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Full text of "Therapie Der Gegenwart 1903 44 ( NNF 5)"

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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



IIE IlEliriE DER ([[[MUT 

MEDIGINISGH-CHIRORGISGHE RUNDSCHAU 

FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE. 

(44. Jahrgang.) 


Leiter Mitwirkung hervorragender Fachmänner 


herausgegeben von 


PROF. DR. G. KLE AI DERER 

H E R E I X. 


Neueste Folge. Y. Jahrgang. 


URBAN & SCHWARZENBERG 


BERLIN 

N. F;-ie Jr:chstrasse 106 b. 


WIEN 

I., MaximihanstrasEf A . 


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1903. 


Original ftom 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Alle Rechte Vorbehalten. 


<>edruckt bei Julius Sittenfeld in Berlin W. 


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Original frorn 

UMIVERSITY OF CALIFORNIA 



INHALTS -VERZEICHNISS. 


Origmalmittheilungen, zusammenfassende Uebersichten, Congresse 


und therapeutischer 


A. 

Actinogrammc, Gleichzeitige Gewinnung mehrerer 

—. Schuppenhauer 143. 

Agurin, klinische Beobachtungen Ober —. F. Mon¬ 
tag 61. 

Akromegalie, Ueber —. L. Hllismans 350. j 
Albuminurie, Zur Frage der sogenannten febrilen , 
— nebst einigen Bemerkungen über die Bedeu- j 
tung der Cylinder. H. Lüthje 491. 
Anästhesirung, die — der oberen Luftwege bei 
Tuberkulösen. E. Pollatschek 403. G.Bradt 565. 

A n k y 1 o stomiasis, Ueber die Wurmkrankheit — 
und ihre Behandlung. W. Zinn 529. 

Anthrasol. Die dermatologisch wichtigen Bestand- 
theile des Theeres und die Darstellung des - 
H. Vieth 547. 

Appcndiciiis acuta, Ein Beitrag zur Frühoperation 
bei —. Schultz 190. 

Aristochin bei Bronchialasthma K. Dressier 566. 
Arsen und Phosphor, Ueber die Wirkung zweier 
neuer Verbindungen des — . R. Kobert 59. 

B. 

Basedow’sche Krankheit, Zur Therapie der —. 

Kirnberger 439. 

Bismutose und Enterocolitis. Biedert 431. 

Borax, Vergiftungserscheinungen nach dem Gebrauch 
von — mittelst Sprayapparat. Dosquet-Manasse 

384. 

Borsäure, Bemerkungen über die Schädlichkeit der 

—. C. ▼. Noorden 93. 

—, Erfahrungen über Entfettungskuren mit —. K. 

Senz 158. 

Borsäurewirkung, Zur Kenntniss der —. M. 
Cloetta 137. 

Buttermilch als Säuglingsnahrung in der poliklini¬ 
schen Praxis. E. Kobrak 299. 

B ro m i pinkly stiere, über — besonders in der 
Kinderpraxis. A. Rahn 43. 

C. 

Chinaphenin, Ueber —. C. T. Noorden 7. 
Chirurgisch wichtige Infectionen — über die ört¬ 
liche Behandlung der —. E. Lexer 9. 
Chloroform — Anschütz, Die Vortheile des — 
A. Rahn 56-5-* I 

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Meinungsaustausch. 


Creosotal, Erfahrungen mit — bei der Behand¬ 
lung der Er krankungen der Athmungsorgane. A. 

Badt 426. 

D. 

Digitalispräparate, Ueber die physiologische Do- 
sirung von —. A. Wolff 381. 

Diphtherie, statistischer Beitrag zur Wirksamkeit 
des Heilserums bei —. G. Bundt 137. 

Dy mal, Ueber. J. Stock 334. 

E. 

Eisenlichtbehandlung, Casuistische Beiträge zur 

—. E. Clasen 362. 

Empyroform, Ueber —, ein trockenes, fast ge¬ 
ruchloses Theerpräparat. B. Sklarek 305. 
Entfettungskuren, Ueber den Gang der Fettab¬ 
nahme bei —. E. H. Kisch 57. 

—, Erfahrungen über — mit Borsäure. K. Senz t 58. 
Erysipel, Die Anästhesinbehandlung des —s. 
Henius 43. 

—, Neuere therapeutische Versuche beim —. R. 

Pollatschek 499. 

F. 

Fissura ani, Die Behandlung der M. Katzen- 
stein 544. 

CI. 

Gallen- und Nierensteinkoliken, Zur Behand¬ 
lung von — mittelst neuconstruirtem Heissluft¬ 
apparat. R. Sachs 257. 

Gehirnkrankheiten, Ueber die symptomatische 
Behandlung raumbeengender —. D. H. di Gas- 
pero 212. 

Gelatine, ihre Gefahren und ihr Werth in der 
Therapie. H. Doerfler 118. 

Gonorrhoe, Zur Therapie der —. Walther Pick 71. 
Gonorrhoische Gelenkerkrankungcn und 
deren Behandlung mit lokalen Fangoapplikationen. 
Schuppenhauer 451. 

II. 

Harnblaseninnervation, Störungen der —, und 
die Pflege der Incontinenten. A. Homburger 106. 
Heissluftbehandlung mit dem Vorstädter’sclun 
Kalorisator. Fr. Bering 448. 

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: il ■ ; UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 

il)i 1 - 



IV 


Inhalts-Verzeichniss. 


Herzgrössenbestimmung, zur Kritik der soge¬ 
nannten modernen Methoden der —. de la 
Camp 343. 

Herzkranke, Ueber die diätetische Beeinflussung 
des Wasserhaushaltes bei der Behandlung —r. 

F. Kraus 289. 

Hüftverrenkung, Ueber die obere Altersgrenze 
für die Behandlung der angeborenen —. Georg 
Müller 69. 

Ichtalbin. J. Marcuse' 1 40. 

Infusionsbehandlung, Ueber —. W. Ercklentz 5. 

K. 

Kniegelenkserkrankungen, Zur Pathologie und 
Therapie einiger —. A. Hoffa 14. 

Kochsalz- und Flüssigkeitszufuhr bei Herz- und 
Nierenkranken. Strauss 433 
Kreosotal gegen Pneumonie. B. Friedemann 95. 

L. 

Leberaffecti onen — über die Behandlung mit 
Quecksilber nebst Bemerkungen über fieberhafte —. 

O. Rosenbach 101. 

Leberschwellung, Fieber und Schüttelfröste mit 
— geheilt durch Quecksilber. G. Klemperer 41. 
A. Ewald 92 

Lichttherapie, Beiträge zur — nach eignen Ver¬ 
suchen. P. Krause 538. 

Lungenphthise, Beitrag zurMechanotherapie der —. 

H. Cybulski 400. 

Luxation der Hüfte, Beitrag zur Behandlung der 
veralteten traumatischen — W. Klink 216. 

M. 

Magensaft, über die therapeutische Verwendung 
natürlichen — (Dyspeptinc) bei Magenkranken. 

L. C. Mayer 541. 

Menstruelle Blutungen, Kussmauls Methode zur 
Stillung übergrosser —. G. Klemperer 287. 
C. Kasbaum 432. 

Moorbäder und Moorumschläge nach Perityphlitis, 
Beiträge zur Wirkung der —. F. Straschnow 142. 
Morbus Basedowii, Ueber die speerfische Be¬ 
handlung des —. Burghart u. Blumenthal 337. 
Myopathien, Ueber die diagnostische Bedeutung 
und Behandlung functioneller —. O. Rosenbach 
145. 

N. 

Nicrenblutung und Nierenschmerzen. W. Klink 
252. 

Nicrenchirurgie, Die neuesten Bestrebungen auf 
dem Gebiete der —. M. Schede 225. 
Nierenentzündung, Heilung der chronischen — 
durch operative Behandlung. G. Klemperer 170. 
Nierenentzündung, Ueber die Behandlung der 
acuten — mit Eis. L. Stembo 504. 
Nierenkrankheiten, Neuere Arbeiten über die 
operative Behandlung der —. Th. Brugsch 368. 
Nierensteinkrankheit, Die Behandlung der —. 

G. Klemperer 385. 

Nieren wassei sucht, Zur Behandlung und Ver¬ 
hütung der —. H. Strauss 193. 

P. 

Perityphlitis, Die Behandlung der —. Bäumler 
49. 105. 

P hthisopy rin, Ueber das, — und seine Ver¬ 
wendung bei fiebernden Tuberkulösen. E. So* 
botta 527. 

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Pleuritische Exsudate, Zur Nachbehandlung 

der —. D. Rothschild 160. 

R. 

Rahmgemenge. Die — und ihre neuere Ergän¬ 
zungen. F. Gernsheim 65. 

Rahmgemenge, Die Besprechung der * im 
Februarheft, S. 65 der Therap. d. G. und ihre 
Kritiker. F. Gernsheim 383. 

Renoform, Erfahrungen über — und — Präparate. 

| B. Goldschmidt 332. 

Rheumatische Erkrankungen, Zur externen Bc- 

I Handlung der —. J. A. Goldmann 428. 

| Rhizoma scopoliae carniolicae, Klinische Er¬ 
fahrungen über —. L. v. Ketly 117. 

Röntgen-Verfahren, Eine Methode zur wesent¬ 
lichen Vereinfachung und Verbilligung des 
F. Kronecker 45. 

! Röntgen-Verfahren und interne Therapie, de la 
Camp 241. 

S. 

Salicyl präparat, Ueber ein neues ausser'.ich 
verwendbares — . R. PfeifFcr 284. 

Säuglingsckzem, Zur Frage der inneren Er¬ 
krankungen und plötzlichen Todesfälle im An¬ 
schluss an die Heilung eines —. M. Cohn 259. 

Säuglingsernährung, Sammelreferate über neuere 
Erfahrungen in der — H. Finkeistein 550. 

Sauerstofftherapie, Zur —. F. Kraus 1. 

Schlafmittel, Ueber eine r.eue Klasse von — 

E. Fischer u. J. v. Mering «96. ^7 

Schwangerschalt, Die Complication von — mit 
Herzfehler. J. Veit 17. 

Schwindsuchtstherapie vor 133 Jahren. S. Ka- 
miner 47. 

Scopolamin, Zur Kenntniss der Verwendung des 
— bei Magenleiden. M. Pickardt 286. 

Scopolaminum hydrobromicum,Ueber diethera¬ 
peutischen Indicationen des —. M. Kochmann 
202. 

Soolbad, Nimmt das — unter den Bädern eine 
Sonderstellung ein? F. Bahrmann u. M. Koch¬ 
mann 393. 

Speichel, Der — als Heilfactor. J. Bergmann 200. 

Syphilis. Die Behandlung der — mit Caloinel- 
injectionen. E. Lesser 21. 

T. 

Tanocol. H. Schirokauer 262. 

Theocin, Bemerkungen über die Wirkungen des —. 

H. Schlesinger 115. 

Thiosinamin, Zur Anwendung des —. E. Roos 
525. 

Thiosinamin, und seine Anwendung. A. Lewan- 
dowski 441. 

Tuberkulosefrage, Zur —. F. Klemperer 24. 
166. 367. 

Tuberkulöse, Die Anästhesirung der oberen Luft¬ 
wege bei —n. E. Pollatschek 403. Bradt 565. 

Typhus, Ueber die Bekämpfung des —. F. Klem¬ 
perer 74. 

U. 

Uterus, Ueber die Totalexstirpation des septischen 
puerperalen —. O. Feis, 220. 

V. 

Veronal, Einfluss des — auf die Stickstoffausschei¬ 
dung. C. Trautmann 438. 

—, Therapeutische Erfahrungen mit —. M. Rosen¬ 
feld 164. 

Vorderarmbrüche, Zur Behandlung der —. G. 
Müller 239. 

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Inhalts -Verzeichniss. 


V 


w. 

Wasserstöflsuper oxy d als Vcrbandmittcl. E. 

Ungcr 94. 

\V urmkra n k he i t, über die — Ankylostomiasis 
und ihre Behandlung. W. Zinn 529. 


Y. 

Yohimbin, das — (Spiegel) als lokales Anästheti« 
cum, besonders in der Behandlung der Ohren« 
und Nasencikrankungen. Haike 223. 


Sachregister. 


A. 


B. 


Acetonurie 327. 

Arne 476. 

— rosacca 266. 

Acoin 557. 

Actinographic 45. 143. 187. 229. 

241. 314. 323. 376. 468. 563. 
Actinomycose 557. 

Adenoide Vegetationen 187. 
Adnexerkrankungen 270. 

Adrenalin 34. 126. 270. 323. 
Agurin 61. 414. 

Akromegalie 350. 

Albargin 71. 

— clysmen 176. 

Aibuminurie, febrile 491. 

A kaiische Reaction des Blutes 
325. 

Alkohol 84. 

— als Nahrungsmittel 519. 

— Umschläge 37 7. 

Alkoholismus. Verhältnis djs, zur 

Chirurgie 85. 

Aramenfrage 554. 

Amputalio interscapulo thoracica 
271. 

Anästhesie, allgemeine uud locale 
410 

Anästhesirung der oberen Luft¬ 
wege 403. 565. 

— nach Schleich 4 12. 
Anästhesinbchandlung des Ery¬ 
sipels 43. 


Banti’sche Krankheit 17 7. 
Bärentraubcnblätter 232. 
Basedowsche Krankheit 126. 337. 
439. 

Beckenhochlagcrung 308. 
Becquerelstrahlcn 520. 

Bismutosc 127 431. 

Blasensteine, Spontanzertrümme¬ 
rung von — 230 371. 
Blasentuberkulose 413. 521. : 

Blut 325. | 

Blutes, Veränderung des — 128. j 
Blutgefässsystem 521. 

Blutstillung' 118. 126. 280. 560. 
Bluttransfusion 314. 1 

Borsäure 93. 137. 158 384. ! 

Bottim'sehe Operation 38. 310. 
Bromipinelystire 43. I 

Bronchialasthma 566. j 

Bulbärparalyse 81. i 

Buttermilch 299. j 


Calomelinjcctionen 21. j 

Cancroid 314. 323. j 

I Caramel 329. ' 

! Carcinom 275. | 

I - - des Magens 418. 4 7 7. 

1 — der Mamma 376. 

I — des Rectums 421. 

— und Diabetes 273. I 

— und Röntgenstrahlen 314. 323. | 


Anästheticum 223. 412. 
Angiosclerose der Darmarterien 

176. 

Ankylostomiasis 412. 529. 
Antithyreodin 127. 

Anthrasol 54 7. 

Antitoxinbehandlung bei Tetanus 

177. 

Appendicitis acuta, Frühoperation 
bei — 190. 

- und Leukocytose 469. 
Argentum nitricum 73. 

Aristochin 413. 566. 

Arsen 59. 

Arsonvalisation 124. 
Arteriosclerosc und Fettleibigkeit 
266 . 

Arythraie des Herzens und des 
Pulses 271. 

Asepsis 314. 

Atoxyl 17 7. 

Atropin 85. 

Aureol 34. 

Autointoxicationen^ intcstale 326. 

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| 468. 563. 

j Cardiolysis 312. 4 7 7. 

| Castration 558. 

J Catgutsterilasation 4 70. 

; Chinaphenin 7. 

| Chinin 34. 
j Chinoformin 370. 

Chirurgische Infectionen 9. 

| Cblorcalcium zur Blutstillung 281. 
I Choledochus, Tumor des - - 309. 
| Chorea 274. 
i — electrica 128. 

! — rheumatische 230. 

Chromsäure 73. 

| Citrophen 34. 

I Chlorbarium 410. 

I Chlornatrium-Entziehung 413. 
i Chloroform-Anschütz 565. 

Colitis ulcerosa 274. 
j Coordination, die Physiologie und 
| Pathologie der — 175. 

| Cortex rad. punice granat. 275. 

| Coxa vara 318. 

I Creosotal 95. 419. 426. 


(Turin 476. 

Curorte des Auslandes 372 
Cylinder 491. 

Cytodiagnostik 413. 

D. 

Darimlilatation 469. 
Darminvagination 469. 
Darmstenose 308 
Daumenplastik 128. 

Dermoid des Mediastinum 4 69. 
Dextrin 275. 

Diabetes 327. 372. 558. 559. 
— und Carcinom 273. 
Diarrhoen der Phthisiker 323. 
Dickdarmkatarrh 328. 
Digitalisblätter 231. 
Digitalispräparate 381. 
Diphtherie mit Heilserum 137. 
Diphtherieheilserum 329. 
Diphtherienieren 135. 

Diurese 464. 

Diuretin 414. 

Dj f mal 334. 

Dyspeptine 541. 


E. 

Eisenlichtbchandlung 3ö2. 

Ei weissaufbau 129. 

Eklampsie 329. 

Empyroform 305. 

Entartung, erblicht? durch sociale 
Einflüsse 460. 

Entbindungen nach L'tcrusruptur 
35. 

Enteritis bei kleinen Kindern 415. 
Entero-Colitis 431. 

Entfettungskuren 57. 158. 

Enuresis nocturna 510. 

Epididymitis, gonorrhoische 521. 
Epiduralinjertionen 269. 

Epilepsie 179. 312. 470. 
Ernährungstherapic und Diätetik 
324. 

Erysipel 43. 85. 499. 

Eukinase 82. 

Extractum filicis maris 412. 

F. 

Fangoapplieationen 451. 

Fermenttherapie bei Säuglingen 
467. 

Fettsucht der Kinder 231. 

Fettleibigkeit , arteriosclerotische 
266. 

Fieber mit Leberschwellung 41. 92. 

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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 



VI 


I nhalts -Verzcichniss. 


Fissura ani 54-1. 

Fliissigkeitszufuhr 433. 

Folia uvae ursi 232. 
Fracturbehandlung 311. 

Furunkulose 82. 415. 

O. 

G:illensteinkolik 257. 
Gallensteinoperation 560. 

Gallenwege 415. 

— Desinfection der — 470. 
Gastroenterostomie 308. 

Gastrophor 308. 
Geburtscomplikationen 275. 
Gefässtransplantation 312. 

Gchil nkrankheiten, raumbeengende 

212 . 

Geisteskranke, Strafvollzug an — 
512. 

Gelatine 118. 476. 560. 
Gelenkerkrankungen, gonorrhoische 
451. 

—, hereditär-syphilitische 415. 
Gelenkrheumatismus und Serum- 
therapie 463. 

Gemüthsbewegungen und Krank¬ 
heiten 268. 

Gcnitalorgane, männliche 35. 
Genitaltuberkulose beim Weibe 37 3. 
Gicht 173. 330. 

Gluconsäure 328. 

Gonorrhoe 71. 131. 278. 451. 4 70. 
521. 

Guajakpräparate 325. 475. 

H. 

Halsrippen 319. 

Harnblaseninnervationsstörungen 

406. 

Harncylinder 39. 
Harnröhrenstricturen 130. 416. 
Harnverhaltung 557. 

Hautcarcinome 275 
Hautkrankheiten 83. 270. 520. 

—, Atlas 229. 556. 

Hefe 35. 

Heilquellen, chemisch-physikalische 
Beschaffenheit der — 32. 
Heilserum und Diphtherie 137. 
Heiratsverbot 471. 

Heissluftapparat 179. 257. 448. 
Helmholtz-Biographie 31. 

Helmitol 373. 

Hemiplegie 81. 

Hereditäre Syphilis 378. 415. 
Hernien 308. 513. 

Heroin 85. 232. | 

Herpes progenitalis 476. I 

Herzfehler und Schwangerschaft 17. I 
Herzgrössenbestiramung 343. 466. | 
Herzkranke 289. 433. 

Herznaht 313. 373. 

Herzverletzung 313. 373. 
Heilbehandlung 232. 424. 
Heufieber 130. 180. 

HirngeschwQlste 320. 

Hirnsyphilis 321. 

Hirschsprungsche Krankheit 469. 
Hüfte, veraltete traumatische Luxa¬ 
tion 216. 

Hüftverrenkung 69. 216. 

Husten und Schnupfen 180. 
Hydrargyrum colloidale 233. 
Hvdrocephalus 321. 


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Hysterie 82. 

— im Kindesalter 507. 


Ichtalbin 140. 

Ichthargan 180. 

Immunität bei Infcctionskrankhciten 
172. 

Immunität und Narkose 181. 
Incontinenz der Harnblase 406. 
Infectionen, chirurgisch wichtige 9. 

—, leichte 276. 

Infectionskrankheiten, Immunität 
bei — 172. 

Infusionsbehandlung 5. 
Intoxicationen, Lehrbuch 123. 
Intubation 513. 

Invagination des Darms 469. 
Ischialgische Beschwerden 47 7. 
Ischias 560. 

J. 

Jacksonsche Epilepsie 312. 
Jahrbuch, ärztliches 33. ! 

Janetsche Methode 131. I 

Jodausscheidung 132. I 

Jod in Acetonlösung 82. I 

Jodkodein 374. I 


Kali hypermanganicum 417. 
Kalorisator 448. 

Kardiolysis 312. 47 7. 

Katalysatoren 462. 
Kehlkopfpapillome im Kindesalter 
417. 

Keuchhusten 87. 

Kinderkrankheiten 33. 125. 231. 

Kinderheilkunde 124. 
Kinderkrankheiten — Lehrbuch 
der — 33. 

Kinderlähmung 316. 

Klumpfuss 312. 
Kniegelenkserkrankungen 14. 
Kniescheibenbruch 311. 
Kochsalzinfusionen 374. 433. 513. 
Kochsalz und Oedeme 324. 371. 
Kochsalzentziehung 413. 
Kohlensäure bei Magenverdauung 
36. 

— Bäder bei Herzkranken 371.464. 
Kopfschüsse 312. 

Kopftetanus 375. 

Krebs 87. 1. 32. 

Krebs des Ductus choledochus 87. 
Kreosotal und Pneumonie 95. 419. ; 
426. 

Kretinismus 417. 

Kryoskopie 310. 

Kryptorchismus 311. 

L. 

Labferment 467. 
Labyrintherkrankung 267. 

Lactagoga 552. 

Lactagol 552. 

Lageveränderungen der Leber 513. 
Lähmungen, spondylitische 133. 
Landrysche Paralyse 81. 
Laparatomie bei tuberkulöser Peri¬ 
tonitis 522. 

Laryngitis aphthosa 506. 

Lävulose 328. 376. 
Leberarterienaneurysma 557. 


Lebercirrhose, Organtherapie bei — 
267. 

Leberschwellung mit Fieber 41.92. 
—, Behandlung mit Quecksilber 
101 . 

Lehrer, Nervosität der — 512. 
Leukämie 36. 

Licht, physiologische Wirkungen 
des — 461. 

Lichtbehandlung 266. 362.461.538. 
—, nach Finsen 418. 

—, des Scharlach 30. 

Liebigsuppe 236. 

Lipämie 328. 

Liquor van Swieten 29. 

Littlesche Krankheit 29. 81. 
Lufteinblasung gegen Neuralgie 31. 
Lumbalpunction 134, 267. 269. 
Lungenerkrankungen, chirurgische 
Behandlung der — 522. 
Lungenabscess 522. 

Lungenphthise 400. 403. 

Lungentuberkulose und Ozaena 236. 
Lungcnverletzung 312. 

Luxation der Hüfte 69. 216. 319. 


M. 

Magenerweiterung 513. 

Magenkrebs 308. 

Magensaft, Künstlicher 541. 
Magenverdauung 36. 
Mammacarcinom 376. 

Mastitis 554; 

Mastdarmcarcinom 421. 
Mediastinaltumor 312. 

Mediastino — Pericarditis 312. 47 7. 
Menstruelle Blutungen 287. 432. 
Menzersches Serum 463. 

Mesotan 182. 524. 

Methylenblau 323. 

Metrorrhagie 123. 

Milchanalyse 553. 

Milchserum 376. 

Milzbrandpusteln 233. 
Milzexstirpation 311. 
Mittelohrentzündung 88. 

Moorbäder und Umschläge nach 
Perityphlitis 142. 

Morphium, Einfluss auf die Mngcn- 
saftsecretion 233. 
Morphiumvergiftung 276. 
Myopathien, functioneile 145. 

N. 

Nährklystire. sterilisirt 463. 
Nährpräparate 182. 

Nährzucker 236. 

Narkose, Schneiderlin-Korff’sche 

202 . 

Nasenathmung, zweiseitige 125. 
Nasenkrankheiten 125. 
Nasenmuschel 132. 
Naturwissenschaft und Weltan¬ 
schauung 458. 

Nephropexis 183. 

Nervenkranke, Volksheilstätten für 
78. 283. 

Nervenkrankheiten, Diagnostik 
der — 556. 

Nervenkrankheiten und weibliche 
Geschlechtsorgane 514. 
Nervensystem, Pathologie des — s 
268. 


Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Inhalts -Verzciehniss. 


VII 


Nervosität der Lehrer und Lehre¬ 
rinnen 512. 

Neuralgie (Lufteinblasung) 31. 
Neurasthenie 82. 

Nieren 135. 170. 189. 225. 235. 

252. 310. 385. 504. 524. 
Nierenchirurgie 1 70. 225. 368. 470. 
Nierenblutung und Nierenschmerzen 
252. 

Nierenentzündung, acute, Behand¬ 
lung mit Eis 504. 

—, operative Behandlung 170. 
368. 470. 

— nach Scharlach 135. 524. 
Nierenkranke, Ernährung 235. 433. 
Nierenruptur 310. 

Nieren Wassersucht 193. 323. 

—steinkolik 257. 385. 
Nordseeinseln, Klima der — 181. 

O. 

Obstipation und Hypnose 463. 

— bei Kindern 467. 

Oes jphagotomie 134. 278. 

Opium Vergiftung 276. 

Otitis, Behandlung mit Sauerstofl — 

88 . 

Ozaena und Lungentuberkulose 
236. 

P. 

Pankreas 415. 

Pankreasblutung 310. 
Paraffininjectionen 88. 134. 308. 
Paraldehyd 36. 

Paralyse und Tabes 411. 
Pawlow's Arbeiten über Verdau¬ 
ung 90. 

Pegnin 467. 

Perforation des Kindes 277. 
Peritonitis 135. 419. 478. 

— tuberkulöse 277. 331. 522. 

— pneumocoecen 309. 419. 
Perityphlitis 49. 105. 142. 190. 

309. 

— mit Moorbädern und Moor¬ 
umschlägen 142. 

Perorale Intubation 513. 
Pestinfection 462. 

Pfählung 513. 

Pharyngitis sicca 419. 

Phlegmone, perioesophageale 278. 
Phosphor 59. 

Phosphorkreosot 370. 

Phosphotal 370. 

Phthisopyrin 527. 

Physicalische Heilmethoden 481. 

— und Nervensystem 519. 
Physiologie, Ergebnisse der — 32. 
Physiologische Psychologie 458. 
Physostigmin 85. 

Pilocarpinbehandlung der Pneu¬ 
monie 478. 

Placenta praevia 184. 

Pleuritische Exsudate 160. 
Pncumococcenperitonitis 309. 410. 
Pneumonia chronica interstitialis 
463. 

— crouposa 419. 478. 

Pneumonie und Kreosotal 95. 
Polydactilie 319. 

Polymyositis 377. 

Polyurie 420. 

Praesclcrose 371. 


Primäraffcct 561. 

Prostatahypertrophic 37. 278. 563. i 
Prostatitis 278. 

Pruritus 31. 

Psoriasis vulgaris 279. 

Psychologie der Gefühl«- und 
Affectc 458. 

Psychosen 279 
Pulmonale Narkose 513. 

Purgatin 420. 

Pyramidon 282. 

Pyrenol 186. 

q. 

(Juccksilbereinwirkung vor der 
Geburt 421. 

(Juecksilberpräparate, lösliche 267. 

R. 

Rachenmandelhyperplasie 187. 
Radiotherapie 229. 241. 3 76. 
Rahmgemenge 65, 383. 

Recht des Arztes 472. 
Rectumcarcinom 421. 

Renoform 332. 

Rctroflexio uteri 518. 

Rhachitis 509. 

Rheuinatin 421. 

Rheumatische Erkrankungen 428. 
Rhinosclerorn 85. 

—, mit Thiosinaminversuchen 189. 
Rhizoma scopoliae carniolicae 117. 
Röntgen-Verfahren 45. 143. 187. 

241. 314. 323. 376. 468. 563. 
Rückenmarkstumoren 39. 

S. 

Salicylpräparate 39. 284. 428. 

— Vasogen 429. 
Salmiakgcistvergiftungen 279. 
Samenblasen 279. 

Sanduhrmagen 308. 

Sauerstoffnfusion 524. 
Sauerstoffinhalation bei Kindern 1 35. 
Sauerstoffinjectioncn 560. 
Sauerstofftherapie t, 135. 280 524. 
Säuglingsekzem 259. 

Säuglinge — gastrische Intoleranz 

266. 

Säuglingsernährung 236. 299. 411. 
550. 

Salzwirkung auf die Haut 465. 
Scharlachnieren 135. 524. 

Scharlach und rotes Licht 30. 
Schenkclhalsbruch 311. 
Schenkelhalsvcrbiegungen 317. 
Schilddrüsentabletten 417. 
Schlafmittel-96. ? 

Schleimkolik des Darms 187. 
Schnupfen und Husten 180. 
Schreibkrampf 511. 

Schulhygiene 459. 

Schwangerschaft und Herzfehler 17. 

— — und Tuberkulose 470. 
Schwarz, L., Nekrolog 336. 
Schwefel 331. 

Schwindsucht 411. 
Schwindsuchtstherapie 47. 

Scoliose 319. 

Scopolaminum hydrobromicum 202. 
286. 

Seebäder und Stoffwechsel 465. 
Seehospize 507. 

Seekrankheit 237. 


Sehnenoperationen, plastische 315. 
Selbstmord bei Syphilis 322. 
Scxualneurasthenikcr 188. 
Sitophobie 524 
Soolbad 393. 

Speichel, als Heilfactor 200. 
Spirituscomprcssen 37 7. 

Spondylitis 318. 320. 513 
Staphylococccninfection 8 5. 
Stillende Frauen. 550. 

! Strafvollzug 512. 

Streptococceninlection 85. 

Stridor congenitus 506. 

Strychnin gegen Polyurie 421. 
j Südwestafrika als klimatischer Kur- 
I ort 464. 

Syphilis 237. 41 1. 415. 42^. 
j —, Calomelinjectionen 21. 

— des Gehirns 321. 

- fötale 90. 421. 

—, hereditäre 378. 4 15 
I — und Paralyse 321. 

— und Selbstmord 322. 

, — und Tabes 81. 321. 

j —, Vererbung der — 378. 

■ —, viscerale 425. 

Syphilitische Familie 89. 

I — Primäraffeet 561. 

T. 

Tabes und Syphilis 41 I. 
Tannoforin 378. 

Tanocol 262. 

Taxis bei Hernien 513. 

Tetanie 237. 

Tetanus des Kopfes 37 5. 

— mit Antitoxinbchandlung 17 7. 
479. 

— nach Gelatincinjection 280. 

— traumaticus 422. 

Tetanusgift 378. 

Theer 379. 547. 

Theocin 115. 238. 423. 564. 
Therapie, Handbuch der — 228. 
Thiosinamin 441. 525. 
Thiosinaminversuchc bei Rhino- 
sclerom 189. 

| Thorax Verletzungen 564. 
i Thymusvergrösserung 506. 

Thyrcoidin 417. 

| Trachom 379. 

Tuberkulose 24. 135. 27 7. 331. 
373. 400. 403. 411. 413 4 17. 
424. 521. 522. 527. 

, Bekämpfung der - 459. 

— , Entstehung <ler — 508. 

—, Immunisirung gegen — 479. 
Tuberkulosefrage 24 166. 367. 

Typhus 74. 282. 

— atypischer 281 

U. 

Ulcus molle 239. 
Unterkieferbrüche 311. 

Urnisches Kind 468. 

Uropurin 232. 

Urethramassage 376. 

Urethritis anterior 424. 
Uterusrupturen 283. 

Uterusruptur, Entbindungen nach 
— 35 

Uterus, Totalcxstirpation des sep¬ 
tischen puerperalen — 220. 


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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 



VIII 


Inhalts -Verzeichntes. 


V, 

Vaginifixur 518. 

Vanadinsäurc 323. 

Varicen 275. 

Variola vera 425. 
Vaseline-Injection 90. 
Vegetarianische Diät 229. 
\ T enerische Krankheiten 84. 270. 

— Erkrankungen, Atlas 229. 

— Krankheiten, Lehrbuch 84. 
Ventrifixur 518. 

Verdauung, Pawlow 90. 

Störungen der — bei Säug¬ 
lingen 467. 


Veronal 96. 164. 380. 438. 480. 
Vial’s tonischer Wein 189. 

, Virchow als Ar 2 t 462. 
Visceralsyphilis 425. 
Volksheilstätten för Nervenkranke 
! 78. 283. 

Vorderarmbrüchc 239. 
Vorgeschichte des Menschen 460. 

W. 

Wägen, tägliches 40. 

Wanderniere 189. 


Wärmereize 521. 

Warzen 314. 

Wasserhaushalt, diätetische Beein¬ 
flussung bei Behandlung Herz¬ 
kranker 289. 

Wasserstoffsuperoxyd 94. 
Wochenbettsmorbidität 40. 
Wurmfortsatz 380. 

Wurmkrankheit 529. 


Y. 

Yohimbin als Anästheticum 223. 


Autorenregister. 

|44ie Seitenzahlen der Original-Mittheilungen sind fett gedruckt.) 


A. 

Abraham 35. 

Achard 371. 

Albu, A 229. 

Aldor 328. 

Alexander, A. 236. 
Alsberg 460. 

Alter 279. 

Anten 132. 

Aronheim 480. 
Aschaffenburg 512. 

Asher 464. 

Aue 88. 

Axenfeld 321. 

B. 

Babinski 267. 

Bade 320. 

Badt, A. 426. 

Baedecker 124. 

Baermann 521. 

Bahrmann 393. 

Bang 25. 

Banti 177. 

Bardenheuer 319. 

Bai det 370. 

Bartring 376. 

Baudouin 267. 

Baur 552. 

Bäumler 49. 105. 321. 
463. 

Bartrina 34. 

v. Behring 28. 459. 479. 
Belawenz 270. 

Bendix 33. 554. 
Bergmann, J. 200. 

— K. J. 420. 

Bering, Fr. 448. 

Berlioz 267. 

Bertelsmann 513. 

Biedert 33. 431. 509. 
Binswanger 517. 

Block 237. 412. 

Blondei 323. 376. 
Blumenfeld, F. 419. 
Blumenthal 337. 

Boas, J. 273. 274. 


' v. Bökay 134. 

Bollinger 551. 

I Borchardt 312. 

, Borchgrevink 135 522. 
! Borszeky 564. 

, Bradt 565. 

| Bramann 314. 
i Bransford Lewis 278. 
Brauer 313 477. 

Braun 312. 469. 
j Brodnitz 308. 
f Brok 189. 

| Bronstein, J. 413. 

: Brosius 321. 

! Brugsch, Th. 368. 

v. Brunn 309. 419. 
i Bruns 128. 507. 

I Budin 551. 

Bumke 36. 

! Bumm 329. 

I Bundt 137. 

! v. BOngner 415. 513. 

Burghart 337. 

Byk 283. 

C. 

Cahen-Brach 467. 
j Calmette 322. 
i de la Camp 241. 343. 
| Cantrowitz 232. 

| Carrion 82. 
j Casper 521. 

Castelvi 560. 

| Cathelin, F. 269. 

! Ceni 179. 

| Chantemesse 413. 

| Chevalier 323. 

| Choltzoff 416. , 
Chauffard 280. 

Chiari 178. 

Clairmont 308. 

Clasen, E. 362. 

Clemm 176. 
i Cloetta 137. 

! Codivilea 316. 

Cohn, M. 259* 

Cohn, P. 268. 


Cohnheim 90. 129. 55 
Comby 125. 551. 
Conwentz 460. 

Cordier 31. 

Crha 419. 
v. Criegern 182. 
Crouson 31. 
Czerno-Schwarz 413. 
Czerny 275. 553. 
Cybulski 400. 

D. 

Daconto 557. 

Dänisch 463. 

Dappcr 187. 

David 323. 

Delius 463. 

Determann 283. 
Deutsch, E. 270. 

I Disse 29. 

Doerfler 118. 

Dollinger 313. 

Döring 239. 

Dornblüth, O. 237. 
Dosquet-Manasse 384. 
Doumer 323. 

Dreslcr 566. 

Dreuw 279. 

Dührssen 314. 

Dumont, F. L. 410. 
Dunbar 130. 180. 
Dunin 82. 

Düntzmann 275. 

E. 

t 

Ebstein 462. 

Edcbohls 170. 368. 
Edel 181. 

, Ehrhardt 314. 

, Ehrmann 476. 

Einhorn 524. 

Eiseisberg 313. 

Eiselt 275. 

Elsässer 422. 

Elsner 127. 

Embden 129. 
j Engclmann 271. 


! Ercklentz 5. 
Escherich 555. 
Eulenburg 515. 

; Ewald 92. 281. 

; Exner 376. 

F. 

Falk 47 1. 
Federmann 309. 
Federschmidt 233. 
Feilchenfeld 420. 
Feis, O. 220. 
Fellner 471. 
Ficssir.ger 266. 
Finkeistein 550. 
Fisch 464. 

Fischer, E. 96. 
Fischl 33. 411. 
Flachs 552. 

Fleiner 237. 

Fleischl 476. 

Flügge 472. 

Focke 231. 

Foerster 175. 
Fournier 322. 
Fracnckel, P. 325. 
Frankenhäuser 465. 
Frank 232. 

Franz 460. 
Freudenberg 310. 
Freund, L. 229. 
Freymuth 276. 
Frieboes 325. 475. 

! Friedemann 95. 

| Friedenthal 325. 

| Friedländer 277. 
i Frotscher 177. 

Frucht 236. 

! Fueth 372. 

Fürst, L. 376. 
Fürstner 320. 


Galliard 267. 
Gallois 29. 81. 82. 
Ganghofer 467. 
Ganghofner 508. 


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Inhalts -Verzeichniss. 


Gärtner 314. 
di Gaspero 212. 
Gassaöt 31. 

Gaupp 321. 

St. Gene 35. 

Gerhardt 321. 
Gernsheim 65. 383. 
(.las 189. 

Goldmann, J. A. 428. 
Goldscheider 556. 
Goldschmidt, B. 332. 
Görl 230. 

Grasset 81. 

Grätzer 320. 551. 
Gregor 553. 

Griesbach 45?. 
Grinjewitsch 85. 
Gröber 182. 
v. Grolmann 33. 

Gross 134. 

Gumprecht, F. 228. 
Grunmach 466. 
v. Guerard 518. 
Guthrie 331. 

H. 

Haasler 308. 
llaberer 513. 
Hackenbruch 311. 
Hahn 189 
Haikc 223. 

Halkin 520. 

Haller 34. 

Hallion 82. 

Hanszel 85. 

Harmer 417. 

Hecht 135. 

Hecker 90. 
llefelmann 552. 

Hegar 551. 
Heinzeimann 557. 
Helbing 319. 

Heller 507. 

Hcllcsen 231. 

Henius 43. 

Hermes 380. 

Hess, K. W. 238. 
Heubner 135. 553. 
Heusner 319. 

Heusser 232. 

Hippel 415. 470. 
Hirschfeld 468. 
Hirschsprung 469. 
Höbcr 325. 

Hochsinger 506. 

Hock 134. 310. 

Hoff 232. 

Hoffa 14. 

Hoffmann 513. 
Hofmeier 277. 
Holländer 561. 

Holsti 233. 

Homburger 406. 
Höpfner 312. 

1luchard 371. 
Huismans, L. 350. 
Hüppe 25. 

I. 

Impens 373. 

J. 

Jacobäus 40. 
jacobi, E. 229. 556. 


Jensen 461. 

Jesdik 87. 
Joachimsthal 318. 
Jonas 125. 

Jordan 311. 415. 
Jullien 2ö7. 


Kader 308. 

Kalinin 85. 

| Kami ne r 47. 

Karewski 522. 
j Karg 314. 

Kasbaum 432. 

Katz 464. 

Katzenitein 544. 

Kayser 524. 

Keferstein 519. 

Kehr 87. 557. 

Keller 507. 

Kessler 279. 
v. Kelly 117. 

Kieseintzky 554. 
Kirnberger 439. 

Kirstein 239. 

Kisch 57. 

Kittel 413. 

Klautsch 236. 

Klemperer, F. 21. 74. 

166 367. 

—, G. 41. 170. 287. 385. 
464. 

Klink 216. 252. 

Knoop 129. 

Kobert 59. 123. 

Kobrak 230. 299. 

Koch. Robert 24. 
Kochmann, M. 2Q2. 330. 
, 393. 

Köhler 24. 

I Kolbassenko 377. 

I König 308. 

, Körte 309. 310. 

I Kötschau 518. 

I Kramer 238. 

I Kraske 308. 
j Kraus 1. 289. 462. 
Krause 312. 

—, Paul 538. 

Krawkoff 270. 

Kronecker 45. 

Kronfeld 468. 

, Krönig 514. 

I Krotoff 379. 

1 Kröger 371. 

Kuhn 470. 513. 

Kukula 183. 

Kömmell 310. 312. 369. 
Kutner 310. 

Köttner 314. 

Kutvirt 88 . 

L. 

I.abadie — Lagrave 374. 
Labhardt 132. 

Ladenburg 458. 

Länderer 232. 

Lange 126. 316. 
Langstein 129. 

I Lanz 126. 127. 

' assar 314. 

ulmonier 370. 

>.eblond 323. 

I Ledderhose 470. 


Lemoinc 323. 

Lcreddt* 30. 2 56 411. 
Lesscr 21. 

Lewandnwski, A. 441. 
Leser. E 9. 
v. Leyden 187. 324. 
Lilienfeld 380. 480. 
Lilienstein 510. 
Ljubomudroff 37 4. 

Lttwi 129. 465 
Lucke 557. 

Ludlotr 312. 

Lumierc 4 76. 

Lüthje 30. 491. 558. 559. 

M. 

Madelung 469. 

Magnus — I.evy 4 17. 
Maragliano 1 78. 

Marchand 1 7 7. 178. 
Marcusc 140. 

Marfan 553. 

Marie 31. 

Martin, A. 521. 
Matzenhauer 378. 

Mayer, L. C. 541. 

Mayer, P 275. 

Mayer (Köln! 319. 
Memerts 238. 

Menge 516. 

Mcnzer 463. 
v. Mering 96. 

Mery 266. 

Metschnikoff 1 72. 

Meyer, H., 378. 

I McycrhofTcr 32. 
Minkowski 173. 

Mocbius 78. 127. 
Möhring 513. 

Moll 560. 

Montag 61. 

Monti 124 . 

Moran 1 30. 

Moro 236. 

Mosauer 414. 

Moszkowicz 134. 

Mott, F, W. 268. 

Motz 413. 

Mracek 83. 

Möller, Franz 465. 
Müller, Georg 69. 239. 
Müller iStuttgarti 319. 

N. 

Nagel 412. 

Nägeli 459 
Narath 308. 

Nebesky 270. 

Neuber 314. 

Neu leid 4 79. 

Neumann 33. 79. 
Nicoladoni 128. 

Nicdcrle 421. 
Neumann-Caspari 84. 
Nocard 25. 

v. Noorden 7. 93. 187. 
Nordheim 551. 

O. 

Oettingen 312. 
Oppenheim 39. 377. 513. 
Oitncr 176. 

| Oäscndowski 128. 

I Ostroxvsky 378. 


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IX 

! P. 

Payr 309. 

' Pehu 476. 

Pel 235. 

1 Peis-Leusden 278 
Pelzl 478. 

Pcnzoldt 36. 

Perthes 314. 563. 

Pctersen 308. 

Pfaundler 555. 

Pfeiffer, R., 284. 

Pfister 510. 
i Pllüger 232. 

' Pick, W. 71. 
j Pickardt 286. 

Pinclcs 564. 
i Pletzer 552. 

I Pluinier 130. 

1 v. Pöhl 462. 

Polak 85. 

: Pollatschek, E. 403. 

—, R. 499. 

j Poly 480. 

| Preobraschcnsky 27 1 

0. 

I (Juillier 552. 

(Juincke 36. 425. 

R. 

I Rahn 43. 565 
| Ramsay 459. 
j Ransom, Fred. 37 8 . 

Rattncr 423. 

' Rautenberg 179. 

Reckzeh 279. 

Rchfisch 27 1. 

Rehn 469. 

Reich 415. 

Reiner 316. 318. 

Renon 323. 

Richter 34. 

Riedel 309. 311. 

Rieder 461. 

Riegel 233. 

Riehl 421. 

Riese 310. 

Robin 266. 323. 

Rolin 374. 

Rommel 236. 509. 

Roos, E. 34. 525 
Rosemann 519. 

Rosenbach 101. 145- 
Rosenberg 125. 

Rosenfeld, M. 164. 

—, C. 180. 

Rosinski 378. 

Rothschild 160. 

Rovsing 37. 

Rubeska 283. 

Rumpel 369. 462 . 

Ruppinger 506 
Rzad 477. 

S. 

Saalfeld 331. 

Sachs, R. 257. 

Sack 379. 

Salomon 418. 

Sbarigia 180. 

Schaffer 517. 

Schanz 316. 31c* 
j Schdan-Puschkin 413^ 

I Schede, M. 225. 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



X 

Inhalts- 

■Verzeichniss. 


Schedel 410. 

Senz 158. 

Thiemich 507. 553. 

Weissbein 236. 

Scheube 84. j 

Siegel 421. 

Tillmanns 133. 

I Weljamowitsch 276. 

Schild 177. | 

Siegert 467. 509. 

Tobias, E. 232. 

Wenkebach 271. 

Schilling 88. ! 

Sklarek 305. 

Topolanski 90. 

Werter 232. 233. 

Schirokauer 262. 

Snel 181. 

Trautmann, C. 438 

, Wichmann 512. 

Schlesinger 115. 186. 

Sobotta, E. 527. 

Trunecek 275. 

Widal 413. 

Schloflfer 308. i 

Sonnenburg 39. 309. 

Tschcrcpnin 375. 

Widowitz 524. 

.Schlossmann 467. 551. . 

Soubeyran 417. 

U. 

Wieland 329. 

Schmidt, Ad. 463 

Souques 31. 

Wilbcrt 187. 

Schmidt, H. E. 418. j 

Spitzer 131. 

Unger 94. 

v. Wild 518. 

Schoemaker 310. 

Spitzy 317 


Wildermuth 78. 

Schönhölzer 477. ! 

Sprengel 309. 

V. 

Wille 516. 

Schott 560. 

Ssaweljew 377. 

Valcntini 282. 

Wilms 312. 

Schottelius -462. 

Steiner 308. 

Variot 266. 

Wirth 480. 

Schoull 30. 

Stembo 504. 

Veit 17. 470. 517. 

Wischnewsky 425 

Schramm 522. 

Stern 476. 

Velten 372. 

Wittek 316. 

Schuckmann 17 7. 

— (Düsseldorf) 4 70. 

Vierordt, O 481. 

Wolff, A. 373. 381. 

Schultz 190 

Stock 334. 424 

Vieth 379. 547. 

—, M. 25. 

Schulze-Berge 470. 

St rasch now 142. 

Vigne 31. 

Wroblewski 132. 

Schuppenhauer 143. 451. 

Strassmann 184. 

Völker 563 

Wullstein 308. 314. 

Schütze 375. 

: Strauss 193. 232. 433. 

Vii 1 pins 315. 


Schwalbe 460. 

StroganotT 35 

W. 

z. 

Schwatz, L. 327. 

| Stucrtz 280. 326 524. 

Zabludowski 35. 51 

Schweizer 411. 

; Suzor 35. 

Wälsch 278. 

Zahradtiicky 271. 

Schwenk 424. 


Warnckros 311. 

Zangenmeister 4 0. 

Schwerin 313. 

X 

Weber 478. 

v. Zeissl 84. 

Seggel 317. 

1 • 

Weil 476. 

Ziehen 458. 

Scllhcim 373. 

Tarnowsky 89. 

Weinberger 188. 

Zinn 529. 566. 

Senator 1 77. 178. 

Temesvarv 552. 

Weiss 555. 

Zu ritz 129. 182. 


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Original ftom 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Die Therapie der Gegenwart 


1903 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


Januar 


Nachdruck verboten. 


Zur Sauerstofftherapie. 


Klinische Vorlesung 

Heine Herren! Die Besprechung neuerer 
Behandlungsversuche der Pneumonie hat 
uns auf therapeutische Bestrebungen ge¬ 
führt, welche ihre Entstehung den vertieften 
Untersuchungen Ober das Blut bei Pneu¬ 
monie verdanken. Ausser der Infection 
soll hier die Blutbeschaffenheit auch von 
dem veränderten Respirationsmechanismus 
beeinflusst werden können, und diese Be- \ 
einflussung der Blutbestandtheile soll dann | 
weitere, über die unmittelbaren Grenzen j 
des Gaswechsels reichende Folgen (Oligurie) ! 
nach sich ziehen. Oxygeninhalationen gegen i 
die dyspnoischen Zustände der Pneumonie¬ 
kranken ist in jüngster Zeit eine besonders 
wohlthätige, wenn auch vorübergehende 
Wirkung zugeschrieben werden. 

Das lenkt unser Interesse wieder einmal 
auf die Sauerstofftherapie überhaupt. Um¬ 
somehr als auch sonst gerade hier in Berlin 
der praktische Werth dieserTherapie jüngst 
viel studirt und discutirt worden ist. 

Planeten können bekanntlich auf zweierlei 
Art entdeckt werden, manchmal am Schreib- , 
tisch durch Rechnung, andere Male mittelst des 
Fernrohres auf der Sternwarte. Auch beim 
Sauerstoff haben geistige Augen die Ent¬ 
deckung eher und richtig gemacht Schon seit 
Democritos war man darüber einig, dass die 
Luft dem Blute einen zum Leben nothwendigen 
Bestandtheil liefere, und der als Künstler so 
hoch verehrte Leonardo da Vinci schreibt 
zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts), dass das 
Feuer die Luft verbraucht, welche es ernährt, 
und dass, wenn die Luft sich nicht im nor¬ 
malen Zustand befindet, darin weder eine 
Flamme brenne, noch ein Thier der Erde oder 
Luft leben kann. Mayow stellt dann 1668 den 
Satz auf: der Spiritus aero-nitrosus ist das vitale 
Princip der Luft, welches Verbrennung und Ath- 
mung unterhält Er macht nur einen Theil 
der Luft aus, welchen Thie.e durch ihre Ath- 
mung ebenso verbrauchen, wie ein brennender 
Körper. Die absorbirten Theile der Luft sind 
dazu bestimmt, das venöse Blut in arterielles 
umzuwandeln, und diese Absorption ist auch 
die Ursache der Körperwärme. Am 1. August 
1774 stellte endlich Priestley aus calcinirtem 
Merkur wirklich das Sauerstoffgas dar und be¬ 
merkte sogleich, dass eine Flamme in dem¬ 
selben bemerkbar lebhafter brennt. Dass dieses 
Gas wirklich identisch ist mit demjenigen, 
welches für die physiologischen Vorgänge von 
so dominirender Wichtigkeit sich erweist, er- 

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von Fr. Kraut -Berlin. 

kannte aber Priestley erst, als er am 8. März 
1775 unter eine mit Sauerstoffgas gefüllte 
Glocke gebrachte Mäuse doppelt so lange 
leben sah, als wenn die Glocke gewöhnliche 
Luft enthielt. Schon Priestley suchte darauf¬ 
hin die Luft in abgeschlossenen menschen¬ 
gefüllten Räumen zu verbessern. Er glaubte 
zwar, ein Moralist könnte wohl den Ein¬ 
wand erheben, dass die uns von der Natur 
gebotene Luft jedenfalls die beste sei; auch 
fürchtete er, dass der Sauerstoff uns im ge¬ 
sunden Zustand nicht eben vortheilhaft sein 
möchte, denn wir könnten darin vielleicht zu 
schnell leben. Zu einer Zeit, da bloss zwei Mäuse 
und Priestley selbst den Vorzug gehabt. Sauer¬ 
stoffgas einzualhmen, meint aber Priestley: 

„Ich .... athmete eine ziemliche Quantität 
desselben durch einen Heber ein, wobei ich 
in den Lungen keine andere Empfindung als 
von gewöhnlicher Luft hatte. Nachher schien 
mir aber die Brust auffallend erleichtert zu 
sein. Wer weiss, ob nicht später solche 
Lebensluftathmungen als Luxus getrieben wer¬ 
den?" Endlich schloss Priestley, dass man 
Sauerstoff mit Vortheil werde bei solchen 
Lungenkrankheiten therapeutisch verwenden 
können, bei weichen gewöhnliche Luft nicht 
hinreicht, das „putrid-phlogistische Effluvium" 
zu entfernen. Von den durch Priestiey’s 
Entdeckung angeregten vielseitigen Bemühun¬ 
gen, der Wissenschaft auf dem neu eröffneten 
Wege auch neue Errungenschaften zuzuführen, 
hatte zunächst die Physiologie viel Vortheil, 
die praktische Medicin aber sehr wenig. Ingen- 
Housz fand (1785) den Sauerstoff heilsam für 
Asthmatiker, deren Krankheit „nicht auf ex- 
cessiver Reizbarkeit beruht“, ferner bei „bi¬ 
liösen und putriden Fiebern", in der Pest, 
der Phthisis, „wenn kein entzündlicher Zustand 
vorhanden ist". Weiters sei Sauerstoff ein 
praktisches Mittel, Erstickte wieder ins Leben 
zu rufen, er vermag die letzten Augenblicke 
bei Greisen zu verlängern, etc. Im Jahre 1785 
stellte die Sociötö royale de Mödecine eine Preis¬ 
arbeit über die Nützlichkeit der Eudiometrie 
und die Vortheile, welche die Heilkunst von 
ihr erwarten dürfe, auf. Jurine’s preis¬ 
gekrönte Antwort beschäftigt sich aber nicht 
speciell mit der therapeutischen Wirkung 
des Sauerstoffs. Doch glaubt er, dass man 
durch Untersuchung der Exspirationsgase 
bei verschiedenen Krankheiten in denselben 
charakteristische Unterschiede finden werde, 
und hieraus dann Indicationen wird ableiten 
können, concentrirte, bezw. verdünnte Lebens¬ 
luft oder Kreidesäure (Kohlensäure) athmen 
zu lassen. Eine sehr günstig gefärbte casuistL 

1 

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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 





2 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Januar 


sehe Beobachtung Jurine’s nebst einer grossen 
Anzahl anderer in der damaligen Tagesliteratur 
veröffentliche über die ausgezeichnete Wir¬ 
kung der Lebensluft brachte die ganze gelehrte 
und Laienwelt in Bewegung, und die französi¬ 
sche Regierung gab einem allgemeinen Wunsche 
nach, als sie von der Academie des Sciences 
ein Urtheil über das Heilmittel verlangte, das 
sich bei Lungenschwindsucht so wirksam er¬ 
wiesen haben sollte. Fourcroy, der Che¬ 
miker und Arzt, der sich während eines grossen j 
Theils seines Lebens mit der medicinischen j 
Anwendung des Sauerstoffs beschäftigt hat,, ; 
wurde damals beauftragt, sich über den thera- j 
peutischen Werth des Sauerstoffs auszu- i 
sprechen. Als Priestley's Entdeckung noch ; 
nicht 10 Jahre alt gewesen, hatte sich dem \ 
philosophischen Geiste Fourcroy*s, welcher j 
immer daran dachte, die Chemie auf die Bio¬ 
logie anzuweuden, schon eine Aussicht der J 
Wichtigkeit derselben eröffnet Er sah den 
Sauerstoff eine volle Revolution hervorrufen! 
Um 1789 herum findet man solche Ideen ver¬ 
ständlich. Die Resultate seiner Untersuchungen 
über die Wirkung des Sauerstoffs auf den 
Organismus und seine therapeutische Verwend¬ 
barkeit hat Fourcroy in zwei Memoires (1787 
und 1798) niedergelegt. Er scheint darin ganz 
von der Mission erfüllt, jene wissenschaft¬ 
liche Umwälzung mit allen Kräften herbeizu¬ 
führen. Indem er dabei die physiologische Chemie ! 
für sich allein in Anspruch nehmen zu dürfen 
glaubte, und sehr streng einschlägige Be¬ 
strebungen anderer Forscher beurtheilte, ver¬ 
wickelte er sich z. B. mit A. v. Humboldt in 
einen unerquicklichen gelehrten Streit. Aus 
praktischem Gesichtspunkt beurtheilt, sind beide 
erwähnte Fourcroy’sche Abhandlungen von 
geringem Werth. Die chemischen Irrthümer 
Fourcroy *s beruhen natürlich auf der mangel- i 
haften Entwicklung dieser Wissenschaft zu | 
seiner Zeit. Die klinischen Beobachtungen 1 
Fourcroy’s aber gründeten sich sehen gar ■ 
grössten theils auf die Anwendung eingebil¬ 
deter Sauerstoffträger (Sauerstoff* überladener 
Salzsäure, oxygenirte Salben etc.). Da er 
glaubte, dass die Lebensluft die Lungen- 
gefcsse entzünde, dieselbe mit Wärme erfülle ! 
und eine Art von Fieber erzeuge, so schloss j 
er, dass man den Sauerstoff nicht bei Krank- , 
heiten anwenden dürfe, bei welchen Wärme | 
und Blutbewegung sehr intensiv seien; da- j 
gegen werde man die Lebensluft bei den in ; 
dieser Beziehung entgegengesetzten Krank- j 
heiten mit Vortheil gebrauchen (Chlorose, Skro- ; 
pheln, Asthma, Obstruktion, Hypochondrie, Rha- 
chitis, Dyspepsie). Auch Chaptal und Dumas 
(Montpellier) schlagen die Wirkung des Sauer¬ 
stoffs sehr hoch an, der erstere in gutem, letz¬ 
terer in schlimmem Sinne, und Fourcroy s 
Schüler gingen in durchaus unfruchtbaren 
Systemen womöglich noch weiter als Fourcroy 
selbst. Rollo z. B. theilte alle Krankheiten in 
zwei Klassen, je nachdem im Organismus Ueber- t 
schuss oder Mangel an Sauerstoff* vorhanden sei, j 
speciell die Zuckerharnruhr stelle das Extrem | 
der Ueberoxydation des Blutes dar! ln der } 


gesammten Materia medica meinte er, solle es 
ferner bloss überoxydirende und desoxydirende 
Mittel geben. Alyon, Fournier, Burdinund 
Baumes führten diese phantastischen Doc- 
trinen auf den Gipfel. Es ist traurig-heiter, 
dass diese Männer allerhand Verbindungen 
(wie Salpetersäure, Citronensäure, Kochsalz, 
Acidum muriat. „oxygenatum“, die Aetherarten 
etc.) anwendeten, dass sie dabei immer den 
Sauerstoff die Hauptrolle spielen liessen, dass 
es aber in Wirklichkeit gar nicht der Sauer¬ 
stoff war, mit dem sie doch zu experimentiren 
glaubten. Gewissermassen hat also Fourcroy’s 
Schule in höchster Verehrung des Sauerstoffs 
gerade dieses Gas aus der Therapie hinaus¬ 
geworfen! Auf etwas praktischere Weise als 
Fourcroy hatte dagegen BeddoÖs. der 
vor Allem Arzt Chemiker aber bloss aus Be¬ 
darf war, die ganze Frage aufgefasst. Er 
sagte sich, der Sauerstoff ist die Lebensluft; 
welche Wirkung wird es hervorbringen, wenn 
die Atmosphäre zwei, drei und mehrere Male 
soviel enthält als gewöhnlich? Die Physio¬ 
logie von damals liess ihn eine allgemeine 
Steigerung der Vorgänge im Körper erwarten 
und es kam bloss auf eine passende Verwen¬ 
dung des vermeintlich so universellen Heilmittels 
an. Bei Skorbut setzt Be ddoös einen Mangel 
an Sauerstoff Im ganzen Organismus voraus. 
Da Matrosen nach starken Stürmen, also 
unter Bedingungen, wo sie aussergewöhnliche 
Anstrengungen durchzumachen gehabt, von 
einer „Art vorübergehenden Skorbuts" befallen 
werden, nahm er an, dass der Sauerstoff zur 
Muskelcontraction nöthig. der Anreiz zur 
Muskelconiraction sei, ja, dass die Wirkung 
des Gases sich besonders im Muskelsystem 
localisire. Auch Fettanhäufung sieht Beddoös 
als Folge von OrMangel im Körper an. In 
der Schwangerschaft soll (Behinderung der 
Zwerchfellthätigkeit) eine Verminderung der 
Sauerstoffabsorptior; eintreten. „Sollte nicht 
diese die (in der Schwangerschaft momentan 
zu beobachtende) Hemmung der Phthisis ver¬ 
ursachen, und sollte man nicht hiervon aus¬ 
gehend ein Mittel zur Heilung dieser verderb¬ 
lichen Krankheit finden?“ Beddoös war jedoch 
wenigstens genug Arzt, um einzusehen, dass 
der Sauerstoff im Allgemeinen Phthisikern nichts 
nützt; leider machte er sich ganz unglückliche 
Hypothesen darüber und wurde zu der Meinung 
geführt, dass bei diesen Kranken eine der 
Therapie gegen Skorbut ganz conträre Behand¬ 
lung am Platze wäre (Schlafen in sauerstoff¬ 
armen, abgeschlossenen, niedrig temperirten 
Räumen!) Weiters empfohlen wurde der innere 
Gebrauch des O* von Beddo£s auch noch bei 
Asthma, Chlorose, Lepra, ln Deutschland nah¬ 
men Stoll und Ferro die neuen Ideen enthu¬ 
siastisch aui (1792), und Hufeland wurde durch 
glückliche Erfolge, deren Zeuge er zu sein 
glaubte, bestimmt, die pneumatische Therapie 
in seinem Journal (1790—1800) zu empfehlen. 

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gerieth die 
Sauerstofftherapie, nachdem soeben Beddoös, 
von der Presse unterstützt, den Gedanken, durch 
Nationalsubscription ein Institut speziell zur 


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Gck igle 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Behandlung der Krankheiten mit Ga c en zu 
gründen, zu verwirklichen vermocht hatte (1794). 
wieder fast ganz in Vergessenheit (Demarquav). 

Mir scheinen die chemiatrischen Be¬ 
strebungen dieser ersten Epoche der Sauer¬ 
stofftherapie. von welchen praktische Früchte 
auf unsere Zeit kaum gekommen sind, gleich¬ 
wohl auch heute noch sehr lehrreich Sie ge¬ 
mahnen an Boerhave’s Ausspruch der von 
der Chemie sagte, sie sei die beste Magd der 
Medicin. aber ihre schlechteste Herrin. Und 
einzelne der neusten Schilderungen der Sauer¬ 
stoffwirkung machen beinahe den Enthusiasmus 
von Fourcroy lebendig. 

Sollen und dürfen wir aber annehmen, 
dass alle Forscher jener früheren Zeit sich 
in simmtlichen ihrer Beobachtungen wirk¬ 
lich stets grob getäuscht haben? Ruht 
nicht doch im Sauerstoff ein mächtiges 
Hülfsmittel der Therapie, bedarf cs nur 
einer gereifteren wissenschaftlichen Kritik 
und einer geeigneten Technik bei seiner 
Verwendung? Bei dem heutigen Stande der 
physiologischen Wissenschaft und unserer 
Diagnostik lässt sich wenigstens sicher 
erwarten, dass man bei Wiederaufnahme 
der älteren Bemühungen zu exacteren Re¬ 
sultaten gelangen kann. Sehen wir nun 
einmal, in wie weit sich die einschlägigen 
Versuche im 19. Jahrhundert diesem Ziele 
thatsächlich genähert haben. 

In diesem Jahrhundert lernten wir erst¬ 
lich innerhalb des Organismus die Stätten 
kennen, an denen die Oxydationen zu 
Stande kommen. Durch Untersuchungen 
von Hoppe - Seyler, Pflüger und 
Schmiedeberg wurde die Erkenntniss 
gewonnen, dass die Oxydationsprocesse 
im Wesentlichen sich in den Zellen ab¬ 
spielen; dem Blute fällt daneben die Auf¬ 
gabe zu, den Organen den nothwendigen 
Sauerstoff zuzuführen. Pflüger hat weiter 
nachgewiesen, dass der Verbrauch in den 
Zellen als wesentlich bestimmender Factor 
der Grösse des Sauerstoffverbrauches im 
Organismus betrachtet werden muss. Seit 
Reg nault-Reiset darf der Satz gelten, 
dass innerhalb verhältnissmässig weiter 
Grenzen der thierische Organismus gleich¬ 
viel Sauerstoff absorbirt und gleich viel 
Kohlensäure abgiebt, welches auch der 
Partiardruck des eingeathmeten 0 % sei. 
A. Löwy’s aus neuester Zeit stammende 
exakte Versuche präcisirten schärfer 
die Grenzen dieses Gesetzes nach unten, 
ohne im Wesentlichen etwas daran zu 
ändern. Vermehrungen des Sauerstofl- 
gehaltes bis auf das Doppelte der gewöhn¬ 
lichen Luft vermag weder die Sauerstoff¬ 
aufnahme noch die Kohlensäureausschei¬ 
dung dauernd zu ändern. Es ist völlig unver- 


I ständlich, wenn heute noch angesehene 
i Physiologen behaupten, dass die Sauerstoff- 
! aufnahme in den Körper entsprechend der 
I Zunahme seines Partiardruckes im Ath- 
| mungsgemisch zunehme. Natürlich wächst 
I (vorübergehend) die Sauerstoffaufnahme 
| beim Uebergange zu Gasgemischen höheren 
| O^-gehaltes, die Lungenluft wird (Vreicher 
j und auch der Gehalt der Körpersäfte an 
j Oj wächst entsprechend dem erhöhten 
Partiardruck. Ich selbst habe oft bis zur 
Dauer von mehr als einer Stunde möglichst 
reinen Sauerstoff geathmet. Unter ent* 

| sprechend bequemen mechanischen Bedin¬ 
gungen (Zuntz*scher Respirationsapparat) 
habe ich dabei gar keine besonderen sub- 
jectiven Wahrnehmungen gemacht. Auch 
i meine Pulsfrequenz war keine andere als 
beim Athmen gewöhnlicher Luft. Nur die 
| Athemfrequenz wurde (begreiflich) ein 
I wenig niedriger, die Athmung dafür 
tiefer. Ich habe aber solche Versuche 
| an mir und passend ausgesuchten Kran- 
: ken auch unter ganz speciellen Bedingungen 
! vorgenommen. Ich verrichtete Dreh¬ 
arbeit am Ergostaten, während ich sehr 
sauerstoflreiche Gasgemische einathmete: 

; ich arbeitete dabei aber weder überhaupt 
I leichter oder absolut mehr bei maximaler An¬ 
strengung, noch arbeitete ich ökonomi¬ 
scher, noch war die Erholungszeit kürzer. 

< Und genau so wie mir ging es anämischen 
| und diabetischen Versuchspersonen. Die 
Versuche wurden wegen ihres negativen 
Ergebnisses nicht in extenso publicirt: viel¬ 
leicht haben sie gerade jetzt ein gewisses 
Interesse. Auf die Bedeutung des, wie 
erwähnt, bei vermehrter Sauerstoffzufuhr 
erzielbaren Plus von nicht durch Hämoglo¬ 
bin gebundenen, sondern ins Plasma absor- 
birtem Oj, komme ich noch kurz zurück. 
Hier möchte ich bloss betonen, dass die 
vorstehenden Sätze nicht als Waffe 
gegen die Sauerstofftherapie gebraucht 
werden sollen oder dürfen, dass sie aber 
leider der Sauerstofftherapie ziemlich enge 
Grenzen stecken. Nach Untersuchungen 
von Koväcs (Klinik Koränyi) sinkt bei 
Pneumonie der Kochsalzgehalt des Blutes 
in verschieden hohen Graden. Bei 10 cy- 
anotischen Pneumoniekranken betrug der 
Gefrierpunkt desBlutes —0,58 bis —0,78. Ich 
gestehe ganz offen, dass ich Werthe wie 
— 0.78 für ganz unglaubwürdig halte. Nach 
Sauerstoffdurchstr ömung betrug der Gefrier¬ 
punkt bloss —0,54 bis—0,60, derNaCI-Gehalt 
hob sich me rklich. Im Zusammenhang mit 
bekannten Versuchen von Hamburger 
und v, Limbeck schloss Koväcs, dass 
die Ursache dieser Erhöhung des osmoti- 


Difitized 


by CjQOglc 


Qrtg i na I fram 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 






4 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Januar 


sehen Druckes, welche er auch bei cyanoti- 
schen Herzkranken gefunden zu haben an- 
giebt, die C0 2 -Uebersättigung des Blutes 
sei. Da ich selbst bereits gelegentlich der 
Discussion über Sauerstoff therapie auf dem 
Internistencongress 1900 die Möglichkeit 
hervorgehoben hatte, dass die vermehrte 
Sauerstoffzufuhr im Sinne der Versuche 
von Hamburger und v. Li mb eck wirken 
könne, veranlasste ich Petry, bei Fällen 
von croupöser Pneumonie, welche mit sehr 
starker Cyanose einhergingen, den Chlor¬ 
gehalt des Serums in dem vor und 
nach einstündiger Sauerstoffathmung durch 
Aderlass entleerten Blut zu ermitteln. Einen 
solchen Versuch will ich hier anführen. Ich 
verschweige nicht, dass sich die 23jährige 
Patientin nach der Sauerstoffinhalation „er¬ 
leichtert“ fühlte. Puls und Diurese wurden 
aber gar nicht beeinflusst. Der Chlor¬ 
gehalt betrug im Serum des vorher ent¬ 
nommenen Blutes 0,635%, im Serum des 
nach der Inhalation entnommenen 0,63%. 
Die berechnete Differenz von 0,005 o/ 0 liegt 
zu sehr innerhalb der Fehlergrenzen, als 
dass man ihr ein Gewicht beilegen könnte. 
Die Beweiskraft der Koväcs’sehen Ver¬ 
suche wird übrigens auch durch in vitro 
ausgeführte anderweitige Versuche Pe- 
try’s, über welche er vor kurzem in Hof¬ 
meisters Beiträgen berichtete, in gleichem 
Maasse erschüttert, so dass man sich nach 
anderen Methoden zur Prüfung der Lei¬ 
stungsfähigkeit der Sauerstofftherapie wird 
umsehen müssen. Beiläufig bemerkt sei noch, 
dass bei Gesunden durch selbst lange Sauer¬ 
stoffinhalation der Gefrierpunkt des Blut¬ 
serums nicht geändert wird. Endlich ist in 
neuerer Zeit der eigentliche Mechanismus 
der physiologischen Oxydation, speciell die 
Natur der sie einleitenden und befördernden 
Substanzen zu einem viel bearbeiteten | 
Forschungsproblem geworden. Soviel steht 
bereits fest, dass zur Oxydation im Thier¬ 
körper ausser dem Sauerstoff des Blutes 
noch ein und zwar wechselnder (ferment¬ 
artiger) Factor in der Organisation hinzu¬ 
kommen muss (verschiedene Oxydasen). 
Es giebt ferner, wie zuerst Geppert für die 
Blausäure wahrscheinlich gemacht, eine Er¬ 
stickung bei reichlichem Sauerstoffvorrath 
(„innere“ Erstickung). Die experimentelle 
Säureintoxication ist, wie Chvostek auf 
meine Veranlassung nachgewiesen, eine 
solche innere Erstickung. Wie complicirt 
aber beim kranken Menschen die Verhält¬ 
nisse liegen können, geht z. B. daraus 
hervor, dass in Fällen von Diabetes mit 
Acidose reichlich 0-Oxybuttersäure im Harn 
ausgeschieden, in’s Gewebe gebrachte 

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Oxybuttersäure aber noch oxydirt wird! 
Jedenfalls ist auch durch die letztange¬ 
führten Thatsachen eine weitere Einschrän¬ 
kung des praktischen Werthes der Oj-The- 
rapie bedingt. 

Soweit sich die Angaben von Michae¬ 
lis auf dyspnoische Zustände in Folge von 
Stenosirung der oberen Luftwege beliebi¬ 
ger Art, auf Dyspnoe in Folge von ge¬ 
wissen Bronchitiden, selbst auf Emphysem 
beziehen, muss ich auf Grund zahlreicher 
früher gemachter Erfahrungen im Allge¬ 
meinen zustimmen. Gerade bei Pneumonie 
habe ich fast nur schlechte Erfolge gesehen. 
Auch den Todeskampf des Patienten er¬ 
leichtert die 0 2 - Inhalation nicht. Bei Tu¬ 
berkulose ist in den allermeisten Fällen 
das Einathmen von Sauerstoff nutzlos. 
Bei Insufficientia et Dilatatio cordis aus ver¬ 
schiedenen Ursachen bringt Sauerstoff- 
I athmung öfters Erleichterung. Nie habe 
ich jedoch die Cyanose wirklich schwinden 
sehen, trotz subjectiv verbesserter Athmung, 
Von anhaltender Hebung des Pulses 
kann nicht die Rede sein. Bei gewissen 
Vergiftungen ist der Werth der Sauerstoff¬ 
therapie nicht zu bezweifeln (Kohlenoxyd- 
intoxication). BeimComa in folge Morphium¬ 
vergiftung ziehe ich aber weitaus Tracheo¬ 
tomie und künstliche Respiration (über 
24—36 Stunden fortgesetzt) vor. Ueber 
Strychnintoxication besitze ich keine spe- 
cielle Erfahrung. Bei Anaemie ist die Sauer¬ 
stoffathmung nutzlos. Ich habe mich über¬ 
zeugt, dass speciell nach starken Blutungen, 
der möglicherweise ins Plasma absor- 
birte 0 2 bei Einathmung von sauerstoff¬ 
reichen Gasgemischen das Leben nicht 
rettet. Bei Leukämie, Diabetes und ande¬ 
ren „constitutionellen“ Erkrankungen fand 
ich die 0 2 -Therapie völlig ohne Erfolg. 

Für mich giebt es also hauptsächlich 
eine Indication zur Sauerstoffinhalation: 
Stenosirung der Luftwege. Flache Ath¬ 
mung betrachte ich bloss als bedingte An¬ 
zeige, im schweren Coma mit Aussicht auf 
Wiederherstellung ziehe ich meist künst¬ 
liche Respiration vor. Es ist klar, dass 
unter solchen Umständen die Sauerstoff¬ 
aufnahme gesteigert werden kann, wenn die 
in ungenügender Menge zu den Alveolen ge¬ 
langende Luft sauerstoffreicher gemacht ist. 

Hinsichtlich der Technik werfe ich zum 
Schlüsse die Frage auf, ob nicht die In- 
jection von Sauerstoffgas ins Venensystem 
(Demarquay-Gaertner) bei drohender 
Gefahr vorzuziehen sein wird? 

Möge man die in den letzten Jahren mit 
viel schärferer Kritik und besseren tech¬ 
nischen Mitteln wiederum hervorgetretene 

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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 





Januar 


Die Therapie der G eg e n wart 1903. 


5 


Sauerstofftherapie studiren und Oben, ohne fordern. Gerade auf diesem Gebiet kann 
zu abertreiben. Zurückhaltung kann die und soll die physiologische Erfahrung die 
Verbreitung der Methode innerhalb der Richtschnur abgeben ihr den Versuch an 
natürlich gesteckten engen Grenzen nur Kranken. 

Au dem pharmakologischen Institut und der medieinlschen Klinik der Universität Breslau. 

Ueber Infusionsbehandlung. 

Von Privatdocent Dr. Wllhalai Ercltlsotz. 


Als Infusionsbehandlung bezeichnen wir 
die zu Heilzwecken systematisch ange¬ 
wandte Einführung grosser Mengen isoto¬ 
nischer Kochsalzlösung in den kranken, 
menschlichen Organismus. Ursprünglich 
lediglich zur mechanischen Verbesserung 
des Kreislaufs wesentlich auf solche Zu¬ 
stande beschrankt, bei denen in Folge von 
Blut- oder Safteverlusten bedrohliche Er¬ 
scheinungen auftraten, und in ihrem Werth 
gerade für jene Zustande nach Thierexpe¬ 
rimenten und klinischen Beobachtungen 
nicht allseitig anerkannt, hat diese Behand¬ 
lungsmethode bei der Bekämpfung von In- 
fectionskrankheiten und Intoxicationen 
immer zahlreichere Anhänger gefunden. 
Ein Ueberblick über die klinische Litte- 
ratur dieses Themas lasst erkennen, dass 
sehr viele günstige, sicher keine ungünsti¬ 
gen Wirkungen der Infusionstherapie be¬ 
obachtet sind. Dje der Infusion zuge- 
schriebenen therapeutischen Eigenschaften 
sind zahlreich. Von den wesentlichen 
nenne ich hier: die auffallende Besserung 
des Allgemeinbefindens der Kranken; die 
Anregung des Herzens; die durch v. Ott 
erwiesene schnellere Regeneration der 
rothen Blutkörperchen, die Hebung des 
arteriellen Druckes durch Mehrfüllung des 
Geftsssystems bei Versagen der Vaso¬ 
motoren im Verlauf von Infectionskrank- 
keiten. Ganz besonders aber muss ich 
zwei Punkte hervorheben, welche heute 
als die wesentlichsten angesehen werden: 
die Verdünnung der im Organismus 
circulirenden Giftstoffe und deren 
schnellere Elimination auf den natür¬ 
lichen Excretionswegcn, zumal durch 
die Nieren vermittelst vermehrter 
Diurese. Die günstige Beeinflussung 
urämischer Zustande durch die Infusion, 
bei denen eine Diurese nicht eintrat, 
steht damit nicht in Widerspruch. Für 
die schnellere Elimination durch ver¬ 
mehrte Diurese liegen mehrfache Beobach¬ 
tungen vor. Durch altere Untersuchungen 
von Genth, Mosler, Oppenheim, 
Eichhorst, Sahli u. A. war festgestellt 
worden, dass die Ausfuhr stickstoffhaltiger 
Substanzen durch den Harn mit der 

Digitized by Google 


Menge des ausgeschiedenen Harns parallel 
geht: Vermehrung bei steigender, Vermin¬ 
derung bei sinkender Harnmenge. Sahli 
besonders wies eine beträchtliche Vermeh¬ 
rung des Trockenrückstands im Harn unter 
dem Einfluss der Infusion nach. Der Ge¬ 
danke liegt nahe, dass ausser den Abbau¬ 
produkten des normalen Stoffwechsels bei 
Krankheiten auch wasserlösliche Giftstoffe 
in erhöhter Menge unter dem Einfluss der 
Infusion den Organismus verlassen können. 
Italienische Autoren, u. A. Sanquirico, 
berichten über Entgiftungsversuche, welche 
sie bei Thicren mit geradezu glanzenden 
Resultaten angestellt haben; so soll die 
Infusion bei Vergiftung mit Morphin, 
Strychnin etc. direct „lebensrettend* 
gewirkt haben, d. h. bei einer Dosis, 
welche die letale überstieg. Bei einer 
Reihe von Entgiftungsversuchen, die ich 
im Breslauer pharmakologischen Institut 
anstellte, gelang mir eine günstige Einwir¬ 
kung auf den Ablauf der Vergiftung bei 
Anilin und bei Kal. chloricum; dagegen 
nicht bei Strychnin, Arsenik, Ricin, Can- 
tharidin sowie bei Infectionen mit Staphy- 
lococcus pyog. aureus, obwohl sich in der 
Mehrzahl dieser Versuche eine sehr reich¬ 
liche Diurese einsteHte. Bezüglich der 
Einzelheiten muss ich auf die demnächst 
in der Zeitschrift für Klinische Medicin 
erscheinende ausführliche Publication ver¬ 
weisen. Hier nur soviel, dass bei den 
Versuchen mit Anilin wiederholt ein 
direkter Schutz durch die Infusion bewirkt 
wurde, indem die vergifteten, mit Infusion 
behandelten Thiere überlebten, und nach 
der einige Zeit spater erfolgten Tödtung 
keine oder nur geringe Organverände¬ 
rungen zeigten, während die unter den 
gleichen Bedingungen vergifteten und nicht 
durchspülten Thiere eingingen und sehr 
schwere Organveränderungen aufwiesen. 

Der quantitative Nachweis des Kalium 
chloricum im Harn einfach vergifteter und 
solcher nach der Vergiftung der Infusions¬ 
behandlung unterworfen gewesener Thiere, 
und der Vergleich der in bestimmten Zeit¬ 
abschnitten festgestellten Werthe hat die 
Annahme einer „entgiftenden* Wirkung 

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UNIVER3ITY OF CALIFORNIA 





6 


Januar 


Pic Therapie der 

der Infusion im Sinne einer „Auswaschung“ 
als berechtigt erkennen lassen, denn die 
Infusion bewirkte eine Mehrausscheidung, 
welche allerdings im Hinblick auf die 
grossen Harnmengen klein genannt werden 
muss. Merkwürdig ist dabei, dass nicht 
die isotonische, sondern die 0,6°/ 0 Koch¬ 
salzlösung die günstigste Wirkung ent¬ 
faltete, während die 0,9% die Ausschei¬ 
dung eher verminderte als beschleunigte. 
Als wesentlich ist aus den Versuchen, ab¬ 
gesehen von dem Beweis einer thatsäch- 
lich möglichen Beschleunigung der Gift¬ 
ausscheidung, hervorzuheben, dass die In¬ 
fusion dann am intensivsten wirkt, wenn 
es gelingt, sie lange Zeit hindurch „conti- 
nuirlich“ anzuwenden. 

Den Grund für die grössere oder ge¬ 
ringere Auswaschbarkeit bestimmter Gifte 
Hessen Dialysirdoppelversuche erkenne n, 
welche mit den verschiedenen Giften ein¬ 
mal mit Eiereiweiss und einmal ohne dieses 
angestellt wurden. Für einen Theil der 
Gifte Hess sich nun ein verlangsamter 
Durchtritt beim Zusammensein mit dem 
Eiweiss nachweisen. Ueber den Misserfolg 
bei anderen hinwiederum gab das Ver¬ 
halten der Nieren Aufschluss, deren | 
schnelle und intensive Zerstörung das Zu¬ 
standekommen einer Diurese und damit 
bewirkter Entgiftung einfach unmöglich 
machte. Die Wichtigkeit der Intactheit 
der Nieren für die Entfaltung der Wirkung 
der Infusion war auch aus den Versuchen 
mit Kal. chloric. zu erkennen. 

Bei anderen Versuchen war eine so 


Gegenwart 1903. 

gendes: Septische Zustände lassen sich 
durch die Infusion ganz wesentlich beein¬ 
flussen; sie erfahren eine erhebliche Besse¬ 
rung, einen Abfall der Temperatur, ein 
Zurücktreten der Krankheitserscheinungen. 
So wurde bei einer an maligner Endocar- 
ditis mit äusserst schmerzhaften Gelenk¬ 
metastasen erkrankten Frau das Krankheits¬ 
bild wie mit einem Schlage verändert: 
Schwellung und Schmerzhaftigkeit der Ge¬ 
lenke verschwanden fast momentan. Eine 
Patientin mit puerperaler Sepsis erwachte 
in Folge der Infusion aus ihrer Benommen¬ 
heit und konnte die an sie gestellten Fra¬ 
gen beantworten. Ein zweiter ähnlicher 
Fall wurde durch systematische continuir- 
liche Infusionsbehandlung zur Heilung ge¬ 
bracht. 

Auf die urämischen Erscheinungen 
übte die Infusion ebenfalls augenblicklich 
günstige Wirkung aus: der Anfall wurde 
in der Mehrzahl der Fälle durch die In¬ 
fusion unterbrochen und im Anschluss 
daran stellte sichmeistensreichliche Diurese, 
Besserung Und oft Heilung ein. 

Auffallend war hierbei, dass sehr häufig 
das specitische Gewicht des Harns hoch 
blieb und trotz steigender Harnmenge noch 
anstieg. 

Bei der Infusionsbehandlung der schwe¬ 
ren Anämien schliesslich hatten wir stets 
befriedigende Resultate, einmal einen ganz 
eclatanten Erfolg. Im Anschluss an die 
Infusion trat bei dem aufs Höchste ent¬ 
kräfteten, der Auflösung nahe stehenden 
Manne eine Remission ein, welche zu fast 


schnelle und feste .Verbindung des Giftes 
mit der Substanz der Nervenzellen wahr¬ 
scheinlich, dass die Infusion eben zu spät 
kam, zwar eine Diurese hervorrief, aber 
auf die Ausscheidung des Giftes keinen 
Einfluss mehr gewinnen konnte. Das nega¬ 
tive Resultat der Infectionsversuche schliess¬ 
lich, wird durch eine Mittheilung von 
Kleeki’s erklärt, welcher nach wies, dass 
wohl die Produkte der Bacterien, nicht 
aber diese selbst durch die Infusion in 
ihrer Ausscheidung beschleunigt werden. 

Die Ergebnisse der Versuche mit Anilin 
und Kal. chloricum stehen im Einklang mit 
den in der Klinik gewonnenen Erfahrungen. 
In der Breslauer medicinischen Klinik konn¬ 
ten wir speciell bei drei verschiedenen j 
Krankheitszuständen Beobachtungen über 
den Werth der Infusionsbehandlung an- j 
stellen: bei septischen Erkrankungen, j 
bei Urämie und bei schweren Anämien. | 
welche nach der heute herrschenden An- i 
schauung auch als toxische Erkrankungen j 

angesehen^werden. 1 Dabei zeigte sich fol- j 

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vollständiger, wenn auch nicht lange an¬ 
haltender Besserung führte. Der Hämo¬ 
globingehalt stieg von 20% auf 85%; die 
Zahl der rothen Blutkörperchen von 368 000 
auf 4800000. Die morphologischen Blut¬ 
veränderungen gingen zurück. Die kleinen 
Temperatursteigerungen verschwanden so¬ 
gleich nach der Infusion. Diesem ähnliche, 
wenn auch nicht so augenfällige Besserun¬ 
gen durch die Infusionsbehandlung beobach¬ 
teten wir wiederholt. 

Die von anderer Seite veröffentlichten 
Resultate, welche bei der Behandlung der 
Cholera, Dysenterie, Peritonitis, überhaupt 
bei Infections- und Intoxicationszuständen 
jeder Art gewonnen sind, decken sich mit 
meinen eigenen. 

Für die praktische Anwendung der In¬ 
fusion kann nicht nachdrücklich genug 
darauf hingewiesen werden, dass sie con- 
tinuirlich angewandt werden muss, wie 
Samuel für die Cholera, Lenhartz für 
die Bekämpfung einer Reihe innerer Krank¬ 
heiten dies hervorgehoben haben. Am 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Januar 


7 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


besten verfährt man in der Weise, dass so 
lange Krankheitserscheinungen ernsterer 
Art noch vorhanden sind, täglich 1 oder 
2 Liter einmal oder mehrmals am Tage 
subcutan beigebracht werden. Die von 
Lenhartz veröffentlichten Krankenge¬ 
schichten bieten hierfür eine deutliche 
Illustration. Nur dort, wo es auf eine 
schnelle Wirkung ankommt, wie bei der 
Urämie, wird man die intravenöse Anwen¬ 
dung vorziehn, bei letzterer eventuell nach 
vorangegargenem depletorischem Aderlass. 
Weiterhin muss betont werden, dass die 
zur Infusion benutzte Kochsalzlösung eine 
0,9 o/ 0 bis 0,92 0/ 0 sein soll, weil mir diese 
wegen ihrer Isotonie eine für das Blut und 
seine Elemente indifferente Flüssigkeit dar¬ 
stellt. 

Hinsichtlich der Technik sei Folgendes 
kurz bemerkt: Als Flüssigkeitsbehälter 
diene das Gefäss eines Irrigators oder ein 
Trichter, aus dem die Kochsalzlösung durch 
einen Gummischlauch geleitet wird. Hat 
man ein solches Gefäss nicht zur Hand, 
so bediene man sich einer grösseren Spritze. 
Am Ende des Schlauches befindet sich eine 
ziemlich starke, scharfe Metallcanüle, die 
man in eine Falte der vorher sorgfältig 
desinficirten Haut von Brust, Bauch, 
Schulterblatt oder Oberschenkeln einsticht. 
Durch Heben des Gefässes kann man 
die Einströmungsgeschwindigkeit beliebig 
regeln. * Die Temperatur der Infusions 
flüssigkeit — am besten 40° C. — regulire 
man durch Zusammengiessen von heisser 
und kalter Lösung unter Controlle des 


Thermometers. Die Flüssigkeit strömt 
meist schnell in das Unterhautzellgewebe 
ein und kann durch Massage der Haut 
! noch rascher vertheilt werden, so dass man 
’ binnen kurzer Zeit 1—2 1 zu infundiren 
| vermag. Jst sehr schnelles Handeln er- 
i wünscht, so kann man gleichzeitig an zwei 
; verschiedenen Stellen infundiren. 

| Zur Vut nähme der intravenösen Infusion 
lege man e.ne Gummibinde an einen Ober- 
j arm an und präparire eine der grösseren 
| Venen des betreffenden Armes frei. So- 
| dann löse man die Umschnürung und führe, 

1 nachdem man durch einen Scheerenschnitt 
i die Vene quer geöffnet, in deren centrales 
[ Ende eine stumpfe Canüle ein, während 
| man das periphere Ende abbindet. Die 
■ Kochsalzlösung fliesst dann langsam ein. 

] Nach Beendigung der Infusion wird die 
Canüle herausgenommen, das centrale Ende 
I der Vene ebenfalls unterbunden und dann 
i die Wunde geschlossen. Man kann auch 
I eine scharfe Canüle durch die Haut hin¬ 
durch direct in die gestaute Vene flach 
hineinstossen und dann infundiren; doch 
gehört hierzu einige Uebung. 

Nach den bisherigen fremden und 
J eigenen Erfahrungen kann die ausgedehnte 
I Anwendung der Infusion nur wärmstens 
empfohlen werden für solche Fälle, in denen 
eine Verdünnung der im Organismus circu- 
lirenden Giftstoffe und ihre vermehrte Aus- 
j Scheidung durch Anregung der Diurese 
j erhofft werden kann und bei denen nach 
I dem Stand unserer heutigen Kenntnisse 
j eine ätiologische Therapie unmöglich ist. 


Ueber Chinaphenin. 

Von Carl V« Noorden -Frankfurt a. M. 


Vor einigen Jahren habe ich das Eu- | 
chinin als ein neues Chininpräparat in die ‘ 
ärztliche Praxis eingeführt. Das Präparat • 
hat alles, was ich damals von ihm rühmte, 
gehalten und bei fortgesetzter Beobachtung 
noch manche andere gute Eigenschaften an 
sich entdecken lassen, so dass das Euchinin i 
ein sehr beliebtes Medicament, namentlich in j 
den Malariagegenden Italiens geworden ist. j 
Sehr zahlreiche Veröffentlichungen und Em- • 
pfehlungen sind ihm inzwischen gewidmet. : 

Vor zwei Jahren sind mir von der 
gleichen Fabrik (Vereinigte Chininfabriken 
Zimmer & Co. in Frankfurt a. M.) einige 
neue Chininpräparate zur Prüfung über- 
geben worden, von denen mindestens das 
eine das allgemeine ärztliche Interesse er- ! 
wecken wird, Ich erlaube mir hier kurz j 
darüber £\J^^htek#[£ | 


1. Aristochin 1 ), das Diehinincarbo- 
nat oder Chinincarbonsäurechininäther, 
aoHtsNaO 

SoHjßNaO 

dargestellt durch Einwirkung von Phosgen 
oder von Phenolcarbonat auf Chinin, bildet 
weisse geschmacklose Crystalle, die bei 
186,50 schmelzen und unlöslich in Wasser, 
aber leicht löslich in Alkohol und Chloro¬ 
form sind. Therapeutisch hat es nach 
meinen Prüfungen genau den gleichen 
Effect, wie salzsaures Chinin, und zwar in 
den gleichen Gewichtsmengen, wie dieses. 
Seine Unlöslichkeit in Wasser ist nur dann 
von Nachtheil, wenn man darauf besteht, 


Co/'' 

NC 


J ) Ueber dieses ? J rAparat ist inzwischen auch 
eine pharmakologische Mittheilung Ctt'PSinitfl' fßrrf se r 
erschienen. Deutsche Aerzte-Zeitupg 1902, Heft 

QMVtRSITYuF CALIFORNIA 



Januar 


das Chinin in Lesung geben zu wollen, 
eine Form der Anwendung, die ja aber 
sehr selten gewählt wird. Seiner völligen 
Geschmacklosigkeit wegen eignet sich das 
Präparat sehr gut für die Kinderpraxis, wo 
man es am besten in Form kleiner Cho- 
koladenplätzchen. mit 0,1 oder 0,05 g Ge¬ 
halt in Anwendung ziehen wird. 

2. Bromochinal, Chinin dibrom- 
salicylicum acidum. 

C*HuN,O t — 2 (C«HfBrs — OH — COOH). 

Das Chininsalz der Dibromsalicylsäure 
bildet gelbliche, bei 197—198* schmelzende 
Crystalle, die in Wasser, Alkohol und 
Aether schwerlöslich sind. Das Präparat 
ist von mir nur in beschränktem Maasse 
geprüft worden und zwar bei Fiebernden 
(im letzten Stadium des Typhus abdomi¬ 
nalis und bei Streptococcensepticämie, 
ferner bei Pneumonie). Es beeinflusst in 
Mengen von zweimal täglich 0,6 bis 0,75 g 
die Temperatur der Patienten ähnlich wie 
Halbgrammdosen von Chininum muriaticum 
und wurde sehr gut vertragen. Wegen 
seiner Bromcomponente gab ich das Prä¬ 
parat namentlich in solchen Fällen, wo 
gleichzeitig auf den Schlaf eingewirkt 
werden sollte. In der That schien es nach 
dieser Richtung einen guten Erfolg zu 
haben. Doch ist es ja recht schwer Ober 
die Wirksamkeit eines Schlafmittels gerade 
bei Fiebernden etwas Zuverlässiges zu er¬ 
fahren. Meine Beobachtungen sind nicht 
umfangreich genug, um ein sicheres Urtheil 
abzugeben. Ich möchte daher nur auf 
diese Indication des Präparates (Schlaf¬ 
mittel bei Fiebernden) kurz hinweisen, in 
der Hoffnung, dass auch andere sich an 
den weiteren Prüfungen des neuen Arznei- 
körpers betheiligen werden. 

3. Chinaphenin. Gegenüber den viel¬ 
fach angewendeten Mischungen von 
Chinin mit den neueren Antipyreticis er¬ 
schien eine chemische Verbindung von 
Chinin und Phenetidin um deswillen von 
besonderem Interesse, weil darin neben 
dem Chinin der wirksame Bestandtheil des 
Acetphenetidins (Phenacetin) enthalten ist. 
Genannte Verbindung ist als Chininkohlen- 
säurephenetidid aufzufassen und wird von 
der Fabrik kurz als Chinaphenin bezeichnet. 
Ihre Herstellung geschieht durch Ein¬ 
wirkung von Chinin auf Paraäthoxylphenyl» 
carbaminsäurechlorid oder auf Paraäthoxy- 
phenylisocyanat; die Zusammensetzung ist: 

>NH C,H 4 -OC a H» 

CO' 

\0C*H„N,0 

Der Körper steht auch in naher Be¬ 
ziehung zum Euchinin 


Digitized fr, 


Go gle 


/OC.H, 

CO' 

\0C»H„N f 0 

das als der Aethyläther dor Chininkohlen¬ 
säure aufgefasst werden kann. 

Das Chinaphenin bildet ein weisses, 
geschmackloses Pulver, das sich sehr 
schwer in Wasser, leicht dagegen in Alko¬ 
hol, Aether, Chloroform, Benzol und Säuren 
löst. Mit letzteren bildet es Salze, z. B. 
mit Schwefelsäure ein in Wasser leicht¬ 
lösliches aus gelben Crystallen bestehendes, 
schwefelsaures Salz. Mit den gebräuch¬ 
lichen Alkaloid-Reagentien giebt China¬ 
phenin Niederschläge, auch liefert es die 
Thalleiochin-Reaction, dagegen einen gelben 
Herapathit. Durch Kochen mit alkoholischer 
Kalilauge wird der Körper zersetzt. , 

Die ausgedehntesten Erfahrungen über 
Chinaphenin wurden bei keuchhusten¬ 
kranken Kindern gesammelt. Die Dosis 
betrug bei Säuglingen dreimal täglich 0,15 
bis 0,20 g, bei etwas älteren Kindern drei¬ 
mal 0.2 bis 0,3 g. Der Erfolg war ent¬ 
schieden günstig, insofern sich alsbald 
nach Beginn der Behandlung die Anfälle 
nach Zahl und Heftigkeit verminderten. 
Bei keinem der 14 mit Chinaphenin behan¬ 
delten Keuchhustenkinder überstieg, wäh¬ 
rend der Darreichung des Mittels, die 
Zahl der Anfälle 8 bis 9 täglich. Schon 
nach 8 bis 10 Tagen trat jedesmal eine 
weitere Verminderung der Anfälle ein. 
Alle Fälle kamen zur Heilung, obwohl 
unter den Kindern mehrere sehr schwäch¬ 
liche Individuen waren, die in grosser 
Lebensgefahr zu sein schienen. Das Me- 
dicament wurde ausgezeichnet vertragen. 
Irgend welche störende Nebenwirkungen 
traten nicht ein. Die beste Form der Gabe 
bei Kindern ist die Unterbringung des 
völlig geschmacklosen Arzneimittels in 
Chokoladenplätzchen, bei sehr kleinen Kin¬ 
dern in Milch oder in Suppen. Die An¬ 
wendung des Chinaphenins bietet bei klei¬ 
nen Kindern noch weniger Schwierig¬ 
keiten, als die des Euchinins, weil letzteres 
bei längerem Verweilen im Munde nicht 
so völlig frei von bitterem Nachgeschmack 
ist, wie das Chinaphenin. 

Als Antipyreticum hat das China¬ 
phenin die willkommene Eigenschaft, ge¬ 
mäss seiner Zusammensetzung, zwischen 
dem langsam wirkenden Chinin und den 
schnell wirkenden Präparaten (Antifebrin, 
Phenacetin, Lactophenin, Pyramidon) die 
Mitte zu halten. In Mengen von 1,5 bis 
2,0 g (auf zweimal vertheiit) beugt es die 
Fiebercurve bei Abdominaltyphus und bei 
Pneumonie ähnlich nieder wie etwa 1,0 

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UNIVERSUM OF CALIFORNIA 




Januar 


9 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


bis 1,5 g Chininum muriaticum. Das Ma¬ 
ximum der Wirkung ist nach 4 bis 5 Stun¬ 
den zu erwarten. Der Abfall der Tempe¬ 
ratur erfolgt ohne nennenswerthen Schweiss¬ 
ausbruch, der Wiederanstieg ohne Schüttel¬ 
frost Die Beinflussung des Allgemein¬ 
befindens ist günstig, insofern sich Einge¬ 
nommenheit des Kopfes und Kopfschmerzen 
vermindern und der Eintritt des Schlafes 
begünstigt wird. Man ist heute ja nicht 
mehr so schnell bei der Hand, ohne be¬ 
sondere Indicationen die Temperatur der 
Fiebernden durch Medicamente herabzu¬ 
drücken; wo man aber eine Veranlassung 
dazu hat, eine auf mehrere Tage berech¬ 
nete antipyretische Interne Therapie ein¬ 
zuleiten, wird man sich des Chinaphenins 
wegen seiner milden Wirkung sicher gerne 
bedienen. Nebenwirkungen unangenehmer 
Art wurden nicht bemerkt, abgesehen da¬ 
von, dass einigemale etwas Ohrensausen 
geklagt wurde. 

Sehr günstigen Erfolg hatte das China» 
phenin einige Male bei Neuralgien ver¬ 
schiedenen Sitzes. In zwei Fällen von 
Supraorbitalneuralgie nach Influenza war 
es dem reinen Chinin entschieden über¬ 
legen und coupirte dieses Leiden mit der¬ 
selben Schnelligkeit, wie ich es sonst nur 
vom Methylenblau gesehen habe. Ferner 
sind günstige Erfolge zu melden bei zwei 
Fallen von Ischias diabetica, bei einer In- 
tercostalneuralgie auf chlorotischer Grund¬ 
lage, bei einer Intercostalneuralgie mit 
Herpes Zoster und bei der Occipitalneu- 
ralgie eines Gichtikers. Natürlich stehen 
diesen guten Erfolgen bei Neuralgien auch 
mehrere Misserfolge zur Seite, z. B. ein 
Fall von Ischias, der durch Chinaphenin 


sich geradezu zu verschlimmern schien und 
dann durch Aspirin sehr schnell zur Ab¬ 
heilung kam. Bei dem proteusartigen 
i Charakter der Neuralgien ist dies nicht 
anders zu erwarten; doch wird man es be- 
grüssen, ein weiteres Medicament zur Hand 
zu haben, das ohne jede schädliche Neben¬ 
wirkung dazu dient, wenigstens in einer 
Reihe von Fällen das gefährliche Morphium 
von der Behandlung auszuschliessen. 

Besonders wichtig erschien der Ver¬ 
gleich des Chinaphenins mit dem Chinin 
bei Malariakranken. Ich hatte nur zwei¬ 
mal Gelegenheit, darüber Untersuchungen 
anzustellen. In dem einen Falle (Malaria 
tertiana duplicata) waren dreimalige Dosen 
von je 1,5 g Chinaphenin ohne jeglichen 
Einfluss auf die Krankheit; ebenso wenig 
reagirte das Fieber auf Brillantblau, wäh- 
! rend es nach der ersten Dosis Chinin so- 
; fort verschwand. In dem zweiten Falle 
| coupirte das Chinaphenin die Malaria (Fe- 
bris tertiana) ebenso gut, wie wir es von 
| der gleichen Dosis Chinin (1,5 g) hätten er* 
I warten dürfen,und kehrte nicht wieder zurück. 
In Anbetracht der Dürftigkeit unseres Ma¬ 
lariamaterials hat Herr College Dr. Ant 
Mori in Campiglia es übernommen, spe* 
cielle Untersuchungen über die Wirkung 
des Chinaphenins bei Malaria anzustellen. 
Er ist zu recht günstigen Resultaten ge« 
langt und wird seine Beobachtungen an 
anderer Stelle veröffentlichen. 

| Ich glaube die neuen interessanten Chi¬ 
ninpräparate, insbesondere das China¬ 
phenin und weiterhin das Chinin dibrom- 
salicylicum acidum den Herren Collegen 
zur Beachtung und weiteren Prüfung em¬ 
pfehlen zu dürfen. 


Aus der chirurgischen Klinik der Universität Berlin. 

(Director: Geheimr&th Prot Dr. v. Bergmann, Exoellenz). 

Ueber die örtliche Behandlung der chirurgisch wichtigen 

Infectionen. 1 ) 

Von Dr. E. Lcxer, a. o, Professor. 


Es mag vermessen erscheinen, mit 
einem Thema, das wenig Neues verspricht, 
vor Sie zu treten. Und doch, wer nament¬ 
lich durch ein grosses poliklinisches Material 
Berührung mit der Praxis hat, dem müssen 
gerade bei der örtlichen Behandlung der 
chirurgisch wichtigen Infectionen scharfe 
Gegensätze und ein ständiges Suchen nach 
neuen Verfahren in die Augen fallen. 

Eine schablonenmässige örtliche Be¬ 
handlung ist natürlich bei der Verschieden- 

*) Nach einem Vorträge in der Berliner medicini- 
seben Gesellschaft am 17. December 1902. 

Difitized by Google 


artigkeit dieser Infectionen ein Unding; 
ebenso wie weder das Glüheisen der Alten 
noch ein chemisches Mittel der antisepti- 
; sehen Zeit überall gleichen Nutzen bringen 
! konnte. Aber auch für die einzelnen 
| Infectionsarten wird immer ein gewisser 
i Spielraum der Behandlung bleiben, nur 
I muss er vön festen Grundsätzen be¬ 
grenzt sein. Und diese lassen sich leicht 
I aus dem Wesen der betreffenden 
| Infection und besonders aus der Ent¬ 
stehungsweise ihrer schwersten 
! Folgen ableiten, wodurch man gleichzeitig 

Üri2 nal frem 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




Januar 


tO Die Therapie der Gegenwart 1903. 


eine Kiatheilung in drei verschiedene 
Gruppen gewinnt. 

Bei der ersten Gruppe handelt es sich 
um eine bestimmte, durch die lnfection 
d h. wörtlich die Verunreinigung des Ge¬ 
webes eingebrachte Giftmenge, welche 
im Körper nicht weiter vermehrungsfähig 
ist. Das sind die rein toxischen Wund- 
infectionen, als deren Typus der Biss 
der Giftschlange gilt 

Dass hier die Resorption der gelammten 
Giftmenge nach Möglichkeit zu verhüten 
:st, dass man also die Resorption hintanhalten, 
die Gifte vermindern muss, das ist längst 
dem Laien bewusst geworden, der bekannt¬ 
lich die Bisswunden sofort aussaugt oder, 
wie es der Jäger macht, mit Pulver aus¬ 
brennt, und eine Umschnürung an dem 
verletzten Gliede anlegt. Dadurch arbeitet 
er in der That dem Arzte vor, welcher 
dann sobald als möglich durch Excision 
der Wunden und durch grosse Einschnitte 
in das entzündliche und bei der Umschnü¬ 
rung noch durch die Stauung vermehrte 
Ordern eine Menge Gift zum Abfluss 
bringen kann. Zu vermeiden ist das plötz* 
liehe Aboehmen der Umschnürung vot 
den Incisionen, weil dann auf einmal eine 
beträchtliche Giftmenge resorbirfc werden 
kann. Da die Schnittwunde besser ab¬ 
leitet als die mit dem Brandschorf be¬ 
deckte, so ist das Messer stets dem 
Thermokauter vorzuziehen. Auch erscheinen 
grosse Incisionen zuverlässiger als subcu- 
tane Einspritzungen von chemischen Stoffen 
wie Chlorkalk, von denen man eine neu- 
tralisirende Wirkung erwartet. Die baldige 
örtliche Verminderung des Giftes bleibt auch 
dann noch als Hauptregel bestehen, falls 
man Calmette'sches Serum zur Allgemein* 
behandlung zur Verfügung haben sollte. 

Von drei Patienten, welche ich nach Kreuz¬ 
otterbiss in der v. Bergmann'sehen Klinik 
habe heilen sehen, kann ich Ihnen den letzten 
zeigen. Die recht erhebliche Schwellung am 
Arme des am Abend vorher gebissenen Mannes 
ging nach einigen Incisionen ebenso wie bei 
den anderen Fällen schnell zurück. 

in einer zweiten Gruppe lassen sich 
diejenigen Bacterien-Infectionen zu- 
saromenfassen, welche zu einer schwe¬ 
ren Allgemeinerkrankung führen 
können, ohne das«: dies die un¬ 
bedingten Folgen dieser Infectionen 
sind; so durch metastatische Verbreitung 
der Bacterien im Körper, durch ihre Ver¬ 
mehrung im Blute und durch ausgiebige 
Resorption ihrer Gifte. 

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Es gehören hierher der Milzbrand 
und alle durch Eiter- und Fäulniss- 
erreger erzeugten Wundinfectionen. 

Bei der Behandlung des äusseren 
Milzbrands treffen wir auf einen merk¬ 
würdigen Gegensatz, indem die Mehrzahl 
der Chirurgen jeden Eingriff verwirft, die 
Mehrzahl der Innern dafür ist. Beide 
wollen das verhüten, was bisher bei dem 
äusseren Anthrax des Menschen in etwa 
einem Fünftel der Fälle zum Tode geführt 
hat: die Allgemeininfection mit 

Bacterien. Durch welche Behandlungs¬ 
art diese Gefahr aber am ehesten vermieden 
werden kann, lernt man deutlich aus dem 
Ergebnisse zweier Thierexperimente an 
der sehr empfänglichen Maus. 

Inficirte Schimmelbusch die Schwanz¬ 
wunde mit Milzbrand, indem er in ihr den 
Kulturtropfen etwas mit dem Messer ver¬ 
rieb» so trat so schnell die Allgeroein- 
infection ein, dass selbst die Amputation 
des Schwanzes 10 Minuten nachher zur 
Rettung des Thicres zu spät kam. Brachte 
dagegen Friedrich den an der Spitze 
durch Amputation verwundeten Mäuse¬ 
schwanz sofort in eine Bouilloncultur, indem 
er das Thier stundenlang so befestigte, 
dass der Schwanz in das Culturröhrchen 
hineinhing, so kam es trotzdem nicht zur 
allgemein inficirenden Resorption und zum 
Tode des Thieres, da jegliche mechanische 
Beeinträchtigung der Wunde unterblieben 
war. 

Aus derartigen Experimenten, die ich 
aus vielen herausgreife, ergiebt sich vollauf 
die Berechtigung einer schonenden 
Behandlung des äusseren Milzbrands, 
bei welcher es also dem Gewebe allein über¬ 
lassen bleibt, mit den Erregern fertig zu 
werden, da die geringste Störung den ge¬ 
fährlichen Uebertritt virulenter Bacterien 
in die Blutbahn heraufbeschwören könnte. 
Dazu kommt die Thatsache^ dass die Milz¬ 
brandbacillen bei der äusseren lnfection 
des Menschen in der Regel schon in kurzer 
Zeit geschwächt werden und zu Grunde 
gehen. 

Darum darf man jeden Eingriff (ob 
Excision oder Cauterisation des Carbunkets, 
massenhafte Carbolinjectionen oder Exstir¬ 
pation der Lymphdrüsen u. s. £)* wenn er 
keine schweren Folgen nach sich zog, als 
gänzUch unnöthig bezeichnen, während 
cs da, wo der Operation ein schwerer 
tödtlicher Verlauf gefolgt ist, zum mindesten 
fraglich bleibt, ob sie ihn nicht verschul¬ 
det hat. 

Es genügt die Bedeckung des Carbun- 
kels mit einem dickbestrichenen Salben- 

Qriginal fro-m 

UNIVERSUM OF CALIFORNIA 



JttMISf 


Die Therapie der* Gegenwart 1903. 


II 


tappen, der jeden Insult von ihm abhalten 
soll, und die Anlegung eines ruhigatellen- 
den Fixationsverbandes, wenn am Anne mit 
Suspension, um einen schnellen Abfall des 
Fiebers herbeizgfiQhren und die entzQndliche 
Schwellung zur Rückbildung zubringen. 

Aus den letzten elf Jahren keime ich 14 
Falle von Süsserem Milzbrand aus der Klinik 
mit theil weise recht bedrohlichen Erscheinungen. 
Sie sind unter solcher conservativer Behandlung 
genesen bis auf den letzten Fall, der einer 
Pneumococcenpneujnonie erlegen ist, ohne in 
den inneren Organen Milzbrandbacillen aufzu¬ 
weisen. 

Ein Patient, den ich Ihnen vorstellen kann, 
hatte einen grossen Karbunkel am Vorderarm 
mit starker Lymphangitis und Lymphdrüsen« 
Schwellung. Am Tage nach Anlegung des Ver¬ 
bandes fiel das hohe Fieber. Bacillen waren 
nur in den ersten Tagen, nicht mehr nach 
einer Woche nachzuweisen. In der zweiten 
Woche kam neues Fieber durch einen ly mph* 
angitischen Abicess in Folge von Mischinfec- 
tion Es fiel sofort nach der Incision. 

Als abschreckendes Beispiel erwähne ich 
noch eine Laboratpriumeinfection. bei welcher 
man durch Carboiumschläge allerdings die Ent¬ 
stehung einer Pustel verhütet, dafür aber eine 
Carboinekrose am Finger herbeigefübrt hat. 

Diese Furcht vor der Allgemeininfec- 
tion durch Bacterien in Folge des opera¬ 
tiven Eingriffes, der ja beim Milzbrand- 
carbünkel höchst gefährlich ist, solange er 
virulente Erreger in sich birgt, spielt auch 
eine gewisse Rolle in der Geschichte der 
Behandlung acuter Eiterungen. Noch 
heute giebt es Chirurgen, welche Furunkel 
und Phlegmonen statt mit dem Messer mit 
dem Paquelin’schen Brenner spalten, 
um der Gefahr einer bacterHlen Allge- 
meininfection vorzubeugen, einer Gefahr, 
die in diesem Maasse nicht besteht. Denn 
bei den meisten schweren eitrigen Entzün¬ 
dungen und wohl solange, bis Abkapselung 
eingetreten ist, gerathen nachweisbare 
Bacterien mengen in den Kreislauf. Darin 
kann man ebenso wie in der Bacterien- 
resorption von der frischen inficirten 
Wunde aus eine Abwehrmaassregel des 
Körpers erblicken, um eine Menge von 
Erregern mit den bactericiden Kräften des 
Blutes und der Organe in Berührung zu 
bringen. Deshalb hat man selbst Fälle 
heilen sehen, in denen die gefährlichen 
Streptococcen tagelang im Blute kreisten ; 
ich habe sie in später genesenen Fällen 
von Gelenkeiterung und Osteomyelitis so¬ 
gar bei Kindern und bei Phlegmonen im 
Blute gefunden und Staphylococcen in 
einem später geheilten Falle von multipler 
Osteomyelitis sogar bis zum 25. Tage aus 
dem Blute ^.g^züchtet. 

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ck >gle 


In solchen Fällen liegt nur eine U eber- 
schwemmung der Blutbahn mit Bacterien 
und natürlich auch mit ihren Giften vor, die 
sofort aufhört, sobald alle Quellen versiechen. 

Zu einer Vermehrung der Erreger im 
Blute kommt es dagegen nur dann, wenn es 
sichum sehr virulente Bacterien oder um einen 
sehr widerstandslosen Körper handelt. 

Unter solchen Umständen besteht aber die 
gefährliche Blutinfection schon längst 
vor dem Eingriffe und ist meist nicht ein» 
mal mehr durch die Amputation zu be¬ 
seitigen, die wir auf Grund der schweren 
klinischen Erscheinungen und der Fort¬ 
dauer der Blutinfection trotz gründlicher 
Spaltungen vornehmen, — kann also 
niemals dem Eingriffe selbst in die 
Schuhe geschoben werden. 

Wohl aber können rohe Eingriffe 
• in der Incisionswunde, wie Au- wischen. 

| Auswaschen, Auskratzen, Reissen mit 
j Fingern und Haken, Bohren mit der 
! Sonde u. a. m. oder heftige Muskelbewe¬ 
gungen bei Deliranten mit schlechten Ver¬ 
bänden das entzündete Gewebe in einer 
Weise verletzen, dass auf einmal eine 
massenhafte Resorption von Bacterien und 
Bactcriengiften durch Lymph* und Blut¬ 
bahnen oder die Losreissung von Throm¬ 
ben erfolgt, was sich bald nur durch hohes 
Fieber und Schüttelfrost, bald durch Fort¬ 
schreiten der Phlegmone. Erysipel am 
Wundrand oder Lymphangitis, oft aber 
auch durch Entwickelung metastatischer 
Herde und durch gefährliche Lungenembo¬ 
lien äussert. 

Das ist der Grund, warum wirbei 
jeder Operation in entzündetem Ge¬ 
biete und auch noch bei der Nach¬ 
behandlung die allergrösste Scho¬ 
nung verlangen und jeden mechani¬ 
schen Reiz verdammen. 

Wer es einmal gesehen hat, wie aus 
einem harmlosen, aber durch Quetschen 
und Stochern maltraitirten Oberlippen¬ 
furunkel eine Thrombophlebitis der Ge¬ 
sichtsvenen mit tödtlicher Meningitis ent¬ 
standen ist, wer sich vor Augen hält, dass 
selbst der kleinste Furunkel zur Quelle der 
schwersten eitrigen Osteomyelitis werden 
kann, der muss sich auf diesen Standpunkt 
stellen. 

Nach der Spaltung 1 ) folgt Drainage 

*) Zur Spaltung grosser Phlegmonen und tief¬ 
liegender Eiterungen ist die Narkose und an der. 
Extremitäten die Blutleere unbedingt erforderlich, 
will man alle befallenen Interstitien finden und alle 
wichtigen Nerven, Bänder etc schonen. 

Für Entzündungen an den Fingerspitzen eignet 
sich die Oberst'sche Anisthesirung, wobei nach 
Anlegung eines Gummifichlauchcs um die Grund« 

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UNIVERsffY OF CALIFORNIA 





12 


Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1903, 


tiefer Höhlen und lockere Tamponade der 
Wunde. Dabei nützt der trocken ein* 
gelegte Tampon in zweierlei Richtung: 
er stillt, indem er sich festsaugt, die Blu¬ 
tung und entfernt dabei infectiöse Stoffe 
von der Schnittfläche und Oberfläche der 
ganzen Wunde, wirkt also einer post¬ 
operativen Resorption aus der Wunde 
entgegen. 

Diese Eigenschaft, welche anerkannter- 
maassen dem Jodoformgazetampon 
am meisten zukommt, dem feucht einge¬ 
legten Tampon aber abgeht, macht den 
Gebrauch des Paquelin'schen Brenners 
vollkommen unnöthig, der ausserdem noch 
erheblichen Schaden bringt, da der Brand« 
schorf der hinter ihm liegenden infecti$sen 
Gewebsflüssigkeit den Weg ins Freie ver¬ 
sperrt und die Entzündung zu neuer Wan¬ 
derung zwingt Denselben Nachtheil hat 
der Schorf, den auch die kürzeste Anwen* 
düng der von v. Bruns für die Phleg^ 
monenbehandlung empfohlenen reinen 
Carbolsäure auf der Wundoberfläche 
hervorrufen muss, und der bei allen 
Palververbänden ebenso wie beim Ge¬ 
brauche der Schleieh’schen Wund* 
präparate^GlutoI, Glutolserum) sich bildet 

Während der Nachbehandlung, deren 
Grundsätze ja vollkommen bekannt sind» 
wird das Gewebe am leichtesten beim 
Herausnehmen des Tampons verletzt* 
weshalb man ihn vor allem mindestens 
24 Stunden liegen lassen soll. Begiesst 
man ihn beim Entfernen mit etwas Wasser¬ 
stoffsuperoxyd (1 —3%), so wird er schnell 
und ohne jegliche Blutung unter Schaum¬ 
entwickelung gelöst 

Ist dann die Entzündung zurückgegangen 
und schiessen Granulationen auf, so kann 
an Stelle des trockenen Tampons die 
feuchte Compresse, z. B. mit essigsaurei 
Thonerde treten; denn unter ihrer Wir¬ 
kung stossen sich die nekrotischen Fetzen 
schneller ab und reinigen sich die Granu¬ 
lationen. Dasselbe erreicht man durch 
Salbenverbände aller Art, welche auch in 
der schmerzstillenden Wirkung den feuch- 

phalanx die Cocaineiospritzung in gesundes Ge^ 
webe gemacht wird. 

Zu verwerfen ist jede Einspritzung ins 
entzündete Gewebe selbst, da hierbei die infec- 
tiöse Gewebsflüssigkeit des entzündlichen Infiltrates in 
die Umgebung und Tiefe gepresst wird. Deshalb kommt 
daa Schleich’sche Verfahren an der von Berg- 
mann’sehen Klinik bei acut entzündlichen Processen 
(Furunkel, Phlegmone etc.) niemals zur Anwendung, 
ganz abgesehen von der grossen Schmerzhaftigkeit 
solcher Injectionen. 

Kleine Abscesse, Furunkel, kleine Cairbunkel in- 
tidirt man am besten unter Anwendung von Athyl- 
chlorid. 

Digitized by Gousle 


ten Verbänden gleichkommen, ohne die 
Haut wie diese zu maceriren. 

Die vielfach bei allen entzündlichen 
Processen beliebten feuchten Verbände, 
Priessnitz schen Umschläge und Kata- 
plasmen haben nur bei ganz gelinden 
Entzündungen einen günstigen Einfluss. 
Für gewöhnlich kommt es unter ihrer 
Wirkung viel schneller als ohne sie zur 
Bildung von Eiten Ist aber einmal Eiter 
nachzuweisen oder nach Lage und Zunahme 
des Infiltrates zu vermuthen, so richtet die 
Fortsetzung dieser Behandlung grossen 
Schaden an: denn sie fördert die 
Eiterung, und der Eiter zerstört das 
Gewebe. 1 ) 

Durch nichts wird z. B. das ossale Panaritium 
häufiger erzeugt als durch solche feuchte B< - 
handlung, denen zu Liebe man oft auch noch auf 
genügend ruhig stellende Verbände verzichtet. 
Man kann das alle Tage sehen, trotzdem sich 
König schon längst in seinem Lehrbuche ganz 
energisch dagegen ausgesprochen hat. 

Ja ich operirte eine Monate lang mit Brei¬ 
umschlägen behandelte Mastitis und fand die 
ganze Brustdrüse nekrotisch als faustgrossen 
Sequester überall gelöst und umspült vom Eiter. 

Der riesige Karbunkel, welcher bei unse* 
rem dritten Patienien den ganzen Nacken ein¬ 
nahm, war unter zweiwöchentlicher Behänd? 
lung mit Kataplasmen so gross geworden. 
Ein kräftiger kreuzschnitt brachte ihn sofort 
zum Stillstand und das Fieber zum Abfall, so 
dass die Wunde schon nach zehn Tagen gut 
granulirte. 

Liegen faulige Zersetzungen in der 
Wunde vor, also richtige septische Pro* 
cesse, wie sie sich manchmal nach Ent¬ 
zündungen und Operationen in der Nähe 
der Mundhöhle und des Afters öder bei 
Urin- und Gasphlegmonen finden, so ziehen 
wir Anfangs die trocken aseptische, 
später zur Abstossung der gangränösen 
Fetzen die feuchte Tamponade der 
Jodoformgaze vor; denn gerade von solch 
septischen Wunden aus kommt es leicht 
zur Jodoformvergiftung, da das Mittel 
schneller als bei der Eiterung durch die 
Fäulnissprocesse zersetzt wird. 

Zur dritten Gruppe vereinigen sich die¬ 
jenigen Infectionen, deren Folge stets 
eine allgemeine Gift- oder Bacterien- 
Verbreitung und -Vermehrung im 
Körper ist, welche auch in den acuten 
Fällen fast ausnahmslos zum Tode führt. 

Vertreter dieser Gruppe sind der Wund¬ 
starrkrampf, die Hundswuth und der 


*) lm Uebrigen verweise ich auf: E. von Berg¬ 
mann, Die Behandlung der acut • progredienten 
Phlegmone Berlin 1901. Hirschwald. 

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Januar 


Die Tlierapi« der 


Gegenwart 1903. 


13 


Rotz, abgesehen von den schon erwähnten 
schwersten Eitercocccninfectionen. 

Beim Tetanus findet bekanntlich nur 
an der Eingangspforte eine Vermehrung 
von Bacillen statt, welche von hier aus 
immer neue Mengen ihres fürchterlichen 
Giftes in den Kreislauf senden. Es müsste 
demnach in radicalster Weise die Stätte 
der Giftproduction beseitigt werden, sobald 
die ersten Zeichen der Giftwirkung die 
Art der Infection verrathen. 

Da nun, wenigstens im Experimente, 
das in der Blutbahn kreisende Gift, so 
lange es noch nicht im Centralnerven¬ 
system gebunden ist, durch Antitoxin un¬ 
schädlich gemachtwird,so finden diejenigen, 
welche sich auch beim Menschen auf die 
Antitoxinwirkung verlassen, eine örtliche 
Behandlung unnöthig. Wer aber die 
Heilserumbehandlung allein nach ihrer 
häufig schlechten Wirkung bei acuten und 
schweren Fällen für unzuverlässig hält, der 
muss auch zu verhüten trachten, dass 
immer neue Toxinmengen an der Eingangs¬ 
pforte gebildet und resorbirt werden. 

Die Hoffnung durch desinficirende Mittel 
die im Gewebe liegenden Bacterien zu ver¬ 
nichten, hat der Chirurg schon lange auf¬ 
gegeben. Wohl aber kann man durch 
Herausnehmen des eingedrungenen, oft 
auch schon eingeheilten Fremdkörpers eine 
Menge von Erregern, die an ihm haften, 
entfernen, und durch Erweiterung und 
Glättung tiefer buchtiger Wunden und 
durch ihre offene aseptische Behandlung 
schwere Wundstörungen und Fäuiniss- 
processe abhalten, welche eine Virulenz- 
Zunahme der Tetanusbacillen begünstigen 
können. 

Für kleine Wunden ist die Excision am 
besten, besser als die Cauterisation, da der 
Brandschorf Reste von Erregern im Ge¬ 
webe absperren kann. Am schlimmsten 
steht es um die grossen mit Strassen- 
schmutz inficirten Zertrümmerungsheerde 
der compiicirten Fracturen. Für diese 
Fälle verlangen wir auch heute noch trotz 
energischer Serumbehandlung, wo es mög¬ 
lich ist, die Amputation und zwar sofort 
nach dem Ausbruche der Erscheinungen, 
falls sie heftig, und in der ersten Woche 
nach der Verletzung auftreten. 1 ) 

So ist der einzige acute und sehr schwere 
Tetanusfall, welcher in der Klinik mit Hülfe 
von Antitoxin geheilt ist, am siebenten Tage 
nach der Verletzung, einer compiicirten Vorder- 
armfractur, am Oberarm amputirt worden, nach- 

l ) Vergleiche Lexer f j Zur Tetanusbchandtung. 
Therapie w G^r^n Jim 1901. 


dem am Tage vorher die ersten Zuckungen 
aufgetreten waren, 

Aehnliche Gesichtspunkte für die ört¬ 
liche Behandlung würden auch bei dem 
Biss des wüthenden Hundes gelten, 
wenn es sich hier nicht um ein langes, 

1—2 Monate dauerndes Incubationsstadium 
handelte, das ja bekanntlich Pasteur be¬ 
nutzt hat, um inzwischen den Körper an 
steigende Dosen des Virus zu gewöhnen. 

Da also das unbekannte Wuthvirus beim 
Menschen längere Zeit zur Entfaltung seiner 
Wirkung braucht, so kann man hoffen, es 
durch die örtliche Behandlung noch recht¬ 
zeitig zu vernichten. 

Dazu genügt die Excision der Wunde 
im Gesunden, wo dies ihre Grösse, Form 
und Tiefe erlaubt. Im Uebrigen muss sie 
vollkommen glatt sein und muss offen 
bleiben, damit nicht Reste des Virus in 
Gewebsnischen Zurückbleiben, sondern da¬ 
mit sie in die aufsaugenden Verbandstoffe 
geleitet werden. Aus demselben Grunde 
verwenden wir lieber Messer und Scheere 
zur Glättung grosser Wunden als den 
Brennapparat. 

Sehr ungünstig liegen die Aussichten 
der örtlichen Behandlung beim acuten 
Rotz, der ja fast stets zum Tode führt 
und oft auch aus der milderen chronischen 
Form hervorgeht. Stets folgt der Invasion 
die Entzündung der Lymphstränge und 
-Drüsen und die baldige metastatische 
Verbreitung der Erreger in Muskeln und 
Organen. Die einzige Behandlung, welche 
retten könnte, die Amputation, müsste 
sofort nach der Infection noch vor dem 
Befallensein der Lymphbahnen vorge¬ 
nommen werden. So früh aber wird nur 
ganz ausnahmsweise die Art und die 
Schwere der Infection sicher stehen. 

Gewöhnlich muss man sich mit Inci- 
sionen der örtlich und der metastatisch 
entstandenen Abscesse begnügen; dabei 
aber sollte man alles verhüten, was eine 
Resorption herbeiführen könnte, ich meine 
jede mechanische Reizung, wie z. B. das 
Auskratzen der Rotzherde, das so häufig 
empfohlen wird. Gerade dadurch ist wohl 
mancher chronische Fall plötzlich zum 
acuten geworden ? 

So sind wir also bei der örtlichen Be¬ 
handlung der chirurgisch wichtigen Infec 
tionen bald zum schärfsten Angriff, halt*, 
zur grössten Enthaltsamkeit gezwungen, 
je nach dem Wesen der betreffenden Er¬ 
krankung. 

Bei einer Reihe von Infectionen steht 
der eine Grundsatz obenan; -iasl schwer 

UNIVERSUM OF CALIFORNIA 




14 


Januar 


Die Therapie der 


inficirte Gewebe bei der nothwendigen 
Oeffnung nach Möglichkeit au schonen und ; 
es nicht in seinem harten Kampfe zu 
stören und zu schädigen. Freilich heilen | 
tausende von gelinden örtlichen Infee- 1 
turnen auch nach anderen Grundsätzen; 
sonst worden nicht täglich neue und alte 1 
Behandlungsarten empfohlen und geübt, 
die schwere Insulte setzen — ebenso wie 


Gegenwart 190T. 


schon tausende von frischen Wunden gate 
ohne Behandlung oder gar unter abge¬ 
lecktem Heftpflaster und noch Schlimme¬ 
rem rcactionslos zur Heilung gelangt sind« 
Aber nicht solche Zufallserfolge, 
sondern die schweren Folgen« welche 
aus einer örtlichen Infection her* 
Vorgehen können, sollen unserThun 
und Lassen bestimmen. 


Zur Pathologie und Therapie einiger Kniegelenkserkrankungen. 

Von Ä. Hoffa-Berlin. 


In den folgenden Zeilen möchte ich die 
Aufmerksamkeit auf einige recht häufige 
Kniegelenksleiden richten, die das gemein¬ 
sam haben, dass uns die mit diesem Leiden 
behafteten Patienten wegen Schmerzen 
in ihren Kniegelenken aufsuchen. 
Untersucht man dann das Kniegelenk, so 
findet man keine Spur einer Entzündung 
des Gelenkes oder doch nur die Spuren 
einer vorhergegangenen Entzündung in der 
Form einer mehr oder weniger erheblichen 
Crepitation im Gelenk. Gelenkergüsse be¬ 
stehen nicht, ebensowenig Verdickungen 
der Gelenke durch eventuelle Zotten¬ 
wucherungen. Trotzdem entspricht den 
Klagen der Patienten ein objectiver Be¬ 
fund und zwar handelt es sich entweder um 
eine von mir sogenannte arthritische 
Muskelathrophie nach früher be¬ 
standener Kniegelenksaffection oder 
um ein sogenanntes Derangement in¬ 
terne des Kniegelenkes oder um ein 
sogenanntes solitäres Lipoma, das sich 
im Gelenk entwickelt. Eine sorgfältige 
Untersuchung gestattet in jedem Falle die 
Differentialdiagnose sicher zu stellen; von 
der richtigen Diagnose aber hängt unsere 
Therapie ab und die Möglichkeit, den oft 
sehr durch die Leiden gequälten Patienten 
dauernde Heilung zu bringen. 

Ich beginne mit der Schilderung der 
arthritischen Muskelatrophie und wähle 
einen typischen Fall. Ein kräftiger, sonst 
völlig gesunder Mann fällt auf das Knie 
und zieht sich einen Bluterguss in das Ge¬ 
lenk zu. Das Kniegelenk schwillt an und 
der Patient hat heftige Schmerzen» Thera¬ 
pie: Bettlage, Hochlagerung des kranken 
Beines, Compressionsverband, dazu nach 
4 Tagen Massage. Nach 8 Tagen verlässt 
Patient das Bett und geht, allerdings unter 
Schmerzen, seinem Berufe wieder nach. 
Dabei wird das Kniegelenk mit einer 
Flanellbinde tixirt gehalten. Weitere Mas¬ 
sage des Kniegelenks. Trotzdem hören 
die Beschwerden! beim Gehen nicht auf. 

Digitized by 


Eine Badecur in Wiesbaden bringt wohl 
Linderung der Schmerzen, aber keine völlige 
Beseitigung derselben. Die Schmerzen 
werden immer an eine bestimmte Stelle, 
meistens an die innere Seite des Gelenkes 
unterhalb der Patella localisirt. Da trotz 
Massage, Lichtbädern, Compressionsverbän- 
den, Fangoumschlägen keine Heilung er¬ 
folgt, cönsultirt uns der Patient. Wir finden 
nun bei sorgfältiger Untersuchung keine 
Spur einer Entzündung mehr im Gelenk. 
Dasselbe ist völlig normal; dagegen finden 
wir eine hochgradige Atrophie der 
zugehörigen Streckihuskulatur. Der 
betreffende Quadriceps ist schlaff und welk, 
in seinem Volum der gesunden Seite geg 
übeF wesentlich vermindert Fordern wir 
den Patienten auf, beide Beine energisch 
zu strecken, so sehen wir, wie in ddm 
Relief der Muskulatur die kranke Seite der 
gesunden gegenüber zurückbleibt. Diese 
Quadricepsatrophie ist der Grund 
der noch bestehenden Beschwerden. 

Der Quadriceps ist der Spanner der 
Kniegelenkskapsel. Ist der Quadriceps in 
seiner Kraft geschädigt, so leidet damit 
die Spannung der Gelenkkapsel, je atro¬ 
phischer der Muskel, desto schlaffer ist 
auch die Gelenkkapsel. Ist aber die Kapsel 
Schlaff, so kommt es sehr leicht da2u, dass 
sie sich zwischen Patella und Femurcondy- 
len oder zwischen den Femur und Tibiacoit- 
dylen einklemmt. Durch diese Ein* 
klemmung der Kapsel aber entsteht 
der Schmerz. Das habe ich, ich kann 
wohl sagen hundertfältig beobachtet Un¬ 
sere Therapie aber giebt uns den Beweis 
für die Richtigkeit unserer Diagnose. Wir 
brauchen nur den Quadriceps durch Mas¬ 
sage und Gymnastik, namentlich durch 
eine rationell geleitete Widerstands- 
gytnnastik zu kräftigen, was in der Regel 
etwa 6 Wochen dauert, um die Spannung 
der Gelenkkapsel wieder zur Norm zurück¬ 
zuführen, und die Beschwerden des Pa¬ 
tienten sind ein für allemal dauernd be- 

ungirai rrcm • 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 








J&auar Oie Therapie der 

seitigt. Durch diese einfachen Ma߬ 
nahmen habe ich mir eine grosse Anzahl 
dankbarster Patienten erworben. Die 
Kenntniss der den betreffenden Kniege¬ 
lenksleiden zu Grunde liegenden Ursachen, 
der. artbritischen Muskelatrophie, ist auch 
keineswegs, selbst in Specialistenkreisen, 
verbreitet. Das ersieht man daraus, dass 
bei diesen Patienten immer das Kniegelenk 
selbst behandelt wird. Die Patienten wer¬ 
den massirt, bekommen feucht-warme oder 
Fangoumschläge, Lichtbäder oder werden 
auch wohl gar eingegypst* Dadurch wird 
das Leiden natürlich immer schlimmer, 
denn unter dem fixirenden Verband atro- 
phiren die Muskeln nur noch mehr. 

Die arthritische Muskelatrophie ist, wie 
ich gezeigt habe, eine reflectorische, 
durch Reizung der Gelenknerven bedingte. 
Immer und immer wieder liest man und 
findet man scheinbar durch Experiment 
bestätigt, dass es sich bei diesen Atro¬ 
phien wesentlich um eine Inactivitäts- 
atrophie handelt Das ist sicher nicht 
der Fall Die Inactivität kann wohl secunf- 
där zum Fortschreiten, der einmal ein» 
geleiteten Atrophie beitragen und thut das 
gewiss; sie ist aber nicht da9 primum 
iuovens. Das lehrt die tägliche klinische 
Erfahrung, denn die Schlaffheit und 
Welkheit der später atrophirenden 
Muskeln findet sich schon wenige 
Tage nach dem Einsetzen dex sie 
veranlassenden Gelenkaffection, sei 
es nun, dass diese in einem Träuma oder 
in einer Entzündung des Gelenkes bestand. 
Schon nach 3, 4 Tagen kann sich der 
Muskel nicht mehr so contrahiren wie der 
gesunde Muskel der anderen Seite, man 
ffUiit deutlich die mangelnde Kraft die 
Schlaffheit des Muskels. Das ist so sicher, 
das* sidh da absolut nichts dagegen sagen 
lässt; von einer Inactivitätsatrophie kann 
da gar nicht die Rede sein; oft genug 
habe ieh die Atrophie auch bei Patienten 
eintreten sehen, die gar nicht zu Bett ge¬ 
legen und nie einen das Gelenk fixirenden 
Verband getragen hatten. Ich bin ein 
klassischer Zeuge dafür, denn ich habe 
selbst die Quadricepstherapie mit ihres 
Folgen an mir beobachten können nach 
einem Bluterguss in das Knie, den ich mir 
hei einer Bergtour zugezogen hatte. 

Aus dem Gesagten möchte ich die Lehre 
abstrahiren bei Klagen Ober Kniegelenks» 
schmerzen niemals die Untersuchung der 
Kraegelenksstreckmuakulatur zu unterlassen, 
eventuell die geeignete oben angegebene 
Therapie zu befolgen. 

Digitiz^fby^ö^l^ 1 * aU< Welche Wir 


Gegenwart 1903. *5 


bei der Differentialdiagnose der beregten 
Leiden fahnden müssen, ist das sog. De¬ 
rangement interne des Kniegelenks. 

Das Derangement interne ist ein Knie¬ 
gelenksleiden, dessen Kenntniss wir der 
operativen Therapie verdanken. £s han¬ 
delt sich hier um eine Abreissung resp. 
Luxation einer, viel seltener auch 
wohl beider Kniegelenkamenisken. 
Nachdem zuerst englische und franzö¬ 
sische Collegen auf dieses Leiden hinge¬ 
wiesen hatten, ist es durch zwei vor¬ 
treffliche Arbeiten von P. v. Bruns (1892) 
und von Vollbrecht (1896) in Deutsch¬ 
land genau beschrieben und erläutert wor¬ 
den. Immerhin ist es in den Kreisen der 
Praktiker noch nicht bekannt genug und 
hoffe ich durch diese kleine Mittheilung 
zür weiteren Verbreitung der Kenntniss 
desselben beizutragen. 

Es ist bekannt, dass zwischen den Con- 
dylen des Femur und der Tibia zwei 
Knorpelscheiben, die sogenannten Menis¬ 
ken eingeschaltet sind. Diese Menisken 
können nun durch gewisse Gewalten 
an ihrer vorderen oder hinteren 
Haftstelle abreissen und 9ich dann 
verschieben* daher der Name Luxation der 
Menisken. Thatsächiich handelt es sich 
nie um eine wirkliche Luxation, sondern 
um eine einfache Ruptur der Bandscheiben. 

Am häufigsten reisst die vordere Insertion 
des inneren Meniscus an der Tibia ab. 

Das so beweglich gewordene Stück ver¬ 
schiebt sich nun fast regelmässig bald 
nach vorn, bald nach hinten in das Ge¬ 
lenk. Dabei verändert es auch seine Form, 
indem es bald gefaltet, bald in Fransen 
gespalten erscheint. Seltener reisst das 
Band an seiner hinteren Haftstelle ab. 
Aehnlich liegen die Verhältnisse beim 
äusseren Meniscus. 

Die Gewalten, welche zur Abreissung 
der Bandscheiben führen, brauchen gar 
nicht sehr erheblich zu sein. Sie wirken 
indirect ein und zwar stets im Sinne 
einer mehr oder weniger heftigen Rota¬ 
tionsbewegung des Unterschenkels. Ge» 
legenheitsursachen sind Unfälle beim Tur¬ 
nen, Reiten, beim Fussball, Lawn Tennis 
unii Crickettspiel. 

Gelegentlich sieht rnaa auch wohl eint 
Abreissung des Meniscus durch eine Reihe 
wiederholter kleinerer Traumen äu Stande 
kommen, so bei Arbeitern, die ihre Arbeit 
im Knieeh verrichten müssen. 

Das klinische Bil4 des Derangement 
interne ist ein ungemein typisches. Die 
Kranken erleiden den Unfall, klagen dann 
über Schmerzen; das Gelenk schwillt an 

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16 


Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


und wird functionsunfähig. Unter Ruhig¬ 
stellung, Umschlägen und Massage gehen 
die krankkaften Erscheinungen bald zurück, 
damit bessert sich auch wieder die Func¬ 
tionsfähigkeit des Gelenks. Das Gelenk 
wird aber nicht wieder völlig normal, son¬ 
dern es bleiben charakteristische Beschwer¬ 
den zurück. In kürzeren oder längeren 
Zwischenräumen treten ganz plötzlich 
Anfälle von Schmerz und Bewegungs¬ 
hinderung % auf. Gelegenheitsursachen 
sind irgend eine schnelle Bewegung, wie 
Treppensteigen u. dgl. Der Kranke fühlt 
plötzlich einen intensiven - Schmerz im 
Kniegelenk, welches nun in leichter Beu¬ 
gung feststeht und mehr oder weniger 
lange Zeit nicht bewegt werden kann. 
Zuweilen sinkt der Kranke in Folge des 
blitzartigen heftigen Schmerzes um, und 
hat dabei auch wohl das Gefühl, als be¬ 
wege sich etwas im Gelenk oder schnappe 
mit einem deutlichen Ruck ein. 

Untersucht man nun einen solchen Pa¬ 
tienten , 60 ist zunächst hervorzuheben, 
dass da9 Gelenk selbst völlig intact zu 
sein scheint. Es fehlen Schwellung und 
Ergüsse meist vollständig. Dagegen wird 
das Kniegelenk meist leicht gebeugt ge¬ 
halten und es besteht auch wohl bei Ab- 
reissung des inneren Meniscus eine Rota¬ 
tion des Unterschenkels nach aussen, bei 
Abreissung des äusseren Meniscus dagegen 
eine Rotation des Unterschenkels nach 
innen. Charakteristisch ist nun die 
Untersuchung der Kniegelenksspalte. 
Tastet man den Spalt zwischen* den Con- 
dylen des Femur und der Tibia ab, so ist 
die Stelle, an welcher der abgerissene 
Meniscus liegt» ausserordentlich druck¬ 
empfindlich. Dieser locale Druckschmerz 
ist ungemein typisch und für die Diagnose 
von grösster Wichtigkeit Er wird kaum 
je vermisst und genügt allein schon, die 
Abreissung des Meniscus zu erweisen. 
Häufig kann man aber den abgerissenen 
Meniscus selbst noch der Betastung zu¬ 
gänglich machen. Man fühlt dann an der 
inneren oder äusseren Seite in der Ge¬ 
lenkspalte eine schmale harte Leiste, 
Welche bei Streckung des Beins deutlicher 
hervortritt, bei Beugung des Knies aber 
im Gelenk verschwindet. 

