirt hat.
Auch aus der Methodik der Orthodiagraphie
sind nicht die Anfangs gehofften glänzen¬
den Resultate hervorgegangen. Erstens
lässt sich eben eine Funktionsprüfung des
Circulationsorgans nicht einfach aus den
Grössenverhältnissen des Motors allein
entnehmen, wenn zweitens zudem noch
diese Grössenverhältnisse in gewissem Sinne
einseitig beurtheilt werden müssen. Ein
direkter und zwingender Einfluss therapeu¬
tischer Maassnahmen, wie z. B. von Kohlen¬
säure-Bädern, elektrischen oder Massage-
Proceduren, konnte gleichfalls bisher nicht
in allgemeiner Gültigkeit festgestellt werden.
Darin schützt jedenfalls das orthodia-
graphische Verfahren vor Scheinresultaten,
wie sie mit neuerdings beliebten und
keineswegs physikalisch begründeten Metho¬
den erhalten und mitgetheilt werden.
Auch über die Therapie des Aorten¬
aneurysma, dessen Diagnose und Diffe¬
rentialdiagnose durch das Röntgenverfahren,
speciell durch Betrachtung in den schrägen
Durchleuchtungsrichtungen ein tüchtiges
Stück gefördert wurde, gehen wir still¬
schweigend hinweg. Von den Gelatine-
injectionen, die den Aneurysmasack sicht¬
lich verkleinern sollten, ist es still geworden.
Unter den Erkrankungen des Di¬
gestionsapparates sind es zuerst Ano¬
malien der Dentition, die hier in Betracht
kommen. Albers - Schönberg weist in
seinem vor Kurzem erschienenen, trefflichen
Buch „Die Röntgentechnik“ auf das Miss¬
verhältnis hin, das zwischen der An¬
wendung des Röntgenverfahrens von Seiten
der Zahnärzte und den erreichbaren Re¬
sultaten besteht. Aber nicht nur für den
zahnärztlichen Therapeuten, sicher auch
für den Kinderarzt ist es wichtig, über den
Grund ausbleibenden oder anomalen Zahn¬
wuchses und -Wechsels orientirt zu sein.
Auch ermöglicht die Differentialdiagnose
zwischen Zahnerkrankungen und neural¬
gischen Beschwerden, zwischen Cysten.
Fisteln, carciösen und gummösen Erkran¬
kungen der Kiefer, wie sie in der That
das Röntgenverfahren zu Stande bringt,
erst die Befolgung einer exakten Therapie.
Für die Darstellung der Zahnverhältnisse
sind meist kleine, wenige cm 2 messende,
sorgfältig in wasser-und lichtdichtes Material
eingewickelte Filmsstreifen in Verwendung,
sodass die Aufnahme vom Munde aus ge¬
schieht.
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Juni
247
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Auf Bildern, die eine Larynx-Aufnahme
bezwecken, gelingt es, sich über die
Glandula submaxillaris und in ihr be¬
findliche Speichelsteine zu orientiren. The¬
rapeutisch hat dies gewiss Interesse. Die
Struma ist weiter unten gelegentlich der
Besprechung des Morbus Basedowii aus
Zweckmässigkeitsgründen abgehandelt. —
Retropharyngealabscesse grenzen
sich undeutlich oder garnicht ab. Dass
aber Fremdkörper im Pharynx differential¬
diagnostisch oder therapeutisch recht er¬
heblich in Frage kommen können, dafür
hat Eid jüngst einen Fall beigebracht
(Archives of the Roentgen Ray. 1903. July.
A set of artificial teeth lodged in the
pharynx): Pat. fiel aus dem Bett und verlor
das Bewusstsein. Nach dem Erwachen
Klagen über Nacken- und Brustschmerzen.
Die Diagnose wurde auf Wirbelfraktur ge¬
stellt und der Kranke mit extendirenden
und fixirenden Verbänden behandelt. Dar¬
auf lässt er sich auf eigene Hand durch¬
leuchten und zeigt triumphirend seinen
Aerzten das Bild des verschluckten Ge¬
bisses in seinem Pharynx. Am folgenden
Tage wurde die Extraction bewerkstelligt.
(Ref. in den Fortschritten auf dem Gebiete
der Röntgenstrahlen VI. 2. 114.) — Die
Sondirung als Heilfactor bei gutartigen
Oesophagusstenosen kann aus der
Röntgenuntersuchung, speciell der Durch¬
leuchtung im schrägen Durchmesser, Nutzen
ziehen. Wismuth in Oblaten lagert sich
Schatten producirend oberhalb der Ste¬
nosen ab, ist manchmal als feiner Schatten¬
faden nach dem Zergehen der Oblate in
der Stenose, und meist als intensiver
Schatten unterhalb derselben zu sehen.
Danach lässt sich manchmal die Enge,
meist die Länge dpr stenosirten Partie ent¬
scheiden. Die leicht und exact mittelst
eines aufgeblasenen Gummiballons nach
vorheriger Wismuthdarreichung darzustel¬
lenden Divertikel bieten keinen therapeu¬
tischen Angriffspunkt. Dagegen lassen sich
heilbare Krampfformen des Oesophagus
(Hysterie) auf dem Röntgenschirm studiren
und beurtheilen.
Wichtig ist selbstverständlich auch für
den Oesophagus die Constatirung und Lo-
calisation von Fremdkörpern, besonders
auch ob dieselben bereits den Oesophagus
passirten und sich im Magen oder Darm
befinden. Abadie theilt einen hierher
gehörigen Fall mit: Kleines Mädchen ver¬
schluckt eine grosse Stahlnadel mit dickem
Knopf. Heftiger Schmerz im Pharynx! Radio¬
graphie am nächsten Tage lässt die Nadel
im Coecum erkennen. Einige Tage später
Nadel im Stuhlgang. — Hier ist der gut¬
artige Verlauf, der sich durch die Wande-
derung der Nadel mit dem Kopf voran er¬
klärt, bemerkenswerth. Bleibt ein spitzer
oder eckiger Fremdkörper im Magen oder
Darm an derselben Stelle liegen, so kann
man, falls keinerlei Reizerscheinungen von
Seiten des Peritoneums vorhanden sind,
durch reichliche Nahrungsaufnahme ver¬
bunden mit milden Abführmitteln versuchen
denselben rectalwärts weiter zu befördern
Mehrfache Röntgenaufnahmen ergeben das
Beurtheilungsmaterial; jegliche eingehen¬
dere Palpation ist zu vermeiden. Tritt nun
Festspiessung, Einkeilung etc. mit ihren
Folgeerscheinungen ein, so ist der Fall ein
chirurgischer ; die Localisation des Corpus
alienum ist aber bereits erledigt. Glatte,
runde oder rundliche, leichte und schwere
Fremdkörper werden mit seltenen Aus¬
nahmen Magen und Darm glatt passiren.
Wie oft schlucken Kinder alle Kirschkerne
mit, weil „zu viel dranbleibt“! Handelt es
sich um specifisch schwere runde Fremd¬
körper, so kann man, meist wohl nur zur
Beruhigung des Beherbergenden, resp.
seiner Umgebung, sich von dem Durch¬
gang derselben durch den Darm über¬
zeugen. So brachten mir vor fünf Jahren
erregte Eltern ihren neunjährigen Jungen,
der eine eiserne Marmel (Buttcher) ver¬
schluckt hatte und sie noch deutlich im
Magen fühlte! Die Durchleuchtung ergab
die Anwesenheit derselben bereits im
kleinen Becken (18 Stunden nach dem Ver¬
schlucken). Ein einfacher Einlauf förderte
dieselbe prompt zu Tage. — Die Darstel¬
lung antiperistaltischer Randbewegung im
Darm mittelst Wismuthboli hat bisher nur
ein physiologisches Interesse.
Der Magen ist das einzige Abdominal¬
organ, dessen Grössenverhältnisse gut dar¬
stellbar sind, und zwar mittels einer Wis¬
mutaufschwemmung die sogenannte untere
Grenze (durch einen weichen Magenschlauch
eingegossen, Wolf Becker, Deutsche med.
Wochenschr. 1901 No. 2). (Diese Me¬
thode ist besser, als alle anderen, meist
auch umständlicheren [mit Quecksilber oder
Schrot gefüllte oder mit Gummi überzogene
Metallgliedersonden] besser auch für Rönt¬
genzwecke, als die Kohlensäureauftreibung).
Mittelst Betrachtung der Zwerchfellkuppe
links lässt sich die obere laterale feststellen
Die Therapie aber entnimmt der Magen¬
grösse eine Reihe ihrer Begründungen.
Die Constatirung einer Zwerchfell¬
hernie (meist Prolaps des Magens in die
linke Pleurahöhle) berechtigt zum opera¬
tiven Einschreiten.
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248
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juni
Der untere Leberrand wird nur aus¬
nahmsweise, dann zumeist bei Kindern
sichtbar werden. Inspection, Palpation und
Percussion sind immer ausschlaggebend.
Aber unter der rechten Zwerchfellkuppe
können sich in oder auf der Form bedin¬
genden Leber subphrenische, einer opera¬
tiven Therapie zugängliche Processe ent¬
wickeln (Echinococcen, abgekapselte Eite¬
rungen u. s. f.) (Championnere berich¬
tete über einen Mann, bei dem zufällig bei
einer Durchleuchtung ein Leberabscess ge¬
funden wurde. Die Punction bestätigte die
Röntgendiagnose. Der Kranke genas.) —
Links wird der subphrenische Abscess
meist leichter diagnosticirt werden können.
Ein Schmerzenskind für die Röntgen¬
diagnostik ist bisher die Cholelithiasis
gewesen und eigentlich auch bis zum heu¬
tigen Tage geblieben. Mag man die The¬
rapie als chirurgische auffassen oder sie
den Grenzgebieten zurechnen, jedenfalls
liefert eine einwandsfreie Diagnose vor¬
handener Steinbildung doch erst den Boden
für die Discussion weiterer Erwägungen.
Und ist schon die palpatorische Diagnose
der Gallenblasensteine eine keineswegs
immer ausreichende, besonders bei der be¬
gleitenden Entzündung der Blasenschleim¬
haut, so ist die auf klinischen Schluss¬
folgerungen beruhende intrahepatischer
Steine noch um ein beträchtliches un¬
sicherer. Deshalb ging man von Anfang
an die Röntgenmethodik um Leistungen
auf diesem Gebiete an. Albers-Schön-
berg, dem es selbst gelang Gallensteine
auf dem Röntgenbild darzustellen, meint
in seinem bereits erwähnten Buch, dass
gegenüber den vielen hunderten Fällen, in
denen die Röntgendiagnose ein negatives
Resultat ergeben hätte, die wenigen mit-
getheilten positiven kaum in Betracht
kämen. Trotzdem hofft er auf Grund der
Thatsache, dass alle Gallensteine einen
mehr oder minder deutlichen Schatten
ausserhalb des Körpers geben und, dass
nur die Diffussion der Röntgenstrahlen in
der Leber eine zu bedeutende sei, es
werde mit der Zeit unter Anwendung von
Blenden durch eine verbesserte Technik
gelingen, einwandsfreie Resultate zu för¬
dern. Euphorischer äussert sich Beck-
New-York (Berl. klin. W. 1901 No. 19),
dem es in mehreren Fällen gelang Posi¬
tives zu erreichen. Er erklärt, dass die
verschiedene Darstellungsfähigkeit der
Gallensteine ähnlich derjenigen der Nieren¬
steine zum Theil von dem Typus ihrer
chemischen Zusammensetzung abhinge. .
Er fügt der Mittheilung eines Röntgen- [
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bildes von intra vitam in der Gallenblase,
im Ductus cysticus und intrahepatisch ge¬
legenen Steinen einen Nachtrag an: „So¬
gar die einfachen Gallensteine, welche ich
vorher für transparent gehalten hatte,
konnten bei verbesserter Technik darge¬
stellt werden. In der Monatssitzung der
Academy of medicine (17. Januar 1901)
hatte ich Gelegenheit die Röntgogramme
der stecknadelkopfgrossen Gallensteine eines
34jährigen Mannes vorzulegen. Grössere
Steine waren in diesem Falle auch in den
Lebergängen zu erkennen. Dieselben
waren nicht so deutlich, als die Blasen¬
steine, aber immerhin noch deutlich genug.“
Guilloz (Sur la radiographie des cal-
culs biliaires — Revue m£dicale de l*Est,
1901, 15. März) erhielt in einem palpatorisch
sicheren Fall von Gallenblasensteinen ein
fast negatives Resultat. Die operativ ent¬
fernten Concremente erwiesen sich als
reine Cholestearinsteine. Ihrem fast den
Muskeln gleichen Durchleuchtungsvermögen
schreibt Guilloz die mangelhafte Differen-
zirung zu. — Zur Zeit liegt die Frage
der Darstellbarkeit der Gallensteine, wenn
ich resumiren und das Resurae nach meinen
eigenen Erfahrungen als zu Recht bestehend
bezeichnen darf, folgendermaassen: Der
negative Ausfall einer Röntgenuntersuchung
beweist keineswegs die Abwesenheit von
Gallensteinen, der positive (unter allen Cau-
telen gedeutete) beweist die Anwesenheit
der dargestellten Concremente, aber nicht
die Abwesenheit weiterer, nicht sichtbarer.
Weit besser steht es um die Diagnose
der Nieren-, Ureteren- und Blasen¬
steinbildungen. Tritt auch die interne
Therapie weit hinter die operative rationell
zurück, so ist es doch oft aus einer Reihe
von Gründen die erstere, die zunächst
versucht wird, wenn secundäre Erschei¬
nungen (Nierenbeckeneiterungen etc.) fehlen.
Ueber das Kleinerwerden, Verschwinden,
den Abgang der Concremente würden wir
in diesem Falle durch die Röntgenunter¬
suchung etwas erfahren. 1 ) Noch wichtiger
aber ist die exacte Diagnose für den Ope¬
rateur. Albers - Schönberg, der sich
speciell mit der Darstellung der Nieren-
und Ureterenconcremente seit jeher be¬
fasste, folge ich in der Beurtheilung der
vorliegenden Verhältnisse. Erinnern wir
uns an die in der Einleitung betonten Mo¬
mente, so erfuhren wir dort, dass die Ab¬
sorptionsfähigkeit gleich grosser Körper
l ) Wichtig genug muss auch oft der positive
Befund für differential-diagnostische Erwägungen —
| chronische Appendicitis, Adnex-Erkrankungen, Nieren-
I blutungen ohne bestimmte Ursache etc. — sein.
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903.
249
für Röntgenstrahlen verschieden ist auf
Grund der Atomgewichte ihrer Bestand¬
teile und ihrer Dichte. Auf die Nieren-
concremente angewandt, würde dies be¬
deuten, dass die Calcium-Phosphatsteine,
gleiche Dichte vorausgesetzt, am besten
darstellbar wären (neutrales Calcium-
Phosphat: Atomgewicht 310), dann ran-
girten die Calcium - Oxalat- (Atomgewicht
= 128) und schliesslich die Calcium-
Carbonatsteine (Atomgewicht = 100).
Erst das Hinzutreten dieser anorganischen
Salze zu den organischen Bestandtheilen
ermöglicht das Sichtbarwerden auf der
Platte, da die organischen Elemente ja
sämmtlich ein niederes Atomgewicht haben.
Nun sind aber die oxalsauren Steine die
dichtesten und daher die am besten dar¬
stellbaren, dann kommen die Phosphat¬
steine, dann die harnsauren Concremente
(nur auf Grund ihres Kalkgehaltes), am un¬
günstigsten präsentiren sich die Xanthin-
und Cystinsteine. Auf die Technik einzu¬
gehen ist dies gewiss nicht der Ort. Er¬
wähnt sei nur, dass an eine gute „Nieren¬
platte“ folgende Forderungen zu stellen
sind: 1) Sichtbarkeit der Processus trans-
versi der Wirbelsäule (Structur), 2) deut¬
liche Sichtbarkeit der letzten beiden Rippen,
mit Structur, 3) Differenzirung des Mus-
culus psoas, eventuell auch des Quadratus
lumborum. Zunächst wird eine Ueber-
sichts-, dann ein Localbild angefertigt.
Nierenbecken-, Ureteren-, Blasengegend
wird durch Einzelaufnahmen „abgesucht“.
— Einige Referate, die besonders für Er¬
folge und Misserfolge kennzeichnend sind,
seien an dieser Stelle der Wichtigkeit des
Gegenstandes halber eingeschaltet: Char¬
les Lester Leonard (Annals of surgery
1901 April) hält die Röntgenuntersuchung
für das wichtigste und zuverlässigste dia¬
gnostische Hülfsmittel bei Nephrolithiasis.
Bei 136 einschlägigen Fällen fand er 36
Mal Steine in der Niere oder im Ureter.
In den 100 negativen Fällen war nur ein
einziges Mal ein infolge technischen Feh¬
lers nicht diagnosticirter Stein vorhanden.
Daher hält er auch negative Resultate für
beweisend. Dabei sei der Röntgenbefund
geeignet dem Operateur den Weg zu
weisen. In mehr als der Hälfte seiner
Fälle sassen die Steine im Ureter. Ferner
sei die Entscheidung möglich, ob die an¬
dere Niere steinfrei ist. Ob conservativ
oder chirurgisch vorgegangen werden
muss, könne aus dem Röntgenbild ge¬
schlossen werden und im letzteren Falle,
auf welchem Wege. Liege z. B. ein kleiner
Stein im unteren Ureter, so könne man
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abwarten, ob er passiert. Andernfalls
Hesse sich Ureterenbougirung von der
durch hohen Steinschnitt eröffneten Blase
aus vornehmen, der leichter zum Ziele
führt, als die Freilegung des Nierenbeckens
und Ureters durch den lumbaren Sections-
schnitt.
Im Mai 1902 1 ) konnte derselbe Verfasser
dann in den Archives of the Roentgen
Ray über mehr als 200 Fälle unter Auf¬
rechterhaltung seines früheren Standpunkts
berichten.
Im März 1902 theilte Taylor 1 ) (Bristol
med. Journal) Krankengeschichten und
Bilder von 5 Nierensteinfällen mit. Nur
zweimal war vorher die richtige Diagnose
gestellt. In einem dritten Fall war Nieren¬
tuberkulose angenommen. Im vierten Falle
zeigte die Röntgenaufnahme 3 Steine in
der rechten Niere, von denen einer nahe
der Wirbelsäule lag. Dieser wurde bei
der Operation nur mit Mühe gefunden und
wäre ohne das Röntgenbild sicher dem Ope¬
rateur entgangen. Im fünften Falle wurde
der renale Ursprung des Leidens und die
Entscheidung, welche Niere die kranke
war, erst durch das Röntgenbild klarge¬
stellt. Phosphat- und Oxalsteine gaben
genügend deutliche Schatten.
Gleichfalls warm für die Wichtigkeit
der Röntgendiagnose bei der Nephro¬
lithiasis, wenn auch nicht so radical wie
Lester Leonard, treten in einem um¬
fangreichen, 37 Fälle enthaltenden Original¬
aufsatz in den „Fortschritten auf dem Ge¬
biete der Röntgenstrahlen, Bd. V, S. 157.
C. Comas und A. Priö Llaberia bei.
Sie halten die Diagnose auf röntgographi-
schem Wege möglich in allen Fällen, wo
nicht folgende3Umstände Zusammentreffen:
1) Ausserordentliche Körperfülle des Pa¬
tienten, 2) Winzigkeit des vorhandenen
Steines, 3) Tranparente Natur derselben.
Ich glaube, man kann Albers-Schönberg’s
Worten, mit denen er die Besprechung
der heutigen Technik und Erfolge der
Radiologie der Nierensteine beschliesst,
voll und ganz beistimmen. ,,Wir sehen
also aus dem Vorstehenden, dass die
Röntgendiagnose der Nierensteine eine nur
theilweise Selbstständigkeit beanspruchende
Methode ist. Es ist deshalb ausserordent¬
lich unangebracht, die therapeutischen
Maassnahmen einzig oder in erster Linie
auf den Röntgenbefund zu basiren. Der
Methode kommt nur ein die übrigen klini-
*) Die hier aufgeführten Referate sind als solche
aus den „Fortschritten auf dem Gebiete der Röntgen-
strahlen ", herausgegeben von Dr. A Ibers-Schönberg-
Hamburg übernommen.
oo
=1 frcn _ i
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
250
Die Therapie der
sehen Methoden ergänzender Werth zu.
Letzterer ist indessen nicht zu unter¬
schätzen und von solcher Bedeutung, dass
man es nicht unterlassen sollte, jeden
nierensteinverdächtigen Patienten der
Röntgenuntersuchung zu unterziehen. Die¬
jenigen Fälle, in welchen die Diagnose so¬
fort und unzweideutig in positivem Sinne
gestellt werden kann, sind natürlich für
den Untersucher die dankbarsten, jedoch
dürfen Erfolge in dieser Richtung nicht zu
der Annahme verleiten, dass stets und bei
allen Kranken die Untersuchung ein so
sicheres Ergebniss zeitigt.“
Der Röntgendiagnose derBlasensteine
ist die Sondirung, auch die cystoskopische
Untersuchung überlegen, wenn auch erstere,
namentlich bei Kindern, gute Resultate
liefert.
Von den Erkrankungen des Skeletts
sind für die innere Therapie zunächst die¬
jenigen der Wirbelsäule von Belang.
Kienböck gab in der Wiener klinischen
Wochenschrift 1901, No. 17 ein umfassen¬
des Referat (Die Untersuchung der ge¬
sunden und kranken Wirbelsäule mittels
des Röntgenverfahrens). Ihm entnehmen
wir, dass zunächst die Frage, ob Luxation
oder Fractur der Wirbelkörper oder beides
vorliege, entscheid bar ist. Der dort aus¬
gesprochene Wunsch, man möge in Fällen,
in denen es unsichei sei, wie weit die
Lähmungserscheinungen auf blosser —
durch Reposition wieder zu behebender
— Compression des Marks und der Wur¬
zeln oder, wie weit sie auf unbeeinfluss¬
baren Queschungsheerden der Rücken¬
markssubstanz selbst beruhen, deutbare
Bilder erlangen, hat sich, so weit ich sehe
nicht erfüllt.
Ist es zur Bildung eines Gibbus, resp.
einer Dislocation und Form Veränderung der
Wirbelkörper gekommen, so unterstützt ein
Röntgenbefund Diagnose und Therapie.
Hinsichtlich der Spondylitis incipiens,
sowie überhaupt von Heerden im Wirbel¬
körper, ist auf die Befunde von Eugen
Fränkel und Albers-Schönberg zu ver¬
weisen, welche ergaben, dass ein Heerd,
sofern er sich physikalisch vom gesunden
Knochen nicht unterscheidet, nicht darstell¬
bar ist. Innerhalb der Spongiosa diffe-
renzirt sich das gesunde oder das tuber¬
kulös veränderte Knochenmark nicht, nur
erstere selbst. Sowie es sich allerdings
um Prozesse handelt, die den Knochen ein-
schmelzen, so werden diese in Folge
besserer Durchleuchtungsmöglichkeit sich
als hellere, falls Verkalkung stattgehabt hat,
als dunkeiere Partieen abheben, — Thera¬
Gegenwart 1903. Juni
peutisch wichtig ist übrigens, dass sich
spondylitische Abscesse, besonders
bei Kindern gut darstellen lassen, ohne
und mit Jodoformglycerininjectionen.
Aus der durch den Röntgenbefund nicht
unwesentlich geförderten Differentialdia¬
gnose mancher klinisch sich ähnelnder
pathologischen Processe am Knochensystem
muss natürlich auch die Therapie direct
profitiren; sie braucht nicht erst als Hilfs¬
mittel der Diagnose, zur Stellung der
Diagnose ex juvantibus herangezogen wer¬
den. Besonders in Betracht kommt hier
natürlich die acquirirte und ererbte Lues
in allen ihren Formen. Es würde zu weit
führen die hierhergehörigen, gewiss nicht
geringen Verdienste des Röntgenverfahrens
aufzuzählen, zumal dieselben in erster Linie
pathologisch-anatomisches, in zweiter dia¬
gnostisches und in letzter therapeutisches
Interesse beanspruchen. Besonders wichtig
erscheinen mir die Arbeiten von Holz-
knecht und Kienböck (Fortschritte etc.
No. 247) über Osteochondritis syphilitica,
von Hochsinger, Fischl über Phalangitis
syphilitica (Differentialdiagnose gegenüber
der Spina ventosa und Rhachitis), von
Kienböck: zur radiographischen Anatomie
und Klinik der syphilitischen Knochen¬
erkrankungen an Extremitäten. Zur radio¬
graphischen Anatomie und Klinik der tuber¬
kulösen Erkrankung der Fingerknochen,
Spina ventosa, namentlich der nicht nach
aussen perforirenden Form, nebst Diffe¬
rentialdiagnose gegen Syphilis (Zeitschr.
f. Heilkunde. XXIII. 1902. Juli H. 6.),
von Simmonds über Chondrodystrophia
hypoplastica und hypertrophica, resp. sog.
Rachitis foetalis u. a. — Wie gesagt ist
hier nicht der Ort das Erreichte eingehen¬
der zu würdigen.
Eine therapeutische Rarität sei noch
erwähnt: Sick zeigte am 5. Februar 1901
im ärztlichen Verein in Hamburg das
Röntgenbild von einer Wirbelsäule mit
ausgeheiltem Riesenzellensarkom ausgehend
vom 4. Lendenwirbel. Das Sarkom war
zuerst operativ behandelt, ohne jeden Er¬
folg. Eine langdauernde Arsenkur brachte
das Sarkom dann derart zur Heilung, dass
2 V 2 Jahr post operationem Patient sich ge¬
sund und gut aussehend wieder vorstellt
Das Röntgenbild zeigt einen vom 4. Lenden¬
wirbel ausgehenden, grossen, rundlichen,
knochenharten Tumor, der dem Patienten
keine Beschwerden macht.
Was die Gelenkerkrankungen be¬
trifft, so besteht hier zwischen Röntgen¬
forschung und interner Therapie ein ge¬
wisser wechselseitiger Gegensatz, insofern
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903.
251
die akuten, therapeutisch beeinflussbaren
Arthritiden und Polyarthritiden nur ganz
ausnahmsweise Gegenstand einer erfolg¬
reichen Röntgenuntersuchung sein werden,
während an den chronischen, deformiren-
den Processen, die die verschiedenartigsten
Veränderungen im Röntgenbild zeigen, zu¬
meist die Therapie nichts ändern kann.
Vielleicht kann letztbezüglich die jüngst
mit Eifer aufgenommene Antistreptococcen¬
serumtherapie erwünschten Wandel schaffen.
Dann wäre auch wohl das Röntvenverfah-
ren mit dazu ausersehen, die Rolle des
objectiven Beurteilers zu übernehmen.
Eine Sonderstellung nimmt entsprechend
ihrer .klinischen Bewerthung die gonor¬
rhoische Gelenksentzündung ein. Der
frühzeitige und häufige Ausgang in Anky-
losirung weist ihr hinsichtlich Prognose,
leider auch Therapie ihren besonderen
Platz an. 1 )
Die echte Gicht, die Gelenkverände¬
rungen derTabiker, die Osteoarthro¬
pathie hypertrophiante pneumique
und die chronische ankylosirende
Entzündung der Wirbelsäule in ihren
verschiedenen Formen sind kaum einer
Therapie als solche zugängig.
An einen hübschen Sonderfall möchte
ich hier erinnern: Katzenstein stellte am
12. December 1900 in der Berliner medici-
nischen Gesellschaft einen Erguss ins rechte
Kniegelenk vor, der nach Fall aufs Gelenk
entstanden war. Da alle therapeutischen
Maassnahmen versagten, nahm Katzen¬
stein einen Fremdkörper im Gelenk an,
der auch durch das Röntgogramm in Ge¬
stalt einer Nadel nachgewiesen wurde.
Die Osteomalacie verdient noch
einige besondere Worte. Lauper hat in
den Fortschritten auf dem Gebiete der
Röntgenstrahlen, 1901/02 V. S. 201, eine
umfangreiche Monographie über die Osteo¬
malacie veröffentlicht, die sich keineswegs
nur auf Röntgenstudien beschränkt. Es
wird dort die Therapie, hauptsächlich die
Phosphortherapie und die Castration unter
Heranziehung der gesammten Litteratur
eingehend gewürdigt. Lauper kommt
zu dem Schluss, dass in der Therapie die
Röntgen-Photographie auch nur in soweit
Nutzen bringen könne, als sie gestatte in
grösseren Zeiträumen den Erfolg eines Me-
! ) Auf dem zweiten internationalen Congress für
medicinische Elektrologie und Radiologie — Bern,
1.—6. September 1902 — hielt Kienböck einen
Vortrag über Knochenveränderungen bei acut begin¬
nender gonorrhoischer Arthritis: helleres verschwom¬
menes Schattenbild der Knochen infolge acuter Er¬
weichung von Knorpel und Knochen (Sudeck sche
acute Knochenatrophie s. u.).
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dicaments etc. anschaulich zur Darstellung
zu bringen; ferner, dass sie durch ihre
Beihülfe zur Frühdiagnose es ermöglicht,
die Krankheit schon in den ersten An¬
fängen mit einer rationellen, energischen
Phosphorcur zu bekämpfen und ihre Dauer
dadurch abzukürzen.
Was auf dem Gebiete der Nerven¬
krankheiten die Therapie aus dem
Röntgenverfahren Nutzbringendes schöpfen
kann, ist bei der an sich leider dürftigen
Ausdehnung ersterer herzlich wenig. Fast
nur da werden Resultate zu erwarten sein,
wo sich das Knochensystem direct oder in-
direct, primär oder secundär, pathologisch
verändert zeigt. Das meiste Hierhergehö¬
rige erwähnten wir bereits, einiges ist hin¬
zuzufügen.
Cariöse Processe sind darstellbar als
Grund einer peripheren Facialislähmung,
Luxationen und Fracturen sind bedeut¬
sam für die sogenannten traumatischen
Lähmungen, Knochen- und Periost¬
geschwülste für Neuritiden mannigfachster
Art. Eine Ausnahme macht die Zwerch¬
felllähmung. — Unter den Erkrankungen
des Rückenmarks geben die Verletzun¬
gen (abgebrochene Messerklinge) und zwar
meist die Schussverletzungen mit stecken
gebliebenem Projectil röntgographirt die
idealsten therapeutischenlndicationen. Alles
was wir sonst erfahren, bezieht sich wieder
nur auf die Wirbelsäule. Das ging z. B.
auch deutlich aus einem gross angelegten
gemeinsamen Vortrag von v. Leyden und
G runmach unlängst in der Gest lisch, f.
Psychiatr. u. Nervenkrankh., Berlin, hervor.
Therapeutische Leistungen können wir aller¬
dings einem universelleren Symptom, das
als trophisches zu deuten ist und desshalb
hier kurz Erwähnung finden soll, nur in
beschränktem Maasse entnehmen (Uebungs-
therapie); trotzdem ist es recht wichtig,
ich meine die zuerst von Sudeck studirte
acute und chronische, trophoneurotische
reflectorische Knochenatrophie, wie sie
nicht nur nach Fracturen, Distorsionen und
Quetschungen der Gelenke, Weichtheil-
verletzungen, Arthritiden, sondern auch
nach Narbenverletzungen, Neuritiden und
bei den mannigfachsten Rückenmark-
affectionen (Nonne) auftritt. So findet
sich denn auch häufig bei Rückenmarks¬
erkrankungen Osteoporose der peripher-
wärts gelegenen Wirbelkörper. (Grun-
mach). —
Noch weniger ergiebig ist die thera¬
peutische Anbeute aus den Röntgen¬
befunden der Gehirnkrankheiten, wenn
wir die Fremdkörper und die knöchernen
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Original fro-m
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Die Therapie der Gegenwart 1903. Juni
Tumoren der Orbita ausschalten. Bene¬
dikt referirte allerdings auf dem erwähnten
Berner Congress über Röntgendiagnostik
der Schädel-, Hirn- und Wirbelsäule-Er¬
krankungen in stark optimistischer Weise:
Oedeme der Meningen, entzündlicher und
nicht entzündlicher Art, Verdickung der
Meningen, meningeale Blutungen, sowie
neoplastische Veränderungen am Hirn er¬
klärte er mittelst der Radiologie für nach¬
weisbar. Die Discussionsredner stimmten
ihm sämmtlich nicht zu. Holzknecht
wies mit Recht darauf hin, dass die Atom¬
gewichte von Schädel, Gehirnmasse, Blut
und Fett zu wenig different seien, um
genügende Schattendifferenzen hervorzu¬
rufen.
Nur unter ganz besonderen Umständen
gelingt es einen Tumor cerebri röntgo-
graphisch nachzuweisen. Grün mach be¬
richtet von einem solchen, den die Section
bestätigte. (Cystenartiger, Kalkconcremente
enthaltender Tumor). — Weiter Albers-
Schönberg: Gliom der Dura mater mit
Usurirung des Schädels, sodass auf dem
Os parietale sich die Figur des Tumors
deutlich abzeichnete. Die Operation förderte
den Tumor in der gezeichneten Figur zu
Tage.
Eher noch sind Tumoren der Hypo¬
physis cerebri darzustellen, falls sie Ver¬
änderungen an der Sella turcica veran-
lassen(Albers-Schönberg). Die Therapie
der Encephalocele, die durch das
Röntgen verfahren wesentlich geförde rt
wurde, ist rein chirurgisch (Beck).
Zum Schluss sei noch kurz einiger Ergeb¬
nisse aus dem Gebiete der Neurosen gedacht.
Bezüglich des Morbus Basedowii
erfahren wir nichts. Eingeschaltet sei
übrigens an dieser Stelle, dass wir über
die Natur der sonstigen Kröpfe, speciell
die Kalkablagerungen, durch das Röntgen -
bild orientirt werden. Beck tritt auf Grund
solcher Befunde in einem Artikel „Beitrag
zur Diagnostik und Therapie der Struma“
(Fortschr. IV, 122) für die Injection in die
folliculären und colloiden Formen ein.
Diagnose und Therapie der sogenannten
traumatischen Neurose kann natürlich
durch einen Röntgenbefund (s. o. Pleuri¬
tis etc.) wesentlich variirt werden.
Die Hysterie mit ihrem ungeheuren
Symptomenreichthum muss auch hin und
wieder der Gegenstand der Röntgen¬
forschung werden können. Besonders er-
wähnenswerth ist, dass bei hysterischen
Lähmungen sich jene, oben besprochenen,
trophoneurotischen Knochenveränderungen
nicht finden.
Dass die Durchleuchtung selbst, be¬
sonders beim ersten Mal, einen mächtigen
Eindruck auf die Hysterica ausübt und so¬
mit direct als Heilfactor wirken kann, liegt
auf der Hand.
Damit wäre ich am Ende. Ich hoffe,
ohne Anspruch auf Vollständigkeit machen
zu können, eine Beantwortung der anfangs
begründeten Frage, „welchen Nutzen zieht
die interne Therapie aus dem Röntgen¬
verfahren?“ in gedrängter Kürze gegeben
zu haben. Aus dem Mitgetheilten geht
weiter hervor, dass von unserem prakti¬
schen Gesichtspunkte aus betrachtet die
Summe der Röntgenerfolge nicht gross ist,
dass aber das Röntgenverfahren als voll¬
wertige klinische Untersuchungsmethode
angesehen werden will und in enger
Wechselbeziehung zu älteren Methoden
bisher nicht Erreichtes leisten kann. Tech¬
nischer Gründe halber wird die Radiologie
immer ein Specialstudium bleiben, die
wachsende Anwendungsmöglichkeit wird
reichere Gelegenheit ihre Vortheile zu ge¬
messen schaffen. Schon heute dürfte im
geeigneten Falle eine Durchleuchtung
weder als Luxus, noch als ultimum refu-
gium aufgefasst werden können.
Nierenblutung und Nierenschmerzen.
Von Dr. Wilhelm Klink,
Assistent am Central-Diakonissenhaus Bethanien zu Berlin.
Die Erfolge der Nierenchirurgie, die
sich in den letzten drei Jahrzehnten in
grossem Fortschreiten gebessert haben,
wie die grosse Sammelstatistik Schmie¬
dens zeigt, haben die Chirurgen veran¬
lasst, ein Krankheitsbild, von dem man
früher sehr wenig wusste, in Angriff zu
nehmen. Die Operation geschah sozusagen
immer auf falsche Diagnose hin; man nahm
Tuberkulose, Neubildung, Nierenstein an.
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Erst die operative Autopsie lehrte, dass
es sich um Nephritis, um alte fibröse Peri¬
nephritis oder um normale Nieren han¬
delte. Früher fasste man das Krankheits¬
bild zusammen als essentielle Hämaturie,
renale Hämophilie, Nephralgie h^maturique.
Es handelte sich in den betreffenden Fällen
um Blutung aus einer oder beiden Nieren,
die nur angedeutet bis sehr stark sein
kann, stunden- bis monatelang dauern
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903. 253
kann, nach freien Zwischenräumen wieder¬
kehren kann, sich oft jahrelang hinzieht;
im Harn findet sich ausser Blut kein pa¬
thologischer Bestandtheil. Mit der Blutung
verbunden oder ganz unabhängig von ihr
treten Schmerzen einseitig meist, doch
auch beiderseits, auf, die in nichts von
den Schmerzen bei Nierenstein zu unter¬
scheiden sind. In einer Reihe von Fällen
bestand Reichthum an Uraten und Oxa¬
laten im Urin.
Die Internisten, die ihr Arbeitsfeld von
dem schaffensfrohen Chirurgen immer mehr
eingeengt sehen, machen ihm die Behand¬
lung der „Nephralgia haematurica“ mit
dem Messer streitig. So haben sich denn
zwei Parteien gebildet; an der Spitze der
einen steht J. Israel, Rovsing u. a.; die
für die Entstehung der Nephralgia haema¬
turica eine anatomische Veränderung der
Niere zur Bedingung machen, mag dieselbe
auch nur in kleinen Heerdchen nephriti-
scher Natur bestehen; an der Spitze der
anderen steht G. Klemperer, der die
Entstehung des Symptomencomplexes in
einer anatomisch unveränderten Niere für
möglich hält und von einer angioneuroti-
schen Nierenblutung redet, d. h. von einer
Blutung, die auf eine Störung des Nerven¬
systems zurückzuführen ist. Ausserdem
nimmt Klemperer eine Blutung aus ge¬
sunden Nieren in Folge Ueberanstrengung
an. Ferner wird von Manchen, darunter
Senator und Klemperer, eine Nieren¬
blutung auf hämophiler Basis angenommen,
auch wenn im Uebrigen keine Blutungen
bestehen oder bestanden haben; die Ab¬
stammung aus Bluterfamilien ist schon be¬
lastend. Es sind hierfür beweisende Fälle
in der Literatur niedergelegt. Von diesen
will ich hier nicht sprechen, ebensowenig
von den Wandernieren, die zu Blutung und
Schmerzen führten.
In der Literatur sind 18 Fälle nieder¬
gelegt, die wegen Blutung, 14, die wegen
Schmerzen und 23, die wegen Blutung und
Schmerzen einer operativen Behandlung
der Niere unterzogen wurden. Die Ope¬
ration bestand in einfacher Freilegung der
einen Niere (in weitaus den meisten Fällen
gingen die Beschwerden von der rechten
Niere aus), in Nephrolyse, Acupunctur,
Nierenspaltung einer oder beider Nieren,
partieller oder totaler Exstirpation einer
Niere. Geheilt sind hiervon 38 (= 69%),
gebessert sind 5 («= 9 %), ungeheilt blieben
3 (= 5%), gestorben sind 9 (== 16°/ 0 ).
In diesen Fällen war durch den makro¬
skopischen Befund bei der Operation Ne¬
phritis in 9 Fällen festgestellt, durch mikro-»
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skopische Untersuchung in weiteren 13
Fallen; geringfügige Veränderungen fanden
sich in zwei Fällen, feste Verwachsung der
Niere mit der Umgebung bestand 14 Mal;
als normal für makroskopische Betrachtung
wird die Niere 15 Mal angegeben, bei
mikroskopischer Untersuchung wurde sie
drei Mal normal befunden. Auf die An¬
gabe einer Nephritis aus dem Zustand der
Niere bei der Operation darf nicht zu viel
Gewicht gelegt werden, da die ohnehin oft
sehr schwierige Diagnose der Nephritis
ohne Mikroskop bei der Operation noch
bedeutend erschwert wird, wenn es sich
nicht um ganz zweifellose chronische Ne¬
phritiden handelt. Die mikroskopisch fest¬
gelegten 13 Fälle (==25%) sind als sicher
zu betrachten; aber dass Massenblutungen
bei chronischer Nephritis Vorkommen, war
nichts Neues; allerdings sind sie selten,
am seltensten wohl bei Schrumpfniere;
weniger bekannt war das Vorkommen von
Nierenkoliken bei chronischer Nephritis.
Israel hat für das Entstehen dieser Ko¬
liken die von Harrison aufgestellte
Theorie der intrarenalen Spannungszu¬
nahme übernommen. Senator und K1 em -
perer sind ihm scharf entgegengetreten.
Israel legt wohl den kleinen Veränderun¬
gen der Niere zu grossen Werth bei, aber
unter 13 einschlägigen Fällen von ihm be¬
standen doch in 4 mikroskopisch nach¬
gewiesene nephritische Veränderungen und
zwar chronisch parenchymatöse Nephritis.
Verwachsung fand sich in 8 Fällen, auf
die Rovsing so grossen Werth legt; bei
mikroskopischer Untersuchung wurde die
Niere einmal als normal befunden. Auch
ist seine Theorie von der Spannungs¬
zunahme in der Niere während des An¬
falls nicht widerlegt, denn er operirte
ausserhalb des Anfalles und in dem einen
Fall, wo er im Abklingen des Anfalles
operirte, war die Spannung in der Niere
erhöht. Auch eine Reihe anderer Fälle
in der Literatur sprechen dafür; wir kön¬
nen da lesen, dass die Niere bei der Ope¬
ration aufs Doppelte geschwollen und blau-
roth war und wenige Stunden später weich,
blass und von gewöhnlicher Grösse. Auch
drei Fälle Pousson's, wo nach Verhei¬
lung der Operationswunde die bis dahin
bestehende Besserung schwand und das
alte Krankheitsbild zurückkehrte, sprechen
für die Israel’sche Theorie. Schliesslich
dürfen wir auch nicht vergessen, dass
Israel sechs Heilungen zu verzeichnen
hat. Wie nun allerdings diese Heilungen
zu erklären sind, ist wohl noch dunkel;
ich glaube, dass es nicht genügt, die kurz
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254
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903.
dauernde Entspannung als Ursache zu be¬
trachten; dann wären aber auch die Hei¬
lungen nach einfacher Freilegung (Broca,
Albarran) nicht zu erklären. Ich glaube
aber auch nicht, dass man mit Klempe-
rer einfach eine suggestive Wirkung an¬
nehmen darf. Wir wissen* es eben nicht.
Wir wissen auch, dass die tuberkulöse
Peritonitis durch einfache Laparotomie
günstig beeinflusst wird und sind uns trotz
aller Theorien über die Wirkungsart der
Operation nicht klar. Ich glaube, man darf
Israel und Klemperer recht geben,
jedem für einen Theil der Fälle, aber kei¬
nem für alle. Die Fälle, die Israel und
Rovsing, um die zwei hervorstechend¬
sten herauszugreifen, operirt haben, muss¬
ten operirt werden, weil die innere Medicin
am Ende ihres Könnens angelangt war.
Ausserdem wird eine Operation, natürlich
erst nach erfolgloser innerer Behandlung
solange entschuldigt werden, als wir die
Diagnose der Nephralgia haematurica nicht
sicher stellen können, und bis jetzt können
wir es nicht. Aus diesem Grund dürften
wir auch meistens um eine probatorische
Spaltung der Niere nicht herumkommen,
da wir nicht genau wissen, ob nicht eine
organische Erkrankung die Ursache ist.
Rovsing hat in 9 einschlägigen Fällen
7 Mal nephritische Veränderungen (2 Mal
chronische parenchymatöse Nephritis, 3 Mal
chronische diffuse Nephritis, 2 Mal chro¬
nische interstitielle Nephritis) gefunden;
mikroskopisch festgestelit sind hiervon 5.
Einmal war die Niere normal. In 6 Fällen
bestanden Verwachsungen. Seine Opera¬
tion bestand in Nephrolyse, Nierenspaltung
oder beiden zusammen. Geheilt wurden
6, gebessert 1, ungeheilt blieb 1, es starb 1.
Von mehreren Seiten ist auf das häu¬
fige Vorkommen von Steigerung der Harn-
stoflmenge im Urin hingewiesen worden.
Auch finden wir mehrmals Gicht in der
Anamnese angegeben. Ich glaube, man
sollte darauf mehr Werth legen als ätiolo¬
gisches Moment. Ich selbst habe einen
derartigen Fall zu beobachten Gelegenheit
gehabt, den ich kurz mittheilen will.
Es handelte sich um eine Frau von
56 Jahren, die schon mehrmals Gichtanfälle
gehabt hatte. Sie wies am Körper an
mehreren Stellen Gichtknoten auf. Der
Urin war sehr reich an Uraten, enthielt
bisweilen eine Spur Albumen; sonst war
er normal. Es bestand eine chronische
Bronchitis mit ausgedehnten Bronchecta-
sieen. Anfallsweise traten bei der Frau
heftige kolikartige Schmerzen in der rech¬
ten Nierengegend auf, nach der Blase aus¬
strahlend. Die Schmerzen verschwanden
gewöhnlich nach einigen Tagen auf Kata-
plasmen hin. Allerdings war meist im
Anfang Morphium nöthig. Die Niere war
nicht zu fühlen, auch im Anfall nicht, doch
war im Anfall Druck auf die Nierengegend
von den Bauchdecken aus schmerzhaft.
Diagnose wurde mit Wahrscheinlichkeit
auf Nephrolithiasis gestellt, doch war bei
dem elenden Allgemeinzustand der Frau
an Operation nicht zu denken. Sie kam
bald zum Exitus. Bei der Autopsie fand
sich eine typische Gichtniere.
Klemperer hat Fälle von Nierenblutung
nach Ueberanstrengung angeführt. Man
hat diese Fälle von anderer Seite anders
zu deuten gesucht, ich glaube mit Unrecht.
Diese Nieren sind wohl im Uebrigen als
gesund zu betrachten, sie sind nur der
grossen, ungewohnten Arbeit nicht ge¬
wachsen. Kennen wir doch Albuminurie,
die bei gesunden Individuen nach grosser
Anstrengung auftritt; sie ist neuerdings
von Leube ausführlicher beschrieben.
Warum sollte nicht auch Sanguis in den
Urin übergehen können? Ich will einen
einschlägigen Fall hier kurz mittheilen.
Ein gesunder Einjähriger schied nach
starken Uebungen im Urin reichlich Blut
aus. Sonst fand sich im Urin nichts Pa¬
thologisches. Das Blut schwand nach
einigen Tagen, wenn der Dienst weniger
streng war, von selbst, ohne dass der
Mann zu Bette lag.
Es könnte ja einer behaupten, dass
dieser Fall eine Nephritis vorstellt, da es
Nephriten ohne Albumen und Cylinder
giebt; ich glaube er wird wenig Glauben
finden. Ich glaube vielmehr, dass man
den Fall denen Klemperer’s zuzählen
kann.
Ich komme nun zur Besprechung der
Fälle, die von Klemperer als neuro-
pathische Blutung aufgefasst werden. Ich
fand deren in der Literatur 18; sie sind
von Baar, Casper, Castan, Durham,
Debaisieux, Guyon, Hamonie, Israel,
Klemperer, Naunyn, Potherat, Pas¬
set, Schede, Socoloff mitgetheilt. Klem¬
perer hält auch die Fälle von Ander¬
son, Broca und Sabatier für hierher¬
gehörig; ich kann mich hierin seiner An¬
sicht nicht anschliessen, sondern nehme in
diesen drei Fällen Nephritis an. Der Fall
von Baar ist mir auch noch sehr zweifel¬
haft; die Beschwerden schwanden, nach¬
dem der Mann eine grosse Fahrt durch
die Prairie gemacht hatte, d. h. nachdem j
er ordentlich durchgeschüttelt war. Könnte
diese Körperbewegung nicht ebenso gut
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255
Juni Die Therapie der
gewirkt haben, wie die psychische Erregung,
indem sie einen vielleicht vorhandenen und
festsitzenden Nierenstein in seiner Lage
löste? Sind doch neuerdings Erschütte¬
rungen der Nierengegend zu diesem Zweck
als Therapeuticum empfohlen worden.
In den 18 Fällen handelte es sich 9 Mal
um Blutung, 3 Mal um Nierenkolik, 6 Mal
um beides zusammen. Operationen wurden
9 Mal ausgeführt: 6 Mal Nierenspaltung,
3 Mal Exstirpation einer Niere. In einem
Fall trat Heilung von der Blutung nach
Ureterenkatheterismus ein, in einem anderen
Fall (Passet) stand die Blutung aus der
Niere auf Blasenspülung, bei ihrer Wieder¬
kehr auf Cystotomie. Die übrigen Fälle
heilten ohne Operation. Nach einer
Nephrectomie wegen Blutung und Schmer¬
zen trat Exitus ein. Die Niere fand sich
in allen Fällen, wo sie zu Gesicht kam,
normal; zweimal wurde mikroskopische
Untersuchung ausgeführt.
Besonders interessant und beweisend
für das Vorkommen von Nierenblutung
auf nervöser Grundlage ist derFallPassets:
Bei einer Frau trat während der Menses
Haematurie auf. In dem sauren Harn war
ausser Blut nichts Pathologisches zu finden.
Nach einmaliger Blasenspülung mit Silber¬
nitratlösung schwindet die Haematurie,
kehrt nach 1V *2 Jahr wieder, und steht
diesmal nicht auf Blasenspülungen. Des¬
halb Eröffnung der Harnblase: Aus dem
rechten Ureter kommt Blut. Schluss der
Blase. Von da an 2 Jahre frei von Blutung,
dann kurz dauernde Haematurie, die auf
Bettruhe schwand.
Einen ähnlichen Fall, den ich beob¬
achten konnte, will ich hier anführen:
Es handelte sich um einen 25 jährigen
Erdarbeiter. Erblich nicht belastet. Früher
nicht schwer krank gewesen. Vor 2 Monaten
holte er sich eine Gonorrhoe, die noch
nicht geheilt ist. Vor 4 Wochen bemerkte
er Blut im Urin, Gerinnsel, so dick wie
Würmer. Seitdem sei immer etwas Blut
im Urin gewesen. Sehr viel Blut geht
seit 8 Tagen fort, sodass der Urin meist
fast schwarz aussieht. Dabei bestand viel
Urindrang und Druck in der Blase. Schmerzen
in der Nieren- und Blasengegend werden
entschieden in Abrede gestellt. — Der
Kranke ist ausserordentlich blass, sonst
kräftig und gut genährt. Intellekt ist stark
vermindert. Es besteht kein Fieber. Puls
und Athmung bieten nichts Besonderes.
Innere Organe zeigen keine pathologische
Veränderung. Nieren sind nicht zu fühlen;
Nierengegend auf Druck nicht empfindlich,
wohl aber die Blasengegend. Aus der
Gegenwart 1903.
Urethra kein Eiter auszupressen. Urin
ist reichlich sauer, dunkelroth von Blut;
am meisten bluthaltig ist der zuletzt ent¬
leerte Urin; dieser enthält auch Gerinnsel
von etwa 2 mm. Dicke, mehreren cm. Länge.
Das Sediment besteht aus Blut. Die
Erythrocyten sind gross und klein, haben
ihre Gestalt gilt bewahrt; sehr reichliche
Leucocyten, gross und klein, ein- und
mehrkernig. Daneben spärliche Platten-
epithelien. Keine Cylinder, keine Bakterien.
Spur Albumen, dem Blut entsprechend. —
Die Behandlung bestand 3 Tage lang in
Bettruhe, Kataplasmen auf der Blasen¬
gegend, Fol. uvae ursi, Ergotin, Blasen¬
spülung mit Kal. hypermang. Alles halt
nichts, die Blutung dauerte an und die
Anaemie erreichte einen bedenklichen
Grad. Ein Cystoscop stand mir leider
nicht zur Verfügung; für Erkrankung der
Niere sprach in der Anamnese und im
gegenwärtigen Befund nichts. Dahingegen
Hess die Empfindlichkeit der Blase und
der Harndrang, sowie die stärkere Blut-
haltigkeit des zuletzt entleerten Urins
(Fürbringer) an eine Blutung in der
Blase denken. Vom Rectum und von den
Bauchdecken aus war keine Neubildung
zu fühlen ; für Tuberkulose waren im übrigen
Körper keine Anhaltspunkte; auch waren
keine Tuberkelbazillen im Harn nachweis¬
bar. Einen Stein konnte ich weder mit
der Sonde noch mit dem Röntgenapparat
entdecken. So nahm ich eine Blasenblutung
aus mir unbekannter Ursache an und be¬
schloss, durch die Autopsie in vivo mir
Gewissheit zu verschaffen. Die Anaemie,
die stetig zunahm, erlaubte kein längeres
Warten. Für Haemophilie sprach nichts.
Aus der Fingerbeere entnommenes Blut
zeigte ausser leichter Leucocytose nichts
Abnormes. Am letzten Tage konnte ich
in dem getrockneten Urinsediment Gono-
coccen nachweisen. — Operation: In
Morphiumchloroformaethernarkose wird die
Blase oberhalb der Symphyse eröffnet:
Die Schleimhaut ist stark geröthet; sonst
zeigt die Blase nichts Besonderes, vor
allem ist keine Quelle der Blutung in der
Blase selbst zu finden. Hingegen entleert
sich aus dem rechten Ureter beständig
tropfenweise sozusagen reines Blut. Am
liebsten hätte ich gleich die rechte Niere
freigelegt, doch hatte der Kranke eine
Operation an der Niere nicht erlaubt. Die
Blase wurde wieder geschlossen und ein
Dauerkatheter mit Heberdrainage durch
die Urethra in die Blase gelegt. Die
Operation hatte nur kurz gedauert und
war ohne Störung verlaufen. Es wurde
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Juni
256 Die Therapie der Gegenwart 1903.
eine subcutane Kochsalzinfusion ange¬
schlossen. Abends 39,1° C. Druck in
der Blase, der Urin enthält Spur Blut
Allgemeinbefinden gut. Auf eindringliches
Befragen gibt Patient nun folgendes an:
Vor 4 Wochen habe er plötzlich einen
Schmerz in der linken Nierengegend ver¬
spürt; derselbe sei so heftig gewesen, dass
er sich auf dem Boden gewälzt habe. Am
andern Tag sei der Schmerz in der rechten
Nierengegend gewesen, nach einigen Tagen
wieder geschwunden, aber verschiedene
Male, zuletzt etwa 4 Tage vor seinem Ein¬
tritt ins Krankenhaus, wiedergekehrt, doch
weniger heftig. Bei dem ersten Schmerz¬
anfall sei auch zuerst Blut im Urin aufge¬
treten. Am Tag nach der Operation:.
Wohlbefinden. Urin morgens frei von
Blut, enthält Mittags Spur Blut, reagirt
sauer. Abends 39,2° C. — 2 Tage nach
der Operation: Allgemeinbefinden gut,
Urin sauer, enthält viel Leucocyten, fast
lauter kleine mononucleäre, wenig Erythro-
cyten, viel Blutkörperchencylinder, spär¬
liche Plattenepithelien. Die Heilung machte
gute Fortschritte. Die Cystotomiewunde
heilte glatt. Blut schwand bald ganz aus
dem Urin. Die Gonorrhoe exacerbirte
noch einmal, wohl unter dem Einfluss des
Dauerkatheters. Patient wurde geheilt
entlassen.
Ich glaube, man kann den Fall als
Blutung auf nervöser Grundlage auffassen.
Die Heilung nach der Operation war ein
post hoc, ergo propter hoc ohne allen
Zweifel. Es könnte vielleicht noch gesagt
werden, die Chloroformnarkose habe den
heilenden Einfluss gehabt; dass das Chloro¬
form die Niere stark beeinflusst, wissen
wir, dass es aber eine Nierenblutung stillt,
wäre noch nachzuweisen. Ob die Opera¬
tion rein suggestiv gewirkt hat, oder ob
von der eröffneten Blase aus reflectorisch
eine Beeinflussung der Niere stattfand,
lasse ich unentschieden. Dass zwischen
Blase und Niere nervöse Wechselbeziehun¬
gen bestehen, wissen wir bestimmt.
Für die Diagnose giebt Klemperer
an: „Angioneurotische Nierenblutung ist
zu diagnostisiren, wenn der blutige Urin
eine einfache Mischung von Blut und
Harn, ohne jeden andern pathologischen
Bestandtheil darstellt und die Palpation
der Nieren dieselben nicht vergrössert er¬
weist. Der renale Ursprung der Blutung
wird durch Empfindlichkeit einer Niere,
Blutkörperchencylinder oder Cystoscopie
erwiesen. Zeichen allgemeiner Neurasthenie
unterstützen die Diagnose, sind aber für
dieselbe nicht nothwendig. Es sind auch
angioneurotische Nierenblutungen mit ■
Schmerzanfällen beobachtet, welche mit |
Nierensteinkoliken die grösste Aehnlichkeit
haben. Sie unterscheiden sich von ihnen |
durch die geringere Intensität und die
kürzere Dauer der Schmerzen, sowie die
suggestive Beeinflussbarkeit derselben.“ I
„Die Behandlung besteht in vollkommener !
Bettruhe, vorwiegender Milchdiät und wohl-
bedachter psychischer Einwirkung. Sehr i
zu empfehlen sind hydrotherapeutische
Proceduren, vielleicht auch lokale Electri-
sation. Die probatorische Freilegung der
Niere darf erst in Frage kommen, wenn I
nach mehrwöchentlicher innerer Behand¬
lung kein Rückgang der Blutung zu er¬
kennen ist und die Anämie das Leben
gefährdet.“
Litteratur.
Baar, G., Fall von geheilter Nierenblutung.
Therapie der Gegenwart 1901, S. 336. —
Casper, Fortschritte der Nierenchirurgie,
Arch. f. klin. Chir. 1901, LXIV. — Derselbe,
Deutsche med. Wochenschr. 1902, V. S. 66 und
1903, V. S. 90. — Castan, Ann. d. mal. d. org.
gen. ur. 1899, S. 1194. — Debaisieux, De
Thematurie r£nale essentielle, Ann. de la Soc.
beige de Chir. 1898. — Durham, Brit. med.
Journ. 1872. — Guyon, La physiologie et la
pratique de Chirurgie urinaire, Ann. d. mal. d.
org. g6n. ur. 1898, S. 1121. — Hamonic, P..
Ann. d. mal. d. org. gen. ur. 1899, S. 1191. —
Israel, J., Ueber den Einfluss der Nieren¬
spaltung auf acute und chronische Krankheits-
processe des Nierenparenchyms, Mitth. a. d.
Grenzgeb. d. inn. Med. u. Chir. 1899, V. S. 471
Derselbe, Chirurgische Klinik der Nieren¬
krankheiten, Berlin 1901. — Derselbe, Deutsche
med. Wochenschr. 1902, No. 9. — Derselbe,
Deutsche med. Wochenschr. 1903, V. S. 90. —
Klemperer, G., Neue Gesichtspunkte in der
Behandlung von Nierenblutung, Nierenkolik und
Nierenentzündung, Ther. d. Gegenw. 1901, S. 30.
— Derselbe, Ueber Nierenblutung bei ge¬
sunden Nieren, Deutsche med. Wochenschrift
1897, S. 129. — Derselbe, Deutsche med.
Wochenschr. 1902, V. S. 65.’ — Martens,
Deutsche med. Wochenschr. 1902, V., S. 247. —
Naunyn, B., Hämaturie aus normalen Nieren
und bei Nephritis, Mitth. a. d. Grenzgeb. f. inn.
Med. und Chir. V., 1899, S. 443. —Pousson, A.,
De Intervention chirurgicale dans certaines
vari6t6s de n6phrites mddicales; Assoc. franc.
d’urologie 1899, S. 455 und Ann. d. mal. d. org.
g£n. ur. 1902, Mai, Juni, Juli. — Derselbe,
Contribution ä la physiologie pathologique de
Tincision du rein, 4. session de l’assoc. fran<^.
d’urologie 1901. — Derselbe, Des phdnomenes
congestifs dans la pathog6nie des hemorrhagies,
Bull, de la Soc. de Chir. de Paris, Juni 1898. —
Derselbe, De l’intervention chirurgicale dans
les nöphrites m£dicales, Paris, Maloine 1903. —
Passet, Ueber Hämaturie und renale Hämo-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart 1903.
257
.1 uni
philie, Centralbl. f. d. Krankh d. Ham- und
Sexualorg. 1894, No. 8. — Poth^rat, Hämat¬
urie d’origine renale. Bull, de la Soc. de Chir.
de Paris 1898, S. 634, und Semaine medic. 1898,
S. 267. — Rovsing, Th., Wann und wie müssen
chronische Nephritiden operirt werden? Mitth.
a. d. Grenzgeb. f. inn. Med. u. Chir. 1902, X,
S. 283. — Senator, H, Nierenkolik, Nieren¬
blutung, Nephritis, Deutsche med. Wochenschr.
1902, No. 8. Discussion darüber V. S. 65. —
Derselbe, Ueber renale Hämophilie, Berl. klin.
Wochenschr. 1891, No 1. — Sokoloff, Ueber
einen Fall von wiederkehrender Nierenblutung
im Zusammenhang mit jedesmaliger Erkältung
des Integumentum commune, Berliner klinische
Wochenschr. 1874, No. 20. — Schede, Neue
Erfahrungen über Nierenexstirpation, Jahrb. d.
Hamb. Staatskrankenanst. 1889, S 13.
Zur Behandlung von Gallen» und Nierensteinkoliken
mittelst neuconstrulrtem Heissluftapparat.
Von Dr. Richard Sachs-Karlsbad.
Von der Thatsache ausgehend, dass
uns in der Medicin zur Linderung der ge¬
fürchteten Gallen- und Nierensteinkoliken
nur zwei Hilfsmittel zur Verfügung stehen:
Narcotica innerlich resp. subcutan und
heisse Applicationen äusserlich (resp.
als heisse Getränke innerlich), müssen wir
uns fragen, welchen Effect wir mittelst
derselben erzielen wollen.
Eine bekannte Erklärung für die Wir¬
kungsweise des Morphiums geht dahin,
dass abgesehen von dessen so wichtiger
schmerzlindernden Wirkung durch die ent¬
stehende Anästhesirung eine spontane
Lösung der krampfhaft um den einge¬
klemmten Stein sich contrahirenden Gallen¬
gangmuskulatur erfolgt, so dass der Stein
hernach leichter passiren könne.
Bezüglich der heissen Applicationen
wird auf die ableitende Wirkung hinge¬
wiesen, indem durch den starken äussern
Reiz, ähnlich wie bei andern Neuralgien,
der intensive Schmerz zum Theil abge¬
leitet wird, zum Theil aber auch durch die
hervorgerufene Hyperämie eine leichte
Anästhesie zu Stande kommt, welche in
minder schweren Fällen obengenannte
Wirkung des Morphiums (Lösung der
krampfhaft contrahirten Musculatur) allein
schon zur Folge haben könne.
Aehnlich wird die Wirkung sein, wenn
die Schmerzen von der mit Steinen ge¬
füllten entzündeten Gallenblase ausgehen,
welche sich mit Gewalt derselben entledi¬
gen möchte und wir eine Beruhigung der
durch Krampf der Gallenblasenmuskulatur
hervorgerufenen Schmerzparoxismen her¬
beiführen wollen.
Jeder Praktiker hat es erfahren, wie
der intensive, fulminante Schmerz den
Kranken in der Regel die Schmerzhaftig¬
keit der heissen Application vergessen
lässt; letzterer verlangt oft stürmisch nach
den heissesten Umschlägen, so heiss wie
möglich, um nur den unerträglichen Schmerz
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zu lindern und so sehen wir denn auch
nach kurzer Zeit, trotz Einfettens, dass
die Haut bald wund wird und deutliche
Verbrennungszeichen aufweist, welche bei
sich wiederholenden Attakken eine un¬
angenehme Störung bilden können.
Dazu kommt noch, dass auf der Höhe
des Anfalles oder nach längerer Dauer
desselben die Empfindlichkeit der Gallen¬
blasengegend so enorm wird, dass auch
der leiseste Druck nicht vertragen wird
und die Umschläge, Thermophore etc. alle
als unerträgliche Last empfunden werden.
Hier tritt nun meistens das Morphium
in seine Rechte, leider nur zu häufig.
Wie aber, wenn der Patient an Idiosyn¬
krasie gegen Morphium leidet?
Das Chloralhydrat ist kein so verläss¬
liches Ersatzmittel, mit Atropin und Cocain
werden wir aber jederzeit vorsichtig sein
müssen; oder wenn die Anfälle sich häufig
und längere Zeit hindurch wiederholen und
der gewissenhafte Hausarzt nach Möglich¬
keit mit der häufigeren Einflössung des
Morphiums zögert, um nicht vorzeitig
dessen böse Folgen heraufzubeschwören?
Ich kenne selbst Kranke und speciell
gallensteinkranke Collegen, welche aus
obigem Grunde ziemlich heftige, häufig
auitretende Koliken ohne Morphium zu
überstehen trachten, um sich dieses nur
für den äussersten Nothfall zu reserviren.
In diesen an den Praktiker häufig genug
herantretenden Fällen bleibt nun, wenn
alle Versuche der innern Medication als:
Narcotica, Oelcuren, heisse Getränke, heisser
Sprudel, Eunatrol, Podophyllin, Cholagoga
etc. uns im Stiche gelassen haben oder aber
z. B. wegen heftigen Erbrechens nicht an¬
wendbar waren, die Hitze als einziges,
einfachstes und unschädliches Linderungs¬
mittel übrig. Dieselbe wird sich natürlich
auch als Unterstützungsmittel von Narco-
ticis, welche für sich allein keine genügende
Anästhäsie hervorgerufen haben (also öfter
33
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
259
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juni
wandelt, welche mit einem einfachen Ruck I
<ien gewollten Zweck erreicht. Ein in der |
Mitte und an den Seiten von der Asbest¬
decke herabfallendes Filztuch dient zum
raschen und bequemen Abschlüsse des
inneren Luftraumes, welcher überdies mit- |
telst einerDecke noch inniger abgeschlossen |
werden kann. Einen absoluten Abschluss
benöthigen wir nicht. Das Trichterrohr !
wird mittelst zweimal gebogenem Rohre
mit dem bekannten Schornsteine verbun¬
den und die Heizung mittelst Spiritusgas¬
brenner, Gasbunsenbrenner kann sofort
beginnen. Mit der Hand wird anfangs
unter der Filzdecke nachgefühlt, ob der
Heissluftstrom die richtige Direction ge¬
nommen hat und hernach nur zeitweise
der Schweiss weggewischt, sowie eventuell
nachgefühlt, ob sich die betreffende Stelle
nicht zu stark erhitzt hat, in diesem Falle
wird nur vermittelst der Schiebevorrich¬
tung der Trichter etwas höher gestellt.
Häufig tritt die beruhigende Wirkung
schon nach zehn Minuten ein und steigt
mit der Dauer der Application. Der Appa¬
rat ist rechts und links verwendbar. Die
kleine Oeffnung, welche für ein tief einzu¬
führendes Thermometer bestimmt ist, kann
auch verstopft werden, da die Hitzemessung
bei zeitweiliger Controle mit der Hand
ohne Weiteres unterbleiben kann, indem
sie nur relativen Wert besitzt.
Die Anfertigung des Apparates für
Deutschland habe ich dem Medicinischen
Waarenhause in Berlin übergeben und
bin überzeugt, dass derselbe bei einiger
Uebung als sehr brauchbar anerkannt
werden wird.
Zur Frage der inneren Erkrankungen und plötzlichen Todesfälle
im Anschluss an die Heilung eines Säuglingsekzems.
Von Dr. Michael Cohn, Kinderarzt (Berlin).
In der Versammlung der niederrheinisch-
westphälischen Kinderärzte zu Düsseldorf
am 8. Dezember 1901 schloss sich an einen
Vortrag von I. G. Rey (Aachen) über das
Säuglingsekzem eine lebhafte Discussion
an, in der fast alle Redner übereinstim¬
mend davon zu berichten wussten, dass
sie bei der Abheilung eines chronischen
Ekzems bei kleinen Kindern gelegentlich
nicht nur auffällige Krankheitserscheinungen,
wie z. B. hohes Fieber, Durchfälle, sondern
selbst plötzliche Todesfälle beobachtet
hätten. Man berief sich dabei auch auf
die Autorität Henoch’s, der in der That
selbst noch in den neueren Auflagen seines
Lehrbuchs die Lehre von den Metastasen
der Hautkrankheiten vertheidigen zu müssen
glaubt, wonach also die Unterdrückung
gewisser Hautleiden zuweilen schlimme
Folgen für den Organismus nach sich ziehen
könne, eine Lehre, die, bereits von Celsus
vertreten und in der. Humoralpathologie
wurzelnd, in der Neuzeit mit dieser von
der Mehrzahl der Aerzte als veraltet und
irrig betrachtet wird und nur noch in der
Volksvorstellung mit einer gewissen Zähig¬
keit haftet. Henoch erklärt nach künst¬
licher Suppression eines chronischen Kopf¬
ausschlags mehrmals fast unmittelbar darauf
exsudative Pleuritis, Bronchitis und Diarrhoe
beobachtet zu haben und erwähnt überdies
zwei ganz junge Kinder betreffende Fälle,
in denen 8—10 Tage nach der raschen
Heilung eines Ekzema capitis et faciei Con-
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i vulsionen mit letalem Ausgang eintraten,
Fälle, die trotz ihres vereinzelten Auftretens
doch, wie er hinzufügt, auf ihn einen tiefen
Eindruck gemacht hätten.
Durch die obigen Angaben einer ganzen
j Reihe von Praktikern wird die, wie gesagt,
! von den Meisten wohl längst als in nega¬
tivem Sinne entschieden geltende Frage
nach dem etwaigen Zusammenhänge
zwischen Ekzemheilung und inneren Er¬
krankungen resp. Todesfällen speziell bei
Kindern von Neuem zur Erörterung ge-
, stellt. An der nämlichen Stelle, an der
jene Discussion nebst dem Rey’schen Vor¬
trag abgedruckt ist, im 56. Bande des
Jahrbuchs für Kinderheilkunde, ist auch
bereits eine Arbeit von Strauss (Krefeld)
über das Säuglingsekzem erschienen, die
hierzu Stellung nimmt. Strauss wendet
sich gegen die dort vertretenen Anschau-
| ungen, er warnt davor die Lehre von den
j üblen Säften, von der Dyskrasie in Bezug
| auf das Säuglingsekzem wieder aufleben
j zu lassen und erklärt dieses für eine rein
lokale, lediglich durch äussere Reize ent¬
stehende Affection, nach deren Heilung er
einen Todesfall nie gesehen habe. Nach
seiner Ansicht kämen in den erwähnten
Todesfällen ätiologisch Convulsionen, Sep-
| sis, vielleicht durch das Ekzem selbst ent-
I standen, oder Laryngospasmus in Betracht;
er erinnert daran, dass ja auch sonst zu¬
weilen plötzliche Todesfälle bei Säuglingen
vorkämen, mithin es nicht wunder nehmen
33 *
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
260
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juni
könne, wenn gelegentlich ein solcher auch
im Verlaufe eines chronischen Ekzems
zur Wahrnehmung gelange.
Im Folgenden möchte ich mir nun
meinerseits erlauben Ober eine Beobachtung
zu berichten, die ich kürzlich zu machen
Gelegenheit hatte, und die wohl als ein
Beitrag zu der wieder strittig gewordenen
Angelegenheit gelten dari.
Am 8. Janaar d. J. wurde mir das 1 x / 4
Jahre alte Kind Lucie L. aus Mariendorf bei
Berlin von den Eltern in die Sprechstunde
gebracht, weil es an Halsdrüsen leide, und sie
wissen wollten, ob es deshalb „geschnitten“
werden müsse. Es handelte sich um ein kräf¬
tiges, gut genährtes Kind, dessen behaarte
Kopfhaut von einem stark nässenden, zum
Theil borkigen Ausschlage eingenommen war,
der nach hinten sich am Nacken abgrenzte,
während er vorn auch auf die Haut der Stirn
Übergriff. Zu beiden Seiten des Halses be¬
fanden sich, vornehmlich in der Gegend der
Kieferwinkel gelegen, ziemlich beträchtliche
Lymphdrüsenpackete; die einzelnen Drüsen
bildeten Knollen bis Pflaumengrösse, waren
im Uebrigen hart, unempfindlich und unter
der Haut verschieblich. Sonst bot das Kind
an seinem Körper noch leichte Zeichen von
Rachitis, im Uebrigen aber nichts Abnormes
dar. Nach der Angabe der Eltern bestand
der Ausschlag bei dem Kinde, das mit der
Flasche genährt worden war und keinerlei
Krankheiten bisher durchgemacht hatte, seit
seinem 5. Lebensmonate; er hatte sich zeit¬
weise, unter ärztlicher Behandlung, gebessert,
war aber nie völlig geschwunden; seit ca. 5
Wochen war er wieder schlimmer geworden,
und seit dieser Zeit war auch die starke An¬
schwellung der Drüsen am Halse aufgefallen.
Ich klärte die Eltern darüber auf, dass in
erster Reihe das Ekzem der Gegenstand der
Behandlung sein müsse und ordnete die Ent¬
fernung der Kopfhaare sowie die konsequente
lokale Applikation von Oleum Zinci (Ol. Oli¬
varum, Zinci oxyd. ana) an.
Am 14. Januar, also 6 Tage später, führten
mir die Eltern das Kind wieder zu mit der
Erklärung, der Ausschlag sei besser geworden,
jedoch fiele ihnen seit vorgestern auf, das die
Hände und Füsse des Kindes etwas
geschwollen seien; das Allgemeinbefinden
sei im Uebrigen ein gutes gewesen, das Kind
habe gut getrunken, nicht gebrochen; auch
war eine Verminderung in der Harnentleerung
nicht aufgefallen. Die Untersuchung ergab
folgenden Befund: Ekzem der Kopfhaut er¬
heblich gebessert, völlig trocken, nur noch
spärliche Borkenbildung; Gesichtshaut voll¬
kommen frei; Drüsen am Halse vielleicht etwas
kleiner. An den Nates leichte intertriginöse
Rötung. Geringes Oedem an Hand- und
Fussrücken; sonst nirgends Oedeme nachweis¬
bar. Temperatur nicht erhöht. Der in spär¬
licher Menge beim Abhalten des Kindes ent¬
leerte Harn ist hell, klar, ohne merkliche
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Trübung. Beim Kochen und Zusatz von
Salpetersäure entsteht ein starker Nieder¬
schlag, der beim Absetzen den 4. Theil der
Flüssigkeitssäule im Reagensglase ausmacht;
auch bei der Heller’schen Schichtprobe bildet
sich eine starke, ringförmige Trübung an
der Berührungsstelle. Im Essbach’schen
Albuminimeter gemessen betrug der Eiweis¬
gehalt 2 pro Mille. Die am nächsten Tage
vorgenommene mikroskopische Untersuchung
der untersten Tropfen des im Spitzglase
sedimentirten Urins ergab die Anwesenheit
von hyalinen, zum Theil auch körnigen, mit¬
unter mit Leukocyten und Epithelien be¬
deckten Cylindern. Verordnung: Heisse Bäder
mit nachfolgenden Einpackungen, Wildunger
Helenenquelle.
Nach zwei Tagen erhielt ich den Bescheide
das Kind wäre bei Nacht etwas unruhig, bei
Tage aber ganz munter; die Schwellungen
an Händen und Füssen seien zurückgegangen,,
obwohl die verordneten Bäder — das Kind
war bisher nie gebadet, sondern nur täglich
gewaschen worden — sich infolge hartnäckigen
Sträubens des Kindes nicht hätten ausführen
lassen. Der mitgebrachte Urin war hellgelb,,
klar, specif. Gewicht 1012; Albumengehalt
erheblich geringer, im Essbach */a pro
Mille; mikroskopisch: einzelne hyaline Cylinder
nebst Leukocyten.
Am 21. Januar erhob ich folgenden Befund:
Ekzem fast völlig abgeheilt, nach Erklärung
der Eltern bisher noch nie so gut gewesen.
Die Drüsen am Halse nicht mehr so gross wie
früher, aber doch noch intumescirt. Urin hell,,
klar, Albumen nicht mehr nachweisbar.
Allgemeinbefinden gut.
Bei einer Nachuntersuchung am 25. März
konnte ich mich überzeugen, dass das Kind
völlig genesen war. Vom Ekzem waren
keinerlei Spuren mehr vorhanden, auch die
Drüsen am Halse bis auf geringe Reste ge¬
schwunden.
Um zusammenzufassen, so handelt es
sich im vorliegenden Falle um ein
1 V 4 Jahre altes Kind, bei dem drei Tage
nach Beginn der erfolgreichen Behandlung
eines chronischen Ekzema capitis die deut¬
lichen Zeichen einer leichten Ne¬
phritis (Oedeme an Hand- und Fuss¬
rücken, Albuminurie, Cylindrurie) sich be¬
merkbar machen, um innerhalb der nächsten
acht Tage, ohne wesentliche Störungen des
Allgemeinbefindens verursacht zu haben,
allmählich wieder zu verschwinden, wäh¬
rend auch das Ekzem gleichzeitig völlig
abheilt. Dass nun zwischen dem chro¬
nischen Ekzem resp. dem Abheilungspro-
cess desselben und der Nephritis ein un¬
mittelbarer Zusammenhang existirt, lässt
sich freilich nicht mit absoluter Sicherheit
beweisen, muss aber doch als sehr wahr¬
scheinlich angesehen werden; denn ein
anderes ätiologisches Moment wie etwa
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart 1903.
261
J uni
ein vorangegangener Darmkatarrh oder
eine vielleicht nicht genügend beachtete
Scharlacherkrankung war durch die Anam¬
nese trotz genauen Nachforschens absolut
nicht festzustellen, und auch eine medika¬
mentöse Nephritis kann als ausgeschlossen
gelten, da die applicirte Salbe völlig in¬
differenter Natur war, eine interne Thera¬
pie aber überhaupt nicht zur Anwendung
kam. Wäre nun mit diesem Falle die
Möglichkeit des Vorkommens einer acuten
Nierenentzündung im Verlaufe und im Zu¬
sammenhänge mit der Abheilung eines
chronischen Ekzems der Säuglinge er¬
wiesen, so läge es auch nahe die oben
erwähnten unaufgeklärten Todesfälle bei
solcher Gelegenheit zum Theil wenigstens
als die Folge einer nicht erkannten Ne¬
phritis aufzufassen und die öfters dabei
-erwähnten Convulsionen als urämische zu
deuten. Es ist ja ohnehin bekannt, dass
die Nephritis ganz junger Kinder schon
wegen der Schwierigkeit der Uringewin¬
nung nicht so selten in der Praxis über- 1
sehen wird. Mit der Möglichkeit einer
Nephritis als Todesursache rechnet in der
obigen Discussion auch Bloch (Köln) bei
der Erwähnung des Falles eines acht Mo¬
nate alten Brustkindes, das nach rascher
Heilung eines fünf Wochen lang be¬
stehenden Gesichtsekzems plötzlich nach I
leichten vorhergegangenen Krämpfen starb. I
Und Castenholz erwähnt bei gleicher i
Gelegenheit eine „Reihe von plötzlichen J
Todesfällen“, die er bei nässenden Ekzemen |
im Kinderhospitale erlebt, und bei denen
die Sectionen „nichts als höchstens Hy¬
perämie der Nieren“ ergeben hätten; er
selbst betrachtet allerdings in diesen Fällen
als Todesursache die Störung der Haut¬
respiration infolge der Einsalbung ausge¬
dehnter Hautpartieen.
Was die Entstehungsweise einer sol¬
chen acuten Nierenentzündung im Ab- I
heilungsstadium eines chronischen Säug¬
lingsekzems anlangt, so braucht man zu
deren Erklärung, wie uns scheint, gewiss
nicht auf die alten Anschauungen von den
zurückgedrängten schlechten Körpersäften,
von dem Nachinnenschlagen der Krankheit
und dergleichen mehr zurückzugreifen,
vielmehr Hesse sich hierfür wohl auch eine
Deutung finden, die mit unsern modernen
wissenschaftlichen Anschauungen mehr im
Einklang steht. So Hesse sich darauf hin-
weisen, dass ja bei einer ganzen Gruppe
von Krankheiten sich gelegentlich* in der
Abheilungsperiode eine Nephritis einstellt,
nämlich bei den acuten Infectionskrank-
heiten; wie angenommen wird, sind es hier
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die toxischen Infectionsstoffe, die, während
sie vom Organismus durch die Nieren aus¬
geschieden werden, diese in den Zustand
der Entzündung versetzen. Nun scheint
freilich auf den ersten Blick zwischen einer
acuten Infectionskrankheit und einem chro¬
nischen Ekzem wenig Aehnlichkeit zu be¬
stehen; immerhin ist hier doch wohl in
Bezug auf den in Rede stehenden Punkt
eine gewisse Analogie denkbar. Ganz
gleichgiltig nämlich, ob man für die Ent¬
stehung des Ekzems, speciell auch des
Säuglingsekzems, nach dem Vorgänge der
Wiener Schule mehr äussere Reize und
Schädlichkeiten verantwortlich macht, oder
aber, wie es die französische Schule thut
und hinsichtlich desSäuglingsekzems neuer¬
dings wieder Rey hervorhebt, den innern
Ursachen die entscheidende Rolle zuweist,
soviel scheint doch nach neueren Unter¬
suchungen wohl sicher zu sein, dass auch
hier Mikroorganismen, Eitererreger, insbe¬
sondere Staphylococcen (cfr. Scholz,
Deutsche med. Wochenschr. 1900, No. 29
u. 30, Bockhardt, Mon. f. prakt. Dermat.
Bd. XXXIII. No. 9), und sei es auch nur
als Nosoparasiten, eine gewisse Rolle
spielen. Sie werden hier stets angetroffen,
und zum mindesten so lange das Ekzem
sich auf der Höhe befindet, erzeugen sie
jedenfalls am Locus affectionis gewisse
Stofiwechselproducte, die von den Lymph-
bahnen aufgenommen in die benachbarten
Lyraphdrüsen gelangen und diese in den
Zustand der Schwellung versetzen, einen
Zustand, der während der Dauer des
Ekzems offenbar infolge continuirlicher
Zufuhr reizender Stoffe aus dem Entzün¬
dungsgebiete bestehen bleibt. Diese An¬
schwellung der regionären Lymphdrüsen,
die gerade im Kindesalter, wohl wegen
der hier besonders starken Reizbarkeit des
lymphatischen Apparats, oft eine beträcht¬
liche ist, stellt an sich gewiss einen für
den Gesammtorganismus nützlichen Vor¬
gang dar, indem hierdurch jene reizenden
Stoffe in irgend einer Weise in den Drüsen
festgehalten und an einem Eindringen in
die Blutbahu gehindert werden. Mit der
Abheilung des Ekzems pflegen sich be¬
kanntlich auch die Drüsen mehr oder we¬
niger rasch zurückzubilden. Hierbei muss
es nun zweifellos zu einer Resorption der
in den Drüsen vorhandenen irritirenden
Substanzen (Staphylococcentoxine) kommen,
und diese Resorption wird um so plötz¬
licher einsetzen, je rascher die Abheilung
des chronischen Ekzems sich vollzieht, je
plötzlicher und unvermittelter also die bis¬
herige Reizung der Lymphdrüsen unter¬
em rigiraal from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
262
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juni
brochen wird. Man kann sich vorstellen,
dass auf diese Weise gelegentlich eine
ziemlich acute Resorption einer so grossen
Menge dieser Substanzen und Eindringen
derselben in die Blutbahn stattfindet, dass
sie nunmehr bei der Ausscheidung durch
die Nieren diese in einen entzündlichen
Zustand zu bringen im Stande sind.
Ob nun dieser Erklärungsversuch zu¬
treffend ist oder nicht, vorerst handelt es
sich weit mehr darum das Vorkommniss
selbst erst noch durch weitere Beobach¬
tungen sicher zu stellen. Systematische
Urinuntersuchungen bei Kindern während
der Abheilungsperiode chronischer Ekzeme
könnten hier vielleicht am ehesten Aufschluss
geben. In der Litteratur finden sich aller¬
dings auch bereits einige Mittheilungen
über das Auftreten acuter Nephritis bei
Kindern im Gefolge chronischen Ekzems
resp. Impetigo; sie stammen von italieni¬
schen Aerzten her. So beschrieb Guaita
(Mailand) i. J. 1890 unter dem Titel „Ne¬
phritis acuta, eine nicht seltene Ursache
überraschender Todesfälle bei Kindern“
einige Fälle dieser Art im Archivio italiano
di Pediatria, und an der gleichen Stelle
berichteten in den folgenden Jahren Canali
(1891), Regoli (1891), Felici (1892) und
Celoni (1893) über analoge Vorkommnisse.
Nach den mir vorliegenden Referaten (Jahrb.
f. Kinderheilkunde Bd. 37, S. 444, Bd. 38,
S. 506) handelte es sich dort zumeist
um ältere Kinder; auch ist nicht er¬
sichtlich, ob die Nephritis mit der Abhei¬
lung der Hautausschläge zusammenhing
resp. in Zusammenhang gebracht wurde.
Sollten aber auch Beobachtungen von
der Art der mitgetheilten sich mehren,
| so würde dadurch, wie zum Schluss her¬
vorgehoben werden mag, der praktische
| Standpunkt, dass jedes Kinderekzem thera-
* peutisch in Angriff genommen und nicht
| etwa als ein noli me tangere betrachtet
| werden müsse, gewiss dadurch in keiner
Weise verrückt werden. Denn sicherlich
handelt es sich hier nur um relativ seltene
Vorkommnisse, und zweifellos ist die Zahl
jener Fälle beträchtlich grösser, in denen
die Vernachlässigung eines Säuglings¬
ekzems fatale Folgen in Form von Phleg¬
monen, Erysipel, Sepsis u. s. w. nach sich
zieht. So sah ich selbst erst vor noch
nicht so langer Zeit in meiner Poliklinik
ein fünf Monate altes Kind an einem Ery¬
sipel zu Grunde gehen, das von einem
chronischen Ekzema capitis et faciei seinen
Ausgang genommen hatte, und bald da¬
nach einen sechsmonatlichen Säugling mit
einem seit einem Vierteljahr bestehenden
nässenden Gesichtsekzem, das ein höchst
fötides Sekret absonderte, unter Erschei¬
nungen erkranken und ziemlich rasch
enden, welche die Annahme einer von dem
Ekzem ausgegangenen acuten Sepsis nur
allzu nahe legten.
Aus Dr. Parisers Sanatorium für Magen- und Darmkrankheiten in Homburg vor der Höhe.
Ueber Tanocol.
Dr. med. Hans Schlrokauer.
Im Frühjahr 1902 wurde uns von der
Actiengesellschaft für Anilinfabrikation ein
grösseres Quantum Tanocol zur Prüfung
übersandt. Schon vorher hatte mein ver¬
ehrter Chef, Herr Dr. Pariser, vorwie¬
gend auf die Empfehlung in der Arbeit
Rosenheim’s dieses Mittel I 1 /* Jahre hin¬
durch bei Indication zu Tannindarreichung
systematisch angewandt. Es kann daher
über die Wirkung des Mittels berichtet
werden, wie sie sich an einem grösseren,
vorwiegend klinischen Beobachtungsmate¬
rial bei regelmässiger Untersuchung der
Stuhlentleerungen ergab.
Für diejenigen, denen das Tanocol in
seiner chemischen Form und seinen phy¬
sikalischen Eigenschaften nicht genauer
bekannt sein sollte, seien einige Daten
darüber gegeben. Das Tanocol ist ein
von Dr. Altschul dargestelltes Leim-
tannat und ist ein gelbliches, geschmack-
und geruchloses, in kalten Flüssigkeiten
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leicht lösliches Pulver. Es besitzt in
noch höherem Grade als die bisher be¬
kannten organischen Tanninverbindungen,
die für therapeutische Zwecke wichtige
Eigenschaft, das Tannin während der
Passage durch den Magen nur wenig ab¬
zugeben, die Magen Verdauung in Folge
dessen nicht zu alteriren, sondern erst im
alkalischen Darminhalte, also in loco affec-
tionis, in seine Bestandtheile zu zerfallen.
Im Uebrigen sei bezüglich dieser Verhält¬
nisse auf die Angaben von Altschul und
Flatow's Nachprüfung hingewiesen.
In Uebereinstimmung mit den Angaben
der übrigen Beobachter können auch wir
es nur bestätigen, dass die Darreichung
des Tanocols selbst durch Wochen hin¬
durch keine subjective oder objective
Schädigung der Magenverdauung herbei¬
führt. Es wurde sowohl bei Superacidität
gut vertragen, als auch rief es bei chroni¬
schen Gastritiden mit Anacidität und dabei
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
263
Juni Die Therapie der Gegenwart 1903.
bestehender grosser Sensibilität der Magen- |
Schleimhaut keinerlei Beschwerden hervor. !
Die Indication zur Darreichung eines
Adstringens wird für den praktischen Arzt
so gut wie immer durch das Symptom der
Diarrhoe gegeben sein. Es sei gleich hier
bemerkt, dass es eine grosse Gruppe von ,
Diarrhöen giebt, bei denen nach allge¬
meiner Erfahrung von der Darreichung
von Adstringenden und so auch der Tan- |
ninpräparate von vornherein als aussichts- 1
los Abstand genommen werden kann. Es J
ist dies die Gruppe der rein nervösen j
Diarrhöen in ihren verschiedenen Unter¬
arten. Andererseits giebt es eine nume¬
risch nicht kleine Zahl von Fällen, die in
das Wirkungsgebiet des Tanocols gehören,
ohne dass eine Diarrhoe vorhanden ist,
wie im Nachfolgenden etwas ausführlicher
erörtert werden soll. Es kann ein Ver¬
sagen einer adstringirenden Medication bei
rein nervösen Diarrhöen ja eigentlich nicht
überraschen, wenn wir uns vergegenwär¬
tigen, dass die diarrhoische Entleerung da¬
bei nicht durch eine katarrhalische Altera¬
tion der Darmmucosa zu Stande gekommen
ist, sondern nur das Product einer com-
plexen Neurose ist, einer nervösen Stö- i
rung der Motilität und Secretion, wahr- j
scheinlich auch oft einer gleichzeitig vor- |
handenen nervösen Schädigung der Re- j
sorption. Einige Versuche, die wir mit
dem uns zur Verfügung gestellten Tano-
col nach dieser Richtung hin in ganz
reinen Fällen — ich möchte sagen der
Ordnung wegen anstellten — blieben denn
auch selbstverständlich negativ und wurden
nicht weiter fortgesetzt. Etwas anders
steht es mit der Anzeige für Tannindar¬
reichung bei jener umfangreichen und
praktisch wichtigen Gruppe von Diarrhöen,
die Mischfälle von Katarrh und Neurose
darstellen. Hier hat oft erst der Katarrh
den Boden für die Neurose abgegeben.
Das soll folgendes sagen: Bei einem auch
sonst die objectiven Symptome der Neu¬
rasthenie bietenden Individuum giebt der
katarrhalich erkrankte Darm mit seiner
schon durch den Katarrh gesteigerten,
leichten localen nervösen Ansprechbarkeit
die Gelegenheit zur Ausbildung und dem
Auftreten eines neurasthenischen Symptoms
an einem Organ, das sonst aller Wahr¬
scheinlichkeit nach von dieser prägnanten
nervösenMitergriffenheitfreigeblieben wäre.
Hier muss die Therapie neben einer Be¬
handlung der Neurasthenie vor allem auch
beim Katarrh einsetzen. Leider ist auch
in diesen Fällen die symptomatische Wir¬
kung, d. h. die Beeinflussung der Diarrhoe
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eine unsichere und schwankende. Wir
können den Katarrh an sich — wie weiter
unten noch erörtert werden wird — zwar
symptomatisch beeinflussen, aber nicht
ganz ausheilen und Recidive sind an der
Tagesordnung. Man darf aber nicht ver¬
gessen, dass es sich eben hier um Misch¬
fälle handelt und dass neben der leichten
Antwort auf periphere, d. h. die Darm¬
wand selbst treffende Reize auch central-
bedingte Einflüsse auf die Beschleunigung
der Peristaltik jeden Augenblick sich gel¬
tend machen können. In gewissem Sinne
gehören in diese Gruppe der Mischfälle
auch die tuberkulösen und dysenterischen
Diarrhöen. Bei beiden Formen von di-
arrhoischen Darmerkrankungen wird die
gesteigerte Peristaltik wahrscheinlich weni¬
ger durch den gleichzeitig bestehenden
Katarrh als durch den directen, andauern¬
den Nervenreiz vom Geschwürsgrund aus
veranlasst. Ebenso wird es sich bei den
urämischen Diarrhöen verhalten, wo neben
der allgemeinen im Blut kreisenden Noxe
oft eine specielle locale Ursache durch die
bei dieser Affection bekanntlich häufigen
Darmgeschwüre gegeben ist, und ebenso
wohl beim Typhus. Namentlich bei den
letztgenannten Kategorien wird ein Ad¬
stringens immer versagen müssen. Tuber-
culöse Diarrhöen und Typhen haben wir
hier nicht zu Gesicht bekommen, wohl
aber liefert der Verfolg je eines Falles von
urämischer Diarrhoe und tropischer Amöben¬
dysenterie, bei denenTanocol - schon a priori
mit geringen Erwartungen gegeben wurde
— auch für uns von neuem den auch schon
von anderer Seite vielfach erbrachten Beweis.
Es wurde im Vorhergehenden eine
kurze Charakteristik derjenigen Arten von
Diarrhöen gegeben, bei denen sich Ad¬
stringenden unwirksam erweisen müssen,
und also auch von dem uns hier inter-
essirenden Vertreter dieser Arzneimittel¬
gruppe, dem Tanocol, keine günstigen
Folgen erwartet werden durften.
Wenden wir uns nun zu denjenigen
Formen von Diarrhöen, bei denen Adstrin¬
genden erfahrungsgemäss mit Erfolg an¬
gewandt werden unter der besonderen
Berücksichtigung der Tanocolwirkung, so
kommen hier in erster Reihe die acuten
Darmkatarrhe in Betracht. Es hat uns
unzweideutig den Eindruck gemacht, als
ob, selbstredend bei passender Diät, unter
gleichzeitiger Tanocoldarreichung die Stö¬
rungen schneller ausgeglichen wurden als
ohne das Mittel.
Wir hatten auch Gelegenheit, einige
Fälle von heftigem, subacutem Darmkatarrh
Original frorn
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
264
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juni
bei Kindern zu sehen, bei denen trotz
sorgfältigster Diät die Diarrhöen und Ko¬
liken bisher nicht verschwunden waren
und bei denen das Tanocol in der Dosis
von 0,5 g 3—4mal täglich offensichtig aus¬
gezeichnete Erfolge zeitigte.
Das Hauptwirkungsgebiet des Tanocols
ist naturgemäss das des diffusen chro¬
nischen Darmkatarrhs mit Diarrhöen.
Wir können nur sagen, dass die Wirkungs¬
weise des Tanocols nach unseren Beob¬
achtungen in diesen Fällen eine ganz vor¬
zügliche war, und dass das Mittel Empfeh¬
lung verdient. Ganz in Uebereinstimmung
mit den Ergebnissen anderer Prüfungen
müssen wir hervorheben, dass da, wo das
Tanocol einmal versagte, auch die anderen
modernen Adstringentien wie Tannalbin,
Tannigen keine besseren Erfolge zu Tage
treten Hessen. Auch wir möchten darauf
hinweisen, dass ein Erfolg abhängig ist
von einer systematischen und längeren
Darreichungsweise. Wenn nach der Be¬
seitigung der Diarrhoe die Tanocolmedi-
cation bald ausgesetzt wird, so stellen sich
leicht von neuem dünnflüssige Entlee¬
rungen ein. Es kann dies nicht verwun¬
dern, da ein ausgesprochener chronischer
diffuser Darmkatarrh im eigentlichen Sinne
des Wortes nicht ausgeheilt werden kann,
sondern sich nur eine functioneile, sub-
jective Beschwerdelosigkeit erzielen lässt.
Einige Beobachter erwähnen eine Com-
bination der Verwendung von Tanocol mit
Opium in besonders hartnäckigen Fällen.
Unabhängig von diesen Mittheilungen, die
wir erst kürzlich kennen lernten, sind wir
schon seit längerer Zeit eben auch für
weniger leichte Fälle zu derselben Dar¬
reichungsform gelangt und können gleich
den anderen Autoren dieselbe nur em¬
pfehlen. Es bleiben oft bei bereits eingetrete¬
ner fester Consistenz der Stuhlgänge ein
sehr belästigendes Kollern und Gurren und
mehr oder weniger leichte Koliken zurück.
Gerade gegen diese restirende motorische
und sensible Empfindlichkeit leistet die er¬
wähnte Combination sehr gutes. Die
Opiumdosen können nach unseren Erfah¬
rungen recht klein genommen werden,
3—5 Tropfen Tct. simplic. pro dosi ca.
3 Mal täglich genügen. Auch hier ist zur
Erzielung eines Erfolges eine systema¬
tische, längere Darreichung geboten.
Die Verstopfungen, die wir im Anschluss
an längeren Tanocolgebrauch beobachteten,
waren an sich stets mässige und durch
kleine, laue Einläufe leicht zu beseitigen.
Die Tanocoldosis betrug etwa 1,0 g 3 bis
4mal täglich. Im Interesse einer billigeren
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Receptur wollen auch wir erwähnen, dass
bei der absoluten Ungefährlichkeit des j
Mittels dasselbe auch als Schachtelpulver i
verordnet werden kann, mit der Vorschrift I
3—4mal täglich eine Messerspitze zu neh¬
men. Obwohl wir das Medikament in leich¬
teren Fällen bei leerem wie bei vollem
Magen gegeben haben, möchten wir doch
für hartnäckigere Fälle die Darreichung
Morgens nüchtern resp. etwa Stunde
vor der Mahlzeit mehr befürworten.
Wir können die Besprechung über die
Indication zur Tanocoldarreichung nicht
schliessen, ohne jener Gruppe von Darm¬
katarrhen Erwähnung zu thun, die, wie
gesagt, in das Anwendungsgebiet der Ad¬
stringentien gehören, obwohl Diarrhöen |
damit nicht verbunden zu sein brauchen
und oft genug damit nicht verbunden sind.
Es sind dies die isolirten chronischen Dünn¬
darmkatarrhe. Es ist ein unbedingtes
Verdienst Rosenheim’s, in seiner Arbeit
über Tanocol meines Wissens als der erste i
das symptomatische Bild dieser Erkrankung
scharf gezeichnet zu haben. Dr. Pariser
sieht diese isolirten Darmkatarrhe von Jahr
zu Jahr in steigender Menge und auch ich I
konnte mit ihm eine Anzahl significanter
Fälle hier beobachten. Um die Erschei- 1
nungen ganz in Kürze zu skizziren, klagen
die Patienten über Auftreten von Unruhe
und Koltern, Aufgetriebensein und Blähun¬
gen, sowie über Koliken, die bald nur von
geringerer Intensität sind und ohne grosse
Schmerzen nörgelnd und belästigend wir¬
ken, bald ausserordentlich heftig sind. Diese
peristaltische Unruhe und gesteigerte Sen¬
sibilität des Darmes beginnt — was ein
Charakteristicum ist — nicht bald nach der
Mahlzeit, sondern meist 2—3 Stunden hinter¬
her und tritt, wie wir in Uebereinstimmung
mit Rosenheim constatiren konnten, be¬
sonders Nachts auf, oft in der That zu der¬
selben Minute zu früher Morgenstunde,
etwa zwischen 4 und 5 Uhr. Der ungün¬
stige Einfluss von Erkältungen, den Rosen¬
heim hervorhob, ist gleichfalls auch un¬
serer Erfahrung nach ein stark ausgeprägter.
Der Schlaf leidet bei allen diesen Patienten
ausnahmslos erheblich, bisweilen bis zu
den stärksten Graden der Insomnie; da¬
durch und durch das stete Vorhandensein
von mehr oder minder starken unangeneh¬
men Empfindungen, durch den daraus re-
sultirenden Zwang sich dauernd ängstlich
zu beobachten, werden die Patienten, die
häufig von vornherein wenig widerstands¬
fähig sind, neurasthenisch. Sie kommen
gewöhnlich auch in unsere Behandlung un¬
ter der Diagnose der reinen Neurasthenie,
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903.
265
und die Darmbeschwerden werden als reine
Neurose gedeutet, d. h. als reine uncompli-
cirte Neuralgie und rein nervöse peristal¬
tische Unruhe. Nicht mit Recht Der sehr
begreifliche Grund zu dieser Auffassung
und der Ablehnung der Annahme eines
Darmkatarrhs liegt darin, dass die Patien¬
ten oft berichtet haben, der Stuhlgang sei
im grossen Ganzen regelmässig nach Zahl
und Consistenz der Entleerungen, höch¬
stens ab und zu breiig, und dass ärztliche
Stuhluntersuchungen bei ambulanten Pa¬
tienten bei der Schwierigkeit der äusseren
Verhältnisse oft unterlassen werden. Eine
wirkliche Fäcaluntersuchung zeigt aber aufs
Unzweideutigste in Stuhlgängen von fester
Consistenz ansehnliche Schleimbeimengun¬
gen, in der grossen Zahl der Fälle sogar
gelb gefärbt, als dem Zeichen der Herkunft
aus dem Dünndarm. Es soll nicht geleug¬
net werden, dass sich im weiteren Verlauf
rein nervöse Darmerscheinungen zeigen
können in der Form von Diarrhöen mit
dem Stigma der nervösen Diarrhoe, z. B.
in Abhängigkeit von bestimmten Ingestis,
Gewürzen, Nicotin etc. Wir sehen somit,
dass diese Gruppe von Fällen eng ver¬
wandt ist mit jenen oben gekennzeichneten
Mischformen von Darmkatarrh und Darm¬
neurose. Wir haben diese Fälle deshalb
hier besonders besprochen, weil in jenen
Fällen die Neurose in Form von Diarrhöen
auftritt, während hier der Stuhlgang normal
erscheint und gerade dieses anscheinend
normale Verhalten zu irrthümlicher Dia¬
gnose führt. Und auch zu falscher Thera¬
pie. Es besteht vielfach die Ansicht, dass
bei reinen Neurosen des Darmes die Diät
keine grosse Rolle spiele, was nicht zu¬
gegeben werden kann, und dass, was richtig
ist, die Adstringenden nicht angezeigt
wären. Wir sehen auch demgemäss die
Patienten vielfach ohne streng regulirte
Diät und ohne Adstringenden behandelt,
nachdem ein vorheriges entgegengesetztes
Regime sich als erfolglos erwiesen, und
gerade in dieser Erfolglosigkeit einer anti¬
katarrhalischen Therapie ein neuer dia¬
gnostischer Hinweis auf den rein nervösen
Charakter des Leidens erblickt wurde. Wir
haben oben auseinandergesetzt, dass für
Mischfälle die Therapie gerade beim Katarrh
beginnen muss und dies gilt für die eben
erwähnten Fälle von isolirtem Dünndarm¬
katarrh in womöglich noch höherem Maasse.
Die Gründe, warum die antikatarrhalische
Behandlung in den letztgenannten Fällen
versagte, sind folgende: erstens wurde
häufig die Diät nicht streng genug gefasst
und besonders diese Fälle bedürfen einer
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sehr vorsichtigen Diät, mit längerem Aus¬
schluss jeglicher Gemüsekost und der Dar¬
reichung der Amylaceen in nur bestaufge¬
schlossener Form; das Fleisch muss oft
genug nur hachirt gegeben werden. Zwei¬
tens muss eine solche Diät relativ lange
durchgeführt werden, denn diese Fälle sind
ungemein hartnäckig; ein völliges Ausheilen
des Katarrhs ist kaum je zu erwarten und
acutere Exacerbationen bei irgendwelchen
Diätfehlern sind ausserordentlich häufig.
Drittens kommt man gewöhnlich mit der
Diät allein überhaupt nicht aus. Die zweck¬
mässige Darreichung gewisser Brunnen¬
arten wirkt unterstützend, aber auch diese
genügt meist nicht. Hier sind wir zur Er¬
zielung eines möglichst guten Erfolges
geradezu auf die Anwendung von Adstrin¬
genden angewiesen und zwar wiederum
auf längere Zeit hinaus, womöglich in oben
erwähnter Combination mit kleinen Opium¬
dosen. Aber so gut wie nie wird bei nicht
richtigem Erkennen des Sachverhaltes durch
Fäcaluntersuchung ein Tanninpräparat in
diesen Fällen angewandt oder höchstens
vorübergehend des Versuches halber, weil
das indicirende Symptom, die Diarrhoe,
meist fehlt. Vielmehr werden bei der häufig
gleichzeitigen Klage über Blähungen Ab¬
führmittel oder Curen mit abführenden
Wässern verordnet, immer ohne Nutzen.
Und doch sind Adstringenden hier viel¬
mehr angezeigt. Ganz im Sinne der Er¬
gebnisse Rosenheim’s können wir auf
Grund ausgedehnter Beobachtungen sagen,
dass zusammen mit passender Diät das
Tanocol uns die nach Lage der Sache
bestmöglichen Erfolge gewährt hat, und
können wir die systematische Darreichung
dieses Tanninpräparates in solchen Fällen
auf das Wärmste empfehlen.
Zum Schluss sei es mir gestattet, Herrn
Dr. Pariser für die freundliche Ueber-
lassung des Materials und für das dieser
Arbeit entgegengebrachte Interesse meinen
besten Dank auszusprechen.
Litteratur.
Prof. Dr. Rosenheim. Ueber Tanocol. Vor¬
trag gehalten in der Berliner medicinischen Ge¬
sellschaft 23. März 1899. — Dr. Robert Fla-
tow, Ueber Tanocol, ein neues Darmadstrin¬
gens. Deutsche medicinische Wochenschrift
1899. No. 22. — Dr. H. Brat, Beobachtung
etc. über Tanocol. Berliner klin. Wochen¬
schrift 1899 S. 394. — Dr. Goliner: Ueber Ta¬
nocol. Medicinische Rundschau No. 55 1899. —
Dr. E. Stadelman: Neue pharmaceutische Prä¬
parate. Separatabdruck a. d. deutsch. Aerzte-
Zeitung 1899. — Dr. C. Pariser, Chronische
nervöse Diarrhoe und ihre Behandlung. Deut¬
sche Medicinalzeitung 1900.
34
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
266
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juni
Therapeutisches aus Vereinen und Congressen.
Therapeutisches aus den Pariser medicinischen Gesellschaften.
Variot hat in der Sitzung vom 17. März
der Soci£te de Pädiatrie auf eine besondere
Art von Intoleranz der Säuglinge gegen
vollkommen normale Milch der Mutter oder
einer bestimmten Amme aufmerksam ge¬
macht. Es ist dies eine rein gastrische
Intoleranz, welche Redner bis jetzt in
12 Fällen die Gelegenheit hatte zu beob¬
achten und die, unter Umständen, mit con¬
genitaler Hypertrophie (oder Krampi) des
Pylorus verwechselt werden kann. Sie
äussert sich in ständigem Erbrechen der ge¬
nossenen Milch, mit rascher Abmagerung
und Kräfteverfall, trotz regelrechter Dar¬
reichung der Brust, trotzdem die betreffende
Mutter- oder Ammenmilch sich als vorzüg¬
lich nicht nur bei blosser Inspection, son¬
dern auch bei der chemischen Analyse er-
erweist. Sterilisirte Kuhmilch wird oft auch
nicht vertragen. Es genügt aber das kranke
Kind von einer anderen Frau stillen zu
lassen um alle dyspeptische Erscheinungen
bei ihm wie mit einem Schlage schwinden
zu sehen. Redner ist der Meinung, dass
unter den, als congenitale Hypertrophie
des Pylorus beschriebenen und mit Pyloro-
plastik behandelten Fällen, manche nichts
anderes waren, als solche gastrische In¬
toleranzen einer bestimmten Frauenmilch
gegenüber, die durch deneinfachenWechsel
der Milch geheilt werden könnten.
M 6 ry hat diese Ansicht des Vorredners
in einem Falle aus seiner Praxis vollkommen
bestätigen können.
In der Sitzung vom 7. April der Acadömie
de M^decine machte Leredde eine Mit¬
theilung über die erfolgreiche Anwendung
der Phototherapie bei Acne rosacea. Diese
Behandlung, die schon von Finsen gegen
die genannte Krankheit angewandt worden
ist, muss, nach der bisherigen Erfahrung
Leredde’s, als ein grosser Fortschritt in
der Therapie der Acne rosacea angesehen
werden. In der That hat Redner bei allen
8 Patienten, die er bis jetzt wegen Acne
rosacea der Lichtbehandlung unterzog,
Heilung erhalten. Und dies waren meistens
schwere Formen von Acne rosacea. welche
von den alten therapeutischen Methoden
unbeeinflusst blieben. Aus Furcht von
consecutiven Narbenbildungen, liess An¬
fangs Leredde die phototherapeutischen
Sitzungen nicht länger als eine halbe Stunde
dauern. Nach und nach kam er aber zu
eben so langen Sitzungen, wie es bei Lupus
üblich ist, und erreichte damit vollkommene
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Heilung in zwei bis drei Monaten, ohne
Spur von Narben.
Nicht bei allen Fällen von Fettleibig¬
keit findet man einen relativ schwachen
Puls mit Erniedrigung des arteriellen
Druckes (Fettherz). Manche Fettleibige,
die zugleich arteriosclerotisch sind, zeichnen
sich sogar durch einen erhöhten arteriellen
Druck aus. Bei diesen letzten ist, nach
einer Mittheilung von Fiessinger in der
Sitzung vom 25. März der Socidte de
Th^rapeutique, eine hauptsächlich aus
Fleisch bestehende Nahrung dem lacto-
vegetarianischen Regime entschieden vor¬
zuziehen. Jedoch ist diese diätetische Be¬
handlung nur in frühen Stadien der arte-
riosclerotischen Fettleibigkeit und dann bei
solchen Kranken ange/eigt, bei welchen
eine Intoxication mit Producten der Fleisch¬
nahrung nicht zu befürchten ist, d. h. wenn
keine Dyspnose während der Verdauungs¬
periode (Huchard’s dyspn£e toxi-alimen-
taire), keine Kopfschmerzen, keine Albu¬
minurie bestehen und wenn, andrerseits,
die Zeichen arterieller Hypertension deut¬
lich hervortreten: harter, gespannter Puls
mit Verstärkung des diastolischen Tones
in der Aorta.
In solchen Fällen verschreibt nun Fies-
singer die Fleischdiät, aber mit der
Warnung bei der geringsten nächtlichen
Dyspnoe (oder bei Zunahme einer schon
früher vorhandenen dyspnöe toxi-alimen-
taire), bei den ersten Anzeichen von Kopf¬
schmerzen diese Ernährungsweise sofort
zu sistiren. Mit dieser Vorsicht hätte man
nichts zu befürchten. Wenn aber der
Kranke die Fleischdiät gut verträgt, setzt
man selbe natürlich fort.
Bei der Anordnung der Diät folge man
am Besten der von Professor Robin
modificirten Schweninger’schen Methode:
der Kranke verzehrt täglich 75 Gramm
Brod, trinkt 8/4 bis 1 Liter heissen Thee
und isst ad libitum Fleisch und gesottene
grüne Gemüse. Mehlspeisen, Fette und
Zucker sind verboten. Der heisse Thee
fördert die Verdauung und stillt genügend
den Durst. Unter dem Einfluss dieser Er¬
nährungsweise, welche nach Vortragendem,
bei Anwesenheit von Azoturie ebenso gut
wirkt, wie in Fällen, wo ein normales Quan¬
tum von Harnstoff ausgeschieden wird —
fühlt sich der Arteriosclerotische sofort er¬
leichtert: sein Gewicht nimmt rasch ab
! (durchschnittlich um 10 Kilogramm in drei
Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903.
267
Wochen). Dabei fühlt sich Patient um so
wohler, als er weder an Hunger noch an
Durst zu leiden hat.
In späten Stadien der Fettleibigkeit,
wenn das Herz dilatirt ist, schon erheb¬
liche Oedeme bestehen, die Leber an- j
schwillt und zu Symptomen arterieller
Hypertension sich durch Niereninsufficienz
bedingte Autointoxicationserscheinungen
anschliessen, muss man natürlich zur Milch¬
kur seine Zuflucht nehmen. j
In der Discussion bemerkte G. Bau-
douin, dass Prof. Robin sein Regime
nur für die „obeses par defaut“, nicht aber
für die „obeses par exces“ anempfohlen
hat. Darauf gab Fiessinger die Antwort,
dass die Ausscheidungsgrösse des Harn¬
stoffes für die Bestimmung der Fälle,
welche sich für die angegebene diätetische
Behandlung eignen, irrelevant sei. So hat
er bei einem Kranken, der 45 Gramm Harn¬
stoff in jedem Liter Urin ausschied und
bei welchem somit die Fleischernährung
contraindicirt schien, einen eklatanten Er- I
folg durch die nach Robin modificirte
Schweninger’sche Kur gesehen.
In derselben Gesellschaft (Sitzung vom
13. Mai) haben L. Jullien und F. Berlioz
eine Mittheilung über vier neue lösliche,
für subcutane Anwendung bestimmte
Quecksilberpräparate gemacht. Das eine
von ihnen, eine Verbindung von kakodyl-
sauren Ammonium mit Quecksilberoxyd
nach der Formel: As (CH 3 ) 2 —O — O N 2 Hg
ist ein gräulich-weisses, in Wasser leicht
lösliches Pulver, das 56% Quecksilber ent¬
hält. In ca. 50 Fällen, wo es bis jetzt er¬
probt worden ist, wurde es bei subcutaner
Einspritzung in der Dosis von 0,01 bis
0,03 sehr gut vertragen.
Das zweite Präparat ist eine durch Er¬
hitzen des gelben Quecksilberoxyd in einer
Lösung von Salmiak erhaltene Verbindung
von der Formel: HgC1 2 2(NH 4 CI), sie
enthält 53% Merkur, ist wenig toxisch und
hat die wichtige Eigentümlichkeit, dass
sie Eiweiss nicht coagulirt und deswegen
keine Schmerzen bei Injecction verursacht.
Die dritte Verbindung ist das Oxychlor-
hydrargyrum von der Formel Hg0 2HgCl 2 ,
welche 79o/ 0 Quecksilber enthält. Sie ist
wenig löslich und stark sauer, wird aber
durch Chlorammonium löslich und für
subcutane Einspritzungen in der Dosis von
0,01 bis 0,02 vollkommen eigen gemacht.
Dazu bedient man sich am Besten folgen¬
der Receptformel:
Oxychlorhydrargyri . 2*0
Ammonii chlorati . 0*0
Aq . destil . 100*0
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Die vierte Verbindung ist das ammoni-
akalische gelbe Quecksilberoxyd. Man be¬
reitet es indem man einfach das gelbe
Quecksilberoxyd in einer heissen Lösung
von Chlorammonium auflöst. Nimmt man
I dabei 5,0 Chlorammonium auf 1,0 gelbes
Quecksilberoxyd, so hat man eine Ver¬
bindung, die 92% Merkur enthält. Eine
1 % wässerige Lösung derselben enthält
somit etwas weniger als 0,01 Quecksilber
| in jedem Kubikcentimeter Flüssigkeit; sie
bringt Eiweissstoffe nicht zur Gerinnung.
In der Sitzung vom 24. April der
Societe M^dicale des Höpitaux sprach
Babinski über günstige Resultate, die er
bei Kranken, welche an Schwindel und
subjektiven Ohrgeräuschen in Folge von
Labyrintherkrankung litten, durch die
Lumbalpunktion erhalten hat. Manche
dieser Patienten litten nur an dem Meniere-
schen Symptomenkomplex; bei anderen
bestand eine eitrige Mittelrohrentzündung.
In allen diesen Fällen sind die subjektiven
I Geräusche und die Schwindelerscheinungen
dauernd verschwunden. Dabei verschwan¬
den auch manchmal psychische Störungen,
die anscheinend an die Labyrintherkrankung
geknüpft waren. Was aber das Gehörs¬
vermögen anbetrifft, so hat es sich in
einigen Fällen ausserordentlich gebessert,
während in den anderen es unbeeinflusst
blieb. Es ist selbstverständlich, dass die
Lumbalpunktion nur in Fällen wo das La¬
byrinth nicht zerstört ist mit Erfolg ange¬
wendet werden kann. Da man aber nicht
im Stande ist festzustellen, ob das Labyrinth
erhalten oder zerstört ist, so räth Vor¬
tragender in jedem Fall von hartnäckigem
Schwindel und Ohrgeräuschen labyrinthi-
schen Ursprunges die Lumbalpunktion zu
erproben.
Das Verschwinden aller subjectiven
und der meisten objectiven Symptome einer
Lebercirrhose unter dem Einfluss organo-
therapeutischer Anwendung thierischer
Lebersubstanz erscheint so unglaublich,
dass wir einen ersten von Galliard in
der Sitzung vom 23. Januar in der Sociötö
Medicale des Höpitaux mitgetheilten Fall
dieser Art unerwähnt Hessen. In der
Sitzung des 2. Mai derselben Gesellschaft
hat nun Galliard eine zweite analoge
Beobachtung mitgetheilt. Es erscheint so¬
mit nöthig, diese beiden Fälle in Kürze
und mit aller Reserve zu referiren.
In den ersten von ihnen handelte es
sich um eine zweiundfünfzigjährige Frau,
welche seit mehr als einem Jahre hoch¬
gradige Symptome einer atrophischen
Lebercirrhose zeigte. Als sich Vortragen-
34*
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Juni
268 Die Therapie der Gegenwart 1903.
der zur Organotherapie entschloss, schien
Patientin dem Tode nahe zu sein: sie
hatte kolossale Oedeme der Unterextremi¬
täten — im grellen Kontrast mit der
skelettischen Abmagerung des Gesichts,
Rumpfs und Unterextremitäten — Ascites,
sehr wenig Urin, daneben Soor und grosse
Prostration. Man gab ihr nun (zugleich
mit einer ausschliesslichen Milchnahrung)
150 g Schweinsleber täglich. Schon nach
einigen Tagen stieg die tägliche Urinmenge
bis auf 2 x /2 1; die Oedeme, der Ascites
und das abdominale Venennetz gingen zu¬
rück. Nach etwa 4 Monaten, während wel¬
chen die Schweinsleber weiter gebiaucht
wurde, schwanden alle krankhafte Er¬
scheinungen. Nur die Leber blieb, natür¬
lich, atrophisch und man fand einen ge¬
wissen Grad von Milztumor. Ein halbes
Jahr später machte Patientin wegen ein¬
getretener Oligurie (aber ohne hydro-
pische Erscheinungen) eine neue organo-
therapeutische Kur mit dem besten Erfolg
durch.
Die zweite Beobachtung Galliard’s be¬
trifft eine achtunddreissigjährige alkoho¬
lische, aber weder syphilitische noch tuber¬
kulöse Frau. Seit zwei Jahren litt sie an
Lebercirrhose, welche sich noch im Stadium
der Hypertrophie befand. Nach Punktion
des Ascites (8 1 Flüssigkeit) wurde zur
Organotherapie geschritten. Diesmal wandte
aber Galliard eine Maceration (mit nach¬
träglicher Expression durch Mousseline)
von 125 g Schweinsleber in Klystierform an.
Es wurde Nachmittags um 4 Uhr ein
solches Klysma applicirt und gewöhnlich
anstandslos bis spät in der Nacht von der
Kranken behalten. Nebenbei ausschliess¬
liche Milchdiät. Unter dieser Behandlung
hob sich schon nach einigen Tagen die
Urinmenge von 800 qcm auf 2 1, dann auf
37a 1; das Allgemeinbefinden besserte sich
in erfreulicher Weise, der Ascites kehrt
nicht zurück, die Milz schwoll ab und so¬
gar die Leber zeigte die Tendenz ihr nor¬
males Volumen anzunehmen. Bis jetzt
(drei Monate) bleibt der Zustand ein vor¬
züglicher.
W. v. Holstein (Paris).
Bücherbesprechungen.
Frederic W. Mott. Vier Vorlesungen
aus der allgemeinen Pathologie
des Nervensystems, übersetzt von
Dr. Wal lach. Wiesbaden 1902, J. F. Berg¬
mann.
Vier Vorlesungen, die er im Juni 1900
vor dem Royal College of Physicians of
London gehalten hat, hat der geistreiche
Verfasser in dem vorliegenden, trefflich
illustrirten Büchlein zusammengestellt, ln
der ersten behandelt er die Neurontheorie,
in der zweiten die Wirkungen der Ver¬
letzung eines Neuron, die Wirkungen zeit¬
weisen oder dauernden Blutmangels auf
das Neuron, von Blutungen, veränderter
Blutbeschaffenheit, toxischen Zuständen
von Blut und Lymphe und den reactiven
Einfluss der Gifte. Die dritte Vorlesung
hat die chemischen Vorgänge bei der Ent¬
artung und ihre Beziehungen zur Auto-
intoxication, die vierte einige chronische
Vergiftungszustände, die Verwandtschaft
von Tabes und Paralyse, die Verhältnisse
der primären Degeneration, Polyneuritis,
Erblichkeit und Degeneration zum Gegen¬
stand.
Es kann hier nicht auf den reichen Inhalt
desBucheseingegangenwerden.EinVorwort,
das Ed in ge r dem fliessend übersetzten
Werkemitaufden Weg gegeben hat, preist es
mit Recht auf Grund der zahlreichen ori-
Digitized by Google
ginalen Untersuchungen des Verfassers
und der lebendigen, klaren und anschau¬
lichen Darstellungsart des schwierigen
Stoffes. de la Camp (Berlin).
Dr. Paul Cohn (Charlottenburg). Ge-
müthsbewegungen und Krank¬
heiten. Eine Studie über Wesen und
Sitz der Gemüthserregungen, ihre Be¬
ziehung zu Erkrankungen und über Wege
zur Verhütung. Berlin 1903. Vogel und
Kreienbrink.
Der Sinnspruch, den C. F. Meyer über
eine seiner Perlen: „Huttens letzte Tage“
setzte und der da lautet:
Dies ist kein ausgeklügelt Buch
Dies ist der Mensch mit seinem Widerspruch!
könnte auch an der Spitze dieses 146 Seiten
starken Büchleins stehen. Das Psycho¬
logische ist jetzt wieder Gegenstand leb¬
hafter Interessen; O. Binswanger stellt
sich in seiner wenig bekannt gewordenen,
in unsererLitteratur secretirten academischen
Festrede (erschienen Deutsche Rundschau,
Oct. 1900) die Aufgabe, die Bedeutsamkeit
der psychologischen Denkrichtung für die
Allgemeinbildung d % es praktischen Arztes zu
beweisen, und von den Wechselbeziehungen
zwischen Medicin und Naturwissenschaft
Zeugnis abzulegen; Binswanger giebt
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903.
269
zum Schluss dem Wunsche Ausdruck, dass
nicht nur durch die empirische Psychologie
unserer Zeit, sondern auch durch die
naturwissenschaftlich geläuterte Psycho¬
pathologie dem ganzen Lehrgebäude der
Philosophie eine fruchtbringende Erkennt¬
nis zugeführt werden möge. Dieser
Wunsch ist, wenn wir Alles in Allem
nehmen, durch das Paul Cohn’sche Buch
in Erfüllung gegangen. In dem Vorwort
wendet Verf. seine psychologische Methode
in erster Linie auf sich an und analysirt mit
anerkennenswerthem Freimuth seine Ab¬
sichten, es handelt sich um eine Psycho¬
logie peinte par lui m€me; als Autodidact
bezeichnet sich der Verfasser; die ersten
Anregungen kamen wohl von einer ge¬
steigerten Reizbarkeit für die Aussenwelt,
für ihre Lichter und Schatten, für ihre
Oberflächen und Tiefen und liegen Jahre
zurück; es ist vollkommen „eigenes Wachs¬
thum“, wie es hier an den Rheinufern
lautet; auch der stellenweis noch gährende
Most gehört dazu, kurz — eine psycho¬
logische „Robinsonade“! Unter diesem
Gesichtswinkel betrachtet gehört das Buch
unseren Erachtens zu den schmackhaftesten
und interessantesten Dingen, die wir am
Schreibtisch seit Langem zu uns genommen!
Ich gestehe, es in einem Zuge gelesen zu
haben, mich freuend, Einem zu begegnen,
der, wie einst von Th. Meynert gesagt
wurde, die Heilkunde zu beseelen sucht,
indem er Seelenheilkunde vorträgt.
Inhaltlich trennt Verf. sein Werkchen
in 3 Abtheilungen: Was sind Gemüths-
erregungen und wie wirken sie psycho¬
logisch? Wie können Gemüthserregungen j
pathologisch wirken? Wege zu einer Pro¬
phylaxe. Um diesen beträchtlichen Kern
liegen einige Schaalen von Litteratur-
Nachweisen und Anmerkungen. — Das Buch
wird und muss seinen Weg machen. —
R. Laquer (Wiesbaden).
Fernand Cathelln. Die epiduralen In-
jectionen durch Punction des Sa-
cralcanals und ihre Anwendung bei
den Erkrankungen der Harnwege.
Uebersetzt von Arthur Strauss. Stuttgart
bei Ferdinand Enke 1903, 123 S.
Nach einer historischen Einleitung über
die Entwickelung der Lumbalpunction, ihre
Modificationen, Verwendung zu therapeu¬
tischen und diagnostischen Zwecken geht
Cat hei in auf die Uebelstände dieser Me¬
thodik und die event. üblen Consequenzen
derselben ein. Nach einigen anatomischen
Vorbemerkungen geht er sodann zur Schil-
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derung seiner Methode über, die er zunächst
an Thieren erprobt hat. Das Wesentliche
derselben ist, dass das Rückenmark gar
nicht tangirt wird, sondern alle Injectionen
in den epiduralen Raum gemacht werden.
Dieser Raum ist wahrscheinlich ein Lymph-
raum, gelegen zwischen der Dura mater des
Rückenmarks, und dem Wirbelperiost. Er
enthält zahlreiche Venengeflechte, lockeres
Zellgewebe und Rückenmarksnerven. Seine
Punction wird durch die sacrale Schluss¬
membran ausgeführt und ist anscheinend
bei einiger Uebung nicht schwierig. Zahl¬
reiche Abbildungen erläutern die ein¬
schlägigen anatomischen und practischen
Verhältnisse. Nach den Angaben des Autors
lässt sie sich in Bezug auf ihre Wirkungs¬
weise mit der Anästhesirung des Rücken¬
marks und der Lumbalpunction gar nicht
analogisiren; allem Anschein nach ist das
Wesentliche die schnellere Resorption in-
jicirter Substanzen gegenüber der sub-
cutanen Einverleibung, vielleicht aber auch
in einer Wirkung auf die Nervenwurzeln
— wahrscheinlich nicht in Form einer ein¬
fach medicamentösen Wirkung, beispiels¬
weise injicirter Cocainlösung, sondern durch*
„Imbibition“, durch eine Art nervösen spi¬
nalen Chock. Aus letztem Gründen und
auch auf Grund practischer Beobachtungen
ist der Autor dann auch schliesslich von
Cocaininjectionen wesentlich zurückge¬
kommen und injicirt hauptsächlich physio¬
logische Kochsalzlösung.
Was nun die therapeutischen Effecte be¬
trifft, so sollen bei Ischias, Lumbago, Arthr-
algieen, Schmerzen bei Herpes zoster, In-
I tercostalneuralgieen, bei visceralen Schmer¬
zen, besonders im Verlauf der Tabes bei
Bleikolik gute Wirkungen gezeigt haben.
Ganz besonders gute Ergebnisse in Bezug
auf Schmerz- und Reizphänomene sollen
sich bei Affectionen der Harnorgane
gezeigt haben: bei schmerzhafter Cystitis
und Urethritis, bei Schmerzen im Verlauf
von Carcinom der Prostata. Hier wurden
Cocaininjectionen und zwar häufiger aus¬
geführt; die Erleichterung war eine tem¬
poräre; besser scheint das Verfahren in
chronischen, als in akuten Fällen zu wirken.
Bei Incontinenz soll das Verfahren in einer
Anzahl von Fällen (Anwendung von Koch¬
salzlösung) gute Dienste geleistet haben,
wenngleich keineswegs immer. Noch bei
anderen Affektionen der Harn- und Ge¬
schlechtsorgane, so bei Pollutionen, bei
Impotenz, bei neurasthenischen Beschwerden
soll das Verfahren erfolgreich gewesen sein.
So interessant an sich die ganze Studie
des Autors ist, so vorsichtig werden wir
Original fmm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
270
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903.
bei der Beurtheilung der practisch thera¬
peutischen Ergebnisse sein müssen. Das
Verfahren ist zweifellos ein eingreifenderes
als eine subcutane oder endovesikale Pro-
cedur und wir werden immer erwägen
müssen, ob nicht in vielen der geschilder¬
ten Fälle auch auf anderem Wege ähnliches
sich hätte erreichen lassen. Für alle Fälle
sind die Versuche von grossem Interesse,
wenngleich auch ihre theoretische Er¬
klärung hier und da Widerspruch finden
dürfte. Buschke (Berlin).
E.Deutsch. Prof.EduardLang’sThera-
peutik für Venerische und Haut¬
kranke. 4. umgearbeitete und vermehrte
Auflage. Wien bei Josef Safar. 1903. 234 S.
Das bereits früher in dieser Zeitschrift
empfohlene Büchlein kann auch in seiner
erweiterten neuen Form allen denen em¬
pfohlen werden, die sich über practische —
speciell auch technische — Dinge, Rezepte
und kurz über den Behandlungsplan bei
venerischen und Hautkrankheiten orientiren
wollen. Buschke (Berlin).
Referate.
Einen wichtigen Beitrag zur klini¬
schen Behandlung der entzündlichen
Adnexerkr&nkungen giebt Nebesky
nach den Beobachtungen der 2. gynäkolog.
Klinik in München (Vorstand Amann).
Die Behandlung dieser so häufigen Ver¬
änderungen soll principiell conservativ-
expectativ eingeleitet werden. Sie besteht
in möglichst langer, bis zu 3 Monaten
fortgesetzter Bettruhe, daneben reizlose
gemischte Kost, Regelung von Harn- und
Stuhlentleerung. Erst wenn die Patientinnen
fieber- und schmerzfrei sind und die objec-
tiven Veränderungen bis auf Adhäsionen
und Spangen verschwunden sind, darf
Patientin aufstehen. Im acuten Stadium sind
Eisblase und Priessnitz erforderlich. Selbst
Perforationsperitonitis bei gonorrhoi¬
scher Pyosalpinx kann durch diese Behand¬
lung zur Abkapselung gebracht werden,
septische ausnahmsweise, wenn nicht
schleunigste Laparotomie und Drainage dem
sonst drohenden Exitus zuvorkommt. Im
chronischen Stadium tritt die resorbirende
Behandlung in ihre Rechte, vor allem
Hydrotherapie und Heissluftbehandlung,
zumal Dampfcompressen, in Verbindung
mit Thermophor, heisse Ausspülungen und
Sitzbäder. Auch die Belastungstherapie
(Lagerung, Colpeurynter, Schrotbeutel)
würde anzuwenden sein, ist aber schmerz¬
hafter wie die erste. Mehr noch als
Ichthyoltampons haben sich Tampons mit
30% Alkohol bewährt, sowie Compressen
auf den Leib mit höher concentrirtem
Alkohol. Verstärken sich die Schmerzen,
so hat die locale Behandlung aufzuhören.
Zuletzt werden Badecuren und bei pro¬
fusen Menstruationen Stypticininjectionen
und Massage angewendet, die Zahl der
Heilung steigt mit der Dauer des Aufent¬
haltes, ebenso die Arbeitsfähigkeit, doch
wurden z. B. von 1Ö5 nur 44 = 42,7 als
arbeitsfähig entlassen. Die objectiven Ver-
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änderungen geben nur in den seltensten
Fällen eine Indication zur Operation. Das
subjective Befinden kann diese abgeben,
dabei braucht durchaus nicht immer
der Befund den Beschwerden zu ent¬
sprechen. Diese darf erst erfolgen, wenn
eine Monate lange palliative Behand¬
lung versagt hat. Ueber die Ge¬
fahren und Aussichten der Operation ist
die Patientin aufzuklären. Die Operationen
sind durchaus nicht immer als radicale
von vornherein anzulegen. In 50 Fällen
wurde wenigstens 27 mal ein Ovarium con-
servirt, die Entfernung des Uterus wurde
dabei nur 21 mal benöthigt. Spätere
Stumpfbeschwerden erfordern conservative
Behandlung. Exudate werden wenn irgend
zugängig incidirt und drainirt.
P. Strassmann.
(O. Nebesky, Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gynäk.
Bd. XLV1II, 3.)
Um die Wirkung des Adrenalins auf
den thierischen Organismus zu studiren,
stellte P. P. Belawenz im pharmakolo¬
gischen Institute der militärmedicinischen
Academie zu St. Petersburg unter Leitung
von Professor N. P. Krawkoff eine Reihe
von Versuchen an, die zu folgenden Re¬
sultaten geführt haben: Die blutdruck¬
steigernde Wirkung des Adrenalins wird
durch spastische Contraction der Gefässe
und direkte Reizung des Herzens bedingt.
Die spastische Contraction der Gefässe ist
die Folge einer direkten Einwirkung des
Präparates auf die Gefässwand. Das Adre¬
nalin wirkt zunächst erregend, dann lähmend
auf die Vaguscentren. Auf die peripheren
Endapparate dieser Nerven hat das Mittel
keinen Einfluss. Kleine Quantitäten Adre¬
nalin steigern den Stoffwechsel, grössere
setzen ihn stark herab, wobei auch eine
beträchtliche Abnahme der Körpertempe¬
ratur beobachtet wird. Giftige Dosen
Adrenalin verursachen den Tod durch
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903.
271
Lähmung des Athmungscentrums. Auf das
centrale Nervensystem wirkt das in Betracht
kommende Präparat deprimirend. Die in¬
travenöse und subcutane Anwendung von
Adrenalin muss sehr vorsichtig geschehen,
da die Wirkung desselben unbeständig ist.
Da das Adrenalin stark hygroskopisch ist,
so soll es nur in bereits fertiggestellten
Lösungen benutzt werden. Verändert eine
Adrenalinlösung ihre Farbe, so verliert sie
trotzdem an Wirksamkeit nicht. Wird
nach subcutanen oder intravenösen Adre-
nalininjectionen der Puls beschleunigt, so
ist erneute Einverleibung des Präparates
contraindicirt.
Zu den Versuchen wurde Adrenalinum
hydrochloricum Poehl und Adrenalin (Tak-
amine) von der Firma Parker, Davis Co.
benutzt. Beide wirken im Grossen und
Ganzen gleich, doch scheint die Wirkung
des letzteren stärker zu sein.
N. Grünstein (Riga).
(Russki Wratsch 1903, No. 7.)
Zahradnicky (Deutsch-Brod) hat 156
Fälle von Amput&tio interscapulothora-
Cica gesammelt und beschreibt im Anschluss
an die Litteratur seinen eigenen Fall. Es
handelte sich um eine 65jährige Frau, bei
welcher im Verlaufe von drei Jahren sich |
in der Gegend der rechten Schulter eine
Geschwulst entwickelte. Diese Geschwulst,
die sich in den letzten sechs Monaten bis
zur Kindskopfgrösse vergrösserte, ver¬
ursachte solche Schmerzen, dass sich die
Patientin, indem sie die kranke Extremität
nicht gebrauchen konnte, zur Operation
entschloss. Verfasser machte einen ovalären
Schnitt, resecirte das Schlüsselbein in seiner
Mitte, unterband die A. und V. subclavia,
wodurch die Blutung sistirte und die Ope¬
ration wurde leicht beendet. Die Patientin
war nach drei Wochen vollkommen ge¬
sund. Mikroskopisch wurde erwiesen, dass
es sich um ein Chondro-osteo sarcom han¬
delte, der sich vom Kopfe des Humerus
bis auf die Cavitas glenoidalis des Schulter¬
blattes erstreckte. Verfasser beschäftigt
sich ausführlich in seiner Arbeit mit der
Litteratur dieser Operation und bezeichnet
alle Quellen, die ihm zugänglich waren.
Stock (Skalsko).
(Sbornik klinick^ Bd. 111, H. 5.)
Die Lehre von der Arythmie des
Herzens und Pulses ist neuerdings,
vornehmlich unter dem Einfluss der Engel-
mann’schen Herzforschungen in ein neues
Licht getreten. Diese letzteren zum ersten
Mal sozusagen in das Klinische übersetzt
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zu haben, ist ein Verdienst, das dem
holländischen Kliniker Wenckebach ge¬
bührt. Fussend auf den Forschungser¬
gebnissen Engelmanns hat nun jüngst
E. Rehfisch in enger Anlehnung an
die Wenckebach’schen Vorstellungen
einen geschickten Versuch gemacht, die
Prognose der Herzarythmieen aufzu¬
bauen. Die Grundlage für diese ganzen
modernen Anschauungen beruhen in der
von der Engelmann’schen Schule ver¬
tretenen Vorstellung von der myo-
genen Thätigkeit des Herzens, d. h. der
Herzmuskel hat die Fähigkeit ganz losge¬
löst und unabhängig vom Nervensystem,
weiter zu schlagen. Das hat Engel mann
in mehr als 15 000 Einzel versuchen be¬
wiesen. Diese Fähigkeit des Herzmuskels
beruht auf seinen 3 kardinalen Eigen¬
schaften: Erstens ist er nämlich automatisch
erregbar, und zwar entstehen die Reize,
die ihn zu seiner Thätigkeit anregen, intra-
cardial in der Nähe des Sinus. Zweitens
werden diese Reize von Muskdzelle zu
Muskelzelle des Myocards weiter gegeben
infolge seines Leitungsvermögens. Drittens
besitzt der Herzmuskel die Fähigkeit
der Contractilität. Im lebendigen Körper
steht freilich der Herzmuskel mit seinen
genannten Kardinaleigenschaften unter di¬
rekter Abhängigkeit vom Nervensystem,
vor allem unter dem regulirenden Ein¬
fluss des Vagus und Accelerans, aber
dieser Einfluss ist mehr sekundärer
Natur. Eine Störung eines der drei
Momente der Herzthätigkeit als Erreg¬
barkeit, Leitungsvermögen, Contractions-
vermögen macht meist ganz be¬
stimmte Formen von Arythmie, die
prognostisch verschieden zu beurtheilen
sind.
Dem Engelmann’schen Gesetz von
der Erhaltung der physiologischen Reiz¬
periode zufolge entstehen die normalen
automatischen Reize am venösen Abschnitt
des Herzens in rythmischer Folge, und
werden von da über die Vorhöfe und
die Blockfasern nach den Ventrikeln hin¬
geleitet. Wenn das Herz gegen erhöhte
Widerstände anzukämpfen hat, oder wenn
infolge abnorm gesteigerter nervöser Reiz¬
barkeit zwischen zwei normalen Systolen
neue Erregungen entstehen, so können
diese „Extrareize“ auch eigne Contractionen
des Herzens verursachen: Extrasystolen
(Engelmann). Diese Extrasystolen können
aber nur dann zu Stande kommen, wenn
die Extrareize in einem Augenblick ent¬
stehen, in welchem der Herzmuskel auch
erregbar ist. Das ist nicht immer der
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
272
Die Therapie der
Fall; wenn sich derselbe nämlich in
systolischer Contraction befindet, ist er
auch für stärkste Reize unempfindlich, d. h.
„refractär“. Erst beim Erschlaffen der
systolischen Contraction vermag er wieder
auf Reize — seien es Extrareize oder
normale Reize — anzusprechen. Entsteht
also ein Extrareiz schon in einem Augen¬
blick der Herzevolution, in dem der Muskel
sich noch in systolischer Contraction be¬
findet, so prallt er sozusagen wirkungslos ab
und macht sich weder am Herzen noch am
Pulse bemerklich. Tritt er etwas später
ein, in dem Moment, in welchem die
systolische Contraction gerade eben zu
Ende ist, und die diastolische Er¬
schlaffung beginnt, so wird er zwar eine
neuerliche hörbare und fühlbare Con¬
traction des Herzens verursachen aber die
Blutwelle, die dabei durch den eben erst
entleerten Ventrikel erzeugt wird, ist so
gering, dass sie an dem Radialpuls nicht
zum Ausdruck kommt Der auf diesen
Extrareiz folgende nächste Reiz für den
Herzmuskel ist der nun fällige normale
Reiz; derselbe trifft nun den Herzmuskel
noch in der refractären Phase der da¬
zwischen gekommenen Extrasystole, und
muss also wirkungslos bleiben; daher die
„compensatorische Ruhe" nach der Extra¬
systole! Erst der übernächste normale
Reiz wird wieder eine normale Herz-
contraction erzielen. So entsteht das, was
Quincke und Hochhaus als frustrane
Herzcontraction bezeichnet haben; d. h.
ein Aussetzen des Pulses, bei gleichzeitigem
hörbarem systolischem Muskelton (Puls¬
intermittenzen).
Tritt der Extrareiz indess später nach
der vorausgegangenen Systole auf, so dass
er also den Herzmuskel in diastolischer Er¬
schlaffung und merklicher Füllung vor¬
findet, so bringt er ihn auch zu einer zwar
vorzeitigen aber wirksamen Contraction,
so dass man am Herzen ersten und zweiten
Ton vernimmt und einen entsprechenden
Pulsschlag an der Radialis, natürlich zeit¬
lich im Verhältniss zum normalen Rhyth¬
mus zu früh, gewissermaassen ein Nach¬
schlag zur vorausgegangenen normalen
Systole. Die nächste normale Systole muss
natürlich wieder ausfallen, weil der dazu¬
gehörige normale Reiz den Herzmuskel
noch im refractären Zustande der Extra¬
systole antrifft; es entsteht also wieder
eine compensatorische Ruhe an Herz und
Puls. Dieser letztbeschriebene Vorgang
ist nichts anderes als das, was wir seit
Traube Pulsus bigeminus nennen.
Diese beiden Formen des intermittirenden
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Gegenwart 1903. Juni
Pulses, die also beide auf Extrasystolen
des Herzens beruhen, sind weitaus die
häufigsten Formen aller Arythmieen. Am
geschriebenen Pulsbild charakterisiren sie
sich dadurch, dass die Zeit zwischen
dem voraufgehenden normalen Pulse der
ihm folgenden Extrasystole, der darauf
folgenden compensatorischen Ruhe zwei
regelmässigen Pulsintervallen fast genau
entspricht, wie sich das an Curven mit
gleichzeitiger Zeitschreibung direct aus¬
messen lässt. Geringe Verkürzung oder
Verlängerung dieser Zwischenzeit zwischen
zwei normalen Pulsen scheint davon ab¬
hängig zu sein, an welcher Stelle des Her¬
zens der Extrareiz entsteht.
Die beschriebenen Extrasystolen können
sich so häufen, dass daraus eine Tachy-
cardie werden kann, und nur ab und
zu normale Intervalle auftreten, die uns
dann den extrasystolischen Ursprung
dieser Tachycardie verrathen.
Die Arythmieen durch Extrasystolen
sind verhältnissmässig günstig prognostisch
zu beurtheilen. Sie pflegen dann aufzu¬
treten, wenn ein Missverhältniss zwischen
Herzkraft und verlangter Leistung herrscht.
Das kommt vor bei acuten Vergiftungen*
bei fieberhaften Zuständen, vor allem aber
bei drei Kategorieen von Kranken, näm¬
lich bei Arteriosklerotikern, bei Herz¬
kranken und bei Nervösen. Mit zunehmen¬
dem Widerstand wächst die Spannung des
Muskels, die ihrerseits die Erregbarkeit
steigert. Dazu genügen schon z. B. bei
nervösen Leuten Blutdrucksschwankungen
in Folge von Gemüthserregungen. Findet
sich bei solchen extrasystolischen Aryth¬
mieen weder arteriosklerotische Blutdruck¬
steigerung noch gesteigerte nervöse Erreg¬
barkeit, so muss an die Möglichkeit einer
Herzmuskelerkran kun g gedacht werden.
Immerhin kommt, wie Rehfisch mit Recht
betont, dieser Form von aussetzendem
Pulse, die auf abnormer Erregbarkeit des
Herzmuskels beruht, nicht die üble Pro¬
gnose zu, wie Traube sie vormals aus¬
genommen hat.
Anders verhält sich das mit denjenigen
Formen, die auf Veränderungen der beiden
andern Cardinaleigenschaften des Herz¬
muskels, nämlich der Leistungsfähigkeit
und der Contractilität beruhen.
Die Ventrikel contrahiren sich bekannt¬
lich a /5 Secunde später als die Vorhöfe.
Man erklärt das daraus, dass die Block¬
fasern, d. h. die Muskelelemente, die die
Vorhöfe mit den Atrieen verbinden, schlech¬
tere Reizleiter sind. Wenn die Leitung
im Herzen geschädigt ist, leiden diese
Original ffom
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
Juni
273
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Blockfaaern am ersten Noth, und die durch
sie gesetzte Arretirung im Fortschreiten
der Reizleitung führt zu Ungleichheit der
einzelnen Reizperioden, unter Umständen
zur zeitweiligen vollkommenen Leitungs¬
unterbrechung an dieser Stelle („Herz¬
block“). Bei klinischer Beobachtung be¬
merkt man dann in diesem Moment ein
Aussetzen des Pulses und der Herz¬
action, also das was man als Pulsus
deficiens zu bezeichnen pflegt. Das cha¬
rakteristische dieser Form der Arythmie
tritt am geschriebenen Puls insofern her¬
vor, als das Intervall zwischen den beiden
Pulsen, zwischen denen einer weggefallen
ist, kleiner ist als die Summe zweier Puls¬
perioden. Der Grund dafür ist klar: die
Ventrikelcontractionen, die bei normaler
Leitung ^5 Secunden nach der Vorhofs-
contraction erfolgen sollen, verzögern sich
in Folge der mangelhaften Leitung immer
mehr und mehr bis der Herzblock ein-
tritt und die Ventrikelcontraction damit
einmal überhaupt wegfeilt. Hat sich nun
in Folge der Ruhe das Leitungsverraögen
wieder erholt, so tritt nunmehr nach dem
Aussetzen eine rechtzeitige Systole auf,
die also der letzten erhebiieh verspäteten
fortgeleiteten Contraction näher liegen
muss, als die Summe zweier Pulsperioden
von normalem Rhythmus. Dies Spiel
kann sich wiederholen in regelmässiger
Folge, dann kommt es zum regelmässig
— nach 3, 4, 5 etc. Schlägen — aus¬
setzenden Puls.
Charakteristisch ist ferner bei dieser
Form, dass die der Intermission folgende
Pulsperiode immer etwas grösser ist, als
die zweitfolgende. So kommt es, dass da
wo die Pulsfrequenz in der Minute ein
Multiplum der voraufgehenden oder fol¬
genden darstellt, eine prognostisch stets
ernster zu beurtheilende Arythmie durch
Leitungsstörung anzunehmen ist, und nicht
nur ein nervöser Extrasystolen puls. Dieser
letztere ist ausserdem dadurch gekenn¬
zeichnet, dass er noch weit mehr als der
gesunde Puls in Abhängigkeit von In- und
Exspiration steht. Wird die Leitungs¬
störung so beträchtlich, dass nur noch
hin und wieder ein normaler Reizinter¬
vall zu beobachten ist, so kann es zu
Bradycardie kommen; hier kann die
Differentialdiagnose zwischen Läsion von
Leitungsvermögen oder Vagusreizung oft
sehr schwierig werden, wenngleich es
auch schon gelungen ist, im Röntgen¬
bild (A. Hoffmann) oder mit dem
Stethoskop (Huchard, His) die Con-
tractionen der Vorkammern bei gleich-
Digitized by Google
zeitigem Stillstand der Ventrikel direct zu
beobachten.
Die Ursachen für diese Arythmieformen,
also für den echten Pulsus deficiens, sind
meist schwere myo- und endocarditische
Veränderungen, schwere Infecte mit Diph¬
therie, Scharlach, Masern und vornehmlich
Influenza. Am deutlichsten werden sie da
im Reconvalescenzstadium und sind nach
Rehfisch’s Ansicht immer als ernste
Störungen unter sorgfältiger Controle zu
halten.
Bei gestörter Contractilität des Herz¬
muskels leidet ebenfalls das Gleichmaass
des Pulses Noth. Es resultirt in schwersten
Fällen das regellose Delirium cordis oder
aber die Contractionen verkürzen sich
immer mehr um dann nach erreichtem
Minimum, wieder stärker zu werden
und so fort: Pulsus myurus! Endlich
können schwächere mit stärkere Con¬
traction regelmässig ab wechseln: Pulsus
alternans! ein Pulsbild das bekannt¬
lich selten genug in reiner Form zur Be¬
obachtung kommt, und von sehr schlechter
Vorbedeutung ist.
Es ist zweifellos als ein grosser Fort¬
schritt zu betrachten, dass auf Grund
strenger physiologisch experimenteller
Forschung auch in das klinische Bild der
früher so unzusammenhängenden Aryth-
mieen eine gewisse Klärung und besseres
Verständniss hineingetragen worden ist.
Am fruchtbarsten erweist sich dabei jeden¬
falls die Erkennung und richtige Deutung
der Extrasystolen bei der Beurtheilung
von Herz und Puls. Ob sich aber die
Trennung zwischen Störungen der Lei¬
tung und Störungen der Contractilität, wie
sie die Physiologen haben wollen, wie sie
aber mit klinischer Beobachtung häufig
schwer in Einklang zu bringen ist, auf die
Dauer rechtfertigen lässt, scheint vielleicht
zweifelhaft; die Störungen dieser beiden
Faktoren dürften wohl — wenigstens
klinisch — meist unzertrennlich bleiben.
Für die ärztliche Beobachtung und klinische
Durcharbeitung bleibt da noch manche
dankenswerthe Fragestellung!
F. Umber (Berlin).
(Deutsche raed. Wochenschr. 1903, No. 20 u. 21.)
C&rcinom und Diabetes sah J. Boas
unter 366 Fällen von Intestinalcarcinomen
12mal vereinigt. Dabei nimmt das Car-
cinom in der einen Reihe von Fällen,
wenn der Diabetes florid ist, einen un¬
gewöhnlich rapiden und stürmischen Ver¬
lauf; in anderen, bei denen der Diabetes
35
Original frorn
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
274
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903.
im Symptomenbilde mehr zurücktritt, er¬
loschen, resp. im Erlöschen ist, zeigt das
Verhalten des Carcinoms keinerlei Ab¬
weichungen von dem gewöhnlichen, seine
Entwicklung ist eher eine langsamere als
bei uncomplicirtem Verlaufe.
Bezüglich des Einflusses des Carcinoms
auf den Diabetes ist ebenfalls ein wechseln¬
des Verhalten zu constatiren. Einmal
schwindet der Diabetes mit dem Einsetzen
des Carcinoms, es tritt eine ganz über¬
raschende, sonst schwer in dieser Rein¬
heit zu beobachtende Toleranz gegen
Kohlehydrate ein. In anderen Fällen bleibt
trotz fortschreitender Entwicklung des
Carcinoms der Diabetes ungehemmt be¬
stehen, nur dass er in Folge der zunehmen¬
den Cachexie, verringerten Nahrungsauf¬
nahme u. a. an Umfang abnimmt. Eine
Erklärung, weshalb das Carcinom in ein¬
zelnen Fällen direct als Antagonist auf den
Diabetes wirkt, in anderen ihn ganz un¬
beeinflusst lässt, vermag Boas nicht zu
geben. In allen Fällen ist das Carcinom
die secundäre Affection, der Diabetes die
primäre. Das Carcinom selbst hat keine
Neigung, Glykosurie oder Diabetes hervor¬
zurufen, was schon daraus hervorgeht, dass
selbst das Pankreascarcinom nur selten mit
Diabetes verbunden ist.
In therapeutischer Hinsicht ergeben
sich aus der Combination von Diabetes
und Carcinom nur insofern Gesichtspunkte,
als die Gefahr einer Operation des Car¬
cinoms durch die Complication mit Dia¬
betes natürlich erheblich gesteigert wird.
Selbst ein latenter Diabetes kann nach der
Operation wieder aufleben und die schwer¬
sten Grade annehmen. Trotzdem wird
man, wo die Möglichkeit eines Radical-
eingriffes gegeben ist, vor demselben nicht
zurückschrecken dürfen, bei manifestem
Diabetes freilich erst nach vorheriger Ent¬
zuckerung. Für die interne Behandlung,
sofern operative Erwägungen nicht im
Vordergrund stehen, verlangt Boas, da
der Carcinomdiabetes an sich eine Tendenz
zum Erlöschen der Glykosurie zeigt und
da es sich meist um Patienten in vor¬
gerückten Lebensjahren und um eine
leichte Form des Diabetes handelt, mög¬
lichste Zurückhaltung in der Beschränkung
der Kohlehydrate. Besonders empfiehlt
er die Darreichung grosser Fettmengen in
geeigneter Form, falls die Localisation
des Carcinoms dies gestattet.
F. Klemperer.
(Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 11.)
Digitized by Google
Ueber die Behandlung einiger Chorea»
formen mit Streptococcenheilserum be¬
richtet P. A. Preobraschensky (Moskau).
Verfasser weist zunächst auf die seiner
Ansicht nach nicht genügend hervorge¬
hobene Thatsache hin, dass die Chorea
keine ätiologisch einheitliche Krankheit
darstelle, sondern verschiedenen Ursprungs
sein könne: während sie einmal als Sym¬
ptom einer organischen Hirnaftection auf-
treten kann, wird sie ein anderes Mal re-
flectorisch oder durch Infection hervorge¬
rufen. Dementsprechend kann auch die
Therapie dieses Leidens keine einheitliche
sein; vielmehr wird man in jedem Falle
genau nach der ätiologischen Ursache
forschen und sich danach richten. Sonder¬
barerweise wird die Infection als Ursache
der Chorea meist ganz aus dem Auge ge¬
lassen, obwohl sie gar nicht so selten vor¬
zukommen scheint. Im vorigen Jahre ist
es Verfasser gelungen, aus sämmtlichen
Organen eines Choreakranken reine Kul¬
turen von Streptococcen zu züchten. In
einem zweiten sehr schweren Falle, dessen
Krankengeschichte ausführlich mitgetheilt
wird, konnte sowohl mit narkotischen
Mitteln, als auch mit Arsen keine Besserung
erzielt werden. Nach Injection von Strepto¬
coccenheilserum hörten die choreatischen
Zuckungen auf und die Patientin genas.
Verfasser räth in jedem Fall von Chorea
eine bakteriologische Untersuchung des
Blutes anzustellen. Dann wird man sich
auch überzeugen können, dass die infec-
tiöse Form des Leidens gar nicht so selten
vorkomme. Lässt sich die Chorea auf
Streptomykosis zurückführen, so kann sie
mit dem genannten Heilserum erfolgreich
bekämpft werden. N. Grünstein (Riga).
(Medicinskoje Obosrenije 1902, No. 21).
J. Boas berichtet über einen Fall von
operativ geheilter Colitis ulcerosa.
Die Patientin war seit 5 Jahren darm¬
leidend. Anfangs wechselten Diarrhoen mit
Verstopfung, später wurden die ersteren
überwiegend; den Stuhlgängen war regel¬
mässig Blut und Eiter beigemengt. Das
Rectum war frei, das Colon *auf Druck em¬
pfindlich. (Da das Krankheitsbild allmählig,
jedenfalls ohne vorhergehende acute Dy¬
senterie sich entwickelt hat, will G. es
nicht als chronische Dysenterie, sondern
als Colitis ulcerosa bezeichnen.) Die diae-
tetische Behandlung und Darmspülungen
mit allen möglichen empfohlenen Mitteln
versagten ganz oder gaben höchstens einen
vorübergehenden Effect. Deshalb wurde
eine Coecalfistel angelegt. Der Stuhlgang
Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Juni
Die Therapie der
erfolgte zunächst ausser durch die Fistel
auch rectal, nach 4 Wochen aber nur noch
durch die Fistel. Vom Beginn der Ope¬
ration an wurden täglich, später alle paar
Tage, Spülungen mit Argentumlösungen,
dann auch mit Jodlösungen vorgenommen,
u. z. centrifugal und centripetal. Noch
7 Monate nach der Coecostomie war in dem
Spülwasser Blut durch die Guajakprobe
nachweisbar, dagegen kein Eiter mehr.
Erst nachdem auch Blut dauernd nicht
mehr gefunden wurde — 12 Monate nach
der Operation — wurde die Fistel ge¬
schlossen. Die Patientin ist, bis auf eine
leichte Obstipation, vollkommen gesund.
F. K.
(Deutsch. Med. Woch. 1903, No. 11.)
Einen Todesfall nach Cortex rad.
poniee gr&n&t. theilt Eiselt (Prag) mit.
Einem 72jährigen Manne, der an Taenia
saginata litt, wird mit der Sonde, da die
früher eingenommene Arznei erbrochen
wurde, ein Dekokt von 150 g macerirter
Granatwurzel eingegossen. Gleich darauf
neues Erbrechen, das trotz Eispillen nicht
gestillt werden konnte, nach einer halben
Stunde auffallender Kräfteverfall, Ohn¬
mächten, Pulsbeschleunigung, sodass zum
Ausspülen des Mageninhaltes mit lauem
Wasser geschritten wurde, da über die
ProvenienzdesMittelsgezweifeltwurde.Nach
einem Klysma Abgang eines Va m Band¬
wurms, später unwillkürliche Entleerungen,
das Bewusstsein getrübt, es folgen Collapse,
die vergebens mit Campher-Aetherinjec-
tionen, warmen Einpackungen, Cognac,
künstlicher Athmung bekämpft wurden und
nach 10 Stunden Tod. Die Gerichtsobduc-
tion ergab, dass die Ursache des Todes
eine Lungenentzündung war, die durch
Aspiration des Erbrochenen bei getrübtem
Bewusstsein zu Stande kam.
Stock (Skalsko.)
(Öasopis öesk^ch likafti 1902, No. 19.)
Dass das Dextrin zur subcutanen
Ernährung ungeeignet ist, hat Leube in
seinen Ausführungen über extrabuccale
Ernährung in der „deutschen Klinik“ be¬
reits hervorgehoben. Es wird unverbrannt
im Harn wieder ausgeschieden. Thier¬
versuche, die jüngst Paul Mayer im
Salkowski’schen Laboratorium zur genauen
Prüfung dieser auch für den Kohlehydrat¬
zerfall im Körper bedeutsamen Angaben
ausgeführt hat, erweisen deren Richtigkeit.
P. Mayer hat in 5 Versuchsreihen am
Kaninchen festgestellt, dass subcutan ein¬
geführtes Dextrin zu einem beträchtlichen
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Gegenwart 1903. 275
Antheil der Oxydation im Körper entgeht,
und nicht weniger als 34—35 pCt. davon
im Harn wiedererscheinen. Es wurden
Lösungen von reducirendem mit Jod roth-
färbbarem Dextrin, also Erythrodextrin¬
lösungen, injicirt. Dasselbe veränderte
während seiner Passage durch die Blutbahn
seine Eigenschaften insoweit als der im
Harn wiedererscheinende Bruchtheil in
nicht mehr reducirendes, mit Jod nicht
mehr färbbares Achroodextrin übergegan¬
gen ist. Glycogen hingegen, das in
gleicher Weise subcutan verabfolgt wurde,
wurde so gut wie völlig verbrannt. Daraus
ergiebt sich die auch physiologisch nicht
gleichgültige Schlussfolgerung, dass Gly-
cogendextrin und Amylumdextrin nicht
identisch sind, oder dass der Abbau des
Glycogens nicht über die Dextrinstufe
erfolgt. F. Umber (Berlin).
(Fortschritte der Medicin 1903, S. 41 7 ff .)
Geburtscomplicationen bei ausge¬
dehnter V&ricenbildung, zumal an Vulva
und Vagina bis zur Portio, hat Düntz-
mann zum Gegenstände eines practisch
wichtigen Vortrages in der pommerschen
gynäkologischen Gesellschaft zu Stettin
gemacht. In 5 Fällen hat die Ausbildung
mächtiger Blutadergeschwülste drei Mal
zu schweren Blutungen geführt, denen
eine Zwillingsmutter trotz der anwesenden
klinischen Hilfe erlag. Düntzmann räth
in der Schwangerschaft zur Ruhe, daneben
vorsichtig Ergotingebrauch (2—3 Mal täg¬
lich 1 Spr.) vorausgesetzt, dass noch nicht
Wehen da sind, oder Frühgeburt zu be¬
fürchten ist. Ist die Geburt im Gange, bei
der die Varicen natürlich noch mehr an¬
schwellen, so wird am besten bei den Press¬
wehen — um jedes Mitpressen auszuschalten
— schon die Narkose eingeleitet und der
Kopf mit grösster Schonung entwickelt. Ist
es trotzdem zur Durchreibung gekommen,
so muss sofort umstochen und genäht
werden. Die Tamponade ist oft machtlos
und wegen Infectionsgefahr verwerflich.
Wenn die Blutung sofort gefahrdrohenden
Charakter hat, so klemme man die bluten¬
den Stellen provisorisch mit Kugelzangen
ab, um dann bei stehender Blutung und
freiem Operationsfelde definitiv zu ver¬
nähen. P. Strassmann.
(Monatsschr. für Geb. und Gyn. März 1903.)
Im Jahre 1897 haben Czerny und
Trunecek zur Behandlung äusserer, be¬
sonders H&utc&rclnome, Pinselungen mit
Arsen in folgenden Lösungen empfohlen:
35*
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
276
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juni
Rp. Add. arsenic. pul. PO
Alcohol. absol.
Aqua dest. . . ana 75*0
Rp. Add. arsenicos . . . PO
Alcohol. absol.
Aqua dest. . . ana 25*0
Die Lösungen werden in allmählich steigen¬
der Concentration gebraucht; sie werden
aufgepinselt, eventuell damit das Arsen in
das Krebsgewebe eindringt, wird eine kleine
Wunde geschaffen. Die bepinselte Fläche
wird nicht verbunden. Es bildet sich
meistens schon nach 24Stunden eineKruste;
diese wird nicht entfernt, sondern auf die
sich bildende Kruste wird immer wieder
gepinselt. Nach Abstossung oder Ent¬
fernung der Kruste bleibt dann schliesslich
eine gute Granulationsfläche. Aber dann
ist es zweckmässig, noch einmal zu pinseln;
bildet sich dann nur noch eine dünne, gelb¬
liche oder grünliche Kruste, dann ist die
Behandlung erledigt; bildet sich aber eine
dickere, dunkler gefärbte, fest anhaftende
Kruste, so muss die Behandlung noch fort¬
gesetzt werden. In 5 Fällen hat Beck
diese Behandlung versucht; es zeigt sich,
dass sie bei ganz oberflächlichen Haut-
carcinomen zum Ziel führt; aber hierfür
giebt es auch andere Methoden. Bei Reci-
diven ist aber Messer, scharfer Löffel oder
Thermokauter mehr empfehlenswerth. Für
andere Carcinome dürfte die Methode wohl
nicht zu empfehlen sein.
Buschke (Berlin).
(Monatsh. f. prakt. Dermatol. Bd. 36, Heft 7.)
Experimentelle Untersuchungen, die
Freymuth im Koch’schen Institut über
die Beziehungen leichter lnfectionen
zum blutbildenden Apparat angestellt hat,
ergaben, dass schon ungemein kleine Dosen
von Infectionserregern z. B. Typhuskeimen
oder auch von gelösten giftigen Bacterien-
producten, die noch kaum merkliche all¬
gemeine Krankheitserscheinungen hervor¬
zurufen im Stande sind, bereits eine spe-
cifische Wirkung auf den blutbildenden
Apparat, Knochenmark und Milz, ausüben,
und denselben zu einer anormalen sehr
starken Thätigkeit anregen können. Im
Knochenmark pflegen dabei die grossen
gewöhnlich mit Fett gefüllten Maschen durch
Zellproliferation enger zu werden oder ganz
zu verschwinden, bei gleichzeitiger Ver¬
mehrung der Zellmitosen, der Myelocyten
und Uebergangsformen. Auch die Zellen
mit Riesenkernen im Knochenmark, sowie
die von Türck als Reizungsformen be¬
schriebenen Elemente sind dabei regel¬
mässig vermehrt. Verfasser betrachtet
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diese Erscheinungen als Ausdruck einer
gesteigerten Inanspruchnahme des hämo-
poetischen Systems, das ja erwiesener-
maassen bei der Bildung von specifischen
Schutzstoffen gegen eine eindringende In-
fection besonders in Anspruch genommen
wird. Darunter leidet dann die normale
Function des blutbildenden Apparats, näm¬
lich die Blutregeneration, und auf diese
Weise erklärt sich — nach der Meinung
des Verfassers — vielleicht eine grössere
Zahl von anämischen und chlorotischen
Processen dunklen Ursprungs.
F. Umber (Berlin).
(Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 20.)
Ueber die Behandlung der acuten Mor¬
phium- und Opiumvepg , iftung , en gehen
die Ansichten bekanntlich noch weit aus¬
einander. Während viele Pharmakologen
das Atropin als einen Antagonisten des
Morphins empfehlen, können die praktischen
Aerzte zur Anwendung dieses gefährlichen
Gegengifts sich nur schwer entschliessen
und ziehen demselben die üblichen Me¬
thoden — Magenspülungen, künstliche Ath-
mung, Aether- und Kampherinjection —
bei weitem vor.
Vor 10 Jahren empfahl M. Moor (New-
York) das Kalium hypermanganicum als ein
vorzügliches Gegengift für Morphium und
Opium. Die Wirkung des erwähnten Kali¬
salzes basirt nach seinen Angaben auf
der Eigenschaft desselben Sauerstoff an
leicht oxydirbare Körper abzugeben und
durch Oxydation dieselben zu zerstören.
W. F. Weljamowitsch bestätigte die
Moor’schen Angaben: im Reagenzglase
wird Morphium oder Opium von über¬
mangansaurem Kali vollständig zerstört.
Wenn man eine tödtliche Dosis von Opium
oder Morphium, mit einer genügenden
Menge Kal. hypermangan. versetzt, zu sich
nimmt, bleiben jegliche Vergiftungser¬
scheinungen aus. Setzt man zu einem
Gemisch von Morphium bezw., Opium und
einer anderen leicht oxydirbaren Substanz,
beispielweise Zucker, Kal. hypermang.
hinzu, so werden zunächst die Alkaloide
in Angriff genommen und erst nach völliger
Zerstörung dieser wird der Zucker oxydirt.
Moor berichtet über 71 Fälle von Morphium¬
vergiftungen, wo das übermangansaure Kali
lebensrettend wirkte. Weljamowitsch
rettete einem das Leben, indem er ihm
bald nach der Vergiftung 0,6 Kali hypermang.
in den Magen einführte, S. A. Fink ei¬
st ein beschreibt einen Fall, wo ein junges
Mädchen suicidii causa ca. 1,0 Morphium
zu sich nahm. Sie war als Verfasser
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Juni Die Therapie der
IV 2 Stunden darauf zu ihr kam, völlig be¬
wusstlos. Die Athmung war flach, von
Cheyne Stokes’schem Typus. Puls unregel¬
mässig, klein, verlangsamt, 38 Schläge
in der Minute. Pupillen waren stark
verengert, reagirten nicht auf Licht. Er
injicirte 1,0 einer 4 %igen Kali hyper-
manganicumlösung, wonach bereits erheb¬
liche Besserung eintrat. Nach einer halben
Stunde wurde die Injection widerholt und
nach 3 Stunden konnte er die Gerettete
verlassen.
Die Dosirung des Kal. hypermang. ist
folgende: Zu subcutanen Injectionen wird
eine 4 bis 5 %ige Lösung benutzt von der
man jede halbe bis ganze Stunde je 1,0
subcutan injicirt, bis die bedrohlichen Sym¬
ptome völlig verschwunden sind. Innerlich
giebt man auf je 3 gran Morphium 4 gran
Kal. hypermang. und auf jede Unze Opium-
tinctur 6 gran Kal. hypermang. Ist die
Quantität des Giftes unbekannt, so führt
man 8—10 gran übermangansaures Kali in
einem Glas Wasser in den Magen ein und
spQlt noch letzteren mit einer schwachen
Lösung aus. N. Grünstein (Riga).
(Russki Wrmtsch 1903, No. 1.)
Die Berechtigung der Perforation des
lebenden Kindes, welche in den letzten
Jahren von französichen Geburtshelfern
zum Theil bestritten wurde, hat Hofmeier
in den Annales de Gynäcologie ver-
theidigt. Trotz der grossen chirurgischen
Fortschritte der Geburtshülfe bleibt die
Perforation des lebenden Kindes nicht nur
in der Privatpraxis, sondern selbst in Ent¬
bindungsanstalten, unter voller Berücksich¬
tigung der geburtshülflichen Situation ärzt¬
lich gelegentlich die beste Zuflucht. Man
ist auf Grund von nur moralischen oder
theoretischen Betrachtungen über die
Lebensansprüche des Kindes nicht er¬
mächtigt, an ihre Stelle die Symphyseo-
tomie oder den Kaiserschnitt zu setzen.
Allerdings muss es wünschenswerth er¬
scheinen, das Opfer eines lebenden Kindes
in den Kliniken wenigstens möglichst ein¬
zuschränken auf Grund möglichst kritischer
Entscheidung und unter Sichtung der Indi-
cationen. Noch zählt nämlich nach den
Berichten der 2. Wiener geburtshülflichen
Klinik über die letzten 10 Jahre diese
Operation 35% aller Craniotomieen, wäh¬
rend sie an anderen Anstalten zwischen
12 bis 54% schwankt. Es giebt Geburts¬
fälle, wo man z. B. nach vergeblichem
Zangenversuch bei hohem Kopfstande
und Fieber mit der Eröffnung abnormer
Geburtswege zur Rettung des Kindes un*
Gegenwart 1903. 277
verhältnissmässig grosse Gefahren für die
Mutter bei zweifelhaftem Resultate für die
Frucht heraufbeschwören würde. Wichtig
ist es zur Vermeidung solcher auf die
Thatsache zu achten, dass, wenn die in
Narkose ausgeübte Impression des hoch¬
stehenden Kopfes gänzlich wirkungslos ist,
auch von der hohen Zange nicht viel zu
erwarten ist. Immerhin ist sie vorsichtig
erlaubt, zumal in der Praxis, wo die Sym-
physeotomie sich nicht als geläufige Opera¬
tion wird einbürgern können.
P. Strassmann.
(Hofmeier: Annales de Gynecologie Jan vier
1903. Tome LIX).
Zu der recht in den Vordergrund ge¬
rückten Frage der Behandlung der
tuberkulösen Peritonitis äussert sich
Friedländer auf Grund des Materials der
König’schen Klinik, der Charitö, sowie
von dem Sectionsmaterial des Urbankranken¬
hauses. Es wird vorausgeschickt, dass vor
etwa 20 Jahren die tuberkulöse Bauchfell¬
entzündung durchweg für eine Krankheit
mit übelster Prognose gehalten wurde. Da
zeigte 1884 König, dass bei einer Anzahl
vonLaparotomirten die Bauchfelltuberculose
thatsächlich geheilt war. Es kamen nun
rasch zahlreiche bestätigende Arbeiten, die
das Problem der räthselhaften Heilung durch
den einfachen Bauchschnitt ventilirten —
während König eigentlich aus seinen Er¬
folgen mehr die Consequenz ziehen wollte,
dass „die herrschenden Anschauungen über
den Process selbst (sc. seine Unheilbarkeit)
einer Revision unterzogen würden.“ Das
geschah denn auch allmählich, immer mehr
an Boden gewann die Ueberzeugung, dass
eine grosse Reihe von tub. Bauchfellent¬
zündungen heilten, auch ohne Operation,
dass die Operation vielfach überflüssig sei
— und wie sich die Geschichte der Therapie
nun einmal in Extremen gefällt, so wird
jetzt (durch Borchgrevink) der Satz auf¬
gestellt, dass die Laparotomie zur Heilung
der Bauchfelltuberkulose nie beitrage, ja in
vielen Fällen direkt schade. Die wahrhaft
schlimmen Formen seien die mit schwerer
Entzündung, die Laparotomie aber füge erst
eine Hyperämie hinzu und sei mithin in der
Lage, aus einer bisher harmlosen Tuber¬
kulose eine maligne zu machen.
Aus den pathologischen und klinischen
Bemerkungen Friedländer’s geht hervor,
dass er mit König überzeugt ist von der
spontanen Ausheilung von Bauchfelltuber¬
kulosen und die Erfolge der Laparotomie
durchaus nicht für glänzend hält. Es gilt
jetzt, Stellung zu der Frage zu nehmen:
1 . wann werden wir mit Nutzen bei tuber-
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
278
Die Therapie der
kulöser Peritonitis laparotomiren, und 2.
können wir mit dem Eingriff schaden? Und
da sagt F., bei einem Exsudat, das sich
auch nach Rückgang der ersten Erschei¬
nungen nicht resorbirt, müssen wir ent¬
leeren, so gut wie bei einer Pleuritis, und
zwar mit Laparotomie, weil die Punction
durch Adhaesionen bedenklich werden kann.
Wenn sich abgesackte Ergüsse mit Fieber
gebildet haben, müssen wir entleeren:
das giebt gerade die besten, unbestrittenen
Erfolge. 2. Als schädliche Folge ist die
tub. Kotfistel sehr ernst anzusehen, sie
kommt offenbar nach Operationen mehr
vor wie ohne solche, und zwar besonders
von aussen nach innen durch die Granu¬
lationen. Bei der Operation muss sofort
die Bauchhöhle geschlossen werden: die
Drainage, bzw. Tamponade begünstigt die
Kotfistelbildung, und bei der Operation
sollen wir das Lösen von Adhaesionen
möglichst vermeiden, da wir sonst riskiren,
Darmulcerationen anzureissen und so die
Kotfistel zu provociren.
Die Behandlung der Frage wird wohl
so bald noch nicht zur Ruhe kommen.
Fritz König (Altona).
(Lang. Arch. f. Klin. Chir. Bd 70, Heft 1.)
Pels-Leusden berichtet über 3 Fälle
von Fremdkörpern im Oesophagus, die
durch Oesophagotomie entfernt wurden.
Bemerkenswerth ist besonders der eine
Fall, in dem eine schwere jauchige
perioesophageale Phlegmone bestand.
Auch dieser Fall kam zur Heilung, was
zum grossen Theil wohl dem Umstand zu¬
zuschreiben ist, dass die Patientin, nach
Einlegung eines dicken Drainrohrs in die
Phlegmonehöhle, zur Schaffung günstiger
Abflussbedingungen für den Eiter nicht
allein völlig horizontal im Bett gelagert
wurde, sondern das Fussende des
letzteren auch noch um 25 cm erhöht
wurde. Nur bei und */4 Stunde nach der
Fütterung durch ein weiches Schlundrohr
wurde die Patientin im Bett etwas hoch¬
gesetzt, im Uebrigen nahm sie die obige
Lage ein und wurde nebenbei auch noch
von Zeit zu Zeit über den Bettrand hinaus
nach unten gebeugt, wobei regelmässig
noch etwas retinirter Eiter abfloss. F. K.
(Berl. Klin Wochenschr. 1903, No. 15.)
In einer Besprechung über den zeitigen
Stand der operativen Behandlung der
Prostatahypertrophie kommt Brans-
ford Lewis zu folgenden Schlüssen: Durch
die Sectio alta erreichbar sind Fälle mit
allgemeiner Hypertrophie des Organs, be¬
sonders starkem Hervorragen des medianen
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Gegenwart 1903. Juni
oder der Seitenlappen oder Stielung des
intravesicalen Tumors. Vom Damm aus
kann das Leiden operativ behandelt werden
bei Vergrösserung des Organs ohne stärkere
Prominenzen nach der Blase zu, bei starker
Entwickelung der Prostata nach dem Rec¬
tum, bei beträchtlicher Compression der
Urethra von Seiten der stark vergrösserten
lateralen Lappen, bei dieser Operations¬
methode muss aber das Allgemeinbefinden
des Kranken noch gut sein. Bottini
empfiehlt er hauptsächlich prophylaktisch
gegen weiter zunehmende Beschwerden,
sobald der Katheter nöthig wird, dann für
Fälle mit schlechtem Allgemeinzustand bei
nicht zu starker medianer Hypertrophie
und Balkenbildung. Buschke (Berlin).
(Centralblatt für Harn- und Sexualerkrankungen
Bd. 14, Heft 1.)
Auf die grosse Bedeutung und die
Häufigkeit der gonorrhoischen Prosta¬
titis für Diagnose, Prognose und Therapie
der Gonorrhoe ist vom Ref. in dieser
Zeitschrift mehrfach bereits hingewiesen
worden. Die grosse Zahl von Publicationen
über den Gegenstand, dessen eigentliche
Kenntniss ja nun schon ziemlich alten
Datums ist, beweist, welchen Werth jetzt
in specialärztlichen Kreisen der Affection
beigemessen wird. Nach den Erfahrungen
des Ref. ist diese Kenntniss, vor allem aber
auch die Anerkennung dieser Thatsache
bei den Nichtspecialisten noch nicht so
durchgedrungen, wie es die Wichtigkeit
des Gegenstandes erheischt. Es ist des¬
halb vielleicht nicht überflüssig wiederum
auf eine diesbezügliche Arbeit von W äl«ch
über die chronische gonorrhoische Prosta¬
titis hinzuweisen. Bei 200 chronischen
Gonorrhoen fand er in 162 Fällen chro¬
nische Prostatitis, deren Diagnose theils
durch die Untersuchung per rectum, resp.
durch die mikroskopische Untersuchung
des exprimirten Sekrets gestellt wurde.
Die Bedeutung des Leidens liegt vor allem
in den — wenn oft auch geringen, so doch
sehr quälenden — subjectiven Symptom
und der Möglichkeit, dass der Erkrankung
der Drüse ein Infectionsherd zu Grunde
liegt. Mit Recht warnt Wälsch vor
Polypragmasie in der Behandlung bei
chronischer Prostatitis und führt zur War¬
nung ein kurzes Beispiel an. Wie Ref.
des öfteren schon betont hat, kommt es
darauf an, die Prostatitis früh zu entdecken
und früh zu behandeln, dann sind die Aus¬
sichten der Therapie gute; in chronischen
Fällen ist nur ein vorsichtiger Versuch
i gerechtfertigt, da forcirte Massage, Local-
Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
279
Juni Die Therapie der
behandlung von der Urethra aus, hydri-
atische Therapie etc. in den meisten Fällen
nichts nützt und nur die sexualneurastheni-
schen Beschwerden hochgradig vermehrt.
Buschke (Berlin).
(Prager med. Wochenschrift 1903. 15—16.)
Zur Behandlung der Psoriasis vulgaris
empfiehlt Dreuw aus Unna’s Klinik
folgende Salbe:
Add, salicyl, . 10*0
Chrysarobini
OL Rusd nov, ana . . . 20*0
Sapon ririd •
Vaselini ana . 25*0
Die Salbe wird mit dem Borstenpinsel
zweimal täglich eingepinselt 3—4 Tage
lang, dann wird dieselbe mit Pasta zinci
sulfurata beseitigt. Die umgebende Haut
wird mit Zinkleim bedeckt, ev. auftretende
Schmerzen durch Zinkschwefelpaste ge¬
mildert.
Referent ist in der grossen Mehrzahl
der Fälle von der Anwendung starker
Chrysarobinsalbe — wie der oben erwähn¬
ten — zurückgekommen. In den meisten
Fällen von Psoriasis lässt sich durch J / 4
bis 1%Chrysarobin-Zinkpaste,resp. Vaseline
in milderer Weise dasselbe erreichen, in
hartnäckigen Fällen kann es allerdings er¬
forderlich sein auch stärkere Concen-
trationen zu verwenden. Zu einer milden,
oft aber ausreichenden Behandlung, die den
Vorzug vor der Chrysarobintherapie hat,
dass die Wäsche nicht ruinirt wird, eignet
sich auch die sog. Lapsasalbe:
Acidi carboUd .... 1*0
Hydrargyri praedp, albi
Balsam peruv. ana . . 2*0
Lanolini .5*0
Vaselini flavi ad ... . 50*0
M. S.
Buschke (Berlin).
Luftliegecuren bei Psychosen wer¬
den von W. Alter (Irrenanstalt Leubus)
warm empfohlen. Sie scheinen ihm indi-
cirt als partieller Ersatz der Bettruhe bei
allen Geisteskranken, deren psychisches
Verhalten es irgend ermöglicht. In erster
Linie kommen hypomanische und depres¬
sive Zustände, ruhige Paralytiker und De¬
mentia praecox in Betracht. Vor allem wird
der körperliche Kräftezustand, dann aber
auch die Stimmung günstig beeinflusst.
Die'Klagen über „das ewige im Bett liegen“
treten zurück und es wird so indirectauch
der Durchführung einer anderweitigen Be¬
handlung (Alter combinirt die Liegecur
namentlich mit Hydrotherapie) Vorschub
geleistet.
Gegenwart 1903.
Tippei weist noch besonders auf den
moralischen Einfluss hin, den die Luftliege-
cur in Irrenanstalten erzielt, indem sie die
Behandlung derjenigen der rein körper¬
lichen Krankheiten noch mehr annähert
und so mithilft dem Geisteskranken das
Gefühl des Krankseins und Behandeltwer¬
dens zu verschaffen. Die Methodik unter¬
scheidet sich in nichts von der in Lungen¬
heilstätten geübten und von da in den
meisten Nervensanatorien längst eingebür¬
gerten. Insoweit in letzteren Anstalten
auch leichtere Psychosen oft zur Behand¬
lung kommen, ist die Freiluftbehandlung
auch als psychiatrischer Heilfactor kein
Novum.
Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt.)
(Psychiatr.-Neurolog. Wochenschr. IV. Jahrgang
No. 52 und V. Jahrg. No. 3.)
Salmlakgeistvergriftungen sind ver-
hältmssmässig selten, die Zahl der bis
heute bekannten Fälle beträgt ungefähr 45,
von denen die Hälfte tödtlichen Verlauf
nahm, Reckzeh theilt aus dem Kranken¬
haus Bethanien einen Fall mit, der günstigen
Ausgang nahm, trotzdem die Vergiftungs¬
dose eine verhältnissmässig bedeutende
war. Die Patientin hatte 10—15 g Liq.
ammonii caustici mit einem Ammoniak¬
gehalt von 0,7—1,0 g versehentlich her¬
untergeschluckt. Es traten sofort starke
Haischmerzen ein und Erbrechen. Das
Sensorium war bei der Aufnahme leicht
benommen und es bestand starke Dyspnoe.
Lokal fanden sich Schleimhautbeläge in der
Mundhöhle hinunter bis hinter die Epi¬
glottis, Oedem im Larynx, Bronchitis. Im
Vordergrund der Symptome waren Er¬
brechen und starker Speichelfluss. Dabei
bestand ein anfangs geringes, bis zum
5. Tag ansteigendes Fieber. Nach 14 Tagen
wurde die Patientin geheilt entlassen. U.
(MQnch. medicin. Wochenschr. 1903, No. 9.)
Die S&menbl&sen erkranken acut in
Folge Gonorrhoe, wobei es zur Bildung von
Abscessen kommen kann, die operativ leicht
erreichbar sind ; chronische Affectionen des
Organs sind besonders die Tuberkulose,
selten Carcinom, Concrementbildung. Be¬
sonders für die Exstirpation tuber¬
kulöser Samen bl äsen empfiehlt Kessler
das von Fritz König angewandte opera¬
tive Verfahren, welches analog ist der von
Schlange angegebenen osteoplastischen
Resection hochsitzender Rectumcarcinome.
Hierbei werden ev. mit den erkrankten
Samenblasen, die afficirten Vasa deferentia,
Testikel entfernt, tuberkulöse Herde aus
der Prostata excochleirt. Verfasser geht von
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Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Juni
280 Die Therapie der
dem Gesichtspunkte aus, dass sehr häufig
die Genitaltuberkulose ganz solitär auftritt;
und es ist deshalb nothwendig, möglichst
radikal und frühzeitig den Localherd zu
entfernen. Der Autor berichtet über gün¬
stige Resultate auch in Bezug auf die
Blasenfunction. Buschke (Berlin).
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 67, H. 2.)
Die Möglichkeit therapeutischer Ver¬
wendung intravenöser Sauerstoff-
infusionen war näher zu untersuchen,
seitdem Gärtner die Erfahrung mitgetheilt
hatte, dass man beträchtliche Sauerstoff¬
mengen in die Jugularvene eines Hundes
kontinuirlich einfliessen lassen kann,
ohne dass dabei üble Zufälle passiren.
Stuertz hat sich an der Kraus’schen
Klinik der Aufgabe unterzogen die Bedin¬
gungen dieser Infusionen an Hunden ge¬
nauer zu prüfen um damit einer ev. thera¬
peutischen Verwendung dieser Art von
Sauerstoffeinverleibung einen sichereren
Boden zu geben. Er haf dabei in erster
Linie die Gefahrsgrenzen derartiger
Injectionen festgestellt und ausserdem auf
den respiratorischen Gaswechsel ge¬
achtet. Zur gleichmässigen Infusion des
Gases stellte Verf. einen Apparat zusammen,
in welchem durch leicht regulirbaren
Wasserzufluss ein continuirlicher Gasstrom
aus einer gasgefüllten Wulff'schen Flasche
in die Injectionskanüle getrieben wurde,
Die Versuche erstreckten sich im Ganzen
auf 5 Stunden. Das Sauerstoffbedürfniss
eines Hundes pro kg Körpergewicht be¬
trägt 750 ccm in der Stunde. Aus den
Untersuchungsreihen von Stuertz, in die
er auch Berechnungen aus den Gärtner
sehen Versuchen mit einbezieht, geht nun
hervor, dass intravenöse Sauerstoffinfu¬
sionen mit Geschwindigkeit bis zu Vs des
O-Bedürfnisses keine Lebensgefahr beim
Hund hervorrufen, selbst bei 15 Minuten
langer Dauer. (Unter Geschwindigkeit ver¬
steht er dabei den Bruchtheil des Gesammt-
Sauerstoftbedürfnisses pro Minute.) Die
Dosis V 4 ist bereits nicht mehr gleichgültig,
bei Vs tritt gewöhnlich schon hohe Lebens¬
gefahr ein und die Dosen von V 2 wirken
nach mehreren Minuten sicher tödtlich.
Die Todesursachen sind dabei nicht etwa
Sauerstoffembolien, sondern acute Herz¬
dilatation. Alle diese Zahlen gelten nur
für gesunde Herzen, und da, wo irgend
nur Schwächezustände des Herzens vor¬
handen sind — wie es in vielen Krank¬
heitszuständen beim Menschen in mehr
minder grossem Masse der Fall sein dürfte —
da sind schon viel kleinere Dosen lebens- I
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Gegenwart 1903.
gefährlich. Beim Menschen sind deshalb
auch — nach Verf. Ansicht — Sauerstoff¬
infusionen überall da zu widerrathen, wo
eine Schädigung des Herzens wahrscheinlich
ist. Dass die infundirten Sauerstoffmengen
wirklich der Athmung dienen, schliesst
Verf. aus seinen Respirationsversuchen.
Der respiratorische Gaswechsel ändert sich
nämlich im Verlauf der Infusionen, und
zwar nimmt der Sauerstoffverbrauch inner¬
halb gewisser Grenzen um so mehr ab, je
mehr Sauerstoff dem Körper intravenös
einverleibt wird. Eine Steigerung oder
Verminderung der CO-Ausscheidung ist
dabei nicht wahrnehmbar. Verf. warnt
übrigens bezgl. dieser Sauerstoffinfusionen
ausdrücklich vor übertriebenen therapeu¬
tischen Hoffnungen und ist der Meinung,
dass ihre Anwendung beim Menschen stets
nur beschränkt sein könne. So bei höchster
Lebensgefahr in Folge acuter Störung der
äussern Athmung bei noch gut erhaltener
Herzkraft, z. B. bei Erstickungsgefahr durch
Feuerkörper, Croupmembranen etc. in den
Luftwegen, sonst besonders in Fällen, in
welchen die Athemmuskeln nicht fungiren.
F. Umber (Berlin).
(Zeitschr. f. diät. u. physik. Therapie, 1903 4
Bd. VII, Heft 2 u. 3.)
Im Anschluss an die Berichterstattung
über die bekannt gewordenen Tetanus-
erkrankungen nach subcutaner Gelatine¬
einspritzung, die in dieser Zeitschritt fast
vollzählig besprochen worden sind, sei der
neueren einschlägigen Erfahrungen fran¬
zösischer Aerzte Erwähnung gethan.
Chauffard bespricht gelegentlich eines
solchen Todesfalls (Lop und Murat)
17 einschlägige Fälle der Weltliteratur und
schlägt vor, zur Vermeidung der Tetanus-
infection die zur Einspritzung dienende
Gelatine der staatlichen Controle zu unter¬
werfen. Auch Dieulafoy theilt einen sol¬
chen Fall mit, wo die Patientin am 11. Tage
nach der Gelatineinjection an Tetanus starb.
Sowohl der Eiter des Abscesses an der
Einstichstelle als auch die Gelatine enthielt
virulente Tetanuskeime (positiver Ausfall
des Thierexperiments). Zusammen mit vier
weiteren Fällen sind im Ganzen 23 tödtliche
Erkrankungen an Tetanus in Folge Gela¬
tineinjection bis jetzt bekannt geworden.
Dieulafoy spricht sich dafür aus, Gelatine
zum Zweck der Subcutaninjection nur nach
vorheriger Prüfung am Thier verkaufen zu
lassen. Lancereaux, welcher die Gela¬
tinebehandlung bei Aortenaneurysmen ein¬
geführt hat, weist darauf hin, dass ihm bei
I seinen ausserordentlich zahlreichen Gela-
Qriginal from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Juni
281
Die Therapie der Gegenwart 1903.
tineeinspritzungen nie ein derartig schwerer
Zufall zugestossen sei.
Bekanntlich ist der Wirkungsmodus der
Gelatine als blutstillendes Mittel noch nicht
aufgeklärt. Gley und Chantemesse
empfehlen an Stelle der Gelatine Chlor¬
calciumlösungen subcutan und innerlich:
Hayem Salzwasser innerlich. Nach den
Untersuchungen von Gley reagirt die
Gelatine des Handels immer sauer und ent¬
hält 2—5% Chlorcalcium. Neutralisirte
und chlorcalciumfreie Gelatine sei ohne
blutstillende Wirkung. Ergänzend sei be¬
merkt, dass die in Deutschland offici-
nelle Gelatina alba neutral ist und
höchstens 2% Asche enthalten darf.
E. Rost (Berlin).
i v Academie de Medecine 1903, 7. April, 5. und
12. Mai; Society de biologie 1903, 4. April. — La
semaine medicale 1903, S. 111, 113 u. 152.
C. A. E wald macht auf die atypischen
Typhen aufmerksam, die jetzt viel häu¬
figer als früher sind, und weist darauf
hin, dass dasselbe Vorkommnis, die
grössere Häufigkeit atypischer Formen,
bei allen Infectionskrankheiten zu beob¬
achten ist, wenn dieselben in ihrer allge¬
meinen Intensität nachlassen.
Die Abweichungen von dem typischen
Verlaufe des Typhus, wie er uns seit den
klassischen Schilderungen des Krankheits¬
bildes von Griesinger, Murchison und
Liebermeister geläufig ist, betreffen zu¬
nächst das Verhalten der Temperatur.
Fälle, in denen die vom ersten Tage an
beobachtete Temperatur fast unmittelbar
auf eine beträchtliche Höhe sich erhebt
und sofort den Charakter einer Febris hec-
tica, wie z. B. bei einer Tuberkulose, an¬
nimmt, sind zahlreich. Selbst plötzlicher
Beginn mit einem Schüttelfrost ohne
die üblichen präcursorischen Symptome
von Seiten des Digestionsapparates oder
des Nervensystems ist nicht so selten. Ein
Fall, den Ewald ausführlicher beschreibt,
setzte plötzlich mit Frösteln und den Sym¬
ptomen eines acuten Rachen- und Luft¬
röhrenkatarrhs ein; da subjective Herz¬
beschwerden bestanden und das Herz ob-
jectiv vergrössert war, blieb die Diagnose
lange zweifelhaft, zumal nie ein typischer
typhöser Stuhl vorhanden war und sich
nur sehr spärliche und unsichere Roseolen
zeigten, die Milz nie palpabel war und erst
spät eine mässige Dämpfungsverbreiterung
zeigte; am 53. Krankheitstage erst ergab
die Widal’sche Probe eine zweifellose
Agglutination. — Auch auf die plötzlich
und unvermittelt in der Reco n valescenz
auftretenden einmaligen mit Schüttelfrost
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einsetzenden hohen Temperaturen, sowie
diejenigen Fälle, wo der Typhus mit einer
acuten lobären Pneumonie einsetzt
und erst nach einigen Tagen durch das
Auftreten von Roseolen und die Sero-
reaction seine wahre Natur documentirt.
weist Ewald hin.
Bezüglich der Darmentleerungen
constatirt Ewald, dass die typischen brei-
weichen oder dünnen erbsenbrühartigen
Stühle nicht nur nicht regelmässig ange¬
troffen werden, sondern sogar selten sind
— „eher die Ausnahme als die Regel“
bilden — dass häufig braune, theils breiige,
theils geformte Stühle vorhanden sind
und nicht selten starke anhaltende Con-
stipation besteht. Reichliche Schleim¬
beimengung zum Stuhle kommt beim Typhus
vor. Blutungen, durch Hämorrhoiden be¬
dingt, können zu Täuschungen Anlass
geben. So kann die Diagnose zwischen
Typhus und Darmtuberkulose (welch letz¬
tere nach Ewald’s Beobachtungen durch¬
aus nicht immer mit Durchfällen einher¬
gehen muss) oder zwischen Typhus und
Colitis diphtherica längere Zeit hindurch
schwanken.
Als Abweichungen vom gewohnten Bilde
des Typhus hebt Ewald weiter das Auf¬
treten nervöser Excitationssymptome
hervor. In einem Falle sah er die De¬
lirien bis zu einem förmlichen Tobsuchts-
anfalle sich steigern, der selbst durch 3 cg
Morphium nicht beseitigt wurde und schliess¬
lich die Cloroformnarkose nöthig machte.
Schliesslich zeigt auch das Exanthem
atypische Formen. Statt der Roseola sah
Ewald einmal einen verbreiteten bläschen¬
förmigen pemphigusartigen Ausschlag,
in einem anderen Falle — was besonders
bemerkenswerth ist — einen Herpes
labialis, der am achten Krankheitstage
auftrat, ohne dass die Lungen in diesem
Falle betheiligt waren, in einem dritten
eine Pustelbildung an der Ulnarseite
beider Vorderarme.
Die Diagnose derartig atypischer Fälle,
in denen alle die bekannten klinischen
Zeichen versagen, kann auf die grössten
Schwierigkeiten stossen und in manchem
Falle während langer Zeit überhaupt nicht
sicher gestellt werden, auch durch die
neueren diagnostischen Hülfsmittel — Di-
azoreaction,Gruber-Widal’sche Reaction,
Typhusbacillennachweis — nicht, welche
ebenfalls, namentlich in der ersten Krank¬
heitswoche, oft im Stiche lassen.
Bezüglich der Behandlung schliesst
sich Ewald dem Ausspruch Curschmann’s
an: „dass für leichtere, mittelschwere und
36
Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
282
Die Therapie der Gegenwart 1903,
Juni
selbst manche schwere und complicirte
Fälle, namentlich bei früher gesunden Per¬
sonen, die diätetische Behandlung und im
übrigen sorgfältiges Ueberwachen jedes
sonstige Heilverfahren überflüssig machen.“
Auch in solchen Fällen giebt Ewald
Bäder „der Reinlichkeit und Erfrischung
wegen“. Im übrigen erkennt er die zu¬
nächst lauen, während des Bades abzu¬
kühlenden Vollbäder als das einfachste
und beste Verfahren der Antipyrese an.
Von eigentlichen Antipyreticis macht er
nur selten Gebrauch; Pyramidon und
Lactophenin haben sich ihm gelegentlich
gut bewährt, doch giebt er dem Chinin
(per os oder per rectum, nicht mehr wie
Vj— : 8 /4—1 g nach Bedarf 2—3 mal täglich)
den Vorzug, ohne indess seine regelmässige
Anwendung zu befürworten. — In der
Diät frage hält er an der schonenden Er¬
nährung durch flüssige, resp. breiige
Nahrungsmittel fest; die neuerdings wieder¬
holt empfohlene Darreichung einer „sub¬
stantielleren“ gemischten Kost hält er
für nicht unbedenklich, ganz abgesehen
davon, dass der Kranke sie meist garnicht
zu nehmen in der Lage ist. Er hat nur
zu oft gesehen, wie „verhältnissmässig
kleine Diätfehler ein Nachfieber oder
gar ein Recidiv veranlassen“, während er
„noch nie den Eindruck oder auch nur
die leiseste Spur eines Beweises dafür
gehabt hat, dass ein Typhuskranker bei
unserer jetzigen Ernährung deswegen
gestorben wäre, weil es seinem Organismus
an den nöthigen Calorien gefehlt hätte,
um den Kampf mit den Toxinen der
Krankheit durchzukämpfen!“
* *
*
Die obigen Anschauungen über die
Bäderbehandlung werden heute wohl all¬
gemein getheilt, doch haben sie für die
ärztliche Praxis nicht dieselbe Geltung wie
für die Klinik. In der Praxis ist das Be-
dürfniss nach einer medicamentösen Anti¬
pyrese trotz aller Erfolge und Vorzüge
der Badebehandlung unleugbar ein grosses.
Deshalb verdienen die Mittheilungen Be¬
achtung, die Prof. Valentini (Danzig)
„über die systematische antifebrile
Behandlung des Unterleibstyphus mit
Pyramidon 4 « macht. Valentinigab seinen
Kranken zweistündlich Tag und Nacht
hindurch regelmässige Pyramidongaben
(esslöffelweise, in wässriger Lösung) bei
den leichteren Fällen 0,2 g, bei den schwe¬
reren 0,3—0,4 g während des ganzen
Krankheitsverlaufes. Er sah niemals schäd¬
liche Wirkungen, trotzdem das Mittel ein¬
zelnen Kranken 4—5 Wochen lang fort¬
gesetzt 2stündlich gereicht wurde. Der
Effect war ein überaus eclatanter: Die
leichteren Fälle waren nach 24 Stunden
fieberfrei und blieben es dauernd; ihr Puls
fiel um 10—15 Schläge, ihr Sensorium war
so frei, dass sie sich selbst wuschen, ohne
Hilfe urinirten etc. Aehnlich „ideal und
zauberhaft“ war der Effect bei den mittel¬
schweren Fällen, trotzdem hier die Tem¬
peratur noch zwischen 37,5 und 38,5
schwankte und der Puls nicht immer bis
zur Norm herunterging; von einem Status
typhosus war aber auch in dieser Gruppe
von Fällen nach 48 stündigem Pyramidon-
gebrauch kaum mehr die Rede. Bei den
allerschwersten Fällen von Typhus waren
die Erfolge nicht immer so glatt, doch
glaubt sie V a 1 e n t i n i gegenüber der Schwere
der Erkrankung beinahe noch höher an¬
schlagen zu dürfen. Die Temperatur blieb
in diesen Fällen zwischen 38 und 39°, um
erst nach mehreren Tagen sich der Norm
zu nähern; der Puls wurde meist nicht er¬
heblich, aber doch etwas günstig beein¬
flusst; das Sensorium aber wurde auch
hier wunderbar verändert, daher die
Nahrungsaufnahme gebessert, die Pflege
erleichert. .
Valentini berichtet bisher über 19
Kranke, die er systematisch mit Pyramidon
behandelte. Von diesen zeigten 12 ein
ganz schweres Krankheitsbild, während 4
als schwerkrank und nur 3 als leicht be¬
zeichnet werden konnten. Es starben zwei
Kranke, einer an Pneumonie und Pyämie,
ein zweiter nach dreiwöchentlicher Er¬
krankung an Herzschwäche. [Das Pyramidon
hatte bei dem letzteren auf das Sensorium
eine gute Wirkung gehabt, die Temperatur
war bis auf kleine und kurzdauernde Fieber¬
steigerungen normal geworden, der Puls
aber war dauernd schlecht geblieben].
Auf Grund seiner Erfahrungen an diesen
19 Fällen hält Valentini das Pyramidon
nur für ein symptomatisches Mittel,
nicht für ein specifisches: die Krank¬
heit nimmt ungekürzt ihren Gang, verläuft
aber fieberlos und bei gutem Sensorium.
Danach stellt er folgende Regeln für die
Anwendung des Mittels auf:
Die Pyramidonbehandlung ist zu be¬
ginnen, sobald die Diagnose auf Unterleibs¬
typhus mit Sicherheit gestellt ist, also
frühestens nach 4—5 Tagen, meistens erst
am Ende der ersten Krankheitswoche.
(Ein früherer Beginn verwischt das Krank¬
heitsbild und erschwert die Diagnose
eventuell bis zur Unmöglichkeit.) Die Aus¬
wahl der richtigen Dosis erfordert eine
gewisse Uebung. „Die richtige Dosis ist
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903. 283
die, bei der der Kranke dauernd fieberfrei
ist. Bei Kindern genügen dazu 0,1—0,2 g
zweistündlich, bei Erwachsenen 0,3—0,4 g,
je nach der Schwere des Falles. Man gebe
anfangs dreiste Dosen, da auch ein starkes
Sinken derTemperatur (35°) keinen Schaden
bringt. Ist der Kranke einige Tage fieber¬
frei, so kann man die Dosis ermässigen.“
Schwierigkeit macht die Frage, wann das
Mittel ausgesetzt werden soll. Valentini
empfiehlt, es durchschnittlich 3—4 Wochen
zu geben; erst dann soll es probeweise
einige Male fortgelassen werden, wird aber,
sobald sich die erste oft unbedeutende
Fiebersteigerung zeigt, sofort wiedergege¬
ben, bis nach 3—4 Tagen der Versuch des
Aussetzens wiederholt wird. — Die diäte¬
tische und Allgemeinbehandlung werden in
der gewohnten Weise die ganze Zeit der
Krankheit und der Reconvalescenz hindurch
streng durchgeführt. Bäder (von 24° R. und
5 Minuten Dauer) giebt Valentini zweimal
wöchentlich.
Vor Valentini’s Publikation bereits
theilt Dr. Byk (Berlin) einen Fall mit, den
er mit häufigen Pyramidondosen behandelte
und der sehr günstig verlief. Auch er sah
nach den ersten Pyramidonpulvern einen
Temperaturabfall von 4° ohne Collaps-
erscheinungen (der Patient „machte den
Eindruck eines Reconvalescenten“) und er
betont, dass trotz des mehrwöchentlichen
Gebrauchs des Mittels niemals Intoxications-
oder unangenehme Nebenerscheinungen
sich bemerkbar machten. Der Verlauf
seines Falles weicht von den Beobachtungen
Valentini’s in mancher Hinsicht ab, es
wurde aber auch das Pyramidon nicht so
regelmässig gegeben, wie Valentini em¬
pfiehlt. Für die Nachprüfung, zu der diese
bemerkenswerthen Resultate fraglos auf¬
fordern, dürfte die systematische Behand¬
lung nach Valentini’s Methode zu em¬
pfehlen sein. F. Klemperer.
(Berl. klin. Woch. 1903, No. 4 u. 5, u. Deutsch.
Med. Woch. 1903, No. 16 u. 3.)
RubeSka (Prag) verglich die Mor¬
talität der Uterusraptureil während des
Geburtsaktes in den Statistiken von
Merz und Klien mit denselben auf seiner
Klinik und der Gebäranstalt in Prag und
fand dieselbe gegen jene merklich erhöht.
Als Ursache dieses Unterschiedes kann
jene bekannte Thatsache angesehen werden,
dass allgemein günstige Fälle mehr publi-
cirt werden, als tödtliche. Merz fand unter
230 Fällen 64,4°/ 0 Mortalität, Klien eine
Mortalität von 50% in 381 Fällen. Ver¬
fassers 315 Fälle dagegen weisen eine Mor-
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talität von 72% auf, also um 22% mehr
als Klien. Die Ursache des Todes war
in der grossen Mehrzahl der Fälle eine
puerperale Septikämie. In Betreff der
therapeutischen Maassnahmen empfiehlt
Verfasser folgendes Verhalten:
1. Ist der Kopf über oder in dem
Beckeneingange, soll derselbe perforirt und
mittelst Kranioclasts herausgeschafft werden.
2. Bei Querlagen und gut zugänglichem
Fusse, ist die Wendung und Extraction,
sonst die Embryotomie am Platze.
3. Tritt die ganze Frucht, oder der
grösste Theil in die Bauchhöhle heraus,
ist die Laparotomie durchzuführen und der
Gebärmutterriss so zu versorgen, wie später
gesagt werden wird.
4. Würde das Kind auf natürlichem
Wege geboren, soll der Riss gründlich
untersucht werden, besonders ob es sich
um einen completten oder incompletten
Riss handelt.
5. Im Falle eines incompletten Risses
und mässiger Blutung genügt es, die Wunde
zu drainiren und den Bauch zu comprimiren.
6. Ist die Blutung eine abundantere
und spielt sie sich besonders unter dem
Bauchfelle der Hüftengrube ab, so ist es
am Platze, einen langen Schnitt über dem
Poupartschen Bande zu machen, den
Gebärmutterriss blosszulegen, die blutenden
Gefässe zu unterbinden, eventuell den
Riss zusammenzunähen, die subperitoneale
Höhle zu reinigen und nach aussen hin zu
drainiren.
7. Im Falle completter Ruptur soll bei
glatten und nicht inficirten Rändern per
laparotomiam der Riss zusammengenäht
werden, sonst ist die totale Hysterektomie
durchzuführen. Ist ein subperitoneales
Haematoma vorhanden, ist dasselbe aus¬
zuleeren und entweder durch die Scheide,
oder durch Contraincision über dem Pou-
part’schen Bande zu drainiren.
8. ln der Privatpraxis ist die folgende
Einrichtung am Platze: Ist eine Operation
indicirt, so soll, wo möglich, auch auf der
Stelle operirt werden. Bei Blutungen
drücke man mit einer Hand den Tampon
auf die Ruptur, die andere von aussen auf
die antiflectirte Gebärmutter, so lange, bis
der Operateur sich einfindet.
Stock (Skalsko).
(Sbornik klinick^ Bd. IV, H. 3.)
Ueber Volksheilstätten für Nerven¬
kranke, ihre Nothwendigkeit, Einrichtung
und Ausführung hat sich Determann-
St. Blasien in einem bei J. F. Bergmann
soeben erschienenen Vortrag ausführ-
36*
Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
284
Juni
Die Therapie der
lieh geäussert. Es ist eine oft gehörte und
noch öfter niedergeschriebene Klage, dass
die Aerzte im öffentlichen Leben nicht die¬
jenige Stellung einnehmen, die ihnen kraft
ihrer Bildung und der Bedeutung ihres
Berufes zukommt; es hiesse oft Gesagtes
wiederholen, wenn wir sämmtliche Gründe
für die Ursachen dieser Klagen anführen
wollten; als ein Trost diene uns, dass auch
andere akademische Berufe gleiche Be¬
schwerden äussern. Eins der Mittel, die
angegeben wurden, diesen Beschwerden
abzuhelfen, besteht darin, dass wir in Frage
der Volkshygiene öfter und vor Allem
öffentlich unsere Stimme erheben und als
Lehrer der Menschheit auftreten. — In der
Frage der Schwindsuchtsbekämpfung ist
dies ja mit unleugbarem Erfolge geschehen;
eine zweite Gelegenheit, unsere verlorene
Stellung uns wieder zu erobern, wäre die
Wohnungsfrage; sie hängt ja, wie dies auch
Rob. Koch auf dem Tuberkulosecongress
in London betonte, aufs engste mit jener
zusammen; eine dritte volkswirthschaftlich
und hygienisch durchaus hervorragende
Gegenwart 1903.
Bedeutung nimmt der Kampf bezw. die
Prophylaxe der Nerven- und Geisteskrank¬
heiten ein.
Determann hat die Frage der Volks¬
heilstätten für Nervenkranke auf 45 Seiten
so trefflich behandelt, dass jede Kritik
schweigt; in jeder Zeile ruhige Ueberlegung,
illusionsfreie Darlegung der Umstände, kurz,
Rechnung mit gegebenen Faktoren! Ein
Nothstand herrscht, das ist keine Frage. —
Helfen wollen wir, das ist der Kern unseres
Berufs! Aus der Organisation der Lungen¬
heilstättenbewegung, die ja, wie jedem Ein¬
geweihten bekannt ist, eben durch die thäti-
gen und rastlosen Bemühungen Einzelner
das geworden ist, was sie mit allen ihren
Fehlern und Vorzügen ist — auch die
Ueberschätzung der Erfolge gehört dazu
wie die Schale zum Ei — wollen wir lernen;
neben dem Kampf für unsere eigensten
Standesinteressen dürfen wir auch nicht
die salus publica ausser Acht lassen. Wenn
es dann zur That kommt, so ist das
Determann’sche Buch unser „Rufer im
Streit“. B. Laquer (Wiesbaden).
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aus der chirurgisch - orthopädischen Klinik des Geheimraths Prof. Dr. Hoffa, Berlin.
Ueber ein neues, äusserlich verwendbares Salicylpräparat.
Von Dr. R. Pfeiffer, I
Vor Kurzem hat Zeigan 1 ) in einer Ar-
. beit: „Die Behandlung des Rheumatismus
durch äussere Anwendung von Salicyl-
präparaten“ über die Erfolge berichtet, die
er mit dem Salicylpräparat Rheumasan
erzielt hat. Dieses Medikament, eine über¬
fettete Salbenseife, die constant 10% freie
Salicylsäure enthält, hat nunmehr noch in¬
sofern eine Verbesserung erfahren, als es
mit Salicylsäure - Estern gesättigt wor¬
den ist, wodurch eine Erhöhung des Ge-
sammtsalicylgehaltes und vor allem die
Möglichkeit einer noch schnelleren und
intensiveren Resorption des Salicyls be¬
wirkt worden ist. Die günstigen Erfolge
einer äusseren Verwendung der Salicyl-
säure-Ester bei Gelenkrheumatismus waren
zwar längst bekannt, indessen fand diese
Therapie trotz guter Empfehlung in
Deutschland wenig Verbreitung, weil der
unangenehme und durchdringende Geruch
der Salicylsäure-Ester leicht Kopfschmerzen
hervorrief. Da dieser Uebelstand bei dem
neuen, Ester-Dermasan 2 ) genannten Prä-
*) Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 12.
2 ; Erhältlich in der Rheuraasanfabrik von Dr.
Reiss, Berlin N. 4, Invalidenstr. 101.
Digitized by Google
. Assistenten der Klinik.
parate in glücklicher Weise vermieden ist,
liess ich mich um so leichter dazu be¬
stimmen, eine Prüfung dieses neuen Heil¬
mittels vorzunehmen, als ich hoffte, seinen
Indicationskreis erweitern zu können. Mass¬
gebend für diesen letzteren Gedanken war
vor allem die längst erfolgte Feststellung
der schmerzlindernden Wirkung aller äusser¬
lich anwendbaren Salicylpräparate und
ferner die zwar wissenschaftlich wenig be¬
gründete, aber praktisch bedeutsame That-
sache, dass eine am erkrankten Körperteile
selbst vorgenommene Behandlung bei
Patienten, die an chronischen Krankheiten
leiden, wirkungsvoller zu sein pflegt. Nun
hat das Ester-Dermasan die Hoffnungen,
die ich in seine Verwendbarkeit setzte, in
der That erfüllt, wenn auch von vornherein
zuzugeben ist, dass seine Wirkung nach der
ganzen Art mancher Erkrankungen, bei
denen es Anwendung fand, eine rein sympto¬
matische bleiben musste.
Die Anwendung des Medicamentes
geschah in der Form, dass je nach der
Grösse der zu behandelnden Fläche 5—10 g
des Mittels 1 — 2 mal täglich leicht auf
die erkrankten Körpertheile aufgestrichen
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juni
285
I)ic Therapie der Gegenwart 1903.
wurden. Die betreffenden Partien wurden
dann mit unentfetteter Watte umhüllt. In
dieser Weise wurde das Ester-Dermasan
bei rheumatischen Erkrankungen, zu¬
nächst bei akutem Muskelrheumatis¬
mus angewendet, wobei unmittelbar nach
Applikation des Mittels eine wohlthätige
Wärmeempfindung der behandelten Partien
und ein Nachlass der Schmerzen zu beob¬
achten war. Derartige Fälle wurden ohne
innerliche Darreichung von Salicyl-
präparaten in kurzer Zeit vollständig ge¬
heilt. Akuter Gelenkrheumatismus
kam in der zur Verfügung stehenden Be¬
obachtungszeit nicht zur Behandlung; da¬
gegen wurden 3 Fälle von Arthritis
deformans des Hüft- resp. Kniegelenkes,
die mit starker Schmerzhaftigkeit der be¬
fallenen Gelenke einhergingen, mit gutem
Erfolge behandelt, sodass schon vor An¬
legung der entlastenden Schienenhülsen¬
apparate ein Nachlassen der Schmerz¬
empfindungen eintrat. Auch ein Fall von
hartnäckiger Ischias, der zu einer reflek¬
torischen Verkrümmung der Wirbelsäule
geführt hatte und ohne endgültigen Erfolg
mit fixierenden Gipskorsets und später mit
Massage behandelt worden war, konnte
durch Ester-Dermasan geheilt werden. Seine
schmerzlindernde Wirkung bewährte das
Mittel auch bei anderweitigen Erkran¬
kungen des Nervensystems. So trat
eine zeitweilige Besserung in zwei mit
Dermasaneinreibungen behandelten Fällen
von tabischen Schmerzen der Beine ein,
wenn auch naturgemäss hier ein Dauererfolg
nicht zu erzielen war. In einem ähnlich
hoffnungslosen Falle trat die gleiche Wir¬
kung ein. Es handelte sich dabei um einen
Patienten, der in Folge einer inoperablen
Hüftgelenksgeschwulst an starken, ziehen¬
den Schmerzen in dem Bein der befallenen
Seite litt. Dieses wohl durch Druck auf
Nerven hervorgerufene Symptom ver¬
schwand während der zweiwöchentlichen
Behandlungszeit vollständig; der Patient
wurde später in ein Siechenhaus aufge¬
nommen. Einen weiteren Erfolg hatte
Ester-Dermasan bei Gelenkschmerzen,
die durch akute Ergüsse hervorgerufen
waren. Solche Ergüsse treten häufig ein,
wenn ein sonst gesundes, aus irgend einem
Grunde längere Zeit fixirt gewesenes Ge¬
lenk seine ersten Bewegungen ausführt; sie
sind wegen der mit ihnen einhergehenden
Schmerzen und der dadurch bedingten
Funktionsstörung äusserst lästig. Diese
Fälle, die ja speciell in orthopädischen
Kliniken häufig zur Beobachtung kommen,
heilten bedeutend rascher aus, wenn die
i sonst geübte Compressionsmethode mit der
Dermasanbehandlung combinirt wurde. Er¬
wähnt seien hier noch einige erfolgreiche
Versuche die bei Spondylitis auftretenden,
längs den Rippen ausstrahlenden Schmerzen
t durch Dermasaneinreibungen zu ver¬
mindern.
Hier, wie in den meisten anderweitigen
| Fällen ist die gute Wirkung des Medica-
| mentes wohl in erster Reihe seiner haut-
; reizenden, ableitenden Eigenschaft
zuzuschreiben. Indessen ist die hervorge¬
rufene active Hyperämie kaum je so stark,
dass sie eine auffällige oder gar unange¬
nehme Hautröthung hervorbringt; gewöhn¬
lich ist ihr einziges Zeichen ein angenehmes
Wärmegefühl. Ein andrer therapeutischer
Faktor, die Massage, die von Zeigan bei
seinen Versuchen mit Rheumasan zuweilen
angewendet wurde, war bei den Versuchen
mit Ester-Dermasan von vornherein ausge¬
schaltet worden, da sich bei dem ersten
derartig behandelten Falle die Hautreizung
als doch zu stark herausstellte. Es bleibt
noch als dritter Heilfaktor die Salicyl-
wirkung, die bei Anwendung der Salicyl-
säure-Ester besonders rasch und intensiv
eintritt, was sich bei den mit dem neuen
Medicament behandelten Fällen jedesmal
nachweisen liess. Es genügten zur Schmerz¬
linderung bedeutend geringere Salicyldosen
als bei der vorher angewendeten inneren
Darreichung von Salicylnatron, was wohl
auch darauf zurückzuführen ist, dass die
resorbirten Salicyltheile direct in dieLymph-
bahnen der erkrankten Körpertheile über¬
gehen und damit sofort in unmittelbare
Berührung mit den dortigen Nerven¬
endigungen gelangen. Irgend welche un¬
angenehme Nebenwirkungen brachte
die resorbirte Salicylsäure nicht hervor;
der leichte Schweissausbruch, der gewöhn¬
lich etwa zwei Stunden nach Anwendung
des Ester-Dermasan eintrat, wurde durchaus
nicht störend empfunden. Nur in zwei
Fällen traten stärkere Hautreizungen
ein; in dem einen, der schon erwähnt wurde,
bildete sich nach intensiver Massage mit
Ester-Dermasan ein pustulöses Eczem, der
andere betraf einen schon stark proster-
nirten, an Spondylitis cervicalis leidenden
Patienten, der einen miliariaähnlichen Aus¬
schlag an den mit Ester-Dermasan behan¬
delten hinteren Partien des Halses bekam.
Beide Male Hessen sich diese Erscheinungen
durch Borvaseline innerhalb weniger Tage
beseitigen. Zur Vermeidung derartiger Zu¬
fälle dürfte es sich empfehlen, noch an¬
haftende Reste der Salbe vor einer erneuten
Applikation jedesmal sorgfältig zu entfernen.
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286
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juni
Leider war einerseits die mir zur Ver- j Anwendung des Ester-Dermasan möglichen
fügung stehende Beobachtungszeit ziemlich j Indicationen zu versuchen. Ich hoffe in¬
kurz, andererseits war das Krankenmaterial, I dessen, dass diese kurze Notiz manchen
wie es eine orthopädische Klinik bietet, | Collegen dazu bewegen wird, weitere Ver-
naturgemäss zu einseitig, um alle für die j suche anzustellen.
Zur Kenntniss der Verwendung des Scopolamin bei Magenleiden.
Von Dr. Max Plckardt-Berlin.
Die im Maiheft der „Therapie der Gegen¬
wart“ enthaltenen Mittheilungen von Koch-
mann (Pharmakolog. Institut-Jena) über die
pharmakodynamischen Eigenschaften des
Scopolamin und die sich hieraus ergeben¬
den Indicationen für die klinische Verwen¬
dung desselben veranlassen mich, kurz über
Erfahrungen zu berichten, welche ich mit
diesem Präparat in einer Richtung gemacht
habe, die von K. nicht in das specielle Be¬
reich seiner Betrachtungen gezogen wurde.
Es handelt sich um das Resultat von
Versuchen, das Scopolamin heranzuziehen
zur arzneilichen Behandlung der mit Hyper-
secretion verbundenen Erkrankungen des
Magens. Die Veranlassung dazu gaben
die Berichte von Riegel über die Wirkung
von Medicamenten bei Thieren mit Paw-
loffscher Fistel, denen zufolge das Morphin
bei jeder Anwendungsweise nach anfäng¬
licher Verminderung der Saftsecretion des
Magens diese später erhöht. Riegel hat
selbst den Thierversuch auf den Menschen
übertragen und ist (Therapie der Gegenwart
1900, No. 8 und Zeitschrift für praktische
Aerzte 1900, No. 17) auch hier zu dem
Schluss gekommen, dass dem Morphium eine
secretionserregende Eigenschaft zukomme,
seinem Antidot Atropin eine hemmende.
Bei einer Nachprüfung dieser Ergebnisse
im Jahre 1902 erhielt ich jedoch für Morphin
— wie übrigens auch einige andere Opium¬
alkaloide : Narcein,Narcotin, Codein — nichts
weniger als eindeutige Resultate, indem
sowohl beim nüchternen Magen wie auch
nach Probemahlzeiten in einer grossen Ver¬
suchsreihe — ähnlich auch Holsti, Zeit¬
schrift f. klin. Medicin, Bd. 49 — ein so
wechselndes Verhalten in Bezug auf Quan¬
tität und Qualität des Magensaftes sich
manifestirte, dass bindende Schlüsse im
Sinne Riegel’s zu ziehen mir nicht erlaubt
schien. Wohl dagegen erwies sich Atropin,
in den üblichenDosenvon3—5Decimilligrm.,
ohne Ausnahme als hemmend in Bezug auf
die Menge des ergossenen Secrets.
Bei einem mehrere Wochen hindurch
fortgesetzten Versuch, diese Eigenschaft an
einem Fall von chronischem Magensaftfluss,
den ich damals gerade in Behandlung hatte,
zu erproben, konnte ich sie zwar durch
prompten Erfolg bestätigen, musste aber
bald von der Fortsetzung Abstand nehmen,
da sich sehr bald bei diesen Dosen — und
bei Wiederaufnahme der Versuche immer
wieder erneut —, wie auch bei den ent¬
sprechenden Dosen von Tct. und Extract
Belladonnae, die üblichen Idiosynkrasien
einstellten, geringere Mengen aber nicht
wirkten. Da griff ich, von der Erwägung
ausgehend, dass Belladonna- und Hyoscy-
amuspräparate in vielen Beziehungen phar¬
makologisch sich ähnlich verhalten, zum
Scopolamin und hatte, was ich brauchte:
sichere Hemmung der Saftsecretion ohne
Nebenwirkung. Ich gab dasMittel alsBromid
zu zweimal je 0,3 Milligrm. in Lösung zwei¬
mal täglich je 4 Wochen mit dem Effect,
dass in dieser Zeit die Secretion, die sub-
jectiven Beschwerden bis jetzt dauernd ge¬
ringer wurden.
In zwei weiteren Fällen von Gastrosuc-
corrhoe — beide idiopathische, ohne vor¬
ausgegangenes Ulcus, ohne Atonie — habe
ich seitdem den gleichen Erfolg gehabt,
den besten subjectiven bei einer Dame mit
M. Basedowii; letzteres vielleicht desshalb,
weil hier das Scopolamin auch als Sedativum
in Action trat, als welches es von Psychiatern
und Neurologen reichlich herangezogen
wird, seitdem es gelungen ist, ein chemisch
reines Präparat von constantem Schmelz¬
punkt herzustellen.
Angesichts der sonstigen Unzulänglich¬
keit der therapeutischen Massnahmen bei
der Gastrosuccorrhoe möchte ich jedenfalls
empfehlen, Versuche in gleicher Richtung
zu machen und über diese mitzutheilen.
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Juni
287
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Kussmauls Methode
zur Stillung übergrosser menstrueller Blutungen.
Von G. Klemperer.
Anämie und reizbare Schwäche des
gesammten Nervensystems erwächst bei
Frauen nicht selten aus übergrossen und
langdauernden menstruellen Blutverlusten,
die sie in kurzen Zwischenräumen erdulden.
Sofern diese profusen Hämorrhagien durch
pathologische Processe hervorgerufen sind,
können sie durch geeignete Eingriffe be¬
seitigt werden; so viel ich beurtheilen kann,
haben sich neuerdings neben der Aus¬
kratzung die Vaporisation und ganz be¬
sonders Menges Formalinmethode bei der
Behandlung der Endometritis sehr bewährt.
Es ist aber zweifellos, dass profuse
Menstruationen auch bei anatomisch intacter
Uterusschleimhaut häufig genugvorkommen.
Ursächlich wirksam ist hier vielfach Ver¬
schlechterung der Blutmischung, welche
namentlich durch Blutverluste bei Ent¬
bindungen entstanden ist; aber auch alle
hygienischen Missstände, die zu Anämie
führen, kommen ätiologisch in Betracht.