Das beschriebene Krankheitsbild hat 
entschieden Aehnlichkeit mit dem einer 
Gelenkmaus. Die Differentialdiagnose 
ist aber durch das Röntgenbild leicht zu 
stellen, welche die Gelenkmaus erkennen 
lässt, während beim Dörangement interne 
das Gelenk normal erscheint. Selbstredend 
kann sichern Anschluss an die intraarticuläre 

Digitized by (jjOOQlC 


Verletzung eine arthritische Muskel- 
atrophie entwickeln. Namentlich sieht 
man oft hochgradige Atrophie des Qua- 
driceps, wenn die Patienten zum Schutz 
des Gelenkes längere Zeit Tutoren getragen 
haben. Hier lässt sich die Differential¬ 
diagnose dadurch stellen, dass bei der 
reinen arthritischen Muskelatrophie, die 
nach Ausheilung des ursprünglichen Ge- 
lenkprocesses zurückgeblieben ist, das 
Gelenk sich ganz intact zeigt Bei der Ab¬ 
sprengung der Menisken findet sich dagegen 
ausser der Atrophie des Quadriceps noch 
der charakteristische Druckschmerz in der 
Gelenkspalte, eventuell der directe Nach¬ 
weis des Hervortretens des abgerissenen 
Stückes der Bandscheibe in der Gelenk¬ 
spalte. 

Als Therapie macht man beim De¬ 
rangement interne am besten die Exstir¬ 
pation des abgerissenen Stückes des 
Zwischenknorpels. Unter aseptischen 
Cautelen ist diese Operation absolut un¬ 
gefährlich und in ihrem Erfolg sicher. 
Eine Functionsstörung tritt im Kniegelenk 
durch die Entfernung des Zwischenknorpels 
nicht ein. Ich habe wohl über ein Dutzend 
derartiger abgerissener Zwischenknorpel 
entfernt und alle meine Patienten dauernd 
geheilt. Man hat auch wohl die Reposition 
des abgerissenen Stückes versucht und 
Bandagen und Stützapparate tragen lassen, 
meist aber resultatlos. Ich habe einen 
Patienten durch die Operation geheilt, der 
IV 2 Jahr lang ohne jeden Erfolg einen von 
Hessing gearbeiteten, sehr sinnreich con- 
struirten Stützapparat getragen hatte. Einen 
besonderen Tutor für diese Fälle hat auch 
Griffith empfohlen. Man kann ja wohl 
einen solchen Retentionsapparat für einige 
Zeit tragen lassen, sicherer und schneller 
erfolgt die Heilung aber jedenfalls durch 
die Operation. 

Handelt es sich in einem der beregten, 
uns consultirenden Fälle nicht um eine 
einfache arthritische Muskelatrophie oder 
um eine Abreissung der Menisken, so kann 
der Symptomencomplex drittens noch 
durch die Entwickelung einer Fett¬ 
geschwulst im Gelenk hervorgerufen sein. 

Die Entwickelung von Lipomen im 
Kniegelenk ist keine Seltenheit. Entweder 
handelt es sich dabei um ein sogenanntes 
Lipoma arborescens, das durch fettige Ent¬ 
artung der Gelenkzotten entsteht, oder um 
ein solitäres, subsynpyiales (König) 
Lipom. Nur letzteres kommt hier in Be¬ 
tracht. Es handelt sich um kirsch- bis 
wallnussgrosse Tumoren, die ganz aus Fett 
bestehen, gewöhnlich an der inneren Seite 

Original from 

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Januar 


Die Therapie der 


des Gelenkes gelegen sind und mit einem 
Stiel in das Gelenk hineinreichen. Sie ent¬ 
wickeln sich von dem subsynovialen Fett 
und sind in dieser Beziehung vergleichbar 
den subperitonealen Lipomen (König), 
v. Volkmann, König, Riedel, Lauen¬ 
stein, Timmer u. A. haben einschlägige 
Fälle mitgetheilt. 

Diese solitären Lipome machen nun 
dieselben Symptome, wie wir sie bei un¬ 
seren Patienten mit arthritischer Muskel¬ 
atrophie oder mit Absprengung eines 
Theiles der Bandscheiben kennen gelernt 
haben. Es handelt sich im Wesentlichen 
um Einklemmungserscheinungen, die sich 
in Form plötzlich einsetzender 
Schmerzen äussern. In der Regel ist 
auch ein Trauma, Fall auf das Knie oder 
ein heftiger Stoss gegen den Fuss voraus¬ 
gegangen, der heftigen Schmerz im Knie 
verursachte. Das Gelenk selbst war dabei 
aber nicht besonders geschwollen. Oefter 
war auch wohl ein leichter, zuweilen auch 
blutiger Erguss als Folge des Traumas im 
Gelenk nachweisbar gewesen. Durch Ruhe¬ 
lage, Eisumschläge, Massage geht in der 
Regel der erste Anfall vorbei. Es be¬ 
stehen aber trotzdem dauernde Beschwer¬ 
den beim Gehen. Anfallsweise treten 
Schmerzen auf, in der Regel an der 
innern Seite des Gelenkes. Daneben be¬ 
stehen Functionsstörungen; die einen Pa¬ 
tienten können das Knie nicht ordentlich 
beugen, bei anderen ist im Gegentheil das 
DurchdrQcken des Knies nach hinten un¬ 
möglich. 

Untersucht man nun diese Patienten, so 
erhält man einen charakteristischen objec- 
tiven Befund. Zunächst besteht auch oft 
eine erhebliche Quadricepsatrophie. Dann 
aber ist auch eine, ich möchte fast sagen, 
typische Anschwellung des Kniegelenkes 
vorhanden. Diese Anschwellung sitzt bei 
sonst intactem Gelenk dicht unterhalb und 
nach innen von der Patella. Es ist eine 
pseudofluctuirende Anschwellung, die das 
Lig. patellae in die Höhe hebt. Der obere 


Gegenwart 1903. 17 


Recessus des Gelenkes ist frei, die Gelenk¬ 
spalten an den Seiten bleiben frei. Sobald 
man aber den oberen, inneren Theil der 
Gelenkspalte prüft, fühlt man eine teigige 
Anschwellung, die sich bis unter das Lig. 
patellae verfolgen lässt Dieser Befund ist 
ausserordentlich charakteristisch, doch ist 
die Differentialdiagnose zwischen einem 
sich einklemmenden Lipom und einem 
abgerissenen Meniscus keine leichte 
Sache. Es sind eine ganze Anzahl von 
Fällen publicirt worden, in denen man das 
Lipom fand, während man bei der Opera¬ 
tion einen abgerissenen Meniscus zu finden 
wähnte. 

Als Therapie kommt nur die Exstirpa¬ 
tion in Betracht, die jä unter aseptischen 
Cautelen absolut ungefährlich und in ihrem 
Erfolg sicher ist. Einpinselungen vonjod- 
tinctur, Massage, Gymnastik, Compressions- 
verbände, Badekuren werden in der Regel 
erst vorher versucht, ehe endlich die ein¬ 
zig richtige Operation das Leiden heilt 
Schneidet man nun in ein solches Gelenk 
ein, so quillt einem sofort nach Eröffnung 
des Gelenkes eine fettige Masse entgegen. 
Ich habe erst vor einigen Wochen wieder 
einen solchen Fall mit vollem Erfolg ope- 
rirt, in dem die Fettgeschwulst die Grösse 
einer Wallnuss hatte. Der Stiel hing mit 
der Synovialis entsprechend dem Ansatz 
des inneren Meniscus zusammen. Man 
fasst die Fettgeschwulst mit einer Kugel¬ 
zange, zieht sie heraus und schneidet sie 
ab. Nach erfolgter Wundheilung sind dann 
die Beschwerden der Patienten vorbei. 

Soviel über die Diagnose und die The¬ 
rapie dieser drei sich sehr in ihren Sym¬ 
ptomen gleichenden Kniegelenksleiden. Ich 
könnte wohl noch die freien Gelenk¬ 
körper des Kniegelenkes zur Differential¬ 
diagnose heranziehen. Bei diesen ist aber 
doch die Symptomatologie so charakteri¬ 
stisch, dass sie leicht auszuschliessen sihd. 
Wie sich der freie Gelenkkörper von einem 
abgerissenen Meniscus unterscheiden lässt, 
habe ich ja schon oben hervorgehoben. 


Die Complication von Schwangerschaft mit Herzfehler. 

Nach einem klinischen Vortrage 
von J. Veit-Leiden. 


M. H.! Die Kreissende, die ich Ihnen 
hier vorführe, hat einen ernsten Klappen¬ 
fehler, es besteht Stenose und Insufficienz 
der Mitralis und nebenbei hat sie ein all¬ 
gemein verengtes Becken. Die beiden 
ersten Geburten verliefen langsam — wohl 
wegen der Beckenverengerung — aber doch 
ohne jede Störung von Seiten des Her- 

Digitized by Google 


zens, Diesmal hat der Arzt die Patientin 
hergeschickt, weil einmal vor einem Jahr 
ohne nachweisbare Ursache heftige Dy¬ 
spnoe auftrat und er mit Recht Bedenken 
hat, in der ärmlichen Wohnung eine 
schwere Gebuitscomplication zu behandeln. 

Bis jetzt sind wir vom Glück begünstigt 
worden; mit Ausnahme einer leichten 

3 

Original frorn 

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18 


Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Bronchitis, die nach vier Tagen ver¬ 
schwand, ist die Schwangerschaft und Ge- ] 
hurt völlig ungestört verlaufen. Jetzt in 
d«:r Eröffnungsperiode der Geburt ist die 
Cyanose des Gesichtes nur gering, die 
Pulsfrequenz ist nur mässig erhöht, die 
Respiration 30, Albuminurie besteht nicht: 
Sie haben das Bild eines völlig compensirten 
Herzfehlers vor sich und wir haben alle | 
Veranlassung zu hoffen, dass die Geburt | 
weiter gut verläuft Nur wollen wir auf 
unserer Hut sein; denn so wenig man bei 
diesem Bild es ahnen kann: schwere Sorge 
für das Leben der Frau kann plötzlich 
eintreten und nicht jedesmal verläuft diese 
Complication so einfach, Ich erinnere Sie 
an einen Fall, den einige von Ihnen vor 
etwa einem Jahre hier beobachteten; eine 
Schwangere in den letzten Wochen, die 
an einem schweren Herzfehler litt und 
starke Dyspnoe hatte, schien sich bei Ruhe 
und guter Pflege zu erholen; als die Wehen 
begannen, nahm jedoch die Dyspnoe plötz¬ 
lich in bedrohlicherWeise zu; bei kleinem, 
kaum zählbarem Puls und einer Respira¬ 
tionsfrequenz von 50—60 mussten die Ei¬ 
häute zerrissen werden und als auch dies 
keine Erleichterung brachte, wurde nach 
Ausführung der Wendung durch den noch 
engen Cervicalcanal das Kind extrahirt; 
Sie erinnern sich, dass die Frau sich bald 
erholte und dies Jahr wiederum schwanger 
schon zehn Wochen vor dem Ende der 
Schwangerschaft sich aufnehmen liess. 
Während dieser Zeit war das Befinden 
leidlich, nur einmal nahm die Dyspnoe 
vorübergehend sehr stark zu, doch bevor 
ernstere Maassregeln erwogen wurden, 
besserte sich der Zustand und ehe ich die 
Patientin Ihnen wieder vorführen konnte, 
begannen leise Wehen, das Kind stürzte 
auf die Erde, als die Kreissende eben in 
das Kreisszimmer gebracht werden sollte. 
Das Allgemeinbefinden wurde in keiner 
Weise gestört, die ersten Tage des Wo¬ 
chenbettes schienen sogar etwas Erleichte¬ 
rung zu bringen, jetzt in der dritten Woche 
nach der Geburt treten jedoch erneute 
Zeichen von Dyspnoe auf. Ich erwähne 
Ihnen diese Krankengeschichte vor Allem, 
um Sie darauf hinzuweisen, dass Herzfehler 
sich in bedrohlicher Weise während der 
Geburt geltend machen können, dass dies 
aber keineswegs stets der Fall zu sein 
braucht, nicht einmal bei derselben Frau; 
hier das eine Mal Bedrohung des Lebens 
während der Geburt, das andere Mal spie¬ 
lend leichter Verlauf der Geburt. 

Die Complication von Herzfehler mit 
Schwangerschaft oder, besser gesagt, der 

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Eintritt einer Schwangerschaft bei einer 
Herzkranken gilt mit Recht als eine ernste 
Störung; Stauungserscheinungen, Dyspnoe» 
Anasarkä, Ascites, Albuminurie sind wäh¬ 
rend der Schwangerschaft zu fürchten, die 
mechanischen Folgen der Geburt, die 
schnelle Entleerung des Abdomen, die 
neuen Anforderungen an das ohnehin 
schon angestrengte Herz unter plötzlich 
veränderten Blutdruckverhältnissen galten 
früher als besonders bedrohlich und zwar 
sollte je nach der Art des Herzfehlers bald 
während der Schwangerschaft, bald erst 
nach der Geburt die Gefahr zu fürchten 
sein. Die neuere Zeit legt aber, wie mir 
scheint, mit vollem Recht viel mehr Werth 
darauf, ob die Compensation des Herz¬ 
fehlers noch besteht und ob der Herz¬ 
muskel sich seine Leistungsfähigkeit noch 
bewahrt hat. Ich habe unter den ver¬ 
schiedensten Verhältnissen Herzkranke 
während der Schwangerschaft und Geburt 
beobachtet, und es immer wieder bestätigt 
gefunden, dass nicht die Art des Herz¬ 
fehlers, sondern der Zustand des Herz¬ 
muskels von entscheidender Bedeutung ist; 
auch habe ich mehrfach durch die schnelle 
Entbindung eine etwa vorhandene Com- 
pensations-Störung rasch beseitigt Ich 
will Sie mit Krankengeschichten nicht er¬ 
müden, kann es mir aber nicht versagen, 
Ihnen ganz kurz folgende Beobachtung zu 
berichten. Eines Abends wurde ich von 
zwei Aerzten telegraphisch zu einem 
Kaiserschnitt in der Agone gerufen; in 
Folge einer Verstümmelung des Tele¬ 
gramms über diese Absicht im Unklaren, 
kam ich nach längerer Fahrt über Land 
zu der Kreissenden, die aufrecht im Bett 
sitzend die schwerste Athemnoth hatte; 
der Puls war minimal, eine Frequenz 160 
bis 180 in der Minute. Seit 34 Stunden 
in Wehen war die Cervix noch lang, eben 
für einen Finger durchgängig, das Allge¬ 
meinbefinden während der letzten Stunden 
sehr verschlechtert, eine genaue Diagnose 
des Herzfehlers unmöglich, der Tod schien 
unvermeidlich. So entschied ich mich zur 
Wendung und Extraction, nachdem ich 
etae ganz oberflächliche Narkose zum Ein¬ 
führen der ganzen Hand in die Scheide 
eingeleitet hatte. Es gelang mir, ein leben¬ 
des Kind zu extrahiren, ein blutender Cer¬ 
vixriss liess sich schnell durch die schon 
vorher zurechtgelegte Naht schliessen; 
ich verliess die Patientin in noch wenig 
aussichtsvollem Zustand, war aber sehr 
erfreut, als mir am nächsten Tage die Mit¬ 
theilung gemacht wurde, dass die Frau ge¬ 
rettet sei; ein Jahr später stellte sie sich 


Original from 

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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


19 


mir gelegentlich eines Besuches als gesund 
vor, übrigens mit allen Zeichen einer 
schweren, aber compensirten Mitralinsuffi- 
cienz. 

Soll ich Ihnen daher auf Grund solcher 
Erfahrungen für die Behandlung wäh- 
rend der Schwangerschaft praktische 
Rathschlflge geben, so kommen sie darauf 
hinaus, dass man wegen eines compensir¬ 
ten Herzfehlers bei einer Schwangeren im 
Allgemeinen nur diätetische Maassregeln 
empfehlen soll; mit noch grösserer Sorg¬ 
falt als sonst soll die Schwangere alle 
hygienischen Regeln der Schwangerschaft 
befolgen, aber ich kann Ihnen nicht den 
Rath geben, wegen eines compensirten 
Herzfehlers an sich die Schwangerschaft zu 
unterbrechen; so gross ist meines Erach¬ 
tens die Gefahr für die Patientin nicht; die 
Bedrohung des Lebens erfolgt nicht ohne 
Vorboten und wenn die Zeichen der Com- 
pensationsstörung ernst werden, dann hat 
man noch Zeit einzuschreiten. Daran kann 
für mich kein Zweifel bestehen, dass bei 
andauernder Compensationsstörung ohne 
Rücksicht auf das Kind die Unterbrechung 
der Schwangerschaft anzurathen ist. Ich 
will auf die in neuerer Zeit mehrfach er¬ 
örterte principielle Frage, wie weit man 
bei unausgetragener Frucht das Recht hat 
als Arzt, diesen Rath zu geben, nicht aus¬ 
führlich hier eingehen; die Indication ist hier 
sehr einfach: man räth zur Operation, so¬ 
bald man die Ueberzeugung gewinnt, dass 
die Patientin ohne Unterbrechung der 
Schwangerschaft sicher verloren ist; dann 
rettet man, da beim Tode der Mutter doch 
auch die intrauterine Frucht verloren ist, 
von den beiden bedrohten Leben wenigstens 
vielleicht das eine. Es ist dabei klar, dass 
man um so leichter sich zur Unterbrechung 
entschliessen wird, je weiter die Schwanger¬ 
schaft vorgeschritten ist, aber im Princip 
rathe ich Ihnen stets erst bei ernster Stö¬ 
rung der Compensation oder bei InsufBcienz 
des Herzmuskels daran zu denken. 

Die Frage ist nur, ob man schon bei 
den ersten Zeichen einer Compensations- 
störung sofort die Schwangerschaft unter¬ 
brechen soll oder ob man erst medicamen- 
töse Behandlung gepaart mit körperlicher 
Ruhe anwenden soll. Hier gehen die An¬ 
sichten theoretisch etwas auseinander, prak¬ 
tisch kommen sie auf das Gleiche hinaus. 
Findet man eine Schwangere in Folge eines 
Herzfehlers bedroht, so kann man es erleben, 
dass wenn man zur Vorbereitung der Früh¬ 
geburt 12—24 Stunden warten muss, in¬ 
zwischen durch die nur als palliativ ver- 
ordneten Cardiotonica der Zustand sich 

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dauernd besserte und man deshalb natür¬ 
lich nunmehr mit der Frühgeburt wartet Ist 
übrigens die Uterusentleerung nothwendig, 
so ist die Technik derselben relativ einfach, 
ich will an dieser Stelle nicht darauf ein¬ 
gehen, nur betonen, dass wir sichere und 
gefahrlose Mittel dazu genügend besitzen. 

Aber die Schwangerschaftsunterbre¬ 
chung ist an sich nicht durch den Herz¬ 
fehler geboten. 

Ebenso wenig wie ich an sich des Herz¬ 
fehlers halber die Schwangerschaft unter 
breche, ebenso wenig kann ich mich dazu 
entschliessen, herzkranken Frauen den 
Rath zu geben, anticonceptionelle Mittel 
anzuwenden. Eine Zeit lang schien es 
modern zu sein über die verschiedenen 
Vorschriften dieser Art leichtfertig zu 
denken; trügen mich nicht manche Zeichen, 
so beginnt glücklicher Weise unter den 
Aerzten die Erfahrung über die nach¬ 
theiligen Folgen dieser Mittel immer grösser 
zu werden und das Publikum scheint mir 
noch schneller bereit zu sein diese unheil¬ 
vollen Vorschläge und Grundsätze zu ver¬ 
lassen. Hier bei herzkranken Frauen mit 
compensirtem Herzfehler liegt für mich 
keine Veranlassung vor, Vorschriften dieser 
Art zu geben; die Patientin, deren eine 
Entbindung mit schweren Symptomen von 
Seiten des Herzens einherging, während 
die folgende ohne jeden Nachtheil verlief, 
mag Ihnen als lehrreiches Beispiel dienen. 

In einer Zeit, in der man durch Uebung 
des Herzmuskels versucht den Compensa- 
tionsstörungen vorzubeugen, ist es schwer 
zu begreifen, warum es so bedenklich sein 
soll die mässige Erhöhung der Arbeitskraft 
des Herzens in der Schwangerschaft an¬ 
ders anzusehen. 

Für das noch leistungsfähige Herz sehe 
ich in der allmählich eintretenden Arbeits¬ 
vermehrung der Schwangerschaft nur einen 
Reiz, um sich auch weiteren Anforde¬ 
rungen gegenüber kräftig zu erweisen. 
Der Nachtheil der anticonceptionellen 
Mittel für das Nervensystem ist bei weitem 
bedenklicher. 

Sie wissen, dass wir hier in der Klinik 
versuchen, den Einfluss zu studiren, den eine 
Schwangerschaft auf den weiblichen Orga¬ 
nismus hat; mancherlei Arbeit wird noch 
nöthig sein, um zu einem abschliessenden 
Unheil zu gelangen. Bis jetzt haben wir 
keine Veranlassung in der Schwangerschaft 
einen Nachtheil für die Frau zu erblicken 
oder irgend eine Schädigung für ihre Ge¬ 
sundheit durch dieselbe zu fürchten. Erst 
wenn vereint mit der Mitarbeit gleichge¬ 
sinnter Facbgenossen mit allen neueren 

3* 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Januar 


biologischen Methoden die Wirkung einer 
Schwangerschaft auf die verschiedensten 
Organe studirt ist, werden wir an die wei¬ 
tere Arbeit gehen dürfen, die Veränderung 
dieses Einflusses unter pathologischen Um¬ 
ständen kennen zu lernen. Vorderhand 
haben wir eine Schädigung der gesunden 
Frau durch die Schwangerschaft nicht 
erkannt. Natürlich wird die Frau nicht 
jünger während der Schwangerschaft, 
natürlich schreitet ein chronisches Leiden, 
das auch sonst nicht still stehen würde, 
in der Schwangerschaft weiter fort; 
die Frage ist nur, ob nicht unter normalen 
Verhältnissen eine Frau durch die Schwan¬ 
gerschaft ihre jugendliche Frische sich 
länger erhält — ich bin jetzt schon davon 
überzeugt, dass die Mehrzahl der Ge¬ 
burtshelfer diese Frage bejahend beant¬ 
wortet; die weitere Frage ist die, ob nicht 
unter pathologischen Verhältnissen die 
Widerstandsfähigkeit einer Frau durch 
eine Schwangerschaft gestärkt wird; die 
Antwort hierauf muss je nach der Art der 
vorliegenden Erkrankung wahrscheinlich 
verschieden lauten; vorläufig wissen wir 
darüber nicht allzuviel; wir sind an die 
„Erfahrung“ gewiesen und diese stimmen 
beim Internisten und Geburtshelfer nicht 
immer überein. Ich halte dies für sehr 
begreiflich; wir sehen eine ganz andere 
Art von Patientinnen als der Internist; der 
Geburthelfer wird gebeten einer Frau bei 
der Entbindung beizustehen: oft genug 
constatirt man eine Abweichung am Her¬ 
zen, aber nur ganz ausnahmsweise wird 
während der Schwangerschaft oder der 
Geburt das Allgemeinbefinden gestört und 
trotzdem besteht ein Klappenfehler. Der 
innere Mediciner dagegen sieht diese Fälle 
als Consultirter überhaupt nicht; ihm wer¬ 
den die Patientinnen erst zugeführt, wenn 
die Compensation gestört ist oder der 
Herzmuskel selbst erkrankt ist; er muss 
natürlich eine etwa bestehende Schwanger¬ 
schaft als Ursache der Verschlimmerung 
ansehen und ist nur allzu geneigt zu ver¬ 
allgemeinern. Die Lösung dieses Wider¬ 
spruchs ist leicht, denn die Wahrheit liegt 
in der Mitte; eine Reihe von Frauen mit 
einem compensirten Herzfehler vertragen 
die Schwangerschaft und die Geburt gut 
oder mit nur unbedeutenden Störungen; 
eine weitere Reihe zeigt deutlich Jnsuffi- 
cicnz des Herzmuskels während der 
Schwangerschaft, eine letzte Reihe hatte 
schon vor dem Eintritt der Schwanger¬ 
schaft eine gestörte Compensation, die 
natürlich nunmehr nicht verschwindet. 

Therapeutisch ist aber die Er- 

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fahrung von grösster Bedeutung, 
dass man oft mit den gewöhnlichen 
Medicamenten für das Herz noch 
eine erhebliche Besserung erreicht 
und dass man, wenn dieser Erfolg 
nicht eintritt, man immer noch Zeit 
hat, den Uterus zu entleeren. 

Fassen Sie den Eintritt einer Schwan¬ 
gerschaft bei einer Herzkranken nicht an 
sich als eine Lebensbedrohung auf; seien 
Sie überzeugt, dass ein noch gesunder 
Herzmuskel die vermehrte Arbeit noch 
leisten kann; erst wenn sich zeigt, dass 
dies nicht möglich ist, scheint mir die Zeit 
zum Handeln gekommen. 

Ob man einem jungen Mädchen mit 
einem Herzfehler von der Ehe abrathen 
soll, ist schwer zu beantworten; glück¬ 
licherweise werden wir Geburtshelfer nur 
selten hierüber gefragt. Eine junge Dame, 
der wegen eines Herzfehlers der Rath 
gegeben wurde, nicht zu heirathen, folgte 
diesem Rath nicht; ich habe mich bei zwei 
Entbindungen überzeugen können, dass sie 
es nicht zu bereuon hatte, ihrem eigenen 
Kopfe (oder vielmehr ihrem eigenen Herzen) 
und nicht dem ihr gegebenen Rath gefolgt 
zu sein. 

Die Behandlung einer Herzkranken 
während der Geburt verlangt besondere 
Aufmerksamkeit; natürlich werden Sie es 
als Consequenz meiner Ansichten über die 
Behandlung während der Schwangerschaft 
begreifen, dass ich während der Eröffnungs¬ 
periode an sich nichts vorzunehmen rathe; 
kleine Dosen von Morphium scheinen mir 
nicht unzweckmässig zu sein, um psychi¬ 
scher Aufregung vorzubeugen; in der Aus¬ 
treibungsperiode bin ich dagegen geneigt, 
das Kind bald zu extrahiren, um einer 
übermässigen Arbeit der Frau und einer 
nicht minder grossen Arbeit des Herzens, 
wie sie beim Mitpressen nöthig wird, vor¬ 
zubeugen; die Extraction mit der Zange 
oder am Fuss ist bei völlig erweitertem 
Muttermund, nachdem die Austreibungs¬ 
wehen begonnen haben, dann meist so ein¬ 
fach, dass man ruhig prophylactisch dazu 
schreiten kann. Ist das Kind geboren, so 
darf man mit der Expression der Placenta 
nicht überstürzt Vorgehen; ist die Nach¬ 
geburt gelöst, und hat man sie dann her¬ 
ausgedrückt, so habe ich die Compression 
des Abdomen durch Auflegen eines Sand¬ 
sackes oder schwerer Wäschestücke gern 
angerathen. Es ist dies vielleicht noch ein 
Ueberbleibsel aus der Zeit, in der wir die 
schnelle Entleerung des Abdomens durch 
bedrohliche Druckschwankungen als Ur¬ 
sache von Störungen fürchteten, aber das 


Original from 

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21 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Januar 


Mittel ist so einfach und so ungefährlich, 
dass ich es ungern missen möchte. 

Gegenüber dieser Diätetik steht die ein¬ 
greifendere Therapie, wenn während des 
Beginnes der Geburt das Herz Störungen 
der Compensation oder Zeichen der In- 
sufficienz darbietet, die sich nicht beseitigen 
lassen und das Leben bedrohen. Hier ist 
die Wahl der Methode minder wichtig als 
das Princip, da3S man so schnell wie mög¬ 
lich entbinden muss, sobald man die Ge¬ 
fährdung des Lebens der Kreissenden er¬ 
kennt. Die Schwere der Operation selbst 
steht mit dem Verhalten des Cervicalkanals 
in Verbindung; welche Art des Acouche- 
ment force man dann wählt, wird von 
Ihrer eigenen Geschicklichkeit und Ihrer 
Erfahrung abhängen; an sich sind auch 
diese Eingriffe jetzt ungefährlich geworden. 

Im Wochenbett sind Störungen natür¬ 
lich möglich; für den Geburtshelfer von 
Wichtigkeit 6ind nur diejenigen, die im un¬ 
mittelbaren Anschluss an die Geburt oder 
in den ersten Tagen danach sich zeigen. 
Sie sind sicher viel seltener, als man früher 
meinte; sie zeigen sich meist, wenn schon 
vor der Entbindung der Herzmuskel Zeichen 
der Degeneration vermuthen Hess; extrem 
selten erfolgt der Tod plötzlich durch Herz¬ 
lähmung. Besonders möchte ich Sie noch 
einmal darauf hinweisen, dass unabhängig 
von der Art des Klappenfehlers die Be¬ 
endigung der Geburt eine Erleichterung 
der Symptome bewirken kann. Im Allgemei¬ 
nen haben Sie jedenfalls, wenn die Geburt 
glückHch beendet ist, nicht mehr viel zu 
fürchten. Dass ausnahmsweise der Tod durch 
einen Herzfehler eintreten kann, wissen Sie. 

Die späteren Tage des Wochenbettes 
können auch ausnahmsweise eine Ver¬ 
schlimmerung der Symptome von Seiten 
des Herzens bringen; ich glaube diese 
nicht mit der überstandenen Geburt, son¬ 
dern mit dem weiteren Ablauf des Herz¬ 
fehlers in Verbindung bringen zu müssen. 

Im Allgemeinen sehen Sie daher, dass 


Sie den Eintritt einer Schwangerschaft bei 
einer Herakranken nur als eine Complicatioh 
auffassen müssen, die zur Vorsicht und zur 
genauen Beobachtung auffordert, dass Sie 
aber mit der Unterbrechung der Schwanger¬ 
schaft und mit dem Accouchement force 
warten können, bis weitere ernste Symptome 
auftreten. 

Die Behandlung der Schwangerschaft 
bei Patientinnen an anderweiten inneren 
Krankheiten kann man nicht ohne weiteres 
in gleicher Weise einrichten wollen, wie 
ich es Ihnen bei Herzkrankheiten anrathe; 
ebenso wie Sie die Schwangerschaft bei 
Herzkranken nach den Verhältnissen des 
besonderen Falles behandeln, ebenso muss 
man mit seinem Urtheil auch bei anderen 
Schwangerschaftscomplicationen vorsichtig 
sein ; besonders muss man sich hüten, aus 
wenigen Fällen hier allgemeine Schlüsse zu 
ziehen. 

Aber neben dieser strengen Individuali- 
sirung unserer Therapie ist die Geburts¬ 
hülfe für Sie auch von grosser Bedeutung, 
weil Sie lernen, möglichst scharf die An¬ 
zeigen für unser ärztliches Handeln zu 
stellen. Schwangerschaft und Geburt bei 
herzkranken Frauen giebt vielfach Gelegen¬ 
heit dies zu bethätigen; nicht die Sorge 
vor möglichen Folgen dieser Combination 
beherrscht hier unsere therapeutischen 
Maassregeln, erst der Eintritt ernster Er¬ 
scheinungen giebt die Indication; diese 
präcis zu stellen müssen Sie lernen. Man 
muss wissen, wann man noch warten darf, 
wann man schnell einschreiten muss; in der 
heutigen Zeit der Polypragmasie und der 
immer noch verbreiteten laxen Auffassung 
der Bedeutung eines künstlichen Abortus, 
hoffe ich von Ihnen, dass Sie sich vor 
allen Eingriffen, die nicht streng angezeigt 
sind, gerade bei der Complication von 
Herzkranken mit Schwangerschaft hüten, 
aber dass Sie auch im Stande sind zur 
rechten Zeit, Wenn es nöthig ist, die ein¬ 
greifenden Maassregeln anzurathen. 


Die Behandlung der Syphilis mit Calomelinjectionen. 

Von B. Lasstr- Berlin. 


Eines der Themata, welche für die Ver¬ 
handlungen der dermatologischen Section 
des internationalen medicinischen Con- 
gresses in Berlin im Jahre 1890 aufgestellt 
war, lautete: Die speciellen In di cationen 
der verschiedenen Applicationsweisen des 
Quecksilbers. Das Thema war von mir 
aufgestellt — zu seiner Beantwortung 
haben die Verhandlungen des Kongresses 
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herzlich wenig beigetragen, Und doch ist 
diese Frage von der grössten Wichtigkeit 
für jeden Arzt, welcher nicht in rein sche¬ 
matischer Weise die Behandlung der Sy¬ 
philis betreibt, welcher nicht schon damit 
zufrieden ist, im gegebenen Falle die Dia¬ 
gnose „Syphilis“ zu stellen und nun, 
gleichviel weiche Erscheinungen der Sy¬ 
philis er vor sich hat, das Quecksilber in 

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22 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Januar 


irgend einer ebenfalls wieder beliebigen 
Form zu geben. — „Das Quecksilber be¬ 
seitigt ja unter allen Umständen die Er¬ 
scheinungen der Syphilis“! Die genauere 
Beobachtung lehrt nämlich doch, dass den 
verschiedenen Applicationsweisen des 
Quecksilbers ein ganz verschiedener Werth 
zukommt, nicht nur bezüglich der Intensität 
ihrer Wirkung im Allgemeinen, sondern 
auch — ich möchte sagen — bezüglich der 
Qualität ihrer Wirkung im Besonderen, 
diesen oder jenen Symptomen gegenüber. 
Je genauer wir diese Verschiedenheit der 
Wirkungen der einzelnen Quecksilberappli- 
cationen kennen, um so sicherer werden 
wir hn einzelnen Falle die gerade für diesen 
Fall beste Behandlungsweise anwenden und 
so den Patienten am schnellsten und sicher¬ 
sten hersteilen können. Aber leider sind 
wir noch weit davon entfernt, in jedem 
Falle von Syphilis diesen Anforderungen 
genügen zu können, und nur für einzelne 
Anwendungsweisen des Quecksilbers ist 
über die besondere Wirkung gewissen Er¬ 
scheinungen der Syphilis gegenüber Ge¬ 
naueres bekannt 

Eine solche in ihren Indicationen besser 
gekannte Anwendungsweise des Queck¬ 
silbers ist die Behandlung mit Calomel- 
injectionen, eine Methode, welche zuerst 
von Scarenzio bereits im Jahre 1864 ange¬ 
wendet wurde, dann aber wegen der 
grossen Unbequemlichkeiten für die Kran¬ 
ken wieder in Vergessenheit gerieth. Erst 
durch Srairnoff wurde im Jahre 1883 
diese Methode wieder zu Ansehen ge¬ 
bracht und seitdem hat dieselbe ein dauern¬ 
des Interesse erregt und — je nachdem — 
Befürwortung oder Ablehnung erfahren. 

Zunächst wurde die Methode, wie dies 
ja mit neuen oder von neuem wieder in 
Erinnerung gebrachten Methoden so häufig 
geschieht, von manchen Seiten mit dem 
grössten Enthusiasmus aufgenommen und 
als die beste Behandlungsmethode der 
Syphilis überhaupt angepriesen. Aber in 
dieser Hinsicht kann ich Fournier nur 
Recht geben, der sie als „methode d*ex- 
ception“ bezeichnet und nach Aufzählung 
der verschiedenen Nachtheile und Unzu¬ 
träglichkeiten von ihr sagt: Pour toutes 
les raisons susdites, eile ne saurait ötre 
agr€e en tant que methode usuelle, 
courante, en tänt que traitement de lon- 
gue haieine ä proposer ä nos malades. 
A ce titre, ce serait la pire methode a 
choisir. 1 ) 

Der Hauptgrund, der zu dieser Zurück¬ 
haltung und schliesslich vielfach zu einer 

>) Traitement de la Syphilis, p. 341. 

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noch viel weiter gehenden Ablehnung 
führte, waren die bei der häufigeren An¬ 
wendung der Calomelinjectionen in grösserer 
Zahl beobachteten schweren, ja tödtlichen 
Quecksilbervergiftungen. Es genügt hier, 
auf die bekannten tödtlich verlaufenen 
Fälle von Smirnoff, Kraus, Runeberg 
und Gaucher hinzuweisen. 1 ) Diese und 
andere schwere, wenn auch nicht tödtliche 
Vergiftungsfälle führten dazu, dass viele 
Aerzte die Calomelinjectionen und mit 
ihnen die Injectionen der anderen unlös¬ 
lichen Quecksilberverbindungen auf den 
Index schrieben und als zu gefährlich voll¬ 
ständig verwarfen. 

Dafür, dass dieser Standpunkt nicht der 
richtige ist, möchte ich wiederum Four¬ 
nier anführen, der trotz seiner durch das 
obige Citat gekennzeichneten Vorsicht und 
Zurückhaltung das Studium der Wirkungs¬ 
weise der Calomelinjectionen nicht aus dem 
Auge verloren hat und im Jahre 1896 in 
der französischen dermatologischen Gesell¬ 
schaft eine Reihe besonderer Indicationen 
für dieselben aufstellte. Er hatte gefunden, 
dass die Calomelinjectionen von einer be¬ 
sonders günstigen, ja manchmal geradezu 
von einer überraschenden Wirksamkeit 
sich erwiesen: 

1 . bei schwerem, phagedaenischem Schan¬ 
ker der Zunge, 

2. bei maligner Syphilis (mit frühzeitigem 
Auftreten schwerer ulceröser Erschei¬ 
nungen), 

3. bei tertiärer sclerotischer Glossitis, 

4. bei schwerer Laryngitis, 

5. bei hartnäckigen secundären Zungen- 
affectionen, 

Ganz besonders für die gallopirende 
Syphilis und für die tertiäre Glossitis, die 
unter der Form der syphilitischen Schwiele 
auftritt, kann ich diese Aufstellung nach 
meinen zum Theil schon weit zurückliegen¬ 
den Erfahrungen auf das Vollste bestätigen. 

Es ist geradezu erstaunlich, wie in den 
Fällen von gallopirender Syphilis die zahl¬ 
reichen, den ganzen Körper bedeckenden 
Geschwüre nach zwei bis drei Injectionen 
von je 0,1 Calomel meist völlig geheilt 
sind. Und ganz besonders muss hervor¬ 
gehoben werden, dass dieses Resultat sich 
fast nie mit einer Schmierkur oder einer 
Sublimatinjectionskur erreichen lässt. Ja, 
früher perhorrescirten sogar Viele — zu 
denen auch ich gehörte — in diesen Fällen 
die Anwendung des Quecksilbers über¬ 
haupt, weil sie die Erfahrung gemacht 
hatten, dass unter dieser Behandlung die 

0 cf. die Arbeit von Neubeck, Dermatol. 
Zeitschr. Bd. IX Heft 4. 

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Januar 


23 


Die Therapie der 


Geschwüre nicht nur nicht heilten, sondern 
sich sogar verschlimmerten. Und dasselbe 
gilt von der tertiären indurativen Glossitis. 
Diese Fälle sind noch beweisender, weil 
vielfach bereits Schmierkuren und Dar¬ 
reichung von Kalium jodatum in hohen 
Dosen bei derartigen, unter Umständen 
schon Monate und selbst Jahre bestehen¬ 
den Zungenaffectionen ohne Erfolg ge¬ 
macht sind — nach einigen Calomelinjec¬ 
tionen verschwinden die Infiltrate völlig 
oder fast völlig! 

Diese Fälle beweisen auf das Unwider- 
leglichste, dass eben doch den Calomel- 
injectionen unter diesen Umständen eine 
ganz besondere Wirksamkeit zukommt. 
Auch für die schweren Iritiden giebt es 
kein zuverlässigeres Mittel als die Calomel- 
injcctionen. 

Diese Erfahrungen bei schweren, von 
den anderen Applications weisen des Queck¬ 
silbers erheblich weniger zu beeinflussen¬ 
den Syphiliserscheinungen legen den Ge¬ 
danken nahe, ob nicht Oberhaupt bei allen 
schweren Syphiliserscheinungen der inne¬ 
ren Organe und ganz besonders bei den 
Erkrankungen des Centralnervensystems, 
wo es doch so sehr auf die rasche und ener¬ 
gische Wirkung ankommt, Calomelinjec- 
tionen anzuwenden seien. Ein abschliessen¬ 
des Urtheil über diese Frage ist zur Zeit 
noch nicht möglich; jedenfalls sehen wir 
bei frischen gummösen Erkrankungen des 
Gehirns so ausgezeichnete Erfolge von 
einer mit der Darreichung von Kalium 
jodatum combinirten Schmierkur, dass für 
diese Fälle ein Grund, zu den Calomel- 
injectioncn zu greifen, nicht vorliegt. In 
alten Fällen aber, bei denen die gewöhn- { 
liehe Behandlung den Erfolg versagt, ist es 
gewiss berechtigt, schliesslich als ultima 
ratio die Calomelinjectionen anzuwenden. 

Die Technik und die Dosirung dart ich 
als bekannt voraussetzen und möchte nur 
erwähnen, dass ich als Suspensionsflüssig- 
keit stets Oleum olivarum nehme, dass als 
erste Dosis 0,05 und später je 0,1 Calomel 
zu injiciren ist Die Injectionen sind in 
achttägigen Intervallen zu machen und 
mehr als vier bis fünf Injectionen sind nie 
hinter einander zu appliciren. 

Die Calomelinjectionen führen nun, wie 
ich schon oben angedeutet, häufig zu un¬ 
angenehmen Nebenwirkungen und zu 
schweren toxischen Erscheinungen. 
Von relativ geringer Bedeutung sind die 
lokalen Nebenwirkungen an der Einsprit¬ 
zungsstelle, schmerzhafte Infiltrate, die 
nicht ganz selten zur Erweichung und zum 
Durchbruch nach aussen führen. Aber 

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Gegenwart 1903. 


diese immerhin manchmal recht störenden 
Ereignisse sind bedeutungslos gegenüber 
den toxischen Wirkungen, die wir bei den 
Calomelinjectionen beobachten. In diesen 
Fällen treten unter hohem Fieber univer¬ 
selle Erytheme, schwere Stomatitiden, 
Nephritis und vor allem Enteritis, die 
hauptsächlich den Dickdarm betrifft, mit 
ruhrartigen Erscheinungen auf — kurz die 
Symptome der Quecksilbervergiftung. 
Wie gewöhnlich bei den Quecksilberver¬ 
giftungen prävalirt in dem einen Fall das 
eine, in dem anderen Falle das andere 
Symptom, während die übrigen zurück¬ 
treten oder gar nicht vorhanden sind. In 
einer nicht ganz kleinen Zahl von Fällen 
ist der Verlauf ein ungünstiger gewesen 
und hat die Krankheit mit dem Tode ge¬ 
endigt. Und wenn auch bei den anderen 
Applicationsweisen des Quecksilbers, selbst 
bei der Schmierkur, derartiges auch Vor¬ 
kommen kann und thatsächlich vorge¬ 
kommen ist, so lässt sich doch nicht leug¬ 
nen, dass den Calomelinjectionen — ich 
möchte hier etwas allgemeiner sagen den 
Injectionen mit unlöslichen Quecksilber¬ 
verbindungen oder mit metallischem 
Quecksilber — eine grössere Gefährlichkeit 
zukommt als den anderen Methoden. 

Die Ursachen hierfür sind ja leicht 
zu verstehen. Bei der Anwendung der 
unlöslichen Quecksilberverbindungen wird 
auf einmal eine verhältnissmässig grosse 
Menge Quecksilber dem Körper einverleibt, 
von dem wir erwarten, dass es allmählich 
in eine lösliche Verbindung umgesetzt und 
resorbirt wird. Aber die Vorgänge, welche 
diese Modification herbeiführen, sind uns 
unbekannt und es scheint, dass dieselben 
manchmal in langsamerer und manchmal 
in rascherer Weise vor sich gehen. So 
kann es entweder bei Idiosynkrasie, bei 
Intoleranz gegen das Quecksilber über¬ 
haupt, zu einer Vergiftung kommen da¬ 
durch, dass selbst die erste halbe Dosis 
schon zu hoch für das betreffende Indivi¬ 
duum ist, und zweitens kann auch bei nor¬ 
mal dem Quecksilber gegenüber reagiren- 
den Menschen eine cumulative Wirkung 
eintreten, wenn die anfänglich nur lang¬ 
sam vor sich gehende Resorption nach der 
Anlegung mehrerer Depots plötzlich in 
rascher Weise erfolgt. Dann versagen die 
Regulirungsvorrichtungen, die bei einer 
gleichmässigen Zuführung des Quecksilbers 
in geringen Mengen den Körper vor den 
toxischen Wirkungen geschützt haben 
I würden, und die Vergiftung tritt ein. 

Hieraus ergiebt sich bereits, dass es 
bei den Calomelinjectionen viel schwieriger 

Original frn-m 

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24 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Januar 


ist als zum Beispiel bei der Inunctions- 
oder Sublimatinjectionscur die Intoxica- 
tioncn zu vermeiden, denn die ersten Er¬ 
scheinungen treten auf entweder gleich 
nach der ersten Injection oder nachdem 
der Kranke 2, 3 oder 4 Spritzen erhalten 
hat. Die Verhältnisse liegen im letzteren 
Falle ähnlich wie bei der Röntgen Verbren¬ 
nung, bei der auch kein Symptom dem Arzt 
bemerklich macht, dass der Kranke schon 
genug und übergenug hat, so dass die Be¬ 
lichtung noch fortgesetzt wird, obwohl der 
üble Ausgang in heimtückischer Weise 
sich schon vorbereitet. 

Und sind die Vergiftungserscheinungen 
da, dann ist der grosse Uebelstand der, 
dass im Körper noch unresorbirtes Queck¬ 
silber liegt, von dem weiter und weiter 
gelöste Mengen in den Säftestrom über¬ 
gehen und so die Gefahr vergrössern. Es 
ist die Exstirpation der Injectionsstellen 
vorgeschlagen und zweimal auch ausgeführt 
worden. Aber in Wirklichkeit wird dieses 
operative Vorgehen nur sehr selten aus¬ 
führbar oder wenigstens mit Vortheil aus¬ 
führbar sein. Denn wenn mehrere Injec- 


tionen gemacht sind, würde die noch dazu 
an einer ungünstigen Stelle zu machende 
Operation sich zu einem schweren und an 
sich möglicherweise verhängnissvollen Ein¬ 
griff gestalten. So muss der Arzt mit ver¬ 
schränkten Armen dem leider manchmal 
unheilvollen Gange der Dinge Zusehen. 
Möglich wäre es vielleicht, dass durch 
Mittel, welche die Schweisssecretion, die 
in diesen Fällen stets gänzlich darnieder¬ 
liegt, anregen, ein Nutzen geschaffen und 
eine raschere Elimination des Quecksilbers 
bewirkt werden könnte. 

Diese üblen Erfahrungen machen es 
dem Arzte zur Pflicht, bei der Anwendung 
der Calomelinjectionen mit der grössten 
Vorsicht vorzugehen und sie nur da an¬ 
zuwenden, wo sie wirklich nothwendig sind 
wegen eines schweren Symptoms, welches 
auf anderem Wege nicht oder nicht güt 
beseitigt werden kann. Die Calomel¬ 
injectionen sind eine exceptionelle Me¬ 
thode, die niemals als landläufige 
Behandlungsart der Syphilis, sondern 
nur unter ganz besonderen Umständen an¬ 
gewendet werden darf. 


Zusammenfassende Uebersicht. 

Zur Tuberkulosefrage. 

Referat von Privatdoceot Dr. F. Kl SOI per er- Berlin. 


Die Frage der Uebertragbarkeit der 
Rind er tuberkulöse auf denMenschen, 
die R. Koch in seiner bekannten Mitthei¬ 
lung auf dem Londoner Tuberkulosecön- 
gress entrollt hat, steht in so enger Be¬ 
ziehung zur praktischen Thätigkeit des 
Arztes, dass es gerechtfertigt erscheint, 
sie in allen Phasen ihrer weiteren Ent¬ 
wickelung in diesem Blatte zu verfolgen. 

Anlass, heute auf diese Frage zurück¬ 
zukommen und ihren gegenwärtigen Stand 
darzulegen, giebt die kürzlich in Berlin 
abgehaltene internationale Tuber- 
kuloseconferenz (22.—26. Oktober 1902), 
auf der Koch selbst das Wort ergriff, und 
ein im Anschluss an dieselbe gehaltener 
Vortrag von E. v. Behring. Der Stand¬ 
punkt Beider soll im Folgenden wieder¬ 
gegeben werden. 

Auf der Tuberkuloseconferenz eröffnete 
Kaiserlichen Gesund¬ 
heitsamtes, Geh. Rath Köhler, die Dis- 
cussicn mit einem ausführlichen Referate, 1 ) 
das nach kritischer Würdigung der seit 
Koch’s Mittheilung publicirten Experi- 


l ) Deutsch med. Wochenschr. 1902, No. 45. 

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mente und Beobachtungen zu dem Schlüsse 
kam: Weder die Gleichheit, noch die 
Verschiedenheit der Rinder- und 
der Menschentuberkulose, noch end¬ 
lich die Uebertragbarkeit der Rin¬ 
dertuberkulose auf den Menschen 
ist bisher abschliessend bewiesen 
oder widerlegt worden; es bedarf noch 
weiterer wissenschaftlicher Arbeit. Bezüg¬ 
lich der hygienisch - praktischen Conse- 
quenzen äusserte Köhler, dass wir von 
jeher in Deutschland die Uebertragbarkeit 
der Tuberkulose durch thierische Nahrung 
nicht für so wichtig gehalten haben, wie 
diejenige vom Menschen auf den Menschen. 
Deshalb dürfte, was bei uns an Maass¬ 
regeln zum Schutze nach dieser Richtung 
getroffen sei, auch in Zukunft, wenn auch 
vielleicht mit etwas abweichender Begrün¬ 
dung, beizubehalten sein. Insbesondere 
werde an der Abkochung der Milch vor 
dem menschlichen Genuss schon um des¬ 
willen festgehalten werden müssen, weil 
die Milch sich auch für die Erreger anderer 
Krankheiten, z. B. Typhus, Scharlach, Maul¬ 
und Klauenseuche, als ein günstiger Nähr¬ 
boden erwiesen hat; für das Fleisch tuber- 


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Januar 


Oie Therapie der Gegenwart 1903. 


27 


kulöser Thiere dagegen beständen schon 
in dem neuen Gesetze Ober die Schlacht¬ 
vieh- und Fleischbeschau vom 3. Juni 1900 
sehr maassvolle Bestimmungen, 1 ) die in 
naher Zukunft schwerlich zu ändern wären. 

Die sich anschliessende Discussion be¬ 
stätigte durch ihren Verlapf die Fest¬ 
stellung Köhler’s, dass ein Abschluss und 
eine Einigung in der Frage noch nicht er¬ 
reicht sei. Die Mehrzahl der Redner 
aber — Nocard (Paris), Hüppe (Prag), 
M. Wolff (Berlin), Bang (Chrisriania) — 
wendete sich gegen Kocli’s Anschauung 
von der Verschiedenheit der Menschen- 
und Rindertuberkulose und hielt nach wie 
vor an der Gefährlichkeit der Producte 
tuberkulöser Thiere fest, die deshalb 
streng von dem Gebrauch als Nahrungs¬ 
mittel ausgeschlossen werden müssten. 

Zur Entgegnung führte Koch Folgendes 
aus:*) Die bisher gesammelte Statistik 
über primäre Intestinaltuberkulose 
sei etwas unsicher und zu sehr mit 
Widersprüchen behaftet, als dass sie 
als ausschlaggebendes Beweismaterial ver- 
werthet werden könnte. Aus England, wo 
nach Angabe einiger Autoren diese Form 
der Tuberkulose besonders häufig sein 
soll, liegen andere Berichte vor, welche die 
primäre Intestinaltuberkulose als weniger 
häufig (Carr sah nur 5 Fälle unter 53 
tuberkulösen Kindern) oder sogar sehr 
selten bezeichnen. Auch die amerikani¬ 
schen Berichte gehen weit auseinander: 
Councilman zählt in Boston 37,1%, Bo- 
vaird in New-York nur 1,4<>/ 0 (unter 369 
tuberkulösen Kindern nur 5 mit primärer 
Intestinaltuberkulose). In Deutschland steht 
Heller (Kiel), der 37,8% primärer Darm¬ 
tuberkulose bei den Obductionen tuber¬ 
kulöser Kinder fand, vereinzelt da; alle 
anderen Autoren und auch Koch's per¬ 
sönliche Erkundigungen lassen die primäre 
Darmtuberkulose als ein recht seltenes 
Vorkommniss erscheinen. Virchow hat 
Koch einen Fall von primärer Darmtuber¬ 
kulose*) zur Verfügung gestellt und dabei 

J ) „Fleisch van Thieren, welche in Folge von 
Tuberkulose abgemagert sind, sowie Fleischtheile, 
welche durch tuberkulöse Vorgänge verändert sind, 
dürfen schon mit Rücksicht auf ihre ekelerregende 
Beschaffenheit nicht in den Verkehr gelassen werden, 
während, wenn nur ein einzelnes Organ erkrankt 
ist, das Ausschneiden desselben auf alle Fälle ge¬ 
nügen dürfte, um das Übrige Fleisch genusstauglich 
zu erhalten. 11 

*) Deutsche med. Wochenschr. 1902, No. 48. 

s ) Von diesem Falle züchtete Koch eine Rein- 
cultur von TuberkelbaciUen, die sich als vollkommen 
avirulent für das Rind erwies, ein Befund, der dafür 
spricht, dass die Infection vom Menschen, nicht vom 


ausdrücklich bemerkt, dass derartige Fälle 
in seinem Institute nicht oft, etwa drei- bis 
viermal im Jahre vorkämen. 

Aus diesen auffallenden Widersprüchen 
in den statistischen Angaben über primäre 
Intestinaltuberkulose folgert Koch, da für 
die Annahme örtlicher Gründe nicht der 
geringste Anhaltspunkt gegeben ist, „dass 
das subjective Urtheil darüber, was man 
unter primärer Darmtuberkulose zu ver¬ 
stehen habe, noch recht unsicher ist und 
dass manche die Bezeichnung noch auf 
Fälle anwenden, bei denen andere sie nicht 
gelten lassen würden.* 

Koch geht dann auf die bisher mitge- 
theilten Beobachtungen von Hautinfec- 
tionen bei Thierärzten, Fleischern und 
Schlachthofarbeitem über, die alle das 
Gemeinsame haben, dass die durch Ver¬ 
letzung der Hände oder Arme beim Zer¬ 
legen perlsüchtigen Viehs acquirirte tuber¬ 
kulöse Affection localisirt blieb und nicht 
zu einer Tuberkulose der inneren Organe 
führte, vielmehr als ein unbedeutendes, oft 
von selbst heilendes Leiden der Haut ver¬ 
lief. Nur ganz vereinzelte Fälle finden sich 
in der Litteratur, in denen es zu einer 
Allgemeininfection gekommen sein soll 
Diese Fälle aber halten der Kritik nicht 
Stand. In dem Pfeifferschen Falle eines 
Thierarztes, bei welchem sich % Jahre 
nach einer Verletzung am Finger eine im 
Verlauf von weiteren 1 Vs Jahren zum Tode 
führende Lungentuberkulose entwickelte, 
erwiesen sich bei der Obduction die 
Achseldrüsen frei von Tuberkulose, 
woraus gefolgert werden muss, das zwi¬ 
schen der Infection am Finger und der 
Lungentuberkulose ein Zusammenhang 
nicht bestand. In einem anderen Falle, 
wo in Berlin ein Thicrarzt sich ft bei der Ob¬ 
duction einer perlsüchtigen Kuh am Zeige¬ 
finger verletzt haben, in Folge dessen 
lungenkrank geworden und an Haemoptoe 
gestorben sein sollte, stellte sich bei so¬ 
fortiger Nachfrage heraus, dass der Be¬ 
treffende aus tuberkulöser Familie stammte 
und schon vor der Verletzung un¬ 
zweifelhafte Symptome von Lungentuber¬ 
kulose gezeigt hatte. Diesen spärlichen 
und mangelhaften Beobachtungen, denen 
eine Beweiskraft nicht innewohnt, stellt 
Koch das von Baumgarten mitgetheilte 

perlsüchtigen Rinde stammte. Doch muss erwähnt 
werden, das 9 M. Wolff, wie er in der voraufgehen¬ 
den Discussion mittheilte, mit Material von dem¬ 
selben Falle Perlsucht bei einem Rinde er¬ 
zeugte. Koch behält sich die Erörterung der 
Gründe dieser widersprechenden Resultate für ein¬ 
andere Gelegenheit vor. 


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26 


Januar 


Die Tht-mp e der 


Experiment 1 ) der subcjtanen Injection von 
Perlsuchtbacillen bei Krebskranken ent¬ 
gegen, welches nur die eine Deutung zu¬ 
lässt, dass die betreffende Perlsuchtcultur ] 
bei subcutaner Injection keine Virulenz für 
den Menschen besessen hat. 

Den Beobachtungen über primäre Inte¬ 
stinaltuberkulose und über local bleibende 
Hautinfectionen aber schreibt Koch für 
die Entscheidung der Frage von der Ueber- 
tragbarkeit der Rindertuberkulose auf den 
Menschen überhaupt keine so grosse Be¬ 
deutung zu — er hält sie nur für in- 
directe Beweise: bei der primären ln- 
testinaltuberkulose bleibt immer noch die 
Frage zu entscheiden, ob sie auch wirk¬ 
lich durch Perlsucht bedingt ist und nicht 
vielmehr durch menschliche Tuberkulose, 
mit welcher wir doch wegen ihrer ausser¬ 
ordentlichen Verbreitung in jedem ein¬ 
zelnen Falle zu rechnen haben; das Vor¬ 
kommen localer Perlsuchtinfection nach 
Verletzung der äusseren Haut andererseits 
beweist noch keineswegs, dass die Perl¬ 
suchtbacillen nun auch im Stande sind, 
die unverletzte Darmschleimhaut zu infi- 
ciren oder, wenn sie dieselbe spurlos zu 
passiren vermögen, die Mesenterialdrüsen 
tuberkulös zu machen und von ihnen aus 
eine Allgemeininfection zu erzeugen. 

Wichtiger wäre der directe Beweis, 
welcher nach Koch’s Meinung der Be¬ 
obachtung nicht entgehen könnte, wenn die 
tuberkulöse Infection durch den Genuss 
von perlsüchtigem Fleisch und Milch in 
Wirklichkeit so häufig vorkäme, wie be¬ 
hauptet wird, d. i. das Vorkommen von 
Gruppen- und Massenerkrankungen, 
wie sie bei anderen Infectionskrankheiten, 
welche durch den Genuss von Fleisch und 
Milch auf den Menschen Übertragen 
werden — bei den sogenannten Fleisch¬ 
vergiftungen, ferner bei den Erkrankungen 
in Folge des Genusses von Fleisch milz¬ 
brandkranker Thiere, auch bei der Ueber- 
tragung von Typhus durch die Milch — 
längst bekannt sind. Bei der Tuberkulose 
liegen die Verhältnisse insofern freilich an¬ 
derswie bei den angeführten Infectionskrank¬ 
heiten, als die Inkubationsfrist der Tuber¬ 
kulose eine erheblich längere ist und die 
Erkrankungen darum zeitlich nicht so zu¬ 
sammengedrängt zu erscheinen brauchten, 
wie z. B. beim Typhus. Andererseits 
würde die Tuberkuloseinfection wieder da¬ 
durch begünstigt, dass die Ingestion der 
Tuberkelbacillen sich bei denjenigen Men¬ 
schen, welche auf den Genuss von perl¬ 
süchtigen Nahrungsmitteln angewiesen sind, 
Vergl. diese Zeitschr. 1901, S. 445. 

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Gegenwart 1903. 


vielfach wiederholt und über einen länge¬ 
ren Zeitraum erstreckt, wodurch die Wahr¬ 
scheinlichkeit für das Zustandekommen der 
] Infection wesentlich erhöht wird. 

Koch sieht nun die Litteratur nach 
Mittheilungen über derartige Gruppen¬ 
oder Massenerkrankungen nach Genuss 
tuberkulöser Nahrungsmittel durch und es 
ergiebt sich bezüglich des perlsüchtigen 
Fleisches ein vollkommen negatives 
Resultat: Trotzdem „tagtäglich ungezählte 
Mengen tuberkulöser Organe in den Ver¬ 
kehr kommen und verzehrt werden* 
(Ostertag), findet sich doch in der gan¬ 
zen Litteratur keine einzige Beobachtung 
von Gruppen- oder Massenerkrankung in 
Folge von Genuss perlsüchtigen Fleisches, 
ja nicht einmal eine Einzelerkrankung ist 
beschrieben worden; es fehlt also voll¬ 
ständig an Berichten über Gesundheits¬ 
schädigungen durch perlsüchtiges Fleisch. 
Dagegen liegen mehrfache Mittheilungen 
vor, die das Gegentheii beweisen; man 
fand bei einer nach dieser Richtung ange- 
stellten Sammelforschung viele Familien, 
ja ganze Dörfer, welche gewohnheits- 
mässig perlsüchtiges Fleisch verzehrten, 
ohne dass die Tuberkulose in ihnen häu¬ 
figer vorkam, als anderswo. In Folge 
dessen herrscht denn auch in Bezug aut 
die Gefährlichkeit des perlsüchtigen Flei¬ 
sches unter den Autoren eine sehr milde 
Auflassung, die auch die Gesetzgebung 
sich zu eigen gemacht hat (s. oben). 

Es erscheint Koch als ein unlösbarer 
Widerspruch, dass neuerdings der Milch 
tuberkulöser Thiere gegenüber eine erheb¬ 
lich schärfere Auffassung Platz gegriffen 
hat, da doch die Perlsuchtbacillen im 
Fleische unzweifelhaft identisch sind mit 
den in der Milch vorkommenden. 

Bei der Verbreitung der Eutertuberkulose 
unter den Kühen ist das Vorkommen von 
Tuberkelbacillen in der Milch 1 ) und in der 
Butter („welche erwiesenermaassen sehr 
häufig lebende Perlsuchtbacillen enthält*) 
ein so häufiges, dass Koch sich zu der 
Behauptung berechtigt glaubt, „dass wohl 
fast alle Menschen im Laufe ihres Lebens 
mehr oder weniger oft und auch in nicht 
so sehr geringen Mengen lebende Perlsucht¬ 
bacillen genossen haben.* 

Und dem gegenüber findet Koch in der 
gesammten Litteratur nur 2 Gruppen¬ 
erkrankungen und 28 Einzelerkran- 

l ) Koch betont, dass einfaches kurzes Aufkochen 
der Milch in GefAssen mit weiter Oeffnung die Tu- 
berkelbacilien nicht abtötet, hierzu vielmehr ein gleich- 
missiges Sieden während mehrerer Minuten erforder¬ 
lich ist (Beck). 

Original fro-m 

UNIVERSITf 0F CALIFORNIA 



Joftttar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


27 


kungen, die auf den Genuss von Perl- 
suchtmilch zurückgeführt werden. Die 
beiden Gruppenerkrankungen sind von 
Ollivier und Hüls mitgetheilt. In Olli- 
vier's Fall (Acad. de Mddecine, 24. Febr. 
189!) erkrankten 13 Schülerinnen eines 
Madchenpensionats, in dessen Stallung seit 
Jahren eine mit Eutertuberkulose behaftete 
Kuh gehalten wurde, im Laufe von wenigen 
Jahren an Tuberkulose und 6 starben. 
Ollivier selbst aber hat später mitgetheilt, 
dass die Milch der fraglichen Kuh nicht 
von den Pensionärinnen getrunken wurde, j 
sondern nur von dem Unterrichtsperbonal j 
und den Dienstboten der Anstalt — unter 
diesen aber erkrankte kein Einziger. Da¬ 
mit scheidet natürlich Ollivier’s Fall aus. 
Hüls* Beobachtung (Münch, med. Woch. 
1902) betrifft eine Müllerfamilie von 9 Per¬ 
sonen, welche angeblich jahrelang Milch, 
Butter und Fleisch von tuberkulösen Thieren 
genossen hatte und sonst keine Gelegen¬ 
heit zur Icfection gehabt haben soll. Sieben 
Mitglieder dieser Familie starben an 
Schwindsucht. Die Reihenfolge der Er¬ 
krankungen aber (zuerst erkrankte die 
Mutter, im folgenden Jahre das jüngste 
Kind u. s. f.), ihre zeitliche Ausdehnung 
über 4 —5 Jahre (bei Entstehung aus ge¬ 
meinsamer Nahrungsmitteiinfection hätten 
die Erkrankungen nach Koch im Laufe 
eines halben Jahres oder höchstens eines 
Jahres erfolgen müssen) lässt Koch die 
Ueberzeugung gewinnen, dass es sich hier, 
wie so oft, um eine fortlaufende Kette 
von Contactinfectionen gehandelt hat. 

Die 28 Fälle von Einzelinfectionen, denen 
Koch sich danach zuwendet, halten seiner 
Kritik erst recht nicht Stand. Wir können 
auf diese Fälle und die Ausstellungen, die 
Koch bezüglich ihrer Zuverlässigkeit macht, 
hier nicht näher eingehen und begnügen 
uns, die Forderungen wiederzugeben, die 
Koch aufstellt, damit „an Stelle des jetzt 
vorliegenden, völlig unbrauchbaren Ma¬ 
terials zuverlässige Beobachtungen ge¬ 
sammelt werden". Ein Fall von angeblicher 
Infection nach Genuss von Perlsuchtmilch 
soll, um beweisend zu sein, folgende Be¬ 
dingungen erfüllen: 1. muss der sichere 
Nachweis der Tuberkulose überhaupt, wo¬ 
möglich auch des Ausgangspunktes der¬ 
selben geliefert werden (Obduction); 

2 . müssen andere Infectionsquellen mit 
Sicherheit ausgeschlossen werden; 3. ist 
das Verhalten der übrigen Personen, welche 
dieselbe Milch getrunken haben, zu berück¬ 
sichtigen; und 4. ist auf die Herkunft der 
Milch zu achten (Nachweis der Euter¬ 
tuberkulose). 

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Diesen Anforderungen genügt keiner 
der bisher mitgetheilten Fälle und deshalb 
kommt Koch zu dem Schlüsse, dass bis¬ 
her die schädliche Wirkung der Perl¬ 
suchtmilch und ihrer Producte nicht 
erwiesen ist. 

Maassregeln in Bezug auf Perlsucht¬ 
fleisch und Perlsuchtmilch, welche zur Be¬ 
kämpfung der menschlichen Tuberkulose 
dienen sollen, lassen sich daher nachKoch’s 
Ansicht zur Zeit nicht begründen und er 
räth, statt Mittel für etwas auszugeben, was 
noch garnicht bewiesen ist, sie vielmehr 
für solche Maassregeln zu verwenden, 
welche mit Sicherheit eine Abnahme der 
menschlichen Tuberkulose zur Folge haben 
müssen. Das ist in erster Linie die Sorge 
für diejenigen Phthisiker, welche 
eine beständige Gefahr für ihre Um¬ 
gebung bilden. Es sind dies ersichtlich 
nicht so sehr diejenigen Fälle, welche die 
Verfechter der Heilstättentherapie, so wie 
dieselbe sich in den letzten Jahren entwickelt 
hat, ins Auge fassen, als vielmehr die vor¬ 
geschritteneren Fälle. Für diese soll 
durch Schaffung günstigerer Verhältnisse 
z. B. in Bezug auf Wohnung oder durch 
Unterbringung in geeigneten Anstalten ge¬ 
sorgt werden. Koch schliesst mit dem 
dringenden Rath, diese Aufgabe in Zu¬ 
kunft mehr in den Vordergrund der Tuber¬ 
kulosebekämpfung zu stellen, als es bisher 
geschehen ist 

* * 

* 

Diese Mahnung, die Koch in seinem 
Londoner Vortrag bereits ausgesprochen 
hat, verdient die ernsteste Beachtung. In 
dem neuerdings mehrfach hervorgetretenen 
Bestreben, die Zweckmässigkeit und die 
Erfolge der modernen Heilstättenbewe¬ 
gung einer kritischen Prüfung zu unter¬ 
ziehen (vgl. Th. d. Geg. 1902, S. 500), 
scheint sie auch bereits eine erfreuliche 
Wirkung zu äussern. Die Forderungen 
aber, die Koch an einen Fall stellt, damit 
er für die Uebertragbarkeit der Tuber¬ 
kulose vom Rind auf den Menschen als 
beweisend angesehen werden könne, sind 
kaum im ganzen Umfange zu erfüllen. Ein 
sicherer Ausschluss aller anderen Infections¬ 
quellen ist wohl so gut wie unmöglich und 
auch das Verhalten der übrigen Personen, 
die von demselben tuberkulös inficirten 
Nahrungsmittel genossen haben, kann nicht 
als entscheidend in Betracht kommen. Es 
steht ja nicht in Frage, dass Perlsuchtmilch 
beispielsweise alle Personen, die sie ge¬ 
messen, inficiren muss, sondern nur, ob 
sie die eine oder andere von ihnen inficiren 

Üri^tral frem 

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28 


Januar 


Die Therapie der 


kann. E. v. Behring, der in einem un¬ 
mittelbar nach der Tuberkuloseconferenz 
(am 1. November 1902 auf der 37. General¬ 
versammlung des Vereins Kurhessischer 
Thierärzte) gehaltenen Vortrage x ) zu K o c h ’s 
Ausführungen Stellung nimmt sagt darüber: 
„Nun stelle man einmal ähnliche Forderun¬ 
gen auf für den Beweis, dass ein Mensch 
tuberkulös geworden ist durch die Ein- 
athmung von tuberkelhaltigem Staub, oder 
von Flügge’schen Tröpfchen, oder durch 
die Infection mit tuberkelhaltigem Nagel¬ 
schmutz! Ist doch Jahrhunderte und Jahr¬ 
tausende lang die Uebertragbarkeit der 
Tuberkulose von Mensch zu Mensch über¬ 
haupt geleugnet worden, und die gegen¬ 
wärtig geltenden Lehren über die Art der 
epidemiologischen Uebertragung sind wohl 
auch mehr Glaubens- als Wissenssache!“ 

Behring hält an der Artgleichheit 
der Rinder- und der Menschentuberkel¬ 
bacillen und an der Infectiosität der Rinder¬ 
tuberkelbacillen für den Menschen fest. 
Seine neuesten, hochinteressanten For¬ 
schungsergebnisse über die Hühner¬ 
tuberkelbacillen geben ihm eine wei¬ 
tere Stütze für diese Anschauung. 

Die Hühnertuberkelbacillen zeigen 
nicht unwesentliche Verschiedenheiten von 
den Säugethiertuberkelbacillen und lassen 
sich durch ihr morphologisches wie cultu- 
relles Verhalten unschwer von diesen 
trennen. Sie wurden deshalb — mit 
.wenigen Ausnahmen (Nocard) — bisher 
ziemlich allgemein für eine stabile Son¬ 
derart gehalten. Behring erweist nun 
ihre Artgleichheit mit den Rindertuberkel¬ 
bacillen. Er erhielt 2 schwerkranke 
Hühner von einem Waldgut nahe bei Mar¬ 
burg, auf welchem vor etwas über 2 Jahren 
ca. 40 Hühner von einem ausgeschlachteten, 
auf dem Gutshof liegengebliebenen stark 
tuberkulösen Rinde die Eingeweide ge¬ 
fressen hatten. 3 Monate später wurden 
einige Hühner krank und starben, bald 
häuften sich die Todesfälle und schliesslich 
blieben nur die zwei Hühner übrig, die 
Behring übergeben wurden und von 
denen (die Section ergab Tuberkulose) 
seine Hühnertuberkelbacillencultur stammt 
Diese hatte morphologisch und culturell 
alle Charaktere der Hühnertuberkelbacillen, 
aber während Hühnertuberkelbacillen sonst 
für Säugethiere nur wenig virulent sind, 
zeigten die von den 2 Hühnern stammen¬ 
den Culturen für Meerschweine, Kaninohen 
und Rinder annähernd die krank- 

‘) Berliner ThierArztliche Wochenschrift. 1902. 

47, 

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Gegenwart 1903. 


machende Energie von Rindertuberkel¬ 
bacillen. Vollends erwiesen aber wurde 
die phylogenetische Zusammengehörigkeit 
dieser Hühnertuberkelbacillen mit den Er¬ 
regern der Rindertuberkulose, welche 
durch die Vorgeschichte derselben bereits 
sehr wahrscheinlich war, durch die weiter 
von Behring ermittelte Thatsache, 
dass „gegen Rindertuberkelbacillen 
immun gewordene Rinder auch 
gegen die Hühnertuberkelbacillen 
Immunität erlangt haben und umge¬ 
kehrt*. 

Es scheint, als ob an diese Feststellung 
v. Behring’s sich wichtige Consequenzen 
für seine grossartigen ;Immunisirungspläne 
zur Bekämpfung der Rindertuberkulose, 
über die wir neulich berichtet haben (1902 
S. 261), knüpfen sollten. Behring sagt, 
dass er „den Eindruck gewonnen habe, 
dass es leichter ist, mit den besser 
resorptionsfähigen Hühnertuberkelbacillen 
zu iromunisiren, als wie mit den Bacillen, 
die vom Menschen oder vom Rinde 
selbst abstammen“. 

Hühnertuberkelbacillen und Rinder- 
tuberkelbacillen sind also artgleich und 
Behring hält es für höchstwahrscheinlich, 
dass die Hühner, wie vom Rinde, so auch 
vom Menschen» z. B. durch Fressen tuber¬ 
kulöser Sputa, tuberkulös werden können. 

In gleicher Weise sind auch Menschen¬ 
tuberkelbacillen und Rindertuberkelbacillen 
phylogenetisch zusammengehörig, artgleich. 
Morphologisch und culturell sind beide 
nicht zu unterscheiden — stehen sich also 
erheblich näher, als z. B. Rindertuberkel¬ 
bacillen und Hühnertuberkelbacillen, ja 
sogar als Menschentuberkelbacillen und 
Arloingtuberkelbacillen, die doch nur durch 
eine besondere Behandlung abgeschwächte 
Menschentuberkelbacillen sind — und die 
verschiedene Virulenz, die allein sie unter¬ 
scheidet, ist eine veränderliche. Behring 
findet, „dass es vom Menschen her¬ 
stammende Culturstämme giebt, die eine 
sehr geringe krankmachende Energie für 
Rinder besitzen, und andere, welche ebenso 
oder noch mehr virulent sind für Rinder, 
als manche vom Rinde stammende Tuberkel- 
bacillen“; und er findet weiter, „dass die 
Rindertuberkelbacillen ganz im All¬ 
gemeinen eine höhere Virulenzstufe 
der Tuberkelbacillen repräsentiren, 
und dass sie auch für den Menschen, 
ceteris paribus, schädlicher sind als 
Menschentuberkelbacillen (von Men¬ 
schen stammende Tuberkelbacillen)". 

Trotzdem freilich ist der tuberkulöse 
Mensch dem Menschen gefährlicher, als das 

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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


20 


tuberkulöse Rind, aber nur, weil die Ge¬ 
legenheit zur Infection des Menschen mit 
Rindertuberkulose nur unter besonderen 
Umstanden gegeben ist 

Dem Einwand Koch’s, dass bei der so 
grossen Verbreitung der Rindertuberkulose 
die Darmtuberkulose des Menschen, wenn 
sie von inficirtem Fleisch, von Milch und 
Butter ihren Ursprung nehmen könnte, sehr 
viel häufiger gefunden werden müsste, stellt 
Behring den Hinweis entgegen, dass die 
Darmtuberkulose bei erwachsenen Men¬ 
schen überhaupt relativ selten vorkommt, 
selten auch im Vergleich zu der enormen 
Zahl Lungentuberkulöser, die doch zweifel¬ 
los immerfort mit dem Speichel ihren In- 
testinaltractus zu inficiren Gelegenheit 
haben! 

Für die Infection kommt eben ausser 
der Virulenz und der Dosirung des Infec- 
tionserregers und ausser der Infections- 
pforte noch ein sehr Wesentliches in Be¬ 
tracht, das ist der physiologische Zustand 
des infectionsbedrohten Individuums. 

Für ausserordentlich wichtig nach dieser 
Richtung hält Behring die durch Unter¬ 
suchungen von Prof. Disse festgestellte 
Thatsache, dass die Darmschleimhaut des 
Neugeborenen der continuirlichen Schleim¬ 
zone der Epithelzellen und der stärkeren 
Schleimsccretion. welche die Intestinal¬ 
schleimhaut des Erwachsenen besitzt, noch 
entbehrt Die Darmschleimhaut des neu¬ 
geborenen Pferdes, constatirte Behring, 


ist für viele Dinge durchgängig, die schon 
3 Wochen nach der Geburt nur noch nach 
Verletzung der Schleimhaut resorbirt 
werden können. 

Für die Frage nach der Infectiosität 
tuberkelhaltiger Nahrungsmittel bei sto- 
machaler Einführung zieht Behring aus 
diesen Befunden folgende Nutzanwendung: 
„Erwachsene Individuen besitzen im Nor¬ 
malzustand vermöge ihrer die innere In¬ 
testinaloberfläche bedeckenden Schleim¬ 
zellenschicht und vermöge der Schleim- 
zellenthätigkeit einen Schutzwall gegen das 
Eindringen der Tuberkelbacillen. Neu¬ 
geborene aber und ganz junge Individuen 
sind der Infectionsgefahr in hohem Grade 
ausgesetzt, wenn sie beispielsweise mit 
tuberkelhaltiger Milch ernährt werden. Das 
gilt für den Menschen, wie für das 
Rind.“ 

So löst Behring den vermeintlichen 
Widerspruch, den Koch rügt (s. oben), dass 
der Perlsuchtmilch gegenüber eine schärfere 
Auffassung stattfindet, als dem Perlsucht- 
fleisch: In dem von tuberkulösen Rindern 
stammendem Fleisch und in tuberkel¬ 
haltiger Butter sieht er keine grosse Ge¬ 
fahr, weil sie Nahrungsmittel für Er¬ 
wachsene sind. Für um so grösser aber 
hält er die Gefahr, welche den Säug¬ 
lingen nach Genuss von tuberkel¬ 
haltiger Milch droht, mögen die Tu¬ 
berkelbacillen vom Menschen oder 
vom Rinde herstammen. — 


Therapeutisches aus Vereinen und Congressen. 

Aus der Pariser Sociötl de th6rapeutique. 


Die Aetiologie des in ziemlich breiten 
Grenzen variirenden, unter dem Namen 
der Li ttle’ sehen Krankheit bekannten 
Symptomencomplexes, ist noch nicht ge¬ 
nügend aufgeklärt Einige Autoren be¬ 
kennen sich jedoch zur Meinung, dass die 
genannte Erkrankung syphilitischer resp. 
parasyphilitischer Natur (im Sinne Four- 
nier’s) ist. Einen Beitrag zu dieser Ansicht 
lieferte, in der Sitzung vom 22. October 
der Socidtd de therapeutique, P. Gallois, 
der ein vierjähriges mit der Little’sehen 
Krankheit behaftetes und durch eine interne 
Quecksilberbehandlung sehr rasch und be¬ 
deutend gebessertes Mädchen vorstellte. 
Die Kleine stammt aus einer neuropathi- 
schen Familie und wurde vorzeitig, im 
siebenten Monate der Schwangerschaft, 
geboren. Der Vater ist ein gewohnbeits- 
mässiger Trinker, jedoch weder bei ihm, 
noch bei seiner Frau konnte etwas Positives 

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in Bezug auf Syphilis festgestellt werden. 

Als vor einigen Monaten Gallois das 
Kind zum ersten Male sah, konnte dasselbe 
weder gehen noch stehen, hatte einen 
blöden Gesichtsausdruck, sprach nur wenig 
und wies einen convergirenden Strabismus 
auf. Die Untersuchung ergab, dass die 
Bewegungsstörungen hier nicht auf Para¬ 
lysen beruhten, sondern durch spastische 
Muskelkontraktionen, wie es bei derLittle- 
schen Krankheit der Fall ist, bedingt waren. 

In Anbetracht der Frühgeburt des Mäd¬ 
chens und trotz Mangel anderer Anhalts¬ 
punkte, entschied sich Gallois für eine 
antisyphilitische Therapie. Er Hess das Kind 
20 Tropfen Liq. van Swieteni (1 g Sublimat, 

100 Spiritus, 899 aq. dest.) pro die nehmen. 
Das Resultat war frappirend: schon nach 
elftägiger Behandlung war das Mädchen im 
Stande, ohne Beihülfe zu gehen. Zwei 
Wochen später war der blödsinnige Ge- 

Qriginal from 

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30 


Die Therapie der Gegenwart 19C3 


Januar 


sichtsausdruck geschwunden; das Kind 
wurde munter, spielte fortwährend und 
sprach verhältnissmässig viel. Es wurde mit 
der Dosis des Liq. van Swieteni langsam 
bis zu 60 Tropfen pro die (3 mg Sublimat) 
gestiegen. Die Besserung schreitet fort, 
aber langsamer als froher. Der Stra¬ 
bismus blieb aber bis jetzt unverändert. — 
Da die Kinder den internen Gebrauch des 
Sublimat in Form von Liq. van Swieteni 
bekanntlich gut vertragen, kann die inter¬ 
essante Beobachtung Gallois’ zu weiteren 
Versuchen der specifischen Behandlung 
der Little’schen Krankheit nur ermu- 
thigen. Für die syphilitische Natur der 
spastischen Diplegien der Kinder bringt 
sie jedoch keinen direkten Beweis, da das 
Quecksilber eine auflösende Wirkung 
auch auf nicht-syphilitische Produkte, wie 
bekannt, entfalten kann. Wenn aber in 
dem von Gallois beschriebenen Falle die 
Krankheit wirklich syphilitischer Natur 
wäre, so würde hier das therapeutische 
Resultat im Widerspruch mit der Lehre 
Fournier's stehen, nach welcher para¬ 
syphilitische Erkrankungen — zu denen 
auch der Little’sche Symptomenkomplex 
zu rechnen ist — der merkuriellen Be¬ 
handlung widerstehen. Gegen diese Lehre 
wird in der letzten Zeit von den jüngeren 
französischen Syphilidologen, besonders 
von Leredde, ein lebhafter Kampf ge¬ 
führt. Für Leredde ist die Parasyphilis 
nichts anders als Syphilis und muss wie 
diese behandelt werden. 

In der Sitzung vom 26. November wurde 
eine Mittheilung von Schoull (einem in 
Tunis prakticirenden französischen Arzte) 
über einige neue durch das rothe Licht be¬ 
handelte Fälle von Scharlach vorgelesen. 
In dem ersten dieser Fälle wurde der Kranke 
gleich nach dem Erscheinen des Ausschlages 
in das „rothe Zimmer*' gebracht, wo er 
fünf Tage lang verblieb. Hier verlief der 
Scharlach (es handelte sich um eine leichte 
Form) ohne jede Complication, ohne jede 
Albuminurie. Nach fünf Tagen verschwand 
der Ausschlag gänzlich und keine Ab¬ 
schuppung kam zu Stande. In der zweiten 
Beobachtung hatte man es mit einem un¬ 
bändigen Knaben zu thun, welchen die 
Eltern nicht länger wie 2 Tage im rothen 
Zimmer halten konnten, weswegen hier die 
Abschuppung nicht vermieden wurde. Der 
dritte Knabe wurde in das rothe Zimmer 
erst am dritten Tag nach Erscheinen des 
Ausschlages gebracht. Wahrscheinlich 
wegen einer so späten Anwendung der 
Lichttherapie und trotz eines viertägigen 
Verbleibens im rothen Zimmer entstand 

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hier eine leichte Abschuppung, die am 
Bauche einen kleienartigen Charakter be¬ 
hielt; nur an anderen Stellen lösten sich 
etwas grössere Epidermisfetzen ab. Be¬ 
sonders prägnant war die günstige Wirkung 
der Lichttherapie beim vierten Patienten, 
einem zehnjährigen Knaben, welcher vom 
ersten Krankheitstage an 6 volle Tage 
unter dem Einfluss der rothen Strahlen 
verblieb. In diesem Falle fehlte die Ab¬ 
schuppung vollkommen. 

Was die Art der Anwendung der rothen 
Strahlen betrifft, so ist sie eine recht ein¬ 
fache, da es leicht ist, jedes Krankenzimmer 
in eine rothe Kammer zu verwandeln. 
Dazu genügt es, Thüre und Fenster mit 
rothen Tüchern zu verhängen. Die Vor¬ 
hänge aber soll man so anbringen, dass 
sie das Lüften des Gemaches nicht ver¬ 
hindern. Die Thüren müssen von innen 
und auch von aussen mit rothen Vorhängen 
versehen werden, damit bei ihrem Oeffnen 
das Tageslicht ins Zimmer nicht eindringen 
könnte. Lampen müssen mit rothen 
Schirmen versehen sein. Stearinkerzen 
können aber ohne solche angezündet 
werden. Patient soll unter keinem Vorwand 
das rothe Zimmer auch momentan ver¬ 
lassen; er verbleibt darin bis zum völligen 
Verschwinden des Scharlachausschlages. 
Kurz, man soll streng nach den von Finsen 
für die Behandlung der Pocken mit rothem 
Lichte aufgestellten Principien Vorgehen. 

Es ist leicht einzusehen, welch grosse 
Bedeutung die Lichttherapie bei dem 
Scharlach gewinnen könnte, wenn sie sich 
bei den meisten Fällen dieser Krankheit 
einigermaassen bewährte. Schon die Ab¬ 
wesenheit der Abschuppung würde die An¬ 
steckungsgefahr bei dieser Krankeit erheb¬ 
lich verringern. 

Einen interessanten Beitrag zur Frage 
über Ansteckungsfähigkeit der epider- 
moidalen Abfälle Scharlachkranker und über 
die Dauer der Incubation bei der Scarlatina 
lieferte folgendes von Schoull mitgetheiltes 
Factum. Ein Postpacket mit Büchern, von 
einer Familie stammend, wo 13 Monate 
vorher zwei Kinder an Scharlach laborirten, 
wurde von Tunis nach Tripolis geschickt. 
Zur Zeit war in dieser letzten Stadt kein 
einziger Scharlachfall vorhanden. Das 
Packet wurde morgens früh, gegen 8—9 
Uhr, in der Nähe eines gänzlich gesunden 
kleinen Knaben, der noch im Bette lag, 
geöffnet, und seine papierne Bedeckung 
blieb eine halbe Stunde lang am Fusse 
des Bettes liegen. Am selben Tage, gegen 
5 Uhr Nachmittags, fing das Kind zu 
frösteln an und musste sich legen. Am 

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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


anderen Morgen bekam es Kopfweh mit 
hohem Fieber, Delirien und Angina; 
einige Stunden später erschien ein charak¬ 
teristischer Scharlachausschlag. Der Schar¬ 
lach nahm in diesem Falle einen schweren 
Verlauf mit Complicationen seitens der 
Nieren, der Lungen und der Gelenke. 
Wenn der Knabe wirklich, wie es scheint, 
durch in die Bücher gelangte Hautschuppen 
Scharlachkranker angesteckt worden war, 
so würde daraus folgen, dass diese 
Schuppen ihre Ansteckungsfähigkeit drei¬ 
zehn Monate lang bewahrten und dass die 
Incubation bei dem durch sie inficirten 
Knaben nur acht bis neun Stunden ge¬ 
dauert hatte. 

ln den änderen Pariser gelehrten medi- 
cinischen Gesellschaften findet man in der 
letzten Zeit wenig Nennenswerthes in Bezug 
auf therapeutische Neuigkeiten. Folgendes 
mag jedoch erwähnt sein. Erstens, die von 
Gassaet in der Sitzung vom 8. November 
der Soci£t£ de biologie angegebenen Er¬ 


folge der Behandlung des Pruritus und der 
Urticaria, hauptsächlich der nach Ein¬ 
spritzung von Diphtherieheilserum ent¬ 
stehenden, durch innerliche Anwendung 
eines aus Lebersaft gewonnenen Extraktes. 
Ferner die von Souques in der Sitzung 
vom 14. November der Soci£td raödicale 
des höpitaux mitgetheilten günstigen Re¬ 
sultate subcutaner Einspritzungen von 
0,0005 Adrenalin (0,5 ccm einer Losung 
von 1 : 1000) zur Bekämpfung der Hämoptoe 
bei Phthisikern. Endlich die durch Marie 
und Crouzon in der Sitzung vom 
12. December derselben Gesellschaft ge¬ 
brachte Bestätigung der schmerzstillenden 
Wirkung, welche bei Neuralgien durch das 
Einblasen filtrirter Luft in der Nähe der affi- 
cirten Nerven eintritt (nach dem bereits be¬ 
kannten Verfahren der Lyoner Kliniker 
Cordier und Vigne, das sich freilich nach 
einer in dieser Zeitschrift gemachten Mit¬ 
theilung von Hester (Freiberg) nicht be¬ 
währt hat). W. v. Holstein (Paris). 


Bücherbesprechungen. 


Hermann V. Helmholtz. Von Leo Kö¬ 
nigsberger. 1. Band. 375 Seiten mit 
3 Bildnissen. Verlag von Fr. Vieweg & 
Sohn. Braunschweig 1902. (8 Mark). 

Die gross angelegte, ausgezeichnete 
Helmholtz -Biographie des Heidelberger 
Mathematikers L. Königsberger, deren 
1. Band kürzlich erschien, hat in der gan¬ 
zen gebildeten Welt Aufsehen erregt und 
Beifall gefunden. Auch in diesem Blatte 
darf ihrer wohl Erwähnung geschehen: 
Haben an dem grossen Naturforscher und 
Denker, dessen Denkmal als schönster 
Schmuck und als stolzes Wahrzeichen den 
Eingang zur ersten deutschen Hochschule 
ziert, wir Aerzte doch ein besonderes An¬ 
recht, da er selbst als Arzt seine Laufbahn 
begann und bis zur Höhe seines Lebens 
medicinischen Fac ul täten angehörte. Frei¬ 
lich sein Genius führte ihn bald über die 
Grenzen der Anatomie und Physiologie, 
die in Königsberg, Bonn und Heidelberg 
sein Lehrfach bildeten, hinaus in die tief¬ 
sten Probleme der Physik, Mathematik, 
Philosophie. Aber was er auf anatomisch- 
physiologischem Gebiete, speciell in der 
physiologischen Optik und Akustik, ge¬ 
schaffen, ist unvergänglich und den Aerzten 
gab er eine seiner schönsten Entdeckungen, 
ein königliches Geschenk, den Augenspiegel! 

Königsberger analysirt eingehend 
jede einzelne der erstaunlich zahlreichen 
Arbeiten von Helmholtz und führt den 
Leser so in das Verständniss seiner wissen- 

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schaftlichen Entwickelung und Bedeutung 
ein. Daneben giebt er — soviel als mög¬ 
lich in Briefen von und an Helmholtz 
— ein Bild seiner menschlichen Persön¬ 
lichkeit und seines äusseren Lebens. Die 
überaus gelungene Durchflechtung dieser 
beiden Theile giebt dem ganzen Werke 
einen ausserordentlichen Reiz und macht 
seine Lektüre leicht und angenehm. 

Von besonderer Anmuth ist die Schil¬ 
derung der Jugend- und Jünglingsjahre. 
Rührend ist das Bild der Mutter, die dem 
30jährigen Professor schreibt: „Gerade 
mein erstes Kind, Du nämlich, mein Wun¬ 
derkind, wie ich Dich von Deiner Geburt 
an nannte, wurde von allen unschön ge¬ 
funden; mich beunruhigte aber das alles 
nicht, ich bewunderte mein Kind, es lächelte 
mich, wie es die Augen öffnete, an, ich 
sah nichts als Geist und Verstand". Und 
köstlich ist das Verhältniss zum Vater, der 
aus der alten philosophischen Schule her- 
vorgegangen der Richtung des Sohnes an¬ 
fangs ablehnend gegenübersteht, dann 
neidlos von dem grösseren Sohne lernend 
ihm mehr und mehr sich nähert, wenn 
auch ein Rest von Fremdheit zurückbleibt. 
Aber die Differenz in der Lebensanschau¬ 
ung beider wird glänzend überbrückt durch 
die stolze Liebe des Vaters, der nur für 
den Sohn Wünsche hegt: dass er ein 
reicher Prophet der Wahrheit, ein Mehrer 
der Erkenntniss werde, dass er als ein Eck¬ 
pfeiler für die ewige Menschheit für ewig 

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32 


Pie Therapie der 


auch auf Erden lebe; „dann tröste ich mich 
gern, dass mein Leben so resultatlos vor¬ 
übergegangen ist“ — und durch die herz¬ 
liche Pietät des Sohnes, der (um ein Bei¬ 
spiel anzuführen) dem Vater, als dieser 
dem bereits weltberühmten Sohne 1851 
gelegentlich der Correspondenz über ein 
Buch des jüngeren Fichte schreibt; „Was 
nun aber das betrifft, was Du über Philo¬ 
sophie schreibst, so urtheilst Du doch wohl 
ohne gründliche Ueberlegung . . . be¬ 
scheiden antwortet: „Der Gesichtspunkt, 
von welchem aus Du das Fichte sehe Buch 
betrachtest, ist mir sehr interessant, ich 
habe diese Betrachtungsweise allerdings 
nicht an das Buch angelegt. Mit den 
Grundsätzen über das Philosophiren, die 
Du dabei aussprichst, stimme ich ganz 
überein, und wenn ich das Buch auch nur 
als einen etwas gelungenen Versuch be¬ 
trachten darf, diese Grundsätze durchzu¬ 
führen, so will ich es mir gelegentlich, wenn 
ich Zeit finde, wieder vornehmen“. 

Wir dürfen auf Einzelheiten hier nicht 
eingehen und können nur kurz hindeuten 
auf die anmuthige Erscheinung der ersten 
Gattin, der Helmholtz, als sie nach zehn¬ 
jähriger Ehe an Phthise stirbt, nachruft: 
„Ich habe das reichste und schönste Glück 
genossen, welches die Ehe bieten kann; 
es war für diese Erde zu schön“. 

Von hohem Interesse für uns Aerzte 
sind auch die Lernjahre auf der Pepiniere, 
die Gestalten der Freunde, unter denen 
Du Bois-Reymond den ersten Platz ein¬ 
nimmt, das eigenartige Licht, das auf die 
damaligen Facultäts- und Berufungsverhält- 
nisse fällt u. v. a. m. 

Der gewaltige Reichthum von Helm¬ 
holtz' Geist und Leben spiegelt sich in 
dem Reichthum dieses Buches wieder. 
Wer es liest, lernt Helmholtz als For¬ 
scher und Mensch kennen. Und den Ge¬ 
winn solcher Bekanntschaft möchte ich mit 
den Worten bezeichnen, die Helmholtz 
selbst gelegentlich gebraucht, als er von 
seiner Freundschaft mit Brücke und 
Du Bois-Reymond spricht: „Wer einmal 
mit einem oder einigen Männern ersten 
Ranges in Berührung gekommen ist, dessen 
geistiger Maassstab ist für das Leben ver¬ 
ändert, zugleich ist solche Berührung das 
Interessanteste, was das Leben bieten kann“. 

F. Klemperer (Berlin). 
Ergebnisse der Physiologie, Herausge¬ 
geben von L. Asher und K. Spiro. 
Erster Jahrgang, I. Abtheilung. Bio¬ 
chemie. 929 S. Wiesbaden, Verlag 
von J. F. Bergmann. 1902. (25 Mark). 

Mit diesem Bande, dem Zwillingsbruder 

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Gegenwart 1903. Januar 

des unlängst besprochenen, sind die „Er¬ 
gebnisse“ für dieses Jahr abgeschlossen. 
Namen wie Hofmeister (Ueber Bau und 
Gruppirung der Eiweisskörper), Pawlow 
(Die physiologische Chirurgie des Ver- 
I dauungskanals), Bredig (die Elemente der 
J chemischen Kinetik mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der Katalyse und Fermentwir¬ 
kung) und zahlreiche andere legen Zeugniss 
I davon ab von dem hohen Niveau, auf dem 
| sich auch der chemische Theil dieses phy¬ 
siologischen Sammelwerkes bewegt. Da¬ 
durch, dass er die dem Arzte besonders 
naheliegenden Kapitel aus dem Gebiet des 
Stoffwechsels, der Ernährung, der Ver¬ 
dauung weitgehend berücksichtigt, ist es 
uns besonders willkommen. Auf den reichen 
Inhalt der verschiedenen Essays näher ein¬ 
zugehen, ist uns an dieser Stelle unmög¬ 
lich, so verlockend es auch wäre. Wir 
müssen uns damit begnügen, in vollstem 
Maasse anzuerkennen, dass die Heraus¬ 
geber es verstanden haben, ihre Unter¬ 
nehmung auf einem glänzenden wissen¬ 
schaftlichen Niveau zu halten, so dass es 
sicherlich als eine der besten litterarischen 
Erscheinungen des eben vergangenen 
Jahres gelten muss. F. Umber (Berlin). 

W. Meyerhoffer. Die chemisch-physi¬ 
kalische Beschaffenheit der Heil¬ 
quellen. Vortrag gehalten auf der Karls¬ 
bader Naturforscher-Versammlung. Ham¬ 
burg-Leipzig. L. Voss, 1902. (1 Mark). 

Den Vortrag von Prof. Meyerhoffer 
bringe ich nicht um seines eigentlichen Gegen¬ 
standes willen hier zur Anzeige, sondern 
deswegen weil die grössere Hälfte des¬ 
selben einer allgemeinen Betrachtung über 
osmotischen Druck und Ionentheorie ge¬ 
widmet ist. Aus den Kreisen der Leser 
dieser Zeitschrift sind oft Anfragen an mich 
gelangt, welches Buch ich zur Einführung 
in die physikalische Chemie empfehlen 
könnte. Ich habe meist die Vorlesungen 
von Cohen genannt, habe aber wohl 
stets dazu gesagt, dass ich vorläufig die 
Zeit noch nicht gekommen glaube, in der 
ärztliche Praktiker sich mit diesem Gebiet 
beschäftigen müssen. Es ist wohl noch 
lange Zeit eine ausschliessliche Domäne 
der wissenschaftlichen Forschung, deren 
bisherige Ergebnisse noch fast alle der 
Discussion unterstehen und auf das prak¬ 
tische Handeln kaum irgendwo Einfluss 
gewonnen haben, geschweige denn, dass 
ein praktischer Arzt nöthig hätte, sich die 
Untersuchungsmethoden anzueignen. Be¬ 
greiflich allerdings und für diejenigen, die 
es fühlen, sehr ehrend finde ich das Be- 

Original from 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 





Januar 


33 


Die Therjipie der Gegenwart 1903. 


dürfniss, sich im Allgemeinen Ober die Er¬ 
rungenschaften der physikalischen Chemie 
xu orientiren, und dieser Wunsch wird, 
ebenso wie durch den Vortrag von His auf 
derHamburgerNaturforscher-Versammlung, 
durch die sehr klar und anschaulich ge¬ 
schriebene Auseinandersetzung von Meyer- 
hoffer erfüllt. G. IC 

Dp. V. Grolmann. Aerxtliches Jahr¬ 
buch. IV. Jahrgang 1903. Frankfurt a. M. 
J. Alt. (2 Mark.) 

Das vorliegende Jahrbuch, welches 
äusserlich in Form und Ausstattung eines 
Medidnal-Kalenders auftritt, unterscheidet 
sich sehr wesentlich durch die Reichhaltig¬ 
keit und Selbständigkeit seines Inhalts von 
den übrigen Kalendern. Es berichtet in 
kurzen zum Theil kritischen M Mittheilungen M 
über die wesentlichen litterarischen Ergeb¬ 
nisse des letzten Jahres (z. B. über Heiss¬ 
lufttherapie, Serumtherapie des Morbus 
Basedow, über den Stand der Tuberkulin¬ 
bewegung u. v. a.); dazu kommen Berichte 
über die neueren Arzneimittel, die wissen¬ 
schaftlich gut charakterisirt und praktisch 
treffend gekennzeichnet sind, sowie ein 
sehr brauchbares Register der Nährpräpa¬ 
rate. Das Verzeichniss der Sanatorien ist 
Von besonderer Vollständigkeit Alles in 
allem bietet das Büchlein weit mehr als 
tnan von einem Medicinal-Kalender erwartet 
und verdient wohl, den Collegen zur An¬ 
schaffung besonders empfohlen zu werden. 

G. K. 

B. Bendix. Lehrbuch der Kinderheil¬ 
kunde für Aerzte und Studirende. 3. Auf¬ 
lage. Berlin-Wien 1903. Urban & 
Schwarzenberg. (12 Mark.) 
ILVenmann. Ueber die Behandlung 
der Kinderkrankheiten. Briefe an 
einen jungen Arzt 3. Auflage. Berlin 
1908. Oscar Coblentz. (9 Mark.) 

Ph. Biedert n. R. FischL Lehrbuch 
der Kinderkrankheiten. 12. Aufl. des 
Lehrbuches von A. Vogel. Stuttgart 1902. 
Ferdinand Enke. (15 Mark.) 

Fast gleichzeitig erscheinen die ver¬ 
besserten und vermehrten Neu-Auflagen 
dreier vortrefflicher Darstellungen der 
Kinderkrankheiten, die nur durch kurze 
Zeitspannen von den vorhergehenden ge¬ 


trennt sind. Man .darf darin wohl ein 
Zeichen sehen, wie gross zur Zeit das In¬ 
teresse ihr diesen Zweig der Heilkunde in 
der ärztlichen Welt ist. 

Die Eigenheiten und Vorzüge der zwei 
erstgenannten Werke sind bereits in dieser 
Zeitschrift besprochen worden. Das Ben- 
dix’sche Buch bildet in seiner knappen, 
dabei umfassenden Darstellung einen zu¬ 
verlässig und schnell orientirenden Be- 
rather, Neumanns Briefe, die wir schon 
bei ihrem ersten Erscheinen der originellen 
Idee wegen begrüssten und denen wir 
einen grossen Erfolg voraussagten, wenden 
sich vor allen an den Praktiker, in alle 
Einzelheiten der Therapie eingehend und 
auch die Schilderung technischer Einzel¬ 
heiten, die sich meist ja der angehende Heil¬ 
künstler oft erst mühsam, zuweilen mit 
fatalen Erfahrungen erwerben muss, nicht 
verschmähend. Gerade diesem ungemein 
praktischen Zug des Ganzen ist wohl die 
schnelle Folge der Auflagen zuzuschreiben. 
Biedert, dessen Lehrbuch, das schon 
früher mit zu den ersten hat in R. Fischl, 
dem ausgezeichneten Prager Pädiater, 
einen Mit- und Umarbeiter gewonnen. Wir 
bedauern, dass, wie aus der Vorrede er¬ 
sichtlich, die schwankende Gesundheit des 
hochverehrten früher alleinigen Verfassers 
diese Theilung nöthig machte, aber des Re¬ 
sultates der gemeinschaftlichen Mühe kön¬ 
nen wir uns nur freuen. Das Buch giebt eine 
umfangreiche, trotz aller Kürze die klein¬ 
sten Einzelheiten berücksichtigende Schil¬ 
derung und ist ausserordentlich reich an 
Literaturnachweisen, deren Benutzung frei¬ 
lich in Folge der eigenen Art der Ver¬ 
weisung nicht so leicht ist, wie das an ent¬ 
sprechender Stelle ausgedrückt ist Wenn 
es erlaubt ist, auch noch einen zweiten 
Punkt zu berühren, der nach unserem Em¬ 
pfinden speciell in Hinblick auf die gerade 
in den letzten Jahren so intensive For¬ 
schung über Nahrungsbedarf etc. etwas 
ausführlicher hätte gestattet werden dürfen, 
so ist das das Kapitel über die Ernährung 
des gesunden Kindes. 

Dass alle drei Werke durch Neu- und 
Umarbeit auf allen Gebieten bis zu den 
jüngsten Erscheinungen den Fortschritten 
der Pädiatrie gerecht geworden sind, be¬ 
darf kaum besonderer Erwähnung. 

Finkeistein. 


Difitized by 


Gck igle 


Original fro-m 

UMIVERSITY OF CALIFORNIA 



84 


Die Therapie der Gegenwart 1903 


Januar 


Referate. 


Bartrina empfiehlt das aus Neben¬ 
nieren hergestellte Adrenalin für uro- 
logische Zwecke. Er verwendet eine 
l°/ooige Lösung des salzsauren Adrenalins 
in Kochsalzwasser. Das Mittel wirkt local 
aufgedrückt blutstillend durch Ischämie und 
anästhesirend.Bei kleinen Operationen, Circ- 
umcision etc , ist es deshalb Zur Blutstillung 
empfehlenswert!*. Ganz besonders gute 
Dienste leistet es aber bei der Behandlung 
von Stricturen; hier wird mit einem feinen 
Göuyon’schen Instillateur ca, 1 ccm der 
Lösung an die Strictur herangedrückt und 
durch Massage in der Urethra veftheilt. 
Es wirkt hier auch den congestiven Zu¬ 
ständen, die häufig bei Stricturen eintreten 
und gelegentlich die Behandlungerschweren, 
entgegen, wirkt blutstillend bei kleineren 
Verletzungen. Für die innere Urethro- 
tomie, die ja in Frankreich viel mehr als 
bei. uns zur Behandlung von Stricturen 
angewandt wird, hält der Autor dte 
Application des Medicaments für unnöthig, 
weil die Blutung hierbei von selbst schnell 
steht. Bei Blasenblutungen wird es auch 
keine wesentlichen Dienste leisten» weil es 
nür vorübergehend wirkt und hier nicht 
dauernd die Causa morbi hebt. Vielleicht 
ist es differentialdiagnostisch zwischen 
Käsen- und Nierenblutungen verwerthbar. 

Auch von v. Frisch wird das Andrealin 
empfohlen: bei der cystoskopischen Unter¬ 
suchung von vesicaler Hämaturie füllt er die 
Blatie zun ächst mi tt00—150ccm einer Lösu n g 
von 1:10000 und beginnt dann erst mit den 
Spülungen; die Blutung steht dann ganz 
oder ist so gering« dass die Untersuchung 
nicht gestört wird« Bei der Exstirpation 
von Tumoren mittelst Sectio alta hat Frisch 
die Tumoren mit der gleichen Lösung ge- 
pinselt und nun. fast ganz ohne Blutung 
operirt Da aber durch die nachfolgende 
Dilatation der Blutgefässe eine, sehr starke 
Nachblutung folgt, so muss man.am Schluss 
4er Operation die Wunde —- wenn man 
nicht näht — verschorfen und die Blase 
Umponiren, Bei der endo-vesicalen Be¬ 
seitigung von Btasenpapillomen genügt 
Füllung der Bläse mit obiger Adrenalin¬ 
lösung. Ebenfalls empfiehlt Frisch das 
Mittel bei Behandlung von Stricturen, ferner 
bei schwierigem Katheterismus bei Prostata¬ 
hypertrophie. Ferner konnte durch täg¬ 
liche Adrenalineinträufelungen in die Urethra 
posterior bei Harnverhaltung von Prosta¬ 
tikern mehreremals Besserung der Urinent¬ 
leerung bewirkt werden. Frisch benutzt die 
(auch^von B a r t r i i a gebrauchte) Lösung von 


Adrenalin hydrochU . 0*1 

Natri chlorati ... 0*7 

Cfdoreten . 0*5 

Aqu . dest. ...... 100*0 

Buschke (Berlin). 

(Wiener klin. Wochenschrift 1902, No. 31.) 

Das Aureol ist als Haarfärbemittel von 
Richter empfohlen worden Und wird auch 
in anderer Weise so vielfach erwähnt, dass 
es zweifellos häufig in Gebrauch genommen I 
wird. Es wird in der Weise benutzt, dass 
die Haare vorher mit Seifen- oder Soda¬ 
lösung gewaschen werden, dann werden | 
gleiche Theiie des Mittels mit Wasserstofl- 
superoxydlösung gemischt mit einem Pinsel 1 
auf das noch feuchte Haar aufgetragen. i 
Wolters macht nun auf Grund von drei 
Beobachtungen darauf aufmerksam, dass 
das Mittel keineswegs unschädlich ist, 
sondern neben localen Entzündungen auch 
allgemeine Erytheme wohl toxischen Ur- 
fprungs erzeugen kann. Er warnt deshalb 
vor der Anwendung des Medikaments. 

Buschke (Berlin). 

(Dermatologische Zeitschr. 1902, Haft 3.) 

Die grosse Differenz der Wirkungsweise 
des Chinins bei interner oder subcutaner 
Darreichung erhellt aus folgendem Fall, 
i Haller berichtet über einUlcus der hinte¬ 
ren Rachenwand, welchesgrosse, diagno- 
stischeund noch mehr therapeutische Schwie¬ 
rigkeiten bot. Das makroskopische Aus¬ 
sehen, sowie die mikroskopische Untersu¬ 
chunggaben keinerlei Anhaltspunkt. Patient 
litt an Malaria; aber weder Chinin und Arsen 
innerlich genommen, noch eine antiluetische 
und antituberkulöse Behandlung waren von 
Erfolg begleitet Ein ganzes Arsenal von 
Mitteln, sogar blaues Licht wurde ange¬ 
wandt. Als die Ernährung schon 9ehr ge¬ 
litten und schmerzhafte Drüsenschwellungen c 
auftraten, entschloss sich Verfasser zu sub- 
cutanen Chinininjectionen, welche in Kurzem 
zur Heilung führten. Uebrigens bezeichnet 
M aragliano im Handbuch vonPenzoldt- 
Stinzing auch die subcutane Chinin- 
darreiehung als die sicherste und rascheste 
Art der Verordnung. 

F. Alexander (Frankfurt a. M.) 

(Monatsschrift für Ohrenheilkunde 1902, Nö* tl). 

Das Citrophen, das im Jahre 1899 von i 
Roos eingeführt worden ist, ist bekannt- i 
lieh eine Verbindung der Citronensäure 
mit Paraphenitidin, welch letzteres die 
chemische Grundlage einer grossen Zahl 
unserer Antipyretica aus der Phenacetin- 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




Jamur 


Die Therap** der G-genwnrt 1903. 


35 


gruppe darstellt (vergl. das Ref. in dieser 
Zeitschr. 1901, S. 82). Es hat in unserer ! 
Litteratur seither als Antipyrin- oder Phena- 
cetinersatz nur günstige Beurtheilung ge¬ 
funden, und wird vielfach anderen Anti- 
pyreticis vorgezogen, weil es ebenso prompt j 
und vielleicht sicherer wirkt, dabei besser 
löslich und von angenehmerem erfrischen¬ 
dem Geschmack ist (Stomberger, 
Steckei, Kornfeld, Hirschkron, 
Frieser, Silberstein u. a.) Auch die in 
Frankreich damit gemachten Erfahrungen 
lauten seither wenigstens ganz ermunternd. 
So hat R. Suzor das Citrophen als Anti- 
neuralgicum und Antipyreticura bei den 
verschiedensten Erkrankungen mit Erfolg 
Angewandt, und hat Tagesdosen von 6,0 g(!) 
angeblich ohne unangenehme Nebenwirkung 
gegeben. Auch Bolognesi (Paris) hat das 
Mittel in 12 Fällen als Antipyreticum und 
Antineuralgicum erfolgreich ordinirt und 
empfiehlt es besonders gegen Migräne, 
Neuralgieen verschiedener Art und Lum¬ 
bago. Freilich macht er ausdrücklich auf 
ein Moment aufmerksam, das alle Autoren 
mehr oder weniger betont haben, dass 
nämlich fieberhafte Kranke, vor allem 
fiebernde Phthisiker, nach dem Gebrauch 
des Mitttls durch starken Schweissausbruch 
belästigt waren. Er verabfolgte es in Dosen i 
von 0,5 g, mehrmals bis zu 3,0 täglich. ' 
Aehnlich lauten auch die Mittheilungen j 
Saint-G£ne’s (Paris), der vor allem seine j 
günstige Wirkung bei der Behandlung des 
Rheumatismus als Salicylersatz hervorhebt. 
Irgend welche unangenehme Neben¬ 
wirkungen, wie wir sie bei den andern 
Antipyrcticis zuweilen sehen, sind bisher 
vom Citrophen nicht bekannt .geworden, 
und so dürfte es denn auch unter den 
modernen Antineuralgicis seinen legitimen 
Platz finden. F. Umber (Berlin). 

(La mtdecine moderne 1901. — Bulletin gdntral 
du Th£rapeutique 1901. — Le progres medical 1902). 

Stroganoff theilt zwei der bisher sehr 
seltenen Fälle von £ätbindQOg0S p&Gh 
Uterasruptar bei einer früheren Ge¬ 
burt mit. Beiden Patientinnen war von 
Stroganoff selbst die zerrissene Gebär¬ 
mutter unter Erhaltung des gesammten 
Genitalapparates mittelst L&paratomie ge¬ 
näht worden. Der Verlauf der späteren 
Entbindungen lehrt, dass es sich empfiehlt 
starke Gcburtsthätigkeit abzukürzen, also 
entbindende operati veEingriffe anzuwenden. 
Bei genügender Beweglichkeit der Frucht 
und stehender Blase ist die combinirte 
Wendung, bei Steisslage Herabholen eines 
Fusses da^bQorM^J^eignet. Auf das 


bei Gebärmutterruptur besonders häufige 
enge Becken ist ebenso wie auf sonstige 
Complicationen nach den Grundsätzen der 
operativen Geburtshülfe Rücksicht 2U 
nehmen. Nach der Entbindung ist eine 
intrauterine Untersuchung unbedingt 
nöthig. ln beiden Fällen wurden auf diese 
Weise lebende Kinder erzielt 

P. Strassmann. 

(ZeitttAf. f. Geh. u. Gyn. B d. XLVUI, Heit I.) 

Zur Behandlung verschiedener Störun¬ 
gen im Bereich der männlichen Genital- 
Organe empfiehlt Zabludowski Massage 
der Organe in schnlgemässer, der speciellen 
Indication angepas^ter Weise. Die Art 
der Ausführung wird des genauesten ge¬ 
schildert und durch Abbildungen erläutert. 

In einem Referat lässt sich über diese 
technischen Dinge, wo es auf jeden Hand¬ 
griff ankommt, nicht kurz berichten. Was 
nun aber die Indication betrifft, so empfiehlt 
der Autor das Verfahren in chronischen 
Fällen vpn Orchitis, Epididymitis, Funi- 
culitis, wie sie sich im Anschluss an 
Traumen und Gonorrhoe entwickeln, ferner 
bei functionetlen Störungen, wie Impotenz, 
Priapismus mit unbedeutenden anatomischen 
Veränderungen in den Hoden und ihren 
| Adnexen, sodann auch bei Functions¬ 
störungen im Bereich der Urogenitalorgane 
aus psychischen, nervösen Ursachen. In 
Fällen, wo durch unzweckmässige All¬ 
gemein- und Lokalbehandlung Irritations¬ 
erscheinungen im Bereich der Organe 
selbst und auch allgemeine Depressions¬ 
zustände erzeugt sind, ist vorsichtige 
Massage von Nutzen. Wichtig erweist sie 
sich ferner bei Retraction des Samen¬ 
strangs, sei es angeboren, sei es später 
entstanden, bei atrophischen Zuständen in 
Folge von Inactivität, bei Hyperäsfhesieen, 
Neurosen, Anästhesie, Pollutionen, 2ü 
schneller Ejaculation, Spermatorrhoe, man¬ 
gelhafter Erectkm, schliesslich auch bei 
chronischer Gonorrhoe, Prostatorrhoe. 

Büschke (Berlin). 

(Anaales de« mal. d«s org. G£n. Ur. T902. 

No. 12). 

O. Abraham hat durch chemische und 
bacteriologische Versuche festgestellt, dass 
Hefe im Stande ist Gonococcen zu töten. 

Ihre bactericide Wirkung geht von einem 
Enzym aus. Sterile Dauerhefe wirkt nur 
bei Zuckerzusatz bactericid, lebende Hefe 
auch ohne diesen. Die Wirkung der letz¬ 
teren wird durch Zusatz von Asparagin 
gefördert. Hefe und Asparagin lassen sich 
mit Gelatine zu Vaginalkugeln verarbeiten, 

UNIVERSffY 0F CALIFORNIA 




36 


Januar 


Die Therapie der 


die die Hefezellen längere Zeit lebensfähig 
erhalten und sich leicht von der Patientin 
selbst einführen lassen. Die Kugeln werden 
durch einen Paraffinmantel gegen Zer¬ 
setzung geschützt. Die Hefevaginalkugeln 
werden, ohne Beschwerden zu verursachen, 
mit gutem Erfolg gegen blennorrhoische 
Erkrankungen der Vulva, der Scheide und 
des Uterus angewandt. Die Urethritis wurde 
durch Scheidenkugeln nicht beeinflusst. Für 
Cervix- und Corpuskatarrhe kamen Hefe- 
Asparaginstifte zur Verwendung. 

P. Strassmana. 

(Monatsschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. XVI.) 

Die Wirkung der Kohlensäure auf die 
Magenverdauunff, die keineswegs ein¬ 
wandsfrei klargestellt ist, sucht F. Penzoldt 
in einer ganz stattlichen Versuchsreihe 
* genauer zu analysiren. Er berücksichtigte 
dabei vornehmlich die Aufenthaltsdauer der 
Speisen im Magen und das qualitative Ver¬ 
halten des Magensaftes nach Verabreichung 
eines Probefrühstücks, das sich aus einer 
Semmel und Vä 1 kohlensaurem Wasser 
zusammensetzte; als Vergleichswerthe dien¬ 
ten die Zahlen, die nach Darreichung der 
gleichen Menge Semmel und kohlensäure¬ 
freiem Brunnenwassers erhalten wurden, 
ln ähnlicher Weise wurde die Verdauung 
einer fleischhaltigen Probemahlzeit unter 
dem Einfluss gleichzeitig genommenen 
kohlensauren Wassers geprüft. Die Aufent¬ 
haltsdauer der Nahrung im Magen sowie 
die Säureverhältnisse des Magens (Ge- 
sammtacitität durch Titriren mit Normal¬ 
lauge sowie Gesammtsalzsäure nach Sjö- 
qvist) wurden allemal festgestellt. Das 
verabreichte kohlensaure Wasser war ein 
künstliches Mineralwasser, das ca. 0,16% 
feste Bestandteile, vornehmlich Chloride 
und Carbonate, enthielt, manchmal auch 
ein kohlensäurehaltiges Wasser, das nicht 
mehr feste Bestandteile (0,012%) enthielt, 
wie Brunnenwasser; der Gehalt an Kohlen- 
, säure betrug etwa 1 1 in Va 1 Wasser. Es 
wurden im Ganzen einige 50 Einzelver¬ 
suche ausgeführt, die zu folgenden Ergeb¬ 
nissen' führten: Die Aufenthaltsdauer der 
Speisen im Magen wurde, besonders bei 
Amylaceennahrung deutlich, wenn auch 
nicht sehr erheblich verkürzt. Die Ab¬ 
scheidung der Salzsäure im Magen beginnt 
dabei früher und erreicht durchschnittlich 
höhere Grade. Ihr schnelleres Abfallen 
hängt mit dem schnelleren Ablauf der 
Magenverdauung zusammen. Wenn auch 
Penzoldt keine weitgehenden Schlüsse 
auf die diätetische Verwendung der Kohlen- 
säure^^^Krmk^n daraus ziehen will, 


Gegenwart 1903. 

so scheint ihm jedenfalls die Anwendung 
der kohlensäurehaltigen Wässer in Mengen 
von nicht über V 2 1 nach dem Essen bei 
Kranken mit Säuremangel und leichter 
Atonie des Magens nicht unzweckmässig. 
(Wieviel von dieser günstigen Wirkung 
freilich auf Conto der Kohlensäure oder 
aber auf Conto der veränderten osmotischen 
Bedingung im Magen zu setzen sei, scheint 
auch aus diesen Beobachtungsreihen noch 
nicht ganz eindeutig hervorzugehen. Ref.) 

F. Umber (Berlin). 

(Deut. Arch. f. klin. Med. Bd. 73.) 

Quincke hatte Gelegenheit zwei Fälle 
von myelogener Leukämie zu beobachten, 
bei denen sich Miliartuberkulose als 
Secundärerkrankung hinzugesellte, und nun 
— wie Quincke annimmt — infolgedessen 
ein deutlicher Rückgang der leukämischen 
Erkrankungen zu constatiren war. Die 
Hyperleukocytose sowie die Milzschwellung 
| nahmen in den letzten Lebenstagen bei 
fortschreitendem Kräfteverfall beträchlich 
ab, und an Stelle der leukämischen Blut¬ 
beschaffenheit trat nun eine hydrämische. 
Aehnliche Erfahrungen machte Quincke 
an einem Fall, den er als vorwiegend lienale 
„Pseudoleukämie" deutet. Auf Grund dieser 
klinischen Beobachtungen hält er bei Leu¬ 
kämiekranken therapeutische Versuche mit 
Tuberkulin für indicirt, in welchem wir 
wenigstens einen Theil der in Betracht 
kommenden Toxine, die nach seiner Vor¬ 
stellung die Rückbildungsvorgänge im leu¬ 
kämischen Krankheitsbild günstig beein¬ 
flussen, in bequem dosirbarer Form besitzen. 
Einige, wie er freilich selbst sagt, nicht 
ganz eindeutige Resultate in dieser Rich¬ 
tung lassen ihm weitere derartige Versuche 
empfehlenswerth erscheinen. Er vermuthet, 
dass das Tuberkulin vielleicht nicht nur 
zerstörend auf die bereits gebildeten farb¬ 
losen Zellen, sondern auch hemmend auf 
deren Neubildung wirke, wodurch sich ^ 
vielleicht eine „Umstimmung der in ab¬ 
normen Bahnen sich bewegenden forma- 
tiven Thätigkeit von Knochenmark und 
Lymphdrüsen erreichen Hesse". 

F. Umber (Berlin). 

(Deut. Ärch. f. klin. Med. Bd. 74.) 

Für Paraldehyd als Schlafmittel tritt 
Bumke an der Hand der Erfahrung der ■j 
Freiburger psychiatrischen Klinik sehr | 

energisch ein. Es wird dort seit Jahren 
als alleiniges Hypnoticura angewandt. In ! 

Dosen von 3—6 g bewirkt es bei allen 
Arten von Agrypnie, ausgenommen die 
durch Schmerzen bedingte, in 5—IS Min. 
einen 6—Bstündigen Schlaf. Nfebenwirkun- 
UNIVER3ITY OF CALIFORNIA 




Januar Die Therapie der 


gen und unangenehme Nachwirkungen 
kommen, von seltenen Fällen von Idio¬ 
synkrasie abgesehen nicht vor. Selbst 
schwere Herz-, Nieren- und Gefässerkran- 
kungen, sowie Störungen des Respirations¬ 
und Magendarratractus bilden keine Contra- 
indication. Schwere acute Vergiftungen 
sind, trotzdem das Mittel schon seit 
20 Jahren im Gebrauch ist, bisher nicht zu 
verzeichnen. Chronische Intoxicationen 
(Delirium paraldehydicum) kommen nur ge¬ 
legentlich bei lange fortgesetztem Gebrauch 
von mehr als 30 g pro die vor. Gewöhnung 
tritt gemeinhin nicht ein. 

Referent kann diesen Ausführungen, was 
die psychiatrische und speciell die Anstalts¬ 
praxis betrifft, im Ganzen beistimmen. Par« 
aldehyd ist sicher eines der besten, billig¬ 
sten und relativ ungefährlichsten Schlaf¬ 
mittel. Leider ist, im Widerspruch zur 
Meinung des Verfassers, in der besseren 
Privatpraxis die Abneigung gegen den un¬ 
angenehmen Geruch und Geschmack des 
Mittels trotz aller Corrigentien oft so gross, 
dass man von dauernder Darreichung ab¬ 
stehen muss. Auch scheinen hier Magen- 
und Appetitstörungen, wenn auch nicht ge¬ 
fährlicher Art, doch viel häufiger als bei 
Anstaltspatienten vorzukommen. 

Laudenheimer (Alsbach bei Darmstadt). 

(Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 
Decexnber 1902.) 

ln einer die Behandlung der Pro« 
ctfttahypertropliie betitelten Arbeit hat 
Rovsing das Ergebniss seiner zahlreichen 
Erfahrungen niedergelegt. Er hat ver¬ 
sucht, das Gebiet der verschiedenen Be¬ 
handlungsmethoden gegen einander abzu¬ 
grenzen und einer jeden die besonders 
geeigneten Falle auf Grund klinischer Be¬ 
obachtungen zuzutheilen. Das Wesen der 
Protastahypertrophie sieht Rovsing in 
einer Vermehrung der drüsigen Elemente. 
Sonst pflegt zwar als Alterserscheinung 
überall eine Atrophie der drüsigen Organe 
einzutreten und es besteht hier insofern 
ein Widerspruch. Rovsing glaubt den¬ 
selben beseitigen zu können durch die 
Annahme, dass die Hypertrophie ein rein 
reflectorischer Versuch der Natur sei, die 
beginnende Insufflcjenz zu compensiren, 
also durch quantitative Vermehrung dem 
qualitativ verminderten Werth des Secrets 
abzuhelfen. 

Die neuerdings viel getheilte Ciecha- 
nowski’sche Auflassung, dass die Hyper¬ 
trophie eine chronische Entzündung auf 
gonorrhoischer Basis sei, verwirft Rov¬ 
sing völlig. Einmal ist das Endresultat 
jeder langdauernden Entzündung die Binde- 

Digitized by GOOSlC 


Gegenwart 1903» 37 


gewebsneubildung und das Zugrundegehen 
der drüsigen Elemente, sodann fanden sich 
unter Rovsing s 142 Patienten nur 14, die 
| Urethritis posterior und Prostatitis gonor¬ 
rhoica hatten. In solchen Fällen pflegt fflr 
das Gefühl die Prostata mehr derb und 
fibrös zu sein gegenüber der weichen, 
schwammigen Beschaffenheit der echten 
Hypertrophie. 

Ein breites Feld räumt Rovsing der 
Katheterbehandlung ein. Sie heilt zwar 
nicht den Kranken von seiner Hypertro¬ 
phie, befreit ihn aber im glücklichen Fall 
von den Symptomen, welche die Hyper¬ 
trophie zu einem wirklichen Leiden machen, 
von dem übermässig häufigen Drang zu 
uriniren und dem schmerzhaften Tenesmus, 
beides hervorgerufen durch die mehr oder 
minder grosse Retention des Urins. Von 
126 Patienten waren 10 auf längere Zeit 
von Reteotionsanfellen frei, wenigstens so 
weit, dass sie nicht mehr behandelt zu 
werden brauchten. Es handelte sich aber 
ausnahmslos um Fälle massiger Hypertro¬ 
phie, die früh in Behandlung gekommen 
waren. Die Katheterentleerung der Blase 
nimmt Rovsing nur einmal täglich vor. 

Weitere 10 Patienten wurden gebessert, 

Die Behandlung hatte nach 2—4 Wochen 
das Ergebniss, dass die Patienten ihn» 

Blase am Tage vollständig entleeren konn¬ 
ten. Nach wenigen Wochen oder Monaten 
stellte sich aber das alte Leiden wieder ein. 

In der grossen Zahl von 91 Fällen blieb 
der Retentionszustand durch den Käthe« 
terismus völlig unbeeinflusst 

Eine weitere interessante Gruppe von 
15 Fällen zeigt, wie die Katheterbehand¬ 
lung geradezu den Zustand verschlimmern 
kann. Die Patienten hatten bisher spontan 
uriniren können, litten also nur an par¬ 
tieller Retention. Mit Einführung der Ka¬ 
theterbehandlung stellte sich jedoch ent¬ 
weder sofort oder nach kurzer Zeit ein 
völliges Unvermögen ein, den Urin spon¬ 
tan zu entleeren. Dass nach der Entlee¬ 
rung einer stark gedehnten Retentions¬ 
blase öfter völliges Unvermögen eiqtritt, 
spontan Urin lassen zu können, ist ja eine 
seit langem bekannte Thatsache; dass 
jedoch schon eine Paralyse der Blase ein- 
treten kann, wenn nur ca. 200 ccm Reten¬ 
tionsharn entleert wurden, das lehren zum 
ersten Mal die Rovsing’schen Beobach« 
tungen. 

Es handelt sich nun darum für die Fälle, 
in denen die Katheterbehandlung versagt, 
ein geeignetes operatives Verfahren anzu- 
wenden. Da kommt zunächst die Kastra¬ 
tion in Betracht. Sie stützt sich auf das 

Original fram 

UNIVERSITtf OF CALIFORNIA 



38 


Die Therapie 8er Gegenwart 1903. 


Januar 


Thierexperiment, welches zeigt, dass bei 
gesunden Thieren der der Seite der Ka¬ 
stration entsprechende Lappen der DrQse 
stark atrophirt oder sogar ganz schwindet, 
ln 5 Fällen wurde die doppelseitige Ka¬ 
stration ausgeführt, davon in 3 Fällen mit 
ausgezeichnetem Erfolg. Es Hess sich 
zwar spater immer noch eine bedeutende 
Vergrösserung der Prostata nachweisen, 
aber die Retentionserscheinungen, auf die 
es doch allein ankommt, waren geschwun¬ 
den. Einer dieser 3 Patienten war ein 
U5jähriger Greis, der in 11 Jahren absolut 
ausser Stande gewesen war, die geringste 
Menge Urin spontan zu entleeren. Wenige 
Monate nach der Operation erhielt er das 
Vermögen wieder, seine Blase auf natür¬ 
lichem Wege zu entleeren. Bei den beiden 
folgenden Leuten hatte die Operation 
keinen Erfolg. Es waren eben Leute mit 
gonorrhoischer Prostatitis, und es musste 
naturgemäss die Vergrösserung unbeein¬ 
flusst von dem Eingriff bleiben. 

Mit der Kastration rivalisirt sehr stark die 
doppelseitige Resection des Vas deferens. 

Rovsing hat dieselbe an 40 Patienten 
ausgeführt Von denen sind 27 geheilt, 
d. h. eine Zeit lang oder sogar für immer 
von den lästigen Retentionssymptomen 
befreit; 9 sind gebessert und nur bei 4 
trat keine Aenderung des Zustandes ein. 
Der Eingriff ist leicht und schnell ausführ¬ 
bar, unter localer Anästhesie. Es handelte 
sich meistens um partielle Retention, aller¬ 
dings bis zu 400 ccm, jedoch waren auch 
eine ganze Anzahl mit totaler Retention 
darunter. Drei von den nicht Geheilten 
waren in einem ausserordentlich weit vor¬ 
geschrittenen Stadium: die Prostata war 
colossal vergrösscrt, die Blase enorm an¬ 
geschwollen und die Retention total. Dieser 
Zustand contraindicirt jedoch die Opera¬ 
tion nicht, denn unter den Geheilten be¬ 
finden sich vier, bei denen der Zustand 
ebenso ernst war. 

Für die Fälle, die mit einer der bisher 
genannten Methoden nicht zu beeinflussen 
sind, bleibt ein anderes Verfahren, näm¬ 
lich die Bottini'sche Operation. Rov¬ 
sing hat sie an 14 Patienten ausgeführt. 
Davon sind nur 2 geheilt, 5 sind gebessert; 
bei 6 verschlimmerte sich der Zustand und 
1 starb an den Folgen der Operation. Die 
Geheilten waren mittelstarke Retentions¬ 
fälle; bei dem einen war 11 Monate vorher 
die Vasectomie ausgeführt, mit anfäng¬ 
lichem Erfolg, aber späterem Recidiv. 

Bei der Gruppe der Gebesserten gelang 
es nicht, den Residualharn unter 200 bis 
300 ccm herunterzubringen, so dass Käthe* 

Digitized by Gooole 


terismus in Zwischenräumen von einigen 
Wochen erforderlich blieb. 

Die Fälle der Verschlimmerten und der 
Todesfall zeigen uns die Unannehmlich¬ 
keiten und Gefahren des Bottini'schen 
Verfahrens in einem grellen Licht. In 
einigen Fällen blieb die Residualmenge 
zwar dieselbe, aber die Tenesmen wurden 
häufiger und schmerzhafter, ln einem an¬ 
deren steigerte sich die Residualmenge, 
die vor der Operation nur 70—200 ccm be¬ 
trug, bis zu totaler Retention. Dem Pa¬ 
tienten konnte noch durch Vasectomie ge¬ 
holfen werden, die besser zuerst versucht 
worden wäre. I n den beiden letzten Fällen 
bedrohten heftige Hämorrhagien das Leben. 
Die Blutungen waren einmal arterieller, 
einmal venöser Natur und traten erst ein 
resp. mehrere Wochen nach der Operation 
ein, als die Brandschorfe sich abstiessen. 
Durch Sectio alta verschaffte man sich den 
Zugang zur Blutung. Die Blase wurde 
lange drainirt. Gleichzeitig konnte man 
die wichtige Beobachtung machen, dass 
3—4 Wochen nach den Operationen noch 
keine Spur einer beginnenden Schleimhaut¬ 
bekleidung an den Wundflächen vorhan¬ 
den war. 

Der Fall, der zum Exitus kam, be¬ 
leuchtet die enorme Schwierigkeit, die 
Tiefe der Verbrennung zu berechnen, da 
man im Dunkeln operirt. Einer der beiden 
seitlichen Schnitte, die in den Mittellappen 
hatten geführt werden sollen, hatte di« 
Blase perforirt. Es entstand Urininfiltra¬ 
tion und der Mann starb an der septischen 
Phlegmone. Die Bottini'sche Operation 
ist also mit unvorhergesehenen Gefahren 
verbunden und man sollte sie nur dort an¬ 
wenden, wo die anderen Methoden im 
Stich lassen, resp. dann, wenn die Pa¬ 
tienten sich gegen die noch erübrigenden¬ 
den operativen Eingriffe: die Cystostomie 
und die Exstirpation des Mittellappens 
sträuben. Das letztere Verfahren eignet 
sich besonders für die Fälle, wö der 
Mittellappen als kugliger oder klappen¬ 
förmiger, mehr oder weniger gestielter 
Tumor in der Blase liegt und das Orifi- 
eium urethrae ventilartig verschliesst. Man 
kann sich von der Gestalt des Tumors 
durch die Cystoskopie ein Bild machen. 
Rovsing hat 6 mal diese Operation mit 
gutem Erfolg ausgeführt. 

Was nun die Anlegung einer dauern¬ 
den Blasenfistel anlangt, so ist dieselbe 
primär indicirt, wenn es sich um eine ad 
maximum angeschwoliene, inficirte Blase 
handelt, die entweder gar kein oder nur ein 
geringes Contractions vermögen mehr besitzt 

Original frn-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 






Jtftutr 


Die Therapie der 


Secundär indieirt ist sie, wenn die cu- 
rativen Eingriffe wirkungslos bleiben und 
auch dann nur, wenn die Katheterisation 
so schwierig ist, dass sie dem Patienten 
das Leben zur Last macht; oder, wenn es 
sich um eine Infection der Blase handelt, die 
allen Heilungsversuchen Trotz bietet, oder j 
oft wiederkehrt und das Leben bedroht; j 
endlich auch dann, wenn beim Katheteri- 
siren die Prostata häufig und stark blutet. 

Wenn alle Versuche misslingen, ein 
natürliches Uriniren wieder herzustellen, 
sei es durch Vasectomie, Kastration, Pro- 
statatectomie oder Bottini, so bleibt die 
Wahl zwischen regelmässiger Katheterisa¬ 
tion und Cystostomie. Das erste würde 
man wohl Leuten rathen, von denen man 
erwarten darf, dass sie es an der nöthigen 
Reinlichkeit nicht fehlen lassen. Dagegen 
thut man gut, zur Cystostomie zu rathen 
bei Patienten des Arbeiterstandes, denen 
es oft an dem Nöthigsten fehlt, den Appa¬ 
rat io Ordnung zu erhalten; ferner in allen 
Fällen, in denen der Katheterismus 
Schwierigkeiten bereitet und in der Händ 
der Patienten oft misslingt. 

Wich mann (Altona.) 

(Langenbedps Archiv Bd. 68, Heft 4» S. 934.) 

Die noch immer kleine Casuistik der 
operativ - geheilten Rüekenm&rks- 
tumoren, wird durch eine interessante 
Veröffentlichung H. Oppenheirn’s um 
einen weiteren Fall vermehrt. Die Krank¬ 
heit begann mit Stichen in der rechten 
Bauchseite, zu der bald spastische Para¬ 
parese, besonders rechts, hinzutrat. Ba- 
binski rechts positiv Hypästhesie und Hypal- 
gesie des linken Beins. Abdominalreflex 
im rechten Hypogastrium fehlend. Wäh¬ 
rend der nächsten Wochen Steigerung 
dieser Symptome, namentlich deutliche 
Hypästhesie innerhalb des XI. Dorsal- bis 
I. Lendenwurzelgebiets. Lagegefühls¬ 
störungen in beiden Fuss- und Zehen¬ 
gelenken. Ausser leichter Dorsalskoliose 
links kein äusserer Wirbelbefund. 
Tuberkulinprobe negativ. Versuchsweise 
Gewichtsextension vermehrte die Sym¬ 
ptome. Später Erschwerung der Harn- 
und Stuhlentleerung. Aus diesem in 6 bis 
8 Monaten sich abspielenden Verlauf, über 
den Genaueres im Original nachzulesen 
ist, besonders aus dem Beginn mit ein¬ 
seitigen Wurzelsymptomen wurde auf 
einen extra - medullären Rückenraarks- 
tumor geschlossen und demgemäss Ope¬ 
ration empfohlen. Die Niveaudiagnose, 
lautete, da im Bereich der X. Dorsalwurzel 
fast complet ^Anästhesie bestand, somit er- 

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Gegenwart 1908 39 


fahrungsgemäss Betheiligung der nächst¬ 
höheren Wurzel anzunehmen war, auf die 
Höhe des VIIL Dorsalwirbels fixirt. 

Es wurde dann durch Sonnenburg 
nach Entfernung der VUI. und IX. Brust¬ 
wirbelbögen ein dattelgrosses Fibrom, das 
mit der Arachnoidea verwachsen unter der 
Dura lag, exstirpirt. Die Wunde verheilte 
primär. Der durch Exstirpation der Wirbel- 
bögen entstandene Knochendefect wurde 
durch eine Schutzplatte gedeckt. In der 
Zeit von weniger als 8 Wochen gingen 
alle Symptome vollständig zurück. — Der 
Fall ist, abgesehen von diesem raschen und 
vollkommenen Heilerfolg, therapeutisch 
bemerkenswert!! durch die haarscharfe 
Niveaudiagnose, welche die glatte Ent¬ 
fernung des Tumors nach Wegnahme nur 
zweier Wirbelbögen ermöglichte. 

Laudenheimer (Alsbach bet Darmatadt)« 

(Berl. klin. Wochenachr. 1902 No. 39.) 

In 33 Beobachtungsreihen an Kranken 
der Greifswalder Klinik hat Lüthje die 
Erfahrung gemacht, das Salicylpräpar&te 
eine ganz beträchtliche Reizwirkung 
auf die Nieren und Harnwege ent¬ 
falten, und zwar alle Präparate, ganz gleich¬ 
gültig aus welcher Bezugsquelle sie 
stammten. Dass daran die Salicylsäure an 
sich die Schuld trägt geht auch daraus her¬ 
vor, dass Arzneimittel, in denen die Salicyl¬ 
säure nur als einer der Componcnten ent¬ 
halten ist, vor allem Aspirin, Salipyrio, 

Salol die gleiche Reizwirkung auf die Harn¬ 
wege entfalten. Dieselbe besteht häufig in 
Albuminurie, fast constant in zeitweise so- 
g:r sehr beträchtlicher Ausscheidung von 
Lpithelzellen aus den verschiedenen Ab¬ 
schnitten der Harnwege, sowie von weissen 
und rothen Blutkörperchen und Kalkoxalat- 
krystallen. Cylinder verschiedener Art 
und Cylindroide waren constante 
Befunde in allen untersuchten Fällen. 

Die Beobachtungen wurden an solchen 
Personen ausgeftlhrt, deren Urin bei mehr¬ 
facher Untersuchung vor der Darreichung 
keine pathologischen Harnbestandtheile ent¬ 
hielt, und geschahen in fortlaufenden Reihen, 
bis die Reizung nach Aussetzen des Mittels 
nicht mehr nachzuweisen war. Die verab¬ 
reichten Dosen von Na. salicylicum oder 
den erwähnten Ersatzpräparaten bewegten 
sich innerhalb des klinisch Gebräuchlichen. 

Das Aufsuchen der Formbestandtheile 
geschah im Centrifugat von den Boden¬ 
schichten des sedimentirten Harnes. Da¬ 
durch, dass Verf. den Urin vor der Salicyl- 
raedication controlirte und nur Patienten 
mit an Formbestandtheilen freiem Ham in 

Beobachtung nahm, begegnete er dem 

Original from 

UNIVERSITtf OF CALIFORNIA 





40 


Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Einwand, dass die aufgefundenen Form* 
elemente in dem centrifugirten Harn an 
sich noch nichts pathologisches bedeutet 
hatten. Giebt es doch bekanntlich Autoren, 
welche Cylinderbefunde nur dann als etwas 
Pathologisches gelten lassen wollen, wenn 
sie im nichtceritrifugischen Harn erhoben 
wurden! Lüthje hat übrigens in 39 Einzel¬ 
untersuchungen an gesunden Schulkindern, 
und in 10 Einzeluntersuchungen an ge¬ 
sunden Studenten niemalsCylinder gefunden 
und betrachtet also das Vorkommen von 
Cylindern im Harn von Gesunden als 
grösste Seltenheit. 