Jeder Anämische bekommt schlecht ge¬
nährte durchlässige Gefässwände und also
eine Neigung zu Blutungen. Frauen ge-
rathen dadurch in einen verhängnisvollen
Circulus vitiosus, indem die Anämie zu
profusen Menses führt, die ihrerseits wieder
die Anämie verstärken. Besonders hervor¬
zuheben ist der Einfluss des Nervensystems
auf die menstruellen Blutungen; ich habe
eine Reihe frappanter Beobachtungen ge¬
sammelt, die die Abhängigkeit der Stärke
und der Dauer menstrueller Blutungen von
dem jeweiligen Kraftzustand des Nerven¬
systems, ja von dem psychischen Verhalten
beweisen. Auch hier besteht die unglück¬
selige Wechselbeziehung, dass die Blut¬
verluste die armen Frauen immer nervöser
machen und dass die wachsende Nerven¬
schwäche die Neigung zu profusen Blutungen
steigert. Die Verhinderung zu starker
Hämorragien ist deshalb eins der dringend¬
sten Desiderien in der ärztlichen Thätig-
keit. Mir selbst ist diese Pflicht oft nahe
getreten, da ich nervöse und blutarme
Damen häufig zu berathen habe, die auch
ein grosses Contingent zu den Insassen
meiner Privatklinik stellen. Früher habe
ich in gewohnter Weise neben Bettruhe und
Eisblase eine Reihe von Medicamenten an¬
gewandt, unter denen namentlich Stypticin
sich oft bewährt hat. Aber jede der
hier in Betracht kommenden Arzneien hat
ihre Schattenseiten und meist tritt durch
Gewöhnung Unwirksamkeit ein. Gradezu
glänzende Erfolge habe ich aber erzielt,
j seit ich eine Methode anwende, die von
i dem grossen Kliniker Kussmaul ersonnen
s und von seinem langjährigen Mitarbeiter
Flein er bekannt gemacht worden ist.
Vielen Collegen, denen ich gelegentlich bei
Consultationen davon sprach, war die
Methode unbekannt; das liegt wohl daran,
dass sie meines Wissens nur an einer
Stelle beschrieben ist, von der aus sie
1 nicht so leicht zur allgemeinen Kenntniss
kommen konnte. Es ist deshalb vielleicht
meinen Lesern erwünscht, wenn ich die
Beschreibung der Methode hier wörtlich
wiedergebe. Sie steht in dem sehr empfeh-
lenswerthen und an praktischen Fingerzeigen
reichen „Lehrbuch der Magenkrankheiten“
von W. F1 e i n e r (Stuttgart, Enke 1897) S. 160.
„Zur Beseitigung übergross er,men-
strueller Blutverluste bei Frauen hat
sich ein von Kussmaul ersonnenes und
von ihm, von Czerny und auch von mir
häufig geübtes Verfahren als absolut sicher
blutstillend wirkend stets bewährt: ich
meine die Compressionstamponade des
Uterus.“
„Wie man eine Blutung an irgend einer
zugänglichen Körperstelle, sagen wir am
Arme, stillt, indem man kunstgerecht die
zuführenden Gefässe comprimirt oder wenn
dies nicht angeht, auf die blutende Wunde
selbst einen Druck ausübt oder einen Druck¬
verband anlegt, so kann das auch bei
stärkeren Blutungen aus dem Uterus ge¬
schehen, indem man durch kleine Tam¬
pons, welche man hoch hinauf in das
Scheidengewölbe einführt, den Uterus,
wenigstens den unteren Abschnitt desselben
und den Cervix von allen Seiten so zu¬
sammendrückt, dass jede übermässige Blut¬
zufuhr aufhört und die Menstrualblutung
nach Belieben eingeschränkt oder ganz
unterdrückt wird.“
„Man beginnt dieTamponade, „die Blut¬
stopfung“, bei Frauen, welche erfahrungs-
gemäss bei jeder Periode zu stark und zu
lange bluten, in der Regel etwa 12—24
Stunden nach dem Eintritt der Periode,
; unter Umständen auch gleich im Beginne
i derselben. Zuvor wird der Darm (durch
j ein Klystier) entleert und die Scheide
i durch eine Ausspülung mit lauwarmem
1 (24—26o) Borwasser gereinigt. Die Tam-
| pons hat sich der Arzt unterdessen, etwa
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288
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1903.
3—4 an der Zahl, vielleicht auch noch
mehr, hergestellt durch festes Aufrollen
schmaler, in lauwarmes Borwasser gelegter
Wattestreifen. Während des Rollens wird
die Watte so geknetet, dass der fertige
Tampon die Form einer Spindel hat und
so dick, aber nicht ganz so lang wie ein
mittelgrosser Daumen ist. Damit die
Patientin sich selbst die Tampons später
wegnehmen kann, ist es zweckmässig,
letztere gleich an einem Baumwollfaden
zu befestigen. Nachdem schliesslich die
Tampons mit Borvaseline gut eingefettet
sind, führt man in der Rückenlage der
Frau, mit hochgezogenen Knieen, während
2 Finger der linken Hand die Labien
etwas auseinanderhalten, mit der rechten
Hand den grössten Tampon zuerst in die
Scheide, natürlich der Längsachse des
Tampons entsprechend, und wenn er da
schon ziemlich hoch liegt, geht man mit
dem rechten Zeigefinger ebenfalls in die
Scheide, dreht den Tampon so, dass er
quer zu stehen kommt und schiebt ihn
nun im hinteren Scheidengewölbe so weit
hinauf, als es ohne Schmerzen möglich ist.
In ähnlicher Weise wird der zweite, etwas
kleinere Tampon in das vordere Scheiden¬
gewölbe geschoben und wenn nöthig, noch
ein dritter oder vierter kleiner Tampon
rechts oder links hin, da wo noch eine
Lücke ist. Bei einiger Geschicklichkeit
kommt man mit 3 Tampons aus, mit einem
grösseren hinteren, einem kleineren vor¬
deren und wieder einem grösseren, den
man zur Stütze der beiden anderen auch
noch einschiebt und querstellt. Macht man
die Tampons sehr klein, so braucht man
natürlich mehr, auch muss dann zum Schluss
noch ein grösserer Tampon quer in die
Vagina gelegt werden.“
„Mit Ausnahme eines Druckgefühles im
Becken haben die Patientinnen keine Be¬
schwerden; nur müssen sie liegen bleiben,
damit die Tampons sich nicht verschieben.
Nach 24 Stunden entfernt man die Tam¬
pons — und ist dabei oft erstaunt, zu
finden, dass kaum einer von ihnen blutig
imprägnirt ist, wenn die Stopfung gut ge¬
macht worden ist — lässt den Darm ent¬
leeren und die Scheide spülen, um die
Manipulationen von Neuem zu beginnen.
Oft genügt für eine Periode ein 2maliges,
meistens ein 3maliges Tamponiren, hin
und wieder kann das Stopfen auch 4mal,
seltener gar 5mal erforderlich sein.“
„Allerdings muss dieselbe Procedur bei
den nächsten Perioden wiederholt werden.
I
Es ist jedoch nicht nothwendig, dass dies
immer durch die Hände des Arztes ge¬
schieht — wiewohl ich dies für das Sicherste
halte — den jede einigermassen anstellige
Hebamme oder Wärterin kann die be¬
schriebene Methode lernen und ohne
Schaden für die Frau ausführen, wenn sie
sorgfältig und reinlich verfährt. Mit der
Zunahme der Kräftigung der Kranken lässt
übrigens die Neigung zu den Blutungen
nach, hört wohl auch ganz auf, so dass
feinfühlige Patientinnen nicht zu befürchten
brauchen, bis zum Climacterium allmonatlich
gestopft werden zu müssen.“
„In Betreff der Leistungsfähigkeit der
Methode will ich schliesslich nur noch an¬
fügen, dass sie in keinem Falle, wo die
Tamponade ausführbar war — manche Ent¬
zündungen und schmerzhafte, abnorme
Fixationen des Uterus können sie hindern
und unmöglich machen — ihren Dienst
versagt hat; freilich braucht ein Jeder, der
die Stopfmethode ausführen will, einige
Uebung bis er seiner Sache ganz sicher
ist. Wiederholt habe ich schwere Blutungen
durch Tamponade gestillt in Fällen, bei
welchen gegen dasselbe Uebel wiederholt
operativ vorgegangen werden war. In
vielen Fällen wird jedenfalls das so häufig
geübte Auskratzen des Uterus durch die
unblutige Tamponade ersetzt werden
können.“
Ich möchte dieser ausgezeichneten Dar¬
stellung nur hinzufügen, dass ich selbst
7 Mal Gelegenheit gehabt habe, die Kuss-
maul’sche Tamponade anzuwenden. In
jedem Fall mit vorzüglichem Erfolg. Unter
der Tamponade verlief die Blutung weitaus
massiger als vorher; nach der dritten oder
vierten Anwendung war die Menstruation
an sich schwächer geworden und erforderte
nur noch kürzere Dauer der Stopfung;
schliesslich konnte man sie ganz weglassen.
In den Zwischenzeiten gelang es durch
diätetische und hygienische Behelfe Er¬
nährungszustand und Nervenkraft der
Patientinnen zu heben und ihnen die lang
vermisste Lebensfrische und Freudigkeit
wiederzugeben.
Die Methode ist so wohl erdacht und
so zweckmässig, so absolut unschädlich und
von so ausserordentlichem Nutzen, dass
sie allgemeine Anwendung zur Bekämpfung
profuser Metrorrhagien verdient. Möchten
ihre Erfolge auch dazu beitragen, das An¬
denken des unvergesslichen Meisters wach
zu halten, über dessen Grab nun das erste
Jahr hinweggerauscht ist.
Für die Redaktion verantwortlich: Piof. G. Klempercr in Berlin. — 'Verantwortlicher Kedacteur für Oestrrreich-Ungarn:
Eugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban &Schwarzenberg
in Wien und Berlin.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1903 herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Juli
Nachdruck verboten.
Lieber die diätetische Beeinflussung des Wasserhaushaltes
bei der Behandlung Herzkranker.
Von F. Kraus -Berlin.
Bei der Aufstellung allgemeiner Grund¬
sätze für die Therapie der Herzkrankheiten
ist, besonders auf die Anregungen Kör¬
ner’s und Oertel’s hin, grosses Gewicht
gelegt worden auf die Regelung des
Wasserhaushaltes. Eine Ueberlegung der
theoretischen Grundlagen und die vor¬
liegenden praktischen Erfahrungen setzen
uns wohl gegenwärtig bereits in den Stand,
den Nutzen der vielfach zu stark gerühm¬
ten und ebenso zu stark verketzerten
Flüssigkeitsbeschränkung bei der Behand¬
lung Herzkranker richtig einzuschätzen.
Wenn auch jetzt noch unsere ein¬
schlägigen Kenntnisse lückenhafte sind,
kann man doch sicher behaupten, dass
Oertel in theoretischer Beziehung von
einer unbewiesenen Voraussetzung aus¬
gegangen ist: er nahm eine Verdünnung
des Blutes neben gleichzeitiger Ver¬
mehrung seiner Menge bei den Herz¬
kranken an. Seine Gegner haben es sich
aber bisweilen auch zu leicht gemacht:
weil die Theorie schwach gestützt war,
wurde das ganze praktische Verfahren, bei
welchem die Regelung der Flüssigkeits¬
zufuhr nur einen Theil darstellt, grund¬
sätzlich verworfen, und dies ist entschie¬
den zu weit gegangen.
Die Bezeichnung Hydrämie ist nicht
immer in gleichem Sinne gebraucht worden.
Zunächst hat man jede Zunahme des
Wassergehaltes des Gesammtblutes so
genannt. Ein erhöhter Wassergehalt des
ganzen Blutes kann hervorgerufen sein
durch eine wirkliche Zunahme des Wasser¬
gehaltes des Plasmas und der Blutkörper¬
chen. Aber auch die blosse Abnahme des
Gesammtvolums der Blutkörperchen im
Blute muss, wegen des starken Ueber-
wiegens des Wassergehaltes des Serums
über denjenigen der Blutzellen, durch ge¬
steigerten Wassergehalt des Gesammt¬
blutes sich kundgeben. Die Anwendung
des Begriffes Hydrämie auf den Fall der
Verminderung des Blutkörperchenvolums
bei sonst normaler Beschaffenheit der
Erythrocyten und des Serums in Bezug auf
deren Gehalt an festen Stoffen ist aber
doch offenbar ganz unpassend. Der Aus-
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druck Hydrämie ist vielmehr bloss für
jenen Zustand vorzubehalten, in welchem
der Wassergehalt eines der zwei Blut-
bestandtheile, des Plasmas und der Kör¬
perchen, oder beider als gesteigert sich
herausstellt. Aus diesen Andeutungen geht
schon hervor, welche Methode der Blut¬
analyse zu befolgen ist, wenn ein wirk¬
licher Einblick in die Zusammensetzung
des Blutes unter solchen pathologischen
Bedingungen gewonnen werden soll. Alle
bloss am Gesammtblut angestellten Unter¬
suchungen können schon aus dem Grunde
keine hinreichend untereinander vergleich¬
baren Ergebnisse liefern, weil das quanti¬
tative Verhältniss zwischen den frischen
Blutkörperchen und dem Serum unbekannt
geblieben ist und doch nicht etwa (bei den
verschiedenen Graden der Anämie vieler
Herzkranker) als constant vorausgesetzt
und weil die Zusammensetzung der Blut¬
zellen und des Plasmas für sich ebenfalls
nicht unter allen Verhältnissen als gleich¬
bleibend angenommen werden darf. Ery-
throcytenzählungen ersetzen erfahrungs-
gemäss den ersterwähnten analytischen
Mangel nicht. Schon geringfügige Ver¬
schiebungen des Verhältnisses zwischen
Erythrocyten- und Serumvolum müssen
wegen der völlig differenten quantitativen
Zusammensetzung der Blutkörperchen¬
substanz und der Plasmaflüssigkeit zu
ganz bedeutenden Aenderungen der Zu¬
sammensetzung des Gesammtblutes Ver¬
anlassung geben. Es sind also beide Be¬
standteile des Blutes, Körperchen und
Flüssigkeit, einer getrennten genauen quan¬
titativen Analyse zu unterwerfen. Bei
der Untersuchung des Plasmas ist dies
leicht zu erreichen. Von den Methoden,
mittels derer man die quantitative Zu¬
sammensetzung der Erythrocyten festzu¬
stellen sucht, sind leider sowohl die
direkten, als die indirekten nicht absolut
verlässlich. Die Lösung dieses Problems
mittels einer irgendwie angestrebten Be¬
stimmung des Sedimentvolums scheint mir
ein Rückschritt zu sein für die klinische
Untersuchung. Jeder anderen bisher vor¬
geschlagenen Verfahrungsweise gegenüber
37
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
290
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
besitzt die von M. und L Bleibtreu an¬
gegebene (bei Auswahl der dem Serum
isosmotischen Salzlösung auf Grund der
Bestimmung des Gefrierpunktes des Serums
mit dem Beckmann*sehen Apparat und
mit N-Bestimmung in der Ausführung)
immer noch wesentliche Vorzüge, welche
in dem zu Grunde liegenden exacten Princip
und der verhältnissmässig einfachen und
sicheren Technik gelegen sind. Wenn
auch nicht auf einmal alles Wissenswerthe
in den Bereich einschlägiger Untersuchung
gezogen werden kann, müssen sich solche
Analysen, welche uns über die Auftheilung
der festen Stoffe auf Plasma und Körper¬
chen belehren sollen, doch wenigstens auf
die Bestimmung des Wassergehalts, des
Gehalts an N-haltigen Substanzen über¬
haupt und des Haemoglobingehaltes im
Speciellen erstrecken. Für die Bestimmung
des Trockenrückstandes empfiehlt sich die
Wägung sowohl des Blutes als des Serums.
Die Menge des Ausgangsmateriales darf hier
nicht zu klein gewählt werden. (Stintzing
und Gumprecht haben wohl zu wenig
genommen.) Wegen der Hygroscopicität
des Trockenrückstandes zu niedrige Tem¬
peraturen beim Trocknen anzuwenden, be¬
dingt gleichfalls Fehler, weil man so nicht
den wirklichen Wassergehalt bestimmt,
auch wohl kaum, wie Stintzing und
Gumprecht angenommen haben, einen
constanten aliquoten. Die Bestimmung des
specifischen Gewichtes, welche zu den
nöthigen Umrechnungen von Volum- auf
Gewichtsprocente erforderlich ist, kann nur
mit Hilfe der pyknometrischen Methode aus¬
reichend genau vorgenommen worden.
Wird schon auf die wünschenswerthe
Untersuchung der speciellen Vertheilung
der einzelnen Mineralstoffe verzichtet, muss
doch wenigstens die Molecularconcentration
berücksichtigt werden. In dieser Weise
ist bei Blutanalysen zuerst Kossler vor¬
gegangen, dessen Ergebnisse man deshalb
wohl auch am ehesten einschlägigen theore¬
tischen Ueberlegungen zu Grunde legen darf.
Der Trockenrückstand des Blutes ist
auch bei normalen Menschen kein völlig
constantei, er schwankt nach den in meinem
(Grazer) Laboratorium vorgenommenen Be¬
stimmungen zwischen 19,84 und 21,64%,
im Mittel beträgt er 20,7 %. Die feuchte
Körperchensubstanz bewegt sich zwischen
38,5—47,0 Gewichtsprocent des Gesammt-
blutes, im Mittel macht sie 42,79 % aus. Bei
der beschränkten Zahl der gemachten Ver¬
suche (7) ist allerdings kaum anzunehmen,
dass wirklich die bei normalen Menschen
möglichen Grenzwerthe durch diese Zahlen
vollständig erschöpfend festgestellt wären.
Ein anderer meiner Mitarbeiter, Pfeiffer,
fand bei 6 Männern das Körperchenvolum
zwischen 37,6 und 55,8 (Mittel: 46,1), bei
7 Weibern zwischen 43,5 und 48,4 (Mittel:
41,4); das Mittel sämmtlicher Werthe be¬
trug 43,6. Eine Verminderung der Ge-
sammtblutmenge (Olygaemia vera) als
länger dauernden pathologischen Zustand
kennen wir bei Menschen überhaupt nicht.
Falls er existirte, entzieht er sich der
genaueren Messung. Nach Massgabe aller
einschlägigen Untersuchungen findet hier¬
gegen jede klinisch beobachtete anä¬
mische Beschaffenheit des Blutes ihren
Ausdruck in einer Verschiebung des rela¬
tiven Verhältnisses zwischen Körperchen¬
substanz und Plasmaflüssigkeit. Es wurde
schon darauf hingewiesen, dass die Ab¬
nahme der ersteren auf Kosten der letz¬
teren nicht als Hydrämie bezeichnet wer¬
den sollte; nicht viel zutreffender ist der
Ausdruck: seröse Plethora. Bei Plethora
denkt man doch immer an Vermehrung des
Gesammtinhaltes der Blutgefässe. Eine Ver¬
mehrung der Gesammtblutmenge ist nicht
sicher erwiesen, bei verschiedenen Zustän¬
den des Menschen spricht allerdings die
Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein
einer Plethora vera. Zu einer Bestimmung
derselben am (lebenden) Menschen fehlt je¬
doch eine allgemein verwendbare Methode.
Hier interessirt uns aber vorwiegend bloss die
Frage, ob bei Herzkranken durch Vermeh¬
rung des Serums, bezw. durch Verwässe¬
rung des Plasmas (eventuell durch einOedem
der Blutzellen) bei Herzkranken die Blut¬
menge vermehrt wird. Die quantitative Zu¬
sammensetzung der Erythrocytensubstanz
ist unter normalen Verhältnissen eine ziem¬
lich constante, insbesondere gleichbleibend
erweist sich der Trockenrückstand und
der N-Gehalt. Eine Differenz bei Män¬
nern und Weibern ist nicht ersichtlich. Im
Allgemeinen bewegt sich der Gehalt an
festen Stoffen von 33,6 bis 36,4%, der
N-Gehalt von 5,3420 bis 5,9278 g in 100 Kör¬
perchensubstanz. Im Mittel beträgt der
Trockenrückstand 35,1 %, der N-Gehalt
5,74%. Natürlich ist auch die Relation
zwischen Trockenrückstand und N (der
N-Gehalt der trockenen Zellensubstanz)
nur sehr geringen Schwankungen unter¬
worfen; die Grenzwerthe liegen bei 15,9
und 16,7 o/ 0 , das Mittel beträgt 16,2%. Als
Mittelwerth des Haemoglobingehaltes der
feuchten Körperchensubstanz hat sich 29,8%
ergeben; für die trockene Erythrocyten¬
substanz liegt der Mittelwerth bei 84,2%
Die Schwankungen des Wassergehaltes
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
291
Die Therapie der Gegenwart 1903.
der rothen Blutkörperchen sind nun nach
den vorliegenden Erfahrungen unter patho¬
logischen Verhältnissen relativ gering zu
veranschlagen gegenüber den Schwankun¬
gen des Wassergehaltes des Plasmas. Es
empfiehlt sich deshalb doch wohl» den
Begriff der Hydrämie ganz eng zu fassen
und als solchen ausschliesslich den er¬
höhten Wassergehalt des Plasmas zu
bezeichnen. In diesem Sinne ist übrigens
die Hydrämie schon öfter von älteren
Autoren (Andral und Gavarret, C.
Schmidt) aufgefasst worden. Eine Quel¬
lung der rothen Blutkörperchen (Hydro- !
cythämie) besteht thatsächlich, z. B. bei \
Chlorose, wo der Wassergehalt der Ery- i
throcytensubstanz bis gegen 20% der Norm
zunehmen kann. Bei anderen Anämien
finden sich gewöhnlich normal wasser¬
haltige rothe Blutkörperchen, dies gilt auch
für viele Fälle von Secundäranämie bei
M. Brightii. Die Werthe für den Gehalt
des Serums an festen Stoffen liegen nach
Kossler bei Gesunden zwischen 8,85 und
9,23 %, als Mittel ergibt sich 8,99 %. Hohe
Grade erreicht die Hydrämie in oben
definirtem Sinne besonders in Fällen von
chronischer Nephritis: da finden sich
Werthe von 7,55, 6,41, 5,64% Trocken¬
substanz des Serums, also Verarmung an
festen Stoffen um 37 % des Normalwerthes!
Nächst anzureihen käme die Hydrämie in
Fällen vorgeschrittener Lungentuberkulose
und bei Krebskranken. Eine regulirende
Thätigkeit eines der beiden Blutbestand-
theile auf den Wassergehalt des andern
unter pathologischen Bedingungen kommt,
entgegen den Vermuthungen von A.
Schmidt, nach den in meinem Laboratorium
gemachten Untersuchungen durchaus nicht
zum Ausdruck. Die osmotische Spannung
des Blutserums beim Menschen entspricht
im Mittel einer 0,92 % Chlornatriumlösung.
Eine Verringerung der Molecularconcen-
tration in einem pathologischen Falle
spräche am ehesten für Verdünnung, eine
Zunahme jedoch nicht mit derselben Wahr¬
scheinlichkeit für Bluteindickung; letztere
kann vielmehr verschiedene Ursachen be¬
sitzen.
Ich setze nun zum genaueren Vergleich
mit dem Gesunden drei Versuchsproto-
colle Kossler’s hierher:
1. Johanna K., 51 Jahre alt. Insufficientia
valvulae mitralis. (Section.) Schwere Com-
pensationsstörung. Cyanose, starker Hydrops,
Orthopnoö. Stauungsalbuminurie. Aderlass am
8. August 1896, 11 Uhr Vormittags.
Bestimmungswerthe: 5330 000 rothe
Blutkörperchen im Kubikmillimeter. Spec.
Gewicht des Blutes: 1055,7; spec. Gewicht des
Serums: 1027,3.
Trockenrückstand des Blutes (Mittel zweier
Proben) 19,78%; Trockenrückstand des Serums
(Mittel zweier Proben) 8,646%,
lOOccm Blut enthalten (Mittel dreier Proben):
3.2417 g N: lOOccm Serum enthalten (Mittel
zweier Proben): 1,1851 g N
Gefrierpunktserniedrigung des Serums:
— 0,58° C. Aequimolekulare Salzlösung:
0,95° oige NaCl-Lösung. Verdünnung zur
Serumvolumbestimmung: 25 ccm Blut 15 ccm
NaCl-Lösung. lOOccm Serum-Kochsalzmischung
enthalten (Mittel zweier Proben) 0.5940 g N.
Extinktionskoefficient (G1 a n ’s Spectrophoto-
meter) bei 150facher Verdünnung: * = 0,7990306.
Berechnete Werthe: 100 ccm Blut ent¬
halten 60,3 ccm Serum; 100 g Blut enthalten
58.7 g Serum und 41,3 g Körperchen.
100 g Blut enthalten 19,776 g feste Stoffe,
davon 5,073 g im Serum und 14,703 g in den
Körperchen, somit enthalten 100 g feuchte Kör¬
perchen 35,57 g feste Stoffe.
100 g Blut enthalten 3.0705 g N, davon
0,6768 g im Serum und 2,3937 g in den Kör¬
perchen, also enthalten 100 g Serum: 1,1536 g N,
100 g feuchte Körperchen 5,8050 g N, 100 g
trockene Körperchen 16.3 g N.
Hämoglobingehalt des Blutes 13,85%, der
feuchten Körperchen 33,5%, der trockenen
Körperchen 94%.
2. Caroline B„ 53 Jahre alt. Stenosis ostii
venosi sin. (Section). Schwere Compensations-
störung. Cyanose, starker Hydrops, Orthopnoö.
Aderlass am 26. October 1896, 5 Uhr Nach¬
mittags.
Bestimmungswerthe: 6256 000 rothe
Blutkörperchen im Kubikmillimeter. Spec.
Gewicht des Blutes: 1058,3; spec. Gewicht
des Serums: 1028,3. 75% Hämoglobin nach
v. Fleischl.
Trockenrückstand des Blutes (Mittel zweier
Proben) 20,65%; Trockenrückstand des Serums
(Mittel zweier Proben): 8,82%.
lOOccm Blut enthalten (Mittel dreier Proben):
3,5371 g N; 100 ccm Serum enthalten (Mittel
zweier Proben): 1,2987 g N.
(Isotonie der rothen Blutkörperchen nach
v. Li mb eck = 0,525 %ige NaCl-Lösung.) Ver¬
dünnung zur Serumvolumbestimmung: 40 ccm
Blut -f 20 ccm NaCl-Lösung). 100 ccm Serum-
Kochsalzmischung enthalten (Mittel zweier
Proben) 0,72863 g N.
Berechnete Werthe: 100 ccm Blut ent¬
halten 64,1 ccm Serum; 100 g Blut enthalten
62,3 g Serum und 37,7 g Körperchen.
100 g Blut enthalten 20,65 g feste Stoffe,
davon 5,498 g im Serum und 15,152 g in den
Körperchen, somit enthalten 100 g feuchte
Körperchen 40,2 g feste Stoffe.
100 g Blut enthalten 3,2929 g N, davon
0,7856 g im Serum und 2,5073 g in den Kör¬
perchen, also enthalten 100 g Serum: 1,2611 g N,
100 g feuchte Körperchen: 6,6507 g N, 100 g
trockene Körperchen: 16,5 g N.
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Gck igle
31 *
Drigii M fron
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
292
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
3. Josefa G., 45 Jahre alt. Stenosis ostii
venosi sin. (Section.) Schwere Compensations-
störung. Cyanose, Hydrops. Orthopnoe. Stau¬
ungstumoren der Leber. Milz, Stauungsalbumin¬
urie. Aderlass am 25. Juli 1895, 9 Uhr Vor¬
mittags.
Bestimmungs werthe 6100000 Blut¬
körperchen im Cubikmillimeter; 65% Hämo¬
globin nach v. Fleischl. Spec. Gewicht des
Blutes: 1050,8; spec. Gewicht des Serums:
1026.3.
Trockenröckstand des Blutes (Mittel zweier
Proben): 17,60%; Trockenrückstand des Serums
(Mittel zweier Proben): 8,05%.
100 ccm Blut enthalten (Mittel zweier Pro¬
ben): 2,9075 g N; 100 ccm Serum enthalten
(Mittel zweier Proben) 1,1480 g N.
(Isotonie der rothen Blutkörperchen nach
v. Limbeck = 0,525%ige NaCl-Lösung.) Ver¬
dünnung zur Serumvolumbestimmung: 35 ccm
Blut + 20 ccm Na CI-Lösung. 100 ccm der
Serum-Kochsalzlösung enthalten (Mittel zweier
Proben): 0,6040 g N.
Berechnete Werthe: 100 ccm Blut ent¬
halten 63,4 ccm Serum; 100 g Blut enthalten
61,5 g Serum und 38,5 g Körperchen.
100 g Blut enthalten 17,60 g feste Stoffe,
davon 4,95 g im Serum und 12,65 g in den
Körperchen, somit enthalten 100 g feuchte
Körperchen 32,8 g feste Stoffe.
100 g Blut enthalten 2,7481 g N, davon
0,6884 g im Serum und 2,0597 g in den Körper¬
chen, also enthalten 100 g Serum: 1,1186 g N,
100g feuchte Körperchen: 5.3415gN und 100g
trockene Körperchen: 16,2 g N.
In den ersten beiden Fällen entspricht
trotz starker Venostasis und Hydrops die
Zusammensetzung der rothen Blutkörper¬
chen vollständig in allen Werthen der
Norm. Im zweiten Falle erscheinen Trocken¬
rückstand und N-Gehalt sogar um ein ge¬
ringes erhöht. Auch das Serum der beiden
ersten Fälle bietet normale Verhältnisse
dar. Es bestand somit in denselben keine
Hydrämie. Im dritten Falle weicht die
Zusammensetzung der rothen Blutkörper¬
chen etwas von der normalen ab, die
Erythrocyten enthalten etwas mehr Wasser
und sind dementsprechend N-ärmer. Auch
das Serum dieses Blutes zeigt einen leichten
Grad von Hydrämie.
Die Zahl der untersuchten Fälle ist aller¬
dings eine geringe. Eine Beantwortung der
strittigen Fragen über die Abhängigkeit des
Hydrops und der Hydrämie von einander,
über das passagere Auftreten von Hydrämie
im Verlaufe der Resorption grosser Trans¬
sudate würde grosse Versuchsreihen er¬
fordern. Jedenfalls zeigen aber die mit der
nöthigen Genauigkeit und Vollständigkeit
durchgeführten Versuche Kossler’s soviel,
dass bei schweren Herzerkrankungen mit
Stauung und Wassersucht die Zusammen-
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Setzung des Blutes als Ganzes, wie auch
diejenige des Serums und der Erythro-
cytensubstanz, keine Anomalien aufzuweisen
braucht. Selbst wenn für eine Reihe von
Kranken mit stark decompensirten Herz¬
fehlern eine Hydrämie angenommen werden
müsste, ist es nach Allem mindestens recht
unwahrscheinlich, dass bei Herzkranken
Schwankungen der Blutmasse resultiren,
welche die Füllungen der Kammern wesent¬
lich vergrössern und die Ansprüche an
deren musculäre Leistungen beträchtlich
steigern würden. Es ist dies umsoweniger
anzunehmen, als auch der Blutdruck inner¬
halb gewisser Grenzen unabhängig scheint
von der wechselnden Gesammtblutmenge.
Ein Vergleich der in dieser Beziehung
als maassgebend geltenden Arbeiten unter
einander (Stintzing-Gumprecht, Maxon,
Askanazy) ist nicht leicht möglich. Wich¬
tiger als dielncongruenz der Versuchsergeb¬
nisse fällt der Umstand ins Gewicht, dass
die angewandten Methoden keine sichere
Auskunft über eine vorhandene Hydrämie
zu geben im Stande sind, weil schon eine
Verminderung des Volums der Erythro-
cytensubstanz den Wassergehalt des Ge-
sammtblutes erhöht und eine solche con-
comitirende Verschiebung des Volums der
beiden Blutbestandtheile durch die Zählung
der Erythrocyten, bezw. durch Bestimmung
des Hämoglobins nach v. Fleischl doch
nicht genügend ausgeschlossen wird.
Es scheint nur noch wichtig, wenigstens
tabellarisch eine Reihe von Blutgefrier¬
punkten Herzkranker hier anzuführen (siehe
Tabelle S. 293).
Aus diesen Zahlen würde hervorgehen,
dass bei incompensirten Herzfehlern die
Gefrierpunktserniedrigung des Blutes ab¬
norm gross ist. Der Begriff Hydrämie
müsste sonach eine weitere Einschränkung
erfahren, es bliebe bloss übrig die Ver¬
armung des Trockenrückstandes an be¬
stimmten werthvollen Stoffen, z. B. Hyp-
albuminämie; die allgemeine moleculare
Concentration der Lösung verhält sich da¬
bei normal oder sie ist sogar merklich ge¬
stiegen. Sehr wahrscheinlich ist eine solche
Erhöhung des osmotischen Druckes im
Blute Herzkranker auf Kohlensäureretention
zu beziehen. Die Steigerung der Wasser¬
verdunstung aus den Lungen infolge der
Dyspnoe, die Beschränkung der Diurese
wegen des hohen venösen Druckes, die
consecutige Niereninsufficienz, geänderte
osmotische Beziehungen zwischen Lymph-
und Blutgefässen sind zwar nicht zu unter- 1
schätzende Momente, geben aber hier wohl j
kaum den Ausschlag. ,
Original from
UNIVER3ITY OF CALIFORNIA
Juli
293
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Diagnose
A des Serums
A des Harns
Autor
Degeneratio adiposa musculi cordis. Kein Hydrops
Insuff. valv. bicuspid., stenos. ostii venös, sin. Kein
— 0,61
-1,37
A. v. Koranyi
Hydrops. Zweiter Tag der Digitaliswirkung . . .
Insuff. valv. bicusp. Grosse Anämie, mässige
Dyspnoe, geringe Cyanose, etwas ai hythmischer
— 0.62
- 1,90
n
Puls. Kein Hydrops.
Insuff. valv. bicusp. Geringe Dyspnoe. Geringer
Hydrops. Die Diurese stellte sich während indiffe*
— 0,53
— 1,93
n
renter Behandlung ein.
— 0,59
— 1,78
— 1,34
n
Insuff. valv. aortae. Dyspnoe. Geringer Hydrops .
Insuff. valv. aortae. Stenosis ostii arteriös, sin. Ge¬
— 0,59
— 1,58
”
ringer Hydrops. Albuminurie.
— 0,55
— 1,86
w
Insuff. val. bicuspidalis.
Insuff. valv. bicuspidalis. Stenosis ostii venös, sin.
— 0,62
— 1,73
»
Geringe Cyanose, kein Hydrops, Athembeschwerden
Congenitale Cyanose, ohne wesentliche Stauung im
— 0,67
-2,05
n
grossen Kreislauf.
— 0,69
—
n
Herzkrankheit.
- 0,585
—
Bousquet
Incompensirte Mitralinsufficienz.
— 0,570
—
M. Senator
Incompensirte Mitralstenose.
-1,099 (?)
—
•
Incompensirte Aorteninsufficicnz.
— 0.636
—
•
Vitium cordis. Pleuritis. Lungeninfarct ....
— 0,63
—
O. Moritz
Viele noch vorhandene Unklarheiten
legen es dringend nahe, mittels der von
Kossler benutzten und der physikalisch¬
chemischen Methoden, sowie der quantita¬
tiven Analyse wenigstens einiger Mineral¬
stoffe (Chlornatrium) einschlägige Unter¬
suchungen fortzusetzen, insbesondere auch
mit Hilfe des Thierexperimentes.
Nach meiner Meinung müssen aber ein¬
schlägige theoretische Ueberlegungen noch
weit mehr den Flüssigkeitsgehalt der
Gewebe berücksichtigen. Wir kennen aller¬
dings die Verschiebung des Wassergehaltes
der einzelnen Gewebe bei den verschie¬
denen Graden der Stauung und des Hydrops
Herzkranker keineswegs ausreichend, aber
wenigstens die vermehrte Ansammlung
von Flüssigkeit im Unterhautgewebe, die
Schwellungen in Folge von Störung der
Lymphbewegung innerhalb der dehnbaren
Maschen des Zellgewebes, sowie die Ergüsse
in die grossen Körperhöhlen sind ja ganz
grob sinnenfällige Symptome. Bei venöser
Stauung kommt es zu sehr beträchtlicher
Erhöhung des Blutdruckes im Capillar-
system (bis auf das Vier- und Fünffache
der Norm). Geht man von der physikali¬
schen Erklärung der Lymphbildung aus
(combinirte Wirkung von Filtrations- und
Diffussionskräften), muss man unter diesen
Bedingungen auch schon ohne Alteration
der Blutgefässwände eine gewaltige, wenn
auch nicht proportionale Steigerung des
Flüssigkeitsstromes vom Blut in die Ge-
websspalten annehmen. Aber auch die
umgekehrt gerichtete Strömung, die Rück¬
transsudation durch die Venen, wird
wegen der begleitenden Erhöhung des
Blutdruckes in den (kleinen, dünnwandigen,
aber selbst auch den grösseren) Venen be¬
trächtlich erschwert, bezw. völlig gehemmt
sein. Ja die Circulation der Lymphe
erfährt noch dadurch eine Behinderung,
dass der Druck in den Venae subclaviae,
in welche sie einfliesst, ebenfalls gewachsen
ist. Tritt noch zur verminderten Strom¬
geschwindigkeit und zur Druckerhöhung
eine Veränderung der functionellen Eigen¬
schaften der Endothelhaut hinzu, wird die
Schnelligkeit der Anasarkabildung noch
weiter begünstigt. Oedeme, welchen ein
Stauungsmoment im venösen Gefässgebiet
zu Grunde liegt, müssen sich somit von
allem Anfang an durch Ausdehnung und
Spannung auszeichnen. Durch Nachprüfung
der einschlägigen Versuche Länderer’s
an hydropischen Herzkranken kann man
sich auch meistens unschwer überzeugen,
wie bedeutend die Zunahme der Span¬
nung des Unterhautgewebes werden kann.
Durch den darauf lastenden Druck wird
die Elasticität des Zellgewebes zu stark
in Anspruch genommen, und in Folge
dessen erfährt das Elasticitätsmaass eine
Verminderung. Auch diese Veränderung
der elastischen Eigenschaften als eine
Begleiterscheinung, (aber nicht, wie Län¬
derer, will als Ursache) des Hydrops
begünstigt noch die weitere Zunahme des¬
selben. Was die Gewebsflüssigkeit und
die Gewebe physiologisch in elastische
Spannung versetzt, ist wenigstens zu einem
Theile der Blutdruck. Das die Gefässe
umschliessende Gewebe trägt andererseits
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
294
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
einen Theil des Blutdruckes. Die Spannung
der Gewebeflüssigkeiten ist eine der physi¬
kalisch nothwendigen Voraussetzungen für
die Strömung des Blutes in den Capillaren.
Und endlich stellt auch die elastische
Spannung der Gewebe noch eine von den
Triebkräften dar für die örtliche Flüssig-
keits- (Lymph-) Bewegung (Länderer).
Mittels eines Modellversuchs, welcher trotz
seiner anscheinend fundamentalen Bedeu¬
tung auffallender Weise gar keine Berück¬
sichtigung fand, war Körner schon früher
zu dem Ergebniss gelangt, dass jede Flüssig¬
keitsbewegung durch eine Gefässbahn,
welche eine Strecke lang mit dünnhäutigen
Wandungen versehen und hiervon einem ge¬
schlossenen Raum umgeben ist, dort selbst
Transsudation (Filtration) vermittelt und un¬
ausgesetzt eine Vermehrung und Druck¬
steigerung der umgebenden Flüssigkeit be¬
wirkt. Diese Drucksteigerung der ausserhalb
der Gefässbahn befindlichen Flüssigkeit wird
entweder zum Stauungsmoment in der Ge¬
fässbahn selbst oder sie muss als Triebkraft
Verwendung finden für abgehende Bahnen,
deren Ursprung sich im Wirkungsbereiche
dieser äusseren Flüssigkeit befindet. Sind
derlei ableitende Bahnen gegeben, so hat
die Triebkraft in denselben eine Bewegung
des flüssigen Inhaltes zur Folge, wobei das
im Innern vorhandene Druckgefälle, somit
auch das zwischen Triebkraft und Wider¬
ständen bestehende Verhältniss massgebend
wird. Ohne solche ableitende Bahnen
aus dem Bezirk der transsudirenden Ge-
fässe wird eine gleichmässige continuir-
liche Flüssigkeitsbewegung in der Haupt¬
bahn schliesslich zur physikalischen Un¬
möglichkeit. Klemensiewicz hat dann
auch noch Versuche am thierischen
Gefässsystem angestellt und gezeigt, dass
unter entsprechenden Bedingungen eben¬
falls hier die Durchleitung wie im Schema
verläuft. Ich glaube nun, dass es hauptsäch¬
lich die erwähnten Untersuchungen Län¬
derers und diejenigen von Körner-
Klemensiewicz sind, welche uns den
Schlüssel liefern könnten für ein allerdings
die Rolle der Filtration im Vergleich zu
derjenigen der osmotischen Kräfte bei der
Lymphbildung und Bewegung stark accen-
tuirendes Verständniss des praktischen
Werthes der Entwässerung für die Ent¬
lastung der Circulation bei decompensirten
Herzfehlern. Es fragt sich dann nur, ob
neben der so wirksamen Vermehrung der
Flüssigkeitsausscheidung durch den Harn,
nach der Haut, der Entfernung von Flüssig¬
keit aus den Lymphspalten durch Troi-
carts etc. auch die einfache Beschränkung
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der Flüssigkeitszufuhr eine in Betracht kom¬
mende allgemeine und speciell die Hydro-
psien vermindernde Flüssigkeitsentziehung
überhaupt zu bewirken vermag? Eine
fast sanguinische Beantwortung dieser
letzteren Frage hat bereits der gewichtigste
Gegner Oertel's, Lichtheim, gegeben:
Die hydropischen Erscheinungen gehen
unter dem Einfluss der Diät (streng durch¬
geführte Beschränkung der Flüssigkeits¬
zufuhr) rasch zurück. Deswegen sei auch
der Einfluss der Cur auf die Blutconcen-
tration ein viel geringerer, als bei gesunden
Individuen, bei denen er übrigens gleich¬
falls nur unbedeutend ausfalle. Jetzt, wo
schon ein grösseres klinisches Beobach¬
tungsmaterial vorliegt, kann man wohl ab¬
schliessend sagen, dass uns wirklich, aber
doch verhältnissmässig selten, Fälle be¬
gegnen, bei denen durch Reduction der
Flüssigkeitsaufnahme allein (oder in Ver¬
bindung mit höchstens ganz kurz dauern¬
der und schwacher Digitalisbehandlung)
ein Schwinden sämmtlicher Erscheinungen
der Decompensation herbeigeführt wird.
Häufiger sind dagegen die Fälle, wo die
Wirksamkeit der Cardiotonica, nachdem
dieselben bereits versagt hatten, wieder
hervortritt, wenn gleichzeitig der Wasser¬
haushalt des Patienten regulirt wird. Auch
in dieser Beschränkung aber sollte, mit
Rücksicht auf die dargelegten theoretischen
Unterlagen und die erwähnten klinischen
Erfahrungsthatsachen, die Regelung der
Flüssigkeitszufuhr nach den Ausscheidun¬
gen grundsätzlich immerhin eine nicht zu
vernachlässigende Maassnahme bei der Be¬
handlung chronischer Herzkrankheiten dar¬
stellen. Wird neben im Uebrigen genügender
Ernährung wenig (zu wenig) Wasser dar¬
geboten, sinkt der Flüssigkeitsgehalt der
Organe und Gewebe. Was dieser diäteti¬
schen Beeinflussung des Wasserhaushaltes,
welche allerdings, wenn sie sich gegen den
(einseitigen) Durst bei gleichzeitiger Auf¬
nahme von verhältnissmässig viel trockenen
Nahrungsmitteln kehrt, einen starken Ein¬
griffbedeutet, gegenüber anderen therapeu¬
tischen Methoden, mittels deren wir den
Organismus der Herzkranken von über¬
schüssiger Flüssigkeit befreien können,
welche sich in den Geweben angesammelt
hat, vor Allem denjenigen, bei denen eine
Steigerung der Ausscheidungen (Nieren,
Haut, Lungen) maassgebend ist oder bei
denen Flüssigkeit direkt den Lymphspalten
entzogen wird, an momentaner Leistungs¬
grösse abgeht, könnte sie vielleicht in Be¬
zug auf die Möglichkeit dauernder Durch¬
führung voraushaben.
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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
295
Die Indication zu einer (stärkeren) Ein¬
schränkung der Wasserzufuhr sollte sich
im Sinne der vorstehenden Darlegungen
nicht mehr danach richten, ob „hydrä-
mische Plethora“ oder ob Hypalbuminämie
besteht Dieselbe würde vielmehr bestimmt
gegeben sein, sobald Flüssigkeitsretention
in Folge von Stauung im grossen Kreislauf
beginnt oder, bei schon bestehendem Hy¬
drops, zunimmt, beziehungsweise, wenn
ein erreichtes Gleichgewicht im Flüssig¬
keitswechsel des Organismus neuerdings
gestört wird. Von vornherein muss uns
jedoch dabei klar sein, dass es nicht
Wasser ist, was im Körper zurückbleibt,
sondern eine, unter Umständen hyper¬
osmotische, Salzlösung die Säftemasse ver¬
mehrt, in welcher der Eiweissgehalt relativ
abnimmt Die dem Verfahren zu Grunde
liegende Absicht kann in erster Linie nur
die Heranziehung der überschüssigen Ge¬
websflüssigkeit zu den Ausscheidungen
sein, erst indirect, in zweiter Linie die Er¬
höhung der Geschwindigkeit der Blut¬
strömung am Uebergang des Capillar- ins
Venensystem.
Es wird nach dem Bisherigen sich kaum
Jemand darüber täuschen, dass die Be¬
einflussung des Wasserhaushaltes bei der
Behandlung decompensirter Herzfehler nur
einen bescheidenen Platz als Glied einer
Reihe das gleiche Ziel erstrebender Maass¬
nahmen beanspruchen darf. Der grösste
Uebelstand für eine Uebertragung des Ver¬
fahrens in die Praxis ist, dass wir über¬
haupt eine genaue Kenntniss der Wasser¬
bilanz Herzkranker nicht besitzen und dass
wir im Einzelfall gegenüber den etwa ver¬
ursachten subjectiven Beschwerden (Durst)
leicht in Verlegenheit gerathen können,
wenn wir den objectiven Erfolg der Flüssig¬
keitsbeschränkung erwägen sollen. Der
Körper verliert beständig Wasser durch
den Harn, den Koth, durch Verdunstung
an der Haut und aus den Lungen. Der
Wasserverlust ist aber bei demselben In¬
dividuum je nach den Umständen sehr ver¬
schieden. Für die Wasserausscheidung im
Harn wird neben der Grösse der Wasser¬
zufuhr auch die Menge der in den Nieren
eliminirten Stoffe bestimmend sein, für die
Excretion durch Haut und Lungen die
Aussentemperatur, die Feuchtigkeit und
Bewegung der umgebenden Luft, die Be¬
schaffenheit der Haut und die Zahl der
Athemzüge etc. Deshalb lassen sich nur
schwer bestimmte Werthe für die Abgabe
und die Zufuhr von Wasser aufstellen.
Nur sind wohl unter gewöhnlichen Lebens¬
verhältnissen die Verschiedenheiten im
Wasserconsum wenigstens vorwiegend von
der wechselnden Wasserverdunstung an
der Haut abhängig. Ob und inwieweit der
pathologische Zustand beim decompensir-
ten Herzkranken eine Verschiebung der
Betheiligung der einzelnen Organsysteme
an der Wasserausscheidung (speciell auf
dem sogenannten insensiblen Wege) ver¬
ursacht, darüber sind wir gegenwärtig
durchaus nicht genügend unterrichtet. Einen
wirklichen Einblick in die Grösse des
Wasserumsatzes besonders bei Herzkran¬
ken besitzen wir dermalen überhaupt kaum.
Daraus geht zur Genüge hervor, wie be¬
denklich es wäre, nach den auf Vergleich
der Nahrungs- und Harnwassermengen
beruhenden O er tel’ sehen „Differenz¬
bestimmungen“ die Grösse der Flüssig¬
keitsretention einzuschätzen.
Den Anhaltspunkt für die beginnende
Nothwendigkeit, den Wasserhaushalt Herz¬
kranker unter Berücksichtigung der in der
Nahrung zugeführten (bezw. auch der im
Stoffwechsel resultirenden) Molen und des
Wasserquantums zu beeinflussen, möchte
ich deshalb auch in der Praxis mehr
in der Ursache des Oedems, in einer ge¬
wissen Höhe der Stauung im grossen Kreis¬
lauf, suchen. Indem ich einem ähnlichen
Gedankengange A. v. Koranyi’s folge,
glaube ich einen passenden Maasstab in
der vollständigen osmotischen Analyse
(kryoskopische Untersuchung und Fest¬
stellung der elektrischen Leitfähig¬
keit) des Stauungsharns, sowie in der
quantitativen Bestimmung einzelner wich¬
tiger Harnbestandtheile (N,NaCl) gefunden
zu haben. Der Factor A. v. Koranyi’s
empfiehlt sich deshalb weniger, weil
bei pathologisch geringer Ausscheidung
der Elektrolyte nach den Untersuchungen
A. Steyrer’s die Verminderung der Leit¬
fähigkeit nicht einfach parallel geht mit
dem Werth für Na CI. Dagegen möchte ich
Ce
in der Relation (C = Gesammtconcen-
tration in Molen, Ce = Concentration der
Elektrolyte) einen annähernd brauchbaren
Gradmesser der renalen Stauung sehen,
sofern N und Na CI jeweilig mit bestimmt
Ce
werden (^v geht nicht immer der Relation
parallel!), und nicht die bloss ein¬
malige Feststellung dieser Werthe, sondern
Beobachtungsreihen mit Berücksichtigung
der Zufuhr zu Grunde gelegt wird. Die
theoretische Unterlage für diesen Maass¬
stab der Schätzung finde ich in folgenden
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296
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
Thatsachen und Ueberlegungen. Auch bei
bestehenden schweren Compensations-
störungen ist zunächst die Gesammtmolen-
ausscheidung Herzkranker eine verhältniss-
mässig hohe, die Nieren sind in dieser Be¬
ziehung innerhalb gewisser Grenzen suffi-
cient. Die Verlangsamung der Blutströmung
in den Nieren und des Secretes in den Harn-
canälchen muss den resorptiven Austausch
zwischen dem zu Harn sich umbildenden
Glomerulusfiltrat und dem Nierenvenenblut
begünstigen. Der Austausch betrifft aber
naturgemäss hauptsächlich die Elektrolyte,
da die N-haltigen Molecüle etc. durch spe-
cifische celluläre (Drüsen-)Thätigkeit in den
Harn gelangen. Wichtiger vielleicht als
diese Ueberlegung ist die Erfahrungsthat-
Ce
Sache, dass der Quotient ^ sowohl bei
Digitalis- als bei Calomeldiurese zu wachsen
pflegt, und während der Compensations-
störung auffallend klein werden kann. Die
Ce
Aenderung der Relation ^ ist ein Sym¬
ptom, welches, sobald die Mittel des Or¬
ganismus für die Erhaltung einer normalen
Circulationsgeschwindigkeit nicht mehr aus¬
reichen, die Diagnose früher gestattet, als
die anderen Merkmale des sog. Stauungs¬
harns (insbesondere auch als das Wachsen
seiner Molecularconcentration). Vielleicht
lässt sich, behufs frühzeitiger Erkennung
der Stauung, noch ein Behelf v. Koranyi’s,
die Muskelanstrengung, heranzuziehen. Die
Herabsetzung der Gesammtmolenausschei-
dung bedeutet eine Complication. Von Be¬
deutung wird ferner die Feststellung des
gleichen Verhältnisses im Blutplasma des¬
selben Patienten sein. Besteht auch nicht
annähernd Proportionalität zwischen den
Gliedern dieser Relationen, wird der Urin
verhältnissmässig gegenüber dem Serum
elektrolytenärmer, ist dies gleichbedeutend
mit Flüssigkeitsretention im Organismus des
Kranken. Bei stationärem Hydrops, wenn
gerade wieder ein gewisses Gleichgewicht im
Flüssigkeitswechsel des Organismus erreicht
ist, kann jene Proportionalität vorhanden
sein. Wächst der Hydrops jedoch neuer¬
dings, kommt auch die Aenderung der Re-
Ce
lation -£ als Indicator wieder zur Geltung.
Man kann aus solchen Bestimmungen
natürlich nicht einfach schliessen, dass der
Patient zuviel Wasser getrunken hat. Man
erfährt bei Berücksichtigung aller Lebens¬
bedingungen des Patienten höchstens so¬
viel, dass er sich nicht der Leistungsgrösse
seines Herzens entsprechend verhalten
haben muss. Dagegen erkennt man ver¬
hältnissmässig sicher und frühzeitig den
Moment, in welchem die Störung zur Bil¬
dung von Oedemen Anlass giebt, in wel¬
chem also auch (selbstverständlich neben
entsprechenden anderweitigen diätetischen
Maassnahmen) eine Regelung des Wasser¬
haushaltes in’s Auge zu fassen ist.
Wenn man bei dieser Art des functio-
nell-diagnostischen Vergehens sich auf die
Ergebnisse der osmotischen Analyse stützt,
könnte man, mit Rücksicht auf den Um¬
stand, dass bei Herzkranken mit Compen-
sationsstörungen an und für sich schon
hohe (abnorm hohe) osmotische Drucke des
Blutes gegeben sind (vergl. oben), princi-
pielle Bedenken tragen, mit Flüssigkeits¬
entziehung überhaupt und Beschränkung
der Wasserzufuhr im Speciellen vorzu¬
gehen. Es ist auch wirklich von verschie¬
denen Seiten die Befürchtung ausgesprochen
worden, dass Wasserentziehung eine be¬
reits bestehende Anomalie künstlich stei¬
gert, bezw. die schon vorhandene Erhö¬
hung der Molecularconcentration der Säfte¬
masse noch stärker macht. Auf Grund
eigener experimenteller Erfahrung kann ich
aber dem gegenüber bestimmt aussagen,
dass wenigstens der normale thierische
Organismus auf Flüssigkeitsentziehung nicht
in solcher Weise reagirt. Die Molecular¬
concentration der Mäuse z. B. erweist sich
als auffallend constant, und die Thiere
halten an der Concentration ihrer Lösung
ausserordentlich zähe fest. Durch Heiss¬
luftbehandlung entzog ich Mäusen den
10. Theil ihres Lebensgewichtes an Flüssig¬
keit und schliesslich zeigte ihr Presssaft
eine Gefrierpunktserniedrigung, deren Werth
nahe der unteren Grenze der Norm stand.
Ebenso, wie also im Körper nicht Wasser
sondern eine Salzlösung retinirt wird (vgl.
oben), wird durch die Ausscheidungsorgane
auch nicht Wasser, sondern eine Salzlösung
entfernt. Natürlich ist das Festhalten an der
Eigenconcentration an die Intaktheit jener
Organe geknüpft, und ihre Unversehrtheit
muss nicht in allen Fällen von decom-
pensirten Herzfehlern vorhanden sein. Von
vornherein ist aber auch keine Insufli-
cienz der Ausscheidungsorgane anzu¬
nehmen. Gleichzeitige moleculare Oligurie
und Wachsen der osmotischen Spannung
des Blutes wäre unter diesen Bedingungen
ein kaum zu übersehendes WarnungssignaL
Eine Schwierigkeit für die Einführung
der osmotischen Analyse des Harns in die
Praxis besteht gegenwärtig wohl nicht mehr.
Schröpf blut ist nicht geeignet für die Fest¬
stellung der einschlägigen Constanten; das
Blut müsste hierzu einer Vene direkt ent-
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Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
297
nommen werden. Eine Venaesection wäre tion auch dauernd höher einstellen. Diesen
aber unter diesen Bedingungen nicht bloss Fällen gegenüber steht eine grosse Zahl
eine diagnostische Maassregel, sondern (statistische Angaben kann ich leider nicht
hätte auch eine gewisse therapeutische machen) solcher, bei deren wir unter sonst
Berechtigung, denn es ist durch Starling gleichen diätetischen Bedingungen keine
wenigstens sehr wahrscheinlich gemacht, günstige Schwankung der Harnausscheidung
dass das Blut nach Aderlässen eine (massige) beobachten. Bei mittlerer Erhöhung oder
Flüssigkeitszunahme aufweisst, welche auf Beschränkung der Einnahmen erscheint an
Resorption durch die Blutcapillaren (kleine nähernd die gleiche Menge Urin. Höchstens,
Venen) zurückzuführen ist. dass eine starke Erhöhung der Wasser-
Natürlich ist es aber ein dringendes aufnahme einen Ausschlag bewirkt im
wissenschaftliches Postulat, etwa mittels der Sinne einer erheblicheren Verminderung
von Rubner und seinen Schülern entwor- des Harns im Vergleich zu der Einnahme,
fenen Methoden ein ausreichendes That- und eine bedeutende Reduction der letz¬
sachenmaterial über den gesammten Wasser- teren eine Schwankung im Sinne eines
Wechsel im Organismus decompentierter noch weiteren Herabsinkens der Urin-
Herzkranken zu sammeln. Erst bis wir ausscheidung.
über ein solches verfügen, wird sich zeigen, Die Ursache dieser häufigen Misserfolge
inwieweit wir auch im klinischen Einzelfall mag zum Theil darin begründet sein, dass
von diesen Methoden profitieren können, die Herzkraft vieler Patienten bereits zu
Grob sinnenfällige Oedeme oder die tief gesunken ist. Dies legt uns nahe,
angeführten functionell-diagnostischen Kri- neben der diätetischen Beeinflussung des
terien lassen uns rechtzeitig, selbst prae- Wasserhaushaltes auch rechtzeitig die Car-
ventiv, die Indication zur Beeinflussung diotonica heranzuziehen. Aber geringe
des Wasserhaushaltes Herzkranker auf- Leistungsgrösse des Herzens ist gewiss
stellen. Aber sie liefern uns im Einzel- nicht der einzige Grund des Misslingens.
fall keinen speciellen Anhaltspunkt, mit Bei der Bildung der Gewebeflüssigkeit
welcher Methode der Flüssigkeitsentziehung handelt es sich um eine unter Druck
wir reussiren werden, ob nicht von vorne- stehende Flüssigkeit, welche durch eine
herein einer Reduction der Wasserein- poröse Scheidewand in einen mit eben¬
nahmen viel besser die Flüssigkeitsent- falls unter Druck stehender Flüssig¬
ziehung durch Erhöhung der Harnmenge, keit erfüllten Raum hineingepresst wird,
durch Ausscheidung an der Haut, durch Ausser der Grösse des endocapillären
mechanische Eröffnung der Lymphspalten Druckes, der Permeabilität des Endothel-
etc. vorzuziehen ist. (Höchstens die mittels rohrs, dem osmotischen Druck des Blut-
osmotischer Analyse des Harns oder gar plasmas kommt also für die Bildung und
durch starke Albuminurie und Cylindrurie die (locale) Bewegung der Lymphe noch
constatirte Insufficienz der Nieren lässt in Betracht: die chemische Beschaffenheit,
sofort von einer diätetischen Beeinflussung bezw. der jeweilige osmotische Druck der
des Wasserhaushaltes wenig erhoffen.) Gewebszellen, die Permeabilität der Zellen
Schon daraus geht hervor, dass wir uns der verschiedenen Gewebe, die mit der
hier nicht, wie es eine Zeitlang die thera- Arbeit der Organe schwankende Grösse
peutische Mode unter Compromittirung des des Gewebsdruckes, welcher seinerseits
Verfahrens mit sich brachte, an ein Schema mit die Differenzen der osmotischen Span¬
halten dürfen. Die bei der Beschränkung nung der Gewebsflüssigkeiten bewirkt, und
der Wasserzufuhr an Herzkranken ge- manches andere. Ob hier Filtration oder
machten praktischen Erfahrungen lehren, osmotische Kräfte überwiegen, ist gegen-
dass es Fälle mit Stauung, bereits mani- wärtig für alle Fälle nicht leicht zu ent-
festen Oedemen und selbst merklich verrin- scheiden. Wahrscheinlich aber liegt es
gerter Harnmenge giebt, in welchen nach am complicirten Getriebe der letzteren,
Reduction der Wassereinnahmen eine mehr wenn das Blut decompensirter Herzkranker
oder weniger erhebliche procentische Zu- bei vorhandener Leistungsfähigkeit der
nähme der Urinsecretion erfolgt. Selbst Ausscheidungsorgane sein Bedürfniss nach
bei schon ausgedehnten, mächtigen Hydro- Wasser nicht immer durch Resorption aus
psien tritt manchmal, wenn ausreichende den übernormal von Salzlösung durch-
Herzkraft vorhanden und die Leistungs- tränkten Geweben des Körpers zu be-
fähigkeit der Nieren erhalten, nicht unbe- friedigen vermag.
deutend vermehrte Harnausscheidung auf. Solche Erfahrungen nöthigen uns, von
Wird die Wasserreduction längere Zeit vornherein die diätetische Beeinflussung
aufrecht erhalten, kann sich die Urinsecre- des Wasserhaushalts der decompensirten
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298
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
Herzkranken vorwiegend als Präventiv¬
maassregel anzusehen, neben der Regelung
der Wassereinnahmen immer auch die an¬
deren Methoden der Flüssigkeitsentziehung
entsprechend zu verwerthen und überhaupt
immer wieder in jedem Einzelfall zu pro-
biren. Als Anhaltspunkt für den Effect
der Reduction des zugeführten Wassers
kann man neben dem alsbald hervortreten-
Ce
den Wachsen der Relation ^ im Harn
mit Vortheil unter den nöthigen Cautelen
(längere Beobachtung, Berücksichtigung
der Art, bezw. Gleichartigkeit der festen
Nahrung etc.) die Oer tel’sehe Differenz¬
bestimmung benutzen. Diese Bestimmung
des Differenzverhältnisses zwischen Flüssig¬
keitsaufnahme und Ausscheidung liefert uns
(vgl. oben) kein zuverlässiges Maass der
Flüssigkeitsretention im Körper, aber sie
lehrt uns, obwohl daneben gewiss in nicht
genau ermitteltem Grade die Perspiratio
inversibilis abnimmt, wenigstens annähernd
quantitativ, in wie weit wir im Einzelfall
erfolgreich mit (stärkerer) Reduction der
Wassereinnahme vorgegangen sind.
Von Gesunden wird ungefähr 20—35%
weniger Harn ausgeschieden, als Wasser
aufgenommen wurde. Theils der Flüssig¬
keitsgehalt der festen Speisen, theils ver¬
schiedene äussere Bedingungen (nach
Tripold besonders klimatische Factoren)
beeinflussen positiv oder negativ diesen
Unterschied. Vielleicht spielt endlich hier
noch eine gewisse Periodicität mit. Die
Methode der Differenzbestimmung findet
sich in den einschlägigen SchriftenO er tel’s.
Beim normalen Individuum hat A. Dennig
die Bedeutung starker Schwankungen der
Wasserzufuhr näher zu erforschen gesucht.
Nach Herstellung von N - Gleichgewicht
legte er bei ausgiebiger Calorienzufuhr
seinen Versuchspersonen tagelang ener¬
gische Flüssigkeitseinschränkung auf. Ich
schliesse hier zunächst eine kurze Zu¬
sammenstellung der Versuchsergebnisse
Dennig’s, soweit sie die Grösse der Harn¬
ausscheidung betreffen, an:
Versuchsperson A: 20jähriger gesunder
Mann, 175 cm lang, gracil gebaut, sehr mager
(64 kg schwer), nahm bei dauernder Bettruhe,
den Wassergehalt der Nahrung eingerechnet,
durch
Versuchsperson B: 26jähriges, gesundes
Weib, 147 cm lang, 57,4 kg schwer, nahm durch
7 Tage täglich 2070 ccm und schied aus 55,2%
7 „ „ 381 „ „ „ * 147,0 „
5 „ „ 2070 „ „ „ , 46,0,
Versuchsperson C: 38jähriger, gesunder
Mann, 172 cm lang, 86 kg schwer, nahm durch
6 Tage täglich 2360 ccm und schied aus 49,0%
6 „ „ 550 „ „ „ B 111;0 „
6 w » 1850 n n n rr 52,6 9
Versuchsperson D: 23jähriger, gesunder
Mann, 168 cm lang, 93,2 kg schwer, war ausser
Bett und machte leichte Bewegung im Zimmer.
Er nahm durch
6 Tage täglich 2415 ccm und schied aus 71,0%
6 n n n n n n 172,7 „
6 * „ 2415 „ „ „ 68,8 „
Es überstiegen sonach in der Durstzeit
die Flüssigkeitsausgaben durch den Harn die
Wassereinnahme um ein bedeutendes (173%,
172,70/o. 163,1 %, 140,7% und 111%). Die
Untersuchungsresultate Dennig’s hinsicht¬
lich des Verhaltens des gesammten Körpers,
insbesondere des Stoffwechsels, lassen sich
in folgenden Sätzen kurz zusammenfassen:
das Allgemeinbefinden leidet bei starker
Wasserreduction (von 2000—6001), nament¬
lich giebt sich steigender Widerwille gegen
feste Nahrung kund. Das Körpergewicht
nimmt rapid ab. Die Arterienspannung
lässt nach. Hämoglobingehalt und Zahl
der Blutkörperchen ändern sich nur un¬
erheblich. Dagegen soll das Plasma ein¬
gedickt werden (Trockenrückstand, spec.
Gewicht). Während der Zeit der Wasser¬
entziehung und in den unmittelbar folgen¬
den Tagen ist die ausgeschiedene N-menge
absolut und relativ grösser als in der Vor¬
periode. (tiweisszerfall, zeitweilige Re¬
tention der Zerfallsproducte). Hinsichtlich
der Körperwärme tritt eine Tendenz zum
Ansteigen hervor. Die Perspiratio insensi-
bilis nimmt von Tag zu Tag ab und steigt
in der folgenden Trinkperiode wieder an.
Das in der Durstperiode verlorene Wasser
wird gedeckt durch Flüssigkeitsverarmung
der Gewebe sowie durch Verbrennung
von Eiweiss und Fett. Bei Personen, welche
kurz nach Beendigung einer ersten Wasser¬
entziehung (nach Wiederbeschickung des
Körpers mit Flüssigkeit) eine zweite folgen
lassen, tritt für einige Zeit Gewöhnung ein.
Dass wir diese Versuchsergebnisse Den-
ning’s (vorausgesetzt übrigens, dass sie
sich sämmtlich bestätigen lassen), auch nur
57,0 o/ 0
163,0 „
63,9 „
173,0 „
89,0 „
hinsichtlich der Flüssigkeitsausscheidung
in der Durstperiode nicht einfach vom Ge-
6 Tage täglich 2150,0 ccm und schied hiervon aus im Harn
6 v » 533,0 „ „ „ „ „ „ 0
6 tt ft 2441,6 nt, tt tt V n ff
5 „ „ 580,0 „ „ n „ „ „ n
6 »* n 2330,0 n ff tt » v ft n
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
299
Die Therapie der Gegenwart 1903.
sunden auf den Herzkranken übertragen
dürfen, bedarf nach dem früher Dar¬
gelegten keiner weiteren Ausführung.
Wenden wir uns nunmehr zusammen¬
fassend nochmals der Frage zu, welche
praktischen Erfolge und welche Nach¬
theile hat das Trockenregime bei Herz¬
kranken? Gegenüber der grossen Zahl von
ausgezeichneten Kritiken der theoretischen
Unterlagen des Verfahrens (Bamberger,
Lichtheim, in jüngster Zeit mit beson¬
derer Sachkenntnis und Gründlichkeit
Krehl) ist die Publikation einschlägiger
praktischer Erfahrungen eine auffällig ge¬
ringe. Ich selbst übte das Verfahren in
sehr vielen Fällen, seitdem ich nach Graz
gekommen (1894), wo es seit Körner all¬
gemein üblich war. Nehme ich aus den
Berichten OerteFs und Glax’ den viel¬
leicht zu warm-positiven Gefühlston fort,
kann ich nicht umhin, dieselben theil-
weise zu bestätigen. Auch schon alleinige
Flüssigkeitsreduction wirkt, allerdings mit
starker Inconstanz und bloss bis zu einem
gewissen, meist nicht sehr hohen Grad, bei
decompensirten Herzkranken flüssigkeits¬
entziehend, bezw. diuresevermehrend. Ich
füge sofort hinzu, dass ich die diätetischen
Maassnahmen nur ausnahmsweise auf eine
„Durstcur 41 beschränkte, dass ich bei der
Wasserreduction fast immer successive (mit
1500 ccm beginnend) und nie über eine ge¬
wisse Grenze (unter 1000—800 ccm) vorging,
dass ich die Regelung der Wasserzufuhr
vorwiegend als ein Praeventivverfahren an¬
sehe und mit den anderen Methoden der
Flüssigkeitsentziehung passend zu combi-
niren bestrebt bin. Vor allem möchte ich
nochmals betonen, dass in sehr vielen Fällen
die bereits mangelhaft gewordene Wirk¬
samkeit der Herzgifte wieder stärker her¬
vortritt, wenn gleichzeitig der Wasserhaus¬
halt des Patienten regulirt worden ist Nach¬
theile habe ich bei vorsichtigem Verfahren
nicht häufig beobachtet. Insbesondere ist
die Klage über quälenden Durst beinahe
selten. Viel häufiger ist Abneigung gegen
feste Speisen, Appetitverlust, stärkere Ab¬
nahme des Körpergewichtes. Ich sollte nun
mit der Aufstellung der allgemeinen Regeln
für die Wasserzufuhr in der Nahrung Herz¬
kranker schliessen. Ueber die Nothwendig-
keit der Gewinnung eines wenigstens an¬
nähernden Urtheiles inBetreff der aufgenom¬
menen Flüssigkeitsmenge, über die Fest¬
stellung solcher Complicationen, welche
pathologischen Durst zur Folge haben, end¬
lich über die Schädlichkeit unmässiger
Wassereinnahmen, besonders in der Form
von Bier, Wein etc. brauche ich aber doch
wohl kein Wort zu verlieren. Fälle von
chronischer Insufficfenz des Herzens, be¬
sonders solche mit erst beginnender De-
compensation eignen sich mehr als Fälle von
Klappenfehlern zum Vorgehen mit ener¬
gischer Wassereinschränkung. Bezüglich
der Absicht, der ich bei dem Trocken¬
regime zustrebe, hinsichtlich derlndications-
stellung, sowie endlich in Betreff der Be-
urtheilung des Erfolges verweise ich aut
die früheren Ausführungen, welche auch die
nöthigen technischen Winke enthalten. Ge¬
wöhnlich lege ich stärkere Wasserbeschrän¬
kung den Patienten anfangs nur perioden¬
weise auf. Sie erhalten an Flüssigkeit
durchschnittlich 1500 ccm, dann wird für
eine Reihe von Tagen heruntergegangen
auf 1200, selbst 1000, nach der Durstzeit
bekommen sie wieder 1500 ccm. So habe
ich gefunden, dass auch bei Herzkranken
Gewöhnung'eintreten kann. Viele Individuen
halten es bei 1000 ccm ganz gut aus.
Ans der Poliklinik von Priv&tdocent Dr. H. Nenmann, Berlin.
Buttermilch als Säuglingsnahrung in der poliklinischen Praxis.
Von Dr. Erwin Kobrak, Assistenten der Poliklinik.
Es erscheint vielleicht überflüssig, zu den
zahlreichen, mit Buttermilch als Säuglings¬
nahrung sich beschäftigenden Arbeiten noch
einen ferneren Beitrag liefern zu wollen.
Doch neben den eingehenden klinischen
Arbeiten 1 ) über dieses Thema liegen aus
poliklinischer Thätigkeit meines Wissens
von deutscher Seite Berichte nicht vor.
Zwar hat aus Holland erst in jüngster Zeit
*) Salge Jahrb. f. Kinderheilk. 3. F. 5. Bd. S. 157
(aus der Heubnerschen Klinik). Caro Arch. f. Kinder¬
heilk. 1902 (aus der Baginskischen Klinik).
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Teixeira de Mattos 1 ) ausführlich auch
über Erfolge an poliklinischem Material
berichtet; aber eine Uebertragung seiner
Resultate auf deutsche Verhältnisse ist ohne
weiteres nicht statthaft, vor allem deswegen,
weil der enorme Milchreichthum Hollands
den Michhändler viel weniger in Versuchung
führt, die zum Verbrauch oder zur weite¬
ren Bearbeitung gelangende Milch ver¬
fälschen oder zu lange conserviren zu
*) Teixeira de Mattos Jahrb. f. Kinderh. 3. F.
5. Bd. S. 1 1902.
38*
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
300
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903,
wollen. Und doch ist die Möglichkeit
Buttermilch in der Privatpraxis zu ver¬
ordnen, jedenfalls mehr von dem poli¬
klinischen, als dem klinischen Erfolg ab¬
hängig.
Die in der Dr. Neumann’schen Poli¬
klinik benutzte Buttermilch stammt in
der ersten Hälfte unserer Beobachtungen
(bis 14. November 1902) aus einer anderen
Quelle als später. Sofort nach dem Ein¬
treffen in der Poliklinik wurde die von
Teixeira angegebe Mischung der Butter¬
milch (1000 g Buttermilch, 12 g Weizen¬
mehl, 60 g Rohrzucker) hergestellt und nach
seiner Anweisung abgekocht. Dann wurde
für jedes der mit Buttermilch zu ernähren¬
den Kinder nach Recept des Arztes die
nöthige Anzahl Flaschen mit der vorge¬
schriebenen Menge Buttermilch abgefüllt.
Was die Dosirung anlangt, so erhielten
Kinder unter 3000 g Gewicht im Allge¬
meinen 9—10, schwerere Kinder 6—8
Flaschen. Die gesammteTagesmenge wurde
meist durch die rasch orientirende Be¬
rechnung der dem Kinde pro Kilogramm
Körpergewicht zukommenden Calorien-
menge 1 ) ermittelt. Im Allgemeinen ver¬
brauchten die stark atrophischen Kinder
besonders hohe Calorienmengen. Man thut
gut, bei diesen Kindern am ersten Tage zur
Gewöhnung an die neue Nahrung mit weni¬
gen Gramm pro dosi zu beginnen (30—40 g),
den nächsten Tag ca. 120 Calorien per kg
Körpergewicht zu geben und dann rasch,
unter Controle des Stuhles und des Ge¬
wichtes bis auf 180 Calorien im Bedarfs¬
fälle anzusteigen. Höhere Mengen waren
nur ganz ausnahmsweise erforderlich.
Nicht atrophische Kinder kommen mit 100
bis 120 Calorien per kg Körpergewicht
aus. In einzelnen Fällen sahen wir uns
veranlasst, die Zusammensetzung der Butter¬
milch etwas zu verändern. Statt Weizen¬
mehl wurde mit Erfolg Theinhards lös¬
liche Kindernahrung bis 50 g auf 1 Liter,
zwei Mal ebenfalls mit günstigem Effect
Loefflunds Malzsuppenextract in verschie¬
dener Dosis gegeben.
Mit beiden Zusätzen — letzterer nur in
jeder zweiten Flasche — Hess sich ausser
vermehrtem Ansatz leichterer Stuhl er¬
reichen. Der Zusatz von Fetten, so z. B.
von dem Biedert’schen Rahmgemenge hat
sich nicht bewährt.
Die Entwöhnung von der Buttermilch
macht nach meinen Erfahrungen gar keine
Schwierigkeiten. Wir stiegen zwar meist
dabei mit Buttermilch langsam ab und
*> 1 Liter Buttermilch von der oben angegebenen
Zusammenstellung = 710 Calorien.
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gleichzeitig mit der Süssmilch an. Aber
selbst in den Fällen, wo die Mütter plötz¬
lich statt Buttermilch Süssmilch gaben,
ging alles ohne Schwierigkeiten ab.
Die in der eben beschriebenen Weise
zurechtgemachten Flaschen wurden im
Laufe des Vormittags von den Frauen ab¬
geholt. Die anfänglich bestehende Ab¬
neigung der Mütter gegen die „sauere
Nahrung“ wurde dadurch rasch gehoben,
dass wir in der Sprechstunde selbst uns
überzeugten, ob die Kinder die Milch gut
nahmen, kurz danach etwa erbrachen, etc.
Günstige Erfolge in zahlreichen Fällen be¬
wirkten es, dass selbst grosse Entfernungen
nicht gescheut und die Nahrung monate¬
lang täglich bei uns abgeholt wurde. Den
Leuten die Bereitung der Buttermilch selbst
zu überlassen, vermieden wir noch im All¬
gemeinen. Unser Material stammt nämlich
nur aus den ärmsten Theilen der Berliner
Bevölkerung, da irgendwie Bemittelte 1 )
(Lehrer etc.) bei uns keine Behandlung
finden. Sociale Schichten, wie die, an
denen Teixeira de Mattos seine Versuche
machte, hatten wir daher nicht zur Ver¬
fügung. Die Buttermilch hatte aber schon
im Gegensatz zur klinischen Prüfung eine
harte Probe bei unserer Art der Dar¬
reichung durchzumachen, da sie erstens
nach dem Abkochen in nicht maximal ge¬
kühlter Weise nach der Wohnung trans-
portirt, dort zweitens sicher unter un¬
günstigen Verhältnissen conservirt und end¬
lich in Hast und Eile und auch nicht mit
der erforderlichen Regelmässigkeit von der
stark überbürdeten Mutter dargereicht wurde.
Insgesammt wurde Buttermilch bei polikli¬
nischen Fällen 65 mal gegeben. Das An¬
wendungsgebiet war das Uebliche: Schwach
und frühgeborene Kinder, besonders Zwil¬
linge, Pädatrophien, chronische Dyspepsien
und Kinder im dyspeptischen Stadium
nach Darmkatarrh. Bei einem Theil dieser
Kinder (28 Fälle) verfügen wir nur über
eine kurze Beobachtungszeit. Die Gründe
für die rasche Unterbrechung verdienen
eine kurze Erwähnung; es waren — in
28 Fällen — folgende:
a) Es starben in Folge der bereits be¬
stehenden, nicht mehr aufhaltbaren schweren
Entkräftung, im dyspeptischen Stadium nach
schweren Darmkatarrhen bei 2— 5 tägiger Butter¬
milchernährung:
9 sicher ) zusammen 15 Fälle. 3 )
6 wahrscheinlich )
*) Vcrgl. die bei Teixeira angeführten Berufs-
| arten der Eltern in den Journalen.
3 ; Mehrmals wurde noch in den letzten Tagen
| ante exitum die Buttermilch gut genommen.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der
b) An anderweitigen Krankheiten starben:
2 Falle an Pneumonie.
c) Wegen Rückfalles aus dem dyspep¬
tischen Stadium in das Stadium der spritzenden
Stühle: 3 Fälle.
d) Misserfolg bei chronischer Dyspepsie mit
nachherigem Erfolg anderer Nahrung: 1 Fall.
e) Wegen Verweigerung der Nahrung weg¬
gelassen: 2 Fälle.
f) Nicht wiedergekommen: 5 Fälle. Davon
3 Fälle mit circa einer Woche lang beobachtetem
gutem Erfolg. 1 Fall mit unbekanntem Erfolg.
1 Fall mit angeblichem Misserfolg.
Von den 37 länger beobachteten Fällen
wurde die Buttermilch angewandt bei Kindern:
unter 3 Monaten in 31 Fällen, dabei bewirkte
die Buttermilch: guten Erfolg: in 16 Fällen.
(5 mal im dyspeptischen Stadium mittelschwerer
Darmkalarrhe, 8 mal bei schwächlichen und
frühgeborenen Kindern, davon 1 Fall mit Allai-
tement mixte. 2 mal Pädatrophie, 1 mal Furunku¬
lose mit septischen Erscheinungen.) Geringen
Erfolg: in 4 Fällen. (1 mal dyspeptisches
Stadium nach schwerem Darmkatarrh, 1 mal
nach mittelschwerem Darmkatarrh, 1 mal Früh¬
geburt mit Pemphigus, 1 mal sehr schwach
geborenes Kind.) Keinen Nutzen: 6 Fälle.
(3 mal dyspeptisches Stadium nach schwerem
Darmkatarrh. 1 mal nach leichtem Darmkatarrh,
1 mal Atrophie, 1 mal chronisches Erbrechen.)
Geringen Schaden: 5 Fälle. (1 mal dys¬
peptisches Stadium nach schwerem Darm¬
katarrh, 2 mal nach mittelschwerem Darm¬
katarrh, 1 mal bei schwachem Kind, 1 mal bei
chronischem Ikterus).
Im Alter von 3—6 Monaten wurde Butter¬
milch angewandt in 6 Fällen: dabei bewirkte sie:
guten Erfolg in 2 Fällen. (Bei Pädatrophien).
Keinen Nutzen: in 2 Fällen. (Im dyspep¬
tischen Stadium nach schweren Darmkatarrhen.)
Geringen Schaden: in 2 Fällen. (Bei Atro¬
phie nach Darmkatarrhen.)
Nach Krankheiten geordnet, wurden mit
Buttermilch behandelt: Im dyspeptischen
Stadium nach schweren Darmkatari hen
7 Fälle. Dabei erzielte Buttermilch
einen vorübergehenden Erfolg: 1 mal
keinen Nutzen: 5 mal
geringen Schaden: 1 mal
Im dyspeptischen Stadium mittel-
schwerer Darmkatarrhe. 9 Fälle. Dabei
erzielte Buttermilch
guten Erfolg: 6 mal
geringen Erfolg: 1 mal
geringen Schaden: 2 mal
Im dyspeptischen Stadium eines
leichten Darmkatarrhs. 1 Fall. Dabei er¬
zielte Buttermilch keinen Nutzen.
Länger bestehende Atrophien: 6 Fälle.
Dabei erzielte Buttermilch
eclatanten Nutzen: 3 mal
keinen Nutzen: 1 mal
geringen Schaden: 2 mal.
In diesen beiden letzteren Fällen führte
die Buttermilch-Ernährung ein neues dyspep¬
tisches Stadium herbei.
Gegenwart 1903. 301
Von schwach geborenen, nicht zu¬
nehmenden Kindern: 11 Fälle. Dabei er¬
zielte Buttermilch
guten Erfolg: in 8 Fällen
geringen Erfolg: in 2 Fällen
geringen Schaden: in 1 Fall
Bei chronischem Erbrechen blieb ein
poliklinischer Fall ohne Nutzen, hingegen liegt
aus früherer Zeit noch eine klinische Beob¬
achtung mit glänzendem Erfolge vor.
Ausserdem brachte die Buttermilch guten
Erfolg: in 1 Falle von Furunkulose mit sep¬
tischen Erscheinungen. Geringen Schaden:
in 1 Falle von chronischem Icterus.
Insgesammt also wurde erzielt
bei ausreichend beobachteten Fällen:
guter Erfolg: 18 mal
geringer Erfolg: 4 mal
kein Nutzen: 8 mal
Schaden: 7 mal
unbestimmt: —
bei nicht genügend beobachteten Fällen:
guter Erfolg: 4 mal
geringer Erfolg: 0 mal
kein Nutzen: 19 mal
Schaden: 4 mal
unbestimmt: 2 mal
Abgesehen davon, wie weit die Wirkung
der Buttermilch dabei in Betracht kommt, wäre
festzustellen, dass von den 37 länger beobachte¬
ten Fällen sicher starben: 8 Fälle. (1 mal
schwere Dyspepsie und Atrophie, 2 mal schwere
Darmkatarrhe, 3 mal Atrophien, von denen 2
an Pneumonie starben, 2 mal Sepsis.) Sicher
heilten: 18 Fälle. (7 mal mittelschwere Darm¬
katarrhe, 7 mal Pädatrophien, 3 mal Früh¬
geburten, 1 mal leichter Darmkatarrh.) Der
Ausgang blieb unsicher: bei 11 Fällen.
Diese Zusammenstellung soll nur einen
zahlenmässigen Ueberblick geben. Zur
Erfassung des wahren Werthes der Butter¬
milch ist viel wesentlicher eine individuelle
Durchsicht der einzelnen, beobachteten
Fälle, und die Beantwortung einiger dabei
sich aufdrängender Fragen: In erster Linie
werden wir sehen müssen, ob die Butter¬
milch in einzelnen Fällen Entscheidendes
zu leisten im Stande ist, d. h. Heilung und
Besserung in sonst annähernd verzweifelten
Fällen, oder rasche Heilung in solchen
Fällen, die nach ärztlicher Voraussicht
mindestens noch einem langen Siechtum
verfallen wären. Die Krankengeschichten
derartiger Fälle seien in kurzem angegeben:
1. Else D. 1 Vs Monat. (Journal Nr. 4422).
Seit 22. Juli 1902 an ziemlich schwerem Darm¬
katarrh mit nachfolgender Dyspepsie in Be¬
handlung. Ernährung zunächst Reisschleim,
dann in steigender Dosis Biedertsches Rahm¬
gemenge, dann Milch Verdünnungen, schliesslich
Schweizer Milch, gleichzeitig mit unterstützen¬
der, medikamentöser Therapie richten nichts
aus bis 21. September. 22. Juli Gewicht 3850 g.
19. August Gewicht 3370 g. 21. September
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
302
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
Gewicht 3510 g. Nun Buttermilch in Tages¬
rationen von 500 g ansteigend bis 1050 g, nach¬
her wieder langsam absteigend auf 600 g. fort¬
gesetzt bis lö.November. Gewicht21. September
3510 g. 28. September 3890 g. 4. Oktober
4100 g. 12. Oktober 4280 g. 25. Oktober 4450 g.
1. November 4760g. 15.November5320g. Butter¬
milch ausgesetzt. Ein schöner Erfolg nach
zwei Monate langer erfolgloser anderweitiger
Behandlung.
2. Aehnlich der folgende Fall. Trude G.
4 Wochen alt. (6484/02), mittelschwerer Darm¬
katarrh und Atrophie, in Behandlung seit
10. November 1902. Innerhalb von 4 Wochen
Abnahme von 3650 auf 2490 g, blieb inner¬
halb dieser Zeit unserer Behandlung fern. Nun
in den nächsten 3 Wochen Buttermilch bis
480 g Tagesmenge. 2. Januar 2920 g (142 g
Zunahme pro Woche.) Aus äusseren Gründen
Buttermilch ausgesetzt, 9 Tage nachher leider
Rückfall bei Biedertscher Sahne. Nicht wieder¬
gekommen.
3. Bei dem sehr schwachen 8 Monatskind L.
(Nr. 7246/03), welches am 9. Januar 1903 im
Alter von 23 Tagen mit einem Gewicht von
2230 g in unsere Behandlung trat und bis dahin
eher abgenommen statt zugenommen hatte,
feierte die Buttermilch folgenden Triumpf:
9. Januar 1903 2230 g. 18. Januar 2820 g!
30. Januar 3210 g! 5. Februar 3750 g! 15. Fe¬
bruar 3850 g! 23. Februar 4000 g!
4. Auch bei Erich K. J.-No. 7117/02 ist eine
aussergewöhnlich günstige Beeinflussung durch
Buttermilch anzuerkennen. War bei der Auf¬
nahme 6. November 1902 im Alter von 5 Wochen,
fast seit Geburt dyspeptisch, nahm nicht zu.
Soor. Buttermilch mit 400 g pro die beginnend
bis auf 650 g steigend: 6. November 3150 g.
13. November 3380 g. 3. Dezember 3760 g.
15. Dezember 4060 g. 24. Dezember 4400 g.
31. Dezember 4550 g. 11. Januar 4800 g.
5. Sehr überzeugend auf uns wirkte auch
das bei Eintritt in die Behandlung äusserst
matte, stark dyspeptische mit reichlichem Soor
behaftete Kind Emmy S. (661/03) besonders
auch in sofern, als dem Kinde bis zur Auf¬
nahme neben Kuhmilch auch Brust zur Ver¬
fügung gestanden hatte: 28. Januar (24 Tage
alt) 1800 g, bis 5. Februar noch Brust und Kuh¬
milch 1800 g. Nun Buttermilch: 11. Februar
2000 g, 19. Februar 2140 g, 26. Februar 2320 g,
3. März 2480 g.
6. Zu diesen Fällen mit entscheidender
Wirksamkeit gehört weiter Lucie H. (6359/02),
deren Krankheitskurve auch infolge der langen
Fortführung der Beobachtung lehrreich ist:
Bei der Aufnahme 7 Monat alt. Diagnose,
Dyspepsie, Atrophie, Intertrigo. Gewicht 2040 g.
Buttermilch in Tagesmengen von 500—710 g.
Dies 1 Monat 8 Tage lang. Dann 14 Tage
lang: Milchmischung mit annähernd gleichem
Caloriengehalt, darauf wieder Buttermilch 600 g
bis 1050 g pro die 2 Monate lang. Gewichte:
1. Buttermilchperiode: 4. November 2040 g.
14. November2800g! 29.November3180g. Süss¬
milchperiode: 15. Dezember 3110 g! 20. De-
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zember 3100 g! 2. Buttermilchperiode: 2. Januar
3650 g, 14. Januar 3910 g, 26. Januar 4300 g.
Entwöhnungsperiode (Buttermilch abstei¬
gend), Süssmilch ansteigend 15. Februar 4630 g,
25. Februar 4850 g.
7. Ferner sei hier erwähnt das 3 Monate
alte, schwer atrophische, gleichzeitig an Ver¬
stopfung leidende Kind Frieda Th. (902/03)
6. Februar (3 Monate alt) 3050 g. Buttermilch
in Tagesmengen von 700 -800 g ergiebt prompt
folgende Zunahme: 10. Februar 3180 g! 16. Fe¬
bruar 3580 g! 27. Februar 3880 g, 2. März 3900 g.
8. Auch bei Paul R. (6525/02) beweisen
die Zahlen das entscheidende Eingreifen der
Buttermilch: 11. Februar 6 Wochen alt, schwer
atrophisch 2300 g. Buttermilch pro die 500
bis 600 g. (1 Tag vorher probeweise 300 g).
19. November 2780 g! 2. December 3000 g,
31. December 3520 g.
9. Weiter gehört hierher Paul V., Pflege¬
kind (7315/02) 30. Dezember mit geringer Dys¬
pepsie aufgenommen, I 1 /« Monate alt, 3650 g,
nicht wiedergekommen. 1 Monat später 29. Ja¬
nuar 3030 g, 4. Februar 3610 g, 11. Februar
3900 g! 18. Februar 4250 g! 25. Februar 4500 g!
10. Desgleichen Hellmuth J. (5881/02), 4
Wochen alt. Im Alter von 27 Tagen am 9. Ok¬
tober 1902 aufgenommen mit multiplen Abscess-
bildungen und gleichzeitigen septischen Er¬
scheinungen: Petechien, Somnolenz. Bei sorg¬
fältiger anderweitiger Ernährung unter anderm
auch 8 Tage Muttermilch als Zugabe: Gewichts¬
absturz vom 9. Oktober bis 30. Oktober von
3550 g auf 2700 g. Nun zunächst 12 Tage
Allaitement mixte mit Buttermilch. Darauf
nur Buttermilch 3 Tage 950 g, dann 710 g pro
die, 5 Tage lang, am Ende nur 370 g, zusammen
2 Monate lang Buttermilchernährung. Gewichte
30. Oktober 2700 g, 10. November 3310 g,
16. November 3670 g, 2. December 4200 g,
17. December 4450 g. Doch der septische,
offenbar im Kinde trotz der glänzenden Ge¬
wichtszunahme noch fortglimmende Infections-
stoff sollte den sonst vollen Erfolg vereiteln.
Am 28. December trat Icterus auf, suppige
Stühle und 15 Tage nachher mit raschem Ver¬
fall Exitus letalis.
11. Endlich Käthe R. (1815/03) 2 Monate
alte Frühgeburt (8 Monatskind). In geradezu mori¬
bundem Zustand eingeliefert. Gewicht 1700 g!
Reagiert nicht. Temperatur 34,0. Nur durch
Einflössen der Buttermilch-Nahrung durch die
Nase zu ernähren. Durch sehr häufiges, heisses
Abwaschen excitiert. Buttermilch nach Belieben.
20. März schon 1860 g! 9. April 2100 g. All¬
mähliche Erholung. Etwas Erbrechen. Noch
oft subnormale Temperaturen. Seit 9. April
Buttermilch zurückgewiesen. Daher Süssmilch;
2 Strich Milch, 3 Strich Hafermehl 2stündlich:
9. April 2100 g, 17. April 2160 g, 21. April
2230 g, 28. April 2300 g!
Dazu gehörend noch ein Fall aus der
Privatpraxis Erna Sch., der insofern wichtig
ist, als bei diesem die intelligente Mutter die
Herstellung der Nahrung übernahm Kind
5 Monate alt. Gewicht bei der Aufnahme am
Original from
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Juli
303
Die Therapie der Gegenwart 1903.
9. März 2530 g! Schon sehr vieles ander¬
weitig versucht. Zuerst Malzsuppe, nach¬
her Mellin giebt nur vorübergehenden Erfolg,
dann wieder Gewichtsabfall. Seit 2. April
Buttermilch beginnend mit 540 g steigend auf
800 g pro die giebt bis jetzt constanten Gewichts¬
anstieg bei völligem Wohlbefinden: 11. April
2570 g, 18. April 2750 g. 24. April 2860 g,
30. April 3090 g, 12. Mai 3230 g, 18. Mai 3450 g.
Zu diesen Fällen, in denen das Eingreifen
der Buttermilch geradezu entscheidend
wirkte, kommt eine Gruppe von Fällen, bei
denen nach ärztlicher Erfahrung zwar auch
eine Heilung bei anderer Nahrung hätte
erzielt werden können. Die Grösse und
Promptheit aber der erzielten Gewichts¬
zunahmen rechtfertigen ihre Anführung in
diesem Zusammenhang:
1. Carl T. (6464/02) Zwillingskind 21. Sep¬
tember 1903. 5 Wochen alt 2300 g. Allaitement
mixte: 21. September 2300 g, 26. Dezember
3350 g, 31. Januar 4100 g.
2. Ebenfalls glänzender Erfolg des Allai¬
tement mixte. Brustkind Elsbeth W. 7. Fe¬
bruar 1903. 6 Wochen alt 3570 g. Zunächst
nur Brust. 12. Februar 3500 g. Nun Butter¬
milch 23. Februar 4170 g! Per Tag 61 g zu¬
nehmend, 10. März 4450 g. 22. März 4620 g.
3. Ferner Lucie M. (4984/02) 3 Wochen alt.
Seit 19. August 1902 ziemlich schwerer Darm-
katarrh mit spritzenden Stühlen. 22. August
Gewicht: 2220 g. Im nun bestehenden dys¬
peptischen Stadium bei noch stehenden Haut¬
falten Buttermilch. Besserung zunächst all¬
mählich. Oefters dazwischen Reisschleim ein¬
geschaltet. 18. September 2960 g, 25. October
3220 g! (83 g pro die) Zunahme, 7. November
3550 g, 17. November 3970 g, 14. December 4520 g.
Zu einer gerechten Würdigung der
Buttermilch ist selbstverständlich neben
den Mittheilungen von Paradefiällen auch
die Hervorhebung unerwünschter Neben¬
wirkungen von Nöthen.
Häufig kommen, selbst bei den sonst
günstig verlaufenden Fällen (so auch bei
den oben angeführten Fällen in der Mehr¬
zahl) kleine, rasch vorübergehende dys¬
peptische Attacken vor; sei es, dass der
Stuhl einmal etwas häufiger und dünner
wird, sei es, dass Erbrechen oder vielmehr
Speien eintritt. Solche Kinder strecken
häufig in eigenthümlicher Weise die Zunge
aus dem an Speichel reichen Munde heraus
und scheinen mit einer meist allerdings
nicht erheblichen Uebelkeit zu kämpfen.
Uebelkeit und massiges Erbrechen
sollten aber nicht von der Weiterdarrei¬
chung abhalten. Ich könnte 8 unter meinen
Fällen anführen, die kräftig und stetig
trotzdem gediehen. Anders verhalten sich
länger dauernde oder von vornherein hef¬
tig einsetzende Darmdyspepsien, besonders
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Gck igle
dann, wenn der Stuhl, der bei Buttermilch
sonst alkalisch, meist gebunden, weich ge¬
formt, gelb bis gelbbraun ist, auf Lakmus
stark sauer, schleimuntermischt und zerhackt
wird. In 3 solchen Fällen konnten wir
uns, bei weiterer versuchsweisen Butter¬
milchdarreichung von der ständig fort¬
schreitenden Verschlechterung des Zu¬
standes überzeugen. Von diesen, während
einer günstig verlaufenden Buttermilchcur
auftretenden Dyspepsien zu unterscheiden
sind Rückfälle aus dem dyspeptischen
Stadium eines Darmkatarrhs in sein florides
Stadium mit spritzenden, wässrigen Stühlen.
In 5 Fällen gab dieses Ereigniss das Signal
zum sofortigen Aussetzen der Buttermilch.*
Einmal konnte nach einer Woche wieder
von Neuem mit Erfolg zur Darreichung
derselben geschritten werden.
In der Mehrzahl der Fälle hat Butter¬
milch stopfende Wirkung. Sie hielt sich
in unseren Beobachtungen meist in massi¬
gen Grenzen, so dass nur dann und wann
wegen Verstopfung von mehr als 24 Stunden
Dauer ein Klystir nöthig wurde. In 3 Fällen
hingegen, bei denen die Buttermilch meh¬
rere Monate Verwendung gefunden hatte,
wurde die Stuhlentleerung sehr massig und
mit recht erheblichenBeschwerden verknüpft.
Mehrmals erwies sich die Combination der
Buttermilch mit dem abführenden Malz-
suppenextract 1 ) recht nützlich.
Die Verstopfung ist keineswegs eine
regelmässige, unerwünschte Nebenwirkung.
Abgesehen davon, dass in einer Anzahl
Beobachtungen nichts davon bemerkt ist,
erzielte ein Mal die Buttermilch sogar
direct das Schwinden einer bestehenden
lästigen Obstipation. Eng mit hochgradiger
Verstopfung ist offenbar die Gefahr des
Entstehens der kindlichen Tetanie ver¬
knüpft. Abgesehen von solchen Fällen, in
denen die Tetanie sich schon kurze Zeit
nach derButtermilchdarreichung entwickelte
(hier war vielleicht die Art der früheren
Ernährung verantwortlich zu machen), kam
in 2 Beobachtungen bei monatelanger, aus¬
schliesslicher Buttermilchernährung die Te¬
tanie zum Ausbruch. Selbstverständlich
ist nicht die Nahrung allein bei dieser in
ihrer Entstehungsweise unklaren Krankheit
verantwortlich zu machen; in einem Fall
ergab sogar umgekehrt neben den gewöhn¬
lichen Untersuchungsmethoden auch die
galvanisch-elektrische Methode' 2 ) nach Erb
b Vergl. oben.
a ) Die Aufzeichnungen Ober diesen Fall verdanke
ich Dr. Japha, der in der Dr. Neumann’schen
Poliklinik eine grosse Reihe tetaniekranker Kinder
untersuchte, Ober die er demnächst berichten wird.
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
304
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
und Thiemich vor Anfang der Buttermilch¬
darreichung die Zeichen sicherer Tetanie,
während nach mehrwöchentlicher Butter¬
milchkost die Krankheit verschwand. Noch
schwerer zu beurtheilen ist es, ob die lange
fortgeführte Buttermilchernährung zu Rachi¬
tis disponirt. Dazu ist die procentuale
Anzahl der in dem betreffenden Alter uns
vorgeführten Rachitiker eine viel zu hohe.
Jedenfalls vermag diese Kost nicht den
Eintritt der Rachitis zu verhindern, wie
5 Fälle mit monatelang durchgeführter aus¬
schliesslicher Buttermilchnahrung beweisen,
in denen sich Rachitis entwickelte. Nicht
ganz von der Hand zu weisen ist ein
Zusammenhang zwischen der langdauern¬
den Buttermilchernährung und der Ent¬
stehung von Milz- und Leberanschwel¬
lungen, zu denen sich oft gleichzeitig
Anaemie gesellt. Gerade in dem bei uns
am längsten (6 Monate) continuirlich so
ernährten Falle waren diese Symptome am
ausgesprochensten. Im Ganzen verfüge ich
über 5 Fälle, bei denen die Milz frühestens
nach 1 1/2 Monate langer Darreichung ver-
grössert erschien. Ein sicherer Zusammen¬
hang ist aber auch hier keineswegs ge¬
geben, da ja sowohl Milztumor wie Anae¬
mie bei schwer atrophischen Kindern auch
sonst häufig ist. In einem Falle schwand
der Milztumor allmählich nach dem Aus¬
setzen der Buttermilch. Vielleicht ist die
Säure in der Buttermilch das diese Störun¬
gen hervorrufende Moment. Die Möglichkeit
einer chronischen Vergiftung durch diese
wird ja von einigen Autoren angenommen.
Vergl. die Ausführungen von Teixeira
de Mattos und seine Litteraturcitate.
Ueberblicken wir zum Schluss kurz
unsere Resultate, so sind es folgende:
I. Es ist wünschenswerth und auch
angängig, ambulant Kinder der ärmeren
Bevölkerung mit Buttermilch in gewissen
Fällen zu ernähren. Nur ist es vor der
Hand noch nöthig, dass diese Nahrung in
einer Centralstelle mit ärztlicher Directive
(Poliklinik oder dergl.), der tadellose rohe
Buttermilch zur Verfügung steht, nach ärzt¬
licher Vorschrift in Portionsflaschen ab-
getheilt hergestellt wird. Tägliche Ab¬
holung ist Voraussetzung.
II. Die Anwendungsgebiete für die
Buttermilch sind:
1. Frühgeburten und bei Geburt schwach
entwickelte Kinder, denen Brustnahrung
nicht gegeben werden kann. Beste
Erfolge!
2. Atrophische Kinder.
3. Verwendung zum Allaitement mixte,
speciell bei den unter 1 und 2 ge¬
nannten Kindern.
4. Verwendung lm dyspeptischen Stadium
mittelschwerer und leichter Darm¬
katarrhe, hingegen nicht im acuten
Stadium.
5. Bei angeborenem oder früh erworbe¬
nem Erbrechen schwerer Art, deswegen
weil es zuweilen gelingt, bei seltener
Darreichung und spärlicher Nahrungs¬
menge eine relativ hohe Calorienzahl
zuzuführen.
Für contraindicirt halte ich Buttermilch:
1. Wenn sie mit grossem Widerwillen
trotz mehr als zweitägigen Versuches
genommen wird.
2. Wenn bei ihr Dyspepsie mit stark
sauren Stühlen entsteht.
3. Wenn bei ihr heftiges, sonst nicht be¬
stehendes Erbrechen eintritt.
4. Wenn bei ihr ein Darmkatarrh mit
spritzenden Stühlen entsteht oder reci-
divirt.
5. Im dyspeptischen Stadium schwerer 1 )
Darmkatarrhe.
6. Bei Tetanie, wenn die objectiven Symp¬
tome, vor Allem die elektrische Er¬
regbarkeit und der Laryngospasmus
sich bei dieser Nahrung verschlimmern.
7. Bei sehr hochgradiger Verstopfung, es
sei denn, dass sonstige dringende In-
dication vorliegt; in diesem Falle lässt
sich unter Umständen durch Zusatz
abführender Substanzen, wie Malz-
suppenextract, auch Theinhardt’s
löslicher Kindernahrung, die stopfende
Wirkung der Buttermilch aufheben,
8. Bei Barlow’scher Krankheit.
Schliesslich haben wir die Vermuthung,
dass eine zu lange Ernährung mit Butter¬
milch eine constitutionelle Störung (Anae¬
mie, Schwellung der Milz und Leber) ver¬
ursachen kann. Aus diesem Grunde unter
anderen widerrathen wir auch die Ver¬
wendung der Buttermilch als Säuglings¬
nahrung ohne besondere Indication.
Meinem hochverehrten Chef Herrn
Privatdocent Dr. H. Neumann für die
Ueberlassung des Materials und für sein
reges Interesse an der Arbeit verbind¬
lichsten Dank!
M Unter diese Categorie rechne ich diejenigen
Darmkatarrhe, bei denen die Kinder unter sehr zahl¬
reichen Entleerungen (Erbrechen und Stuhlgänge)
im Laufe von 1—2 Tagen rasch verfallen, subnormale
Temperaturen haben und alle Zeichen starker Wasser¬
verarmung aufweisen.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
305
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Aus der Königl. dermatologischen Universitätsklinik in Breslau.
(Director: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Neisser).
Ueber Empyroform, ein trockenes, fast geruchloses
Theerpräparat.
Von Dr. Bruno Slclarek, Assistenzarzt.
Es ist sicherlich überflüssig, an dieser
Stelle die grosse Bedeutung, die dem Theer
in der Therapie der Hautkrankheiten zu¬
kommt, auseinanderzusetzen. Jedem Prak¬
tiker ist bekannt, dass de;r Theer — ab¬
gesehen von seiner Verwendung bei der
Psoriasis, den pruriginösen Affectionen und
Lichen-Formen — bei richtiger Anwendung
eines der wichtigsten Mittel der Ekzem-
Therapie darstellt.
Aber ebenso bekannt ist, dass eben die
„richtige Anwendung“ oft eine sehr schwere
Aufgabe ist, so dass der Theer sich als
eine schwer zu handhabende und zwei¬
schneidige Waffe erweist. Ist er auf der
einen Seite dadurch, dass er die hyperae¬
misch - entzündlichen Zustände beseitigt,
das Jucken mildert und die normale Ver¬
hornung befördert, oft unentbehrlich zum
Abschluss einer Ekzem-Behandlung und
Heilung einer chronisch-ekzematösen Der¬
matitis, so erlebt man leider auch nicht
selten, dass eine wochenlange Behandlung
des Ekzems und ein mühselig erreichtes
Resultat zu nichte gemacht wird durch zu
frühe oder zu intensive Theer-Application.
Gilt es auch als Regel, den Theer erst bei
Beseitigung der acuten nässenden Stadien
und stets nur an kleinen Stellen in starker
Verdünnung zu versuchen, so muss doch
zugegeben werden, dass selbst der er¬
fahrenste Praktiker Missgriffe macht, für die
der Patient durch acute Exacerbationen des
wieder auflebenden Ekzems büssen muss.
Zu den die Anwendung des Theers er¬
schwerenden Eigenschaften gesellen sich
als unwichtigere, aber in der Praxis doch
bedeutsame Momente: die schwarze
Farbe und der starke, Vielen sehr lästige
und unangenehme Geruch.
Seit Jahren sind daher die Fachleute
bemüht, Ersatzpräparate zu finden, die
möglichst nur die guten Eigenschaften des
Theers ohne seine schlechten darbieten.
Ich nenne hier das Tumenol und das
Oleum tumenoli, den Liquor carbon. deterg.
anglic., schliesslich auch die Salicylsäure
und dergl.
Meine Untersuchungen erstrecken sich
auf die Brauchbarkeit eines Condensations-
productes von Theer und Formaldehyd.
Diese Verbindung, die von der Chemi-
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sehen Fabrik auf Actien (vorm.
E. Schering) in Berlin hergestellt und
unter dem Namen „Empyroform“ in den
Handel gebracht wird, wurde bereits in den
Jahren 1899 und 1900 von Herrn Professor
Nicolaier in der Königl. medicinischen
Universitätsklinik zu Göttingen bei einer
Anzahl von Ekzemkranken verwendet. Die
mit diesem Präparate erzielten Resultate
waren recht günstige. Da Herr Professor
Nicolaier aus äusseren Umständen diese
therapeutischen Versuche nicht weiter fort¬
setzen konnte, hat er Herrn Geheimrath
Neisser gebeten, dieses Mittel an einem
grösseren Materiale weiter zu prüfen. Herr
Geheimrath Neisser hatte nun die Güte,
mir diese Prüfung zu übertragen, und wir
haben das neue Präparat in über 100 Fällen
von Hauterkrankungen verschiedenster Art,
welche ich zum grössten Theil selbst zu
behandeln und mit geringen Ausnahmen
wenigstens zu sehen Gelegenheit hatte, an
Stelle des Theers angewandt, und ich habe
mich bemüht, hierbei darauf zu achten,
inwieweit das Empyroform dem Theer
nahesteht, ob ihm ähnliche Eigen¬
schaften wie den anderen Präparaten
zukommen, und ob es diesen gegen¬
über Vorzüge besitzt.
Das Empyroform ist, wie gesagt, ein
Condensationsproduct von Formaldehyd
und Theer und stellt ein trockenes, nicht
hygroskopisches, bräunliches Pulver von
schwach eigenartigem Geruch dar, der
nicht mehr an Theer erinnert. Beim Er¬
hitzen spaltet es leicht Formaldehyd ab.
Es ist in Wasser unlöslich, löst sich da¬
gegen in Aceton und kaustischen Alkalien
und noch leichter in Chloroform. Durch
seine Farbe und den schwachen Ge¬
ruch besitzt das Empyroform meines
Erachtens schon gewisse Vorzüge vor dem
Theer. Eine Empyroform - Zinkpaste ist
grau, während eine entsprechend starke
Theerzinkpaste schwarz ist. Besonders ist
hervorzuheben, dass allen Kranken das
geruchlose Präparat sympathischer war als
der Theer.
Die Anwendung des Empyroforms in
Pulverform, als pure Substanz oder mit
Zink und Amylum gemischt, kommt fast
ausschliesslich beim nässenden Ekzem in
Betracht. Ich möchte aber diese Form der
39
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
306
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
Anwendung des Empyroforms — ebenso
wie die jeder anderen Puderbehandlung —
beim nässenden Ekzem nur empfehlen,
wenn das Pulver mit Salbenlint bedeckt
wird, weil sonst das Pulver mit dem Ver¬
bandmaterial und dem eintrocknenden
Sekret zu einer dicken Kruste verklebt,
deren auch noch so vorsichtige Lösung beim
Verbandwechsel immer wieder Läsionen
setzt, welche den Heilungsprocess zum
mindesten stören und in die Länge ziehen.
Wird der Puder dagegen mit einem Salben-
Fleck bedeckt, so ist seine Verwendung
recht brauchbar. Entschieden empfehlens-
werther und bequemer ist aber die Empyro-
form-Anwendung in einer Mischung mit
Salbe oder Zinkpaste.
Wir haben das Empyroform in Salben¬
form als 1—5—10—20% Empyroform«
Vaseline, 10—20% Empyroform-Blei-
Vaseline (Ung. Vaselin, plumbic. Kaposi)
und 5—10—20% Empyroform-Zink-
paste und unter Elimination des Zinkes
aus dieser als 25% Empyroformpaste
(Empyrof. und Amyl. ana 25,0 mit Vaseline
50,0) verwandt.
Mit Vaseline zu gleichen Teilen
giebt das Empyroform eine natürlich noch
stärkere Mischung von pastenartiger Con-
sistenz, also eine 50% Empyroformpaste.
Bei solch hohen Concentrationen wird der
Geruch des Mittels zwar deutlicher, aber
nicht unangenehm. Auch in Form der so¬
genannten Trockenpinselungen ist das
Empyroform in Folge seiner austrocknen¬
den Eigenschaften recht brauchbar. Man
kann es der gewöhnlichen Trockenpinselung
(Zinc. oxydat., Tale, venet., Glycerin., Aq.
destill. ana) in verschieden hoher Dosis zu¬
setzen; dabei muss man aber berücksich¬
tigen, dass diese Empyroform-Trockenpinse-
lungen sehr schnell eintrocknen und somit
eher unbrauchbar werden. Es empfiehlt
sich daher, nicht zu grosse Quanten auf
einmal zu verschreiben; also etwa:
Rp. Empyroform . 15'O
Tale. venet.
Glycerin .... ana lO'O
Aq . dest . 20*0 (oder
Spirit, vin. und Aq. destill.
ana lO'O)
M. D. S. Pinselung. Vor dem Gebrauch gut
umzuschQtteln.
Hier ist in analoger Weise wie in der
Empyroformpaste das Zink ganz eliminiert.
— Bei dieser Gelegenheit will ich noch
bemerken, dass solche Trockenpinselungen
sich sehr gut bewährt haben und von den
Kranken angenehmer empfunden wurden
als Salbenverbände. Besonders brauchbar
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sind die Pinselungen bei Individuen, welche
eine Idiosynkrasie gegen Fette haben. An¬
dererseits wird man zu dieser Applications-
form nur in Fällen mit nicht zu starker Ex¬
sudation greifen können. Die wahre Do¬
mäne der Trockenpinselung ist das ery-
thematöse Stadium des Ekzems oder das
Stadium, in dem schon eine gewisse Ein¬
trocknung und Schuppung aufgetreten ist.
Ebenso gut wie in den Schüttelmischun¬
gen habe ich das neue Mittel als Firniss
bezw. Tinctur verwenden können. In
diesen Combinationen erscheint das Prä¬
parat allerdings schwarz, aber fast ganz
geruchlos. Zuerst gebrauchte ich es als
Firniss, indem ich mir eine Lösung von
Empyroform in Chloroform im Verhältniss
von 1 :3 herstellen Hess. Dieser Firniss war
jedoch trotz nachherigen Einfettens zu
spröde und blätterte zu leicht von der Haut
ab. Ich habe deshalb später eine Tinctur
verwendet und damit therapeutisch ebenso
gute, bezüglich des Festhaftens der Tinctur
an der Haut bessere Resultate gehabt:
Rp. Empyroform . . . 5*0—10*0
Chloroform .
Tinct. Benz, ana ad 50*0
M. D. S. Pinselung.
Den Empyroformfirniss und die Empyro-
formtinctur habe ich in den ersten Sta¬
dien des Ekzems angewandt und beson¬
ders mit dem Firniss sehr gute Erfolge er¬
zielt. So habe ich z. B. einen acuten
Bläschenschub an den Armen durch zwei¬
maliges Aufpinseln von Empyroformfirniss
coupiren können. Ob der günstige Erfolg
allein auf die Rechnung des Empyroforms
zu setzen ist oder auf den durch den Firniss
erzeugten Abschluss von Luft und Feuchtig¬
keit von der erkrankten Hautpartie und
einen gewissen Grad von Compression, will
ich nicht entscheiden. Jedenfalls kann man
den Firniss auch bei anderen vesiculösen
Affectionen, z. B. Zoster-Eruptionen, mit
Erfolg verwenden.
Im squamösen Stadium des Ekzems kann
man zur Beseitigung chronischer Infiltra¬
tionen die Pinselung der Empyroform-Tinctur
in geeigneter Weise mit der Anwendung
eines Salicylseifenpflasters (von Beiers¬
dorf, 5—10%) verbinden, das nach ge¬
schehener Pinselung applicirt wird.
Entgegen der bekannten Scheu vor der
Anwendung des Theers im nässenden
Stadium des Ekzems habe ich das neue
Theerpräparat aber auch hierbei als 5 bis
10% Empyroform-Zinkpaste und 10—20%
Empyroform-Tinctur benutzt und es als
sehr brauchbar befunden. Dies steht ira
Gegensatz zu den bisherigen Erfahrungen,
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
307
welche man mit Theerpräparaten beim
nässenden Ekzem gemacht hat und die
Neisser noch kürzlich in seinen „Krank¬
heiten der Haut“ (Handbuch der praktischen
Medicin von Ebstein und Schwalbe) in
die Regel zusammenfasste: „Ekzeme, die
noch nässen, oder trocken gewordene Ek¬
zeme, bei denen man durch Reiben an der
Oberfläche leicht wieder die nässenden,
glänzenden Pünktchen hervorbringen kann,
sind nicht mit Theer zu behandeln".
Erstens ist hervorzuheben, dass die
Application des Empyroforms von den
Patienten subjectiv sehr angenehm em¬
pfunden wurde, und dass fast alle die stark
jucklindernde Kraft des neuen Mittels
lobten. Ich habe gegebenen Falles, z. B.
bei Ekzemen beider Arme gewöhnlich den
einen mit Erapyroform, den anderen zur
Controlle mit Tumenol behandelt und hier¬
bei festgestellt, dass die Heilung der mit
Empyroform behandelten Seite nicht nur
mindestens ebenso gute Fortschritte machte,
sondern dass auch, wie die Patienten fast
stets versicherten, das Jucken auf der mit
Empyroform behandelten Seite um ein Er¬
hebliches geringer geworden war.
Ferner kommt, wie schon erwähnt, in
Betracht die austrocknende Eigenschaft des
Empyroforms.
Reizwirkungen habe ich nur in der
ersten Zeit, in der uns das Mittel nicht
ganz feinpulverig, sondern mit grossen
Körnchen untermischt, von der Fabrik zur
Verfügung gestellt wurde, gesehen; seit¬
dem aber das Empyroform ganz fein ge¬
pulvert geliefert wurde, habe ich diese
unangenehmen Nebenwirkungen — gleich¬
gültig an welchen Körpertheilen das Prä¬
parat angewendet wurde — nicht beobach¬
tet. Dabei bin ich später bei der Appli¬
cation des Empyroforms nicht mit der
gleichen Vorsicht wie sonst bei der Theer-
behandlung vorgegangen; vielmehr habe
ich, so oft sich mir die Gelegenheit dazu
bot, sofort ganz ausgedehnte Körperstellen
damit tractirt, ohne mich in jedem einzel¬
nen Falle vorher davon zu überzeugen, ob
das Mittel auch vertragen wurde. Bei Acne
und Folliculitis scheint das Empyroform
contraindicirt, ich habe einmal dabei eine
wirkliche „Theerakne" sich entwickeln sehen.
Intoxicationen (Fieber, Erbrechen,
Uebelkeit, Diarrhoeen mit Entleerung
schwarz gefärbter Massen, schmerz- und
krampfhafte Entleerung dunkelgrünen oder
schwarzgefärbten Urins) sind von mir nie
beobachtet worden, obgleich das Empyro¬
form bei den ausgebreitetsten Ekzemen, in
einem Falle sogar bei einem universellen
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Ekzem des ganzen Körpers, ferner auch
bei einem Nephritiker angewandt wurde.
Als ein ganz besonderer Vorzug des
Empyroforms ist schliesslich noch hervor¬
zuheben, dass es die Fähigkeit besitzt, auch
Menschen, welche/Theer vorher nicht
vertrugen, langsam an diesen zu ge¬
wöhnen. Der Abschluss einer idealen
Ekzemtherapie besteht nun einmal in einer
Theerbehandlung; es ist also ein Vortheil,
jetzt in dem Empyroform ein Mittel zur
Hand zu haben, welches uns selbst in hart¬
näckigen Fällen, in denen der reine Theer
nicht vertragen wird, in den Stand setzt,
über diese Klippe hinwegzukommen. Ich
habe wiederholt in solchen Fällen das
Empyroform benutzt und gutes gesehen:
Patienten, welche Theer vorher nicht ver¬
trugen, bei denen selbst die vorsichtigste
Anwendung von Theer Reizungen, neue
Ekzemschübe hervorrief, haben sich durch
Behandlung mit Empyroform an Theer ge¬
wöhnt, so dass später nicht nur Theer in
Form einer schwachen Theer-Zinkpaste,
fondern auch als Theertinctur gut vertragen
wurde, wodurch das Ekzem einer definitiven
Heilung zugeführt wurde.
Ausser Ekzem, bei dem ich so günstige
Resultate hatte, habe ich auch einige Fälle
von Psoriasis, Prurigo, Trichophytie mit Em¬
pyroform behandelt. Indess lieferte diese Be¬
handlung keine befriedigenden Ergebnisse.
Wenn ich nun noch einmal kurz reca-
pituliren und die Vorzüge des neuen
Mittels zusammenfassen darf, dessen
günstige Wirkung wahrscheinlich der Kom¬
bination des Theeres mit Formaldehyd zu
danken ist, so muss ich zuerst wieder
seine in hohem Grade juckstillenden
und austrocknenden Eigenschaften be¬
tonen. Ferner ist zu rühmen, dass das
Präparat weder locale Reizungen noch
Intoxicationen hervorruft, dass man
mit dessen Hilfe Patienten langsam an
Theer gewöhnen kann, selbst wenn
dieser früher nicht vertragen wurde, und
dass das neue Theerpräparat fast ganz
geruchlos ist. Seine weniger intensive
Farbe ist in Bezug auf Reinlichkeit der
Verbände, sowie der Leib- und Bettwäsche
nicht zu unterschätzen. So darf, glaube
ich, der Einführung des neuen Mittels in
die Dermotherapie die Berechtigung nicht
abgesprochen werden.
Zum Schluss ist es mir ein Bedürfniss,
meiner Dankespflicht meinem hochverehrten
Chef, Herrn Geheimrath Neisser gegen¬
über zu genügen für die Uebertragung
dieser Arbeit und die gütige Ueberlassung
des Krankenmaterials.
39 *
Original frnm
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
308
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
Therapeutisches aus Vereinen und Congressen.
Therapeutisches vom 32. Congress der deutschen Gesellschaft
für Chirurgie, Berlin, 3.-6. Juni 1903.
Bericht von Dr. W. Klink -Berlin.
Unter dem Vorsitz von Küster tagte
vom 3.—6. Juni 1903 der 32. Chirurgen¬
kongress. Die Beteiligung war eine sehr
grosse, auch aus dem Ausland; das Pro¬
gramm war umfangreich und mannigfaltig,
die Theilnahme bis zum letzten Augen¬
blick eine sehr rege.
Einen grossen Theil der Verhandlungen
nahm die Abdominalchirurgie ein. Der
Vortrag von Kraske über Beckenhoch¬
lagerung und ihre Gefahren gab, wie bei
der Wichtigkeit des Gegenstandes für die
moderne Abdominal- und Beckenchirurgie
zu erwarten, zu eifriger Discussion Ver¬
anlassung. Kraske giebt selbst die grossen
Vortheile der Lagerung zu, hat aber ver¬
schiedene üble Erfahrungen gemacht, die
er der Methode zur Last legt, so Pero¬
neuslähmung, Emphysem der Bauchdecken
bei Laparotomie, Exitus bei Myocarditis
trotz Aethernarcose, Darmverschluss, Ab¬
schnüren des Colon durch das Netz. Be¬
sonders bei fetten Personen wirkt wohl
die Stauung in der V. gastr. sup. nach¬
theilig. König ist besonders bei der Ope¬
ration von Bauchabscessen mit der Becken¬
hochlagerung vorsichtig. Kümmell,Tren¬
delenburg, v. Eiseisberg, Lauenstein
haben wenig Nachtheile, aber viel Vor¬
theile von der Beckenhochlagerung ge¬
sehen.
Wullstein bespricht vergleichend-ana¬
tomisch und entwicklungsgeschichtlich die
Pathologie des Sanduhrmagens. Ausser
den bisher üblichen Verfahren zur chirur¬
gischen Heilung dieser Erkrankung em¬
pfiehlt er ein Vorgehen, dass er an Hunden
ausprobirt hat, nämlich Gangränerzeugung
des Sporns durch Umstechung und Gefäss-
unterbindung. Narath demonstrirt einen
von ihm construirten, recht praktischen
Apparat zur Erleichterung der Magendarm¬
operationen, „Gastrophor“ genannt. Zur
Technik der Gastroenterostomie spricht
noch v. Kader.
Petersen berichtet über die Erfolge
der Heidelberger Klinik bei der Operation
von Magencarcinom. Von 30 Patienten,
bei denen wegen Carcinom Magenresection
ausgeführt wurde, sind 12 bei der Ope¬
ration gestorben, von den übrigen 18 sind
noch 7 am Leben. Die Resection selbst
wird sehr ausgedehnt gemacht, weniger
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radical wird bei der Ausräumung der re¬
gionären Lymphdrüsen vorgegangen. Die
Resultate bei diesem Vorgehen und seine
mikroscopischen Untersuchungen führen
ihn zu dem Schluss, dass in den Drüsen
viele Carcinomzellen zu Grunde gehen, da
man annehmen muss, dass schon Meta¬
stasen in den regionären Drüsen bestehen.
Die Resultate der Magenchirurgie sind
besser, als man jetzt allgemein anzunehmen
geneigt ist. Seine Statistik zeigt, dass die
Gastroenterostomie das Leben durchschnitt¬
lich um 4—5 Monate, die Magenresection
um 6—8 Monate verlängert. Das Magen¬
carcinom hat mehr die Neigung, sich in
der Schleimhaut auszudehnen, während das
Rectumcarcinom mehr nach der Tiefe
wächst.
Brodnitz zeigte das Präparat eines
peptischen Magengeschwürs, dass sich
nach Gastroenterostomie gebildet hatte.
Es war mit den Bauchdecken fest ver¬
wachsen und machte den Eindruck einer
Netzhernie. Die ganze gastroenterostomo-
tische Partie musste entfernt werden.
Entstehung einer Magenfistel, die bei Rec¬
talernährung leicht heilte. Jetzt hat sich
wieder ein Ulcus pepticum gebildet, das
intern erfolgreich behandelt wird.
Steiner theilt einen Fall schwerer
chronisch eiteriger Dysenterie mit, der
durch temporäre Darmausschaltung geheilt
wurde.
Ueber selbstständige Reparation von
Darmstenose, die dit Symptome einer In-
vagination zeigte, spricht Haasler unter
Anführung einiger Fälle. Schl off er führt
die Entstehung mancher Stricturen auf Ver¬
letzung des Mesenteriums zurück; Darm¬
narben konnte er experimentell so erzeugen.
In einem grossen Bruchtheil von Her¬
nien bei Kindern hat Maass einen neu¬
gebildeten Bruchsack gefunden; die Bruch¬
pforte braucht nicht verändert zu sein.
Bei Nabelbrüchen empfiehlt er statt der
fortlaufenden Naht die Tabaksbeutelnaht
Seine Erfahrungen beziehen sich auf 80
Fälle von Hernien, sie werden von Cr edel
bestätigt. Zur Behandlung von Hernien
empfiehlt Eckstein Hartparaffinprothesen.
Diese Methode wird in der Discussion
verworfen. Eine operable Hernie ist zu
operiren, die Paraffinprothese verdeckt
Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
309
die Hernie, aber sie heilt sie nicht. Der
Unterschied zwischen Hart- und Weich¬
paraffin ist in den Resultaten und der
Gefahr der Embolie nicht gross, wohl
aber der Unterschied in der Schwierigkeit
der Herstellung der Prothesen.
Clairmont hat den experimentellen
Nachweis geliefert, dass die Darmgifte,
die sich bei Ileus bilden, von Bakterien
stammen; es sind echte Toxine, wie ihre
Hitzebeständigkeit zeigt. Immunisirungs-
versuche mit Serum waren erfolglos.
Die Vorträge von Payr über Frühope¬
ration der Epityphlitis und von Sonnen¬
burg und Federmann über die Bedeutung
der Leukocytose bei der Perityphlitis gaben
Anlass zu einer recht lebhaften Discussion,
die leider wegen der Fülle der noch aus¬
stehenden Vorträge abgekürzt werden
musste. Payr macht darauf aufmerksam,
dass unter Frühoperation ein Vorgehen
nach den allerersten Erscheinungen von
Appendicitis zu verstehen ist, die noch
ganz leicht sind, denn die ersten stürmi¬
schen Erscheinungen können schon eine
Perforation bedeuten, und dann kann von
einer Frühoperation keine Rede mehr sein.
Wohl nur auf diesen Unterschied im Be¬
griff der Frühoperation ist auch der Unter¬
schied von 2—3 % Mortalität in seinen
Fällen gegen 6—9% in Sprengel’s Fällen
zurückzuführen. Die Operation soll nach
dem allerersten Anfall ausgeführt werden.
Wenn auch die Fossa iliaca frei ist, so
kann der Processus vermiformis verlagert
und schwer erkrankt sein, und Abwarten
kann verhängnisvoll werden. Sprengel
ist ein überzeugter Anhänger der Früh¬
operation. Seine Resultate haben sich un¬
geheuer verbessert, seitdem er im Braun¬
schweiger Krankenhaus alle Perityphlitiden
auf die chirurgische Abtheilung bekommt
und sie früh operiren kann. Er macht
keinen Flankenschnitt, sondern eröffnet
neben dem M. rectus. Noch begeisterter
spricht sich Riedel für die Frühoperation
aus. Er hat die Aerzte in der Umgegend
von Jena für die Frühoperation zu inter-
essiren verstanden und erhält deshalb die
Kranken recht frühzeitig. Er operirt sofort,
wenn die Kranken eingeliefert und die
Diagnose sicher gestellt ist. Mittels Zick¬
zackschnitt eröffnet er die Bauchhöhle
über dem Appendix; ist der Appendix
krank, aber noch nicht perforirt, so ex-
stirpirt er ihn und näht den Bauch wieder
zu; ist er bereits perforirt, so wird drainirt.
Auch Körte spricht sich für die Früh¬
operation aus. Kümmell räth, zu indi-
vidualisiren. Man sähe den Fällen meist
an, ob man gleich operiren müsse, oder
man bis zum intermediären Stadium warten
könne. Sei letzteres möglich, so sei es
immer zu empfehlen, da dann die Verhält¬
nisse einfacher und die Virulenz der Eiter¬
erreger abgeschwächt sei. Es sei immer
zu bedenken, dass eine Laparotomie ein
schwerer Eingriff sei. Meisl führt nach
seinen Untersuchungen die Obliteration
des Processus auf eine Endophlebitis obli-
terans zurück. Federmann hat in einer
grossen Reihe von Perityphlitiden aus dem
j Material Sonnenburg’s fortlaufende täg¬
liche Zählungen der Leukocyten vorge¬
nommen. Er kam zu dem Schluss, dass
nur oft wiederholte, regelmässige Zählungen
mit Anlegung einer Curve von Werth sind.
' Er glaubt, aus der Bestimmung der Leuko-
I cytose einen Schluss darauf ziehen zu
dürfen, ob der Verlauf der Krankheit ein
i gutartiger oder stürmischer sein wird.
Auch bei freier Peritonitis giebt die Leuko-
! cytose einen guten Prüfstein für die Schwere
der Erkrankung ab. Dauernde erhebliche
i Vermehrung der Leukocyten zeigten die
‘ Fälle, die in Heilung übergingen, während
I die Fälle mit tödtlichem Ausgang eine
! schnell abfallende Leukocytose zeigten.
Federmann legt der Bestimmung, der
Leukocytose grossen diagnostischen und
prognostischen Werth bei, allerdings unter
gleichzeitiger Beobachtung des klinischen
Bildes. Demgegenüber sprach sich Spren¬
gel, dessen einfache, kritische Erörterungen
überhaupt sehr überzeugend wirkten, dahin
aus, dass nach seinen Erfahrungen der Be¬
stimmung der Leukocytose kein Werth
beizumessen sei, sie sei nur ein Mittel der
Internen, den Chirurgen von der Operation
abzuhalten. In demselben Sinne sprach
sich Riedel aus, der besonders darauf auf¬
merksam machte, dass durch Blutkörperchen¬
zählerei oft der richtige Zeitpunkt für die
Operation versäumt werde.
v. Brunn berichtet über Pneumococcen-
peritonitis. Dieselbe lokalisirt sich meist
unterhalb die Nabels; die im Bauch vor¬
handene Flüssigkeitsmenge ist sehr gross,
die Temperaturcurve entspricht nicht einer
eiterigen Peritonitis. Das Exsudat ist sehr
fibrinreich und neigt zur Abkapselung. Im
Anfang bestehen oft Durchfälle, später ist
Verwechselung mit Tuberkulose möglich.
Spontanheilung durch Durchbruch, meist
am Nabel, kommt vor.
In einem Fall, der wie Tumor des
Ductus choledochus aussah, fand Körte
eine Verengerung der Choledochusmündung.
Er spaltete den verengernden Ring, er¬
weiterte ihn, vernähte die Erweiterung,
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Gougle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
310
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
führte einen Nelatonkatheter ein, den er
nach aussen leitete. Auch den Ductus
Wirsungianus drainirte er. Die Heilung
erfolgte per primam. An dem gewonnenen
Pankreassaft wurden interessante physio¬
logische Erfahrungen gemacht.
Bunge hat mit Erfolg versucht, Pankreas¬
blutung und Fettgewebsnekrose zu er¬
zeugen. Er schreibt der Embolie grosse
Bedeutung zu und räth sofortigen Eingriff,
v. Beck hat im Anschluss an andere Ope¬
rationen dreimal Pankreasblutung erlebt.
Köhler hat zwei derartige Fälle mit Erfolg
operirt.
Kümmell trägt seine reichen Erfah¬
rungen über die neuen Untersuchungs¬
methoden und operativen Erfolge bei Nie¬
renkrankheiten vor. Nierensteine können
seiner Ansicht nach bei jedem Patienten
und bei jeder Grösse und Beschaffenheit
der Steine auf der Röntgenplatte wieder¬
gegeben werden. Der Ureterenkatheteris-
mus bietet grosse Vortheile. Er ist unge¬
fährlich, auch bei Blasentuberkulose. Die
Kryoskopie des Harns beider Nieren, der
gesondert aufgefangen wird, giebt wichtige
Aufschlüsse über die Erkrankung der bei¬
den Nieren und ist für die Aussichten einer
Operation von grossem prognostischen
Werth. Das gilt auch für die Diagnose
einer aufsteigenden Nephritis bei Prostata¬
hypertrophie. Bei grossen gutartigen Tu¬
moren und bei Infektionskrankheiten, wie
Typhus abdominalis u. a. m., konnte er die
von anderer Seite beobachtete Erniedrigung
des Blutgefrierpunktes nicht finden, hin¬
gegen ist in den späteren Stadien bös¬
artiger Tumoren, wenn der allgemeine Stoff¬
wechsel gestört ist, der Blutgefrierpunkt
erniedrigt. Bei weiterer Vervollkommnung
der Kryoskopie wird man den Nierentod
vermeiden können. Barth bezweifelt es,
dass alle Nierensteine sich mit dem Rönt¬
genapparat nachweisen lassen. Betreffs
Ureterenkatheterismus und Kryoskopie des
Urins ist er derselben Ansicht, wie Küm¬
mell. Unterstützt wird die Kryoskopie
durch die Phloridzinmethode, d. h. durch
die Fähigkeit jeder einzelnen Niere nach
Phloridzininjektion Zucker auszuscheiden.
Die funktionelle Nierendiagnostik giebt uns
heute bisweilen die Berechtigung, ruhig
zuzusehen, wo man früher sicher zum
Messer gegriffen hätte. Die Gefrierpunkts¬
bestimmungwird diagnostisch ergänzt durch
die elektrische Leitungsfähigkeit, wie Lö¬
wenhardt gefunden hat, da dieselbe mit
ihr parallel geht. Derselbe stellt eine Pa¬
tientin vor, deren trostlosen Zustand er
bedeutend gebessert hat, indem er bei
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rechtsseitiger Pyonephrose und linksseiti¬
ger Pyelonephritis bei rechtsseitiger Ab¬
knickung des Ureters Dauerkatheterismus
beider Ureteren ausführte. Riese äusserte
sich zur Klinik der subcutanen Nieren¬
verletzungen. Die Gefahren bestehen in
Peritonitis, Verblutung, Eiterung, Später¬
krankung, Sackbildung, Aneurismen etc.
491 einschlägige Fälle hat er zusammen¬
gestellt. In den meisten Fällen, die ope¬
rativ behandelt wurden, reichte die Lapa-
ratomie nicht aus, sondern die Niere musste
noch freigelegt werden. Es ist deshalb
immer der Lumbalschnitt von vorn herein
auszuführen, natürlich nur in schweren
Fällen; in leichten Fällen ist exspectativ
vorzugehen. Körte hat in 13 Jahren Ge¬
legenheit gehabt, 31 Nierenrupturen zu be¬
obachten; hiervon heilten 26, 5 starben;
19 isolirte Nierenrupturen heilten alle. In
27 Fällen war die Behandlung exspectativ.
Auch v. Beck räth, nur bei schweren
Komplikationen sofort operativ vorzugehen.
22 Mal war er in die Lage gesetzt, wegen
Nierenzerreissung einzuschreiten. Einmal
musste er eine zugleich zerrissene Milz
exstirpiren; in einem anderen Fall exstir-
pirte er sie nicht und sie heilte ebenso
wie die zerrissene Niere. Behandlung be¬
stand in Ruhelage und Eisblase.
Hock demonstrirt ein Instrument zur
Separation der Blase und gesonderten Auf-
fangung der Urine beider Nieren. Kutner
empfiehlt warm die Bottini’sche Opera¬
tion. Er demonstrirt einen 600 g schweren
Blasenstein, den er durch Sectio alta mit
Abtragung der Recti entfernt hat; 2 Tage
nach der Operation ging der Kranke an
Urämie zu Grunde. Bei der Section fanden
sich die Nieren weitgehend erkrankt. Bei
Seitenschnitten der Bottini’schen Opera¬
tion erlebte Freudenberg in 2 Fällen
tödtliche Nachblutung; die Schnitte waren
über die Prostata hinausgegangen. Ferner
sah er einen eigenthümlichen Fall von
Blasenruptur bei Bottini'scher Operation:
trotz sofortiger Laparotomie Tod. Schoe-
maker bevorzugt die Prostatectomia supra-
pubica. Die anatomischen Studien über
den Blasenverschluss bei Prostatahyper¬
trophie führten Reerink zu dem Schluss,
dass die perinealen Methoden bei Prostata¬
hypertrophie vorzuziehen sind. Eine neue
Art des Blasenschnittes giebt Frank an.
Bei einem 4jährigen Knaben bildete
sich nach Ueberfahrung in Folge Leber¬
ruptur mit Verletzung der Gallenwege ein
grosser abgekapselter Gallenerguss. Sechs
Wochen nach der Verletzung machte Hahn
die Laparotomie; die Rupturstelle im Duc-
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
31 1
tus cysticus oder choledochus, war nicht
zu finden, doch bestand eine Verwachsung
einer Jejunumschlinge mit dem Colon trans-
versum und hier eine Oeffnung. Tampo¬
nade. Heilung nach 6 Wochen.
Schloffer sucht an der Hand von fünf
Operationsgeschichten und Photographien
und Präparaten nachzuweisen, dass die ab¬
dominale Methode der Rectumexstirpation
nicht so schwierig ist, als allgemein ange¬
nommen wird. Kümmell ist derselben
Ansicht. Er benutzt die abdominale Me¬
thode als Voroperation zur Lockerung des
Mesorectums und führt danach die Exstir¬
pation von unten aus, ohne Knochenope¬
ration. Auch Kraske spricht sich für die
kombinirte abdominal-sacrale Methode aus.
Riedel spricht über die Behandlung
des Kryptorchismus. Die Schwierigkeit der
Operation besteht darin, den Testikel ins
Scrotum herunterzuholen, nicht, ihn darin
festzuhalten. Ursache ist nicht die Rigi¬
dität des Samenstranges, sondern die Ver¬
kürzung der Vasa spermatica; sie müssen
gedehnt werden. Er legt den Schnitt höher
oben an. Auch König (jun.) ist dieser
Ansicht. Heidenhain lässt 2 — 3 Jahre
lang ein nach unten federndes Leisten¬
bruchband tragen und ist mit den dadurch
erzielten Resultaten zufrieden. Manchmal
bildet sich dabei eine Scrotalhernie, doch
verschwindet sie allmählich durch Obli¬
teration.
Im Anschluss an sieben selbst ausge¬
führte Milzexstirpationen berichtet Jordan
über seine Erfahrungen auf diesem Gebiet.
Derselbe liess sich über die von Lucas
Champonniere schon lange empfohlene
und jetzt doch wohl viel mehr, als Redner
annimmt, ausgeführte Massagebehandlung
der frischenFracturen aus. Er hat sie in über
100 Fällen der Heidelberger Klinik ausge¬
führt. Neben der Massage werden Schienen¬
verbände angelegt. Mit den Resultaten ist
er sehr zufrieden. Die Heilung war schneller
und die Function besser, als bei fest¬
stellenden Verbänden. Wenn er ja mit
dem Rathschlage, die feststellenden Ver¬
bände auf das geringste Maass zu be¬
schränken, zweifellos Recht hat, so ist
doch immer zu bedenken, dass er vor
einem Forum von Chirurgen sprach. Nur
für diese ist sein Vortrag durchweg zu
berechnen. In der Hand des praktischen
Arztes, für den denn doch die Diagnose,
die dem Chirurgen oft genug Kopfzer¬
brechen macht, nicht immer sicher zu
stellen ist, und der nicht immer über einen
Röntgenapparat verfügt, ist die frühzeitige
Massage ein recht zweischneidiges Schwert,
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er wird gut daran thun, sich recht oft der
stillstellenden Verbände zu bedienen, aller¬
dings möglichst wenig und nur den un¬
bedingt stillzustellenden Theil der Extre¬
mität in Verband legen. Ausserdem dürfen
wir wohl auch noch erwarten, dass von
chirurgischer Seite gegentheilige Erfahrun¬
gen laut werden, denn von einer allge¬
meinen Anwendung der Methode kann vor¬
läufig natürlich noch keine Rede sein.
Jordans Ansicht wurde von Barden¬
heuer ebenfalls vertreten.
In einem Falle von altem Kniescheiben¬
bruch mit Quadricepslähmung hat Schanz
den Sartorius an den beiden Patellafrag¬
menten festgenäht. Das Resultat ist vor¬
züglich; der Patient geht ungestört, steigt
Treppen, streckt das Bein kräftig.
Kölliker lässt der Versammlung eine
Schiene zur Behandlung des Schenkelhals¬
bruches vorführen; sie bietet nichts beson¬
ders Neues. Auch Vulpius hat zu der
Menge schon bestehender Schienenmodelle
eine neue Universalschiene aus Aluminium
zugefügt. Sie besteht aus einem Stab, auf
den beliebig Querstücke aufgeschoben
werden können. Durch die Biegsamkeit
des Metalls lässt er sich den verschieden¬
sten Formen anpassen. Die Schiene ist
leicht, was wohl auch ihr einziger Vorzug
vor manchen schon bekannten Modellen
ist. Warnekros zeigt eine abnehmbare
Schiene zur Heilung von Unterkiefer¬
brüchen.
Im Gegensatz zu der in letzter Zeit
vielfach empfohlenen blutigen Behandlung
veralteter Hüftgelenkluxationen empfiehlt
Gold mann die unblutige Methode. Er
fand eine Erleichterung der Reposition
darin, dass er die hintere Luxation in eine
vordere verwandelte und umgekehrt. Seine
Resultate waren gut.
In einem Fall von veralteter Luxatio
radii nach vorn hat Riese die blutige Re¬
position mit Erhaltung des Capitulum radii
ausgeführt. Das Resultat ist gut, wie der
vorgestellte Patient beweist. Sprengel
hat in einem derartigen Fall auch die
blutige Reposition versucht, hat aber dann
doch, um ein gutes Dauerresultat zu be¬
kommen, die Resection des Radius¬
köpfchens anschliessen müssen. Katzen¬
stein hat aus der Gelenkkapsel ein künst¬
liches Ligamentum annulare gebildet, mit
gutem Erfolg. König ist für Resection
des Radiusköpfchens, da die Resultate
ebenso gut seien.
Bunge hat aus dem Material der
Königsberger Klinik eine reiche Zusammen¬
stellung über die Frage der Bedeutung von
Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
312
Juli
Die Therapie der
traumatischen Schädeldefecten und deren
Deckung geschaffen. Die Patienten mit
offenen Schädeldefecten haben zumeist
dauernde Beschwerden zurückbehalten, die
um so grösser waren, je älter die Schädel-
defecte waren. Bei einigen hat sich in der
Folge richtige Epilepsie eingestellt. Da,
wo primär oder secundär der Defect ge¬
deckt wurde, waren die Resultate gut.
Bei secundärer Deckung wurde das ein¬
gepflanzte Knochenstück häufig resorbirt.
Wo es möglich war, wurde stets die
Deckung nach Müller-König vorge¬
nommen.
Müller hat eine Phalanxdiaphyse eines
Fingers durch ein Periostknochenstück der
Ulna ersetzt. Die Function wurde vor¬
züglich, das Mitwachsen des Fingers wurde
nicht gestört. Derselbe berichtet über
Osteochondritis dissecans.
Gelenkkapselenchondrome sind nach
Riedels Erfahrungen als Folgeeiner hyper¬
trophischen specifischen Gewebswucherung
aufzufassen, der ein Trauma zu Grunde liegt.
So hat er einmal auch nach starker Zerrung
des M. brachialis int. eine knöcherne Ge¬
schwulst in diesem Muskel beobachtet und
exstirpiert.
An der Hand von Röntgenbildern weist
Ludloff auf die Bedeutung der Knochen¬
protuberanzen bei Knochentuberkulose, so¬
wie auf die grössere Durchsichtigkeit des
tuberkulös erkrankten Knochens hin. In
der Nähe der Protuberanzen sitzt immer
ein tuberkulöser Herd. Die Tuberkulose
lokalisirt sich gewöhnlich an der Knorpel¬
knochengrenze.
Stolz und Credel berichten über
2 Fälle des seltenen Schädelechinococcus.
v. Oettingen demonstrirt eine neue
Methode des Redressements des Klump-
fusses Neugeborener durch Binden. Die
Binde muss bei rechtwinklig gebeugtem
Knie über dasselbe angelegt werden. Die
Behandlung muss möglichst früh beginnen.
Für die Exarticulatio pedis durch Zirkel¬
schnitt statt der gekünstelten jetzt gebräuch¬
lichen Methoden bricht Samter eine Lanze.
Man kann oft bei dieser Methode mehr
erhalten, als bei den anderen. Der Stumpf
des vorgeführten Patienten ist gut.
Anschliessend an den vorjährigen Vor¬
trag von Mikulicz empfiehlt Borchard
bei circumscripten malignen Tumoren des
Oberschenkels die Resection statt der Am¬
putation oder Exarticulation. Bei einem
19jährigen Mädchen mit myelogenem Sar-
com des Oberschenkels ging er so vor;
er resecirte 15 cm. Die Konsolidation
dauerte längere Zeit. Jetzt ist sie geheilt.
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Gegenwart 1903.
Körte berichtet über einen Patienten mit
Spindelzellensarkom, bei dem er vor5 Jahren
die Resection ausgeführt hat. Auch Gold¬
man n ist bei drei Patienten mit Tumor
der Tibia so vorgegangen. Die Photo¬
graphien zeigen eine deutliche functionelle
Hypertrophie der Fibula des operirten
Unterschenkels nach der Resection.
Höpfner hat zahlreiche Versuche über
Gefässtransplantation und Replantation am-
putirter Extremitäten an Tieren gemacht.
So resecirte er Stücke aus Blutgefässen
und pflanzte sie umgekehrt wieder ein,
setzte Stücke der A. femoralis in die Carotis
ein. Die Einheilung erfolgte ohne Funk¬
tionsstörung, theils nach Naht, theils nach
Anwendung einer Magnesiumprothese.
Ueberpflanzung von Venen in Arterien
misslangen, desgleichen Ueberpflanzung
von Arterien zwischen verschiedenen Tier-
species. Vortragender fordert zur Nach¬
ahmung beim Menschen in geeigneten
Fällen auf. Payr hat ebenfalls mit gutem
Erfolg Gefässe transplantirt.
Interessante Ergebnisse brachte der Vor¬
trag von Krause über die chirurgische
Behandlung der nicht traumatischen Jack-
son sehen Epilepsie. Er hat die Versuche
von Hitzig wiederholt und gefunden, dass
beim Affen die hintere Centralwindung
keine Bedeutung für die Lokalisation hat.
Vier einschlägige Fälle hat er operirt. Die
anatomische Bestimmung der Centra war
in jedem Falle falsch. Er legt in grosser
Ausdehnung das Gehirn frei und bestimmt
das gesuchte Centrum durch faradische
Reizung. Ist es gefunden, so wird es in
einer Tiefe von 5 mm exstirpirt. Die
Lähmung, die nach Exstirpation von 5 bis
25 mm eintrat, ging immer zurück. Wenn
keine Veränderungen, wie Narben, Cysten
u. a. gefunden werden, ist die Prognose
schlecht. Die entfernten Theile des Gehirns
waren meist stark krankhaft verändert.
Nach der Ansicht Brauns muss dieSchädel-
öffnung grösser sein, als 5—6 cm im Quad¬
rat, wenn man sich über die Topographie
der Hirnwindungen klar werden will. Die
Heilungen sind sehr vorsichtig aufzunehmen.
Er hat 1890 einen Mann operirt, der dann
7 Jahre frei von Anfällen war, wonach sie
wieder eintraten. Kümmell glaubt auch
nicht an eine Dauerheilung, sieht aber schon
einen grossen Erfolg darin, dass die Kranken
auf Monate oder Jahre von ihren Leiden
befreit werden. Derselben Ansicht ist
Jolly.
Bei Kopfschüssen hat Wilms unter
dem Kinn beiderseits eine hyperalgetische
Zone gefunden, die er auf das 2., 3. und
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UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
313
4. Cervicalsegment und Anastomosen des
Plexus caroticus mit dem Halsmark zurück¬
führt. Brodnitz sah einen ebensolchen
Fall. Müller konnte das Symptom an sich
nach Aufraeisselung des Warzenfortsatzes
feststellen.
Ringel teilt Fälle von ausgedehnter
Rippenresection mit Resection der Scapula
mit. Franke beschreibt eine interessante
Verletzung. Durch Sturz von der Leiter
bohrte sich ein Besenstiel 36 cm weit im
3. Intercostalraum in den Thorax einer
Frau. Er ging translateral durch beide
Thoraxhälften hindurch, verletzte aber an
der Austrittsstelle die Haut nicht. Dieser
Umstand rettete der Frau das Leben. Es j
bildete sich ein ungeheures Hautemphysem '
an Brust, Hals und Kopf und doppelter ,
Pneumothorax. Der Besenstiel wurde heraus- j
gezogen; feste Tamponade und Verband.
Glatte Heilung in 14 Tagen. Dasselbe sah j
v. Beck nach einer derartigen Verletzung
durch eine Pistolenkugel. Rehn und j
Garre sind für Annähung der Lunge bei |
traumatischem Pneumothorax, v. ßramann i
empfiehlt in solchen Fällen Einnähung eines j
festen Drains in die Thoraxwunde, an dem
ein elastischer Schlauch befestigt wird.
Bei der Inspiration soll dann der Schlauch
wie ein Ventil wirken. Bezüglich Thoraco-
plastik spricht sich Jordan für multiple
Rippenresectionen ohne Entfernung der
Clavicula und Scapula aus. Die Decorti-
cation der Lunge ist dabei in jedem Fall
zu empfehlen, um ihre Ausdehnungsfähig¬
keit festzustellen. Die Erfolge bei Tuber¬
kulose sind gering, man erlebt häufig Ver¬
schlimmerung des Grundleidens nach dem
Eingriff. Rehn warntvorUnterschätzungder
Gefahren einer Thoracoplastik und erinnert
an die Bronchialfisteln. Ihm schliesst sich
Perthes an. König (jun.) ist für Incision
der Schwarten und teilweise Decortication.
Bei einer Frau von 51 Jahren, die unter
den Erscheinungen einer Pleuritis erkrankte,
entfernte v. Eiseisberg einen grossen
Mediastinaltumor,, ein Epidermoid. Von
Seiten der Lunge und des Herzens be¬
stehen keine Beschwerden mehr, nur sind
noch Neuralgien vorhanden. Ein anderer
Fall, den er früher operirt hat, hatte keinen
so guten Ausgang.
Brauer stellt 2 Patienten vor, bei denen
eine chronische Verwachsung des Pericard
mit dem Mediastinum bestanden hatte mit
Stauungen, diastolischem Herzstoss, fort¬
schreitender Herzinsuffizienz etc. Die in¬
terne Behandlung hatte gar keinen Erfolg.
Da die Herzinsuffizienz nach seiner An¬
sicht auf die Einziehung und Verwachsung
der unnachgiebigen Thoraxwand zurück¬
zuführen ist, so resecirte er die in Betracht
kommenden Rippenknorpel, in einem Fall
auch ein Stück des Sternum. Die Myo-
carditis schwand nicht ganz, wohl aber
Ascites, Leberstauung, Cyanose, und die
Leute wurden wieder arbeitsfähig. Cardio-
lysis verlängert den Eingriff sehr, was
bei der Gefahr der Narkose in diesen Fällen
sehr zu berücksichtigen ist, ausserdem
kehren die Verwachsungen doch wieder.
Das Periost muss auch entfernt werden,
damit sich keine neuen Rippen bilden.
Gross war die Zahl der neu mitgetheilten
Fälle von operativ behandelter Herzver¬
letzung: Bei einer Stichverletzung des
rechten Vorhofs resecirte Schwerin den
4. und einen Theil des 5. Rippenknorpels,
erweiterte die Herzbeutelwunde, zog das
Herz an einem Haltefaden, den er nach
Pagenstechers Vorgang durch die Herz¬
spitze legte, heraus und vernähte die kleine
Wunde. Trotz Pneumonie, Pleuritis, Em¬
pyem der Pleura und des Pericard, die
sich einstellten, heilte der Mann nach
2 Monaten. Noll ging bei einer Schuss¬
verletzung des Herzens folgendermassen
vor: Erweiterung der Einschussöffnung in
Thoraxwand und Pericard; Naht der 17* cm
langen Wunde, die stark blutete. Drainage
des Pericard und der Pleura. Empyem.
Heilung. Kugel (7 mm) lag unten in der
linken Pleurahöhle. Bei einer Stichver¬
letzung des linken Ventrikels mit völliger
Pulslosigkeit zog Wolf, um die Wunde
vernähen zu können, das Herz mit einer
Kugelzange heraus. Nach 14 Tagen Exitus
an Empyem der Pleura und des Pericard.
Barth räth auf Grund von 3 eigenen
Fällen, von denen einer starb, die Wunde
im Pericard zu nähen, nicht zu drainiren,
da die Drainage zu ausgedehnten Ver¬
wachsungen mit der Thoraxwand führe.
Rehn hält das Fassen mit der Kugelzange
für sehr gewagt. Man solle immer der
Wunde nachgehen und nicht die Thor¬
flügelmethoden anwenden. König hält
die typischen Methoden für nicht entbehr¬
lich, wenn z. B. die Verletzung von hinten
oder von der Seite her erfolgt ist.
Zur Exstirpation von Lymphdrüsen am
Hals und unter dem Kiefer, die noch be¬
weglich sind, beschreibt Dollinger ein
sehr umständliches Verfahren, das er seit
11 Jahren übt und in 128 Fällen erprobt
hat. Er legt am hinteren oberen Rande
des M. sternocleidomastoideus einen 6 cm
langen Schnitt an und entfernt von hier
aus die Drüsen. Die Blutung ist gering
und die hässlichen Narben fallen weg.
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Gck igle
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314
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
Katolizki stellt einen Fall von ausge¬
breitetem Lymphangiom der Hand und des
Vorderarms vor, unter dessen Einfluss
Knochenschwund und mehrfache Spontan-
fracturen durch Druckatrophie eintraten.
Payr hat in einem Fall von Lymphangiom
des Gesichts Gerinnung und Heilung durch
Versenkung mehrerer Magnesiumpfeile er¬
zielt, v. Bramann hat Erfolg mit Injection
von Carbolsäure gehabt.
Wu liste in räth, zur Heilung des Caput
obstipum nicht nur den verkürzten Sterno-
cleidomastoideus zu durchschneiden, son¬
dern auch den gesunden um A —6 cm zu
verkürzen. Die Gefahr eines Recidivs auf
der früher gesunden Seite bestehe nicht.
Bei Facialislähmung hat Hackenbruch
auf den Facialis s /s des der Länge nach
gespaltenen N. accessorius aufgepfropft.
Nach 9 Monaten wurden die Mundwinkel
schon bewegt. Auch mit Pfropfung des
N. tibialis auf den N. peroneus bei spinaler
Kinderlähmung hat er Glück gehabt. Körte
hat mit gutem Erfolg den Hypoglossus auf
den gelähmten Facialis gepfropft. D o 11 i n g e r
räth, den Ramus cervicalis des N. acces¬
sorius zur Anastomose zu nehmen, da nach
Resection der Nerven nicht selten Läh¬
mungen im Sternocleidomastoideus auf-
treten.
Bei Kropffisteln, mögen sie auf Fremd¬
körper, Strumitis, Tuberkulose, Neubildung
zurückzuführen sein, räth Payr, den Herd,
eventuell die kranke Drüsenhälfte, zu be¬
seitigen.
Bei einer Frau, der die ganze Kopf¬
haut durch eine Maschine abgerissen
war, hat Karg den Verlust gut durch
Thiersch’sche Transplantationen ersetzen
können.
Ehrhardt empfahl die Intubation an
Stelle der Tracheotomie wegen der Kürze
der Behandlungsdauer.
Braun, Perthes, Meisl berichten über
lokale Anaesthesie mit 1% Cocain, dem
1—5 Tropfen der gewöhnlichen Adrenalin¬
lösung zugesetzt sind. -
Perthes hat von 18 Fällen mit Warzen
der Hand 16 völlig durch Röntgenstrahlen
geheilt. Die Röntgenstrahlen sind ein Feind
der Epithelzellen. Auch ein Ülcus rodens
carcinomatöser Natur an der Stirn und ein
Recidiv eines Mammacarcinoms in der
Operationsnarbe hat er so geheilt. Die
weichen Röhren sind für die Behandlung
oberflächlicher Carcinome, die harten Röhren
für tiefe zu verwenden. Auf das Binde¬
gewebe wirken die Strahlen wenig. Lassar
hat auch ein Cancroid der Nase mit Be¬
strahlung geheilt. Nach seiner Erfahrung
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heilen auch viele Dermatitiden auf Bestrah¬
lung. Kümmell erzählt, dass er bei einem
Arbeiter unter dem dauernden Einfluss der
Röntgenstrahlen am Handrücken sich ein
Ekzem, danach ein Ulcus und aus diesem
ein Carcinom sich bilden sah, das Ampu¬
tation nöthig machte.
Küttner hat die alten Versuche über
Bluttransfusion wiederholt und hat eben¬
falls feststellen können, dass Blut ein be¬
sonderer Saft ist. Wenn reine Kochsalz¬
infusionen wirkungslos waren, so hat er
noch Erfolg gehabt mit physiologischer
Kochsalzlösung, die mit Sauerstoff gesättigt
war. Er demonstrirt einen kleinen hand¬
lichen Apparat zur Aufnahme von Koch¬
salzlösung und Sättigung mit Sauerstoff
und dann zur Infusion.
Gärtner zeigt einen kleinen Apparat,
der während der Narkose am Arm des
Patienten angebracht wird und an dem der
Puls vermöge eines sich bewegenden
Zeigers beobachtet werden kann.
Heusner empfiehlt zur Sterilisirung
seidener Katheter Kochen in schwefel¬
saurem Ammoniak oder Zuckerlösung oder
Paraffinlösung. Freudenberg wickelt die
Katheter in Fliesspapier, damit sie sich
nicht berühren und sterilisirt sie in strö¬
mendem Dampf.
Wessely stellte Versuche über die
Wirkung lokaler Reize und lokaler Wärme-
application an. Sie haben nur theoretisches
Interesse.
Dührssen berichtet über seine sehr
günstigen operativen Erfolge in Bezug auf
Asepsis. Die Heisswasser-Alkohol-Subli-
matdesinfection der Hände reicht nach
seiner Ansicht völlig aus. Ne über hat
durch strenge Asepsis, die er seit 18 Jahren
durchgeführt, es auf 97°/ 0 primäre Heilungen
gebracht. Grossen Werth legt er auf Hände¬
pflege des Operateurs, da eine rissige Haut
sich schlecht desinficiren lässt. Der Kranke
muss gut vorbereitet werden. Die P6ans
werden an der Spitze erhitzt, damit die
Blutgerinnung schneller eintritt. Statt der
Nähte verwendet er Michaux’sche Metall¬
klammern. Man soll möglichst trocken
operiren. Lauenstein weist darauf hin,
dass man auch bei schon inficirten Sachen
streng aseptisch Vorgehen muss. Nach
Neubers Erfahrungen ist das Jodoform in
Höhlenwunden, bei Injection in die Ge¬
lenke das wirksamste unter unseren Anti-
septicis, weil es sich hier am meisten
zersetzt und den wirksamen Körper, das
Jodacetylen abspaltet.
Ein Abend war der Vorführung von
Projectionsbildern gewidmet. Zu Ehren-
Qriginal from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
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mitgliedern wurden Czerny und Kocher,
zum Vorsitzenden für das nächste Jahr
B rau n-Göttingen gewählt. Mit dem Kongress
war eine Ausstellung verbunden. Auf der¬
selben fielen besonders die schönen Rönt¬
genbilder von injicirten Gefässen von
Stegmann aut. Ausser vielen bewährten
alten Sachen war wenig besseres Neues
ausgestellt, namentlich kommt man in dem
Kapitel Operationstisch nächstens wohl an
die Grenze des möglichen Unpraktischen
und Unschönen.
Zweiter Congress der Deutschen Gesellschaft für orthopädische
Chirurgie.
Bericht, erstattet von Prof. Dr. Joachlmsthal -Berlin.
Am 2. Juni fand in Berlin in dem Audi¬
torium der chirurgischen Universitätsklinik
unter Hoffa’s Leitung der zweite Congress
der Deutschen Gesellschaft für orthopädische
Chirurgie statt. Als Hauptverhandlungs¬
themata hatte die Congressleitung die Frage
der Sehnenplastik und die Besprechung
der Schenkelhalsverbiegungen, mit
besonderer Rücksichtnahme auf ihre Aetio-
logie, bestimmt.
Vulpius (Heidelberg)berichtet als erster
Referent, gestützt auf über 400 eigene Ope¬
rationen, über den heutigen Stand der
plastischen Sehnenoperationen. Er
bespricht nach einander 1) die plastische
Verlängerung, 2) die Verkürzung der
Sehnen, 3) die Sehnenüberpflanzung.
Die plastische Verlängerung wird er¬
zielt durch den Treppenschnitt nach Bayer
und seine subcutane Modification, durch
frontale Spaltung der Sehne, durch Sehnen¬
durchschneidung im Bereiche des Muskel¬
bauches, durch Anlegung einer künstlichen
Sehne. Die Heilung verläuft wie die der
Tenotomiewunde: an die primäre binde¬
gewebige Regeneration schliesst sich eine
secundäre tendinöse Regeneration an. Die
Resultate sind bezüglich der Form und Func¬
tion der operirten Sehne sehr gute zu nennen.
Die Verkürzung erfolgt durch Ex-
cision eines Sehnenstückes, Durchschnei¬
dung der Sehne und longitudinale Ver¬
schiebung, durch Faltenbildung, durch Raff¬
naht, durch aufsteigende periostale Ueber-
pflanzung. Die Heilung kommt unter leb¬
hafter Regeneration und Degeneration zu
Stande. Ihre Indicationen findet diese Ope¬
ration bei Ueberdehnung von Muskel-
Sehnennarben, paretischer Erschlaffung (In-
activität) etc. Die Resultate bestehen in
der Wiederkehr der Function atrophischer
Muskeln, z. B. bei der Radialislähmung, in
der Fixation schlotternder Gelenke.
Die Ausführung der Sehnenüber¬
pflanzung geschieht nach genauer Aufstel¬
lung des Operationsplans unter strengster
Asepsis und Blutleere. Vor der Transplan¬
tation muss die vorhandene Deformität cor-
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rigirt werden. Von den verschiedenen Ver-
pflanzungsmethoden bevorzugt Vulpius
die absteigende Transplantation auf den
nicht durchschnittenen Kraftempfänger. Man
überpflanze möglichst functionsverwandte
Muskeln, verlagere die Sehnen subfascial
oder durch die Membrana interossea. Die
Befestigung erfolge unter mittlerer Span¬
nung mittelst Knopf- und Kreuznähten. Als
Nähmaterial bevorzugt Vulpius die Seide.
Die Wunde wird völlig geschlossen, der
Gypsverband bleibt etwa sechs Wochen
liegen. Später kommen Massage und
Uebungen, Schienenstiefel und dergleichen
zur Verwendung. Voraussetzung für die
Ausführung der Operation ist ein Functions¬
verlust bezw. eine Gleichgewichtsstörung
innerhalb der Gelenkmuskulatur sowie das
Vorhandensein von genügend gesundem
Muskelmaterial. Das Resultat besteht in
der sofortigen Fixation des Gelenks, die
durch den Heilverlauf eine definitive wird.
Es kommt nicht zu einer völligen Resti¬
tution von normalem Sehnengewebe. Die
künstlichen Sehnen dienen als Leitseil für
die jungen Sehnenfibrillen; sie bewahren
ferner während des Heilverlaufes die rich¬
tige Spannung. Das Endresultat ist ab¬
hängig von dem Muskelbefund. Je um¬
schriebener die Lähmung war, desto voll¬
kommener gestaltet sich der Effect. Die
Erfolge bestehen in der Beseitigung der
Deformität, der Wiederkehr activer Beweg¬
lichkeit in normalen Bahnen, dem Ver¬
schwinden des Krampfes bei spastischen
Lähmungen. Ihre speciellen Indicationen
finden die Sehnenüberpflanzungen bei peri¬
pheren Lähmungen durch Verluste von
Sehnen und Nerven, bei spinalen Lähmun¬
gen, speciell bei Poliomyelitis, bei spasti¬
schen Lähmungen cerebralen und spinalen
Ursprungs. Ausser den Lähmungen eignen
sich zur Ueberpflanzung auch Fälle von
arthrogener Kniecontractur, ferner einzelne
Fälle von congenitalem Klumpfuss. Ver¬
einzelt kamen Sehnenüberpflanzungen bei
Knick- und Plattfuss, Hallux valgus, Pa-
tellarluxationen u. a. m. zur Ausführung.
40* Original fron
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
316 Die Therapie der
Lange (München) tritt als Correferent
im Wesentlichen für das in einem Falle be¬
reits von Drobnik angewandte und von
ihm weiter ausgebaute Verfahren der pe¬
riostalen Sehnenverpflanzung ein,
das darin besteht, dass der kraftspendende
Muskel nicht mit der gelähmten Sehne,
sondern direct mit dem Periost vernäht
wird. Es werden also Muskelansätze am
Knochen geschaffen, welche unter normalen
Verhältnissen garnicht existiren. Für die
Wahl der Einfügungsstelle ist es maass¬
gebend, welche Function der neugebildete
Muskel ausüben soll. Der Vorzug der pe¬
riostalen Verplanzung gegenüber der alten
Methode ist ein doppelter. Einmal gewinnt
das Resultat wesentlich an Sicherheit, weil
bei der Bildung des neuen Muskels keine
atrophische Sehne verwendet wird, und da¬
her eine nachträgliche Dehnung unter dem
Einfluss der Contractionen ausgeschlossen
ist. Einen zweiten Vorzug sieht Lange in
der Freiheit, welche man in der Wahl des
Ansatzpunktes für den neuen Muskel be¬
kommt. Man kann dadurch der ausser¬
ordentlich verschiedenen Aufgabe, welche
die Behandlung der Deformitäten stellt, in
viel präciserer Weise entsprechen, als dies
bisher möglich war. Sind die Sehnen zu
kurz, als dass sie direct mit dem Periost
an der gewünschten Stelle verbunden
werden können, so bildet Lange künst¬
liche Sehnen aus Seidenfäden. Die¬
selben erwiesen sich bei Nachoperationen
als vollkommen von neugebildetem Sehnen¬
gewebe umwachsen.
In der Discussion empfiehlt Schanz
(Dresden) lange Hautschnitte anzulegen,
weil durch diese das Operationsfeld über¬
sichtlich gemacht wird, und weil alsdann
die neuen Verbindungen in directem Ver¬
lauf zwischen Ursprungs- und Ansatzstelle
angespannt werden können. Als Material
für versenkte Nähte benutzt Schanz Draht.
Der kraftspendende Muskel wird niemals
durchschnitten. Speciell bespricht Schanz
noch seine Quadricepsplantationen.
Er verwendet als Kraftspender Sartorius und
Biceps oder statt des Letzteren den Tensor
fäsciae latae, die er in die Quadriceps-
sehne direct an der Patella einnäht. Seidene
Sehnen, wie sie Lange für nöthig erklärt,
hat er dabei niemals anzulegen gehabt.
In einem Fall von veraltetem Knie¬
scheibenbruch stellte Schanz die Func¬
tion des Streckapparates dadurch wieder
her dass er den Sartorius über die Bruch¬
stücke der Kniescheibe herüberlagerte und
mit denselben vereinigte. In neuerer Zeit
hat Schanz bei Klumpfussoperationen fast
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Gegenwart 1903.
regelmässig eine Luxation und eine Ver¬
kürzung der Peronaei ausgeführt. Man er¬
reicht dadurch einen directeren Verlauf der
Muskeln und damit günstigere Arbeits¬
bedingungen derselben; in ihrer Wirkung
setzt man an die Stelle der Beugungs- eine
Streckungscomponente.
Ueber die Bedeutung der Sehnentrans¬
plantation für die Behandlung choreati¬
scher Formen der infantilen Cere¬
brallähmung berichtet Wittek (Graz)
an der Hand der Krankengeschichte eines
9 jährigen Mädchens, das im dritten
Lebensjahre plötzlich an Convulsionen
mit gleichzeitiger Bewusstseinsstörung er¬
krankt war und nach Ablauf der acuten
Erscheinungen ein dauerndes Krankheits¬
bild mit Erscheinungen einer hochgradigen
spastischen Paraplegie, vergesellschaftet
mit Athetose und Chorea, ohne Blasen-,
Mastdarm- und Sensibilitätsstörungen dar¬
bot. Nach erfolglosen Versuchen mit an¬
deren Behandlungsmethoden wurde (erst
an dem einen Bein) der Ueopsoas teno-
tomirt, am Knie aber Biceps einerseits,
Semimembranosus sowie Semitendinosus
andererseits auf die Streckseite überpflanzt.
Nach vier Wochen zeigte sich nach der
Verbandabnahme ein überraschend gün¬
stiges Resultat. Die choreatischen Be¬
wegungen blieben am Knie vollständig aus
und erschienen an der Hüfte wesentlich
gebessert. Dasselbe Resultat Hess sich auch
am andern Bein erreichen. Durch eine
energische Uebungstherapie gelang es, die
Kranke ohne Zuhilfenahme von Schienen¬
hülsenapparaten etc. zur aufrechten selbst¬
ständigen Fortbewegung auf Krücken zu
bringen, was vordem absolut unmöglich
war. Es ist also durch die Operation nicht
nur ein Schwinden der choreatischen Un¬
ruhe, sondern auch eine willkürliche Be¬
weglichkeit ermöglicht worden. Da die Re¬
sultate am Knie (Transplantation) in beiden
Beziehungen bessere geworden sind als an
der Hüfte (Tenotomie), so empfiehlt Wittek
für analoge Fälle auf Grund von Leichen¬
versuchen eine Ueberpflanzung auch an der
Hüfte in der Form, dass der lleopsoas vom
Trochanter minor abgelöst und auf die Rück¬
seite des Trochanter major überpflanzt wird.
Codivilea (Bologna) und Reiner (Wien)
berichten über eine Methode zur tendi-
nösen Fixation von Gelenken bei
totaler Lähmung. Die Methode, die
Reiner Tendodese benennt, besteht in der
Herstellung künstlicher Insertionspunkte für
natürliche und künstliche Sehnen und be¬
zweckt die Fixation der Gelenke und die
Verhinderung des Eintritts von Lähmungs-
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
317
Die Therapie der
deformitäten resp. die Verhinderung des
Recidivs nach der Correctur. Seggel
(München) schildert seine Befunde bei
experimenteller Sehnenplastik an der Tri-
cepssehne des Kaninchens. Aus den von
Seggel demonstrirten mikroskopischen
Präparaten ist zu erkennen, dass der Blut¬
erguss, der die Plastikschlinge zunächst
umgiebt, vom Peritenonium aus organisirt
wird. Letzteres bildet in seinen äusseren
Schichten eine fibrilläre Scheide. Die Re¬
generation in der Sehne selbst setzt erst
am 15. Tage ein, nachdem eine beträcht¬
liche Hyperämie des Sehnenstumpfes zu
constatiren gewesen ist. Am 50. Tag ist der
Höhepunkt der Regeneration erreicht. Die
vom proximalen Sehnenstumpf entstandene
neue Sehne erstreckt sich durch die ganze
Länge des Defects und ist von dem noch um
den Plastikfaden nachweisbaren primären
Ersatzgewebe haarscharf geschieden. Am
90. Tage kann von einem Uebergang in den
Ruhezustand noch nicht gesprochen werden;
es können sogar auch hier noch Regene¬
rationserscheinungen in nekrotisch gewor¬
denen Sehnenpartien nachgewiesen werden.
Spitzy (Graz) bespricht im Anschluss
an die Discussion über Sehnenplastik, an
der sich mit rein technischen Mittheilungen
noch Müller (Stuttgart), Joseph (Berlin),
Gocht (Halle), Hoffa (Berlin), Möhring
(Cassel), Drehmann (Breslau), Rehn
(Frankfurt a. M.) betheiligen, einen Fall von
Luxation der Sehne des Musculus pollicis
longus. Im Verlaufe eines neuromuscu-
lären Lähmungsprocesses wurden bei einem
jungen Manne die kleinen Handmuskeln
an beiden Händen paretisch. In Folge der
Relaxation der Gewebe in den betreffenden
Gebieten, vielleicht in Folge des gestörten
Muskelgleichgewichts, glitt die schief über
den Handrücken laufende Sehne des langen
Daumenstreckers vom Metacarpusköpfchen
zeigefingerwärts ab und vermittelte in dieser
pathologischen Lage bei Contraction des
Muskels nicht mehr die Extension, sondern
die Adduction des Daumens. Das Ueber-
wiegen dieser Bewegungsrichtung war so
stark, dass der Daumen fortdauernd den
anderen Fingern angepresst gehalten wurde;
Opposition und Abduction waren auf¬
gehoben. Die Affection war in fast gleicher
Weise an beiden Händen vorhanden.
Durch Freilegung der Sehne, seitliche An¬
frischung derselben wie der Sehne des
Extensor pollicis brevis, ferner durch Ver¬
einigung („Bindung“) dieser Sehnen durch
Längsnaht wurde die luxirte Sehne reponirt
und dadurch der normale Bewegungsmodus
wiederhergestellt.
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Gegenwart 1903.
Auch das zweite für die Verhandlungen
des Congresses gewählte Thema, die Lehre
von der Coxa vara, gab Gelegenheit zu
einer anregenden Besprechung der noch
vielfach dunklen Erkrankung.
Joachimsthal (Berlin) bespricht als
Referent an der Hand von Krankheits¬
fällen, Röntgenbildern und Präparaten die
verschiedenen Formen der Sehen kelhals-
verjDiegungen. Es giebt zweifellos con-
geh.^_.le Fälle. Bei den betreffenden
Patienten werden die Erscheinungen des
Krankheitsbildes, wie bei der Hüftverren¬
kung, bei den ersten Gehversuchen augen¬
fällig. In einer von Joachimsthal be¬
sprochenen Beobachtung hatte von zwei
Geschwistern das eine fünfjährige Mädchen
eine doppelseitige angeborene Schenkel¬
halsverbiegung, während der sechsjährige
Bruder wegen einer doppelseitigen Hüft¬
verrenkung mit Erfolg dem Lorenz'sehen
Repositionsverfahren unterzogen werden
konnte. Ein elfjähriger Knabe, den
Joachimsthal vorstellt, zeigt neben einer
hochgradigen, seit den ersten Gehversuchen
beobachteten linksseitigen Schenkelhals¬
verbiegung eine auch bei einem Bruder
seit der Geburt bestehende Ichthyosis uni-
versalis. Charakteristisch ist für diese
angeborenen Fälle der Befund auf dem
Röntgenbilde, ein langgezogener, wal¬
zenförmig gestalteter Kopf, der an
der von oben aussen nach unten innen
verlaufenden Epiphysenlinie fast ohne
Hals direct in den Schenkelschaft über¬
geht.
Eine weniger typische Form ist die mit
dem angeborenen Oberschenkel-
defectinBeziehungstehendeFormder
Coxa vara congenita. Der Vortragende
demonstrirt einen vierjährigen, von ihm seit
dem ersten Lebensmonat beobachteten und
regelmässig mittelst des Röntgenverfahrens
untersuchten Knaben, an dem zunächst ein
Defect des oberen Endes des linken Ober¬
schenkels angenommen werden musste,
die weitere Beobachtung indess zeigte, dass
es sich um eine hochgradige Coxa vara
handelte, in die nicht allein der Hals,
sondern auch das obere Femurende
einbezogen war. Die in diesem Falle con-
statirte Verzögerung der Ossification in
dem abgebogenen Theil des Oberschenkels
findet sich, wie Joachimsthal an Bei¬
spielen zeigt, auch sonst vielfach bei den
sogenannten intrauterinen Fracturen.
Die rachitische Schenkelhalsverbie¬
gung äussert sich, wie der Referent an
Präparaten und Kranken zeigt, entweder
in einer Verkleinerung des Schenkelhals-
Original frorn
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
318
Juli
Die Therapie der
Winkels oder in einem Herabgleiten des
Kopfes in der Epiphysenlinie und veran¬
lasst dann zur Annahme eines speciell an
der Ossificationsgrenze gelegenen Er¬
weichungsheerdes. Die Annahme, dass bei
einem solchen Erweichungsprocess eine
wenn auch geringfügige traumatische
Einwirkung die unmittelbare Ursache der
Deformität geworden ist, hat etwas bei der
Betrachtung der Röntgenbilder ungemein
Bestechendes und gewinnt an Wahrschein¬
lichkeit, wenn, wie in einem von Joachims¬
thal demonstrirten Falle, die Erscheinungen
sich unmittelbar an ein Trauma anschliessen.
Schwieriger und zur Zeit trotz der ver¬
schiedensten Erklärungsversuche noch
völlig im Dunkeln liegen die ätiologi¬
schen Verhältnisse bei der im jugend¬
lichen Alter auftretenden sogenannten
statischen Form der Schenkelhals¬
verbiegungen. Joachimsthal bespricht
die verschiedenen Erklärungsversuche die¬
ser Affection durch die Annahme einer
Spätrachitis, einer juvenilen Osteomalacie,
durch ein Missverhältniss zwischen Aus¬
bildungsstadium und Beanspruchung des
Schenkelhalses und durch Ueberbean-
spruchung des normalen und dem Alter
entsprechend entwickelten Collum femoris.
Vielfach sind traumatische Einflüsse
im Spiel.
Endlich werden noch die im Verlaufe
der Osteomalacie, der Osteomyelitis
der Tuberkulose, Ostitis fibrosa
und Arthritis deformans auftretenden
Schenkelhalsverbiegungen an der Hand
von Präparaten kurz besprochen.
Die Discussion über diesen Gegenstand
eröffnet Schanz (Dresden); er zeigt, wie
sich das pathologisch-anatomische Bild der
Coxa vara unter dem Gesichtswinkel seiner
Theorie der Belastungsdeformitäten erklärt,
und welche Regeln aus dieser Erklärung
für die Behandlung der Deformität zu
ziehen sind. Borchard (Posen) macht auf
die Häufigkeit der Traumen bei der
Entstehung der Schenkelhalsverbiegungen
aufmerksam. Fröhlich (Nancy) hat bei
drei Fällen von essentieller Coxa vara
bakteriologische Befunde erheben kön¬
nen, denen er eine ätiologische Bedeutung
zuschreibt. Codivilla (Bologna) führt bei
der operativen Behandlung der Coxa
vara adolescentium einen Hautschnitt ent¬
sprechend dem Raum zwischen Sartorius
und Tensor fasciae latae von der Spina ilei
ant. sup. nach abwärts und entblösst in
diesem Raum die Vorderfläche der Regio
trochanterica. In der Trennungslinie
zwischen den Insertionsstellen der Gelenk¬
Gegenwart 1903.
kapsel und jenen der Mm. pyramidales,
glutaeus minimus und cruralis, d. h. gleich
nach aussen von der Linea intertrochan-
terica anterior, trennt er den Hals vom
Schaft. Der Schnitt im Sinne eines Halb¬
kreises wird mit einem passend gekrümmten
Scalpell ausgeführt. Somit wird die Regio
cervicotrochanterica in zwei Theile getheilt,
einerseits den Hals mit den Insertionen der
Kapsel und der Ligamente, andererseits
der Rest der Regio trochanterica mit
sämmtlichen Muskelinsertionen. Die krumm¬
linige Osteotomie wird zu dem Zwecke
ausgeführt, damit nur scharnierartige Ver¬
schiebungen zwischen den beiden Knochen¬
enden stattfinden können. Nach vollführter
Charnierosteotomie wird durch eine eigene
Tractionsmethode die Deformität corrigirt.
Die Methode wurde bisher in 3 Fällen bei
Individuen von 9 bis 16 Jahren ausgeführt.
Die verschiedenartigen ätiologischen
Momente der Coxa vara an der Hand von
Röntgenbildern erörtert Lu dl off (Breslau).
Reiner (Wien) beleuchtet die Beziehungen
zwischen congenitaler Coxa vara und
congenitalem Femurdefect, er weist
nach, dass am Femur im frühen Entwick¬
lungsstadium sogenannte schwache Stellen
vorhanden sind, bei deren Läsion je nach
der Stärke der äusseren pathologischen Ein¬
wirkung Coxa vara oder Femurdefect als
Zwischenstadium sich herausbilden. Zur Er¬
läuterung demonstrirt er das Skelett einer
sechsmonatlichen Frucht, welche an einer
dieser Stellen (Regio subtrochanterica) eine
Continuitätstrennung und Pseudarthrosen-
bildungen nachweisen lässt. Mit der Frage
der Coxa vara congenita beschäftigen sich
noch Franz (Berlin), Drehmann (Breslau)
und Hoffa (Berlin).
Auch sonst bot das reiche Programm
des Congresses vieles Interessante.
Ueber das Problem der absoluten
Ausgleichbarkeit des spondyliti-
schen Buckels spricht Finck (Charkow).
Nach Ablauf der ersten Erscheinungen der
Erkrankung, welche bei ruhiger Horizontal¬
lage im Lorenz'sehen Gypsbett abgewar¬
tet werden, wird durch allmählich gestei¬
gerte Unterlagen von kleinen Polstern der
Buckel von der Unterlage (Gypsbett) be¬
ständig mehr abgedrängt. Als Polster
werden kreuzweise zusammengelegte, zu¬
rechtgeschnittene Wattestreifen benutzt,
kreuzweise, damit das Centrum des Polsters
höher wird als die Peripherie. Wächst
das Polster zu sehr in die Höhe, dann
wird, der veränderten Form des Rückens
entsprechend, ein neues Gypsbett ange¬
fertigt. In dieser Lage verharren die
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
319
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Patienten so lange, bis die Rückbildung
der secundären Veränderungen und der
Totalausgleich erfolgt ist, was gewöhnlich
binnen Jahresfrist eintritt. Diese Methode
ist nur bei kleinen Buckeln anwendbar. Ist
der Buckel schon grösser (ganz grosse sind
in Ruhe zu lassen), dann muss er zunächst
durch präparatorische schonende Streckun¬
gen mit nachfolgendem grossen Calot’schen
Gypsverbande verkleinert und von seinen
Verwachsungen befreit werden. Dann erst
wird der Kranke in derselbe Weise, wie
dies eben geschildert wurde, gelagert.
Die Erhaltung der Correction ist nachher
eine verhältnissmässig leichte. Das Corset
wahrt die durch das Liegen erreichte
extreme Reclination; es ist vorne offen,
reicht bei Buckeln vom 11. Brustwirbel ab¬
wärts auf die Oberschenkel hinab, bei
höheren bis unter den Kopf. Bei ersterer Form
wird der Oberkörper durch zwei sich vorn
an den Thorax anlegende Stützen zurück¬
gehalten, ohne die Achseln zu heben. Das
Modell zum Corset muss bei horizontaler,
die Reclination wahrender Bauchlage des
Patienten gefertigt werden. Zum Corset
muss ein starres Material verwendet werden.
Die absolute Ausgleichung ist vom Vor¬
tragenden in 16 Fällen an Buckeln der
unteren Hälfte der Wirbelsäule, also vom
6. Brustwinkel abwärts, erreicht worden.
Ueber höher sitzende Buckel fehlt ihm
bisher die Erfahrung.
Bardenheuer (Köln) vertritt den
Standpunkt, dass die Naht bei frischen
Fracturen fast ausnahmslos zu umgehen ist.
Er legt bei der Behandlung der Fracturen
neben der Correction der Fragmentstellung,
die er in der bekannten Weise durch Ex¬
tension nach verschiedenen Richtungen
erreicht, den Hauptaccent auf die früh¬
zeitige gymnastische Behandlung,
die er beim Handgelenk vom vierten, beim
Ellenbogengelenk vom achten, beim Schulter¬
gelenk vom ersten Tage nach der Ver¬
letzung ab, bei der Hüfte und dem Knie
vom Beginn der zweiten resp. dritten, beim
Fussgelenk vom Beginn der zweiten Woche
ab durchführt.
Reiner (Wien) berichtet über eine
Methode zur Correctur des X-Beines bei
Kindern. Sie besteht im Wesentlichen aus
einer Epiphysentrennung, welche durch
eine subcutane Voroperation ermöglicht
wird. Diese Voroperation bezweckt die
Beseitigung des vom Periost der Epiphyseo-
lyse entgegengesetzten Widerstandes und
besteht demnach in der subcutanen Durch¬
schneidung des Periosts knapp oberhalb
der Epiphysenfuge.
Helbing (Berlin) bespricht auf Grund
von 13 einschlägigen Fällen den Zusam-
menhangvonScoliose und Halsrippen
Ungefähr 2% aller Skoliosen verdanken
ihre Entstehung dem Vorhandensein von
Halsrippen. Auf Grund eines operativ in
Angriff genommenen Falles, bei welchem
die convexseitige Halsrippe exstirpiert
wurde, vertritt Helbing die Ansicht, dass
es sich bei den Halsrippenscoliosen, bei
welchen die Kürze der Halsrippe kein
direktes mechanisches Bewegungshinder-
niss der Halswirbelsäule abgeben kann,
um eine reflectorische Scoliose — ana¬
log der bei Ischias auftretenden — handelt.
Helbing stellt dann unter Demonstration
von Photographien und Röntgenbildern
einen Knaben von 1 Va Jahren vor, der bei
der Geburt einen totalen Tibiadefect,
verbunden mit Polydaktylie, aufwies.
Die zum Gehen vollkommen unbrauchbare
Extremität wurde durch mehrere Operatio¬
nen in ein tragfähiges, gerades, nur ver¬
kürztes Bein umgewandelt. Die zwei über¬
schüssigen Metatarsi wurden mit den sie
deckenden Weichtheilen in die Innenfläche
des Unterschenkels implantiert, wodurch
die Varusstellung des Fusses beseitigt
wurde, und die Metatarsi gewissermassen
die Rolle des fehlenden Malleolus internus
übernahmen. In einer zweiten Sitzung
wurde eine Arthrodese im Knie ausgeführt
und endlich wurde durch zweifache Osteo¬
tomie der verkrümmten Fibula auch der
Unterschenkel geradegestellt.
Interessante Hüftgelenkspräparate
demonstrirte Müller (Stuttgart)). Bei
den beiden Patienten, denen sie entnommen
waren, war zwei Jahre resp. 6 Wochen
vor dem Tode die unblutige Reposition
einer angeborenen Luxation vorge¬
nommen worden. An dem ersten Präparat
sind die Verhältnisse so normale, dass von
einer vollständigen anatomischen Hei¬
lung gesprochen werden kann, das zweite
zeigt die im Anschluss an den Eingriff ein¬
tretenden Heilungsvorgänge, die in einer
Umformung der Pfanne und einer Schrum¬
pfung der Kapsel sich kennzeichnen.
'Hülfsapparate bei der Behandlung
der angeborenen Hüftluxation de-
monstriren Wullstein (Halle) und Heus-
ner (Barmen). Der letztere zeigt weiterhin
einen Apparat zur Behandlung des
Klumpfusses und Mayer (Köln) vermag
an einem 50jährigen Patienten die ge¬
lungene Redression eines hochgradigen
angeborenen Pes varus vor Augen zu
führen. Die Geradestellung erfolgte nach
theils offener, theils subcutaner Durch-
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
320
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
schneidung der Weichtheile mittelst des
Stille-Lorenz’schen Osteoklasten.
Spitzy (Graz) wendet sich gegen den
von Hüter, Küstner und Lorenz auf¬
gestellten Lehrsatz, dass der Neugeborene
einen platten Fuss habe. Die Flachheit
der Fusssohle beziehe sich beim Neuge¬
borenen lediglich auf die umhüllenden
Weichtheile und habe mit dem Knochen¬
gerüst des Fusses nichts zu thun.
Für das Krankheitsbild, das Kümmell
im Jahre 1891 als Spondylitis trau¬
matica charakterisirt hat, tritt Brodnitz
(Frankfurt a. M.) an der Hand eines Krank¬
heitsfalles, bei dem sich vier Monate nach
einem Fall auf den Rücken ein schmerz¬
hafter Gibbus im Bereiche des ersten und
zweiten Lendenwirbels entwickelte, ein, und
Grätzer (Görlitz) vertritt die Anschauung,
dass die tabische Osteoarthropathie
der Wirbelsäule ein weit häufiger vor¬
kommendes Leiden darstellt, als bisher an¬
genommen wurde.
Ausser Bade’s (Hannover) Betrachtun¬
gen über den Werth des orthopädischen
Corsets bei der Behandlung der Sko¬
liose erwähne ich schliesslich noch die
Vorführung eigenthümlicher Gang¬
arten auf den Händen bei Lähmungs¬
zuständen der unteren Gliedmaassen
durch Höft man (Königsberg) und die
Vorstellung zweier interessanter angebore¬
ner Anomalien durch Hirsch (Berlin) und
Blumenthal (Berlin). In ersterem Falle
handelte es sich um einen doppelseiti¬
gen angeborenen Hochstand des
Schulterblatts bei einem 1 Jahr 8 Monate
alten Mädchen, in letzterem um eine sel¬
tene Deformität beider Ellenbogen¬
gelenke bei einem 3 1 / 2 < jährigen Knaben
mit Behinderung der Pronation.
Das reichhaltige und interessante Pro¬
gramm auch des diesjährigen Congresses
hat die Existenzberechtigung der Deutschen
Gesellschaft für orthopädische Chirurgie
aufs Glänzendste erwiesen.
Therapeutisches von der XXVIII. Wanderversammlung der
südwest-deutschen Neurologen und Irrenärzte, in Baden-Baden
am 23. und 24. Mai 1903.
Bericht von Dr. R. Laudenheimer- Alsbach (Hessen).
Unter 21 zum Wort gekommenen Vor¬
tragenden behandelten therapeutische
Themata im engeren Sinne nur Fürstner
(Strassburg) und Bayerthal (Worms),
beide aus dem Grenzgebiet der Hirn¬
chirurgie.
Fürstner (Zur Pathologie und
operativen Behandlung der Hirn¬
geschwülste) berichtet über 4 auf seine
Veranlassung von Madelung operirte
Fälle, in denen die Diagnose Tumor bezw.
Abscess aus sicheren Symptomen zu stellen
war, ohne, dass die Möglichkeit einer ge¬
nauen Localisation bezw. Zugänglichkeit
für das Messer vorlag. Die Trepanation
mit Duraeröffnung wurde als Palliativ¬
operation ausgeführt. Ein Tumor oder
Abscess wurde in keinem Fall aufgefunden,
dagegen in jedem Fall vermehrte Spannung
des freigelegten Gehirns.
Der Erfolg war in allen Fällen über¬
raschend günstig, das Sehvermögen besserte
sich, auch wo hochgradige Stauungspapille
bestanden hatte, stets, in einem Fall kehrte
sogar nach völliger Blindheit vorüber¬
gehend Lichtschein wieder, die Kopf¬
schmerzen schwanden, das Gewicht zeigte
eine Zunahme von durchschnittlich 20 bis
25 Pfund. Von diesen vor 1 bezw. 3 /i Jahr
operirten Fällen, stehen drei als dauernd
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gebessert noch in Beobachtung, einer ist
an einem interkurrenten Leiden (Aneurysma
der Lunge) — nicht an den Folgen der
durch die Section bestätigten vier Kleinhirn¬
tumoren oder der Operation gestorben.
Die Operation wurde mit Wagner’schen
Hautknochenlappen zweizeitig ausgeführt,
so dass Eröffnung der Dura erst zwei bis
drei Tage später erfolgte. Der Schädel¬
knochen wurde resecirt. Es kam regel¬
mässig zu Hirnbrüchen (bis zu Apfel¬
grösse), jedoch bildeten sich diese, aus¬
genommen ein Fall, in dem die Hernie in
Folge zu früh verrichteter körperlicher
Arbeit mehrmals recidivirte, stets vollständig
zurück. Für die Behandlung der Hernie
hält Fürstner die rechtzeitige Bedeckung
mit normalen Hautlappen, namentlich zur
Verhütung von Infection, für wesentlich.
Vortragender nimmt, insbesondere auch
im Hinblick auf den einen (ausführlich be¬
handelten) Sectionsbefund, an, dass die
Trepanation den Hirndruck verminderte und
durch Circulationsänderungen das Wachs¬
thum des Tumors beschränke. Er räth die
Palliativoperation möglichst früh, d. h. be¬
vor das Sehvermögen geschwächt ist, zu
machen und stets zweizeitig. Von Punktion
ist, wenn man nicht direct auf den Tumor
stösst, kaum Nutzen zu erwarten.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
321
In der Diskussion äusserte sich Axen-
feld (Freiburg) bezüglich des Rückgangs
der Stauungspapille zustimmend und
Bäumler (Freiburg) erwähnte einen Fall,
wo nach Durchbruch des Tumor Rückgang
der Symtome eintrat.
Bayerthal in seinem Vortrage: Zur
operativen Behandlung der Hirn¬
syphilis besprach unter sorgfältiger Ana¬
lyse eines eigenen Falles und der einschlä¬
gigen Litteratur, die Ursachen für die
wiederholten Misserfolge der auf luetischer
Basis beruhenden Jackson'sehen Epilepsie.
Dass die chirurgische Behandlung nur da
in Betracht kommt, wo die specifische
Therapie völlig versagt, bedarf kaum der
Erwähnung. Bayerthal weist nach, dass
die cortikalen Krämpfe nicht für die Lues
der Centralwindungen pathognonomisch
(wie Nonne angiebt) sind, sondern auch bei
Herden des Stirnlappens Vorkommen kann.
NichtbeachtungdieserThatsache führte in des
Vortragenden Fall, wie in den andern Fällen,
dazu, dass über den Centralwindungen
trepanirt und der Tumor nicht aufgefunden
wurde, ein Misserfolg, der durch Hemi-
kranektomie hätte vermieden werden können,
da durch letztere naturgemäss auch die
autoptisch festgestellte schwartige Meningo-
Encephalitis des Stirnhirnpoles freigelegt
worden wäre. Natürlich ist die Hemikranek-
tomie als schwerster Eingriff nur da be¬
rechtigt, wo andere lokalisatorische Stütz¬
punkte fehlen. Die Lokaldiagnose der
Hirnhaut an der Konvexität wird zwar
erleichtert durch die Thatsache, dass
Centralwindungen und Stirnlappen die
Prädilektionsstellen sind, aber eine sichere
Differentialdiagnose zwischen beiden Oert-
lichkeiten ist nur in dem seltenen Fall
möglich, wo isolirte Krämpfe des Kopf-
Augencentrums den frontalen Sitz erhärten.
Erwähnt sei noch, was im Sinn des Fürst-
ner’sehen Vortrags spricht, dass nach
der Operation in Bayerthal’s Fall trotz
Nichtauffindung des Tumors die Konvul¬
sionen schwanden. Jedoch starb der Patient
am 7. Tage an den Folgen eines Hirn¬
prolapses.
Ein verwandtes Thema berührte Ger¬
hardt (Strassburg) in seinem Vortrag über
Hydrocephalus bei Erwachsenen.
Der erste von seinen drei Fällen bewies
recht deutlich die Unsicherheit der Diag¬
nose „Hirnlues“ bei Hirndruckerscheinungen
ex juvantibus. Es handelte sich um einen
Mann, der 8 /4 Jahr vor seinem Tod plötzlich mit
Hinterhauptschmerz, Erbrechen, Schwindel
und Lichtscheu erkrankte. Nach 8 Tagen
war alles vorüber. Patient arbeitete wieder
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2 Monate, dann kamen mehrere ähnliche
Anfälle mit dazwischen liegender weit¬
gehender Besserung, die scheinbar an die
Schmierkur sich anschloss, wobei insbe¬
sondere auch die vorhandene Stauungs¬
papille zurückging. Schliesslich Tod unter
apoplektiformen Anfällen ohne bleibende
Herdsymptome. Die Sektion ergab nur
starken Hydrocephalus internus neben
Zeichen einer längst abgelaufenen Ent¬
zündung des Ependyms im IV. Ven¬
trikel.
Der zweite Fall betraf eine 35 jährige
von jeher sehr nervöse Frau. Sie bekam
Kopfweh, Erbrechen, Schwindel, dann
Amblyopie und Stauungspapille; unter
Jodipin langsame Besserung, Rückgang
aller Symptome bis auf Gesichtsfeldein¬
engung und Herabsetzung der Sehschärfe.
Nach U /2 Jahren Oedem der Füsse, das
nach einigen Wochen unter Arsengebrauch
schwand und bei völligem Mangel anderer
Ursachen wohl nur als an gione uro tisch es
Oedem gedeutet werden kann und die
schon von Quincke hervorgehobene Ana¬
logie dieser Affection mit Hydrocephalus
(Meningitis serosa) nahelegt.
Aus den Vorträgen Axenfeld’s (Frei¬
burg) über Stauungspapille und Hirntumor
sei nur die Beobachtung erwähnt, dass
basale Hirntumoren relativ häufig zu Men¬
struationsanomalien führen, wie Vortragen¬
der vermuthet durch Vermittlung der Hypo¬
physe, wie auch bei Akromegalie, Ame¬
norrhoe als Frühsymptom vorkommt, des¬
gleichen bei echten Hypophysistumoren.
Das ausführliche Referat von Gau pp
(Heidelberg) über die Prognose der pro¬
gressiven Paralyse, ergab namentlich be¬
züglich der Therapie keine neuen Gesichts¬
punkte, es sei denn, dass man die absolute
Skepsis des Vortragenden gegenüber allen
angeblich geheilten Paralyse-Fällen hier
erwähnen wollte. Einen sehr wichtigen
Beitrag zur Aetiologip der Paralyse und
Tabes lieferte der Bericht von Brosius
über die heut nachweisbaren Folgen
einer vor 12 Jahren abgelaufenen
Syphilisendemie. Er verfolgt die Schick¬
sale von 5 Glasbläsern, die sich 1891 mit
einer Glaspfeife gleichzeitig luetisch inficirt
und darauf im Saarbrücker Bürgerspital
6 Wochen lang mit Jod und Hg rite be¬
handelt worden waren. Von diesen fünf
blieb nur einer gesund, vier haben die
Symptome schwerer organischer Nerven¬
erkrankung und zwar leiden zwei an zwei¬
felloser (klassischer) Paralyse bezw. Tabes,
bei den zwei anderen kann dieselbe Dia¬
gnose mit grösster Wahrscheinlichkeit ge-
41
Original fro-m
ÜNIVERSITY OF CALIFORNIA
322
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Jul»
stellt werden. Dabei sind bei den im Alter
von 30—41 Jahren stehenden Kranken son¬
stige ausschlaggebende ätiologische Mo¬
mente ausser der Syphilis nicht vorhan¬
den. — Die enorme Gefahr der meta¬
syphilitischen Erkrankung, trotz sachge-
mässer Luesbehandlung ist wohl noch nie
so eindringlich und klar demonstrirt wor¬
den, wie durch die Brosius’schen Beob¬
achtungen.
Socialgesetzgeberisch interessant ist
noch, dass die Inficirten ihre Lues vor
12 Jahren als Betriebsunfall anmeldeten,
jedoch abgewiesen wurden, weil „kein Be¬
triebsunfall, sondern eine allmählich einge¬
tretene Krankheit“ vorliege. Man kann
wohl kaum zweifeln, dass unsere heutige
weitherzige Unfall-Jurisdiction zu einem
für die armen Opfer günstigeren Resultat
gekommen wäre.
Therapeutisches aus den Pariser medicinischen Gesellschaften*
In der Sitzung vom 11. Mai der Acad£mie
des Sciences hat Calmette über seine Ver¬
suche örtlicherAnwendungdesantite-
tanischen Serums gesprochen. Obgleich
es sich hier einstweilen nur um Thier¬
experimente handelt, sind die erhaltenen
Resultate so günstig, dass sie auch zu Ver¬
suchen an kranken Menschen ermuthigen.
Vortragender hat sich zuerst überzeugen
können, dass es leicht ist Meerschweinchen
gegen Tetanusinfection zu immunisiren,
indem man bei ihnen kleine Quantitäten
des antitetanischen Serums durch eine
3—4 Millimeter lange Hautwunde absor-
biren lässt. Jedoch erhält man auf diesem
Wege eine Immunisation nur, wenn man
statt des gewöhnlichen flüssigen, getrock¬
netes, pulverförmiges antitetanisches Serum
auf die Wunde bringt. Wenige Milli¬
gramme dieses Pulvers genügen schon, um
Meerschweinchen gegen eine Dose des
Tetanusgiftes zu immunisen, deren zehnter
Theil für Controlthiere sich als tödtlich
erweist. In Folge dessen drängte sich der
Gedanke auf, das Anstreuen von tetanisch
inficirten Wunden mit getrockenetem anti-
tetanischem Serum müsse im Stande sein,
die Entwickelung des Starrkrampfes zu
verhindern.
Diese Vermuthung konnte nun Calmette
auf experimentellem Wege vollkommen be¬
stätigen. Es wurde Meerschweinchen durch
kleine Hautschnitte ein bei 80° getrock¬
netes Gemisch von Staub, Erde und un¬
gewaschenen Tetanussporen beigebracht.
Sich selbst überlassen, gingen die so be¬
handelten Thiere nach 4 bis 6 Tagen an
Tetanus zu Grunde. Wenn man aber ihre
(durch Reiben angefrischten) Wunden —
2 bis 6 Stunden nach der Infection — mit
getrocknetem antitetanischem Serum be¬
streute, so genügte 1 Milligramm dieses
Pulvers um Meerschweinchen von 400,0
Gewicht zu retten: keines von ihnen zeigte
die geringste Spur von Starrkrampf.
Calmette glaubt daher, dass die lokale
Anwendung des getrockneten antiteta-
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nischen Serums beim Menschen sich als
erfolgreiches Prophylacticura des Starr¬
krampfes bei allen des Tetanus verdäch¬
tigen Wunden erweisen wird. Auch
könnte es zum Verbinden der Nabelwunde
bei Neugeborenen als Schutz gegen Tetanus
neonatorum Anwendung finden.
Einen interessanten Beitrag zur Wür¬
digung des psychischen Verhaltens Syphi¬
litischer brachte Prof. A. Fournier in der
Sitzung vom 19. Mai der Acad^mie de
Medecine durch seinen Vortrag über
Selbstmord bei Syphilitikern. Wie
manche Kollegen, hat auch Redner im
Laufe seiner langen Specialistencarriere
mehrere Fälle erlebt, in denen der Selbst¬
mord durch die brutale ärztliche Erklärung*
der Betreffende leide an Syphilis, hervor¬
gerufen worden ist.
Es giebt, wie bekannt, Leute, die eine
übertriebene, kolossale Angst vor der
Syphilis haben. Syphilidophoben, die in
allen anderen Beziehungen recht tapfer
sein können, gerathen in heftige Ver¬
zweiflung und werden sogar ohnmächtig,
wenn bei ihnen die Diagnose auf Syphilis
gestellt wird. Kein Wunder also, wenn
dieser Affect auch unter Umständen zum
Selbstmord treiben kann. Und es ist auch
leicht einzusehen, warum solche Selbst¬
morde — wie es die Erfahrung lehrt —
einen impulsiven, reflectorischen Charakter
tragen: ohne Zagen und Nachdenken raubt
sich der Unglückliche das Leben bei der
ersten besten Gelegenheit, dazu wenige
Tage, einige Stunden sogar nach der —
wie sich Fournier ausdrückt — notification
premi&re de la syphilis.
Diese traurigen Erlebnisse haben Prot.
Fournier bewogen die Diagnose Syphilis
einem Kranken nie ex abrupto mitzu-
theilen. Man soll zuerst sagen, die Natur
der Erkrankung sei noch unklar, hoffent¬
lich aber wäre es keine Syphilis. Erst
später gebe man zu verstehen, dass es sich
um eine Syphilis handle, aber um eine
recht milde Form derselben, die der Be-
Qriginal fro-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Juli
323
Die Therapie der Gegenwart 1903.
handlang mit Leichtigkeit weichen werde
(was selbstverständlich der Arzt nie im
Voraus wissen kann). — Diese Regel ist
gewiss eine humane. Für eine Autorität
ist sie auch durchführbar, aber anders liegt
die Sache für den ärztlichen Praktiker, aus
Gründen, die leicht zu begreifen sind.
Bei unstillbaren Diarrhoeen der
Phthisiker hat sich, nach einer Mittheilung
von L. Re non in der Sitzung vom 27. Mai
der Sociöt6 de Therapeutique, das Me¬
thylenblau in 80% der Fälle gut bewährt.
Das Mittel wurde in der täglichen Dosis
von 0,15—0,20, mit einer vierfachen Menge
von Milchzucker verrieben, in Oblaten ge¬
reicht. Die Stühle wurden vom ersten
Tage an seltener und in drei Tagen
schwand gewöhnlich der Durchfall; manch¬
mal ging er sogar in Verstopfung über.
Diese Wirkung sei Folge der antibacteriellen
Eigenschaft des Methylenblaus, welches alle
in die tuberkulösen Darmgeschwüre ge¬
langten secundär-infectiösen Keime zur
Abtödtung bringt.
Prof. A. Robin berichtete über die von
Le Blond und Ch. David mit Vanadin¬
säure angestellten therapeutischen Ver¬
suche bei verschiedenen Hautläsionen,
gynäkologischen Erkrankungen und
Lungentuberkulose. Die Vanadinsäure
ist ein energisches Oxydationsmittel, wel¬
ches, in einer Lösung von 0,05 auf 1 Liter
Wasser angewandt, die Heilung von Haut¬
geschwüren und Hautwunden befördert und
auch bei Vaginitis und Endometritis — hier
aber in einer aus Wasser und Glycerin
zu gleichen Theilen bestehenden Lösung,
die 0,25 der genannten Säure per Liter
enthält — eine günstige Wirkung entfaltet
und, infolge ihrer Geruchslosigkeit, für das
bei gynaekologischen Affectionen so oft
gebrauchte Ichthyol und Kreosotglycerin
einen guten Ersatz bildet. Auch wirke bei
Schwindsüchtigen der innerliche Gebrauch
der Vanadinsäure (täglich zwei Esslöffel
einer Lösung von 0,015 auf ein Liter
Wasser) als stärkendes Mittel, in der Art
der Eisenpräparate, aber noch energischer
als diese.
Chevalier referirte über die Ergeb¬
nisse seiner mit krystallinischem Adrenalin
von Clin angestellten pharmakologischen
Versuche. Sie haben gezeigt, dass bei
einem Kinde von 20 kg Gewicht nach
einer intravenösen Einspritzung von 0,001
der genannten Substanz, zuerst eine enorme
Verlangsamung der Herzcontractionen mit
ebenso grosser Erniedrigung des Blut¬
drucks erfolgt. Erst nach einer Minute
zeigt sich die entgegengesetzte Erscheinung,
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eine arterielle Hypertension mit Herzbe¬
schleunigung, welche drei Minuten an¬
dauert. — R. Blondel machte die Be¬
merkung, dass bei seinen pharmakologi¬
schen Versuchen mit Nebennierenextract
er eine sofortige Erhöhung des Blutdrucks,
ohne initiale Hypotension mit Herzverlang¬
samung, immer eintreten sah. Auch konnte
er die Dauer dieser Hypertension durch
eine im Moment des Maximums der Adre¬
nalinwirkung gemachte Einspritzung phy¬
siologischer Kochsalzlösung erheblich ver¬
längern. Darauf antwortete Chevalier,
seine Versuche bezögen sich nur auf das
krystallinische Adrenalin, während das von
Blondel angewandte Nebennierenextract
noch Substanzen enthalte, deren Wirkung
eine ganz andere, sein könne.
Aufsehen machte in der Sitzung vom
9. Juni der Academie de Medecine die
durch Prof. A. Robin übermittelte Mit¬
theilung von den Professoren Lemoine
und Do um er (Lille) über erfolgreiche Be¬
handlung krebsiger Geschwülste des
Magens und der Mamma durch Röntgen¬
strahlen. Einer dieser Fälle wurde in ex¬
tenso mitgetheilt. Es handelte sich um
eine alte Frau, die alle Anzeichen eines
Magenkrebses (leicht fühlbare und schmerz¬
hafte Geschwulst mit Cachexie und charak¬
teristischen Verdauungsstörungen), aber
ohne merkliche Betheiligung der Lymph-
drüsen darbot. Nach vier radiotherapeuti¬
schen Sitzungen verkleinerte sich derTumor
erheblich; nach drei weiteren Sitzungen
verschwand er spurlos; zugleich schwanden
alle übrigen krankhaften Erscheinungen.
Lemoine und Doumer haben noch zwei
andere Magencarcinome und einige Mamma-
carcinome mit den R öntgen’schen Strahlen
erfolgreich behandelt. Aber in einigen
Fällen (Carcinom des Pylorus, des Oeso¬
phagus, secundäres Carcinom der Leber,
Gebärmutterkrebs etc.) hat diese Behand¬
lung vollkommen im Stiche gelassen.
Bei zweiPatienten mitMorbus Brightii,
deren Nephritis eine vorwiegend parenchy¬
matöse war, hat Widal — worüber er in
der Sitzung vom 12 Juni der Soci6t£ M£di-
cale des Höpitaux berichtete — durch täg¬
liche Darreichung von 10,0 Kochsalz (wäh¬
rend einiger Tage genommen) Oedeme
hervorbringen können und ihr nachträg¬
liches Verschwinden nach Einstellen der
Chlornatriumzufuhr erhalten. (Vergleiche
die über dasselbe Thema im Maiheft der
„Therapie der Gegenwart“ erschienene Ab¬
handlung von H. Strauss). Eine Einver¬
leibung von Kochsalz im Ueberschuss ruft
jedoch nicht bei allen Nephritikern Oedeme
41 *
Original from
UNIVERSITtf OF CALIFORNIA
324
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
hervor. So hat Vortragender bei 4 Arterio-
sclerotischen mit Nephritis interstitialis keine
Spur wässeriger Ergüsse durch Chlornatrium
eintreten sehen. Und auch bei der Nephri¬
tis parenchymatosa entstehen nicht immer
Oedeme unter dem Einfluss des Kochsalz¬
genusses. Als Beispiel dazu citirt Vor¬
tragender einen Fall parenchymatöser Ne¬
phritis, welche auf Erkältung zurückzuführen
war und schon seit sieben Jahren bestand,
und wo Chiornatrium, eine ganze Woche
lang genommen, keine Oedeme herbei¬
führen konnte, während hier noch kurze
Zeit zuvor Anasarca bestanden hatte.
Dieser Kranke befand sich offenbar im
Moment des Versuches in einer Periode
verstärkter Elimination von Chlornatrium
durch die Nieren. Eine Retention von
Chlornatrium im Organismus ist somit für
das Eintreten von Oedemen unter dem
Einfluss des Kochsalzes erforderlich. Unter
solchen Umständen findet auch die koch¬
salzarme Kost ihre Indication und erfolg¬
reiche therapeutische Anwendung.
W. v. Holstein (Paris).
Bücherbesprechungen.
E. V« Leyden’s Handbuch der Ernäh¬
rungstherapie und Diätetik. Zweite
Auflage, herausgegeben von Georg
Klemperer. I. Band, 502 S. Leipzig
1903. Verlag von G. Thieme. 11 M.
Als ein empfindlicher Uebelstand unserer
medicinischen Literatur ist es gewiss von
Vielen empfunden worden, dass so viele
neuere Sammelwerke so wenig sich auf ihr
eigentliches Thema beschränkten. In einem
Handbuch der Therapie fand man die ge-
sammte Aetiologie und Symptomatologie,
oft genug auch die Diagnostik abgehandelt;
in einem Sammelbuch über physikalische
Therapie wurden alle übrigen Zweige der
Krankenbehandlung breit erörtert. So
nahmen diese Werke einen ausserordent¬
lichen Umfang, dementsprechend auch einen
hohen Preis an, und das Schlimmste war,
dass der Arzt in vielen neuen Werken, so
verschieden auch ihr Titel war, immer
wieder dieselben Gegenstände behandelt
fand.
Es erschien mir als eine zeitgemässe
Pflicht, hier ein gutes Beispiel zu geben.
Deswegen habe ich es mit Freuden be-
grüsst, als mir Herr v. Leyden die Heraus¬
gabe einer zweiten Auflage seiner rühm-
lichst bekannten Ernährungstherapie antrug.
Ich habe aus dem Werk alles fortgelassen,
was nicht wirklich auf die Ernährung der
Kranken Bezug hatte. So ist es gelungen
das Werk wesentlich zu kürzen, demzufolge
auch den Preis sehr zu erniedrigen und
vor allem Jedem, der es sich anschafft, die
Garantie zu bieten, dass er wirklich erhält,
was er zu haben wünscht, nämlich eine er¬
schöpfende Darlegung aller allgemeinen und
speciellen Lehren, welche auf die Kranken¬
ernährung Bezug haben, aber nichts darüber
hinaus. Damit stellt das Werk eine ge¬
wiss werthvolle Ergänzung jeder Pathologie
und Therapie dar, ohne eine Wiederholung
Digitized by Gouole
wesentlicher Abschnitte derselben zu ent¬
halten.
In dem ersten Band ist ein kurzer ge¬
schichtlicher Abriss von Petersen ent¬
halten, eine erschöpfende Darstellung der
Physiologie der Ernährung von Rubner,
der Pathologie von Fr. Müller. Die allge¬
meinen Grundzüge der Ernährungstherapie
beschreibt v. Leyden, der Referent die
künstlichen Nährpräparate; v. Leube die
künstliche (extrabuccale) Ernährung, F. A.
Hoffmann die diätetischen Kuren. Alle
Bearbeitungen sind durch Aenderungen
und Zusätze dem heutigen Stand der Er¬
kenntnis und des Könnens angepasst. Die
grösste Aenderung gegenüber der I. Auf¬
lage stellt die Bearbeitung der Ernährungs¬
pathologie von F. Müller dar; hier ist in
umfassender und präciser Weise das enorme
Material der neuen Forschungen zu einer
meisterhaften Darstellung verwerthet. Ich
möchte glauben, dass auch Aerzte, denen
die vielfältig verschlungenen Wege der Er¬
nährungschemie bisher verschlossen waren,
durch diese Arbeit in glücklichster Weise
in das schwierige Gebiet eingeführt werden.
Der Werth und die Bedeutung der übrigen
Beiträge des I. Bandes sei nicht verringert,
wenn ich die Arbeit des Münchener Klini¬
kers als diejenige ansehe, die in praktischer
wie wissenschaftlicher Beziehung wohl den
grössten Einfluss ausüben wird.
Die in der I. Auflage enthaltenen Ab¬
schnitte über Medicamente, physikalische
Therapie, Krankenpflege sind ganz weg¬
geblieben.
Der demnächst erscheinende II. Theil,
welcher die Ernährung in den einzelnen
Krankheiten bespricht, wird ebenfalls ganz
wesentlich gekürzt sein, da die Herren Mit¬
arbeiter das Programm acceptirt haben,
alles Beiwerk, welches nicht unbedingt zur
Sache gehört, fortzulassen. Ich möchte
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
hoffen, dass das in dieser Bearbeitung
documentirte Bestreben nach sachlicher Be¬
schränkung bei den Aerzten Billigung und
Beifall finden wird; vielleicht wird das
Werk dann eine erfreuliche Einwirkung
auch auf andere literarische Darbietungen
ausüben. G. Klemperer.
W. Frleboes« Beiträge zur Kenntniss
der Guajakpräparate. Mit 10 Ab¬
bildungen. Stuttgart. Enke 1903. 119 S.
Diese gekrönte, mit einem Vorwort
Koberts versehene Preisschrift stellt ein
Glied in der Serie von Untersuchungen
über Saponinstoffe dar, die Robert
schon seit langem mit Erfolg ausführt.
Verfasser hat aus den einzelnen Theilen
der Droge (Guajacum officinale) die
wichtigsten Bestandteile isolirt und sie
im Thierexperiment untersucht. Die Gua-
jaksaponinsaure und das neutrale Guajak-
saponin zeigten sich toxikologisch nicht
oder nur wenig wirksam. Nicht toxisch
waren auch die Guajakharzsäure und die
Guajakonsäure. Er empfiehlt alle Theile
der Droge (und auch das Holz von Bul-
nesia Sarmienti Lor.) therapeutisch zu
verwenden. Die Holztranke wirken diure-
tisch und, verbunden mit der Inunctions-
325
| kur angewendet, vielleicht heilend auf die
Syphilis ein.
Wegen der Ungiftigkeit des neutralen
G.-Saponins und der geringen Wirkung
der G.-Saponinsäure hält Verfasser diese
beiden Stoffe technisch für verwendbar,
z. B. um alkoholfreies Bier und Limonaden
schäumend zu machen und um Leberthran
und Ricinusöl in haltbare Emulsionen zu
I verwandeln, was für keins der anderen
Saponine wegen ihrer Giftigkeit zulässig sei.
Im Uebrigen enthält die Arbeit eine kurze
Kritik der Geschichte der wohl schon vor
1492 in der alten Welt bekannten Syphilis,
gegen die Guajak schon im Beginn des
16. Jahrhunderts im Gebrauch war (Ulrich
v. Hutten, „Ueber die Heilkraft des Gua¬
jacum und die Franzosenseuche“), ferner
erschöpfende pharmakognostische und che¬
mische Ausführungen über die Droge und
ihre Bestandtheile. Besonders sei noch
hingewiesen auf die guten, den äussern
und innern Bau der Droge wiedergebenden
Abbildungen, auf die Zusammenfassung
aller zur Kobert'sehen Reihe gehörenden
Saponine und die Pflanzen, in denen sie
Vorkommen (S. 38—53), sowie endlich auf
die Litteraturübersichten.
E. Rost (Berlin).
Referate.
Bekanntlich sind neuerdings begründete
Bedenken gegen die alkalische Reaction
des Blutes und der Körpersäfte über¬
haupt besonders von Friedenthal er¬
hoben worden. Schon früher hatten sich
Maly und F. Kraus scharfsinnig gegen j
das Bestehen alkalischer Reaction im
Blute in gewissem Sinne ausgesprochen.
Höher meint aber durch physikalisch¬
chemische Messungen [in Concentra-
tionsketten mit Gaselectroden *) wird das
Potential gemessen, wobei permanent
Wasserstoff durch das Serum strömt:
Stösst nämlich eine Lösung von bekannter
Concentration der OH-Ionen mit einer an¬
deren Lösung von zu messender OH*Con¬
centration zusammen, so lässt sich der Ge¬
halt der letzteren an O H-Ionen berechnen
durch die elektromotorische Kraft einer
solchen Gas-Kette] festgestellt zu haben,
dass die Hydroxylionen im defibrinierten
Rinderblut in einer Konzentration von
etwa 0,1 .10~ 5 vorhanden sind. Darnach
wäre das Blut eine schwach, aber doch
deutlich alkalische Flüssigkeit, da in reinem
*) Mit Platinschwarz überzogene Platinbleche, die
mit H beladen werden.
Wasser, in dem die O H- und H-Ionen im
Gleichgewicht sind, die Concentration der
OH-Ionen (ebenso wie der H-Ionen) etwa
1,0.10— 17 beträgt 1 ) (theoretischerNeutralitäts¬
punkt). Dagegen ist eingewendet worden,
| dass die stundenlange H- Durchleitung das
Co 2 -reiche Blut durch Austreiben der aus¬
pumpbaren Co? alkalisch macht, ebenso
wie eine mit Phenolphthalein versetzte,
farblose Lösung von Natriumbicarbonat
beim Durchleiten von H-Blasen schon nach
Minuten durch Rotfärbung alkalische Re¬
action anzeigt. Friedenthal konnte nach-
weisen, dass wohl Lackmus, eine mittel¬
starke Säure unter den Indikatoren, Blau¬
färbung des Serums zeigt, nicht aber die
sehr schwache Säure Phenolphthalein Roth-
färbung, wovon man sich leicht überzeugen
kann. Lackmus treibt die C 02 aus dem
Blut aus, nicht aber Phenolphthalein.
Neuerdings hat nun P. Fraenckel in
Nernst’s Institut ebenfalls physikalisch¬
chemisch die Frage untersucht. Er wandte
Palladiumelektroden an, die er für eine
gewisse Zeit mit völlig gleicher Menge
l ) d. h. 1 g OH in 10 Millionen Liter.
Difitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
326
Juli
Die Therapie der
H beladen konnte (so dass ein in ihren
Stromkreis eingeschaltetes Galvanometer
keinen Ausschlag gab); die Beladung der
Elektroden geschah nicht durch stunden¬
lange H-Durchleitung, sondern von vorn¬
herein durch Elektrolyse. Auf diese Weise
lässt sich eine Concentrationskette
herstellen, in der Blut mit einer Mess¬
flüssigkeit verglichen, ihre Potentialdiffe¬
renz (unter Verwendung einer Kohl-
rau sch’sehen Messbrücke als Widerstand)
gemessen wird.
Frisches defibriniertes Blut und
frisches Serum zeigt eine H-Ionen-
concentration, die der des Wassers
annähernd gleich kommt. Das Blut ist
also neutral. Diese Messungen werden
bestätigt durch Messungen Salessky’s,
ebenfalls aus dem Nernst'sehen Institut,
über die zum ersten Male in absolutem
Maass ausgedrückte Empfindlichkeit der In-
dicatoren. Frisches Blutserum wird durch
Phenolphthalein nicht geröthet; die Re-
action kann sich also nur bis auf einige
Hundertmillionstel normaler O H-Concen-
tration von der des Wassers entfernen.
Es entsteht nun die Frage, ob die
neutrale Reaction, die für den normalen
Organismus also hiernach nicht noth-
wendig wäre, auch in pathologischen
Zuständen angetroffen wird. Durch Titriren
mit Säure unter Verwendung von Lackmus
als Indikator bestimmt man nicht die
„actuellen“ OH-Ionen allein, die die wahre
„Reaction“ ausmachen, sondern auch die
„potentiellen“, d. h. sowohl die in Ionen-
form vorhandenen, als auch die, welche
aus den nicht dissociirten Molekeln erst
infolge der Austreibung der CO 2 zur
Wiederherstellung des Lösungsgleich -
gewichts in Lösung gesendet werden, d. h.
die Gesammtheit der mit Säure absättig-
baren OH-Bestandteile. Da aber „das
Blut ein Gemisch ist, das zwar im Ganzen
als neutral zu betrachten ist, aber sowohl
säure- wie alkalibindende Eigenschaften
besitzt“, so ist auch die Kenntnis der bis¬
her ermittelten „potentiellen“ OH-Ionen-
concentration für das Verständnis bio¬
chemischer Vorgänge unentbehrlich.
Nach Friedenthals und v. Rohrers
Versuchen reagiert auch der menschliche
Harn stets neutral oder sehr schwach
sauer, ebenso wie der Dünndarminhalt
nach J. Munk (auf Phenolphthalein); jeden¬
falls enthält Darminhalt und Harn nicht so¬
viel OH- bezw. H-Ionen, wie eine Flüssig¬
keit mit einem Gehalt an OH- oder H-Ionen
entsprechend einer Lösung von 1 g in
10 Mill. Litern. Hiernach würden mit Aus-
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Gegenwart 1903.
nähme des Magensaftes und des Bauch¬
speichels alle Säfte des Körpers an¬
nähernd neutral reagiren.
E. Rost (Berlin).
(Pflügers Arch.f.d. ges.Physiol. Bd.96, Heft 11/12,
S. 601.)
Fälle von schweren cerebralen Stö¬
rungen (Kopfschmerzen, Parästhesien,
Angstgefühle, acute Psychosen, epilepti-
forme Anfälle, Bewusstseinsstörungen) in¬
folge von intestinaler Autointoxieation,
d. h. Resorption giftiger Zersetzungs-
producte im Darmcanal, die bisher nur in
spärlicher Zahl veröffentlicht sind, ver¬
dienen das besondere Interesse des Prak¬
tikers, einmal weil sie leicht zu Verwechse¬
lung mit ernsteren cerebralen Affectionen,
speciell mit Meningitis, Veranlassung geben,
ferner aber weil sie, richtig gedeutet, der
Therapie ein sehr dankbares Object
bieten.
Deshalb soll der folgende, von Stürtz
kürzlich mitgetheilte Fall aus der Kraus-
schen Klinik hier Erwähnung finden:
17jähriger Patient hat am I.Mai nach Ge¬
nuss von Eis Leibschmerzen, die die
nächsten Tage anhalten, mit Stuhlverhal¬
tung, ohne Uebelkeit oder Erbrechen. Am
5. Mai, bei anhaltenden Leibschmerzen,
sehr reichlicher Genuss grüner Bohnen;
danach Zunahme der Leibschmerzen, mehr¬
maliges grünes Erbrechen, starke Kopf¬
schmerzen. In der Nacht vom 5. zum
6. Mai treten plötzlich Krämpfe ein; in
völliger Bewusstlosigkeit, mit Schaum vor
dem Munde wird der Kranke gegen Morgen
in die Klinik aufgenommen. Dort lassen
die Temperatur von 38—38,3, klonische
Zuckungen, fehlende Reaction der weiten
Pupillen, geringe Nackensteifigkeit, etwas
eingezogener Leib, der Puls, der zuerst
72 beträgt, bald auf 52 heruntergeht, an
Meningitis denken, die vorgenommene
Lumbalpunction aber ergiebt regel¬
rechten Befund der Cerebrospinalflüssigkeit.
Der Harn enthält sehr reichlich Indican,
kein Aceton, keine Acetessigsäure. Der
Patient erhält zweimal täglich 0,2 Calomel
und täglich eine hohe Darmspülung mit
physiologischer Kochsalzlösung. Nach Ent¬
leerung reichlicher Massen sehr stinkenden
Stuhlgangs bessert er sich rasch; das an¬
fänglich noch anhaltende Erbrechen wird
durch eine Magenspülung beseitigt. Die
Bradycardie (die Kraus bei intestinaler
Autointoxication nach Obstipation mehrfach
beobachtet hat) schwindet erst innerhalb
12 Tagen.
Für die Therapie kommen ausser der
Darmentleerung durch Calomel und hohe
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Juli
327
Die Therapie der
DarmspQlungen und der Magenspülung
noch die Regelung der Diät in Betracht;
der Wechsel derselben (Kohlehydrat-
nahrung an Stelle der Eiweissnahrung)
ist geeignet, eine Aenderung der Darm-
bacterienflora und ihrer Stoffwechsel-
producte, welche als die Ursache der ner¬
vösen Krankheitserscheinungen anzusehen
sind, herbeizuführen. F. Klemperer.
(Berl. klin. Wochenschrift 1903, No. 23.)
In einer ausführlicheren Bearbeitung
theilt L. Schwarz in der Festschrift für
Pribram Untersuchungen über Diabetes
als Ergebniss mehrjähriger Bearbeitung
mit, über die hier etwas eingehender
berichtet sei. Ist doch diese Arbeit die
letzte aus der Feder unseres begabten
Collegen und befreundeten Mitarbeiters,
der inmitten seiner unermüdlichen und
fruchtbaren Thätigkeit als Assistent an der
Pribram’schen Klinik ganz vor kurzem von
einem jähen Tod dahingerafft worden ist.
Die Lehre von der Acetonurie bei
Diabetes, die Schwarz seit einer Reihe
von Jahren zum Gegenstand seines be¬
sonderen Interesses gemacht hatte, und
die durch seine Arbeiten ja auch wesent¬
liche Förderungen erfahren hat, nimmt
auch hier wieder den Hauptraum ein. Er
hat durch seine früheren Untersuchungen
der Vorstellung, dass die Acetonaus¬
scheidung bei Diabetikern in engem ge¬
netischen Zusammenhang mit dem Nah¬
rungsfett stehe, wesentliche Grundlagen
gegeben, indem er nachwies, dass durch
Zulage grosser Buttermengen zu gemischter
Eiweisskohlenhydratdiät oder zu reiner
Eiweisskost bei Diabetikern beträchtliche
Steigerung der Acetonausscheidung in Harn
und Athemluft eintritt (vergl. auch diese
Zeitschrift, Jahrg. 1900, S. 221). Bereits
damals hatte er in einigen Versuchsreihen
die Erfahrung gemacht, dass der Zusammen¬
hang von Fettnahrung und Acetonaus¬
scheidung beim gesunden, gut ernährten
Menschen ein schwankender und daher
nicht eindeutiger sei. In neuerlichen Ver¬
suchsreihen an 3 Gesunden ergab sich
wieder dasselbe Resultat; selbst grosse
Fettmengen in der Nahrung erzeugen beim
Gesunden entweder nur minimale Zunahme
der Acetonausscheidung oder lassen über¬
haupt keinen Einfluss darauf erkennen.
Die klinischen Beobachtungen, dass bei
einer Anzahl von Krankheitszuständen, die
mit starker Einschmelzung des Körperfettes
einhergehen, wie bei Carcinomen des
Intestinaltractus, bei Verdauungsstörungen
und acuten Infectionskrankheiten der Kin¬
Gegenwart 1903.
der, bei Abdominaltyphus, bei abstinenten
Geisteskranken, bei Intoxicationen mit
Phosphor, Chloroform und anderen Nar-
coticis, Acetonausscheidung ein häufiges
Vorkommniss ist, dass hingegen beim
Schwinden des Körperfettes durch pro¬
grediente Tuberkulose, durch Entfettungs-
curen u. dergl. kein Aceton ausgeschieden
wird, diese klinische Thatsache glaubt er
dadurch erklären zu müssen, dass nicht
jeder Fettzerfall, sondern nur ein abnormer
Fettzerfall zur Aceton- resp. Aceton¬
körperausscheidung (d. i. /J-Oxybuttersäure,
Acetessigsäure, Aceton) führe. —
Einen genetischen Zusammenhang der
Acetonausscheidung des Diabetikers mit
dem Fettzerfall wird man wohl heute kaum
mehr bezweifeln können. Schwarz hat
nun in zahlreichen Versuchen an schweren
Diabetikern, an denen die Pribram’sche
Klinik offenbar einen beneidenswerthen
Reichthum aufzuweisen hat, geprüft wie
sich verschiedenes Fett, resp. verschiedene
Fettsäuren dabei verhalten; er hat dabei
festgestellt, dass die Butter die Aceton¬
körperausscheidung bedeutend stärker ver¬
mehrt als Schweinefett, Rinderfett oder gar
Olivenöl. Demgemäss wirkten auch isolirt
verabreichte niedere Fettsäuren mit Butter¬
säure, Valeriansäure, Capronsäure viel
stärker acetonvermehrend als die höheren
Glieder der Fettsäurereihe mit Palmitinsäure
und Stearinsäure. Am geringsten ist der
Einfluss der Repräsentanten der ungesättig¬
ten Oelsäurereihe: der Olsäure und der
Erucasäure. Dem Ergebniss dieser experi¬
mentellen Studien glaubt Schwarz auch
in der Formulirung der Kostordnung für
den schweren Diabetiker Rechnung tragen
zu müssen: „man wird wohl nicht mehr eine
möglichst reichliche Fettzufuhr ganz all¬
gemein anordnen dürfen, sondern man
wird ähnlich wie man von Fall zu Fall dem
Patienten seine Kohlehydratration zumisst,
nach der Intensität der Acetonkörper¬
ausscheidung ermitteln müssen, welche
Menge von Feft dem Einzelfalle zuträglich
ist.“ Es liegt ihm indess — wie er aus¬
drücklich betont — fern, die Fette etwa
principiell aus der Ernährung der Dia¬
betiker streichen zu wollen. Glücklicher¬
weise! denn womit sollen wir denn schliess¬
lich einen schweren Diabetiker noch er¬
nähren, wenn nun auch noch das Fett, das
uns bisher noch als kostbarste Kraftquelle
für den schweren Diabetiker so werthvoll
war, in Misscredit kommen sollte. Ist doch
auch das Fleisch als Zuckerbildner für ihn
schon gefährlich genug, ganz abgesehen
davon, dass wir ihn damit nicht auf die
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
328
Juli
Die Therapie der
Dauer auf seinem Calorienbedarf erhalten
können! Ich möchte indess meinen, dass
zwar gerade die Schwarz’schen Unter¬
suchungen die Fette in ihrer Rolle als
Acetonkörperbildner stark befestigt haben,
indess scheinen sie mir auch heute noch
nicht zu beweisen, dass die Fette die
alleinigen Acetonbildner darstellen!
Schwarz hat seiner Zeit darauf hin¬
gewiesen, dass die Gluconsäureverfütterung
die Acetonkörperausscheidung stark herab¬
zusetzen im Stande ist. Das wird auch
durch seine neuerlichen Untersuchungen
wieder bestätigt. Daraus dürften wir indess,
meine ich, vorderhand noch kaum thera¬
peutischen Nutzen ziehen, da das Präparat
einerseits ganz ausserordentlich theuer ist,
(1 kg Acid. glyconic. = 250 Mk.!) und ja
eine rationelle Gluconsäuretherapie immer
eine länger dauernde sein müsste, anderer¬
seits leicht Verdauungsstörungen unange¬
nehmer Art hervorruft.
Caramel erhöht bcmerkenswerther
Weise die Glycosurie nicht, wobei er
freilich auch nichts von acetonvermindern¬
dem Einfluss erkennen lässt.
Um hartnäckigen Zuckergehalt des
Diabetikers erfolgreich herabzudrücken,
bedient man sich bekanntlich des Hunger¬
tages besonders seit Naunyn’s warmer
Empfehlung desselben, freilich in der Regel
erst dann, wenn der Harnzucker bereits
bis unter 1 % heruntergebracht ist.
Schwarz ist auf Grund seiner Erfahrungen
der Meinung, dass die Anwendung des
Hungertages schon beim Uebergang von
der kohlehydratreichen zur kohlehydrat¬
freien Diät zweckmässig ist.
Den Fettgehalt des Blutes fand
Schwarz etwas höher beim schweren
Diabetiker als beim Nichtdiabetiker (0,41 %
gegen 0,26%). Die Lipämie findet sich
im schweren Diabetes auch bei fettfreier
Kost und ausserhalb des Comas. Schwarz
hält einen Zusammenhang von Lipämie und
Ace.tonkörperausscheidung für wahrschein¬
lich. Ein schwerer Diabetiker wird nach
der Resorption grösserer Fettmengen in
der Nahrung in der Regel alimentär lipä-
misch. Da das Blut lipämisch beschaffen
sein kann, ohne erhöhten Fettgehalt zu
besitzen, hält Schwarz eine Herabsetzung
der lipolytischen Fähigkeit des Diabetiker¬
blutes für die wahrscheinliche Ursache der
Lipämie.
Auch auf das Vorkommen von Laevulose
hat Schwarz in seinen Fällen geachtet
und unter 19 Diabetikern 6 gefunden, die
gleichzeitig Laevulose ausschieden. In
manchen, indess nicht in allen Fällen
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Gegenwart 1903.
scheint die Ausscheidung derselben bis zu
einem gewissen Grade von der Kohlhydrat¬
zufuhr abhängig. Zugleich vermehrt
Schwarz die Casuistik der spontanen
Laevulosurie ohne gleichzeitige Glycosurie,
die bisher sehr spärlich ist, um einen
weiteren Fall. . F. Umber (Berlin).
(Deutsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 76. 1903.)
v. Aldor (Karlsbad) empfiehlt die
Behandlung chronischer Dickd&rm-
catarrhe mit hohen Eingiessungen, mit
denen er auffallend günstige Resultate erzielt
hat. Seine Methode besteht darin, dass er
nach vorausgehendem Reinigungsklystier
eine hohe Eingiessung von Karlsbader
Sprudelwasser von 45—50° C. mitttels
einer 85 cm langen Magensonde vornimmt.
Die weiche Sonde wird der ganzen Länge
nach eingeschoben; wie Aldor angiebt,
gelingt es bei einiger Uebung leicht, sie
über die Flexura sigmoidea hinaufzuführen.
Zunächst wird nur 1 Liter Wasser einge¬
gossen, nach wenigen Tagen schon wird
auf 27 2 —3 Liter gestiegen. Nach der
Eingiessung wird ein Thermophor auf
den Bauch applicirt; die Kranken halten
den Einlauf zunächst % Stunden, später
2—3 Stunden und noch länger, nach
Aldor’s Angaben ohne Beschwerden.
Aldor theilt mehrere Krankengeschich¬
ten mit, in denen nach 15—20 maliger,
bisweilen auch 25maliger Wiederholung
dieser hohen und grossen Einläufe Heilung
oder wesentliche Besserung eintrat und
zwar sowohl bei Fällen mit habitueller
Obstipation als auch bei solchen mit chroni¬
schen Diarrhoen und Wechsel beider. Das
Aldor’sche Verfahren wird von J. Boas
einer sehr zutreffenden Kritik unterzogen.
Boas hält es für unmöglich, eine Magen¬
sonde weiter als höchstens 15—20 cm in
den Mastdarm vorzuschieben. Leichten¬
ste rn hat dies bereits für die elastischen
(steifen) Mastdarmrohre behauptet, des¬
gleichen Naunyn, welcher schreibt: „Wo
man glaubt, die elastischen Rohre einen
halben Meter oder meterlang eingebracht
zu haben, hat man sie im Mastdarm auf¬
gerollt.“ Noch mehr gilt dies natürlich
von dem weichen Magenschlauch; Boas
ist es oft unschwer gelungen, eine ganze
Magensonde usque ad finera in den
Mastdarm einzuführen, aber die Digital¬
untersuchung hat dann jedesmal erwiesen,
dass die Sonde im unteren Mastdarm ge¬
knickt und aufgerollt lag. Eine hohe Ein¬
giessung in dem von v. Aldor und anderen
damit verbundenen Sinne giebt es also
gar nicht; sie ist aber auch übeiflüssig,
Original fro-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Juli
329
Die Therapie der Gegenwart 1903.
denn es ist durch Beobachtungen an
Patienten mit Coecumfisteln sicher festge¬
stellt, dass Flüssigkeiten, die aus 10—15 cm
(und sogar nur 4—5 cm) weit eingeführtem
Darmrohre unter gelindem Drucke in den
Mastdarm einlaufen, in ganz kurzer Zeit —
in einem Falle von Boas schon nach
wenigen Sekunden — im Coecum er¬
schienen.
Für nicht unbedenklich hält Boas auch
die Grösse der eingegossenen Flüssigkeits¬
menge; er fürchtet davon eine Schädigung
der Darmmuskulatur, die durch so grosse
und lange fortgesetzte Einläufe leicht über¬
dehnt, atonisch werden könnte.
Das Wirksame an den v. Aldor’schen
Einlaufen scheint Boas deren hohe Tem¬
peratur zu sein, die als Reiz für die Darm¬
muskulatur wohl von Nutzen sein kann.
Dabei dürften aber nach Boas’ Ansicht
nicht Dickdarmcatarrhe mit Obstipation und
solche mit chronischen Diarrhoen in gleicher
Weise behandelt werden; für letztere
scheinen ihm kleine heisse Infusionen, wie
sie u. a. Pollatschek (Karlsbad) empfiehlt,
eher am Platze. Für beide Arten von
Dickdarmcatarrh aber stellt er als oberstes
Gebot der Therapie, dessen Berücksich¬
tigung meist für sich allein ausreicht, das
Leiden zu beseitigen, die strenge Re¬
gelung der Diät hin. F. Klemperer.
(Berliner klin. Wochenschrift 1903, No. 19 u. 22.)
In einer sorgfältigen kritischen Studie
hat Wieland die Erfahrungen der Basler
Kinderklinik über Wirkungsweise des
Diphfherieheilsernms und seine Lei¬
stungsgrenzen bei operativer La-
rynxstenose bearbeitet. Auch er kommt
zu dem Schlüsse, dass Spitalsstatistik, kli¬
nische und namentlich anatomische Befunde
einen günstigen Einfluss der Serumbehand¬
lung auf die Diphtherie und speciell auf
die operative Eingriffe erfordernde Larynx-
stenose erkennen lassen. Die Wirksamkeit
ist wesentlich eine locale und äussert sich
in beschleunigter Rückbildung sowie Ver¬
hinderung weiterer Ausbreitung der ge¬
bildeten Membranen.
Wie bekannt, sind die Leistungen des
Serums um so zuverlässiger, je frühzeitiger
die Behandlung einsetzt. Aber die Prognose
im einzelnen Falle hängt nicht in erster
Linie von der Krankheitsdauer, sondern
vom Grade der bestehenden Allgemein-
infection (Virulenz, individuelle Empfäng¬
lichkeit) ab. So sieht man die besten Er¬
folge bei langsam verlaufenden (schwach
toxischen) Fällen, bei denen es früher fast
regelmässig zu absteigendem Croup kam.
e
Difitized b 1
■y Googl
Je rascher, toxischer der Verlauf, desto
geringer die Chancen auch frühzeitiger
Behandlung. Hier gewährt nur ganz frühe,
sofort nach erfolgter Infection angewandte
Injection grössere Aussichten, wie die Re¬
sultate bei den sogleich nach Ausbruch
der ersten Krankheitserscheinungen „ge¬
spritzten“ Spitalsinfectionen beweisen. In
den wenig günstigen Resultaten des Serums
bei toxischen Fällen dürfte in erster Linie
der Grund zu suchen sein, weshalb die in
Basel seit Jahrzehnten registrirten unregel¬
mässigen Schwankungen der städtischen
Diphtheriemortalität seit Einführung der
Serumbehandlung nicht verschwunden sind
und weshalb die Spitalletalität gerade der
schweren operativen Croupfälle nach wie
vor starkem Wechsel unterliegt.
Nach Wieland bestehen angesichts der
überwiegenden Localwirkung des Serums
bei der menschlichen Diphtherie einstweilen
keine zwingenden Gründe, in den gift¬
bindenden Eigenschaften nach Analogie
der in vitro und im Thierkörper nach¬
gewiesenen specifischen Vorgänge das
Hauptmoment für das Zustandekommen
der Heilung auch beim Menschen zu er¬
blicken. Vielmehr scheint nach dem Er¬
gebnis der Wieland’schen Untersuchun¬
gen die Bedeutung des Serums gegenüber
den toxischen Diphtherieproducten zum
grösseren Theil in einer bloss indirecten,
weitere Gifterzeugung verhütenden Wirk¬
samkeit zu liegen, während die Unschäd¬
lichmachung der bereits gebildeten und in
die Circulation aufgenommenen Toxine züm
Theil wohl auch dem Heilserum, zum grösse¬
ren Theil aber den verschiedenen gift¬
widrigen Factoren des Organismus selbst
überlassen bliebe.
Das Behring’sche Serum ist somit
nach Wieland’s Erfahrungen ein zwar
äusserst werthvolles, aber kein absolut —
d. h. kein in allen Fällen klinisch echter
Diphterie, gleich sicher zum Ziele führendes
Heilmittel. Dagegen scheint es ein durch¬
aus sicheres Prophylacticum zu sein. Zur
Vermeidung der namentlich bei toxischem
Epidemiecharakter drohenden Misserfolge
tritt Wieland für prophylactische Immuni-
sirung ein. Finkeistein (Berlin).
(Jahrb. f. Kinderheilk. 57.)
Die Eklampsie gehört ins Grenzgebiet
des internen und geburtshilflichen Interesses.
Die Therapie hat indess davon bisher noch
wenig Vortheil gehabt und ist ja auch heute
noch bei der Eklampsie bekanntlich keine
sehr glückliche und erfolgreiche. Die grosse
Zahl der Aerzte steht heute wohl noch auf
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Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
330
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
der Seite derer, die die Krankheit durch
interne Mittel, Narkotica, diaphoretische
Verfahren, Aderlass und Kochsalzinfusion
bekämpfen. Die Zahl der Geburtshelfer,
die actives Eingreifen und zwar Entbin¬
dung wünschen, ist noch nicht gross.
Halbertsma und Dührssen waren unter
den ersten. Zweifel und Leppold traten
in der Folge ebenfalls dafür ein, gestützt
auf günstige Erfahrungen. Nunmehr nimmt
auch der Hallenser Gynäkologe Bumm zu
der Frage Stellung, und zwar tritt er mit
Entschiedenheit für die sofortige Ent¬
bindung beim Ausbruch eklamp-
tischer Convulsionen ein. In den Jahren
1882—1895 behandelte er die Eklampsien
symptomatisch, indem er durch Narkotica
die Krampfanfälle zu unterdrücken strebte
und nur dann die Geburt künstlich herbei¬
führte, wenn die Eröffnung der Weichtheile
genügend fortgeschritten war, wie es eben
damals meistens üblich war. Von 47 der¬
artig behandelten Frauen starben 15, d. i.
30°/o. In den folgenden Jahren von 1895
bis 1900 machte Verfasser in 43 Fällen von
Eklampsie neben der üblichen Morphium¬
behandlung consequenten und ausgiebigen
Gebrauch von Schwitzkuren, dabei in9Fällen
von Aderlass und Kochsalztransfusion, aber
auch so waren die Resultate nicht besser,
Von den 43 eklamptischen Frauen starben
13 = 30%! Diese mangelhaften Erfolge
der eigentlich exspectativen Therapie ver-
anlassten Bumm, von nun an aktiver vor¬
zugehen, in dem er sich sagte, dass die
eklamptischen Störungen, auf welcher Ur¬
sache sie auch immer beruhen mögen, in
letzter Linie gewiss durch die Schwanger¬
schaft und den Geburtsreiz hervorgerufen
werden. Deshalb liess Verfasser nun vom
1. April 1901 ab an der Frauenklinik in
Halle alle eklamptischen Frauen sofort ent¬
binden, d. h. es wurde bei den in der An¬
stalt befindlichen Schwangeren sogleich
nach dem ersten oder zweiten Anfall, bei
eklamptisch eingelieferten, gleichgültig in
welchem Stadium der Geburt sie sich be¬
fanden, bis längstens in ^2 Stunde nach
der Einlieferung die Entleerung des Uterus
vorgenommen. Von 25 Eklamptischen, die
nach diesen Principien behandelt wurden,
starben nur 2, die beide moribund und
hoffnungslos eingeliefert wurden, an den
Folgen der eklamptischen Vergiftung, 22
genasen völlig, und eine starb, frei von
eklamptischen Symptomen, nach 12 Stunden
an einer Schluckpneumonie. Damit war
also eine Mortalität von 8% erreicht, eine
Zahl, die allerdings für die Zweckmässig¬
keit der Bumm’schen Massnahmen zu
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sprechen scheint. Ist die Eröffnung des
Gebärmutterhalses bereits im Gange, so
kommt Zange, Wendung oder Perforation
in Frage, bei theilweiser Entfaltung des
Cervix combinirte Wendung auf den Fuss
mit nachfolgendem permanentem Zug an der
herabgeholten Extremität, ev. vaginalem
Dührssen’scher Kaiserschnitt.
Auch bei Schwangerschaftsnephritis, die
sich trotz geeigneten diätetischen Verhal¬
tens nicht bessert, empfiehlt Bumm die
Unterbrechung der Schwangerschaft, um
die Kranken vor grösseren Gefahren zu
bewahren. Es wäre gewiss wünschens-
werth, dass diese therapeutischen Grund¬
sätze angesichts der wenig erfolgreichen
internen Therapie bei Eklampsie in grös¬
serem Umfang in der Praxis herangezogen
würden. Denn nur grosse Zahlen können
da endgültig entscheiden!
F. Umber (Berlin).
(Münch, med. Wochenschrift 1903, No. 21.)
Uebermässige Fleischnahrung haben
die Aerzte von jeher gern in ätiologische
Beziehung zur Gicht gesetzt und die prak¬
tische Erfahrung hat uns im allgemeinen
in der Therapie der Gicht auf reichlichere
Fleischzufuhr zu Gunsten der Vegeta-
bilien verzichten gelehrt. Früher glaubte
man diese Erfahrung einfach dadurch
erklären zu können, dass man im Fleisch
die Muttersubstanzen der Harnsäure an¬
nahm, welche nach der damaligen Vor¬
stellung als Vorstufe des Harnstoffs galt.
Heute wissen wir indess, dass die Harn¬
säurebildung zwar nicht ganz ausschliess¬
lich aber sicherlich zum weitaus grössten
Theil mit dem Umsatz der Purinkörper im
intermediären Stoffwechsel zusammenhängt.
Diese Purinkörper finden sich aber in den
Substanzen des Zellkernes, d. i. in den
Nucleoproteiden, und nicht in dem Proto¬
plasma. Daher erklärt sich auch, dass die
Harnsäureausscheidung weit mehr gestei¬
gert wird durch die Verabreichung kern¬
haltiger Organe in der Nahrung als durch
kernarmes Muskelfleisch. Es ist denn auch
seither nicht recht gelungen auf experimen¬
teller Grundlage bestimmte Anhaltspunkte
für die bei den meisten Therapeuten in Ehren
stehende Causalbeziehung zwischen Fleisch¬
nahrung und Gicht zu finden. Kionka hat
bekanntlich vor einiger Zeit die Beobach¬
tung gemacht, dass man bei Hühnern durch
monatelange ausschliessliche Fleischfütte¬
rung Uratablagerungen in den Gelenken
hervorrufen kann. Indess geht der Harn-
säurestoflfwechsel bei Vögeln andere Bahnen
wie beim Menschen, auf welchen man also
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
331
die Kionka'sehen Ergebnisse nicht ohne
weiteres übertragen darf. Kochmann hat
nun neuerdings im Kionka schen Institut
die Frage wiederum aufgenommen und Be¬
obachtungen darüber angestellt, ob durch
ausschliessliche Fleischnahrung bei Säuge-
thieren pathologisch-anatomische Verände¬
rungen nachweisbar wurden. Zu diesem
Zweck hielt er 3 Hunde im Stoffwechsel¬
käfig je 40 Tage lang unter ausschliess¬
licher Fleischkost, und zwar fütterte er
einem Thier Rindfleisch, zwei Thieren Pferde¬
fleisch, das nach Pflügers Erfahrung bei
länger dauernder Darreichung an Hunde
Störungen der Verdauung und des Allge¬
meinbefindens verursacht. Bei allen drei
Hunden, abgesehen von zeitweiligen Spuren
von Albumen bei 2 Hunden, und etwas
grösseren Mengen Albumen (bis zu 74 °/oo)
beim 3. Hund, fanden sich keine Störungen
der Gesundheit, indess bei der Obduction
anatomische Hinweise auf acute oder sub¬
acute Nephritis bei massigen Verfettungs¬
erscheinungen an den Nierenepithelien. (Es
ist indess zu beachten — worauf auch
der Verfasser hinweist — dass auch bei
normalen Hunden in der Gefangenschaft
Verfettungen geringen Grades stets be¬
obachtet werden.)
Ferner fanden sich trübe Schwellung
des Leberparenchyms sowie Pigmentab¬
lagerungen in der Milz, nach Verfassers
Meinung Folgezustände einer gemeinsamen
Schädlichkeit, die in der ausschliesslichen
Fleischkost gelegen war. Bei z\tfei Con¬
trolhunden, die einen gleichen Zeitraum
hindurch ebensoviel Fleisch bei reichlicher
Kohlehydratzulage erhalten hatten, fanden
sich ausser geringen Spuren von Verfettung
in den Nieren nichts abnormes.
Diese bemerkenswerthen Resultate, die
leichte Parenchymschädigungen der Organe
des Fleischfressers durch übermässigen
ausschliesslichen Fleischgenuss erweisen,
will nun der Verfasser rein deductiv in
genetische Beziehung zur uratischen Dia-
these setzen; das wird indess der Kliniker
nicht ganz ohne Einspruch hinnehmen!
Wenn durch irgend eine Schädigung in
Leber und Niere, sagt Kochmann, sich
schwere Degenerationen des Parenchyms
entwickeln, so muss die Harnsäurezerstö¬
rung ins Stocken gerathen, welche ja eine
Funktion dieser Organe ist. Mangelnde
Muskelarbeit lähmt auch die letzte Stätte
der Harnsäurezerstörung, die Muskeln. Die
kranke Niere vermag nun die im Laufe
der Zeit gebildete, aber nicht zerstörte
Harnsäure nicht auszuscheiden, und so
kommt es zur Ansammlung und schliess¬
lich Ablagerung derselben an besonders
disponirten Stellen des Körpers, d. h. es
könnte (beim Menschen) das klinische und
pathologisch-anatomische Bild der Gicht
entstehen. Für diese Deductionen Beweise
zu erbringen, möchte wohl nicht leicht
sein. Wie häufig können wir im Gegen-
theil die Beobachtung machen, dass
schwerere Parenchymschädigungen der
Organe, als hier Vorlagen, ohne Aufstape¬
lung oder gar Ablagerung von Harnsäure
im Körper vor sich gehen! Wie häufig
sehen wir länger bestehende allmählich
sich entwickelnde degenerative Verände¬
rungen an Nieren und Leber ohne bei der
Obduction consecutive Ablagerungen von
Harnsäure im Körper zu finden! Dass
bei Uratikern parenchymatöse Veränderun¬
gen der Nieren und zeitweilig leichte Ver¬
änderungen an der Leber gefunden werden
können, erlaubt wohl noch nicht, denselben
eine ätiologisch bedeutsame Rolle zuzu¬
weisen. Die Entscheidung ob Ursache oder
Wirkung ist da recht gefährlich! —
F. Umber (Berlin).
(Pflüger’s Archiv, Bd 94, 1903.)
Einer inneren Behandlung der
tuberkulösen Peritonitis der Kinder
an Stelle der chirurgischen redet L. Guthrie
nachdrücklieh das Wort. Ihm starben von
14 laparotomirten 7, von 27 intern be¬
handelten nur 4, und auch bei diesen war
dreimal septische Perforationsperitonitis,
einmal Phthise die Todesursache. Dass
die chirurgischen Fälle schwerere waren,
lässt Guthrie vielleicht für die Gestorbenen
gelten; die Geheilten jedoch waren nicht
anders, als die der zweiten Gruppe. Der
wichtigste Factor der inneren Behand¬
lung ist Bettruhe und vor Allem gute
Landluft.
Was den Ascites anbetrifft, so ist in
acuten Fällen die Entferung nur dann an¬
gezeigt, wenn grosse Beschwerden da
sind; denn gerade unter diesen Umständen
erfolgt schnelle Wiederkehr. In chronischen
Fällen dagegen ist das Ablassen nöthig und
zwar ist zur Vermeidung von Nebenver¬
letzungen die Incision einer Punktion vor¬
zuziehen. Bei Obstructionssymptomen und
Verdacht auf Eiterung, ebenso bei septischer
Peritonitis sowie bei Gegenwart von käsigen
Knoten ist die Laparotomie empfehlens-
werth. Finkeistein (Berlin).
(Arch. of Pedriatrics. April 1903.)
Der Schwefel ist zweifellos eines der
besten und wirksamsten dermatotherapeu-
tischen Präparate, das wir besitzen. Der
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332
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1903.
grosse Nachtheil des gewöhnlich verwen¬
deten Schwefelpräparats, des Lac sulfuris,
ist die Unlöslichkeit. Saalfeld berichtet
nun über Versuche mit einem neuen lös¬
lichen Schwefelpräparat, dem Thigenol.
Es ist das eine concentrirte Lösung der
Natriumverbindung der Sulfosäure; 10 Pro¬
cent Schwefel sind in diesem dunkelbraunen
Oel organisch gebunden. Vor dem Ichthyol
hat es den Vorzug, geruchlos zu sein. Es
ist in Wasser, verdünntem Alkohol, Gly¬
cerin völlig löslich. Gemäss den von einigen
anderen Autoren früher bereits gemachten
Angaben hat Saalfeld die günstigen Wir¬
kungen des Mittels bei einigen Hautkrank¬
heiten bestätigen können. Besonders bei
Ekzemen, auch der Kinder und in erster
Linie bei Seborrhoe und den mit diesem
im Zusammenhang stehenden Ekzemen war
das Mittel in Form von */ 4 % bis 15%igen
Salben wirkungsvoll. Spirituöse Lösungen
zu Pinselungen haben sich bei Acne rosacea
bewährt; bei Sycosis konnte durch 10 bis
20%ige Thigenolsalbe ein günstiger Effect
constatirt werden; bei Frost wandte er
10—15%ige Salbe oder bis 33 l /3%iges
Thigenolkollodium an; bei Scabies scheint
es nicht eine regelmässig gute Wirkung
zu haben. Buschke (Berlin).
(Therapeut. Monatsh. 1903 April.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Erfahrungen über Renoform (das wirksame Princip der Nebenniere)
und Renoformpräparate. (Renoformpulver, Renoformwatte.)
Von Dr. Bruno Qoldschmidt- Berlin.
Die wachsende Bedeutung des Neben¬
nierenextraktes für die Rhinologie ver¬
anlasst mich zur Veröffentlichung von Be¬
obachtungen, die ich theils mit dem Extrakt
selbst, theils mit Präparaten die denselben
enthalten, und .deren Anwendung ich
empfehlen möchte, angestellt habe. Meinen
Versuchen und Beobachtungen liegen die
Erzeugnisse der „Berliner Fabrik organo-
therapeutischer Präparate“ Dr. Freund
und Dr. Redlich zu Grunde, welche mit
dem Vorzug grosser Wirksamkeit den
ausserordentlicher Wohlfeilheit verbinden,
und welche sich, meiner Erfahrung nach,
vor dem Adrenalin durch die Eigenschaft
der Reizlosigkeit auszeichnen. Während
ich z. B. beim Adrenalin erlebt habe, dass
Einpinselung desselben zum Zweck der
Behandlung einer vasomotorischen Rhi¬
nitis heftige Reizerscheinungen, als Niesen,
Brennen etc. hervorrief, habe ich bei An¬
wendung des Berliner Präparates niemals
dergleichen beobachtet. Möglicherweise
rührt diese Reizwirkung des Adrenalins
von dem ihm zur Conservirung beigefügten
Zusatz von Aceton-Chloroform her, während
das „Renoform“ mit welchem Namen die
genannte Firma das wirksame Princip der
Nebenniere bezeichnet, ausschliesslich
Glycerin zum Zweck der Conservirung
enthält.
Die Indicationen für die Anwendung
des flüssigen Nebennierenextraktes sind be-
kanntermaassen Schwellungszustände oder
Blutungen der Nasenschleimhäute; dem¬
entsprechend verwendete ich das Renoform:
1. Als diagnostisches Mittel.
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2. Als ischämisches und secundär se-
cretionsbeschränkendes Mittel bei Zuständen
vasomotorischer Reizung.
3. Als Präventivmittel gegen Blutungen
vor operativen Eingriffen.
4. Als Stypticum bei operativen und
nichtoperativen Blutungen.
Die Punkte 1 und 2 bedürfen keines
weiteren Commentars; die Wirkung des
Renoforms bei diesen beiden Indicationen
ist sattsam bekannt und besprochen. Zu
Punkt 3 möchte ich erwähnen, dass Auf¬
pinselung einer 2—5% Lösung vor opera¬
tiven Eingriffen (Resection vorderer oder
hinterer Muschelenden, Abtragung von
Spinen und Cristen, Resection grösserer
Muschelpartien) mit darauf folgender Co-
cainisirung der zu operirenden Stellen, bei¬
nahe vollständige Blutleere des Operations¬
feldes ermöglichte. Auch die nach dem
Eingriff einsetzende Blutung war zumeist
sehr gering. Wurde die Nase darauf in der
üblichen Weise mit Jodoformgaze tamponirt,
so sah ich niemals eine stärkere (etwa
durch heftigere Nachblutung in Folge
reaktiver Lähmung der Vasoconstrictoren
verursachte) Durchtränkung des Tampons,
als nach operativen Eingriffen ohne Extrakt
Ich erwähne dies ausdrücklich, weil von
mehreren Seiten vor heftigen Nachblutungen
nach Anwendung von Nebennierenextrakt
bei Operationen gewarnt worden ist. Die¬
selbe günstige Wirkung sah ich bei der
Bepinselung der Gaumentonsille vor ihrer
Entfernung. Auch hier war die sonst ge¬
wöhnlich recht heftige, unmittelbar ein¬
setzende Blutung ganz minimal: eine Nach¬
ts rigi na I from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
Juli
333
Die Therapie der Gegenwart 1903.
blutung trat Oberhaupt nicht ein. Aller¬
dings sind ja Nachblutungen aus operirten
Tonsillen Oberhaupt etwas Seltenes, doch
wird diese geringfügige Reizung hierzu
durch die vorhergehende Behandlung mit
Renoform jedenfalls nicht erhöht.
Zu Punkt 4: wurde nach Entfernung
vorderer oder hinterer Enden oder nach
anderen operativen Eingriffen die blutende
Stelle mit einem in Renoform getauchten
Wattebausch bedeckt, so stand die Blutung
sehr schnell. Das gleiche günstige Resultat
zeigte sich bei Behandlung des blutenden
Locus Kieselhachii. Hier möchte ich noch
erwähnen, das ich nie einen ungünstigen
Einfluss auf das Allgemeinbefinden des
Patienten beobachtet habe, obgleich das
Renoform doch in unmittelbare Berührung
mit den offenen Blutbahnen kommt. Diese
Beobachtung ist um so wichtiger, wenn
man die ausserordentlich grosse Resorptions¬
fähigkeit der Nasenschleimheit für allerhand
chemische Agentien kennt. Es spricht
dies jedenfalls für die Unschädlichkeit des
Präparates.
Die günstigen Erfahrungen, die ich mit
dem flüssigen Extract bei allen Zuständen
acuter oder chronischer Schwellung der
Nasenschleimhäute gemacht hatte, legten
den Gedanken nahe nach einer Anwen¬
dungsform des Extractes zu suchen, welche
handlich, billig und dennoch wirksam, seine
Verwendung sowohl in ärztlichen Händen,
als auch als populäres .Schnupfenmittel“
ermöglichte. Die bisher übliche Art der
Anwendung in Gestalt von Lösungen ist,
besonders für letztgenannten Zweck, un¬
geeignet, und findet aus naheliegenden
Gründen sehr bald seine Grenzen. 1 ) Eine
hierfür geeignete Form scheint mir die des
„Pulvers“ zu sein. Zahlreiche Versuche
zeigten, dass ein Zusatz von 0,10 g Reno¬
form sicc. zu 5,0 g eines indifferenten
Pulvers (in diesem Falle: Acid. boric. subtil,
pulveris. Sacch. lact.), sorgfältig mit
diesem verrieben, eine Mischung ergab,
welche auf der Nasenschleimhaut dieselben
ischämischen Symptome hervorzurufen im
Stande ist, wie die gleichprocentigen
Lösungen. Das Pulver hatte leider lange
den Nachtheil, dass ihm der Organgeruch
recht deutlich anhaftete. Nach langen Ver¬
suchen ist es der Fabrik nun gelungen, ein
absolut geruchloses, haltbares und reiz¬
loses Pulver herzustellen. Dasselbe hat
sich mir und anderen Collegen in der
Praxis ausserordentlich bewährt. Das
Pulver, das in kleinen Flacons in den
Vergl. Therapie der Gegenwart. August 1902.
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Handel kommt, wird aufgeschnupft. Für
Fälle, wo das Aufschnupfen wegen voll¬
ständiger Verstopfung unmöglich ist, habe
ich ein Röhrchen anfertigen lassen, dessen
eines Ende der Patient in den Mund, dessen
anderes er in die Nase steckt, und so
durch leichtes Blasen die nöthige, vorher
in das Röhrchen aufgeschaufelte Menge
Pulver in die Nase bringt. Die Wirkung
pflegt in der Weise aufzutreten, dass sich
zunächst eine stärkere Secretion einstellt,
die nach kurzer Zeit, ca. 10—15 Minuten,
ausgesprochener Trockenheit Platz macht.
Die Abschwellung der Schleimhäute tritt
nach kaum 1 Minute ein und hält, mit in¬
dividuellen Abweichungen, stundenlang an.
Während also dieses Pulver zunächst
als populäres „Schnupfenmittel“ gedacht
war, veranlasste mich die Bequemlichkeit
seiner Anwendnng bald, dasselbe selbst in
der Praxis dauernd zu verwenden. Da
das Pulver die Eigenschaft hat, sehr schnell
auf der Schleimhaut zu zergehen, so konnte
ich es mit grösstem Nutzen da anwenden,
wo ich zum Zweck der Diagnose oder der
Therapie eine prompte Anämisirung be¬
zweckte. Die Wirkung tritt nach 1 bis
2 Minuten in durchaus prägnanter Weise
auf und hält, je nach individuellen Eigen¬
schaften (mehr oder minder grosse Schlaff¬
heit der Schwellkörper, Vorhandensein
von Adenoiden und anderen Abfluss¬
hindernissen des Blutes), mehrere Stunden
an. Nichts lag näher als diese Eigen¬
schaften auch zur Blutstillung in der Nase
zu verwenden. Es ist klar, dass sich zu
diesem Zweck ein Pulver stets besser
eignet als eine Flüssigkeit, die man mittels
Spray oder Wattetampon auftragen muss.
Das Einsprayen von Flüssigkeit in die
Nase ist schon an und für sich eine für
den Patienten höchst unangenehme Pro-
cedur; die Bepinselung einer blutenden
Stelle mittels eines Watte- oder anderen
Pinsels zerstört zunächst einmal mechanisch
leicht etwa beginnende Gerinnselbildung
und ist, wie jeder Praktiker aus Erfahrung
weiss, zeitraubend und unsicher. Die
Tamponade mittels eines in Lösung ge¬
tränkten Tampons wirkt zwar prompt, ist
aber, wie jeder Tampon in der Nase,
höchst lästig, und führt zu der Gefahr, bei
Entfernung des Tampons eine neue Blu¬
tung zu erzeugen. Das Renoformpulver
hat sich nun als recht gutes Stypticum be¬
währt.
Andere Collegen und ich haben es viel¬
fach bei operativen und nichtoperativen
Nasenblutungen erfolgreich angewandt. So¬
gar Muschelresectionen, Abtragungen vor-
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
334
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
derer und hinterer Enden standen nach
Einpulverung von Renoform. Auch post¬
operative Larynxblutungen wurden durch
Renoformeinblasungen gestillt. Die sterile
Art der Herstellung und der Zusatz von
Borsäure gestattet auch die unbedenkliche
Auftragung auf Wunden. Stärkere Nach¬
blutungen habe ich nicht erlebt.
Natürlich giebt es Fälle, in denen die
Blutung so heftig, die Contractionsfähigkeit
des Schwellgewebes so gering ist, dass
man zur Tamponade greifen muss. Die
allgemein übliche Tamponade mittels fester
Ausstopfung der ganzen betreffenden
Nasenhälfte mit Jodoformgaze ist bekannt¬
lich einer der unangenehmsten und schmerz¬
haftesten Eingriffe. Ein Mittel, das sicher
blutstillend wirkt, ohne die höchst lästigen
Begleiterscheinungen der Tamponade zu
bieten, glaube ich gefunden zu haben durch
Herstellung einer „Renoformwatte“.
Auch dieses Präparat wird von der Firma
Freund & Redlich in der Weise hergestellt,
dass sterile Watte mit dem Nebennieren-
extract getränkt wird, so dass 100 Gewichts-
theile Watte 2 Gewichtstheile Renoform
enthalten. Die Watte wird dann getrocknet
und behält trocken ihre ischämischen
Eigenschaften.
Der Vorzug dieser Watte vor der ge¬
wöhnlich zur Tamponade verwandten
Jodoformgaze besteht zunächst darin, dass
es genügt, dieselbe nur leicht gegen die
blutende Stelle anzudrücken und dort
liegen zu lassen, dass man nicht die ganze
Nase auszustopfen braucht, und endlich,
dass die Nachblutung bei Entfernung des
lockeren Tampons sehr gering oder gar-
nicht vorhanden ist. Offenbar wird durch
die lang anhaltende ischämische Wirkung
der Watte, verbunden mit dem leichten
Druck, die Gerinnselbildung der blutenden
Gefässe beschleunigt, so dass bei Entfer¬
nung des Tampons eine Blutung nicht mehr
stattfinden kann.
Hervorheben möchte ich noch den
grossen Vorzug, den die Watte gegen¬
über der Sesquichloridwatte und anderen
Stypticis (Ferripyrin etc.) durch die Sauber¬
keit ihrer Anwendung bietet.
Wir haben die Watte vielfach nach
operativen Eingriffen in der Nase in der
oben beschriebenen Weise verwendet, ohne
Nachblutungen beobachtet zu haben. Der
am nächsten Tage entfernte Tampon ist,
auch an der Berührungsstelle mit der
Wunde, nicht roth, sondern elfenbeingelb
gefärbt, anscheinend eine auf Veränderung
des Blutfarbstoffes beruhende Farben-
reaction.
Zum Schluss noch die Bemerkung, dass
meiner Erfahrung nach das Renoform in
seiner Wirksamkeit in keiner Weise hinter
dem sauren Adrenalin zurücksteht; es ist
geruchlos und klar wie dieses und, wie
gesagt, reizloser für die Schleimhäute.
Die neuen Renoformpräparate seien den
Collegen warm zur Nachprüfung empfohlen.
Ueber Dymal.
Von Dr. J. Stock -Skalsko.
Es giebt viele pharmakotherapeutische
Neuigkeiten, die wahrlich vollkommen werth¬
los sind, indem sie nicht einmal annähernd
denselben Erfolg erreichen wie längst be¬
währte alte Mittel. Wenige giebt es solcher,
die wenigstens in irgend einer Richtung
wirksam sind, die seltensten sind doch jene,
die durch ihre specifische Wirkung oder
allseitige Anwendung gleichen könnten
jenen alten Grössen, so wie z. B. Chinin,
Hydrargyrum, Morphium u. A.
So giebt es auch eine ziemlich grosse
Reihe jener chemischen Mittel, die uns in
der Wundbehandlung zur Disposition stehen,
und doch wissen wir, wenn wir diese
grosse Reihe bisher bekannter und üblicher
Mittel durchgehen, dass selten eines den
Zweck vollkommen erfüllt.
Etwa vor einem Jahre kam mir ein
neues, von der Firma Zimmer & Co. in
Frankfurt erzeugtes Präparat, Dy mal,
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zur Hand, das mir als wirksames Wund¬
streupulver anempfohlen wurde.
Das Dymal wird bei der Fabrikation von
Auerstrümpfen, die, wie bekannt aus Didym,
Cerium und Lanthan bestehen, als Neben-
product gewonnen und besteht aus salicyl-
saurem Didym von der chemischen Formel:
Di 2 (Cß H 4 OH. C 00)c. Es ist ein feines,
rosaweisses Pulver, ohne Geruch, das nicht
zusammenballt und mit einem Pinsel sich
gut aufstreuen lässt.
Der erste, der auf Overlach’s Ver¬
anlassung das Dymal durchprobte, war Prof.
Ko pp in München. 1 ) In Fällen kleiner
Schnitt-, Riss- und Quetschwunden erwies
sich ihm Dymal als ein gutes, antiseptisches,
austrocknendes Mittel. Auch Verbrennun¬
gen heilen unter Dymalverband bald, be-
l ) C. Ko pp (Mönchen), Ueber Dymal (Therap.
Monatshefte Febr. 1902).
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
335
Die Therapie der
sonders die Sekretion nimmt rasch ab. Bei
den genannten, mehr der kleinen Chirurgie
angehörigen Kranken hatte also Ko pp das
Dymal als ein ungiftiges und reizloses,
sekretbeschränkendes und austrocknendes
antiseptisches Wundstreupulver kennen ge¬
lernt, sodass er es nun bei folgenden Der¬
matosen in Anwendung zog: Acutes und
chronisches, nässendes und trockenes Ek¬
zem, Psoriasis, Impetigo contagiosa, Erysi¬
pel, Hyperidrosis, Intertrigo, Ichthyosis und
verschiedene Formen von Hautgangrän.
Zur Behandlung des Erysipels und der
Psoriasis findet Ko pp das Dymal als un¬
geeignet, dafür aber bewährt es sich in
Fällen von Hyperidrosis und Intertrigo. In
Fällen von Hautgangrän, bei Decubitus,
Ulcus cruris, Erfrierungen 3. Grades und
seniler Gangrän kann auch das Dymal
sehr gut angewandt werden, besonders der
üble Geruch solcher gangränöser Processe
wird rasch beseitigt.
Auch Roth 1 ) ist mit der Wirkung des
Dymals sehr zufrieden und gebrauchte es
in Fällen von nässenden und trockenen,
besonders acuten Ekzemen, bei Impetigo,
Hyperidrosis, Combustio, Herpes und Pru¬
rigo und bewährte es sich ihm immer als ein
austrocknendes, hautschützendes" und reiz¬
stillendes Mittel. Die austrocknende Wir¬
kung des Dymals bewährte sich auch bei
oberflächlichen Eiterungen (Impetigo).
Munks 2 ) Versuche mit dem Dymal be¬
schränken sich hauptsächlich auf ambula¬
torische Behandlung von Wundkrankheiten,
bei welchen er die Beobachtung zu machen
Gelegenheit hatte, dass das Dymal, ausser
den von Kopp und Roth angegebenen
Eigenschaften auch noch den weiteren,
nicht zu unterschätzenden Vorzug besitzt,
dass man von dem auf die Wundfläche
gestreuten Pulver, es mag noch so dicht
aufgestreut worden sein, Tags darauf beim
Verbandswechsel keine Spur mehr vor¬
findet, indem das Dymal nicht so, wie dies
bei anderen Wundstreupulvern der Fall
ist, der Wundfläche anhaften bleibt, so¬
dass das Aussehen und Beschaffenheit der
Wunde nicht wahrzunehmen ist, sondern
es wird gänzlich resorbirt, sodass bei Ab¬
nahme des Verbandes die Beschaffenheit
der Wunde genau beurtheilt werden kann.
Ausser Fällen von kleineren Quetsch-,
Riss- und Schnittwunden, welche mit Dy-
*) Dr. Alfred Roth, Ueber Dymal („Pester
medicin. chir. Presse - , Jahrgang XXXVII (1902),
No. 44.
*) Dr. J. Munk, Ueber die Verwendbarkeit des
Dymals in der Chirurgie (,Aerztl. Centr.-Zeitung",
XIV. Jahrg. 1903, No. 13).
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Gegenwart 1903.
mal bestreut, auffallend rasch ohne jede
Eiterung vernarbten, machte er auch bei
grösseren Verletzungen in einem Falle
traumatischer Gangrän und in einem Falle
von Anthrax davon mit bestem Erfolge
Gebrauch. Sonst lobt er die Wirksamkeit
desselben Streupulvers bei Intertrigo, acu¬
tem Ekzem und als Insufflationsmittel bei
acutem Nasen- und Rachenkatarrh.
Die eigenen Fälle, in welchen ich vom
Dymal Gebrauch machte, entstammen eben¬
falls der kleinen chirurgischen Praxis, ins¬
besondere kleine Quetsch- und Schnitt¬
wunden (32), ausserdem ein Fall subacuten
nässenden Ekzems (1), Verbrennungen (2),
ein ziemlich ausgedehnter Decubitus (1),
Intertrigo (6), Hyperidrosis (2) und Fuss-
geschwüre (3). Der Gesammterfolg war
durchaus gut, denn es zeigt das Dymal,
es mag auch in grosser Menge aufgestreut
worden sein, auch bei ganz kleinen Kin¬
dern, gar keine giftigen Eigenschaften und
trocknet die Wunden sehr gut aus. Klei¬
nere Quetsch- und Schnittwunden heilen
ganz gut und sehr rasch; mit anderen
antiseptischen Mitteln wäre derselbe Erfolg
in demselben Zeiträume nicht zu erreichen
gewesen.
Die austrocknende Eigenschaft des
Dymals bewährt sich sehr gut bei Intertrigo
Erwachsener und Kinder, wo dieses Mittel
immer sehr gut anempfohlen werden kann;
die Wirkung ist hier ziemlich prompt.
Aehnlicher Weise und vielleicht aus dem¬
selben Grunde ist auch die Hyperidrosis
ein für das Dymal dankbares Behandlung¬
object, wenigstens meine zwei Fälle, die
verschiedenen, vorangehenden Behand¬
lungsversuchen nicht weichen wollten,
scheinen dies zu bekräftigen.
Bei Verbrennungen ist der günstige
Einfluss ebenfalls evident, denn das Dymal
vermindert die starke Secretion, es hat
aber den Fehler, dass es die Schmerzen
nicht im geringsten lindert, ob es schon
in Form einer Salbe oder Streupulvers an¬
gewandt wurde. Aus dem Grunde empfehle
ich in Fällen von Verbrennungen und Fuss-
geschwüren eine Combination des Dymals
mit Anaesthesin, dessen analgetische Wir¬
kung die Kranken sehr loben.
Der Behauptung Munk’s, dass das
Dymal auf die Wunde, noch so dicht auf¬
gestreut, sich gänzlich resorbirt, so dass am
andern Tage nicht die geringste Spur nach¬
gewiesen werden kann, kann ich im vollen
Umfange nicht beipflichten. Allerdings, bei
kleinen Wunden, wo nicht viel aufgestreut
wurde, resorbirt sich das Pulver gänzlich,
aber nach stärkerer Aufstreuung, so wie
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
336
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Juli
ich es in einem Falle eines ausgedehnten
Decubitus that, fand ich immer den zweiten
Tag die Wunde mit einer Dymalschicht,
wie mit einer Kruste, die öfters auch künst¬
lich entfernt werden musste, bedeckt.
Demgegenüber blieb das Dymal voll¬
kommen unwirksam in einem Falle nässenden
Ekzems, obwohl es durch längere Zeit
applicirt wurde, bis ich mich genöthigt sah,
zum bewährten Resorcin zurückzukehren,
welches das Ekzem in kurzer Zeit aus¬
trocknete und zur Heilung brachte.
Fassen wir also die Erfolge eigener Be¬
obachtungen zusammen, so können wir
sagen, dass das Dymal ein nicht reizendes
und ungiftiges, antiseptisches Mittel
ist, das die Wunde gut austrocknet
und heilt.
Der Vorzug des Dymals vor anderen
gleich wirksamen antiseptischen Streu¬
pulvern liegt in seiner grossen Billigkeit*
die es zur Anwendung in der Armen- und
Kassenpraxis ganz besonders empfehlens-
werth erscheinen lässt.
Dr. Leo Schwarz
A.us dem engeren Kreis der ständigen Mitarbeiter dieser Zeitschrift hat der
Tod ein erstes schmerzliches Opfer geholt. Unser Referent für österreichische
Litteratur, Dr. Leo Schwarz in Prag, ist am 30. Mai im 31. Lebensjahr unver-
muthet und plötzlich einem apoplectischen Insult nach latenter interstitieller Nephritis
erlegen.
Leo Schwarz war ein jüngeres Mitglied der Prager biochemischen Schule,
deren Hauptvertreter jetzt in deutschen Landen auf Physiologie wie auf Klinik
heilsamen und befruchtenden Einfluss ausüben. Schwarz hat unter Hofmeister
in Prag und später in Strassburg gearbeitet, und war mehrere Jahre Assistent
bei Pohl in Prag, ehe er zur medicinischen Klinik von Pribram übertrat, der er
zuletzt als erster Assistent angehörte.
Schwarz’ wissenschaftliche Arbeiten stehen in engem Zusammenhang mit
dem grossen Eiweissproblem, 4 esse n Erforschung die Prager Schule ihre Haupt-
thätigkeit widmet; er hat über die Kupferalbuminsäure, das Verhältniss von Oxamin-
säure zu Harnstoff, die Aldehydverbindungen der Eiweisskörper, die Oxydation
der Ketone der Fettsäurereihe gearbeitet. Von der letztgenannten Forschung fand
er den Weg zu klinisch bedeutsamen Fragestellungen, indem er die Gesetze der
Bildung und Ausscheidung des Acetons und der Acetessigsäure studirte. Es ge¬
lang ihm die Feststellung des Zusammenhangs der Acetonbildung mit Fettnahrung
und ihre Verminderung durch Gluconsäure, die er danach als ein Mittel gegen
diabetisches Coma ansprach. Von hier aus trat er in weitere Forschungen über
den Diabetes ein, die er in seiner letzten Arbeit zusammenfasste; ein Referat über
dieselbe ist in diesem Heft enthalten.
Die kurz skizzirte Summe seiner Lebensarbeit zeigt, von welch hingebendem
Fleiss und Eifer der jugendliche Forscher beseelt war; es sei hinzugefügt, dass
jede einzelne seiner Arbeiten jene tadellose Exactheit und Zuverlässigkeit zeigte,
welche wir als ein Attribut der Schule betrachten dürfen, in der er erwachsen war.
Dieser Zeitschrift und ihrem Herausgeber ist Leo Schwarz während eines
mehrmonatlichen Studienaufenthalts in Berlin im Frühjahr 1899 nahegetreten; ich
habe ihn als einen guten und aufrichtigen Menschen, eine idealerfüllte Seele,
voll von Begeisterung für unsere Wissenschaft kennen und schätzen gelernt. Wir
durften glauben, dass seiner Begabung, seinem Fleiss, seinem untadligen Wesen
die schönsten Früchte beschieden sein würden. Nun vernahmen wir erschüttert
die Kunde von seinem allzufrühen Heimgang. Doch wollen wir sein Loos nicht
beklagen. Im Frühling stolzer Hoffnungen ist er von der blühenden Erde ge¬
schieden; die Bitterniss vieler Enttäuschungen ist ihm erspart geblieben. — Als
eine anima candida wird er in unserm Andenken fortleben.
Für die Redaction verantwortlich: Prof. G. Klempercr in Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Oesterreich-Ungain.
Eugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag voft Urban &Schwarzenb6rg
in Wien und Berlin.
Digitized b'
■V Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1903
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
August
Nachdruck verboten.
Ueber die specifische Behandlung des Morbus Basedowii.
Von Dr. Burghart, dirig. Arzt am Luisenhospital in Dortmund,
und Privatdocent Dr. Bllimentlial, Assistent der I. med. Klinik in Berlin.
Nachdem neuerdings von verschiedenen
Seiten günstige Erfolge nach Anwendung
von Blutserum oder Milch entkropfterThiere
bei Morbus Basedowii mitgetheilt worden
sind, scheint es uns, die wir an der Ent¬
wicklung dieser organotherapeutischen Be¬
strebungen Antheil zu haben glauben, nicht
überflüssig, über unsere Anschauungen
und therapeutischen Beobachtungen zu
berichten. Zunächst seien uns einige
historische Bemerkungen erlaubt.
Im Jahre 1897 kam Burg hart auf die Idee,
das Blut einer an Myxödem leidenden Kranken
zur Behandlung des Morbus Basedowii zu be¬
nutzen, ausgehend von dem besonders durch
Moebius begründeten Gedanken, dass Myx¬
ödem und Morbus Basedowii gegensätzliche
Krankheiten sind, und dass beide auf Ver¬
giftung des Körpers durch Functionsverände¬
rungen oder Erkrankungen der Schilddrüse be¬
ruhen. Den unmittelbaren Anlass zur Ver¬
folgung der genannten Idee bot der Zufall, dass
auf der Abtheilung Burgharts in der I. medi-
cinischen Klinik der Charite gleichzeitig eine
schwer Myxödematöse und eine schw’er
Basedowkranke lagen. Die Erfolge, welche
durch Einspritzen eines Kochsalzauszuges des
Blutes der Myxödemkranken bei der an Basedow
leidenden Patientin erzielt wurden, waren in
vielfacher Beziehung, namentlich in Bezug auf
die Einwirkung auf das Körpergewicht, das
Zittern, den Schweiss, die Tachycardie so
evidente, dass die Möglichkeit, den Basedow
durch Zufuhr von Myxödemblut specifisch zu
beeinflussen, vorhanden erschien, und dass
hierdurch die Annahme, dass diese beiden
Krankheiten in gewissem Gegensatz in Bezug
auf ihren ätiologischen Zusammenhang mit der
Schilddrüse stehen, eine erhebliche Stütze er¬
fuhr. Auf Grund dieser Erfahrungen erwogen
wir gemeinsam, ob nicht mit Rücksicht auf die
Seltenheit des Vorkommens von Myxödem,
welche die Anwendung des Myxödemblutes
gegen Basedow im grösseren Maassstabe un¬
möglich machen musste, durch Benutzung von
Blut entkropfter Thiere ähnliche Wirkungen
erzeugt werden könnten. Wir wählten zu¬
nächst aus äusseren Gründen Hunde. Von
diesen ist es bekannt, dass sie in Folge der
Schilddrüsenexstirpation zu einem grossen
Theil an Tetanie erkranken, und ferner, dass
diese Tetanie durch Gaben von Schilddrüsen-
extract theilweise verhütet, theilweise gemildert
werden kann. Die Versuche mit dem Blut der
Digitized by Google
entkropften Hunde ergaben in der That eben¬
falls ein günstiges und eindeutiges Resultat.
Erzielt wurden die günstigen Erfolge ebenso
gut mit einem Kochsalzauszuge, wie mit dem
Serum des Blutes bei subcutaner Anwendung,
wie mit Verabreichung eines durch Alkohol¬
fällung erzeugten Blutpulvers per os. Die
besten Ergebnisse allerdings hatte die Verwen¬
dung des Blutkochsalzauszuges.
Ueber diese Versuche hat Burghart, nach
dem von uns eine gewisse Anzahl von Basedow-
kranken dieser Behandlung unterzogen worden
war, am 17. Juli 1899 im Verein für innere
Medicin in Berlin in einem Vortrage: „Beiträge
zur Organotherapie“ Mittheilung gemacht *). Da¬
mals wiegten wir uns in dem Glauben, dass
unsere Anwendung von Hundeblut gegen
Morbus Basedowii zuvor noch niemals geübt
worden war. Erst unmittelbar bevor der Vor¬
trag gehalten wurde, erfuhren wir, dass Ver¬
suche, und zw r ar mit Hundeblutserum subcutan,
schon vor uns von Ballet und Enriquez,
und zwar gleichfalls mit gutem Erfolge, ange¬
stellt worden waren, Diese Versuche, mit¬
getheilt in La mödecine moderne 1895 No. 104:
Des effets de l’hyperthyreoidisation experi¬
mentale sind ohne Zweifel Vorläufer der
unserigen, wie wir anzuerkennen nie Anstand
genommen haben; doch w T eder Ballet und
Enriquez selbst, noch andere Forscher haben
auf ihnen weiter gebaut oder nur sie weiterhin
therapeutisch verwerthet. So kam es, dass wir
ohne ihre Kenntniss dieselbe Idee gehabt haben.
Kurze Zeit nach Burghart’s Vortrag er¬
schien im Correspondenzplatt für Schweizer
Aerzte eine Arbeit, in welcher Lanz a ) über
günstige Beeinflussung des Morbus Basedowii
durch innere Verabreichung von Milch ent¬
kropfter Ziegen berichtete. Wir haben bereits
in der Festschrift für E. von Leyden 3 ) dankend
anerkannt, dass diese Arbeit uns als eine
wesentliche Verbesserung der specifischen Be¬
handlung des Morbus Basedowii in sofern er¬
schien. als die Milch thyreoidectomirter Thiere
ein leichter anwendbares Mittel darstellt, als
uns in den Blutpräparaten thyreoidectomirter
Hunde bisher zur Verfügung stand, und wir
finden, obwohl Lanz in seiner Arbeit unserer
Versuche mit keinem Worte gedenkt, keinen
Anlass, sein Verdienst nachträglich zu ver-
*) Burghart, Deutsche med. Wochenschrift
1899, No. 37 u. 38.
a ) Lanz, Correspondenzblatt für Schweizer
Aerzte 1899.
3 ) Burghart und Blumenthal, Festschrift
für E. v. Leyden. 1902. Berlin, Hirschwatd.
43
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
338
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
kleinern. Nun macht uns Lanz in seiner
neusten Publikation in der Münchener medici-
nischen Wochenschrift 1903 No. 4 den Vorwurf,
eine von ihm schon vorher veröffentliche Arbeit,
in der er die Idee, Milch thyreoidectomirter
Thiere zu serumtherapeutischen Zwecken zu
verwenden, mitgetheilt hatte, nicht gekannt zu
haben. Diese Idee findet sich nämlich in einer
Arbeit in den Mittheilungen aus Kliniken und
medicinischen Instituten der Schweiz 1895 ver¬
öffentlicht. Dieser Vorwurf kann uns indessen
aus dem Grunde nicht treffen, weil das
von Herrn Lanz zur Publikation gewählte
Blatt uns unzugänglich und die Existenz der
Lanz’schen Arbeit erst durch die neuste Publi¬
kation Lanz’s uns bekannt geworden ist.
Lanz hätte unseres Erachtens besser gethan,
sich vor diesem Vorwurf zu hüten, da ihm
sogar unsere in der Deutschen medicinischen
Wochenschrift, einem doch gewiss überall leicht
zugänglichen Organ, veröffentlichen Versuche
entgangen sind, und er auf dieselben seinem
eigenen Geständniss nach erst durch die
Rodagenankündigung der Vereinigten chemi¬
schen Werke aufmerksam gemacht worden ist.
Zwei Jahre nach der zweiten Publication
von Lanz und der unsrigen, nämlich 1901,
hat dann Moebius auf dem Vereinstag mittel¬
deutscher Psychiater, wie wir einem Referat
in der Zeitschrift für Psychiatrie entnehmen,
über von ihm angestellte Versuche mit Serum¬
behandlung des Morbus Basedowii berichtet.
In diesem Bericht erwähnt Moebius zwar, dass
Burghart das Blut einer Myxodematösen mit
Erfolg zur Behandlung des Basedow verwandt
hat, er erwähnt aber nicht unsere Versuche
mit dem Blut thyreoidectomirter Hunde, welche
in derselben Arbeit mitgetheilt worden sind.
Moebius hat nun an Stelle von Hunden
Hammeln die Schilddrüse exstirpirt und mit
dem Serum dieser Hammel seine Kranken be¬
handelt; das Serum ist jetzt von der Firma
Merck in Darmstadt unter dem Namen „Anti-
thyreoidserum Moebius“ in den Handel gebracht.
Es unterscheidet sich also das Moebius’sehe
Serum nur durch die Art der Thiere von dem
von Ballet und Enriquez und uns benutzten.
Es stellt im Princip nichts Neues dar. Dies
möchten wir nur deshalb betonen, da durch
die Hinzufügung des Namens Moebius der
Anschein erweckt werden könnte, als stamme
die Behandlungsmethode von Moebius.
In No. 4 der Münchener medicinischen
Wochenschrift 1903 berichtet nun Moebius
weiter über seine Resultate mit diesem Serum,
welches er Anfangs subcutan, später per os gab.
Auch diese sind günstig und scheinen ihm
sogar der Wirkung der Milch entkropfter Thiere,
welche er, wie sie als Rodagen in den Handel
kommt, angewandt hat, etwas überlegen.
Hieraus geht hervor, dass die Conception
und practische Ausführung der Idee verschie¬
denen Autoren mehr oder weniger unabhängig
von einander zugeschrieben werden muss; die
Idee, das Blut entkropfter Thiere zu benutzen
Ballet und Enriquez und uns, die Idee,
Milch zu verwenden Lanz, die Idee das Blut
entkropfter Tiere per os zu geben, ausschliess¬
lich uns.
Ehe wir auf unsere Erfahrungen über den
therapeutischen Wert dieser entkropften
Thieren abgewonnenen Heilmittel gegen Base¬
dow eingehen, sei es uns erlaubt, über die
Herstellung des Rodagens, sowie über an unsern
entkropften Thieren gemachten physiologischen
Beobachtungen zu berichten.
Bei den Versuchen, die Milch thyreoid-
ektomirter Ziegen zu verabreichen, stiessen
wir auf ein fundamentales Hinderniss, wel¬
ches gegeben war einerseits dadurch, dass
die Milch in natura den Kranken schon
nach kurzer Zeit widerlich wurde, andrer¬
seits dadurch, dass die Milch sich nicht
conserviren Hess und namentlich in der
Sommerzeit in wenigen Stunden sich zer¬
setzte. Wir empfanden es daher bald als
eine unumgängliche Aufgabe, aus der Milch
ein dauerhaftes Präparat herzustellen, wel¬
ches die Stoffe specifischer Wirksamkeit
enthielt und möglichst geschmacklos war.
Nach verschiedenen Versuchen gab uns die
Alkoholfällung der Milch das beste und
einheitlichste Resultat.
Das so gewonnene Milchpräparat wurde
zur Erzielung leichter Pulverisirbarkeit mit
gleichen Theilen Milchzucker versetzt und
fein vermahlen; so resultirte ein süss
schmeckendes Pulver. Es ist leicht zu
nehmen und haltbar. Zwar haftet auch
ihm noch eine kleine Unvollkommenheit
an, insofern als es bisweilen nach länge¬
rem Aufbewahren einen leichten Käse¬
geschmack annimmt, offenbar in Folge
nicht absoluter Entfettung, doch sind Ver¬
suche im Gange, diesem Uebelstande ab¬
zuhelfen.
Was unsere physiologischen Beobach¬
tungen an den thyreoidectomirten Ziegen
betrifft, so scheinen sie uns in hohem Maasse
wichtig und interessant und um so mit-
theilenswerther, als, wie wir aus einer Arbeit
von Rydel 1 ) entnehmen, unrichtige Vorstel¬
lungen über die Wirkung der Entkropfung
u. s. w. gang und gäbe sind. Es sei vor¬
ausgeschickt: Die Operation selbst ist nicht
schwierig, nur darf man nicht, wie schon
Lanz 2 ) betont, die Speicheldrüse mit der
Schilddrüse verwechseln und den Isthmus
glandulae thyreoideae übersehen. Mit
einiger Besonnenheit und bei einiger Er¬
fahrung ist übrigens die Möglichkeit, diesen
Fehler zu begehen, nicht gross. Dass die
Ziegen eine Chloroformnarkose schlecht
vertragen, ist Thierärzten bekannt. In der
l ) Rydel, Charite-Annalen, 27. Jahrgang.
Lanz, Münchn. med. Wochenschr. 1903.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1903«
339
That haben auch wir bei oder im Gefolge
der Narkose eine grössere Reihe von
Thieren verloren, so dass wir gradatim
dazu gelangten, von jeder Narkose abzu¬
sehen. Bei geschickter Operation äussern
die Thiere so gut wie keine Schmerz¬
empfindung und sind unmittelbar nach der
Operation genau so munter und fresslustig
wie zuvor. Was die Folgen der Operation
anlangt, so bleiben die nicht narkotisirten
Thiere mit nur wenig Ausnahmen am
Leben, aber völlig unzutreffend wäre es,
anzunehmen, wie noch jüngst Rydel es
gethan, dass die Entkropfung nicht allmäh¬
lich schwere, auch äusserlich erkennbare
Gesundheitsstörungen der Thiere nach sich
zöge. Für die Entscheidung der Frage, ob
entkropfte Ziegen durch die Entkropfung
ähnlich wie der Mensch vergiftet werden
und im Blut und in Secreten (Milch) spe-
cifische Giftstoffe enthalten, ist die Klar¬
stellung dieses Punktes gewiss von der
grössten Wichtigkeit. Nach unserer Er¬
fahrung liegt die Sache folgendermaassen,
worin wir mit einzelnen, namentlich fran¬
zösischen Physiologen übereinstimmen.
Exstirpirt man bei Ziegen versehentlich
mit der Schilddrüse die Nebendrüse, so
bekommen die Thiere gleich den Hunden
Tetanie, entfernt man aber nur die Schild¬
drüse, so treten selten tetanische Erscheinun¬
gen auf, immer aber augenfällige Störun¬
gen, welche dem menschlichen Myxödem
ausserordentlich ähnlich sehen, und welche
auch von französischen Physiologen direkt
als Myxödem angesprochen werden. Wir
haben dieses Myxödem bereits an den
zuerst von uns benutzten Hausziegen ge¬
sehen, in besonders schöner Ausbildung
aber an einer edlen Schweizer Ziegenrasse.
Die der letzteren angehörigen Thiere waren
im Bau wesentlich von der deutschen Haus¬
ziege verschieden, mehr einer Antilope
ähnlich als einer Ziege, wie sie bei uns
heimisch ist. Die Thiere waren schlank
und graeiös gebaut, hörnerlos, besassen
weiches Fell und einen für Ziegen unge¬
wöhnlich edlen Kopf. Bei diesen stellten
sich nun allmählich in steigendem Maasse
folgende Erscheinungen ein:
Sie verloren das Graciöse des Baus,
und wenn man so sagen darf, den intelli¬
genten Gesichtsausdruck in einer Weise,
welche unabweislich an Myxödem erinnerte.
Ferner büssten sie einen grossen Theil der
Haare ein, zeigten sich in ihrem ganzen
Verhalten stumpfer, weniger lebhaft als
zuvor. Nach Monaten wuchsen zwar die
Haare theilweise wieder, indessen wurde
der Pelz rauh, auch nicht so dick wie
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früher; ausserdem ging die Milchsecretion
bei diesen Thieren immer mehr und mehr
zurück und versiegte schliesslich ganz. Auf¬
fällig war, dass alle diese Ziegen zwar in
diesem Frühjahr, d. h. ein Jahr nach der
Operation, concipirten, aber keine lebenden
Jungen warfen. Ein Theil abortirte, ein
Teil resorbirte nach Ansicht eines consul-
tirten Thierarztes die Frucht. Als eine
von diesen Ziegen, welche ausser den oben
erwähnten Zeichen gesund zu sein schien,
geschlachtet wurde, zeigte sich, dass sie in
allen Organen ein ausgedehntes sulziges
Oedem hatte, eine Beobachtung, welche
auch Lanz bei einer Ziege gemacht hatte.
Ein kleiner Theil der Ziegen verendete
übrigens im Laufe des ersten Jahres nacl;
der Operation. Wenn aber die entkropften
Ziegen in so sinnfälliger Weise an Myx¬
ödem oder Myxödem sehr ähnlichen, bis¬
weilen sogar das Leben vernichtenden Krank¬
heitszuständen leiden, so kann kein Zwei¬
fel sein, dass die Ziegen ähnlich den Men¬
schen durch die Entfernung der Schild¬
drüse specifisch erkranken, und dass ihr
Blut und ihre Secrete Stoffe enthalten
dürften, welche gegen die nach unserer
Anschauung dem Myxödem gegensätzliche
Krankheit, den Morbus Basedowii, ange¬
wandt, letztere specifisch zu beeinflussen
im Stande sind.
Was nun unsere eigenen Erfahrungen
anbetrifft, welche wir mit der specifischen
Basedowtherapie gemacht haben, so haben
wir die schönen mit dem Blut thyreoidec-
tomirter Hunde erzielten Erfolge a. a. O.
früher mitgeteilt. Wir erhielten sie bei
Verabreichung des Blutes per os fast
ebenso wie bei der subcutanen Einspritzung.
Zu ersterer benutzten wir mit Alkohol ge¬
fälltes und mit Aether getrocknetes und
dann pulverisirtes Blut, zu letzterer aus¬
schliesslich Blutkochsalzauszüge, welche
auf die von Huber und Blumenthal 1 )
beschriebene Art hergestellt waren. Wir
haben den Eindruck, dass diese Blutkoch¬
salzauszüge, welche nicht nur das Serum,
sondern auch die lösungsfähigen Bestand¬
teile der rothen und weissen Blutkörper¬
chen enthalten, noch wirksamer als das
reine Serum sind. Jenen früher mitge-
theilten Resultaten der specifischen Ba¬
sedowtherapie reihen wir jetzt einige wei¬
tere an, welche sich auf das Merck'sche
Antithyreoidserum Moebius und auf das
von den Vereinigten chemischen Werken
zu Charlottenburg aus Milch hergestellte
Rodagen beziehen. Das Serum Merck-
*) Huber und Blumenthal, Berliner klinische
Wochenschrift 1897, No. 31.
43*
Original ftom
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
340
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
Moebius haben wir in zwei Fällen ange¬
wendet, und zwar in zwei sehr schweren.
In dem einen Fall handelte es sich um ein
24jähriges Mädchen, welches seit circa drei
Jahren erkrankt war mit starker Struma, Ex¬
ophthalmus, wirrem Aussehen, starkem Zittern,
Puls von 160, Schlaflosigkeit, Schwitzen
und starker Abmagerung im Ganzen etwa
20 Pfund in den letzten 3 Monaten, bei der
sämmtliche bekannten Basedowtherapien von
den verschiedensten Aerzten erfolglos an¬
gewandt waren. Von Bedeutung ist noch, dass
seit Beginn des Basedow die Menstruation aus¬
geblieben war. Dieselbe wurde uns von Herrn
Collegen Privatdocenten Dr. Albu zugeschickt
mit der Bitte, sie mit Rodagen zu behandeln.
Da letzteres damals nicht erhältlich war, bekam
die Kranke Einspritzungen des Merck’schen
Hammelserums, die ersten 8 Tage täglich ein¬
mal, später 3 Wochen lang jeden zweiten Tag
je 1 ccm. Sehr schnell besserte sich die
Patientin. Sie wurde ruhiger, die Schlaflosig¬
keit wich schon nach einigen Tagen, nament¬
lich ging das Phantasiren während des Schlafes
zurück, das nach 14 tägiger Behandlung voll¬
kommen geschwunden war. Das spannende
Gefühl in der Struma liess nach und ging der
Umfang von 36 auf 34 zurück. Das wirre
Aussehen verschwand ebenfalls, die Patientin
konnte sich wieder in Gesellschaft zeigen. Die
Beeinflussung des Pulses war hingegen keine
sehr erhebliche. Die Frequenz ging zwar auf
120 Schläge nach etwa 3 Wochen zurück, liess
sich aber sehr leicht wieder durch die geringste
Erregung auf die alte Höhe bringen. Patientin
nahm während der vierwöchentlichen Behand¬
lung um 10 Pfund zu, obgleich ihr keine weiteren
diätetischen Vorschriften gemacht waren, auch
in ihrer Ernährung sich nichts geändert hatte,
da sie sich nicht in das Krankenhaus aufnehmen
liess, sondern in der Sprechstunde behandelt
wurde. Sie selbst fühlte sich nach 4 Wochen
so gebessert, dass sie erklärte, sie sei nunmehr
völlig arbeitsfähig und dass sie sich nur mit
Mühe bewegen liess, vorläufig noch sich zu
schonen. Die Menses traten nach dreiwöchent¬
licher Behandlung wieder auf, wiederholten sich
nach 14 Tagen und sind seitdem (5 Monate)
regelmässig alle 4 Wochen gekommen. Nach
3 Monaten wurde die Cur aus äusseren Gründen
auf 4 Wochen unterbrochen. In dieser Zeit
hatte die Patientin wieder 5 Pfund abgenommen,
hatte wieder ein stärker spannendes Gefühl in
der Struma, wieder 150 Pulse, dagegen war
die Schlaflosigkeit und das Schwitzen nicht
mehr so stark wie früher. Sie bekam nunmehr
Rodagen, 3 mal täglich 6 1 /* g. Hierbei zeigten
sich schon nach 8 Tagen wieder deutliche
Besserungen, indem das spannende Gefühl im
Halse sich verlor, und die Patientin sich auch
wieder kräftiger und ruhiger fühlte. Der Hals¬
umfang beträgt jetzt 33. Diese Patientin be¬
kommt seit 6 Wochen wieder zweimal wöchent¬
lich Hammelserum 1 ccm subcutan und seit
3 Wochen ausserdem noch 5 g Rodagen pro
Tag. Diese combinirte Behandlung sagt ihr
sehr zu. Sie fühlt sich ganz arbeitsfähig und
wiegt jetzt 100 Pfund, d. h. sie hat seit Beginn
der Behandlung im ganzen 10 Pfund zuge¬
nommen.
Bei dem zweiten, mit Hammelserum ge¬
spritzten Fall, handelte es sich um eine 40jährige
Frau mit geringer Struma, starker Herzpalpi-
tation, Herzerweiterung bis zum obern Rand
der 3. Rippe, dem rechten Sternalrand und
der Axillarlinie, kleinem unzählbarem Puls,
starker, psychischer Depression und ausge¬
sprochenem Exophthalmus, Zittern, Schwitzen.
Auch diese Patientin zeigte nach subcutaner
Behandlung mit 1 ccm Hammelserum pro die
nach 14 Tagen deutliche Besserung, insofern
als das Zittern und die Struma zurückgingen,
die Patientin sich kräftiger fühlte, im Zimmer
etwas gehen konnte und die psychischen Er¬
regungen deutlich nachliessen. Auf das Herz
selbst hatte das Serum keinen nennenswerten
Einfluss.
Bei dieser Patientin wurden einmal nach der
Einspritzung von 2 ccm Serum schwere Herz-
palpitationen, welche an Angina pectoris erinner¬
ten, wahrgenommen, weshalb das Mittel mehrere
Tage ausgesetzt wurde. Nach etwa 4 wöchent¬
licher Behandlung wurde diese Kur unterbrochen
und durch eine hydrotherapeutische ersetzt.
Diese Behandlungsmethode hat der Patientin
aber subjectiv nicht so zugesagt, weshalb sie jetzt
wieder mit Rodagen behandelt wird, 3 mal
täglich 5 g, was die erzielte geringe Besserung
bisher festzuhalten scheint. Dieser Fall ist für
eine sichere Beurteilung spec. Behandlung aus
später zu erörternden Gründen nicht geeignet.
Ausser diesen beiden Fällen, in denen
das Hammelserum angewandt war, haben
wir noch 10 Fälle mit Rodagen, d. h. mit
Milchpulver entkropfter Ziegen behandelt,
die wir nicht alle im einzelnen aufführen
wollen. Wir möchten nur einige heraus¬
greifen. ♦
Ein 38jähriger Lehrer erkrankte im Sommer
1900 nach Influenza an allgemeiner Mattigkeit,
Exophthalmus, Herzbeschwerden und Struma.
Nachdem er mit allen erdenkbaren Mitteln be¬
handelt worden war, kam er Anfang Juni vorigen
Jahres in unsere Behandlung. Er machte auf
den ersten Blick den Eindruck eines Basedow¬
kranken durch seinen stieren Blick, den Exoph¬
thalmus und die Nervosität. Die Untersuchung
des Herzens ergab ein systolisches Geräusch und
mässige Verbreiterung nach rechts und links.
Tremor und Gräfe’sches Symptom ausgebildet.
Patient klagte über grosse Mattigkeit und
Schwitzen, Herzklopfen und Schlaflosigkeit.
Puls 130, Gewicht 123 Pfund. Am 17. Juli kommt
Patient, nachdem er täglich 15 g Rodagen ge¬
nommen hatte, wieder. Herzklopfen ist nur noch
gering, systolisches Geräusch verschwunden.
Puls 80. Er klagte nicht mehr über Schweiss und
giebt an, guten Schlaf zu haben. Der Tremor
ist geringer, der Blick nicht mehr so stier, aber
das Herz ist noch stark erregbar, und er selbst
betont auch noch dessen starke Erregbarkeit.
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August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
341
Das Körpergewicht ist 131 Pfund. Wir Hessen
nun das Rodagen aussetzen. Patient kommt
am 8. Januar wieder und berichtet, dass das
Aussetzen ihm nicht gut gethan habe. Der
Schlaf sei allmälig wieder schlecht geworden,
die Mattigkeit etwas stärker, dagegen sei das
Transpiriren nicht wieder aufgetreten. Die
Pulsfrequenz beträgt 96, ein Geräusch ist am
Herzen nicht wahrzunehmen. Er bekommt nun¬
mehr von neuem Rodagen und zwar 10 g pro
Tag. Am 12. Februar meldet er, der Schlaf sei
wieder besser geworden; Puls 88, Tremor
vollkommen verschwunden, dagegen klagt er j
noch über Herzklopfen. Am 30. März erscheint !
er von neuem. Er betont, dass er sich unter j
Fortgebrauch des Rodagens bedeutend besser |
fühle, Schweiss habe er fast garnicht mehr. |
Seine Umgebung könne den Exophthalmus bei
ihm nicht mehr bemerken, ja, er hätte seinen
Beruf schon wieder aufgenommen und könne
mit leidlichem Erfolge täglich einige Stunden
geben. Das Gewicht ist 129 Pfund. Patient
erzählt dabei, dass versuchsweises Aussetzen
des Rodagen-Gebrauches seinen Zustand un¬
günstig beeinflusse.
In allen übrigen Fällen, 1 ) die sich von
diesen nur dadurch unterscheiden, dass
einige von ihnen im Krankenhaus beob¬
achtet worden sind, wo man ja einen Theil
des Erfolges auf die Ruhe und sorgfältige
Verpflegung und Beobachtung beziehen
kann, haben wir gleichfalls Beobachtungen
gemacht, welche mit Sicherheit für die
specifische Wirkung der Milch entkropfter
Thiere sprechen. Es waren unter unsern
10 mit Rodagen behandelten Fällen vier
Männer und 6 Frauen. 4 Fälle waren als
leichte zu bezeichnen, insofern als sie zwar
Zittern, Tachycardie, Schwitzen und Schlaf¬
losigkeit, ferner Nervosität und Struma
zeigten, aber Glotzaugen, Herzdilatation
und Herzgeräusche nicht besassen. Der
Rest betraf klassische und in allen Einzel¬
heiten ausgesprochene Fälle.
Wir sahen die weitaus besten Erfolge
in Bezug auf die Schlaflosigkeit, welche
in jedem Falle der specifischen Behandlung
wich, ferner auf die Körperschwäche, Ab¬
magerung, auf das Zittern und Schwitzen.
Wir möchten hier, um gerade den Einfluss
auf die Schlaflosigkeit zu demonstriren,
einen Fall besonders erwähnen, der seit
10 Jahren von Basedow geheilt ist, nur
Schlaflosigkeit zurückbehielt und nach
2 tägigem Gebrauch von 10 g Rodagen vor¬
züglichen erquickenden Schlaf bekam und
dann unter 3 g abends behielt. Die speci¬
fische Wirksamkeit des Rodagens wurde
noch erhärtet dadurch, dass in einem Falle
*) Einige dieser Fälle wird Herr Stephens in
einer Dissertation aus der ersten medizinischen Klinik
publiciren.
einer Kranken, welche durch Rodagen
sehr erheblich gebessert war, plötzlich
ohne dass sie oder das Wartepersonal es
ahnte, an Stelle des Rodagens ebenso
hergestelltes gewöhnliches Milchpulver in
Original Rodagenflaschen verabreicht wurde.
Sie hatte vorher 1V 2 Pfund unter Rodagen
in einer Woche zugenommen und nahm
nunmehr in 16 Tagen an Gewicht 7 Pfund
ab, und es stellten sich alle früheren Be¬
schwerden, insbesondere Schlaflosigkeit,
Unruhe, Herzklopfen wieder ein. Sie be¬
kam dann von Neuem 15 g Rodagen und
nahm in 3 Wochen wieder 4 Pfund zu
unter gleichzeitiger Abnahme der Struma
und subjektiven Beschwerden. Meist weniger
deutlich als die oben genannten Symptome
wurden beeinflusst Struma, Glotzaugen und
Pulszahl, obwohl wir in einzelnen Fällen
ausgezeichnete Erfolge auch hinsichtlich
dieser Symptome hatten und 4 Mal sogar
als allererste Wirkung der Rodagenbehand-
lung Verkleinerung der Struma und Rück¬
gang der Glotzaugen, 2Mal als ersteWirkung
Kräftigung und Verlangsamung des Herz¬
schlages sahen. In zwei Fällen traten
die Glotzaugen so weit zurück, dass
nur noch der Arzt, nicht aber mehr
der Kranke dieselben als ein patho¬
logisches Symptom wahrnehmen
konnte. Was die Struma anbetrifft, so
blieb dieselbe zwar in einigen Fällen im
Umfang unverändert, aber sie wurde doch
stets weicher und hörte damit auf, dem
Kranken erhebliche Beschwerden zu be¬
reiten.
Was nun die Grenze der Leistungs¬
fähigkeit der Blut- oder Milchtherapie an¬
langt, so ist es klar, dass wir mit derselben
nur das von der Schilddrüse im
Uebermaass gebildete Gift zu neu-
tralisiren, nicht aber auch schwerere
anatomische Veränderungen, welche
bereits in den Organen vorhanden
sind, und welche die Folge der
langen Dauer der Vergiftung dar¬
stellen, zu beeinflussen vermögen.
Deshalb werden wir, wo bereits schwere
anatomische Läsionen des Herzmuskels
wie Myokarditis bestehen, ebenso bei
secundären Veränderungen der Nieren auf
eine Wirkung der specifischen Therapie
nicht rechnen können. Aus diesem Grunde
konnte auch in denjenigen Fällen, welche
Rydel mitgetheilt hat, in denen bereits
durch Veränderung der Nervenzellen
schwere Symptome sich eingestellt hatten,
Heilung nicht erzielt werden. Wenn Rydel
in dem einen seiner Fälle Verlangsamung
des Pulses von 150 auf 90—100 Schläge,
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
342
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
das Ausbleiben von Angstanfellen, in einem
anderen Falle schon am elften Tage der
Behandlung eine Linderung der Schlaf¬
losigkeit, Kopfschmerzen und Unruhe be¬
merkt hatte, so scheint uns das ein um so be-
merkenswertherer Erfolg des Rodagens zu
sein, und wenn Rydel in einem dritten
Falle jede Wirkung vermisste, so liegt das
unseres Erachtens vielleicht daran, dass bei
dieser Patientin sich die lebenswichtigen
Eingeweide schon in krankhaftem Zustande
befanden. Nicht ausgeschlossen aber ist,
dass in diesem Falle, in welchem jede Struma
fehlte, eine Hypersecretion der Schilddrüse
überhaupt nicht vorhanden war, also auch
eine specifische Therapie Erfolg schon
ä priori nicht haben konnte. Wir betonen
noch einmal: Der Wirksamkeit des Roda¬
gens sind Schranken gesetzt, in sofern
schwere anatomische Schäden wichtiger
Organe sie beeinträchtigen, und wir glauben
hinzufügen zu sollen, dass es ein Organ
giebt, welches, wenn es bereits anatomisch
schwer geschädigt ist, möglicher Weise
in einzelnen Fällen durch die specifische
Behandlung, und zwar ebenso gut durch Se¬
rum wie auch durch die Milch thyreoidecto-
mirter Thiere eher ungünstig als günstig
beeinflusst werden kann. Dieses Organ
ist das Herz. Wir haben oben schon
von einem Fall berichtet, wo nach An¬
wendung des Hammelserums schwere Herz¬
erscheinungen auftraten. Wir haben diese
Beobachtung mit Rodagen zweimal gemacht
bei Frauen, welche Jahre lang krank waren
und durch ihre Krankheit schwere Beein¬
trächtigungen der allgemeinen Leistungs¬
fähigkeit, schwere Herzdilatation und
Tachykardie zeigten. Bei der einen dieser
Frauen steigerten sich nach Anwendung
des Rodagens die Herzbeschwerden nicht
nur subjectiv, sondern auch objectiv durch
Zunahme der Herzgeräusche. In beiden
Fällen wurde Rodagen ausgesetzt, und es
stellte sich danach der frühere erträgliche
Zustand wieder her. Auch wurde uns von
einem Kollegen mitgetheilt, dass er ebenfalls
in 2 Fällen, in denen sehr hohe Dosen Ro¬
dagen genommen wurden, eine beängsti¬
gende Pulsbeschleunigung gesehen habe.
Wir glauben also, dass das Serum, und
die Milch entkropfter Thiere bei schweren
Herzleiden kein indifferentes Mittel
ist, sondern mit einiger Vorsicht an¬
gewandt werden muss. Wir empfeh¬
len in allen Fällen erheblicher Herz¬
erkrankungen die Dosen nur all¬
mählich zu steigern unter strenger
Beobachtung ihres Einflusses auf
das Herz. In allen anderen Fällen war
aber das Serum und das Rodagen nach
unserer Beobachtung durchaus unschädlich,
und besonders das Rodagen haben wir
oftmals in sehr grossen Dosen — bis zu
50 g pro die — gegeben, ohne eine andere
Wirkung als mehr oder weniger schnellen
Rückgang der subjectiven und objectiven
Krankheitserscheinungen zu sehen. Im
Allgemeinen hängt die Dosis von der
Schwere der Krankheit und deren Neigung
sich zu verschlimmern ab. Einzelne Kranke
kommen mit einer Tagesgabe von 5 g aus,
andere brauchen erheblich mehr. In ein¬
zelnen Fällen sahen wir deutlichen Erfolg
erst nach Steigerung der Rodagendosen
auf 15—20 g, ja 30 g eintreten. In wie
weit individuelle Resorptionsverhältnisse
dahin sich geltend machen, dass erst ver-
hältnissmässig hohe Rodagengaben einen
sichtlichen Heileffekt erzielen, muss dahin¬
gestellt bleiben.
Schliesslich möchten wir betonen, dass
man gut thut, bei der Aufstellung des Heil¬
planes nicht ausser Acht zu lassen, dass
subcutan angewendete Mittel sicherer wirken
als per os gegebene, und dass daher in
schweren Fällen im Allgemeinen die sub-
cutane Einverleibung von Serum bis zum
Eintritt deutlicher Besserung den Vorzug
verdient. Danach würde die Rodagen-
behandlung mit Erfolg einsetzen. In leich¬
teren Fällen ist die letztere der Serum¬
behandlung von Anfang an gleichwerthig
und in manchen Fällen, schweren sowohl
wie leichten, sogar deshalb überlegen, weil
das Serum nicht selten Erythem, Gelenk¬
schmerzen und allgemeines Unbehagen
verursacht, eine Erscheinung, die wir als
Folge der Verwendung von Ziegenserum
sowohl wie von Hammelserum beobachtet
haben.
Man kann nicht, wie dies Rydel gethan
hat, auf Grund einer vier- oder gar nur
dreiwöchentlichen Behandlung zu irgend
einem sichern Urtheil über den Verlauf des
einzelnen Falles kommen. Wir haben eben¬
so wie Enriquez und Ballet, Moebius
und Lanz unsere Fälle Monate lang mit
Blut oder Milch behandelt und müssen uns
auf Grund der so gewonnenen Erfahrungen
in unserm Urtheil diesen Autoren und
neuerdings G. Rosenfeld 1 ) anschliessen,
dass nämlich die specifische Therapie,
sei es mit Milch, sei es mit Blut ent¬
kropfter Thiere, ein günstiges Re¬
sultat bei einer grossen Anzahl von
Basedowfällen giebt.
*) Rosenfeld, Allgem. med. Centralzeitung 1903
No. 8.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
343
Aus der II medlciulscheu Universitätsklinik in Berlin.
Zur Kritik der sogenannten modernen Methoden der Herz¬
grössenbestimmung.
Von Privatdocent Dr. de la Camp«
Prognostische und therapeutische Be¬
strebungen auf dem Gebiete der Herzkrank¬
heiten haben den functionell-diagnostischen
Begriff der Sufficienz und Insufficienz des
Herzens in zweckmässiger Weise eingeführt
und werthschätzen gelehrt. Ein fest nor-
mirter oder causal verstandener konnte der¬
selbe bisher nicht sein, sondern sich natur-
gemäss nur auf Symptome, resp. Symptom-
complexe und deren Verhältniss beziehen.
Eine Begriffsfixirung hätte die Veränderung
der uns insbesondere durch die Engel¬
mann sehen Arbeiten bekannt gegebenen
Grundeigenschaften des automatisch schla¬
genden Herzens unter den mannichfaltigen
in und ausserhalb des Muskels liegenden
histologischen, chemischen und nervösen
Einflüssen, an sich und in ihrer Wechsel¬
beziehung in Betracht zu ziehen. Rechnet
man die directe oder indirecte Rückwirkung
auf den Circulationsapparat jedweden patho¬
logischen Geschehens im Gesammtorganis-
mus hinzu, so sind die Definitionsschwierig¬
keiten als zunächst unüberwindliche ge¬
zeichnet.
Man hat deshalb gesucht unter bewusster
Bezugnahme auf die Einheit des Herz- und
Gefässsystems gewisse Gesammtäusserun-
gen des Herzens als Urtheilmodus zu ver-
werthen; man hat die chemischen Diffe¬
renzen des arteriellen und venösen Blutes
unter Beachtung der Physik und Chemie
der Athmung bei einer schätzbaren dem
Herzen zugemutheten Arbeitsleistung stu-
dirt, man hat in einfacherer, aber auch
speciellerer Weise die Veränderung der
Pulseigenschaften, des Blutdrucks oder der
Herzaction selbst (Spitzenstossforschung)
zur Beurtheilung in besagter Beziehung
herangezogen.
An sich und besonders in ihrem gegen¬
seitigen Causalverhältniss haben alle diese
Forschungen naturgemäss werthvolle Re¬
sultate gefördert, ohne damit den Universal¬
modus einer quantitativ und qualitativ ex¬
perimentell leicht ausführbaren Methodik
zur Sufficienzprüfung an die Hand gegeben
zu haben.
Noch weniger ist an sich die Betrach¬
tung der Grösse des Herzens zur Lösung
der vorliegenden Frage geeignet, da Suffi¬
cienz und Insufficienz und gewöhnliche und
ungewöhnliche Grösse nicht ohne Weiteres
in directem Verhältniss zu einander stehen.
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Insofern allerdings musste diese Forschung
von grundlegender Bedeutung werden, wenn
sich zeigen liess, dass bei einer irgendwie
(unter günstigen Verhältnissen dosirbaren)
experimentell hervorgerufenen Mehrarbeit
des Herzens sich principiell das gesunde
vom nicht gesunden unterscheiden würde.
Dieser als wichtigstes Capitel die Frage
der acuten Dilatation in sich schliessende
Gegenstand hat nun von jeher bis auf den
heutigen Tag das höchste Interesse des
experimentell wie klinisch forschenden
Arztes in Anspruch genommen; zu der in
fliessender Discussion stehenden Frage ver¬
mag ein Jeder Beantwortungsmaterial zu
beschaffen, sofern dasselbe mit einer be¬
gründeten und anerkennenswerthen Me¬
thode beschafft wurde. Dass allerdings
bisher die Antwort so verschieden ausfiel,
liegt zum Theil an einer für die Schwierig¬
keit der Aufgabe nicht immer zulänglichen
Methode, zum Theil aber auch daran, dass
letzthin Resultate mitgetheilt wurden, die
durch ein Untersuchungsverfahren gewon¬
nen wurden, welches nicht den Anspruch
auf Anerkennung erheben darf. — Nach
Beendigung einer umfangreichen experi¬
mentellen Arbeit über die acute Herzdila¬
tation 1 ) bin ich gern einer Aufforderung
der Redaktion der „Therapie der Gegen¬
wart“ nachgekommen, auf erstere bezug¬
nehmend die Methodik der Herzgrössen¬
bestimmung, wie sie zur Zeit sich darstellt,
kurz kritisch zu beleuchten.
Die percutorische Bestimmung der ab¬
soluten Herzdämpfung, die trotz aller ge gen¬
theiligen Behauptungen einen hohen dia¬
gnostischen Werth besitzt (Oestreich), ist
zur subtilen Beantwortung geringfügiger
Herzgrössenunterschiede nicht verwendbar.
Die sogenannte tiefe Percussion zwecks
Projection der wahren Herzgrösse auf die
Thoraxwand liefert bei nicht complicirenden
Lungenverhältnissen, insbesondere auch bei
hochgradigerer Massenzunahme des Herz¬
volumens brauchbare Annäherungswerthe,
doch auch kaum mehr als solche; dass bei
Ausdehnungen des Herzens bis zur vor¬
deren Axillarlinie und darüber hinaus die
Projection auf die gekrümmte Thoraxwand
entsprechend einer Percussion von seit-
*) Dieselbe befindet sich im Druck und wird
demnächst in der Zeitschrift fQr klinische Medicin
erscheinen.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
344
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
liehen Herztheilen eine relativ grössere wer¬
den muss, ist selbstverständlich. Die Eb-
stein'scheTastpercussion liefert meist noch
bestimmtere Grenzen; in ihrer Combination
mit der tiefen Percussion macht sie letztere
in werthvoller Weise überflüssig.
Ein objectives Verfahren der Bestim¬
mung der wahren Herzgrösse besitzen wir
jedoch in der orthodiagraphischen Methode
— selbstverständlich mit einigen Einschrän¬
kungen. Bei der Aufzeichnung der Schatten¬
silhouette auf die vordere Thorax wand ist
zunächst eine geringfügige Verkürzung
aus dem Grunde vorhanden, weil die
Längsachse des Herzens nicht in einer der
vorderen Brustwand parallelen Frontal¬
ebene verläuft; aber dieser Fehler kommt
allen physikalischen Untersuchungsmetho¬
den zu, die eine Darstellung des Herz¬
körpers als Thoraxflächenprojection be¬
zwecken. Und zweitens ist die Thorax¬
oberfläche keine Frontalebene. Der Fehler,
der diesbezüglich entsteht, wenn der
Spitzenstoss innerhalb der Mammillarlinie
liegt, ist, wie sich aus der Berechnung des
Krümmungswinkels ergiebt, ein verschwin¬
dend geringer; es bildet eben die vordere
Thoraxfläche zwischen den Mammillar-
linien annähernd eine Frontalfläche. Ver-
grössert sich das Herz über die Mammillar¬
linie nach links hinaus, so fällt allerdings
die seitliche Thoraxkrümmung mit zu¬
nehmender Vergrösserung immer mehr ins
Gewicht: die Herzprojection in dorso-ven-
traler Richtung muss zu klein werden.
Die Spitzenstossverhältnisse und die Per¬
kussion müssen hier ergänzend eingreifen.
Eine Ausdehnung der orthodiagraphischen
Zeichenmethode auf schräge Durchmesser
(Röhre rechts hinten, Platte links vorn)
oder die Frontalrichtung hat abgesehen
von der Schwierigkeit der Technik bisher
keine ergänzenden Resultate geliefert.
Was nun die Herztheile betrifft, die an
der Bildung der Schattenränder der in
dorso - ventraler Richtung aufgezeichneten
Schattensilhouette theilnehmen, so ist
darüber folgendes zu sagen: Bei mittlerer
Exspirationsstellung stellen sich rechts 2,
links 3 Bögen dar, von denen nur die beiden
unteren Herztheilen entsprechen. Der
rechte obere ist Gefässschatten (Vena cav.
sup. und Aort. asc.), ebenso der obere
linke (Aortenbogen und Anfangstheil der
Aort. desc.) f der mittlere flache linke wird
sicher von dem linken Herzohr und
dem Anfang der Art. pulmon., vielleicht
auch von den Randprojectionen des ganz
hinten, median und oben liegenden linken
Vorhofs gebildet. Der rechte untere
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Bogen, dessen Schnittpunkt mit dem
Zwerchfellkuppenschatten in dieser Re¬
spirationsphase dem Beginn des somit
ganz auf dem Zwerchfell ruhenden rechten
Ventrikels bildet, ist die Randprojection
des rechten Vorhofs; die Ven. cav. inf.
liegt weiter medial (s. 'die topograph.-
anatom. Abbildungen in dem v. Barde-
leiden, Haeckel, Frohse’schen Atlas.
1901) und kann nur unter besonderen
pathologischen Bedingungen den rechten
Vorhof — Zwerchfellkuppen-Winkel aus¬
füllen. Der linke untere Schattenbogen
gehört ganz dem linken Ventrikel an. Im
inspiratorischen Stillstand wird unter gleich¬
zeitiger Verlängerung des Schattenbildes
und Verlagerung der Herzspitze nach
unten und innen die Herzspitze, deren
Muskulatur dem Papillarmuskelsystem des
linken Ventrikels im wesentlichen angehört,
in bekannter Weise „vom Zwerchfellkuppen¬
schatten frei.“ —
Die zahlenmässige Berechnung der ver¬
schiedenen Durchmesser des Schattenbildes,
die senkrechte Entfernung der Bogen von
der Mittelachse und den Mammillarlinien
empfiehlt sich mehr, als die Berechnung
des Flächeninhalts des Herzschattens, die
die künstliche Construction der unteren
Herzgrenze (rechter Ventrikel) und des
Grenzbogens gegen die grossen Gefässe
hin voraussetzt.
Es liegt nun auf der Hand, dass die
Orthodiagraphie vornehmlich dann objec¬
tives Beweismaterial liefert, wenn bei ver¬
schiedenen Aufnahmen völlig gleiche Werthe
gefunden werden, also im Sinne einer nicht
eingetretenen Vergrösserung des Herz¬
volumens. Lediglich eine Zunahme des
Herzens im Tiefendurchmesser ohne gleich¬
zeitige Veränderung seiner seitlichen
Schattenränder erscheint ausgeschlossen.
Es muss allerdings betont werden, dass
zum endgültigen Urtheil eine völlig gleiche
Lagerung des zu Untersuchenden, sowie
eine mittelst der orthodiagraphischen Me¬
thode constatirteCongruenz der Zwerchfeli¬
configuration und -Standes Voraussetzung
ist. — Mittelst dieser Versuchsanordnung
konnte ich in Uebereinstimmung mit
Moritz, Hoffmann, v. Criegern u. A.
zunächst constatieren, dass eine Dilatation
des Herzens nach maximalen Anstrengun¬
gen (Ringen mit und ohne Einschnürung
des Unterleibs, bis zur Dyspnoe und Cya-
nose), nach heissem Bad, Alkoholgenuss
u. s. f., eine Dilatation passagerer Natur, wie
sie u. A. auch von Schott angenommen
wird, nicht eintritt, wenn der Herzmuskel
nicht erkrankt ist. Aber auch bei Recon-
Origirval fro-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
345
valescenten. Anämischen, Chlorotischen. den und dem vergrösserten diastolischen
Kachectischen, Fiebernden, Lungen- und Volumen entsprechen. Hier passt sich das
Herzkranken konnte eine bis zum allge- Herz durch reflectorische Aenderung seines
meinen Ermüdungsgefühl in möglichst Tonus sowohl dem grösseren Volumen als
kurzer Zeit in möglichst grossem Umfang der Bewältigung desselben in der Zeit¬
geleistete Arbeit (Zuntz’scherBremsergo- einheit durch erhöhte Pulsfrequenz u. s. w.
raeter) nicht eine irgendwie erhebliche Ver- an. — Physiologisches und pathologisches
grösserung des Herzens erzeugen. Je nach Geschehen findet somit gerade in dtr
der Krankheitsschwere und -typus war die fehlenden resp. stattfindenden Vergrösse-
Arbeitsfähigkeit naturgemäss verschieden; rung des Herzschattens seinen Ausdruck,
bei Weitem am Allerwenigsten hingegen Diese Daten wollte ich im Anschluss
leisteten die an sogenannter Neurasthenia an die Besprechung der Orthodiagraphie
vasomotoria leidenden Kranken, deren Herz- voranschicken, ehe ich auf weitere Methoden
Silhouette nach der Arbeitsleistung manch- zur Bestimmung der Herzgrösse eingehe. —
mal um ein Minimales kleiner erschien, als Je schwieriger eine Materie, desto grösser
vor derselben. — Die Frage, ob eine acute die Zahl der angebotenen Methoden.
Dilatation nach maximaler Arbeit bei kran- Man hat versucht die Ergebnisse der
kem Herzmuskel möglich sei; konnte nur Transsonanz (Zuelzer, Ritter) für die
durch das Thierexperiment Beantwortung Herzgrössenbestimmung nutzbarzu machen,
finden. Man hat die Möglichkeit lufthaltige glatt-
Während bei Hunden, deren Herzmuskel wandige Organe durch Auscultation ihrer
gesund war (auch Hunden mit künstlicher I Resonanzausdehnung zu begrenzen (Hen-
Aorteninsufficienz), nach grösstmöglicher sehen, Runeberg), auch bezüglich fester
Arbeit (Laufen über 70 km im Tretrad) Körper, des Herzens, zu erreichen ver-
keine Dilatation entstand, trat eine solche sucht (Buch).
ein, wenn der Herzmuskel schwer ge- Sofern die Erzeugung des auscultatori-
schädigt war (Infectionsfieber, Hunger und
Phloridzininjectionen etc.). Aber diese Dila¬
tation bildete sich nicht wieder zurück. 1 ) —
Dass nun beim Menschen unter dem Zu¬
sammenwirken verschiedener Factoren
(psychische Affecte -* einem durch Vagus¬
reizung hervorgerufenen passageren diasto¬
lischen Herzstillstand plus einer maximalen
Anstrengung etc.), auch wenn der Herz¬
muskel scheinbar intact ist, einmal eine
acute Herzdilatation eintreten könnte, ist
zuzugeben, nur müsste dies Ereigniss zu
den grössten Ausnahmen gehören, und auf
der anderen Seite ist zuzugeben, dass eine
bei krankem Herzen zur Entwickelung ge¬
kommene acute Dilatation sich binnen län¬
gerer Frist unter günstigen Bedingungen
wieder, wenigstens theilweise, zurückbilden
kann. Aber principiell sind diese relativ
seltenen acuten diktatorischen Vorgänge,
deren Hauptcharakter die bleibende Schädi¬
gung des Herzmuskels bildet, verschieden
von jenen geringfügigen (nur nach Milli¬
meter rechnenden) Vergrösserungen des
Herzschattens, die zusammen mit der leb¬
hafteren Herzaction, dem verstärkten und
verbreiterten Spitzenstoss so leicht palpa-
torisch und percutorisch überschätzt wer-
*) Bezüglich aller Einzelheiten, Versuchsanord¬
nungen, speciell der Begründung der Resultate, der
Vagus-Reizungsversuche und Arbeitsversuche, die
nach Ausschaltung aller extrapericardialen Nerven
vorgenommen wurden, der Bewerthung der verschie¬
denen Herzschädigungsmomente muss ich auf das
Original verweisen.
sehen Phänomens in senkrecht zur Thorax¬
oberfläche geführten Percussionsschlägen,
deren Erschütterungskegel sich bis zu einer
gewissen Tiefe fortsetzt, besteht, sind Re¬
sultate erhältlich, bessere, als mittelst der
palpatorischen Percussion sicher nicht, so¬
weit sie das Herz betreffen. Ausserdem
ist die Lautheit des Schalles anstrengend
und störend.
Reichmann suchte mittelst Kratzen
auf einem auf die Haut fest aufgedrückten
Stabe eine Schallerscheinung hervorzu¬
rufen, die differentiell auscultirbar sein soll,
solange das auscultirte Organ unmittelbar
der Körperoberfläche anliegt. — Ich er¬
sehe kein Bedürfniss die völlig sichere ge¬
wöhnliche Percussion der absoluten Herz¬
dämpfung zu compliciren. Ueber die Mög¬
lichkeit die einzelnen Lungenlappen auf
diese Weise abzugrenzen, habe ich mich
hier nicht einzulassen.
Gänzlich unbrauchbar ist nach meinen
Erfahrungen, die eine Bestätigung ander¬
weitiger Mittheilungen besagen (Grote,
Lilienstein) die Methode aus dem An¬
sprechen einer centripetal zum auscultirten
Herzen bewegten Stimmgabel die Herz¬
grösse zu bestimmen (J. Hofmann, Schloss
Marbach). Das Ansprechen der auf dem
schallleitenden Thorax aufgesetzten Stimm¬
gabel richtet sich nach der Grösse des
Auscultationstrichters, der in ähnlicher
Weise als Resonanzboden wirkt, wie etwa
die Caverne, deren Durchmesser durch den
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44
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
346
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Stimmgabelversuch nach Geigel, bestimm¬
bar wird. Es ist akustisch nicht verständ¬
lich, warum von einem ständig sein Volumen
ändernden luftleeren Körper von fernher
durch lufthaltiges Gewebe dringende Töne
just in dem Moment besser fortgeleitet
werden sollen, wenn sich die Stimmgabel
senkrecht oberhalb der in der Tiefe ge¬
legenen Grenze des kugeligen Körpers
befindet.
Ein weiteres Verfahren die Herzgrösse
annähernd genau zu bestimmen, soll die von
ßazzi-Bianchi angegebene F rictions-
methode sein, welche in Deutschland vor
allem von Smith (früher Schloss Marbach
jetzt Berlin) vertreten wird. Sie beruht auf
Anwendung des (seither verbesserten)
Phonendoskops, mittelst dessen durch den
streichenden Finger (Bianchi) oder mit
einem Borstenpinsel hervorgerufene Haut¬
erschütterungen, welche sich zu dem aus-
cultirten Organ oder Organteil fortpflanzen
sollen, je nach ihrem Hörbarwerden oder
Verschwinden zur Grenzbestimmung des
letzteren verwandt werden.
Das Phonendoskop ist das alte Re-
sonanzsthetoskop, welches seinerzeit wegen
der allerdings die acustischen Phänomene
verstärkenden, aber auch entstellenden
Eigenschaften wieder der Vergessenheit
anheimfiel und nun unter wohltönendem
Namen vom Fabrikanten handlich und
schmuck ausgestattet seine Wiedererstehung
feiert. Die von Smith empfohlene Ver¬
besserung besteht in einer regulirbaren
Oeffnung im Dach der Resonnanztrommel.
Auf eine Besprechung der Theorie ein¬
zugehen, darf ich mir versagen, da eine
solche in discutirbarer Form nicht besteht;
unverständlich bleibt immerhin die Vor- #
Stellung, wie das auf der Hautoberfläche
erzeugte Reibegeräusch seine Intensität,
auscultirt von einem Punkte eines unter
der Thoraxoberfläche gelegenen Organs,
durch ein anderes lufthaltiges Organ hin¬
durch gerade dann ändern soll, wenn sich
der Entstehungsort des Schalles annähernd
senkrecht über der in der Tiefe befind¬
lichen runden Kante des Organs befindet
(senkrecht bezogen auf die Tangentialebene
des Thoraxpunktes). Wäre das den
Schallentstehungort umgebende Medium
ein homogenes, so würde sich der Schall
nach allen Seiten gleichmässig stark und
schnell fortleiten; unter den vorliegenden
Umständen sind aber die Leitungsbedin¬
gungen der zunächst liegenden Körper-
theile in erster Linie massgebend: die den
lufthaltigen Thorax umspannende Haut,
die Rippen u. s. f. — Selbst zugegeben,
das Herz könnte als solches von irgendwo
her empfangene Schallwellen fortleiten, so
gehört doch eine gewaltige Phantasie da¬
zu, sich vorzustellen, dass nun z. B. auf
der Thoraxoberfläche nicht nur an Orten,
an denen das Herz anliegt, sondern von
fernab gelegenen Herzteilen, z. B. dem
weit hintenliegenden linken Vorhof her.
der gar keiner Perkussion zugänglich ist.
eine genaue akustische Flächenprojection
(beim normalen Herzen in kaum ver-
grössertem Massstabe) sich darstellt. Nicht
nur die einzelnen Höhlen des compacten
blutgefüllten Herzmuskels, die doch an
sich wahrlich keine Schallfortpflanzungs¬
varietäten bieten können, sondern auch
die grossen Gefässe, Herzohren sollen je
nach dem Aufsatzpunkt des Phonendoscop-
stiftes als sich theilweise überdeckende
Ovale und Kreise darstellbar sein!
Wie steht es nun mit der Nachprüfung
der genannten Methodik?
Eine Methode darf erst, auch bei fehlen¬
der theoretischer Begründung, auf Grund
objectiver experimenteller Prüfung abge-
urtheilt werden. Seit mehr als U /2 Jahren
habe ich versucht, gerade als Vergleichs¬
material der orthodiagraphischen Befunde
mit der Frictionsmethode (verbessertes
Phonendoscop), ausgeführt nach den An¬
weisungen von Smith. Resultate zu er¬
halten, besonders auf Veranlassung mehr¬
facher Interpellationen gelegentlich der
Perkussionskurse. Ich kann sagen, dass
es mir, wie Hoffmann sich ausdrückt,
gelang „allerlei Kreise und Ovale auf
der Haut aufzuzeichnen", niemals eine
mit der orthodiagraphisch oder perku¬
torisch bestimmten sich deckende Figur.
Massgebend ist meiner Meinung nach:
1. die Qualität (Durchfeuchtung, Span¬
nung, Ernährung, Spannungsrichtung) der
Haut, 2. der Zustand der subcutanen,
die Hautspannung modificirenden Musku¬
latur. Bei Anspannung des Pectoralis
major z. B. werden die erhaltenen Kreise
sofort kleiner. Nach einer Muskelanstren¬
gung, nach einem heissen Bade, nach
Alkoholgenuss ändern sich mit dem
Muskeltonus auch sonst weitgehend die
Qualitäten der Haut (Erweiterung peri¬
pherer Gefässe u. s. f.), 3. die respirato¬
rische Excursion des Thorax ist als ver¬
anlassendes Moment im besagten Sinne
wichtig, 4. nur ganz ausnahmsweise scheinen
stark vergrösserte, thoraxwandständige
Herzen irgend einen, sicher aber nicht
lokalisatorischen Einfluss auf das Frictions-
geräusch zu haben, 5. von einer Begren¬
zung fernabliegender Herztheile, die ihrer-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
August
347
Die Therapie der Gegenwart 1903.
seits wieder von anderen Herztheilen
überlagert sind, kann keine Rede sein. —
Ich weiss, dass Herr Smith sich mit
einer derartigen Nachprüfung der Frictions-
methode nicht zufrieden geben wird ! ). doch
glaube ich zunächst als Entschuldigung an¬
führen zu dürfen, dass meiner Ansicht nach
die objective Beurtheilung einer Untersu¬
chungsmethode, die leichter erlernbar sein
soll, als die Perkussion, auch ohne den
persönlichen Einfluss des Autors mög¬
lich sein müsste. Trotzdem kann ich
mich auf die Besprechung der von Herrn
Smith selbst publizirten Befunde*) be¬
schränken, denn: Zu zweit hat Herr
Smith die Congruenz der Frictions-
und orthodiagraphischen Befunde als
Hauptbeweis für die Richtigkeit des
ersteren angeführt. Da ich nun neben
den oben mitgetheilten orthodiagraphischen
' Aufnahmen, für deren Richtigkeit ich aller¬
dings auf Grund mehrjähriger Erfahrung
und Uebung eintreten kann, weitere be-
] ) Die in Betracht gezogenen Zeichnungen sind
dem Separatabdruck aus den Verhandlungen des
18. Congresses für innere Medicin „Ober einige neue
Methoden zur Bestimmung der Herzgrenzen* ent¬
nommen; Verlag von Martin Wallach Nachf., dem
Fabrikanten des verbesserten Phonendoscops.
*) Smith, Schloss Marbach: lieber den heutigen
Stand der funktionellen Herzdiagnostik und Herz¬
therapie. Berliner Klinik. 166. April 1902: —
a Fs ist natürlich unmöglich, ohne genaues Studium
der Methode, dieselbe zu verwerthen oder Schlüsse
aus scheinbaren Resultaten zu thun: genau wie die
Perkussion muss dieselbe erst gelernt werden. Die
mannigfachen Veröffentlichungen gegen dieselbe ent¬
springen zum Theil der Verfolgung gewisser Anfftn-
gerfehler, und ich sehe bei jedem Collegen, der ge¬
wissenhaft genug war, vor einer beabsichtigten
Stellungnahme erst bei uns sich noch einmal zu
orientiren, wie wenig es möglich ist, durch blosse
Beschreibung neue Phänome der Akustik klar zu
machen. Die Collegen wandten die Methode aus¬
nahmsweise in einer Art an, bei der ich auch nichts
feststellen konnte, und es war mir recht beschämend
zu erfahren, dass dieselben sich nach meinen Publi¬
kationen gerichtet haben wollten. Es ist aber Nie¬
mand, der sich bei mir eine zeitlang mit der prac-
tischen Ausübung der Methode nach unserer Art
beschäftigt hat und mit dem Moritz’schen Apparat
sich controlliren konnte, fortgegangen, ohne von der
absoluten Objectivität der Untersuchungen überzeugt
zu sein, sowie davon, dass es ebenso unsinnig wäre,
nach der verhältnissmässig kurzen Zeit von einigen
Wochen wissenschaftliche Folgerungen zu machen,
als wenn ein Student nach einigen Wochen Perkus¬
sionskurs, wo er eben an fängt, Unterschiede zu
hören und technische Gewandheit zu bekommen,
nun seinerseits die abenteuerlichste Kritik üben
wollte. Technik will erlernt sein und zwar ebenso
vom Studenten wie vom Geheimrath, und ich muss
auf das allerentschiedenste dagegen protestiren, dass
sich Gelehrte herausnehmen, eine Methode abfällig
beurtheilen zu wollen, von der sie erst den Beweis
zu erbringen hätten, dass sie dieselbe überhaupt
kennen — von beherrschen will ich ganz schweigen
u. s. w.
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Gck igle
zügliche Resultate zur Verfügung habe,
so bin ich allerdings in der Lage, die
Smith’schen Friktionsresultate mit gleich¬
sinnigen orthodiagraphischen Aufnahmen
zu vergleichen. Dabei sind die Einschrän¬
kungen der Gültigkeit des orthodiagraphi¬
schen Verfahrens, wie vorhin besprochen
vollauf beachtet —
Um Wiederholungen zu vermeiden darf
ich einige besonders eklatante Beispiele
herausgreifen. Die 1. Tafel (S. 11) zeigt
die Einwirkung der Kola aufs Herz bei
gleichzeitiger Nichtaufnahme von Nahrung
und Flüssigkeit. Vor der ersten Aufnahme:
Semmel, 2 Tassen Kaffee mit viel Milch.
1. Herz klein, der rechte Ventrikel
bildet die Herzspitze (!), der linke Vorhof
liegt fast frei vom linken Ventrikel direkt
oberhalb des rechten. Nach 6 Stunden
schwerer Erdarbeit zeigt sich die Pro-
jectionsfläche auf das etwa vierfache ver-
grössert, dabei diejenige des linken Ven¬
trikels doppelt so gross, wie die des rechten!
Er erhält zweimal Vi g Kola; nach weiterer
dreistündiger Arbeit hat sich die Projec-
tionsfläche auf ca. das siebenfache ver-
grössert; der linke Ventrikel stellt sich in
ihr 2 Vs mal so gross als das rechte dar,
der wurstförmig völlig horizontal (wie eine
Gondel unter dem Ballon) den linken mit
der Hälfte seiner Projectionsfläche deckt.
(Ueberanstrengungstypus). 3 /* Stunden
später nach einer Mahlzeit von einem Teller
Suppe, elf faustgrossen Kartoffelklössen
mit viel Apfelkompott und einer Flasche
alkoholfreiem Bier und Ruhe ist das Herz
wieder in der Projection um über die Hälfte
kleiner geworden; die frühere Grösse wird
nach weiterer dreistündiger Ruhe erreicht.
Wenn die anfängliche, nur auf die vor¬
dere Thoraxwand projicirte Fläche den In¬
halt einer nur durch die orthodiagraphische
Methode gelieferten Projection ein Mittel
von 100Dem gehabt hätte, so hätte die
maximale Frictionssprojectionsfläche (=700
□ cm) auf einem kräftigen Thorax, selbst
wenn man die linken Ränder in die linke
Axillarlinie verlegt hätte, nicht Platz; der
linke Vorhof müsste sich auf die rechte
Supra- und Infraclaviculargrube projiciren.
Nun glaubt aber Herr Smith auf Grund
anderweitiger Frictionsresultate die Grösse
des normalen Herzens auf minimale Werte
reduciren zu sollen: (— „so sind wir wohl be¬
rechtigt, eine Länge von 7—8cm, eine Höhe
von 5—6 cm als dem normalen, gesunden
Menschen zukommend, anzunehmen und jede
Vergrösserung über dies Maass hinaus als
pathologisch zu bezeichnen“ — und weiter
unten: — „so erhielten wir einen Kubik-
44*
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
348
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
inhalt des ganzen Herzens von (7x5x5=)
175 bis (8x6x6=) 288 cm, bei welchen
Massen ein Inhalt der Herzhöhlen von ca.
150 ccm ohne weiteres als entsprechend be¬
trachtet werden kann —).“ Da die Frictions-
methode das diastolische Herz darstellen
soll, so kommen nach Abzug des Schlag¬
volumens (150 ccm) ein Herzgewicht und eine
Herzgrösse heraus, die einfach ein Unding
ist! (ca. 30 g schwer, anstatt 300 g.) 1 ) Die
Orthodiagraphie lehrt, dass nach Anstren¬
gung, auch ohne Nahrungs- und Flüssigkeits-
aufnahme sich keine Vergrösserung des
Herzschattens zeigt, oder nur ein solcher
um wenige Millimeter dem vergrösserten
diastolischen Volumen entsprechend! —
2. Frictionsmethode: — Herz Verän¬
derung bei Ueberhitzung des Körpers durch
heisses Bad —: Nach heissem Bade von
35o R, 15 Minuten Dauer: Vergrösserung
der Projectionsfläche auf das dreifache.
Nach 2 Tagen noch Vergrösserung auf
über das Doppelte; — geht dann auf ein
iaradisches Bad hin zur Norm zurück,
worauf die Unlustgefühle verschwinden. —
Orthodiagraphie: Nach einem heissen
Bade (s. a. Moritz, Münch, med. Woch.
1902, I) keine Vergrösserung des Herz¬
schattens! — Bezüglich der „vergrösserten“
Frictionsprojectionen ist übrigens noch zu
bemerken, dass, selbst wenn dieselben,
was ja nicht der Fall ist, Herzvergrösse-
rungen entsprächen, das Verhältniss zur
wahren Herzgrösse immerhin ein recht un¬
sicheres und mathematisch nicht fixirbares
sein müsste.
3. Frictionsmethode: Nach Injection von
1 ccm Alkohol, Herzvergrösserung um
1 V 2 cm.
Orthodiagraphie: Selbst nach Aufnahme
erheblicher Alkoholmengen (s. a. Moritz)
Gleichbleiben des Herzschattens! — (auch
beim Abstinenzler!)
4. Frictionsmethode: —„Der galva¬
nische Strom wirkt bei localer Anwendung
nicht auf das Herz, bei allgemeiner Appli¬
cation, wie im galvanischen Bade, in der¬
selben Weise wie Ueberhitzung, herzerwei¬
ternd und erzeugt Unlustgefühle. — Der
faradische Strom, sowohl local auf das Herz
allein geleitet, wie auch bei Allgemeiner
Faradisation des ganzen Körpers, wie auch
bei alleiniger Durchströmung grösserer
Muskelgruppen wirkt herzverkleinernd, und
zwar ist diese Wirkung am grössten bei
reiner Dilatation, geringer bei Dilatation
und Hypertrophie und am geringsten bei
Leuten, deren äusserer Habitus schon auf
4 ) Vierordt’s Zahlen: 14,9:10,8:8,8 (statt 7:5:5)! —
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starke Verfettungsvorgänge schliessen lässt ,
und den Verdacht auf Fettherz nahe legt I
Die Stärke des Stromes wurde der sub- j
jectiven Toleranz angepasst, d. h. er wurde ■
jeweils so verstärkt, dass deutliche Muskel¬
zuckungen und Schmerz eintraten.“ — ,
Orthodiagrapisch ist bei galvanischen
und faradischen Manipulationen keinerlei 1
Herzveränderung zu constatiren!
5. Wirkung einer hypnotischen Sug¬
gestion aufdasHerz! Frictionsmethode Herz¬
erweiterung mit epileptoiden Anfällen.
„In der Sitzung vom 1. März 1900, II a. m.
wird dem Patienten suggerirt, er fühle I
genau, dass sein Herz kleiner werde, er
merke das characteristische erleichterte
Gefühl in der linken Brust, es zöge sich
deutlich mehr und mehr zusammen. Da
Patient sonst zu dieser Zeit sein faradisches
Bad, das stark zusammenziehend auf das
Herz wirkt, bekommen hat, wird erwartet,
dass die Suggestion Erfolg hat. Bei der
Nachuntersuchung zeigen sich dagegen
haarscharf die Herzgrenzen, die vor der
Hypnose bei der ersten Untersuchung auf¬
gezeichnet waren.
In der Sitzung vom 2. März 1900, zu
derselben Zeit und unter denselben Ver¬
hältnissen wird dem Patienten suggerirt,
er ziehe sich aus und steige ins faradische
Bad. Jetzt höre er die Batterie klappern, er
fühle es in den Beinen zucken (Pat. zuckt
leise mit den Beinmuskeln), jetzt im Rücken,
jetzt in den Armen (Zusammenziehung der
Muskeln wie im faradischen Bade).
Nach der Hypnose: Starke Verkleinerung
des Herzens, die durchaus der Art ent¬
spricht, wie dieselbe nach dem faradischen
Bade zu beachten ist!“
Diese Vergleichsbeispiele mögen ge¬
nügen. Nur noch einige anatomische
Curiosa. Die Grösse des normalen Herzens
und des Sitzes des linken Vorhofs in der
Darstellung der Frictionsmethode wurden
schon erwähnt. Nun ergeben ferner manche
Projectionsbilder, dass der rechte oder
venöse Ventrikel die Herzspitze ausschliess¬
lich bildet. Herr Smith äussert sich dazu:
„Ich verfüge unter einer grossen Samm¬
lung von Herzen nur über ein einziges,
wo die arterielle Kammer ausschliesslich
an dem Zustandekommen des linken Herz¬
randes betheiligt ist, und habe beim
Lebenden nur in wenigen Fällen von Ueber-
anstrengung des arteriellen Herzens vor¬
übergehend das Phänomen beobachten
können. Ebenso habe ich nur in verhält-
nissmässig wenigen — aber häufigeren als
den eben erwähnten — Fällen eine alleinige
Bildung der Herzspitze von der rechten
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
349
Kammer im Leben und an der Leiche
sehen können; meist wird, wie auch schon
Luschka festgestellt hat, die Herzspitze
von beiden Kammern gebildet/ Ich citire
dagegen nur einen Passus aus dem neuen
Werke von Albrecht (Albrecht, Der
Herzmuskel etc. Berlin 1903) S. 33: „Be¬
kanntlich wird an einem normalen Herzen
seine Spitze lediglich vom linken Ventrikel
gebildet. Der unterste Rand des rechten
hört eine Strecke oberhalb desselben auf;
anders ausgedrQckt kann man die Situation
so darstellen, dass die Kammerscheidewand
von dem Punkte an, wo die untere Be¬
grenzung des rechten Ventrikels aufhört, bis
zur Herzspitze hin allein die rechte Wand
desSpitzentheils der linken Kammer bildet/
Nach allem Angeführten können wir es
nur dankbar anerkennen, dass die Ortho¬
diagraphie uns in eindringlicher Weise vor
voreiliger Anerkennung einer allerdings
schon durch ihre Resultate gerichteten
Methode warnt. — Hornung (Schloss
Marbach) geht allerdings weiter und will
der Frictionsmethode zu Liebe die Ortho¬
diagraphie geringer einschätzen (20. Con-
gress für innere Medicin). Ueber die
Leistungsgrenzen der Orthodiagraphie ist
oben das Nöthigste in möglichster Kürze
zusammengefasst.
Resum£: Die allen bekannten und
anderweitig (Perkussion, Orthodia¬
graphie) exact darstellbaren That-
sachen widersprechenden Resultate
der Frictionsmethode beweisen die
Verwendungsunmöglichkeit dersel¬
ben für die Herzgrössenbestimmung;
die mit ihr erhaltenen akustischen
Phänomene beziehen sich auf andere
Faktoren.
Es erübrigt noch einer weiteren von
Herrn Smith angegebenen „subjectiven*
Methode der Herzgrössenbestimmung zu
gedenken: „Versuche, ob es gelingen würde,
wie bei der Faradisation der Muskeln bei
dem Durchleiten eines faradischen Stromes
durch das Herz einen deutlichen Ton zu
hören, fielen bis jetzt nicht einwandsfrei
aus. Aber ein anderes Phänomen kam
dabei zum Vorschein, welches eine sub-
jective Bestimmung der Herzgrenze ermög¬
lichte. Bei allmählicher Verstärkung des
von vorn nach hinten geleiteten Stromes
(vorn Knopfelektrode, hinten grössere
Plattenelektrode) zeigt sich, dass sehr bald
die untersuchte Person deutlich den Strom
in der Tiefe am Herzen fühlt, und zwar
bei gut abgemessenem Strom nur so lange,
als die Elektrode über dem Bereich des
Herzens sich befindet/ — und weiter
unten: „Es mag noch erwähnt werden, dass
auch bei der Durchleitung des galvanischen
Stromes einen Moment lang das Herz ge¬
fühlt wird; dann verschwindet allerdings
das Gefühl, ohne dass man es diagnostisch
benutzen kann/
Ich habe auch diese Methode nach¬
geprüft, allerdings ohne auf irgend ein
Resultat zu hoffen, und zwar mit völlig
negativem Erfolg. Die Versuchsperson war
ein intelligenter, der Versuchsanordnung
den besten Willen entgegenbringender
Mann, der nicht „statt der verabredeten
Lautreaction das bekannte verständnissvoll
erstaunte Grinsen“ zeigte.
Auch dieser Methodik gegenüber möchte
ich zwei kurze Citate aus einem Remak-
schen Aufsatz über Elektrodiagnostik
(Eulenburg -Encyklopädie) anführen, die
den Kern der Sache treffen.
Ueber den galvanischen Leitungswider¬
stand (der galvanische Strom zeigte sich
für die obige Methodik nicht geeignet) des
Körpers heisst es dort: „Nach Ueber-
windung der Hautwiderstände vertheilt sich
der Strom nun in jedem unregelmässig ge¬
formten Leiter so, dass die Stromdichte bald
unterhalb der Ansatzstellen durch Auf¬
lösung des Stromes in zahlreiche Strom¬
fäden bedeutend abnimmt, übrigens aber
ceteris paribus in der geraden Verbindungs¬
linie der Ansatzstellen am stärksten bleibt,
um in den von derselben erttfernteren
Körperschichten immer geringer zu werden.
-Mit Berücksichtigung aller dieser Ver¬
hältnisse hat man sich zu denken, dass der
Strom nach seinem Eintritt in die Haut
ziemlich gleichmässig über die verschiede¬
nen Weichtheile sich vertheilt und nur die
um zwei Fünftel schlechter leitenden
Knochen (E. Danion), wie man sich aus¬
zudrücken pflegt, umgeht/
Wie wenig direktiv müssen da die Strom¬
dichtigkeitsverhältnisse im Körperinnern
bei Anwendung einer grossen indifferenten
Plattenelektrode sein! — Ueber den fara¬
dischen Strom finden wir ebenda: „Bei
der Verbreitung des inducirten Stromes im
menschlichen Körper nach Ueberwindung
des Hautwiderstandes ist bei der geringen
Stromstärke der einzelnen nur durch ihre
Schnelligkeit wirksamen Inductionsschläge
weniger von einer Wirkung in die Tiefe
oder auf die Körperstrecke zwischen den
Ansatzstellen die Rede (v. Helmholtz),
sondern die physiologischen Wirkungen
beschränken sich auf die letzteren/ —
Und zu alledem kommt, dass wir vom
Herzmuskel bewusste Empfindungen nicht
erhalten. —
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350
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
Mit der Bazzi-Bianchi’schen Frictions-
methode fallen naturgemäss solche thera¬
peutischen Erwägungen, welche sich ledig¬
lich auf deren Ergebnisse aufbauen. Dass
diese Methode aber unwerth ist, zur Herz¬
grössenbestimmung verwandt zu werden
— eine schon von manchen Autoren ander-
weit geäusserte und begründete Thatsache
—, sollte auf Grund eigenen Untersuchungs¬
materials vorliegend nochmals erörtert
werden.
Ueber Akromegalie.
Von Dr. L. Hllismans, dirigirendem Arzt der inneren Abtheilung des St. Vincenzhauses, Cöln. *)
(Mit 9 Abbildungen.)
Der Hirnanhang (Hypophysis s. glan-
dula pituitaria) ist eine Blutgefässdrüse,
welche in der Sattelgrube des Schädels
lagert Er besteht aus einem nach hinten
gelagerten kleineren und einem vorderen
grösseren Abschnitt; beide sind entwicke¬
lungsgeschichtlich heterogen. Der hintere
Lappen ist die Fortsetzung des Infundi-
bulum und besitzt im embryonalen Zustande
eine mit dem dem III. Ventrikel durch das
Infundibulum communicirende Höhle; er ist
also ein Hirnbeständtheil, besteht im späte¬
ren Leben meist aus Bindegewebe und
enthält wenig nervöse Elemente (Lewan-
dowsky 1 ) u. A.). Der vordere Lappen
leitet sich ab von einem ectodermalen
Schlauche der Mundbucht, welcher, von
seiner Ursprungsstelle abgeschnürt, eine
geschlossene längliche Blase bildet; aus
deren Epithelwand sprossen nun kleine
Schläuche und so entsteht ein aus Drüsen¬
schläuchen, Epithelmassen und wenig Binde¬
gewebe bestehender röthlicher Körper, der
nach Verwachsung mit dem schon erwähn¬
ten hinteren Lappen von der Schädelhöhle
durch das Diaphragma Hypophyseos, von
der Mundhöhle durch den inzwischen ver¬
knöcherten Keilbeinkörper getrennt ist
(Gegenbaur).
Friedreich hatte nun schon 1868 Fälle
von Hyperostosie des gesammten Skelettes
veröffentlicht und, nachdem noch andere
Autoren über ähnliche Beobachtungen be¬
richtet, brachte Pierre Marie 1886 diese
Krankheitsbilder in Verbindung mit Ver¬
änderungen der Hypophysis, welche in fast
allen Fällen gefunden wurden. Marie be¬
trachtete die Akromegalie als eine allge¬
meine Dystrophie. Er fand (citirt nach
Eulenburg 2 )) „eine beträchtliche Grössen¬
zunahme der Hände, der Füsse und des
Gesichts (Nasenknochen, Jochbein, Unter¬
kiefer, weniger des Schädels); die Wirbel¬
säule war kyphotisch verkrümmt; Schlüssel¬
beine, Rippen, Kniescheiben und Becken
erschienen auch etwas vergrössert, die
*) Vortrag, gehalten am 18. Mai 1903 im allge¬
meinen ärztlichen Verein in Cöln.
langen Röhrenknochen dagegen ganz un¬
verändert, die Muskulatur war abgemagert
und die Zunge auffällig gross. Die Kranken
klagten über Schmerzen im Kopf, dem
Rücken und den Armen, sowie über allge¬
meine Schwäche und Mattigkeit. Bemer¬
kenswerth war die Steigerung des Durst¬
gefühls, Vermehrung der Urinmenge und
die Verkleinerung der Schilddrüse."
Mit der Zeit mehrten sich die Beobach¬
tungen. Die Zahl der bekannten Fälle
stieg bald auf 83 im Jahre 1893 (Coliins*))
und auf 210 in der Zusammenstellung von
Sternberg 1897 4 ) und wie wohl meist inder-
artigen Fällen entstand nun ein gewaltiges
Sichten und Richten. Alte Fälle wurden
ihrer Erstlingsrechte beraubt, neue dem
Krankheitsbilde einverleibt. Es ergab sich
vor Allem die nicht verkennbare Nothwen-
digkeit, entsprechend dem erweiterten Bilde
auch eine erneute Prüfung seiner Genese
eintreten zu lassen.
Abgesehen von der Thymus-Theorie
(Klebs) und der nervösen Theorie (Reck¬
linghausen), welche ich nur kurz er¬
wähnen möchte, weil sie sich keinen dauern¬
den Platz erwarben, traten neben der
Pierre Marie’schen zwei neue Akrome¬
galie-Hypothesen auf, zunächst die von
Mendel 5 ) u. A., wonach ein unbekanntes
Gift die sämmtlichen Blutdrüsen mit spe-
cieller Bevorzugung der Hypophysis er¬
kranken lässt, endlich die von Strümpell. 4 )
Letzterer zählt die Akromegalie zu den
endogenen Krankheiten, deren Auftreten
durch eine von vornherein gegebene ab¬
norme Veranlagung des Körpers bedingt
ist: „wenn die Erkrankung der Hypophysis
wirklich im Mittelpunkte des ganzen Lei¬
dens steht, vielleicht die alleinige Ursache
aller übrigen Krankheitserscheinungen ist,
dann ist die Akromegalie im Wesentlichen
nur eine endogen bedingte Krankheit der
Hypophysis“. „Ehe aber nicht weitere ge¬
wichtigere Gründe für die oben erwähnte
Ansicht angeführt werden, möchte Strüm¬
pell die Hyperplasie und Tumorbildung in
der Hypophysis zwar für eine fast regel-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
An^nst
351
Die Therapie der Gegenwart 1903.
massige durchaus specifische Erscheinung
bei der Akromegalie halten, welche aber
den übrigen Symptomen nur koordinirt ist,
nicht aber in einer causalen Beziehung zu
ihnen steht.“
Ich habe im Augenblicke drei Fälle von
Akromegalie in klinischer Beobachtung.
Wenn nun auch der Werth pathologisch¬
anatomischer Untersuchungen, wie sie Ar¬
nold 7 ) anstellte, nicht hoch genug ange¬
schlagen werden kann, so schien mir an- i
dererseits auch mein klinisches Material
eine wahre Fundgrube zu sein, um hier
und dort klärend zu wirken. Auf alle Fälle
wird eine Demonstration desselben geeignet
sein, die Ansicht auszumerzen, dass die
Akromegalie eine Krankheit ist, deren Ur¬
sache eine Vergrösserung der Hypophysis, j
deren Symptome eine Volumenzunahme der
Körperenden ist.
Fall 1. Herr S. aus C., 42 Jahre alt, seit
20 Jahren krank, ist derselbe Patient, welchen
ich schon im vorigen Sommer bei anderer Ge- I
legenheit 19 ) beschrieb und den ich damals aus 1
äusseren Gründen nur kurz beobachten konnte.
Die weitere Untersuchung ergab verschiedene
interessante Details, so dass ich seine Kranken¬
geschichte hier nochmals ausführlicher wieder
gebe.
Fall 1.*)
S. war früher immer gesund und bemerkte
während seiner Dienstzeit 1882/83. dass er der
rechten Arm nicht über die Horizontale er¬
heben konnte. Diese Serratuslähmung ging
wesentlich zurück, bald stellte sich jedoch eine
Abmagerung der rechten Schulter, des rechten
*) Die meisten der ursprünglich stereoskopischen
Photographiecn verdanke ich der Liebenswürdigkeit
des konsultirenden Augenarztes ara St. Vincenzhause—
Cöln, Herrn Dr. Jung.
Oberarms und Oberschenkels und der Gesichts¬
muskulatur ein, die auch heute noch besteht.
Die Unterarme wurden dabei dick und sind
auch heute noch dicker als normal, dabei aber
motorisch schwach.
Die elektrische Untersuchung der Muskeln
ergiebt keine Entartungsreaktion. Der rechte
Biceps reagiert weder auf faradischen noch
galvanischen Strom. Beugung des rechten
Unterarms in Pronation ziemlich stark, in Su¬
pination äusserst schwach, d. h. rechter Biceps
Fall 1. Type massif.
Fall 1. Type massif.
fast vollkommen atrophisch, an seiner Stelle
eine tiefe Furche, Brachialis internus erhalten.
1884 zeigten sich zuerst die Erscheinungen
an Händen und Füssen. Auffallend sind be¬
sonders die dicken Jochbeine, der mächtig pro¬
minente Unterkiefer, welcher mit seiner Zahn¬
reihe den Oberkiefer umfasst.
Die Hutnummer nahm in den 20 Jahren
der Krankheit von 567a auf 597a cm zu.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
352 Die Therapie der Gegenwart 1903. August
Oberes Augendach beiderseits stark vor¬
tretend, Glabella normal. Die Zähne sind
grösstentheils defect, „fielen in Stücken aus“.
Zunge stark verdickt.
Schlüsselbeine und Rippen enorm breit;
beide Hände ausserordentlich plump, die Haut
derselben weich und schlaft', im Röntgenbilde
allgemeine Verdickung sämmtlicher Hand¬
knochen. Die Hände bieten das Bild des type
massif (Pierre-Marie).
Füsse weniger in Bezug auf die Länge als
auf die Dicke abnorm vergrössert. An der
Aussenseite ein massiger Ilautwulst, welcher
die Füsse scheinbar nach hinten verlängert.
An den Nägeln trophische Störungen in Form
von Riffelungen und chronischen Entzündungen
im Nagelfalz.
Lange Röhrenknochen ohne Anomalie, Brust¬
wirbelsäule kyphotisch.
Herz und Lunge normal, keine Thymus¬
dämpfung. Thyreoidea von normaler Grösse.
— Haut im übrigen schlaff und weich.
Es besteht starke Neigung zum Schwitzen.
Gesichtsfarbe dunkel, entschiedene Bronce-
färbung an der Haut des Halses, auch da, wo
der Kragen den Hals bedeckt.
Von Zeit zu Zeit entsteht eine schmerz¬
lose Anschwellung des linken Hodens, der
ebenso wie der rechte im übrigen normales
Verhalten zeigt. Potenz erhalten.
An den Beinen Varicen. 1899 wurden
Hämorrhoiden operativ entfernt.
Keine Augenstörungen. Patellarreflexe er¬
halten, nicht gesteigert.
Sensibilität ohne Anomalie.
Von einer Hypophysis-Therapie wurde aus
mehreren Gründen abgesehen, vor allem auch,
weil die Krankheit keine weiteren Fortschritte
machte, schon lange besteht und das Allgemein¬
befinden durchaus gut ist.
F a 11 2. Frl. U. aus F., 42 Jahre alt Auch sie
war früher stets gesund. Die Eltern starben (Vater
an Schwindsucht, Mutter an Altersschwäche).
Vor 3 Jahren stellte sich Magendruck, Kopf¬
weh, spontanes Erbrechen ein. Patientin fühlte
sich matt und müde. Zu gleicher Zeit bemerkte
sie ein „Singeln“ (d. h. Ziehen und Ameisen¬
laufen) sowie Abmagerung im linken Arm, was
zu der Diagnose Neuritis führte. Sie kam des¬
wegen auch zu mir. Indessen liess sich die
Diagnose Akromegalie aus den Gesichtsver¬
änderungen sowie aus den Veränderungen an
beiden Armen unschwer stellen.
Patientin hat jetzt stark verdickte, vor-
springende Jochbeine, einen massigen, über
den Oberkiefer vorspringenden Unterkiefer.
Zunge und Unterlippe stark verdickt. Zähne
stark cariös, fallen seit D/a Jahren „in Stücken“
aus. Es besteht eine Gingivitis ulcerosa mit
Atrophie der Alveolarwände, wodurch ein
grosser Theil der Zahnwurzeln blossgelegt wird.
Die Fingerspitzen reichen im Stehen bis
unter die Kniee. Bei einer Grösse von 165 cm
ist die Spannweite der Arme — 181,5 cm.
Patientin giebt an, dass die Aermel ihrer Kleider
zu kurz geworden seien. Einzelmaasse:
Entfernung der Acromien.36 cm
Abstand von Acromion zum Olecranon
rechts 39 cm, links 37 cm
Abstand vom Olecranon zur Mittelfinger-
spitze . . . rechts 47,5 cm. links 46 cm
Muskelatrophien finden sich an beiden Unter¬
armen (besonders die linken Beuger sind stark
betheiligt), ferner an beiden Händen (Thenar,
Antithenar. Interossei), sonst nicht.
Fall 2.
Die elektrische Erregbarkeit ist erhalten, sie
fehlt nur vollständig am linken Antithenar
(völliger Muskelschwund).
Fall 2. Type en long.
Beide Hände bieten den type enlong(Marie).
Die Haut derselben ist trocken und spröde,
über den Streckseiten der Finger mit vielen
Querfalten versehen, so dass die Finger den
Eindruck machen, wie wenn ihre Haut zu gross
wäre. Nägel stark längs- und quergeriffelt, der
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Original ffom
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
353
Nagelfalz an einzelnen Stellen chronisch ent¬
zündet. Endphalangen trommelschlägelförmig
verdickt.
In der Ruhe nehmen die Hände eine eigen¬
tümliche Stellung ein. Während Daumen und
Zeigefinger gestreckt gehalten werden, nehmen
die Finger nach dem fünften hin immer mehr
die Klauenhandstellung ein. Scheinbar ist in
erster Linie der N. ulnaris für diese motorischen
Störungen verantwortlich zu machen, während
für die trophischen Störungen, welche nach
den Fingerspitzen hin zunehmen, Ulnaris, Media¬
nus und Radialis gleichmässig in Betracht
kommen.
Keine Kyphose. — Patientin gibt an, dass
auch die Füsse grösser geworden sind. Sie
konnte ihr altes Schuhzeug nicht mehr anziehen.
Im Uebrigen machen die Füsse einen durch¬
aus proportionierten, beinahe schlanken Ein¬
druck (type en long).
Fall 2. Type en long.
Uebrige Knochen und Muskeln normal.
Patellarreflexe erhalten.
Keine Sensibilitätsstörungen.
Augenbefund normal. — Gehör, Geruch
ohne Anomalie.
Die Thyreoidea ist entschieden atrophisch
— man fühlt in der tiefen Jugulargrube nichts
von ihr, sondern unter der Haut sofort die
Trachealringe. — Seit Beginn der Erkrankung
starke Neigung zum Schwitzen. — Starker Haar¬
ausfall.
Keine Thymusdämpfung, nirgends Pigmen¬
tierungen.
Im Urin weder Zucker noch Eiweiss. Ver¬
abreichung von tOOgr. Traubenzucker erzeugte
keine alimentäre Glycosurie.
Periode regelmässig, alle 3—4 Wochen, seit
Beginn der Krankheit schwächer, als früher.
Allgemeinbefinden gut, Verordnung all¬
gemein tonisierender Mittel.
Fall 3. FrauD. ausC., 36Jahre alt. Eltern und
eine Schwester an Phthise gestorben. Patientin
war immer gesund, heirathete vor 9 Jahren.
Seit 8 Jahren ist Patientin amennorrhoisch;
sie bemerkte, dass sie dicker wurde. Zugleich
wurde sie matt und müde, unfähig zur Arbeit,
litt viel an Kopfschmerz, hatte auch zeitweise
Erbrechen.
Vor ca. 2 Jahren stellte sich Verdickung
der Hände und Füsse sowie des Gesichtes ein,
ferner stetig zunehmender Rückenschmerz,
welcher Patientin auch zu mir führte.
Seit D/a Jahren, jedenfalls nach Erscheinen
der Veränderungen an Kopf, Händen und Füssen,
trat eine Abnahme der Sehkraft ein. In der
Haut des Bauches und der Leiste entwickelten
sich massenhaft weiche Fibromata pendula.
Fall 3.
Frau D. ist eine mittelgrosse, blasse Frau
mit plumpen Gesichtszügen. Besonders auf¬
fallend ist die dicke Unterlippe und Nase sowie
die voluminöse, blasse, fleischige Zunge. Joch¬
beine vorspringend. Der Unterkiefer umfasst
mit seiner Zahnreihe den Oberkiefer. Die
Zähne gingen „in Stücken“ fort. Besonders
I | = unterbrochene Leitung.
Fall 3.
am Oberkiefer starke Zahnkaries. Die weitere
Untersuchung ergiebt ein Empyem des linken
Sinus maxillaris, offenbar zusammenhängend
mit der Zahnkaries.
In der Nase ist die linke mittlere Muschel
hyperplasiert, am Septum anliegend. Am Ein¬
gang zum Antrum Highmori polypoide Wuche-
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
354
August
Die Therapie der
rungen. Zwischen den Polypen kommt Eiter
zum Vorschein. — Mandeln und Rachenschleim¬
haut, Epiglottis und Aditus laryngis (Taschen¬
bänder) verdickt und blass.
Stimme rauh, Sprache langsam.
Nerven der Schädelbasis mit Ausnahme
des Opticus normal. Letzterer ist links voll¬
kommen atrophisch, das linke Auge vollkommen
amaurotisch, rechts besteht ein Ausfall der
nasalen Netzhauthälfte. Aus diesem Befund
ist zu schliessen, dass ein Tumor der Hypo¬
physis sich hauptsächlich nach links entwickelte
und vor dem Chiasma den linken Opticus,
hinter dem Chiasma den linken Tractus opticus
total zerstörte. — Kein Exophthalmus.
Thyreoidea deutlich verdickt, nicht pul¬
sierend, — Häufige starke Schweisse, starkes
Ausfallen und Grauwerden der Haare.
Ueber dem Manubrium stemi eine leichte
Dämpfung; am Angulus Ludovici springt das
Brustbein wulstförmig vor.
Herz und Lunge normal, reine Herztöne.
Puls andauernd etwas beschleunigt (92—96 in
der Minute). Respiration 22 in der Minute.
Im Urin kein Eiweiss, kein Zucker.
Kyphose der Brustwirbelsäule.
An den Händen zeitweise feinschlägiger
Tremor. Atrophien bestehen deutlich nur an
den Interossei beider Hände. Elektrische Er¬
regbarkeit normal. Hände und Ftlsse bieten
das Bild des type massif (Marie). Nägel über¬
wachsen und geriffelt.
Patellarrefiexe beiderseits deutlich gestei¬
gert, kein Fussklonus.
Nirgends Sensibilitätsstörungen.
An den Gefässen finden sich merkwürdige
Störungen. Von Zeit zu Zeit tritt mit gleich¬
zeitiger totaler Verstopfung der Nase ein
hauptsächlich auf die Gegend der Nasenwurzel
beschränktes, sich aber auch durch stärkere
Schwellung der Unterlippe bemerkbar machen¬
des Oedem auf. Ein anderes Mal erscheinen
die Endphalangen der Finger oder auch die
ganzen Finger bläulich weiss, kalt und im Ge¬
fühl herabgesetzt, erst nach Stunden geht das
Blut wieder in die Finger". Aehnliche Er¬
scheinungen finden sich an den Füssen,
nur dass hier manchmal ein ganzer Fuss
ergriffen und schmerzhaft ist. — Oedeme an
den Füssen.
Patientin erhielt nun Glandula pituitaria
von Parke Davies and Co. (Pulver) und Bur-
roughs Welcome and Co. Tabloids. Bis jetzt
hat man kaum eine Einwirkung derselben ge¬
sehen — nur Fränkel 10 ) verzeichnet zeitweise
Besserung. Merkwürdigerweise erfolgte eine
wesentliche Aenderung des Zustandes. Die
Hände, welche über den Metacarpophalangeal-
gelenken 23 cm gemessen hatten, nahmen 1
bis 1,5 cm an Umfang ab, die Haut wurde
dünner, sodass nun deutlich die Atrophie der
Interossei auf dem Handrücken zu Tage trat.
Die Nase, Unterlippe und Zunge nahmen
deutlich an Volumen ab. Die Unterlippen¬
schleimhaut legte sich in kleine Falten. Ueber-
haupt magerte Patientin deutlich ab, der Ilaar-
Gegenwart 1903.
ausfall und das Schwitzen hörte auf. Patientin
giebt an, besser sehen zn können. Kein Kopf¬
weh mehr, ebenso Verschwinden der vaso¬
motorischen Erscheinungen und des zeitweise
exacerbierenden Schmerzes in den Füssen.
Mit anderen Worten: Frau D. verhielt sich
nach Darreichung der Tabletten wie ein Myx-
oedemkranker nach Thyreoid-Medication, nur
mit dem Unterschiede, dass bei ihr noch be¬
sonders ein Nachlass der vasomotori¬
schen Erscheinungen in die Augen
sprang.
Bei der Fülle klinischer Einzelheiten er¬
scheint es mir zunächst zweckmässig, auf
die schon oben erwähnte grundlegende
Arbeit von Arnold zurückzukommen. Wir
werden so zunächst eine Unterlage für un¬
sere klinischen Befunde gewinnen, anderer¬
seits aber auch hier und da neue Gesichts¬
punkte einfügen können.
„Die Haut zeigte sich an den meisten
Körperstellen, deren Volumen zugenommen
hatte, mehr oder weniger verdickt und zwar
namentlich in Folge der Zunahme der un¬
tersten Schichten der Lederhaut und des
Unterhautzellgewebes * (Arnold). Bei
meinen Patienten 1 und 3 war sie ebenfalls
verdickt, zugleich aber schlaff und weich,
im Falle 2 dick und trocken.
Pierre Marie unterschied schon an den
Händen Akromegalischer einen Type massif
und Type en long und auch Sternberg
erwähnt „die verbreiterte massive“ und „die
ganz vergrösserte riesige“ Hand. Fall 1
und 3 vertreten den ersteren, Fall 2 den
letzteren Typus. Auffallend ist dabei, dass
die Röntgenaufnahme bei beiden wohl eine
leichte allgemeine Verdickung der Knochen
ersehen lässt, dass aber im Uebrigen zwi¬
schen beiden Röntgenbildern trotz des ver¬
schiedenen Aeusseren der Hand keine
wesentlichen Unterschiede bestehen. Dar¬
aus folgt, dass eben in den drei Fällen die
Haut verschieden betheiligt ist und so der
Hand ihr charakteristisches Gepräge giebt.
(Im Falle 2 kommt allerdings noch eine
Verlängerung der Knochen hinzu s. u.).
— Merkwürdig ist die Entwickelung von
Fibromata pendula in Folge der Krankheit.
— An den Schleimhäuten treten gerade
in vivo ähnliche Veränderungen auf, wie
an der äusseren Haut und besonders bei
Pat. 3 sind dieselben an der Nase, dem
Rachen und Kehlkopf sehr stark. Auch
Sternberg (L c.) erwähnt, dass die Nasen-
und Rachenschleimhaut häufig verdickt war
und erweiterte Gefässe zeigte.
„Die constanteste Veränderung der
Knochen bei Akromegalie ist die Ver¬
dickung des Periosts sowie die subperiostale
und supracorticale Knochenneubildung, zu
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA I
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
355
welcher sich eine enostale zur Sklerose
des Knochens führende hinzugesellen kann“.
Es entsteht also eine durch Hypervolumen
der Weichtheile und Dickenzunahme der
Knochen bedingte Vergrösserung der „En¬
den“; „ein gesteigertes Längenwachsthum
der Knochen ist bisher nicht nachgewiesen“
(Arnold). Dem Letzteren gegenüber muss
betont werden, dass im Falle 2 die Röhren¬
knochen an Armen und Händen entschieden
verlängert sind und zwar rechts um 3 l /2 cm
mehr wie links. Schon anamnestisch war
die Angabe der Patientin auffallend, dass
die Aermel zu kurz geworden seien. Be¬
weisend erschien mir die Thatsache, dass
die Körperlänge nicht, wie sonst, gleich
der Spannweite ist, sondern im Verhältniss
yon 165:181,5cm steht — ein Atavismus
erscheint mir ausgeschlossen, ebenso Gi-
gantosomie, da die Verlängerung sich nach
beendetem normalem Wachsthum ent¬
wickelte. Holsti fand übrigens nach Ar¬
nold eine nicht unbedeutende Verlänge¬
rung der Knochen, von welcher verhältniss-
mässig am meisten die Nagelphalangen be¬
troffen wurden.
Abgesehen von diesen sehr seltenen
Beobachtungen finden sich auch in unseren
Fällen die schon von Pierre Marie sche¬
matisch aufgestellten Knochenveränderun¬
gen. Wir sehen Hyperostosen am Stirn¬
bein (Fall 1), Vorspringen der Orbitalbögen
und des massigen Unterkiefers. Sicherlich
ist auch, besonders im Falle 3, der Türken¬
sattel erweitert und difform. Jochbeine,
Schlüsselbeine, Manubrium sterni, Rippen
u. s. w. betheiligen sich durch (periostale)
Vergrösserung ihres Volumens.
Eine Kyphose der Brustwirbelsäule,
welche als besonders charakteristisch gilt,
ist nur im Falle 1 und 3 nachweisbar, bei
Fall 2 nicht.
Die Muskeln fand Arnold fast sämmt-
lich mehr oder weniger degenerirt. Ein¬
fache Atrophie wechselte ab mit Pseudo¬
hypertrophie, zu gleicher Zeit fand sich
Vermehrung undSklerosirung desZwischen-
bindegewebes (die kleinsten Muskelgefässe
waren ausgesprochen hyalin degenerirt).
Entsprechend war auch unser klinischer
Befund. Wir beobachteten vollkommenen
Muskelschwund (mit Fehlen jeglicher elek¬
trischen Reaction, z. B. im rechten Biceps
(Fall 1), Hypothenar (Fall 2), andererseits
partielle Atrophie in den Unterarmbeugern
des Falles 2 und endlich auch wirkliche
Pseudohypertrophie (Unterarm bei 1). In
letzterem Falle bestand ein auffallendes
Missverhältniss zwischen Muskelvolumen
und Arbeitsleistung.
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An den Nerven fand Comini wirkliche
Entzündung (Radialis), Arnold lamelläre
Verdickung der Scheiden, Zunahme des
Bindegewebes im Innern derselben, die
Spinalganglien ärmer an breiten dunkel-
randigenNervenfasern, einzelne vacuolisirte
Ganglienzellen enthaltend, starke Vermeh¬
rung des Bindegewebes. Seine weiteren
Befunde im Gehirn und Rückenmark seien
unten erwähnt. Am Sympathicus ähnliche
Veränderungen wie an den Spinalganglien.
— Eine deutliche Betheiligung der Nerven
war klinisch nur bei Patientin 2 als „Sin¬
geln“ im Unterarm vorhanden.
Die Ge fasse verhielten sich bei Akro¬
megalie höchst auffallend. Die Wände der
Arterien und Venen waren enorm verdickt
(Arnold): Aorta 2,3 mm, normal 1,6 mm;
Arteria renalis 1 mm, normal 0,4 mm; Ra¬
dialis 1,0 mm, normal 0,14 mm. Die Messun¬
gen ergaben also, dass die Wanddicke um
so mehr zunimmt, je kleiner das Gefäss
wird. Häufig ist die Wand hyalin degene¬
rirt; schliesslich finden sich an Stelle der
feinsten Verzweigungen helle glasige Kugeln,
bei denen nur noch die Andeutung eines
Lumens ihre Herkunft von einem Geftss
beweist. — Dass den Gefässen eine hervor¬
ragende Rolle im Bilde der Akromegalie
zukommt, lässt sich schon daraus erkennen,
dass sich Veränderungen an denselben in
allen Geweben finden; wir können es ferner
schliessen aus den schweren vasomotori¬
schen Störungen im Falle 3. Hier bestan¬
den neben den schon oben erwähnten Sym¬
ptomen auch zeitweise Schmerzen. Bekannt
sind ja die rheumatoiden Schmerzen bei
Angiospasmus (Bäumler 8 )); letzterer ist
auch wohl bei Patientin 3 periodisch vor¬
handen, er muss schliesslich zur Arbeits¬
hypertrophie der Gefässmuscularis und da¬
mit zu Wandverdickungen führen. Secundär
degeneriren dieGefässwände. — Die Hämor¬
rhoiden und Varicen bei Fall 1 sind offen¬
bar Folgen der Akromegalie.
Wichtig ist nun ein Studium des klini¬
schen Verhaltens der Blutdrüsen und ein
Vergleich desselben mit den Arnold'sehen
Befunden. Von der Hypophysis allein
darf und kann hier keine Rede sein.
Der Beweis für Linser’s 9 ) Satz, „dass
die eigentlichen Blutdrüsen, zu denen zu
rechnen sind Thyreoidea, Hypophysis,
Thymus, Nebennieren und Geschlechts¬
drüsen, sämmtlich unter einander in
näherem Zusammenhänge stehen, so dass
sie sich in ihren Functionen gegenseitig
beeinflussen und ergänzen können“, wird
auf das Schlagendste durch das klinische
Bild der Akromegalie erbracht.
45*
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
356
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
Allerdings ist in unseren Fällen die
Thymus nicht nachweisbar betheiligt. Im
Falle 3 besteht zwar eine kleine Dämpfung
über dem Manubrium sterni. Da abergleich¬
zeitig der Angulus Ludovici wulstförmig
vorspringt, möchte ich diese Dämpfung nicht
auf eine Persistenz der Thymus, sondern
auf starke Verdickung des Manubrium sterni
(Arnold) zurückführen.
Die Betheiligung der Nebennieren
documentirt sich im Falle 1 durch die starke
Pigmentirung des Halses. Die letztere
wurde von Pierre Marie und Strümpell
(1. c.) ebenfalls schon bemerkt. Arnold
fand, dass „dieRetezellen mehr oderweniger
gelbes oder braunes körniges Pigment ent¬
sprechend der schon dem unbewaffneten
Auge auffälligen Pigmentirung einzelner
Hautpartien führten“. Die Adspection wie
die mikroskopische Untersuchung ergiebt
also denselben Befund, wie wir ihn bei
Morbus Addisonii zu sehen gewohnt sind.
Fränkel 10 ) u. A. beobachteten mehrfach
Diabetes, die auf eine Betheiligung des
Pankreas zu beziehen wäre (Minkowsky,
Pineies 11 )). In meinen Fällen fanden sich
wederZuckerausscheidung, noch liess sich
alimentäre Glycosurie erzeugen.
Störungen in den Sexualorganen
sind in allen Fällen mehr oder weniger
vorhanden. Im Fall 1 zeigt sich bei er¬
haltener Potenz eine zeitweise auftretende
schmerzlose Schwellung des linken Testikels;
im Fall 2, der erst seit drei Jahren sich
entwickelt, ist die Periode schwächer wie
früher, aber regelmässig. Bei der dritten
Patientin besteht aber seit acht Jahren als
erstes auffallendes Symptom Amenorrhoe,
Libido sexualis erloschen. Bezüglich der
Amenorrhoe ist zu bemerken, „dass nach
Sternberg in keinem Falle eine amenor-
rhoische Patientin, die an Akromegalie litt,
geschwängert worden ist, während ja be¬
kanntlich Frauen, bei denen in Folge von
anderen Erkrankungen, z. B. Chlorose oder
Anämie, Amenorrhoe besteht, concipiren
können. Die Amenorrhoe ist also bei der
Akromegalie eine mit den Ovarien direkt
zusammenhängendeKrankheitserscheinung“
(Pineies 1. c.). — Mendel fand übrigens
bei seiner Patientin cystische Degeneration
der Ovarien.
DieThyreoidea erwies sich bei unseren
Patienten einmal als normal gross, einmal ent¬
schieden atrophisch, im Falle 3 als hyper¬
trophisch. Man sollte nun entsprechend
den Erfahrungen, welche uns der Morbus
Basedowii und das Myxoedem lieferten, er¬
warten, dass auch die Neigungzum Schwitzen
mit der verschiedenen Grösse der Thy-
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roidea correspondirte. Dem ist nicht so.
In allen drei Fällen bestand starke Neigung
zum Schwitzen*) — andererseits aber eben¬
falls starker Haarausfall, im Fall 3 mit Grau¬
werden der Haare. Pulsveränderungen be¬
stehen nur bei Patientin 3 (92—96 Schläge
in der Minute), ausserdem ist bei derselben
die Athemfrequenz gesteigert.
Exophthalmus wurde nicht beobachtet.
Corvini (Morgagni 1902, März) führt den¬
selben bei langsamem Eintritt auf Verände¬
rungen der Orbitalknochen zurück, bei
plötzlichem Beginn auf Druck von Seiten
der Hypophysisgeschwulst auf den Sinus
cavernosus.
Dass ein Myxoedem sich mit der Akro¬
megalie combinirt, wie im Falle 2, haben
ja Pineies 11 ) u. A. schon beschrieben.
Auch Basedow-Erscheinungen sind bei der
Akromegalie schon häufig beobachtet (Lan-
ceraux). Ulrich, 18 ) Osler, M. Faure,
Möbius haben uns früher mit Fällen be¬
kannt gemacht, bei welchen Basedow in
Myxoedem überging und zeitweise die Er¬
scheinungen beider bestanden. Bis jetzt ist
aber meines Wissens kein Fall bekannt, wie
mein dritter, bei dem sich zur Akromegalie
Basedow und Myxoedem gesellen: hier ist
der Schweiss, die gesteigerte Puls- und
Athemfrequenz, der Tremor in den Händen
auf den Basedow, die rauhe Stimme, der
Haarausfall, die Verdickung der Gesichts¬
haut auf Myxoedem zurückzufahren.
An der Hypophysis finden sich fast
immer anatomische Veränderungen. Er¬
wähnt sei aber, dass Benda (1. c.) in allen
Fällen 1. die völlige Unbetheiligtheit des
hinteren, dem Centralnervensystem ange¬
hörenden Lappens und 2. die Herkunft
der Geschwulstzellen aus den epithelialen
Elementen des Hypophysisvorderlappens
nachwies.
Die Betheiligung der Hypophysis kann
klinisch in allen drei Fällen angenommen
werden. Im Beginn der Erkrankung trat
zeitweise Kopfschmerz auf, im Falle 2 und 3
verbunden mit spontanem Erbrechen.
Sicher war dieselbe im Falle 3, in welchem
eine sich hauptsächlich nach links ent¬
wickelnde Hypophysisgeschwulst für die
Veränderungen der optici herangezogen
wergen muss.
Mendel 5 ) führte auch die fehlenden
Patellarreflexe auf den Hypophysistumor
zurück, dieselben fehlten in seinem Fall»
sowie bei den Patienten von Duchesneau,
Tanzi, Nonne, Freund. Seiner Erklä-
'■) Anatomisch fand Arnold die Schweissdrüsen
sehr entwickelt und reich an enggewundenen Knäueln,
ihre bindegewebigen Umhüllungen dick.
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August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
357
rung (Druckwirkung des Tumors auf die
motorischen Bahnen mit Degeneration) steht
die Fürstner’sche Ansicht gegenüber,
dass der in Folge der Atrophie der Ober-
schenkelmusculatur fehlende Muskeltonus
die Ursache ist. Letztere Ansicht scheint
mir den Thatsachen am meisten zu ent¬
sprechen, wenn man bedenkt, wie häutig
die Muskeln des Oberschenkels sich durch
Atrophie betheiligen. — Bei meinen Fällen
sind^die Patellarreflexe entweder vorhanden
oder wie im Falle 3 sogar deutlich ge¬
steigert.
Bekanntlich sind manche Fälle von
Akromegalie nachträglich (auch von Pierre
Marie) einem anderen Krankheitsbilde, der
Osteoarthropathie hypertrophiante
pneumique, eingereiht worden, und wenn
man nur die Trommelschlegelfinger in den
Fall 2. Trommelschlegelfinger,
Atrophie des Thenar etc.
Vordergrund stellen wollte, könnte man
versucht sein, auch unserem Fall 2 das¬
selbe Loos zu Theil werden zu lassen. In¬
dessen spricht dagegen erstens der typische
Befund am Unterkiefer (Prognathie), die
Verdickung der Jochbeine, die Caries der
Zähne, die Atrophie der Schilddrüse, das
Freibleiben der Gelenke etc., ausserdem
der normale Befund der übrigen Organe,
besonders der Lunge. Denn wir müssen
festhalten, „dass die Akromegalie eine pri¬
märe selbstständige Krankheit, die Osteo¬
arthropathie eine secundäre Erkrankung
ist, welche im Verlaufe von Affecten der
Lunge und des Kreislaufs, syphilitischer
und wahrscheinlich auch anderer Processe
auftritt." (Arnold.)
Der Verlauf der Akromegalie kann ein
verschiedener sein. Neben Fällen, in denen
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die Krankheit 50 Jahre bestand, sind solche
bekannt, welche in 3—4 Jahren ad exitum
führten. Sternberg 4 ) unterschied deshalb
chronisch-benigne und acut-maligne For¬
men. Für letztere postulirte er stets ein
Sarkom der Hypophysis. Ben da 10 ) fand
dagegen in acuten Fällen maligne Ade¬
nome und Gabler 12 ) eine gänseeigrosse
einfache Hyperplasie. Malignität des Ver¬
laufes und Malignität der Hypophysisver¬
änderungen fallen also nicht zusammen, viel¬
mehr bezieht sich der Ausdruck „benigne"
und „maligne" Akromegalie lediglich auf
die Dauer der Krankheit. Es kommen auch
Remissionen vor, wie bei unserem Fall 1.
Fall 2 gehört zur benignen Form, Fall 3
dagegen wohl unbedingt zur anderen
Categorie.
Nach Sternberg tritt die Akromegalie
in 14—15% vor dem 20. Lebensjahre, in
50—55% zwischen dem 20. und 30., in
25 % zwischen dem 30. und 40. und in 5 %
nach dem 40. Jahre auf. Später Beginn
ist nach ihm bei Frauen weit häufiger als
bei Männern. Diese Angaben bestätigen
meine Patienten. 1. erkrankte im 22.Lebens¬
jahre, die Patientinnen 2 und 3 39 resp.
28 Jahre alt,
Ein Trauma oder eine Infectionskrank-
heit war bei sämmtlichen Patienten nicht
vorhergegangen.
Die Akromegalie kann auch halbseitige
Symptome machen, wie z. B. in unserem
Falle 1 bezüglich der musculären Erschei¬
nungen. Auch Bregmann 13 ) beschrieb
bei Akromegalie Atrophie einer Zungen¬
hälfte und Schwund der Musculatur des
linken Schultergürtels. Diese Fälle können
ohne Weiteres zur Myopathie akromega-
lique (Duchesneau) gerechnet werden.
Auffallend ist auch der Fall von C ursch-
mann, 20 ; der halbseitigen partiellen Riesen¬
wuchs an Brust und Bein bei normalem
Fuss demonstriren konnte.
In solchen Fällen könnte man versucht
sein, an einen cerebrospinalen Process zu
denken. Arnold fand im Falle Ruf eine
Degeneration des medialen Theils der
Hinterstränge, ferner des rechten Vorder¬
pyramidenstranges und des linken Seiten¬
pyramidenstranges , dementsprechend Er¬
weichungsheerde im rechten Scheitelhirn
und im linken Schläfenlappen. Dieselben
müssen nach ihm „zweifellos als die Folge
der hochgradigen Alteration der Hirn-
gefässe aufgefasst werden". Ein Fall von
halbseitiger Akromegalie mit halbseitigen
Hirn- und Rückenmarksveränderungen ist
bisher nicht beobachtet. — Beschränkt sich
nun gar die Akromegalie hauptsächlich auf
Qriginsal fröm
UMIVERSITY OF CALIFORNIA
356
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
die obere Körperhälfte, wie im Falle 2,
bei dem ein auffallender Unterschied
zwischen den schweren Symptomen an den
Händen und den fast gar nicht veränderten
schlanken Füssen besteht, so wird der
cerebrospinale Ursprung des Processes
unmöglich.
Die Alteration der Arterien und
Venen ist die Ursache der zufällig nach
dem Typus der Halbseiten- resp. Quer¬
erkrankung auftretenden Veränderungen an
Knochen und Muskeln und sowohl diesen
wie den Hirnveränderungen super-
ordinirt.
Bezüglich der Theorie der Akrome¬
galie sei in erster Linie daran erinnert, dass
Strümpell wie in den Fragen der Myelitis,
der Strangdegenerationen auch hier an dem
Satze festhält, dass die Akromegalie eine
endogene, d. h. „durch eine von vornherein
gegebene Veranlagung des Körpers be¬
dingte“ Erkrankung ist. Wie ich schon an
anderer Stelle, bei Gelegenheit einer Be¬
sprechung der Genese, der Friedreich-
schen Ataxie etc. anführte, dass diese so¬
genannten hereditären resp. endogenen Er¬
krankungen erst mit dem Besuche der Schule
und nach Infectionskrankheiten, besonders
nach Masern, sich entwickelten, so möchte
ich auch hier auf die auffallende Thatsache
aufmerksam machen, dass die Akromegalie
in den meisten Fällen erst nach dem
20. Lebensjahre (&5%) beginnt. Die Ver¬
anlagung an sich möchte ich dabei keines¬
wegs abstreiten, gleichzeitig aber doch be¬
tonen, dass es unseren modernen An¬
schauungen wohl nicht entspricht, nur eine
Disposition resp. Veranlagung für eine
Krankheit verantwortlich zu machen. Doch
davon später.
Gegenüber der P. Marie’schen Hypo¬
physistheorie vertrat Virc ho w „von Anfang
an den Standpunkt, dass die Veränderung
der Hypophysis ein gleichgültiger Neben¬
befund sei. Die Veränderungen der Ex¬
tremitäten kämen auch ohne Hypophysis¬
tumor vor“ (cf. Benda 14 ).
Ein abnormes Wachsthum der Knochen
ist z. B. auch von Linser 9 ) auf eine Er¬
krankung anderer Blutdrüsen zurückgeführt
worden. Er machte ein Hypernephrom der
linken Nebenniere für die Thatsache ver¬
antwortlich, dass ein 5V2 Jahre alter Junge
eine Körperlänge von 155 cm zeigte und
äusserlich den Eindruck eines 17—lÖjähri-
gen machte. Gerade die Franzosen be¬
tonten den Einfluss der Thyreoiden auf
die Knochen und verordneten geradezu
Thyreoidtabletten zur Beschleunigung der
Callusbildung bei Fracturen.
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Gewiss, es sind auch Fälle bekannt, wo
Akromegalie ohne Hypophysistumor ver¬
lief — cf. Sternberg S. 111 — und an¬
dererseits solche, in welchen Tumoren der
Hypophysis keine Zeichen der Akromegalie
verursachten (P o n fi c k 15 ).
Indessen rein anatomische Befunde be¬
weisen an sich nichts. Denn ein Tumor,
mag er selbst anatomisch eine Hyperplasie
der Drüsenelemente darstellen, hat darum
doch nicht ohne Weiteres Hypersecretion
specifischer Körper zur Folge. Anderer¬
seits spricht fehlender Tumor resp. nor¬
male Grösse in keiner Weise für Unter-
secretion. Wir sind eben nicht im Stande,
allein durch die anatomische Untersuchung
einer Drüse uns ein Bild ihrer Leistungs¬
fähigkeit zu construiren.
Solche und ähnliche Gedanken veran-
lassten Friedmann und Maas, Pineies,
Benda, Lewandowskyju. A. Thierexperi¬
mente vorzunehmen. Sie exstirpirten
Katzen die Glandula pituitaria (in manchen
Fällen auch die Gl. thyreoidea), indem sie
theils die Drüse mit dem Messer resp. der
Scheere entfernten, theils Chromsäure ver¬
wandten. Der Eingriff ist furchtbar grob
— physiologisch, die meisten Thiere gingen
ein, bevor irgend welche Folgeerscheinun¬
gen beobachtet werden konnten. Die
Autopsie ergab in anderen Fällen, in denen
keine Folgeerscheinungen eintraten, dass
die Operation Ueberreste der Hypophysis
im Körper liess. Wenn nun gar Hypophy¬
sis und Thyreoidea gleichzeitig entfernt
wurden, dann darf es nicht Wunder nehmen,
wenn keine Resultate erzielt wurden.
Denn erstens ist der Eingriff schon wieder
blutiger, zweitens muss man immer im
Auge behalten, dass manches auf eine
theilweise Wechselwirkung zwischen Hypo¬
physis und Thyreoidea hin weist. (Uthoff 16 )
fand z. B. in seinem Ealle „eine Atrophie
der Schilddrüse mit sekundärer (?) Ver-
grösserung der Hypophysis.“ Durch Ex¬
stirpation beider Drüsen kann man also
unter Umständen die Wirkung des Experi¬
mentes aufheben.
Man beschritt einen anderen Weg.
Zunächst wurden Stoffwechselversuche an¬
gestellt. A. Schiff 17 ) „fand bei einem
Patienten mit typischer Akromegalie nach
der Darreichung von Hypophysis-Tabletten
neben einer unbedeutenden Vermehrung
der Stickstoffausscheidung eine recht er¬
hebliche Steigerung der Phosphorsäure-
Ausscheidung.“ Diese unter dem Einflüsse
der Hypophysis vor sich gehende Aende-
rung des Stoffwechsels bezieht Schiff
auf einen gesteigerten Zerfall eines ver-
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
359
hältnissmässig stickstoflarmen und phos¬
phorreichen Gewebes und denkt nach Aus¬
schluss des Nervengewebes, das zu bald
vollkommen erschöpft sein würde, in erster
Linie an das phosphorreiche Knochenge¬
webe.
von Morascewsky (M. M. W. 1901),
kommt bei der Stoffwechselbehandlung der
Akromegalie zu dem Resultate: „Die Akro¬
megalie besitzt eine Tendenz, organbildende
Stoffe (Stickstoff, Chloride) namentlich aber
Phosphor und Kalksalze zurückzuhalten.*
Aus beiden Untersuchungen müsste
man also schliessen, dass im Körper vor¬
handene normale Hypophysis hemmend
auf das Knochenwachsthum wirkte und
dass die Akromegalie durch einen Ausfall
der Hypophysisfunktion zu Stande käme.
Für diese Anschauung würden auch die
Lewandowsky’schen Fütterungsversuche
sprechen. „Bei wachsenden Thieren
trat nämlich eine Rachitis ein, das eine
Mal höchsten Grades, zu einer Hemmung
des Wachsthums und Abnahme des
Körpergewichtes um fast ein Drittel führend,
gemessen an dem Verhalten eines aus dem
gleichen Wurfe stammenden Controlthieres,
das vollständig gesund blieb.*
Diesen Ableitungen stehen nun aber
andere Erfahrungen gegenüber. Benda 10 )
und Woods Hutchinson fanden, „dass
wirklich zerstörende Hypophysisgeschwülste
entweder ohne Veränderungen des Kochen¬
baues einhergingen oder gar mit Zwerg¬
wuchs verbunden waren.* Um diese That-
sachen mit den Lewandowsk y'sehen R esul-
taten in Einklang zu bringen, scheinen zu¬
nächst nur zwei Annahmen möglich, erstens,
dass in den oben erwähnten Fällen immerhin
genügende Drüsensubstanz verblieb —
Benda wies ja in seinen Fällen normales
Hypophysisgewebe im malignen Tumor
nach — oder zweitens die Tumorzellen
die Funktionen der Hypophysis übernahmen,
wie schon von anderer Seite vermuthet
wurde. Beide Annahmen erscheinen äusserst
gezwungen. Wir müssen dagegen eines
immer gegenwärtig halten, dassbei der Akro¬
megalie in den seltensten Fällen nur die
Hypophysis erkrankt; meist sind die an¬
deren Blutdrüsen, insbesondere die Thy¬
reoidea, mitergriffen. Und dann erklärt
sich der Zwergwuchs ungezwungen durch
ein kompiieierendes Myxoedem.
Vielleicht sind auch meine Resultate
mit Hypophysis-Tabletten als nicht unwich¬
tig zu erachten, insofern sie ex juvantibus
einen Schluss auf die Funktion der Hypo¬
physis gestatten.
Benda 14 ), dessen schöne Arbeiten ich
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mehrfach citirte, spricht sich allerdings
sehr absprechend über die Verwen¬
dung der Tabletten aus und tröstet sich
nur in dem Gedanken, dass „die aktiven
Bestandtheile derselben durch die Ver¬
dauungssäfte vermuthlich zerstört werden.
Er erhofft „von der kühnen Hand des
Chirurgen, die schon bis zum benachbarten
Ganglion Gasseri vordringt,“ andere und
bessere Resultate. Ob nun wirklich eine
derartige Operation ungefährlicher und vor
allem zweckmässiger ist, wie die Einver¬
leibung von Hypophysis-Tabletten? Ich
meine, wenn schon der Versuch, die Hypo-
physis beim Thier zu erreichen, beim Thier
mit dem Tode endigte, dann wäre auch
beim Menschen vor derartigen Versuchen
dringend zu warnen. Ausserdem müsste
diese Operation in den länger bestehenden
Fällen auf fast alle Organe und Gewebe
ausgedehnt werden.
Jedenfalls fühlte ich mich berechtigt zu
einem Versuch mit den Tabletten und
zwar mit dem Erfolge, dass die vasomo¬
torischen Erscheinungen sich verloren,
dass der Umfang der Mittelhand um durch¬
schnittlich 1 cm abnahm, dass die Rücken¬
schmerzen verschwanden und das All¬
gemeinbefinden sich hob. (Näheres cf.
Fall 3).
Ich verwandte absichtlich nur Hypo¬
physis-Tabletten, um auch nur eine Hypo-
physis-Wirkung zu erzielen.
Man könnte einwenden, dass es sich
bei meinem Erfolge um eine spontane Re¬
mission handelte. Indessen spricht mir
das prompte und anhaltende Auftreten
der Reaktion dagegen. Führte ich keine
Thier-Hypophysis mehr ein, so erneuerten
sich die vasomotorischen Symptome, um
bei erneutem Gebrauch wieder zu ver¬
schwinden.
Die Einführung von Thier-Hypophysis
verhinderte das Auftreten von Angiospas-
men, so wie sie bei den Lewandowsky-
schen Thieren direkt hemmend auf das
Knochenwachsthum einwirkte. Man muss
also schliessen, dass die Hypophy¬
sis vermittelst ihrer specifischen
Secrete eine neutralisirende Wir¬
kung im Körperhaushalte ausübt,
mit anderen Worten eine Hemmung
resp. Regulation gewisser Körper¬
funktionen bewirkt.
Des Weiteren geht aus dem Erfolg
meiner Hypophysis-Medication hervor, dass
wir unter Umständen im Stande sind, das
Bild der Akromegalie zu beeinflussen, so¬
weit die Symptome derselben von
der Alteration der Hypophysis ab.
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
360
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
hängig sind und so lange wir es mit
einfacher Arbeitshypertrophie der Gefäss-
wände, mit oedematöser Imbibition des
Periostes etc., kurz, mit dem initialen Sta¬
dium der Akromegalie zu thun haben. Ich
glaube nämlich, dass der Erfolg der Hy¬
pophysis-Tabletten bei Pat. 3. wesentlich
deshalb möglich war, weil bei ihr die Krank¬
heit eine gewisse Progredienz zeigt. Im
Falle 1 und 2 habe ich die Tabletten nicht
angewendet, weil dieselben offenbar einen
sehr chronischen Verlauf haben resp. wie
bei 1 seit langer Zeit zum Stillstand ge¬
kommen sind,
In letzter Linie möchte ich nur kurz
auf meine Ausführungen in der Therapie
der Gegenwart (1902/8) hinweisen und be¬
sonders hervorheben, dass der Erfolg der
Tabletten uns den Beweis liefert, dass bei
der Akromegalie , die „innere Secretion“
der Hypophysis ausgefallen ist.
Die Marie’sche Hypophysis-Theorie giebt
scheinbar dem Bilde der Akromegalie keine
ausreichende Erklärung. Der klinische
Befund lehrt uns, dass auch die übrigen
Blutdrüsen an der Erkrankung betheiligt
sind. Wir finden Vergrösserung der Schild¬
drüse mit ausgesprochenen Basedowsymp¬
tomen (z. B. Lanceraux, S6maine m£dicale
IV. 1895), Atrophie derselben mit Myx¬
ödem (Fall 2. Pineies, 1. c.), ferner eine
Combination von Basedow mit Myx¬
ödem (Fall 3). Das Pancreas betheiligt
sich durch Diabetes, die Nebennieren durch
Broncefärbung der Haut, die Ovarien durch
Amenorrhoe. Manchmal persistirt auch
die Thymus. Jedoch nicht nur das. Es
treten bei der Akromegalie Erscheinungen
an Gefässen, Muskeln und Nerven auf, wie
wir sie sonst bei keiner Erkrankung
anderer Blutdrüsen zu sehen ge¬
wohnt sind.
Diese Thatsachen lassen zunächst mehr
die Mendel’sche Auffassung in den Vor¬
dergrund treren. Auch Pineies kommt
zu einem ähnlichen Resultate, „dass Akro¬
megalie Myxoedem, Kretinismus, Morbus
Basedowii und in manchen Fällen auch
Diabetes Erkrankungen von Blutdrüsen
darstellen, in deren Verlaufe oft anato¬
mische oder funktionelle Störungen ande¬
rer Blutdrüsen entstehen.“ Pineies lässt
es dabei unentschieden, ob diese gleich¬
zeitige Erkrankung auf dem Wege der
Blutbahn oder durch sympathische Bahnen
erfolgt.
Wir werden eigentlich gerade durch
Beobachtung Akromegalie-Kranker unwill¬
kürlich zu der Anschauung gedrängt, dass
Akromegalie, Morbus Basedowii etc. nur
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die Ausläufer derselben Grundkrankheit
sein können, dass diese Krankheitsbilder
secundär auftreten und nur beweisen, dass
im speciellen Falle die eine oder die an¬
dere Blutdrüse oder mehrere zusammen
erkrankt sind.
Indessen halte ich doch für ausge¬
schlossen, dass wir gelegentlich z. B. einem
Myxoedem mit akromegalischen Symptomen
begegnen, mit anderen Worten, dass es
zu einer secundären Erkrankung der
Hypophysis kommt. Denn die Akromegalie
scheint mir doch eine gewisse Sonder¬
stellung einzunehmen.
Fragen wir uns bei der Akromegalie
nach der Grundkrankheit, so möchte ich
noch einmal kurz daran erinnern, dass in
meinem Falle 3, der offenbar progredient
ist, sehr beträchtliche Störungen des Ge-
fässsystems vorhanden sind, die sich zu¬
nächst noch als Angiospasmen zeigen.
Arnold fand in seinem Fall Ruf die
schwersten Veränderungen an den Gefässen
und besonders an den kleinsten Gefässen
hyaline Degeneration. Ei* fand letztere in
allen Organen und hält sie ebenfalls für
das Primäre.
Auch ich glaube, dass wir schon einen
bedeutenden Schritt weiter kommen, wenn
wir die Gefässveränderungen den anderen
pathologisch - anatomischen Veränderungen
überordnen. Jedoch sind die Gefässe kein
eigentlich actives Gewebe; sie sind ein
Organ, welches die Blutversorgung ver¬
sieht und an sich wieder abhängig ist von
anderen Factoren, vom Sympathicus und
vor allen Dingen vom Blute selbst. Auch
der Sympathicus erscheint mir aber bei
der Akromegalie secundär erkrankt, weil
er in seinen Ganglien und Bahnen die¬
selben Gefässveränderungen, dieselbe Ver¬
mehrung des Bindegewebes zeigt wie die
übrigen Organe.
In der Blutbahn werden die Vor¬
bedingungen zum akromegalischen
Bilde gelegt. Secundär erkranken
die Gefässe in durchaus specifischer
Weise und in Folge dessen sowohl
Blutdrüsen wie die übrigen Gewebe.
Für die weitere Frage nach der Ur¬
sache dieser abnormen Vorgänge in der
Blutbahn kann es nur eine Alternative
geben: entweder ist das Blut oder die
Hypophysis primär erkrankt. Der Einwand,
welchen Mendel 5 ) gegen die Hypophysis¬
theorie erhebt und der es ihm unmöglich
erscheinen lässt, dass die Erkrankung der
Hypophysis eine solche der übrigen Blut¬
drüsen nach sich zieht — dass nämlich
sichere Fälle von Akromegalie „ohne“ Er-
Qrigmal fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
361
krankung der Hypophysis bekannt sind —,
dieser Einwand kann uns als Bestätigung
dafür dienen, dass in manchen Fällen eine
primäre Erkrankung des Blutes alsGrund der
akromegalischen Symptome anzusehen ist.
Es wäre ein Leichtes, diese von mir
supponirte primäre Erkrankung des Blutes
mit dem gefälligen Namen einer Dyskrasie
zu belegen. Aber wie ich schon oben die
rein endogene Entstehung einer Erkrankung
glaubte ablehnen zu sollen, so möchte ich
auch hier auf das bekannte x y z zurück¬
greifen, eine Disposition wohl gelten lassen,
auch die Möglichkeit einer Gelegenheits¬
ursache (Trauma/Schreck, cf. Sternberg)
zugeben, im Uebrigen aber logischer Weise
die Erkrankung des Blutes einer chroni¬
schen Infection zuschreiben — es mögen
dabei verschiedene Infectionsspecies in
Frage kommen. Schon Arnold dachte
übrigens an die Möglichkeit einer Infection,
als er die verschiedensten Organe auf
Bakterien durchmusterte.
Andererseits ergiebt sich aber aus an¬
deren Fällen von Fränkel, Stadelmann,
Benda und von Mendel selbst ein schwer¬
wiegender Einwurf gegen die primäre Er¬
krankung des Blutes. Auch primäre ma¬
ligne Tumoren der Hypophysis riefen
nämlich Veränderungen an den anderen
Blutgefässdrüsen und das typische Bild der
Akromegalie hervor. Ich glaube, es giebt
hierfür nur eine Erklärung, zu der ich
übrigens schon ex juvantibus geführt wurde,
dass der maligne Tumor zu echten Aus¬
fallsymptomen von Seiten der Hypophysis
führte. Dadurch prävalirten im Blut die
Secrete der übrigen Blutdrüsen und führten
zum Bilde der Akromegalie,
Fassen wir nun zusammen, so ergiebt
sich Folgendes:
1. Die Hypophysis spielt im Körper
eine ausserordentlich wichtige Rolle. Sie
neutralisirt durch dieProducte ihrer inneren
Secretion im Blute die Secrete anderer
Blutdrüsen. Sie wirkt so regulirend auf
das Gefässsystem und hemmend auf ein
abnormes Knochenwachsthum.
2. Die Akromegalie entsteht durch den
Ausfall der Hypophysisfunction.
3. Dieser Ausfall ist die Folge einer
primären oder secundären Erkrankung der
Hypophysis.
4. Primär wird derselbe bedingt durch
maligne Tumoren und Hypoplasie der
Hypophysis.
5. Der Ausfall kann aber auch primär
bei anatomisch normalem Befunde und bei
Hyperplasie der Hypophysis auftreten. Wir
sind nicht in der Lage, vom anatomischen
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Befunde auf die Function der Hypophysis
zu schliessen.
6 . Andererseits kann aber auch eine
primäre chronische Infection des Blutes in
erster Linie zu einer secundären Beein¬
trächtigung der Hypophysisfunction führen
und so das Bild der Akromegalie hervor-
rufen.
7. Therapeutisch ist zu bemerken, dass
eine Einwirkung von Thierhypophysis auf
das Bild der Akromegalie entschieden vor¬
handen ist, solange und insoweit es sich
um reine Hypophysis-Ausfallsymptome han¬
delt. Ausgeschlossen erscheint eine solche,
falls sich im weiteren Verlaufe der Krank¬
heit dauernde Veränderungen (Degenera¬
tion) an den Gefässen und damit an an¬
deren Blutdrüsen und Organen etablirten.
Litteratur.
1) Lewandowsky, die Grundlagen der
Organtherapie. Zeitschrift für diät. u. physik.
Therapie. Band V, Heft 1. — 2) Eulenburg,
Akromegalie, in Realenyklopädie. Band 1. —
3) C o 11 i n s, Akromegaley, Journal of [nerv,
and mental disease 93. —* 4) Stern berg, „die
Akromegalie“ in Nothnagels specieller Patho¬
logie und Therapie. Band VII, II. Theil. —
5) Mendel, Obductionsbefund eines Falles
von Akromegalie. Berl. klin. Wochenschrift,
1900. — 6) Strümpell, Ein Beitrag zur Patho¬
logie und pathologischen Anatomie der Akro¬
megalie. Deutsche Zeitschrift für Nervenheil¬
kunde. Band XI.— 7) Arnold, Weitere Beiträge
zur Akromegaliefrage. Archiv für pathol. Ana¬
tomie und Physiologie, Band 135, Folge VIII,
Band V. — 8) Bäumler, Gefässerkrankungen
in Penzoldt und Stintzing Band III. —
9) Lins er, Ueber die Beziehungen zwischen
Nebennieren und Knochenwachsthum, Beiträge
zur klinischen Chirurgie. Band 37, Heft 1 u.2. —
10) Fränkel, Stadelmann und Benda, kli¬
nische und anatomische Beiträge zur Lehre
von der Akromegalie. Deutsche Med. Wochen¬
schrift 1901 No. 31. — 11) Pineies, die Be¬
ziehungen der Akromegalie zum Myxoedem
und zu anderen Blutdrüsenerkrankungen. Samm¬
lung klinischer Vorträge. Neue Folge. No. 242.
— 12) Gübler, über einen Fall von acuter
maligner Akromegalie. Correspondenzblatt für
schweizer Aerzte, 1900 No. 24. — 13) Breg¬
mann, Deutsche Zeitschrift für Nervenheil¬
kunde. Band 17, Heft 5—6. — 14) Benda,
Akromegalie, Deutsche Klinik, 59. Lieferung. —
15) Ponfick, Deutsche Med. Wochenschrift
1901 (V. S. 275). — 16) Uthoff, Berl. klin.
Wochenschrift 1897. — 17) Schiff, Wiener klin.
Wochenschrift 1897, S. 279. — 18) Ulrich,
Ueber Morbus Basedowii und Myxoedem, Thera¬
peutische Monatshefte 1900, S 291. — 19) L.
Huismans, Bemerkungen zur Organtherapie
im Anschluss an Fälle von Akromegalie, Myx-
oedema infantile, Morbus Addisonii. Therapie
der Gegenwart 1902 No. 8. — 20) Curschmann,
Deutsche Med. Wochenschrift 1901 (V. S. 261).
46 0n:;iral frcn
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
362
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
Casulstische Beiträge zur Eisenlichtbehandlung.
Von Dr. E. Clasen- Hamburg.
Die durch die Anwendung blauen und
violetten Lichtes erzielten grossartigen
Heilresultate Finsens bei Lupus und
anderen Hautkrankheiten konnten nicht
verfehlen, ein lebhaftes Interesse für diese
Heilmethode zu wecken und zu vielfachen
Versuchen anzuregen, dieselbe dem practi-
schen Arzte zugänglich zu machen durch
Auffindung anderer Lichtquellen für Blau
und Violett, da die unerschwinglich hohen
Anschaffungs- und Betriebskosten des
Finsenlichtes ein unüberwindliches Hinder¬
niss für seine Einführung in die Praxis
bilden.
Diesen Untersuchungen, um die sich
hauptsächlich, Bang, Kjeldsen, Strebei
u. A. verdient gemacht haben, verdanken
wir die verschiedenen Dermolampen und
Dermoscheinwerfer, bei denen der zwischen
zwei Eisenelectroden überspringende Volta^
bogen — das „Eisenlicht“ — als Licht¬
quelle dient. Das Finsensche, durch Fil¬
tration und Wasserkühlung von seinen
langwelligen Licht- und Wärmestrahlen
befreite Kohlenlicht liefert in der Haupt¬
sache Blau und Violett neben verhältniss-
mässig wenig Ultraviolett, das Eisenlicht
dagegen vorwiegend ganz kurzwelliges
Ultraviolett neben wenig Violett und noch
weniger Blau; bei seinem dadurch beding¬
ten ausserordentlich spärlichen Gehalt an
Wärmestrahlen — das Eisenlicht kann in
der Praxis als kalt betrachtet werden —
kann von einer Abfiltration der Wärme¬
strahlen abgesehen werden. So gering¬
fügig diese Unterschiede dem ferner
Stehenden erscheinen mögen, so sind sie
doch für die therapeutische Wirkung von
wesentlicher Bedeutung und haben Anlass
zu dem Zweifel gegeben, ob das Eisenlicht
das Finsenlicht zu ersetzen vermöge. Dem
letzteren kommt bei seinem vorwiegenden
Gehalt an langwelligeren Strahlen in Blau
und Violett eine erheblich grössere Tiefen¬
wirkung zu und zugleich eine weit geringere
entzündungserregende Eigenschaft, als den
kurzwelligen ultravioletten Strahlen des
Eisenlichtes, deren Wirkung weniger in
die Tiefe der Haut hineindringt und ausser¬
dem bei manchen Personen eine so inten¬
sive Reizwirkung entfaltet, dass schon
mehrfach der Wunsch laut geworden ist
(Kromeyer, Breiger), ein Licht zu finden,
welches statt des störenden Ultraviolett
einen reicheren Gehalt an Blau und Violett
aufzuweisen hätte. Wenn auch dieser
Wunsch für gewisse Fälle, besonders für
Digitized by
Gougle
tief sitzende Lupusknoten, manche chro¬
nische infiltrirte Eczeme u. dgl. seine Be¬
rechtigung haben mag, so bleiben anderer¬
seits doch verschiedene an der Epidermis
und an der Cutis sich abspielende Krank¬
heitszustände übrig, in denen gerade der
Reichtum des Eisenlichtes an ultravioletten
Strahlen mit und trotz ihrer Reizwirkung
als ein wichtiger Heilfactor zu betrachten
ist, ganz in dem Sinn, wie man in der
Dermatotherapie vielfach äussere Mittel zur
Erzeugung oberflächlicher Dermatitis und
Desquamation verwendet. Diese Schluss¬
folgerung ergiebt sich fast mit Notwendig¬
keit aus der täglich zu machenden Be¬
obachtung nicht nur bei Hautkrankheiten,
sondern auch bei verschiedenen nervösen
Beschwerden, namentlich Anämischer, dass
die Heilwirkung in einem gewissen Ab¬
hängigkeitsverhältnisse steht zu der Stärke
der erfolgten Reizwirkung des Eisenlichtes
und demgemäss mehr oder minder versagt
mit dem Ausbleiben derselben.
Die auf die Einwirkung des Eisenlichtes
folgende Reaction der Haut zeigt bei den
verschiedenen Menschen erhebliche indi¬
viduelle Abstufungen. In der Regel stellt
sich auf eine (2—) 4—6 Min. dauernde
Eisenlichtbestrahlung nach 6—8 Stunden
unter mehr oder weniger starkem Brennen
und bräunlichrother Verfärbung der Haut,
eine ganz oberflächliche Dermatitis ein,
die nach etwa 36 Stunden mit feinschuppi¬
ger Abstossung der Epidermis und zurück¬
bleibender Pigmentirung der Haut ab-
schliesst. Der späte, erst nach vielen
Stunden beginnende und bis dahin ohne
alle subjective und objective Merkmale ein¬
setzende Eintritt der Dermatitis liefert den
besten Beweis dafür, dass es sich nicht um
eine Wärmewirkung, sondern um eine
specifische Lichtwirkung handelt. Dabei
verdient bemerkt zu werden, dass es hin
und wieder Leute giebt, deren Haut auf
das Eisenlicht wenig oder kaum bemerkbar
reagirt. Ueber der Natur der Lichtderma-
titis schwebt noch ziemliches Dunkel,
ebenso wie darüber, ob und wie weit die
bei der Dermatitis als solcher sich ab¬
spielenden Vorgänge oder die bactericiden
Eigenschaften des Ultraviolett die Heilung
bewirken.
Nachdem seit länger als einem Jahre
das Eisenlicht in die Praxis eingeführt
worden und in der Form der verschie¬
denen Dermolampen und Dermoschein¬
werfer vielfach in Gebrauch genommen
Original from
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August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
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worden ist, lässt sich allmählich der Wert
des Ultraviolett des Eisenlichtes als Heil¬
mittel beurtheilen. Man hat dasselbe nach
zwei Richtungen hin ausgenutzt, zur Heilung
mancher nervöser Beschwerden (nament¬
lich Anämischer) sowie mancher Haut¬
krankheiten, speciell parasitärer Ober-
flächenaffectionen. Durch Finsens grund¬
legende Untersuchungen geweckt hat sich
das allgemeine Interesse in erster Linie
auf die Beeinflussung der Hautkrankheiten
durch das Licht gewendet und hier hat
man über den grossartigen Erfolgen der
Lichtbehandlung bei Lupus viel zu sehr
die Einwirkung des Lichtes auf die übrigen
Hautkrankheiten aus den Augen verloren,
was um so mehr zu bedauern ist, als auch
hier die Lichtbehandlung zum Theil Vor¬
zügliches leistet. Für den practischen Arzt
kann es sich dabei zunächst nur um die
Frage handeln, wie weit das Eisenlicht in
diesem Sinne zu verwenden ist und es
werden deshalb einige Mittheilungen über
diesen Gegenstand von Interesse sein.
Nach. den bisherigen Erfahrungen von
Aerzten, die sich mit. der Eisenlichttherapie
beschäftigten, lassen sich zahlreiche Haut¬
krankheiten erfolgreich mit Eisenlicht be¬
handeln soweit dieselben einen ober¬
flächlichen Sitz in der Haut haben und
nicht zu tiefgreifenden Infiltrationen der¬
selben führten. Geradezu überraschende
Erfolge sieht man bei Impetigo contagiosa,
Acne vulgaris, beginnenden Furunkeln,
manchen Formen von Pruritus, frischen
oberflächlichen papulösen und vesiculösen
Eczemen und wohl noch verschiedenen
anderen, über die mir indess noch keine
Erfahrungen zu Gebote stehen. Einer
etwas längeren aber vollkommen erfolg¬
reichen Behandlung bedurfte ein Fall von
Jahrelang auf andere Weise vergeblich
behandeltem Cementeczem und ein Fall
der sonst nur sehr schwer heilbaren
Rosacea pustulosa (nicht zu verwechseln
mit der gewöhnlichen Rosacea). Der Lupus
reagirt, so lange er nicht in die tieferen
Hautschichten eingedrungen ist, in der be¬
kannten günstigen, wenn auch langsamen
Weise wie auf das Finsenlicht, so auch auf
das Eisenlicht.
Der Lupus hat bisher als Maassstab für
die Tiefenwirkung einer Lichtquelle gegolten,
er ist aber nicht der einzige. Gewisse
Fälle von Acne vulgaris und von Sycosis
lassen sich etwa in demselben Sinne ver¬
werten, da beide Affectionen unter der
Einwirkung des Eisenlichtes fast ohne Aus¬
nahme in wenigen Sitzungen abheilen, so
lange die Affection oberflächlich bleibt; je
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mehr aber der Krankheitsprocess bis in
die unteren Schichten der Cutis oder noch
tiefer sich erstreckt, desto mehr entzieht
er sich dem heilenden Einfluss des Eisen¬
lichtes. ZurBestätigung dieser Beobachtung
sei hier eine Casuistik sämmtlicher mit
Eisenlicht behandelter Fälle von Acne und
Sycosis wiederzugeben gestattet.
Fall 1. Frl. H., 40 Jahre alt, leidet seit
Jahren an Acne indurata des ganzen Gesichtes,
so dass kaum ein Fleckchen gesunder Haut
sichtbar ist. Die Infiltration der Haut reicht
nur wenig in die Tiefe, die Eiterpusteln sind
verhältnissmässig spärlich, da es meist nur zur
Bildung von kleinen schlappen lividroten Knöt¬
chen kommt. Nach der ersten Bestrahlung
von nur 2 Minuten Dauer stellt sich unter leb¬
haftem Brennen der ganzen Gesichtshaut ein
ungemein starkes Lichterythem ein, das nach
2 Tagen einer starken Abschuppung Platz
machte und einer unverkennbaren auffallenden
Besserung. Nach 8 Tagen, nach der vierten
Bestrahlung vollständige Heilung und bis jetzt
nach einem Jahre kein Recidiv.
Fall 2. Frl. v. H., 23 Jahre alt. Acne dis¬
seminata und indurata des ganzen Gesichtes,
namentlich der Stirn seit 7 Jahren, trotz wieder¬
holter specialärztlicher Behandlung. Ausser¬
ordentlich zahlreiche Acnepusteln in allen
Stadien, von denen sich eine grosse Anzahl
als kleine Abscesse bis zu Erbsengrösse in
das Unterhautzellgewebe fortsetzt. Tägliche
Eisenlichtbestrahlung von 3—4 Minuten Dauer.
Unter Auftreten der gewöhnlichen Eisenlicht-
reaction bessert sich die Acne vom ersten Tage
an. Nach 18 Tagen vollständige Heilung, die
sich so lange hinausgezögert hat wegen der
subcutanen Abscesse, die sich nur langsam
resorbirten. Einige der grössten mussten
schliesslich durch Incision entleert werden.
Fall 3. Frau S., 36 Jahre. Hat am Kinn
um den Mund herum einen Kranz ganz dicht
stehender, auffallend derb infiltrirter Acne-
knötchen, die von einer ganz kleinen Acne-
pustel gekrönt sind. Eisenlichtbestrahlung
dreimal in der Woche, da Patientin häuslicher
Verhältnisse wegen nicht öfter kommen kann.
Nach 10 Bestrahlungen sind die Eiterpusteln
eingetrocknet, die Acneknoten verkleinert, aber
nicht geschwunden. Patientin bricht die Cur
ab wegen häuslicher Behinderung.
Fall 4. Frl. C., 23 Jahre, chlorotisch. Acne
disseminata mässigen Grades im Gesicht, haupt¬
sächlich an der Stirn. Nach der ersten Be¬
strahlung von 3 Minuten Dauer starke Eisen-
lichtreaction, Aussehen wie nach mehrwöchent¬
lichem Seeaufenthalt. Abheilung im Lauf einer
Woche. In den nächsten 7 Monaten zweimal
leichtes Recidiv, das prompt auf 1—2 malige
Bestrahlung heilt.
Fall 5. Arbeiter Sch., 40 Jahre, leidet seit
Jahren an Acne indurata des Gesichtes, be¬
sonders zu beiden Seiten der Nase und des
Kinnes. Die Eiterpusteln sind unter der grossen
Zahl der Acneefflorescenzen nur spärlich ver-
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UNIVERSUM OF CALIFORNIA
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Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
treten und klein. — Patient ist vergeblich lange
Zeit mit den verschiedensten Mitteln behandelt
worden. — Unter starker Lichtreaction der
Haut und reichlicher Abschilferung trocknen
die Eiterpusteln sichtlich ein. Patient hält sich
nach 4 Bestrahlungen für geheilt, stellt sich
jedoch eine Woche später wieder ein. Der
Zustand zeigt sich, besonders in Bezug auf diö
Pustelbildung erheblich gebessert. Eisenlicht¬
bestrahlung dreimal in der Woche 4 Wochen
lang. Die Infiltration bessert sich zwar, bleibt
aber dann stationär, so dass wieder zur An¬
wendung einer Schälpaste übergegangen wird.
Als auch dies keine wesentliche Besserung
bringt, wird wieder auf die Eisenlichtbestrahlung
zurückgegriffen und damit diejenige des Marine¬
scheinwerfers verbunden, um durch die Hyper-
ämisirung der torpiden Efflorescenzen die
Heilungstendenz anzuregen. Unter dieser Be¬
handlung trat dann in 6 Wochen bei 3 Be¬
strahlungen in der Woche allmählich dauernde
Heilung ein.
Fall 6. Maschinenbauer R., 51 Jahre, seit
7 Jahren behaftet mit Acne disseminata des
Rückens und der Brust bis zur Magengrube.
Beide sind von zahllosen Acnepusteln in den
verschiedensten Entwickelungsstadien und von
noch zahlreicheren weissen Narben früherer
Acnepusteln dicht besät. Patient klagt über
unerträgliches Jucken, wovon viele aufgekratzte
Pusteln zeugen. — Eisenlichtbestrahlung von
3 Minuten am Rücken wie an der Brust. Bei
der Wiedervorstellung des Patienten nach zwei
Tagen waren sämmtliche Acnepusteln voll¬
ständig verschwunden; man sieht nur noch eine
kleine Anzahl von Krusten der vor der ersten
Bestrahlung zerkratzten Pusteln, teil weis von
Einern schmalen roten Hof umgeben. Das
unerträgliche Jucken hat vollkommen aufgehört.
Zur Sicherung des unerwartet günstigen Re¬
sultates werden noch zwei Bestrahlungen ge¬
geben.
Fall 7. Lehrling P. L., Acne disseminata
massigen Grades im Gesicht. Heilung nach
6 Bestrahlungen.
Fall 8. Frl. Br., 24 Jahre, Acne disse¬
minata an Gesicht Brust und Rücken massigen
Grades, die nach 8 täglich wiederholten Be¬
strahlungen verschwindet. Acht Tage später
zeigen sich vereinzelte neue Acnepusteln, die
nach einigen Bestrahlungen abheilen.
Fall 9. Arbeiter J. W., 21 Jahre, Acne
disseminata an Rumpf und Gesicht. Heilung
nach 8 Bestrahlungen.
Fall 10. Arbeiter W. P., 30 Jahre. Acne
disseminata an Rücken, Schultern und in
schwächerer Entwickelung auch am Bauch,
überall von starkem Jucken begleitet. 6 Be¬
strahlungen, Heilung.
Fall 11. Fr. M., Lehrling. Comedonen und
Acne punctata des Gesichtes. Die Acne heilt
nach 5 Bestrahlungen, Comedonen unverändert.
Fall 12. Frl. L., 17 Jahre. Leichte Acne
disseminata ums Kinn herum. Nach der dritten
Bestrahlung alles abgeheilt.
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Fall 13. Frl. B., 22 Jahre alt. Acne dis¬
seminata des Gesichtes. Nach 5 Bestrahlungen
scheinbar alles abgeheilt. Die Bestrahlung
macht kein bemerkenswerthes Lichterythem;
Patientin, ein äusserst anämisches Mädchen
pflegt auch bei ihrem jährlichen Heufieber¬
aufenthalt auf Helgoland kaum merkbar zu ver¬
brennen. Vier Wochen später leichtes Recidiv.
Patientin bricht nach der vierten Bestrahlung
die Behandlung ab vor vollendeter Heilung.
Fall 14. Frl. R. f 21 Jahre. Seit dem
12. Jahr Comedonen und Acne punctata in
allen Stadien im Gesicht und am Hals in
schwer entstellendem Grade. Zur Zeit der I
Menstruation pflegt sich der Zustand noch zu
verschlimmern. Abheilung der Acne nach 8 Be¬
strahlungen. 14 Tage später beim Einsetzen
der Menstruation leichtes Recidiv, das nach
einigen Bestrahlungen abheilt. In der Folge
noch öfter Recidive auf Grund der stark ent¬
wickelten Comedonen.
Fall 15. Arbeiter C. M., 30 Jahre. Sy¬
cosis vulgaris des ganzen Bartes bis an den
Hals. Da nach 10 Bestrahlungen — allerdings
in 4 Wochen — keine Besserung erzielt wird,
lässt sich Patient ins Krankenhaus versetzen.
Fall 16. Arbeiter P. Kl., 26 Jahre. Sycosis.
Gesunder, kräftiger junger Mann stellt sich
vor mit einem scharf umgrenzten ovalen roten
Fleck von etwa 6 cm Länge und 4 cm Breite
auf der Wange vor dem linken Ohre. Die
Rötung des Fleckes kommt zu Stande durch
kleine, livid rote, dicht gedrängt stehende,
in der übergrossen Mehrzahl von einem Bart¬
haar durchbohrter Spitzpapeln, die übrigens
stellenweise Flecken und Streifen gesunder
Haut zwischen sich frei lassen. Bei der ersten
Vorstellung zeigte keine einzige Spitzpapel —
die Affection hatte erst einige Wochen bestanden
— eine Andeutung von Eiterbildung, so dass
die Diagnose auf Sycosis nur mit Vorbehalt
gestellt wurde. Eisenlichtbestrahlung von 5 Min.
Dauer am 1. 5. und 9. Tage. Nach der ersten
Bestrahlung ausserordentliche Besserung, nach
der zweiten dem Anscheine nach Heilung.
Vier Wochen erscheint Patient wieder, nach¬
dem sich seit 8 Tagen an der alten Stelle genau
die frühere Affection wieder eingestellt hat
Behandlung wie. früher. Bei der zweiten Be¬
strahlung, 5 Tage nach der ersten augenfällige
Besserung, fast Abheilung. Nach der zweiten
Bestrahlung bleibt Patient fort.
Genau 14 Tage nach der letzten Bestrahlung
stellt sich Patient abermals ein. Diesmal hatte
er auf beiden Wangen, ziemlich symmetrisch,
zwei scharf umschriebene Flecke, den auf der
linken Wange genau auf der alten Stelle, der
auf der rechten Wange war weniger scharf aus¬
gesprochen. Das Krankheitsbild war im Ganzen
dasselbe wie bei der ersten Vorstellung, nur
hatten diesmal zahlreiche Papeln des zuerst
entstandenen Fleckes ein spitz zulaufendes
minimales Eiterbläschen an der Spitze. An
Stellen, wo die Papeln dichter stehen, ist die
dazwischen liegende Haut livid gerötet. —
Zwölf Tage später, nach sechs Bestrahlungen
Original fro-m
UNIVER3ITY OF CALIFORNIA .
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
365
sind sämmtliche Papeln und Eiterpusteln, sowie
die entzündlichen Erscheinungen an der Haut
völlig geschwunden. An Stelle zahlreicher er¬
krankt gewesener Follikel finden sich feine
glashell durchscheinende Krusten, die sich zum
Teil leicht ablösen lassen. Die Haut macht
den Eindruck völliger Gesundheit. Patient, der
seine Arbeit nicht unnötig versäumen kann,
bleibt jetzt fort.
Nach 14 Tagen kommt er jedoch wieder
mit einem Recidiv an der linken Seite. Da es
ihm wegen seiner Arbeit unmöglich ist, öfter
zu kommen, so wird jetzt die übliche Salben¬
behandlung eingeleitet mit Epilation (durch den
Patienten selbst). Bei der nachlässigen Durch¬
führung der Behandlung — Patient liess sich
in 6 Wochen nur zweimal sehen — entwickelte
sich die Sache zum Bilde der classischen Sycosis.
Patient beginnt daher wieder mit der Licht¬
behandlung, die aber jetzt mit regelmässiger
Epilation verbunden wird. Da sich jedoch in
diesem Stadium nicht der gewohnte Erfolg
zeigt, zum Teil auch wohl, um der schmerz¬
haften Epilation zu entgehen, lässt sich Patient
nach 14 Tagen, nach 10 Bestrahlungen ins
Krankenhaus versetzen, ohne dass eine wesent¬
liche Besserung erreicht worden wäre.
Fall 17. Bahnbeamter O. W., 34 Jahre.
Sycosis im ganzen Bart seit 11 Jahren von Ohr
zu Ohr und bis an die untere Grenze des Bart¬
wuchses am Halse. Lange und vergeblich von
verschiedenen Specialärzten behandelt. Die
ganze Haut der erkrankten Stelle bildet eine
gleichmässig ziemlich stark infiltrirte livid rote
Fläche, welche an den natürlichen Hautfalten
Neigung zu Abschuppung zeigt und sich schwer
zu Falten erheben lässt. Die Eiterung in den
Haarbälgen zeigt sich nur in der kleineren
Hälfte der Haarbälge und ist dabei nicht sehr
tiefgehend. Patient erhält Eisenlichtbestrah¬
lungen in 5—6 Minuten dauernden Sitzungen,
aber ziemlich unregelmässig, da er seines
Dienstes wegen manchmal 8—10 Tage fortbleibt.
Auf diese Weise erhielt er in 6 Monaten nur
32 Bestrahlungen.
Nach der zehnten Bestrahlung machte sich
eine deutlich sichtbare Besserung bemerkbar in
Verminderung der Infiltration, Aufhören jeder
Follikeleiterung, Verkleinerung des infiltrirten
Gebietes von den Rändern her. Namentlich im
oberen Theil des Bartes, vor den Ohren beider¬
seits findet bereits eine vollständige restitutio
ad integrum statt. Im Lauf der folgenden
Wochen verkleinert sich unter weitergehender
Abnahme der Infiltration von den Rändern her die
erkrankte Hautpartie immer mehr, so dass im
vierten Monat nur noch das Kinn eine (nicht
mehr livide, sondern) gelbliche Rötung und
leichtere Infiltration und an den Rändern sowie
den Hautfalten eine etwas grobblättrige De¬
squamation zeigt. Der Zustand befriedigte den
Patienten, der immer nur schwer abkommen
kann, so sehr, dass er allmählich fortblieb.
Die Zahl der hier mitgeteilten Fälle
ist nicht gerade sehr gross, aber immerhin
gross genug, um eine Unterlage zur Be-
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urteilung der Eisenlichtwirkung nach ver¬
schiedener Richtung hin zu gewähren. Vor
allen Dingen erweist sich dasselbe als ein
Heilmittel für Acne, das hinsichtlich seines
Erfolges und der Annehmlichkeit seiner
Anwendung für den Patienten seines
Gleichen nicht hat. Acneßllle schwerster
Art, die Jahre lang bestanden haben, nach
einer (Fall 6) oder nach wenigen Sitzungen
innerhalb weniger Tage glatt abheilen zu
sehen, überrascht immer wieder aufs Neue,
selbst den, der es schon öfter hat geschehen
sehen. Von 14 Fällen blieb Fall 3 unge-
heilt. Die Acneknoten boten hier durch
ihre Kleinheit und dabei ungemein derbe
Infiltration der Knötchen von vornherein
auffallende Abweichungen vom gewöhn¬
lichen Charakter der Acne, dass ein ver¬
langsamter Heilungsverlauf nicht über¬
raschen konnte. Die Heilung wäre auch
in diesem Falle wohl eingetreten, wenn
nicht die Patientin, Mutter einer grossen
Kinderschaar, wegen der Entfernung ihres
Wohnortes zu jeder Sitzung einen halben
Tag hätte opfern müssen.
Recidive traten ein in Fall 4, 8, 13 und
14, was bei einer Affection, die unter jeder
anderen Behandlung in der Mehrzahl der
Fälle Recidive macht, immerhin noch als
ein günstiges Resultat angesehen werden
kann. In Fall 4 und 8 handelte es sich
beim Recidiv nur um ganz wenige Acne-
knötchen, die unter Wiederholung der Be¬
strahlung sofort wieder schwanden. Fall 13
lieferte die Bestätigung für die öfter zu
machende Beobachtung, dass die Heil¬
wirkung des Eisenlichtes an die specifische
Lichtreaction — Lichtentzündung mit Pig-
mentirung und Desquamation — der Haut
mehr oder weniger eng gebunden ist; die¬
selbe Beobachtung kann man machen bei
der Lichtbehandlung nervöser Beschwerden
Anämischer. — Fall 14 war eine jener Un¬
glücklichen, deren ganzes Gesicht von
Jugend an mit Comedonen und den daraus
sich entwickelnden Acneefflorescenzen dicht
besät war. Derartige Fälle trotzen vielfach
jeder Behandlung, wie es auch hier der
Fall gewesen war. Ein Verschwinden jeg¬
licher Acneentzündung in so kurzer Zeit
bei einem mit Acnepusteln bedeckten Ge¬
sicht wie bei dieser Patientin kennzeichnet
trotzdem die Lichtbehandlung ohne Frage
als eine jeder anderen Behandlungsweise
überlegene.
Die Vorzüge der Lichtbehandlung der
Acne machen sich auch noch nach einer
anderen Richtung hin geltend, in der An¬
nehmlichkeit derselben für die Patienten,
die nichts dabei zu tun haben, als sich
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UNIVERSUM OF CALIFORNIA
366
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
einige Male für wenige Minuten dem Eisen¬
licht auszusetzen, was mit keinerlei sub-
jectiven Empfindungen irgend einer Art
verbunden ist, nicht einmal einer Wärme¬
empfindung. Das Einzige, was zu Bedenken
Anlass geben könnte, wäre die Lichtreaction
an der Haut mit der daran sich anschliessen¬
den Pigmentation derselben. Indess setzen
sich die Patientinnen nach meiner Erfah¬
rung darüber ohne Ausnahme leicht hin¬
weg, zumal man ihnen ohne Bedenken die
Versicherung geben kann, dieselbe werde
bald wieder verschwinden. Es ist ent¬
schieden zu weit gegangen, aus diesem
Grunde, wiez.B. Strebei will, die Eisen¬
lichtbehandlung der Acne überhaupt zu
unterlassen. Wenn man die Wahl hat
zwischen der Eisenlichtbehandlung und der
üblichen Salben- bzw, Schälpastenbehand¬
lung, so kann man meines Erachtens über¬
haupt garnicht zweifelhaft sein, wofür man
sich zu entscheiden hat, zumal die letztere
Behandlungsart für Manche mit so viel
Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten
verbunden ist, dass sie lieber auf die
Heilung des entstellenden Leidens ver¬
zichten, als dass sie sich der entsprechen¬
den Behandlung unterwerfen.
Auch vom theoretischen Standpunkte
bietet die mitgeteilte Casuistik einiges
Interesse insofern, als sich aus derselben
deutliche Fingerzeige hinsichtlich der Tiefen¬
wirkung, sowie überhaupt über die Wir¬
kung des Eisenlichtes entnehmen lassen.
Als erste Veränderung nach der Bestrah¬
lung bemerkt man an den Eiterpusteln der
Acne wie der Sycosis ein Schlapperwerden,
ein Einsinken der Pustel, sowie eine Ver¬
färbung des Pustelinhaltes. Daran schliesst
sich dann unmittelbar ein Nachlass der
entzündlichen Infiltration der Umgebung
des Pustelinhaltes, ein Zusammenfallen der
ganzen Acneefflorescenz an. Und zwar
scheint die Wirkung um so stärker zu sein,
je zarter die die Eiterpustel bedeckende
Epidermiskuppe ist, wie Fall 3 und Fall 6
aufs Schlagendste zeigen. Im ersteren Fall
handelte es sich um minimale Pusteln mit
derber deutlich gelber Epidermisdecke, im
letzteren um grosse prall gefüllte Eiter¬
bläschen, die von einer maximal gedehnten,
glashell durchscheinenden Epidermislamelle
überwölbt waren, welche bei dem leisesten
mechanischen Insult platzte. Man gewinnt
immer wieder den Eindruck, als hätte die
Ursache der Acne- bzw. der Sycosispustel,
die eigentliche Krankheitsnoxe, ihren Sitz
in dem flüssigen Inhalt der Pustel, der
durch den Einfluss des Eisenlichtes seiner
giftigen Eigenschaften beraubt würde. Da-
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nach könnte man fast geneigt sein, schliess¬
lich doch Bockhardt Recht zu geben,
welcher bekanntlich den in den Pusteln in
Reinkultur vorhandenen Staphylococcus
pyogenes aureus und albus als die eigent¬
liche Ursache der Acne wie der Sycosis
anspricht, wenn auch diese Ansicht aus
klinischen wie aus anderen Gründen man¬
chen Bedenken begegnen mag. Von dieser
Anschauung ausgehend, würde man bei der
Acne wie bei der Sycosis die Wirkung des
Eisenlichtes, dessen eminente bactericide
Eigenschaft ja allgemein anerkannt ist, als
bactericide Wirkung auffassen müssen und
auch die in manchen Fällen geradezu ver¬
blüffende Schnelligkeit der Heilung und
andererseits auch das in gewissen Fällen
sich zeigende Versagen der Wirkung leicht
verstehen. Das von den Eisenelektroden
gelieferte Ultraviolett wird ja nicht bloss
von der Luft, sondern noch viel mehr von
der Haut absorbirt und um so mehr seiner
eigentümlichen Wirksamkeit entkleidet, je
tiefer es in dieselbe eindringt. Demnach
wird sein heilender Einfluss hauptsächlich
bei Oberflächenerkrankungen zur Geltung
kommen und um so geringer ausfallen, je
tiefer die Affection in der Haut sitzt. Die
oben wiedergegebene Casuistik erläutert
diese Verhältnisse aufs Deutlichste. Wie
aus derselben zu ersehen, heilten die Fälle
von gewöhnlicher Acne und oberfläch¬
licher Sycosis nach einer oder mehreren
Sitzungen ohne Ausnahme ab, während bei
tieferem Sitz des Krankheitsprozesses die
Heilung ebenso ausnahmslos ausblieb. Be¬
sonders lehrreich in dieser Beziehung
zeigten sich Fall 2 und 16. Im ersteren
handelte es sich um einen jener schweren
Acnefälle, bei denen es zur Entwickelung
zahlreicher im Unterhautzellgewebe einge¬
betteter kleiner Abcesse gekommen war.