Die beschriebenen Symptome, die in 
dem schwersten Falle 30 Tage, meist aber 
nur 9 bis 14 Tage lang das Aussetzen des 
Salicylpräparates überdauerten, haben nach 
Lüthje’s Meinung eine richtige Nephritis 
zur anatomischen Grundlage. Hunde, die 
auf Salicylverabreichung mit den gleichen 
Erscheinungen am Harn reagiren, wiesen 
auch bei der pathologisch - anatomischen 
Untersuchung der Nieren Zeichen be¬ 
ginnender nephritischer Erkrankung (Hyper¬ 
ämie, körnige Trübung der gewundenen 
Harnkanälchen, schwere Fettmetamorphose 
der Markstrahlen) auf. 

Diese Constanz der Erscheinungen bei 
Salicylsäure steht in einem gewissen auf¬ 
fälligen Gegensatz zu der geringen Zahl 
von solchen Beobachtungen in derLitteratur. 
Lüthje sie erklärt daher,dass man eben seit¬ 
her Nephritis nur dann diagnosticirte, wenn 
auch Albumin vorhanden war und auf das 
alleinige Vorkommen von pathologischen 
Formelementen zu wenig Gewicht legte, 
während doch hyaline Harncylinder oft die 
alleinigen Anzeichen der Nierenreizung 
darstellen, F. Umber (Berlin). 

(Deut Arck. f. klm. Med. Bd. 75«) 

Jacobäus empfiehlt in einem Vortrag: 
„lieber das tägliche Wägen als dia¬ 
gnostisches Hülfsmittel, besonders bei 
Herzkrankheiten*, sehr warm tägliche Ge¬ 
wichtsbestimmungen. Man kann mittelst 
solcher Wägungen leicht ein Urtheil be¬ 
kommen, z. B. über die Zu- oder Abnahme 
eines fiauchergusses, eines Pleuraexsudates 
und hydropischer Anschwellungen des 
Unterhautzellgewebes. Die Bestimmung der 
Urinmenge allein genügt nicht, da andere 
manchmal sehr wechselnde Factoren der 
Wasserausscheidung (Lunge, Perspiratio 
insensibilis) dabei ausser Betracht bleiben. 
Bei diesen täglichen Wägungen und den 
daraus gezogenen Schlüssen bezüglich des 
Wachsens oder der Abnahme von patho¬ 
logischen Flüssigkeitsansammlungen gewinnt 

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man zugleich auch eventuell ein Urtheil über 
die Wirkung resp. das Versagen der jeweils 
getroffenen therapeutischen. Maassnahmen, 

Bei den Wägungen ist zu beachten, 
dass dieselben täglich zu gleicher Zeit und 
möglichst immer nach vorheriger Entleerung 
von Darm und Blase vorzunehmen sind« 
Die graphische Darstellung der Wägungs- 
resultate in Curven orientirt in schneller 
und einfacher Weise über die vorliegenden 
Verhältnisse. Lüthje (Tübingen). 

(Zeitschrift für di&t. u. phys. Ther. Bd. VI, 7.) 

Zur Frage der Woehenbettsmorbidität 
hat Zangemeister an der Leipziger 
Frauenklinik bedeutsame klinische Unter¬ 
suchungen angestellt. Durch die An¬ 
wendung der Gummihandschuhe ist be¬ 
kanntlich jede Möglichkeit der Ueber- 
tragung von Händekeimen ausgeschaltet. 
Es liess sich nun feststellen, dass die 
Handkeime keine wesentliche Rolle bei 
Entstehung der „kurzen Fieber* (Eintags- 
Fieber) spielen können, da die mit Hand¬ 
schuhen Touchirten dieselbe Morbidität 
zeigten, wie die ohne Handschuhe unter¬ 
suchten. Ebenso liess sich kein nennens¬ 
werter Unterschied auffinden, ob Unter¬ 
suchungen (mit Handschuhen) oder über¬ 
haupt keine Untersuchungen stattfandem 
Der „Eingriff der Untersuchung (Hand des- 
inficirt und mit Kaliseife schlüpfrig ge¬ 
macht)* beeinflusst die Morbidität nicht 
Eine Selbstinfection in diesem Sinne scheint 
also nicht vorhanden. 

Auch in der Stuhlverhaltung liegt kein£ 
Ursache für Fieber. Wenn versuchsweise 
auf alle Abführmittel verzichtet wird, so 
erfolgt durchschnittlich der 1. Stuhl natür¬ 
licher Weise am 6. oder 7. Tage; künst» 
liches Abführen erhöht weder, noch ver¬ 
mindert es die Zahl der Fieber. Auch 
begünstigt der verhaltene Stuhl nicht die 
Verhaltung von Lochien. Die grosse Zahl 
der heut noch vorkommenden — nicht tödt- 
lichen oder nicht sehr schweren — Wochen¬ 
bettsfieber ist nicht durch Infection, son¬ 
dern durch Resorption bedingt, welche 
von puerperalen Wunden, insbesondere 
der Cervix nach Zersetzung der Lochial- 
secrete durch Saprophyten bedingt wird 
Diese durch den Geruch zu erkennende 
Zersetzung ist vom Untersuchen ebenso un¬ 
abhängig wie vom Stuhl. Die Leistungen 
der Anti- und Asepsis werden daher viel 
weniger in der Morbidität als in der Mor» 
talität zum Ausdruck kommen. 

P. Strass mann (Berlin). 

(W. Zangemeister: Klin. Beitr. z. Frage der 
WochenbettsmorbidiUt. Zeitschr. f. Geb. u. Gyn. 
Bd. XVI, 47, 3.) 


Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


41 


Therapeutische Casuistik. 

Fieber und Schüttelfröste mit Leberschwellung (ulcerirte Lebergunimata?) 

geheilt durch Quecksilber. 

Von Q. Klemperer. 


Am 14. August suchte mich ein 30jähriger 
Kaufmann aus Landsberg a. W. auf; er war 
blass und mager und machte einen kachele- 
tischen Eindruck. Er klagte, dass er seit 
Anfang Juni an Fieber mit Schüttelfrösten 
leide; seine Aerzte hätten ihn wegen Ver¬ 
dacht auf Wechselfieber zuerst mit Chinin, 
dann wegen Verdacht auf Typhus mit ver¬ 
schiedenen Mitteln behandelt, aber trotz 
wochenlanger Bettruhe wäre das Fieber 
Bkht gewichen, er habe im ganzen 30 Pfund 
verloren und sei matt und arbeitsunfähig. 
Zuletzt hätten ihn 3 Aerzte in Chloroform¬ 
narkose untersucht und ihm danach mit- 
getheilt, er solle nur aufstehen und viel 
spazieren gehen und sich gut ernähren, 
das Fieber würde von selbst schwinden. — 
Die Körpertemperatur hatte Patient von 
Anfang Juli regelmässig gemessen und die 
Tagesmaxima in eine Curve eingetragen, 
die ich hier wiedergebe (S. 42); die Tem¬ 
peraturen hatten sich meist um 38,5 bewegt 
und waren nur einigemal über 390 gestiegen. 
Fast allabendlich hatte er Frösteln gespürt, 
das danach in Hitze und Schweiss über¬ 
gegangen wäre; mehreremals war richtiger 
Schüttelfrost eingetreten. Der Appetit war 
dauernd schlecht, der Schlaf oft gestört. 

Bei der nun vorgenommenen Unter¬ 
suchung konnte ich die Ursache des Fiebers 
nicht leicht aufdecken. Lungen und Herz 
fand ich vollkommen gesund, speciell an 
den Lungenspitzen und den Herzklappen 
nichts abnormes. Die Beklopfung der 
Stirnhöhlen, der Highmorshöhlen, der 
Warzen fortsätze zeigte keine Schmerz¬ 
haftigkeit, die Rachenorgane waren gesund. 
Alle Gelenke frei; die Geschlechtsorgane 
in Ordnung, auch an der Prostata nichts 
zu bemerken. Nirgends verdächtige Drüsen. 
— Anhaltspunkte ergab nur die Betastung 
des übrigens normal aussehenden Ab¬ 
domens. Die Leber war etwa 2 Querfinger 
breit nach abwärts vergrössert, auf Druck 
etwas schmerzhaft, dabei von ebener Ober¬ 
fläche, normaler Consistenz, glattem Rand. 
Die Milz war ebenfalls vergrössert zu 
fühlen, sie erreichte bei tiefen Inspirationen 
gerade den Rippenbogen. — Die später 
vorgenommene Urinuntersuchung ergab 
ganz normale Verhältnisse. — Ich machte 
nun die Combination, dass das Fieber mit 
der Schwelhing und iSchmerzhaftigkeit der 
Difitized by (jOOQlC 


Leber Zusammenhängen könnte; die vor¬ 
gekommenen Fröste Hessen an Leber- 
abscess denken. 

Eine Ursache der eventuellen Leber- 
affection konnte ich nicht feststellen; weder 
Gallenstein noch Echinococcus war wahr¬ 
scheinlich; auch im Darm konnte die Ursache 
nicht liegen. Da kam mir die Erinnerung 
an ähnUche Fälle, bei denen eine syphi¬ 
litische Aetiologie nachgewiesen werden 
konnte. Anfang der 90 er Jahre hatte ich 
einen jungen Rechtsanwalt gesehen, der 
monatelang an erratischen Frösten mit 
Icterus und Leberschwellung litt, sodass 
die Diagnose Leberabscess zweifellos und 
die Prognose sehr traurig erschien. Er 
wurde ins Krankenhaus Moabit gebracht, 
um operirt zu werden; aber ehe es so weit 
kam, stellte Geheimrath Renvers fest, dass 
Patient vor Jahren eine luetische Infection 
durchgemacht hatte und leitete ein Sub- 
limatspritzcur ein, die einen unerhörten 
Erfolg hatte; die Fröste hörten auf, der 
Icterus verschwand, die Leber verkleinerte 
sich, Patient wurde ganz gesund und ist bis 
heut ganz gesund geblieben. Ueber diesen 
Fall habe ich seitdem wiederholt mit 
Herrn Renvers gesprochen; derselbe 
war überzeugt, dass es sich um ulcerirte 
Lebergummata gehandelt habe, und dass 
es unter der specifischen Einwirkung zu 
einer glatten Vernarbung gekommen wäre. 

— Ich selbst habe 1896 in meiner Privat* 
klinik einen 36jährigen Herrn behandelt, 
der in mehrwöchentlichen Zwischenräumen 
Anfälle von sehr hohem Fieber mit Schüttel¬ 
frost ohne Kolikschmeizen gehabt hatte, 
bei dem zur Zeit der Beobachtung Leber¬ 
schwellung und Icterus ohne Fieber bestand. 
Auch hier wurde eine lange zurückliegende 
luetische Infection zugestanden. Ich leitete 
eine Schmiercur ein, unter der Leber¬ 
schwellung und Icterus zurückgingen: das 
Fieber ist seitdem nicht wiedergekehrt. 

Diese Erfahrungen gingen mir durch 
den Sinn, als ich bei meinem Patenten 
die Schwellung und Druckschmerzhaftigkeit 
der Leber constatirte. Ich fragte nun nach 
Lues und erfuhr, dass er vor 9 Jahren ein 
Ulcus durum gehabt, eine kurze Schmier* 
cur durchgemacht, auch 10—15 Fkschen 
Jodkali getrunken habe; vor 8 Jahren waren 

anscheinend Condylomata ad anum dage- 

* urigi raT fron 

UNIVERSITY &F CALIFORNIA 






42 


wesen, die nach einer neuen Jodcur ver¬ 
schwanden. 

Es erschien mir nunmehr nicht unwahr¬ 
scheinlich, dass es sich um eine luetische 
Leberaffection, d. h. zerfallende Leber- 
gumraata handele und dass die Resorption 
necrotischen Gewebes das Fieber verur¬ 
sache. Von diesem Gedanken ausgehend, 
verordnete ich dem Patienten eine Queck- 
silbercur, in Form von Sublimateinspritzun- 
gen zu gebrauchen. Dieselben in der 
bekannten Form der Lewin’schen In- 
jectionen, in einer Spritze 1 ccm einer 
Lösung von 0,2 Sublimat, 2,0 Kochsalz 
auf 10 Wasser, sind denn auch regelmässig 
angewandt worden, zuerst in einem hiesigen 
Krankenhaus, dann in der Heimath des 
Patienten. Das Resultat zeigt sich in 
der Curve, auf der jedes X eine In- 
jection von 0,02 g Sublimat bedeutet. Das 
Fieber ist nach der 14 Injection fort¬ 
geblieben und seitdem nicht wiedergekom¬ 
men. Die Leber ist auf die normale Grösse 
zurQckgekehrt und auch ein Milztumor ist 
nicht mehr nachweisbar. Patient hat wieder 
guten Appetit, isst sehr ordentlich und hatte 
am 27. October 18 Pfund zugenommen. Seit 
dem 1. October ist er wieder in seiner 
alten Stellung thätig, thut einen anstren¬ 
genden Dienst, fühlt sich ganz gesund. 
Die letzte Nachricht ist vom 15, December, 
es ist kein Recidiv eingetreten. 

Man darf wohl mit einer an Sicherheit 
grenzenden Wahrscheinlichkeit annehmen, 
dass in diesem Fall Fieber und Leber¬ 
schwellung als tertiäre Erscheinungen der 
Lues aufzufassen sind, und es ist gewiss 
erlaubt, ulcerirende Lebergummata als Ur¬ 
sache der klinischen Erscheinungen anzu¬ 
sehen. 'Die Syphilislitteratur kennt mehrere 
Beispiele von Erweichung und Resorption 
von gummösen Leberherden, welche in 
dem grossen Werk von Neumann (Noth¬ 
nagels Pathologie Bd. 23 S. 466) zusammen¬ 
gestellt sind. Indessen habe ich nichts 
über einen fieberhaften Verlauf mit Schüttel¬ 
frösten, der das klinische Bild eines Leber- 
abscesses hervorriefe, in der Litteratur 
finden können; auch in dem jüngst er¬ 
schienenen Vortrag von Senator „über 
die acut-infectiösen Erkrankungsformen der 
constitutionellen Syphilis“ (Berliner klin. 
Wochenschr. 1902 No. 20) finde ich nichts 
davon erwähnt. Deswegen möchte ich dies 
„luetische Leberfieber“ hier gewisser- 
maassen zur Discussion stellen; vielleicht 
werden aus dem Kreise der Leser weitere 
Beobachtungen zu diesem Gegenstand be- 

□iiÄfigö 

























Januar 


43 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 

Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Aus der medicinisehen Abtheilung des Städtischen Krankenhauses Frankfurt a. M. 

(Oberarzt: Prof. v. Noorden.) 

Die Anästhesin-Behandlung des Erysipels. 

Von Dr. HeoillSf Av^sten/ai il. 

Unter den neueren in die Therapie ein- j Dauer der Krankheit auch schmerzfrei 2u 
geführten Anästheticis spielt das „An- ; halten, so dass damit eine der grössten 
ästhesin" eine grosse Rolle. Wir haben , Beschwerden der Kranken weggenomnien 
uns in den letzten Jahren vielfach mit wird Wir wandten das Anästhesin bei 
dem Anästhesin - Ritsert beschäftigt (conf. j unsern Erysipelfäilen, deren Zahl sich auf 
v. Noorden, D. naed. Wochenschrift 1902 25 beläuft, in Form einer 10°/ 0 igen La- 

No. 17). Wir suchten nun dieses neue i nolin Vaselinsalbe an. ln den ersten 
Präparat auch für die Therapie des Ery- | Stadien der Erkrankung, wo es zur Blasen- 
sipels nutzbar zu machen. Gegen das Ery- j biidung kommt und zu starker Hautröthung 
sipel kennen wir keinerlei Heilmittel, durch , und Spann mg. wurde die Anästhesinsalbe 
die wir entweder das Erysipel zum Ver- | dick auf das Gesicht aufgelegt und mit 
schwinden bringen oder auch nur den j einer Bindenmaske bedeckt, m späteren 
erysipelatösen Process aufhalten könnten j Stadien wurde es auf die gerötheten Stellen 
„er muss, wie Henoch sagt, seine Phasen in dünner Schicht aufgetragen. Die An¬ 
unaufhaltsam in sich durchmachen und ästhesirung der Haut ist eine vollständige, 
vollenden. 41 Der Arzt hat daher sein Haupt- so dass auch Berührung und Druck der 
augenmerk darauf zu richten, das Allgemein- entzündlichen Theile keinen Schmerz mehr 
befinden des Kranken zu überwachen und auslösen. — Ueble Nebenwirkungen hat 
zu versuchen seine Beschwerden zu er- das Präparat nicht Anhangsweise sei er¬ 
leichtern. Zweifellos haben sich für diesen wähnt, dass wir das Anästhesin Ritsert auch 
Zweck manche der bisher üblichen Maass- zur intraduralen Anästhesirung ver¬ 
nahmen gut bewährt; uns selbst erschienen suchten und zwar in zwei Fällen schwerer 
die vielfach empfohlenen Alkoholumschläge * gastrischer Krisen bei Tabes dorsualis. 
am meisten zur Erleichterung der localen i Wir spritzten das Anästhesin in Form einer 
Beschwerden beizutragen, wenn wir auch sterilisirten 30/ 0 igen öligen Lösung in den 
einen deutlichen Einfluss auf den entzünd- Duralsack des Rückenmarks. Im Gegen¬ 
lieben Process nicht gesehen haben. Das satz zur Cocaineinspritzung schlug der Ver- 
neue Anästhesin-Verfahren aber scheint such vollkommen fehl. Dies stimmt mit 
uns der Alkoholtherapie weit überlegen zu der Angabe v. Noorden's überein, dass 
sein. Es hatte immer den unverkennbaren Anästhesin nur auf die Nervenendigungen 
ausgezeichneten Erfolg, die vom Erysipel und nicht auf freigelegte Nervenstämme 
befallenen Hautpartien vollständig schmerz- anästhesirend einwirke, 
frei zu machen und während der ganzen j 

Ueber Bromipinklystiere, besonders in der Kinderpraxis. 

Von Dr. A. Raho -Krippen a. d. Elbe. 

Bromipin Merck, eine Verbindung des Brom messer 1 ) wie sic in jedem Bandagengeschäfte 
mit Sesamöl, empfehle ich in allen Zuständen, zu haben sind. Ist die Kanüle durch Ein¬ 
weiche die Bromanwendung nützlich erscheinen tauchen in die Mischung gleitsara gewor- 
lassen. und zwar in der Anwendung perClysma, * den, dann lässt man den Kranken sich auf die 
weil auf diese Weise jede Reizerscheinung von ! linke Seite legen und die Beine anziehen. Mit 
Seiten des Magens ausgeschlossen ist. Ich ver- * einer Klystierspritze von 60 ccm und mehr 
ordne folgende Dosen: bei Säuglingen soviel j Inhalt spritzt man die Bromipin-Mischung ein, 
g, wieviel Monate sie zählen, bei Kindern über j oder man lässt aus einer Spülkanne den Ein- 
1 Jahr weiterhin 10 —12—15 g, bei Kindein j lauf aus gelinder ('/a — 1 in) Höhe vornehmen, 
über 4 Jahre 15—20 g, bei älteren Kindern Selten wird das in den MastiUrni hingegossene 
25—30 g, bei Erwachsenen 30 — 40 g Diese j vom Kranken wieder ausgepresst. 

Dosen rührt man je nach dem Alter des j Ich habe oben die Üewichtsmengen von 
Kranken auf Ä /*— ^ V* Tasse lauen The cs, am 1 10%igem Bromipin angegeben, bin aber der 
besten Leinsamen- oder auch Moosthee oder j Meinung, bei grösseren Brom-Mengen lieber 
mit Milch oder Thee und Mikhmischung 33 l /s°/o>ges Bromipin anzuwenden, da dies schon 
ein. In die ölige Flüssigkeit taucht man eine lj Ach beziehe die mir sehr gefällig erscheinende 

Gummikar.ülc von grauem Patentgummi und Form von solchen grauen Klystier-Kaoülenj von der 
von l2cnMJtafge hl&chstens */s cm Durch- Firma Alexander Schade^ Leipzig- 



44 


Die Therapie der Gegenwart 1903, 


Januar 


pekuniär bei dem an sich nicht gerade wohl¬ 
feilen Mittel praktischer ist. Meine Versuche 
sind mit 10% Bromipin angestellt, da 
solches wiederholt in gefälligster Weise von 
der Firma £. Merck zur Verfügung gestellt 
wurde. Bei Kindern jedoch würde ich im 
Interesse der leichteren Dispensirung und aus 
anderen weiter unten anzugebenden Gründen 
weiter das 1Ö%ige Bromipin anzuwenden Vor¬ 
schlägen 

Das Bromipinklystier ist von besonderem 
Nutzen .in der Kinderpraxis! ln dieser ist 
Brom schon lange und vielfach angewendet 
worden, aber gerade bei denjenigen Er¬ 
krankungen, wo die Indicationen für Brom 
vorliegen, ist der Darmtraktus der Kinder sehr 
häufig mit ergriffen oder wenigstens gefährdet. 
Wegen des lästigen Geschmackes erzeugten 
die Bromsalze beim Eingeben Aufregung der 
Kinder und im Darme per Clysma machten 
sie Reizung, denn sonst gute Einhüllungsmittel 
wie Salepschleim, Gummi arabicum und ähn¬ 
liche Mischungen können die Salzwirkung der 
Bromalkalien nicht unterdrücken. Darum er¬ 
scheint das Bromipin-Ses&möl empfehlens- 
werther. 

Wirklich mannigfach ist die Wirkung des* 
Bromipins bei der Eklampsia infantum, mag 
sie idiopatisch oder symptomatisch, namentlich 
in Folge von Darm- und Verdauungsstörungen 
aufgetreten sein. Die Wirkung tritt 10 Minuten 
nach dem Klystier ein. Die Spannung im 
Körper lässt nach, nur leises Schütteln noch, 
noch hier und da Schauern mit den Armen, 
Zucken mit den Augenlidern ürid eine An¬ 
deutung von Zähneknirschen, und das Kind 
legt sich auf die Seite, um zu schlafen; der 
Schlaf wird tief und von regelmässiger Athmung 
begleitet. 

Ist diese Wirkung aber nicht auch schon 
mit der billigeren Bromsalz -ülhloralhydrat- 
Mischung (Soltmann) zu erreichen? Mag sein, 
aber wir wollen doch nur eine Brom Wirkung 
haben, und dies erreicht rhan eben nur im 
Bromipin und im Clysma, und nicht mit der 
bisherigen einfachen Bromsalz-Mischung. Mit 
dem Bromipin reize ich den Darm nicht, im 
Gegentheil, ich mildere sogar die all fälligen 
Reizzustände daselbst durch das Oel und 
durch den Schlejmzusatz, der hier nun wirk¬ 
lich einhüllend wirken kann, nachdem im 
Bromipin die Bromreizung in Folge der Bin¬ 
dung mit Sesamöl in Wegfall gebracht worden 
ist Ich darf also sogar froh sein, wenn beim 
Clystier möglichst Alles im Darmfe zurück¬ 
bleibt. Aber' hauptsächlich kommt mir bei 
Bromipin die ruhige Einschläferung, der 
Dauerschlaf und namentlich die andauernde 
Nachwirkung auf das seelische und körper¬ 
liche Allgemeinbefinden der Kinder zu Nutze. 
Die Grilligkeit, die Nörgelei und die Schlaf¬ 
losigkeit, die nach überstandener Eklampsie 
sich bei den Kindern zumeist einstellte, sie 
bieiben aus'nach den ersten* 4—5 Bromipin- 
clystieren. In diesen Fähen liess ich eine Woche 
lang früh und abends 1 Bromipindystier geben 
und, wie bemerkt, mitm ach haltigem Erfolge. 
□ igitized by )Q1C 


Bromipin half ferner bei Keuchhusten. Im 
Stadium convulsivum brachte ich die Eltern 
dazu, wenigstens 10—14 Tage früh und nament¬ 
lich Abends ein Bromipinklystir vorzunehmen, 
meist Hessen sich’s die Kinder gut gefallen, 
zumal die weiche Gummicanüle schnell und 
leicht eingeführt werden konnte. Wenn ich 
diese Manipulation mit dem Einlöffeln von 
Arzenei vergleiche, so ist das Klystieren bei 
weitem einfacher und sicherer. Dadurch habe 
ich in der oben genannten Frist die Keuch¬ 
hustenanfälle recht bedeutend nachlassen und 
auch in der Zahl ziemlich progressiv zurück¬ 
gehen sehen; und namentlich fiel es mir auf, 
dass die Nahrungsverweigerung, der man doch 
sonst so oft begegnet, den Kindern gamicht in 
den Sinn kam. Später, d. i. in der dritten und 
vierten Woche, liess ich den Kindern nur noch 
einmal früh, bisweilen auch, wenn nächtliche 
Schlaflosigkeit vorherrschte, Abends ein Bromi¬ 
pinklystier geben. Eine Nachprüfung meiner 
Angaben möchte ich bei Keuchhusten beson¬ 
ders empfehlen, weil die so behandelten Kinder 
niemals an Gewicht abgenommen haben. 

Bei Atrophie der Säuglinge, bei den gleich 
von Hafus-äus zurückgebliebenen oder durch 
Schwcizermikh oder Kihdermehl oder durch 
Ueberfütterung und Nahrungsüberstürzung oder 
durch Trinken im Galopprhythmus abgemager¬ 
ten Kindlein, den Voltaire-Ebenbildern, da 
klagen die Mütter fast ausnahmslos über das 
wehleidige Wimmern, über das „erbarmungs¬ 
würdige“ Schreien, das Tag und Nacht sie ver¬ 
folgt. Bromipin ist hier ein zuverlässiges Se¬ 
dativum, ein Tonikum und auch 'ein Nutriens;; 
mir wenigstens hat's drei ganz kümmerliche* 
SäugUnge zum Stolze der vorher fast „ver¬ 
legenen“ Eitern gross ziehen helfen: die Eltern 
konnten sich mit ihren Kindchen getrost überall 
wieder sehen lassen. Als Nutriens, eben bei 
diesen kleinen atrophischen Kindern, bewährt 
sich, gerade das 10%ige Bromipin wegen .der 
reichlichen darin enthaltenen Sesamölmenge. 
Ein Zusatz von 10—12g Oel ist für die Unter¬ 
stützung der Ernährung nicht zu unterschätzen. 

In einem vierten Falle von Paedatrophie 
bei einem nach 20 jähriger Pause nachgekom¬ 
menen Kinde, da gehörte allerdings alle Ueber- 
zeugungskraft des Hausarztes dazu, das Ver¬ 
trauen zu Bromipin zu erhalten, denn das 
Schreien und das Wimmern und das Stühlen 
in jede Windel wollte gamicht erst nachlassen; 
aber die Geduld der Eltern machte sich be¬ 
lohnt, vom zwölften Tage ab, wie mit einem 
Schlage, wurde das Kind ruhig, es nahm die 
beiläufig gamicht geänderte Nahrung und war 
fortan lebhaft und gleichgelaunt. 

Selbst bei tuberkulösen Processen der 
Kinder, vor Allem bei Bronchialdrüsen-und bei 
Himhauttuberkulose sind die HustenanftHe 
durch Bromipin in zwei Fällen wesentHch ver¬ 
ringert und abgeschwächt worden, und bei 
den die Hirnhautentzündung complicirenden 
Krämpfen schwerster Form habe ich ebenso, 
wie bei den eklamptischen Krämpfen schnelles 
Einschläfem erreicht; allerdings der Natur des 
Leidens gemäss repetirten die Krämpfe hart- 

UN1VERSITY 0F CALIFORNIA 




Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


45 


näckig und bald hintereinander, und so musste 
drei-, in dem anderen Falle sogar viermal inner¬ 
halb 24 Stunden das Klysma wiederholt wer¬ 
den, aber die einfache Brom Wirkung hielt doch 
immerhin 6—8 Stunden an. Merkwürdig ruhig 
war auch hier der Schlaf und das mag ein 
Grund sein, warum ich selbst bei der einmal 
diagnostisch feststehenden Hirnhautentzündung 
für Bromipin eintrete, natürlich dann, wenn 
gerade auf die Kosten des Mittels keine Rück¬ 
sicht genommen zu werden braucht. 

Auch in drei Fallen von Brechdurchfall 
unter den Erscheinungen von acutem Hydro- 
cephaloid schien mir das Schlucken, die Un¬ 
ruhe, das Hin- und Herdrehen der Kinder, das 
jAhe Aufschreien nicht so zum Ausbruch zu 
kommen wie sonst bei Kindern derselben Ver¬ 
hältnisse, desselben Alters und ebenderselben 
Constitution. Ein 8monatiges Kind, das sofort 
in die Behandlung kam. erholte sich nach drei 
Tagen sogar, kamauch bald wieder zur Genesung, 
ohne dass sich nachher Neurasthenie geäussert 
hätte; und zwar erhielt es 14 Tage lang früh 
und Abends 8 g Bromipin 10°/o. 

Schliesslich haben sich mir die Bromipin- 
klystiere bei rhachitischen Kindern ausser¬ 
ordentlich bewährt, um das echauffirte Athmen 
und das Geifern und Röcheln der Kinder zu 
beruhigen. Einem 7jährigen imbecillen Kinde mit 
Schlaflosigkeit und Enuresis nocturna gab ich 
im Ganzen 1400 ccm 10°/oiges Bromipin per 
clysma (und zwei je I 1 /* Esslöffel mit wechsdn- 
den Zusätzen von Thee und Milch) und erzielte 
damit sehr gute Erfolge. 

Was wir über Bromipin in der Kinder¬ 
praxis sagten, das schien mir je nach den 
Aenderungen der Indication auch an Erwachse¬ 
nen Geltung zu gewinnen. Ausdehnen und 


l systematisch durcharbeiten konnte ich meine 
| Versuche nur in der Kinderpraxis; aber ein¬ 
zelne Krankheitsgruppen habe ich auch bei 
| Erwachsenen verfolgt, um sie für die Bromipin- 
Cly^mabehandlung zu fixiren und weiter im 
' Auge zu behalten. 

! Die Varietäten der Epileptischen- und Neu- 
j rastheniker-Aequivalente sind sehr mannichfach 
i und zahlreich. Bei Frauen selten, wohl aber 
| bei Männern sind mir mehrmals periodische 
i Kopfschmerzen mit Gedächtsnisschwäche be- 
| gegnet, die mich zur anamnestischen Nach- 
! forschung über früher durchgemachte Krämpfe 
| führten und zweimal wurde ich durch die Be- 
; handlung in der Berechtigung der anamnesti- 
, scheu Prämissen bestärkt. Ich scheute mich 
| nicht, auch dort Clysmata zu verordnen und 
| diese wurden in dem einen Falle — ein 58jäbri- 
I ger Mann — dreimal fünf bezw. sechs Tage 
I in Zwischenpausen und im anderen Falle zwei- 
i mal eine Woche mit einer Unterbrechung von 
zwei Wochen regelmässig Morgens genom¬ 
men. Beide hatten keine Störungen bei den 
verordneten Bromipin-Einläufen und keine Er¬ 
scheinungen von Bromismus trotz grosser Dosen 
(6—8 g Brom pro dosi). 

Auch bei neurasthenischen Zuständen von 
Phthisikern, insbesondere bei Reizhusten, haben 
sich die Klystire bewährt, ebenso bei Erregungs¬ 
zuständen nach Apoplexien und Kopfcontu- 
sionen. 

Ich möchte also auf Grund meiner Erfah¬ 
rung die Bromipinklystiere den Herren Collegen 
bestens empfehlen, indem ich glaube, dass die 
Worte von Kräpelin „es werden durch Brom 
i innere Spannungszustände gemildert oder be- 
| seitigt", insbesondere auf die Bromipinklystiere 
I Anwendung verdienen. 


Eine Methode zur wesentlichen Vereinfachung: und 
Verbilligung des Röntgen-Verfahrens. 

Von Dr. med. Franz Kronecker- Berlin. 

(Mit 2 Tafeln am Schluss des Heftes). 


V. Mangold (Dresden) und Andere haben 
darauf aufmerksam gemacht, dass die bisher 
ziemlich kostspielige und umständliche Actino- 
graphie (Anfertigung von Photogrammen mit 
Hülfe der Röntgenstrahlen) sich erheblich ein¬ 
facher und wohlfeiler gestalten * lässt, indem 
man die Aufnahmen anstatt auf der photo¬ 
graphischen Platte auf Bromsilberpapier macht. 

Ich habe in letzter Zeit mit meinem Tech¬ 
niker, Herrn Photographen Engelmeyer, in 
dieser Richtung experimentirt und zwar mit 
recht gutem Erfolg. Es hat sich herausgestellt, 
dass jenes Verfahren, bei welchem man der 
kostspieligen und zerbrechlichen Platte völlig 
entrathen kann, zur Untersuchung besonders 
chirurgischer Fälle, namentlich wo es 6ich um 
Feststellung von Verletzungen und Erkran¬ 
kungen der Knochen und Gelenke der Extremi¬ 
täten handelt, vollkommen ausreicht. Wir be¬ 
nutzen das hochempfindliche Bromsilberpapier, 
Marke „M*, der Firma Dr. Stolze & Co. (Char- 

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lottenburg-Westend, Kirschenallee 19—21), wei¬ 
ches man in der erforderlichen Grösse ge¬ 
schnitten in der Dunkelkammer bei schwachem 
rothen Licht in eine lichtdichte schwarze Tasche 
legt. Dieselbe wird nun bei der Aufnahme 
mittelst der Röntgenstrahlen dem zu unter¬ 
suchenden Körpertheil genau so angelegt, wie 
die in der Cassette eingeschlossene photo¬ 
graphische Platte. Es empfiehlt sich nach 
unserer Erfahrung nicht, die mit dem Papier 
beschickte Tasche so fest anzudrücken, dass 
sie sich dem zu untersuchenden Gliede in allen 
ihren Theilen anschmiegt etwa wie eine Papp¬ 
schiene, da man auf diese Art keine klaren 
Bilder erhält. Man begnüge sich vielmehr da¬ 
mit, dieselbe genau wie eine mit Glasplatte 
gefüllte Cassette einfach in einer Ebene anzu¬ 
legen. Die Expositionsdauer betreffend, so 
ist zu beachten, dass man drei bis vier Mal so 
lange belichten muss als bei einer stark em¬ 
pfindlichen Schleussnerplatte. Indessen kann 

Original frorn 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 





46 


Januar 


Plc Therapie der 


man sich hier des Verstärk u ngsschirms 
bedienen und zwar mit ungleich grösserem 
Vortheil als bei der Aufnahme auf einer 
Röntgenplatte, da das störende, oft sehr grobe 
Korn bei dem Bromsilber-Actinogramm voll¬ 
ständig wegfällt Es beruht dies auf derThatsache, 
dass die Bromsilberpapierbilder in auffallen¬ 
dem Lichte betrachtet werden, nicht in durch- 
fa! len de in wie die Negativplatte. Bedient man 
sich des Verstärkungsschirms, so braucht man 
zur Aufnahme von Hand und Vorderarm unter 
Verwendung einer Standardplatte (um die 
Hälfte billiger als die sehr empfindliche 
Schleussnerplatte): 4 Secunden, unter Be¬ 

nutzung von Bromsilberpapier 15 Secun¬ 
den. Bei Aufnahme von Unterschenkel und 
Knie: Standardplatte = 20 Secunden, Brom¬ 
silberpapier: 70 Secunden; Thorax und Schulter- 
gelenk eines mageren Mannes: Standardplatte: 
30 Secunden, Bromsilberpapier 90 Secunden. — 
Ist die Aufnahme fertig, so wird das exponirte 
Bromsilberpapier in der Dunkelkammer bei 
schwach rothem Licht unter strengstem Ab¬ 
schluss gegen alles weisse Licht aus der 
lichtdich Tasche genommen, in eine mit 
Wasserleitungswasser gefüllte Schale ein- 
geweicht, um es zu glätten, und hierauf mit 
dem Eisenoxalatentwickler (1:3) unter Zusatz 
einiger Tropfen 10 o/o Bromkaliumlösung 
langsam entwickelt, dann in einem Wasserbade, 
welchem ein Theelöffel bis ein Esslöffel Eis¬ 
essig zugesetzt ist, geklärt, abgespült, in dem 
bekannten unterschwefligsauren Natronbade 
üxirt, hierauf gründlich gewässert, in heisser 
Luft oder Alkohol getrocknet, mit Negativlack 
lackirt und auf Carton aufgezogen. So wird 
das Bild in 1—2 Stunden fix und fertig. 

Beim Entwickeln hat man darauf zu achten, 
dass der Process gründlich und vollständig zu 
Ende geführt wird. Die von dem Körpertheile frei¬ 
liegenden Partien des Papiers müssen glänzend 
schwarz imponiren; nur wenn dieses der Fall 
ist, werden hinreichend scharfe Contraste der 
Körpergewebe auf dem Negativ erzielt werden. 

Da man’bei Anwendung des Bromsilber- 
Papiers 3-4mal so lange zu exponiren hat 
wie auf Platte, so scheint dieses Verfahren bei 
sehr schwer leidenden oder sehr unruhigen 
Patienten, namentlich Kindern, nicht gut ver¬ 
wendbar. Ebensowenig eignet es sich für die 
Actinographie sehr dicker, mit starker Musku¬ 
latur und Fettpolster bedeckter Körpertheile 
wie des Beckens und der Bauchorgane Er¬ 
wachsener, und endlich auch nicht für solche 
Regionen, wo es auf ganz besondere Nüancirun- 
gen an kommt, wie für den Gesichtsschädel, 
den Bulbus und die Lungen, soweit nicht feste 
Tumoren, sondern Abscesse oder tuberkulöse 
Heerde, Cavemen u. dergl. in Frage kommen. 
Hingegen dürfen sich die Fälle von Hyper¬ 
trophie und Dilatation des Herzens, von 
aneurysmatischen Erweiterungen der grossen 
Brustgefässe, von Lungen- und Mediastinal- 
tumoren neben den obenerwähnten Knochen- 
und Gelenkerkrankungen, sowie Fremdkörpern 
innerhalb der Extremitäten sehr wohl zur 
Actinographie auf Bromsilberpapier eignen. 

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Gegenwart 1903. 


Es bleibt also immerhin ein grosses Gebiet für 
jenes schnelle und billige Verfahren übrig. 
Der Hauptvorzug desselben dürfte in seiner 
grossen Wohlfeilheit gegenüber der Platten¬ 
aufnahme bestehen. 

Während z. B. eine der verhältnissraassigen 
billigen Standardplatten in Format 13x 18 zur 
Aufnahme der Hand gerade ausreichend, ca 
20 Pf. kostet, wozu die Auslagen für den Ab¬ 
zug auf Celloidinpapier mit etwa 30 Pf. kommen, 
beträgt der Preis eines Blattes BroirSilber¬ 
papier in gleicher Grösse 12 Pf., das macht 
dann mit Aufziehen auf Carton u. s. w. eine 
Ausgabe von 15—20 Pf. Will man zum Ver¬ 
gleich neben der kranken auch die gesunde 
Hand actinographiren, so braucht man hierzu 
eine Platte 24 x 30, welche im Minimum 75 Pf. 
kostet. Mit Abzug auf Celloidinpapier stellen 
sich dann die Auslagen für eine derartige Auf¬ 
nahme auf 1,50—2,00 M. Ein Blatt Bromsilber¬ 
papier in Format 24x30 kostet hingegen 35 Pf„ 
sodass die Selbstkosten eines derartigen 
Actinogramms sich auf ca. 50 Pf. steilen. Für 
eine Thoraxaufnahme beim Erwachsenen be¬ 
darf man einer 40x50 cm grossen Platte: 
Kostenpunkt zum Mindesten 2 M., Auslagen, 
welche sich durch Anfertigung eines Abzuges 
genau verdoppeln. Der Preis eines Stückes 
Bromsilberpapier gleicher Grösse stellt sich 
auf 1 M., sodass die Selbstkosten der Aufnahme 
sich hierbei auf ca. 1,50 M. belaufen» Unter 
Umständen genügt ja freilich dasPlatten-Negativ. 
Aber wie vergänglich ist dieses. Man darf ja 
kaum wagen, dasselbe, namentlich eine Platte 
grösseren Formats, einem nicht sehr vorsichtigen 
Patienten in die Hand zu geben. In anderen 
Fällen aber kommt man ganz und gar nicht da¬ 
mit aus, sondern braucht nothwendig einen Ab¬ 
zug, namentlich wenn das Bild den Akten einer 
Unfall-, Invalidität- oder Berufsgenossenschaft 
beigelegt oder in wissenschaftlichen Gesell¬ 
schaften herumgegeben werden soll. Und wie¬ 
viel Umstände und Mühe macht dann häufig 
das Copiren besonders einer grossen Röntgen¬ 
platte? Das Tageslicht ist in unseren Breiten 
zumal während des Winters oft Tage lang ganz 
unzureichend, so dass der Process entsetzlich 
langsam vor sich geht und das Bild zu dem 
Termin, wo man seiner bedarf, nicht fertig 
wird. Alles dies fällt bei Röntgenaufnahmen 
auf Bromsilberpapier fort. Exponiren, Fixiren, 
Wässern, Trocknen in Alkohol oder am wannen 
Ofen, Lackiren und Aufziehen auf Carton 
nehmen bei einiger Uebung selbst bei Bildern 
von der Grösse 40x50 knapp 1 l /t Stunden in 
Anspruch, wobei man ganz unabhängig von 
der Witterung bleibt und inzwischen sogar 
noch andere Aufnahmen machen kann. 

Wenn daher auch, wie ich oben erwähnte, 
bei jenem letztgeschilderten Verfahren eine 
derartige Schönheit und feine Ausarbeitung 
namentlich der Knochenstructur kaum erwartet 
werden kann, wie sie die Aufnahmen von der 
Röntgenplatte zeigen, so treten doch die gröbe¬ 
ren Anomalien deutlich genug hervor, um, was 
ja den Kernpunkt des gesammten Röntgen¬ 
verfahrens bildet, eine exacte Diagnose zu ge- 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


4 i 


statten. So eignet sich das Bromsilberverfahren | dass es mit Hülfe jenes Papiers möglich sein 
vorzüglich für den Massenbetrieb, nament- wird. Aufnahmen in einer Grösse zu machen, 
lieh in der poliklinischen Praxis, wo bis- wie sie bei Platten unmöglich sein dürften, cia 
her die Verwendung der Actinographie der der Guss solcher Riesenplatten unerschwing- 
hohen Kosten wegen eine sehr beschränkte ge- theuer werden würde. Die Firma führt Formate 
blieben ist Man wird sich hierbei auch in jeder Grösse und Rollen beliebiger Länge bis 
Anbetracht der unbedeutenden Preisdifferenz zur Breite von SO cm. Mit Hülfe zweier Blätter 
eher dazu verstM'ien, ein grösseres Format zu 63x80 bezw. 70x90, das Blatt zu 2,30 M. bezw. 
wählen und häufiger das gesunde Glied zum 2,90 M., wird es, wenn man beide Blätter zu- 
Vergleichc mit aufzunehmen, was wiederum | sammenlegt, möglich sein einen ganzen er- 
einer exarten Diagnose zu Gute kommen dürfte wachsenen Menschen mit Röntgcnstrahlen zu 
Zum Schluss soll nicht unerwähnt bleiben, | photographiren. 

Schwindsuchtstherapie vor 133 Jahren. 

Von Dr. Siegfried Kaminer- Berlin. 


Durch die Liebenswürdigkeit des Kollegen 
Eiger, der einem Zufall den Erwerb ver¬ 
dankte, gelangte vor Kurzem ein Büchlein in 
meine Hände — eine deutsche Uebersetzung 
einer französischen Abhandlung über die 
Schwindsucht aus dem Jahre 1770. Es sind 
die Erfahrungen des Dr.Buchoz, Leibarztes des 
Polenkönigs, Mitglieds der Akademie zu Nancy, 
über die Diagnose, Prognose, besonders aber 
über die Therapie der Krankheit. Bei dem 
heute so überaus starken und regen Inter¬ 
esse, das der Bekämpfung der Tuberkulose 
als Volkskrankheit entgegengebracht wird, 
wird es möglicherweise nicht uninteressant 
sein, die wissenschaftlichen Hypothesen und 
Ueberzeugungen dieses scheinbar sehr er¬ 
fahrenen Praktikers durch die Lupe moderner 
Kritik zu betrachten, und staunen wird man, 
schon dort und dann Anklänge zu finden ap 
Behandlungsmethoden, die, heute Gemeingut 
aller Aerzte, doch wohl für Errungenschaften 
neuerer Zeit gehalten und gepriesen werden. 
Man denke vor 133 Jahren! 

Die allgemeine Definition der Krankheit ist, 
wie dies bei den pathologisch - anatomischen 
Kenntnissen der Aerzte damaliger Zeit nicht 
anders sein konnte, eine Definition dei Sym¬ 
ptome der Krankheit. „Schwindsucht 4 *, so sagt 
Buchoz am Anfänge des Büchleins, „ist eine 
langwierige Lungenkrankheit, die ein besonders 
des Nachts und des Abends sich äussemdes 
Fieber, ein fürnehmlich auf der Brust sich be¬ 
merkbar machender Sehweiss. eine Schwierig¬ 
keit im Athmen und ein Husten begleitet, 
der gegen Abend und den Anbruch des Tages 
heftiger wird. Der Auswurf dabei ist Anfangs 
mit Blut, später mit Eiter vermischt, und auf 
diese Krankheit folget allezeit eine Abnahme und 
eine völlige Auszehrung des Körpers.“ Das 
Wort „Tuberkel“, das ja zuerst bei Celsus, 
wenn auch nicht in der Bedeutung, die ihm 
heute zukommt, später durch Bonnet und 
Manget richtig gebraucht wird, findet sich 
in dem Buche nicht. Für das pathologisch- j 
anatomische Substrat der Phthise hält Buchoz | 
eine „Verschwärung* oder eine „Sammlung ! 
schwüriger Beulchen* in den Lungen. Den j 
Grund aber für das Zustandekommen dieser > 
Processe sieht Buchoz in verschiedenen I 
Ursachen. Deutlich unterscheidet der Verfasser | 

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2 Arten der Phthise, um moderne Ausdrücke 
zu gebrauchen, 

l. die hereditäre. 

II. die erworbene oder infectiöse, 
und es wird bei der Bedeutung, die in neuerer 
Zeit den Thorax-Anomalien für die Genese der 
Lungenschwindsucht beigemessen wird, nicht un¬ 
interessant sein zu erfahren, dass schon Buchoz 
für die häufigste Ursache der Lungenschwind¬ 
sucht den Mangel einer guten Einrichtung der 
Brust erklärt; Leute, die eine beklemmte enge 
Brust, einen langen Hals und hohe Schultern 
haben, sind nach ihm unfehlbar zur Schwindsucht 
prädisponirt. Bei solchen Leuten kann wegen 
der Engbrüstigkeit die Lunge sich nicht genug 
ausdehneh und das Maass von Blut einlassen, 
welches bei jeder Zusammenziehung der Lunge 
dorthin geworfen wird, und diese partielle 
Ischämie führt nach Buchoz zu einer Ver¬ 
dehnung der Lungengefassc, zu einem Zer¬ 
reissen derselben und endlich zum Geschwür. 
Streng trennt Verfasser von der ererbten die 
erworbene Phthise, von der er angiebt, dass 
sie bei manchen Volksarten endemisch, bei 
manchen Volksklassen als Berufskrankheit auf- 
tritt. So als Infectionskranklieit, die auf Ehe¬ 
gatten, auf Personen, die den Kranken pflegen 
oder besuchen, übertragen werden kann; doch 
ist die Bedingung der Uebertragung 
regelmässig eine Disposition, die aber 
nicht immer in dem schlecht gebauten 
Thorax zu suchen ist. Die „zufällige* 
Schwindsucht ist aber für ihn eine leichtere 
Krankheitsform als die erbliche: „denn körper¬ 
lichen Uebeln, die von unsern Eltern zu uns 
kommen, können ärztliche Mittel nicht leicht ab- 
hetfen * Auch die Beziehungen zwischen 
der Lungenschwindsucht und den ge¬ 
werblichen Schädigungen sind diesem 
Arzte nicht entgangen. Im Allgemeinen werden 
nach ihm die Leute schwindsüchtig, die in Berg¬ 
werken oder chemischen Laboratorien sich 
aufhalten, wo scharfer Spiritus destillirt oder 
korrosiv&che Pulver herumgerührt werden, 
und er macht mit Nachdruck darauf aufmerk¬ 
sam, dass für diese Leute besondere 
hygienische Maassregeln zum Schutz 
der Lunge nothwendig seien. 

Ist man schon beim Lesen des Büchleins 
von der Beobachtungsschärfe des vor fünf 

Original fro-m 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 






48 


Die Therapie der Gegenwart 19C3 


Jai.uar 


Generationen schreibenden Verfassers bezüg- Was die von ihm vorgeschlagene 

lieh der Genese und Aetiologie der Krankheit Palliativcur betrifft, so bemerkt der 
aufs äusserste überrascht, so wird das Erstaunen kritische Verfasser, dass dieselbe nur 
noch grösser, wenn man liesst. dass schon eine symptomatische sein kann. »Jeder 
Buchoz die Lungenschwindsucht in Arzt,* sagt er, „muss ein solches Mittel zn 
3 Stadien eingetheilt hat, die sehr viel erdenken suchen, das die Verschwörungen in 
Aehnlichkeit haben mit den heute ge- der Lunge heilen kann, aber da kein Mittel 
bräuchlichen. Für das 1. Stadium betont vorhanden ist, dies zu bewerkstelligen, so wird 
Buchoz mit Nachdruck die Möglichkeit der man sich begnügen müssen, die Zufälle zu ver- 
Heilung. Das 2. Stadium kann manchmal ge- hindern und durch Beförderung des Auswurfs, 
heilt werden, doch ist dies bedeutend seltener, durch Linderung des Hustens, durch Abtreiben 
und nur das 3. Stadium erkennt er als völlig des Fiebers die Beschwerden der Kranken zu 
unheilbar an. vermindern." Auch hier nimmt eine Haupt- 

Auf Grund dieser Eintheilung und aus stelle für ihn die Milch ein, die ihm 
diesem Gedankengange heraus verlangt Bu- in allen mit ihr vorzunehmenden Zu- 
choz als Vorbedingung für die Mög- bereitungen eine „süsse, temperirende 
lichkeit der Heilung das frühzeitige Er- und stärkende Nahrung ist* 
kennen der Krankheit. „Wenn diese Krank- Der Verfasser führt dann zum Schluss eine 

heit einmal stark eingewurzelt ist, so ist es Menge eigener und anderer Krankheits¬ 
unmöglich, eine solche zu vertreiben.* Weil geschichten an, die von einer grossen Kritik, 
man aber die Anfangsschwindsucht heilen, von einer besonderen Schärfe der Beobachtung 
leichter aber noch dieselbe verhindern kann, und von einer eminenten Sicherheit auch in der 
so giebt er 2 Arten von Curen an: die Prä- Differenzialdiagnose zeugen, was um so mehr 
servationscur und die Palliativcur. zu verwundern ist, als er die Diagnose nicht 

Wenn ich von dem damals allein selig- nur des III., sondern auch des I. Stadiums ohne 
machenden Mittel des Aderlasses, welcher von Percussionshammer und Stetoskop und ohne die 
Buchoz durch verschiedene Theorien als Errungenschaften moderner bacteriologischer 
besonders werthvoll für die Lungenphthise Forschung zu stellen gezwungen war. Inter- 
begründet wird, absehe, so schlägt er besonders essant sind auch die Angaben, die er bezüglich 
hyrotherapeutischeProceduren vor, Umschläge, der Complicationen der Krankheit macht; so 
Fuss- und Halbbäder, die nach ihm einen be- | beschreibt er die Schwindsucht als eine Folge 
sonderen Werth für die Verminderung der pemieiöser Lues, und es ist ihm auch nicht 
Expectoration und des Fiebers haben. Doch entgangen, dass das Puerperium einen dele- 
mehr noch wie diese hyrotherapeutischen tären Einfluss auf den phthisischen Process 
Proceduren sind nach ihm diätetische Maass- ausübt. Er schliesst seine Abhandlung mit 
nahmen zu berücksichtigen, besonders die der Beschreibung eines Apparats, von dem er 
Milch und die Mehlspeisen; denn wenn sich eine neue Aera in der Behandlung der 
es auch nach ihm viele Mittel in seinem Schwindsucht verspricht, und dervon einem hol- 
Ar.zneischatze giebt, die bei der an- ländischen Lehrer erfunden war: eines Inhala- 
fangendenSchwindsucht symptomatisch tions-Apparats, des ersten, der in der medi- 
von Werth sind, so geht ihm doch nichts cinischen Litteratur wohl beschrieben worden 
über eine gute Diät. „Setzt man diese ist. Da er annimmt, dass alle vom Magen auf- 
Dinge bei Seite, so wendet man die Heil- genommenen Mittel niemals zu der erkrankten 
mittel umsonst an.* Und so findet man schon Lungenstelle gelangen können, so glaubt er 
bei Buchoz die ersten Anregungen zu der durch diesen Apparat zu grossen Hoffnungen 
modernen Schwindsuchtsbehandlung, die von berechtigt zu sein, da man ja so local auf die 
Brehmer inaugurirt und die in allerneuester erkrankten Lungentheile wird wirken können. 
Zeit durch die Verdienste hervorragender Ich möchte endlich noch eine kleine von 
Phthisio - Therapeuten zu unverrückbaren ihm fast in jedem Falle vorgeschriebene Medi- 
Grundsteinen der Phthisio-Therapie geworden cation erwähnen: die Kälberlunge in allen 
sind. Auch den Werth der Luftveränderung möglichen Zubereitungen. Vielleicht eine Vor¬ 
verkennt Buchoz nicht. Er räth dem ahnung organo-therapeutischer Bestrebungen. 
Kranken, Reisen zur See zu machen, da späterer Generationen. 

die Bewegung des Schiffes nebst den aus Wenn man den heutigen Stand der Diagnose 

dem Meere aufsteigenden Dünsten bei dieser und der Therapie mit demjenigen zur Zeit von 
Krankheit wohl zu statten kommen. Nur Buchoz vergleicht, so wird man sich des Ge- 
bezüglich des Höhenklimas sind seine An- dankens nicht erwehren können, dass die Nü- 
sichten von den modernen diametral ver- ancen sich geändert, die wissenschaftlichen Be- 
verschieden. Er hat bemerkt, dass sich die gründungen sich vertieft, das allgemeine In- 
Schwindsüchtigen in der dicken Luft besser teresse an der Bekämpfung der Seuche sich 
befinden, als in der dünnen, und dass sie sich vermehrt hat, dass aber die Grundzüge der 
an morastigen Orten, an Flussufern und in Behandlung im Allgemeinen dieselben geblieben 
grossen Städten, woselbst beständig eine sind, trotz der Zimmtsäure und trotz der neu 
Menge von Ausdünstungen in die Höhe steigen, aufsteigenden Tuberkulin-Aera. Qui bene nutrit- 
unendlich wohler fühlen als in der Bergesluft bene curat. 

Für die Redaction verantwortlich: Prof. G. Klemperer in Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Oesterreich*Ungarn: 
Eugen Schwär xonb erg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban & Sch wartenberg. 

in Wien and Berlin. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1903 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 

in Berlin. 


Februar 


Nachdruck verboten. 

Die Behandlung: der Perityphlitis. 

Von Ch. Blumler- Freiburg i. Br. 


Immer wieder aufs Neue drängt sich 
die Frage nach der Behandlung der am 
Wurmfortsatz und in seiner Umgebung 
sich abspielenden entzündlichen Vorgänge 
in den Vordergrund des ärztlichen Inter¬ 
esses. In den Zeitschriften wie auf Con- 
gressen ist sie seit einem Jahrzehnt nicht 
mehr von der Tagesordnung verschwunden 
und in allerjüngster Zeit wieder ganz be¬ 
sonders lebhaft erörtert worden. Aber 
mehr und mehr hat sich die Frage princi- 
piell zugespitzt. Auf der einen Seite steht 
die wachsende Zahl derjenigen, welche 
jeden Fall von vornherein baldmög¬ 
lichst durch Laparotomie und Entfernung 
des Wurmfortsatzes behandelt wissen 
wollen. Es sind dies nicht bloss Chirurgen, 
die Hunderte von Fällen bereits operirt 
haben; auch ein hervorragender innerer 
Kliniker, Dieulafoy 1 ) in Paris, hat, von 
verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend, 
seit Jahren diesen Standpunkt energisch 
vertreten. Auf der andern Seite steht 
neben einer Reihe sehr namhafter Chirur¬ 
gen die grosse Mehrzahl der inneren Kli¬ 
niker und erfahrener, vielbeschäftigter 
Praktiker, welche in einer übergrossen 
Zahl der Fälle bei geeigneter interner Be¬ 
handlung haben Heilung eintreten sehen. 
Einen sofort vorzunehmenden operativen 
Eingriff halten sie nur dann für nöthig, 
wenn von vornherein aus den Erscheinun¬ 
gen einer blitzartig schnell sich entwickeln¬ 
den Bauchfellentzündung der Schluss auf 
Durchbohrung oder brandiges Absterben 
des Wurmfortsatzes gemacht werden kann, 
oder wenn ein umschriebener Abscess sich 
an dem abgeschlossenen Entzündungsherd 
gebildet hat, oder wenn plötzlich Erschei¬ 
nungen von Durchbruch eines solchen in 
die freie Bauchhöhle auftreten. Die Ent¬ 
fernung des erkrankten Wurmfortsatzes 
nach völligem Ablauf des acuten Ent¬ 
zündungsanfalls, „ä froid“ nach der fran¬ 
zösischen Bezeichnung, halten sie für ge- 
rathen, wenn örtliche Erscheinungen oder 
öftere Wiederholung acuter Zufälle auf das 

J ) Dienlafoy’s letzte Aeusserung ist betitelt: 
Attendre pour op£rer que l’appendicite soit „refroi- 
die“, c’est exposer le malade ä la mort. La Presse 
medicale, 9. VII. 1902. 


Fortbestehen gefahrdrohender Verände¬ 
rungen im Wurmfortsatz hindeuten. 

Wie soll sich bei diesem Widerstreit 
der Meinungen der praktische Arzt, 
dem doch die grosse Mehrzahl derartiger 
Fälle zunächst in die Hände kommt, ver¬ 
halten? 

Wo, wie in oder in der Nähe von 
Städten, die Möglichkeit vorhanden ist, 
den Kranken alsbald einem erfahrenen 
Chirurgen, dem ein Krankenhaus mit allen 
Einrichtungen für derartige Operationen 
zu Gebote steht, zu überweisen, wird der 
zunächst zugezogene Arzt, der vielleicht 
selbst schon Gelegenheit hatte, Erfahrun¬ 
gen über derartige Operationen zu machen, 
sehr geneigt sein, diesen Weg einzu¬ 
schlagen. Er wird damit die in einem 
solchen Fall unter allen Umständen 
schwere Verantwortung noch von einem 
erfahreneren Collegen mittragen lassen, 
oder er wird auch unter Umständen, seiner 
eigenen Ueberzeugung folgend, die Ope¬ 
ration selbst ausführen. Dem Chirurgen, 

| welchem ein Fall von Perityphlitis mög¬ 
lichst frühzeitig zugeführt wird, ist schon 
dadurch die Entscheidung sehr erleichtert. 

Wie aber auf dem Lande, weit entfernt 
von einer Stadt und von einem ent¬ 
sprechenden Krankenhaus? Ist da ein 
solcher Fall etwa einem eingeklemmten 
Bruch oder einer acuten Kehlkopfverenge¬ 
rung durch Diphtherie, ist der in Frage 
kommende operative Eingriff also einer 
Herniotomie oder Tracheotomie gleichzu¬ 
stellen? Diese Operationen muss jeder 
Arzt, auch ohne geschulte Assistenz, selbst 
ausführen, um das bedrohte Leben zu 
retten. Ist der operative Eingriff bei einer 
acuten, vom Wurmfortsatz ausgehenden 
Bauchfellentzündung, selbst noch so 
frühzeitig vorgenommen, nicht doch 
etwas viel weniger Einfaches, sowohl un¬ 
mittelbar als in seinen Folgen, als jene 
Operationen? Gewiss kann die Operation 
eine sehr einfache sein, wenn bereits in 
den allerersten Stunden nach Eintritt 
der Erscheinungen vorgenommen, solange 
nur der Wurmfortsatz theilweise oder in 
seiner ganzen Ausdehnung entzündlich ge¬ 
schwollen, kaum noch durch zarte Fibrin- 

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50 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Februar 


auflagerungen mit dem Netz, dem Blind¬ 
darm und anliegenden Dünndarmschlingen 
leicht verklebt und von einer mehr serösen, 
kaum eitrig getrübten, etwas hämorrhagi¬ 
schen Flüssigkeit umspült ist. Ganz be¬ 
sonders leicht kann die Operation sein, 
wenn der Wurmfortsatz die am häufigsten 
vorkommende Lage hat, wenn er vom 
vorderen untersten Theil des Cöcums ent¬ 
springend über die Linea innominata nach 
dem kleinen Becken hinabhängt. Schwie¬ 
riger schon wird sie, wenn dessen Lage 
eine ungewöhnliche ist, was sehr häufig 
vorkommt; wenn mühsam nach ihm ge¬ 
sucht, die Bauchwunde entsprechend er¬ 
weitert werden, eine Darmschlinge nach 
der andern zur Seite geschoben werden 
muss. Damit wächst die Gefahr der Ver¬ 
breitung der Infection auf bis dahin un¬ 
beteiligte Partieen des Bauchfells. Mit der 
grösseren Wunde wachsen aber auch die 
Schwierigkeiten, eine solche Wiederver¬ 
einigung der Wundränder herbeizuführen, 
dass nicht nachträglich Bauchbrüche ent¬ 
stehen. 

Dass erfahrene und geübte Chirurgen 
jene unmittelbaren Schwierigkeiten über¬ 
winden und diese entfernteren unange¬ 
nehmen Folgen zu verhüten verstehen, 
braucht nicht hervorgehoben zu werden. 
Aber bei dem weniger erfahrenen und in 
derartigen Operationen wenig geübten 
Arzt wird dies nicht der Fall sein. Er 
wird deshalb lieber darauf verzichten, eine 
Behandlungsmethode anzuwenden, die zwar 
vielleicht theoretisch die beste, aber bei 
ihrer Ausführung für den Kranken neue 
Gefahren in sich schliesst, für ihn selbst 
aber voll von Schwierigkeiten und von 
Gefahren für seine Stellung ist. Er wird 
darum eher geneigt sein, die günstigen 
Erfahrungen, welche die Gegner der „Früh¬ 
operation“ für ihre Anschauung anführen 
können, zur Richtschnur zu nehmen und 
aus denselben die Beruhigung zu schöpfen, 
dass er dem Kranken gegenüber nichts 
versäumt habe, wenn er ihn nach den fest¬ 
stehenden bewährten Grundsätzen ab¬ 
wartend behandelt. Und wie selten kommen 
Fälle von Perityphlitis überhaupt so früh¬ 
zeitig unter ärztliche Behandlung, dass 
noch von einer „Frühoperation“ gesprochen 
werden kann? In der Mehrzahl der Fälle 
wird es sich in praxi um die Frage handeln, 
ob die Operation in einem mehr oder 
weniger, immer aber bereits vorgerückten 
Stadium der perityphlitischen Entzündung 
vorgenommen werden soll. 

Zweifellos ist heute die Zahl der Aerzte, 
welche die Geschicklichkeit und Erfahrung 

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besitzen, um eine derartige „Früh¬ 
operation“ bestmöglichst auszuführen, 
die Zahl der Anstalten, in denen dies mit 
grösster Aussicht auf Erfolg, soweit der¬ 
selbe von äusseren Umständen abhängt, 
geschehen kann, bereits eine ziemlich 
grosse. Ausserordentlich sind auch die 
Fortschritte, die auf dem Gebiet dieser 
Operationen gemacht wurden, seitdem 
Ende der 60 er Jahre zuerst in Nord¬ 
amerika gegen Blinddarmentzündungen in 
zielbewusster Weise vorgegangen wurde. 

Mit nachhaltigerer Wirkung, als schon 
1843 1 ) und 1846*) A. Volz auf den Wurm- 
forsatz als Ausgangspunkt der Bauchfell¬ 
entzündung in der Blinddarmgegend hin¬ 
gewiesen hatte, that dies Fitz im Jahre 1867. 
Die von ihm zuerst gebrauchte Bezeichnung 
„Appendicitis “ hat nicht bloss in Amerika, 
sondern auch in Europa fast alle anderen Be¬ 
zeichnungen verdrängt. Es ist dies verständ¬ 
lich, da sich thatsächlich um den Wurm¬ 
fortsatz, die Appendix vermiformis, 
nicht nur die wichtigste ätiologische, 
sondern auch die chirurgische Cardinal- 
frage dreht. Vielleicht war es auch praktisch 
wichtig und förderlich, indem durch diesen 
Namen die Aufmerksamkeit nicht nur der 
Aerzte, sondern auch der Laien auf diese Fons 
et origo mali fortwährend gelenkt wurde. Aber 
pathologisch ist es unrichtig, bei dem, was 
ärztliches, speciell chirurgisches Eingreifen er¬ 
fordert, von Appendicitis, als der Hauptsache, 
zu sprechen. Die Veränderungen am Wurm¬ 
fortsatz verlaufen meist ganz latent, oft 
für lange Zeit. Oder es können gewisse von 
dort ausgehende Erscheinungen vorhanden sein, 
die aber an eine Störung in irgend einem 
anderen Organ der Bauchhöhle, am Magen, 
der Gallenblase, einer Niere, eher denken 
lassen, als eine solche im Wurmfortsatz und 
die zur Aufstellung einer Appendicitis larvata 
(Ewald) geführt haben. Wenn die Erschei¬ 
nungen einer acuten Entzündung auftreten, 
dann handelt es sich bereits um eine Peri¬ 
tonitis, die wohl immer alsbald über die 
Grenzen des Serosaüberzugs des Wurmfort¬ 
satzes auf die anliegenden, vom Bauchfell 
überzogenen Theile übergeht, also um eine 
zunächst umschriebene Peritonitis am oder um 
den Blinddarm, um eine Epi- oder Peri¬ 
typhlitis, zu allererst um eine Periappen- 
dicitis, welche aber wohl meist nur ganz 
kurze Zeit am Appendix sich abspielt. In der 
Regel wird dieselbe alsbald den anliegenden 
Bauchfellüberzug des Cöcums, angrenzender 
Dünndarmschlingen und das Netz in Mitleiden¬ 
schaft ziehen. Perityphlitis scheint mir 
daher immer noch die richtigere, den ganzen 
Vorgang besser charakterisirende Bezeichnung 

1 ) Haescr’s Archiv, Bd. IV, 1843. 

2 ) Die durch Kothsteine bedingte Durch¬ 
bohrung des Wurmfortsatzes, die häufig ver¬ 
kannte Ursache einer gefährlichen Peritonitis, und 
deren Behandlung mit Opium. Karlsruhe 1846. 


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Februar 


51 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


zu sein. Selbst in den Füllen, welche man 
früher als Paratyphlitis abgegrenzt hat, in 
welchen wegen der Lage des ganzen Wurm¬ 
fortsatzes oder nur seines kranken Theiles 
hinter dem Peritoneum und seitlich vom Cöeum 
das retroperitoneal auf der Fascia iliaca ge¬ 
legene Bindegewebe Sitz der Entzündung ist, 
hat die Bezeichnung Perityphlitis ihre Berech¬ 
tigung, da auch in diesen Fällen das Cöeum 
(Typhlon), hinter welchem der Hauptsache 
nach die Entzündung sich abspielt, wenn auch 
in geringerem Grade, von den entzündlichen 
Veränderungen mitbetroffen wird. 

Unsere Kenntniss von den Veränderungen, 
die im Wurmfortsatz sich abspielen, ist durch 
die operativen Eingriffe, die in den letzten 
Jahren in zunehmender Häufigkeit in Fällen 
von Perityphlitis gemacht wurden, ganz ausser¬ 
ordentlich gefördert worden. Hat ja doch diese 
Autopsie in vivo einen ganz anderen Werth, 
als die postmortale Untersuchung, bei welcher 
häufig gerade die Vorgänge, welche ursprüng¬ 
lich zu einer Entzündung um den Wurmfortsatz 
Veranlassung gegeben haben, durch das, was 
während der tödtlich verlaufenen Kiankheit 
hinzugekommen ist, völlig verwischt wurden. 
Hat man unter solchen Umständen, nach acht- 
bis zehntägiger oder gar wochenlanger Dauer 
der Krankheit, doch oft bei der Section die 
grösste Mühe, den Wurmfortsatz überhaupt zu 
finden. 

Am Lebenden ist das Bild der entzünd¬ 
lichen Veränderungen durch den Blutgehalt 
und die Turgescenz der Gewebe ein ganz 
anderes als an der Leiche, und über die Vor¬ 
gänge, welche zur Bildung von Kothsteinen, zu 
Verengerungen, zu schleimigem oder eiterigem 
Katarrh der Schleimhaut führen, haben wir 
hauptsächlich erst durch die Untersuchung der 
bei solchen Operationen gewonnenen Präparate 
Aufschluss erhalten. Roux, 1 ) Sonnenburg,*) 
Riedel 3 ) u. A. verdanken wir die wichtigsten 
Aufschlüsse über die acuten und chronischen, 
im und am Wurmfortsatz sich abspielenden 
Processe. Abgesehen von Kothsteinen, sind 
am wichtigsten chronisch entzündliche Vor¬ 
gänge, die von Riedel als „Appendicitis gra- 
nulosa*bezeichnete Veränderung. Dabei handelt 
es sich um Bildung von Granulationsgewebe 
in und unter der Schleimhaut, durch welches 
die tubulösen Drüsen auseinandergedrängt und 
zum Schwund gebracht werden, also um einen 
chronischen Entzündungsprocess. Dieser kann 
doch nur von der Schleimhautoberfläche aus 
angeregt worden sein. Mechanische, chemische 
und bakterielle Reizungen können dazu den 
ersten Anstoss geben. Blutungen in dieses 
Granulationsgewebe können, wie Riedel meint, 
einen acuten entzündlichen Anfall mit.Ueber- 
greifen der durch Bakterien hervorgerufenen 
Entzündung auf die Umgebung auslösen. 


1 1 Revue m£d de la Suissc romande 1890 Nos. 4 
et 5, 1891 Nos. 9, 10 et 11, 1892 No. 1. 

Q ) Pathologie und Therapie der Perityphlitis. 
4. Aufl. 1900. 

*) Archiv f. klin. Chir. Bd. 66. 


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Bei der ungemein grossen Häufigkeit der 
Darmkatarrhe, die namentlich auch im Cöeum 
sich oft hartnäckig festsetzen, wird der Wurm¬ 
fortsatz gewiss nicht selten in Mitleidenschaft 
gezogen. Insbesondere scheinen mir, worauf 
ich an einem anderen Ort 1 ) bereits aufmerksam 
gemacht habe, Gährnngen in dem dünnflüssigen 
oder dünnbreiigen Inhalt des Cöcums zu vor¬ 
übergehender Gasauftreibung des Wurmfort¬ 
satzes oder zum Eingetriebenwerden von in 
Zersetzung begriffenem Darminhalt Anlass 
geben zu können. Je länger derartige Reizun¬ 
gen der Schleimhaut andauem, je häufiger sie 
sich wiederholen, desto eher können chro¬ 
nisch-katarrhalische Zustände an der Schleim¬ 
haut des Wurmfortsatzes sich ausbilden, desto 
leichter kann es bei auf einzelne Stellen be¬ 
schränkter. etwas heftigerer entzündlicher Rei¬ 
zung auch zu einer ungeregelten Peristaltik 
des Wurmfortsatzes und damit zum Liegen¬ 
bleiben des Inhalts an den sich weniger stark 
zusammenziehenden Stellen, die dann passiv 
ausgebuchtet werden, kommen. Solche Reste 
von Darminhalt können, auch ohne dass sie 
Fremdkörper enthalten, durch Wasserresorption 
eingedickt, von dem reichlicher abgesonderten 
Schleim eingeschlossen und durch Ablagerung 
von Salzen aus dem Schleim allmählich in 
einen Kothstein umgewandelt werden. Ob im 
W’urmfortsatz Koliken, d. h. durch stellenweise 
krampfhafte Zusammenziehung der Muscularis 
und durch Ausdehnung des schlaft' bleibenden 
Theiles, der dann durch den andrängenden, 
zum Theil gasförmigen Inhalt ausgedehnt wird, 
hervorgerufene Schmerzanfälle Vorkommen, 
scheint mir nicht sicher erwiesen zu sein. 
Dass aber eine lebhafte Peristaltik in dem¬ 
selben vorhanden sein muss, beweisen manche 
harte, mit glatten Facetten versehene Koth- 
steine. Ich besitze einen solchen Doppelstein, 
von welchem der grössere,. gegen 2 cm lange 
und 1 cm dicke an seinem oberen Ende eine 
glänzend abgeglättete Fläche darbietet, auf 
welcher ein kleinerer krei sei förmiger, mit ent¬ 
sprechender glatter Fläche sich offenbar herum- 
bew T egt hatte. Sein ausgezogenes Ende bildet 
eine scharfe Spitze. 

Eine sehr wichtige, weil die Prophy¬ 
laxis der schweren und lebensgefährlichen 
vom Wurmfortsatz ausgehenden Entzün¬ 
dungen berührende Frage ist nun die, ob 
die in demselben, vor dem Uebergreifen 
auf die Serosa und auf die Umgebung sich 
abspielenden Vorgänge während des 
Lebens erkannt, mit anderen Worten, 
ob eine reine „Appendicitis“ dia- 
gnosticirt werden kann. Ich glaube 
nicht. Vermuthet kann sie werden, aber 
wer will mit einiger Sicherheit entscheiden, 
ob, wenn bei einem Kind oder einem Er¬ 
wachsenen plötzlich Schmerzen in der 
Cöcalgegend auftreten, nicht lediglich eine 
ganz vorübergehende Störung im Chemis- 

! ) Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. 73, S. 121. 

7 * 

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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


mus oder der Peristaltik im Cöcum, son¬ 
dern eine Veränderung im Wurmfortsatz die 
Ursache der Schmerzen ist, ob es sich da¬ 
bei um einen Kothstein oder um eine Re¬ 
tention von Schleim oder gar von Eiter 
handelt? 

Sehr heftige Kolikschmerzen in der Cöcal- 
gegend können als Theilerscheinung einer 
Stercoralkolik auftreten. die im Colon descendens 
oder der Flexura sigmoidea ihren Ausgangs¬ 
punkt hat. Eine solche kann bei im Uebrigen 
ganz gesunden Menschen zu Stande kommen, 
wenn dieselben aus irgend einem Grunde 
mehrere Tage an Stuhlverstopfung oder un¬ 
genügender Entleerung gelitten haben. Nach 
den Erscheinungen zu urtheilen, kommt es 
zuerst im S romanum, also an der oberen 
Grenze der zurückgebliebenen Kothmassen, 
wahrscheinlich unter dem Einfluss von Bakte¬ 
rien, zu Zersetzung des breiigen oder flüssigen 
Darminhalts mit starker Gasbildung. Letztere 
ist es wohl hauptsächlich, die durch A Samm¬ 
lung der rasch sich bildenden Gase im Dick¬ 
darm bis zum Cöcum hinauf die stürmische 
Peristaltik hervorruft, welche unter anfänglich 
heftigen Kolikschmerzen zur Entleerung des 
Darmes von den zum Theil festen, grössten- 
theils aber verflüssigten Massen und dem von 
oben her nachrückenden dünnflüssigen Darm¬ 
inhalt führt. Mit der Entleerung des Darmes 
sind alle wesentlichen Erscheinungen beseitigt, 
die durch die Heftigkeit des Schmerzes an den 
gerade geblähten Stellen des Darmes und durch 
das verfallene Aussehen des Kranken leicht 
die Befürchtung erwecken konnten, dass eine 
Peritonitis im Anzuge sei. Das Wichtigste für 
die richtige Deutung der Schmerzen ist deren 
Wechsel nach Ort und Heftigkeit. Auch 
die Druckempfindlichkeit zeigt den gleichen 
Wechsel. 

Dagegen scheint mir eine bei wieder¬ 
holter Untersuchung immer wieder an 
der gleichen Stelle, da, wo der Wurm¬ 
fortsatz liegen kann, aber bei der grossen 
Variabilität seiner Lage nicht nothwendig 
liegen muss, nachweisbare Druckempfind¬ 
lichkeit das wichtigste Zeichen zu sein, 
das zur Vermuthung einer „Appendi- 
citis“ berechtigt. Der Mac Burney- 
sche Punkt ist gewiss eine Stelle, der immer 
eine besondere Beachtung geschenkt wer¬ 
den sollte, doch glaube ich, dass die Be¬ 
deutsamkeit derselben häufig überschätzt 
wurde. Nach Sir Frederick Treves 1 ), 
der sich auf Untersuchungen stützt, welche 
K e i t h auf seine Veranlassung an 50 Leichen 
gemacht hat, entspricht diesem Punkt die 
Lage der Ileocöcalklappe Die Ansatzstelle 
des Wurmfortsatzes liegt 3 cm tiefer. 

Dass man einen erkrankten Wurmfort¬ 
satz unter Umständen durch die Bauch- 


J ) Lancet, 18. Juni 1902. 


decken hindurch abtasten könne, bezweifle 
ich nicht, vorausgesetzt, dass derselbe nach 
vorne oder nach auswärts vom Cöcum ge¬ 
legen, in seinen Wandungen verdickt ist, 
oder einen grösseren Kothstein beherbergt, 
und dass die Bauchdecken dünn und nicht 
gespannt sind. Aber wie selten werden 
diese Vorbedingungen zutreffen! Gewiss 
fühlt man zuweilen in der Cöcalgegend 
einen länglichen, dünnen Strang, der mög¬ 
licherweise sogar auf Druck etwas empfind¬ 
lich ist. aber wiederholte Untersuchung 
lässt deutlich erkennen, dass es nur ein 
Muskelbündel der Bauchwand ist, das sich 
unter dem andrängenden Finger zusammen¬ 
zieht. 

Nicht so selten ist es, dass man bei zu 
Darmstörungen geneigten, namentlich auch bei 
neurasthenischen Menschen, welche unter psy¬ 
chischer Eiregung lebhaftere Peristaltik be¬ 
kommen, in der Cöcalgegend eine harte, läng¬ 
liche oder rundliche Geschwulst findet, etwas 
druckempfindlich, etwas beweglich, und dass 
dieselbe, während man sie unter den tastenden 
Fingern hat, mit oder ohne ein gurrendes 
Geräusch verschwindet. Es hat sich also 
lediglich um eine vorübergehende Gasauftrei¬ 
bung des Cöcums gehandelt, wahrscheinlich 
dadurch entstanden, dass unter dem Einfluss 
der psychischen Erregung oder der Abkühlung 
der Haut bei der Entblössung die Peristaltik 
beschleunigt wurde und gashaltiger Dünn- 
daiminhalt rascher in das Cöcum einströmte, 
oder dass die Cöcalwandungen sich rascher 
und stärker um den Inhalt zusammenzogen, 
der nicht schnell genug nach dem Colon as- 
cendens entweichen konnte. Seine Fortbewe¬ 
gung wird durch die Betastung beschleunigt, 
darum verschwand die geschwulstartige Auf¬ 
treibung. Aehnliches kann man bei Darm¬ 
katarrhen, welche mit Kolikanfällen einher¬ 
gehen, auch an anderen Stellen des Dickdarms, 
namentlich am Quercolon und insbesondere 
am S romanum, zuweilen beobachten. Eine 
derartige Ga>auftreibung, um welche die Wan¬ 
dungen vorübergehend sich fest zusammen¬ 
ziehen, mag zuweilen schon für eine Anhäufung 
von festem Koth im Cöcum gehalten worden 
sein, denn auch der Peikussionsschall kann 
über derselben gedämpft sein. Er bleibt es 
aber nur solange, als die Contraction der 
Darmmuskulatur anhält, dann macht er sofort 
einem tympanitischen Platz. 

Anhäufungen von festen Koth¬ 
massen im Cöcum anzunehmen, war man 
seit Dupuytren nur allzu geneigt. Sie 
spielten lange und spielen bei Einzelnen 
heute noch eine Hauptrolle in der Ent¬ 
stehung der Perityphlitis. Auch als man 
erkannt hatte, dass der Wurmfortsatz 
nahezu ausschliesslich der Aus¬ 
gangspunkt der Erkrankung ist, fuhr 
man doch fort, von „Typhlitis sterco- 


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Februar 


53 


Die Therapie der Gegenwart 19Ö3. 


ralis“ zu sprechen, weil unklare Vorstel¬ 
lungen über die Beschaffenheit des Darm¬ 
inhalts in den einzelnen Abschnitten des 
Dickdarms eine solche Annahme nahelegten. 
Gehört nun aber auch, namentlich nach 
dem Stoss, den die Lehre von der „Ty- 
phlitis stercoralis“ durch Sahli im Jahre 
1892 auf der Schweizer Aerzteversammlung 
in Genf und im Jahre 1895 auf dem Con- 
gress für innere Medicin in München er¬ 
litten, der Kothpfropf im Cöcum als Grund¬ 
lage der bei der Perityphlitis so häufig 
auftretenden Geschwulst nicht mehr in 
gleichem Maasse wie früher zum Glaubens- 
bekenntniss der Aerzte, so gilt doch ziem¬ 
lich allgemein die Stuhl Verstopfung als 
eine der wichtigsten prädisponirenden 
Ursachen für die „Appendicitis“. Selbst 
Sir Frederick Treves betont noch in 
seinen jüngsten Aeusserungen 1 ) über diesen 
Gegenstand die „Ueberladung des Cöcums“ 
als eine wichtige Ursache derselben. Oben 
ist bereits auf die Art und Weise hinge¬ 
wiesen worden, wie Ueberladungen des 
Cöcums zu Erkrankung des Wurmfortsatzes 
Veranlassung geben können. Wenn solche 
sich häufig wiederholen, so wächst damit 
selbstverständlich die Gefahr, dass Verände¬ 
rungen, die zu schweren Folgen, wie zur 
Appendicitis granulosa Riedel’s führen 
können, sich im Wurmfortsatz ausbilden. 
Aber ich möchte hier den Ausdruck „Ueber- 
ladung des Cöcums“ nicht in dem Sinne 
verstanden wissen, den Manche damit ver¬ 
binden, und der gleichbedeutend ist mit 
festem Kothpfropf. 

Feste Kothmassen im Cöcum der Art» 
dass dasselbe ganz damit ausgefüllt wäre, wie 
dies im Rectum öfter vorkommt, sind ganz 
ausserordentlich selten. Am ehesten noch 
findet man solche in Fällen von organischer 
theilweiser Unwegsamkeit des Colons, selten 
bei nervöser Unregelmässigkeit der Peristaltik 
bei neurasthenischen und hysterischen Kranken, 
bei welchen dann gewöhnlich ungenügende 
Nahrungsaufnahme die Hauptveranlassung zu 
der chronischen Verstopfung ist. Bei alten 
Leuten, namentlich alten Frauen mit sitzender 
Lebensweise, mit Enteroptose und mit oder 
ohne mechanische Hindernisse (Uterusmyome , 
u. dgl ) können feste Scybala zuweilen in dem 
bogenförmig herabgesunkenen Colon trans- 
versum und noch weiter aufwärts, dann selbst 
im Cöcirtn, gefunden werden. Aber bei den 
so ungemein häufigen Fällen von sogen, „habi¬ 
tueller Obstipation“ finden sich feste Massen 
gewöhnlich nur in der Ampulla recti, die nebst 
dem angrenzenden S romanum zuweilen un¬ 
glaubliche Mengen beherbergen kann Meistens 
handelt es sich bei habitueller Obstipation um 
ältere Leute. Bei jungen Individuen sind 

l ) Lancet, 1. c. 

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Formen hartnäckiger Verstopfung fast immer 
verbunden mit neivösen Störungen, insbeson¬ 
dere mit nervöser Anorexie, wobei dann die 
Fäcalretention gewiss auch rückwirkend das 
Nervensystem ungünstig beeinflusst. Auch dies 
sind aber seltene Fälle. 

Wäre chronische Stuhlverstopfung 
ein besonders häufiges prädisponirendes 
Moment für Appendicitis und deren Folgen, 
so müsste deren grösste Häufigkeit auf die 
vorgerückteren Lebensjahre fallen. Erfah¬ 
rungsgemäss ist aber das gerade Gegen- 
theil der Fall. Die Perityphlitis ist 
eine Krankheit hauptsächlich des 
jugendlichen und des Kindesalters. 

Im Krankenmaterial der hiesigen medicini- 
schen Klinik kommen 77% aller Fälle auf 
die Altersklassen vom 11. bis 25. Lebens¬ 
jahr, nahezu 43% auf das zweite Lebens- 
decennium, in dem 228 Fälle umfassenden 
Beobachtungsmaterial von R. Fitz 38%. 

Die Statistik Einhorn’s, welche gerade 
im Gegentheil eine mit den höheren 
Lebensjahren zunehmende Frequenz auf¬ 
weist, bezieht sich auf das Material des 
Münchener pathologischen Instituts, 
also auf Veränderungen am Wurmfortsatz 
überhaupt, nicht auf Erkranken durch 
dieselben. 

Im jugendlichen Alter, in welchem 
die Krankheit mit grösster Häufigkeit auf- 
tritt und bei der arbeitenden Klasse, 
unter welcher in unserem Material das 
männliche Geschlecht ebenso überwiegt, 
als in anderen Statistiken (hier 66,3% der 
Fälle, bei Bamberger 74%, bei Fitz 80° o, . 
in der Zusammenstellung Tal am on’s 79%) 
spielt habituelle Stuhlverstopfung 
keine hervorragende Rolle in der 
Entstehung der Appendicitis und 
Perityphlitis. Bei vielen unserer Kran¬ 
ken wurde geradezu festgestellt, dass Un¬ 
regelmässigkeiten der Darmentleerung nicht 
vorhanden gewesen sind. Wohl aber sind 
gerade im jugendlichen und im Kindesalter 
Darmkatarrhe, auch solche, die sich in 
die Länge ziehen, in Folge von diätetischen 
Unvorsichtigkeiten häufig, und diese sind, 
wie bereits hervorgehoben, von sehr 
wesentlicher Bedeutung für im Wurm¬ 
fortsatz sich ausbildende Veränderungen. 
Meist ist wohl das Zuviel, häufig das Durch¬ 
einander der Nahrungszufuhr, in manchen 
Fällen auch die Beschaffenheit der Speisen 
Ursache von Darmstörungen und von sich 
ausbreitendem oder schliesslich auf ein¬ 
zelne Darmabschnitte sich beschränkendem 
Katarrh. Ueber derartige in früherer Kind¬ 
heit durchgemachte Katarrhe erfährt man 
aber anamnestisch nur in den Fällen etwas 

Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 








54 


Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Sicheres, in welchen, wenn es sich um ein 
Kind oder heranwachsende junge Leute 
handelt, eine sorgsame Mutter bestimmte 
Mittheilungen darüber zu machen in der 
Lage ist. Bei Hospitalkranken ist die Anam¬ 
nese in dieser Hinsicht für weiter zurück¬ 
liegende Zeiten gewöhnlich ganz unsicher. 
In vielen Fällen unserer Beobachtung waren 
vor dem acuten Anfall, wenn es der erste 
war, keinerlei Darmstörungen irgend 
welcher Art vorausgegangen. Es war 
in denselben also die zu Grunde liegende 
chronische Appendicitis mit ihrer Kothstein- 
bildung u. s. w. gänzlich latent verlaufen. 

Dies könnte wohl kaum der Fall sein, 
wenn, wie Riedel 1 ) annimmt, in den doch 
immerhin häufigsten Fällen von Perityphlitis, 
die mit der Bildung eines „perityp hlitischen 
Tumors" einhergehen, dieses Infiltrat nur 
dann zu Stande kommen könnte, wenn 
bereits vorher Adhäsionen vorhanden 
waren, in welche der Wurmfortsatz förmlich 
eingewickelt ist. Dass das Infiltrat nur dann 
tastbar werden kann, wenn die Lage des 
Wurmfortsatzes der Art ist, dass es sich in 
der Ileocöcalgegend dicht unter den Bauch¬ 
decken oder nicht sehr tief * unter 
ihnen bilden kann, ist einleuchtend. Aber 
dass bindegewebige Adhäsionen, wie sie 
Riedel als Vorbedingung für das Zustande¬ 
kommen des klassischen perityphlitischen Tu¬ 
mors voraussetzt, entstehen können, ohne dass 
zur Zeit ihres Entstehens deutliche Erschei¬ 
nungen vorhanden gewesen wären, scheint mir 
nicht erwiesen zu sein. Ihr Zustandekommen 
setzt doch eine ziemlich heftige Entzündung 
voraus, die bei der Empfindlichkeit des Peri¬ 
toneums nicht ohne Schmerzen vorübergegan¬ 
gen sein wird. 

Wenn man Gelegenheit hatte, Jahr und 
Tag nach einer günstig abgelaufenen um¬ 
schriebenen oder allgemeinen Peritonitis die 
Bauchorgane zu untersuchen, ist man erstaunt, 
wie wenig im Verhältnis zu dem, was an der 
Pleura oder dem Perikard nach einer Ent¬ 
zündung an Verwachsungen zurückbleibt, am 
Peritoneum noch als Rest jener Entzündung 
sich findet. Wo eine erhebliche peristaltische 
Ortsbewegung der Eingeweide möglich ist, 
kommt es in der Regel zu gar keinen Ver¬ 
wachsungen. sondern finden sich höchstens 
leichte diffuse oder feinstreifige weisse Trü¬ 
bungen in der völlig glatten Serosa. Da, wo 
keine oder nur geringe Verschiebungen möglich 
sind, kann es zu flächenhaften Verwachsungen, 
an einzelnen, auch beweglichen Punkten, an 
welchen die Entzündung eine besondere Heftig¬ 
keit erreicht hatte, zu brückenartigen Verbin¬ 
dungen derselben mit einander kommen. In 
derartigen Fällen waren aber die erheblichsten 
und schwersten Erscheinungen seiner Zeit vor¬ 
handen gewesen. Eine Entzündung von der 

1 ) Wie oft fehlt die typische Dämpfung in der 
rechten Fossa iliaca bei Appendicitis? Bcrl. klin. 
Wochenschr. 4. August 1902. 

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Heftigkeit, dass bindegewebige Adhäsionen um 
den Wurmfortsatz herum Zurückbleiben, kann 
wohl nur durch Uebergreifen einer Geschwürs¬ 
bildung der Schleimhaut und der anderen 
Schichten auf den Peritonealüberzug, in man¬ 
chen Fällen wohl durch wirkliche Perforation 
desselben, also durch eine wirkliche Peri¬ 
typhlitis. zu Stande kommen. Sie auf eine 
völlig latent verlaufende Appendicitis zurück¬ 
zuführen, wird wohl kaum angehen. Denn 
was von anderen Darmabschnitten gilt, wird 
wohl auch vom Wurmfortsatz gelten. An jenen 
sehen wir doch häufig genug recht tiefgreifende 
typhöse oder tuberkulöse Geschwüre der 
Schleimhaut, ja die Muscularis blossliegend, 
und doch kann der Peritonealüberzug völlig 
glatt und normal sein. Selbst wo Tuberkel¬ 
knötchen in den Wandungen der Chylusgefässe 
sich entwickelt haben, findet sich an der Serosa 
oft kaum eine Trübung oder nur geringfügige 
Gefässinjection. Auch am Wurmfortsatz selbst 
kann der Bauchfellüberzug ebenso unbetheiligt 
sein, trotzdem in seiner Schleimhaut vorhandene 
typhöse oder tuberkulöse Geschwüre durch 
blauröthliehes Durchschimmern und durch um¬ 
schriebene Verdickung schon von aussen sich 
zu erkennen geben. So werden wir also auch 
nicht erwarten können, dass die gewöh nliehen 
Veränderungen einer chronischen Ap¬ 
pendicitis zur Bildung bindegewebiger Ver¬ 
wachsungen mit der Umgebung führen. Sind 
doch in den Fällen schleichender Obliteration 
des Wurmfoitsatzes, die von Ribbert 1 ) gerade 
auch mit Rücksicht auf dieses Fehlen entzünd¬ 
licher Residuen als ein Involutionsvorgang ge¬ 
deutet wird, Adhäsionen in der Regel nicht 
gefunden worden. 

Mehrfach ist in neuerer Zeit, namentlich 
in Frankreich, als Ursache des, wie ange¬ 
nommen wird, in den letzten Jahr¬ 
zehnten sich häufenden Vorkommens 
der Perityphlitis die vorwiegende Fleisch¬ 
nahrung der wohlhabenden Klassen und in 
den Städten beschuldigt worden. Es wird 
schwer sein, dies zu beweisen. Vor Allem 
aber fragt es sich auch noch, ob denn 
wirklich die Krankheit in gewissen 
Bevölkerungsklassen, in gewissen Län¬ 
dern oder Landestheilen eine Zu¬ 
nahme erfahren hat. Riedel hat jüngst 
ein erschreckendes Bild von der Häufig¬ 
keit derselben in Deutschland entworfen 
und die Sterblichkeit an derselben mit der 
eines mörderischen Krieges zahlenmässig 
verglichen. Er schätzt die Zahl der seit 
Beendigung des deutsch-französischen Krie¬ 
ges bis jetzt an den Folgen der Appendi¬ 
citis Gestorbenen auf mehr als das Drei¬ 
fache des Menschenverlustes, den Deutsch¬ 
land in jenem Kriege erlitten. 

Bei dieser Berechnung setzt Riedel voraus, 
dass die Krankheit überall im Deutschen Reich 

Virchow's Archiv Bd. 132. 

Original ffom 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




Februar 


55 


Die Therapie der 

gleich häufig auftritt. Eine genaue Statistik 
darüber existirt nicht. Aber es wäre sehr 
wichtig, wenn über diesen Punkt mit der Zeit 
zuverlässige statistische Erfahrungen gesammelt 
würden, da sich aus eventuellen grossen Ver¬ 
schiedenheiten in den verschiedenen Gegenden 
Rückschlüsse auf vorwiegende Ursachen, vor 
Allem auf den Einfluss der Ernährungsweise, 
die ja in verschiedenen Theilen des Deutschen 
Reiches eine sehr verschiedenartige ist. ge¬ 
macht werden könnten, ln Riedel’s Beob¬ 
achtungskreis scheint die Krankheit ungewöhn¬ 
lich häufig zu sein, wobei jedoch zu berück¬ 
sichtigen ist, dass einer chirurgischen Klinik 
Kranke oft aus weiterer Entfernung zugeführt 
werden. Mir selbst stehen zwei klinische Beob¬ 
achtungsgebiete zu Gebote, das deutsche Hospital 
in London mit einer damals während einer 
dreijährigen Thätigkeit als Hausarzt desselben 
auf durchschnittlich 800 Aufnahmen im Jahr 
sich belaufenden Frequenz und die hiesige 
medicinische Klinik. Im deutschen Hospital 
in London kamen auf das Jahr nicht mehr 
als 5 bis 6 Fälle von acuter Peritonitis einschliess¬ 
lich der Perityphlitis. Dazu kommen dann noch 
die Fälle, zu denen ich consultativ beigezogen 
werde. Während der ganzen 28 Jahre meiner 
hiesigen Thätigkeit habe ich durchschnittlich 
sicher nicht mehr als 3—4 Fälle im Jahre in 
der Stadt und auswärts gesehen. Dies würde 
für 28 Jahre höchstens 112 Fälle ausmachen. 
In der Klinik kamen in den Jahren 1877 bis 
1891 einschliesslich, also in 23 Jahren, unter 
31 '236 (17340 männlichen und 13896 weiblichen) 
überhaupt aufgenommenen Kranken 187 (124 
männliche und 63 weibliche) Fälle von Peri¬ 
typhlitis vor. Wie sich dieselben auf die ein¬ 
zelnen Quinquennien vertheilen, zeigt folgende 


Uebersicht: 

Aufnahmen 

An Peri¬ 

In % der 
Gesamtnt- 


überhaupt 

typhlitis 

aufnahm. 

1877—1881 . 

. . 4364 

26 

0,57 

1882—1886 . 

. . 5812 

48 

0,82 

1887—1891 . 

. . 6426 

32 

0.49 

1892-1896 . 

. . 7041 

30 

0,42 

1897—1901 . 

. . 7593 

51 

0,67 


Es ergiebt sich daraus eine sehr ungleiche 
Vertheilung auf den Zeitraum der Beobachtung. 
In den letzten 4 — 5 Jahren sind wohl öfter als 
früher Fälle der chirurgischen Klinik zugeführt 
worden. Erheblich ist der Abgang, den die 
medicinische Klinik dadurch gehabt hat, nicht. 
Die absolute Zunahme der Aufnahmen an 
Perityphlitis hält nicht einmal Schritt mit der 
Bevölkerungszunahme. Die Einwohnerzahl be¬ 
trug im Jahre 1877 : 35 000, 1885 : 42 000, 1902: 
65 000. Würde man unter Zugrundelegung der 
hier gemachten Erfahrungen eine Statistik nach 
dem Muster der RiedePschen aufstellen, so 
würde dieselbe doch eine erheblich gerin¬ 
gere Gesammtzahl für das ganze Deutsche 
Reich ergeben. Immerhin ist aber die Zahl 
der alljährlich an Perityphlitis sterbenden 
Kranken noch eine beklagenswerth hohe und 
keine Anstrengung ist zu gross, die gemacht 
werden kann, um diese Zahl herabzumindern. 

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Gegenwart 1903. 

Dafür ist aber vor Allem nothwendig eine 
noch viel allgemeiner verbreitete Kenntniss 
der wichtigsten pathogenetischen Momente 
unter den Aerzten und eine Klärung der noch 
strittigen Punkte hinsichtlich der Behandlung. 

Ist nun aber auch vielleicht eine Zunahme 
der Krankheit nicht sichergestellt, so ist um 
so sicherer die Thatsache, dass die Krank¬ 
heit seit 25 Jahren viel häufiger erkannt 
und diagnosticirt wird, als früher. Der 
i Grund dafür ist die ungemeine Bereicherung 
unserer Kenntnisse über die Krankheit, welche 
wir der operativen Chirurgie bezw. dem Auf¬ 
schwung, den die Bauchchirurgie seit den 
70er Jahren genommen, zu verdanken haben. 

Wenn es trotzdem, wie oben ausein¬ 
ander gesetzt wurde, mit der Diagnose 
! einer „Appendicitis“ (im engeren Sinne 
des Wortes) noch schlecht bestellt ist, wie 
steht es mit der Diagnose einer mitDurch- 
bruch drohenden Eiteransammlung 
| im Wurmfortsatz, wie sie hinter einer Ver- 
I engerung sich ausbilden kann oder eines 
! submucösen Abscesses in seiner 
Wand, oder irgend eines der anderen 
Vorkommnisse, die zur Perforation 
und damit zur Perityphlitis Veranlassung 
1 geben können: Fremdkörper oder Ko th- 
stein, Phlebitis oder Lymphangioitis 
am Wurmfortsatz oder seinem Mesentorio- 
lum, als Ursache einer umschriebenen oder 
ausgedehnten Nekrose? Es mag sein, dass 
| ein längere Zeit bestehender fixerSchmerz 
i mit Druckempfindlichkeit an einer 
i Stelle, an welcher der Wurmfortsatz in 
Betracht kommen kann, daran denken lässt, 
dass etwas Derartiges sich an ihm ab- 
| spielt, insbesondere, wenn Temperatur- 
i erhöhung und ein auf eine Eiterung hin¬ 
deutender Blutbefund (s. u.) vorhanden ist. 

I Mit einiger Sicherheit aber lässt sich 
i erst die Perforation oder das Ueber- 
j greifen der Entzündung auf die Se- 
rosa und auf die Umgebung erkennen. 

Denn nun erst treten die Erscheinungen 
auf, welche auch sonst den Durchbruch 
eines Eingeweides und die daran sofort 
sich anschliessende Bauchfellentzündung 
begleiten: plötzlicher, sehr heftiger 
Schmerz, Erbrechen und mehr oder 
weniger rasch sich ausbildende leichtere 
oder schwerere Collapserscheinun- 
gen, welchen fieberhafte Temperatur¬ 
erhöhung folgt. Die Untersuchung ergiebt 
dann umschriebene grosse Druckempfind¬ 
lichkeit und starke reflectorische Spannung 
der Bauchmuskulatur über der betreffenden 
Gegend. 

Sehr schnell sich ausbildender 
schwerer Collaps ist wohl immer als 
Shockwirkung des Durchbruchs anzu- 

Original from 

ÜNIVERSITY OF CALIFORNIA 







56 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Februar 


sehen, während die langsam sich ent¬ 
wickelnde, dem Collaps entsprechende Blut- 
vertheilung mit fadenförmigem, frequentem 
Puls, Cyanose und starker Abkühlung der 
peripheren Theile, mit kaltem Schweiss, 
Eingesunkensein der Augen und Facies 
Hippocratica, wenn nicht in ihrem ersten 
Auftreten, so doch in ihrem Fortbestehen 
durch Tage hindurch auf die Wirkung ge¬ 
wisser toxischer Substanzen auf die Blut¬ 
gefässnerven zurückzuführen ist. 

Wo derartige Erscheinungen rasch sich 
entwickeln, wird ein möglichst früh¬ 
zeitig vorgenommener operativer 
Eingriff die einzige Rettung des Kranken 
sein. In Fällen der zweiten Art, in wel¬ 
chen dann auch gewöhnlich die Erschei¬ 
nungen einer allgemeinen Peritonitis sich 
ausbilden, sind die Aussichten einer Er¬ 
öffnung der Bauchhöhle ausserordentlich 
geringe. Nicht selten sind in solchen Fäl¬ 
len Ileuserscheinungen vorhanden, ja 
wenn das volle Krankheitsbild sich sehr 
rasch entwickelt hat oder wenn man einen 
Kranken erst in diesem Stadium zu sehen 
bekommt, kann es unmöglich sein zu ent¬ 
scheiden, ob dieselben durch Darmlähmung 
oder durch eine plötzliche Unwegsamkeit 
des Darms hervorgerufen sind. Ungemein 
reichliche Indicanausscheidung durch den 
Harn kann in beiden Fällen vorhanden sein. 
Bei einigermaassen begründeten Zweifeln 
dieser Art wird man sich zur Laparotomie 
entschliessen, um den Kranken nicht an 
einer nicht gehobenen inneren Einklem¬ 
mung zu Grunde gehen zu lassen, wenn 
der Allgemeinzustand nur einigermaassen 
eine Operation noch gestattet. 

Der Uebergang einer entzündlichen 
oder mit Gewebsnekrose einhergehenden 
Erkrankung des Wurmfortsatzes auf die 
Umgebung kann jedoch auch zunächst 
allmählich und schleichend stattfinden. 
Unter wenig ausgesprochenen Erscheinun¬ 
gen bilden sich zunächst Verklebungen. 
Ohne Erbrechen, aber unter leichten 
Fieberbewegungen und Verdauungs¬ 
störungen, insbesondere Appetitlosigkeit mit 
belegter Zunge, mit langsamer Auftreibung 
der Cöcalgegend, in welcher mehr ein un- 
angenehmesDruckgefühl als heftige Schmer¬ 
zen, aber etwas Druckempfindlichkeit 
vorhanden ist, kann sich ein Abscess 
entwickeln, der bei einer gewissen Grösse 
des Herdes und je nach der Lage des 
Wurmfortsatzes sich mit der Zeit auch als 
ein Tumor darstellen kann. Der sub¬ 
acute Verlauf lässt eher an Tuber¬ 
kulose oder Aktinomykose, als an eine 
gewöhnliche Perityphlitis denken. Und doch 

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kann sich bei der Eröffnung des Abscesses 
ein Kothstein, frei im Eiter liegend, der 
Wurmfortsatz durchlöchert oder zum Theil 
brandig abgestorben vorfinden. Meist han¬ 
delt es sich in derartigen Fällen um 
ältere Individuen, die dann frühzeitig ein 
etwas verfallenes Aussehen bekommen, 
aber mit bereits schweren Veränderungen 
im Leib noch herumgehen. Plötzlich kann 
aber in einem solchen Fall auch der Ab¬ 
scess durch stärkere peristaltische Ver¬ 
schiebung einer ihn begrenzenden ange- 
lötheten Darmschlinge oder durch rasche 
Zunahme der Spannung in ihm, wie sie 
namentlich durch Gasentwicklung hervor¬ 
gerufen werden kann, in die bis dahin 
freie Bauchhöhle durchbrechen und dann 
rasch die Erscheinungen einer septischen 
Peritonitis hervorrufen. 

Die Bildung eines derartigen Abscesses 
wird sich vermuthen lassen aus einer 
langsam zunehmenden Auftreibung 
und Dämpfung des Perkussionsschalls 
in der Cöcalgegend mit wachsender 
Druckempfindlichkeit. 

Ist eine aus gesprochen abgegrenzte 
Dämpfung vorhanden und tritt inmitten 
derselben eines Tages tympanitischer 
Schall auf, so kann letzterer ein Zeichen 
für Gasbildung in dem Abscess sein. 
Gestattet die Empfindlichkeit ein stärkeres 
Aufdrücken des Plessimeters, so kann je 
nach dem Druck die Höhe des tympanischen 
Perkussionsschalls einen Wechsel dar¬ 
bieten. Die gleiche Erscheinung kann 
selbstverständlich auch über einer etwas 
geblähten Darmschlinge, aus welcher die sie 
aufblähenden Gase nicht unter dem Druck 
nach vor- oder rückwärts ausweichen, sich 
finden. Das Wichtige für die vorliegende 
Frage ist aber eben das Auftreten des tym- 
panitischen Schalls inmitten einer bis dahin 
mehrere Tage hinter einander in gleicher 
Weise nachweisbar gewesenen Dämpfung. 

Sehr zu beachten ist in derartigen Fällen 
das Auftreten einer teigigen, wenn auch 
noch so geringen Schwellung des 
Unterhautzellgewebes gegen das Lig. 
Pouparti oder den Darmbeinkamm oder die 
Lumbalgegend hin. Dieses Oedem ist wohl 
meist durch venöse oder Lymph-Stase her¬ 
vorgerufen und kann in seltenen Fällen 
auch wieder von selbst verschwinden. 

Dass in Fällen dieser Art der langsam ent¬ 
standene Abscess eröffnet und womög¬ 
lich gleichzeitig der kranke Wurm¬ 
fortsatz entfernt werden sollte, sobald 
die Diagnose gestellt ist, darüber besteht heut¬ 
zutage wohl keine Meinungsverschiedenheit 
mehr. (Schluss folgt im nächsten Heft.) 

Original from 

__ UNIVERSITY OF CALIFORNIA^ 







Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


57 


Ueber den Gang der Fettabnahme bei Entfettungscuren. 

Von E. Heinrich Kisch -Prag-Maricnbad. 


Um eine genauere Einsicht in den Gang 
der Fettabnahme bei der Durchführung 
meiner Entfettungsmethode in Marienbad 
zu haben, liess ich vor einiger Zeit Ta¬ 
bellen anfertigen, deren Schema ich hier 
aus mehreren Gründen empfehlen möchte. 
Vorerst ist aus denselben ersichtlich, wie 
viel Körpergewichtsverlust der Fettleibige 
täglich und während der ganzen Dauer 
einer Cur erleidet, und es ist dem Arzte 
jederzeit möglich, sich rasch darüber zu 
orientiren und darnach seine Verordnungen 
zu modificiren. Besonders in Kranken¬ 
häusern, Sanatorien und Curorten 
wäre solch übersichtliche Controle bei 
Entfettungscuren von Nutzen. Dann haben 
diese Tabellen, welche ich auch dem Fett¬ 
leibigen einhändige, einen mächtigen er¬ 
ziehlichen Einfluss auf die Personen, indem 
diese durch die graphische Veranschau¬ 
lichung gleich vom Beginne der Cur Ver¬ 
trauen zu der Methode fassen und sich 
gerne dem Detail der Verordnung, deren 
Effect sie täglich verfolgen, fügen. 

Es braucht nicht des Näheren ausgeführt 
zu werden, dass zu einer exacten 
Verwerthung derTabellen nothwendig 
ist, den Fettleibigen täglich im nackten 
Zustande, des Morgens nüchtern, nach 
Entleerung der Blase, abwiegen zu 
lassen. 

Die beifolgende Tabelle zeigt den 
Gang der Gewichtsabnahme bei einer 
Entfettungscur (nach meiner Methode) 
eines 40jährigen Mannes von 104 kg 
70 dkg Körpergewicht, während der 
Dauer von 28 Tagen, mit dem Ge¬ 
wichtsverluste von 9 kg 30 dkg (End- 
wägeresultat 95 kg 40 dkg). 

Aus einer Reihe derartiger Beob¬ 
achtungen habe ich über den Gang 
der Fettabnahme entnommen, dass 
die Körpergewichtsabnahme bei 
einer solchen Entfettungscur in der 
Regel in den ersten 3—4 Tagen am 
grössten, ja zumeist überraschend 
gross ist. Bei hochgradig Fettleibigen 
mit einem Körpergewicht von über 
100 kg U/2* 2 bis 21/2 kg in diesen 
Tagen des Curbeginnes. Dann findet 
täglich ein geringerer, ziemlich gleich- 
mässiger Gewichtsverlust von etwa 
20 50 dkg täglich statt. Im Cur- 
verlaufe kommt es nicht selten durch 
einige Tage zu einem Stillstände der 
Abnahme oder gar einem leichten 
Anstiege des Körpergewichtes. 

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Der Grund des sehr bedeutenden Ge¬ 
wichtsverlustes im Curbeginne liegt wohl 
in der plötzlichen Aenderung der Ernäh¬ 
rung, in der raschen Entziehung der Fett¬ 
bildner in der Kost, in der stärkeren kör¬ 
perlichen Bewegung und Anstrengung, 
dann in dem Wasserverluste des Körpers 
durch die diuretische und leicht purgirendc 
Wirkung des Mineralwassers wie durch 
den Bädereffect. Der Stillstand oder An¬ 
stieg des Körpergewichtes im weiteren 
Verlaufe ist zumeist auf Unterlassungs¬ 
sünden in Bezug auf die gegebenen Vor¬ 
schriften der Diät und Bewegung zurück¬ 
zuführen. 

Als Gesammtresultat zahlreicher solcher 
Beobachtungsfäile ergiebt sich, dass die 
plethorischen hochgradig Fettleibigen wäh¬ 
rend ejner 4—6wöchentlichen Entfettungs¬ 
cur im Durchschnitt eine etwa 6,5% ihres 
Körpergewichtes betragende Abnahme er¬ 
zielten. Der geringste Gewichtsverlust be¬ 
trug 2,7 %, der grösste Verlust 13,2 % des 
Körpergewichtes. 

Was die Körperlocalitäten betrifft, in 



UNIVERSITtf OF CALIFORNIA 





































58 


Februar 


Die Therapie der 


denen das übermässig reichlich aufge¬ 
speicherte Fett abnimmt, so schwindet nach 
meinen Beobachtungen und Messungen zu¬ 
erst das Fett am Panniculus adiposus der 
Brüste und am Nacken; die weiblichen 
Brüste werden schlaffer, ihr Umfang nimmt 
ab, die Fettwulst am Nacken verliert ihre 
Prallheit. Nachher erfährt das am Kinn 
und im Gesicht abgelagerte Fett, sowie das 
Fettgewebe an den Schenkeln und Armen 
eine sichtliche Abnahme; erst später ist 
ein Schwinden der Fettpolster am Gesäss 
und am spätesten in den Bauchdecken 
nachweisbar. 

Trotz der vielleicht Manchem etwas 
gross erscheinenden obigen Ziffern des 
Körpergewichtsverlustes bei meiner Ent¬ 
fettungsmethode sind alle ängstlichen Be¬ 
denken einer Schädigung des Eiweiss¬ 
bestandes des Fettleibigen vollkommen un¬ 
gerechtfertigt, wenn man die wichtigen 
Cautelen beobachtet, stets während der 
Entfettung eine sorgfältige Controle über 
die Muskelkraft des Individuums durch das 
Dynamometer und speciell über die Kraft 
des Herzmuskels durch genaue Pulsbeob¬ 
achtung und mittelst des Sphygmographen 
zu üben, eventuell sich auch durch Stoff¬ 
wechselbestimmungen darüber Aufklärung 
zu schaffen, ob das Körpereiweiss wesent¬ 
lich angegriffen wird. 

Dass aber eine strengere Entfettungscur 
im Allgemeinen in den Curorten besser 
vertragen wird, liegt in mehreren günstigen 
Begleitumständen: in der Kräftigung der 
Herzthätigkeit durch die kohlensäurereichen 
Mineralbäder; in der Anregung des ge- 
sammten Nervensystems durch Veränderung 
des Aufenthaltes und die neuen Eindrücke, 
dann in der Förderung des Eiweissansatzes 
durch das systematische Spazieren und 
Steigen im Freien. Bezüglich des letzten 
Momentes könnte man meinen, dass das 
Entgegengesetzte eintritt, wenn die Muskel¬ 
arbeit, welche den Stoffumsatz erheblich 
steigert, sich noch zur Entziehungsdiät 
hinzugesellt; allein von Noorden hebt 
mit Recht hervor, dass der Grund dieses 
paradoxen Verhaltens „sowohl auf soma¬ 
tischem wie auf psychischem Gebiete liegt; 
die Muskelarbeit fördert bei den Fettleibigen 
sowohl den Eiweissansatz (Muskelneubil¬ 
dung) wie das Kraftgefühl". 

Mit wenigen Worten möchte ich noch 
die Entfettungsmethode skizziren, wie ich 
sie in einer überaus grossen Zahl von 
Fällen plethorischer uncomplicirter Fett¬ 
leibigkeit in Marienbad erprobt habe: 

Des Morgens, zu recht früher Stunde 
(um 5 bis 6 Uhr) Trinken von 3—4 Gläsern, 

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Gegenwart 1903. 


je 150—200, zuweilen auch 250 g Marien¬ 
bader Glaubersalzwasser, in Pausen von 
15—20 Minuten, dann 1—2 Stunden Be¬ 
wegung in systematisch allmälig steigender 
Promenade durch Wald und Berg. Dann 
Frühstück: 1 Tasse (150 g) Kaffee oder 
Thee ohne Milch oder mit Zusatz von 
1 Esslöffel voll Milch, ohne Zucker, 50 g 
Zwieback, der weder fett noch süss sein 
darf, 25—50 g mageren Schinken oder 
Fleisch. 

Vormittags: Ein kohlensäurereiches 
Säuerlingsbad von 26 o R. und 15 Minuten 
Dauer mit nachfolgender kalter Regen- 
douche über den Körper (mit Ausnahme 
des Kopfes), dann 1 Stunde Promenade. 
Bei vollkommen intactem, kräftigen Herzen 
2mal wöchentlich ein russisches Dampfbad 
oder römisch-irisches Bad mit nachfolgen¬ 
der kalter Abreibung, Douchen, Ein¬ 
packungen. 

Eine Stunde vor dem Mittagsmahle: 
Trinken von 1 Glas Säuerling mit Zusatz 
von Saft einer Citrone, ohne Zucker. 

Mittags zwischen 1 und 2 Uhr: Meist 
keine Suppe, 150—200 g gebratenes, nicht 
fettes Fleisch kräftigster Sorte (Schweine¬ 
fleisch, Gänsebraten ausgeschlossen), auch 
Fische mit Ausnahme von Lachs, 25 g 
Zwieback, Gemüse nach Wunsch 50—100 g 
(Kartoffeln verboten), als Dessert frisches 
Obst. Getränke 1—2 Gläser (150 g) weissen 
oder rothen leichten Weines. Bei Tische 
kein Wasser, auch nicht Sauerbrunnen. 

Nachmittags, nicht unmittelbar nach 
dem Essen, Promenade von 3 Stunden 
Dauer, Ansteigen in die Berge, dann eine 
Tasse Kaffee oder Thee ohne Zucker und 
Milch. Um 6 Uhr Nachmittags 1 Glas 
Glaubersalzwasser. 

Abends zwischen 7 und 8 Uhr: 150 g 
warmen Braten oder kaltes Fleisch oder 
mageren Schinken, Gemüse oder zucker¬ 
freies Compot, 15—20 g Zwieback. Nach¬ 
her 1 Stunde Promenade, worauf zuweilen 
allgemeine Körpermassage durch ein ge¬ 
schultes Individuum. 

Vor dem Schlaf, welcher nicht länger 
als 7 Stunden dauern darf, kalte Waschung 
oder Abreibung des ganzen Körpers. 

Mit dieser Kostnorm gewähre ich dem 
Fettleibigen durchschnittlich pro Tag 160 g 
Eiweiss, 11 g Fett und 80 g Kohlehydrate, 
ungefähr 1090—1100 Calorien. Die körper¬ 
liche Bewegung beim Gehen soll im Durch¬ 
schnitt 20 000—25 000 Schritte täglich be¬ 
tragen, was am besten durch den Pedo¬ 
meter controlirt wird, einen uhrartigen 
Apparat, welcher die Schrittzahl verzeichnet. 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Februar Die Therapie der Gegenwart 1903. 

Es soll jedoch ausdrücklich hervor- körperliche Grösse, die Lebensgewohn- 
gehoben werden, dass sowohl der Calorien- heiten, die BlutbeschafFenheit und den Zu¬ 
gehalt der Kost, wie das Ausmaass der stand des Herzens des Individuums Rück- 
körperlichen Bewegung sorgfältig auf den ! sicht nehmen muss. 

Grad der Fettleibigkeit, auf das Alter, die 


Lieber die Wirkungen zweier neuen Verbindungen des Arsens 

und Phosphors. 

Von R. Kobert-Rostock. 


1 . Ueber das Phosphorsuboxyd. 

Die eminent giftige Wirkung des Phos¬ 
phors kommt den dem Mediciner geläu¬ 
figen Oxydationsstufen desselben, d. h. der 
unterphosphorigen Säure, der phosphorigen 
Säure, der Phosphorsäure und der Gly¬ 
cerinphosphorsäure nicht zu. Als was der 
Phosphor im Organismus wirkt, ist nach 
Kunkel noch immer eine nicht gelöste 
Frage. Einige denken an eine Wasser¬ 
stoffverbindung, andere an eine Eiweiss- 
veibindung. An eine SauerstoffVerwaltung 
wird nur deshalb nicht gedacht, weil den 
bisher bekannten erfahrungsgemäss die 
typische Phosphorwirkung sicher nicht zu¬ 
kommt. Sollte aber eine noch niedere 
Oxydationsstufe gefunden werden, so müsste 
nach den jetzigen Anschauungen der theo¬ 
retischen Pharmakologie durchaus erst deren 
Wirkung geprüft werden, ehe von einer 
Unwirksamkeit derselben gesprochen wer¬ 
den dürfte. In der That hat nun mein 
Rostocker Kollege A. Michaelis, einer 
der besten Kenner der Chemie des Phos¬ 
phors, in mehreren Abhandlungen 1 ) im 
Verein mit seinen Schülern Pitsch und 
R. v. Arend die Existenz einer sehr tiefen, 
früher unbekannten Oxydationsstufe des 
Phosphors dargethan und die gegen die 
Einheitlichkeit dieser Verbindung gerich¬ 
teten Angriffe von Chapman und Lid- 
bury 2 ) widerlegt. Er nennt dieselbe Phos¬ 
phorsuboxyd. Sie hat die Formel P 4 O. 
Ihre Stellung zu den bisherigen Oxyda¬ 
tionsstufen zeigt die nachstehende Zu- 
sammmenstellung: 

Oxyde Säuren 

Pnosphorsuboxyd P4O 
Phosphoroxydul PjO 

Unterphosphorige 
Säure H3PO9 

Phosphortrioxvd P1O3 Phosphorige Säure 

H3PO3 


1 1 Annalen der Chemie Bd. 310, S. 45 und Bd. 31 4, 
S. 259. 

a ) Journal of the Chemical Society, vol. 75, 
S. 973. 


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Oxyde Säuren 

I Orthophosphorsäure 

H3PO4 

Metaphosphorsäure 

Tllf-Il 1 < i\ \ < 1 i m rt ^ r 

Hl Us 

Pvi ophosphorsäure 

H4P3O7 

Ph*»sphortetroxvd P3O4 Unterphosphorsäure 

h 4 p 2 o 6 

Das Phosphorsuboxyd wird erhalten, 
wenn man gewöhnlichen Phosphor in 
wässrig-alkoholischem Alkali löst und die 
Lösung mit verdünnter Säure fällt. Es 
wird zweitens erhalten, wenn man Essig¬ 
säureanhydrid auf eine Essiglösung von 
unterphosphoriger Säure einwirken lässt. 
Dass der auf diese zwei Methoden her- 
j gestellte Körper nicht etwa in der Haupt¬ 
sache Phosphor ist, geht daraus hervor, 
dass es sich in einer eiskalten Lösung von 
i alkoholisch-wässrigem Alkali immer völlig, 
immer ohne Gasentwicklung und immer 
' so schnell etwa löst wie zerriebenes Koch- 
i salz in Wasser, während Phosphor selbst 
1 sich stets nur langsam, stets nur unvoll¬ 
kommen und stets unter Gasentwicklung 
| löst. 

Dafür, dass das Phosphorsuboxyd nicht 
etwa, wie Chapman und Lidbury wollen, 
j der Hauptsache nach Phosphor ist, spricht 
nun auch der von mir mehrere Male an- 
gestellte Thierversuch. An einem Mittel- 
1 hunde brachte nämlich die Darreichung 
von Phosphorsuboxyd in Dosen von 0,5 
bis 1,0 frühmorgens unter Fleisch einige 
Tage hinter einander keinerlei Störungen 
des Wohlbefindens hervor. Das Thie 
wurde der Vorsicht halber mehrere Mo¬ 
nate beobachtet. Erst durch diesen Ver¬ 
such ist endgiltig dargethan, dass die für 
Phosphor specifischen Giftwirkun¬ 
gen nicht einer Oxydationsstufe 
sondern wohl dem Phosphor als 
solchem zukommen. Gleichzeitig liefert 
dieser Versuch auch den Beweis, dass 
das von Prof. Michaelis dargestellte 
Phosphorsuboxyd frei von Phosphor 
war, denn sonst hätte mindestens Er- 

8 * 



Original fram 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



60 I)ic Therapie dei 

brechen und Appetitlosigkeit oder gar 
schwere Vergiftung eintreten müssen, selbst 
wenn die vorhandene Phosphormenge nur 
bis 1 % des Präparates betragen hätte. 
Wie weit das Phosphorsuboxyd therapeu¬ 
tisch verwendbar ist, mögen die Collegen 
in der Praxis, falls sie Lust haben, fest¬ 
stellen; ich vermuthe, dass es ärztlich 
werthlos ist. 

2 . Ueber das Triphenylarsinoxy- 
chlorid. 

An modernen organischen Arsenpräpa¬ 
raten haben wir bekanntlich keinen Mangel. 
Ich nenne 1. die Dimethylarsinsäure oder Ka- 
kodylsäure und deren Kalium-, Natrium-, 
Calcium-, Magnesium- und Eisensalz, 2. das 
Metaarsensäureanilid oder Atoxyl, 3. das 
metaarsinsaure Natrium, genauer Dinatrium- 
Methylsarsinat oder Arrhenal, 4. das dem 
vorstehenden nahe verwandte oder damit 
vielleicht identische Präparat Neoarsyko- 
dile, 5. das Calcium glycero-arsenicicum 
oder Arsitriol, 6. Salze arsensaurer 
Albumoseverbindungen, zur Zeit noch 
ohne Patentnamen, 7. Salze arsensaurer 
Gelatosen, ebenfalls noch unbenannt, 
8 . arsenhaltige Hefepräparate. Be¬ 
treffs einiger dieser Verbindungen äusserte 
sich kürzlich ein sehr kritischer Fachmann, 
Riehl 1 ), folgendermaassen: „DasBestreben 
die gebräuchlichen älteren Arsenpräparate 
durch organische Arsenverbindungen zu er¬ 
setzen und so die Nebenwirkungen zu ver¬ 
meiden hat zur Empfehlung einer Reihe 
neuer Präparate geführt z. B. der kakodyl- 
sauren Salze, des Atoxyls u. s. w. Ob sich 
diese als vorteilhafter bewähren, wird die 
Zukunft zeigen; eigene Versuche des Ver¬ 
fassers machen dies zweifelhaft." Unter 
solchen Umständen können wir mit Sicher¬ 
heit darauf rechnen, dass noch eine weitere 
Serie auf den Markt gebracht und geprüft 
werden wird. Da unter diesen wohl auch 
das von mir voruntersuchte sein dürfte, 
möchte ich einige Worte über dasselbe 
zur Orientirung sagen. 

Wir besitzen über aromatische Arsen¬ 
verbindungen zwei ausserordentlich inhalt¬ 
reiche chemische Abhandlungen aus der 
Feder meines schon oben genannten Col¬ 
legen A. Michaelis. 2 ) In der zweiten der¬ 
selben wird unter andern auch das Tri- 
phenylarsinoxychlorid beschrieben. Es hat 
die Formel 

(C G H 5 ) 3 As [° H - 
Der Arsengehalt beträgt 20,9% 

M Schmidts Jahrb., Hd. 276, 1902, S. 5. 

Bcr. (1. D. C hem. Ges. Jahrg. 34, 1901, S. 565. 

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* Gegenwart 1903. Februar 

Es wird sehr leicht und schön erhalten, 
wenn man eine Auflösung von Triphenyl- 
arsin in Chloroform mit Chlor sättigt, das 
überschüssige Chlor mit Kohlensäure aus¬ 
treibt und nun wasserfreien Aether bis zur 
Trübung zusetzt. Beim Stehen scheiden 
sich dann glasglänzende Nadeln unserer 
Substanz aus. Sie schmilzt bei 171° und 
ist in kaltem Wasser und in Alkohol leicht 
I löslich. Gegen chemische Agentien 
ist die Verbindung sehr resistent; 
das darin enthaltene Arsen ist lar- 
virt, lässt sich mit Schwefelwasser¬ 
stoff nicht als Schwefelarsen ab¬ 
scheiden, sondern wird energisch 
festgehalten. Nach F. Krafft und 
R. Neumann 1 ) spielen in den Phenylver- 
bindungen des Phosphors, Arsens und 
Antimons diese Elemente dem Phenyl gegen¬ 
über die Rolle des negativen Radikales. 

Als Maassstab für das Verhalten im Or¬ 
ganismus kann man bei vielen organischen 
Arsenverbindungen das Verhalten zu Peni- 
cillium brevicaule ansehen. Was von 
diesem Pilze nicht unter knoblauchartigem 
Gerüche zersetzt wird, dürfte auch im Or¬ 
ganismus nicht zersetzt werden. So ge¬ 
lingt es z. B. leicht Atoxyl damit zu zer¬ 
setzen. Ich betone dies, da einzelne Der¬ 
matologen die Zersetzbarkeit des Atoxyls 
anzweifeln. In meinem Institute Hess sich 
nicht nur aus Atoxyl, sondern auch aus 
dem Harn von Menschen, welche mit Atoxyl 
durch Prof. Wolters behandelt worden* 
der typische Knoblauchgeruch mit Hülfe 
der Reincultur von Penicillium brevicaule 
entwickeln. Die Zersetzung des Triphenyl- 
arsinoxychlorids mittelst des Pilzes gelang 
jedoch nicht. Ebenso war dieser Pilz auf 
die im Harn der Patienten zur Ausschei¬ 
dung kommende Substanz ohne Einwirkung. 

Unter solchen Umständen erschien der 
Versuch am Thier doppelt wichtig. Einem 
Hunde von mittlerer Grösse wurden meh¬ 
rere Tage hintereinander mit dem Morgen- 
futter Anfangs 0,5—0,6 g Triphenylarsin- 
oxychlorid in Pulverform verabfolgt. Es 
trat keine Erkrankung ein. Auch Dosen 
von 1,0 Morgens gereicht waren ohne Wir¬ 
kung. Bei Steigerung der Dose auf 1,5 g 
kam es zu leichten cerebralen Erscheinun¬ 
gen, welche ich auf die Triphenylcompo- 
nente schieben möchte; dieselben gingen 
aber vorüber, ohne dass binnen Monaten 
irgend welche an Arsen vergiftung erinnernde 
Symptome sich dafür einsteliten. Jede Por¬ 
tion Harn des Thieres enthielt reichliche 
Mengen des verfütterten Präparates in un¬ 
verändertem Zustande. Durch Ausfällung 
: mit Schwefelwasserstoff Hess sich dasselbe 


Original frorn 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Februar Die Therapie der 

in Form von — nach dem Umkrystallisiren 
aus Alkohol — schneeweisser Triphenyl- 
arsinsulfid aber nicht etwa als Schwefel¬ 
arsen dem Harn leicht entziehen. Wären 
auch nur Spuren von Schwefelarsen dabei 
gewesen, so hätte die Penicilliumreaction 
mit dem Harn eintreten müssen. 

Ich bin der Meinung, dass fast die Ge- 
sammtraenge des verfütterten Präparates 
zur Resorption und auch diese Gesammt- 
menge zur Ausscheidung in unverändertem 
Zustande gekommen ist. Allerdings habe 
ich den Versuch nicht quantitativ angestellt. 
Wie das Präparat bei oftmals wiederholter 
Einspritzung kleiner Dosen unter die Haut 
wirkt, soll noch festgestellt werden. Dass 
die Subkutaneinspritzung grosser Dosen 
eine Wirkung hat, ist nicht auffällig, denn 
auch andere Triphenylverbindungen wie 
Phenylblau, Triphenylphosphat und Tri- 
phenylalbumin sind nicht unwirksam. 

Wir haben also im Triphenyl- 
arsinoxychlorid die erste überhaupt 
bis jetzt dargestellte relativ un¬ 
giftige Arsenverbindung. Diejenigen, 
welche nach einer solchen suchen, werden 
sich daher mit Eifer auf dieselbe stürzen. 
Vielleicht wird dieser Eifer aber etwas 
nachlassen, wenn ich hinzufüge, dass Pro¬ 
fessor Wolters bei geeigneten Hautkranken 
mit diesem Präparate in Dosen, bei denen < 
< auf gleichen Arsengehalt berechnet) Fowler- 
sehe Solution bereits deutlich wirkt, keiner- j 
lei Arsenwirkungen wahrnehmen konnte i 
und zwar weder schädliche noch nützliche. 
Trotzdem empfiehlt es sich bei Patienten, 
welche andere Arsenikalien nicht vertragen, 
mit diesem relativ unschädlichen Präparate 
weitere Versuche zu machen. Es wäre ja 
nicht ganz unmöglich, dass der kranke Or¬ 
ganismus sich dem Präparate gegenüber 


Gegenwart 1903. 61 

unter Umständen anders verhält als der 
gesunde. 

Vom Standpunkte der theoreti¬ 
schen Pharmakologie aus muss diese 
Substanz, auch wenn sie therapeutisch 
gänzlich bedeutungslos bleiben sollte, als 
eine ungemein interessante bezeich¬ 
net werden. 

In dem wichtigen Werke „über die 
Arzneimittelsynthese“ behandelt Sigm. 
Fränkel bekanntlich die Beziehungen 
zwischen chemischem Aufbau und pharma¬ 
kologischer Wirkung. S. 474 bespricht er 
auch die Arsenpräparate und entscheidet 
sich dahin, dass es besser ist Arsenik zu 
geben als die modernen organischen Arsen¬ 
präparate. Von uns hier angehenden Prä¬ 
paraten bespricht er die Mono- und die 
Diphenylarsinsäure. Von letzterer, der 
die Formel (Cß^)? AsO’OH zukommt, sagt 
er, sie sei ein ziemlich schnell wirkendes 
Gift und Hesse sich ihrer Wirkungsweise 
nach mit Rücksicht auf die analoge Con¬ 
stitution der Dimethylarsinsäure an die 
Seite setzen. Die Monophenylarsinsäure 
scheine im Organismus langsamer, aber 
sonst ebenso zu wirken. „Der Ersatz von 
Hydroxylen durch die organische Radicale 
in der Arsensäure AsO(OH)s verzögert 
die specifische Arsenwirkung nur für so 
lange, bis die organische Componente ab- 
gethan ist, aber das Substitutionsproduct 
wirkt qualitativ der Grundsubstanz gleich.“ 
Da mir dieser Fränkel’sche Satz im Ge¬ 
dächtnis war, hatte ich Anfangs gar keine 
Lust das Triphenylarsinoxychlorid zu unter¬ 
suchen, denn ich war überzeugt, es würde 
dabei eine langsame Arsenvergiftung ein¬ 
treten. Meine im Laufe des letzten Jahres zu 
wiederholten Malen angestellten Versuche 
haben mich aber vom Gegentheil belehrt. 


Aus der medicinisclieu Klinik der Universität Jena. 

(Director: Prof. Dr. Stintzing.) 

Klinische Beobachtungen über Agurin. 

Von Dr. F. Montag. 

Unter dem Namen „Agurin“ bringen die ! Im Folgenden will ich über die in der 
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Cie. | hiesigen Universitätsklinik gemachten Be- 
Elberfeld, seit ca. einem Jahre ein neues i obachtungen berichten. 

Diureticum in den Handel, das zuerst von ' Das Agurin wurde den Patienten meist 
Impens, einem Schüler Destrees in I als abgewogenes Pulver in Oblaten gegeben, 
Brüssel hergestellt wurde. Dasselbe ist da auch die Tabletten den unangenehmen 
bereits von verschiedenen Autoren in Geschmack des Mittels nicht ganz ver- 
überwiegend günstigem Sinne begut- I loren haben. Wir begannen regelmässig 
achtet worden; die bisher vorliegenden mit einer Dosis von dreimal täglich 
Aeusserungen sind bereits in dieser Zeit- 0,5 g und gingen eventuell bis dreimal 
schrift besprochen worden (vergl. Jahr- * täglich 1,0 g. Auch hierin ist ein Vor¬ 
gang 1902. S. 247). zug des Agurins vor dem Diuretin be- 


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Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Februar 


f-2 


gründet, das in grösseren Dosen gegeben 
werden muss. 


I. Fall. R., Tischler aus Z.. 19 Jahre. 
Diagnose: Neurasthenie. 


Tag, 

Dosen 

Urinmenge 
in ccm 

Spec. Gew. 

1. 

ohne Ag. 

2300 

| 1111 

2 


2270 

• 1015 

3. i 

Ag. 3x0,5 g 

1680 

1015 

4. 

it 

1990 

1015 

5. 

n 

2780 

1013 

6. 

ii 

2180 

1014 

7. 

i> 

1180 

1018 

8. 

n 

1530 

1017 

9. 

FF 

3500 

1010 

10. , 


| 1400 

1020 

11. 


1 2170 

1013 

12. 

ohne Ag. 

1290 

1022 


Das Agurin wurde gut vertragen bis zum 

11. Tag, wo es wegen Durchfällen ausgesetzt 
werden musste. Eine wesentliche Steigerung 
der Urinmenge ist nur am 5., 9. und 11. Tage 
wahrzunehmen, und zwar hatte der Patient 
jedesmal mehr Flüssigkeit zu sich genommen, 
als sonst. Es entspricht dies ganz den v. Im- 
pens und andern gemachten Erfahrungen, dass 
Agurin nur dann die Urinmenge steigern 
kann, wenn ein grösseres Quantum ver¬ 
fügbarer Flüssigkeit im Körper vor¬ 
handen ist. Dass diese Steigerung der Urin¬ 
menge am 5., 9. und 11. Tage wirklich dem 
Agurin zuzuschreiben ist, und nicht allein auf 
der vermehrten Flüssigkeitseinnahme beruht, 
beweist die am 12. Tage ausgeschiedene Urin¬ 
menge, die nur 1290 ccm betrug, trotzdem Pa¬ 
tient dasselbe Quantum Flüssigkeit zu sich ge¬ 
nommen hatte, wie am 5., 9. und 11. Tage. 

II. Fall. Frau Sehr, aus J., 49 Jahre. 
Diagnose: Aorteninsufficienz, Mitralstenose. 
Keine Oedeme. 

Das Agurin wurde zehn Tage hindurch 
dreimal täglich 0,5 g gegeben und gut ohne 
alle Beschwerden vertragen. Die Flüssigkeits¬ 
aufnahme blieb während der Zeit der Beobach¬ 
tung (ca. 20 Tage), so gut es sich ermöglichen 
liess, dieselbe. Eine Steigerung der Diurese 
war nicht zu beobachten. Die Controlle des 
Pulses und Blutdrucks ergab, dass beide nicht 
durch das Agurin beeinflusst wurden. Der 
Puls bewegte sich während der Beobachtungs¬ 
zeit zwischen 84 und 100 per Minute und der 
Blutdruck zwischen 133 und 145 mm (bestimmt 
mit dem Apparat v. Riva-Rocci). 

III. Fall. Frl. Schm, aus S., 21 Jahre. 
Diagnose: Chlorose, Hysterie. Keine Oedeme. 

Die Beobachtung erstreckte sich über 
18 Tage; zehn Tage hindurch erhielt Patientin 
dreimal täglich 0,5 g Agurin. Es wurde gut 
vertragen. Puls und Blutdruck wurden wieder 
controllirt. Das Ergebniss war: Keine Steige¬ 
rung der Diurese, keine Beeinflussung des 
Blutdruckes, letzterer zwischen 135 und 148 mm. 

IV. Fall. K., Stalljunge aus Gr. O., 15 Jahre. 
Diagnose: Acuter Gelenkrheumatismus. Mitral- 
insufticienz und Stenose. Keine Oedeme. 


Patient bekam sechs Tage hindurch Agurin 
dreimal 1,5 p. d. und äusserte keinerlei Be¬ 
schwerden. Vor der Agurin Verabreichung be¬ 
trug die Urinmenge 1700—2400 ccm, während 
derselben schwankte sie zwischen 2300 und 
3000 und nachdem zwischen 2500 und 1700. 
Wir können also wohl von einer Steigerung 
der Diurese reden, und zwar ist dieselbe wieder 
wie bei Fall 1 auf vermehrte Flüssigkeitszuluhr 
an den betreffenden Tagen zurückzuführen. 

Puls und Blutdruck wurden wieder nicht 
beeinflusst. 

V. Fall. F,, Schäfer aus L., 66 Jahre. 
Diagnose: Myodegeneratio cordis. 

Patient wurde schon 1901 wegen desselben 
Leidens behandelt und erheblich gebessert ent¬ 
lassen. Urin enthält Eiweiss, keinen Zucker. Mikro¬ 
skopisch sind nurBlasenepithelien und Leukocy- 
ten, keine Cylinder nachzuweisen. Beide Extremi¬ 
täten zeigten starke Oedeme. Da dieselben 
trotz Verabreichung von grösseren Dosen Di¬ 
gitalis nicht nachliessen, wurde rnit einer 
Agurincur begonnen, nachdem einige Tage 
vorher die Digitalis ausgesetzt war. Aus der 
unten folgenden Tabelle geht die Wirkung des 
Agurins auf die Diurese hervor. Die Beobach¬ 
tung des Pulses vor und während der Agurin¬ 
cur ergab, dass sich derselbe in keiner Weise 
veränderte. Beschwerden hat F. nach Agurin 
nicht geäussert; in den ersten Tagen traten 
multiple Durchfälle auf, die aber auf' einen 
Diätfehler zurückzuführen waren. 


Tag 

Dosen 

Urinmenge 
in ccm 1 

i 

Spec. 

Gewicht 

Körper- 
1 gewacht 

1—5. 

ohne Agurin 

1000 bis ; 

1013 bis 

i 

i 


1400 

1025 

— 

6. 

Ag. 3 x 0,5 

1800 

1022 

1 — 

7. 


1700 " 

1025 

— 

8. 


1700 

1024 

— 

9. 


1700 

1013 

76,6 k 

10. 


1800 , 

1012 

— 

11. 

n 

1600 

1012 

— 

12.1 

n 

1400 : 

1012 

— 

13. 

n 

1600 ! 

1013 

— 

14. 

FF 

1800 

1011 

— 

15. j 

3 x 1,0 

1600 

1012 

— 

16. 

n 

1500 

1010 

73 k 

17. 

n 

1600 

1010 


18. 

2x1,0 

1500 

1011 

— 

19. 


1700 

1012 

— 

20. 


1400 

1017 

— 

21. 


1600 ( 

1016 

71,2 k 

Die Abnahme 

der Oedeme geht 

aus den 


folgenden Massangaben hervor: Umfang der 
beiden ödematösen Unterschenkel 



Ober den 
Knöcheln 

am unteren 
Rande der 

1 Patella 

Am Tage vor der 
Agurinverabrei- 
chung 

R. 29 cm 

L. 307a cm 

R. 41 cm 

L. 41 cm 

3 Tage nach der Ver- j 
abreichung von 
Agurin 

R. 28 cm 

L 297a cm 

R. 40 cm 

L. 397a cm 


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Gck igle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 









63 


Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


I Ober den 
Knöcheln 


am unteren 
Rande der 
Patella 


9 Tage nach der Ver¬ 
abreichung von 
A gurin 

14 Tage nach der 
Verabreichung 
von Agurin 


R. 27 cm 
L. 27 1 /a cm 

R. 26,5 cm| 
L. 27 cm 


R. 38 Vj cm 
L. 387a cm 

R. 36,5 cm 
L. 37 cm 


VI. Fall. Frau St. aus Schw„ 36 Jahre. 
Aufgenommen den 13. April 1902. Diagnose: 
Mitralinsufficienz, Aortenstenose, relative Tri- 
cuspidalinsufficienz. 