Hier kam es prompt zur Heilung des ge-
sammten Acneprozesses an der Haut. Die¬
selbe war glatt und vollkommen normal,
während unter ihr eine grössere Anzahl
abgesackter kleinster Abcesse, ausnahms¬
weise bis zu Erbsengrösse, zurückblieb,
weil die Wirkung des Eisenlichtes sich
nicht bis zu dieser Tiefe erstreckte. —
Fall 16 betraf einen Fall von frisch be¬
gonnener Sycosis, bei welchem sich deut¬
lich zeigte, dass die Sycosis als Oberflächen-
affection beginnt und erst allmälig an den
Haarbälgen entlang in die Tiefe wandert.
Die auf die Behandlung mitEisenlicht prompt
eingetretene Heilung wurde nur deshalb
keine vollständige, weil der Patient, ein auf
seinen Tagelohn angewiesener Arbeiter, die
Behandlung sofort aufgab, sobald die Haut
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August
367
Die Therapie der Gegenwart 1903.
anscheinend ihr normales Aussehen wieder¬
erlangt hatte, so dass seiner Meinung eine
Weiterbehandlung überflüssig erschien.
Dies gab Gelegenheit, an demselben Kranken
die gewiss seltene Beobachtung zu machen
von einem durch dasselbe Verfahren drei
Mal glatt erzielten Erfolge, so lange die
Affection ihren Sitz in den oberen Haut¬
schichten hatte und einem Versagen des¬
selben, sobald sie an den Haarbälgen ent¬
lang bis ins Unterhautzellgewebe vorge¬
drungen war, ein Verhalten, das sich voll¬
kommen aus den bekannten Eigenschaften
des Eisenlichtes erklärt.
Wenn demnach die hier wiedergegebe¬
nen Beobachtungen über den Grad und die
Grenzen der Eisenlichtwirkung deutlich
darauf hinweisen, dass das Eisenlicht nicht
ganz die Tiefenwirkung des Finsenlichtes
und damit nicht ganz dessen therapeutische
Wirkungen entfaltet, so zeigen sie anderer¬
seits doch auch ebenso deutlich, dass das
Eisenlicht wenigstens einen annähernden
Ersatz für das Finsenlicht leistet und
jedenfalls einen wichtigen Fortschritt der
Lichttherapie und der Therapie überhaupt
darstellt, der um so höher zu ver¬
anschlagen ist, als die Anwendung der
Lichttherapie bei Hautkrankheiten über¬
haupt erst in der Gestalt des Eisenlichtes
weiteren ärztlichen Kreisen zugänglich ge¬
worden ist.
Zusammenfassende Uebersichten.
Zur Tuber kulosefrage.
Zu der durch Koch’s Londoner Vor¬
trag (d. Zeitschrift 1901, S. 411) angeregten
Frage nach den Beziehungen zwischen
Menschen- und Rindertuberkulose ist in
der eben erfolgten Veröffentlichung des
von einer Commission des Reichsge¬
sundheitsamts angestellten Versuche ein
wichtiger Beitrag erschienen, von dem an
dieser Stelle Notiz genommen werden muss.
Die grosse Bedeutung der von Prof.
Kossel mitgetheilten Experimente 1 ) liegt
in ihrem ausserordentlichen Umfang: Es
wurden 7 Culturen von Tuberkulose von
Rindern und Schweinen und nicht weniger
als 39 verschiedene, frisch aus tuber¬
kulösen Erkrankungen beim Men¬
schen gezüchtete Tuberkelbacillen¬
stämme auf ihre Wirksamkeit beim Rinde
geprüft.
Von den 7 Thierstämmen tödteten 2
die Rinder acut nach 8—9 Wochen; 4
riefen eine etwas chronischer verlaufende,
aber ebenfalls allgemeine Tuberkulose
hervor. Ein Stamm jedoch verursachte
nur an der Impfstelle ein Infiltrat, in der
nächstgelegenen Bugdrüse und einer Me-
diastinaldrüse vereinzelte käsige Herde,
im Uebrigen aber keine weitere Aus¬
breitung der Tuberkulose.
Von den 39 von Menschen stammenden
Culturen — und zwar 19 von Erwachsenen,
16 von Kindern — riefen 19 beim Rinde
nicht die geringsten Erscheinungen hervor.
9 Rinder zeigten nach 4 Monaten ganz
minimale Herde in den Bugdrüsen, die
zum grossen Theil verkapselt waren und
keine Neigung zum Fortschreiten erkennen
*) Berl. klin. Wochenschrift 1903, No. 29.
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Hessen. Etwas stärkere Bugdrüsenerkran¬
kungen waren in 7 der Fälle vorhanden;
auch hier war es jedoch nicht zu einer
wesentlichen Ausbreitung des Processes
über die zunächst gelegenen Drüsen hinaus
gekommen. 4 Stämme aber — aus zwei
Fällen von primärer Tuberkulose an den
Verdauungsorganen und 2 Fällen von Mi¬
liartuberkulose bei Kindern — verur¬
sachen eine Erkrankung des Rindes
an allgemeiner Tuberkulose; sie waren
zwar nicht so virulent, wie die virulente¬
sten Culturen aus Thieren, verhielten sich
jedoch so „wie die schwächeren Rinder¬
tuberkulosestämme".
Aus diesen Versuchen ergiebt sich
zweierlei mit voller Klarheit: 1) Sowohl
unter den Tuberkelbacillen des Rin¬
des wie denen des Menschen finden
sich Virulenzunterschiede. Im Allge¬
meinen sind die von Rindern stammenden
Tuberkelbacillen für das Rind ausserordent¬
lich pathogen, die von Menschen stammen¬
den dagegen gar nicht oder nur wenig.
Eine sichere Differenzirung der Tu¬
berkelstämme durch die Uebertra-
gung auf das Rind ist jedoch nicht
möglich, denn immerhin erzeugte 1 von
7 Rinderculturen (d. i. 14 74%!) beim Rinde
keine allgemeine Tuberkulose, während an¬
dererseits 4 von 39 (d. i. fast 10%)
Menschentuberkulosebacillenstämmen eine
solche herbeiführten. — 2) Eine Ueber-
tragung der Tuberkulose vom Men¬
schen auf das Rind ist möglich; sie ist
in 4 von 39 Fällen geglückt (man kann so¬
gar die 7 Fälle noch hinzurechnen, in
denen sich leichtere tuberkulöse Verände¬
rungen einstellten; es wären dann 11 gleich
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
368
Die Therapie der Gegenwart 1903.
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über 25%). Diese Fälle lassen zwar den
Einwand offen, dass es in ihnen bei dem
Menschen um eine Infection mit Rinder¬
tuberkelbacillen sich gehandelt habe. Aber
diese Deutung berührt den Kern der Frage
nicht, indem auf alle Fälle — wie Orth 1 )
scharf hervorhebt — der Beweis erbracht
bleibt, dass „Mensch und Rind durch
denselben Bacillen stamm progressiv
tuberkulös werden können“.
Somit sichert das Resultat dieser neuen
und ausgedehnten Versuche den Stand¬
punkt, zu dem bereits die Arbeiten zahl¬
reicher anderer Autoren geführt und dem
wir in unseren früheren Referaten über
diesen Gegenstand (vergl. 1901 S. 446;
1902 S. 500 und 1903 S. 170) wiederholt
Ausdruck gegeben haben; Koch*s Be¬
hauptung, die Tuberkulose des Menschen
könne nicht auf das Vieh übertragen wer¬
den, lässt sich in diesem Umfange nicht
aufrecht erhalten; auch seine Schlussfolge¬
rung: der Mensch könne nicht durch Tu¬
berkulose des Viehs inficirt werden und
prophylaktische Maassnahmen nach dieser
Richtung seien deshalb unnöthig, erfährt
damit eine Erschütterung.
Es muss aber betont werden — wie es
auch von Orth in einer Discussion über
diesen Gegenstand in der Berl. Med. Ge¬
sellschaft (Sitzung vom 1. und 8. Juli d. J.)
geschah — dass nur die generelle, die
Unterfrage: Ist die Tuberkulose vom
Menschen auf das Vieh, vom Vieh auf den
Menschen übertragbar? erledigt und zwar
positiv, in bejahendem Sinne erledigt ist;
die besondere, die praktisch wichtige
Frage: Wie oft findet eine solche Ueber-
tragung wirklich statt, spielt dieselbe eine
Rolle, stellt sie eine Gefahr dar? — ist
noch nicht entschieden und bedarf weiterer
Untersuchung. Bisher spricht alles dafür,
wie wir dies früher schon ausführten
(d. Band S. 167 u. 170), dass die Ueber-
tragung der Tuberkulose vom Vieh auf
den Menschen nur eine seltene, aus¬
nahmsweise ist — und darin läge zwar
eine Einschränkung, aber bis zu einem ge¬
wissen Grade doch eine Bestätigung der
Koch’schen These. F. Klemperer.
Neuere Arbeiten über die operative Behandlung der Nieren¬
krankheiten.
Ueber die operative Behandlung chroni¬
scher Nierenentzündung, welche der ameri¬
kanische Gynäkologe Edebohls in etwas
stürmischer Weise inaugurirt hat (vergl.
den Bericht S. 170 dieses Jahrgangs),
liegt uns jetzt eine neuere Arbeit
Edebohls vor (Renal Decapsulation for
chronic Bright’s Disease), aus der wir einen
Einblick über den weiteren Ausbau der
Methode und deren Resultate gewinnen
sollen.
Zu den 18, bis Ende 1901 operirten
Fällen, sind in einem Jahre — bis Ende
1902 — 32 fernere gekommen, wo der Ein¬
griff der Decapsulation vorgenommen wor¬
den ist. Für die Beurtheilung der Erfolge
der Operation sind von den gesaramten
51 Fällen allerdings nur 40 zu verwerthen,
da naturgemäss eine längere Frist nach
der Operation verstreichen muss, ehe man
sich über den Zustand der operirten Nieren
ein einigermassen sicheres Urteil bilden
kann. Von diesen 40 Patienten starben
insgesammt 13, von dreien blieb Edebohls
ohne weitere Nachricht, 2 blieben unge-
heilt, 12 wurden gebessert und 10 geheilt.
Edebohls sieht als Heilung die Fälle an,
wo mindestens sechs Monate lang, bei
1 ) Berl. klin. Wochenschrift 1903, No. 29, S. 660.
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gutem Allgemeinbefinden, der Urin in nor¬
maler Menge entleert wird und frei von
pathologischen Bestandteilen bleibt und
wo jegliche sonstigen Symptome des Morbus
Brighti fehlen. Die Zeitdauer der erlangten
Heilung erstreckt sich bei 9 der geheilten
Fälle über Zeiträume von 1 Jahr 9 Monaten
bis zu 10 Jahren nach der Operation,
durchschnittlich über 4 Jahre. Eine Pa¬
tientin starb an den Folgen einer Tubar-
gravidität.
Ueberblickt man die kleine Tabelle, auf
der die geheilten Fälle zusammengestellt
sind — Krankengeschichten fehlen hier
vollständig, ein Mangel, der unser Urtheil
über die angebliche Heilung entschieden
trüben muss — so finden wir unter den
gesammten 10 Fällen 9 Mal chronische
interstitielle Nephritis und einmal chronische
diffuse Nephritis. Bei den neun chronisch
interstitiellen Nephritiden war in sieben
Fällen nur eine Niere erkrankt. Das Vor¬
kommen einseitiger Nephritis, das nach
Edebohls bei den Nieren-Chirurgen eine
längst bekannte Thatsache ist, erregt bei
den Internisten Erstaunen; weniger kann
uns aber in Verwunderung setzen, dass
gerade hier bei der Einseitigkeit des Pro-
cesses der Operationserfolg ein so gün-
j stiger ist, denn mag man der Ansicht
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
369
Edebohls sein, der da meint, es seien dies
Anfangsstadien der chronischen Nephritis,
oder nicht, anzunehmen ist jedenfalls, dass
ein Heilerfolg unter Umständen auch erzielt
worden wäre, wenn man in diesen Fallen
die kranke Niere exstirpirt hätte.
Die bis jetzt notirten Heilungen, die
alle aus froheren Jahren bis 1901 stammen,
sieht Edebohls als leichtere Fälle an; da¬
gegen stellen die im Jahre 1902 operirten
32 Fälle sämmtlich schwere Nierenaffec-
tionen dar. Die Heilung eines solchen
schweren Casus bleibt also noch abzu¬
warten! Die Schwere dieser Nierenerkran¬
kungen erhellt auch aus der Operations¬
mortalität. Es starben 7 Patienten inner¬
halb 17 Tagen post operationem; als Ge-
sammtmortalität berechnet 13 2 /s °/ 0 . Wir
können demnach den Eingriff durchaus
nicht mehr als ungefährlichen bezeichnen.
Edebohls sucht zwar diese hohe Morta¬
lität damit zu entschuldigen, dass z. Th.
ganz aussichtslose Fälle auf den Operations¬
tisch gebracht wurden, wie sich auch aus
den hier in grosser Breite ausgefQhrteo
Krankengeschichten ersehen lässt, aber wir
können darin keine Entschuldigung finden,
da man das Princip der Humanität nicht
als lndicadon für chirurgische Operationen
gelten lassen soll; Oberhaupt vermissen wir
eine strickte Indicationsstellung für die Ope¬
ration: Angaben wie, dass das Allgemein¬
befinden nicht zu schlecht, dass die Ver¬
änderungen des Gefässsystems und die
Herzhypertrophie nicht zu weit vorge¬
schritten sein dOrfen, sind zu allgemein
gehalten um sich fOr eine präcise Indi¬
cationsstellung im Einzelfalle verwerthen zu
lassen.
Was die specielle Diagnose der Ne¬
phritiden betrifft, so klassificirt Edebohls
nach den zur Zeit der Operation an den
Nieren Vorgefundenen Veränderungen die
Fälle in chronisch parenchymatöse, chronisch
diffuse und chronisch interstitielle Nephri¬
tiden. Mag Edebohls auch diese Ein¬
teilung als sehr zweckmässig fOr den heu¬
tigen Stand unserer Kenntnisse ansehen,
so tritt für uns das Fehlen jeder klinischen
Diagnose empfindlich hervor. Wenn Ede¬
bohls chronisch interstitielle Nephritis ats
anatomische Diagnose angiebt, so kann
klinisch der Fall als eine Schrumpfniere
verlaufen sein, oder der Ausgang einer
chronisch diffusen Nephritis gewesen sein.
Die Unsicherheit in der Beurtheilung wird
noch dadurch vermehrt, dass wir keine
Daten Ober Menge des Urins und Ober die
Menge und Art seiner pathologischen Be¬
standteile erfahren, dass wir ferner nichts
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von functioneller Nierendiagnostik und
nichts von Ureterenkatheterismus lesen, der
bei einseitigen Nierenerkrankungen zum
mindesten doch berechtigt ist. Wir können
daher in der Bewertung der Heilungen, die
Edebohls durch die Operation erzielt
haben will, nicht vorsichtig genug sein.
Was die Fälle anbetrifft, in denen Ede¬
bohls nur Besserung erreicht haben will,
so ist es schwer, hier ein bestimmtes Ur¬
teil sich zu bilden; die chronischen Nephri¬
tiden bieten Zeiten der Verschlimmerung
und der Besserung oft in solchem Wechsel
dar, dass eine Besserung nicht stets als
Folge der Operation aufgefasst zu werden
braucht.
Interessant sind die Beobachtungen, die
Edebohls bei seinen geheilten resp. ge¬
besserten Fällen in Bezug auf die Nieren¬
funktionen nach der Operation gemacht
haben will. Zuerst steigt die tägliche Harn¬
menge an, am ausgiebigsten im 2. und 3. Mo¬
nat, und geht dann allmählich zur Norm Ober.
Dann verschwinden aus dem Harn Fett-,
Wachs- und Epitheleylinder, sodass nur
noch hyaline und granulirte Cylinder übrig
bleiben. Das Eiweiss — das auch allmäh¬
lich abnimmt — überdauert auch noch die
hyalinen und granulirten Cylinder, um dann
anch gänzlich zu verschwinden.
Nicht unerwähnt mag bleiben, dass bis
zu dieser Publikation im ganzen 9 Fälle
von anderen Chirurgen nach der Methode
von Edebohls operirt und auch publizirt
worden sind. Dass die Methode, die selbst
von Edebohls als eine sehr schwierige und
grosse Erfahrung erheischende dargestellt
wird, den Ungeübten nicht zu empfehlen
ist, beweist ein Fall, den Edebohls selbst
erzählt, wo ein Chirurg 4 Patienten durch
Decapsulation operirt hat, aber alle 4prompt
nach der Operation verlor.
Es ist nun von grossem Interesse, den
Resultaten der amerikanischen Chirurgen
einige Erfahrungen deutscher Operateure
gegenüber zu stellen, die bisher nur ver¬
einzelt bekannt gegeben sind. Unter den
chirurgischen Erfahrungen über
Nierenkrankheiten bei Anwendung
der neueren Untersuchungsme¬
thoden, wie sieKümmell und Rumpel
in den letzten Jahren gemacht haben, be¬
finden sich auch einige über die Edebohls-
sche Operation bei Nephritis. Es sind im
ganzen drei Fälle, von denen der eine ein
weit vorgeschrittener Fall von Nephritis
parenchymatosa ehronica war. Vor der
Operation war der Albumengehalt des
Urins 10 0 /oo. Nach der Operation der
linken Niere, die in Spaltung der Kapsel
47
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
370
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
bestand, nimmt der Albumengehalt ständig
zu, bis nach 6 Monaten der Exitus letalis
unter uraemischen Erscheinungen erfolgt.
Bei einem zweiten Fall chronischer Ne¬
phritis wurde die Decapsulation beider
Nieren vorgenommen. Der Albumengehalt
des Urins, der vor der Operation 7—8%o
betrug, sinkt 4 Monate nach der Operation
auf ^2— 2°/oo. Auch eine Besserung des
Allgemeinbefindens ist zu verzeichnen. Der
letzte Fall betrifh eine acute Scharlach-
Nephritis mit häufigen uraemischen Anfällen
vor der Operation. Nach derselben (De¬
capsulation beider Nieren) bleiben zwar die
Anfälle aus, doch zeigt sich der Eiweiss¬
gehalt (etwa 5°/oo) unverändert. Der erste
wurde also nicht durch die Operation be¬
einflusst; ob wir die Aufbesserung des
Allgemeinbefindens und die Abnahme des
Eiweissgehaltes im zweiten Falle auf Rech¬
nung der Operation zu setzen haben, ist
sehr fraglich, da Schwankungen der Ei¬
weissausscheidung wie des Allgemeinbe¬
findens bei chronischer Nephritis etwas
gewöhnliches sind. Im dritten Falle — hier
ist die Beobachtungszeit vielleicht nicht
gross genug — finden wir keine Beein¬
flussung der Nephritis durch die Operation.
Im Grossen und Ganzen können diese Be¬
funde nicht der Edebohls*schen Operation
eine Stütze sein, doch muss man hier ohne
weiteres zugestehen, dass weitere Erfah¬
rungen nothwendig sind, ehe man endgültig
aburtheilt. Hervorgehoben soll noch werden,
dass Kümmell und Rumpel den Hei¬
lungen Edebohls sehr kritisch gegenüber¬
stehen und zwar hauptsächlich wegen der
so oft diagnosticirten einseitigen chro¬
nischen Nephritis, die Beide ganz und gar
in Abrede stellen. Wir müssen auch
Kümmell und Rumpel zugestehen, dass
ihren Erfahrungen über diesen Punkt weit
mehr Gewicht beifeulegen ist, als denen
Edebohls. Während sich dieser nur auf
die Urinuntersuchung und die Autopsie
während der Operation, die zu grossen
Täuschungen Veranlassung geben kann,
bei der Diagnosenstellung stützt, stellen
jene ihre Diagnosen auf Grund von Er¬
fahrungen, die sie mittels der Kryoskopie»
dem Ureterenkatheterismus und der Au¬
topsie intra vitam und post mortem ge¬
wonnen haben. Gegen Edebohls spricht
daher sehr die Erfahrungsthatsache von
Kümmell und Rumpel, dass eine ein¬
seitige Nierenerkrankung, wie sie sich durch
Blut, Eiweiss, Cylinder im Urin u. a. zu
erkennen giebt, differential - diagnostisch
gerade nicht als Nephritis, dagegen als
eine andere Erkrankung wie Stein, Tumor,
Pyelonephritis u. a. anzusehen ist.
Th. B rüg sch (Berlin).
(Medical Record, 28. März 1903. Bruns Beiträge
zur Chirurgie Bd. 37, S. 975 fl).
Therapeutisches aus den Pariser medicinischen Gesellschaften.
G. Bardet berichtete in der Sitzung
vom 24. Juni der Soci£t6 de thdrapeutique
über günstige Resultate, die er bei Gichti¬
schen überhaupt, besonders aber bei jenen,
welche gleichzeitig an Entzündungszustän¬
den der Harnwege (in Folge von Nieren¬
steinen) leiden, durch innerliche Darreichung
des Chinoformins, einer Combination
der Chinasäure mit Urotropin, erlangte.
Dies neue Präparat, das dem Sidonal (china¬
saures Piperazin) analog ist, kann, da es
keine toxischen Eigenschaften besitzt, in
sehr grossen Dosen (bis zu 12,0—15,0 pro
die) gegeben werden, jedoch genügen schon
Dosen von 2,0—4,0 pro die, um den ge¬
wünschten therapeutischen Effect zu er¬
halten. Das Chiniformin wird in Oblaten
oder in Lösung (es löst sich leicht in
Wasser) verschrieben, (ln Deutschland hat
die Chinasäure mit ihren Verbindungen wie
Urosin und Sidonal ihre Rolle als Gicht¬
mittel wohl endgiltig ausgespielt. Red)
In derselben Sitzung berichtete Lau-
monier über vier Fälle tuberkulöser Misch-
infection der Lungen, welche er mit Erfolg
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durch die innerliche Anwendung des Phos-
p hot als (Phosphorcreosot, Phosphite de
cr£osote) bekämpfen konnte. Im Gegensatz
zu den reinen Formen der Lungentuber¬
kulose, bei denen man nur oder vorwiegend
Tuberkelbacillen auffindet und auf welche
das Creosot oft günstig wirkt, widerstehen,
angeblich tuberkulöse Mischinfectionen
der Lunge (bei denen sich pyogene Mikro¬
organismen mit Tuberkelbacillen associiren)
den üblichen Creosotpräparaten. Nun scheint
es anders zu sein mit dem Phosphotal, das
gleichzeitig durch Creosot und den Phosphor
auf die pyogenen Mikroorganismen einen
vernichtenden Einfluss auszuüben imStande
wäre. Bei den vier Kranken, die Vor¬
tragender mit Phosphotal in der Dosis von
1,0—2,0 pro die (das Mittel wurde in Kapseln
per os oder in Form einer Emulsion per
rectum gegeben) behandelte, nahm die Zahl
der begleitenden Mikroben im Sputum rasch
ab, das Fieber schwand in zwei Wochen
und nach vier bis fünf Monaten wurden
die Kranken dauernd gebessert und hatten
an Körpergewicht bedeutend zugenommen.
Original frorn
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
August
371
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Natürlicher Weise kamen die Lungen läsionen
nicht zur Abheilung, aber die Krankheit
hatte eine entschieden mildere Form und
einen langsameren Verlauf angenommen.
Huchard hielt in der Sitzung vom
30. Juni der Acad£mie de medecine einen
grossen Vortrag Ober dieBehandlung der so¬
genannten Praesklerose (Stadium dauern¬
der Blutdruckerhöhung, welches den arterio¬
sklerotischen Läsionen vorhergeht) und der
in Folge arterieller Läsionen sich entwickeln¬
der Herzerkrankungen — Cardiopathies ar¬
terielles. Die zur Bekämpfung solcher Zu¬
stände sich eignenden Mittel sind solche,
welche auf den Blutdruck erniedrigend,
hypotensiv wirken. Hierher gehören, wie
Huchard als sicher annimmt, die lacto-
vegetabilische Kost, die Massage, gewisse
diuretische Mineralwässer, verschiedene Ni¬
triten (Nitroglycerin, Amylnitrit, Sodium-
nitrit, Erythroltetranitrit etc.) und auch
manche organotherapeutische Präparate,
wieThyroidextract und Jodothyrin, Thymus-
extract (von welchem Vortragender beson¬
ders gute Resultate erhalten hat und dessen
Gebrauch, im Gegensatz zumThyroidextract,
ungefährlich ist) und das Extractum ovarii
(bei Frauen im Klimacterium).
Zu betonen ist in Huchard's Mitthei¬
lung der Punkt, dass Vortragender vor An¬
wendung kohlensäurehaltiger Bäder bei ar¬
teriellen Cardiopathien auf s Strengste warnt.
Diese Bäder sind sehr nützlich bei Herz¬
klappenfehlern, wo sie den abgeschwächten
Blutdruck erhöhen, aber bei arterieller Car-
diopathie steigern sie die schon vorhandene
vasculäre Hypertension und können sogar
einen Exitus letalis bedingen. Huchard
hat Patienten gesehen, welche bald nach
einer Cur in Nauheim an Folgen der ar¬
teriellen Vasoconstriction und Hypertension
oder an acutem Lungenödem gestorben
sind. (So wenig wir im Einzelnen H u c h a r d's
Behandlungsweise beipflichten, so möchten
wir doch seiner Warnung vor CO^-Bädern
bei Arteriosklerose zustimmen. Red.)
In der Sitzung vom 1. Juli der Soci£t6
Medicale des Höpitaux lieferte Achard
einen interessanten Beitrag zur Oedem er¬
zeugenden Wirkung des Chlornatriums. Er
hat erstens einen Fall von Pneumonie beob¬
achtet, in welchem eine subcutane Ein¬
spritzung von 1 1 physiologischer Kochsalz¬
lösung (also Einführung von etwa 7,0 Chlor¬
natrium) — während einer Periode vermin¬
derter Elimination von Chlorverbindungen
durch die Nieren — das Erscheinen eines
pseudo - meningitischen Symptomencom-
plexes bewirkte. Patient gerieth in Er¬
regung, delirirte, hatte Genickstarre und
bot auch das Kernig’sche Zeichen in ex¬
quisiter Weise dar. Bei derLumbalpunction
entleerte sich in starkem Strahl 20 cbcm
einer klaren CerebrospinalflQssigkeit. Sie
enthielt weder corpusculäre Elemente noch
Bacterien; die mit ihr angestellten Cultur-
und Thierversuche fielen negativ aus. Bald
nach der Lumbalpunction milderten sich
die pseudo-meningitischen Erscheinungen,
um gegen Abend desselben Tages gänzlich
zu schwinden.
Zwei andere Beobachtungen Achard's
beziehen sich auf schwächliche, unter¬
ernährte (athreptische) Säuglinge, welche
mit subcutanen Einspritzungen physiolo¬
gischer Kochsalzlösung behandelt wurden.
Diese Einspritzungen verursachten regel¬
mässig mehr oder weniger verbreitete Haut¬
ödeme, die bei einem der Kinder auch in
entfernten Hautregionen entstanden und
welche nach Sistirung der in Rede stehen¬
den Behandlung sogleich vollkommen und
definitiv schwanden.
Die so eminent nützlichen subcutanen
Einspritzungen physiologischer Kochsalz¬
lösung können somit unter Umständen,
nämlich dann, wenn eine Retention von
Chlorverbindungen im Organismus besteht,
auch in Abwesenheit von Nephritis oder
Herzkrankheit (vergl. „Therapie der Gegen¬
wart“, Juli 1903, S. 324) ödemerzeugend
wirken und sogar Hirnerscheinungen in
Folge eines sub-arachnoidalen Oedems her-
vorrufen, wie es in der ersten Beobachtung
Achard's wahrscheinlich der Fall war.
W. v. Holstein (Paris).
Referate.
Unter dem Zeichen der aseptischen
Wundbehandlung und unserer fortge¬
schrittenen Operationstechnik ist für die
meisten Chirurgen z. Zt. auch die Blasen-
steinzertrümmerung mit nachfolgen¬
der Aspiration in den Hintergrund ge¬
treten. Für sie eine Lanze zu brechen,
unternimmt an der Hand von 103 eigenen
Litholapaxieen Krüger, einer der Aerzte
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von Bad Wildungen, der Hochburg der
Lithotripsie, welche nach ungefährer
Schätzung Krüger’s dort in der „Saison“
durchnittlich etwa 150 Mal ausgeübt wird.
Krüger meint, dass der Arzt sich getrost
an die Operation heranmachen könne, der
sie öfters hat ausführen sehen, mit Metall¬
katheter und Sonde umzugehen weiss und
ein für den Fall geeignetes Instrumentarium
47*
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
372
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
besitze. Geringfügigkeit des Eingriffs und
der Nachbehandlung sind die Hauptvorzüge.
Der Sectio alta überweisen will Krüger
Divertikelsteine, Concremente im Kindes¬
alter oder mit Neoplasmen combinirte,
grössere Oxalate, excessiv grosse Steine
überhaupt Auch räth er ab bei Ent¬
artungsprocessen der Blasenwand bei
schlaffen, functionsunfähigen Blasen der Pro¬
statiker: er hat 1 Todesfall mit gesehen
durch Ruptur einer solchen Blase infolge
der Aspiration. Entzündliche Processe um
die Blase können ebenfalls den Schnitt
wünschenswert machen. Die Hindernisse
für das Einführen des Instruments bei
Strictur hat er 4 Mal mit Glück durch
Urethrotomia interna beseitigt, der sofort
die Lithotripsie folgte.
Weiter bespricht Krüger das Zurück¬
bleiben grösserer Steinreste, das nament¬
lich bei starken Balkenblasen und bei
starker Krampfblase zumal bei weichen
(Phosphat-) Steinen passiren kann. Tiefe
Narkose hebt den Krampf auf, bestimmte
Art der Lagerung lässt weiterhin dies
Missgeschick vermeiden. Nachdem die an¬
fängliche leichte Reaction der Blase (3 bis
4 Tage) vorüber ist, hat aber eine sorg¬
fältige Untersuchung auf etwa zurück¬
gebliebene Reste stattzufinden mit dem
Cystoskop sowohl wie mit dem Mikroskop
(auf rothe Blutkörperchen). Um einen
Catarrh zu vermeiden, wird am Ende der
Lithotripsie 1 o/oo Höllensteinlösung in die
Blase gespritzt, Camphersäure, vorher und
nachher gegeben, verhindert Schüttelfröste.
Nach 3 Tagen kann der Lithotripsirte auf¬
stehen.
Krüger hat von 105 Blasensteinkranken
103 lithotripsirt, einem die Sectio alta ge¬
macht; einer hat sich auswärts später diesem
Eingriff unterzogen. Nur ein 78jähriger
Herr ist gestorben, der nach dem Eingriff
liegen musste und hypostatische Pneumonie
bekam. 61 mal wurde Chloroform, 6 mal
Aether angewandt, 22 mal mit localer und
14 mal ohne jede Anästhesie operirt.
83 Steinkranke wurden in dieser Sitzujig
von ihren Concrementen befreit; 16 in zwei,
einer in 3 Sitzungen.
Fritz König (Altona).
(Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 68, Heft 3 und 4,
S. 291).
Velten macht in einem Vortrag „die
klimatischen Kurorte“ eindringlich auf¬
merksam auf eine Reihe von werthvollen
CuFOPten des Auslands, die relativ leicht
und bequem erreichbar sind, gute Aerzte
am Orte haben und nicht allzu theuer sind.
Verfasser spricht aus eigener reicher Er-
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fahrung heraus. In Betracht kommen die
peruanische und bolivianische Hochebene
(Jauja und Huancayo, in Peru Arequopa,
2100 m hoch mit ewigem Frühling, Puno
am Titicacasee, 3400 m hoch). Ferner wer¬
den Jamaica und die mexicanische Hoch¬
ebene warm gerühmt. Hier giebt es Ge¬
genden, in denen die Tuberkulose ganz
unbekannt ist (z. B. die Gegend der Silber¬
stadt Zacatecas, 2500 m hoch). Die wärmste
Empfehlung verdient auch die Stadt Algier
als Winterstation für Lungenkranke, Scro-
phulöse, Bleichsüchtige, Bronchitiker und
Neurastheniker. Algier ist relativ leicht zu
erreichen (Schnellzug ohne Wagen Wechsel
über Basel, Genf, Lyon nach Marseille;
von dort fährt fünf Mal in der Woche ein
grosser Passagierdampfer in 26 Stunden
nach Algier). Das Leben in Algier ist
äusserst billig (in erstklassigen meist von
Deutschen geleiteten Hötels 10—12 Frcs.
pro Tag, alles einbegriffen). Als die Perle
aller hier in Betracht kommenden Cur-
plätze bezeichnet Verf. die südliche Mittel¬
meerküste von Spanien (Almeria, Murcia,
Alicante, Valencia und vor allem Malaga).
Lüthje (Tübingen).
(Zeitschr. f. phys. u. diät. Therapie Bd. VII.)
In Anbetracht der grossen Gefahren,
welche die Complication mit Diabetes
mellitus wie bei anderen so auch
bei Gynäkologischen Operationen
birgt, macht Fueth aus der Leipziger
Klinik, die 3 Kranke nach Carcinom-
Operationen an Coma verlor, folgende
Vorschläge: In schweren Fällen soll mit
Ausnahme vitaler Indicationen (Gangrän
etc.) jede Operation unterbleiben. Mittel¬
schwere und leichte Fälle gestatten einen
Eingriff, wenn maligne Tumoren, Ovarial¬
kystome etc. vorliegen. Bei leicht Kranken
sind auch die Operationen von Er¬
krankungen wie grosse Hernien, Pro¬
lapse, die das Allgemeinbefinden ernst¬
lich stören, statthaft. Es ist notwendig
die Kranken vorher zuckerfrei zu machen.
Die antidiabetische Behandlung hat mög¬
lichst in der Klinik stattzufinden, schon
damit die Kranke sich an die Umgebung
gewöhnt und dadurch die nervöse Erregung
vor der Operation verringert wird. Frei¬
lich kann die lange Zeit, die schwere Fälle
zur Entzuckerung erfordern, bei maligner
Erkrankung des Uterus auch wieder ver¬
hängnisvoll sein. Nach dem Vorgänge
von Rumpf wird bei strenger Diät zur
Vermeidung des Coma die Eingabe von
Natrium citricum 10—30 g empfohlen. Erst
wenn eine reichliche Ernährung gesichert
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
373
ist, darf operirt werden. Hungern und
starkes Abführen vor der Operation darf
nicht als Vorbereitung gemacht werden.
Man begnüge sich mit Clystiren und Wis-
muthgaben. Die allgemeine Narkose ist zu
vermeiden und durch Spinalanästhesie zu
ersetzen (obschon auch Coma ohne Nar¬
kose nach Operationen vorkommt!). — Bald
nach der Operation muss Flüssigkeit und
Nahrung per clysma gegeben werden, und
sowie das Erbrechen vorüber ist, mit ent¬
sprechender Nahrung begonnen werden.
Auch ist, vorausgesetzt, dassComplicationen
fehlen, durch Massage der Extremitäten und
des Thorax die active Muskelbewegung zu
ersetzen. P. Strassmann (Berlin).
(Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 3—4.)
Ueber die Diagnose und Behand¬
lung der Genitaltuberkulose beim Weibe
berichtet Sellheim nach den Erfahrungen
der Freiburger Frauenklinik. Bei 58 inner¬
halb 8 Jahren klinisch aufgenommenen
Frauen wurde die Diagnose gestellt. 31
wurden palliativ in der üblichen Weise, wie
bei entzündlicher Adnexerkrankung be¬
handelt, Rückfälle und Verschlimmerungen
kamen natürlich vor.
Operirt wurde in 27 Fällen, wenn die
palliative Behandlung versagte, der Process
mit Fieber, starken Allgemeinstörungen etc.
einherging und Darmperforation drohte.
Für contraindicirt wurde die Operation er¬
achtet, wenn die Tuberkulose anderer Or¬
gane den Genitalbefund als nebensächlichen
erscheinen liess, bei zu schweren Verän¬
derungen des localen oder allgemeinen Be¬
findens. 3 starben in den ersten Tagen
nach der Operation. Von 15 seit über
einem Jahr operirten Patientinnen, die
nachcontrollirt werden konnten, haben 7
volle Arbeitsfähigkeit erlangt und sind ge¬
heilt von allen Beschwerden. 8 können
leichtere Arbeit verrichten, auch von diesen
sind 3 ganz beschwerdefrei. Operirt wur¬
den 7 mit abdominaler, 1 mit vaginaler
Radicaloperation. 2 wurden die Adnexe
abdominal, 1 mal vaginal allein exstirpirt.
3 mal wurde nur laparotomirt, 1 mal nur
vaginal ein Abscess eröffnet. Am besten
waren die radical Operirten dran, die local
sämmtlich geheilt waren und von denen
nur eine durch spätere Lungen-» und Darm
tuberculose sich verschlimmert hatte. Diese
Operation wird daher empfohlen und zwar
auf abdominalem Wege. In allen zweifel¬
haften Fällen ist der Uterus mitzunehmen
und nach unten zu drainiren. Dies schützt
am besten vor Rediviren. Harte Tuben¬
knoten deuten auf Stillstand des Processes.
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Muss wegen unerträglicher Beschwerden
operirt werden, so kann hier auch bei Rück¬
lassen des Uterus das Resultat gut sein.
P. Strassmann.
(Hegar's Beiträge Bd. VI, Heft 3.)
Impens hat Versuche über die Wir¬
kung eines neuen Harndesinficiens, des
Helmitol, angestellt. Es handelt sich
hier um eine Verbindung der Anhydro-
methylencitronensäure mit dem Hexame¬
thylentetramin. Es zeigte sich, dass das
Mittel etwas kräftiger wirkt als Urotropin.
Nach Verabreichung von 2 g Helmitol
zeigt der Harn, welcher in den folgenden
6 Stunden secernirt wird, gährungswidrige
Eigenschaften. Die analoge Urotropindosis
schützt nur in der ersten Stunde. Aus
diesem Grunde kommt man mit ent¬
sprechenden geringeren Mengen Helmitol
für die Harndesinfection aus. Das ist des¬
wegen nicht gleichgiltig, weil bei zu hohen
Dosen Urotropin Irritationsphänomene be¬
sonders auch in der Blase eintreten können.
Buschke (Berlin).
(Monatsschr. für Urologie. Bd. 8, Heft 5.)
Den 39 bisher bekannt gegebenen Fällen
von Herzn&ht wegen Herz Verletzung, 1 )
fügt Wolff drei von Barth (Danzig) ope-
rirte hinzu. Der erste hatte einen Stich
in die Magengrube von rechts her erhalten,
ausser der rechten Pleura war der rechte
Ventrikel verlezt. Es wurde nach Extrac¬
tion mächtiger Coagula aus dem Herz¬
beutel die Herznaht, die Naht der Pleura
gemacht; das Pericard wurde zum Theil
offen gelassen für einen in den Herzbeutel
eingeführten Tampon. Es kam zur Re¬
tention hinter dem Tampon; Patient starb
am vierten Tage. Neben Pleuritis fand
sich der Herzbeutel mit fibrinösem Exsudat
erfüllt. Die beiden anderen Stichverletzun¬
gen kamen zur Heilung, die eine betraf
den linken, die andere den rechten Ven¬
trikel, beide wurden genäht, beide Mal der
Herzbeutel vernäht. Die verletzte Pleura
wurde beide Mal genäht.
Aus der Litteratur berechnet Wolff
40,4% Heilungen durch die Operation; am
häufigsten war die Naht der Ventrikel, die
Verletzungen der schlaffen Vorhöfe und
Herzohr verbluten sich in der Regel als¬
bald. Einmal war die Coronaria verletzt.
Die Pleura war in den 42 Fällen 40 mal
mit verletzt, darunter 3 mal die rechte.
Der Tod ereignete sich 9 mal an Anämie,
1 mal Verblutung aus der Coronararterie,
*) Vergl. den Bericht Ober den Chirurgencongress
im Juliheft S. 313.)
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
374
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
6 mal an eitriger Pleuritis, 3 mal eitriger |
Pericarditis, 3 mal combinirt, 1 mal Pleu¬
ropneumonie. Die Schussverletzungen sind
ungünstig für die Operation, können übrigens
ohne solche heilen. Glücklich operirt wurde
auch eine stumpfe Contusion des Herzens
von Mansell-Moullin.
Nach Wolff besteht bei starker primärer
Blutung und bei „Herztamponade“ durch
die Coagula absolute Indication zum Ein¬
griff; da aber auch bei scheinbarer Heilung
die Gefahr secundärer Blutungen durch
Platzen der jungen Narbe etc. sehr gross
ist, so will Wolff operiren, sobald der
Verdacht vorhanden ist, dass der Stich das
Herz getroffen haben kann, um so mehr als
eine Schädigung durch die Operation bis¬
her nicht verzeichnet wurde.
Von den Verfahren empfiehlt Wolff
am meisten das von Giordano: schicht¬
weises Vorgehen im Wundkanal, Resection
von Knochen und Knorpel, soweit der Fall
es nothwendig macht. Das complete Fehlen
der knöchernen Bedeckung des Herzens
hat in einem geheilten Fall Barth’s nichts
geschadet.
Mit Knopfnaht soll Epi- und Myocard
gefasst werden. Auch den Herzbeutel will
Wolff primär vernähen. Von 7 Fällen,
bei denen letzterer tamponirt oder drai-
nirt war, starben 5, alle hatten eitrige oder
fibrinöse Pericarditis; in 9 Fällen war das
Pericard primär genäht, es starben 2,
wurden 7 geheilt. Keiner von allen hatte
Pericarditis. Deshalb und zur Vermeidung
der Synechien verwirft Wolff das Offen¬
halten des Herzbeutels.
Fritz König (Altona).
(Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 69, Heft 1, S. 67).
Zur symptomatischen Behandlung einer
Reihe von Erkrankungen der Respirations¬
organe, wenn es sich darum handelt die Ex-
pectoration durch Verflüssigung der Secrete
zu fördern und zugleich den Hustenreiz
zu mildern, empfehlen Labadie-Lagrave
und M. Rolin den Gebrauch des Jod-
kodelns (Codeinum bijodatum s. Codeinum
jodhydricum acidum). Man erhält diese
Verbindung durch Erwärmen von zwei
Aequivalenten Acidi jodhydrici mit einem
Aequivalent Codeini puri, wobei sich nadel-
förmige, gelbliche, in Wasser leicht lösliche
Krystalle von Jodkodein ausscheiden. Man
verwendet diese Substanz in Form eines
Syrups oder in Pillen, auch zur subcutanen
Injection. Innerlich giebt man 0,02—0,04
pro dosi und bis 0,10—0,15 pro die. Für
die subcutane Einspritzung verwendet man
0,01—0,03.
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Die besten Resultate hat Jodkodein
beim Lungenemphysem ergeben, wo es
expectorirend wirkt, die Dyspnoe, den
Husten mildert und Schlaf erzeugt. Man
giebt hier das Mittel am Abend in mehreren
auf einander folgenden Dosen bis im Ganzen
davon 0,08—0,15 genommen werden. Auch
bei Asthma, Tracheo-bronchitis, Bronchitis
acuta, im Anfangsstadium des Keuch¬
hustens und bei Bronchitis chronica simplex
oder infolge einer Heraffection hat sich
Jodkodein bewährt. Endlich wäre dies
Mittel ein guter Ersatz für das nicht ge¬
fahrlose Morphium bei der urämischen
Dyspnoe und bei der secundären Bronchitis
der Brightiker. Hier ist Jodkodein sub-
cutan anzuwenden. Auch wurde Jodkodein
zur Beseitigung von Schmerzen bei sub-
cutaner Application von Jodkalium (deren
Labadie-Lagrave bei der Behandlung
syphilitischer Gummata sich bedient) mit
Erfolg angewandt: wenn man zur 8%igen
Jodkaliumlösung, die eingespritzt wird, 0,03
Jodkodein hinzufügt, so empfindet Patient
keine Schmerzen. W. v. H o 1 s t e i n (Paris).
(Bulletin M6dical 1903, No. 41).
Ueber die Behandlung einiger Infec-
tionskrankheiten mittels KochS&lz-
Infustonen 1 ) berichtet P. W. Ljubomu-
droff. Verf. wandte eine Kochsalzlösung
von 0,75°/o bis O,9o/ 0 , die entweder sub-
cutan oder per Klysma eingeführt wurde.
Anfangs wurden stets recht grosse Mengen
einverleibt, von x /2 bis zu 1 L. Später
aber überzeugte er sich, dass kleinere
Quantitäten (etwa 100—200 ccm), in kür¬
zeren Zwischenräumen eingeführt, bessere
Erfolge geben, als grössere und seltenere
Infusionen, und dem Kranken keine
Schmerzen verursachen, was bei Kindern
und empfindlichen Patienten, sowie im Be¬
ginn der Krankheit besonders in Betracht
kommt. Oft wurde auch die Kochsalz¬
lösung per rectum eingeführt. Die Wirkung
dieser Klysmen steht der der subcutanen
Infusionen in Bezug auf Beeinflussung der
Herzthätigkeit, des Pulses etc. nur wenig
nach, doch haben sie den Uebelstand, dass
sie mitunter, besonders von soporösen Pa¬
tienten nur kurze Zeit zurückgehalten
werden. — Ausserdem wurde noch eine
1%ige Lösung von Sal physiol. Poehl zu
Klysmen benutzt. Diese Lösung bleibt
länger im Darm zurück und wird rascher
resorbirt. Die günstige Wirkung der In¬
fusionen äussert sich zunächst in der Besse¬
rung des Allgemeinbefindens: der Kranke
l )Vergl. besonders Erkelentz, diese Zeitschr. 1903,
S. 5.
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
August
375
Die Therapie der Gegenwart 1903.
wird munterer, die Somnolenz verschwindet;
der Puls wird voller und kräftiger, die
Urinsecretion nimmt erheblich zu, mitunter
tritt geradezu Polyurie (3—4 L. pro die)
ein. Die günstige Wirkung hält aber nur
kurze Zeit an und die Infusionen müssen
daher oft wiederholt werden. — Ausser den
Fällen von Typhus abdominalis (mehr als
50 Fälle), wurden die Kochsalzinfusionen
noch bei Erysipel, Scarlatina, Variola vera,
Typhus exanthematicus und Diphtherie
ebenfalls mit recht gutem Erfolg angewandt,
sodass Verf. schliesslich die Ansicht vertritt,
die Kochsalzinfusionen müssen als ultimum
refugium bei jedem schwer Kranken ange¬
wandt werden. Besser jedoch ist es, mit
denselben rechtzeitig zu beginnen, dann
ist auch der Erfolg bedeutend sicherer.
Mit derselben Frage beschäftigt sich auch
S. N. Tscherepnin, der über die Be¬
handlung von 31 Typhuskranken mit Koch¬
salzklysmen berichtet. Der Kranke nimmt
die linke Seitenlage ein, die Beine an den
Leib angezogen. Auf der Höhe von V 2
Arschin (ca. 30 cm) wird ein Irrigator mit
1000,0 ccm einer Kochsalz + Na-Bicarbon-
lösung (je 6,0 von beiden auf 1 L. Wasser)
gestellt. Die Temperatur der Lösung
schwankt zwischen 15°—20 0 . Mit Hülfe
eines gewöhnlichen Hartgummiansatzes
wird nun die Lösung langsam und unter
sehr geringem Druck in den Darm einge¬
gossen was etwa 1 Stunde in Anspruch
nimmt. Ein so applicirtes Klysma hat keine
abführende Wirkung, es wird Va bis 2,
häufig sogar 6—8 Stunden zurückgehalten.
Der Leib wird nach der Eingiessung weich
und unempfindlich. Die beim Unterleibs¬
typhus oft vorkommenden Tenesmen lassen
nach, sobald geringe Schleimmengen und
übelriechende Fäcalmassen entleert worden
sind. Unmittelbar nach der Eingiessung
sinkt die Körpertemperatur um 0,4°—0,5°.
Genaue Messungen haben ergeben, dass
ein Theil der eingeführten Lösung (etwa
300—400 ccm) vom Dickdarm resorbirt
wird. Mitunter — allerdings selten — wird
das ganze Klysma resorbirt. Die günstige
Wirkung dieser Klystiere auf das Nerven¬
system ist unverkennbar; die Störungen
desselben hören auf, der Status typhosus
wird geringer. Das Bewusstsein kehrt
wieder, der Kranke antwortet auf Fragen,
bekommt Interesse für die Umgebung.
Sein Blick wird klarer, der Appetit grösser,
der Schlaf fester. Dieser Umschwung
steht in directer Beziehung zur Quantität
der resorbirten Lösung und tritt gewöhnlich
erst 20 bis 30 Stunden nach der Appli¬
cation des Klystiers ein, was leicht ver¬
ständlich wird, wenn man bedenkt, dass
die Verdünnung bezw. Ausschwemmung
der Toxine eine gewisse Zeit beansprucht
und die Nervenzelle auch nach der Ent¬
ziehung des Giftes nicht sofort normal zu
functioniren beginnt. Abgesehen von der
bereits erwähnten, unmittelbar nach der Ein¬
giessung auftretenden Temperaturerniedri¬
gung zeigt sich noch ein anderer 1—2
Tage anhaltender Temperaturabfall von
1—2°. Gleichzeitig ist auch eine Besserung
des Pulses zu constatiren. — Was den
Stuhl anlangt, so wird er schon 1 Tag
nach der Eingiessung normal. Mitunter
tritt 1 bis 2 Tage lange Verstopfung ein.
Die Diurese steigert sich sehr erheblich.
Die erwähnte Besserung hält 1 bis 2 Tage
an, dann tritt wieder Verschlimmerung ein,
die Temperatur steigt an, der Kranke wird
benommen etc. Eine erneute Eingiessung
bringt wiederum Erleichterung. Im Durch¬
schnitt betrug die Zahl der jedem Kranken
während der ganzen Krankheitsdauer ge¬
machten Eingiessungen drei.
N. Grünstein (Riga).
(Wojenno-tnedicinski, Journal 1903, Mai, Prakti-
tschesski Wratsch 1903, No. 1 und 2.
Einen durch seine eigenartige Ent¬
stehung bemerkenswerthen Fall von Kopf-
tet&nus theilt Schütze mit. Die Patientin
war von einem Pfau in die Stirn ge¬
bissen worden; 3—4 Tage später trat eine
linksseitige Facialislähmung ein,
8 Tage nachher bestand Trismus. Als der
Kinnbackenkrampf zunahm und Schling¬
beschwerden sich einstellten, wurde die
Patientin 4 Wochen nach dem Trauma dem
Berliner Institut für Infectionskrankheiten
zugeführt. Hier erhielt sie, obgleich die
Prognose bei der verhältnissmässig langen
Dauer des Leidens und dem Fehlen
allgemeiner tetanischer Krampfanfälle —
nur die Muskulatur im Versorgungsge¬
biete des Nervus trigeminus und Nervus
facialis war betheiligt — von vornherein
günstig gestellt werden musste, zwei mal
je 125 Immunitätseinheiten des Behring-
schen Tetanusheilserums subcutan injicirt.
— Von der Wunde an der Stirn, die
keine Tendenz zur Heilung zeigte, wurde
der oberflächlich aufsitzende Schorf ent¬
fernt und es gelang, einen tief im sub-
cutanen Gewebe verborgenen Fremdkörper
zu entfernen, der sich bei genauerer Be¬
trachtung als die abgebrochene äusserste
Spitze des Pfauenschnabels erwies.
Mit dieser Schnabelspitze inficirte Schütze
nach einander eine Reihe von Mäusen und
Meerschweinchen, die alle an Tetanus ein¬
gingen, und schliesslich züchtete er durch
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
376
August
Die Therapie der
Einbringung der Schnabelspitze in Agar
direct von dieser Tetanusbacillen in
Reincultur. —
Die Wunde, die nach Entfernung des
Fremdkörpers gründlich gereinigt und aus¬
gebrannt war, heilte glatt, die Masseteren-
spannung ging stetig zurück, ebenso die
Facialislähmung. Die Patientin konnte nach
ca 3 Wochen geheilt entlassen werden.
F. K.
(Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 23.)
Die Lävulose, entweder in reiner kry-
stallinischer Form oder in syrüpöser Form
(Satrass genannt) oder in Form von Lävu-
losechocolade wird von L. Fürst sehr
warm empfohlen als Nahrungs- und Genuss¬
mittel für schwächliche, unterernährte und
scrophulöse Kinder; desgleichen für recon-
valescente Kinder. Lüthje (Tübingen).
(Zeitschr. für diät. u. phys. Ther., Bd. VI, H. 11.)
Alfred Exner (Klinik Gussenbauer)
behandelte drei Fälle von inoperablem
M&mm&c&relnom mit Röntgenstrahlen.
Die zu den Bestrahlungen verwendeten
Röhren waren stets mittelweit und wurden
den zu belichtenden Stellen thunlichst nahe
gebracht, so dass bei kleinen Objecten die
Focusdistanz 9—10 cm, bei grösseren jedoch
17 cm betrug. Um die Umgebung der zu
bestrahlenden Stellen zu schützen, ver¬
wendete er 0,5 mm dicke Bleiplatten. Zur
Dosirung des angewendeten Menge Röntgen¬
lichtes bediente er sich des von Holz-
knecht angegebenen Chromoradiometers.
In den ersten zwei Fällen wurde nur der
Erfolg erzielt, dass die Jauchung, die früher
sehr stark gewesen war, zum Aufhören
gebracht wurde. Viel günstiger gestaltete
sich der dritte Fall, wo lokal scheinbar
Heilung erzielt wurde.
Nachdem bei der Behandlung mit
Röntgenstrahlen der Tumor schichtweise
zum Verschwinden gebracht wird und es
nur nach dem Zugrundegehen der ober¬
flächlichen Schicht möglich wird, auf die
tiefer liegende zu wirken, hält es Exner
für zweckmässig vor der Behandlung mit
Röntgenstrahlen in geeigneten Fällen mit
dem Messer die erkrankten Partieen soweit
als möglich zu entfernen. Man könnte
auch daran denken, nach der Exstirpation
eines Tumors das Operationsfeld einer
energischen Einwirkungder Röntgenstrahlen
auszusetzen. Bei den Fällen von lmpf-
recidiven, die nach der Exstirpation eines
Tumors auftreten, könnte dieses Recidiv
durch eine derartige Behandlung vielleicht
vermieden werden. Auch in einem Falle
von Melanosarkom mit zahlreichen Meta-
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Gegenwart 1903.
stasen trat nach Röntgenbehandlung ein
Verschwinden der einzelnen Tumoren ein,
ohne dass aber eine Heilung des Patienten
erfolgte. Dabei bildeten sich die Tumoren
rascher zurück als die Pigmentablagerungen.
H. Wiener (Prag).
(Wiener klin. Wochenschrift No. 25.)
Bereits von anderen Autoren — Motz,
Berger — ist früh zur Behandlung der
rhronischen Urethritis die M&SS&g6 döP
Urethra empfohlen worden. Bartring
empfiehlt das Verfahren für die Behand¬
lung chronischer Urethritis und von Stric-
turen. Er führt es in der Weise aus, dass
er auf einem Metallbougie ca. 5 Minuten
die Urethra, besonders infiltrirte und stric-
turirte Stellen, massirt; es ist naturgemäss
schwer zu beurtheilen, wieviel von seinen
guten Resultaten auf Rechnung der einfachen
mechanischen Bougiebehandlung, wieviel
auf die Massage zu setzen ist, wenngleich
der Autor der Massage einen grossen Werth
beilegt. Die Massage zur Behandlung an
diesen Punkten hat sich bisher nicht sehr
eingebürgert, trotzdem prinzipiell die Rich¬
tigkeit ihrer Anwendung an dieser Stelle
nicht zu bestreiten ist, und bei vorsichtiger
Anwendung Schädigungen kaum eintreten
dürften. Buschke (Berlin).
R. Blondel hat gefunden, dass das
Milchserum ein werthvolles therapeuti¬
sches Mittel ist. Dasselbe wird aus Kuhmilch
durch Fällen des Caseins mittelst einer
Säure mit nachfolgender Filtration bereitet.
In zugeschmolzenen Röhren, bei Anwesen¬
heit von Kohlensäure, bleibt es auf un¬
begrenzte Zeit erhalten. Unter die Haut
eingespritzt, wirkt das Milchserum als
Diureticum, wobei auch die Excretion der
Producte des Stoffwechsels mit dem Urin
vermehrt wird. Bei acuten Infections-
krankheiten (Typhus, Pneumonie, Erysipel,
Puerperalfieber) setzt es die Temperatur
rasch und bedeutend herab, wie Verfasser
an vielen Patienten in der Abtheilung Prof.
Robins und bei kranken Wöchnerinnen
in mehreren Pariser Gebäranstalten fest¬
zustellen Gelegenheit hatte. In einem Falle
von schwerer Gesichtsrose sah Blondei
nach Einspritzung von 10 ccm Serum, die
Temperatur von 40,6° auf 36,60 herabgehen,
wonach die Krankheit rasch in Genesung
überging. (Hierbei bleibt freilich sehr frag¬
lich, ob es das Serum war, welches diese
Wendung herbeigeführt hat).
Verfasser ist der Meinung, dass das
Serum der Kuhmilch bei Infectionen, in
welchen die allgemeinen Störungen trotz
Vernichtung des localen Infectionsheerdes
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August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
377
andauern, wie es bei Puerperalerkrankungen
nach Ausschabung des Uterus vorkommt,
sich am Besten bewähren wird. Und er
hat auch thatsächlich in 20 solcher mit
Milchserum behandelten Fälle nur einen
einzigen Exitus letalis beobachtet. In defc
übrigen trat nach subcutaner Einspritzung
von 20 ccm Serum in zwei Portionen ver¬
theilt (bei einer Kranken wurden sogar
60 ccm in drei Portionen eingespritzt)
schon am nächsten Morgen eine Temperatur¬
erniedrigung von 1 bis 30 ein. Dann ging
die Temperatur wieder etwas in die Höhe,
aber nur auf kurze Zeit, und es folgte eine
rasche und definitive Entfieberung.
Ein Zusatz von 0,05 bis 0,10 Chinini sul-
furici zum eingespritzten Quantum Milch¬
serum verstärkt bedeutend die antipyretische
Wirkung des letzteren.
(Weitere Versuche mit subcutaner In-
jection sterilen Milchserums dürften immer¬
hin zu empfehlen sein, da es aus vielen
theoretischen Gesichtspunkten der ein¬
fachen Kochsalzlösung vorzuziehen sein
dürfte, deren Infusion sich in schweren In-
fectionskrankheiten so oft bewährt.)
W. v. Holstein (Paris).
(Revue de thtrapeutique mddico-chirurgicale 1903,
No. 11.)
Die Kenntniss der Polymyositis ist
trotz zahlreicher Publikationen der letzten
Jahre noch wenig verbreitet. Oppen¬
heim schildert die Symptomatologie dieser
mehr oder weniger diffusen, entzündlichen
Muskelerkrankung, deren Aetiologie bis¬
her nicht genügend klar gestellt ist. Nach
einem in Abgeschlagenheit und gastrischen
Beschwerden bestehenden Prodrom, folgen
heftige Schmerzen eines oder mehrerer
Muskelgebiete, oft unter Fieber (von nicht
charakteristischer Curve) ein. Die Musculatur
ist, auch auf Palpation, äusserst schmerz¬
haft, bald von derber, bald succulenter
Beschaffenheit; Haut und Zellgewebe dar¬
über ödematös geschwellt, meist entzünd¬
lich verändert (Dermatitis). Auch Schleim-
hautentzündunghäufig.Bewegungshemmung
zunächst durch Schmerz, später durch de-
generative Veränderungen der Muskeln be¬
dingt, kann bis zu völliger Lähmung und
Versteifung sich steigern. Contracturen
nicht selten. Elektrische Reaction even¬
tuell bis zum völligen Verschwinden her¬
abgesetzt In späteren Stadien Atrophie.
Im Gegensatz zu anderweitigen Publica-
tionen fand Oppenheim die Prognose
nicht ganz ungünstig, da er unter 12 Fällen
nur 2 Todesfälle, dagegen 5 Heilungen
sah. Für letztere scheint die von ihm ein¬
geschlagene Therapie von Bedeutung.
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In den ersten Stadien Diaphorese, am
besten durch heisse Luit, eventuell durch
Aspirin und heisse Getränke unterstützt.
Nach einigen Wochen Thermomassage,
Elektrotherapie, später passive Bewegungen
und Aufenthalt in warmen Klimaten.
Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt.)
(Berl. klin. Woch. 1903, No. 17 u. 13.)
Ueber die Anwendung von Spiritus-
COmpressen ist in dieser Zeitschrift öfters
berichtet worden. Prof. N. A. Ssaweljew
wendet dieselben seit 2 Jahren bei Ent¬
zündungen der Pleura, des Peritoneums und
der Gelenke mit gutem Erfolge an. In
einem Falle von Peritonitis, die im An¬
schluss an Perforation eines Ulcus ventri-
culi sich entwickelte, führten Alcoholum-
schläge zu langsamer, aber vollständiger
Heilung. Ebenso günstig war der Erfolg
in einem zweiten Fall, wo die Peritonitis
nach einer Appendicitis auftrat. In einem
Fall von Pleuritis sicca hörten die Schmer¬
zen bald nach der Application der Spiritus-
compressen auf und führten rasche Heilung
herbei. (Wratschebnaja Gaseta 1903, No.
3—6). Auch J. S. Kolbassenko sah von
den Alcoholcom pressen gute Erfolge. Vor
5 Jahren erkrankte er im Anschluss an eine
Verletzung der Hand, die er sich bei der
Entbindung einer bald darauf an Septicämie
zu Grunde gegangenen Frau zugezogen,
unter dem Bilde einer Blutvergiftung.
Nachdem 12 Tage lang der ganze linke
Arm ununterbrochen in Alcoholcompressen
gewickelt wurde, Hessen die Erscheinungen
nach und Verf. genas. Seither hat er die
Spiritusumschläge an einem sehr reichen —
meist chirurgischen — Material angewandt.
Sehr wichtig ist es nach Kolbassenko’s
Angaben, dass die Compresse regelrecht
applicirt wird: Die betroffene Stelle wird
erst mit einer in 700—90°—95<> Spiritus ge¬
tauchten Gazeschicht und darüber mit einem
viel grösseren Stück Paraffinpapier, bezw.
Wachstuch bedeckt. Zarte empfindliche
Haut oder offene Wunden sollen erst mit
Xeroform bestreut bezw. mit einer Xero¬
formsalbe bestrichen werden. Verf. konnte
sich auch von der anästhesirenden Wir¬
kung der in Rede stehenden Umschläge
überzeugen; solange die Compresse feucht
ist, fühlt man in den entzündeten Geweben
keinen Schmerz, ist der Spiritus verdun¬
stet, tritt wieder Schmerzhaftigkeit ein.
Die anästhesirende Wirkung der Com-
pressen soll sich nicht nur auf die un¬
mittelbar darunterliegenden Gewebsteile,
sondern auch auf die in der Tiefe gele¬
genen Partien erstrecken, daher der
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
378
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
Nutzen derselben bei Entzündungen der
tiefen Halsdrüsen, bei Endo- und Para-
metritis. Die Compressen werden solange
gelegt, bis die spontanen Schmerzen ver¬
schwinden. Ein weiterer Vorzug der er¬
wähnten Umschläge ist darin zu suchen,
dass sie im Stande sind, eine beginnende
Eiterung zum Stillstand zu bringen. Bei
Furunkeln und Carbunkeln verschwindet
bald nach der Application der Compresse
der Schmerz, die Eiterung und Gewebs-
nekrose bleiben entweder ganz aus, oder
entwickeln sich nur in geringem Maasse.
Verf. führt zur Bestätigung des oben
Auseinandergesetzten mehrere Kranken¬
geschichten an. N. Grünstein (Riga).
(Praktitscheski Wratsch 1903, No. 9.)
Fast zu gleicher Zeit sind drei Ab¬
handlungen über die hereditäre Syphilis
erschienen. Inderersten giebt Matzenauer
ein kurzes Resummg über seine Anschau¬
ungen entsprechend einem in der Wiener
Gesellschaft der Aerzte gehaltenen Vor¬
trag. Die sehr ausgedehnte, über mehrere
Sitzungen sich erstreckende Discussion,
welche sich an diesen Vortrag anschloss,
ist in dem ersten der unten bezeichneten
Werke ausführlich mitgetheilt. Gerade
diese Discussion beansprucht einen hohen
Werth, giebt sie doch die Anschauungen
der hervorragendsten Syphilidologen und
Pädiater Wiens in prägnanter Weise
wieder, ich erwähne nur Hochsinger
Kassowitz, Riehl, Neumann, Zeissl,
Finger u. A. In dem zweiten Werk giebt
Matzenauer an der Hand einer kritischen
Litteraturübersicht und eigener Erfahrungen
eine Uebersicht über den Stand unserer
Kenntnisse über den Gegenstand. Das
Wesentliche seiner Ausführungen — und
das, was besonders heftig angefochten
wurde — ist die Leugnung der paternellen
Vererbung.
In ebenso eingehender Weise, aber mit
wesentlich anderen Schlussfolgerungen be¬
handelt Rosinski die gleiche Frage, wo¬
bei er auch den praktischen Gesichts¬
punkten gerecht wird. Ich möchte auf
keine der behandelten Fragen hier im
Referat genauer eingehen. Denn bei der
Schwierigkeit des Gegenstandes ist dies
ohne ausführliche und eingehende Er¬
örterung garnicht möglich; ich verweise
diesbezüglich auf eine ganz kurze, lediglich
praktischen Zwecken dienende Darstellung
der Frage in der „Berliner Klinik“, Heft 179.
Dagegen möchte ich gerade auch Praktikern
die Lektüre der unten angegebenen drei
Werke auf’s angelegentlichste empfehlen.
Die hereditäre Syphilis gehört zu den inter¬
essantesten, wichtigsten und umstrittensten
Kapiteln der Medizin. Die Beurtheilung
der hierher gehörenden Fragen ist ohne
gute Kenntniss der Grundlagen kaum
möglich; und doch wird dem praktischen
Arzt, dem Hausarzt häufig genug diese
Aufgabe gestellt. Durch die Lektüre des
Matzenauer’schen und des Rosinski-
schen Buches wird man gerade wegen ihrer
verschiedenen Standpunkte über alle Streit¬
fragen orientirt. Buschke (Berlin).
(Rudolf Matzenauer, Die Vererbung der Syphi¬
lis. Ist eine paterne Vererbung erwiesen? Separat¬
abdruck aus der Wiener klinischen Wochenschrift
1903, No. 7—13. Wien, bei Braumüller. 126 S. —
Rudolf Matzenauer, Die Vererbung der Syphilis.
Ergänzungsheft zum „Archiv für Dermatologie und
Syphilis“. Wien, bei Braumüller. 1903. 216 S. —
Bernhard Rosinski, Die Syphilis in der Schwanger¬
schaft. Stuttgart, bei Ferdinand Enke. 1903. 206 S.)
Das Tannoform, über dessen Anwen¬
dung bei Intertrigo der kleinen Kinder wir
bereits an dieser Stelle (vergl. diese Zeit¬
schrift 1902, S. 379) berichtet haben, wird
auch von S. E. Ostrowsky zum selben
Zweck sehr warm empfohlen. Verfasser
wandte dasselbe entweder in Form eines
Streupulvers mit Amylum ana oder — und
letzterer Form giebt er den Vorzug — als
10%ige Vaselinsalbe, die nach gründlicher
Reinigung der betroffenen Stelle mit
22%iger Borsäurelösung in dicker Schicht
aufgetragen wurde. Verfasser berichtet
über 50 Fälle, in denen er das Tannoform
angewandt hat. Es waren darunter mehrere
stark vernachlässigte Fälle (6), die bereits
zu Geschwürsbildung geführt haben. Stets
trat nach kurzer Zeit prompte Heilung ein.
Die Secretion hörte auf, die Röthung ver¬
schwand und die Haut nahm ihr normales
Aussehen an. Reizerscheinungen hat Ver¬
fasser auch bei einige Tage alten Kindern
nicht beobachtet. Verfasser empfiehlt den
Müttern eine Tannoformsalbe vorräthig zu
halten und beim ersten Auftreten von
Röthung an irgend einer Hautfalte dieselbe
zu appliciren. N. Grünstein (Riga).
(Russki Wratsch 1903, No. 2.)
In einer systematischen Untersuchung
zur Erforschung der Wirkungen des
Tetanusgiftes, die wegen ihrer Anordnung,
Schärfe der Beweisführung und Exakt¬
heit mustergiltig ist, haben Hans Meyer
und Fred Ransom bedeutsame Auf¬
schlüsse über den experimentell erzeugten
Tetanus beim Thier gebracht, von denen
hier einige allgemein interessirende Befunde j
wiedergegeben seien. Beim Versuchsthier
entsteht bei subkutan er Toxineinspritzung I
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August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
379
zunächst ein lokaler Tetanus, der beim
Menschen auch bisweilen zur Beobachtung
kommt. Der Gifttransport vom Unter¬
hautzellgewebe nach dem Angriffspunkt
des Tetanustoxins, den mit der betreffen¬
den Extremität durch den Nerven verbun¬
denen Vorderhornganglien des Rücken¬
marks, findet ausschliesslich im mo¬
torischen Nerven statt. Das subcu-
tan einverleibte Gift wird von den Ner-
venendausbreitungen in den Muskeln auf¬
gesaugt und im Achsencylinder weiter¬
befördert. Diese Oberaus merkwürdige
Giftbeförderung ist mehrfach sichergestellt:
1. Nach subcutaner Impfung mit Tetanus¬
gift lässt sich das Gift (ausser im Blut) im
Nerven nachweisen. Marie und Morax,
welche diese Befunde bestätigten, konnten
ihrerseits durch Nervendurchschneidung
nachweisen, dass der Transport an die
Integrität des Achsencylinders gebun¬
den ist. 2. Die gefährdeten Rückenmarks-
centren können durch Sperrung der zu¬
führenden Nerven infolge Einspritzung
von Antitoxin in den Nerven vor dem
Toxin geschützt werden. 3. Das Aufwärts¬
steigen des in die motorischen Vorderhorn¬
ganglien transportirten und sich ausbrei¬
tenden Gifts in den Nervenfasern des
Rückenmarks wird durch Durchschneidung
des Rückenmarks gehemmt
Eine gleiche Wanderung im Nerven haben
Di Vestea und Zagari für das Lyssa¬
gift wahrscheinlich gemacht
Entsprechend der erwiesenen Vorstel¬
lung von dem Gifttransport in der lang¬
samen Protoplasmaströmung im Achsen¬
cylinder der motorischen Nerven wird die
Incubationszeit abgekürzt bei Injec-
tion von Tetanusgift in den betreffenden
Nerven selbst, noch mehr und sicherer
bei Einspitzung desselben in das Rücken¬
mark. Zur Erzielung gleicher Effecte
bedarf es vom Nerven aus geringerer
Giftmengen. „Der grösste Theil der
Incubationszeit beim Tetanus wird für die
intraneurale Giftwanderung bis zu den
giftempfindlichen Rückenmarkscentren ver¬
braucht.“ Hat die Vergiftung von der
Blutbahn aus stattgefunden, so tritt das
Gift zu allen motorischen Nervenendi¬
gungen, die Erkrankung ist dann diffus.
Die Versuchsergebnisse, nach denen
das subcutan oder selbst in grösster Menge
in die Blutbahn eingespritzte Antitoxin
nicht in die Nerven einzudringen ver¬
mag, erklärt,warum eine tödtlicheVergiftung
mit Tetanusgift beim Menschen in der Regel
nicht mehr aufgehoben wird, wenn man
Antitoxin mehrere Stunden später injicirt.
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Nur das in der Blutbahn noch kreisende
oder im Unterhautzellgewebe noch befind¬
liche Toxin kann vom Antitoxin neutralisirt
werden; das vom Nerven aufgesaugte Toxin
wird dagegen vom Antitoxin nicht erreicht.
Dagegen ist es gelungen, ein durch v. Beh¬
ring activ sehr hoch immunisirtes Kanin¬
chen durch Injection von Tetanusgift in den
Nervus ischiadicus tödtlich zu vergiften.
Interessant ist, dass ein im Anschluss
hieran von E. Küster auf der chirurgischen
Klinik in Marburg behandelter Kranker,
bei dem trotz baldiger Subcutaninjection
grosser Antitoxinmengen ein lokaler Tetanus
ausbrach, nach Einspritzung von Antitoxin
in die Nervenstämme des erkrankten Armes
die tetanischen Symptome verlor und später
ganz genas. E. Rost (Berlin).
(Arch. f. exp. Pathol. und Pharmakol. 1903 Bd. 49
S. 369;.
Der Theer, welcher früher fast das ge¬
bräuchlichste Mittel bei der Behandlung von
Hautkrankheiten war, ist in letzter Zeit durch
eine Anzahl neuerer Medikamente in den
Hintergrund gedrängt worden. Als Ur¬
sache hierfür sind besonders einige äussere
unangenehme Eigenschaften des Theers
anzusehen, besonders seine Farbe, seine
Dickflüssigkeit. Sack und Vieth haben
nun die färbenden Bestandtheile des Theers,
besonders das Pech, entfernt und ihn in
eine dünnflüssige Form übergeführt, sodass
er äusserlich dem Olivenöl ähnlich wird,
sich von diesem aber durch seinen speci-
fischen Theergeruch unterscheidet. Dieses
Oel mischt sich mit Olivenöl, Alkohol,Aether,
Paraffin, Vasogen. Das Präparat Anthra-
sol hat die vorzüglichen Eigenschaften des
Theers, scheint aber nicht so leicht wie
jener irritirend zu wirken. Es wird zu
Pinselungen als reines Anthrasol, ferner
2,0—10,0 zu 30,0 Alkohol absolutus, dann
als Anthrasolsalbe und -Paste gebraucht.
Als jucklinderndes Mittel, ferner bei para¬
sitären Hautaffectionen, bei Ekzemen (mit
Ausnahme acuter Ekzeme) hat es sich nach
Angabe Sacks bewährt.
Buschke (Berlin).
(Manch, medicin. Wochcnschr. 1903, No. 11.)
Vor etwa einem Jahre erschien eine
Abhandlung von Arlt, in welcher über die
erfolgreiche Behandlung von 107 Fällen von
Trachom und seinen Complicationen mit
Cuprum citricum berichtet wird. Bald
darauf wurden diese günstigen Erfahrungen
auch von Bock bestätigt, der mit dem in
Betracht kommenden Mittel von 58 Tra¬
chomkranken 38 vollständig heilen konnte.
48*
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
380
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
Auf Veranlassung von Professor Bell-
jarminoff unterzog nun A. G. Krotoff
die Wirkung dieses Präparats einer Nach¬
prüfung. Er wandte das Cuprum citricum
in verschiedenen Formen an: 1. als 5%
bis 10%iges Pulver (Cupr. citric. 5.0—10,0
Sacch. albi 100,0); 2. Als 5%—20%ige
Glycerinsalbe; 3. In Form von Stiften mit
5%—• 20%igem Cuprumgehalt und 4. in
Form einer Lösung von 1 :9143. Bei der
Anwendung des Präparats in den drei
ersten Formen beobachtet man vermehrte
Thränensecretion, wobei die Thränen eine
grünliche Färbung annehmen, Gefühl von
Hitze und geringes Brennen im Auge. Die
Bindehaut wird hyperämisch. Alle Erschei¬
nungen halten ca. 10 Minuten an und ver¬
schwinden. Krotoff unterzog der Behand¬
lung mit Cuprum citricum 109 Augenkranke,
von denen 89 genau verfolgt werden kon¬
tern Es waren darunter 39 mit Pannus
tenuis, 17 mit Pannus crassus bei bereits
vernarbter oder noch in Narbung begrif¬
fener Bindehaut, 7 mit frischem Trachom,
5 mit chonischer Conjunctivitis und 21
mit Corneaflecken. Vollständige Heilung
trat in 62,0%, in 35,2% war kein Erfolg
zu constatiren, in 2,20/ 0 trat Verschlimme¬
rung ein. Am günstigsten war der Erfolg
bei Pannus tenuis, wenn man das citro-
neunsaure Kupfer als Salbe verordnete,
während bei frischem Trachom der Stift
die besten Dienste leistete. Die bereits
von Bock hin und wieder beobachtete
Exacerbation des Leidens nach der Appli¬
cation von Cuprum citricum hat auch
Verf. 11 mal gesehen, doch hielt dieselbe
nur kurze Zeit an und verschwand, sobald
das Mittel ausgesetzt und Atropin ein¬
geträufelt wurde.
Verf. schliesst sich der bereits von Bock
ausgesprochenen Ansicht an, dass das
Cuprum citricum allen bis jetzt gebräuch¬
lichen Mitteln bei der Behandlung der in
Rede stehenden Krankheiten entschieden
vorzuziehen sei. N. Grünstein (Riga).
(Russki Wratsch 1903, No. 17.)
Mit dem Veron&l, über das seine Ent¬
decker in dieser Zeitschrift zuerst berichtet
haben (vergl. S. 96), hat A. Lilienfeld
(Gr. Lichterfelde) in ca. 60 Fällen mit 450
Einzeldosen so günstige Erfahrungen ge¬
macht, dass er es als „fast unfehlbares
Hypnoticum, dem keines unserer bisherigen
Schlafmittel an Sicherheit und Intensität
der Wirkung gleichkommt“, bezeichnet
Er gab es in einer Dosis von 0,5 g, die in
einer Tasse warmen Thee, warmer Milch u.a.
gern genommen wurde, und sah danach
sehr schnell, etwa im Verlauf einer Viertel¬
stunde einen vollkommen ruhigen, von
unangenehmen Neben- und Nachwirkungen
freien Schlaf, der in den meisten Fällen
7—9 Stunden anhielt. Die Wirkung war
gleich gut bei rein nervöser Agrypnie, bei
Neurasthenie, Hysterie, Hypochondrie,
melancholischer Depression, wie bei be¬
ginnender progressiver Paralyse, bei or¬
ganischen Rückenmarkskrankheiten, wäh¬
rend und nach der Morphiumentziehung,
auch bei Herzaffectionen u. a. Einmal
sah Lilienfeld bei einer Hysterica einen
dem Antipyrinexanthem ähnlichen Haut¬
ausschlag nach dem Mittel auftreten, der
indessen jedesmal rasch wieder verschwand;
sonst beobachtete er keinerlei Neben¬
wirkungen, insbesondere blieben Herz- und
Athmungsthätigkeit völlig unbeeinflusst.
Gewöhnung an das Mittel oder Ab¬
schwächung seiner Wirkung trat auch nach
längerem Gebrauche nicht ein. F. K.
(Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 21.)
Ueber Veränderungen des Wurm¬
fortsatzes bei gynäkologischen Er¬
krankungen hat Hermes von 75 nach¬
einander folgenden Laparotomien eine Zu¬
sammenstellung gemacht. Es fanden sich
bei 40 Pat. = 53,3% der Fälle solche
und zwar bei Tubargravidität (22) 8 mal,
bei Pyosalpinx (20) 9 mal, bei chronischer
Adnexerkrankung (16) 11 mal, bei Ovarial-
cyste (11) 5 mal und bei 6 Myomen 4 mal.
In 14,7% der Fälle handelt es sich um
gleichzeitige chronische Erkrankung des
Wurmfortsatzes, ohne directen Zusammen¬
hang mit der Genitalaffection und ohne
klinisch nachweisbare Symptome (Ver¬
änderung der Schleimhaut, abnormer In¬
halt etc.). Bei den übrigen Formen ge¬
wann mit Ausnahme eines Falles, wo die
Spitze des Fortsatzes in einen Ovarial-
abcess hineintauchte, Hermes den Ein¬
druck, dass die häufigste Art der Fort¬
leitung von den primär erkrankten Genital¬
organen auf den Wurmfortsatz hin statt¬
findet. Es sind Verwachsungen, die zu
secundärer Erkrankung führen. Bei jeder
Laparotomie, die wegen Genitalerkrankung
ausgeführt wird, soll man sich von dem
Zustande des Wurmfortsatzes überzeugen
und bei Erkrankungen diesen entfernen,
wenn nicht besondere Contraindicationen
vorhanden sind. P. Strassmann.
(Deutsche Zeitschrift für Chirurgie).
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
381
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Ueber die physiologische Dosirung von Digitalispräparaten.
Von Dr. A. Wolff -Rostock
Im September 1902 brachte ich in dieser
Zeitschrift eine kurze Besprechung über
dieses Thema. Die in Aussicht gestellten
weiteren Untersuchungen des Herrn Prof.
Dr. Kobert der von Brunnengräber im
Vacuum getrockneten und pharmako-
dynamisch untersuchten Digitalisblätter
sind jetzt vollendet.
Kobert schreibt darüber:
„Die sorgfältige Prüfung der mir in einer
Blechbüchse übergebenen zerkleinerten
Digitalisblätter des vorigen Jahres ergab
Folgendes:
Aussehen der Blätterstücken (wie auch
der unzerkleinerten Blätter) schön grün.
Besonders nach vorsichtigem Einweichen
in Wasser sehen die Blätter und Blatt-
stücken frischen auffallend ähnlich,
so dass man kaum glauben kann, dass
sie schon ein Drogenalter von einem
Jahre haben. Der Chlorophyllgehalt
scheint dem Aussehen nach ganz unver¬
ändert zu sein. Die mikroskopische
Untersuchung zeigt, dass alle Gewebstheile
und Haargebilde prachtvoll erhalten sind.
Die physiologische Prüfung ergiebt
dagegen ganz unzweifelhaft, dass über 50°/ 0
der wirksamen Stoffe verschwunden sind.
Während nämlich bei der Prüfung des
vorigen Jahres 5 mg Folia genügten, um
das Herz von Mittelfröschen zum Stillstand
zu bringen, genügen jetzt 10 mg Folia kaum,
um bei den kleinsten Fröschen unseres
Vorraths, d. h. bei solchen von 25 g, eine
deutlich ausgesprochene und andauernde
Stillstellung des Herzens in Systole (bei
Einspritzung unter die Beinhaut) zu Stande
zu bringen. Bei ordentlich grossen Exem¬
plaren von Rana esculenta (Mittelfrösche
hier zu Lande haben 40—45 g Gewicht)
reichen selbst 20 mg Folia (als Wasser¬
auszug) dazu noch nicht hin.
Daraus ergiebt sich:
Dass die vorliegenden Blätter jetzt
zwar noch gerade so stark sind, wie die
Ziegenbein’schen in der besten Zeit
Anmerkung des Herausgebers! Wir bringen
die vorliegende Mittheilung gern zum Abdruck, um
das Interesse unserer Leser an dieser wichtigen
Frage wach zu erhalten. Wir möchten aber be¬
sonders darauf hinweisen, dass die hier empfohlene
Art der Conservirung durch Compression noch der
praktischen Erprobung bedarf. Bisher ist noch nicht
bewiesen, dass die Digitalis-Tabletten wohlgetrock¬
netem Pulver oder gar den Dialysaten überlegen
sind. Hoffentlich sind wir bald in der Lage Über
praktische Erprobung der Brunnengräber’schen
Präparate zu berichten.
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waren. Dieser Autor giebt nämlich 40 mg
Droge auf 100 g Frösche als gerade aus¬
reichend, um Systole zu erreichen, an.
Trotzdem muss ich die Blätter als sehr
minderwerthig geworden erklären.“
Durch diese exacten Untersuchungen
hat Kobert nochmals festgestellt, dass es
also nach unseren bisherigen Methoden
nicht möglich ist, den Wirkungswerth einer
Digitalisdroge für das Jahr hindurch auf¬
recht zu erhalten. Ich hatte die Hypothese
aufgestellt, däss durch die eigenartige
Vakuumtrockenmethode mit ziemlicher Ge¬
wissheit anzunehmen sei, dass die in den
Blättern durch Fermentwirkung bedingte
Glykosidspaltung nicht mehr eintreten
würde, der trotzdem eingetretene vermin¬
derte Wirkungswerth dürfte auf die Oxy¬
dationswirkung des Sauerstoffs der Luft
durch Oxydasewirkung zurückzuführen sein.
Hier ist also der Hebel anzusetzen, um ein
Dauerpräparat zu erhalten. Mit Kobert
bin ich der gemeinsamen Ansicht, dass zu
der vorzüglichen Prozedur des sofortigen
Trocknens im Vakuum noch die zweite
Prozedur der sofortigen Kompression unter
Zusatz möglichst indifferenter Stoffe, (Milch¬
zucker, Amylum, ja nicht Gummi arabicum,
da dieses Oxydasen enthält) und Umgeben
der gepressten Tabletten mit einem den
Sauerstoffdurchtritt völlig hindernden Ueber-
zug hinzukommen muss.
Die Firma Dr. Brunnengräber, Ro¬
stock, bringt nun derartige präparirte Ta¬
bletten in den Handel. Dieselben werden
in zwei verschiedenen Stärken angefertigt.
Die erstere Form besteht in einer Glas¬
röhre mit 10 Tabletten, jede Tablette ent¬
spricht einem Esslöffel voll eines wirksamen
Digitalisinfuses mit angegebenem Wirkungs¬
werth nach der physiologischen Unter¬
suchung. Diese moderne Darreichungsform
dürfte dem „alten Schlendrian des Digitalis¬
infuses“ (Kobert) vorzuziehen sein. Denn
hierdurch hat der Arzt es in der Hand
dem Patienten eine genaue haltbare Digi¬
talisdose zu verabfolgen, während bei
einem Infus häufig die Beobachtung gemacht
ist, dass sich die wirksamen Bestandteile,
da dieselben in Wasser unlöslich sind, am
Boden absetzen, und somit der Patient an¬
fänglich eine unwirksame Mixtur ein¬
nimmt und zum Schluss eine zu starke
Dosis bekommt; ausserdem tritt besonders
in der warmen Jahreszeit rasch ein Trübe-
und Schleimigwerden des Infuses ein
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
382
Die Therapie der Gegenwart 1903.
August
Namentlich für die Praxis des Landarztes
dürfte die Tablettenform äusserst practisch
und werthvoll sein.
Um nun auch denjenigen Aerzten ge¬
recht zu werden, die ein Infusum verordnen
wollen, werden auch die reinen Folia
Digitalis pulv. ohne Zusatz in Tabletten¬
form ä 1,0 g gepresst, so dass der Apo¬
theker auf Verordnung des Arztes ein In¬
fusum aus diesen Tabletten hersteilen kann.
Die Löslichkeit der Tabletten erleidet
durch den Ueberzug keine Einbusse, die
Wirkung wird gegenüber dem Digitalis-
infusum wohl ebenso prompt eintreten, da
die Blätter als feinstes Pulver zur An¬
wendung kommen.
Gerade die Verwendung der ganzen
Droge gegenüber den reinen Alkaloiden
als Heilmittel passt sich den Anschauungen
der jüngsten Zeit an. Auf dem letzten
internationalen Kongress für angewandte
Chemie weist Prof. Thoms in Gemein¬
schaft mit dem bekannten Pharmakologen
Liebreich darauf hin, dass für die Werth¬
bestimmung der narkotischen Extracte der
Gesammtgehalt derselben an organischen
Säuren und an Gerbstoffen von sehr grosser
Bedeutung ist. (S. Pharm. Ztg. No. 53 1903.)
Gerade diese gerbstoffhaltigen Substanzen
zeigen ganz andere Resorptionsbedingungen
und Wirkungen, als die reinen Alkaloide
oder deren Salze. Die kleinen Mengen,
zum Theil noch unbekannter Nebenbestand-
theile vervollständigen erst das Gesammt-
bild des pharmakologischen Werthes eines
Arzneipräparates und bedingen zum grössten
Theile dessen Individualität. Die zwei
wichtigsten Glykoside der Digitalisdroge
sind das Digitalinum (verum Kiliani) und
das Digitoxinum (Merck), ausserdem sind
noch verschiedene andere Glycoside darin
enthalten, die Wirkung dieser beiden ge¬
nannten ist nicht identisch, aber sich sehr
ähnlich. Da diese Präparate ausserdem
sehr schwierig darzustellen sind, so dürfte
die oben erwähnte Anregung dahin lenken
gerade bei Digitalis eine notorisch wirk¬
same Gesammtdroge zu verwenden, die
frei ist von den giftig wirkenden, krampf¬
erregenden Spaltungsproducten Digitaliresin
und Toxiresin. Eine solche Droge liegt
uns in den „Folia Digitalis Brunnengräber“
vor. Hierdurch werden wir allerdings
wieder von der Werthbestimmung der
exacten Einzelanalyse derJDrogen auf die
Kumulativwirkung des Gesammtgehaltes
zurückgeführt, jedoch ist nicht zu vergessen,
dass die Einzelanalyse durch die werth¬
vollere pharmacodynamische Prüfung phy¬
siologisch am lebenden Thier ersetzt ist.
Diese Methoden werden schliesslich den
Sieg behalten und wahrscheinlich auch da¬
zu beitragen, den Drogen in ihrem schweren
Kampfe gegen die „chemisch reinen“ Er¬
zeugnisse der Industrie den Standpunkt
zu wahren, der ihnen noch immer zu- I
kommt.
Zu dem Referat der Pharm, Central¬
halle (1902 No. 43) über Folia Digitalis
Dr. Ziegenbein. „Die kleinen Original¬
packungen ermöglichen es jedem Apotheker
allzeit genau eingestellte, in der Wirkung
stets gleichmässige Droge und Tinctur vor¬
rätig zu halten"; sowie zu der Abhandlung
über Folia Digitalis Ziegenbein und
Brunnengräber, Therapie der Gegen¬
wart Mai 1903 von G. Klemperer, „die
Anregung Focke’s, dass so hergestellte
Blätterpulver an Stelle der ganzen Blätter
in die Pharmakopoe aufgenommen werden
sollten, verdient allgemeine Unterstützung",
gestatte ich mir folgende These aufzu¬
stellen: „Es ist auf Grund vorliegender
Untersuchung nicht ausreichend, dass die
Digitalisblätter sorgfältig getrocknet, phar-
makodynamisch untersucht und dann in
den Handel gebracht werden“. Denn selbst
wenn die Blätter in luftdichten Gefässen
aufbewahrt werden, so ist dennoch von
vornherein genügend Sauerstoff mit ein¬
geschlossen, so dass eine Oxydation statt¬
findet, weiterhin hat bei dem jeweiligen
Oeffnen des Gefässes zur Entnahme der
Sauerstoff ungehindert Zutritt, der Wir¬
kungswert geht zurück und der ursprüng¬
lich festgestellte pharmakodynamische Titre
wird illusorisch. Diese Mängel sind bei
der vorliegenden Tablette beseitigt, zu
der vorzüglichen Procedur des sofortigen
Trocknens im Vacuum kommt noch die
zweite Procedur der sofortigen Compression
unter starkem Druck. Die eingeschlossene
Luft wird aus den Zwischenräumen heraus¬
gepresst, der Oxydation von aussen her
wird ein Widerstand entgegengestellt durch
das Umgeben der gepressten Tablette mit
einem den Sauerstoffdurchtritt völlig hin¬
dernden Lacküberzug.
Es liegt uns somit in der „Brunnen-
gräber'schen Digitalis -Tablette" eine
Arzneiform par excellence vor. Die wesent¬
lichen Vorzüge bestehen in dem pharma-
kodynamisch festgestellten und gleich¬
bleibenden Gesammtwirkungswert der
Droge, in der unbegrenzten Haltbarkeit und
genauen Dosirung einem Infusum gegen¬
über und in der bequemen und schnellen
Darreichung. Es wäre den Aerzten zu
empfehlen durch Verordnungen dieser
dosirten Tabletten (1 Tablette gleich einem
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1903,
383
Esslöffel wirksamen Infuses) das alte Digi-
talisinfusum abzuschaffen. Sollte aus be¬
stimmten Granden ein Infusum vorgezogen
werden, dann dürfte an Stelle der un¬
sicheren Folia ein Infus. Tablett. Digitalis 1,0
„Brunnengräber“ zu verordnen sein.
Es wird auch fernerhin eine pharraa-
kodynamisch eingestellte Digitalis- und
Strophanthustinctur aus frischen Blättern,
beziehungsweise grünen Samen in den
Handel gebracht werden. Ein Röhrchen
mit 10 Tabletten kostet in der Apotheke
1,25 Mk., stellt sich also nicht wesentlich
teurer, wie ein Infusum; ein aus den 1,0 g
Tabletten verordnetes Infusum hat den¬
selben Preis wie die bisherigen Infuse.
Wie Dr. Fränkel (Therapie der Gegen¬
wart No. 3. 1902) durch experimentelle
Versuche festgestellt hat, bewegt sich der
Wirkungswerth der Infuse und Tincturen
von Digitalis und Strophanthus in enorm
weiten Grenzen. Nach der aufgestellten
Tabelle III wurden zwischen 6 Digitalis-
infusen (1 :100) die aus verschiedenen
Apotheken bezogen wurden, Differenzen
von 100— 275 % gefunden, d. h. ein Esslöffel
des stärksten Infuses, enthält ebensoviel
wirksame Substanz, als 27s Esslöffel voll
des schwächsten Infuses. Zwischen den ver¬
schiedenen untersuchten Digitalistincturen
wurden Unterschiede von 100—400% ge¬
funden. Noch weit schlimmer bei der
Strophanthustinctur, es ergaben sich die
enormen Schwankungen von 100—6000%.
Da wir nun genau dosirte, haltbare
Präparate dieser so wichtigen Digitalis-
und Strophanthuspräparate haben, ist es
dringend zu erstreben, dass Angesichts
dieser jeder präcisirten Arzneidosirung
spottenden Ungenauigkeit strengere An¬
forderungen hierfür von dem Deutschen
Arzneibuch verlangt werden. Namentlich
müssen die Präparate frei sein von den
Gehirnkrampf erregenden Spaltungspro-
ducten Digitaliresin und Toxiresin, die bei
dem bisher üblichen langsamen Lufttrocken¬
verfahren entstehen.
Diese Präparate werden von der Firma
Dr. Chr. Brunnengräber in Rostock
unter Musterschutz bezw. Patent in den
Handel gebracht, um vor Nachahmungen
geschützt zu sein.
Die Besprechung der „Rahmgemenge“ im Februarheft der Therapie der
Gegenwart und ihre Kritiker. 1 )
Von Fritz Geras heim- Worms.
Mit einem durch „Unbefangenheit“ aus¬
gezeichneten Urtheil verarbeitet ein junger
Assistent der Breslauer Kinderklinik in
einem Referat 3 ) meinen nach einem Vor¬
trag weiter ausgearbeiteten Artikel „Die
Rahmgemenge und ihre neuere Ergänzung“,
indem er — so scheint es — den Beweis
liefern will, dass man ohne genauere
Kenntniss der Geschichte und der gegen¬
wärtigen Lage dessen, was man bespricht,
am schnellsten zu einem Urtheil kommt.
Der mit „Indicationen“ als Schlagwort
operirende Kritiker sieht Rahmgemenge
und Ramogen, i. e. künstliches Rahmge¬
menge, nicht als wesentliche Bereiche¬
rung unserer Ernährungstherapie an, ohne
anscheinend eine Ahnung davon zu haben,
dass diese Präparate seit 30 Jahren min¬
destens das leisten, wie alle anderen
Muttermilchsurrogate, dass durch zahlreiche
J ) Bartenstein in Monatsschrift fQr Kinder¬
heilkunde II., Mai 1903, No. 2.
*) Ich habe auf eine ungewöhnlich feindselige
Besprechung (deren Inhalt aus dem obigen ersicht¬
lich ist), der in dieser Zeitschrift No. 2 abgedruckten
Uebersichtsarbeit am 2. Juli 1903 nachfolgende Er¬
widerung eingesandt und erst unter dem Datum
vom 15. Juli 1903 eine Weigerung des Herrn Keller-
Bonn, meine Erwiderung zu nehmen, erhalten. Ich
gebe dieselbe deshalb, leider verspätet, hier wieder.
Litteraturangaben (citirt in Biedert’s „Kin¬
derernährung“) das eingehend begründet
ist, dass jene trotz der neuen und neuesten
Methoden und Moden in der Säuglings¬
ernährung stets beharrlich den vornehmsten
Platz einnehmen . . , .
Als Antwort gestatte man mir die
wörliche Wiedergabe einer Zuschrift des
Herrn Geh. Rath Biedert, die mir auf
meine Anfrage in dieser Sache zugeht.
„Sieh, es gleicht der Wein dem Regen,
Der im Schmutze selbst zum Schmutz wird,
Doch auf gutem Boden Segen
Bringt und jedermann zu Nutz wird,
Nach des Trinkenden Begabung.
„So geht es auch jedem Schriftwerk;
seine Wirkung hängt an des Lesenden
Begabung. Wer hier nicht weiss, dass
das Rahmgemenge schon über ein Viertel¬
jahrhundert durch alle Moden durch an
Ansehen wächst, wer weder die zahllosen
genau notirten Einzelbeobachtungen im
Hagenauer Spital, noch die zahlreichen
daraus und sonst veröffentlichten Mitthei¬
lungen *) kennt; wer dann noch nicht weiss,
•!) Virch. A. LX 1874. J. f. K. X1 1877; ibid. XII und
XIV, XVII, XIX, XXVIII. D. mcd. W. 3/1883.
Biedert, die diätet. Behandl. d. Verdauungsstör,
d. Kinder. Stuttgart 2. Aufl. 1901. — Gernsheim
M. M. W. 1900 u. v. A.
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Original frnm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
384
August
Die Therapie der Gegenwart 1903.
dass Soxhlet jetzt erst wieder in Hamburg
trotz seinem ausgezeichneten Nährzucker
erklärt hat, das Rahmgemenge sei das
einzige Ersatzmittel der Muttermilch, in
dem ein klares natürliches Princip mit
Glück verwerthet ist — fast wörtlich der
einleitende Satz meiner im Titel genannten
Arbeit — und wer doch bei einer zusam¬
menfassenden Darstellung darüber mitredet,
wird eben das liefern, was der „Weise“
und Dichter oben sagt. Wer von der
praktischen Wichtigkeit einer scharf ab¬
gemessenen oder einer Minimal-Nahrung
noch nicht durchdrungen ist, wird den
„Ausnahmefall“ einer geglückten über¬
reichen Nahrungszufuhr so schief taxiren,
wie diesmal ein jungerMann in einer jungen
Zeitschrift, und wer von der nun ein Jahr¬
zehnt spielenden Angst vor zu starker
Verdünnung, zu grosser Wasserzufuhr,
nichts weiss, wird auch die Anführung
der Fälle einer erfolgreichen Verwendung
einer solchen so wenig würdigen wie viel¬
leicht auch das Bemerkenswerthe, das eine
glänzende Ernährung mit nur conservir-
ter Milch (Löflund) und Rahmconserve
das ganze erste Jahr hindurch (bei dem
Kinde eines Arztes) gerade jetzt hat. Dass
aber ausgewählte Fälle von Gelingen einer
Ernährung da, wo andere versagt hatten,
das vornehmste Beweisstück für eine Me¬
thode sind, sollte man in Breslau wissen
(vergl. Czerny J. f. K. XVI 3/4 und
Biedert Kinderernähr. S.156). Wenn diese
Untersuchungen zur Einführung der Butter¬
milchernährung und das häufige Fehlen
frischer Buttermilch von verlässlicher Zu¬
sammensetzung zur Schaffung haltbarer
Buttermilchmischungen und von ^Butter-
milchconserven Anlass gab, so sollte die
Insinuation, dass das einer Fabrik zu lieb
geschehe, anständigerweise von einem
Breslauer nicht ausgehen, welcher wohl
weiss, dass man bei Kindersuppen manch- i
mal auf ganz bestimmte Fabriken für
Lieferung wichtiger Bestandtheile hinweisen
muss.“ j
Nach diesen Ausführungen des Herrn
Geh. Rath Biedert will ich noch der
Hoffnung Ausdruck geben, dass der Bres¬
lauer Paediater vielleicht aucn weiss, dass
Biedert die Kindersterblichkeit von einem
höheren Standpunkt aus betrachtet und
dass er für die so wahrgenommene sociale
Ursache derselben das allein mögliche
Heilmittel in diesem Zusammenhang sucht
Dass er für dies Ziel nicht nur die aus
den „Fabriken“ kommenden kleinen Ab¬
gaben durch einen gemeinnützigen Verein
nutzbar machen will, sondern dafür auch
eine beträchtliche Menge kostbarer Zeit
und Arbeit und neben diesen stetige eigene
Zuwendungen opfert, braucht den Respect
eines jungen vor einem verdienten alten
Herrn nicht zu vermindern.
Zur selben Zeit ungefähr, wie dieser
Anwurf erfolgte (mit Dat. vom 11.6. 03)
erhielt Biedert einen Brief eines hervor¬
ragenden Collegen (Universitätsprofessor
und Director einer Poliklinik) mit eingehen¬
der Darlegung einer Lebensrettung in der
Familie des Schreibers durch die Biedert-
sche Rahmconserve, dessen Schluss ich
herzusetzen in der Lage bin: „Empfangen
Sie, verehrter Herr Geh. Rath, im Namen
meiner Familie unseren innigsten Dank
mit dem Wunsche, dass Ihr segensreiches
Wirken auf dem Gebiete der Kinder¬
ernährung möglichst vielen Familien in
gleicher Weise Glück bringe, überall be¬
kannt werde zum Wohle und Besten der
armen schwächlichen Kinder.“
Ein Fall von Vergiftungserscheinungen nach dem Gebrauch von Borax
mittelst Sprayapparat.
Von Dr. Wilh. Dosquet-Manasse-Berlin.
Wenn sich auch immer mehr die Reihen
derjenigen zu lichten beginnen, welche die
Gesundheitsschädlichkeit der Borsäure und
des Borax leugnen möchten, empfiehlt es
sich doch, jeden Fall, der einen positiven Be¬
weis für die Schädlichkeit dieser Präparate
liefert, in die Oeffentlichkeit zu bringen.
Der Postillon Ph. W., 27 Jahr alt, suchte
im Februar h. a. wegen Halsschmerzen die
Poliklinik der Charite auf. Dort wurde ihm
eine Flüssigkeit verordnet, die 1 Theelöffel
Borax auf */2 Liter Wasser enthielt.
Jedesmal, wenn sich der junge, kräftige
Mann mittelst Zerstäubungsapparates kleine
Mengen dieser Flüssigkeit in die Nase und
den Rachen gebracht hatte, traten Uebel-
keit und Schwindelanfälle ein, sodass er
seinen Dienst nicht versehen konnte.
Als der Patient nach ßtägiger Appli¬
cation der Boraxlösung, die stets von den¬
selben üblen Folgen begleitet war, zur
Zerstäubung von Camillenthee aus eigenem
Antriebe überging, blieben die oben er¬
wähnten Erscheinungen fort.
Für die Rcdaction verantwortlich: Prof. G. Klempererin Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Oesterreich-Ungarn.
Eugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julias Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban&Schwarzenberg
in Wien und Berlin.
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Die Therapie der Gegenwart
1903 herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer September
Nachdruck verboten.
Die Behandlung: der Nierenstein-Krankheit.
Von G. Klemperer.
ii. 1 )
In der vorigen Vorlesung habe ich aus¬
einandergesetzt, dass Nierensteinkoliken
zumeist von selbst zur Ausstossung eines
Nierensteins führen und dass in seltenen
Fällen der Stein durch chirurgischen Ein¬
griff entfernt werden muss. Ich fügte hin¬
zu, dass die wichtigste Aufgabe der Be¬
handlung erst nach dem Abgang eines
Steines beginnt. Es gilt dann den Patien¬
ten so zu berathen, dass er von Recidiven
seines Leidens verschont bleibt. In der
heutigen Vorlesung will ich diese Pro¬
phylaxe der Nierensteinkrankheit darlegen
und begründen.
Jeder Nierenstein besteht aus einem
krystallinischen Bestandteil und einer orga¬
nischen Grundsubstanz. Wir wissen durch
Moritz, dass diese organische Grundsub¬
stanz jedem einzelnen Krystall angehörig
ist, der aus dem normalen Urin sich nieder¬
schlägt. Wenn man ein Krystall von Harn¬
säure oder oxalsaurem Kalk vorsichtig
unterm Mikroskop zur Auflösung bringt,
kann man sich diese Grundsubstanz als einen
Schatten sichtbar machen, ja man kann sie
mit Farbstoffen imprägniren. Die chemische
Isolirung dieser Grundsubstanz, welche von
allen aus dem Urin krystallisirenden Salzen
eingeschlossen wird, ist bisher nicht ge¬
lungen, weil es kaum möglich ist, sie in
genügender Menge zu gewinnen. Die mi¬
krochemischen Reactionen weisen auf eine
eiweissartige Substanz hin. Ich habe Grund
anzunehmen, dass es sich um die Schleim¬
substanz handelt, welche in jedem normalen
Urin enthalten ist, und deren Abscheidung
als Nubecula man in jedem frischen Harn
bald nach dessen Entleerung beobachten
kann. Die durch Centrifugirung noch kör¬
perwarmen Urins gewonnene Nubecula
lässt keine mikroskopische Structur er¬
kennen; sie erscheint als eine homogene
durchscheinende Gallerte, die übrigens
häufig einige kleinste Kryställchen suspen-
dirt enthält. In ihren chemischen Eigen¬
schaften wird die Nubecula durch das Aus¬
fallen in dem abgekühlten Urin denaturirt,
l ) Vortrag, gehalten im Fortbildungskursus für
praktische Aerzte. (Vergl. den ersten Vortrag im
December-Heft 1902.)
man kann sie danach nicht mehr in Wasser
lösen. Sie scheint der normalen Schleim¬
haut des Nierenbeckens bezw. der Blase
zu entstammen und aus Nucleoalbumin zu
bestehen.
Die unbezweifelbare Thatsache, dass
die organische Gerüstsubstanz der kry¬
stallinischen Abscheidungen einen Bestand-
•theil jedes normalen Urins bildet, ist für
! die Prophylaxe der Nierensteinkrankheit
von der grössten Bedeutung. Nach der
älteren Lehre, dass ein primärer Katarrh
; der Schleimhäute die Grundsubstanz der
: Nierensteine erzeugte, behielt die interne
Therapie stets etwas Problematisches, da
der steinbildende Katarrh sich der Behand¬
lung zu entziehen schien. Nun wir wissen,
I dass ein Concrement sich stets bilden kann,
wenn Krystalle innerhalb der normalen
Harnwege aus dem Harn ausfallen, da sie
die Gerüstsubstanz immer vorräthig finden,
darf die Verhinderung des Ausfallens
von Krystallen aus dem Urin als die
wesentlichste Aufgabe unserer Prophylaxe
, derNierensteine bezeichnet werden.— Zwei¬
tens ist zu sagen, dass ein Krystall und
auch mehrere Krystalle noch keinen Stein
1 bilden, wenn sie nicht Gelegenheit haben,
lange am Ort der Bildung liegen zu bleiben,
um durch Apposition zu wachsen. Die
! zweite Aufgabe der Prophylaxe besteht also
1 in der Entfernung kleinster Krystall-
bildungen aus den Harn wegen.
Obwohl von diesen beiden Aufgaben
die erste, die Verhinderung des Ausfallens
i der im Urin gelösten Substanzen als die
wichtigste erscheint, will ich die zweite,
die Ausspülung doch ausgefallener Kry¬
stalle, zuerst behandeln. Denn die Er¬
füllung der ersten Aufgabe setzt bei wei¬
tem vielseitigere Ueberlegungen voraus.
Es gibt verschiedenartige Substanzen im
1 Urin, deren Ausfallen zu Steinbildung
führen kann (Harnsäure und ihre Salze,
oxalsaurer Kalk, phosphorsaurer Kalk); je
nachdem die Behandlung auf die bessere
Lösung des einen oder andern dieser
Bestandtheile zielt, ist diese Aufgabe in
anderer Weise zu lösen. Die zweite Auf-
I gäbe aber ist eine rein mechanische; es
| kommt darauf an, kleine Krystallkörperchen
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386
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
herauszuspülen und dies muss immer in
gleicher Weise geschehen, wenn auch die
chemische Zusammensetzung der Concre-
mentchen eine ganz verschiedene ist.
Ich bespreche also zuerst die mecha¬
nische Prophylaxe der Nephrolithiasis,
welche durch die Flüssigkeitszufuhr ge¬
währleistet wird, zu zweit die causale Pro¬
phylaxe, welche durch Diätetik wie durch
medicamentöse und hygienische Maass¬
nahmen angestrebt wird.
A. Die Flüssigkeitszufuhr.
Die Bildung eines Nierensteines kann
nie zu Stande kommen, wenn dauernd ein
reichlicher Strom von Flüssigkeit durch die
Harnwege sich ergiesst. Wo der Urin nur
spärlich abgesondert wird, bilden sich leicht
Harnsteine. Die geringe Harnmenge bildet
eine concentrirte Lösung, aus der die zur
Krystallisation geneigten Bestandtheile
leichter ausfallen wie aus verdünnten Lö¬
sungen. Einzelne Krystalle aber werden
durch eine reichliche Diurese fortgespült,
während sie bei spärlichem Fliessen liegen
bleiben und sich allmählich vergrössern.
Also kommen Nierensteine in allen Zu¬
ständen von Oligurie häufig vor. Bei Herz¬
kranken mit Stauungserscheinungen sind
Nierenkoliken und Hämaturien nicht selten;
oft genug lehrt der überraschende Abgang
von Concrementen, dass es sich nicht um
den meist diagnosticirten hämorrhagischen
Infarct gehandelt hat. Wenn ein Gleiches
bei chronischen Nierenkranken verhältniss-
mässig selten ist, so liegt es wohl daran,
dass hier mit der Oligurie auch eine Ver¬
minderung der im Urin gelösten Bestand¬
theile einhergeht. Die Nierensteine, welche
in den ersten Lebensmonaten beobachtet
werden, rühren von der Harnstockung der
ersten Lebenstage her. Manches Concre-
ment, das bei Gesunden abgeht, mag
während einer früheren fieberhaften Krank¬
heit entstanden sein, die mit ihrer spär¬
lichen Urinausscheidung günstige Ent¬
stehungsbedingungen darbot.
Im Gegensatz zu diesen oligurischen Zu¬
ständen sind Nierensteine bei Polyurien
höchst selten. Wenn ein Diabetiker eine
Nierenkolik bekommt, kann man darin ein
Zeichen einer sehr energischen Behandlung
sehen, die das Hauptsymptom des Leidens
gründlich beschränkt hat; bei Diabetes
insipidus ist Nierenkolik wohl noch nie
vorgekommen; die oft discutirte Seltenheit
von Nierensteinen bei Leukämie und Gicht,
trotz der bei diesen Affectionen regel¬
mässigen starken Harnsäureausscheidung,
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ist nur durch die gewöhnlich reichliche
Urinmenge zu erklären.
Die Nierensteine, mit denen wir ge¬
wöhnlich zu thun haben, bilden sich in
Folge der geringfügigen Harnabsonderung,
die bei sehr vielen Menschen die Regel
ist, weil sie viel zu wenig Getränk zu sich
nehmen. Es giebt Viele, namentlich Frauen,
welche nur trinken, wenn sie ausge¬
sprochenes Durstgefühl haben, und da dies
sehr wechselnd ist und bei manchen auf¬
fallend schnell gestillt wird, so kommen in
der That häufig genug solche gewohn-
heitsmässigen Oligurien zu Stande. Bei
vielen Frauen kommt noch die missver¬
ständliche Auffassung gewisser populär-
medicinischer Lehren hinzu; sie glauben
die von der Mode vorgeschriebene Schlank¬
heit um so eher zu erlangen oder zu be¬
wahren, je mehr sie sich des Trinkens ent¬
halten. Wenn man controlirt, was sehr
viele Damen gewöhnlich an flüssiger Nah¬
rung zu sich nehmen, so sind es ein bis
zwei Tassen des Morgengetränks, zu Tisch
wenige Löffel Suppe und ein Glas Wein,
danach eine Tasse Kaffee, und zu Abend
oft genug auch nicht mehr als */4 1 Getränk,
so dass Tags über kaum mehr als 1 1 zu¬
sammenkommt. In meiner Privatklinik
habe ich bei körperlich gesunden Damen
der besseren Stände, denen die Flüssig¬
keitsaufnahme vollkommen freistand, Tage
lang hintereinander 24stündige Urinmengen
von 4—600 ccm notirt. Bei Männern ist so
grosse Enthaltsamkeit im Genuss von
Flüssigkeiten viel seltener zu finden. Hier
liegt die Fehlerhaftigkeit in der ausserordent¬
lichen Unregelmässigkeit der Flüssigkeits¬
aufnahme. Oft genug hört man, dass
Herren in der Frühe eine Tasse Thee mit
Gebäck geniessen und dann erst nach fünf
bis sechs Stunden, oft noch später, wieder
etwas trinken. In vielen Fällen hat die
Abendmahlzeit zwischen 7 und 8 Uhr
Abends stattgefunden und das dabei con-
sumirte Getränk hat vor dem Schlafen¬
gehen den Körper schon wieder verlassen,
so dass der Frühurin spärlich und hoch
gestellt ist. Das sind Bedingungen der
zeitweisen Oligurie, die ohne Weiteres zur
Entstehung von Nierensteinen Veranlassung
geben können. Oft genug wird nun frei¬
lich die Ebbe des Vormittags bezw. des
Tages durch die abendlichen Fluten alko¬
holischen Getränks abgelöst, und durch die¬
selben gewiss auch manches Krystallagregat
aus der Niere geschwemmt, das ohne diesen
in anderer Beziehung weniger lobenswerthen
Bier- und Weinconsum zum Concrement
ausgewachsen wäre.
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September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
387
Gegenüber diesen unhygienischen Ge¬
wohnheiten muss als erstes Gesetz der
Prophylaxe der Nephrolithiasis verkündet
werden: Die Getränkaufnahme sei
ausreichend und geschehe in regel- !
massigen Zwischenräumen, so dass |
sie eine ununterbrochene Durchspülung des |
Harnapparates verbürgt. Die tägliche
Harnmenge gesunder Erwachsener soll
1500—2000 ccm betragen, eher mehr als j
weniger. Zieht man die Wasserverluste
durch Haut, Lungen und Darm in Betracht,
so ist eine Flüssigkeitsaufnahme von etwa
2 1 /* 1 in 24 Stunden mindestens nothwendig.
Diese ist am besten so anzuordnen, dass
zu den drei Mahlzeiten, in welche die
meisten Menschen ihre Nahrung ein-
theilen, je Va 1 getrunken wird, dass aber
zwischen denselben des Vormittags und I
Nachmittags je eine Flüssigkeitsaufnahme
stattfindet und dass unbedingt vor dem
Schlafengehen noch ein Nachttrunk ge¬
nehmigt wird. In vielen Familien, nament- |
lieh in kleinern Städten wird dieses Postulat j
erfüllt durch die in unserm Sinne löbliche ;
Einrichtung eines „zweiten Frühstücks*
zwischen erstem Frühstück und Mittag, und
einem „Nachmittagskaffe“ (der Jause der
Oesterreicher). In den Grossstädten ist
diese Ordnung gewöhnlich zu Gunsten der
obligaten Dreitheilung in Frühstück, Mittag,
Abendbrot oder bei den Höhergestellten
zeitlich noch ungünstiger in Frühstück,
Luncheon und Dinner aufgegeben.
Welche Art von Flüssigkeit in den ein¬
zelnen Mahlzeiten genehmigt wird, spielt
bei der Rücksicht auf die hier geforderte
Reichlichkeit und Regelmässigkeit der Diu¬
rese eine untergeordnete Rolle. Die spe-
cielle Indication der diätetischen Prophylaxe
macht bei manchen Diathesen Thee, Milch
und Cacao weniger wünschenswerth, wäh¬
rend sie für gewöhnlich zuzulassen sind.
Ein Verbot alkoholischer Getränke ist für
die Prophylaxe der Nierensteine keinesfalls
notwendig; Bier und leichte Weine können
sogar in mancher Beziehung als nützlich
betrachtet werden. Das Beste ist auch
hier das Wasser. Für die meisten Kate¬
gorien von Nierensteinen empfehlen sich
zum regelmässigen Genuss schwach alka¬
lische und kohlensäurehaltige Getränke,
wie sie die Natur so reichlich darbietet.
Es braucht aber wohl kaum besonders be¬
tont zu werden, dass es keinen durchgreifen¬
den Nutzen haben kann, wenn Jemand
etwa 4 Wochen lang ein solches Wasser
zu sich nimmt. Das mag ja für die Zeit
des Kurgebrauchs ganz nützlich sein, aber
sicher vor der Bildung von Nierenteinen
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ist nur, welcher sein Leben lang für regel¬
mässige und aussreichende Diurese sorgt.
— Es sei mit Rücksicht auf manche mo¬
derne Irreleitung besonders hervorge¬
hoben, dass auch die Art des Wassers
verhältnissmässig nebensächlich ist, wenn
nur regelmässig getrunken wird. Auch
Brunnen- oder Leitungswasser sind sehr
nützlich. Heranwachsende Kinder bekom¬
men so selten Nierensteine, weil sie oft
klares Wasser trinken, und auch in der ar¬
beitenden Bevölkerung kommen namentlich
bei den Frauen Nierenkoliken so viel seltener
vor als bei den Bessersituirten, weil sie viel
häufiger gewöhnt sind bei der Arbeit und
zu den Mahlzeiten Wasser zu trinken.
Den Nutzen und die Annehmlichkeit der
bekannten natürlichen Mineralwässer ver¬
kenne ich nicht, wir dürfen ihn aber auch
nicht zu hoch einschätzen. Das Alkali
des Wassers kann leicht durch etwas mehr
vegetabilische Bestandteile der Kost ersetzt
werden. Ueberdies kann man natürlich
auch kleine Mengen Natron bicarbonicum
dem Trinkwasser zusetzen. Wenn man
Wasser mit Citronensaft mischt und dessen
Säure vorsichtig mit wenig doppeltkohlen¬
saurem Natron abstumpft, so erhält man
ein Getränk, das den Wässern von Fachin¬
gen, Bilin, Vichy, Offenbach, Salzbrunn
u. s. w. wohl gleichwertig ist.
Zum Schluss will ich für solche, die
eine reglementarische Festsetzung lieben,
eine Getränkordnung hersetzen, wie ich sie
oft Solchen verordne, die an Nierenkoliken
oder Nierenstein gelitten haben.
7—8 Uhr Vm.: 1/2 1 Kaffe oder Thee
oder Milchcacao oder Mehlsuppe.
11 Uhr Vm.: V 4 1 Bouillon oder Citronen-
wasser oder Mineralwasser oder Milch.
2 Uhr Nra.: J /4 1 Suppe, V 2 I Tafelgetränk
(je nach Gewohnheit oder specieller Indi¬
cation Mineralwasser oder Citronenlimo-
nade oder Obstsaft oder Bier oder Wein.)
5 Uhr Nm.: x /4 1 Getränk (Milchkaffee
oder Thee oder Wasser).
8 Uhr Nm.: ^2 1 Bier oder Wasser oder
Milch, auch Sauermilch.
11 Uhr Nm.: */4 1 alkoholisches oder
wässriges Getränk (event. Zuckerwasser
oder Citronensaft oder Baldrianthee).
Man wird diese Trinkregel in verschie¬
denster Weise variiren und den Geschmacks¬
richtungen und medicinischen Indicationen
Rechnung tragen können, wenn nur das
Resultat erzielt wird, dass die Patienten
alle 3—4 Stunden des Tages mindestens
V 4 1 Urin lassen und dass derselbe hell
und klar ist. Solange dieser Erfolg be¬
wahrt bleibt, kann man seinen Clienten
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Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
ruhigen Herzens garantieren, dass sie vor
der Bildung neuer Nierensteine beschützt
bleiben werden.
B. Die Nahrungszufuhr.
Man darf im Allgemeinen sagen, dass
jede einseitige Bevorzugung einer beson¬
deren Nahrungskategorie zu Nierensteinen
führen kann, insbesondere wenn sie sich
mit Unregelmässigkeiten der Getränkauf¬
nahme vereint. Ausschliessliche Fleisch¬
esser können Harnsäuresteine, fanatische
Vegetarier Oxalat- oder Phosphatsteine be¬
kommen. Das Heil liegt in der von der
Natur gebotenen gemischten Kost. Wer
stets zum Fleisch Gemüse und Früchte ge-
niesst, wer in richtiger Abwechselung Milch
und Eier mit Mehlspeise isst, dessen Urin
wird eine solche Zusammensetzung haben,
dass nicht leicht eine gelöste Substanz aus
demselben ausfallen wird. Ebenso darf
ganz im Allgemeinen der Rath gegeben
werden, die Speisen nicht zu stark zu
würzen oder zu salzen. Wer allzu
pikante und geräucherte Nahrung bevor¬
zugt, bekommt nicht selten Salzsäure¬
überschuss des Magens, der in vieler Hin¬
sicht für Nierensteindisponirte schäd¬
lich ist. Das Kochsalz der Nahrung aber
geht quantitativ in den Urin über, erhöht
dessen specifisches Gewicht und erleichtert
ceteris paribus das Auskrystallisiren anderer
gelöster Bestandteile. — Schliesslich ist der
Hinweis auf die Nützlichkeit regelmässigen
Lebens, unter Vermeidung grosser Er¬
regungen, auch hier am Platz. Denn nur
die allgemeine Gesundheit des Nerven¬
systems sichert die regelmässigen Func¬
tionen speciell der Magenverdauung, die
für die Normalität der Urinsecretion uner¬
lässlich sind.
Eine solche allgemeine diätetische Be¬
ratung wird am Platz sein und wohl auch
ausreichen, wenn wir nur im Allgemeinen
wissen oder Grund zu dem Verdacht haben,
dass Jemand an Nierensteinen gelitten hat.
Unsere Ratschläge werden aber etwas prä-
ciser ausfallen, wenn wir feststellen konnten,
was für eine Art von Nierenstein der Pa¬
tient entleert hat.
Die Untersuchung eines Concrements
ist nicht so schwer, wie viele Collegen
glauben. Ein Stück Platinblech, zur Noth
eine Porzellanscherbe, ist das Hauptinstru¬
ment. Darauf hält man eine kleine Pulver¬
menge, die man mit dem Taschenmesser
von dem Stein abgeschabt hat, über die
Flamme. Wenn nach der Verkohlung alles
verglüht und garnichts zurückbleibt, so be¬
stand das Concrement aus reiner Harn¬
säure; so ist es in mehr als der Hälfte
aller Fälle. Bleibt aber beim Glühen ein
Rückstand, so kann das Concrement aus
harnsaurer Salzverbindung oder oxalsaurem
Kalk oder phosphorsaurem Kalk bestehen.
Nun löst man eine neue Probe des Stein¬
pulvers in erwärmter verdünnter Salzsäure
und filtrirt; den Rückstand prüft man mit
der Murexidprobe auf Harnsäure; das
Filtrat macht man mit Ammoniak schwach
alkalisch, danach mit Essigsäure wieder
schwach sauer; ein weisser Niederschlag
ist oxalsaurer Kalk. Die Prüfung auf Phos¬
phorsäure verlangt Zusatz von molybdän¬
saurem Ammoniak, das ausserhalb der Labo¬
ratorien nicht so ohne Weiteres zu haben
ist. Aber diese Prüfung ist oft zu ersetzen
durch die Betrachtung des Urins des be¬
treffenden Patienten. Im Allgemeinen kann
man daran festhalten, dass Phosphatsteine
nur bei alkalisch reagirendem Harn Vor¬
kommen, während Uratsteine und Oxalat¬
steine aus saurem Urin ausfallen. Freilich
ist die Ermittlung der Zusammensetzung
des Concrements nicht immer so einfach,
und verlangt doch öfters eine laboratoriums¬
geübte Hand. Wer also im Einzelfalle
seiner Sache nicht sicher ist, wird gut
thun, das Concrement von einem Sachver¬
ständigen untersuchen zu lassen.
Hat man nun die Zusammensetzung des
Steins ermittelt, so kommt es darauf an,
eine solche Nahrungsmischung zu ver¬
ordnen, dass aus dem danach entleerten
Urin der ermittelte Steinbildner nicht mehr
ausfallen kann.
In vielen Fällen gelingt dies ohne
Schwierigkeit, wie aus unserer Besprechung
hervorgehen wird. Oft genug aber sind
so präcise Vorschriften nicht möglich, weil
viele Steine nicht nur aus einer, sondern
aus mehreren Substanzen bestehen. In
diesen Fällen thut man gut, sich auf die
oben gegebenen allgemeinen Vorschriften
zu beschränken. In jedem Fall aber hat
man sich vor zu rigorosen Beschränkungen
und zu weit gehenden Beeinflussungen zu
hüten. Es kann sonst leicht passiren,
dass man zwar das Ausfallen der einen
Substanz aus dem Urin verhindert, aber
nun erst selbst veranlast, dass eine andere
Substanz zum Auskrystallisiren gebracht
wird.
Unter Berücksichtigung dieser wesent¬
lichen Einschränkungen hat die diätetische
Prophylaxe der Nierensteine die folgenden
Fragen zu beantworten:
a) Welche Nahrungsmittel verursachen
das Uebertreten der steinbildenden Sub¬
stanz in den Urin?
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September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
389
b) Welche Nahrungsmittel beeinflussen
die Löslichkeit der steinbildenden Substanz
im Urin?
Wir wollen diese beiden Fragen im
folgenden für die drei Hauptcategorien
der Nierensteine beantworten.
1. Diätetische Prophylaxe bei harn¬
sauren Nierensteinen.
Die Harnsäure des Urins entstammt der
prosthetischen Gruppe der Nucleoproteide,
welche den wesentlichen Bestandtheil der
Zellkerne bilden; ob sie noch aus anderen
Quellen entsteht, ist zweifelhaft. Für die
praktische Diätetik darf als ausgemacht
gelten, dass Fleischkost reichlich Harn¬
säure bildet, am meisten die zellreichen
drüsigen Organe (Thymus, Leber, Niere
u. s. w.), während durch Milch und Eier,
Mehlspeisen und Pflanzenkost keine Harn¬
säure erzeugt wird. Obwohl individuelle
Schwankungen zu berücksichtigen sind,
kann man sagen, dass nach dem Genüsse
von 1 Pfund Fleisch in 24 Stunden etwa
1.5 g Harnsäure übertreten; nach 1 Pfund
Thymus beträgt die Menge sogar 2—3 g.
Bei gänzlich fleischfreier Diät verschwindet
die Harnsäure niemals ganz, da eine ge¬
wisse (endogene) Menge derselben stets
durch den im Körper stattfindenden Ab¬
bau von Nucleoproteiden gebildet wird.
Aber man kann durch eine lacto-vegeta-
rische Diät die tägliche Quantität der Harn¬
säure auf 0,4—0,6 g herabdrücken. Es ist
danach unbedingt richtig, Leuten, die harn¬
saure Nierensteine gehabt haben oder
Krystalle von Harnsäure mit dem Urin ent¬
leeren, eine gemischte Kost zu empfehlen,
in der nicht zu viel Fleisch enthalten ist;
etwa V 2 Pfund Fleisch wird die ungefähre
Tagesgabe sein. Ihnen aber das Fleisch
ganz zu verbieten ist keineswegs noth-
wendig, denn es giebt viele Möglichkeiten
die in den Urin übertretende Harnsäure
daselbst zur guten Lösung zu bringen.
Eben weil die Beförderung der Lösung
ebenso wesentlich ist wie Einschränkung
der Harnsäure-Produktion, kann man sich
alle Spitzfindigkeiten und Kleinigkeits¬
krämereien in der Diätverordnung wohl
ersparen. Es ist also gleichgiltig, welche
Sorten von Fleisch gegessen werden, es
ist auch kein Unterschied zwischen
schwarzem und weissem zu machen. Bouillon
braucht nicht verboten zu werden, denn die
darin enthaltenen Extractivstoffe tragen nur
ganz unwesentlich zur Erhöhung der Harn¬
säurezahl bei. Fisch ist ebenso zu behandeln
wie Fleisch, da er erwiesenermassen in
derselben Weise auf die Harnsäureproduc-
tion wirkt. —
Von grosser Bedeutung nun ist die
weitere Frage, wodurch die im Allge¬
meinen so schwer lösliche Harnsäure im
Urin in Lösung gehalten wird. Wir sind
heut in der Lage diese Frage erschöpfend
zu beantworten und danach in präciser
Weise unsere diätetischen Massnahmen zu
treffen. Im Wesentlichen kommt die Harn¬
säure in zwei Formen im Urin vor: als leicht
lösliche Basenverbindung und als schwer
lösliche freie Harnsäure. Wir wissen durch
die schönen Untersuchungen von His, 1 )
dass die letztere fast nur spurweis wirklich
gelöst ist, dass sie vielmehr zum grössten
Teil in einer Art von Suspension, in phy¬
sikalischer (übersättigter) Lösung, sich be¬
findet, aus der sie durch blosses Schütteln
zur Ausfällung gebracht werden kann. 2 )
Dass der Urin die Harnsäure in dieser
wunderbaren Art in Lösung halten kann,
dankt er seiner colloidalen Eigenschaft, die
ihm durch den normalen Harnfarbstoff, das
Urochrom, verliehen wird. Je dunkler ge¬
färbt ein Urin ist, desto mehr freie Harn¬
säure vermag er in Lösung zu halten. In
dieser Eigenschaft müssen wir eine der
feinen Regulationen des Organismus be¬
wundern; je concentrirter ein Urin ist, desto
eher und schneller sollte er die Harnsäure
fallen lassen, aber der durch die Concen-
tration vermehrte Farbstoffgehalt wirkt der
Sedimentirung entgegen. 3 ) Es ist gewiss,
dass ohne diese Eigenschaft des colloidalen
Urochroms Nierensteine noch weit häufiger
sein würden. — Wir müssen aber be¬
kennen, dass wir auf die Fähigkeit des
Urins die freie Harnsäure physikalisch ge¬
löst zu erhalten durch die Diät in keiner
Weise einwirken können. Die Colloidalität
des Urins können wir nicht vermehren
und die Menge des Harnfarbstoffs nicht
beeinflussen; die letztere scheint eine
Function des Nierenepithels zu sein und
wird in anscheinend gleichbleibender Weise
tagtäglich abgeschieden; es hat sich bisher
nicht zeigen lassen, dass Schwankungen
der Diät zu Veränderungen der Farbstoff-
l ) Dieselben sind in dieser Zeitschrift (October 1901)
publicirt worden.
*) Nur die physikalisch gelöste, durch Aus-
schüttelung ausfällbare Harnsäure darf als .freie*
bezeichnet werden. Die früher gehegte Vorstellung,
dass ein Theil der Harnsäure beim Filtriren leicht
ausfiele, und deshalb als »frei* zu benennen sei, ist
als falsch erwiesen.
3 ) Aus übermässig concentrirtem Urin (bei Fieber
und Stauung) sedimentirt fast niemals Harnsäure,
sondern immer hamsaures Natron. Die Nierensteine
der Herzkranken bestehen nach meiner Beobachtung
immer aus Uraten.
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390
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
bildung geführt hätten. Nur durch die
Flüssigkeitszufuhr vermögen wir auf die
Concentration des Harnfarbstoffs einzu¬
wirken, aber da sind ja unsere Bestrebungen
aus den oben erörterten Gründen auf die
Verdünnung des Urins gerichtet, durch
welche seine Colloidalität gerade ver¬
mindert wird.
Da also die freie Harnsäure durch die
Diät nicht löslicher gemacht werden kann,
so muss unser Bemühen darauf gerichtet
sein, einen möglichst grossen Antheil
derselben in basische Bindung zu
bringen; denn das saure harnsaure Natron
ist bei Körpertemperatur in Wasser ver-
hältnissmässig leicht löslich. Das Verhält-
niss zwischen freier Harnsäure und saurem
harnsauren Alkali ist von der Reaction des
Urins abhängig. Die letztere wird bedingt
durch das quantitative Verhältniss zwischen
sauren und basischen Molecülen im Urin.
In dem Verhältniss zwischen salzartig ge¬
löster Harnsäure (saurem harnsaurem Al¬
kali) und freier (ausschütteibarer) Harn¬
säure ist ein quantitativ vcrwerth barer
Maasstab der Harnreaction gelegen. 1 )
Es ist nun festgestellt, dass die Reac¬
tion, d. h. also in meinem Sinn das Ver¬
hältniss zwischen freier und basischer Harn¬
säure, in ausserordentlicher Weise durch
die Diät beeinflusst werden kann. Fleisch¬
nahrung lässt dem Harn saure Molecüle
zufliessen, während vegetabilische Nahrung
alkalische Molecüle zuführt. Nach aus¬
schliesslicher Fleischnahrung ist die ge-
sammte Harnsäure in freier Form im Urin
enthalten und auf die physikalische Lösung
durch das Urochrom angewiesen. Kein
Wunder, dass es sehr leicht zum Ausfallen
einzelner Krystalle kommt, die gewisser-
maassen als Impfmaterial wirkend immer
weiteres Ausfallen verursachen. Bei über¬
wiegender Fleischnahrung und wenig pflanz¬
licher Kost beträgt der Gehalt an freier
Harnsäure 80—90 %, immer noch ein Ver¬
hältniss, das ein leichtes Ausfallen der¬
selben begünstigt. Bei vollkommen ge¬
mischter Kost ist das Verhältniss zwischen
freier und gelöster Harnsäure etwa 50%,
! ) Man kann dies Verhältniss im Laboratorium
feststellen, indem man zuerst die Gesammtharnsäure
nach Ludwig-Salkowski bestimmt und danach
diejenige Menge von Harnsäure findet, welche durch
24 stündige Ausschöttelung im rotirenden Cylinder
nach Zusatz von Impfsalz gewonnen wird. Die aus¬
geschüttelte Menge ist die freie, die Differenz zwischen
Gesammt- und freier Harnsäure ist die basisch ge¬
bundene. Ein minimaler Fehler, weicher durch den
chemisch gelösten Antheil der freien Harnsäure ver¬
ursacht wird, kommt praktisch nicht in Frage. Ueber
die esterartig gebundene Harnsäure vergl. den Ab¬
schnitt über Medikamente.
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d. h. die Hälfte der ausgeschiedenen Harn¬
säure ist als saures harnsaures Salz chemisch
gelöst, die andere Hälfte ist im Zustand
der übersättigten Lösung. Man kann nun
durch Steigerung der vegetabilischen Be¬
standteile und gleichzeitiger Verminderung
des Fleisches in der Nahrung das Verhält¬
niss nach Gefallen beeinflussen, dergestalt,
dass man bei rein vegetarischer Diät alle
Harnsäure in Form des harnsauren Natrons
zur Ausscheidung bringt. Damit ist dann
die sog. alkalische Reaction erreicht, der
Urin trübt sich durch Ausscheidung von
phosphorsaurem Kalk. — Für die prak¬
tische Diätetik ergiebt sich die Forderung,
die Nahrung so gemischt zu gestalten, dass
mindestens 50 % der Harnsäure als lös¬
liches Salz ausgeschieden werden. Das
wird dadurch erreicht, dass bei mittleren
Fleischmengen reichlich und regelmässig
Gemüse und Früchte genossen werden.
In Bezug auf die Reaction des Urins sind
dem Fleisch und dem Fisch die Legumi¬
nosen beizurechnen, die also nur sparsam
zu geniessen sind. Als Alkalibildner sind
alle Gemüse und Früchte gleichwerthig zu
betrachten, doch müssen verhältnissmässig
grosse Mengen genossen werden, um deut¬
liche Wirkungen zu erzielen. Es sind volle
Teller von Gemüse zu nehmen, wenn mög¬
lich zweimal am Tage, und die täglichen
Obstportionen müssen mindestens ein Pfund
betragen, wenn man bei mittleren Fleisch¬
mengen erreichen will, dass die Urinharn¬
säure zu mehr als 50% in gebundenem
leichtlöslichen Zustand erscheine. — Es
ist aber dies Verhältniss auch leicht da¬
durch zu erreichen, dass man der Nahrung
direkt Alkalien zuführt.
Man erhält bei gemischter Kost und
mittlerer Fleischmenge die gesammte Harn¬
säure in salzartiger Bindung, wenn man
5 Mal täglich 1 g doppeltkohlensaures
Natron einnimmt. Die Natronmenge muss
um so grösser sein, je mehr saure Molecüle
dem Urin zufliessen, d. h. unter normalen
Verhältnissen je mehr Fleisch, Fisch und
Leguminosen genossen werden. Wichtig ist
auch, dass man das Natron nicht unmittel¬
bar nach der Fleischnahrung einnimmt,
denn dann ist die Salzsäure im Magen
festgehalten und in Folge dessen der Urin
normalerweise säurearm; am besten erfolgt
die Natronzufuhr 3-—4 Stunden nach der
Fleischkost. Am zuträglichsten scheint die
Alkaligabe zu sein — und das berechtigt
sie unter den diätetischen Verordnungen
abzuhandeln — wenn man sie in Form
von natürlichen Mineralwässern einführt.
Zwei bis drei Mal täglich V 4 1 Fachinger
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Die Therapie der Gegenwart 1903.
391
oder eines ähnlichen Mineralwassers in
den Zwischenräumen einer im Uebrigen in
gewöhnlicher Weise gemischten Kost ge¬
nossen, drücken den Anteil der freien Harn¬
säure im Urin auf25—40% herab, wobei ein
Ausfallen kaum zu befürchten ist. Uebrigens
sei noch als besonders günstiger Umstand
hervorgehoben, dass diese Mineralwässer
eine grosse Menge freier Kohlensäure in
den Urin überführen, welche die an sich
schon erhebliche Löslichkeit des sauren
harnsauren Natrons noch erhöhen. — Es
braucht nicht noch einmal wiederholt zu
werden, dass die natürlichen Mineralwässer
durch gleichverdünnte Lösungen von Na¬
tron bicarbonicum ersetzt werden können
und dass namentlich verdünnte Obst- und
Fruchtsäfte mit einem kleinen Zusatz von
NaHCOs gleich günstige Wirkungen er¬
zielen. Alle Obstcuren, Trauben-, Citronen-
curen kommen hier in Betracht, doch sind
die letzteren Früchte verhältnissmässig
basenarm und bedürten eines geringen
Alkalizusatzes.
Es fragt sich nun, ob es in der ärzt¬
lichen Praxis ein leicht zu handhabendes
Mittel giebt, um das Verhältnis zwischen
freier und gelöster Harnsäure zu erkennen,
da doch die quantitative Feststellung des¬
selben nur durch complicirte chemische
Analyse möglich ist. Ein solches Mittel, aus¬
reichend scharf für practische Bedürfnisse,
ist in der Prüfung des Urins mit Lakmus-
papier gegeben. Urin, der seine gesammte
Harnsäure frei enthält, röthet deutlich blaues
Lakmuspapier, während solcher, der seine
gesammte Harnsäure basisch gebunden ent¬
hält, rothem Lakmus ganz deutlich blaue
Farbe verleiht. Bei etwa 25% freier Harn¬
säure wird blaues Lakmus kaum noch ver¬
ändert, während rothes eben einen blauen
Schimmer bekommt. Es ist also die für
Lakmus amphotere, an der Umschlags¬
grenze zwischen sauer und alkalisch
stehende Reaktion, die wir erstreben.
Wer sich in diese Verhältnisse ein¬
aben will, kann es ganz leicht an sich
selbst thun. Man lebe einige Tage aus¬
schliesslich von Fleisch, gehe allmählich
zu reiner Pflanzenkost über, nehme stei¬
gende Mengen alkalischer Wässer, und
prüfe dabei häufig die Reaction des Urins
mit Lakmuspapier, so wird man leicht die
Abhängigkeit derselben von der Diät er¬
kennen. Bei 20—25% freier Harnsäure
beginnen meist die Phosphate auszufallen.
Dann ist die Grenze erreicht, bis zu wel¬
cher man die Basenzufuhr treiben darf.
Ich darf die diätetische Prophylaxe, bei
Neigung zum Ausfallen von Harnsäure aus
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dem Urin, dahin präcisiren, dass die Kost
am besten aus mitderen Fleischmengen,
vielem Gemüse und Obst zusammengesetzt
werde, ohne besondere Einschränkung der
übrigen Nahrungsmittel, unter täglicher Zu¬
gabe von V 2 — 3 A 1 alkalischem Mineral¬
wasser.
2. Diätetische Prophylaxe bei Oxal¬
säuren Nierensteinen.
Der oxalsaure Kalk des Urins stammt
zum grössten Theil aus der Nahrung. We¬
sentliche Mengen von Oxalsäure sind im
Spinat und im Thee, auch im Cacao ent¬
halten, geringere Mengen auch in den
übrigen Gemüsen, im Obst, im Bier. Fleisch
ist ziemlich arm an Oxalsäure, nur der
bindegewebige Antheil kann erheblicher
zur Bildung derselben beitragen. In der
Nahrung ist die Oxalsäure zumeist als
unlösliches Kalksalz enthalten und wird
erst durch die Magensalzsäure löslich und
resorbirbar. Je saurer der Magensaft,
desto mehr Oxalsäure kann in den Urin
übergehen.
Man könnte den Urin möglichst arm an
Oxalsäure machen, wenn man Spinat, Thee
und Cacao gänzlich vermiede, das Fleisch
vor dem Genuss ganz von Sehnen und Faser
befreite und im Uebrigen etwas Alkali mit
der Nahrung genösse, um durch Ab¬
stumpfung der Magensäure die doch in der
Mahlzeit enthaltenen kleinen Mengen von
Oxalsäure unresorbirbar zu machen.
Auch hier aber stellt sich die Sache
ähnlich wie bei der Harnsäure; auch bei
gänzlicher Unterdrückung der Zufuhr kann
man den Urin nicht frei von Oxalsäure
machen. Die endogenen Quellen derselben
liegen im Kreatinin und der Glycochol-
säure, die nach neuern Experimenten als
Oxalsäurebildner anzusehen sind. Auch
bei der Oxalsäure wird es also empfehlens¬
wert sein, dieselbe Politik zu verfolgen wie
bei der Harnsäure; man wird versuchen,
durch die Diät die Löslichkeit der durch
den Urin ausgeschiedenen Oxalsäure zu
erhöhen. Zwei Factoren kommen hier in
Frage. Oxalsaurer Kalk wird leichter lös¬
lich in Lösungen von saurem phosphor¬
saurem Natron, dessen Menge im Urin um
so grösser ist, je stärker sauer dessen
Reaction ist. Wenn wir uns auf diesen
Factor verlassen wollten, so müssten wir
dem Oxaluriker ausschliesslich Fleisch ver¬
ordnen und dann würden wir ihn unter
die Bedingungen versetzen, die wir im
vorigen Abschnitt als besonders schädlich
erkannt haben. Es besteht zum Glück
noch ein zweiter Factor. Oxalsaurer Kalk
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
392
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
wird leichter löslich in Lösungen von
Magnesiäsalzen, schwerer löslich bei An¬
wesenheit von Kalksalzen. Es ist nun der
Gehalt an Kalksalzen relativ gross in der
Milch, in Eiern und in frischen Gemüsen,
während Fleisch, Leguminosen, Mehl¬
speisen , Kartoffeln und Aepfel reich an
Magnesia sind.
Es stellt sich also die diätetische Ver¬
ordnung einigermaassen entgegengesetzt
der im vorigen Abschnitt entwickelten, in¬
dem hier das Fleisch nützlich, das Gemüse
schädlich ist. Gerade deswegen aber muss
man sich vor Uebertreibungen hüten. Es
ist vor Allem zu bedenken, dass ein gewisser
Gehalt an Oxalsäure in der Nahrung durch
kleine Mengen Alkali unresorbirbar, also
unschädlich gemacht wird. In diesem Falle
muss natürlich das Alkali während der
Mahlzeit genommen werden. — In gleicher
Weise erlaubt für den Tisch .des Uratikers
wie des Oxalurikers sind die Mehlspeisen,
welche für den ersteren indifferent, für
den zweiten durch den Magnesiagehalt
nützlich sind. Auch die Früchte nament¬
lich die Aepfel sind beiden Kategorien zu
empfehlen.
Ich darf die diätetische Prophylaxe, bei
Neigung zum Ausfallen von oxalsaurem
Kalk aus dem Urin, dahin präcisieren, dass
die Kost am besten aus Fleisch und Mehl¬
speisen und mittleren Mengen von Gemüsen
und Früchten zusammengesetzt sei, unter
Vermeidung von Spinat, Ei, Thee und
Cacao, sowie grösserer Mengen von Milch.
Empfehlenswerth ist der Genuss alkalischer
Wässer zu eien Mahlzeiten.
3. Diätetische Prophylaxe bei
Phosphatsteinen.
Phosphorsaurer Kalk fällt aus dem
Urin aus, wenn in demselben die alkalischen
Molecüle gegenüber den sauren die Ober¬
hand gewinnen, wenn also der oben be¬
schriebene Zustand eintritt, dass sämmtliche
Harnsäure in basische Bindung über¬
gegangen ist. Diese alkalische Reaction
kommt bekanntlich zu Stande, wenn durch
bacterielle Infection des Urins der Harn¬
stoff in Kohlensäure und Ammoniak zer¬
setzt wird. Von dieser ammoniakalischen
Beschaffenheit des Urins, die sich leicht
durch den Geruch zu erkennen giebt, soll
aber hier nicht die Rede sein, obwohl sie
natürlich auch zu Harn- und Blasensteinen
Veranlassung giebt. Die causale Behand¬
lung dieser Zustände besteht in der Be¬
einflussung der primären Krankheits¬
zustände, welche die Urininfection ver¬
anlasst haben, bezw. in der Desinfection
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und Spülung der Harnwege. Hier ist
vielmehr nur von derjenigen Alkalisirung
des Urins die Rede, welche durch Zu-
fliessen basischer Molecüle bezw. die Ver¬
hinderung der Zufuhr saurer Molecüle vom
Blut her verursacht wird, die wir also als
hämatogene Alkalinurie bezeichnen dürfen. 1 )
Ueber diese Alkalinurie können wir nur
aussagen, dass sie oft mit der Ausscheidung
und dem Verweilen der Salzsäure im
Magen Hand in Hand geht. So sehen wir
bei allen Gesunden vorübergehend während
der Verdauung alkalische Reaction des
Harns auftreten; dieselbe ist um so aus¬
gesprochener, je grösser die aufgenommene
Mahlzeit gewesen ist. Kehrt die Salzsäure
in den Kreislauf zurück, d. h. 3—5 Stunden
nach einer grösseren Mahlzeit, so stellt
sich auch die saure Reaction des Urins
wieder her. In Fällen, wo der saure
Mageninhalt durch Erbrechen oder durch
Spülungen nach aussen entfernt wird, kann
die Alkalinurie dauernd bleiben. Man hat
das Gleiche bei hochgradig neurasthe-
nischen Menschen beobachtet, die zugleich
an Hyperacidität des Magensafts litten, und
hat angenommen, dass durch einen Krampf
des Pylorus bei diesen die Salzsäure ab¬
norm lange im Magen zurückgehalten wurde.
Ob es noch andere Ursachen der Säure¬
retention bezw. der Alkalizufuhr zum Urin
giebt, muss nach dem heutigen Stand
unserer Kenntnisse zweifelhaft bleiben. Es
ist neuerdings von Soetbeer gezeigt
worden, dass in einem Falle von Alkalinurie
mit gleichzeitigen Darmstörungen eine
Störung der Kalkausscheidung durch den
Darm bestand; ich bin aber vorläufig nicht
in der Lage zu beurtheilen, ob diesem
Befund allgemeinere Bedeutung zuzu¬
schreiben ist. Die Fälle von echter „Phos-
phaturie“ sind nicht häufig genug, um
solche Untersuchungen auf breiter Basis
leicht zu ermöglichen.
Nach unseren bisherigen Erfahrungen
muss die diätetische Prophylaxe der Al¬
kalinurie vor allem auf eine Verbesserung
der meist gestörten Gesundheit des all¬
gemeinen Nervensystems bedacht sein.
Wenn sich specielle Störungen in der
Function der Verdauungsorgane zeigen,
so muss man diese abzustellen versuchen.
Im Allgemeinen wird sich eine gemischte
Diät von Fleisch-, Mehl-, Milch- und Eier¬
speisen empfehlen. Vollkommene Ent¬
haltung von vegetarischer Kost ist durch¬
aus nicht anzustreben, denn erfahrungs-
gemäss wird die erhoffte Wirkung auf die
*) Man hat sie auch „fixe* Alkalinurie genannt,
weil eben das flüchtige Alkali Ammoniak fehlt.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
393
Die Therapie der
Harnbeschaffenheit dadurch nicht erzielt. I
Zu vermeiden ist nur ein Uebermass von
Gemüse und Obst, ebenso wie Fruchtsäfte
und natürlich auch alkalische Wässer. Die
hier besonders nothwendige Indication der
reichlichen Diuresis wird durch klares i
Wasser erfüllt, am besten mit einem reich¬
lichen Gehalt von Kohlensäure, da dieselbe
nach neueren Untersuchungen in relativ
grossen Mengen in den Urin Übertritt und
dadurch zur Mehrung der sauren Molecüle
Gegenwart 1903.
also zur Lösung der Phosphate beiträgt.
Alle natürlichen Sauerbrunnen und Säuer¬
linge sind hier zu reichlichem Getränk zu
empfehlen.
In der nächsten Vorlesung werde ich
die medicamentöse und hygienische Pro¬
phylaxe in den eben besprochenen Zuständen
und auch die Behandlung der selteneren
Formen von Nierensteinen erörtern.
(Ein Schlussartikel folgt.)
Aus dem pharmakologischen Institut der Universität Jena.
(Direktor: Prof Dr. Kionka.)
Nimmt das Soolbad unter den Bädern eine Sonderstellung ein?
Dr. med. Friedrich Bahrmann u. Dr. med. Martin Kochmann.
Das Bestreben die Wirkung der Sool-
bäder experimentell zu analysiren und da¬
mit ihrer praktischen Anwendung eine
theoretische Grundlage zu verschaffen, hat
eine Reihe von Arbeiten entstehen lassen,
die zwar durch die Summe des darauf ver¬
wandten Fleisses unsere Bewunderung her¬
ausfordern, hinsichtlich der gewonnenen
Resultate aber wenig glücklich gewesen
sind.
Da die Frage von der Resorptions¬
fähigkeit der Haut immer nebenhergeht
und von den verschiedenen Autoren ver¬
schieden beantwortet wurde, so wird man
sich denken können, dass die Arbeiten in
zwei Gruppen zerfallen, je nachdem diese
Frage positiv oder negativ beantwortet
wurde. Nachdem nun die Arbeiten von
Fleischer, 1 ) Du Mesnil 2 ) undFilehne 3 )
die Durchlässigkeit und Resorptionsfähig¬
keit der Haut in entscheidender Weise
klargestellt haben, wird wohl auch über
die Bäderwirkung und ihre Theorie ein
helleres Licht verbreitet werden. Nach
diesen Untersuchungen muss die Annahme
einer Einwanderung des Wassers und der
darin gelösten Salze, also der eventuell
wirksamen Bestandteile der Soolquellen,
durch die Haut als ein Irrtum bezeichnet
werden, da alle diese Arbeiten die Un¬
durchdringlichkeit der Haut für Wasser
und darin gelöste Salze erwiesen haben.
Filehne fand, dass unter anderem Chlor¬
natrium- und Chlorkaliumlösungen die
Epidermis nicht durchdringen können, da
sie von den die Haut bedeckenden und
durchsetzenden Cholesterinfetten und La¬
nolin nicht aufgenommen werden, und
schliesst seine Erörterungen mit den Wor¬
ten: „Dem Biologen wird vielleicht am in¬
teressantesten aus dem Mitgeteilten die
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’ Tatsache erscheinen, dass sich das Haut¬
organ des Warmblüters durch Cholesterin¬
bildung und durch Hauttalgüberzug gegen
das Eindringen nicht bloss des Wassers,
sondern namentlich der im Meeres- und
I Flusswasser gelösten Salze gesichert hat,
was für die im und auf dem Wasser leben¬
den Warmblüter ja in der Tat eine
Lebensfrage war“.
Für die Erklärungsversuche der Sool-
badwirkung ist diese Tatsache nicht we¬
niger eine Lebensfrage, und wenn auch in
I dieser Hinsicht noch nicht das letzte Wort
gesprochen zu sein scheint, so viel steht
fest, der Weg von aussen nach innen
durch die unverletzte Haut ist für Wasser
sowohl als für darin gelöste Substanzen im
Allgemeinen versperrt. Die Haut ist also
| lediglich Schutz- und Ausscheidungsorgan,
j Dass der Weg von innen nach aussen auch
! im Bade, entgegen einer lange bestehenden
! Meinung, offen ist und gelegentlich sehr
intensiv benutzt werden kann, beweisen
die Beobachtungen von Willemin, 4 )
Riess 5 ) und Lohsse, 6 ) die nach prolon-
girten warmen Bädern Gewichtsverluste
bis zu 1V 2 kg fanden, Verluste, die nicht
anders erklärt werden können, als durch
die Annahme, dass durch die Haut eine
Ausscheidung von Wasser und darin ge¬
lösten Substanzen (N, Chloriden und anderen
Bestandteile des Schweisses) stattgefunden
habe, was durch die von genannten Autoren
angestellten Untersuchungen auch bestätigt
wurde.
Wenn nun mit der Feststellung der Un¬
durchdringlichkeit der intacten Haut eine
Sonderwirkung der Soolbäder sehr unwahr¬
scheinlich wird, so finden wir diese Ver¬
mutung in der Litteratur bewahrheitet.
Es liegen eine ganze Reihe von Arbeiten
50
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
394 Die Therapie der
vor, in denen die widersprechendsten Re¬
sultate niedergelegt sind. Abgesehen von
der obenerwähnten Differenz finden wir
über die Stickstoffausscheidung im Harn,
die Abgabe der Chloride, über die Harn¬
menge, Pulsfrequenz, Blutdruck, Atem¬
grösse, O-Verbrauch und CCVAbgabe nach
Anwendung von Soolbädern sehr ver¬
schiedene, mit einander unvereinbare An¬
gaben. Bei näherer Sichtung des Materials
kommt man jedoch zu der Ueberzeugung,
dass man von den meisten namentlich der
älteren Arbeiten absehen kann, da einer¬
seits die Verfasser mit den ihnen zu Ge¬
bote stehenden Mitteln nicht im Stande
waren, Versuche, welche unseren heutigen
Anforderungen an Genauigkeit entsprechen,
anzustellen, andererseits die notwendigen
Voraussetzungen und Cautelen, welche
eine gewisse Garantie für einwandsfreie
Resultate bieten, ausser Acht Hessen. Zu¬
weilen hat man auch den Eindruck, als ob
die Untersuchenden, wenn auch unbewusst,
unter dem mächtigen Einfluss des „Brun¬
nengeistes“ der von ihnen zu ihren Ver¬
suchen benutzten Soolquellen stünden
oder sich ihm doch nicht völlig haben
entziehen können, indem sie zu Schlüssen
gelangen, für welche die Prämissen in ihren
Untersuchungsresultaten nicht gegeben
sind. Es mag immerhin dabei der Wunsch,
die therapeutischen Erfolge, welche ja
nicht zu leugnen sind, experimentell zu
erklären, nicht in letzter Linie mitsprechen.
Der Grund, dass so verschiedene und va-
riirende Resultate bei den Explorationen
gefunden wurden, lag und liegt wohl an
dem Mangel einheitlicher Grundlagen und
einer einheitlichen Methode. Solange diese
nicht gegeben sind, können wir keine mit
einander vergleichbaren Resultate er¬
warten.
Die Schwierigkeit, der specifischen Wir¬
kung der Soolbäder auf dem Wege ein¬
wandsfreier Versuche näher zu kommen,
ist allerdings gross, denn wir müssen alle
Einwirkungen, welche dem Wasserbade
ohne Salzzusatz zukommen, ausschliessen
oder doch die Anordnung des Versuchs
so treffen, dass man im Stande ist, die
eventuellen Sonderwirkungen des Sool-
bades genau von denen des einfachen
Wasserbades zu trennen, um ein Urteil
über den Effect des Soolbades zu bekom¬
men, welches ein Recht auf Allgemein¬
gültigkeit hat. Im Folgenden sollen nun
einige Gesichtspunkte, welche zur Erzielung
einer einheitlichen und ausreichenden Me¬
thode in Betracht kommen können, kurz
erörtert werden.
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Gegenwart 1903.
Einen physikalisch-chemischen, mecha¬
nischen und thermischen Reiz werden wir
mit jeder Wasseranwendung, ausüben, nur
die Reizgrösse steht je nach Form der
Anwendung bis zu einem gewissen Grade
in unserer Hand. Können wir nun den
Reiz so gering wählen, dass er keinen
nachweisbaren Effect ausübt, dann sind
wir auf unserem Wege einen Schritt vor¬
wärts gekommen. In der Tat haben wir
in den sog. indifferent warmen Bädern
eine Form der Wasseranwendung, welche
keine nachweisbaren oder doch unwesent¬
liche Schwankungen der körperlichen
Functionen hervorruft. Die Temperatur
dieser Bäder ist von verschiedenen Autoren
verschieden angegeben worden [Wiek, 7 )
Leichtenstern, 8 ) Riess, 5 ) von Hoess-
lin, 9 )] doch scheint sie zwischen 33° bis
36° C. zu liegen. Die Verschiedenheit der
Angaben hat wohl ihren Grund in gerin¬
gen individuellen Verschiedenheiten des
Verhaltens der Versuchspersonen diesen
Temperaturen gegenüber. Die Beeinflus¬
sung der Körpertemperatur, Pulsfrequenz
und de& Blutdrucks [Wiek, 7 ) der Atem¬
frequenz (Jamikoff, 10 ) Goralewitsch, 11 )
Orloff, 12 )] ebenso des Stoffwechsels [Va-
lentiner, 13 ) Dommer 14 )] ist geringfügig
und auf individuelle Verschiedenheiten zu¬
rückzuführen [Karner, 15 ) v. Renz 16 )].
Wenn wir nun über die specifische Wir¬
kung der Soolbäder Untersuchungen an¬
stellen wollen, können wir wohl nur diese
Temperaturen wählen. In dieser Beziehung
müssen wir H. Winternitz beipflichten,
welcher schreibt: „Eine Forderung muss
aber bei allen derartigen Versuchen, na-
mentHch, um sie mit einander vergleichbar
zu machen, unbedingt erfüllt werden, das
ist die Anwendung indifferenter Tempera¬
turen; nur so kann es gelingen, die chemi¬
schen Wirkungen von den thermischen
einigermaassen zu trennen“.
Wir möchten darin noch etwas weiter¬
gehen und mit Rücksicht auf die oben er¬
wähnten individuellen Verschiedenheiten
das Postulat aufstellen, dass zuerst die für
das Versuchsindividuum indifferente oder
indifferenteste Temperatur durch eine Reihe
von Vorversuchen mit einfachen Wasser¬
bädern festgestellt werde, bevor man daran
geht, mit indifferent warmen Soolbädern zu
experimentiren, denn sonst ist unmöglich die
an und für sich geringen Schwankungen
als durch den Salzzusatz bedingt zu be¬
zeichnen.
Diesen Bedingungen, welche das Bad
betreffen, sind noch einige, welche das Ver¬
suchsindividuum angehen, hinzuzufügen.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
Die Therapie der Gegenwart 1903. 395
Wenn sich die Untersuchungen über
den Einfluss der Soolbäder auf den Stoff¬
wechsel erstrecken sollen, so ist es unbe¬
dingt nötig, dass sich das Versuchsindi¬
viduum im StickstofTgleichgewicht befindet,
und zwar im Stickstoffgleichgewicht wäh¬
rend einer ßadeperiode mit indifferent
warmen Süsswasserbädern, die derjenigen
mit gleichtemperirten warmen Soolbädern
vorauszugehen hat; denn so allein ist die
Differenz zwischen der Wirkung der Süss¬
wasser- und derjenigen der Soolbäder
eruirbar. Die zufälligen oder in der Tat
als Wirkung der Bäder auftretenden
Schwankungen des Stoffwechsels, welche
man als Erfolg mancher Bäder angegeben
findet, entbehren unseres Erachtens der
beweisenden Kraft, da sie teils einfache
Verschiebungen in der Leistung einzelner |
Organe bedeuten (Niere, Haut oder Darm), !
teils nicht erheblich grösser sind als die
Schwankungen, welche auch normaler
Weise beim Menschen auftreten.
An dieser Stelle soll gleich noch auf
einen andern Punkt eingegangen werden.
Das ist der Wert resp. die relative Wert¬
losigkeit der Experimente am Tiere. Wenn
es schon von vornherein nicht statthaft er¬
scheint, an Tieren gefundene Resultate
ohne Weiteres auf den Menschen zu be¬
ziehen, so hat auch die Nachprüfung der
Ergebnisse dieser Versuche am Menschen
noch keine Uebereinstimmung des Verhal¬
tens in irgend einer Beziehung ergeben,
was ja auch zu erwarten ist, wenn man
bedenkt, dass die Haut der Tiere, welche
in der Regel mit einem mehr oder minder
dichten Haarpelz bekleidet ist, anders orga-
nisirt ist, eine andere physiologische Be¬
deutung hat und demgemäss sich Bädern
gegenüber anders verhalten wird als die¬
jenige der Menschen. Es ist daher keines¬
wegs erlaubt, vom Verhalten der Tiere
Schlüsse auf das des Menschen zu ziehen,
und es wird sich empfehlen, nur am Men¬
schen gefundene Resultate als massgebend
zu betrachten.
Nachdem wir nun in kurzen Zügen die
allgemeinen Voraussetzungen erörterthaben,
wollen wir die bisher gewonnenen Daten
über die oben erwähnten Funktionen näher
betrachten! Es können dabei natürlich nur
solche Arbeiten Berücksichtigung finden,
deren Versuchsanordnung den oben er¬
wähnten Gesichtspunkten möglichst ent¬
spricht!
Ueber die Stickstoffausscheidung
liegen Arbeiten von Benecke 18 ), Kel¬
ler 19 ), Robin 20 ) und Köstlin 21 ) vor. Bei
Keller und Robin gehen den Versuchen
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nur 3 resp. 4 Normaltage voraus, eine Zeit,
welche zur Herstellung des Stickstoffgleich¬
gewichts nicht immer eine genügende sein
wird, worauf schon Glax 84 ) hingewiesen
hat, Benecke fand eine unwesentliche Ver¬
mehrung der Harnstoffausscheidung, wäh¬
rend Köstlin bei Versuchen mit Stassfurter
Badesalz, das sehr chlorkaliumhaltig ist,
eine Verminderung der N-Ausscheidung
beobachtete: Zu der letzteren Arbeit möch¬
ten wir folgendes bemerken. Der Ver¬
fasser befindet sich am Anfang der Ver¬
suche mit 16,4187 g N im Stickstoffgleich¬
gewicht. während er am Ende der Ver¬
suche nur noch 14,3398 N im Mittel aus¬
scheidet. Das Stickstoffgleichtgewicht ist
also nicht geblieben. Ferner findet sich
zwischen dem 11. und 12. Tage eine Diffe¬
renz von 1,0738, welche denjenigen, die als
Wirkung der Bäder aufgeführt werden
(1,38012—1,66774), fast gleichkommt. Es
finden sich zwischen dem 5. und 6., sowie
6. und 7. Tag ähnliche Differenzen, doch
kann man dieses damit erklären, dass der
Körper bestrebt ist, das Stickstoffgleich¬
gewicht wieder herzustellen; nur ist es
dann auffallend, dass dieses Bestreben nicht
auch nach dem 2., 3. und 4. Soolbade in
derselben Weise erkennbar ist, sondern
die N-Ausscheidung, wie oben erwähnt,
auf einem niedrigeren Niveau stehen bleibt.
Wenn diese Tatsache so zu erklären wäre,
dass Verfasser N gespart hätte, so müsste
er an Körpergewicht zugenommen haben;
das ist aber nicht der Fall. Auch respira¬
torische Verluste können nicht zur Erklä¬
rung des Mangels einer Körpergewichts¬
steigerung herangezogen werden, da H.
Winternitz 17 ) gezeigt hat, dass warme
Soolbäder beim Menschen die Respiration
nicht beeinflussen. Wie kurz dauernd
übrigens der Einfluss von Bädern sein und
wie schnell das Individuum sich wieder aut
N-Gleichgewieht einstellen kann, zeigen die
Untersuchugeu von Lohsse 6 ), der bei
Anwendung von heissen Bädern nur in
der Zeit des Vormittags, wo die Bäder
genommen wurden, eine Beeinflussung der
N-Ausscheidung fand, während sie am
Nachmittag desselben Tages schon keine
Schwankungen mehr zeigte. Es ist daher
zum mindesten merkwürdig, dass die Wir¬
kung des ersten Soolbades bei Köstlin
sich auf zwei Tage erstrecken sollte, wie
dieser anzunehmen geneigt ist, eine Er¬
scheinung, die übrigens nach den folgenden
Bädern nicht wiederkehrt. Wenn wir nun
auch die Zahlenangaben Köstlin's als
richtig gelten lassen, so bleibt immer ein
Punkt von grosser Wichtigkeit zu bedenken,
50 *
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
396
September
Die Therapie der
und das gilt für alle derartigen Unter¬
suchungen, nämlich der, dass N mit
dem Schweiss in das Badewasser ausge¬
schieden worden ist, was nach den Unter¬
suchungen von Lohsse 6 ), Spitta 32 ) und
H. Winternitz 17 ) bei warmen Bädern
tatsächlich der Fall ist. Es steht nach
diesen Experimenten fest, dass die Haut
in der Tat in das Badewasser N aus¬
scheidet, der nach dem Bade im Harn ver¬
misst wird. Diese Tatsache lässt die Re¬
sultate Köstlin’s als höchst problematisch
erscheinen, denn es ist sicher, dass auch
bei seinen Versuchen N ins Badewasser
ausgeschieden worden ist. In Folge dessen
kann aber von einer Beeinflussung des
Stoffwechsels keine Rede mehr sein, höch¬
stens von einer Verschiebung im Wege der
Ausscheidung, indem mehr N durch die
Haut im Schweiss abgegeben wird, während
der Eiweisszerfall derselbe bleibt. Damit
ist auch zugleich das Gleichbleiben des
Körpergewichts des Verfassers erklärt. Auf
einen Punkt möchten wir noch hinweisen,
nämlich auf die N-Ausscheidung im Kot.
Wir wissen durch die Untersuchungen von
Katz 26 ), Potthast 27 ) und von Noorden 28 ),
dass die N-Ausfuhr mit dem Kot eine
ausserordentlich schwankende ist und grosse
Differenzen zeigt, für welche wir heute
noch keine gesetzmässigenUrsachen wissen.
Wenn sich daher ein Forscher auf die N-
Bestimmung im Harn beschränkt und nicht
zugleich die N-Menge im Badewasser und
Kot bestimmt, so sind seine Angaben für
die Beurteilung des Eiweisszerfalles im
Körper wertlos, denn aus den angegebenen
Gründen kann von den Ergebnissen der
Harnuntersuchung allein nicht auf den Um¬
satz im Körper geschlossen werden. Wir
können somit die vonKöstlin gezogenen
Schlussfolgerungen nicht als richtig aner¬
kennen. Für alle übrigen bisherigen Ar¬
beiten, von denen uns ausser den oben
angegebenen nur noch diejenige von
Dom me r 14 ) bekannt ist, der, an einem
Pudel experimentirend, eine Steigerung
des Eiweisszerfalles gefunden zu haben
glaubte, wobei das Thier aber an 7 Bade¬
tagen merkwürdigerweise noch 320 g an
Körpergewicht zunimmt, dürfte dasselbe
gelten.
Die Ausscheidung der Chloride im Harn
ist nach den Angaben von Keller 19 ), Leh¬
mann 22 ), Heymann 23 ) und Robin 20 ) ge¬
steigert, während Köstlin eine Steigerung
nicht wahrnehmen konnte. Diesen Resultaten
kann nur wenig Wert beigemessen wer¬
den, da das Auftreten der Chloride im
Harn so wenig gesetzmässig und je nach
Gegenwart 1903.
der Tageszeit, der Zusammensetzung der
Speisen und je hach der Individualität so
verschieden ist, dass es keinen Sinn hat,
von den nach Bädern gefundenen Werten
auf eine Wirkung derselben schliessen zu
wollen, bevor wir nicht die Gesetze der Aus¬
scheidung kennen und die Zufuhr während
der Versuche nicht genau geregelt ist. Was
die Harnmenge anbetrifft, so steigt dieselbe
nach Anwendung von Soolbädern nach den
Angaben von Lehmann 22 ), Heymann 23 )
und Keller 19 ), während Köstlin 21 ) diese
Beobachtungen bei seinen Versuchen nicht
bestätigen konnte und Robin 20 ) geradezu
eine Verringerung derselben angiebt. Wir
stehen auch hier noch unaufgeklärten Tat¬
sachen gegenüber, da wir die Gesetze,
welche die Harnausscheidung nach ihrer
Menge beherrschen, noch nicht kennen.
Teilweise erklärt sich der Widerspruch
daraus, dass die Untersuchungen nicht mit
gleichen Temperaturen angestellt wurden
(Lehmann 22 )).
Die Pulsfrequenz ist nach den An¬
gaben von Trautwein 32 ) bei Soolbädern
von indifferenter Temperatur unverändert.
Die abweichenden Resultate anderer Autoren
beruhen wohl darauf, dass dieselben mit
nicht ganz indifferenten Temperaturen ar¬
beiteten.
Der Blutdruck steigt, wie derselbe
Forscher beobachtete, im thermisch indiffe¬
rentem Soolbade. Doch bedarf diese An¬
gabe noch der Bestätigung, da sie nur auf
Grund der Beobachtung des Ansteigens der
Pulswelle gemacht ist, eine Erscheinung,
welche bekanntlich auch anders erklärt
werden kann. Stifler’s 24 ) Angabe, der
eine Blutdruckerhöhung von 20 mm Hg
fand, kommt nicht in Betracht, da die Tem¬
peratur seiner Bäder nicht als indifferent
anzusehen ist.
Ueber die Atemgrösse machten
Lehmann 22 ) am Menschen und Röhrig
und Zuntz 25 ) am Tiere Beobachtungen,
welche ein Tiefer- und Seltnerwerden der
Atmung ergaben, doch werden beide durch
die einwandfreien Versuche von Winter¬
nitz 17 ) widerlegt, der beim Menschen eine
nennenswerte Beeinflussung der Atem¬
grösse bei thermisch indifferenten Sool¬
bädern nicht fand.
Dass eine Steigerung des Sauer¬
stoffverbrauchs und der Kohlensäure¬
abgabe bei der Anwendung von warmen
Soolbädern stattfinde, schien festzustehen,
seit vor nunmehr über 30 Jahren Röhrig
und Zuntz ihre schönen Versuche an
Kaninchen veröffentlicht hatten. Sie fan¬
den nämlich, dass ein 3%iges warmes
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
397
Soolbad gegenüber einem gleichtemperirten
Süsswasserbad eine deutliche Vermehrung j
des O Verbrauchs und der CO^-Abgabe j
herbeiführe und schlossen aus der Beob- !
achtung, dass diese Wirkung beim curari-
sirten Tiere ausblieb, dass diese Wirkung
reflectorisch durch chemische Reizwirkung |
auf das Nervensystem zu Stande käme, j
Für das Kaninchen sind diese Resultate
ohne Widerspruch geblieben, dass wir
aber nicht berechtigt sind, sie ohne wei¬
teres auf den Menschen zu übertragen,
beweisen die exakten Versuche von H.
Winternitz, 17 ) der eine Beeinflussung
des Gaswechsels in den Lungen durch in¬
different warme Soolbäder nicht feststellen
konnte. Die Resultate von Lehmann,--)
der eine Vermehrung des Sauerstoffver-
verbrauchs und der Kohlensäureabgabe
nach Anwendung von Bädern der Quellen
von Oeynhausen fand, können nicht als
Folge der Salzwirkung angesehen, sondern
müssen vielmehr zum Teil der Temperatur
Wirkung zugeschrieben werden, da die Soole
von Oeynhausen eine Temperatur von nur
31° C. hat. Ein anderer Faktor spielt bei
den Experimenten Lehmanns als Ur¬
sache der Vermehrung des Gaswechsels
in der Lunge eine nicht zu unterschätzende
Rolle, das ist der Kohlensäuregehalt der
von ihm benutzten Soole. Nach den Unter¬
suchungen von H. Winternitz, die wir
schon mehrfach erwähnt haben, ist es näm¬
lich die Kohlensäure und zwar die im
Badewasser enthaltene Kohlensäure, — da
sie durch die Haut resorbirt wird, —
welche auf den Sauerstoffverbrauch und
namentlich auf die Kohlensäureabgabe
durch die Lungen vermehrend einwirkt.
Ebenso wird das Atemvolumen grösser,
wodurch der günstige Einfluss CO 2 haltiger
Soolen (Nauheim) auf Herzkrankheiten eine
Erklärung findet, da eine ausgiebige Respi¬
ration die Arbeit des Herzens bedeutend
erleichtert. Dem einfachen Soolbade kommt
aber eine solche Wirkung nicht zu.
Die Schwierigkeit auf experimentellem
Wege bezüglich der physiologischen Wir¬
kung der Soolbäder zu greifbaren Resul¬
taten zu kommen, die Mannigfaltigkeit des
Einflusses und die Verschiedenheit des
Einflusses hat dazu geführt, die Ursache
desselben in einer Reflexwirkung vom
peripherem Nervensystem aus zu suchen.
Es ist klar, dass die Reactionsfähigkeit
der einzelnen Individuen das Wirkungsbild
der Bäder überhaupt und der Soolbäder
im Besonderen sehr mannigfaltig gestalten
wird, je nach der Beschaffenheit des ge-
sammten Nervensystems, seiner ursprüng¬
lichen Veranlagung und dem Zustand der
peripheren Endigungen. Die letzteren
bilden offenbar den Angriffspunkt der Bade¬
wirkung, und es wird mit der mehr oder
weniger grossen Anspruchsfähigkeit der¬
selben die Wirkung des Bades variiren.
Das Verhalten der Tastempfindlichkeit der
Haut vor und nach der Application von
Soolbädern ist auch Gegenstand von Unter¬
suchungen gewesen, die ebensowenig wie
alle vorhererwähnten zu einheitlichen Re¬
sultaten geführt haben. Während Jacob 20 )
jeden Einfluss selbst bei Anwendung 15°/ 0
Salzbäder leugnet, geben Santlus 30 ) und
Beneke is ) an, dass die Tastempfindlich¬
keit gesteigert sei. Bezüglich der Reflex¬
erregbarkeit giebt Trautwein 31 ) an, dass
sie im thermisch indifferenten Soolbad er¬
heblich herabgesetzt, wenn nicht gar ganz
erloschen sei, da er weder vom Sool¬
bade, noch von electrischen Reizen, welche
während desselben applicirt wurden, irgend
eine Einwirkung auf Puls, Respiration und
Körpertemperatur feststellen konnte.
Da wir glaubten, dass in der Tat die
Soolbäder einen Einfluss auf das periphere
Nervensystem haben könnten, prüften wir
die Angaben über die Sensibilität der Haut
auf tactile Reize eingehender. Wir wählten
dazu folgenden Weg. Es wurde mit dem
Tasterzirkel die Grösse der Empfindungs¬
kreise festgestellt, und zwar zunächst im
normalen Zustand bei Zimmertemperatur,
dann nach einem kalten Bade (14° C.) von
15 Minuten langer Dauer. Am nächsten
Tage wurde wiederum zunächst das Nor¬
malexperiment wiederholt, und dann die
Veränderungen festgestellt, welche durch
ein ^ständiges Bad von 35° C„ das sich
bis auf 33° C. abkühlte, hervorgerufen
wurden. Am dritten Tage schliesslich
wurde derselbe Versuch angestellt, nur
dass anstatt eines indifferenten Wasser¬
bades ein 15 Minuten währendes 3% Sool¬
bad zur Anwendung gelangte. Da ein
Vollbad zu diesen Versuchen nicht nötig
zu sein schien, andererseits die immerhin
umständliche Prüfung an einem kleinen
Körperteil genauer und exacter auszu¬
führen war, als wenn die ganze Körper¬
oberfläche untersucht werden musste, so
wandten wir nur Armbäder an. Es wurde
immer nur der linke Arm geprüft. Wir
untersuchten eine Anzahl Collegen, welche
sich uns in liebenswürdigster Weise zur Ver¬
fügung stellten. Zwei der Herren hatten kein
ganz intactes Nervensystem, der eine zeigt
ganz leichte, der andere ziemlich schwere
neurasthenische Symptome, die beiden
anderen dagegen waren vollkommen gesund.
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
398 Die Therapie der
Aus den beigegebenen Protokollen ist
ersichtlich, dass in Bezug einer Soolbad-
wirkung ein wesentlicher Unterschied
gegenüber einfachen Wasserbädern ohne
Zusatz nicht besteht. Es zeigt sich, dass
sowohl beim kalten Wasserbad, beim ther¬
misch indifferenten einfachen Wasserbad
und schliesslich beim indifferenten Soolbad
meistens eine Erweiterung der Empfindungs¬
kreise eintritt; in einigen Fällen ist eine
Aenderung überhaupt nicht zu konstatiren,
und in einigen anderen war eine Ver¬
kleinerung der Empfindungskreise zu be¬
merken. Alle Versuchspersonen verhielten
sich gleich.
Aus diesen Versuchen geht wohl mit
Sicherheit hervor, dass die Soolbäder
keinen anderen Einfluss auf die Sensi¬
bilität ausüben als kalte oder sog. in¬
differente Bäder, dass aber ein gewisser
Einfluss auf das Nervensystem überhaupt
nicht in Abrede gestellt werden kann, ln
welchem Sinne dieser Einfluss zu deuten
ist, vermögen wir nicht anzugeben, noch
weniger, wie er therapeutisch verwendet
werden könnte.
Es ist bisher, wie wir gesehen haben,
nicht gelungen eine specifische Wirkung
des Salzzusatzes zum Wasser nachzuweisen,
und wir sind daher gezwungen, für die
nicht zu leugnenden therapeutischen Er¬
folge eine andere Erklärung zu suchen.
Ein Moment, welches hierbei wohl in Betracht
kommt, ist oben erwähnt worden. Es ist
sehr gut denkbar, dass eine durch die
COj-haltigen Soolbäder vertiefte und ge¬
wiss auch erleichterte Atmung sehr gün¬
stig auf die Arbeit des Herzens wirken
kann, welche doch sehr wesentlich durch die
Druck- und Raumverhältnisse im Thorax
beeinflusst wird, und zwar ist die Herz¬
tätigkeit um so leichter je ausgiebiger
die Atemzüge. Die Besserung der Herz¬
tätigkeit und der Circulation wird sich
bald durch Schwinden etwa vorhandener
ödematöser Schwellungen bemerkbar
machen. Wenn wir nun in Betracht ziehen,
dass mit der Hebung der Circulation auch
eine gründlichere Arterialisation des Blutes
einhergeht, so ist damit auch der günstige
Einfluss der Soolbäder auf Constitutions¬
anomalien, Skrophulose etc. teilweise zu
erklären, indem der darniederliegende
Stoffwechsel eine mächtige Anregung er¬
fährt.
Zum grossen Teil wird man die gün¬
stige Wirkung des Badeaufenthaltes auch
in der geregelten Lebensweise, Diät und
klimatischen Factoren zu suchen haben.
Nicht zuletzt kommt auch eine suggestive
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Gegenwart 1903. September
Wirkung des Badeaufenthalts in Betracht,
die wir nicht unterschätzen dürfen. Ausser¬
dem ist es ohne Zweifel sicher, dass in
vielen Fällen die Besserung darauf zurück¬
zuführen ist, dass der Patient sich bei
einer Badecur (vielleicht zum ersten Male
in seinem Leben) entschliesst, den Vor¬
schriften des Arztes in vollem Umfange
nachzukommen. Wie wenig das für ge¬
wöhnlich der Fall ist, wird jeder Praktiker
wissen, abgesehen davon, dass materielle
und andere Verhältnisse es dem Patienten
oft unmöglich machen. Für viele Patienten,
namentlich Kinder, sind die hygienischen
Verhältnisse in den Musteranstalten vieler
Soolbäder um vieles besser als in der ge¬
wohnten Umgebung zu Hause. Besonders
wird dies bei den Kindern minder be¬
mittelter Eltern anzutreffen sein. Und dass
diese hygienischen Verhältnisse bei der
Behandlung sämmtlicher Krankheiten mit¬
spielen können, ist über jeden Zweifel er¬
haben.
Während man alle diese Factoren
schliesslich auch in jedem anderen Bade,
nicht nur in den Soolbädern, als thera¬
peutisch wirksam in Betracht ziehen muss,
macht sich vielleicht gerade bei Behand¬
lung der Scrophulose ein specifischer Ein¬
fluss der Soolbäder geltend. Wer einmal
gesehen hat, in wie kurzer Zeit manchmal
scrophulöse Augenentzündungen zurück¬
gehen können, wird eine specifische Wir¬
kung auch gar nicht leugnen. Dies kann
man zum Teil wenigstens damit erklären,
dass durch Verspritzen des kochsalzhalti¬
gen Wassers (3—10%) auch eine gewisse
Quantität dieses Wassers in den Conjunc-
tivalsack gelangt und hier einen regeren
localen Stoffwechsel im Auge anregt
Diese Erklärung würde auch mit den Re¬
sultaten übereinstimmen, welche man auch
bei anderen Erkrankungen des Auges mit sub-
conjunctivalen Injectionen von NaCl-Lösun-
gen erzielt. Bei Anwendung von Soolbädern
ebenso wie bei der letzteren Medication
findet ein regerer Flüssigkeitsverkehr im
Inneren des Auges statt. Aehnlich kann
man sich eine Wirkung auf die Bronchial¬
schleimhaut vorstellen, zu der ja auch die ver¬
spritzten Tröpfchen hypertonischer Koch¬
salzlösungen mit der Inspirationsluft ge¬
führt werden.
Im Uebrigen möchten wir noch darauf
hinweisen, dass diese locale Wirkung der
Soole auch ganz systematisch beabsichtigt
wird; denn in den Wandelhallen neben
den Gradirwerken, welche sich ja in jedem
Soolbade befinden, ist die Luft erfüllt mit
Wassertröpfchen, die NaCl enthalten.
Original ffom
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
399
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Versuchsprotokolle. — Grösse der Empfindungskreise.
17° C
Zimmer¬
temperatur
15 Min.
Bad von
14° C.
17° C. 1
Zimmer¬
temperatur ;
15 Min.
Bad von
34—36°C.
17° C.
Zimmer¬
temperatur
1 5 Min.
3% Soolbad
von 35° C.
I. Dr. B.
i
i
Extensorenseite d.Unterarms
1
proximal, radial. ...
2.4
2.7
2.7
2.6
2.4
2,7
ulnar.
2.7
2,2
2,2
2,5
2,7
4,3
distal, radial.
2,7
2.5
2,5
1,7
2,5
3,2
ulnar.
2.2
2,0
2,0
2.0
2,1
3.2
Handrücken.
1,5
1.4
1.5
1,4
1.5
1,5
Flexorenseite
proximal, radial . . .
3,4
3.5
3.4
4.0
3,4
4,5
ulnar. . . .
—
—
—
—
—
—
distal, radial.
2.0
2.2
2,0
2.5
2,1
4.4
ulnar.
2.4
20
2,0
1,8
2.2
3.0
Hohlhand.
0,8
1.1
0,9
t.t
0,8
1,7
20" C.
15 Min.
20° C.
15 Min.
21 0 C.
15 Min.
Zimmer-
Bad von
Zimmer-
Bad von
Zimmer-
3°/o Soolbad
temperatur
16° C.
temperatur 1
34— 36°C.
temperatur
von 35° C.
II. Dr. H.
Extensorenseite d.Unterarms
proximal, radial. . . .
2.2
3,6
4,1
4.9
6.2
7,1
5.0
ulnar. ....
4,8
4.3
5,0
4.3
5,0
distal, radial.
4,1
4,2
2,7
3,7
3,3
2,9
ulnar.
4.2
2.5
2,4
3,4
2,5
2,3
Handrücken.
U
2,7
2,1
2,1
1,9
2,0
Flexorenseite
proximal, radial. . . .
4,3
4.9
6.3
5,6
4,7
6,2
ulnar .
4,5
5,6
5.4
5,8
4.2
6,8
distal, radial .
1.9
2,6
3.5
2,5
2,1
2,2
ulnar..
1.8
2.5
2.9
2.6
2,0
2,8
Hohlhand .
0,7
1,0
0,9
1,0
1,0
i.o
20° C.
15 Min.
20° C. 1
15 Min.
20° C.
15 Min.
Zimmer¬
Bad von
Zimmer¬
Bad von
Zimmer¬
3% Soolbad
temperatur
15° C.
temperatur
34 — 36°C.
temperatur
von 34—36°C.
ni. Dr. K. I.
|
Extensorenseite d.Unterarms
proximal, radial. . . .
5,9
6.9
5.7
7,1
5,0
5,2
ulnar.
3.3
5,0
3.9
i s;6
3,2
1 4,5
distal, radial.
2.8
2.8
2,7
3,4
20
2,4
ulnar.
2.6
2.6
2.4
2.1
2.2
1,6
Handrücken.
2,0
1,7
1,5
1,8
1,1
1,4
Flexorenseite des Unterams
proximal, radial. . . .
8,0
7.4
7.5
7,4
7,0
6.7
ulnar .
7,2
7,7
5,9
i 7.6
6,7
6,2
distal, radial .
2.6
3,6
2,6
2.9
2,2
2.7
ulnar .
2.7
2,3
2,6
2,4
2,4
1,4
Handrücken .
1,1
1,2
1,2
1,0
0.9
i 0,6
20» C.
15 Min.
19° C.
15 Min.
18° C.
15 Min.
Zimmer¬
Bad von
Zimmer¬
! Bad von
Zimmer¬
3% Soolbad
temperatur
15° C.
temperatur
! 36 — 38°C
temperatur
von 34 — 36°C.
IV. Dr. K. II.
Extensoren Seite d.Unterarms
proximal, radial. . . .
3.2
3,6
3.1
4,1
3.8
1
1
4,5
ulnar.
3,3
3,0
3,0
3.7
1,9
3,1
distal, radial.
2,2
3,1
2,3
2,4
2,7
3,4
ulnar.
2,8
i 3,0
2.5
2,7
2.9
3,8
Handrücken .
1,3
1 2 .1
1.4
1,4
0,9
1,6
Flexoren des Unterarms
proximal, radial. . . .
2,7
4.3
4,6
3,4
5.4
4.4
ulnar.
1.8
3,2
3,2
i 3.3
3,5
3.5
distal, radial.
1.7
2,7
3,2
1 3,1
3,1
3,0
ulnar.
1.7
2.7
2,4
2,4
3,0
2,8
Handrücken
1,0
1,1
0,6
i 1,0
0,9
0.9
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
400
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
L i 11 e r a t u r.
1) Fleischer, Untersuchungen über das
Resorptionsvermögen der menschlichen Haut.
Habilitationsschrift, Erlangen 1877. — 2) Du
Mesnil, Ueber das Resorptionsvermögen der
menschlichen Haut. Deutsches Archiv für kli¬
nische Medicin. Bd. 50, 51, 52. — 3) Filehne,
Ueber die Durchgängigkeit der menschlichen
Epidermis für feste und flüssige Stoffe. — Berlin,
klin. Wochenschrift Nr. 3, 1898. — 4) Wille¬
min, Archiv general, Sörie VI, II, 1863. —•
5) Riess, Ueber die Wasserausscheidung des
menschlichen Körpers durch Haut und Nieren
bei thermisch indifferenten Bädern. Archiv für
exp. Path. u. Pharmakolog. Bd. 24. — 6) Lohsse,
Ein Beitrag zu der Lehre von der Einwirkung
des heissen Bades auf den menschlischen Stoff¬
wechsel. Dissert. Halle 1900. — 7) Wieck,
Ueber die physiologischen Wirkungen ver¬
schiedener warmer Bäder und über das Ver¬
halten der Eigenwärme im Allgemeinen. Wien
und Leipzig 1894 und Wiener kl. Wochenschr.
1894, No. 36, 37. — 8) Leichtenstern, Allge¬
meine Balneotherapie 1880. — 9)Hoesslin,
Penzoldt’s und Stintzing’s Handbuch der spe¬
ziellen Therapie innerer Krankheiten. Bd. 5.
Liefrg. 18. — 10) Jakimoff, Zur Lehre von
den lauwarmen Wasserbädern. Dissert. Peters¬
burg 1883. — 11) Goralewitsch, Zur Frage
von der Wirkung der kalten, indifferenten und
heissen Vollbäder bei ruhigem und fliessendem
Wasser auf gesunde Personen. Wratsch 1890,
Nr. 29 und 30. — 12) Orloff, Zur Frage von
dem Einflüsse der Bäder auf die Hautsperspira¬
tion. — 13) Valentiner, Handbuch der Bal¬
neotherapie 1876. — 14) D ommer, Ueber den
Einfluss verschiedener Bäder auf den Eiweiss-
zerfall. Zeitschrift für klin. Medizin, Bd. XI,
1886. — 15) Karner, Ueber Badetemperaturen.
Prag 1862. — 16) v. Renz, Die Heilkräfte der
sogenannten indifferenten Thermen. Bonn 1879.
II. Auflage. — 17) H. Winternitz, Ueber die
Wirkung verschiedener Bäder (Sandbäder, Sool-
bäder, Kohlensäurebäder etc.) insbesondere auf
den Gaswechsel. Deutsches Archiv für klin.
Medicin. Bd. 72. — 18) Beneke, Nauheims
Soolthermen und deren Wirkung. Marburg
1859. Zum Verständnis der Soolbad Wirkung.
Berlin, klinische Wochenschrift. Bd. 71. No. 27.
— 19) Keller, Ueber den Einfluss von Sool-
bädern und Süsswasserbädern auf den Stofl-
w T echsel des gesunden Menschen. Correspon-
denz-Blatt für Schweizer Aerzte 1891. — 20) Ro-
bin, La balnöation chloruree, ses effets sur
nutrition, ses nouvelles indications. Acad. de
Mödecine 1891. — 21) Köstlin, Ueber den Ein¬
fluss warmer 4°/oiger Soolbäder auf den Ei¬
weissumsatz im Menschen. Inaugural - Dis-
sertat. Halle 1892. Ueber den Einfluss von
Salzbädern auf die Stickstoffausscheidung des
Menschen. Fortschritte der Medicin 1893. —
22) L. Lehmann, Bad Oeynhausen (Rehme),
mit 4 lithogr. Tafeln. Berlin 1874. Bad Oeyn¬
hausen. Für Aerzte und Laien. Lg. 1863. Die
Thermen zu Bad Oeynhausen und das ge¬
wöhnliche Wasser. Göttingen 1856. Urinmengen
nach Bädern aus gewöhnlichem und Thermal-
soolwasser. Berlin, klin. Wochenschrift No. 20,
1886. — 23) Hey mann, Mineralquellen und
Winteraufenthalt in Wiesbaden. Wiesbaden 1875.
— 24) Stifler, Ueber physiologische differente
Bäderwirkung. 16. Versammlung der balneologi-
schen Gesellschaft. Berlin 1895. — 25) Röhrig
und Zuntz, Pflügers Archiv 1871. — 26) Katz,
Einfluss der Harzburger Crodo-Quelle. Dissert.
Berlin 1894. — 27) Potthast, Beiträge zur
Kenntnis des Eiweissumsatzes im tierischen
Organismus. Münster 1887. — 28) v. Noorden,
Lehrbuch der Pathologie des Stoffwechsels.
Berlin 1893. — 29) Jacob, Giebt es hautreizende
Bäder oder nicht? Virchows Archiv 1893. 6. Ver¬
sammlung der baineologischen Section. Berlin
1884. — 30) Santlus, Ueber den Einfluss der
Chlornatriumbäder auf die Sensibilität der Haut
Dissertat. 1872. Marburg. — 31) Trautwein,
Ueber das Verhalten des Pulses, der Respiration
und der Körpertemperatur im elektrischen Sool-
bade. Deutsches Archiv für klinische Medicin.
Bd.44,1887.—32) Spitta, Ueber die Grösse der
Hautausscheidungen und Hautquellungen im
Bade. Archiv für Hygiene. Bd. 36,1899. 33) N e u -
mann, Ueber den Einfluss grösserer Wasser¬
mengen auf die Stickstoffausscheidung beim
Menschen. Archiv für Hygiene. Bd. 36, 1889.
— 34) Glax, Lehrbuch der Balneotherapie.
I. Bd. Stuttgart 1897.
Beitrag zur Mechanotherapie der Lungenphthise.
Von Dr. H* Cybulski, Secundärarzt der Dr. Brehmer’schen Lungenheilanstalt zu Görbersdorf i. Schl.
Die Behandlung der Lungentuberkulose
durch systematische Beklopfung des Brust¬
korbs, welche der Schweizer Arzt Erni vor
einigen Jahren beschrieben hat, und deren
Erfolge von vielen Seiten bestätigt worden
sind, hat unter den praktischen Aerzten bisher
augenscheinlich wenig Anwendung erfahren.
Es sei mir deswegen gestattet, an dieser Stelle
noch einmal auf die Erni’sche Methode
zurückzukommen. Die Behandlung besteht
im Beklopfen (tapotement) des Brustkastens.
Der Patient nimmt mit vollständig entblösster
Digitized by Google
Brust auf einem Stuhl Platz. Nachdem die
Brust mit Vaselin oder einer beliebigen
Salbe (Erni gebrauchte mit Vorliebe Sali-
cylsalbe) gut eingefettet worden ist, be¬
ginnt der Arzt mit dem Klopfen in Form
von kurzen, ziemlich starken, rasch aufein¬
ander folgenden Schlägen. Die ganze
Procedur dauert nur einige Minuten (drei
bis fünf). Auf diese Weise umkreist man
den ganzen Brustkorb, wobei man die
Supraclaviculargruben, die Schlüsselbeine,
die Brustwarzen und beim Weibe die Brüste
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
401
als äusserst empfindliche Theile vermeiden
muss.
Man kann sich hierbei entweder eines
starken Spatels oder eines schweren Papier¬
messers aus Metall bedienen, im Gewichte
von 75 bis 100 g, Erni empfiehlt ein 100 g
schweres silbernes Messer. Selbstverständ¬
lich ist es, dass die Schläge mit der flachen
Seite geführt werden müssen. Für gewöhn¬
lich empfinden die Patienten in den ersten
Sitzungen Schmerzen; sie gewöhnen sich
jedoch bald daran» wenn auch im allge¬
meinen sehr abgemagerte und sehr fette
Personen infolge grosser Schmerzhaftig¬
keit diesen Eingriff nur schwer ertragen.
Nach Anwendung dieser Massage färbt
sich die Haut lebhaft roth, manchmal sieht
man sogar subcutane Blutaustritte auftreten.
Mit Nachlass des Eingriffes hören auch die
Schmerzen sofort auf.
Bei den Kranken macht sich ein Er¬
frischungsgefühl geltend, ähnlich wie nach
Anwendung einer Brause. Bei kräftigen
Personen kann man die Massage täglich, bei
schwächeren jeden zweiten oder dritten
Tag anwenden.
Im Allgemeinen genügen 20 bis 30 Sitzun¬
gen, um einen Erfolg wahrzunehmen. Die
Schläge müssen kurz, rasch und ziemlich
kräftig erfolgen» wobei man das Instrument
zwischen dem Zeigefinger und dem Daumen
hält und nur das Handgelenk spielen lässt.
Soviel über die Technik der Massage.
Erni l ) war der erste, welcher diese Methode
bei etwa 650 Fällen von Lungenschwind¬
sucht angewendet hatte. Die Wirkung
dieses Eingriffes beschreibt der Verfasser
folgendermaassen:
Sofort nach der Massage konnte man
ein Sinken der Temperatur um 0,2 bis 0,5 0
wahrnehmen. Dieses Absinken ist entwe¬
der vorübergehend, d. h. es dauert Vs Stunde
bis zu mehreren Stunden, oder aber es
hält den ganzen Tag über an.
Eine solche Wirkung konnte der Ver¬
fasser in 75 °/o aller seiner Fälle beobachten.
Ausserdem konnte er ein Verschwinden der
Nachtschweisse feststellen, welcher Um¬
stand sich leicht aus der unmittelbaren Ein¬
wirkung auf die Haut erklären lässt.
Die Kurzathmigkeit wird geringer, der
Appetit und das Körpergewicht erfahren
eine Steigerung (in 64%). Daneben sah
Verfasser einen wohlthätigen Einfluss auf
die Blutbeschaffenheit, ganz besonders bei
anaemischen und chlorotischen Personen,
selbst wenn sie Anfangs nicht an Tuber¬
kulose litten.
1 ) Die Behandlung der Lungenschwindsucht.
II. Theil, F. 75.
□ igitized by Google
Die wichtigste und hauptsächlichste Wir¬
kung aber erzielt man durch diesen Ein¬
griff auf die Exspectoration.
Schon nach drei bis vier Sitzungen
überrascht sowohl den Patienten als auch
den Arzt die Vermehrung des Auswurfes
und die Leichtigkeit der Abscheidung. Nach
der Meinung des Verfassers wirkt das Be¬
klopfen des Brustkorbes als Exspectorans
viel intensiver, als alle zu diesem Zwecke
verabreichten Medicamente.
Die Neigung zu Blutungen bildet keine
Contraindication; im Gegenteil, eine grosse
Anzahl solcher Kranken hatte viel weniger
Blutungen als vorher; dagegen können
Spuren von Blut in Gestalt kleiner Streifen
im Auswurf, sehr leicht nach Anwendung
der Massage auftreten.
Als ganz besonders für diesen Eingrifl
geeignet, sieht Verfasser Höhlen in der
Lunge an, welche sich rasch reinigen;
ebenso stellt Verfasser den günstigen Ein¬
fluss auf trockene Pleuritiden fest
Friedländer 1 ) bestätigt im Allge¬
meinen die Erfahrungen E r n i ’ s. Der Ver¬
fasser hat im Grossen und Ganzen günstige
Erfolge in Bezug aufReinigung des Lungen¬
gewebes, Verminderung der Geräusche,
Zunahme des Gewichtes und des Appetits
erhalten. Er beschreibt die Wirkung der
Massage etwa folgendermaassen:
Bei manchen Personen tritt ein fieber¬
hafter Zustand auf, welchen Friedländer
theilweise auf die specifische Einwirkung
dieses Eingriffes auf die Phthise selbst be¬
zieht, ähnlich der Wirkung des alten Tuber¬
kulins, theilweise auf ein Uebergreifen der
pathologischen Massen auf die noch ge¬
sunden Theile der Lunge. Es entsteht eine
bedeutende Exspectoration und der Appetit
beginnt nachzulassen. Nach einigen Tagen
schwinden alle diese Erscheinungen voll¬
ständig, Appitit stellt sich wieder ein, das
Körpergewicht hebt sich und die Lungen
reinigen sich.
Professor Sahli 2 ), Bern, äusserst sich
ebenfalls günstig über diesen Eingriff.
Ausserdem hat Goebel 3 ) seine Beob¬
achtungen bei der Anwendung dieser
Methode bei Emphysem der Lungen ver¬
öffentlicht. Er sah sehr günstige Folgen;
nach seiner Meinung beruht die Wirkung
dieses Eingriffes auf einer Durchblutung
des Lungengewebes; in Folge dessen wird
die Lebenskraft des Gewebes erhöht, was
wiederum wohlthätig auf das Emphysem
einwirkt, da ja diese Krankheit auf einer
*) Therapie der Gegenwart. No. 2, 1901.
a ) Citirt bei Friedländer, 1. c.
3 ) Deutsche med. Wochenschr. 1892, No. 14.
51
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
402
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
angeborenen oder erworbenen Schwäche
des elastischen Gewebes der Lunge beruht.
In den letzten Tagen hat Thieme 1 )
seine Beobachtungen über die Wirkung
des Klopfens veröffentlicht. Er bestätigt
den günstigen Erfolg zur Erzielung guter
Exspectoration bei der Lungenschwind¬
sucht, wie auch bei Anfällen von bron¬
chialem Asthma; Verfasser empfiehlt diese
Methode aufs wärmste.
Hasebroeck 2 ) studirte im Allgemeinen
die Wirkung des Tapotement. Nach
starkem Beklopfen des Brustkorbes trat Ver¬
langsamung des Pulses ein, der Druck in
den Blutgefässen wurde erhöht; die Menge
der ausgeschiedenen Kohlensäure nahm ab.
Die Ursache dieser Erscheinung erklärt
Länderer 3 ) auf die Weise, dass in Folge
der Erschütterung ein Zusammenziehen der
kleinsten Gefässe auftritt, wodurch die
Respirations- und Diffusionsfläche kleiner
wird. In Folge dessen entsteht eine kurz
andauernde (fünf Minuten) Retention von
CO 2 im Organismus, welche die diesem
Zustande eigenthümlichen Erscheinungen
von Reizung der Medulla oblongata her-
vorruft, wie Pulsverlangsamung, Zusammen¬
ziehung der Gefässe und Erhöhung des
Blutdrucks. Ausserdem äussert sich noch
die Wirkung des Tapotements in einem
erhöhten Blutzufluss und rascherem Auf¬
saugen der Säfte.
Dass energisches Beklopfen der Herz¬
gegend auf die Thätigkeit des Herzens
einen Einfluss auszuüben vermag, haben
Seitler 4 ), Astley-Lewin 5 ) nachgewiesen;
sie beobachteten ein energisches Zusam¬
menziehen der Herzmuskulatur und Ver¬
langsamung des Pulses.
Es besteht also die Wirkung der Massage
zuerst in einer starken Durchblutung der
Lungen, in Folge Erhöhung des Blut¬
druckes.
Neben der reichlichen Durchblutung
äussert sich das Beklopfen des Brustkorbes
noch in einer anderen Richtung, welche
für die Therapie von ganz besonderer Be¬
deutung ist, nämlich in der Vermehrung
der Exspectoration. Sie wird unzweifel¬
haft bewirkt durch den Krampf der glatten
Muskelfasern, welche sich in den mittleren,
kleinen und kleinsten Bronchien befinden.
Zander 6 ) stellte die Thatsache fest,
dass beim Beklopfen der Kreuzbeingegend
! ) Görbersdorfer Veröffentlichungen aus Dr. Breh-
mer’s Heilanstalt 1902.
J ) Bum, Massage und Heilgymnastik, S. 189.
3 ) Länderer, Mechanotherapic S. 99, 100.
4 ) . 5 ) Bum, I. c.
,; ) Bum, S. 94.
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ein so starker Krampf der glatten Muscu-
latur des Rectums und der Blase eintritt,
dass die Patienten mit aller Kraft einem
sofortigem Austritt des Inhaltes entgegen¬
arbeiten müssen.
Diese Thatsache bestätigen auch Erni
und Friedländer, ohne dieselbe zu er¬
klären; ganz prägnant trat sie in folgendem
Falle auf:
Herr H. befand sich Anfangs vier Monate
in der Anstalt. Die Temperatur, welche zuerst
37,6 bis 37,8 erreichte, begann langsam abzu¬
fallen, hielt sich jedoch beim Beginn der Be¬
handlung mit Massage noch immer auf 37,3.
Der Patient hatte viel an Körpergewicht zuge¬
nommen (gegen 18 kg), dagegen schritt die
Besserung in den Lungen nur sehr langsam
vor, so dass man zu Beginn der Behandlung
im Bereiche fast der ganzen oberen Partie des
rechten Lungenflügels kleinblasiges Rasseln,
sowie Crepitation wahrnehmen konnte. Nach
jedesmaliger Massage warf Patient ausnahms¬
weise sehr viel aus (vorher sehr wenig), so-
dass nach zwei Wochen das kleinblasige
Rasseln vollständig verschwand und nur noch
einzelne grossblasige Geräusche zurückblieben,
die aber nach weiteren 14 Tagen ebenfalls
verschwanden. Daraufhin wurde die Behand¬
lung abgebrochen. Die Temperatur kehrte zur
Norm zurück und stieg nie über 37,0 (im Munde).
Nach weiteren zwei Wochen trat wieder un¬
bedeutendes Rasseln in der rechten Lungen¬
spitze auf, verschwand jedoch nach 14 tägiger
Massage für immer. Dagegen konnte man eine
geringe Gewichtsabnahme feststellen, die Tem¬
peratur blieb normal (unterhalb 37,0).
Der oben beschriebene Fall kann als
beweisendes Beispiel dieses Eingriffes
dienen. Ausserdem besitze ich mehrere
Fälle, in denen das Resultat einer lang¬
wierigen Behandlung dennoch ein aus¬
nahmsweise gutes war, obwohl eine sicht¬
bare Wirkung unmittelbar nicht vorhanden
war. Es sind dies meistens Fälle, welche
lange Zeit in der Anstalt ohne sichtbare
Besserung verweilten und bei denen die
Tendenz zur Heilung erst mit Beginn der
Massage einsetzte.
Unter anderen verdienen folgende drei
Fälle einer besonderen Erwähnung:
Herr A. befand sich seit Monaten in der
Anstalt; in der linken Spitze mittelgrossblasiges
und kleinblasiges Rasseln in massiger Menge.
In den ersten drei Monaten kaum merkliche
Besserung — nach Anwendung der Massage
verschwand das Rasseln im Laufe von einem
Monat vollständig.
Herr F. ist seit fünf Jahren krank. In beiden
Lungenspitzen ist ein alter Prozess zu finden,
mit mässigem mittelgrossblasigem Rasseln. —
Frappante Besserung nach Anwendung der
Massage.
Bei Frau M. besserte sich der Zustand in
den ersten drei Monaten bedeutend, im vierten
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
September
403
Die Therapie der Gegenwart 1903.
trat ein Recidiv ein; die Temperatur stieg bis
auf 37,5; in der rechten Lungenspitze nahm
man frisches Rasseln wahr. Nach sechs-
wöchentlicher Anwendung der Massage ver¬
schwand das Rasseln, die Temperatur war
schon zur Norm zurückgekehrt.
Freilich kann man nicht in allen Fallen
günstige Resultate erwarten. Ich verfüge
über eine Reihe von Fallen, wo die Massage
nicht den geringsten Nutzen gebracht hat,
ja in einem rief sie sogar ein mehrwöchiges
Fieber mit Temperaturen bis zu 38,0 her¬
vor, während der Patient früher niemals
gefiebert hatte.
Nach meiner Erfahrung tritt in ca. 60%
eine Besserung ein, während dagegen in
anderen Fällen sich die Massage garnicht
eignet. Als geeignet zur mechanischen
Behandlung sieht Erni fast jeden Fall von
Tuberkulose an, namentlich aber verbreitete
Cavernen, trockene Pleuritiden; Fried-
länder geht nicht näher auf die Indications-
stellung ein.
Nach meiner Meinung ist die Anwen¬
dung der Massage sehr individuell und
manchmal ist es recht schwer, das Re¬
sultat im voraus zu bestimmen. Mir scheint
os, dass zu dieser Behandlung am besten
frische Fälle sich eignen (selbst mit er¬
höhten Temperaturen) mit zahreichen fein¬
blasigen Geräuschen und zweitens sehr alte
Fälle von Lungenschwindsucht.
Grosse Cavernen, trockene Pleuritiden
und im Allgemeinen das Ergriffensein der
unteren Lappen ergeben keine guten Re¬
sultate.
Freilich bin ich weit davon entfernt,
dieser Methode allzu weitgehende thera¬
peutische Einwirkung zuzuschreiben, doch
glaube ich, dass sie wohl im Stande ist,
als Hilfsmittel bei der gewöhnlichen Art
der Behandlung der Phthise gute Dienste
zu leisten.
Die Wirkung ist in manchen ausge¬
wählten Fällen sehr stark, namentlich wo
es sich um Erhöhung der Exspectoration
handelt; doch verlangt die Anwendung der
Massage gewisse Vorsichtsmaassregeln,
wobei man genau zu achten hat, wie der
Kranke darauf reagirt.
Ausser bei Lungenschwindsucht ergiebt
noch diese Methode günstige Resultate bei
Emphysem der Lungen mit erschwerter
Exspectoration, worauf Goeber aufmerk¬
sam gemacht hat.
Möglich ist es, dass auch im Asthma¬
anfall ein Erfolg erzielt werden kann, ob¬
wohl ich selbst darin keine Erfahrung besitze.
Ausserdem drängt sich der Gedanke
auf, ob diese Methode in Fällen von capil-
lärer Bronchitis, wo der ganze Prozess in
einer Stagnation des Secretes in den
kleinsten Bronchien und Alveolen besteht,
nicht gute Dienste leisten würde.
Die Anästhesirung der obern Luftwege bei Tuberkulösen.
Von Dr. Eiemir Pollatschek,
Praktikant der I. med. Klinik zu Budapest, ordinirender Kehlkopfarzt des Königin Elisabeth-Lungensanatoriums.
Die Veränderungen der oberen Luft¬
wege und besonders des Kehlkopfes sind
von grosser Wichtigkeit bezüglich des Ver¬
laufs der tuberkulösen Lungenerkrankung.
Abgesehen von den mit der Insufficienz
der Nasenathmung einhergehenden unan¬
genehmen Folgeerscheinungen sehen wir
so viel Veränderungen an dem Pharynx
und Larynx, die, wenn auch nicht gleichen
Ursprungs wie die Grunderkrankung, doch
die Lungenerkrankung ungünstig zu beein¬
flussen im Stande sind. Unter den Pha¬
ryngealerkrankungen sind Pharyngitis sicca,
granulosa und die Verdickung der lateralen
Rachenfalten am häufigsten zu finden.
Von den Kehlkopferkrankungen können
ausser den specifischen Veränderungen,
die katarrhalische Laryngitis und beson¬
ders die Laryngitis posterior (die ober¬
flächliche Entzündung der Schleimhaut der
Aryknorpel und der Processus vocales) den i
Rachenerkrankungen ähnliche Unannehm- !
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lichkeiten verursachen. Die erwähnten
Pharyngealveränderungen rufen besonders
das Gefühl der Trockenheit und des Fremd¬
körpers hervor, während die Kehlkopf¬
veränderungen durch das manchmal schreck¬
lich peinigende Juckgefühl dem Kranken
unerträglich werden. Diese Parästhesien
tragen wesentlich zur Entstehung eines
charakteristischen Symptomes der Lungen¬
tuberkulose, des Hustens, bei, dessen
Unterdrückung für das Wohlbefinden des
Kranken so nothwendig ist.
Die specifischen Erkrankungen des
Kehlkopfes werden auch infolge des
Schmerzes unangenehm. DerSchmerz kann
sich entweder beim Essen und Trinken
als Schluckschmerz einstellen oder auch
unabhängig hiervon besonders in der
Nacht oder in den Morgenstunden. Die
Schluckbeschwerden werden besonders
durch die Erkrankung des Epiglottis oder
der Cart. arytaen. verursacht, die des
51*
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
404
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
Nachts auftretenden Schmerzen hingegen
am häufigsten von den genannten beiden
Erkrankungen, oder von der Veränderung
der Articulatio arycricoidea. Die tuber¬
kulösen Processe der übrigen Kehlkopf-
theile verursachen selten Schmerzen, und
oft finden wir erstaunliche Veränderungen,
ohne dass dieselben den Kranken, von einer
geringen Heiserkeit abgesehen, besondere
Unannehmlichkeiten verursachen.
An den Kehlkopfleidenden des Königin
Elisabeth-Sanatoriums habe ich recht oft
Gelegenheit diesbezügliche Fälle zu sehen.
In meiner Behandlung steht derzeit ein
Fall, wo beiderseitig Prolapsus ventric.
Morgagni, Infiltratio lig. glott. spur, und
ähnliche Erkrankung der Pars interarytaen.
besteht, ohne dass der Patient überhaupt
Klagen bezüglich des Kehlkopfes vorbringt.
Es ist ohne Weiteres klar, dass die
Schluckschmerzen in jedem Fall bekämpft
werden müssen. Sie erschweren die Er¬
nährung, oft hungern die Patienten, um nur
die mit dem Schlucken einhergehenden
Schmerzen zu vermeiden. Sie wirken
äusserst deprimirend auf das Gemüth der
Patienten ein, und schliesslich halten sie
die Heilung des entzündlichen Processes
auf. Ich möchte mich wenigstens durchaus
Spiess anschliessen, welcher behauptet,
dass zwischen der Schmerzlinderung und
der Heilung ein causaler Nexus besteht.
Spiess nimmt an, dass bei einer patholo¬
gischen Gewebsveränderung die einbe¬
zogenen Nerven reflectorisch die Vaso¬
motoren erregen, infolge dessen Hyper¬
ämie und Schwellung entsteht, was wieder
der Infection als neuer Boden dienen
kann. Ich möchte indess auf Grund meiner
Beobachtungen eine viel einfachere Er¬
klärung vorschlagen. Es stellen sich die
Schluckschmerzen besonders bei jenen
Veränderungen der Epiglottis und der
Aryknorpel ein, die von dem vorbeigleiten¬
den Bissen direkt oder indirekt berührt
werden. Erfahrungsgemäss führen solche
Patienten viel häufiger Schlingbewegungen
aus, als es der im Munde sich ansammelnde
Speichel erfordert; diese Schlingbewegungen
wirken auf die Rachenmuskulatur und auf
die entsprechenden Kehlkopftheile viel
irritierender, als die bei der Nahrungsauf¬
nahme vollführten Schluckbewegungen. Ich
möchte also den ungünstigen Einfluss des
Schmerzes auf die Heilung des Kehlkopf¬
leidens dieser durch denselben hervor¬
gerufenen mechanischen Irritation zu¬
schreiben.
Wie kann nun der praktische Arzt
ohne grosses Instrumentarium die hier
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geschilderten Beschwerden der Kranken
lindern?
Die meisten Aerzte behandeln den
Husten der Phthisiker mit narkotischen
Mitteln, deren Dosen allmählich gesteigert
werden. Aber nach meiner Ueberzeugung
liegt die Ursache des Hustens wenigstens
in 70% der Fälle in den oberen Luft¬
wegen. Die Störungen der Nasenathmung,
das vom Nasenrachenraum herabfliessende
oder von dort herstammende Sekret, die
verschiedensten Veränderungen des Rachens
und Kehlkopfes werden von der üblichen
Therapie nicht beeinflusst, während die
causale Behandlung die Kranken oft von
grossen Unannehmlichkeiten befreit und
die Heilungsmöglichkeit bedeutend beför¬
dert. Der Leiter des „Königin Elisabeths-
Sanatoriums, Herr Doc. Dr. Desider
v. Kuthy, unterlässt es nie, die hustenden
Patienten hierauf untersuchen zu lassen.
Bei eintrocknendem Nasensecret ist die
Ausspülung der Nase mit lauer 2%iger
Na-Bicarbonatlösung, bei Pharyngitis sicca
ist das Eintropfen von Vaselinöl in die
Nase, um während der Nacht den Rachen
feucht zu halten, oft von grösserer Wir¬
kung, als die Verordnung des Heroins.
Bei den Pharynx-Erkrankungen ist ausser¬
dem nöthig, zweitäglich mit adstringirenden
Lösungen (Tannin, Zinc. sulf., Jod-Glycerin)
zu pinseln, was der behandelnde Arzt oder
eventuell nach gehöriger Uebung der Pa¬
tient selbst verrichten kann.
Die im Kehlkopf entstehende Trocken¬
heit sowie das Kratz- und Juckgefühl sind
mit lokalen Anästheticis zu behandeln.
Die Anästhetica werden in Form von
Pinselungen, Einspritzungen und Inhala¬
tionen angewendet, die letzteren sind die
wichtigsten, da dieselben der Patient bei
Schmerzen selbst anwenden kann. Wir
selbst lassen vor den 3 Mahlzeiten etwa
eine Stunde kalte Umschläge auf die Kehl¬
kopfgegend und zwar jede 5 Minuten einen
frischen Umschlag machen oder wir wenden
eine entsprechende Form desLeiter’schen
Kühlapparats an. Oft gelingt es auf diese
Weise die Schmerzen zu lindern.
Von den Anästheticis wenden wir
besonders das Cocain und das Ortho-
form an, das erstere in Form von
Pinselungen, Einspritzungen und Inha¬
lationen, das Letztere in Form von Insuffla-
tionen. Der Nachtheil beider Mittel ist,
dass sie nicht in unbeschränkter Menge
angewendet werden können, da sie toxisch
wirken. Das Bild der Cocainintoxication
ist bekannt, die Orthoformvergiftung ist in
der neueren Litteratur mehrfach beschne¬
id rigi na I fro-m
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
405
ben, sie äussert, sich in Exanthemen und
in heftigen Allgemeinerscheinungen. Das
Cocain anästhesirt unbedingt, wenn es in
gehöriger Weise und Concentration appli-
cirt wird, die anästhesirende Wirkung hält
aber verhältnissmässig kurze Zeit an; Aehn-
liches kann über das besonders in Pulver¬
form anwendbare Orthoform gesagt werden.
In neuester Zeit hat v. Noorden ein
neues Anästheticum eingeführt, das An¬
äs thesin, welches ebenfalls zur Orthoform-
gruppe gehört (Para-Amido -Benzoesäure¬
ester), mit dessen localer äusserer sowie
innerer Anwendung er gute Erfolge er¬
zielte und das angeblich gar keine toxische
Wirkung besitzt. Seit einem Jahre stelle
ich Versuche mit diesem Mittel an in den
verschiedensten Mischungen, und ich ge¬
brauche es jetzt ständig zur Anästhesirung
des Rachens und Kehlkopfes und zwar mit
sehr gutem Erfolge, ausgenommen selbst¬
verständlich beim operativen Eingriffe, wo
es das Cocain nicht entbehrlich machen
kann. Nach den Angaben in der Litteratur
löst sich das Rifsert’sche Anäthesin, ein
weissliches Pulver, in fetten und ätheri¬
schen Oelen; indessen gelang mir diese
Auflösung nicht, in warmen Oelen löst
sich das Anästhesin zwar, doch wenn die
Lösung abkühlt, so fällt das Anästhesin
wieder aus. Es gelang aber eine Emulsion
zusammenzustellen, welche zur Kehlkopf¬
einspritzung wie zur Inhalation geeignet
ist und zwar:
Rp. Menthol . 1*50
JPulv. gummi arab.
OL amygd. dtdc.
Aquae dest. aa .... W*0
M. f. emulsio, adde
AnöMhesini . .
Spirit. Vini conc ..... 40*0
Aquae dest . 65*0.
Die Wirkung des Menthols als schwaches
Adstringens hatte ich oft Gelegenheit zu
beobachten, deshalb halte ich es für nöthig,
die anästhesirende und adstringirende Wir¬
kung zu combiniren. Die Wirkung ist zu¬
friedenstellend, oft frappirend. 'Von dieser
Lösung 1 cm 8 , was 3—4 ctg Anästhesin
entspricht, in den hartnäckigsten Fällen
von Dysphagie angewendet, bringt An¬
ästhesie in fünf bis acht Minuten hervor,
und hält die Wirkung von drei Stunden
bis zu 24 —30 Stunden an. Verdünnen wir
die Lösung mit Wasser, so wird sie zur
Inhalation sehr geeignet und bringt eine
deutliche anästhesirende Wirkung hervor.
Das unangenehme Kratzen nnd Juckgefühl
wurde sehr oft durch diese Einspritzungen
behoben.
Ein sehr erfreuliches Resultat erzielten
wir mit den Einspritzungen bei dem Husten
laryngealen Ursprunges. Stets wurde der¬
selbe auf fünf bis sechs Stunden, oft auch
auf zwei Tage gestillt. Diese Einspritzungen
sind sehr leicht vom Arzt auszuführen, oft
genug auch durch Inhalationen zu ersetzen;
die Narcotica werden zumeist vollkommen
überflüssig gemacht.
In Pulverform wendete ich das Anästhesin
nicht gerne an, da ich in Wasser unlös¬
liche Pulver zu Kehlkopfeinblasungen bei
viel Secret erzeugenden Lungenerkran-
kungen nicht für geeignet halte. Das Pulver
ballt sich mit dem Secret zusammen und
reizt nachträglich den Kehlkopf. Ausser¬
dem verursacht das in den Kehlkopf ein¬
geblasene reine Anästhesinpulver ein sehr
unangenehmes Erstickungsgefühl.
Intoxication von Anästhesin sah ich nie,
trotzdem ich es in 350 Fällen angewendet
habe (theils an den laryngologischen Ordi¬
nationen des Herrn Professor Irsai an der
I. internen Klinik zu Budapest, theils im
„KöniginElisabeth “-Sanatorium). Bei einem
Phthisiker meiner Privatpraxis, der sich im
Endstadium der Krankheit befand, ver¬
brauchte ich in den zwölf letzten Lebens¬
tagen zur Anästhesirung der sehr schmerz¬
haften Rachengeschwüre 30 g, ohne dass
sich die geringsten Intoxicationserschei-
nungen gezeigt hätten. An der I. internen
Klinik wurde es per os in mehreren Fällen
(Ulcus ventriculi, Carcinoma ventriculi) in
Dosen von 3—4 g pro die mit gutem Er¬
folg und ohne Intoxicationssymptome ver¬
abreicht.
Ich erwähne noch, dass ich in zwei
Fällen von Dysmenorrhöe anstatt Cocain
die erwähnte Lösung zur Einwirkung auf
die Nase anwendete und dass die vorher
eingetretenen Krämpfe danach wegblieben,
als wenn Cocain angewendet worden wäre.
Auf Grund meiner Beobachtungen und
Heilerfolge halte ich das Anästhesin für
ein zuverlässiges und unschädliches Mittel
zur Anästhesirung des Kehlkopfes, zur
Linderung der Dysphagie und besonders
zur Unterdrückung des laryngealen Hustens
der Phthisiker.
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406
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
Ans dem Städtischen Siechenhanse zn Frankfurt a. U.
(Oberarzt: Dr. August Knoblauch.)
Ueber spinale und cerebrale Störungen der Harnblasen¬
innervation und die Pflege der Incontinenten. 1 )
Von Dr. August Homburger, 1. Assistenzarzt.
M. H! Nachdem man angefangen hatte,
in den nervösen Centralorganen nicht nur
einen Zusammenschluss von Faserzügen,
Ursprungs- und Endstatten von solchen
und den Sitz seelischer Vorgänge ganz im
allgemeinen zu sehen, sondern die^Abhän-
gigkeit bestimmter Functionen von ebenso
bestimmten Oertlichkeiten im Centralorgan
zu erkennen, ist man auch bald zu dem
Bestreben gelangt, in systematischer Weise
der Analyse und Localisation einzelner
Organinnervationen näher zu treten. Selbst¬
verständlich schien es am leichtesten, in
solche Functionsabläufe eine gewisse Ein¬
sicht zu gewinnen, deren Abhängigkeit von
dem Centralapparat schon die Erfahrung
des täglichen Lebens ausser Zweifel stellte.
Es kann daher nicht Wunder nehmen,
dass gerade die Innervation der Harnblase
zu den Mechanismen zählte, in deren In¬
terna man verhältnissmässig bald glaubte
eindringen zu können. Der Weg schien
ja gegeben; die Abhängigkeit vom Gehirn
als dem Organ des Willens und Bewusst¬
seins war an sich klar, eine gewisse Ab¬
hängigkeit vom Rückenmark schloss man
aus den Störungen, die man bei Erkran¬
kungen und Verletzungen dieses Abschnittes
der Centralorgane beobachtete. Damit
präcisii^te sich die Fragestellung dahin:
In wieweit ist die Blaseninnervation vom
Gehirn, inwieweit vom Rückenmark ab¬
hängig, und wo im Gehirn, wo im Rücken¬
mark ist der Sitz der Regelung, der dieses
Abhängigkeitsverhältniss beherrscht? Noch
klarer schien die Sachlage, wenn man die
beiden dominirenden Hirnfunctionen, Wille
und Bewusstsein, getrennt betrachtete. Der
Willkürlichkeit präsentirte sich die Unwill-
kürlichkeit, dem Bewusstsein die Bewusst¬
losigkeit nicht nur rein speculativ, sondern
der praktischen Erfahrung entsprechend
auf das natürlichste als Gegensatz.
Das Bewusstsein hatte als Allgemein¬
vorgang aus der localisatorischen Betrach¬
tung auszuscheiden, und so blieb auf der
einen Seite die Frage nach dem psycho¬
motorischen Hirnrindencentrum, auf der
anderen die Frage nach dem automatischen
Rückenmarkscentrum der Blase.
*) Nach einem im ärztlichen Verein zu Frankfurt
a. M. am 2. März 1903 gehaltenen Vortrag.
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Die Trennung des cerebrospinalen Lei¬
tungsweges durchRückenmarksdurchschnei-
dung bot augenscheinlich eine zuverlässige
Grundlage zur Isolirung des spinalen
Blasencentrums und damit zu einer Ana¬
lyse des ganzen Innervationsvorganges.
Nachdem nun Budge 1858 im Sakralmark
das Centrum der glatten Blasenmuskulatur
festlegte, schien zunächst die ganze Frage
erledigt, und namentlich schienen die klini¬
schen Erscheinungen völlig erklärt.
Das Bild des ständigen Harnträufelns,
der Incontinentia vesicae schlechthin, war
am Krankenbett anscheinend das gleiche
wie das Experiment es hervorbrachte.
Man beruhigte sich auch hierbei, bis Fried¬
rich Goltz gegen alle bisherigen Experi¬
mente am Gehirn und Rückenmark den
Nichtigkeitseinwand erhob, weil Niemand
die Beobachtungen lange genug, d. h. so
lange fortgeführt habe, bis die unmittel¬
baren Folgen des Eingriffes — Shok, Blu¬
tung u. s. w. — sich nach Möglichkeit aus¬
geglichen hatten, und das wirkliche Resul¬
tat der Operation als definitiver Dauer¬
zustand vorlag. Goltz wurde zunächst als
Apostat behandelt und ignorirt und, als er
zwei Decennien später seine Experimente
mit moderner Technik wieder aufnahm,
war der Erfolg kein wesentlich anderer.
Allerdings führten sie zu gewichtigen Zwei¬
feln an der Souverainetät des Sakralcen¬
trums der Blase. Denn Goltz fand, dass
auch bei Exstirpation des Sakralmarkes,
nach vorübergehender absoluter Incontinenz
die Blase die Fähigkeit wiedererlangt, Urin
zurückzuhalten. In den letzten Jahren
haben nun jüngere Autoren auf dieser
Basis weitergebaut, und sind zu Resultaten
gelangt, die physiologisch und klinisch von
dem allergrössten Interesse sind. Unter
ihnen sind besonders Reh fisch 1 ) und
L. R. Müller 2 ) zu nennen. Die Ergeb¬
nisse ihrer Arbeiten seien kurz referirt.
Zwei Nervenpaare ziehen zur Blase: der
rein spinale N. erigens, der die gesammte
Muskulatur derselben innervirt und der
sympathische N. hypogastricus, welcher
dem Ganglion mesentericum inferius ent-
1 ) Ueber die Innervation der Harnblase, Vir-
chow’s Archiv. Bd. 161.
a ) Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 1901.
Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
407
stammt, den Blasengrund, das Trigonum
und den Sphincter vesicae int. versorgt.
Beide Nerven führen motorische und sen¬
sible Fasern. Bei isolirter Erigensreizung
zieht sich die Blase in toto zusammen, bei
isolirter Hypogastricusreizung nur der
Blasenhals. In beiden Fällen fliesst kein
Urin ab. Durchschneidet man alle vier
Nerven, so findet fortwährender Harn¬
abfluss statt; reizt man dann die Hypo-
gastrici, so hört der Abfluss auf, und reizt
man die Erigentes, so sistirt er ebenfalls.
In beiden Fällen öffnet sich nach einiger
Zeit der Sphincter. Damit ist jedenfalls
die Lehre von dem Antagonismus von
Hypogastricus und Erigens widerlegt, so¬
wie die Ansicht Zeissl’s, dass die Er¬
regung des einen immer mit einer Hem¬
mung des anderen einhergeht. Reh fisch
denkt sich nun den Ablauf der Urinentlee¬
rung derart, dass zur normalen tonischen
Sphinctercontraction die Contraction der
übrigen Blasenmuskulatur hinzukommt; der
Blaseninhalt wird also erst unter einen
maximalen Druck versetzt, ehe das Gefühl
dieses Druckes, der Harndrang, auf reflec-
to rischem Wege ein Nachlassen des
Sphinctertonus bewirkt
L. R. Müller trat nun der Frage näher,
inwieweit dieser Mechanismus statt hat,
wenn jeglicher Willenseinfluss ausgeschal¬
tet ist; er fragte aber nicht wie Budge,
wie tief im Rückenmark, sondern wie nahe
der Blase sitzt die Regulierung, ohne zu
präjudiciren, dass sie im Rückenmark selbst
sitzt. Zunächst wiederholte er die Goltz-
schen Experimente unter allen Cautelen
der Asepsis, und durch Verhütung des De¬
cubitus gelang es ihm ebenso wie Goltz,
die Thiere am Leben zu erhalten; voll und
ganz bestätigten sich die Goltz'sehen Re¬
sultate: die ursprüngliche absolute Inconti-
nenz wich einem späteren definitiven Zu¬
stande, auf den wir gleich zurückkommen
werden. Es war für das Endresultat dabei
ganz gleichgültig, ob eine Durchschneidung,
eine Resection oder eine vollständige Ex¬
stirpation des Sakralmarkes vorgenommen
wurde, und Müller fand, dass bei seinen
des Sakralmarkes beraubten Thieren der
Entleerungsmechanismus genau derselbe
war, wie er ihn bei Kranken gesehen hatte,
die an Quermyelitis litten.
Es entleert sich unwillkürlich der Urin
im Strahl, mehrfach von ganz kurzen
Pausen unterbrochen; katheterisirt man da¬
nach, so findet man immer Residualharn.
Es kommt vor, dass der Kranke vergeblich
zum Uringlase greift und wenige Minuten
später der Urinentleerung nicht wehren
Digitizer! by Google
kann. Dies erfolgt in nahezu gleichen Zeit¬
abständen und mit ceteris paribus annähernd
gleichen Urinmengen; in den Zwischen¬
zeiten aber besteht kein Harnträufeln.
Also nicht Lähmung der Blase liegt vor,
sondern automatische Regulirung; deren
Sitz aber ist das sympathische Ganglion
mesentericum inferius und der Nervus
hypogastricus seine Bahn. Der Unterschied
gegen die Norm besteht also darin, dass
die Urinentleerung dem Willen entrückt
ist und den Impulsen, die auf dem Wege
des Nervus erigens von den Central¬
organen zur Blase dringen.
Auch wir haben im Städtischen Siechen¬
hause analoge Erfahrungen bei Hämato-
myelie, bei syphilitischer Quermyelitis 1 ) ge¬
macht, aber abgesehen von spinalen Affec-
tionen begegneten wir der automatischen
Blasenentleerung auch bei cerebralen Affec-
tionen und zwar in scharf umschriebenen
Grenzen.
Wir hatten schon lange vor der Ver¬
öffentlichung der Müllerischen Arbeit die
Beobachtung gemacht, dass ein Hemiple-
giker, dessen Cerebrum von einer Läsion
der cortico-spinalen, durch die innere
Kapsel ziehenden Faserung abgesehen, in-
tact ist, die nach dem Insult verloren ge¬
gangene Beherrschung der Blase wieder¬
erlangt. Alle Hemiplegiker, die als „un¬
rein“ der Anstalt zugefhhrt wurden, sind
wieder vollständig continent geworden und
sind es auch dauernd geblieben. In dia¬
metralem Gegensatz hierzu aber lernten
wir eine zweite Kategorie von Kranken
mit cerebralen Läsionen kennen, welche
eine spastische Parese beider Beine, ohne
oder fast ohne Betheiligung der Arme hatten.
Diese Kranken verloren die Beherrschung
der Urinentleerung und haben sie nicht
wiedererlangt. Aber sie hatten keine
Blasenlähmung, kein continuirliches Harn¬
träufeln, sondern es spielte sich derselbe
Mechanismus automatischer Entleerung ab,
wie bei spinalen Affectionen. Auf die De¬
tails der Lähmungstypen und gewisse da¬
mit verbundener statischer Störungen
möchte ich nicht eingehen, ihre Besprechung
einer anderen Gelegenheit vorbehaltend. 2 )
Die Sectionsbefunde, es sind bis jetzt deren
zehn, solcher Patienten zeigten nun, dass
bei freier innerer Kapsel und bei Fehlen
sonstiger Herderkrankungen zahlreiche, 10
bis 20 und noch mehr kleinere und grössere
Erweichungsherde in Linsenkern und Seh¬
hügel sich fanden und zwar auf beiden
Seiten. Wi r konnten feststellen, dass in
*) Münchener med. Wochenschr. 1903, No. 6.
*) Neurol. Centralbl. 1903, No. 5.
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
408
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
Fällen dauernder Automatie — natürlich
bei fehlender Spinalaffection — regelmässig
die Centralganglien erweicht waren, und
wir fanden die Ganglien nur in den Fällen
mit Erweichungsherden durchsetzt, bei
denen in vivo Automatie und atypische Pa¬
resen bestanden hatten. Bezeichnend für
diese Art beiderseitiger Paresen, die haupt¬
sächlich die Beine befällt, die Arme aber
fast frei lässt, ist nach unseren Erfahrungen
das Fehlen des Babinski’schen Reflexes,
worauf ich bereits früher einmal aufmerk¬
sam gemacht habe. 1 )
Die genannten Erscheinungen setzen
also ein wohlcharakterisirtes Krankheitsbild
zusammen, welches auf Erweichung der
beiderseitigen Centralganglien zu beziehen
ist. — Was ausser den eben geschilderten
Ergebnissen eigener Untersuchungen über
die Beziehungen dieser Hirntheile zur
Urinentleerung bekannt war, haben Czyh-
larz und Marburg 2 ) im vorigen Jahre zu¬
sammengestellt und gelangten unter Ver¬
wertung einiger neuer Fälle zu dem Re¬
sultat, dass im Thalamus und im Linsen¬
kern sogenannte Centren der Blase sich
finden.
Als ich von dem vorhin entwickelten
Gesichtspunkte der Beiderseitigkeit der
Affection als Grundlage der sog. dauern¬
den Incontinenz die von Czyharz und
Marburg sorgfältig gesammelten Fälle
überprüfte, ergab sich mir ein Resultat,
das geradezu ein Beweis für die Richtig¬
keit unserer Beobachtungen ist. In den
Fällen nämlich — es handelt sich in der
Hauptsache um Tumoren — in denen man
eine vorübergehende Störung der Urin¬
entleerung notirte, fand sich eine einseitige
Affection, und wo man bei der Obduction
ein beiderseitiges Ergriffensein fand, war
die Störung eine dauernde gewesen und
hatte den Typus der Automatie gezeigt.
Wir kommen jetzt zu den Folgen der
Herde im Tractus cortico-spinalis bezw.
der motorischen Rinde selbst, also zu den
Störungen, die mit der typischen Hemi¬
plegie einhergehen. Es ist eine merkwür¬
dige, der Beachtung sehr wohl werthe
Thatsache, dass doppelseitige Herde in
diesen Regionen so ungemein selten Vor¬
kommen. Selbst in unserer Anstalt, wo
sich das Material an cerebralen Herderkran¬
kungen naturgemäss anhäuft, ist ein solches
Vorkommniss noch nicht beobachtet wor¬
den und auch Czyhlarz und Marburg,
denen das grosse Material der Nothnagel-
*) Neurol. Centralbl. 1901 No. 15, 1902 No. 4.
2 ) Jahrbücher für Psych. 1901; Wiener klinische
Wochenschr. 1902 No. 31.
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sehen Klinik und des Obersteiner’schen
Instituts zur Verfügung steht, sind in der
gleichen Lage. So können wir Bestimmtes
nur von einseitigen Herden aussagen. Nach
jederKapselhämorrhagie oder corticalenEr¬
weichung in der motorischen Region tritt
in der ersten Zeit bekanntlich Incontinenz
auf, der die Ischuria paradoxa vorausgeht.
Aber diese Incontinenz bildet sich zurück
und zwar in allen Fällen und selbst dann,
wenn die ganze motorische Rinde sammt
der Blasenregion im Gyrus postcentralis
einseitig vollständig zerstört ist, wie wir
es selbst zweimal sahen, und wie es aus
der Litteratur bekannt ist.
M. H.! Wie sollen wir uns nun er¬
klären, dass bei manchen Läsionen vor¬
übergehende, bei anderen dauernde Un¬
reinheit auftritt, wie in der scheinbar so
complicirten, wechselreichen Reihe cerebro¬
spinaler Blasenstörungen einen sicheren
Weg finden? Ich glaube, dass dies auf
eine ungemein einfache Weise möglich ist.
Wie Broadbent zuerst erkannt hat, sind
alle motorischen Innervationen, welche bi¬
lateral functioniren, auch bilateral im Ge¬
hirn vertreten, derart dass von jeder He¬
misphäre die Innervation beider Seiten
möglich ist. Auf unsere Frage angewandt,
heisst dies aber nichts anderes als: eine
Hirnhälfte genügt zur Unterhaltung eines
regulären Functionsablaufes. Ein einseitiger
Herd in der Rinde im Centrum semiovale
oder an jeder beliebigen Stelle der cor¬
ticalen Kapselfaserung, nicht minder Er¬
weichungsherde eines Thalamus opt. und
eines Linsenkerns führen zur Incontinenz,
die eine vorübergehende ist, und so lange
dauert, bis wir gelernt haben die Inner¬
vation von der anderen Seite her auszu¬
nutzen. Hingegen führt, wie wir sicher
wissen, die Erweichung beider Linsenkerne
und Sehhügel und, wie wir theoretisch
postuliren müssen, doppelseitige Kapsel-
und Rindenläsion zu dauernder Incontinenz
richtiger Automatie; aus den gleichen Grün¬
den führt die Halbseitenläsion, wenn sie
wirklich nur eine Hemisection ist, nie zu
dauernder Blasenstörung, wohl aber die
Querdurchtrennung und überhaupt jede
transversale Spinalerkrankung. Demnach
sind wir, sobald festgestellt ist, ob die Lä¬
sion, die zur Blasenstörung führt, einseitig
oder doppelseitig ist, auch in der Lage zu
sagen, ob die Incontinenz dauernd und un¬
heilbar oder vorübergehend und heilbar ist.
Und nun gestatten Sie mir einige Worte
über die Pflege der sogenannten Unreinen.
Sie gehört ja zu den schwierigsten Pro¬
blemen der Anstaltspflege überhaupt.
Original from
UMVERSITY 0F CALIFORNIA
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
409
Die Incontinenz zu verhüten, wo sie
droht, sie zu beseitigen wo sie vorhanden
ist, und Kriterien zu gewinnen, inwieweit
ein solches Bestreben Aussicht auf Erfolg
hat, diesen Aufgaben hatten wir näher zu
treten. Nächst der „Unreinheit 4 * kommt
auch die grosse Neigung zum Decubitus in
Betracht, die immer mit ihr Hand in Hand
geht Die Bekämpfung des ersteren Uebels
ist auch eine solche der letzteren. Durch
ein systematisches Vorgehen, durch sorg¬
fältigste Behandlung jeder oberflächlichsten
Hautverletzung ist es denn auch ohne be¬
sondere Einrichtungen gelungen, den De¬
cubitus zu einer sehr seltenen Erscheinung
zu machen.
Zuerst nahmen wir die Hemiplegiker
vor, brachten sie in gewöhnlich hergerich¬
tete Betten mit Durchzug eventuell mit
Luft- oder Wasserkissen, und legten ihnen
ständig eine Urinflasche vor. Die Kranken
wurden angehalten, die gefüllte Flasche in
einen neben der nichtgelähmten Seite
stehenden Topf zu entleeren, und sie sich
dann selbst wieder anzulegen. So wurde
die Aufmerksamkeit der Kranken dem Ent¬
leerungsacte wieder zugewandt. Dann
wurde ihnen die Flasche nicht mehr stän¬
dig vorgelegt, sondern so neben das Bett
gestellt, dass der Kranke sie erreichen
konnte, wenn er Drang verspürte. Da
zeigte es sich denn, dass es eine geraume
Zeit dauerte, bis der Hemiplegiker selbst
nur den Füllungszustand seiner Blase wieder
beurtheilen lernt. Ist dies aber erreicht,
so muss er sich auch die Beherrschung
der Entleerung systematisch wieder an¬
eignen, indem man ihm das Glas nur noch
in Zwischenräumen von 2—3—4 Stunden
allmählich ansteigend reicht.
Was die Incontinentia alvi, die ich hier
kurz erwähnen darf, anlangt, so ist ihre
Beseitigung noch viel einfacher. Zunächst
wird durch breiige Kost ev. unter Zuhülfe-
nahme kleiner Opiumdosen dem Stuhle die
erforderliche Konsistenz ertheilt und täg¬
lich durch eine hohe Darmirrigation eine
vollständige Stuhlentleerung erzielt. Hier¬
durch erreicht man mit absoluter Sicher¬
heit die Ausschaltung weiterer Stühle.
Nach kurzer Zeit kann das Opium weg¬
gelassen werden, und ein gewöhnliches
Klysma täglich Morgens applicirt stellt
einen genügenden Reiz zu vollständiger
Defäcation dar. Der Kranke erlangt wieder
das Gefühl von Füllung und Entleerung
des Darmes. Es ist uns auf diese Weise
gelungen, alle Hemiplegiker ohne Aus¬
nahme dauernd continent zu halten, so dass
sie fremder Hülfe nicht bedürfen. Anders
Digitized by Google
und weit ungünstiger liegen die Verhält¬
nisse bei allen denjenigen Kranken, bei
denen die Doppelseitigkeit der Affection
zur automatischen den Willenseinflüssen
völlig entrückten Blasenthätigkeit geführt
hat. Die Pflege hat hier ebenfalls ein klar
vorgeschriebenes Bestreben: Man muss bei
jedem einzelnen Kranken ausprobiren, in
welchen Zwischenräumen er Urin entleert,
und ihn dann zu Stuhle bringen. Wichtig
ist, dass man die Urinmenge Nachts ein¬
schränkt, dadurch dass die Kranken Abends
möglichst keine Flüssigkeit mehr erhalten.
Man kann sie Nachts auf ein Luttkissen
mit Boden legen, der mit fein ausgebreite¬
tem Torfmull bestreut ist. So liegt der
Kranke trocken und auch der Decubitus
wird vermieden. Das Torfmull desodorisirt
so gut und saugt so reichlich auf, dass
diese Kranken für die anderen keine Be¬
lästigung darstellen. Schliesslich muss der
Incontinenz der Tabiker noch ein Wort
gewidmet werden. Erzieht man diese von
vornherein, worauf Edinger 1 ) schon im
Jahre 1898 aufmerksam gemacht hat, dazu
in Zeitabständen von 2—3 Stunden und
auch mindestens einmal in der Nacht Urin
zu lassen, so vermeidet man die durch die
Hypästhesie der Blase sonst leicht ent¬
stehende Ueberdehnung und damit den
nächsten Anlass zur Incontinenz. Beson¬
ders wichtig ist es, dass man auch der
leichtesten Cystitis die grösste Aufmerk¬
samkeit zuwendet, denn sie führt zum
Harnträufeln und dies begünstigt das Ein¬
treten dauernder Incontinenz. Besonders
aber muss man sich hüten cystitische Be¬
schwerden als Blasenkrisen aufzufassen,
und sie entsprechend anderen Krisen mit
Narkoticis zu behandeln. Die Gefahr des
Morphinismus ist bei der Tabes schon an
sich eine sehr grosse, und von allen andern
Nachtheilen abgesehen, führt der Morphium¬
gebrauch dazu, dass der Tabiker das Fül-
lungsgefühl der Blase ganz verliert, und
dazu eine chronische Obstipation bekommt,
die ihrerseits wieder die Cystitis ungünstig
beeinflusst.
M. H.! Ich habe versucht. Ihnen in
kurzen Zügen ein Bild zu geben von dem
jetzigen Stande der Frage der spinalen
und cerebralen Blasenstörungen; noch
liegen hier, wie Sie sehen, eine Reihe un¬
gelöster Fragen, vor allen die nach den
Leitungswegen im Gehirn und Rückenmark
und die Frage der sogenannten willkür¬
lichen Erschlaffung des Sphinctertonus.
Bezüglich dieses Punktes sind unsere
Kenntnisse noch ganz ungenügend. Gleich-
*) Congress für innere Medicin, Wiesbaden 1898.
52
Original fro-m
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
1
410
wohl haben die letzten Jahre die Frage
der automatischen Entleerung in befriedi¬
gender Weise gelöst und die Rolle der
centralen Ganglien aufzuklären begonnen.
Wie ich hoffe überzeugend dargethan zu
haben, wohnt diesen Erkenntnissen nicht
nur ein theoretisches Interesse inne, son¬
dern sie geben uns klare Direktiven für
die Prognose der Blasenstörungen und für
unser therapeutisches Handeln.
Bücherbesprechungen.
F. L. Dumont. Handbuch der allge¬
meinen und localen Anaesthesie.
Für Aerzte und Studirende. Berlin und
Wien 1903, Urban & Schwarzenberg.
234 Seiten mit 116 Abildungen. 7,— M.
Verfasser giebt in dem vorliegenden
Buch eine umfassende Darstellung der bis
jetzt bekannten mehr oder weniger ge¬
bräuchlichen Methoden der allgemeinen
und lokalen Anaesthesirung. Die mitge-
theilten Ergebnisse entstammen zum Theil
den Erfahrungen Anderer, zum grossen
Theil aber hat sie Verfasser aus eigner
Erfahrung mitgetheilt. Sehr lebhaft be¬
dauert er es, dass die Narkose auf den
Universitäten noch immer als Stiefkind be¬
handelt wird und dass so viele Mediciner
in die Praxis gehen, ohne jemals Gelegen¬
heit gehabt zu haben, eine Narkose unter
der Anleitung eines erfahrenen Lehrers
auszuführen. Nach einem historischen
Ueberblick bespricht er die einzelnen
Methoden der Allgemeinanaesthesie, der
Medullaranaesthesie und der Localanaesthe-
sie. Am ausführlichsten ist natürlich die
Aether- und Chloroformnarkose besprochen.
Verfasser bekennt sich als begeisterter
Anhänger der Aethernarkose. Die Er¬
krankungen der Luftwege nach der Narkose
führt er auf die Art der Darreichung des
Aethers zurück; die Aetherdämpfe führen
eine vermehrte Schleimabsonderung herbei;
darauf ist das Trachealrasseln in der Nar¬
kose und die Erkrankung der Luftwege
nach der Narkose zurückzuführen. Auch
bei Kindern ist die Anwendung des Aethers
zu empfehlen (dies wird auch durch die
in Bethanien gemachten Erfahrungen be¬
stätigt, Ref.), ebenso bei alten Leuten,
ausser bei Emphysematikern und Leuten
mit schwachen Lungen. Bei alten Leuten
ist die Allgemeinnarkose der lokalen
Anaesthesie vorzuziehen, da infolge des
Schmerzes der Blutdruck steigt, wodurch
die Gefahr einer Apoplexie herantritt. Die
Erstickungsmethode ist zu verwerfen. Auch
bei Kreissenden ist der Aether mehr zu
empfehlen. — Verfasser hat es verstanden,
den Stoff so zu behandeln, dass man das
ganze Buch lesen kann, ohne bei der durch
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den Gegenstand bedingten Gleichartigkeit
der einzelnen Kapitel das Interesse zu
verlieren. Für den Anfänger ist das Buch
eine gute Einführung in das Gebiet der
Narkosen, für den erfahrenen Chirurgen
ist es ein gutes Nachschlagebuch, denn es
dürfte wohl kaum einen einschlägigen
Gegenstand geben, der vergessen wäre.
Auch das Litteraturverzeichniss ist sehr
reichhaltig. Sehr zahlreich und gut sind
die Abbildungen. Die Einteilung ist recht
übersichtlich. Die äussere Ausstattung ist
die bei der Verlagshandlung gewohnte gute.
Klink (Berlin).
Schedel. Beiträge zur Kenntniss der
Wirkung des Chlorbariums beson¬
ders als Herzmittel. Mit einem Vor¬
wort von R. Robert. Stuttgart. Enke
1903. 108 S. 4,— M.
Auf Grund von Versuchen an Thieren,
Beobachtungen an sich selbst und Kranken- |
behandlungen empfiehlt Verf. das leicht |
dosirbare, innerlich und subcutan anwend¬
bare Chlorbarium (Ph. G. IV Barium
chloratum), das jederzeit rein und von
gleichem Wirkungswerth in den Apotheken
zu erhalten ist und endlich den Vorzug der
Billigkeit besitzt, als ein Ersatzmittel
der Digitalis. In Thierversuchen hat
sich deutlich eine blutdrucksteigernde
und pulsverlangsamende Wirkung des
Chlorbariums feststellen lassen. Die Blut¬
drucksteigerung wird durch directe Beein¬
flussung des Herzmuskels und ausserdem
der Gefässe, die Pulsverlangsamung durch
Vagusreizung hervorgerufen. Die Indika¬
tionsstellung ist nach ihm dieselbe wie bei
der Digitalis-Verordnung „bei allen orga¬
nischen Herzerkrankungen“. 0,02 g mehrere-
male gegeben mit 0,2 g Zucker, erhöhen
die Herzaction durch Vermehrung des
Pulsvolums, steigern den Blutdruck und
machen den Puls regelmässig. Gaben von
0,03 g und noch mehr die von 0,05 g be¬
wirken eine noch grössere Blutdrucksteige¬
rung (um 45 mm Hg) und eine Pulsverlang¬
samung. „Selbst bei schweren, mit Cyan ose,
Oedemen, Lungenstauungen einhergehen¬
den Zuständen infolge organischer Herz-
Qrigiraal from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
411
Die Therapie der
leiden tritt erhebliche Besserung ein, der
Puls wird regelmässig, voll, verlangsamt, der
Blutdruck steigt, sämmtliche bedrohlichen
Erscheinungen schwinden, reichliche Diurese
wird wie in allen andern Fällen, so nament¬
lich auch in den schweren beobachtet.
Die blutdrucksteigernde Wirkung hält im
allgemeinen nicht länger als drei Tage an,
jedoch besteht noch acht Tage später
kräftigerer Puls und Besserung des Allge¬
meinbefindens. 11
Eine kumulative Wirkung ist dem Chlor¬
barium eigen. Im Thierversuch sind ferner
Blutaustritte im Magen und Darm, Reizung
der motorischen Darmwandganglien und
Koliken festgestellt. Die sehr hohe
Giftigkeit der löslichen Bariumsalze
ist bei Nachprüfungen an Kranken, zu
denen Verf. mit Recht auflordert, nicht aus
dem Auge zu lassen. Eine solche Vergif¬
tung würde mit sofortigem Aussetzen des
Mittels, Ausspülung des Magens mit verdünn¬
ter Glaubersalzlösung zur Bindung des Ba¬
riumchlorids (Bariumsulfat), Atropin zur
Ruhigstellung der gereizten Darmganglien
bei der Barytkolik, mitElektrisiren, Massage,
Reizmitteln bei beginnender Barytlähmung zu
behandeln sein. S. 53—108 umfassen die
Versuchsprotokolle, Krankengeschichten,
Blutdruckkurven. Den Schluss dieser Schrift
bildet eine mikroskopische Tafel eines Blut¬
extravasats im Magen nach Chlorbarium¬
vergiftung. E. Rost (Berlin).
Konr&d Schweizer. Schwindsucht
eine Nervenkrankheit. München1903.
48 S. Preis 1,20 M.
Verfasser sucht den klinisch-prognosti¬
schen Symptombegriff der alten Medicin
dem Bewusstsein des modernen Arztes
wieder näher zu bringen. Es wird bei
dieser Betrachtung der durch die bacte-
riologisch-ätiologische Forschungsrichtung
Ober Gebühr vernachlässigte, übrigens
doch auch von neueren Pathologen (Mar-
tiusu. A.) wieder mehr gewürdigte Factor
der Konstitution in den Vordergrund
gerückt. Das Ziel der im Ganzen beweis¬
kräftigen Deductionen ist, dass eben der
Zustand des Nervensystems das ausschlag¬
gebende konstitutionelle Moment ist, von
dem es abhängt, ob eine einfache — heil¬
bare — Tuberkulose, oder „Schwindsucht“
sich etablirt Das Büchlein ist anregend
geschrieben, wenngleich ein Uebermaass
im Gebrauch des bildlichen Ausdrucks
manchmal störend wirkt Jedenfalls hat
man es, was gegenüber dem etwas sensa¬
tionell klingenden Titel vielleicht hervor¬
zuheben ist, mit dem Werk eines wissen¬
Digitized by Google
Gegenwart 1903.
schaftlich und selbstständig denkenden
Arztes zu thun.
Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt.)
Rad. FiflChl. Die Ernährung des Säug¬
lings in gesunden und kranken
Tagen. Stuttgart. F. Enke 1903. 132 S.
2,- M.
Der bekannte Prager Kinderarzt giebt
in diesem Büchlein 6 populäre Vorträge
wieder, die als volkstümlicher Hochschul¬
kurs an der Prager deutschen Universität
gehalten werden. Vom neuesten Stand¬
punkt aus behandeln sie in allgemeinver¬
ständlicher Form das ganze Gebiet — von
der Säuglingssterblichkeit an über che¬
mische und physiologische Eigenschaften der
Milch bis zu den Nährpräparaten und der
Behandlung in der Krankheit. Die dem
geschauten Verf. eigene elegante, wenn
nötig auch drastische Schreibweise macht
neben den sachlichen Vorzügen auch
formell die Lectüre zu einer angenehmen
Beschäftigung. Finkeistein (Berlin).
L. E. Leredde. La nature syphili-
tique et la curabilitö duTabes et de
la Paralysie gdnörale. Paris, C. Naud.
1903. 141 S.
ln dieser Monographie tritt Leredde
auf Grund literarischer Studien und eige¬
ner Erfahrungen für die syphilitische Natur
von Tabes und Paralyse ein. Er kann die¬
selben nicht als parasyphilitische Affec-
tionen im Sinne Fournier’s — d. h. zwar
durch Syphilis veranlasst, aber selbst nicht
mehr syphilitischer Natur — auffassen,
sondern reiht sie sowohl auf Grund der
pathologisch-anatomischen Thatsachen, als
auch besonders vom therapeutischen Ge¬
sichtspunkte der tertiären Syphilis an. Er
citirt aus der Literatur eine grosse Reihe
von Fällen, in denen durch antisyphilitische
Behandlung Heilung und Besserung ein¬
trat. Auf Grund eigener Erfahrungen
glaubt er nun, dass diese günstigen Resul¬
tate sich erweitern lassen, wenn man nicht
die landläufige Dosirung der Quecksilber¬
behandlung einhält, sondern mit erheblich
höheren Dosen arbeitet, die nach seinen Er¬
fahrungen vertragen werden (? Red.). Hier¬
bei räth er von Inunctionen ganz abzusehen
und zu Injectionen, sowohl unlöslicher
Salze, ganz besonders aber zur Injection
hoher Dosen löslicher Quecksilbersalze
seine Zuflucht zu nehmen. Die Höhe der
Krankheitserscheinungen soll nicht den
Maassstab der Behandlung abgeben, da
die nervösen Symptome secundärer Art,
abhängig von den interstitiellen und Gefäss-
veränderungen sind, und nicht ohne weiteres
52*
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1
412 Die Therapie der Gegenwart 1903.__ September
auf die Intensität und Ausdehnung der
eigentlichen primären ursächlichen Ge-
websläsionen schliessen lassen. Er er¬
örtert natürlich auch die sog. Pseudopara¬
lyse und Pseudotabes, die klinisch so wenig
sichere Begriffe sind, dass sie praktisch
nicht in Betracht gezogen werden können.
Auch die Leucoplacie zieht er zum Schluss
in* den Kreis seiner Betrachtungen.
Buschke (Berlin).
Referate
R. Bloch berichtet über sehr günstige
Erfolge, die er durch locale Anästhesl-
runjf nach Schleich sowohl in therapeu¬
tischer, als diagnostischer Beziehung bei
rheumatischen Affectionen aller Art er¬
zielte. Bei diesen Erkrankungen waren
die Heilerfolge sowohl was die Schmerzen
als auch die Functionsstörung betrifft, so
prompte, dass aus dem Fehlschlagen dieser
Therapie auf eine andere, als rheuma¬
tische Aetiologie geschlossen werden
konnte, was sich dann bei genauerer Nach¬
forschung als richtig erwies. Speziell bei
den rheumatischen Neuralgien und Myal¬
gien wurde meist durch eine Infiltration
ein Dauererfolg erzielt. Bei den rheuma¬
tischen Affectionen der Gelenke und der
Sehnenscheiden war der Effect von vorn¬
herein kein so dauernder, konnte aber zu
einem solchen gemacht werden, wenn man
die Infiltration mit Application von Wärme
und äusserlicher Anwendung von Salicyl-
präparaten, unter denen sich das Glycosal
am besten bewährte, combinirte.
Zur Injection wurde stets eine 0,2%
Tropacocaift - Chlornatriumlösung verwen¬
det, die mittelst einer eigens construirten
Intracutanspritze bis zur starren Infiltra¬
tion der Haut applicirt wurde.
H. Wiener (Prag).
(Die Therapie No. 8. 1903.)
Ueber die Behandlung der Anky-
lostomiasls, die gerade jetzt in unseren
Bergwerksdistricten zu einer actuellen
Frage geworden ist, berichtet Dr. Nagel
aus dem Bochumer Elisabeth-Hospital auf
Grund einer reichen Erfahrung an 4000 in
den letzten sieben Jahren daselbst behan¬
delten Ankylostomumkranken. Die Kur
bestand Anfangs ausschliesslich in der
Verabreichung einer einzigen vollen Dosis
(nur bei sehr geschwächten Patienten in
refracta dosi) von 10—13 g Extractum
filicis pur oder mit schwarzem Kaffee; zwei
bis drei Stunden nachher erhielt der Patient
0,3 g Calomel. Der Erfolg war meist ein
guter, nur wurde er häufig durch leichte
Vergiftungserscheinungen (Kopfschmerzen,
Schwindel, Pulsbeschleunigung, Tempera¬
tursteigerungen bis 39,5 o) getrübt, ge¬
legentlich auch durch schwerere Symptome
(Sehstörungen, erweiterte starre Pupillen,
starke Schweisse. Durch 1 g Salipyrin
oder Phenacetin wurde gewöhnlich schnelle
Besserung erzielt.) Indessen Versuche, das
Extractum filicis durch andere Mittel zu
ersetzen, führten zu keinem Resultate:
Santonin, Decoct. rad. Granati, Flor. Koso
und Kamala wirkten wenig oder gar nicht,
Thymol wirkte besser, aber erst in Gaben
von mindestens 8 g pro die und bei diesen
waren die Intoxicationserscheinungen nicht
geringer. So wurde immer wieder auf das
Farnextract zurückgegriffen, das einen
ziemlich sicheren Erfolg verspricht, wenn
es frisch ist, d. h. von der in der letzten
Saison gesammelten Pflanze stammt.
Die Gefahr der Filixmedication ist in
den letzten Jahren dadurch noch ge¬
wachsen, dass jetzt weniger anämische,
geschwächte Individuen, sondern zahlreich
die sogenannten nichtkranken Wurm¬
träger, also kräftige Männer, zur Behand¬
lung kommen. Bei diesen muss die Dosis
noch verstärkt werden, da sie dem wirk¬
samen Stoffe im Extractum filicis grossen
Widerstand entgegensetzen; unglücklicher¬
weise scheinen sie für das toxische Princip
weit empfänglicher, denn es sind schwere
Intoxicationen beobachtet worden (so zwei¬
mal bereits plötzliche totale Amaurose mit
Pupillenstarre und fortschreitender Atrophie
des Sehnerven nach 10 g, bezw. nach 2 mal
5 g; beidemal versagte der wurmabtötende
Stoff). Es ist daher in diesen Fällen be¬
sondere Vorsicht geboten; Nagel bevor¬
zugt die Darreichung in Gelatinekapseln
oder besser noch die Mischung: Extractum
filicis 8—10 g, Chloroform gtt X XV,
Sirup. Sennae 16 g.
Neuerdings hat Kraft die sämmtlichen
sauren Bestandtheile des Filixextractes in
sieben gut charakterisirten Körpern dar¬
gestellt; der eine derselben, der nach Ver¬
suchen von Jaquet der reine Träger der
anthelmintischen Wirkung sein soll, ist im
sogenannten Filmaron dargestellt. Nagel
hat dieses Präparat in neun Fällen ver¬
sucht, in denen Extractum filicis und Thy¬
mol versagt hatten, und zwar in folgender
Form: Filmaron 0,7, Chloroform 1,5, Ol.
Ricini 20,0 (in den letzten vier Fällen
wurde noch Thymol 5,0 hinzugefügt). In
Difitized by
Gck igle
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
413
allen neun Fallen gelang die Abtreibung,
wenn auch erst nach zwei- bis vier¬
maliger Kur. F. K.
(Deutsche Med. Wochenschrift 1903, No. 31.)
Günstige Erfolge in der Behandlung des
Keuchhustens hat Kittel-Mückenberg
mit dem unlängst von Stursberg em¬
pfohlenen neuen Chininpräparat, dem
Arlstochin erzielt. Er hatte Gelegenheit,
seine Wirkung bei einer hartnäckigen
Keuchhustenepidemie an 34 Fällen zu er¬
proben und hat damit eine Abkürzung der
Krankheitsdauer auf zehn Tage bis vier
Wochen erzielt. Besonders prompt fand
er die Wirkung bei Kindern unter einem
Jahr und im Beginn der Erkrankung. Die
verabreichte Dosis betrug bei Kindern unter
einem Jahr dreimal täglich so viel cg wie
die Kinder Monate zählten bis zu 0,1 g,
bei grösseren Kindern dreimal täglich 0,2 g.
Das Präparat wurde gern genommen, wirkte
appetitfördernd und Hess keinerlei üble
Nebenwirkungen erkennen. F. U.
(Therapeutische Monatshefte, August 1903.)
Motz weist an der Hand eigener Beob¬
achtungen daraufhin, dass man die Blasen-
tuberkulose nicht so ohne weiteres als
ein unheilbares oder unangreifbares Leiden
auflassen solle. Zunächst muss der All¬
gemeinzustand gebessert werden. Des
weiteren ist vor Allem zu überlegen, dass
die Blasentuberkulose selten primär ist,
sondern meist im Gefolge von Nieren¬
oder Genitaltuberkulose auftritt. Bei Nieren¬
tuberkulose kann nach Exstirpation der
Niere selbst schwere Blasentuberkulose
ausheilen; dasselbe gilt von der Entfernung
primärer Herde von Tuberkulose in den
Genitalorganen. In vielen Fällen ist dann
eine Localbehandlung der Blase selbst
unnöthig; in anderen ist das Curettement,
Instillationen von Sublimat 1/5000 zweck¬
mässig. BezügUch der Prognose ist die
Menge der im Urin nachweisbaren Tu¬
berkelbacillen keineswegs massgebend.
Buschke (Berlin.)
(Annales des mal. des org. Gin. ur. 1903.)
In der Sitzung der Pariser Academie
de M6decine vom 28. Juli berichtete
A. Chantemesse über die Erfolge der
Chlornatrium-Entziehiingr bei Behand¬
lung der Phlegmasia alba dolens der
Typhuskranken. Diese ziemlich häufige
Complication des Abdominaltyphus zeichnet
sich gewöhnlich durch einen recht protra-
hirten Verlauf aus. Nun hat Vortragender
in 6 Fällen versucht dieselbe durch völlige
Entziehung von Chlornatrium aus der Nah-
Difitized by Google
rung günstig zu beeinflussen. Er ging da¬
bei von dem Factum aus, welches er po¬
sitiv nachweisen konnte, daß nämlich beim
Abdominatyphus, — wie es Achard und
Andere für den Morbus Brightii festgestellt
haben — eine Retention von Chlornatrium
im Organismus und zwar in den Geweben,
nicht im Blute, stattfindet. Und in der
That hat die salzarme Kost in Fällen ty¬
phöser Phlegmasia alba dolens eine emi¬
nent günstige Wirkung ausgeübt; die noch
in ihrem Initialstadium befindlichen Phle¬
bitiden nahmen einen abortiven Verlauf,
trotzdem die erkrankte Vene verstopft
blieb; schon ausgebildete, aber noch recente
bildeten sich rasch zurück und schwanden
im Verlaufe einiger Tage; veraltete venöse
Phlegmasien gingen, vom Moment der An¬
stellung der salzarmen Kost, in Besserung
und später in Heilung über — weniger
rasch als die recenten, aber verhältniss-
mässig doch schnell.
Aus diesen Beobachtungen glaubt Vor¬
tragender folgenden Schluss ziehen zu
dürfen: die Phlegmasia alba dolens der
Typhuskranken ist das Resultat der Intoxi-
cation eines Gliedes durch Chlornatrium;
die Venenobiiteration spielt dabei nur die
Rolle eines prädisponirenden Factors.
Es sei noch erwähnt, dass Chante¬
messe durch die salzarme Kost einen
eclatanten Erfolg auch in einem Falle von
Venenthrombose im Bereiche von entzün¬
deten Varicen der unteren Extremität er¬
halten hat. Es handelte sich hier um eine
zugleich an Diphterie leidende alte Frau
mit Zeichen der Retention von Chlor¬
natrium im Organismus. Nach stattgehabter
Chlornatrium • Entziehung wurde Patientin
in zwei Tagen von Schmerzen und Schwel¬
lung im kranken Beine völlig befreit.
Diese letztere Beobachtung lässt ver-
muthen, dass.* die salzarme Kost sich viel¬
leicht auch bei der Phlegmasia alba dolens
der Wöchnerinnen und der Cachektischen
bewähren werde. W. v. Holstein (Paris).
Unter dem Namen der Cytodi&gnostik
ist von französischen Autoren eine dia¬
gnostische Methode] beschrieben worden,
die den ätiologischen Charakter eines se¬
rösen Höhlenergusses aus dem Ueber-
wiegen dieser oder jener zeitigen Elemente
in demselben zu bestimmen sucht. Widal
und seine Schüler haben auf Grund ihrer
Untersuchungen folgende „cytologische
Formel“ aufgestellt:
1. Ueberwiegen der Lymphocyten,
d. h. der einkernigen Leukocyten, charak-
terisirt ein (pleuritisches, peritoneales,
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
414
September
Die Therapie der
cerebro*spinales) Exsudat als tuberku¬
lösen Ursprungs.
2. Ueberwiegen der polynucleären
Leukocyten (der neutrophilen und eosi¬
nophilen) weist auf infectiösen, nicht-
tuberkulösen Ursprung des Ergusses
(Infection mit Staphylo-, Strepto-, Pneumo-,
Meningococcen u. a.).
3. Ueberwiegen von endothe¬
lialen Zellen weist auf mechanischen
Ursprung des Ergusses (Transsudate
bei Herz-, Nieren- und Leberkranken).
Die Untersuchung findet in der Weise
statt, dass der steril entnommene Erguss
rasch centrifugirt, der Bodensatz mit phy¬
siologischer Kochsalzlösung gewaschen,
auf dem Objectträger ausgebreitet und in
der gewöhnlichen Weise fixirt und gefärbt
wird.
Mehrfache Nachuntersuchungen, auch
von deutscher Seite (Litten, M. Wolff),
haben die Widal’schen Formeln nur zum
Theil bestätigt.
Auch Czerno-Schwarz und J. Bron-
stein (Moskau), die neuerdings über dies¬
bezügliche Untersuchungen berichten,
schränken ihre Gültigkeit wesentlich ein.
Sie fanden in 4 Fällen von serösem Er¬
guss bei Patienten mit Lungentuberkulose,
also bei sog. secundär-tuberkulösen Exsu¬
daten, ein Vorherrschen der Lymphocyten
im mikroskopischen Bilde; aber auch bei
einem serös-hämorrhagischen Erguss eines
Patienten mit Myocarditis, der bei der
späteren Section keinerlei Zeichen von
Tuberkulose bot, constatirten sie ebenfalls
ein Ueberwiegen der Lymphocyten und
in einem Falle von serösem Streptococcen¬
exsudat eines Scharlachkranken bei der
ersten Punction am 6. Tage ein Ueber¬
wiegen der Lymphocyten (neben zahl¬
reichen polynucleären und Endothelzellen),
bei zwei späteren Punctionen am 12. und
15. Tage ein Prävaliren der Polynucleären.
Bei zwei serös-hämorrhagischen Exsudaten
endlich von Kranken ohne Anzeichen von
Tuberkulose, jedoch mit Verdacht auf
Pleuraneubildung überwogen einmal die
Lymphocyten, das andere Mal Endothel¬
zellen.
Danach kommen die Verfasser zu dem
Schluss, dass die secundär-tuberkulösen,
die infectiösen und die mechanischen Er¬
güsse nicht durch eine unabänder¬
liche cytologische Formel charak-
terisirt werden. Dagegen glauben sie,
dass für die primär-tuberkulösen Er¬
güsse (denen das Hauptinteresse zukommt,
da alle anderen diagnostische Schwierig-
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Gegenwart 1903.
keiten nicht bieten) entsprechend der Wi-
dal'schen Angabe das Ueberwiegen der
Lymphocyten zutrifft, jedoch mit der Ein¬
schränkung. dass die cytologische Unter¬
suchung nicht in den ersten Tagen, son¬
dern erst am Schlüsse der zweiten Woche
die differentielle Diagnose gestattet.
Bei 4 Fällen von tuberkulöser Menin¬
gitis fanden die Verfasser ein ausgespro¬
chenes Ueberwiegen der Lymphocyten in
der Cerebrospinalflüssigkeit. Dasselbe Re¬
sultat haben zahlreiche andere Autoren
erhalten, während ebenso von zahlreichen
Untersuchern bei Cerebrospinalmeningi¬
tiden verschiedener Aetiologie ein Präva¬
liren der polynucleären Leukocyten con-
statirt worden ist. Allein auch hier fehlen
nicht abweichende Befunde: Vereinzelt
wurde bei tuberkulöser Meningitis Ueber¬
wiegen der Polynucleären, oder bei früh¬
zeitiger Punction Ueberwiegen dieser und
erst bei späterer Prävaliren der Lympho¬
cyten, gelegenlich wurde auch das Fehlen
zeitiger Elemente in der Cerebrospinal¬
flüssigkeit überhaupt constatirt; auf der
anderen Seite wurde bei Mischinfection
Ueberwiegen der Polynucleären, in einem
Falle von Typhus mit meningealen Erschei¬
nungen Vorherrschen der Lymphocyten
beobachtet. —
Nach allem darf der Cytodiagnostik
im Sinne der Widal’schen Formeln eine
entscheidende Bedeutung nicht zuerkannt
werden, wenn sie auch als Unterstützungs¬
mittel in diagnostisch zweifelhaften Fällen
nicht ohne Werth zu sein scheint. F. K.
(Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 34.)
Mo sau er verabreichte Dioretln und
Agurin an Nierengesunde und fand
nach beiden Medicamenten im Harn mit¬
unter hyaline Cylinder, manchmal auch
eine massige Albuminurie. Diese Unter¬
suchungen lehren, dass sowohl dem Diuretin
wie dem Agurin nicht so selten eine
stärkere nierenreizende Wirkung zukommt,
und dass deshalb bei längerem Gebrauch
dieser Mittel eine gewisse Vorsicht, nament¬
lich bei Nierenkranken geboten ist. Bei
längerer Anwendung müssen jedenfalls
häufiger Harnuntersuchungen vorgenommen
werden, um bei stärkerer Albuminurie das
Mittel vorübergehend auszusetzen. Dauernde
Nierenschädigungen werden bei rechtzeiti¬
gem Aussetzen des Mittels wohl nicht zu
befürchten sein, da kurze Zeit nach dem
Aussetzen der Präparate der Harn seine
normale Beschaffenheit annimmt.
H. Wiener (Prag).
(Wiener med. Wochenschrift 1903, No. 27.)
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
Die Therapie der
N. S. Schdan-Puschkin empfiehlt bei
Enteritis der kleinen Kinder die Anwen¬
dung der besonders in Russland als Volks-
mittel viel verbreiteten Schwarzbeere
<Vaccinium Myrtillus). Man giebt sie am
zweckmässigsten in Gestalt eines alkoholi¬
schen Aufgusses, den man sich selbst zu¬
bereiten kann, indem man in eine mit
frischen Schwarzbeeren gefüllte Flasche
£uten Branntwein zugiesst und längere Zeit
stehen lässt. Verfasser wandte ein Jahr
alten Aufguss an, von dem er dreimal täg- j
lieh 15 bis 20 Tropfen bis zu einem Thee-
löffel voll nehmen liess. In allen Fällen
— auch in solchen, wo Opium und Bismuth.
subnitr. versagten — war der Erfolg sehr
günstig. Der Durchfall wurde geringer,
und hörte bald ganz auf, das Erbrechen
und die abnorme Auftreibung des Leibes
verschwanden schon in. den ersten Tagen
der Behandlung. Die Zunge wurde reiner,
der Appetit besser. Das Mittel, welches
von den Kindern gern genommen wird,
bat keine üble Nebenwirkung; es enthält
nur wenig Spiritus und viel Gerbsäure.
N. Grünstein (Riga).
(Practitscheski Wratsch 1903, No. 8.)
Reich berichtet «über seine Abortiv-
behanlung der Furunkulose mittelst
überhitzter trockener Luft: Recht¬
zeitig, d. h. vor Entstehung der Gewebs-
nekrose und der Eiteransammlung im Unter¬
hautzellgewebe zur Behandlung gekommene
■Furunculosen sind in keinem der vom Verf.
behandelten Fälle zu Vereiterung und Ge¬
webszerfall gekommen. Infiltrationen bei
.abortiven Formen scheinen sich zeitlich
rascher zurück zu bilden als bei anderen
Behandlungsmethoden. Auch ältere binde¬
gewebige Schwartenresiduen abgelaufener
Furunkel sind durch das Heissluftverfahren
im Sinne einer Rückbildung beeinflussbar.
Auf den die Furunkel umgebenden Haut¬
gebieten kam eine erneute Infection kein
einziges Mal zur Beobachtung. — Verfasser
bediente sich zur Herstellung der trockenen
überhitzten Luft eines von ihm construirten
Apparates „Thermo-Aörophor“. Da dieser
Apparat aber ziemlich kostspielig ist, em¬
pfiehlt er für die tägliche Praxis den Kalo-
risator von Vorstädter (im Berliner medi-
cinischenWaarenhaus für 15Mk. erhältlich).
Lüthje (Tübingen).
(Zeitschrift für diit. u. phys. Ther., Bd. VI, H. 12.)
Die Untersuchungen, die v. Büngner
über die Anatomie und Pathologie der
Gallenwege und des Pankreas ange¬
stellt hat* haben ihn zu folgenden Resul¬
taten geführt: Der Ductus choledochus
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Gegenwart 1903. 415
geht fast stets durch die Substanz des
Pancreas hindurch, er vereinigt sich fast
nie mit dem Ductus Wirsungianus; beide
münden getrennt am Boden des Diverticu-
lum der Papille. Der Ductus Wirsungianus
verläuft in der Regel ungetheilt. Aus
diesen Thatsachen ergiebt sich: Auf
stumpfem Wege kann der Ductus chole¬
dochus nur bis zum Pancreas freigelegt
werden, weiter nur durch blutige Spaltung
des Pancreas, Alle Erkrankungen, die zu
einer Schrumpfung oder pathologischen
Vergrösserung des Pancreaskopfes führen,
müssen eine Compression des Ductus
choledochus und Wirsungianus nach sich
ziehen; im klinischen Bild zeigen sich
dann die Erscheinungen einer Retention
des Pancreassaftes (Fettstühle, Melliturie)
und der Galle (acholische Stühle, Gallen*
farbstoff im Urin, Icterus). Die Verlegung
eines Ganges zieht nicht notwendig die
des anderen nach sich. Erst bei Ver¬
legung des Diverticulum der Papille
(katarrhalische Schwellung, Steinobtura-
tion, Carcinom der Papille) treten Ausfall¬
erscheinungen der Gallen- und Pancreas-
saftsecretion ein. Klink (Berlin).
(v. Bruns 1 Beitr. z. klin. Chir. XXXIX, 1.)
Der Op thalmologe v. H i p p e 1 -Heidelberg
macht auf Grund mehrjähriger Betrachtun¬
gen in seinem speciellen Wirkungskreis auf
die relative Häufigkeit heredit&r-syphiliti-
scher Gelenkerkrankungen bei jugend¬
lichen Individuen aufmerksam. Unter 77
Kranken, die eranKeratitis parenchyma¬
tös a behandelte, und die ausserdem noch
sichere Symptome hereditärer Lues aufzu¬
weisen hatten, waren nicht weniger als 43
mit nachweislichen Gelenkerkrankungen.
Dabei handelte es sich in der weitüber¬
wiegenden Mehrzahl der Fälle um doppel¬
seitigen Kniegelenkserguss bei jugendlichen
Individuen, am häufigsten im Alter von
sechs bis zehn Jahren. Die Functions¬
störung der befallenen Gelenke ist dabei
meist unbedeutend und nur in einzelnen
Fällen waren die Kranken bettlägerig oder
fieberhaft. Nach Wochen oder Monaten
tritt häufig Spontanheilung ein. Schwerer
eitriger Verlauf der Gelenkerkrankung mit
Fistelbildung und dauernden Veränderun¬
gen ist dabei sehr selten, kann indess Vor¬
kommen; gewöhnlich handelt es sich um
einen spontan eintretenden, meist doppel¬
seitigen serösen oder serofibrinösen Ge¬
lenkerguss. Wenn Verfasser auch in einigen
Fällen Gelegenheit hatte, eine schnelle
günstige Wirkung specifischer Jodbehand¬
lung festzustellen, so bezeichnet er doch
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
416
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
seine therapeutischen Erfahrungen als un¬
zureichend. Es kommt ihm Oberhaupt
weniger darauf an, in seinen Mittheilungen
klinisch oder therapeutisch Abgeschlossenes
zu geben, als vielmehr darauf, auf Grund
seiner Beobachtungen an Augenkranken
die Häufigkeit dieser hereditär-luetischen
Späterkrankung in’s rechte Licht zu setzen,
von der er — wohl mit Recht — annimmt,
dass sie im allgemeinen unterschätzt wird.
Eine einschlägige Beobachtung einer
derartig localisirten hereditären Spätlues,
welche der Chirurg Jordan-Heidelberg
am gleichen Ort mittheilt, illustrirt die
v. HippeTschen Ausführungen in sehr
charakteristischer Weise: Ein 22jähriger
Offizier war wegen spontan aufgetretenen
doppelseitigen Gelenkergusses etwa ein
Jahr lang in ärztlicher und auch spe-
cialistischer Behandlung, jedoch ohne jeden
Erfolg, so dass er bereits entschlossen
war, den Dienst zu quittiren. Verfasser
liess sich nun von der Ueberlegung leiten,
dass die gewöhnliche Aetiologie derartiger
Gelenkerkrankungen, nämlich Trauma, hier
ausgeschlossen war, ebenso acuter Gelenk¬
rheumatismus, Gonorrhoe oder erworbene
Lues. Gegen Tuberkulose schienen ihm
der Verlauf, die vielfachen Schwankungen
und vor Allem die Doppelseitigkeit zu
sprechen, dazu kam noch ein negativer
Operationsbefund und erfolglose Incision
und Drainage. Somit kam hereditäre
Lues vor Allem in Frage. Die nach¬
trägliche Erhebung der Anamnese ergab
nun, dass Patient bisher zwar niemals
Zeichen hereditärer Lues dargeboten
hatte, aber von syphilitischen Eltern
stammte. Eine antiluetische Cur von
90 g Quecksilbersalbe und 118 g Jodkali
führte in sechs bis acht Wochen zu voll¬
ständiger Heilung und Diensttauglichkeit
des Patienten.
Auch ein zweiter von Jordan mitge-
theilter Fall bei einem fünfjährigen Knaben
wurde erst wegen doppelseitiger exsudativer
Gonitis (mit gleichzeitiger Keratitis paren-
chymatosa) erfolglos in der gewöhnlichen
Weise behandelt und dann durch specifisch
antiluetische Behandlung dauernd geheilt.
Jordan fordert deshalb, dass wir bei
doppelseitig auftretenden Kniegelenksent¬
zündungen nicht nur im Kindesalter, son¬
dern auch bei jugendlichen Erwachsenen
ätiologisch mit der Möglichkeit hereditärer
Syphilis rechnen und in diagnostisch zwei¬
felhaften derartigen Fällen einen energischen
Versuch mit antisyphilitischer Behandlung
machen sollen. F. Umber (Berlin).
(Münch, med. Wochcnschr. 1903, No. 31.)
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Die von Amerika aus empfohlene, in
Deutschland aber selten ausgeübte elek¬
trolytische Behandlung der Harn-
röhrenstricturen zeitigt, wie Choltzoff
meint, die besten Erfolge und verdient den
übrigen Methoden vorgezogen zu werden.
Sie ist keineswegs gefährlicher als das
Bougiren oder sonstige Eingriffe und führt
nach 1 —2 Sitzungen zum Ziele. Der Effect
tritt unmittelbar auf, denn schon am fol¬
genden Tage uriniren die Patienten im
starken Harnstrahl und ganz beschwerde-
frei. Neben- oder Nachwirkungen fehlen
(nur einmal wurde leichte Epididymitis und
in einigen Fällen ein mehrere Stunden an¬
haltendes Urethralfieber constatirt). Reci-
dive traten in allen 53 Fällen, welche
Choltzoff zum Theil über ein Jahr nach
der Heilung verfolgte, nicht auf. Die
Elektrolyse beseitigt frische und alte Stric-
turen gonorrhoisctterwie auch traumatischer
Natur, die letzteren freilich etwas un¬
günstiger. Meist kommt man mit ihr allein
aus; bei sehr grossen Stricturen jedoch
bougirt man einigemal (oder lässt sogar
ein elastisches Katheder ein bis zwei Tage
lang liegen) bis die Harnröhre einiger-
maassen (für No. 10—12 Charrieres) per¬
meabel wird. Dann 'untersucht man mit
der Knopfsonde, um sich über Localisation,
Zahl und Character der Strictur zu orien-
tiren. Die Elektroden (Verfasser empfiehlt
die von Paste au angegebenen) können
mit verschieden starken Oliven (No. 14
bis 30 Charrieres) mit oder ohne Einschnitt
versehen werden und sollen, wenn man sie
einführt, das Lumen der Harnröhre um
zwei bis drei Nummern übertreffen. Hat
die Elektrode die verengte Stelle erreicht,
so verbindet man sie mit dem negativen
Pol, während die positive indifferente
aufs Abdomen gelegt wird. Den Strom
steigert man langsam auf 5—6 Milliamperes
und passirt vorsichtig durch die verengte
Stelle. Alsdann zieht man das Bougie zu¬
rück und wiederholt die Manipulation so
lange, bis die Harnröhre für die Olive
ganz frei durchgängig ist. In ähnlicher
Weise behandelt man die zweite und die
folgenden Stricturen. Vor Schluss der
Sitzung (gewöhnlich nach 2—20 Minuten)
geht man mit dem Strom langsam auf 0
herab. Die zweite Untersuchung erfolgt
dann nach einem Monat mit Metallbougie
und Knopfsonde. Findet man jetzt noch
eine Strictur, so wiederholt man das obige
Verfahren. Die nächste Exploration ge¬
schieht erst nach 6—8 Wochen und im
Falle, dass neue Sitzungen noch nöthig
sind, nach drei Monaten. Im Durchschnitt
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
417
wurde die Heilung nach fünf Sitzungen ;
erzielt. M. Urst ein < Berlin).
(Russkij Wratsch 1902, No. 5.) |
Die durch Kall hypermanganicum bei
Lupus vulgaris in Russland und Frankreich
erhaltenen Resultate haben P. Soubeyran
bewogen, dasselbe Mittel auch bei anderen
localen Tuberkulosen in der chirurgischen I
Klinik des Prof. Tedenat in Montpellier zu
erproben. Es hat sich gezeigt, dass in einer
2% Lösung Kali hypermanganicum den
Jodoformäther und das Jodoformglycerin !
zur Behandlung kalter Abscesse mit Erfolg
zu ersetzen im Stande ist. Man spritzt,
je nach der Grösse des Eiterherdes, 10.0
bis 20,0 dieser Lösung ein (nach Aspiration
des Eiters) und verschliesst die Punktions- j
öflnung mit Collodium. Die Einspritzung i
wird nötigenfalls wiederholt. Sie ver¬
ursacht keine Schmerzen. Auch hat Ver¬
fasser das Kali hypermanganicum in Sub- |
stanz auf tuberkulös erkrankte Knochen¬
partien nach deren Ausschabung mit dem
scharfen Löffel appliciert. Beim nächsten
Verbandwechsel fand er einen braunen
Schorf, welcher sich bald löste und eine
gut granulierende, unter dem Einfluss von
Waschungen mit einer 1 % Lösung von i
Kali hypermanganicum rasch abheilende
Wunde hinterliess. W. v. Hol st ein (Paris).
(Bulletin general de th^rapeutique 1903, No. 10.)
Für die Behandlung der multiplen
Kehlkopfy&pillome im Kindesalter sind
zahlreiche endolaryngeale Methoden
vorgeschlagen worden, Aetzungen mit den
gewöhnlichen Aetzmitteln oder mit dem
Galvanokauter, Bepinselungen mit Salicyl-
säure, Alkohol, Formalin u. a., ferner die
Intubation, das Löri’sche Verfahren, wel¬
ches in der Einführung von Metallkathetern
besteht, die mit scharfrandigen Oeffnungen
versehen sind und beim Zurückziehen die
in die Oeffnungen sich hineindrängenden
Geschwulsttheile abschneiden, schliesslich
die endolaryngeale Exstirpation mit der
Zange. Die grosse Neigung der Papillome
zum Recidiviren, gegen die keine dieser Me¬
thoden aufkommt, hat zahlreiche Autoren
veranlasst, der Radicaloperation durch
die Laryngofissur den Vorzug zu geben.
Gegen diese wendet sich in einer neueren
Arbeit L. Harmer von der Chiari sehen
Klinik in Wien. Er hat in mehreren Fällen
mit Modificationen der alten, viel befehde¬
ten Volt olini’sc he n Schwammmethode
gute Resultate erzielt, theils, indem er die
Geschwulstmassen mit einem cocainbe¬
feuchteten kurzen steifen Borstenpinsel
rieb, theils, indem er an einem in den
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Kehlkopf ein- und zur Tracheotomiewunde
herausgeführten Faden mehrere kleinnuss¬
grosse Schwammstückchen mit einiger
Kraftanstrengung durch den Kehlkopf hin¬
durch- und wieder zurückzog. Bei der
ersten Methode wurden die Tumoren zer¬
wühlt und aufgelockert und später ausge¬
hustet, bei der zweiten blieben fast jedes¬
mal Geschwulsttheile an den Schwämmchen
hängen. Harmer verkennt nicht, dass
diese Verfahren, die er übrigens nur in
besonders schweren Fällen in Gebrauch ge¬
zogen wissen will, „mehr oder weniger „un¬
chirurgisch“ sind, aber er hält ihre Anwen¬
dung für vollauf gerechtfertigt, insofern
dadurch die Spaltung des Kehlkopfes ver¬
mieden werden kann. Denn diese ist nach
seiner Meinung keine gefahrlose Operation,
auch sie verhütet die Recidive nicht und
führt leicht zu Folgezuständen, besonders
in functioneller Hinsicht, die ein langes
Siechthum bedingen können und unter
Umständen die ganze sociale Existenz
untergraben. Für die Laryngotomie
wegen Papillomen bei Kindern besteht
darum nach Harmer niemals eine Be¬
rechtigung, sie ist in jedem Falle, wie
immer er auch sei, zu verwerfen. F. K.
(FränkePs Archiv f. Laryngologie Bd. XIV, S. 58.)
Magnus-Levy hat bei 7 jüngeren mit
endemischem Kretinismus behafteten In¬
dividuen mit Schilddrüsentabletten sehr
befriedigende Erfolge erzielt. Ausnahms¬
los nahm bei den Kranken, die in ver¬
schiedenem Grade schwachsinnig, niemals
jedoch total verblödet waren, Intelligenz
und Regsamkeit zu. Bisher stumpfsinnige
Schulkinder konnten dem Unterricht wieder
folgen und zwei in Accordlohn beschäftigte
Patienten verdienten das Doppelte wie bis¬
her. Schnelles Längenwachsthum (von
8—21 cm in 2 Jahren) und Schwinden der
myxomatösen Hautveränderungen war
ebenso wie die intellectuelle Besserung
schon nach einigen Wochen zu constatiren.
Diese therapeutischen Erfolge stehen
im Gegensatz zu den Mittheilungen frühe¬
rer Autoren (Scholz), die bei endemischem
Kretinismus keine Wirkung der Schild¬
drüsensubstanz sahen, sondern nur bei spo¬
radischem und bei Myxödem. Wahrschein¬
lich handelte es sich bei diesen um alte Fälle
schwerster Art, während Magnus-Levy
junge, nui mässig ausgebildete Fälle beob¬
achtete. — Bei diesen jüngeren Kretinen
fand Magnus-Levy auch die typisch
myxomatösen Erscheinungen, welche sonst
nur bei sporadischem Kretinismus und Ca-
chexia strumipriva beschrieben wurden,
53
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
418
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
bei endemischen Kranken aber angeb¬
lich fehlen. Hieraus und aus dem Erfolg
der Thyreoidbehandlung schliesst der
Autor, dass ein principieller Unterschied
zwischen endemischem Kretinismus und
dem sporadischen bezw. dem Myxödem
nicht besteht, sondern dass alle diese
Krankheiten in letzter Linie auf dem Fort¬
fall oder der Veränderung der Schild-
drüsenthätigkeit beruhen.
Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt).
(Berliner klin. Wochenschrift 1903, No. 32.)
H. E. Schmidt bespricht kurz die
theoretischen Grundlagen der Finsen’schen
Lichtbehandlung und der Behandlung
der Hautkrankheiten mit Röntgenstrahlen
und theilt dann die Erfahrungen mit, die
in diesem Gebiet an der Kgl. Universitäts¬
poliklinik für Hautkrankheiten in Berlin ge¬
macht sind. Die Finsenbehandlung hat
sich im Wesentlichen beim Lupus vulgaris
bewährt. Beim Lupus erythematoides, bei
Alopecia areata sind die Resultate sehr
zweifelhaft. Bei Cancroid ist die Behand¬
lung nicht empfehlenswerth. Ein beson¬
derer Vorzug der Finsenbehandlung bei
Lupus vulgaris ist ihre elektive Wirkung,
das Ausbleiben eigentlicher Narbenbildung;
es entsteht höchstens eine geringe Atrophie.
Bei stark infiltrirten und tiefen Fällen
empfiehlt Schmidt eine Vorbehandlung
mit lOprocent. Pyrogallussalbe, dagegen
empfiehlt si$h hierfür nicht die Heissluft¬
kauterisation; Recidive nach dieser Methode
sind sehr resistent gegen Lichtbehandlung.
Bisher ist nur die Behandlung mit starkem
Licht mit dem eigentlichen Finsenapparat
erfolgreich gewesen. Ersatzinstrumente,
welche besonders eine Verkürzung und
Verbilligung der Behandlung bezweckten,
haben sich nicht bewährt, das Eisenlicht
speciell, auf das wegen seines Reichthums
an ultravioletten Strahlen so grosse Hoff¬
nungen gesetzt wurden, wirkt zu ober¬
flächlich. Für die Behandlung mit Röntgen¬
strahlen eignen sich Favus, Sycosis, Hyper-
trichosis. Die Behandlung muss sehr vor¬
sichtig gehandhabt werden, stärkere
Reaktionen sind zu vermeiden.
Buschke (Berlin.)
(Zeitschrift für diätetische und physikalische
Therapie 1903, No. 7, Jahrg. 4.)
Die Bemühungen zur Sicherung der
Diagnose des Magencarcinoms verdienen
aufmerksame Registrirung auch in diesen
Blättern, weil die Erfolge der chirurgischen
Therapie durchaus von der Präcision der
Frühdiagnose abhängig sind. Bekanntlich
sind die bisher gefundenen Kriterien (Salz¬
säuremängel, Nachweis der Milchsäure bezw.
langer Bacillen) einerseits nicht eindeutig
und vielfach auch erst in so späten Stadien
ausgesprochen, dass es für eine erfolgreiche
Operation zu spät ist. Neuerdings empfiehlt
nun H. Salomon (Frankfurt a. M.) für
zweifelhafte Fälle folgendes Verfahren:
Der Patient, der bereits Vormittags nur
flüssige Nahrung erhält, wird von Mittags
2 Uhr an mit einer zugleich flüssigen
und eiweissfreien Kost (Bouillon,
Kaffee, Wein, Thee) ernährt; um 9 Uhr
Abends wird dann der Magen mit grösseren
Mengen Wassers gründlich ausgewaschen,
bis die Spülflüssigkeit klar abläuft. Nach¬
dem der Patient in der Nacht nichts ge¬
nommen hat, werden am Morgen 400 ccm
physiologischer Kochsalzlösung durch
Trichter und Magenschlauch in den Magen
eingegossen, zurückgehebert und nach
nochmaligem Einlaufen und Zurückhebern
(behufs gründlicher Abspülung der ge-
sammten Magenschleimhaut) mittels des
Esbach’schen Reagens auf ihren Ei¬
weissgehalt untersucht.
Salomon erhielt bei der Mehrzahl der
in dieser Weise untersuchten Magenerkran¬
kungen, bei nervöser Dyspepsie, chro¬
nischen Magencatarrh, Gastroptose, und
auch bei chronischem Ulcus (frisch be¬
stehende, stark schmerzhafte Ulcera wur¬
den begreiflicher Weise nicht der Unter¬
suchung unterworfen) in der Waschflüssig¬
keit keine Reaction mit Esbach’schem
Reagens oder nur eine leichte Opales-
cenz, dagegen gab die Waschflüssigkeit
in allen untersuchten Fällen von Ma-
gencarcinom eine intensive, schnell
flockig werdende Trübung mit dem
Esbach’schen Reagens. Der Stick¬
stoffgehalt der Spülflüssigkeit betrug in
der ersten Reihe der Fälle zwischen 0 und
16 mg N auf 100 ccm Spülflüssigkeit, bei
den Carcinomen 10—70 mg.
Den Eiweissgehalt der Spülflüssigkeit
führt Salomon auf eine Serumaus¬
schwitzung aus der Magenschleimhaut zu¬
rück. Die Frage, ob dieselbe nur bei ul-
cerirtem Carcinom stattfindet oder bereits
in einem früheren Stadium, lässt er offen.
Dass sie in den untersuchten Fällen von
chronischem Ulcus fehlte, erklärt er damit,
dass dieselben vielleicht schon in der Ver¬
narbung befindlich waren; es sind also
weitere Beobachtungen nötig, ob nicht in
anderen Fällen das Ulcus zu einem posi¬
tiven Ausfall der Untersuchung führt. Auch
hält Verfasser selbst es für möglich, so¬
gar für wahrscheinlich, dass auch ein in-
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September Die Therapie der
tensiver chronischer Catarrh einmal zu
einer beträchtlicheren Eiweissausscheidung
auf der Magenoberfläche führt. Der Werth
der Methode liegt darum wohl mehr
nach der negativen Seite. In zwei
Fallen, in denen gewichtige Momente für
Magencarcinom sprachen (Abmagerung,
massige motorische Insufficienz, Fehlen
freier Salzsaure im Magensaft etc.),
schloss Salomon auf Grund des nega¬
tiven Ausfalls der Probe Carcinom
aus und der weitere Verlauf, bezw. die
von anderer Seite trotzdem vorgenommene
Operation bestätigte die gutartige Diagnose.
F. K.
(Deutsche Med. Woch. 1903, No. 31.)
Für die locale Behandlung der
Pharyngitis sicca (Xerose der Hals¬
schleimhäute) empfiehlt F. Blumen¬
feld neben Gurgelungen und Inhala¬
tionen von Wiesbadener Kochbrunnen
die Application von 10<>/ 0 igem Jodipin,
von dem er 1 —2 ccm unter gelindem Druck
vom Munde aus in den Rachen einspritzt,
so dass sie sich über die Schleimhaut des¬
selben vertheilen. Da aber die Xerose des
Rachens vorwiegend eine secundäre Er¬
krankung ist, die ihre Ursachen in consti¬
tutioneilen Leiden (Diabetes, Arthritis u. a.)
oder localen Erkrankungen der Nase und
des Rachendaches hat, hält er die allge¬
meine Behandlung der ersteren und die
chirurgische der letzteren für die noth-
wendige Voraussetzung der localen The¬
rapie.
H. Strebei (München) verwendet nach
Finsen das Licht zur Heilung der chro¬
nischen Pharyngitis, und zwar deratrophi-
schen, wie der hypei trophischen. Mittelst
einer von ihm angegebenen Lampe (herge¬
stellt von der Firma Elektron, München,
Lindwurmstrasse 25) kann er das kalte
Licht auf umschriebene Stellen der Rachen¬
schleimhaut einwirken lassen und je nach
der Dauer der Einwirkung einfache Hyper¬
ämie bis zu ausgesprochener Entzündung
mit Blasenbildung, sowie Verschorfung zur
Erneuerung des ganzen Epithelüberzuges
der Schleimhaut oder tiefergreifende zur
Zerstörung von Gefässwucherungen, Gra¬
nulationen etc. erzeugen. F. K.
(Fränkel’s Archiv f. Laryngologie Bd. XIV,
Heft 3 S. 476 u. Heft 1 S. 99.)
Ueber eine bisher wenig bekannte Form
der Peritonitis, die Pneumococcenperi-
tonitis, lässt sich v. Brunn aus. Sie
kommt ziemlich selten vor, bei Kindern
immer noch häufiger, als bei Erwachsenen.
Secundär kann sie sich an Erkrankungen
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Gegenwart 1903. 419
der Lunge und Pleura sowie an Mittel¬
ohrerkrankungen anschliessen, doch tritt
sie auch auf, ohne dass sich der Ausgangs¬
punkt feststellen lässt, vielleicht vom
Intestinaltractus ausgehend. Da sie bei
Mädchen viel häufiger befällt, als bei
Knaben, so muss man auch die Genitalien
als Eingangspforte in Erwägung ziehen.
Das pathologisch-anatomische, sowie das
klinische Bild sind oft so charakteristisch,
dass die Diagnose Pneumococcenperitonitis
sich ohne bakteriologische Untersuchung
stellen lässt. Das Exsudat ist meist ein
mehr oder weniger dicker, rahmiger, grün¬
licher oder grünlich*gelber Eiter, bisweilen
etwas haemorrhagisch. Wenn keine Misch-
infection zu Stande kommt, ist er ganz
geruchlos. Seine Menge ist meist sehr
gross, „literweise“. Der grosse Fibrin¬
reichthum des Exsudates führt zu weit¬
gehender Verklebung der Organe. So
kommt es häufig vor, dass die Bauchein¬
geweide alle zu einem Klumpen zusammen¬
gebacken sind und in der Eitermasse
liegen. Besonders gern sammelt sich der
Eiter unterhalb des Nabels an; an diesem kann
es dann zum spontanen Durchbruch
kommen. Auch zwischen Bauchdecken
und Netz kann der Eiter abgekapselt
werden (P£ritonite prd£piploique). In sel¬
teneren Fällen kommt das Bild einer ge¬
wöhnlichen eiterigen Peritonis zu Stande,
Die typischen Fälle beginnen wie eine ge¬
wöhnliche akute Peritonitis; nach einigen
Tagen folgt ein chronisches Stadium, das
mehrere Wochen dauern kann; die Tem¬
peratur kann dann trotz reichlicher Eiter¬
ansammlung normal sein. Findet das immer
mehr wachsende Exsudat keinen Abfluss,
so ist das Kind verloren. Nach der Ent¬
leerung des Eiters erfolgt die Heilung
meist schnell. Bei Erwachsenen ist das
Krankheitsbild nicht so typisch. Diffe¬
rential-diagnortirch kommt im akuten
Stadium besonders Typhus und Appen-
dicitis, im chronischen tuberkulöse Peri¬
tonitis in Betracht. Die Prognose ist bei
Kindern, wenn rechtzeitig operativ einge-
griften wird, gut; ohne Operation geht die
Mehrzahl zu gründe. Die Behandlung be¬
steht in breiter Eröffnung der Abscess-
höhle und Entleerung des Eiters mit fol¬
gender Drainage. Klink (Berlin).
(v. Bruns’ Beitr. z. klin. Chir. XXXIX, 1.)
Sehr günstig über die Kreosotalbe-
handlung der Pneumonia crouposa
äussert sich Cr ha (Beneschau)« Die Art
seiner Application war einfach. Da das
Kreosotal ein dicker, wenig flüssiger Stoff
53*
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
420
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
ist und das Dosiren erschwert wäre, lässt
er die Flasche mit dem Kreosotal eine
Weile in warmem Wasser stehen, wodurch
das Kreosotal flüssiger wird und sich leichter
dosiren lässt. Die abgemessene Dosis giebt
man in Vs L. warmer Milch, in welcher
in kurzer Zeit eine Emulsion entsteht.
Warme Milch verdeckt den ölartigen Ge¬
schmack und die Kranken nehmen es
gerne ein.
Die tägliche Dosis war beim Erwach¬
senen 12 g (= ein Kaffeelöffel), bei circa
10 jährigen Kindern die Hälfte, was während
6—8 Stunden eingenommen wurde.
In dieser Höhe wurde das Kreosotal in
den ersten Tagen der Entzündung gegeben,
so lange kein evidenter Fieberabfall zu
verzeichnen war. Fiel die Temperatur ab,
konnte in manchen Fällen die Gabe auf
die Hälfte reducirt werden, ohne dass das
Fieber gestiegen wäre. In der Mehrzahl
der späteren Fälle wurde die ursprüng¬
liche Dosis so lange gegeben, bis sich die
Krisis einstellte, dann erst wurde die Gabe
auf die Hälfte oder ein Drittel erniedrigt.
Verfasser hält die höhere Dosis für besser,
denn in Fällen, in welchen bei den Er¬
wachsenen kleinere Gaben (5—7 g) ange¬
wandt wurden, war der Erfolg nicht so
evident. Das Kreosotal wurde noch nach
der Krisis durch 2—3 Tage gereicht, natür¬
lich in kleineren Gaben, da die Resolution
rascher vor sich ging, und da in manchen
Fällen, wo nach der Defervescion vor der
Beendigung des Processes das Kreosotal
ausgelassen wurde, das Fieber von neuem
aufloderte.
Verfasser will nicht das Kreosotal als
ein Specificum gegen die Pneumonie an-
sehen, doch die Erfolge, die mit dieser
Behandlung im Beneschauer Krankenhause
erzielt wurden, sind günstiger als bei ge¬
wöhnlicher Therapie.
Am besten bewährte sich das Kreosotal
in Fällen anfangender Pneumonie, wo bald
nach Darreichung des Kreosotal die Krisis
eintrat und in 9 Fällen der Process sich
weiter nicht entwickelte, sondern endete als
eine abortive Form. Aber auch in Fällen
entwickelter Entzündung lief der Process
unter Kreosotalbehandlung schwächer und
günstig ab.
Obwohl ziemlich grosse Gaben gegeben
wurden, hatte der Verfasser gar keine un¬
angenehmen Nebenerscheinungen von Seite
des Kreosotais zu verzeichnen. 1 )
Stock (Skalsko).
(CUsopis öeskych lekarü 1903, No. 17, 18.)
1 ) Die vor einiger Zeit geäusserten Zweifel an
der Wirksamkeit des Kreosotal bei Pneumonie werden
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Strychnininjectionen zur Bekämpf¬
ung von Polyurie, insbesondere beim
Diabetes insipidus empfiehlt F eil che n-
feld. Er machte dieselben (0,0025 täg¬
lich) bei einem 60jährigen Herrn mit
Polyurie und Blasenlähmung, in der
Absicht auf die letztere einzuwirken, und
sah, während die Blasenlähmung sich nicht
besserte, ein schnelles und . erhebliches
Heruntergehen der Urinmenge. Daraufhin
versuchte er die Injectionen bei einer Frau
mit Diabetes insipidus, die über 4 1 Urin
vom spec. Gew. 1002 täglich entleerte.
Dieselbe erhielt subcutan 0,005 Strychni-
num nitricum täglich mit dem Erfolge, dass
die Urinmenge täglich um 200—400 ccm
zurückging, der Durst, die Trockenheit,
der Urindrang sehr schnell schwanden;
nach 8 Tagen betrug die Urinmenge nur
noch 2V2 U das spec. Gew. aber war
1002—1003 geblieben. Hieraus und aus
der Schnelligkeit des Erfolges schliesst
Feilchenfeld auf eine centrale Einwir¬
kung des Strychnins auf das Nerven¬
system. Wie lange diese Wirkung der
Injectionen vorhält, ob sie auch beim Dia¬
betes mellitus die Harnmenge zu beein¬
flussen vermag, sollen weitere Beobach¬
tungen lehren. F. K.
(Deutsche Med. Woch. 1903, No. 31.)
K. J. Bergmann stellte eine Reihe
von Versuchen an, um die Wirkung des
in dieser Zeitschrift bereits wiederholt be¬
sprochenen 1 ) Abführmittels Purg&tin zu
studiren. Es ergab sich nun, dass das
Purgatin bei Kaninchen keine abführende
Wirkung hat, auch wenn man das Mittel
in weit grösseren Dosen einführt, als man
es Menschen und Hunden zu geben pflegt.
Bei Hunden wird durch 1,5—3,0 Purgatin
fast immer weicher, meist breiartiger Stuhl
erzielt. Einmalige relativ grosse Dosen
(bei Kaninchen 10,0, bei Hunden 15,0) haben
keine üble Nebenwirkung, dagegen war
bei längere Zeit fortgesetztem Gebrauch
von mittelgrossen Gaben des in Rede
stehenden Abführmittels bei Kaninchen
Abnahme des Körpergewichts, Appetit¬
losigkeit und Apathie zu constatiren. Bei
einem graviden Kaninchen trat nach 4 Tage
langem Gebrauch von 1,0 Purgatin Abort
ein, bei zwei anderen trat nach 3 Wochen
langer Einführung des Mittels intensiv
blaue Färbung der Haut und der sicht¬
baren Schleimhäute auf.— Hunde gewöhnen
durch das obige Referat nicht vermindert; wir
möchten die damals ausgesprochene Bitte um Mit¬
theilung auch ungünstig verlaufener Fälle wieder¬
holen. Vergl. auch den Bericht S. 426. Red.
1902 S. 2, 1902 S. 247 ff.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
421
Die Therapie der Gegenwart 1903.
sich leicht an Purgatin, nach längerem
Gebrauch tritt bei ihnen sogar Verstopfung
ein. Das Purgatin wirkt, wie bereits an¬
dere Forscher betont haben (Ebstein etc.)
durchaus nicht so sicher wie es früher an¬
genommen wurde. In Dosen unter 2,0
wirkt es überhaupt nicht. Die vom Ver¬
fasser parallel angestellten Versuche mit
Schwefelmilch ergaben, dass letztere in
Gaben von 2,5—3,0 als Laxans dem Pur¬
gatin keineswegs nachsteht.
N. Grünstein (Riga).
(Russki Wratsch 1903, No. 6.)
Um eine intensivere Quecksilberein-
Wirkung auf den von hereditärer Sy¬
philis bedrohten Fötus zu erzielen,
empfiehlt Riehl neben allgemeiner antisyphi¬
litischer Behandlung die Mutter intravaginal
zu behandeln und zwar in folgender Weise :
es lverden Globuli vaginales aus je 1 g
officineller grauer Salbe und 1—2 g Buty-
rum Cacao bis zur Portio vaginalis ein¬
geführt, durch vorgelegte mit Tanningly¬
cerin getränkte Tampons oder durch ein
Tamponspecuium fixirt. Diese Behandlung
beginnt man sobald die Schwangerschaft
konstatirt ist und setzt sie bis zum Schluss
der Gravidität fort. Schädigungen treten
nicht ein. Vörner vergleicht in der vor¬
liegenden Arbeit die aus Riehl s Klinik
bei dieser Behandlung gemachten Erfah¬
rungen mit den Statistiken anderer Me¬
thoden, bei welchen lediglich Allgemein¬
behandlung Platz griff, und kommt zu dem
Resultat, dass bei diesem Vorgehen die
Prognose der hereditären Syphilis sich
bessert. Buschke (Berlin.)
(Arch. für Denn. u. Syph. 1902, Bd. 66, Heft 1 u.2.)
Ein Beitrag zur Frage der Behandlung
des Rectumc&rcinoms liefert Niederle
(Prag):
Verfasser unterstützt seine Arbeit mit
239 Fällen, die in den letzten 10 Jahren
auf der chirurgischen Klinik des Prof.
May dl in Prag beobachtet wurden:
I. In 92 Fällen wurde radikal operirt.
Als Contraindicationen eines radikalen Ein¬
griffes Hess man gelten: 1. sehr tiefe Ad¬
häsionen mit den Nachbarorganen und der
Blase; 2. zahlreiche Metastasen; 3. vorge¬
schrittenes Alter oder Kachexie.
In 29 Fällen (fast ein Drittel) wurde auf
dem perinealem Wege (nach der Lis-
franc’schen Methode) operirt. Die post-
operative Mortalität betrug 10,3%. Defini¬
tive Heilung (keine Recidive im Verlaufe
von 3 Jahren nach der Operation) in 7,7%.
In 62 Fällen wurde der dorsale Weg
angewandt (nach der Methode nach Ver-
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neuil, Wölfer, Kraske). In der Mehr¬
zahl handelte es sich um eine Amputation
des Rektums. Es resultierte eine sehr hohe
Mortalität — 30,6% und die Zahl definitiver
Heilungen betrug nur 7%
In Betreff der gesammten Mortalität
waren die Erfolge der perinealen Methode
evident besser.
Ein einziger Patient wurde nach der
perineoabdominalen Methode nach Qucnu
operirt.
In der Zahl aller 92 radicalen Opera¬
tionen betrug die Mortalität 23,9% und
7% die definitive Heilung. Doch nach und
nach verbesserten sich die Resultate in
Folge der Vervollkommnung der operativen
Technik, sodass in den letzten 5 Jahren
die Mortalität auf 19,6% sank, dagegen
stieg die definitive Heilung auf 90 / 0 .
II. Die zweite Gruppe umfasst die pallia¬
tiven Operationen, die jn 90 Fällen durch¬
geführt wurden, was 49% von der Ge-
sammtzahl ausmacht. Diese Zahl scheint
im Vergleiche mit anderen Statistiken, be¬
sonders mit denselben aus Deutschland,
sehr hoch zu sein.
Zwei Fälle ausgenommen wurde immer
die Kolotomie nach May dl durchgeführt,
die bei allen radikal Unoperabilen die
besten Erfolge lieferte.
57 Fälle wurden aus verschiedenen
Gründen nicht operirt.
Auf Grund dieser klinischen Erfahr¬
ungen glaubt Verfasser behaupten zu
können:
Bei radicalen Operationen des Carci¬
noma recti ist immer die im gegebenen
Falle geeigneteste und einfachste Methode,
mit der noch eben, mit gehöriger Rück¬
sicht auf die Erhaltung der Function, aus¬
gekommen werden kann, anzuwenden; be¬
sonders die perinealen Methoden haben
sich am besten bewährt. In Fällen, die
sich auf der äussersten Grenze eines radi¬
calen Eingriffes befinden, ist es besser, die
palliative Kolotomie zu wählen, sowie auch
in Fällen, wo eine zu schwere Operation
zu erwarten wäre, oder wo die Höhe des
Sitzes der Neubildung nicht festgestellt
werden kann. Unter letzteren Umständen
kann die Laparotomie als Mittel zur Er¬
forschung der Operabilität des Tumors
dienen und die angeschlossene Kolotomie
wird zum vorläufigen Schritte zur folgenden
radicalen Operation. Stock (Skalsko).
(Sbomfk klinicky B. IV, H. 3.)
Ueber den therapeutischen Werth des
Rheumatins, auf das E. Pieper in dieser
Zeitschrift bereits aufmerksam gemacht
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
422 Die Therapie der
hat (1902, S. 238), hat J. Sigel auf der
Ewald’schen Abtheilung bei ca. 40 Fällen
von acutem und chronischem Gelenk¬
rheumatismus recht günstige Erfahrun¬
gen gesammelt. Das Mittel, das eine Ver¬
bindung von Salicylsäure und Chinin
darstellt, wurde je nach Alter und Schwere
des Falles in einer Tagesdosis von 2—6 g
(im Allgemeinen 3—4 g pro die) gegeben.
Es zeigte bei meist prompter spezifischer
Wirkung so geringe Nebenwirkungen, spe-
ciell auf Herz und Nieren, dass ihm nach
des Verfassers Meinung schon dadurch
ein dauernder Platz in der Behandlung
des Gelenkrheumatismus gesichert sein
wird. Sigel hält es für angezeigt 1. bei
acuten Fällen, wenn dieselben bereits mit
ausgesprochenen Complicationen von Seiten
des Herzens und der Nieren in Behand¬
lung kommen — es ist aber auszusetzen,
wenn nach mehrtägigem Gebrauch Tem¬
peratur und Gelenkerscheinungen nicht
zurückgehen; 2. bei denjenigen acuten
Fällen, in denen andere Präparate schlecht
oder gar nicht vertragen werden; 3. bei
den subacuten und chronischen Fällen
von Muskel- und Gelenkrheumatismus, in
denen es darauf ankommt, die Medication
zu wechseln, eventuell um den durch Sali¬
cylsäure oder Aspirin erreichten Erfolg auf
der Höhe zu erhalten. F. K.
(Berl. Klin. Wochenschrift 1903, No. 31.)
Als Spondylitis infectiosa bezeichnet
Quincke eine Form von Wirbeler¬
krankung, bei welcher eine Schädigung
des Wirbelmarkes durch Einwanderung
pathogener Organismen hervorgerufen wird
und wie sie z. B. als Spondylitis thyphosa
im Gefolge typhöser Erkrankungen bereits
in einer Reihe von Fällen auf seine An¬
regung hin beobachtet worden ist. Seine
hier mitgetheilten Beobachtungen betreffen
einen Fall von Pneumococcenspondy-
litis, der sich sechs Wochen nach einer
mittelschweren Pneumonie bei einem 46jähr.
Arbeiter in den oberen Lendenwirbeln ent¬
wickelt hatte. Die Wirbelerkrankung charak-
terisirte sich hier durch sehr heftige Schmer¬
zen und Steifigkeit in der Lendenwirbelsäule,
sowie durch leichte Prominenz des zweiten
und dritten Lendenwirbeldornfortsatzes.
Der Verlauf der Krankheitserscheinungen
war ein acuter und fieberloser ohne mo¬
torische Symptome. Sechs Monate nach
dem Beginn der spondylitischen Erschei¬
nungen wurde derKranke mit einem leichten
Gibbus am dritten Lendenwirbel, als ge¬
heilt entlassen. In einem andern Fall
seiner Beobachtung entwickelte sich eine
Gegenwart 1903.
ähnliche, gleichfalls günstig verlaufende
Erkrankung der Lendenwirbelsäule im An¬
schluss an ein vermuthlich primär ent¬
standenes, eitriges Pleuraexsudat, das vor¬
wiegend Streptococcen enthielt. Verfasser
bezeichnet sie daher als Streptococcen-
spondylitis, indem auch hier ganz ähn¬
lich wie in dem ersten Fall andere ätio¬
logische Momente ausser Frage kamen.
Er bezieht sich dabei auf die E. Fränkel-
schen Untersuchungen des Wirbelmarkes
von Personen, die an Typhus und anderen
Infectionskrankheiten gestorben waren,
und bei welchen auch das Wirbelmark in
ungeahnter Weise an den verschiedensten
allgemeinen und localen bacteriellen Er¬
krankungen anatomisch mitbetheiligt war,
ähnlich wie die Milz. Die Resorption
dieser kleinen Infectionsherde geschieht in
solchen Fällen zwar meist symptomlos,
indess kann sich auch jenes Krankheits¬
bild dabei mehr minder vollkommen her¬
ausbilden, dass eben Quincke als Spon¬
dylitis infectiosa bezeichnet; die dabei
auftretende Schwellung sowie die häufig
zurückbleibende Versteifung des erkrankten
Wirbelsäulenabschnittes deutet er dabei als
Miterkrankung des Periostes und der Bänder,
die manchmal bemerkbare leichte Gibbus¬
bildung als Höhenabnahme des Wirbel¬
körpers durch Resorption besonders zahl¬
reicher mikroskopischer Nekroseherde.
Bei der Beobachtung von Recon-
valescenten nach schweren Infectionen
sollte man aus prognostischen und thera¬
peutischen Gesichtspunkten allemal der
Quinckeschen Mittheilung eingedenk sein.
F. Umber (Berlin).
(Mittheilungen aus den Grenzgebieten der Medicin
und Chirurgie 1903. Bd. XI, 5.)
In einer Arbeit Beiträge zur Kenntniss
des Tetanus traum&ticus berichtet El¬
sässer über 24 Fälle, die in den Jahren
1877—1902 in der Kocher’schen Klinik
zur Beobachtung kamen. Verletzungen
waren immer nachweisbar, in einzelnen
Fällen auch schwere, aber in der Regel
handelte es sich um verhältnismässig ge¬
ringfügige Wunden, die kaum oder sogar
gar keine Behandlung zu verlangen schienen.
Die erste Forderung, wenn man einen
Tetanus erkannt hat, ist eine gründliche
gewissenhafte Reinigung der Wunde. Der
Verlauf ist, wie Verfasser an einem Fall
beobachtete, der der Art der Verletzung
nach eine äusserst schweren Infektion ver-
muthen liess, doch wohl gutartiger, als
wenn die Wunde unbehandelt bleibt. Der
Ausbruch der Erkrankung fällt etwa in
Vs der Fälle in die erste Woche nach der
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
423
Verletzung, in etwa der Hälfte in die zweite
Woche; einige wenige erkranken noch
später.
Was die Therapie anbetrifft, so sind
zunächst einige allgemein gQltige Forderun¬
gen zu erfüllen: Isolirung des Patienten
in ein ruhiges Zimmer, Fernhalten aller
äusseren Reize, Ernährung mit flüssiger
Diät, solange die Schluckbewegungen noch
keine Krämpfanfälle auslösen, dann mit
Nährklystiren.
Für reichliche Wasserzufuhr muss durch
Kochsalzinfusionen gesorgt werden. Die
Reinigung der Wunden hat mit einem
Mittel zu geschehen, das nicht nur desin-
ficirend, sondern auch antitoxisch wirkt,
also mit Jod, Carbolsäure, saurem Sublimat.
In allen Fällen, wo Krampfanfälle vor¬
handen sind, gebe man Narcotica, am
besten Chloralhydrat zur Herabsetzung der
Reflexerregbarkeit und Morphin zur Ver¬
minderung der Erregbarkeit, der Gross¬
hirnrinde, eventuell wechsle man mit beiden
Mitteln ab. Bei sehr häufigen und hefti¬
gen Krämpfen muss man eventuell zur
Chloroformnarcose greifen.
Sodann stehen uns zwei Methoden zur
Verfügung, das eigentliche, ursächliche
Moment, das Tetanustoxin in seiner
Wirkung abzuschwächen resp. zu zer¬
stören. Die Serumwirkung beruht auf
Immunisirung. Es wird also am besten
wirken, wenn es prophyplaktisch einge¬
spritzt wird, Meistens wird aber der
Tetanus schon zum Ausbruch gekommen
sein, wenn man injicirt, und man darf
infolgedessen nicht auf eine augenblick¬
liche Wirkung hoffen, sondern kann nur
einen gewissen Stillstand der Erscheinungen
erreichen, dadurch dass die noch nicht
vergifteten multipolaren Ganglienzellen ge¬
schützt werden.
Dagegen bezweckt die Verabreichung
von Jod und Carbolsäuie, besonders der
letzteren, die Zerstörung des Giftes durch
ein chemisches Gegengift. 'Man injicirt
die Carbolsäure in einer 3proc. Lösung, und
zwar je nach Schwere des Falles in Inter¬
vallen von einer bis mehreren Stunden
1 ccm.
In einer Reihe von Fällen wurde Serum-
und Carboisäurebehandlung gleichzeitig
angewandt. Verf. ist geneigt, die letztere
für die überlegene Methode zu halten.
Die Resultate, die mit verschiedenen
Behandlungsweisen erzielt wurden, sind
verhältnissmässig gut, wenn auch die ab¬
solute Mortalität natürlich hoch ist, Es
starben von 24, nach verschiedenen Prin-
cipien behandelten Fällen 14,10 sind geheilt.
Die Behandlung des traumatischen
Tetanus würde sich also, noch einmal
zusammengefasst, etwa so gestalten:
1. Möglichst frühzeitige energische Wund¬
behandlung unter Zuhilfenahme von
Jodtinctur, Carbolsäure, ev. Thermo-
cauter.
2. Sofortige Serurainjection, bei besonders
dringlichen Fällen intracerebral oder
intradural, um das noch freie, speciell
im Blut circulirende Toxin zu binden.
3. Ausgiebige Darreichung von Nar-
coticis, um die Gefahr der Anfälle zu
beseitigen, Chloralhydrat, Morphin,
Chloroform.
4. Systematische Carbolinjectionen vom
ersten Tage an, stündlich oder zwei¬
stündlich 0,03.
5. Subcutane Kochsalzinfusion, Nähr-
klystire, Isolirung.
Wichmann, (Altona).
(Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Band 69,
Seite 236.)
Ueber Theooin (Theophyllin) das neue
Diureticum, welches von Minkowski in
die Therapie eingeführt worden ist, (diese
Zeitschrift 1902, S. 490) liegt eine Disser¬
tation aus der Leube’schen Klinik vor.
Der Verfasser Dr. Rattner berichtet über
28 Fälle von Hydrops und Oedemen aus
verschiedenen Ursachen. In allen war die
stark harntreibende Wirkung des Mittels
deutlich bemerkbar und überdauerte die
Darreichung meist um mehrere Tage; mehr¬
fach war diese Wirkung noch zu erzielen,
wenn andere Diuretica versagten. An¬
gewandt wurden täglich 3—5 mal 0,2 g.
Von Nebenwirkungen hat Verfasser öfters
Uebelkeit, Erbrechen und Durchfall beob¬
achtet, glaubt aber, dass diese vermeidbar
sind, wenn das Theocin statt in Pulverform
in Lösung gereicht wird. Eventuell erweist
es sich auch in Suppositorien sehr wirk¬
sam. Erregungszustände, Schlaflosigkeit,
Krampfanfälle hat Rattner nicht nach
Theocin gesehen, ebensowenig Albumin¬
urie. Bei Kindern gab er von einer Lösung
0,1 : 75 3—5 Kinderlöffel — maximale Tages¬
dosis 0,05 g — mit sehr gutem Erfolg ohne
schädliche Nebenwirkung. Rattner be¬
zeichnet danach das Theocin als das zur
Zeit am besten wirkende Diureticum.
(Anmerkung des Referenten: Ich
habe das Theocin (Theophyllin) in mehr
als 20 Fällen mangelnder Diurese haupt¬
sächlich bei Herzkranken verordnet und
in keinem Falle die harntreibende Wir¬
kung vermisst. In einzelnen schweren
Fällen war dieselbe ausserordentlich und
erinnerte an die enormen Effecte, die man
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
424
1
Die Therapie der
manchmal in desperaten cardialen Hydrop-
sien von Calomel erlebt. (So stieg bei
einer hilflos geschwollenen Patientin mit
Mitralstenose, bei der auch das lange wirk¬
sam gewesene Diuretin versagte, nach fünf¬
mal 0,3 g Theocin, in 2 Tagen gereicht, die
Harnmenge auf 5 1 und hielt sich ohne Er¬
neuerung der Medication in der durch¬
schnittlichen Höhe von 2—3 1, bis die Pa¬
tientin ihre Oedeme vollkommen los war.
Dieser überraschend gute Zustand währt
zum grossen Ruhm der ärztlichen Kunst
nun schon 3 Monat). Ich habe aber auch
eine Reihe unerwünschter Nebenwirkungen,
neben gastrischen Störungen insbesondere
ein grosses Gefühl allgemeiner Schwäche
danach auftreten sehen. Ich möchte also
glauben, dass das Theocin ein heroisches
Mittel ist, welches besonders dann An¬
wendung verdient, wenn die anderen Diu-
retica nicht mehr wirken).
G. Klemperer.
(Würzburger Dissertation 1903.)
Ziemlich günstig über die Behandlung
der Tuberkulose nach der Methode von
Länderer äussert sich Stock (Skalsko),
indem er über 25 Fälle zu berichten weiss,
in welchen allen eine Besserung zu ver¬
zeichnen war. Freilich war der Verfasser
in der Auswahl seiner Fälle vorsichtig,
indem er dem Rathe Länderers gemäss
nur anfangende Tuberkulose der Behand¬
lung unterzog. In 5 Fällen war die Tuber¬
kulose überhaupt nicht nachweisbar, nur aus
den subjektiven Beschwerden und Neben¬
umständen (Antecedenz und Aehnliches)
wurde sie geahnt. Die übrigen 20 Fälle
gehören unter jene, die Länderer als un-
complicirt bezeichnet. In den ersten 5 Fällen
schwanden alle Symptome binnen D/ 2 —2
Monaten, in welcher Zeit die Patienten,
indem sie sich vollkommen gesund fühlten,
die Behandlung selbst unterbrochen haben.
In 13 Fällen, von denen 5 noch in Behand¬
lung stehen, war die Behandlungsdauer
3—6 Monate, in einem Falle über ein Jahr,
und dauert noch bisher weiter. In allen
diesen Fällen trat eine unbedingte
subjektive und objektive Besserung
ein, aber für vollkommen geheilt will Ver¬
fasser keinen von diesen 13 erklären, da
die objektiven Merkmale doch nicht voll¬
kommen verschwunden sind. 7 Kranke
unterbrachen die Behandlung vorzeitig
selbst. Im Ganzen hält Verfasser diese
Behandlungsmethode für vollkommen un¬
schädlich (intravenöse Injectionen) und
glaubt, dass ein günstiger Einfluss auf die
Tuberkulose nicht geleugnet werden kann.
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Gegenwart 1903. September
Besonders die Besserung der sub-
jectiven Symptome ist bezeichnend
und unleugbar.
Haemoptisen, Müdigkeit und Schlaf¬
sucht, so wie dies Ewald beschreibt, hatte
Verfasser nicht zu verzeichnen, warnt aber
vor weiteren Injectionen bei eintretender
Haemoptoe oder auch leichten Haemoptisen,
l da er bei einem mit leichter Haemoptise
behafteten Kranken, ein paar Minuten nach
der ersten Injection (V* mg) von einem
ziemlich starken Blutsturz unangenehm
überrascht wurde. Stock stimmt also
mit manchen Autoren (Katzenstein,
Rys), die bei Haemoptoe mit den Injec¬
tionen fortzufahren empfehlen, nicht über¬
ein, und glaubt, dass, wenn dieselben bei
ihrem Verfahren nie unangenehm über¬
rascht wurden, es eher ihrem Glücke, als
dem Einflüsse des Hetols zuzuschreiben
wäre.
Verfasser endet mit Länderers Worten:
„Die Heilbehandlung gibt eine Menge Skro-
phulöser und Tuberkulöser dem praktischen
Arzte zurück“ und fügt nur hinzu: ob der¬
selbe sie auch dem Leben wieder zurück
zu geben vermag, bleibt eine bisher offene
Frage. Autoreferat.
(Öasopis cesk^ch 16kaf& 1903, No. 21, 22, 23.)
In einem lesenswerthen Aufsatz i
Schwenk’s werden die Resultate mit-
getheilt, welche an der Kutn er 'sehen
Poliklinik bei der Behandlung der chro¬
nischen Urethritis anterior mittels der
von Kutn er angegebenen Druckspülung
gewonnen wurden. Die Methode wird am
zweckmässigsten so ausgeführt, dass mit¬
telst einer 100—120 ccm fassenden Hand¬
druckspritze und eines ca. 4 cm langen
Nelatonkatheters kurze und kräftige Injec¬
tionen mehrere Mal hintereinander ausge¬
führt werden, wobei das Orificium urethrae
um den Katheter comprimirt und dann
zur Entleerung der Flüssigkeit wieder
geöffnet wird. Zur Injection wird Argen¬
tum nitricum verwendet: 1 ccm einer
5%igen Lösung auf 50 ccm aqua dest. Die
Resultate waren sehr befriedigende. In
Bezug auf den weiteren Inhalt der Arbeit sei
hervorgehoben, dass der Verfasser dieOber-
län der'sehe Dehnbehandlungsmethode aus
theoretischen und praktischen Gründen für |
die Behandlung der chronischen Gonor¬
rhoe ganz aufgegeben hat. Er nähert sich
hierin dem Standpunkte des Referenten,
der zwar die Methode für einzelne Indica-
tionen für zweckmässig hält, ihr aber
keineswegs die grosse Bedeutung für die
Behandlung der chronischen Gonorrhoe
Original from
UMIVERSITY OF CALIFORNIA J
September
425
Die Therapie der Gegenwart 1903.
vindiciren kann, welche die Oberländer-
sche Schule ihr beilegt.
Buschke (Berlin).
J. K. Wischnewsky will in 6 Fällen
von Variola vera von der innem Dar¬
reichung von Xylol sehr gute Erfolge
gesehen haben. Diese Behandlungsweise
ist nach Verfassers Behauptung sowohl
der symptomatischen, als auch der Behand¬
lung mit forcirter Impfung bei weitem vor¬
zuziehen. In allen Fällen, in denen er die
Xylolbehandlung bereits im Stadium der
Eruption beginnen konnte, blieb die Pustel¬
bildung aus. Waren vor dem Beginn der
Behandlung einige Pusteln eiterig gewor¬
den (meist an der behaarten Kopfhaut und
im Gesicht), so schrumpften sie zusammen
und hinterliessen eine dünne oberflächliche
Kruste. Die im Beginn der Behandlung
aufgetretenen Papeln gingen nicht in Pusteln
über, so dass keiner der mit Xylol behan¬
delten Kranken die' für diese Krankheit so
typischen Narben zurückbehielt. Die Krank¬
heit verläuft entweder ganz fieberfrei oder
bei nur geringen Temperatursteigerungen.
Das Xylol wird je nach der Schwere des
Falles und der Zeit, in welcher er in Be¬
handlung kommt, zu 15—20Tropfen 4—6mal
täglich in einem Glase Rothwein verabfolgt,
solange bis das Exanthem völlig verschwun¬
den ist. Irgend welche üble Nebenwirkun¬
gen hat das Mittel nicht.
N. Grünstein (Riga).
(Russki Wratsch 1903, No. 6.)
Zur Casuistik der ViscePalsyphlUs
theilt H. Quincke eine Reihe sehr inter¬
essanter Beobachtungen mit, die so recht
geeignet sind, uns in dem alten Grundsatz
zu bestärken, bei chronischen Erkrankungen
zweifelhaften und dunkeln Ursprungs stets
an die Möglichkeit luetischer'Grundlage zu
denken.
Der erste Fall betrifft einen 55jährigen
Mann, der nach voraufgegangenen Zeichen
von Magengeschwür unter Erscheinungen
von Erweiterung des Magens hochgradig
abmagerte. Die Palpation erwies 1894 auf
der stark pulsirenden Bauchaorta einen
faustgrossen länglichen Tumor; der Magen¬
inhalt enthielt reichlich Salzsäure. (Pat.
hatte ais junger Mann Ulcus durum, 1892 Kopf¬
schmerzen mit periostitischen Verdickun¬
gen des Schädels gehabt, die auf Jodkali
verschwunden waren.) Es wurde neben
diätetischer Magenspülung eine regelrechte
Schmiercur eingeleitet, danach Jodkali ge¬
geben. Es trat allgemeine Besserung ein,
das Gewicht stieg von 127 auf 151 Pfd.,
der Tumor wurde kleiner. Erst 6 Jahre
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später (1900) kam es zu neuen Erschei¬
nungen motorischer Mageninsufficienz, wie¬
der bewies sich Hg und JK hilfreich, und
Patient hielt sich unter häufigen Magen¬
spülungen leidlich bis 1902, wo er einer
Gesichtsrose erlag. Die Section konnte
erst 80 Stunden p. m. gemacht werden,
erwies aber doch mit genügender Sicher¬
heit, neben alten Ulcusnarben im Magen,
eine Verdickung und Zellinfiltration des
Mesenteriums, woraus Verf. ein teilweis
zur Rückbildung gekommenes Gumma
diagnosticirt. (Dieser Fall ist ausserordent¬
lich lehrreich; er ermahnt von Neuem, in
jedem Fall anscheinenden Magencarcinoms
nach Lues zu fragen und eventuell spe-
cifische Cur einzuleiten; auf die vielen un¬
vermeidlichen Fehlschläge kommt doch hin
und wieder ein grosser Erfolg!)
Quincke’s zweite Beobachtung handelt
von einem 60jährigen Kaufmann, der unter
den Erscheinungen eines leicht fieberhaften
Icterus und mässiger Verengerung des Kehl¬
kopfs fortschreitend abmagerte und nach
4 Monaten starb. Die Leber war anfangs
vergrössert, verkleinerte sich aber zu¬
sehends, unterhalb derselben war im Ab¬
domen eine unbestimmte Resistenz quer
verlaufend zu fühlen. Die Diagnose
schwankte zwischen Carcinom und Lues,
Jod blieb erfolglos. Bei der Obduction
zeigte sich die Leber cirrhotisch verklei¬
nert, in und hinter der Radix mesenterii
eine grosse Geschwulst, die als Drüsen-
convolut mit Gummiknoten zu deuten war.
In diesem Falle hatte die Geschwulst selbst
keine schlimmen Folgen, weil sie an un¬
gefährlicher Stelle sass; der Tod wurde
durch die luetische Hepatitis verursacht.
Der Patient wäre zu retten gewesen, wenn
an die specifische Behandlung einige Jahre
früher gedacht worden wäre; statt dessen
hatte man den Patienten mehrfach nach Ems
und Kissingen geschickt.
Im dritten Fall hatte ein 35 jähriger
Herr so heftige Kolikschmerzen mit schliess-
lichem Icterus, dass wegen dringenden Ver¬
dachtes einer Cholecystitis zur Operation
geschritten wurde. Dieselbe zeigte die
leere Gallenblase von einer lappigen Ge¬
schwulst umgeben, welche wegen der Ver¬
wachsungen mit der Umgebung inoperabel
erschien. In der Vermuthung, dass es sich
um eine Gummigeschwulst handele, wurde
eine Jodkalibehandlung durchgeführt (3;0
pro die drei Monate lang), die zur voll¬
kommenen Heilung führte. Patient ist jetzt
21/2 Jahre ganz gesund. (Diesem Falle kann
Referent zwei ganz analoge aus der eigenen
Erfahrung zur Seite stellen, in denen
54
Original ffom
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
426
äusserst heftige Leberkoliken durch Queck-
silbercuren geheilt wurden. Referent möchte
als eine allgemeine Forderung aufstellen,
Patienten mit anscheinenden Gallenstein¬
koliken, die nachweislich luetisch inficirt
waren, specifischen Curen zu unterwerfen,
ehe man sie operiren lässt.)
Im letzten Fall erkrankte ein 40 jähriger
Herr, dessen luetische Infection 17 Jahre
zurücklag, nach lang dauernden gastrischen
Beschwerden an Icterus mit Milzschwel¬
lung mit sehr schlechtem Allgemeinbe¬
finden, wozu sich schliesslich Ascites und
Oedem beider Beine gesellte. Patient be¬
kam Jodnatrium und von seinem Hausarzt
mehrfach Calomel, ohne dass ein sofortiger
Umschwung eintrat. Erst allmählich kam
es zur Besserung und schliesslich zur voll¬
kommenen Heilung, die Patient selbst auf
den Gebrauch eines diuretischen Haus¬
mittels (Decoct von Sambucus nigra) zu¬
rückführte. Zweifellos besteht Quinckes
Annahme zu Recht, dass es sich in diesem
Fall um gummöse Wucherungen an der
Porta hepatis gehandelt hat, die durch die
specifische Therapie zur Rückbildung ge¬
bracht sind, während der Effect auf Gallen¬
wege und Pfortader erst nach Aussetzen
der Mittel eintrat.
Dieser höchst lehrreichen Casuistik von
schweren Krankheiten der Unterleibsorgane
reiht Quincke 3 Fälle von Aortenaneurysma
an, die durch energische antiluetische
Kuren wesentlich gebessert wurden. In
Kiel hat die Mehrzahl der Aortenaneurysmen
syphilitischen Ursprung, was nach meiner
Erfahrung für das Berliner Material nicht
in dieser Allgemeinheit zutrifft. Körperliche
Ueberanstrengung ist sehr oft als alleinige
Ursache anzusehen. Nichtsdestoweniger
ist natürlich Quinckes Rath zu beherzigen,
Jod und Quecksilber auch bei fehlender
Anamnese zur Anwendung zu bringen; man
braucht darüber die übrige hygienisch¬
diätetische Therapie und eventuell die
Gelatineinjection nicht zu vernachlässigen.
Zum Schluss beschreibt Quincke drei
Fälle von Hirnsyphilis, von denen zwei
durch das vorwiegende Befallensein des
Facialis- und Acusticusgebiets, der dritte
durch die lange andauernde subnormale
Temperatur bemerkenswert!! ist.
G. Klemperer.
(Deutsches Archiv für klin. Medicin. Bd. 77.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aus Dr. H. Neumann’s Kinderpoliklinik zu Berlin.
Erfahrungen mit Creosotal
bei der Behandlung der Erkrankungen der Athmungsorgane.
Von Dr. Alfred Badt.
Die zahlreichen Berichte über meist
glänzende Heilerfolge mit Creosotal bei
Erkrankungen der Athmungsorgane ver-
anlassten mich an der Hand einer längeren
Beobachtung einer grösseren einschlägigen
Krankenzahl die Wirkungen des genannten
Mittels zu prüfen. Die betreffenden Fälle
entstammen der Kinderpoliklinik des Herrn
Priv.-Doc. Dr. H. Neumann; es wurden im
Laufe mehrerer Monate etwa 75 Kinder
mit den verschiedensten Erkrankungen des
Respirationstractus der Creosotal-Behand¬
lung unterzogen, während gleichzeitig eine
entsprechende Anzahl correspondenter Fälle
zum Vergleich in der sonst an der Poli¬
klinik üblichen Weise von mir behandelt
wurde. In beiden Gruppen handelt es
sich um einfache Fälle leichter Bronchitis,
um katarrhalische Pneumonien und crou-
pöse Pneumonien. Schliesslich wurden
auch einige Fälle von Lungentuberkulose
und Scrophulose mit Creosotal be¬
handelt.
Bevor ich auf die Krankengeschichten im
Einzelnen eingehe, möchte ich eine Anzahl
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allgemeiner Beobachtungen über die Wir¬
kungen des in Rede stehenden Mittels vor¬
ausschicken. Da das Creosotal von der
Fabrik von Heyden jetzt als ziemlich ge-
ruch- und geschmackloses Präparat herge¬
stellt wird, so wurde es von allen Kindern
gern genommen. Bei Säuglingen und Kin¬
dern in den beiden ersten Lebensjahren
rief es jedoch häufig in den nächsten Tagen
Erbrechen hervor, ein Uebelstand, den ich
nur manchmal durch Verordnung in Schleim
beseitigen konnte. In anderen Fällen wieder
rief das Mittel schweren Durchfall hervor,
der zwar auf Aussetzen der Medikation
nachliess, aber mit dem Beginn der Creo-
sotal-Darreichung sich sofort wieder ein¬
stellte. In vielen Fällen war es erforderlich,
längere Zeit fortgesetzt grosse Dosen des
Mittels zu verabreichen, so bei der Behand¬
lung der Tuberkulose und Scrophulose.
Hier trat dann bei den meisten Kindern
heftiger Widerwille gegen die Medizin ein;
Erbrechen und Nachlassen des Appetits
nöthigten wiederholt dazu, die Creosotal-
Darreichung zu unterbrechen,
Original fro-m
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
September
427
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Von sonstigen Nebenwirkungen ist zu
berichten über die ausnahmslos eintretende
grüne Verfärbung des Urins, die sofort
nach Beginn der Behandlung zu konstatiren
war. In keinem Falle war trotz grösster
Gaben des Mittels Eiweiss im Urin nach¬
zuweisen, sodass also eine eventuelle schäd¬
liche Wirkung auf die Nieren nicht zu be¬
fürchten ist. Der charakteristische Geruch
der Ausathmungsluft machte sich bei allen
Kranken schon am ersten Tage der Be¬
handlung bemerkbar.
Was schliesslich die Dosirung anbetrifft,
so habe ich in den Fällen von Pneumonie
die hohen Gaben nach Cassoute angewen¬
det, d. h. je nach dem Alter des Kindes
1—6 g innerhalb 24 Stunden, und zwar
am Tage in dreistündlichen Pausen und
zwei Mal in der Nacht. Die Verabreichung
geschah in warmer Milch oder in Emulsion.
Bei der Behandlung der leichteren Bron¬
chitiden begnügte ich mich mit dreimaliger
Dosis von 2—10 Tropfen pro die; in den
chronischen Fällen endlich wurden langsam
steigende Mengen ebenfalls dreimal täglich
gegeben.
Meine Beobachtungen erstreckten sich
insbesondere in jedem Falle auf die Be¬
einflussung von Schmerz, Husten, Auswurf
und Appetit, abgesehen von der selbst¬
verständlichen Kontrolle der Temperatur
und des Lungenbefundes. Regelmässige
Wägungen der chronisch kranken Kinder
vor und während der Creosotal-Behandlung
vervollständigten ferner die möglichst un¬
befangene Beurtheilung meiner Versuche.
Gehen wir nunmehr zur Besprechung
der einschlägigen Fälle über, so beginnen
wir zweckmässig mit den einfachen Bron¬
chitiden. Bei einigen derselben war die
Beobachtungsdauer zu kurz, da die be¬
treffenden Kinder, vermuthlich gebessert,
sich nicht wieder vorstellten. Die Mehr¬
zahl der behandelten Bronchitiden wurde
durch Creosotal günstig beeinflusst, insofern
als sich unter dem Einfluss dieser Medika¬
tion der Appetit besserte und die Schmerzen
(Stiche) nachliessen; auch objektiv liess sich
ein günstiger Einfluss auf das Schwinden
der Lungenerscheinungen konstatiren. Dies
war insbesondere bemerkenswerth in einigen
Fällen, wo vordem Ipecacuanha-Infus oder
dergl. ohne Erfolg angewandt worden war.
Katarrhalische Pneumonie wurde in etwa
30 Fällen mit Creosotal behandelt; hier war
der Erfolg bereits ein bedeutend geringerer.
In leichten Fällen konnte auch hier eine
günstige Einwirkung zuweilen festgestellt
werden, auch hier besserte sich der Appetit,
der vordem gänzlich darnieder gelegen
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hatte, in bemerkenswerthem Masse, die
Stiche liessen nach, die objektiven Krank¬
heitssymptome schwanden in kurzer Zeit.
In schwereren Fällen jedoch erreichten wir
mit der Creosotal-Therapie wenig; die
Lösung des Krankheitsprozesses liess leider
meist eben so lange auf sich warten, wie
in den anders behandelten Fällen. Die
mittlere Krankheitsdauer betrug bei dieser
Gruppe 3—4 Wochen, ein Zeitraum, der
auch unter den sonst üblichen Methoden
nicht überschritten wurde. In manchen
Fällen konnte ich, anstatt dass eine Besse¬
rung unter der Creosotal-Darreichung ein¬
trat, im Gegentheil von Tag zu Tag ein
Fortschreiten des Prozesses auf den Lungen
konstatiren, sodass ich mich schliesslich
genöthigt sah, zu anderen Mitteln zu greifen.
Im Ganzen hatte ich nicht den Eindruck,
als ob, worauf es doch in diesen Fällen
sehr wesentlich ankommt, das Creosotal
eine kräftige Expektoration anregen könnte;
im Gegentheil liess zugleich mit den
Schmerzen und dem Husten auch die
Menge des Auswurfs nach, während die
Temperatur und der Lungenbefund wenig
oder garnicht beeinflusst wurden.
In den schwersten Fällen von Broncho¬
pneumonie schliesslich versagte das Creo¬
sotal gänzlich; bei einigen Kindern, welche
mit subjektiven und objektiven Symptomen
einer ausgedehnten Entzündung in Behand¬
lung kamen, konnte trotz Darreichung der
vorgeschriebenen hohen Dosen keinerlei
Wirkung erzielt werden; die betreffenden
Kinder kamen ausnahmslos zum exitus.
Dagegen möchte ich auf Grund meiner
Beobachtungen behaupten, dass es mir in
gleich schweren Fällen gelang, mit Digitalis-
Darreichung und ähnlicher Therapie noch
günstige Resultate zu erzielen. Ich muss
also dringend davor warnen, in Fällen, wo
die Kinder mit den Zeichen der schweren
Lungenentzündung in Behandlung kommen,
mit der Anwendung von Creosotal die in
diesen Fällen recht kostbare Zeit zu ver¬
lieren, da meiner Erfahrung nach in keinem
derartigen Krankheitsfalle ein Erfolg zu
erwarten sein wird.
Was nun die croupöse Pneumonie an¬
betrifft, so konnten bei unserer meist aus
ganz jungen Kindern sich rekrutirenden
Krankenzahl nur wenige Fälle mit Creosotal
behandelt werden. Ich kann nur sagen,
dass die grossen subjectiven Beschwerden,
Athemnoth und Stiche, in keinem Falle
verringert wurden; den von anderer Seite
so gerühmten sofortigen Temperaturabfall
habe ich in keinem Falle bisher beobachten
können. Der Verlauf dieser Krankheits-
54*
Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
428
Die Therapie der Gegenwart 1903.
September
form war im Ganzen genau derselbe wie
in Fällen ohne Creosotal-Darreichung.
Wir kommen alsdann zur Besprechung
der Fälle von Phthise und chronischer
Oberlappen-Pneumonie, welche mit Creo-
sotal behandelt wurden. In einem Falle
konnte, bei wiederholtem Aufflackern des
krankhaften Prozesses innerhalb von sechs
Monaten, ein günstiger Einfluss festgestellt
werden: die Gewichtszunahme ging in¬
zwischen ungestört von Statten. In einem
anderen Falle konnte bei längerer Behand¬
lung die Ausheilung verfolgt werden, die
betreffende Brusthälfte war zum Schluss
beträchtlich retrahirt, Bronchialathmen,
Rasselgeräusche und Dämpfung geschwun¬
den, das Kind nahm an Gewicht zu.
In anderen Fällen wiederum blieb der
Erfolg aus; der Pfozess hielt sich auf der
Höhe und führte schliesslich zur Allgemein-
infection des Körpers. Mehrere Kinder,
bei denen im Auswurf wiederholt Tuberkel-
Bacillen nachgewiesen werden konnten,
kamen nach mehrmonatlichem Kranken¬
lager zum exitus; bei einem derselben
traten zum Schluss die Erscheinungen der
Lungengangrän auf.
Endlich einige Fälle von Scrophulose
mit Bronchialdrüsen-Schwellungen, welche
versuchsweise zur Beobachtung der Ein¬
wirkung auf das Allgemeinbefinden mit
Creosotal behandelt wurden! Die subjec-
tiven Beschwerden mancher dieser Kinder
Hessen nach, objectiv Hess sich eine lang¬
same Gewichtszunahme constatiren. Meist
jedoch sah ich mich nach längerer Dauer
der Behandlung gezwungen, das Creosotal
auszusetzen, weil heftiger Widerwille, Er¬
brechen und Nachlassen des Appetits sich
geltend machten.
Ich fasse demgemäss meine Beobachtun¬
gen, wie folgt, zusammen:
1. Das Creosotal kann in Fällen von
Bronchitis und leichter Bronchopneu¬
monie oft als Ersatzmittel für Ipeca-
cuanha, Senega u. dgl. mit gutem Er¬
folge verwendet werden.
2. In schweren Fällen der Broncho¬
pneumonie und bei croupöser Pneu¬
monie ist die Anwendung von Creosotal
zu widerrathen.
3. Bei der Behandlung der Phthise und
der Scrophulose kann eine längere
Verabreichung von Creosotal versucht
werden.
4. Schädliche Nebenwirkungen sind nicht
zu befürchten.
Zur externen Behandlung der rheumatischen, rheumatoiden, myalgischen
und neuralgischen Erkrankungen.
Von Dr. J. Arnold Qoldmann-Wien.
Vor drei Jahren schon habe ich im
Verlaufe meiner Abhandlung: „Der thera¬
peutische Werth des Saligenin Lederer“
(Klinisch therapeutische Wochenschrift
1899, No. 50 u. 51) darauf hingewiesen,
dass ich bei einzelnen Erkrankungen auch
versucht habe „Saligenin“ sowohl in Sal¬
benform, als auch in Form flüssiger Ein¬
reibungen zu verwenden. Ich habe diese
Versuche seit dieser Zeit fortgesetzt und
habe mir im Verlaufe derselben die Ueber-
zeugung verschaffen können, dass der the¬
rapeutische Effect der äusseren Application
wesentlich davon abhängig, welches Vehi¬
kel oder Constituens zur Herstellung der
Salbe, beziehungsweise Lösung mitver¬
wendet wird. Ich habe als Salbenconsti-
tuens abwechselnd bald Vaselin oder La¬
nolin bald Ung. simpl. oder auch emolli-
ens verwendet und habe gefunden, dass
die Wirkungsweise des Präparats sehr
variirend ist, offenbar deshalb, weil die
Resorption durch die Haut keine gleich-
mässige, in manchen Fällen also nicht
ganz ausreichende ist. Ich habe gelegent¬
lich dieser Wahrnehmung zur controll-
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weisen Sicherstellung zu diesem Zwecke,
anstatt Saligenin, Acidum oder Natrium
salicylicum, auch Salipyrin und wiederholt
auch Acetopyrin verwendet und ebenso
gefunden, dass auch diese Salicylmittel
genau so wie Saligenin nicht immer gleich-
mässig resorbirt werden. Dieselbe Beob¬
achtung machte ich mit alkoholischen Lö¬
sungen, wobei sich noch einigmal die un¬
liebsame Erscheinung bemerkbar machte,
dass die mit denselben eingeriebenen
Hautstellen stark gereizt und noch mehr
entzündlich geröthet wurden, weshalb ich
für die Folge von spirituösen Einreibungen
endgültig abstand. Durch die ncorpori-
rung der verordneten Salicylpräparate in
„Vasogenum purum spissum“ konnte
ich eine ausreichende und gleichmässige
Resorption und zu Folge dieser auch den
erwünschten therapeutischen Effect errei¬
chen. Es ist bekannt, dass „Vasogen“
(oxygenirte Vaseline, mit Sauerstoff im-
prägnirte Kohlenwasserstoffe) in weit hö¬
herem Grade arzneiliche Stoffe in sich auf¬
zunehmen vermag, als jedes andere Vehi¬
kel und dass dasselbe auch, ohne irgend
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
429
September Die Therapie der
welche Reizwirkung auf die Haut auzu-
üben, von dieser am vollkommensten und
am raschesten resorbirt wird, wovon man
sich, je nach dem verwendeten Arznei¬
mittel durch die Harnuntersuchung alsbald
Ueberzeugung verschaffen kann. Zu meiner
besonderen Befriedigung finde ich diese
Art der externen Verwendung von „Sali¬
genin 44 bei der Behandlung rheumatischer
Erkrankuugsformen auch von Peters in
seinem Werke: „Die neuesten Arzneimittel
und ihre Dosirungen 44 bei Besprechung der
Vasogenpräparate ausgeführt, ohne dass
ich vorher von ähnlichen Versuchen des
genannten Autors überhaupt Kenntniss
hatte. Desgleichen bespricht Dr. Müller,
Assistenzarzt der Klinik Mosler in Greifs¬
wald (Therapie der Gegenwart I, 4. April
1899) die externe Verwendung von
10% Salicylvasogen in recht günstigem
Sinne.
Im Verlaufe von drei Jahren hatte ich
vielfach Gelegenheit diese von mir zu jener
Zeit wohl erst versuchte externe Salicyl-
behandlung bei rheumatischen Erkrankun¬
gen verschiedenster Extensität und Locali-
sation erfolgreich durchzuführen, wobei ich
mich, nach Erprobung des Vasogen, nun¬
mehr ausschliesslich desselben bediente,
einerseits, weil dieses zur richtigen Ein¬
verleibung des ausgewählten Arzneimittels
das geeignetste, in seiner reizlosen Wir¬
kung das mildeste und gleichzeitig auch
aseptische Vehikel ist, andererseits wegen
seiner prompten und gleichmässigen Re-
sorbirbarkeit, ein Vorzug, welchen in
diesem Ausmaasse wohl kaum noch ein
anderes mit ihm zu theilen vermag und
gegenwärtig auch schon allgemein zuge¬
standen wird. Meine diesbezüglichen Be¬
obachtungen erstrecken sich auf eine Reihe
von Fällen acuter Polyarthritis, dar¬
unter auch einige, welche zu wiederholten
Malen von typischen, aber doch immer
wieder von bestimmt acuten Gelenksent¬
zündungen befallen wurden. Die meisten
dieser Fälle setzten mit Schüttelfrost ein
und es kamen wiederholt Temperatur¬
steigerungen bis nahe an 400 vor, darunter
auch solche mit Delirien, so dass in diesem
Stadium viel eher an den Ausbruch irgend
einer anderen, schweren Infectionskrank-
keit gedacht werden konnte, also an eine
im Anzuge befindliche Gelenksentzündung,
welche gewöhnlich erst am zweiten oder
auch dritten Tage durch die grosse
Schmerzhaftigkeit und durch die localen
Entzündungserscheinungen in den befalle¬
nen Gelenken manifest wurde und speciell
in einem Falle, bei einem 28 jährigen
Gegenwart 1903.
Manne, waren die Reizungserscheinungen
von Seiten des Gehirns so ausgesprochene
und fast 48 Stunden lang anhaltende, dass
sowohl ich, als auch ein anderer College
das Vorhandensein einer schweren Menin¬
gitis als sehr wahrscheinlich hinstellten und
erst am dritten Tage war durch die, bei
schon frei gewordenem Sensorium ge-
äusserten heftigen Schmerzempfindungen
des Kranken und die sichtbaren entzünd¬
lichen Schwellungen an beiden Kniegelen¬
ken die Diagnose einer acuten Gelenks¬
entzündung eine sicher fundirte.
Ich habe in allen diesen Fällen, sobald
über den Erkrankungsfall kein Zweifel mehr
aufkommen konnte, lediglich nur die ex¬
terne Behandlung, ursprünglich mit den
schon früher angegebenen Salicylpräpa-
raten und mit „Vasogenum purum
spissum“ hergestellt, geübt und je nach
der Schwere des Falles und der Extensität
der Gelenksschwellungen solche von ver¬
schiedenem Gehalte an Salicylmitteln ver¬
wendet und zwar in der Weise, dass ich
in den ersten 2—3 Tagen über die ent¬
zündeten Gelenke mit dem Präparate gut
imprägnirte Leinenlappen legen liess, dar¬
über eine ausgiebige Lage weicher Watte
und mit einer Calicot- oder Mullbinde gut
anliegend, jedoch ohne besonderen Druck
auszuüben, befestigte. Diese Procedur
wurde nur zweimal täglich vorgenomraen.
Schon unter den ersten Paar Verbänden
konnte ich mit Befriedigung wahrnehmen,
dass die heftigen Schmerzen allmählich
aber stetig an Intensität einbüssten, die
Kranken wurden ruhiger und verhielten
sich auch bezüglich ihrer Bettlage tole¬
ranter, wobei aber auch gleichzeitig ein
Temperaturabfall von 1—1,5° zu consta-
tiren war. Nach zwei, in selteneren Fällen
erst nach drei Tagen war unter der Ver¬
bandbehandlung immer eine nicht unwe¬
sentliche Abnahme der Gelenksschwellung
wahrzunehraen, die Schmerzhaftigkeit eine
bedeutend verminderte und namentlich die
ödematöse Schwellung der Haut um das
Gelenk herum nahezu ganz verschwunden,
die Temperatur kaum mehr, als um einige
Zehntel über das Normale gesteigert, so
wie auch die, bis dahin bestandene grosse
Druckempfindlichkeit nicht mehr vorzu¬
finden war. In diesem Stadium der Er¬
krankung liess ich die Gelenke unter
massigem Drucke mit der Vasogensalbe
schon direkt einreiben, je nach vorhan¬
dener Schwellung 2—3 mal täglich, mit
einer Schicht Watte bedecken und wie an¬
gegeben, verbinden. Die Kranken ver¬
trugen diese Applicationsweise sehr gut
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Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
430
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
und ohne besondere Schmerzempfindung
und habe ich bei solcher Art 12—14 Tage
lang fortgesetzter Behandlung in keinem
einzigen Falle irgend welche örtliche oder
allgemeine, störende Nebenwirkung wahr¬
nehmen können. Die vollständige Ent¬
fieberung, das Ablaufen der Entzündung
und die vollkomme Abschwellung der Ge¬
lenke ging verhältnissmässig rasch und
ohne complicirenden Zwischenfall anstands¬
los vor sich. Die Kranken hatten schon
nach den ersten paar Verbänden guten
Appetit, rege Esslust bei befriedigender
Verdauungsthätigkeit, hatten auch anhal¬
tend ruhigen Schlaf, so dass sie nach kur- j
zer und glatter Reconvalescenz als voll- '
kommen genesen aus der Behandlung ent¬
lassen werden konnten.
In Fällen chronischer Polyarthritis
von der einfachsten Form bis zu den be¬
reits vorhandenen Verdickungen der Ge¬
lenkskapsel und der Gelenksenden, habe
ich zumeist nur flüssiges 10%iges Sa-
licylvasogen (in den Apotheken fertig¬
gestellt, erhältlich) zur externen Behand¬
lung verwendet. Bei der Langwierigkeit
dieser Erkrankungsform an und für sich,
eignet sich diese ganz besonders für diese
externe Behandlungsart, schon aus dem
Grunde allein, weil wir an den Kranken
und seine ohnedies schon in Mitleidenschaft
gezogene Verdauungsorgane thatsächlich
unmöglich die Zumuthung stellen können,
das bei diesem Leiden specifisch wirkende
Salicyl oder auch dessen Ersatzpräparate
lange Zeit hindurch intern zu verwenden.
Ich liess an den erkrankten Gelenken, je
nach der Intensität des Falles zwei- bis
dreimal täglich eine Einreibung vornehmen
und genau so wie bei der acuten Erkran¬
kung mit Watte und Binde gut anliegend,
umhüllen. Die meisten meiner in dieser
Weise behandelten Patienten waren mit
derselben um so mehr einverstanden, als
sie gewöhnlich schon nach drei bis vier
Tagen auffallend geringere Schmerzen ver¬
spürten und insbesondere in Bezug auf
Bewegungsvermögen bessere Erfolge er¬
sahen, als nach anderen, wiederholt ver¬
suchten Curen.
In jenen Fällen, in welchen ich nach
mehrwöchentlicher Behandlung mit Salicyl-
vasogen noch keine ausreichend befriedi¬
gende Erfolge erzielen konnte, namentlich
in solchen Fällen, in welchen die Krank¬
heit schon Jahre lang bestand und in Folge
wiederholter und heftiger Exacerbationen
Verdickungen und grössere Schwellungen
zurückgeblieben waren, habe ich nach
Salicylvasogen auch 6—10%iges Jod¬
vas o gen verwendet, mit welchem ich
schon nach zwei bis drei Wochen be-
merkenswerthe Besserung und nach vier
bis sechs Wochen zufriedenstellende, wenn
auch nicht volle Heilerfolge beobachten
konnte. Mittelschwere Fälle, nicht gar zu
alter Provenienz heilen unter Salicylvasogen-
behandlung zwei bis drei Monaten ganz
schön aus, ich habe solche Erfolge in vier
Fällen mit Sicherheit constatiren können;
es waren dies Fälle, welche unter interner
Medication und wiederholtem Gebrauche
von Schwefelthermen wohl gebessert, aber
noch keineswegs zur Ausheilung kommen
wollten.
Prompten und sehr günstigen Erfolg
erzielte ich mit der externen Verwendung
von 10% Salicylvasogen in zwei Fällen
von Pleuralgie nach Influenza. Beide
Fälle (bei einem 47jährigen Manne und bei
einer 32jährigen Frau) heilten nach vier
und sechs Tagen, bei täglich dreimaliger
Einreibung, trotz ursprünglich grosser und
anhaltender Schmerzen vollständig und
ohne Recidive aus. Solche Pleuralgien
kommen bekanntlich im Verlaufe der In¬
fluenza, oft aber auch nach Ablauf dieser,
nach der gegenwärtigen, ziemlich allge¬
meinen Anschauung als Infectionserkran-
kung aufzufassenden Krankheitsform sehr
häufig vor, ebenso wie wir sie als speci¬
fisch rheumatische, localisirte Erkrankung
antreffen und da bewährt sich eine externe
Behandlung mit Salicylvasogen hinsichtlich
einer raschen und gründlichen Ausheilung
auf das allerbeste, wie sie sich auch bei
Neuralgien, welche entweder im Ver¬
laufe oder als Folgeerkrankung der In¬
fluenza, als therapeutisch prompt wirksam
erweist, wie ich dies in einigen Fällen von
Trigeminusneuralgien, sowohl in ihrer
Form als Supraorbitalneuralgie, wie
auch als Facialisneuralgie mit gutem
Heileffecte zu erproben Gelegenheit hatte.
Die mitunter ziemlich heftig aufgetretenen,
bekanntlich recht qualvollen Schmerzen
cessirten schon nach drei bis vier kräftig
ausgeführten Einreibungen, wozu nebst der
guten Salicylvasogenwirkung offenbar auch
die mit der energischen Einreibung ver¬
bundene, wohlthätige Massage von aus¬
gezeichneter Wirkung war. Ich habe aber
bei dieser externen Behandlung der bis
nun angeführten Erkrankungsformen auch
die zweifellose Wahrnehmung machen
können, dass sie neben ihrer pharma-
kodynamischen und analgetischen Wirkung
auch einen merklichen hypnotischen Effect
hatte, indem die, von ihren heftigen
Schmerzen mitunter auch recht schwer
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September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
431
heimgesuchten Kranken schon nach den
ersten paar Einreibungen in dem Maasse
beruhigt wurden, dass sie in einen er¬
quickenden Schlaf verfielen.
Prägnante und in jeder Beziehung zu¬
friedenstellende Erfolge erzielte ich bei
einer nennenswerthen Anzahl von sowohl
acuter als auch chronischer Muskel¬
rheumatismen, bei Myalgien verschie¬
denen Sitzes, auch in einigen Fällen von
Ischias, sowie wiederholt in Fällen von
Lumbago. Bei Muskelrheumatismen, mit
ihren bekannt wandernden und oft auch
sprungweise wechselnden Localisationen,
bei Myalgien, vorzugsweise solchen, welche
charakteristisch die Rücken- oder Lenden-
muskeln, wiederholt auch beide zugleich zu
ihrem Lieblingssitze auszuwählen belieben,
haben sowohl mehrtägige Einreibungen
von 10%igem Salicylvasogen, oder auch
solche von Campher - Chloroform-
vasogen (part. aequ.) prompte Besserung
und alsbaldige einwandfreie Heilung ge¬
bracht. Es empfiehlt sich, je nach Wahl,
mit einem oder dem anderen der beiden
genannten Präparate zwei- bis dreimal
täglich, die ganze Rücken- und Lenden¬
muskulatur kräftigst einzureiben und nach
derselben ein bis zwei Stunden Bettruhe
anzuordnen. Der gute Heil- und nach¬
haltig schmerzstillende Effect bleibt bei
solcher Behandlungsart sicherlich nicht aus
und zeitigt positive und sehr zufrieden¬
stellende Erfolge. Bei Ischias und Lum¬
bago empfiehlt sich derselbe Modus der
externen Behandlung, nur lasse ich nach
vollzogener Einreibung einen gut ab¬
schliessenden Priessnitzumschlag appliciren,
welcher erst nach jeder Einreibung er¬
neuert werden soll und verordne dabei
wegen Vermeidung neuerlicher Exacerba¬
tionen für so lange strengste Bettruhe, bis
vollständige Heilung eingetreten ist, welche
bei Beobachtung dieser Vorschriften in den
von mir behandelten Fällen in fünf, spä¬
testens in acht Tagen ausnahmslos zu ver¬
zeichnen war.
Einen bemerkenswerth schönen und
dauernden Heilerfolg sah ich nach schon
zehnmaliger Einreibung von Salicylvasogen
bei einer chronischen Urticaria, welche
bei interner Behandlung mit verschiedenen
indicirten Arzneimitteln wohl immer für
eine Zeit lang verschwand, aber nach kurzen
Intervallen wiederholt recidivirte. Ich Hess
die Kranke, ein 15jähriges sonst ganz ge¬
sundes Mädchen zweimal täglich und zwar
abwechselnd einmal am Stamme, das andere
Mal am Unterkörper mit 10o/ 0 Salicylvasogen
tüchtig einreiben. Der Heilerfolg war ein
so guter, dass sich seither, nach Ablauf
von nunmehr 8 Monaten keine Recidive
zeigte, währenddem sich früher alle 3 bis
4 Wochen eine neue Eruption pünktlich
einzustellen pflegte.
Zum Schlüsse will ich noch bemerken,
dass in keinem von mir behandelten Falle,
selbst in solchen nicht, in welchen der
chronischen Form der Erkrankung ent¬
sprechend die externe Behandlung längere
Zeit fortgesetzt werden musste, trotz des
verhältnissmässig doch grösseren Ver¬
brauches von Salicyl auch nicht eine Spur
von Albuminurie constatirt werden konnte,
dessen Auftreten bei der internen Ver¬
wendung des Arzneimittels in diesem
Quantum wohl kaum zu vermeiden ge¬
wesen wäre.
Einige practische Erfahrungen mit dem
Adstringens und Protectivum: Bismutose
möchte ich kurz veröffentlichen und gleich¬
zeitig dazu anregen, dieses Präparat in
längeren systematischen Versuchen mit
anderen Wismuthpräparaten neben ein¬
ander zu vergleichen. Ich werde Derartiges
künftig anderen überlassen müssen, denen
ebenfalls ein grosses Material zu Gebote
stehen muss, da die bevorstehende Aende-
rung meiner amtlichen Verhältnisse meine
klinische Thätigkeit einschränkt. —
Ich hatte mir bei einem heftigen Un¬
wohlsein, das bei einem teuren Familien¬
mitglied zu einer sehr ungelegenen Zeit
gekommen war, gelobt, dass ich es ver¬
öffentlichen wolle, wenn diesmal die Bis¬
mutose mir als wirklicher Helfer rechtzeitig
erschiene. Es war eine Wurstvergiftung
mit der bekannten starken allgemeinen Ab-
geschlagenheit und einer angeschlossenen
heftigen Enteritis, die mir bei der in den
Verdauungsorganen von je angrifflichen
Persönlichkeit durch ihre Hartnäckigkeit
über stärkste diätetische Beschränkung hin¬
aus Sorge machte. 2 oder 3 Tage Bis¬
mutose zu dreimal täglich 5 g beseitigten
diese Sorge und hier ist meine dankbare
Mittheilung davon. — Ich selbst hatte schon
früher und, wie mir schien, zu stark die
den Secretions- und Bewegungsreiz be¬
schränkende Wirkung der Bismutose er¬
fahren. — Mir schien damals unangenehm,
dass in dem zu einer zu langen Beherber-
Bismutose und Entero-Colitis.
Von Geh Rath Prof. Biedert-Hagcnau.
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432
September
Die Therapie der Gegenwart 1903.
gung seines Inhalts geneigten Colon die
schwarzen Bismutose-Koth-Bröckel oft über¬
mässig lange liegen blieben. Ich habe in¬
zwischen die regelmässigen Fleiner’schen
Kamilleneinläufe kennen gelernt, die eine
wahre Wohlthat für den sind, dessen Ver-
hängniss es ist, aus einer Trägheit des
Colon mit Verstopfung in einen auf con-
secutivem Reiz-Zustand beruhenden Durch¬
fall zu verfallen. 1 ) Mit Hilfe dieser Ein¬
läufe würde man wohl auch mit der Ueber-
wirkung der Bismutose im gegebenen Fall
fertig werden. Vielleicht hatte ich schon
einmal selbst davon den Vortheil, indess
eine prüfende Wiederholung der Bismutose-
Wirkung seit Monaten Dank dem Fl ein er¬
sehen Mittel nicht mehr nöthig gehabt. —
Ein Arbeiter ferner, mit recht schwerer
Colitis neben Anacidität (im Spital), ging,
gleichzeitig gut beeinflusst durch Bismutose
nach Hause. — Bei Säuglingen haben mich
meine Neigung zu rein diätetischer Be¬
handlung und die mich abschreckende
Empfehlung grosser Dosen, die ich ein-
oder zweimal unbefriedigt versuchte, nicht
mehr zu ausgiebiger Prüfung kommen lassen.
Gerade bei Säuglingen hatte ich aber
durch Mikroskopirung der Stühle einen
Grund gefunden, der mir für Verwendung
der Bismutose an Stelle der gewöhnlichen
Wismuth-Präparate zu sprechen schien: die
feineren, abgerundeten, mehr vertheilten
Körnchen, welche die Bismutose gegen¬
über den kantigen, spitzen grösseren
Krystallen der anderen Wismuthpräparate
im Darm zurücklässt.
Ich glaube angeben zu können, dass
man entsprechend dem Wismuth-Gehalt
sich auf die 3- (höchstens 5-) fache Dose
gegenüber den Wismuthsalzen, also etwa
auf ein Gramm Bismutose statt 0,3 Bismuth
subnitr. mehrmals täglich, wird beschränken
können, und für die sonst sehr schwer mit
Flüssigkeiten mischbare Dose vermag ich
ein bequemes Verabreichungsverfahren an¬
zugeben : Man setzt zu der Bismutose-
Portion erst einen Tropfen Flüssigkeit und
verreibt ihn, dann wieder einen und so
weiter, bis die ganze Pulvermenge benetzt
und endlich ein dicker Brei geworden ist,
der sich dann beliebig weiter mit Flüssig¬
keit mischen lässt. (Nützlich ist wohl auch
die Starck’sche Verordnung einer 15 %-
Bismutose - Emulsion mit Mucil. gummi
arab. aa stündlich 1 —2 Kaffeelöffel.) (Münch,
med. Wochenschr. 1902, No. 47).
Zur Kussmaul’schen Tamponade bei übergrosser Menstruation.
Von Dr. C. Kasbaum - Heidelberg.
Zu dem Artikel von G. Klemperer in
Nr. 6 dieser Zeitschrift über Stillung über¬
grosser menstrueller Blutungen nach Russ¬
in aul erlaube ich mir zu bemerken, dass
ich diese Methode mit einer geringen aber
für den Praktiker wichtigen Modifikation
seit 3 Jahren in einer sehr grossen Reihe
von Fällen mit bestem Erfolge angewendet
habe.
Nachdem ich mit Jodoformgazetamponde
mich oft vergeblich abgequält hatte, die
angegebene Art der Tamponade aber zu¬
weilen trotz hinreichender Uebung wegen
allzugrosser Empfindlichkeitmancher Frauen
mir versagte, verfahre ich jetzt derart, dass
ich mir schmale, lose Wattestreifen ab-
kochen lasse und hierzu vor dem Gebrauche
das nöthige Lysol oder Lysoform zusetze.
Mit diesen triefenden, schlüpfrigen, anti-
und aseptischen Streifen lässt sich auf
dem Querbett mit einem Rinnenspekulum
ausserordentlich rasch und absolut schmerz¬
los eine noch dichtere, nicht drückende
Tamponade der Vagina erzielen, mit der
man die Patientinnen, wenn nöthig, sogar
! ) Vergl. Therapie der Gegenwart 1901, No. 1.
in beschränktem Maasse ihrer Arbeit nach¬
gehen lassen kann.
Dabei fällt beim Wechseln des Tampons
noch auf, dass der üble Geruch, der bei
der Anwendung trockener Tampons natur-
gemäss nach 24stündigem Liegenlassen
durch Urindurchfeuchtung und unter Ein-
wirkun g der Scheidenkeime sich einstellt, und
wohl auch gerade in dieser Zeit als Zeichen
von Fäulniss in dem gestauten Scheiden¬
sekret und menstruellen Blut recht uner¬
wünscht ist, fehlt.
In gleicher Weise verwende ich die
Watte statt mit Lysollösung mit Glycerin
getränkt mit sehr gutem Erfolge bei den
verschiedensten gynäkologischen Er¬
krankungen. Einziger Nachtheil ist, dass
die Tamponade nur in den Händen
des Arztes eine brauchbare ist und auch
nur von diesem mit Spekulum und Korn¬
zange allerdings wieder sehr leicht und
im Gegensatz zu den gerollten Tampons
schmerzlos entfernt werden kann. Mit
dem Einlegen der Tampons durch Heb¬
ammen habe ich nur die schlechtesten Er¬
fahrungen gemacht.
Für die Redaction verantwortlich: Frof. G. Klemperer in Berlin. — Verantwortlicher Redactenr tür Oesterreich-Une-arn:
Kugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Wien und Berlin.
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1903
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer Oetober
ln Berlin. V^iuuei
Nachdruck verboten.
Aus der UL medicinischeu Klinik der Universität Berlin.
(Director: Oeheimr&tli Prof. Dr. Senator.)
Zur Frage der Kochsalz- und Flüssigkeitszufuhr bei Herz-
und Nierenkranken. 1 )
Von Professor H. StraUSS, Assistent der Klinik.
Im Mai ds. J. habe ich in dieser Zeit¬
schrift für die Behandlung von Nephritikern,
bei welchen nephrogene Hydropsieen vor¬
liegen oder drohen, eine Einschränkung
der Kochsalzzufuhr und eine Anregung
der Kochsalzausfuhr empfohlen. Dasselbe
haben inzwischen auch Widal und Javal 2 )
für die genannten Zustände bei Nephritiden
w ä pr^dominance epitheliale“ gefordert und
es sind M. Achard 8 ) sowie H. Claude im
Verein mit Moog und Maute dieser For¬
derung beigetreten. Bei der genannten
Empfehlung hatte ich seiner Zeit nur solche
Compensationsstörungen von Nephritikern
im Auge, welche nicht cardialen Ur¬
sprungs sind und behielt mir ein bindendes
Urteil bezüglich der Kochsalzzufuhr bei den
cfardialen Compensationsstörungen von
Nephritikern bis zu dem Zeitpunkte vor, wo
meine damals im Gange befindlichen Unter¬
suchungen bei cardialen Hydropsieen einen
grösseren Umfang erreicht haben. Das
scheint mir jetzt der Fall, und ich möchte
mir deshalb heute erlauben, Ihnen einige Ge¬
sichtspunkte zu unterbreiten, die sich mir
hierbei aus meinen eigenen diesbezüglichen
Untersuchungen sowie aus der Betrachtung
einschlägiger in der Literatur vorhandener
Versuchsprotocolle — so vor allem von v.
Koranyi, 4 ) Lindemann, 5 ) M. Senator, 6 )
Steyrer, 7 ) Loeper, 8 ) u. A. — ergeben
haben, um an der Hand derselben einige
l ) Nach einem auf der diesjährigen Naturforscher-
Versammlung zu Cassel gehaltenen Vortrag.
Widal und Javal, Soc. medicale des höpi-
taux, Sitzung vom 26. Juni 1903.
3 ) M. Achard und H. Claude ibid.
4 ) v. Koranyi, Ztschr. f. klin. Med. Bd. 33 und
folgende.
M. Lindemann, Dtsch. Arch. f. klin. Med.
Bd. 65.
6 ) M. Senator, Deutsche med. Wochenschr.
1900, No. 3.
7 ) Steyrer, Hoffmeister's Beiträge, Bd. II.
8 ) Loeper, Mdcanisme regulateur de la com*
position du sang. Paris 1903. G. Steinheil.
Anm.: Zur Erleichterung des Verständnisses
benütze ich die Ausdrücke Hypo- und Hyper*
für die procentualen Werte und die Ausdrücke
Oligo- und Po ly- für die Gesammtwerte.
Digitized by Google
Fragen des Kochsalz- und Flüssigkeits¬
stoffwechsels bei vorhandenen oder
drohenden cardialen Hydropsieen von
Herz- und Nierenkranken kurz zu be¬
sprechen.
Wie ich schon früher auf Grund fremder
und eigener Untersuchungen ausführte, ist
das Characteristicum des Urins bei cardi¬
alen Hydropsieen in der Oligohydrurie
sowie in einem normalen oder eventuell
sogar leicht erhöhten procentualen Koch-
salzgehalt (Euchlorurie oder Hyper¬
chlor urie) gegeben, während wir bei re¬
nalen Hydropsieen meist eine nur weniger
erniedrigte Urinmenge und einen stär¬
ker erniedrigten procentualen Koch¬
salzgehalt antreffen. Dies ist wenigstens
im allgemeinen das Verhalten solcher
Fälle, bei welchen die Compensations-
störung einen gewissen mittleren Grund
nicht überschritten hat. Ist dagegen die
Compensationsstörung eine maximale, so
finden wir meistens — wenn auch nicht
ohne Ausnahme — bei beiden Formen
die Verbindung von Oligohydrurie mit
Hypochlorurie. Betrachten wir indessen die
Frage der Gesammtausfuhr des Koch¬
salzes, so liegen die Dinge etwas anders,
denn wir finden hierbei, dass auch bei
nicht maximalen Formen von car-
dialer Compensationsstörung trotz
normaler Werthe für den procen¬
tualen Kochsalzgehalt die Gesammt¬
ausfuhr des Kochsalzes infolge der
Oligohydrurie häufig erniedrigt ist.
Wir haben also bezüglich der Gesammt¬
ausfuhr des Kochsalzes auch bei
nicht maximalen Formen von cardialer
Compensationsstörung ein ähnliches
Verhalten wie bei nicht maximalen
Formen von renaler Compensations¬
störung, nur ist die Ursache dieses
Verhaltens in beiden Fällen eine
verschiedene. •
Die hier ausgesprochenen Sätze grün¬
den sich zunächst auf die Beobachtung
zahlreicher Fälle von Herzmuskelerkran-
55
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
434
Die Therapie der Gegenwart 1903.
1
kung in den verschiedensten Phasen
der Erkrankung sowohl unter Berück¬
sichtigung des innerhalb 24 Stunden aus¬
geschiedenen Urins als unter Benutzung
des von mir empfohlenen „Wasserversuchs"
und „Kochsalzversuchs“ 1 ). Von alimen¬
tären Kochsalzversuchen habe ich auch
noch solche von Steyrer und Loeper
mitbenutzt. Auch diese haben ergeben,
dass bei cardialen Compensations-
störungen die Steigerung der Koch¬
salzausfuhr im Urin unter dem Ein¬
fluss einer Kochsalzzulage zur Nah¬
rung meist geringer ausfällt, als bei
Gesunden oder bei denselben Herz¬
kranken im Stadium vorhandener
Compensation. Ich lege gerade auf die
zuletzt genannte Thatsache besonderen
Wert — sie konnte auch bei den ohne
Kochsalzzulage ausgeführten Versuchen
häufig constatirt werden und trat besonders
deutlich in je einem von mir und von
Loeper bei paroxysmaler Tachycardie
während des Anfalls und nach demselben
ausgeführten Versuche zu Tage — und
habe gerade mit Rücksicht auf die Noth-
wendigkeit, den Einfluss möglichst ver¬
schiedener Phasen derselben Krank¬
heit auf die Ausscheidungen im Urin zu
studiren, den hier geschilderten Versuchs¬
modus gewählt. Weiss man doch beim
Beginne von Stoffwechselversuchen, selbst
wenn diese Wochen umfassen, nie im Vor¬
aus, in welche Phase der Functionsstörung
man später einen Einblick bekommt und
haben mich doch — soweit renale Compen-
sationstörungen hier in Frage kommen,
— frühere Versuche darüber belehrt,
dass der Ausfall des Versuches in solchen
Fällen weit mehr von Art und Grad der
Compensationsstörung als (im Gegensatz
zur Zeit vorhandener Compensation)
von der Nahrungszufuhr beeinflusst wird.
Wenn ich das z. Z. vorliegende Material
zusammenfassend betrachte, so besagen die
derzeit vorliegenden Thatsachen aller¬
dings zunächst noch nichts Bestimmtes be¬
züglich der Frage, ob die Verminderung
der Kochsalzausscheidung bei cardialen Hy-
dropsieen eine di recte oder eine in-
directe Folge der Compensationstörung
ist. Denn gerade bei cardialen Compen-
sationsstörungen muss man besonders
gründlich die Frage erwägen, ob nicht die
aus der Oligohydrurie entstehende
Flüssigkeitsretention im Organismus
auf iirdirectem Wege eine Zurückhaltung
von Kochsalz veranlasst. Diese Frage
\) Cfr. H. St rau ss, Ztschr. f. klin. Med. Bd. 47.
October
muss man für die cardialen Compensadons-
störungen ohne Weiteres bejahen, aber
trotzdem ist die andere Frage immer noch
berechtigt, ob bei cardialen Compensations-
Störungen daneben noch eine directe
Kochsalzretention möglich oder wahr¬
scheinlich ist. In der That bin ich nach
Erwägung aller in Betracht kommenden
Momente vorerst geneigt, neben einer bei
cardialen Hydropsieen durch Flüssigkeits¬
retention bedingten indirecten Kochsalz¬
retention auch eine directe Kochsalzreten¬
tion anzunehmen und zwar vor allem auf
Grund folgender Betrachtung. Käme eine
directe Kochsalzretention nicht vor, so
wäre bei der Energie, mit welcher die
zurückgehaltene Flüssigkeit das verfügbare
Kochsalz zur Erzielung des normalen pro-
centischen Kochsalzgehalts der Gewebs¬
flüssigkeit an sich reisst, kaum zu erwarten,
dass die Gewebe von Patienten, die an
länger dauernden cardialen Compensations-
Störungen gestorben sind, reicher an
Kochsalz sind, als es der Norm entspricht
Das ist aber nach den bis jetzt vorliegen¬
den — allerdings noch etwas spärlichen —
Untersuchungen thatsächiich derFall. Denn
es fand Loeper in dem:
Muskel¬
fleisch
Herz¬
fleisch
Gehirn
Fett
im Fall VI ohne Hy¬
%
%
%
%
dropsieen ....
im Fall VII mit Hy¬
0,383
—
0,310
—
dropsieen ....
im Fall III mit Hy¬
0,353
—
—
0,278
dropsieen ....
im Fall XIII mit leich¬
0,410
0,313
—
—
ten Hydropsieen .
—
—
—
0,370
und ich selbst fand bei 2 Fällen von car-
dialer Compensationsstörung mit Oedemen
in dem einen Falle in den Muskeln 0,340 %,
in dem anderen Falle in der Leber 0,308 %.
Dies ist aber erheblich mehr, als der Norm
entspricht. Denn Hammarsten 1 ) giebt für
den Kochsalzgehalt der Muskeln 0,04 bis
0,1 % an, Loeper bemerkt, dass er in
den Geweben von 2 Personen, die eines
plötzlichen Todes gestorben sind, 0,192%
Kochsalz gefunden habe und Bohne 2 )
fand bei 3 Fällen von Phthisis pulm. bezw.
Care, mammae im Durchschnitt nur 0,07 %
Kochsalz. Weiterhin wäre in Anbetracht
der bekannten Zähigkeit, mit welcher der
zur Kochsalzsparung gezwungene Organis¬
mus das Kochsalz festhält, die von mir
und auch von Anderen wiederholt gemachte
Beobachtung etwas auffallend, dass auch
*) Hammarsten, Lehrb. der Physiolog. Chemie
4. Aufl.
*) Bohne, Fortschr. der Med. 1897, No. 4.
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Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
October
Die Therapie der Gegenwart 1903.
435
nach länger dauernden cardialen Compen-
sationsstörungen Herztonica oder Diuretica,
so insbesondere Digitalis, neben der Ver¬
mehrung der Wasserausscheidung häufig
eine relativ noch viel stärkere Koch¬
salzausscheidung erzeugen und dass
gerade diejenigen Diuresen, welche
mit einer besonders starken Koch¬
salzausscheidung einhergehen, sich
auch hier für die Entfernung von
Hydropsieen besonders leistungs¬
fähig erweisen. Die genannten Erwä¬
gungen scheinen mir die Annahme zu
rechtfertigen, dass wir bei cardialen Hy¬
dropsieen ausser mit einer indirecten Koch¬
salzretention auch mit der Möglichkeit
einer directen Kochsalzretention rechnen
dürfen. In diesem Sinne haben sich auch
Mercklen, Achard und Widal in der
Soci£t£ des höpitaux 1 ) jüngst ausgesprochen
und es haben speciell die Letzteren Pleura¬
ergüsse von Herzkranken unter dem Ein¬
fluss grosser Kochsalzdosen ansteigen
sehen.
Freilich dürften solche Kochsalzreten¬
tionen bei cardialen Hydropsien seltener Vor¬
kommen und da, wo sie Vorkommen, meist
auch weniger ausgeprägt sein, als bei den
renalen Hydropsieen, gerade so wie auch
die an dem specifischen Gewicht oder dem
Eiweiss- bezw. dem Gesammtstickstoffgehalt
des Blutserums gemessene Hydraemie,
die in diesem Zusammenhänge besonders
interessirt, bei cardialen Hydropsieen sel¬
tener und weniger ausgeprägt zu sein
pflegt, als bei den renalen. Es ist wohl
von einer Reihe von Autoren, so schon
von Becquerel und Rodier, 2 ) später
besonders von Grawitz, 3 ) Askanazy 4 )
u. A., in einem Falle auch von Kosslei 5 ) (in
2 anderen aber nicht) auch bei Fällen von
cardialerCompensationsstörung eine Herab¬
setzung der Serumdichte constatirt worden,
doch war dieselbe meist nicht so stark
ausgeprägt und auch nicht so häufig vor¬
handen, als man dies bei der Untersuchung
des Blutserums bei Fällen voh renaler
Compensationsstörung beobachten kann.
Da Kraus 6 ) die hier in Betracht kommen¬
den Verhältnisse erst jüngst hier einer
eingehenden kritischen Beleuchtung unter¬
worfen hat, so will ich mich nach dieser
Richtung hin hier nur auf die Wieder¬
gabe einiger eigener Beobachtungen be¬
schränken. Dieselben erstrecken sich auf
durch Venenpunction gewonnenes Blut,
dessen Serum nach 24stündigem Absitzen
im Eisschrank zur Untersuchung gelangte.
Fall ^ pcc * Ges. N. Rest. N. *
mg
mg
Be. . . .
_
1372
68
_
T. . . .
. . . 1023
980
38
—
R. . . .
. . . 1025
1316
—
—
Sch. . .
. . . 1021
892
70
— 0.59»
Sg. . . .
. . . 1027
1510
47
— 0.54 0
Bl. . . .
. . . 1025
1148
100
- 0,560
M. . . .
. . . 1024
1120
—
— 0.57 0
Bestimmungen des Eiweissgehaltes des
Blutserums durch Bestimmung des Bre¬
chungsvermögens, die ich in neuester
Zeit mit dem „Abb^’schen Refractometer“
ausgeführt habe — es genügt zur Bestim¬
mung ein einziger grosser Blutstropfen
— haben noch nicht einen solchen Umfang
erreicht, dass ich die mit dieser compen-
diösen und nach meinen bisherigen Erfah¬
rungen zur Bestimmung gröberer Diffe¬
renzen ausreichenden Methode gewonnenen
Ergebnisse in diesem Zusammenhänge
schon verwerten könnte. Aus meinen
eigenen hier erwähnten Untersuchungen
möchte ich aber das schliessen, was be¬
reits Kraus betont hat, dass man bei car¬
dialen Hydropsieen nur zuweilen ein re¬
lativ niedriges specifisches Gewicht und
relativ niedrige Werthe für den Gesammt-
stickstoff beobachten kann.
Wie ich hier nur ganz nebenbei be¬
merken will, schwankten meine Werthe für
die Gefrierpunktserniedrigung inner¬
halb der Grenzen, wie sie nach meinen
Beobachtungen unter Umständen auch ein¬
mal bei Gesunden getroffen werden können.
Wenn sie auch für die hier vorliegende
Frage weniger interessiren, als das specifi-
sche Gewicht und der Gesammtstickstoff,
so möchte ich doch nicht unerwähnt lassen,
dass ich die Gefrierpunktserniedrigung von
hydropischen Flüssigkeiten bei cardialen
Compensationsstörungen einige Male ab¬
norm gering fand. Da auch Loeper Aehn-
*) Soc. des höpitaux de Paris, Juni 1903.
*) Becquerel und Rodier, Untersuchungen
Ober die Zusammensetzung des Blutes in gesunden
und kranken Zuständen, Erlangen 1845.
3 ) Grawitz, Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd.54
u. a. a. O.
4 ) Askanazy, Deutsch. Arch. f. klin. Med.
Bd. 59.
6 ) Kossler, Centralbl. f. innere Med. 1897.
6 ) Kraus, Therapie der Gegenwart, Juli 1903.
An in.: Die ersten 5 Fälle sind bereits in meiner
Monographie: .Ueber die chronischen Nierenentzün¬
dungen etc.*, Berlin, 1902, S. 115 angegeben.
Anm.: Bei den betreffenden Versuchen ging ich
so vor, dass ich einen grossen Blutstropfen in eine
Glascapillare einsog und diese oben und unten zu¬
schmolz. Nach 24 stündigem Stehen im Eisschrank
fand sich meistens in der Capillare eine zur Vor¬
nahme der Untersuchung ausreichende Menge von
Serum vor.
55*
Original frorri
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
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October
4 36
Die Therapie der Gegenwart 1903.
liches beobachtet hat, so gebe ich die be¬
treffenden Befunde hier wieder, ohne dass
ich sie vorerst weiter erklären will.
Eigene Beobachtungen: t
L. hydropische Flüssigkeit . —0.49°
Sch. „ . . — 0,51 0
G. Hydrothorax.—0,52°
Loeper fand:
Fall XX: Spinalflüssigkeit . — 0,57 °
- XIX: » • -°AV*
. XVIII: „ . — 0,53°
„ VI: hydropische Flüssig-
" keit.— 0,42 0
„ VIII: hydropische
Flüssigkeit.
n XVI: hydropische
Flüssigkeit .
” g*. Ascites . .
— 0,48°
— 0,44 0
ähnlich
dem Normalen
NaCl
%
?
0.56
0,65
0,675
0,715
0,705
0,570
0,880
0,675
0,650
0.575
Die hier mitgetheilten Thatsachen und
hier besprochenen Erwägungen dürften
nicht ganz ohne Bedeutung für die
Frage unseres therapeutischen Handelns
sein. Für eine solche Betrachtung scheint
es mir aus practischen Gründen wichtig,
die Fälle mit und ohne Hydropsieen ge¬
trennt zu besprechen. Bezüglich der Fälle
von renaler Hydropsie möchte ich hier nur
das wiederholen, was ich schon früher aus¬
geführt habe, nämlich, dass mir hier bei
annähernd normaler Urinmenge eine Reduk¬
tion der Kochsalzzufuhr wichtiger zu sein
scheint, als eine Reduction der Wasserzufuhr.
Die letztere kann allerdings neben dererste-
ren bei Fällen von maximaler Compensations-
störung, beim „Torpor renalis“, also dann in
Frage kommen, wenn nur sehr geringe
Mengen eines äusserst kochsalzarmen
Urins abgeschieden werden. Doch kann
in solchen Fällen unter Umständen auch
die Zufuhr normaler oder reichlicher
Wassermengen nutzbringend oder zum
mindesten nicht schädlich wirken. Ich
habe speciell einen derartigen Fall in Er¬
innerung, bei welchem ich nach voraus¬
gegangener mehrtägiger hochgradiger Oli¬
gurie von der Anwendung Wernitz’scher
Eingiessungen 2 ) — allerdings nicht mit phy¬
siologischer Kochsalzlösung, sondern mit
reinem Wasser — einen sehr günstigen Ein¬
fluss auf die Diurese und den ganzen
Krankheitsprocess beobachtet habe. Man
reducire also auch beim „Torpor renalis"
nicht schematisch die Flüssigkeitszufuhr,
sondern individualisire in den einzelnen
Fällen.
Bei den durch cardiale Compen-
sationsstörung entstandenen Hy¬
dropsieen scheint es mir nach den hier
H. Strauss, Ther. der Gegenwart. Mai 1903.
3 ) lieber die Technik derselben, cf. Wernitz,
Centralbl. f. Gynäkologie 1902, No. 6 und 23 u. a. a. O.
gemachten Ausführungen in Ueberein-
stimmung mit herrschenden Anschauungen
(cf. hierüber besonders die jüngst hier
erschienene Arbeit von Kraus) geboten,
das Hauptaugenmerk auf eine Reduction
der Flüssigkeitszufuhr zu richten. Aber
doch scheint mir auch hier die Kochsalz¬
zufuhr wenigstens nach zwei Richtungen
einer gewissen Beachtung werth. Einmal
scheint mir mit Rücksicht auf das Gesagte
auch bei cardialen Compensationsstörungen
die Verhütung eines jeden Uebermaases
in der Kochsalzzufuhr am Platze, und eine
Reduction der Kochsalzzufuhr wenigstens in
den Fällen von maximaler Compensations-
störung geboten, bei welchen der Urin
einen nur minimalen procentischen Koch¬
salzgehalt zeigt. Inwieweit auch noch in
anderen Fällen eine zielbewusste Reduction
der Kochsalzzufuhr am Platze ist, lässt
sich z. Zt. nicht bestimmt sagen, da unsere
derzeitigen klinisch-experimentellen Me¬
thoden zur exacten Feststellung des je¬
weiligen Anteiles derdirecten und indirekten
Kochsalzretention im concreten Falle
recht dürftig sind.
Was die Fälle von Nieren- und Herz¬
erkrankungen ohne Hydropsieen be¬
trifft, so möchte ich bezüglich der Koch¬
salzzufuhr bei Nierenkranken auf das
verweisen, was ich schon früher in dieser
Zeitschrift ausgeführt habe. Für eine be¬
stimmte Regelung der Kochsalzzufuhr bei
gut compensirten Herzkranken haben
die hier mitgtheilten Untersuchungen keine
speciellen Gesichtspunkte ergeben. Bezüg¬
lich der Flüssigkeitszufuhr bei Nieren¬
kranken muss ich auch hier den von
mir schon an verschiedenen Stellen ver¬
tretenen Standpunkt wiederholen, dass
man sich in Fällen von Nephritis, in
welchen nicht specielle Symptome
von Seiten des Circulationsapparates
zur Vorsicht mahnen, besinnen soll, ehe
man eine länger dauernde Reduction der
Flüssigkeitszufuhr durchführt. Ich behaupte
dies nicht bloss mit Rücksicht auf die von
mir an anderer Stelle betonte und be¬
gründete Notwendigkeit, Nephritikern das¬
jenige Quantum von Wasser zur Verfügung
zu stellen, dessen sie zur Erzielung der für
sie nützlichen „compensatorischen“ Poly-
hydrurie bedürfen, sondern auch deshalb,
weil ich mit Krehl 1 ), Romberg 2 ) u. A.
glaube, dass die Gefahren, welche eine
1) Krehl, Herzmuskelerkrankungen: in Noth¬
nagels Specieller Pathologie und Therapie, Wien,
Hölder.
Romberg, Erkrankungen des Herzens in.
Ebstein-Schwalbes Handbuch, Stuttgart, Enke.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Octobcr
437
Die Therapie der Gegenwart 1903.
länger dauernde Zufuhr normaler oder das
normale Maass etwas übersteigender Flüs¬
sigkeitsmengen dem Herzen bringt, noch
an gar manchen Stellen überschätzt werden.
Ohne dies weitläufig zu begründen, möchte
ich in diesem Zusammenhang nur an das
Herz bei Diabetes insipidus und an die
nicht gerade seltenen Fälle von Diabetes
mellitus — es sind dies fast 7 / g aller ob-
ducierten Fälle — erinnern, bei welchen
trotz lange bestehender Polyhydrurie (und
sonstiger für das Herz ungünstiger Be¬
dingungen) Herzveränderungen ausbleiben.
Ferner möchte ich hier erwähnen, dass ich
die mit den v. Basch'sehen Sphygmomano¬
meter gewonnenen Ergebnisse von Rieder
und von Maximowitsch 1 ) durch Unter¬
suchungen, die Herr Dr. Ekgren auf meine
Veranlassung j üngst mit dem G ä r t n e r sehen
Tonometer ausgeführt hat, sowohl für ge¬
sunde als auch für kranke Herzen bestäti¬
gen kann. Denn auch bei zwei Fällen der
letzteren Art liess die Zufuhr von Va bezw.
1 1 Wasser auf den leeren Magen eine
deutliche Steigerung des Blutdrucks ver¬
missen. Weiterhin muss ich auch nach
den Erfahrungen, welche ich bei meinem
Falle von Fistel des Ductus thoracicus 3 )
über die Veränderungen des Chylus
unter dem Einfluss alimentärer Eingriffe
gemacht habe — ich habe hier be¬
sonders den „Wasserversuch“ im Auge —,
die Möglichkeit einer plötzlichen Ueber-
schwemmung des Kreislaufs für sehr un¬
wahrscheinlich bezeichnen und sehe darum
die Möglichkeit einer eventuellen Schä¬
digung des Herzens mehr in den durch
eine zu grosse Wasserzufuhr gesteigerten
Anforderungen an die Gesammtleistung,
als in der Wirkung acuter Insulte ge¬
geben. Nach der hier genannten Richtung
war mir jüngst eine Patientin mit einer nicht
gerade ganz leichten Form von chronischer
Nephritis (starke Blässe, zahlreiche Cylin-
der, 3 %o Albumen bei 4 1 Urin) von einem
gewissen Interesse, bei welcher von anderer
Seite die tägliche Urinmenge durch Wer-
n|itzsche Eingiessungen wegen eines gynae-
cologischen Leidens mehrere Monate
lang von U/a I auf 3—4 1 erhöht worden
war, und bei welcher ich nicht die ge¬
ringsten Störungen von seiten des Herzens
feststellen konnte. Da bei den Wernitz-
schen Eingiessungen der Uebertritt von
Flüssigkeit in die Säfte nur ganz allmählich
erfolgt und es dem Darm ’völlig überlassen
bleibt, soviel aufzunehmen, als es der je¬
weilige FlQssigkeitsgehalt des Organismus
und der Zustand des Circulationsapparates
gestattet, so halte ich sie für die Zwecke
der Durchspülung auch bei Nephritikem
für recht geeignet. Allerdings rate ich
hier von einem Kochsalzzusatz — zum
Mindesten bei vorwiegender Parenchym¬
erkrankung — Abstand zu nehmen.
Wenn ich bei der Wasserzufuhr von
Nierenkranken die „Giftgefahr“ im All¬
gemeinen höher einschätze, als die „Herz¬
gefahr“, so kann mir doch nach Allem,
was ich an anderen Stellen über die Not¬
wendigkeit der Herzschonung und Herz¬
kräftigung für alle Formen von Nephritis
geäussert habe, nicht der Vorwurf einer
zu geringen Bewerthung der Herzschonung
gemacht werden. Habe ich sie doch für
die Behandlung von Nephritikem in jeder
Form empfohlen, nur nicht in derjenigen,
in welcher ‘ihre Durchführung unter Um¬
ständen einmal zum Anlass einer thera¬
peutischen Unterlassungssünde werden
könnte.
| Dabei Herzkrankenmitgut erhaltener
Compensation eine specielle Indication
einer genügenden bezw. reichlichen Durch¬
spülung nicht existiert, so sinken hier
die Bedenken, welche vom Standpunkte
der Blutreinigung gegen den Versuch
einer länger dauernden Reduktion der
Flüssigkeitszufuhr zu erheben sind. In¬
wieweit aber bei gut compensierter Herz-
thätigkeitlediglich aus prophylactischen
Gründen zu einer solchen ein begründeter
Anlass vorliegt, ist erst noch zu discutiren.
Jedenfalls reicht aber das zur Erörterung
dieser Frage z. Zt. vorliegende Material
nach dem übereinstimmenden Urteil von
Krehl, R.'omberg und Kraus zur Be¬
gründung einer länger dauernden Flüssig¬
keitsreduktion auch hier nicht in dem Grade
aus, dass man ein Recht hätte, von den
Patienten hierfür irgend welche Entsagun¬
gen zu verlangen oder sie auch nur in
ihrem subjectiven Behagen hierdurch
irgendwie ernstlich zu stören.
*) Rieder und v. Maximowitsch, Deutsch. Arch.
f. Klin. Med., Bd. 46.
*) H. Stra uss, Deutsche med. Wochenschrift.
1902, No. 37 und 38.
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Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
438
Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
Aus der medicinischen Klinik der Universität Halle.
(Director: Prof. Dr. von Mering.)
Der Einfluss des Veronal auf die Stickstoffausscheidung:
beim Menschen.
Von Dr. med. Curt Trautmann.
Das Veronal, dem die Formel CO*
(NH*CO)a,C(C 2 H 5)2 zukommt, ist, seitdem
E. Fischer und J. v. Mering seine hyp¬
notische Wirkung vor einigen Monaten
entdeckt, von zahlreichen Klinikern und
Aerzten eingehend geprüft und überein¬
stimmend als ein ungemein brauchbares
Schlafmittel bezeichnet worden. Während
man das Veronal, wie gesagt, am Kranken¬
bett vielfach erprobt und auch dem Ein¬
fluss des Mittels auf den Circulations- und
Respirationsapparat seine Aufmerksamkeit
zugewandt hat, ist dasselbe bis jetzt hinsicht¬
lich seiner Wirkung auf die Eiweisszer¬
setzung im Organismus nicht Gegenstand
exacter Untersuchung gewesen. Es schien
mir deshalb von Interesse, durch Versuche
am Menschen die Frage zu entscheiden,
ob unter dem Einfluss des Veronal die
Stickstoffausscheidung im Harn eine Ver¬
änderung erleide oder nicht. Zur Beant¬
wortung dieser Frage brachte ich mich mit
folgender Nahrung in’s Stickstoflgleich-
gewicht. Es wurden pro Tag genommen:
8 Uhr früh:
15 g Kaffeebohnen auf250ccm Wasser.
50 ccm Milch.
50 g Weissbrot.
10 Uhr Vormittags:
100 g Schwarzbrot.
20 g Wurst.
20 g Butter.
20 g Käse.
1 Uhr Mittags:
250 g Fleisch gebraten in 25 g Butter,
dazu 4 g Salz.
70 g Schwarzbrot.
400 ccm Bier.
3 Uhr:
250 ccm Kaffee.
50 ccm Milch.
71/a Uhr:
200 g Schwarzbrot.
60 g Wurst.
25 g Butter.
30 g Käse.
400 ccm Bier.
Diese Nahrungsmittel enthalten, wie aus
folgender Zusammenstellung, nach den
Tabellen von Voit, König und Rubner
berechnet, ersichtlich ist:
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117 g Eiweiss = 18,7 g Stickstoff.
140 g Fett.
311 g Kohlehydrate.
26 g Alkohol
und liefern 2654 Calorien.
g
Ei¬
weiss
g
Fett
g
Kohle¬
hydrate
Ca¬
lorien
Kaffee . .
30,0
_
.
.
Wasser . .
1200,0
—
—
—
Salz . . .
4,0
—
—
—
—
Bier . . .
800,0
4,0
—
40,0
182
Milch . . .
100,0
3,1
3,5
4,5
65
Schwarzbrot
370,0
23,72
—
194,5
895
Weissbrot .
50,0
3,41
0,5
27,75
145
Rindfleisch.
250,0
52,5
2,25
—
238
Wurst . .
80,0
14,0
36,72
—
420
Butter . .
70,0
—
60,9
0,35!
570
Käse . . .
1 50,0
16,35
10,29
3,4
144
Das Fleisch wurde stets sorgfältig von
Sehnen und Fett befreit; da immer ein
möglichst wenig durchwachsenes Stück aus
der Küche geliefert wurde, bot dieses Ver¬
fahren keine Schwierigkeit dar.
Die Milch wurde, um einem Wechsel
in der Beschaffenheit vorzubeugen, als
Kindermilch bezogen.
Der Versuchstag begann um 8 Uhr
Morgens und endete um 8 Uhr am andern
Morgen. Der sämmtlich während dieser
Zeit gelassene Urin wurde gesammelt; bei
der Stuhlentleerung wurde darauf Rück¬
sicht genommen, dass ein Verlust an Urin
vermieden wurde.
ImUebrigen lebte Verfasser während der
Versuchszeit ganz wie sonst und ging ins¬
besondere seinen gewohnten Beschäfti¬
gungen nach.
Der Stickstoff im Urin wurde täglich
nach der Methode von Kjeldahl bestimmt.
Die folgende Tabelle enthält die wäh¬
rend der neun tägigen Versuchsreihe ge¬
wonnenen Resultate.
Der Gehalt der täglichen Nahrung be¬
trägt, wie angegeben, 18,7 g Stickstoff.
Die Versuchsreihe der ersten vier Tage
ergiebt nun im Mittel 17,79 g N im Harn.
Die Differenz erklärt sich, abgesehen von
der geringen Ungenauigkeit der Tabellen¬
werte, durch den Verlust an Stickstoff mit
dem Koth.
Am 5. Versuchstage wurde Morgens
8 Uhr und Abends 9 Uhr 1 g Veronal ge-
Original fro-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
October
Die Therapie der Gegenwart 1903,
439
Ergcbniss der Stickstoftanalyse des Harns nach Kjeldahl.
Versuchs¬
tag
Urinmenge
in ccm
Spec.
Gewicht
Gesammt-
menge des
Stickstoffs
Mittel
Diffe¬
renz
Bemerkungen
1
1 000
1 025
17,6400|
2
960
1 028
17.41301
4 n na i
Am 5. und 6. Versuchstage wurden
3
1 010
1 027
17,9860|
1 /, /V 1
Morgens und Abends je 1 g Veronal
4
1 225
1 018
18,10421
genommen. Da durch 4 g Veronal
5
955
1 027
17,3810)
0,61 N mehr aufgenommen sind, so
6
1 960
1 014
17,7262 \
16,99
0,79
sind 0,2 g von 16,99 g abzuziehen
7
1 025
1 024
15,8711/
= 16,79 g N. Differenz also 0,99
8
1 280
1 020
17,2012
oder abgerundet 1 g.
9
1 100
1026
17,8640
nommen. Im Urin finden sich 17,3810 g N. düng um 3 g ca 90 g Muskelfleisch, die
Die Differenz gegen den vorhergehenden eingespart wurden, verursacht.
Tag beträgt somit 0,6, gegen das Mittel Im Gegensatz hierzu verursacht Chloral-
der vier ersten Tage 0,4 g. hydrat, wie aus den Untersuchungen von
Am 6. Versuchstage wurden wieder Taniguti und Peiser hervorgeht, eine
Morgens und Abends 1 g Veronal ge- erhebliche Steigerung des Eiweisszerfalles,
nommen. Die nachfolgende Untersuchung während den Disulfonen (Sulfonal, Trional
ergiebt 17,726 g N, gegen das Mittel der etc.) kein Einfluss auf die Stickstoffaus-
4 ersten Tage also 0,06 weniger. Scheidung zukommt; letztere stehen somit
Besonders zur Geltung kommt der gewissermaassen in der Mitte zwischen
eiweissersparende Einfluss des Veronals Veronal und Chloralhydrat.
am 7. Versuchstage, an dem, obwohl Mit Rücksicht auf die Thatsache, dass
kein Veronal mehr genommen wird, die das Veronal durch seine eiweissersparende
Stickstofimenge auf 15,8711 herabgeht. Wirkung den Ernährungszustand günstig
Desgleichen steht der 8. Tag noch etwas beeinflusst, wird man dem Veronal als
unter Veronaleinfluss mit 17,20 g Stick- Schlafmittel den Vorrang einräumen müssen
Stoff und erst am 9. Tage wird mit in den Fällen, in welchen während längerer
17,86 die Höhe der Vortage wieder er- Zeit die Darreichung eines Hypnoticums
reicht. indicirt ist, sowie bei allen Erkrankungen,
Fasst man die beiden Veronaltage und bei welchen erfahrungsgemäss eine Steige-
den ihnen folgenden zusammen, so steht rung des Eiweisszerfalls stattfindet, vor
das Mittel aus ihnen 16,99 g dem der Vor- allem also bei fieberhaften Zuständen, bei
tage mit 17,78 g N gegenüber. Rechnet Erkrankungen, die mit hochgradiger Athem-
man den in 4 g Veronal enthaltenen Stick- noth einhergehen, bei Anämie und zehren-
stoff noch ab, so erhöht sich die Differenz den Krankheiten, besonders Lungentuber-
zwischen Vor- und Veronaltagen auf 0,99 g. kulose, Carcinom und Diabetes mellitus,
Es haben also 4 g Veronal in den 3 Tagen sowie bei Geisteskranken, welche die
eine Verminderung der Stickstoflausschei- Nahrung verweigern.
Zur Therapie der Basedowschen Krankheit.
Von Med.-Rat Dr. Kirilberger-Mainz.
Die Erfahrung, dass die Basedowsche in manchen sonst ganz scharf entwickelten
Krankheit keine so seltene ist, wie man Fällen oft nur schwach angedeutet Ich
früher annahm, muss sich jedem Arzt, möchte dagegen als charakteristische Trias
allerdings nach Gegenden in verschiedenem lieber die Tachycardie, den kurzschlägigen
Maasse, aufdrängen und ist durch die zu- Tremor und die alsbald auftretende Ab-
sammenstellende Arbeit von Linke aus magerung in den Vordergrund gestellt
der Hallenser Klinik mittelst der sich da- wissen, weil dies eben Zeichen sind, die
rauf beziehenden Literatur zahlenmässig niemals fehlen. An sie schliessen sich
bestätigt worden. Es würde dies noch dann mehr oder minder ausgesprochen die
mehr hervortreten, wenn nicht ein Theil anderen Symptome, die Struma, der Ex-
der Aerzte bei der Stellung der Diagnose: ophthalmus, mit dem Stellwag’schen, das
Morbus Basedow an der alten Symptomen- Graefe sehe und Moebius'sche Symptom,
trias: Exophthalmus, Struma, Tachycardie die allerdings recht häufige Schlaflosig-
festhielte. Aber gerade der Exophthalmus keit, der veränderte elektrische Leitungs¬
fehlt recht häufig und auch die Struma ist widerstand der Haut u. s. w. an. Bezüg-
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
440
Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
lieh der Grundursache aller dieser Er¬
scheinungen ist wohl jetzt allgemein der
Moebius’sche Standpunkt acceptirt, der
dieselbe bekanntlich in einer vermehrten
krankhaften Thätigkeit der Schilddrüse
sieht, wobei es sich nach neueren Unter¬
suchungen von Ehrig aus der Rostocker
chirurgischen Klinik um einen aus den
überfüllten Capillaren stammenden und
quantitativ vermehrten, im Uebrigen aber
normalen Follikelinhalt, mit einer von der
arteriellen Hyperaemie abhängigen gestei¬
gerten epithelialen Neubildung handelt.
Unentschieden mag es dabei bleiben, ob
die Thätigkeit der Drüse in der Hervor¬
bringung von dem Stoffwechsel vorstehen¬
den Substanzen besteht, oder ob es sich
um solche handelt, welche die aus dem
Stoffwechsel resultirenden schädlichen End¬
produkte durch Bindung unschädlich macht
(Blum). Erstere Annahme erscheint mir
allerdings als die wahrscheinlichere, weil
sie auch besser die weiterhin entwickel¬
ten therapeutischen Maassnahmen erklär¬
lich macht. Nur Ostwald in Zürich will
neuerdings die Erkrankung der Schild¬
drüse nicht als Ursache, sondern als Folge
der Basedow’schen Krankheit angesehen
wissen. Jedenfalls steht aber soviel fest,
dass die Entfernung der erkrankten Schild¬
drüse auf operativem Wege den Sym-
ptomencomplex des Basedow im wahren
Sinne des Wortes abschneiden kann. Bei
vier aus meiner Praxis operirten Fällen
ging der Puls oft schon direct nach der
Operation von 120—140 Schlägen auf die
Zahl von 80 bis 90 herunter und auch die
Abmagerung sistirte nicht bloss, sondern
eine Patientin, deren Körpergewicht von
90 auf 56 kg gesunken war, erreichte
innerhalb acht Monaten nach der Operation
wieder ihre frühere Körperfülle. Gerade
bei dieser Patientin, bei der die Struma
besonders stark entwickelt gewesen, hatte
ich die auch von Anderen gemachte Beob¬
achtung constatiren können — es war noch
in der Vor-Baumann’sehen Periode —-
dass eine eingeleitete Jodcur fast mit der
Sicherheit eines Experimentes bei bereits
eingetretener Besserung einen schweren
Rückfall hervorrief, wie dies ja auch später
nach der Baumann’schen Entdeckung
beim Einnehmen von Thyreoid-Pastillen
constatirt werden konnte. Die Drüse pro-
ducirt eben in ihrer krankhaften Thätig¬
keit neben Anderem auch Jod in ver¬
mehrter Menge, wie dies Baumann bei
einer ihm seiner Zeit von mir einge¬
schickten exstirpirten B a s e d o w-Drüse
direct nachweisen konnte. Es lag mir nun
der Gedanke nahe, dass diese vermehrte
Jodproduction neben anderen Drüsenpro¬
dukten zur Hervorrufung einzelner Symp¬
tome, insbesondere der im Verlaufe der
Krankheit stetig auftretenden Abmagerung
beitragen könne und ich versuchte darauf¬
hin, besonders auch mit Rücksicht auf die
ungünstigen Erfahrungen der Jodordination,
ein Jodantidot, das sulfanilsaure Natron,
das ich in Dosen von 10 g, auf den Tag
verteilt, geben Hess. Das Mittel ward
stets sehr gut vertragen, und vermehrte
in allen Fällen den Appetit, die Abmage¬
rung sistirte nicht nur, sondern sämmtliche
Patienten nahmen an Körperfülle bis zu
mehreren Kilo zu. Hand in Hand damit
schwand das die Kranken so sehr be¬
ängstigende Schwächegefühl und machte
im Gegentheil dem Gefühl des subjectiven
Wohlbefindens Platz. Von den weiteren
objectiven Zeichen des Basedow konnte
ich allerdings nur in zwei Fällen ein Zu¬
rückgehen des Kropfes, in allen ein Ruhiger¬
werden des Pulses beobachten, insofern
als sich die Zahl der Schläge aut 100 bis
110 erniedrigte, dabei blieb es aber und
der Tremor ward fast gamicht beeinflusst;
es handelte sich eben nur um eine sym¬
ptomatische Therapie, nicht um eine radicale
Heilung, aber es war doch damit soviel
gewonnen, dass von nun an ein operativer
Eingriff unterbleiben konnte. Im Gegen¬
teil machte sich gerade bei einer Patientin
(deren Mutter auch an Basedow gelitten
hatte und der Krankheit in Folge secun-
dären Herzleidens erlegen war), welcher
wegen ihres jugendlichen Alters von
18 Jahren aus Vorsicht nur eine Struma¬
hälfte exstirpirt worden, und bei der der
Erfolg gegenüber den vier früher radicaler
Operirten gleich Null gewesen war, der
günstige Einfluss der Medication aufs deut¬
lichste geltend. Im Verlaufe zweier Jahre,
in denen das Mittel mit Unterbrechungen
gereicht wurde (in die allerdings auch noch
ein Gebirgsaufenthalt in mittlerer Höhe
fiel), machte die Besserung trotz der erb¬
lichen Belastueg solche Fortschritte, dass
ich schliesslich meine Zustimmung zum
Eingehen der Ehe erteilen konnte, trotz¬
dem von vollkommener Heilung noch
keine Rede war. Es fehlte eben noch das
specifische Mittel. Ob dieses in dem von
Burghart und Blumenthal sowie von
Möbius empfohlenen Rodagen, dem ge¬
trockneten Milchpulver thyreoectomirter
Thiere, oder in dem Merk'schen Thyreoid-
Serum gefunden ist, müssen weitere Prü¬
fungen dieser Mittel zeigen. Ich hoffe,
einen kleinen Beitrag dazu zu liefern. Das
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
October
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Rodagen (in Dosen von 5 —10 g) hat jeden¬
falls meiner Patientin sichtbaren Nutzen
gebracht. Da dasselbe wegen zeitweilig
eintretender Einwirkung auf das Herz nicht
ständig gereicht werden kann, so gab ich
es neben und abwechselnd mit dem sulfa-
nilsauren Natron in Dosen von 5 —10 g
pro die. Die bei der Patientin noch übrig
gebliebenen, wenn auch nur wenig mehr
ausgeprägten Basedowsymptome sind
unterdessen ganz geschwunden, und hält
dieser günstige Zustand bereits durch
Monate hindurch an. Ein zweiter, sehr
ausgesprochener Fall von Basedowscher
Krankheit, den ich auf gleiche Weise be¬
handelte, bekam ich vor ca. D /2 Jahren in
der Tochter eines nach Mainz versetzten
höheren Offiziers in Behandlung. Auch
hier trat nach Anwendung des sulfanil-
sauren Natrons alsbaldige Besserung im
Wohlbefinden und Zunahme des Körper¬
gewichts sowie der Kräfte ein, aber keine
vollkommene Heilung, resp. Schwinden
aller Basedow-Symptome ein; auch hier
hatte das Rodagen in Verbindung mit dem
44!
sulfanilsauren Natron (ebenfalls alternirend
genommen), den gewünschten Erfolg. Die
Struma ist vollkommen geschwunden, eben¬
so der Tremor und der Puls ist von 140
Schlägen nunmehr auf 80 heruntergegangen.
Dieser günstige Zustand hatte zu Beginn
dieses Sommers bereits über mehrere
Monate angehalten, trotzdem habe ich den
Eltern den Rath erteilt, zur weiteren Be¬
festigung der Gesundheit die Tochter noch
einen längeren Sommeraufenthalt im Ge¬
birge (Engelberg) nehmen zu lassen.
Zur Anwendung des Merk’schen Serums
hatte ich bis jetzt keine Gelegenheit, aber
auch keine Veranlassung, weil ich ja mit
der combinirten Behandlung mittelst Ro¬
dagen und sulfanilsaurem Natron zweifel¬
lose günstige Erfolge erzielte.
Wenn ich auch nur über obige zwei
Fälle von Heilung verfüge, so sind sie
doch hinreichend lange beobachtet, um den
im Augustheft der Therapie der Gegen¬
wart von Burghart und Blumenthal ver¬
öffentlichten Fällen ergänzend an die Seite
gestellt werden zu dürfen.
Ueber Thiosinamin und seine Anwendung.
Von Dr. Alfred Lewandowskl-Berlin.
Nicht über ein neues Mittel soll in den
folgenden Zeilen berichtet, nicht gegen
bestimmte Krankheiten ein Specificum
empfohlen werden, welches die bisher ge¬
brauchten Medicamente zu verdrängen be¬
rufen sein könnte, nur neubelebt und
wiedererweckt werden soll das Interesse
der ärztlichen Welt für einen chemischen
Stoff* von eigenartiger Wirkung, der vor
nunmehr elf Jahren von autoritativer Stelle
in die Medizin eingeführt, seit dieser Zeit
auch von manchen Seiten beachtet, benutzt
und bis auf unsere Tage empfohlen ist,
ohne, wie es scheint, den ihm gebührenden
Platz in der „Therapie der Gegenwart"
errungen zu haben.
Dieses Mittel, das Thiosinamin ist, wie
soeben gesagt, nicht als ein Mittel gegen
Krankheiten zu betrachten, sondern als ein
chemischer Körper, der die merkwürdige
Eigenschaft besitzt, auf pathologische
Gewebe bestimmter Natur in beson¬
derer Weise einzuwirken und zwar, da
diese Gewebsveränderungen bei den ver¬
schiedensten Processen und in den ver¬
schiedensten Organen des Körpers sich
ausbilden, in den mannigfachsten Disci-
plinen unserer vielgestaltigen Wissenschaft
und Kunst zur wirksamen Anwendung ge¬
langt.
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Im Jahre 1892 machte von Hebra 1 )
auf dem internationalen dermatologischen
Kongress Mittheilung von einem Mittel-
weiches subcutan einverleibt, sich wirksam
bei der Behandlung Lupöser erwiesen
habe. Es war dies die Zeit, in der durch
die Tuberkulinenttäuschung das Vertrauen
in eine in ähnlicher Art sich manifestirende
Behandlung tuberkulöser Hautprocesseganz
ausserordentlich geschwunden war. Hebra,
der sogar noch die Angabe gemacht hatte,
dass dieses Mittel im Stande sei* Thiere
gegen bakterielle Infection (Milzbrand) zu
immunisiren, — eine Beobachtung, die
später nicht mehr aufrecht erhalten werden
konnte — hatte diesen Stoff im November
1890 von von Froschhäuter erhalten.
Es handelte sich um das Thiosinamin, ein
Allylthioharnstoff, Rhodallin, einen substi-
tuirten Harnstoff, in welchem ein H-atom
einer Amidogruppe durch den Allylrest
vertreten ist
/NH 2
SC< .CH 2 .CH:CH 2
n NH
Man erhält den Körper 2 ) durch Erwär¬
men einer alcoholischen Senflösung mit
NH 3 auf 100 0 unter Druck als farblose,
bitter schmeckende Prismen, die in reinem
Zustande ohne Geruch sind. Er ist löslich
56
Original fro-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
442
October
Die Therapie der
in Wasser, leicht in Alkohol und Aether.
Hebra fasste seine Beobachtungen in fol¬
gende fünf Punkte zusammen:
Thiosinamin ist ein Mittel, welches
1 . auf Lupusgewebe in günstiger Weise
einwirkt,
2 . das Narbengewebe so sehr erweicht
und flexibel macht, dass die verschiedensten
vorhanden gewesenen Störungen beseitigt
werden,
3. eine intensive verkleinernde Wirkung
auf Drüsentumoren ausübt,
4. auf Cornealtrübungen aufhellend
wirkt,
5. die Resorption in die Gewebe ge¬
setzter Exsudate begünstigt.
Er wählte als Injectionsstelle den Rücken
und benutzte eine 15 procent. alkoholische
Lösung. Er constatirte bei einigen Lu-
pösen eine locale Reaction, Röthung und
Schwellung; bei allen übrigen Processen
war örtlich keine Reaction zu bemerken.
Er warnt davor, Fälle zu behandeln, bei
denen der krankhaft-entzündliche Process
noch nicht völlig abgelaufen sei; so hat er
bei einer noch nicht beendeten Keratitis
Verschlimmerung gesehen, nur bei solchen
floriden Processen sei zu injiciren, bei
denen man von der entzündlichen Reaction
eine Besserung der Verhältnisse erwarten
dürfe. So sah er z. B. bei einem Lupösen
unter Thiosinaminbehandlung eine alte
Knochenaffection wieder aufleben. Es bil¬
dete sich ein Abscess mit Durchbruch und
Eiterung der Fistel, durch den ein alter
Sequester losgestossen wurde; der Fall
heilte danach aus.
Er constatirte niemals eine Schädigung
des Allgemeinbefindens, erwähnt im Gegen-
theil euphorischen Einfluss und Linderung
subjectiver Beschwerden. Bei einigen
Tuberkulösen trat Fieber auf und Besse¬
rung der Nachtschweisse. Albumen wurde
nie gefunden, niemals eine locale ent¬
zündliche Reaction, nie ein Abscess an
der Injectionsstelle. Als günstigen Ein¬
fluss bei Lupösen schildert er, wie z. B.
ein stark prominenter Lupus tumidus
wesentlich eingefallen, verflacht sei und
seine Geschwüre sich gereinigt hätten.
Maligne Tumoren will er sich verkleinern
gesehen haben, aber nicht syphilitische; er
macht in Folge dessen auf den differential-
diagnostischen Werth aufmerksam zwischen
Lues und Tuberkulose. Den Hauptwerth
seiner Mittheilungen darf man aber wohl
in dem erblicken, was er über die Wir¬
kung auf das Narbengewebe angiebt.
Contracturen von Hautnarben, Bändern
und Sehnen wurden weich, Verkrümmungen
Gegenwart 1903.
wurden beseitigt, Ektropien bildeten sich
zurück, dabei war es ganz gleich, welches
die Ursache der Narbenbildung gewesen
war, ob Verletzungen, Verbrennungen oder
zerstörende Processe anderer Art. Eine
Erklärung dieser überraschenden elektiven
Wirkung des Thiosinamin, das sich, im
Blute kreisend, gleichsam das Narbenge-
webe aufsucht, vermochte er nicht zu geben.
Seine Mittheilungen sind nicht unbe¬
achtet geblieben. Van Hoorn, 3 ) der nur
bei Lupösen das Thiosinamin angewendet
und sich nach Professor Duclaux-Paris
Vorgang einer 10 procent. wässerigen Gly¬
cerinlösung bedient hatte, empfiehlt das
Thiosinamin nicht so sehr beim Lupus
selbst, bei dem seine Resultate nicht ein¬
wandsfrei seien, als vielmehr für die Folge¬
zustände desselben (Narben). Andere
Autoren suchten die Indication für die
Thiosinaminanwendung zu erweitern. So
machten Latzko, 4 ) Kalinkusch 5 ) sehr
interessante Mittheilungen über erfolgreiche
Anwendung bei veralteten Exsudaten der
weiblichen Geschlechtsorgane: parametrale
Narben von chronischer derber Beschaffen¬
heit, Exsudate der Parametrien sahen sie
sich verkleinern, vor allem aber lobten sie
die subjective schmerzlindernde Wirkung.
B£kess 6 ) berichtete über Versuche bei
drüsigen Tumoren in der Kinderpraxis.
Von 30 solchen Fällen sah er einen gänz¬
lichen Schwund dieser Packete in vier,
Verkleinerung in sieben, Entzündung und
Eiterung in sechs, keinen besonderen Ein¬
fluss in acht Fällen. Er wendete eine
15 prozent. Lösung an und lobt nicht nur
die Gefahrlosigkeit des Thiosinamins, son¬
dern noch besonders seine günstige Wir¬
kung auf das Allgemeinbefinden (Appetit
u. s.w.) Zweimal beobachtete er Urticaria
ohne sonstige Störungen. Einen diureti-
schen Einfluss will Mertens 7 ) gesehen
haben, welcher aber keine Erfolge bei
Lupus hatte, weder bei subcutaner noch
innerlicher Anwendung.
Ueber sehr ausgedehnte und vielseitige
Versuche berichtet der Amerikaner Tou-
sey. 8 ). Er bestätigte und erweiterte He-
bra’s Angaben bezüglich der Anwendung
bei Narbengeweben und preist Thiosin¬
amin gleichsam als Specificum für Keloide;
ferner hat er als erster das Thiosinamin
bei malignen Tumoren mit Erfolg ange¬
wendet. Bei Carcinom der Blase und
Lippe sah er durch Erweichung der Ope¬
rationsnarben so erhebliche Besserung im
Befinden, dass das Leben der Patienten
erträglicher gestaltet und verlängert werden
konnte. Fernerberichtet er, wie Hebra (l.c.)
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
October
Die Therapie der Gegenwart 1903.
443
über seine Anwendung bei alten Horn¬
hautflecken und bei Taubheit auf sklero-
sirender Grundlage; auch bei Cataract
will er Resorptionserscheinungen gesehen
haben. Bei Lupösen sind seine Resultate
nicht ermutigend, nur bei abgelaufenen
Processen. Er erwähnt und nach ihm
Newton 9 ), dass auch bei Harnröhren-
stricturen erfolgreiche Versuche gemacht
seien, doch kann er Ober dauernde Besse¬
rungen nicht berichten. Letztere Angaben
finden Bestätigung durch Hane 10 ), welcher
constatirt, dass die Behandlung solcher
Stricturen gut vertragen wird, ihr eine auf¬
fallend rasche Erweichung nachrahmt, aber
keine dauernde Heilung gesehen hat. Wie es
scheint, hat er nicht lange genug behandelt.
Suker 11 ) wandte in zwei Fällen von
Chorioiditis disseminata exsudativa Thio-
sinamin an und erzielte schnelle Besserung
der Sehschärfe. Bestätigung über Auf¬
hellung von Cornealnarben und Besserung
der Sehschärfe bringen Richter 12 ) und
Ruoff 13 ). Ersterer musste allerdings das
Auftreten einer frischen Phlyctäne con-
statieren. Scholtz 14 , dessen Erfolge bei
mit Vitiligo combinirter Mycosis fungoides,
zweifelhaft sind, lobt seine narbener¬
weichende Wirkung bei einem schweren
Fall von narbiger Schrumpfung des Ge¬
sichts nach Lupus. Lion 15 ) hat bei streifen¬
förmiger Sklerodermie der Stirn mit Thio¬
sinamin-Pflastermull (Unna) sehr gute Er¬
folge erzielt; nur macht er auf die Ge¬
fahren einer akuten Dermatitis, die der
Pflastermull im Gefolge hat, aufmerksam.
V on neueren Autoren berichten T e 1 e k y 16 )
und Juliusberg 17 ) beide aus dem Jahre 1901;
beiden verdanken wir auch sehr sorg¬
fältige Litteraturangaben. Juliusberg
bringt aus der Ne iss ersehen Klinik eine
sehr wesentliche Bestätigung über erfolg¬
reiche Anwendung bei hypertrophischen
Narben, Narbenkeloiden, Sklerodermie
und Oesophagusstricturen. Für die Angaben
von Sachs 18 ), welcher über, wenn auch
zweifelhafte Erfolge bei der sogenannten
plastischen Induration der Corpora caver-
nosa penis berichtet hatte, ist meines
Wissens bisher eine Bestätigung nicht
erfolgt. Alle Autoren sind aber einig in der
Betonung der Gefahrlosigkeit der Injection
für das Allgemeinbefinden. Von patho¬
logischen Folgezuständen wird von B£kess
<1. c.) zwei mal Urticaria angegeben, doch
scheint es zweifelhaft, ob man diese Erup¬
tion bei den Kindern als unbedingte Thio-
sinamin-Wirkung anzusehen hat, da Urti¬
caria ja bekanntlich durch soviel andere
^Ursachen £ hervorgerufen werden kann.
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Keitel 19 ) berichtet über einen Fall von
Hautanästhesie nach Thiosinamin-Injection;
doch auch hier muss es zweifelhaft er¬
scheinen, ob man diese Nervenläsion auf
Thiosinamin oder auf die Injektion als
solche, zu beziehen hat, zumal da ja auch
nach Injektionen von Aether und Antipyrin
(Falk, Möbius) ganz ähnlich Anästhesie
beobachtet worden ist. Ueber einen Fall
von Hautanästhesie und Parästhesie be¬
richtet Glas 20 ); doch auch er schiebt dies
einer zufälligen Läsion des entsprechenden
Hautnerven (N. cutaneus antebrachii me-
dialis) zu.
Von deutschen Klinikern hat besonders
Schweninger 21 ) das Thiosinamin ange¬
wendet und mehrfach warm empfohlen.
In der Hautklinik und Poliklinik der Königl.
Charite ist das Thiosinamin seit 1893 häufig
und erfolgreich angewendet worden und
zwar hauptsächlichst in Form einer 15%
alkoholischen Lösung; diese Concentration.
hat sich am meisten bewährt Man kann
wässerige Lösungen (10 %) anwenden,
doch haben diese den Nachtheil, dass sich
das Thiosinamin beim Stehen wieder ab¬
scheidet und vor jedesmaligem Wieder¬
gebrauch neu erwärmt werden muss und
dass seine Wirkung nicht so zuverlässig
erscheint, wie bei alkoholischen Lösungen;
das letztere glaubten wir auch bei inner¬
lichem Gebrauch (Pillen) constatieren zu
müssen, doch soll über diese beiden letzten
Anwendungsweisen kein endgültiges Urteil
gefällt werden, da die Versuche noch nicht
abgeschlossen sind und andere Autoren
günstiger berichten. ZB. fertigte sich Sil-
ferskiöld 22 ) eine 5proc. Warmwasser¬
lösung an; davon eine 5proc. Lösung in
0,5proc. Carbolsäure. Er lobt die Halt¬
barkeit und Schmerzlosigkeit des Präparats.
Eine ungünstige lokale oder allgemeine Wir¬
kung nach den Injektionen ist von uns in
keinem Falle beobachtet worden. Als In-
jectionsstelle wurde poliklinisch stets der
Unterarm gewählt. Hebra injicierte ge¬
wöhnlich in den Rücken. Es wurde mit
drei Teilstrichen der 15% Lösung be¬
gonnen, zweimal wöchentlich und rasch
bis zur vollen Spritze gestiegen. In be¬
stimmten Fällen wurde die Injection auch
drei bis vier mal wöchentlich, einige Male
sogar kurze Zeit täglich gemacht; niemals
wurde auch nur eine Spur von Schädigung
gesehen, niemals Abscesse oder Eiterungen.
Das Einzige, worüber von den Patienten
geklagt wurde, war ein leichtes, kurzes
Brennen an der Injectionstelle (Alkohol¬
wirkung), das aber nach ca. einer Minute
wieder verging.
56*
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
444
October
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Angewendet wurde das Thiosinamin
bei Narben ganz gleich welcher Provenienz
(Verletzungen, Verbrennungen, Operationen
etc.), Keloiden, Sklerodermie, bei Psoriasis
chronica hyperplastica, bei Adhäsionen ent¬
zündlicher Art, bei Gelenkcontracturen,
bei Hornhautflecken, bei hinteren Synechien
nach Iritis. Im Laufe der Zeit drängte
sich uns die Auffassung auf, dass die In-
dication des Thiosinamin damit durchaus
nicht erschöpft sein könne, sondern dass
es wohl ermuthigend sein müsse, überall
da im Inneren des Körpers, wo es sich um
Narbengewebe oder ihm verwandtes Orga¬
nisationsgewebe (Ribbert 23 ) handelte, ja
sogar wo Neubildungen sich einstellten, die
auflösende Kraft des Thiosinamin zu ver¬
suchen. Ob es sich überall bei der Neu¬
bildung und Wucherung um wirkliche
, Bildung von reichlichem neuem Zellmaterial
handelt, oder nur um eine erschwerte Fort-
. Schaffung des in normaler Menge sich
bildenden (Schweninger) soll hier un-
erörtert bleiben. In der Tat erwies sich
diese Ueberlegung in manchen Beziehungen
recht fruchtbar. Natürlich konnte es uns
nicht in den Sinn kommen durch die Thio-
sinamin-Behandlung etwa den Ablauf ma¬
ligner Processe aufhalten zu wollen, aber
es war die Möglichkeit gegeben, die durch
maligne Processe, besonders nachdem sie
operirt und eventuell recidivirt waren,
bedingten sehr quälenden Zustände (starre
Narben) zu bessern und zu lindern.
Von überaus günstiger und für das ärzt¬
liche Herz besonders erfreulicher Wirkung
war das Thiosinamin bei einem Falle von
zweimal operirtem Carcinoma linguae, der
in einem traurigen Zustande unsere Poli¬
klinik aufsuchte. Ausführlich hat Eisen-
berg 24 ) über diesen Fall berichtet. Dieser
Erfolg musste den Gedanken nahe legen,
an allen den Kranken, bei denen nach
Operationen die quälenden Erscheinungen
von Seiten der Narbe das klinische Biid
beherrschten, die Wirkung des Thiosinamin
zu versuchen. Es eröffnet sich hier dem
Arzte ein weites Feld seiner Thätigkeit;
man denke nur an die vielen Unterleibs¬
operationen, an Blinddarm, Gallenblase,
Magen (Ulcus ventriculi), Tumoren der
weiblichen Geschlechtsorgane (Myome) und
ihrer Adnexe, an die mannigfaltigen Lage¬
veränderungen des Uterus, an die so
häufigen Verwachsungen mit Rectum
und Blase und man wird begreifen, wie
weit das Anwendungsgebiet des Thiosin-
amins sich erstrecken kann. Aber auch
als prophylaktisches und präparatorisches
Mittel muss das Thiosinamin sich erweisen.
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Bei der absoluten Gefahrlosigkeit scheint
es geboten, in einem Falle, wo der Chirurg
oder der Gynäkologe zu einer Operation
sich genöthigt sieht, wegen Beschwerden,
die auf Verklebungen, Adhäsionen, Strängen
etc. zurückzuführen sind (Appendicitis und
Gallenblase) mit Thiosinamin einen Ver¬
such zu machen. Er kann dabei nur ge¬
winnen. Gelingt es nicht, die volle lösende
Wirkung zu erzielen, so sind mindestens
die Operationschancen durch die präpara¬
torische Behandlung besser geworden,
(Myomoperationen). Es ist, wie besonders
betont werden muss, ganz gleichgiltig, wie
lange solche narbigen Veränderungen
schon bestehen; wir hatten z. B. erst in
jüngster Zeit eine Narbe am Oberschenkel,
die einer französischen Kugel des 70 er
Krieges ihren Ursprung verdankte, wegen
starker Schmerzen mit Thiosinamin be¬
handelt und prompten Erfolg gesehen.
Wenn nun aber trotz alledem sich ein
operativer Eingriff als unabweisbar heraus¬
stellt, so ist Thiosinamin für viele aus der
Operation sich ergebenden Folgezustände,
als welche hauptsächlich sich eben die aus
der Narbe selbst sich entwickelnden Be¬
schwerden anzusehen sind, das geeignete
Mittel.
Der Nachweis der erweichenden und
lösenden Thiosinwirkung, welche auf der
Haut so sinnfällig ist, macht natürlich in
den Körperhöhlen grössere Schwierig¬
keiten; ist doch schon allein die Diagnose
adhäsiver Zustände oft nur schwer zu
stellen, es bedarf daher grosser Sorgfalt
und Kritik, um die Wirkung beurtheilen zu
wollen, Es giebt ja günstige Fälle, wie
z. B. die Aufrichtungen eines fixirten
Uterus, wo der Einfluss der Behandlung
dem palpirenden Finger zugänglich ist;
in der Mehrzahl der Fälle aber liegen die
Verhältnisse schwieriger.
Es würde den Rahmen dieser Arbeit
überschreiten, wenn alle die Zustände, bei
denen Verklebungen und Adhäsionen
innerer Organe zu Beschwerden führen,
hier ausführlich geschildert werden sollten.
Zwei Beispiele mögen genügen, um den
Wert der Thiosinaminbehandlung zu er¬
härten, das eine betrifft die Frage der
Gallensteinoperationen, das andere be¬
stimmte Fälle von Stuhlverstopfung,
W. Körte 25 ) wohl einer der besten und
erfahrensten Kenner dieser Verhältnisse
bemerkt bei Fixirung der Indicationen auf
die Frage nach der Garantie der Gallen¬
steinoperationen, dass auf drei Arten nach
der Operation Beschwerden Zurückbleiben
oder von neuem veranlasst werden können.
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
October Die Therapie der
1 . Durch Neubildung von Steinen —
echte Recidive,
2 . dadurch, dass Steine übersehen
werden, unechte Recidive,
3. durch Verwachsungen, welche nach
der Operation Zurückbleiben.
Die beiden ersten Punkte interessiren
uns hier nicht, obgleich adhäsive Vorgänge
zu echten Recidiven führen können; wohl
aber der dritte. Von ihnen sagt Körte,
dass die dritte Art der Nachbeschwerden,
die von Verwachsung herrührenden in der
Regel nach der Operation zunächst bleiben.
Sehr treffend weist er auf die Eigenschaft
der Serosa hin, Verklebungen zu bilden,
auf denen ein grosser Teil der Sicherheit
der Bauchoperationen beruht. „Gegen
diese Art der Nachbeschwerden, haben wir
vor der Hand kein sicheres Mittel, freilich
sind dieselben fast stets nicht in Vergleich
zu stellen mit den vor der Operation be¬
standenen Qualen, und sie bessern sich
stets mit der Zeit. Es giebt allerdings
unter den Gallensteinkranken besonders
unter denen weiblichen Geschlechts solche,
deren Nervensystem durch jahrelange
Schmerzen krank geworden ist, so dass
auch nach Entfernung der Steine bezw.
der kranken Gallenblase, eine Hyperästhesie
der Gegend bleibt, welche sie die von den
Adhäsionen herrührenden Beschwerden
sehr lebhaft empfinden lässt.“
In allen solchen Fällen sollte man einen
Versuch mit der gefahrlosen Thiosinamin-
behandlung machen; man wird sicherlich
Linderung der postoperativen Beschwerden
erreichen.
Als zweites Beispiel mögen uns einige
Fälle von Stuhlverstopfung beschäftigen
(Ebstein). 86 ) Es ist bekannt, dass sich
mit besonderer Vorliebe an den Krüm¬
mungen des Colons die chronischen par¬
tiellen Peritonitiden entwickeln, welche die
chronische Coprostase so sehr begünstigen
und von denen Virchow 27 ) annimmt, dass
sie ihrerseits der Entstehung dieser ent¬
zündlichen Prozesse sehr Vorschub leisten.
In diese Kategorie der hier in Betracht
kommenden umschriebenen chronischen
Peritonitiden gehören auch die als Ad-
häsiones peritoneales inferiores beschrie¬
benen Krankheitsprozesse. Gersuny und
nach ihm Alteneder 28 ) haben diesen Ent¬
zündungen die gebührende Aufmerksamkeit
zugewendet. Es sind hier als von beson¬
derer Wichtigkeit die Adhäsionen am
Wurmfortsatz hervorzuheben, welche er-
fahrungsgemäss auch vergesellschaftet mit
Affectionen der weiblichen Genitalien Vor¬
kommen. Neben diesen Adhäsiones e peri-
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Gegenwart 1903. **5
typhlitide chronica sei hier als andere
Form der Adhäsiones inferiores der gleich¬
artigen Veränderungen links an der Flexura
sigmoidea gedacht. Indem wir das Krank¬
heitsbild selbst übergehen, soll nur er¬
innert werden, dass als objectiv wahr¬
nehmbare Zeichen beim weiblichen Ge¬
schlecht recht oft in Form von Strängen
tastbare und durch Lageveränderungen
erkennbare Adhäsionen zu finden sind.
In einer anderen Gruppe von Fällen hat
bereits R. Virchow (1. c.) für viscerale
Neuralgien in Adhäsionen des Dickdarms
die wirksame anatomische Grundlage ge¬
funden. Ebstein sagt: die sachgemässe
Diagnose führt uns dann auch hier bei der
Erfolglosigkeit einer anderen Behandlung
zu einer erfolgversprechenden operativen
Behandlung.
Nach dem, was über die Thiosinamin-
wirkung bisher gesagt ist, scheint es
ermuthigend, in allen solchen Fällen von
Constipatio, deren Ursachen in Verwach¬
sungen bestehen, in Verbindung mit an¬
deren diätetischen und sonstigen Maass¬
nahmen, auf die hier nicht näher einge¬
gangen werden kann, das Thiosinamin in
Anwendung zu bringen.
Nach der Seite der Neubildungen waren
von grossem Interesse unsere mit Thiosin¬
amin bei Rhinophym, jener späten und
schweren Form der Acme rosacea erzielten
Erfolge. Pathologisch-histologisch bestehen
die lappigen und geschwulstartigen Neu¬
bildungen der Kupfernase (sogenannte
Acme rosacea dritten Grades) (Kaposi) 29 )
aus neugebildeten gallertartigem Gewebe,
welches wohl einer Organisation zu festem
bleibendem Bingegewebe fähig ist, aber
ebenso gut auch zur Schrumpfung und
Resorption gelangen kann (Kaposi); doch
gilt letzteres nur für die jüngeren Pro¬
duktionen. Hierzu kommt eine Ausdeh¬
nung und Hypertrophie der Talgdrüsen,
Neubildung von Gefässen, Erweiterung vor¬
handener, oberflächlicher, aber auch tiefe¬
rer Gefässe (Corium); es kommt zu Telean-
giectasieen u. s. w. Unsere Hilfsmittel
diesem entstellenden Leiden gegenüber
bestanden bisher nur in der rein chirur¬
gischen Behandlung, Excisionen, Abschnü¬
rung, Abtragung mit dem Messer. Thio¬
sinamin vermag in Verbindung mit anderen
Maassnahmen, die gleich besprochen wer¬
den sollen, zu erheblichen Verkleinerungen
solcher Nasen zu führen. Einer Allgemein¬
behandlung, wie wir sie bei Rosaceakran¬
ken stets einleiten, bestehend in Regelung
der Diät, Verdauung, aller Ausscheidungen.
Anregung des Stoffwechsels, Massage des
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UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
446
Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
Unterleibs und der Nase, heisse Bäder,
locale Scarificationen führen eben in den
schwersten Formen dritten Grades
nicht mehr allein zum Ziel; aber sie können
eine Thiosinaminbehandlung auf das wirk¬
samste unterstützen und dürfen auf keinen
Fall unterbleiben. Wir haben unter solchem
Regime erfreuliche, auch die Ansprüche
der Aesthetik befriedigende Besserungen
von Rhinophym gesehen. Im Anschluss
hieran verdienen die Mittheilungen Erwäh¬
nung, welche Glas (1. c.) über seine Thio-
sinaminerfahrungen bei Rhinosclerom ver¬
öffentlicht hat.
Angeregt durch die Erfolge, welche
Teleky (1. c.) bei Oesophagustricuren und
Kaufmann bei perigastrisch entzündlicher
Schwellung erzielt hatte, versuchte er das
Thiosinamin bei einer Anzahl Rhinosklerom-
kranker und zwar theils in Form von In-
jectionen, theils innerlich, letzteres bei
Frauen. Er erreichte, dass die Gewebs-
massen weicher und dehnbarer wurden, so
dass dieTubagirung resp.Bougirung leichter
gelang. Doch betont er, dass Thiosinamin
nur als Adjuvans der mechanischen Thera¬
pie anzusehen, ohne die letztere nicht von
Einfluss sei. Auch in einem Falle von
tertiärer Lues des Pharynx sah er vom
Thiosinamin günstige Beeinflussung der
narbigen Stränge. Von besonderem Inter¬
esse in seiner Mittheilung ist aber, dass er
zum erstem Male einen histologischen
Beitrag zu der Thiosinaminfrage zu liefern
in der Lage ist. Er bringt den histolo¬
gischen Befund eines mit Thiosinamin be¬
handelten, rhinoskleromatösen Gewebs-
stückes, welches mittels Laryngofissur ent¬
fernt worden war. „In diesem Stückchen
finden wir zahlreiche Rundzellen, dazwischen
eingesprengt eine Anzahl epithelioider
Zellen, in geringer Menge hyalin degene-
rirte und Mikuliczsche Formen. Auffallend
sind die das Granulationsgewebe weithin
durchziehenden Bindegewebsstränge,welche
eine von anderweitigem Narbengewebe ab¬
weichende Gestaltung zeigen. Die Grenzen
der einzelnen Bindegewebsfasern sind auf¬
fallend undeutlich, die einzelnen Konturen
verwischt, die Bindegewebskerne an ein¬
zelnen Stellen weit von einander abge¬
drängt, der ganze Strang zeigt ein stark
gequollenes Aussehen, die Bindegewebs¬
fasern sind wulstig und gedehnt.“
Fragen wir nun, wie wir diese merk¬
würdige Eigenschaft des Thiosinamin zu
erklären haben, so ist zur Zeit eine be¬
friedigende Antwort darauf nicht zu er¬
teilen. Es lag der Gedanke nahe, beim
Thinosinamin als einem Derivate des Senf-
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Öles an die acut hyperämisirende, irriti-
rende, blasenerzeugende Wirkung des Senf¬
öles zu denken, etwa in der Weise, dass
das Thiosinamin, ein chemisch verändertes
Senf öl, vielleicht sich einen microchemischen
Rest dieser Eigenschaft bewahrt hat, welche»
wenn auch der groben Beurtheilung und
Betrachtung nicht zugänglich, dennoch im
Stande ist, auf die Zellen im lympha-
gogen Sinne einzuwirken.