Beine beiderseits stark ödematös. Abdomen 
sehr stark gespannt, die abhängenden Partien 
gedämpft, oben Tympanie. Urinmenge spär¬ 
lich. kein Albumen. Auf Digitalis steigt die 
Urinmenge von 600 ccm auf 3400 in den ersten 
drei Tagen um nach Aussetzen desselben am 
zweiten Tag wieder auf 1700 zu sinken. Unter 
Agurin dreimal 0,5 p. d. steigt die Urinmenge 
wieder 3700—2000. Die Aguringaben wurden 
gesteigert bis auf dreimal 1,0 p. d. und es er¬ 
folgt eine Abnahme der Oedeme der Beine 
und des Abdomens, dessen Umfang über den 
Nabel gemessen bei der Aufnahme 98 cm. jetzt 
84^2 cm beträgt. Weitere Abnahme des Ascites 
und der Oedeme folgt nicht. Agurin wird aus¬ 
gesetzt. Digitalis und wegen eines Recidives 
eines seit längerer Zeit bestehenden Gelenk¬ 
rheumatismus Natrium salicylicum in Dosen 
von dreimal 2,0 4 Tage hindurch verabreicht, 
haben ebenfalls keinen Erfolg, die Urininenge 
sinkt wieder bis auf 900 ccm, der Leibesumfang 
nimmt wieder zu bis 88 cm. Auf Agurin drei¬ 
mal 1,0 p. d. tritt wieder Steigerung der Diu¬ 
rese ein bis 2700 ccm. Der Umfang des Ab¬ 
domens nimmt wieder ab. Am 30. Mai kann 
Patientin zum ersten Mal aufstehen, am 1 . Juni 
wird sie entlassen. 

VII. Fall. Herr Sch. aus A.. 75 Jahre. Auf¬ 
nahme den 4. Juni 1902. Diagnose: Insuffi- 
eientia cords, Arteriosklerose, Hydrothorax. 

An den unteren Extremitäten bis zu den 
Hüften teigiges Oedem, ebenso am Hodensack 
und Penis. Urin: Eiweiss in Spuren, Zucker 
Spärliche granulirte Cylinder. Weder auf Digi¬ 
talis noch auf Agurin Abnahme der Oedeme. 
Dieselben nehmen sogar noch zu. Am 21. Juni 
Exitus. 

VIII. Fall. II..Dienstmädchen ausJ., 16Jahre. 
Aufnahme: 17. Juni 1902. Diagnose: Pericar- 
ditis. 

Aus dem Status: Am 17. Juni Spitzenstoss 
etwas ausserhalb der Mammillarlinie, Verbreite¬ 
rung nach rechts bis zur Mitte des Brustbeins, 
oben normal, an der Spitze ein systolisches 
Geräusch. Puls normal. 

18. Juni. Herzdämpfung nach rechts und 
links weiter verbreitert, nach oben im 2 . Inter- 
costalraum. Kein Reiben, die Herztöne leiser, 
rein. Action unregelmässig. 

21. Juni. Nachdem gestern die Dämpfung 
fast die ganze Vorderseite des Thorax ein¬ 


genommen hatte, der Puls stark unregelmässig, 
die Athmung sehr erschwert, dabei mässiges 
Fieber, trat heute Digitaliswirkung nach 2,0 g 
auf: 2500 ccm Urin, 1013 spec. Gew. Bedeu¬ 
tende Erleichterung, aber die Dampfung auf 
demselben Stand, wie am 18. Juni. 

Vom 22. an erhielt Patientin dreimal 0,5 g 
Agurin pro die. Am 24. hellt sich die Däm¬ 
pfung an den Seiten auf, an der Spitze und 
Aorta ist schönes deutliches Reiben zu hören. 
Der Urin ist frei von Eiweiss. Die Urinmengen 
sind anhaltend gross, 1900—2600. 

Am 29. wird das Agurin ausgesetzt, die 
Dämpfung geht weiter zurück. Patientin wird 
später geheilt entlassen. 

IX. Fall. St.. Schuhmacher aus W.-J., 
38 Jahre. Aufnahme: 6 . März 1902. Diagnose: 
Aorteninsufficienz, Tricuspidalinsuflicienz, Pleu¬ 
ritis exsudativa dextra. 

Die Urinmengen waren sehr gering, stei¬ 
gerten sich auch nicht nach Digitalisgebrauch. 

Am 11. März trat Temperaturerhöhung ein, 
auf der rechten Seite hinten und unten liess 
sich eine 5 cm hohe Dämpfung nachweisen, es 
bestand leichtes Reiben an der Stelle, Stimm- 
fremitus und Athemgeräusch waren abge¬ 
schwächt. 

Am 15. bekam Patient Agurin dreimal täg¬ 
lich 0,5 und zwar in Tablettenform; da er 
Widerwillen gegen die Tabletten zeigte, wurde 
ihm das Agurin weiterhin in Pulverform ver¬ 
abreicht. Fs wurde gut vertragen. Schon nach 
drei Tagen steigerten sich die Urinmengen von 
600 auf 1200 ccm und die Dämpfung im Rücken 
verschwand rasch. 

X. Fall. Dienstknecht A. V. ausSp., 22 Jahre. 
Aufnahme: 9. April 1902. Diagnose: Broncho¬ 
pneumonie, rechtsseitige Pleuritis serosa. 

Aus dem Status bei der Aufnahme: Thorax 
llach, Manubrium eingesunken, Spitzen aus¬ 
gefüllt, Gruben normal. Grenzen links o. B., 
rechts hinten unten etwa handhohe Dämpfung. 
Athemgeräusch verschwunden, einzelne gross¬ 
blasige Rasselgeräusche von fern zu hören. 
Stimmfremitus aufgehoben. 

Patient bekommtdreimal täglicheineTablette 
Agurin ä 0,5 g. Die Urinmenge steigert sich 
bis zu 2900 ccm. Schon nach zwei Tagen ist 
ein Rückgang des Exsudats wahrzunehmen, 
nach weiteren zwei Tagen ist es verschwunden. 
Beschwerden hat Patient vom Agurin nie ge¬ 
habt. Puls und Blutdruck zeigten keine Beein¬ 
flussung durch das Agurin. 

XI. Fall. Herr R., Kaufmann aus B., 
54 Jahre. Aufnahme: 12. Juli 1902. Diagnose: 
Nephritis parenchymatosa. 

Am Thorax beiderseits hinten handhohes 
Transsudat; das Abdomen ist aufgetrieben, 
deutlich Ascites nachweisbar. An den Hüften 
und Beinen hochgradige Oedeme bis zum 
Oberkörper hinauf. Urin enthält viel Eiweiss, 
keinen Zucker, hyaline und granulirte Cylinder, 
keirre Blutkörperchen. 


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64 


Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Patient bekommt zuerst dreimal täglich 
0,5 g Agurin, dann dreimal täglich 1.0 g, aber 
ohne Erfolg. Die Urinmenge nimmt nicht zu, j 
die Oedeme bleiben unverändert. Am 24 . Juli 
wird Patient auf eigenen Wunsch entlassen, 
ohne dass Besserung eingetreten ist. 

Im Anschluss an diese Beobachtungen will 
ich noch einige Blutdruckbestimmungen an¬ 
führen, die ich an zwei Patienten mit dem 
R i va-Roc c Eschen Apparat ausgeführt habe. 


I. Patient. 


4 Uhr 20 

Vlin. 

205 

mm 

0,5 

S Ag 

. 

unn 




210, 

205, 210 mm 




4 

. 30 

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200, 

195 

mm 

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200. 

200, 203, 203, 

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200, 197. 195, 

195, 

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n — 

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188. 

182. 180, 182, 

182 


, 

5 

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185. 

180, 183, 183, 

183 

V 


5 

„ 20 


183 

mm. 







I. 

Patien t. 






2 

Uhr 

25 Min. 175 mm 





2 

V 

30 „ 175 






2 


35 „ 185 






2 

n 

45 „ 182 

A 

gurin 0.5 



2 

w 

50 „ 180 






2 


55 „ 183 






3 

» 

5 „ 178 






3 

„ 

15 „ 178 






4 

» 

- „ 180 







II 

Patient. 





10 

Uhr 

10 Min. 160, 163. 

62 mm 



10 

V 

15 

„ 165 in in 





10 

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20 

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10 


30 

„ 168 

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162 





10 


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170 „ 





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„ 165 „ 

Agurin 

.0 g 


6 

V 

5 

„ 164 — 160 mm 






II 

Patient. 




9 Uhr 55 

Min. 

bis 10 Uhr 15 Min. 

172, 

168, 

165, 






168 

mm 


10 

„ 15 

V 

1,0 g Agurin 




11 

,, 50 


bis 12 Uhr 10 Min. 

158, 

154, 

158, 






158 

mm 


12 

„ io 

n 

1,0 g Agurin 




4 

„ 20 

v 

bis 

\ Uhr 25 Min. 

154- 

-158 

mm 

4 

» 25 


1,0 g Agurin 




6 

„ 20 

„ 

bis 

Uhr 25 Min. 

152- 

-158 

mm 


Die an der Hand der hier angeführten 
klinischen Beobachtungen gemachten Er¬ 
fahrungen dürften uns wohl berechtigen, 
uns dem Urtheil der übrigen Beobachter, 
die das Agurin als gutes Diureticum 
empfehlen, anzuschliessen. Und wenn wir 
auch zugeben müssen, dass das Diuretin 
denselben diuretischen Effect haben kann, 
und dass bei manchen Fällen die Digitalis 
dieselben und bisweilen bessere diuretische 
Wirkung erzielt, so müssen wir doch dem 
Agurin deswegen den Vorzug geben, weil 
ihm die Wirkung der Digitalis auf die 
Circulation und die schädlichen Neben¬ 
wirkungen des Diuretins fehlen, es also 
bedeutend länger als diese beiden Mittel 
angewandt werden kann. Denn in den an¬ 
geführten Fällen wurde es zum Theil recht 
lange verabreicht, aber stets ohne irgend 
welche Beschwerden gut vertragen, ab¬ 
gesehen von den leichten Durchfällen bei 
Fall I. Was den Blutdruck anbetrifft, so 
liess sich da, wo derselbe nur täglich ein¬ 
mal controllirt wurde, keine Beeinflussung 
constatiren, dagegen scheinen mir die zu¬ 
letzt angeführten Beobachtungen la und II b 
dafür zu sprechen, dass ein geringes Sinken 
desselben durch Agurin herbeigeführt wird. 
Dass dasselbe bei den täglichen einmaligen 
Bestimmungen nicht beobachtet wurde, 
spricht wohl für einen rasch stattfindenden 
Ausgleich. Dabei darf man jedoch nicht 
ausser Acht lassen, dass den Blutdruck¬ 
bestimmungen am Patienten doch immer 
ein gewisses Maass von Ungenauigkeit an¬ 
haftet, wegen der verschiedenen uncontrollir- 
baren Einflüsse, denen der Blutdruck den 
Tag über ausgesetzt ist. Ausserdem ist 
auch die Zahl der hier angeführten Blut- 
druckcontrollen viel zu gering, um ein be¬ 
stimmtes Urtheil darüber abgeben zu 
können. 

Was die Indication für Agurin an¬ 
belangt, so ist es nach unseren Beob¬ 
achtungen wohl am meisten bei den durch 
Herzerkrankungen bedingten Hydropsien 
zu empfehlen, ebenso bei den mit Ergüssen 
einhergehenden Pleuritiden und Pericar- 
ditiden. Der Misserfolg bei Nephritis 
parenchymatosa dürfte wohl noch kein 
Grund sein es bei diesen Erkrankungen 
für contraindicirt zu halten, vielmehr dürfte 
es sich wohl empfehlen gerade da noch 
eingehende Studien zu machen, zumal doch 
Berichte über gute Erfolge genügend vor¬ 
liegen. 


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Februar 


65 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Die Rahmgemenge und ihre neuere Ergänzung. 1 ) 

Im Einvernehmen mit Herrn Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Biedert -Hagenau, 
dargestellt von Dr. Gernsheim- Worms. 


Die Rahmgemenge sind die Nahrungs- 
compositionen, welche für Säuglinge be¬ 
wusst ein klares Princip mit natürlichen, 
wohlbekannten Hülfsmitteln verfolgen. Sie 
verwenden die frischen, unveränderten Ele¬ 
mente der Kuhmilch, um eine Annäherung 
in Eiweiss-, Fett- und Zuckergehalt an die 
Muttermilch zu erreichen und zwar so, dass 
sie von dem stoffarmen, der Muttermilch 
näherstehenden Grundgemenge durch ge¬ 
haltvollere Stufen zur unveränderten Kuh¬ 
milch hinführen. Da es doch noch nicht 
möglich ist, die Bestandtheile der Kuhmilch 
denjenigen der Muttermilch ähnlich zu 
machen, so sind jene zunächst in etwas 
schwächerer Menge in den ersten Mischun¬ 
gen vorhanden und passen sich so den 
schwächeren, der Kuhmilch selbst noch 
nicht gewachsenen Verdauungen an, um 
diese allmählich an die Kuhmilch zu ge¬ 
wöhnen. 

Darauf, dass sie selbst in tadelloser Be¬ 
schaffenheit zu dieser Verwendung kommen, 
wird bei der Herstellung des natürlichen 
Rahmgemenges nach Biedert im Gross¬ 
betrieb alle Aufmerksamkeit verwandt: Aus 
guten Viehstapeln mit einwandsfreier Fütte¬ 
rung und Pflege, reinlich gemolken, wird 
die Milch entweder sofort durch Centrifugiren 
noch einmal vom Schmutz befreit, oder 
seltener durch Kühlung zu kurzem Trans¬ 
port nach der Verarbeitungsstelle haltbar 
gemacht und da centrifugirt, dann die 
Mischung aus Rahm, Magermilch etc. her¬ 
gestellt, sofort 20 Minuten bei 101—102° 
sterilisirt — so auf Grund besonderer Ver¬ 
suche von Winter — alsbald wieder ge¬ 
kühlt und weiter kühl gehalten bis zum 
Verbrauch. Dies wird durch nachdrück¬ 
liche Instruktion der Hersteller und wieder¬ 
holtes Einprägen mittelst Gebrauchsanwei¬ 
sung für die Abnehmer sicher gestellt. 

Die Mischungen sind an controlirenden 
Centralstellen darauf geprüft, dass alle min¬ 
destens einige Tage, fast alle über vier 
Tage, gewöhnlich eine oder mehrere 
Wochen Bruttemperatur aushalten, alle 
aber ausnahmslos wochen- oder monate¬ 
lang so unverändert bleiben, dass sie nach¬ 
her mindestens noch einen, selbst viele 
Tage Bruttemperatur ertragen. Dies in 
Verbindung mit der Einschärfung des Kühl- 

*) Nach einem in der IX. Versammlung nieder- j 
rheinisch-westphälischer Kinderärzte in Düsseldorf 1 
von Dr. Gernsheim gehaltenen Vortrag weiter aus¬ 
gearbeitet. 


haltens im Vertrieb und Verbrauch zugleich 
mit Angaben der Kennzeichen von allen¬ 
falls doch einmal zufällig verdorbenen 
i Flaschen in der Gebrauchsanweisung giebt 
weitgehende Garantie, dass das Biedert - 
| sehe Rahmgemenge im Grossbetrieb in 
unverdorbenem Zustand zur Verwendung 
kommt. Dazu unterziehen sich die An¬ 
stalten gewöhnlich noch der Controle ört¬ 
licher Aufsichtsstellen und wird stets Kinder¬ 
ärzten und Aerztevereinen nahegelegt, 
durch zeitweisen Einblick das Vorhanden- 
I sein jenes tadellosen Zustandes im ge¬ 
meinen Interesse sichern zu helfen. 

Dass das Präparat nur aus frischen un¬ 
veränderten Bestandtheilen angefertigt ist, 
verstärkt die Wahrscheinlichkeit, es in ver¬ 
lässlichem Zustande zu erhalten. 

Ganz dieselben Garantien bei der Milch¬ 
gewinnung und -behandlung während seiner 
| Herstellung giebt das künstliche Rahm- 
[ gemenge, die Rahmconserve, Ramogen der 
! vereinigten Ramogenfabriken Zwingenberg- 
Stendorf. Nur kommen dabei noch drei 
Dinge hinzu, welche eine wahrscheinlich 
unbegrenzt dauernde Haltbarkeit verbürgen: 

1 ) Sterilisirung in luftdicht gefalzten Büchsen, 

2 ) Eindickung des Präparates bis zu steifer 
Pastendicke, 3) Beimischung grösserer 
Zuckermengen, nämlich von so viel Zucker, 
als später nach der Verdünnung zum vor- 
schriftsmässigen Gehalt darin sein muss. 
Diese glückliche Combination von beab¬ 
sichtigtem, also später nicht übergrossem 
Zuckergehalt mit grösseren Fett- und ge¬ 
ringeren Eiweissmengen, als in der Kuh¬ 
milch sind, wie sie aber beim Rahmgemenge 
verwandt werden sollen, liefert für die 
Dauer der Aufbewahrung einen so starken 
Zuckergehalt in der Conserve, wie er zur 
Erhaltung einer solchen dienlich und früher 
schon in unglücklicher Combination für 
den Nährerfolg, aber gleich wirksam für 
die Conservirung in der „condensirten 
Schweizermilch 41 zur Verwendung gekom¬ 
men war. Der eingedickte Zustand verhin¬ 
dert dann eine Aenderung in der Zusammen¬ 
mischung der Bestandtheile, besonders eine 
Ausscheidung des Fettes, wie in dünneren 
Milchconserven. *) Da auch der Verschluss 

*) Eine unerwünschte Erfahrung wurde dagegen 
im Sommer 1902 gemacht, dass im Ramogen sich 
Zuckcrkrystalle ausschieden bei Verwendung einer 
sonst ausgezeichneten Milch in der Holstein’schen 
Filiale der Ramogenfabriken. Es sind noch Unter¬ 
suchungen darüber im Gange worauf das Phänomen 
beruht. Soviel steht bereits fest, dass es zu ver- 


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66 


Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


unbedingt sicher ist, so sind diese Ramogen- 
büchsen ein von äusseren Umständen un¬ 
abhängiges, überall bereites Hülfsmittel zur 
Annäherung der Kuhmilch an die Mutter¬ 
milch durch Fettanreicherung; oder auch 
wo eine brauchbare Kuhmilch einmal gar 
nicht vorhanden ist, um eine Zeit lang für 
sich allein als Kindernahrung zu dienen. 

Es sind in solchen Fällen, z. B. wo ein 
Kind eines Arztes (Oberstabsarzt W.) die 
Kuhmilch am Ort bis weit in das zweite 
Halbjahr hinein nicht vertrug, von dem j 
Vater erst die Ramogenverdünnung für 
sich, dann unter Zusatz von Löflund - 
scher Kuhmilchconserve, in anderen Fällen 
das Ramogen ganz für sich, zuletzt in 
wesentlich concentrirterer Mischung und in 
beiden Arten von Fällen mit sehr gutem 
Erfolg angewandt worden. Sowohl mit 
Milchconserve zusammen, als in der aus¬ 
schliesslichen Verwendung von Rahmcon- 
serve wurden blühende Kinder erzielt. 
In diesen letzten Fällen wurde die Con- 
serve noch 1:5 — 4 x /2 verdünnt, eine 
Mischung, die wir uns ohne Weiteres nicht 
getraut hätten, zu empfehlen, wegen ihres 
hohen Fett- und Zuckergehaltes und welche 
von den betreffenden Kindern anstandslos 
vertragen wurde. Sogar eine Frühgeburt, 
ein armseliges Kind von 2250 g, wurde in 
dieser Weise in den ersten sechs Wochen 
mit 8 Mal täglich 1 :13 —12, in den zweiten 
sechs Wochen mit 7 Mal täglich 1 :11 — 10 
anfangs Kaffeelöffel, schliesslich Esslöffel 
genährt und erzielte dabei bis zur zwölften 
Woche ein Gewicht von 4480 g, eine Zu¬ 
nahme von 2230 g, d. i. 26 g im Tag, was 
für ein solches Kind sehr beträchtlich ist, 
um so mehr, als es am Ende der vierten 
Woche nur 2270 g, wie am Anfang, ge¬ 
wogen hatte. Danach hatte die Zunahme 
in den letzten acht Wochen allein die 
2210 g oder beinahe 41 g pro die aus¬ 
gemacht. Auffällig sind die grossen Flüssig¬ 
keitsmengen, ca. 1500—1600 ccm, welche 
nach diesen Angaben dem Kind in der letzten 
Hälfte dieser Periode schadlos gereicht und 
die auch recht beträchtlichen Nährwerthe, 
über 200 Kalorien für das kg, die im An¬ 
fang gegeben wurden, am Ende dann aller¬ 
dings nicht mehr als 100, worauf dann Ver¬ 
abreichung in mächtiger Concentration bis 
1 :6 und selbst 1 :4,5 folgte mit 185 und 
245 g der Conserve und 610 bezw. 808 Kal. 
pro Tag, das sind 156—117 —134 Kal. 

meiden ist und dass es, wenn auch unerwünscht und 
für den äusseren Eindruck des Präparates nicht vor- 
theilhaft, doch nach richtiger Lösung der Krystalle 
bei den üblichen Verdünnungen unschädlich zu sein 
scheint. 


pro kg. Bis zur 18. Woche wurde damit ein 
Gewicht von 5,53 kg, also noch eine täg- 
lichö Zunahme von 25 g erzielt. Nach nun 
allmählichem Milchzusatz ergaben sich mit 
sieben Monaten 7 kg, d. i. eine erklecklich 
höhere Schwere, als sonst bei so geringem 
Anfangsgewicht der Fall ist. Während hier 
die Rahmconserve, das Ramogen, sowohl 
erst in grossen Mengen und starker Ver¬ 
dünnung, wie nachher in ungewöhnlicher 
Concentration erstaunlich gut vertragen 
wurde und nährte, erzielte es bei einem 
anderen Kinde denselben Erfolg durch an¬ 
dauernd grosse Volumina starker Ver¬ 
dünnung, diesmal aber von einer anderen 
| Form der Conserve, dem Milchsomatose- 
ramogen. 

In diesem neuen Präparat ist in Folge 
ausgezeichneter Erfahrungen, die wir im 
Hagenauer Bürgerspital mit Zufügung von 
Milchsomatose zu natürlichen Rahmmischun¬ 
gen bei Kindern gemacht hatten, die in 
Folge von hartnäckigem, chronischem Darm¬ 
katarrh, trotz Ernährung nach den ver¬ 
schiedensten alten und neuen Methoden, 
immer zurückgingen, dem Ramogen 25o/ 0 
seines Eiweisses noch in Form von Milch¬ 
somatose zugefügt. Ueber die Wirksam¬ 
keit dieser Combination werden wir reden, 
nachdem die schon angedeutete Ernährung 
eines Kindes damit besprochen ist. Zwei 
Zwillingsknaben von 3825 g und 3300 g, 
am 14. September 1901 geboren, wurden 
Anfangs gestillt und gediehen dann mit 
Backhausmilch „prächtig“, so dass sie nach 
fünf Wochen 4800 und 4250 g wogen; mit 
dem Schwereren ging es so gut weiter: 
er hatte mit zwölf Wochen 6700 g und am 
11. Dezember 1902 mit 21 Wochen 8050 g. 
Der Kleine aber fiel ab auf nur noch 4150 g 
mit sieben Wochen und dann trat auf das 
vom Hausarzt verordnete Biedert*sehe 
Milchsomatoseramogen 1:13 ein Umschwung 
ein, so dass das Kind mit neun Wochen 
4700 g, mit 14 Wochen 6500 g wog und 
jetzt nach 21 Wochen seinen Bruder mit 
8200 g überholt hat, sich dabei ausge¬ 
zeichnet befindet. Von der zwölften Woche 
ab wurde bei Neigung zur Verstopfung 
Ramogen nach und nach ohne Milchsoma¬ 
tose gegeben. Das Kind bekam im Tag 
2000 — 2500 ccm Ramogen 1 :13 Wasser, 
darin 186—260 g Ramogen mit 610—830 Ca¬ 
lo rien, also im Beginn etwa 500 ccm mit 
147, schliesslich 300 ccm mit 100 Calorien 
auf das kg Körpergewicht und hatte ent¬ 
sprechend dieser beträchtlichen Zufuhr die 
noch enormere Gewichtszunahme von 4050g 
in 14 Wochen, d. i. fast 42 g pro Tag. Die 
lange Dauer der grossen Zunahme ist 


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Februar 


67 


Die Therapie der 


ebenso bemerkenswert!!, wie das gute Ver¬ 
tragen erst der grossen Nährwerthe und 
stets der gewaltigen FlQssigkeitsmengen. 
Bekanntlich besteht zur Zeit eine über¬ 
triebene theoretische Angst vor Verdünnung 
und grösserer Flüssigkeitszufuhr, die nicht 
stärker Lügen gestraft werden kann, als 
bei unserem Anfangs sogar jedenfalls ver- 
dauungsschwachem Kind. Dasselbe wird — 
wie hier zwischengeschoben zu werden 
verdient — bei natürlichem Rahmgemenge 
beobachtet, wo Aerzte und Eltern unan¬ 
gefochten von theoretischer Beschränkung 
dem Appetit der Kinder entsprechend, 
grössere Mengen der dünneren Mischung 
zu geben pflegen und die Kinder ausge¬ 
zeichnet gedeihen. Einmal kam in einer 
Consultation Biedert zufällig dazu, die 
etwas langsame Entwicklung eines auf 
1000 ccm gehaltenen Kindes zu sehen und 
durch Rath zur Vermehrung der Menge 
jene Entwicklung zu einer plötzlich üppigen 
zu machen. Das fünf Monate alte Kind mit 
5650 g Gewicht am 6. August hatte bis 
dahin im Tage 1000 ccm Rahmgemenge 
No. 4 erhalten. Es bekam nun 1200 ccm 
derselben Nummer, nachher von No. 5. 
Und darauf hin stieg das Gewicht auf 
dl 20 g am 28. August, auf6630 g am 11. Sep¬ 
tember und 7130 g am 26. September. Das 
Kind hatte vom 18. März bis 6. August 
2890 g, d. i. pro Tag 20,5 g zugenommen. 
Vom 6. August bis 26. September nahm es 
dann noch 1480 g = 29 g pro die zu, also 
eine in diesen späten Monaten ungewöhn¬ 
lich hohe Zunahme mit der vermehrten 
Menge verdünnter Mischung. 

Die gute Wirkung des Ramogens gerade 
bei dem vorerwähnten Zwillingskind und 
in der dortigen Darreichungsform ist für 
dessen Leistungsfähigkeit ebenso bemer- 
kenswerth, wie in den beiden vorher be¬ 
schriebenen Fällen zugleich wiederum das 
gute Resultat bei reiner Conservenernäh- 
rung, von der man eben auch Rhachitis 
und Barlow’sche Krankheit herleiten will. 
Nach weiteren 14 Tagen bis drei Wochen 
wird durch den Hausarzt festgestellt, dass 
dieser „mit der körperlichen und geistigen 
Entwicklung sehr zufrieden ist, die K n o c h e n- 
bildung eine sehr gute sei“ und das 
Kind brillante Fortschritte mache, besonders 
in den letzten Wochen. Es wurde nun 
aber doch angerathen, durch Milchzusatz 
in der für die Rahmgemengeernährung 
typischen Weise auf den Uebergang zur 
Kuhmilch hinzuwirken. 

Wir haben ausser in dem letzten Fall 
früher schon die Beobachtung gemacht, 
dass nach einem Misserfolg mit Backhaus- 

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Gegenwart 1903. 


ernährung Rahmgemenge und dabei Milch- 
somatosebeifügung einen guten Erfolg hatte. 

Das bestätigt unsere sonst gebildete An¬ 
sicht, dass Caseinverbesserung, Eiweiss- 
vorverdauung durchgehend keinen Vortheil 
vor der einfachen Verdauungserleichterung 
durch Verdünnen und Fettvermehrung hat. 
Wenn aber der Milchsomatosezusatz uns 
und anderen doch einen nicht zu verken¬ 
nenden Nutzen gab, so ist es wahrschein¬ 
lich, dass eine an dieses lösliche Eiweiss 
gebundene kleine Tanninmenge, die mit 
jenem den ganzen Darm durchwandert, an 
der rothbraunen Färbung der Stühle und 
der guten Consistenz derselben (manchmal 
auch Rothfärbung mit Lugol) noch kennt¬ 
lich ist, auf die Dauer in diesen kleinen 
gelösten Mengen wohlthätiger wirkt, als die 
grossen Mengen unlöslicher Pulverpräpa¬ 
rate, die eine Zeit lang gut thun, oft aber 
schliesslich mechanisch reizen. Ganz über¬ 
sehen darf man übrigens doch nicht die 
Möglichkeit, dass nach längerer Anwendung 
der Milchsomatose einmal die bekannte 
Reizwirkung der vorverdauten Eiweisspräpa- 
rate über die günstige Wirkung der Tannin¬ 
beigabe den Sieg davontragen und sich in 
weicheren Stühlen und Abnahme äussem 
kann. Biedert wurde einmal davon in 
einem sehr empfindlichen Fall überrascht, 
der dann nach Weglassung der Somatose 
besser ging unter Beifügung des ausge¬ 
zeichneten Darmadstringens G1 u t a n o 1 
(Hundhausen’sAleuronatfabrik, Hamm i. W.) 

Doch ist das noch nicht ganz sicher und 
in den kleineren Dosen, in denen die Milch¬ 
somatose im Ramogen vertreten ist, dürfte 
es noch weniger der Fall sein. Immerhin 
sei man gegebenen Falls aufmerksam 
darauf. 

Uebereinstimmend mit unseren Erfah¬ 
rungen lauten erfreulich über Milchsoma¬ 
tose diejenigen von A. Schmidt-Bonn; 
ausserordentlich günstig über Milchsoma- 
toseramogen bei Kindersommerdiarrhoeen 
spricht sich auch Schmid - Monnard aus 
und lauten meine ganz neuen Erfahrungen 
ira vergangenen ziemlich mit Brechdurch¬ 
fällen gesegneten Sommer. Dabei war mir 
häufig Gelegenheit geboten. Vergleichs¬ 
beobachtungen der Wirkung sowohl des 
einfachen Ramogens und des Milchsoma- 
toseramogens, als auch des natürlichen, 
vorzüglich und durchaus einwandsfrei her¬ 
gestellten Rahmgemenges bei vollständiger 
Fernhaltung jeglicher Arzneimittel (wie 
z. B. Tannalbin, Tannigen, Tanocol, Bis- 
muth u. a.) zu machen. Fast durchweg 
war deutlich zu erkennen, dass wenn unter 
Verwendung dünner Ramogenmischungen 

9* 

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68 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Februar 


oder des natürlichen Rahmgemenge No. 1 
die Production einwandsfreier kothiger 
Stühle — selbstverständlich bei gewöhn¬ 
licher und nicht bei Fettdiarrhoe — 
sich auf die Darreichung des Milchsoma- 
tose-Ramogens in einer dem Alter des 
Patienten und der Heftigkeit der Diarrhoe 
entsprechenden Verdünnung alsbald gleich- 
mässig zusammengesetzte, reichlich kothige 
braune und bald ganz schleimfreie Stuhl¬ 
massen entleert wurden. Ganz besonders 
aber hervorgehoben werden müssen die 
schönen Erfolge bei Verwendung des Milch¬ 
somatose - Ramogens gegenüber den 
Misserfolgen mit Buttermilch bei Brech¬ 
durchfällen. Herr Geh. Rath Biedert und 
ich haben unabhängig von einander bei 
Atrophien mit und ohne chronischem 
Darmcartarrh die Buttermilch sehr viel 
Gutes leisten sehen und ich begrüsse die 
Gelegenheit, jetzt für manche Fälle von 
Darmcatarrh diese neue Nahrung warm 
empfehlen zu können, nachdem ich meiner 
Skepsis ihrer Verwendung gegenüber auf 
der Hamburger Naturforscherversammlung 
Ausdruck gegeben hatte. Das ist aber 
sicher, bei acutem Brechdurchfall, auch 
älterer Säuglinge, hat sie uns fast durch¬ 
weg im Stiche gelassen und das Befinden 
der damit gefütterten Kinder, die sie in 
der Regel gerne nahmen, verschlimmert, 
anstatt verbessert, so dass wir von ihrer 
weiteren Verwendung bei acuten Brech¬ 
durchfällen dauernd Abstand nahmen. 

Ausser A.Schmidt(Bonn) undSchmid- 
Monnardt (Halle) haben uns noch eine 
grosse Zahl von Aerzten und speciell 
Kinderärzten, unter diesen anerkannt her¬ 
vorragende Forscher (wie z. B. Selter- 
Solingen), mündliche und schriftliche Be¬ 
richte über die vorzüglichen Erfolge 
der Verwendung der Rahmgemenge und 
insbesondere des Milchsomatose-Ramogens 
bei acuten und chronischen Darmstörungen 
kleiner Kinder zukommen lassen. Aber 
auch einige wenige (2) Stimmen haben 
sich gegen ihre Verwendung ausgesprochen; 
wahrscheinlich haben die betreffenden Col- 
legen die Präparate (es handelte sich um 
Ramogen) in Anwendung gezogen in 
Fällen, in welchen Fett in keinerlei Form 
ertragen wurde und die Darreichung der 
Rahmmischungen geradezu contraindicirt 
waren, oder aber — es fehlt uns die ge¬ 
naue Kenntniss des Verlaufs der einzelnen 
Fälle und der Art der Rahmgemengedar¬ 
reichung — die betreffenden Collegen 
haben sofort Mischungen gegeben, die zu 
concentrirt waren, d. h. die in Anbetracht 
des Erkrankungsgrades zu viel Fett ent- 

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hielten und von dem insufficienten Ver¬ 
dauungsschlauch nicht verarbeitet werden 
konnten. Bei dieser Gelegenheit will ich 
nicht versäumen, wieder einmal darauf hin¬ 
zuweisen, dass gute Erfolge mit der Ra¬ 
mogen- und Rahmgemengedarreichung um 
so sicherer erreicht werden, wenn die An¬ 
fangsmischungen in weitgehenden Verdün¬ 
nungen verfüttert werden. Von dieser Er¬ 
fahrung ausgehend beginne ich z. B. jetzt 
bei heftigen Erkrankungen meist mit 
Mischungen, die 1 Theil Ramogen und 
25 Theile Wasser enthalten oder aber ich 
gebe das natürliche Rahmgemenge No. 1 
mit dergleichen oder auch mit der doppelten* 
Menge Wasser verdünnt — selbstverständ¬ 
lich noch einmal und zwar am besten in 
der Trinkflasche selbst kurz aufgekocht. 
Werden diese starken Verdünnungen zwei, 
drei Tage lang gut vertragen und erfolgen 
wieder kothige Stühle, so enge ich bei 
gleichen Nahrungsmengen die Grösse des^ 
Wasserzusatzes allmählich ein, bis ich beim* 
natürlichen Rahmgemenge auf die Grund¬ 
mischung, d. i. Rahmgemenge No. 1 und 
und bei den Ramogenverdünnungen auf 
die Mischung 1:13 gelange, zu welch’ letz- 
terer dann vorsichtig und stetig vorwärts¬ 
schreitend einwandsfreie Milch theelöffel- 
weise zugesetzt wird. Wo ein Verdacht 
auf nicht auskömmliche Fettverdauung vor¬ 
liegt, nehme ich auch — nach dem Vor¬ 
gang Biederts — von vornherein schon 
1 —2 Löffel Milch auf 30 Löffel Wasser 
hinzu (s. Biedert, K. E., S. 228 und Kinder¬ 
heilkunde, 12. Aufl., S. 267.) 

Ich bin mit Herrn Prof. Biedert weit 
davon entfernt, die Rahmgemenge als Pa- 
nacee hinzustellen oder sie als Normalnah¬ 
rung zu bezeichnen, wie ja auch Herr Prof. 
Biedert von jeher darauf aufmerksam ge¬ 
macht hat, dass es immer wieder Fälle 
geben wird, wo die genannten Präparate 
den gewünschten Erfolg vermissen lassen* 
und in denen an die Stelle fetthaltiger 
Nahrung vollständig entrahmte Milch oder 
Abkochungen von Kindermehlen (z. B. 
Theinhardt) treten müssen. Deshalb be¬ 
tont er auch wieder und immer wieder mit 
Nachdruck die Forderung strengster Indi- 
vidualisirung mit dem Hinweis auf die Vor¬ 
theile, die eine genaue Beobachtung und 
besonders die Reactions- und mikrosko¬ 
pische Prüfung der Säuglingsfäces (siehe 
Biedert, Kinderernährung im Säuglings¬ 
alter) dem Therapeuten an die Hand geben. 

Alles in Allem gewähren die langjährigen 
ausserordentlich günstigen Beobachtungen 
mit den verschiedenen Rahmgemengen, 
überhaupt, dann neuerdings die beträcht- 

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(F ebruar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


69 


liehen Erfolge, die sich bei den guten und 
ständig controllirten Herstellern des natür¬ 
lichen Rahmgemenges und insbesondere, 
welche sich bei Dr. Sauers gewaltigem 
Absatz des künstlichen Ramogens heraus¬ 
stellten, eine breite Möglichkeit, Vortreff- 
diches damit zu erzielen. 

Vielleicht stellt sich jetzt heraus, dass 
gerade die Fälle, in welchen Rahmgemenge 
nicht zum guten Ende führt, in das Bereich 
•des Nährmittels gehören, das mit vermin¬ 
dertem Fett die Feingerinnung des Caseins 
.zu Stande bringt, die sonst durch relative 
Fetterhöhung im Rahmgemenge erzielt 
wird, in das Bereich der Buttermilch. Um 
nach dieser Richtung die Möglichkeit der 
diätetischen Behandlung überall zu er¬ 
gänzen, wird jetzt in einzelnen Anstalten 
für Rahmgemenge im Grossbetrieb die 
Herstellung einer der Buttermilch analogen, 
vielleicht sogar überlegenen, „Ferment¬ 
milch“ begonnen. Etwas Aehnliches be¬ 
zweckt ja die Pegninmilch, die, auch 
nach einzelnen von uns gemachten Erfah¬ 
rungen, mit Recht von Siegert gepriesen 
wird. Aber die Verwendung dieser ist 
unbequem, weil vor jeder Darreichung der 
Pegninzusatz zur unverdünnten Milch statt¬ 
enden und dann noch die Verdünnung be¬ 
werkstelligt werden muss, da die Pegnin- 
wirkung in verdünnter Milch nicht zu Stande 
kommt. Die Feingerinnung, die bei der 
Pegninmilch bei jeder einzelnen Darreichung 
erzielt werden muss, hat man in der Butter- 
bezw. „Fermentmilch“ von vornherein 
fertig. 

Wir haben nun festgestellt, dass sehr 
zweckmässig die Buttermilchdarreichung in 
bereits sterilisirten Einzelflaschen geschehen 


kann und haben das sowohl an Präparaten, 
die im Spital im Einzelnen (Biedert), als 
auch an solchen, die in einer Biedert’schen 
Anstalt in grösserem Maassstab (Biedert 
und Gernsheim) hergestellt wurden, ge¬ 
prüft und trefflich bewährt gefunden. 
Dr. Sauer - Zwingenberg hat auch eben 
eine Buttermilchconserve hergestellt, deren 
Verwendbarkeit zu prüfen ist. 

Die Schwierigkeiten, die in der Un¬ 
möglichkeit liegen, regelmässig eine zuver¬ 
lässige Buttermilch zu bekommen, werden 
vielleicht mit einem Schlage beseitigt durch 
Herstellung der „Fermentmilch“ nach 
Biedert in jenen Anstalten. Diese Her¬ 
stellung der Fermentmilch wird in gleicher 
Weise, wie die des Rahmgemenges den 
betreffenden Anstalten überlassen werden 
und sie wird eine Abrundung der An¬ 
wendung des Rahmgemenges als Nährheil¬ 
mittel ergeben für die wiederholt berührten 
Fälle, in denen der Fettreichthum des 
Rahmgemenges als weniger zuträglich sich 
erweist. Es wird nur nöthig sein die Her¬ 
stellung der „Fermentmilch“ genauer zu 
lehren, die Benutzung einer im Fettgehalt 
verschiedenen Milch hierzu in Betracht zu 
ziehen und sowohl die unvermischte Dar¬ 
reichung, als auch die Zusätze und Ver¬ 
dünnung für geeignete Fälle zu modi- 
ficiren. 

So ausgerüstet nach beiden Richtungen 
der Verwendung fettreicher wie mehr oder 
weniger fettarmer Gemische neben der na¬ 
türlichen Kuhmilch wird man dann viel¬ 
leicht zu einer allen Möglichkeiten gewach¬ 
senen und somit vollkommenen diätetischen 
Behandlung der Verdauungsstörungen der 
Säuglinge gelangen. 


Ueber die obere Altersgrenze für die Behandlung 


der angeborenen 

Von Dr. Georg 

Als ich vor etwa Jahresfrist meine | 
ersten Mittheilungen über die von mir bei j 
der angeborenen Hüftverrenkung erfolg- t 
reich angewandte mechanische Behandlungs¬ 
weise veröffentlichte, gab ich mich der 
Hoffnung hin, Nachahmer zu finden, die | 
dann ihrerseits über ihre Erfahrungen be¬ 
richten würden. Nur so glaubte ich, dieser i 
Behandlungsmethode ein unanfechtbares 
Urtheil sichern zu können. Ich nehme an, 
dass für Manchen der Zeitraum eines Jahres 
ein noch zu kurzer ist, um schon mit dem 
Ergebniss gemachter Erfahrungen hervorzu¬ 
treten, zumal die Erlernung der Technik 
bis zu ihrer Beherrschung immerhin eine ! 


Hüftverrenkung. 

Mtlller-Berlin. 

gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Ich habe 
inzwischen reichlich Gelegenheit gehabt, 
Kollegen in die Methode einzuführen und 
in der Technik auszubilden, und zweifle 
ich nicht, dass dieselben ihre Erfahrungen 
zur Zeit mittheilen werden. Vorausschicken 
möchte ich, dass ich die Methode inzwischen 
in manchen Punkten modificirt habe, so¬ 
wohl was den Streckapparat, als auch den 
portativen Apparat anbetrifft, und dass seit¬ 
dem meine Erfolge noch günstigere ge¬ 
worden sind. Ueber dieselben, sowie über 
die Statistik der von mir behandelten Fälle 
gedenke ich mich in einer besonderen 
Monographie zu äussern, die noch dadurch 


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70 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Februar 


an Interesse gewinnen wird, dass darin 
manche Fälle figuriren, die vorher ander¬ 
weitig ohne dauernden Erfolg unblutig ein¬ 
gerenkt waren. In diesen Fällen wird man 
zu meiner Methode greifen müssen, da sie 
zweifellos überall da, wo die Flachheit 
oder völliger Mangel der Pfannenanlage den 
Erfolg der unblutigen Einrenkung vereitelt, 
als alleinige Erfolg versprechende Methode 
in Betracht kommt. Für heute möchte ich 
nur einen anderen Punkt behandeln, näm¬ 
lich die Altersgrenzen, innerhalb deren die 
Behandlung der angeborenen Hüftverren¬ 
kung noch Erfolg verspricht. Man nimmt 
jetzt allgemein an, dass die Behandlung 
nicht vor dem zweiten und nicht nach dem 
achten bei doppelseitiger, nicht nach dem 
zehnten Lebensjahre bei einseitiger Luxation 
Aussicht auf Erfolg bietet. 

Ich möchte aus der Fülle meines Mate¬ 
rials hier nur eine Krankengeschichte kurz 
skizziren: 

Toni K., Rentmeisterstochter, geboren 
am 10. August 1886, fing mit l 1 /^ Jahren zu 
laufen an. Schon bei den ersten Gehver¬ 
suchen wurde bemerkt, dass sie linkerseits 
hinkte. Mit dem vierten Jahre wurde sie in 
das orthopädische Institut des Dr. T. ge¬ 
bracht, wo sie mit einem Schienenapparat 
behandelt wurde, den sie ständig bis zu 
ihrem siebenten Lebensjahre trug, ohne 
dass sich der Gang besserte. Seitdem ist 
sie nicht behandelt worden und hat sich 
der Gang ständig verschlechtert. 

Am 9. November 1901 — also 1574 Jahre 
alt, trat sie in meine Behandlung. 

Die Patientin ist ein schlankes, grosses 
Mädchen, ihr Gang ist linkerseits stark 
hinkend. Es besteht starke Lendenlordose 
und bei jedem Schritt knickt der Ober¬ 
körper in der linken Lende stark ein. Der 
Trochanter steht 7,5 cm über der Roser- 
N61 aton'sehen Linie. Das Röntgenbild 
bestätigt die Diagnose der angeborenen 
Hüftverrenkung mit starkem Hochstand des 
atrophirten Femurkopfes. Die Pfanne ist 
ausserordentlich flach. Die Muskulatur der 
Glutaeen ist stark geschwunden, die Adduk¬ 
toren sind stark verkürzt. 

Die Patientin wird zunächst fünf Wochen 
lang mit Massage und Streckung behandelt 
und wird dann mit ihrem Gehapparat nach 
Hause entlassen. Derselbe wird tagsüber 
getragen und früh und Abends 20 bis 
30 Minuten der Streckapparat angewandt. 
Am 3. April 1902 stand der Kopf nur noch 
3 cm. über der Roser-Nelaton’schen 
Linie und am 15. September 1902 fühlte 
man die Trochanterspitze genau in der¬ 
selben. Der Beinapparat wurde nun weg- 

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gelassen und die Patientin nur mit dem 
ßeckengurt nach Hause entlassen. Am 
19. December 1902 konnte vollständige Hei¬ 
lung constatirt werden. Der Kopf steht fest 
an seiner normalen Stelle und verschiebt 
sich weder beim Gehen, noch durch passiven 
starken Stoss nach oben. Die Patientin 
geht ohne erhöhten Schuh vollkommen 
normal, ohne zu hinken und ohne den 
Oberkörper zu wiegen. Die Lendenlordose 
ist verschwunden. Das Röntgenbild zeigt 
die Stellung des Kopfes in der Gegend der 
noch immer abgeflachten Pfanne. 

Aus dieser Krankengeschichte ist er¬ 
sichtlich, dass man weit über die bisher 
übliche äusserste Altersgrenze von zehn 
Jahren hinausgehen kann. Allerdings möchte 
ich nicht verhehlen, dass es mir immer 
noch nicht gelungen ist, bei doppelseitiger 
Verrenkung über das zehnte Jahr hinaus¬ 
vollkommene Heilung zu erzielen. 

Bei einem vierzehnjährigen, doppelseitig' 
luxirten Mädchen erreichte ich nach 
17a Jahren eine Fixation des Kopfes 3 cm 
über der Roser-Ndlaton’sehen Linie, 
nachdem er bei Beginn der Behandlung: 

6 cm oberhalb derselben gestanden hatte* 
ferner bedeutende Verminderung der Lor¬ 
dose und wesentliche Besserung des Ganges, 
mit fast völligem Verschwinden des Ober- 
körperwiegens. 

Ermuthigt durch diese Erfolge bei selbst 
älteren Kindern bin ich noch weiter ge¬ 
gangen und habe z. B. ein junges Mädchei* 
von 28 Jahren mit doppelseitiger Hüftver¬ 
renkung behandelt und zwar deswegen* 
weil sich bei ihr unerträgliche Schmerzen, 
in den Hüftgelenken eingestellt hatten. Ich* 
habe die Patientin mehrere Wochen ge¬ 
streckt und ihr dann ein Stützcorsett mit 
doppeltem Trochanterenbügel gegeben. 
Durch letzteren wurden die Trochanteren- 
und damit die Schenkelköpfe bei Belastung: 
des betreffenden Beines am Hinaufgleiten 
verhindert. Die Schmerzen verschwanden 
sehr schnell und der Gang besserte sich 
allmählich derart, dass, als ich die Patientin 
mit dem Corsett und angekleidet in meiner 
Vorlesung vorstellte, keiner meiner Hörer 
eine doppelte Hüftverrenkung aus dem» 
Gange zu erkennen vermochte. 

Noch kürzlich habe ich mich auf Zu¬ 
reden des Hausarztes entschlossen, eine- 
49 jährige, sehr corpulente Dame in Be¬ 
handlung zu nehmen, welche bei einem 
Hochstand des Trochanters von 9 cm über 
der Roser-Nelaton’schen Linie an be¬ 
trächtlichen Rückenschmerzen litt. Die 
Schmerzen sind fast völlig verschwunden, 
während der Gang sich merklich gebessert 

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Februar 


71 


Die Therapie der Gegenwart 1903, 


hat Dass hier von einer anatomischen 
Besserung oder gar Heilung gar keine 
Rede sein kann, ist selbstverständlich. 
Immerhin kann man aber auch solchen 
Patienten ungemein nützen. 

Ich hatte die Absicht, zu zeigen, dass 
auch in einem Alter, in welchem die un¬ 
blutige Einrenkung erfahrungsgemässkeinen ( 
Erfolg mehr verspricht, die Apparat-Be¬ 
handlung heranzuziehen sein wird, da man 
durch dieselbe bei einseitiger Verrenkung 
zuweilen noch Heilung, in sehr vielen | 
Fällen und zwar einschliesslich der doppelten 
Luxation Besserung des objectiven und 
subjectiven Zustandes erreichen wird. 

Dass durch die glänzenden Resultate 
der unblutigen Einrenkungs-Methode, be¬ 
sonders nachdem sie von Lorenz und • 
Hoffa in genialer Weise ausgebildet worden 
ist, die Apparat-Behandlung etwas in 
Schatten gestellt worden ist, ist begreiflich. 
Dieselbe aber ganz zu ignoriren, würde 


einen bedauerlichen Schaden für viele 
Kranke bedeuten, nicht zum Wenigsten für 
die grosse Anzahl derer, bei denen die 
unblutige Einrenkung keinen dauernden 
Erfolg hatte, und muss man deshalb 
Häusner beipflichten, wenn er in einer 
kürzlich erschienenen ausgezeichneten 
Arbeit über die angeborene Hüftverrenkung 
(Zeitschrift für orthopädische Chirurgie, 
Band 10) sagt: 

„Es ist neuerdings Mode geworden, 
über die früher übliche Apparat-Behandlung 
mit Extension im Umhergehen mittelst 
Schienen - Hülsen - Apparates mit einem 
geringschätzenden Lächeln oder wegwer¬ 
fenden Bemerkungen hinweg zu gehen." 

Diese Geringschätzung der Apparat- 
Behandlung ist um so weniger berechtigt, 
als, wie ich gezeigt zu haben glaube, durch 
die von mir angegebene Verbesserung der¬ 
selben ihre Leistungsfähigkeit noch wesent¬ 
lich erhöht worden ist. 


Aus der dermatologischen Klinik der k. k. Universität Prag. 
(Director: Prof. P. J. Pick.) 

Zur Therapie der Gonorrhoe. 

Von Dr. Walther Pick. 


I. Albargin. 

Die Anwendung adstringirender Mittel 
in der Therapie der acuten Gonorrhoe, 
welche lange Zeit die allgemein geübte 
Behandlungsmethode darstellte, tritt gegen¬ 
wärtig mehr und mehr gegenüber der Be¬ 
handlung mit antiseptischen Lösungen 
zurück, in dem Maasse, als die Neisser¬ 
sehe Grundsatz an Boden gewinnt, der 
besagt, dass unser erstes Ziel die Beseiti¬ 
gung des Gonococcus sein muss, während 
erst in zweiter Linie die Bekämpfung des 
durch denselben hervorgerufenen Sympto- 
mes, des Ausflusses, steht. 

Die Thatsache, dass es nicht allein auf 
eine adstringirende Wirkung ankommt, 
und dass nicht alle Adstringenden dem 
gonorrhoischen Process gegenüber gleich- 
werthig sind, war schon vor Entdeckung 
des Gonococcus auf empirischem Wege 
erkannt worden, und wenn wir in Büchern 
aus dieser Zeit lesen, dass durch die 
Argentum nitricum-Injectionen der „speci- 
fische" Katarrh des Trippers in einen 
„avirulenten“ verwandelt würde, so liegt 
hierin schon eine Würdigung der anti¬ 
septischen Wirkung dieses Mittels. 

Nachdem die bactericide Kraft des 
Argentum nitricum auch experimentell fest¬ 
gestellt war, ging das weitere Bestreben 
dahin, Mittel zu finden, denen die unan¬ 


genehmen Nebenwirkungen des Arg. nitr. 
nicht anhafteten, welche insbesondere nicht 
durch das ei weisshaltige Urethralsecret 
gefällt würden, und denen so der Weg auch 
in die tieferen Schichten der Schleimhaut 
; nicht verschlossen wäre. Von diesem Ge¬ 
sichtspunkte aus wurden die verschiedenen 
organischen Silbersalze, insbesondere die 
Eiweissverbindungen des Silbers in die 
I Therapie eingeführt, und specieli dem von 
! Neisser zuerst empfohlenen Silber-Nu- 
cleoalbuminat, dem Protargol, gelang es 
rasch, grosse Verbreitung zu finden, und 
fraglos war das Protargol, wie ich aus 
I mehrjähriger eigener Erfahrung bestätigen 
kann, unter den vorhandenen Mitteln das 
beste. Da es aber kein „Specificum" war, 
ging die Suche nach einem solchen weiter, 
und diesem Umstande verdanken wir das 
Albargin, eine wasserlösliche Verbindung 
von Arg. nitr. mit Gelatine, welche vor 
dem Protargol einen grösseren Silber¬ 
gehalt, die Fähigkeit durch thierische Mem¬ 
branen zu dialysiren, neutrale Reaction, 
endlich den Vortheil eines viel niedrigeren 
Preises voraushaben sollte. Namentlich 
dieser letztere, praktisch wichtige Factor 
war es, der das Mittel empfahl, voraus¬ 
gesetzt, dass es alle anderen klinisch zu 
fordernden Bedingungen (rasches Ver- 
schwinden der Gonococcen aus dem Secret, 
Reizlosigkeit) erfüllte. 


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72 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Februar 


Die bisher veröffentlichten günstigen 
Erfahrungen, von denen ich nur die von 
Bornemann, Chrzelitzer, Hackett, 
H. G. Klotz nenne, schienen diese Er¬ 
wartungen zu rechtfertigen, und veran- 
lassten auch uns, Versuche mit diesem 
Mittel anzustellen. 

Eine seiner Zeit von Dr. Schwarz, 
gewesenem Secundararzt der Klinik, an- 
gestellte Versuchsreihe ergab bezüglich 
des Zeitpunktes des Verschwindens der 
Gonococcen aus dem Secret folgende 
Resultate: 

Die Gonococcen schwanden: 

Nach 4 Tagen in 2 Fällen 

J) 6 n v ^ tt 

1 4 

» # n w ' »» 

n ® tt n ^ 1 tt 

„ 14 „ „9 „ acuter Gonorrhoe. 

Die Behandlung geschah in diesen 
Fällen in der Weise, dass den Patienten 
mit Lösungen von 72000 bis 7sooo die 
Urethra mittelst Katheters ausgespült 
wurde. Bei den klinischen Patienten ge¬ 
schahen diese Spülungen 2 bis 3 Mal des 
Tages, bei den ambulatorisch behandelten 
nur 1 Mal täglich, doch machten diese 
ausserdem noch selbst Injectionen mit 
gleich concentrirten Lösungen. 

Diese Versuche ergaben zwar schon 
die Thatsache, dass das Mittel von den 
meisten Patienten gut vertragen wurde 
und ihnen keine Beschwerden verursache, 
sie waren aber trotzdem nicht geeignet, 
ein definitives Bild über das Mittel zu 
geben, da die Einführung eines Katheters 
und die Bespülung mit grösseren Flüssig¬ 
keitsmengen an und für sich schon eine 
Wirkung auf die Schleimhaut ausüben 
musste, die theils reizender, theils adstrin- 
girender Natur sein konnte. 

Ich selbst habe nun das Mittel bei 
einer grossen Zahl, vorwiegend ambulato¬ 
risch behandelter Patienten, im acuten 
Stadium der Gonorrhoe verwendet, und 
konnte die völlige Reizlosigkeit des Mittels 
sowie seinen beschleunigenden Einfluss auf 
das Verschwinden der Gonococcen mit 
Sicherheit feststellen. 

Die Gonococcen schwanden: 


Nach 3 Tagen 

in 

4 Fällen 

4 

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2 „ 

„ 5 

n 

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5 „ 

„ 7 

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1 Fall 

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3 Fällen 

„ 12 

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7) 

2 „ 

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tt 

tt 

2 „ 

„ 18 

tt 

1t 

1 Fall 


Wie hieraus ersichtlich, schwanden die 
Gonococcen durchschnittlich am achten 
Behandlungstage. Hierbei muss der Um¬ 
stand in Betracht gezogen werden, dass 
gerade das Krankenmaterial der Ambulanz 
ein sehr unzuverlässiges ist in Bezug aut 
die Durchführung ärztlicher Verordnungen, 
und man wird auch für die grosse Zahl 
jener Patienten, welche bei einem ein¬ 
maligen Besuch Albargin verordnet be¬ 
kamen und dann aus der Behandlung fort¬ 
blieben, eine rasche Besserung der Er¬ 
scheinungen annehmen dürfen, da erfah- 
rungsgemäss bei einer Verschlimmerung 
ihres Zustandes die Patienten den Arzt 
immer wieder aufsuchen. 

Die Kranken erhielten die Weisung, 
3 mal täglich Injectionen von 5 Minuten 
Dauer vorzunehmen, anfangs mit einer 
74 % Lösung, nach einer Woche mit einer 
1 h %• nac h einer weiteren Woche mit 
einer 1 °/o Lösung. Die Patienten klagten 
durchwegs über leichtes Brennen, das 
ihnen die Injectionen, aber nur während 
der ersten 2 bis 3 Tage, verursachten, 
das während der Injection auftrat und mit 
der Entleerung der Flüssigkeit aus der 
Harnröhre aufhörte. Ein so hochgradiges, 
direct schmerzhaftes Brennen, das die 
Patienten gezwungen hätte, mit den In¬ 
jectionen auszusetzen, trat niemals ein, 
wohl aber haben wir selbst in den drei 
letzten Fällen der obigen Zusammenstellung 
ein zeitweises Aussetzen der Therapie an¬ 
geordnet, als es zu leichten Reizerschei¬ 
nungen seitens der Ur. posterior gekommen 
war. Nach Abklingen dieser Reizerschei¬ 
nungen konnten wir auch in diesen Fällen 
Albargin neuerlich verwenden, ohne unan¬ 
genehme Nebenwirkungen zu bemerken. 

Stärkere als 1 °/o Lösungen wurden 
nicht verwendet, nur mit der Dauer der In¬ 
jection wurde auf 10 Minuten gestiegen, 
und auch diese protrahirten Injectionen 
wurden ohne wesentliche subjective Be¬ 
schwerden ertragen, wenn sie auch einen 
starken desquamativen Katarrh, mit reich¬ 
lich Epitiielien und Fibrin im Secret, zur 
Folge hatten. 

Der Verlauf einer acuten Gonorrhoe 
unter Albarginbehandlung stellt sich dem¬ 
nach so dar, dass wir unter der 74 %’ 
Lösung ein baldiges Seltenerwerden oder 
auch vollkommenes Verschwinden der 
Gonococcen eintreten sehen, ohne dass 
sich an der sonstigen Qualität des Secretes, 
betreffend Leucocyten, Epithelien und 
Fibrin, eine wesentliche Aenderung zeigen 
würde. Unter der 7>%*Lösung nimmt 
zumeist der Gehalt an Fibrin und Epithelien 


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F ebruar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


73 


im Secret zu, wobei sich aber stets noch 
reichlich Leucocyten finden. Die 1 o/ 0 - 
Lösung endlich, von welcher Gebrauch zu 
machen, man nur selten genöthigt ist, wirkt, 
wie bereits erwähnt, stark adstringirend. 

Auf welcher der drei Stufen wir die 
Gonococcen zum Verschwinden bringen, 
ist individuell verschieden und lässt sich 
demnach nicht bestimmen; was sich aber 
mit voller Bestimmtheit sagen lässt, ist, 
dass, wenn wir die Gonococcen zum Ver¬ 
schwinden gebracht haben, dieser Effect 
ein dauernder ist, die Gonococcen dauernd 
fortbleiben. Es ist das m. E. ein nicht 
genug zu schätzender Vorzug des Mittels, 
der möglicherweise mit seiner hohen Dia- 
lysirbarkeit zusammenhängt und von wel¬ 
chem wir uns in jedem Falle überzeugen 
konnten. Es genügt, wenn wir einmal so 
weit sind, das Mittel auszusetzen und unter 
allgemein diätetischem Verhalten der Harn¬ 
röhrenschleimhaut Zeit zur Restitutio ad 
integrum zu lassen, welche in den Fällen 
acuter Gonorrhoe niemals ausbleibt. 

Wir besitzen demnach im Albargin ein 
Antigonorrhoicura, das in Bezug auf 
Raschheit der Wirkung und Reizlosigkeit 
sich den besten bisher bekannten 
Mitteln gleichwerthig erweist, bezüg¬ 
lich der Sicherheit in der Dauer der Wirkung 
dieselben scheinbar noch übertrifft, so 
dass wir dessen Verwendung in allen Fällen 
acuter Gonorrhoe angelegentlichst em¬ 
pfehlen können. 

II. Chromsäure - Argentum nitricum. 

In den Fällen subacuter und chronischer 
Gonorrhoe, und diese sind es, welche das 
Hauptcontingent der zur Behandlung kom¬ 
menden Urethritiden bilden, kommen wir 
mit einer antiseptischen Therapie nicht 
zum Ziele, hier müssen die Adstringenden 
einsetzen, und für diese Fälle brachte ich, 
angeregt durch die guten Erfolge, welche 
die von Boeck empfohlene Methode bei 
der Behandlung anderer Schleimhautaffec- 
tionen, insbesondere luetischer Plaques er- 
giebt, Chromsäure und Argentum nitricum 
combinirt zur Anwendung. 

Die Art der Wirkung dieses Mittels ist 
noch gänzlich hypothetisch, und nur em¬ 
pirisch ist festgestellt, dass die gleichzeitige 
Anwendung dieser Mittel, die Wirkung 
jedes einzelnen allein angewendet über¬ 
trifft, was möglicherweise auf der Bildung 
von Chromsilber im Gewebe beruht. Nach 
Unna’s Ansicht ist es die frei werdende 
Salpetersäure, welche die Wirkung dieser 
Aetzmittel bezüglich der „Häutchenbildung“ 
noch verstärkt. 

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Die Resultate, die mir diese combinirte 
Therapie bei der Behandlung der subacuten 
und chronischen Gonorrhoe gegeben, er- 
muthigen mich, dieselben mitzutheilen und 
die Anwendung dieser Therapie zu em¬ 
pfehlen. 

Es wurden stets beide Mittel in gleicher 
Concentration verwendet, mit 1 :4000 be-. 
gönnen und bald auf 1 : 3000 und später 
auf 1 : 2000 gestiegen. Die Kranken wur¬ 
den angewiesen, früh und Abends, dann 
nur Abends, endlich jeden zweiten Abend 
Injectionen vorzunehmen in der Art, dass 
sie nach dem Uriniren zunächst eine Ein¬ 
spritzung mit der als Injection I bezeich- 
neten Chromsäurelösung machten, und die¬ 
selbe durch 1—3 Minuten in der Harnröhre 
hielten. Dann wurde die Spritze einige 
Male mit Wasser ausgespült (für jede der 
beiden Lösungen eine eigene Spritze zu 
verwenden verbot sich aus practischen 
Gründen) und hierauf die Injection des als 
Injection II signirten Argentum in gleicher 
Dauer vorgenommen. Die Chromsäure 
machte den Patienten gar keine Beschwer¬ 
den, wohl aber verursachte die nachfol¬ 
gende Argentuminjection zuweilen heftiges 
Brennen, wie auch die Injectionen in eini¬ 
gen Fällen die vorhandenen Entzündungs¬ 
erscheinungen steigerten; doch konnte 
meist durch Verminderung der Concentra¬ 
tion und der Dauer der Einwirkung eine 
Gewöhnung an das Mittel erzielt werden. 

Wo wir diese Gewöhnung nicht erreichen 
konnten, wo wir immer wieder durch die 
Injectionen acute Exacerbationen entstehen 
sahen, dort setzten wir diese Art der Be¬ 
handlung nicht weiter fort, da uns die Er¬ 
fahrung lehrte, dass wir nach Abklingen 
der Exacerbation den Status quo ante 
wieder vorfinden würden. Es war dies jedoch 
nur eine Minderzahl der Fälle, in der über¬ 
wiegenden Mehrzahl machte sich nicht eine 
die Secretion steigernde, sondern eine aus¬ 
trocknende Wirkung auf die Schleimhaut 
geltend in der Art, dass etwa noch vor¬ 
handene Secretion versiegt, die Fäden im 
Harn an Zahl bedeutend abnehmen und in 
denselben die Menge der Leucocyten mehr 
und mehr verschwindet, während die Epi- 
thelien, an Zahl rasch zunehmend, allmäh¬ 
lich allein das Feld beherrschen. Nach 
Aussetzen der Behandlung klingen auch 
die Erscheinungen dieses desquamativen 
Katarrhs ganz oder theilweise ab, die Fäden 
im Harn verschwinden. 

Wir haben es hier also mit einer hoch¬ 
gradig adstringirenden Wirkung zu thun, 
welche aber nicht gleichzeitig, wie wir 
dies bei allen anderen Adstringenden zu 

io 

Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




74 


Die Therapie der Gegenwart 1903* 


Februar 


sehen gewohnt sind, mit einer starken 
Reizwirkung einhergeht; und auf diese j 
Reizlosigkeit ist besonders zu achten: sie 
ist ein Indicator dafür, ob wir mit den In- i 
jectionen fortfahren sollen oder nicht, nicht | 
etwa weil wir befürchten müssten, durch 
Fortsetzung der Behandlung Complicationen j 
hervorzurufen — solche konnte ich in 
keinem Falle beobachten —, sondern weil 
die Wirkung des Mittels eine ganz eclatante, 
schon nach wenigen Tagen eintretende 
sein muss, oder sie tritt überhaupt nicht ein. 

Das Hauptgewicht werden wir auf eine 
stricte Indicationsstellung zu legen haben 
und werden das Mittel nicht wahllos in 
jedem Falle und bei jedem Stadium der 
Erkrankung anwenden dürfen. Bei acuter i 
Gonorrhoe, bei Complicationen der Gonor¬ 
rhoe, endlich in jenen Fällen, wo sich zwar 
keine Gonococcen mehr finden, wo aber 
noch immer reichliche Eitersecretion be¬ 
steht, erscheint das Mittel contraindicirt. 
Nur in jenen Fällen, wo die acuten Ent- | 
Zündungserscheinungen abgeklungen sind, 
wo sich nur mehr schleimige Secretion, 
wo sich ein Morgentropfen vorfindet, wo j 
der diffuse Entzündungsprocess sich auf 


mehr circumscripte Herde beschränkt hat,, 
nur in diesen Fällen können wir von dem 
Mittel Gebrauch machen. 

Wenn dies auch eine starke Einschrän¬ 
kung der Indicationen zu bedeuten scheint,, 
so ergiebt sich in praxi doch, dass diese 
Fälle gerade die überwiegende Mehrzahl 
der zur Behandlung kommenden Urethri- 
tiker bilden und dass gerade sie sich gegen¬ 
über der Therapie am meisten refraetär 
verhalten. 

Mir hat nun gerade bei der Behandlung 
dieser Fälle die combinirte Chromsäure- 
Argentumtherapie ausgezeichnete Dienste 
geleistet, insofern sie die Erscheinungen 
rasch behebt, in den ungünstigsten Fällen 
den leucocytären Katarrh in einen epi¬ 
thelialen verwandelt. Und wenn ich auch 
durchaus nicht auf dem Standpunkte stehe r 
dass die Gonorrhoe erst dann als geheilt 
anzusehen ist, wenn der letzte Leucocyt 
aus dem Secrete geschwunden ist, so er¬ 
schien mir doch die Empfehlung eines 
Mittels, welches den, Patienten undAerzte 
in gleicher Weise beunruhigenden post¬ 
gonorrhoischen Katarrh in günstiger Weise 
beeinflusst, hinreichend berechtigt. 


Zusammenfassende Uebersicht. 


Robert Koch: Ueber die 

ln einem Ende vorigen Jahres gehal¬ 
tenen und kürzlich im Druck erschienenen 
Vortrage 1 ) theilt Robert Koch seine An¬ 
schauungen über die Verbreitungsweise des 
Typhus und seine Bekämpfung mit. Die¬ 
selben sollen hier ausfürlich wiedergegeben 
werden, weil Koch mit der ihm eigenen 
Energie sogleich die praktischen Conse- 
quenzen derselben gezogen und auf ihrer 
Grundlage den Kampf gegen den Typhus 
in verschiedenen Gebieten Deutschlands 
bereits aufgenommen hat. 

Der Typhus hat in den letzten Jahr¬ 
zehnten in unseren Grossstädten und selbst 
in den Mittelstädten ganz erheblich ab¬ 
genommen, stellenweise ist er sogar fast 
verschwunden. Die Ursache dieses erfreu¬ 
lichen Rückganges ist, wie allgemein ange¬ 
nommen, die Besserung der sanitären Ver¬ 
hältnisse, insbesondere die Regelung der 
Trinkwasserversorgung und der Kanali- 

*) Die Bekämpfung des Typhus. Vortrag 
gehalten in der Sitzung des wissenschaftlichen Senats 
bei der Kaiser Wilhelms-Akademie am 28. November 
1902 von Prof. Dr. Robert Koch. (Veröffent¬ 
lichungen aus dem Gebiete des Militär-Sanitätswesens. 
Heft 21. Verlag von A. Hirschwald. Berlin 1903.) 

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Bekämpfung des Typhus. 

sation. Die Fäkalien sind es, welche die 
Typhusbacillen aus dem menschlichen Kör- 
| per in die Aussenwelt schaffen und nur* 

| überallhin verbreiten; werden sie sofort 
i aus den Häusern herausgespült und durch 
| die Kanäle oft auf grosse Entfernungen 
I abgeleitet, so kommen sie nicht mehr mit 
j dem Menschen in Berührung und können 
| zu Neuinfectionen keinen Anlass geben: so 
i muss der Typhus mehr oder weniger auf- 
| hören. — Eine unvermeidliche Schatten¬ 
seite dieser Einrichtungen ist es, dass 
Störungen in der Wasserversorgung und 
Kanalisation sogleich auf ungezählte Indi- 
| viduen ihre Rückwirkung üben und zu 
I Massenerkrankungen an Typhus Veran¬ 
lassung geben können, wie dies in der 
letzten Zeit mehrfach vorgekommen ist. 

Diese Verhältnisse aber gelten nur für 
; die financiell leistungsfähigen Städte und 
grösseren Gemeinden, auf dem Lande 
sind die Zustände andere. Hier sieht es 
j mit der Wasserversorgung trübe aus und 
I trüber noch mit der Beseitigung der Faeces. 

| Erstere wird sich nach Koch’s Ansicht in 
J nicht zu ferner Zeit erheblich verbessern 
i lassen, bezüglich der letzteren aber liegen 

Original fro-m 

UNIVERSUM 0F CALIFORNIA 









Februar 


75 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


die Aussichten auch für die Zukunft un¬ 
günstig. Denn die Fäkalien sind auf dem 
Lande von ganz anderer Bedeutung als in 
der Stadt; sie müssen als Dungstoffe dienen 
und werden deswegen sorgfältig gesammelt 
und auf die Felder geschafft; sie kommen 
dann leicht wieder mit Gemüse und der¬ 
gleichen in die Haushaltungen zurück oder 
sie können in Flussläufe, Brunnen u. s. w. 
hinein gelangen. Ueberhaupt wird von den 
Landbewohnern, denen die Rücksichten, 
welche die dicht wohnenden Städter auf¬ 
einander nehmen müssen, fremd sind, mit 
den Fäkalien sehr ungenirt umge¬ 
gangen: Man findet sie überall, auf den 
Wegen, neben den Häusern, von wo sie 
mit den Füssen der Menschen sehr leicht 
wieder in die menschlichen Wohnungen 
verschleppt werden. Von einem typhus¬ 
durchseuchten Dorfe in der Umgegend 
Triers schreibt Koch: „Ich habe mich 
zwar selbst davon überzeugen können, dass 
Abtritte vorhanden sind, die gewöhnlich 
am Rande des Düngerhaufens aufgestellt 
oder etwas darüber hinweg gebaut sind. 
Ich glaube auch, dass die Erwachsenen die 
Abtritte benutzen, die Kinder thun dies 
aber nicht. Man konnte regelmässig die 
Beobachtung machen, dass unmittelbar 
neben der Hausthür ein Kothhaufen neben 
dem andern lag, welche von Kindern her¬ 
rührten, so dass es eigentlich gar nicht 
anders möglich war, als dass, wenn unter 
diesen Fäkalien sich Typhusentleerungen 
befanden, sie an den Füssen der Kinder 
wieder in das Haus hineingeschleppt wur¬ 
den.“ 

Auf diese Weise wird es erklärlich, 
dass der Typhus auf dem Lande noch die¬ 
selbe Bedeutung behalten hat, wie früher; 
einen Rückgang der Erkrankungszahl, wie 
wir ihn von den Städten kennen, hat Koch 
bei seinen Nachforschungen auf dem Lande 
nicht constatiren können. 

Besondere Bedeutung hat dies für die 
Armee, deren Verhältnisse Koch mit Rück¬ 
sicht auf den Ort seiner Publication (siehe 
die Anmerkung S. 74) besonders ins Auge 
fasst. Sie kommt mit den Typhusherden 
auf dem Lande schon in Friedenszeiten in 
regelmässige Berührung — es ist eine be¬ 
kannte Thatsache, dass nach den Manövern 
die Truppen fast regelmässig Typhus mit 
in die Garnison bringen; bedenklicher 
würde diese Gefahr für den Kriegsfall sich 
gestalten. 

Deshalb muss der Kampf gegen den 
Typhus auch auf dem Lande aufgenommen 
werden. Den rationellen Feldzugsplan für 
diesen Kampf entnimmt Koch seinen 


I Forschungen und Erfolgen bei zwei anderen 
Infectionskrankheiten, bei der Cholera und 
der Malaria. Bei diesen beiden Krankheiten 
ist er von dem früheren, gewissermaassen 
mehr defensiven Verhalten (Schutz vor der 
Ansteckung durch hygienische Maassnah¬ 
men: Reinlichkeit, Sorge für gutes Trink¬ 
wasser, Kanalisation etc.) zur Offensive 
übergegangen: Es wurde mit Hilfe der 
bakteriologisch - diagnostischen Methoden 
jeder einzelne Erkrankungsfall, auch der 
klinisch nicht in Erscheinung tretende, auf¬ 
gesucht und dann unschädlich — d. h. in 
hygienischem Sinne unschädlich — ge¬ 
macht, bei der Cholera durch Isolirung der 
Kranken und Desinfection ihrer Abgänge^ 
bei der Malaria durch zweckmässige Chinin¬ 
therapie (Blutdesinfection). Der Durchfüh- 
I rung dieser Principien schreibt es Koch 
I zu, dass die Cholera, obgleich sie von 
| allen Seiten her und häufig in das Land* 

' geschleppt wurde, seit der Hamburger Epi¬ 
demie in Deutschland erloschen ist, und 
dass er berüchtigte Malariaherde, wie z. B. 

I Stephansort auf Neu-Guinea, innerhalb we- 
i niger Monate nahezu malariafrei machen 
| konnte. 

Zwei Bedingungen sind also zur Be¬ 
kämpfung einer Infectionskrankheit zu er- 
! füllen: Wir müssen im Stande sein, erstens 
den Infectionsstoff leicht und mit 
* Sicherheit aufzufinden, und zwei- 
i tens, ihn zu vernichten. Es fragt sich 
I nun, ob diese beiden Bedingungen für den 
1 Typhus erfüllt werden können, 
j Bezüglich der ersten Bedingung, der 
frühzeitigen und sicheren Diagnose, war 
f >dies bisher nicht der Fall. DieWidal’sche 
| Reaction, so werthvoll sie sich erwiesen 
I hat, giebt meist erst in der zweiten Woche 
| des Typhus ein sicheres Resultat, und der 
I Nachweis der Bakterien im Stuhl war bisher 
bekanntlich wegen der ausserordentlich 
schwierigen Trennung der Typhusbacillen 
von den Colibakterien für praktische Zwecke 
kaum brauchbar, bestenfalls aber erst in. 
einer Reihe von Tagen durchführbar. 
Koch hat nun im Institut für Infections¬ 
krankheiten nach dieser Richtung hin zahl¬ 
reiche Untersuchungen anstellen lassen und 
von v. Drigalski und Conradi ist dabei 
ein Verfahren ausgearbeitet worden, das 
den Kochschen Anforderungen entspricht* 
indem es gestattet, in der Zeit von 
20—24 Stunden eine ganz zuver¬ 
lässige Diagnose zu stellen. Es ist 
unnöthig, das Verfahren hier des Näheren 
zu schildern, da die bakteriologische Dia¬ 
gnose des Typhus nach Koch’s Intentionen 
nicht dem ärztlichen Praktiker zufallen. 


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Gck igle 


10 * 

Original frnm 

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16 


Februar 


Die Therapie der 

sondern in speciellen Instituten von beson¬ 
ders vorgebildeten Bakteriologen geübt 
werden soll. Das Wesentliche an dem 
Drigalski'sehen Verfahren ist ein beson- 
* derer Nährboden, der die Typhusbacillen 
im Wachsthum begünstigt, einen grossen 
Theil der Darmbakterien dagegen hemmt 
{im Gegensatz zu den bisherigen Methoden, 
welche typhushemmende Zusätze in den 
Nährmedien aufweisen — so El sn er's Kar¬ 
toffelgelatine, Piorkowski’s Harngelatine); 
.zur Scheidung der Coliarten von den 
Typhusbacillen wird die Säurebildung be¬ 
nutzt, die beim Typhus bekanntlich erheb¬ 
lich geringer ist, als bei Coli: der mit 
‘ Lakmus gefärbte Nährboden ist in seiner 
Reaction so abgestimmt, dass die Typhus- 
colonien noch alkalisch bleiben, während die 
Colicolonien schon sauer sind; daher er¬ 
scheinen die Typhuscolonien blau, die 
Colicolonien roth. — Koch glaubt, dass 
<ias Drigalski-Conradi’sche Verfahren 
für den Typhus fast dasselbe leistet, wie 
die bekannte bakteriologische Diagnose der 
Cholera für die Ermittelung der Cholera. 
Er hat mittelst desselben die Diagnose auf 
Typhus in einer Reihe von Fällen schon 
in den allerersten Tagen stellen können, 
•und zwar nicht nur bei ausgesprochen Er¬ 
krankten, sondern auch bei bloss Verdäch¬ 
tigen und bei scheinbar Gesunden in 
<ier Umgebung der Typhuskranken, 
die selbst klinisch kaum erkennbare oder 
überhaupt keine Symptome boten. Mithin 
erfüllt das Verfahren das erste der oben 
genannten beiden Postulate: Es ist mög¬ 
lich, die Typhusdiagnose frühzeitig und 
sicher zu stellen, den Typhusbacillen in den 
inficirten Menschen nachzuspüren. 

Die zweite Frage ist: Lassen sich die 
aufgefundenen Typhusfälle auch unschäd¬ 
lich machen? Die Dejectionen sind natür¬ 
lich leicht zu vernichten, von dem er¬ 
kannten Fall braucht also bei genügender 
Sorgfalt kein Infectionskeim lebend in die 
Aussennatur zu gelangen. Aber kommen 
die Typhuskeime denn nur im Menschen 
vor, mit andern Worten: Ist der Typhus¬ 
bacillus ein obligater Parasit? Das 
ist die Frage, um die sich alles dreht. 
Koch bejaht sie. Während früher ange¬ 
nommen wurde, dass der Typhusbacillus 
im Wasser lange sich hält, dass er im 
Boden, wenn er mit dem Wasser in den¬ 
selben hinein gelangt, Monate und Jahre, 
ja Jahrzehnte und länger leben bleibt, ist 
Koch von dieser Auffassung, wie er an- 
giebt, je länger, je mehr zurückgekommen. 
Es ist ihm aufgefallen, als er häufiger in- 
ficirte Brunnen untersuchte, um die rings 

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Gegenwart 1903. 


herum eine Anzahl von Menschen erkrankt 
war, dass nur ein einziges Mal Typhus¬ 
bacillen darin nachweisbar waren. Und 
ähnlich ist es ihm in Bezug auf den Boden 
gegangen; „die Typhusbacillen können sich 
vielleicht — schreibt Koch — in einem 
feuchten Boden, wenn sie etwa mit Dung¬ 
stoffen u. s. w. dahin gelangten, ein paar 
Wochen, selbst einige Monate halten; es 
ist möglich, dass sie sich einen Winter hin¬ 
durch auf den Feldern lebend erhalten 
können, wenn sie durch Latrineninhaltu.s.w. 
dahin gekommen sind, aber viel länger 
nicht.“ 

Dementsprechend fand Koch bei den 
kleinen Typhusepidemien auf dem Lande, 
die durchsichtig sind, regelmässig, dass die 
einzelnen Fälle unter einander in Verbin¬ 
dung stehen, dass sie Ketten bilden, indem 
ein Fall vom andern abhängt. Er zieht 
daraus den Schluss: dass auch die Typhus¬ 
bacillen, analog den Cholerabacillen und 
den Malariaparasiten, obligate Parasiten 
sind, „die sich vielleicht etwas länger 
ausserhalb des menschlichen Körpers hal¬ 
ten können, namentlich im Boden, als die 
Cholerabakterien, aber schliesslich doch 
auch zu Grunde gehen.“ 

Beide Bedingungen, die ihm zur Be¬ 
kämpfung einer Infectionskrankheit erfor¬ 
derlich scheinen, sieht Koch somit für 
den Typhus als erfüllt an, und er ist 
daraufhin im vorigen Jahre bereits zu 
einem praktischen Versuch der Typhus¬ 
bekämpfung übergegangen. Derselbe wurde 
in Trier und dessen Umgebung angestellt, 
wo viel Typhus vorhanden war. In einer 
kleinen Gruppe von Dörfern aut dem so¬ 
genannten Hochwalde unweit von Trier 
wurde ein richtiger Typhusherd festge¬ 
stellt; in Zeit von mehreren Monaten wur¬ 
den von den dortigen Aerzten im Ganzen 
8 Typhusfälle angemeldet. Als Koch 
nun mit Hilfe mehrerer ihm zur Verfügung 
gestellter Militärärzte an Ort und Stelle 
in der oben angedeuteten Weise den 
Typhusfällen nachspürte — die Leicht¬ 
erkrankten und die Verdächtigen, die ge- 
sammte Umgebung der Kranken wurde 
bakteriologisch untersucht; Geistliche und 
Lehrer, besonders auch die Schulversäum- 
nisslisten, halfen zur Entdeckung der 
Typhusverdächtigen — stellte er im 
Ganzen 72 Typhusfälle fest, die 
innerhalb der Zeit, wo jene 8 Fälle 
gemeldet waren, vorgekommen sind. 
Von diesen hatten die grosse Mehrzahl 
sich nie an einen Arzt gewendet — daher 
auch den Aerzten aus der geringen Zahl 
der gemeldeten Fälle nicht der geringste 

Original from 

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Februar 


77 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Vorwurf erwächst — was zum Theil darin 
seine Erklärung findet, dass unter den 
72 Typhusfällen sich nicht weniger als 
52 Kinder befanden (davon 3 gemeldet). 
Diese überwiegende Betheiligung der Kin¬ 
der erklärt Koch einmal mit der bei der 
endemischen Verseuchung der Gegend 
sich allmählich entwickelnden Immunität 
der Erwachsenen, dann aber mit den be¬ 
sonderen Lebensgewohnheiten der Kinder. ! 
lieber ihre Nachlässigkeiten bez. der 
Defäcation ist oben bereits berichtet; er¬ 
wähnt sei noch, dass die Schulkinder, 
die viel untereinander verkehrten, einen 
besonders hervorragenden Antheil an der 
Verschleppung der Krankheit hatten. In 
allen 72 Fällen konnte die Ansteckung 
durch Contact, d. h. die directe Ueber- 
tragung der Infection von einem Menschen 
auf den andern, festgestellt werden; von 
einer Beziehung zum Wasser war nicht 
die Rede, eine Brunneninfection lag nicht 
vor. Die Fälle in einem Hause bildeten 
immer eine Kette, es erkrankte eine Person, 
dann 2 oder 3 Wochen später wieder eine, 
einige Wochen später noch eine und so 
weiter. 

Nach Feststellung sämmtlicher vorhan¬ 
denen Fälle wurde eine Döckern’sche 
Baracke errichtet, in welche die 32 schwer¬ 
sten Fälle aufgenommen wurden. Die in 
den Häusern verbleibenden Fälle wurden 
durch angenommene Krankenschwestern 
und einen Desinfector überwacht, welche 
für die richtige Durchführung der ange¬ 
ordneten Isolirung und Desinfection Sorge ! 
trugen. Die nur Anfangs etwas miss¬ 
trauischen Leute setzten diesen Bemühun¬ 
gen, da ihnen nicht die geringsten Kosten 
erwuchsen, bald keinen Widerstand ent¬ 
gegen. Kein Kranker wurde aus der Be¬ 
obachtung entlassen, ehe nicht drei auf 
einander folgende Untersuchungen das 
Fehlen von Typhusbacillen erwiesen hatten. 
Das Resultat war, dass nach drei 
Monaten überhaupt keine Typhus¬ 
bacillen mehr zu finden waren; die 
Kranken waren geheilt, frische Fälle 
kamen nicht mehr vor, der Typhus 
war also ausgerottet. Dem Einwand, 
dass er auch ohne die geschilderten Be¬ 
mühungen geschwunden wäre, begegnet 
Koch mit dem Hinweis, dass in vielen 
anderen Dörfern des Hochwaldes, die unter 
ganz ähnlichen oder fast den gleichen 
Verhältnissen leben, in derselben Zeit der 
Typhus nicht geschwunden ist, sondern 
nach wie vor in gleicher Stärke haust. 
Auch ist der Typhus in den behandelten 
Dörfern seither, d. i. etwa V 2 Jahr, nicht 

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wieder gekommen, auch in den Monaten 
August und September nicht, in denen er 
sonst am stärksten auftrat und auch im 
vorigen Jahre in der ganzen übrigen 
Gegend zugenommen hat. 

Koch sieht danach seinen ersten Ver¬ 
such als gelungen an; derselbe erweist 
nach seiner Meinung, dass es in der That 
keine andere Quelle für die Typhusinfection 
giebt, als den Menschen und dass sich eine 
offensive Typhusbekämpfung, ganz nach 
dem Schema der Cholerabekämpfung,, 
durchführen lässt. 

Der Versuch soll nun in grösseren Ge¬ 
bieten wiederholt werden. Dazu ist ausser 
grossen Geldmitteln auch die nöthige Zahl 
von Aerzten erforderlich. Die letzteren 
bedürfen besonderer Schulung und müssen 
ihre ganze Zeit oder doch ihre Haupt- 
thätigkeit der Seuchenbekämpfung widmen. 

Die praktischen Aerzte und selbst die 
Kreisärzte können deshalb nach Koch’s 
Ansicht nicht für diese Aufgaben heran¬ 
gezogen werden, es bedarf vielmehr be¬ 
sonderer Institute, welchen die Bekämpfung 
des Typhus und daneben event. auch 
anderer Seuchen, z. B. der Ruhr, zu über¬ 
tragen ist. Solcher Institute hat Koch 
bereits 3 ins Leben gerufen, das erste in. 
dem grossen Industriegebiete des Ruhr¬ 
kohlenbeckens, wo der Typhus besonders 
stark endemisch herrscht und vor etwas 
über einem Jahre durch Verunreinigung 
der Wasserleitung eine Epidemie aus¬ 
brach, die Tausende von Fällen umfasste. 

Dort wurde aus privaten Mitteln ein Institut 
gegründet, das jetzt etwas über V 2 Jahr in 
Thätigkeit ist. Ein zweites und drittes 
wurde vor Kurzem aus öffentlichen Mitteln 
in zwei anderen grossen Industriecentren* 
in Saarbrücken und in Diedenhofen in der 
Nähe von Metz, gegründet. 

Zum Schluss hebt Koch noch hervor, 
dass die Principien, nach denen hier die 
Bekämpfung des Typhus durchgeführt 
wurde, ganz allgemein gültige sind. Wie 
sie für die Cholera, die Malaria und jetzt 
für den Typhus sich bewährt haben, wür¬ 
den sie auch für die Ruhr anwendbar sein ; 
„ferner würde die Diphtherie auf diese 
Weise sicher auszurotten sein, und nament¬ 
lich müssten sich diese Grundsätze auf die 
Tuberkulose an wenden lassen!“ 

Wir dürfen dies Referat wohl mit dem 
Ausdruck der zuversichtlichen Hoffnung 
schliessen, dass die Weiterbefolgung des 
von Koch entwickelten Plans die Zahl der 
Typhuskranken ganz erheblich einschränken 

Original from 

UNIVERSUM OF CALIFORNIA 




18 Die Therapie der 


wird. Was in den Städten Kanalisation 
und die Wasserversorgung, das wird auf 
dem Lande die Koch’sche Offensive, d. h. 
die Ueberwachung der Dejectionen der Er- i 
krankten und ihrer Umgebung leisten. Ob 1 
dabei das von Koch empfohlene neue j 
Culturverfahren eine entscheidende Rolle | 
spielen, bezw. ob es sich dauernd bewähren 
wird, mag dahin gestellt bleiben; bisher hat 
ja leider jede neue anscheinend unfehlbare 
Methode zur schnellen und sicheren Früh¬ 
diagnose des Typhus doch immer in ein¬ 
zelnen Fällen versagt. Die Hauptsache bleibt 
die Aufsuchung der Typhusherde, die syste- ( 
matische Desinfection der Dejectionen | 
aller Personen, die mit dem Kranken zu 
thun hatten. Es ist kein Schade, wenn 
dabei auch manchmal Dejectionen sterili- 
sirt werden, die vielleicht hier und | 
da den Krankheitserreger nicht enthielten. I 
Bei dem unbestrittenen Ansehen, dessen | 
sich zum Glück Robert Koch bei den I 
maassgebenden Behörden erfreut, ist 
wohl zu hoffen, dass die grossen Mittel, 
welche zur Ausdehnung des Koch'sehen 1 
Feldzugs gegen den ländlichen Typhus j 
nötig sind, in Zukunft in steigenden Maasse j 
bereit gestellt werden, und dass damit 
immer mehr Quellen verstopft werden, aus | 
denen der Typhus wieder in die assanirten j 
Städte eingeschleppt werden kann. I 


Gegenwart 1903 Februar 


Für die practischen Aerzte, die an der 
Koch'sehen Seuchenbekämpfung keinen 
activen Antheil nehmen können, ergiebtsich 
aus der Veröffentlichung Kochs vor allem 
der neue Gesichtspunkt, auch der Umgebung 
der Typhuskranken und namentlich den 
Kindern erhöhte Aufmerksamkeit zu 
schenken; es wird besonders darauf zu 
achten sein, dass deren Dejectionen stets 
in den Abtritt entleert und in ausgie¬ 
biger Weise mit Desinficientien behandelt 
werden. 

Es versteht sich von selbst, dass die 
aus der Erkenntniss des Typhusbacillus 
gefolgerte persönliche Prophylaxe da¬ 
durch nicht überflüssig gemacht wird und 
dass die grösste Sauberkeit jedes Einzelnen, 
der mit Typhuskranken zu thun hat, nach 
wie vor das beste Mittel gegen Infection 
und Verbreitung der Seuche bleibt. Aber 
gerade dafür müssen wir Koch Dank sagen, 
dass er durch seine feurige Energie Maass¬ 
regeln durchzusetzen weiss, welche mit 
der Förderung der öffentlichen Hygiene 
auch die Einzelnen zur Hygiene erziehen. 
Wie viel glücklicher und erfolgreicher wird 
das Wirken der Aerzte an solchen Orten 
sein, an welchen die Bevölkerung durch 
die Koch'sche Offensive erzogen, wichtigen 
Grundgesetzen die Hygiene sich nicht mehr 
verschliessen wird. Felix Klemperer. 


Therapeutisches aus Vereinen und Congressen. 

Von der 33. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte 
in Stuttgart am 1. und 2 . November 190a. 

Bericht von Dr. LlHenstein -Bad Nauheim. 


Unter den zur Verhandlung stehenden 
Gegenständen verdienen namentlich die 
Referate über die Volksnervenheil- 
stätten ihrem actuellen Interesse ent¬ 
sprechend eingehende Berichterstattung. 

Wildermuth (Stuttgart) gab einen 
historischen Ueberblick über die bisherige 
Entwicklung und suchte aus derselben dieln- 
dicationen und Contraindicationen für die 
zu errichtenden Anstalten abzuleiten. In 
letzterer Hinsicht sei besonders vor der 
Aufnahme der „leicht Verstimmten“ zu 
warnen, die meist in geschlossene Anstal¬ 
ten, jedenfalls aber unter sehr sorgfältige 
Beobachtung gebracht werden müssen. Das 
Hauptcontingent sollten die chronischen, 
organischen Nervenkrankheiten stellen. Die 
Frage der Unfallnervenkranken ist schwie¬ 
rig. Wahrscheinlich dürften sie nur in ge¬ 
ringer Zahl vorhanden sein. Ebenso die 
Alkoholisten. Im Stadium der Entziehung 

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dürften diese nicht aufgenommen werden. 
Eine geeignete Stätte würden dagegen die 
leichteren Herzkranken, speciell solche mit 
hervortretenden nervösen Symptomen, in 
den Heilanstalten finden. 

Die von Möbius angeregten Anstalten 
mit Gelegenheit für zweckentsprechende 
Beschäftigung für die Kranken, die Arbeits¬ 
sanatorien, kommen nach der Ansicht des 
Vortragenden nur für eine geringe Zahl 
von Kranken in Betracht, da es sich viel¬ 
fach um Erschöpfte handelt, bei denen die 
Erholung durch Ruhe in erster Linie anzu¬ 
streben ist. 

Der Alkohol soll in den neuen Anstal¬ 
ten völlig verboten sein. Nach Wilder¬ 
muth's Ansicht würde hierdurch die Be¬ 
schaffung des Pflegepersonals schwierig. 
(Diese Ansicht bestätigt sich in den be¬ 
stehenden Privatsanatorien und Irrenanstal¬ 
ten nicht. Ref.) 

Original from 

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1c cbruar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 79 


Wildermuth ist gegen die Verbindung 
der neuen Anstalten mit den Irrenanstalten, j 
Es sei nicht „das Märchen“ von den Zu¬ 
ständen in Irrenanstalten, das dieser Ver¬ 
bindung entgegenstehe, sondern vielmehr 
-das Gefühl der meisten leicht nervös Er¬ 
krankten, das sich sträuben müsse, mit 
Geisteskranken — meist bürgerlich todten 
Existenzen — zusammen zu sein. Da es 
sich häufig um Psychopathen handle, die 
von der Furcht gequält werden, geistes¬ 
krank zu werden, so werde für diese die 
Aufnahme in eine mit einer Irrenanstalt 
verbundene Nervenheilstätte direct schädi¬ 
gend sein. 

Die neuen Anstalten werden, wenn sie 
ihren Zweck erfüllen sollen, theuer sein, 
und zwar nicht durch Comfort etc., son¬ 
dern durch die nöthigen sehr grossen, luf¬ 
tigen, hellen Räume, das Personal, die 
Badeeinrichtungen u. s. w. Erwünscht sei 
der Anschluss an die Krankenhäuser der 
Landesversicherungsanstalten, Reconvales- 
centen- und Erholungshäuser. Staat und Be¬ 
rufsgenossenschaften scheinen für die Kosten 
der neuen Anstalten nicht aufkommen zu 
wollen. Die Initiative müsse von den Aerzten 
ausgehen; und zwar könne man sich dem Plan 
von Möbius („Friedau“ in der Schweiz) 
anschliessen. Ein principielles Bedenken 
gegen die Errichtung der Volksnervenheil- 
stätten ausserhalb Deutschlands bestehe 
nicht, wie sich das ja auch bei den Lungen¬ 
heilstätten (Davos) gezeigt habe. 

Neumann (Karlsruhe) führte als Cor- 
referent aus, dass anlässlich der Discussion 
auf der vorjährigen Versammlung in Karls¬ 
ruhe von keiner Seite das Bedürfniss nach 
Volksheilstätten für Nervenkranke in Ab¬ 
rede gestellt wurde. Das bestehende Be¬ 
dürfniss zahlenmässig zu belegen, ist bei 
dem bis jetzt vorhandenen statistischen 
Material nicht leicht. Zwecks Klarstellung 
der Bedürfnissfrage hat Referent die Ver¬ 
hältnisse der deutschen Landesversiche¬ 
rungsanstalten bezüglich der unterstützungs¬ 
bedürftigen Nervenkranken des Näheren 
studirt und sich durch Fragebogen, die von den 
Versicherungsanstalten ausgefüllt wurden, 
die nöthigen Angaben verschafft. Er fand, 
dass die Zahl der Rentenempfänger unter 
den Nervenkranken unverhältnissmässig viel 
grösser zu sein pflegt, als die Zahl der Fälle, 
in denen ein Heilverfahren eingeleitet wurde, 
während für die Lungentuberkulose das Ver- 
hältniss gerade umgekehrt ist. Für die Ver¬ 
sicherungsanstalt Baden gestaltet sich das 
Verhältniss zwischen Heilverfahren und 
Invalidisirung 

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in toto.wie 2 : 3 

i für die Nervenkranken 1 ) . „2:7 

„ „ Lungentuberkulose „ 2:1! 

Und weiterhin: Während bei den Heil¬ 
verfahren erst auf 10 Tuberkulöse 1 Nerven¬ 
kranker kommt, entfällt bei den Renten¬ 
empfängern bereits auf jeden zweiten Tuber¬ 
kulösen ein Nervenkranker. 

Dies Missverhältniss erklärt Referent 
aus dem Mangel an geeigneten Heilstätten 
für Nervenkranke. In Berlin, wo seit drei 
Jahren die Volksheilstätte „Haus Schönow“ 
besteht, tiberwiegen die Heilverfahren¬ 
fälle die Rentenfälle, und es haben in den 
letzten vier Jahren die Heilverfahrenfälle um 
das Vierfache zugenommen. Die Umfrage 
bei den einzelnen Landesversicherungsan¬ 
stalten nach der Stellung der Anstalten 
eventuellen Heilstätten gegenüber ergab 
eine verschiedenartige Beurtheilung der 
Bedürfnissfrage. Die Anstalten, aus deren 
Antworten ein richtiges Verständniss 
für die nervösen Erschöpfungskrankheiten 
spricht, stehen auch der Errichtung von 
Heilstätten wohlwollend gegenüber. Fünf 
Anstalten erklären sich im Princip zu finan¬ 
zieller Unterstützung bereit. 

Die für die supponirten Heilstätten ge¬ 
dachten Kranken sollen sich rekrutiren aus 
dem grossen Heere der nervös Erschöpf¬ 
ten, einschliesslich der Reconvalescenten 
und der Anämisch-Chlorotischen mit func- 
tionell-nervösen Störungen. Im Grossen 
und Ganzen soll als massgebend für die 
Aufnahme gelten eine günstige Prognose 
hinsichtlich der socialen Wiederherstel¬ 
lung. 

Einer gemeinsamen Behandlung der 
Nerven- und Trinkerheilstättenfrage gegen¬ 
über äussert sich Referent ablehnend, 
im Interesse beider Arten von Anstalten. 
Hingegen tritt Vortragender entschieden 
dafür ein, dass die zu gründenden Nerven- 
heilstätten von vornherein und grundsätz¬ 
lich alkoholfrei gehalten werden sollen. 

Die Unfallkranken will Neumann zwar 
nicht principiell und rigoros ausgeschlossen 
wissen, hält sie aber zum grösseren Theil 
für nicht geeignet zur Behandlung in den 
gedachten Heilstätten und empfiehlt spe- 
cielle Sanatorien für dieselben nach Art 
des im Königreich Sachsen bestehenden. 

Das Bedürfniss nach Volksheilstätten ist 
auf Seiten des weiblichen Geschlechts zum 
Mindesten in gleichem, wenn nicht in 


l ) Unter Einschluss der Hälfte der Anämisch- 
Chlorotischen und der an „Muskelrheumatismus" 
Leidenden, da man mindestens 50°/o dieser beiden 
Krankengattungen zu den „Nervösen“ rechnen kann. 

Original fram 

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Februar 


80 Die Therapie der Gegenwart 1903. 


höherem Maasse vorhanden, als aufSeiten 
des männlichen. Ob für beide Geschlechter 
gemeinschaftliche oder getrennte Anstalten 
zu gründen sind, ist vorzüglich eine Geld¬ 
frage: Reichen die Mittel für mehr als eine 
Anstalt, dann ist einer Trennung der Ge¬ 
schlechter unbedingt der Vorzug zu geben. 

Der heutige Stand der Heilstätten¬ 
bewegung in den verschiedenen Bundes¬ 
staaten ist folgender: 

Die badische Regierung suchte die Be- 
dürfnissfrage durch eine Umfrage bei den 
Stadtverwaltungen, den Bezirks- und 
Krankenhausärzten und den Organen der 
socialen Gesetzgebung zu klären. Ein um¬ 
fangreiches, vielfach gegensätzliche^ Aeusse- 
rungen enthaltendes Aktenmaterial ist da¬ 
durch gesammelt worden. Die Directoren 
der badischen Landesirrenanstalten treten 
in einer Denkschrift für Angliederung einer 
Volksnervenheilstätte an die Irrenanstalt 
lllenau ein. Der Minister kann bestimmte 
Zusagen betr. Errichtung einer Nervenheil- 
stätte nicht machen. 

In Sachsen-Weimar verhandelten Re¬ 
gierung und Landesversicherungsanstalt 
einerseits und Universitäts-Irrenklinik an¬ 
dererseits — auf Anregung der letzteren — 
über eine Volks-Nervenheilstätte, bis jetzt 
ohne positiven Erfolg. Auch die Carl 
Zeiss-Stiftung in Jena hat sich mit der 
Angelegenheit befasst und wird vielleicht 
noch am ehesten zur Realisirung schreiten. 

Im Grossherzogthum Hessen hat der 
Irrenhilfsverein in jüngster Zeit einen 
energischen Appell an die Wohlthätigkeit 
der privaten Kreise gerichtet zu gemein¬ 
samer Fürsorge für die bedürftigen Nerven¬ 
kranken. Bis zu der geplanten Gründung 
einer eigenen Heilstätte werden die betr. 
Kranken, so weit angängig, in den schon 
vorhandenen Sanatorien des Landes be¬ 
handelt. Für das laufende Jahr hat der 
Verein aus seinen Mitteln hierfür 9000 Mark 
ausgeworfen. 

In der Rheinprovinz betreibt der ber- 
gische Verein für Gemeinwohl die Grün¬ 
dung einer Volks-Nervenheilstätte. 

In Frankfurt a. M. hat die Stadt 400000 
Mark zur Errichtung einer Villencolonie 
für Nervenkranke bewilligt (die an die 
städtische Irrenanstalt bezw. deren Depen¬ 
dance in Köppern (Taunus) angegliedert 
wird. Ref.). 


Die einzige bereits im Betriebe befind¬ 
liche Volks-Nervenheilstätte besitzt die 
Stadt Berlin, in Gestalt der aus privaten 
Mitteln entstandenen bekannten Anstalt 
„Haus Schönow“. 

In der Schweiz geht die Heilstätten- 
Bewegung Hand in Hand mit der Ab¬ 
stinenzbewegung. Durch Vereinsthätigkeit 
ist dort ein „Alkoholfreies Kurhaus“ auf 
dem Zürichberg bei Zürich entstanden. 
Ausserdem soll die von Moebius inaugu- 
rirte „Colonie Friedau“ auf Schweizer 
Boden gegründet werden. 75000 Frs. sind 
bis jetzt dafür gezeichnet worden. — 

Bei Besprechung der Frage, ob die ge¬ 
planten Heilstätten an bereits bestehende 
Einrichtungen angegliedert werden könnten,, 
wendet sich Ref. entschieden gegen den 
öfters erörterten Vorschlag eines An¬ 
schlusses an die Landesirrenanstalten. Für 
allein geeignet, Mutterinstitute für Nerven- 
heilstätten zu werden, hält Ref. die länd¬ 
lichen Reconvalescentenhäuser* erklärt je¬ 
doch als das eigentlich zu erstrebende 
Ziel die Gründung selbstständiger An¬ 
stalten. 

Was die Beschaffung der Mittel be¬ 
trifft, glaubt Ref., dass der einzig gang¬ 
bare Weg, einigermassen rasch zum Ziele 
zu kommen, in der planmässigen Mobilisi- 
rung der privaten Wohlthätigkeit gegeben 
ist, und zwar durch Gründung von Heil¬ 
stättenvereinen. (Der Vortrag erscheint in 
der „psychiatrisch-neurologischen Wochen¬ 
schrift“.) 

Die von beiden Referenten gemein¬ 
schaftlich der Versammlung vorgeschlage¬ 
nen Thesen lauten: 

1. Die Versammlung südwestdeutscher 
Irrenärzte erachtet die Errichtung von 
Volksnervenheilstätten als eine Noth- 
wendigkeit. 

2. Es ist die Errichtung von selbst¬ 
ständigen Instituten zu dem genannten 
Zwecke anzustreben. 

3. Die Versammlung erwählt aus ihrer 
Mitte eine Commission, deren Aufgabe es 
ist, die Bewegung für Errichtung der 
Volksnervenheilstätten im geographischen 
Bereiche der Versammlung zu fördern. 
Die Commission hat über ihre Thätigkeit 
nach zwei Jahren an die Versammlung zu 
berichten. 


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Februar 


8! 


Die Therapie der (ic^er, wart 1°L>3 


Therapeutisches aus den Pariser medicinischen Gesellschaften. 


In der Sitzung vom 4. December des j 
vergangenen Jahres der Societe de Neu¬ 
rologie de Paris machte der bekannte fran¬ 
zösische Neurologe Prof. J. Grasset (aus 
Montpellier) eine Mittheilung über fünf 
Fälle schwerer organischer Erkrankung des ; 
Centralnervensystems, welche, trotz Mangel | 
aller Anhaltspunkte für Syphilis — weder 
bei den Kranken selbst, noch bei ihren 
Ascendenten —, unter dem Einfluss einer 
gemischten specifischen Behandlung rasch 
in Heilung übergingen. 

Bei der noch verbreiteten, allerdings 
nicht unbegründeten Meinung, dass die 
specifische, besonders die merkurielle Be¬ 
handlung bei Hirn- und Rückenmarks¬ 
erkrankungen unter Umständen schädlich 
wirken kann und dass dieselbe sogar bei 
unzweifelhaft syphilitischem Ursprung der 
genannten Krankheiten oft, ja sehr oft im 
Stiche lässt, erscheinen die von Grasset 
mitgetheilten Beobachtungen interessant 
genug, um hier in Kürze referirt zu werden, j 

In der ersten von ihnen handelte es * 
sich um eine progressive linksseitige Hemi¬ 
plegie bei einem vierzigjährigen Manne, 
d. h. um eine Krankheitsform, die, wie be¬ 
kannt, sehr oft letal endigt. Der Process 
nahm einen raschen ascendirenden Verlauf, 
so dass in 22 Tagen schon die ganze linke 
Körperhälfte sammt einigen Hirnnerven 
gelähmt war. Jetzt wurde erst mit Ein¬ 
reibungen von grauer Salbe begonnen; 
daneben erhielt der Kranke Jodkali in 
steigenden Dosen bis zu 8,0 pro die. Schon 
am sechsten Tage zeigte sich eine unver- > 
kennbare Besserung, welche nach zwei 
Monaten in vollkommene Heilung über¬ 
ging. 

Der zweite Patient, 38 Jahre alt, hatte 
eine ascendirende Paralyse nach dem be¬ 
kannten, von Landry zuerst beschriebenen 
Typus. Nachdem die Krankheit schon 25 
Tage gedauert, unter stetiger Verschlimme¬ 
rung der Symptome, fing man an, graues 
Oel in der Dosis von 0,05 wöchentlich 
einzuspritzen und gab zugleich 6,0 Jodkali 
täglich. Unter dieser Behandlung trat nach 
zwei Monaten gänzliche Genesung ein. ( 

Der dritte Fall betraf einen 65jährigen | 
Herrn, welcher zuerst transitorische An- | 
fälle von Hemiplegie mit Schwindel und ! 
Dyspnoe aufwies; später wurde die Hemi- | 
plegie ständig und zugleich zeigte sich i 
eine besorgnisserregende Abnahme der 
geistigen Fähigkeiten. Unter dem Einfluss | 
von Einreibungen grauer Salbe und des 
internen Gebrauches von Jodkali (4,0 pro 

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die) genas der Kranke rasch und so voll¬ 
kommen, dass er wieder arbeitsfähig wurde. 

Im vierten Falle hatte man es mit einer 
asthenischen Bulbärparalyse (Erb) bei 
einem 62jährigen Manne zu thun. Es kam 
schon zu Erstickungsanfällen zu einer Zeit, 
wo man sich zur gemischten specifischen 
Behandlung entschloss (Einspritzungen von 
Hydrarg. bijodati und innerlich Kali jodati 
4,0 pro die). Auch hier wurde Heilung 
erzielt. 

Die fünfte Beobachtung ist weniger 
überzeugend. Sie betrifft einen tabischen 
Officier, der zugleich ausgesprochene 
neurasthenische Symptome zeigte. Er genas 
nach einer einjährigen gemischten speci¬ 
fischen Behandlung. 

Es sei hier wiederholt, dass nämlich bei 
keinem dieser Kranken weder objective Sym¬ 
ptome noch anamnestische Daten für früher 
vorhandene oder ererbte Syphilis bestan¬ 
den. Es waren also Fälle, bei welchen — 
nach der herrschenden Anschauung — Indi- 
cationen für eine antisyphilitische Kur voll¬ 
ständig fehlten. Und doch erwies sich hier 
diese Behandlung als eminent wirksam: als 
lebensrettend und heilend. Es fragt sich 
nun, ob bei den Grasset’schen Kranken 
vielleicht eine Syphilis ignota bestand oder 
ob hier die Quecksilber-Jodbehandlung 
nicht-syphilitische Hirn- und Rückenmarks¬ 
läsionen zum Verschwinden gebracht hat? 

Die Frage bleibt natürlich ungelöst. Aus 
den angeführten Beobachtungen zieht 
Grasset den Schluss, dass in gewissen 
organischen Erkrankungen des Central¬ 
nervensystems, ohne klinische Anzeichen 
ihres syphilitischen Ursprungs, eine ener¬ 
gisch durchgeführte specifische und zwar 
gemischte Behandlung lebensrettend wirken 
könne. Man wird diesen Schluss natürlich 
nicht ohne weiteres beipflichten dürfen, da be¬ 
kanntlich in schweren Nervenerkrankungen 
toxischer oder entzündlicher Natur oft auch 
ohne Behandlung überraschend günstige 
Wendungen eintreten. Doch mögen Gras- 
set’s Fälle jedenfalls zeigen, dass so ener¬ 
gische specifische Curen oft ohne Schaden 
vertragen und also zur eventuellen Nach¬ 
ahmung anregen. 

Zur Stütze dieser Ansicht kann man 
auch den von Gallois in einer früheren 
Sitzung der Societe de thörapeutique be¬ 
richteten Fall erfolgreicher mercurieller 
Behandlung der Little’schen Krankheit 
anführen. (Siehe „Therapie der Gegen¬ 
wart“, Januar 1902, S. 29.) 

Aus der Sitzung vom 24. December der 

Original fro-m 

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Februar 


B2 Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Pariser Societe de th£rapeutique seien die 
folgenden zwei Mittheilungen erwähnt. 

B. Gallois sprach über die günstigen 
Resultate der Abortivbehandlung von 
Furunkeln mit einer Lösung von Jod in 
Aceton, welches vier Mal so viel Jod auf- 
lösen kann wie der Alkohol. Zu seiner in 
der Spitalabtheilung Professors Chante- 
messe bei Typhusreconvalescenten (die sehr 
oft an Furunkulose laboriren) angestellten 
therapeutischen Versuchen hat sich Gallois 
einer Lösung von 4,0 Jod in 10,0 Aceton 
bedient. Dieselbe hat zuerst das Ansehen 
der Jodtinctur, aber schon nach zwei 
Wochen wird sie schwärzlich und syrupös 
(durch Bildung von Monojodaceton und 
Bijodaceton), zugleich aber weniger ätzend, 
als die frische Lösung. Man taucht in 
diese Flüssigkeit einen kleinen um ein 
Stäbchen gewickelten Wattebausch ein und 
berührt damit die Furunkeln. Es bildet 
sich ein bräunlicher Belag, unter welchem 
der Furunkel — wenn er auch schon etwas 
Eiter enthält — rasch zurückgeht und ver¬ 
heilt. Bei schon etwas aufgegangenen 
Furunkeln ruft das Jodaceton einen ziem¬ 
lich heftigen Schmerz hervor, so dass hier 
vorher cocainisirt werden muss. Multiple 
Jodacetonapplicationen können auch die 
Symptome eines allgemeinen Jodismus be¬ 


dingen, wie es sich in einem Falle er¬ 
eignete. Aber Solches erlebt man auch 
bei der abortiven Behandlung der Furun- 
culose mit Jodtinctur, welche Behandlung, 
nach den Versuchen von Gallois, weniger 
leistet als die Jodacetonapplicationen. 
Letztere haben auch in der Abtheilung 
von Chantemesse die früher üblichen 
Jodtincturanstriche gänzlich verdrängt. 

Hallion und Garrion demonstrirten 
ein neues von ihnen dargestelltes Präparat, 
die aus der Duodenalschleimhaut des 
Schweines gewonnene, für die Behandlung 
intestinaler Dyspepsien bestimmte Euki- 
nase. Wie bekannt, haben die Versuche 
Prof. Pawlow’s gezeigt, dass das pankrea- 
tische Ferment (Trypsin) an und für sich 
keine digestive Kraft besitzt und nur in 
Anwesenheit der von der Duodenalschleim¬ 
haut secernirten Enterokinase als Verdau¬ 
ungsferment wirkt. Nun sei die von 
Hallion und Carrion dargestellte Euki- 
nase nichts anderes als eine ausserordent¬ 
lich thätige Pawlow’sche Enterokinase. 
Durch Association dieser Eukinase mit 
dem Pancreasextract (Pancreatinum) haben 
ferner die genannten Forscher ein angeb¬ 
lich noch wirksameres Präparat, die Pan- 
creatokinase, erhalten. 

W. v. Holstein (Paris). 


Bücherbesprech ungen. 


Th. Dunin. Die Grundsätze in der Be¬ 
handlung der Neurasthenie und Hy¬ 
sterie. Berlin, Hirschwald 1902. M. 2,—. 

Die Charcot’sche Auffassung von der 
psychogenen Ursache der allgemeinen 
oder sogenannten functioneilen Neurosen 
gewinnt auch in der Therapie Bedeutung; 
und wenn man sie wie es Freud, Moe- 
bius thun, zum Ausgangspunkt und Cen¬ 
trum aller therapeutischen Indicationen 
wählt, so fällt den physikalisch-diätetischen 
Behandlungsmethoden nur die Rolle eines 
adminiculirenden Beiwerkszu. Einen solchen 
Standpunkt nimmt auch der Warschauer 
Kliniker Th. Dun in ein; eine grosse kli¬ 
nische Erfahrung ist in den „Grundsätzen 
der Behandlung der Neurasthenie und 
Hysterie" niedergelegt. Diagnostisch ver¬ 
wirft Dunin die scharfe Trennung der 
Neurasthenie, Hysterie, Hypochondrie als 
Krankheitsbilder, die im Uebrigen in typi¬ 
schen Fällen pathogenetisch oft sehr ver¬ 
schieden sich verhalten. 

Alle neurasthenischen rein somatischen 
Beschwerden sind in nuce auch bei Ge¬ 
sunden vorhanden, so die Phobien, die 
Wallungen, die leichte Ermüdbarkeit; nur 


die Objectivität und die Distanz, mit der 
der Kranke seine Beschwerden einschätzt, 
und zu ihnen Stellung nimmt, sie kenn¬ 
zeichnen den wirklich Erkrankten. Die 
dauernde, höchst subtile, registrirende 
Selbstanalyse, die Angst und den Willens¬ 
mangel führt Dunin im Einzelnen als cha¬ 
rakteristisch auf und belegt dies durch 
ausführliche physiologische interessante 
Schilderungen. Die praktische Folge¬ 
rung, dass Aerzte durch Hinleitung von 
Nervösen, z. B. auf Herzbeschwerden car- 
diale Symptome auslösen, ist beherzigens- 
werth; die Entstehung des Egoismus der 
Nervösen aus der permanenten Angst um 
ihr eigenes Ich ist einleuchtend. Die Ana¬ 
logie zwischen normaler Ermüdung und der 
gesteigerten Erschöpfbarkeit der Patienten 
will Dun in nicht zu weit ausgedehnt wissen. 

Das Ziel der psychischen Behandlung 
muss in der Ablenkung von der Selbst¬ 
analyse und in der encouragirenden 
Festmachung und Willenskräftigung be¬ 
stehen, dahin und darum wirken auch die 
heterogensten Methoden der Therapie. Du¬ 
nin verlangt, dass der Arzt den Kranken 
aufkläre, nachdem er ihn somatisch und 


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Februar Die Therapie der Gegenwart 1903. 83 


psychologisch gründlich durchleuchtet, ihn 
erziehe und zur Selbstzucht anrege und ist 
darum ein Gegner aller Polypragmasie und 
ein Anhänger der Apragmasie, der Einlei¬ 
tung curloser Zeiten, die durch passende Ar¬ 
beit, philantropische Beschäftigung, Sport 
zur Genesung überführen ; alle diese „Hülfs- 
constructionen ohne die es nicht geht", um 
den Fontane’schen Ausdruck zu gebrau¬ 
chen, sollen nur temporär angewendet wer¬ 
den. Die Befriedigung des Kranken in 
pflichtgemässer, verantwortungsreicher Ar¬ 
beit sei das höchste und endliche Ziel der 
Behandlung. 

Die Frage der Isolirung des Kranken, 
der seine Umgebung terrorisirt — auch 
Kinder thun dies nicht selten 1 ) — oder den 
sie umgekehrt verhätschelt und so ent- 
muthigt, die Behandlung der Angstkranken, 
der Willenlosen, die Indicationen der Mast- 
curen, die Hypnose werden von Dunin 
sachgemäss besprochen. 

Der Klimato - Hydro - Elektro - Therapie 
spricht Dunin wie oben erwähnt eine nur 
auxiliäre Rolle in der Therapie zu; Wie¬ 
dergewinn des Kraftgefühls, Abhärtung 
leisten sie jedoch. Die Rolle des Eisens 
wird von Erb in seiner zu KussmauTs 
80. Geburtstage im Deutschen Archiv für 
klinische Medicin erschienenen Abhand¬ 
lung weniger skeptisch beurtheilt als dies 
Dunin thut. 

Unter Hinweis auf seine frühere Ar¬ 
beit „über periodische Neurasthenie“ be¬ 
zeichnet Dunin als Hauptwegweiser in der 
Therapie der Neurasthenie den Entsteh¬ 
ungsmodus. 

Die Hysterie behandelt Dunin in sei¬ 
nem Aufsatze etwas kürzer; sie ist immer 
eine Psychose; ihre Symptome beruhen 
einerseits auf den sogenannten hysterischen 
Stigmata, andererseits auf den sogenannten 
ideogenen unbewussten, aber auf einer 
reellen Basis fussenden Vorstellungen. 

Einzig rationelle Behandlung der Hy¬ 
sterie ist für Dunin die Hypnose und 
zwar streng nach der Methode von Jan et 
bezw. Breuer und Freud (Hervorholung 
der primären Ursache der Hysterie, Ver¬ 
nichtung derselben durch Gegensuggestion 
u. s. w. posthypnotisch). Gefährlich ist nur 
das Abhängigkeitsverhältniss, das sich zwi¬ 
schen Arzt und Kranken herausbildet. 

B. Laquer (Wiesbaden). 

Franz Mracek. Handbuch der Haut¬ 
krankheiten. Wien 1902, bei Alfred 
Hölder. In Abtheilungen ä M. 5.— 

Während ein Mangel an kleineren und 

1 > Oppenheim, Nervenleiden und Erziehung. 

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grösseren Lehrbüchern der Hautkrank¬ 
heiten nicht besteht, besassen wir bisher 
kein grösseres Handbuch, in welchem die 
gesammte Materie auf breiter Basis voll¬ 
ständig und eingehend dargestellt wird. 

Und doch war es an der Zeit dieses 
Capitel der Medicin, dass nicht nur Fach¬ 
interesse hat, sondern wegen der vielfachen 
Beziehungen zur Gesammtmedicin auch 
den Nicht-Dermatologen angeht, kritisch 
und vollständig darzustellen, sowohl um 
dem Praktiker eine klare und umfassende 
Orientirung zu ermöglichen, wie auch ganz 
besonders dem Forscher ein erschöpfendes 
Bild des jeweiligen Standes unserer Kennt¬ 
nisse zu geben. Denn die Litteratur ist 
bei dem eminenten Fleiss gerade auf diesem 
Specialgebiet der Medicin so kolossal an¬ 
gewachsen, dass es dem Einzelnen nicht 
mehr möglich ist, sie zu beherrschen. Das 
vorliegende Handbuch, welches von Mra¬ 
cek unter Mitwirkung zahlreicher Fach¬ 
genossen herausgegeben wird, und nun¬ 
mehr in seinem I. Band vollständig und 
dem Beginn des II. Bandes vorliegt, ver¬ 
spricht nun nach allen Richtungen diesen 
Indicationen zu genügen. Als Einleitung 
dient eine ausgezeichnete Darstellung der 
Anatomie der Haut von Rabl. Es folgt 
dann von Kreidl die Darstellung der 
Physiologie, über welche gerade wegen 
der Zerstreutheit der bezüglichen Arbeiten 
in den verschiedensten Zeitschriften eine 
Orientirung ausserordentlich erschwert ist. 

In den übrigen Capiteln ist die allgemeine 
Aetiologie und Therapie der Dermatosen, 
die allgemeine Pathologie der Circulations- 
störungen dargestellt. Die letztere von Felix 
Pinkus ist durch die geschickte Gruppirung 
des mit grossem Fleiss gesammelten Ma¬ 
teriales eine der besten bisher. Es sind 
ferner die Schweiss- und Talgdrüsen- 
aflfectionen, Erytheme, Herpesetc. bisher zur 
Darstellung gelangt. Ein ausführlicher 
Artikel von Unna behandelt das Ekzem. 
Durch eine grosse Zahl von guten Ab¬ 
bildungen wird das Verständniss erleichtert. 

Von ausserordentlichem Werth sind die 
ausführlichen Litteraturverzeichnisse, die 
jedem Capitel folgen. Für den Praktiker 
von grosser Bedeutung ist, dass nicht nur 
Theorie und Diagnostik, sondern auch die 
Therapie einen breiten Raum einnimmt. 

Es erscheint unmöglich bei einem so gross 
angelegten Werk auf Einzelheiten einzu¬ 
gehen. Was dem Buch ferner z. B. vor 
dem zur Zeit erscheinenden grossen Werk 
französischer Autoren: „La pratique der- 
matologique“ den Vorzug giebt, ist, dass 
es eine viel vollständigere Berücksichtigung 

11* 

Original fro-m 

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84 


Februar 


Die Thcr.ipie der Gegenwart 1903. 


der Litteratur bringt und — mit einigen 
Ausnahmen — ein nicht zu subjectives Ge¬ 
präge hat, was derartigen umfassenden 
Werken oft nicht nützlich ist. Ich werde 
nach Abschluss des Werkes noch einmal 
darauf zurückkommen und hoffe, dass die 
gute Prognose, die nach dem Beginn des 
Unternehmens gestellt werden kann, am 
Schluss sich als richtig erweist. 

Buschke (Berlin.) \ 

Maximilian V. Zeissl. Lehrbuch der 
venerischen Krankheiten (Tripper, 
venerisches Geschwür, Syphilis). 532 S. 
Stuttgart bei Ferdinand Enke. 1902. M. 10,—. 

Es handelt sich bei dem vorliegenden | 
Buche um eine Neubearbeitung des in fünf | 
Auflagen -erschienenen Buches des be- ! 
rühmten Vaters des Autors, H. v. Zeissl. 
In ausserordentlich conciser Form, klarer 
und präciser Darstellung, dabei mit ein¬ 
gehender Berücksichtigung der gesammten 
neuesten Litteratur fast bis in die kleinsten 
Einzelheiten bringt dies Buch eine aus¬ 
gezeichnete Darstellung der venerischen 
Krankheiten. Der Autor, welcher auf vielen 
Gebieten an dem Ausbau unserer Kennt- t 
nisse über dieses Capitel mitgearbeitet hat, i 
wird durch eine langjährige, ausgedehnte I 
eigene Erfahrung bei Beurtheilung der An¬ 
schauungen Anderer geleitet, und überall 
begegnen wir einem klaren und sachlichen 
Urtheil, selbst dort, wo wir nicht jeder | 
Ansicht des Autors — wie es bei einem 
so viel umstrittenen Gebiet nicht anders I 
sein kann — ohne weiteres beipflichten, j 
Neben einer ganz eingehenden theoreti¬ 
schen Darstellung — ich weise nur auf die 
Schilderung der Ulcus molle-Aetiologie hin 
— ist der Behandlung der Krankheiten der | 
weiteste Raum gegönnt. Und hierbei giebt 
es kaum ein zweites Buch, welches z. B. 
die Behandlung der Gonorrhoe mit gleicher 


Sachkenntnis wie die der Syphilis bringt. 
Hinzu kommt, dass der Verfasser einzelne 
Capitel, wie die Frauenkrankheiten, die 
Larynxaftectionen von Sachkundigen hat 
bearbeiten lassen. Wir haben keine grosse 
Auswahl an guten Lehrbüchern der veneri¬ 
schen Krankheiten. Das vorliegende Werk 
ist zu den besten zu zählen. Es sei so¬ 
wohl dem Specialisten wie dem praktischen 
Arzt auf’s Wärmste empfohlen. 

Buschke (Berlin). 

B. Scheube. Die venerischen Krank¬ 
heiten in den warmen Ländern. 
Sonderabdruck aus „Archiv für Schiffs¬ 
und Tropenhygiene.“ Bd. VI, 1902. Leip¬ 
zig. Joh. Ambr. Barth. 1902. M. 1,60. 

Bei dem Interesse, welches die Tropen- 
krankheiten jetzt in vielfachen Beziehungen 
haben, ist es dankenswerth, dass Scheube, 
einer der besten Kenner derselben, sich 
der Mühe unterzogen hat, eines der am 
wenigsten bearbeiteten Capitel derselben, 
die Geschlechtskrankheiten, in Bezug auf 
ihre Verbreitung in den Tropen und die 
Art ihres Auftretens darzustellen. Theils 
auf Grund eigener Erfahrungen, theils durch 
eine Rundfrage bei Tropenärzten hat 
Scheube Material über die Frage zu¬ 
sammengestellt; ein zutreffendes und voll¬ 
ständiges Bild zu geben ist bei dem zeitigen 
Stande unserer Kenntnisse unmöglich, und 
doch bietet die Schrift viel Interessantes 
und Anregendes. Bei der Wichtigkeit, 
welche die Geschlechtskrankheiten in so¬ 
cialer und auch nationalökonoraischer Hin¬ 
sicht haben und den engen Beziehungen 
zwischen Colonien und Mutterland heut¬ 
zutage, ist es sehr werthvoll, dass hier¬ 
durch die Aufmerksamkeit auf dies Capitel 
gelenkt wird. Die Arbeit sei jedem, der 
sich für Tropenkrankheiten interessirt, zur 
Lektüre empfohlen. Buschke (Berlin). 


Referate. 


Die Frage, ob der Alkohol im Orga¬ 
nismus oxydirt wird, ist gegenwärtig dahin 
entschieden, dass 95 %. nach Untersuchun¬ 
gen von Atwater und Benedikt sogar 
99%, im Körper verbrannt werden. Die 
zweite Frage ist die, ob der Alkohol bei 
seiner Oxydation auch die Rolle eines 
Nahrungsmittels übernimmt, das heisst 
schützt der Alkohol durch seine Zer¬ 
setzung andere Nährstoffe oder Bestand¬ 
teile des Körpers. Die Messung des 
Sauerstoffverbrauches konnte hier allein 
entscheiden. 

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Zahlreiche Versuche zeigten, dass der 
Alkohol in diesem Sinne als Nahrungsmittel 
zu betrachten war. 

Die Frage war aber noch zu entschei¬ 
den, ob der Alkohol ein Eiweisssparer ist 
wie Fett und Kohlehydrate und leimgebende 
Substanz. Denn der Alkohol ist neben 
einem Nahrungsmittel auch noch ein Gift. 

Die Versuche von Neumann, Clopatt und 
Rosemann haben bewiesen, dass der Al¬ 
kohol in kleinen Dosen bis zum Eintritt 
der Gewöhnung seine Giftwirkung durch 
vermehrten Eiweisszerfall documentirt. 

Original fro-m 

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Februar 


Die Therapie- <1. r 


Kasnewitz geht deshalb so weit, zu 
sagen, dass ein Gift nie ein Nahrungsmittel 
sein kann. 

Die Versuche Neumann’s zeigten aber 
weiter, dass, sobald Gewöhnung eingetreten 
ist, der nachtheilige Einfluss des Alkohols 
aufhört und der Stoffwechsel verläuft, als 
ob dem Organismus statt Alkohol die äqui¬ 
valente Menge Fett geboten worden ist. 

Caspari selbst nimmt zu der Frage, 
ob der Alkohol als Nahrungsmittel zu be¬ 
trachten ist, folgende Stellung ein. Der 
Alkohol ist ein Nahrungsmittel, das Eiweiss 
zu sparen vermag, wenn er auch nicht den 
isodynamen Mengen Kohlehydraten oder 
auch Fett vollkommen gleichwertig ist. 
Aber der Alkohol ist auch ein Gift, das 
namentlich beim Ungewohnten einen nicht 
unerheblichen Eiweisszerfall hervorrufen 
kann und durch seine Wirkung auf das 
Nervensystem, besonders bei der Muskel¬ 
arbeit, den Energieverbrauch derart ver¬ 
mehren kann, dass seine ernährende Wir¬ 
kung dadurch compensirt, ja sogar übercom- 
pensirt wird. M. Rosenfeld < Strassburg). 

(Fortschritte d. Medicin 1902, No. 33.) 

Ueber das Verhältniss des Alkoholis- 
mus zur Chirurgie schreibt Poläk (Prag). 
Der Alkoholismus hat in jeder Form einen 
gewissen, ungünstigen Einfluss auf ver¬ 
schiedene chirurgische Krankheiten. Der 
acute Alkoholismus ist öfters Ursache ver¬ 
schiedener Verwundungen, auf den Ver¬ 
lauf der Heilung aber hat er keinen Ein¬ 
fluss. Der chronische Alkoholismus in 
seinen verschiedenen Abarten behindert 
öfters die Heilung per primam intentionen, 
septische Erkrankungen verlaufen unter 
viel schwereren Symptomen, so dass die 
Prognose hier immer etwas weniger günstig 
ist. Etliche Formen von Gangrän werden 
sehr oft direkt oder indirekt durch den 
Alkoholismus bedingt. Das Delirium tre¬ 
mens ist immer eine Folge von Alkoholis¬ 
mus und ist immer bei der kleinsten Wunde 
oder chirurgischem Eingriff eine sehr ernste 
Complication. Stock (Skalsko.) 

(Sbomik klinick^ B. UI H. 6.) 

Ueber die Wirkung des Atropins und 
Physostigmins auf die Blutversorgung des 
Kopfes berichtet kurz A. M. Kal in in. Er 
experimentirte an Hunden mittlerer Grösse 
mit Hülfe der sogenannten Blutuhr von 
Hürthle, die gleichzeitig den Blutdruck in 
der zu untersuchenden Arterie (Carotis 
communis) und das Volumen des durch¬ 
strömenden Blutes anzeigt. Verfasser kommt 
auf Grund dieser Untersuchungen zu fol- 

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Gcp'invart 19U3. 85 

genden Schlüssen: Die Atropinisirung ruft 
bei Thieren eine vermehrte Blutversorgung 
des Kopfes hervor, wobei auch das Volumen 
des durchströmenden Blutes gesteigert ist. 

Er erklärt dies dadurch, dass durch das 
Atropin die Herzthätigkeit beschleunigt 
wird, während die Energie der einzelnen 
Contractionen nur unwesentlich geschwächt 
wird. Umgekehrt ist die Wirkung des Phy¬ 
sostigmins: sowohl das Volumen des durch¬ 
strömenden Blutes, als auch die Strom¬ 
geschwindigkeit ist herabgesetzt. Offenbar 
reicht die gesteigerte Energie der Herz¬ 
systole nicht aus, um die stark ausge¬ 
sprochene Verlangsamung der Herzthätig¬ 
keit zu compensiren, wodurch die Blut¬ 
versorgung des Kopfes erhebliche Nach¬ 
theile erleidet. N. Grünstein (Riga). 

(Russki Wratsch 1902, No. 35.) 

Den Einfluss der Erysipel-StreptO- 
coccen- und Staphylococceninfection 

auf maligne Neoplasmen und chronische 
Entzündungsprocesse konnte Hanszel in 
zwei Fällen beobachten. Bei einem Rhino- 
laryngosclerom kam es in Folge eines 
intercurrenten Gesichtserysipel zu einer 
fast vollständigen Involution der Infiltrate: 
ferner führten bei einem Rundzellencarcinom 
des weichen Gaumens und seiner Um¬ 
gebung, welches ursprünglich das Bild eines 
peritonsillitischen Abscesses bot, mehrfache 
Incisionen, die in dieser Annahme gemacht 
wurden, zur Entleerung einer jauchigen 
Flüssigkeit, deren Untersuchung Strepto- 
und Staphylococcen ergab. Jedoch war 
hier die folgende Verkleinerung des Tumor 
nur von kurzer Dauer; nach einigen Wochen 
begann sein Wachsthum wieder, nach zwei 
Monaten Exitus. Nach den bisher beobach¬ 
teten Fällen, in denen intercurrente Infec- 
tionen, wie Erysipel, Typhus exanthema- 
ticus, Streptococcen u. s. w. zu mehr oder 
minder vollständiger Involution von ma¬ 
lignen Tumoren etc. führten, ist Verfasser 
geneigt, besonders Gewicht auf die Höhe 
des Fiebers zu legen; nur wenn eine be¬ 
deutende Reaction des Gesammtorganis- 
mus erfolgt, scheine ihm ein therapeuti¬ 
scher Einfluss aussichtsreich. 

F. Alexander (Frankfurt a. M). 

(Monatschrift für Ohrenheilkunde 1902, Heft 7.) 

Ueber den Werth des Heroins ist in 
dieser Zeitschrift bereits mehrfach be¬ 
richtet worden (Rosin, Juni 1899; Sturs¬ 
berg, November 1900). 

Grinjewitsch, der zu etwas abwei¬ 
chenden Resultaten gelangte, stützt sich 
aui 2000 Fälle, die er im Laufe der Zeit 

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86 


Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


mit Heroin behandelte. Er verabfolgte das 
Mittel nur an Erwachsene (der jüngste Pa¬ 
tient war 18 Jahre, der älteste 94 Jahre 
alt) in Pulverform ä 0,0025—0,01, durch¬ 
schnittlich ä 0,005 pro Dosis. Alle ver¬ 
trugen das Heroin sehr gut; selbst bei 
einem 94jährigen Greis, der es (3 mal 
täglich ä 0,005) zwei Wochen lang ge¬ 
brauchte, traten keine unangenehmen Sym¬ 
ptome auf. In 40 Fällen jedoch consta- 
tirte Verfasser als Nebenwirkung Uebel- 
keit und bisweilen auch ^Schwindelgefühl. 
Die Wirkung des Mittels trat nach 10 bis 
15 Minuten ein. Gewöhnung findet nicht 
so leicht und nicht so schnell statt. So 
nahmen einige Phthisiker mit geringen 
Unterbrechungen bereits drei Jahre das 
Heroin zu sich, ohne dass man die Dose 
zu erhöhen brauchte. Lässt die Wirkung 
nach, so setzt man das Mittel für kurze 
Zeit aus. Die dann gereichten üblichen 
Gaben äussern sich wieder in normaler 
Weise. Einen krankhaften Hang zum He¬ 
roin, wie er z. B. beim Morphium besteht, 
hat Grinjewitsch nie beobachtet. 

Im Vordergründe steht die (von Ros in 
bei seinen Patienten meist vermisste) Hu¬ 
sten mildernde Eigenschaft des Heroins. 
Oft wurde der Husten schon nach einer 
Einzelgabe coupirt, während das früher zu 
gleichem Zweck verabfolgte Morphium 
(ä 0,02 pro dosi) diesen Effect niemals 
hervorbringen konnte. 

Das Heroin wurde in 700 Fällen von 
acuter Bronchitis angewendet, häufig mit 
geradezu frappantem Erfolg (nur in 1% 
war er geringer). Der quälende Husten 
hörte nach 15—20 Minuten vollkommen 
auf, die begleitende Athemnoth nahm ab. 
Die Wirkung hielt 12—24 Stunden an, so 
dass man meist zwei, zuweilen eine und 
nur selten drei Gaben zu verordnen 
brauchte. Bei der chronischen Bronchitis 
(78 Fälle) trat der Effect nicht so deutlich 
zu Tage; zweimal aber blieb er ganz aus. 
Besonders gut wirkt hier das Mittel zu Zeiten 
der Exacerbation. Im Allgemeinen wurde 
der Husten besser coupirt, alsnach Morphium. 

Bei der Lungentuberkulose (60 Fälle 
aller Stadien) zeigte sich die hustmildernde 
Eigenschaft sehr deutlich. Fünfmal jedoch 
war die Wirkung gering, dreimal fehlte 
sie ganz. Oft wurden auch die Nachtschweisse 
coupirt. Das Mittel reichte Verfasser meist 
nur zur Nacht. Einen Einfluss auf den Cir- 
culations- und Digestionsapparat vermochte 
er nicht zu constatiren. 

Bei der katarrhalischen Form der In¬ 
fluenza (52 Fälle) wirkte das Heroin, wie 
bei der acuten Bronchitis. 


Gegen allerlei gastrische und enteri- 
tische Schmerzen wirkte das Mittel 16 mal 
nur wenig, in 19 Fällen aber gar nicht, 
während Morphium oder Codein die Be¬ 
schwerden beseitigte. 

Bei Laryngitis (26 Fälle) trat vor allem 
die hustmildernde Eigenschaft zu Tage. 
Das Gefühl von Brennen, Jucken und 
Trockensein nahm zusehends ab. 

In 17 Fällen von Emphysem liess der 
Husten meist deutlich nach. Die Athem¬ 
noth wurde, die hochgradigen Fälle aus¬ 
genommen, recht günstig beeinflusst. Eine 
gewisse Vorsicht ist jedoch bei erschwerter 
Expectoration geboten. Das gilt übrigens 
nicht nur vom Emphysem, sondern von 
allen Erkrankungen der Respirationswege, 
bei denen viel Sputum gebildet wird. Das 
Heroin kann, da es den Husten coupirt zu 
einer Eindickung des Secrets führen; aus 
diesem Grunde hält Verfasser das Mittel 
für contraindicirt bei reichlicher Sputum¬ 
ausscheidung, namentlich wenn es sich um 
entkräftete oder bewusstlose Patienten 
handelt. 

Bei der croupösen Pneumonie (12 Fälle) 
wurde das Heroin nur im Beginn gereicht. 
Der Husten nahm ab, desgleichen die 
Athemnoth. Die Schmerzen, Stiche und 
das Gefühl von Schwere verringerten sich 
ganz erheblich. Bei Stauungsbronchitiden 
infolge von incompensirten Herzfehlern 
(8 Fälle) erzielte man 6 mal geringen, 2 mal 
gar keinen Effect, Gut wirkte hier jedoch 
die gleichzeitige Darreichung von Digitalis, 
jedenfalls viel besser, als die Verabfolgung 
jedes Mittels für sich allein. 

Günstige Resultate bezüglich des Hu¬ 
stens und der Athemnoth constatirte man 
bei Pleuritis exsudativa (7 Fälle), während 
die Schmerzen bei Ischias durch Heroin 
nicht bekämpft wurden. 

Gute Erfolge erzielte man ferner bei 
cardialer und urämischer Athemnoth, 
Bronchialasthma, sowie Oophoritis; nega¬ 
tive dagegen bei Carcinom und Magen¬ 
geschwür. 

Einen Einfluss aufs Herz hat das Mittel, 
welches sogar in hohem Alter gut ver¬ 
tragen wurde, nie geäussert. Als Analge- 
ticum wirkt das Heroin (infolge einer Ab¬ 
nahme der Excursion des Thorax) viel 
schwächer und inconstanter als Morphium 
oder Codein. Ganz hervorragend ist neben 
seinen hustenlindernden Eigenschaften die 
Wirkung auf die durch Erkrankung der 
Respirationswege bedingte Athemnoth 
(Rosin hat sie bei seinen Patienten nicht 
constatiren können). M. Urstein (Berlin). 

Wratschebnaja Gazieta, 1902 No. 5. 


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Original fro-m 

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Februar 


87 


Die Therapie drr 


Bei der Behandlung des Keuchhustens 
durch Formalindämpfe lässt J e i d (k 
(Hlinsko) die Kinder in ihrer Wohnung 
die Formalindämpfe einathmen, und nach 
Entfernung der Patienten wird die Woh¬ 
nung mit verstärkter Dosis nochmals des- 
inficirt. Das Verdampfen des Formalins 
geschieht womöglich mittelst einerFormalin- 
lampe, da dieselbe regulirbar ist, doch 
kann dies auch durch Auflegung einer 
Pastille auf eine warme Platte ersetzt wer¬ 
den, denn gewöhnlich genügt auf 20 cnv* 
Raum eine langsam verdampfende Pastille. 
Der Aufenthalt im Zimmer dauert 15 bis 
30 Minuten. Länger zu verweilen ist un¬ 
nütz, weil bei unvollständigem Erfolge den 
nächsten Tag die Inhalation wiederholt 
werden kann. Ausser einer anfänglichen 
Reizung der Conjunctiva und eines Husten¬ 
reizes im Kehlkopfe wären keine anderen 
Symptome zu verzeichnen. Manchmal 
schlafen die Kinder nach der Inhalation ein. 