Das von allen Forschern constatirte
Fehlen jeder besonderen localen Reaction,
einige ganz verschwindende Fälle ausge¬
nommen, der fieberfreie Verlauf lässt die
Analogie mit dem Tuberkulin nicht für die
Deutung der Vorgänge verwerten, eher
wird man an das Cantharidin, dessen noch
nicht genug gewürdigte Wirkung uns
Liebreich vermittelt hat und an das
Teucrin (von Mosettig) erinnert. Auch
beim Cantharidin fehlt die locale Reaction
und auch das im Blute kreisende Cantha¬
ridin sucht sich gleichsam mit Kennerblick
den Locus affectus auf, während es den
Organismus ohne jede Einwirkung verlässt,
wenn ein solcher fehlt. Ich spreche natür¬
lich von nicht toxischen Dosen.
Ueber sehr interessante Versuche be¬
richtet Döllken 8°) aus dem pharmalogi-
schen Institut zu Marburg. Er untersuchte
neben einer Reihe verwandter Stoffe, wie
Harnstoff, Sulfoharnstoff, Phenylsolfoharn-
stoff u. s. w. vor allem die Wirkung des.
Thiosinamin und zweier isomerer Sulfo-
harnstoffderivate, nämlich Propylenpseudo-
thioharnstofl und Propylenthioharnstoff. Er
konnte Langes 81 ) Angaben über Thiosin¬
amin bestätigen, dass Frösche nach Thio-
sinaminvergiftung tagelang anhaltendes
Anasarca bekommen. „Bei Kaninchen
zeigte sich Zittern, später Schläfrigkeit und
Apathie. Hunde bekommen Erbrechen,
Speichelfluss, verlangsamte tiefe Respi¬
ration, Zittern, Mattigkeit, Schlafsucht
Japanische Ratten boten nach subcutaner
Injection von 0,05 eine tiefe Narkose mit
ruhiger verlangsamter Athmung. Kein
prodomales Aufregungsstadium. Die Ratten
gingen ein; Sectionsbefund wie bei Lan ges
Kaninchen und Hunden: Lungenödem und
Hydrothorax.“ Zunächst wurde pharma-
kolologisch ein Einfluss auf die Respiration
constatirt, ferner erst eine Erregung des
Centralnervensystems, danneineHemmung
seiner Function und zwar ist beim Thio¬
sinamin langsame Resorption nötig.
Richter (1. c.) untersuchte den Einfluss
des Thiosinamin auf das Blut. Er fand un¬
mittelbar nach der Injection raschen Abfall
der Leukocythen (Leukolyse, Löwitt) 82 ),
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UNIVERSITtf OF CALIFORNIA
October
Die Therapie der Gegenwart 1903.
447
vier Stunden nach derselben Ansteigen bis
zur deutlichen Leukocythose. Der Haemo-
globingehalt wurde in neun von elf Fällen
vermehrt gefunden. Die Eigenschaft, diese
Leukolyse mit darauffolgender Leukocytose
herbeizuführen, haben eine grosse Menge
von Körpern, wie Hemialbumose, Pepton,
Pepsin, Nucleinsäure, Nuclein, Blutegel-
extract, ferner Bakterienproteine, wie Pyo¬
cyanin, Tuberkulin, dann Curare, Harnstoff,
Harnsäure, harnsaures Natron. Allen ge¬
meinsam ist das Prinzip der Reizung durch
die Circulation in dem erkranktem Gewebe
(Spiegler) 33 ) und zwar ist nachLöwitt (l.c.)
die Leukolyse als Ursache der später ein¬
tretenden Leukocytose anzusehen, indem
neue Blutelemente aus den blutbereitenden
Organen in den Kreislauf einströmen. Viel¬
leicht spielen hier chemotaktische Wir¬
kungen von Stoffen eine Rolle, die vom
Standpunkt der chemischen Anlockung
(positiverChemotropismus, Grawitz)* 4 ) auf¬
gefasst, auf Bewegung und Ansammlung
der Leukocyten im Tierkörper Einwirkung
haben. Für Bakterien, Flagellaten und
Volrocineen, ist dieser Beweis schon längst
erbracht (Pfeffer)* 5 ). Es muss der Zukunft
überlassen bleiben, den geheimnissvollen
Vorgang, wie er sich bei der Thiosinamin-
wirkung abspielt, noch näher aufzuklären.
Fassen wir nun aber das Gesagte noch
einmal kurz zusammen, so lassen sich
folgende Leitsätze aus Litteratur und
eigenen Erfahrungen entwickeln:
1 . Das Thiosinamin ist als ein für den
Gesammtorganismus unschädlicher Stoff
anzusehen,
2 . seine Anwendungsweise geschieht
vorläufig am Zweckmässigsten in Gestalt
von subcutanen Injectionen 15% alkohol¬
ischer Lösungen, welche vor wässerigen
der zuverlässigen Wirkung wegen den
Vorzug verdienen. Ueber innerliche Dar¬
reichungen ist das Urteil noch auszusetzen.
Die Anwendung in Form von Pflastermullen
(Una) kann zu heftigen Reizungen führen,
ist aber in geeigneten Fällen zu ver¬
suchen,
3. eine Erklärung seiner elektiven
Wirkung ist zur Zeit nicht zu geben.
4. Indiciert ist seine Anwendung
a) bei allen narbigen Zuständen der
äusseren Haut und des inneren Körpers,
ganz gleich, welcher Provenienz die Narbe
ist, so ist es erfolgreich bei allen Haut¬
narben, Verbrennungen, Lupus, Carcinom,
bei Adhäsionen, Verklebungen, Verwachs¬
ungen innerer Organe untereinander und
mit serösen Häuten, ferner bei Keloiden
und Sklerodermie und Rhinophym,
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b) als präparatorisches Mittel vor Ope¬
rationen, welche wegen gefährlichen Ver¬
wachsungen Schwierigkeiten bereiten,
c) als narbenerweichendes Mittel nach
Operationen, wo die Narbe die Ursache
der postoperativen Beschwerden ist,
d) in der Augenheilkunde bei alten
Hornhautflecken, Cataract, iritischen Ver¬
wachsungen (hintere synechie), Chorioiditis
disseminata exsudativa.
e) bei jenen Fällen von Schwerhörigkeit
und Taubheit, die durch fibröse Massen
und narbige Veränderungen im inneren
Ohr (Paukenhöhle) verursacht werden.
4) Seine Anwendung ist contraindiciert
oder nur mit grosser Vorsicht erlaubt,
wenn die Möglichkeit vorliegt, dass acute
oder eben abgelaufene entzündliche Prozesse
durch ihr Aufflammen dem Organismus
Gefahr bringen könnten (frische Keratitis).
Liegt eine Propagation der Entzündung
in Rahmen der therapeutischen Absicht,
steht seiner Anwendung nichts im Wege.
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logischen Histologie 1901, S. 77ff. — 24) Eisen-
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
448
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Die Therapie der Gegenwart 1903.
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No. 36, S. 745. — 34) Grawitz, Klinische Patho¬
logie des Blutes 1902, S. 116. — 35) Pfeffer.
Untersuchung aus dem Botan. Institut zu Tü¬
bingen, Bd. 11, S. 581 ff.
Aus der königl. Universitäts-Poliklinik für Hautkrankheiten in Eiei.
(Director: Prof. Dr. von Düring.)
Die Heissluftbehandlung mit dem Vorstaedter’schen Kalorisator.
Von Dr. Fr, Beringt Assistent der Poliklinik.
Schon seit einer Reihe von Jahren ist
die Behandlung mit heisser Luft ein wich¬
tiger Factor der modernen Therapie. Seit
Klado tuberkulöse Kniegelenke zur Be¬
handlung in einen Backofen brachte, sind
eine Menge verschiedener Apparate ge¬
baut worden, um die heisse Luft zu Heil¬
zwecken zu verwenden. Unter ihnen sind
die bekanntesten die von Quincke, 1 )
Bier 2 ) und Ullmann. 3 ) Aber alle diese
Apparate eignen sich, so vorzüglich sie
für den klinischen Betrieb sind, wenig für
die ambulante Behandlung; sie sind zu
umfangreich und oft auch zu kostspielig.
Aus diesen Gründen haben sie in den
Händen der praktischen Aerzte nicht die
wohlverdiente Verwendung finden können.
Von diesen Gesichtspunkten geleitet con-
struierte Vorstaedter im Jahre 1900
einen Apparat, den er Kalorisator nannte,
der vielen Bedürfnissen gerade der Sprech¬
stunde des praktischen Arztes vollkommen
entspricht.
Auch in der hiesigen dermatologischen
Poliklinik ist der Kalorisator, welcher die
heisse Luft in Form von Luftdouchen auf
die betreffenden Körperstellen applicirt,
in Gebrauch. Mit ihm wurden bei Tricho-
phytia profunda und Sycosis coccogenes*),
welche beide in Folge ihrer grossen Hart¬
näckigkeit und Erfolglosigkeit aller thera¬
peutischen Maassnahmen den Arzt oft
rathlos machen, Versuche gemacht.
Nachdem gerade der erste Versuch,
welcher einen Fall betraf, in dem der Pa¬
tient bereits seit mehreren Monaten die
verschiedensten Heilmittel vergebens an¬
gewandt hatte, von einem auffallend gün¬
stigen Erfolg gekrönt war, wurde die Sy¬
cosis immer mit dem Kalorisator behan¬
delt und immer mit demselben guten Er¬
folg.
*) Wir bezeichnen als Trichophytia profunda die
alte Sycosis parasitaria, als Sycosis coccogenes die
S. non parasitaria
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Diese guten Resultate mögen zu einer
kurzen Mittheilung berechtigen, und im
Verein mit der Billigkeit und Handlichkeit
des Apparates dazu beitragen, dass dieser
in der Praxis gerade bei solchen hart¬
näckigen Affectionen immer mehr Verwen¬
dung finde.
Fall 1. Carl Sch. 31. Mai. Patient leidet
angeblich bereits seit 3 Monaten an Tricho¬
phytia profunda und will auf Anraten verschie¬
dener Aerzte mit Jodpinselungen, Sublimat¬
umschlägen und Kataplasmen behandelt wor¬
den sein.
Kinn und Wangen sind in ganzer Ausdeh¬
nung mit rundlichen, erhabenen, schmutzigroth
verfärbten, framboesieartigen, sehr schmerz¬
haften, auf ihrer Oberfläche stellenweise mit
Krusten überlagerten Tumoren bedeckt, zwi
sehen denen vereinzelte kleine Knötchen mit
verklebten Haaren hervorragen. Nach Aufwei¬
chung der Borken fühlt man unter entzündlich
geröteten Stellen feste, in die Tiefe gehende
Infiltrate, welche auf Druck Eiter entleeren.
Diagnose Trichophytia profunda, die noch
durch die mikroskopische Untersuchung bestä¬
tigt wurde. Die Haare werden kurz geschoren,
die Borken mit Oel aufgeweicht. Sodann wird
Patient täglich ungefähr eine Stunde lang mit
dem Kalorisator behitzt. Schon nach wenigen
Tagen lässt die anfangs sehr starke Eiterung
nach. Nach kaum 4 Wochen sind alle Infiltrate
unter Bildung von glatten Narben geheilt.
Patient wird am 5. Juni aus der Behand¬
lung entlassen. Kein Recidiv.
Fall 2. Ernst Fr., 15. Mai. Auf der linken
Wange disseminirt stehende, ungefähr linsen¬
grosse secernirende Pusteln, welche innerhalb
der letzten acht Tage entstanden sein sollen,
ganz vereinzelt auch mit Krusten bedeckt. Die
Infiltrate sind nur oberflächlich.
Diagnose: Trichophytia profunda.
Behandlung: Kurzschneiden der Barthaare,
Verbot des Rasirens, tägliche Bestrahlung mit
dem Kalorisator 20 Minuten lang. Vollständige
Heilung nach acht Tagen. Kein Recidiv.
Fall 3. Wilhelm Fr., 17. Mai. Beide Wan«
i gen und Kinn sind besät mit einer Menge
I kleiner Eiterpustelchen von Stecknadelkopf-
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
449
Octobrr Die Therapie der Gegenwart 1903.
bis Linsengrösse, aus deren Mitte je ein Haar
ragt; ganz vereinzelt zusammenfliessende
Pusteln mit oberflächlicher Infiltratbildung.
Das Leiden soll bereits seit U/2 Jahren be¬
stehen und von dem Patienten selbst mit
Schwefelsalben behandelt worden sein. Dia¬
gnose Sycosis coccogenes.
Patient wird täglich */* Stunden lang be-
hitzt. ^Venn an einer Stelle die Pusteln ver¬
schwunden sind, treten in der Umgebung gleich |
wieder neue auf. Nach einer verlängerten I
Sitzung einmal eine Brandblase von der Grösse
eines Markstückes. Am 24. Juni wird Patient
geheilt entlassen; doch kommt er schon am
30. Juni wegen eines Rccidivs wieder. Nach
einer abermaligen Behandlung von 3 Wochen
wird Patient am 20. Juli geheilt entlassen.
Bis zum 26. August kein Rccidiv.
Fall 4. Curt T., 24 Juni. Auf der rechten
Wange und an der rechten Halsseite eine ge¬
ringe Menge kleiner mit Krusten bedeckter
Knötchen, die innerhalb 10 Tagen entstanden
sein sollen.
Diagnose: Trichophytia profunda.
Täglich l jt Stunde langBehitzung mit Heiss¬
luft. Nach 8 Tagen wird Patient geheilt ent¬
lassen. Kein Recidiv.
Fall 5. Ernst Sch. 24. Mai. Wangen und
Kinn sind voller fester, tiefer, mit harten Borken
bedeckter, confluirender schmerzhafter Infiltrate,
die innerhalb 5 Wochen entstanden und bis
jetzt mit Jodpinselungen ohne Erfolg behandelt
sein sollen.
Diagnose: Trichophytia profunda.
Behandlung: Aufweichen der krustösen
Massen, Kurzscheeren der Barthaare und Be¬
strahlen mit dem Kalorisator.
28. Juli. Die Infiltrate sind zum grossen
Teil verschwunden und nur noch wenig
schmerzhaft; keine Eiterung mehr. Patient
muss wegen einer nothwendigen Reise 8 Tage
die Behandlung aussetzen. Rückkehr am 5. Juli.
Wesentliche Verschlimmerung; Behandlung
wird wieder aufgenommen. Am 24. Juli wird
Patient geheilt entlassen; überall glatte Narben.
Kein Recidiv.
Fall 6. Otto W„ 16. Juni. Fünf linsen¬
grosse mit Krusten bedeckte Pusteln am Kinn,
die seit wenigen Tagen bestehen sollen.
Diagnose: Trichophytia profunda.
Nach täglicher Behitzung mit dem Kalori¬
sator wird Patient am 21. Juni geheilt entlassen.
Kein Recidiv.
Fall 7. Hermann Kl., 29. Juni. Am Kinn
ein Fünfmarkstückgrosses tiefes, mit einer
dicken Borke . bedecktes, sehr schmerzhaftes
Infiltrat, welches angeblich seit ungefähr
6 Wochen besteht. Die übrigen Theile des
Gesichtes sind frei.
Diagnose: Trichophytia profunda.
Aufweichung der Borken; täglich l /i Stunde
lang Bestrahlung der erkrankten Stelle. Am
10. Juli wird Patient geheilt entlassen. Kein
Recidiv.
Fall 8. Paul Kl., 7. Juli. Beide Wangen
voller kleinster bis erbsengrosser theilweise mit
Krusten bedeckter Pusteln Das Leiden be¬
steht angeblich seit 10 Tagen.
Diagnose: Sycosis coccogenes.
Patient wird täglich 3 / 4 Stunden lang be-
hitzt. Am 20. Juli geheilt entlassen.
Fall 9. Br., 20. Juli. Auf der linken Wange
und an der linken Halsseite vereinzelt stehende,
mit Borken bedeckte, theilweise confluirende
Pusteln, die innerhalb weniger Tage entstan¬
den sein sollen.
Diagnose: Trichophytia profunda.
Täglich 1 ,a Stunde lang Behitzung mit dem
Kalorisator. Am 29. Juli wird Patient geheilt
entlassen.
Fall 10. V. CI., 24. Juli. Auf der rechten
Wange ein fast die halbe Wange einnehmen¬
des, mit dicken Krusten bedecktes Infiltrat,
welches sehr tief geht und schmerzhaft ist.
An Kinn und Hals vereinzelte Knötchen. Pa¬
tient will sich vor ungefähr 5 Wochen an einem
Rind inficirt haben.
Diagnose: Trichophytia profunda.
Behandlung: Das Infiltrat wird in seiner gan¬
zen Ausdehnung mit dem scharfen Löffel aus¬
gekratzt. Die kleinen Knötchen, nach zwei Tagen
auch schon die Wundränder, werden mit dem
Kalorisator behitzt. Patient ist zur Zeit noch in
Behandlung. Die Wunde granulirt gut; Re-
cidive scheinen nicht aufzutreten, sodass Patient
voraussichtlich in wenigen Tagen geheilt ent¬
lassen werden kann.
Fall 11. Otto J., 28. Juli. Die rechte Kopf-
i hälfte ist bedeckt mit einer Menge linsen- bis
fünfmarkstückgrosser rundlicher, wenig scharf
begrenzter Scheiben, in denen kleine Knötchen
und Bläschen, theilweise mit Krusten bedeckt,
stehen.
Diagnose: Herpes tonsurans.
Die Haare werden kurz geschoren und der
Kopf täglich Vs Stunde behitzt. Nach 6 Tagen
wird Patent geheilt entlassen; auch mikrosko¬
pisch sind keine Pilze mehr nachweisbar.
Bis auf den Fall 3 war die Wirkung
des Kalorisators eine sehr prompte. Hier¬
bei handelte es sich, wie bereits oben
erwähnt, um eine sehr hartnäckige Sycosis
coccogenes, die bereits D /2 Jahre bestand.
Auch im Falle 1 war die Trichophytia
profunda schon Monate alt. Aber hier
trat dennoch, wie in all den andern Fällen
von trichophytia profunda, die Wirkung sehr
schnell ein. Die Sycosis coccogenes er¬
fordert eine längere Heissluftbehandlung;
jedoch wird auch hier bei etwas Geduld
stets Heilung erzielt — Jedenfalls schneller
als wir es bei anderen Methoden erleben.
Für die Behandlung der Sycosis mit
Heissluft vermittels des Vors taedter sehen
Kalorisators lassen sich in kurzem folgende
Grundsätze aufstellen: Die Barthaare werden
kurz geschoren, aber auf keinen Fall
57
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450
Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
rasirt: jede Stelle wird täglich eine Viertel¬
stunde lang behitzt bei der höchsten Tem¬
peratur, welche von dem Patienten vertragen
wird. Ohne sonderliche Schmerzempfindung
kann sie auf 95—110, ja sogar darüber
hinaus gesteigert werden; die höchst er¬
reichbare ist 160—170Grad. Neu auftretende
Infiltrate werden sofort behitzt und so ge¬
radezu coupirt. Ausser desinficirenden
Waschungen mit Kamillenaufguss und
Borsäurelösung, sowie leichter Puderung
mit Amylum wurde keine weitere Therapie
angewandt.
Die Wirkung dürfte wohl eine doppelte
sein. So hohe Temperaturen wirken schon
direct microbicid, sowohl auf die Coccen,
wie auf die Hyphomyceten. Dann aber
tritt infolge Erweiterung der Hautgefässe
eine sehr starke Hyperaemie und dadurch
eine reichliche Blutcirculation ein. Hier¬
durch tritt einerseits die bactericide und
globulicide,. andererseits die resorptive
Fähigkeit des Blutes in Thätigkeit; d. h.
die Produkte der Entzündungserreger
werden fortgeschleppt, zugleich aber auch I
die zum Aufbau des Gewebes notwendigen i
Stofte zugeführt. Diese Wirkung der j
heissen Luft wird vielleicht mechanisch ;
noch dadurch unterstützt, dass infolge der
Krustenbildung die Haare mit den daran
sitzenden Mikroorganismen von ihrer Unter¬
lage abgehoben werden und diesen somit i
der nöthige Nährstoff entzogen wird.
Leichte oberflächliche Verbrennungen
wurden bei uns nur wenige Male beobachtet;
sie waren aber ohne Bedeutung und ver¬
zögerten die Heilung nicht. Trotz der
reichlichen Transpiration erfolgt infolge
der hohen Temperatur eine sehr schnelle
Verdunstung des secernirten Schweisses
und so eine fast vollständige Austrocknung
der Haut. Aus diesem Grunde werden
Verbrennungen wohl selten auftreten.
Des auffallenden Erfolges halber sei
noch ein Fall von hypertrophischer Psoriasis
erwähnt. Der betreffende Patient hatte
Anfangs vorigen Jahres eine universelle
Psoriasis durchgemacht; 3 Stellen im Rücken
waren nicht ganz zurückgebildet und
stellten warzenähnliche, wie grosse hyper-
trophirende, teilweise confluirende lichen-
plaques aussehende Gebilde dar, die keiner
Behandlung weichen wollten. Auch diese
wurden mit dem Kalorisator jeden dritten
Tag behitzt, und unter ständigem Ab¬
schuppen ist jetzt nach 2 monatlicher Be¬
handlung eine Stelle vollständig verschwun¬
den, während die beiden andern noch
leichte Erhabenheiten aufweisen, aber doch
zweifellos in voller Resorption sind.
Wir Dermatologen müssen jede physi¬
kalische Heilmethode, die uns von den
unappetitlichen Salben und Fettverbänden
erlöst, freudig begrüssen. Zweifellos lässt
sich für einen grösseren Betrieb Prak¬
tischeres und Besseres hersteilen, so be¬
sonders die Hand durch einen mechanischen
Betrieb ersetzen und durch eine kleine
AenderungdasBestreichengrössererFlächen
erreichen, als mit dem Vorstaedter’sche
Kalorisator möglich ist. Für den Praktiker
aber ist gerade dieser kleine billige, hand¬
liche Apparat, welcher von dem Medi¬
cinischen Waarenhaus A. G. Berlin ange¬
fertigt wird, von ausserordentlichem Vorteil.
Der Bequemlichkeit wegen lasse ich hier
eine Beschreibung und Abbildung des
Apparates folgen;
Ueber dem Spiritusbehälter brennt eine Flamme.
Ein Gebläse treibt die heisse Luft durch die Oeff-
nung eines halbkreisförmigen Spiegels in das Asbest¬
rohr (15 cm lang; an der MQndung 2cm im
Durchmesser). Durch dieses wird die heisse Luft
auf die betreffenden Hautstellen appliciert.
Herrn Prof. Dr. v. Düring sage ich für
die gütige Ueberlassung des Materials sowie
für seine liebenswürdige Unterstützung
meinen verbindlichsten Dank.
Litteratur :
1) Quincke, Ueber therapeutische Anwen¬
dung der Wärme. Berl. klin. Wochenschr. 1896,
No. 16; 1897, No. 49. — 2) Bier, Zum Bericht
über den Congress für innere Medicin 1901. —
3) Uli mann, Ueber die Heilwirkung der durch
Wärme erzeugten lokalen Hyperämie usw.
Wiener klinisch. Wochenschrift 1901, No. 1.
Apparat zur Application konstanter Wärme.
Illustrirte Monatsschrift d. ärztlich. Polytechnik
1903. —4) Vorstaedter, Eine portative Vor¬
richtung für aerothermische Lokalbehandlung:
Zeitschrift für diätetische und physikalische
Therapie 1900/01, Bd. IV, Heft 8.
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October
Die Therapie der Gegenwart 1903.
451
Ans der Allgemeinen Physikalischen Kuranstalt nnd Fango-Kuranstalt zu Berlin.
Gonorrhoische Gelenkerkrankungen und deren Behandlung
mit lokalen Fangoappllcationen.
Von Dr Schuppen Hauer, Assistenzarzt der Anstalt.
Die Lehre von der Metastasenbildung
lokaler gonorrhoischer Affectionen (Ure¬
thritis, Vulvitis, Conjunctivitis gonorrhoica)
hat sich, seitdem der Gonococcus in
erkrankten Gelenken, Sehnenscheiden,
Schleimbeuteln, in Haut- und Drüsen-
abscessen, in den Auflagerungen des ul-
cerös erkrankten Endocardiums, im Trans¬
sudat der Pleura und auch im strömenden
Blute (Hewes 1 ) 1894, Ahmann 2 ) 1897)
häufig genug mit Sicherheit nachgewiesen
ist, zu allgemeiner Anerkennung durch¬
gerungen. Während die Endocarditis und
Pleuritis gonorrhoica, sowie die Drüsen-
und Hautabscesse seltene Lokalisationen
sind, kommen gonorrhoische Gelenkentzün¬
dungen verhältnismässig häufig zur Beob¬
achtung. Das Bild und der Krankheits¬
verlauf derartig afficierter Gelenke ist ein
mannigfaltiges, neben schnell schwinden¬
den, kaum schmerzhaiten, manchmal vom
Patienten gamicht oder nur zufällig be¬
merkten Erkrankungen finden sich die hart¬
näckigsten, ausserordentlich schmerzhaften,
mit vollständiger Zerstörung des Gelenkes
endenden Fälle. Diese Mannigfaltigkeit
des Krankheitsbildes hat Koenig 3 ) ver¬
anlasst, auf Grund des pathologisch-ana¬
tomischen Befundes nach der Art der Ent¬
zündung folgende vier Formen zu unter¬
scheiden:
1 . Hydrops articularis,
2. Hydrops articularis serofibrinosus und
catarrhalis (Volkmann),
3. Empyem des Gelenks,
4. Phlegmone des Gelenks, bald mehr
eitrig, bald mehr faserstoffhaltig.
Diese vier Formen kommen teils rein
vor, teils in Combination, so dass z. B.
neben der Phlegmone des Gelenks und der
umgebenden Weichteile in der Gelenk¬
höhle ein Erguss mässig getrübten oder
stark fibrinhaltigen Serums oder eine Aus¬
scheidung von trockenem Fibrin oder ein
Erguss rein eitriger Natur sich finden
kann.
Hewes, H. F., Two cases of gonorrhoeal
rhcumatism with specific bacterial organisme in the
blood. Boston med. and surg. joum. Bd. 131,
No 21.
*) Ahmann, G., Zur Frage der gonorrhoischen
Allgemeininfection. Archiv für Derm. u. Syphilis.
Bd. 39, Heft 3.
3 ) Koenig, F., Ueber gonorrhoische Gelenk¬
entzündung. Deutsche med. Wochenschr. 1896, No.47.
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Die in praxi übliche Behandlung der
gonorrhoischen Gelenkerkrankungen er¬
streckt sich bekanntlich neben den Anti-
rheumaticis im acuten Stadium auf Eis¬
blase, kühle oder hydropathische Umschläge,
fixierenden Verband, Hochlagerung, im
chronischen Stadium auf feste Verbände,
Einreibungen, Pinselungen, warme oder
medicamentöse Bäder, Sandbäder etc.;
dazu kommt für bestimmte Fälle, wie für die
Coxitis, auf Koenigs Empfehlung die Ex¬
tension in Anwendung. Trotz dieser vielen
uns zu Gebote stehenden Massnahmen
ist die Prognose in der Mehrzahl der Fälle
ungünstig, oft genug bieten die Gelenke
nach dem Abklingen des entzündlichen
Processes ein trauriges Bild dar, totale
oder partielle Ankylose, Subluxationen,
Schlottergelenke sind besonders bei der
häufigsten Form, der Phlegmone, garnicht
selten. In neuerer Zeit (1898) wurde von
Loewenhardt 1 ) als ein exquisit schmerz¬
stillendes Mittel, das auch den Process
günstig beeinflussen soll, angelegentlichst
die trockene Wärme mittelst des Heissluft¬
apparates für alle Formen, mit Ausnahme
des Empyems, empfohlen. In demselben
Jahre berichtete Davidsohn 2 ) über sehr
gute Erfolge, die er im Laufe des Jahres
1897 in acuten, subacuten und chronischen
Fällen von gonorrhoischer Gelenkentzün¬
dung durch die Behandlung mit lokalen
Fangoapplicationen, also mit feuchterWärme,
erzielt hatte. Ich selbst habe in den letz¬
ten 1 l /j Jahren (vom 1. Januar 1902 bis
1. August 1903) Gelegenheit gehabt, 32 Pa¬
tienten mit gonorrhoischer Arthritis wäh¬
rend der Behandlung mit lokalen Fango¬
applicationen genau zu beobachten. Bei
allen diesen Fällen steht die gonorrhoische
Natur der Erkrankung fest. Sehr wahr¬
scheinlich ist unter den übrigen Patienten
der Anstalt eine grössere Zahl gewesen,
deren Gelenkerkrankung die Folge einer
Gonorrhoe war. Aus äusseren Gründen
konnte — auch in manchen verdächtigen
Fällen — auf diese Aetiologie nicht immer
gefahndet werden, und daher kommt es
l ) Loewenhardt, Zur Pathologie und Therapie
der gonorrhoischen Gelenkerkrankungen. Wiener med.
Presse. No. 45.
9 ) Davidsohn, Hugo, Die Ergebnisse der
Fangobehandlung nach den Erfahrungen an der Ber¬
liner Fango-Curanstalt. Verlag von August Hirsch¬
wald. Berlin 1898.
57*
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
452
Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
wohl, dass unter meinen Fällen das weib¬
liche Geschlecht in so kleiner Zahl ver¬
treten ist, nicht etwa in Folge einer ge¬
wissen Immunität desselben; denn die alte
Ansicht von der Immunität des weiblichen
Geschlechts ist ja längst zurückgewiesen,
hatte doch Bennecke 1 ) unter 56 Patien¬
ten sogar 2 / s Frauen und nur Vs Männer.
Von meinen 32 Fällen betreffen 28 das
männliche Geschlecht, nur 4 das weibliche;
unter diesen war ein Mädchen von 8 Jahren.
Was das Stadium anbetrifft, in dem die
Patienten in die Behandlung eintraten, so
muss ich vorausschicken, dass das Kranken¬
material sich von demjenigen eines allge¬
meinen Krankenhauses sehr wesentlich da¬
durch unterscheidet, dass verhältnismässig
wenig frische Fälle zur Behandlung kamen,
dass die grössere Zahl der Patienten schon
wochen-, ja monate- und jahrelang mit
ihrem Leiden behaftet und ebenso lange
mit internen Mitteln, Verbänden, Sool-
bädern oder dergl. behandelt war.
Was ich soeben über die Art des
Krankenmaterials gesagt habe, brachte es
mit sich, dass nur ein Fall von acutem go¬
norrhoischen Hydrops in meine Beobach¬
tung gekommen ist.
Fall 1. HerrSch. Seit 10 Tagen Schmerzen
und Bewegungsbeschränkung im linken Knie.
Bisherige Behandlung: Intern, Jodvasogen, com-
primierender Verband. Da unter dieser Therapie
der Erguss nicht zur Resorption kam, zur Be¬
handlung mit Fango überwiesen. — Objectiver
Befund: Linkes Knie stark geschwollen, Fluc-
tuation. Streckung nur bis 165° ca. möglich. —
Nach 5 Applicationen hat Patient keine Be¬
schwerden mehr. Im oberen Recessus noch
geringe Flüssigkeitsansammlung. Knie kann
ganz durchgedrückt werden. Patient bricht die
Cur ab.
Ein Fall von einfachem chronischen
Hydrops kam nicht zur Beobachtung. Ge¬
wöhnlich nehmen ja die Fälle von acutem
gonorrhoischen Hydrops, bei denen es sich
also nur um einen Erguss, nicht um eine
Schwellung der Kapsel und der Weich¬
teile handelt, bei der üblichen Behandlung
in einigen Wochen einen günstigen Aus¬
gang, ohne eine Neigung zu Recidiven zu
hinterlassen.
Rein serofibrinöse Entzündungen kamen
ebenfalls nicht zur Beobachtung.
Die Fälle von chronischem Hydrops
oder serofibrinöser Gelenken tzündung waren
mit Ausnahme von Fall 1 alle mit solchen
Veränderungen der Weichteile verbunden,
l ) Bennecke, E., Die gonorrhoische Gelenk¬
entzündung nach Beobachtungen der chirurgischen
Universitätsklinik in der Kgl Charite in Berlin. Ver¬
lag von August Hirschwald. 1898.
dass man sie der phlegmonösen Form zu¬
rechnen muss, und zwar sind darunter
acute und chronische, monarticuläre und
polyarticuläre Fälle.
Die phlegmonöse Form der gonorrhoi¬
schen Gelenkerkrankungen mit intensiver
lokaler Wärmeanwendung zu behandeln,
mag gewagt erscheinen. Loewenhardt
aber berichtet, dass er alle Stadien der
gonorrhoischen Arthritis — mit Ausnahme
des Empyems — mit sehr gutem Erfolg
mit lokaler Wärme behandelt hätte, und
Holzmann 1 ) hat schon vor einigen Jahren
einen Fall von gonorrhoischer Polyarthritis
veröffentlicht, bei dem er nach vergeblicher
wochenlanger Gabe von Salicyl und Salol
die Behandlung mit Fangoapplicationen
trotz Schwellung und Rötung der Gelenke
begann und nach 8 Applicationen Heilung
erzielte. — Trotzdem, muss ich gestehen,
gingen wir an den ersten Fall acuter phleg¬
monöser gonorrhoischer Entzündung, der
uns von einem Collegen zur Behandlung
mit Fango überwiesen wurde, nur mit einer
gewissen Scheu und unter genauester Beob¬
achtung des Patienten heran. Der prompte,
unmittelbare Erfolg, die täglich zu verfol¬
gende Abnahme der Schwellung und die
Linderung der ausserordentlich grossen
Schmerzen zerstreuten jedoch bald die Be¬
denken.
• In dem soeben angeführten Falle (2) han¬
delte es sich um einen Studenten P., der seit
14 Tagen an einer Gonorrhoe und seit 8 Tagen
an einer äusserst schmerzhaften Affection der
linken Hand litt. Bisherige Behandlung: Ruhig¬
stellender Verband mit Ichthyolsalbe. Objec¬
tiver Befund: Sehr starke, teigige, auf Druck
und bei den geringsten passiven Bewegungen
äusserst empfindliche Schwellung der ersten
Phalanx des Daumens, des benachbarten Meta-
carpo-phalangeal- und Interphalangeal-Gelenkes.
Active Bewegungen in diesen Gelenken unmög¬
lich. Am geschwollenen Handgelenk eine fünf¬
pfennigstückgrosse, stark druckempfindliche
Stelle. Therapie: täglich Fangohandbad. eine
Stunde lang, von 46° allmählich auf 51° stei¬
gend; leichter, ruhigstellender Verband. — Bett¬
ruhe wurde nicht gehalten. — Sogleich am
Tage nach der ersten Application berichtete
Patient, weniger Beschwerden, geringere
Schmerzen gehabt zu haben. Nach dem zweiten
Handbade war neben der subjectiven Empfin¬
dung eines weiteren Nachlasses der Schmerz¬
haftigkeit eine Abnahme der Schwellung zu
verzeichnen. Am dritten Tage zeigte sich eine
leichte Lymphangitis in der Ellenbogenbeuge
und im Sulcus bicipitalis internus, die auf Ver¬
band mit essigsaurer Thonerde nach weiteren
zwei Tagen geschwunden war. Zu dieser Zeit
1 ) Holzmann, M., Ueber die Fangotherapie.
Monatsschrift für praktische Balneologie.
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October
453
Die Therapie der Gegenwart 1903.
waren zwei erbsengrosse Drüsen in der Achsel¬
höhle fühlbar. Nach einer Behandlungszeit von
insgesamt 14 Tagen war Schwellung und
Schmerzhaftigkeit geschwunden, gute Beweg¬
lichkeit in den afficierten Gelenken, allerdings
noch nicht in normaler Breite, vorhanden. Pa¬
tient muss abreisen, ist mit dem Erfolg zu¬
frieden.
Ein ähnlicher, sehr bemerkenswerter
Fall kam bald darauf zur Behandlung.
Fall 3. Luise K., 8 Jahre alt, Vulvitis go- !
norrhoica (wie die jüngere Schwester vom Vater I
inficiert). 6 Wochen vor Eintritt in die Behänd- !
lung erkrankt mit Schmerzen im linken Hand-
und linken Fussgelenk. Letzteres war nur ein
bis zwei Tage afficiert. — Die kleine Patientin
hatte bei den geringsten Bewegungen sehr
starke Schmerzen in der ganzen linken Hand. — \
Objectiver Befund: Starke Schwellung des lin- 1
ken Handgelenks: starke, polsterartigc, teigige !
Schwellung der Volar- und Dorsaltlächc der
linken Hand; active Bewegungen in Hand- und
Kingergeleaken aufgehoben. — Bisherige Be¬
handlung: Antirheumatica, heisse Handsalz-
bäder, Spir. salicyl.. Ichthyol, ruhigstcllender
Verband. — Ein bemerkenswerter Erfolg zeigte
sich bereits nach zwei Fangohandbädem; die
Hand ist etwas abgcschwollen. die Schmerzen
haben ganz bedeutend nachgelassen, Beweglich¬
keit ein wenig gebessert. Im Laufe der Be¬
handlung trat ein weiterer bedeutender Rück- j
gang der Schwellung ein, die Schmerzen hörten
auf, die Beweglichkeit der Gelenke nahm zu.
Nach 14 tägiger Behandlung wird das Kind, das
von auswärts ist, vor Eintritt der völligen Heilung
nach Hause genommen, da die Mutter mit diesem
Erfolge zufrieden ist. — Bei der Nachforschung
nach dem weiteren Verlauf drückte der behan- I
delnde Arzt seine grosse Freude über den Er- j
folg aus. die Schwellung ist bald ganz ge- I
schwunden. von der Bewegungsbehinderung j
sind nur Spuren zurückgeblieben. Auch in
diesem Falle war die schnelle, günstige Beein¬
flussung der hochgradigen Schmerzen, die nicht
jedesmal nur für einige Stunden anhielt, wie
dies gewöhnlich nach Salicyl. Aspirin etc. der
Fall ist, sondern eine dauernde war. sowie die
schnelle Einleitung der Resorption, die auf an¬
dere Weise in mehrwöchentlicher Behandlung
nicht hatte erreicht werden können, bemerkens¬
wert.
Zwei Falle phlegmonöser, gonorrhoischer
HandgelenkentzOndung möchte ich kurz
anfQhren, um nicht den Eindruck hervor¬
zurufen, dass alle Fälle so schnell wie die
soeben angeführten ablaufen müssten.
Fall 4. Frl. M. H. bekam 5 Monate vor
Eintritt in die Behandlung mit Fango unter
Fieber plötzlich eine Anschwellung der rechten
Hand. Allmähliche Besserung unter Behand¬
lung mit Salicyl (innerlich), Salieylsalbe, Gyps-
verband. In der 7. Woche Massage, danach
Verschlimmerung. — Objectiver Befund: Schwel¬
lung und Cyanose der ganzen rechten Hand
Schwellung des rechten Handgelenks, Atrophi o
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der Unterarmmuskulatur. — Allmähliche Ab¬
nahme der Schmerzen, der Schwellung und der
Cyanose. Nach 20 Fangohandbädern war das
Handgelenk noch etw^as schmerzhaft und ge¬
schwollen. Patientin war nach siebenwöchent¬
licher Cur, in der sie 35 Mal behandelt worden
war, vollständig geheilt.
Fall 5. Herr Gl. Schwellung, Schmerz¬
haftigkeit, Steifigkeit des linken Handgelenks
und der Finger der linken Hand. Nach 20 Fango¬
handbädern, während der letzten zur Unter¬
stützung medico-mechanische Hebungen, Rück¬
gang der Schmerzhaftigkeit und der Schwel¬
lung; Bewegungen in einiger Breite ausführbar.
Patient entzieht sich der Behandlung.
Von gonorrhoischen Hüftgelenkentzün-
dungen sind drei Fälle in meine Beobach¬
tung gekommen.
Einer davon (Fall 6 Herr Gi.) w*ar ein ziem¬
lich frischer, recidivierender, monarticulärer,
sehr schmerzhafter Fall, der — ambulant be¬
handelt — mehrmals in Folge von Ueberanstren-
gung Exacerbationen durchmachte, nach 13
Applicationen aber doch zur Heilung kam und
— der Patient stellte sich nach ungefähr einem
Jahre wieder vor — ohne Recidiv geblieben
ist. Der zweite (Fall 7 Herr Ge.) war ein seit
länger als 3 Monaten bestehender, seit 3 Tagen
mit heftigen Schmerzen exacerbierter Fall links¬
seitiger gonorrhoischer Coxitis. bei dem gleich¬
zeitig das rechte Knie erkrankt war. Auch bei
diesem Patienten trat bei ambulanter Behand¬
lung vollständige Heilung nach 15 Applicationen
ein. — In dem dritten Falle endlich handelte
es sich um eine doppelseitige, sehr schmerz¬
hafte, mit Erkrankung vieler anderer Gelenke
verbundene Afiection (Fall 8 Herr P. W.), die
schon mehrere Wochen bestand und ebenfalls
in Heilung ausging.
Koenig erwähnt, dass nach dem Acqui-
rieren einer Gonorrhoe jedes Gelenk er¬
kranken könne und Bennecke bespricht
in seiner vorzüglichen Monographie: „Die
gonorrhoischeGelenkentzündungnachBeob-
achtungen der chirurgischen Universitäts¬
klinik in der Kgl. Charite zu Berlin 41 im
Einzelnen das Krankheitsbild der verschie¬
denen Gelenke. Danach sind — die Mono¬
graphie bezieht sich auf einen Zeitraum
von 2 Jahren mit 56 Fällen — einige Lo¬
kalisationen, die ich bei polyarthritischen
Fällen beobachten konnte, nicht vorgekom¬
men, nämlich die Erkrankung der Kiefer¬
gelenke, der Sternoclavigulargelenke und
der Gelenkverbindungen der Wirbelsäule.
Eine Affection der Kiefergelenke fand
sich in drei Fällen polyarthritischer Er¬
krankung.
Der eine, w*enig schmerzhafte (Fall9 HerrBl.)
wurde auf Wunsch des Patienten garnicht, der
andere (Fall 10 Herr St.) mit lokalen Bogen-
‘ lichtbestrahlungen und stundenlang fortgesetzter
lokaler Wärmeapplication mittelst Leiter’scher
Röhren behandelt; bei dem dritten (Fall 11
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
454
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Octobcr
Herr v. H.) wurde ein guter Erfolg mit Fango-
applicationen erzielt. In den beiden ersten
Fällen war die AfFection beiderseitig, bei dem
letzteren linksseitig.
Die Sternoclavigulargelenke waren bei
zwei Patienten (Fall 8 Herr P. W. und
Fall 12 Herr O.) und zwar beiderseits er¬
krankt. Die Affectionen erwiesen sich als
sehr hartnäckig, wahrscheinlich deshalb,
weil aus äusseren Gründen die Behandlung
nicht durch Ruhigstellung der Gelenke
unterstützt werden konnte und in Folge
dessen durch die häufigen Bewegungen im
oberen Extremitätengürtel ein steter Reiz
gesetzt wurde. Beide Fälle wurden nach
längerer Behandlungsdauer bis auf ein zeit¬
weises geringes Ziehen schmerzfrei bei
voller Bewegungsfreiheit.
Gonorrhoische Erkrankungen derWirbel-
gelenke waren — neben der Erkrankung an¬
derer Gelenke — bei drei Patienten vor¬
handen. Bei dem einen (Fall 13 Herr K.)
bestand seit 10 Wochen eine hartnäckige
Schmerhaftigkeit zwischen dem 7. Hals¬
wirbel und 1. Brustwirbel, sowie zwischen
dem 1. und 2. Brustwirbel. Nach 8 Appli-
cationen haben die Schmerzen wesentlich
nachgelassen, Patient fühlt sich in seinen
Bewegungen freier, ist dann nicht mehr
zur Cur erschienen. — Zahlreiche Gelenk¬
verbindungen der Wirbelsäule waren bei
den beiden andern Patienten afficiert. Diese
Fälle bieten in mehrfacher Beziehung des
Interessanten genug, um eine kurze Schilde¬
rung des Befundes und Verlaufes berech¬
tigt erscheinen zu lassen.
Fall 8. Herr P. W., 25 Jahre alt; vor
3 Jahren Gonorrhoe; anscheinend geheilt; vor
3 Monaten plötzlich Blasenkatarrh und Schmer¬
zen in der Urethra; am 8. Tage beiderseitige
Epididymitis. Reissen in den Armen, Beinen
und im Rücken, heftige Schmerzen in den Fuss-,
Knie-, Hüft-, Schulter-, Hand- und Sternoclavi-
gulargelenken, sowie im Genick bei den ge¬
ringsten Bewegungen. Patient erhielt von seinem
Arzt zunächst Salicyl, sodann 4 Wochen lang
täglich 4— 6 mal 0,5 Aspirin mit dem Erfolg,
dass die Schmerzen nach jeder Gabe auf einige
Stunden etwas nachliessen; auf den Process
aber war kein Einfluss zu constatieren gewesen.
Aldann machte Patient eine Schwitzcur durch,
eine Woche lang jeden Tag, sodann eine Woche
lang einen Tag um den andern, ohne Erfolg;
Patient fühlte sich danach sehr matt. — Nach
diesen fruchtlosen Bemühungen wurde der Pa¬
tient von dem behandelnden Arzte der Anstalt
zur stationären Behandlung mit Fango über¬
wiesen. — Objectiver Befund: Grosser, sehr
anämischer Mann mit geringem Fettpolster*
Starke, teigige, druckempfindliche Schwellung
der Füsse, Kniee und Hände; starke Bewegungs¬
beschränkung in allen erkrankten Gelenken.
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Gehen nur unter grössten Schmerzen zwei bis
drei Schritt bei starr nach vom gebeugter Hal¬
tung des Oberkörpers möglich. Bei vorsich¬
tigster Betastung der Wirbelsäule: Excessive
Schmerzhaftigkeit zwischen den Processus spi-
nosi des 6. und 7. Halswirbels: starke Druck¬
empfindlichkeit zwischen den Processus spinosi
des 1. und 2. Halswirbels, des 4. und 5., sowie
des 5. und 6. Brustwirbels, des letzten Brust¬
wirbels und 1. Lendenwirbels und zwischen
denen des 3. und 4. Lendenwirbels. Ein etwas
stärkerer Druck auf die übrigen Partieen der
Wirbelsäule wird ebenfalls als schmerzhaft, je¬
doch von diesem sehr verständigen Patienten
als erträglich bezeichnet. — Vom 7. Brustwirbel
ab Skoliose, Convexität nach links. Hals- und
Brustwirbelsäule in starrer, nach vorn gebeugter
Haltung Bewegungen in den Wirbelgelenken
nicht möglich, der schüchternste Versuch ausser¬
ordentlich schmerzhaft.
Therapie: Täglich lokaleFangoapplicationen
(Temp.46--51 °j ohne Schwitzprocedur, Anfangs
% Stunden lang, allmählich auf 2 Stunden
steigend.
Auch in diesem Falle berichtete Patient be¬
reits am Tage nach der ersten Application,
dass ein geringer Nachlass der Schmerzen in
der Halswirbelsäule — die Affection der Wirbel¬
säule stand im Vordergrund dieses schweren
Krankheitsbildes — eingetreten sei. Von Tag
zu Tag an Intensität nachlassend, waren die
Schmerzen am 5. Tage zwischen dem 6. und
7. Halswirbel geschwunden, Patient konnte ohne
Schmerzen die Wirbelsäule strecken und, da
auch die Hüft-, Knie- und Fussgelenke sich ge¬
bessert hatten, in gerade Haltung einige Schritte
gehen; Druckschmerz war allerdings noch in
recht beträchtlichem Grade, besonders zwischen
dem 4. und 5., sowie dem 5. und 6. Brustwirbel
vorhanden. Während nach zwölftägiger Be¬
handlung die Wirbelsäule sonst nirgends mehr
druckempfindlich war, hielt die Schmerzhaftig¬
keit zwischen dem 5. und 6. Brustwirbel auf
stärkeren Druck noch 8 Tage an. — Auch die
Erscheinungen in den übrigen Gelenken gingen
nach einer stationären Behandlungsdauer, die
im Ganzen 4 Wochen betrug, zurück, so dass
Patient auf seinen Wunsch nach Hause ent¬
lassen werden konnte. Patient stand nach einer
Unterbrechung der Cur von 2 1 /* Wochen — der
weite Weg und die 2 Treppen zu seiner Woh¬
nung Hessen eine ambulante Behandlung zu¬
nächst nicht ratsam erscheinen, da die Füsse
auf Anstrengungen noch mit Schmerzen rea¬
gierten — wegen geringer ziehender Schmerzen
noch mehrere Wochen in ambulanter Behand¬
lung (3 Applicationen wöchentlich) und hat ohne
medico-mechanische Uebungen oder Massage
u. dgl. volle Bewegungsfreiheit in allen Gelenken
erlangt. Das Allgemeinbefinden — ich möchte
das nebenbei als eine oftmals gemachte Beob¬
achtung erwähnen — hat sich ungemein ge¬
hoben, Patient hat an Gewicht erheblich zuge¬
nommen und sieht wohl und frisch aus.
In einem anderen Falle (14 Herr Ba.) von
schwerer Polyarthritis gonorrhoica, der in einer
Original fro-m
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Octobcr
Die Therapie der Gegenwart 1903.
455
hiesigen Klinik ebenfalls Wochen lang mit Aspi¬
rin, wannen Salzbädern, wannen Wasser¬
umschlägen und Jodpinselungen ohne jeden
Erfolg behandelt war und danach zur Fango¬
behandlung überwiesen wurde, waren haupt¬
sächlich die Gelenkverbindungen zwischen Atlas
und Occiput, zwischen dem letzten Halswirbel
und ersten Brustwirbel, zwischen den fünf ersten
Brustwirbeln, zwischen dem 4. und 5. Lenden¬
wirbel, diesem und dem Kreuzbein und die
Articulationes sacro-iliacae äusserst empfindlich
auf Druck oder bei den geringsten Bewegungen.
Der Kopf wurde schief, die ganze Wirbelsäule
steif und vornübergebeugt gehalten. Patient
nahm auf Anordnung seines Arztes ambula¬
torisch einen Tag um den andern eine Fango-
application. Schon nach der zweiten Appli¬
cation war ein Nachlass der Schmerzen vor¬
handen, nach der vierten konnte die Halswirbel¬
säule ohne Schmerzen frei bewegt werden. Die
Behandlung wurde einige Wochen mit dem Er¬
folge fortschreitender Besserung durchgeführt.
Patienst reist alsdann in einen Badeort.
Beiläufig möchte ich erwähnen, dass bei
diesem Patienten eine ausgedehnte, starke
Atrophie der rechten Schultergegend und
des rechten Oberarmes auffiel. Sie war
die Folge einer phlegmonösen gonorrhoi¬
schen Entzündung des rechten Schulter¬
gelenks. Untermedico* mechanischen Uebun-
gen und elektrischer Behandlung nahm die
Muskulatur wieder zu. Solche starken,
schnell um sich greifenden Atrophieen habe
ich bei der phlegmonösen Form sehr häufig
beobachtet. Bennecke bezeichnet sie
geradezu als charakteristisch für phleg¬
monöse gonorrhoische Entzündung.
Die übrigen von mir beobachteten Fälle,
die alle der gonorrhoisch-phlegmonösen
Form angehören, sind folgende:
Die Complication der gonorrhoischen
Phlegmone mit Empyem des Gelenks kam
in einem Falle zur Beobachtung.
Fall 32. Stud. phil. D. erkrankte 4 Wochen
nach dem Acquirieren einer Gonorrhoe, die mit
Cystitis verbunden war, unter Fieber mit
Schmerzen im rechten Ellenbogengelenk. Zwei
Wochen danach wurde er zur Behandlung mit
Fall
Name
Afticierte Gelenke
Krank seit
Applicationen
Ausgang
15
Herr P.
Linkes Knie
2 Monaten
ca. 10, noch in
Behandlung
Bedeutende
Besserung
16
Herr Sch.
Rechtes Knie
15
Heilung
17
Herr Bla.
Linkes Knie
7 ,
1
—
18
Frau H.
Linkes Knie
7 „
Noch in Be¬
handlung
Besserung
19
Frau Pr.
Rechtes Knie
I 1 /* Jahren
Noch in Be¬
handlung
—
20
Herr K.
Rechtes Knie
ca. 30 Jahren
16
Bedeutende
Besserung
21
Herr D.
Beide Kniee
2*/* Monaten
1
—
22
Herr G...b
Rechtes Fussgelenk, linkes
Handgelenk
5 Wochen
5
Bedeutende
Besserung
23
Herr J.
a) rechtes Fussgelenk,
b) rechtes Kniegelenk
a) 5 Wochen,
b) mehr. Jahren
17
a) Heilung,
b) Besserung
24
Herr Dr. J.
Mehrere Metatarso-phalan-
gealgelenke, Tendovagi-
nitis
2 1 /* Jahren
3
25
i
i
Herr W.
1
i Linkes Fussgelenk, 3. und
i 4. Metatarso-phalangeal-
gelenk des r. Fusses
3 Wochen
ca. 10, noch in
Behandlung
Bedeutende
Besserung
26
Herr H.
Beide Fussgelenke
—
:
—
27
Herr A.
Beide Fussgelenke
37> Monaten
15
Bedeutende
Besserung
Ohne Nachricht
28
Herr Ha.
Rechtes Fuss-, linkes Knie¬
gelenk, 1. Interphalan-
gealgelenk des linken
5. Fingers
3 Monaten
10
29
Herr Schi.
1 Beide Fussgelenke, Tibio-
fibulargelenk, Matacarpo-
' phalangealgelenk d. lin¬
ken Mittelfingers
3 Wochen
15
Heilung
30
Herr M.
Beide Fussgelenke, rechtes
Hand-, linkes Ellenbogen-
i gelenk
3 Monaten
i
4 1
Besserung
31
Herr F.
, Beide Fussgelenke, linkes
Kniegelenk
2 Monaten
6
Besserung
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Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
456
Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
Fangoapplicationen überwiesen. Das Fieber
bestand noch, Temp. 38—39°. Das rechte Ellen¬
bogengelenk zeigte eine starke, fast spindel¬
förmige, articuläre und periarticuläre Schwel¬
lung, die sich eine Hand breit auf den Oberarm
und auf den Unterarm erstreckte. An der
Streckseite in der Gegend des Olecranon Fluc-
tuation. Der innere Condylus des Humerus
und das proximale Ende der Ulna stark druck¬
empfindlich. Passive Bewegungen in einer
Breite von 10—15° möglich. Die Diagnose
lautete: Arthritis gonorrhoica. Phlegmonöse
Form. Empyem? — Patient erhielt in 8 Tagen
7 lokale Applicationen, die Schwellung ging
am Oberam ein wenig zurück, sonst blieb sie
im Gegensatz zu den bisher beobachteten acuten
Fällen bestehen. Auch die Schmerzhaftigkeit,
die in den übrigen Fällen an Intensität schnell
verloren hatte, und das Fieber, das unter der
Fangobehandlung in den wenigen von uns beob¬
achteten fieberhaften Fällen in den ersten Tagen
schwand, hielten sich auf gleicher Höhe. Die
Punction ergab eitrigen Erguss, bestätigte also
den von vornherein bestehenden Verdacht.
Eine längere Beobachtung ist in solchen
Fällen, bevor man chirurgisch eingreift,
stets nötig, denn es ist bei der teigigen
Schwellung der Weichteile dieser phleg¬
monösen Infiltrate gonorrhoischen Ur¬
sprungs ungemein schwierig, ja vielleicht
unmöglich, sofort zu unterscheiden, ob
neben der Phlegmone ein serofibrinöser
oder eitriger Erguss oder ein Abscess in
den Weichteilen besteht. Bennecke sagt
hierüber: „Als Regel gelte grösste Zurück¬
haltung mit dem Schneiden! Besonders an
Hand- und Fussrücken täuscht die phleg¬
monöse Weichteilschwellung öfter tiefe
Fluctuation vor; zur Abscedierung kommt
es aber fast nie und wenn man einschneidet,
so fällt man nur in ein entzündlich ge¬
lockertes, mit trübem Serum gefülltes Binde¬
gewebe." — Bei sorgfältiger Ueberwachung
dürfte durch die Wärmebehandlung ein
Schaden selbst in den seltenen Fällen der
Empyembildung nicht entstehen, zu der
nach meinen Beobachtungen besondere Be¬
dingungen — vielleicht Mischinfection? —
nötig sind; im Gegenteil, die Abscedierung
wird schneller vor sich gehen, die Krank¬
heitsdauer dadurch, dass der chirurgische
Eingriff eher vorgenommen werden kann, ab¬
gekürzt werden. Zu diesem muss aber die
Diagnose Empyem feststehen, denn durch
einen Schnitt in die gonorrhoisch infil¬
trierten Weichteile ohne Abscedierung wer¬
den nach Bennecke’s Erfahrungen grosse
Narben gesetzt, es wird aber keine Er¬
leichterung geschafft und die Heilung nicht
im Geringsten beschleunigt.
Die genaue Beobachtung der Wirkung
der Fangobehandlung hat uns gezeigt, dass
dieselbe mit Ausnahme des Empyems bei
allen Formen der gonorrhoischen Gelenk¬
entzündung, sowohl im acuten Stadium,
wie im subacuten und chronischen eine
wertvolle Bereicherung der Therapie dieser
schweren Erkrankung darstellt. Hat sie
doch in der stattlichen Zahl der von uns
beobachteten Kranken da, wo das ganze
Heer der Antirheumatica im Stich liess,
wo Suspension, Fixation, Jodpinselungen etc.
keine Besserung mehr brachten, zu den
besten Resultaten geführt. Ich habe nicht
die Absicht, unterschiedslos für jeden Fall
dieWärmebehandlungzu empfehlen,manche
leichte Erkrankung wird ohne dauernde
Störung mit der üblichen Therapie geheilt
werden. Auch würde in Fällen, bei denen
excessive Schmerzhaftigkeit grössere Lage¬
veränderungen verbietet, wie sie z. B. bei
Packungen der Hüfte und bei der nach¬
folgenden Reinigung erforderlich sind, von
dieser Behandlung zunächst Abstand ge¬
nommen werden müssen, dagegen könnten
Hand-, Ellenbogen- und Schultergelenk,
Fuss- und Kniegelenk ohne grosse Belästi¬
gung des Patienten nach dieser Methode
i behandelt werden.
In den Fällen aber, bei denen innere
und äussere Mittel vergebens verabreicht
wurden, da muss die physikalische Behand¬
lung einsetzen. Besonders wäre es empfeh¬
lenswert, bei der phlegmonösen Form nicht
länger als höchstens einige Wochen zu
warten, am Besten nicht länger, als bis die
zur Application nötigen Lageveränderun¬
gen ertragen werden. Ich glaube, dass
durch rechtzeitiges Einsetzen der Wärme¬
behandlung manche Versteifungen hinten¬
angehalten werden könnten, viele anschei¬
nend schon steife Gelenke, das haben die
beobachteten Fälle gezeigt, eine gute Be¬
wegungsfähigkeit erlangen würden. Die
schlimmen Folgen der phlegmonösen go¬
norrhoischen Gelenkentzündung, die De-
struction des Gelenks, die Atrophie der
Muskulatur, die Bewegungsstörungen und
Ankylosen treten nur zu schnell ein. Ist
doch die Patella oft genug schon nach 3 bis
4 Wochen (Koenig) mit der Umgebung
fest verwachsen und finden sich solche Ver¬
wachsungen auch in „anscheinend unschul¬
digen Fällen“ (Koenig). Besonders ist
diese Therapie auch deshalb angezeigt,
weil, worauf Davidsohn schon Vorjahren
hin weisen konnte, die Reconvalescenz nach
acuten und subacuten Fällen durch dieselbe
ganz erheblich abgekürzt wird.
Es sei mir erlaubt, über die Zeitfolge
der einzelnen Behandlungen und über die
Dauer der ganzen Cur einige Worte zu
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
October
Die Therapie der Gegenwart 1903.
457
sagen. — Leider ist es häufig genug vorge-
kommen, dass Patienten von ihrem Arzte
angewiesen waren, wöchentlich 1 oder
2 Applicationen zu nehmen, dass sie nach
5 oder 6 Applicationen die Cur abbrachen,
weil ihnen diese Anzahl als ausreichend
zum Erfolg angegeben war. — Es braucht
wohl nicht betont zu werden, dass zur Re¬
sorption chronischer Infiltrate in manchen
Fällen sogar Monate lange Behandlung
nötig ist und dass die Verordnung, wöchent¬
lich eine Application zu nehmen, keinen
Erfolg haben kann. 3 bis 6 malige Appli¬
cation in der Woche, je nach dem Falle,
der Constitution des Patienten und etwaigen
Begleitumständen, ist notwendig; ja, es
giebt Fälle, bei denen es erforderlich ist,
die Wärmeappiication zwei- und mehrmals
am Tage vorzunehmen. Die Dauer der
einzelnen Application wird zweckmässig
nicht zu kurz bemessen, gewöhnlich auf
3 / 4 bis 1 Vs Stunden, doch giebt es Patienten,
bei denen durch noch länger dauernde An¬
wendungen bessere Erfolge erzielt werden.
Uebrigens muss hervorgehoben werden,
dass die Behandlung, die mit Ausnahme
der Hand- und Fussbäder zweckmässig
stets auf einem Ruhebett, nicht im Sitzen
vorgenommen wird, die Kräfte des Patien¬
ten garnicht in Anspruch nimmt, vermeidet
man nur, dass der Patient jedes Mal dabei
transpiriert. Wo die Indication zu einer
gleichzeitigen Schwitzcur vorliegt, kann
eine mehr oder weniger starke Transpira¬
tion leicht durch eine Einpackung des Kör¬
pers herbeigeführt werden. Betonen möchte
ich aber, dass die Transpiration nach un¬
seren Erfahrungen nicht das Wesentliche
der Behandlung darstellt; haben wir doch
in einer sehr grossen Zahl von Fällen, bei
denen lange fortgesetzte Schwitzproce-
duren, wie russisch-römische Bäder, Licht-
und Dampfkastenbäder etc. ausser der
momentanen subjectiven Empfindung der
1 Erleichterung gar keinen oder nur wenig
Erfolg hatten, noch die besten Resultate
von der constanten lokalen feuchtenWärme-
anwendung gesehen. Und das erscheint
: mir gerade als ein grosser Vorzug der
| Fangobehandlung, dass sie ohne Schwitz-
| procedur ihre günstige Einwirkung ent-
| faltet. Dadurch ist es möglich, ohne jede
Gefahr allen denjenigen Patienten eine pro-
longierteWärmebehandlung zu Teil werden
zu lassen, welche die Wärmebehandlung im
Licht-, Dampfkasten-, Moor- oder russisch-
römischen Bade nicht vertragen. Dem Ur¬
teil des Arztes muss es überlassen bleiben,
die Ausdehnung der Körperregion, die be¬
handelt werden soll, zu bestimmen. Da¬
durch kann die Cur so milde gestaltet wer¬
den, dass selbst Herzfehler, Myocarditis,
Arteriosklerose und hohes Alter keine
Contraindication abgeben.
Von der 75. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte,
Cassel ao.—25, September 1903.
Die 75. Versammlung Deutscher Natur¬
forscher und Aerzte hat einen schönen
Verlauf genommen, auf welchen wohl alle
Theilnehmer mit voller Befriedigung zurück¬
blicken. Die allgemeinen Sitzungen brach¬
ten eine Reihe ausgezeichneter Vorträge, |
welche der grossen Menge der Gebildeten I
die Einwirkungen der Naturforschung auf j
Denken und Leben in lebendiger Weise
demonstrirten. In der gemeinschaftlichen
Sitzung der medicinischen und naturwissen- I
schaftlichen Hauptgruppe wurden einige j
fachwissenschaftliche Themata erörtert,
welche wohl geeignet waren, den Zu¬
sammenhang zwischen Medicin und Natur¬
wissenschaften vor Augen zu führen, ln
den Sitzungen der medicinischen Haupt¬
gruppe wurden Gegenstände verhandelt,
die allen Medicinern gemeinschaftliches
Interesse darboten.
So hat denn wirklich die Casseler Ver¬
sammlung das Programm verwirklicht, in
dem die Existenzberechtigung der Natur- ,
Digitized by Google
forscher-Versammlungen liegt: ein einigen¬
des Band um die Angehörigen aller bio¬
logischen Forschungsgebiete zu bilden und
unter den Aerzten der Zersplitterung und
Specialisierung entgegenzuarbeiten.
Andererseits ist in Cassel die Special¬
arbeit der Einzelabtheilungen nicht zu kurz
gekommen. Es war ein reiches Programm
vorbereitet, welches mit Ernst abgearbeitet
worden ist. Wie weit sich die Theilnehmer
an dieser Specialarbeit beteiligten, blieb na¬
türlich dem Willen desEinzelnen überlassen.
Es waren auch diesmal viele gekommen,
die sich mit den Anregungen der allge¬
meinen Sitzungen begnügten und anstatt
der Arbeit in den Sectionen, Erholung in
Natur und Kunst suchten. Aber es waren
doch auch viele, die zum Arbeiten ge¬
kommen waren. Sehr bewährt hat sich
die in Cassel angewendete Methode, an
jedem Morgen die genaue Reihenfolge der
in jeder Section zu haltenden Vorträge im
Tageblatt zu veröffentlichen. So konnte
58
Original frn-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
458
Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
jeder wählen, was ihm zu hören beliebte,
und in der That sah man deutliche Strö¬
mungen von einer Abtheilung zur anderen,
je nach der angenommenen Bedeutung der
Vortragenden oder ihrer Themata. Gerade
in dieser Erneuerung akademischer Frei¬
heit liegt wohl eine Hauptanziehungskraft
der Versammlung für die allgemeinen
Praktiker, ohne dass die ernsthafte Arbeit
der durch Beruf oder Neigung an eine
Section Gefesselten darunter zu leiden
braucht. Ich möchte mich also aus vollem
Herzen denen anschliessen, welche die
Naturforscherversammlung für eine sehr
nützliche Einrichtung halten, und allen
Collegen zu öfterer Theilnahme rathen.
Es kehrt Niemand ohne Anregung und
Erhebung zu des Tages Arbeit zurück.
Wenn ich an dieser Stelle zur Organisation
der Versammlung einen Wunsch äussern
dürfte, so wäre es der um Freigabe des
ganzen dritten Tages für die Sections-
arbeiten, unter Ausfall der gemeinschaft¬
lichen Sitzung beider Hauptgruppen. Diese
letztere ist doch nur eine andere Form einer
dritten allgemeinen Sitzung, auf die zu ver¬
zichten man sich seit lange entschlossen
hat. Die Verfügung über zwei volle Tage
hintereinander würde den Abtheilungen
aber die Möglichkeit eines lebendigeren
Zusammenhangs und intensiverer Thätig-
keit gewähren. Dafür würde ich dann Vor¬
schlägen, den Nachmittag des vierten Tages
gänzlich der Erholung frei zu geben, die
den arbeitenden Theilnehmern bisher immer
nur am Abend vergönnt war.
Bevor ich nun zur Berichterstattung
über den Casseler Congress übergehe,
will ich mit vielem Dank die organisa¬
torische Arbeit hervorheben, durch welche
die Casseler Collegen das Gelingen der
Tagung vorbereitet hatten; es hat dies¬
mal wirklich alles vorzüglich „geklappt.“
Auch sei gestattet, einen besonderen Dank
dem „Damencomit£“ abzustatten, welches
mit herzlicher Gastlichkeit seiner Aufgabe
gewaltet hat, und schliesslich gebührt ein
freundlicher Dank dem Museumsdirector
Geh. Rat Eisenmann, welcher uns in reiz¬
vollster Weise die unvergleichlichen Schätze
der Casseler Gemäldegalerie erläuterte.
Aus den allgemeinen Sitzungen.
Obwohl dieser Bericht den ärztlichen
Bedürfnissen angepasst sein soll, möchte
ich doch den gewaltigen Eindruck hervor¬
heben, den der erste Vortrag des Bres¬
lauer Chemikers La den bürg über den
Einfluss der Naturwissenschaften
auf die Weltanschauung hervorrief.
Digitized by Google
Ohne unseren Kenntnissen und Vor¬
stellungen etwas Neues hinzuzufügen,
deckte er die Widersprüche auf zwischen
vielen Glaubenslehren der kirchlichen Ge¬
meinschaften und den unantastbaren Fest¬
stellungen der Naturforschung; er betonte
die absolute Gesetzmässigkeit der Natur¬
erscheinungen, die weder durch Wunder
noch durch das Eingreifen eines persön¬
lichen Gottes jemals gestört wurde. Er
zeigte die Unvereinbarkeit des Unsterb¬
lichkeitsglaubens mit vielen Thatsachen,
insbesondere der Psychiatrie, und hob
hervor, dass die eximirte Stellung des
Menschen unter den Lebewesen durch die
Lehren der Entwickelungsgeschichte be¬
seitigt sei. So sehr übrigens der Redner
die Souveränetät der Naturforschung be¬
tonte, so wenig Aggressives gegen „gläu¬
bige“ Menschen lag in seiner Rede. Es
war auch eine Art von Gottesdienst, wenn
er die Erhabenheit ewiger eherner Gesetze,
denen alle Wesen gehorchen, mit beredten
Worten hervorhob, und wenn schliesslich
seine Rede in eine begeisterte Mahnung
zu werkthätiger Menschenliebe ausklang.
Der stürmische Beifall der sichtlich er¬
regten Hörerschaar zeigte, wie viele ver¬
wandte Empfindungsseiten der Redner in
Schwingungen gebracht hatte. Mag der
Vortrag immerhin auch in Manchen wider-
streitende Gefühle wecken, er zog doch die
allgemeineVersammlungauf das hohe Niveau
der naturwissenschaftlichen Forschungser¬
gebnisse und machte sie zu einem Areopag.
von welchem eine machtvolle Einwirkung
auf das Geistesleben der Nation ausgeübt
wird.
Den zweiten Vortrag hielt der neuer¬
nannte Hallenser Psychiater Ziehen über
die physiologische Psychologie der
Gefühle und Affecte. In demselben
erörterte er die Vorstellungen, die er
aus seinen zahlreichen Untersuchungen
über die „Reactionszeit“ in verschiedenen
Affecten bei Geistesgesunden und Kranken
gewonnen hat. Der Sitz der Affecte
liegt zweifellos in der Hirnrinde. Der
gefühlserzeugende Process ist die Hirn¬
rinden Erregung, Gefühlstöne und Affecte
sind niemals von Empfindungen und
Vorstellungen unabhängig. Es ist völlig
sichergestellt, dass auch die scheinbar
selbständigsten Stimmungen von nachzu¬
weisenden primären Empfindungen und
Vorstellungen ausgehen. Die Ablaufszeit
derselben ist eben die Reactionszeit,
welche sich mit grosser Exactheit fest¬
stellen lässt. Es hat sich nun zeigen
lassen, dass positive Affecte den Vor-
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
October
459
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Stellungsablauf beschleunigen, während
negative ihn herabsetzen. Indessen handelt
es sich nicht bei positiven Affecten um
gesteigerte, bei negativen um verminderte
Erregbarkeit. Es werden vielmehr in
Depressionszuständen Unlustvorstellungen
ebenso rasch erweckt, wie Lustgefühle bei
Heiterkeitszuständen; die Erregbarkeit der
Hirnrinde bleibt unverändert. Auch die
Intensität der Erregung ist unbeeinflusst
von der Art des Gefühlstons; negative
Affecte sind oft sehr intensiv. Das Wesen
der Aftecte beruht auf der Entladungs-
Fähigkeit und Bereitschaft. Bei positiven
Affecten besteht Steigerung, bei negativen
Herabsetzung der Entladungsfähigkeit.
Lustgefühle führen zu schnellen Ent¬
ladungen, weswegen sie auch schnell
verklingen. Negative Affecte zeigen lang¬
same Entladung, sie dauern lange Zeit, in
ihnen besteht eine Unlust zur Thätigkeit.
Die Verlangsamung der Entladungsfähigkeit
zeigt der Redner eingehend am klinischen
Bilde des Melancholikers, bei dem die ein¬
fachsten psychischen Operationen gehemmt
erscheinen, während unter Umständen die
aufgespeicherten Erregungsreize zu explo¬
siven Entladungen (gewaltsamen Hand¬
lungen, Selbstmord) führen können. Eine
anatomische Localisation der Affecte ist
unmöglich, danach zu suchen völlig aus¬
sichtslos.
Die zweite allgemeine Sitzung am
Schlusstag des Congresses brachte nach
einem Vortrag des englischen Chemikers
Ramsay über das periodische System der
Elemente einen Vortrag von Griesbach
(Mühlhausen) über den Stand der Schul¬
hygiene. Aus diesem Vortrag möchte ich
die Bemerkungen über die Schularzt-
frage herausheben. In 65 % der mittleren
und Volksschulen sind Schulärzte bisher
nicht angestellt; an höheren Schulen giebt
es solche vorläufig nur in Sachsen-Meinin¬
gen. Dabei wird der schulärztliche Dienst
noch sehr verschieden ausgeübt, während
Einheitlichkeit doch äusserst wichtig wäre;
auch die Zahl der auf einen Arzt kommen¬
den Schüler ist noch sehr verschieden.
Wenn 1200—2000 Kinder auf einen Arzt
kommen, sei die Herbeiziehung von Spe-
cialitäten nothwendig, namentlich bei dem
ausserordentlichen Procentsatz von Seh¬
störungen. Das Vertrauen der Eltern zu
den Schulärzten hat sich als ein sehr
grosses erwiesen; von 5000 Kindern haben
sich nur 8 der schulärztlichen Untersuchung
entzogen. Die Ausdehnung dieses Dienstes
aufTöchterschulen ist dringend nothwendig.
ln Bezug auf die Hygiene des Unterrichts
Digitized by Google
empfiehlt G. weitgehende Abstriche an dem
jetzigen Lehrplan, da namentlich in den
unteren Klassen das Gehirn überanstrengt
würde; besonders die den alten Sprachen
gewidmete Stundenzahl sei zu beschränken,
und der Nachmittagsunterricht aufzuheben;
dafür seien Spiele und gymnastische Uebun-
gen im Freien einzusetzen. Auch der Re¬
ligionsunterricht nehme zu viel Zeit in An¬
spruch; mindestens soll er mit dem Kon¬
firmationsunterricht abschliessen. Zum
Schluss plädirte G. für Abschaffung des Abi¬
turientenexamens, das oft genug eine ganz
schädliche Ueberreizung des Nervensystems
herbeiführe.
Das Ende der Tagung bildete der
mit Spannung erwartete Vortrag Beh¬
rings über die Tuberkulosebekämpf¬
ung. B. sprach zuerst über die ausser¬
ordentliche Verbreitung der Tuberkulose
beim Rindvieh, welche er durch seine neue
Schutzimpfungsmethode mittels abge¬
schwächter Tuberkelbacillen (vgl. diese
Zeitschr. S. 263) in grösstem Umfange be¬
kämpfen will. Seine weitverzweigten Un¬
tersuchungen sind so weit gediehen, dass
er die Sicherheit seiner Schutzimpfung für
erwiesen hält. Die Ausrottung der Rinder¬
tuberkulose ist bloss noch eine Frage der
gewissenhaften und technisch einwandfreien
Ausführung der Schutzimpfungen; daneben
allerdings auch noch eine Frage der Zeit.
In der Milch der hoch immunisierten Kühe
hofft nun Behring ein Kampfmittel gegen
die menschliche Tuberkulose in die Hände
zu bekommen, dem sich keins der bisher
bekannten Tuberkulosemittel auch nur an¬
nähernd an die Seite stellen lässt. Zu¬
gleich erklärte aber der Vortragende ganz
bestimmt, dass er seine Heilmittel nicht
eher an Patienten abgeben werde, als bis
ihre therapeutische Wirksamkeit in zweifel¬
losen Versuchen bewiesen sein würde.
Danach ging Behring auf die Beziehungen
zwischen den Tuberkelbacillen des Men¬
schen und des Rindes ein und stellte sich
in stricten Gegensatz zu der Kochschen
These von der Artverschiedenheit dersel¬
ben ; er hält sie vielmehr für nur gradver-
schieden, aber artgleich. — Danach ging
der Vortragende auf die Menschentuber¬
kulose über, deren ungeahnt weite Ver¬
breitung er hervorhob. Nach den Unter¬
suchungen von Naegeli in Zürich wurden
in jeder Leiche von Menschen, die über
30 Jahr alt verstorben waren, Zeichen statt¬
gehabter Infection mit Tuberkulose vorge¬
funden. Im Alter von 18 bis 30 Jahren
waren 96%, im Alter von 14—18 Jahren
50%, von 5—14 Jahren 33%, von 1 bis
58*
Original from
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Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
5 Jahren 17 o/ 0 mit tuberkulösen Herden
behaftet, während kindliche Leichen bis zu
1 Jahr keine tuberkulösen Herderkrankun¬
gen zeigten. An Menschen hat ein öster¬
reichischer Stabsarzt Dr. Franz in der
Herzegowina ein analoges Resultat erzielt,
in dem er bei Injection von 3 mg Tuber-
culin über 60 %, bei Injection von 10 mg
sogar 96 °/ 0 positive Reaction fand. Da¬
nach ist B. überzeugt, dass die Bevölkerung
in dicht zusammenlebenden Schichten all¬
gemein tuberkulose-durchseucht sei und
dass durch Absperrung und Desinfection
nichts zu nützen sei. Aber die tuberkulöse
Infection bedeutet durchaus nicht dasselbe
wie tuberkulöse Schwindsucht. Gerade die
ungeahnte Ausdehnung der tuberkulösen
Infection ohne folgende Erkrankung be¬
weist die spontane Heilbarkeit der Tuber¬
kulose. Es gelten dieselben Verhältnisse
wie früher bei der Diphtherie, bei denen
die leichteren Infectionen zur Heilung, die
schwereren zum Tode führten. In Be¬
zug auf die Entstehung der Lungentuber¬
kulose beim Menschen hält B. die gewöhn¬
liche Annahme von der Ansteckung durch
Inhalation für gänzlich unbewiesen. Ebenso
wen ig glaubt er an die entscheidende Be¬
deutung erblicher Factoren; weder die Ver¬
erbung der körperlichen Disposition noch
des Tuberkelbacillus spiele eine practisch-
wichtige Rolle. Behring hat sich vielmehr
die Anschauung gebildet, dass die Haupt¬
quelle für die Schwindsuchtsentstehung in
der Säuglingsmilch gelegen sei. Der
menschliche Säugling entbehrt wie die
thierischen Säuglinge in seinem Verdau¬
ungsapparat der Schutzeinrichtungen,
welche im erwachsenen Zustand normaler
Weise das Eindringen von Krankheitserre¬
gern in die Gewebssäfte verhindern. Beh¬
ring führt nun aus, dass während der aller¬
ersten Kindheit mit der Milch stomachal
importirte Tuberkelbacillen die schutzlose
Darmschleimhaut passiren und im Körper
abgelegt werden und dass es dann viele
Jahre dauern kann, ehe die Infection zur
manifesten Krankheit führt. Ungünstige
Lebensbedingungen führen den Ausbruch
derselben herbei. Auf diese Anschauungen
und Fesstellungen baut nun Behring fol¬
genden Plan der Tuberkulosebekämpfung
auf. Für Säuglinge ist tuberkelbacillenfreie
Milch unbedingt nötig; junge Kinder sind
von hustenden Phthisikern fernzuhalten.
Desgleichen ist jeder ältere Mensch vor
Berührung mitTuberkelbacillen zu schützen,
wenn er in Verdauungsstörungen, Darm¬
krankheiten oder in der Reconvalescenz ex-
anthematischer Krankheiten Epitheldefecte
im Darmkanal hat. Bei Verdacht stattge¬
habter Tuberkulose-Infection ist auf die
Besserung des allgemeinen Kräftezustandes
hauptsächlich durch die Ernährung Werth
zu legen. Hierzu können die Lungenheil¬
stätten mithelfen. Behring hofft mit der
Zeit alle Schwindsuchtsheilstätten über¬
flüssig zu machen sowohl durch die Milch¬
überwachung im Säuglingsalter als auch
durch die schliessliche Anwendung der bei
der Rindertuberkulose erprobten Impf¬
methoden.
In der gemeinschaftlichen Sitzung der
medicinischen und naturwissenschaftlichen
Hauptgruppe
hielt zunächst Professor Schwalbe (Strass¬
burg) einen Vortrag über die Vorge¬
schichte des Menschen, in welchem er
unsere Abstammung von fossilen Affen¬
geschlechtern als bewiesen hinstellte,
übrigens auf die vielen Streitfragen und
Lücken auf diesem Gebiet mit hohem wissen¬
schaftlichen Ernst hinwies.
Danach sprach Sanitätsrath Alsberg
(Cassel) über erbliche Entartung in¬
folge socialer Einflüsse. Der Vor¬
tragende glaubte aus verschiedenen statisti¬
schen Zusammenstellungen eine Verschlech¬
terung unserer Rasse erschlossen zu können.
Unter den Ursachen beschuldigt er den
Alkoholmissbrauch und die Geschlechts¬
krankheiten, sowie insbesondere dasZurück-
drängen des natürlichen Auslesegesetzes
infolge der fortschreitenden Kultur, die
längere Erhaltung der Schwachen und
Kranken. Als Entartungsthatsachen und
Symptome bezeichnet Alsberg die zu¬
nehmenden Erkrankungen des Nerven¬
systems und Gehirns, dieZunahme derKurz-
sichtigkeit, der Zahncaries, der Knochen¬
deformitäten, namentlich der weiblichen
Beckenknochen, der Verminderung der
Stillfähigkeit der Frau. Durch diese letztere
wiederum wird die erschreckende Zunahme
der Kindersterblichkeit bedingt. Abhilfe
erhofft der Redner von rassehygienischen
Maassnahmen, welche die Erzeugung krank¬
hafter Nachkommen soviel wie möglich
einschränken sollen. Er rechnet auf die
Zunahme des sittlichen Pflichtgefühls in
der Nation, wünscht aber zugleich eine
Untersuchung aller Heirathskandidaten
durch beamtete Aerzte! Er schloss mit
einem Appell an Volk und Behörden, für
gesunde und starke Nachkommenschaft zu
sorgen.
Zum Schluss sprach Prof. Conwentz
(Jena) über Erhaltung von Natur-Denk¬
mälern.
Digitized b'
■V Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Oetobcr
Die Therapie der Gegenwart 1903.
461
Die medicinische Hanptgruppe
machte die Einwirkungen des Lichts
auf den Menschen zum Gegenstand der
Verhandlung.
Ueber die physiologischen Wirkungen
des Lichts sprach P. Jensen (Breslau).
Unter den Lichtreactionen des Menschen
unterscheidet er diejenigen der Haut und
der Augen. Die erstere wird durch allzu
starkes Licht in Entzündung versetzt, wie
das Sonnenekzem und der Gletscherbrand
lehren. Massige Belichtung fördert den
Stoffwechsel der Haut und macht sie
widerstandsfähiger; es ist möglich, dass
sich diese Stoffwechselsteigerung mittelst
des Nervensystems auf die übrigen Organe
fortpflanzt, aber diese Fernwirkung ist
jedenfalls sehr geringfügig. Auch die
specifischen Lichtreactionen des Auges be¬
stehen in Stoffwechseländerungen und zwar
der Netzhautelemente; auch von hier aus
werden durch das Centralnervensystem dem
ganzen Körper gelinde Stoffwechselantriebe
erteilt. Die Bedeutung des Lichts für das
körperliche Leben darf aber nicht über¬
schätzt werden; denn auch Blinde und
solche, deren Haut wegen sehr dichter
Kleidung dauernd unbelichtet ist, leben
ohne Störung weiter. Von viel grösserer
Bedeutung für die Menschen und Thiere
sind die Lichtreactionen ihrer Umgebung.
Die grünen Pflanzen, welche für unser
Leben unentbehrlich sind, können ohne
Licht, besonders ohne rothe Strahlen, nicht
leben. Hinzukommt die Fähigkeit inten¬
siver Strahlung, Bacterien in ihrer Ent¬
wickelung zu hemmen oder zu töten.
Höchste Bedeutung hat das Licht für unser
geistiges Leben und unsere Kultur.
Die bisherigen Erfolge der Licht¬
therapie erörterte H. Rieder (München).
Natürliche Lichtquellen werden in LufUicht-
und Sonnenbädern therapeutisch ausgenutzt.
Beim Luftbad handelt es sich um die
Wirkung eines thermisch - mechanischen
Reizes, der durch die bewegte Luft auf
die entblösste Haut ausgeübt wird, während
die Lichtwirkung kaum in Betracht kommt.
Eis leistet gute Zwecke zur Abhärtung,
auch wohl zur Behandlung der Skrophulose
und Rachitis. Das Sonnenbad regt die
Circulation und Secretion in der Haut an
(Röthung und Schweiss), wodurch das Blut
aus den inneren Theilen abgeleitet und
eventuelle Schädlichkeiten ausgeschieden
werden. Die Hauptwirkung kommt dabei
den Wärmestrahlen zu; die therapeutische
Verwendung kann überall stattfinden, wo
Schweissbildung erwünscht ist. Von künst¬
lichen Lichtarten wird das elektrische Glüh-
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und Bogenlicht verwendet. Das Glühlicht¬
bad, in Form der bekannten mit Spiegel¬
glas ausgekleideten Holzkästen angewendet,
kann als ein sehr angenehmes, bequemes,
wirksames Schwitzbad bezeichnet werden,
welches auch nervösen schwächlichen
Patienten und Reconvalescenten unbedenk¬
lich verabfolgt werden kann, vorausgesetzt,
dass während des Schwitzens Kopf und
eventuell auch Herzgegend durch kaltes
Wasser gekühlt wird. Die örtliche Be¬
strahlung einzelner Körpertheile durch
Glühlicht, behufs Aufsaugung krankhafter
Producte, wird besser durch Heissluft¬
apparate ersetzt, weil diese höhere Wärme¬
grade liefern und besser ertragen werden.
— Das elektrische Bogenlicht, auf welches
wegen der chemisch wirksamen Strahlen
grosse Hoffnungen geknüpft wurden, hat
sich in unconcentrirter Form nirgends be¬
währt und verdient keine Anwendung.
Um das elektrische Bogenlicht zur Be¬
handlung von Hautkrankheiten zu ver¬
wenden, muss dasselbe stark concentrirt
werden. Durch Anwendung grosser Strom¬
stärke, Concentration des Lichtes durch
Quarzlinsen sowie Beseitigung des grössten
Teiles der Wärmestrahlen hat Finsen
(Kopenhagen) im Jahre 1893 ein äusserst
wirksames Licht geschaffen. Aber erst
wenn das Blut, welches die Lichtstrahlen
stark absorbirt und ihrem tieferen Ein¬
dringen in die Haut hinderlich ist, aus
derselben verdrängt wird, gelingt es, eine
genügend starke, zur Heilwirkung noth-
wendige künstliche Lichtentzündung der
Haut zu erzeugen. Die Versuche, an
Stelle des Kohlenbogenlichtes das Eisen¬
licht , welches noch mehr ultraviolette
Strahlen als jenes enthält, zu verwenden,
haben sich nach Rieder nicht bewährt,
weil diese Strahlen schon in den ober¬
flächlichen Hautschichten aufgesaugt werden
und demnach nicht in grössere Tiefe wirken
können. Ein vollgültiger Ersatz für den
kostspieligen, aber sehr wirksamen Licht¬
sammelapparat von Finsen ist bisher noch
nicht geschaffen worden, wenn auch die
von Strebei neuestens konstruirte Kohlen¬
bogenlampe in dieser Hinsicht gute Aus¬
sichten eröffnet.
Wie bei der Verwendung der Röntgen¬
strahlen handelt es sich auch beim Lichte
um eine entzündungserregende Wirkung,
welche allmählich in die Tiefe weiter¬
schreitet und ein Zugrundegehen der Ba¬
cillen bedingt, indem ihr Nährboden durch
die im Gewebe sich abspielenden entzünd¬
lichen Processe für ihre Lebensbedingungen
untauglich gemacht wird.
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
462
J
Die Therapie der Gegenwart 1903. October
Die Bestrahlung mit concentrirtem elek¬
trischem Licht nach Finsen ist schmerz¬
los und unschädlich; sie zerstört nur er¬
krankte Gewebe, während das gesunde er¬
halten bleibt. Nach Rieder kann die
Finsenbehandlung in den meisten Fällen
durch Röntgenbehandlung ersetzt werden;
die Anwendung der letzteren setzt sehr
grosse Sachkenntnis und äusserste Vor¬
sicht voraus, da sich vielfach unliebsame
Entzündungen auf der Haut nachträglich
gezeigt haben. Das Finsenlicht hat sich
glänzend gegen Lupus bewährt (in Kopen¬
hagen 85 % Heilung), die Behandlung
dauert freilich ^ 2 —1 Jahr. Röntgen¬
strahlen dienen bei milder Belichtung zur
Anregung des Haarwuchses, in intensiver
Anwendung zur Enthaarung; auch bei pa¬
rasitären Haarkrankheiten hat sich die
Radiotherapie bewährt, desgleichen bei
vielen Hautkrankheiten. Hautkrebse sind
durch Röntgenstrahlen heilbar, selbst bei
tiefergehenden Carcinomen kann Stillstand
im Wachstum und Nachlass der Schmerzen
erzielt werden 1 ). — Gewöhnlich wird weisses
Licht therapeutisch angewendet, doch kann
durch Filtration desselben durch farbiges
Glas oder wässrige Farblösungen auch
farbiges Licht hergestellt werden (Chro-
motherapie). Blaues Licht soll beruhigen,
rothes erregend wirken. Insbesonders soll
der Aufenthalt in roth belichteten Räumen
auf die Narbenbildung bei Pocken, sowie
die Heilung acuter Exantheme günstig
einwirken. Dem Heilerfolg blauen Lichts
bei Nervenkrankheiten steht Rieder
skeptisch gegenüber.
Aus der Abtheilung für Innere Medlcin.
Die Verhandlungen wurden begonnen
mit einem Vortrag des Petersburger Che¬
mikers von Poehl, über die Verwendung
physiologischer Katalysatore als Heilmittel.
Unter Katalysatoren versteht von Poehl
solche Stoffe, welche die Zeitdauer der
Reactionen beeinflussen und ohne deren
Mitwirkung die Erhaltung des Lebens und
die Beschaffung der erforderlichen Energie
undenkbar ist. Er unterscheidet positive
und negative, allgemeine und specifische
Katalysatoren. Allgemeine Katalysatoren
sind Spermin und Adrenalin. Specifische
Katalysatoren sind solche Körper, welche
die Funktion eines Organs oder die Ge-
websathmung desselben beeinflussen. Für
therapeutische Zwecke hat von Poehl
„synergetische Gruppen von Leukomainen“
gewonnen wie z. B. Cerebrin, Ovarin,
*) Vergleiche den Bericht über die chirurgische
Abtheilung S. 468.
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Mammin etc. Das Cerebrin beeinflusst
katalytisch die Excretion der Nierenstoff-
wechselproducte und hilft bei Epilepsie,
Neurasthenie und Alkoholismus, das Ovarin
bei Klimacterium, das Mammin bei Uterus¬
myom! Man darf wohl Herrn Naunyn
besonderen Dank wissen, dass er in einer
energischen Bemerkung darauf hinwies, dass
es sich bei diesem Vortrag um lauter Worte
ohne eigentlichen Inhalt handele und dass
keine der Behauptungen des Vortragenden
irgendwie bewiesen wäre. Es ist wohl zu
hoffen, dassnach dieser Kennzeichnung durch
einen der anerkanntesten und verehrtesten
Führer der deutschen MedicinHerr v.Poehl
sich nicht mehr zu ähnlichen Vorträgen in
deutschen Versammlungen einfinden wird.
Danach sprach Hr. Schottelius (Frei¬
burg) über die Eintrittspforten der Pest-
infection. Er hält die Pest für eine Wund-
infectionskrankheit, die nur bei empfäng¬
lichen, schlecht genährten Individuen sich
entwickele. Die Infection geschieht meist
von kleinen Hautwunden, die leicht über¬
sehen werden. Sie könne auch vom Munde
aus stattfinden, aber nicht durch directe
Inhalation, sondern durch kleine Risse in
der Mundschleimhaut und im Isthmus fau-
cium, von wo dann die Halsdrüsen inficirt
werden und von diesen durch Lymph-
bahnen die Pleura. Primäre Lungenpest
durch Inhalation ist jedenfalls sehr selten.
Durch den Nachweis von Pestbacillen im
Auswurf werde sie nicht bewiesen, da
alle Pestkranken Bronchitis oder hyposta¬
tische Pneumonie mit Ausscheidung von
Pestbacillen bekommen. Die Infections-
gefahr für Europäer hält Schottelius für
sehr gering, da Aerzte und Pfleger in In¬
dien sehr selten erkranken (von 98 Diako¬
nissen nur 3). Doch solle man die Gefahr
für Europa nicht unterschätzen, da es auch
in den Epidemieen vergangener Jahr¬
hunderte 50 Jahre gedauert hat, ehe die
Pest von Asien nach Europa kam. Es
wäre wohl möglich, dass eine allmähliche
Anpassung des Pestbacillus an das euro¬
päische Klima einträte. Uebrigens befällt
die Pest auch in Indien nur unterernährte,
schlechtversorgte Menschen.
In der Discussion berichtet Kraus über
den in Berlin vorgekommenen Pestfall, bei
dem ein Nasenausfluss wie bei maligner
Diphtherie bestand. Als differential-dia¬
gnostisches Mittel für Infection vom Munde
aus bezeichnet er den Halsbubo.
Rumpel (Hamburg) hat in einem Fall
die Pestdiagnose stellen können, indem er
20 ccm Blut aus der Armvene auf eine
Nährplatte ausgoss und Pestbacillen wachsen
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
October
Die Therapie der Gegenwart 1903.
463
sah; er empfiehlt danach die Blutbacterio-
skopie als wichtiges diagnostisches Mittel.
Eine Gedächtnissrede auf Virchow
namentlich in seinen Beziehungen zur
inneren Medicin hielt Ebstein (Göttingen.)
Er erwähnte Virchow’s Reden über die
Ausbildung der Aerzte, seine litterarischen
Verdienste um die practische Medicin,
seine Bemühungen um die Verknüpfung
socialer Reformen mit der Medicin, schliess¬
lich seine Stellung als Arzt der Gefangenen¬
station in der Charite und seine gelegent¬
lichen Aeusserungen über die Therapie,
deren nihilistische Strömungen er ver¬
urteilte. Die schönen Bemerkungen über
allgemeine Therapie, die Virchow 1899 in
dieser Zeitschrift niedergelegt hat, sind dem
Vortragenden leider entgangen. Der Schluss¬
mahnung Ebstein’s, wir sollten Vir-
chow’s Andenken nichtnurdurch das Denk-
mal ehren,sondern indem wir seine Schriften '
studiren und das Fördernde herausnehmen,
stimmte die Abtheilung lebhaft zu.
Ad. Schmidt (Dresden) berichtete über
die Anwendung des Menzer’sehen Anti¬
streptococcenserum bei Gelenkrheuma¬
tismus. Es wurden 8 subacute und
3 chronische neben 4 acuten behandelt.
15—20 ccm wurden täglich in der Nähe
der befallenen Gelenke injicirt, die Ein¬
spritzung bis zu 8 mal wiederholt. Eine
specifische Reaction fehlte, dagegen meist
ausgesprochene locale Rötung und Schwel¬
lung. In 6 Fällen war deutlich objectiver
Erfolg, 5 mal war die Behandlung erfolg¬
los, 4 mal wurde subjective Erleichterung
erzielt. Schmidt empfiehlt die Menzer-
schen Injectionen für die subacuten Fälle,
bei denen alle anderen Methoden versagt
haben. Kraus (Berlin) schiiesst sich der
Empfehlung für solche Fälle an, die zwi¬
schen acutem und chronisch productivem
Verlauf stehen; er hat dabei bessere Be¬
weglichkeit der Gelenke ohne Abschwellen
gesehen; er warnt vor der Anwendung in
acuten Fällen, bei denen die Gefahr
schlimmer Complication (Pericarditis, Pleu¬
ritis) drohe.
Zur Anwendung von Nährklystiren
empfiehlt A. Schmidt eine fertige Mi¬
schung von 250 ccm 0,9 % Kochsalzlösung
50 g Dextrin und 20 g Nährstoff Heyden,
die im zugeschmolzenen Glasrohr sterili-
sirt sind; das Glasrohr kann nach Ab¬
brechen der Spitze direct als Irrigator
dienen. Leider steht der Preis (4,50 M.
für 1 Klystier) der allgemeinen Anwendung
im Wege.
Prof. Dam sch (Göttingen) berichtete
über 4 Fälle chronisch interstitieller Pneu-
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monie, die Jahre lang ohne Fieber ver¬
liefen und unter den Symptomen der
fibrösen Induration schliesslich zu functio-
neller Insufficienz des Herzens führten.
Augenscheinlich hat das Symptomenbild
eine grosse Aehnlichkeit einerseits mit den
postpneumonischen Lungenschrumpfungen,
andererseits mit der chronisch-indurativen
Form der Lungenphthise. Nach Damsch
aber handelt es sich in seinen Formen um
idiopathische Erkrankungen dunklen Ur¬
sprungs, bei denen es nur zur Starrheit,
aber nicht zur Schrumpfung der Lungen
kommt und bei denen Tuberkelbacillen nie¬
mals Vorkommen. In der Discussion be¬
tonte Rumpf, dass er in ähnlichen Fällen
doch schliesslich Tuberkulose habe nach-
weisen können, während Bäumler zeit¬
weises Fieber beobachtet hat. Auch Litten
hat derartige schleichende Pneumonien
ohne grosse Bronchiektasien und Schrump¬
fungen nicht gesehen.
Dr. Delius (Hannover), der sich seit
längerer Zeit mit der specialistischen Aus¬
übung der Hypnose beschäftigt, hielt einen
Vortrag über die Behandlung der functio-
nellen Störungen des Stuhlgangs, besonders
der Obstipation durch hypnotische
Suggestion. Der Vortragende glaubt, dass
für die Stuhlentleerung neben dem auf das
Rectum ausgeübten Reiz der angesammel¬
ten Kothmassen vor allem „centrale Auto¬
matismen“ in Betracht kommen, die ihrer¬
seits unter dem Einfluss von Zeit- und an¬
deren Vorstellungsassociationen stehen.
Bekannt ist die auffallende zeitliche Gleich-
mässigkeit der Defäcation bei vielen Men¬
schen und ihre Abhängigkeit von dem
Glauben, dass dies und jenes hemmend
oder fördernd einwirkt. Als wichtigste
Ursache der Verstopfung bezeichnet De¬
lius die Trägheit der Innervation des
Sympathicus, bezw. das Fehlen der diese
Innervation erregenden Reize. Abführ¬
mittel und Klystire hält er für direct
schädlich, da sie den Darm an grössere
Reize gewöhnen und beim Patienten die
Vorstellung fixiren, dass es ohne Hilfe
nicht geht. Dagegen werden die „trägen
Automatismen“ durch hypnotische Sug¬
gestion wieder angeregt, und man kann
die unbewussten Automatismen wieder an
die Norm gewöhnen, indem man täglich
zur bestimmten Zeit „eine kräftige Inner¬
vationswelle“ erfolgen lässt. Die Erfolge,
welche durch Massage und Elektrisiren
erzielt worden sind, schreibt der Vor¬
tragende alle auf’s Conto der Suggestion
(„Wachsuggestion“) und vergleicht sie mit
den Erfolgen der Gebetsheilung; ungleich
i
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
464
Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
1
sicherer wirke die hypnotische Suggestion,
und zwar um so nachhaltiger, je tiefer sie
ist. Die Patienten sind in verschiedenem
Grade hypnotisirbar; einige wenige gar
nicht (2%), einige nur bis zu leichter Schläf¬
rigkeit (3°/ 0 ), die überwiegende Mehrzahl
(75°/o) gerathen in einen kataleptischen
Zustand vollkommener Automatie, doch
ohne Amnesie, während 20% in wahren
Somnabulismus mit nachheriger Amnesie
verfallen, Der Vortragende legte eine
sehr detaillirte Tabelle über 84 Kranke
vor, unter denen nur 4 gänzlich unbeein¬
flusst blieben, während 13 gebessert, 67
gänzlich geheilt wurden. Hiervon haben
32 durch spätere Nachricht die Dauer¬
heilung bis nach 7 % Jahren bekundet.
Diese Mittheilung bildet jedenfalls einen
interessanten Beleg für den mächtigen
Einfluss, die der Arzt durch seine Persön¬
lichkeit auf die dem Nervensystem unter¬
stehenden Functionen seiner Patienten aus¬
zuüben vermag.
Dr. Fisch (Franzensbad) demonstrirte
Badetabletten, durch welche eine genaue
Dosirung künstlicher Kohlensäure¬
bäder bewirkt werden soll. Durch Zusatz
derselben kann man nach Belieben dem
Bade einen Gehalt von 1—3o/ 0 Kochsalz
sowie von 0—210 1 CO 2 verleihen. Diese
Tabletten werden in der Fabrik des
Dr. Sedlitzki in Hallein (Oesterreich)
hergestellt und verdienen wohl bei Herz¬
kranken geeignetenfalls erprobt zu werden.
Dr. Katz (Berlin) sprach über Deutsch-
Südwestafrika als klimatischen Cur-
aufenthalt für Tuberkulöse. Er führte
ungefähr Folgendes aus: Es gibt zwei
Mängel, wenn man heute tuberkulöse
Patienten in klimatische Curorte oder
Heilanstalten schickt. Erstens kommt der
Patient nach kürzerer oder längerer Zeit
wieder in seine alten, schlechten Lebens¬
bedingungen zurück, zweitens wird der
Wenigbemittelte durch den Müssiggang
der Heilstätten jeder Arbeit entwöhnt.
Wir müssen also suchen, den Kranken
dauernd den Schädlichkeiten seinerHeimath
zu entziehen. In Deutsch - Südwestafrika
bietet sich uns nun ein Land, in dem für
Lungenkranke vorzüglich günstige klima¬
tische Verhältnisse herrschen und reichlich
Arbeitsgelegenheit vorhanden ist. In
unseren Kolonien ist eine sehr gleich-
mässige Jahrestemperatur, die Tages- und
Nachtschwankungen sind beträchtlich, so-
dass dort die Nachtluft kühl und erquickend
ist. Während des Winters kann man den
ganzen Tag im Freien sitzen. Die Luft
ist rein und trocken, der Himmel ewig
heiter und blau, wie in Griechenland; kurz,
unsere Kolonien sind das geeignetste Land
für Lungenkranke. Natürlich dürfen wir
nur Leute hinschicken, die bei ihrer Er¬
krankung noch einigermassen arbeitsfähig
sind. Besonders wäre die Ansiedelung
schwächlich gebauter junger Leute mit
Tuberkulose-Disposition anzurathen. Die
Kolonisten kaufen sich dort eine Farm,
die zu dem Preise von 40—50000 Mk. er¬
worben werden kann. Die Zahlung des
Kapitals kann ratenweise erfolgen. Damit
ist ihnen ein gutes Auskommen gesichert;
ja bei einiger Tüchtigkeit kann durch An¬
lage von Seidenspinnereien, Tabaks¬
pflanzung u. s. w. ein erheblicher Gewinn
erzielt werden. Weniger kapitalskräftige
Leute können als Verwalter, Beamte, Ar¬
beiter in solche Farmen ein treten. Gegen
die weite Reise und Seefahrt ist vom
ärztlichen Standpunkt aus nichts einzu¬
wenden. Gerade die Seefahrt ist für
Lungenkranke besonders geeignet, hat
man doch gerade für Tuberkulöse so¬
genannte schwimmende Sanatorien erbauen
lassen. — Zweckmässig wäre es, wenn in
der Nähe der Häfen grosse Sanatorien
von deutschen Aerzten eingerichtet würden.
Dort könnten die Ankommenden sogleich
nach Ankunft Unterkunft finden. Dort
sollten sie die ersten Wochen zubringen,
um sich zu acclimatisiren und sich all¬
mählich an ihre neue Thätigkeit zu ge¬
wöhnen. — Nach seinem Vortrag liess
Dr. Katz eine öffentliche Aufforderung
zum weiteren Studium der klimato-thera-
peutischen Verhältnisse Südwestafrikas
circuliren, welche die Unterstützung Wal-
deyers gefunden hatte und die auch von
zahlreichen Klinikern und Aerzten unter¬
schrieben wurde.
G. Klemperer (Berlin) berichtete über
experimentelle Untersuchungen zur Aetio-
logie des Fiebers, welche sich wegen ihres
rein theoretischen Inhalts vorläufig nicht
zum Referat an dieser Stelle eignen.
Ebensowenig möchte ich referiren über
die Vorträge von Neubauer (München)
über die Natur des Urobilins, sowie von
Falta (Basel) über Alkaptonurie, welche
glänzende physiologisch - chemische That-
sachen zu unserer Kenntniss brachten und
in wissenschaftlicher Beziehung den Ar¬
beiten unserer Section dauernde Bedeutung
verliehen.
Aus dem Vortrag des Berner Physiologen
Professor Asher über Diurese möchte
ich die exacten Feststellungen der Wechsel¬
beziehung zwischen Niere und anderen
Organen hervorheben. Bekanntlich erregt
Oktober
465
Die Therapie der
Pilocarpin eine ausserordentliche Speichel-
serretion, während die Nierenarbeit da¬
durch weder positiv noch negativ beein¬
flusst wird. Wenn nun beim Hunde die
Speicheldrüsen durch Pilocarpin in Thätig-
keit gesetzt werden, so sinkt die Nieren-
thätigkeit und kann auch durch stärkste
Diuretica bei dauernder Pilocarpinwirkung
nicht entsprechend erhöht werden. Selbst
die enorme Anregung der Nierenthätigkeit
durch Kochsalzinfusion, welche eine hydrä-
mische Plethora erzeugt, wirkt nur sehr
gering. Andererseits ist experimentell zu
beweisen, was wir ja aus der Klinik wissen,
dass Resorptionen sich aus serösen Höhlen
schneller als gewöhnlich vollziehen, wenn
die Diurese angeregt wird. Wie sind
die geheimnisvollen Wechselbeziehungen
zwischen Niere und anderen Organen zu
erklären? Eine active Anpassung der
Niere muss angenommen werden. Sonst
wäre z. B. nicht zu verstehen, wieso die
Niere bei Kochsalzhunger weniger Koch¬
salz absondert, während der Kochsalz¬
gehalt des Blutes constant bleibt. Der
Vortragende nimmt an, dass die Nieren¬
zellen ihre Thätigkeit im Stoffwechsel
ändern, indem sie durch das Lymph- und
Nervensystem Impulse zugeführt erhalten
und an dasselbe Thätigkeitsproducte ab¬
geben. — Der hieran anschliessende Vor¬
trag von Strauss (Berlin) über Kochsalz¬
zufuhr in Herz- und Nierenkrankheiten ist
in diesem Heft abgedruckt.
Von grossem, allgemeinem Interesse
waren die Darlegungen von Franken¬
häuser (Berlin) über die thermische
Wirkung von Salzen auf die Haut,
welche vielleicht geeignet sind, die Wirkung
der Salzbäder auf vielerlei Krankheiten
unserem Verständniss näher zu bringen.
Bekanntlich muss als erwiesen angesehen
werden, dass Salzlösungen die Haut nicht
zu durchdringen vermögen, wie noch letzt¬
hin von den Schülern Kionkas in dieser
Zeitschrift auseinandergesetzt worden ist.
Die Balneologen sind in der peinlichen
Lage, die empirisch feststehenden Wir¬
kungen der Salzbäder auf wissenschaft¬
lichem Wege nicht erklären zu können.
Frankenhäuser glaubt nun den Nach¬
weis erbracht zu haben, dass die Salze
ihre Wirksamkeit auf den Körper ausüben,
gerade weil sie nicht in denselben ein-
dringen, sondern sich auf der Haut aus¬
breiten, ihr anhaften, und ihre physikalische
Oberfläche verändern. Ihre Wirkung ist
also keine chemische, sondern eine
physikalische. Und zwar ist sie eine
ganz eigenartige Wärmewirkung. Während
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Gegen wu; t 1903.
Wasser der gewöhnlichen Atmosphäre
rasch verdunstet, verdunsten wässrige Salz¬
lösungen langsamer, die Verdunstung wird
unter Umständen gleich Null, ja es kann
infolge der Anziehungskraft zwischen Salz
und Wasser an Stelle der Verdunstung die
Aufnahme von Wasser aus der Luft
treten, wie wir das bei allen sogenannten
zerfliesslichen Salzen täglich beobachten.
Nun wird durch Verdunstung Abkühlung,
durch Condensation von Wasser umgekehrt
Erwärmung erzielt. Das geschilderte
Verhalten von Salzlösungen macht sich
daher unmittelbar durch Einwirkung auf
das Thermometer geltend.
So zeigte z. B. bei einer Lufttemperatur
von 14,5° C. ein mit Wasser befeuchtetes
Thermometer 13,0° C., ein mit Kreuznacher
Mutterlauge befeuchtetes Thermometer aber
15,25° C.
Da nun der menschliche Körper fort¬
während Wasser verdunstet, und zwar
einen sehr wesentlichenTheil seinerWärme-
production (regelmässig mehr als 20°/o)
durch Wasserverdunstung verliert, so kann
es für das Befinden nicht gleichgültig sein,
ob seine Oberfläche mit einer künstlichen
Schicht aus solchem die Verdunstung
hemmenden Material überzogen ist.
Frankenhäuser zeigte, dass die Salze
thatsächlich diese Wirkung auch auf der
Haut entfalten, und zwar desto energischer,
je höher die äussere Luftfeuchtigkeit stieg.
Es würde sich also der Patient im Laufe
der Badekur mit einem nach und nach
immer wirksamer werdenden Mantel zu um¬
geben haben, der die Wärme- und Wasser¬
abgabe von der Haut vermindert, die Tem¬
peraturschwankungen mildert, eine bessere
Durchblutung der Haut und dadurch gleich¬
zeitig eine Entlastung des Blutgefässsystems
ermöglicht.
Diese eigenartige thermische Wirkung
ist also als Nachwirkung der Bäder zu
denken; es würden danach die Mineral¬
bäder ein Mittelglied zwischen Wasser¬
behandlung und klimatischen Einflüssen
bilden. Freilich wäre dann die Wirkung
der Mineralbäder von dem betreffenden
Kurort unabhängig und manche Mineral¬
wasser gewiss in Klimaten fern von ihrem
natürlichen Ursprung noch wirksamer. Man
darf von der Nachprüfung der Franken-
häuser’schen Theorie jedenfalls eine Be¬
fruchtung unserer balneologischen Erkennt¬
nis erwarten.
Eine Stärkung der wissenschaftlichen
Balneologie bedeuten auch die Unter¬
suchungen von Löwy und Müller über
den Einfluss der Seebäder und des
59
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
466
Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
Seeklimas auf den Gesammtstoffwechsel
des Menschen. Sie fanden an sich selbst
schon nach den ersten Nordseebadern in
Sylt den Sauerstoffverbrauch und das
Athemvolum beträchtlich vergrössert, wäh¬
rend sich bei einer etwas zarten Frau
keine Vermehrung des O-Verbrauchs er¬
kennen liess. Es ist damit die allgemeine
Erfahrung sanctionirt, dass der Organismus
kräftiger Menschen an der Nordsee eine
gewaltige Anregung erfährt, während
Schwächliche dadurch eher in ihrem Stoff¬
wechsel geschädigt werden. —
Von nicht geringer practischer Bedeu¬
tung war der Vortrag des Prof. Grun-
mach, Leiters des staatlichen Röntgen¬
instituts in Berlin, „über die Leistungen
der X-Strahlen zur Bestimmung der Lage
un[d Grenzen des Herzens“. Was der
Vortragende in methodischer Beziehung
berichtete, deckte sich grösstentheils mit
den Mittheilungen de laCamps im letzten
Heft dieser Zeitschrift. Grunmach hat
mittelst der Orthodiagraphie festgestellt,
dass das gesunde Herz in seinen Grenzen
und seinem Inhalt nicht verändert wird,
weder durch Arbeit noch durch Bewegung
noch durch Alkohol. Ein krankhaft er¬
weitertes Herz lässt sich durch Digitalis,
namentlich bei gleichzeitiger Morphiumgabe,
beträchtlich verkleinern. Wie exact solche
Feststellungen zu machen sind, möge aus
folgendem Beispiel hervorgehen: Bei einem
gesunden Mann von 168 cm Körperlänge
betrug der Flächeninhalt des Herzens
100 qcm; der grösste Längsdurchmesser
13,5 cm; der grösste Querdurchmesser
10,5. Bei einem gleich grossen Mann
mit schwerer Aorteninsufficienz im Sta¬
dium schlimmster Compensationsstörung
betrug der Flächeninhalt 264 qcm, die bei¬
den anderen Maasse 21 bezw. 15. Bei diesem
Kranken ging unter Digitalis und Morphium
der Flächeninhalt auf 200 zurück; bei der
beschwerdefreien Entlassung betrug er
178 qcm. Von grossem Interesse waren
die Versuche mit physikalischer Therapie:
durch keine Art von Hydrotherapie, ins¬
besondere nicht durch C 02 Bäder, liess
sich eine Verkleinerung des Herzvolums
erzielen. Diese Feststellung wird wohl zu
einer etwas bescheideneren Einschätzung
der jetzt vielfach allzusehr gepriesenen
Bäderbehandlung der Herzkrankheiten bei¬
tragen. Dagegen liess sich durch directe
Massage des Herzens eine nachweisbare,
wenn auch nicht sehr beträchtliche Ver¬
kleinerung des vergrösserten Herzens er¬
zielen. Mittelst der Orthodiagraphie hat
Grunmach zahlreiche Herzneurasthe-
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niker untersucht und dabei zuerst eine
Kategorie mit vollkommen normalem Cor,
mit leicht gesteigerter, aber regelmässiger
Pulsfrequenz gefunden. Eine zweite Kate¬
gorie zeigt das Herz ebenfalls nicht ver¬
grössert, jedoch nach abwärts und zur
Seite gelagert, so dass es der Figur einer
Ente vergleichbar ist (Cardioptose). Der
Puls ist regelmässig, oft beschleunigt. In
einer dritten Kategorie ist der Puls auf¬
fallend unregelmässig, so zwar, dass der
2. oder 3. Schlag aussetzt (Pulsus bige-
minus, trigeminus); das Herz ist dabei
leicht vergrössert. In der Discussion hob
Naunyn hervor, dass man diese dritte
Kategorie wohl nicht mehr zu den Ge¬
sunden rechnen dürfe, wie ja die con-
statirte Dilatation beweise; nach seiner
Erfahrung deutet Bigeminie des Pulses
immer auf einen pathologischen Zustand
des Herzens. — Prof. Grunmach hat
nun das orthodiagraphische Verfahren zur
Nachprüfung der Untersuchungsmethoden
von Dr. Smith benutzt, „welcher jetzt in
Berlin eine so bedenkliche Rolle spielt“.
Es zeigte sich in 100 untersuchten Fällen,
dass die mit dem Phonendoskop nach
Smith gefundenen Ergebnisse 86mal der
Wirklichkeit nicht entsprachen. Oft lag
das nach Smith umgrenzte Herz ganz
wo anders als da, wo die Orthodiagraphie
die wirkliche Lage zeigte. Uebrigens
wurden die Untersuchungen von zwei
Assistenten ausgeführt, die die Methode
von Dr. Smith selbst erlernt hatten.
Danach erklärte Prof. Grunmach die
Untersuchung mittelst Phonendoskop ein
für allemal für werthlos. Grunmachs Aus¬
führungen stimmen in erfreulicherweise mit
den Ausführungen de la Camps in unserer
Zeitschrift überein. Wir dürfen wohl
jetzt mit Bestimmtheit aussprechen, dass
therapeutische Methoden, deren Ergebnisse
nach so unzuverlässigen Kennzeichen fest¬
gestellt sind, keine Empfehlung verdienen.
Aus den übrigen Mittheilungen möchten
wir noch erwähnen, dass Dr. Aböe (Nau¬
heim) von Neuem die Erfolge seiner Herz-
stützen betonte, von denen in dieser
Zeitschrift schon früher kritisch gesprochen
wurde, und dass Dr. Fried län der (Reichen¬
hall) Thiosinamin zur Behandlung pleu-
ritischer Schwarten empfahl, mit ähnlicher
Begründung, wie sie von Lewandowski in
diesem Hefte gegeben wird. G. Klemperer.
Aus der Abtheilung für Kinderheilkunde
(zugleich Sitzung der Gesellschaft für
Kinderheilkunde.)
Die nachstehenden Zeilen sollen kein
ausführliches Referat der Verhandlungen
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Octobcr
Die Therapie der Gegenwart 1903.
467
darstellen, sondern möglichst nur die Vor-
träge berücksichtigen, die von praktischem
und besonders von therapeutischem Inter¬
esse sind.
Herr Cahen- Brach berichtete über
einen Fall von hochgradiger Stuhl Verstopf¬
ung bei einem dreijährigen Knaben, der
durch methodische Anwendung hoher Oel-
klystiere wesentlich gebessert wurde. Bei
den Eingiessungen legte der Vortragende
Werth auf eine sehr hohe Einführung der
Sonde, da sonst nach seiner Meinung die
gewünschte Wirkung nicht zustande kommt.
Ob seine Annahme, dass es sich hier
wirklich um eine Colonektasie gehandelt
habe, zutrifft, muss dahin gestellt bleiben,
zu erwähnen ist aber, dass nach Ansicht
sehr erfahrener Autoren, wie z. B. Biedert,
die Einführung des Schlauches • in der
Länge, in der es der Vortragende wünschte,
23 cm, nur sehr schwer gelingt, da die
Sonde sich aufrollt. Es genügt auch voll¬
ständig mit dem Katheter über denSphincter
internus zu kommen und bei hochgestelltem
Becken das Oel einfliessen zu lassen aus
einer Höhe von ca. Va Meter, dabei dringt
das Oel genügend weit herauf, um wirken
zu können.
Mit Recht wurde von Ganghofer darauf
hingewiesen, dass eine noch wirksamere
Behandlung der Obstipation die methodi¬
sche Bauchmassage ist, die gerade bei
jungen Kindern häufig zu einer Dauer¬
heilung führt. Referent möchte dem noch
hinzufügen, dass diese ausgezeichnete und
sehr einfache Methode viel zu wenig be¬
kannt ist und viel zu selten angewendet
wird. Sie führt, natürlich unter Zuhilfe¬
nahme der bei Darmträgheit üblichen Diät,
beinahe stets zum Ziele.
Die nächsten Vorträge von Reinach-
München und Siegert-Strassburg
gelten dem schon in der vorjährigen Ver¬
sammlung angeschnittenen Thema der
Fermenttherapie bei den Verdauungs¬
störungen der Säuglinge.
Rein ach hat Versuche mit dem be¬
kannten Labferment gemacht, das unter
dem Namen Pegnin in den Handel ge¬
kommen ist. Die Ansichten über den
Werth dieser Methode, das Casein der
Milch mit diesem Präparat auszufällen und
das ausgefallene Casein durch energisches
Schütteln fein zu vertheilen, sind noch
recht widersprechend. R ei nach kommt
bei seinen Untersuchungen zu dem Re¬
sultat, dass die Methode für chronische
Fälle keine besonderen Vortheile bietet,
weder was die Ausheilung der Darmstörung,
noch die Hebung des Ernährungszustandes
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anlangt; wesentlich günstiger gestaltete
sich die Ausheilung acuter Verdauungs¬
störungen.
Ausserdem wurden namentlich Magen¬
störungen, Erbrechen, Unruhe nach dem
Trinken prompt durch die Labung der Milch
beseitigt.
Herr Siegert verbreitet sich eingehend
über die Ferment-Therapie bei Atrophie
der Säuglinge. Er stellt als Indikationen
für diese Therapie auf, die mangelnde Se-
cretion der Verdauungsdrüsen, Magen,
Dünndarm, Pankreas. Ihre Diagnose er¬
folgt aus dem Nachweis von reichlichem
Fett, unverdauter Stärke, zahlreichen Pa¬
racaseinflocken im Stuhl, unter Ver¬
hältnissen, wo diese Bestandtheile sonst
fehlen bezw. nur feinste emulgirte Fett¬
tropfen beobachtet werden. Aber auch
dann kann auf mangelnde Funktion der
Verdauungsdrüsen geschlossen werden,
wenn bei fehlender anderweitiger Organ¬
erkrankung trotz zweckmässiger Nahrung
die Gewichtszunahme ungenügend bleibt.
Dass eine grosse Zahl von Atrophie-
Fällen nur so zu erklären ist, lehrt der
überraschende Erfolg der Fermenttherapie.
Die Leistungen der mit Pegnin ge¬
labten Kuhmilch und ihrer Verdünnungen,
die Wirkung der Pankreaspräparate (Pan-
creon) vor allem auch der Buttermilch,
dieses ausgezeichneten Erregers des Dünn¬
darms und Pankreas veranlassen den Vor¬
tragenden zur wärmsten Empfehlung einer
derartigen Behandlungsweise. Vorstehend
eine Wiedergabe ungefähr der eigenen
Worte des Vortragenden.
Die Diskussion führt zu keinem ein¬
deutigen Resultat, zeigt vielmehr eine
überraschende Vielseitigkeit der Ansichten
und Vorstellungen, so dass es nicht nützlich
erscheint, sie hier dem Leser ausführlich
wiederzugeben, da eine weitere Klärung
der Frage dadurch nicht zu erzielen wäre;
letztere kann nur durch weitere Beobach¬
tungen von verschiedener Seite gebracht
werden.
Nur ein Punkt muss herausgegriffen
werden.
Schlossmann sprach gegenüber Sie¬
gert die Meinung aus, dass die Lehre: „Bei
akuten Darmkrankheiten die Milch weg a
zwar alt aber eine Irrlehre sei; voraus¬
gesetzt eine tadellose Beschaffenheit der
Milch, könne man auch ganz akut darm¬
kranken Kindern sofort Milch geben und
vermeide dabei den Verfall, der im Ge¬
folge des Hungers eintrete. „Ist denn
die Milch ein Gift? so fragt Schloss¬
mann. Diese Ansicht widerstreitet ab-
59»
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Octobcr
4 68 Die Therapie der
solut langjähriger, viel hundertfältiger Er¬
fahrung und muss desshalb, wenn sie diese
Erfahrung stürzen und sich an ihre Stelle
setzen will, doch wohl noch eingehender
mit Veröffentlichung genauester Kranken¬
geschichten belegt werden. Solange das
nicht in absolut überzeugender und ein¬
wandfreier Weise geschehen ist, müssen
wir an der Ansicht festhalten, dass bei
akuten Darmstörungen die Milch sofort
auszusetzen ist, und dass Herrn Schloss-
manns Frage für die Fälle mit schweren
akuten Darmstörungen namentlich für den
akuten Enterokatarrh dahin zu beantworten
ist: „Für diese Kinder ist die Milch
allerdings Gift“.
M. H ir s c h fe 1 d (Charlottenburg), welcher
sich durch eingehende Studien über Homo¬
sexualität bekannt gemacht hat, sprach über
das urnische Kind. Man versteht dar¬
unter mädchenhaft veranlagte Knaben und
knabenhafte Mädchen. Es war dem Vor¬
tragenden bei der Beobachtung und Unter¬
suchung von 1800 Homosexuellen aufge¬
fallen, dass fast alle angaben, sie wären
bereits als Kinder anders gewesen, wie
die gewöhnlichen Knaben und Mädchen.
Es stimmt das mit der heute wohl zumeist
angenommenen Anschauung überein, dass
es sich bei der homosexuellen Neigung um
eine angeborene Erscheinung handelt. Die
Verehrung urnischer Knaben für manche
Lehrer und Kameraden, diejenige urnischer
Mädchen für bestimmte Lehrerinnen und
Mitschülerinnen trägt oft den Charakter
hochgradiger Schwärmerei. Das Interesse
für den Unterrichtsgegenstand steht bei
vielen im engsten Zusammenhang mit der
Person des Lehrers. Im Uebrigen wird die
meist vorhandene geistige Befähigung ur¬
nischer Kinder durch eine gewisse Un¬
sicherheit und Verträumtheit, oft auch durch
Zerstreutheit infolge allzu reger Phantasie
wesentlich beeinträchtigt; urnische Knaben
sind meist besonders schlecht für Mathe¬
matik und Turnen, oft auffallend gut für
Literatur, Geschichte, Zeichnen und Musik
veranlagt. Das Schamgefühl äussert sich
früzeitig und unbewusst mehr dem eigenen
Geschlecht gegenüber. Was die körper¬
lichen Zeichen betrifft, so tritt u. a. bei
urnischen Knaben der Stimmwechsel häufig
sehr spät und schwach, manchmal garnicht
ein; urnische Mädchen bekommen oft in
der Pubertätszeit eine tiefere Stimmlage.
Der Bartwuchs stellt sich bei urnischen
Jünglingen oft sehr spät, sehr spärlich und
ungleich ein; dagegen findet sich nicht
selten zur Reifezeit ein mit Schmerzhaftig¬
keit verknüpftes Anschwellen der Brüste.
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Gegenwart 1903.
Bemerkenswert ist es auch, dass bei ur¬
nischen Knaben verhältnissmässig häufig
Migräne und Chlorose auftreten, zwei
Krankheiten, von denen sonst meist nur
das weibliche Geschlecht heimgesucht wird.
Hirschfeld wendet sich gegen den Vor¬
schlag des Petersburger Naturforschers
Tarnowsky, Knaben, welche zu weiblichen
Beschäftigungen neigen, recht zu verspot¬
ten, um so der Entstehung homosexueller
Triebe vorzubeugen. Er hält die Mass¬
nahmen gegenüber einer so tief in der
Persönlichkeit wurzelnden Anlage nicht
nur für wirkungslos, sondern geradezu für
schädlich und verhängnisvoll, weil sie das
ohnehin schüchterne, empfindsame urnische
Kind noch zaghafter machen. Eine wohl-
bedachte Erziehung soll das psychologische
Erfassen der Kinderseele zur Grundlage
haben, und der Arzt kann durch frühzeitige
Erkenntnis und Würdigung der sexuellen
Zwischenstufe den Eltern und vor allem
den Kindern selbst oft einen höchst werth-
vollen Dienst für ihr Leben erweisen.
B. Salge (Berlin).
Aus der Abtheilung für Chirurgie.
Am ersten Sitzungstag wurde von Krön-
feld (Wien) über Heilung eines Mamma-
carcinoms durch Röntgenstrahlen be¬
richtet. Die betreffende Patientin bot am
7. Februar 1903 folgenden Status dar: Die
ganze linksseitige obere Thoraxhälfte von
einem Tumor eingenommen, der breithalsig
dem Thorax aufsass, mit der Unterlage
fest verwachsen, zum grössten Teil von
derber Consistenz. Der Tumor zog sich
vom linken Sternalrand bis in die Achsel¬
höhle, dort mit den Drüsen vollkommen
verwachsen, an Stelle der grössten Breite
etwa 8 cm breit, an Stelle der grössten
Höhe 3 cm hoch, mit grossentheils ulcerirter,
mit jauchigem Sekret bedeckter Oberfläche,
die bei leisester Berührung leicht blutete.
An der untersten Peripherie sassen zehn
bis zwölf haselnussgrosse Tumoren, die
gleichfalls leicht bluteten. Am Rücken der
entsprechenden Seite fünf derbe Knoten
von derselben Grösse. Unterhalb des
Knollens in der Achselhöhle zeigte sich
ein taubeneigrosser, kraterförmig vertiefter
Defect mit nekrotischen Rändern und zer¬
fallenem Grund, von jauchigem Sekret er¬
füllt. Die Drüsen der Supra- und Infracla-
vicularpartie zu derben Paketen ange¬
wachsen. Patientin leidet sehr an den
lancinirenden Schmerzen. Die Diagnose
lautete: Inoperables Carcinom der linken
Mamma mit Hautmetastasen. Die Patientin
wurde dem Röntgeninstitut des Professor
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
October Die Therapie dei
Schiff zugewiesen, welcher den Fall zwar
für vollkommen aussichtslos hielt, sich aber
doch aus Menschlichkeit zu einem Versuch
entschloss. Schon nach der dritten Be¬
strahlung Hessen die heftigsten Schmerzen
nach und die jauchige Secretion ver¬
minderte sich. Einige Tage später war die
Geschwürsfläche gänzlich gereinigt, die
Hautmetastasen wesentlich verkleinert. Von
nun an war unter Fortsetzung der Be¬
strahlung die Besserung eine ausserordent¬
liche. Am 5. Juni waren die Hautmetastasen
verschwunden, an Stelle der Geschwulst
eine glatte, von leicht erweiterten Capillaren
durchzogene Narbe. Das subjective Be¬
finden und der Ernährungszustand erheblich
gebessert. Die histologische Untersuchung
excidirter Stückchen ergab Narbengewebe,
in dem freilich noch kleine Krebs- !
reste nachweisbar waren. In der Dis- I
cussion sprach Perthes (Leipzig) aus, was j
sich jedem Leser von selbst aufdrängen I
wird, dass danach von wirklicher Heilung j
bezw. Dauerheilung noch keine Rede sein
könne. Jedenfalls verdient aber der erzielte
Erfolg die Aufmerksamkeit aller Aerzte
und fordert dringend zur weiteren Aus¬
bildung der Behandlungsmethode auf.
Perthes selbst hat mit Röntgenstrahlen
8 Fälle von Ulcus rodens mit 4 Heilungen,
2 Fälle von Zungenkrebs mit Heilung,
4 Mammacarcinome mit gutem Erfolg aber
nicht mit dauernder Heilung beobachtet.
Er hält es vorläufig noch für unsicher, ob
die Röntgenstrahlen bei Carcinom nur eine
Oberflächen- oder auch eine Tiefenwirkung
haben.
In derselben Sitzung sprach Prof. Rehn
(Frankfurt a. M.) über den Werth der
Leucocytenzählung für die Behand¬
lung der Appendicitis. Bekanntlich hat
Curschmann vor einigen Jahren diese für
sehr werthvoll erklärt, da eine lokalisirte
Eiteransammlung stets von einer Vermehrung
der im Blut kreisenden weissen Blutkörper¬
chen begleitet sei, so dass man im Nach¬
weis der Hyperleucocytose eine Indication
für die Operation erkennen könne. Diese
Indication war u. A. von Sonnenburg
anerkannt worden. Rehn stellte sich nun
nach seinen Erfahrungen auf einen geradezu
entgegengesetzten Standpunkt. Er hat
Fälle ohne wesentliche Vermehrung der
Leucocytenzahl gesehen, bei denen sich
doch Eiter nachweisen Hess, andererseits
solche, bei denen die vermehrte Leucocyten- '
zahl sich wieder verringerte (abfallende
Leucocytencurve nach Curschmann) und
die doch wegen reichlichen Eiters operirt
werden mussten. Er hält also die auf die !
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Gegenwart 1903. *69
, Blutkörperchenzählung begründete Indica-
| tionsstellung nicht nur für überflüssig,
sondern direct für gefährlich,
j Der 2. Sitzungstag der chirurgischen
i Abtheilung begann mit einem Vortrage
j Brauns (Göttingen) „Ueber acute und
j chronische Darminvagination 44 . Vor¬
tragender wies auf die eigenthümliche Ver-
' theilung der Krankheit in den verschiedenen
Ländern hin; so z. B. käme sie in England
besonders häufig vor, während in Deutsch-
| land selbst die beschäftigtsten Aerzte nur
von Zeit zu Zeit eine lntussusception zu
sehen Gelegenheit haben. Die Diagnose
des acuten Anfalles ist meistens leicht: pal-
pabler Tumur, blutige und schleimige Ab¬
gänge, Schmerzen, sowie complete Ob¬
stipation sichern die Diagnose. Schwieriger
ist die Feststellung des chronischen Sta¬
diums, doch auch hier gelangt man bald,
namentlich durch peinliche Erhebung der
Anamnese, zum Ziel. Was die Therapie
betrifft, so empfiehlt Vortragender bei der
acuten Invagination kleiner Kinder nicht
viel Zeit mit Eingiessungen etc. ver¬
streichen zu lassen, sondern baldmöglichst
zum Messer zu greifen und die Desinva-
gination zu machen. Vor grösseren Ein¬
griffen, wie Resectionen warnt Braun,
da die kleinen Patienten dies meistens
nicht überstehen. Kredel (Hannover) be¬
stätigt dies. Von 8 von ihm operierten
Fällen starben 7 bald nach der Operation.
Von 3 nicht Operirten ist einer durch Ab-
stossung geheilt.
Hirschsprung (Kopenhagen) weist
ebenfalls auf die eigenthümliche Ver¬
keilung dieser Krankheit nach Ländern
hin. Seit 1876 hat er 96 Fälle von In¬
vagination gesehen, von denen 60% zur
Heilung kamen. Seine Therapie besteht
in Massage und grossen Einläufen, womit
er so häufig zum Ziele kam. Diese Heil¬
erfolge sind so auffallend gut, dass von
verschiedenen Seiten an der Richtigkeit der
Diagnose gezweifelt wurde.
In der Nachmittagssitzung spricht
Braun über operative Behandlung der kon¬
genitalen Dilatation des Colon (Hirsch-
sprung’sche Krankheit) und demonstriert
Präparate von kolossal dilatirten Dick¬
därmen.
Am 3. Sitzungstage berichtet Madelung
(Strassburg) über einen von ihm mit Er¬
folg operierten Fall von Dermoid des
Mediastinum anticum, ebenso über eine
Heilung von Stichverletzung der Becken-
blutgefässe. Um hier erfolgreich vor¬
zugehen, ist es nöthig durch Leibschnitt
sich den Weg zugänglich zu machen, um
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
470
Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
auf diese Weise eine Digitalcompression
ausführen zu können.
Schulze-Berge (Oberhausen) hat
zwei Fälle von traumatischer Epilepsie
durch Trepanation des Schädels geheilt.
Der eine ist seit 13 Jahren, der andere
seit 5 Jahren vollständig frei von Anfällen.
Um zu erproben, welche Desinficientien
am besten geeignet seien die Gallenwege
zu desinficieren, hat Kuhn (Cassel) ver¬
schiedene Mittel erprobt und kam zu dem
Schlüsse, dass das Salicyl als das beste
Desinficiens anzusehen sei. Ihm ebenbürtig
sind Thymol und Menthol, während Naph-
thol, Ichthyol, Methylenblau selbst in hohen
Concentrationen kaum einen nennens-
werthen Einfluss auszuüben vermögen.
Der 4. Sitzungstag brachte einen Vortrag
von v. Hippel über Catgutsterilisation,
v. Hippel empfiehlt die Sterilisation mit
Jod nach Claudius, welche als die
billigste, zuverlässigste und das Catgut am
wenigsten angreifendste anzusehen sei.
Die von anderer Seite hervorgehobene
rasche Resorbirbarkeit eines so behandelten
Catguts konnte Vortragender nicht finden.
Stern (Düsseldorf) hat im zwei Fällen
beobachtet, dass durch Nephrotomie bei
chronischer Nephritis, schon 2 Stunden
nach dem Eingriffe, eine enorme Harnflut
sich bei den früher complet anurischen
Patienten einstellte. Beide gingen an pro¬
fuser Blutung zu Grunde. Bei einem 3. Pa¬
tienten dagegen verschwanden nach der
Operation die Oedeme, der Ascites, das
Eiweiss aus dem Urin, und Patient befindet
sich zur Zeit wohl.
Bei einem durchschnittenen und ligirten
Gefäss pflegt die Communication sich durch
Bildung von collateralen Gefässen wieder
herzustellen. Ledderhose (Strassburg)
hat einen Fall beobachtet, wo die durch¬
schnittene und ligirte Vena saphena für
den Blutstrom so duchgängig wurde, dass
die beiden Enden wieder zusammen¬
wuchsen. Die mikroskopische Unter¬
suchung ergab, dass es sich keineswegs
um ein collaterales Gefäss, sondern um
ein veritables neugebildetes Mittelstück
handelte. L. Caro (Berlin).
Aus der Abtheilung für Gynäkologie.
Veit (Erlangen). Tuberkulose und
Schwangerschaft. Practische Zwecke
führten die Gynäkologen dazu, sich mit der
Tuberkulose bei der Gravidität zu beschäfti¬
gen. Man erkannte, wie verderblich die Gra¬
vidität auf das Fortschreiten der Phthisis
wirkt. Es liegt auf der Hand, dass man
Mitleid haben muss mit der Arbeiterfrau,
welche durch die Geburten ihr Leiden ver¬
schlimmert, man kann auch Sympathie mit
dem Hegarschen Standpunkt haben, der
wegen der Gefahr, dass auch das Kind
wahrscheinlich der Tuberkulose erliegen
wird, die Schwangerschaft unterbrechen
will, um so eine allgemeine Abnahme der
Tuberkulose zu erzielen. Denn das ist ja
sicher, dass, wenn eine tuberkulöse Frau
schwanger ist, die Tuberkulose auf das
Kind übergehen kann, Tuberkelbacillen sind
in der Placenta gefunden worden, und es
ist nicht zu bestreiten, dass die Gefahren,
die das Wochenbett mit sich bringt, grosse
sind. Hingegen ist es sicher, dass eine
Reihe von Frauen trotz ihrer Tuberkulose,
die Schwangerschaft gut überstehen; sehr
selten ist jedenfalls ein plötzlicher Exitus
durch Hämoptoe, ohne dass es zur Ent¬
bindung oder zur Unterbrechung der
Schwangerschaft kommt. Wichtig ist nach
den Erfahrungen von Veit, dass man bei
tuberkulösen Frauen eine genaue Gewichts¬
bestimmung vornimmt, dieses führt Veit
consequent durch und stellte fest, dass es
auffallend ist, wie häufig tuberkulöse Frauen
mehr zunehmen, als dem Gewicht des
Kindes, des Fruchtwassers und der Placenta
entspricht, und zwar kann bei gutem Be¬
finden die Gewichtszunahme eine recht be¬
deutende sein; die Erklärung dieser Ge¬
wichtszunahme ist eine schwierige.
Findet eine regelmässige Gewichtszu¬
nahme bei Tuberkulösen während der
Schwangerschaft statt, so dürfen wir unter
keinen Umständen eine Unterbrechung der
Schwangerschaft empfehlen, denn auch
durch die Unterbrechung der Schwanger¬
schaft wird die Phthisis als solche nicht
geheilt. Ist die Gewichtszunahme aber eine
geringere als normal, so ist die Frau durch
die Schwangerschaft zweifellos gefährdet;
ob sie durch die Einleitung der künstlichen
Frühgeburt gerettet werden kann, ist frag¬
lich, doch ist zuzugeben, dass dieses Fälle
sind, bei denen ein Versuch ihrer Rettung
durch Einleitung der künstlichen Früh¬
geburt gerechtfertigt wäre. Bei den Frauen
aber, bei denen eine Gewichtsabnahme
während der Gravidität eintritt, ist die Ein¬
leitung der künstlichen Frühgeburt zweck¬
los. Die Herausnahme der Frauen aus
ihrer Häuslichkeit vor einer Gravidität zur
Heilung der Tuberkulose ist das wichtigste,
wichtiger als die Unterbrechung der
Schwangerschaft. Die Frauen sollen, ehe
sie schwanger werden, so weit als möglich
geheilt werden, alsdann wird der Eintritt
einer Gravidität nicht wesentlich schaden.
Auch aus Ehen Tuberkulöser können sehr
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Octobcr
471
Die Therapie der Gegenwart 1903.
wohl nützliche Mitglieder der menschlichen
Gesellschaft hervorgehen, und schon aus
diesem Grunde ist der erwähnte Hegar¬
sche Standpunkt zu verwerfen. Die all¬
gemeine Indication, dass jede Phtisica von
ihrer Frucht befreit werden sollte, ist nicht
zu billigen und es muss in jedem Fall der
Einleitung einer Fehlgeburt die genaue
Feststellung, ob eine Gewichtszunahme
stattgefunden hat, vorausgehen.
Fellner jun. (Wien-Franzensbad). In¬
wiefern verbieten interne Krank¬
heiten vom geburtshilflichen Stand¬
punkte aus das Heirathen? Der Vor¬
tragende rechtfertigt zunächst den specifisch
geburtshilflichen Standpunkt, bei welchem
selbstverständlich auch auf die Anschau¬
ungen der inneren Mediziner, inwiefern
Krankheiten durch die Schwangerschaft
verschlechtert werden, Rücksicht genommen
werden muss; nicht berücksichtigt wissen
will F. die wechselnden Ansichten des
Hygienikers, inwiefern eine Heirath für
Mann und Kind gefährlich werden könnte.
Unter Heirathsverbot ist das Verbot der
Ausübung des befruchtenden Beischlafes
zu verstehen. Gestützt auf Arbeiten von
Schauta und Fellner, welche bei circa
70 Krankheiten alles Erwägenswerthe in
Betracht gezogen haben, bespricht Vor¬
tragender bei jeder einzelnen Erkrankung
die Nothwendigkeit des Heirathsverbotes;
er unterscheidet hierbei zweierlei Arten,
diejenige bei Nulliparen und diejenige bei
solchen Frauen, welche bereits bei einer
Qberstandenen Schwangerschaft von einer
der betreffenden Krankheiten befallen
wurden. Nach Ansicht des Vortragenden
sollte ein Heirathsverbot nur dann aus¬
gesprochen werden, wenn die Mortalität
der in Betracht kommenden Krankheit min¬
destens 10% beträgt.
Zu der ersten Kategorie ist die Lungen¬
tuberkulose zu rechnen, freilich nur in
schweren Fällen, da ihre Mortalität unter
10% beträgt, die künstliche Unterbrechung
aber eine eventuelle Verschlechterung
coupiren kann; als unbeding- ter Grund
des Heirathsverbotes hingegen ist die
Kehlkopftuberkulose anzusehen. Von Herz
fehlem sind zu rechnen nur die Mitral¬
stenose und diejenigen Fälle mit ausge¬
sprochener Compensationsstörung; die Myo-
carditis, die chronische Nephritis. Von
chirurgischen Erkrankungen betrachtet F.
als hierzu gehörig nur die bösartigen Ge¬
schwülste, während gutartige nur eine
Operation indiciren.
In die zweite Gruppe gehört die Chorea,
wznn die vorausgegangene Erkrankung
Digitizer! by Google
sehr schwer war, ebenfalls Geisteskrank¬
heiten, da die durch die Schwangerschaft
aufgetretenen Psychosen sehr häufig re-
cidiviren; Epilepsie nur in schweren Fällen.
Tritt bei Lungentuberkulose eine wesent¬
liche Verschlechterung ein, so ist eine
weitere Schwangerschaft contraindicirt.
Ebenso gerechtfertigt ist das Heirathsverbot,
d. h. eine weitere Schwangerschaft bei
schweren Compensationsstörungen bei Vi¬
tium cordis, sowie bei denen der Basedow¬
schen Krankheit. Nicht gerechtfertigt ist
das unbedingte Heirathsverbot bei Eklam¬
psie.
Natürlich ist das oben Angeführte nur
als allgemeine Regel zu betrachten, da im
einzelnen Falle aus allen geburtshilflichen
resp. internen Fällen die Erfahrungen und
Kenntnisse in Betracht gezogen werden
müssen. Immerhin, sagt Vortragender,
müsse man stets mit vollem Ernst des
Traurigen eines Heirathsverbotes eingedenk
sein, können wir doch event. leicht durch
eine Unterbrechung der Schwangerschaft
die schweren Folgen aufheben; andererseits
hingegen ist auch die Verantwortung, die
der Arzt in fraglichen Fällen durch das
Gestatten der Heirath auf sich nimmt, eine
nicht geringere.
Dr. Edmund Falk (Berlin). Zur Be¬
handlung der chronischen Gonorr¬
hoe. Die Ursache, warum in nicht wenigen
Fällen die Urethritis der Frauen in ein
chronisches Stadium übergeht, sieht Vor¬
tragender in der häufigen gonorrhoischen
Infection der Drüsen und Lacunen am
Harnröhreneingang. Diese Urethritis ex¬
terna hat ihren Sitz einerseits in den be¬
kannten dicht neben oder in der Harn¬
röhrenmündung gelegenen Urethralgängen
(Skene*sehen Drüsen), andererseits in
zwei 1 U— l h cm weit von der hinteren
Harnröhrenmündung entfernt gelegenen
Gängen, welche im Gegensatz zu den
Urethralgängen nicht parallel mit der seit¬
lichen Harnröhrenwand verlaufen, sondern
nach aussen hinten, dicht unter der
Schleimhaut der seitlichen Vaginalwand.
Diese Gänge, welche bis zu 2 cm lang
sein können, fasst Falk als Residuen der
in dem Hymen gelegenen Lacunen auf,
und bezeichnet sie als Lacunae hymenales.
Bei der gonorrhoischen Infection der¬
selben ist eine Spaltung der Lacunen nach
der Scheide zu notwendig, während die
inficirten Urethralgänge am besten mit
einer glühenden feinen Sonde oder mit
dem Paquelin zur Verödung gebracht
werden. — Bei der Endocervicitis und
Endometritis-Behandlung ist bei ambulanter
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
472
October
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Behandlung von jeder intrauterinen The¬
rapie abzusehen, welche für klinische Be¬
handlung reservirt bleiben muss. Hier
kommt nach genügender Erweiterung der
Cervix die locale Anwendung von Medica-
menten in Form von Uterusausspülungen
in Betracht, welche unter niedrigem Druck
täglich einmal von zeitlich möglichst langer
Dauer ausgeführt werden. Schwache Pro-
targollösungen oderThigenol (4%) in einer
V2%ig en Lysollösung gaben relativ gute
Resultate. Zur Nachbehandlung wurden
Antrophore mit 1 % Chlorzink und 0,1 %
Sublimat in Anwendung gebracht. Ist
wegen unregelmässiger Blutungen, welche
allerdings häufig durch eine im Entstehen
begriffene Adnexerkrankung verursacht
werden, eine Abrasio notwendig, so soll
dieselbe in Narkose vorgenommen werden.
— Sind Exsudate in die Eileiter oder in
das Beckenzellgewebe bereits eingetreten,
so hängt es von dem Befunde in jedem
einzelnen Falle ab, ob ein operativer Eingriff
zweckmässig ist. Wegen der so häufig in
zurückgelassenen noch gesunden Adnex-
theilen später auftretenden Eiterungen nach
abdominalen Laparotomieen, entschliesst
sich Vortragender zu dem abdominalen
Eingriff nur 1. wenn durch Fortleitung der
gonorrhoischen Infection eine allgemeine
Peritonitis entsteht, 2. wenn ein Durch¬
bruch in ein benachbartes Organ statt¬
gefunden hat, ohne dass es zur dauernden
Entleerung des Eitersackes kommt.
Liegt der Abscess, der im Verlaufe
einer gonorrhoischen Adnexerkrankung
entsteht, der Scheide an, so ist die Eröff¬
nung von der Scheide aus dringend not¬
wendig. Dieser operative Eingriff wurde
24 mal ausgeführt. Gestorben ist keine
dieser Kranken. 19 Frauen konnten ohne
nachweisbaren Abcess aus der Klinik ent¬
lassen werden und bei den meisten blieb
auch für die Folge das Resultat ein gutes.
Besonders gut sind die Resultate in Bezug
auf Dauererfolge, seitdem jeder eröffnete
Absces einer energischen Nachbehandlung
unterzogen wird. Das Vorhandensein meh¬
rerer Abscesse ist keine Kontraindication
für die Eröffnung derselben, vorausgesetzt,
dass jeder einzelne durch eine Scheiden¬
inzision erreichbar ist. Die Nachbehand¬
lung besteht, nachdem das nach der Ope¬
ration eingeführte Drainrohr nach 6 bis
8 Tagen entfernt ist, in täglich auszufüh¬
renden Ausspülungen der Abscesshöhlen
und zwar verwendet Falk zuerst 4% Thi-
genollösung und später, wenn die Secretion
nachlässt, eine Auflösung von Jodtinktur
in Wasser. Dass trotzdem der eine oder
andere Fall nicht zur Ausheilung kommt,
ist wohl erklärlich, wenn man an den Ope¬
rationspräparaten sieht, wie verderblich
der Gonococcus in Verbindung mit dem
wohl stets vorhandenen Streptococcus wirkt,
wie viele Abscesse sich in den nicht selten
faustgrossen Ovarien finden, wie viele von
einander abgeschlossene Eiterhöhlen in
einem Eileiter vorhanden sein können.
In diesen Fällen tritt namentlich bei Frauen,
welche auf Verdienst durch schwere Arbeit
angewiesen sind, die vaginale Radikalope¬
ration in ihr Recht.
Die Fälle, welche mit vaginaler Incision
behandelt wurden, bedürfen ebenso wie
diejenigen, in denen sich gonorrhoische
Adnexerkrankungen ausbilden, die keine
operativen Eingriffe erfordern, häufig einer
resorbirenden Nachbehandlung und da ist
es vor allem der Schwefel, der in mannig¬
faltiger Form, als Sitzbad, als Vollbad, als
lokale Einwirkung in Form von Tampons,
weit günstigere Resultate lieferte als die
gebräuchlichen Sool-, Salz- und Moorbäder.
50% Thigenoltampons, jeden zweiten Tag
eingeführt, Schwefelbäder, durch Zusatz
von 30 g Kalium sulfuratum und 100 g
Leim zu einem Sitzbade oder durch Auf¬
lösung von 40 g Thigenol in einem Seifen¬
sitzbade hergestellt, und endlich heisse
Ausspülungen bewirken, wenn auch lang¬
sam eine Resorption, welche wesentlich
beschleunigt wird, wenn den Kranken ihr
Kräftezustand es gestattet, ein Schwefel¬
bad aufzusuchen.
E. Falk (Berlin).
(Ein zweiter Bericht folgt.)
Bücherbesprechungen.
Dr.G.Flügge, Geheimer Regierungsrath, Se¬
natsvorsitzender im Reichsversicherungs¬
amt. Das Recht des Arztes. Zum
Gebrauch für den Arzt nach den reichs¬
rechtlichen und den preussischen landes¬
rechtlichen Bestimmungen (unter Abdruck
dieser Bestimmungen). Urban & Schwar¬
zenberg, Berlin u. Wien, 1903. Geb.M.6,—.
Das überaus klar und gemeinverständ¬
lich geschriebene Buch will es dem Arzt
ermöglichen, mühelos und schnell sich
über die für seinen Beruf gültigen Rechts¬
normen zu orientiren. Der erste Theil giebt
in höchst übersichtlichem Aufbau eine
systematische Darstellung der ärztlichen
Rechtsverhältnisse, während der zweite
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
October
Die Therapie der
Theil die Texte der im ersten Theil dar¬
gestellten Gesetze und Verordnungen
chronologisch geordnet giebt.
Der erste Abschnitt ist der öffentlichen
Ordnung des Aerzterechtes gewidmet. Der
Beruf des Arztes ist nach dem Deutschen
Sprachgebrauch kein Gewerbe, da er eine
wissenschaftliche Vorbildung voraussetzt.
Dennoch sind die grundlegenden Bestim¬
mungen in die Gewerbeordnung für das
Deutsche Reich aufgenommen. Diese Be¬
stimmungen über Approbation, Nieder¬
lassung, Concessionirung von Privatkranken¬
anstalten werden vom Verfasser wieder¬
gegeben und eingehend erläutert.
Der Verfasser geht sodann zur Dar¬
stellung der Rechte und Pflichten des
Arztes als solchen über. Die besonderen
Rechte sind wenig zahlreich. Denn die
eigentliche Thätigkeit des Arztes, die
Krankenbehandlung, ist kein Specialrecht
des Arztes, sondern sie ist jedem frei-
gegeben, dies Recht ist, wie der Verfasser
treffend sagt, mit jedem Deutschen ge¬
boren. Nur das Recht auf Ausübung der
„Heilkunde 14 als Gewerbebetrieb im Um¬
herziehen ist dem approbirten Arzt Vor¬
behalten! Auch das Recht auf Dispensiren
von Arzneien wird durch die Approbation
nicht erworben. Nur zwei Ausnahmen be¬
stehen für den Arzt: An Orten, in denen I
oder in deren Nähe keine Apotheke sich
befindet, ist das Halten einer Hausapotheke
für die eigene Praxis gestattet. Ferner
dürfen „nach homöopathischen Grund¬
sätzen 11 zubereitete Arzneien von allen
Medicinalpersonen, die eine besondere
hierfür eingerichtete Prüfung abgelegt
haben, für die eigene Praxis zubereitet
werden.
Als die speciellen, nur dem approbirten
Arzt zustehenden Rechte zählt die Ge¬
werbeordnung (§ 29) drei auf: Erstens das
Recht auf die Bezeichnung als Arzt, zwei¬
tens das Recht, Seitens des Staates oder
der Gemeinde als Arzt anerkannt zu wer¬
den und drittens das Recht, mit amtlichen
Functionen betraut zu werden. Das wich¬
tigste ist das zweite Recht. Es bedeutet:
wo immer die Gesetze oder Verwaltungs¬
vorschriften bestimmen, dass ein Arzt ge¬
wisse Functionen ausüben dürfe oder
müsse, da dürfen die öffentlichen Korpo¬
rationen und ihre Organe, die Beamten,
diese Functionen nur von einer Person
ausüben lassen, die die Approbation er¬
langt hat. So darf nur der approbirte
Arzt nach dem Impfgesetz vom 8. April 1874
Impfungen vornehmen; jedes Auswanderer¬
schiff muss einen approbirten Arzt an
Gegenwart 1903. 4 73
Bord haben; nur der approbirte Arzt hat
Zutritt zu Kranken oder Krankheits- oder
Ansteckungsverdächtigen, welche nach dem
Gesetz betreffend die Bekämpfung gemein¬
gefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900
isolirt worden sind; nur auf Grund schrift¬
licher, mit Datum und Unterschrift ver¬
sehener Recepte eines approbirten Arztes
dürfen gewisse starkwirkende Arzneimittel
verabreicht werden; es sind ferner hervor¬
zuheben: das Recht, das zweite Halbjahr
als Unterarzt abzudienen, das Recht, die
Berufung als Schöffe oder Geschworener
abzulehnen; das Recht, in Preussen (ausser
in Hessen-Nassau) die Uebernahme städti¬
scher Ehrenämter (ausgenommen Mitglied¬
schaft der städtischen Gesundheitscom¬
missionen) abzulehnen; in einzelnen Pro¬
vinzen (Hannover und Westfalen) auch das
Recht, die Uebernahme von Ehrenämtern
in Landgemeinden abzulehnen; das Recht
zur Zeugnissverweigerung im Civil- und
Strafprocess. Alle diese einzelnen und
eine Reihe weiterer hierhergehöriger Rechte
erörtert der Verfasser eingehend an der
Hand der betreffenden Gesetzesbestim¬
mungen. Diesen Rechten steht eine Reihe
öffentlichrechtlicher Pflichten gegenüber.
Nicht verpflichtet ist der Arzt, seine ärzt¬
liche Kunst auf Verlangen auszuüben, von
Bedeutung ist aber der § 360, Ziffer 10
St. G. B., wonach bestraft wird, wer bei
Unglücksfällen oder gemeiner Noth oder
Gefahr von der Polizeibehörde oder deren
Stellvertreter zur Hülfe aufgefordert, keine
Folge leistet, obwohl er der Aufforderung
ohne erhebliche eigene Gefahr genügen
konnte. Hervorzuheben ist ferner, die
durch das Preussische Gesetz vom 25. No¬
vember 1899, betreffend die ärztlichen
Ehrengerichte u. s. w., dem Arzte auferlegte
Verpflichtung, seine Berufsthätigkeit ge¬
wissenhaft auszuüben und durch sein Ver¬
halten in Ausübung seines Berufes und
ausserhalb desselben sich der Achtung
würdig zu zeigen, die sein Beruf erfordert.
Bei der Frage würdigen Verhaltens müssen
nach § 3 Abs. 3 des citirten Gesetzes poli¬
tische, wissenschaftliche und religiöse An¬
sichten oder Handlungen „als solche“
ausser acht bleiben; aber der Arzt muss
bei der Bethätigung solcher Ueberzeu-
gungen die Formen beobachten, welche
die Berufsachtung von ihm erheischt.
Welche Formen das sind, das zu unter¬
scheiden, ist dem ärztlichen Ehrengericht
überlassen.
Besondere Bestimmungen für Aerzte
giebt das Strafgesetzbuch im § 174 Ziffer 3
(unzüchtige Handlungen mit Personen, die
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
474
October
Die Therapie der
in Gefängnisse oder in öffentliche Kran¬
ken- u. s. w. Anstalten aufgenommen sind)
und im § 278 (Ausstellung eines unrichti¬
gen Zeugnisses über den Gesundheits¬
zustand eines Menschen zum Gebrauch bei
einer Behörde oder Versicherungsanstalt
wider besseres Wissen.)
Besonders eingehend behandelt der Ver¬
fasser sodann die Rechte und Pflichten des
Arztes als Sachverständiger.
Verfasser behandelt sodann die An¬
zeigepflicht des Arztes, — die Unterlassung
der Anzeige kann unabsehbare Schadens¬
ersatzansprüche erzeugen! —, empfiehlt
hierbei mit Rücksicht auf die Mannigfaltig¬
keit des Rechtszustandes, dass sich jeder
Arzt bei der Niederlassung von dem Kreis¬
arzt seines Bezirks über die Anzeigepflicht
unterrichten lasse, und behandelt eingehend
den Schutz der besonderen Rechte des
Arztes und die ärztlichen Standesvertre¬
tungen, die Aerztekammern, die Zuständig¬
keit von Ehrengericht und Ehrengerichtshof,
das Disciplinar- und Berufungsverfahren.
Im zweiten Abschnitt sind die privat¬
rechtlichen Beziehungen des Arztes dar¬
gestellt. Zwischen dem Arzt und dem
Kranken besteht ein Dienstvertrag. Sein
Inhalt ist die Behandlung gegen Vergütung,
Er kommt zu Stande durch die Willens¬
einigung darüber, dass der Arzt die Be¬
handlung übernehme. Sie kann in Worten
ausgedrückt werden oder in konkludenten
Handlungen zu Tage treten, so durch Er¬
scheinen in der Sprechstunde. Er kann
mit dem Patienten selbst abgeschlossen
werden oder mit einem Dritten, so mit dem
Haushaltungsvorstand über die Behandlung
der Hausgenossen.
Der Arzt hat Anspruch auf die Ver¬
gütung. Die Höhe derselben unterliegt
ohne Beschränkung der freien Verein¬
barung. Ist nichts vereinbart, so ist sie
zu zahlen, wenn die Behandlung nach den
Umständen des Falles nur gegen Ver¬
gütung zu erwarten ist, und zwar in Höhe
der taxmässigeQ Vergütung. Da über die
Höhe lediglich der vermuthete Parteiwille
entscheidet, so kann nach der Ansicht des
Referenten unter Umständen angenommen
werden, dass eine höhere als die tax-
mässige Vergütung vereinbart sei.
Der Verfasser stellt sich sehr ener¬
gisch auf den Standpunkt, der auch nach
der Meinung des Referenten der allein zu¬
treffende und jedenfalls in der Praxis, ins¬
besondere der strafrechtlichen, der herr¬
schende ist, dass der Arzt seine Befugniss
zur Behandlung des Kranken ausschliess¬
lich aus dem Willen des Patienten her-
G egenwart 1903.
leitet. Er darf daher nichts gegen den
Willen des Patienten thun und er darf vor
allem keinen operativen Eingriff ohne den
Willen des Patienten vornehmen. Er darf
nur diejenigen Eingriffe vornehmen, von
denen er weiss, dass der Kranke oder
sein gesetzlicher Vertreter sein Einver¬
ständnis mit ihnen erklärt hat oder —
wenn eine solche Erklärung etwa wegen
Bewusstlosigkeit zu erlangen nicht möglich
ist — von denen er den Umständen nach
annehmen muss, dass der Kranke oder
sein gesetzlicher Vertreter mit ihnen sein
Einverständnis erklärt haben würde, wenn
es möglich gewesen wäre.
„Wenn es dem Arzte schwer erscheinen
sollte, angesichts des Kranken, der sich
bewusstlos in seinem Bette wälzt, oder im
Operationssaal vor dem geöffneten Leibe
des Kranken diese Erwägungen anzu¬
stellen und aus ihnen die richtige Antwort
zu formuliren, die auch vor dem Rechte
bestehen kann — dann wolle er zweierlei
bedenken. Die Antwort auf die letzten
Fragen der Pflicht ist transcendent. Das
Wissen nicht — das Gewissen giebt sie
und das Gewissen entscheidet schnell wie
das Empfinden und bedarf nicht langer
verstandesmässiger Erwägungen. Und
ferner: Hat der Arzt nach seinem Gewissen
jene Frage beantwortet, so soll er sicher
sein, das seine Antwort auch den Spruch ,
der irdischen Richter nicht zu scheuen hat.
Wird es nöthig, dass er vor sie hintritt,
so soll er glauben: wie er in der Seele
des Kranken las, als er sich zu dem Ein¬
griff entschloss, den er vorgenommen hat,
so verstehen auch sie in der Seele eines
anderen, in seiner Seele zu lesen, und in¬
dem sie finden, dass der Arzt nichts ge-
than hat, das nach seinem Gewissen wider
den Willen des Kranken gewesen wäre,
finden sie, dass er nichts gethan hat, das
wider das Recht wäre, und sie finden
keinen Schuldspruch.“
Freilich ist auch der Wille des Patienten
nicht unbedingt maassgebend, so darf der
Arzt selbst dann nicht zur Tötung der
Mutter schreiten, damit die Leibesfrucht
geboren werde, wenn die Mutter dies ver¬
langen sollte: Das Verbotsgesetz des §216
Str.G.B., das die Tötung mit Einwilligung
des Getöteten unter schwere Strafe stellt,
ist ein absolutes. Deswegen darf er auch \
bei unheilbaren Kranken unter gar keinen
Umständen dem Verlangen der Tötung
entsprechen.
Der Arzt hat im Zweifel seine Dienste
persönlich zu leisten — Gehilfen oder Ver¬
tretern kann er die Behandlung nur über-
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
October
475
Die Therapie der
tragen, soweit die Umstände ergeben, dass
es dem Willen des Patienten entspricht.
Er hat ferner die Pflicht zur Verschwiegen¬
heit hinsichtlich aller ihm kraft seines
Standes anvertrauter Privatgeheimnisse, so¬
fern der Kranke nicht mit der Offenbarung
einverstanden ist. Die Verletzung dieser
Pflicht ist unter Strafe gestellt.
Bei Erfüllung seiner Vertragspflichten
hat der Arzt regelmässig Vorsatz und
Fahrlässigkeit zu vertreten; bedient er sich
eines Gehilfen oder Vertreters, so steht er
auch für deren Vorsatz und Fahrlässigkeit ein.
Die Folge ist überall Ersatz des durch das
Verschulden verursachten Schadens; unter
Umständen ist zugleich auch ein strafrecht¬
licher Thatbestand, wie der der Körper¬
verletzung, gegeben.
Ueber die Aufhebung des Vertragsver¬
hältnisses entscheidet zunächst die Verein¬
barung der Parteien. Ist nichts vereinbart,
so gelten die folgenden Sätze: Das Ver-
tragsverhältniss kann jeder Zeit vom
Kranken wie vom Arzt gekündigt werden.
Der Arzt kann immer sofort kündigen,
wenn ihm ein wichtiger Grund zur Seite
steht, sonst nur so, dass sich der Kranke
die ärztlichen Dienste anderweit verschaffen
kann. Ist ein dauerndes Vertragsverhält-
niss mit fester Vergütung eingegangen, so
endet es mit Ablauf der Zeit, gilt aber als
auf unbestimmte Zeit verlängert, wenn der
Arzt nach Ablauf der Zeit seine Dienste
mit Wissen des anderen Theils fortsetzt,
ohne dass dieser widerspricht. Ist das
dauernde Vertragsverhältniss auf unbe¬
stimmte Zeit oder ohne Zeitbestimmung
eingegangen, so ist die Kündigungsfrist
gleich den Zeitabschnitten, nach welchen
die Vergütung bemessen ist. Je nachdem
die Vergütung als tägliche, wöchentliche,
monatliche, vierteljährliche oder längere
bemessen ist, findet tägliche Kündigung
oder solche für den Ablauf der Woche,
des Monats oder Vierteljahrs statt und
zwar spätestens am ersten Tage der Woche,
am 15ten des Monats oder 6 Wochen vor
dem Schluss des Kalenderquartals. Diese
letztere Kündigungsfrist ist die längste.
Sie ist die allein anwendbare bei Aerzten,
die mit festen Bezügen angestellt sind und
deren Gewerbsthätigkeit durch diese
Stellung vollständig oder hauptsächlich in
Anspruch genommen ist. Auch bei dem
dauernden Vertragsverhältniss gilt das
Recht der sofortigen Kündigung aus wich¬
tigen Gründen.
Die Ansprüche des Arztes für seine
Dienstleistungen und Auslagen verjähren
in zwei Jahren. Die Frist beginnt mit dem
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Gegenwart 1903.
Ende des Jahres, innerhalb dessen der
Anspruch entstanden ist. Blosse Mahnung
unterbricht die Verjährung nicht, wohl
aber Anerkennung durch den Schuldner,
und Klageerhebung.
Zum Schluss giebt der Verfasser noch
einige Winke für die civilprozessuale Ver¬
folgung der Ansprüche des Arztes.
Die vorstehende Inhaltsangabe wird ein
Bild von der reichen und interessanten Fülle
des besprochenen Buches geben, das wir
jedem Arzte aufs beste empfehlen können.
Der zweite Theil mit seinen Gesetzes¬
texten macht das Buch auch zu einem für
den Juristen äusserst brauchbaren. Er
findet hier alle einschlägigen Verordnungen»
Erlasse, Bekanntmachungen etc. geordnet
bei einander, deren Aufsuchen an ver¬
streuten und entlegenen Stellen auch dem
Juristen die grösste Mühe verursachen, dem
Laien aber überhaupt kaum möglich sein
würde. Auch ein gutes Sachregister und ein
sehr sorgfältiges und erschöpfendes Inhalts¬
verzeichnis fehlen dem Buche nicht. B. K.
Walther Frieboes. Beiträge zur Kennt-
niss der Guajakpräparate. Mit einem
Vorwort von Professor Dr. R. K o b e r t. Mit
10 in den Text gedruckten Abbildungen.
Stuttgart bei Ferdinand Enke 1903. 109 S.
Auf Anregung von Robert hat Friboes
die seit Jahrhunderten zur Behandlung der
Syphilis empfohlenen Guajakpräparate einer
genaueren chemischen und pharmakologi¬
schen Untersuchung unterzogen. Es ergab
sich, dass in der Rinde und dem Holze
sich je zwei Saponine finden, das eine
Saponinsäure, das andere neutrales Sapo¬
nin. In den Blättern findet sich ebenfalls
Saponin, das aber von dem des Holzes
und der Rinde verschieden ist. Die Wur¬
zel enthält ebenfalls Saponin. Auch das
Holz einer anderen Pflanze — Bulnesia
Sarmienti — ist saponinhaltig. Nen¬
nenswerte toxische Wirkungen auf den
Organismus haben die Präparate nicht.
Therapeutisch empfiehlt Friboes Decocte
aus Kernholz, Splint, Rinde, Blättern, ev.
auch aus Holz der Bulnesia Sarmientis.
Friboes hält es nicht für ausgeschlossen»
dass der Gebrauch der Decote neben
der Innuctionscur vielleicht günstig auf den
Verlauf der Syphilis wirken könnte. Ob die
Präparate wirklich allein für sich heilend auf
Syphilis wirken, ist fraglich und müsste erst
durch neue exacte Versuche geprüft werden.
Jedenfalls wird durch die interessante Arbeit
von Neuem die Aufmerksamkeit auf diese
alten jetzt fast ganz verlassenen Medicamente
gelenkt. Buschke (Berlin).
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
476
Die Therapie der Gegenwart 1903.
October
Referate.
Zur Behandlung von Acne und beson¬
ders Acne rosacea empfiehlt v. Fleischl
eine in Italien schon vielfach zu diesem
Zweck benutzte vulkanische Erde: Fanghi
di Sclafani, welche in Sicilien gefunden
wird. Der wirksame Bestand theil ist
Schwefel, der ja auch bei uns für diese
Affectionen ein viel benutztes, gutes Mittel
darstellt. Es wird in der Weise verwendet,
dass das Pulver mit etwas Wasser ver¬
mischt, über Nacht auf die erkrankten Par¬
tien aufgetragen, morgens wieder beseitigt
wird. Buschke (Berlin).
Zur Gonorrhoebehandlung ist das Cru-
rin pro injectione — Chinolinwismuth-
rodanat von Jacobi (auch in dieser Zeit¬
schrift) empfohlen worden. Stern berichtet
aus Josephs Poliklinik, aus der es früher
bereits zur Behandlung von Unterschenkel¬
geschwüren empfohlen wurde, über weitere
günstige Resultate. Es wird in x /2—1V 2 ev.
auch 2%igen Glycerinemulsionen verordnet,
soll reizlos, gonococcid und adstringirend
wirken. B.
(Deutsche med. Wochenschr. 1903. No. 12.)
E. Weil, A. Lumi£re und M. P£hu
haben durch directe klinische Erfahrung
die practisch wichtige Thatsache feststellen
können, dass die Gelatine besser und
und rascher als Bismuth und Tannin
(und ihre Derivate, wie Bismuthose, Tan-
nalbin und Tannigen) die Brustkinderdiar¬
rhoen, welche sich noch nicht bis zur
Cholera infantum entwickelt haben,
zum Verschwinden bringt. Wichtig
ist es auch, dass bei dieser Behandlung
alle Arzneien, die irgend eine directe oder
cumulative toxische Wirkung auszuüben im
stände sind, vermieden werden können.
Die Gelatine selbst ist harmlos unter der
Voraussetzung, dass sie nur in sterilisiertem
Zustande gebraucht werde. Da sie ferner
geschmacklos ist, so wird sie von Kindern
gern genommen, was für die Praxis auch
nicht zu unterschätzen ist.
Man verordnet eine 10% Lösung che¬
misch reiner (gelber oder weisser) Gelatine
in siedendem Wasser. Die Lösung wird
filtrirt während sie noch heiss ist und dann
im Autoclav bei 120° eine halbe Stunde
lang sterilisirt. Alsdann wird sie, noch
vor ihrem Erkalten, in Probierröhrchen ge¬
gossen. Jedes Probierröhrchen erhält
10 Cub. Centimeter der 10% Lösung, also
1,0 Gelatine. Dieses Quantum wird, nach
vorläufigem Erwärmen, zu jeder Flasche
sterilisirter Milch, die man dem Kind zu
saugen giebt, zugethan. Man beginnt mit
drei solchen Dosen per Tag, also mit 3,0
Gelatine pro die, und steigt jeden folgen¬
den Tag um 1,0 bis man die tägliche Dosis
von 6,0 bis 8,0 Gelatine erreicht. Aber
man kann Säuglingen auch 12,0—14,0 Ge¬
latine per Tag anstandslos geben.
Unter dem Einfluss dieser Behandlung
nehmen die Stühle ihre normale Farbe und
Konsistenz rasch an und die Diarrhoe ver¬
schwindet. Bei Recidiven führt eine aber¬
malige Anwendung der Gelatine ebenso
rasch zum Ziel.
Nur die förmliche Cholera infantum
widersteht, wie gesagt, der Gelatinebehand¬
lung. Auch bleibt letzte ohne Wirkung
auf die Lungencomplicationen, welche sich
in einigen Fällen von Diarrhoe bei Säug¬
lingen entwickeln.
Was endlich die Ursache der stopfen¬
den Wirkung der Gelatine betrifft, so handle
es sich um eine mechanische Neutralisation
von Darmtoxinen, (?) W. v. Holstein.
(Lyon mddical 1903 No. 34).
i Der Herpes progenitalis dürfte, wie
! Ehrmann in einer bemerkenswerthen
Arbeit ausführt, stets auf Störungen im
Nervus pudendus communis zurückzuführen
sein. Eine sehr häufige Ursache dieser
Störung ist der Plattfuss. Der Nervus pu¬
dendus communis verlässt mit der gleich¬
namigen Arterie das Foramen ischiadicum
majus und kehrt durch das foramen ischia¬
dicum minus wieder in die Beckenhöhle
zurück, zieht an der medialen Fläche des
aufsteigenden Sitzbeinastes und zerfällt in
seine Aeste. Es ist nun klar, dass die
Stellung der unteren Extremität auf den
Verlauf des Nervus pudendus communis
nur dort einwirkt, wo er aus dem ischia¬
dicum majus in das ischiadicum minus tritt
und das ligamentum spinososacrum über¬
quert. Der Plattfuss beeinflusst nun die
Stellung des Oberschenkels zum Becken
! in der Weise, dass der Oberschenkel beim
Stehen in Abductionsstellung und leichte
Rotation nach innen kommt. Durch diese
Stellung wird jener Theil des verstärkenden
Hüftgelenkbandes gespannt, welcher in die
Gelenkkapsel übergehend sich an jener
Stelle inserirt, wo auch in geringer Entfer¬
nung davon das ligt spinososacrum von
der Spina posterior entspringt. Dadurch
wird der Nervus pudendus communis, der
letzteres Lipament kreuzt, in Mitleiden¬
schaft gezogen. Es entsteht nämlich ein
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Original frorri
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
October
477
Die Therapie der
chronischer Reizzustand des Periosts an
dieser Stelle, wodurch entweder direct auf
den Nerven ein Druck ausgeQbt oder im
Nerven ebenfalls ein chronischer Reiz¬
zustand erzeugt wird.
Es ist selbstverständlich, dass nicht
jeder Herpes progenitales gerade vom
Plattfußs herrührt, aber sehr viele Herpes¬
fälle werden trotzdem durch eine Hyper-
aemie des Periosts erzeugt. H. W.
(Wiener klin. Wochenschrift No. 34.)
Vor mehreren Jahren wurde von Negro
der Vorschlag gemacht, die ischi&lgischen
Beschwerden durch kräftiges Drücken mit
dem Finger auf den Nerven über dem Fo-
ramen ischiadicum zu bekämpfen. Rzad
hat sich in den letzten 5 Jahren dieser
Methode bedient und konnte selbst in ver¬
alteten Fällen oder solchen, wo die übri¬
gen Massnahmen erfolglos geblieben, sehr
günstige Resultate erzielen. Statt des
Fingers benutzt er zum Drücken einen
kleinen Stampfer in Form eines T. Die
Manipulation dauert 1—I 1 /* Minuten und
schafft schon nach der ersten Sitzung eine
vorübergehende Linderung der Schmerzen.
Diese Procedur wird je nach der Schwere
des Falles (in Intervallen von einem bis
mehreren Tagen) 2—3 mal wiederholt und
in allen hartnäckigen Fällen wurden die
ischialgischen Beschwerden nach höchstens
6—7 Sitzungen behoben. Zuweilen traten
nach dem Schwinden der Schmerzen in
den betreffenden Extremitäten Parästhesien
auf. Selbst wenn nach 2—3 Sitzungen die
Beschwerden fortbestehen, räth Verfasser
zur weiteren Anwendung der Methode.
Von 60 Fällen versagte sie nur in 3, die
übrigen Kranken wurden von den Schmer¬
zen dauernd befreit, und trotzdem sie bis
zu 5 Jahren in Beobachtung blieben, trat
kein Recidiv auf. Der Druck muss kräftig
sein, richtet sich aber nach der Empfind¬
lichkeit des Patienten und der zu über¬
windenden Hindernisse (Dicke der Fett-
und Muskelschicht etc.)
M. Urstein (Heidelberg).
(Czasopismo lekaoskie, Januar 1903.)
An der Hand des Materials der Züricher
chirurgischen Klinik bespricht Schön-
holzer die Chirurgie des Magenkrebses.
Er klagt darüber, dass die Patienten oft
den Arzt zu spät aufsuchen, da das be¬
stehende Carcinom häufig erst Beschwer¬
den mache, wenn es zur Operation zu
spät ist. Dann behandeln die Aerzte zu
lange intern, wenden die Magensonde zur
Diagnosenstellung zu selten an. Ein älterer
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Gegenwart 1903.
Patient, der früher keine Magenbeschwer¬
den hatte, ist von vornherein carcinom-
verdächtig, wenn er jetzt Magenbeschwerden
hat. Ist die Magenwand fest infiltrirt, wo¬
möglich noch adhärent, so kann es nicht
zum Erbrechen kommen; andererseits kann
es ohne bestehende Pylorusstenose zur
Stagnation kommen in Folge der Insuffi¬
zienz der Magenmuskulatur. Heredität
bestand in 13% der Fälle. Freie Salz¬
säure fehlte fast in allen Fällen, Milchsäure
war fast immer nachzuweisen. Die Ope¬
ration des Magencarcinoms muss ebenso
populär werden, wie die der Perityphlitis.
In der Regel ist es unmöglich, sich vor
der Probelaparotomie bestimmt über Ope¬
rabilität oder Nichtoperabilität eines Magen¬
carcinoms auszusprechen. Von 264 Patienten
waren 67 von vornherein inoperabel, bei
73 musste man sich auf die Probelaparo¬
tomie beschränken, bei 74 wurde die
Gastroenterostomie, bei 50 Magenpylorus-
resection ausgeführt. Mortalität nach Probe¬
laparotomie betrug 9,5 %, nach Gastro¬
enterostomie 24,3 °/ 0 , nach Gastrectomie
28 %. Gastroenterostomie ist indicirt: 1. in
den Fällen unexstirpirbarer Pyloruscarci-
nome, die wirkliche Stenosenerscheinungen
machen, 2. in den Fällen, wo auch ohne
Pylorusstenose die Stagnationserscheinun¬
gen in dem Krankheitsbild deutlich in den
Vordergrund treten. Sie verlängert das
Leben im Mittel um 100 Tage. Die besten
Resultate werden erzielt, wenn das Car¬
cinom auf den Pylorus beschränkt, der
übrige Magen frei ist. Die Mortalität der
Gastrectomie wird auch in Zukunft nicht
günstiger werden. Der Tumor ist zu ex-
stirpiren, wenn er leicht beweglich ist,
keine unexstirpirbaren Metastasen bestehen,
wenn der Allgemeinzustand es erlaubt.
Grösse des Tumors ist ohne Belang. Ein¬
mal wurde der ganze Magen exstirpirt
(Exitus nach sieben Tagen an Perforativ-
peritonitis). Meist (77 %) sass der Tumor
am Pylorus. In 22 Fällen trat ein Recidiv
ein; sie lebten im Mittel 532 Tage nach
der Operation. Zwei Patienten waren nach
der Operation vier bezw. acht Jahre reci-
divfrei, sind also als geheilt zu betrachten«
Damit ist die Heilbarkeit des Magencarci¬
noms durch Gastrectomie bewiesen.
Klink (Berlin).
(v. Bruns, Beitr. z. klin. Chir. 1903, XXXIX, 1 —2).
In einer Arbeit „Die Kardiolysis und
ihre Indicationen“ giebt Brauer (Heidel¬
berg), eine Methode bekannt zur chirur^
gischen Behandlung der chronischen
adhäsiven Medi&stino-Peric&rditis. Das
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
478
October
Die Therapie der
Herz, das Pericard und die grossen Ge-
fösse sind durch feste Verwachsungen mit
der vorderen Brustwand, dem Zwerchfell
und den Lungen verbunden. Ist die Herz¬
kraft ausreichend, so werden jene Organe
den Herzbewegungen folgen müssen, im
andern Fall hindern sie die Entleerung
des Blutes durch die grossen Gefässe.
Verfasser verfügt über drei mit Erfolg
operirte Fälle, die folgende Erscheinungen
aufwiesen: Es bestanden Pleuraschwarten,
subjective und objective Zeichen beträcht¬
licher Herzinsuffizienz, Stauungsleber-
cirrhose mit Ascites. Ein kräftiger pulsa-
torischer Stoss in der Herzgegend ergab
sich bei näherer Untersuchung nicht als
Spitzenstoss, sondern war darauf zurück¬
zuführen. dass das noch kräftige Herz in
der Systole die vordere Brustwand einzog
und sie dann in der Diastole wieder vor¬
schnellen Hess. Solche Kranke gehen bald
zu Grunde, weil das Herz auf die Dauer
der enormen Leistung, die knöcherne
Brustwand einzuziehen, nicht gewachsen
ist. Verfasser kam nun auf den Gedanken,
das Herz zu entlasten durch Entfernung
der Rippen eventuell eines Theiles des
Sternum, so dass nur die Weichtheil-
bedeckung vom Herzen in Mitbewegung
versetzt zu werden braucht. Es genügt
die Entfernung eines Stückes (7 bis 9 cm)
von der 3., 4. und 5. Rippe, eventuell ist
ein Theil des Sternum mit zu reseciren.
Die drei Patienten, bei denen dies Ver¬
fahren in Anwendung gezogen wurde,
wiesen bald eine erhebliche Besserung
auf: die Oedeme, Dyspnoe, Cyanose und
der nachweisliche Ascites verloren sich.
Ein Patient, der auf dem diesjährigen Chi¬
rurgenkongress gezeigt wurde, ist sogar
im Stande, in einer Maschinenfabrik als
Monteur erhebliche körperliche Arbeit zu
leisten.
Die gewichtigste Indication ist also die
systolische Einziehung breiter Thorax¬
partien. Geschieht die Mitbewegung noch
kräftig, so darf man von der Operation
einen guten Erfolg erwarten; denn ein
Herz, das dazu im Stande ist, muss noch
über eine gute Kraft verfügen. Wahr¬
scheinlich ist der Eingriff aber auch in
vielen Fällen adhäsiver Pericarditis am
Platz, die diese Einziehung nicht aufweisen,
da die Adhäsionen sicherlich auch dann
schon, wenn sie noch nicht zu dieser Er¬
scheinung geführt haben, eine erhebliche
Circulationsstörung und Stauungsleber-
cirrhose bedingen können. Von dem Lösen
der Verwachsungen nach D^lorme ver¬
spricht Verfasser sich nicht viel, weil die
Gegenwart 1903.
Operation ein zu schwerer Eingriff ist und
die Verwachsungen sich bald wieder bilden.
Wich mann (Altona).
(Langenbeck’s Archiv, Band 71, S. 258.)
Ueber 33 Fälle von progedient eitriger
Peritonitis aus dem Stadtkrankenhaus
Friedrichstadt-Dresden berichtet Weber.
Ausgeschlossen sind Fälle mit Bildung
multipler Abscesse der Peritonealhöhle,
eingeschlossen sind Fälle mit peritonealer
Sepsis im Sinne Wegener's, wenn auch
hierbei das Exsudat ganz fehlen kann. Sie
wurden alle operirt, Ausgangspunkt war:
Dünndarmgeschwür, Magengeschwür, Sal¬
pingitis, Volvulus, Appendicitis (24). Da¬
von starben 19 (von Appendicitis 50%)
Indikation zur Operation ist gegeben, so¬
bald die Diagnose „progrediente eitrige
Peritonitis“ feststeht. Je früher operiert
wird, desto besser ist die Prognose. Die
Mortalität nach der Operation bewegt sich
in aufsteigender Linie bei der Peritonitis
durch Gonococcen, Staphylococcen, In¬
fluenzabacillen, Pneumococcen, Colibacillen,
Streptococcen. Die Ueberschwemraung des
Peritoneums geschieht schneller von den
nach dem Zwerchfell zu sitzenden Organen
aus, als von den Beckenorganen aus. Alle
Fälle mit jauchig-eitrigem, rein-eitrigem,
serös-eitrigem, fibrinös- eitrigem Exsudat
sind heilbar, mit Ausnahme derer mit peri¬
tonealer Sepsis. Die Resultate sind besser
geworden, seitdem an Stelle der aus¬
giebigen Spülung der Bauchhöhle mit Koch¬
salzlösung und nachfolgender Drainage mit
Gummiröhren, die trockene Toilette der
ganzen Bauchhöhle und Drainage mit Gaze
getreten ist. Sehr bewährt haben sich
wieder reichliche subcutane und intravenöse
Kochsalzinfusionen. Klink (Berlin).
(v. Bruns, Beitr. z. klin. Chir. 1903. XXXIX, 2).
Pelzl tritt abermals für die Pilocarpin-
behandlung der croupösen Pneumonie
ein. Er verabreichte meist am 2. Be¬
handlungstage das Pilocarpin innerlich
(einmal 20 Tropfen einer 1 proc. Lösung,
nachdem am ersten Behandlungstage Di¬
gitalis verordnet worden war). Der günstige
Einfluss dieser Behandlung äusserte sich
fast allgemein darin, dass schon während
der Diaphorese ein Temperaturabtall um
ca. 1° und subjectives Wohlbefinden ein¬
trat. Dem Temperaturabtalle folgte aller¬
dings nach einigen Stunden wieder ein
Fieberanstieg, das Besserbefinden [hielt
jedoch an. In der Hälfte der Fälle trat
die Krise binnen 48 Stunden ein. H. W.
(Wiener medic. Presse No. 37).
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
October Die Therapie der
Im Verfolg seiner Studien Ober den
Mechanismus des Zustandekommens der
Inaktivirung desTetanusgiftes durch
das Tetanusantitoxin ist E. v. Behring
neuerdingszu Anschauungen gelangt, welche
für die praktische Anwendung der
antitoxischen Tetannstheraple von Be¬
deutung sind und deshalb hier Erwähnung
finden müssen. — Während v. Behring
früher, ebenso wie Ehrlich, eine chemische
Bindung zwischen Giftmolekül und Anti¬
toxinmolekül — nach dem Typus der Säure-
neutralisirung durch Alkali — annahm, ist
er jetzt zu der Auflassung geführt worden,
dass die Inaktivirung des Tetanusgiftes
durch das Heilserum den fermentativen
Umwandlungen der Proteine an die Seite
zu stellen ist. Es genügt deshalb nicht,
dass der antitoxische Antikörper (A) in
vitro oder vivo zusammen mit dem toxischen
Körper (t) in der gleichen Flüssigkeit ge¬
löst wird, um eine Inaktivirung herbei¬
zuführen; es muss vielmehr noch ein dritter
Körper hinzukommen, welcher zwischen
dem toxischen und dem Antikörper den
Contact herstellt. Dieser Körper, den
v. Behring als Conductor(C) bezeichnet
und den er geneigt ist mit der Substanz
des Axencylinders (bezw. mit einem Be-
standtheil dieser Substanz) zu indentificiren,
ist viel hinfälliger als der Antikörper; er
ist beispielsweise in frischem Blutserum
tetanusimmunisirter Pferde viel reichlicher
vorhanden, als in einem Blutserum, wel¬
ches schon längere Zeit gestanden hat
(während der Antitoxingehalt beider gleich
sein kann oder doch nicht in gleichem
Masse verschieden ist), und er wird
in frischem Blutserum durch mehrtägiges
Erwärmen auf 40—50° einseitig (d. h.
ohne gleichzeitige Abnahme des Anti¬
toxins) vermindert. Seiner Natur nach ist
dieser Körper noch vollständig hypo¬
thetisch, seine Existenz aber sieht v. Beh¬
ring durch Versuche, die an dieser
Stelle nicht wiedergegeben werden können,
als erwiesen an.
Entsprechend dieser Auffassung reicht
die bisherige Bewerthung des Antitoxin¬
gehalts eines Heilserums durch den Mi¬
schungsversuch in vitro (d. h. durch die
Feststellung, wieviel von dem Serum er¬
forderlich ist, um in vitro eine Gifteinheit
unschädlich zu machen) nicht mehr aus,
um über seinen Schutz- und Heilwerth
Auskunft zu geben; denn der Mischungs¬
versuch bestimmt nur die vorhandene An¬
titoxinmenge, ohne den Gehalt an C zu
berücksichtigen, v. B eh r i ng prüft deshalb
das Tetanusserum, das zum Gebrauch ab¬
Gcgenwart 1903. *79
gegeben wird, von jetzt ab nicht mehr bloss
auf seinen Mischungswerth, sondern auch
auf seinen Schutzwerth und Heilwerth
im Thierexperiment. Er hat zu diesem
Zwecke die Production der Tetanusheil¬
sera ganz nach Marburg verlegt und
ihren geschäftlichen Vertrieb der dortigen
Firma Dr. Siebert und Dr. Ziegen¬
bein übertragen. Die Dosirung und
Anwendungsweise der neuen Sera hier
wiederzugeben, ist überflüssig, weil mit
jeder Dosis eine genaue Gebrauchsan¬
weisung abgegeben wird, welche auch die
in Frage kommenden wissenschaftlichen
Gesichtspunkte in Kürze klar legt. Von
besonderer Bedeutung ist, dass auch ein
Trocken-Antitoxin abgegeben wird (zum
Einstreuen in inficirte Wunden oder zur
parenchymatösen Injection nach Auflösung
in sterilisirter Kochsalzlösung), welches
wegen seiner grossen Haltbarkeit und
seines mässigen Preises (3 Mark für das
Fläschchen mit 20 A. E.) nicht bloss in
Apotheken und Krankenhäusern, sondern
auch vom Arzte selbst vorräthig gehalten
werden kann. Mit diesem Präparat kann
die Behandlung sofort eingeleitet und
fortgesetzt werden, bis die erforderlichen
stärkeren Sera im Bedarfsfälle eintreffen.
Auf die Schnelligkeit, mit der die anti¬
toxische Therapie in Kraft tritt, legt
v. Behring nach wie vor den allergrössten
Werth. Er weist mit Recht darauf hin,
dass auch bei der Diphtherie die Heilserum¬
behandlung nicht ihren grossen, jetzt überall
anerkannten Einfluss hätte ausüben können,
wenn man in jedem Einzelfalle das Heil¬
mittel erst auf grosse Entfernungen mit
einem Zeitverlust von mindestens36 Stunden
von der Productionsstätte hätte kommen
lassen müssen. Greifen dieselben Prin¬
zipien, die bei der Diphtheriebehandlung
längst durchgeführt sind, in der Tetanus¬
therapie Platz — wozu die neuen Mar-
burger Präparate den Boden ebnen sollen
— so erwartet v. Behring ein gewaltiges
weiteres Heruntergehen der Sterblich¬
keitsziffer an Tetanus, die nach maass¬
gebenden Statistiken jetzt bereits unter
dem Einflüsse der Serumtherapie von ca.
88 % auf 45—40 % herabgedrückt ist!
F. K.
(Deutsche med. Wochenschrift 1903, No. 35.)
Aus dem Koch’sehen Institut berichtet
Dr. F. Neufeld über ausgedehnte Ver¬
suchsreihen an Eseln, Ziegen und Rindern,
die sich mit der Immunisirung gegen
Tuberkulose beschäftigen. Das wesent¬
liche Resultat derselben ist eine Bestäti-
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
October
480
Die Therapie der Gegenwart 1903.
gung der von E. v. Behring im vorigen
Jahre mitgetheilten Thatsache (vergl. diese
Zeitschr. 1902, S. 263), dass es gelingt,
durch intravenöse Injection von le¬
benden, vom Menschen stammenden
Tuberkelbacillen - Culturen gegen
eine nachfolgende Infection mit einer
sicher tödtlichen Dosis virulenter
Perlsucht Immunität zu erzielen. Durch
abgetötete Tuberkelbacillen war dieser Er¬
folg nicht zu erreichen, und ebensowenig
gelang es, eine lmmunisirung bei Meer¬
schweinchen zu erzielen, die für mensch¬
liche und Rindertuberkelbacillen in gleicher
Weise empfänglich sind. Bei den drei oben
genannten, nur für Perlsucht empfänglichen
Thierarten dagegen gelang die;Immunisirung
durch die lebenden Bacillen sehr leicht;
schon eine einmalige kleine intravenöse
Injection von Menschentuberkelbacillen ge¬
währte einen relativ erheblichen Schutz.
Aber bei Steigerung der injicirten Dosen
zeigte sich bald eine Grenze, die zu über¬
schreiten bisher nicht möglich war. Die I
Thiere erlagen der Injection grösserer
Dosen der menschlichen Tuberkelbacillen,
und zwar die Esel etwa bei einer Dosis
von 50—80 mg, Ziegen bei Ueberschrei-
tung einer Dosis von 30 mg. Neufeld
führt dies auf eine Giftwirkung zurück und
schliesst daraus, dass menschliche Tuber¬
kulose und Perlsucht, so verschieden sie
in ihrer Infectiosität sind, in ihrer Gift¬
wirkung sich sehr nahe stehen. Eine
nennenswerthe Gewöhnung an das Gift war
nicht zu erzielen, daher auch keine weitere
Steigerung der Immunität gegen die Perl¬
suchtbacillen. — Wie weit die praktische
Verwerthung dieser Immunisirungsmethode
hierdurch eine Einschränkung erfährt, muss
weiteren Untersuchungen Vorbehalten blei¬
ben; ihre ausserordentliche Bedeutung, auf
die wir bei der Besprechung der Behring-
schen Mittheilung bereits hingewiesen haben
(1902, S. 264), bleibt unangetastet.
F. Klemperer.
(Deutsche med. Wochenschrift 1903, No. 37).
Das durch E. Fischers und v. Me-
ring’s Veröffentlichung in dieser Zeit¬
schrift (1903, Heft 3) in die Therapie ein¬
geführte Schlafmittel Veronal, hat bereits
eine Reihe von Mittheilungen hervor¬
gerufen, die die günstigen Berichte der
Erfinder durchweg bestätigen. Ausser
Rosenfeld’s gleichfalls in dieser Zeit¬
schrift (1903, Heft 4) berichteten Erfahrungen
hat Poly in der Würzburger med. Klinik
mit Dosen von 0,25—0,75 bei einfacher
Agrypnie meist prompt Schlaf erzielt, nur
bei gleichzeitigen Schmerzen versagt das
Mittel. Unangenehme Nebenwirkungen und
Angewöhnung wurden nicht beobachtet.
Aronheim hat auch bei schmerzhaften
Affectionen mit 1,0 Veronal Sehlaf erzielt.
Lilienfeld hatte bei Geisteskranken aus¬
gezeichnete Erfolge und räumt dem Mittel
den ersten Platz unter den Hypnodcis ein.
Wirth, der an 84 Kranken (mit 2100 Ein¬
zelgaben) der Hofheimer Irrenanstalt
seine Untersuchungen anstellte, hat das
Veronal nicht nur auf seine schlaferzeu¬
gende Wirkung (die er bestätigt), sondern
auch auf seine Brauchbarkeit als Beruhi¬
gungsmittel bei erregten Geisteskranken
geprüft. Er fand, dass nach 0,5—1,0 g je
nach Intensität der Erregung 3—9stündiger
ruhiger Schlaf erfolgt. Durchschnittlich
wurde 0,5 g 3—4mal täglich verwandt.
I Diese Einzeldosis entspricht etwa 1,0 g
Trional. Veronal zeigt aber im Gegensatz
zu jenem keine kumulativen Eigen¬
schaften. Tagesdosen von 2,5 g und
Darreichung von 41 g in einem Monat
riefen keine ernsteren toxischen Erschei¬
nungen hervor. Das Körpergewicht nahm
unter der Behandlung häufig zu. Nur ganz
selten wurden schwankender Gang und
! benommenes Sensorium beobachtet. 2mal
kamen masernähnliche juckende Exantheme
vor, die nach Aussetzen des Mittels rasch
schwanden. Die Zeitdauer bis zum Eintritt
der Wirkung war in den einzelnen Fällen
und auch je nach der Art des zu behandeln¬
den Zustandes verschieden und schwankte
von einer halben bis zu zwei Stunden. —
Wenngleich man nach Analogie sonstiger
Erfahrungen erwarten muss, dass mit der
Zeit noch mehr Nebenwirkungen bekannt
werden, dass namentlich auch bei diesem
Mittel nach langem Gebrauch durch Ge¬
wöhnung die Wirksamkeit sich abschwächen
wird, so erhält man doch aus den bis¬
herigen Veröffentlichungen den Eindruck,
dass das Veronal ein den besten bis¬
herigen Hypnoticis zum mindesten eben¬
bürtiges Mittel ist.
Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt).
Poly, Mönch, med. Wochenschr. 1903, No. 20:
Aron heim, Medicin. Woche 1903, No. 31; —
Lilienfeld, Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 21;
— Wirth, Psychiatr. neurolog. Wochenschr. 1903,
I No. 9).
rroi Mcnpnn ... .. — Verantwortlicher Kedacteur lür Oesterreich-Ungarn;
EÜ«n'Schwär.'enber P in Wien. - Drück von Julius S, Umfeld in Berlin. - Verlag von U r ban & S c h w ar r e n b erg
* in Wien und Berlin.
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Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1903 herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer November
in Berlin.
Nachdruck verboten.
Die Stellung der physikalischen Heilmethoden in der heutigen
Therapie. 1 )
Bemerkungen zur physikalischen Therapie
der Krankheiten des Respiration«- und Clrculationsapparats.
Von O. Vlerordt- Heidelberg.
Die Einführung der physikalischen Heil- !
methoden in die wissenschaftliche Medicin
bedeutet einen Wendepunkt von weit-
tragender Bedeutung in der Geschichte
unserer Wissenschaft. Es ist nicht lange
her, dass die Schulmedicin diese Methoden ;
mit verschwindenden Ausnahmen unbenutzt -
bei Seite liess, dass sie es geradezu zu¬
rückwies, sich mit ihnen zu befassen, dass
sie sie zu ihrem eigenen Schaden den
rohen und ungebildeten Empirikern, den
Pfuschern überliess — und warum? —
weil der vollständige Mangel an wissen¬
schaftlichen Grundlagen für diese Ver¬
fahren, das Fehlen einer exakten Er- j
forschung ihrer Wirkung den wissenschaft¬
lich gebildeten Arzt abstiess, ihm Miss¬
trauen, ja Verachtung einflösste.
Das ist nun anders geworden; die
Elektrotherapie und Hydrotherapie als zeit¬
lich erste, die Ernährungstherapie (wenn
es gestattet ist, dieselbe hiermitzuerwähnen)
später hinzukommend, die beiden ersteren
aber an thatsächlichen Grundlagen rasch
überholend, ferner die Bewegungs-, Luft-,
Lichttherapie und wie sie alle heissen, sie
sind in ihren Wirkungen unserem wissen¬
schaftlichen Verständniss näher gerückt.
Die Lehre von ihrer Wirkung ist von
massenhaftem, unklarem, theilweise mysti¬
schem Wust gereinigt worden und sie hat I
dafür an positiven Thatsachen gewonnen. |
Ich will Sie jetzt nicht mit der gewissen- |
haften Aufzählung aller der Zustände er¬
müden, bei welchen die physikalischen Me¬
thoden ihre heilsamen Einflüsse entfalten. I
Die Geschichte der wissenschaftlichen Be- j
arbeitung dieser Dinge setzt ein mit der j
noch nicht lange zurückliegenden Zeit, da
verschiedene Forscher begannen, sich mit
der Hydrotherapie einerseits der acuten
fieberhaften, andererseits der chronischen
Zustände zu beschäftigen, da durch Ar¬
beiten aus den Kurorten und von Specia-
*) Einleitender Vortrag gehalten bei Eröffnung j
der balneologischen Curse in Baden - Baden am
5. October 1903.
Digitized by Google
listen unternommen wurde, die Wirkungen
der Mineralwässer nach modernen Me¬
thoden zu studiren, da die Elektrotherapie,
dann die Massage gegen Krankheiten des
Nervensystems angewandt wurde. In¬
zwischen ist die Anzahl der Heilfactoren
vermehrt, der Kreis ihrer Anwendbarkeit
erweitert, und heutzutage sind wir so weit,
dass es ausgesprochen werden darf, es
gebe kein Organ des menschlichen Körpers,
welches nicht durch physikalisch-diätetische
Einflüsse getroffen werden kann, und es
gebe kein internes Leiden, bei welchem
nicht, unbeschadet der gesicherten Indica-
tionen der medicamentösen und antitoxi¬
schen, bezw. der chirurgischen Therapie,
die Methoden der medicinlosen Heilweise
angezeigt wären.
Unter den medicinlosen Heilmethoden
der inneren Medicin ist ja bisher eigent¬
lich nur von der Ernährungstherapie zu
sagen, dass sie bereits ein stolzes, fest¬
gefügtes, in manchen Beziehungen einiger-
maassen abgeschlossenes Gebäude auf der
* Basis gesicherter naturwissenschaftlicher
| Thatsachen darstellt. In dem physikalischen
Theil dieser neuen Heilmethoden ist unser
streng wissenschaftlicher Besitz noch ge¬
ringer und weniger geschlossen, und es
erscheint die Klage von Winternitz in
dem vor zwei Jahren erschienenen Hand¬
buch der physikalischen Therapie über
spärlich gelieferte neue Arbeit nicht un¬
berechtigt, — wenigstens was deren Er¬
gebnis an exacten, wohlbeobachteten
Thatsachen bedeutet.
Dennoch müssen wir vor allem an-
ei kennen, dass uns auch in diesen Disci-
plinen gerade in der neuesten Zeit viel¬
fach entgegengearbeitet ist durch die
grundlegenden Arbeiten von Rubner und
anderen über den Wärmehaushalt des
Körpers und den Stoffwechsel überhaupt,
durch Arbeiten über das Verhalten des
Blutes, des Nervensystems, des Circulations-
apparates unter physikalischen Einflüssen.
Dies zusammengenommen mit einem Theil
61
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
482
November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
der zahlreichen alteren und neueren direkt
therapeutischen Arbeiten hat denn doch
schon einen gewissen festen Bestand an
Gesichtspunkten und sicheren Grundlagen
für diese Therapie ergeben.
Das Resultat ist, dass die Indicationen
für die Maassnahmen der physikalischen
Therapie anfangen präciser zu werden.
Und dies ist ein grosser Fortschritt! Wie
eine nach bestimmten Indicationen han¬
delnde Therapie auf die Erweiterung un¬
serer Kenntnisse in der Pathologie und
Klinik und insbesondere auf die Verfeine¬
rung der Diagnostik zurückwirkt, das zeigt
uns die Entwicklung der Chirurgie und
inneren Medicin in deren Grenzgebieten,
die Geschichte der Appendicitis, der Lo-
calisationen im Grosshirn, der eitrigen
Pleuraexsudate u. a. m. Das Umgekehrte
tritt ein, wenn, wie dies früher bei den
physikalischen Heilmethoden der Fall war,
die Richtung der Therapie unbestimmter
wird, wenn die Behandlung die Ziele all¬
gemeiner Kräftigung oder sonstiger all¬
gemeiner Beeinflussung des Organismus
verfolgt, weniger individuell der Dia¬
gnose und speciellen Natur des Einzel¬
falles angepasst wird. Exacte Diagnosen
erscheinen dann nicht nöthig und werden
denn auch vielfach nicht gestellt; „Kräfti¬
gung des Herzens“, „Hebung der Er¬
nährung“, „Abhärtung“ etc. sind ja in
der That Indicationen, die auf Vieles
passen. Und so werden die Diagnosen
leicht salopp. — Diese Klippe hat in der
ersten Zeit der Anwendung der physika¬
lischen Methoden eine wohl erkennbare
Rolle gespielt; manche Vertreter dieser
Richtung sind an ihr gescheitert.
Es ist ein überall hervortretendes Ge¬
setz in der Entwicklung der Medicin, dass,
je spärlicher die naturwissenschaftlichen
Kenntnisse, je oberflächlicher die An¬
schauungen gewesen, desto mehr die
Aerzte sich an Schemata, an deductiv er¬
sonnene Systeme gehalten haben. In der
Therapie bauten sie sich nicht selten auf
mystisch übertriebene Vorstellungen von
der Heilkraft einzelner Stoffe und Factoren
auf. So ist es schon von Alters mit dem
Wasser, mit der Luft, mit der Sonne ge¬
wesen, nicht nur in der Hand der illegi¬
timen Vertreter, der Pfuscher; auch die
wissenschaftlich gebildeten Aerzte, soweit
sie sich mit diesen Heilfactoren abgaben,
verfuhren schematisch; für was sollte bei¬
spielsweise nicht alles die „gute Luft“, die
„Luftveränderung“, der Ganzwickel mit
Schwitzen und Douche heilsam sein,
wie gedankenlos wurden sie angewandt.
Digitized by Google
Diese Hinneigung zum Schema ist der
physikalischen Therapie noch lange nach¬
gegangen; selbst die durchaus wissenschaft¬
lich entwickelte Hydrotherapie des Abdo¬
minaltyphus litt z. B. ursprünglich an über¬
grossem Schematismus. Aber gerade hierin
ist es neuerdings ganz anders und besser
geworden; die Erweiterung unserer Kennt¬
nisse von der Wirkung dieser Heilfactoren
hat gelehrt, dass sie derselben, ja vielfach
einer noch feineren lndividualisirung fähig
sind, als die medicamentöse Therapie, dass
Diagnose und individuelle Natur des Einzel¬
falles zuvor sorgsam festgestellt werden
müssen, ehe es sich entscheidet, ob und
welche physikalischen Methoden, ob sie
allein oder in Combination mit medicamen-
töser Therapie anzuwenden sind.
In alledem also haben wir eine Wand¬
lung zum Besseren erlebt; wir sind auf dem
Wege, eine Wissenschaft der physika¬
lischen Therapie zu besitzen, so sehr die¬
selbe auch noch in den Anfängen steckt.
Andere Schwierigkeiten aber, die sich
der jungen Disciplin in den Weg stellen,
sind schwerer zu beseitigen. Sie sind ver-
hältnissmässig trivialer Natur.
Die physikalische Therapie ist umständ¬
licher, zeitraubender, oft theurer als die
medicamentöse. Das Publikum wirft sich
ihr theilweise freilich mit einer all dies
überwindenden Begeisterung in die Arme,
leider auch heute noch recht vielfach dann,
wenn sie von der Hand eines reklame¬
treibenden, mit dem mystischen Glanze des
Zauberers sich umgebenden Pfuschers dar¬
geboten wird. Ein grosser Theil der Pa¬
tienten verhält sich aber besonders in der
Hauspraxis ablehnend, nimmt es übel, wenn
der Arzt nicht die bequemeren Pillen und
Tropfen verordnet.
Hier sind nun manche Curorte und Sa¬
tt atorien in besonderemMaasse bahnbrechend
gewesen; die Patienten kommen hier willig
entgegen, sie haben Zeit und sie gehören
im allgemeinen zu Denen, welche über die
nöthigen Mittel verfügen; hier hat sich denn
hauptsächlich Gelegenheit geboten, die
Laien vom Werth der physikalischen The¬
rapie zu überzeugen.
So sollte man meinen, dass diese Heil¬
faktoren sich denn doch den Weg auch in
die eigentliche ärztliche Praxis sollten
bahnen können, — wenn nicht hier noch
besondere Schwierigkeiten im Wege stün¬
den. Die oben erwähnte, dass diese Dinge
umständlich, zeitraubend und theuer sind,
wird durch die Technik und Organisation,
wenn ich so sagen darf, der Therapie und
durch die Einsicht und den guten Willen
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
483
November Die Therapie der Gegenwart 1903.
-der Patienten allmählich wohl überwunden
werden. Die Lösung einer anderen Schwie¬
rigkeit ist für mich vorläufig nicht abzu¬
sehen: Der Hausarzt hat meist nicht
die nöthige Zeit, um die physikali¬
sche Therapie selbst anzuwenden
oder persönlich zu überwachen.
Die Forderung, die praktischen Aerzte
sollen diese Methoden selbst ausüben, ist
schon oft genug erhoben; besonders zur
wirksamen Bekämpfung des Pfuscherthums
wurde das vielfach gerathen. Am be¬
stimmtesten vielleicht hat vor fünf Jahren
Rubner in einemsehr lesenswerthenVor¬
trag über Volksgesundheitspflege und me¬
dizinlose Heilweise hier an die Hausärzte
appellirt. Allein da der Erwerb des Arztes
eine Funktion aus der Zahl seiner Besuche
und den Einzelhonoraren ist, und bei dem
allgemeinen Standard der letzteren, ist der
Hausarzt nur ausnahmsweise in der Lage,
sich hier zu bethätigen. Es bleiben für
ambulante Kranke in den Städten die viel¬
fach entstandenen, sehr segensreich wirken¬
den Institute für physikalische Therapie,
wiewohl sie bekanntlich den Nachtheil
haben, dass sie leicht den Patienten dem
Hausarzt aus dem Auge kommen lassen.
Wie soll aber die häusliche Therapie
ausgeübt werden? Gewiss ist Win ternitz’
Wort richtig, dass man oft nicht viel
Apparat braucht, dass man mit einem Hand¬
tuch und einem Kübel Wasser das Meiste
in der Hydrotherapie ausführen kann. Da
lässt sich ja der Patient zu Manchem an¬
leiten, was er selbst machen kann. Aber
denken wir auf der anderen Seite an die
differenteren Methoden, beispielsweise an
ärztliche Massage nichtambulanter Kranker,
an die so ausserordentlich wichtige Hydro¬
therapie besonders der akuten Schwer-
kranken und Vieles andere — wer soll das
machen?
Man kann sich die Lösung dieser Frage
verschieden denken, entweder durch die
Hebung der hausärztlichen Honorare, die
mehr Zeit auf den einzelnen Kranken zu
verwenden gestattet, oder durch Schaffung
«ines geschulten, nur unter Aufsicht ar¬
beitenden Personals etwa von der Qualität
der früheren Aerzte II. Klasse; dies letztere
ist aber bei der heutigen Lage der Gesetz¬
gebung, die das Pfuschen freigiebt, durch¬
aus ausgeschlossen; das gewöhnliche Pflege¬
personal wiederum hat für die eingreifen¬
deren und complicirteren Methoden nicht
die nöthige Vorbildung.
Im Auslände hat sich theilweise in
grossen Städten eingebürgert, dass junge
angehende Aerzte ihre Sporen mit den
Digltlzed by Google
häuslichen Manipulationen der physika¬
lischen Therapie verdienen; auch in
Deutschland kommt derartiges vor, es
fragt sich, ob dieser Weg nicht der Beste
ist.
Mögen diese Fragen gelöst werden, wie
sie wollen, — eine Lösung wird mit der
Zeit kommen, daran kann nicht gezweifelt
werden. Die durchbrechende Ueber-
zeugung vom Werth der physikalischen
Therapie wird dafür sorgen.
Worin besteht der Werth der
physikalischen Heilmethoden?
Die alte Behauptung der Naturärzte,
dass ihre Verfahren unschädlicher seien,
als Medicin, ist in ihrer Allgemeinheit
falsch. Das kalte Bad kann dem Fiebern¬
den Collaps und Tod bringen, die Priess-
nitz’schen und Kn ei pp'sehen Methoden
haben zahllosen Menschen durch Schädi¬
gung des Herzens, der Nieren das Leben
gekostet; Massage phlebitischer Beine,
oder eines eitrigen Appendicitisrestes ist
eben so gefährlich wie eine toxische Mor¬
phiumdosis, auch die diätetische Ent-
fettungscur kann tödtlich sein, — was soll
ich die Beispiele noch vermehren?
Falsche Diagnosen also und Pferde-
curen führen hier wie in der medikamen¬
tösen Therapie zur Schädigung und selbst
Vernichtung des Organismus.
Aber innerhalb der Grenzen, die
durch richtige Diagnostik und durch
kunstgemässe Anwendung gezogen
sind, lassen sich die physikalischen
und diätetischen Heilmethoden, ins¬
besondere in ihren vielfältigen
Combinationen, mit einer Feinheit
abstufen, welche von der medika¬
mentösen Therapie nur selten er¬
reicht wird.
Es kommt dann weiter hinzu, dass viele
Faktoren der physikalischen Therapie und
der Diätetik, die Wärme und Kälte, die
Belichtung und mechanische Beeinflussung,
die Bewegung und Ruhe etc., theils quali¬
tativ identisch sind mit den physiologischen
Faktoren, welche tagtäglich die Funktionen
des Körpers beeinflussen, theils ihnen
nahestehen; es liegt auf der Hand, dass
mit ihnen am Besten und Schonendsten
Verschiebungen im Sinne der Schonung
und Uebung, der Verminderung und Stei¬
gerung der Funktionen, der Hebung der
Circulation zum Zweck der Weg-chaffung
pathologischer Produkte, kurz im Sinne vie¬
ler Gesichtspunkte unserer heutigen The¬
rapie ei reicht werden können.
Schädliche Nebenwirkungen kommen
bei der physikalisch-diätetischen Therapie
61 *
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
484
Die Therapie der Gegenwart 1903.
November
auch vor, allein sie sind, wenn gut dia-
gnosticirt, vernünftig verfahren und während
der Behandlung sorgsam beobachtet wird,
immer vermeidbar, was bekanntlich z. B.
von der Jod-, Arsentherapie, der Therapie
der Schlafmittel etc. nicht gesagt werden
kann. — Umgekehrt ist die günstige Nach¬
wirkung dieser Curen im Allgemeinen be¬
deutender als wie diejenige vieler medica-
mentösen; das hängt theilweise mit einem
Umstande zusammen, der den Hauptwerth
der physikalisch-diätetischen Therapie in
sich schliesst, dass nämlich der Patient
aus diesen Curen fast immer etwas
ins tägliche Leben mit hinüber
nimmt.
Die Zeit reicht nicht, um Ihnen dies
mit Beispielen zu belegen; das ist aber
auch wohl vor erfahrenen Collegen nicht
nöthig. Die Abhärtung, das Maass der
nöthigen Wärme, die Uebung und Scho¬
nung, die Erkenntniss, was dem eigenen
Körper an Bewegung zugemuthet werden
kann und muss, gewisse Regeln der Diä¬
tetik, auch psychische Diätetik, — das alles
nimmt der Patient, falls er genug Einsicht
und guten Willen hat, aus diesen Curen
mit zu dauernder Nutzanwendung; sie
stehen so mit einem Wort in engster Be¬
ziehung zur Hygiene, und zwar der Hygiene
des Lebens, der Wohnung, der Kleidung,
der Ernährung im Allgemeinen, wie zu der¬
jenigen specifischen Hygiene, die im Einzel¬
fall den Leidenden unter Leitung eines
Arztes zur weiteren Bekämpfung seines
Zustandes, dem Genesenen zur Abwendung
des Rückfalles frommt. So bekommt der
Einzelne in das, was sein Körper verlangt,
denjenigen Einblick, welcher ihn nicht zum
Hypochonder macht, sondern ihm Hoffnung
auf Erhaltung der Gesundheit oder eines
möglichst hohen relativen Maasses der¬
selben einflösst, — er lernt zu leben!
— Damit haben wir die „naturgemässe
Lebens-", die „naturgemässe Heilweise“
auf wissenschaftlicher Basis.
Dass dabei ein gewisser Grad von Mit¬
wirkung bei der Cur und nach derselben
von Seiten des Patienten nöthig ist, geht
aus dem Gesagten hervor. Diese Mit¬
wirkung, richtig geleitet, ist bei chronisch
Kranken und für die Prophylaxe von hohem
Werth, und sie beeinflusst die Stimmung
des Patienten. Der Frohsinn und bis zur
Sinnlosigkeit gesteigerte Enthusiasmus
vieler Patienten, der bei den Naturcuren
der Pfuscher obwaltet, ist wohlbekannt; er
kommt zum guten Theil daher, dass die
Patienten täglich mit sehr sichtbaren Mit¬
teln den Kampf gegen das Leiden selber
führen helfen; dass dort gerade dieser
durch keine Sachkenntniss eingedämmte
Enthusiasmus von Arzt und Patient vielen
die Gesundheit und das Leben kostet, das
wissen wir. An uns aber ist es, mit der¬
jenigen weisen Mässigung und Einschrän¬
kung, welche die wissenschaftliche Er¬
kenntniss auferlegt, von diesem Heilfactor
Gebrauch zu machen.
Ueber die Grenzen der Wirksamkeit
der physikalischen Therapie zu reden, das
ist bei einer so jungen, werdenden Disci-
plin schwer. Dass ihr das, was heut zu
Tage unter specifisch immunisirender und
antitoxischer Therapie verstanden wird,
abgeht, dass sie auch gewisse specifische
Medikamente nicht ersetzen kann, liegt auf
der Hand, von der chirurgischen Therapie
gar nicht zu reden. — Wenn wir freilich
die Wirkung des Lichts auf Bakterien und
die glänzenden Lichtcuren des Lupus, die
Einwirkung der Hitze auf Furunkel u. a.
sehen, wenn wir bedenken, dass manches
für die toxinausscheidende Function des
Schweisses spricht, wenn wir an die eigen¬
tümliche Wirkung der Bier’schen Stau-
ungshyperaemie denken, so müssen wir
zugeben, dass da und dort directe und in-
directe specifisch antibakterielle und anti¬
toxische Wirkungen physikalischer Fac-
toren auftauchen, ganz abgesehen davon,
dass gerade nach unseren allerneusten An¬
schauungen die Einwirkung der allgemeinen
Kräftigung des Organismus, der Stärkung
der Widerstandskraft seiner Zellen von
nicht abzusehender Bedeutung für den
Kampf mit den specifischen Bakterien und
specifischen Schädlichkeiten jeder Art ist.
Auf der anderen Seite sehen wir aber
zur Zeit derartige Fortschritte im Gebiete
der specifischen immunisirenden und anti¬
toxischen Therapie, derartige Erweiterung
und Vertiefung unserer Kenntnisse von
der Wirkung der medicamentösen Heil¬
mittel, dass in absehbarer Zeit keine Rede
von einer Verdrängung derselben durch
die physikalischen Faktoren sein kann. —
Was aber spätere Zeiten bringen können,
zu erörtern, ist vom naturwissenschaft¬
lichen Standpunkt vollkommen müssig.
Gestatten Sie mir noch mit ein paar
Worten auf die allgemeintherapeutischen
Ziele des physikalischen Heilverfahrens
zurtickzugreifen und daran einige Bemer¬
kungen über die allgemeine Methodik der¬
selben zu knüpfen.
Zunächst verfolgen diese Verfahren die¬
selben Gesichtspunkte, wie überhaupt ein
grosser Theil der modernen Therapie. Sie
wollen der Natur zu Hilfe kommen durch
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November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
485
Schaffung günstiger Allgemeinbedingungen,
durch Schonung und Uebung kranker Or¬
gane, Uebung von Organen, welche vica-
riirend für kranke eintreten; in diesem
Sinne wirkt theilweise die Ableitung er¬
leichternd auf die Function des kranken
Organs. Hebung der allgemeinen Wider¬
standskraft des Körpers durch Abhärtung,
durch Förderung der Circulation und des
Stoffwechsels der Gewebe, Uebung des
Herzens, eventuell Erhöhung des Blut¬
drucks. Die letzteren Gesichtspunkte
spielen natürlich eine grosse Rolle in der
Therapie des Circulationsapparates. — Be¬
einflussung des Stoffwechsels im Allge¬
meinen durch Diätetik und physikalische
Methoden ist auf vielfache Weise nützlich;
unter die Kategorie der örtlichen Beein¬
flussung der Circulation und des örtlichen
Gewebstoffwechsels fällt die Beseitigung
von Exsudaten, die Einwirkung auf ent¬
zündete Gelenke, Muskelrheumatismus u. A.
— Die Beeinflussung der grossen Schleim-
4iautflächen des Verdauungs- und Respi¬
rationsapparates durch Mineralwässer, Diä¬
tetik, Inhalation, Klima, durch ableitende
und abhärtende, zum Theil auch reflecto-
risch wirkende Methoden ist Aufgabe einer
grossen Gruppe von Methoden. — Die
eigentümliche belebende, erfrischende
Wirkung, welche der Gesunde nach ge¬
wissen Proceduren empfindet, wird mit
Fug und Recht mutatis mutandis auf chro¬
nische und acute krankhafte Zustände über¬
tragen, seitdem festgestellt ist, dass diese
Wirkung auch hier an Puls, Appetit, Be¬
wusstsein, Belebung der Reflexe u. s. w.
erkennbar ist.
Hierher gehört der schwer klar definir-
bare Vorgang, den die Hydrotherapie als
Reaction bezeichnet; der Vorgang be¬
steht darin; dass nach Kälteapplication aüf
die Haut mehr weniger rasch und intensiv
an Stelle der zuerst erfolgenden Con- j
traction der Hautgefässe mit Blässe der
Haut und Kälteempfindung eine Erweite¬
rung der Hautcapillaren mit frischer Röthe
und wohliger Wärmeempfindung tritt,
welche, wenn der beeinflusste Hautbezirk |
eine gewisse Ausdehnung besitzt, mit auf¬
fälliger Anregung und Erfrischung des
ganzen Körpers einhergeht. Genaue Blut¬
druckmessungen bei diesem Zustand haben
keine nennenswerthen Ausschläge ergeben,
das Nervensystem bietet keine für uns
greifbaren oder gar messbaren Verände¬
rungen dar, die Untersuchungen des Ge-
sammtstoffwechsels haben keine wesent¬
liche Aenderung erkennen lassen, und doch
besteht die Erscheinung; der Gesunde
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kann sie leicht an sich produciren, ganz
besonders durch ein kurzes Bad in stark
bewegter See, aber bekanntlich auch durch
die verschiedensten Süsswasserproceduren.
Bald mehr als eine nervöse, bald als eine
circulatorische Erscheinung aufgefasst, ist
dieser Vorgang, streng genommen, noch
nicht erklärt, er ist aber das nothwendige
Ingrediens jeder kalten oder kühlen Hydro¬
therapie; keine kühle Procedur soll ohne
Reaction einhergehen; sie spielt eine Rolle
bei der Abhärtung, den ableitenden Me¬
thoden, der Belebung benommener, schlecht
expectorirender Schwerkranker. Sie kann
leicht zum Schema werden, das
Schema ist aber gerade hier tödtlich, denn
diese sogenannte Reaction ist ganz indi¬
viduell. Eine Procedur, die für den Einen nach
Temperatur und Dauer zu stark ist, ist für
den Anderen zu schwach. Individualisirend
angewandt aber, von Fall zu Fall studirt
und geändert, ist sie ausserordentlich viel¬
seitig.
Hieraus sehen Sie am deutlichsten, wie
wir uns bequemen müssen, ganz neue Ge¬
sichtspunkte in’s Auge zu fassen, wenn wir
uns mit diesen Dingen beschäftigen.
Zum richtigen Zustandekommen all
dieser Einwirkungen gehören nun aber
zwei Dinge, die ich Ihnen nicht genug für
die praktische Ausführung aller physika¬
lischen Therapie an’s Herz legen kann:
diese Heilfactoren müssen nach Intensität
und Dauer der Ausführung aufs genaueste
dosirt werden, ihre Wirkung muss, eben
weil sie individuell höchst verschieden ist,
während der Behandlung sorgsam beauf-
j sichtigt, und es muss je nach dem die
Dosis geändert werden.
Sie werden mir gewiss Recht geben,
I wenn ich darauf hinweise, dass in diesem
Punkt bisher viel gefehlt worden ist, und
dass das oft zu irrigen Vorstellungen über
die Wirkung dieser Proceduren geführt
hat; nicht nur im täglichen Leben, bei
Consilien sehen wir das, auch in der Lite¬
ratur giebt es hierfür zahlreiche Beispiele.
Da erklärt ein Autor von wissenschaft¬
lichem Namen, er habe mit der Hydro¬
therapie gewisser acuter Krankheiten
schlimme Erfahrungen gemacht und sie
fallen gelassen. Geht man der Sache nach,
so hatte er „kalte“ Bäder oder Bäder mit
„kühlen“ Uebergiessungen angewandt, von
Berücksichtigung der Temperatur, Anwen¬
dungsweise und Dauer ist nicht die Rede;
solcher Beispiele giebt es viele in allen
Zweigen der physikalischen Therapie.
So geht es eben nicht; dieselbe heilige
Scheu, die wir vor der Maximaldose des
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486
Die Therapie der Gegenwart 1903.
November
Morphins haben, dieselbe Sorgfalt, die wir
überhaupt auf die Dosirung der Arzneien
verwenden, sie muss auch auf die Inten¬
sität und Dauer der physikalischen Heil¬
mittel angewandt werden. Und wo wir
kein Maass der Dosirung haben, z. B. bei
der Massage, da muss um so sorgsamere
Beachtung der Wirkung eintreten bezw.
wie z. B. in vielen Fällen bei der Bauch¬
massage, der Arzt selbst die Procedur aus¬
führen.
Wenn ich mehrfach betont habe, dass
die physikalisch-diätetischen Methoden der
mannigfaltigsten Combinationen fähig sind,
so möchte ich von diesem Gesichtspunkte
noch ein Wort über Curorte und Curen
beifügen.
Die Curorte der alten Zeit haben in
der Hauptsache je ein Heilmittel besessen;
bald war es ein zum Trinken, bald ein
zum Baden oder zu beiden benütztes Mine¬
ralwasser, bald war es ein natürlicher
Dampf und dergleichen, bald war es in
späterer Zeit die Luft, besonders die
Höhenluft, die den Curort in Ansehen
brachte. Ein bischen Mystik lief gerne mit
unter und so bekam das Curmittel des
Orts den Nimbus der Zauberkraft. Die
heutige, nüchterner erwägende Zeit und
unsere lediglich auf wohl beobachtete That-
sachen sich berufende moderne Medicin
hat sich vom mystischen Theil dieser
Werthschätzung frei gemacht und sie hat
vor Allem erkannt, dass Mineralwässer,
Klima u. s, w. allein viel weniger wirken,
als in Gemeinschaft mit allen möglichen
anderen Faktoren der Therapie, der Diä¬
tetik, der Hygiene. Wir nehmen eben das
Gute, wo und wie es sich bietet, und
klammern uns nicht in übermässiger Ver¬
ehrung an Höhenluft, Wasser u. s. w. Aus
diesen Gesichtspunkten ist die moderne
Behandlung der Phthise entstanden.
So haben aber auch die Badeorte, die
ihre Zeit verstanden haben, getrachtet,
sich Alles brauchbare der physikalischen
und diätetischen Methoden zu nutze zu
machen; alle sind es nicht, die diese Auf¬
gabe voll erfasst haben, gerade unter den
altberühmten sind manche noch zurück.
Baden-Baden aber ist hier von jeher,
durch das Verdienst zielbewusster Aerzte
und unter dem Schutze einer weisen Re¬
gierung, mit an der Spitze gewesen, und
ich möchte es nicht unterlassen, bei dieser
Gelegenheit den Namen Heiligenthal mit
Verehrung zu nennen. Dass aber auch die
Sanatorien nach dieser Richtung für com-
plicirter liegende und schwerere Fälle, ferner
für schwer zu dirigirende oder sonst wie
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genauer zu controlirende Patienten, end¬
lich für difficile Curen physikalischer wie
besonders diätetischer Art eine hervor¬
ragende Rolle spielen, ist Ihnen bekannt
und ich freue mich constatiren zu können,
dass wir hier in Baden-Baden deren meh¬
rere haben, die zu den Besten ihrer Art
gehören.
Schon manchmal haben sich gewichtige
Stimmen gegen den Missbrauch der Curen
erhoben, nach denen der Patient wieder
zum gewohnten Leben zurückkehrt. Curen
indess an Orten mit vollentwickelter physi¬
kalischer Therapie und, wo es nöthig ist,
mit Zuhilfenahme der Diätetik, sie sollen
eben nicht abgeschlossene Perioden bilden,
sondern dem Patienten Fingerzeige für sein
sonstiges Leben geben, wie ich das früher
hervorgehoben habe.
Indem wir die Rolle, die hierin gewisse
Curorte spielen, voll anerkennen, können
wir nicht leugnen, dass die Universitäten
hier erst später zugegriffen haben, natür¬
lich nicht in den Fragen des Stoffwechsels
und der Ernährung, wo sie ja führend ge¬
wesen, wohl aber in manchen Zweigen der
physikalischen Therapie. In der Forschung
sind sie allerdings in letzter Zeit, nach¬
dem wissenschaftliche Grundlage n gewonnen
worden, energisch auf den Plan getreten,
im Unterricht sind sie, das kann nicht ge¬
leugnet werden, noch in manchen der hier
in Betracht kommenden Disciplinen zu¬
rück; ich habe mich seit geraumer Zeit
bemüht und habe jetzt auch Grund zu
hoffen, dass das speciell in Heidelberg in
allernächster Zeit anders werde.
Noch vieles aber bleibt der wissen¬
schaftlichen Forschung Vorbehalten, wir
stecken noch in den ersten Anfängen; der
Bestand an mess- und greifbaren wohl¬
beobachteten Thatsachen ist noch spärlich.
Vieles ist in diesem Gebiet noch räthsel-
haft; viel werden wir aber von der Zu¬
kunft erwarten dürfen, denn die Fort¬
schritte der Physik in der Erforschung ge¬
rade der Factoren, die hier in Betracht
kommen, sind zur Zeit ja erstaunlich.
Hierfür lassen sie mich nur zwei Bei¬
spiele anführen: AerztlicheErfahrung schien
von jeher darauf hinzuweisen, dass natür¬
liche Mineralwässer intensiver auf den Körper
wirken, als die künstlichen Lösungen ihrer
hauptsächlichen Salze; aber gerade die
exacten Leute, die Chemiker und Physiker
haben das früher als undenkbar, ja lächer¬
lich erklärt. Da warf die von Arrhenius
begründete Ionenlehre ein völlig neues
Licht auf das Verhalten der Salze in wässe¬
rigen Lösungen, und es ist zwar noch nicht
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November
487
Die Therapie der
sicher erwiesen, aber wie insbesondere
Liebreich auseinandergesetzt hat, doch
in den Bereich der Denkbarkeit gerückt,
dass das native Mineralwasser sich physi¬
kalisch und in Bezug auf den Organismus
anders verhält, als das künstliche; die
Lacher aber sind verstummt.
Noch eindrucksvoller aber ist es, zu
überlegen, was wir bis vor nicht allzu
langer Zeit vom Licht und von seiner Ein¬
wirkung auf lebende Organismen gewusst
haben, und was uns in der neuen und
neuesten Zeit hierüber die Physik und die
biologischen Wissenschaften lehren. Es
war vorhin schon davon die Rede. Wir
haben erfahren, dass das Sonnenlicht und
insbesondere gewisse Strahlen des Spec-
trums eigenthümliche Wirkungen auf Bak¬
terien, Gewebe des menschlichen Körpers
und Gewebsveränderungen üben, wir haben
in den Röntgen- und Becquerelstrahlen
Strahlen kennen gelernt, welche die Schich¬
ten des menschlichen Körpers durchdringen
und ebenfalls spezifische Einwirkungen auf
die Gewebe haben. Auch der Durchtritt
der chemischen und baktericiden Strahlen
des Sonnenlichts durch die Haut wird
neuerdings studirt. Dadurch ist die An¬
wendung des Lichts zu therapeutischen
Zwecken in völlig neue Bahnen gelenkt.
Im Hinblick hierauf dürfen wir wohl
annehmen, dass auch in Zukunft noch
mancherlei Geheimnisse der uns umgeben¬
den Natur gelüftet werden, noch mancherlei
über die physikalischen und chemischen
Einflüsse, die täglich unsern Körper treffen,
uns klarer werden wird. Und von da bis
zu dem Gedanken, dass auch der physika¬
lischen Therapie eine noch grössere Zu¬
kunft beschieden sein wird, ist nur ein
kleiner Schritt.
Gestatten Sie mir, hiermit den allge¬
meinen Theil meines Vortrags zu ver¬
lassen und noch einige Bemerkungen, über
physikalische Therapie des Respi-
rations- und Circulationsapparates
anzuschliessen. Ich bitte um die Erlaub-
niss, hier willkürlich dies und jenes her¬
ausgreifen zu dürfen.
Für die physikalische Therapie der Er¬
krankungen des Respirationsapparates ist
es von Bedeutung gewesen, dass die Er¬
kältung als Ursache von Entzündungen
bakterieller Natur nunmehr in ihr Recht
eingesetzt ist. Die strenge Bakteriologie
hatte ihr den Hals gebrochen; heutzutage
können wir uns im Hinblick auf physiolo¬
gische Arbeiten über den Mechanismus der
Gefässreflexe und nach klinischen Beob¬
achtungen der Einsicht nicht verschliessen,
Gegenwart 1903.
; dass Abkühlung der Körperoberfläche, vor
1 allem wenn nicht rasch Reaction eintritt,
mit Fluxion nach inneren Gefässbezirken,
besonders wohl nach schon früher erkrankt
gewesenen Gegenden, den Loca minoris
resistentiae, einhergeht, und dass es zur
Erkältung kommt, wenn Fluxionen nach
irgend welchen Körperbezirken, in diesem
Fall nach den Schleimhäuten des Respira¬
tionsapparates, die in Nase und Mund stets
vorhandenen Bakterien anlocken und zur
! Virulenz kommen lassen.
Es kann demnach heute auch vom
wissenschaftlichen Standpunkt kein Zweifel
mehr sein, dass ein Erkältungscatarrh durch
Abkühlung der Körperoberfläche ohne
nachfolgende Reaction erzeugt wird.
Aus diesen Voraussetzungen ergeben
I sich zwei Gesichtspunkte: einmal, dass der
Neigung zur Erkältung wird vorgebeugt
werden können, wenn es gelingt die regel¬
rechte Reaction der Haut (im früher er¬
wähnten Sinne) durch Kaltwasserapplica-
| tionen mit nachfolgender Reaction einzu-
| üben. Damit sehen wir die Abhärtung
j durch Einübung der Gefässreflexe, einen
Begriff, den Dubois-Reymond schon
| vor langen Jahren aufgestellt hat, dem
| wissenschaftlichen Verständniss näher ge¬
rückt.
Zweitens darf man wohl annehmen,
dass bei den innigen reflectorischen Be¬
ziehungen der Respirationsschleimhaut zur
Hautoberfläche es auch möglich sein sollte,
vorhandene Entzündungen der Schleim¬
häute, mindestens deren Fluxionen, von
| der Hautoberfläche in günstigem, vielleicht
I heilendem Sinne zu beeinflussen.
' Dass sind Schlussfolgerungen, die wohl
verstanden an der Hand der Beobachtungen
geprüft werden mussten. An der Richtig¬
keit der ersteren, derjenigen von der ab¬
härtenden Wirkungen kalter Proceduren
mit nachfolgender starker Reaction, kann
aber jetzt schon kein Zweifel mehr sein.
Was die zweite betrifft, so lehrt die Beob¬
achtung, dass verschleppte (wohlgemerkt
nicht frische akute) und ebenso chronische
Catarrhe der Respirationsschleimhaut durch
die angedeutete Form der Hydrotherapie
in der That in ausserordentlich günstiger
| Weise beeinflusst werden können. Wenn
so sowohl der Prophylaxe gegen Entzün¬
dungen der Respirationsschleimhaut als
der Beseitigung bestehender Entzündungen
durch dasselbe Verfahren genügt werden
kann, so ist das nicht widersinnig, wenn es
augh etwas schematisch erscheint. Im Uebri-
gen ist es mit dem Schema nicht weit her,
denn die Erzeugung der Reaction hat bei
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Die Therapie der Gegenwart 1903.
November
Anämischen und Vollsaftigen, Fiebernden
und Nichtfiebernden und endlich rein indi¬
viduell in sehr verschiedener Weise zu ge¬
schehen.
Hiermit ist aber für die Pathologie und
Therapie der Erkältungszustände, einer
Gruppe von Leiden, denen die Schul-
medicin früher mit Scheu aus dem Wege
gegangen ist, die Grundlage eines wissen¬
schaftlichen Verständnisses gewonnen.
Klärung ist auch allmählich eingetreten
in den Indicationen und der Methodik
der expectorativen physikalischen
Therapie. Sie ist von um so höherem
Werth, da wir bekanntlich keine Ursache
haben mit den Erfolgen der medicamen-
tösen Expectorantien sehr zufrieden zu
sein.
Was hier die Indicationen betrifft, so
gehe ich auf die Catarrhe der Bronchial¬
schleimhaut nicht weiter ein; hier liegen
die Indicationen verhältnissmässig einfach
und über die Therapie selbst werden Sie
in den nächsten Tagen noch eingehender
hören. — Dagegen eine Bemerkung über
die Pneumonien. Hier verdient Hervor¬
hebung, dass unter den Pneumonien die
bronchogenen allein diejenigen sind, bei
denen ein expectoratives Verfahren von
Nutzen ist, dass dagegen die croupöse
Pneumonie vor der Lösung am besten von
dieser Behandlungsart verschont wird. Es
ist merkwürdig, wie wenig in Lehr- und
Handbüchern und selbst in Monographien
dieser Unterschied klar ausgesprochen
wird. Nur eine Form der nicht selten wohl
bronchogenen Pneumonie macht eine Aus¬
nahme: diejenige bei Influenza, welche wie
die Influenza überhaupt, eingreifendere
Wasserproceduren schlecht verträgt. Hier¬
von abgesehen, sind also die broncho¬
genen Pneumonien expectorativ zu be¬
handeln, die andern nicht, das lehrt die
klinische Erfahrung; es ist aber auch
wissenschaftlich begründet, denn eines-
theils verschliesst Secretanhäufung in den
feineren Bronchien den Zugang zur Lunge,
macht also Atelectasen und verschlimmert
die Gesammtstörung, anderntheils bildet
das Secret als Nährboden die Brücke für
das Einwandern von Keimen in die Tiefe;
das wissen wir seit den Untersuchungen
Müller’s.
Was die Methodik der expectorativen
Therapie anbetrifft, so steht der mehr
weniger brüske Kältereiz, besonders im
Nacken, und die Inhalation von feinzer¬
stäubtem Wasserdampf weitaus obenan.
Der brüske Kältereiz auf die Haut der
Brust, des Rückens und vor Allem des
Nackens löst tiefe Inspirationen aus und
wirkt auf diesem Wege expectorirend; er
wird am besten als Anspritzung oder
Uebergiessung mit kühlem Wasser im wär¬
meren Voll- oder Halbbad angewendet.
Diese Procedur kann und muss je nach
Umständen ausserordentlich modificirt wer¬
den. Hohes Fieber bei guter Herzkraft
verträgt meist kühlere Badetemperatur (30
bis 32 0 C.) und kurze Angiessung mit 8
I bis 10 und 12 und mehr Grad kühlerem
| Wasser; normale Körpertemperatur ver-
| langt ein Bad von ca. 34 0 C. und Differenz
| des Begiessungswassers von ca. 7 bis 10
I und mehr Grad, je nach dem Stande der
i Herzkraft; bei collabirten Kranken wird
[ das Bad wärmer, selbst sehr warm, mit
zunächst mässiger Begiessungsdifferenz;
stets fange man milde an und steigere die
Energie des Eingriffs je nach der gemachten
l Beobachtung der Wirkung des vorher-
| gehenden. Diese expectorirende Methodik
ist ein gutes Beispiel der feinen Abstuf-
| barkeit der Hydrotherapie.
| Der Inhalation von feinzerstäubtem
Wasserdampf messe ich als exspectori-
rendem Agens bei der Therapie nicht nur
der chronischen, sondern auch der acuten
Bronchitiden und bronchogenen Pneumonien
grosse Bedeutung bei. Sie werden hier in
! Baden auf der Höhe der erreichbaren Voll-
j kommenheit sehen, was heut zu Tage über-
I haupt in der Inhalationstherapie, auch der
medikamentösen, bei ambulanten Kranken
geleistet wird. Aber auch bei bettlägerigen
acuten Kranken muss sie noch mehr an¬
gewandt werden, es ist erfreulich, dass
Wassmuth neuerdings einen transpor¬
tablen Apparat nach seinem bewährten
Princip construirt hat. Ich füge bei, dass
grobe Dampfinhalation combinirt mit äusserer
Hydrotherapie sich zuweilen mit gross¬
artigem Erfolge verwerthen lässt bei chro¬
nischen Bronchitiden, besonders de3 Em¬
physems, falls der Patient nicht zu alt und
von guter Herzkraft ist; ich meine durch
Anwendung von Dampfbädern mit nach¬
folgenden kühlenBegiessungen desNackens.
Dass hier die Patienten vorsichtig ausge¬
sucht und die Curen sehr zurückhaltend
begonnen werden müssen, liegt auf der
Hand.
Endlich noch ein Wort über eine Gruppe
von sozusagen ableitenden Methoden, welche
besonders am Respirationsapparat von
Werth sind und sicherlich eine Zukunft
haben; ich meine die Einreibungen mit
Kaliseife und die Einseifungen nach der
j in Tölz geübten Methode. — Es ist Ihnen
: wohl bekannt, dass Czerny diese Ver-
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November
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Die Therapie der Gegenwart 1903.
fahren vor Kurzem besonders bei der
Phthise empfohlen hat. Hierüber gerade
besitze ich wenig Erfahrung, weil ich sie
hier nur ausnahmsweise verordnet habe;
dagegen wende ich sie seit Jahren in
immer steigendem Maasse bei pleuritischen
Exsudatresten, Schwarten, eventuell mit
chronischer Pneumonie, ferner bei mehr
minder begründetem Verdacht auf Bron¬
chialdrüsentuberkulose und bei der Scro-
phulose an, und ich bin von diesen Curen,
besonders soweit sie in Tölz vorgenommen
werden, ausserordentlich befriedigt. Ich
wende diese Verfahren aber auch in der
Klinik an und habe in letzter Zeit öfter
Kranke mit diesem Vorschlag in Sanatorien
unter Anderem gerade nach Baden-Baden
geschickt. Ich wünsche diesen Methoden
eine grössere Ausbreitung; sie werden in
Tölz mit besonderer Virtuosität und, wie
gesagt, hervorragenden Erfolgen geübt,
sind aber sehr wohl der Verpflanzung
fähig. Meiner Ansicht nach sollten sie vor
Allem in allen Soolbädern ausgeführt
werden.
Diese Verfahren sind bisher rein em¬
pirisch begründet; eine genügende theo¬
retische Erklärung ihrer Wirkung besitzen
wir bislang nicht.
Damit ist die physikalische Therapie
des Respirationsapparates, auch wenn ich
von der Phthise ganz absehe, natürlich
nicht erschöpft. Es wäre der Athmungs-
gymnastik, der Massage, der oft sehr wich¬
tigen Behandlung des Herzens, ferner der
Sauerstoffinhalation, der Inhalation medica-
mentöser Stoffe u. s. w. zu gedenken. Das
hier herausgegriffene möge genügen.
Was die Erkrankungen des Herzens
betrifft, so sind wir ja im Punkte der
Diagnose glücklich über die Zeiten hinaus,
wo die klinische Diagnose bei der Fest¬
stellung der groben Veränderungen der
Klappensegel ev. des Herzfleisches Halt
machte. Wenn die Bedeutung der In-
sufficienz des Herzmuskels heute gebührend
gewürdigt wird, so ist der Anstoss hierzu
zu einem guten Theil von der physikali-
echen Therapie ausgegangen. Sie wissen,
welche Verdienste hier die Nauheimer
Schule hat. Auch hier ist also eine Rück¬
wirkung der therapeutischen Richtung auf
die Anschauungen in Klinik und Diagnose
zu erkennen.
Fast will mir sogar bedünken, als wenn
zur Zeit in der Diagnose durch die Be¬
rücksichtigung der Function des Herz¬
muskels die Bewerthung der grob anato¬
mischen Diagnose gelegentlich über Ge¬
bühr vernachlässigt würde. Es ist denn
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doch für die Prognose nicht gleichgültig,
ob einer Insufficienz des Herzmuskels eine
reine Mitralinsufficienz oder eine solche,
combinirt mit Stenose zu Grunde liegt;
und es ist nicht nur für die Prognose,
sondern auch für die Therapie ein grosser
Unterschied, ob neben einem Mitralfehler
eine Aorteninsufficienz besteht. Man soll
beiden Seiten der Diagnostik in gleicher
Weise gerecht werden, und es muss be¬
tont werden, dass gerade auch für die In-
dicationen der physikalischen Therapie
z. B. die Art des Klappenfehlers, ferner
die Frage, ob Insufficienz des hyper¬
trophischen linken Ventrikels durch Klappen¬
fehler oder Arteriosclerose oder chronische
Nephritis oder andere Ursachen entstanden
ist, — wesentlich in Betracht kommt.
Die moderne physikalisch - diätetische
Behandlung der Insufficienz des Herz¬
muskels ist im Grossen und Ganzen durch
ein paar inhaltsschwere Schlagworte cha-
rakterisirt; sie besteht stets in der Haupt¬
sache in der Combination von Schonung
und Uebung des Herzmuskels. — Schonung
durch Wegschaffung aller nicht unbedingt
nöthigen Anforderungen an ihn: imPunkte
der motorischen und psychischen Auf¬
regung, im Punkte der Verdauung, und
des Stoffwechsels, im Punkte der Beseiti¬
gung von Körperfett, event. auf dem Um¬
wege der Schonung der primär erkrankten
Nieren. Uebung des Muskels für dasjenige
Maass der Arbeit, welches von ihm ge¬
fordert werden muss, wenn das Leben und
der beste erreichbare Grad von Wohl¬
befinden garantirt sein soll.
In der Indication der Uebung des Herz¬
muskels durch Regulirung siqjner Thätig-
keit, Herabsetzung der Pulsfretmenz, Ver¬
längerung der Diastolendauer, Kräftigung
seiner Contractionen und mit dem Ge-
sammtresultat der gleichmässigen Erhöhung
seiner Leistungen und Hebung des Blut¬
druckes, — in dieser Indication hat die
physikalische und diätetische Therapie so
recht gezeigt, wie viel feiner, wie viel
nachhaltiger, wie viel mehr ohne Neben¬
wirkungen sie arbeitet, gegenüber der me¬
dikamentösen, mit der sie sich übrigens
nicht selten mit Vortheil combiniren lässt,
und welche sie in den schweren Fällen,
wo rasche gewaltsame Einwirkung nöthig,
nie ersetzen kann. Hier gerade zeigt sich
auch der Vortheil der physikalischen The¬
rapie, dass sie dem Patienten beibringt, wie
er auch ausserhalb der Cur in Bezug aut
Körperbewegung, Diätetik etc. zu leben hat.
Bekanntlich nimmt seit langer Zeit Nau¬
heim mit seinen kohlensäurehaltigen Koch-
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Die Therapie der Gegenwart 1903.
November
salzthermen und seiner hochentwickelten
mechanisch-gymnastischen Behandlung in
der Therapie der Herzkrankheiten eine
ganz hervorragende Stellung ein; ist es
doch in der Balneotherapie des Herzens
bahnbrechend gewesen. Später ist von
Manchen die reine Bewegungs- und diäte¬
tische Behandlung, dann auch die kQhle
Hydrotherapie in den Vordergrund gestellt
worden, auch eine steigende Anzahl von
Curorten mit warmen und kalten mehr
weniger kohlensäurehaltigen Soolen, mit
kohlensäurehältigen Eisen- und salinischen
Wässern, endlich mit indifferenten Thermen
und guten Anstalten für Hydrotherapie
und Bewegungstherapie sind auf den Plan
I » getreten, die künstlichen Kohlensäurebäder
| sind hinzugekommen, und wild wogt der
f Streit der Meinungen, welchen Wässern
* und welchen Methoden der Vorrang ge¬
bühre. Diese Streitfrage wird sich zu all¬
gemeiner Zufriedenheit nicht lösen lassen.
Im Grossen und Ganzen hängt bei der Be¬
handlung des Herzens mehr wie irgend¬
wo der Erfolg nicht nur von der Wirk¬
samkeit und vor allem der Abstufbarkeit
der Heilfactoren, sondern auch von der
Sachkenntniss, Vorsicht und sorgsamen
Beobachtung seitens des Arztes und von
der verständigen Mitwirkung des Patienten
ab. Dieselbe Methode giebt dem Einen
schöne Resultate, dem Anderen Miss¬
erfolge.
So lässt sich denn auch heute eine exacte
Skala der Bewerthung nicht aufstellen.
Nach wie vor steht Nauheim für die Be¬
handlung der Klappenfehler mit Ausnahme
eines Theiles der Aorteninsufficienzen, ferner
der chronischen Herzstörungen nach Ueber-
anstrengung, manchen Formen der chroni¬
schen Myocarditis, des Tabak-, Alcohol-
und Fettherzens in der ersten Reihe; die
Abstufbarkeit seiner Thermen nach Tem¬
peratur, CO 2 * und Salzgehalt und Appli-
cationsweise, sowie die Ausbildung der
gymnastischen Methoden etc. ist hervor¬
ragend. Aber auch an anderen Curorten
werden mit Mineralwässern, mit Gymnastik,
Hydrotherapie und Massage im Verein mit
Diätetik gute und zum Theil ausgezeich¬
nete Erfolge erzielt. Sie werden sich in
den nächsten Tagen hier in Baden von
denselben überzeugen. Besonders erfreu¬
lich ist, dass man in der neueren Zeit be¬
gonnen hat, den Werth des künstlich er¬
gänzten oder zugesetzten CCVGehalts der
Bäder gründlich zu studiren. Dieses Cur-
mittel mit seiner oft räthselhaft guten und
nachhaltigen Wirkung verdient noch wei¬
teste Ausbreitung.
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Dass Curorte, in denen gleichzeitig
evaeuirende bezw. diuretische und herz¬
übende natürliche Curmittel zur Verfügung
sind, wie vor allem Kissingen und Marien¬
bad, eine besondere Bedeutung haben,
liegt auf der Hand; beide genannten
passen übrigens nur für leichtere Herz¬
störungen bei einer gewissen Resistenz
des Organismus. — Selbstverständlich lässt
sich aber auch diese Combination an an¬
deren Orten zu Stande bringen.
Was die Streitfrage betriflt, ob leich¬
tere Arteriosclerosen und ob chronische
Nephritiden nach Nauheim oder für Curen
nach Nauheimer Verfahren passen, so kann
auch diese nicht generell beantwortet wer¬
den. Die allergrösste Vorsicht, tastendes
Beginnen der Cur sind hier nöthig; ich habe
seit Jahren fortgesetzt Kranke dieser Art
in Beobachtung, welche sich alljährlich
durch kohlensaure Soolbäder oder Hydro¬
therapie und Gymnastik lange Monate des
Wohlbefindens verschaffen. Dass eine ge¬
wisse Höhe des Blutdruckes, die schwereren
Formen der Stenocardie, Reizbarkeit des
Herzens, überhaupt ein gewisser Grad von
Nervosität absolute Gegenanzeigen sind,
ist bekannt. Man muss eben die Fälle
sorgsam auswählen, um die Entscheidung
zwischen dieser und milderen baineothera¬
peutischen, oder milder evaeuirenden, diu-
retischen Bewegungscuren zu treffen.
Gleiche Beachtung aber wie die
Finesse der Diagnostik verdient die
Finesse der Cur; denn die nützliche
und schädliche Wirkung auf den Herz¬
muskel liegen bei allen diesen Verfahren
ebenso nahe bei einander, wie bei der
Digitalistherapie.
Sie werden über diese Dinge hier von
berufenster Seite [noch Näheres erfahren.
— Ich darf nur noch bemerken, dass die
Beurtheilung der Wirkung während der
Cur sowohl auf Grund des subjectiven
Wohlbefindens des Patienten, des Ver¬
haltens der Bewegungsdyspnoe etc., als
auf Grund des objectiven Befundes an
Herz und Gefässen zu geschehen hat, und
dass in letzterer Beziehung die Röntgen¬
durchleuchtung sehr schöne Resultate zu
geben verspricht; die Weite der Herz¬
höhlen, die Grösse und Form des Herz¬
schattens also steht in äusserst feinen Be¬
ziehungen zu Aenderungen in der Leistung
des Herzmuskels, und trotz des Wider¬
spruchs von gewissen Seiten zweifle ich
nach meinen eignen Beobachtungen nicht
im mindesten daran, dass es mit sorgfältiger
Technik gelingt, auch kleine Unterschiede
in der Herzgrösse zu registrireri.
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
491
Gegenüber der Reichhaltigkeit der blut¬
drucksteigernden Methoden tritt die Zahl
und die Brauchbarkeit der Verfahren für
Herabsetzung des Druckes bei Neur¬
asthenikern, bei Arteriosclerose und Ne¬
phritis bisher leider zurück. Vermeidung
unnöthiger Reizung des Herzens und der
Vasomotoren durch übertriebene Bewegung,
psychische Erregung und falsche Diätetik,
beim Nephritiker Minderung des Blut¬
druckes durch die verschiedenen Gesichts¬
punkte der Entlastung der Nieren, — das
ist eigentlich alles, was bisher angewendet
wird; bei den den Blutdruck herabsetzen¬
den stärkeren Schwitzcuren im Dampfbad
muss man meist, wie Frey und Heiligen¬
thal hier in Baden gezeigt haben, zu¬
vörderst eine Erhöhung des Druckes in
Kauf nehmen, und das macht sie gefähr¬
lich; dagegen ist meine feste Ueber-
zeugung, dass häufig wiederholte kleine
Aderlässe in ausgewählten Fällen, und nicht
wie früher rabiat angewendet, wieder zu
Ehren kommen werden. Die von mir vor
einigen Jahren hervorgehobene, zuweilen
höchst auffällige Wirkung des Jods, be¬
sonders der neuen Jodpräparate, auf den
Blutdruck bei Arteriosclerose (bei Aus¬
schluss von Nephritis) gehört natürlich
nicht in den Rahmen der physikalischen
Therapie.
Ich will hier schliessen; ich habe mit
diesem einleitenden Vortrag versucht, Ihnen
einen Einblick zu geben in die vielfach
neue Betrachtungsweise und die eigen¬
artigen Gesichtspunkte, die wir in der phy¬
sikalischen Therapie haben. Die besondere
Schwierigkeit derselben besteht darin, dass
quantitative Beziehungen von allgemeiner
Gültigkeit zwischen therapeutischem Agens
und Wirkung hier eine geringere Rolle
spielen, als in der medicamentösen, anti¬
toxischen, chirurgischen Therapie; es ist
eben hier Alles in besonderem Maasse in¬
dividuell, und daher kommt es, dass nur
unter Beachtung der Individualität, d.h. unter
Beobachtung der Wirkung am Einzelnen und
durch tastendes Vorgehen im Heilplan, etwas
Rechtes geleistet werden kann. Die Haupt¬
sache aber ist, dass die neue Wissen¬
schaft sich wie alle Naturwissen schaft
ausschliesslich gründet auf den Boden
von wohlbeobachteten Thatsachen;
und dass hierin schon sehr beachtenswerthe
und brauchbare Anfänge vorliegen, das,
hoffe ich, werden sie aus dem Gesagten ent¬
nommen haben und in den nächsten Tagen
weiter bestätigt finden.
Aus der medicinisolien Klinik der Universität Tübingen.
(Director: Prot Dr. KrehL)
Zur Frage der sogenannten febrilen Albuminurie nebst einigen
Bemerkungen über die Bedeutung der Cylinder.
Von Dr. Hugo Lüthje» Privatdocent und I. Assistent der Klinik.
Die Ausscheidung von Eiweiss mit dem
Harn ist in der Mehrzahl der Fälle das
Zeichen einer Nierenerkrankung. Darüber
besteht kein Zweifel. Die Untersuchung
des Harns auf Eiweiss ist in der Sprech¬
stunde des Arztes die einfachste und wohl
zunächst auch immer fast ausschliesslich
geübte Art, sich ein vorläufiges Urtheil
über den Zustand der Nieren zu bilden.
Nun wissen wir aber seit langer Zeit,
dass Eiweiss im Harn erscheinen kann,
und zwar in nicht unerheblicher Menge,
ohne dass eine Erkrankung der Nieren
vorliegt. Von der accidentellen also un¬
echten Albuminurie, d. h. von jenen Fällen,
in denen das Eiweiss nicht innerhalb der
Nieren, sondern im Verlaufe der Harn¬
wege aus irgend einem Grunde dem Harn
beigemengt wird, sei hier ganz abgesehen.
Diese Formen der renalen Albuminurie
bei Gesunden, sind eingehend namentlich
von v. Leube studirt. Sie können auf-
Digitized by Google
treten nach starken körperlichen Anstren¬
gungen, nach kalten Bädern, nach seeli¬
schen Erregungen u. a.; man bezeichnet sie
als physiologische Albuminurien. Es ist
zweifelhaft, ob man hierher auch die unter
anderen Umständen gelegentlich zu beobach¬
tenden Ausscheidungen von Eiweiss rechnen
darf, die mit den verschiedensten Namen
von den Autoren belegt sind: die cyklische
Albuminurie, die intermittirende, die mini¬
male, die constitutionelle, die orthotische,
die functionelle Albuminurie und wie die
Namen sonst noch lauten mögen. Allen
diesen Formen der Albuminurie gemeinsam
ist das zeitweilige Auftreten von Eiweiss
im Harn, entweder in bestimmten Cyclen
oder bei bestimmten Körperstellungen, oder
in bestimmten Lebensjahren (Pubertäts¬
albuminurie), ohne dass sonst Zeichen
ernsterer Erkrankung des Organismus und
speciell auch der Nieren vorliegen. Wer
die Litteratur über diesen Gegenstand
62 *
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
492
November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
etwas genauer studirt, wird alsbald finden,
dass so vielen verschiedenen Namen zwei¬
fellos nicht so viele verschiedene Zustände
entsprechen und deshalb dürfte es wün-
schenswerth erscheinen, die Nomenclatur
zu vereinfachen. Aber das ist Sache der¬
jenigen, die sich mit diesen Erscheinungen
klinisch eingehender befassen oder befasst
haben. Sicher ist auch, dass bei genauerer
und vorschriftsmässiger Untersuchung des
Harnsediments in solchen Fällen manche
derselben doch eine etwas ernstere Be¬
deutung erlangen würden. Jedenfalls ist
es einzelnen Autoren, die das Harnsedi¬
ment genauer untersucht haben, auch ge¬
lungen, [in Fällen von cyklischer Albumi¬
nurie mikroskopische Bestandtheile zu
finden, die auf einen ernsteren Ursprung
der Erscheinungen hinweisen.
Dass es eine physiologische Albuminurie
giebt, ist so sicher, wie es eine physio¬
logische Glycosurie giebt: in jedem Harn
finden sich geringe Mengen, allerdings mit
den gewöhnlichen Mitteln nicht nachweis¬
bare Mengen von Eiweiss, Dass diese Ei¬
weissmengen unter bestimmten Bedingun¬
gen auch grösser werden können, (0,1 bis
0,4 °/ 0 ), beweisen die Untersuchungen
v. Leube’s, v. Noorden's u. a. Sicher
wissen wir ja auch, dass die Einführung
grosser Mengen artfremden nativen Ei-
weisses (z. B. Hühnereiweisses) in den
Magen eine Ausscheidung von Eiweiss mit
dem Harn nach sich zieht; wir haben also
entsprechend der alimentären Glycosurie;
eine alimentäre Albuminurie. x )
So unsicher ein grosser Theil der
obengenannten Formen der Albuminurie
hinsichtlich ihrer Genese und ihrer Auf¬
fassung sind, so unsicher ist bis heute auch
die Bedeutung der sogenannten febrilen
Albuminurie. Man versteht darunter seit
Gerhardt, der zum ersten Mal ausdrück¬
licher auf sie hinwies, die Ausscheidung
von Eiweiss, die häufig bei fieberhaften
Erkrankungen beobachtet wird, namentlich
bei den Infectionskrankheiten. Diese febrile
Albuminurie ist seitdem des öfteren be¬
schrieben worden, aber bis heute ist man
dem eigentlichen Wesen derselben, speciell
auch ihrer Ursache nicht erheblich näher
gekommen. Die Schwierigkeit liegt ein¬
mal in dem Mangel genügend zahlreicher
autoptischer Befunde; vor Allem aber da¬
ran, dass wir — so merkwürdig das auch
klingen mag — klinisch nicht immer hin-
1 ) In mehreren neuen Arbeiten wird diese That-
sache als eine Entdeckung neueren Datums hinge¬
stellt; man kannte diese Formen der alimentären
Albuminurie aber schon vor bald fünfzig Jahren.
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reichend orientirt sind, wann wir eine Er¬
krankung der Nieren annehmen sollen und
wann nicht. Die Diagnose der Nierenent¬
zündung oder Nephritis gründet sich zwar
klinisch in erster Linie auf dem Vorhanden¬
sein von Eiweiss im Harn; daneben ist
aber, wenigstens für die acuten Entzün¬
dungen, der Nachweis bestimmter Form-
bestandtheile im Harnsediment erforderlich.
Von den entfernteren Folgen der Nephritis
am Circulationsapparate, im Unterhautzell-
gewebe u. s. w. soll hier nicht die Rede
sein.
Unter diesen Formbestandtheilen spielen
die grösste Rolle die Harncylinder, so
dass man gemeinhin aus dem gleichzeitigen
Vorhandensein von Eiweiss und Cylindern
im Harn die Diagnose Nephritis ableitete,
auch wenn andere Symptome fehlen. Nun
kommen aber, gerade wie Eiweiss ohne
Cylinder im Harn erscheinen kanji, auch
Cylinder sehr häufig und unter demmannig-
fachsten Umständen im Harn vor, ohne
dass sich Eiweiss in Mengen vorfindet, die
mit den gebräuchlichen Reagentien ohne
Weiteres nachweisbar sind. Man ist sogar
allgemein geneigt, das Auftreten von „eini¬
gen“ hyalinen Cylindern als einen durch¬
aus harmlosen Vorgang hinzustellen. Für
diese Auffassung fehlt zweifellos die rich¬
tige Basis. Wenn man bei ganz gesunden
und auch fernerhin gesund bleibenden
Leuten hier und da hyaline Cylinder findet,
so darf deshalb dieses Vorkommen noch
nicht als physiologisch betrachtet werden.
Im Harn gesunder rationell lebender
Menschen finden sich keine Cylinder.
Dass man sie hier und da gefunden hat,
oder haben will, mag in verschiedenen
Umständen seinen Grund haben. Es ist
zweifellos, dass vielfach Verwechselungen
stattfinden zwischen hyalinen Cylindern
und Cylindroiden. Die Unterscheidung
dieser beiden Gebilde ist unter Umständen
in der That ausserordentlich schwierig,
selbst für den geübtesten Beobachter. Die
bandartigen, ganz homogen erscheinenden,
Cylindroide können den hyalinen Cylindern
ungemein ähnlich sehen.
Auch die Identificirung der granulirten
Cylinder kann auf Schwierigkeiten stossen;
es können z. B. bei Anwesenheit von harn¬
sauren Salzen durch bestimmte Strömungs¬
richtungen unter dem Deckglas Gebilde
entstehen, die zunächst durchaus als gra-
nulirte Cylinder imponiren (sogen. Pseudo-
cylinder).
Es bleiben aber eine Reihe von Fällen,
wo sich trotz Fehlens aller anderer Zeichen
einer Erkrankung einige hyaline Cylinder
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
493
im Harn finden. Es dürfte sich dann trotz¬
dem nicht um normale Verhältnisse han¬
deln. Unser Culturleben, vor Allem unser
Ernährungsmodus, bietet eine ganze Reihe
von Factoren dar, denen eine mehr we¬
niger schädliche Wirkung auf die Nieren
nach neueren und älteren Untersuchungen
zuerkannt werden muss. Wenn man eine
grössere Reihe von Harnen bei Kindern
untersucht, die mit reizloser Kost ernährt
worden sind, so findet man nie Cylinder;
es sollen unten noch einige Belegzahlen
dafür angeführt werden. Andererseits
findet man gar nicht so selten nach dem
Genuss schärfer gewürzter Speisen, nach
dem Genuss einzelner Gemüse wie z. B.
Rettig (Penzoldt) und wie uns direct da¬
raufhin angestellte Versuche gezeigt haben,
vor allem auch nach Genuss alkoholischer
Getränke Cylinder im Harn, die kurze Zeit
nach Aussetzung der betreffenden Er¬
nährungsweise wieder verschwinden.
Unter 89 Einzeluntersuchungen bei ge¬
sunden Schulkindern fanden sich zweimal
bei einem Knaben ganz vereinzelte hyaline
Cylinder; alle übrigen Harne waren voll¬
ständig frei. In zehn Einzeluntersuchungen
an gesunden Studenten» fanden sich nie¬
mals Cylinder. Also im Ganzen bei 99Fällen
nur einmal Cylinder und da die Ernährung
des Knaben, bei dem sich die Cylinder
fanden, nicht bekannt ist, ist es nicht un¬
wahrscheinlich, dass in diesem Falle irgend
ein schädigendes Moment in der Nahrung
enthalten war. 1 )
Die Alkoholversuche waren folgende:
1. K. W., Krankenwärter, drei Tage nach¬
einander weder Albumen noch Cylinder im
Harn.
Am 13. September: im Verlaufe des Abends
100 gr Alkohol untermischt mit lOOgr Wasser
genossen. Am 14., 15. und 16. September fan¬
den sich im Harn hyaline und granulirte Cy- j
linder, zahlreiche Leukocyten, runde und po¬
lygonale Zellen (Nierenepithelien?) und viel¬
leicht auch einzelne rothe Blutkörperchen. Ei-
weiss war nicht vorhanden. Die Untersuchun¬
gen am 19. und 21. September zeigten den Harn
wieder frei von Formbestandtheilen.
2. E. H., cand. med. An fünf aufeinander
folgenden Tagen kein Eiweiss, keine Cylinder.
Am I. Februar, im Laufe des Abends, 100 g
Alkohol absol. und 100 gr Wasser genossen
ohne besondere Beeinträchtigung des Be¬
findens. An den nächsten drei Tagen finden
sich hyaline und einzelne granulirte Cylinder.
Daneben Leukocyten und zahlreiche Epi-
thelien.
l ) Hier sind eingerechnet die Untersuchungen an
Gesunden, die bereits im Arch. f. klin. Med. Bd. 74,
S. 196 mitgetheilt sind.
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3. J. D., cand. med. Harn vorher an zwei
Tagen untersucht: kein Albumen, keine Form-
bestandtheile.
Am 15. September, Abends, Genuss von
26 Schnitt Lagerbier und 4 Cognac.
Am nächsten Tag ist der Harn eiweisshaltig
und zeigt ein reichliches Sediment: zahlreiche
Leukocyten, hyaline und schwachgranulirte
I Cylinder, ein Leukocytencylinder, Nieren- und
Plattenepithclien.
Wir sehen also, wie derartige Nieren¬
reizungserscheinungen nach Abusus spiri-
tuos. eintreten, die sich vor allem doku-
mentiren durch das Auftreten von Cylindem.
Wenn wir dazu noch das Auftreten von
Cylindern nehmen nach Gebrauch einer
ganzen Reihe von Arzneimitteln, von denen
garnicht wenige zu Jedermann zugäng¬
lichen Hausmitteln geworden sind, so ist
es nicht auffallend, dass man, solange die
veranlassenden Ursachen dieser Cylindru-
rien unbekannt waren, zu der Ansicht
kam, es handle sich um normale Vorgänge
ohne jede Bedeutung.
Grosse ernste Bedeutung hat dieses
vereinzelte Auftreten von Cylindern gewiss
nicht; aber wir dürfen nicht vergessen,
dass schliesslich doch ernstere Störungen
gesetzt werden können durch eine oft
wiederholte reizende Schädlichkeit; und
wenn man überlegt, dass der chronische
Missbrauch des Alkohols zweifellos zu einer
dauernden schweren Nierenentzündung
führen kann, so wird man das Auftreten
einzelner Cylinder nach einer einmaligen
schwereren oder leichteren Alkoholintoxi-
cation nicht mehr als ganz harmlos be-
| zeichnen können: das Auftreten einzelner
Cylinder zeigt hier einen Bruchtheil jener
schweren Gesammtschädigung der Nieren,
die im Verlaufe der Jahre durch die chro¬
nische Wirkung des Alcohols gesetzt wird.
Aehnliches gilt von anderen Giften, z. B.
vom Blei; auch bei einer acuten Bleiintoxi-
cation, z. B. einer Bleikolik, findet man
einige hyaline Cylinder im Harn, unter
Umständen ohne Eiweiss. Auch hier wird
man die Cylindrurie als prämonitorisches
Symptom einer ernsteren Nierenerkrankung
ansehen müssen, die bei fortgesetzter Wir¬
kung des Giftes nur selten ausbleibt.
Und so wird man weiter auch in den
Fällen die Cylinder nicht als harmlos an¬
sehen dürfen, wo die Ursachen der Cylin¬
drurie nicht gleich ganz klar sind. Es
giebt, wie schon erwähnt, genug Momente
in unserem Culturleben, welche eine Cylin¬
drurie verursachen können. Wenn auf
dem Obductionstisch eine Nierenerkran¬
kung vorgefunden wird, deren Aetiologie
Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
494
Die Therapie der Gegenwart 1903.
November
nach der Anamnese und dem übrigen Organ¬
befund nicht klar ist, so nimmt man meist
zu der genetischen Bedeutung des Alkohols
seine Zuflucht; es dürfte aber nicht un¬
wahrscheinlich sein, dass noch eine ganze
Reihe anderer, uns harmlos erscheinender
Culturgewohnheiten eine ätiologische Be¬
deutung haben (starker Kaffee, Thee,
scharfe Gewürze, Missbrauch von Arznei¬
mitteln u. a.).
Es war diese Abschweifung nöthig, um
die Stellung, die weiter unten der febrilen
Albuminuriezuertheilt wird,zu rechtfertigen;
es sollte betont werden, dass das Auftreten
von Cylindern im Harn keine gleichgültige
Erscheinung ist. Die Litteratur ist voll
der widersprechendsten Ansichten nicht
nur über die Genese, sondern auch über
die diagnostische Bedeutung der Cylinder;
freilich mehr und mehr ist man davon zu¬
rückgekommen, aus bestimmten Formen
der Cylinder auf bestimmte anatomische
Zustände in den Nieren zu schliessen.
Aber ziemlich allgemein findet man ange¬
geben, dass einige hyaline Cylinder im
Harn ohne pathologische Bedeutung sind.
Gerade die febrile Albuminurie bestärkt
noch weiter in der oben vertretenen An¬
sicht, dass Cylinder unter keinen Um¬
ständen harmlose Producte sind.
Bezüglich der Orientirung über die bis¬
herige Auffassung der febrilen Albuminurie
wird es am besten sein, die bedeutungs¬
vollsten Aeusserungen aus der Litteratur
hier wörtlich wiederzugeben. Senator
äussert sich darüber so: „man zählt hier¬
her diejenige vorübergehende Albuminurie,
welche auf der Höhe des Fiebers auftritt,
mit seinem Nachlass schwindet und wobei
der Harn auch wieder ausser dem Eiweiss
und allenfalls hyalinen Cylindern, keine
auf eine anatomische Läsion der Nieren
hinweisenden morphotischen Bestandtheile
zeigt“; und weiter unten: „Von diesen For¬
men gilt, dass wohl leichte und der schnellen
Rückbildung fähige Veränderungen vor¬
handen sind, die sich dem klinischen und
häufig auch dem anatomischen Nachweis
entziehen. Ob man diese hypothetischen
Veränderungen als die ersten Anfänge
einer „acuten Nephritis“, die durch die
fiebererregenden Agenden verursacht sind,
zu betrachten hat, wie Manche wollen,
lässt sich nicht entscheiden.“ (Eulen-
burg’s Realencyclop. S. 277.)
An anderer Stelle äussert sich der¬
selbe Autor: „Als febrile Albuminurie be¬
zeichnet man nach Gerhardt die Eiweiss¬
ausscheidung, welche namentlich bei acuten
Infectionskrankheiten während des Fiebers
eintritt und mit demselben schwindet
Ausser dem Eiweiss enthält der Harn auch
öfters hyaline Cylinder und ferner Albu-
mosen (Propepton), zuweilen auch letztere
allein ohne Albumin, dagegen keine an¬
deren, auf ein eigentlich entzündliches
Nierenleiden hinweisenden (morphotischen)
Bestandtheile. Gerade bei diesen Fällen
hat man in neuester Zeit die eben er¬
wähnten (Epithel) Veränderungen gefunden,
welche von Manchen als die ersten An¬
fänge eines acut entzündlichen Processes,
verursacht durch Infection oder Intoxi-
cation, angesehen werden. Man könnte
also die Albuminurie als den ersten Aus¬
druck einer allerleichtesten Nephritis be¬
trachten (v. Leyden). Es sind aber ausser¬
dem bei dem fieberhaften Process eine
Reihe von Momenten im Spiel, welche für
sich allein und noch mehr bei vereinter
Wirksamkeit Albuminurie verursachen
können. Dies sind MischungsVeränderungen
des Blutes, Veränderungen des Blutdrucks,
namentlich Ischämie der Nieren, sodann die
Höhe der Temperatur und endlich auch
wohl die Concentration des Harns.“ (Er¬
krankungen der Nieren in Nothnagel s
Handbuch S. 19.)
Gerhardt stellte die febrile Albumi¬
nurie der renalen gegenüber und sah, wie auch
Bartels, ihre Ursache in der Erhöhung
der Temperatur selbst. (Arch. f. klin. Med.
Bd.V, S. 212.)
Wagner giebt an, dass man im Falle
des Todes weder makroskopisch noch
mikroskopisch an den Nieren etwas findet,
das Stroma und die Glomeruli sind normal,
die Epithelien der Harnkanälchen stärker
getrübt. „Dass die reinfebrile Albuminurie
in wirklichen Morbus Brightii übergeht, ist
unwahrscheinlich. “
Das sind die gewichtigsten Stimmen aus
der Litteratur; auf Leyden’s abweichende
Stellung wird noch unten zurückgekommen.
In der Greifswalder medicinischen Klinik
sind von Herrn cand. med. Weber unter
meiner Aufsicht erneute klinische Unter¬
suchungen über das Wesen der febrilen
Harnveränderungen angestellt, deren Re¬
sultate hier kurz mitgetheilt werden sollen.
Die ausführlicheren Notizen werden an
anderer Stelle veröffentlicht werden. Die
Resultate sind kurz in der nachfolgenden
Tabelle zusammengestellt.
Zu der Tabelle ist zunächst Einiges zu
bemerken. Es handelt sich um 38 fieber¬
hafte Fälle, welche, wie sie uns unter die
Hand kamen, untersucht wurden. Darauf
ist besonderes Gewicht zu legen: es sind
nicht etwa ausgewählte Fälle. Sie
Digitized by
Gougle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
495
Pneumonia crouposa.
Patient
und
laufende Nummer
F ieber-
hühe
Albu-
men
Fpithe- i
lial- ,
und
l.puko-
cytrn-
cy linder
Gran.
Cylind. ,
i
1
Hyal
Cylind
Nieren*
epithe-
lien
Rothe
Blutk
Dauer
der be-
Leuko- des derbe- derbe- obach-
beob- obach- obach- teten
evten achte- teten teten Cylind
ten Albumi- Cylin- über das
Fiebers nurie drurie Fieber
hinaus
1. Arbeiter W.
17 Jahre
9
'
sehr
reichl.
1
—
sehr >
viel
sehr
viel
1 viel
vor¬
han¬
den
viel — mit 47Tge37Tge
Unter¬
brech.
47 Tgc
2. Arbeiter B.
15 Jahre
bis
39.0
deut¬
lich
—
pos.
pos.
0
0
viel 4Tage mind. mind. 4Tage
5 Tage 5 Tage
3. 59jähr. Ar¬
beiterfrau Fr.
38.0
deut¬
lich
pos.
sehr
viel
0
pos.
0
pos. ' — 3Tage'3Tage* Exitus
4. 19jähr. Ar¬
beiter Sehr.
40.0
deut¬
lich
pos.
pos.
pos.
pos.
viel
viel 4 Tage 4 Tage 4 Tage 9Tage
1
5. 27jähriger
Knecht B.
41.1
viel
0
reichl.
reichl.
!
pos
0
viel 4 Tage 18 Tge 17 Tge
i
6. 22jähriger
Schäfer B.
39.8
sehr
viel
pos.
zieml.
viel
zieml.
viel
pos.
pos.
viel 12Tgc mit 17Tge5Tagc
Unter¬
brech. 1
17 Tgc
7. 30jähriger
Knecht Kr.
39 8
deut¬
lich
0
äusst.
reichl.
viel
pos.
0
pos. 10Tgc lOTge 17Tge 7Tage
8. 59jähr. Ar¬
beiter St.
39.5
viel
0
zahl¬
reich
zahl¬
reich
—
pos.
pos. 13Tge 14Tge l4Tge 13 Tge
(?)
9. 19jähr. Ar¬
beiter B.
40.0
pos.
—
pos.
pos
pos.
0
pos. 2 Lage 1 Tag 5 Tage 4 Tage
10. 19 jähriges
Dienstm. K.
11. Cand. med.
L.
12. 9jähriger
Knabe W.
13. 26jährige
Frau Br.
37.5 j deut- 0
lieh
39.1 0 0
37.8 0 0
38.0 Spur 0
0
Masern.
0 ' pos. pus. pos. 2Tage 2 Tage
ein- ein- 0
zelne zelne
0 0 pos
pus. pos. 3 Tage
pos. pos. 2Tage
lOTge 8 Tage
0 ein- pos.
zelne
0 viele 2Tage 2 Tage 1 Tag 1 Tag
Scharlach.
14. 20jähriges
Dienstmäd¬
chen W.
39.1
deut¬
lich
0
sehr
zahlr.
viele
sehr
viele
! viele
sehr
viele
11 Tge 50 Tge 50Tge
1
s. An¬
merk. 1
15. 21 jähriger
Knecht Br.
38.6
pos.
pos.
ein-
1 zelne
ein¬
zelne
pos
0
1 viele
4 Tage 1 Tag 7 Tage
s. An-
merk. 2
16. 9jähriges
Mädchen M.
38.6
Spur
pos.
ein¬
zelne
ein¬
zelne
pos.
0
viele
|23 Tge 8 Tage 3 Tage
t
s. An¬
merk. 3
17. 26jähriges
Mädchen Fr.
37.4
Spur
pos.
0
1
zieml.
viele
pos.
0
pos.
2 Tage 2 Tage 2 Tage
s. An¬
merk. 4
18. Kind M.
Sehr.
40,0
Spur
pos.
viele
viele
viele
pos.
viele
24 Tge 13 Tge 39 Tge 16Tge
19. Anna B.
39.3
deut¬
lich
0
sehr
viele
sehr
viele
sehr
viele
zieml.
viele
sehr
viele
5 Tage 7 Tage 36 Tge 29 Tge
20. 10 jähriges
Kind Sch.
41.0
deut¬
lich
0
zahl¬
reich
reichl.,
—
pos.
sehr
viele
5'Lage 5 Tage 35 Tge
30 Tge
Anm. 1. Etwa 1. Jahr später an vier aufeinander folgenden Tagen, 3 1 /* — 2^/4 — 3 und 2 3 /4 Liter
Harn; derselbe enthält Spuren von Eivveiss, einzelne hyaline Cylinder und Leukocyten.
Anm. 2. Etwa ein Jahr später hatte Pat. an drei aufeinander folgenden Tagen, l 1 /q — 1 — und
1 Va Liter Harn; derselbe war frei von Eiweiss und Formbcstandtheilen.
Anm. 3. Der Harn ist später andauernd frei von pathol. Bestandteilen.
Anm. 4. Der Harn ist später andauernd frei von pathol. Bestandtheilcn. — Fall 3 u. 4 Waren ganz
leichte Scharlachfälle.
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
496
November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Typhus abdominalis.
Patient
und
laufende Nummer
Ficber-
hbhc
Albu-
men
Epithe-
lial-
und
Lcuko-
cyten-
cy lind er
Gran. Hyal
Cylind Cylind.
Nieren-
epithe-
lien
Rothe
Blutk
Leuko-
cyten
des
beob¬
achte¬
ten
Fiebers
D a
der be¬
obach¬
teten
Albumi¬
nurie
u e r
der be¬
obach¬
teten
Cylin-
drurie
i der be-
obach-
1 teten
1 Cylind.
über das
Fieber
hinaus
21. 21 jähriger
Arbeiter K.
39.7
deut¬
lich
0
ein- ein- .
zelne zelne
viele
ein¬
zelne
1
viel
i
19Tge
5 Tage
!
9 Tage
—
22. 18jähr. Ar¬
beiter Tom,
40.5
viel |
0
■
sehr sehr
zahlr. : zahlr.
pos.
! pos.
pos.
l26Tge
i
16Tge
5 Tage
—
23. 46jährige
Frau K.
39.9
viel
pos.
sehr viel j pos.
viel ]
Diphtherie.
pos.
j p° s *
17 Tge
!7Tge
17 Tge
24. 13 jähriger
Knabe T.
37.8
1 deut-
1 lieh
! ein¬
zelne
ein- | ein¬
zelne zelne
viele
pos.
viele
V i
i
—
—
1 nur
3 Tage
beob
25. 14 jähriger
Knabe M.
38.2
viel
sehr
zahlr.
sehr 1 sehr
zahlr. zahlr.
pos.
pos.
sehr
zahlr.
13Tgej13Tge 13Tge
am
n. Tage
Exitus
26. 9jähriges
Mädchen Str.
37.5
deut¬
lich !
i
0
sehr I reichl.:
reichl.
jlange u.
zieml
reichl.
reichl.
reichl.
—
— !
25 Tge
—
27. 51jährige
Frau R.
28 Pat. ß.
29. 20jähriger
Arbeiter K.
30. 22jähriges
Mädchen G.
31. 19jähriger
Schlosser Fr.
32. Fr. Karl.
33. 16 jähriger
Knabe Br.
34. 37jähriger
Schlächter K.
35. 43jähriger
Arbeiter Bl.
36. 16jähriges
Mädchen Sch,
37. 19jähriges
Mädchen F.
38. 38jähriger
Arbeiter Sch.
Variola.
39.6
deut¬
lich
0
reichl.
| reichl.
reichl.
reichl.
reichl
bis zum 3. Tage, später
eintret Exitus
39.4
Spur
pos.
mäss.
| viel
! spärl.
! pos.
pos.
pos.
nur zwei Tage beobachtet
Angina parenchymatosa.
37.9
0
0
0
ein¬
zelne
0
0 1
i
ein¬
zelne
1 Tag — 2 Tage —
Angina follicularis.
39.6
Spur
0
ein¬
zelne
0
0
0
pos.
ITag - — —
Angina catarrhalis.
389
0
0
0
0
pos.
0 I
i
pos.
2 Tage - -
Tonsillarabcess.
38.2
deut¬
lich
0
ein¬
zelne
0
pos.
pos. !
pos.
1 Tag - - -
I
Erythema nodosum.
39.2
Spur
pos.
viel
viel
pos.
viel
viel ,
8Tage 4Tage 8Tage —
Chron. Tuberkulose.
39.3 |
0
0
ein¬
zelne
ein¬
zelne
pos.
0
pos.
— — | — —
Bronchitis fötida.
408
gering spärl.
pos.
ein¬
zelne
pos.
pOS. !
pos.
v _ _ _
Malaria (Fall 36 u.
37 cotidiana,
Fall 38
tertiana).
40 8 !
0
0
0
0
0
0 I
ein¬
zelne
!7Tge - , - | -
40.9 I
0
0
0
0
0 ;
pos.
21 Tge' - — • -
39.6
1
0
ein¬
zelne
ein¬
zelne
ein¬
zelne
pos.
0
pos.
24 Tge — ^2Tage —
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Go, igle
'Original frcm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
November
Die Therapie der Gegenwart 1903. 497
sind im Einzelnen fortlaufend untersucht
worden, soweit es die Umstände erlaubten.
Es wurden im Ganzen 250 Einzelunter¬
suchungen gemacht. Es liegt in der Natur
der Sache, dass alle Einzelheiten in einer
solchen übersichtlich orientirenden Tabelle
nicht wiedergegeben werden konnten. Die
eingetragenen Temperaturen sind die beob¬
achteten Höchsttemperaturen. Besonders
die letzten vier Rubriken waren in summa¬
rischer Zusammenfassung nicht leicht zu
formuliren; meist kamen die Kranken schon
fiebernd in die Klinik hinein, so dass die
Dauer des beobachteten Fiebers sich, wo
das nicht ausdrücklich anders angegeben
ist, immer nur auf die in der Klinik beob¬
achtete Zeit bezieht. Bezüglich aller
näheren Einzelheiten muss auf die dem¬
nächst erscheinende Dissertation von Herrn
cand. med. Weber verwiesen werden.
Die mikroskopische Untersuchung auf
Cylinder wurde unter den Cautelen aus¬
geführt, wie sie im Arch. f. klin. Med.,
Bd. 74, S. 182‘beschrieben sind („über die
Wirkung von Salicylpräparaten auf die
Harnwege u. s. w.“); es ist die Innehaltung
dieser Cautelen absolut nothwendig, um
ein klares Urtheil über die im Harn ent¬
haltenen Formbestandtheile zu gewinnen.
Auch muss der Harn noch sauer reagiren;
schon die beginnende ammoniakalische
Gährung zu einer Zeit, wo der Harn noch
amphother reagirt, zerstört die Cylinder
bereits. Gerade in den Urinen, die einen
Tag lang auf den Krankensälen stehen,
sieht man das besonders häufig. Das be¬
ginnende Ausfallen von Tripelphosphat¬
kristallen ist ein gut verwerthbares Zeichen
dafür, dass die Destruction eventuell vor¬
handener Cylinder bereits begonnen haben
kann.
Die Tabelle zeigt zunächst, dass in der
weitaus überwiegenden Mehrzahl dieser
fieberhaften Erkrankungen Eiweiss mit dem
Harn ausgeschieden wurde, bald in ge¬
ringeren, bald in reichlicheren Mengen,
aber immer so reichlich, dass das Eiweiss
mit den gewöhnlichen Reagentien nach¬
weisbar war. Diese Erssheinung ist ja
eine allgemein bekannte, welche eben zu
dem Begriff der „febrilen Albuminurie 41 ge¬
führt hat Aber wir sehen weiter — und
besonders in den ausführlicheren Versuchs-
protocollen kommt das besonders klar zum
Ausdruck — wie die Intensität der Albu¬
minurie in gar keinem Parallelismus zur
Höhe der Temperatur steht.
Das ist besonders bemerkenswerth, weil
man vielfach geglaubt hat, das Auftreten
von Eiweiss im Harn sei in solchen Fällen
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abhängig von der Erhöhung der Blut¬
temperatur; diese erhöhte Temperatur
mache die Niere durchgängig für das Blut-
eiweiss. Es braucht nur verwiesen zu
werden auf die Diphtherie — und die
Malariafälle; in den ersteren finden sich
Temperatursteigerungen nur bis zu 38,2
und die Eiweissausscheidung war stets
reichlich. Bei den drei Malariafällen fand
sich niemals Eiweiss, trotzdem wochen¬
lang ausserordentlich hohes Fieber bestand
(in der Klinik bis zu 40,9 beobachtet.)
Dieser Gegensatz ist hinreichend beweisend;
übrigens kommt in den ausführlichen Pro¬
tokollen dieselbe Thatsache häufig zum
Ausdruck. Es dürfte demnach statthaft
sein, mit einiger Wahrscheinlichkeit zu be¬
haupten, dass die Temperatursteige¬
rung an sich nicht die Ursache der
Eiweissausscheidung ist.
I Neben dem Eiweiss finden sich nun
weiter in allen Fällen — ausgenommen die
beiden ersten Malariafälle — morphotische
Bestandtheile im Harn, und zwar in grösse¬
rer oder geringerer Menge. Es muss auf
diesen Punkt bei den meisten früheren
Untersuchungen wenig oder garnicht ge¬
achtet sein; denn sonst ist es unverständ¬
lich, dass ein so auffallender und con-
stanter Befund nicht längst erhoben ist;
es findet sich angegeben, mit der febrilen
Albuminurie kann die Ausscheidung ein¬
zelner hyaliner Cylinder verbunden sein.
Hier sehen wir, dass nicht nur hyaline
Cylinder, sondern auch granulirte Cylinder,
Epithelial- und Leucocytencylinder, Nieren-
epithelien, garnicht selten rothe Blutkörper¬
chen und constant Leucocyten in grösserer
oder geringerer Menge ausgeschieden
werden. Diese Bestandtheile sind nicht
in jedem einzelnen Falle alle vorhanden,
sondern nur zuweilen in einzelnen Ver¬
tretern, zuweilen aber auch alle. Es finden
sich alle möglichen continuirlichen Ueber-
gänge, von der Ausscheidung einzelner
Cylinder bis zur Ausscheidung eines reich¬
lichsten, alle Formbestandtheile enthaltenden
Sedimentes.
Es kann keinem Zweifel unterliegen,
dass in allen diesen Fällen dieselbe Stö¬
rung der Niere zum Ausdruck kommt, nur
graduell verschieden. Das Auftreten nur
„einiger“ Cylinder ist principiell nicht ver¬
schieden von dem Auftreten reichlicher
Cylinder aller Art, Nierenepithelien u.s.w.
Und wie wir klinisch keinen Anstand
nehmen, beim Vorhandensein von Eiweiss,
zahlreichen Cylindern mannigfacher Art,
rothen Blutkörperchen, Leucocyten, Nieren¬
epithelien von einer Nephritis zu sprechen,
63
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
1
498 Die Therapie der
so dürfen wir nicht verkennen, dass
dieselbe Affection auch da vorliegt, wo
das Sediment weniger mannigfach und
massig ist. Dass es aber so gut wie nie¬
mals ganz fehlt, wenn Eiweiss vorhanden
ist (die Malaria-Fälle zunächst ausge¬
schlossen), das beweisen die obigen Unter¬
suchungen. Und das steht im Gegensatz
zu den früheren Anschauungen über die
febrile Albuminurie. Es giebt keine febrile
Albuminurie in dem bisher meist ge¬
bräuchlichen Sinne des Wortes. Jedes
Auftreten von Eiweiss bei diesen Zuständen
ist stets auch begleitet von dem Auftreten
eines mehr oder weniger reichlichen pa¬
thologischen Harnsedimentes. Wir haben
stets eine Nephritis leichteren oder schwe¬
reren Grades vor uns, eine Ansicht, der
Leyden bereits vor mehr als zwanzig
Jahren zuneigte. Es ist kein rechter Grund
sich klinisch an dem Worte „Nephritis"
zu stossen, wenn es dem modernen patho¬
logisch-anatomischen Begriffe auch vielleicht
nicht entspricht. Es findet sich wiederholt
bei den Autoren die Angabe, dass in
Fällen von febriler Albuminurie, die Section
und Untersuchung der Nieren keine An¬
haltspunkte für das Vorhandensein einer
Nierenerkrankung gegeben habe.
Es ist klar, dass es sich bei einer grossen
Mehrzahl der Fälle von febriler Albuminurie
nur um ganz leichte, vor allem wohl auch
räumlich nicht sehr ausgedehnte Ver¬
änderungen im Nierenparenchym handelt.
Auch die entzündlichen Veränderungen
des Myocards nach Infektionskrankheiten
hat man erst genauer kennen gelernt,
nachdem der ganze Herzmuskel systema¬
tisch durchuntersucht wurde. Vermutlich
wird es bei diesen Formen der Nieren¬
erkrankung ähnlich sein: würde man im
Falle des Todes solche Nieren systematisch
untersuchen, so würden den klinischen Er¬
scheinungen entsprechende anatomische
aufgefunden werden, wie sie ja hier und
da auch bereits gefunden sind (Markwald
citirt bei Leyden, Z. f. klin. Med., Bd. III,
1880). Wird aber dies Postulat nicht er¬
füllt, so müssen Widersprüche zwischen
klinischem und dem pathologisch-anatomi¬
schem Untersuchungsergebniss entstehen.
Folgender Fall zeigt das besonders gut:
Knabe Sch. erkrankt an Diphtherie, wird
am 7. Krankheitstag mit 38,2° in die Klinik
verbracht. Im Harn viel Albumen; zahl¬
lose Cylinder, meist epitheliale, doch auch
hyaline, granulirte und Leucocytencylinder.
Massenhafte Nierenepithelien. Rote Blut¬
körperchen und Leucocyten. Derselbe
Befund im Harn wurde fast täglich er-
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Gegenwart 1903. November
hoben, bis zu dem 9 Tage später erfolgen
den Tode— im Sectionsprotokoll fin¬
den sich Nierenveränderungen nicht
erwähnt (die Nieren sind frisch mikros-
copisch untersucht).
In einem solchen Falle — das darf man
wohl behaupten — sind die positiven kli¬
nischen Befunde beweisender als die nega¬
tiven pathologisch - anatomischen; es lag
eine Nephritis vor.
Nachdem oben gezeigt ist, dass die Zu¬
stände, die man bisher als „febrile Albu¬
minurie" bezeichnete, klinisch-diagnostisch
als Nephritis anzuerkennen sind, dürfte es
zweckmässig sein, die Bezeichnung „febrile
Albuminurie" als irreleitend fallen zu lassen.
Denn einmal giebt es fieberhafte Zustände,
in denen j ede Albuminurie fehlt—ein weiterer
Beweis dafür, dass die Fiebertemperatur
an sich die Erscheinungen nicht bedingt
—, und andererseits finden sich neben
dem Eiweiss stets auch diejenigen Form-
bestandtheile, auf Grund deren wir sonst
die Diagnose einer Nierenerkrankung
stellen.
Wir haben noch zu fragen, welches
die Ursache dieser Nierenschädi¬
gung ist. Dass es die erhöhte Blut¬
temperatur an sich nicht ist, haben wir
bereits gesagt.
Ausser der erhöhten Temperatur ist
allen in der Tabelle genannten Erkran¬
kungen, bei denen es zu solchen Nieren¬
schädigungen kommt, noch gemeinsam,
dass sie durch irgendwelche Bakterien er¬
zeugt sind; das darf man wohl mit gutem
Grunde behaupten. Es liegt daher sehr
nahe, in der Anwesenheit der Bakterien
im Organismus die Ursache der Nieren¬
veränderungen zu suchen, und da es sich
weiter bei den meisten Fällen um örtliche
beschränkte Ansiedelungen von Bakterien
handelt, dürfte die Annahme, dass die ent¬
ferntere Wirkung auf die Nieren durch
Stoffwechselprodukte der Infectionserreger
verursacht sei, die nächstliegende und
wahrscheinliche sein (vergl. Markwald,
cit. bei Leyden, Z. f. klin. Med., Bd. III.
1880). Bei dieser der Wahrscheinlichkeit
wohl am nächsten kommenden Annahme ist
es sehr bemeikenswerth, wie die Malaria
offenbar eine andere Stellung mit Bezug auf
die secundären Wirkungen auf die Niere
einnimmt. Die Fälle 36 und 37 sind beide
schwere langdauernde Malariaerkrankungen
(M. cotidiana) mit äusserst hohem, lang
andauerndem Fieber; und in beiden Fällen
fehlen alle Erscheinungen einer Nieren¬
reizung; auch in Fall 38 (Malaria tertiana)
fehlt das Albumen; einzelne Cylinder sind
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
499
November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
hier zwar vorhanden. Man muss diesen
auffallenden Gegensatz doch wohl in Zu¬
sammenhang bringen mit dem ganz anders¬
artigen Infectionsmodus bei der Malaria:
es handelt sich bei der Malaria um eine
Hämosporidieninvasion des Organismus, bei
den übrigen Erkrankungen aber um Bakte¬
rieninvasion: wir haben im letzten Fall eine
Toxinbildung im Organismus, bei jener
wissen wir dagegen von einer solchen nichts.
Bezüglich der Prognose und des Aus¬
gangs dieser febrilen, oder wie man wohl
besser sagen würde, infectiösen Nieren¬
ei krankung ist nicht viel zu sagen, ln
den meisten Fällen ist sie ziemlich harm¬
loser Natur und endigt offenbar mit voll¬
ständiger Ausheilung. Im Uebrigen zeigt
die Tabelle in sehr klarer Form ein den
klinischen Erfahrungen entsprechendes Re¬
sultat bezüglich der Schwere der Nieren¬
veränderungen. Die schwersten Erschei¬
nungen zeigen sich beim Scharlach — hier
bestanden in einem Fall etwa 1 Jahr nach
| der ersten Untersuchung die Zeichen einer
chronischen Nephritis; 1 ) es folgen die
Diphtherie, die Variola und die Pneumonie;
dann der Typhus abdominalis und in wei¬
teren Abständen die übrigen Erkrankungen.
Besonders leicht und kurz vorübergehend
waren die Reizerscheinungen bei den
Masern — ganz entsprechend den kli¬
nischen Erfahrungen.
Bezüglich der Therapie sind ausführ¬
lichere Bemerkungen überflüssig; sie ist ja
im Allgemeinen bei jeder acuten Infections-
krankheit schon so, wie sie etwa bei einer
acuten Nephritis auch einzuschlagen wäre.
Immerhin wird es gut sein, sich stets zu
erinnern, dass die bei fieberhaften Erkran¬
kungen auftretende Albuminurie dasZeichen
i einer mehr oder weniger ernsten Nieren-
I Schädigung ist, bei der therapeutisch alles
I zu vermeiden ist, was zu weiteren Nieren-
i Schädigungen führen kann.
Ans der II. med. Abtheilung des k. k. Kaiser-Franz-Joseph-Spitals in Wien.
(Vorstand: Professor Schlesinger.)
Neuere therapeutische Versuche beim Erysipel.
Von Dr. Robert Pollatschek, Secundärarzt der Abtheilung.
Das Erysipel gehört zu jener Gruppe
von Krankheiten, deren Verlauf für den
Arzt unberechenbar ist Wir haben gar
keine Anhaltspunkte, auf Grund deren wir
einen Fall von vornherein als leicht oder
schwer bezeichnen könnten. Scheinbar
schwere Fälle entfiebern oft rasch nach
wenigen Tagen, Erysipele von geringem
Fieber ziehen sich bisweilen lange hin
und breiten sich oft plötzlich über den
ganzen Körper aus. Immer und immer
erleben wir Ueberraschungen, und darum
ist die Beurtheilung der Wirkung von
Heilmitteln bei dieser Krankheit sehr er¬
schwert. Wir sehen bei einer Reihe von
Fällen das Fieber und die sonstigen Krank¬
heitserscheinungen nach der Anwendung
eines Mittels rasch schwinden und sind
ebenso rasch geneigt, dies als günstige
Wirkung dieses Mittels hinzustellen, ohne
zu bedenken, dass wir ja nicht beurtheilen
können, wie die Krankheit ohne diese
Behandlung verlaufen wäre. Wir oder
andere prüfen die Behandlungsweise nach
und finden zu unserem grossen Erstaunen
nicht die Spur einer günstigen Wirkung.
Jahr für Jahr, ja fast Monat für Monat,
kann man es erleben, dass auf Grund
einer solchen Serie leichter Erkrankungen
Mittel als Specifica gerühmt werden, die
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dann rascher oder langsamer, jedenfalls
aber sicher vom Schauplatz der Therapie
wieder verschwinden. Diesen Fehler in
der Beurtheilung neuer Heilmethoden
kann man sicher vermeiden, wenn man
bei einem grossen Material die Durch¬
schnittsdauer der Krankheit ohne speci-
fische Behandlung berechnet und mit der
bei Anwendung des neuen Mittels ver¬
gleicht, vorausgesetzt, dass man dieses bei
einer genügenden Anzahl von Kranken
und ohne Auswahl derselben angewendet
hat. Jeder noch so kühle und nüchterne
Beobachter ist der Suggestion von seiner
oder fremder Seite zugänglich, Zahlen
allein sind beweisend.
Auf diese Weise will ich das Material
unserer Abtheilung — etwa 300 Fälle im
letzten Jahre — prüfen.
Als Normalverfahren gilt bei uns die
Behandlung mit Umschlägen von eiskaltem
Liquor Burowii im acutem Stadium und
mit Borvabelm in der Reconvalescenz. Es
l ) Es ist bemerkenswerth, dass es sich hier nicht
etwa um einen Zustand handelt, der sich aus einer
sogenannten Scharlachnephritis entwickelt hat; son¬
dern die Erscheinungen haben sich continuirlich aus
der gleich im Anfang des Scharlachs vorhandenen
„febrilen Albuminurie“ entwickelt. Schwerere Zeichen
einer acuten Nephritis waren auch in diesem Fall
nicht vorhanden.
63 *
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
500
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Nov vmtR-r
ergab sich hierbei — aus 80 Fällen be
rechnet — als durchschnittliche
Dauer des Fiebers vor Eintritt in das
Spital (Anamnese) 2,3 Tage,
Dauer des Fiebers während der Spitals¬
behandlung 5 Tage,
Dauer der Reconvalescenz 7,1 Tage.
Als Reconvalescenz wird die Zeit von
der Entfieberung bis zum Austritt aus dem
Spital, d. i. bis zum Schwinden jeglicher
Schuppung, bezeichnet.
Fälle mit Abscessbildung wurden in die
Rechnung nicht mit einbezogen, da ja
durch dieselbe sowohl die Dauer des Fie¬
bers, als insbesondere die der Reconva¬
lescenz verlängert wird.
Mit rothem Lieht wurden 33 Patienten
behandelt, wozu wir durch Publicationen
Finsens und seiner Schüler angeregt
wurden. Im Jahre 1900 berichtete Bie 1 )
über die Behandlung der Pocken mit rothem
Licht bei etwa 150 Patienten.
„Wenn die Patienten vor Beginn des
Suppurationsstadiums ins rothe Licht
kommen, so kommt es überhaupt nicht
zur Eiterung, die Bläschen bleiben klar
und wenn sie einige Tage bestanden haben,
so trocknen sie ein zu Schorfen, welche
später abfallen, ohne Narben zu hinter¬
lassen. Alle Symptome, welche von der
Eiterung abhängen (Suppurationsfieber)
bleiben aus, die Dauer der Krankheit wird
verkürzt, die Mortalität bedeutend verrin¬
gert“.
Dieser günstige Einfluss des rothen
Lichtes auf den Verlauf der Pocken wird
auch von anderer Seite bestätigt. Wie
sollen wir uns denselben erklären? Theo¬
retisch könnten wir uns zweierlei vor¬
stellen: entweder wird durch das Sonnen¬
licht die Virulenz der ßacterien erhöht,
oder es wird die Widerstandskraft der
durch die Bacterien bekämpften Gewebe
verringert. Dass das Tageslicht einen gün¬
stigen Einfluss auf Mikroorganismen aus¬
übt, können wir nicht annehmen, ja im
Gegentheil, wir wissen, dass das Sonnen¬
licht eine bactericide Wirkung besitzt. Es
bleibt uns also nur die zweite Alternative
offen. Und in der That haben Widmark
und Finsen den Nachweis erbracht, 1 )
„dass die Fähigkeit des Lichtes eine Ent¬
zündung hervorzurufen im Wesentlichen
auf den ultravioletten, violetten und blauen
Strahlen beruht, dass die rothen Strahlen
nicht im Stande sind, selbst in concen-
trirter Form eine Entzündung der Haut
hervorzurufen.“ 2 ) Wenn also der schädi¬
gende Einfluss des Tageslichts wegfällt,
ist das Gewebe im Stande, sich der ein-
Digitized by Google
gedrungenen Bacterien zu erwehren und
die Eiterung unterbleibt.
Bei anderen Erkrankungen als bei den
Pocken wurde das rothe Licht noch recht
selten angewendet. Chatiniere 3 ) publi-
cirt 4 Masernfälle, die er mit Ausschluss
des Tageslichts behandelt hat, darunter
einen mit folgendem Krankheitsverlauf:
Ein achtjähriger Knabe mit frischem Masern¬
exanthem und einer Temperatur von 39,3 wird
am Morgen dem rothen Lichte ausgesetzt. Mittags
war Fieber und Exanthem vollständig ge¬
schwunden, weshalb der Knabe von den Eltern
wieder ans Tageslicht gebracht wurde. Nach
drei Stunden war Exanthem und Fieber wieder
zum Vorschein gekommen, weshalb der Kranke
wieder ins rothe Zimmer gebracht wurde. Nach
weiteren zwei Stunden war das Exanthem
wieder, diesmal dauernd verschwunden.
Krukenberg 4 ) behandelte 18 Fälle
von Erysipel (13 Personen betreffend) im
rothen Zimmer. Die Fieberdauer im rothen
Zimmer betrug:
in 7 Fällen weniger als 1 Tag
„ i
H . 1 »
„ 2
» .^ V 2 n
„ 2
n . 2 „
* 3
91/,.
» . ^ 12 tf
„ 1
n .^ n
„ 1
7
„ . .... t „
Krukenberg hat den Eindruck
Wonnen, „dass die Krankheit durch diese
Behandlungsmethode in ausserordentlich
günstiger Weise beeinflusst wird“. Gleich¬
wohl giebt er zu, dass namentlich beim
Erysipel „diese Anzahl von Fällen ein ab¬
schliessendes Urtheil über ein neues Heil¬
verfahren nicht gestatte“.
Finsen 6 ) selbst hat in 7 Fällen von
Erysipel keinen sicheren Erfolg gesehen,
räth jedoch, die Versuche fortzusetzen.
Die Resultate, die an unserer Ab¬
theilung mit dem rothen Zimmer er¬
zielt wurden, sind nicht derartige,
dass wir die Behandlungsmethode
oder gar die Einrichtung besonderer
rother Zimmer in Spitälern für
Zwecke der Erysipelbehandlung
empfehlen könnten.
Es betrug die Durchschnittsdauer
des Fiebers vor Eintritt ins Spital 1,8 Tage
„ „ im rothen Zimmer . 4,5 „
der Reconvalescenz.6,6 „
Das sind Zahlen, die von den bei der
Eisburowbehandlung gewonnenen nicht
wesentlich verschieden sind. Wir müssen
also annehmen, dass der schädigende Ein¬
fluss, den das Tageslicht auf die erysipelatös
erkrankte Haut ausübt, ein verschwindend
kleiner ist im Vergleich zu der Wirkung
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
501
der Erysipelcoccen. Und das sehen wir ja
auch durch die Erfahrung bestätigt. Führen
ja Gesichtserysipele so selten zur Abscess-
bildung, während bei Erysipelen der (be¬
sonders unteren) Extremitäten, die ja dem
Tageslicht nicht ausgesetzt sind, die Ab-
scedirung eine häufige Complication bildet.
Wir finden hier also ein den Pocken ge¬
rade entgegengesetztes Verhalten und man
kann darum von einer Behandlungsmethode,
welche die Suppuration der Pockenpusteln
verhindert, nicht auch eine Heilwirkung
beim Erysipel erwarten. Die Behandlung
im rothen Zimmer ist wohl vollständig un¬
schädlich, jedoch für die Patienten recht
lästig. Es ist nicht so sehr die rothe Farbe,
an die sich die Patienten sehr rasch ge¬
wöhnen, als vielmehr die schlechte dumpfe
Luft, die vielen Patienten Kopfschmerzen
verursacht. Wird ja doch mit dem Tages¬
licht gleichzeitig auch der Zutritt der Tages¬
luft abgeschnitten; es können während des
Tages die Fenster natürlich nicht geöffnet
werden, und so wird man sich nicht wun¬
dern, wenn die Patienten die Entfernung
aus dem rothen Zimmer, die gewöhnlich
l h —1 Tag nach der Entfieberung erfolgte,
als eine Erlösung betrachteten.
Wir haben darum auf unserer Abthei¬
lung das rothe Zimmer nach kaum drei¬
monatlichem Bestände wieder aufgelassen.
Vor noch nicht langer Zeit wurde das
Mesot&n in den Handel gebracht, ein
Salicylpräparat, dem bei acutem und chro¬
nischem Rheumatismus eine äusserst gün¬
stige Wirkung nachgerühmt wurde. 6 ) Es
wird von der localen Applicationsstelle
rasch resorbirt — schon nach einer Stunde
giebt der Harn die Salicylsäurereaction —
und hat demnach eine sowohl locale als
allgemein antiseptische Wirkung. Auf
Grund dieser Eigenschaften wendeten wir
es beim Erysipel an. Die erkrankte Haut
wurde mehrmals täglich mit einer Mischung
von Mesotan und Oleum olivarum ana partes
aequales gepinselt.
Das Resultat war nicht nur ein voll¬
ständig negatives, die Patienten klagten
auch über brennende Schmerzen, auch
objectiv war bei mehreren Eczembildung
nachweisbar. Nach einer Reihe von zehn
Fällen, standen wir von weiteren Ver¬
suchen ab.
Dauer des Fiebers vor dem
Spitalseintritt.2,2 Tage
Dauer des Fiebers während
der Spitalsbehandlung 8,6 „
Dauer der Reconvalescenz 7,4 „
Die längere Dauer des Fiebers ist ge¬
wiss nicht der Mesotanbehandlung zuzu¬
schreiben, sondern dem Umstand, dass es
eben zufällig bei einer Reihe schwererer
Fälle angewendet wurde. Jedenfalls
aber sind die Zahlen für den Mangel
einer Heilwirkung beweisend.
Wohl für keine der versuchten Be¬
handlungsmethoden gelten die einleitenden
Bemerkungen so sehr wie für die Behand¬
lung mit intravenösen Injectionen von
Argentum colloidale Cred6. Es wurden
nur schwerere Fälle dieser Behandlungs¬
methode unterzogen und darum kann die
Vergleichung der durchschnittlichen Kran-
heitsdauer hier nicht angewendet werden,
und dies ist auch der Grund, weshalb wir
zu einem eigentlichen positiven Ergebniss
nicht gelangt sind. Ich kann mich wohl
des Eindruckes nicht erwehren, dass in
einem oder dem andern Falle die Krank¬
heit nach der Injection einen mildern Cha¬
rakter annahm, z. B. im folgenden Falle:
Patientin R. N., 27 Jahre alt, wurde am
16. Januar 1903 in die Gebäranstalt aufge¬
nommen. Es bestanden Oedeme an den un¬
teren Extremitäten, Fieber bis 38.9, Albuinen
Curve I.
In- In-
jrction jrction
im Harn (17a°/oo Essbach), im Sediment
hyaline Cylinder, Leukocythen und Nieren-
epithelien, sowie der Befund einer sechsmonat¬
lichen Gravidität. Am 19. Januar erfolgte die
spontane Entbindung eines dieser Dauer ent¬
sprechenden Kindes.
Kurz vor der Geburt wurde Schwellung
und Rötung der rechten Schamlippe bemerkt,
die sich dann rasch auf den rechten Ober¬
schenkel ausbreitete. Patientin wird am 20. Ja¬
nuar auf unsere Rothlaufabtheilung transfe-
rirt. Das Erysipel hatte bereits beide untere
Extremitäten und den Rücken der Patientin er¬
griffen. Die Prognose musste mit Rücksicht
auf die Combination auf Puerperium, Nephritis
und Erysipelas migrans als eine sehr ernste
bezeichnet werden. Therapie: zweimalige inter¬
venöse Injection von Argentum colloidale. Die
Weiterverbreitung des Erysipels stand still.
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502
Die Therapie der Gegenwart 1903.
November
der Fieberverlauf ist aus der Curve ersichtlich. |
Am 7. Februar wird Patientin mit eiweissfreiem
Harne geheilt entlassen.
In anderen Fällen (z. B. Curve II u. VII)
war nicht die Spur einer günstigen Wir¬
kung zu sehen. Der prompte Fieberabfall
im Fall V scheint wohl nicht eine Folge
der Collargolinjection zu sein; dieselbe
wurde am 7. Krankheitstage wegen hohen
Fiebers und schweren Allgemeinerschei¬
nungen vorgenommen, zu einer Zeit also, |
da die Krisis wohl auch ohne Behandlung j
erfolgt wäre. Es kam ja auch öfters vor,
dass wir bei längerer Krankheitsdauer be- I
reits die Vornahme einer Injection be¬
schlossen und als wir sie vornehmen woll¬
ten, wegen Entfieberung davon abstehen
mussten. Hätten wir die Injection einige
Stunden früher vorgenommen, würden die
Curven uns einen imponirenden Erfolg
vorgetäuscht haben.
Wir injicirten in eine gestaute Armvene
ein- oder zweimal 15 cm einer 1 %igen
Collargollösung. Die Technik der Injection
gestaltete sich nicht immer sehr leicht —
die Mehrzahl unserer Erysipelkranken waren
junge Mädchen mit gut entwickeltem Fett¬
polster —; wir mussten zu wiederholten
Malen von der Injection Abstand nehmen,
da wir keine passende Vene fanden und
wir uns nicht entschliessen konnten, in
einem Erysipelzimmer an Erysipelkranken
die Blosslegung einer Vene (also eine
aseptische Operation) vorzunehmen.
Es wurden im Ganzen 12 Patienten auf
diese Weise behandelt.
Als Beispiele mögen die folgenden Cur¬
ven dienen;
Curve II.
viele andere 7 “ 12 ), ich würde jedoch bei
schweren Erysipelfällen in Ermange¬
lung eines andern wirksameren Mit¬
tels auf die intravenöse Injection
von Argentum colloidale nicht gerne
verzichten.
Curve III.
Inj«ction
Resümirend würde ich Folgendes sagen:
Ich kann also nicht über imponirende
Erfolge der intravenösen Collargol-
behandlung — wenigstens bei Erysipelen
— berichten, wie Cred£ und nach ihm
Adrenalin wendeten wir bloss in einigen
Fällen an. Als Beispiel führe ich folgende
Krankengeschichte an:
Es handelte sich um ein löjähriges Mäd¬
chen, dass vor zwei Tagen mit Röthung ur.d
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November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
503
Schwellung im Gesicht erkrankt war. Unter
hohem Fieber breitete sich das Erysipel über
Rücken und Bauch aus und hatte am zwölften
Krankheitstage bereits die Oberschenkel er¬
griffen. Nun versuchten wir durch Injection von
Adrenalin dem Weiterschreiten des Kothlaufs
Curve VI.
Injrrtion
Einhalt zu gebieten. Von einer mit der dop¬
pelten Menge physiologischer Kochsalzlösung
gemischten 7io°/oo Adrenalinlösung wurde eine
Pravazspritze voll ringsum an der Grenze des
Infiltrates injiziert. Es entstand daselbst wohl
eine deutliche Anämie der Haut, aber schon
am nächsten Morgen hatte das Erysipel die
Injectionsgrenze überschritten und erst zwei
Tage später, als es bereits das Dorsum pedis
ergriffen hatte, trat Entfieberung ein.
Infolge dieser so vollständigen
Wirkungslosigkeit wurde von wei¬
teren Versuchen Abstand genommen.
Als ein gutes symptomatisches Mittel
bewährte sich uns das Anaesthesin. Bei
allzu starrer Infiltration der Haut klagen
die Patienten über Spannungsgefühl und
Schmerzen in der befallenen Hautpartie,
besonders wenn das Ohr vom Erysipel
ergriffen wird. Nach Auflegen einer 10%
Anaesthesinsalbe trat prompt ein Nach¬
lassen der Schmerzen ein. Das gleiche
günstige Resultat berichtet Henius 13 ) aus
der Abtheilung v. Noorden, welch letzterer
ja das Anaesthesin in die Therapie ein¬
geführt hat. 14 ) Er schreibt: „Das An-
aesthesinverfahren hatte den unverkenn¬
baren Erfolg, die vom Erysipel befallene
Haut vollständig schmerzfrei zu machen
und während der ganzen Dauer der Krank¬
heit schmerzfrei zu erhalten.“
Nach all diesen therapeutischen
Versuchen des letzten Jahres bleibt
also nach wie vor die Behandlung
mit Eisburow unser Normalverfahren
beim Erysipel; bei schmerzhafter
Infiltration der Haut wenden wir mit
Vortheil die 10% Anaesthesinsalbe
an, in schweren Fällen werden wir
auch weiterhin unsere Zuflucht zu
den intravenösen Collargollösungen
nehmen.
Zum Schlüsse möchte ich noch einige
Daten über die Mortalität beim Erysipel
hinzufügen.
Es starben von unseren 300 Patienten
14, das entspricht einer Mortalität von
4,6%. Wenn wir die durch Complicationen
(hohes Alter muss natürlich auch als Com-
plication bezeichnet werden) bedingten
Todesfälle in Abrechnung bringen, so
Alter
Art des Erysipels
Complicationen
Behandlung
83
Erys. migrans
Eisburow
80
E. fae. et colli
Pleuritis exsudativa
73
E. fac.
—
70
E. fac.
Endocarditis verrucosa valv. mitr. et aortae
65
E. fac. et colli
Ulcera tbc. cutis multipl. Pneumonia hypost.
65
E. gangr. cruris
—
65
E. gangr. migr.
—
Rothes Licht
57
E. gangr. cruris
Cor adiposum
Eisburow
57
E. gangr. cruris |
—
Collargol
53
E. migrans
Arthritis deformans. Hochgradige Kachexie
Eisburow
32
E. fac.
Tbc. pulmon.
n
29
E. migr. recid.
Kachexie Anus praeternaturalis propter ulcera intestini
Collargol
18
E. faciei
—
Eisburow
16
E. facici
Pleuritis purulenta, Pneum. lobularis
Collargol
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November
504
Die Therapie der Gegenwart 1903.
bleibt uns nur ein Fall, der ein sonst ge- j
sundes Mädchen betraf, übrig, d. i. eine |
Mortalitätsziffer von S 0 /^ j
Dass hohes Alter allein keine absolut j
ungünstige Prognose einschliesst, beweisen
folgende Zahlen: .
AU 1 Gesammtzahl der' ,
Alter i Patienten Ges,orben ; %
60—79
von 80 aufw.
über 60
Wir sind also berechtigt, in einem
uncomplicirten Falle von Erysipel
selbst bei schweren Allgemein¬
erscheinungen die Prognose fast
absolut günstig, bei Complicationen
je nach der Art derselben mehr oder
minder zweifelhaft, selbst bei hohem |
Alter nicht absolut ungünstig zu i
stellen. t
Herrn Professor Schlesinger danke
ich für seine gütige Förderung dieser
Arbeit.
Litteratur.
1) Bie, Finsens Phototherapic. Therap.
Monatshefte 1900, Januar. — 2) Bie, a. a. O. —
23 5 I 22
5 2 i 40
28 | 7 25
3) Chatiniere, la presse mödicale 1898. citirt
bei Bie. — 4) Kruckenberg, die Behandlung
des Erysipels im rothen Zimmer. Münchener
med. Wochenschr. 1902, S. 528. — 5) Finsen,
die Behandlung des Erysipels durch Aus¬
schliessung der chemischen Strahlen des
Sonnenlichtes. Referat in Münch, med. Wochen¬
schrift 1902, S. 1436. — 6) Floret, Mesotan,
ein äusserlich anwendbares Antirheumaticum.
Deutsche med. Wochenschr. 1902, No. 42. —
7) Crede, Silber a’s äusseres und inneres
Antisepticum. Dtsch. Arch. f. kiin. Chir. 1897,
Bd. LV. — 8) Credö, die Behandlung septi¬
scher Erkrankungen mit intravenösen Collargol-
injectionen. Dtsch. Arch. f. klin. Chir. 1903,
Bd. LXIX. — 9) Crede, lösliches Silber als
inneres Antisepticum. Berl. klin. Wochenschr.
1901, No. 37. — 10) Wei ler, über chirurgische
Erfahrungen mit löslichem metallischem Silber
bei der Behandlung von septischen Wund-
infectionen. Dtsch. med. Wochenschr. 1898,
No. 40. — 11) Müller, Intravenöse Injectionen
von Argentum colloidale Crede bei septischen
Erkrankungen. Dtsch. med. Wochenschr. 1902,
No. 11. — 12) Schmidt, über die Wirkung
intravenöser Collargolinjectionen bei septischen
Erkrankungen. Dtsch. med. Wochenschr. 1903,
No. 15 u. 16. — 13) Henius, die Anästhesin-
behandlung des Erysipels. Therapie der Gegen¬
wart 1903, No 1. — 14) v. Noorden, über
Paraamidobenzoesäure-Ester als locales An-
ästheticum. Berl. klin. Wochenschr. 1902, No. 17.
Ueber die Behandlung der acuten Nierenentzündung mit Eis.
Von L. Stembo -Wilna.
Vor ungefähr acht Jahren erkrankte die
achtjährige P. T. an einer Angina mit grau-
weisslichem Belag. Von einem Ausschlag
war nur sehr wenig an den Wangen und
an der Brust zu sehen. Die Untersuchung
des Belages ergab nur Streptococcen und
keine Löfflerbacillen. Nach zwei Wochen
stellten sich leichte Oedeme am Gesicht,
Rücken und den Füssen ein. Der Urin
wurde spärlich, eiweiss- und bluthaltig.
Sein specifisches Gewicht war 1026 und
enthielt rothe und weisse Blutkörperchen,
Epithel aus den Harncanälchen und ver¬
schiedene Cylinder. Eine gewöhnliche in
solchen Fällen während zwei Wochen ge¬
leitete Behandlung (Eis auf dem Kopf,
warme Bäder, Einwicklungen, Digitalis,
Secale cornutum, liq. ferri sesquichlor.)
war erfolglos geblieben. Der Urin blieb
spärlich und sehr bluthaltig, und manche
urämische Erscheinungen (Kopfschmerz,
Uebelkeit, Erbrechen) stellten sich ein, ob¬
wohl die Oedeme nicht sehr zugenommen
hatten.
In diesem Zustand Hess ich eine Eis¬
blase auf die Nierengegend legen, und
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j schon nach 24 Stunden wurde der Harn
reichlicher, viel blasser, nach 3 Tagen
j schwanden Kopfschmerzen und Uebelkeit,
I in 8 Tagen waren im Harn nur Spuren
Eiweiss vorhanden, und die Kranke konnte
als geheilt betrachtet werden.
Nach einiger Zeit erkrankte der fünf¬
jährige X. an einer mittelschweren Schar¬
lachform und wurde nach allen Regeln der
Kunst von Dr. Z. behandelt. Am Ende
der dritten Woche wurden leichte Er-
I scheinungen einer acuten Nephritis con-
! statirt, die in einigen Tagen so Zunahmen,
! dass im Verlauf von 48 Stunden nur 40
bis 50 ccm eines stark bluthaltigen Urins
| gelassen wurden. Die Temperatur stieg auf
j 39,6, es wurden am Gesicht und den Ex¬
tremitäten leichte Zuckungen bemerkbar,
so dass jeden Augenblick allgemeine Con-
| vulsionen zu erwarten waren. Zum Con-
I silium hinzugezogen, schlug ich Eis auf die
| Nierengegend vor, und schon am nächsten
| Tage fiel die Temperatur bis auf die
I Norm, die Zuckungen Hessen nach, der
| Urin wurde reichlicher, die Beimengung
| von Blut geringer, und im Verlauf von
Original from
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505
Novi mber
Die Therapie der Gegenwart 1903.
10 Tagen war die Nephritis vorüber. |
Durch diese 2 Fälle angespornt, versuchte j
ich alle schweren Nephritiden, die in reich- |
licher Zahl im Verlauf der letzten 18 Monate !
der in Wilna grassirenden Scharlach¬
epidemie in meine Behandlung kamen, |
systematisch mit Eis zu behandeln.
Ich muss sofort sagen, dass ich diese !
Behandlung, die sich durch ihre Einfach- j
heit und Kürze der Krankheitsdauer aus-
zeichnet,bestens zurNachprülung empfehlen
kann, da ich sie in über 20 Fällen mit Er- ,
folg angewandt habe.
Die Application des Eises ist eine sehr
einfache. Es wird eine längliche bisquit- i
förmige Blase, die mit kleinen Eisstücken |
gefüllt ist, auf die Gegend beider Nieren |
aufgelegt und durch eine Binde befestigt. ;
Der Kranke wird womöglich auf eine Seite
gelegt. Will der Kranke sich auf den 1
Rücken legen, so muss er durch Kissen !
unterstützt werden, damit die Eisblase nicht
auf den Rücken drückt. Nach 2—3stündi- i
gern Liegenlassen, wird die Blase auf eine |
Stunde entfernt und dann wieder auf- j
gelegt. Bei sehr empfindlichen Patienten !
kann man zwischen Körper und Eisblase !
eine einfache oder doppelte Leinewand — !
oder Flanellschicht legen. Anfangs wandte
ich Eis nur solange an, bis im Harn alle
Spuren von Blut schwanden und ging
darauf zur gewöhnlichen Behandlung der j
Nephritis mit Bädern über, ln der letzten !
Zeit lege ich solange Eis, bis das Eiweiss j
bis auf Spuren schwindet und gehe zu '
Bädern, als vollkommen überflüssig, gar-
nicht mehr über. i
Zur Illustration mögen folgende zwei |
kurze Krankengeschichten dienen. j
1. B. N. ein neun Jahre alter Knabe, Schüler |
der ersten Klasse der hiesigen Kominerzschule, |
erkrankte an Scharlach, der in seinem Verlaufe |
nur während eines Tages eine Temperatur von !
40° aufzuweisen hatte; sonst war der Verlauf j
ein günstiger. Die Pharynxschleimhaut war |
kaum geröthet, die Lymphdrüsen unmerklich j
vergrössert, im Urin keine Nierenformelemente, j
nur Spuren von Eiweiss, die nach zwei Tagen
schwanden.
Am 16. Tage der Erkrankung stellte sich
wieder leichte Drüsenschwellung ein, der Urin j
aber zeigte sich noch frei von pathologischen |
Beimengungen. Am nächsten Tage um 2 Uhr |
begann ein sehr schwerer urämischer Anfall, j
der 8 Stunden dauerte und zur Beseitigung
Blutegel hinter die Ohren, grössere Dosen
Chloralhydrat per elysma und Eisblase auf den
Kopf erforderte. Der per Catheter entnommene
Urin enthielt reichlich Blut- und Epithelial-
cylinder und 2%o Eiweiss. Es wurden trockene
Schröpfköpfe und darauf eine Eisblase auf die
Nierengegend applicirt. Das Bewusstsein kehrte
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noch vor Mitternacht zurück. Der selbstständig
nelassene Harn war viel blasser und wies nur
1.27oü Eiweiss auf. Nach und nach wurde die
Harnmenge normal, und am neunten Tage
konnte weder die chemische, noch die micro-
skopische Untersuchung des Harns etwas Patho¬
logisches entdecken.
2. Der vierjährige Knabe M. M. erkrankte
Mitte Februar d. Js. an einer sehr leichten Form
von Scharlach, so dass man eher an Rubeola
scarlatinosa, als an echten Scharlach denken
konnte. Da wir aus Erfahrung wussten, dass
eben solche Fälle während der letzten Epidemie
manchmal die schwersten Nephritisformen
lieferten, sagte ich den Grosseltern, bei denen
sich der Knabe zufällig befand, sie möchten
sehr auf den Knaben aufpassen, ihn drei Wochen
im Bett behalten und ausschliesslich eine Milch¬
diät innehalten.
Am 13. Krankheitstag stieg plötzlich die
Temperatur auf 39,6, das Kind vomirte und war
36 Stunden constipiert. Der in ganz kleinen
Mengen (30 ccm) gelassene Uiin enthielt Blut
und Eiweiss. Nach verabreichter Aquila alba
erfolgten drei flüssige Stühle, aber die Tempe¬
ratur stieg auf *10.3. es zeigten sich leichte
Zuckungen im Gesicht und an den Extremitäten.
Es wurden dann zwei kleine Eisblasen auf die
Seitenfläehen des Halses und eine dritte grosse
auf die Nierengegend gelegt und innerlich ein
Decoct von Secale cornutum mit Ac. sulfur.
verordnet; Chloroform und Chloralhydrat zum
Nothfall vorbereitet. Unter dieser Medication
fiel die Temperatur auf 38,5. um nach 2 Tagen
zur Norm zurück zu kehren. Der Urin wurde
reichlicher und enthielt nur Spuren von Blut,
das nach Verabreichung von Liq. ferri sesquichl.
1,0—100,0 ganz schwand, und nach weiteren
6 Tagen war das Kind vollkommen hergestellt.
Ich möchte noch hinzufügen, dass das Kind
nach 2 Wochen wieder zu fiebern anfing, die
Lymphdrüsen am Hals schwollen stark an, das
Kind hörte zu essen und zu trinken auf, und
der Urin wurde wieder sehr spärlich. Da ich
4 Wochen abwesend war, bekam ich es wieder
in einem sehr elenden Zustand zu sehen. Bei
der Untersuchung konnte ich einen sehr be¬
trächtlichen Retropharyngealabscess constatiren,
nach dessen Eröff nung die Temperatur zur Norm
sank; das Kind fing zu trinken an, der Urin
wurde reichlicher, und die letzte Untersuchung
zeigte, dass er von abnormen Bestandtheilen
ganz frei war.
Diese Behandlung mit Eis zeigte sich
mir nicht nur bei acuten Nierenentzündun¬
gen erfolgreich, sondern auch bei acut
gewordenen chronischen Nierenentzündun¬
gen. Als kurzes Beispiel möge folgender
Fall dienen:
Frau Q.. 52 Jahre alt, leidet seit 12 Jahren
an einer chronischen interstitiellen Nephritis.
Der sonst bei ihr sehr reichliche Harn mit nur
wenig Formelementen und niedrigem speci-
fischen Gewicht nahm infolge einer starken Er¬
kältung an Menge ab. Sein specifisches Gewicht
64
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UNIVERSITtf OF CALIFORNIA
506
Die Therapie der Gegenwart 1903.
November
stieg über 1020 und ausser verschiedenen |
Cylindern konnte man in ihm Blut in ziemlich i
grosser Beimischung constatiren. Die gewöhn- |
liehen in solchen Fällen angewandten Mittel |
blieben erfolglos. Deswegen griffen wir zum
Eisbeutel, den wir auf die Nierengegend appli-
cierten, und schon nach 48 Stunden war jede
Spur von Blut geschwunden, und der Harn
kehrte zu seinem Status quo ante zurück.
Wie ist die Wirkung des Eises bei
Nephritis zu erklären, besonders nachdem
das warme Bad so lange in der Behand¬
lung der Nierenentzündung einen so her¬
vorragenden Platz eingenommen hat? Be¬
kanntlich wurde die Wirkung der warmen
Bäder bei dieser Krankheit so erklärt, dass
durch sie die Haut von den auf derselben
sich befindenden Abschuppungen befreit,
so die Perspiration derselben hergestellt
wird, die für den Organismus schädlichen
Stoffe beseitigt und dadurch die Nieren
entlastet werden.
Dass diese Erklärung keine richtige ist,
kann sehr leicht dadurch bewiesen werden,
dass fast in jeder Epidemie viele sehr
schwere Fälle von Scharlach mit starkem
Ausschlag und reichlicher Desquamation,
die lange anhält, Vorkommen und doch
keine Nierenentzündung danach eintritt;
und umgekehrt: Hunderte von Fällen mit
sehr leichtem Exanthem und fast gar
keiner Abschuppung, bei denen man die
schwersten Nierenerkrankungen zu beob¬
achten Gelegenheit hat.
Diese Erklärung genügt uns also nicht,
so müssen wir uns nach einer anderen
umsehen, und denke ich, dass wir durch
warme Bäder langsam das erreichen, was
wir durch Eis viel rascher erhalten, näm¬
lich eine verminderte Spannung in den
erkrankten vergrösserten Nieren. Nur dass
die Kälte direct auf die Nieren wirkt,
die Wärme dagegen indirect; durch Hy-
peraemisirung der Haut tritt Anaemie der
inneren Organe und darunter auch der
Nieren ein. Also das, was Harrison,
James Israel, Pousson, Edebohls und
andere bei chronischen Nephritiden und
anderen Nierenleiden durch Nieren- und
Capselspaltung (decapsulatio) erreichen, das
gelingt sehr leicht bei der acuten Nephritis
durch Kälteeinwirkung, nämlich eine Ent¬
spannung in dem Inneren der Nieren, wo¬
durch schnelle Heilung der Krankheit zu
erklären ist.
Ich will noch bemerken, dass in mehre¬
ren Fällen ausser dem Eis gar keine
weiteren Verordnungen gemacht worden
waren.
Ob diese Behandlungsart der Nieren¬
entzündung in ferneren Epidemieen von
| Erfolg gekrönt wird, muss die Zukunft
lehren.
Von der 75. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte,
Cassel ao.—25. September 1903.
(Schlussbericht.)
Aus der Abtheilung für Kinderheilkunde.
Herr Hochsinger (Wien) demonstrirt
eine Reihe von Röntgenbildern, die ihn
zu der Ueberzeugung gebracht haben, dass !
die Ursache des Stridor congenitus ,
meistens eine vergrösserte Thymus ist, so
dass er den Namen Stridor thymicus vor¬
schlägt.
Aus der Diskussion, an der sich Teixeira !
de Mattos, Ganghofner, Siegert, [
Thiemich und Feer betheiligen, geht •
hervor, dass nach wie vor die Ansichten
getheilt und die Frage offen ist, welchen I
Antheil man der Thymusvergrösserung an
dem Zustandekommen des Stridors zu- i
messen soll. I
Danach spricht Herr Ruppinger
(Wien) über Laryngitis aphthosa. Der
Vortragende erwähnt, dass die primäre
Stomatitis aphthosa zwar in der über¬
wiegenden Mehrzahl der Fälle wirklich eine
gutartige nur auf die Wundschleimhaut j
localisirte Krankheit sei, nicht selten aber I
progredienten Charakter zeige, insofern sie
dann auf den Gaumen, Uvula, Tonsillen
und hintere Rachenwand übergreife. In
sehr seltenen Fällen ist auch der tiefere
Veraauungstract betroffen. Andrerseits
kann die aphthöse Entzündung auch auf
den Larynx übergehen und dann besonders
bei kleinen Kindern ausgesprochene Larynx-
stenose erzeugen, welche die Kinder in
direkte Erstickungsgefahr bringt. Verfasser
beobachtete unter 900Kindern mit Stomatitis
aphthosa sechs solche Fälle und bringt ein
ausführliches Beispiel. Die Therapie be¬
steht in einer energischen Behandlung der
Grundkrankheit. Hierzu benützt Verfasser
Auswaschungen von Mund und Rachen mit
Solutio Kali hypermang. und vermeidet
interne Verabreichungen von Kali chloricum.
Geht die Grundkrankheit zurück, so lassen
auch die Symptome von seite des Kehl¬
kopfes bald nach. Zur Unterstützung werden
mit bestem Erfolge Wasserdampfinhala¬
tionen und warme Umschläge am Halse
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November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
angewendet. Bei gefahrdrohender Larynx-
stenose ist auch im Säuglingsalter die In¬
tubation der Tracheotomie schon wegen
der voraussichtlich kurzen Intubationsdauer
vorzuziehen.
Herr Keller (Bonn) hielt einen Vortrag
über die Erfolge und Organisation der See¬
hospize, der zu einer interessanten Dis¬
kussion der angeschnittenen Frage führte.
Bei dem Interesse, das dieser Gegen¬
stand beanspruchen darf, sei es gestattet,
ein ausführliches Referat des Vortrages zu
geben.
Die wesentlichsten Erfolge der deutschen
Seehospize bestehen in dem Verschwinden
der nervösen Beschwerden bei neuro-
pathisch belasteten Kindern (in Zusammen¬
hang mit der Anstaltsbehandlung), in der
günstigen Beeinflussung der Respirations¬
erkrankungen durch die relative Keim- und
Staubfreiheit der Luft sowie die Gleich-
mässigkeit der Temperatur und vor allem
in der Erzielung erheblicher Körperge¬
wichtszunahme bei Kindern aus armen wie
wohlhabenden Familien.
Bei erholungsbedürftigen und recon-
valescenten Kindern werden in Folge dessen
gute Erfolge erzielt, aber sie sind von
kurzer Dauer. Bei Scrofulose und Tuber¬
kulose kommt es zu einer Besserung des
Allgemeinbefindens, zu einem vorüber¬
gehenden Verschwinden einzelner Symp¬
tome, aber von einer Heilung kann keine
Rede sein.
Der Vergleich mit den ausländischen
Hospizen fällt zu Ungunsten der deutschen
aus. Bleibt die Kurdauer in letzteren auf
sechs Wochen beschränkt, dann sind die
Seehospize nicht besser als die Ferien¬
kolonien, nur viel kostspieliger.
Stellen die Hospize sich grössere Auf¬
gaben, eine ernste Bekämpfung derScrofulo-
Tuberkulose. dann ist nothwendig:
1. eine sorgfältige Auslese des Materials,
vor Allem der Kinder, die unentgeltlich
aufgenommen werden;
2. eine erheblich längere Kurdauer;
3. Durchführung des Winterbetriebes in
grösserem Massstabe;
4. dauernde ärztliche Beobachtung der
Kinder auch nach der Entlassung aus der
Heilstätte.
Die Letztere, sowie die Auslese geeig¬
neten Kindermateriales ist in den Gross¬
städten den Kinderpolikliniken oder einzel¬
nen Aerzten zu überweisen, die ständig in
Fühlung mit der Vereinsleitung und den
Hospizärzten stehen.
Die Bedingungen für guten Erfolg sind |
gegeben, nur müssen sie voll und ganz
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ausgenutzt werden, wenn die deutschen
Heilstätten nicht weit hinter den auslän¬
dischen zurückstehen wollen.
Aus der Discussion ist die von ver¬
schiedener Seite betonte günstige Beein¬
flussung tuberkulöser Erkrankungen her¬
vorzuheben, die bei einem längeren Auf¬
enthalt, wie er namentlich in den französi¬
schen Hospizen möglich ist, zu erreichen
sind. Insbesondere geben Knochen- und
Gelenktuberkulosen ungleich günstigere
Resultate für die Operation in den See¬
hospizen als in den grossen Städten.
Es folgt das von der Gesellschaft für
Kinderheilkunde gestellte Referat „Die
Hysterie im Kindesalter 4 ', das den
Herren Thiemich (Breslau) und Bruns
(Hannover) übertragen war.
Herr Th ie mich stellte die Thatsache
des häufig „monosymptomatischen“ Auf¬
tretens der Kinderhysterie in den Vorder¬
grund. Wir verstehen darunter das Fehlen
der bekannten Charcotschen Stigmata.
Um ein Verständniss für dieses Ver¬
halten anzubahnen geht Referent den Früh¬
formen der Kinderhysterie nach und schil¬
dert besonders einige derjenigen Krank¬
heitsbilder, die nicht Nervenkrankheiten,
sondern Erkrankungen der vegetativen
Systeme imitiren. Es handelt sich dabei
öfter um sehr junge Kinder (2—4 Jahre
alte) und meist um die psychogene Fort¬
setzung bezw. Wiederholung eines früheren
organischen Leidens, dessen Hauptsymptom
durch Auto-Imitation fortgeführt wird. Ne¬
ben der Auto Imitation spielt die Imitation
fremder Leiden (beides natürlich mehr oder
minder unbewusst) eine wichtige aetiologi-
sche Rolle. Auch dies wird an Beispielen
erläutert. Aus diesen Beobachtungen er-
giebt sich die Wichtigkeit des Milieus für
den Ausbruch hysterischer Erkrankungen;
dafür spricht die ärztliche Erfahrung, dass
eine Heilung oft nur durch Entfernung des
Patienten aus seiner bisherigen Umgebung
gelingt. Es ist wahrscheinlich, dass das
ungeeignete Verhalten nervöser Eltern, Er¬
zieher u. s. w. die hysterische Manifestation
nicht direct producirt, sondern nur dadurch
schädlich wirkt, dass die wohl bei jedem
Kinde gelegentlich zu beobachtenden
kleinen Ansätze zur Hysterie nicht unter¬
drückt und ausgerottet, sondern grossge¬
zogen werden.
Der Correferent giebt zunächst einige
kurze statistische Daten nach seinem eigenen
Materiale. Er hat unter 700 Fällen von
Hysterie 144 bei Kindern beobachtet; also
etwa auf 5 Hysterische ein Kind. Die
64*
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November
508 Die Therapie der Gegenwart 1903.
obere Grenze des Kindesalters setzt er ins
16. Jahr. Die meisten Fälle fielen zwischen
das 7. bis 12. Jahr; ziemlich viele darüber
bis zum 16. Jahre; im 6, 5. und 4. Jahre
hat er nur noch 6 Fälle beobachtet; die
jüngsten waren zwei Knaben von 3 Jahren.
Er hält die Hysterie unier diesem Alter
jedenfalls für äusserst selten und die Hyste¬
rie der Neugeborenen, von der bosonders
französische Autoren berichten, für unbe¬
wiesen. Alles in Allem kamen ihm etwa
doppelt so viel hysterische Mädchen als
Knaben zur Beobachtung; unter 9 Jahren
war aber die Zahl der Knaben fast so
gross, wie die der Mädchen. Mit dem
höheren Kindesalter nimmt also die Hyste¬
rie bei Knaben relativ ab, bei Mädchen zu.
40% seiner hysterischen Kinder waren
Landkinder; bei diesen kommen ganz be¬
sonders schwere und hartnäckige Formen
vor. — Die Formen der Hysterie sind sehr
verschiedenartige; relativ sehr häufig ist
die Astasie-Abasie; hysterische Krämpfe
sind häufiger, als Bruns früher annahm,
besonders bei älteren Kindern. Meist fehlen
die Stigmtaa, besonders die Hautästhesien.
Bruns sucht das Fehlen derselben aus
Eigentümlichkeiten des kindlichen Vor¬
stellungslebens zu erklären; ihr Fehlen
bilde deshalb keinen unerklärlichen Gegen¬
satz zu der Hysterie der Erwachsenen, es
zeige vielmehr deutlich, dass auch die
Stigmata der Hysterie psychisch bedingt
sind. — Trotz des Fehlens der Stigmata
sei die Diagnose wenigstens in Fällen mit
neurologischen Symptomen bei der Kinder¬
hysterie auch vor der Heilung oder bei
Nicptgelingen derselben meist sicher. Vor
Allem gelte es, auch bei Kindern immer
an die Möglichkeit der Hysterie zu denken,
vor ihr auf der Hut zu sein. Dann halte
man sich an die charakteristischen Eigen¬
thümlichkeiten der Symptome der Hysterie
und ihrer Gruppierung, die Bruns näher
ausgeführt; an die grosse psychische Be-
einflussbarkeit; an das Missverhältniss
zwischen Ursache und scheinbarer Schwere
der Symptome. — Erschwerend für die
Diagnose kann es manchmal wirken, wenn
hysterische Erscheinungen als Imitationen
oder Prolongationen organischer auftreten;
z. B. hysterische Ankylosen nach Gelenk¬
rheumatismus, oder hysterische Chorea
nach rheumatischer; oder überhaupt nach
organischen Krankheiten, wie z. B. Astasie-
Abasie nach Infectionskrankheiten. — Die
Prognose der Kinderhysterie ist sowohl
für die Heilung der Symptome, als für die
Gesammtkrankheit eine viel bessere als die
der Hysterie der Erwachsenen; ersteres
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liegt an der grösseren Suggestibilität der
Kinder; letzteres daran, dass bei ihnen
der hysterische Charakter noch nicht fest¬
gewurzelt ist. — Für die Behandlung ist in
allen hartnäckigen Fällen Aufnahme in’s
Krankenhaus geboten. — Im Speciellen
empfiehlt B r u n s für den betreffenden Einzel¬
fall wieder die Methoden, die er früher als
Ueberrumpelungsmethode und als Methode
der zielbewussten Vernachlässigung be¬
zeichnet hat, und weist die Behauptung,
dass diese Methode den Kindern schädlich
sei, kurz zurück. Nöthig sei jedenfalls,
dass die hysterischen Manifestationen rasch
und gründlich ausgerottet würden; dann
sei eine Dauerheilung zu hoffen.
Zu der jetzt so viel erörterten Frage,
welche Bedeutung der intestinalen Infection
für die Entstehung der Tuberkulose zu¬
kommt, hat Ganghofner einen interessanten
Beitrag geliefert, der eine genauere Wieder¬
gabe gerechtfertigt erscheinen lässt.
Da neuerdings unter Hinweis auf die
Publicationen von Heller in Kiel von ver¬
schiedenen Autoren, im Gegensatz zu der
bisherigen Anschauung der meisten Kinder¬
ärzte, die Behauptung aufgestellt worden
ist, dass primäre Intestinaltuberkulose bei
Kindern häufig und der Verdacht auf nicht
so seltene Infection derselben durch den
Genuss von perlsuchtbacillenhaltiger Milch
begründet sei, sah sich Ganghofner
veranlasst, das ihm zur Verfügung stehende
pathologisch - anatomische und statistische
Material zum Studium dieser Frage zu ver-
werthen. Da sich die Sectionen von an
vorgeschrittener Tuberkulose Verstorbenen
zur Beurtheilung nicht eignen, benutzte
er lediglich die Sectionen der an acuten
Infectionskrankheiten (Diphtherie, Mor-
billen, Scharlach, Variola) gestorbenen
Kinder der verflossenen 15 Jahre und
konnte feststellen, dass unter 973 an
derartigen Krankheiten gestorbenen Kin¬
dern nur 5 Fälle sich befanden, welche
ausschliesslich auf den Darm oder die
Mesenterialdrüsen beschränkte Tuberkulose
darboten, sonach als Fälle von sicher
primärer Intestinaltuberkulose anzusehen
waren, entsprechend 0,5 % aller Gestor¬
benen bezw. 2 % der darunter befindlichen
253 Tuberkulösen, während Heller in
Kiel unter 714 secirten Diphteriefällen
53 solche von primärer Intestinaltuber¬
kulose gefunden hatte = 7,4 o/ 0 aller
Gestorbenen bezw. 37,8 der darunter be¬
findlichen 140Tuberkulösen. Ganghofner
hebt hervor, dass die Sectionsmethode
dieselbe war wie in Kiel, dass alle Sek-
Qriginal fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
November
Die Therapie der
tionen von sachkundiger Hand ausge
führt wurden und hält danach eine Ver¬
allgemeinerung von Hellers Befunden,
die bisher in Deutschland einzig dastehen,
für nicht begründet, ebenso auch die daraus
gefolgerten Schlüsse bezüglich der Gefahr
von Perlsuchtbacillen enthaltender Milch.
Bei der LJbiquität des vom Menschen
stammenden Tuberkelbacillus, der ja auch
in die Mundhöhle und in den Darm ge¬
langt, könne man selbst bei Fällen primärer
Darmtuberkulose nie sicher entscheiden, ob
Infection mit Rindertuberkulose vorliege
oder nicht.
Um der Frage noch auf einem an¬
deren Wege näher zu treten, hat Gang-
hofner in ähnlicher Weise, wie dies
Biedert im Algäu gethan, die etwaigen
Beziehungen der Rindertuberkulose zur
Tuberkulosefrequenz der Bevölkerung in
den einzelnen Bezirken Böhmens auf Grund
amtlicher statistischer Daten studirt. Er
kam hierbei zu einem ganz ähnlichen Re¬
sultat wie Biedert.
In Gegenden mit geringer Frequenz der
Rindertuberkulose bei den geschlachteten
Kühen fand sich häufig eine hohe Sterbe¬
ziffer an Tuberkulose bei der betreffenden
Bevölkerung und umgekehrt war in Be¬
zirken mit verhältnissmässig viel Rinder¬
tuberkulose eine sehr geringe Tuberkulose¬
sterblichkeit bei den Menschen zu con-
statiren.
Da bisher vielfach angenommen wurde,
dass nur von jenen an Perlsucht leidenden
Kühen Perlsuchtbacillen in die Milch ge¬
langen können, welche an Tuberkulose des
Euters leiden, so wurde auch die Häufig¬
keit der Euter-Tuberkulose in den einzelnen
Bezirken des Landes mit der Tuberkulose¬
sterblichkeit derßewohner verglichen und er¬
gab sich auchhierkeinParallelismus. Gang-
hofner gelangt zu folgender Auffassung:
Wenn auch die Möglichkeit einer gelegent¬
lichen Uebertragung von Rindertuberkulose
auf den Menschen zugegeben werden muss,
so ist bisher kein Beweis dafür beigebracht,
dass eine solche Uebertragung häufiger
stattfindet. Weder die pathologisch-ana¬
tomischen Befunde, noch die statistischen
Erhebungen über das Verhältnis von
Rinder- und Menschentuberkulose sprechen
dafür, dass der Genuss von perlsucht¬
bacillenhaltiger Nahrung für die Entstehung
der menschlichen Tuberkulose — insbe¬
sondere auch im Kindesalter — von irgend¬
wie nennenswerter Bedeutung ist.
Beobachtungen über die Bedeutung der
Heredität für die Entstehung der R h a c h i t i s
hat Siegert (Strassburg) mitgetheilt.
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Gegenwart 1903.
Die noch ganz unentschiedene Frage
nach der Erblichkeit der Rhachitis suchte
er dadurch zu lösen, dass er untersuchte,
ob unter sonst gleich günstigen oder un¬
günstigen Verhältnissen die sämmtlichen
Kinder von Familien an Rhachitis erkrarken
oder von Rhachitis frei bleiben.
Unter sehr ungünstigen socialen Ver¬
hältnissen lebende Familien mit durchweg
natürlicher Ernährung der Kinder zeigten
nun die auffallende Thatsache, dass in den
gleichen Massenquartieren die Brustkinder
der einen Familie ausnahmlos rhachisch
wurden, die der anderen durchaus von
Rhachitis verschont blieben. Letzeres
Verhalten fand sich nur bei natür¬
licher Ernährung und bei rhachitis-
freier Mutter.
ln dem mitgetheilten Krankenmaterial
sind Fälle schwerer Rhachitis bei Brust¬
nahrung und guten äusseren Verhältnissen
verzeichnet, umgekehrt aber auch solche,
wo unter denkbar ungünstigsten Verhält¬
nissen lebende Kinder (Brustkinder) von
Rhachitis frei blieben.
Die schwerste Rhachitis entwickelt sich
bei hereditärer Belastung und künstlicher
Ernährung. Sie beginnt dann schon im
1.—2. Lebensmonat, erreicht die extrem¬
sten Grade und bedingt eine hohe Sterb¬
lichkeit.
Erkrankungen der Verdauungs- und
Athmungsorgane begünstigen ebenfalls die
Entstehung der Rhachitis.
Aus der Discussion sei an dieser Stelle
nur erwähnt, dass Herr Rommel wieder
einmal die Erklärung der Rhachitis durch
mangelhafte Kalkzufuhr etc. erwähnte. Man
konnte hoffen, dass diese Vorstellung end¬
lich abgethan wäre, und wenn Herr Rom¬
mel Stoeltzner’s einschlägige Arbeiten
damit bei Seite schiebt, dass er ihm ohne
jede Grundlage vorwirft, Stoeltzner habe
Rey falsch citirt, so wird diese verblichene
Anschauung dadurch nicht lebenskräftiger.
Die weiteren über R hachitis von Stoeltz¬
ner und von Siegert gehaltenen Vorträge
sind für die Wiedergabe hier nicht geeignet
und ein Vortrag von Uffenheimer (Mün¬
chen) über Zusammenhang zwischen Di¬
phtherie und Scharlach wird besser im
Original (Verhdl. d. Ges. f. Kinderhlk.) nach¬
gelesen, da das Zahlenmaterial in dem
engen Rahmen des Referats nicht genügend
übersichtlich ist.
Die ausserdem gehaltenen Vorträge
konnten an dieser Stelle keine Erwähnung
finden, da wir hier nur das für die Praxis
unmittelbar Wichtige wiederzugeben beab¬
sichtigten. B. Salge (Berlin).
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
November
5 in
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Aus der Abtheilung: fflr Neurologie und
Psychiatrie.
Herr Pfister (Freiburg): Die Enuresis
nocturna in neuropathologischer und
forensischer Bewerthung.
Vortragender hat ein grösseres Material
von Geisteskranken, Nervenkranken und
gesunden Kindern unter Ausschluss aller
Fälle von organischen Erkrankungen des
Centralnervensystems und des Harnappa¬
rates untersucht.
Es traten zwei Gruppen der an Enuresis
nocturna leidenden Kranken hervor:
1. handelte es sich um ein seit frühester
Kindheit bestehendes, anhaltendes d. h. all¬
nächtlich oder doch fast allnächtlich (selte¬
ner auch am Tage) auftretendes Einnässen,
das meist allen Behandlungsmethoden
trotzend bis zum 5. oder 10. Lebensjahr
(oder auch länger) bestand, dann nach und
nach (selten plötzlich) von selbst schwand
oder: die physiologische Beherrschung des
Blasenmechanismus durch das Bewusstseins¬
organ stellte sich zur rechten Zeit ein, be¬
stand längere Zeit, aber früher oder später
(meist nach Infectionskrankheiten, Traumen
oder in der Pubertät oder auch ohne
äusseren Anlass) stellte sich plötzlich Enu¬
resis noct. ein, die (ziemlich allnächtlich)
wochen- und monatelang anhält.
In der 2. Gruppe tritt die Enuresis noct.
erst nach dem 5.—7. Jahre ein, wiederholt
sich in unregelmässigen Intervallen, bis¬
weilen in Serien und dauert eventuell
sporadisch bis ins Alter fort. Die Patienten
der letzteren Gruppe waren zum grössten
Theil höchstwahrscheinlich epileptisch.
In Gruppe I viele hereditär Belastete,
Neurasthenische, Hysterische, angeboren
Schwachsinnige. Auch in der Vorgeschichte
von Dementia praecox, Katatonie, mani¬
scher Depression, progressiver Paralyse
ist Enuresis noct. als ehemalige Kinder¬
krankheit häufig erwähnt. Gruppe I kann
als „Stigma heredit.“ aufgefasst werden.
Bei Gruppe II kann in foro eventuell die
Diagnose einer epileptischen Seelenstörung
erleichtert werden.
Herr Lilien st ein (Bad Nauheim):
Ueber die Einflüsse physikalischer
Factoren auf das centrale und peri¬
phere Nervensystem.
Die Grundlagen der physikalischen
Therapie müssen physiologische und bio¬
logische Gesetze sein. Die meisten physi¬
kalischen Factoren, ganz besonders aber
die in der physikalischen Therapie zur An¬
wendung kommenden, wirken durch Ver¬
mittelung des Nervensystems, im Gegen¬
satz z. B. zur Pharmakotherapie, deren
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Heilmittel vorzugsweise durch die Blut-
und Säftecirculation zur Wirkung kommen.
Es wird im Einzelnen die physiologische
Wirkung der Wärmezufuhr und Wärme¬
entziehung auf das Nervensystem be¬
sprochen, dabei auf die neue Technik der
Wärmebehandlung eingegangen. Als be¬
sonders praktisch und wirksam werden die
einfachen Bier’schen Kasten erwähnt. Dem
Vortragenden hat sich auch eine einfache
Heissluftdouche (Joh. Chr. Sander, Chem¬
nitz) als zweckmässiger Ersatz der theueren
Frey’schen Heissluftdouche bewährt.
Der Wärme- bezw. Kältereiz wirkt häufig
reflectorisch, z. B. schmerzlindernd, und
nicht durch directe Einwirkung auf den
Krankheitsherd. Die Kälte bezw. Wärme¬
empfindlichkeit der Applicationsstelle spielt
hierbei eine untergeordenete Rolle. Häufig
sind Combinationen von thermischen und
anderen physikalischen Einflüssen sowohl
in der Natur als auch in der physikalischen
Therapie.
Von den Lichtstrahlen sind alle Arten
im Stande, auf thierisches Gewebe Einfluss
auszuüben. Die Indicationen für die ein¬
zelnen Farben sind noch nicht hinreichend
geklärt. Keineswegs ist die Einwirkung
des Lichtes auf Thiere so gross, wie die¬
jenige auf Pflanzen, welch letztere in direct
proportionalem Verhältniss zur Lichtinten¬
sität steht.
Bezüglich der Elektricität ist noch immer
nicht der Antheil genau festgestellt, den
die psychische Beeinflussung an der gün¬
stigen therapeutischen Gesammtwirkung hat.
Die Ansichten anerkannter Autoren gehen
hier noch weit auseinander. Die Erwar¬
tungen, die man an die Anwendung hoch¬
gespannter Ströme (Arsonval) geknüpft
hat, haben sich bisher noch nicht erfüllt.
Nachdem von Geitel und Elster starke
Potentialdiflerenzen in der Luft nachge¬
wiesen worden sind, ist die Wahrschein¬
lichkeit von Einwirkungen derselben auf
den menschlichen und thierischen Organis¬
mus nicht von der Hand zu weisen. Chro¬
nisch Nervenkranke scheinen den Einfluss
der Schwankungen in der Luftelektricität
stärker zu empfinden. Vortragender berichtet
über einige Fälle aus der Praxis, die mit
Bestimmtheit dahingehende Angaben mach¬
ten. Auch ein Einfluss der in der Luft
enthaltenen — der Elektricität, den Ka¬
thoden- und Becquerelstrahlen nahestehen¬
den — verschiedenen Formen der Aether-
schwingungen ist wahrscheinlich. Vortragen¬
der berichtet über einen Selbstversuch mit
Radium-Becquerel-Strahlen und demonstrirt
die noch bestehende Hautnarbe, die noch
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
N uv. uibcr
Die riier.ijiic der Gegenwart 1903. 1 I
jetzt, nach 1 3 / 4 Jahren, brennende Empfin- |
düngen auslöst.
Bemerkenswerth ist auch der wahrschein¬
lich gemachte Einfluss des bewegten mag¬
netischen Feldes auf das Nervensystem,
wahrend der ruhende Magnetismus erwie-
senermaassen ohne Einfluss ist.
Im Allgemeinen erscheint der Weg der
StofTwechseluntersuchungen am Nerven¬
system weniger aussichtsreich, als derjenige
der Durchforschung der functionellen Lei¬
stungen. Das Eingreifen des Nervensystems
in die übrigen Organsysteme ist ganz be¬
sonders zu beachten. Die Bedeutung der
normal-physiologischen Reize für die Er¬
haltung des Lebens wird hervorgehoben.
Herr Zabludowski (Berlin). Zur
Therapie des Schreibkrampfes. Je
mehr die Differenzirung der verschiedenen
Formen der beim Schreiben auftretenden
Störungen, welche noch immer vielfach
unter dem Sammelnamen Schreibkrampf
geführt werden, durchgeführt wird, desto¬
mehr kommt man in die Lage, die Therapie
von Fall zu Fall anzupassen, und dann
werden die bei der Behandlung zu ge¬
winnenden Resultate sich um so besser ge¬
stalten. Vortragender verweist hier be¬
züglich der Eintheilung in Gruppen auf
seine früheren in der Volkmann'sehen
Sammlung klinischer Vorträge veröftent-
lichte Schrift: Ueber Schreiber- und
Pianistenkrampf, Leipzig 1901, bei Breit¬
kopf & Härtel.
Von der Schwere des Falles hängt es
ab, ob auch zu Hülfsmitteln aus dem Ge¬
biete der Orthopädie, gewissermassen zu
Prothesen, Zuflucht genommen wird oder
nicht. In der That gelingt es bei schweren
Formen, den Krampfformen im engeren
Sinne, vermittelst einfacher Apparate, noch
ein leidlich leserliches Schreiben zu er¬
zielen. Zu den der Therapie sonst trotz¬
bietenden Formen gehören Ueberreste nach
apoplektischen Anfällen. Es gelingt noch,
krallenförmig kontrahirte Finger zur Thätig-
keit beim Schreiben heranzuziehen. Zablu¬
dowski benutzt einen von ihm für diese
Fälle konstruirten Bleistifthalter. Beim
Schreiben wird derselbe mit beiden Händen
gleichmässig in der Schreibrichtung ge¬
führt. Es sind grobe Bewegungen der
Hand; aber schon bei wenig LJebung be¬
kommt man eine leicht zu entziffernde
Schrift. — Bei leichteren Formen, bei
welchen ein früher stattgefundener apo-
plektischer Insult sich durch nichts anderes
kundgiebt, als durch ein Zittern oder einen
Krampf beim Schreiben, geht man bald
von den Uebungen mit dem Bleistiftträger
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zum Schreiben mit einem von Zablu¬
dowski konstruirten Federhalter über.
Bei den Krampfformen, der eigentlichen
Berufskrankheit, bei welcher nahezu aus¬
schliesslich bei der Schreibarbeit ein
Krampf sich einstellt, primär an den be¬
troffenen Fingern oder sekundär durch
Insuffizienz antagonistischer Muskeln, ge¬
lingt es vielfach, eine hemmende Wirkung
zu erzielen durch Fixirung des Hand¬
gelenkes und der Mittelhand vermittelst
einer ledernen, zum Schnüren eingerichteten
festen Hülse. Einigen Berufsschreibern
gelang es, durch die Benutzung dieser
Hülse in ihrem Berufe weiter zu verbleiben,
ohne diese Hülse versagte ihnen die Hand
sofort. — Bei den paralytischen Formen,
bei welchen ein vollständiges Erlahmen,
ein Versagen der Hand, beziehentlich
der Finger zu arbeiten, beobachtet wird,
bietet gute Dienste die Einschnürung der
Mittelhand und des Handgelenkes mit einem
elastischen Gummischlauche. Neben dem
Halte, den diese Einschnürung giebt, haben
wir noch mit der Wirkung der durch die¬
selbe bedingten Veränderung der lokalen
Blutvertheilung und Blutgeschwindigkeit,
sowie der oberflächlichen Spannung der
Gewebe, der direkten Nervenreize, zu
rechnen. Bei längerem Schreiben wird
die Umschnürung, je nachdem sie gut ver¬
tragen wird, ein oder zwei Mal entfernt
und von Neuem angebracht. Anders bei
den häufigen neuralgischen Formen, welche
oft die Ausgangsform ausmachen für die
späteren schweren, mit Tremor oder Krampf
einhergehenden Formen. Hier, wo Schmerz
— lokalibirt oder ausgebreitet — das
störende Moment beim Schreiben ausmacht,
decken sich die Aufgaben des Arztes mit
denjenigen der Schreiblehrer und Päda¬
gogen. In zweckentsprechendem Sitzen
und richtiger Haltung des Körpers und
der Hand beim Schreiben, in der ent¬
sprechenden Auswahl der Schreibutensilien,
dann in der Aneignung des stenogra¬
phischen und Schreibmaschinenschreibens,
liegen die Mittel, die Ueberanstrengung
btim Sehre ben, beziehentlich dem Ueber-
gange der leichten Krankheitsformen, der
neuralgischen und paralytischen, in die
schweren, die Tremor- und Krampfformen,
entgegenzuwirken. Dadurch wird unschwer
erreicht, dass die beim Schreiben zu ver¬
brauchende Kraft und Energie wesentlich
geringer werden. Es werden nur diejenigen
Muskeln und Nerven in Anspruch genommen
werden, welche für das Schreiben unum¬
gänglich nothwendig werden, und die An-
und Abspannungen derselben in zweckent-
Original ffom
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
512
Die Therapie der Gegenwart 1903.
November
sprechenden Intervallen stattfinden, somit
nötige Ruhepausen innegehalten und
schmerzhafte Druckpunkte genügend ent¬
lastet werden. In der rationellen Massage
hat man ein wirksames Unterstützungs¬
mittel bei den angegebenen Behandlungs¬
methoden.
HerrAschaffenburg(Hallea.S.) Straf¬
vollzug an Geisteskranken. Die Neu¬
ordnung der Strafprocessvorschriften ver¬
langt auch eine Revision der Paragraphen, die
sich auf den Vollzug von Strafen an Geistes¬
kranken beziehen. Keiner Aenderung in¬
dessen bedarf der § 485 a, der den Vollzug
der Todesstrafe an Geisteskranken unter¬
sagt. Vortragender wirft nun an der Hand
eines bestimmten Falles die Frage auf, ob
die Nichtanerkennung des ärztlichen Gut¬
achtens der Geschworenen auch die An¬
wendung des § 485 a ausschliesst. Auch
der § 487, der den Vollzug einer Freiheits¬
strafe bei eingetretener Geisteskrankheit
aufschiebt, ist in seiner jetzigen Fassung
brauchbar. Dagegen ist § 493, die An¬
rechnung der Strafzeit, die wegen einer
Krankheit in einem Krankenhause ver¬
bracht wird, der Erläuterung und vom
Standpunkt des Arztes, der Ergänzung
bedürftig. Der Strafvollzug an Geistes¬
kranken ist vom Standpunkte aller gang¬
baren Theorien (als Sühne, Abschreckung,
Besserung, sittliche Missbilligung) zweck¬
los; endlich stört der Kranke die Anstalts-
disciplin in unerträglicherWeise. Deshalb
muss er ausgesondert werden. Das Ver¬
fahren in Preussen wird als zweckmässig
und nachahmenswerth geschildert; es sieht
Ueberweisungen der Kranken an die dazu
errichteten Beobachtungsabtheilungen auf
6 Monate vor, bei nicht zu erwartender
Heilung Ausscheidung aus dem Strafvoll¬
zug. Der unheilbare Kranke darf und kann
nie Object der Rechtspflege sein. Damit
sind auch rechtlich die vielfach gewünschten
Adnexe an Strafanstalten zur Dauerbewah¬
rung unzulässig, gegen die Vortragender
auch sonst noch viele Bedenken geltend
macht. Die Ueberweisung an Irrenanstalten
ist z. Z. nicht geregelt. Provinzial- und
städtische Behörden suchen sich oder dem
Staate die Kosten zuzuschieben, weil die
Entlassung geisteskranker Verbrecher nicht
ohne Mitwirkung der Staatsanwaltschaft
geschehen darf, die Unterbringung also
nicht des Kranken, sondern der öffent¬
lichen Sicherheit wegen nothwendig sei;
eine zweifellos nur theilweise berechtigte
Anschauung. Aerztlich bedenklich ist, dass
bei einer etwaigen Entlassung der Staats¬
anwalt sofort wieder die Einziehung zur
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Abbüssung des Strafrestes verlangt und
dadurch die Genesung sofort wieder ge¬
fährdet. Zu verlangen ist, dass auch die
in einer Irrenanstalt in unmittelbarem An¬
schluss an die Strafe verbrachte Zeit auf
die Strafdauer eingerechnet wird, und dass
die Strafverbüssung nicht ohne ärztliche
Begutachtung fortgesetzt werden darf.
Herr Wichmann (Marburg): Ueber
die Nervosität der Lehrer und Leh¬
rerinnen. Auf Grund einer Umfrage bei
den deutschen Lehrern und Lehrerinnen
erhielt Dr. Wichmann 1085 Antworten
und zwar 305 von Lehrern, 780 von Leh¬
rerinnen. Darunter sind gesund 46 Lehrer
und 240 Lehrerinnen. Unter den 305 Leh¬
rern sind 66 nervös erblich belastet; unter
den 780 Lehrerinnen 177. Von den erblich
belasteten Lehrern sind nur 5, d. i. 7,5 %,
gesund, von den erblich belasteten Lehre¬
rinnen sind 25, d. i. 13°/ 0 . gesund.
Unter den 259 kranken Lehrern und
540 kranken Lehrerinnen
kamen
folgende
Krankheiten vor:
Lehrer
%
3
Lehrerinnen
0
Organische Herzleiden
0,9
Lungen (Rippenfell-)Leiden
7
11
Magen-, Darmleiden . .
14
13
Nasen-, Rachen-, Hals-,
Ohrleiden.
23
20
Infectionskrankheiten . .
27
20
Verschiedene Krankheiten
9
20
Nervenkrankheiten . . .
68
68
Blutarmuth rsp.Bleichsucht
0
42
Die Seminar- und Examenszeit ist von
Einfluss auf die spätere Nervosität. 53 Leh¬
rer und 82 Lehrerinnen, welche während
der Examenszeit an nervösen Beschwerden
gelitten haben, sind später dauernd nerven¬
krank geworden. Diese klagen über:
Kopfdruck ....
Lehrer
7.
. . 60
Lehrerinnen
65
Herzklopfen . . .
. . 50
78
Angstzustände . . .
. . 49
37
Zwangsgedanken . .
. . 37
24
Oft wird der Unterricht dadurch gestört.
Von den Lehrern haben 54% die Ferien
verlängert und 43% den Unterricht aus¬
gesetzt, von den Lehrerinnen 41 %. Bei
den Lehrern tritt in 47% der Fälle, bei
den Lehrerinnen in 41 % die Nervosität in
den 5 ersten Lehrerjahren auf. Weitere
Zahlen zeigen, dass die nervöse Belastung
eine wichtige Rolle spielt. Die Sorge für
die Angehörigen spielt eine grössere Rolle
bei den Lehrern als bei den Lehrerinnen.
Ferner ergab sich, dass nervöse Lehrer
etwas schneller abgenutzt werden als ner¬
vöse Lehrerinnen. Schliesslich fand Wich¬
mann, dass die geistige Leistungsfähigkeit
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
November
Die Therapie der
der nervösen Lehrer doch noch eine
grössere ist, als die der nervösen Lehre¬
rinnen. Lilien st ein (Nauheim).
Aus der Abtheilung ffflr Chirurgie.
Möhring (Cassel) berichtet Ober die
ambulante Behandlung der tuber¬
kulösen Wirbelentzündung und die
Heilbarkeit der tuberkulösen Kyphose.
Wenn die Behandlung zur rechten Zeit ein¬
setzt und richtig ausgeführt wird, dann ist
die Sterblichkeit weit geringer, als sie sonst
angegeben wird. 10% ist die höchste Zahl,
die Verfasser erreicht hat. Seine Methode
besteht in einem allmählich gesteigerten
direkten Druck auf den Gibbus und von vorn
auf die paragibbären Theile der Wirbelsäule,
wobei der Druck, entsprechend dem Stadium
der Erkrankung, dosirt wird. Hierauf kommt
ein Gypsverband, um sobald als möglich zum
abnehmbaren Corsett überzugehen. Die j
Extensionsbehandlung wendet Möhring i
nur bei Erkrankung der Halswirbelsäule
an; bei kleinen Kindern genügt das Streck¬
bett nach Lorenz, wobei die Beine nicht i
fixirt werden. Der Ausgleich der Kyphose
kann in jedem Lebensalter eintreten. Zum
Schluss demonstrirt Vortragender einen von
ihm für Erwachsene construirten Apparat, !
der in Gesichtslage des Patienten angelegt
wird.
In seinem Vortrage über Lage Verän¬
derung der Leber und der Brust¬
organe weist Oppenheim (Berlin) darauf
hin, dass das Verschwinden der Leber¬
dämpfung nicht auf einer Verschiebung der
Leber nach oben beruht, sondern auf einer !
Drehung dieses Organs um seine frontale
Achse. Diese Drehung kann nur durch Dick¬
darmmeteorismus zu Stande kommen, so
dass es differentialdiagnostisch bei Ileus von
Werth sein kann. Das Verschwinden der
Leberdämpfung zeigt schon früh die begin¬
nende Peritonitis an, selbst wenn manchmal
Puls und Temperatur dem Befund nicht
entsprechen. Vortragendem ist es gelun¬
gen durch Aufblähen des Darmes bei
Thieren Herzstillstand durch Lungenver- !
drängung hervorzurufen und durch Punc-
tion des Dünndarmes wieder zu beseitigen.
Darauf beruht auch die Wirksamkeit des I
Anus praeternaturalis am Dünndarm bei j
Ileus, während ein solcher am Dickdarm j
erfolglos bleibt, da dadurch der Druck nach
oben nicht aufgehoben wird.
Um die Gefahr bei allgemeiner eitri- j
ger Peritonitis, den Collaps durch Leer- '
pumpen des Herzens, zu beseitigen, macht 1
Bertelsmann (Cassel) grosse Kochsalz- |
infusionen (3—3% 1) und sucht auch in |
Digitized by Google
Gegenwart 1903. 513
der Nachbehandlung durch reichliche Salz¬
wasserzufuhr das erweiterte Stromgebiet
des Splanchnicus zu füllen. Nach seiner
Ansicht ist die Peritonitis nicht eine Bac-
teriämie, sondern eine Toxiniämie, welche
eine Blutung in das Gebiet des Splanchni¬
cus und somit ein Leerpumpen des Herzens
bewirkt. Vortragender hat von 14 Fällen
7 Fälle zur Heilung gebracht, ausserdem
noch einen Fall von Fettgewebsnekrose,
wobei er nicht nur die Bursa omentalis,
sondern auch das Peritoneum des Pankreas
eröffnete, um dem Sekret des Letzteren
1 Abzug zu verschaffen.
Ebenfalls über günstige Erfolge mit
grossen Kochsalzinfusionen bei Peritonitis
berichtet Haberer (Wien). Derselbe de¬
monstrirt an einigen Fällen die schäd¬
liche Wirkung forcirter Taxisver¬
suche bei eingeklemmten Hernien.
In einem Falle trat Tod durch eitrige Pe¬
ritonitis ein, in einem anderen war der
Bruchsack zerrissen, im 3. Falle war das
Mesenterium in grosser Ausdehnung vom
Darm abgerissen, so dass 83 cm Darm re-
secirt werden mussten.
Hoffmann (Düsseldorf) sah eine enorme
acute Magendilatation nach unmässigem
Genuss von sauren Gurken. Patient erlag
der Operation. Als Ursache nimmt Vor¬
tragender angeborene Atonie des Magens
und Unmässigkeit im Essen an.
Zur Casuistik der Pfählungsver¬
letzungen berichtete v. Büngner (Hanau)
über einen Fall, wo dem Patienten eine
Bohnenstange 21 cm tief durch das For.
obturatorium in den Leib eingedrungen
war und die Blase verletzt hatte. Der Fall
kam zur Heilung, ohne dass die Blase ge¬
näht wurde, wie Vortragender überhaupt
bei extraperitonealer Verletzung die Blasen¬
naht widerräth.
Zum Schluss des letzten Sitzungstages
sprach Kuhn (Cassel) über perorale Intu¬
bation und pulmonale Narkose, und de-
monstrirte seinen zu diesem Zwecke con¬
struirten Apparat an Patienten. Sind auch
die Vorzüge einer solchen Narkose ganz
bedeutend, wie sie ja jeder Chirurg, der sie
einmal angewendet hat, bestätigen wird, so
ist sie in ihrer jetzigen Form kaum geeignet
Gemeingut aller Aerzte zu werden. Schon
dem Vortragenden, der die Anwendung an
den Patienten einige Male erprobt hatte,
gelang die Einführung der Tuben schwer,
und wie sollte das erst beim ersten Male,
bei mangelhafter Uebung werden? Rich¬
tiger wäre schon der Vorschlag, bei Ope¬
rationen im Rachen, Kehlkopf etc. die
Tracheotomie zu machen und mit der
65
Original fro-m
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
514
November
• Die Therapie der
Trendelenburg’schen Canüle zu narkoti-
siren. Eine Tracheotomie ist weniger ge¬
fährlich als das Einführen der Tuben bei
narkotisirtem Patienten, da man kaum weiss,
ob der Tubus wirklich im Larynx oder im
Oesophagus steckt Bei dem einen der
vorgeführten Patienten schien er thatsäch-
lich im Oesophagus zu stecken.
Leo Caro (Berlin).
Aus der Abtheilung für Gynäkologie.
Herr B. Krönig (Jena) erstattete das
Referat über die Beziehungen der functio-
nellen Nervenkrankheiten zu den
weiblichen Geschlechtsorganen in
ätiologischer, diagnostischer und therapeu¬
tischer Hinsicht.
Erkrankungen der Generationsorgane,
vor Allem diejenigen, welche mit schweren
Blutverlusten und langdauernden Entzün¬
dungen der Adnexe (gonorrhoische Pelvi-
peritonitiden) einhergehen, können un¬
mittelbar einen schweren Erschöpfungs¬
zustand des Nervensystems bedingen, also
die Neurasthenie hervorrufen.
Auch die physiologischen Funktio¬
nen der Generationsorgane, gehäufte
Schwangerschaften und Geburten, können
ein prädisponirendes Moment für die Ent¬
stehung der Neurasthenie darstellen.
Solange die Begriffsbestimmung der
Hysterie bei den verschiedenen Autoren
eine so differente ist, wird kaum eine Eini¬
gung der Meinungen darüber erzielt wer¬
den, welchen Einfluss die physiologischen
und pathologischen Funktionen der Gene¬
rationsorgane auf die Entstehung der
Hysterie haben.
Auch bei der engeren Fassung der
Hysterie als einer Psychose muss auf Grund
der Beobachtungen am Krankenbett zuge¬
geben werden, dass Krankheiten der Gene¬
rationsorgane oft eine bis dahin latent ver¬
laufende Hysterie manifest werden lassen,
und ferner, dass Erkrankungen der Gene¬
rationsorgane dem hysterischen Bilde oft
eine ganz bestimmte Färbung verleihen.
In gleicher Weise wirkt auch der physio¬
logische Ablauf der Funktionen der Gene¬
rationsorgane, z. B. Beginn der Pubertät,
Menstruation, Geburt, das Abklingen der
Geschlechtsreife (das Klimakterium).
Die Anschauung, dass der mangelnde
Geschlechtsverkehr beim Weibe das Ner¬
vensystem ungünstig beeinflusst und die
Quelle hysterischer und neurasthenischer
Beschwerden abgiebt, ist wohl ganz zu
verneinen. Der manchmal beobachtete
günstige Einfluss der Ehe auf eine be-
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Gegenwart 1903.
stehende Nervosität ist in ganz anderen
Ursachen psychischer Natur zu erblicken.
Der Geschlechtsabusus, die Mastur¬
bation, der Präventivverkehr, trägt bei der
Frau viel seltener als beim Manne zur
Entstehung neurasthenischer und hyste¬
rischer Zustände bei.
Da bei einer bestehenden Hysterie und
Neurasthenie sich die Krankheitserschei¬
nungen manchmal mit besonderer Inten¬
sität und Dauer in der Gegend der Geni¬
talsphäre lokalisieren, so können im Einzel¬
fall oft grosse diagnostische Schwierig¬
keiten auftauchen, ob das bestehende Krank¬
heitssymptom als eine Theilerscheinung
der functioneilen Nervenkrankheit zu be¬
trachten ist, oder ob es durch irgend
welche örtliche genitale Störung bedingt ist.
Die Schwierigkeiten in diagnostischer
Beziehung bestehen besonders dann, wenn
örtliche Schmerzen sich mit Anomalien der
Generationsorgane vergesellschaften.
Der hysterische und neurasthenische
Schmerz als solcher hat keine specifische
Empfindungsqualität. Aus der Art, der
Dauer, der Wandelbarkeit der Schmerz¬
empfindung kann nicht die Diagnose „hys¬
terischer Schmerz“ abgeleitet werden.
Bei der grossen Verbreitung hysteri¬
scher und neurasthenischer Beschwerden
einerseits, bei der Häufigkeit, mit welcher
wir andererseits mittelst der verfeinerten,
gynäkologischen Diagnostik Abweichungen
vom Normalen an den Generationsorganen
nachweisen können, darf es uns nicht
Wunder nehmen, wenn oft irrthümlicher
Weise ein ursächlicher Zusammenhang
zwischen der Genitalanomalie und den
Krankheitserscheinungen angenommen wird,
wo nur eine zufällige Coincidenz der Er¬
scheinungen vorliegt.
Durch eine solche irrthümliche Auf¬
fassung ist manche Genitalanomalie in
ihrer klinischen Bedeutung zu hoch ein¬
geschätzt worden. Manche Krankheits¬
erscheinungen, welche man früher auf
bestimmte Veränderungen der Genitalien
zurückführen zu müssen glaubte, werden
neuerdings in der Mehrzahl der Fälle als
Theilerscheinung einer bestehenden Hysterie
und Neurasthenie aufgefasst,
so die Dysmenorrhoe,
die Hyperemesis gravidarum,
die vasomotorischen und trophischen
Störungen, welche oft mit Beginn des
Klimakteriums einsetzen.
In therapeutischer Beziehung ist zu er¬
wähnen:
Eine bestehende Neurasthenie und Hy¬
sterie schliesst keineswegs eine örtliche
Original from
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November Dir Therapie d«-r
Behandlung etwa gleichzeitig vorhandener
genitaler Erkrankungen aus.
Eine bestehende Hysterie und Neu¬
rasthenie kann sogar unter bestimmten Be¬
dingungen die Indication zu einem ört¬
lichen genitalen Eingriff abgeben in Fällen,
in welchen man bei einem normalen, ge¬
sunden Nervensystem noch exspectativ
verfahren würde; so wird man z. B. bei
einem Myom, welches Menorrhagien hervor¬
ruft, einer hysterischen und neurastheni-
schen Frau schon eher die operative Ent¬
fernung der Geschwulst anrathen, weil
gerade lang anhaltende Blutungen be¬
sonders schädlich auf den hysterischen und
neurasthenischen Zustand einwirken.
Im Allgemeinen sollen aber bei einer
bestehenden Hysterie und Neurasthenie
örtliche therapeutische Maassnahmen an
den Genitalien eingeschränkt werden. Er¬
fordert eine gleichzeitig bestehende geni¬
tale Erkankung eine Behandlung, so ist in
den Fällen, in welchen die Heilung ent¬
weder durch eine Operation oder durch
langandauernde nichtoperative Behandlung
erreicht werden kann, im Allgemeinen der
einmalige operative Eingriff der lang¬
andauernden örtlichen Behandlung vorzu¬
ziehen.
Die Annnahme, dass conservative Ope¬
rationen an den Genitalien im Vergleich
zu Operationen an anderen Organen
einen besonders schweren psychischen In¬
sult darstellen, welcher direct Hysterie
oder Neurasthenie hervorruft, ist entschie¬
den zu verneinen.
Die Erkenntniss, dass früher die klini-
nische Bedeutung mancher genitaler Ano¬
malien, vor Allem des Emmet’schen Risses,
der Lagenanomalie des Uterus u. s. w. über¬
schätzt worden ist, legt uns die Verpflich¬
tung auf, in allen Fällen, bei welchen geni¬
tale Anomalien mit örtlichen und allge¬
meinen nervösen Symptomen verbunden
sind, vor einer örtlichen Behandlung mög¬
lichst festzustellen, wie weit ein Abhängig-
keitsverhältniss im Einzelfalle vorliegt.
Es wird die Erkenntniss, dass neura-
sthenische und hysterische Beschwerden
sich oft in der Genitalsphäre lokalisiren,
die Zahl der Operationen zur Hebung ge¬
wisser genitaler Anomalien einschränken.
Vor allem sollen Operationen zur Hebung
eines alten Cervixrisses (Emmet’scher Riss),
einer Lageveränderung des Uterus erst
dann erwogen werden, wenn eine län¬
gere Beobachtung ergeben hat, dass die
vorhandenen Beschwerden auch wirklich
auf die Anomalie der Genitalien zurück¬
zuführen sind.
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Gegenwart 1903. 515
Wenn wir auch bei den oben erwähnten
hysterischen Krankheitserscheinungen
Dysmenorrhoe, Hyperemesis gravidarum,
nervöse Erscheinungen im Klimakterium —
entsprechend der Auffassung dieser Symp¬
tome als hysterische Theilerscheinungen,
die örtliche Behandlung zu Gunsten der
allgemeinen antinervösen Behandlung zu¬
rücktreten lassen müssen, so ist doch oft
die locale Behandlung — Discision des
Muttermundes bei Dysmenorrhoe, Abortus
provocatus bei schwersten Fällen von
Hyperemesis — nicht zu entbehren.
Ebenso ist die Einleitung des künst¬
lichen Abortus bei gewissen schweren
Formen der Hysterie und bei schweren
neurasthenischen Zuständen in Erwägung
zu ziehen, wenn jede antinervöse Behand¬
lung ohne Erfolg ist.
Die operative Sterilisirung der Frau ist
nur dann auszuführen, wenn eine Frau
nahe dem Klimakterium in Folge zahl¬
reicher aufeinander folgender Geburten
schwere Erschöpfungszustände des Nerven¬
systems zeigt.
Der Correferent Herr A. Eulenburg
war durch Krankheit am Erscheinen ver¬
hindert, seine Leitsätze lagen gedruckt
vor. Er betonte besonders, dass Neu¬
rasthenie und Hysterie — welche weit
schärfer als es bisher geschieht, ausein¬
ander zu halten seien — nicht selten in ange¬
borenen zum Theil ererbten Anlagefehlern
des Centralnervensystems ihre Grundlage
finden, bestreitet aber, dass von den Geni¬
talerkrankungen des Weibes bei localen
Erkrankungen Einflüsse ausgehen können,
die unmittelbar als solche, sei es direct
oder reflectorisch die Neurosen verur¬
sachen können. Hiergegen spielen patho¬
logische Zustände des weiblichen Genital¬
apparates eine grosse Rolle bei der Aus¬
lösung der secundären Betriebsstörungen
des Nervensystems. Als Hauptsymptome
der Neurasthenie erkennt er abnorme
Reizbarkeit und excessive Erschöpfbarkeit
auf somatischem wie auf psychischem Ge¬
biete. Für die Hysterie kann nicht eine
bestimmte Symptomgruppe (ein sogenanntes
hysterisches Stigma) pathognomisch sein,
allein die Beobachtung des häufigen, oft
plötzlichen Wandels und Wechsels im
Krankheitsbild, die Loslösung selbst der
schwersten functionellen Störungen von
entsprechenden örtlichen Veränderungen,
die Inkohärenz und scheinbare Willkür-
lichkeit der Symptommischung, vor allem
das Studium des hysterischen Charakters
mit seiner krankhaften Neigung zur Sug¬
gestion, seiner Wandelbarkeit, Willens-
Qriginal from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
516
Die Therapie der Gegenwart 1903.
November
schwäche u. s. w. lassen diese Psychose
erkennen. Analog der sexualen Neura¬
sthenie des Mannes giebt es eine sexuale
Neurasthenie und sexuale Hysterie des
Weibes, von denen erstere durch Sensibi-
litäts- und Secretionsstörungen im Bereiche
der Genitalorgane charakterisirt ist, bei
der letzteren hingegen handelt es sich ur¬
sprünglich um krankhafte Bewusstseins¬
veränderungen und davon herrührende
secundäre Manifestationen, also um psy¬
chogen erzeugte und auf psychischem
Wege realisirte Krankheitserscheinungen.
In therapeutischer Beziehung er¬
wachsen natürlich aus dem Wandel der
diagnostischen Anschauungen auch ent¬
sprechend veränderte Aufgaben und Ziele.
Es kann selbstverständlich nicht davon die
Rede sein, bei Bestehen der grossen
functionellen Neurosen jede gynäkologische
Lokalbehandlung, speciell jede operative
Behandlung als unnütz oder schädlich
unter allen Umständen zu verwerfen und
den Arzt lediglich auf die Gesammtbehand-
lung der Neurasthenie, der Hysterie u. s. w.
als solcher einschränken zu wollen. Ganz
abgesehen von der Häufigkeit rein com-
plicirender oder coincidirender Genital¬
erkrankungen im Verlaufe der grossen
Neurosen, würde eine solche generelle
Verzichtleistung auf örtliche Genitalbehand¬
lung überhaupt viel zu weit gehen.
Aber allerdings werden wir uns bei
jedem örtlichen Eingriff, zumal operativer
Natur, noch mehr als bisher die Frage
vorzulegen haben, was damit erstrebt und
erreicht werden soll; ob eine palliative
oder kurative Einwirkung auf genuine
Lokalsymptome, als Theilerscheinungen des
nervösen Gesammtleidens, oder als Aus¬
gangs- und ^ Auslösungsstätten nervöser
Reizzustände (Reflexepilepsie, hysterische
Reflexkrämpfe u. s. w.) — was immerhin
verhältnissmässig selten sein dürfte. In
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle,
zumal bei Hysterischen, haben wir auch
jede Form örtlicher Genitalbehandlung
wesentlich nach Maassgabe ihrer allge¬
meinen neuropsychischen Rückwirkung,
also als essentiell psychisches Heilagens
zu bewerthen und zu beurtheilen. Aus
diesem Gesichtspunkte kann jeder einzelne
Akt lokaler Behandlung, jeder operative
Eingriff unter Umständen auch bei Hyste¬
rischen gerechtfertigt sein (soweit er dem
ne noceamus Rechnung trägt); doch wird
man in der Mehrzahl hierher gehöriger
Fälle mit einer individuell angepassten All¬
gemeinbehandlung, ohne oder mit nur einem
Minimum lokaler Eingriffe, im Grossen und
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Ganzen weiterkommen und nicht nur vor¬
übergehend bessere, sondern auch solidere
und dauerndere Erfolge zu gewärtigen
haben. Namentlich gerade bei den Formen
der sexualen Neurasthenie und sexualen
Hysterie ist — ebenso wie bei der ent¬
sprechenden Form sexualer Neurasthenie
des Mannes — vor einem Uebermaasse
genitaler Lokalbehandlung und überhaupt
| vor einem allzu tiefen Eingehen auf die
örtlichen Beschwerden aus psychischen
Gründen meist entschieden zu warnen,
i Eine therapeutische wie schon früher dia¬
gnostische Verständigung zwischen Frauen-
; und Nervenärzten erscheint gerade in der¬
artigen Fällen schon im Interesse voller
! Beruhigung der Kranken besonders häufig
1 geboten.
In der Diskussion weist Wille auf die
Schwierigkeit der Diagnosenstellung hin;
erleichtert wird diese dadurch, dass für die
Hysterie bestimmte Stigmen bestehen, bei
Neurasthenie und noch mehr bei Nervosi¬
tät fehlen diese objectiven Symptome. Ge¬
steigerte Patellarreflexe, Fehlen der Con-
junctivalreflexe findet sich auch gewöhn¬
lich bei Neurasthenie, hingegen nicht das
Fehlen des Gaumenreflexes. Die Ovarie
ist kein eindeutiges Zeichen. Sehr wich¬
tig ist hingegen zur Sicherung der Dia¬
gnose eine genaue Aufnahme der Anam-
I nese. Folgende vier Zeichen werden fast
stets angegeben: Vielseitigkeit, Wechsel
der Beschwerden, Abhängigkeit von Ge-
| müthsbewegungen und endlich die Ueber-
treibung. Deshalb ist die Frage: „werden
I die Schmerzen nach Aerger stärker?“
sehr wichtig. Bei Bejahung kann man
stets ein Nervenleiden diagnosticiren, und
in diesem Falle ist natürlich ein operativer
Eingriff contraindicirt. B. benutzt daher
Fragebogen, derselbe nimmt Rücksicht
auf Genitalstörungen und nervöse Be¬
schwerden, die ersteren bestehen in Un¬
regelmässigkeit der Menstruation, Sterilität,
Vorfall etc., endlich in einem subjectiven
charakteristischen Gebärmutterschmerz.
Viel grösser ist die Zahl der nervösen
Beschwerden.
Menge betont, dass die Nervosität viel
häufiger sei als die echte Hysterie bei
gynäkologischen Erkrankungen. Klinisch
bedeutungsvoll ist vor allem die Rück¬
wärtsverlagerung des Uterus, M. hält sie
unter allen Umständen für pathologisch,
denn bei dieser ist fast stets eine Neigung
zum Descensus vorhanden, ferner kann der
Uterus auch ohne Descensus incarceriren,
und dann beobachten wir häufig An¬
schwellung des Uterus, welche nach der
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November
517
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Aufrichtung zurückgeht, endlich erschwert
die Retroflexio die Conceptionsfähigkeit
und verursacht durch Verlagerung des
Ovarium Schmerlen beim Coitus. Alles
dieses weist auf eine pathologische Lage
hin, wie weit jedoch die Beschwerden eine
Folge dieser Lageanomalie sind, ist eine
andere Frage. Die Beschwerden sind
allerdings meist die Ursache einer Nerven¬
erkrankung. Die Emesis gravidarum sieht
M. als eine Reflexneurose an; vielleicht
gehen am Endometrium derartige Ver¬
änderungen vor sich, die reflectorisch das
Erbrechen auslösen. Häufig findet sich
neben der Dysmenorrhoe ein Ovulations¬
schmerz, der unabhängig von dem Men¬
struationsschmerz ist.
Binswangen Eulenburg hält die
Hysterie für eine relativ seltene Erkran¬
kung, dieses hängt von der Definition der
Hysterie ab, davon, was wir unter Hysterie
verstehen. Die Mehrzahl der nervösen Er¬
krankungen funktioneller Art entstehen auf
dem Boden der ererbten Prädisposition.
Syphilis, allgemeine Tuberkulose, Alkoho¬
lismus bewirken eine partielle Nerven-
schädigung, welche sich später durch funk¬
tionelle Aberration kundgiebt. Analog
können Schädigungen in der frühesten
embryonalen Entwickelung wirken. So
kann z. B. Epilepsie entstehen. Diese
Krankheit kann aber selbstverständlich auch
später erworben werden. Die nervöse
Constitution besteht in einer verringerten
Widerstandskraft der Individuen, sie wirkt
jedoch ganz verschiedenartig in den ver¬
schiedenen funktionellen Systemen. Hy¬
sterisch sind alle jene Krankheitserschei¬
nungen, die in einer Störung des psycho¬
physischen Gleichgewichts der corticalen
Region bestehen. Auf eine psychologische
Grundformel lässt sich die Hysterie nicht
zurückführen, die Mehrzahl der hysteri¬
schen Symptome sind psychogen und be¬
ruhen auf einer Steigerung der Empfind¬
lichkeit, andere aber dokumentiren sich
durch einen Ausfall der Empfindungen,
hierher gehört die halbseitige Sensibilitäts¬
störung. Zur Feststellung ist die gleich¬
zeitige Berührung beider Seiten mit Steck¬
nadeln wichtig. Dieses Symptom findet sich
bei der einfachen Neurasthenie nicht. Eine
scharfe Grenze lässt sich jedoch zwischen
Neurasthenie und Hysterie nicht ziehen,
und besonders Traumen können Hystero-
Neurasthenie bedingen. Wahre Hyper-
aesthesien lassen sich sehr schwer fest¬
stellen, viel leichter natürlich Abschwächung
der Empfindlichkeit. Sehr wichtig sind
für die Diagnosenstellung der Hysterie die
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sogenannten Mitempfindungen; Schmerz an
zwei getrennten Stellen bei Berührung
einer Stelle. Der zweite Punkt, welcher
bei Hysterie zu beobachten ist, ist der
hysterische Charakter mit den Schwan¬
kungen der Affecterregbarkeit. Gerade bei
Hysterischen warnt B. vor der Aufnahme
einer Anamnese in dem Sinne, wie es
Wille thut, denn hierdurch werden hyste¬
rische Beschwerden sicher hervorgerufen.
Bei Hysterie finden sich am häufigsten ge¬
mischte wandelbare Schmerzen, sie sind
ein Theil der pathologischen Affecterreg¬
barkeit. Wichtig ist die Ablenkbarkeit des
Schmerzes, der psychische Schmerz ist
durch Erregung der Aufmerksamkeit ab¬
lenkbar; psychotherapeutisch lässt sich
dieses benutzen. Sehr wichtig sind für die
Diagnose der Hysterie die Abasie und
Astasie, die Kranken können im Liegen
die Beine richtig bewegen, nicht aber beim
Gehen und Stehen. Lähmung durch Vor¬
stellung findet sich ebenfalls bei Hysterie.
Latente Hysterie ist ein unglücklicher Aus¬
druck, es soll heissen, eine Hysterie be¬
steht, lässt sich aber nicht nachweisen.
Die hysteropathische Disposition wäre
allein als latente Hysterie zu bezeichnen.
Allerdings muss man schwere und leichte
Hysterie unterscheiden, erstere und mittel¬
schwere Formen sind am häufigsten, sie
bilden die sogenannte vulgäre Hysterie.
Veit: Castration und operative Sterili-
sirung ist bei nervösen Kranken nur dann
auszuführen, wenn sie auch bei nicht ner¬
vösen zu empfehlen ist. Sociale schlechte
Verhältnisse dürfen nie einen Grund ab¬
geben, eine Kranke anders zu behandeln, als
es objectiv nöthig ist. Für die Retroflexio
uteri gilt dasselbe, die nervöse Erkrankung
darf nie die Indication für den operativen
Eingriff abgeben; wir müssen daher vor
Allem die Lageveränderungen vornehmen,
ohne dass es die Kranke bemerkt, schwin¬
den alsdann die Beschwerden nicht, so
sind sie nicht abhängig von der gynäko¬
logischen Erkrankung. Die Schwierigkeit
für uns besteht in der Diagnosenstellung,
wir müssen daher als Gynäkologen mehr
die Werke der Neurologen studiren.
Schäffer: Im Vordergrund des Inter¬
esses steht nicht die Hysterie, sondern die
Hysteroneurasthenie. Die Kranken sind
vor allem allgemein zu behandeln, aber
auch lokal, so ist z. B. die Retroflexio uteri
zu behandeln. Eine spastische Contraction
des inneren Muttermundes ist nicht allein
die Ursache der dysmenorrhoischen
Schmerzen, vielmehr sind es vasomoto¬
rische Störungen, welche die Schmerzen
Original from
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518
Die Therapie der Gegenwart 1903."
November
hervorrufen, denn bei zeitlich möglichst
ausgedehnter Dilatation des Uterus
schwindet der Schmerz, und bei Blutunter¬
suchung an der Portio weist man alsdann
deutlich eine Erweiterung der Gefässe
nach.
v. Wild: Der Streit der Retroflexio-
behandlung wird den Weg gehen, wie es
bei vielen Operationen geht, viele Fälle
verursachen zweifellos Beschwerden und
müssen behandelt werden. Die gynäko¬
logische Behandlung der Dysmenorrhoe
soll gleichfalls vorgenommen werden.
Wichtig ist, dass man jungen Mädchen
und jungen Frauen eine ihnen zusagende
befriedigende Thätigkeit anräth.
Krönig: Die Wichtigkeit der Dis¬
kussion lag in der Feststellung, dass sich
das Krankheitsbild zwischen Hysterie und
Neurasthenie nicht abgrenzen lässt, sondern
dass sich die Kreise vielfach schneiden.
Die Gynäkologen wollen eben so gut das
Beste für die Kranke wie die Neurologen,
und unser Bestreben ist es, nicht leicht¬
fertig mit Operationen vorzugehen. Auch
wir sind in der Lage, oft gynäkologisch
die Kranken zu heilen, die bei neurologi¬
scher Behandlung nicht Erfolg hatten,
namentlich wenn erschöpfende Blutungen
die Ursache der Neurasthenie sind. Die
Suggestion werden wir bei der Behand¬
lung nicht entbehren können. Die Emesis
gravidarum, sicher aber die Hyperemesis
ist ein rein hysterisches Symptom; die Ur¬
sache, warum sie gerade in der Schwan¬
gerschaft auftritt, wissen wir nicht.
werthen sind, nicht die fixirten. Während
Corpus-, Cervixcatarrh, Endometritis fun-
gosa, atypische Blutungen bei alter Retro-
versio-flexio nicht Folge der Lageverände¬
rung sind, ist dies die durch Stauungs¬
erscheinungen in der Wand des Uterus
bedingte Hyperplasie desselben, bezüglich
die Metritis chronica. Auch bei definitiver
Heilung der Lageveränderung bleibt die
Metritis parenchymatosa bestehen mit den
von ihr abhängigen Beschwerden und
Symptomen (unheilbare spärliche Menses,
Dysmennorrhoe, Sterilität). Gegenüber den
bedeutungslosen angeblichen örtlichen Be¬
schwerden bei Retroflexio sind die reflec-
torischen Symptome (Kopfschmerz, Magen¬
druck und Krampf, deprimirte Gemüths-
störung etc.) directe Folge der Lagever¬
änderung. Obstipation wird durch Be¬
handlung der Retroflexio nicht geheilt, aber
die schwere Defäcation nach Hebung der
Druckempfindlichkeit der hinteren Wand
des retroflectiren Uterus durch Correctur
der Lage und Pessar. Ein zu behandeln¬
des Symptom der Retroflexio ist auch
die habituelle Frühgeburt in den späteren
Schwangerschaftsmonaten. — Vortragender
steht ganz auf dem Küstner'sehen Stand¬
punkt, jede bewegliche Retroflexio bei der
geschlechtsreifen Frau zu behandeln, auch
wenn sie keine Symptome macht oder wenn
diese noch nicht erkannt sind, denn sie ist
eine Gleichgewichtsstörung der Becken¬
organe, welche, sich selbst überlassen, stets
zum Descensus oder Prolapsus führt oder
sich verschlimmert. Daesein therapeutischer
Denkfehler ist die Behandlung eines als
solchen erkannten Leidens von der Schwere
der Symptome abhängig zu machen, ist es
nicht unmodern, sondern bleibt logisch
und zeitgemäss, die Retroflexio Uteri, auch
diejenige ohne Symptome, zu behandeln.
v. Guörard: Sind Ventrifixur und
Vaginifixur im gebärfähigen Alter
zu verwerfen? Wenn auch die Fixation
der Gebärmutter keine normale Lage
schafft, so darf man dennoch nicht aus
theoretischen Gründen die Operation grund¬
sätzlich verwerfen. Bei Ventrifixur sind
Geburtsstörungen vorhanden, ebenso wie
bei Vaginifixur, wenn die Fixation zu fest
ausgeführt wurde. So musste v. Guörard
in einem Falle eine Laparotomie ausführen,
bei der von anderer Seite bei einer Ventri¬
fixur der Uterus durch 14 Fäden befestigt
war. Bei geringerer Fixation durch 2 bis
3 Fäden unterhalb des Fundus sind keine
Geburtsstörungen wahrscheinlich. — Eine
Verwachsung des Uterus findet allerdings
stets statt, auch wenn man den Uterus
Koetschau (Köln): Ist es unmodern,
die uncompiicirte Retroflexio Uteri
zu behandeln? Während im letzten Jahr¬
zehnt das Interesse für die Retroflexio
uteri sich vorwiegend um die Frage drehte,
wie man am sichersten den Uterus fixiren
kann, wurde die klinische Bedeutung der
Lageveränderung nur seltener berührt.
Die Autoren, unter diesen in allerjüngster
Zeit Pfannenstiel warnen vor Ueber-
schätzung der klinischen Bedeutung der
Retroflexio und wollen diese nicht zum
Gegenstand der lagecorrigirenden Behand¬
lung machen, wenn sie keine Complicationen
aufweist. Letztere werden als Quelle der
Beschwerden angegeben, nicht die Lage¬
anomalie selbst. Koetschau theilt die
Ansicht von der Symptomlosigkeit der
Retroversio-flexio nicht; er bespricht ein¬
gehend die Beschwerden und Complica¬
tionen und betont, dass zur Feststellung
der Symptomatologie der Retroflexio nur
die Fälle beweglicher Retroflexion zu ver-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
519
November Die Therapie der
unterhalb der Wunde, also Peritoneum auf
Peritoneum annäht. Die Resultate sind
folgende: Gudrard hat 57 Geburten nach
Ventrifixur beobachtet. Bei 2 Frauen
waren Recidive der Lageanomalie ein¬
getreten. 51 Geburten verliefen glatt.
5 mal wurde die Zange angelegt. 1 mal
trat eine sehr schwere Atonie ein (bei der¬
selben Patientin war bei einer früheren
Geburt auch schon eineAtonie aufgetreten).
41 mal beobachtete er Geburten nach Va-
ginifixur. 4 Beckenausgangszangen mussten
angelegt werden, die übrigen Geburten
verliefen glatt Allerdings war der Befund
während der Schwangerschaft wiederholt
charakteristisch für die Vaginifixur. Eine
Steigerung von Fehlgeburten konnte Gue-
rard nicht beobachten. Guerard kommt
zu dem Schlüsse: Nach einer wirklich
sachgemäss ausgeführten Ventri¬
fixur oder nach einer wirklich sach¬
gemäss ausgeführten Vaginifixur
sind Geburtsstörungen nicht zu be¬
fürchten. Falk (Berlin.)
Ans der Versammlung abstinenter Aerzte.
Wie alljährlich hatte auch auf der
Casseler Versammlung der Verein absti¬
nenter Aerzte seine Mitglieder zu einer
Tagung zusammenberufen und durch die ,
geschickte Wahl der Themata allgemeinstes j
Interesse veranlasst. Prof. Rosemann j
(Bonn) sprach über den. Alkohol als Nah- I
rungsstoff, Dr. Keferstein (Göttingen) j
über die Wirkung grosser Flüssig- |
keitsmengen auf das Herz.
Ersterer führte Folgendes aus: Die
Frage, ob der Alkohol als Nahrungsstoff
betrachtet werden kann, ist von weittra¬
gender Bedeutung. Theoretisch betrachtet
kommt es darauf an, ob ein Stoff, der in
grossen Mengen ein Gift ist, auch giftig
wirkt, wenn er in kleinen Dosen dem
Körper zugeführt wird. In den letzten
Jahren hat sich das Material so geklärt,
dass die Frage heute zu entscheiden ist.
Zunächst handelt es sich darum, welche
Eigenschaften ein Stoff besitzen muss, um
als Nahrungsmittel zu gelten. Zu den
Stoffen, die zum Aufbau der lebenden
Zellen unbedingt nöthig sind, gehört der
Alkohol allerdings nicht, und wir können
ihn ohne jeglichen Schaden entbehren.
Per Alkohol ist aber unstreitig ein Ver¬
tretungsstoff, er kann als nothwendig gel¬
tende Nahrungsstoffe ersetzen, weil er
chemische Spannkraft besitzt. Wenn aber
ein Körper chemische Spannkraft giebt,
dann kann er theoretisch als Nahrungs¬
stoff gelten. Man hat indessen bestritten,
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Gegenwart 1903.
dass der Alkohol im Körper verbrenne,
auch das ist durch die Versuche von Binz.
Atwater und Benedict widerlegt. Ferner
wird behauptet, der Alkoholgenuss sei von
lähmenden Wirkungen begleitet und der
Körper verbrenne darum andere Stoffe in
minderem Maasse. Dieser Einwand ist
wissenschaftlich nicht haltbar, wenngleich
der Alkohol in grossen Mengen lähmende
Erscheinungen hervorruft, denn man müsste
von dieser angeblichen Lähmung der
; Lebensvorgänge auch an den Lebens-
| äusserungen der Versuchspersonen etwas
! bemerken. Es wäre nun denkbar, dass
| die chemische Spannkraft minderwerthig
! wäre, der Alkohol keine eiweisssparende
| Kraft besässe. Neumann’s, Clopatt’s
I und des Redners eigene Versuche ergeben
| demgegenüber, wie die Stickstoflfbilanz
| nachweist, dass auch der Alkohol eiweiss-
| sparend ist, dass er mithin in jeder Bezie-
! hung sich den andern Nahrungsstoffen,
j den Kohlehydraten und Fetten, vollständig
I gleich verhält. Ist er aber auch praktisch
| werthvoll, schädigt er nicht nebenher als
Gift? In grossen Dosen unzweifelhaft, in
geringeren indessen nach Rosemann’s
Meinung nicht.
Bei der Frage nach der schädlichen
Wirkung des Alkohols ist aber nicht bloss
die absolute Menge des aufgenommenen
Alkohols in Betracht zu ziehen, sondern
auch die Form in der er genossen wird.
Gerade hierin, in der Concentration des¬
selben in den verschiedenen alkoholischen
Getränken liegt die sehr wechselnde Gift¬
wirkung. Es kann keinem Zweifel unter¬
liegen, dass dieselbe Menge Alkohol eine
sehr verschiedene schädliche Wirkung auf
den Körper ausüben wird, je nachdem sie
in Branntwein, Wein oder Bier auf¬
genommen, je nachdem sie in den leeren
oder vollen Magen eingeführt wird. Wie
man aber auch über die Schädlichkeit
mässiger Dosen Alkohol denken mag, für
die Ernährung des Gesunden kann der
Alkohol, auch wenn er sicherlich ein Nah¬
rungsstoffist, seiner Nebenwirkungen wegen
nicht in Frage kommen. Anders liegen
die Verhältnisse beim Kranken, wo in
vielen Fällen nicht, wie beim Gesunden,
die nährende Wirkung des Alkohols eben¬
sogut durch andere unschädliche Nahrungs¬
stoffe ersetzt werden kann; hier wäre es
falsch, principiell die Verwendung des¬
selben abzulehnen, nicht minder falsch aber
auch ihn kritiklos zu empfehlen. Der Al¬
kohol hat aber ausser seiner Eigenschaft
als Nahrungsmittel noch eine zweite, das
ist die eines Genussmittels, und hier kann
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520
November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
seine eigenartige Wirkung nicht so leicht
durch einen andern Stoff ersetzt werden.
Wer aber infolge einer abnormen Ver¬
anlagung schon von geringen Mengen Al¬
kohol auf’s schwerste afficirt wird, soll
ebenso den alkoholischen Getränken ent¬
sagen wie der, der nicht im Stande ist,
die Grenze des massigen Genusses einzu¬
halten. Die Erfahrung lehrt, dass es für
solche Individuen nur eine Rettung giebt,
die vollständige Enthaltsamkeit. Wer aber
bei normaler Veranlagung die geistige
Kraft in sich fühlt, die dazu nöthig ist, im
Genuss das richtige Maass zu finden und
zu halten, der braucht nicht auf den Ge¬
nuss alkoholischer Getränke zu verzichten.
Nach Rosemann’s zusammenfassenden
Mittheilungen dürfte wohl die wissenschaft¬
liche Discussion, ob der Alkohol überhaupt
ein Nahrnngsstoff sei, geschlossen sein; die
andere Seite der Frage jedoch wird wohl
nach wie vor je nach der Stellungnahme
des Einzelnen, ob Abstinent ob Mässigkeits-
anhänger, verschieden beantwortet werden.
An zweiter Stelle sprach Keferstein und
knüpfte an die von Hüppe aufgestellte
Behauptung an, dass nicht der Alkohol,
sondern nur die grosse Flüssigkeitsauf¬
nahme das Herz des Biertrinkers schädige,
und das sogenannte „Bierherz“ veranlasse.
Dagegen spricht schon von vornherein das
Vorkommen des Bierherzens bei Schnaps¬
trinkern ohne reichliche Flüssigkeitsauf¬
nahme und weiterhin die übereinstimmen¬
den Beobachtungsergebnisse, dass die
reichlichen Wassermengen nur in Verbin¬
dung mit überreichlicher Ernährung zur
Vermehrung der Blutmenge, zur wirklichen
Vollblütigkeit und dadurch zum Herzleiden
führten. Das aufgenommene Wasser wird
überraschend schnell durch die Nieren
entfernt, beim Diabetes, wo unglaubliche
Wassermengen oft aufgenommen werden,
bleibt das Herz unverändert davon. Frei¬
lich hat das Herz nach starker Wasser¬
aufnahme mehr zu leisten als gewöhnlich,
allein es compensirt diese stärkere In¬
anspruchnahme durch Erhöhung der Puls¬
zahl und Vermehrung der Blutmenge, die
jede Herzkontraktion auswirft. Nun fragt
sich, ob die Mehrarbeit, die das Herz nach
grossem Wassergenusse zu leisten hat,
diesen gewaltigen Reservekräften gegen¬
über nennenswert in Frage kommen kann.
Da die Ausscheidung durch die Nieren
aber nicht einfach ein vom Druck abhän¬
giger Filtrationsvorgang ist, so ist die dazu
erforderliche Herzarbeit also nicht so ohne
weiteres zu messen. Alles spricht dafür,
dass die isolirte Einwirkung grosser Flüssig¬
keitsmengen die Regulirungsmöglichkeiten
der Herzthätigkeit und der Ausscheidung
unter normalen Verhältnissen nicht über¬
steigt. Dass sie bei gleichzeitiger Einwir¬
kung anderer schädigender Factoren nicht
gleichgiltig ist, muss aber daneben betont
werden. Aber dann hat man erst recht
nicht die Möglichkeit, von einer einfach
mechanisch erklärbaren Wirkung zu
sprechen. Die Kreislaufverhältnisse sind
so komplicirt, dass sich die hydro* dynami¬
schen Sätze nicht so einfach auf sie an¬
wenden lassen. Ein ganz verfehlter Ver¬
such ist z. B. die Darstellung von Smith,
der die Herzwirkung des Alkohols nur aus
den Veränderungen, die der Alkohol am
Gefässquerschnitt erzeugt, erklären .will.j
Was wir wissen, ist Folgendes: 1. die be¬
kannten, durch die klinische Beobachtung
wie durch das Experiment gefundenen
Thatsachen sprechen dagegen, dass Herz¬
veränderungen, die das bekannte Bild des
„Bierherzens“ zeigen, nur durch über¬
mässige Flüssigkeitsaufnahmen zu Stande
kommen können und 2. weder die Herz¬
veränderungen, die der Alkohol aner¬
kannter Weise erzeugt, noch die, die einige
Autoren als Folge übermässiger Flüssig¬
keitsaufnahme hinstellen zu dürfen glauben,
lassen .sich bis jetzt aus ihren Ursachen
mechanisch erklären und construiren.
J. Marcuse (Mannheim.
Referate.
Halkin hat in Neisser’s Klinik ex¬
perimentelle und klinische Untersuchungen
über die Wirkung der Becquerelstr&hlen
auf die Haut und deren eventuelle thera¬
peutische Verwendung angestellt. Es er¬
gab sich, dass die Wirkung der Strahlen
auf die Gewebselemente ziemlich analog der
der Roentgenstrahlen ist. Sie wirken zu
gleicher Zeit auf die Epithel-, die Binde¬
gewebszellen und die Gefässe. Es ent¬
stehen Gefässerweiterungen, aber zunächst
wenigstens ohne nennenswerthe entzünd¬
liche Veränderungen, wahrscheinlich be¬
dingt durch Veränderung der Wand. Ent¬
zündliche Veränderungen treten wohl
wesentlich secundär hinzu. Therapeutisch
hat Halkin bei Lupus vulgaris Versuche
gemacht, allein es zeigte sich, dass zwar
eine sehr intensive Oberflächenwirkung,
aber so wenig Tiefenwirkung zu erzielen
ist, dass wohl für die Behandlung des
i Lupus vulgaris von dieser Methode nicht
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
November
Die Therapie der
viel zu erwarten ist. Vielleicht ergiebt ;
sich bei weiteren Versuchen, dass der !
Lupus erythematodes und andere ober- |
flächliche Dermatosen den Strahlen zu- I
gänglicher sind. Buschke (Berlin). ;
(Arch. f. Derm. u. Syph. Bd. 65 Heft 2.)
ln einem sehr bemerkenswerthen Auf¬
satz der „Deutschen Klinik“ hat Casper
seine reichen Erfahrungen über Bla86n-
tuberkulose niedergelegt. Was zunächst
die Entwickelung des Leidens betrifft, so
ist häufig die Erkrankung der Blase se-
cundär, abhängig von einer primären Lun- j
genaffection, vor Allem aber von Nieren-und i
Genitaltuberkulose. Allein auch primär i
erkrankt das Organ. Sehr bemerkenswerth
ist die Angabe des Autors, welche auch i
mit den Erfahrungen des Referenten (cf. i
die chronische Gonorrhoe in „Deutsche i
Klinik“) conform ist, dass die Gonorrhoe '
bei tuberkulös disponirten Individuen den
Ausgangspunkt einer Blasentuberkulose
darstellen kann; länger dauernde Cystitiden
solcher Individuen nach wesentlicher Ab¬
heilung der gonorrhoischen Erscheinungen
müssen immer den Verdacht erwecken und
veranlassen, genau nach dieser Richtung
zu untersuchen. Es würde den Rahmen
eines Referates überschreiten, wenn ich
das von Casper bezüglich der Anatomie
and Symptomatologie Vorgebrachte hier
ausführlich berichten wollte. Bezüglich i
der Behandlung tritt bei secundärer Blasen¬
tuberkulose oft nach Entfernung des pri¬
mären Hauptheerdes z. B. Nierenexstir¬
pation Spontanheilung oder doch schneller
Heilung ein. Im Uebrigen kommen in
erster Linie allgemeine oder hygienisch¬
diätetische Maassnahmen, Aufenthalt in
warmem gleichmässigen Klima in Betracht.
Des weiteren empfiehlt Caspar zur Reiz¬
linderung und Ruhigstellung der Blase Mor¬
phium und Belladonna, innerlich eventuell
Creosot, Ichthyol (auch ev. in Form von
Oelklystiren) und Guajacolcarbonat. Die
Lokalbehandlung muss sehr vorsichtig ge- |
handhabt werden, besonders darf die Blase
nicht sehr dilatirt werden. Er empfiehlt
5—50ccm zu injiciren; als Medikamente hier¬
für eignen sich 20procent. Milchsäure, die
aber sehr leicht irritirt, oder Sublimat
( x ioooo —Viooo)- Die Instillationen werden
ein- bis zweimal wöchentlich gemacht.
Keinesfalls darf diese Behandlung forcirt
werden, weil sie sonst verschlechternd
wirkt. In Bezug auf operative Eingriffe
äussert sich Casper sehr reservirt; sie
sind bei circumscripten Herden zulässig,
aber nicht endovesical. (Referent hat auch
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Gegenwart 1903. 521
gelegentlich Jodoformemulsionen als In-
jectionsmittel mit Vortheil verwendet.)
Buschke (Berlin).
In seinem Aufsatz „Beiträge zur Lehre
über den Einfluss thermischer Anwen¬
dungen auf das Blutgefäss System“ zeigt
A. Martin, dass die Application von Eis¬
beuteln längs der Wirbelsäule Verengerung
der Hautgefässe der Extremitäten, antago¬
nistische Erweiterung (wahrscheinlich durch
Wirkung der Dilatatoren) der Muskelgefässe
auftritt. Eine secundäre Erweiterung der
Hautgefässe war auch bei längerer Dauer
der Application nicht festzustellen.
Lüthje (Tübingen).
(Zcitsclir. f. diät. u. phys. Ther. Bd. VII, 3 )
Baermann hat auf Neisser’s Klinik
28 Fälle von gonorrhoischer Epididy-
mitls • auf ihren Gehalt an Gonococcen
untersucht und gleichzeitig therapeutische
Versuche mittelst Punktion ausgeführt. Es
ergab sich, dass in jedem Falle, auch wenn
keine Abcessbildung vorlag, Gonococcen
im Nebenhoden nachweisbar waren. Hier¬
mit ist die wichtige und viel ventilirte
| Frage, ob die gonorrhoische Epididymitis
I durch das Eindringen von Gonococcen
hervorgerufen wird, gelöst. Ebenso konnte
der Autor den Nachweis liefern, dass die
im Verlauf der gonorrhoischen Epididy¬
mitis gelegentlich auftretende entzündliche
Hydrocele durch Gonococcen selbst hervor¬
gerufen wird. In Bezug auf die hierauf
angestellten therapeutischen Versuche
empfiehlt Baermann bei Epididymitis mit
sehr starken entzündlichen Erscheinungen
im Nebenhoden die Punktion, weil hierbei
eventuell Pseudoabscesse im Nebenhoden,
oder im Bindegewebe sitzende Abscesse ent¬
leert und event. auf diese Weise weitere
Einschmelzungsvorgänge mit consecutiver
Narbenbildung coupirt werden. Auch
die Punktion der entzündlichen Hydrocele
empfiehlt der Autor, weil hierdurch die
Circulationsverhältnisse gebessert werden.
Die Punktion des Nebenhodens wird mit
einer sterilisirten Glasspritze ausgeführt,
welche eine 8 cm lange Canüle von mässig
weitem Lumen hat. Der Nebenhoden wird
mit der linken Hand gespannt und die
Nadel senkrecht durch die Länge des
ganzen Nebenhodens eingestochen, und
unter langsamem Zurückziehen wird aspirirt.
Von grosser praktischer Bedeutung ist
auch, dass sich in alten Epididymitis-
heerden Gonococcen finden können, und so
hier lange Infectionsheerde bestehen können.
! Die oben geschilderte Punktion ist aller-
66
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
November
522 Die Therapie der Gegenwart 1903.
dings nach den Angaben des Autors ziem¬
lich schmerzhaft. Buschke (Berlin).
(Deutsche medicinische Wochenschrift No. 40.)
In neuester Zeit traten mehrere Autoren
mit der Behauptung hervor, dass die
Laparotomie auf den Verlauf und die
Heilung der tuberkulösen Peritonitis
gar keinen günstigen Einfluss ausübe und
Borchgrerink hält den Eingriff oft ge¬
radezu für schädlich. Aus diesem Grunde
erscheint es zweckmässig, durch neue
Untersuchungen diese Streitfrage zu lösen.
Schramm ist der Ansicht, dass man hier
nicht durch das Thierexperiment, sondern
dadurch Klärung bringen kann, dass man
die operirten und innerlich behandelten
Fälle nicht nur während des Aufenthaltes
im Krankenhause, sondern auch nach dem
Verlassen desselben längere Zeit verfolgt.
Das Material des Verfassers bezieht sich
auf 45 Fälle (25 Knaben und 20 Mädchen
im Alter von 1—12 Jahren). Von diesen
wurden 25 mit den üblichen internen und
äusserlichen Mitteln behandelt, während
bei den übrigen 20 die Laparotomie zur
Ausführung kam. Von den nicht operirten
starben im Krankenhause 9 Kinder binnen
einer Woche bis sechs Monaten an fort¬
schreitender Tuberkulose und allgemeiner
Entkräftung; von den operirten dagegen
nur 2 (ein Knabe an acuter Pneumonie
und ein Mädchen, bei welchem wegen ulce-
röser Processe ein grosses Darmstück re-
secirt wurde und wo sich eine Kothfistel
ausbildete, nach Ablauf von drei Wochen
an Erschöpfung).
Der Werth beider Methoden tritt noch
deutlicher zu Tage, wenn man die mannig¬
fachen Krankheitsformen gegenüberstellt.
Von 28 Patienten mit exsudativer Peri¬
tonitis, die wie allgemein anerkannnt wird,
am ehesten zur Spontanheilung neigt,
wurden 17 innerlich und II operativ be-
. handelt. Von den ersteren starben im
Krankenhause 6, von den letzteren nur 1
(an Pneumonie), Bei der Peritonitis mit
wenig oder ohne Erguss, dagegen mit
starken Verdickungen des Bauchfells, Ver¬
wachsungen und ausgedehnten tuberkulösen
Infiltraten stellt sich das Verhältniss wie
folgt dar: Von den 7 intern behandelten
Kindern starben 2, die übrigen wurden
mit geringer Besserung entlassen, während
alle 6 operirten Patienten am Leben blieben.
Die ulceröse Peritonitis endlich wurde
4 mal beobachtet; ein Kind starb vor der
Operation, von den 3 laparotomirten ge¬
nas ein Mädchen vollkommen, das zweite
wurde mit einer Eiterfistel entlassen und
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das letzte starb an den Folgen einer Koth¬
fistel.
Um sich über das weitere Schicksal
der Patienten zu orientiren, zog Schramm
nach Ablauf von mindestens 1 Jahre Er¬
kundigungen ein, was ihm in 10 intern und
13 operativ behandelten Fällen gelang.
Von den ersteren starben 8, die übrigen 2
blieben krank; von den laparotomirten
starben 3, die übrigen 10 sind vollkommen
gesund. Auf die einzelnen Formen ent¬
fielen; 1. Exsudative Peritonitis. Von
den nicht operirten 5 Kindern sind 3
gestorben und 2 krank geblieben, von den
operirten 6 Patienten jedoch sind alle ge¬
sund. 2. Peritonitis mit Verwachsun¬
gen und Infiltraten. Vier nicht lapa-
rotomirte sämmtlich todt, während von 4
operirten eins gestorben, die übrigen 3
gesund geblieben sind. 3. Peritonitis
ulcerosa: Von 3 operirten ist eins gesund,
zwei sind gestorben. Schon diese Statistik
lehrt, dass die Laparotomie sich bei jeder
Form der tuberkulösen Bauchfellentzün¬
dung als wirksames, curatives Mittel er¬
weist und dass die exsudative Peritonitis
die beste Prognose giebt.
Zum Schluss erläutert Schramm die
Theorien über die Wirkungsweise der La-
| parotomie (wobei auch er die Hyperämie
I für das wirksame Agens hält) und giebt
eine genaue Beschreibung der Operations¬
technik. M. Urstein (Heidelberg).
(Prozeglad lekarski No. 41, 1902.)
Die chirurgische Therapie der Lungen-
erkrankungen hat gerade in den letzten
Jahren eine sehr wesentliche Förderung
sowohl von chirurgischer wie von interner
Seite erfahren. Ich erinnere nur an die
interessanten Erörterungen in der 73. Ham¬
burger Naturforscher-Versammlung, welche
sich an die bedeutenden Vorträge von
Quincke und Garr£ angeschlossen haben
und die Curschmann damals mit Recht
als einen „Markstein in der Behandlung
der Lungenkrankheiten“ gekennzeichnet
hat. Wenn irgendwo, so ist hier ein Zu¬
sammengehen von Chirurgen und Internisten
am Platz, wo auf scharfe Diagnose von
Wesen und Sitz des Krankheitsheerdes so
viel ankommt. Die Indicationssteliung zum
chirurgischen Eingriff, die in den meisten
Fällen wohl zunächst dem internen Arzt
obliegt, ist hier von hervorragender Be¬
deutung, und in dieser Hinsicht ist der
Karewski’sche Beitrag zur chirurgischen
Behandlung der Lungen&bscesse in ver¬
schiedener Beziehung lehrreich.
Die internen Aerzte sehen den Lungen-
Qrigiraal fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
November
523
Die Therapie drr Gegenwart 1903.
abscess im Allgemeinen als seltene Folge¬
erkrankung der croupösen Pneumonie
an, wie das auch A. Fränkel in seiner eben
im Erscheinen begriffenen speciellen Patho¬
logie und Therapie der Lungenkrankheiten
ausdrücklich hervorhebt, indem er darauf
hinweist, dass bei 760 Pneumonikern seiner
Abtheilung nur llmal, d. h. in 1,5%, ein
Lungenabscess eingetreten sei! Die Chi-
rungen sahen unter den Lungenabscess-
fällen, die sie in die Hand bekamen, die
Pneumonie als viel häufigeres ätiologisches
Moment, so Tuffier 23mal in 49 Fällen
und Karewski 5mal in 14 Abscessfällen
Indess darf man aus naheliegenden Grün¬
den die Zahlen der Chirurgen nicht neben
diejenigen der Internisten stellen. Die
Frage, ein wie grosser Procentsatz der
Lungenabscesse durch Pneumonie ver¬
ursacht wird, deckt sich nicht mit der Frage,
ein wie grosser Procentsatz der Pneumonie¬
kranken an Lungenabscess erkrankt! Ka- |
rewski führt die Zahlen der Chirurgen
als Beweis dafür an. dass es mit der
Spontanheilung der metapneumonischen
Abscesse doch nicht so günstig bestellt
sei, wie das z. B. A. Fränkel annimmt.
Indess sind auch wohl in diesem Punkt die
Erfahrungen der Internisten maassgebender,
weil eben die günstig verlaufenden und
bald in Spontanheilung übergehenden meta¬
pneumonischen Abscesse dem Chirurgen
nicht so leicht überliefert werden. Wohl
möglich, dass sich das nun mit den Fort¬
schritten der Lungenchirurgie ändern wird,
dann werden aber vermuthlich eher die j
Chirurgen ihre Zahlen im Sinne der Internen I
zu ändern haben! (
Die aus der Influenzapneumonie hervor¬
gehenden Lungenabscesse sind dem Inter- ;
nisten und Chirurgen gleich unangenehm:
Ersterem, weil sie viel seltener zur Spontan¬
heilung und oft genug zur Gangrän kom- ;
men, letzterem, weil sie wegen ihrer Multi- ;
plicität schlechtere Prognose für operative
Eingriffe geben. |
Bei den in ihrem Verlauf so unerfreu¬
lichen Fremdkörperabscessen sieht Ka¬
rewski nur dann einen chirurgischen Ein¬
griff indicirt, wenn der aspirirte Fremd¬
körper bereits vorher per vias naturales
entfernt ist, denn unter 14 operirten Fällen
von Abscess mit Fremdkörpern gelang es
nur bei zweien durch Pneumotomie den j
Fremdkörper aus dem Abscess zu entfernen.
Die glücklicherweise seltenen Lungen¬
abscesse durch septische Embolieen sind
gewöhnlich für chirurgische Eingriffe unge- j
eignet, schon deshalb, weil es sich dabei i
meist ummultiple Abscesse handelt. Solche
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sind ja überhaupt immer für den chirur¬
gischen Eingriff* weniger günstiger als soli¬
täre, wie sie z. B. durch Arrosionen der ,
Lunge in Folge von Eiterungen in der
Nachbarschaft entstehen.
Unter Berücksichtigung dieser Gesichts¬
punkte, die die ätiologische Seite der
Abscessbildung zur Grundlage haben, ver¬
tritt nunmehr Karewski den Standpunkt,
dass der chiiurgische Eingriff dann indicirt
ist, „wenn mit Sicherheit die Diagnose ge¬
stellt ist, und wenn schwere Allgemein¬
erscheinungen nicht schnell vorübergehen,
oder aber wenn sie nach dem glücklichen
Ereigniss des Spontandurchbruchs von
neuem auftreten“. Darin liegt anderer¬
seits die Anerkennung einer Berechtigung
in den nicht gerade bedrohlichen Fällen,
zunächst einmal den Spontandurchbruch,
also die Spontanheilung abzuwarten,
und das sei hier hervorgehoben; denn
glücklicherweise ist doch die Zahl der
Fälle nicht gering, wo dieselbe eintritt,
auch ohne dass sich Zeichen einer chro¬
nischen Sepsis, Hirnabscesse, metastatischer
Gelenkentzündungen und dergl. einstellen!
Eine Spontanheilung wird, wie Karewski
auch hervorhebt, unterstützt durch jugend¬
liche Elasticität der Brustwand oder aber
durch den Sitz des Abscesses in den Lun-
genspitze^wegen des günstigeren Abflusses
nach den Bronchieen, sofern der Abscess
klein ist; ist derselbe gross, so bietet
seine Localisation in den unteren Tho¬
raxabschnitten günstigere Heilungsbedin¬
gungen. — Darin wird indess wohl die
Mehrzahl der Internisten Karewski recht
geben, dass Fälle, in welchen die spontane
Oefinung nicht schnell erfolgt, oder in wel¬
chen nach der Oeffnung kein schnelles Zu¬
rückgehen a**er Erscheinungen oder un¬
vollkommene Entleerung des Eiters zu
merken ist, den chirurgischen Eingriff ver¬
langen. Die Gefahr bei verhältnissmässig
frischen, acuten Abscessen, dass durch die
Operation Eitererreger in die Pleurasäcke
gelangen und dort Empyeme hervorrufen,
kann durch die Operationstechnik ver¬
mieden werden. — Zur Beurtheilung des
Dauerresultats scheint es uns übrigens
wünschenswerth, noch grössere Erfahrun¬
gen zu sammeln und bekannt zu geben,
um die Chancen der Spontanheilung gegen¬
über der Heilung durch chirurgischen Ein¬
griff richtig abzuwägen. Jedenfalls soll der
Arzt bei jedem sicher diagnosticirten Lungen¬
abscess ernsthaft mit sich zu Rathe gehen,
ob er es verantworten kann, Spontanheilung
abzuwarten ohne Multiplicität oder Chroni-
cität der Eiterung zu riskiren, oder ob er
66 *
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
524
Die Therapie der Gegenwart 1903.
November
den Kranken dem Chirurgen Oberantworten
soll. „Der Schwerpunkt des erfolgreichen
Handelns liegt in der rechtzeitigen Erken¬
nung der Abscesse“, sagt Karewski und
darin hat er sicher Recht!
F. Umber (Altona).
Die Thatsache, dass die Salicylsäure
und ihre verwandten Präparate die Ver¬
dauungsorgane oft nicht unerheblich beein¬
trächtigen, war von jeher ein Ansporn, nach
Ersatzpräparaten zu suchen, in denen die
für uns ja so gut wie unentbehrlich gewor¬
dene Salicylsäure in einer chemischen Bin¬
dung erhalten ist, durch welche die un¬
angenehmen Nebenwirkungen möglichst
ausgeschaltet werden. So entstand vor
Allem die acetylirte Salicylsäure (Aspirin),
ferner die Verbindung von Salicylsäure und
Antipyrin (Salipyrin), von Acetylsalicyl¬
säure und Antipyrin (Acetopyrin), der
salicylsäure Phenoläther (Salol) u. a. m.
Eines der allerjüngsten hierher gehörigen
Präparate ist der Metoxymethylester der
Salicylsäure, das Mesotan, das auf die Haut
aufgepinselt wird und percutan zur Re¬
sorption kommt. Ueber dieses Präparat sind
bereits mehrfach, zum Theil auch in dieser
Zeitschrift, Erfahrungen mitgetheilt, die eine
gute Salicylwirkung anerkennen und im
Allgemeinen günstig lauten. Die Erfahrun¬
gen an der Naunyn’schen Klinik (Kayser)
mahnen indessen auch zur Vorsicht bei i
Anwendung dieses bisher so gut wie un¬
bescholtenen Salicylpräparates. In drei
Fällen stellten sich in Folge seiner Anwen¬
dung (Einreibungen von Mesotan-Olivenöl,
2 —3 Mal tägl. 1 Theelöffel voll über den
erkrankten Körpertheil), recht hochgradige
bullöse Dermatitiden ein, und allgemeine
urticariaähnliche Hautausschläge gehörten
besonders bei Frauen „zu den Alltäglich¬
keiten“. Deshalb empfiehlt Kayser das
Mesotanöl (Mesotan, Ol. oliv, ana) aufzu¬
pinseln und zwar 2 Mal 1 Theelöffel voll am
Tage; ein Verband von nicht entfetteter
Watte soll die stets zu wechselnde Appli-
cationsstelle in der Nähe des befallenen
Gelenkes bedecken. Im Uebrigen erkennt
Kayser gute und rasche Heilerfolge des
Mittels bei acuten und subacuten rheuma¬
tischen Affectionen der Gelenke, Muskeln
und Nerven sowie seine schmerzstillende
Wirkung an. F. Umber (Altona).
Versuche über intravenöse Sauerstoff-
infosion bei Hunden hat E. Stuertz ge¬
macht. Die Versuche ergaben, dass Sauer¬
stoffinfusionen mit einer Geschwindigkeit
bis zu Vs des O-Bedürfnisses der Thiere
keine Lebensgefahr bedingen, auch bei
15 Minuten langer Dauer nicht. Grössere
Infusionsgeschwindigkeiten sind mehr oder
weniger gefährlich, namentlich bei nicht
ganz intactem Herzen. Bei zu starken und
schnellen Infusionen können auch auf¬
tretende Herzdilatationen zur plötzlichen
Todesursache werden.
In wie weit sich die intravenöse Sauer¬
stoffinfusion therapeutisch beim Mensehen
wird verwerthen lassen, ist noch unsicher;
jedenfalls wird sie nur anwendbar sein bei
Leuten mit ganz gesundem Herzen, wenn
z. B. in Folge einer hochgradigen Fremd¬
körperstenose der Luftwege oder durch
Lähmung der Athemmuskeln plötzlich sehr
hohe Lebensgefahr auftritt.
Lüthje (Tübingen),
(Zeitschr. f. diät. u. physik. Ther. Bd. VII, 2 u. 3).
Zur Prophylaxe gegen Scharlach-
nephritis empfiehlt Widowitz die Dar¬
reichung von Urotropin. In 102 Fällen von
Scharlach gab er bei Beginn der Erkran¬
kung an 3 aufeinanderfolgenden Tagen eine
dem Alter des Kindes entsprechende Dosis
(0,05—0,5) und ebenso zu Beginn der
dritten Woche dieselbe Dosis wieder durch
3 Tage. In keinem einzigen der so behan¬
delten Fälle trat eine Nephritis auf. Ja
sogar in 2 Fällen, in denen früher kein
Urotropin verabreicht worden war und bei
denen grössere Mengen von Eiweiss im
Harne constatirt wurden, verschwanden die¬
selben prompt nach Urotropindarreichung.
H. W.
(Wiener klin. Wochenschrift, No. 40.)
Max Einhorn berichtet über die Be¬
handlung der Sitophobie und derlnanition.
Unter „Sitophobie“ versteht Verfasser einen
Zustand, in welchem aus Furcht vorSpeisen
zu wenig Nahrung eingenommen wird;
man begegnet in der That derartigen
Kranken sehr häufig, namentlich in den
besser situirten Klassen. Infolge der Furcht,
es könnten nach der Nahrungsaufnahme
Schmerzen oder unangenehme Empfindun¬
gen auftreten, reduciren derartige Patienten
ihr Nahrungsquantum immer mehr. Aber
nicht selten — und das hätte nach An¬
sicht des Referenten noch hinzugefügt
werden können — sind unsere modernen,
übermässig detaillirten, manchmal bis ans
Lächerliche streifenden diätetischen Vor¬
schriften gegenüber den Patienten die Ur¬
sache dieser psychogenen Hyperästhesie.
Derartige Patienten wissen schliesslich
überhaupt nicht mehr was sie essen sollen:
der eine Arzt hat ihnen dies, der andere
das, der dritte jenes verboten, resp. er¬
laubt. Es bildet sich eine Art von Sug-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
November
Die Therapie der Gegenwart 1903. s 2~
gestionszustand heraus, hervorgerufen durch Zustände ein allmäiiges Angewöhnen an
die übertriebenen diätetischen Vorschriften, eine kompaktere und mannigfaltigere Nah-
Das ist die Schattenseite der modernen . rung unter entsprechender Suggestion und
Ernährungstherapie — eine Ernährungs- erzieherischer Beeinflussung des Patienten,
therapie hat es immer gegeben. Lüthje (Tübingen).
Verfasser empfiehlt zur Heilung dieser (Zeitschr. f. diät. u. phys. Ther. Bd. vn, 4 >
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Zur Anwendung des Thiosinamins.
Von Prof. E. ROOS- Freiburg i. B.
Im Anschluss an die Abhandlung Le-
wandowski’s „Ueber Thiosinamin und
seine Anwendung“ im Oktober-Heft dieser
Zeitschrift möchte ich kurz über einige Ver¬
suche berichten, die ich im Sommer 1902
mit der Substanz angestellt habe. Durch
die bisherigen, von Lewandowski aus¬
führlich wiedergegebenen Mittheilungen in
der Litteratur *) über die narbenerweichende
Wirksamkeit des Thiosinamins wurde ich
veranlasst, zu untersuchen, ob sich damit
vielleicht eine Einwirkung auf Herzklappen¬
fehler narbiger Herkunft erreichen lassen
würde. Es liegt ja theoretisch durchaus
im Bereiche der Möglichkeit, dass durch ein
solches Mittel, das nach den Angaben der
Autoren Narbengewebe specifisch lockernd
beeinflusst, die bessere Entfaltbarkeit eines
narbig geschrumpften Klappensegels oder
Sehnenfadens, oder die Lockerung eines
derben stenosirenden Ringes wie bisweilen
bei Mitralstenosen oder ähnlicher Circula-
tionshindernisse erreicht und damit eine
bessere Klappenfunction erzielt werden
könnte. Auch pericarditische Verwach¬
sungen, wie sie Brauer neuerdings durch
die von ihm Kardiolyse genannte Operation
mit Erfolg behandelt, 2 ) sollten in den Be¬
reich der Versuche gezogen werden.
Ich begann die Thiosinamininjectionen
bei einem Falle von Lebercirrhose mit star¬
kem Ascites, um zu sehen, ob die binde¬
gewebige Schrumpfung des für das Portal¬
blut fast undurchgängig gewordenen Or¬
gans vielleicht gelockert werden könnte.
Leider entzog sich der empfindliche Patent
offenbar wegen der Schmerzhaftigkeit der
Injection der 15%igen alkoholischen Lösung,
die Anfangs verwendet wurde, rasch der
Behandlung. — Auch meine bisherigen Er¬
fahrungen bei Herzfehlern sind nur klein,
die Versuche wurden ein ganzes Jahr unter¬
brochen und sind erst neuerdings, auch an
Thieren wieder aufgenommen worden. Da
aber durch die Lewandowski’sche Publi-
! ) Vergl. auch die Literaturzusammenstellung von
Teleky, Centralbl. f. d. Grenzgebiete d. Med. u.
Chir. 1901, IV. Bd. S. 32.
a ) Vergl. das Referaf im Octoberheft S. 477.
’ cation die Frage jetzt in Fluss zu kommen
! scheint, möchte ich einstweilen wenigstens
kurz über die im vergangenen Jahre ge-
! machten Erfahrungen berichten. Bisher
wurden drei Fälle von Herzfehlern, aus¬
schliesslich Mitralinsufficienzen sicherlich
entzündlichen Ursprungs, die keine schwe¬
ren Störungen machten, behandelt. Bei
| einem 19jährigen, sonst kräftigen Mädchen,
das im 11. Jahre einen acuten Gelenkrheu¬
matismus ohne spätere Recidive überstanden
hatte und seit dieser Zeit öfters an Atem¬
beschwerden und Herzklopfen litt, wurde
die Cur neun Wochen durchgeführt. Pa-
| tientin kam drei Wochen vor Beginn der¬
selben wegen Zunahme der Beschwerden
, in Beobachtung und hielt sich in dieser
Zeit sehr ruhig, ohne dass erhebliche Besse-
; rung eintrat. Ich begann mit den Injec-
I tionen sehr vorsichtig und nur allmählich in
! der Dosis steigend, da Bekess, 1 ) der ein
| lOjähriges Kind mit Vitium cordis wegen
j Drüsentumoren, ohne auf den Herzfehler
; besonders zu achten, mit dem Mittel be¬
handelte, während der Cur die Endocarditis
wieder acut werden sah. Er lässt es unent-
| schieden, ob dies durch die Einspritzungen
veranlasst wurde. Bei meinen drei Fallen,
bei denen der entzündliche Process an den
Klappen beim ersten acht Jahre, bei den
beiden anderen viel längere Zeit zurück¬
liegt, ist so etwas nicht eingetreten. Es
kam zwar vereinzelt zu etwas erhöhten
Temperaturen, aber nie trat ein wirklich
fieberhafter Zustand ein oder es entwickel¬
ten sich Zeichen des Aufflackerns der alten
Entzündung am Herzens. Das subjective
Befinden, wie das auch die meisten der
j bisherigen Beobachter bei Behandlung an¬
derer Aftectionen mit dem Mittel angeben,
I besserte sich in allen Fällen während der
Kur, und der Appetit sowie die Neigung,
sich zu bewegen, wurde grösser. Drei
Wochen nach Beginn der Injectionen machte
die Patientin trotz anfänglicher Abmahnung
grössere Touren mit Steigungen, ohne vom
j Herzen, wie sie sich ausdrückte, das
, geringste zu spüren. Anfänglich wurde die
| f. Kinderheilkunde 18. Bd. S. 439.
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526
November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
15%ige alkoholische Lösung gegeben, mit
0,3 ebem anfangend, jeden dritten Tag um
zwei Striche steigend, später wegen der
Schmerzhaftigkeit der alkoholischen Injec-
tionen die weniger unangenehme Lösung
von 10 Thiosinamin in 20 Theilen Glycerin
und 70 Wasser angewendet. Aus dieser
fallen zwar manchmal bei mehrtägigem
Stehen Thiosinaminkrystalle aus, doch wer¬
den sie bei gelindem Erwärmen der Flasche
rasch wieder gelöst. Von der dritten Woche
ab wurde jeden zweiten, manchmal nur jeden
dritten Tag eine Spritze davon gegeben,
einmal als Abendtemperaturen von 37,7°
(Achsel) auftraten, einige Tage pausirt. Der
Puls blieb dabei immer kräftig und regel¬
mässig (70—80). In der fünften und sechsten
Woche erhielt die Patientin jeweils fünf
Tage nach einander je 0,1 g Thiosinamin
eingespritzt und, um das Herz eher zu ver¬
anlassen, mechanisch an der Verbesserung
der Klappe mitzuwirken, von der Mitte der
sechsten Woche ab sieben Tage lang jeweils
zweimal täglich 0,1 g Pulvis fojior. Digi¬
talis.
Durch diese Cur wurde sie immerhin
etwas angegriffen und müde. Das Herz
selbst hielt sich gut, blieb regelmässig, die
Pulsfrequenz betrug 65—75 Schläge. Was
den objectiven Befund anlangt, so schwankte
die Intensität des sehr scharfen, langen und
lauten systolischen Geräusches während
<ler Cur, wie das auch sonst der Fall ist.
Es machte aber am Schlüsse durchaus den
Eindruck, als ob der erste Ton, der Anfangs
völlig in dem Geräusche unterging, deut¬
licher wurde, sich mehr von dem Geräusche
absetzte. Die zweifingerbreit die Mam-
millarlinie nach links überschreitende, auch
etwas nach rechts verbreiterte Dämpfung
blieb während der Zeit der Beobachtung
unverändert. Der Urin war immer eiweiss¬
frei, zeigte nur manchmal beim Erwärmen
mit verdünnter Salpetersäure eine auffallend
röthliche Färbung. Patientin verliess zehn
Wochen nach Beginn der Cur, im August
1902, bei recht gutem Befinden Freiburg
und ist seither nicht mehr erreichbar.
Die beiden anderen Fälle, eine 52jährige
Frau und ein35jähriger Mann waren nur vier
resp. fünf Wochen in Behandlung, eine lür
eine allenfallsige objectiv nachweisbare
Besserung wohl kaum genügende Zeit. Die
Frau hatte schon im 19. Lebensjahr einen
Gelenkrheumatis mus durchgemacht und
später noch mehrere Anfälle. Seit ihren
zwanziger Jahren wirdsie beiAnstrengungen
leicht kurzathmig. Vom 25.—40 Jahre war
sie verheirathet und gebar fünf Kinder ohne
weitere Störungen. In den letzten Jahren
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leidet sie sehr an Herzklopfen und zuneh¬
mender Engigkeit. Bei Beginn der Behand¬
lung war das Herz ziemlich stark nach
rechts, weniger nach links verbreitert und
arbeitete beständig sehr unregelmässig, mit
häufigen, der Patientin fühlbaren frustranen
Contractionen. In der Gegend der Spitze
war meist ein deutliches systolisches Ge¬
räusch hörbar. Keine Oedeme. Die Injec-
tionen wurden ähnlich wie oben, aber wie
gesagt, nur vier Wochen durchgeführt. Das
Auffallendste dabei war, dass Patientin eine
starke Neigung zum Schlafen bekam und
in der Nacht auffallend lange und tief
schlief. Dies war ihr Anfangs sehr an¬
genehm, da sie in Folge der Herzunregel¬
mässigkeiten längere Zeit nur schlecht ge¬
schlafen hatte, später empfand sie die
Schlafneigung aber so lästig, dass sie die
Behandlung nicht weiter fortsetzen wollte.
Objectiv änderte sich am Herzen auch be¬
züglich der Unregelmässigkeiten kaum etwas.
Auch der Blutdruck blieb etwa derselbe.
Die Frau, die ihre Lebensweise — leichter
Dienst — nicht geändert hatte, fühlte sich
aber subjectiv gebessert, konnte rascher
gehen, ohne so schnell kurzathmig zu wer¬
den und fühlte auch sonst vom Herzen
weniger Belästigung. Ich dachte in erster
Reihe an die Möglichkeit, dass die Besse¬
rung vielleicht auf den längeren und ruhigen
Schlaf zurückzuführen sein könnte.
Jetzt, nach 15 Monaten, giebt die Pa¬
tientin an, das eben vergangene Jahr viel
besser als die letzten Jahre vor der Be¬
handlung verbracht zu haben. Sie führt
dies auch darauf zurück, dass sie in diesem
Frühjahr keinen Katarrh und Husten be¬
kam, wie sonst regelmässig. Sie sieht
besser aus, kann leichter als früher gehen
und Treppen steigen, ohne so stark Engig¬
keit zu bekommen und fühlt weniger vom
Herzen. Nur manchmal Nachts hat sie
stärkere Anfälle von Herzklopfen. Objectiv
ist das Herz nach links eher etwas grösser
geworden, nach rechts ziemlich unver¬
ändert. Das systolische Geräusch ist meist
deutlicher als früher zu hören, der 2. Pul¬
monalton accentuirt. Die Herzthäiigkeit ist
viel regelmässiger, manchmal folgen sich
30—40 und mehr Schläge ohne jedes Aus¬
setzen, dann aber kommen gewöhnlich
wieder einige Unregelmässigkeiten. Ira
Ganzen ist eine erhebliche Besserung gegen
das Vorjahr nicht zu verkennen. Ob die¬
selbe mit den Injectionen zusammenhängt,
ob sich vielleicht durch dieselben ein
Strömungshinderniss verringert hat oder
ob die Besserung aus einem anderen
Grunde erfolgte, ist natürlich nicht zu
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November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
52 7
entscheiden. 1 ) Jedenfalls hat die Frau
seit der Injectionscur keinerlei Be¬
handlung bedurft, was die Jahre vorher
fast immer der Fall gewesen war. Die
Schläfrigkeit nahm rasch ab, als die Ein¬
spritzungen ausgesetzt worden waren. Ich
füge zwei Sphygmogramme bei. Das erste
stammt aus der Zeit kurz vor der Behand¬
lung (Juli 1902), das zweite aus den letzten
Tagen (October 1903). Die Herzthätigkeit
ist, wie gesagt, jetzt nicht immer so regel¬
mässig wie auf dem Bilde. Doch lassen sich
mit Leichtigkeit solche regelmässigen Perio¬
den mit dem Sphygmograph fixiren.
Beim 3. Fall mit ebenfalls seit Jahren
Wochen konnte am Herzen objectiv eine
| Aenderung nicht wahrgenommen werden.
Das Jahr nach der Cur wurde vom Patien-
i ten gut verbracht und jetzt besteht etwa
derselbe Status, wie vor derselben. — Ich
1 hoffe, in absehbarer Zeit Weiteres mittheilen
zu können.