Auf Grund seiner Erfahrungen nun, die 
Verfasser mit dieser Behandlungsmethode 
gesammelt — in allen Fällen schwand der 
Husten in wenigen Tagen — glaubt er be¬ 
haupten zu können: 

1. Durch die Einwirkung einer nöthigen 
Menge von Formalindämpfen ist es mög¬ 
lich, die ursächlichen Vermittler des Keuch¬ 
hustens zu vernichten, und zwar sowohl 
diejenigen, welche sich auf den Schleim¬ 
häuten der Athmungsorgane, als auch die, 
welche sich in der Umgebung des Kranken 
befinden. Auf diese Art ist es möglich, 
die Krankheit zum Stillstände zu bringen 
und weitere Infection zu verhüten. 

2. In Anbetracht dessen, dass schon die 
Uebersiedelung des Kranken bei Keuch¬ 
husten für heilwirkend angesehen wird, ist 
es möglich, dass schon die alleinige Des- 
infection der Wohnung zur Heilung des 
Keuchhustens genügt. 

3. Nach den Erfahrungen des Verfassers 

verdient eine zeitweise vorgenommene Des- 
infection von Schulen, Krankenhäusern, 
Kirchen u. s. w. eine besondere Berück¬ 
sichtigung. Stock (Skalsko). 

(C^sopis ceskych lökarii 1901, No. 37.) 

Bislang theilten wohl die Internisten mit 
den Chirurgen die Anschauung von H. Kehr 
und Kraus dass man bei Krebs des Ductus 
choledochus von einem operativen Ein¬ 
griff lieber Abstand nehmen solle, da man 
Angesichts des mangelhaften Erfolges dabei 
höchstens die Gallensteinchirurgie in Miss¬ 
kredit bringen könne. Nach der jüngsten 
Publikation Kehr’s hat man vielleicht ein 

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(u r-nwart 19C3 


gewisses Recht, diese Anschauungen etwa 
zu Gunsten des chirurgischen Eingriffs zu 
modificiren. Kehr theilt da nämlich einen 
Fall mit, der ihm von den behandelnden 
Aerzten mit der Diagnose Carcinomver- 
schluss des Ductus choledochus überwiesen 
war. Es handelte sich dabei um einen 
53jährigen Herrn bei dem etwa 3 Monate 
lang andauernder Ikterus, grosse pralle, 
leicht druckempfindliche Gallenblase, ver- 
grösserte Leber, und beträchtlicher Ge¬ 
wichtsverlust zu constatiren war. Kehr 
operirte und fand ausser einem hasel¬ 
nussgrossen Stein im Ductus cysticus, 
einen runden sehr harten kleinen Tumor, 
der an der Einmündungsstelle des Duc¬ 
tus cysticus ringförmig im Ductus chole¬ 
dochus sass und dessen Lumen völlig 
verlegte. Kehr resecirte das erkrankte 
Stück des Ductus choledochus mitsammt 
der Gallenblase und implantirte den aufdiese 
Weise verkürzten Ductus hepaticus direkt 
in das Duodenum. Die Operation dauerte 
I 1 /? Stunden ohne Störung, und der Patient 
wurde nach ca. 5 Wochen als geheilt ent¬ 
lassen ! 

Damit ist zum ersten Mal die Resection 
eines krebsigen Ductus choledochus aus¬ 
geführt, und zwar mit sehr schönem Er¬ 
folge. Um freilich zu entscheiden, ob 
damit ein dauernder Erfolg erzielt ist, muss 
man die Nachrichten abwarten, die nach 
3 Jahren über den Operirten verlauten 
werden. Aber wenn auch kein Dauer¬ 
erfolg erzielt worden ist, so ist dem Kranken, 
der sonst einem baldigen sicheren Tode 
verfallen gewesen wäre, doch sicher 
wesentlich damit genützt worden. 

Begreiflicherweise fasstK e h r, Angesichts 
dieser ersten ermuthigenden Erfolge, auch 
sofort den Entschluss, von nun ab in jedem 
Fall von Carcinom des Ductus choledochus 
oder Carcinom des Pankreaskopfes die 
Radikaloperation zu wagen. Dabei stellt 
er die Forderung auf, dass man bei chro¬ 
nischem Ikterus, der auf eine Verstopfung 
des Choledochus hindeutet, spätestens 3 
Monate nach Beginn des Ikterus operiren 
soll, besonders dann, wenn die Gallenblase 
als prall gefüllter Tumor die Bauchdecke 
hervorwölbt, sowie Kachexie und hoch¬ 
gradiger Kräfteverfall eintritt. Wesentlich 
ist dabei, dass die Operation schnell aus¬ 
geführt wird und womöglich nicht länger 
als eine Stunde dauert. 

Ueber die Technik der Operation ist 
das Original nachzusehen. 

F. Umber (Berlin). 

(Münch, med. Wochensohr. 1903, No. 3.) 

Original ffom 

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88 


Die Therapie 8er fiepen wart 1903. 


Februar 


Das gleichzeitige Auftreten weisslicher, 
fibrinhaltiger Membranen und des Pseudo¬ 
diphtheriebacillus bei acuter Mittelohrent¬ 
zündung konnte Schilling beobach¬ 
ten. Im weiteren Verlaufe wurde die reine 
Eiterung vorherschend und damit traten 
allmählich an Stelle der Pseudodiphterie- 
bacillen Coccen. Während das gleich¬ 
zeitige Auftreten echter Diphteriebacillen 
und fibrinöser Membranen einige Male im 
Mittelohr nachgewiesen ist, steht diese 
Beobachtung wohl vereinzelt da, und lässt 
die Annahme zu, dass auch der Pseudo- 
dyphteriebacilles diphtheritische Mem¬ 
branen zu bilden im Stande ist. 

F. Alexander (Frankfurt a. M.). 

(Monatsschrift für Ohrenheilkunde 1902, No. 10*. 

Ferreri’s Methode der Behandlung 
frischer Otitis mit Sauerstoff l ) benutzte 
Kutvirt (Prag) in 48 Fällen von ver¬ 
schiedensten Ohrenkrankheiten mit gutem 
Erfolge. Die Erfolge in acuten Fällen 
können nicht als massgebend angesehen 
werden, denn durch andere Behandlung 
können auch gute Erfolge erzielt werden, 
entscheidend sind die chronischen Fälle. 
Von diesen bespricht Verfasser eine Com- 
plication mit einem Polypen (Ausfluss seit 
Kinderjahren), der vor 3 Jahren extrahirt 
recidivirte, nach zweimonatlicher Behand¬ 
lung mit Sauerstoff — nach wiederholter 
Extraction — Heilung. In einem Falle von 
Diabetes (6, 7% Zucker), in welchem eine 
Affection des Warzenfortsatzes vorhanden 
war und eine Operation in Betracht des 
Gesammtzustandes (Tbc.) nicht angezeigt 
war, wichen die Schmerzen schon am 
4. Tage, der Ausfluss verringerte sich, so 
dass der Kranke nach 3 Wochen relativ 
geheilt entlassen werden konnte. In Fällen 
von chronischen Katarrhen der Trommel¬ 
höhle und von Sclerose, die mit Meniere- 
schen Symptomen complicirt waren, ver¬ 
schwanden der Schwindel und das Er¬ 
brechen fast sofort, die Geräusche ver¬ 
minderten sich, ja in etlichen Fällen sogar 
wurde auch das Gehör gebessert. 

Obwohl man sich aus der Gesammtzahl 
der so Behandelten ein schliessliches Ur- 

Der Sauerstoff wird aus eisernen cylindrischen 
Bomben (zu beziehen von der Firma El kan, Char¬ 
lottenburg bei Berlin) unter regulirtem Druck auf 
eine halbe Atmosphäre, durch ein Kautschuckrohr in 
den Katheter und weiter durch die Tuba Eustachii 
in die Trommelhöhle befördert. Dies geschieht bei 
chronischen Katarrhen und Otitiden mit kleinen 
Ocffnungen. Bei grösseren Trommclfelldefccten kann 
der Sauerstoff auch direkt durch den äusseren Ce- I 
l.örgang eingelassen werden. I 


theil noch nicht bilden kann, ist doch so 
viel gewiss, dass in allen Fällen den 
Kranken eine Erleichterung verschafft 
wurde, und in etlichen Fällen von eitern¬ 
den chronischen Otitiden auch Heilung 
erzielt wurde. In acuten Fällen immer 
Heilung. Ein Nachtheil dieser Behandlungs¬ 
methode ist der verhältnissmässig hohe 
Preis des Gases. Aus diesem Grunde, 
sowie auch, weil die Abfertigung ähn¬ 
licher Fälle etwas zeitraubend ist, ist diese 
Behandlungsmethode besonders in stark 
besuchten Ambulatorien etwas schwerer 
durchführbar. 

Stock (Skalsko). 

(Casopis fieskyeh lekaiTi 1902: No. 44.) 

G Ch. Aue bestätigt die guten Erfah¬ 
rungen, welche man mit subcut&nen Pa- 
rafflninjectionen bei der Behandlung ver¬ 
schiedenartiger Defectbildungen gemacht 
hat (vergl. d. Zeitschr. 1902, S. 420). Nach¬ 
dem Verfasser sich durch zahlreiche Ver¬ 
suche an Thieren von der völligen Un¬ 
schädlichkeit dieses Verfahrens überzeugt 
hat, wandte er dasselbe bei einer 44jähri- 
gen Frau an, die bereits seit zwanzig 
Jahren eine Sattelnase hatte. Das Paraffin, 
welches bei 42—43° schmilzt, wird erst im 
Sandbad V 2 Stunde lang b£i 200° sterilisirt 
und darauf mit einer Stein’schen oder 
auch Pravaz’schen Nadel in die bereits 
vorgemerkte Stelle injicirt. Die Injection 
muss möglichst schnell von statten gehen, 
da das Paraffin leicht erstarrt. Meist tritt 
nach der Injection eine heftige Reaction 
ein: in Verfassers Fall röthete sich die 
Haut der Nase und wurde ödematös. Das 
Oedem verbreitete sich bald auch über die 
Stirn, die Augenlider und Wangen. Die 
Patientin empfand einen starken Druck und 
ein heftiges Brennen im ganzen Gesicht. 
Vom dritten Tage an begannen die Be¬ 
schwerden nachzulassen, um am Ende der 
ersten Woche völlig zu verschwinden. Nur 
die Röthung der Haut hielt noch zwei 
Wochen an. Nachdem noch 2 g Paraffin 
injicirt wurden, war die Deformität, wie 
aus den beigegebenen Abbildungen ersicht¬ 
lich ist, vollständig verschwunden, die Nase 
hatte die frühere Form angenommen. Das 
Schicksal des injicirten Paraffins will Ver¬ 
fasser noch genau verfolgen, vor der Hand 
dürften die von Iuckuff gemachten An¬ 
gaben genügen, wonach das Paraffin zu¬ 
nächst eine reactive Entzündung hervor¬ 
ruft und später von einem ganzen Netz 
von Bindegewebsfasern durchsetzt wird. 

N. Grünstein (Riga), 
(kusski Wratsch 1902, No. 34.) 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


89 


In einer kürzlich erschienenen Mono¬ 
graphie ober die syphilitische Familie 
und ihre Descendenz kommt der bekannte 
russische Syphilidologe Professor W. M. 
Tarnowsky zu nachstehenden Schluss¬ 
folgerungen : 

1. In der Stadt wird die Syphilis meist 
von den Männern in die Familie importirt, 
die in der Regel vor der Ehe von 
Prostituirten inficirt werden 

2. Die syphilitische Heredität tritt in 

dreierlei Weise zum Vorschein: einmal in 
Form von ausgeprägter Lues hereditaria, 
dann in Form von Dystrophien verschie¬ 
denster Art und schliesslich in Form von ' 
hereditärer Immunität. j 

3. In allen diesen Formen kann die 
syphilitische Heredität bei aquirirter Lues i 
der Eltern (der I. Generation) auftreten. 

4. Der hereditäre Einfluss der erwor¬ 
benen Lues ist am stärksten bei der zweiten 1 
Generation ausgesprochen und hat wieder¬ 
holte Aborte, Todtgeburten, Kinder, die ! 
im frühesten Lebensalter zu Grunde gehen, 
oder mit Erscheinungen von hereditärer 
Lues bezw. verschiedenen sowohl anato¬ 
mischen, wie auch functioneilen Dystrophien 
zur Welt kommen, zur Folge. 

5. Die hereditäre Immunität der zweiten 
Generation (Profeta’sches Gesetz) ist, von 
wenigen Ausnahmen abgesehen, nur eine 
temporäre. 

6. Der Einfluss der syphilitischen Here¬ 
dität auf die dritte Generation ist bedeutend 
abgeschwächt, so dass die Zahl der Ab¬ 
orte u. s. w. beträchtlich geringer ist, die 
Erscheinungen der hereditären Lues voll¬ 
ständig fehlen und Dystrophien sehr selten 
und von geringfügiger Natur sind. 

7. Die aquirirte Lues der ersten Gene¬ 
ration wird auf die dritte Generation nicht 
übertragen, wenigstens nicht in Gestalt der 
uns bekannten Form der hereditären Lues. 
Ebenso wenig wird auf die dritte Gene¬ 
ration die hereditäre Immunität gegen Lues 
übertragen. 

8. Eltern, die während der Conception 
bezw. der Gravidität deutliche Erschei¬ 
nungen der Lues hereditaria tarda auf¬ 
weisen, übertragen auf ihre Kinder keine 
Syphilis. 

9. Die hereditäre Uebertragung der 
Syphilis von Grosseltern auf Enkel, ohne 
dass die Eltern irgend welche Symptome 
von Lues aufwiesen, ist nicht beobachtet 
worden und kann auch schwerlich zuge¬ 
geben werden. 

10. Die syphilitische Heredität der zweiten 
Generation äussert sich auf die dritte aus¬ 
schliesslich in Form von Dystrophien. 

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11. Die dystrophirende Wirkung der 
Syphilis, d. h. der ungünstige Einfluss der¬ 
selben auf die Lebensenergie des erkrankten 
Organismen geht meist Hand in Hand mit 
der Zu- bezw. Abnahme der Krankheits¬ 
symptome sowohl bei der aquirtrten (I. Ge¬ 
neration) als auch bei der hereditären 
(II. Generation) Form der Syphilis. 

12. Der dystrophirende Einfluss der 
II. Generation entspricht in der Regel dem 
Degenerationszustande derselben, d. h. je 
zahlreicher und schwerer die Degerations- 
erscheinungen der zweiten Generation sind, 
um so zahlreicher und schwerer sind die 
Dystrophien der dritten. 

13. Die Heilung des syphilitisch infi- 
cirten Organismus ist nicht identisch mit 
der Restitution seiner Lebens- und Pro¬ 
kreationsenergie. 

14. Die von Luetikern abstammende 
zweite Generation, bei der weder Zeichen 
von hereditärer Lues noch Dystrophien 
vorhanden sind, zeugt in der Regel gesunde 
Nachkommenschaft, vorausgesetzt, dass sie 
sonst hereditär nicht belastet ist. 

15. Dystrophien der zweiten Generation 
werden als solche auf die dritte Generation 
nicht übertragen. 

16. Man beobachtet hereditäre Lues der 
dritten Generation, wenn ein Mitglied der 
zweiten Syphilis aquirirt. Diese Doppel- 
infection — die hereditäre und aquirirte — 
die Verfasser als Syphilis binaria be¬ 
zeichnet, kommt nach Tarnowsky’s An¬ 
gaben besonders häufig auf dem Lande 
vor, wird aber nicht selten auch in der 
Stadt beobachtet. 

17. Die dritte Generation kann auch Er¬ 
scheinungen von hereditärer Lues aufweisen 
in jenen seltenen Fällen, wo Mitglieder der 
zweiten Generation mit Personen in die 
Ehe treten, die Lues aquirirt haben. 

18. Die doppelte Syphilis weist einige 
Formen auf, die in ihrem Verlaufe sowohl 
von der aquirirten als auch von der heredi¬ 
tären Lues abweichen: die Syphilis binaria 
abortiva, levis et atypica. In den übrigen 
Fällen verläuft sie genau so, wie bei Per¬ 
sonen, die von gesunden Eltern abstammen. 

19. Die Syphilis binaria hat einen viel 
ungünstigeren Einfluss auf die dritte Gene¬ 
ration, als die aquirirte auf die zweite: die 
Zahl der Aborte, Todtgeburten u. s. w. ist 
erheblich vermehrt, desgleichen weist die 
dritte Generation Zeichen von hereditärer 
Lues neben zahlreichen und schweren 
Dystrophien auf. 

20. Die sowohl anatomischen, als auch 
functioneilen Dystrophien der Geschlechts¬ 
organe der zweiten und dritten Generation 

12 

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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



90 


Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


von Luetikern ist für den geringen Zuwachs 
der syphilitischen Descendenz verantwort¬ 
lich zu machen. 

21. Die Syphilis binaria ist eine der 
Hauptursachen der raschen Degeneration 
bei endemischer Syphilis (auf dem Lande, 
in Dörfern u. s. w.) 

22. Die Ansicht, dass die Lues mit der 

DurchseuchungderBevölkerungan Intensität 
abnimmt, ist nicht stichhaltig. 

23. Die Dystrophien der dritten Gene¬ 
ration sind weder an und für sich noch in 
ihrer Gruppirung für die luetische Here¬ 
dität charakteristisch. 

24. Der ungünstige hereditäre Einfluss 
der aquirirten Lues der ersten Generation 
ist geringer bei der zweiten, noch geringer 
bei der dritten und fehlt vollständig bei 
der vierten. 

25. Für eine richtige Prognose und 
Therapie der Lues ist es von grosser Be¬ 
deutung, sich wenigstens über den Gesund¬ 
heitszustand der Eltern zu informiren. 

26. Die Syphilis ist zweifelsohne von 
weit grösserer Gefahr für die Descendenz, 
als für das Individuum selbst. 

Der Abhandlung ist unter anderem eine 
Tabelle über 30 syphilitische Familien bei¬ 
gelegt. N. Grünstein (Riga). 

(Die syphilitische Familie und ihre Descendenz, 
Petersburg 1902, Rick er). 

Zur Erkennung der fötalen Syphilis 
bietet nach R. Hecker makroskopisch die 
Milz die meisten Anhaltspunkte. In zweifel¬ 
haften Fällen führt die mikroskopische Unter¬ 
suchung der Niere am ehesten zu einem 
Resultat. Denn sie widersteht am längsten 
der Maceration und ist in 90°/ 0 der Fälle ver¬ 
ändert; falls eine makroskopische sichere 
Diagnose auf fötale Syphilis unmöglich ist, 
untersuche man mikroskopisch auf Verän¬ 
derungen an den Gefässen, dem Bindege¬ 
webe, den Epithelien der Nieren und auf 
Entwicklungsstörungen. Erst wenn diese 
Untersuchungen negativ ausfallen, soll man 
die übrigen Organe vornehmen, und zwar 
in der Reihenfolge: Milz, Thymus, Pankreas, 
Lunge und Leber. P. Strassmann. 

(Deutsche med. Wochenschr. No 45 u. 46.) 

Wir haben vor Kurzem über die günsti¬ 
gen Erfolge berichtet (s. diese Zeitschr. 
1902, S. 420). die mit der Gersuny’schen 
Vaseline-Injeetion von mehreren Autoren 
erzielt worden sind. Neuerdings berichtet 
Topolanski über sehr befriedigende 
Resultate dieser Methode bei Anomalieen 
der Augenlider. Er hält dieses Verfahren 
bei Entropium und Ektropium, bei Trichiasis 

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und bei Verwachsung des Lides mit der 
knöchernen Unterlage für das einfachste 
und für den praktischen Arzt brauchbarste. 

Leo Schwarz (Prag). 

(Wiener med. Wochenschr. 1902 No. 42.) 

Die glänzenden Arbeiten des russischen 
Physiologen Pawlow und seiner Schüler 
über die Thätigkeit der Verdauungs- 
driisen, die uns eine ganze Anzahl neuer 
Thatsachen erschlossen haben, haben 
unsere Vorstellungen über den Mechanis¬ 
mus der Verdauung ausserordentlich ge¬ 
fördert und z. Th. in ganz neue Bahnen 
gelenkt. Die Erfahrungen Pawlow’s, die 
er bekanntlich im Jahre 1898 in seiner be¬ 
rühmten Monographie „Die Arbeit der 
Verdauungsdrüsen“ zusammenfassend nie¬ 
dergelegt hat, haben uns schon damals in 
ungeahnter Weise die mächtige Herrschaft 
nervöser Regulirungen über alle Ver¬ 
dauungsvorgänge offenbart und sind seit¬ 
dem durch seine Schüler nach den ver¬ 
schiedensten Richtungen hin bestätigt und 
weiter ausgebaut worden. Der Vortrag 
des Heidelberger Physiologen O. Cohn- 
heim über die Eindrücke, die er selbst in 
den Arbeitsstätten Pawlow’s aufge¬ 
nommen hat, geben uns von der Art und 
den Erfolgen der dort eifrig betriebenen 
Arbeit ein anschauliches Bild, das wir 
schon deshalb gerne hinnehmen, da die 
einschlägige Litteratur vielfach nur in 
russischer Sprache niedergelegt ist. — 
Die Arbeitsstätte des grossen Petersburger 
Physiologen ist ein Beweis dafür, wie 
fruchtbringend die einseitige Vertiefung 
experimenteller Arbeit werden kann: Die 
ganze ihm unterstellte physiologische Ab¬ 
theilung des bekanntlich mit reichen Mitteln 
ausgestatteten kaiserlichen Instituts für ex¬ 
perimentelle Medicin ist nur für Versuche 
über die Innervation der Verdauung ein¬ 
gerichtet! Seine Stärke beruht in erster 
Linie auf der glänzenden Technik, mit der 
die dazu nothwendigen Thieroperationen 
ausgeführt werden, die Pawlow übrigens 
kürzlich selber im ersten Jahrgang der Er¬ 
gebnisse der Physiologie beschrieben hat. 
Die Versuchsthiere sind ausschliesslich 
Hunde von 25—30 kg Gewicht. 

Cohnheim erzählt uns zuerst von der 
Gewinnung des „psychischen Magensaftes“. 
Dem Studium desselben dienen Hunde, 
die eine Magenfistel haben und denen zu¬ 
gleich der Oesophagus durchschnitten ist. 
Wenn man die Magenschleimhaut eines 
Hundes durch die Magenfistel hindurch 
mechanisch reizt, so tritt keinerlei Magen- 
secretion ein. Giebt man dem Hund zu 


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Februar 


9t 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


fressen, so fällt zwar das Futter durch die ; Dieselbe wird aber nur dann secernirt, 
Speiseröhrenfistel wieder heraus, aber der j wenn Trypsin in den Darmkanal eintritt. 
Magen beginnt nach 5^2 Minuten reich- j Ist das nicht der Fall, so ist der Darmsaft 
liehe Mengen eines stark sauren (0,5—06o/ 0 ! kinasefrei! Das fettspaltende Ferment des 
HCl-haltigen) Magensaftes zu produciren. Pancreassaftes wird in ganz ähnlicher Weise 
Das verschlungene Futter fällt damit durch j durch Galle activirt. Nur das Ptyalin des 
die Fistel immer wieder von neuem in i Pancreassaftes bedarf anscheinend einer 
den Fressnapf, und kann unter Umständen I derartigen Activirung nicht. Eine bisher 
Stunden lang denselben Kreislauf nehmen, j unaufgeklärte Erscheinung ist die, dass der 
Sogar das blosse Vorhalten des Futters Pancreassaft Ptyalin und Steapsin immer 
genügt, um die Magensecretion in Gang zu j in gleicher Form enthält, Trypsin dagegen 
setzen. Merkt der Hund hingegen, dass j als Proferment, wenn die Nahrung sich 
ihm das Futter nur gezeigt wird, so ge- j aus Brod, Milch oder Kartoffeln zusammen- 
nügt diese Erkenntniss bereits, die Secretion j setzt, dagegen als fertiges Trypsin bei 
zu hemmen. „Das erfolgreiche Necken“ der Fleischzufuhr. 

Versuchshunde, durch scheinbar unbeab- Der Eintritt der Magensalzsäure in das 
sichtigtes Zerschneiden und Präpariren des Duodenum ist der auslösende Reiz für die 

Futters am Nebentisch ist, wie O. Cohn- Secretion des Pancreassaftes, der Eintritt 

heim berichtet, eine dort besonders ge- von Pepton und Fett in das Duodenum ist 
schickt geübte Kunst. Auf diese Weise das Reizmoment für die Secretion der 
gelingt es auch, diesen reinsten aller bis- Galle; eine psychische Einwirkung auf die 

her dargestellten Magensaft in grossen Galle, wie wir sie oben auf die Magen- 

Mengen zu gewinnen. 4 grosse Hunde secretion kennen lernten, existirt nicht, 
fabriciren im Laufe eines Vormittags nicht Von Bedeutung sind auch die Beob- 

weniger als 6—8 Liter Magensaft, welcher achtungen Pawlow’s über Hemmungsvor- 
auch an Aerzte und Apotheker abgegeben gänge in der Magenverdauung vom Duo¬ 
wird und therapeutisch an Stelle von Salz- denum her. Man wusste bereits, dass 
säure in Russland vielfach Verwendung gleichzeitiger Genuss von Fett neben Ei¬ 
findet. weiss die Magensaftsecretion verlangsamt; 

Erstaunliche Resultate haben auch die die jüngsten Studien Pawlow’s haben 
Studien am sogenannten kleinen Magen uns die Erklärung dafür gegeben: Berüh- 
ergeben, den Pawlow bei Hunden operativ rung der Duodenalschleimhaut mit Fett 
anlegt. Am Fundus des Magens wird hemmt den Akt der Magenverdauung auf 
dabei ein künstlicher Blindsack geschaffen, reflectorischem Wege, 
der mit dem Magen nur noch in nervöser Geradezu erstaunlich aber sind die 

Verbindung steht. Die Secretionsvorgänge Versuchsergebnisse über die Innervation 
laufen in ihm parallel mit denjenigen im der Speicheldrüsen: Ihr Secret setzt 
Magen ab. Merkwürdiger Weise wird nun sich zusammen aus dem dünnen Chorda¬ 
ein nach Menge und Fermentgehalt ganz Speichel — Pawlow nennt ihn seiner 
verschiedenartiger Magensaft abgesondert, Function halber Verdünnungsspeichel — 
je nachdem man dem Thiere Milch, Fleisch und aus dem dicken Sympathicusspeichel 
oder Brod zu fressen giebt. Ja, es genügt — dem Schmier- oder Gleitspeichel. Flösst 
sogar, die oben beschriebene Scheinfütte¬ 
rung, um mit diesen Nahrungsmitteln ganz 
verschiedenartigen Saft zu erzielen. 

Auch die krankhafte Magensecretion ist 
in den Untersuchungsbereich hereingezogen 
worden. Im Zustand acuten Magenkatarrhs 
erzeugt die Schleimhaut einen alkalischen 
Schleim statt des sauren Magensaftes. Bei 
der Heilung tritt erst ein Stadium der 
Hypacidität dann der Hyperacidität ein. 

Noch interessanter sind die Ergebnisse 
der Studien über die Darmverdauung. Das 
Trypsin ist im Paucreassaft in Form einer 
Vorstufe, des Zymogens, enthalten. Der 
Darmsaft nun liefert einen Körper, der aus 
dieser Trypsin Vorstufe das freie Trypsin ja gewohnt, die Wunde zu belecken! 
abspaltet und somit wirksam macht. Diesen Dieser Speichel fliesst aber schon, wenn 
Körper nennt Pawlow Enterokinase. man den Paquelin vor den Augen des 


man einem Hund Salzsäure ein, so secernirt 
er massenhaft Verdünnungsspeichel. Macht 
man die Salzsäure für den Hund durch 
Schwarzfärbung kenntlich, so verursacht 
dann sogar schon das Hinhalten einer be¬ 
liebigen schwarzen Flüssigkeit einem solchen 
Hunde Speichelfluss und zwar Chorda¬ 
speichelfluss! Aehnlich kann man durch 
blosses Vorzeigen specifischer Reizmittel 
für den Sympathicusspeichel — z. B. von 
trocknem Brod — die isolirte Secretion 
desselben anregen! 

Wenn man einem Hunde eine kleine 
Verletzung mit dem Paquelin setzt, so 
fliesst sofort Parotisspeichel, denn er ist 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Versuchshundes anheizt: so fein ist der 
reflectorische Innervationsvorgang der 
Drüse. 

Wir haben etwas länger bei diesem 
interessanten Bericht Cohnheim’s über 
die Arbeit und die Arbeitsstätten des 
grossen russischen Physiologen verweilt, 
weil uns dessen Scharfsinn und vollendete 
Operationstechnik einen fein abgestimmten j 
Zusammenklang der ganzen Verdauungs- | 


thätigkeit durch Vermittelung reflectori- 
scher Innervationsvorgänge zeigt, der fast 
ans Unglaubliche grenzt. Diese auf exacten 
Experimenten begründeten Vorstellungen 
sind aber für die Pathologie der Ver¬ 
dauung grundlegend und müssen es 
damit auch für therapeutische Ueber- 
legungen des Internisten werden. 

F. Umber (Berlin). 

(Münch, med. Wochenschr. 1902, No. 52.) 


Therapeutische Casuistik. 


Zu der Mittheilung G. Klemperer’s „Lieber Fieber und Schüttelfröste 
mit Leberschwellung etc.“, d. Z. S. 41, Heft 1. 

Von Prol. C. A. Ewald-Berlin. 


Sehr geehrter Herr College! 

Der von Ihnen in der letzten Nummer 
der Therapie der Gegenwart mitgetheilte 
Fall von „ulcerirtenLebergummata“ erinnert 
mich an eine einschlägige Beobachtung, 
die dadurch erwähnenswerth ist, dass in 
dem betreffenden Fall die Autopsie der 
Leber in vivo vorgenommen wurde. 

Es handelte sich um einen 44jährigen 
Herrn, der längere Zeit in Mittel- und Süd¬ 
amerika, später in Südafrika gelebt hatte. 
Anamnestisch wurde eine Jahre zurück 
liegende syphilitische Infection zugestanden 
und eine längere Erkrankung an Malaria, 
die aber auch schon einige Jahre zurück 
lag, angegeben. Der Herr war wegen eines 
hartnäckigen Fiebers, Leberschwellung und 
starkem Kräfteverfall nach Europa herüber¬ 
gekommen und suchte mich im Herbst 1896 
hier auf. Es bestand ein intermittirendes 
mit Schüttelfrösten verbundenes Fieber, das 
aber nicht den regelmässigen Typus eines 
Wechselfiebers hatte, vielmehr ganz un¬ 
regelmässig verlief und wie ein Eiterfieber 
aussah. Starke Nachtschweisse belästigten 
und schwächten den Kranken in hohem 
Maasse. Er war stark abgemagert, appetit¬ 
los, fühlte sich matt und elend. Objectiv 
war eine Schwellung der Leber, die den 
Rippenbogen um etwa zwei Querfinger 
überragte, zu fühlen. In der Gegend der 
Gallenblase eine höckrige harte Hervor- 
ragung, die für die intumescirte Gallen¬ 
blase imponirte. Hier war auch bei Druck 
eine ausgesprochene Empfindlichkeit vor¬ 
handen. Die übrigen Organe waren ohne 
Abnormitäten, vor Allem die peripheren 
Lymphdrüsen und die Milz ohne nennens- 
werthe Vergrösserung. Eine geringe Schwel¬ 
lung wurde auf die frühere Syphilis resp. 
Malaria geschoben. In den Ausscheidungen 
nichts Besonderes. Kein Ascites, kein Icterus. 

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Es lag am nächsten, an einen Leber- 
abscess (oder mehrere) zu denken, der mit 
einer Schwellung der Gallenblase verbun¬ 
den war. Da aber mehrere sowohl vorn 
wie hinten ausgeführte Probepunctionen er¬ 
folglos waren — Chinin und andere Anti- 
pyretica blieben ohne jede Einwirkung auf 
den Zustand — und da der einzig greif¬ 
bare Anhaltspunkt der fragliche Gallen¬ 
blasentumor war, so nahm ich eine eitrige 
Cholecystitis mit Gallensteinen an und zog 
Herrn Collegen Sonnenburg zwecks eines 
operativen Eingriffs hinzu. Gegen eine 
maligne Neubildung sprach vor Allem der 
lange Bestand des Fiebers — obwohl sie 
ja auch mit positiver Sicherheit nicht aus- 
zuschliessen war — gegen Syphilis der 
Umstand, dass der Patient mehrere anti¬ 
syphilitische Curen Vorjahren durchgemacht 
und seit der Zeit keine Zeichen von Sy¬ 
philis mehr gehabt hatte. 

Die Laparotomie ergab ein ganz un¬ 
erwartetes Resultat. Die Leber zeigte sich 
auf ihrer Oberfläche von fibrös schwieliger 
Entartung und dadurch in mehrere grosse 
Lappen abgeschnürt, deren einer, am vor¬ 
deren Rande des rechten Lappens gelegen, 
den Eindruck der geschwollenen und harten 
Gallenblase gemacht hatte. Mit einem Wort, 
eine Hepar lobatum, die offenbar auf syphi¬ 
litischer Basis entstanden war. Auch fan¬ 
den sich Adhäsionen mit den Nachbar¬ 
organen, besonders am Hilus V. Port. Nach 
Trennung derselben wurde die Bauchwunde 
geschlossen und nach Verheilung derselben 
eine antisyphilitische Behandlung eingeleitet 
(Schmiercur). Der weitere Verlauf war nun 
nicht so schnell und glatt wie in den 
von Ihnen mitgetheilten Fällen. Immerhin 
schwand das Fieber nach kurzer Zeit und 
die Leberschwellung nahm ab. Aber eine 
gewisse Empfindlichkeit in der Lebergegend 


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Februar 


93 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


und allerlei nervöse Symptome blieben 
noch lange bestehen, wie denn auch das 
Verhalten des Digestionstract noch manches 
zu wünschen übrig Hess. Der Patient be¬ 
suchte später Baden bei Zürich, nahm einen 
längeren Aufenthalt in der Schweiz, machte 
eine zweite Schmiercur durch, war dann 
einige Zeit in Wiesbaden, kurzum kam erst 
im Jahre 1899 so weit, dass er sich wieder 
im Vollbesitz seiner Kräfte fühlte und nach 
Afrika zurückgehen konnte. 

Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass 
auch in diesem Falle das Fieber des Pa¬ 
tienten syphilitischer Natur war. Der Um¬ 
stand. dass es unter der Einwirkung der 
specfischen Behandlung alsbald zurückging 
und dann nicht mehr wiederkehrte, ist Be¬ 
weis genug dafür. Dass in der That eine 
syphilitische Leberaffecdon vorlag, zeigte 
die directe Besichtigung bei der Laparo¬ 
tomie und wenn wir auch bei der immer¬ 
hin nach Lage der Dinge flüchtigen und 


nur auf einen kleinen Theil der vorliegen¬ 
den Leberoberfläche beschränkten Ocular- 
inspection ein Gumma nicht wahrgenommen 
haben, so ist bei der ausgedehnten peri- 
hepatidschen Entzündung das gleichzeitige 
, Bestehen von Gummata so gut wie sicher. 

Auffallender Weise wird in den mir 
l augenblicklich zur Hand befindlichen Spe- 
| cialwerken dieses Vorkommnisses gar keine 
I Erwähnung gethan. Dagegen hat C. Ger- 
1 hardt in seinem inhaltsreichen Vortrag 
1 „Ueber die Syphilis einiger innerer Or- 
i gane“ (Berliner klinische Wochenschrift 
1900, No. 46, S. 1046) auch das Fieber bei 
der Lebersyphilis „meist hectischen Charak- 
1 ters und mit Nachtschweissen verbunden“ 
| beschrieben und eine Darlegung der in 
i Betracht kommenden differential diagnosti- 
i sehen Momente gegeben. Der Schüttel- 
I fröste thut er allerdings keine Erwähnung. 
! Genehmigen Sie etc. 

Ewald. 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Bemerkungen über die Schädlichkeit der Borsäure. 

Von Professor Carl von Noorden -Frankfurt a. M. 


In der letzten Zeit sind von ver¬ 
schiedenen Seiten Mittheilungen über die 
schädliche Einwirkung der Borsäure auf 
Schleimhäute erfolgt. Eine kurze Be¬ 
merkung darüber findet sich schon in der 
Arbeit von C. Roese (Zeitschr. f. Hygiene, 
1901, Bd. 36, S. 161). Bald darauf be¬ 
schrieb Le Clerc das Auftreten von So- 
matitis nach Mundspülungei} mit 3.75 pro- 
centiger Borsäurelösung (Semaine medicale 
1903. pag. 48) Neuerdings tritt G. Merkel 
der Ansicht von der Unschädlichkeit der 
Borsäure sehr scharf entgegen und er¬ 
wähnt das Auftreten von Magen- und 
Darmkatarrhen, ferner von Erythemen nach 
ihrem Gebrauch (Münch, raed. Wochen¬ 
schrift 1903. No. 3). 

Die neuerdings sich häufenden Angaben 
über Schädigung der Schleimhäute durch 
Borsäure veranlassen mich, auf gewisse 
schon mehrere Jahre zurückliegende Er¬ 
fahrungen über Borsäure kurz zu berichten. 

Es war von mir auf meinen Kranken- j 
abtheilungen eingeführt worden, dassTuber- | 
kulöse, ferner Patienten mit Diphtherie, j 
Scharlach, Angina, Typhus und anderen , 
Infectionskrankheiten sich einer 3 l /a%'gen | 
Borsäure-Lösung als Mundwasser zu be- j 
dienen hatten. Nachdem die Verordnung | 
schon längere Zeit bestanden, ohne dass ; 


besondere Vorkommnisse zu meiner Kennt- 
niss gelangt wären, kamen auf der Ab¬ 
theilung für leichtere tuberkulöse Lungen¬ 
erkrankungen in kurzen Zwischenräumen 
mehrere Fälle von ausgesprochener, hefti¬ 
ger, diffuser Stomatitis vor (besonders 
Schwellung der Schleimhaut an Lippen 
und Zahnfleisch, Schwellung der Zungen¬ 
ränder, trübes Aussehen der Wangen¬ 
schleimhaut, Speichelfluss, Empfindlichkeit, 
hier und da auch oberflächliche Geschwür- 
chen). Während der Stomatitis benutzten 
die Patienten eine sehr dünne Lösung 
von Kali chloricum zum Mundspülen; 
dies brachte die Entzündung in 2 bis 3 
Tagen zum Verschwinden. Meine Ver- 
muthung, dass die Borsäure an dem Auf¬ 
treten der Mundentzündungen Schuld sei, 
erhielt dadurch eine Stütze, dass zwei Pa¬ 
tienten, sobald sie nach Abheilung der Sto¬ 
matitis wieder zu Borsäurespülungen über¬ 
gingen, schwerere Recidive bekamen. Na¬ 
türlich wurden nach diesen mir damals voll¬ 
kommen neuen Erfahrungen die Borsäure- 
Gargarismen abgeschafft, und damit ver¬ 
schwanden auch die Mundentzündungen 
sofort. Genaueres Nachfragen ergab, dass 
auch schon früher einzelne Kranke die 
Schwester ersucht hatten, sie möge ihnen 
das Mundspülwasser nicht so stark machen, 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 

da sie darnach eine dicke Zunge und ge- erwähnt: eine Krankenpflegerin nahm in 

schwollenes Zahnfleisch bekämen. Be- einem Anfall übler Laune 9 bis 10 g Boir- 

achtenswerth ist, dass die Mundentzündungen säure in einem Glas Wasser (ca. 200 ccm), 

immer nur bei einzelnen Kranken auftraten, Sie bekam darnach heftige Magenschmerzen 
während die meisten dadurch nicht ge- i und Durchfälle und behielt noch mindestens 
schädigt wurden. 6 Wochen lang einen starken Magen-Darm- 

Anhangsweise sei noch folgender Fall Katarrh, der ihre Kräfte sehr reducirte. 

Aus der Privatklinik von Dr. Karewski, Berlin. 

Zur Verwendung des Wasserstoffsuperoxydes 1 ) als Verbandmittel. 

Von Dr. Ernst Unger. 


Das Wasserstoffsuperoxyd fand seit j 
langer Zeit als Desodorans in der Praxis | 
Verwendung; zu anderen Zwecken, ins- j 
besondere als Desinficiens gebrauchte man I 
es seltener, weil dem bisherigen Präparate j 
mannigfache Nachtheile anhafteten. Erstens 
war es die leichte Zersetzlichkeit, die be¬ 
wirkte, dass das Präparat unwirksam wurde, 
und zweitens waren es Säuren (Salzsäure 
und Schwefelsäure), die von seiner Dar¬ 
stellung herrührten und bei seiner Ver¬ 
wendung nachtheilig wirkten. Durch 
Merck in Darmstadt wird nun seit zwei 
Jahren ein Hydrogen, peroxydatum purissi- 
mum, 30 Gewichtsprocente H 2 O 2 enthaltend, 
hergestellt. Die bisher in den Apotheken 
käufliche Lösung enthält meist kaum 3°/ 0 
H 2 O 2 . Durch v. Bruns und Honseil ist 
dieses neue Wasserstoffsuperoxyd speciell 
für chirurgische Zwecke geprüft und em¬ 
pfohlen worden. Wir haben mit Proben, 
die uns die Firma Merck zur Verfügung 
stellte, sowohl in der klinischen, wie poli¬ 
klinischen Praxis Nachprüfungen angestellt 
mit 1%. 30 / 0 . und 10%. Lösungen. Es 
mag hier bemerkt werden, dass man diese 
Lösungen nicht durch einen Kork ver- 
schliessen darf; es genügt, eine Kappe aus 
gewöhnlichem Papier oder Guttapercha¬ 
papier aufzusetzen. 

Vor Allem ist hervorzuheben, dass das 
Präparat vollkommen ungiftig ist; üble 
Nebenwirkungen (Ekzeme und Intoxicatio- 
nen) sind ausgeschlossen, eine Eigenschaft, 
die bei Personen mit empfindlicher Haut 
nicht zu unterschätzen ist. Die 1 %. und 
3%. Lösungen werden in Form feuchter 
Verbände verwandt. Bei oberflächlichen 
Lymphgefässentzündungen, bei Panaritien, 
insbesondere beim Erysipeloid leistet es 
ebenso gute Dienste wie essigsaure Thon¬ 
erde oder Sublimat, ohne die Haut wesent¬ 
lich zu verändern. Vor dem Alkohol hat 
es den Vorzug, die Haut nicht in gleicher 
Weise wie dieser auszutrocknen; für Ver¬ 
bände im Gesicht ist wichtig, dass das 
H 2 O 2 selbst völlig geruchlos ist. Bei ober¬ 

30% von Merk (Darmstadt). 


flächlichen, wie tiefen Ulcerationen be¬ 
wirkt das H 2 O 2 schon in 24 Stunden eine 
völlige Beseitigung des Geruches in oft 
überraschender Weise. Daher ist seine 
Anwendung auch bei jauchenden zerfallen¬ 
den Geschwülsten indicirt und wären Ver¬ 
suche, entzündliche Vorgänge im Uterus 
zu beeinflussen, wohl aussichtsvoll. Bei 
oberflächlichen Wunden ist die Secretion 
schon nach 2—3 Tagen beträchtlich ge¬ 
ringer; die Wunde nimmt ein trockenes, 
sauberes Aussehen an; der vorher zer¬ 
fallene, unterminirte Rand wird durch 
weisse Streifen gesunder Epidermis, die 
sich besonders im Beginn der Behandlung 
schnell entwickelt, ersetzt. Tuberkulöse 
Fisteln der Weichtheile werden mehrere 
Tage hindurch mit 10%. HgOs-Gaze feucht 
tamponirt; es erfolgt zunächst eine grössere 
Abscedirung, wobei die necrotischen Ge- 
websfetzen des Ganges abgestossen werden; 
sodann bilden sich gute Granulationen. 
Eine specifische Wirkung oder Heilung 
darf man nicht erwarten. 

In mehreren Fällen progredienter Phleg¬ 
monen der Extremitäten, sowie in 2 Fällen 
ausgedehnter Vereiterung inguinaler Drüsen 
wurde die Wundfläche zunächst mit der 
10%. Lösung berieselt. Das H 2 O 2 bildet 
mit dem Blut und Secret eine stark auf¬ 
schäumende Masse, kleine necrotische Par¬ 
tikelchen werden dadurch aufgewirbelt und 
weggeschwemmt. Gleichzeitig wirkt diese 
Lösung hämostatisch; kleinere capilläre 
Blutungen kommen zum Stillstand. Wird 
der Schaum durch Betupfen entfernt, so 
zeigt sich das Gewebe oberflächlich geätzt, 
ohne dass es zu einer tieferen Zerstörung 
auch bei Anwendung dieser stärkeren 
10%. Lösung käme; in den folgenden 
Tagen wurde feucht mit der 3%. Lösung 
tamponirt. Es gelang jedoch nicht, eine 
völlige Ueberhäutung durch das H 2 O 2 
herbeizuführen; um dies zu erreichen, be¬ 
streuen wir neuerdings die Wunden mit 
Vioform oder verbinden mit Vioform- 
Gaze, um eine völlige Vernarbung zu be¬ 
wirken. 





Februar 


95 


Die Therapie der 


Aus klinischen Erfahrungen ergiebt 
sich, dass dem H 2 O 2 direct desinficirende ; 
Wirkung zuzuschreiben ist ; Hon seil 
schlägt dieselbe hoch an und stellt eine 
3%. Lösung etwa auf die gleiche Stufe wie 
1 °/ 00 . Sublimatlösung. Eine chemische Wir¬ 
kung des nascirenden Sauerstoffes auf j 
Bakterien glaubt Honsell nicht annehmen i 
zu können. Nach unserer Ansicht käme 
vielleicht eine direct bactericide Wirkung 


'Gegenwart 1903. 


gegenüber anaöroben Bakterien in Be¬ 
tracht. 

Das H 2 O 2 besitzt also verschiedene 
Vorzüge vor anderen Desinficientien: seine 
schnelle Wirkung als Desodorans, seine 
Ungiftigkeit lassen es vielen anderen Mit¬ 
teln überlegen erscheinen, insbesondere ist 
es, wie v. Bruns und Honsell betonen, 
bei progredienten Phlegmonen und jauchi¬ 
gen Processen indicirt. 


Kreosotal gegen Pneumonie . ] ) 

Von Dr. Bernhard Friedemann -Kaukehmen. 


Ich habe von Anfang März bis Novem- i 
ber des vorigen Jahres in 14 Fällen von 
croupöser Pneumonie Gelegenheit gehabt, j 
Kreosotal anzuwenden. Von diesen führe i 
ich hier 10 Fälle an, da von den übrigen 
nähere Aufzeichnungen nicht mehr vor- j 
handen sind. Jedoch war auch in diesen 
vier hier nicht erwähnten Fällen der Erfolg 
ein gleich guter. 

Fall 1. Besitzerfrau S. in B. t ca. 32 Jahre 
alt, sehr schwächliche Frau, erkrankte am 
10. März an Pneumonie und wurde von mir 
am 11. März besucht und behandelt. Infiltration ; 
des linken oberen Lungenlappens. Knister- : 
rasseln, blutiger Auswurf. Temperatur 39,7. 
Fieberphantasien, kleiner Puls. Verordnung: 

6 g Kreosotal in 24 Stunden zu nehmen, feuchte 
Brustumschläge. 

13. März: Allgemeinbefinden vorzüglich. 
Temperatur normal. Patientin sitzt im Bett 
und hat bereits mit gutem Appetit gegessen. 
In der Nacht zuvor soll sie etwas geschwitzt j 
haben. Eine deutliche Aufhellung der früheren 
Dämpfung ist bemerkbar. Der Auswurf ist 
nicht mehr röthlich gefärbt. Weiterer Verlauf 
der Krankheit regelrecht. 

Fall 2. Besitzers, in B., der Ehemann der 
vorigen, ca. 40 Jahre alt. erkrankte am 15. März 
gleichfalls an Lungenentzündung. Ausgedehnte 
Dämpfung auf der rechten Brustseite. Tempe¬ 
ratur 40,2. Heftige Seitenstiche und Luft- I 
mangel. 

Verordnung: Kreosotal 8,0. Feuchte Brust¬ 
umschläge. j 

1 ) Kreosotal wird namentlich in Amerika viel als 
Specificum gegen Pneumonie empfohlen. Die darüber | 
bisher erschienenen Berichte sind natürlich mit 
grösster Vorsicht aufzunehmen, weil bekanntlich bei 
keiner Krankheit schwerer zu entscheiden ist, ob der 
erzielte Heilerfolg wirklich von der geleisteten Kunst- 1 
hilfe abhängt. Ueber den Heilwerth eines Mediea- 
ments bei der Pneumonie kann erst nach hundert¬ 
fältiger Anwendung entschieden werden. Immerhin 
erschien es uns nicht ohne Interesse, den obigen 
Bericht zur Kenntniss der Collegcn zu bringen. Von 
grossem Werth wäre es, wenn nun auch Berichte über 
negative Erfolge nicht zurückgehalten würden. Diese 
JRubrik ist jedem hierhergehörigen Beitrag geöffnet. 

" Red. 


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17. März: Kein Fieber. Patient hat gut ge¬ 
schlafen, klagt aber noch über heftige Seiten¬ 
stiche. Die Dämpfung ist noch deutlich vor¬ 
handen. Nach einer abermaligen Gabe von 
Kreosotal tritt rasch Besserung und Genesung 
ein. Nach achttägigem Krankenlager steht Pa¬ 
tient bereits auf. Ueber eine Krisis konnte 
nichts Bestimmtes ermittelt werden. 

Fall 3. Arbeiter M. aus K. erkrankte am 
11. März an linksseitiger Pneumonie mit hohem 
Fieber. Er erhielt vom 12. März an Kreosotal. 
worauf sehr bald Besserung eintrat. Am vierten 
Tage Krisis mit Schweissausbruch. Rasche 
Auf hellung der Dämpfung und Genesung. 

Fall 4. Besitzer S. aus W., in mittleren 
Jahren, Potator, erkrankte am 28. März. Links¬ 
seitige croupöse Pneumonie. Die Krankheits- 
erscheinungen waren äusserst schwer. Tempe¬ 
ratur 40,3. Fieberdelirium. Fliegender Puls. 
Benommenheit. 

Verordnung: Kreosotal 8.0; Salipyrin,feuchte 
Umschläge. Die schweren Erscheinungen, na¬ 
mentlich das hohe Fieber, Hessen am nächsten 
Tage nach, doch hielten die Bruststiche noch 
an. Am 1. April fand ich Patienten fieberfrei. 
Die Dämpfung war bedeutend zurückgegangen, 
das Allgemeinbefinden war gut. Baldige Ge¬ 
nesung. Eine deutliche Krisis konnte nicht 
festgestellt werden. 

Fall 5. Am 1. April berichtete mir die 
Arbeiterfrau B. aus S., dass ihr 17jähriger 
Sohn an Lungenentzündung erkrankt sei. Da 
ich keine Gelegenheit hatte, den Kranken zu 
sehen und zu untersuchen, verordnete ich zu¬ 
nächst Decoct. Althaeae und feuchte Brust¬ 
umschläge. Am 3. April fuhr ich zu dem 6 km 
entfernt wohnenden Kranken und stellte eine 
croupöse Pneumonie fest. Temperatur 39,4. 
Dämpfung links über dem ganzen unteren 
Lungenlappen. 

Verordnung: Kreosotal 6,0 zum Verbrauch 
in 24 Stunden. Am nächsten Tage war Pa¬ 
tient fieberfrei ohne Beschwerden. Eine deut¬ 
liche Krisis konnte nicht festgestellt werden. 

Fall 6. Am 12. April wurde ich zu Frau 
N. aus K. gerufen, welche am Tage zuvor er¬ 
krankt war. Ich fand eine rechtsseitige crou- 
pöse Pneumonie. Keine besonders schweren 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 19C3 


96 


Krankheitserscheinungen. Temperatur 38.4. 
KlopfschaU über dem rechten unteren Lungen¬ 
lappen abgeschwächt. Knisterrasseln. Rost¬ 
farbenes Sputum. Veroidnung: Kreosotal 8,0. 
Feuchte Kompressen. 

Am 15. April, also am fünften Krankheits¬ 
tage, wurde mir berichtet, dass cs der Patientin 
sehr gut ginge und dass sie bereits einige 
Stunden ausser Bett zugebracht habe. Weitere 
Beobachtungen fehlen. 

Fall 7. Fleischermeister B. ausK., ca.30Jahre 
alt, Potator, erkrankte in der Nacht vom 30. zum 
31. April zum dritten Male an sehr schwerer 
croupöser Pneumonie. Er hatte am Tage vor¬ 
her eine grössere Wagenfahrt gemacht, war 
tüchtig durchnässt und hatte viel Alkohol zu 
sich genommen. Ich wurde noch in der Nacht 
zu ihm gerufen und fand ihn in sehr bedenk¬ 
lichem Zustand, im Fieberdelirium mit fliegen¬ 
dem Puls. Temperatur 40.6. Dämpfung über 
dem linken unteren Lungenlappen. Rostbraunes 
Sputum, mit Blut untermischt. 

Verordnung: Kreosotal 8.0 in 24 Stunden 
zu verbrauchen. Feuchte Kompressen um die 
ganze Brust. 

Am Nachmittage des 31. April waren alle 
bedrohlichen Erscheinungen verschwunden. 
Temperatur 37,8. Puls kräftig und regelmässig. 
Athmung ruhig. Patient hatte bereits einige 
leichte Speisen zu sich genommen und fühlte 
sich garnicht mehr krank. Die frühere Dämpfung 
war deutlich nachweisbar. 

Am 1. Mai neue Verordnung von Kreo¬ 
sotal 8,0. 

Am 2 Mai war die Dämpfung fast ganz 
verschwunden, nachdem in der Nacht starke 
Schweissabsonderung eingetreten war. Tem¬ 
peratur regelrecht. Schnelle Genesung. 

Fall 8. Am 19. Mai wurde ich zu dem 
11jährigen Besitzersohn M. aus B. gerufen, 
welcher bereits am 16. d. M. an schwerer 
Lungenentzündung erkrankt war. Dämpfung 
fast über der ganzen linken Brustseite Tem¬ 
peratur 40.8. Heftige Fieberphantasien. Kleiner, 
fliegender Puls. 

Verordnung: Kreosotal 5,0. Feuchte Kom¬ 
pressen. 

In der Nacht darauf trat starker Schweiss¬ 
ausbruch ein, dann baldige Besserung und 
Genesung. 

Fall 9. Besitzer A. aus J. erkrankte am 
I.Juni an linksseitiger croupöser Pneumonie 
ohne besonders schwere Krankheitserschei¬ 
nungen. 

Am 2. Juni Temperatur 38,5. 

Verordnung: Kreosotal 8,0. Feuchte Kom¬ 
pressen. 

Am 4. Juni war Patient fieberfrei und ohne 
Beschwerden. Ueber den Eintritt einer Krisis 
konnte nichts ermittelt werden. 

Fall 10. Fleischersohn P. aus K., 9 Jahre 
alt, erkrankte in der Nacht vom 7. zum 8. Juni 
an Lungenentzündung. 


8. Juni: Ausgedehnte Dämpfung links unten. 
Temperatur 40,4. Athemnoth und Benommen¬ 
heit. 

Verordnung: Kreosotal 5,0. Feuchte Kom¬ 
pressen. 

9. Juni: Patient sitzt im Bett, spielt und 
hat bereits mit Appetit gegessen. Temperatur 
37,5. Die frühere Dämpfung ist noch deutlich 
vorhanden. 

10. Juni: Der gleiche Befund. Patient hat 
gut geschlafen und ist fieberfrei. Kreosotal 
wird ausgesetzt. 

11. Juni: Rückfall. Temperatur39,5. Seiten¬ 
stiche, Athemnoth. 

Veroidnung: Kreosotal 5,0. 

12. Juni: Patient hat in der Nacht etwas 
geschwitzt und fühlt sich jetzt ganz wohl. 
Temperatur 37,4. 

Die Dämpfung bestand noch einige Tage, 
um sich dann sehr bald aufzuhellen. In kurzer 
Zeit trat Genesung ein. 

Der letztere Fall ist ganz besonders inter¬ 
essant wegen des durch die zu frühe Aus¬ 
setzung des Kreosotal bedingten Rückfalles* 
| In Fall 4 und 7 handelte es sich um ganz be- 
1 sonders schwere Erkrankungen bei Potatoren, 
welche einen das Leben bedrohenden Charakter 
anzunehmen schienen, aber auch hier die gleiche 
frappante Wirkung. 

Man giebt das Kreosotal am besten in 
Emulsion in möglichst grossen Dosen, da 
es gut vertragen wird, bei Erwachsenen 
etwa 6 bis 8 Gramm, bei Kindern von 8 
bis 14 Jahren die Hälfte, bei kleineren 
Kindern entsprechend weniger. 

In welcher Weise sollen wir uns nun 
die Wirkung des Kreosotal vorstellen? 
Sicherlich muss dieselbe eine baktericide 
und entwickelungshemmende sein für die 
Erreger der croupösen Pneumonie. Das 
beweist am besten das schon öfters beob¬ 
achtete Wiederaufflammen der Krankheit 
bei zu frühzeitiger Aussetzung des Mittels. 
Andererseits aber muss auch angenommen 
werden, dass das Kreosotal den Stoff- 
wechselproducten der Pneumococcen, die 
doch jedenfalls die Ursache der schweren 
Allgemeinerschainungen sind, direct ent¬ 
gegenwirkt oder doch sie beseitigt. Sonst 
könnte man sich den schnellen Abfall der 
Temperatur und die so schnelle Besserung 
des ganzen Allgemeinzuatandes kaum er¬ 
klären; denn beides tritt gewöhnlich schon 
nach 12 bis 24 Stunden ein. Jedenfalls 
könnten darüber noch weitere Beobach¬ 
tungen und wissenschaftliche Untersuchun¬ 
gen näheren Aufschluss geben. Interessant 
wäre es z. B., zu untersuchen, ob auch 
bei anderen durch den Pneumococcus her¬ 
vorgerufenen Erkrankungen eine ähnliche 
Wirkung des Kreosotal zu bemerken ist* 


Für die Redaction ver..ntw<>r tlich: Prof. G. Klemperer in Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Orst.-rreicii-Ungarn: 
Eugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban&Schwarienberg 

in Wien und Berlin. 


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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Die Therapie der Gegenwart 


1903 


herausgegeben von Prof. Dr. Q. Klemperer 

in Berlin. 


März 


Nachdruck verboten. 

Ueber eine neue Klasse von Schlafmitteln. 


Von Emil Fischer und J, v. Merlos* 


Fast ebenso dunkel wie das Wesen des 
natürlichen Schlafes ist trotz der nicht ge¬ 
ringen Zahl von synthetischen Schlafmitteln 
der Zusammenhang zwischen chemischer 
Constitution und pharmakologischer Wir¬ 
kung. Die seit der Einführung des Chloral- 
hydrats in den Arzneischatz durch Lieb¬ 
reich im Jahre 1869 aufgefundenen Hypno- 
tica ordnen sich chronologisch] in folgende 
Reihe: Urethan, Paraldehyd, Amylenhydrat, 
Sulfonal, Trional und Chloralformamid; 
dazu sind in neuerer Zeit das Dormiol und 
endlich das Hedonal oder Methylpropyl- 
carbinol-Urethan gekommen. Betrachtet 
man die Structurformeln der angeführten 
Stoffe, so ergiebt sich ein so grosser Unter¬ 
schied, dass die schlafmachende Wirkung 
offenbar ganz verschiedenen Atomgruppen 
zukommt. Nach der chemischen Zusammen¬ 
setzung lassen sich die genannten Mittel 
in 4 Klassen eintheilen. Zu dem Chloral- 
hydrat gehören selbstverständlich sein di- 
rectes Derivat, das Chloralformamid (Chlo- 
ralamid) und aller Wahrscheinlichkeit nach 
auch der Paraldehyd, der ja nichts weiter 
ist als die polymere Form des Acetalde¬ 
hyds, von dem das Chloralhydrat abge¬ 
leitet wird. Eine zweite Klasse repräsen- 
tirt das Amylenhydrat oder tertiärer Amyl¬ 
alkohol von folgender Structur 

ch 8X 

CHs^C—OH 

in welchem ausser der Alkoholgruppe das 
mit drei Alkyl verbundene Kohlenstoffatom 
der Träger der schlafmachenden Wirkung 
zu sein scheint. 

Ein Mittelding zwischen dieser ersten 
und zweiten Klasse bildet das Dormiol, 
welches die Combination von Chloralhydrat 
und Amylenhydrat ist. Die dritte Klasse 
repräsentirt das Urethan und sein Derivat, 
das Hedonal und die vierte Klasse endlich 
bilden die schwefelhaltigen Disulfone, von 
denen das Trional folgende Structur besitzt. 

ch 3V/ so 2 *c 2 h 5 

QHy'CxSOaCaHs. 

Sie haben mit dem Amylenhydrat eine ge¬ 
wisse Aehnlichkeit, denn das Centrum des 
Moleküls ist hier ein Kohlenstoffatom, das 
mit zwei Alkyl und zwei sehr fest haftenden 


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Sulfonresten verknüpft ist Weiterhin ist dem 
Amylenhydrat und den Disulfonen die An¬ 
wesenheit des Aethyls gemeinsam. Durch die 
Beobachtungen von Thierfelder und dem 
Einen von uns, 1 ) die später von Baumann 
und Käst, 9 ) sowie von Schneegans und 
dem Einen von uns 8 ) wesentlich vervoll¬ 
ständigt wurden, wissen wir, dass von der 
Anzahl der Aethylgruppen die schlaf¬ 
machende Wirkung der Alkohole und Disul¬ 
fone stark beeinflusst wird. 

Auf Grund dieser Betrachtungen schien 
es uns interessant, andere Stoffe, die ein mit 
mehreren Aethylgruppen beladenes und 
tertiär oder quaternär gebundenes Kohlen¬ 
stoffatom enthalten, auf die schlafmachende 
Wirkung zu prüfen, und es ist uns in der 
That gelungen, eine neue grosse Klasse von 
Schlafmitteln dieser Art aufzufinden. Sie 
sind Harnstoffderivate. Die einen leiten sich 
ab von den Dialkylessigsäuren; als Reprä¬ 
sentant derselben führen wir die Diäthylver- 
bindung an, welche folgende Structur hat: 
C 2 H 5W H 

C 2 H5/ c \CO~NH—co—nh 2 
und deshalb als Diaethylacetylharnstoff zu 
bezeichnen ist. 

Die anderen sind Abkömmlinge der 
Diaethylmalonsäure mit cyklischer Structur 
des stickstoffhaltigen Theiles. 

Als wichtigsten Körper dieser Gruppe 
nennen wir den Diaethylmalonylharnstoff 
mit der Structurformel 

C 2 H 5 CO—NH 

>c/ >co 

C 2 H 5 X x co-nh 

Durch Verbesserung der synthetischen 
Methoden ist es uns möglich gewesen, 
nicht allein zahlreiche Glieder der beiden 
erwähnten Klassen, sondern auch andere 
ähnliche Derivate der Dialkylmalonsäuren 
der pharmakologischen Untersuchung zu¬ 
gänglich zu machen und so einige über¬ 
raschende Beziehungen zwischen chemischer 
Constitution und schlaferregender Wirkung 
festzustellen. Die folgende Zusammen¬ 
stellung der Beobachtungen am Hunde ist 
nach chemischen Gesichtspunkten geordnet. 

*) Zeitschrift f. physiolog. Chemie 9, 511 (1885). 

2 ) Zeitschrift für physiol. Chem. 14, 52 (1889). 

3 ) Therapeutische Monatshefte 1892, 327. 

13 

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98 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


A. Säuren. 

1 . Diaethylessigsäure COOH 

2 . Diaethylmalonsäure QHp^^COOH 

c 2 h 6 \ 5 

3. Diaethoxalsäure C 2 Hö-^C—COOH 

HCk 

4. Dimethylaethylessigsäure 

CH 3 \ 

CHb —tC—COOH 
c 2 h */ 

Alle vier Verbindungen waren bei einem 
Hunde von 7,5 Kilo in einer Dosis von 
5 g per os wirkungslos.*) 

B. Amide. 

1 . Diaethylacetamid 

c 2 h 5X 

c 2 h 5 ;ch-co-nh 2 
c 2 h 5 / 

2. Diaethylmalonamid 

C 2 H 5 \ r /CO—NH 2 
C 2 H5A\CO-NH 2 

3. Dipropylmalonamid 

CsHtvp/CO-NHs 

c 8 h 7 A\co—nh 2 

4. Trimethylacetamid 

CH S v 

CH S -)C—CO—NH 2 
CH S / 

Sie waren ebenfalls in Dosen von 4—5 g 
bei einem Hunde von 7,5 Kilo Gewicht 
ohne Wirkung. 

C. Harnstoffderivate. 

I. Abkömmlinge der Dialkylessig- 
säure. 

1. Diaethylacetylharnstoff 

C2Hy>CH—CO—NH—CO—NH3 

Ein Hund von 8 Kilo erhält Morgens 9 Uhr 
2 g fein gepulvertes Präparat per os. 9 Uhr 
30 Min. leicht schwankender Gang. 10 Uhr 
stärkeres Schwanken und motorische Un¬ 
ruhe. 11 Uhr letztere geringer, das Thier 
taumelt beim Gehen. 4 Uhr Nachmittags 
erscheint es leicht betrunken, frisst mit 
Appetit. Abends 6 Uhr normaler Zustand. 
Ein Hund von 5 */ 2 Kilo erhält 3 g um 
12 Uhr Mittags. 12 Uhr 15 Min. geringe 
Unsicherheit in den Bewegungen, 12 Uhr 
30 Min. taumelt das Thier hin und her. 
1 Uhr liegt es schlafend am Boden. 4 Uhr 
schläft es fest; aufgeweckt trinkt es mit 
Unterstützung Milch, schläft aber sofort 
wieder ein. 10 Uhr noch fester Schlaf. 
Am andern Morgen geht es taumelnd um- 

J ) Die früher von Schneegans und dem Einen 
von uns gemachte Angabe, dass die Dimethylaethyl¬ 
essigsäure narkotisch wirke, hat sich bei neuen Ver¬ 
suchen mit einem ganz reinen Präparate nicht bestätigt. 


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her, schläft aber nicht mehr. Mittags 
1 Uhr normal. 

2. Dipropylacetylharnstoff 

QH^CH - CO—NH—CO—NHj 

Ein Hund von 5 Kilo zeigt bald nach Ein¬ 
nahme von 1 g mehrere Stunden lang Un¬ 
sicherheit in den Bewegungen und Schläfrig¬ 
keit; bei demselben Thier ruft 1 g Diaethyl¬ 
acetylharnstoff keine Erscheinungen hervor. 

o U ,U J • r*H S >C—CO-—NH 

3. Diaethylhydantoin v | 

NH — CO 

1,5 g hatten bei einem Hund von 7V 2 kg 
keine sichtbare Wirkung, nach 2,5 g war 
geringe Unsicherheit und Schwerfälligkeit 
der Bewegungen vorhanden, welche nach 
einigen Stunden wieder verschwanden. 

II. Abkömmlinge der Monalkyl- 

malonsäure. 

4. Monaethylmalonylharnstoff 

C 2 H. CO—NH 

>c< >CO 

H x x CO-NH 

5. Monopropylmalonylharnstoff 

C 8 H 7 CO-NH 

>C< >CO 

H x N CO—NH 

Beide Körper zeigten in Dosen von 3—4 g 
bei einem Hunde von 6 kg keine be- 
merkenswerthe Wirkung. 

III. Abkömmlinge der Dialkyl- 

malonsäure. 

6 . Dimethylmalonylharnstoff 

CH« .CO-NH 


°\ r / 

/ C \r 


>CO 


CH/ N CO-NH 
Bei einem Hunde von 6 kg waren 3 g 
wirkungslos. 

7. Methylaethylmalonylharnstoff 
C .CO-NH 


> 


< >co 

Ki lt 


C 2 H 6 ' N CO—NH 
1 g erweisst sich bei einem Hunde von 
7y 2 kg als wirkungslos. Dasselbe Thier 
erhält 3 Tage später 3 g Morgens 9 Uhr. 
Nach 20 Min. unsicherer Gang. 10 Uhr 
fester Schlaf, der den ganzen Tag anhält. 
Am anderen Morgen liegt das Thier halb¬ 
wach am Boden, zeigt Nachmittags grosse 
Unsicherheit in den Bewegungen und 
nimmt Nahrung. Freitag Morgen Zustand 
normal. 

8 . Methylpropylmalonylharnstoff 


CHs^ ^CO-NH 

c 3 h/ Cx co-isih 


>co 


Original fro-m 

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März 


Die Therapie der Gegenwart 1903, 


99 


Nach Einnahme von 1 g um 9 Uhr Morgens 
zeigt der Hund von 7 l h kg 7» Stunde 
später Unsicherheit im Gang. 10 Uhr liegt 
das Thier am Boden und macht einen sehr 
schläfrigen Eindruck. 12 x /2 Uhr ist es 
ziemlich munter, springt ungeschickt vom 
Stuhle, findet aber mit Geschick vorge¬ 
worfene Fleischstücke, die es mit Lust 
verzehrt. 3 Uhr ganz normales Verhalten. 

9. Diaethylmalonylhamstoff 

CaHjL CO—NH 

yc/ >co 

Q w/ x CO-NH 

Der gleiche Hund wie zuvor von 772 kg 
erhält Morgens 9 Uhr 1 g. Das Thier 
zeigt 10 Uhr schwankenden Gang, legt 
sich dann zu Boden und schläft. 12 Uhr 
wach, aber schwer trunken, auf einen Stuhl 
gesetzt versucht es herunter zu springen, 
fällt aber zur Erde. Um 2 Uhr frisst es 
mit Appetit und schläft dann. Auf Anrufen 
hebt es den Kopf. Am folgenden Morgen 
6 Uhr normal. Derselbe Hund bekommt 
drei Tage später um 9 Uhr Morgens 1,5 g. 
Um 9 Uhr 15 Min. taumelnder Gang, 9 Uhr 
20 Min. legt er sich zu Boden und schläft 
leise. 9 Uhr 30 Min. tiefer Schlaf, aus dem 
er nicht zu wecken ist. Am anderen 
Morgen liegt er noch in tiefem Schlaf auf 
der alten Stelle. Mittags 12 Uhr wach, 
taumelt ab und zu einige Schritte. Abends 

8 Uhr liegt er noch zu Boden, aber ohne 
zu schlafen. Am nächsten Morgen 7 Uhr I 
normal. Das Thier hat über Nacht reich- j 
lieh gefressen. 

10. Aethylpropylmalonylharnstoff 

QH* CO-NH 

/C< >co 

C 8 H 7 / n CN—NH 

Hund von 8 kg bekommt 9 Uhr Morgens 

1 g. Um 10 Uhr 20 Min. taumelt er beim 
Gehen. Um 10 Uhr fester Schlaf, der 
24 Stunden anhält. Beim Aufwachen zeigt 
er stark schwankenden Gang. Abends 
normaler Zustand. 

11. Dipropylmalonylharnstoff 

C 3 H 7 CO-NH 

> c < >co 

C 3 H 7 X X CO—NH 

Hund von 772 kg erhält am 1. Juli Morgens 

9 Uhr 1 g. Um 9 Uhr 30 schläft er fest 
und reagirt auf keine Reize. Dieser Zu¬ 
stand dauert bis 3. Juli Mittags. Nach¬ 
mittags zeigt er unsichere Bewegungen 
und trinkt reichlich Milch. Am 4. Juli 
Vormittags normal. Ein Hund von 8 kg 
schläft etwa 74 Stunde nach Einnahme von 

2 g um 12 Uhr Mittags ein. Todähnlicher 
Schlaf bis Abends 9 Uhr. Beobachtung 


unterbrochen. Am andern Morgen ist das 
Thier todt. 

12. Diisobutylmalonylharnstoff 

C 4 Ha CO-NH 

/ c \ > co 

C 4 H/ N CO—NH 

Hund von 772 kg bekommt Morgens 11 Uhr 
lg. 11 Uhr 15. Min. leicht und 11 Uhr 
30 Min. schwer betrunken, liegt um 12 Uhr 
am Boden und schläft fest bis 8 Uhr Abends. 
Dann taumelt das Thier hin und her, findet 
aber hingeworfene Fleischstücke. 1072 Uhr 
noch geringe Unsicherheit in den Be¬ 
wegungen. Am andern Morgen 6 Uhr 
normal, 

13. Diisoamylmalonylharnstoff 

C 6 H lK GO-NH 

> c < >co 

C 5 H 11 N CO—NH 

10 Uhr Morgens bekommt ein Hund von 
772 kg 1 g. Da um 12 Uhr keinerlei 
Wirkung sichtbar ist, erhält das Thier noch 
2 g. Um 1 Uhr 40 Min. schwankt es beim 
Gehen, legt sich zuweilen auf den Boden 
aber ohne zu schlafen. Um 3 Uhr taumelt 
es stark, überschlägt sich einige Male, trinkt 
um 4 Uhr Milch. Abends 9 Uhr Gang wenig 
schwankend. Am andern Morgen noch ge¬ 
ringe Unsicherheit in den Bewegungen. 

14. Dibenzylmalonylharnstoff 

C 6 H 5 • CH 2 . CO-NH 

>c< > co 

c 6 h 5 • CH/ x co-nh 

Bei einem Hunde von 77 2 kg zeigte sich 
nach Einnahme von 3 g keine bemerkens- 
werthe Wirkung, 

15. CC - Diaethyl-N-Methylmalonylharn- 
stoff 

C 2 H 5 . CO-N-CH 3 

X > c ° 

C 2 H 5 X x CO-NH 

Ein Hund von 6 kg erhält 1 g um 10 Uhr 
Morgens. 10 Uhr 10 Min. schwer betrunken 
und nach weiteren 10 Min. fester Schlaf, 
der 2 Tage anhält und mit dem Tode 
endigt. Während des Schlafes waren 
leichte Zuckungen des Körpers bemerkbar. 

16. Diaethylmalonsäureuröid 
C 2 H 5 \ r /'CO OH 

C 2 H 5 / U \CO-NH-CO-NH, 

Ein Hund von 7 kg erhält 3 g und zeigt 
keine Aenderung im Allgemeinbefinden. 

17. Dipropylmalonylguanidin 

C 3 H 7 CO-NH 

>C C ">C=NH 


>C < >C=NH 

. x gö-^inh*• ;,; ::;' 

war ebenso wirkungslos wie die : vorher¬ 
gehende' ^Verbipdung. ' > ; ; \ ; 


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Gougle 


Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 





100 


Mär* 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


18. Diaethylmalonylthioharnstoff 

G 5 H 5 . CO-NH 

X >cs 

C 2 U/ x CO-NH 

Ein Hund von 7 kg erhält 1 g. Eine 
Stunde später schläft er tief, reagirt auf 
keine Reize und stirbt nach 8 Stunden. 

Aus vorstehenden Beobachtungen er¬ 
geben sich folgende Beziehungen zwischen 
chemischer Structur und hypnotischer 
Wirkung in dieser Klasse. Säuren und 
Amide sind wirkungslos. Zur Erzeugung 
von Schlaf ist die Harnstoffgruppe erfor¬ 
derlich, aber sie genügt allein nicht. Es 
muss dazu kommen ihre Combination mit 
einem Reste, der mehrere kohlenstoffreiche 
Alkyle enthält. Der einfachste Fall dieser 
Art ist gegeben in den Harnstoffderivaten 
der Diäthyl- und Dipropylessigsäure (I. No. 1 
und 2). Ungleich stärker wird aber die 
hypnotische Wirkung bei der cyklischen 
Anordnung der Harnstoffgruppe in den 
Derivaten der Dialkylmalonsäure. Hier ist 
dann weiter die Natur des Alkyls von we¬ 
sentlicher Bedeutung. Die Wirkung, wel¬ 
che beim Dimethyl (III. No. 6 ) ganz fehlt, 
ist gering beim Methylaethyl (7), steigt beim 
Methylpropyl ( 8 ), wird recht stark beim 
Diaethyl (9) und erreicht ihren Höhepunkt 
beim Dipropyl (11). Beim Diisobutyl (12) 
steht sie ungefähr auf gleicher Stufe wie 
bei Diaethyl und beim Diisoamyl (13) ist 
sie wieder sehr schwach. Das Dibenzyl- 
derivat (14) scheint ganz inactiv zu sein, 
was aber auch zum 1 heil durch die Schwer¬ 
löslichkeit bedingt sein kann. 

Auffallend ist die Giftigkeit von CC- 
Diaethyl - N - Methylmalonylharnstoff (15), 
welcher sich von No. 9 nur dadurch unter¬ 
scheidet, dass das eine Stickstoffatom noch 
ein Methyl bindet. Dies erinnert an den 
bekannten physiologischen Unterschied 
zwischen Acetanilid und seiner Methylver¬ 
bindung (Exalgin) oder zwischen Phenacetin 
und Methylphenacetin. 

Auffallend ist, dass die ringförmige An¬ 
ordnung der Harnstoffgruppe in dem 
Diäthylhydantoin (C. I. 3) gegenüber dem 
Diäthylacetylharnstoff (C. I. 1) keine Ver¬ 
stärkung, sondern eine Abschwächung der 
Wirkung hervorruft. 

Wie sehr selbst kleine Aenderungen an 
dem Molekül die pharmakologische Activi- 
tät beeinflussen können, zeigen am deut¬ 
lichsten die drei letzten Beispiele. BeimDiae- 
thylmalonsäureureid (C. III. 16) ist der stick¬ 
stoffhaltigem Riug *des' Diaethykn^lonylharn- 
stoffs; [9*1 jiorchr einfache Warenlagerung 
auf^espalten. # Das genügt, um den Körper 
gariz'; wtf kun’gslbs zu machen. ' Das Gftfiche 


gilt für Dipropylmalonylguanidin (17), wo 
der Sauerstoff des Harnstoffrestes durch 
die NH-Gruppe ersetzt ist. Dem Diaethyl¬ 
malonylthioharnstoff (18) endlich giebt die 
Anwesenheit des Schwefels einen ausge¬ 
sprochen giftigen Charakter. 

Aus der Reihe der zuvor besprochenen Prä¬ 
parate treten durch ihre hypnotische Wirkung- 
Diaethylacetylharnstoff 

0fy>CH— CO- NH— CO 

Diaethylmalonylhamstoff 

QHs .CO—NH 


AY/ 2 


> 


,/ 

V 


yco 


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CiH h ' N CO-NH 

Dipropylmalonylharnstoff 

C 3 H, CO-NH 

)c( >CO 
C Z H{ x CO—NH 

so stark in den Vordergrund, dass ihre Prüfung 
am Menschen angezeigt erschien. 

Dabei hat sich nun ergeben, dass der 
Diaethylacethylharnstoff an hypnotischer Kraß 
ungefähr dem Su/fonal gleich steht , dass ferner 
der Dipropylmalonylharnstoff etwa viermal so 
stark ist, aber nicht selten eine auffallend 
lange Nachwirkung hat . 

In der Mitte zwischen Beiden steht der 
Diaethylmalonylhamstoff und übertrifft dem¬ 
nach an Intensität der Wirkung auch noch 
alle bisher gebräuchlichen Schlafmittel . Da 
die Substanz relativ leicht herzustellen ist und 
in Bezug auf Geschmack und Löslichkeit Vor¬ 
züge besitzt, so scheint sie von den Gliedern 
der neuen Klasse für den praktischen Gebrauch 
\ am meisten geeignet. Mit Rücksicht auf die allzu 
1 unbequeme chemische Bezeichnung schlagen wir 
i dafür den Namen ,, Veronal “ vor. 

] Das Veronal 1 ) ist ein schön crystalli- 
sirender farbloser Stoff, der bei lpi 0 (Corr.) 
schmilzt, schivach bitter schmeckt, sich in 
ungefähr 12 Th ei len kochendem Wasser und in 
14g Theilen H asser von 20 0 löst. 

Bei einfacher Schlaflosigkeit genügt in der 
Regel o,s g. Zur Bekämpfung von Agrypnie, 
die mit stärkeren Erregungszuständen ei?iher 
geht, kann man die Dosis bis 1 g steigern. 
Bei schwächlichen Personen, z. B. Frauen 
kommt man manchmal schon mit o,j g aus. 
Zur Erziehnig von Schlaf sind demnach Dosen 
von o,j — 0,5 — o, 7j"— 1 g erforderlich . Mehr 
als 1 g zu geben, dürfte selten indicirt sein. 

Wird das Veronal in Lösung gegeben, so 
tritt der gewünschte Effect in etwa J /2 Stunde 
ein. Am meisten empfiehlt sich , das gepulverte 
Mittel in einer Tasse warmen Thees durch 

l ) Das Präparat wird von der Firma E. Merck, 
in Darmstadt in den Handel gebracht. 

Original frorn 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 




März Die Therapie der Gegenwart 1903. 101 

Umrühren zu lösen . Das Präparat wird \ gedehntem Gebrauch auf treten können, muss die 
übrigens auch im festen Zustand von den j weitere therapeutische Untersuchung lehren, 
meisten Personen mit oder ohne Oblate gerne Das Resultat unserer Versuche ist derart, 

genommen. dass wir kein Bedenken tragen, das Veronal 

Bei den bisherigen klinischen Beobachtungen den Klinikern und Aersten zur Prüfung seines 
haben sich unangenehme Nebenwirkungen therapeutischen Werthes bei Schlaflosigkeit zu 
nicht gezeigt; ob solche bei längerem und aus - übergeben. 

Ueber die Behandlung von Leberaffectionen mit Quecksilber 
nebst Bemerkungen über fieberhafte Lebererkrankungen 
und den ätiologischen Schluss ex juvantibus. 

Von O. Rosenbach-Berlin. 


Die Mittheilung von G. Klemperer 1 ) 
Ober die günstige Einwirkung von Subli- 
matinjectionen bei zwei mit Schüttelfrösten 
und Fieber combinirten Fällen von Leber¬ 
schwellung ist durch die dort aufgeworfene 
Frage vom luetischen Leberfieber theore¬ 
tisch und praktisch so wichtig, dass die vom 
Verfasser gewünschte Discussion, wie ich 
glaube, recht fruchtbringend werden kann. 

So skeptisch man auch in der Deutung 
des post hoc sein mag, so sprechen doch 
so viele Erfahrungen für die Wirkung des 
Quecksilbers bei gewissen Darm- und Leber¬ 
affectionen, dass in den mitgetheilten Fällen 
kein erfahrener Arzt den Zusammenhang 
zwischen Behandlung und Heilung leugnen 
wird. Mir ist es überhaupt auffallend, dass 
man in den letzten Jahrzehnten in Deutsch¬ 
land vom Quecksilber bei gewissen subacuten 
und chronischen Unterleibserkrankungen, 
deren Hauptsymptome Schwellung oder 
Schmerzhaftigkeit der Leber und gewisse 
Verdauungsstörungen sind, so wenig und 
dann erst spät Gebrauch macht, während 
die Engländer diesem Mittel in Form der 
blue pills eine so grosse Bedeutung zu¬ 
schreiben. Ist doch auch der nicht zu be¬ 
streitende Erfolg der Anwendung grosser 
Kalomeldosen bei Ascites und bei dem mit 
besonders starkem Ascites verbundenen 
allgemeinen Hydrops nach meiner Ansicht 
am ehesten dort zu erwarten, wo die In- 
sufficienz der Leber, die sich ebenso häufig 
durch Verkleinerung wie durch Schwellung 
des Organs kundgiebt, ausgesprochen ist. 2 ) 
Gegen die Annahme einer solchen tempo¬ 
rären oder partiellen Insufficienz spricht 
auch, beiläufig erwähnt, abnorm starke 
Gallenabsonderung nicht, da einmal nicht 

Fieber und Schüttelfröste mit Leberschwellung, 
Therapie der Gegenwart 1903, Januarheft. 

O. Rosenbach, Grundriss der Herzkrank¬ 
heiten, Wien 1899, S 389. — Ueber lokalisierte 
Stauungen etc., Münch, med. Wochenschr. 1901, 
No. 14, u. a. a. O. 

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alle Partieen des Organs insufficient zu sein 
brauchen, und da gerade bei (rein moto¬ 
rischer) Insufficienz einiger Gebiete oder des 
ganzen Organs immerhin relativ starke 
Gallenbildung in noch gesunden oder stark 
gereizten Partieen vorhanden sein kann, so 
dass es zur Gallenstauung mit nachfolgender 
Resorption von Galle in die Lymphwege 
kommt. 

Ich glaube nun, dass Quecksilberpräpa¬ 
rate in solchen Fällen als stärkster Reiz 
für die Wiederherstellung der normalen 
Leberthätigkeit wirken — die natürlich nicht 
nach derStärke derGallensecretion schlecht¬ 
weg, sondern nur auf Grund genauer Unter¬ 
suchung der Beschaffenheit der Galle und 
vor allem nach den (allerdings schwer 
feststellbaren) Resultaten der inneren Se- 
cretion beurtheilt werden kann — und 
dass durch den Wiedereintritt normaler 
Secretionsverhältnisse auch die abnormen 
zur Gallenstauung oder Hemmung der Cir- 
culation führenden mechanischen Verhält¬ 
nisse beseitigt werden. Mit anderen Wor¬ 
ten: Die normale Leistung des Leberparen¬ 
chyms, die ihren Ausdruck in normaler 
Absonderung und Fortbewegung der Galle 
findet, wird unseres Erachtens unter allen 
Mitteln am ehesten durch Quecksilber be¬ 
einflusst, sei es direkt, sei es durch pri¬ 
mären oder gleichzeitigen Einfluss auf die 
innere Secretion des Darmes. Meiner Er¬ 
fahrung nach ist übrigens gerade der Ein¬ 
tritt starker Darmerscheinungen (ausser- 
wesentliche Bethätigung des Darmes) bei 
der Quecksilberbehandlung Leberkranker 
nicht von Vortheil für den Heilungsvor¬ 
gang, da dadurch die Zufuhr des Queck¬ 
silbers zur Leber — und somit die wich¬ 
tigste Wirkung, nämlich die auf das Pa¬ 
renchym der Leber — verhindert zu 
werden scheint, wenn auch natürlich die 
starke diarrhoische Wasserabscheidung die 
hydropischen Erscheinungen etwas ver¬ 
mindert. 

Original fram 

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102 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


März 


Die Diurese bei allgemeinem Hydrops oder 
Ascites ist, beiläufig erwähnt, in hohem Maasse 
von dem Verhalten der Leber abhängig; sie 
steigert sich meiner Erfahrung nach nur dann 
dauernd, und es kommt zur Aufsaugung aller 
Transsudate, wenn die Leberthätigkeit noch be¬ 
trächtlich angeregt resp. normalisirt werden 
kann, was sich sehr früh durch veränderte Fär¬ 
bung der Fäces, durch Nachlass der epigastri¬ 
schen Schmerzhaftigkeit und gewisser Angst¬ 
gefühle, durch Hellerwerden des Urins und 
schliesslich auch durch deutliche Verkleinerung 
der Leber kundgiebt. Auch pflegt in solchen 
Fällen die Dilatation des rechten Ventrikels sich 
merkbar zu verkleinern, aus Gründen, über die 
ich mich an anderer Stelle ausführlich aus¬ 
gesprochen habe. 1 ) 

Meiner Erfahrung nach kann man nun 
auf um so stärkere Beeinflussung des Hydrops 
resp. Ascites durch Quecksilberpräparate 
rechnen, je stärker gallig die durch die 
ersten Gaben, z. B. von Kalomel, bewirkten 
Stuhlentleerungen sind, d. h. je mehr sie 
Symptome stärkerer Leberthätigkeit bieten, 
und ich möchte gerade das Ergebniss 
dieser Erfahrungen hier zur Discussion 
stellen. Auch bei den Kinderdiarrhöen 
wirkt doch wohl das Kalomel durch stärkere 
Anregung der Leberthätigkeit und nicht 
durch die — bei den gebräuchlichen Dosen 
der Kinderpraxis überhaupt nicht beweis¬ 
bare — Desinfection des Darmes stopfend; 
die Prognose wird unseres Erachtens hier 
erst günstig, wenn die Entleerungen wieder 
gallige Färbung zeigen. 

Für diese direkte Wirkung des Queck¬ 
silbers auf die Leber spricht nun wohl auch 
eclatant der therapeutische Erfolg in den 
von Renvers und Klemperer behan¬ 
delten Fällen, die durch Injection von 
Sublimat geheilt wurden. Mir fehlt die Er¬ 
fahrung über Sublimatinjectionen, da ich 
immer nur mit Kalomel behandelt habe, 
und zwar auf Grund der Ansicht, dass der 
direkteste Weg zur energischen Beein¬ 
flussung der Leber der Darm ist, indem 
man, um nur auf die Leber einzuwirken, 
nicht diarrhoisch wirkende Dosen ver¬ 
wendet Die beiden sehr interessanten 
Fälle scheinen aber evident zu lehren, dass 
die Einführung des Quecksilbers durch das 
Blut mindestens ebenso wirksam wie die 
vom Darme her ist, und dieser Weg ist 
vielleicht manchmal sogar vortheilhafter, 
weil man die schädliche Nebenwirkung auf 
den Darm vermeidet. 

II. 

Mit dem therapeutischen Erfolge scheint 
mir aber die Bedeutung der mitgetheilten 

x ) O. Rosenbach, Die Krankheiten des Herzens 
und ihre Behandlung. Wien u. Leipzig 1894/97,S. 773 ff. 


Fälle nicht erschöpft; sie sind auch einer 
besonderen Berücksichtigung in ätio¬ 
logischer resp. causal-therapeutischer Be¬ 
ziehung werth. Es handelt sich hier nicht 
bloss um eine der wichtigsten theoretischen 
Fragen der Medicin, sondern um eine von 
grösster praktischer Bedeutung, nämlich 
die von den specifischen Heilmitteln. 1 ) 

Die Ansicht nämlich, dass der Erfolg 
der Quecksilberbehandlung ein Beweis für 
die luetische Natur der Affection sei, muss 
ich energisch bestreiten. Aus Raummangel 
kann ich aber hier diese wichtige Frage 
nicht eingehender behandeln und muss da¬ 
her auf eine in nächster Zeit erscheinende 
Abhandlung verweisen. Ich möchte des¬ 
halb nur kurz betonen, dass meiner An¬ 
sicht nach alle sogenannten Specifica nicht 
in dem Sinne specifisch wirken, dass sie 
eine bestimmte (ontologische) Krankheits¬ 
ursache vernichten resp. eine Krankheit 
im ontologischen Sinne heilen; sie dürfen 
nur als maximale Erregungs- resp. Hem¬ 
mungsreize für gewisse Gewebe oder Or¬ 
gane betrachtet werden. 2 ) Sie wirken, weil 
sie die Erregbarkeit bestimmter Gewebe 
oder Organe günstig beeinflussen und so¬ 
mit die Reaction, die ja ebensowohl von 
der Disposition wie vom Reize abhängt, 
normalisiren. So wirkt, wie ich glaube, 
Chinin dadurch, dass es die Thätigkeit der 
Milz regulirt resp. die Protozoen vernich¬ 
tenden weissen Blutkörperchen stimulirt; 
Salicyl fördert die Muskeln und serösen 
Häute in ihrer Thätigkeit, und die antiphlo¬ 
gistische resp. resorptionsbefördernde Wir¬ 
kung des Jod beruht wahrscheinlich auch auf 
einer directen Reizung der Leukocyten, die 
dann eine regere Thätigkeit im gesammten 
Gewebe (nicht bloss wie beim Chinin in 
in der Milz resp. im Blute) entfalten. In 
diesem Sinne betrachten wir also Queck¬ 
silber u. A. als specifisches Mittel zur An¬ 
regung der Leberthätigkeit und müssen 
daher die mit Vorliebe ex juvantibus 
gestellte Diagnose Lues ablehnen. 

Abgesehen davon spricht aber noch 
manches andere gegen diese Diagnose. In 
der That wäre sie wohl ohne die Anam¬ 
nese und namentlich ohne den Erfolg der 
Therapie auf Grund des Symptomencom- 
plexes kaum gestellt worden. Man würde 
nur, wie der Herr Verfasser es ursprüng¬ 
lich that, die Diagnose einer Eiterung im 
Gebiete der Leber oder eines entzündlichen 


i ) O. Rosenbach, Grundlagen, Aufgaben und 
Grenzen der Therapie, Wien 1891, S. 59 ff. 

*) O. Rosenbach, Arzt c/a Bacteriologe, Berlin 
und Wien 1902, das Kapitel: Zur Lehre von der 
Wirkung specifischer Mittel, S. 33. 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


103 


Processes gestellt haben, und hätte sich 
dann allerdings, da man, wie wir erwähn¬ 
ten, bei fieberhaften, nicht luetischen, Leber- 
affectionen Quecksilber nicht anzuwenden 
pflegt, nach dem gewöhnlichen Gange der 
Dinge des kräftigsten Mittels zur Anregung 
der normalen Thätigkeit des Organs, also 
auch des—in unserem Sinne— wirksamsten 
specifischen Mittels zur Heilung solcher 
Lebererkrankungen beraubt. Aber dass 
ich dieses therapeutische Verdienst 
anerkenne und sogar die von Renvers 
empfohlene Anwendung des Queck¬ 
silbers in Form der subcutanen In- 
jection für solche Fälle für einen Fort¬ 
schritt halte, kann mich der kritischen 
Betrachtung der Schlussfolgerung ex juvan- 
tibus nicht entheben, um so weniger, als 
mir dadurch auch Gelegenheit gegeben 
wird, Anschauungen noch einmal zur Dis- 
cussion zu stellen, die ich bereits früher 
über die Entstehung fieberhaft entzündlicher 
resp. eitriger Leberaffectionen, 1 ) sowie über 
gewisse Residuen' 2 ) älterer Lebererkrankung, 
die der pathologische Anatom gewöhnlich 
als Gummabildungen deutet, äusserte. 

Das Kapitel der tertiären Lues (der 
gummös-eitrigen Processe resp. der mannig¬ 
faltigen Aflectionen innerer Organe Lueti¬ 
scher) ist wohl eines der dunkelsten und 
schwierigsten der ganzen Medicin; aber 
so viel und so sorgsam ich klinisch und 
anatomisch viele Jahre hindurch dieses 
Gebiet durchforscht habe, so wenig habe 
ich zu der Ueberzeugung kommen können, 
dass gewisse Erkrankungen von inneren 
Organen oder manche anderen Erschei¬ 
nungen, die man heut als (tertiär) luetisch zu 
betrachten pflegt, irgend etwas für Lues cha¬ 
rakteristisches haben 8 ) und — trotz lueti¬ 
scher Anamnese — gerade auf Lues zurück¬ 
geführt werden müssen. Mit gleichem 
Rechte könnte man sie, je nach den Um¬ 
ständen, von Erkältung, hämorrhoidaler 
Diathese, von passagerer Melliturie, Skro- 
phulose etc. ableiten. 

Der für mich wichtigste Grund, den ich 
gegen den Causalzusammenhang anführen 
muss, nämlich dass solche Erscheinungen 

*) O. Stirl, Zur Lehre von der infectiösen 
fieberhaften, mit Icterus complicirten Gastroenteritis 
(Weil’sche Krankheit). Deutsche med. Wochenschr. 
1889, No. 39. 

*) O. Rosenbach, Die Perihepatitis simplex etc. 
Arch. f. Verdauungskrankheiten 1896, Bd. 1, S. 7. 

3 ) O. Rosenbach, Die Krankheiten des Herzens 
und ihre Behandlung, Wien und Leipzig 1894/97, 
S. 591 u. a. a. O. Grundriss der Pathologie und 
Therapie der Herzkrankheiten, Wien und Leipzig, 
1899, (Vergl. Index). — Zur Lehre von der spi¬ 
nalen (muskulatonischen) Insufficienz (Tabes dorsalis), 
Deutsche med. Wochenschr. 1899, No. 10—12. 

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auch bei Nichtluctischen Vorkommen, wird 
natürlich in den Augen der Specialisten 
nicht genügen; denn sie werden an dem 
Satze festhalten, dass diese Personen doch 
einmal Lues gehabt hätten, und dass die 
Infection nur entweder nach dem Satze: 
Lueticus semper mendax in Abrede gestellt 
worden sei, oder dass die Kranken von 
einer kleinen Affection vielleicht kein 
Wissen gehabt haben. 

Es ist das eben dieselbe Art der Beweis¬ 
führung. mit der man meine, doch theoretisch 
und praktisch gut gestützte, Ansicht, dass auf 
das Tuberkulin auch ein Nicht-Phthisiker, bei 
grösserer Dosis sicher, bei kleiner nur bei be¬ 
stimmter Disposition, reagiren müsse 1 ), damit 
hinfällig zu machen glaubte, dass man mir ent- 
gegnetc: Das von mir für gesund gehaltene 
Individuum besitze eben doch einen verborgenen 
tuberkulösen Herd, und da man den Betreffen¬ 
den nicht in mikroskopische Schnitte zerlegen 
könne, so müsse man, so lange dieser Gegen¬ 
beweis nicht erbracht sei, die Specificität der 
Tuberkulinreaction so lange als bewiesen an- 
: nehmen. Mit demselben Rechte kann man 
j allerdings auch die Ansicht für bewiesen an- 
sehen. dass die Erdbeben von einem Erdgeiste 
bewirkt werden; denn so lange nicht das ganze 
| Innere der Erde durchforscht ist, hat man ja 
eben seine Nichtexistenz nicht erwiesen. Jetzt 
scheint man übrigens doch immer mehr der 
Ansicht zuzuneigen, dass auch Nichttuberkulöse 
auf Tuberkulin reagiren. 

Abgesehen von diesen Erwägungen, 
scheint mir aber auch das positive Sym¬ 
ptom des beträchtlichen und continuirlichen 
Fiebers gegen die Diagnose Lues zu 
sprechen. Warum sollen wir ein luetisches 
! Leberfieber annehmen, nur um der Dia¬ 
gnose ex juvantibus resp. der specifischen 
Wirkung des Quecksilbers gegen luetische 
Aflectionen eine sichere Stütze zu geben? 
Fieber ist, wie Klemperer selbst kritisch 
bemerkt, der allgemeinen Erfahrung nach 
kein eigentliches Attribut der sicheren 
luetischen Erscheinungen; denn das Erup¬ 
tionsfieber ist so gering und relativ so 
selten und hängt häufig wahrscheinlich so 
sehr von der reactiven Disposition der 
Patienten ab, dass man mit Fug und Recht 
die acuten Erscheinungen der Lues zu den 
nicht fieberhaften rechnet. Um so wahr¬ 
scheinlicher ist es a priori, dass auch die 
chronischen, hyperplastischen und gum¬ 
mösen Bildungen ohne Fieber verlaufen, 
und die Erfahrung bestätigt ja diese An¬ 
nahme; denn selbst bei flüssigen Produkten 
des sogenannten tertiären Stadiums, die 

*) O. Rosenbach, Grundlagen, Aufgaben und 
Grenzen der Therapie Wien 1891, das Kapitel Ober: 
Das Koch’sche Verfahren. — Arzt contra Bacterio- 
loge, Berlin und Wien 1902. 


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104 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


März 


man zur Kategorie der kalten Abscesse 
rechnen könnte, wenn sie sich nicht durch 
die eigentümliche (honigartige resp. 
gallertig-seröse) Beschaffenheit der Flüssig¬ 
keit und die Resorbirbarkeit als eine be¬ 
sondere Form der Exsudation erwiesen, — 
selbst bei diesen Produkten subakuter 
Entzündung oder Erweichung ist von keinem 
Beobachter bisher Fieber constatiert 
worden. 

Dass bei Lues — oder um es ganz 
präcis auszudrücken — bei einmal luetisch 
Inficirten oder sogar bei Kranken mit 
deutlichen luetischen Erscheinungen Fieber 
bekannten und dunklen Ursprungs Vor¬ 
kommen kann, ist ja natürlich nicht aus¬ 
geschlossen; aber dieses Fieber hat eben 
nichts mit der Lues, sondern nur mit secun- 
dären oder accidentellen Erscheinungen, 
die nichts Specifisches haben, zu thun. 
Wem wird es einfallen, das eine Parulis 
oder einen perityphlitischen Abscess bei 
Luetischen begleitende Fieber resp. die 
Producte dieser Erkrankung anders zu be¬ 
trachten als bei einem nicht Inficirten? 
Man behandelt doch auch bis jetzt die 
Zahnkaries in solchen Fällen nicht mit 
Quecksilber, sondern erfolgreich nach der 
gewöhnlichen Methode. 

Ich möchte also annehmen, dass auch 
in den vorliegenden Fällen das Fieber 
nicht luetischer Natur war, und dass es 
auch nicht aus dem Zerfall gummöser Bil¬ 
dungen abzuleiten ist, die ja meiner Er¬ 
fahrung nach, die in diesem Falle doch 
wohl die allgemeine ist, gerade wegen ihrer 
eigenthümlichen Beschaffenheit und wegen 
ihrer Tendenz zur fettigen oder binde¬ 
gewebigen Umwandlung kein Fieber er¬ 
regen, wie ich auch in keinem der von 
mir beobachteten Fälle der honigartigen 
(gummösen, gelatinösen) Verflüssigung pe¬ 
riostaler oder sonstiger Producte — diese 
finden sich meiner Beobachtung nach bei 
Luetischen und Nichtluetischen — Fieber 
beobachtet habe. 

Wenn aber ein secundärer, entzünd¬ 
licher oder eitriger, Process Vorgelegen 
hat, dann ist auch die Existenz sicherer 
uetischer Bildungen für den betreffenden 
Fall irrelevant; denn die Symptome wurden 
eben nicht durch das luetische Virus resp. 
einen specifischen Process, sondern durch 
den secundären Vorgang der Entzündung 
oder Eiterung erhalten, und das Fieber 
kann nicht durch Einwirkung auf den 
luetischen Process, sondern nur durch Be¬ 
seitigung der Eiterung, d. h. durch Ent¬ 
leerung oder Resorption, zum Verschwin¬ 
den gebracht werden. 

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Ob es sich nun in den vorliegenden 
Fällen wirklich um grössere oder kleinere 
Abscesse in der Leber gehandelt hat, das 
lässt sich nicht entscheiden, da Fieber, 
Schüttelfröste etc. ja bei den mannigfachsten 
Formen der entzündlichen Lebererkrankung 
Vorkommen können, ohne dass in irgend 
einem Stadium der Erkrankung Eiterbildung 
anzunehmen ist. Dies beweisen nicht bloss 
das gelbe Fieber, sondern auch die Weil - 
sehe Krankheit und andere Formen der 
Leberaffektion. Dass übrigens auch bei 
eingeklemmten Gallensteinen Schüttelfrost 
und Fieber, mit und ohne Icterus, vor¬ 
kommt, ist ja eine allgemein bekannte 
Thatsache; aber wir wissen auch hier 
nicht, wann und warum Fieber und Schüttel¬ 
fröste eintreten, obwohl es höchst wahr¬ 
scheinlich ist, dass sie — bei Gallensteinen 
— nicht etwa durch den Krampf oder den 
gehemmten Abfluss von Galle, sondern durch 
abnorme, allerdings von der Einklemmung ab¬ 
hängige, Vorgänge in der Leber, d. h. durch 
besonders starke reflectorische Reizung 
oder vielleicht shockartige (Lähmungs-) 
Zustände im Betriebe des Organs und 
zum Theil nur durch Störungen der inneren 
Secretion bedingt werden, wodurch ent¬ 
weder temporär abnorme Producte der 
Leber in die Blutbahn gelangen oder die 
in der Leber gebildeten (Schutz-) Stoffe 
(§. die oben citirte Arbeit von Stirl) fort¬ 
fallen, die als Regulatoren des Stoff¬ 
wechsels, namentlich des Wärme- 
bildungsprocesses (Factoren der Hem¬ 
mung) im gesammten Organismus oder in 
einzelnen Organen (Darm, Muskeln), nament¬ 
lich in der Haut dienen. 

Unsere diagnostischen Hilfsmittel ver¬ 
sagen, wovon ich mich leider genug über¬ 
zeugt habe, nur zu oft völlig, wenn es 
gilt die Abscessbildung in der Leber von 
den nicht eitrigen acuten parenchymatösen 
resp. embolischen oder thrombotischen Er¬ 
krankungen des Lebergewebes incl. der 
Gallenkanäle zu unterscheiden. Die rich¬ 
tige Diagnose gelingt bisweilen mehr durch 
die Gunst des Zufalls als auf Grund sicherer 
Symptome, meistens dort, wo es sich um 
eine mehr oberflächliche, an der Vorder¬ 
fläche oder am Rande gelegene Eiterung 
von beträchtlicher Grösse und relativ 
langer Dauer und langsamer Zunahme der 
Schwellung handelt. In den Fällen, wo 
Heilung ohne Operation vermittelst Durch¬ 
bruchs in einen Gallengang oder in den 
Darm erfolgt, werden wir, wenn der Abgang 
des Eiters im Stuhl übersehen wird, über 
die Natur des Leidens wohl immer im Un¬ 
klaren bleiben, da, wie uns die Erfahrung 

Original fro-m 

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März 


105 


I)ic Therapie der 


gelehrt hat, aus den Symptomen ebenso 
gut auf Abscess wie auf eine parenchy¬ 
matöse Erkrankung geschlossen werden 
kann. 

Acute parenchymatöse Vorgänge in der 
Leber — die, mit Schmerzhaftigkeit in der 
Lebergegend oder in der Nähe des Epi- 
gastriums verbunden, unter dem Bilde eines 
fieberhaften Gastricismus verlaufen und 
gleichsam die Vorstufe der beiden patholo¬ 
gischen Extreme, der WeiEschen Krankheit 
oder des Leberabscesses resp. der Eiterung 
innerhalb der Gallenkanäle, bilden — würden 
überhaupt öfter angenommen werden, wenn 
man in der Praxis die Faeces genauer durch¬ 
forschte und auch den Urin genau auf das 
Verhalten seiner Farbstoffe, namentlich des 
Urobilins, untersuchte, da eben die Farb¬ 
stoffverhältnisse am ehesten feinere Stö¬ 
rungen des Leberbetriebes erkennen lassen. 

Fassen wir das Gesagte zusammen, so 
kommen wir zu folgendem Ergebnisse: Ob 
überhaupt in den Fällen, die den Aus¬ 
gangspunkt unserer Erörterung bildeten, 
Eiterung bestand, lässt sich nicht beweisen; 
es spricht vor Allem dagegen, dass in den 
so genau beobachteten Fällen nicht, ent¬ 
sprechend dem Absinken des Fiebers, 
Eiterentleerung mit den Faeces nachge¬ 
wiesen ist; denn ein Durchbruch nach 
anderer Richtung muss ausser Betracht 
bleiben, und dass Eiterherde überhaupt 
und so schnell resorbirt werden, ist nicht 
gerade wahrscheinlich. Wenn man aber 
auch die Auffassung, dass das Fieber von 
blosser parenchymatöser Entzündung ohne 
Eiterbildung abhing, nicht gelten lassen 
will und einen eitrigen Process annimmt, 
so ist gerade damit unseres Erachtens der 
Vorgang auch aus der Kategorie,der 
eigentlich luetischen ausgeschaltet. 
Es handelt sich dann um einen acciden- 
tellen Vorgang, der, wie das Ergebniss 
aller Mischinfectionen (wenn man diesen 
labilen, um nicht zu sagen charakterlosen, 
Begriff anwenden will) durchaus nicht 
charakteristisch ist für den ursprünglichen 
Process und darum auch nicht der spe- 
cifischen (antiluetischen) Wirkung des 
Quecksilbers unterliegt. 

Die Schwierigkeit, einen aetiologischen 


Deu« nwart 190T 

Zusammenhang zwischen dem fieberhaften 
Processe in der Leber und der Lues zu 
finden, wird aber auch dann nicht geringer, 
wenn man annimmt, dass es sich um die (nicht 
eitrige) Erweichung eines so genannten 
Gumma handelt; denn die Producte eines 
solchen Processes sind zwar, wie die Er¬ 
fahrung lehrt, eben weil sie nicht eigent¬ 
lich eitrig sind, leichter resorbirbar; aber 
weder der Zerfall noch die Resorption ist, 
wie nicht bloss meine eigene Erfahrung 
lehrt — auch Klemperer bestätigt dies 
aus eigener Beobachtung und der Litteratur 
— von Fieber begleitet. 

Aus den angegebenen Gründen können 
■ wir dem aetiologischen Schlüsse ex juvan- 
| tibus nicht beistimmen, trotzdem auch 
i unseres Erachtens ein sicherer Zusam- 
j menhang zwischen Behandlung und 
I Heilung besteht. Die Mittheilung von 
Klemperer ist zweifellos in höchstem 
Grade therapeutisch wichtig, da sie mit 
grösster Wahrscheinlichkeit lehrt, dass im 
Quecksilber auch in anscheinend schweren 
Fällen von Lebererkrankung ein — in 
unserem Sinne (s. o.) — specifisches und 
directes Heilmittel gegeben ist, das nun 
auch in allen Fällen acuter und subacuter 
Lebererkrankung und zwar möglichst so¬ 
fort, unter Umständen nur in Form der von 
Renvers und Klemperer mit so glück¬ 
lichem Erfolge benutzten subcutanen Subli- 
matinjectionen, angewendet werden sollte. 
Das Mittel ist aber, wie ich noch einmal be¬ 
tonen will, nicht specifisch gegen eineKrank- 
I heit im Sinne der ontogenetischen Krank- 
j heitsauffassung resp. adäquates Gegenmittel 
j einer ontogenetischen aetiologischen Einheit, 

I eines specifischen, morphologisch characteri- 
I sirten, Reizes resp. Microbiums oder einer 
Serumform, sondern es ist specifisch im Sinne 
eines bestimmten maximalen Erregungs¬ 
oder Hemmungsreizes für die abnorme 
Leberthätigkeit, eine Wirkungsweise, die 
sich allerdings nach dem heutigen Stande 
unseres Wissens nicht genau präcisiren 
lässt, deren Wesen aber bei häufiger An¬ 
wendung von Quecksilber in den ver¬ 
schiedenen Formen der parenchymatösen 
Lebererkrankung resp.* Entzündung doch 
wohl noch erkannt werden wird. 


Die Behandlung der Perityphlitis. 

Von Ch. Bäumler- Freiburg i. Br. 

(Schluss aus dem Februarheft.) 

Am schwierigsten gestaltet sich die in welchen bei jugendlichen Kranken oder 
Frage, ob und wann ein operativer Ein- Kindern die Perityphlitis in der gewöhnlichen 
griff gemacht werden sollte, in den Fällen, Weise sich acut entwickelt. Weitwenigerstür- 
welche die grosse Mehrzahl bilden, misch als bei einer eigentlichen Perforations- 


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106 Die Therapir der Gegenwart 1903. März 


peritonitis treten plötzlich mehr oder we- : tonealduplicaturen, die als normale 
niger heftige Leibschmerzen auf, die sich Bildungen, nicht als Ueberbleibsel frühe- 
bald auf die Cöcalgegend concentriren. rer Entzünduug Vorkommen, sehr begünstigt 
Meist erfolgt alsbald Erbrechen, auch kann werden kann. Solche Duplicaturen finden 
die Reizung des gesammten Gastrointesti- sich aber an allen Stellen, an welchen Ein- 
naltractus sich durch ein- oder mehrmalige geweide durch sogen. „Ligamente“ mit den 
Darmentleerung äussern. In der Ruhe ver- Bauchwandungen in Verbindung stehen, in 
mindern sich diese Erscheinungen wieder, sehr variabler Weise. Nirgends mehr als 
während nun Fieber auftritt und die rechte am Wurmfortsatz, dessen Lage ja auch so 
Unterbauchgegend sich etwas meteoristisch viele Varianten zeigt. Bald hängt der ganze 
aufzutreiben beginnt. Rascher oder lang- Wurmfortsatz nur mit einer Andeutung 
samer bildet sich nun inmitten der allge- eines Mesenteriolum versehen, frei von 
meinen Auftreibung eine meist länglich ge- seiner Ursprungsstelle am Cöcum ins kleine 
staltete, häufig dem Lig. Pouparti ziemlich ; Becken hinab, bald liegt er vollständig oder 
parallel verlaufende umschriebene ge- ! nur bis an sein äusserstes Ende, das frei 
schwulstartige Härte aus. Dieselbe ist | in die Bauchhöhle hineinragt, hinter dem 
nicht, wie man vielfach geglaubt hat, durch ] Peritoneum, zum Theil unter dem Peri- 
eine Kothansammlung im Cöcum bedingt, tonealüberzug des Cöcums. Wenn ein Theil 
sondern besteht aus den mit der kranken retroperitoneal gelegen ist, kann das Peri- 
Steile des Wurmfortsatzes verklebten an- toneum da, wo das Ende des Fortsatzes in 
grenzenden Theilen des Netzes, des Cö- den Peritonealsack eintritt, eine mehrfache, 
cums und des Dünndarms, mit entzünd- bogenförmige Faltung, gleichsam eine 
licher Infiltration dieser, den eigent- Pforte mit mehreren Bogen für seinen 
liehen Krankheitsherd umschliessen- Austritt aus dem retroperitonealen Binde- 
den Abschnitte der genannten Organe, ge webe bilden. AU’ dies können ursprüng- 
Je nach der Heftigkeit der Entzündung liehe Bildungen sein ohne eine Andeutung 
findet auch mehr oder weniger reichliche ' dafür, dass es sich dabei um Adhäsionen 
Ausschwitzungeiner serös-hämorrhagischen als Reste entzündlicher Veränderungen 
Flüssigkeit statt, die sowohl den eigent- handle. Derartige mannigfach gestaltete 
liehen Entzündungsherd vergrössert, als Faltenbildungen kommen an Stellen, an 
auch jenseits der Grenzen desselben sich welchen Eingeweide, die z. Th. retroperi- 
noch ansammeln kann. Durch dieses flüs- toneal gelegen sind, in die freie Bauch- 
sige Exsudat wird die Geschwulst zwar höhle übertreten, häufig vor. Am Cöcum 
grösser, aber nicht deutlicher fühlbar, wohl sind solche Taschen (Recessus) als mehr 
aber wird durch dieselbe die Dämpfung oder weniger constante, aber in ihrer Ge- 
des Perkussionsschalls eine deutlichere. Bei stalt variable Bildungen sogar besonders 
gleichzeitigem freien Erguss kann sich j benannt worden, 
schräg von der Cöcalgegend über die Sym¬ 
physengegend nach links, oder bis zum 
linken Poupart’schen Band reichend eine 
schwächere Dämpfung an den stark ge¬ 
dämpften Bezirk anschliessen. In solchem 
Fall ist dann auch leichte Fluctuation 
links von dem Tumor nachweisbar. Wie 
bereits erwähnt, ist Riedel der Ansicht, 
dass ein perityphlitischer „Tumor“ sich 
nur dann entwickeln könne, wenn um den 
Wurmfortsatz bereits ältere Adhä¬ 
sionen vorhanden sind und wenn der¬ 
selbe vor, hinter oder nach unten vom 
Cöcum, d. h. nach dem Lig. Pouparti zu 
liegt. Der Umstand, dass in vielen Fällen 
von Perityphlitis bei j u gen dl i che n Kran¬ 
ken und erstmaligem derartigen Erkran¬ 
ken ein Tumor sich bildet, Hess mich 
Zweifel an der Allgemeingiltigkeit dieser 
Annahme aussprechen. Dagegen würde es 
mir sehr sehr erklärlich erscheinen, dass 
die rasche Bildung einer solchen Geschwulst 
durch entzündliche Infiltration von Peri- 


Diese Verhältnisse, sowohl die Lage des 
Wurmfortsatzes als seine Beziehungen zum 
Peritoneum, sind von grosser Wichtigkeit für 
den Weg, den eine vom Wurmfortsatz aus¬ 
gehende infectiöse Entzündung nimmt und für 
die Schnelligkeit, mit der sich eine Infiltration, 
welche in Verbindung mit sich unter einander 
verlöthenden Nachbartheilen als Geschwulst 
fühlbar wird, ausbildet. Findet der Uebergang 
einer infectiösen Entzündung im Wurmfortsatz 
oder einer zunächst nur punktförmigen Nekrose 
in seiner Wand auf die Umgebung an einer 
Stelle statt, an welcher der Wurmfortsatz retro¬ 
peritoneal liegt oder wo die beiden Blätter 
seines Mesenteriolum ihn umfassen und nahe 
seiner Ursprungsstelle, so kann sich ungemein 
rasch eine phlegmonöse Infiltration des retro¬ 
peritonealen Bindegewebes oder in letzterem 
Fall des subserösen Bindegewebes, nicht nur 
am Fortsatz selbst, sondern auch am Cöcum, 
ausbilden. Liegt der Wurmfortsatz schnecken¬ 
artig gewunden grösstentheils unter der Serosa 
des Cöcums, so wird die Infiltration haupt¬ 
sächlich das subseröse Bindegewebe des letz- 
! teren betreffen und kann sich nach aufwärts 


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März 


107 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


am Colon ascendens fortsetzen. Fühlbar wird 
die Geschwulst, wie Riedel mit Recht hervor¬ 
hebt, nur werden, wenn die Lage des 
Wurmfortsatzes eine hierfür geeignete 
ist. Wenn ein langer Wurmfortsatz ins kleine 
Becken hinabhängt, und die zur Entzündung 
in der Umgebung führende Veränderung nahe 
seiner Spitze ihren Sitz hat. entsteht eine Ver- 
löthung mit dem Rectum, und bei weiblichen 
Individuen mit dem Ovarium, oder Uterus oder 
breiten Mutterband und kann eine Geschwulst 
oberhalb des Ligamentum Pouparti nicht fühl¬ 
bar werden. Bei derartigen periappendiculären 
Abscessen in der Tiefe des Beckens scheint 
mir die Gefahr einer Lösung der Verklebungen 
wegen der Beweglichkeit der daran sich be¬ 
theiligenden Organe, namentlich des Rectums, 
eine besonders grosse zu sein. Einen Fall 
dieser Art habe ich im Deutschen Archiv für 
klinische Medicin x ) mitgetheilt. In solchen 
Fällen würde möglichst frühzeitige Operation 
sicher viel mehr angezeigt sein, als in den ge¬ 
wöhnlichen. mit rascher Entwickelung eines 
perityphlitischen Tumors. 

Auf die Lage- und Verlaufsverhältnisse des 
Wurmfortsatzes sollte bei Leichenöffnungen 
jeder Art zu weiterer Ansammlung casuisti- 
schen Materials noch viel mehr Aufmerksam¬ 
keit verwendet werden. Es würde mit der 
Zeit unsere Kenntniss der überaus mannig¬ 
faltigen Lage- und Gestaltsverältnisse des 
Organs vervollständigt und damit gewiss auch 
ein Einblick gewonnen werden in manche 
ohne Berücksichtigung dieser Momente unklar 
bleibende Erscheinungen und Eigenartigkeiten 
des Verlaufs bei derartigen Kranken. # 

Während des Lebens wird man in 
einem Fall von Perityphlitis über die Lage¬ 
verhältnisse des Wurmfortsatzes nur 
dann bis zu einem gewissen Grade Aufschluss 
gewinnen können, wenn man den Fall von 
Anfang an beobachten konnte, ehe sich aus¬ 
breitender Meteorismus die örtlichen Erschei¬ 
nungen mehr oder weniger verwischt hat. Vor 
Allem wird der palpatorische Befund in Bezug 
auf Druckempfindlichkeit und Sitz einer Re¬ 
sistenz von Wichtigkeit sein. Riedel 9 ) hat 
bereits werthvolle Angaben darüber gemacht. 

Von grösster Bedeutung für den Verlauf 
der zunächst am Wurmfortsatz selbst und dann 
in der Umgebung sich abspielenden Vorgänge 
ist dessen Gefässversorgung. Diese ist in 
den Fällen, in welchen der Fortsatz nach ab¬ 
wärts ins Becken hinein verläuft, beim weib¬ 
lichen Geschlecht, worauf schon Sonnenburg 3 ) 
aufmerksam gemacht hat, eine bessere als beim 
männlichen, insofern, als eine zweite Blutver- 
sorgung von der Arteria ovaria her vorhanden 
ist. Hierdurch ist bei Kreislaufsstörungen ein 
collateraler Ausgleich leichter möglich, anderer¬ 
seits aber auch ein Uebergang der Entzündung 
von einem Organ auf das andere. 

l ) Bd. 73 S. 1 18. 

9 ) 1. c. S. 726. 

*) 1. c. 5. 16. 


Kehren wir nach dieser Abschweifung 
zurück zur Betrachtung des gewöhnlichen 
perityphlitischen Krankheitsbildes, so können 
in einzelnen Fällen alle krankhaften Ver¬ 
änderungen, auch nach anfänglich heftigen 
Erscheinungen, bei völlig ruhigem Ver¬ 
halten, in 3 bis 4 Tagen ganz zurückgehen. 
In der Mehrzahl der Fälle aber nehmen 
die Erscheinungen zu: der schon deutlich 
abtastbar gewesene Tumor wird durch 
den zunehmenden Meteorismus mehr und 
mehr verdeckt, die sich ausbreitende Auf¬ 
treibung des Leibes fängt an, die Athmung 
durch die Empordrängung des Zwerchfells 
zu beeinträchtigen. In den mechanischen 
Wirkungen des Meteorismus auf Athmung 
und Herzthätigkeit können neue Gefahren, 
vor Allem die der Hypostase in den hin¬ 
teren unteren Lungentheilen, sich hinzu¬ 
gesellen. Das Rückgängigwerden einer 
durch solche Erscheinungen und die Ver¬ 
breitung der Schmerzen und Druck¬ 
empfindlichkeit am Bauche sich kund¬ 
gebenden Ausbreitung der perityphlitischen 
Reizung nimmt längere Zeit in Anspruch, 
hängt aber, ebenso wie eine Verschlimme¬ 
rung, von sehr verschiedenen Umständen, 
vor Allem von dem, was im ursprünglichen 
Entzündungsherd vor sich geht, ab Von 
Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde 
kann das Krankheitsbild wechseln. Für 
den behandelnden Arzt ist das Haupt¬ 
augenmerk darauf zu richten, ob Er¬ 
scheinungen einer umschriebenen, 
grösseren Abscessbildung sich mehr 
und mehr in den Vordergrund 
drängen, oder ob in schleichender Weise 
die Perityphlitis sich auf weitere 
Strecken des Bauchfells, namentlich 
rechts entlang dem Colon ascendens nach 
dem Zwerchfell hin, ausbreitet (subphre¬ 
nischer Abscess), oder ob Complicatio- 
nen seitens der Pleura, wiederum 
mit Vorliebe rechts, hinzugetreten sind. 

In dieser Art Fällen handelt es sich 
vor Allem darum, den Zeitpunkt zu be¬ 
stimmen, wann der sich von Tag zu 
Tag vergrössernde Abscess geöffnet 
werden soll, sei es, wenn möglich, extra¬ 
peritoneal, sei es, bei intraperitonealer 
Lage, durch Laparotomie, wo möglich 
mit gleichzeitiger Entfernung des 
kranken Wurmfortsatzes. Ein sehr 
werthvolles Hilfsmittel zur Indications- 
stellung für diese operativen Eingriffe 
scheint nun in dem Verhalten der Zahl 
der weissen Blutzellen gegeben zu 
sein. Es ist Curschmann’s 1 ) Verdienst. 

l ) Münchener med. Wochcnschr. 1901. No. 48 
und 49. 


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14 * 

Original fro-m 

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108 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1903, 


die Methode der Leucocytenzählung zum 
Nachweis einer Eiterung auch in Deutsch¬ 
land heimisch gemacht zu haben, nachdem 
dieselbe in Amerika schon vielfach zur 
Sicherstellung von Eiteransammlungen bei 
Perityphlitis und zur Erkennung drohender 
Perforation bei Ileotyphus verwendet 
worden war. 

Im Allgemeinen kann man auf Grund 
der bis jetzt vorliegenden Beobachtungen 
sagen, dass bei Perityphlitis mit der Zu¬ 
nahme der Entzündung bis zum Auf¬ 
treten eines eigentlich eiterigen Exsudates 
eine rasche Zunahme, vorwiegend 
der polymorphonucleären, 1 ) Leuko- 
cyten von der normalen Durchschnittszahl- 
von 5—6000 im emm auf 25 bis 30000 statt¬ 
findet. Darin darf zugleich ein Beweis 
gesehen werden, dass der Organismus fähig 
ist, die ihm in dieser Hinsicht zur Ver¬ 
fügung stehenden Schutzkräfte in einer 
der entzündlichen Reizung entsprechenden 
Weise mobil zu machen. 

In Fällen mit schweren septischen Erschei¬ 
nungen kommt es nach den Untersuchungen 
von J. C. da Costa, 2 ; Longridge und Kütt- 
ner 3 ) nicht mehr zu dem Auftreten einer 
Leukocytose. Ebenso fehlt dieselbe bei älteren 
Abscessen mit dicker bindegewebiger Wand, 
welche den Austausch der Bakterientoxine mit 
dem Blut- und Säftestrom verhindert. 

Die grosse praktische Wichtigkeit einer 
sorgfältigen Verfolgung der Leukocytenzahl von 
Tag zu Tag liegt, wie aus Curschmann’s, 

A Kühn’s 4 ) u. A. Zahlenreihen sich ergiebt 
und wie besonders d a C o st a hervorhebt, in dem 
Einblick, den dieselbe in den Verlauf des ört¬ 
lichen Entzündungsprocesses gewährt. Ein sehr 
rasches Ansteigen der Leukocytenzahl auf 20000 
und darüber ist in der Regel von anderen Er¬ 
scheinungen begleitet, die eine Zunahme der 
Entzündung bedeuten: höheres Fieber, ver¬ 
mehrte Druckempfindlichkeit an einer um¬ 
schriebenen Stelle, teigige Beschaffenheit des 
Unterhautzellgewebes in der Umgebung, oder 
auch Fluctuation. 

Das Zuströmen der Leukocyten zu dem 
Entzündungsherd und ihre Vermehrung in der 
ganzen Blutbahn deutet darauf hin, dass ge¬ 
wisse Producte der Entzündungserreger eine 
chemotaktische Wirkung auf die Leukocyten 
ausüben. Das öfter bereits beobachtete Aus¬ 
bleiben einer Leukocytenvermehrung in Fällen 
von foudroyanter Gangrän am Wurmfortsatz 
lässt daran denken, dass, abgesehen von der 

l ) C. J. Nepeau Longridge, Leukocytosis in | 
Appendicitis. Lancct, 12. VII. 1902. 

3 ) J. C. da Costa, The blood in Appendicitis. 
Amer. Journ. of med. Sc. Bd. 122, Nov. 1901, S. 645. j 
Derselbe, Clin. Hematology. 1902. 

3 ; Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für j 
Chirurgie. Kongress 1902. 

4 ) Münchener med. Wochenschr. 1902, 49. Ent¬ 
hält zahlreiche Littcraturnachweise. 


ungünstigen Rückwirkung des örtlichen Brandes 
auf den Gesammtorganismus, die besondere 
Art der Krankheitserreger an beidem, der 
rasch entstehenden Gangrän und dem Aus¬ 
bleiben der Leukocytose, die Schuld trägt. All- 
; gemein nimmt man an, dass Colibacillen und 
Streptococcen die Erreger der schweren Er¬ 
krankungen des Wurmfortsatzes und deren 
Uebergang auf die Umgebung sind. Nament- 
! lieh für die Fälle von Gangrän ist jedoch 
1 neuerdings verschiedentlich, von Veilion 1 ) 
j und Huber, Friedrich, 2 ) Weich sei bäum 3 ) 
| und seinen Schülern, Axel Wallgren 4 ) darauf 
| aufmerksam gemacht worden, dass anaörob 
| wachsende Bakterien dabei eine Hauptrolle 
| spielen. Bei Frühoperationen wird sich Ge- 
! legenheit ergeben, die Bakteriologie der Ap- 
| pendicitis und Perityphlitis und damit vielleicht 
! auch manche noch dunkle Frage hinsichtlich 
j der klinischen Erscheinungen, vor Allem die, 
welche die Pulsfrequenz oder das Auftreten 
von Collapserscheinungen, Gasbildung im Eiter 
eines A^scesses, die Neigung zum Oertlieh- 
bleiben oder zum Fortschreiten der Peritonitis 
u. A. betreffen, zu klären. 

Der percussorische Nachweis von 
Gasbildung in einem perity phli ti - 
sehen Abscess oder von Gasaustritt 
aus einem perforirten Wurmfortsatz 
ist oft sehr schwierig und unsicher, da der 
Erkrankungsherd häufig auch gashaltige 
Darmschlingen einschliesst. Man wird, ehe 
| man bei Auftreten von Erscheinungen, die 
j auf freies Gas in einer abgegrenzten Eiter¬ 
ansammlung oder in der Bauchhöhle hin¬ 
deuten, alle Hülfsmittel der Untersuchung 
beiziehen, ehe man eine sichere Entschei¬ 
dung trifft. Unter Umständen würde ich 
auch eine Probepunction für statthaft halten, 
die ich sonst in Fällen von Perityphlitis 
zum Nachweis eines Abscesses, weil nicht 
ungefährlich, vermeide. Vor Allem würde 
unter vorsichtiger Lageänderung des Kran¬ 
ken die Verschieblichkeit des der vermuthe- 
ten Gasansammlung zugehörigen tympani¬ 
schen Schallbezirks zu prüfen sein, ebenso 
der Wechsel der Tonhöhe bei mehr oder 
weniger starkem Aufdrücken des Plessi¬ 
meters. In einem im letzten Sommer aut 
der hiesigen medicinischen Klinik vorge¬ 
kommenen Fall traten eines Tages im Ge¬ 
biet der perityphlitischen Infiltration Er¬ 
scheinungen auf, welche den Gedanken an 
Gasentwicklung in einem Abscess sehr nahe 
legten. Da der Fall auch sonst Bemerkens- 
werthes darbot, sei er kurz mitgetheilt: 

l; Vgl. Rist, Centralbl. f. Bakt. u. Parasitenk. 
1901, No. 7. 

a ) Zur bakteriellen Aetiologie und zur Behand¬ 
lung der diffusen Peritonitis. Arch. f. klin. Chir. 
Bd. 68, S. 524. 

3 ) Centralbl. f. Bakteriol. Bd. 32, 6, Abth. I. 

4 ) Centralbl. f. Gynäkol. 1902, 42. 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


109 


Frl. M. B., 23 Jahre alt, Ladnerin, wurde j 
am 16. Juli 1902 (Journal-No. 421) in die Klinik j 
auf genommen. Erste Erscheinungen am 12. Juli j 
Mittags, in Form leichter Schmerzen in der 
Cöcalgegend, die wieder verschwanden. In der 
Nacht vom 13. auf den 14. erwachte sie plötz¬ 
lich mit starken Schmerzen, stand abei trotz¬ 
dem Morgens auf und war mit fortdauernden 
Schmerzen im Geschäft thätig, bis sie Nach¬ 
mittags sich zu Bett zu legen gezwungen war. 
Der beigezogene Arzt sorgte, da am 16. Mor¬ 
gens eine Temperatur von 39,6 gemessen 
wurde, für ihre Verbringung in die Klinik. Am 
15. Juli, acht Tage zu fiüh, Eintritt der 
Menses. 

Bei der Aufnahme das Abdomen, nament¬ 
lich rechts etwas aufgetrieben, die ganze rechte 
Hälfte sehr druckempfindlich, etwas stärker 
gespannt, der Percussionsschall unterhalb des 
Rippenbogens nach der Lumbalgegend hin 
nochtympanitisch, in der Cöcalgegend tiefer 
und etwas gedämpft. Temperatur Mittags 39.2. 
Puls 120. Kühlschlange auf den Leib, 5 mg 
Morphin subcutan. Abends Temperatur 40,0. 
Nachts 12 Tropfen Tr. Opii. Am 17. ein dünn¬ 
flüssiger Stuhl. 

In den folgenden Tagen unter Rückgang 
der Temperatur und Pulsfrequenz Abnahme j 
der Druckempfindlichkeit und Verkleinerung ; 
des resistenten Bezirkes, der etwas über der ; 
Nabelhöhe beginnt und mit einer Breite von 
6-7 cm sich gegen das Ligamentum Pouparti 
hinzieht. Die Schmerzen erforderten täglich 
nicht mehr als 12 Tropfen Tr. Opii und eine i 
Morphineinspritzung von 8 mg des Abends. 

Am 20. Juli Abends Ansteigen der Tempe¬ 
ratur, die bis dahin 39 nicht mehr überschritten 
hatte, auf 39,4. auch am Morgen des 21. 39,2, 
Mittags 39.7, Puls 100 bis 108, das Allgemein¬ 
befinden dementsprechend, aber ohne sonstige 
auffällige Erscheinungen. 

Am 21. Mittags: Linke Unterbauchgegend 
bis zur Mittellinie ziemlich weich und leicht 
eindrückbar, rechts grössere Resistenz, be¬ 
ginnend 2 cm von der Linea alba und den 
ganzen unteren Quadranten, bis 2 Finger breit 
oberhalb der Nabelhöhe in der Parasternallinie, 
in der Mammillarlinie bis zum Rippenbogen 
hinauf einnehmend, nach rückwärts bis zur 
Axillarlinie reichend. Der Percussionsschall in 
derMittc dieses Bezirks gedämpft. Die Dämpfung 
erstreckt sich auch nach rückwärts bis zur 
Lumbalgegend. Daselbst, ebenso wie vorne 
ziemlich starke Druckempfindlichkeit. Teigige 
Beschaffenheit des Unterhautzellgewebes nir¬ 
gends nachweisbar. 


30 200, am 22. Morgens 23 600, von Hrn. Dr. 
Sch lei p gezählt, der weiterhin den Fall in 
dieser Richtung verfolgte. Temperatur 38,4, 
Puls 96, von guter Beschaffenheit. Nachts nichts 
Besonderes. Am Morgen gleichmäßige Wärme- 
vertheilung. Hände warm. Haut und Sklera 
etwas gelblich. 

In dem ganzen, gestern gedämpften 
Bezirke heute t v m p a n i t i s c h c r Schall, 
nach aussen von der Parasternallinic gegen die 
Axillarlinie hin und nach abwärts gegen die 
Spina a. s. höher als medianwärts. Nach 
oben reicht der tiefe tympanitische Schall bis 
zur 7. Rippe in der Parastei nallinie und wird 
von der Leberdämpfung begrenzt. In der 
Axillarlinie tympanitischer Schall bis zur 
10. Rippe hinaufreichend. In der Lumbal¬ 
gegend der Schall tympanitisch, von anderer 
Höhe als vorne. 

Die fühlbare Resistenz reicht bis zur hinte¬ 
ren Axillarlinie (in Rückenlage der Kranken), 
hat vorne die bisherige Ausdehnung, ist am 
stärksten über der Spina a. s.. Spannung 
daselbst sehr erheblich, Unterhautzell¬ 
gewebe nicht teigig. Di uckempfindlichkeit heute 
viel geringer als vor einigen Tagen. 

Bei dem befriedigenden Allgemeinbefinden 
wird in dem Befund am Abdomen und der 
starken Leukocytose kein Anlass zu einem ope¬ 
rativen Eingriff gefunden, zu dem man sich 
jedoch gegebenen Falls sofort entschlossen haben 
würde. Unter Tags massiger Rückgang der 
Temperatur und der Pulsfrequenz (Temperatur 
Mittags 38,0, Puls 92, Nachmittags 4 Uhr 38,3, 
Puls 96, Abends 8 Uhr 37,8). 

Am 23. Morgens Temperatur 37,4, Puls 88. 
Die Auftreibung geringer, grössere Resistenz 
nur um die Spina a. s. herum, nach abwärts 
bis zur Mitte des Lig. Poup., Betastung und 
| Percussion daselbst schmerzhaft. Percussions- 
schall im höher tympanitisch klingenden Gebiet 
rings um den vordersten Theil des Darmbein¬ 
kamms herum etwas mehr gedämpft, im Ver¬ 
gleich zu der medianwärts gelegenen Gegend 
noch wie gestern höher klingend. Vorsichtige 
i Lagerung der Kranken etwas mehr auf die 
I linke Seite hat keine Verschiebung dieses tym- 
' panitischen Bezirks zur Folge. Leukocyten: 

| Mittags 19600. Temperatur Abends 37.4, 

; Puls 82. 

| Am 24. Morgens Temperatur 37.5, Puls 80. 
i Mittags Temperatur 36 8, Abends 37,8, Puls 76. 

Auftreibung und Resistenz im Ganzen ge¬ 
ringer, gegen die Spina a. s. hin etwa wie 
gestern, desgleichen das Verhalten des tympa- 
nitischen Schalls. 


Die Leberdämpfung wie bisher etwas empor¬ 
gedrängt. Erscheinungen von Pleuritis nicht 
nachweisbar. 

Harnentleerung frei. Harn enthält etwas 
Eiweiss (Menses hatten bis zum 20. gedauert), 
kein Indican, keine Diazoreaction. 

Die abendliche Morphindosis muss auf 1 cg | 
erhöht werden. 

Die an diesem Tag von Hrn. Dr. Sobotka 
zuerst ausgeführte Leukocytenzählung ergiebt: 


Am 25. Temperatur Morgens 37,0, Puls 72, 
Abends 37,5 und 80. Leukocyten 23200. 

Am 26. Temperatur Morgens 36,9. Puls 76, 
Abends 37,7. Leukocyten: 21800. Im Ham 
eine Spur Indican. Auf Glycerinsuppositorien 
etwas Stuhl. Die Kühlschlange wird durch 
feuchten Umschlag ersetzt. Morphin vom 29. 
an auf 8 mg Abends herabgesetzt, wird am 
5. August ganz fortgelassen. Opium bereits 
seit dem 21. Juli nicht mehr gegeben. 


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110 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


M&rz 


Am 27. Abends noch 37,6 bei 76 Pulsen. 
Von da an Normaltemperatur. Der Harn eiweiss¬ 
frei, giebt nur ganz schwache Indicanreaction, 
obwohl vom 17. bis 30., also innerhalb 13 Tagen, 
nur eine geringe Darmentleerung (am 27.) vor¬ 
handen gewesen war. Dabei hatte mit dem 
Rückgang des Fiebers am 22. die Auftreibung 
des Leibes von Tag zu Tag abgenommen. Am 

28. keine Assymmetrie beider Bauchhälften 
mehr sichtbar, etwas stärkere Resistenz noch 
oberhalb des Darmbeinkamms und bis zur 
Spitze der 11. Rippe fühlbar. In dieser Gegend 
der Percussionsschall etwas weniger voll, vor 
und unterhalb der Spina a. s. heller tympani- 
tischer Schall. Hinten am Thorax nur Hochstand 
der Leber nachweisbar. 

Am 30. erfolgte auf Oeleinlauf, der am 

29. gegeben worden war, mehrmalige reich¬ 
liche Darmausleerung ohne auffällige abnorme 
Beimischungen (Eiter, Blut). Am 31. gebunde¬ 
ner, normal aussehender Stuhl. 

Am 5. August war nur noch in der Mitte 
zwischen Nabel und Spina a. s. eine etwas 
stärkere Resistenz nachweisbar, ohne Druck¬ 
empfindlichkeit. Vom 1. August an war feste 
Kost verabreicht worden, und vom 5. August 
an erfolgte fast täglich von selbst Stuhl. Zwischen 
13. und 27. August fand eine Gewichtszunahme 
von 2 kg statt, und am 2. September konnte 
die Kranke noch etwas anämisch, aber sonst 
völlig genesen entlassen werden. 

Leukocyten am 28. Juli 16800, 31. Juli 
11800, 11. August 10800, 2. September 8000. 

In diesem schweren Fall mit 14tägiger 
Fieberdauer und mehrfach sehr hohen 
Temperaturen war es zu einer ziemlich 
ausgebreiteten peritonitischen Reizung in 
der ganzen rechten Bauchhälfte, aber nicht 
zur Bildung eines gewöhnlichen perityphli- 
tischen Tumors gekommen. Der eigent¬ 
liche Entzündungsherd musste mehr in der 
Tiefe gelegen sein, wahrscheinlich hinter 
dem Cöcum, was auf eine ungewöhnliche 
Lage des Wurmfortsatzes hindeutete. 
Vielleicht lag der letztere von seiner Ur¬ 
sprungsstelle nach rückwärts umgebogen 
hinter dem Cöcum und medianwärts vom 
Colon ascendens. Am 21. Juli konnte man 
bei dem Wiederansteigen des Fiebers und 
der hohen Leukocytenzahl an rasche 
Abscessbildung denken, ja die Perkussions¬ 
verhältnisse konnten sogar den Verdacht 
auf Gasbildung in einem Abscess wach¬ 
rufen. Der weitere Verlauf zeigte, dass 
es sich um gashaltige Darmschlingen ge¬ 
handelt hatte. Der rasche Rückgang des 
Fiebers am 22. und die schon an diesem 
Tage angedeutete sonstige Besserung 
Hessen von einem operativen Eingriff Um¬ 
gang nehmen. Ob ein Abfluss des Eiters 
durch den Darm stattgefunden hat, liess 
sich nicht feststellen. Die Darmentleerun¬ 


gen zeigten nichts, was darauf hingedeutet 
hätte. Und doch sprach die eine Zeit 
lang sehr deutliche Dämpfung des Per¬ 
kussionsschalls für eine ziemlich erheb¬ 
liche Infiltration, die der schnellen Re¬ 
sorption zufolge wohl von vorwiegend 
seröser Beschaffenheit war. 

Beachtenswerth ist an dem Verlauf auch 
der gleichmässige Rückgang der 
meteoristischen Auftreibung, wiewohl 
im untersten Theil des Darmes Koth- 
massen angesammelt waren und 
ebenso das Fehlen einer stärkeren Indi¬ 
canreaction des Harns trotz dieser Stuhl¬ 
verstopfung. Wie in diesem, so hatten 
wir in zahlreichen Fällen unserer Klinik 
beobachten können, dass trotz 8 bis 
lOtägigen Fehlens von Darmentleerung,, 
dieselbe dann ohne Schwierigkeit, oft von 
selbst oder unter Nachhilfe eines Oel- 
einlaufs, leicht erfolgt. 

Nachdem wir im Vorausgegangenen 
uns hauptsächlich mit der jetzt im Mittel¬ 
punkt der Diskussion befindlichen Frage 
der sogenannten „Frühoperation M bei 
Perityphlitis beschäftigt haben, — die 
Operation zur Fortnahme eines erkrankten 
Wurmfortsatzes nach Ablauf eines oder 
mehrerer Anfälle von Perityphlitis ist kaum 
mehr Gegenstand sehr getheilter Meinungen 
— veranlassen mich, einige neuere Aeusse- 
rungen angesehener französischer und 
amerikanischer Chirurgen und eines inne¬ 
ren Klinikers, einige Punkte der internen 
Behandlung derjenigen Fälle, in welchen 
man sich nicht zu einer sofortigen 
Operation entschliesst oder in 
welchen die äusseren Verhältnisse 
den Gedanken an eine solche gar 
nicht aufkommen lassen, noch einmal 
zu berühren. 

Wenn Chirurgen, von der festen Ueber- 
zeugung ausgehend, dass jeder kranke 
Wurmfortsatz, als eine dauernde Gefahr 
für die Gesundheit seines Trägers, ent¬ 
fernt werden müsse. Alles in der Behand¬ 
lung derartiger Fälle vermieden wissen 
wollen, was trügerische Hoffnungen er¬ 
wecken und damit den richtigen Zeitpunkt 
für die nothwendige Operation versäumen 
lassen könnte, so lässt sich ein derartiger 
Standpunkt vollkommen billigen, wenn 
man auch im Einzelnen mit den Aus¬ 
stellungen, welche an allgemein geübten 
Behandlungsmethoden gemacht werden, 
wie an der Opium- und der Eisbehand¬ 
lung, sich nicht einverstanden erklären 
kann. Weniger verständlich aber ist es, 
wenn ein innerer Kliniker, wie es neuer- 


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März Die Therapie th 

dings Bourget 1 ) thut, gerade die Chi¬ 
rurgen als der Opiumbehandlung günstig 
gestimmt hinstellt, der er geneigt ist, nicht 
bloss die Häufung der Perityphlitisfälle in 
den letzten 15 Jahren, sondern sogar die 
häufiger eintretende Nothwendigkeit. ope¬ 
rativ einzugreifen, 2 ) in die Schuhe zu 
schieben. Zunächst möchte ich mir er¬ 
lauben, daran zu erinnern, dass nicht 
Chirurgen, sondern zwei sehr hervor¬ 
ragende innere Kliniker, Graves und 
Stokes in Dublin, es waren, welche Mitte 
der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts 
die Opiumbehandlung der Bauchfellent¬ 
zündung eingeführt haben, und dass der 
Karlsruher Arzt A. Volz 8 ) zu ihrer Ver¬ 
breitung ebenso wie zur Erweiterung 
unserer Kenntnisse über die Peritonitis I 
und Perityphlitis und deren Ursprung in 
einem kranken Wurmfortsatz sehr viel bei¬ 
getragen hat. Von den Chirurgen der 
Gegenwart wird man im Allgemeinen * 
wohl eher behaupten können, dass sie der j 
Opiumbehandlung gegenüber etwas vor¬ 
sichtig zurückhaltend sind, als das Gegen- 
theil. Ich habe an anderer Stelle 4 ) mich 
über diese Frage bereits ausgesprochen 
und will hier nur kurz zwei Punkte be¬ 
rühren. Der eine betrifft die Befürchtung, 
dass durch Opiate eine Darmlähmung | 
herbeigeführt werden könne. Dies ist 
durchaus nicht zu fürchten, wenn nicht 
ganz übermässige Mengen gegeben und 
wenn die Wirkungen der einzelnen Dosen 
sorgfältig beobachtet werden. Das andere 
ist der zeitweise oder vorwiegende Ersatz 
der innerlichen Verabreichung von Opiaten 
durch subcutane Injection von Mor¬ 
phin oder Morphin und Atropin. Die 
subcutane Einverleibung ist in Fällen von 
einiger Schwere, namentlich wenn starke 
Brechneigung über die ersten Anfangs¬ 
stadien hinaus fortdauert, nicht nur wegen 
der rascheren schmerzstillenden Wirkung, 
sondern auch deshalb vorzuziehen, weil in 
schweren Fällen mit starkem Meteorismus 
die Resorption aus dem Magen oft eine 
verlangsamte ist. 

Mit der Opium- bezw. Morphinbehand¬ 
lung steht eine andere Frage im engsten 
Zusammenhang, bezüglich deren Bourget 
gleichfalls in mehreren Veröffentlichungen 
der letzten Jahre Ansichten gcäussert und 
Rathschläge gegeben hat, welche von den 


*) Bourget, Le traitement medical des intlam- 
raations du Coecum. Genfcve, — Therap. Monatshefte 
1901. Juli. S. 340. 

3 ) Monographie S. 13—15. 

3 ) L. c. 

\> L. c. 5. 124 f. 


Gegenwart 1903. 1 1 1 


jetzt ziemlich allgemein befolgten Grund¬ 
sätzen der Behandlung solcher Fälle sich 
prinzipiell unterscheiden. Die Erfahrung 
nicht bloss bei Leichenöffnungen, sondern 
mehr noch die der Chirurgen, diese Autopsie 
in vivo, hat uns doch Vorgänge kennen ge¬ 
lehrt, durch welche ein durch Uebergreifen 
der Erkrankung vom Wurmfortsatz auf 
die Umgebung entstehender Entzündungs¬ 
herd lokalisirt und einer Ausbreitung auf 
das ganze Bauchfell vorgebeugt werden 
kann. Die entzündliche Ausschwitzung 
und ebenso auch die meteoristische Auf¬ 
treibung der von Entzündung betroffenen 
Darmschlingen, sie tragen beide dazu bei. 
dass Verklebungen der erkrankten Theile 
unter einander zu Stande kommen, die 
den Entzündungsherd abschliessen. Der 
Meteorismus wirkt, worauf Sir Frederick 
Treves aufmerksam macht, durch die ver- 
hältnissmässige Ruhigstellung der betr. 
Darmpartieen in dieser Richtung günstig ein 
und hilft die Verbreitung der Entzündungs¬ 
erreger auf immer weitere Strecken, wie 
sie durch lebhafte peristaltische Bewegung 
herbeigeführt würde, einschränken. 

Von diesen Gesichtspunkten aus muss 
die Behandlungsmethode, welche seit der 
Mitte des vorigen Jahrhunderts mehr und 
mehr an Verbreitung zugenommen hat, 
und die sich zum Ziele setzt, durch mög¬ 
lichst absolute Ruhe des Kranken, nahezu 
vollständiges Unterlassen von Nahrungs- 
! zufuhr per os, Einschränkung der Peri- 
I staltik durch Opiate möglichst früh- 
! zeitig Verklebung und damit die Be- 
1 schränkung der Entzündung auf 
einen kleinen Herd herbeizuführen, als 
der von der Natur selbst vorge- 
i zeichnete Weg erschienen, die Heilung 
, der Krankheit zu fördern. Gegen den 
| Grundsatz der möglichsten Ruhigstellung 
| des Darmes verstösst aber die Anwen- 
| düng jedes Abführmittels, denn alle 
Abführmittel wirken hauptsächlich durch 
Verstärkung der Peristaltik. Durch eine 
solche wird aber allen den erwähnten 
nützlichen Vorgängen in der Nähe des 
Entzündungsherdes geradezu entgegen ge¬ 
arbeitet. Bei bereits gereiztem Darm- 
tractus, wie er es in vielen Fällen gerade 
in den ersten Anfängen der Krankheit ist, 
bewirken Abführmittel noch eine viel leb¬ 
haftere Peristaltik als bei Gesunden. Zeug- 
niss dafür legt das so ungemein häufig, 
selbst auf an sich milde Abführmittel als¬ 
bald eintretende oder sich steigernde Er¬ 
brechen ab. 

Nun hat sich allerdings neuerdings der 
Standpunkt, von welchem aus die Anhänger 


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112 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


abführender Curen ihr Vorgehen motiviren, i 
gegenüber dem, der in früheren Zeiten zu j 
ihrem Gebrauch führte, etwas verschoben. ■ 
Ursprünglich als Bestandtheil des anti¬ 
phlogistischen Heilapparates angewandt, 
liess später der Nachweis einer Geschwulst 
in der Cöcalgegend, die man sich durch 
Anfüllung des Blinddarms mit festen Koth- 
massen erklärte, in der wünschenswerthen 
Entfernung dieser zurückgehaltenen Massen 
eine naheliegende Indication zu ihrer An¬ 
wendung erblicken. Nachdem Viele, die 
sorgfältig derartige Fälle beobachtet oder 
bei Autopsien verschiedenster Art sich 
Einsicht in das Verhalten des Darminhalts 
verschafft haben, von dieser Annahme zu¬ 
rückgekommen sind, nachdem Sahli in 
bestimmtester Weise dieselbe zurückgewie¬ 
sen hat, ist jetzt an ihre Stelle bei Man¬ 
chen die Furcht vor der Autointoxi¬ 
kation von sich zersetzendem Darm¬ 
inhalt aus getreten. Zweifelsohne sind 
mancherlei Erscheinungen, die wir unter 
Umständen, unter welchen eine Zersetzung 
des Darminhalts stattfinden kann, an Ge¬ 
sunden wie an Kranken beobachten, auf 
diese Ursache zurückzuführen. Aber auf 
Grund des von mir selbst in Perityphlitis¬ 
fällen Beobachteten bin ich der festen 
Ueberzeugung, dass man mit dieser Be¬ 
fürchtung viel zu weit geht. In einer ver¬ 
mehrten Ausscheidung von Indican oder 
der Aetherschwefelsäuren im Harn, die ja 
in Fällen von Peritonitis häufig vorhanden 
ist und in den Fällen von Perityphlitis, 
welche mit Ileuserscheinungen einhergehen, 
ihre höchsten Grade erreicht, darf man, 
abgesehen von Fällen der letzterwähnten 
Art, noch kein Zeichen einer gefährlichen 
Autointoxication vom Darminhalt her er¬ 
blicken. Ich habe in der früheren Arbeit 
und weiter oben bereits erwähnt und 
möchte es hier, um ängstliche Gemüther 
zu beruhigen, ausdrücklich wiederholen, 
dass bei Perityphlitis 8—9tägige Stuhlver¬ 
stopfung bestehen kann und dass trotzdem, 
wie in dem oben mitgetheilten Fall, die 
meteoristische Auftreibung des ganzen 
Leibes, die Schmerzhaftigkeit desselben 
und die Geschwulst in der Cöcalgegend 
von Tag zu Tag zurückgehen und dass 
dann nicht selten ohne weitere Beihilfe, 
wenn nöthig durch einen kleinen Oelein- 
lauf, reichliche gebundene Ausleerung er¬ 
folgt. Günstiger, als diese Dinge in 
vielen unserer schweren Fälle ver¬ 
liefen, konnten sie unter keiner Be¬ 
handlung verlaufen. 

Unter dem Einfluss der heutigen An¬ 
schauungen über die Wirkungen der Bak¬ 


terien im Darmkanal und der von ihnen 
selbst gelieferten Toxine wie der unter 
ihrer Mitwirkung zu Stande kommenden 
Zersetzungen des Darminhalts, wodurch ja 
gewiss manche Erscheinungen im Krank¬ 
heitsbild ihre Erklärung finden, ist der 
Gedanke ja ungemein naheliegend, dass 
diese Vorgänge nach Möglichkeit einge¬ 
schränkt werden müssten. Im Princip ist 
dies gewiss ganz richtig. Aber sind wir 
denn, abgesehen von möglichster Vermin¬ 
derung der Nahrungszufuhr, wirklich im 
Stande, in einem solchen Falle den 
Darmkanal auch nur annähernd von allem 
vielleicht Schädlichen zu befreien und 
wiegen die Nachtheile, welche Versuche in 
dieser Richtung im Gefolge haben können, 
nicht den Vortheil, der möglicherweise er¬ 
reicht werden kann, vollkommen auf? Ich 
fürchte vielmehr, sie überwiegen sogar be¬ 
deutend; denn alle Methoden, welche dieses 
Ziel verfolgen, also auch die von Bourget - 
gepriesene Anwendung von Ol. Ricini mit 
Salacetol per os und die Eingiessungen 
einer 4%o Ichthyollösung mit Olivenöl in 
den Darm, wirken doch, auch soweit sie 
antiseptisch und antitoxisch wirklichen 
Effect haben, hauptsächlich durch Ver¬ 
mehrung der Peristaltik und dadurch 
herbeigeführte Entleerung des Darminhalts. 
Durch diese aber können kaum zu Stande 
gekommene entzündliche Verklebungen 
wieder gelöst werden. 

Wie bald ist man von der anfänglichen 
Vielgeschäftigkeit, um der Indication der 
Antiseptik Genüge zu leisten, in der Behand¬ 
lung der Wunden, der inneren Tuberkulose, 
in der Gynäkologie zurückgekommen! Und 
gerade im Darmkanal ist dieselbe noch 
viel schwieriger zu erfüllen als anderswo 
im Körper. An keinem andern Ort scheint 
aber auch Vielgeschäftigkeit gefährlicher 
zu sein, als gerade am Darmkanal und bei 
den Erkrankungen desselben, welche zu 
Perforation führen können, oder bereits 
durch solche hervorgerufen sind. 

Wie weitgehend andererseits die Wir¬ 
kungen der natürlichen Vorgänge sind, 
welche Heilung oder Unschädlichmachung 
lebensgefährlicher Zustände im Gefolge 
haben können, davon haben wir ja häufig 
genug Gelegenheit uns zu überzeugen. Wie 
erstaunlich wenig bleibt oft zurück von 
ausgedehnten Bauchfellentzündungen, deren 
Heilung wir zu Stande kommen sehen und 
deren Ueberreste wir nach Jahren, wenn 
die Betreffenden zufällig an etwas Anderem 
zu Grunde gingen, aufzusuchen in der 
Lage sind! Wie oft finden wir feste Ver¬ 
löthungen an Stellen, an welchen Durch- 


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März 


113 


Die Therapie der 

bohrung eines Eingeweides, des Magens, 
des Darmes, des Wurmfortsatzes drohte! 
Welch* werthvolle Lehren haben nicht die 
Erfahrungen des jüngsten südafrikanischen 
Krieges in Bezug auf Verletzungen des 
Darmes und deren spontaner Heilung ge¬ 
bracht! 

Dass heilende Vorgänge zuweilen auch 
neue Gefahren im Gefolge haben können, 
wie Einschnürungen und Knickungen an 
Eingeweiden, die Möglichkeit innerer Ein¬ 
klemmungen unter Verwachsungsbändern 
oder von Achsendrehung eines Darmab¬ 
schnittes, nimmt der Thatsache, dass die 
physiologischen und Krankheiten gegen¬ 
über reactiven Vorgänge im Körper 
wunderbare Schutz- und Heilkräfte 
darstellen, nichts von ihrem Werth. Wenn 
irgendwo in der praktischen Medicin, heisst 
es hier auf diesem Gebiet „minister na- 
turae* nach Möglichkeit zu sein und nicht 
sie meistern zu wollen. Auch wo der 
Chirurg mit dem Messer eingreift, um 
einen Abscess zu entleeren oder einen 
kranken Wurmfortsatz zu entfernen, folgt 
er den Fingerzeigen des natürlichen Hei¬ 
lungsvorgangs, der zur Abgrenzung, in 
manchen Fällen zur spontanen Ausstossung 
des Krankhaften führt. So heilbringend 
und lebensrettend es sein kann, wenn die¬ 
ser vorgezeichnete Weg durch einen ope¬ 
rativen Eingriff abgekürzt wird, so ver¬ 
derblich kann es werden, wenn durch 
unzeitgemässes Eingreifen dieStetig- 
keit des Ablaufs der durch die Krank¬ 
heit in Bewegung gesetzten Vor¬ 
gänge gestört wird. Darauf würde es 
aber, meiner festen Ueberzeugung nach, 
hinauskommen, wenn man jetzt, nur von 
einem etwas andern, modern aufgeputzten 
Standpunkt aus, wieder zu der alten Me¬ 
thode der Purgiercuren zurückkehren 
wollte. Bedenkt man dabei, dass in nicht 
wenig Fällen eine Perforation des Wurm¬ 
fortsatzes bevorsteht, wenn sie nicht schon 
erfolgt ist, so kann der durch das Abführ¬ 
mittel mit Beschleunigung in das Cöcum 
eingetriebene Dünndarminhalt, der dann 
auch, soweit die Schwellung der Schleim¬ 
haut dies nicht verhindert, in den Wurm¬ 
fortsatz eindringen kann, die Durchbohrung 
des letzteren an der schadhaften Stelle 
bewirken, oder, worauf Sahli bereits auf¬ 
merksam gemacht hat, den Darminhalt 
durch die Perforationsöffnung austreiben. 
Auch wo diese Gefahr nicht vorliegt, kann 
die Füllung des Wurmfortsatzes mit flüssi¬ 
gem Darminhalt, der dann in Folge der 
Lähmung seiner Muscularis nicht wieder 
so leicht in das Cöcum zurückentleert wird, 


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Gegenwart 1903. 

erst recht einen günstigen Nährboden für 
die in Massen daselbst vorhandenen Bak¬ 
terien abgeben. 

Dass einzelne Kranke auch trotz einer 
derartigen Behandlung genesen, ist noch 
kein Beweis für die Richtigkeit des Ver¬ 
fahrens. Ist es doch erstaunlich, was solche 
Kranke zuweilen aushalten und glücklich 
überstehen. 

Nicht minder absprechend als gegen die 
Anwendung der Opiate ist Bourget und 
ebenso auch in einer Aeusserung jüngsten 
Datums Lucas Championniere 1 ) gegen 
die Eisbehandlung. In der hiesigen Klinik 
wenden wir fast ausschliesslich denLeiter’- 
schen Kühlapparat, aus Gummiröhren ge¬ 
bildet, an, durch welchen ständig Eiswasser 
geleitet wird. Er wirkt schmerzlindernd 
und ist vielen Kranken angenehm. Manche 
verlangten wieder darnach, nachdem er be¬ 
reits weggelassen worden war. In der 
Regel wird er fortgelassen, wenn die Tempe¬ 
ratur normal geworden ist. Er wird dann 
durch Priessnitzumschlag oder zuweilen 
auch durch Cataplasmen ersetzt. Nachtheile 
haben wir von der abkühlenden Behand¬ 
lung nie gesehen. 

Fassen wir zum Schluss den heutigen 
Stand der Frage, wie er sich unter voller 
Berücksichtigung des chirurgischen Stand¬ 
punktes nach den Erfahrungen einer 
inneren Klinik darstellt, zusammen, so 
können wir sagen: der Perityphlitis liegen 
in der grossen Mehrzahl der Fälle schwere 
Erkrankungen des Wurmfortsatzes zu 
Grunde, die sich vorwiegend im jugend¬ 
lichen, häufig schon im kindlichen Alter 
entwickeln und in allen Lebensaltern Vor¬ 
kommen können. 

Ein Theil dieser Fälle, aber nur ein 
kleiner, ist in Folge der Art der Verände¬ 
rung am Wurmfortsatz und des Uebergangs 
derselben auf das Bauchfell von vornherein 
hoffnungslos, wenn es nicht durch eine 
ganz frühzeitige Operation gelingt, den 
Kranken zu retten. (Gangrän oder Perfo¬ 
ration des Wurmfortsatzes mit alsbald auf¬ 
tretender allgemeiner Peritonitis.) 

In der grossen Mehrzahl der Fälle 
mitErkrankungsformen des verschie¬ 
densten Grades ist Heilung ohne 
operativen Eingriff möglich, und zwar 
selbst in Fällen, in denen die Bildung eines 
grösseren Eiterherdes um den erkrankten 
Theil des Wurmfortsatzes herum angenom¬ 
men werden muss. Ein solcher Eiterherd 
kann durch den eröffneten Wurmfortsatz 
sich in das Cöcum entleeren (Sahli) oder 

*) Sem. mödicale, 1902, No. 52, p. 423. 

15 

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114 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


in Darm, Blase oder Vagina durchbrechen 
und ausheilen, ein kleiner Eiterherd wohl 
auch resorbirt werden. 

Von 187 (124 männlichen und 63 weiblichen) 
in 25 Jahren vom Jahre 1876 bis 1901 in die 
hiesige medicinische Klinik aufgenommenen 
Fällen genasen 93,6 % der männlichen und 
90,5 % der weiblichen Kranken. Dass unter 
den Genesenen sich eine grosse Zahl zum 
Theil sehr schwerer Fälle befand, ergiebt sich 
aus der Dauer des nothwendigen Hospital¬ 
aufenthalts. Es mussten in der Klinik ver¬ 
bleiben : 


bis zu 

Von den 

männlichen weiblichen 
Kranken 

10 Tagen 16,0% 11.0% 

» » 

20 

n 

29,0 % 

22.0% 

» n 

30 

n 

15.0% 

15.7% 

tt n 

40 

n 

12,0% 

17,6% 

n n 

50 

n 

13,0% 

9.8% 

» n 

60 

n 

6.0% 

7,8 % 

über 

60 

und 




bis zu 200 Tagen die Uebrigen. 

Welchen Verlauf der einzelne Fall dieser 
Kategorie nehmen wird, lässt sich im. 
Anfang nicht voraussehen. Bei jugend¬ 
lichen, vorher gesunden Menschen, bei 
denen, ensprechend der Lage des Wurm¬ 
fortsatzes, sich frühzeitig eine typische Ge¬ 
schwulst ausbildet, ist bei geeigneter Be¬ 
handlung ein günstiger Verlauf in Aussicht 
zu nehmen. Zweifelhafter ist die Prognose 
in Fällen, in welchen wegen der ungewöhn¬ 
lichen Lage des Wurmfortsatzes ein fühl¬ 
barer Tumor nicht nachweisbar wird. In 
Fällen dieser Art können unerwartet 
schlimme Erscheinungen auftreten und der 
Tod auch trotz operativen Eingreifens un¬ 
abwendbar sein. Durch eine wirkliche Früh¬ 
operation hätte der Kranke wahrscheinlich 
gerettet werden können. 

In einem Theil dieser von Anfang an 
ohne schwere Erscheinungen verlaufenden 
Fälle kommt es allmählich zur Ausbildung 
eines nachweisbaren Abscesses, der selbst¬ 
verständlich alsbald eröffnet werden muss. 
Ob der kranke Wurmfoitsatz gleichzeitig 
aufgesucht und entfernt werden soll, hängt 
von den Verhältnissen des Falles ab. 

In nicht wenig Fällen wird durch 
die acute Perityphlitis der kranke 
Wurmfortsatz nicht unschädlich ge¬ 
macht. Es treten früher oder später Reci- 
dive ein. Wo immer nach Ablauf einer 
Perityphlitis örtliche Erscheinungen, wenn 
auch nur zeitweise, sich geltend machen, 
ist die Entfernung des Wurmfortsatzes ge¬ 
boten, eine Operation, die in geübten 
Händen als gefahrlos bezeichnet werden 
kann, wenn sie auch oft Schwierigkeiten 
darbietet. 


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Die grosse Mehzahl der Perityphlitis¬ 
fälle wird wohl auch in der Zukunft, mögen 
die Fortschritte in der chirurgischen Aus¬ 
bildung der Aerzte noch so grosse sein, 
schon aus rein äusseren Gründen intern 
behandelt werden. In Hospitälern wird 
voraussichtlich auch bei uns in Deutsch¬ 
land die operative Behandlung noch häufiger 
werden, als jetzt schon. Jeder Arzt, der, 
sei es bei einer Operation, sei es auf dem 
Sectionstisch, einen brandigen oder durch¬ 
löcherten Wurmfortsatz mit einem oder ein 
Paar Kothsteinen in demselben gesehen 
hat, wird die zahlreichen neuen Veröffent¬ 
lichungen über frühzeitig oder auf der 
Höhe der Krankheit vorgenommene Ope¬ 
rationen von Roux, C. Beck 1 ), Sonnen¬ 
burg, E. Rose, 2 ) Riedel, Payr, 8 ) 
B. v. Beck, 4 ) Friedrich, 5 ) O’Conor 6 ) 
u. A. nicht ohne einen tiefen Eindruck da¬ 
von zurückzubehalten, lesen können, ins¬ 
besondere wenn er sich dabei der sorgen¬ 
vollen Stunden erinnert, die er selbst bei 
der Behandlung solcher Fälle wochenlang 
durchlebte, bis die Kranken endlich nach 
mancherlei Zwischenfällen ohne Operation 
genesen waren. 

Wer chirurgische Neigungen und bereits 
einige chirurgische Erfahrung hat, wird 
vielleicht geneigt sein, auf Grund derartiger 
aufmunternder Mittheilungen in Zukunft 
auch diesen kürzeren Weg zu beschreiten. 
Welche Fülle von Fragen jedoch auch da 
bei zu berücksichtigen ist, wird ihm klar 
werden, wenn er das sehr umfassende 
Sammelreferat von H. Bohm 7 ) über die 
Indicationen zur chirurgischen Behandlung 
der Perityphlitis liest. Auch wird er die 
Stimmen derer nicht unberücksichtigt lassen 
dürfen, welche auf Grund einer reichen 
persönlichen chirurgischen Erfahrung in 
der Indicationsstellung zur Operation gleich 
zu Beginn oder auf der Höhe der Erkran¬ 
kung vorsichtig oder zurückhaltender ge¬ 
worden sind, als sie es früher waren, 
Sonnenburg wie Broca in Paris haben 
noch im letzten Herbst auf der Jahresver¬ 
sammlung der Belgischen Gesellschaft für 
Chirurgie in Brüssel 8 ) sich gegen die „Früh¬ 
operation" ausgesprochen. Ein Chirurg von 

>) Berliner klin. Wochenschr. 1896. 38. — Samml. 
klin. Vorträge. Neue Folge. No. 221. 

a ) Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie. Bd. 57, 58, 59. 

3 ) Beitr. z. Frage der Frühoperation der Appen- 
dicitis. Arch. f. klin. Chirurgie. Bd. 68, S. 306. 

4 ) Beitr. z. klin. Chirurgie. Bd. XX. — Aerztl. 

Mitth. aus und für Baden 1902. 18 u. 19. 

5 ) Arch. f. klin. Chirurgie. Bd. 68. 

Lancet, 19. August 1902 
Fortschritte der Mcdicin 1902, No. 22. 

8 ) Ref. in Münchener mcd. Wochenschr. 25. No¬ 
vember 1902. 


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März 


115 


Die Therapie der 

so grosser Erfahrung wie Sir Frederick 
Treves sprach sich noch unlängst 1 ) dahin 
aus, dass die abergrosse Mehrzahl der Fälle 
spontan heile und dass in den Fällen, in 
welchen keine unmittelbare Indication zur 
Operation vorliege, die Frage eines opera¬ 
tiven Eingriffs nur selten vor dem fünften 
Tag discutirt zu werden brauche. 

Auch der allein stehende Arzt auf dem 
Lande wird in die Lage kommen können, 
einmal eine FrQhoperation ausführen zu 
müssen, wenn er frühzeitig genug zu 
einem foudroyanten Fall gerufen wird. 
Unter allen Umständen wird er einen 
deutlich nachweisbaren perityphli tischen 
Abscess eröffnen müssen. Für Operatio¬ 
nen zur Wegnahme des kranken Wurmfort¬ 
satzes nach Ablauf einer acuten Perityphlitis 
oder zu operativem Eingreifen auf der 
Höhe einer solchen möge er über die sehr 
verschiedenartigen Vorkommnisse, die unter 

Bemerkungen über die 

Von Prof. Dr. Herrn. 

Im verflossenen Jahre wurde an meiner 
Spitalsabtheilung die diuretische Wirkung 
des Theocin (Theophyllin) an einer ziem¬ 
lich erheblichen Zahl von Patienten ge¬ 
prüft. Aus sogleich näher zu erörternden 
Gründen wurden dann die therapeutischen 
Versuche abgebrochen, nach der Publica- 
tion Minkowski’s (Therapie der Gegen¬ 
wart 1902 S. 490) aber wieder aufgenom¬ 
men. Da meine Erfahrungen sich auf mehr 
als 40 Beobachtungen erstrecken und einige 
praktisch sehr beachtenswerthe Ergebnisse 
über die Anwendungsweise des Theocin 
und die Gefährlichkeit des Mittels geliefert 
haben, sei in möglichster Kürze das Re¬ 
sultat der klinischen Untersuchungen mit- 
getheilt. 

Wir können die Angaben Minko wski’s 
bezüglich der diuretischen Wirkung des 
Theocin nur bestätigen. Es wurde das 
Präparat zumeist bei Hydropischen in An¬ 
wendung gezogen und zwar überwiegend 
bei Kranken mit Herzfehlern oder Herz¬ 
muskelerkrankungen mit allgemeinen Oede¬ 
men, weiter bei Kranken mit Arterioskle¬ 
rose, bei Nephritikern. Mehrmals habe ich 
auch Theocin bei Patienten mit entzünd¬ 
lichen Ergüssen (Pleuritis, Peritonitis) an¬ 
gewendet. 

Die diuretische Wirkung des Theocin J 
bei Oedemen cardialen Ursprungs ist eine 
überaus zuverlässige. Sie hat uns nur in 
ganz vereinzelten Fällen in Stich gelassen. 

Lancet, 19. August 1902. 

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Gegenwart 1903. 

Umständen eine Operation ausserordentlich 
erschweren können, in den trefflichen Ab¬ 
handlungen von Roux, Sonnenburg, 
Lenzmann, 1 ) Graser 2 ) u. A. sich Raths 
erholen, ehe er zum Messer greift. Aber 
trotz der grossen Fortschritte, welche die 
Chirurgie im letzten Jahrzehnt namentlich 
auch auf diesem Gebiet gemacht hat, und 
trotzdem die Zahl chirurgisch gut ausgebil¬ 
deter Aerzte in dieser Zeit ebenso zu¬ 
genommen hat, gilt auch heute noch und 
wird für lange Zeit ein Ausspruch, den 
Malthe 3 ) im Jahre 1890 in einer Discussion 
der medicinischen Gesellschaft in Christiania 
gethan hat: „falls die Aerzte auf dem 
Lande und in kleinen Städten sich ver¬ 
pflichtet fühlen sollten, acute Appendicitis 
zu operiren, würde die Operation gewiss 
schlechtere Resultate ergeben, als con- 
servative Behandlung“ seine volle Geltung 
behalten. 

Wirkung des Theocin. 

Schlesinger -Wien. 

In der Regel war bereits in den ersten 
24 Stunden nach Darreichung des Theocin 
eine bedeutende Steigerung der Diurese 
eingetreten, welche am darauf folgenden 
Tage noch eine weitere Erhöhung erfuhr, 
noch 1 —3 Tage stark blieb und dann 
wieder allmählich abklang. Fast immer 
waren aber mit dem Rückgänge der Diu¬ 
rese auch schon die Oedeme verschwun¬ 
den. Unter den Hydropischen befanden 
sich Kranke, bei welchen alle möglichen 
anderen internen Medicationen vergeblich 
gegeben worden waren und bei denen ein 
Rückgang der Oedeme auf innerliche Mit¬ 
tel hin schon sehr unwahrscheinlich ge¬ 
worden war. Die Diuresen waren oft ganz 
beträchtliche. In einem Falle betrug sie 
über 6 Liter in 24 Stunden, zu wiederholten 
Malen registrirten wir Diuresen von über 
4 1, Diuresen von über 3 1 pro die gehören 
nach Theocindarreichung bei cardialem 
Hydrops zu den gewöhnlichen Vorkomm¬ 
nissen. 

Da wir keine Albuminurie oder Cylin- 
drurie nach Theocingebrauch auftreten 
sahen, entschloss ich mich, das Mittel auch 
bei Flüssigkeitsansammlungen in Folge von 
Nierenaffektionen zu versuchen. Es zeigten 
nun auch diese Versuche die gleiche 
prompte diuretische Wirkung wie bei Herz- 

1 ) Die entzündlichen Erkrankungen des Darms 
in der Regio coecalis und ihre Folgen. Berlin 1901. 

2 ) Penzoldt und Stintzing, Handbuch der 
Therapie innerer Krankheiten. 3. Aufl. Bd.IV, S. 740f, 

3 ) Referat im Cbl. f. Chir. 1900, No. 39. 

15 * 


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116 


März 


Die Therapie der 


affectionen in mehreren Fällen von sub¬ 
acuten Morbus Brighthii und von Ren 
granularis mit universellen Oedemen. Die 
Eiweissausscheidung wurde durch das Prä¬ 
parat nicht ungünstig beeinflusst. 

Weit weniger günstig gestaltete sich 
die Wirkung bei entzündlichen Affectionen 
der Pleura und das Peritoneum. Mitunter 
stieg die Diurese mässig an, zeigte aber 
in der Mehrzahl der Fälle keine wesent¬ 
liche Beeinflussung. Den gleichen un¬ 
günstigen therapeutischen Effect sahen wir 
in zwei Fällen von Lebercirrhose mit 
Flüssigkeitsansammlung in der Bauchhöhle. 

Nach diesen Erfahrungen hatte es den 
Anschein, wie wenn wir im Theocin wegen 
seiner ausserordentlich harntreibenden Wir¬ 
kung ein Diureticum ersten Ranges gefun¬ 
den hätten. Von unangenehmen Neben¬ 
erscheinungen hatten die Patienten nur 
öfters über Kopfschmerz, selten über 
Brechreiz, hier und da auch über Durch¬ 
fall geklagt, im Allgemeinen wurde aber 
Theocin gerne genommen und gut ver¬ 
tragen. 

Wir machten aber nun rasch hinter¬ 
einander zwei Beobachtungen, welche uns 
zeigten, dass das Theocin nicht nur ein 
ungemein wirksames, sondern auch unter 
Umständen ein recht gefährliches Mittel ist. 

Einer unserer Kranken mit universellem 
Hydrops (Vitium cordis ohne Erkrankung 
der Nieren) bekam am zweiten Tage der 
Darreichung von Theocin (5 X 0,2 g pro 
die, also noch nicht ganz 2 g in 48 Stunden) 
allgemeine Convulsionen vom Charakter der 
epileptischen. Dieselben waren von Be¬ 
wusstseinsverlust und Zungenbiss begleitet 
und dauerten mehrere Minuten an. Am 
nächsten Tage (bei Fortgebrauch des 
Theocin) Wiederholung des Anfalles in 
gleicher Weise. Patient Hess während des 
Anfalles Urin und Stuhl unter sich. Nun 
wurde das Theocin ausgesetzt, es stellte 
sich bis zu dem mehrere Wochen später 
erfolgenden Exitus kein neuer epileptischer 
Anfall ein. 

Fast zur selben Zeit war bei einer 
Kranken mit universellen Oedemen in Folge 
von Vitium cordis (combinirter Klappen¬ 
fehler ohne Erkrankung der Nieren) nach 
Gebrauch von 5 mal 0,2 g Theocin ein ganz 
analoger Anfall aufgetreten; auch bei dieser 
Kranken trat nach Aussetzen der Medication 
keine Wiederkehr der Anfälle ein. 

In beiden Fällen wurde die Diurese 
durch die Anfälle nicht ungünstig beein¬ 
flusst, sondern war an den Tagen mit Con¬ 
vulsionen eine ziemlich hohe (über 3 resp. 
272 1 ). 


Gegenwart 1903. 


Da bei beiden Kranken nach meinen 
nachträglichen Erhebungen früher keine 
Zeichen einer Epilepsie oder eines orga¬ 
nischen Hirnleidens beobachtet worden 
waren, die Nieren nicht geschädigt waren,, 
die Convulsionen sich nach Gebrauch des 
Theocin einstellten, nach dem Aussetzen des 
Mittels verloren, da weiters bei Katzen 
(Dreser, cf. den Aufsatz von Minkowski) 
durch Einverleibung grösserer Dosen von 
Theocin (0,1 g pro kg Körpergewicht) Krämpfe 
erzeugt werden, kann es keinem Zweifel 
unterliegen, dass in unseren beiden 
Fällen die allgemeinen Convulsionen 
durch den Gebrauch des Theocin 
hervorgerufen wurden. Dabei muss 
hervorgehoben werden, dass keineswegs 
besonders grosse Dosen gegeben worden 
waren, da Minkowski öfters über 1 g 
hinausging, in einem Falle sogar 1,6 g 
durch 14 Tage ohne Schaden gab, während 
ich nie über 1,0 g pro die verabfolgte. 

Durch die günstigen Ergebnisse Min- 
kowski’s angeregt und unter Berücksichti¬ 
gung meiner früheren, sehr günstigen Er¬ 
fahrungen habe ich neuerlich die thera¬ 
peutischen Versuche aufgenommen, aber 
versucht, gleichzeitig mit Theocin ein Prä¬ 
parat zu geben, welches die erregenden 
Wirkungen mildern, aber den diuretischen 
Effect nicht beeinflussen sollte. 

In der That gelingt es bei gleichzeitiger 
Anwendung von Brompräparaten oder 
Narcoticis die erregenden Eigenschaften 
erheblich zu mindern, jedoch wurde in 
meinen Beobachtungen bei gleichzeitiger 
Anwendung dieser Mittel die Diurese un¬ 
günstig beeinflusst. 

Ich habe nun mit Rücksicht auf den 
Umstand, dass Adonis vernalis in der 
Behandlung der Epilepsie neuerlich mit 
Erfolg verwendet wurde, 1 ) versucht, durch 
gleichzeitige Darreichung des Mittels einer¬ 
seits die diuretische Wirkung zu unter¬ 
stützen, andererseits aber auch die krampf- 
erregenden Eigenschaften des Theocin zu 
vermindern. Die Digitalis ähnliche Wir¬ 
kung der Adonis vernalis auf das Herz 
konnte ausserdem nur als vortheilhaft bei 
den Kranken betrachtet werden, bei wel¬ 
chen wir das Theocin in Anwendung: 
zogen. Unseren gemachten Erfahrungen 
zufolge habe ich vermieden, Theocin durch 
längere Zeit zu geben oder gar mit der 
Tagesdosis zu steigern, wenn Kopfschmerz 
oder Erbrechen als Intoxicationserschei- 
nungen sich einstellten. 

*) v. Bechterew: Ueber die Bedeutung der 
Cardiaca bei der Behandlung der Epilepsie. Neurologe 
Centralblatt 1898 No. 7. 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


117 


Die Medicadon wurde in folgender 
Weise von mir verschrieben: 

Infus. Adonid. ver- 

nalis . 5*0:180*0 aquae 

Theoein . 0-6 (-T0) 

Syrup. simplic. . . 20*0 
S. In 24 Stunden zu verbrauchen, 
oder auch 

Herb . Adonid. ver- 
nalis Dlalysat. Oo- 

las . 2*0 

Aq. destilL .... 180*0 

Theocin . 0*0 (-1*0) 

Syrup. cort. Aurant. 20*0 • 

S. In 24 Stunden zu verbrauchen. 

Bis jetzt — ich habe in dieser Ver¬ 
schreibungsweise das Präparat bei circa 
20 Kranken in Anwendung gezogen — ist 
der Erfolg ein durchaus befriedigender. 
Die diuretische Wirkung des Theocin ist 
bei dieser Combination der Mittel nicht 


vermindert, Krämpfe habe ich bisher nicht 
wieder beobachtet, ja ich habe sogar den 
Eindruck, wie wenn Kopfschmerzen und 
Brechreiz seltener auftreten würden, als 
bei Anwendung des Theocin allein. 

Die früher mitgetheilten Beobachtungen 
zeigen, dass das Theocin ein sehr 
werthvolles und mächtiges Diureti- 
cum darstellt, auf dessen Anwen¬ 
dung trotz seiner krampferregenden 
Eigenschaften nicht verzichtet wer¬ 
den soll, da es mitunter noch diu¬ 
retische Eigenschaften entfaltet, 
wenn die andere interne Medication 
versagt. Man soll aber bei seiner 
Anwendung sich bewusst sein, dass 
es ein heroisches Mittel ist und die 
Gefahren seines Gebrauches durch 
gleichzeitigen internen Gebrauch 
von Adonis vernalis zu vermindern 
trachten. 


Aus der H medlcinisclien Klinik der Universität Budapest. 

(Director: Prof. K. v. Ketly.) 

Klinische Erfahrungen Ober Rhizoma scopoliae carniolicae. 

Von Dr. Ladislaus V. Ketly, I. Assistent der Klinik. 


Gegen den hochgradigen Tremor bei 
Paralysis agitans, welcher die Beschäf¬ 
tigung der Kranken ja sogar die zum alltäg¬ 
lichen Leben nothwendigen Bewegungen in 
störendster Weise erschwert und verhindert, 
besitzen wir in neuerer Zeit mehrere 
Mittel; so empfahl Charcot das Hyosci- 
aminum, Erb das Hyoscinum hydrobromi- 
cum, Mendel das Duboisin. Nach unseren 
eigenen Erfahrungen sind die besten Re¬ 
sultate mit dem Hyoscinum hydrobromi- 
cum zu erreichen, indem es auch den 
stärksten Tremor plötzlich zum Schwinden 
bringen kann. Obzwar die Wirkung ge¬ 
wöhnlich nach 4—5 Wochen oder 1—2 
Monaten aufhört und der Tremor wieder 
zurückkehrt, kann dennoch nach einer kür¬ 
zeren oder längeren Pause das Mittel wieder¬ 
holt und eventuell neuerdings eine mehr oder 
weniger lange Besserung erreicht werden. 

Der Hauptnachtheil des Mittels liegt 
darin, dass bei behutsamster Dosirung 
manchmal sehr schwere Reizungserschei¬ 
nungen, ja sogar gefährliche Vergiftungs¬ 
symptome auftreten und in solchen Fällen 
muss das Mittel natürlich ausgesetzt wer¬ 
den. Deshalb musste das von Podack 1 ) 
im Jahre 1897 empfohlene Rhizoma sco¬ 
poliae carniolicae mit Freude begrüsst 

*) Podack, Zur Behandlung mit Rhizoma sco¬ 
poliae carniolicae bei Paralysis agitans. D. med. 
Wochenschr. 1897. 

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werden, da dies pflanzliche Medicament, 
welches der Wirkung nach mit dem Hyos- 
cin übereinstimmt, angeblich viel weniger 
oder überhaupt nicht toxisch wirkt. Er 
entdeckte das Mittel aus Zufall, da ein 
Bauernpatient, der seit 26 Jahren an Para¬ 
lysis agitans litt, 30 Jahre lang täglich das 
Rhizom der Scopilia carniolica ass (ver¬ 
rückte Rübe). Dadurch nahm sein Tremor 
ständig ab, ohne dass es in seinem Organis¬ 
mus die geringste schädliche Wirkung oder 
Intoxicationserscheinungen erzeugt hätte. 

Die Wirkung des Mittels ist daraus erklär¬ 
lich, dass es Hyosciamin und Hyoscin, resp. 
Scopolamin enthält und ein grosser Vortheil 
ist, dass es Intoxicationssymptome auch 
nach längerem Gebrauch nicht verursacht. 

Neuerdings wurde das Mittel auch bei 
uns an zwei Fällen von Paralysis agitans 
und in einem Falle von Neurosis träum, 
erprobt; und das hochgradige Zittern, 
welches die Kranken in allen drei Fällen 
auch im Gehen hinderte, Hess spätestens 
in zwei Tagen in zwei Fällen nach, beim 
Dritten hörte es ganz auf. In keinem 
Falle konnten wir weder Irritationserschei¬ 
nungen, noch unangenehme oder toxische 
Symptome beobachten, obzwar wir das 
Mittel monatelang verabreichten. In zwei 
Fällen von Paralysis agitans recidivirte der 
Tremor nicht einmal nach Monaten, hingegen 
bei der traumatischen Neurose der Tremor 

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118 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


nach Aussetzen des Mittels von neuem auf¬ 
trat; nach Polybrom zeigte sich da keine 
Besserung, hingegen Rhizoma scopoliae von 
neuem verabreicht den Tremor wieder er¬ 
heblich verminderte. Dieser Fall beweist 
demnach eclatant die Wirkung des Mittels. 

Die Krankengeschichte des einen Para¬ 
lysis agitans-Falles theilen wir hier kurz mit, 
da hieraus die Unschädlichkeit des Mittels 
dem Hyoscin gegenüber klar hervorgeht: 

E. N. 53 Jahre alt. Diagnose: Paralysis 
agitans. Ist seit Mai 1897 krank, vorher be¬ 
gannen die rechte, nach einem halben Jahr 
die linke obere Extremität, bald auch die un¬ 
teren Extremitäten zu zittern. Seit Juni 1899 
geht er schwer, die Muskeln sind steif; seit 
December zeigt sich beim Gehen Propulsion. 
Am 15. Mai 1900 kam er auf unsere Klinik 
und war damals Hypotonie in den Muskeln, 
hochgradiges Zittern des Kopfes und der Ex¬ 
tremitäten, beim Gehen Propulsion zugegen. 

Am 16. Mai bekam er 0,0001 Hyoscin. hy- 
drobrom. subcutan. 

Am 17. Mai eine ebensolche Dosis; nach der 
Einspritzung wird der Patient sehr erregt, er 
schreit und delirirt. 

Am 18. Mai Wiederholung der Injection; 
15 Minuten darnach wird der Patient gut ge¬ 
launt, bald 10 Minuten nach delirirt er und fällt 
in einen tiefen Schlaf; erwachend hörte der 
Tremor ganz auf. 

Am 19. Mai bekommt er keine Injection. 

Am 20.—21. Mai tritt der Tremor von Neuem 
auf. 

Am 22. Mai bekommt er wieder Hyocinin- 
jection; darnach wieder drei Stunden hindurch 
Irritationserscheinungen. 


Am 24. Mai Injection; darnach mehrere 
Stunden hindurch Unruhe und Delirium. 

Am 25. Mai bekommt er keine Injection,. 
der Tremor besteht. 

Infolge dieser unangenehmen Neben¬ 
wirkung des Hyoscins bekommt der Pa¬ 
tient vom 26. Mai täglich 0,30 g Rhizoma 
scopoliae carniolicae auf einmal in Pulver¬ 
form. Schon vom zweiten Tage ange¬ 
fangen, verminderte sich erheblich das- 
Zittern; vom 5. Tag? war der Gang schon 
sicher, die Sprache verständlich und der 
Tremor bloss an den Händen sichtbar und 
auch hier so gering, dass es ihn weder 
am Essen noch an anderen Bewegungen 
hinderte. Abgesehen von einem geringen 
Trockenheitsgefühl im Gaumen, verursachte 
das Mittel gar keine Unannehmlichkeiten 
oder Irritationssymptome. Der Kranke ver- 
Hess am 1. Juni mit hochgradiger Besse¬ 
rung die Klinik. 

Auf Grund dieser an drei Fällen ge¬ 
sammelten Erfahrungen empfehlen wir 
das Rhizoma scopoliae carniolicae der 
Aufmerksamkeit der praktischen Aerzte* 
da mit demselben der Tremor bei Para¬ 
lysis agitans meist rasch und erheblich 
vermindert, ja sogar auf längere oder kürzere 
Zeit eingestellt werden kann. Bezüglich 
der Wirkung besteht es die Concurrenz 
mit dem Hyoscin vollkommen, ohne dass 
es dessen toxische Eigenschaften besitzen 
würde. 

Die Dosis beträgt pro die und pro dosi 
0,30—0,40 g. 


Zusammenfassende Uebersicht. 

Gelatine, ihre Gefahren und ihr Werth in der Therapie. 

Von Dr. Heinrich Doerfler- Regensburg. 


In den letzten 2—3 Jahren haben sich 
allenthalben die Publicationen über meist 
tödtliche Zufälle nach subcutaner Gelatine¬ 
anwendung in beunruhigendster Weise ge¬ 
häuft: septische Thrombosen, Phlegmonen, 
Abscesse foudroyanter Art, malignes Oedem, 
Gasphlegmonen und insbesondere häufig 
die gefürchtetste aller Infectionen: Tetanus, 
fast ausnahmslos mit Todesfolge, wurden 
gemeldet. 

Ich selbst habe leider in der Familie 
eines nächsten Verwandten einen derartigen 
traurigen Fall erlebt, ein zweiter Fall wurde 
mir s. Z. von Kollegen Dr. Stillkrauth 
hier freundlichst zur Verfügung gestellt. 
Die beiden Fälle stammen aus der Zeit 
(1889), als man noch nicht ahnte, woher 
der plötzliche Tetanus mit seinen trüben 
Folgen entstanden war. 

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Frau Dr. D., Arztgattin in B., II. p. mit 
relativ rasch und leicht abgelaufenem Partus. 
Mitte Dezember 1899. Placenta ist nach zwei 
Stunden noch nicht abgegangen. Plötzlich 
spontan furchtbare Blutung in Folge localer 
Atonie des Uterus. Da alles schon vorbereitet,, 
so kann sofort leichte rasche manuelle Ent¬ 
fernung der Placenta erfolgen. In Erinnerung 
an eine bei früherer Geburt beinahe erfolgte 
Verblutung war alles sorgfältig bereit gestellt 
worden. Auch nach Entfernung der Placenta 
hält die Blutung an, sie war enorm, die Gebär¬ 
mutter so schlaff, dass sie kaum zu fühlen 
war. Patientin sofort bewusstlos, kleiner rascher 
Puls, kalter Schweiss. Rasch ausgiebige Tam¬ 
ponade des Uterus unter streng aseptischen 
Verhältnissen. Darauf zieht sich der Uterus- 
zusammen, wird aber immer dazwischen schlaft 
und blutet wieder. Kochsalzinjectionen, starkes 
Reiben des Uterus! Blutung steht allmählich. 
Patientin reagirt zeitweise. Es wird in Folge 

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März 


119 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


der starken Aufregung des Gatten und des 
noch anwesenden zweiten Arztes noch ein 
dritter Kollege gerufen! Als er kommt blutet 
es noch leicht. Im Consilium wird eine Ge- 
latineinjection vorgeschlagen. Mit Freuden und 
dem Gefühl grosser Erleichterung wird der Vor¬ 
schlag acceptiert, ahnte man ja damals nicht, 
dass mit dem Recepte das Todesurtheil der 
jungen armen Mutter unterschrieben wurde. 

Nach */i ständigem Warten kam die noch 
kochend heisse Gelatinelösung mit der Etikette: 
sterilisirte und neutralisirte Gelatinelösung. Die 
Injection wurde gemacht, trotzdem es nur noch 
wenig blutete. Jedoch wollten die drei Aerzte 
allen Eventualitäten Vorbeugen, prophylaktische 
Vorkehrungen treffen. Kannte man damals ja 
nur die guten Erfolge, nicht aber die Gefahren 
der Gelatineinjection. Die ein oder zwei bis 
dahin veröffentlichten Fälle war man geneigt, 
einem ungünstigen Zufalle zuzuschreiben. 
Blutung steht fast sofort! Patientin erholt 
sich rasch, bekommt aber leichten Frost, 38,6 
und schauderhafte Schmerzen an der Injections- 
stelle (die Einspritzung war am rechten Ober¬ 
schenkel gemacht worden), welche eine Mor¬ 
phiumeinspritzung nothwendig machten. Am 
nächsten Tage sind die Schmerzen verschwun¬ 
den, von der Stelle der Einspritzung verbreitet 
sich jedoch eine schmerzhafte erisypelartige 
Röthung der Haut bis zur Lendengegend und 
bis zum Knie. Temperatur 39,4, Abends 39,2. 
Zunächst wurde an eine acute, rasch fort¬ 
schreitende Phlegmone gedacht. Am nächsten 
dritten Tage w r ar jedoch die Temperatur ab¬ 
gefallen, 37,4, Abends 37,9. Schwellung, Röthung, 
Schmerz bedeutend zurückgegangen, sehr gutes 
Allgemeinbefinden. Am vierten Tage Schwel¬ 
lung und Röthung nur noch in Handtellergrösse 
um die Injectionsstelle. Keine Schmerzen. 
Gutes Befinden. Patientin fieberfrei. Am 
fünften Tage starke ziehende Schmerzen im 
Bein (sicher schon beginnender Tetanus, da¬ 
mals natürlich nicht geahnt). Temperatur 39,0. 
Sofortige Incision. Eröffnung einer fast faust¬ 
grossen Abscesshöhle, aus welcher sich eine 
stinkende Flüssigkeit, bestehend aus Eiter und 
viel Gelatine, und Gasblasen unter gurgelndem 
Geräusche entleeren. Danach momentan grosse 
Erleichterung. Etwa drei Stunden nach der 
Incision klagt Patientin über Schmerzen im 
Kiefer, nach kurzer Zeit ausgesprochener Tris¬ 
mus! Wie schauderhaft diese Erkenntniss für 
den Gatten und Bruder, beide Aerzte, war, 
brauche ich nicht zu schildern. Wie mit 
eisernen Klammern wird der Kiefer geschlossen 
gehalten. Sofort wird telegraphisch Tetanus¬ 
heilserum bestellt. Noch fehlt Opistotonus, 
noch die Extremitätenkrämpfe, nur Trismus ist 
vorhanden. Relativ gute Nacht. Darauf Morgens 
Opistotonus und Trismus. Temperatur 38,2. 
Exoision der ganzen Abscesshöhle, Ausbrennen 
derselben, Ausspülung mit 2% Lapislösung, 
Jodoformgazetamponade! Patientin frisch, bis 
Abend noch keine Streckkrämpfe. Um 10 Uhr 
Abends Heilseruminjection, also 36 Stunden 
nach dem Auftreten der ersten Erscheinungen. 
Um 11 Uhr Abends beginnen plötzlich all- 

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gemeine Krämpfe. Um 3 Uhr Nachts der erste 
Erstickungsanfall. Dann Krampf auf Krampf, 
jeder Ton, jede Bewegung löst einen furcht¬ 
baren Krampfanfall aus. Um 7 Uhr schwerster 
Stickanfall. Um 8 Uhr Morgens (sechster Tag) 
Exitus. 

Epitritisch war damals zu bemerken, dass 
J die Spritze wohl unschuldig war in der In- 
l fection. Sie war nie bei einem Tetanuskranken 
| benutzt, lag vor der Injection einen Tag in 1% 
Salicylöl, wurde dann mit Alhohol und Soda¬ 
lösung gründlich durchgespritzt und sofort in 
starke kochend heisse Lysollösung gebracht, 
worin sie noch ca. eine Stunde vor der Be- 
! nutzung lag und aus welcher sie direct vor der 
Injection entnommen wurde. Ein Fehler beim 
Waschen der Patientin ist nicht vorgekommen. 

Sie wurde klinisch-strenge vorher sterilisirt. 
Bettwäsche war selbstverständlich frisch ge- 
I waschen. Tetanus uteri und daraus entstehend 
I eine secundäre Infection der Einspritzungs¬ 
stelle ist ausgeschlossen, da nie Symptome von 
i Seite des Uterus bestanden. Somit blieb nur 
; die Gelatinelösung als Quelle des Tetanus 
I übrig, obwohl sie fast 3 /i Stunden lang im 
| Wasserbade gekocht hatte. 

' Die Reste der Gelatinelösung wurden im 
bacteriologischen Institut zu Stuttgart vom 
württembergischen Medicinalcollegium unter¬ 
sucht. Der Abscesshöhleninhalt war leider 
verloren gegangen. Die angelegten Culturen 
ergaben keinen sicheren positiven Befund. 

Dies beweist jedoch nichts. Denn ohne allen 
: Zwang lässt sich annehmen, dass die betr. Ge¬ 
latine entweder nur Tetanustoxin enthielt oder 
noch Tetanussporen, deren ungemein grosse 
! Widerstandsfähigkeit durch das 3 /* ständige 
1 Auskochen in keiner Weise gebrochen wurde. 
Unter die Haut injicirt fanden sie hier den 
günstigsten Nährboden, wurden wieder lebens¬ 
fähig und entwickeln rasch ihre tödtliche Lebens- 
I thätigkeit. Vier Tage vorher war in Erlangen 
ein 19jähriges Mädchen in der Klinik unter ähn¬ 
lichen Verhältnissen an Tetanus nach Gelatine¬ 
injection zu Grunde gegangen. 

In unserem zweiten Falle handelte es sich 
um einen 36jährigen Phthisiker mit starken 
Hämoptoen. Am 9. Januar 1900 zwei- bis drei¬ 
mal täglich heftige Hämoptoe. Diese dauern 
an bis zum 17. Januar. An diesem Tage erste 
Gelatineinjection unter streng aseptischen Ver¬ 
hältnissen. Blutung steht bis zum 24. Januar. 

An diesem Tage erneute Blutung, deshalb noch¬ 
mals Injection von Gelatine mit derselben Vor¬ 
sicht bezüglich Aseptik und Sterilisation der 
Injectionsflüssigkeit. Blutung steht. Am 28. Ja¬ 
nuar Trismus, am 29. Januar Trismus und 
Opistotonus. Am 30. Januar alle 5—10 Mi¬ 
nuten heftige allgemeine Krampfanfälle, speciell 
im Oberkörper; Fieber 40,2, Tod Abends 
9 Uhr am 30. Januar. Einspritzungsstellen 
reactionslos, keine Röthung, keine Schwellung. 

Den exacten Nachweis pathogener Bac- 
terien in der Gelatine haben Levy und 
Bruns, sowie Schmiedecke erbracht. 
Levy und Bruns stellten in 13 Proben von 

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120 


März 


pie Therapie der 


Gelatinetafeln acht Mal mit aller Sicherheit 
die Anwesenheit von Tetanuskeimen fest. 
Ausserdem fanden sich noch in fast allen 
Proben der Bacillus des malignen Oedems, 
das Bacterium coli, der Bacillus Proteus 
und andere gefährliche Bacillenarten vor. 

Diese überraschenden Befunde machen 
es zur gesetzlichen Nothwendigkeit, dass 
von jetzt ab nur noch die Gelatine an¬ 
gewendet werden darf, wenn sie sicher von 
all* diesen todt- und gefahrbringenden 
Keimen nach wirklich todtsicherer Sterilisa¬ 
tion befreit ist. Der Satz der Lehrbücher, 
dass die Tetanussporen in strömendem 
Wasserdampf bei 100° in 8 Minuten sicher 
abgetödtet sind, ist falsch. Kitasato, 

welcher zuerst den Tetanusbacillus und 
seine Sporen fand und sie in Reincultur 
zuerst züchtete, spricht gerade den Sporen 
eine ganz ausserordentliche Widerstands¬ 
kraft zu. Demgemäss fanden die beiden 

Autoren 

nach 8 Minuten noch 80—100 Colonien 

im Reagenzglase, 

nach 74 Stunde noch 15 Colonien, 

„ 20 Minuten noch 6 „ 

n ^ n 4 n 

» 30 „2 „ und erst 

„ 33 „ waren die Röhrchen 

keimfrei. 

Der Grund, warum nicht alle Colonien 
gleichzeitig absterben, liegt nach Förster 
und Brehme's Untersuchungen darin, dass 
in ein und derselben Cultur die Wider¬ 
standsfähigkeit der einzelnen Individuen 
verschieden ist, nicht allein also der Sporen, 
sondern auch deren Wuchsformen. 

Um also sicher keimfreie und gebrauchs¬ 
fähige Gelatinelösung zu haben, muss die¬ 
selbe nach obigen Autoren mindestens 
40 Minuten auf 100—110 Grad erhitzt ge¬ 
wesen sein, und zwar die ganze Gelatine¬ 
masse. Diese hat nämlich die Eigentüm¬ 
lichkeit, dass die Randpartieen der Gela¬ 
tine oft, sowohl im strömenden Dampfe 
wie beim gewöhnlichen Kochen, auf 100° 
erhitzt ist, während der Kern der Lösung 
hoch nicht diesen Temperaturgrad erreicht 
hat. Bei 10%iger Lösung z. B. beträgt 
die Zeitdauer, bis auch die centrale Partie 
auf 100° erwärmt ist, bis zu 15 Minuten. 
Es ist deshalb zweckmässig, diese soge¬ 
nannte „AnWärmezeit" von der „Sterilisa¬ 
tionszeit“ noch extra in Abrechnung zu 
bringen, wenn man ganz sicher gehen will. 
Im Reagenzglase beträgt diese Zeit nur 
5 Minuten. 

Allein die Keimfreiheit genügt nicht, 
um die Gelatinelösung gebrauchsfähig zu 
machen und um mit voller Sicherheit für 


Gegenwart 1903. 


ihre Unschädlichkeit garantiren zu können. 
Eis muss auch volle Toxinfreiheit oder 
wenigstens Toxinunschädlichkeit vor¬ 
handen sein. Bei der ganz enormen Gif¬ 
tigkeit des Tetanusgiftes müssen natürlich 
die weitgehendsten Anforderungen gestellt 
werden. Holtschmidt meint, „dass man, 
wenn man die Gelatinelösung mehrere 
Stunden kochend erhalten hat, wohl sicher 
sein kann, alle Bacterien und Sporen ab¬ 
getödtet zu haben und die etwa noch vor¬ 
handenen Toxine dürften, in sehr geringen 
Mengen dem Körper einverleibt, wohl 
keinen besonderen Schaden anrichten.“ 
Den praktischen Beweis für die Richtigkeit 
seiner Ansicht hat er geliefert in seinen 
fünf Fällen von Melaena neoatorum, in 
welchen bei besonders empfindlichen Indivi¬ 
duen, Neugeborenen, Säuglingen, die 
Gelatine nicht bloss prompten blutstillenden 
Erfolg, sondern auch die totale Unschäd¬ 
lichkeit seines Präparates bezüglich Tetanus¬ 
keime und Toxine ergeben hat. 

Trotzdem muss die strikteste Forderung 
gestellt werden, dass jedes zu Heilzwecken 
verwendete Präparat vorher aufKeimfreiheit 
und Toxinunschädlichkeit geprüft ist, ehe 
es in den Handel kommt. 

Es würde sich also für uns Praktiker 
nach obigen Untersuchungen zunächst die 
Consequenz ergeben, die ganze Zeit, also 
15 Minuten An Wärmezeit und 40 Minuten 
Sterilisationszeit = 55 Minuten oder rund 
eine Stunde für die Sterilisation zu ver¬ 
wenden. Allein das genügt sicher nicht. 
Denn keimfrei ist noch nicht toxin¬ 
frei. Ich muss deshalb meine Forderungen 
höher stellen und stimme Krug im voll¬ 
sten Umfange zu, wenn er sagt: „Kein 
Material ist so fragwürdiger Provenienz 
und in so hohem Grade verunreinigt wie 
eben die Gelatine. Es ist also die Sterili¬ 
sation der Gelatinelösung besonders schwer, 
so dass sie mit der grössten Aufmerksam¬ 
keit und in der penibelsten Weise vor¬ 
genommen werden muss.“ Krug und 
Kuhn gehen noch einen Schritt weiter und 
verlangen, dass man die Gelatine aus ge¬ 
sundem, frischem, leimgebendem Gewebe 
sich selbst bereite. 

Dieser Anforderung kann der Arzt na¬ 
türlich nicht entsprechen und es ist daher 
sehr erfreulich, dass neuerdings E. Merck 
in Darmstadt eine „Gelatina sterilisata pro 
injectione“ in den Handel bringt, welche 
nicht nur der Krug-Kuhn’schen Forde¬ 
rung entspricht, sondern auch noch eine 
Reihe weiterer Garantieen für völlige Keim- 
und Toxinfreiheit bietet. Die Merck’sche 
Gelatine wird durch stundenlanges Aus- 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1903, 


121 


kochen frischer Kalbsfasse in gespanntem relativ leicht auf die Spritze übertragen 
Dampf bei 120 Grad gewonnen, rasch ge- werden können und dann keineswegs durch 
filtert und in Gläser gefallt die sofort eva- kurzes Auskochen der Spritze in 10 bis 
cuirt, zugeschmolzen und nochmals eine 20 Min. vernichtet werden. Wenn bei an- 
Stunde bei 120 Grad sterilisirt werden, deren (als Gelatine) Injectionen verhältniss- 
Nach 24 Stunden erfolgt eine zweite Ste- mässig selten Tetanus auftritt, so liegt 
rilisation bei 120 Grad. dies offenbar auch daran, dass das an 

Dass die Verwendung des gespannten und für sich schwierige Wachsthum der 
Dampfes von 120 Grad für die Vernichtung Tetanusbazillen durch Gelatine besonders 
aller Keime eine viel grössere Sicherheit begünstigt wird. Es ist also eine besonders 
bietet als Dampf von 100 Grad ist jedem sorgfältige Sterilisation der Injectionsspritze 
Bakteriologen bekannt und geht besonders bei Gelatine erforderlich, was in der Praxis 
aus den Untersuchungen von Gl obig und wohl am sichersten durch ein halbstündiges 
Christen hervor, welche nachwiesen, dass Auskochen in einer zweiprocentigen Lysol- 
die resistentesten aller bekannten Sporen, lösung erfolgt. 

die durch 16 ständiges Auskochen bei Ich selbst habe mir, bevor ich obige 
100 Grad nicht getödtet wurden, durch Thatsache kannte, meine Lösung, aus der 
gespannten Dampf von 120 Grad schon in Apotheke bezogen und dort sterilisirt, stets 
fünfzehn Minuten sicher vernichtet werden, selbst nochmals gekocht und zwar min- 
Obwohl nun bei dieser Darstellungsweise destens noch 1V 2 —2 Stunden und habe nie 
die Anwesenheit von lebensfähigen Tetanus- ein unglückliches Ereigniss erlebt, obwohl 
keimen und auch von Toxinen — welch ich relativ oft Gelatine injicirt habe. Die 
letztere sich ja bei der raschen Filtration Wirksamkeit der Gelatine geht nicht ver- 
unter Luftzutritt und bei 20 Grad nicht loren, wenn man sie noch so lange kocht, 
bilden können — vollständig ausgeschlossen Holtschmidt, welcher empfiehlt, sich stets 
ist, wird die Gelatine doch vor ihrer Ab- die Gelatine selbst durch mehrstündiges 
gäbe von dem ärztlichen Leiter der Serum- Kochen zu sterilisiren, lässt seine Lösun¬ 
abtheilung der Merck’schen Fabrik durch gen 5 bis 6 Stunden im Wasserbade kochend 
Thierversuche nochmals auf ihre Unschäd- erhalten und hat damit in allen seinen 
lichkeit geprüft. Zu diesem Zweck erhalten Fällen eine volle Wirkung erzielt, dreimal 
Mäuse und Meerschweinchen subcutan schon nach der ersten Injection, zweimal 
möglichst grosse Mengen Gelatine und nach der zweiten resp. dritten Einspritzung! 
werden dann mindestens 20 Tage auf et- Die blutstillende Wirkung der Gelatine 
waige tetanische Erscheinungen beobachtet, ist ausser allem Zweifel festgestellt, die 
Nur wenn die Thiere vollständig gesund totale Unschädlichkeit der Gelatine bei ge¬ 
bleiben, wird die Gelatine in den Handel ge- nügender Sterilisation ebenfalls! Diese 
bracht. Die Merck sehe Gelatine ist 10%ig, beide Thatsachen genügen, um die Anwen- 
enthält also die zu einer sicheren Wirkung düng dieses Mittels jeder Zeit zu bethätigen. 
nöthige einmalige Dosis in 40 ccm, die für Dem Aneurysma der Aorta gegenüber 
den Arzt wesentlich bequemer zu injiciren hat die Gelatine nicht die Hoffnungen er- 
sind, als die 200 ccm der früher üblichen füllt, welche man Anfangs auf sie setzte. 
2%igen Gelatine. Vor der 20%igen Ge- Immerhin sind auch hier neben einer grossen 
latine hat die 10%ige den Vorzug grösserer Reihe von Misserfolgen recht befriedigende 
Dünnflüssigkeit auch bei Zimmertemperatur. Erfolge einwandsfrei constatirt. Die intra- 
Diese Gelatine bietet wohl die denkbar venöse Injection oder gar die ursprünglich 

grösste Sicherheit gegen die Tetanusgefahr, geübte Injection in den Aneurysmasack 

die sich überhaupt bieten lässt, und es wäre selbst werden wir nicht mehr ausführen, 

dringend zu wünschen, dass dieselbe in allen Wohl aber können wir in solch* verzwei- 
Apotheken vorräthig gehalten würde (zu- feiten Fällen, wie sie jederzeit die Aorten¬ 
mal da sie Jahre lang unverändert haltbar aneurysmen repräsentiren, stets die sub- 
ist), damit der Arzt keine Veranlassung hat, cutane Gelatineinjection, am besten wohl 

in dringenden Fällen ad hoc bereitete und in den musc. pectoralis in Anwendung 

mangelhaft sterilisirte Gelatine zweifei- bringen. Dem Patienten wird es stets ein 

hafter Provenienz zu verwenden. Trost sein, wenn er weiss, es giebt für ihn 

Aber auch durch die Merck*sche Gelatine noch ein Mittel, womit sein verzweifelter 
wird natürlich keine absolute Sicherheit Zustand wenigstens gebessert werden kann, 
gegen Tetanus geboten, wenn sich der Und Besserungen nach Gelatineinjektionen 
injicirende Arzt nicht vergegenwärtigt, bei Aneurysma sind sicher festgestellt, 
dass Tetanussporen im Bodenschmutz un- Eine zweite, den Praktiker besonders 
gemein häufig Vorkommen und daher auch interessirende Krankheitsform und deren 


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ral fron 

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122 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


März 


rascheste Bekämpfung ist die Lungen- 
blutung, die Haemoptoe. Gerade bei ihr 
sind fast von allen Seiten ganz vortreff¬ 
liche Erfolge berichtet (Thieme, Ursch¬ 
mann, Wagner, Hammelbacher, und 
Pischinger, Davezay u. A.) Ich selbst 
verfüge über vier Fälle, wo ich bei nur 
allerschwersten Haemoptoen die subcutane 
Gelatineinjection in Anwendung gebracht 
habe und ich kann sagen, ich bin gerade 
durch den jedesmaligen prompten Er¬ 
folg in den oft ganz verzweifelten 
Fällen ein Anhänger der Gelatinetherapie 
geworden. In allen diesen Fällen habe ich 
die ganze andere Therapie der Haemoptoe 
erschöpft, ohne jeden Erfolg! Nur in 
solchen Fällen schritt ich früher zur Gela¬ 
tineeinspritzung, künftig wenn wir sicher 
(Merck) jede Gefahr vermeiden können, 
werde ich früher zu derselben meine Zu¬ 
flucht nehmen! Ich verfahre bei der In- 
jection folgendermaasen: die Spritze wird 
1 bis 2 Stunden in Formalinlösung oder 
starke Carbolalkohollösung gelegt und 
mehrfach durchgespritzt, direct vor dem 
Gebrauch noch mit reinem Alkohol noch¬ 
mals durchgespritzt und von obigen Lö¬ 
sungen gereinigt, die Nadel wird ausge¬ 
glüht oder ausgekocht (*/4 Stunde lang). 
Die Injectionsstelle: vordere Brust- resp. 
Pectoralisgegend der Seite, welche vermuth- 
lich den Sitz der blutenden Stelle beher¬ 
bergt, vorsichtig abgeseift und mit Sublimat¬ 
lösung (1 :1000) und Aether ebenso vor¬ 
sichtig abgerieben. Sodann wird die sterile 
Lösung, deren Behälter erst direct vor dem 
Gebrauch geöffnet wird, tief unter den 
Pectoralis hinein injicirt. 

Die Injection ist meist recht schmerz¬ 
haft, trotz vieler gegentheiliger Berichte 
und bleibt auch meist noch 3 bis 5 Tage 
schmerzempfindlich. Diese Schmerzhaftig¬ 
keit hat einen grossen Vortheil: die kranke 
Seite wird geradezu ideal ruhig gestellt 
dadurch, dass sie der Patient in Folge der 
schmerzhaften Spannung an der Injections¬ 
stelle fast vollkommen von der Athmung 
ausschaltet. Der schwerste Sandsack wird 
die kranke Brustseite nicht so ruhig stellen, 
die stärkste Morphiumgabe wird nicht so 
gut wirken wie der Wille des Patienten, 
wenn er Schmerz hat und Schmerz ver¬ 
meiden will! Diese Ruhigstellung der 
Thoraxhälfte und die blutgerinnende Wir¬ 
kung der Gelatine repräsentiren zusammen 
einen grossen therapeutischen Werth. Was 
von beiden am meisten nützt, ist ja schliess¬ 
lich praktisch gleichgültig, wenn beide zu¬ 
sammen nur nützen. Und sie nützen 
prächtig. Erst vor drei Wochen hatte ich 

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wieder in einer hiesigen Familie bei dem 
22jährigen vorher blühend gesunden Sohne 
in bangster Stunde bei schwerster Hae¬ 
moptoe einen ganz ausgezeichneten Erfolg l 
(Mein fünfter Fall.) 

Bezüglich Magen- und Darmblu¬ 
tungen soll die subcutane Gelatineanwen¬ 
dung nicht unversucht bleiben. Innerlich 
verabreicht, habe ich in drei Fällen keinen 
nennenswerthen Erfolg gesehen, ebenso wie 
bei Haemoptoe Gelatine innerlich gegeben, 
gänzlich versagt hat. Fast möchte ich im 
Gegentheil davor warnen, weil die Gela¬ 
tine, von den Patienten in 5 bis lOproc. 
Lösung mit Syr. cort. Aur. gerne genommen,, 
sehr häufig heftigen Brechreiz und auch Er¬ 
brechen darauf bekommen, was man j a gerade 
ängstlich zu vermeiden sucht bei allen der¬ 
artigen Blutungen. Curschmann, Polja- 
kow, Bauermeister u. A. sind in letzter 
Zeit warme Freunde der Anwendung der 
Gelatine vom Magen aus geworden, ersterer 
namentlich bei Nachbehandlung schwerer 
Blutungen und als Prophylakticum bei 
Neigung zu Rückfällen zu solchen. Auch 
hier wird die Erfahrung klärend wirken. 
Albert berichtet über einen prompten Er¬ 
folg nach subcutaner Injection von Gelatine 
bei schwerer Darmblutung post operationem. 

Ueber gute Erfolge bei haemorrhag. 
Nephritis nachsubcutanerGelatineinjectioi» 
berichtet Schwabe, Kehr über vier Fälle 
mit promptem Erfolg bei cholämischen 
Blutungen (dreimal) und einmal bei Blut¬ 
erbrechen post laparotomiam. Er spritzte 
jedesmal 200 g einer 2proc. Lösung ein 
und glaubt, ihr die Rettung seiner Patienten 
zu verdanken. Er beobachtete rasches 
Aufhöien des Blutens bald nach der In¬ 
jection, was bei der geringen Tendenz cho- 
laemischer Blutungen zum spontanen Nach¬ 
lass derselben um so augenfälliger war. 
Auf Grund seiner günstigen Erfahrungen 
will er künftig bei der Operation Ikterischer 
schon vorher aus prophylactischen Gründen 
Gelatine injiciren. 

Bei Blasenblutungen sahen Zupnik 
(Prag) und Lorenz raschen blutstillenden 
Erfolg. Sie spritzen 2% Gelatinelösung 
in die Blase ein. In beiden Fällen prompte 
Blutstillung, in beiden Fällen freilich auch 
am 12. resp. 7. Tag Trismus, Tetanus und 
Exitus letalis. Haben wir heute sicher 
steriles Gelatinematerial, so wird nur noch 
der Erfolg oder der Nichterfolg in die Er¬ 
scheinung treten, nicht aber solche trübe 
Folgeerscheinungen unserer Therapie. 

Bei Hämophilie haben Hahn, Hey¬ 
mann, Krausse u. A. sehr gute Erfolge 
erzielt. Ueber die treffliche Wirkung der 

Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 







März 


123 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


subcutanen Injection von Gelatine bei 
Melaena neonatorum berichten Com- 
mandeur, Fuhrmann, Holtschmidt. 
Letzterer hatte von 5 nicht ausgesuchten 
Fällen 5 Heilungen, während früher 50 
und mehr Procent Todesfälle bei dieser 
Krankheit das Gewöhnliche waren, „weil 
uns kein Mittel zu Gebote stand, die Blu¬ 
tung auch nur einigermaassen sicher zu 
beherrschen 41 . 

Was die blutstillende Wirkung der 
Gelatine, subcutan angewendet, bei gynäko¬ 
logischen Blutungen betrifft, so sah ich ein¬ 
mal bei schwerer Metrorrhagie ohne 
sonstige nachweisbare Ursache im Climac- 
terium bei einer Blutung vollen Erfolg. 
Glänzenden Erfolg dagegen sah ich in 2 Fällen 
heftigster, jeglicher Tamponade und innerer 
Medication (Ergotin etc.) trotzenden Blutung 
inFolge Atonia Uteri post partum durch Tam¬ 
ponade des Uterus mit in sterile Gelatine 
getauchter Gazestreifen; einmal prompte 
Blutstillung bei stark blutenden Cer- 
vixcarcinom auch durch Tamponade. 
Carnot hat bekanntlich gerade diese An¬ 
wendungsform als besonders wirksam 
empfohlen: Aufgiessen und Pressen von 
Gelatine auf blutenden Wunden. Mani- 
calide und Christodulo haben in 55 
Fällen die Scheiden- und Cervix¬ 
tamponade mit Gelatinetampons bei hef¬ 
tigen Metrorrhagieen mit jedesmaligerso¬ 
fortiger prompter Wirkung in Anwendung 
gebracht. Ebenso Bauermeister bei 
Uterusblutungen (innerlich bei Hämate- 
mesis etc.) mit Erfolg. Derselbe auch ein¬ 
mal bei Nasenbluten ebenso wie Freuden¬ 
thal. Gradenwitz berichtet in aller- 
jüngster Zeit (September 1902) über einen 
Todesfall (Tetanus) nach Gelatineinjection 
bei inoperablem Portio- und Scheiden- 
carcinom. Während die Blutung nur 
schwer, später durch Tamponade gar nicht 
mehr zu bewältigen war, stand dieselbe 
1 U Stunde post injectionem vollständig, 
ohne in den 6 Tagen bis zum Exitus an 
Tetanus wiederzukommen. Die Injection 
an sich hat sich also glänzend bewährt. 
Die Gelatine war, wie wir heute wissen, 
zu kurz sterilisirt: 1 Stunde im Wasser¬ 


bade. Daher der Tetanus. Gradenwitz 
will trotz des guten Erfolges weitere Ver¬ 
suche mit Gelatine erst dann anstellen, 
wenn wir im Besitze sicherer keim- und 
auch sporenfreier, durch zahlreiche bereits 
begonnene Thierversuche erprobten Gela¬ 
tine uns befinden, und weist ebenfalls auf 
die von Merck jüngst in den Handel ge¬ 
brachte sterile Gelatine hin. 

Soviel steht fest: kein Praktiker ist im 
Stande, den Vorschriften, die eine sichere 
Gelatinesterilisirung erheischt, zu genügen. 
Der Praktiker soll sich deshalb nie auf eine 
von ihm selbst angewandte Methode der Ge¬ 
latinesterilisirung verlassen; nur die Anwen¬ 
dung des Merck’schen Präparates erscheint 
unter obigen Einschränkungen statthaft. 

Ein weites Feld zuverlässiger Wirksam¬ 
keit hat sich somit heute schon die Gela¬ 
tinetherapie erobert. Wie die Gelatine 
wirkt, ist noch nicht geklärt, ob nur durch 
! Contactwirkung, wie einzelne Autoren be¬ 
haupten (Dastre), mit dem Blute, oder 
durch eine specifische Eigenthümlichkeit der 
Gelatine, die Gerinnungsfähigkeit des Blutes 
zu erhöhen, oder durch ihren Kalkgehalt 
oder anderes. Hier verweise ich auf die 
treffliche Arbeit Zibells, Münch, med. 
Wochenschrift 1901, No. 42. Jedenfalls hat 
die praktische Verwendung der Gelatine 
die theoretischen Erwägungen schon weit 
überholt. Auch diese Frage wird unter den 
praktischen Erfahrungen ihrer Lösung ent¬ 
gegenreifen. 

Curschmann sagt, „dass er unter 
allen, nicht chirurgischen oder überhaupt 
unmittelbar auf die blutende Stelle an¬ 
wendbaren Methoden der Blutstillung keine 
kennt, die dem Gelatineverfahren in Bezug 
auf Wirksamkeit an die Seite gestellt 
werden kann 44 . Ein grosses Lob aus dem 
Munde des erfahrenen und verdienten Kli¬ 
nikers. Mit unserer eigenen Erfahrung in 
relativ zahlreichen Fällen können wir uns 
ganz diesem Leitsätze Cuschmann’s an- 
schliessen und man kann sagen: die Gela¬ 
tine, wenn autoritativ zuverlässig keim- und 
toxinfrei, ist eine vortreffliche Bereicherung 
unserer therapeutischen Hilfsmittel bei Be¬ 
kämpfung jedweder Blutung. 


Bücherbesprechungen. 


Prof. B. Kobert Lehrbuch der Intoxi- 
ca t io ne n. 2. Auflage. I. Band. Allge¬ 
meiner Theil. 1902. Stuttgart, Enke. 
M. 16,—. 

Gegenüber der ersten Auflage (1893) 
hat Verfasser sein Lehrbuch der Intoxi- 
cationen in zwei selbstständige Bande ge- 

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thcilt, von denen der erste vorliegt. Seine 
Sonderstellung unter den Lehrbüchern der 
Toxikologie erhält Kobert’s Buch dadurch, 
dass Verfasser einmal für einen möglichst 
vielseitigen Leserkreis schreibt und dann 
eine erschöpfende Wiedergabe der ein¬ 
schlägigen Litteratur anstrebt. In der auf 

16 * ' 31 fron 

UNIVERSUM OF CALIFORNIA 




März 


124 Die Therapie der 

eingehende Litteraturkenntniss und auf aus¬ 
gedehnte eigne Erfahrungen gestützten Dar¬ 
stellung liegt die Bedeutung dieses Buches. 
Eine derartige allgemeine Toxikologie, 
wie sie Kob ert hier bearbeitet hat, existirte 
noch nicht. 

Der Inhalt gliedert sich in „Allgemeines 
über Intoxicationen“ und in „Nachweis von 
Intoxicationen post mortem“. Hierbei werden 
ebenso die den Gerichtsarzt interessiren- 
den Fragen des pathologisch-anatomischen 
Befunds und des chemischen Nachweises des 
Gifts, als die physiologischen Methoden 
zur Feststellung der Wirkungen der ein¬ 
zelnen Stoffe und die Zergliederung des 
pharmakologischen Wirkungsbilds ein¬ 
gehend, namentlich unter Beschreibung der 
Apparate und der Versuchsmethodik (S. 149 
bis 284) behandelt. 69 Abbildungen, ins¬ 
besondere den Blutfarbstoff und seine Deri¬ 
vate, mikroskopische Befunde und Apparate 
darstellend, sind dem Buche, das noch mehr 
als die erste Auflage Anerkennung finden 
wird, beigegeben. E. Rost (Berlin). 

J. Baedecker. Die Arsonvalisation. 
1902. Verlag von Urban & Schwarzen¬ 
berg, Berlin-Wien. Preis M. 2,—. 

Verfasser giebt zunächst eine kurze Be¬ 
schreibung der bei der Arsonvalisation an¬ 
zuwendenden Apparate. Bei der Anwen¬ 
dung dieser Ströme hat man zu unterschei¬ 
den zwischen allgemeiner und localer 
Arsonvalisation. Beide Methoden sind in 
ihren Eigenschaften und in ihrer Wirkung 
grundverschieden. 

Das Wesentliche der localen Arson¬ 
valisation ist der Hautreiz; ausserdem ist 
eine Nerven- und Muskelreizung nachweis¬ 
bar. 

Zur Ausübung des Hautreizes wird die 
Elektrode nicht direct auf die Haut gesetzt, 
sondern in einigen Millimetern Entfernung 
gehalten. Man empfindet ein Brennen und 
Hitzegefühl und später eine Röthung. Bei 
zu lange ausgeübter Reizung treten Brand¬ 
blasen auf. 

Bei der allgemeinen Arsonvalisation ist 
die Körperoberfläche selbst Condensator- 
elektrode und strahlt selbst Funken auf 
Gegenstände aus. Es fehlen also bei der 
allgemeinen Arsonvalisation die Erschei¬ 
nungen des intensiven Hautreizes, wie bei 
der localen. 

Physiologische Wirkungen der Arson¬ 
valisation: 

Arsonval fand, dass durch Einwirkung 
auf Haut und Schleimhaut ein Grad von 
Unempfindlichkeit erzeugt wird, der bis zur 
vollständigen Anästhesie geht. Baedecker 

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Gegenwart 1903. 


kann diese Befunde absolut nicht bestätigen. 

Er fand nach der Bestrahlung eine Hyper¬ 
ästhesie für Wärme und Kälte. 

Der Einfluss der Arsonvalisation auf die 
Athmung ist ebenfalls geprüft worden. 
Baedecker findet, dass die Athmung 
durch die Arsonvalisation in keiner Weise 
beeinflusst wird (bei drei Thieren geprüft); 
bei einem Versuchstiere übte diese Behand¬ 
lung eine Vermehrung der Athemzahl und 
eine Erhöhung des Respirationsvolumens 
von 6140 cm 8 auf 11 600. Andere Autoren 
haben dieselben Resultate bekommen wie 
Baedecker. 

Auch die Einwirkung der Arsonvali¬ 
sation auf den Blutdruck, wie er von Ar¬ 
sonval behauptet wurde, wird von Bae¬ 
decker bestritten. 

Ob die Arsonvalisation auf den Stoff¬ 
wechsel einen wesentlichen Einfluss aus¬ 
übt, bedarf noch einer genauen Nach¬ 
prüfung. Positive Resultate im Sinne eines 
gesteigerten Stoffwechsels sind natürlich 
schon gefunden worden. Ob diese Ver¬ 
suche mit genügender Kritik angestellt 
wurden, ist eine andere Frage. 

Ueber die therapeutische Verwendung 
dieser Ströme berichtet Baedecker Fol¬ 
gendes: 

Der Zuckergehalt bei Diabetikern wird 
durch die Arsonvalisation nicht geändert. 
Doch gelang es, einige lästige Symptome 
günstig zu beeinflussen. 

In Fällen von Hysterie und Neurasthenie 
ist eine günstige Wirkung auf die Störun¬ 
gen nicht zu leugnen (im Gegensatz zu 
Arsonval selbst, der die Arsonvalisation 
Hysterischer und Neurasthenischer nicht 
empfiehlt). 

Locale Arsonvalisation wurde von Bae¬ 
decker angewendet bei Neuralgien, Myal¬ 
gien, Arthralgien, Erythromelalgien, Cephal- 
algien (nicht aufNeuritis beruhend). Günstige 
Resultate erzielte der Verf. eigentlich nur 
bei Cephalalgie. 

Nach den Mittheilungen Baedecker’s 
dürfen wir also auf die therapeutischen Er¬ 
folge mittelst Arsonvalisation keine allzu 
grossen Hoffnungen setzen. 

M. Rosenfeld (Strassburg). 

A. Montl. Kinderheilkunde in Einzel¬ 
darstellungen. 17. Heft. Erkrankun¬ 
gen der Respirationsorgane, der Thy¬ 
reoidea und der Thymus. 18. Heft. Er¬ 
krankungen der Circulationsorgane, 
Basedow’sche Krankheit. Urban & Schwar¬ 
zenberg 1902. M. 4,— bezw. M. 2,—. 

In Fortsetzung des nunmehr zum dritten 
Bande gediehenen Werkes von Monti 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


125 


werden in gleicher Art der Darstellung wie 
früher, die genannten Capitel behandelt. 
Wie immer strebt der Autor, seinen Stoff 
nach allen Seiten möglichst vollständig zu 
geben, vielfach nach des Referenten An¬ 
sicht zu vollständig. Eine 2Vs Bogen lange 
Einführung in die Untersuchung des Thorax, 
die nur relativ wenig bringt, was nicht aus 
den Lehrbüchern der klinischen Unter¬ 
suchungsmethoden zu schöpfen wäre, wird 
man wohl in einer Specialschrift der 
Kinderheilkunde für zu viel des Guten 
halten. Noch sonst wäre dem Werke zu 
wünschen, dass es weniger eine allgemeine 
Pathologie mit besonderer Bezugnahme 
auf das Kindesalter, als speciell und allein 
die Verhältnisse in der Jugend im Gegen¬ 
satz zum späteren Alter zu geben beflissen 
wäre, die allen Lebensepochen gemein¬ 
samen ätiologischen und pathologischen 
Momente als bekannt voraussetzend. Monti 
hätte dann ein wesentlich knapperes, 
aber dem nach Belehrung gerade in 
den speciellen Fragen Suchendem sym¬ 
pathischeres Werk geschaffen. Immerhin 
darf es auch, so wie es ist, zum 
Studium wohl empfohlen werden. 

Finkeistein. 

Jules Comby. Formulaire de Poche 
pour les maladies des Enfants. 
Paris, Rueff 1901. M. 11,—. 

Seine früher erschienenen grösseren 
Werke über Therapie und Prophylaxe der 
Kinderkrankheiten hat Prof. Comby in 
einem handlichen Format für Aerzte und 
Studirende, für die Praxis und für den 
Besuch der Klinik zusammengefasst; mit 
grosser Gründlichkeit und seltener Lücken¬ 
losigkeit sind in der ersten Hälfte die 
Krankheiten des kindlichen Lebensalters 
in präcisen kurzen Hinweisen therapeu¬ 
tisch gewürdigt, während die zweite 
Hälfte nicht nur die Heilmittel, sondern 
auch alle Encheiresen aufführt und mit 
grosser Anschaulichkeit beschreibt. Da 
die französische Therapie an Mannig¬ 
faltigkeit der deutschen überlegen ist und auf 
vielfach recht praktischer Basis aufgebaut 
ist, so wäre eine Uebersetzung des Buches 
wohl erspriesslich und lohnend, zumal 
Comby zu den Ersten seines Faches in 
Paris gehört und wir seit dem 1884 er¬ 
folgten Erscheinen des O. Silbermann- 
schen nicht wieder aufgelegten Büch¬ 
leins kein wissenschaftliches und zu¬ 
gleich praktisches Recepttaschenbuch für 
Kinderärzte besitzen. 

B. Laquer (Wiesbaden). 

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E. Jonas (Liegnitz). Die zweiseitige (ge¬ 
trennte) Nasen - Lungenathmung, 
deren Einfluss auf die Thoraxbil¬ 
dung und die Erkrankungen der 
Lunge und die oro-nasale Athmung. 
Liegnitz. Carl Seiflarth. 1902. M. 1,_. 

Der Verf., der schon mehrfach die Be¬ 
deutung einer freien Nasenathmung und 
den Einfluss nasaler Anomalien auf die 
Respiration und die Respirationsorgane 
hervorgehoben hat, constatirte in seiner 
Praxis, dass bei vorwiegender Erkrankung 
einer Nasenseite eine sich hinzugesellende 
Lungenaffection meist ebenfalls auf einer 
Seite und sehr oft auf derselben Seite 
ihren Anfang nahm, und dass einseitige 
Veränderungen des Thorax bei nasaler 
Stenose derselben Seite vorkamen. Dies 
führte ihn zu der Annahme einer Doppel¬ 
strömung der Einathmungsluft, einer ge¬ 
trennten bilateralen Nasen-Lungen- 
athmung. Durch zahlreiche praktische 
Beobachtungen und Untersuchungen, so¬ 
wie durch physikalische Erwägungen und 
Versuche sucht Verf. die Möglichkeit und 
Wahrscheinlichkeit dieser Annahme zu er¬ 
weisen. Wir können die wesentliche 
Grundlage aller seiner Schlüsse: dass näm¬ 
lich einseitige Thoraxanomalien oder Lun- 
genaftectionen und einseitige Nasenano¬ 
malien häufiger gleichseitig, als anders¬ 
seitig sind, nach unseren eigenen Erfah¬ 
rungen nicht anerkennen und können da¬ 
her auch die Folgerungen, die Jonas aus 
dieser vermeintlichen Thatsache zieht, uns 
nicht zu eigen machen. Dies darf aber 
nicht hindern, die zahlreichen Anregungen, 
die Verf. in seinem lesenswerthen Aufsatz 
giebt, anzuerkennen und die Aerzte zu 
eigenen Beobachtungen auf diesem Gebiete 
aufzufordern. F. Klemperer. 

A. Bosenberg. Welche Nasenkrank¬ 
heiten kann man ohne technische 
Untersuchungsmethoden erken¬ 
nen? Berliner Klinik H. 175. Januar 
1903. Fischers med. Buchh. M. 1,20. 
Rosenberg giebt seiner Abhandlung 
den Untertitel: Praktische Fingerzeige 
für den Arzt. Er wendet sich an den 
Praktiker, der die rhinoskopische Unter¬ 
suchung nicht ausübt, und theilt für ihn die 
Nasenkrankheiten ein in: 1) mit dem Auge 
unmittelbar wahrnehmbare Veränderungen: 
a) an der äusseren Nase und b) am vor¬ 
deren Theile des Naseninneren; 2) mit an¬ 
deren Sinnen wahrnehmbare Erkrankungen 
und 3) aus subjectiven Symptomen erkenn¬ 
bare Erkrankungen. Mit grossem Geschick 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




126 


Die Therapie der Gegenwart 1903. März 

bringt er in diesem Schema so ziemlich alle ■ widmet, dabei aber doch ihre praktische 
Nasenaffectionen unter; in der zweiten Bedeutung in das richtige Licht gerückt. 
Gruppe bespricht er die Ozaena und an- So dürfte dem Verfasser gelingen, was er 
dere mit nasalem Foetor einhergehende mit seiner Schrift erstrebt: das Interesse 
Affectionen, in der dritten Gruppe alle mit | des Arztes für die Nasenkrankheiten wach- 
Stenose verbundenen Erkrankungen, spe- zurufen, resp. zu erhöhen, so dass er für 
ciell die adenoiden Vegetationen. Jeder ihr eingehenderes Studium gewonnen wird. 
Affection wird nur ein kurzes Wort ge- F. K. 


Referate. 


Das Adrenalin, ein Präparat, welches 
das blutdrucksteigernde Prinzip der Neben¬ 
niere in krystallinischer Form enthält (vergl. 
darüber den Sammelbericht in dieser 
Zeitschr. Jahrg. 1902, S. 364 ff.), ist nach 
O. Lange’s Mittheilung im städtischen 
Krankenhause in Baden-Baden in ver¬ 
schiedenen Fällen verzweifelter Blu¬ 
tungen mit sicherem Erfolge als Hämosta- 
ticum angewandt worden. In dem ersten 
der hier bezeichneten Fälle handelt es sich 
um einen Hämophilen, der wegen einer 
unstillbaren parenchymatösen Blutung aus 
einem incidirten Panaritium eingeliefert 
worden war und bei dem alle anderen 
Hämostatica wie Tamponade mit Eisen¬ 
chlorid watte, Ferripyrin watte, Gelatinelösung 
per os und per rectum, Subcutaninjectionen 
von Extractum Sec. corn. dialys., ohne 
dauernden Erfolg angewandt worden waren. 
Austupfen der Wunde mit Gazestückchen, 
die mit einer Lösung von 5 ccm käuflicher 
Sol. Adrenalins hydrochlorici und 5 ccm 
physiologischer Kochsalzlösung getränkt 
waren, sowie nachheriges Auslegen der 
Wunde mit derartig zubereiteten kleinen 
Gazestückchen brachte die Blutung sofort 
und dauernd zum Stillstand. Aus pro- 
phylactischen Gründen wurde beim ersten 
Verbandwechsel nach 3 Tagen Adrenalin 
nochmals in gleicher Weise angewandt. 

Mit gleich günstigem Erfolge wurde das 
Adrenalin bei zwei an Perityphlitis 
operirten Patienten angewandt, bei denen 
schwere profuse Nachblutungen durch den 
Verbandwechsel hervorgerufen worden 
waren. Die Anwendung des Mittels ge¬ 
schah ganz in derselben Weise durch Aus¬ 
tupfen und Auslegen der Wunde mit 
adrenalingetränkten Gazestreifen. 

In einem weiteren Fall wurde auf diese 
Weise heftiges und auf andere Weise un¬ 
stillbares Nasenbluten schnell zum Stehen 
gebracht. 

Bei einer schweren, andauernd sich 
wiederholenden Hämoptoe sowie bei einer 
periodisch wiederkehrenden schweren Hä- 
matemesis wurde die Adrenalinlösung 

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innerlich in wiederholten Dosen von je 
20 Tropfen erfolgreich verabreicht. 

Es wäre sicherlich zu wünschen, dass 
die auch physiologisch wohl begründete 
wirksame Substanz der Nebennieren die 
wir ja heute sowohl in der Form des Adre¬ 
nalins, wie des Suprarenins in reiner 
Form anwenden können, bei der Behand¬ 
lung solcher schwerer Blutungen immer 
möglichst bald zur Anwendung käme, ehe 
durch erfolglose anderweitige Stillungs¬ 
versuche Zeit verloren wird. Freilich ist 
— wie auch Lange hervorhebt — das 
Adrenalin ein theures Präparat (30 ccm 
= 8,50 M.) aber die wirksame Dosis dafür 
klein und die hämostatische Wirkung eine 
sichere. Man muss sich indessen bei seiner 
Anwendung immer wohl bewusst sein, dass 
unter Umständen beim Nachlassen seiner 
ziemlich schnell abklingenden physiolo¬ 
gischen Wirkung lokaler Gefässverengung, 
Nachblutungen auftreten können, die aber 
wohl meist durch erneute Application des 
Mittels zum Stehen gebracht werden können. 

F. Umber (Berlin). 

(Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 2.) 

Die Serumtherapie bei B&86dOW’SCh6F 
Krankheit, die auch auf dem letzten Con- 
gress für innere Medicin auf der Tages¬ 
ordnung war (vergl. diese Zeitschr. Jahrg. 
1902, S 270f.), geht bekanntlich von der 
Vorstellung aus, dass diese Erkrankung auf 
einer abnormen Steigerung der Schild- 
drüsenthätigkeit beruht, wodurch deren Se- 
cretionsproducte den Organismus über¬ 
schwemmen. Wenn nun die Schilddrüse 
normaler Weise die Aufgabe hat, gewisse 
im Stoffwechsel auftretende Gifte zu neu- 
tralisiren, so müssen sich dieselben in ab¬ 
normer Weise im Organismus anhäufen, 
wenn die Schilddrüse durch Krankheit oder 
operativen Eingriff (Myxödem, Cachexia 
strumipriva) ausgeschaltet ist. Gelänge es 
nun diese Cachexiegifte dem Basedow¬ 
kranken einzuverleiben — so sagen die 
Vertreter jener Schilddrüsentherapie, zu 
denen in erster Linie Moebius gehört — 

Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Aläxz 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


127 


so könnte man vielleicht das hier über¬ 
schüssige oder krankhafte Schilddrüsen- 
secret binden oder gewissermaassen neu- 
tralisiren. O. Lanz, jetzt Professor an der 
•chirurgischen Klinik zu Amsterdam, hat nun 
schon vor Jahren, wie er in einem jüngst er¬ 
schienenen Aufsatz gegenüber anderweitigen 
Prioritätsansprüchen (Burghart u. Blu¬ 
menthal) ausdrücklich noch einmal hervor¬ 
kehrt, experimentelle Studien darüber an¬ 
gestellt, ob sich das Serum und vor allem 
die Milch von strumectomirten Thieren als 
Heilmittel gegen Basedow’sche Krankheit 
verwerthen lasse. Er führte das praktisch 
in der Weise aus, dass er den Basedow- 
kranken nach der Entlassung aus der kli¬ 
nischen Behandlung auch noch weiter 
thyreoidectomirte milchliefernde Ziegen 
zur Verfügung stellte. In seiner letzten 
Mittheilung fügt er nun zu zwei Fällen, 
über die er bereits früher günstig berichten 
konnte, noch 4 weitere hinzu, bei denen 
derartige Milchkuren günstigen Erfolg ge¬ 
bracht hatten, und unter denen besonders 
ein schwerster Fall von Basedow als be- 
merkenswerth hervorgehoben wird. Mit 
Recht betont der Verf. ausdrücklich, dass 
eine so geringe Zahl beobachteter Krank¬ 
heitsfälle noch nichts beweist; seine 
Hauptabsicht ist die, zur Nachprüfung an¬ 
zuregen. 

Aehnliches beabsichtigt auch Moebius 
mit seiner Mittheilung über das Antithy- 
reoidin, ein von Merck auf seine Veran¬ 
lassung bereitetes Heilserum aus dem Blute 
schilddrüsenloser Pflanzenfresser. Er hat 
dieses Hammelserum in süssem Wein per 
os — subcutan wurde es nicht vertragen 
— an zwei Kranke verabreicht, die seit 2 
resp. 4 Jahren an gutartigem Basedow 
litten. Der Erfolg war der, dass zwar die 
Zahl der Pulse nicht beträchtlich abnahm, 
aber der Halsumfang und die Spannung 
in der Struma geringer wurde, sowie dass 
die Kranken mit Bestimmtheit aussagten, 
sie fühlten sich ruhiger und schliefen besser. 
Störungen wurden nie beobachtet. Bei 
Unterbrechung der Behandlung nahm der 
Halsumfang nach einigen Wochen wieder 
zu. Der Preis des Serums ist freilich 
ein sehr hoher. Moebius drängt vor 
allem auf klinische Prüfung des Heilver¬ 
fahrens. 

Die Kritik kann sicherlich nicht strenge 
genug sein bei der Bewerthung dieser 
serotherapeutischen Versuche, im Hinblick 
darauf, dass wir ja auch mit allgemein 
tonisirenderBehandlung, die eines gewissen 
psychischen Momentes bedarf, mit Arsen 
und ähnlichem oft genug schöne Besserungs¬ 


erfolge, vornehmlich bei unseren leichten 
Basedowkranken constatiren können! 

F. Umber (Berlin). 

(Manch, med. Woehenschr. 1903. No. 4.) 

Ueber Verwendung der Bismutose bei 
Magen-Darmkrankheiten berichtet Elsner 
aus der Boas'sehen Poliklinik. Bekanntlich 
stellt die Bismutose eine Verbindung von 
Eiweiss mit Wismuth dar mit einem Ge 
halt von ca. 21 % Wismuth. Die Em¬ 
pfehlung der Bismutose geschah aus fol¬ 
genden theoretischen Erwägungen: 1) dass 
sie eine grössere säurebindende Eigen¬ 
schaft besässe als Wismuth, 2) dass sie 
weniger giftig, 3) besser löslich sei. Aus 
diesen Erwägungen wurde sie von Elsner 
in der Boas'sehen Poliklinik vielfältig 
verwandt bei reiner Hyperacidität, wo sie 
in der That sich gut bewährte, so dass die 
Menge der freien HCl unter dem Bismutose- 
gebrauch herabgesetzt wurde. Freilich 
trat ein Erfolg nicht immer auf. 

In Fällen von Hyperacidität mit Hyper- 
secretion liess sich allerdings bei nur zwei 
Fällen ein strictes Urtheil nicht abgeben. — 
Ein Fall mit gutem, ein Fall mit negativem 
Erfolg. — Bei Ulcus ventriculi kann Elsner 
die Bismutoseverabreichung als Unter¬ 
stützungsmittel der eigentlichen Ruhecur 
empfehlen, nur muss man die adstringirende 
Wirkung, die die Bismutose ebenso wie 
das Bismut. subn. auf den Darm entfaltet, 
berücksichtigen und für regelmässige Ent¬ 
leerungen sorgen, da Obstipation reflec- 
torisch die Magensecretion steigern kann. 
Diese adstringirendeWirkung im Darm kann 
bei Enteritiden neben der Diät mit gutem 
Erfolge verwandt werden, wovon der Ver¬ 
fasser bei einigen Fällen von Darm¬ 
katarrhen mit Durchfällen sich überzeugen 
konnte. 

Auch Referent kann die Empfehlung der 
Bismutose durchaus unterstützen, möchte 
aber auf einen Uebelstand bei der 
Verwendung des Präparates aufmerksam 
machen. Die Bismutose ist ein so fein ver¬ 
teiltes Pulver, dass es bei dem leisesten 
Hauche, bei der Exspiration, verstäubt, sich 
nicht mit Wasser, wie z. B. das Bismut. subn., 
verrühren lässt, so dass mitunter die Dar¬ 
reichung auf Schwierigkeiten stösst. Daher 
ist es wohl zweckmässig bei der Verord¬ 
nung, die Betonung eines schleimigen Ve¬ 
hikels hinzuzufügen, wenn man es in 
den leeren Magen bringen will; während 
sonst das Hinzufügen zu den einzelnen 
Speisen und das Verrühren in denselben 
wohl am besten ist, z. B. in Kartoffelpurrde, 
in Reis, Gries etc. Auch bei Flatulenz und 


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128 


März 


Die Therapie der 


Gährungsdyspepsie sah Referent ent¬ 
schieden Nutzen von dem Präparate. 

Carl Berger (Dresden). 

(Archiv für Verdauungskrankheiten, Bd. VIII.) 

Untersuchungen Ober die Veränderung 
des Blutes unterm Einfluss der ver¬ 
schiedenen Methoden der Hg-Be- 
handlung hat Ossendowski bei 30 Lue¬ 
tikern (im Alter von 19—39 Jahren) durch¬ 
geführt. Die Patienten, von denen sich 
25 im condylomatösen und 5 im gummösen 
Stadium befanden, wiesen im übrigen keine 
Complicationen auf. 10 von ihnen wurden 
bis zum Verschwinden aller Symptome mit 
Einreibungen von grauer Salbe behandelt, 
5 mit intramusculären Injectionen von Hy- 
drarg. salicyl., 5 mit subcutanen Ein¬ 
spritzungen von Hydrarg. benzoicum, 5 
innerlich mit Pillen aus Jodquecksilber- 
Haemol und die letzten 5 (im gummösen 
Stadium) mit Jodkali. Das Blut wurde um 
dieselbe Zeit fast in gleichen Intervallen 
vor, während und nach der Cur untersucht, 
und Verfasser bestimmte jedesmal den 
Haemoglobingehalt (Fleischl) die Blut¬ 
körperchenzahl und das Verhältnis der 
rothen zu den weissen (Thoma-Zeiss), 
ferner die Arten derLeukocyten im Trocken¬ 
präparat (Triacidfärbung). Auch wurde das 
Körpergewicht dreimal bestimmt. 

Bei jeder Behandlungsmethode steigerte 
sich im Allgemeinen der Haemoglobingehalt 
und die Erythrocytenzahl, die Anzahl der 
Leukocyten nahm ab. Die Lymphocyten 
vermehrten sich in den meisten Fallen, 
wahrend die mononucleären Leukocyten 
die Uebergangsformen, die polynucleären 
Blutkörperchen und eosinophilen Zellen 
sich eher verminderten. 

Der Hämoglobingehalt nahm nach intra- 
musculären Injectionen mehr zu als bei den 
übrigen Verfahren. Subcutane Einspritzun¬ 
gen steigerten am meisten die Zahl der 
rothen und verringerten die der weissen 
Blutkörperchen. Einreibungen und intra- 
musculäre Injectionen erhöhten insbeson¬ 
dere die Anzahl der Lymphocyten. Die 
mononucleären Leukocyten und Ueber¬ 
gangsformen nahmen ab nach Einreibungen 
und Jodkaligebrauch, sie vermehrten sich 
meist bei der Darreichung von Hg-Pillen, 
während bei den übrigen Verfahren ein 
wechselndes Verhalten zu constatiren war. 
Die polynucleären Blutkörperchen nahmen 
nach Jodkaligebrauch meist an Zahl zu, bei 
den Hg-Darreichungen jedoch ab. Das Ver¬ 
halten der eosinophilen Zellen ist nach intra¬ 
musculären Injectionen schwankend, bei den 
übrigen Methoden nimmt deren Zahl meist 


Gegenwart 1903. 


ab. Bei jedem Verfahren bewegt sich das 
Verhältnis der rothen zu den weissen Blut¬ 
körperchen in normalen Grenzen und 
nähert sich dem physiologischen Minimum. 
Die Steigerung des Haemoglobingehalts 
ist allemal geringer, als die der Erythro- 
cyten. Das Körpergewicht erhöht sich 
am meisten bei subcutanen Injectionen, am 
wenigsten nach Einreibungen. 

M. Urstein (Berlin). 

(Wratschebnaja Gazieta 1902, No. 19.) 

Unter der Bezeichnung Chorea eleotrica 
werden nach Bruns bisher 3 durchaus 
verschiedenartige Erkrankungen zusammen¬ 
gefasst; gemeinsam ist allen die ticähnliche 
rasche Zuckung (welche durch Vergleichung 
mit der durch den galvanischen Strom 
hervorgerufenen Zuckung den Namen ver¬ 
anlasst hat), die typische Lokalisation der 
Zuckungen an Schulter und Nacken und 
das Beschränktbleiben auf das Kindesalter. 
Die Chorea electrica sensu strictiori steht 
den echten Tics sehr nahe und ist wie 
diese von schlechter Heilungsprognose. 
Ausserdem giebt es aber noch eine auf 
Epilepsie und eine auf Hysterie beruhende 
Form. Die Differentialdiagnose von den 
letzteren ist, wenn hysterische Stigmata 
wie so oft bei Kinderhysterie — fehlen, 
schwer. Rasch heilende Fälle sind wohl 
immer der Hysterie zuzurechnen. Bei der 
epileptischen Chorea electrica stellen die 
Zuckungen eine Art rudimentäre Anfälle 
dar, die durch das gleichzeitige Vorkommen 
typischer epileptischer Anfälle oder petit 
mal mit geistigem Rückgang der Kinder 
von der echten Chorea electrica abzu¬ 
trennen sind. Die Behandlung ist hier 
natürlich diejenige der Epilepsie überhaupt. 
In den übrigen Fällen soll man selbst da, 
wo sichere Differentialdiagnose von Hysterie 
nicht möglich ist, immer die für Hysterie 
erprobten Behandlungsmethoden, insbeson¬ 
dere die von Bruns so bezeichnete Me¬ 
thode der zweckbewussten Vernachlässi¬ 
gung anwenden; der Erfolg der Therapie 
wird nach dem Gesagten in zweifelhaften 
Fällen die Diagnose Hysterie sicher stellen. 

Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt). 

(Berl. Klin. Wochenschrift 1902, No. 51.) 

Sehr bemerkenswerthe Erfahrungen über 
Daumenplastik lesen wir aus der Feder 
des jüngst verstorbenen Nicoladoni. Die 
schweren Schädigungen, welche durch den 
Verlust des ganzen Daumens bis zum Meta- 
carpophalangealgelenk erwachsen, sind be¬ 
kannt. Nicoladoni hat nun bereits zwei 
Mal, nach einer 1897 zuerst von ihm aus- 


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März 


129 


I>ie Therapie der (»egen wart 1903. 


gesprochenen Idee, den fehlenden Daumen 
durch Aufpfropfung der zweiten Zehe 
derselben Seite in allen ihren Theilen mit 
Glöck ersetzt. Nach gehöriger Anfrischung 
von Knochen und Weichtheilen an dem 
Daumenstumpf wird über dem Metatarco- 
phalangealgelenk der zweiten Zehe ein 
dorsaler Lappen mit distaler Basis gebildet, 
der Knochen der ersten Phalanx nahe dem 
Knorpel durchsägt und nun diese Knochen¬ 
fläche auf der des Daumenstumpfs mit 
Metallnaht fixirt, ebenso die Dorsalsehnen 
und die Lappenwundränder vernäht. Die 
Plantarhaut bleibt mit der aufgepfropften 
Zehe in Verbindung für 16 Tage, während 
welcher Daumen und Zehe in unmittel¬ 
barster Berührung durch vorher auspro- 
birten Gypsverband gehalten werden. Dann 
Trennung des Lappens und Abschluss der 
Naht (Genaueres in Lang. Arch. Bd. 61, 
H. 3). In dem letzten Fall hat sich die 
Zehe ohne jede Nekrose erhalten, und 
wenn sie auch nicht activ beweglich ist, 
so arbeitet doch der 25jährige Maschinen¬ 
schlosser wie früher und schreibt selbst, 
dass er „ordentlich zugreifen kann“ und 
„nicht einmal spürt, dass es ein anderer 
Finger ist“. 

Die guten Abbildungen machen das 
glaubhaft und empfehlen die Methode, die 
ja auch z. B. von v. Eiseisberg nach¬ 
geprüft wurde, zu geeigneter Anwendung. 

(Lang. Arch. f. klin. Chir. Bd. 69, H. 3, Sp. 695.) 

Fritz König (Altona). 

Die Leser der Zeitschrift werden sich 
erinnern, dass im vorigen Jahr an 
dieser Stelle (S. 80) kurz auf die Ergeb¬ 
nisse neuerer Forschungen hingewiesen 
worden ist, die sich mit der Möglichkeit 
eines Eiweissaufbaues im Körper aus 
niederen Spaliprodukten der Eiweissver- 
dauung beschäftigen. Es war damals spe- 
ciell einer vorläufig mitgetheilten Beob¬ 
achtung Loewi’s Erwähnung gethan, der- 
zufolge ein Hund, bei dem alle Eiweiss¬ 
nahrung durch N-haltige Endproducte einer 
Pankreasverdauung, bestehend aus Amido- 
säuren, Diaminosäuren, Ammoniak, und 
Purinbasen ersetzt worden war, 25 Tage 
hindurch sein Körpergewicht aufrecht er¬ 
halten hatte. Diese Beobachtung war des¬ 
halb um so bemerkenswerther als kurz 
vorher O. Cohnheim die Entdeckung ge¬ 
macht hatte, dass im Dünndarm ein Fer¬ 
ment vorkommt, er nannte es Erepsin, 
welches die tiefere Spaltung der albu- 
mosen- und peptonartigen Eiweissspalt¬ 
produkte in krystallinische Endproducte 
sehr energisch weiter führt, ohne auf natives 

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Eiweiss selbst, abgesehen von Casein, 
einzuwirken. Diese Angaben Cohnheim’s 
sind zwar nicht ganz ohne Widerspruch 
geblieben und in jüngster Zeit erst haben 
Embden u. Knoop auf Grund ihrer Unter¬ 
suchungen im Hofmeisterschen Labora¬ 
torium die tiefere Eiweissspaltung in die 
genannten Endproducte lediglich auf Tryp¬ 
sinwirkung zurückzuführen versucht. Wie 
dem auch sei, wir dürfen jedenfalls heute 
die quantitative Rolle dieser Endproducte 
bei der Darmverdauung den Albumosen 
und Peptonen gegenüber nicht mehr unter¬ 
schätzen wie das früher nicht selten zu 
geschehen pflegte. Jüngst hat nun Loewi 
seine erwähnte vorläufige Mittheilung aus¬ 
führlich ergänzt und über eine Anzahl 
weiterer Ernährungsversuche mit den ge¬ 
nannten Endprodukten an Hunden be¬ 
richtet, welche die Vorstellung begrün¬ 
den, dass wenigstens der Hund sein 
Körpergewicht aus den genannten nicht 
mehr eiweissartigen Endprodukten der Ver¬ 
dauung thatsächlich aufbauen kann. Be¬ 
sonders beweisend erscheint unter seinen 
Versuchsreihen eine Beobachtung (Ver¬ 
such V), derzufolge sich ein Hund 11 Tage 
lang mit Endproducten nicht nur im 
N Gleichgewicht erhielt sondern sogar noch 
Körpereiweiss ansetzte, und zwar täglich 
etwa 3 g entsprechend 0,5 g N. Dabei 
trat keinerlei Unregelmässigkeit von seiten 
der Verdauung auf, wie das sonst so ge¬ 
wöhnlich bei derartigen Versuchen der 
Fall war. 

Diese interessanten Ergebnisse besagen 
freilich noch nicht, dass auch für den 
Menschen gleiche Verhältnisse Geltung 
haben, wenn es auch wahrscheinlich sein 
dürfte. Immerhin wäre es verfrüht daraus 
den Schluss zu ziehen, dass alles Eiweiss 
was wir aufnehmen erst bis zur Stufe der 
krystallinischen Endproducte zerschlagen 
werden müsse, ehe es uns zum Aufbau 
unseres Organeiweisses taugt! Dagegen 
sprechen z. B. Untersuchungen der jüngsten 
Zeit von Zunz, denen zufolge Albumosen 
und Peptone zu gewissen Zeiten der Ver¬ 
dauung einen sehr reichlichen Procentsatz 
derEiweissverdauungsproducte im Darm aus¬ 
machen, dagegen sprechen Untersuchungen 
von Embden u. Knoop, sowie von Lang¬ 
stein, welche auch eine Resorption von 
albumoseartigen Spaltprodukten der Ei¬ 
weissverdauung nicht unwahrscheinlich 
machen, da sie in der Blutbahn gefunden 
werden. Offenbar giebt es verschiedene 
Modi der Resorption und des Eiweissauf¬ 
baues aus verschiedensten Spaltprodukten 
der Eiweissverdauung, gleich wie sie selber 

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130 


Marz 


Die Therapie der 


sich aus den verschiedenen Stadien com- 
ponirt. Es sei z. B. hervorgehoben, dass 
Plumier kürzlich länger ausgedehnte Un¬ 
tersuchungen mitgetheilt hat, in denen es 
ihm gelang durch längere Verabreichung 
von Albumosen und Peptonen (Witte¬ 
pepton) Hunde ausreichend zu ernähren. 
Das Körpergewicht blieb hierbei constant, 
ja es nahm sogar nach vorausgehendem 
Fasten zu. Jedoch gelang es Plumier im 
Gegensatz zu Löwi nicht, durch Verab¬ 
reichung von Endproducten selbstverdauter 
Pankreasdrüsen ein Thier auf Gewichts- 
constanz zu halten. F. Umber (Berlin). 

(Löwi, Arch. f. exp.Path u. Pharmak, Bd. 48, 1902. 
Einöden u. Knoop, Zunz, Langstein, Hof¬ 
meisters, Beitr. zur phys u. path. Chemie 1902. 
Plumier, Bull. Acad. roy. Belgique 1902. cit. ehern. 
Cbl. 1903, Bd. I.) 

Die elektrolytische Behandlung 
der Harnröhrenstricturen wird neuer¬ 
dings von Morian empfohlen. Nach 
Beobachtungen an 20 Fällen hält er 
dieselbe für eine bequeme Methode, 
welche ohne grosse Belästigung des Pa¬ 
tienten Stricturen soweit zu bessern im 
Stande ist, wie jede andere operative oder 
instrumentelle Behandlung. Auszuschliessen 
von dieser Behandlung sind sehr harte, 
lange Stricturen, wie sie besonders nach 
Traumen entstehen; die zur Zerstörung 
dieser Stricturen nothwendige elektrische 
Kraft müsste so gross sein, dass hierdurch 
unangenehme Nebenwirkungen entstehen. 
Ist die Strictur sehr eng, so muss sie 
instrumenteil zunächst erweitert werden, 
sodass mindestens Charriere 10 passirt. 
Selbstverständlich geht die Operation unter 
allen Cautelen der Antisepsis vor sich. 
Der Strom solle niemals 10 Milliampere 
überschreiten. Zweckmässiger Weise an- 
ästhesirt man die Urethra mit 1 °/ 0 iger 
Cocainlösung. Nach der Elektrolyse solle 
man das Instrument an der der durch¬ 
schnittenen Wand gegenüberliegenden 
Circumferenz der Urethra zurückschieben. 
Geht die Operation nicht leicht von statten, 
so solle man zur inneren Urethromie seine 
Zuflucht nehmen. Selbstverständlich muss 
auch bei dieser Methode mit Bougis nach¬ 
behandelt und auf Recidive geachtet 
werden. 

Sowohl die Elektrolyse, wie die innere 
Urethromie werden in Deutschland von 
Chirurgen sehr wenig ausgeführt. Es 
unterliegt nun keinem Zweifel, dass fast 
alle Stricturen durch Bougibehandlung, in 
geschickter und vorsichtiger Weise aus¬ 
geführt tractabel sind. Bei sehr schweren, 
harten, langen, dieser Behandlung nicht zu- 


Gegcnwart 1903. 


gänglichen Stricturen ist die Urethrotomia 
externa ev. mit Excision der Strictur das 
beste Verfahren. Will man aber intra¬ 
urethral behandeln, was zweifellos viele 
Fälle schneller vorwärts bringt als Bougi¬ 
behandlung, so dürfte die innere Urethro- 
tomie der Elektrolyse vorzuziehen sein. 
(Ref.). Buschke (Berlin). 

(Annalcs des mal. gen. urin. 1903.) 

In einer kürzlich erschienenen Mono¬ 
graphie: Zur Ursache und specifischen 
Heilung des Heufiebers theilt Prof. Dun¬ 
bar (Hamburg) folgende wichtige Ver¬ 
suchsergebnisse mit. 

Frisch isolirte Pollenkörner von Gra¬ 
mineen, die ein gelbliches Pulver dar¬ 
stellen, wurden mittelst Wattebäuschchen 
einer Reihe von Personen auf die Augen¬ 
bindehaut, resp. in die Nase gebracht. Bei 
3 von 6 Versuchspersonen traten weder 
subjectiv noch objectiv irgend welche Reiz¬ 
erscheinungen auf; bei den anderen 3 
traten heftige Reizerscheinungen auf, die den 
im Heufieberanfall zu beobachtenden voll¬ 
ständig analog waren. Die 3 reagirenden 
Patienten waren Heufieber-Patienten, d. h. 
Personen, die Jahr für Jahr von Heufieber 
heimgesucht wurden, die drei anderen Ver¬ 
suchspersonen nicht. Mechanische Reize 
(Berührung mit den Wattebäuschen allein) 
und verschiedene starke Riechstoffe lösten 
bei den 3 Heufieberpatienten keine Er¬ 
scheinungen aus. Auch nicht alle Arten 
von Pollenkörnern lösten die Reaction aus, 
unter anderm auch solche nicht, die mit 
feinen Stacheln dicht besetzt waren, ferner 
Lindenpollenkörner und der Pollenstaub 
von Rosen nicht, die bisher vielfach als 
Heufieberursache angesehen worden sind; 
sondern nur gewisse Gramineenpollen, ins¬ 
besondere die Roggenpollenkörner, führ¬ 
ten die typischen Erscheinungen am Auge 
und Nase herbei, diese aber regelmässig und 
— was Dun bar besonders hervorhebt — 
auch ausserhalb der Heu fieberperiode 
(im October und November). Die Gra¬ 
mineenpollenkörner sind demnach 
die Erreger des Heufiebers. 

Die Pollenkörner sind mit Körperchen 
angefüllt, die sich bei starker Vergrösse- 
rung als Stäbchen darstellen; dieselben 
geben mit Jodlösungen die charakteristische 
Färbung der Stärke und werden als Amy- 
lumstäbchen bezeichnet. Dunbar stellte 
fest, dass in diesen Stäbchen das die Heu¬ 
fieberanfälle auslösende Gift enthalten ist. 
Die aus den Pollenkörnern extrahirbaren 
öligen Bestandtheile einschliesslich der 
ätherischen Oele erwiesen sich bei den 


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Die Therapie der 

Heufieberpatienten als wirkungslos. In Secre- 
ten (Nasenschleim, Thränen, Speichel) und 
Blutserum dagegen lösen sich die Amylum- 
stäbchen von Pollenkörnern, deren äussere 
Hülle zerstört oder gesprengt ist, inner¬ 
halb kurzer Zeit vollständig auf und diese 
Lösungen erzeugen bei Verimpfung auf die 
Schleimhäute heufieberempfänglicher Per¬ 
sonen typische Reizerscheinungen; ihr 
Rückstand (die nicht gelösten Hüllen) ist 
wirkungslos. Der Heufiebererreger 
ist also ein lösliches Gift. Aus zer¬ 
riebenen Roggenpollenkörnern wurde das 
Gift in 24 Stunden bei 37° durch physio¬ 
logische Kochsalzlösung extrahirt; behan¬ 
delt man das wässrige Extrakt mit Alkohol, 
so fällt die wirksame Substanz in Form 
eines flockigen Niederschlages aus. Die 
Löslichkeit der Stärkestäbchen ist bei den 
verschiedenen Pollenkörnern nicht gleich 
gross, die Wirksamkeit der Lösungen ent¬ 
sprach stets dem Fortschritt der Auflösung 
der Stärkestäbchen. Deshalb nimmt Dun- 
bar an. dass die Amylumkörper selbst die 
wirksame Substanz repräsentiren. Alle 
Pollenkörner, die Heufieber auslösten, ent¬ 
hielten Stärkestäbchen. Doch fand Dun¬ 
bar reichlich Stärkestäbchen auch in 
manchen unwirksamen Pollenarten. Es ist 
also nicht die Stärke als solche, welche 
das Heufiebergift bildet, sondern eine in 
den Amylumstäbchen der Gramineenpollen¬ 
körner enthaltene Substanz. Welcher Con¬ 
stitution dieselbe ist, darüber kann Dunbar 
bisher Positives nicht sagen: der durch 
Alkoholfällung gewonnene Niederschlag 
gab weder Stärke- noch Eiweissreaction. 

Das Pollentoxin wirkt nicht bloss von 
den Schleimhäuten aus. Durch subcu- 
tane Injection einer geringen in Serum 
gelösten Menge desselben erzielte Dunbar 
bei einem Arzte (der Heufieberkranker ist) 
einen geradezu beängstigenden Heufieber¬ 
anfall; ein anderer nicht an Heufieber lei¬ 
dender Arzt vertrug die gleiche Subcutan- 
injection ohne jede Beschwerden. Dun- 
bar fasst danach die Symptome des Heu- 
tieberanfalles als die Folgen einer spe- 
cifischen Vergiftung auf. Die Granii- 
neenpollen allein scheinen das specifische 
Heufiebertoxin zu enthalten; gelangen sie 
in Nase oder Auge, gelegentlich auch auf 
andere Schleimhäute oder in Wunden etc., 
so gelangt durch Auflösung der Amylum¬ 
stäbchen das specifische Virus zur Re¬ 
sorption und erzeugt die charakteristischen 
Heufiebersymptome. Bedingung ist nur 
eine specifische Empfänglichkeit, für 
Personen ohne diese ist die wirksame 
Substanz völlig ungiftig. Was das Wesen 

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Gegenwart 1903. 131 

dieser Empfänglichkeit, der sogenannten 
individuellen Disposition betrifft, so lässt 
sich die Annahme einer besonderen Be¬ 
schaffenheit oder Reizbarkeit der oberen 
Luftwege, einer Affection des Trigeminus, 
von suggestiven Einflüssen, von gichtischer 
oder ähnlicher Grundlage der Heufieber¬ 
disposition und manches andere, was in 
der bisherigen Litteratur eine Rolle spielt, 
nach den Dunbar’schen Feststellungen 
nicht mehr aufrecht erhalten. Das Vor¬ 
handensein neuropathischer Veranlagung 
bei Heufieberkranken (Neurasthenie, geistige 
Ueberanstrengung) dagegen und der Zu¬ 
sammenhang des Leidens mit voraufge¬ 
gangenen Infectionskrankheiten (Influenza 
n. a.) lässt sich so deuten, dass das Heu¬ 
fiebertoxin ein Nervengift ist, für das 
die Empfänglichkeit der Nervenzellen durch 
gewisse Schädigungen erst herbeigeführt, 
resp. gesteigert wird. 

Die Feststellung der Thatsache, dass 
der Heufieberanfall die Folge einer Intoxi- 
cation ist, und die Möglichkeit, das Heu¬ 
fiebertoxin in Lösung zu gewinnen, führten 
Dun bar naturgemäss zu dem Versuche, 
ein Heufieberantitoxin darzustellen. Er 
behandelte Kaninchen mit dem Pollentoxin 
und erprobte mehrere Wochen nach der 
letzten Injection ihr Blutserum. Dasselbe 
neutralisirte das Pollentoxin in vitro (die 
Mischung beider war bei Heufieberpatienten 
unwirksam) und äusserte auch bei den 
durch die Application der Pollenkörner 
ausgelösten Anfällen einen deutlichen Er¬ 
folg. Dunbar’s Versuche nach dieser 
Richtung sind, wie er selbst betont, noch 
nicht abgeschlossen; man darf ihrer Fort¬ 
setzung aber mit grösster Erwartung ent¬ 
gegensehen. F. Klemperer. 

(München und Berlin. Verlag von R. Olden- 
bourg. 1903.) 

Ueber die Janet’sehe Methode der 
Urethral- und Blasenbehandlung liegen 
bekanntlich ebensowohl enthusiastische 
Empfehlungen, als absprechende Urtheile 
vor. Es ist also sehr dankenswerth, dass 
L. Spitzer (Wien) Erfahrungen über 
dieses an einem sehr grossen klinischen 
und ambulatorischen Krankenmaterial im 
Lauf mehrerer Jahre geübte Verfahren 
bekannt giebt. Er hält sich, was Concen- 
tration, Temperatur, Quantität der Spül¬ 
flüssigkeit anlangt, streng an die Vor¬ 
schriften Janet’s und weicht von diesen 
Angaben nur dadurch ab, dass er sich an¬ 
statt eines Katheters einer conisch endigen¬ 
den doppelläufigen Canüle (s. Abbildung 
im Original) bedient, die nicht in die 

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März 


'132 Die Therapie der 


Urethra eingeführt sondern nur in das 
Orificium urethrae eingelegt wird. 

Spitzer findet dass das Verfahren bei 
ganz frischen Fällen von Gonorrhoe Re¬ 
sultate liefert, die von keiner anderen Me¬ 
thode erreicht werden. 

Auch für die späteren Stadien hält er 
es für gut brauchbar, ohne dass es ge¬ 
eignet wäre, die bisher üblichen Methoden 
zu verdrängen. Eine Contraindication bildet 
manchmal das Vorhandensein periurethraler 
Infiltrate und alle schweren acuten Ent¬ 
zündungssymptome. Die Irrigation mit an¬ 
deren Substanzen, wie Ichthargan, Zink¬ 
oder Kupfersulfat, Tannin, steht hinter der 
Wirkung desKalium hypermanganicum 
deutlich zurück. L. Schwarz (Prag). 

(Wiener klin. Wochenschr. 1902, No. 42.) 

Im Heffter’schen Laboratorium zu Bern 
hat Anten eingehende quantitative Unter¬ 
suchungen über den Ablauf der Jodaus- 
scheidung nach einzelnen sowie wieder¬ 
holten Gaben von Jodkalium vorgenommen, 
sowie den Einfluss verschiedener gleich¬ 
zeitig verabreichter Substanzen auf die 
Jodausscheidung geprüft. Seine Ergeb¬ 
nisse, die uns hinsichtlich der Frage der 
Intoxication und des Jodismus auch thera¬ 
peutische Fingerzeige werden können, 
lauten dahin, dass nach einer einmaligen 
Dosis von 0,5 Kal. jodat. die höchste stünd¬ 
liche Ausscheidung in der zweiten, nur 
ausnahmsweise in der ersten oder dritten 
Stunde statthat. Die mittlere nach der 
Verabreichung einer derartigen Dosis im 
Harne ausgeschiedene Menge beträgt 75%, 
und bei wiederholten Gaben werden an¬ 
scheinend grössere Mengen ausgeschieden. 
Die Ausscheidung des Jodes beginnt, wie 
wir das schon von anderen diesbezüglichen 
Untersuchungen her wissen, sehr schnell 
nach der Aufnahme. So hat z. B. Roux 
schon 1 Minute 45 Sekunden nach der 
Einnahme Jod im Harn nachweisen 
können. Im Durchschnitt tritt das Jod 
nach 13 72 Minuten bereits in den Harn, 
und etwas früher (7—12 Minuten) in den 
Speichel. Die Dauer der Ausscheidung 
beträgt nach Anten’s Versuchen bei einer 
Gabe von 0,5 g etwa 40 Stunden, ein Zeit¬ 
raum, der mit der Zahl der eingenommenen 
Dosen ansteigt. Nach 2 innerhalb von 
5 Stunden genommenen Jodgaben dauert 
die Ausscheidung 56 Stunden, nach 3 
innerhalb 10 Stunden genommenen Jod¬ 
gaben 77 Stunden. Wenn gleichzeitig 
colloidale Stoffe, wie Gummi und Pflanzen¬ 
schleim verabreicht wird, so wird dadurch 
die Resorption wesentlich verzögert, wäh- 

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Gegenwart 1903. 


rend sie hingegen durch Salpeter oder 
Kochsalz deutlich beschleunigt wird, offen¬ 
bar deshalb, weil durch diese Mittel die 
Diurese angeregt wird; aus diesem Grund 
ist Natriumbicarbonat wirkungslos. Ent¬ 
gegen einer älteren Angabe von Claude 
Bernard, verschwindet die Jodreaction 
im Speichel 5—6 Stunden früher als im 
Harn. Das im Jodschnupfen producirte 
Nasensecret enthält Jod in einer Menge 
die 0,9—1,5°/o des aufgenommenen Jod¬ 
kaliums entspricht. F. Umber (Berlin). 

(Archiv fflr experimentelle Pathol. u. Pharmak. 
Bd. 48, 1902.) 

Aus der auf grosses statistisches Ma¬ 
terial gegründeten Arbeit von A. Lab- 
hardt über die Frage der D&uerheilung 
des Krebses seien die, von dem bekann¬ 
ten Volkmann’schen Satze, der nach drei¬ 
jähriger recidivfreier Zeit nach einer Car- 
cinomexstirpation eine fast absolute Sicher¬ 
heit der Heilung verspricht, nicht unerheb¬ 
lich abweichenden Schlusssätze des Autors 
hier wiedergegeben: 1. Von den an Car- 
cinom operirten Patienten, die gesund in’s 
vierte Jahr nach der Operation eingetreten 
sind, erkrankt noch ein erheblicher Pro¬ 
centsatz an Recidiven, und zwar meist an 
Narbenrecidiv. 2. Diejenigen Carcinome. 
die am meisten zu Spätrecidiven neigen, 
sind die, die schon an und für sich einen 
langsameren, relativ benignen Verlauf 
haben, d, h. die Scirrhen. 3. Die Spät- 
recidive verdanken ihre Entstehung Theilen 
der Geschwulst, die bei der ersten Opera¬ 
tion zurückgelassen wurden. 4. Jemand, 
der einmal an einem Carcinom operirt 
worden ist, bleibt für die Dauer seines 
Lebens in Gefahr, ein Recidiv zu be¬ 
kommen; allerdings nimmt die Wahrschein¬ 
lichkeit mit den Jahren immer mehr ab. 

Leo Schwarz (Prag). 

(Die Heilkunde 1902, No. 11.) 

Die Hyperplasien der unteren Nasen- 
muschel, welche circumscript oder diffus 
auftreten können, bedingen oft eine Ver¬ 
legung der Nase und müssen, wenn man 
die Durchgängigkeit wiederherstellen will, 
total beseitigt werden, da schon ein ge¬ 
ringer acuter Katarrh in diesen Fällen 
zu einer absoluten Nasenverstopfung führt. 
Solche übermässigen Volumzunahmen 
wurden früher mit allerlei Aetzungen be¬ 
handelt, ohne jedoch befriedigende Re¬ 
sultate zu zeitigen. Auch die Galvano¬ 
kaustik vermochte sich ein grösseres Feld 
nicht zu erobern und zwar wegen der ge¬ 
legentlich auftretenden üblen Folgen und 

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März 


Die Therapie der 


Complicationen (Verwachsungen der unteren 
Muschel mit dem Septum, Otitis media, 
Tonsillitis follicularis etc). Daher ver¬ 
suchte man in derartigen Fällen chirur¬ 
gisch vorzugehen. Wröblewski, der seit ; 
mehreren Jahren solche Hypertrophien 
nach einer von ihm modificirten Methode 
operirt. hat 100 Resectionen der unteren 
Nasenmuschel angeführt und daDei sehr 
gute Ertolge gesehen. Zunächst anästhe- 
sirt er die Schleimhaut mit 10 n/ 0 Cocain¬ 
lösung und geht dann mit der Hey- ! 
mann'schen Scheere vor, wobei er nur j 
so viel vom hyperplastischen Gewebe 
abträgt, als unbedingt nöthig ist. Wenn 
die ganze Muschel beseitigt werden soll, 
dann räth Wröblewki im Gegensätze zu 1 
Kuttner niemals den Scheeren- 
schnitt ganz bis an das Ende zu 
führen, sondern die Muschel an einem 
Gewebstückchen hängen zu lassen und 
sie (während der Kopf des Patienten weit 
nach vorn und unten gebeugt wird) mit | 
der Schlinge herauszuziehen. Auf diese i 
Weise kann man recht unangenehmen 
Folgen Vorbeugen, da eine ganz abgetrennte 
Muschel, wenn sie in den Rachen oder 
Kehlkopf hinabgleitet, bedrohliche Er¬ 
stickungsanfälle zu verursachen vermag. 

Die Dauer der Operation beträgt höch¬ 
stens 1—2 Minuten. Der Eingriff' ist nicht 
unangenehm, so dass auch Kinder sich i 
widerstandslos demselben unterziehen. Mit 
Rücksicht auf stärkere Blutverluste und 
aus Furcht vor grösseren Cocainmengen, ! 
dürfen nie beide Nasenhälften gleichzeitig 
vorgenommen werden, dagegen können 
etwaige Leisten am Septum oder Hyper- ! 
trophien der mittleren Muschel, wenn j 
sie sich in der zu operirenden Seite be- 1 
finden, während derselben Sitzung entfernt j 
werden. 

Die Operationsfläche wird mit Dermatol 
bestreut, das anscheinend die Coagulation l 
fördert. Die Blutung cessirt sehr bald und : 
macht die für den Patienten so unan¬ 
genehme Nasentamponade überflüssig. Für 
die ersten 24 Stunden empfiehlt sich Bett- j 
ruhe, und Patient darf die Nase nicht aus- ! 
schnauben. 

Ueble Nebenwirkungen oder Compli¬ 
cationen hat Wröblewski nicht beob¬ 
achtet (nur zweimal musste er die Nase 
tamponiren). Er betont ausdrücklich, dass j 
er bei Operationen mit der Scheere nie¬ 
mals secundäre Blutungen, die nach 
Eingriffen mit der Schlinge verhältniss- 
mässig häufig sind, auftreten sah. Nach- ; 
trägliche Schmerzen, Schwellungen des 
Naseninneren, septische Symptome fehlen, 

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Gegenwart 1903. 133 

und die Athmung durch die operirte Seite 
wird sogleich ermöglicht. 1 ) 

M. Urstein (Berlin). 

(Gazeta Lckarska 1901, No. 49). 

In einer Arbeit „Lieber die Ent¬ 
stehung und Behändlung der spondy- 
litischen Lähmungen“ weist Till man ns 
nach, dass in ätiologischer Beziehung der 
KompressiondesRückenmarks durchWeich- 
theile (epidurales Bindegewebe, Granu¬ 
lationen, in den Kanal sich vorwölbende 
Abscesse etc.) eine weit grössere Bedeu¬ 
tung zuzusprechen sei, als dem Druck 
durch Knochengewebe. Bei jeder Läh¬ 
mung soll man zuerst die unblutige Be¬ 
handlung durch allmählich redressirende 
Lagerungs- und Stützapparate versuchen. 

Die Erfolge sind bisher sehr wechselnd. 
Einige berichten von ausserordentlich 
guten Erfolgen und einem grossen Procent¬ 
satz Dauerheilungen, während andere nicht 
eine einzige dauernde Heilung durch ortho¬ 
pädische Behandlung gesehen haben. Dem 
operativen Vorgehen stehen zwei Wege 
offen, einmal die Eröffnung des Wirbel¬ 
kanals durch Resection der Wirbelbögen, 
sodann das seitliche Vordringen zu den 
Wirbelkörpern, in denen meistens der Er¬ 
krankungsherd zu suchen ist. Tillmanns 
empfiehlt besonders die Costotransversec- 
tomie von MOnard als eine geeignete Me¬ 
thode, die Wirbelkörper frei zu legen. 
Dieses Vorgehen ist nach Tillmanns in- 
dicirt bei Kompression des Marks durch 
von den Wirbelkörpern ausgehende Ab¬ 
scesse und Exsudate, die sich in den Wir¬ 
belkanal vorbuchten, überhaupt im Allge¬ 
meinen bei einer noch nicht in Ausheilung 
begriffenen Tuberkulose. Dagegen ist die 
Laminectomie ausser bei Caries der Wir¬ 
belbögen angezeigt bei Lähmungen in aus- 
geheilten Fällen, wo die Kompression des 
Marks bewirkt wird durch neugebildetes 
Knochen- oder Bindegewebe oder wo die 
dura durch Adhäsionen wie eine Saite 

’) Wir verweisen auf den Artikel von F. Klem- 
perer (1902, S. 318) über die Principicn der Loeal- 
behnmilung bei Erkrankungen der oberen Luftwege, zu 
dem diese Mittheilung eine treffliche Illustration giebt. 

„Der Eingriff ist nicht unangenehm - , dauert nur 1 bis 
2 Minuten, ohne Blutung und ohne sonstige üble 
Nachwirkungen! Da kommen dann leicht 100 Re¬ 
sectionen der unteren Muscheln zu Stande. Aber 
die Indication zu dem Eingriff? Um die Durch¬ 
gängigkeit der Nase widerherzustellen, wie es oben 
heisst, ist die Totalexstirpation der unteren Muscheln 
gewiss nicht nötig. In der That ist dann auch die 
radicale Operation, die Wröblewski beschreibt und 
von der es durchaus nicht sicher ist, dass sie nicht 
später doch schädliche Wirkungen im Gefolge hat, 
nur sehr selten erforderlich. Red. 