Es braucht wohl nicht erst betont zu
werden, dass diese wenigen Versuche weder
1 im positiven noch negativen Sinne etwas
Entscheidendes aussagen. Sie zeigen nur,
dass das Thiosinamin bei genügender Vor¬
sicht bei Herzfehlern narbiger NaturohneGe-
| fahr und anscheinend nicht ohne jede Aus-
i sicht auf Besserung versucht werden kann.
bestehender, gut compensirter Mitralinsuffi-
cienz, die ausser gelegentlichen geringen
Pulsunregelmässigkeiten keine Störungen
macht, zeigte sich Anfangs ebenfalls der
anregende Einfluss auf das Be finden. Später
trat eher ein Gefühl von häufiger Mattig¬
keit ein. Sonst verliefen die Injectionen
ohne weitere Störung, nur stellte sich an
der Aussenseite des Oberschenkels, in den
die Injectionen gewöhnlich gemacht wurden,
Anästhesie eines über handgrossen Bezirkes
ein, die wochenlang andauerte. Nach fünf
Bei einem 30 jährigen Mädchen mit lange
bestehenden Drüsenpaketen am Halse wurde
drei Wochen lang Anfangs jeden dritten,
dann jeden zweitenTag 1 ebem der 10%igen
Glycerinwasserlösungeingespritzt. Anfangs
fühlte sie sich durch die Injectionen etwas
angegriffen, später nicht mehr. Die Drüsen-
tumoren lockerten sich in den ersten HTagen
sichtlich und wurden weicher. In der letz¬
ten Woche trat aber eine weitere Besse¬
rung nicht mehr ein, so dass die operative
Entfernung vorgenommen wurde.
Ueber das Phthisopyrin und seine Verwendung bei fiebernden Tuberkulosen
Von Dr. E. Sobotta, Chefarzt der Johanniterheilanstalt Sorge (bei ßenekenstein).
Antipyretische Mittel sind in den Lungen¬
heilanstalten nicht gut zu entbehren. Trotz
aller Auswahl der sich meldenden Kranken
lässt es sich nicht vermeiden, dass gelegent¬
lich einmal fiebernde Kranke aufgenommen
werden, oder dass das Fieber bald nach
der Aufnahme auftritt. Nicht immer gelingt
es in solchen Fällen, durch Bettruhe und
reichliche Ernährung die Entfieberung her-
l ) Anmerkung bei der Correctur: Die
Regel war in den letzten 2 Jahren immer noch vor¬
handen, unregelmässig, oft mehrere Monate pausirend.
Die letzten 2 Male trat sie im Januar und Juni d. J.
ein, seither ist sie noch nicht wiedergekommen. Doch
hatte Patientin schon mehrmals kolikartige Schmerzen,
die sie auf das Ausbleiben derselben zurückführte.
Lm Unterleib objectiv nichts abnormes.
beizuführen, und die antipyretischen Mittel
sind gerade deshalb oft nothwendig, weil
das gänzliche Darniederliegen des Appetits
die Ernährung erschwert.
Einen Erfolg von dieser antipyretischen
Behandlung wird man sich bei dem chro¬
nischen Verlaufe der Tuberkulose natur-
gemäss allerdings nur in solchen Fällen
versprechen können, in denen die Körper-
| wärme nur wenig über die Fiebergrenze
hinausgeht, d. h. bei (Achselhöhlen ) Tem¬
peraturen von 37,3—38,0°. In diesen Fällen
erreicht man bei geeignetem diätetischen
Verhalten mit kleinen Dosen unserer ge¬
bräuchlichen Antipyretica meist den ge¬
wünschten Erfolg. Die Wahl des Fieber-
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528
November
Die Therapie der Gegenwart 1903.
mittels hängt hauptsächlich von individuellen
Verschiedenheiten ab, wenn auch einzelne
Mittel immer mit besonderer Vorliebe ge¬
braucht worden sind. In letzter Zeit scheint
das Pyramidon besonders bevorzugt zu
werden, das neben unbestreitbaren Vor¬
zügen indessen auch einige Nachtheile hat:
es beeinträchtigt bisweilen die Verdauung,
ruft gelegentlich Schweisse hervor und
versagt mitunter auch in leichten Fällen.
Kürzlich ist nun von der Simon'sehen
Apotheke in Berlin ein neues Fiebermittel,
das Phthisopyrin, in den Handel gebracht
worden, das aus Aspirin, Camphersäure
und Arsen besteht und in Tablettenform ge¬
liefert wird. Ich habe diese Phthisopyrin-
tabletten in der von mir geleiteten Lungen¬
heilanstalt Sorge in mehreren Fällen mit
gutem Erfolge angewendet: es versagte nur
bei Schwerkranken mit beträchtlichen Tem¬
peratursteigerungen, also in aussichtslosen
Fällen, die besser garnicht erst in die Heil¬
anstalt gekommen wären. In den günstigen
Fällen war die Wirkung auf die Körper¬
temperatur eine so prompte, dass weder
Arzt noch Kranke die Wirksamkeit des
Mittels bezweifelten.
Ich habe das Phthisopyrin gewöhnlich
auf 2—3 Tagesdosen vertheilt, indem ich
mit 3 Tabletten (jede enthaltend 0,1 Aspirin,
0,1—0,2 Camphersäure, 0 0005 Acid. arseni-
cos) anfing und allmählich bis zu 9 Ta¬
bletten anstieg, um dann allmählich wieder
herunterzugehen, bis auf 2 (oder 1) Tablette
täglich. Ueber den stechenden Geschmack
wurde nur einmal geklagt — die Klage ver¬
stummte, als das Mittel in Oblate gegeben
wurde. Beschwerden irgend welcher Art
traten nach dem Einnehmen niemals ein,
und selbst in einem mit Magenerweiterung
complicirten Falle, in dem die Ernährung
besondere Schwierigkeiten machte, wurde
das Phthisopyrin sehr gut vertragen.
Schweisse wurden nur bei einer Kranken
beobachtet, die auch nach Pyramidon
Schweisse bekam. In einem Falle hat das
Phthisopyrin sogar die bestehenden, aller¬
dings nur leichten Nachtschweisse unter¬
drückt.
Die Temperatur fiel alsbald nach den
ersten Dosen um einige Strich, ging bei
Steigerung der Dosis weiterhin herunter
und blieb nach Verminderung der Dosis
niedrig, um nach dem Aussetzen des Mittels
in normalen Grenzen zu bleiben.
Besonders günstig wurde das Körper¬
gewicht beeinflusst. Selbst ehe die Ent¬
fieberung erreicht war, wurde bei Tempe¬
raturen von 37,4 und 37,5 während des
Phthisopyringebrauchs eine leichteZunahme
des Körpergewichts regelmässig festgestellt,
während vor dem Einnehmen des Mittels,
dem Fieber entsprechend, das Körper¬
gewicht abgenommen hatte.
Nach den hier gemachten Erfahrungen
ist demnach das Phthisopyrin als ein sehr
brauchbares und werthvolles Hülfsmittel
zur Bekämpfung des Fiebers bei Tuberku¬
lösen zu betrachten. Dass es in vorge¬
schrittenen Fällen versagt, vermag seinen
therapeutischen Werth für die Mehrzahl der
Fälle nicht zu verringern. Die von Schrö¬
der gemachten günstigen Erfahrungen mit
Phthisopyrin (Ztschr. f. Tub. und Heilstätte
Bd. IV, 1 und Dtsch. med Wchschr. 1903
No, 21) kann ich somit vollauf bestätigen.
Besonders hinweisen möchte ich noch auf
die Thatsache, dass unter Phthisopyrin-
behandlung trotz bestehender Temperatur¬
steigerung das Körpergewicht gewöhnlich
zunimmt. Es liegt nahe, dies auf die Arsen¬
wirkung zurückzuführen. Für die Fieber¬
behandlung der Tuberkulösen ist Arsen
früher von Büchner und neuerdings von
Cy b u 1 s k i - Görbersdorf (Münch, med. Woch.
1903 No. 33) empfohlen worden: Cybulski
beobachtete bei Arsenanwendung eine
zweifellose Herabsetcung der Temperatur,
wenn auch die Erniedrigung nicht von
Dauer war, ebenso eine Erhöhung der
Appetenz, des Körpergewichts, Besserung
des subjectiven Befindens, ja sogar die Be¬
seitigung der Schweisse. Es liegt nahe,
anzunehmen, dass in dem Phthisopyrin die
Arsenwirkung noch unterstützt und ver¬
längert wird; das im Magen unlösliche
Aspirin wird, während und nachdem das
Arsen vom Magen resorbirt worden, seiner¬
seits im alkalischen Darmsaft langsam auf¬
gespalten und gelangt somit sehr allmählich
zur Wirkung, ohne dabei den Magen an¬
zugreifen, wie dies die Salicylpräparate zu
thun pflegen. Insofern ist diese Kombina¬
tion von Arsen, Aspirin und Camphersäure
der früheren von ten Kate Hoedemaker
angegebenen Zusammensetzung von Arsen
und Salicylsäure bedeutend überlegen.
Die bequeme Dosirung, die handliche
Tablettenform und der billige Preis (100 Ta¬
bletten kosten 3 M.) erleichtern die An¬
wendung des Phthisopyrin, das voraus¬
sichtlich eine dauernde Bereicherung unse¬
res Arzneischatzes vorstellt und in vielen
Fällen von fieberhafter Tuberkulose inner¬
halb und ausserhalb der Lungenheilanstalten
mit Vortheil zur Anwendung kommen wird.
Für die Redactioti verantwortlich: Prof. (i. Kl ein per er in Kerlin. — Verantwortlicher Redacteur fiir Orstt-rreicii-Ungarn:
Eugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfcld in Berlin. — Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Wien und Berlin.
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Die Therapie der Gegenwart
1903 herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer Decembör
in Berlin.
Nachdruck verboten.
lieber die Wurmkrankheit Ankylostomiasis und ihre Bekämpfung.
Von W. Zfllll-Berlin.
In früheren Jahren nahm der Darm¬
parasit Ankylostoma duodenale wesentlich
nur das Interesse der Aerzte in heissen
Ländern, in Europa meist nur in einzelnen
Bezirken mit Bergbau oder mit Ziege¬
leien in Anpruch. Die Kenntniss des Para¬
siten ist denn auch im Allgemeinen auf diese
Gebiete beschränkt geblieben. Ausserhalb
derselben hatten die Aerzte fast nie Ge¬
legenheit, Ankylostoma duodenale zu
finden oder über den Parasiten in Kliniken
an Kranken belehrt zu werden.
Die ausserordentliche Verbreitung in¬
dessen, welche die Ankylostomiasis in den
Jahren seit 1901 (weniger 1900) gerade auch
in unserem Vaterlande in dem rheinisch¬
westfälischen Steinkohlenrevier ge¬
funden hat, macht mit einem Schlage diese
Krankheit zu einer höchst actuellen und
wichtigen Frage. Die Maassregeln zu ihrer
Bekämpfung, welche seit Mitte Mai 1895
im Bezirke des Allgemeinen Knappschafts¬
vereins zu Bochum und seit dem 8. Mai
1896 des Königlichen Oberbergamtes in
Dortmund in Fluss kamen, mussten eine
weitgehende Verschärfung und Vertiefung
erfahren. Gegenwärtig wird die Ausbrei¬
tung der Krankheit in Rheinland-West¬
falen und ihre Ursachen durch metho¬
dische Untersuchungen genau festgestellt.
Die Ergebnisse, welche schon gewonnen
sind oder noch zu erwarten stehen, werden
unsere Kenntnisse über die Wurmkrank-
heit noch vielfach erweitern und, wie wir
hoffen können, zu einer wirksamen und
erfolgreichen, wenn auch mühevollen Be¬
kämpfung der Seuche führen. In Ungarn
und Belgien ist in den stark inficirten
Steinkohlen-Revieren gleichfalls der Kampf
gegen die Krankheit energisch aufge¬
nommen worden. Neuerdings haben wir
auch aus England, woher bis zum Jahre
1897 über das Vorkommen des Wurms
nichts veröffentlicht war, die Mittheilung
von dem Vorhandensein derselben auf der
Dolcoathgrube (Zinnbergbau) in Cornwall
erhalten.
Ich folge sehr gern dem Wunsche der Re¬
daktion dieser Zeitschrift, die Ankylostoma-
Frage in den wichtigsten Punkten zu schil¬
dern. Das allgemeine Interesse an dieser
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Krankheit ist seit dem Bekanntwerden
ihrer grossen Verbreitung im Ruhrkohlen¬
gebiete ein so lebhaftes geworden, dass
die politischen Blätter von allen Fort¬
schritten in dem Kampfe gegen den Para¬
siten Bericht erstatten. Die Thatsache.
dass nur ein verhältnissmässig kleiner Theil
der Aerzte die Wurmkrankheit aus der
Beobachtung eigener Fälle kennt, mag es
rechtfertigen, wenn ich an manchen Stellen
auch auf die Dinge näher eingehe, welche
den Aerzten der betreffenden Gebiete seit
Jahren geläufig sind.
Ankylostoma (Hakenmund) duodenale,
zu den Fadenwürmern (Nematodes), zur
Familie der Strongylidae gehörig, lebt im
Dünndarm des Menschen, nicht, wie der
Name sagt im Duodenum, sondern im
übrigen Dünndarm, besonders dem unteren
Theil desselben. Der Name würde nach
dem Vorschläge von Gold mann zweck¬
mässiger lauten Ankylostoma hominis. Die
frisch abgetriebenen Würmer sehen meist
weissröthlich aus. Das Kopfende enthält die
sehr grosse tiefe Mundkapsel, dicht hinter
der Mundöftnung mit vier nach hinten ge¬
richteten, starken hakenförmigen Zähnen
an der Ventralfläche und zwei nach vorn
gerichteten an der Dorsalfläche versehen;
im Grunde der Mundhöhle findet sich dorsal
ein nach vorn gerichteter Zahn und ventral
zwei blattartig verbreiterte Chitinlamellen.
(Braun.) Es folgt der muskulöse Pharynx
und der Darm. Das Männchen ist 6—8,
selten 10 mm lang; bezeichnend ist die
schirmartige Verbreiterung des Schwanz¬
endes, die Bursa copulatrix mit dem Penis
und den zwei langen frei herausragenden
Spicula. Das Weibchen 10—12, seltener
bis 18 mm lang, bis 1 mm dick, hat ein
conisch zugespitztes Schwanzende. Die
Vulva liegt dicht hinter der Mitte des
Körpers und führt durch ein kurzes Rohr
in eine doppelte muskulöse Vagina und an
diese schliesst sich ein vorderer und ein hin¬
terer Uterus, welche beide in ein vielfach
gewundenes langes Ovarium übergehen
(S c h e u b e.) Bei der Begattung umklammert
das Männchen mit der Bursa copulatrix
den Körper des Weibchens. Die Eier, von
elliptischer Form, mit sehr zarter Schale,
67
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
530
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Deccmber
etwa 0,06 mm lang und 0,04 mm breit, wer¬
den in der Furchung abgelegt. Der graue
Eidotter ist von dem Contour der Schale
durch eine klare, durchscheinende Flüssig¬
keit getrennt. Dadurch gewinnt das Ei
ein charakteristisches Aussehen, welches
bei einiger Uebung Verwechslungen mit
anderen Parasiteneiern ausschliesst. Man
trifft im frischen menschlichen Kothe die
Eier am häufigsten mit 4 Dotterkugeln,
ihre Zahl nimmt beim Stehen rasch zu.
Die Entwicklung der Eier vollzieht sich
unter Bedingungen, die man künstlich
leicht nachahmen kann, indem man den
frischen, festen Stuhl sofort mit wenig er¬
wärmtem Wasser, auch mit feuchter Erde,
zu einem dicken Brei anrührt, flächenartig
ausbreitet und am besten in einem Brut¬
schrank bei etwa 26—300 C. aufstellt. In
dieser Weise hat namentlich Leichten-
stern, dem wir die eingehendsten Forschun¬
gen über dieLebensgeschichteunddenüeber-
tragungsmodus des Parasiten verdanken,
seine Untersuchungen angestellt. Seine Er¬
gebnisse sind von vielen Autoren durchaus be¬
stätigt worden. Ichselbsthabe das gleiche Re¬
sultat bei vielen Züchtungsversuchen erzielt.
In wenigen Tagen (etwa 2—4) entwickelt
sich aus dem Ei die junge Larve, die das
Ei bald mit dem Kopf-, bald mit dem
Schwanzende voran verlässt; sie ist sehr
beweglich, rhabditisförmig, 0,2 mm lang
und wächst nach einer Häutung bis etwa
0,5 mm Länge aus. Die Larve umgiebt sich
nunmehr mit einer zweiten Haut, die sie
aber nicht verlässt. In diesem encystirten
Zustande halten sich die Larven in feuchtem
Schlamm oder Schmutz bis zu drei Mo¬
naten und mehr lebensfähig, selbst eine
gewisse Trockenheit, gegen welche die
Eier und die jungen Larven äusserst
empfindlich sind, tödtet sie nicht ab.
Die encystirten Larven gelangen, wie
wir durch Versuche Leichtensterns
sicher wissen, in den Darm des Menschen
und entwickeln sich hier in etwa 4 bis
6 Wochen zu geschlechtsreifen Männchen
und Weibchen, deren meist befruchtete
Eier nach dieser Zeit im Stuhl erscheinen.
Einen Zwischenwirth gibt es nicht. Eine
Vermehrung der Würmer im Darm ist
ausgeschlossen. Eis ist immer wieder das
Einbringen von Larven in den Mund des
Menschen erforderlich. Das Eindringen
der Larven durch die Haut (Looss,
Sandwith) ist nach den bisherigen Mit¬
theilungen nicht anzunehmen.
Die Gelegenheit zur Entwicklung
der mit dem menschlichen Koth ent¬
leerten Eier zu Larven ist in den euro-
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päischen Ländern (Deutschland, Belgien,
Ungarn, Frankreich, England) am besten in
denBerg werk engegeben. Vielfachhaben
die Arbeiter die Gewohnheit, die Fäces an
beliebigen Stellen der Gruben, oft etwas
fernab von der Arbeitsstelle, zu depo-
niren. Mit dem feuchten Erdreich mischen
sich die Stühle zu einem Brei, in welchem
bei der in vielen Gruben herrschen¬
den Temperatur von 25° und mehr die
Entwicklung zu Larven in der günstigsten
Weise vor sich gehen kann. Durch den
Verkehr in der Grube, den Wechsel der
Arbeitsstätten wird der larvenhaltige Koth
überall hin verbreitet. Die Arbeiter kommen
damit bei der Arbeit unfehlbar mit den
Händen in Berührung und bringen sich
dadurch die Larven an die Finger. Darauf
gerichtete Untersuchungen haben dieLarven
hier direkt nachgewiesen. Die mit dem
Infectionsmaterial beschmutzten Finger wer¬
den bei den Mahlzeiten, bei dem Einschieben
von Kautabak u. s. w. an den Mund ge¬
bracht; so gelangen die Larven selbst in
den Mund und werden verschluckt, um
sich, nach kurzem Verweilen im Magen, im
Darm zu geschlechtsreifen Männchen und
Weibchen zu entwickeln.
Wir haben es einzig und allein
mit diesem Infectionsmodus zu thun.
Bei uns sind offenbar die Bergwerke
mit höheren Temperaturen (um 25°)
und grösserer Feuchtigkeit die ein¬
zigen Stätten, in denen sich dauernd
aus den Eiern Larven entwickeln
können. Die auf Ziegelfeldern vor¬
gekommenen Infectionen sind ursprünglich
durch Bergarbeiter dorthin verschleppt
worden; während des Sommers sind die
Bedingungen zur Entwicklung der Larven
in dem feuchten Lehmboden gleichfalls
gegeben, im Winter sterben die Larven
ab. Mit dem nächsten Sommer kann na¬
türlich der Wurm von inficirten Berg¬
arbeitern immer aufs Neue wieder einge¬
schleppt und während der warmen Jahres¬
zeit auf alle Ziegelei-Arbeiter übertragen
werden. Die Gelegenheit zur Infection
besteht nach den Erfahrungen Leichten-
stern’s hier in hohem.Maasse, da die Ar¬
beiter die Gewohnheit haben, ihren Koth
nicht weit von der Arbeitsstelle abzu-
setzen. Der Koth mischt sich mit dem
wasserreichen Lehm, die Eier entwickeln
sich zu Larven; bei der unvermeidlichen
Beschmutzung der Hände mit Lehm ge¬
langen die Larven in den Mund und so
in den Darmcanal der Arbeiter. Aehn-
liche Verhältnisse der Uebertragung sind
für die warmen Länder, in welchen Ankylo-
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i>' einbcr Die Therapie der
storna überall heimisch ist, namentlich bei
uncivilisirten Völkerschaften, anzunehmen.
Die eingehende Kenntniss der
Lebensgeschichte des Wurmes ist
die Voraussetzung einer richtig
durchgeführten Bekämpfung.
Die Krankheitserscheinungen, wel¬
che durch Ankylostoma hervorgerufen wer¬
den, äussern sich in Anämie mit Ver¬
dauungsstörungen. Der Parasit saugt in seine
Mundkapsel ein Stückchen Darmschleimhaut
hinein, hakt sie mit den scharfen Haken fest
und durchbohrt mit den Chintinzähnen im
Grunde derMundhöhlediefeinenBlutgefässe;
er ist also ein echter Blutsauger. Durch
zahlreiche Würmer — man hat mehrere
hundert bis tausend und mehr gefunden
— wird allmählich ein erheblicher Blut¬
verlust entstehen müssen. Namentlich bei
den Arbeitern, die der Neuinfection stän¬
dig ausgesetzt sind, wird die Zahl der
Parasiten rasch zunehmen. Bei dem der
weiteren Infection nicht mehr ausgesetzten
Menschen sterben die Würmer in etwa
5—6 Jahren ab (Spontanheilung).
Inwieweit der Parasit durch Bildung
giftiger Substanzen, die zur Resorption
kommen, die Anämie der Träger vermehrt,
ist noch nicht erwiesen. Nach den bis¬
herigen Beobachtungen und namentlich
in Analogie mit dem breiten Bandwurm
(Botriocephalus latus), von dem wir durch
Schauman und Tallqvist 1 ) toxische Pro-
ducte sicher kennen, ist auch bei Anky¬
lostoma eine solche Wirkung wahrschein¬
lich. Selbstverständlich wird die Blutent¬
ziehung in erster Linie für die Anämie
verantwortlich zu machen sein. Die hier
einschlägigen Fragen habe ich in früheren
Arbeiten (zusammen mit Martin Jacoby)
zusammengestellt. Eine Entscheidung dieses
wichtigen Punktes kann erst erwartet wer¬
den, wenn es gelingt aus den Würmern
Blutgifte darzustellen, die experimentell
Anämie erzeugen.
Bei der Kleinheit des Wurmes ist die
Gewinnung des nöthigen Materials natur-
gemäss mit viel grösseren Schwierigkeiten
verbunden als bei dem Botriocephalus
latus. Vorläufig kann man nur sagen,
dass die blutsaugende Wirkung des Wur¬
mes in den meisten Fällen die Haupt¬
ursache der Anämie ist, während eine
unterstützende Wirkung wahrscheinlich
toxischen Substanzen zukommt. Dass es
Fälle von schwerer Ankylostomen-Anämie
*) Schauman und Tallqvist, Ucber die Blut¬
körperchen auflösendcn Eigenschaften des breiten
Bandwurms. Deutsche med. Wochenschrift 1898,
No. 20.
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Gegenwart 1903. 51:1
bei wenigen Parasiten giebt, können wir
nach klinischen Beobachtungen zur Zeit
am besten mit der Wirkung von Giften
auf die blutbereitenden Organe und den
Stoffwechsel erklären.
Der Grad der durch den Parasiten er¬
zeugten Anämie ist ungemein verschieden.
Wir kennen Fälle mit allen für die perni-
ciöse Anämie charakteristischen Erschei¬
nungen. Namentlich in warmen Ländern
sind Todesfälle häufig beschrieben worden
(tropische Chlorose, tropische Anä-
m i e). Besonders bekannt sind die Beobach¬
tungen von Griesinger und Bilharz im
Jahre 1851 über Ankylostoma als Ursache
der ägyptischen Chlorose. Auch heute spielt
die Krankheit in Aegypten offenbar eine
grosse Rolle. Nach Looss mussten z.B.1892
in verschiedenen Bezirken Aegyptens 3,3
bis 13,9o/ 0 der Gestellungspflichtigen wegen
hochgradiger, durch Ankylostoma beding¬
ter Anämie zurückgewiesen werden. In
dem inficirten Theile Deutschlands ge¬
hören schwerere Anämieen namentlich
seit der Durchführung sanitärer Maass¬
nahmen zu den Seltenheiten. Todes¬
fälle an den Folgen der Krankheit sind in
dem Ruhrkohlenrevier, soweit ich mich
unterrichten konnte, nur fünf vorgekommen,
bei vier Fallen bestanden aber Complica-
tionen mit Tuberkulose, Herzfehler u. s. w.
Meines Wissens konnte hier bisher nur bei
dem von Tenholt (1898) ausführlich be¬
schriebenen Fall als einzige und alleinige
Todesursache Ankylostoma (etwa 200
Exemplare) festgestellt werden.
Klinische Krankheitserscheinungen von
Anämie zeigen nach Tenholt, der die
Seuche im rheinisch-westfälischen In¬
dustriebezirke seit Jahren auf das Sorg¬
fältigste verfolgt und gerade in letzter Zeit
häufiger seine umfangreichen Erfahrungen
mitgetheilt hat, bei uns nur etwa 20% der
mit Ankylostoma inficirten Bergleute,
während bei den übrigen 80% der Wurm (d.
h. seine Eier) nur gelegentlich der mikro¬
skopischen Kothuntersuchungen gefunden
wurde. Bei sehr vielen Untersuchungen,
welche ich im Laufe mehrerer Jahre (zum
grossen Theil zusammen mit M. Jacoby)
an etwa 100 Bewohnern wärmerer Länder,
auch an mehreren deutschen Kolonisten
aus verschiedenen Ländern, mehrfach unter
klinischer Beobachtung vornehmen konnte,
hat sich in keinem Falle eine schwere
Anämie gezeigt.
Für die auffällige Thatsache — (wir
sehen genau dieselbe Erscheinung beim
Botriocephalus latus und bei vielen anderen
Darmparasiten) — warum unter den An-
67 *
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
December
5 32
Die Therapie der Gegenwart 1903.
kylo stoma-Trägern verhältnissmässig sehr
viele keine klinisch wahrnehmbaren Sym¬
ptome von Anämie zeigen, lassen sich
mehrere Gründe anführen: in erster Linie
eine geringe Zahl von Parasiten, ferner
die Kürze der Zeit seit der stattgehabten
Infection, die verschiedene Widerstands¬
fähigkeit des Inficirten gegen die Anämie
resp. gegen die von den Würmern wahr¬
scheinlich erzeugten Gifte. In dem ein¬
zelnen Falle wird man häufiger die ersten,
zuweilen aber auch die letztgenannten
Momente als ausschlaggebend zu bewer¬
ben haben. In der genannten Arbeit
vom Jahre 1898 haben Jacoby und ich
die verschiedenen Möglichkeiten diskutirt.
Das Interesse an den Unterschieden in den
Folgen, welche die Einwanderung von An-
kylostoma - Larven für den Inficirten hat,
ist ganz wesentlich als ein klinisches zu
bezeichnen, wie mich auch spätere Erfah¬
rungen lehrten. Der Nachweis von Blut¬
giften in den Würmern würde für die
Lösung dieser Fragen von grösster Bedeu¬
tung werden.
Auf die Prophylaxe den Unterschied
zwischen Wurmkranken und Wurmbehaf¬
teten weiter auszudehnen, kann man theo¬
retisch nur in gewissem Sinne empfehlen.
Denn jeder Wurmbehaftete ist ebenfalls
geeignet, die Krankheit weiter zu ver¬
breiten; nur wird wegen der meist gerin¬
geren Zahl von Eiern, die er mit seinem
Koth entleert, die Zahl der sich ent¬
wickelnden Larven, d. h. also des An¬
steckungsmaterials, eben geringer ausfallen
als bei einem Kranken, der in der Regel
sehr viele Eier im Koth hat. Ausnahmen
kommen indessen vor in dem Sinne, dass
auch ein Anämischer nur wenige Parasiten
und dementsprechend wenig Eier in seinem
Darme beherbergt und umgekehrt. Ueber
diese ganze Frage ist neuerdings eine Con*
troverse entstanden. Von Bruns wird die
Ausdehnung jenes Unterschiedes zwischen
Wurmkranken und Wurmbehafteten auf
die Prophylaxe der Krankheit lebhaft be¬
kämpft. Aus den Arbeiten Tenholts,
gegen den sich Bruns wendet, geht je¬
doch keineswegs hervor, dass Tenholt
einen solchen Standpunkt einnimmt. Ten¬
holt, dem wohl die grösste Erfahrung auf
diesem Gebiete in Folge seiner langjährigen
amtlichen Thätigkeit zur Verfügung steht,
will nur die Inficirten mit Krankheits¬
erscheinungen in erster Reihe von der
Arbeit ausschliessen. Bei diesen besteht
dazu ein doppelter Grund; denn sie bilden
nicht allein eine Gefahr für andere noch
licht inficirte Arbeiter, sondern sie selbst
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sind der Gefahr, in Folge zunehmender
Anämie arbeitsunfähig zu werden, in hohem
Grade ausgesetzt. Nur in diesem Sinne,
dass man die Wurmkranken vor den Wurm¬
behafteten in Behandlung nimmt, wird man
die Tenholt schen Vorschläge auffassen,
die aus genauen und zutreffenden klinischen
Beobachtungen hervorgegangen sind.
Der Blutbefund bei der Ankylosto-
miasis ist ja nach dem Grade der Anämie
ein wechselnder. In den schweren Fällen
findet man die Zeichen der progressiven
pernieiösen Anämie im Sinne von Ehrlich.
In den leichteren Fällen sind an den rothen
Blutkörperchen keine bemerkenswerthen
Veränderungen wahrzunehmen. Bei den
weissen Blutzellen ist die Vermehrung der
eosinophilen Zellen die Regel. (Müller
und Rieder, Zappert, Bücklers.) Kürz¬
lich ist von v. Jaksch an einem Falle und
von Bloch (Dtsch. Med. Wochenschr. 1903,
No. 29, 30) an zwei Fällen dieses Verhalten
wieder beschrieben worden. An einer
grossen Zahl von Präparaten, die mir von
vielen Ankylostomaträgern durch die Güte
des Herrn Medicinalrath Tenholt 1 )» Ober¬
arzt des Allgem. Knappschafts-Vereins zu
Bochum, zur Verfügung gestellt waren, fand
sich als bemerkenswerthester Befund Eosi¬
nophilie. Netzhautblutungen kommen nur
bei denKranken mit hochgradigerAnämie vor.
Aus der Thatsache, dass bei uns An-
kylostoma jetzt nur geringe Krankheits¬
erscheinungen hervorruft, zu folgern, dass
der Parasit harmlos ist, wäre bedenklich.
Die Verminderung derZahl derAnämi-
schen istnur dieFolge derdurchdie
Bekämpfung der Seuche ermöglichten
frühzeitigen Diagnose, die sich auf den
mikroscopischen Nachweis der Eier im fri¬
schen Stuhl gründet, und der zweckmässi -
gen Behandlung. Welche schweren Ver¬
heerungen der Parasit unter den Arbeitern
des Gotthardtunnels (im Jahre 1880ff.) ange¬
richtet hat, ist allgemein bekannt. Bei
mangelnden Vorsichtsmaassregeln würde
heute eine ähnliche Katastrophe unver¬
meidlich sein. Die Verbreitung der tropi¬
schen Chlorose legt auch heute Zeugniss
für die Gefahr des Parasiten ab. Es
leuchtet daher ohne Weiteres ein, wie nofh -
wendig der energische Kampf gegen
die Wurmkrankheit auch in unserem
Vaterlande geworden ist, so mühevoll und
kostspielig derselbe auch sein mag.
Die Geschichte der Ankylostomen-
*) Ich spreche diesem Herrn und seinem Assistenten.
Herrn I)r. Nagel, für seine Güte und Unterstützung
durch Ertheilung von Auskunft und Zusendung v» n
Material auch an diesci Stelle meinen wärmsten Dank aus.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
December
Die Therapie der Gegenwart 1903.
533
Epoche
Zeit
Wichtigste Autoren
Die Fortschritte,
durch welche die Epoche gekennzeichnet ist
I.
1838
Dubini (Mailand)
Entdeckung des Ankylostoma duodenale
11.
1851
Griesinger, Bilharz
Ankylostoma ist die Ursache der ägyptischen
Chlorose.
III.
1866 ff
Wucherer (Lutzl8S5)
u. A.
Ankylostoma ist eine der häufigsten Ursachen
der in Brasilien und in vielen tropischen und
subtropischen Ländern sehr verbreiteten perni-
ciösen Anämie.
IV.
1878 ff
Bozzolo u. Graziadei,
Grassi und Parona
u. A.
Ankylostoma findet sich bei anämischen
Ziegeleiarbeitern. Die Gegenwart der Anky-
lostomen im Darm lässt sich mit Leichtigkeit
durch den Nachweis der Eier in den Fäces
diagnosticiren
V.
1880 ff
Bozzolo und Pagliani,
Concato und Perron -
cito a. A.
Ankylostoma ist die Ursache der Gntthard-
tunnel-Anämie.
|
VI.
1881 ff
Perroncito, Mayer
u. A.
Ankylostoma ist eine der wichtigsten Ursachen
der Bergarbeiter - Anämie (Italien, Oester¬
reich-Ungarn, Frankreich, Belgien, Deutschland).
VII.
1882 ff
Menche, Leichten¬
stern u. A.
, Ankylostoma ist die Ursache der Ziegelbrenne r-
i Anämie in Deutschland.
VIII.
1882 bis
Gegenwart
Bälz und Sch eube,
j St am me sh aus u. A.
Ankylostoma kommt vor in Asien (Vorder-rund
! Hinterindien, Ceylon, Japan) und Australien.
IX.
1888 bis
Gegenwart
! Beck, Löbkcr, Ten*
| holt
i
! Ankylostomiasis ist sehr verbreitet b e i
1 deutschen Bergleuten im Rheinland und in
Westfalen (Steinkohlenrevier).
Krankheit wird in den wichtigsten , worden. Das am längsten heimgesuchte
Epochen übersichtlich dargestellt in einer j Land ist Italien. Hier wird der Parasit
kleinen Tabelle, die Jacoby und ich unserer j unter Bergleuten, Ziegelei-, Erd- und
Monographie beigegeben haben. Die zu- Tunnelarbeitern in allen Provinzen des
nehmende Bedeutung des Parasiten mag Königreichs (auch Sicilien und Sardinien)
dTe Wiederholung an dieser Stelle recht- angetroffen. Die genaue Durchforschung
fertigen. hat die Verbreitung in Italien als eine so
Während in den warmen Ländern ungeheure kennen gelehrt, dass wir das
Ankylostoma ausserordentlich verbreitet ist, j ganze Land als durchseucht ansehen
haben wir es heute in Deutschland mit einer | können. 1 ) Offenbar sind bei dem milden
Berufskrankheit der Bergleute zu
thun. Die durch Leichtenstern in aus¬
gezeichneter Weise erforschten Fälle auf
den Ziegelfeldern bei Köln sind durch
Einschleppung von Bergleuten (Wallonen)
zu Stande gekommen. Wir haben gesehen,
dass der Wurm hier immer aufs neue im
Sommer durch inficirte Bergarbeiter ein¬
geführt wurde. Im Winter sterben die
Larven auf den Ziegelfeldern bei den nie¬
drigen Temperaturen ab. Unter den Zie¬
geleiarbeitern beobachtete Leichtenstern
schwere Anämieen und mehrfach Todes¬
fälle.
Die Seuchenheerde, in welchen
die Larven bei uns einzig und allein
dauernd und am besten gedeihen
können, sind die Bergwerke mit Tem¬
peraturen um 25° und mehr und
hohem Feuchtigkeitsgehalt (Tenholt).
Der Parasit ist nach Deutschland wie
nach den übrigen inficirten Ländern Europas
ursprünglich aus den Tropen, wie wir be¬
stimmt annehmen müssen, eingeschleppt
Klima des Landes nicht allein die Berg¬
werke, sondern auch die Ziegeleien und
ähnliche Betriebe mit Erdarbeiten dauernde
Seuchenheerde. Höchst wahrscheinlich hat
bei dem Bau des Gotthardtunnels die An-
kylostomiasis die verderbliche Massenaus¬
breitung durch die zahlreichen Italiener er¬
fahren, die dann von da aus die Seuche in
andere Länder, zuerst namentlich nach den
Bergwerken in Ungarn, von da nach Frank¬
reich, Belgien, Deutschland verbreiteten.
Die Infection der rheinisch-westfälischen
Steinkohlenbergwerke erfolgte nach der
begründeten Annahme Tenholts beson¬
ders durch ungarische Bergleute. Die ersten
Wege der Ausdehnung der Ankylostomiasis
in Europa lassen sich heute nicht mehr mit
Sicherheit feststellen; es ist durchaus wahr¬
scheinlich, dass schon vor dem Gotthard-
! ) Das ausgezeichnete Werk von Parona Ober
die Helminthologie Italiens enthält alle Ortschaften
Italiens, in denen Ankylostoma bis 1890 gefunden
war, aufgezählt und in eine Karte eingetragen
(Genova 1894).
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
534
Die Therapie der Gegenwart 1903.
December
tunnelbau (1880) der Parasit in den anderen
Ländern ausser Italien sich angesiedelt
hatte; doch ist die grosse Verbreitung wohl
auf die Verschleppung durch Arbeiter vom
Gotthard zurückzuftihren; denn die Berg¬
arbeiter- und Ziegelbrenner-Anämie war
schon vorher wohlbekannt, jedoch nicht
ihre allerhäufigste Ursache: das Anky-
lostoma duodenale.
Der erste Fall von Ankylostomiasis im
rheinisch-westfälischen Kohlen re vier
ist 1885 vom Kreisphysikus Dr. Albers in
Essen entdeckt worden. In den Jahren
1893/1895 wurden 23 Erkrankungen (darunter
2 Todesfälle) festgestellt. Wir sehen, dass
in den folgenden Jahren Schritt für Schritt
die Zahl der inficirten Zechen und der
inficirten Arbeiter zunimmt. Die Zahl der
Krankheitsfälle betrug nach Tenholt
1896
107 Fälle
1897
113 ,
1898
99 „
1899
94 „
1900
275 „
1901
1030 „
1902
1872 ,
Die ganz ausserordentliche Verbreitung,
mit der wir heute zu rechnen haben, zeigt
erst das Jahr 1903. Mit der weiteren in
Gang befindlichen methodischen Un¬
tersuchung aller Zechen und ihrer
Belegschaft wird diese Zahl noch
erheblich wachsen. Der ständige
lebhafte Wechsel der Arbeiter von
einer Grube zur andern trägt sehr zur
Weiterverbreitung der Seuche bei.
Im laufenden Jahre sind bis zum
18. November d. J. im Regierungs-
Bezirk Arnsberg, in welchem der
rheinisch - westfälische Industriebe¬
zirk mit dem weitaus grössten Teile
gelegen ist, bisher 7622 Erkrankun¬
gen an Ankylostomiasis gemeldet
worden (Veröffentlichungen des Kaiserl.
Gesundheitsamtes No. 4—46). Die einzelnen
Zahlen sind für jede Woche vom 28. Januar
an bis zum 18. November folgende: *)
Erkrankungen
Erkrankungen
No.
4 .
. 42
No. 15
. 74
ff
5 .
. 72
„ 16
. 27
ff
6 .
. 57
„ 17
. 35
n
7 .
. 33
„ 18
. 42
tt
8 .
. 133
19
47
n
9 .
66
„ 20
. 74
n
10 .
. 33
„ 21
84
n
11 .
49
. 23
. 76
n
12 .
4
. 24
12
n
13 .
41
. 25
. 80
n
14 .
. 104
„ 26
. 34
1
l ) Am 3.
Juni in
No. 22 kein Fall gemeldet.
Erkrankungen
No. 27 . . 69
No. 37
Erkrankungen
. . 367
»
28 .
. 138
n
38
. . 327
tt
29 .
. 110
tt
39
. . 461
tt
30 .
44
tf
40
. . 239
n
31 .
. 110
ff
41
. . 299
n
32 .
. 249
tt
42
. . 332
tt
33 .
. 475
ff
43
. . 267
n
34 .
. 390
ff
44
. . 176
tt
35 .
. 476
ff
45
. . 263
tt
36 .
. 338
ff
46
. . 273
Unter
den einzelnen
Belegschaften
schwankt die Zahl der Ankylostoma-Träger
zwischen 26% bis 80%.
Von sämmtlichen 241 Schachtanlagen
waren im Jahre 1901 63 = 26,1% inficirt.
Besonders gefährdet sind die Ar¬
beiter unter Tage und zwar besonders
die Kohlenhauer, die den weitaus grös¬
sten Teil, 75%, der Befallenen ausmachen.
Dieses Verhalten erklärt sich daraus, dass an
den Betriebspunkten die grösste Hitze, eine
drückende feuchtwarme Luft herrscht —
die günstigsten Bedingungen der Larven¬
entwicklung — und dass die Schmutz- und
Schlammheerde an diesen feuchtwarmen
Orten hauptsächlich von den Hauern be¬
tastet und betreten werden.
Die Arbeiter, welche fast nur ausserhalb
der Grube — „über Tage“ — arbeiten,
sind absolut und procentuarisch nur wenig
(zu etwas mehr als 1% der Befallenen) be¬
theiligt. Auch die Frauen und Kinder der
Bergleute sind nicht inficirt.
In jüngster Zeit sind mehrfach zur Re¬
serve entlassene Soldaten, die sich im Ruhr¬
kohlenrevier dem Bergbau widmen wollten,
als wurmkrank zurückgewiesen worden.
Es besteht die Vorschrift nur Arbeiter an¬
zulegen, welche die ärztliche Bescheinigung
der Wurmfreiheit vorlegen. So entstand
das Gerücht, dass die Wurmkrankheit in
der Armee ausgebrochen sei. Davon kann
gar keine Rede sein. Die betreffenden
Reservisten (etwa 90) sind sämmtlich Berg¬
leute, die vor 2 und 3 Jahren auf damals
schon als verseucht geltenden Zechen ge¬
arbeitet und sich dort inficirt haben. Dass
diese Soldaten jetzt noch den Parasiten
beherbergen, ist nach den Kenntnissen von
seiner Lebensgeschichte durchaus nicht
wunderbar. Wir wissen durch Leichten-
stern, dass der Wurm erst nach etwa 5,
ja 8 Jahren abstirbt. Dass die Soldaten
während der Dienstzeit den Wurm weiter
verbreitet haben, ist nicht anzunehmen, da
unter den gegebenen Verhältnissen die
Larven sich nicht entwickeln können.
Theoretisch wäre nur bei sehr schlechten
Abortverhähi.issen in den Kasernen eine
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Gck igle
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
December
535
I)ic Therapie der Gegenwart 1903.
Uebertragung einmal denkbar. Doch wird für
die Entstehung eines dauernden Seuchen¬
heerdes die Temperatur in den betreffenden
Räumlichkeiten im Winter nicht ausreichen.
Eserhebtsich nun dieFrage.au s welchen
Gründen hat die Ankylostomiasis im
Ruhrkohlengebiete in den letzten
Jahren und namentlich im laufenden
Jahre eine so ungeheure Verbreitung
angenommen?
Ohne Zweifel werden mit der zuneh¬
menden Aufmerksamkeit der beteilig¬
ten Behörden und Aerzte und ganz besonders
seit der systematischen Untersuchung
der Bergwerke und der Arbeiter viel
mehr Fälle entdeckt, die früher bei dem
Mangel von subjecti ven und obj ectiven Krank¬
heitszeichen entgangen sind. Die aus dem
Studium der Lebensbedingungen des Para¬
siten abgeleiteten Erfahrungen haben ge¬
zeigt, dass seine Verbreitung von einem
Seuchenheerde aus sehr leicht stattfindet.
Die Vorbedingung ist, dass an dem be¬
treffenden Orte der eierhaltige Stuhl eines
Inficirten genügend Wärme und Feuchtig¬
keit zur Entwicklung der Larven findet
und dass die noch freien Personen durch
ihre Lebensweise oder durch ihre Arbeit
mit dem larvenhaltigen Material in Be¬
rührung kommen. Diese Momente treffen
aber in vielen Gruben (wie in warmen
Ländern) in hohem Maasse zu. Wenn also
in ein Bergwerk mit jenen günstigen
Bedingungen für die Larvenentwick¬
lung der Parasit eingeschleppt wird,
so ist eine Uebertragung auf viele
Arbeiter und damit wiederum eine
sehr rasche, enorme Vermehrung
des Infectionsmaterials die unaus¬
bleibliche Folge.
Ein wichtiger Faktor, der die Zunahme
der Ankylostomiasis in Westfalen be¬
günstigt hat, ist nach Tenholts Studien
die Berieselung der Gruben, welche zur
Verhütung der gefährlichen Kohlenstaub¬
explosionen aus Anlass des schweren Un¬
glücks auf Zeche Carolinenglück (115 Tote,
am 15. Februar 1898) bergpolizeilich einge-
führtwurde, und sich auch in dieserRichtung
bewährt hat und deshalb beibehalten werden
muss. Die Berieselung fördert durch die
Zufuhr von Wasser die Feuchtigkeit des
Bodens und zugleich die mechanische Fort-
schwemmung der Kothhaufen; damit wird
die Gelegenheit zur Infection vermehrt.
Aus Belgien und Ungarn wird eben¬
falls eine bedeutende Zunahme der Anky¬
lostomiasis in den dortigen Bergwerken
berichtet. Eine Berieselung ist dort nicht
eingeführt. Wir müssen uns die Ver-
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mehrung der Fälle mit den günstigen Ent¬
wicklungsbedingungen in den Gruben und
mit thatsächlichen grösseren hygienischen
Mängeln, als sie bei uns bestehen, erklären,
ln Belgien ist der Bezirk Herve, dessen
Zechen eine Temperatur von 17—18° haben
und verhältnissmässig trocken sind, fast
wurmfrei, während in den Bezirken Lüttich
und Seraing sämmtliche Zechen, bis zu
60% der Belegschaft, inficirt sind. Die
| Gruben haben hier eine Temperatur von
« 20—26° und sind feucht. Die Tages-Ar-
beiter und die Familienglieder der
Arbeiter sind wurmfrei. Die Bergleute,
unter denen wiederum die Kohlenhauer
am stärksten betheiligt sind, setzen ihre
Fäces durchweg frei in der Grube ab;
^ die Aufstellung von Abortkübeln hat sich als
nutzlos erwiesen. Die Einzelheiten, die der
amtliche Bericht von B ar b i e ranführt, decken
sich fast völlig mit den Erfahrungen, die na¬
mentlich Tenholt, ferner Löbker in West¬
falen gemacht haben. Der Bericht Barbiers
zeigt ferner die grossen Schwierigkeiten
sehr deutlich, die in Folge des Wider¬
standes der Arbeiter und der Gleichgültig¬
keit vieler Arbeitgeber bei der Bekämpfung
der Krankheit zu überwinden sind.
ln Ungarn können sämmtliche Berg¬
werke als inficirt mit Ankylostoma be¬
trachtet werden. Der Kampf ist auch hier
lebhaft im Gange, wie der neueste Bericht
von Gold mann in Brennberg zeigt. Seit¬
dem ist in Brennberg die Zahl der Wurm¬
kranken von 47% im Jahre 1898 auf 8%
im Jahre 1902 gefallen.
Ueber den gegenwärtigen Stand der
Ankylostomiasis in den französischen
Bergwerken habe ich in jüngster Zeit in
der mir zur Verfügung stehenden Literatur
nichts gefunden.
In England war bisher über das Vor¬
kommen der Wurmkrankheit nichts bekannt
geworden. Von grossem Interesse ist da¬
her der amtliche Bericht von Haldane,
der 115 Fälle mit Anämie auf der Dol-
coathgrube in Cornwall (Zinnbergbau) in
den Jahren von 1893 bis 1903 beobachtet hat.
Der Bericht enthält leider hinsichtlich des
Wesens der Krankheit mehrfache Irrthümer.
Die Maassregeln zur Bekämpfung
der Wurmkrankheit sind abgeleitet wor¬
den aus den Kenntnissen, die wir von
dem Wesen der Krankheit, in dem west¬
fälischen Steinkohlenrevier hauptsächlich
durch die fortgesetzten Forschungen Ten-
holt’s und seiner Mitarbeiter, ferner Löb¬
ker s u.A. erlangt haben. Die dort gemachten
Erfahrungen sind auf den verseuchten Gru¬
ben im Lütticher Becken und auf der Zeche
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
536
Die Therapie der Gegenwart 1903.
December
Brennberg in Ungarn von Barbier und
seinen Mitarbeitern, resp. von Goldmann
und von Löbker selbst in allen wesent¬
lichen Punkten bestätigt worden.
Die Hauptthatsachen seien hier in Kürze
zusammengefasst:
Ankylostoma wird durch Bergarbeiter,
welche den Parasiten in ihrem Darm be¬
herbergen, in die Grube dadurch einge¬
schleppt, dass die inficirten Leute den
eierhaltigen Koth frei in der Grube ab¬
setzen. Bei genügender Feuchtigkeit und
einer Temperatur von etwa 220 und mehr
entwickeln sich in dem mit dem Gruben¬
schlamm sich mischenden Kothe die Lar¬
ven und werden in der Grube durch den
Verkehr der Arbeiter und durch Weiter-
schwemmung verbreitet. Mit larvenhaltigem
Material kommt durch seine Arbeit ganz
besonders der unterirdische Arbeiter,
namentlich der Kohlenhauer, unfehlbar
in Berührung; er bringt mit dem Schmutz
die Larven an seine Finger und von da
bei mannichfachen Berührungen in den
Mund. In diesen Neu Inficirten entwickeln
sich im Darm dann die geschlechtsfähigen
Ankylostomen, deren Weibchen ihre Eier im
Darm ablagern, diese gelangen mit dem Kothe
wieder in die Grube und schaffen somit rasch
zahlreiche neue Infectionsheerde. In den
verseuchten Gruben sind wiederholt
Larven nachgewiesen worden. Eine
Vermehrung der Würmer im Darm kann
nur durch Verschlucken weiterer Larven
entstehen. Wir haben es nur mit die¬
sem Uebertragungsmodus zu thun.
In den Gruben, welche wenig feucht oder
fast trocken sind und nur eine Temperatur
von weniger als 22o, resp. 20° haben,
gehen die Larven zu Grunde; eine solche
Grube ist also der Gefahr der Verseu¬
chung nicht ausgesetzt. In Laboratoriums¬
versuchen habe ich, in Uebereinstimmung
mit den Lütticher Befunden, noch bei Tem¬
peraturen bis zu 150 Larven gezüchtet.
Doch ist sicher, dass die Zahl der zur
Entwicklung kommenden Larven mit jedem
Grad unter 20o ganz bedeutend abnimmt.
Die Maassregeln gegen den Para¬
siten bezwecken:
1. Die Vernichtung der Larven in
den verseuchten Gruben und die Ver¬
meidung der Einschleppung von eier¬
haltigem Koth in die Grube.
Der ersten Forderung wird genügt
durch die Desinfection mit Kalkmilch an
den besonders gefährdeten Stellen, ferner
durch die Vorschrift, dass jeder Arbeiter
seinen Koth entweder über Tage oder nur
in die Abortkübel der Grube entleert. Da-
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durch wird auch die Zufuhr neuen eier¬
haltigen Materials in die Grube verhindert.
2. Feststellung der mit Ankylo¬
stoma inficirten Arbeiter und Ab¬
treibung der Würmer bei denselben.
Da sich in der Praxis die ersten For¬
derungen bei der Gewohnheit der Arbeiter
nicht strenge durchführen lassen, muss der
zweite Weg energisch beschritten wer¬
den, um möglichst alle Inficirten wurm¬
frei zu machen. Nach den geltenden Be¬
stimmungen wird zur Arbeit neu nur der¬
jenige zugelassen, der die ärztliche Beschei¬
nigung der Wurm freih eit beibringt.
In dem praktischen Kampf gegen die
Seuche der Bergarbeiter müssen alleFac-
toren einig und energisch Vorgehen.
Es kann an dieser Stelle nicht auf die Einzel¬
heiten eingegangen werden. Es haben
sich bei dem grossen Umlange der An-
kylostomiasis naturgemäss erhebliche
Schwierigkeiten ergeben, wie die noth-
wendigen Maassregeln am besten durch¬
geführt werden können. Ueber manche
Punkte gehen die Ansichten der betheiligten
Sachverständigen noch auseinander. In der
Hauptsache herrscht indessen Klarheit.
Durch die Anlage von Brausebädern
und Abtritten über Tage, durch die Auf¬
stellung und Reinhaltung von Abortkübeln
in der Grube, ferner durch ausgiebige Be-
lenrung der Arbeiter über die Seuche ist
viel geschehen.
Gegenwärtig sind zugleich die Unter¬
suchungen über die wirkliche Zahl der
verseuchten Zechen und Belegschaf¬
ten in vollem Gange, um in dem ganzen
Ruhrkohlengebiet die Prophylaxe und Be¬
kämpfung erfolgreich durchzuführen. Es
leuchtet ein, dass schon bei dem jetzt be¬
kannten Umfange sehr bedeutende Kosten
entstanden sind und noch entstehen und
dass es sehr schwierig ist, die Maassregeln
gegen die Seuche mit den wirthschaftlichen
Interessen der Arbeitnehmer und -geber,
soweit möglich, in Einklang zu bringen.
Zur Abtreibung der Würmer ist bisher
das frisch bereitete Extractum filicis
maris aethereum in der Menge von 10 bis
höchstens15,0 g allen anderen Mitteln vor¬
zuziehen. Die wirksame Substanz desExtrac-
tes, das Filmaron (0,7), hat sich nach Nagel
noch nicht als besser bewährt. Als Abtühr-
mittel eignen sich Sennainfus, Purgatin u. a. t
weniger das Ricinusöl. Die zuweilen nach
Extractum filicis vorkommende Erblindung
oder hochgradige Herabsetzung des Seh¬
vermögens ist ein fatales, aber glücklicher
Weise äusserst seltenes Vorkommniss (bis¬
her unter mehreren tausend Curen ungefähr
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
December
Die Therapie der Gegenwart 1903.
537
3—5 Fälle). Die Curen fördern oft mehrere
Hundert Würmer zu Tage, Wenn nur
wenige Parasiten im Darm vorhanden sind,
ist oft selbst eine mehrmalige Cur nicht
ausreichend, wie der spätere Befund von
Eiern (ohne Neuinfection) beweist. Gerade
diese Fälle häufen sich jetzt bei der metho¬
dischen Untersuchung der Belegschaften
und sie werden unter fortlaufende Controle
zu stellen sein, um die Weiterverbreitung
des Infectionsmaterials zu hindern. Die hier
vorhandenen praktischen Schwierigkeiten
sind zur Zeit noch nicht erschöpfend gelöst.
Der Kampf gegen die Seuche ist in
dem Ruhrkohlengebiete Dank der An¬
regungen Tenholts und Löbkers schon
seit dem Jahre 1893—1894 zunächst örtlich,
seit 1895—1896 aber mit der Zunahme der
Krankheit umfassender eingeleitet worden.
Durch sanitäre Verordnungen im Bezirke
des Allgemeinen Knappschaftsvereins zu
Bochum, der weit grösser als der in ihm ent¬
haltene rheinisch - westfälische Industrie¬
bezirk ist, und des Königlichen Oberberg¬
amtes zu Dortmund wurde die Beseitigung
der bisherigen Mannschaftsbassinbäder, die
Einführung von Brausebädern, die aus¬
schliessliche Benutzung von Abortkübeln
unter Tage, Desfection mit Kalkmilch u .s. w.
angebahnt. Alle nöthigen Maassnahmen
wurden, wie Tenholt mittheilt, in den fol¬
genden Jahren erweitert. Trotzdem ist die
Zunahme der Seuche seit 1901 eine ganz
ausserordentliche. Sie wird erklärt durch
den grossen Wechsel der Belegschaften
von Grube zu Grube, durch die grossen
Schwierigkeiten in der wirklichen Durch¬
führung der für nothwendig befundenen
Maassnahqien und durch die neugeschaffenen
Berieselungs-Anlagen (Tenholt).
Im September 1902 trat der Sonder¬
ausschuss zur Bekämpfung der Wurm¬
krankheit zusammen. Zugleich wurde
ausser dem Oberärzte des Allgemeinen j
Knappschaftsvereins (Med.-Rath Tenholt) j
und seinen Mitarbeitern das im Jahre 1901
von dem „Verein zur Bekämpfung der Volks¬
krankheiten im Ruhrkohlengebiet“ aus An¬
lass der bekannten Typhus-Epidemie ge¬
gründete bakteriologische Institut in Gelsen¬
kirchen (Dr. Bruns) zur Mitwirkung heran¬
gezogen.
Die Frage erregte bald ein öffentliches
Interesse und kam im laufenden Jahre
besonders im Preussischen Abgeordneten¬
hause zur Sprache. Am 4. April d. J. tagte
die von dem Minister für Handel und Ge¬
werbe nach Berlin einberufene Konferenz
unter Theilnahme der betheiligten Behörden
und sachverständigen Aerzte, in der die
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getroffenen und zu treffenden Maassregeln
eingehend berathen wurden. Die inter¬
essanten Verhandlungen dieser Conferenz
sind im Reichsanzeiger veröffentlicht wor¬
den. Es wurden Commissionen zum Stu¬
dium der Ankylostomiasis nach Belgien und
Ungarn entsandt. Die Ausdehnung der
mikroskopischen Kothuntersuchung
auf alle Zechen und wenn durchführ¬
bar auf die gesammten Belegschaften
wird die genaue thatsächliche Ver¬
breitung der Seuche aufdecken und
die Grundlage umfassender Maass¬
nahmen bilden. Im Juli standen mehr als
200 mit der Wurmkrankheit vertraute Aerzte
und 56 zur Behandlung der Wurmbehafteten
eingerichtete Krankenhäuser zur Verfügung.
Die oberirdischen Brausebad- und beson¬
ders die Abortanlagen werden vermehrt.
Die einzelnen Staaten mit Kohlenberg¬
bau (Belgien, Böhmen, Galizien, Mähren,
Steiermark, Sachsen, Bayern, Schlesien)
haben Aerzte zum Studium der Krankheit
in die von dem Knappschafts Oberarzte in
Bochum geleitete Untersuchungsstation für
Ankylostomakranke geschickt.
Mit der vollständigen Erkenntniss
des Wesens und des Umfanges der
Seuche ist die erfolgreiche Bekämpf¬
ung mit Sicherheit zu erwarten. Bis¬
her ist bei uns, wie erwähnt, die Ankylo¬
stomiasis nur im Oberbergamtsbezirke
Dortmund — hier allerdings ganz ausser¬
ordentlich — verbreitet. Von diesem
Amte als der zuständigen Bergpolizeibe¬
hörde werden die weiteren Maassnahmen
gegen die Krankheit durchgeführt. In den
Oberbergamtsbezirken Breslau, Halle und
Clausthal sind in den letzten Jahren
keine, im Oberbergamtsbezirk Bonn nur
ganz vereinzelte Erkrankungsfälle vor¬
gekommen. Eine Stichprobenunter¬
suchung der Stühle wäre aber in
allen Bezirken entschieden ange¬
bracht. Wo überhaupt das Ankylo-
stoma günstige Lebensbedingungen
findet, kann man nach vielen Er-
fahrungen'den Parasiten thatsächlich
mit Wahrscheinlichkeit vermuthen:
jedenfalls darf seine Abwesenheit nur
auf Grund von mikroskopischen Stuhl¬
unter such un gen angenom men werden.
Die Erfahrungen im Ruhrkohlenrevier
und in anderen Ländern nöthigen aber
dazu, in allen Bergbau-Bezirken auf
der Hut zu sein, um eine Ein¬
schleppung der Seuche zu ver¬
hüten. Diese Forderung wird hoffent¬
lich durchgeführt werden. Denn die
Lebensgeschichte des Parasiten zeigt,
68
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
538
Die Therapie der Gegenwart 1903.
December
dass es leichter sein wird, die Infection
einer Grube zu verhindern als eine inficirte
Grube, bei der raschen Vermehrung und
Ausbreitung deslnfectionssmaterials, wieder
zu befreien.
Wir können uns in Anbetracht des
energischen und planmässigen Vorgehens
der betheiligten Kreise der Hoffnung hin¬
geben, dass in unserem Vaterlande
wenn auch nach vielen Opfern und Mühen
schliesslich nach Jahren die Seuche dauernd
ausgerottet wird und ihre Wieder¬
entstehung verhindert werden kann.
So werden uns die schweren Schädigungen
an Gesundheit und Leben vieler arbeits¬
fähiger Menschen, wofür die Litteratur der
Ankylostomiasis warnende Beispiele zeigt,
erspart bleiben.
Mein Bericht (vgl. auch den Nachtrag auf
S.566) bezweckt nur eine zusammenfassende
Uebersicht über die Seuche zu geben. Die
Litteratur und die geographische Verbreitung
der Krankheit auf der ganzen Erde (mit 2
Karten) bis einschliesslich 1897 findet sich
in der Monographie von Jacoby und mir
(Leipzig, G. Thieme 1898). Von den zahl¬
reichen Arbeiten, die in den letzten Jahren
erschienen sind, möchte ich hier nur die
neuesten angeben, die gerade einen be¬
sonders guten Einblick in den Stand der
Seuche im Ruhrkohlengebiete, in Belgien
und Ungarn ermöglichen:
Gesundheitsberichte des Allg. Knappschafts¬
schafts-Vereins zu Bochum von 1896 an (jähr¬
lich); ich verdanke dieselben der Güte des
Herrn Oberarztes Medicinalrath Dr. Tenholt;
Von demselben Autor: Generalbericht über
das Gesundheitswesen etc. Bochum 1897; Zeit¬
schrift für Medicinal-Beamte 1898, 1903; Münch,
med. Wochenschr. 1903; Referat in den Ver¬
handlungen des XI. internat. Congr. f. Hyg. u.
Demogr. 2.—8. September 1903 in Brüssel; Die
Ankylostomiasis-Frage. Jena, G. Fischer 1903
(Zusammenfassende Uebersicht); Die Unters,
auf Ankyl. etc. (Abbild.) Bochum 1903:
W. Nagel, Deutsche med. Woch. 1903, No. 31;
Bruns, „Glückauf", Berg- u.Hüttenmänn.Woch.
1903, No. 10; Löbker, Die Ankylostomiasis.
Wiesbaden (J. F. Bergmann 1896); Derselbe,
Glückauf 1903, No. 12. Bericht über Ungarn,
No. 26 über Belgien; Barbier, Amtl. Bericht
über Belgien, übersetzt von Löbker (Leipzig
1903); Goldmann. Die Hygiene des Berg¬
manns etc. (Ungarn). Halle, W. Knapp 1903;
Derselbe, Die Ankylostomiasis etc. (W. Brau¬
müller, Wien 1900). Amtliche Mittheilungen im
Deutschen Reichs- u. Königl. Preuss. Staats¬
anzeiger 1903.
Aus der medicinisclien Klinik der Universität Breslau.
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. v. Strümpell.)
Beiträge zur Lichttherapie nach eigenen Versuchen.
Von Privatdocent Dr. Paul Krause, Oberarzt der Klinik.
Die Behandlung acuter Exantheme mit
rothem Lichte wurde zuerst im Jahre 1893
von Niels Finsen bei Pockenkranken
durchgeführt; er ging dabei von der schon
älteren Aerzten bekannten Beobachtung
aus, dass sich die tiefsten und zahlreich¬
sten Narben gerade an den dem Lichte
am meisten ausgesetzten Körperteilen
von Pockenkranken, besonders an den
Händen und im Gesichte finden, während
die vom Lichte geschützten Körperteile
viel weniger betroffen werden.
Finsen nimmt an, dass die chemischen
Strahlen durch reizende Wirkung bei der
Vereiterung der Pockenbläschen eine ätio¬
logische Bedeutung haben und kam des¬
halb consequenterweise zur Behandlung
seiner Pockenkranken mit rothem Lichte.
Nach Finsen’s Berichte wird dadurch
dieSuppuration unterdrückt resp. bedeutend
abgekürzt und gemildert; die Narbenbildung
wird aufgehoben, bezw. völlig verhindert.
Finsen’s Angaben wurden von vielen
Aerzten bestätigt, so von Lindholm,
Feilberg, Strandgaard, Krohn, En¬
gel, Naunyn u. A.
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Nach den zahlreichen vorliegenden Be¬
richten scheint thatsächlich diese Behand¬
lung der Variola einen grossen Fortschritt
zu bedeuten.
Es ist daher sehr begreiflich, dass durch
diese therapeutischen Erfolge Versuche
mit „rothem Lichte“ auch bei anderen
Exanthemen angeregt und durchgeführt
wurden, so berichten nach Bie, Chati-
niere, Backmann, Schüler über gün¬
stige Beeinflussung der Morbilli durch
„rothes Licht“, Krukenberg desgleichen
bei Erysipelkranken.
Krukenberg führt in seiner Arbeit
aus, dass er 18 Fälle von Erysipel (15 Ge¬
sichtserysipele und 3 Erysipele an anderen
Körperstellen) im rothen Zimmer behan¬
delt habe: „unter diesen 18 Fällen betrug
die Fieberdauer nach dem stets sofort be¬
wirkten Abschluss der chemisch wirk¬
samen Strahlen in 7 Fällen, weniger als
1 Tag, in einem Falle 1 Tag, in 2 Fällen
U/a Tage, in 2 Fällen 2 Tage, in 3 Fällen
2Va Tage, in 1 Fall 6 Tage, in 1 Fall
7 Tage“.
Schwere Complicationen hätten im All-
Orifinal fro-m
UNIVERSITtf OF CALIFORNIA
539
l>ecember
Die Therapie der Gegenwart 1903.
gemeinen gefehlt; nur in 2 Fällen sei eine
Pneumonie, resp. starker Haarausfall auf¬
getreten.
Der Vortrag Krukenbergs veran-
lasste mich, diese neue Behandlungsweise
bei den Erisypelkranken der medicinischen
Klinik in Breslau zu erproben.
Mit gütiger Erlaubniss des verstor¬
benen Herrn Geheimraths Käst wurde vor
IV 2 Jahren in der Isolirbaracke ein „rotes
Zimmer“ eingerichtet.
Die Fenster wurden mit Rahmen,
welche mit spektroskopisch geprüftem
„photographisch“ - rotem Stoffe ausge¬
kleidet waren, lichtdicht geschlossen, die
Thür durch eine rotbraune, dicke Filz¬
portiere desgleichen.
Ich bemerke, dass dadurch ein Raum
geschaffen wurde, welcher nur rothes Licht
enthielt, wie durch Exponirung photo¬
graphischer Platten wiederholt festgestellt
wurde.
Die Beleuchtung fand mit einer roten
Gaslampe statt, wie sie zu photographi¬
schen Zwecken benutzt wird. Eine ge¬
wisse Schwierigkeit erhob sich durch die
Sorge um genügende Lüftung; dieselbe
konnte nur durch eine etwa 1 qm grosse
Schiebeklappe, welche in einen dunklen
Corridor einmündet, in den Abend , resp.
in den Nachtstunden auch durch Oeffnung
der Oberfenster durchgeführt werden.
Ich bemerke, dass während der Ver¬
suche nur bei Abwesenheit von weissen
Strahlen gelüftet wurde.
Ich behandelte bisher im Ganzen 20
Erysipelkranke im „roten Zimmer“.
Auf Auszüge der Krankengeschichten
glaube ich hier verzichten zu sollen, da
ich weiss, wie ermüdend sie zu wirken
pflegen.
Ich erwähne kurz folgende Daten:
Unter den letzten 75 Erysipelkranken,
welche seit Ende 1900 in der medicinischen
Klinik behandelt worden sind, waren:
30 Männer, darunter 26 Fälle mit Ge¬
sichtserysipel.
45 Frauen, darunter 42 Fälle von Ge¬
sichtserysipel; die übrigen Fälle vertheilen
sich aut Erysipel der Brust und vor allem
der Extremitäten.
Die durchschnittliche Behandlungszeit
betrug 15,9 Tage.
Unter den im roten Zimmer behan¬
delten 20 Kranken befanden sich:
6 Männer und zwar mit Erysipelas fa-
ciei 5 Fälle; mit Erysipel der rechten Brust¬
seite 1 Fall.
14 Frauen, davon 13Fälle mit Erysipel,
faciei; 1 Fall mit Erysipel an den Beinen.
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Die durchschnittliche Behandlungsdauer
betrug 11,5 Tage.
Anders stellen sich die Zahlen, wenn
ich wie Krukenberg die Fieberdauer
berechne:
Ich bekam da bei den im roten Zim¬
mer behandelten Fällen durchschnittlich
4 3 gegenüber von 6,2 Tagen bei den oben
erwähnten 75 Fällen heraus.
Die meisten der behandelten Fälle
waren uncomplicirt; bei einem trat eine
Bronchopneumonie, bei einem zweiten Di-
lirium tremens, bei einem dritten Abscess-
bildung auf; ein Fall war durch Graviditas
complicirt; ferner befand sich darunter ein
Erysipelas migrans.
Dass das letztere durch die Behandlung
im roten Zimmer zum Stehen gekommen
oder bloss am Fortschreiten gehemmt wor¬
den wäre, habe ich nicht beobachten
können.
Was nun, abgesehen von der Fieber¬
dauer, den Verlauf betrifft, so kann ich
leider nicht sagen, dass ich den Eindruck
bekommen habe, die im roten Zimmer
behandelten Erysipelkranken hätten einen
günstigeren Krankheitsverlauf gezeigt, als
die auf andere Weise behandelten.
Subjectiv fühlte sich eine Reihe von
Kranken nicht sehr behaglich in dem roten
Lichte: ich bin nach meinen Beobachtungen
nicht berechtigt, wie Bi ne, F£r6 und
Gilles de la Tourette das rothe Licht
als ein nervenkräftigendes und excitiren-
des Mittel anzusehen. Die von französi¬
schen Autoren angeführten Beispiele sind,
soweit ich sehe, von deutscher Seite nicht
bestätigt: so wird von ihnen erzählt, dass
in der Fabrik für photographische Platten
der Brüder Lumi£re in Lyon diejenigen
Arbeiter, welche in den roten Sälen be¬
schäftigt waren, sich während der Arbeit
sehr aufgeräumt zeigten, sangen, mit lauter
Stimme raisonnirten und lebhafte Gesten
machten, während sie sofort ruhiger wur¬
den, wenn die roten Scheiben durch grüne
ersetzt wurden.
Jeder, welcher selbst photographisch
thätig war, wird mir bestätigen, dass ein
längerer Aufenthalt im roten Zimmer
nicht gerade anregend, viel eher nieder¬
drückend wirkt.
Thatsächlich will Oleinikow gesehen
haben, dass der Aufenthalt im roten Zim¬
mer bei Schwerkranken Delirien mit Hallu-
cinationen hervorrief, welche sofort schwan¬
den, als die Kranken in einen hellen Raum
gebracht wurden. Einer meiner Kranken,
welcher ein Delirium tremens bekam, zeigte
keine Abweichung von ar r* ^
68 *
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
540
Die Therapie der Gegenwart 1903.
December
Ponza hat im Gegensätze zu der Mit¬
teilung von Oleinikow nach einer Arbeit
aus dem Jahre 1876 beobachtet, dass grade
Melancholiker nach mehreren Stunden Auf¬
enthalt im rothen Zimmer gesprächig und
aufgelegt wurden, während rothes Licht
auf manikalische Kranke beruhigend wirkte.
Man sieht, dass auch in diesem Punkte
die Ansichten sehr wenig geklärt sind.
Unter meinen Kranken baten mich
jedenfalls mehrere inständig, dass ich sie
sobald wie möglich, aus dem roten Zim¬
mer in das „helle“ hinüberbringen Hesse,
sie könnten es bei dem fürchterlichen
rothen Lichte gar nicht aushalten.
Auch die Abschuppung verlief in ähn¬
licher Weise, wie bei den z. B. mit ge¬
wöhnlichem Borsalben verband Behandelten:
meist waren es grosse membranöse Fetzen,
seltener kleinere schuppen- oder kleien¬
artige; der Eintritt und die Dauer der Ab¬
schuppung wurde nicht nennenswert beein-
Femer konnte ich beobachten, dass
Blasenbildung bei Gesichtsrose im
roten Zimmer auftrat, dass bestehende
Blasen daselbst nicht schneller eintrock¬
neten, als im Tageslichte.
Die febrile Albuminurie blieb völlig
unbeeinflusst; auch eine complicirende
Bronchopneumonie erfuhr keine Besserung.
Die Leukocytenzahlen im Blute
wiesen keine Abweichungen von dem ge¬
wöhnlichen Befunde auf: ich fand im roten
Zimmer in einigen Fällen Leukocyten¬
zahlen zwischen 4000—8000, geradeso
wie im hellen Zimmer.
Die Beobachtung Krukenberg’s, dass
die besprochene Behandlungsart vor Re-
cidiven nicht schützt, kann ich nach meinen
Erfahrungen bestätigen.
Die Wirkung des roten Lichtes
wird bekanntlich allgemein nicht als speci-
fisch aufgefasst, sondern vielmehr nur als
solche, welche den schädigenden Einfluss
der chemischen, activen Strahlen abhält:
es ist aus dieser allgemein anerkannten
Meinung ohne weiteres einleuchtend, dass
die Wirkung des roten Lichtes beim Ery¬
sipel nicht viel anders sich verhalten kann,
als die jener Mittel, welche gleichfalls
einen licht- und luftdichten Abschluss be¬
wirken, wie z. B. Ichthyol, das neuerdings
von Gersuny empfohlene Siccativ, über
welche ich einige Erfahrung besitze: ich
kann mich des Eindrucks nicht erwehren,
dass thatsächlich diese Mittel der Behand¬
lung des Erysipels mit rothem Lichte eben¬
bürtig zur Seite stehen, vor ihr aber den
Vorzug der Einfachheit und Billigkeit
haben.
Durch Studium der Wachsthums-
Verhältnisse von Bacterien, speciell von
Streptococcen und Staphylococcen fand
auch ich, wie andere Forscher vor mir,
dass dieselben im roten Lichte etwas
weniger gut, als bei Lichtabschluss, da¬
gegen besser, als bei Tageslicht wuchsen;
also eine bactericide Wirkung kann dem
rothen Lichte nicht gut gerühmt werden.
Im Anschluss an die vorstehende Mit¬
theilung will ich kurz über eine bisher nicht
publicirte therapeutische Versuchsreihe be¬
richten, welche ich vor mehr als 3 Jahren
auf Anregung von Herrn Professor Rumpf
bei 51 Patienten ausprobirte, nämlich die
Bestrahlung von Kranken mit einem elek¬
trischen Scheinwerfer, wie derselbe zu
therapeutischen Zwecken von verschie¬
denen Seiten empfohlen und ausprobirt
worden ist; und zwar komme ich deshalb
hier darauf zurück, weil sich darunter auch
5 Erysipelkranke befanden.
Der elektrische Scheinwerfer wurde zur
Lokalbehandlung aller möglichen Erkran¬
kungen vor Jahren mit grosser Reklame,
wie auch heute noch viele Apparate zur
Lichttherapie, in den Handel gebracht.
Wir verwandten einen Schuckert-
schen Scheinwerfer mit und ohne blaue
Scheibe; die Patienten standen etwa U /2 m
davor; während der Brennpunkt etwa
1,36 cm von der Lichtquelle, 11 ,s von der
Scheibe entfernt war.
Nach Untersuchungen an mir und an¬
deren gesunden Personen stellte ich fest,
dass durchschnittlich ohne Scheibe 22 Se¬
kunden, mit blauer Scheibe etwa das Dop¬
pelte der Zeit in diesem intensiven Lichte
vertragen wurde; die dabei sich ent¬
wickelnde Wärme betrug durchschnittlich
42—45, einmal gegen 640 C.
Die Haut wurde darnach stets stark
hyperämisch, schwitzte lokal; bei wieder¬
holter Bestrahlung trat Bräunung der be¬
troffenen Hautstellen ein. Meist wurde
die Bestrahlung gut vertragen, nur einmal
sah ich bei kurz dauernder Belichtung von
20 Sekunden Auftreten von Blasen, welche
mit klar seröser Flüssigkeit gefüllt waren,
etwa 6 Stunden nachher; die Haut war
etwa 36 Stunden lang geschwollen und
mässig geröthet.
Nenrastheniker gaben wiederholt an,
während und nach der Beleuchtung sich
schlechter zu fühlen, als vorher.
Kranke mit Sensibilitätsstörungen, ich
erwähne besonders 2 Leprakranken mit
tuberöser Lepra, ertrugen die Bestrahlung
viel länger, der eine, 1 1 /a — 2 Minuten, ohne
dass Schädigungen eintraten.
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Dcccmbcr
Die Therapie der Gegenwart 1903.
541
Bemerkenswerth erscheint mir hier die ,
Beobachtung, dass ein Kranker mit Ge¬
sichtserysipel gleichfalls eine Bestrahlung
von 1 1 ,j Minuten aushielt — die Körper¬
temperatur ging am nächsten Tage kritisch :
herunter, man kann, wenn man will, diesen i
Fall als Glanzfall der eingeschlagenen '
Therapie betrachten; ich glaube persön- I
lieh mehr an ein zufälliges mir allerdings i
nicht erklärliches Zusammentreffen, da die j
übrigen 4 Fälle immer nur 20—24 Sekunden !
Bestrahlung aushielten und zu ihrer Hei¬
lung 12, 16, 17, 14 Male bestrahlt werden
mussten (2 Mal täglich).
Ich bin weit davon entfernt, aus diesen *
5 Fällen irgend einen weitgehenden Schluss j
machen zu wollen: doch scheinen mir die |
Resultate dieser der Rotlichtbehandlung |
conträr gegenüber stehenden Behandlungs¬
weise immerhin dahin verwerthet werden
zu können, dass bei beiden Arten der
Lichttherapie des Erysipels strenge Kritik
geboten erscheint: wie bei der medica-
mentösen Therapie des Erysipels führen j
auch hier die heterogensten Methoden zum
Ziele.
Von anderen Erkrankungen wurden der
Bestrahlung mit dem Scheinwerfer Fälle
von incipienter Lungentuberkulose (4),
Neuritis alcoholica ( 2 ), Neurasthenie ( 2 ),
Emphysema pulmonum (I), Cancroid des
Gesichts (1), Ulcus cruris (1), Diabetes ( 2 ),
Arthritis gonorrhoica ( 2 ) ohne jeden Erfolg
zum Theil 10—30 Mal unterworfen.
Zweifellos besser war das Resultat bei
chronischem Rheumatismus der ( Muskeln und
Gelenke (16 Fälle), Lumbago (10 Fälle),
Trigeminusneuralgie(1 Fall),Ischias (2Fälle);
sämmtliche Patienten gaben an, dass sie
unmittelbar während und nach der Behand¬
lung eine Besserung ihrer Beschwerden
fühlten, ein Zustand, der allerdings nicht
lange andauerte; zu irgend einem anhal¬
tenden Erfolge kam man erst, wenn meh¬
rere Dutzend Male bestrahlt worden war.
Litteraturverzciehniss.
1) Mittheilungen aus Finsen’s Licht¬
institut. — 2) Freund, Grundriss der ge-
sammten Radiotherapie. — 3) Rieder, im
Handbuch der physikalisehenTherapie. Heraus¬
gegeben von Goldscheider und v. Leyden.
— 4) Marcuse, Zeitschr. f. diätetische u. phy¬
sikalische Therapie. — 5) Haer, Münch, med.
Wochenschrift 1903. No. 42. — 6) Krukenberg,
Münch, med. Wochenschrift. 1902, No. 13.
Ans der inneren Abtheilung des städtischen Krankenhauses Frankfurt a. M.
(Direktor: Prof. Dr. von Noorden.)
Ueber die therapeutische Verwendung natürlichen Magen¬
saftes (Dyspeptine) bei Magenkranken.
Von Dr. Ludwig Carl Mayer, Assistent der Abtheilung.
Die Versuche und die Operations- 1
methode des russischen Physiologen Paw-
low veranlassten Herrn Dr. M. Hepp in
Paris, ein neues Mittel in die Behandlung !
verschiedener Magenerkrankungen einzu¬
führen.
Hepp wollte bei gewissen Magenerkran¬
kungen den fehlenden menschlichen Magen¬
saft durch einen anderen natürlichen er- !
setzen, der ihm in Acidität und Gehalt an I
wirksamen Fermenten möglichst gleich- !
kommt.
Die nachPawlow’s Methode beiThieren j
angelegte Magenfistel gestattete in kurzer
Zeit eine genügende Menge vollständig
reinen, durch Nahrung nicht verunreinigten
natürlichen Magensaftes gleichsam fabrik- !
massig zu erlangen. 1
Hepp machte seine ersten Versuche I
am Hunde, musste aber die Erfahrung j
machen, dass der so gewonnene Saft einen j
zu hohen Säuregehalt, ausserdem einen !
unangenehmen fauligen Geruch hatte.
Es gelang sodann am Schweine einen j
Magensaft zu erhalten, der ganz rein, ohne i
□ igitized by Google
unangenehmen Geruch, in seinen Eigen¬
schaften dem menschlichen sehr nahe
kommt.
Die Analyse dieses reinen natürlichen
Magensaftes, vom lebenden Schwein ge¬
wonnen, der „Dyspeptine", hat folgendes
Resultat:
(Für 1000 ccm berechnet.) Spec. Gew. bei
150 1008.
Acidität (für HCl. angegeben) . 2,25
Extract (trocken bei 100°) . . 22,60
Asche.4,67
Ci in organischen Verbindungen 2,29
CI in basischen Verbindungen
(K 2 0, Na 2 0, CaO etc.) . . . 1,87
Phosphorsäure.0,28
Schwefelsäure.0.03
Potasche.1,51
Natron.0,93
Magnesia.0,06
Kalk.0,20
Eisen (in FC 2 O 3 ).0,02.
Die Haltbarkeit der Dyspeptine ist recht
gut. In der Originalpackung kalt aufbe¬
wahrt, hält sie sich viele Monate lang; auf
Original fro-m
ÜNIVERSITY OF CALIFORNIA
54
Die Therapie der Gegenwart 1903.
December
Eis gelegt ist die Dyspeptine nach Jahren
noch in tadellosem Zustand und in voller
Wirksamkeit.
Die Erfolge, die He pp bei Anwendung
der Dyspeptine meldet, sind in fast allen
Fällen der verschiedenartigsten Magen-
affectionen hervorragend.
Wir haben hier in den letzten Monaten
die Dyspeptine bei einer Anzahl von Magen¬
kranken zur Anwendung gebracht. Ueber
die Erfolge, die wir erzielt, will ich im
Folgenden kurz berichten, indem ich zu¬
nächst aus der grossen Zahl der mit Dys¬
peptine behandelten Fälle einige ausführ¬
licher referire.
Fall 1. Frl. M. 24 J. Seit 2 Jahren ständige
heftige Magenbeschwerden. Schmerzen in der
Magengegend, Druckgefühl nach jeder Nah¬
rungsaufnahme. Appetitlosigkeit. Oefters Er¬
brechen. Abmagerung. Ohnmächten. Bis¬
herige diätetische Behandlung ganz ohne Er¬
folg. Magenbefund: Magen etwas dilatirt. Grosse
Curvatur in Nabelhöhe. Magensaft nach Probe¬
frühstück: 1. freie Hel 0, Gesammtsäure 26,
Milchsäure: Spuren. 2, freie Hel 0, Gesammt¬
säure 30. 3. freie Hel 0, Gesammtsäure 24.
Magenentleerung verzögert.
Es wurde dreimal täglich 15 ccm Dyspep¬
tine gegeben, mitten während der Mahlzeit,
anfangs bei leichter, vorwiegend flüssiger Diät,
wie vorher. Schon nach wenigen Tagen ver¬
ringerten sich die Magenbeschwerden und waren
nach 14 Tagen vollständig verschwunden.
Patientin konnte auch schwere Speisen ver¬
tragen und nahm in der Zeit von 3 Wochen
10 Pfund zu.
Die Secretion des Magens gestaltete sich
folgendermaassen. 1 )
16. Juli (am 8. Tage der Dyspept. Behand¬
lung) freie Salzsäure: Spuren. Gesammtsäure 30.
21. Juli freie Hel 10, Gesammtsäure 30. 24. Juli
freie Hel 10, Gesammtsäure 32. 28. Juli freie
Hel 14, Gesammtsäure 38.
Patientin stellt sich nach ihrer Entlassung
regelmässig vor. Sie ist bis heute vollständig
beschwerdefrei geblieben.
Fall 2. Fräulein M. S. 21 Jahre. Seit
5—6 Monaten Magenbeschwerden. Erbrechen.
Druck in der Magengegend. Uebelkeit. Appetit¬
losigkeit. Abmagerung. Kopfschmerzen. Keine
Magenerweiterung.
Nach Probefrühstück: 8. Juli 1. freie Hel
Spuren, Gesammtsäure 32. 9. Juli 2. freie Hel 0,
Gesammtsäure 24. 10. Juli 3. freie Hel 0, Ge¬
sammtsäure 28. Nach 40 Minuten.
Vom 10. Juli ab Dyspeptine täglich dreimal
15 ccm. Magenbeschwerden schwanden nun¬
mehr ziemlich rasch. Kein Erbrechen mehr.
Schliesslich konnten alle Speisen, auch die
schwersten, gut vertragen werden. Magen-
secretion: 15. Juli freie Hel 18, Gesammtsäure 40.
22. Juli freie Hel 14, Gesammtsäure 34. 27. Juli
Selbstverständlich wurde an den für die
Magenausheberung bestimmten Tagen morgens keine
Dyspcptinc gegeben.
Digitized by Google
freie Hel 32, Gesammtsäure 62. 1. August freie
Hel 22, Gesammtsäure 52. Gewichtszunahme
in 4 Wochen 107a Pfund.
Auch nach der Entlassung blieb Patientin
ganz beschwerdefrei.
Fall 3. Frau A. H. 34 J. Magenbeschwer¬
den seit 17s Jahren. Erbrechen, insbesondere
in der Frühe Schleimerbrechen. Appetitlosigkeit.
Uebelkeit. Druck und Schmerzen in der Magen¬
gegend. Magen ziemlich stark dilatirt. Grosse
Curvatur 2 Finger unterhalb des Nabels. Im
Magen alte Fleischreste etc. vom vorherigen
Tage. Probefrühstück: 28. Juni. 1. freie Hel. 0.
Milchsäure: schwach, Gesammtsäure 28. 4. Juni.
2. freie Hel. 0, Gesammtsäure 10. 5. Juni. 3. freie
Hel. 0, Gesammtsäure 0.
Vom 5. Juni ab täglich dreimal 15 ccm Dys¬
peptine während der Mahlzeit. Die Beschwer¬
den schwanden hier nur ganz allmählich. Das
Erbrechen trat nur noch in den ersten Tagen
zuweilen auf, blieb dann vollständig aus. Ebenso
schwanden auch alle anderen Beschwerden der
Patientin. Zuletzt wurden reichliche Mengen ge¬
mischter Kost gut vertragen, Magensecretion:
15. Juli freie Hel 10, Gesammtsäure 48. 22. Juli
Probefrühstück mit 10 ccm Dyspeptine, freie
Hel 14, Gesammtsäure 40. 29. Juli freie Hel. 16,
Gesammtsäure 38.
Am 2. August wurde mit der Darreichung
von Dyspeptine ausgesetzt. Patientin blieb ohne
Beschwerden bei gemischter Kost. 17. August
freie Hel. 18, Gesammtsäure 36. 18. August
freie Hel. 16. Gesammtsäure 50. Vom 19. August
ab wieder dreimal täglich 15 ccm Dyspeptine.
22. August freie Hel. 20, Gesammtsäure 50.
Bei der Entlassung am 27. August bestand noch
eine massige Magendilatation bis an den Nabel.
Patientin ganz ohne Beschwerden. Gewichts¬
zunahme 5 Pfund.
Fall 4. Fr. M. B., 37 Jahre. Seit 2 Jahren
Magenbeschwerden, Appetitlosigkeit. Fast täg¬
liches Erbrechen schleimiger Massen. Druck¬
gefühl im Magen nach jeder Nahrungsaufnahme.
Abmagerung. Patientin war unfähig zu arbeiten.
Befund: Magendilatation bis zum Nabel. Bei
Ausspülung des nüchternen Magens viel Schleim.
Freie Hel 0, Gesammtacidität 0, Milchsäure:
sehr pos.
Vom 18. Juli ab Dyspeptine täglich dreimal
15 ccm. Die Beschwerden der Patientin schwinden
alsbald. Das Körpergewicht steigt sofort um
4 Pfund. Gemischte Kost wird gut vertragen.
23. Juli freie Hei 0, Gesammtsäure 18. 27. Juli
freie Hel 0, Gesammtsäure 16.
Am 3. August wird Dyspeptine ausgesetzt.
Alsbald stellen sich wieder leichte Magen¬
beschwerden ein, Druck und Unbehagen nach
der Nahrungsaufnahme. Gemischte Kost wird
nicht mehr vertragen. Vom 17. August an
wieder Dyspeptine 3x15 ccm. Beschwerden
schwinden vollständig. Bei der Entlassung am
26. September ist Patientin ganz beschwerde¬
frei. Es werden alle Speisen vertragen. Eine
geringe Magendilatation besteht noch. 19. Sep¬
tember freie Hel 0. Gesammtsäure 14. Ge¬
wichtszunahme im Ganzen 8 Pfund. Auch
Original from ,
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
December
Die Therapie der
nach der Entlassung blieb Patientin bis jetzt
beschwerdefrei.
Fall 5. L. N. 27 J. Seit einigen Monaten
Druck nach dem Essen. Schmerzen in der
Magengegend. Zuweilen Erbrechen. Uebelkeit.
Appetitlosigkeit. Nach Probefrühstück freie
Hel 6. Gesammtsäurc 22. Bei Behandlung
mit Diät und Acid. mur. schwanden die Be¬
schwerden nicht, das Körpergewicht sank.
Vom 6. Oktober ab täglich 3x15 ccm
Dyspeptine. Schon nach den ersten Tagen
wurde Patientin ganz frei von Beschwerden.
Es konnte schon am 3. Tag gemischte Kost
gegeben werden. Das Körpergewicht stieg
sofort an. 10. Oktober freie Hcl30, Gesammt-
säure 46. 19. Oktober freie Hel 20, Gesammt-
säure 42. 23. Oktober freie Hel 20. Gesammt-
säure 44. Das Korpergcwicht war von 65.2 kg
am 5. Otober auf 68,1 kg am 23. Oktober ge¬
stiegen.
Patientin trat vollständig ohne Beschwerden
aus der Behandlung aus.
Ausser den angeführten Fällen wurden
noch eine grosse Anzahl anderer Magen-
aftectionen in ähnlicher Weise mit Dys¬
peptine behandelt. Es waren fast alles
schon seit langem bestehende Magen¬
katarrhe, theils mit vollständig fehlender,
theils mit sehr stark herabgesetzter Acidität,
die schon vielfach mit anderen Mitteln und
insbesondere mit vorsichtigster Diät be¬
handelt waren.
In allen Fällen konnten wir einen sehr
günstigen Einfluss der Dyspeptine kon-
statiren. Es erfolgte schon wenige Tage
nach Einsetzen der Dyspeptinebehandlung
ein Schwinden der subjectiven Beschwerden,
eine Steigerung des Appetits, ein langsames
Ansteigen des Körpergewichts. Fast
immer ergaben die wöchentlich 2 Mal
vorgenommenen Untersuchungen des
Magensaftes, dass freie Salzsäure wieder
vorhanden, die Gesammtacidität gestiegen
war. Allerdings nicht in allen Fällen Hess
sich dieser günstige und auffallende Einfluss
auf die Secretionsverhältnisse erzielen.
Von allen Patienten, die mit Dyspeptine
behandelt warden, hat uns keiner verlassen
ohne erhebliche Zunahme des Körper¬
gewichts und vollständiges Schwinden
aller vor dem seit langem bestandenen
Beschwerden.
Die Behandlung mit Dyspeptine wurde
immer über 5—7 Wochen ausgedehnt.
Auch nach Weglassen der Dyspeptine
blieben sämmtliche Patienten ganz ohne
Beschwerden.
Ich trete ganz der Ansicht von Dr. H epp
und anderen französischen Aerzten bei,
dass die Wirksamkeit der Dyspeptine eine
doppelte ist. Einmal ersetzt sie den in Folge
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Gegenwart 1903. 543
der Magenerkrankung unwirksamen oder
ganz fehlenden Magensaft, und trägt zu
einer raschen Verdauung bei; sodann in
zweiter Linie übt sie einen direkt heilenden
Einfluss auf die erkrankte Schleimhaut aus
und hebt die vorher daniederliegende
Secretion.
Von grossem Nutzen erwies sich die
Anwendung der Dyspeptine bei Tuber¬
kulösen, insbesondere bei schweren Phthi¬
sikern, deren Appetit vollständig darnieder¬
lag und deren Körpergewicht in stetem
Sinken war. Schon nach kurzem Gebrauch
der Dyspeptine Hess sich in der Mehrzahl
der Fälle eine Steigerung des Appetits
constatiren, sowie ein wenn auch geringes
Ansteigen des Körpergewichts. In zwei
Fällen war diese günstige Wirkung bis
zum Tode zu verfolgen, und ich kann
sagen, dass die Behandlung dieser hoff¬
nungslosen Fälle dadurch sehr erleichtert
wurde, indem die armen Kranken bis zu¬
letzt in der guten Hoffnung lebten, in Folge
des besseren Appetits und der grösseren
Nahrungszufuhr wieder langsam in die Höhe
zu kommen.
Eine weitere Gelegenheit zur Anwen¬
dung der Dyspeptine bot sich bei chloro-
tischen und anderen anämischen Zustän¬
den, die mit Appetitlosigkeit und Erbrechen
einhergehen. Dyspeptine wurde in solchen
Fällen mehrmals am Tage kurz vor der
Mahlzeit gegeben. Auch hier zeigte sich
ein günstiger Einfluss der Dyspeptine. Auf¬
hören des Erbrechens, Steigerung des Appe¬
tits und des Körpergewichts.
Die Dosis, in der wir Dyspeptine ge¬
geben haben, schwankte je nach Art und
Schwere des Falles. Bei lange bestehen¬
den chronischen Magenkatarrhen mit voll¬
ständig fehlender freier Salzsäure, bei
Magendilatation giebt man am besten
während und nach jeder Mahlzeit je
15 ccm Dyspeptine. Später wenn eine
günstige Wirkung bereits eingetreten
ist, genügt es vollkommen drei Mal am
Tage während der Mahlzeit 15 ccm zu ver¬
abreichen. Als Appetitmittel angewandt,
genügt es, wie bereits oben erwähnt,
l /2 Stunde vor jeder Mahlzeit 10—15 ccm
zu geben.
Die Art und Weise der Einführung der
Dyspeptine ist eine recht einfache. Ge¬
schmack und Geruch dieses reinen natür¬
lichen Magensaftes sind kaum unangenehm
und, wenn es sich nicht um sehr empfind¬
liche Patienten handelt, so kann man ihn
unverdünnt geben oder mit etwas Pfeffer¬
minzessenz vermischen. Bei anderen, in
Bezug auf Geschmack sehr eigenen Pa-
Qriginal from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
544
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Dccember
tienten, bewährte sich Zusatz kleiner Men¬
gen von Citronensaft oder von Bier.
Als Hauptindication für die Behandlung
mit Dyspeptine muss man alle Magenerkran¬
kungen, acute oder chronische, ansehen,
die mit verminderter oder ganz fehlender
Säuresecretion einhergehen. Die Dyspep¬
tine bietet dann nicht nur einen vollwerti¬
gen Ersatz für den fehlerhaften Magensaft,
sondern regt auch die Salzsäuresecretion
an; sie wirkt hier symptomatisch und heilend
zugleich. Sie übertrifft nach beiden Rich¬
tungen das künstliche Pepsin-Salzsäure¬
gemisch bei Weitem.
Die Dyspeptine gewährt ferner grosse
Vortheile als Appetit erregendes Mittel bei
Tuberkulose und Anämie. Wir dürfen sie
daher als ein vortreffliches „Stomachicum*
bezeichnen, das um so mehr zu begrüssen
ist, als die Zahl der wirklich brauchbaren
und wirksamen Stomachica gering ist. 1 )
Meinem verehrten Chef, Herrn Professor
von Noorden, spreche ich für die freund¬
liche Ueberweisung der Arbeit auch an
dieser Stelle meinen besten Dank aus.
Litteratur.
Gazette des Hopitaux, 28. Mai 1903, No. 62.
— Gazette des Hopitaux, 18. Juni 1903, No. 70.
Die Behandlung der Fissura ani.
Von Dr. M. Katzenstein-Bcrlin.
Das Krankheitsbild der mit Sphincter-
krampf einhergehenden Fissura ani ist
zwar jedem Praktiker genügend bekannt,
soll aber doch im folgenden kurz ent¬
worfen werden, um aus seiner Schilderung
folgerichtig eine ebenso einfache wie in
ihren Erfolgen befriedigende Therapie
dieser hartnäckigen und schmerzhaften
Krankheit entwickeln zu können.
Die Fissura ani ist ein kleines rhaga¬
denartiges Geschwür, das in den Falten
der Mastdarmschleimhaut versteckt liegt,
in seiner Grösse schwankt, zuweilen von
wallartigen Bändern umgeben und bei
der leisesten Berührung ausserordentlich
schmerzhaft ist und dann von einem Krampf
des Sphincter ani begleitet wird.
Die Frage nach dem ursächlichen Zu¬
sammenhang der Fissura ani und des
Sphincterkrampf ist vielfach erörtert wor¬
den, zuletzt wohl von Rosenbach. !)
Rosenbach meint, da Krampfzustände
auch bei anderen Organen vorkämen und
durch Beseitigung des Sphincterkrampfes,
nicht aber des supponirten Geschwüres
Heilung erzielt würde, dass eine Fissura
ani nicht die Ursache des Sphincterkrampfes
sein kann, dass vielmehr ein solcher ohne
andere Veranlassung möglich ist. Dieser
Sphincterkrampf ist nach Rosenbach’s
Auffassung die Folge motorischer Inner¬
vationsstörungen und Circulationsanomalien
bei Personen mit abnormen Circulations-
verhältnissen im Abdomen, bei Nervösen
und bei Kranken mit chronischem Reiz¬
zustand im Bereich der Sexualorgane.
Diese Erklärung Rosenbach’s ist sehr
geistreich, aber auch recht complizirt;
zweierlei ist dagegen einzuwenden.
*) Rosenbach, Zur Pathogenese und Therapie der
sogenannten Fissura ani. Berl. klin. Wochenschr.
1900, No. 10.
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Rosenbach erzielt nämlich oft schon
in wenigen Tagen durch mechanische Deh¬
nung des Sphincter eine Heilung des
Krampfzustandes in diesem Muskel. Wenn
chronische Circulationsstörungen im Ab¬
domen die Ursache dieses Leidens wären,
so könnte eine so rasche Heilung nicht
gut möglich sein oder häufig wiederkeh¬
rende Recidive wären unausbleiblich, da
die angebliche Ursache doch weiter be¬
steht. Dann habe ich in vielen Fällen von
Sphincterkrampf, die ich in Narkose zu
untersuchen Gelegenheit hatte, nicht einen
einzigen gesehen, bei dem nicht eine
Fissura ani bestanden hätte. König*>
schreibt in seinem Lehrbuch: „Erst wenn
man den After erweitert, indem man ihn
durch zwei hakenförmig eingeführte Finger
auseinanderzieht und somit die Falten
glättet, kommt das oberflächliche, meist
glatt und roth aussehende, leicht blutende,
nur selten in der Umgebung hart, infiltrirt
und gelblich belegte, myrtenblattförmige
Geschwür, die Fissura ani, zum Vorschein.
Aber die hierzu nothwendige Untersuchung
kann nur selten ohne Narkose vorgenommen
werden," .... Es ist daher leicht erklär¬
lich, dass die Fissura ani, die ohne Nar¬
kose oft gar nicht zu entdecken ist, von
Rosenbach nicht beobachtet wurde und
dass dieser Autor den Sphincterkrampf, die
auffallendste Begleiterscheinung der Fissura
ani, als Krankheit sui generis auffasst,
während wir in chirurgischen Lehrbüchern
und Arbeiten die zweifellos richtige Mei-
nungvorfinden, dass Sphincterkrampfimmer
die Folge der Fissura ani ist.
Wenn dies aber der Fall ist, so er-
*) Bezugsquelle: H. Derenburg, Generaldepot für
Deutschland. Frankfurt a. M. .
a ) F. König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie
1899, Bd. II, S. 534.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
545
December
I)ic Therapie der Gegenwart 1903.
scheint es doch seltsam, dass solch kleiner
Epitheldefekt so hochgradige Reizerschei¬
nungen hervorruft und dass die Heilung
dieses kleinen Geschwürs so schwierig ist
und so oft eingreifender Operationen bedarf.
Dieses auffallende Missverhältnis zwi¬
schen minimalem Epitheldefect und hef¬
tigstem langdauernden Sphincterkrampf
lässt sich leicht aus der Sonderstellung,
die der M. sphincter ani physiologisch ein¬
nimmt, erklären. Er ist der Muskel, der
einer durch die Peristaltik des Darms u. s. w.
fortbewegten Kothsäule einen Widerstand
entgegensetzt: die geringste Menge Koth
ruft reflektorisch durch mechanische Reizung
der in der Mastdarmschleimhaut gelegenen
sensiblen Nerven eine Contraction des M.
sphincter hervor, die die sofortige und
dauernde Entleerung der Faeces verhindert,
vielmehr deren Ansammlung in der Flexur
verursacht.
Diese Funktion des M. sphincter dürfte,
so segensreich an sich sie auch sein mag,
die Hauptursache der häufigsten Kultur¬
krankheit, der chronischen Obstipation,
sein; denn die durch die Peristaltik des
Darmes vorgeschobenen Kothmassen wer¬
den unter der Thätigkeit des M. sphincter
zurückgehalten; durch diesen dauernden
Widerstand wird eine Trägheit der Darm-
thätigkeit hervorgerufen, die als Haupt¬
ursache der chronischen Obstipation anzu¬
sehen ist.
Kontrahirt sich der M. sphincter ani
schon physiologisch so prompt, um wieviel
mehr, wenn der Reiz von einer epithel¬
losen Stelle der Darmschleimhaut ausgeht,
wenn der Reiz also einen frei liegenden
Nerven trifft. In solchen Fällen tritt eben
eine ausserordentlich heftige Contraction
des M. sphinter ein, ein schmerzhafter
Krampf. Dieser Krampf — und das ist
gerade charakteristisch für ihn — tritt nur
nach einem Reiz ein, sei es bei der Unter¬
suchung durch den Arzt, sei es bei und
nach der Kothentleerung.
Dieser durch die Kothentleerung auf¬
tretende Krampf des M. sphincter veran¬
lasst die mit Fissura ani behafteten Kran¬
ken die Faeces lange zurückzuhalten; in
Folge dessen werden diese durch ihre
Lagerung im Mastdarm immer fester und
härter und verursachen bei ihrer Entleerung
wieder neue Einrisse der Schleim häute.
Wenn somit der kleine Epitheldefect
die Ursache des ganzen Leidens ist, so
müsste durch dessen Heilung auch ein
vollkommenes Verschwinden aller Sym¬
ptome zu erzielen sein. Woran scheitert
denn diese kausale Therapie?
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Normaler Weise ist der Mastdarm ein
ausserordentlich dehnbares Rohr. Bei
Leuten, die an Fissuren leiden, entsteht
bei jeder Kothentleerung ein Sphincter¬
krampf: aus dem weichen, dehnbaren Rohr
wird ein starres, unnachgiebiges. Es können
demgemäss die Epitheldefekte nicht nur
nicht heilen, sondern es müssen immer
neue entstehen. Der Krampf ist also die
Folge des Epitheldefektes und zugleich die
Ursache eines neuen.
Bei diesem Circulus vitiosus darf also
die Therapie nicht eine kausale sein: ge¬
richtet auf die Fissura ani, sondern sie
muss auch deren Folge, den Krampf berück¬
sichtigen, sie muss auch symptomatisch sein.
Bisher hat man immer nur die eine
oder andere Therapie angewendet.
So ist bei Praktikern vielfach die An¬
wendung des Höllensteinstiftes beliebt. Man
will damit offenbar seine epidermisirende
Eigenschaft benutzen; diese ist aber zwei¬
fellos nur eine indirekte. Ein Haupthinder¬
nis der Epidermisirung einer Granulations¬
fläche bilden die hypertrophischen Gianu-
lationen, die durch Anwendung des Höllen¬
steinstiftes zum Niveau der umgebenden
Epithelschicht, durch deren Zelltheilung
eine Bedeckung der Granulationsfläche mit
Epithelien stattfindet, erniedrigt werden.
Bei der Fissura ani giebt es hypertrophi¬
sche Granulationen nicht, zumeist liegt der
Geschwürsgrund tiefer als die umgebende
Epithelschicht: das Geschwür ist von wall¬
artigen Rändern umgeben. Die Anwen¬
dung des Höllensteinstiftes zur Heilung
der Fissura ani hat also keine Aussicht auf
Erfolg und überdies ist sie so enorm
schmerzhaft, dass man sie den ohnedies
durch ihr Leiden heruntergekommenen
Kranken nicht zumuthen darf.
In gleicher Weise beabsichtigt die in
neuester Zeit von Czerny 1 ) angegebene
Methode lediglich eine Heilung der Fis¬
sura ohne Berücksichtigung des Krampfes.
Czerny excidirt die Fissur und vereinigt
die restirende Schleimhaut mit der äusse¬
ren Haut, ein Vorgehen, das eingreifend
ist und vor Rezidiven nicht schützt.
Zur Heilung des Geschwürs hat man
sonst noch mancherlei Mittel angegeben,
deren Einzelaufführung uns zu weit führen
würde.
Andere Autoren haben lediglich das
Hauptsymptom, den Spincterkrampf, be¬
handelt durch allmähliche oder gewaltsame
Dehnung des Sphincter ani.
l ) Vincenz Czerny, „Zur Behandlung der
Fissur und des Vorfalls des Mastdarms“, Beitr. z.
Chir., Bd. 37, S. 765.
tfrigiral frem
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
546
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Dceember
So berichtet Rosenbach über gute Er¬
folge, die er durch allmähliche Dehnung
des krampfartig zusammengezogenen
Sphincters erzielt hat; zunächst wird der
Finger, dann eine Bougie eingeführt. Diese
Behandlung dürfte, da sie das Haupt-
hinderniss der Heilung der Fissur, den
Sphincterkrampf, aufhebt, indirekt zweifel¬
los zur Heilung des hartnäckigen Leidens
führen — wenn sie durchführbar ist. Die
leiseste Berührung derFissura ani bei der
Kothentleerung oder bei vorsichtiger Unter¬
suchung ruft die entsetzlichsten Schmerzen
hervor; wie schmerzhaft muss da die Ein¬
führung des Bougies sein! Diese Behand¬
lung setzt eine enorme Willensenergie des
Patienten oder eine stark suggestive Kraft
des Arztes voraus.
Meist dürften die Patienten die opera¬
tive Behandlung ihres Leidens vorziehen,
die in tiefer Narkose eine gewaltsame
Dehnung oder Durchschneidung des
Sphincter ani bezweckt; hierdurch wird
der Krampf dieses Muskels aufgehoben
und eine Heilung der Fissura in wenigen
Tagen ermöglicht.
Diese operative Behandlung führt stets
zum Ziel; man wird sie aber nur in An¬
wendung bringen, wenn andere Methoden
im Stiche lassen. Denn bei der Operation
ist tiefe Narkose erforderlich, die Patienten
sind länger oder kürzer arbeitsunfähig und
ausserdem kommt doch nach tiefer Durch¬
schneidung des Sphincter zuweilen eine
Incontinentia alvi mit allen ihren unange¬
nehmen Begleiterscheinungen vor. Ich
habe zwei solche Fälle, von anderer Seite
operirt, gesehen.
Ich bin daher seit U /2 Jahren mit Er¬
folg bemüht gewesen, die Fissura ani und
ihre Folgeerscheinungen medikamentös zu
behandeln. Folgendes war hierbei zu be¬
rücksichtigen:
1. Die in der Fissur liegenden Nerven¬
endigungen mussten abgestumpft werden.
2. Der Krampf des Sphincters musste
schwinden, nur dann war
3. die Heilung der Fissura möglich.
Cocain macht die Fissur unem¬
pfindlich, grosse Dosen von Ex-
tractum Belladonnae hebt den
Krampf auf und das desinficirende
und die Oberfläche der Fissur
glättende Ammonium sulf-ichtyo-
licum bringt die Fissur zur Heilung.
Rp. Eoctract. BeUadonn . . . 0*5
Cocain mur .. 0 05
Ammon . sulf-ichtyol. ad 6'0
MDS. Vor dem Gebrauch erwärmen und uinschütteln.
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Wie ich in der Literatur sah, wurde
Belladonna schon im Jahre 1827 von La-
marque 1 ) und im Jahre 1838 von Du¬
puytren 2 ) bei Fissura ani empfohlen. Co¬
cain haben zweifellos schon viele Aerzte
versucht und ebenso Ichtyol z. B. Conitzer s >
van der Willigen 4 ). Eine Mischung aller
drei Mittel dürfte bisher noch nicht ange¬
wendet sein und gerade die gleichzeitige
gemischte Anwendung dieser drei Medi¬
kamente ist wichtig und hat mir in einer
grösseren Anzahl von Fällen ausserordent¬
lich gute Dienste geleistet; unter Anderem
bei einem Collegen, der trotz mehrraonat-
licher Behandlung mit allen möglichen Medi¬
kamenten colossal heruntergekommen war
und sich zwecks Vornahme einer Operation
an mich gewandt hatte. Bei dem Miss¬
trauen gegen alle Medikamente konnte ich
mein „neues“ Mittel nur schwer anbringen,
schliesslich gelang es mir, ihn zu einem
Versuch zu überreden, der so ausserordent¬
lich günstig verlief, dass ich weiter behan¬
deln durfte und in ca. 14 Tagen völlige
Heilung erzielte.
Allerdings kommt es darauf an, wie
man die Medikamente auf die Mastdarm¬
schleimhaut applicirt.
Es wird ein kleines Stückchen Watte
zu einem stricknadeldicken Faden auf¬
gewickelt und in die etwas angewärmte
Mischung eingetaucht. Der in Seitenlage
befindliche Patient hebt die obere Hinter¬
backe etwas an und durch Betastung der
den Anus umgebenden Haut, die schmerz¬
haft ist, wo sie der Fissura gegenüber
liegt, stellt man fest, wo die Fissura ge¬
legen ist. Hat man z. B. gefunden, dass
sie sich an der vorderen Commissur be¬
findet, dann legt man den imprägnirten
Wattefaden an die entgegengesetzte Seite,
also an die hintere Commissur und schiebt
nun vorsichtig der hinteren Mastdarmwand
entlang mit einer feinen Knopfsonde den
Wattefaden in den Mastdarm hinein. So
vermeidet man jede Berührung der Fissur
und macht die ganze Procedur zu einer
schmerzlosen. Das geschmeidige halb¬
flüssige Ichtyol dringt in alle Schleimhaut¬
buchten vor und gelangt so zu der Fissur,
Die Folge der ersten Einführung ist schon
ein Gefühl wesentlicher Besserung, das der
Patient äussert. Die Watte bleibt minde¬
stens 5 Minuten liegen und wird eventuell
vom Patienten durch das ausserhalb liegende
Ende entfernt oder bleibt bis zur nächsten
l ) Lamarque Nouv. bibl. m£d. t. II. 1827.
-) Dupuytren Bulletin de th£rapeutique 1838.
Conitzer. Münch, med.Wochenschrift, 1899, S.80.
4 ) Niederl. Zeitschrift f. Geburtskunde, 1893.
Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Deccmber Die Therapie der Gegenwart 1903. 547
Stuhlentleerung liegen, die meist schmerz- | Hebung der Beschwerden. Regulirung des
los verläuft. 8 bis 14 Tage täglich ein- j Stuhls, Verabreichung von Sitzbädern
bis zweimalige Application des Belladonna- beugen dem Neuauftreten dieses hart-
Cocain-Ichtyol führt zur vollkommenen näckigen, schmerzhaften Leidens vor.
Die dermatologisch wichtigen Bestandtheile des Theeres
und die Darstellung des Anthrasols . l )
Von Dr. H. Vleth-Ludwigshafen am Rhein.
lieber diejenigen Bestandtheile des
Theeres, welche in dermatologischer Be¬
ziehung seine charakteristische Wirkung
bedingen, findet man in der Litteratur
merkwürdiger Weise keine sicheren Daten.
Viele Autoren begnügen sich mit der An¬
gabe, dass die Phenole die wirksamen Be¬
standtheile des Theeres darstellen, oder
mit der negativen Feststellung, dass die
Harzsäuren der Holztheere an der derma¬
tologischen Wirkung wahrscheinlich nicht
betheiligt sind. Die Spärlichkeit dieser
Angaben ist um so auffallender, als der
Theer, diese Urmutter der organischen
Verbindungen, in chemischer Beziehung
sehr weitgehend untersucht ist. Man hat
ja z. B. aus dem Steinkohlentheer mehrere
Hundert Einzelbestandtheile isolirt und
chemisch genau untersucht; medicinisch
und gar dermatologisch ist über diese
Substanzen aber nur sehr wenig bekannt.
In den letzten Jahren ist die dermatologi¬
sche Theerlitteratur allerdings dadurch be¬
reichert worden, dass viele Vergleiche
zwischen der Wirkung des Steinkohlen-
theers und des Holztheers angestellt wur¬
den : die betreffenden Autoren sprechen
sich einstimmig zu Gunsten des Stein-
kohlentheeres aus.
Es schien mir nun von vornherein
wahrscheinlich, dass, ähnlich wie bei den
meisten natürlich vorkommenden Drogen,
auch beim Theer eine oder mehrere Reihen
verwandter Substanzen als wirksam zu be¬
trachten, während die übrigen Bestand¬
theile in medicinischer Beziehung als Ballast
anzusehen sind und darum zweckmässig
entfernt werden könnten. Um nun diese
wirksamen Bestandtheile kennen zu lernen,
wurde so vorgegangen, dass mehrere
Gruppen von Einzelbestandtheilen, die
sich durch eine gemeinsame chemische
Eigenschaft auszeichneten, aus dem Theer
herausgezogen und sowohl diese Extracte
als die übrigbleibende Theermasse auf
ihre Wirksamkeit geprüft wurden.
Der rohe Theer wurde zu diesem Zweck
in folgende 4 Antheile zerlegt;
Vortrag, gehalten in der dermatologischen Ab¬
theilung der Naturforscher-Versammlung zu Cassel.
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1. Bestandtheile, die mit Alkali extrahir-
bar sind, also hauptsächlich die sauerstoff¬
haltigen Verbindungen, Phenole und
Säuren,
2. Bestandtheile, die mit Mineralsäure
extrahirbar sind, also hauptsächlich die
stickstoffhaltigen Basen, wie Pyridin und
Ctfnolin,
3. alle Bestandtheile, welche nach Ent¬
fernung der bisher genannten aus der
übrigbleibenden Theermasse ira Vacuum
abdestillirt werden können, hauptsächlich
die Theerkohlenwasserstcffe,
4. das Pech, welches bei der Destillation
als Rückstand bleibt.
Von diesen 4 Gruppen ist lediglich die
erste bisher medicinisch genau untersucht.
Diese Untersuchungen sind allgemein be¬
kannt und zum Theil sehr eingehend, ist
doch sogar der Unterschied der 3 isomeren
Kresole, o-, m- und p-Kresol, wenigstens
toxikologisch ausführlich studirt worden.
In dermatologischer Beziehung kommen
aus dieser Gruppe der Sauerstoffverbin-
dungen hauptsächlich die Phenole in Be¬
tracht, welche zweifellos einen wichtigen
Antheil an der Theerwirkung haben, da
sie von allen Theerbestandtheilen am
stärksten juckstillend wirken.
Der Steinkohlentheer enthält bekannt¬
lich hauptsächlich Phenol und Kresol,
welche beide juckstillende Mittel par ex-
cellence sind, der Holztheer hauptsächlich
Kreosot, welches ebenfalls sowohl in Salbe
als pur eingerieben vorzüglich juckstillend
wirkt. Es hat gegen erstere den Nach¬
theil, dass es im Wasser sehr wenig lös¬
lich ist und ausserdem viel unangenehmer
riecht. Diese Phenole unterscheiden sich
ferner dadurch, dass das Kreosot am
wenigsten ätzend wirkt, das Phenol am
meisten. Das Kresol steht in der Mitte.
Entfernt man diese Gruppe der Phenole
durch erschöpfende Alkali*Extraction voll¬
ständig aus dem Theer, so wirkt der Rück¬
stand zweifellos weniger juckstillend als
die Phenole selbst und auch als der ur¬
sprüngliche Theer; die anderen Eigen¬
schaften des Theeres aber, seine Wirkung
auf chronische Ekzeme, seine kerato-
69*
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
548
Die Therapie der Gegenwart 1903.
December
plastische Kraft, sind nach wie vor stark
ausgeprägt als Beweis, dass die Theer-
wirkung nicht etwa von den Phenolen
allein ausgeht, vielmehr fehlen diesen
gerade die für den Theer charakteristischen
und wichtigsten Eigenschaften.
Wir müssen also die Untersuchung
weiter fortsetzen. Zu diesem Zweck extra-
hiren wir nun den Theer mit Mineralsäure.
Wir erhalten dadurch als Extract des
Steinkohlentheeres die Basen, hauptsächlich
Pyridin und Chinolin, während der Holz-
theer so gut wie gar keine säurelöslichen
Bestandtheile liefert. Diese Basen besitzen
nicht nur einen höchst widerlichen, anhaf¬
tenden Geruch, sondern sie sind auch
recht giftig; da ihre Menge ausserdem
ziemlich gering ist, so wurde von eiAer
dermatologischen Prüfung vor der Hand
abgesehen.
Wir kommen nun zur dritten Gruppe,
zu den Theerkohlenwasserstoffen, und
hierin sind diejenigen Bestandtheile zu er¬
blicken, welche für die eigentliche derma¬
tologische Wirkung die Grundlage bilden.
Der Steinkohlentheer enthält als Kohlen¬
wasserstoffe besonders die Glieder der
Benzol-, Naphtalin-, Anthracen- und Phe-
nanthrenreihe, der Holztheer enthält mehr
Terpene. Einige Vorversuche orientirten
darüber, dass beim Steinkohlentheer die
höher siedenden Kohlenwasserstoffe die
Hauptrolle spielen.
Um die hiermit verbundenen Fragen
vor allen Dingen mit möglichster Gründ¬
lichkeit zu untersuchen, mussten die reinen
Kohlenwasserstoffe für sich, von allen
anderen Bestandteilen befreit, dermato¬
logisch geprüft werden. Ausser meinem
Mitarbeiter, Herrn Dr. Sack, in dessen
Sanatorium für Hautkrankheiten zu Heidel¬
berg diese Produkte etwa ein Jahr lang
fast täglich angewandt wurden, hat noch
eine Reihe anderer Dermatologen sich in
freundlicher Weise an der Prüfung dieser
Theerpräparate betheiligt. Es kann nach
diesen sehr zahlreichen, von verschiedenen
Seiten mit dem gleichen Resultate aus¬
geführten Prüfungen keinem Zweifel
unterliegen, dass abgesehen von der Juck-
stillung die eigentliche Theerwirkung mit
diesen Kohlenwasserstoffen verbunden ist.
Ganz besonders möchte ich vom Stein¬
kohlentheer die flüssigen Methylnaphtaline
hervorheben, vom Holztheer die aus ol.
cadini gewonnenen Kohlenwasserstoffe.
Medicinisch sind diese Substanzen bis¬
her anscheinend nirgends versucht worden;
auch toxikologisch war darüber nichts be¬
kannt. Bei Versuchen an Kaninchen stellte
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ich fest, dass innerliche Gaben von etwa
V 2 g keinerlei Erscheinungen hervorriefen.
Bei Gaben über 1 g trat vorübergehende
leichte Albuminurie ein, selbst nach 4 g
erholten sich die Thiere nach einigen Tagen
wieder. Die Kohlenwasserstoffe wurden
entweder pur oder mit Olivenöl gemischt
per Schlundsonde gegeben. Die Giftigkeit
dieser Kohlenwasserstoffe scheint also ge¬
ring zu sein. Bei der dermatologischen
Anwendung wurden bisher in keinem Falle
irgendwelche toxische Wirkungen beob¬
achtet, trotzdem oft grosse Hautflächen mit
dem Präparate pur eingerieben wurden.
Vor dem gewöhnlichen Naphtalin zeichnen
sich die erwähnten Methylnaphtaline (haupt¬
sächlich Mono- und Dimethylnaphtalin) da¬
durch aus, dass sie bei gewöhnlicher Tem¬
peratur flüssig sind und ein hohes
Durchdringungsvermögen für die Haut be¬
sitzen; sie härten die Haut beim Einreiben
in charakteristischer Weise, wovon man
sich auch im Thierexperiment ein Bild
machen kann, wenn man unverletzte Haut¬
stellen mit diesen Kohlenwasserstoffen be¬
streicht.
Bei der bereits erwähnten dermato-
therapeutischen Prüfung wurden die ver¬
schiedenartigsten Hautkrankheiten, beson¬
ders auch subacute und chronische Ekzeme,
mit diesen reinen Theerkohlenwasserstoffen
behandelt, theils wurden sie pur, theils in
alkoholischer Lösung, meist aber als 20o/ 0 ige
Vaselin-Salbe verwendet. Stets zeigte sich
die charakteristische Theerwirkung, nur die
juckstillende Kraft war etwas schwächer
als beim gewöhnlichen Theer.
Als den letzten der Eingangs erwähnten
Theerbestandtheile haben wir noch das
Pech zu betrachten. Das Pech wurde
früher in Form der Pechpflaster als wenig
differente Klebemasse öfter angewandt.
Zur Heilung von Hautkrankheiten ist es
unbrauchbar, schon weil es wegen seiner
Zähigkeit und Unlöslichkeit weder ge¬
löst, noch in Salben verrieben werden
kann. Für die Theerbehandlung scheint
es aber nicht nur nutzlos, sondern sogar
schädlich zu sein. Durch seine Klebrigkeit
verhindert es das Eindringen der flüssigen
Theerbestandtheile in die Haut, verschliesst
die Ausführungsgänge der Follikel und er¬
zeugt, da es nicht von der Haut resorbirt
werden kann, Reizung und Theerakne.
Aus den bisherigen Darlegungen geht
nun deutlich hervor, welcher Weg für die
Darstellung eines gereinigten Theeres
einzuschlagen war, der nur die dermato-
therapeutisch wirksamen Bestandtheile ent¬
halten sollte. Zu diesem Zweck musste
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Decembcr
549
Die Therapie der
vor allem das Pech entfernt werden, welches
beim Steinkohlentheer etwa eine Menge
von 50 — 60 o/o ausmacht. Ausserdem konn¬
ten auch die Pyridinbasen als relativ gif¬
tige und übelriechende Bestandteile be¬
seitigt werden. Es würden dann in dem
erhaltenen gereinigten Theere in der
Hauptsache nur die Phenole und die
Kohlenwasserstoffe Zurückbleiben, welche
sich ja als die dermatologisch wirksamen
Antheile erwiesen hatten.
So einfach diese Aufgabe Anfangs er¬
schien, so stellten sich doch dadurch grosse
Schwierigkeiten ein, dass nach der Ex¬
traction der Basen mit Säure und der Ab¬
trennung des Peches durch Destillation
dasAnfangs helle Präparat sich sehr schnell
wieder schwarz färbte und beim Stein¬
kohlentheer sich ausserdem in zwei Theile,
einen festen und einen flüssigen, trennte.
Das schnelle Nachdunkeln wird durch ge¬
ringe Mengen chemisch noch nicht auf¬
geklärter Substanzen veranlasst, welche
besonders unter dem Einflüsse von Luft
und Licht sich rasch schwarz färben. Die
Verhältnisse liegen hier jedenfalls ähnlich
wie beim Phenol, welches bekanntlich auch
sehr schwer farblos und haltbar zu be¬
kommen ist. Neuerdings wurde ja an¬
genommen, dass minimale Mengen schwefel¬
haltiger Verbindungen die Rotfärbung des
Phenols bedingen. Der vom Pech und
von den Basen befreite Teer wurde nun
einer Reihe chemischer Reinigungsprozesse
unterworfen, wodurch es schliesslich ge¬
lang, die das Nachdunkeln verursachenden
Substanzen zu entfernen, während die
festen Ausscheidungen des Steinkohlen-
theers durch Mischung mit gereinigtem
Wachholdertheer verflüssigt werden konn¬
ten. Diese festen Antheile, welche sonst
sehr schwer löslich sind, lösen sich näm¬
lich auffallender Weise gerade sehr leicht
in Wachholderholztheer; die erhaltene
Lösung von Steinkohlentheer in Holztheer
stellt ein Oel dar etwa von der Consistenz
und Farbe des Olivenöls.
Dieses Präparat ist unter dem Namen
„Anthrasol“ in die Therapie eingeführt
worden. Eine vorläufige Mittheilung über
die dermatologische Brauchbarkeit des
Anthrasols ist vor etwa einem halben Jahre
von Dr. Sack und mir in der Münchener
Medicin. Wochenschrift publicirt worden. 1 )
Leider war bei der ursprünglich an¬
gewandten Reinigungsmethode der grösste
Theil der Phenole während des Prozesses
verloren gegangen, was erst später be¬
merkt wurde, sodass das Präparat anfangs
*) Siehe Manch. Med. Wochenschrift 1903, No. 18.
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Gegenwart 1903.
; weniger juckstillend wirkte. Dieser Uebel-
! stand ist jetzt beseitigt und wir können
wohl sagen, dass das jetzige Anthrasol
l alle wirksamen Bestandtheile des Stein-
' kohlentheeres wie des Wachholdertheeres
in unveränderter chemischer Beschaffenheit
enthält. 1 )
i Es ist noch zu erwähnen, dass dem
Präparat als Geruchscorrigenz eine geringe
Menge Ol. menthae zugesetzt ist.
In unserer ersten Publikation haben
wir besonders betont, dass der neue Thecr
völlig reizlos sei. Diese Behauptung ist
1 dahin zu modificiren, dass das Anthrasol
( zwar reizloser ist als der gewöhnliche
; Theer, dass aber doch in einzelnen seltenen
i Fällen Reizerscheinungen bei Anwendung
j von Anthrasol beobachtet werden. Unter
| etwa 100 Fällen wurden von Dr. Sack nur
j 2 solche Fälle gesehen, während der Pro-
| centsatz der Fälle, die gewöhnlichen Theer
! nicht vertragen, erheblich grösser zu sein
i pflegt. Wiederholt wurden Patienten mit
| reizbarer Haut beobachtet, welche Anthra-
! sol selbst hinter den Ohren und am Scro-
tum ohne die geringste Reizerscheinung
vertrugen.
Die mit Anthrasol hergestellten Theer-
salben und sonstigen Zubereitungen be¬
stechen zunächst durch ihre Farblosigkeit.
Dies ist nicht nur wichtig bei der Behand¬
lung sichtbarer Körpertheile, sondern auch
dort, wo man am bekleideten Körper einen
Verband vermeiden will. Das Anthrasol
kann mit der Leibwäsche in Berührung
kommen, es beschmutzt dieselbe in keiner
Weise. Einzelne Patienten mit pruriginösen
Affectionen haben sich monatelang täglich
mit Anthrasolsalbe eingerieben und das
Hemd direct darüber getragen.
Eine oft sehr zweckmässige Grundlage
für Anthrasol ist die Glycerinsalbe. Um
das Anthrasol mit der officinellen Glyce¬
rinsalbe gut verreiben zu können, ist es
nöthig, ein wenig Lanolin zuzusetzen, etwa:
Anthrasol . 3,0
Lanolin . 3,0
Uno . glycerini . . . ad 30,0
Diese Beimischung von 10% Lanolin
ist auch sonst empfehlenswerth, da die
Glycerinsalbe hierdurch Eigenschaften er¬
hält, welche sie einer viel ausgedehnteren
Anwendung fähig macht, als dies ohne
Lanolin möglich ist.
Die genannte zehnprocentige Anthrasol-
glycerinsalbe, welche sich auch durch
Billigkeit auszeichnet, hat sich besonders
! ) Das Anthrasol wird von der Chem. Fabrik
Knoll & Co., Ludwigshafen a. Rh. in den Handel
gebracht.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
550
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Dccember
bei Pruritus ani bewährt und ist hierbei der
früher von uns empfohlenen zehnprocent.
spirituösen Lösung noch vorzuziehen. Die
juckstillende Kraft des Anthrasols gelangt
hier vorzüglich zur Entfaltung und ausser¬
dem fällt das lästige Brennen weg, das der
Spiritus auf Schleimhäuten verursacht. Es
ist oft zweckmässig, neben der Anthrasol-
salbe die bekannten heissen Analdouchen
von 50—53 0 C. anzuwenden, die mit einem
einfachen Irrigator applicirt werden können
und schon für sich allein Gutes leisten.
Von dieser combinirten Behandlung mit
heissen Douchen und Anthrasolsalbe oder
auch mit der Salbe allein wurden selbst
bei sehr hartnäckigen Fällen, die jahrelang
bestanden hatten, so gute Resultate erzielt,
dass die Patienten, die von dieser Affection
oft ausserordentlich belästigt werden, von
der guten Wirkung überrascht waren.
Die populärste Anwendungsweise des
Theeres ist wohl die als Theerseife. Es
werden nun jetzt mittelst Anthrasol auch
farblose Theerseifen hergestellt, welche
unter dem Namen Anthrasolseife oder
farblose Theerseife erhältlich sind. Auch
Combinationen mit Schwefel, Salicylsäure
und anderen Medicamenten werden in
Seifenform unter entsprechenden Bezeich¬
nungen dargestellt. Diese Seifen weisen
allein durch ihren Geruch auf ihren Theer-
gehalt hin und dürften wohl berufen sein,
an die Stelle der schwarzen Theerseifen
zu treten. Die milde Theerwirkung, die
diese Seifen entfalten, leistet z. B. bei dem
Juckausschlag der Kinder gute Dienste.
Bezüglich der übrigen Anwendungs¬
weisen des Anthrasols möchte ich auf die
bereits mehrfach erwähnte erste Publi-
cation verweisen. Bei einem Präparate wie
diesem, welches ja keine neuen, dem Arzte
unbekannte Principien enthält, sondern
nichts anderes ist als der allbekannte,
tausendfältig erprobte Theer, nur in anderer,
reinerer Erscheinung, ergeben sich die
Indicationen von selbst. Vielleicht vermag
der Theer in dieser neuen Form einen
Theil jener Beliebtheit als Heilmittel wieder¬
zugewinnen, der er sich in der alten Me-
dicin erfreute. Haben wir es doch jetzt
nicht mehr mit jenem schwarzen klebrigen
Mixtum compositum von schwankender und
teilweise unbekannter Zusammensetzung zu
thun, sondern mit einem ganz bestimmten,
reinen Präparate über dessen Einzelbe-
standtheile wir in chemischer wie medici-
nischer Beziehung nunmehr genau unter¬
richtet sind.
Zusammenfassende Uebersicht.
Sammelreferate über neuere Erfahrungen in der
Säuglingsernährung.
Von Dr. H. Flnkelsteln,
Privatdocent und Oberarzt am Kinder-Asyl und Waisenhaus der Stadt Berlin.
I. Stillende Frauen.
In immer weiterem Umfang entziehen
sich die heutigen Mütter der Aufgabe, die
Ernährerinnen ihrer Kinder zu sein. Nach
statistischen Erhebungen ist die Zahl der an
der Brust aufwachsenden Säuglinge in stän¬
diger Abnahme begriffen. Zwang der so¬
cialen Verhältnisse, Unfähigkeit zum Stillen,
freier Entschluss oder Besorgniss vor Ge¬
sundheitsschädigungen wirken in gleicher
Weise am Zustandekommen dieser Er¬
scheinung mit. Und nicht nur das Selbst¬
stillen verliert an Häufigkeit; auch die Be¬
reitwilligkeit, eine Amme zu nehmen, ist
wesentlich geringer geworden. Nicht immer
begründet der Kostenpunkt diesen Verzicht;
vielleicht ebenso oft fallen die Abneigung
gegen die bekannten mit der Amme in die
Familie einziehenden Unannehmlichkeiten,
die Furcht vor Ansteckung und schliesslich
wohl auch ethische Bedenken entscheidend
ins Gewicht. Und man wendet sich um so
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leichter der künstlichen Ernährung zu, als
das Vertrauen zu deren Leistungen im
letzten Jahrzehnt in Laienkreisen erheblich
gewachsen ist.
Während dessen vollzieht sich unter
den Aerzten eine direct gegenläufige Be¬
wegung. Bei aller Schätzung der guten
Folgen der Uebertragung der aseptischen
Methoden in die Kinderernährung, bei
aller Anerkennung der Leistungen der
Nährmittelindustrie und sonstiger Fort¬
schritte ist man heute mehr als je über¬
zeugt, wie unendlich weit jede Art der künst¬
lichen Ernährung hinter der natürlichen
zurücksteht. Eindringlicher denn je zuvor
führt die Forschung des Tages die funda¬
mentalen, in feinster biologischer Specifität
begründeten und darum niemals überbrück-
baren Unterschiede beider Ernährungs¬
methoden vor Augen; mehr als je wird
klar, welche Gefahren bakterieller und che¬
mischer Natur bei der dauernden Einfüh-
Qriginal from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
December
Die Therapie der Gegenwart 1903.
551
rang des fremdartigen Nährstoffes drohen.
Und weiter als jemals früher werden die
Grenzen gezogen, welche das Gebiet der
mit der künstlichen Aufzucht verbundenen
Störungen begrenzen. Denn nicht allein die
Magendarmentzündungen und die in Be¬
einflussungen der Gewichtsverhältnisse aus¬
gedrückten eigentlichen Ernährungsstörun¬
gen fallen in ihr Bereich: mehr und mehr
wird es klar, dass die Tetanie der Kinder,
dass Laryngospasmus. dass die Mehrzahl
der Eklampsieen, dass gewisse Formen von
Anämie und manches Andere aufs Engste
mit der Kuhmilchernährang in Beziehung
stehen.
So ist es denn nur allzu gerechtfertigt,
wenn von Seiten der Aerzte heute mit
besonderem Nachdruck der Mahnruf zu
Gunsten der natürlichen Ernährung ertönt.
Zu gleicher Zeit aber ergiebt sich die Not¬
wendigkeit, die Gründe zu untersuchen,
welche die drohende „Stillungsnoth“ im
Gefolge haben.
Es haben sich darum in den letzten
Jahren Geburtshelfer und Kinderärzte mit
erneutem Eifer der Frage der Brust¬
ernährung zugewendet. Werthvolle ein¬
schlägige Arbeiten entstammen deutschen
und namentlich auch französischen Entbin¬
dungsanstalten. Noch schätzenswerthere,
weil über lange Beobachtungsperioden sich
erstreckende Mittheilungen haben die erst
in neuester Zeit entstandenen Säuglings¬
heim- und Heilanstalten geliefert. Mancher¬
lei Neues ist bekannt und manches werth¬
volle Alte, aber nicht genügend Vertraute
nachdrücklich wieder hervorgehoben wor¬
den. Soweit diese Erfahrungen für die
Praxis von Wichtigkeit sind, sollen sie
nachstehend kurz zusammengefasst werden.
Ueber die Ursachen des Rückganges
des Stillens sind bereits im December-
heft dieser Zeitschrift eine Anzahl von
Aeusserungen referirt worden, die darum
hier nur kurz wiederholt werden sollen.
Es hat sich ergeben, dass sociale Fac-
toren, — wenn man von dem Sonderfall
der unehelichen Mutter absieht, — nur in
einem nicht allzu erheblichen Bruchtheil
das Hinderniss darstellen (Grätzer, 1 ) Nord¬
heim 2 ). Für den Rest haben einige For¬
scher Erklärungen zu geben versucht, die,
wenn sie zutreffend wären, alle Gegen¬
bestrebungen nahezu aussichtslos machen
würden. Der Basler Physiologe Bunge, 8 )
welcher dieses Versagen der Brust als
Eigenart ganzer Familien gleichzeitig mit
verschiedenartiger und gehäufter erblicher
Belastung (Alkoholismus, Nervenkrank¬
heiten, Tuberkulose) aufgefunden zu haben
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glaubte, sieht in ihm eine Theilerschei-
nung einer noch in anderen Sym¬
ptomen sich äussernden allgemeinen
Degeneration des Stammes. Nach
einer anderen Auffassung (Hegar, 4 )
Bollinger 5 ) liegt hier nicht ein Zeichen
allgemeiner Entartung, sondern eine
isolirte vererbte Hypoplasie und
functionelle Schwäche der Drüse
vor, die entstand, weil das Organ Gene¬
rationen hindurch nicht in Anspruch ge¬
nommen wurde.
Nach neuesten Feststellungen erscheinen
diese Anschauungen glücklicherweise nicht
zutreffend. Während Hegar die Zahl der
zum länger andauernden Stillgeschäft un¬
tauglichen Mütter auf 30%, Fehling auf
50% schätzt, haben die exakten Nach¬
forschungen von Mme. Dluski, 6 ) Mar¬
fan, 7 ) Blacker 8 ) gezeigt, dass in den
ärmeren Volksschichten bei 99%, in den
gutsituirten bei 90% aller Frauen die Drüse
functionirt, oft in reichem, ja überreichem
Maasse, zum Mindesten aber bis zu dem
Grade, dass wenigstens ein Allaitement
mixte möglich wird. In gleichem Sinne
sprechen die Erfahrungen von Strauss (J )
aus der Münchener Entbindungsanstalt und
von Schlossmann 10 ) und Referent 11 ) aus
ihren Säuglingsheimen.
Bei gar manchem Praktiker wird diese
Behauptung von der fast ausnahmslosen
Eignung zum Stillgeschäft dem Ein wand
begegnen, dass nach seinen Erfahrungen
in so und so vielen Fällen trotz redlichster
Bemühung aller Betheiligten der Versuch
schliesslich aufgegeben werden musste,
weil „nichts da war“. Dem ist zu ant¬
worten, dass man zu früh abgebrochen hat.
Denn nach den neueren klinischen Erfah¬
rungen ist selbst dann, wenn zunächst
eine kaum nennenswerthe Secretion vor¬
handen ist, bei beharrlicher Geduld ein
Ergebniss noch möglich. Tage- und
Wochenlang kann die gelieferte Menge fast
Null sein oder wenigstens nur einen sehr
geringen Theil des kindlichen Nahrungs¬
bedarfes ausmachen und zur Beigabe der
Flasche zwingen. Aber allmählich hebt
sich die Production. Fälle, wo erst nach
2 , 3, 5 Wochen der Zufluss etwas reich¬
licher wurde, sind zur Genüge bekannt
und nicht Wenige wurden noch nach
2 , 3 und mehr Monaten nicht nur noth-
dürftige, sondern selbst reiche Milchspende¬
rinnen (Schlossmann 12 ), Comby 18 )
Budin 14 ), Eigene Beobachtungen).
Zur Erreichung dieses Zieles bedarf,
es nur eines: der regelmässigen,
vollkommenen Entleerung der Brust
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
552
Die Therapie der Gegenwart 1903.
December
durch einen kräftigen Säugling.
Dies ist der specifische Reiz, der selbst
die trägste Drüse allmählich zur Arbeit
weckt. Schwache und „trinkfaule“ Neu¬
geborene freilich werden hier wenig ver¬
mögen und desshalb wird in der Praxis
ein Ergebniss oft ausbleiben, wo in der
Klinik durch Anlegen eines fremden,
starken Kindes noch Erfolg erzielt worden
wäre.
Dieser Nachweis der auch heute noch
weit verbreiteten Befähigung zum Stillen
ist der erste Gewinn der neueren Unter¬
suchungen. Der zweite besteht in der
Feststellung, dass die einmal in Gang
gebrachte Brust ihre Leistungen zu
früher ungeahnter Ergiebigkeit zu
steigern vermag. Einmal den Mengen
nach. Der Durchschnitt der in Säuglings¬
anstalten beschäftigten Frauen liefert pro
Tag 11—1200 g (Schlossmann); nicht
wenige jedoch — nach des Referenten
Erfahrung ein Drittel und mehr — geben
bis 2003, bis 2500, eine kleine Zahl über¬
schreiten auch diese Ziffern und in Aus¬
nahmefällen vermag das tägliche Milch¬
quantum für längere Perioden 3—372 Liter
zu erreichen (Schlossmann 12 ),Referent 11 ).
Der Factor, der die Drüse zu so intensiver
Thätigkeit anregt, ist auch hier wieder die
systematisch ausgeübte Entleerung durch
gut saugende Kinder. Dabei hat sich nun
die interessante Thatsache ergeben, dass
— natürlich innerhalb gewisser Grenzen —
die Milchproduction in engster Ab¬
hängigkeit von der Anforderung
steht. „L’augmentation suit les demandes“
(Budin 14 ), Lesnay 15 ). Bei einer leistungs¬
fähigen Stillenden z. B., welche den Be¬
darf eines Kindes mit beispielsweise
etwa 900 g deckt — steigt die Milch¬
menge innerhalb weniger Tage vielleicht
auf 1500, wenn ein zweites Kind versorgt
werden soll; ein drittes und viertes ver¬
mag diese Ziffern noch höher zu treiben.
Eine besondere merkwürdige Bestätigung
dieser Anpassungsfähigkeit bilden
Fälle wie die von Quillier 10 ) mitgeteilten,
deren Vorkommen ich bestätigen kann:
Bei Müttern, deren eine Brust in Folge
von Mastitis ausser Function trat, hob
sich innerhalb kurzer Zeit die Leistung
der anderen soweit, dass sie nunmehr
allein zur Ernährung des Kindes ausreichte.
Ausser über die Menge sind auch über
die Dauer der Lactation interressante
Daten gesammelt worden. Von 245 durch
Planchon 17 ) controiirten Müttern stillten
158 (64,4%) wenigstens bis zum siebenten
Monat und 87 von 132 hatten noch im
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14. Monat soviel Milch, dass sie noch das
Allaitement mixte durchführen konnten.
Eine Ergänzung erfahren diese Angaben
durch die Beobachtungen aus den Säug¬
lingsheimen, welche zeigen, dass auch das
„degenerirte“ Weib unserer Culturstaaten
noch heute ganz hervorragender Leistungen
fähig ist. Schlossmann 12 ) sah nach 14
und lömonatigem Stillen noch ein täg¬
liches Quantum von 1800, Referent nach
12monatigem noch 2000—2500; eine andere
Frau seiner Beobachtung lieferte in all¬
mählichem Anstieg im ersten Halbjahr
15—2700, ein weiteres Vierteljahr 3000 bis
3500, ein weiteres Halbjahr 2000—2500
und jetzt im 18 Monat post partum noch
1500 g täglich.
Eine Beförderung ungenügender
Milc hsecretion durch andere Beein¬
flussung als den physiologischen Reiz des
Saugens erscheint in ihrer Möglichkeit
zweifelhaft. Jedenfalls sind hier Modi-
ficationen in der Nahrung zwecklos.
Selbstverständlich ist reichliche Absonde¬
rung nur bei entsprechender Zufuhr von
Nährstoffen und Flüssigkeit denkbar und
umgekehrt leidet bei Appetitlosigkeit oder
Hungerkost auch die beste Brust; aber der
Versuch, die spärliche Secretion einer gut
genährten Frau durch Mast zu heben, ist
nach übereinstimmenden Erfahrungen nutz¬
los. Selbst der in besonderem Rufe
stehende Alkohol hat sich durch Rose¬
manns 18 ) Untersuchungen zum mindesten
für das Thier als wirkungslos erwiesen.
Die gegenteiligen Folgerungen Stumpfs
erklären sich dadurch, dass dieser Forscher
seine Untersuchungen in die Zeit spon¬
tanen Anwachsens der Secretion ausführte.
Auch die Wirkung der Lactagoga ist
nur mit grosser Vorsicht zu beurteilen. Der
schon früher empfohlenen Somatose (ref.
v. Hey mann 2°) reihen sich neuerdings
Roborat (Baur 21 ), Tropon (Pletzer 22 ),
Nährstoff Heyden (Flachs 23 , Hefel-
mann 19 ) an, zuletzt das noch wenig geprüfte
Lactagol. Die gelegentliche günstige
Wirkung dieser Präparate kann wohl
kaum geleugnet werden. Aber sie wirken
wohl mehr durch Anregung des Appetites
oder dadurch, dass sie zur Ausdauer im
Anlegen aufmuntern und die nun spontan
wachsende Function der Drüse zu Unrecht
auf ihr Conto stellen lassen. Für eine spe¬
cifische Beeinflussung liegt kein irgendwie
vertrauenswürdiger Fingerzeig vor.
Die Frage der Contraindicationen
des Stillens bei vorhandener Fähigkeit
ist neuerdings mehrfach angeschnitten und
in verschiedener Weise beantwortet wor-
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Dceember
553
Die Therapie der Gegenwart 1903.
den. Man kann sich des Eindrucks nicht
erwehren, dass hier oft Geburtshelfer und
Hausärzte und vor allem Hebaminen zu
sehr um die Mutter besorgt sind, so dass
das Kind oft unnötigerweise zu kurz
kommt. Ein etwas stärkeres Angegriffen- !
sein durch das Wochenbett, einige ziehende J
Schmerzen im Rücken oder andere geringe
Gründe sind viel öfter selbst bei einfachen
Frauen die Ursache des frühzeitigen Ab¬
setzens, als ernstere körperliche Anomalien.
Der Kinderarzt, der die an der Flasche
erkrankten Kleinen heilen soll, hört oft mit I
innerem Kopfschütteln die unbedeutenden |
Ursachen, welche zur Entziehung der !
Mutterbrust und damit mittelbar zur Krank- |
heit des Kindes führten. Er selbst kennt, !
nachdem die Erfahrung berufener Kliniker !
namentlich in Frankreich (Budin u. A )
gezeigt haben, dass selbst albuminurische
Wöchnerinnen, dass Herzkranke, Idioten, Hy¬
sterische etc. schadlos nähren können, mit
Heubnei 24 ), Czerny 25 ), Marfan 26 ) nur
eine generelle Contraindication. die Tuber¬
kulose. Im übrigen ist von Fall zu Fall zu
urteilen nach dem Gesichtspunkt, ob Appetit
und Körperkraft derart sind, dass eine Ab¬
gabe mehrerer 100 Calorien täglichen der
Milch compensirt und schadlos ertragen
werden kann. Schlossmann 12 ) geht so¬
gar so weit, auch die stationäre Tuberkulose
nicht für ein absolutes Hinderniss anzu¬
sehen. Angesichts des Umstandes, dass
durch dasStillen die für das Kind vorhandene
Infectionsgefahr nicht vermehrt wird, dass
ferner der häufig während des Stillens
stattfindende Fettansatz bei den Frauen
diese Zeit geradezu als eine Zeit der
Mästung kennzeichnet, sieht er, auf mehr¬
fache Erfahrungen gestützt, bei gutem Appe¬
tit — zunächst allerdings nur bei vordem
in schlechten Verhältnissen befindlichen
Frauen — das Stillen eher als günstig wie
als schädlich an. Die Berechtigung dieser
Anschauung bleibe vorläufig noch dahin¬
gestellt.
Eine häufige Indication zum Absetzen
oder zum Wechsel der Stilenden ist für
viele Aerzte die Annahme einer quali¬
tativ nachtheiligen Beschaffenheit
der Milch. Sie pflegt erschlossen zu
werden, wenn die Stühle der Kinder
häufiger werden und das sogenannte
dyspeptische (grüne, hackrige, dünnere)
Aussehen annehmen. Dreierlei wird
hier als Ursache zumeist in Betracht ge¬
zogen: abnorme Mischung der gewöhn¬
lichen Bestandtheile (namentlich zu grosser
oder zu geringer Fettreichthum), Beimen¬
gung unbekannter, nach Art der Acria
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wirkender Stoffe etwa durch ungeeignete
Diät, Zustände der Ernährerin, besonders
Menstruation. Häufig glaubt man eine
Analyse der Milch vornehmen zu müssen
und wenn dann Abweichungen vom Durch¬
schnitte entdeckt werden, so gilt das Erst¬
genannte für erwiesen. Indessen sind diese
Schlüsse hinfällig, wenn man die neueren
! Arbeiten über die Chemie der Frauen¬
milch (Sammelreferat Thiemich 27 ), Gre¬
gor 28 ), Schloss mann 29 ) betrachtet. Wenn
auch der Durchschnittsgehalt auf etwa 1 °/ 0>
Eiweiss, 4% Fett und 7% Zucker und
entsprechenden Salzen angegeben werden
darf, so schwanken die Werte selbst bei der¬
selben Frau, in verschiedenen Lactations-
zeiten, nach verschiedenen Stunden, ja selbst
nach den verschiedenen Entleerungsphasen
derart, dass auch auflallende Werte der
Einzelanalyse nichts Pathologisches dar¬
stellen. Die Beimengung abnormer Stoffe
entzieht sich vorläufig noch unserem Nach¬
weis. Einen positiven chemischen Befund
in einem solchen Fall, das Ausbleiben der
Storch’schen Reaction*) glaubte Nord¬
mann 3°) gemacht zu haben, jedoch wurde
die generelle Inconstanz dieser Reaction
von Thiemich 81 ) erwiesen. Die Einfluss¬
losigkeit der Menstruation auf Befinden
der Kinder und chemisches Verhalten der
Nahrung hat in Einklang mit früheren Be¬
obachtern neuerdings wieder B e n d i x 32 >
festgestellt.
Aus dem Gesagten erhellt zum Mindesten,
dass chemische Analysen der Milch
für die in Rede stehenden Fälle keine
Klärung bringen und also überflüssig
sind. Und ebenso überflüssig und aus¬
sichtslos ist es, die Beschaffenheit der Milch
durch diätetische Vorschriften ändern zu
wollen. Die absolute Einflusslosig¬
keit der Ernährungs- und Lebens¬
weise — abgesehen natürlich von Unter¬
ernährung — auf die Beschaffenheit der
Milch, soweit sie der Analyse zugängig
ist, darf als gesichert gelten (Sammel¬
referat Thiemich 34 ), Temesväry 34 )
und in gleichem Sinne sprechen die kli¬
nischen Beobachtungen an in Anstalten
nährenden Frauen (Budin 14 ), Schloss¬
mann 12 ), Referent) für die Gleichgültigkeit
der Diätform. Damit ist auch die ängstliche
Beaufsichtigung der Diät der Stillenden
überflüssig. Die Frau darf — natürlich in
vernünftigen Grenzen — essen und trinken,
was und wieviel ihr schmeckt und selbst
der Alkohol, den Schlossmann 12 ) verwirft,
: ) 1 Theelöfel Milch giebt mit 1 Tropfen 0,2 °/o
HaO a -Lösung und 2 Tropfen 2°/o Paraplienylendiamin-
lösung Blaufärbung.
70
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
554
Die Therapie der Gegenwart 1903.
December
ist in massiger Menge durchaus erlaubt.
Was würde wohl, wenn das Bier schädlich
wäre, aus den bayrischen Säuglingen?
Diese Thatsachen haben manche
(Thiemich 28 ) 34 ), Kieseintzky 36 ) davon
überzeugt, dass es überhaupt keine
zu beanstandende Frauenmilch
giebt. In der That sind die beim
Säuglinge zu beobachtenden Erscheinungen
oft nur durch Fehler der Darreichung —
namentlich Ueberfütterung — zu erklären
oder es handelt sich vielfach garnicht um
etwas Pathologisches. Die sogenannten
dyspeptischen Stühle, die so oft die Ge-
müther aufregen, verbinden sich zumeist mit
ungestörtem Gedeihen der Kinder, so dass
sie nicht den geringsten Grund zur Diät¬
änderung bieten, sondern als gleichgiltige
äussere Form vernachlässigt werden können.
Wenn somit in der Frage der Bekömm¬
lichkeit der Milch sehr viele festgewurzelte
Meinungen sich als unbegründete Vor-
urtheile erweisen, so ist doch zuzugeben,
dass — wenn auch sehr selten — Kinder
Vorkommen, die bei derselben Frau, welche
andere Kinder mit Erfolg stillt, nicht ge¬
deihen und krankhafte Darmsymptome dar¬
bieten, an einer anderen Brust aber sich
bessern. Und schliesslich kommen Kinder
vor, die überhaupt Frauenmilch nicht
vertragen. Hierher gehören die Kinder mit
sogenannten „angeborenen Pylorusspas-
men“ und eine wohl nah verwandte Gruppe,
in denen die Neigung zu spastischen Er¬
scheinungen hauptsächlich in einer Art
Colica flatulenta sich äussert, die nach
Darreichung von Kuhmilch schwindet.
Auch betreffs der Ursachen des früh¬
zeitigen Rückganges der Milch müssen
manche Vorurtheile über Bord geworfen
werden. Der Einfluss von Aufregung ist
trotz aller Erzählungen durch keinen ein¬
wandfreien Fall gesichert, ebenso pflegen
zahlreiche Frauen die Menstruation schad¬
los zu überstehen (Budin 14 ), Bendix 82 ).
Sogar bei neuer Gravidität kann aus¬
nahmsweise die Milch noch lange Zeit
erhalten bleiben (Budin). In den
meisten Fällen ist fehlerhafte Be¬
handlung der Brust oder der
Stillenden der Grund. Wir haben
schon nachdrücklich darauf hingewiesen,
dass nur eine regelmässige Entleerung der
Brüste durch das Saugen die Secretion in
Gang erhält. Saugschwache Kinder ver¬
derben deshalb schnell die beste Brust,
ebenso unvernünftiges Anlegen in kurzen
Zwischenräumen oder gar an beide
Brüste, so dass keine recht leer wird.
Von grösster Wichtigkeit ist auch der
schädliche Einfluss aller Ueberwachung,
Künstelei und Zwang in der Ernährung,
die Nöthigung zur Vertilgung fader
Suppen etc., worunter die Esslust leidet.
Wenn eine Amme nicht einschlägt, ist
mindestens eben so oft das ihr über¬
gebene Kind oder die Umgebung schuld,
als die Person selbst. Am besten sehen
das die Leiter von Säuglingsheimen;
wochenlang als gut bewährte Frauen kehren
nach Kurzem aus den Familien, wo sie
Amme waren, zurück, weil sie die Milch
verloren hätten. Zum Theil ist diese that-
sächlich vermindert — aber nach 2—3
Tagen geregelter Thätigkeit beginnt wieder
der ergiebige Anstieg (Schlossraann 12 ),
Referent). Das so vielfach in der Praxis
beklagte schnelle Versagen Anfangs viel¬
versprechender Ammen ist in den An¬
stalten unbekannt — ein weiterer Beweis,
wie nichts anderes als ungeschickte Be¬
handlung der Stillenden die Ursache des
Verlustes ist.
Hier noch etwas über die Behandlung
der Mastitis. Schlossmann 12 ), welcher
die Milchstauung für nachtheilig hält, lässt
bis zur Reifung des A l bscesses, wenn kein
Eiter in die Milch gelangt, weiter anlegen,
andernfalls oder bei zu grossen Schmerzen
wenigstens abziehen. Nach der Incision
wird ebenso verfahren. Zweckmässiger,
weil dadurch viele Entzündungen zurück¬
gehen, ist jedoch wohl die alte Methode der
Ausserfunctionssetzung der kranken Seite.
Wenn nach einigen Tagen Fieber und
Schmerzen sichtlich nachlassen, kann
einmal täglich, später öfter Milch entzogen
werden; auch so gelingt es die Secretion
zu erhalten. Quillier 16 ) hat noch nach
30tägiger Ruhe die geheilte Brust wieder
in Gang gebracht!, Referent selbst nach
10 tägiger Pause.
Zum Schluss noch einiges über die
Ammenfrage. Weit entfernt von der
Menge der früher aufgestellten Forderungen
wird jetzt nur Gesundheit der Amme und
genügende Milchsecretion als ausschlag¬
gebend hingestellt. Insbesondere ist auch
die Dauer der Lactation gleichgiltig. Alte
Ammen sind für Neugeborene höchstens
dann nicht rathsam, wenn ihre Milch zu
reichlich fliesst. Die Feststellung des Vor¬
handenseins der beiden Grundeigenschaften
bietet jedoch die bekannten, durch ein¬
malige Untersuchungen nicht zu erledigen¬
den Schwierigkeiten, Hier streben nach
dem Vorbilde der Schlossmann’schen An¬
stalt (Schlossman 10 ) die Säuglingsheime
eine willkommene Reform an. Dort wer¬
den die Frischentbundenen mit dem Kinde
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
555
Dccembcr
Die Therapie der Gegenwart 1903.
aufgenommen. erholen sich, werden zur
Leistungsfähigkeit herangezogen, und ihre
Anwesenheit kommt nicht nur dem eigenen,
sondern auch anderen kranken Kindern der
Anstalt zu Gute. Nach längerem Aufenthalt,
in dem Gesundheit und Milchreichthum
genügend zuverlässig festgestellt werden
konnte, werden sie in die Familie entlassen
zu einer Zeit, wo ihr eigenes Kind über
die Hauptgefahren hinaus ist. Auch weiter¬
hin bleibt das nunmehr in Pflege gebrachte
Kind in der Aufsicht der Anstalt. So wird
zugleich die Qualität der Amme gefördert,
die Ansteckungsgefahr beseitigt und durch
Versorgung des Kindes das Odium des
Inhumanen auf ein Minimum vermindert.
Nicht zum wenigsten ist auch die Be¬
kämpfung der Misswirthschaft der Ver-
mietherinnen ein Vortheil. Ganz in ähn¬
licher Weise streben Escherich, 37 )
Pfaundler, 88 ) Weiss 3y j u. A. die Neu¬
regelung des Ammenwesens an.
Mit Recht macht Schlossmann V1 ) auf¬
merksam auf die Ungerechtigkeit, welche
darin besteht, dass eine früher gute Amme,
nachdem sie wegen ungeschickter Behand¬
lung oder wegen Saugschwäche des Kindes
die Nahrung verloren hat, einfach abgelohnt
wird, nachdem ihr durch fremde Schuld
das verloren ging, womit sie unter anderen
Umständen monatelang sich bezw. ihr Kind
erhalten hätte. Dass auch diese Seite der
Ammenfrage einer Berücksichtigung bedarf,
ist billigerweise nicht abzulehnen.
Litteratur.
1) Grätzer, Ein. üb. d. Ernähr, b. d. Berl.
Arbeiterbevölkerung. Jahrb. f. Kinderh. 35.
2) Nordheim, Beiträge zur Frage der |
Stillungsnoth. Archiv f. Kinderheilkunde. 31. — !
3) Bunge. Die zunehmende Unfähigkeit der j
Frauen, ihre Kinder zu stillen. München 1900. —
4) Hegar, Brüste und Stillen. Deutsche med.
Wochenschrift 1896, No. 34. — 5) Bollinger,
Ueber Säuglingssterblichkeit und die ererbte
functionelle Atrophie der Milchdrüse. Corr. Bl. d.
Deutsch, anthropol. Gesellsch. 1899, No. 10. —
6) Mme. Dluski, Contrib.ä l'etude de l’allaitem.
maternel. These de Paris 1894. — 7) Marfan,
Le pouvoir d’allaiter a-t-il diminue chez les
femmes des nos jours. Rev. mens. d. malad,
d. l’enf. Janv. 1902. — 8) Blacker, cit. bei
Marfan. — 9) Strauss, Das Stillungsvermögen
der Puerperae d. Münchener Frauenklinik. In.-
Diss, 10) Schlossmann, Ueber Errichtung
und Einrichtung von Säuglingskrankenanstalten.
Archiv für Kinderheilkunde 33. — 11) Finkei¬
stein uud Ballin, Die Waisensäuglinge Berlins
. etc. Urban und Schwarzenberg 1903. — 12)
i Schlossmann, lieber die Leistungsfähigkeit
der weiblichen Milchdrüsen und über Indication
| und Contraindication zum Stillen. Monatsschr.
; für Geb. u. Gyn. XVII, 1903. — 13) Comby,
cit. nach Marfan, Traite de rallaitement. II Ed.
i S. 246. — 14) Budin, le Nourrisson. Paris
1900. — 15) Laisney, de laugment. progress
de la secret lactce. These de Paris 1903. —
16) Quillier, de 1‘augmcnt de la secret lactöe
suiv. la demande. l’obstötrique 1902, VII, S. 291.
— 17) Planchon, Duröe de lallaitement au
sein, l'obst^trique VII, S. 193, — 18) Rose-
! mann, Pflüger’s Archiv LXXVIII, 1900, — 19)
I Hefelmann, Somatose, Tropon, Nährstoff
I Heyden. Allgemeine medicinischeCentralzcitung
I 1899, No. 40. — 20) Heymann, Deutsche
Medizinalzeitung 1898, No. 59. — 21) Baur,
i Einfluss des Roborats auf die Milchsecretion.
i Centralblatt f. Gyn. 1902, No. 34, — 22) Pletzer,
Zur Ernährung stillender Frauen. Münchener
; medicinische Wochenschrift 1899, No. 46. —
1 23) Flachs, Praktische Gesichtspunkte zur
j Säuglingsernährung Archiv f. Kinderheilkunde
j 33. — 24) Heubner, Pentzold Stintzing, Hand-
! buch der Therapie IV. — 25) Czerny und
Keller, Die Kindes-Ernährung und Ernährungs-
; Störung etc. — 26) Marfan, Traite de l’allaite-
ment. Paris 1903. — 27) Thiemich, Ueber
Veränderungen der Frauenmilch durch physi-
! logische und pathologische Zustände. Monats-
j schrift für Geburtshilfe und Gyn. VIII. — 28)
Gregor, Fettgehalt der Frauenmilch etc. Volk-
j manns Vortr. N. F. No. 302. — 29) Schloss-
] mann, Zur Frage der natürlichen Säuglings-
| ernährung. Archiv für Kinderheilkunde XXX.
| — 30) Nordmann, Ueber ein. posit. ehern-
| Bef. bei Unverträglichkeit der Muttermilch.
Monatsschrift fürGeb. und Gyn. 1902 — 31)Thie-
mich, Ueber die Storch’sche Reaction etc. ibid.
1903. — 32) Bend ix, Einfluss der Menstruation
auf die Lactation. Chariteannalen 24. — 33)
Bend ix, Beiträge zur Ernährungsphysiologie
der Säuglinge. MünchenermedicinischeWochen-
schrift 1900, No. 30. — 34) Thiemich, Ein-
| fluss der Ernährung und Lebensweise auf die
Zusammensetzung der Frauenmilch. Monats¬
schrift für Geb. und Gyn. IX. — 35) Temes-
väry, Einfluss der Ernährung auf die Milch¬
absonderung. Pest. med. chir. Presse 1900,
No. 34. — 36) Kieseintzky, Ueber Frauen¬
milchuntersuchung vom klinischen Standpunkt.
Petersburger medicinische Wochenschrift 1901,
No. 3. — 37) Escherich, Errichtung einer
Ammen - Vermittlungsstelle in Graz. Mittheil,
des Vereins der Aerzte in Steiermark 1903.
— 38) Pfaundler, Zur Lohnammenfrage.
Wien. klin. Wochenschr. 1903 No. 32. —
39) Weiss, Die Säuglingsheilstätten. Wiener
med. Presse 1903, No. 6.
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70*
Original frorn
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1
556 Die Therapie der Gegenwart 1903. Dcccmber
Bücher besprech u ngen.
Goldscheider. Diagnostik der Krank¬
heiten des Nervensystems. Dritte
verbesserte und vermehrte Auflage.
Berlin, Fischers medicin. Buchhandlung,
M. 8,—
Aus der bescheidenen Form eines klei¬
nen Compendiums, das sich freilich bereits
in der ersten Auflage durch Selbstständig¬
keit und Gründlichkeit der Darstellung von
vielen unter dem Namen Compendium
gehenden Compilatorien vortheilhaft unter¬
schied, hat sich Goldscheider’s Buch
in der zweiten und noch mehr in der
vorliegenden dritten Auflage zu einem
methodischen Lehrbuch der Untersuchung
von Nervenkranken ausgewachsen. Dass
ein Autor, dessen Arbeiten für wichtige
Gebiete der diagnostischen Methodik grund¬
legend geworden sind — ich erinnere an
die Sensibilitätslehre, an die Untersuchun¬
gen über Störungen der Sprache und
Schrift u. A. m. — hierzu besonders be¬
rufen war, bedarf keiner Begründung. Ein
Hinweis darauf ist aber vielleicht um so mehr
am Platz, als Goldscheider's eigener
Antheil an dem Aufbau des neurologisch¬
diagnostischen Lehrgebäudes in dem Buch
nirgends hervorgehoben ist, so dass der
Fernstehende kaum ahnt, wieviel eigenste
Ideen und Untersuchungen des Verfassers
hier als organische Bestandtheile einer
bescheiden und objectiv referirenden Dar¬
stellung sich eingefügt haben.
Die wichtigeren wissenschaftlichen Er¬
werbungen der letzten Jahre sind in der
neuen Auflage ausreichend berücksichtigt.
Auch in Bezug auf Abbildungen und Ta¬
bellen hat das Buch an Vollständigkeit und
Uebersichtlichkeit noch gewonnen.
Die Eintheilung * ist die frühere ge¬
blieben. Das erste Capitel ist den Unter¬
suchungsmethoden gewidmet, dann folgt
die allgemeine Symptomatologie in einer
bei aller Kürze geradezu erschöpfenden
Darstellung. Der Elektrodiagnostik und
der Untersuchung von Sprache und Schrift
ist entsprechend der Eigenart und der
differencirten Ausbildung dieser Methoden
je ein besonderes Capitel zugetheilt. Es
folgt ein fünftes Capitel über die topische
Diagnose, das in klarer Knappheit des
Ausdrucks und geschickter Auswahl der
Abbildungen zu den gelungensten gehört,
und als Schlusscapitel die specielle Dia¬
gnostik, die entsprechend der pädagogischen
Absicht des Verfassers in erster Linie
eine Anleitung zur Kranken-Untersuchung
zu geben, gewissermaassen nur als „An-
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hang“ behandelt, doch auf 80 Seiten
in präcisester Form alles Wissenswerthe
enthält.
Dem Praktiker, dem es mit der Unter¬
suchung seiner Nervenfälle ernst ist und
der sich daneben über den neuesten Stand
der neurologischen Wissenschaft rasch zu
orientiren wünscht, kann man keinen zu¬
verlässigeren Führer empfehlen.
Laudenheimer (Alsbach bei Darmstadt).
E. Jacobi. Atlas der Hautkrank¬
heiten mit Einschluss der wichtig¬
sten venerischen Erkrankungen.
Für praktische Aerzte und Studirende.
155 farbige und 2 schwarze Abbildungen
auf 86 Tafeln, nebst erläuterndem Text.
II. (Schlussabt.). Taf. 43—86.) Berlin-
Wien, Urban u. Schwarzenberg. M. 14,50.
Der in dieser Zeitschrift bereits beim
Erscheinen der 1. Hälfte angezeigte Atlas
der Hautkrankheiten von Jacobi liegt nun
vollständig abgeschlossen vor. Ich ver¬
weise in Bezug auf die technische Grund¬
lage des Unternehmens, welche der Autor
hierbei zum ersten Male mit ausserordent¬
lichem Erfolg für die Reproduction farbiger
medicinischer Bildwerke verwerthet hat,
auf meine damalige Besprechung. In Bezug
auf den Inhalt dieser jetzt vorliegenden
2. Hälfte des Werkes kann ich mit Befriedi¬
gung constatiren, dass die nach dem Er¬
scheinen der 1. Hälfte des Werkes gehegten
Erwartungen voll und ganz sich erfüllt
haben. Auch dieser zweite Theil zeigt fast
durchgehends ausgezeichnete — sowohl in
Bezug auf Plasticität wie Farbengebung
reproducirte typische Paradigmen von Haut-
und Geschlechtskrankheiten. Hervorheben
möchte ich besonders die blasenbildenden
Affectionen wie den Pemphigus. Ge¬
schwülste, Mycosis fungoides, Sarcomatosis
cutis, sind ganz ausgezeichnet getroffen.
Die syphilitischen Exantheme sind in ihren
wichtigsten Formen sehr gut dargestellt.
Der Text giebt in kurzer knapper Darstel¬
lung die wichtigsten Daten zur Erläuterung
der Bilder. Auch in diesem zweiten Theil
hat der Autor das Princip durchgeführt,
nicht Raritäten, sondern die praktisch wich¬
tigen Typen abzubilden. Es erfüllt der
Atlas den Zweck, dem Praktiker und Stu-
direnden jeder Zeit zur Auffrischung früher
gesehener Krankheitsfälle und zur Ver¬
gleichung typische Bilder in ausgezeich¬
neter Darstellung vorzuführen, vollkommen.
Für die Güte des Werkes spricht auch der
Umstand, dass gleichzeitig Uebersetzungen
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
December
557
Die Therapie der Gegenwart 1903.
in englischer, französischer, italienischer
und spanischer Sprache erscheinen.
Buschke (Berlin).
R. Lucke. Die chronische Harnver¬
haltung in diagnostischer und
therapeutischer Beziehung. Für
praktische Aerzte dargestellt. Anhang:
Der Selbstkatheterismus. Vorschriften für
Blasenkranke. Verlag von Gustav Fischer
in Jena 1904. 40 u. 12 S. M. 1,-
In ganz kurzer durch Abbildungen er¬
läuterter Form giebt der Verfasser einen
Ueberblick über Anatomie, Physiologie, die
wichtigsten Untersuchungsmethoden, die
Diagnose und Behandlung der Störungen
der Harnentleerung. Der Praktiker kann
sich hier schnell über das Wichtigste orien-
tiren. Die im Anhang gegebenen Vor¬
schriften werden auch dem Arzt bei der
Behandlung Blasenkranker manchen nütz¬
lichen Wink geben. B.
Referate.
Von dem Italiener Daconto stammt
eine warme Empfehlung des Acoin ge¬
nannten Alcaloids als Localanästheticum
für kleinere und grössere chirurgische Ein¬
griffe. Verfasser injicirt eine 1%ige Lösung
subcutan und rühmt die prompt und schnell
eintretende Gefühllosigkeit. Er hält das
Mittel für verhältnissmässig ungefährlich j
und wenig toxisch wirkend; er konnte in
einem Fall ohne irgend welchen Schaden
20 ccm der 1°/oigen Lösung injiciren. Von
den ausgeführten Operationen seien einige
Beispiele angeführt: Tenotomie, ein¬
geklemmter Leistenbruch, Empyem, tuber¬
kulöse Lymphome, Hydrocele und die
verschiedenartigsten Fingerverletzungen.
Beim Nähen von Quetsch- und Risswunden
und bei kleinen plastischen Operationen
hat Verfasser niemals Injectionen gemacht,
sondern nur Compressen mit Acoinlösung
auf die Wunden gelegt, sobald die Blutung
aufgehört hatte. Erwähnt sei noch die
lange Haltbarkeit der Lösung. Diese
Mittheilungen klingen ja sehr vielver¬
sprechend, man wird aber wohl auch hier
vorsichtig sein und anderweitige Resultate
abwarten müssen, ehe man dem Acoin
seinen Platz unter den Localanästheticis
anweist. Wich mann (Altona).
(Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Bd. 69 )
Ueber 53 Fälle von Actinomycose be¬
richtet Heinzeimann aus der Tübinger
chirurgischen Klinik. Die meisten standen
im 20. bis 40. Jahr; nur ein Kind war dar¬
unter, 11 Jahre alt. Hierdurch wird auch |
die von anderer Seite schon festgestellte
Thatsache des seltenen Vorkommens der
Actinomycose bei Kindern bestätigt. Die
Behandlung bestand in möglichst gründ¬
licher Excision und Excochleation des
kranken Gewebes mit folgender feuchter
Tamponade der Wunde; zu der besonders
Sublimat und Jodoform verwandt wurde.
Daneben wurde gewöhnlich innerlich Jod¬
kali in grossen Dosen gegeben. Die Hei-
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lungserfolge sind in erster Linie von dem
Sitz der Erkrankung abhängig. Von den
Actinomycosen der Knochen und Weich-
theile von Hals und Gesicht werden 89,7 %
geheilt. Dieser günstige Erfolg ist darauf
zurückzuführen, dass in diesen Fällen der
Sitz der Erkrankung dem Messer gut zu-
; gänglich war. Viel ungünstiger ist die
Prognose, wenn die Erkrankung innere
Organe des Schädels, der Brust, des
Bauches ergriffen hat. Von diesen Fällen
wurden 27,2 % geheilt, darunter 2 Fälle
von Perityphlitis. Im Uebrigen trägt auch
die Actinomycose innerer Organe von vorn
herein einen maligneren Charakter, vor
allem aber ist der Krankheitsheerd weniger
zugänglich. In allen beobachteten Fällen
war die Krankheit bei Beginn der Behand¬
lung schon im chronischen Stadium. 2jäh-
rige Heilung kann als Dauerheilung be¬
trachtet werden. Klink (Berlin.)
(v. Bruns, Beitr. z. klin. Chir. XXXIX, H 2).
Wo der Symptomencomplex von Leber¬
koliken sich mit ernsthaften Blutungen aus
dem Magendarmcanal vergesellschaftet, da
soll immer auch das Aneurysma der
Leberarterie differential - diagnostisch in
Betracht gezogen werden. Das lehren die
bis dato vorliegenden einschlägigen Beob¬
achtungen, deren Zahl allerdings 22 noch
nicht übersteigt und über die gewöhnlich
erst die Obduction Klarheit brachte. Es
handelt sich also um eine sehr seltene
Affection, glücklicher Weise, denn bisher
schien es, als ob die Therapie gegen diese
Erkrankung machtlos sei. Dass die innere
Behandlung hierbei nichts ausrichten kann,
versteht sich von selbst. Der Versuch
einer Operation schien bisher zwar ge¬
rechtfertigt, wenn sich auch erst zeigen
musste, „wie weit die Unterbindung der
Leberarterie beim Menschen überhaupt er¬
tragen wird“ (Quincke). Dieser letztere
wichtige Punkt wurde bisher keineswegs
einheitlich beurtheilt. Manche Autoren
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
1
558 Die Therapie der Gegenwart 1903. December
hielten Lebernekrose in Folge von Unter¬
brechung der arteriellen Zufuhr nach Unter¬
bindung der Art. hepatica für unvermeid¬
lich, und die Leberarterie selber also für
etwas chirurgisch Unangreifbares. Andere
hingegen hielten den Eingriff für erlaubt,
da nach Thierversuchen zu urtheilen die
Ausbildung reichlicher Anastomosen zwi¬
schen Leberarterie und benachbarten Ar¬
terien eine genügende Blutversorgung der
Leber immerhin möglich erscheinen Hess.
Die praktische Erfahrung konnte bislang
darüber nicht allzuviel aussagen. Es ex-
istirten seither nur drei Fälle, in denen die
Leberarterie wegen Aneurysma chirurgisch
angegangen war. Bei keinem dieser Fälle
war vor oder auch während der Operation
die richtige Diagnose gestellt worden und
bei keinem daher der allein erfolgreiche
Eingriff, nämlich die Unterbindung der
Art. hepatica, ausgeführt worden. Vom
ersten derartig operirten Fall berichtet nun
neuerdings H. Kehr (Halberstadt). Es
handelte sich hierbei um ein Aneurysma
der Leberarterie bei einem 29 jährigen
Mann, das offenbar schon seit 1®/4 Jahren
bestand, circa U /2 Jahre vor der Operation
geplatzt war und sein Blut in den Ductus
cysticus, die Gallenblase, den Ductus chole-
dochus und also in den Magendarmcanal er¬
gossen hatte. Demgemäss traten im Krank¬
heitsbild Anfangs anfallsweise Magen¬
krämpfe mit Erbrechen und Icterus auf,
die sich nach einem halben Jahre mit star¬
kem Blutbrechen vergesellschafteten und
von Zeit zu Zeit wiederholten. Die Diffe¬
rentialdiagnose schwankte zwischen Hydrops
der Gallenblase mit Duodenalgeschwür,
Duodenalgeschwür an der Papille, An¬
eurysma der Leberarterie, Echinococcus
der Gallenblase. Bei der Laparatomie fand
sich denn eine prall mit Blut gefüllte Gallen¬
blase, Fibringerinnsel im Ductus cysticus,
bei deren Entfernung eine enorme Blutung
aus einem damit communicirenden hühner¬
eigrossen, pulsirenden Aneurysma der
Leberarterie eintrat. Kehr unterband die
Art. hepatica peripherwärts von der Ab¬
gangsstelle der Art. gastroduodenalis! Es
trat zwar im weiteren Verlauf eine trockne
Nekrose am rechten Leberlappen ein, die
zu einer theilweisen nekrotischen Ab-
stossung des unteren rechten Leberrandes
führte, aber dann vollkommen zum Still¬
stand kam. Der Patient wurde geheilt ent¬
lassen. — Damit ist freilich der Beweis ge¬
liefert, dass die Unterbindung der Leber¬
arterie am Menschen ausführbar ist. Ob sie
freilich auch mit gleich günstigem Erfolge in
Fällen, in welchen die Collateralenbildung bei
kürzerem Krankheitsverlauf weniger Zeit ge¬
habt hat, vorgenommen werden kann, das
muss die Zukunft lehren! F. U m b e r (Altona).
(Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 43.)
In einer früheren Arbeit über Castra-
tlon und ihre Folgen hatte Lüthje (vergl.
diese Zeitschrift 1902, S. 521) durch ein¬
gehende Bilanzversuche an Thieren den
Beweis erbracht, dass ein specifischer Ein¬
fluss der Geschlechtsdrüsen auf Fett- und
Eiweissstoffwechsel nicht existirt. Da¬
mit war einer vielverbreiteten Vorstellung
von bestimmter und specifiicher Beziehung
der Keimdrüsen zu den Oxydationsvor¬
gängen im Organismus der Boden ent¬
zogen. Durch analytische Verarbeitung der
Gesammtthiere auf ihren Phosphor- und
Kalkgehalt hat derselbe Autor nunmehr
auch die Frage, ob die Geschlechtsdrüsen
in dieser Richtung einen specifischen Ein¬
fluss auf den Chemismus im Körper üben,
zur Entscheidung gebracht, und zwar gleich¬
falls im negativen Sinne.
Zwei Wiener Autoren, Breuer und
Seiller, haben den Einfluss der Castra¬
tion auf den Blutbefund bei weiblichen
Thieren verfolgt und entnehmen aus ihren
Beobachtungen, dass nach der Castration
junger Hündinnen bei völligem Wohlbefin¬
den der Thiere und bei gleichbleibendem
oder zunehmendem Körpergewicht, ein vor¬
übergehendes Sinken des Hämoglobin¬
gehaltes sowie des Erythrocytengehaltes
im Blute eintritt. Dem Vorwurf, dass diese
Erscheinung einem operativen Eingriff an
sich und den Folgen der Narkose zuzu¬
schreiben wäre, glauben die Verfasser da¬
durch zu begegnen, dass sie an Control-
thieren eine supravaginale Amputation des
Uterus durch Laparatomie Vornahmen und da¬
bei die übrigen äusseren Bedingungen mög¬
lichst gleich wie bei den castrirten Thieren
gestalteten. Hierbei nahm merkwürdiger
Weise Hämoglobingehalt und Erythrocyten-
zahl zu! Daraus entnehmen sie, dass das
Absinken der Blutwerthe bei den castrirten
Thieren „zweifellos eine Folge der Entfer¬
nung der Ovarien war“. F. Umber (Altona).
(Arch. für exp. Path. und Pharm. 1903, Bd. 50,
Heft 3 und 4.)
Die für das Verständniss des Wesens
und der Behandlung des Diabetes wich¬
tige Thatsache der Verbrennung des
Traubenzuckers in den Muskeln und
ihre Beeinflussung durch das Pankreas
ist von O. Cohnheim mit Erfolg studirt
worden. Bekanntlich geht die Zuckerver¬
brennung in den Muskeln des lebenden
I Körpers nicht ohne Weiteres durch ein in
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
December
559
Die Therapie der Gegenwart 1903.
diesen selbst enthaltenes Enzym, wie in der
Hefezelle und in höheren Pflanzen, vor sich.
Auch im Blut war ein solches Enzym bis jetzt
nicht nachweisbar. Festgestellt war aber,
dass das Pankreas etwas in das Blut hinein-
secernirt, dessen Fehlen die Verbrennung
des Zuckers unmöglich macht, so wie die
Verbrennung beim menschlichen Diabetes
beschränkt oder gänzlich aufgehoben ist.
Dieses Etwas scheint nun ein Enzym zu
sein, das im Bedarfsfall mit dem Blut den
Muskeln zufliesst, so dass die Activirung
des Muskelzymogens und damit die Ver¬
brennung des Traubenzuckers im Muskel
möglich wird. Während nämlich weder
Muskeln noch Pankreas jedes für sich
Traubenzucker zerlegen, ist diese Zer¬
legung experimentell gelungen mit einer
zellfreien Flüssigkeit, die aus dem Ge¬
menge von Muskel und Pankreas sich
gewinnen lässt. Die Zuckerverbrennung
war eine totale. Vom weiteren Ausbau
dieser Versuche (die Isolirung diesesMuskel-
enzyms und seines etwa nach Art der
Pawlow'schen Enterokinase — Enzym der
Darmschleimhaut, welches das Trypsinogen
des Pankreassaftes activirt — wirkenden
activirenden Enzyms) sind vielleicht einmal
Fortschritte in der Therapie der Diabetes
zu erwarten. E. Rost (Berlin).
(Zeitschr. f physiol. Chem. 1903, Bd. 39, S. 336)
Vornehmlich durch die klassischen experi¬
mentellen Untersuchungen Minkowski’s
wissen wir, dass man bei gewissen Thieren,
namentlich beim Hunde, durch Entfernung
des Pankreas einen echten Diabetes er¬
zeugen kann, bekanntlich den einzigen
experimentellen echten Diabetes, den wir
bisher kennen. Wenn sich auch Min¬
kowski wohl bewusst war, dass damit noch
nicht der sichere Beweis für die Unmög¬
lichkeit einesZuckerverbrauchs im pankreas¬
losen Organismus geliefert sei, so hielt er
dies doch immerhin für etwas unwahr¬
scheinliches. Bisher gab es auch keinen
entscheidenden Grund, zu behaupten, dass
im völlig pankreaslosen Organismus noch
Zucker zerstört werde. Indess hat nun
Lüthje in jüngster Zeit diesen nicht un¬
wichtigen Beweis erbracht. Es gelang ihm
durch Resection des ganzen Duodenums
mitsammt dem daran sitzenden Pankreas,
eine — auch in mikroskopischem Sinne —
vollständige Entfernung dieserDrüse bei sei¬
nem Versuchsthier zu erzielen. Ein solcher
Hund, der vom vierten Tage von der Ope¬
ration an bis zu seinem Ende hungerte,
überlebte die Operation sechs Tage lang,
schied Anfangs reichlich Zucker aus, der
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indess nach drei Tagen aus dem Urin ver¬
schwand. Trotzdem er nun andauernd agly-
cosurisch blieb, war ein Blutzuckergehalt von
0,312°/ 0 im Blut nachzuweisen. Daraus geht
aho zweifellos hervor, dass auch der voll¬
ständig pankreaslose Hund die Fähigkeit des
Zuckerverbrauchs nicht vollständig einbüsst.
Lüthje sucht die Erklärung für diese That-
sache darin, dass vielleicht mehrere Ge¬
webe im Körper coordinirt die Fähigkeit
besitzen, das Zuckermolecül zu verarbeiten,
oder aber, dass ein vom Pankreas ge¬
lieferter Stoff secretinartig eine zuckerzer¬
störende Kraft anderer Organe mächtiger
anfache, derart, dass bei Pankreasausfall die¬
selbe in weit geringerem Umfange zur Wir¬
kung kommt. Als weitere Möglichkeit dis-
cutirt Lüthje die Frage, ob nicht derjenige
Zucker, der seinen Ursprung aus dem leben¬
den Organeiweiss nimmt, anderen Zer¬
setzungsbedingungen unterworfen sei, als
derjenige, der dem Nahrungseiweiss ent¬
stammt. Mit dieser Vorstellung verträgt sich
nach seiner Meinung auch die Erfahrung,
dass geringe Zufuhr von fremdem Ei weiss bei
pankreaslosen Hunden, die durch Hunger
zuckerfrei gemacht worden sind, sofort wie¬
der Glycorusie hervorruft, und ferner, dass
beim menschlichenDiabetes in schwercachek-
tischen Zuständen oder auch bei hohem
Fieber der Zuckergehalt im Harn absinkt.
Referent selbst muss bekennen, dass diese
letztere Vorstellung mancherlei für sich
hat. Auch ich habe bei meinen Unter¬
suchungen über quantitative Zusammen¬
setzung des Eiweisses bei Thieren, welche
schwerster Inanition und Schädigung ihres
Stoffwechsels unterworfen und dann in toto
analysirt waren (cf. Berl. klin. Wochenschr.
1903 No. 39) gesehen, dass der Eiweiss¬
bestand des Organismus in Zeiten schwerster
Noth kohlenstoffärmer werden kann als
dem normalen Eiweiss entspricht, dass aber
bald eine untere Grenze erreicht wird,
unter die der Kohlenstoffgehalt nicht mehr
herabsinkt, und die in einem bestimmten
Quotienten (C : N = 3.25) ihren zahlen-
mässigen Ausdruck findet. Dieses Ver¬
hältnis wird dann mit so grosser Zähig¬
keit festgehalten, als ob nunmehr die Ei¬
weisskörper gewissermassen nicht mehr
denselben Gesetzen des Stoffumsatzes
unterworfen wären. Mit dieser eisernen
Ration seines Eiweissbestandes scheint der
Organismus in anderer Weise umzugehen
als mit dem Ueberschuss! Hierin begegnen
sich also unsere von ganz verschiedenen Ge¬
sichtspunkten ausgewonneneVorstellungen!
F. Umber (Altona).
(MQnch. med. Wochenschrift 1902, No. 36.)
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
560
December
Die Therapie der Gegenwart 1903.
An 180 Operirten der Heidelberger
Klinik hat Schott seine Beobachtungen
über Dauerheilungen nach Gallenstein¬
operationen angestellt. Steinrecidive tra¬
ten bei 17% der Operirten ein. Es han¬
delte sich dabei niemals um echte Recidive,
d. h. Bildung neuer Steine, sondern um
unechte, d. h. Uebersehen und Zurück¬
lassen von Steinen bei der Operation.
Alle diese Patienten waren nach sehr
langem Bestehen ihres Leidens operirt
worden. Das mahnt wieder zur frühzeiti¬
gen Operation. So lange die Steine noch
nicht in die tieferen Gallenwege gewandert
sind und die Entzündungsvorgänge noch
wenig ausgedehnt sind, ist die Operations¬
prognose gut. Hat man es erst mit nar¬
bigen Adhäsionen, mit starker Verdickung
der Wandung der ausführenden Gallen¬
wege oder mit pericystitischen Abscessen
zu thun, so kann eine Entfernung sämmt-
licher vorhandenen Steine nicht gewähr¬
leistet werden. Bei 18 Patienten traten
wieder Koliken mit Icterus, bei 31 Schmerz¬
anfälle ohne Icterus auf. Doch war das
Allgemeinbefinden gut. Nur bei 9 Patienten
bestanden nach 5—6 Jahren noch Symp¬
tome, die mit dem Gallensystem in Bezie¬
hung stehen können; mithin sind 95 %
von ihrer Cholelithiasis dauernd geheilt.
Aber bei diesen von Gallensteinen befreiten
Menschen traten oft andere Störungen
nach der Operation auf, die nicht mit dem
Gallensystem in direkter Beziehung stehen.
Hier spielt die Hernienbildung in der Ope¬
rationsnarbe die Hauptrolle. Solche trat
bei 12% der Operirten auf, bei 3,3% mit
Beschwerden. Die Zahl der zurückbleiben¬
den Gallenfisteln ist auf 4,4 % gesunken.
Sie machen keine Beschwerden und sind,
wenn sie nicht zu lange bestehen, geradezu
als therapeutische Maassnahme, als Sicher¬
heitsventil zu betrachten. Bei 36,6 % der
Fälle blieben nach den Operationen Magen-
und Darmbeschwerden bestehen. Dieselben
sind zurückzuführen auf die Adhäsionen,
wie sie sich bei lange bestehendem Leiden
vor der Operation schon entwickeln; sie
führen zu Abknickungen und behindern
die Peristaltik. Ihre operative Entfernung
ist nicht möglich; durch die Operation
kommen noch neue hinzu. Das spricht
wieder für eine frühzeitige Operation der
Cholelithiasis. Allerdings befinden sich
unter den Fällen mit völliger Heilung auch
solche, bei denen die Veränderung der
Gallenwege eine sehr hochgradige war.
Ein Carcinom der Gallenblase entwickelte
sich einmal, im Laufe des der Operation
folgenden Jahres. Der letztere Umstand
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spricht dafür, dass der Keim des Carci-
noms schon bei der Operation vorhanden
war. Die Mortalität betrug bei 289 Ope¬
rirten 5 %; das beste Resultat in dieser
Hinsicht hatte die in 151 Fällen ausgeführte
Cystostomie (1,3 % Mortalität), während
die 20 Mal ausgeführte Cystectomie das
ungünstigste Resultat (20 % Mortalität)
lieferte. Bei allen Operationsmethoden ist
die Mortalität im Laufe der letzten Jahre
geringer geworden. Klink (Berlin.)
(v. Bruns, Beitr. z. klin. Chir. XXXIX, H. 2.)
Endlich ist ein objectiver, exact-ex¬
perimenteller Beweis für die blutstillende
Wirkung der Gelatine erbracht worden.
Moll constatirte bei Hunden und Kaninchen
nach Gelatineinjectionen eine bedeutende
Zunahme des Fibrinogens, das er durch
Ausfällen und Wägen quantitativ bestimmte.
Dabei fand er, dass nach subcutaner
Application der Gelatine diese Fibrinogen¬
vermehrung erst 12—24 Stunden nach der
Injection aufirat und mehrere Tage an¬
hielt. Bei intravenöser Injection war der
Effect bereits nach längstens 8 Stunden vor¬
handen. Viel stärker war noch die Wir¬
kung, wenn mehrere Gelatineinjectionen
in drei- bis viertägigen Intervallen gegeben
wurden. Bei stomachaler Verabreichung
der Gelatine konnte Moll niemals eine
Fibrinogenvermehrung nachweisen. Die
Fibrinogen vermehrende Wirkung ist aber
nicht für die Gelatine specifisch, sie kommt
allen anderen Eiweisskörpern, vom nativen
Eiweiss bis zu den Peptonen zu. In allen
diesen Fällen ging die Fibrinogenver¬
mehrung mit einer Leukocytose einher.
Dadurch wurde Moll angeregt, den Fibri¬
nogengehalt bei den verschiedenen Leuko-
cytosen zu untersuchen und fand ihn that-
sächlich stets erhöht. Für die Praxis zieht
Moll daher den Schluss, als Zeitpunkt für
kleinere Operationen den Höhepunkt der
Verdauungs Leukocytose zu benutzen und
bei grösseren Operationen, bei denen ein
grosser Blutverlust zu befürchten ist, als
Prophylacticum einen Tag zuvor eine sub-
cutane Gelatineinjectionen zu machen.
(Wiener klin. Wochenschrift No. 44.) H. W.
Der spanische Arzt Codina Castellvf
(Madrid) erzielt angeblich rasche Heilung
von Ischias durch Injectionen von rei¬
nem Sauerstoff. Er verwendet bei einem
Druck von 15 Atmosphären gereinigten
Sauerstoff zur Injection. Der Apparat besteht
aus einem, 4000 ccm Sauerstoff (unter
einem Druck von 10 Atmosphären) fassen¬
den Gasometer, der mit einem Manometer
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
December
561
Die Therapie der Gegenwart 1903.
versehen ist. An den Gasometer setzt
sich, durch einen Hahn von ihm abge¬
schlossen, ein schlauchförmiges, mit einem
ausdehnbaren Gummiballon versehenes
Mittelstück an, daran, durch einen zweiten
Hahn abgeschlossen, das mit der Injec-
tionsnadel bewehrte Endstück. Soll der
Apparat benutzt werden, so öffnet man
den centralen Hahn und lässt die ge¬
wünschte, durch den Ausschlag des Mano¬
meters dosirbare Menge Sauerstoff in das
MittelstOck eintreten. Der centrale Hahn
wird nun geschlossen, die Injectionsnadel
eingestochen, und nach Oeffnung des peri¬
pheren Hahns fliesst der Sauerstoff unter
die Haut ab; das völlige Zusammensinken
des beim Einströmen des Sauerstoffs in
das Mittelstück sich aufblähenden Gummi¬
ballons zeigt an, dass die Injection voll¬
endet ist.
Die subcutanen Injectionen sind völlig
schmerzlos. Als Injectionsstelle dient die
Glutäalgegend der erkrankten Seite bezw.
die Stellen, wo der Nerv besonders druck¬
empfindlich ist. An derselben Stelle soll
nicht öfter als alle 2—3Tage injicirt werden;
doch kann man mehrere Injectionen an
verschiedenen Stellen in einer Sitzung
machen. Meist genügen zu einer Injection
200—300ccm; doch kann man bis 1000ccm
injiciren. Das Gas wird bis auf kleine
Reste sehr rasch resorbirt; nach der In¬
jection verhütet man das Wiederaus¬
strömen durch einen kleinen Wattecollo-
diumverband.
Verf. hat bis jetzt 5 Fälle (Frauen) mit
dieser Methode behandelt. Ein Fall war
in der sehr langwierigen Reconvalescenz
nach Influenza aufgetreten, zwei weitere
im Anschluss an Erkältungsschädlichkeiten,
ein vierter im Verlauf einer deformirenden
Arthritis bei einem hysterischen Indivi¬
duum; der letzte Fall war unklarer Pro¬
venienz.
Der Fall nach Influenza war schon
wenige Stunden nach dem Auftreten der
Schmerzen in Behandlung genommen wor¬
den; die anderen hatten bereits 2, 7, 7 ! /2
Monate, einer 5 Jahre gedauert und trotz
aller angewandten Mittel zu schweren und
schwersten Functionsstörungen geführt.
Der Fall nach Influenza erwies sich als
der hartnäckigste, indem er 5 Injectionen
zur völligen Beseitigung der Symptome
nöthig hatte; die Patientin mit Arthritis
deformans war bereits nach einer Injection
bez. ihrer Ischias schmerzfrei; die anderen
3 Fälle machten 2—4 Injectionen nöthig.
Ausnahmslos verschwanden in allen
Fällen nach jeder Einzelinjection die
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, Schmerzen wenigstens im weiten Umkreis
j um die Injectionsstelle, und zwar gaben
die Patienten an, dass die Linderung be-
' reits beim Einströmen des Gases auftrete.
| Bezüglich Dauerheilung vermag Verf. nur
j über einen Fall sicheres zu sagen, näm-
| lieh bez. jener Patientin, bei der die
i Ischias in schwerster Form bereits seit
i 7 Monaten bestanden hatte; sie befand sich
6 Monate nach den Injectionen noch völlig
wohl. Die anderen Patienten waren ent¬
lassen worden mit der Aufforderung, bei
Wiederauftreten der Schmerzen sich wieder
zu zeigen, sind aber bis jetzt nicht wieder
gekommen.
Ohne ein vorschnelles Urtheil fällen zu
wollen, ist Verfasser der Ansicht, dass
seine Erfolge jedenfalls zur Nachprüfung
der Methode ermuthigen.
M. Kaufmann (Mannheim).
(Rivista de Medicina y Cirurgia Präcticas 7. X. 03.)
Holländer hat seit ca. 2 Jahren Ver¬
suche darüber angestellt, in wie weit die
von ihm erfundene und weiter auspebildete
Heissluftcauterisation zur Prftventiv-
behandlung* des syphilitischen Primär-
affects und zur eventuellen Coupirung
der Syphilis sich eigene. Seine Versuche
hat er an der Poliklinik von Max Joseph
ausgeführt und unter dessen steter Con-
trole. Zur Beurtheilung des Effectes ver¬
wertet Holländer aus einer bei weitem
grösseren Zahl, 59 Fälle, die er selbst
operirt und längere Zeit beobachtet hat
Von diesen 59 Fällen haben 12 bestimmt
Lues bekommen, während es bei 3 weiteren
noch fraglich ist. Von den übrig gebliebe¬
nen 44 Kranken wurden 22 Fälle von
Holländer in positivem Sinne in Bezug
auf die Präventivbehandlung verwertet:
5 davon sind über 2^2 Jahre, 17 über
1 Jahr frei von Secundärerscheinungen
geblieben, hinzu rechnet eventuell noch
Holländer 10—12 Fälle, welche über 6 bis
12 Monate frei von Erscheinungen blieben.
Die übrigen Fälle sind fraglich, entweder
in zeitlicher Beziehung oder in Bezug auf
den Charakter des Primäraffects. Für die
Beurtheilung der Heilung zieht der Autor
mit heran, dass 5 dieser Patienten heirateten,
ohne ihre Frau zu inficiren, einmal ein
gesundes Kind geboren wurde, und 3 Mal
eine Reinfection zu Stande kam, 9 Mal
sind vorhandene Drüsenschwellungen
zurückgegangen. In 3 Fällen wurden iso-
lirte Packete exstirpirt, einmal wurde hier¬
bei die Syphilis coupirt. In Bezug auf den
negativen Effect in den übrigen Fällen
kann sich Holländer das Ausbleiben des
71
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
562
Die Therapie der Gegenwart 1903.
December
Erfolges nicht immer erklären; denn wenn
sich auch einige prognostisch ungünstige
Fälle mit Drüsenschwellungen darunter
befanden, so waren doch auch einige
günstige frühe Fälle dabei. Auf Grund
dieser geschilderten Resultate empfiehlt
Holländer die Cauterisation des Primär-
affects, während er sich gegenüber der
Drüsenexstirpation der doppelseitigen
gegenüber völlig, der einseitigen wesent¬
lich ablehnend verhält. Auch in vielen
Fällen, in denen ein definitiver Erfolg nicht
erzielt wurde, wurde doch vielfach die
Incubationszeit verlängert und die Krank¬
heit nahm im Allgemeinen einen milderen
Verlauf.
Was nun die Beurtheilung der oben ge¬
schilderten Resultate betrifft, so werden
wir dem Autor dankbar sein, dass er diese
praktisch ja ungemein wichtige Frage
wieder in Fluss gebracht hat. Allein ich
glaube doch, dass in Bezug auf die definitive
Beurtheilung — und das giebt Holländer
an einer anderen Stelle seines Aufsatzes
selbst zu — ein viel längerer Zeitraum
erforderlich ist. Bei dem proteusartigen
Verlauf der Syphilis, bei ihrer eminenten
Chronizität, und auch auf Grund einer
grossen Zahl früherer, durch Excision an¬
scheinend geheilter und von späteren
Autoren an Syphilis behandelter Fälle
werden wir in Bezug auf die Beurteilung
der Heilung uns vielleicht noch etwas
reservirter verhalten wie der Autor, da
6—12 Monate, ja 2 Jahre hierfür doch noch
nicht ausreichen; denn dass in diesen
Zeiträumen secundäre Ercheinungen nicht
zur Cognition gelangten, kann ja zwar
selbstverständlich auch auf Heilung be¬
ruhen, braucht es aber keineswegs;
wissen wir doch, dass auch nach der
Excision — und ich verfüge selbst über
solche Erfahrungen, die in dieser Richtung
denen Holländer’s conform sind — die
Incubationszeit ausserordentlich verlängert
werden kann, und dass allem Anscheine nach
gelegentlich die secundäre Syphilis milder
verläuft; dagegen ist dies keineswegs bei¬
spielsweise auch nach der radikalen Ex¬
cision des Primäraffects die Regel, beson¬
ders auch ist es fraglich in wie weit sich
diese Wirkung auf das Gefürchtetste bei
der Syphilis, auf die Spätererscheinungen
erstreckt; immerhin scheint es nicht aus¬
geschlossen, dass vielleicht in einer Anzahl
von Fällen durch die Beseitigung des
Primäraffects der Verlauf der Krankheit
günstig beeinflusst wird. Dagegen möchte
ich mich einer Drüsenexstirpation gegen¬
über vollständig ablehnend verhalten.
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Der Umstand, dass einer der Patienten
ein gesundes Kind erzeugt hat, ist auch
nicht beweisend, da wir wissen, dass ein
florider Syphilitiker ein gesundes Kind
zeugen kann; ebenso ist das Ausbleiben der
Infection der Frau — zumal bei der relativ
kurzen Beobachtungsdauer — noch nicht
beweisend; in Bezug auf die Reinfection
möchte ich ebenfalls darauf hinweisen, ob
hier nicht eine Reinduration vorliegen kann;
auch würde es wichtig sein, ob diese re-
inficirten Patienten secundäre Erschei¬
nungen hatten, da sonst immer noch die
Möglichkeit einer Gummibildung, die
täuschend ähnlich einem Primäraffect sein
kann, am Penis vorlag.
Was nun die Excision anbelangt, so
stehe ich selbst auf dem Standpunkte, dass
jede im Anschluss an einen verdächtigen
Coitus entstandene Verletzung, jedes Ulcus
molle und jeder Primäraffect dann, wenn
noch keine Drüsenschwellungen vorhanden
sind und noch keine zu lange Zeit seit der
Infection verstrichen ist, (die ersten beiden
Affectionen, nachdem sie mit Carbolsäure
verätzt sind unter Aethylchloridanästhesie)
exstirpirt werden sollen, wenn die betreffen¬
den Herde dazu günstig gelegen sind und,
was leider nicht immer der Fall ist, der
Patient sich damit einverstanden erklärt.
Ich würde auch heute noch die Excision
der Cauterisation vorziehen, weil hierbei
nach meinen Erfahrungen, abgesehen von
der Einfachheit und den geringen Be¬
schwerden des Eingriffes mit wenigen Aus¬
nahmen eine schnelle primäre Heilung er¬
zielt wird, zumal ja sehr häufig genäht
werden kann, während doch allem An¬
scheine nach die cauterisirten Stellen —
wie Holländer an einer Stelle erwähnt —
längere Zeit granuliren. Auf der anderen
Seite bietet nach den Schilderungen Hol¬
länders auch die Cauterisation ebenso¬
wenig wie die Excision eine ganz sichere
Garantie für die Lokalheilung. Ja sowohl
nach meinen praktischen Erfahrungen wie
auch theoretisch scheint mir nach dieser
Richtung die in sorgfältiger Weise in ge¬
sunden Grenzen, wenn es eben möglich
ist, ausgeführte Excision relativ sicherer
zu sein, ganz analog dem Verhältniss
der Cauterisation zu der Radicalexstir-
pation des Lupus, in Bezug auf die Dauer¬
heilung, wo letztere ausführbar ist. Ich
möchte deshalb die Cauterisation für die¬
jenigen Fälle — vorausgesetzt, dass die
oben geschilderten Bedingungen erfüllt
sind — reserviren, in denen die Excision
nicht ausführbar ist. Inwieweit sich hier
manche Lokalisationsstellen venerischer
Original fro-m
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
563
December Die Therapie der
Geschwüre wie z. B. in der Gegend des
Frenulums für die Cauterisation wegen der
Dünnheit der Harnröhrenwand, eignen, ver- (
mag ich selbst nicht zu entscheiden; dies j
führt uns indess bereits in die Technik der j
Behandlung, derenguteKenntniss ja zweifei- 1
los für die Nachprüfung, zu der Hol¬
länder auffordert, nothwendig ist, und die
der Autor gewiss in einer weiteren aus¬
führlichen interessanten Mittheilung über !
den Gegenstand schildern wird ; auch würde
gerade der lokale Wundverlauf und das
definitive functionelle Resultat, die Narben¬
bildung etc. — über welche Holländer !
in dieser vorläufigen kurzen Mittheilung
naturgemäss keine ausführlichen Angaben
macht — wichtig für die praktische Be-
werthung des Verfahrens sein.
Holländer macht auch noch inter¬
essante Mittheilungen über die Verwerthung
der Cauterisation zur differentiellen Dia¬
gnose zwischen Ulcus molle und Primär-
aftect. Zur definitiven Beurteilung dieser
Frage reichen allerdings nach seiner eigenen
Angabe seine bisherigen Erfahrungen nicht
aus, und wir werden seine weiteren Mitthei¬
lungen abwarten. Busch ke (Berlin).
(Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 46.)
Aus der Heidelberger Klinik berichtet
Voelcker über die Behandlung der
Prostatahypertrophie durch perineale
Prostatectomie. Die erste derartige Ope¬
ration wurde an einem Patienten aus¬
geführt, bei dem schon 4 Mal anderweitige
Eingriffe an der Prostata vorgenommen
waren ohne dauernden Erfolg. Der Fall
wies ein einwandfreies Dauerresultat auf.
Von Bedeutung ist, dass geeignete Fälle
ausgesucht werden. In Betracht kommen
zunächst alle die, welche sich aus irgend
einem Grunde (schwere Blutungen, Schüttel¬
fröste, Schwierigkeit des Katheterismus)
zur Katheterbehandlung nicht eignen, dann
die grossen, weichen, leicht blutenden
Tumoren. Ein vorzüglich geeignetes Feld
sind nach der Meinung des Verfassers die
Fälle von gleichzeitigem Vorkommen von
Prostatahypertrophie und Blasenstein.
Der Schnitt wird bogenförmig geführt
vor dem After bei hochgelagertem Becken.
Vordringen bis auf die Prostatakapsel, die
in der Mittellinie gespalten wird, Ver¬
tiefung des Schnitts durch das Drüsen¬
gewebe bis in die Harnröhre, Enucleation
der Tumoren. Dringend zu vermeiden ist
eine quere Durchtrennung der Harnröhre
mit Aufhebung ihrer Continuität und ein
Ueberschreiten der durch die Kapsel ge¬
gebenen Grenze. Die Nachbehandlung
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Gege ii wnrt 1903.
gestaltet sich so. dass nach einer 8tägigen
Drainage der Blase vom Damm aus, ein
Verweilkatheter durch die Urethra, ein*
geführt wird. Von 11 Operirten sind 2 ge¬
storben, 1 Fall ist noch in Behandlung, 4
sind einwandfrei geheilt und weisen eine
gute Biasenfunction auf, 1 hat eine Urin-
fistel am Damm und 2 weisen eine Com-
munication zwischen Harnröhre und Mast¬
darm auf, die jedoch die Patienten nicht
besonders belästigen soll. In dem letzten
Fall, in dem Prostata sammt Kapsel ent¬
fernt war, ist eine Stenose eingetreten.
Verfasser glaubt, dass durch weitere Aus¬
arbeitung der Technik und schärfere Be¬
achtung der Contraindicationen, z. B.
Schrumpfniere, Myocarditis, Arteriosclerose
etc., die Operationsresultate sich in Zu¬
kunft werden verbessern lassen.
Wich mann (Altona).
(Langcnbcck’s Archiv, Band 71, S. 1001.)
Perthes (Leipzig) hat an einer Reihe
von Fällen den Einfluss der Röntgen-
Strahlen auf epitheliale Gewebe, ins¬
besondere auf das Carcinom beob¬
achtet und studirt. Er sah unter der
Einwirkung der Röntgenstrahlen gewöhn¬
liche Warzen verschwinden. Etwa 10 Tage
nach der Bestrahlung tritt eine Abflachung
und Verhärtung der Warze ein, und nach
3 Wochen stösst sich eine verhornte
Schuppe ab. Sehr schnell tritt dann eine
Regeneration der darunter gelegenen
Epidermis ein. Die mikroskopisch fest¬
gestellten Veränderungen betreffen in
erster Linie das Epithel, genau wie bei
Einwirkung des Röntgenlichts auf normale
Haut. Daraufhin wurde das Verfahren
auch bei Carcinomen angewandt, und zwar
bei solchen, die in der Haut selbst oder
doch dicht unter ihr gelegen waren. Ein
Hautcarcinom des Gesichts verwandelte
sich bei dieser Behandlung in eine granu-
lirende Fläche und vernarbte später. In
zwei anderen Fällen ist das Verschwinden
des carcinomatösen Gewebes durch histo¬
logische Untersuchung sichergestellt. In
6 Fällen von Carcinoma mammae mit
Hautmetastasen sah Perthes unter der
Einwirkung der Strahlen die Metastasen
sich verkleinern und schliesslich ganz
schwinden. An Stelle der Epithelnester
tritt zuletzt ein kernarmes Bindegewebe.
In der Mamma selbst gelegene Geschwülste
zeigten zwar auch eine Verkleinerung, sie
heilten aber nicht in dem Sinne wie die
Hautmetastasen.
Den Einfluss der Röntgenstrahlen auf
das Epithel hat Perthes auch an sauber
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
564
Die Therapie der Gegenwart 1903.
December
granulirenden Wunden nachgewiesen. Die
Ueberhäutung bestrahlter Wunden vollzog
sich ganz bedeutend langsamer als die der
nicht bestrahlten, im Uebrigen ganz gleich
behandelten Wundflächen. Wie man sich
die Wirkung zu erklären hat, ist vorläufig
noch ungewiss. Verf. hält jedoch für mög¬
lich. dass in erster Linie die Function der
Zellteilung geschädigt resp. aufgehoben
wird. Von praktischem Interesse ist die
Thatsache, dass die Strahlen weicher, d. h.
ein geringeres Vacuum aufweisenderRöhren
eine viel intensivere Wirkung auf die Haut¬
oberfläche haben, als die Strahlen harter
Röhren. Diese dringen jedoch mehr in
die Tiefe und erfahren eine gleichmässigere
Vertheilung auf die einzelnen Gewebs-
schichten. Wich mann (Altona).
(Langenbeck's Archiv, Band 71, S. 955.)
Ueber die auch für den praktischen
Arzt so wichtigen Stich- und Schussver-
letzungen des Thorax handelt ein Auf¬
satz von Borsz6ky. Nicht penetrirende
Stichwunden können durch Fortpflanzen
einer Eiterung nach der Tiefe oder durch
Gefässverletzung (Subclavia, mammaria int.,
intercostalis, thoracia longa) gefährlich
werden. Die Behandlung ist folgende:
Reinigung der Umgebung der Wunde.
Sorgfältige Blutstillung, wenn nöthig nach
Erweiterung der Wunde; Ausspülen
des Stichkanals mit 3% Bor- oder 1°/^
Sublimatlösung zur Entfernung von Ver¬
unreinigung; frische Wunden werden ge¬
näht. Die nicht penetrirenden Schuss¬
verletzungen sind weniger bedeutend, als
die Stichverletzungen. Die Kugel wird
entfernt, wenn sie irgend welche Störung
macht oder wenn sie durch einen kleinen
Eingriff entfernt werden kann. Sie soll
immer durch direktes Eingehen auf sie,
nie durch den Schusscanal entfernt werden.
— Wenn bei penetrirenden Wunden nur
die Pleura parietalis verletzt ist, so wachsen
die Pleurablätter nicht zusammen und bei
stattgehabter Infection entsteht kein ab¬
gekapseltes sondern ein diffuses Exsudat;
das Hervortretendste im klinischen Bild
ist aber der Pneumothorax, der jedoch nicht
viel Belang hat. Auf Lungenverletzung
lässt nur eintretende Haemoptoö schliessen;
sie ist auch das beständigste Symptom.
Hautemphysem kommt auch vor, wenn nur
die Pleura parietalis verletzt ist, anderer¬
seits kann es bei Lungenverletzung auch
fehlen. Verletzung der grossen Gefässe
der Brusthöhle führt in einigen Minuten
zum Tode. Isolirte Verletzung des Herz¬
beutels ohne solche des Herzens kommt
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vor, ist Pericard und Pleura zugleich ver¬
letzt, so kann ein Pneumopericardium ent¬
stehen. Für die Diagnose einer Verletzung
des Herzens sind folgende locale Erschei¬
nungen wichtig: Der Puls pflegt rasch,
arythmisch, klein zu sein. Der Herzspitzen-
stoss ist nicht zu fühlen oder abgeschwächt,
je nach der Menge des in den Herzbeutel
ergossenen Blutes. Die Herztöne zeigen
oft keine Veränderung, manchmal sind sie
abgeschwächt oder gar nicht zu hören.
Sind die Klappen verletzt, so treten mannig¬
fache Geräusche auf. Bei grösserer Blu¬
tung bildet sich ein Hämopericard; die
Blutung kann allerdings auch aus der Ver¬
letzung des Pericard stammen. Für Herz¬
verletzungen charakteristisch soll eine dem
N. ulnaris entlang auftretende Paraesthesie
sein, die aus der Verletzung des Plexus
cardiacus abgeleitet wird.
Zur Sicherung der Diagnose einer Herz¬
verletzung dient die Sondirung, Finger¬
untersuchung oder Freilegung des Herzens.
— Penetrirende Thoraxwunden werden ge¬
näht, damit keine Spätinfection möglich
wird und der Pneumothorax nicht wächst.
Den Pneumothorax lässt man in Ruhe;
nur wenn er sehr schnell wächst, die
Lunge comprimirt oder das Herz verdrängt,
punktirt man ihn. Bei penetrirenden Schuss¬
verletzungen wird nach Reinigen der Um¬
gebung der Wunde ein Deckverband an¬
gelegt. Selbst profuse Lungenblutungen
werden exspectativ behandelt. Hämato-
thorax wird nach 2—3 Wochen punktirt,
doch entleere man nicht mehr als 500 bis
600 ccm auf einmal. Ein frischer Lungen¬
vorfall durch die Wunde wird gereinigt
und reponirt; besteht aber Strangulation
oder Necrose, so wird das prolabirte Stück
abgebunden und abgetragen. Auch bei
penetrirenden Schüssen soll man die Kugel
entfernen, wenn sie leicht zu erreichen ist.
Frische Pericard Verletzungen sind exspec¬
tativ zu behandeln. Bei Herzcompression
durch Hämopericard muss operativ vor¬
gegangen werden. Auch Herzverletzungen
werden operativ behandelt.
Klink (Berlin.)
(V. Bruns, Beitr. z. klin. Chir., XL, H. 1).
Das Theocin, das in vielen Beziehungen
dem Diureiin den Rang abzulaufen scheint,
wird nun auch als sicheres Mittel gegen
Angina pectoris von Pineies empfohlen.
Pineies verabreichte dasselbe in einer
Anzahl von Fällen, gewöhnlich 0,2 g
gleich nach dem Frühstück. Diese Dosis
wurde in den nächsten zwei Tagen wieder¬
holt. Meist waren dann die Anfälle gebes-
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1 »eccmbrr
565
Die Therapie der Gegenwart 1903.
sert oder vollkommen beseitigt. Diese
günstige Wirkung hielt eine Reihe von
l agen an. Was den Blutdruck betrifft, so
zeigte er manchmal nach Darreichung des
Mittels eine merkliche Herabsetzung, in
anderen Fällen blieb er trotz Beseitigung
der Schmerzanfälle unverändert.
(Heilkunde, lieft 10.) II. W.
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Die Vortheile des Chloroform-Anschütz.
Von Pr. A. Rahü-Collm bei Oschatz.
Das Chloroforrn-Anschütz Dt geradezu
vorgerichtet für die ärztliche Praxis. Man
betrachte sich die Originalflaschen von
Chloroforrn-Anschütz, und man wird ein-
sehen, warum das Arrangement so und
nicht anders getroffen wurde. Während
sonst zwischen der Fabrikation und der
Verwendung des Chloroforms viele Möglich¬
keiten der Verunreinigung und Zersetzung
liegen, hat die Fabrikation hier zum ersten
Male darauf gesehen, dass der Arzt das
Chloroform in Originalpackungen erhält
und es in denselben auch verwenden kann.
Es ist von der Fabrik in Flaschen von 25
und 50 g verpackt. Die Fläschchen sind
von dunkelbraunem Glase mit Glasstopfen
verschlossen und plombirt. So kommen
sie ins Engros-Lager, so gehen sie durch
die Apotheken, und so gelangen sie ins
Operationszimmer; erst am Krankenbette
werden sie geöffnet. Die Original flasche
benutzt der Chloroformeur zum Chloro-
formiren, er setzt einfach einen Korkstopfen
auf mit der Tropfvorrichtung, die gleich¬
falls Eigenthum der Fabrik ist. und nun ist
die Tropfflasche fertig. Zur Controle der
verbrauchten Chloroform-Menge hat jede
Flasche noch eine Graduirung nach ccm
erhalten. Das Chloroforrn-Anschütz wird
also niemals umgegossen, es bleibt gleich-
mässig; ausserdem ist die Anschütz-Tropf-
methode sehr sparsam und zwar namentlich
in der geburtshülfiichen Operationspraxis
im Privathause; ich habe mehrere langan¬
dauernde geburtshülfliche Operationen mit
etwa 10 g Chloroform auf 1 Stunde ge¬
rechnet, durchgeführt. Dabei kam mir die
grosse Einfachheit des Anschütz-Apparates
sehr zu statten; denn in 3 dringlichen ge¬
burtshülfiichen Fällen musste ich in der
Noth eine Nachbarsfrau, die zum Helfen
gerade mit da war. zum Chloroformiren
anlernen: und es ging auch wirklich unter
meiner steten Controle Alles gut ab.
Die leichte Anwendung der Tropf¬
methode ist also höchst wichtig und un¬
entbehrlich für den oft auf sich ange¬
wiesenen Praktiker! Kommt es zu einer
Unruhe des Kranken, so hat der Narko-
tisirende bei Chloroforrn-Anschütz eher
Freiheit und Herrschaft über seinen Apparat.
Bei der Einfachheit desselben kann man
ganz anders und viel schneller zugreifen
und so. wenn es gilt, mit viel mehr Ruhe
einem Zufalle in der Narkose begegnen.
Gerade für die Gefahren der Narkose ge¬
wappnet zu sein und schnell die Hände frei
zu haben, wenn es gilt, das ist ein Haupt¬
erfordernis für das Gelingen einer Narkose.
Im Uebrigen ist das Anschütz-Chloro-
form offenbar von besonderer Reinheit, da
es anscheinend sehr selten üble Neben¬
wirkungen hervorruft. Nach meinen über
80 mit diesem Chloroform vorgenommenen
Narkosen ist mir nur einmal — und das war
merkwürdigerweise nach sehrwenig(12ccm)
Chloroform der Fall — über Stechen im
Kopfe und Brechneigung geklagt worden.
I Eine Verstimmung oder Mitgenommenheit
oder auffällige Verschlafenheit aber habe
ich bei der Anschütz-Narkose niemals beim
Patienten beobachtet.
Ich sehe mich daher veranlasst, ledig¬
lich auf das Anschütz'sche Chloroform und
seine handliche gebrauchsfertige und sichere
Verwendungsart in meiner Praxis stets
wieder zurückzukommen; und ich möchte
es auch den Collegen aufs Beste empfehlen,
welche bei der Wahl ihres Chloroforms
nicht immer der Herkunft und den sonstigen
Schicksalen desselben jedesmal erst nach¬
gehen und nachspüren können.
Zur Anaesthesirung der oberen Luftwege bei Tuberkulosen.
Von Dr. Gustav Bradt-Berlin.
In No. 9 dieser Zeitschrift (Jahrgang
1903) berichtet Pollatschek über seine ,
Erfahrungen mit Anästhesin und empfiehlt
für die Behandlung der Dysphagie Ein- |
Digitized by Google
Spritzungen einer Menthol - Anaesthesin-
Emulsion in den Larynx. Nach dem 1. c.
p. 405 abgedruckten Recept wünscht er
1,50 Menthol in 150 g Emulsion d. h. eine
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
566
Die Therapie der Gegenwart 1903.
Dccember
1 %ige Lösung, während man doch in der |
Regel 10%—20% Menthollösungen bei
der Larynxphthise anwendet. Es scheint
mir hier ein Irrthum sich eingeschlichen
zu haben, der von dem einen oder an
deren Collegen leicht übersehen wird,
wenn er das Recept einfach abschreibt.
Im Uebrigen habe ich mit der hier vor¬
geschlagenen Medication — d. h. mit 15,0
Menthol auf 150,0 Emulsion — in einem
schweren Falle von Dysphagie bei Larynx¬
phthise einen sehr guten Erfolg beob¬
achtet. Die Patientin, welche seit zwei
I Tagen nichts essen und trinken konnte
und von dem behandelnden Collegen mit
Nährclystiren ernährt werden musste,
konnte bereits eine halbe Stunde nach der
Injection von 1 cm 3 in dem Larynx pap¬
pige Speisen essen und am 2. Tage auch
alles trinken. Im Gegensätze zu der von
mir zuerst versuchten Cocainanaesthesie
traten keine Intoxicationserscheinungen auf.
Am 5. Tage genügten schon die Inhala¬
tionen der im Verhältniss von 1 :3 ver¬
dünnten Emulsion um die Dysphagie zu be¬
kämpfen.
Aristochin bei Bronchialasthma.
Von Dr. K. Dresler-Kiel.
Mit Aristochin (Bayer) habe ich in drei
Fällen von Asthma bronch. einen beach-
tenswerthen, in einem Falle einen geradezu
überraschenden Erfolg erzielt. Bei der
Verwendung des Aristochins in der Be¬
handlung des Keuchhustens fiel mir auf,
dass unter dem Einfluss des Mittels das
Krampfartige der Hustenanfälle sehr schnell
und erheblich gemildert wurde, während
gleichzeitig Anzahl und Dauer der Anfälle
nachliessen. Das brachte mich auf den
Gedanken, das Mittel auch bei den, den
Keuchhustenanfällen oft an Heftigkeit
gleichkommenden, ebenfalls krampfhaften
Husten- und auch Athemnothsanfällen der
Asthmatiker zu verwenden. Nach einer
anfänglichen, kurzen Verschlimmerung der
Beschwerden verloren die krampfhaften
Anfälle sehr bald an Heftigkeit, auch wur¬
den sie bei fortgesetztem Gebrauche immer
kürzer und seltener,
In einem Falle, wo seit 3 Jahren die
quälendsten Athemnothsanfälle täglich auf¬
traten und die Patientin nach vergeblichem
Versuche der verschiedensten Medica-
mente und Behandlungsmethoden nur noch
durch Räucherung sich geringe Erleichte¬
rung zu verschaffen vermochte, sind die
Anfälle nach sechswöchentlicher Anwen¬
dung von 3 Mal täglich 0,4 g Aristochin
vollständig verschwunden. Neben dieser
Einwirkung auf die Husten- und Athem-
noths-Anfälle machte sich auch eine allge¬
mein beruhigende Wirkung auf das bei
allen Patienten sehr reizbare Nerven¬
system geltend. Besonders günstig war
sie auf die Herztähtigkeit, die stets mehr
oder minder beschleunigt und leicht un¬
regelmässig war mit einem Puls von 100
bis 110. Nach kurzer Zeit wurde die Herz-
thätigkeit regelmässiger und kräftiger und
der Puls ging auf die normale Zahl zurück.
Als einzige unangenehme Nebenwir¬
kungen traten zeitweise schnell vorüber¬
gehendes Hautjucken und leichtes Ohren¬
sausen auf, im Uebrigen wurde aber das
Mittel wegen seiner völligen Geschmack¬
losigkeit stets gern genommen.
Darnach möchte ich das Aristochin zur
Verwendung in der Behandlung dieses so
überaus qualvollen Leidens weiter em¬
pfehlen.
Nachtrag zur Arbeit Ueber die Wurmkrankheit
von Prof. Zinn.
Während des Druckes dieser Arbeit ist in j ich mehrfach erwähnt habe, ist die sehr grosse
dem Minister.-Blatt f. Med. u. mcd. Unterrichts- Zahl der Fälle durchaus verständlich, da das
Angelegenh. No. 20 (16. XI.) der neueste Stand Ruhrkohlenrevier seit längerer Zeit inficirt
der Krankheit mitgeteilt worden. Die Zahl der ist; denn die Weiterverbreitung ist überall
Wurmkranken einschl. Wurmbehafteten be- da, wo sich Larven entwickeln können, in
trägt bis jetzt 17161 Fälle unter 188730 Berg- den Bergwerken naturgemäss eine sehr
arbeitern. Die unterirdische Belegschaft ist leichte. Mit der methodischen Unter-
zwischen 1,4% und 28,0%. im Durchschnitt suchung der Stühle wird man jeden Inficirten
zu 9,09% mit dem Parasiten inficirt. Wie auffinden. . r
lür die Rcdaction vcr.mtwoi tlirh: i'iof. (i. Klein perer in Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Oestrrreirli-luic.il n.
liugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban StSchwarzcnoerg
in Wien und Berlin.
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