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März 


134 Die Tlierapir der 


über eine Knochenkante gespannt wird. 
In solchen Fällen kann die Laminectomie 
gute Erfolge zeitigen, aber bei noch florider 
Tuberkulose reicht sie nicht aus. Till¬ 
manns führte 11 mal die Laminectomie 
aus, darunter 9 mal bei noch bestehender 
Tuberkulose; von denen sind 8 zu Grunde 
gegangen, während in 2 Fällen eine Dauer¬ 
heilung erzielt ist. Im Allgemeinen sind 
die operativen Resultate bis jetzt noch 
nicht besonders erfreulich, aber sie werden 
sich bessern, wenn der operative Eingriff 
nicht wie jetzt nur als ultima ratio in Frage 
kommt, sondern auf Grund einer exacten 
Diagnose im Frühstadium vorgenommen 
wird. Wichmann (Altona). 

(La ngcnbeck's Archiv, Bd. 69, S. 134. Fest¬ 
schrift für v. Esinarch). 

Ueber den Wert der systematischen 
Lumb&lpunction bei der Behandlung 
des Hydrocephalus chronicus in¬ 
ternus der Kinder theilt v.Bökay zwei Er¬ 
fahrungen mit. Im 1. Falle, — viermonatiges 
Kind mit an 4 Wochen vorher beginnende 
cerebrospinalmeningitische Erkrankung an¬ 
schliessendem starken Wasserkopf (44,6 cm 
Kopfumfang) mit Spasmen, Opisthotonus, 
Theilnahmslosigkeit wurden durch 8 Monate 
lang etwa alle 14 Tage, später seltener 
vorgenommene Punctionen insgesammt 
283 cm entfernt. Schon nach der 4. Punc- 
tion begann Besserung, die allmählich in 
Heilung überging. Mit 3 72 Jahren be¬ 
trägt der Kopfumfang 54 cm; der Knabe 
ist geistig und körperlich normal. Ein 
zweiter Fall (postmeningitischer Wasser¬ 
kopf, Idiotie) ertrug ebenfalls 2 Jahre lang 
durchgeführte Punctionen ohne Schaden, 
besserte sich, starb aber an intercurrenter 
Krankheit. Bökay empfiehlt deshalb wie¬ 
derholte Punction in nicht zu kleinen Inter¬ 
vallen und von nicht zu grossem Ausmaass 
der entzogenen Mengen (30 —50 cm 8 ). Bei 
angeborenem Wasserkopf wird wegen der 
zumeist vorhandenen Entwicklungshem¬ 
mungen damit nur symptomatisch genutzt 
werden; erworbener aber ist heilbar, es 
sei denn, dass es sich um Unterbrechung 
der Communicationen zwischen Ventrikeln 
und äusserem Lymphraum handelt. 

Finkeistein. 

(Jahrb. f. Kinderheilk. 57, 2. H.) 

Ueber Oesophajotomie wegen Fremd¬ 
körper bei Kindern unter 12 Jahren be¬ 
richtet auf Grund von 3 eigenen und 54 
Litteraturfällen G. Gross. In Bezug auf 
die Symptomatologie ist bemerkenswerth, 
dass neben typischen Fällen mit initialer 

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Gegenwart 1903. 


Erstickungsattake, späterem Schmerz und 
Schluckbeschwerden auch ganz symptom¬ 
lose Fälle Vorkommen. Auch die Sondi- 
rung klärt häufig nicht auf. Bei ent¬ 
sprechender Natur des Gegenstandes ist 
die Radiographie entscheidend. Die Be¬ 
handlung kann bei glatten Fremdkörpern 
mit Extractionsversuchen beginnen, die beim 
Kinde stets Narkose erfordern. Man be¬ 
diene sich entsprechend kleiner Münzen¬ 
fänger. Weiss führt eine am unteren 
Ende mit einem Faden armirte weiche 
Sonde ein; beim Anziehen des Fadens 
biegt sich die Spitze und hakt günstigen¬ 
falls den Gegenstand an. Froelich ver¬ 
wendet zuweilen eine Sonde mit aufblas¬ 
barem Ballon an der Spitze. Die Ope¬ 
ration ist angezeigt bei bereits längerem 
Verweilen des Fremdkörpers, in frischen 
Fällen bei rauher, unregelmässiger, spitzer 
Beschaffenheit, ferner bei Versagen der 
Extractionsversuche. Aus der Schilderung 
der Technik entnehmen wir, dass die Naht 
der Speiseröhre nur bei gesunder Wand 
empfohlen wird. Die Ernährung kann durch 
2—4 mal täglich erfolgende Sondirung, 
besser noch durch Verweilsonde erfolgen 
oder man kann schlucken lassen und dabei 
die Wunde comprimiren. Die Mortalität 
der 57 Fälle betrug 17,56°/o; die voranti¬ 
septischen hatten 42,5%, die späteren 
14,28 ü /o Von den Nachkrankheiten ist 
weniger die Phlegmone wie die Broncho¬ 
pneumonie zu fürchten. Finkeistein. 

(Rev. mens. d. malad, d. l'enfance F6vr. 1903.) 

Moszkowicz (Wien), der unter Ger- 
suny selbst arbeitet, bringt von neuem (vgl. 
diese Zeitschr. 1902, S. 420) reiches casuisti- 
sches Material über die Verwendbarkeit 
der Gersuny schen subcutanen Paraffin- 
injectionen bei und kann — ein Beweis 
für den ausserordentlichen Anklang, den 
dieses Verfahren gefunden hat — bereits 
mehr als 50 einschlägige Publikationen 
aufzählen. Er tritt mit Eifer dafür ein, 
Paraffin vom Schmelzpunkt 36—40° C., 
d. i. Vaseline, als Injectionsmittel bei¬ 
zubehalten. Für Injectionen in straffes sub- 
cutanes oder submucösesGewebe dürfte sich 
eine noch weichere Paraffinsorte empfehlen, 
Nur wo es auf unmittelbare Erzeugung 
sehr harter Depots ankommt, wird das von 
Eckstein empfohlene Hartparaffin anzu¬ 
wenden sein, das der Injection viel grössere 
technische Schwierigkeiten darbietet. Die 
Vaseline erzeugt, wenn sie durchwachsen 
wird, knorpelharte Tumoren, so dass sie 
von Hartparaffin nicht zu unterscheiden ist. 
Zahlreiche klinische Erfahrungen beweisen. 

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März 


135 


Die Therapie dei 


dass die Vaseline beim Menschen über¬ 
haupt nicht resorbirt wird. Sattelnase und 
Hemiatrophia faciei sind die vorzüglichsten 
kosmetischen, dazu kommt noch eine Reihe 
functioneller Indicationen, die im Detail im 
Original eingesehen werden müssen. 

Ueber einen günstigen Erfolg durch 
zwei im Abstand von einem Monat vorge¬ 
nommene Paraffininjectionen nach Ger- 
suny berichtet ferner A. Hock (Prag) bei 
einem Fall von hartnäckiger Incontinentia 
urinae. Es handelte sich um eine im An¬ 
schluss an eine Steinoperation entstandene 
Incontinenz bei einem Mädchen, bei dem im 
Laufe von Jahren Torsion der Harnröhre, 
Pessarien, Massage erfolglos angewendet 
worden waren. Leo Schwarz (Prag). 

(Wiener klin. Wochenschr. 1903, No. 2 und 
Prager med. Wochenschr. 1903, No. 6.) 

Ueber einen Fall von anatomisch 
nachgewiesener Spontanheilung der 
tuberkulösen Peritonitis berichtet O. 
Borchgrevink (Christania). Die 16 jäh¬ 
rige Patientin, die im Jahre vorher eine 
Pericarditis durchgemacht hatte, erkrankte 
1897 mit einem peritonealen Erguss, von 
dem im Juni 111, im October noch ein¬ 
mal nahezu 6 1 durch Punction entleert 
wurden. Das specifische Gewicht des¬ 
selben betrug 1021, der Eiweissgehalt 
4,8%; zwei mit demselben geimpfte Meer¬ 
schweinchen starben an typischer Impf¬ 
tuberkulose. Es handelte sich also sicher 
um eine tuberkulöse Peritonitis. Das 
Mädchen besserte sich allmählich und wurde 
im November auf Wunsch entlassen. Im 
März 1898 trat noch einmal eine An¬ 
schwellung des Leibes auf, die aber im 
Juni bereits vollständig verschwunden war. 
Die Patientin bleibt dann wohl und arbeits¬ 
kräftig bis 1900. Im Winter d. J. macht sie 
eine schwere Influenza mit Erscheinungen 
von Herzschwäche, jedoch ohne Symptome 
von Seiten des Abdomens durch. Im April 
1901 stirbt sie nach kurzer acuter Erkrankung 
unter den Erscheinungen der Herzschwäche 
mit Lungenödem und Hydrothorax. 

Die Section ergiebt eine erhebliche Di¬ 
latation des Herzens, ausgebildete pericar- 
ditische Veränderungen mit einer Reihe von 
zum Theil verkalkten, zum Theil verkästen 
Herden, die letzteren in augenscheinlichem 
Zusammenhang stehend mit einer nuss¬ 
grossen, im Innern verkästen Bronchialdrüse 
über dem linken Auriculum cordis. In der 
Bauchhöhle das typische Bild einer chro¬ 
nischen Peritonitis (Verwachsungen der 
Därme, Verdickungen und Narbenstränge 
des Gekröses, Verdickung der Leberkapsel 
u.s.w.), doch nirgends eine Spur von 

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Gegenwart 1903. 


I Tuberkeln, kalkigen oder käsigen 
j Ablagerungen; auch die mikroskopisch 
genau untersuchten Mesenterialdrüsen sind 
frei von Tuberkulose. — Dieser Befund ist 
nur so zu deuten, dass hier eine erweichte 
Bronchialdrüse zur tuberkulösen Infection 
des Pericards und secundär zu tuberku¬ 
löser Peritonitis geführt hat; die letztere 
ist spontan ausgeheilt, nur fibröse Ver¬ 
dickungen, Adhäsionen und Pseudomem¬ 
branen sind zurückgeblieben. 

Der Fall, an dem einmal die spontane 
(ohne Laparotomie oder sonstige Ein¬ 
griffe zu Stande gekommen) Heilung von 
Interesse ist, hat auch nach der Richtung 
Bedeutung, dass er zeigt, dass das Fehlen 
tuberkulöser Prozesse in peritonitischen Ver¬ 
änderungen bei der Section kein Beweis für 
den nicht-tuberkulösen Ursprung derselben 
ist. Die Existenz einer chronisch idio¬ 
pathischen Peritonitis, deren Annahme 
sich wesentlich auf derartige Sectionsbefunde 
stützt, wird dadurch zweifelhaft. 

I F. Kl empor er. 

( Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 3.) 

Die Wirkung der Sauerstoffinhala- 
tionen bei Kindern mit diphtherischer 
; Larynxstenose hat Hecht auf der 
Heidelberger Kinderklinik studirt. Nur in 
2 Fällen fand eine Besserung der steno¬ 
tischen Athmung statt, dagegen fiel der 
Puls ziemlich constant; auch die Cyanose, 
die erweiterten Pupillen bei Asphyxie, ein 
Fall von Chloroformintoxication und von 
postdiphtherischer Herzschwäche wurden 
günstig beeinflusst. Während aber dem¬ 
nach Tachycardie und Pulsspannung, 
gleichgiltig ob Dyspnoe oder Intoxication 
ihren Grund bildete, gebessert werden, 
ebenso auch die Cyanose, schwindet die 
Dyspnoe nicht. Daraus ergiebt sich die 
Indication der Anwendung bei beginnendem 
Nachlass der Herzkraft. Sie ist in ange¬ 
messenen Pausen so lange fortzusetzen, 
als sie die Schlagfolge vermindert, zu be¬ 
seitigen, wenn sie durch Aufregung die 
Tachycardie steigert. Die Ergebnisse sind 
an hoffnungslosen Fällen gewonnen, da es 
Verf. nur darauf ankam, festzustellen, ob 
überhaupt objectiv zweifellose Wirkungen 
bestehen. Finkeistein. 

(Jahrb. f. Kinderheilk. 57, H. 2.) 

Interessante Beobachtungen hat Heub- 
ner an Scharlach- und Diphtherienieren 

angestellt, die deutlich erkennen lassen, 
dass die pathologisch-anatomische Schädi¬ 
gung der Niere bei diesen beiden Infec- 
tionskrankheiten allemal eine partielle, auf 
ganz bestimmte Abschnitte des Organs be- 


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136 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


beschränkte zu sein pflegt. So handelte es nälchen und nie aus den Glomeruli. Ge- 
sich bei 2 Scharlachfällen, die mit Be- | wöhnlich handelt es sich dabei um auf- 
theiligung der Nieren einhergingen und ! steigende Aeste der Henle’schen Schleifen 
unter urämischen Erscheinungen starben, oder um einzelne dünnere Sammelröhren 
um ganz exquisit hämorrhagische Er- und zwar in der Grenzschicht zwischen 
krankung mit vorwiegender Betheiligung Rinde und Mark. Dabei finden sich pri- 
der Glomeruli und erst secundärer Er- j märe Degenerationen der Nierenepithelien 
krankung der Nierenepithelien und zwar l nicht in toto sondern in einzelnen streng 
vorwiegend Degeneration und klumpige Zu- : begrenzten Abschnitten des Systems; so 
sammensinterung des ausgetretenen Blutes waren in dem einen der 2 untersuchten 
in den Tubuli contorti erster Ordnung. In I Fälle von Diphtherie die Henle’schen 
den graden Canälen beobachte er dabei viel- j Schleifen und die Tubili contorti II. Ord- 
fache Bildung von hyalinen Cylindern, Epi- 5 nung in ihrem Epithel geschädigt, im an- 
thelabstossungen und vereinzelte Blutungen, dern Fall die Tubuli contorti I. Ordnung. 
So ist also bei der Scharlachnephritis, vor- j Die grossen Sammelröhren waren allemal 
wiegend und primär der Gefässantheil j gesund, höchstens mit abgestossenem Epi- 
der Nierensubstanz erkrankt, was mit ] thel und hyalinen Cylindern verstopft. Da- 
ihrem regelmässig hämorrhagischen Cha- mit übereinstimmend fehlte auch in dem 
rakter sehr wohl übereinstimmt. ( klinischen Bilde der beiden Diphtherie- 

Bei der Diphtherieniere liegen die nierenkranken die blutige Beschaffenheit 
Verhältnisse anders. Blutungen können j des Urins bei vorhandenen Epitheleylindern 
auch hier Vorkommen, aber sie stammen und Leucocyten. F. Umber (Berlin), 

dann allemal aus vereinzelten graden Ka- (Münch, med. Wochenschr. 1903, No. a .\ 


Berichtigung. 


ln einer klinischen Vorlesung, die in 
dem Januarheft 1903 der „Therapie der 
Gegenwart" veröffentlicht wurde, befasst 
sich Herr Professor Fr. Kraus mit dem 
therapeutischen Werth der Sauerstoff¬ 
inhalationen und unterwirft die experimen¬ 
tellen und klinischen Angaben über ihre 
Wirkung auf das Blut einer eingehenden 
Kritik, in welcher sich auf S. 3 folgender 
Satz befindet: „Nach Untersuchungen von 
Koväcs (Klinik Koränyi) sinkt bei Pneu¬ 
monie der Kochsalzgehalt des Blutes in 
verschieden hohen Graden. Bei 10 cyano- 
tischen Pneumoniekranken betrug der Ge¬ 
frierpunkt des Blutes 0,58 bis 0.78°. Ich 
gestehe ganz offen, dass ich Werthe wie 
0,78 für ganz unglaubwürdig halte." 

Nach der Fassung der Ausführungen 
des Herrn Prof. Kraus glaube ich annehmen 
zu müssen, dass die citirten Zeilen sich 
auf das Referat beziehen, das ich auf dem 
Wiesbadener Internisten - Congresse vom 
Jahre 1900 über die Behandlung der crou- 
pösen Pneumonie hielt; nur hat sich Herr 
Prof. Kraus in der Annahme geirrt, dass 
dieser Gefrierpunkt-Befund von Herrn Dr. 
Koväcs stammt. 

Selbstverständlich erkenne ich die Be¬ 
rechtigung jeder wissenschaftlich begrün¬ 
deten Kritik über jede wissenschaftliche 
Arbeit in vollem Umfange an, aber die Be¬ 
rechtigung, etwas, was ich als durch die 
Congressleitung bestellter Referent als eine 
in bestimmtem Zahlenwerthe ausgedrückte 

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Thatsache hinstellte, für „unglaubwürdig“ 

| zu bezeichnen, kann ich Niemanden zuge¬ 
stehen. Eine bewusste Irreführung wird 
I mir Herr Professor Kraus gewiss nicht 
j zumuthen, aber auch einen leichtfertigen 
Beobachtungsfehler wird wohl kein Billig- 
| denkender von dem unter meiner Leitung 
| stehenden Institute voraussetzen, aus wel- 
I ehern eine ganze Reihe kryoskopischer Ar- 
’ beiten hervorgegangen ist, die an der Be¬ 
gründung der klinischen Kryoskopie einigen 
Antheil beanspruchen dürfen. Die in meinem 
| klinischen Laboratorium vorfindlichen Dia- 
! rien können wem immer sicher zeigen, dass 
i der Gefrierpunkt 0,78 einer sorgfältigen 
; Untersuchung und Ablesung des Blut¬ 
gefrierpunktes von einer allerdings äusserst 
schweren, protrahirten, aber mit Heilung 
j endenden Pneumonie während dem Be¬ 
stehen der Cyanose entstammt, und fehlt 
es auch nicht an anderen gleichsinnigen 
Befunden, so in dem von Hamburger 
angeführten Experimente — i im Blute 
aus der Vena porta eines Hundes 0,617, 
aus der Vena jugularis desselben asphyk- 
tisch gemachten Hundes 0,728. Bei dem 
Apoplektiker Bousquet’s A einmal 0,59, ein 
andermal 0,715. Bei einem Empyemkranken 
mit Cyanose 0,77 (A. Koränyi). Und dass 
ähnliche Erniedrigungen durch Kohlen¬ 
säure-Einwirkung in Vitro direkt erzielt 
werden können, beweisen ausser unseren 
Erfahrungen diejenigen von Branden¬ 
burg (Zeitschr. f. klin. Medicin 1902, 

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März 


137 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Heft 3—4) sowie die jüngst veröffentlichten 
Experimente Loewy’s (Berliner klinische 
Wochenschr. 1903, No. 2, Versuch 3), wo 
A des mit Sauerstoff gesättigten Pferde¬ 
blutes 0,585, nach Durchleitung von Kohlen¬ 
säure 0,835 betrug. — Ein Befund von A j 


0,78 mag bei cyanotischen Pneumonikern 
immerhin zu den Ausnahmen gerechnet 
werden, dass er aber vorkommt, beweist 
der von mir erwähnte Fall. 

Budapest, den 29. Januar 1903. 

Prof. Friedrich von Koränyi. 


Erwiderung:. 


Mit dem „unglaubwürdig“ habe ich bloss 
einen sehr nachdrücklichen Zweifel an der 
Richtigkeit eines Zahlenwerthes aus¬ 
sprechen wollen. Dass der Gefrierpunkt 
des frisch aus der Ader durch Venaesec- 
tion gewonnenen Blutes cyanotischer Pneu- 
moniker — 0,78 beträgt, bezweifle ich 


heute kaum weniger lebhaft. Noch mehr 
aber bezweifle ich, und darauf kommt es 
vor allem an, dass durch (^-Inhalationen 
der Gefrierpunkt des Blutes pneumonischer 
Patienten von 0,58—0,78 auf 0,59—0,60 ge¬ 
bracht wird. Was in vitro möglich ist, hat 
damit gar nichts zu thun. Fr. Kraus. 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 


Zur Kenntniss der Borsäurewirkung. 

Von Prof. M. Cloetta -Zürich. 


Da man seit längerer Zeit die Borsäure 
als ein brauchbares Mittel bei der Behand¬ 
lung von Schleimhautaflectionen kennt, 
habe ich in letzter Zeit mehrfach versucht, 
dieselbe bei der Behandlung des oft so 
hartnäckigen Dickdarmkatarrhs zu verwen¬ 
den. Ich bin auch thatsächlich von den 
Erfolgen befriedigt gewesen, doch ist dies 
nicht der Grund, der mich zu einer Mit¬ 
theilung veranlasst, sondern vielmehr der 
Umstand, dass ich 3 leichtere Intoxicationen 
beobachtete, die vielleicht gerade jetzt ein 
actuelles Interesse haben, wo die Borsäure¬ 
frage in ein sehr actives Stadium getreten 
ist. Je mehr Beobachtungen mitgetheilt 
und in unparteiischer Weise gesammelt 
und gesichtet werden, um so eher darf 
man erwarten, dass dieselben schliesslich 
zu einem ausschlaggebenden Factor an- 
wachsen. 

Die Anwendung der Borsäure in den 
betreffenden Fällen geschah in Form von 
1.5 — 2 °/ 0 igen Lösungen als Darm¬ 


eingiessungen, körperwarm. Die Menge 
betrug meist ca. 1 Liter und wurden die 
Patienten angehalten, nach 5 Minuten den 
Einlauf wieder zu entleeren. Bei drei unter 
den so behandelten 7 Patienten traten nach 
2, 4 und 5 Injectionen Erscheinungen von 
Schwindel und Kopfweh mit leichter Uebel- 
keit auf, die nach Aussetzen der Einläufe 
verschwanden und bei erneutem Versuch 
wiederkehrten. Irgend welche Geschwüre 
oder grössere Schleimhautdefecte, die die 
Resorption besonders begünstigt hätten, 
lagen sicher nicht vor, und da jeweils fast 
die ganze Spülflüssigkeit wieder ent¬ 
leert wurde, so kann die aufgenommene 
Borsäuremenge keine beträchtliche ge¬ 
wesen sein. Da sämmtliche Patienten 
schon früher mit anderen Spülungen be¬ 
handelt worden waren, so kann von einer 
Reflexwirkung wohl nicht die Rede sein, 
sondern die Erscheinungen sind sicher nur 
der für diese Individuen offenbar besonders 
activen Borsäure zuzuschreiben. 


Statistischer Beitrag zur Wirksamkeit des Heilserums bei Diphtherie. 

Von Dr. Gustav Bundt-Belgard a. Persante. 


Im Folgenden berichte ich über 505 Fälle 
von Diphtherie, von denen 33 Fälle vor 
October 1894 ohne Serum, 472 Fälle mit 
Serum behandelt worden sind. 

Seit Einführung der Serumtherapie habe 
ich es mir zur Regel gemacht, jeden Diph¬ 
theriefall, der in meine Behandlung kommt, 
sofort zu spritzen, und zwar leichtere Fälle, 
in den ersten 24 Stunden nach deutlich 
gewordener Erkrankung mit SerumI (600 Ein¬ 
heiten), schwerere und ältere Fälle, alle mit 

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übelriechendem Belag, jeden beginnenden 
Croup mit Serum II oder häufiger mit zwei¬ 
mal Serum I (1000—1200 Einheiten), da ich 
gewöhnlich nur mehrere Dosen Serum I 
bei mir führe. Weiterhin habe ich dann 
nach Bedarf, wenn die allgemeinen Krank¬ 
heitserscheinungen nicht schwanden, die 
Membranen sich nicht lösten, croupöse Er¬ 
scheinungen einsetzten, wiederholt Serum I 
nachgegeben. Die höchste Zahl der von 
mir in einem Falle verabreichten Serumein- 

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138 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Mfirz 


heiten war 3400, bei einem Kinde, das an 
schwerer Rachendiphtherie mit grau-grünem 
stinkendem, septischem Belag litt. Es ist 
sehr langsam nach schwerer Lähmung der 
Beine, Arme, der Rachen- und Augenmus¬ 
kulatur, die bis zum vollkommenen Ab¬ 
klingen über 8 Monate gebrauchte, voll¬ 
kommen genesen. Bemerken möchte ich, 
dass ich sehr viele prophylaktische Ein¬ 
spritzungen gemacht habe mit Serum 0 
oder Theilen von Serum I, durchschnittlich 
mit 200—300 Einheiten. In den letzten 
Jahren bin ich soweit gegangen, auf den 
Dörfern sämmtliche Kinder einer Familie, 
in der ein Diphtheriefall vorkam, zu immu- 
nisiren, und meist habe ich die Freude ge¬ 
habt, die Immunisirten von der Diphtherie 
verschont bleiben Zusehen. Unter 150 im¬ 
munisirten Kindern sind nur neun später er¬ 
krankt; gestorben ist nur ein einziges von 
ihnen. Ohne dass ich wieder hinzu gezogen 
würde, soll es ganz acut, der Schilderung 
nach unter dem Bilde schwerster, septischer 
Infection zwei Tage nach der prophy¬ 
laktischen Einspritzung zu Grunde gegangen 
sein. Die Eltern sagten mir mit einem 
gewissen Vorwurf, da es gespritzt worden 
sei, so hätten sie garnicht mehr an Diph¬ 
therie und die Möglichkeit des Todes 
durch diese Erkrankung gedacht und des¬ 
halb auch nicht mehr den Arzt geholt. 
Die Immunisiruug wurde in diesem Falle 
zu einer Gefahr dadurch, dass sie die Leute 
in Sicherheit wiegte und ihre Aufmerksam¬ 
keit einschläferte. 

Aber dennoch gedenke ich auch in 
Zukunft prophylaktisch das Serum zu ge¬ 
brauchen, denn jeder von uns weiss ja nur 
zu genau, dass wir auch sonst gemeinhin 
nicht gar zu früh zu diphtheriekranken 
Kindern gerufen werden, so dass die Be¬ 
handlung mit Serum bisweilen doch zu 
spät kommt und die Kinder trotz derselben 
der Erkrankung erliegen. Verhüten ist auch 
hier leichter als Heilen. Auf etwa drei 
Wochen ist der Immunisirungsschutz ein 
ziemlich absoluter. Innerhalb dieser Zeit 
sah ich ausser jenem oben angeführten 
Fall nur zwei Kinder erkranken, der Belag 
war klein, die Allgemeinerscheinungen 
waren geringfügig, die ganze Erkrankung 
leicht und schnell vorübergehend. Ich er¬ 
kläre mir diese Fälle so, dass die Kinder 
sich zur Zeit der Einspritzung schon im 
Incubationsstadium der Diphtherie befunden 
haben, dass jenes verstorbene eben schon 
den Keim zu schwerer, septischer Er¬ 
krankung in sich trug, auf welche die Im- 
munisirungsdosis sowohl wegen ihrer Klein¬ 
heit, als auch wegen der Schwere und Art 

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der Mischin fection ohne Einfluss war. 
Durch diesen dreiwöchentlichen Schutz 
wäre freilich noch mehr, vielleicht alles 
gewonnen, wenn eine geeignete Isolirung 
und Desinfection des Kranken, der Kranken¬ 
räume und der inficirten Gegenstände all¬ 
gemein und allerorts durchzuführen wäre, 
und zwar bei ärmeren Kranken eine unent¬ 
geltliche Desinfection auf Kreis- oder 
städtische Kosten, so dass den Kindern nach 
dem Erlöschen der leider so kurz bemessenen 
Immunität nicht noch fortgesetzt reichliche 
Gelegenheit zur Ansteckung gegeben wäre. 

Eine vollkommene Sicherheit ist aller¬ 
dings wohl erst dann gegeben, wenn neben 
der Desinfection eine weitere Beobachtung 
der genesenen Kinder über Wochen hin¬ 
aus statthat. Lange in Kopenhagen hat 
ja gezeigt, dass die Diphtheriekeime sich 
noch lange nach der Lösung des Belages 
im Munde, den Hals- und Rachenorganen 
und der Nase diphteriegenesener Kinder 
im infectionstüchtigen Zustande auffinden 
lassen. Die Kinder bieten somit während 
dieser ganzen Zeit eine Infectionsquelle 
für Geschwister und Mitschüler, so dass 
Lange fordert, sie so lange zu isoliren, 
bis die bakteriologische Untersuchung ihre 
Diphtherieorgane frei von virulenten Ba¬ 
cillen gezeigt hat. 

Das werden allerdings immer ideale, 
nicht im Allgemeinen, sondern nur in 
einzelnen Fällen durchzuführende An¬ 
forderungen bleiben. 

Ich meine aber, es lässt sich schon viel er¬ 
reichen, wenn man grundsätzlich und wo¬ 
möglich durch Gesetz die Zeit der Fernhal¬ 
tung eines an Diphtherie erkrankten Kindes 
aus der Schule auf 6 Wochen verlängert 

Im Uebrigen hat sich meine Behandlung 
der Diphterie auf Gurgelungen bei grösseren 
Kindern, Borsäurespray bei kleineren, 
Reinlichkeit und kräftige Ernährung be¬ 
schränkt, hie und da habe ich ein China- 
dekokt, wenn nöthig Expectorantien ge¬ 
geben, habe kalte Umschläge um den Hals 
machen lassen und bei Croup regelmässig 
Ganzpackungen. 

Tracheotomirt habe ich elf Mal, von den 
tracheotomirten Kindern sind 6 genesen, 
5 gestorben an fortschreitendem Croup, an 
nachfolgender Pneumonie, an secundärer 
Herzschwäche. Die geringe Anzahl von 
Luftröhrenschnitten bei der grossen Zahl 
croupöser Erkrankungen ist durch die Un¬ 
gunst der Verhältnisse zu erklären, unter 
denen meine meisten Diphtheriekranken 
behandelt wurden. Es handelte sich in 
mindestens 90 Procent um Kinder der 
armen und ärmsten Klassen, bei denen auf 

Original frn-m 

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März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


139 


eine geeignete Pflege nach der Operation 
nicht zu rechnen war. 

Folgende Tabelle zeigt das Resultat 
meiner Behandlung: 

Ohne Serum behandelte Fälle. 


Zeit, Ort and 
Zahl der 
Erkrankungen 

Coniplicationen 

I 

Zahl 

and Todesursachen 
der Gestorbenen 

1893 

meist Belgard 

1 Parese, 

2 Croup 

2 Croup 

1894 

Coesternitz 
und Belgard 
26 

1 

1 Parese, 1 Para¬ 
plegie, 9 Croup 

| 

5 Croup, 

3 Tracheot. 
g 4 Herz- 
v schwäche in¬ 
folge sept. 
Erkrankung 

33 Fälle 

j 11 Todesfälle 


Mit Serum behandelte Fälle. 


Zeit, Ort und 
Zahl der 
Erkrankungen 

Coniplicationen 

Zahl 

und Todesursachen 

der Gestorbenen 

1894 X—XII 1 ) 
Coesternitz 
und Belgard 
12 

1 Paraplegie, 

4 Croup, | 
1 Tracheotomie! 


— 

1895 

2 Sepsis, 


1 Sepsis mit 

Butzke. Staffln 

5 Croup, 


Blutung 

Stadt 37 

2 Tracheotomie 

* 3 

1 Herz¬ 
schwäche 

1 Pneumonie 

1896 IX u. X 

1 Paraplegie, j 

\ 

Croup, tub. 

Belgard, 

7 Cioup, ' 

5 

Meningitis als 

Staffin, Lüll- 
fitz 43 

1897 VI-XII 

2 Tracheotomie 

16 Croup, 2 Para¬ 

j 

* 

Nachkrank¬ 

heit 

Dt 54 Fälle 
Belgard 
Summa 125 

plegie, 3 Urti¬ 
caria, 2 Tracheo¬ 
tomie 

1 7 Croup, Sepsis 

1898 I-IX 

11 Croup, Sep¬ 
sis, Herz- | 

1 

5 Croup, 

Stadt Satspe 

U 

3 Herz¬ 

136 

schwäche ! 

1 

schwäche 

1899 

Paraplegie, Sep-, 

1 o 

3 Herz¬ 

Grüssow 42 

sis, 4 Croup 1/ 

schwäche 

1900 

4 Croup, ! 


Herz¬ 

Camissow 38 

3 Herz- i 

schwäche | 

I 5 

schwäche, 

Croup 

1901 

1 Croup, 1 \ 

Herz¬ 

Belgard 24 

1 Herz¬ 
schwäche 

r 

schwäche 

1902 n u. m 
Hasendam 
Raffenberg 18 

1 Croup 


— 

472 Fälle 


32 Todesfälle 


Also vor der Behandlung mit Serum 
33 Diphtheriefälle mit 11 Toten, das ergiebt 
eine Mortalität von 33o/ 0 . Ein Procentsatz 
derungefährdem auch anderorts gefundenen 

*) Die römischen Ziffern bedeuten die Haupt- 
Monate der Erkrankungen. 

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entspricht. Die Berichte aus den Kranken¬ 
häusern vor der Serumzeit berichteten oft 
von 40—50% Mortalität in einzelnen Epi¬ 
demien, doch ist hierbei, wie oben aus¬ 
einandergesetzt, in Betracht zu ziehen, dass 
jenen meist die schwersten Fälle zugeführt 
werden, an deren Gesundung Eltern und 
Arzt zu Hause verzweifeln und daher die 
Ueberführung in das Krankenhaus bewerk¬ 
stelligen, hoffend dass dort durch bessere 
Pflege und der sachverständigsten Behand¬ 
lung das daheim für sonst unmöglich Ge¬ 
haltene gelingen werde. 

Während der Behandlung mit Serum sind 
mir von 472 Fällen 32 gestorben, die Morta¬ 
lität berechnet sich also nur auf noch nicht 
ganz 7 %. Auffallend ist in dieser Gegen¬ 
überstellung auf den ersten Blick das so¬ 
fortige Nachlassen der Sterbeziffer im 
Jahre 1894, sobald die Serumbehandlung 
einsetzte. Zwar war die schwere Epidemie 
in dem Dorfe Coesternitz, wo ich 13 Fälle 
mit 5 Todesfällen behandelte, vorüber, aber 
ihr parallel lief bis zum Ende des Jahres 
eine kleine aber gleich schwere in der 
Stadt Belgard. Hier zählte ich unter 
13 behandelten Kindern 4 Tote vor der 
specifischen Behandlung, und hatte vom 
October ab, unter den übrigen 12 mit Serum 
behandelten Fällen, keinen einzigen Todes¬ 
fall mehr zu beklagen. Am meisten be¬ 
weisend für des Serums Wirksamkeit ist der 
Umstand, dass es sich um die Fortsetzung 
einer bestehenden Epidemie handelte. Die 
Fälle am Schlüsse des Jahres 1894 waren 
ebenso geartet, ebenso schwer wie am 
Anfang und dennoch verliefen sie unter 
dem Einflüsse des Serums so ganz anders, 
so sehr viel günstiger als vorher. 

1901 und 1902 habe ich in Belgard, 
Hasendam und Ernsthöhe 45 Kinder an 
Diphtherie behandelt und gespritzt, davon 
starb nur ein einziges, während in Hasen- 
dam und Ernsthöhe in derselben Epidemie 
4 Kinder an Diphtherie starben, bei deren 
Erkrankung man keinen Arzt hinzugezogen 
hatte, die also auch nicht des Serums theil- 
haftig geworden sind. Deutlicher kann die 
Sprache der Statistik kaum reden. Neben 
17 Erkrankten in Hasendamm und Ernst¬ 
höhe habe ich 22 Kinder prophylaktisch 
gespritzt. Von diesen ist kein einziges 
nachher erkrankt. 

Die so überaus günstige Wendung im 
Herbst 1894 machte mich, obwohl ich mir 
selbst entgegenhielt, dass bei so kleinen 
Zahlen auch einmal der Zufall eine Rolle 
spielen könnte, sofort zum Freund und 
Verehrer des Heilserums und liess mich 
hinfort von der Serumbehandlung nicht 

18 * 

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140 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


März 


mehr abgehen, obwohl ich später das 
Serum auch hier und da versagen sah. 
Es ist kein Allheilmittel, und wenn die 
Diphtherie einmal die Muskeln und Nerven 
des Herzens unheilbar geschädigt hat oder 
croupöse Membranen die Luftwege derart 
verstopfen, dass die Kraft der kleinen 
Patienten nicht mehr ausreicht, sich der 
Erdrosselung zu erwehren, dann kann auch 
das Serum nichts mehr ausrichten. Mag 
es auch jetzt noch die Toxine unschädlich 
machen, verloren gegangene oder unheilbar 
geschädigte Organsubstanzen kann es nicht 
ersetzen, und leider sind ja bei der 
Diphtherie die vornehmlich geschädigten 
Organe so lebenswichtige, dass eine 
regenerirende Thätigkeit der Körperzellen, 
auch wenn das Serum durch Bindung der 
Toxine die Bahn frei macht, oft zu spät 
kommt. 

So habe ich denn trotz des Serums 
32 Kinder an Diphtherie sterben sehen an 
Sepsis, Herzlähmung, Bronchopneumonie 
und am Croup. 

Von Nebenwirkungen des Serums habe 
ich hier und da erythemähnliche und urti¬ 
cariaartige Röthung um die Injectionsstelle 
herum bemerkt, bisweilen mit tagelang 
dauernden geringen Schmerzen und Jucken, 
aber ohne jeden weiteren Nachtheil, nie¬ 


mals mit Abscedirung. Hydropathische 
Umschläge oder Verband mit Burow’scher 
Lösung beseitigten die kleinen Leiden bald. 
Dreimal sah ich eine über den ganzen 
Körper ausgebreitete Urticaria 24—48 Stun¬ 
den dauernd mit quälendem Juckreiz. Die 
Trägerinnen waren drei Schwestern, sodass 
eine Familiendisposition zur Quaddel¬ 
bildung nicht unwahrscheinlich ist, zumal 
dieselben nicht zu gleicher Zeit und nicht 
mit derselben Serumnummer behandelt 
wurden, also Injectionsflüssigkeit und In- 
jectionsinstrumente nicht bei allen gleich¬ 
artig anzuschuldigen waren. Eine dieser 
Patientinnen zeigte zugleich die schwerste 
Complication, die ich bei Serum überhaupt 
beobachtet habe, einen enorm heftigen 
Gelenkschmerz an beiden Knieen, so heftig, 
dass die Erschütterung des Fussbodens 
durch leisen Schritt sie zu lautem Schreien 
erregte. Unter Gebrauch von salicyl- 
saurem Natrium war diese Affection schon 
am nächsten Tage wesentlich gebessert, 
am dritten Tage völlig beseitigt. Das sind 
die ganzen Nebenerscheinungen die das 
Serum mir gemacht hat, wenige und so 
leichte, dass sie gegenüber dem unendlichen 
Vortheil, die Sterblichkeit von etwa 30% 
auf kaum 7 % herabgesetzt zu haben, gar 
nicht in Betracht kommen. 


Ueber Ichthalbin. 

Von Dr. Julian MarctlSC-Mannheim. 


Die Ueberwindung der Anorexie ist 
eine der wesentlichsten Aufgaben der Er¬ 
nährungstherapie, und man sucht diese zu 
erfüllen durch eine wohl charakterisirte 
Diät und weiterhin durch tonisirende, 
stärkende Stoffe. Die letzteren, den reinen 
Nahrungs- wie den Arzneistoffen entnommen, 
sind an Zahl Legion und kommen und 
gehen je nach dem Stand der diätetisch¬ 
therapeutischen Bestrebungen der Zeit, und 
häufig genug sehen wir aus dem Schutt 
vergangener Perioden alte erprobte Mittel 
in neuer glücklicher Combination, oft auch 
in neuem Gewände, wieder hervortauchen. 

Bei der grossen Gruppe der Diätetica 
und Tonica spielt weniger die individuali- 
sirende Behandlungsmethode wie der In¬ 
dividualismus des behandelnden Arztes 
eine Rolle, und die Vorliebe für das eine 
oder andere bestimmt hier oft die Direc- 
tiven. Unbenommen dabei bleibt es, dass 
in den Fällen, wo wir zu appetitanregen¬ 
den Mitteln zu greifen gezwungen sind, 
in dem Princip selbst der Wechsel die 
treibende Kraft ist; denn bald kehrt sich 
die scheinbar überwundene Indiosynkrasie 


auch gegen das neue Bemühen und ver¬ 
langt anders aussehende und anders ge¬ 
artete Reizmittel. 

Die Gegenwart bemüht sich, dieselben 
aus den Nahrungsstoffen zusammenzu¬ 
stellen. und in der Synthese der Kranken¬ 
diät liegt heute der Schwerpunkt des 
Kampfes gegen die Anorexie. Allein völlig 
zu entbehren sind die medicamentösen 
Tonica und Hebemittel der Ernährung 
nicht und wir werden sie, wenn sie nur 
dem wesentlichsten Grundsatz des nihil 
nocere entsprechen, in vielen Fällen mit 
gutem Gewissen und gutem Erfolge an¬ 
wenden können. 

Eins von diesen, die trotz glänzender 
Erfüllung dieser letzteren Vorbedingung 
auch den Wechsel der Zeiten zu kosten 
bekommen haben, ist das Ichthalbin, das 
ich auf der Grundlage einer Reihe von 
Beobachtungen der Vergessenheit etwas 
entreissen möchte. Das Ichthalbin, die 
Eiweissverbindung des Ichthyols, wurde zu 
Anfang des Jahres 1897 von der Chemischen 
Fabrik Knoll & Co. in Ludwigshafen a. 
Rhein in den Arzneischatz eingeführt und 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


verdankt seine Entstehung einem Ge¬ 
dankengange von Sack und Vieth, die 
nach dem Vorbild der Tannalbindarstellung 
ein Ichthyolpräparat zu gewinnen suchten, 
das aller unangenehmen Eigenschaften bar 
den Magen unverändert passirt und erst 
im Darm freies Ichthyol abgiebt. Dass die 
Wirkungen des Ichthalbins imGanzen denen 
des Ichthyols gleich sein müssten, erschien 
a priori selbstverständlich. Es frug sich 
nur einmal, ob die Ausschaltung der Ma¬ 
genresorption den therapeutischen Effekt 
des Mittels zu erhöhen vermag, und zwei¬ 
tens, ob der infolge der langsamen Ichthyol¬ 
abspaltung innerhalb des Darms continuir- 
lich vor sich gehende Zufluss von sozu¬ 
sagen „nascirendem" Ichthyol zur Darm¬ 
schleimhaut und ihren Resorptionsorganen 
eine Steigerung seiner lokalen Darmwir¬ 
kungen, bestehend in Anregung der Pe¬ 
ristaltik und Desinfection der Darmwand, 
bewirken bezw. auch die mit dem Stoff¬ 
wechsel zusammenhängenden Darmwir¬ 
kungen des Ichthyols ausserhalb des Darm- 
tractus zu verstärken vermag. Theoretisch 
waren diese beiden Fragen von Anfang an 
mit „Ja* zu beantworten, praktisch fanden 
sie ihre Entscheidung durch die Ergebnisse 
der therapeutischen Versuche. Dieselben 
bewegten sich nach zwei Richtungen hin: 
Anknüpfend an die von Zuelzer s. Zt. 
unternommenen Stoffwechselversuche mit 
Ichthyol und seine Schlussfolgerungen, dass 
dieses Mittel „in eminentem Maasse ge¬ 
eignet ist, die Bildung albuminhaltiger 
Körperbestandtheile zu begünstigen und 
deren Verfall einzuschränken*, führten 
Rolly und Saarn 1 ) ihrerseits mit dem 
Ichthalbin exacte Stoffwechselversuche aus 
und fanden, dass dasselbe einen ausge¬ 
sprochen günstigen Einfluss auf die Er¬ 
nährung ausübt. Die Ausnützung des ein¬ 
geführten Eiweisses war während der 
Ichthalbin-Periode eine so hohe, dass man 
dasselbe als Eiweisssparmittel xaf i&>xh v 
betrachten kann. Ihre weiteren Versuche 
erstreckten sich auf die Prüfung der ört¬ 
lichen Einwirkung dieser Ichthyolverbin¬ 
dung auf die Darmschleimhäute. Auch hier 
zeigte sich die Brauchbarkeit des Ichthalbin, 
indem die Abnahme der Darmfäulniss eben¬ 
so prompt erreicht wurde wie durch grosse 
Mengen Calomel, so dass mithin dasselbe als 
ein vorzügliches Darmantisepticum anzu¬ 
sehen ist. Die Vereinigung beider Wir¬ 
kungen des Ichthalbins, die Aufhebung der 
Darmfäulniss sowie die günstige Beein¬ 
flussung von Appetit und Ernährung, er- 

*) Münchener Med. Wochenschrift 1900, No. 14 
and 17. 

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14 


klären die übereinstimmend guten Resul¬ 
tate, die von den verschiedensten Beob¬ 
achtern, ich nenne nur Homburg er, Neu¬ 
mann, Vierordt etc., erzielt wurden. 

Der Kreis der Indicationen ist gegeben 
durch diese seine Eigenschaften. Bei den 
chronischen Katarrhen des Darmes sui 
generis, dann weiterhin bei den mit Darm¬ 
störungen einhergehenden Dermatosen re- 
flectorischen und trophischen Charakters 
wird das Desinficiens Ichthalbin, bei allen 
chronischen consumirenden Krankheiten, 
wie Tuberkulose,'Skrophulose, chronischen 
Pneumonien etc. das Tonicum und Eiweiss¬ 
sparmittel Ichthalbin am Platze sein. Auch 
hierüber ist die Zahl der gesammelten Er¬ 
fahrungen keine geringe: Auf der Neu- 
mann’schen Poliklinik für Kinderkrank¬ 
heiten in Berlin, in der Vierordt’schen 
Poliklinik in Heidelberg und an zahlreichen 
anderen Orten sind die günstigsten Resul¬ 
tate nach diesen beiden Richtungen hin 
erzielt worden. Absolute Unschädlichkeit, 
willige Aufnahme, Zunahme des Appetits 
und des Körpergewichts und eine prompte 
und durchaus befriedigende Beeinflussung 
der chronischen Darmkatarrhe sind die 
gleichlautend berichteten Ergebnisse. 

Eine Ergänzung dieser systematischen 
Versuchsanordnungen bilden eine Reihe 
persönlicher Beobachtungen aus jüngster 
Zeit. Sie betreffen einmal Phthisiker und 
skrophulöse, anämische Kinder und zweitens 
einige Fälle von chronischer Enteritis. In 
allen Fällen (8) von Tuberkulose trat bei 
völligem Darniederliegen des Appetits nach 
verhältnissmässig wenigen Dosen (im 
Durchschnitt zwischen 3 und 8 Tagen bei 
dreimal täglicher Darreichung einer Messer¬ 
spitze) eine auffallende Hebung desselben 
ein, die Nahrungsaufnahme wurde reich¬ 
licher, Allgemeinbefinden und Körper¬ 
gewicht besserten sich in wesentlichem 
Maasse (Gewichtssteigerungen von durch¬ 
schnittlich 1 Vj bis 2 kg innerhalb 4 Wochen). 
Dasselbe gilt von 4 Fallen von infantiler 
Skrophulose bei stark heruntergekommenen 
Kindern in ärmlichen Verhältnissen, bei 
denen Leberthran infolge unüberwindlicher 
Idiosynkrasie nicht gereicht werden konnte. 

Der Ichthalbinersatz zeitigte durchaus gute 
Resultate: Aussehen und Allgemeinzustand 
besserten sich sichtlich, das Körpergewicht 
nahm in 3 Fällen innerhalb 4 Wochen um 
950-1000 g, in 1 Fall um 1500 g zu. Der • 
gesteigerte Stoffansatz ist allerdings in 
allen diesen Fällen wohl mehr auf das 
Conto der vermehrten Nahrungsaufnahme 
wie auf das einer direkt eiweisssparenden 
Wirkung des Ichthalbins zu setzen, aber 

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142 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


diese vermehrte Nahrungsaufnahme war 
eben die einfache Folge der Hebung des 
Appetits und die Ursache des letzteren die 
Ordination von Ichthalbin. Was die beob¬ 
achteten Fälle von chronischer Enteritis 
anbetrifft, so ist deren Zahl zu gering, um 
ins Feld geführt zu werden, wenngleich 
auch hier sich völlige Uebereinstimmung 
mit den günstigen Resultaten der Vor¬ 
untersucher ergeben hat. 

Die rein dermatologische Anwendung 
des Ichthalbins habe ich aus meinen Betrach¬ 
tungen, die nur die allgemeine Wirkungs¬ 
weise dieses Medicamentes betreffen sollten, 
ausgeschieden. 

Jedenfalls ist das Ichthalbin Kn oll ein 
seiner physiologischen Eigenschaften wie 
seiner therapeutischen Wirkungen halber 
durchaus beachtenswerthes Präparat, das 
in der Stufenleiter der unschädlichen 
Darmantiseptica wie der appetitanregenden 


tonischen Mittel an vorderster Stelle zu 
stehen verdient. 

Die zu ordinirende Dosis beträgt bei 
Erwachsenen: 0,5 bis 1,0 g dreimal täglich, 
am besten direkt vor dem Essen, bei Säug¬ 
lingen: 0,1 bis 0,3 g in Schleimsuppe. 

Bei Kindern ist es oft zweckmässig, das 
Ichthalbin mit Chocolade gemischt zu 
geben. Man lässt zu diesem Zwecke ein 
achtel Pfund Tafelchocolade auf dem Reib¬ 
eisen zerreiben und etwa 15 g Ichthalbin 
gleichmässig daruntermengen. Von diesem 
Gemisch giebt man den Kindern 3 mal 
täglich einen abgestrichenen Theelöffel voll, 
sodass die Gesammtmenge in 8—10 Tagen 
aufgezehrt wird. Die Kinder verlangen 
dann von selbst nach dieser Chokolade. 

Der Billigkeit wegen verordnet man am 
besten Ichthalbin 10,0—20,0 als Schachtel¬ 
pulver. Der Preis beträgt nach der preussi- 
schen Arzneitaxe 10 g M. 1,20. 


Beiträge zur Wirkung der Moorbäder und Moorumschläge bei Exsudat- 

Resten nach Perityphlitis. 

Von Geh. San.-Rath Dr. F. Straschnow- Franzensbad. 


So allgemein bekannt und gewürdigt 
die heilsame Wirkung der Franzensbader 
Moorbäder und Moorumschläge behufs 
Resorption von Exsudaten nach Entzün¬ 
dungen des weiblichen Genitales, beson¬ 
ders nach Pelveo-Peritonitis ist, so wenig 
versucht ward bisher die Wirksamkeit 
dieser Heilmittel bei Exsudat-Residuen 
nach Perityphlitis, resp. Appendicitis. 

Es sind mir im Verlaufe meiner lang¬ 
jährigen ärztlichen Thätigkeit in Franzens¬ 
bad im Ganzen nur fünfzehn Fälle von 
Rekonvalescenten nach Blinddarmentzün¬ 
dung zum Curgebrauche zugewiesen wor¬ 
den. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, 
dass Jeder der in Franzensbad thätigen 
Aerzte über einige derartige Fälle berichten 
könnte. Das Symptomenbild war, da es sich 
bereits um eine längere Zeit (5—6 Monate 
bis 1 Jahr) nach stattgehabter Erkran¬ 
kung handelte, mehr weniger dasselbe: 
Druckempfindlichkeit und Spannung in der 
Ileocoecal-Gegend, Flatulenz, Stypsis und 
Schmerz bei forcirten Bewegungen. Bei 
manueller Untersuchung fühlte ich in allen 
Fällen einen theils derben, theils zarteren, 
aber immer noch empfindlichen Strang in 
der Gegend des Blinddarmes, resp. des 
, Appendix. Bei zwei Frauen konnte ich 
denselben bei vaginaler Untersuchung bis 
an die rechte Kante des Uterus adhärent 
verfolgen. 

Da es sich nur um chronische Fälle 
handelte und da keine entzündlichen Er- 

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scheinungen vorhanden waren, demnach 
die Sepsis erregenden Spaltpilze ihre 
Lebensfähigkeit verloren hatten, so war 
gegen den Gebrauch der Trink- und Bade- 
cur, resp. gegen die Anwendung der 
Moorbäder- und Umschläge kein Bedenken 
mehr vorhanden; und ich stimme der An¬ 
sicht Kleinwächter’s vollkommen bei, 
wenn er in seiner Arbeit: „Wichtige gy¬ 
näkologische Heilfactoren" diese Heil¬ 
mittel als wahrhaft specifisch bei perito- 
noealen Exsudaten und deren Residuen an¬ 
sieht. 

Von den betreffenden Kranken waren 
drei weiblichen und zwölf männlichen Ge¬ 
schlechts, unter den Letzteren zwei Knaben 
von 12 und 14 Jahren. 

Bei einer jungen, sterilen Frau war 
Senkung des Exsudates bis in die Crural- 
Gegend erfolgt und musste der Eiter durch 
eine tiefere Incision entleert werden. 

Bei einem fünfunddreissigjährigen Manne 
war der Durchbruch des Eiters durch die 
Blase erfolgt (Februar) und war noch bei der 
Aufnahme des Patienten im Juni Eiterab¬ 
gang mit dem Urine vorhanden. 

Bei einem fünfundvierzigjähren Manne 
hatte sich der Eiter durch den Mastdarm 
entleert. Wie leicht, selbst nach vor langer 
Zeit überstandener Entzündung, ein Reci- 
div eintreten kann, zeigte sich bei einem 
im Juni 1897 aufgenommenen Kranken, 
welcher im Jahre 1890 eine Appendicitis 
überstanden hatte und im Mai 1897 rad- 

Ürigiraal from 

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März 


143 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 

Der warme Moorbrei wirkt nicht nur 
kataplasmirend, sondern auch gleichzeitig 
mild massirend. Eine örtliche Massage¬ 
behandlung halte ich, trotz aller abge¬ 
laufenen Entzündungserscheinungen, für 
gegenangezeigt. 

In den meisten Fällen war der Erfolg 
ein guter. Die Darmthätigkeit war ge¬ 
regelt, das Aussehen besserte sich, die 
Empfindlichkeit in der Ileocoecalgegend 
war geschwunden und von den verdickten 
Strängen war in den meisten Fällen nichts 
zu fühlen. Nur in wenigen Fällen musste die 
Cur im nächsten Jahre wiederholt werden. 

Ich hatte Gelegenheit, manchen meiner 
Kranken nach Jahren wiederzusehen und 
hatte die angenehme Genugthuung, die¬ 
selben vollkommen wohl und beschwerde¬ 
frei zu finden. Es liegt mir fern, die 
Franzensbader Moorbäder als einziges heil¬ 
sames Mittel gegen Blindarmexsudate an¬ 
zuzeigen, denn überall, wo Moorbade- 
curen vorgenommen werden, können der- 
28° R. von 20 bis 25 Minuten langer Dauer artige Erfolge constatirt werden. Ich wollte 

verordnet. Gewöhnlich wurden zwei Bäder nur die Anregung zu Veröffentlichungen 

genommen und am dritten Tage pausirt. derselben geben. 

Aus dem Röntgenlaboratorium der Allgemeinen physikalischen Curanstalt und Fangocuranstalt. 
Gleichzeitige Gewinnung mehrerer Actinogramme. 

Vorläufige Mittheilung. 

Von Dr. med. Schuppenhauer- Berlin. 

Eine wesentliche Vereinfachung der all¬ 
gemein üblichen Röntgentechnik stellt das 
schon früher von V. Mangold (Dresden) 
und Anderen empfohlene, jüngst wieder von 
Kronecker 1 ) (Berlin) beschriebene Ver¬ 
fahren dar, die Röntgenaufnahmen mit Um¬ 
gehung der Trockenplatten und des lang- | Aufnahme herstellen zu können, 
weiligen Copierprocesses direct auf Brom- Die theoretische Erwägung, dass das in 
Silberpapier zu machen. Inzwischen hat der lichtempfindlichen Schicht des Papiers 

Kronecker seine Resultate in der fein vertheilte Bromsilber der Kraft der 

Sitzung der Berliner medicinischen Gesell- Röntgenstrahlen wahrscheinlich keinen we- 

schaft vom 11. Februar d. J. demonstrirt sentlichen Abbruch thun würde, wurde 

und dabei als Nachtheil dieser Methode an- durch den Versuch bestätigt, und damit 

gegeben, dass dieselbe nur ein Bild liefert, war das Problem gelöst. 

Es müsste daher bei Bedarf mehrerer Bilder Für die Herstellung der in der Praxis 
eine entsprechende Anzahl von Aufnahmen erforderlichen Bilderzahl (meist 2 bis 4) hat 
gemacht werden. sich mir folgende Methode als die be- 

Da nun meistentheils mehrere Bilder quemste erwiesen: 

erwünscht sind, wäre dieses bequeme Ver- Bei rubinrothem Licht werden mehrere 
fahren bei schmerzhaften Erkrankungen und Blatt Bromsilberpapier zwischen zwei Ver- 
Verletzungen, bei Aengstlichkeit und leichter stärkungsschirmen in der Weise in eine 

Erregbarkeit des Patienten nicht anwendbar. Cassette gelegt, dass die Schichtseiten dem 

In den übrigen Fällen wäre aber für den Deckel — bei der Aufnahme also dem 

Haushalt des Laboratoriums die Schädi- Object — zugewandt sind. Nun folgt die 

gung der Röhre infolge der mehrmaligen Aufnahme, sodann bei rubinrothem Licht, 

und langen Benutzung, die sich wegen der Einweichen in Wasser (ca. 2 Minuten lang), 

! ) Die Therapie der Gegenwart 1903, No. 1 . Entwickeln mit Rodinal 1 :30 Wasser mit 

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geringeren Empfindlichkeit des Bromsilber¬ 
papiers als nöthig erweist, in Betracht zu 
ziehen. — Diese Nachtheile der sonst guten 
Methode liessen in mir den Wunsch rege 
werden, unter Verwendung von Bromsilber¬ 
papier mehrere Bilder mit einer einzigen 


fahren lernte. Schon nach wenigen Tagen 
stellten sich Schmerzen in der Ileocoecal¬ 
gegend ein, nur durch strengste Ruhe und 
Antiphlogose kam es nicht zu einer neuer¬ 
lichen Entzündung. 

Die ärztliche Behandlung war in allen 
Fällen mehr weniger dieselbe. Um die 
Darmthätigkeit anzuregen und die be¬ 
stehende Constipation zu beheben, wurde 
die Trinkcur mit dem Gebrauche der Salz¬ 
quelle eingeleitet, gleichzeitig aber wurden 
Stahlbäder verordnet, um durch die in 
denselben so reichlich enthaltene Kohlen¬ 
säure einen Reiz auf die Hautnerven aus¬ 
zuüben und eine Beschleunigung des Stoff¬ 
wechsels herbeizufahren. Bei anämischen 
Kranken wurde neben der Salzquelle auch 
Franzensquelle verordnet. Am Abend 
wurde ein nicht zu schwerer, etwa 28 bis 
30° R. warmer Moorumschlag auf den Un¬ 
terleib für eine halbe bis ®/4 Stunden ge¬ 
legt. Nach fünf bis 6 Stahlbädern wurden 
ausschliesslich mittelstarke Moorbäder von 


Original frorn 

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144 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


März 


einigen Tropfen Bromkalilösung 1:10, 
kurzes Abspülen, Fixiren, gründliches 
Wässern, Trocknen, Lackiren, Aufziehen. 

Somit ist die Herstellung mehrerer 
Bilder, die sämmtlich scharfe Conturen 


zeigen und sich unter einander vollkommen 
gleichen, bei möglichster Schonung des 
Patienten, ohne besondere Schädigung der 
Röhre, in bequemer Weise, bei relativ 
geringen Unkosten, in kurzer Zeit möglich. 


Zur Heilbarkeit 

Vor kurzem hat Sanitätsrath Dr. Meissen, 
der dirigirende Arzt der Lungenheilstätte 
Hohenhonnef, einen Bericht über 208 
seit 3—11 Jahren geheilt gebliebene Fälle 
von Lungentuberkulose veröffentlicht (Zeit¬ 
schrift fürTuberkulose und Heilstättenwesen 
Bd. IV Heft 2). Die in Hohenhonnef erziel¬ 
ten Erfolge dürften denjenigen entsprechen, 
welche auch sonst durch sorgfältige Behand¬ 
lung (Ruhe und Pflege in guter Luft) zu 
erzielen sind. Von 1731 Patienten wurden 
278 oder 16% als geheilt, 621 oder 36% 
als annähernd geheilt, 412 oder 23,8% als 
gebessert entlassen. 

Von den 278 geheilten sind 248 unter 
weiterer Controle geblieben. 40 hatten 
sich wieder verschlechtert, vielfach oder 
meist durch die Ungunst der Umstände, 
den Zwang, mehr und anstrengender arbei¬ 
ten zu müssen als zweckmässig war, ge¬ 
legentlich auch durch Leichtsinn oder 
Unvorsichtigkeit. Die Lunge war wieder 
kränker geworden, neue Curen waren 
gemacht worden, aber mit mangelndem 
oder unvollständigem Erfolge, wie ja meist 
bei Lungenkranken der Rückfall schlimmer 
ist als der Anfall. Doch waren nur 9 ge¬ 
storben, zum Theil aus Gründen, die mit 
dem Lungenleiden nicht zusammenhingen. 

Ueber die übrigen 208 berichtet eine 
genaue tabellarische Uebersicht, welche 
die Art der Erkrankung, den Curverlauf 
und die spätere Lebensgeschichte enthält, 
und welche für jeden Phthisiotherapeuten, 
also für jeden Arzt, von ausserordentlichem 
Interesse ist. Besonders bemerkenswerth er¬ 
scheinen aber die Schlusssätze Meissen's, 
die unsern Lesern zwar kaum etwas Neues 
bringen, die ich aber doch wörtlich ab- 
drucken möchte zu Nutz und Frommen 
derer, die immer wieder in kritikloser 
Weise den Heilerfolg neuer Methoden und 
Medicamente gegen Tuberkulose rühmen. 

„Meine Statistik sollte zeigen, dass in 
Hohenhonnef nicht nur eine grosse An¬ 
zahl Patienten als geheilt entlassen werden, 
sondern dass von diesen der bei weitem 
grösste Theil durch die Jahre hindurch 
bei vernünftiger Lebenshaltung gesund 
bleibt, und sich im Berufe wieder bethätigen 


der Tuberkulose. 

kann. Sie ist zugleich ein Beweis für die 
Leistungsfähigkeit der hygienisch - diäte¬ 
tischen Methode, der diese Erfolge sicher 
in allererster Linie zu danken sind. Wir 
brauchen von der Heilbarkeit der Tuber¬ 
kulose nicht pessimistisch zu denken, die 
von allen chronischen Krankheitszuständen 
unserer Behandlung noch am ehesten zu¬ 
gänglich ist, sobald wir ihr geeignete Fälle 
anvertrauen, d. h. die frischen, noch nicht 
zu weit vorgeschrittenen Fälle. Wir sollen 
umgekehrt auch nicht optimistisch denken: 
Auch schwere, vorgeschrittene Fälle er¬ 
reichen gelegentlich einen überraschenden 
Heilerfolg — aber leider sind das Aus¬ 
nahmen, die nur die Regel bestätigen, dass 
ein wirklicher und dauernder Heilerfolg 
nur dann regelmässig erreicht wird, wenn 
es sich um Fälle des ersten und zweiten 
Stadiums handelt. Sicherlich aber ist eine 
Statistik wie die vorliegende geeignet, die 
Betrachtungen über die Heilbarkeit der 
Tuberkulose freundlicher und tröstlicher zu 
gestalten. Unter den Fällen sind ziemlich 
alle Berufsstände vertreten: Kaufleute, Tech¬ 
niker, Beamte, Officiere, Aerzte, die alle 
in ihrem Berufe thätig und gesund blieben; 
Frauen, die ihrem Haushalte wieder vor¬ 
standen, Mädchen, die heiratheten und Kin¬ 
der bekamen. Wie gesund sich manche 
dieser geheilten Patienten fühlten, geht 
daraus hervor, dass eine Anzahl sich um 
Aufnahme in eine Lebensversicherung be¬ 
warben ! 

Die Leistungen der hygienisch-diäte¬ 
tischen Methode haben ihre Grenzen; es 
ist begreiflich, dass die Hoffnung auf die 
Wirkung specifisch wirkender Arzneistoffe 
trotz der vielen Enttäuschungen immer 
wieder lebendig wird. Ueber diesen 
Wünschen aber sollen wir nicht vergessen, 
dass die genannte Methode ihre Erfolge 
und auch die Dauer dieser Erfolge sicher 
erwiesen hat, dass diese Erfolge regel¬ 
mässig eintreten, sobald man nicht die un¬ 
mögliche Heilung schwerer und schwerster 
Fälle von ihr verlangt, sondern ihr die 
gleichen Formen der Krankheit anvertraut, 
die auch für die vermeintlichen Specifica 
beansprucht werden." 


Difitized b 


Für die Redaktion verantwortlich: Prof. G. Klempercr in Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Orstetreu h-Ungarn: 
Fugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von IJ r b a n & S c li w a r z e n b e rg 
** in Wien und Berlin. 

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Die Therapie der Gegenwart 


1903 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


April 


Nachdruck verboten. 

Ueber die diagnostische Bedeutung und Behandlung 
functioneller Myopathien. 

Von O. Rosenbach- Berlin. 


Es ist eine auffallende, aber erklär- | 
liehe Thatsache, dass unter der Herrschaft ! 
der pathologisch - anatomischen Doctrin, 
die als exacte Diagnose nur den Nachweis 
intensiver Organveränderungen gelten 
Hess und ihren schärfsten Ausdruck in 
dem Versuche einer Localisation seeli¬ 
scher Functionen fand, die functioneilen 
Erkrankungen so wichtiger Organe, wie 
der Muskeln, von der wissenschaftlichen 
Diagnostik ausserordentlich stiefmütterlich 
behandelt wurden. Je mehr man beim 
Studium mit der Nomenclatur und Topo¬ 
graphie der Muskeln geplagt worden war, 
desto auffallender musste dem jungen 
Arzte die geringe Bedeutung der Muskeln ! 
in der Pathologie erscheinen. Denn nur | 
die zu Atrophie und Lähmungen führen¬ 
den Veränderungen wurden der Beach¬ 
tung und zwar als Annex der Neurologie 
gewürdigt. Aber von der Functionslehre 
der Muskeln, der Anatomie vivante Du- | 
chenne’s kam zur Kenntniss des angehen¬ 
den Arztes ebensowenig, wie von den J 
zahlreichen leichteren myogenen Functions¬ 
störungen. Nur der Hexenschuss war 
unter dem wissenschaftlichen Namen Lum¬ 
bago ein mehr oder weniger dankbares 
Object der Therapie, galt aber, trotz des 
lateinischen Namens ebensowenig wie der 
Muskelrheumatismus als ein der klinischen 
Vorstellung würdiges Object. Jedenfalls 
also hielt man es für exacter oder wissen¬ 
schaftlicher bei schmerzhaften Affectionen 
im Muskelnervengebiete lieber die Diagnose 
auf reine Nervenerkrankung, Neuralgie 
oder sogar Neuritis zu stellen, und ich 
erinnere mich noch lebhaft meines Erstau¬ 
nens über die Häufigkeit von reinen Mus¬ 
kelerkrankungen, als ich theils durch die 
Bedürfnisse der Praxis, theils durch meine 
Arbeiten über Reflexe veranlasst, mich 
zuerst eingehend dem Studium der phy¬ 
siologischen Vorgänge im Muskelapparate 
und seinen functionellen Störungen zu¬ 
wandte. Es gelang mir unschwer nachzu- 
weisen, dass oft auch der reinen Myalgie 
resp. der sogenannten rheumatischen Mus- 
kelaffection die als charakteristisch für 
Neuralgien angesehenen Symptome, näm- 


Difitized by 


Gck igle 


lieh Druckschmerzpunkte — neben diffuser 
Schmerzhaftigkeit — und typische Periodi- 
cität resp. Intermittenz der Erscheinungen 
zukommt. Namentlich war ich erstaunt, 
als ich von dem so gewonnenen Gesichts¬ 
punkte aus Fälle von angeblicher Ischias 
resp. Neuritis ischiadica prüfte und nur 
selten Gelegenheit hatte, reine Typen der 
Nervenerkrankung zu finden, da sich theils 
die klassischen Symptome doch nicht deut¬ 
lich fanden, theils wenn sie vorhanden 
waren, sich leicht anders deuten Hessen, 
und überaus oft Störungen vorhanden 
waren, die sich überhaupt nur auf die 
Muskeln selbst beziehen Hessen. Der beste 
Beweis für die myogene Natur konnte in 
solchen Fällen dadurch erbracht werden, 
dass durch eingehende Untersuchung der 
primär afficirte Muskel oder eine Gruppe 
von solchen festgestellt und durch geeig¬ 
nete locale Therapie, selbst in sogenannten 
veralteten Fällen, auffallend schnell Heilung 
oder Besserung herbeigeführt werden 
konnte, während elektrische oder ablei¬ 
tende Behandlung längs des gesammten 
Nervenstammes erfolglos blieb. Vor allem 
wichtig war die Feststellung — wir kom¬ 
men darauf später zurück —, dass in vielen 
Fällen die typischen ausgebreiteten Stö¬ 
rungen an der Beugeseite des Schenkels 
und sogar die Affection des anderen 
Beines (also doppelseitige Ischias) nur 
Folge der primären localen Muskelaffec- 
tion sind, d. h. dass wegen der Schmerz¬ 
empfindung resp. Functionsstörung in einem 
kleinen Muskelgebiete, das allerdings der 
Durchtrittsstelle des N. ischiadicus ent¬ 
spricht, andere Muskeln, namentlich die 
Wadenmuskeln, abnorm belastet werden 
und allmählich in gleicher Weise er¬ 
kranken. 

So wuchs aus praktischen und theore¬ 
tischen Gründen mein Interesse an diesen 
Vorgängen, und ich kam im Verlaufe der 
Zeit immer mehr dahin, den Antheil der 
Muskeldecke an dem Symptomencomplexe 
der Erkrankung innerer Organe festzu¬ 
stellen, d. h. nachzuweisen, dass dem in 
seinem Spannungsverhältnisse so ausser¬ 
ordentlich labilen Muskelapparate eine 

19 

Original fro-m 

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146 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


April 


grosse Bedeutung für schmerzhafte 
Empfindungen und abnorme moto¬ 
rische Erscheinungen im Gebiete 
der inneren Organe zukommt, dass er 
also in vielen Fällen der ausschliessliche 
oder hauptsächliche Sitz des Leidens ist, 
wo fälschlich eine tiefer liegende organische 
Affection angenommen wird. Hierbei kann 
es sich sowohl um directe Veränderungen 
des Parenchyms, oder um reflectorische 
Beeinflussung in seinem Tonus oder um 
circulatorische von der Nachbarschaft aus¬ 
gehende Störungen handeln. Dies gilt 
namentlich für die Muskulatur des Unter¬ 
leibes; doch auch für den Thorax und für 
die motorischen Apparate des Pharynx 
und Oesophagus kommen solche myogenen 
Affectionen in Betracht (s. u.). Wie viele 
Fälle von anscheinender Angina und Dys¬ 
phagie habe ich gesehen, wo nur Myalgie 
der Hals- und Brustmuskeln die Ursache 
der Störungen war. 

Es scheint mir deshalb nicht unwichtig, 
diesem — nicht bloss diagnostisch, d. h. 
der Namengebung, sondern praktisch der 
causalen oder symptomatischen Therapie 
wegen — wichtigen Thema eine erneute 
Erörterung zu widmen. Gerade das Gebiet 
der Muskelerkrankungen hatte immer — 
und hat gerade heute — eine besondere 
Bedeutung, weil Pseudoheilkundige oder, 
richtiger, ungeprüfte Heilkünstler hier die 
besondere Domäne finden, in der sie allein 
durch energische und darum oft besonders 
wirksame mechanische Manipulationen (so¬ 
genanntes Ziehen der Glieder, Strecken. 
Dehnen der „Magen- oder der Mutter¬ 
bänder“) oder durch combinirte Anwen¬ 
dung von Massage, Wärme und Pflastern 
Erfolge erzielen, die dem ärztlichen The¬ 
rapeuten entgehen müssen, weil er, im 
Streben nach exacter Organdiagnose zu 
lange mit energischen localen Eingriffen 
zögert, oder, wenn er seiner Diagnose 
sicher zu sein glaubt, gerade in falscher 
Richtung (unter Annahme einer Cardial- 
gie, Stenocardie, Neuritis etc.) wirkt, d. h. 
den eigentlichen Locus affectus, die Mus¬ 
kulatur, vernachlässigt. Wird aber die 
Muskelaffection längere Zeit gar nicht oder 
unzweckmässig behandelt — auch die so¬ 
genannten specifischen Nervenmittel wie 
Phenacetin, Antipyrin wirken nur in einer 
kleinen Zahl von namentlich frischen Fällen 
causal —, so bilden sich im Anschluss an 
die Functionsstörung relativ schnell auch 
psychische Unlustgefühle und Hemmungen 
aus. Es entstehen, in Folge der durch die 
abnormen inneren Vorgänge bedingten 
beträchtlichen Spannungsveränderungen in 


! 


den Muskeln, schmerzhafte Empfindungen 
während der Ruhe, und schliesslich werden 
relativ schnell auch andere Gebiete durch 
Reflex oder stärkere Beanspruchung sym¬ 
ptomatisch afficirt, so dass es dann höchst 
energischer therapeutischer Manipulationen 
und psychischer Einwirkung bedarf, um die 
primär physisch bedingten, aber durch 
psychische Einwirkung unterhaltenen Stö¬ 
rungen im inneren Gleichgewicht des Mus¬ 
kels zu beseitigen, d. h. den normalen 
Muskeltonus wieder herzustellen resp. die 
perverse Innervation 1 ) auf sensiblem und 
motorischem Gebiete aufzuheben. 

Der von des Gedankens Blässe nicht an¬ 
gekränkelte Laienempiriker geht natürlich von 
vornherein rücksichtslos vor. Er hat eigen- 
thümliehe Vorstellungen von dem Wesen der 
Krankheitsvorgänge in inneren Organen, denn 
er kennt eben nur wenige Möglichkeiten resp 
Formen der Störung, weiss aber durch die Er¬ 
fahrung oder Tradition, dass energische Ein¬ 
griffe bei subacuten und chronischen Leiden 
vieler Art (durch Umstimmung oder Ableitung, 
physisch oder psychisch) wirksam sind. Mit 
anderen Worten: Ihm kommt in einer überaus 
grossen Zahl von Fällen, wo die psychischen 
Unlustgefühle, die Hyperästhesie, die Willens¬ 
schwäche, eine grosse Rolle spielen, seine Ein¬ 
seitigkeit zu Statten, namentlich dort, wo es 
sich wesentlich um Störungen handelt, die 
allein oder relativ am besten einer energischen 
mechanischen Beeinflussung zugänglich sind. 
So curirt er nach seiner Schablone und als Fa¬ 
natiker energisch darauf los. selbst auf die Ge¬ 
fahr hin zu schaden: denn leider ist sein Ri¬ 
siko nicht gross, weil ja der beim ungeprüften 
Heilkundigen Hülfe suchende Kranke stets von 
der Verschlimmerung seines Zustandes unter 
ärztlicher Leitung überzeugt ist und wohl die 
Besserung, aber nicht die Verschlechterung 
seines Leidens dem Wunderdoctor zuzu¬ 
schreiben geneigt ist. 

Es sei gestattet, hier noch eine Be¬ 
merkung über die antithermisch resp. anti- 
neuralgisch wirkenden Mittel (Antipyrinetc.) 
anzuschliessen: 

Meiner Ansicht nach sind diese Mittel 
in erster Linie Muskelmittel und erst 
secundär Nervenmittel, da sie hauptsäch¬ 
lich die mit starker Muskelaffection ver¬ 
bundenen Neuralgien und vor allem die 
myalgische Form der Migräne beeinflussen. 
Auch der antithermische Effect ist wohl 
besonders von ihrem Einflüsse auf die 
Muskulatur abzuleiten. Sie beeinflussen 
nämlich die abnorm hohe Erregbarkeit in 
den Muskeln resp. setzen sie herab und 
liefern Producte, die theils den Excess der 
Wärmeproduction in der Muskulatur hem¬ 
men, theils den Antagonismus zwischen 

1 ) O. Rosenbach, Nervöse Zustände und ihre 
psychische Behandlung. Berlin 1897. 


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147 


April Die Therapie der 

Haut und Muskeln im Sinne der Norm 
regeln und somit der Wärmestauung im 
Muskel in Folge ungenügenden Wärme¬ 
verbrauchs in der Haut entgegenwirken. 
Heisse Haut ist bekanntlich nicht iden¬ 
tisch mit gesteigerter Wärmeproduction im 
Hautorgan selbst, sondern kann nur der 
Ausdruck besonderer Wärmeabgabe durch 
die Haut, das heisst gesteigerter Durch¬ 
lässigkeit für strahlende Wärme, sein. Die 
Function der Haut bei fieberhafter Er¬ 
schlaffung der Hautgefässe ist eine ganz 
andere, als die tonisch gesteigerte Thätig- 
keit des activ hyperämischen Hautorgans, 
die sich namentlich durch Schweissabgabe 
bei starker Muskelaction, z. B. in der Krise 
kundgiebt. Hier besteht eben active Hy¬ 
perämie, dort passive (durch hyperther¬ 
mische Gefässerschlaffung). Hier ist die 
Haut compensatorisch thätig zur Unter¬ 
stützung der Muskelleistung resp. zur Be¬ 
seitigung der abnormen chemischen Arbeit; 
dort arbeitet sie nur palliativ am Ausgleich 
der abnormen Wärmeverhältnisse im Mus¬ 
kel, d. h. sie führt Wärme ab. wie man 
Oedeme durch Punction vermindert. 

Die eigentlichen geweblichen Grund¬ 
lagen der Myalgie oder richtiger das 
Wesen der inneren Betriebsstörungen, die 
zu einer Erschwerung der Functionen 
resp. Schmerzhaftigkeit in den Muskeln, 
Sehnen oder Fascien führen, sind uns zwar 
leider ebensowenig bekannt wie die Vor¬ 
gänge im Nerven, durch die Hyperästhe- 
sieen, Hyperalgieen und Neuralgieen her¬ 
vorgerufen werden; aber wir kennen durch 
Erlahrung die hauptsächlichen auslösenden 
Momente und vermögen durch sorgfältige 
kritische Anamnese in den meisten Fällen 
die Ursache festzustellen. Wir wissen, 
dass je nach der individuellen Disposition 
1. zu starke Abkühlung, namentlich bei 
schwitzender Haut, 1 ) 2, übermässige An- 

l ) Fs scheint mir nicht unangebra« lit heute, da 
man oft die ätiologische Bedeutung der Erkältung 
leugnet und beständige Zufuhr frischer Luft auch in 
der Nacht für ein besonderes Heilmittel hält, darauf 
hinzuweisen, dass empfindliche und stark transpi- 
rirende Personen häufig zum erstenmale über Muskcl- 
beschwcrden gerade am frühen Morgen nach dem 
Aulstehen klagen. 

Abgesehen von den Fällen, die von einer durch 
festen Schlaf bedingten mehrstündigen Zwangslage 
herröhren, ist die Abkühlung unserer Meinung nach 
die häufigste Ursache der Myopathieen, die am Mor¬ 
gen auftreten. Namentlich Personen, die angeben, 
da^s sie in den ersten Stunden im Bett nicht 
warm werden können, pflegen am nächsten 
Morgen Steifheit und Schmerzen in den 
Beinen und dem Rücken oder auch an den 
Armen zu empfinden, deren Eintritt, wie ich mich 
oft überzeugt habe, durch die Erwärmung des Schlaf¬ 
zimmers oder des Bettes verhindert werden kann. 


Gegenwart 1903. 

strengung, namentlich plötzliche und lang¬ 
dauernde Spannung, in seltenen Fällen 
Trauma, solche Zustände hervorruft, 
dass sie aber 3. auch durch Circulations- 
störungen aller Art hervorgerufen wer¬ 
den und 4. unter dem Einflüsse ge¬ 
wisser Krankheiten, namentlich der Stoff¬ 
wechselkrankheiten resp. constitutioneller 
Zustände (Diabetes, Nephritis, Menstruation, 
Climacterium, nervöse Disposition) auf¬ 
treten. 

Im Anschluss an diese Ausführungen 
wollen wir kurz auf einige besonders wich¬ 
tige Formen von Myalgieen resp. functio- 
nellenMyopathieen aufmerksam machen, die 
theils wegen der herrschenden Neigung 
„Organ“diagnosen (d. h. Diagnosen auf Er¬ 
krankung innerer Organe) zu stellen, theils 
aus Unkenntniss der von Myopathieen ver¬ 
ursachten Beschwerden, leider nur zu häufig 
mit ganz heterogenen Affectionen ver¬ 
wechselt werden, wodurch nicht nur die 
Kranken beunruhigt, sondern die sonst 
unschwer zu erzielende Heilung erschwert, 
jedenfalls aufgehalten wird. Da wir dem 
auf Myopathieen zurückzuführenden Symp- 
tomencomplexe bereits mehrfach ausführ¬ 
liche Erörterungen gewidmet haben, so 
verweisen wir betreffs der Einzelheiten auf 
die unten citirten Arbeiten. 

Myalgieen kommen z. B. auffallend 
häufig bei gewissen Störungen im Ver¬ 
dauungsapparate vor, die sich nicht 
genau präcisiren lassen, aber gewöhnlich 
mit Anomalien des Stuhlganges und oft 
mit deutlichen Veränderungen im Venen¬ 
system in charakteristischer Weise ver¬ 
gesellschaftet sind. Es handelt sich hier 
mit einem Worte um das Gebiet der „hä- 
morrhoidalenErkrankungen < ‘ 1 ), und so 
I sehr man auch in früherer Zeit die Be¬ 
deutung der Hämorrhoiden übertrieben hat, 
so wenig lässt sich leugnen, dass sie, ab¬ 
gesehen von den functioneilen Störungen 
im Gebiete der Unterleibsorgane causal, 
sekundär oder accidentell oft mit starken 
Muskelbeschwerden, namentlich in den 
grossen Rücken-, Becken- und Beinmuskeln 
verbunden sind, und dass nach einer Blu¬ 
tung oder bei Regulirung des Stuhlganges 
die Beschwerden geringer werden. Die 
Erfahrung lehrt ja auch, dass zahlreiche 
Fälle von sogenannter Ischias, nament¬ 
lich linksseitiger, mit Störungen im Darme 
Zusammenhängen resp. durch ihre oder, 
um nichts zu präjudiciren, mit ihrer Be¬ 
seitigung behoben werden. Ja, wir möchten 

') O. Rosenbach, Beiträge zur Path. u. Ther. 
j der Verdauungsorganc S. 24 u 30 ft',, sowie Arch. 

! f. Verdamin-skrankh. Bd. I. 


Difitized 


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19* 

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148 


April 


Die Therapie der 


auf Grund unserer Beobachtungen glau¬ 
ben, dass Anomalien im Gebiete des Coe- 
cum resp. Colon ascendens, vorzugsweise 
mit rechtsseitiger und solche im Gebiete 
des Colon descendens mit linksseitiger 
Ischias, richtiger mit Muskelschmerzen oder 
Störungen in den Extremitäten oder im 
Rücken der betreffenden Seite auffallend 
häufig verbunden sind. 

Auch bei der Migräne 1 ), deren Aetio- 
logie und Pathologie noch in ziemliches 
Dunkel gehüllt ist, und bei der sicher 
mehrere Formen mit verschiedener Aetiolo- 
gie zu unterscheiden sind, kommen nicht 
selten Fälle vor, wo die Erscheinungen 
wesentlich von der AfFection bestimmter 
Muskelgebiete des Kopfes und des Halses 
abhängen und dadurch gewisse, für die 
Diagnose und Behandlung des Falls we¬ 
sentliche Differenzen gegenüber dem Bilde 
der auf nervöser Basis beruhenden Hemi- 
cranie zeigen. Während diese Erkrankungs¬ 
formen, namentlich in den Fällen, in denen 
eine lokale Nasen- oder Zahnaffection die 
Ursache der Erscheinungen ist, deutliche 
Schmerzpunkte, namentlich einen Tempo¬ 
ral-, einen Supraorbital- und einen Nasal¬ 
punkt (an der Verbindungsstelle des 
knöchernen und knorpligen Teiles der 
Nase etwas lateralwärts vom Nasenrücken), 
aufweisen und stets mit Symptomen von 
Seiten des Auges (leichter Conjunctivalin- 
jection, Thränenträufeln, Lichtscheu, nicht 
selten Pupillenerweiterung) vergesellschaftet 
sind, finden wir bei der myogenen Migräne 
ganz andere charakteristische Symptome. 
Statt der Schmerzpunkte zeigen sich 
schmerzhafte Regionen; Hals und Nacken 
sind meist mitbetheiligt, die Symptome an 
den Augen treten in den Hintergrund; 
dagegen steht im Vordergründe das eigen¬ 
tümliche schmerzhafte rhythmische Klopfen 
und Pulsiren, dessen Pathogenese sich 
leicht erklärt, wenn man berücksichtigt, 
dass theils die mechanische Erschütterung 
durch die, sich bei jeder Herzsystole er¬ 
weiternden, grossen Gefässstämme, na¬ 
mentlich die Carotis, theils die systolische 
Füllung der in die Muskeln selbst ein¬ 
tretenden Arterienäste eine rhythmische 
Zerrung und Pressung der enorm schmerz¬ 
empfindlichen Muskelmasse bewirkt, die bei 
beschleunigter und verstärkter Herztätig¬ 
keit, wie z. B. beim Erheben aus der hori¬ 
zontalen Lage, bei stärkeren Bewegungen 

l ) O. Rosenbach, Ueber die auf myopathischer 
Basis beruhende Form der Migräne und über myo- 
pathische Cardialgie, Deutsche med. Wochenschr, 
1886, No. 12 u. 13. — Nervöse Zustände und ihre 
psychische Behandlung, Berlin 1897, S. 5 ff. 

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Gegenwart 1903. 


etc., einen hohen Grad von Schmerz¬ 
empfindung hervorzurufen wohl geeignet 
ist, namentlich dann, wenn der untere Theil 
des Sternocleidomastoideus und die Sca- 
leni afficirt sind. Auf gleiche Weise er¬ 
klärt sich auch der am Schädel selbst loca- 
lisirte Kopfschmerz, für den das Substrat 
der Musculus frontalis ist. Da gewöhnlich 
auch die die Kopfschwarte bewegenden 
Muskeln stark betheiligt sind, so ist jede 
Bewegung des Kopfes, jede Verschiebung 
der Galea, das Stirnrunzeln, das Schliessen 
und Oeffnen der Augen schmerzhaft. Die 
mit der myopathischen Migräne gewöhnlich 
verbundene Hauthyperästhesie unterschei¬ 
det sich von der auch andere Formen der 
Migräne begleitenden meist dadurch, dass 
sie nicht auf bestimmte Nervenäste localisirt 
ist, sondern nur das die afficirten Muskeln 
deckende Integument betrifft, dass die 
Schmerzen nicht neuralgischer Natur, d. h. 
paroxysmenweise auftretend, sondern dau¬ 
ernd sind, dass ihre Intensität weit hinter 
die der Schmerzen der Muskelsubstanz 
selbst zurücktritt, während ja bei der re- 
flectirten Migräne die Muskeln wohl immer 
auf Druck unempfindlich sind. Während 
Uebelkeit geringeren Grades in einer be¬ 
trächtlichen Zahl unserer Fälle zu konsta- 
tiren war, haben wir Erbrechen, welches 
bei anderen Formen der Migräne so häufig 
ist, nur einigeMale beobachtet. Bezüglich der 
Pathogenese dieser Form der Hemicranie, 
waltet wohl keine Schwierigkeit ob, da ja 
bekanntlich nach Erkältungen und gewissen 
körperlichen Anstrengungen bei dazu dispo- 
nirten Individuen eigenthümliche Muskel¬ 
schmerzen auftreten, die, auf rein functio- 
neller Basis beruhend, als rheumatische 
bezeichnet oder (wenn das mechanische 
Moment in den Vordergrund tritt) unter 
dem Sammelnamen der Muskeldehnung 
und Muskelzerrung rubricirt zu werden 
pflegen. In unseren Fällen spielte die Er¬ 
kältung bei schwitzendem Körper übrigens 
seltener eine Rolle, als die directe mecha¬ 
nische Schädigung des Muskels. 

Gewöhnlich tritt diese Form der Migräne 
früh morgens beim Erwachen nach einem 
festen, aber unruhigen Schlafe auf, nach¬ 
dem am Abend vorher irgend welche 
grösseren körperlichen oder geistigen An¬ 
strengungen, die mit einer Verkürzung 
der Nachtruhe verbunden zu sein pflegen, 
stattgefunden haben. Gerade unter solchen 
Verhältnissen pflegt der Schlaf recht fest 
zu sein, und die Schlafenden behalten 
mehrere Stunden eine manchmal recht ge¬ 
zwungene und widernatürliche Körper¬ 
haltung bei. Diese Zwangslage scheint 


Original fro-m 

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April 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


als mechanisches Moment hier, wie über¬ 
haupt bei einem grossen Theile der Myal- 
gieen, die man des Morgens beim Erwachen 
empfindet, eine grosse Rolle zu spielen. 

Was die Erblichkeit anbetrifft, so wird, 
wie dieses wohl selbstverständlich ist, nicht 
die Disposition zur Migräne als solcher ver¬ 
erbt, sondern eine gewisse Disposition der 
gesammten Körpermuskulatur, nach leichten 
Schädlichkeiten in einer mehr oder we¬ 
niger schmerzhaften Weise afficirt zu wer¬ 
den. Wir haben seit einer Reihe von 
Jahren eine grosse Anzahl von Beobach¬ 
tungen gemacht, die den Satz zu stützen 
geeignet waren, dass die Disposition zu 
Muskelerkrankungen functioneller (und 
vielleicht auch organischer) Natur auf 
einer familiären Heredität beruht, 
und wir glauben ebenso zu dem Aus¬ 
spruche berechtigt zu sein, dass diese 
Schwäche der Muskulatur nicht bloss die 
Kopf und Halsmuskeln betrifft, also leicht 
die Symptome der Hemicranie hervorruft, 
sondern dass sie sich auf die Gesammt- 
muskulatur bezieht. Eine genauere Beob¬ 
achtung der in unsere Kategorie gehören¬ 
den Migränekranken wird häufig zeigen, 
dass auch andere, fälschlich nervös ge¬ 
nannte, Beschwerden, wie Cardialgieen, 
Kreuzschmerzen, rheumatoide Schmerzen 
in den Beinen und Armen vorhanden sind, 
Beschwerden, die sich bei genauer Unter¬ 
suchung als Folge von reinen Myopathieen 
entpuppen und einer verhältnissmässig 
leichten Heilung fähig sind. 

Der Umstand, dass Frauen gerade zur 
Zeit der Menstruation so häufig ihre Mi¬ 
gräne haben, lässt sich in unseren Fällen 
aus der angenommenen Pathogenese eben¬ 
falls befriedigend erklären, wenn wir be¬ 
rücksichtigen, wie stark der Gesammtorga- 
nismus mancher besonders disponirten 
Frauen während der Menstruationsperiode 
in Mitleidenschaft gezogen wird, und wie 
sämmtliche Muskelgebiete des Körpers, 
namentlich die Rücken- und Oberschenkel¬ 
muskeln, während dieser Zeit afficirt er¬ 
scheinen. Die Migräne steht nur im Vor¬ 
dergründe der Erscheinungen, weil der 
Kopfschmerz eben eminent heftig ist, und 
weil die Ruhelage, zu der die Patientin 
verurtheilt ist, die anderen Störungen we¬ 
niger oder gar nicht hervortreten lässt. 

Dass diese Prävalenz der Kopfschmerzen 
das Symptomenbild sehr verdunkelt, lässt 
sich auch bei Männern demonstriren; 
denn gewöhnlich werden dadurch, dass 
man die Patienten zu stärkeren Körper¬ 
bewegungen veranlasst, auch die bis dahin 
latenten Myalgien in den anderen Provinzen 


des Körpers manifest. Dass die körper¬ 
liche Ruhe die Migräne symptomatisch 
günstig beeinflusst, ist leicht zu erklären, 
wenn wir erwägen, wie schmerzhaft jede 
Bewegung der erkrankten Theile ist. Wäh¬ 
rend die meisten anderen Formen von 
Kopfschmerzen durch die Bewegung in 
frischer Luft, durch leichte Beschäftigung 
etc. eher gemildert werden, muss natur- 
gemäss die myalgische Migräne durch alle 
Versuche, mässige Bewegungen mit dem 
affici r ten Theile auszuführen, verstärkt wer¬ 
den, ein Verhalten, das zwar augenblick¬ 
lich das Leiden günstiger beeinflusst, die 
Heilung aber entschieden verzögert. Line 
wesentliche Stütze für die Annahme einer 
Myalgie als Basis der Hemicranie liefert 
denn auch die Art der Therapie, die in 
allen zu der genannten Kategorie gehören¬ 
den Fällen sehr zufriedenstellende Resultate 
giebt, da sie, in geeigneter Weise ange- 
wendet, meist sehr prompt die Beschwer¬ 
den der Kranken vermindert und wesent¬ 
lich verringert, (s. u.) 

Dass auch bei der Neurasthenie in 
vielen Fällen die „reizbare Muskel¬ 
schwäche“ das Hauptsymptom ist, dass 
also die Neurose nicht selten als Myose 
(nicht zu verwechseln mitMiosis = Pupillen¬ 
verengerung) betrachtet werden müsste, ist 
mir nach vielen Erfahrungen gar nicht 
zweifelhaft. Der Muskel ist ja eine Haupt¬ 
quelle der Energie und der Energiespannun¬ 
gen im Körper, und für die bewusste 
Willensthätigkeit kommt die Muskelenergie 
fast allein in Betracht. Jedenfalls steht die 
energetische Muskel- und Nervenfunction 
resp. die der Haut und der Muskeln in 
engster Beziehung, und es wäre deshalb 
lichtiger, statt der beschränkenden Be¬ 
zeichnung Neurasthenie, die der Myoneur- 
asthenie zu bevorzugen. Die eingehende 
Betrachtung lehrt, dass der Muskel wegen 
seiner Beziehungen zur Haut ihre Erreg¬ 
barkeit und dadurch die Stärke der centri- 
petalen besonders sensiblen Ströme, durch 
die der Tonus des Nervensystems regulirt 
wird, in hohem Maasse beeinflusst. 1 ) So 
ist es erklärlich, dass bei Neurasthenischen, 
die ja häufig besonders kräftige Muskulatur 
besitzen, oft ein Circulus vitiosus besteht, 
indem die fehlerhafte Function der Muskeln 
zur Schwächung des Nerventonus beiträgt. 

Sehr häufig wird feiner Pleuritis (ja 
sogar ein tuberkulöser Lungenkatarrh) 

O. Rosenbach, Der Nervenkrcislnuf und die 
tonische (oxygenc) Energie, Berl. Klinik 1896, H. 101. 
— Zur Lehre von der spinalen (muskulotonischcn) 
Insufficienz (Tabes dorsalis), Deutsche mcd. Wochen¬ 
schrift, 1899, No 10-12. 


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150 


Die Therapie der 


durch schmerzhafte Affection der Thorax¬ 
muskulatur vorgetäuscht 1 ), zumal wenn die¬ 
selben mit gewissen akustischen Phäno¬ 
menen vergesellschaftet sind, die dann für 
pleurale (bzw. pulmonale) Geräusche ge¬ 
halten werden, während es sich in Wirk¬ 
lichkeit lediglich um Geräusche handelt, 
welche bei der respiratorischen Contraction 
gewisser Muskeln entstehen. Im allgemeinen 
schützt ja vor einer Verwechslung mit 
pleuritischem Reiben in den Fällen, in denen 
das Knarren als zufälliger Befund consta- 
tirt wird, die diagnostisch besonders wich¬ 
tige Eigenschaft der Muskelgeräusche, dass 
sie am Thorax fast stets symmetrisch auf- 
treten, und dass sie während der ganzen 
Beobachtungsdauer eine auffallende Con- 
stanz zeigen, während das pleuritische 
Frömissement bekanntlich seinen Charakter 
häufig ändert. Wichtig ist ferner, dass die 
Untersuchten in den gewöhnlichen Fällen 
eben gar keine Erscheinungen von Pleu¬ 
ritis. wie Schmerz, Veränderung des Ath- 
mungstypus, Dämpfung, Fieber zeigen, dass, 
mit einem Worte, die Stärke des Reibe¬ 
geräusches in frappantem Gegensätze zu 
der Abwesenheit aller Symptome und dem 
Wohlbefinden der Betreffenden steht. 
Schwierig kann aber die Unterscheidung 
werden, wenn in Folge von besonderen 
Complicationen respective von krankhaften 
Vorgängen Symptome, wie sie auch bei 
Pleuritis Vorkommen, vorhanden sind. Sie 
können in Verbindung mit dem deutlichen 
Reiben die Diagnose einer doppelseitigen 
Erkrankung der Pleura anscheinend ganz 
sicher machen. So steht es bei gewissen 
Formen von Myalgie der Brustmuskeln, 
die als Folge von ungewohnten resp. über¬ 
mässigen Anstrengungen der oberen Ex¬ 
tremitäten oder nach anderen schädlichen 
Einflüssen (Erkältung) aufzutreten pflegen; 
denn da hier bekanntlich die Athmung oft 
ausserordentlich erschwert ist — die von 
der Myalgie befallenen Individuen wagen 
in Folge der durch die Athembewegung 
hervorgerufenen Schmerzen kaum zu respi- 
riren — so deutet alles auf eine Erkrankung 
der Pleura, zumal wenn in Folge der rheu¬ 
matischen Affection noch Fieber besteht. 
Namentlich schwierig wird die Diagnose 
dadurch, dass bei starker einseitiger rheu¬ 
matischer Affection der Muskeln bekannt¬ 
lich auch noch andere Symptome bestehen, 


l ) O. Rosenbach, Ueber einige seltener auf¬ 
tretende palpatorische und auskultatorische Phäno¬ 
mene, Berl. klin. Wochenschr. 1876, No. 22. — 
Ueber pseudopulmonale und pseudopleurale Ge¬ 
räusche (Muskelknarren und Muskelknacken), Wien, 
klin. Rundsch., 1899, No. 26. 


Gegenwart 1903. April 


die anscheinend nur auf eine Erkrankung 
der Pleura bezogen werden können. Die 
erkrankte Seite bleibt nämlich in ihren Ex- 
cursionen bei der Respiration deutlich 
hinter der anderen zurück; das Atherm 
geräusch erscheint wegen mangelnder Aus¬ 
dehnung der Lunge sehr abgeschwächt, 
und selbst der Percussionsschali ist auf der 
leidenden Seite oft deutlich gedämpft, 
wenn der erkrankte Muskel krampfhaft 
contrahirt ist und so schalldämpfend wirkt. 
Constatirt man nun, wie erwähnt, in solchen 
Fällen noch auf der anderen Seite das 
oben beschriebene Pseudoreibegeräusch, 
so scheint eben die Diagnose der Pleuritis 
duplex (exsudativa und sicca) gesichert. 

Hier kann man die Diagnose oft nur 
ex juvantibus stellen. Wenn man nämlich 
starke Wärme einige Stunden hindurch 
applicirt, so bessern sich gewöhnlich die 
Erscheinungen des sogenannten Muskel¬ 
rheumatismus wesentlich und die der 
sogenannten Muskeldehnung (nach Ueber- 
anstrengung) immer, und damit ändern 
sich die Symptome wie mit einem 
Schlage. Das Athmungsgeräusch tritt wie¬ 
der auf, da die Athmungsexcursionen pro¬ 
portional der Abnahme der Schmerzen zu¬ 
nehmen, die Dämpfung verschwindet, und 
das charakteristische Pseudoreibegeräusch 
stellt sich (auf der des Exsudats verdäch¬ 
tigen Seite) ein und besteht, ohne dass 
Schmerzen geäussert werden, fort. 

Oft tritt bei einseitiger Myalgie dieser 
Scenenwechsel noch schneller und präg¬ 
nanter ein, wenn man durch einen mög¬ 
lichst starken Inductionsstrom bei fest auf 
den erkrankten Theil aufgedrückten Elek¬ 
troden, die Thoraxmuskeln zu energischen 
Contractionen bringt. Dann zeigt sich nach 
wenigen Minuten eine wesentliche Er¬ 
leichterung, ja häufig verschwinden alle 
geschilderten Erscheinungen, während bei 
der Pleuritis selbstverständlich keine Aen- 
derung der Syptome, eher eine verstäikte 
Schmerzhaftigkeit erzielt wird. Man scheue 
sich nicht, die Procedur in energischer 
Weise vorzunehmen, nachdem man den 
Kranken auf die mässige Schmerzhaftigkeit 
derselben aufmerksam gemacht hat. So¬ 
bald er nach der ersten Contraction den 
sichtbaren Erfolg bemerkt, wird er sich 
auch mit der, wie gesagt, nicht ganz an¬ 
genehmen Maassnahme schnell befreunden. 
Der Eftect ist so zufriedenstellend und vor 
allen Dingen so schnell, dass mit ihr die 
anderen in solchen Fällen in Anwendung 
gezogenen Methoden, Blutentziehung, De- 
rivantien etc., in ihrer Wirkung gar nicht 
verglichen werden können, abgesehen da- 


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April 


51 



von, dass diese einfachste Form der 
Massage nicht nur den Vortheil hat, ein 
diagnotisches, sondern (wegen der schnellen 
Heilwirkung) zugleich auch ein vorzüg¬ 
liches therapeutisches Mittel zu sein. 

Ein recht interessantes Kapitel der 
Muskelei krankungen functioneller Natur 
bilden auch die Myalgieen der oberen Theile 
der Bauchmuskeln und der unteren 
Rückenmuskeln; interessant nicht nur | 
deshalb, weil sie eine typische Cardial- 
gie 1 ) oder andere Form der Magen¬ 
erkrankung vorzutäuschen geeignet sind, 
sondern vor allem weil sie einer bei Ma¬ 
genleiden sonst nicht üblichen Therapie 
mit meist sehr günstigem Erfolge unter¬ 
zogen werden können. Nur wenige Kapitel 
der Pathologie sind besser geeignet, den 
alten Satz: qui bene distinguit, bene mede- 
bitur, zu illustriren, und deshalb mag es 
gestattet sein, das Wesen dieser, der Dia¬ 
gnose manchmal nicht unbeträchtliche 
Schwierigkeiten bereitenden Fälle in Kürze 
zu schildern. 

Die Affection betrifft zum weitaus 
grössten Theile Frauen und Mädchen, vor¬ 
zugsweise diejenigen, welche sich, ihrer 
Thätigkeit folgend, körperlichen Anstren¬ 
gungen unterziehen müssen oder gewisse 
mit einer Zwangshaltung des Körpers ver¬ 
bundene Beschäftigung treiben, wie Zeich¬ 
nen, Klavierspielen etc. Bei den meisten 
von uns behandelten Patientinnen bestan¬ 
den nicht unbeträchtlicheGrade von Anämie 
resp. Chlorose und die mit dieser Affection 
gewöhnlich verbundenen nervösen Be- ' 
schwerden. Derartige Kranke zeigen einen 
regelmässigen Turnus ihrer Anfälle, die 
sich dann bei genauer Anamnese stets auf 
eine bestimmte grössere Körperanstrengung 
(Tanzen, langesMusicieren, Wäschewaschen 
oder Plätten, grosses Aufräumen etc.) zu- j 
rückführen lassen; bei einer Reihe von j 
Kranken ist der Anfall mit der Menstrua- I 
tionsperiode verbunden, oder er wird durch j 
leichtere Schädlichkeiten in dieser Zeit 
hervorgerufen. Ein Durchschnittsalter der 
Patienten ist nicht sicher zu fixiren, da 
alle Altersklassen ihr Contingent stellen; 
die jüngeren Individuen wiegen allerdings 
in unseren Beobachtungen vor, insofern 
wohl, als ihnen körperliche Anstrengungen 
in höherem Grade zugemuthet werden, 
und auch wohl deshalb, weil bei ihnen 
stärkere Grade von Chlorose häufiger Vor¬ 
kommen. Männer mit Cardialgieen auf 

') O. Rosenbach, Deutsche med. Wochenschr. 
1886, No. 12 fF. und Die Entstehung und hygienische ! 
Behandlung der Bleichsucht, Leipzig 1893. 


myalgischer Basis kommen, wie schon er- 
j wähnt, seltener zur Beobachtung; auch 
j sind hier die Erscheinungen meist leichter 
und stets mit Sicherheit auf vorangegan¬ 
gene starke körperliche Anstrengung (He¬ 
ben schwerer Gegenstände, Turnen etc.) 
zurückzuführen. Manchmal scheint länger 
dauernde gebückte Stellung, wobei das 
Abdomen zusammengepresst wird, wie dies 
z. B. beim Schreiben oder Zeichnen an zu 
niedrigem Tische der Fall ist, manchmal 
wohl allein der mechanische Druck des 
Arbeitstisches gegen das Epigastrium an 
dem Auftreten der Beschwerden die Haupt- 
! schuld zu tragen. 

Der wesentlichsteCharakterzugdesKrank- 
heitsbildes ist die hauptsächlich im Epiga- 
! strium localisirte Schmerzhaftigkeit, die 
| von gewissen Anomalien der Verdauung 
und Defäcation begleitet zu sein pflegt. 
| Die Schmerzen werden als drückend, 
pressend, bohrend oder stechend be¬ 
zeichnet; sie nehmen meist das ganze Epi¬ 
gastrium, vorwiegend seine linke Hälfte, 
seltener bloss einen umschriebenen Bezirk 
unterhalb des Processus xiphoideus ein. 
Die Schmerzhaftigkeit ist meist längs der 
beiden Rippenbögen, namentlich längs des 
| linken, sehr ausgesprochen und erstreckt 
sich häufig bis in den Rücken, wo nament¬ 
lich in der Gegend der Lendenwirbel, 
dicht neben der Wirbelsäule, eine nicht 
unbeträchtliche Hyperalgesie (spontan und 
bei Druck) vorhanden ist. Neben den er¬ 
wähnten Schmerzen besteht gewöhnlich die 
Klage über Aufgetriebensein der Magen¬ 
gegend und über leichte Uebelkeit; Appe¬ 
titlosigkeit ist in der Regel nicht vorhan¬ 
den. Bei der objectiven Untersuchung 
lässt sich eine abnorme Gasansammlung im 
Abdomen nicht nachweisen; die Bauch¬ 
muskeln sind meist straff gespannt und bei 
Druck an gewissen Stellen im Epigastrium 
ziemlich schmerzhaft; ebenso die Rücken¬ 
muskeln an der bezeichneten Stelle. Ein¬ 
zelne Hautbezirke zeigen deutliche Hyper¬ 
algesie. Lässt man die Kranken Bewe¬ 
gungen ausführen, so zeigt sich, dass das 
Bücken und Wiederaufrichten, sowie die 
Rotationsbewegungen des Oberkörpers, 
namentlich nach links, nur unter mehr 
oder minder heftigen Schmerzen ausge¬ 
führt werden können; die Kranken ziehen 
in ausgesprochenen Fällen im Allgemeinen 
eine Position mit stark erhöhtem Ober¬ 
körper vor. Die horizontale Lage von 
längerer Dauer ist oft mit grösseren Be¬ 
schwerden verknüpft; überhaupt pflegt den 
Patienten öfterer, vorsichtiger Lagevvechsel 
angenehm zu sein. 


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152 


Die Therapie der Gegenwart 1903. April 


Der Act der Verdauung ist für die 1 
Kranken zumeist mit beträchtlicher Steige¬ 
gerung der lästigen Symptome verbunden, 
ein Umstand, der seine einfache Erklärung 
darin findet, dass durch die Anfüllung des 
Magens mit Speisen oder Getränken und 
die damit verbundene Volumensvermeh¬ 
rung des Abdominalinhalts, vielleicht auch 
durch die stärkeren peristaltischen Bewe¬ 
gungen, der Druck und die Spannung der 
Bauchdecken vermehrt und die Schmerzen 
in den betheiligten Bauchmuskeln wesent¬ 
lich verstärkt werden. Aehnlich liegen die 
Verhältnisse beim Stuhlgange, da die Ac¬ 
tion der Bauchpresse stets schmerzhafte 
Empfindungen in den afficirten Partieen 
hervorruft. 

Ich will hier noch auf eine auffallender¬ 
weise sehr wenig berücksichtigte Quelle 
von Schmerzen am Abdomen hinweisen, 
nämlich die permanente oder periodische 
Schmerzhaftigkeit des Unter hau t- 
resp. Fettgewebes, die isolirt vorkommt, 
aber häufig mit Hyperästhesie der Bauch¬ 
muskeln verbunden ist. Diese Schmerz¬ 
haftigkeit kann zu sehr grober Täuschung 
über die Natur von Abdominalbeschwerden 
Veranlassung geben, da jede Veränderung 
des Volumens der Bauchorgane auch die 
continuirlichen Schmerzen ausserordent- I 
lieh steigert. Mir ist es wahrscheinlich, 
dass solche heftigen und manchmal cir- 
cumscripten Schmerzen zur Diagnose der 
Cardialgie, des Ulcus ventriculi, der Darm¬ 
kolik, Gallensteine, der perihepatitischen 
Reizung etc. — und bei grosser Hart¬ 
näckigkeit der Schmerzen auch zu Ope¬ 
rationen — Veranlassung gegeben haben. 
Und doch ist die Diagnose hier schon da¬ 
durch zu stellen, dass man eine emporge¬ 
hobene kleine Partie des Haupt- resp. 
Fettgewebes seitlich comprimirt; dann 
werden die heftigen Schmerzen in der 
emporgehobenen Partie localisirt. Bleibt 
der Schmerz auch bei Spannung der Bauch¬ 
decken (Pressen) in gleichem Maasse, wie 
bei Entspannung bestehen, und empfindet 
der Patient dabei sogar besonders starke 
Schmerzen — der Druck auf die Abdo¬ 
minalorgane wird ja durch die Spannung 
der Muskeln verringert —, so sollte man 
von der Diagnose eines intraabdominalen 
Leidens sofort Abstand nehmen. 

Ich möchte hier gleich hervorheben, dass 
meiner Beobachtung nach die in manchen 
Fällen unbestreitbar günstige Wirkung der 
Pflaster bei anscheinend Magenleidenden, die 
ja sogar gewissen Arten der Pflaster das be¬ 
sondere Renommö als „Magenpflaster“ ver¬ 
schafft hat, vorzugsweise bei solchen Pseudo- 


I cardialgieen zu erwarten ist. Ich selbst habe 
I nicht gerade selten mit Erfolg von Pflastern 
Gebrauch gemacht, wenn circumscripte Schmerz¬ 
haftigkeit der Bauchmuskeln, namentlich im 
Epigastrium, bestand, und glaube, dass ausser 
dem psychischen Factor die Beseitigung der 
objectiven Hyperästhesie der Haut — per¬ 
manente Bedeckung resp. Einwirkung auf die 
Wärmeregulation — an diesem Erfolge einen 
grossen Antheil hat. (s. u.). 

Besonders wichtig ist auch die That- 
sache, dass (pseudo-) stenocardische 
resp. asthmatische Anfälle auf rein 
myogener Basis 1 ) Vorkommen können. 
Die Diagnose dieser Zustände ist auf 
Grund der physikalischen Untersuchung, 
namentlich im ersten Anfalle, nicht immer 
leicht zu stellen; denn die Kranken sind 
schwer zu untersuchen, und bekanntlich 
ist ja auch oft bei organischen Ursachen 
der Befund sehr unergiebig. Auch der 
schnelle Erfolg der Narcotica ist für die 
Diagnose nicht verwerthbar, da ja auch 
bei Angina pectoris vera dadurch die ecla- 
tantesten Besserungen erzielt werden. Be¬ 
deutungsvoll ist, dass Pulsverlangsamung 
stets, Arhythmie — ausser bei sehr unregel¬ 
mässiger Athmung — immer fehlt, und 
dass auch Tachycardie relativ selten ist, 
ausser dort, wo grosse, psychisch bedingte, 

I Angst besteht. Besonders charakteristisch 
ist die flache beschleunigte Athmung und 
das Bestreben, die sich oft spontan ein¬ 
stellenden tiefen, seufzenden Inspirationen 
zu hemmen. 

Ich habe die Differentialdiagnose der 
myogenen Stenocardie im vorigen Jahr¬ 
gang dieser Zeitschrift so ausführlich 
beschrieben (Februarheft S. 60), dass ich 
mir ein erneutes Eingehen auf dieselbe 
jetzt ersparen darf. 

Schliesslich wollen wir nicht unter¬ 
lassen kurz darauf hinzuweisen, dass auch 
bei gewissen Constitutionskrankheiten 
Myalgieen häufig zur Beobachtung kom¬ 
men, und dass unseres Erachtens manche 
der als specifische Neuralgieen aufgefassten 
Beschwerden, z. B. beim Diabetes, bei 
chronischer Nephritis etc., ausgesprochene 
Myopathieen sind, da die genaue Unter¬ 
suchung der schmerzhaften Partieen nach¬ 
zuweisen im Stande ist, dass die haupt¬ 
sächlichsten Schmerzpunkte mehr dem Ver¬ 
laufe gewisser Muskeln als dem der Ner¬ 
venbahnen (resp. der grösseren Nerven- 
stämme) entsprechen. 

Welche inneren Vorgänge nun auch 

l ) O. Rosenbach, Die Krankheiten des Her¬ 
zens und ihre Behandlung. Wien und Leipzig 
1894/97, S. 360ff. — Ucber myogene Pseudostcno- 
cardie, Therapie der Gegenwart 1902, Februarheft. 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


153 


die Grundlage der Muskelveränderung sein 
mögen, aus dem Gesagten und der Erfah¬ 
rung geht hervor, dass es sich um ver¬ 
schiedenartige oder wenigstens verschieden 
bedingte innere Veränderungen handelt; 
denn ein Mal ist die Muskelsubstanz selbst, 
das andere Mal mehr das Gebiet der 
Fascien, Aponeurosen, Sehnen betheiligt, 
und die Haut oder Hautmuskelnerven 
haben, je nach den Umständen, mehr oder 
weniger grossen Antheil am Syptomen- 
bilde. Ebenso sind das eine Mal rein me¬ 
chanische Vorgänge, das andere Mal ther¬ 
mische oder chemische resp. circulato- 
rische Anomalien wirksam. Da also die 
Ursachen und die Form resp. Localisation 
der Erkrankung ganz verschieden sind, so 
ist a priori sicher, dass nicht immer die¬ 
selbe Form der Behandlung zum Ziele 
führen, oder bei der Erkrankung derselben 
Muskelgruppen derselbe Ort für die Appli¬ 
cation der Mittel, namentlich im Beginn 
der Störungen gewählt werden kann; 
denn alle Mittel oder Methoden sind doch 
nur gegen eine Form oder ein Stadium 
der Betriebsstörungen, nicht gegen die 
Functions (Betriebs-) Störung schlechtweg 
wirksam. 

Wenn auch gegen die rein mechanisch 
bedingte Form der Muskelstörung (grobe 
Verschiebung des inneren Gleichgewichts 
resp. Functionshemmung durch Dehnung 
oder Trauma) natürlich eine rein mecha¬ 
nische Behandlung und zwar des Muskel¬ 
gewebes allein (Massage im engsten Sinne) 
mitunter specifisch wirksam ist, so hilft in 
anderen Fällen Massiren gar nicht, und in 
manchen darf wieder nicht das Muskel¬ 
gewebe selbst, sondern nur das der 
Sehnen oder Fascien massirt werden. Wo 
es sich gleichsam um die Wiederherstel¬ 
lung des verlorenen physikalischen Gleich¬ 
gewichts in den feinsten Theilchen han¬ 
delt (die Reckung, Dehnung resp. Zerrung 
des Gewebes), da können zweckmässige, 
sogar forcirte Rotations-, Streck- oder 
Beugebewegungen (Ziehen, Spannen etc.) 
als directes stärkstes Mittel des Ausgleichs 
betrachtet werden; ebenso der starke elek¬ 
trische Strom (am besten Inductionsstrom 
resp. Volta’sche Alternativen). Denn es 
handelt sich dann oft nur darum die pa¬ 
thologische Innervation, die perverse 
Thätigkeit eines durch den Ausfall seines 
Partners tonisch innervirten Antagonisten, 
zwangsweise aufzuheben oder die Bewe¬ 
gung eines durch Unlustgefühle paretischen 
Muskels zu erzwingen, d. h. eine Bewegung 
in der Richtung des mittleren Gleich¬ 
gewichts herbeizuführen, die weder der — 

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oft schon der Anlage nach — schwache 
Willen noch die regulirende Reflrxthätig- 
! keit, eben wegen abnormer innerer Bedin¬ 
gungen, herbeiführen kann. Besonders 
wirksam werden solche energischen me¬ 
chanischen Manipulationen sein, wenn der 
afficirte Muskel überdehnt ist, also wegen 
relativer Insulficienz den Antagonisten 
nicht mehr überwinden kann, der, nament¬ 
lich wenn Schmerz die Bewegung hindert, 
sich selbst überlassen immer mehr in 
Contracturstellung geräth. Weniger wirk¬ 
sam werden sich therapeutische Eingriffe 
dieser Art erweisen, wenn wegen acuter 
entzündlicher Vorgänge oder starker Ver¬ 
änderungen der inneren Spannung im Ge¬ 
webe oder in den sehnigen Gebilden der 
kranke Muskel primär contrahirt wird, wo¬ 
bei oft der gesunde übermässig beansprucht 
wird; denn hier wirkt die Muskclthätigkeit 
des gesunden Theils nicht günstig auf die 
Function des kranken. 

Während in den Fällen erstgenannter 
i Art von rein functioneller Muskelschwäche 
| und übergrosser myogener Schmerzem- 
| pfindlichkeit oder bei perverser Innervation 
| der Muskeln die Fixation der Theile in 
1 starre Verbände unserer Erfahrung nach 
! durchaus schädlich ist — sie begünstigt 
die perverse Innervation und die Willens¬ 
schwäche —, ist sie bei wirklich entzünd¬ 
lichen Vorgängen resp. Gewebsverletzun¬ 
gen, die aber natürlich nicht allein aus der 
Stärke des Schmerzes erschlossen werden 
| dürfen, eines der wesentlichsten Mittel der 
! Heilung, da es sich hier nicht um An- 
! regung der Function, sondern zuerst um 
Beseitigung intensiver geweblicher Stö¬ 
rungen resp. positiver Hemmungen der 
Function handelt. Das Gleiche gilt natür¬ 
lich für intensive traumatische und ent¬ 
zündliche Veränderungen von Sehnen und 
Fascien. Bei den leichtesten Formen des 
| Traumas ist dagegen die Fixation entweder 
! nicht nöthig oder darf, wenn sie nicht 
schädlich wirken soll, nicht permanent 
sein, sondern muss mit passiver Bean¬ 
spruchung der Theile periodisch abwech¬ 
seln. Die active Bewegung aber muss 
wenigstens so lange unterlassen werden, 
als grosse Blutergüsse, stärkere Schwel¬ 
lung der Haut oder gar Auftreibung des 
Periosts nachweisbar ist, namentlich wenn 
es sich um die unteren Extremitäten han¬ 
delt, auf denen beim Stehen und Gehen 
die Last des Körpers ruht. Wenn irgend¬ 
wo, ist hier das Individualismen, so schwer 
es manchmal ist, nothwendig und erfolg¬ 
reich. Wann und ob passive oder active Be¬ 
wegungsversuche gemacht werden müssen, 

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UNIVERSUM 0F CALIFORNIA 



154 


A pril 


Die Therapie der Gegenwart 1903, 


erfordert eine skrupulöse Untersuchung 
und Kenntniss des psychischen Zustandes 
des Patienten; denn zu späte wie zu frühe 
Versuche können grosse Nachtheile für 
die Heilung haben. Der Erfolg der mecha¬ 
nischen Eingriffe ist also vor allem da zu 
erwarten, wo es sich nicht um schwere 
Betriebsstörungen im Muskelgewebe selbst, 
also um entzündliche oder andere anato¬ 
mische Läsionen, sondern nur um den 
functioneilen (molecularen) Vorgang der 
Ueberdehnung resp. Reckung handelt. 

Die mechanische Behandlung umfasst 
nicht nur die Kinesiotherapie in excessiver 
oder moderirter Form, sondern ihr eigent¬ 
liches Gebiet ist die methodische Beein¬ 
flussung des Gewebes selbst (Massage der 
verschiedensten Form). Für dieses stellt 
sie, je nach ihrer Anwendung, einen der 
stärksten und wirksamsten Reize dar, der 
die innere Circulation resp. Gewebsthätig- 
keit anregt. Durch mechanische Einwir¬ 
kungen wird also der Stoffwechsel norma- 
lisirt und zwar nicht bloss dadurch, dass 
Blutergüsse und andere abnorme Producte 
aus den Gewebsinterstitien und Lymph- 
gefässen mechanisch fortgeschafft werden, 
sondern dadurch, dass die unter dem Ein¬ 
flüsse desShocks oder Schmerzes weniger 
erregbaren, aber motorisch gesunden Zellen 
maximal gereizt und zur excessiven Thätig- 
keit angeregt werden. 1 ) Einen zweiten 
wichtigen Einfluss übt die Massage — den 
Begriff im allgemeinsten Sinne gefasst — 
auf die Haut aus; denn Haut- und Muskel¬ 
apparate stehen ja in ausserordentlich 
engen Beziehungen. Sowie im Fieber die 
abnorme Thätigkeit des Muskels mit Hy¬ 
perämie und gesteigerter Thätigkeit der 
Haut verbunden ist — die Wassersecre- 
tion ist ja nur ein Theil der Hautfunction 
—, so ist bei Myalgieen resp. Functions¬ 
störungen des Muskels besonders oft die 
Haut, die ja häufig vorher während der 
starken Muskelaction sehr stark bean¬ 
sprucht war, in einem auffallenden Zu¬ 
stande von Reactionsschwäche, die vor 
allem durch Kühle oder Ueberempfindlich- 
keit charakterisirt ist. Ich habe, nachdem 
ich durch Angaben von Patienten, die an 
Myalgieen resp. Myosen litten, einmal auf 
diesen Punkt aufmerksam gemacht worden 
war, eine grosse Zahl von solchen Per¬ 
sonen bezüglich der Temperaturverhält- 

! ) Der schärfste Ausdruck dieser Störung der moto¬ 
rischen Function des Protoplasmas ist das Oedema 
e functione impedita, das nicht mit Stauungs- oder gar 
entzündlichem Ocdem zu verwechseln ist. (Fs tritt 
bei langdauernder Zwanghaltung, bei vielstündigem 
Sitzen, bei vieltägiger Bettlagc, im festen Ver¬ 
bände etc. auf.) 


I nisse der Haut genau untersucht und ge- 
j funden, dass erstaunlich häufig eine locale 
Abnormität der Hauttemperatur mit Mus- 
kelaffection aller Art verbunden ist, und 
dass Personen, die einen solchen Wechsel 
der Hauttemperatur an bestimmten Stellen 
zeigen, beständig neurasthenische Sym¬ 
ptome aufweisen und stark zu Muskel- 
affectionen disponirt sind. Gewöhnlich 
sind die Hautpartieen an den heftig 
schmerzenden resp. functionsschwachen 
Muskeln auffallend kühl, während sie in 
gesunder Zeit wieder auffallend warm sind 
und stark transpiriren. Die Patienten em¬ 
pfinden nicht immer das Kältegefühl un¬ 
angenehm, aber sie haben gewöhnlich das 
Gefühl der Spannung und der Beengung, 
namentlich wenn die Thoraxpartieen be¬ 
theiligt sind, und vor allem eine starke 
Hyperästhesie, so dass gewöhnlich schon 
der Druck und das Reiben der Kleidungs¬ 
stücke wie auf wunder Haut empfunden 
wird. 

Die Art des Zusammenhanges zwischen 
Haut- und Muskelthätigkeit lässt sich nicht 
sicher nachweisen. Oft scheint die Ursache 
der Muskelaffection gleichzeitig den Anlass zur 
Veränderung der Hauttemperatur zu geben, 
wie dies bei Erkältung der Fall ist. In anderen 
Fällen, wo z. B. abnorme Belastung eines 
Muskelgebietes ohne Kälteeinwirkung oder Ab¬ 
kühlung Schuld ist, muss angenommen werden, 
dass erst durch den Process im Muskel die 
Haut secundär zu stark beansprucht wird; 
d. h. je mehr Blut der Muskel gebraucht, desto 
mehr wird der Haut entzogen. Möglich ist es 
aber auch, dass Haut und Muskel durch das 
Bindeglied einer primären (vasomotorischen 
resp. neurasthenischen) Veränderung Zusammen¬ 
hängen, ähnlich wie bei der vasomotorischen 
Neurose der Extremitäten. Daran, dass diese 
Temperaturabnormität der Haut bei Muskel¬ 
leiden so wenig berücksichtigt wird, ist wohl 
die Methode der Untersuchung Schuld. Denn 
der Untersucher darf die Temperatur nicht 
nach der eigenen Hand bestimmen, sondern 
muss die Wärme der Handfläche des Patienten 
als Index benützen, aus demselben Grunde, 
aus dem man die Prüfung der Temperatur der 
Haut Fieberkranker erst nach Untersuchung 
der Temperatur der Handfläche der Kranken 
vornehmen darf. Wenn man z. B. nur nach 
der eigenen Hand urtheilt, so wird man häufig 
keinen Grund für die Angabe eines Patienten 
über Hitze des Kopfes finden; wenn man aber die 
Haut der Handfläche oder Fusssohle des Pa¬ 
tienten mit der der Stirnhaut vergleicht, so 
wird man seine Angabe begründet finden ; denn 
die Hand ist dann gewöhnlich viel kälter. 

Der Zusammenhang von Haut- und 
i Muskelfunction, von Hautneuralgie, die nur 
bei oberflächlicher Untersuchung das allei- 
i nige Leiden zu sein scheint, und sehr aus- 


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Original fro-m 

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April 


155 


Die Therapie der 

gesprochener Myopathie, hat wohl den 
Salben und Pflastern zu ihrem Ruhme ver- 
holfen; denn die Erfahrung lehrt auch den 
skeptischen Beobachter, dass — unter Aus¬ 
schluss jeder Suggestion — eine Reihe 
von oberflächlichen und tieferen Myo- 
pathieen nicht bloss durch warme Um¬ 
schläge jeder Art, sondern schon durch 
energische Einreibungen und vor allem durch 
feste Umhüllung mit Salben und Pflastern, 
deren Natur unserer Erfahrung nach so gut 
wie gleichgiltig ist, wenn sie nur Fett ent¬ 
halten, eine viel schnellere Besserung er¬ 
fährt als sonst. Ob nun hier die Verhin¬ 
derung der Wärmeabfuhr aus den abnorm 
functionirenden Muskeln resp. der Haut, 
die gleichmässige Fixation des Muskels 
und der Haut, die Fettzufuhr oder die 
blosse Abhaltung der Impulse der Aussen- 
welt günstig wirkt, das lässt sich nicht 
entscheiden; wahrscheinlich wirken oft 
alle diese Factoren zusammen. Das Eine 
steht fest, dass der günstige Effect, der 
bei einer Gesichts- oder Armneuralgie 
durch Bedeckung der kranken Theile er¬ 
zielt wird, auch bei Myopathieen bestimm¬ 
ter Form, namentlich der nach Erkältung, 
Ueberanstrengung resp. leichter Dehnung 
entstehenden, zu beobachten ist. Vieles 
spricht dafür, dass die — durch Erfolg 
gesicherte — Unterstützung der Massage 
durch Salben oder Fett auch auf der wohl- 
thätigen Beeinflussung der Hautfunction 
beruht, sei es, dass die mechanischen Im¬ 
pulse nun gleichmässiger auf das ganze 
Gebiet wie in die Tiefe wirken, sei es, 
was uns wahrscheinlicher ist, dass durch 
Imprägnation der Haut mit Fett die anä¬ 
misch-empfindliche Haut geschmeidiger und ! 
functionsfähiger wird, so dass sich durch 
Zufuhr von resorbirbarem Fett zur Haut 
die Wärmefunction und damit die Empfind¬ 
lichkeit ändert, wodurch auch wieder der 
Muskel reflectorisch beeinflusst wird. 

Wenden wir uns nach diesen allge¬ 
meinen therapeutischen Bemerkungen zu 
der speciellen Behandlung der verschie¬ 
denen Formen der Myalgie, so ist klar, 
dass sie ganz verschieden sein muss, je 
nachdem es sich um constitutionelle oder 
locale Abnormitäten handelt, ob zufällige 
äussere Schädlichkeiten, Kälte, Trauma, 
Ueberanstrengung, Muskeldehnung, über¬ 
mässige Anspannung, die Ursache sind, 
und je nachdem die Fälle frisch sind oder 
bereits längere Dauer haben. 

Bei den acuten Formen der Mus¬ 
kelanstrengung ist Massage und Anwen¬ 
dung des Inductionsstromes event. elek¬ 
trische Massage von grösstem Vortheil. 

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Gegenwart 1903. 


Der Inductionsstrom ist aber nur wirksam, 
wenn wirklich das Muskelgewebe selbst 
: Sitz des Schmerzes ist. Ist die Affection 
, in der Fascie oder der Sehne localisirt, 
j so ist von der Faradisation fast nie ein 
Erfolg zu erwarten. Hier wirken — ob¬ 
wohl die Massage das Hauptmittel bleibt — 
in einer Reihe von Fällen Mittel wie An- 
| tipyrin, Phenacetin, Salipyrin in individuell 
zu dosirenden Gaben günstig, während 
sie, ebenso wie der Inductionsstrom, in 
chronischen Fällen — abgesehen von sehr 
kurzdauernder Verringerung des Schmer¬ 
zes — ihre Wirkung völlig versagen. Je 
älter der Fall ist, desto energischer muss 
unseres Erachtens massirt werden, aber 
die zu massirende Stelle muss mit grosser 
Sorgfalt aufgesucht werden, was gewöhn¬ 
lich, meiner Erfahrung nach, verabsäumt 
wird. Zuweilen geben nämlich die Pa¬ 
tienten den Sitz der Beschwerden nicht 
richtig an, weil bereits irradiirte Schmer¬ 
zen oder abnorme secundäre Muskelaffec- 
tionen stattfinden, und ferner haben die 
die Massage ohne ärztliche Anordnung aus¬ 
führenden Personen gewöhnlich mehr Ver¬ 
trauen zu starker und allgemeiner Mas¬ 
sage, als zur localen, die oft gar keine 
Kraftanstrengung erfordert. Die Prüfung 
muss also sehr genau vorgenommen wer¬ 
den und zwar in den verschiedensten, oft 
ganz ungewöhnlichen Lagen bis man auf 
die wirklich schmerzhafte, oft nur ganz 
circumscripte Stelle stösst. So ist z. B. 
bei linksseitiger Ischias die hauptsächlich 
schmerzhafte Stelle oft nur zu finden, 
wenn der auf der rechten Seite Liegende 
sich noch um ein bestimmtes Stück der 
Bauchlage zu dreht und dabei das Knie 
und Hüftgelenk möglichst stark beugt. 

Wenn man dann lateral vom Tuber ischii 
in die Tiefe geht, so wird man das schmerz¬ 
hafte Gebiet in der Sehne des Pyriformis, 
Obturatorius oder in dem Gebiete des 
Glutäus minimus entdecken und durch 
wenige Minuten mechanischer Einwirkung 
oft eine mehrstündige Besserung erzielen, 
ein Erfolg, der mit dem stärksten Induc¬ 
tionsstrom und auch mit inneren Mitteln 
nicht zu erreichen ist. Wenn die Haut 
sehr empfindlich ist, dürfen natürlich die 
Knetbewegungen nicht energisch geübt 
werden; dann kommen die bekannten Va¬ 
riationen in Anwendung; aber dann ist ein 
baldiger Erfolg für die tiefer gelegenen 
Partieen ausserordentlich selten. So glaube 
ich auch, dass das Gebiet der Vibrations¬ 
massage mehr bei allgemeiner Nervosität 
und bei oberflächlicher Muskel- und nament¬ 
lich bei starker Hautempfindlichkeit von 

20 * 

Original frorn 

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156 


April 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Bedeutung ist. Aber um es noch einmal 
zu wiederholen: Bei localisirter Erkrankung 
und namentlich wenn Fascien, Sehnen, 
Periost schmerzhaft sind, garantirt nur die 
Auffindung der schmerzhaften Stelle den 
Erfolg der Massage, und ich habe oft genug 
bei Patienten, die bereits längere Zeit und 
energisch mit Massage behandelt waren 
und jeden Versuch damit für vergeblich 
hielten, in relativ kurzer Zeit durch das 
angeblich versagende Mittel Heilung her¬ 
beigeführt, nachdem ich durch mühevolle, 
oft Viertelstunden dauernde Untersuchung 
die afficirten Partieen festgestellt hatte. 
Solche Stellen finden sich, um einige An¬ 
gaben zu machen (bei starker Flexion und 
Adduction), an der Innenfläche des Ober¬ 
schenkels, in der Muskelfurche zwischen 
Vastus int. und den Adductoren, etwas ober¬ 
halb des Condylus int., ferner längs der 
inneren Kante der Tibia, dann lateral unter¬ 
halb des Peronealpunktes, ebenso an den 
Metatarsalköpfen. Ferner werden Prädi- 
lectionsstellen von Myalgieen bei starker Er¬ 
schlaffung der Bauchmuskeln unterhalb des 
Rippenbogens resp. im Sitzen bei stark vor¬ 
gebeugtem Oberkörper gefunden. Des¬ 
gleichen unterhalb des Schlüsselbeines, 
oberhalb der Spina scapulae, unterhalb 
des Processus mastoideus, an den Nacken¬ 
muskeln und am Sternocleidomastoideus etc. 
Sehr schwer ist dieFeststellung der afficirten 
Partieen in der Fossa iliaca, da die meisten 
Patienten erst nach vielen Versuchen die 
Bauchmuskeln genügend erschlaffen kön¬ 
nen, und am schwersten ist die Auffindung 
der sehr oft vorkommenden myogenen 
Affectionen an den Muskeln der Wirbel¬ 
säule, namentlich an der Stelle, wo von 
Patienten gewöhnlich die Nierenschmerzen 
localisirt werden. Um dieses Gebiet an¬ 
nähernd festzustellen, muss man fast für 
jeden Patienten eine specielle für die 
Untersuchung besonders günstige Lage 
aufsuchen; bei manchen findet man sie nur 
im Stehen, wenn bei fest aufgestützten 
Armen der Oberkörper etwas nach vorn 
geneigt, oder beim Sitzen, wenn er bei 
fest fixirten Becken nach hinten geneigt 
wird. Wo die Stellen für die Massage 
nicht zugänglich sind, muss man mit sehr 
starkem Inductionsstrome — unter Anwen¬ 
dung mässig breiter, aber sehr feuchter 
Elektroden — Vorgehen. Diese Behand¬ 
lung ist, wenn es sich nicht um sehr ver¬ 
altete Fälle handelt, fast immer wirksam, 
da es sich hier stets um wirkliche Affec- 
tion des Muskelgewebes selbst handelt, 
und die Localisation namentlich dann nicht 
genau zu sein braucht, wenn bereits an- 

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dere Muskeln durch perverse Innervation 
in Mitleidenschaft gezogen sind. Hier ist 
es gut eine ganze Muskelgruppe zur er¬ 
giebigen Contraction zu bringen. Wenn 
man damit nicht zum Ziele kommt, muss 
man methodisch die Bewegung ausführen 
lassen, die dem Patienten am schmerz¬ 
haftesten ist. 

Dieselben Principien sind auch für die 
Behandlung der myogenen Form der 
Migräne maassgebend. Auch hier kommt 
die Massage und der Inductionsstrom in 
Betracht. Machen wir von der Massage 
Gebrauch, so müssen im Wesentlichen 
die schmerzhaften Stellen aufgesucht und 
j Manipulationen unterworfen werden, die 
I zwar im ersten Augenblicke sehr schmerz¬ 
haft sind, aber nach wenigen Minuten ein 
Schwinden der lästigen Symptome herbei¬ 
führen. Die Massage verdient überall da 
den Vorzug vor dem Inductionsstrom, wo 
es gilt, die sehnigen Ausbreitungen an den 
Insertionsgebieten des Muskels zu treffen, 
weil letztere der Hauptsitz der Schmerzen 
sind. Oft kann aber gerade an den 
schmerzhaften Stellen der Inductionsstrom 
nicht applicirt werden, weil seine Anwen¬ 
dung zu grosse Schmerzhaftigkeit bedingt, 
wie z. B. an der Stirn, am Schlüsselbein, 
am Proc. mastoid., also überall da, wo die 
Elektroden direct am Knochen applicirt 
werden müssen. In solchen Fällen ist an 
und für sich von der Anwendung der In- 
ductionselektricität nichts zu erwarten, weil 
ja ihre Wirkung hauptsächlich auf der 
starken Muskelcontraction und den durch 
sie gesetzten mechanischen Veränderungen 
im Muskelgewebe beruht. Das Haupt¬ 
gebiet für die erfolgreiche Application 
der Inductionsströme bilden die Fälle, in 
j denen weniger die Aponeurosen als die 
Muskelbäuche selbst schmerzhaft sind. Hier 
' sieht man nach einigen energischen Con- 
; tractionen, die durch die auf den Muskel¬ 
bauch direct applicirten Elektroden her¬ 
vorgerufen werden, sofort eine wesent¬ 
liche Erleichterung des Patienten eintreten. 
Es ist wohl selbstverständlich, dass diese 
energischen Muskelcontractionen auch bei 
leichteren Graden von Schmerzhaftigkeit 
in den sehnigen Gebilden des Muskels 
einen günstigen Erfolg haben können, in¬ 
dem ja die Muskelcontraction auch die In- 
i sertionsstellen (die Aponeurosen) in höhe- 
| rem oder geringerem Grade mechanisch 
beeinflusst und somit in gewissem Sinne 
denselben Effect ausübt, wie eine mässige 
Massage. Vom constanten Strom, der ja 
in einzelnen Fällen rein nervöser Migräne 
zufriedenstellende Erfolge aufzuweisen hat, 

Original fro-m 

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April 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


157 


haben wir bei der hier beschriebenen Form 
des Leidens einen nennenswerthen thera¬ 
peutischen Effect nur dann gesehen, wenn 
wir durch häufige Unterbrechungen oder 
Stromschwankungen, die aber an den 
hauptsächlich befallenen Partieen sehr un¬ 
angenehme Nebenwirkungen (Geschmacks¬ 
empfindungen, Blitzen vor den Augen etc.) 
hervorrufen, energische Muskelcontrac* 
tionen auslösten. 

Dass durch ruhige Bettlage, wie sie die an 
myopathischer Migräne leidenden Personen 
vorzugsweise einnehmen, die Schmerzen wesent¬ 
lich vermindert werden, wird Niemanden Wunder 
nehmen, der die Steigerung der Beschwerden 
auch bei den leisesten Bewegungen des Kopfes 
an sich zu erfahren Gelegenheit hatte; ebenso 
wird man es erklärlich finden, dass durch 
starkes Erbrechen nicht selten wesentliche Er¬ 
leichterung geschaffen wird, wenn man berück¬ 
sichtigt. dass die mit dem Acte des Erbrechens 
nothwendigerweise verknüpften starken Muskel- 
contractionen, zu denen die Kranken wider 
ihren Willen gezwungen werden, in der eben 
geschilderten Weise wohlthätig auf die Em¬ 
pfindlichkeit der afficirten Theile einwirken. 
Muss ja doch eben unser ganzes therapeuti¬ 
sches Bestreben nur darauf gerichtet sein, mit 
Einwilligung des Kranken oder gegen seinen 
Willen, die betheiligten Partien in lebhafter 
Weise mechanisch zu beeinflussen. 

Die häufigen und periodischen, auf 
Muskelaffection zurückzuführenden Be¬ 
schwerden der Neurasthenisehen,Chlo- 
rotischen, Anämischen, Diabetiker, 
müssen, wenn nicht der sichere Nachweis j 
einer acuten Veranlassung zu erbringen 
ist, mit allgemeinen Maassnahmen, die auf 
Besserung des Grundleidens hinwirken, 
behandelt werden. So sehr mässige Mas¬ 
sage hier zur Anregung des Stoffwech¬ 
sels, namentlich im Muskel, bisweilen wirk¬ 
sam ist, so sind in anderen Fällen diese 
Maassnahmen schädlich; nur Ruhe unter 
Mitwirkung von Brompräparaten, Antipyrin 
und ähnliche Mittel bringen hier Linde¬ 
rung. In anderen Fallen ist wieder me¬ 
thodische, sehr vorsichtig betriebene Gym¬ 
nastik von Vortheil zur Stärkung der Mus¬ 
keln. Oft ist auch schon Regulirung der 
Wärmeabfuhr durch warme Kleidung, vor¬ 
sichtige hydropathische Maassnahmen, Er¬ 
wärmung des Schlafzimmers, von grossem 
Nutzen (s. o.). 

Die Störungen, die auf hämorrhoi- 
dale Beschwerden im weitesten Sinne 
oder Obstipation zurückzuführen sind 
(s. o.) müssen, abgesehen von der sehr 
wichtigen Berücksichtigung constitutio¬ 
ne 11 er Verhältnisse, vor allen anderen 
Maassnahmen durch Regulirung des Stuhl- 

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ganges behandelt werden, wobei der Sitz 
der Obstipation von grosser Bedeutung 
ist. Unserer Erfahrung nach bringen näm¬ 
lich, wenn das Colon Sitz der schwachen 
Function ist, die drastischen Mittel, in 
manchen Fällen auch Bitterwasser, Erfolg, 
während bei einer Aflfection von der linken 
Flexur ab — hier sind die Angaben vieler 
richtig beobachtender Kranken ebenso 
maassgebend wie das Resultat der ärzt¬ 
lichen Untersuchung — lauwarme Ein¬ 
giessungen am meisten nützen. 

Dagegen darf bei den Myalgieen der 
Bauch- und Rückenmuskeln, die unter 
dem Bilde eines Magenleidens verlaufen, 
unter keinen Umständen eine Aenderung 
der Diät vorgenommen werden, da hier¬ 
durch die Patienten nur geschwächt und 
empfindlicher werden. Die Behandlung, 
welche einzig und allein Erfolg verspricht, 
besteht in vorsichtigem Massiren der sorg¬ 
fältig aufzusuchenden, schmerzhaften Par¬ 
tieen, der oberen Theile der Bauchmus¬ 
keln, der untersten Intercostal- und Rücken¬ 
muskeln. Da es aber, wie aus der Erwä¬ 
gung der anatomischen Verhältnisse her¬ 
vorgeht, nicht in allen Fällen möglich ist, 
die vorzugsweise befallenen Theile den 
mechanischen Manipulationen so zugäng¬ 
lich zu machen, wie es für eine energische 
locale Behandlung wünschenswerth ist, so 
ist für eine Reihe von Fällen der Induc- 
tionsstrom ein bei weitem wirksameres 
Mittel, da man durch ihn häufig, sei es 
von den motorischen Punkten aus, sei es 
durch directe Application auf die Muskeln 
selbst, Totalcontractionen derselben aus- 
lösen kann. Bei denjenigen Patienten — 
und es giebt einzelne —, bei denen die 
Application der erwähnten Agentien aus 
irgend welchen Gründen nicht möglich ist 
oder nicht zum Ziele führt, weil die be¬ 
fallenen Partieen der tiefen Rückenmuskeln 
und Bauchmuskeln unzugänglich sind, sind 
gymnastische Bewegungen massigen Gra¬ 
des — Beugen und Strecken des Ober¬ 
körpers, Rotation desselben etc. — am 
Platze. Bei sehr schwächlichen, anämi¬ 
schen Individuen ist körperliche Ruhe am 
ersten oder zweiten Tage sehr vorteil¬ 
haft; doch muss dann mit massigen Bewe¬ 
gungen oder leichter Massage der Anfang 
gemacht werden, da die schmerzhaften 
Theile später viel schwerer beeinflussbar 
sind. 

Sehr schwer ist auch die Behandlung 
der im Klimacterium auftretenden Myal¬ 
gieen, die — als Anomalien, die von Cir- 
culationsveränderungen abhängen — eine 
Analogie zu den menstruellen bieten, die 

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April 


158 Die Therapie der Gegenwart 1903. 


natürlich erst behoben werden können, 
wenn die Circulationsstörung ausgeglichen 
ist. Aber es gelingt doch, die nach der 
Menstruation zurückbleibenden und auch 
einen Theil der klimacterischen Beschwer¬ 
den durch Behandlung nach den erwähn¬ 
ten Principien wesentlich zu beeinflussen. 

Ueber die Behandlung der Myalgieen, 
die unter dem Bilde einer Pleuritis oder 
Stenocardie verlaufen, haben wir uns 
bereits oben geäussert und möchten zum 
Schlüsse nur noch bemerken, dass wir die 
bei spinalen und arthritischen sowie im 


Alter an den Muskeln auftretenden schweren 
Functionsstörungen hier nicht erörtert 
haben, da sie eben nicht mehr in das Ge¬ 
biet der rein functionellen Myopathien ge¬ 
hören. Sie sind ja entweder mit Verände¬ 
rungen an den Wirbelsäulegelenken ver¬ 
bunden oder von organischen Verände¬ 
rungen am Muskel selbst resp. den sehnigen 
Gebilden oder von arteriosklerotischen Pro¬ 
cessen abhängig und können nur durch 
absolute Ruhe und vor allem durch Nar- 
cotica in gewissen Grenzen beeinflusst 
werden. 


Ueber Erfahrungen bei Entfettungscuren mit Borsäure. 

Von Dr. K. Senz- Berlin. 


Veranlasst durch die ziemlich günstigen 
Resultate C. Gerhardt’s bei Entfettungs¬ 
curen mit Borpräparaten (Therapie der 
Gegenwart 1902) habe ich im Laufe des 
vergangenen Winters bei sechs Patienten 
den Versuch gemacht, durch Verabreichung 
von Boraten ohne Aenderung der Nahrungs¬ 
und Flüssigkeitsaufnahme und der Lebens¬ 
weise eine Abnahme des Körpergewichts 
zu erreichen. Da nach den exacten Unter¬ 
suchungen Rubner’s (Hygienische Rund¬ 
schau XII, 4) der Gewichtsverlust bei Ein¬ 
nahme von Boraten durch vermehrte Fett- 
und hauptsächlich Wasserabgabe eintritt, 
so lagen die Versuchschancen darum noch 
besonders günstig, weil alle sechs Patienten 
dem weiblichen Geschlecht angehörten, 
ihre Flüssigkeitsaufnahme durchschnittlich 
eine weit geringere war, als die bei Män¬ 
nern übliche — die Menge der Flüssigkeit 
schwankte zwischen 750 und 1100 ccm — 
und ein eventuell fettsparender Alkohol¬ 
genuss fast ganz fortfiel. Die Borate wur¬ 
den zuerst als Natrium biboracicum in 
Wasser gelöst, später, als Boraxdarreichung 
häufige Magenbeschwerden verursachte, als 
Acid. boricum in 1 / 2 — 1 % iger wässriger Lö¬ 
sung zu 2—3 mal täglich x /2 g gereicht. Die 
Gesammttagesmenge überstieg mit Aus¬ 
nahme eines Falles nie 2 g. 

Von den sechs Fällen, über die ich zu 
berichten habe, kann ich über drei kürzer 
hinweggehen: bei der einen Dame traten 
sowohl bei Borax- als Borsäureeinnahme 
so starke Störungen des Appetits mit Uebel- 
keit und Brechneigung auf, dass sie nach 
14tägigem Gebrauch die Fortsetzung der 
Cur verweigerte. Eine Gewichtsabnahme 
hatte nicht stattgefunden. Die Patientin, 
die sich sonst eines vorzüglichen Magens 
und gesunder Organe erfreute und nur oft 
durch neuralgische Beschwerden gestört 

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wurde, hatte während dieser 14 Tage keine 
weiteren krankhaften Störungen gezeigt. 
Im Fall 2, bei einer Dame im Anfang der 
fünfziger Jahre, mit einem Körpergewicht 
von 94 kg und gesunden Organen, trat 
nach vierwöchentlichem Gebrauch von 2 mal 
täglich 0,5 g Acid. boricum bei einer Nah¬ 
rungsaufnahme von etwa 1800—1900 Ka¬ 
lorien täglich und etwa 1000 ccm Flüssig¬ 
keit, worunter eine Flasche Bier, keine 
Gewichtsabnahme ein. Beschwerden hatten 
sich nicht eingestellt. Die Cur wurde wegen 
mangelnden Erfolges nicht fortgesetzt. Bei 
Fall 3, einer Dame von 59 Jahren, kleiner 
Figur und einem Körpergewicht von 77,2 kg, 
mit einem stark fettumwachsenen Herzen, 
die wegen zunehmender Unbehülflichkeit, 
Kurzathmigkeit und Herzerregbarkeit eine 
Abnahme ihres Gewichts wünschte, traten 
jedes Mal nach Einnahme von 2mal 0,5 g 
Acid. boric. pro die Gefühl von starkem 
Druck auf den Kopf, Herzklopfen und Puls¬ 
beschleunigung auf, so dass ihr Schlaf ge¬ 
stört wurde und sie sich sehr elend fühlte. 
Ein zwei Mal nach längerer Pause erneuter 
Versuch, Bor zu geben, hatte stets die¬ 
selben unangenehmen Folgen. 

In meinem vierten Falle hatte die Dosis 
von 1 g Acid. boricum pro die, in zwei 
Hälften in heissem Wasser gelöst genom¬ 
men, eine recht gute Wirkung. Die Dame, 
im Anfang der vierziger Jahre stehend und 
von kleiner, graciler Figur, hatte bei län¬ 
gerem Aufenthalt auf dem Gut ihrer Eltern 
an Gewicht erheblich zugenommen und wog 
bei Beginn der Cur am 22. August 1902 
63,8 kg. Sie ist Mutter von drei gesunden 
Kindern und in den letzten Jahren nie¬ 
mals ernstlich krank gewesen. Die Unter¬ 
suchung der inneren Organe und des Urins 
ergab vor wie während der Behandlung 
nichts Krankhaftes. Die Nahrungsaufnahme 

Original fram 

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April 


159 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


war stets reichlich, die Kohlehydratzufuhr 
während der Cur eher vermehrt; die Flüssig¬ 
keitsaufnahme betrug circa 1100 ccm. In 
den ersten 14 Tagen des Borgebrauchs 
traten leichte Neigung zu Diarrhöen, etwas 
vermehrte Diurese mit Pollakiurie und zeit¬ 
weilige Schweisse in den Morgenstunden 
auf. Der Appetit war stets gut; Herz¬ 
beschwerden, Kopfschmerzen, Erbrechen, 
Schwindel kamen nie zur Beobachtung. 
Der Stand des Körpergewichts war fol¬ 
gender: 

22. Aug. 2mal tägl.0,5g acid.boric.63,8 kg 


30. „ 

6. Sept. 
13 . „ 

20. „ 
11. Oct. 
25. „ 

1. Nov. 
8 . „ 


II » If II 

ii n »i ii 

n n i» r> 

ii » 11 »> 

3 mal tägl.0,5g 

ii ii ii ii 

ii i» M n 

u ii n ii 


„ 62.9 „ 

i, 62,7 „ 

* 62,2 „ 

i, 61.8 „ 

id.boric.60 45 „ 
,i 60.675 ,, 

„ 60,125 „ 

, „ 59,46 „ 


Hier hatten also mässige Mengen Bor¬ 
säure ein ziemlich gleichmässiges und all¬ 
mähliches Abschwellen des Körpergewichts 
um fast 9 Pfund in etwa 11 Wochen herbei¬ 
geführt. So wirkungsvoll und bequem hier 
die Cur verlief, ebenso vergeblich wurde 
im fünften Falle erst mit Natrium biboraci- 
cum, dann wegen starken Beschwerden mit 
Acidum boricum gegen die Fettleibigkeit 
der Patientin angekämpft. Es handelte sich 
um eine Dame, in der Mitte der Fünfziger 
stehend, von schwachemKnochenbau, einem 
sehr reizbaren Nervensystem mit häufigen 
Migräneanfällen, die in ihrem Leben viele 
Erkrankungen durchgemacht hat: 72 Dy¬ 
senterie, 82 Recidiv der Dysenterie mit 
Darmabscessen, 96 Cholelithiasis, um nur 
das Wichtigste zu erwähnen. In den letz¬ 
ten Jahren hatte sie an Gewicht zugenom¬ 
men: als junges Mädchen 120 Pfund wie¬ 
gend, war sie im Jahre 1902 bis auf 155 Pfund 
gekommen. Eine leichte Diätcur hatte sie 
wieder auf 150 Pfund gebracht, mit welchem 
Gewicht sie die Borcur begann. Sie nahm 
zuerst 3 mal täglich 0,5 g Natrium biboraci- 
cum mit dem Erfolg, dass das Gewicht in 
14 Tagen von 75 kg auf 74,4 kg herunter¬ 
ging. Allmählich traten aber so heftige 
Kopfschmerzen, Herzklopfen, Schwindel, 
Erbrechen mit bleibender Uebelkeit auf, 
dass das Mittel ausgesetzt werden musste, 
worauf die Beschwerden sofort sistirten. 
Nach einigen Tagen Pause wurde dann mit 
3mal 0,5 g Acid. boricum die Cur wieder 
aufgenommen, sofort aber dieselben Be¬ 
schwerden wieder hervorgerufen. Nach 
nochmaliger Pause wurde dann 2mal 0,5 g 
Acid. boricum pro die gegeben und besser 
vertragen. Trotz vierwöchentlichem Ge¬ 


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brauch und leichter, gleichzeitiger Polyurie 
wurde jedoch eine Gewichtsabnahme nicht 
mehr erzielt. 

Bei der nächsten Beobachtung handelte 
es sich um eine Dame in den vierziger 
Jahren mit ererbter Neigung zu Fettleibig¬ 
keit, die schon zu verschiedenen Malen 
hatte bekämpft werden müssen. Der son¬ 
stige Befund war normal, nur bestanden 
seit fast einem halben Jahr neuralgische, 
rheumatische Schmerzen in den Armen und 
Fingergelenken von wechselnder Stärke 
ohne nachweisbare Veränderungen. Pa¬ 
tientin begann die Cur am 10. Januar 1903 
und nahm missverständlicher Weise 3 g 
Acidum boricum pro die in drei Portionen 
in heissem Wasser gelöst. Das Gewicht 
sank in fünf Tagen um über 3 Pfund, von 
75 kg auf 73.4 kg. Zugleich traten sehr 
starke Kopfschmerzen, Schwächegefühl und 
Schwindel, Herzklopfen mit Herzschmerzen 
ohne nachweisbaren Befund auf. Der Appetit 
blieb gut; das Durstgefühl nahm auffällig 
ab, so dass fast Widerwille gegen Trinken 
sich einstellte. Die Diurese steigerte sich 
nicht. Dagegen schwanden die oben er¬ 
wähnten rheumatischen Schmerzen, die 
einer längeren Kissinger Cur im Sommer 
1902 getrotzt hatten, vollständig. Nach 
mehrtägiger Pause wurde mit der Borsäure¬ 
therapie wieder begonnen. Den Verlauf 
illustriren die folgenden Zahlen: 

18. Jan. ...lg acid. boric. 73 kg 

19. „ ... 2,5 „ ,, ii ^3 „ 

20. „ 2 „ „ » ^3.7 ” 

21. —23. Jan. je 3 „ „ „ 74.7 „ 

Hier musste wegen wieder auftretender 
sehr heftiger Kopfschmerzen eine Unter¬ 
brechung in den Borgaben eintreten. Nach 
zweiwöchentlicher Pause wurde die Therapie 
noch ein Mal aufgenommen. Den Erfolg 
dieser Cur erläutern die folgenden Zahlen: 


7. Februar 

2V4g 

acid. 

boric. 

74,2 

kg 

8. 

H 

II II 

ii 

ii 

73.8 

7) 

9. 

II 

»I II 

n 

ii 

73,8 

•1 

10. 

II 

ii n 

ii 

ii 

72,9 

11 

11. 

II 

Keine 

Borsäure, wegen 

stär- 


kerer 

Kopfschmerzen. 


kg 

12. Februar 

1V4g 

acid. 

boric. 

73,3 

13. 

n 

II II 

ii 

ii 

73,9 

II 

14. 

•i 

274 .. 

H 

V 

73.7 

II 

17. 

ii 


n 

II 

73.8 

11 

19. 

•1 


ii 

11 

73 3 

J> 

22. 

ii 



,, 

73,1 

il 

25. 

ii 


ii 

11 

72,9 

ii 

27. 

n 


i» 

11 

73 

II 


Mit Ausnahme des 11. Februar waren 
an keinem Tage dieser letzten Periode Be¬ 
schwerden aufgetreten. Die Nahrungsauf- 


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April 


160 Die Therapie der Gegenwart 1903. 


nähme war dabei eine sehr reichliche, da 
im Vertrauen auf die entfettende Wirkung 
der Borsäure mehr Kartoffeln, als sonst, 
Suppen, süsse Chokolade genommen wur¬ 
den. Hierdurch erklären sich auch die 
leichten Gewichtszunahmen in der Zeit vom 
18. Januar bis 23. Januar. Eine Gesammt- 
gewichtsabnahme von 4 Pfund, völliges 
Wohlbefinden bei freierer Beweglichkeit 
und Schwinden der Schmerzen in Finger- 
und Armgelenken war das erwünschte End¬ 
resultat dieser Cur. 

Als Facit dieser Beobachtungen ergiebt 
sich, dass die Borsäure bei manchen Per¬ 
sonen auch in kleinen Dosen recht unan¬ 
genehme Erscheinungen auslösen, in geeig¬ 


neten Fällen aber als brauchbares und be¬ 
quemes Entfettungsmittel gebraucht werden 
kann. Worauf diese individuell verschie¬ 
dene Verträglichkeit beruht, lässt sich nicht 
sagen. Man wird in der Praxis erst vor¬ 
sichtig mit kleinen Dosen die Cur beginnen 
müssen, um dann allmählich zu den wirk¬ 
samen von IV 2 —2 g pro die vorzugehen. 
Von Interesse wäre es auch, weitere Ver¬ 
suche mit der Borsäure bei den chronischen, 
rheumatischen (event. gichtischen) Glieder- 
und Gelenkschmerzen der Fettleibigen zu 
machen, da ihre Wirkung im Fall 6, bei 
dem alle gebräuchlichen Antirheumatica 
vergeblich angewandt waren, anscheinend 
eine recht zuverlässige war. 


Zur Nachbehandlung pleuritischer Exsudate. 

Von Dr. D. Rothschild, Arzt in Bad Soden a. T. 


Im Ablauf der pleuritischen Erkrankun¬ 
gen giebt es eine Reihe von Erscheinungen, 
welche bisher eine hinreichende Aufklä¬ 
rung nicht hatten finden können, obwohl 
sie recht eigentlich das Wesen des in 
Frage kommenden Krankheitsbildes be¬ 
treffen. Wie ich an anderer Stelle dar¬ 
gelegt habe, kommt es häufig vor, dass lang¬ 
bestandene, auch grosse Pleuraergüsse nach 
einer vielleicht zu diagnostischen Zwecken 
gemachten Probepunction rasch und voll¬ 
ständig verschwinden. Ich rechne zu den 
einer exakten Erklärung noch harrenden 
Punkten zweitens die immer wieder beob¬ 
achtete Erscheinung, dass pleuritische Ex¬ 
sudate nach vollständiger oder nach mög¬ 
lichst vollständiger Entleerung durch Punc- 
tion oder Thorakocentese sich in ganz 
kurzer Zeit, oft schon nach wenigen Stun- | 
den wieder ansammeln, ohne dass Fieber 
oder sonstige Erscheinungen auf ein Fort¬ 
bestehen des ursprünglich vorhandenen 
Entzündungsprocesses hindeuteten. Drit¬ 
tens möchte ich darauf hinweisen, dass 
abgekapselte Exsudate, deren Anwesenheit 
durch die physikalisch-diagnostischen Sym¬ 
ptome festgestellt ist, oft monatelang un¬ 
verändert umhergetragen werden, ohne die 
geringste Tendenz zur Aufsaugung, bis sie 
schliesslich ganz bestimmten und in ihrer 
Bedeutung am Schlüsse dieser Ausfüh 
rungen zu würdigenden therapeutischen 
Eingriffen weichen, viertens erinnere ich 
an Vorgänge, wie sie von Litten beob¬ 
achtet sind, die ebenfalls durch die nach¬ 
folgenden Ausführungen eine Erläuterung 
erfahren sollen, dass nämlich zwischen Ex¬ 
sudathöhe und Fieberhöhe absolut kein 
congruentes Verhalten besteht, vielmehr 


sehr häufig trotz fallenden Fiebers und 
danach zu schliessendem Verschwinden 
der Entzündungserscheinungen die Exsu¬ 
date unbekümmert ansteigen oder umge¬ 
kehrt trotz bestehenden Fiebers sich resor- 
biren. 

Die vier Momente, welche ich soeben 
erwähnt habe, beziehen sich gemeinsam 
genommen weniger auf das physiologische 
als das physikalische Verhalten der Exsu¬ 
date; denn eine Flüssigkeitsansammlung im 
Pleuraraum ist eigentlich in dem Augen¬ 
blick, in dem sie die Pleurawandung ver¬ 
lassen hat, eine todte Masse, ein Fremd¬ 
körper im Brustfellraum, eine mehr oder 
weniger concentrirte Salz- und Eiweiss¬ 
lösung, die als solche physiologischen 
Gesetzen nicht mehr unterliegt, sondern 
i ein Gegenstand physikalischer Betrach¬ 
tung geworden ist. 

Um ein Bild zu gewinnen von den Vor¬ 
gängen, die zur Resorption solcher pleuri¬ 
tischen Ergüsse führen, müssen wir uns 
für einen Augenblick die Physiologie des 
Resorptionsvorgangs ins Gedächlniss zu¬ 
rückrufen, wie sie sich in den jüngsten 
Arbeiten zahlreicher Autoren, vor allem 
von Grober darstellt. Alle neueren For¬ 
scher sind einig darin, dass bei unver¬ 
letzter Pleura zwei principiell von einan¬ 
der zu trennende Vorgänge der Weg¬ 
schaffung von Flüssigkeit aus dem Pleura¬ 
raume dienen. In dieser Richtung wirkt 
erstens die Bewegung des Brustkorbes 
und der Athmungsorgane beim Re- 
spiratonsvorgang, und zwar üben, ganz 
so wie das schon seinerseit von Dyb- 
kowsky betont wurde, die Lymphge- 
fässe der Costalpleura eine pumpen- 


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April 


161 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


artig saugende Wirkung auf im Pleura 
befindliche Flüssigkeit aus. Die abwech¬ 
selnde Verbreiterung und Verengerung 
der Intercostalräume dient hierbei als Be¬ 
wegungsagens. Der pulmonalen Pleura 
kann eine eben solche Wirkung nicht zu¬ 
gesprochen werden, sie resorbirt bekannt¬ 
lich nicht, was auch durch die Grawitz- 
schen Beobachtungen über die Ausschei¬ 
dung von Fremdkörpern durch die pulmo¬ 
nale Pleura bestätigt wird. Ebenfalls vom 
Athmungsvorgange abhängig und die Re¬ 
sorption fördernd wirken der bei der 
Respiration wechselnde Innendruck 
des Pleuraraumes, durch den die Lunge 
fester oder schwächer gegen die Pleura¬ 
wand gedrängt wird, sowie die Verschie¬ 
bung der einzelnen Punkte der Pleura¬ 
blätter gegen einander, wodurch der Inhalt 
des Hohlraums in die Lücken der Wand 
gepresst wird. 

Ganz unabhängig von diesen physiolo¬ 
gischen Vorgängen, die übrigens alle eine 
spezifische, gleichsam bewusste Resorp- 
tionsthätigkeit der Endothelien der Pleura 
nicht zur Voraussetzung haben, geht der 
Resorptionsvorgang gleichzeitig durch die 
rein physikalischen Gesetze der Os¬ 
mose und Diffusion vor sich. Der end¬ 
gültige Beweis, dass osmotische Vorgänge 
thatsächlich bei der Resorption von Flüs¬ 
sigkeitsansammlungen im Pleuraraum mit¬ 
spielen, wurde dadurch erbracht, dass auch 
an Leichen, bei welchen man künstlich 
Flüssigkeitsmengen in den Pleuraraum ge¬ 
bracht hatte, ein Verschwinden oder Ab¬ 
nehmen derselben festgestellt werden 
konnte. In vivo wurde der Beweis da¬ 
durch erbracht, dass auch nach Unterbin¬ 
dung des Ductus thoracicus, also des Ab¬ 
zugscanals für alle auf dem Lymphwege 
entfernte Flüssigkeiten, eine ständige Ab¬ 
nahme der im Pleuraraume befindlichen 
Flüssigkeitsmenge constatirt wurde, wäh¬ 
rend diese Verminderung auf hörte nach 
der Unterbindung der Arteriae renales. 
Wenn somit der Osmose mit Recht ein 
integrirender Antheil an der Resorption 
von Exsudaten aus dem Pleuraraum zuge¬ 
sprochen werden muss, so fragt es sich, 
ob die sonst gültigen Gesetze der Diffu¬ 
sion auch hier objectiv nachgewiesen wer¬ 
den können. In der That gelang es 
Leathes und Starling ebenso wie Ham¬ 
burger zu zeigen, dass die allgemein gül¬ 
tigen osmotischen Gesetze auch hier ihre 
Bestätigung finden. Brachten die englischen 
Forscher Salzlösungen in den Pleura¬ 
raum, die eine höhere moleculäre Concen- 
tration, einen höheren procentischen Salz¬ 


gehalt als das Blut hatten, so trat nicht 
nur keine Resorption auf, sondern im 
Gegentheil saugte die stark concentrirte 
Salzlösung aus den Capillaren Serum an 
und verdünnte sich solange, bis ihre Salz- 
concentration derjenigen des Blutes gleich 
war. Erst dann begann der Resorptions¬ 
vorgang. Brachten sie hingegen hypoto¬ 
nische Lösungen, d. h. schwächer concen¬ 
trirte Salzlösungen als das Blut in den 
Brustfellraum, so vollzog sich die Resorp¬ 
tion ohne weiteres. Diese eindeutige Be¬ 
obachtung, die auch dann gemacht werden 
konnte, wenn durch thermische oder che¬ 
mische Reize jede vitale Thätigkeit der 
Endothelzellen der Pleura aufgehoben war, 
veranlasste die Aufstellung des jetzt all¬ 
gemein anerkannten Satzes, dass eine 
Lösung aus dem Brustfellraum nur 
dann resorbirt werden kann, wenn 
sie dem Blutserum isotonisch ist. 
Ist sie es nicht, so wird sie zunächst 
durch osmotische Vorgänge zu einer 
solchen gemacht. 

Wenn auch nicht bestritten werden kann, 
dass bei einer Entzündung der Pleurawan¬ 
dungen die Lymphgefässe und Stomata zum 
grössten Theil verödet oder doch wenigstens 
durch Fibrinauflagerung und andere Ent- 
zündungsproducte verstopft, mit einem Wort 
für den Durchgang und die Wegschaffung 
von Flüssigkeit unbrauchbar gemacht sind, 
so hönnte man immer noch gegen die An¬ 
nahme, dass in solchen Fällen osmotische 
Vorgänge in allererster Linie der Weg¬ 
schaffung der Exsudate dienen, einwenden, 
dass nach Herstellung des osmotischen 
Gleichgewichts zwischen Exsudat und Blut 
eigentlich kein osmotisches Gefälle mehr 
existirt, das als Triebfeder für die Wande¬ 
rung des Exsudats aus dem Pleuraraum 
in die Capillaren angesprochen werden 
könnte. Um zu einer richtigen Erklärung 
dieser Vorgänge zu gelangen, muss ich 
an die Arbeit von Röth und Straussaus 
der Senator’schen Klinik aufmerksam 
machen. Röth hat gezeigt, dass die 
lebende Capillarwand für Eiweissstoffe 
schwerer durchgängig ist als für Salze, 
und dass die Ausgleichsprocesse durch 
eine Membran in dem Falle, wenn ein 
Unterschied der gesammten molecularen 
Concentration der beiden Flüssigkeits¬ 
schichten besteht, immer nur von der min¬ 
der concentrirten zur höher concentrirten 
verlaufen, unabhängig von der partiären 
Zusammensetzung der Flüssigkeiten. In 
dem Falle jedoch, wenn die moleculäre 
Gesammtconcentration auf beiden Seiten 
gleich ist, richtet sich die Flüssigkeits- 


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April 


162 Die Therapie der 


bewegung nach der Seite, wo ein Ueber- 
schuss an solchen Molecülen vorhanden 
ist, für welche sich die Capillarwand im 
Vergleich zu den anderen schwerer per¬ 
meabel zeigt. Als solches Molecül ist im 
Organismus im Wesentlichen das Eiweiss 
zu nennen. Senator hat in seiner Ab¬ 
handlung über die Transsudation und Ex¬ 
sudation in Virchow’s Archiv darauf 
hingewiesen, dass die Exsudate trotz ihres 
von x /2 pro Mille und noch weniger bis 
zu 20 pro Mille und darüber schwanken¬ 
den Gehalts an Eiweiss (Gerhardt nimmt 
den Gehalt von nicht entzündlichen Exsu¬ 
daten von 0,06 bis 2,68%, von entzünd¬ 
lichen von 2,40 bis maximal 6,90% an) 
stets einen geringeren Eiweissgehalt 
aufweisen als das Blutserum, dessen 
Eiweissgehalt nach Hammarsten8,5o/ 0 
beträgt. Der Eiweissgehalt ist ja, wie 
Dreser gezeigt hat. von ausserordentlich 
geringfügigem Einfluss auf die moleculare 
Concentration des Blutes, denn nach Aus¬ 
fällung der gesammten Eiweissmenge steigt 
der Gefrierpunkt des Blutes nur um 
0,01° C.; trotzdem werden wir mit Rölh 
annehmen, dass nach Herstellung des os¬ 
motischen Gleichgewichts durch osmoti¬ 
schen Wasserausgleich der höhere Eiweiss¬ 
gehalt des Blutes genügt, um einen dauern¬ 
den Wasserstrom aus einem Exsudat nach 
den Blutcapillaren zu unterhalten und da¬ 
durch zu einer Resorption des Exsudats 
zu führen. Man könnte schliesslich noch 
einwenden, dass vielleicht die in den Ex¬ 
sudaten vorhandenen Eiweissmolecüle ge¬ 
ringere Grösse hätten als die im Blute 
vorhandenen und dadurch diesen kein er¬ 
heblicherer Einfluss auf den Gefrierpunkt 
zukomme als jenen. Demgegenüber muss 
darauf hingewiesen werden, dass, wie 
Senator schon mit grösstem Nachdruck 
betont hat, die Eiweisskörper der Exsu¬ 
date dieselben sind, wie die des Blutplas¬ 
mas und dass Blum mit Hülfe seiner Me¬ 
thode der Bestimmung der Eiweisskörper 
mit Hülfe der Jodzahl ebenfalls zu dem 
Schlüsse gekommen ist, dass die in den 
Exsudaten befindlichen Eiweissmolecüle 
sich nicht von den im Blutserum vorhan¬ 
denen unterscheiden. 

Was müssen wir aus diesen theoreti¬ 
schen Auseinandersetzungen für klinische 
Zwecke lernen? Finden wir, dass ein 
durch Probepunction gewonnenes 
Exsudat eine geringere moleculare 
Concentration als das Blut hat, also 
einen Gefrierpunkt, der höher liegt 
als der des Blutes, so können wir an¬ 
nehmen, dass die grössere wasser- 

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Gegenwart 1903. 


anziehende Kraft des Blutes ohne 
weiteres die Absorption des Ex¬ 
sudats herbeiführen wird. Dass dem 
thatsächlich so ist, konnte ich bisher in 
12 Fällen beweisen, von welchen ich einige 
auf der von Noordenschen Abtheilung am 
städtischen Krankenhaus in Frankfurt a. M. 
zu beobachten Gelegenheit hatte. 

Im ersten Falle handelte es sich um einen 
23jährigen Arbeiter J H. Derselbe erkrankte 
unter Schmerzen an der linken Seite, Husten, 
Mattigkeit, schlechtem Appetit und Schwindel 
am 17. December 1900. Bei der am 18. Decem- 
ber erfolgten Aufnahme in das städtische 
Krankenhaus zeigte der kräftige, aber etwas 
heruntergekommene, sehr blass und etwas 
cyanotisch aussehende Mann eine handbreite 
Dämpfung links hinten unten, über derselben 
aufgehobenes Athmungsgeräusch und fehlen¬ 
den Stimmfremitus. Ausserdem zeigte die 
linke Spitze die Erscheinungen von Infiltration 
und Katarrh. Am 27. December steht das Ex¬ 
sudat bis zur Höhe des unteren Randes des 
Schulterblattes. Bei der am 29. December vor¬ 
genommenen Probepunction wurde ein seröses 
Exsudat entleert. Die Gefrierpunktsbestimmung 
desselben zeigte einen Gefrierpunkt von—0.53, 
also niedriger, als der des Blutes. Ich schloss 
daraus, da^s das Exsudat ohne weiteres der 
Spontanresorption anheimfallen werde, und 
thatsächlich konnte bei einem am 14. Januar 
1901 vorgenommenen Probepunctionsversuche 
kein Tropfen Exsudat mehr zu Tage gefördert 
werden. 

Ebenso ging es mit dem am 31. December 

1900 aufgenommenen A. B., welcher wegen 
Gonorrhoe seit dem 28. December 1900 in der 
Hautabtheilung des städtischen Krankenhauses 
in Behandlung stand, am 31. December jedoch 
wegen aufgetretener pleuritischer Erscheinun¬ 
gen auf die innere Abtheilung verlegt worden 
war. Die Untersuchung ergab, rechts hinten 
vom sechsten Brustwirbel an, vorn von der 
zweiten Rippe abwärts bei aufgehobenem 
Stimmfremitus Dämpfung. Das durch Probe¬ 
punction entfernte Exsudat hatte einen Gefrier¬ 
punkt von —0,57° C., also annähernd so gross, 
als der des Blutes. Es war somit zu erwarten, 
dass das Exsudat nicht mehr wesentlich steigen, 
sondern allmählicher Resorption entgegengehen 
werde. In der That fänden wir am 7. Januar 

1901 in der Krankengeschichte verzeichnet: 
„Exsudat unverändert", am 25. Januar jedoch 
„Dämpfung zwischen der zehnten und zwölften 
Rippe, hinten oben Athmung leise, Exsudat 
verschwunden“. 

In allen Fällen, die ich noch ausführ¬ 
lich publiciren werde und bei welchen die 
moleculare Concentration der Exsudate 
geringer gefunden wurde, als die des 
Blutes, die ja bekanntlich — normale Niere 
vorausgesetzt — immer einen Gefrierpunkt 
von — 0,56° erzeugt, in allen diesen Fällen 
trat eine spontane und vollständige Re- 

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April 


163 


Die Therapie der 

sorption der durch den ersten Entztin- 
dungsschub gesetzten Exsudate ein. 

Finden wir dagegen ein Exsudat, 
das einen wesentlich höheren Ge¬ 
frierpunkt aufzweisen hat als das 
Blut, so ist nicht nur keine sofortige 
Resorption zu erwarten, sondern die 
Flüssigkeitsmenge im Brustkorb 
muss zunehmen, indem der osmoti¬ 
sche Wasserstrom bemüht sein wird, 
die moleculare Concentration des 
Exsudats herabzusetzen, bis sie der¬ 
jenigen des Blutes gleich geworden 
sein wird. Auch hierfür kann ich eine 
Reihe von experimentell gefundenen Be¬ 
weisen erbringen. 

Der 68jährige Grundarbeiter L. K. erkrankte 
am 24. November 1900 mit Schmerzen auf der 
linken Brustseite, Husten, Fieber, jedoch ohne 
Auswurf. Bei der am 27. November vorgenom¬ 
menen Aufnahme im städtischen Krankenhaus 
zeigte sich eine in der Höhe des unteren 
Schuherblattrandes links beginnende intensive 
Dämpfung, die sich nach der linken Axilla er¬ 
streckte. Ueber der Dämpfung hört man 
Bronchialathmen, Pectoralfremitus nicht ver¬ 
stärkt. Bei der am 2. December vorgenomme¬ 
nen Probepunction wurde eine seröse Flüssig¬ 
keit zu Tage gefördert und am 5. December 
900 ccm Exsudat herausgelassen. Das Exsudat 
hatte einen Gefrierpunkt von —0,64° C , wäh¬ 
rend das gleichzeitig gewonnene Blutserum 
einen solche« von —0,55° C. aufwies. Ich 
schloss daraus, da man ja nicht annehmen 
konnte, durch die Punction das ganze Exsudat 
entfernt zu haben, dass der zurückgebliebene 
Rest durch seine hohe moleculare Concentra- 
tion zu einer raschen Wiederherstellung von 
Flüssigkeitsansammlungen führen werde. Und 
in der That konnten bereits am 10 December 
wieder 1400 ccm Exsudat entfernt werden, das 
einen Gefrierpunkt von — 0.60° C. aufwies. 
Es war also bereits eine Verdünnung des Ex¬ 
sudats eingetreten. Offenbar hatten sich jedoch 
Verwachsungen gebildet, die eine Verdünnung 
des Exsudats bis auf die molekulare Concen- 
tration des Blutes räumlich verhinderten. Bei 
den am 23. Dezember 1900 und am 1. Februar 
1901 vorgenommenen Punctionen wurden wieder 
Exsudate zu Tage gefördert, die einen Gefrier¬ 
punkt von —0,60 bezw. —0,59° C. aufwiesen. 

Es ist mir garnicht zweifelhaft, dass die 
in diesem Falle entfernten Exsudatmengen 
nicht immer aus demselben Raume stamm¬ 
ten, da wir ja wissen, dass abgekapselte 
Exsudate häufig in mehrere Kammern ge¬ 
schieden sind; und gerade dieses Moment 
ist es ja auch, welches der vollständigen 
Entfernung der Exsudate durch die Punktion 
^in unüberwindliches Hinderniss entgegen¬ 
setzt. , Da wir nun einerseits wissen, dass 
Exsudate erst dann resorbirt werden, wenn 
ihr osmotischer Druck dem des Blutes 


Gegenwart 1903. 

gleich geworden ist und auf der anderen 
Seite gesehen haben, dass abgekapselte 
Exsudate, die einen höheren osmotischen 
Druck aufweisen als das Blut, durch die 
räumlichen Verhältnisse verhindert sind, 
ihren osmotischen Druck durch Verdünnung 
herabzusetzen, so ist es klar, dass solche 
Exsudate einer spontanen Reso rption 
nicht anheimfallen können und, wenn 
irgend möglich, durch Punktion zu entfernen 
sind. Ist jedoch ein Exsudat, wie so häufig, 
mehrkammerig, so dass es ausgeschlossen 
erscheint, jede einzelne dieser Kammern mit 
der Punktionsnadel anzustechen, so bleibt 
dieser Weg aussichtslos, und wir können 
nur durch eine vorübergehende Er¬ 
höhung des osmotischen Druckes 
des Blutes bis auf die Höhe derjeni¬ 
gen des Exsudates die Aufsaugung 
des Exsudates herbeiführen. 

Zur vorübergehenden Erhöhung des os¬ 
motischen Druckes des Blutes stehen uns 
eine Reihe von Mitteln zur Verfügung. Die 
Diät ist, wie Koranyi gezeigt und worauf 
auch Senator und jüngst erst Nagel¬ 
schmidt, der unter H. Strauss arbeitete, 
hingewiesen haben, insofern von Einfluss 
auf den osmotischen Druck des Blutes, als 
eine eiweissreiche Nahrung durch den Zer¬ 
fall ihrer complicirten Molecüle in eine 
grosse Zahl einfacher Molecüle den os¬ 
motischen Druck des Blutes erhöht. Grosser 
Kochsalzgehalt der Nahrung bewirkt das¬ 
selbe. Auch Sch witzproceduren er¬ 
höhen den osmotischen Druck des Blutes. 
Auf experimentellem Wege ist es gelungen, 
durch endovenöse NaCl-Einspritzun- 
gen dasselbe Ziel zu erreichen. Vor zwei 
Jahren hat Hughes eine Arbeit veröffent¬ 
licht, die er zusammen mit mir im Bade¬ 
haus zu Soden angefertigt hat zum Zwecke 
der Erforschung des Einflusses der Sool- 
bäder auf den osmotischen Druck des Blutes. 
Dabei hat es sich gezeigt, dass Soolbäder, 
deren osmotischer Druck grösser ist als 
der des Blutes, eine Erhöhung des osmoti¬ 
schen Druckes des Blutes herbeizuführen 
im Stande sind, und es ist mir garnicht 
zweifelhaft, dass auf diese Thatsache 
die bisher unerklärte resorbirende 
Wirkung der Soolbäder auf alte, ab¬ 
gekapselte Exsudate zurückzuführen 
ist. Als weiteren Beleg für diese resor¬ 
birende Wirkung unserer Sodener Sool¬ 
bäder möchte ich auf 36 Krankengeschich¬ 
ten hinweisen von Patienten, die ich in den 
letzten fünf Jahren zu beobachten Gelegen¬ 
heit hatte und bei welchen es im Laufe 
einer systematisch durchgeführten, vier bis 
sechs Wochen dauernden Soolbädercur zur 


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164 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


April 


vollständigen Spontanresorption von seit 
Monaten bestandenen pleuritischen Ergüssen 
gekommen ist. Nach den Arbeiten von 
Dünschmann, Koskiewitsch, Strauss 
und neuestens von Grube, müssen wir 
auch dem systematisch vorgenom¬ 
menen Mineralwassergenuss einenEin- 
fluss auf die Erhöhung des osmotischen 
Druckes des Blutes zuschreiben. 

Bei Anwesenheit von nicht resorbirten 
hochconcentrirten Exsudaten wird somit 
die Verbindung der Soolbädercur mit einer 
Trinkcur den Erfolg beschleunigen. Wenn 
ich hiermit den Werth der baineologischen 
Maassnahmen zur Entfernung veralteter 
Exsudate lediglich nach ihrem Einfluss auf 
den osmotischen Druck des Blutes zu be¬ 
messen scheine, so verkenne ich keines¬ 
wegs die Bedeutung aller sonstiger Heil- 
factoren in der Nachbehandlung pleuriti- 
scher Ergüsse. War ich auch bisher nicht 
genöthigt, bei den uns zur Behandlung an¬ 
vertrauten Patienten auf medicamentöse 
Heilmittel zurückzukommen, so machte ich 
von den systematischen Athmungsübungen, 
der kunstgemässen Athmungsgymnastik um 
so reichlicheren Gebrauch. Ich habe ja im 


Beginne meiner Ausführungen darauf hin¬ 
gewiesen, dass der Bewegungsmechanismus 
des Brustkorbes in hohem Masse der Re¬ 
sorption der Exsudate förderlich ist. Ver¬ 
tiefte Athmung bewirkt demgemäss, worauf 
ja schon Penzoldt hingewiesen hat, einen 
günstigen Einfluss auf den Resorptionsvor¬ 
gang. Zur Anregung forcirter Athmung 
stehen uns eine Reihe von Hilfsmitteln zur 
Verfügung. Neben den allgemein geübten 
gymnastischen Vorschriften habe ich in 
jüngster Zeit besonders durch Einathmung 
verdünnter Luft günstige Erfolge bei Be¬ 
handlung der Exsudate gesehen. Der hier¬ 
bei entstehende Lufthunger zwingt den Pa¬ 
tienten zur Vertiefung der Inspiration und 
bewirkt dann einen übenden Einfluss auf 
die Athmungsstärke. 

Ich möchte diese Ausführungen nicht 
schliessen, ohne zu betonen, dass die hier 
angeführten Heilfactoren nicht die sonst 
übliche Behandlungsweise pleuritischer Ex¬ 
sudate ersetzen können, dass sie aber, sinn¬ 
gemäss angewandt, erfreuliche Resultate 
zeitigen, wenn mangelhafte oder verzögerte 
Resorption die Reconvalescenz hintan¬ 
halten. 


Aus der psychiatrischen Klinik der Universität Strassburg. 
(Director: Prof. Dr. Fürstner.) 

Therapeutische Erfahrungen mit Veronal. 

Von Dr. M. RoSCIlfeld, I. Assistent der Klinik. 


Herr Prof. v. Mering übersandte uns 
vor einigen Monaten ein neues Präparat, 
das den Namen Veronal führte, und er¬ 
suchte uns, seine hypnotische Wirkung zu 
prüfen. 

Im vorigen Heft dieser Zeitschrift haben 
nun Emil Fischer und v. Mering einen 
Artikel über eine neue Klasse von Schlaf¬ 
mitteln veröffentlicht und über deren che¬ 
mische Constitution, soweit sie die Leser 
dieser Zeitschrift interessiren kann, und 
über die Stellung dieser neuen Mittel zu 
den bereits bekannten Mittheilung gemacht. 
Auch die chemische Zusammensetzung des 
Veronals findet daselbst ihre Bespre¬ 
chung. Es steht mir also nicht zu, hier 
theoretische Erörterungen über die Con¬ 
stitution des Veronals zu geben. Ich ver¬ 
weise auf jenen Artikel und beschränke 
mich darauf mitzutheilen, welche Erfah¬ 
rungen wir am Krankenbette mit diesem 
neuen Hypnoticum gemacht haben. 

Wir haben das Präparat — es standen 
uns etwa 280 g zur Verfügung — sowohl 
an dem neurologischen wie psychiatrischen 
Material geprüft, und zwar an ca. 50 Fällen, 

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die den verschiedensten Krankheitsformen 
angehörten und die mit Agrypnie einher¬ 
gingen. 

Es waren Fälle von einfacher Agrypnie, 
von Hysterie, Neurasthenie, Fälle von An¬ 
ämie und Unterernährung, die ausser functio- 
nellen Störungen mannichfacher Art auch 
an Schlaflosigkeit laborirten, ferner Fälle 
von neurasthenischer Depression, klimac- 
terischer und periodischer Depression, 
von Delirium tremens, chronischem Alko¬ 
holismus, Fälle von Dementia paranoides 
und Katatonie. 

Auf die Mittheilung der einzelnen Pro¬ 
tokolle muss ich natürlich verzichten. 

Die besten Erfolge erzielte man mit 
dem Veronal in den zuerst genannten 
Gruppen von Fällen. 

In allen Fällen von einfacher Schlaf¬ 
losigkeit, ferner dann, wenn zahlreiche 
Missempfindungen und Sensationen, ner¬ 
vöse Unruhe, Angstzustände und leichte 
Depressionen die Schlaflosigkeit bedingten, 
Fälle die bald mehr der Hysterie, bald 
der Neurasthenie zuzurechnen waren, 
leistete das Veronal gute Dienste. Einen 

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April 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


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derartigen Fall möchte ich deshalb er¬ 
wähnen, weil in demselben weder durch 
Bromkali (3 g). noch durch Trional (1 g), 
noch durch Chloral und warme protra- 
hirte Bäder Schlaflosigkeit erzielt wurde 
und auf 1 g Veronal nach circ s /4 Stun¬ 
den tiefer Schlaf auftrat, der 10 Stunden 
anhielt. Auch am Nachmittag desselben 
Tages konnten die Patienten einige Stun¬ 
den ruhen, was bis dahin unmöglich ge¬ 
wesen war. 

Am nächsten Tage erzeugte 1,0 Vero¬ 
nal ebenfalls vorzüglichen Schlaf. Beim 
Sistiren des Mittels trat allerdings sofort 
wieder die Schlaflosigkeit auf. Es han¬ 
delte sich um eine 35 jährige Frau mit 
zahlreichen hysterischen Symptomen. 

Später erzielte man mit 0,5 Veronal 
denselben Erfolg, der jedoch nur so lange 
anhielt als das Mittel gegeben wurde. 

Solche Fälle wie diesen haben wir 
mehrfach beobachtet. In zwei Fällen ge¬ 
lang es auch, nachdem einmal durch Ve¬ 
ronal (1 g) genügender Schlaf erzielt war, 
unter langsamer Reducirung der Dosis 
auf 0 25 wieder natürlichen Schlaf herzu¬ 
stellen. So z. B. in einem Falle, in wel¬ 
chem bei einer anämischen Kranken¬ 
schwester nach Influenza zahlreiche Miss¬ 
empfindungen, Angstzustände und völlige 
Schlaflosigkeit sich entwickelt hatten. 

Gute Erfolge waren bei den neurasthe- 
nischen, klimacterischen und periodischen 
Depressionen zu verzeichnen. 

Der Schlaf trat meist in Vi— 8 A Stunden 
ein und dauerte bis zu 11 Stunden, be¬ 
sonders dann, wenn die Dosis 1 g betrug. 
Auf die Nebenwirkungen und die Dosirung 
komme ich unten noch im Zusammenhang 
zurück. 

Bei chronischem Alkoholismus und De¬ 
lirium tremens waren die Resultate nun 
etwas andere; der Erfolg war bei diesen 
Fällen nicht so constant. So z. B. wurde 
bei einem typischen Fall von Delirium tre¬ 
mens, der am 3. Tage der Erkrankung im 
floriden hallucinatorischen Stadium hinein¬ 
kam, Abends um 8 Uhr 1 g Veronal ge¬ 
geben; um 10 Uhr, da gar keine Beruhi¬ 
gung eingetreten war, noch 1 g. Jedoch 
ohne Erfolg. Am nächsten Tage trat unter 
Opiumbehandlung Beruhigung und tiefer 
Schlaf ein, der in Genesung überging. 
In einem anderen Falle von Delirium tre¬ 
mens wurde durch 1 g Veronal guter 
Schlaf erzielt. In einem Falle von pro- 
trahirten Alkoholdelirien, der zu Hause 
schon mehrfach mit Hypnotica behandelt 
war, wurde am 1. Tage mit 1,5 g Veronal 
tiefer Schlaf erzeugt. Am 2. Tage hat 

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0,5 Veronal ebenfalls sehr guten Erfolg. 
Dann waren Schlafmittel unnöthig. 

Bei einer Frau von 44 Jahren mit pro- 
trahirten Alkoholdelirien wurde mit 1 g 
Veronal nur dreistündiger Schlaf erzeugt. 

In einem Falle von asthenischen Delirien 
nach Pneumonie bei einem Trinker, der 
völlige Schlaflosigkeit hatte und plötzliche 
Erregungen mit raschen motorischen Acten 
zeigte, trat nach 1 g Veronal zwar Be¬ 
ruhigung aber kein genügender Schlaf auf. 

Am 3. Tage wurde 1,5 g Veronal gegeben 
und daduich tiefer Schlaf erzeugt. Am 
4. Tage brauchte der Patient nur noch 
0,5, um genügenden Schlaf zu erzielen. 

In der letzten Gruppe von Fällen, in 
der Veronal angewendet wurde, in Fällen 
von Katatonie und Dementia paranoides 
waren die Erfolge ebenfalls nicht so vor¬ 
zügliche wie in den zuerst genannten 
Krankheitszuständen. Die Dosis 1,5, die 
einige Mal angewendet wurde, erzeugte 
zwar auch in diesen Fällen mehrstündigen 
Schlaf, während aber geringere Dosen nicht 
den gewünschten Effect hatten und oft nur 
Schlaf von einigen Stunden erzeugten oder 
ganz ohne Wirkung blieben. Unsere Er¬ 
fahrungen sind aber gerade, was diese 
Fälle angeht, noch sehr gering. 

1 Kranker mit schwerer Dementia para¬ 
noides, der auf Trional (1 g) keinen ge¬ 
nügenden Schlaf hatte, erhielt am 3. August 
1 g Veronal, auf welches er gut schlief. 

Am 4. August 0,5; der Schlaf war ganz 
ungenügend. Am 5. August 1,5; Schlaf 
sehr gut. Am 6. August 1 g Veronal; 
Schlaf ganz ungenügend, am 7. August 
wieder 1,5 g, auf welche der Schlaf für 
9 Stunden eintrat. In einem anderen Falle, 
welcher eine 37jährige Frau mit Dementia 
praecox betraf, erzeugte 1 g Veronal Schlaf 
von 9—6 Uhr; am nächsten Tage blieb 
dieselbe Dosis ohne Erfolg. In einem Falle 
von Dementia paranoides (27 Jahre alt) 
blieb 0.5 Veronal ohne Wirkung, während 
am nächsten Tage 1 g einen neunstündigen 
Schlaf hervorrief. 

Diese Beispiele mögen genügen, um zu 
zeigen, dass bei diesen Krankheitsformen 
die Wirkung des Veronals keine so ab¬ 
solut zuverlässige ist, wie bei anders be¬ 
dingten Zuständen von Agrypnie. 

Was nun die unangenehmen Neben¬ 
wirkungen angeht, die nach Veronal auf- 
treten können, so haben wir in dieser Be¬ 
ziehung nur Folgendes constatiren können. 

Bei mehreren Frauen, die an den genann¬ 
ten functionellen Neurosen mit Agrypnie 
litten, trat nach Verabfolgung von 1 g 
beträchtlicher Grad von Schwindel, ge- 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


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legentlich auch Brechneigung auf. So 
z. B. in jenen Fällen, die ich oben citirte, 
bei welchen andere Schlafmittel versagt 
hatten. Die Patientin klagte am ersten 
Tage nach einer guten Nacht über leichten 
Schwindel. Am zweiten Tage, nachdem 
Patientin wieder 1 g Veronal erhalten, 
nahm der Schwindel so zu, dass Patientin 
geführt werden musste. Bei einer Dosis 
von 0,5 g blieb Schwindel fort. Ebenso 
klagten einige Fälle von klimacterischer 
oder periodischer Depression über leichte 
Schwindelzustände, jedoch meist nur dann, 
wenn die Dosis 0,5 überschritten wurde. 

In einem Falle von schwerer Hypo¬ 
chondrie wirkte 1 g Veronal noch einige 
Stunden über die Nacht hinaus, so dass 
der Patient noch den ganzen Vormittag 
halb schlafend im Bett zubrachte. Die ge¬ 
nannten Störungen glichen sich aber immer 
im Laufe eines Tages aus. 

Die (Jrinsecretion habe ich speciell in 
den Fällen, welche leichte Intoxications- 
erscheinungen boten, dann aber auch in 
den Fällen, welche einige Tage grössere 
Dosen erhielten, controllirt. Irgend wel¬ 
che Veränderungen in der Beschaffenheit 
des Urins habe ich nicht finden können. 
Nur in einem Falle erschien der Urin am 
sechsten Tage des Veronalgebrauches etwas 
dunkler als sonst. 

Was nun die Dosirung des Mittels an¬ 
geht, so überschreiten wir jetzt die Dosis 
1,0 g nicht Wie schon erwähnt haben 
wir die Dosis 1,5 in vier Fällen (zwei 
Fällen von chronischem Alkoholismus, 
einem Fall von Katatonie, einem Fall von 
Dementia praecox) gegeben, ohne dass 
schädliche Folgen constatirt werden konn¬ 
ten. Frauen sind im Ganzen etwas em¬ 
pfindlicher gegen das Veronal; sie reagiren 


leichter und meist ist die Dosis 0.5 ge¬ 
nügend. Man muss auch bei der Ordina¬ 
tion von Veronal, wie auch bei andern Hyp- 
notica, Alter, Geschlecht und Constitution 
sorgfältig berücksichtigen. 

In mehreren Fällen kam das Veronal 
längere Zeit hindurch zur Anwendung* 
Länger als 14 Tage hindurch haben wir es 
bis jetzt nicht gegeben. Auch in diesen 
Fällen traten keine anderweitigen Neben¬ 
wirkungen auf Auch eine Gewöhnung, 
die es nothwendig machte, die Dosis zu 
steigern, kam nicht zu Stande. 

In einer Anzahl von Fällen gaben wir 
abwechselnd Trional und Veronal, um die 
Wirkung des letzteren mit dem Mittel, 
was uns täglich gute Dienste leistet, zu 
vergleichen. Es zeigte sich dabei, dass 
0,5 g Veronal die gleiche Dosis von Trio¬ 
nal entschieden an Wirksamkeit übertraf. 
Die Patienten bekamen die genannten Mittel 
in Oblaten, so dass dieselben gewechselt 
werden konnten, ohne dass die Patienten 
es merkten. In zahlreichen Fällen wurde 
die Angabe gemacht, dass der Schlaf auf 
Veronal leiser und länger dauernd gewesen 
war. Dasselbe Verhalten zeigte sich, wenn 
man die Dosis beider Mittel auf 1 g stei- 
j gerte. Nur in einzelnen Fällen und zwar 
| jenen Gruppen, bei denen die Wirkung 
i des Veronals überhaupt nicht so zuver- 
i lässig war, wie sonst, also in jenen Fällen 
von Katatonie und Dementria paranoides 
schien das Veronal das Trional nicht zu 
übertreffen. Jedoch sind diese wenigen 
Beobachtungen nicht im Stande unser sonst 
günstiges Uriheil über das Veronal umzu¬ 
stimmen. Unsere Erfahrungen mit diesem 
neuen Hypnoticum sind durchaus dazu an- 
gethan, die Erwartungen, die Professor v. M e- 
ring auf dasselbe gesetzt hat, zu erfüllen. 


Zusammenfassende Uebersichten. 

Zur Tuberkulosefrage. 


Zur Frage der Identität der Rinder¬ 
und Menschentuberkulose haben die letzten 
Wochen eine Reihe von Beiträgen ge¬ 
bracht, die zum Theil Antworten auf die 
(im Januarheft dieser Zeitschrift — s. S. 25 
— von uns wiedergegebenen) letzten 
Aeusserungen Koch’s darstellen. Troje 1 ) 
theilt die „einwandsfreie Beobachtung 
eines Falles von Uebertragung der 
Rindertuberkulose auf den Menschen 
durch zufällige Hautimpfung mit 
nachfolgender Ly m ph drüsentuber- 
kulose“ mit: Ein 19jähriger Fleischer- 

*) Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 11. 

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lehrling, kräftig, aus kerngesunder Familie 
stammend, der mit Phthisikern keinerlei 
Berührung hat, zieht sich im Juli 1900 beim 
Schlachten einer nachweislich tuberkulösen 
Kuh eine leichte Verletzung am linken 
Unterarm zu. Die Wunde heilt unter sach- 
gemässer Behandlung zunächst glatt; nach 
sechs Wochen aber entwickelt sich an 
ihrer Stelle eine eigentümliche, unter dem 
Bilde des tuberkulösen Geschwürs auf¬ 
tretende, später den Charakter des Lupus 
annehmende tuberkulöse Hautaffection, die 
von einer regionären tuberkulösen Lymph- 
drüsenerkrankung begleitet ist. Nach 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


4% Monaten werden die makroskopischen 
Erkrankungsheerde, ein fünfmarkstück¬ 
grosses Hautstück an der Verletzungsstelle 
und ein Lymphknoten am Ellenbogen, ope¬ 
rativ entfernt (beide erwiesen sich bei mikro¬ 
skopischer Untersuchung als tuberkulös) 
und der Patient erscheint im December 
1900, nach glatter Wundheilung, als ge¬ 
sund. Nachdem er ein Jahr lang frei von 
Krankheitserscheinungen geblieben, treten 
1902 wieder Schmerzen im linken Unter¬ 
arm auf; im Juni 1902 constatirt Troje 
Röthung der alten Operationsnarbe, auf 
der drei kleine Lupusknötchen sichtbar 
sind, oberhalb derselben eine markstück- 
grosse Vorwölbung der normal glatten und 
weissen Hautdecke mit Fluctuation, in der 
Achselhöhle eine bohnengrosse, leicht 
druckempfindliche Lymphdrüse. Troje 
excidirt die alte Narbe und die oberhalb 
gelegene vorgewölbte Hautstelle; er ge¬ 
langt dabei in eine subcutane Abscesshöhle, 
die mit der Abscesswand exstirpirt wird. 
Im September wird dann noch „die linke 
Achselhöhle und die linke Jnfracla- 
viculargrube, in der sich mittlererweile 
ganze Packete von erbsen- bis 
bohnengrossen Lymphomen ent¬ 
wickelt hatten, ausgeräumt. Prof. Be¬ 
ne cke (Braunschweig), der das exstirpirte 
Material mikroskopisch untersuchte, con¬ 
statirt den tuberkulösen Charakter des 
subcutanen Einschmelzungsheerdes und 
der Lymphdrüsentumoren: die Bilder sind 
„etwas eigenartig* 4 , „haben mit echter 
Perlsucht viel Aehnlichkeit“, „in¬ 
dessen kommen durchaus ähnliche Bilder 
fibröser Heilung auch bei gewöhnlichem 
Lupus, bei welchem eine Beziehung zu 
PerLuchtinfection ausgeschlossen ist, vor.* 4 
Es ist also eine sichere histologLche 
Identificirung des Falles als Rindertuberkel- 
bacilleninfection, i. e. als Perlsucht im Gegen¬ 
satz zu gewöhnlicher Tuberkulose, nicht 
möglich gewesen; trotzdem — meint Troje 
— hiesse es nach Lage der Dinge der 
Logik Zwang anthun, wollte man nicht die 
recidivirende tuberkulöse Erkrankung der 
Haut, sowie die nachfolgende tuberkulöse 
Erkrankung der Lymphdrüsen in diesem 
Falle auf eine Uebertragung von Perlsucht¬ 
material vom Rind auf den Menschen 
zurückführen. Koch selbst, dem Troje 
seinen Fall vorstellte, hat diesem Schluss 
„grosse Wahrscheinlichkeit“ zugesprochen. 

Die Bedeutung des Troje’schen Falles 
ist klar. Koch hatte behauptet, dass die 
Hautinfection der Thierärzte, Fleischer etc. 
mit perlsüchtigem Material stets als un¬ 
bedeutendes, von selbst heilendes Leiden 

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verlaufe, dass in der gesammten Litteratur 
kein einziger Fall vorliege, in welchem 
nach einer solchen auf Infection mit Rinder¬ 
tuberkulose zurückführbaren localen Er¬ 
krankung eine regionäre Lymphdrüsen- 
tuberkulose aufgetreten sei (vergl. d. Zeit¬ 
schrift, S. 25). Dieser Behauptung entzieht 
Troje’s Mittheilung den Boden: die Haut¬ 
infection mit Rindertuberkelbacillen kann 
beim Menschen zu sich ausbreitender Tuber¬ 
kulose lühren. Freilich rückt gerade Troje’s 
Fall die Thatsache in scharfe Beleuchtung, 
dass dies Vorkommniss ein seltenes, 
ausnahmsweises ist, dass für die über¬ 
wiegende Mehrzahl der Fälle Koch’s Auf¬ 
fassung von der relativen Harmlosigkeit 
und Unschädlichkeit solcher Hautinfection 
mit Perlsuchtmaterial zutriffc. 

X- * 

In dem Umstande, dass in seinem Falle 
eine sichere Differenzirung der histolo- 
I gischen Erscheinungen von den durch 
Tuberkelbacillen menschlicher Herkunft 
erzeugten nicht möglich ist, sieht Troje 
ein weiteres Beweismoment für die We- 
i senseinheit der Menschentuberkel- 
j bacillen und der Rindertuberkel- 
I bacillen. Zu ähnlichem Ergebniss auf 
anderem Wege gelangt v. Hanse mann 1 ) 
gelegentlich eines in der Berliner medici- 
nischen Gesellschaft (Sitzung vom 4. Fe¬ 
bruar 1903) gehaltenen Vortrages über 
Fütterungstuberkulose: Nach seiner 
Meinung ist es für die Impfung mit tuber¬ 
kulösem Material in die Haut gleich¬ 
gültig, ob die Bacillen vom Rinde 
oder Menschen stammten. Auch in 
letzterem Falle verlaufe die Aflection local 
und harmlos; das beweise der Leichen¬ 
tuberkel, „ein ungern gesehener, aber doch 
keineswegs gefürchteter Gast.“ Das maass¬ 
gebende Moment sei die Disposition: 
diese entscheide, ob eine Infection über¬ 
haupt erfolge und ob, resp. in welchem 
Maasse sie sich ausbreite. Verletzungen 
bei Sectionen tuberkulöser Menschen, 
rechnet Hansemann, sind ungleich häu¬ 
figer, als die sog. Leichentuberkel. Er sah 
solche in sieben Jahren, während welcher 
ca. 250 Menschen bei den Sectionen in 
seinem Institute beschäftigt waren, nur vier¬ 
mal. Wenn er diese Zahl selbst auf zehn 
erhöhe und die Zahl der Secirenden auf 
200 herabsetze, so würde das noch immer 
95% nicht-disponirter Individuen ergeben. 

Wegen der Nichtberücksichtigung des 
Momentes der Disposition beanstandet 
Hansemann auch einen anderen Punkt ir. 

0 Bcrl. klin. Wochenschr. 1903, No. 7 u. 8. 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


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Koch’s Ausführungen, den Vergleich mit 
dem Typhus und der Fleischvergiftung. 
Wie bei diesen, so hatte Koch geschlossen 
(vgl. S. 26), müssten auch bei der Tuber¬ 
kulose Gruppen- und Massenerkrankungen 
Vorkommen, wenn wirklich Fleisch und 
Milch perlsüchtiger Rinder als Tuberkulose¬ 
übertrager wirksam wären. Hansemann 
hält den Vergleich der acuten Infectionen 
mit der Tuberkulose überhaupt für unzu¬ 
lässig, weil bei letzterer zwischen dem Ein¬ 
dringen des Infectionserregers und dem 
Hervortreten seiner Wirkung eine längere 
Zeit liege, in der Schutzvorrichtungen in 
Thätigkeit treten könnten, für deren Ent¬ 
faltung bei den acuten Infectionen keine 
Zeit sei. Dann aber sei die Disposition 
für den Typhus eine ganz andere — nach 
Hansemann’s Ansicht eine viel höhere — 
als für die Tuberkulose; insbesondere sei 
die locale Disposition des Darms für 
beide Infectionen eine verschiedene: der 
Typhus ist eine ausgezeichnete Darm- 
infection, während der Tuberkelbacillus im 
Darme offenbar allerhand Hindernisse findet 
und nur ganz selten durch ihn eindringt. 

Mit letzterem Punkt, der tuberkulösen 
Infection vom Darm aus, der eigentlichen 
Fütterungstuberkulose, beschäftigt sich 
Hansemann in seinem Vortrage besonders 
eingehend. Sein Material umfasst 25 Fälle, 
die innerhalb sieben Jahren zur Beobach¬ 
tung kamen. In fünf Fällen fand sich nur 
ein tuberkulöses Geschwür im Darm und 
sonst nichts von Tuberkulose. Esschliessen 
sich zwölf Fälle an, in denen die Tuber¬ 
kulose von einem Darmgeschwür ausge¬ 
hend, auf die mesenterialen Lymphdrüsen 
oder auf das Peritoneum sich fortgepflanzt 
hat, während im übrigen Körper sich nichts 
von Tuberkulose findet. In acht weiteren 
Fällen schliesslich hat sich die Tuberkulose 
ü6er den Bauchraum hinaus verbreitet, auf 
das Perikard, die Pleura oder die Menin¬ 
gen übergegriffen, aber der Ausgang vom 
Darm aus ist deutlich zu ersehen. In allen 
Fällen — mit Ausnahme zweier, in denen 
einige submiliare Tuberkel in der Lunge 
sich fanden — sind die Lungen intact. 
Dies hält Hansemann für wesentlich und 
charakteristisch: „Die Lunge hat offenbar 
keine Neigung, sich vom Darmcanal aus 
zu inficiren.“ 

Die primäre Darmtuberkulose beim 
Menschen bleibt somit in den meisten 
Fällen eine gerinfügige AiTection: Es ent¬ 
steht an der Eintrittsstelle ein tuberkulöses 
Geschwür, aber dieses kann so vollständig 
ausheilen, dass eine Narbe nur schwer 
oder überhaupt nicht nachweisbar ist. Ob 


der Tuberkelbacillus die intacte Darm¬ 
schleimhaut passiren kann, ohne an der 
Eingangspforte eine Veränderung zu er¬ 
zeugen, ist fraglich. Die Möglichkeit be¬ 
streitet Hansemann nicht, doch scheint 
es ihm nicht erwiesen, auch nicht wahr¬ 
scheinlich; dagegen nimmt er an, dass 
durch „irgendwie kranke, entzündete oder 
ulcerirte Schleimhäute Tuberkelbacillen 
hindurchgehen können, ohne an der Ein¬ 
gangspforte haften zu bleiben. * In den 
mesenterialen Lymphdrüsen, in welche der 
Bacill nun gelangt, ist die Verkäsung oft 
wenig ausgedehnt, sie kann später durch 
Verkalkung heilen; verkalkte Lymphdrüsen 
im Mesenterium ohne sonstige Tuberkulose 
sind nicht so seltene Befunde. Nur ein 
kleinerer Theil der Fälle führt zu erheb¬ 
lichen Erscheinungen — Peritonitis, Peri¬ 
karditis, Pleuritis, Meningitis. 

Die Disposition des Menschen für die 
tuberkulöse Infection vom Darm aus hält 
Hansemann danach für eine geringe. 
Einen Beweis dafür sieht er auch darin, 
dass er unter 40 Sectionen von lungen¬ 
tuberkulösen Kindern unter 10 Jahren, also 
Individuen, die erfahrungsgemäss nicht ex- 
pectoriren, sondern alles Sputum herunter¬ 
schlucken, nur 16 Mal Darm tuberkulöse 
und einmal eine Magentuberkulose consta- 
tirte. Also Tuberkelbacillen, die sicher 
virulent sind, „in Massen, wie sie in perl¬ 
süchtiger Milch oder Fleisch nicht aufge¬ 
nommen werden könnten, selbst wenn man 
sich die Perlsuchtknoten ausschliesslich zur 
Nahrung aussuchte", erzeugen bei Indivi¬ 
duen, die besonders disponirt sind (Be¬ 
weis: die vorhandene Lungentuberkulose), 
noch nicht in der Hälfte der Falle 
eine Darmtuberkulose! 

Nach allem kommt Hansemann zu 
folgenden Schlüssen: „Die primäre Fütte¬ 
rungstuberkulose vom Darm aus ist eine 
seltene Erkrankung. Sie kommt meist bei 
Schwerkranken oder Greisen oder bei be¬ 
sonders disponirten Individuen vor. In den 
meisten Fällen kann sie frühzeitig ausheilen. 
Zuweilen nimmt sie grössere Dimensionen 
an und kann durch Propagation auf andere 
Organe oder allerhand Zufälligkeiten den 
Tod herbeiführen. Es ist bisher in keinem 
Falle beobachtet worden, dass durch In¬ 
fection vom Darm aus eine Lungenschwind¬ 
sucht entstanden wäre.“ 

* • 

♦ 

Rückt Hansemann die Frage der 
Disposition in den Vordergrund, so be¬ 
schäftigt die bakteriologischen Forscher 
mehr die verschiedene Virulenz der 
Tuberkelbacillen. 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


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Die Angabe Koch’s von der Nichtüber¬ 
tragbarkeit der Menschentuberkulose auf 
das Rind findet insoweit allgemeine Be¬ 
stätigung. als es im Experiment nur schwer 
und in geringem Umfange, wenn überhaupt, 
gelingt, Rinder mit Menschentuberkel¬ 
bacillen zu inficiren. Einen beweisenden 
Versuch dieser Art theilt neuerdings Ci- 
pollina 1 ) mit: Er liess ein 1 Monat altes 
Kalb Menschentuberkelbacillen durch eine 
tracheale Fistel inhaliren, injicirte ihm 
grosse Mengen derselben intraperitoneal 
und fand bei der Section nach 2 Monaten 
keine Spur von Tuberkulose. — Die Nicht- 
resp. Schwerübertragbarkeit von Menschen¬ 
tuberkelbacillen auf das Rind aber ist nicht, 
wie Koch seinerzeit annahm, ein Zeichen 
der Artverschiedenheit von Rinder- und 
Menschentuberkelbacillen, sondern sie er¬ 
klärt sich nach Behring und seinen Mit¬ 
arbeitern aus der geringen Empfänglichkeit 
des Rindes für Tuberkulose einerseits und 
aus der geringen Virulenz der Menschen¬ 
tuberkelbacillen andererseits. 

Ueber die biologischen Verschieden¬ 
heiten der Tuberkelbacillenstämme 
verschiedener Herkunft wurden in 
Behring's Institut in Marburg ausser¬ 
ordentlich umfassende Untersuchungen an¬ 
gestellt. deren Resultate P. H. Römer 2 ) in 
seiner eben erschienenen Habilitationsschrift 
zusammenstellt. Danach sind die Rinder¬ 
tuberkelbacillen im allgemeinen virulenter, 
als Menschentuberkelbacillen; sie rufen 
durchweg im Thierexperiment einen schwe¬ 
reren und rascheren Krankheitsverlauf her¬ 
vor und bewirken meist ausgedehntere 
Organerkrankungen als die Menschen¬ 
tuberkelbacillen. Neu ist in dieser Hin¬ 
sicht die Feststellung Römer’s, dass weisse 
Mäuse bei intraperitonealer Einverleibung 
einer grossen Dosis (0.01 g) von Rinder¬ 
tuberkelbacillen in wenigen Tagen unter 
den Erscheinungen einer Septicämie (Tb- 
Bakteriämie) sterben („dieses Verhalten 
ist geradezu typisch für die Rinder¬ 
tuberkelbacillen und könnte fast als diffe¬ 
rential-diagnostisches Mittel in Betracht 
kommen*), während die gleiche Dosis von 
Menschentuberkelbacillen eine relativ lang¬ 
sam sich generalisirende Tuberkulose her¬ 
vorruft. 

Freilich ist die Virulenz, wie bei allen 
anderen Bakterien, keine absolut constante. 
Unter den zahlreichen Stämmen, die in 
Behring’s Institut gezüchtet wurden, fand 

*) Berl. klin. Woch. 1903, No. 8. 

*) Ueber Tuberkelbacillenstämme verschiedener 
Herkunft, R. Friedrich’s Univ. Buchdruckerei 1903, 
Marburg. 

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sich gelegentlich auch eine Menschentuber- 
kelbacillencultur mit ungewöhnlich hoher 
und eine Rindertuberkelbacillencultur mit 
ungewöhnlich geringer Virulenz; auch sind 
Virulenzsteigerungen einer Cultur möglich, 
wie andererseits langsame Virulenzabnahme 
ein gewöhnliches Vorkommniss ist. Ein 
absolut durchgreifender Unterschied in 
der krankmachenden Energie besteht also 
zwischen Menschen- und Rindertuberkel¬ 
bacillen nicht — Anzeichen von Ueber- 
gängen sind überall vorhanden. Immerhin 
wird die einem Tuberkelbacillenstamm zu¬ 
kommende Virulenz im Allgemeinen ziem¬ 
lich energisch festgehalten. 

Es ergab sich nun bei den zahlreichen 
Infectionsversuchen, die in Behring’s In¬ 
stitut vorgenommen wurden, „dass ein 
Tuberkelbacillenstamm, welcher für 
eine Thierart virulenter ist als ein 
anderer unter allen Umständen auch 
für alle anderen Versuchsthiere 
sich infectiöser erweist als dieser“. 
Ferner, dass sich „eine Empfänglich¬ 
keitsskala derart aufstellen lässt, 
dass Meerschweine am meisten 
empfänglich für das Tuberkulose¬ 
virussind, ihnen Kaninchen, hierauf 
Pferde, Ziegen und Schafe und end¬ 
lich Rinder folgen“; „ein Stamm, der 
beispielsweise für Kaninchen und Pferde 
wenig virulent ist, wird dies erst recht für 
Schafe, Ziegen und Rinder sein und ein 
Stamm, der Rinder tödtet, ist erst recht 
gefährlich für die in der Skala weiter oben 
stehenden Thierarten.“ 

Diese Angaben bedürfen noch weiterer 
Prüfung; wenn sie sich bestätigen, ge¬ 
währen sie einen Standpunkt, der Koch’s 
Versuchsergebnisse und die zahlreichen 
ihn bestätigenden Versuche (wie den oben 
erwähnten von Cipollina) in gleicher 
Weise verständlich macht, wie die wenigen 
widersprechenden Resultate von gelegent¬ 
lichem Gelingen der Uebertragung von 
Menschentuberkelbacillen auf das Rind: 
das Rind wäre eben für Tuberkelbacillen 
überhaupt wenig empfänglich und für die 
Menschentuberkelbacillen ganz besonders 
wenig, weil sie im allgemeinen wenig viru¬ 
lent sind ; Menschentuberkelbacillen aber von 
stärkerer Virulenz als gewöhnlich oder in be-: 
sonders grosser Menge dem Rinde einver¬ 
leibt, würden dasselbe zu inficiren vermögen. 

Betrachten wir von dem hier ge¬ 
wonnenen Gesichtspunkt aus die Frage der 
Uebertragung von Rindertuberkelbacillen 
auf den Menschen, so ist zwar die Stel¬ 
lung des Menschen in der Behring’schen 

22 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


April 


Empfänglichkeitsskala natürlich nicht genau 
festzustellen — sie dürfte eine tiefe sein, 
etwas oberhalb des Rindes. Aber die Viru¬ 
lenz der Rindertuberkelbacillen ist ira all¬ 
gemeinen eine höhere als die der Menschen¬ 
tuberkelbacillen. Danach ist die Infections- 
möglichkeit des Menschen durch Rinder¬ 
tuberkelbacillen ohne Zweifel vor¬ 
handen; wie gross dieselbe ist, bleibt offen, 
doch ist sie wahrscheinlich grösser, als 
die Infectionsmöglichkeit des Rindes 
durch Menschenbacillen — was noch 
keineswegs bedeutet, dass sie gross ist. 

So führt die 'rein bakteriologische Be¬ 
trachtung zu demselben Resultat, wie die 
anatomische Untersuchung und die Ca- 
suistik: Die Infectionsgefahr für den Men¬ 
schen durch tuberkulöses Vieh ist gering, 
aber sicher vorhanden. Die prophy¬ 
laktischen Maassnahmen gegenüber Pro- 
ducten perlsüchtiger Rinder müssen des¬ 
halb bestehen bleiben. 

* X 

* 

Zum Schluss sei noch kurz auf den 
Vortrag über „Tuberkulosebekämpfung“ 
hingewiesen, den E. v. Behring kürzlich 
in Wien gehalten hat. 1 ) Was Behring in 
demselben über den Fortschritt seiner 
Immunisirungsarbeiten berichtet, haben wir 
in einem früheren Referate (vergl. diese 
Zeitschrift 1902, S. 261) bereits mitgetheilt. 
Hinzuzufügen wäre noch, dass Behring 
jetzt dazu übergegangen ist, möglichst junge 
Kälber zu immunisiren. Wenn er 0,00+ g 
seiner getrockneten Menschentuberkel¬ 
bacillen Kälbern von durchschnittlich 7 Mo¬ 
naten intravenös injicirte, trat nicht selten 
t in mehrtägiges Fieber ein. Es hängt dies 
wahrscheinlich damit zusammen, dass die 
Kälber schon Tuberkelbacillen aufzunehmen 
Gelegenheit hatten, wenn sie auch noch 
nicht tuberkulös geworden sind. Je jünger 
die Thiere sind, um so seltener werden 
Tuberkulose Infectionen angetroffen. Des¬ 
halb bevorzugt Behring in der Praxis 
jetzt die Impfung von Kälbern unter 
3 Monaten; diese reagiren niemals acut 
auf die intravenöse Einspritzung. 


Ueber den Werth seiner Schutzimpfung 
urtheilt Behring jetzt mit gesteigertem 
Vertrauen. Bestätigende Versuchsergeb¬ 
nisse von Thomassen (Utrecht), der bis¬ 
herige Erfolg in der landwirtschaftlichen 
Praxis, das 1 l /j Jahre lange Freibleiben 
seiner eigenen geimpften Rinder in tuber¬ 
kulosedurchseuchten Ställen — alles dies 
lässt ihn mit Bestimmtheit aussprechen, 
dass es sich nur noch darum handeln kann, 
ob die Form der Impfung die richtige ist 
oder einer Verbesserung bedarf, dass aber 
an ihrer Wirksamkeit im Princip ein 
Zweifel nicht mehr existiren kann. 

Was die Uebertragung der Instituts¬ 
experimente in die menschliche Praxis an¬ 
langt, so hat Behring therapeutische Ver¬ 
suche noch nicht angestellt und stellt sie 
auch vorläufig nicht in Aussicht. Dagegen 
denkt er an die Immunisirung der 
Kinder. Von einer intravenösen Ein¬ 
spritzung der Bacillen wird dabei natür¬ 
lich nicht die Rede sein können; eine 
isopathische Immunisirung stösst beim 
Menschen überhaupt auf sehr grosse 
Schwierigkeiten. Behring hat deshalb an 
eine Immunisirung durch Antikörper ge¬ 
dacht. Freilich hält diese nur eine kurze 
Zeit vor, während das Tuberkulosevirus eine 
ausserordentlich zähe parasitäre Existenz¬ 
fähigkeit besitzt. Aber es wäre schon viel ge¬ 
wonnen, wenn man den Säugling über die 
ersten Lebenswochen, die nach Behring 
„die gefährlichste Periode der Tuberkulose- 
Ansteckungsgefahr“ sind, hinwegbringen 
könnte. Gerade beim Säugling liegen die Be¬ 
dingungen günstig, weil bei ihm Infections- 
stoffe wie Antikörper noch unverändert 
durch die Intestinalschleimhaut hindurch¬ 
gehen. Behring regt deshalb die Idee 
an, menschliche Säuglinge mit der 
Milch von tuberkuloseimmunenKühen 
zu ernähren. Ob diese Idee realisirbar 
ist, lässt Behring noch dahingestellt. Vor¬ 
erst will er im Thierversuch erproben, ob 
mit derartiger Immunmilch bei Kälbern eine 
Tuberkuloseimmunität zu erzeugen ist. 

F. Klemperer. 


Heilung der chronischen Nierenentzündung durch operative 

Behandlung? 


Ueber die Heilung des chronischen 
Morbus Brightii durch operative Behandlung 
hat der New Yorker Gynäkologe Professor 
G. M. Edebohls Anfang vorigen Jahres 

l ) berliner klin. Wochenschrift 1903, No. 1t. 
Vortrag, gehalten im Wiener Verein für innere 
Medicin am 12. März 1903. 


eine kleine Broschüre erscheinen lassen, 
welche vor Kurzem durch die Ueber- 
setzung von Dr. Beuttner in Genf 1 ) auch 
dem deutschen ärztlichen Publikum zu¬ 
gänglich gemacht wurde. Edebohls’ 

*) Verlag von H. Kündig, Genf, Corraterie. 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


171 


Schrift soll hier in ausführlicher Inhalts¬ 
angabe wiedergegeben werden, weil seine 
Resultate sehr erstaunliche sind und weil 
seine Angaben unter allen Umständen eine 
Nachprüfung verdienen. Die operative 
Behandlung der chronischen Nephritis will 
uns ja auf den ersten Blick als etwas Un¬ 
logisches erscheinen; wie soll eine Ge- 
webstrennung zu einer Beeinflussung cellu¬ 
larer Vorgänge in der Niere führen, die 
doch sicherlich durch hämatogene Ver¬ 
giftungen verursacht ist? — Wir werden 
aber gut thun, nicht schnell abzusprechen, 
sondern erst die Thatsachen genau zu 
prüfen. Es wäre nicht das erste Mal, dass 
aus den Erfolgen chirurgischer Eingriffe 
neue pathologische Anschauungen sich ge¬ 
bildet hätten. — Edebohls selbst ist zu 
seinem operativen Vorgehen keineswegs 
durch eine leitende Theorie, sondern durch 
die bewusste Weiterverfolgung zufällig er¬ 
zielter Erfolge gedrängt worden. Unter 
seinen zahlreichen Patientinnen mit Wander¬ 
niere, denen er die gelockerte Niere fest¬ 
genäht hatte, befanden sich sechs, bei 
denen zugleich chronische Nephritis be¬ 
stand; bei vier von diesen verschwanden 
Eiweiss und Cylinder aus dem Harn einige 
Zeit nach Ausführung der Nephropexie. 
Dadurch ist Edebohls auf die Idee ge¬ 
kommen, ganz unabhängig von der Wan¬ 
derniere die chronische Nephritis durch 
Nephropexie zu behandeln. Zuerst meinte 
er, dass die günstigen Resultate nur durch 
die Lagecorrectur erzielt würden. Später 
aber konnte er, bei Gelegenheit neuer 
Operationen nach vorausgegangener Ne¬ 
phropexie, die durch die letzteren an der 
Niere gesetzten Veränderungen in vivo 
studiren. Er bemerkte dabei die Bildung 
von starkem Bindegewebe, das die Niere 
mit der Umgebung verband; in den neuen 
Adhäsionen und bindegewebigen Bändern 
verliefen zahlreiche zum Theil grosse Ar¬ 
terien, deren Blutstrom nach der Niere zu 
gerichtet war. Er bildete sich danach die 
Vorstellung, dass eine durch die Operation 
gesetzte Hyperämie der Niere den Haupt¬ 
factor bei der Heilung nephritischer Vor¬ 
gänge bildete. In Folge dessen begnügte 
sich Edebohls bei seinen letzten Ope¬ 
rationen nicht mit der blossen Annähung 
der Niere, sondern suchte das Parenchym 
derselben in innige Berührung, mit dem 
Nierenfettgewebe zu bringen, um möglichst 
grosse Gefässneubildung zu erreichen. Dies 
geschah durch möglichst vollkommene Ex- 
cision der Nierenkapsel (decapsulatio renum). 
Die Ausführung der Operation beschreibt 

Edebohls in folgender Weise: „Die 

• 

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Patientin wird in Bauchlage auf den Ope¬ 
rationstisch gelegt, während das Abdomen 
von einem Luftkissen gestützt wird. Die 
Incision beginnt unterhalb der rechten 
Rippe und geht zur Crista ilei; die Muskel¬ 
fasern des Latissimus dorsi werden stumpf 
getrennt und zur Seite gedrängt. Tren¬ 
nung der Fascia transversalis, wodurch das 
perirenale Fett freigelegt wird. Dieses 
wird über der Nierenconvexität getrennt 
und so die Capsula propria erreicht; die 
Fettkapsel wird allerseits stumpf abgelöst, 
auch um die Nierenpole herum, bis der 
Hilus erreicht ist. Die Niere wird nun, 
noch von der Capsula propria bekleidet, 
aus dem Bett der Fettkapsel herausge¬ 
hoben und vor die Wunde gebracht. Die 
Capsula propria wird dann auf der con¬ 
vexen Nierenseite der Länge nach ge¬ 
spalten und die Spaltung auch noch um 
die beiden Pole herum weiter geführt; 
jede Hallte wird für sich von der darunter 
liegenden Nierensubstanz abgestreift, bis 
die ganze Nierenoberfläche freiliegt. Die 
abgelöste Capsel wird an der Nierenbasis 
abgetragen. Die vorhergegangene Luxation 
der Niere gestaltet diesen Act, der sonst 
sehr schwierig sein würde, zu einem 
leichten Eingriff. Die Niere wird in die 
Fettumhüllung zurückgebracht und die 
äussere Wunde geschlossen. Beide Nieren 
werden nacheinander der Operation unter¬ 
worfen.“ 

Im Ganzen berichtet Edebohls über 
18 Patientinnen, an welchen wegen chro¬ 
nischer Nephritis operative Eingriffe ge¬ 
macht worden sind, meist doppelseitige 
Nephropexie, in den beiden letzten Fällen 
die jetzt zur Normaloperation erhobene 
Decapsulation. Es muss nun gleich be¬ 
tont werdrn, dass die Berichterstattung in 
keiner Weise den Anforderungen ent¬ 
spricht, die wir an solche Darbietung zu 
stellen gewöhnt sind. Die Krankenge¬ 
schichte besteht fast immer nur in der 
kurzen Angabe: „die Bright’sche Krank¬ 
heit bestand seit so und so lange“, wir 
erfahren fast niemals etwas über das All¬ 
gemeinbefinden der Patienten, den Unter¬ 
suchungsbefund der inneren Organe, auch 
die Hambefunde sind nur selten einiger- 
massen genau angeführt. Die genaue Dia¬ 
gnose wird erst durch den Nierenbefund 
während der Operation gestellt; höchst 
auffallend ist dabei, dass in den meisten 
Fällen nur einseitige entzündliche Ver¬ 
änderungen an der Niere gefunden werden. 

In den meisten Fällen müssen wir die ge¬ 
stellten Diagnosen auf Treu und Glauben 
hinnehmen. Desgleichen sind die Nach- 

22 * 

TSrigiral frem 

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172 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


April 


richten über das Befinden der Patienten 
nach der Operation sehr lückenhaft und 
zumeist muss sich der Leser mit der Notiz 
begnügen: bald nach der Operation Hei¬ 
lung eingetreten, Harn normal. 

Unter den 18 Operirten ist keiner der 
Operation erlegen, zehn haben ein mannich- 
faches Schicksal. Mehrere haben gar keine 
Nachrichten gegeben, bei mehreren war 
die Zeit nach der Operation noch zu kurz, 
um verwerthbare Resultate zu geben; einige 
sind etwas gebessert und erwarten noch 
Heilung. Wirklich geheilt sind nach Ede- 
bohls acht Patientinnen, bei welchen Ei- 
weiss und Cylinder, welche vorher reich¬ 
lich vorhanden waren, vollkommen ver¬ 
schwanden. DieZeit des Verschwindens nach 
derOperation schwankt zwischen 1 und 12 Mo¬ 
naten; die Dauer der Heilung beträgt bis 
jetzt 12—100, im Durchschnitt 44 8 / 4 Monat. 
— Edebohls stellt sich nach den 
oben wiedergegebenen Befunden vor, dass 
die Heilung durch die postoperative Hyper- 
ämisation bewerkstelligt wurde und beruft 
sich auf folgende Worte aus Ziegler's 
Pathologie: „Wenn ein Theil des Nieren¬ 
epithel durch einen krankhaften Process zu 
Grunde gegangen ist, der das Bindegewebe 
verschont hat, so kann dieser Verlust bald 
wieder durch regenerative Proliferation aus 
dem übrig gebliebenen Epithel ersetzt 
werden; ist dazu die Circulation eine ge¬ 
nügende, so kann das neugebildete Epithel 
die secretorische Function des zu Grunde 
gegangenen Epithels übernehmen.“ Die in 
Folge der Operation zunehmende Blut¬ 
zufuhr soll auch die Aufsaugung der in der 
Niere befindlichen Entzündungsprodukte 
begünstigen. Jedenfalls kann die Heilung 
durch die Operation nur eingeleitet werden, 
während der Fortschritt der Heilung ein 
langsamer, von der Entwicklung der Hyper- 
ämisation abhängender ist. Edebohls ist 
nach seinen Erfahrungen überzeugt, dass 


die Bright'sche Krankheit durch operative 
Eingriffe geheilt werden kann. Er vertritt 
den Standpunkt, dass jeder Patient mit 
chronischer Nephritis der operativen Be¬ 
handlung unterworfen werden soll, der 
nicht unheilbare Complicationen aufweist, 
die ihrerseits die Narkose contraindiciren 
und dessen Lebensdauer ohne Operation 
muthmasslich noch mehr als einen Monat 
beträgt. Die Operation kann nicht schnelle 
Heilung bringen, aber sie bahnt eine all¬ 
mähliche Heilung durch Besserung der 
Circulationsverhältnisse an. — Der deutsche 
Leser wird mit Verwunderung wahrnehmen, 
wie wenig Material zur Begründung seiner 
Behauptungen Edebohls beibringt; so 
schwerwiegende Fragen können durch 
so wenig ausführliche Krankenge¬ 
schichten natürlich nicht entschieden 
werden; auch das fast vollständige Fehlen 
aller mikroskopischen und histologischen 
Untersuchungen wirkt sehr störend. Trotz 
alledem dürfen die von Edebohls berich¬ 
teten Thatsachen natürlich nicht ignorirt 
werden. Es ist einigermassen auffallend, 
dass 5 / 4 Jahr seit der Publikation Ede¬ 
bohls’ vergangen sind, ohne dass von 
deutschen Chirurgen über ähnliche Ope¬ 
rationen berichtet ist. So augenfällig die 
Lückenhaftigkeit der literarischen Leistun¬ 
gen des amerikanischen Operateurs ist, so 
ist doch eine Nachprüfung seiner Angaben 
dringend geboten. Da die Aussichten des 
chronischen Morbus Brightii bei innerlicher 
Behandlung wenig tröstliche sind, anderer¬ 
seits die „Decapsulation“ nach Edebohls 
einen gefahrlosen Eingriff darstellt, so 
möchte ich doch wenigstens in desolaten 
Fällen von chronischer Nephritis zur Vor¬ 
nahme der Operation rathen, damit aus gut be¬ 
obachteten Verlaufsformen Klarheit hervor¬ 
ginge, ob wirklich die chirurgische Therapie 
des Morbus Brightii in Zukunft ernsthaft in 
Betracht zu ziehen ist. G. Klemperer. 


r 

Bücherbesprechungen. 


E. Metschnikoff. Immunität bei In- 
fectionskrankheiten. Uebersetzung 
von Julius Meyer. Jena, Gustav 
Fischer. M. 10.—. 

Mit grossen Erwartungen durfte man an 
die Lektüre des Werkes des hervorragenden 
Pathologen gehen und es sei gleich betont, 
dass die Hoffnung auf einen interessanten li¬ 
terarischen Genuss durchaus berechtigt war. 
Verfasser giebt in fliessender Schreibweise 
eine fesselnde Darstellung der Immunitäts¬ 
probleme, wobei weder das grosse That- 

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sachenmaterial, das namentlich durch die 
Forschungen französischer und deutscher 
Autoren gewonnen wurde, noch die wich¬ 
tigen, heuristischen Hypothesen und Theo¬ 
rien zu kurz kommen. Die umfassende, 
zoologische und historische Bildung des 
ideenreichen Autors heben das Buch über 
das Niveau, das im Allgemeinen bei der 
Zusammenstellung von Lehrbüchern erreicht 
wird. Natürlich stellt Verfasser seine be¬ 
kannten, keineswegs allgemein getheilten 
Anschauungen in den Vordergrund, wird 

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April 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


173 


jedoch fast durchweg den abweichenden 
Ansichten anderer Forscher gerecht. Die 
Uebersetzung darf als mustergültig be¬ 
zeichnet werden. 

Alle diese Vorzüge, insbesondere die 
subjective Durchdringung der ganzen Lehre 
von einer originellen Anschauung aus, 
machen das Buch Demjenigen werthvoll, 
der die wichtigsten Thatsachen des Gebietes 
kennt und auf Grund eigener Untersuchun¬ 
gen beurtheilen kann. Zur Einführung 
in die Lehre der Immunität kann das 
Buch jedoch nicht empfohlen werden. 

Martin Jacoby (Heidelberg.) 

0. Minkowski. Die Gicht. Specielle Pa¬ 
thologie und Therapie. Herausgegeben 
von Nothnagel. VII. Bd. III. Theil. 
Wien 1903. Alfred Hölder. M. 9.-. 

Wir dürfen ehrlich bekennen, dass dieses 
Kapitel der Pathologie, die Gicht, so gut 
wie keinen Fortschritt mehr gemacht hat, 
seitdem Garrod sein klassisches Buch 
darüber geschrieben hat, und das sind über 
40 Jahre her! Trotz unermüdlichster For¬ 
schungsarbeit, die hier aufgewendet worden 
ist, haben wir heute von dem Wesen dieser 
Krankheit noch keine sichereren Vorstel¬ 
lungen wie damals und unser bestes 
Wissen darin ist immer noch Empirie! 
Nur in der Erkenntniss der Herkunft und 
des Wesens der Harnsäure haben wir 
heute etwas präcisere Vorstellungen, aber 
selbst deren Rolle für die Pathologie der 
Gicht ist eine umstrittene. Es war daher 
gewiss eine schwierige und heikle Auf¬ 
gabe, gegenwärtig eine Monographie über 
die Gicht zu schreiben. Ein Kliniker von 
derBedeutungMinkowski’s, dessen gleich¬ 
zeitige experimentelle Erfahrung und Kritik 
eine so unbestrittene ist, durfte wohl das 
Wagniss unternehmen. Dass er ihm ge¬ 
wachsen war, zeigt sein Werk. Der Prak¬ 
tiker, der über reiche Erfahrung in einem 
grossen Wirkungskreis gebietet, vereinigt 
sich hier mit dem experimentellen Patho¬ 
logen zu einer guten Harmonie! 

Wenn der Verfasser selber im ersten 
Kapitel seines Werkes darüber Klage führt, 
dass auch am Schluss des XIX. Jahrhun¬ 
derts die Ansichten über das Wesen der 
Gicht nicht minder auseinandergehen und 
nicht sicherer begründet sind als in den 
frühesten Zeiten, in welchen man über die 
Entstehung dieser Krankheit nachzudenken 
begann, so verkennt er doch nicht „den 
verheissungsvollen Ausblick in die Zu¬ 
kunft*, den uns das neue Jahrhundert ge¬ 
währt. Zwei Momente moderner Forschung 
hält er für bedeutungsvoll zu der einstigen 

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Erforschung der Rolle der Harnsäure im 
menschlichen Organismus und der Patho¬ 
genese der Gicht. Einmal die durch die 
Arbeiten von Miescher und Kossel ge¬ 
schaffene Erkenntniss von dem Ursprung 
der Harnsäure und ihrem Zusammenhang 
mit den Kerneiweissen. und zum anderen 
die Erforschung der chemischen Natur der 
Harnsäure, die durch E. Fischer’s be¬ 
rühmte Untersuchung über die Purinkörper 
abgeschlossen worden ist. — Freilich von 
da bis zur Aufklärung des Wesens der 
Gicht ist noch ein langer Weg! — 

Wir müssen uns versagen, der aus¬ 
gezeichneten Darstellung des Krankheits¬ 
bildes und seiner einzelnen Erscheinungen, 
den physiologischen, pathologisch-anato¬ 
mischen, ätiologischen, diagnostischen, pro¬ 
gnostischen und therapeutischen Kapiteln 
im Einzelnen gerecht zu werden, und 
möchten nur auf einige Punkte, die uns für 
die ganze Anschauung des Autors wesent¬ 
lich erscheinen, etwas näher eingehen. 

Minkowski hat bekanntlich im Jahre 
1900 gleichzeitig mit Kossel’s Schüler 
Goto die Beobachtung gemacht, dass man 
nach dem Zusammenbringen einer alka¬ 
lischen Lösung von reiner Nucleinsäure 
mit einer Lösung von harnsaurem Natron 
in dem Gemisch weder durch Essigsäure 
noch durch ammoniakalische Silberlösung 
und Magnesiamischung Harnsäure mehr 
ausfällen kann. Minkowski schloss dar¬ 
aus, dass dabei eine Harnsäure-Nuclein- 
säureverbindung entstanden sei, die auch 
bei saurer Reaction gelöst bleibt und mit 
den gebräuchlichen Harnsäurereagentien 
nicht mehr nachweisbar ist. 

Auf Grund dieser Erfahrungen in vitro 
hält er es nun für wahrscheinlich, dass 
die Harnsäure, wie dies auch verwandte 
Purinbasen vermögen, „im Blut und in 
den Gewebssäften zunächst als Nu- 
cleinsäureverbindung auftritt, und dass 
durch diese Paarung mit dem Nuclein- 
säurerest nicht nur der Uebergang der 
Purinbasen in Harnsäure, sondern auch die 
Lösung und der Transport, sowie das wei¬ 
tere Schicksal der Harnsäure im Organis¬ 
mus geregelt wird.“ Diese freilich durch¬ 
aus hypothetische Vorstellung Minkows- 
ki’s zieht sich gewissermassen wie einrother 
Faden durch seine Monographie hindurch; 
in dem kurzen Kapitel „Theorie der Gicht“ 
wird diesem Gedanken sogar eine gewisse 
beherrschende Stellung eingeräumt. Die 
gemeinschaftliche Ursache, die seiner Mei¬ 
nung nach den beiden Haupterscheinungen 
der Gicht, nämlich der Ueberladung des 
Blutes mit Harnsäure sowie die Ablagerung 

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174 


April 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


der Urate in den Gichtherden, zugrunde 
liegt, ist ein abnormer Verlauf des Nuclein- 
umsatzes. Infolge davon kommt es, dass 
die Harnsäure nicht diejenigen Verbin¬ 
dungen eingehen kann, durch welche nor¬ 
malerweise ihr Transport im Körper und 
ihr weiteres Schicksal vermittelt wird. Es 
resultirt vielmehr eine abnorme Bin¬ 
dungsweise der Harnsäure, die nicht 
mehr an die Stätten gelangen kann, wo sie 
normalerweise zersetzt oder ausgeschieden 
wird, vielleicht nicht mehr „harnfähig“ ist, 
und deshalb nicht mit dem Harne eliminirt 
wird. Die Folge davon ist die Anhäufung 
der Harnsäure im Blut, resp. die Ablage¬ 
rung in den Uratherden. — Durch diese 
Annahme einer abnormen Bindungsweise 
der Harnsäure zur Erklärung der Harn¬ 
säurevermehrung im Blute des Gichtikers 
sowie der Uratablagerungen begegnet 
Minkowski zweifellos sehr geschickt dem 
naheliegenden Einwand, den man gegen 
seine Vorstellung von der Rolle der Harn¬ 
säure Nucleinsäureverbindung im Blut er¬ 
heben müsste, dass es nämlich unter diesen 
Umständen überhaupt unmöglich wäre, eine 
Harnsäurevermehrung im Blute mit den ge¬ 
bräuchlichen Methoden nachzuweisen! Die 
Möglichkeit eines derartigen Nachweises, 
muss also schon allemal eine pathologische 
Bindungsweise der Harnsäure zur Voraus¬ 
setzung haben. Bei anderen nichtgichti¬ 
schen Uracidämieen, z. B. bei derLeukämie, 
denkt Minkowski an eine andere Bin¬ 
dungsweise der Harnsäure als bei der 
Gicht. Er hält es sogar für wahrscheinlich, 
dass das Versagen der Garrod’sehen 
Fadenprobe im Leukämikerblut auf seinem 
hohen Nucleinsäuregehalt beruht, welcher 
auch die Ursache sei für die Seltenheit der 
Uratablagerungen bei der Leukämie. — Wie 
kommt es dann aber, dürften wir wohl 
einwenden, dass sich diese leukämische 
Uracidämie durch die Harnsäurereagentien 
überhaupt nachweisen lässt? 

Wenn Minkowski gar so weit geht, 
es für möglich zu halten, dass dem Gich- 
tiker eine nucleinreiche Nahrung unter Um¬ 
ständen mehr Nutzen durch Mehrzufuhr 
solcher harnsäurelösenden Nucleinsäure 
bringen könne als Schaden durch die in 
folge vermehrter Purinkörperzufuhr erhöhte 
Harnsäurebildung, so lassen sich gegen 
diese Auffassung gewisse Bedenken nicht 
unterdrücken. Wenn dem nämlich so wäre, 
so dürfte doch dann auch bei vermehrter 
Nucleinzufuhr die Blutharnsäure infolge 
ihrer Bindung als Harnsäure-Nucleinsäure 
auf dem gewöhnlichen Wege nicht nach¬ 
weisbar sein. Nun hat aber Wein trau d 


doch bei seinen bekannten Fütterungs¬ 
versuchen mit Thymus, die zu starker 
Harnsäurevermehrung im Urin geführt 
haben, auch eine beträchtliche Vermehrung 
der Blutharnsäure mit den Harnsäure¬ 
reagentien nachweisen können! 

Als bemerkenswerth möchten wir aus 
dem Kapitel „über die pathologisch-anato¬ 
mischen Veränderungen bei der Gicht“ 
hervorheben, dass Minkowski da mit der 
seit Ebstein’s Untersuchungen allgemein 
acceptirten Vorstellung bricht, dass die 
Nekrose der Gichtheerde die primäre und 
die Uratablagerung die secundäre Er¬ 
scheinung sei. Minkowski ist, gestützt 
auf eigene Untersuchungen an Präpa¬ 
raten von Gichtheerden, der Meinung, 
„dass die neueren Autoren — im Bann 
der Ebstein’schen Lehre — die Grund¬ 
frage zu sehr aus dem Auge gelassen 
haben: Bestehen denn die Heerde, in 
welchen die Uratmassen liegen, wirk¬ 
lich aus nekrotischem Gewebe?“ Diese 
Vorstellung erscheint ihm aus verschie¬ 
denen Gründen unzutreffend, unter anderem 
auch deshalb, weil nach seinen Erfahrungen 
die nach Auflösung der Urate homogen aus¬ 
sehenden Gichtheerde bei der van Gieson- 
schen Färbung nicht den für nekrotische 
Gewebe charakteristischen Farbenton an¬ 
nehmen. Er betrachtet daher diese schwach¬ 
gefärbten homogenen Heerde als nichts 
anderes „als die — höchstens mit den Ein¬ 
bettungsmassen (Celloidin und dergl.) an¬ 
gefüllten — Lücken oder allenfalls die 
nach Auflösung der Krystalle zurück¬ 
bleibenden Einschlüsse, wie sie bei der 
Krystallisation aus den, nichts weniger als 
chemisch reinen, eiweisshaltigen Lösungen 
mit den Uratkrystallen ausgefallen sein 
müssen. . .“ 

Der Uratheerd umgiebt sich denn als 
Fremdkörper nachträglich mit einem Gra¬ 
nulationswall, der entweder die Resorption 
der abgelagerten Heerde auf dem Wege 
der Phagocytose, und damit Rückbildung 
des Heerdes besorgt oder zu einer Ab¬ 
kapselung der Uratmassen durch fibröses 
Gewebe führt. 

Auch die Ebstein’sche Vorstellung, 
dass beim Zustandekommen der Gichtniere 
eine Nekrose des Nierengewebes stets der. 
Uratablagerung voraufgehe, betrachtet 
Minkowski auf Grund fremder und eigener 
anatomischer Untersuchungen als unwahr¬ 
scheinlich. Auch hier sieht er den pri¬ 
mären Process in krystallinischen Urat- 
ausscheidungen, deren erste Anfänge sich 
in den Epithelien der gewundenen Harn- 
canälchen abspielen. 


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April 


175 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


So wäre also die als Natriumurat aus 
dem dauernd mit Harnsäure überladenen 
Blut und Gewebesaft ausfallende Harnsäure 
wieder als primäres Moment bei dem Zu¬ 
standekommen der Gichtheerde mit Ehren 
eingesetzt! 

Ein umfangreicher Abschnitt des Buches 
ist der Therapie der Gicht gewidmet. Ihre 
Aufgaben bestehen in einer Beeinflussung 
der primären Stoffwechselanomalie in dem 
Sinne, dass Schädlichkeiten ausgeschaltet 
werden, die erfahrungsgemäss als günstige 
Momente für die Entwickelung der Gicht 
in Frage kommen. Einer der wichtigsten 
Gesichtspunkte der Therapie ist, eine 
Lieberladung des Organismus mit Harn¬ 
säure zu verhindern. Das geschieht durch 
Verminderung der Harnsäurebildung in¬ 
folge verminderter Zufuhr von Harnsäure¬ 
vorstufen in der Nahrung, das geschieht 
ferner durch Förderung der Harnsäure¬ 
ausscheidung mittelst Anregung der Harn- 
secretion auf dem Wege reichlicher Flüssig¬ 
keitszufuhr, das geschieht weiter durch 
Beschleunigung der Harnsäureoxydation, 
wozu uns freilich nur die Erhöhung der 
Arbeitsleistung des Organismus und da¬ 
mit der Gesammtsumme der Oxydations- 
processe zur Verfügung steht; und endlich 
arbeiten wir der Harnsäureüberladung des 
Blutes entgegen durch Erhöhung der Harn¬ 
säurelöslichkeit. Die Verabreichung von 
hamsäurelöslichen Salzen und Basen, wie 
Lithium, Piperazin, Lysidin u. s. w. lässt 
sich nach unseren heutigen Erfahrungen 
schlecht rechtfertigen. Aussichtsreicher 
sind — wie Minkowski mit Recht hervor¬ 
hebt — Bemühungen, die darauf ab¬ 
zielen, die Harnsäure im Organismus in 
festere Verbindung mit organischen Atom- 
complexen überzuführen, die bei der elek¬ 
trolytischen Dissociation ihrer Lösungen 
nicht ein Harnsäure-Ion abspalten, wie die 
salzartigen Verbindungen der Harnsäure 
es thun müssen, sondern ein leichtlösliches 
Ion, in dem die Harnsäure an ein compli- 
cirtes Atom gekettet ist. Als solche Ver¬ 
bindung kennen wir die leicht lösliche 
Formaldehyd - Harnsäureverbindung , die 
vielleicht noch einmal für die Gichttherapie 
praktische Bedeutung erlangt. 

Gemäss seiner Deutung von der Rolle 
der Harnsäure-Nucleinsäureverbindung im 
intermediären Stoffwechsel, hat Min¬ 
kowski auch den Versuch gemacht, aus 
der Nucleinsäure und ihren Spaltproducten 
therapeutischen Nutzen zu ziehen. Er ver¬ 
abreichte zu dem Zweck eine purinbasen¬ 
arme Nucleinsäure, die Thyminsäure, an 
Gichtische. Dabei schien es in einem Fall, 

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als ob auch die vorhandenen Gichtknoten 
sich etwas verkleinert hätten, bei gleich¬ 
zeitiger erhöhter Harnsäureausscheidung. 

Die Resultate sind indess nicht eindeutig; 
immerhin hält es Minkowski nicht für 
aussichtslos, Versuche in dieser Richtung 
fortzusetzen. 

Wenn auch der weitere Fortgang in 
der Entwicklung der Lehre von der Gicht 
noch manche Wandlungen in unseren 
Vorstellungen über das Wesen dieser 
Stoffwechselerkrankung bringen wird, so 
wird doch diese hervorragende Min- 
kowski’sche Bearbeitung immer ein be¬ 
deutender Markstein ihrer Entwicklung 
bleiben. Ein Werk, das wie dieses so 
reich ist an Ideen, an eigener Arbeit 
und eigener Erfahrung wird sicherlich in 
unserer Litteratur, die keinen Ueberfluss 
hat an guten Gichtmonographien, die 
warme Anerkennung finden, die es in 
höchstem Maasse verdient. 

F. Umber (Berlin). 

i Dr. Otfrid Foerster, Assistent der Psy¬ 
chiatrischen Klinik in Breslau. Die 
Physiologie und Pathologie der 
Coordination. Jena 1902, Gustav 
Fischer. M. 7.—. 

Im Vorwort zu seinem Buche weist 
Verfasser darauf hin, dass eine zusammen¬ 
fassende Darstellung der Lehre von der 
Coordination der Bewegungen bisher fehle, 
und auch die Analyse der jeweiligen Effect¬ 
störungen eine lückenhafte sei. Man habe 
sich viel zu sehr darauf beschränkt, bei 
den einzelnen Erkrankungen des Nerven¬ 
systems künstlich gewählte Manöver zur 
Demonstration der pathologischen Ver¬ 
hältnisse heranzuziehen und die Anomalien 
in der Ausführung der natürlichen coor- 
dinirten Effecte vernachlässigt. Letztere 
Methodik habe aber eine besondere Be¬ 
rechtigung erlangt, seit die segensreichen 
Folgen der rationellen Therapie der Be¬ 
wegungsstörungen mehr und mehr um sich 
griffen. Diese physiologische Therapie — 
die compensatorische Uebungstherapie — 
setze eine genaue Kenntniss und Analyse 
der Störung jedes einzelnen der Effecte 
voraus. Ein Tabiker wolle wieder gehen 
lernen und nicht blos dahin gelangen, in 
Rückenlage mit dem Bein einen Kreis in 
der Luft beschreiben zu können. 

Verfasser theilt seinen Stoff in zwei 
Theile und behandelt im ersten die Physio¬ 
logie und Pathologie der Coordination im 
Allgemeinen, im zweiten umfangreicheren 
die tabische Bewegungsstörung. Am 
Schluss beider Theile ist die Therapie 

Original fro-m 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


April 


besprochen, mithin am Schluss des ersteren 
die Uebungstherapie im Allgemeinen: Da¬ 
rin, dass ein geschädigter Coordinations- 
mechanismus durch Uebung wieder in sich 
selbst verfeinert werden kann, liegt das 
wichtige Element für die rationelle Therapie 
der Coordinationsstörungen, insofern ist 
sie eine „Uebungstherapie“; insofern denn 
auch die Uebung der Compensation zu 
Gute kommt, in der That eine compensa- 
torische Uebungstherapie (Frenkel). — 
Bezüglich der Tabes giebt Verfasser einen 
ausführlichen Plan der therapeutischen 
Maassnahmen. Principiell ist mit leichten 
Uebungen, ev. Bettübungen zu beginnen 
und allmählich zu complicirteren überzu¬ 
gehen. Zu warnen ist vor Uebermüdung, 
die der Kranke oft selbst nicht merkt. Zur 
Ausführung der Therapie bedarf es keines 
grossen Apparates, mit den simpelsten 
Vorrichtungen ist gleich viel zu erreichen. 


An die Geduld und die Willenskraft des 
Kranken ist permanent zu appelliren. Auch 
die schwersten Fälle sind besserungsfähig; 
dafür führt Verfasser drei Beispiele an. 
Immerhin wird der Erfolg von der Pro¬ 
gredienz des Leidens abhängen; ganz aus- 
bleiben, wenn auch nur relativ, wird er 
kaum. 

Auf die reiche, durch Illustrationen 
geförderte Darstellung der physiologischen 
und pathologischen Thatsachen und Er¬ 
scheinungen der Coordinationsstörungen 
kann hier nicht eingegangen werden. Jeder, 
der sich für die einschlägigen Fragen 
interessirt, wird in dem Werke klare Be¬ 
lehrung finden, nicht nur der Fachkollege, 
ein Jeder, der für eine rationelle The¬ 
rapie einer der häufigsten Erkrankungen 
des Nervensystems begründeten Rath 
und anregende Belehrung sucht. 

de la Camp. 


Referate. 


Albarginclysmen empfiehlt Walther 
Clemm, Darmstadt bei der Behandlung 
von DickdarmafTectionen, besonders sol¬ 
chen, welche mit einer vermehrten Schleim¬ 
absonderung einhergehen (Enteritis (Coli¬ 
tis) membranacea). Verfasser ging bei der 
Verwendung von dem Gedanken aus, dass 
das Albargin — eine Verbindung von Pro- 
togelatose mit Silbernitrat — nach Ab¬ 
spaltung der resorbirbaren Gelatose durch 
das nun freie Silbernitrat günstig auf die 
gereizten Becherzellen einwirken und sie 
in ihrer Schleim-Ueberproduction heilend 
beeinflussen würde. Die Anwendungs¬ 
weise dieser Clysmen besteht darin, dass 
man 0,4 Albargin in V 4 1 körperwarmen 
Wasser gelöst Abends bei erhöhtem Steiss 
oder in linker Seitenlage in den Darm ein- 
laufen lässt. Nachfolgender Lagewechsel 
auf den Bauch und die linke Seite ist em- 
pfehlenswerth. Diese Einläufe, die nicht 
reizend wirken, werden vom Darm zurück- 
gehalten und entfalten nach den Erfah¬ 
rungen des Verfassers, der seine Aus¬ 
führungen durch 9 Krankengeschichten 
illustrirt, eine äusserst wohlthätige Wir¬ 
kung auf die Darmschleimhaut, besonders 
in der prompten Beseitigung übermässiger 
Schleimproduction und der so oft dabei 
bestehenden Obstipation. Diese Wirkung 
trat auch in Fällen ein, wo wochenlang 
vorher Fleiner’sche Oelclystire mehr oder 
weniger erfolglos angewandt waren, auch 
scheinen sie bestehende Aflfectionen der 
Gallenblase günstig zu beeinflussen. Die 


Albarginbleibeclystire werden anfangs täg¬ 
lich, später dreimal und seltener pro Woche 
wiederholt. Die bisherigen Erfahrungen 
fordern zur Nachprüfung auf. 

Carl Berger (Dresden). 

(Archiv fQr Verdauungskrankheiten Bd. IX, H. 1.) 

Als Claudicatio intermittens des 
Darmes bezeichnet Ortner-Wien eine 
eigenthümlichen Complex von anfallsweisen 
Darmerscheinungen, die er auf Angio- 
sklerose der Darmarterien zurückiohrt 
Die Veranlassung zur Aufstellung dieses 
Krankheitsbildes gibt ihm ein Fall, der 
folgenden Verlauf nahm. Ein 55jähriger 
Mann hatte etwa 2 Jahre hindurch im Leib, 
und zwar in der Umgebung des Nabels, zeit¬ 
weilig anfallsweise Schmerzattacken, die 2 
bis 3 Stunden nach jeder grösseren Mahlzeiit 
einsetzten und 2—3 Stunden anhielten. 
Dabei stellte sich eine mächtige Auftreibung 
des Leibes und sehr starkes Spannungs¬ 
gefühl vornehmlich in der rechten unteren 
Bauchgegend ein, mit Beklemmungen und 
Kurzathmigkeit. Dabei Stuhlverhaltung, 
bis zu mehrtägiger Obstipation, ausser¬ 
ordentlich übelriechende Entleerungen. Das 
Colon ascendens und transversum war in¬ 
folge der starken Auftreibung schon von 
aussen her als praller Wulst sichtbar. Es 
wurde Probelaparatomie vorgenommen und 
Patient starb zwei Tage nach der Lapara- 
tomie an Peritonitis. Die Obduction ergab 
eine stark atheromatöse Aorta und nament¬ 
lich vom Abgang der Coeliaca an nach ab- 


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April 


177 


Die Therapie di 


wärts zahlreiche atheromatöse Geschwüre 
der Innenwand der Aorta. Die Arteria 
mesenteria superior und inferior ist bis in 
ihre kleinsten Verzweigungen klaffend und 
stark sklerosirt. Ortner stellte nun 
dieses Symptomenbild in Analogiebeziehung 
zu der Claudicatio intermittens der Extre¬ 
mitäten wie sie zuerst von Charcot be¬ 
schrieben worden ist. Auch sie hat arterio¬ 
sklerotische Gefässveränderungcn der be¬ 
fallenen Extremität zur Ursache, welche 
wie schon Charcot annahm, durch Ischämie 
eine funktionell nervöse Störung her- 
vorrufen können: das intermittirende 
Hinken. Ebenso glaubt Ortner, dass es 
sich in seinem Fall um periodische Ischä- 
mieen der vasomotorischen Darmnerven spe- 
ciell der Vasoconstrictoren handelt, welche 
auf dem Boden der Angiosklerose der Darm¬ 
arterien entstehen. Solche vasomotorische 
Erscheinungen auf angiosklerotischer Grund¬ 
lage sind auch an der Retina beobachtet 
worden. Diese Ischämie der Darmgefässe 
führt dann, so meint Ortner, zur voll¬ 
ständigen Unterbrechung der Circulation 
im betroffenen Gefässgebiete, damit zur 
Bildung des localen Meteorismus und vor¬ 
übergehender Darmparese. Dyspragia inter¬ 
mittens angiosklerotica des Darmes lautet 
die von Ortner vorgeschlagene Bezeich¬ 
nung für das von ihm gezeichnete Krank¬ 
heitsbild. Freilich ist es immer etwas ge¬ 
wagt auf Grund eines einzigen Falles und j 
einiger Analogieschlüsse einen Krankheits- | 
Typus konstruiren zu wollen, besonders 
wenn die zu Grunde liegenden thatsäch- 
lichen Momente so verschieden deut- , 
bare sind! 

F. Umber (Berlin). 

(Volkmann’s Sammlung klin. Vorträge 1903, j 
No. 347.) 

Die Resultate der Antitoxinbehand- 
long bei Tetanus sind noch immer sehr 
widersprechende. Nebeneinander finden 
wir eine Mittheilung von v. Schuckmann 
(Leubus) über einen letal verlaufenen und 
in seiner Schwere durch 2 Injectionen an¬ 
scheinend gar nicht beeinflussten Fall und 
einen günstig verlaufenen Fall von Frot- 
scher (Rotenburga. d.Fulda). In Schuck^ 
mann's Fall betrug die Incubationsdauer 
mindestens 10 Tage, aber die Tetanus¬ 
symptome traten plötzlich ein und ent¬ 
wickelten sich eminent rasch, der Patient 
starb bereits 48 Stunden nach dem Auf¬ 
treten der ersten Symptome; der Fall war 
also ein ausserordentlich schwerer. In 
Frotscher’s Fall betrug die Incubations¬ 
dauer 13 Tage und die Entwickelung der 

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Gegenwart 1903. 

tetanischen Erscheinungen ging langsam 
I vor sich (acht Tage vom Beginn bis zum 
Höhepunkt) — beides prognostisch günstige 
Momente, die den Fall als leichteren 
charakterisiren. 

| Die beiden Fälle sind natürlich weder 
für noch gegen die Serumtherapie zu ver- 
werthen, sie zeigen nur, wie nothwendig 
es ist, weitere Erfahrungen zu sammeln. 
Vielleicht darf bei dieser Gelegenheit wie¬ 
der auf die von v. Leyden vorgeschlagene 
Methode der subduralen lnjection 
j mittelst Lumbalpunction hingewiesen 
[ werden (vergl. diese Zeitschrift 1901, S. 337), 
die bei der Unsicherheit der subcutanen 
j lnjection häufiger versucht zu werden 
verdient. F. Klemperer. 

, (Deutsch. Med. Woch. 1903, No. 10.) 

I Schild hat nach Versuchen an Las- 
sar’s Klinik das Atoxyl als Ersatzmittel 
der arsenigen Säure zur Behandlung ver¬ 
schiedener Dermatosen bereits früher em¬ 
pfohlen. Das Atoxyl (Meta-Arsensäure- 
Anilid) enthält circa halb so viel Arsen wie 
die arsenige Säure; es wird eine 20%ige 
Lösung benutzt; hiervon empfahl Schild 
ursprünglich eine vollePravaz sehe Spritze 
— also 0,2 Atoxyl — in 2 tägigen Zwischen¬ 
räumen zu intramusculären Injectionen, be¬ 
sonders bei Psoriasis, Lichen ruber. Das 
Mittel hat vor der arsenigen Säure den 
Vorzug, dass es keine localen Reizerschei¬ 
nungen macht, ferner scheint seine Wirkung 
langsam durch allmähliche Abspaltung des 
Arsen im Körper zu erfolgen. Aus letz¬ 
terem Grunde ist nun Schild jetzt zu dem 
Modus gelangt, dass er nur 2mal wöchent¬ 
lich dieselbe Dosis verabfolgt. Und es er¬ 
gab sich, dass hierbei die gleiche Wirkung 
zu constatiren war. Bei Psoriasis muss 
ausserdem local behandelt werden. Herz¬ 
kranke dürfen mit dem Mittel nicht behan¬ 
delt werden, weil sie leicht Dyspnoe be¬ 
kommen. Buschke (Berlin). 

(Dermatol. Zeitschr. 1903, Heft 1.) 

Als Banti’sche Krankheit wird ein 
Symptomencompiex bezeichnet, den der 
italienische Kliniker Banti im Jahre 1894 
zum ersten Mal als neue Krankheitsform 
aufgestellt hat. Derselbe kennzeichnet sich 
als sehr bedeutende Milzschwellung bei 
gleichzeitiger Anämie, wozu später 
Ascites und Leberschwellung hinzutritt. 

Banti unterscheidet dabei drei Stadien: 

Das erste erstreckt sich im Allgemeinen 
über 3—5 Jahre und ist durch progre¬ 
diente Milzschwellung und Anämie kennt¬ 
lich. Er nannte es das anämische Sta- 

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178 


April 


Die Therapie der 


dium. Das zweite ist ein Uebergangs- 
stadium, das nur einige Monate dauert, 
und einhergeht mit Verminderung der Harn- 
secretion, reichlicher Ausscheidung von 
Uraten, sowie von Urobilin und event. von 
Gallenfarbstoffen. Das dritte Stadium endigt 
nach 5—12 Monaten letal. Es treten 
Ascites und cirrhotische Verkleinerung der 
Leber, Verschlimmerung der Anämie und 
Vermehrung der weissen Blutkörperchen 
ein: Ascitisches Stadium. Banti sieht 
als primären Sitz der Erkrankung die Milz 
an und betrachtet die Veränderungen der 
Leber als etwas secundäres. Dafür schienen 
ihm ausser klinischen Gründen noch die 
Erfahrung zu sprechen, dass eine Exstir¬ 
pation der Milz zu einer Besserung bezw. 
Heilung der Krankheit führe. Auch die 
Anämie hält er für eine Folge der Milz- 
affection. In der Milz kommt es nach 
seiner Vorstellung zur Bildung von Gift¬ 
stoffen unbekannter, nicht infectiöser Natur, 
welche der Leber zufliessen und in ihr die 
cirrhotische Bindegewebswucherung her- 
vorrufen. Durch Splenectomie hat Banti 
zwei von seinen Fällen heilen können, der 
dritte starb einige Tage nach der Opera¬ 
tion. Andere Autoren, wie Maragliano 
berichten, dass von 11 Fällen 9, Harris 
und Herzog dass von 19 Fällen bereits 
15 durch Splenectomie geheilt worden 
seien. 

Bei uns in Deutschland lenkte Senator 
zum ersten Mal die Aufmerksamkeit auf 
diese Erkrankung, indem er im Oktober 
1901 in der Berliner medicinischen Gesell¬ 
schaft einen derartigen Fall vorstellte. Er 
bezeichnete es als Verdienst Banti’s, dass 
er bis dahin unter verschiedenem Namen 
geführte Krankheitszustände zu einem ein¬ 
heitlichen Krankheitsbild zusammengefasst 
habe. Fälle von primärem idiopathischen 
Milztumor, Splenomegalie, Pseudoleukämie 
(Cohnheim), Anämia splenica (Grie¬ 
singer) waren sicherlich oft nichts anderes 
als Frühstadien der Banti’schen Krank¬ 
heit, deren Spätstadien wohl oft genug 
unter der Diagnose Lebercirrhose mit 
Ascites und Milzschwellung gingen. Die 
primäre Rolle der Milzerkrankung giebt 
Senator zu und hält als Ursache der 
ganzen Erkrankung eine Infection oder 
Intoxication von Darmcanal her für mög¬ 
lich. Gleich Banti betrachtet auch Se¬ 
nator den Ascites nicht als Folge der 
Lebererkrankung, da er trotz einer Pro¬ 
gredienz des Leidens sowie in Folge der 
Behandlung verschwinden könne. Das 
dritte Stadium, das sich auch durch 
heftige Blutungen aus Nase und Darm- 

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Gegenwart 1903. 


canal auszeichnet, lässt nach Banti die 
Zeichen einer einfachen Anämie erkennen. 
Senator vermochte indess eine unverhält- 
nissmässig grosse Abnahme des Hämo¬ 
globins und in drei Fällen eine bemerkens- 
werthe Verminderung der Leukocyten, also 
eine Leukopenie zu constatiren. Viel¬ 
leicht liegt hier, wie Senator meint, 
ein Mittelding zwischen Anämie und 
Leukämie vor. 

Chiari hatt dann (Prag. med. Wochen¬ 
schrift 1902) eine Reihe von Fällen publi- 
cirt, die durchaus den Banti’schen Sym- 
ptomencomplex darboten, aber dem Ob¬ 
duktionsbefund zufolge mit grosser Wahr¬ 
scheinlichkeit als Spätformen congenitaler 
Lues aufzufassen waren. Dessenungeachtet 
betrachtet auch er es als ein Verdienst 
Banti’s, daraufhingewiesen zu haben, dass 
bei gewissen Fällen von Anämie mit Milz¬ 
schwellung eine secundäre, von der pri¬ 
mären Splenomegalie abhängige Leber¬ 
cirrhose entstehen kann. 

Neuerdings ergreift auch Marchand 
(Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 11) 
zu der Frage der Ban ti’schen Krankheit 
das Wort, indem er Beobachtungen mit¬ 
theilt bei welchen klinisch der Morbus 
Bantii vorzuliegen schien, die aber 
seiner Meinung nach nicht in dem von 
Banti beliebten Sinne gedeutet werden 
können. 

So erinnert er an einen in einer Marburger 
Dissertation (Schlichthorst) beschriebe¬ 
nen Fall der als „Banti’sche Krankheit" 
verlaufen war, nur dass es sich um eine 
gelappte und nicht um eine granulirte 
Leber dabei gehandelt hatte; dabei bestand 
seit lange ein colossaler sehr zäher Milz¬ 
tumor. In Wahrheit handelte es sich aber, 
wie die Obduction ergab, wiederum um 
congenitale Lues. 

Des Weiteren berichtet er über einen 
eignen Fall, der in seinem Verlauf und seinem 
anatomischen Verhalten dem von Banti 
geschilderten Krankheitsbilde dermaassen 
entsprach, dass man ihn „als ein typisches 
Beispiel von Banti’scher Krankheit" be¬ 
zeichnen musste. Indess war nach dem 
Obductionsbefund, den Marchand aus¬ 
führlich mittheilt, mit Wahrscheinlichkeit 
auch hier eine congenitale Lues als Ur¬ 
sache anzunehmen. Nichts wies darauf 
hin, wie Marchand sagt, dass die Milz¬ 
erkrankung in diesem Fall die ihr von 
Banti zugeschriebene Bedeutung besessen 
habe, sondern es ist viel wahrscheinlicher, 
dass entweder die Lebererkrankung das 
primäre Moment war, oder dass Leber und 
Milz gleichzeitig erkrankten, zumal auch 

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April 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


179 


Bindegewebswucherurgen im Pankreas vor¬ 
handen waren. Es handelte sicii da um 
einen 16jährigen Knaben, bei dem seit 
Jahren ein grosser Milztumor bestand und 
frühzeitiger Ascites; die cirrhotische Ver¬ 
änderung der Leber musste gleichfalls 
schon lange vorhanden gewesen sein. Be¬ 
merkenswerth ist, dass der Ascites sogar 
durch eine Probelaparotomie völlig zum 
Verschwinden gebracht worden war, offen¬ 
bar durch Ausbildung von Collateralbahnen. 
Wenn man also gelegentlich dieser Probe¬ 
laparotomie damals die Milz entfernt hätte, 
bemerkt Marchand, so hätte das Ver¬ 
schwinden des Ascites und das drei Jahre 
hindurch anhaltende Wohlbefinden leicht 
in dem Sinne Banti’s gedeutet werden 
können. 

Schliesslich berichtet Marchand noch 
von einem hierhergehörigen, höchst eigen¬ 
artigen Fall von schwerer Anämie mit 
enormer Vergrösserung der Milz bei einem 
Tuberkulösen. (Anaemia splenica.) Der 
Kranke hatte den Chinafeldzug mitgemacht, 
indess lag kein Anhaltspunkt für eine da¬ 
herzuleitende Infection vor. Der Dickdarm 
war in seiner ganzen Ausdehnung ge- 
schwürig erkrankt, aber nur ein Theil der 
Ulcerationen war tuberkulös. So wäre es 
also, wie Marchand hervorhebt, nicht un¬ 
möglich, dass durch diese schwere Darm- 
affection eine infectiöse oder toxische Ur¬ 
sache Eingang gefunden hätte. In den 
Pfortadercapillaren der Leber, in der Milz 
und im Knochenmark fanden sich eigen¬ 
tümlicherweise ungeheure Mengen grosser 
Phagocyten, die mit Zelltrümmern beladen 
waren, welche vorwiegend aus Leukocyten 
des Blutes herstammten, zum Theil auch 
aus rothen Blutkörperchen. Hier betrachtet 
Marchand die Milz gleichfalls nicht als 
primär erkrankt, sondern vielmehr als se- 
cundär, in Folge der schweren Alteration 
des Blutes. Dass eine solche Splenomegalie 
in Folge schwerer Bluterkrankung secundär 
im Sinne von Banti zu cirrhotischer Leber¬ 
veränderung führen könne, hält Marchand 
für unwahrscheinlich, er nimmt vielmehr 
an, „das die fibrös indurirte, vergrösserte 
Milz der sog. Banti’schen Krankheit eine 
Folgeerscheinung einer primären Leber¬ 
erkrankung oder in einer Reihe von Fällen 
das spätere Entwickelungsstadium einer 
ursprünglichen durch Stauung complicirten 
Milzvergrösserung bei congenitaler Sy¬ 
philis ist. Allerdings ist nicht auszu- 
schliessen, dass es noch andere Möglich¬ 
keiten giebt, die wir noch nicht hinreichend 
zu übersehen vermögen.“ 

Man sieht, wie der „Morbus Bantii“ 

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noch sehr erheblicher Präcisirung und 
Klärung bedarf, und dass Chiari Recht 
hat, wenn er dafür das innige Zusammen¬ 
wirken von Klinikern und pathologischen 
Anatomen für unbedingt nothwendig hält, 

F. Umber (Berlin). 

DiePrincipien derSerumtherapie auch 
auf die Epilepslebehandlung zu über¬ 
tragen, versucht Ce ni. Auf Grund früherer, 

[dem Referenten nicht zugänglicher] Ver¬ 
öffentlichungen hält er Autointoxication 
als Ursache der Epilepsie für erwiesen 
und untersuchte nun, ob dies Gift, analog 
den Mikrobentoxinen gleichzeitig die Fähig¬ 
keit habe, im Organismus immunisirende 
und hellende Substanzen zu erzeugen. Er 
stellte fest, dass im Blut der Kranken kein 
Antitoxin vorhanden sei, wohl aber toxische 
im Serum. Er suchte nun durch wieder¬ 
holte Einspritzung des Serums von Epilep¬ 
tikern die Menge des Toxins im Orga¬ 
nismus zu vermehren „um entweder eine 
Steigerung des individuellen organischen 
Widerstandes, oder durch Angewöhnung 
Immunität zu erzeugen.“ Von zehn Fällen 
schwerer Epilepsie wurden auf diese Art 
I angeblich acht geheilt oder sehr gebessert, 
zwei verschlechterten sich. Es handelt 
sich bei diesem überraschenden Resultat 
weder um Immunisirung noch Antitoxin- 
| Wirkung, sondern nach Ceni’s eigenen 
Worten um „specifische, den Stoffwechsel 
anregende Elemente, welche auf die zelli- 
| gen Träger des Stoffwechsels, in die man 
I Ursache und Sitz der Epilepsie versetzt 
1 (? Ref.) einwirken. Je nach Art des In- 
i dividuums (!) reagieren diese Zellelemente 
in pathologischer oder physiologischer 
Richtung.“ 

Da auch das eigene Blutserum den 
| früheren Inhaber gerade so günstig beein- 
| flusst wie fremdes, so schliesst der Autor, 

: dass das anregende Prinzip seine aktiven 
Eigenschaften nur dann entfaltet, wenn das 
Blut nicht mehr im Gefässsystem kreist; 
im lebenden Blut ist dies Prinzip an ge¬ 
formte Elemente gebunden und dadurch 
unwirksam. Aus letzterem Grunde ist auch 
eine natürliche Selbstimmunisirung un¬ 
möglich. 

Ob diese kühne Theorie wohl weiteren 
Nachprüfungen Stand halten wird? 

Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt.) 

(Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 
1902. No. 146.) 

E. Rautenberg hat in der Königsberger 
medicinischen Poliklinik Versuche mit einem 
neuen von Prof. Schreiber construirten 
Heissluftapparat angestellt, der vor dem 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Bier’schen eine Reihe von Vorzügen zu 
haben scheint. (Grössere Einfachheit und 
bessere und gleichmässigere Vertheilung 
der Wärme an der betreffenden Körper¬ 
stelle.) Unter den Behandlungsresultaten 
des Verfassers sind als besonders günstige 
hervorzuheben diejenigen der Pleuritis ex¬ 
sudativa. — Der Heissluftapparat — bezüg¬ 
lich dessen Einzelheiten auf das Original 
verwiesen werden muss — wird geliefert 
von der Firma C. S. Mehn, Braunschweig. 

Lüthje (Tübingen). 

(Zeitschr. f. diät. u. phys. Thor., Bd. VI, 9 u. 10.) 

Ueber einige eigenartige Ursachen 
von Husten und Schnupfen berichtet 
G. Rosen leid (Stuttgart). Bei einer Dame, 
die bei der Rückkehr von Reisen in ihr 
Haus wiederholt einen sehr hartnäckigen 
langdauernden Husten bekam, constatirte 
Rosenfeld in discreten graulichen Pünkt¬ 
chen, die der Pharynxwand locker auflagen, 
Gebilde, die sich theils als Hornsplitterchen 
von den Federn, theils als Theile von den 
Epidermisschuppen eines im Hause der Pa¬ 
tientin gehaltenen Graupapageis er¬ 
wiesen. Der Papagei wird auf einige Tage 
aus der Pflege der Dame weggenommen 
und in ein Zimmer gebracht, das sie nicht 
betritt — nach einigen Tagen ist jeder 
Hustenreiz verschwunden. Mit der Rück¬ 
kehr des Vogels tritt nach einem Tag schon 
der Husten von Neuem auf, hartnäckiger 
und quälender als vorher. Ein erneutes 
Experiment mit Entfernen und Zurück¬ 
bringen des Vogels beweist auch der zwei¬ 
felnden Kranken, dass die Ursache des 
Hustens nicht in einer „Erkältung“, sondern 
in dem Papagei, seinen Federn und seinem 
Staub, liegt. 

Auf eine mechanische Ursache führt 
Rosenfeld auch den sogenannten Pla- 
tanenschnupfen oder Platanenkatarrh 
zurück, eine lieufieberähnliche Erkrankung, 
die zur Zeit der Blüthe der in den Stutt¬ 
garter Anlagen sehr zahlreichen Platanen, 
von Mai bis Ende Juni, im dortigen Publi¬ 
kum regelmässig und ziemlich zahlreich 
auftritt. Rosenfeld constatirte auf der 
Unterseite der jungen Ahornblätter einen 
braunen Anflug, der aus verzweigten Haaren 
(„Sternhaaren“) besteht; diese fallen ab 
und gelangen auf die oberen Schleimhäute, 
die sie mechanisch reizen. 

Die Dun bar'sehen Mittheilungen, über 
die wir in der letzten Nummer dieser Zeit¬ 
schrift berichteten (S. 130), lassen es zweifel¬ 
haft erscheinen, ob in diesem letztrren Fall 
wirklich eine mechanische Reizung vor¬ 
liegt, ob nicht vielmehr auch in dem Pla- 


I tanenstaub ein chemisch wirksames Gift 
! vorhanden ist. 

i Dun bar selbst hat seine Untersuchun¬ 
gen über das Heufleber fortgesetzt und, 
wie er kürzlich mittheilt, seine Resultate 
jetzt an 9 Heufieberpatienten und 20 Con- 
| trolpersonen im ganzen Umfange bestätigt 
gefunden. Er hat dabei auch mit Sicher- 
| heit konstatirt, dass das chemisch wirksame 
! Toxin der Roggenpollenkörner und der 
Maispollenkörner dasselbe ist: das Anti¬ 
toxin, ob mittelst Mais- oder Roggenpollen¬ 
körnern gewonnen, beseitigte prompt sowohl 
die durch Roggen- wie die durch Mais¬ 
pollenkörner hervorgerufenen Reizerschei¬ 
nungen. 

Es wird nöthig sein, nach Art der 
T) unbar'sehen Versuche zu prüfen, ob der 
| Platanenkatarrh ebenfalls durch ein 
! chemisches Toxin verursacht wird und ob 
dieses dem Roggen- und Maispollentoxin 
gleich ist. 

Für den ersterwähnten interessanten 
Fall der Erzeugung von Husten durch den 
Papageienfedernstaub ist der mechanische 
! Ursprung wohl fraglos; eine Prüfung nach 
der von Dun bar angegebenen Richtung 
wird freilich in jedem derartigen Falle 
künftig angestellt werden müssen. 

F. Klernpcrer. 

(Berk klin. Woch. 1903, No. 9. — Deutsch. Med. 
Woch. 1903, No. 9.) 

In der römischen Universitätsfrauenklinik 
stellte Sbarigia Versuche mit Ichtharg&n 
, an. Es handelt sich um das von der Ham¬ 
burger Ichthyolgesellschaft präparirte hell¬ 
graue, dicke, schwach aromatisch riechende, 
auf der Zunge prickelnde, in Wasser leicht 
lösliche Pulver, welches 30% Silber und 
15% Schwefel enthält. Die chemische Be¬ 
nennung lautet: Argentum thyo hydro-car- 
buro-sulphonicum. Schon die Versuche in 
vitro fielen besonders ermuthigend zur An¬ 
wendung in der Praxis aus: so bewahrte 
eine 0.3%ige Lösung leicht verwesbare 
Flüssigkeiten (Urin, Bouillon u. s. w.) vor 
jeder Zersetzung; eine Lösung von 1:50000 
tödtete binnen 4 Minuten den Neisser’- 
schen Gonococcus; in einer Va%igen Lö¬ 
sung aufbewahrte Gewebsstückchen wiesen 
nach 16 Stunden eine weitaus intensivere 
Silberimprägnation als nach ebenso langer 
Behandlung mit einer Silbernitratlösung 
auf. Zu therapeutischen Zwecken wurde 
Ichthargan in 205 gynäkologischen Fällen 
zur Anwendung gebracht, und zwar bei 
Affectionen, die man heut zu Tage sonst 
meistens mit Ichthyol behandelt, so bei 
den verschiedensten acuten, subacuten und 


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April 


181 


Die I hcrapic der 

chronischen septischen und specifischen 
Entzündungen der Vagina, des Uterus und 
der Adnexe. Die Wirkung war durchweg 
eine auffallend prompte, jedenfalls eine viel 
raschere und radicalere als die des Ich¬ 
thyols, so dass von den 205 Fällen nur 37 
als unvollständig geheilt zu betrachten 
waren. Applicirt wird Ichthargan in 2%iger 
(selten, bei schwereren Fällen, in 5%iger) 
wässriger Lösung mittelst der üblichen Va¬ 
ginal- oder Uterustamponade. Die Lösun¬ 
gen, ebenso wie das reine Pulver, sind, in 
dunklen Glasgefässen aufbewahrt, auf un¬ 
begrenzte Zeit haltbar. Sbarigia kommt 
nach eingehenderer Beschreibung einzelner 
Fälle zu folgenden Schlussfolgerungen: 

1. Das Ichthargan wirkt prompt und 
sicher bakterientödtend. 

2. Es stillt und bekämpft auf das 
Rascheste sämmtliche entzündlichen Er¬ 
scheinungen, indem es die milde austrock¬ 
nende Wirkung des Ichthyols mit den ener¬ 
gisch bakterientödtenden Eigenschaften des 
Silbers vereinigt. 

3. Es dringt tief in die Gewebe ein, 
ohne folglich nur an der Contactfläche zu 
wirken. 

4. Niemals hat man nach seiner Anwen¬ 
dung eine weitere Ausbreitung der Infec- 
tion oder sonstige unangenehme Neben¬ 
wirkungen beobachtet. 

5 Eine besondere Behandlung zurück¬ 
bleibender Katarrhe mit Adstringentien ist 
nach Anwendung des Ichthargans niemals 
nothwendig gewesen. 

A. Bretschneider (Rom). 

(Policlinieo 1902, VIII, No. 10.) 

Einige interessante Versuche von J. J. 
Snel über Immunität und Narkose mö¬ 
gen hier Erwähnung finden, weil sie einen 
praktisch nicht unwichtigen Gesichtspunkt 
für die Handhabung der Narkose eröffnen. 

Meerschweinchen vertragen eine intra¬ 
tracheale Einspritzung von Milzbrandba¬ 
cillen in die Lunge ohne jede Schädigung, 
wenn dabei eine Läsion der Gewebe in 
der Trachea und an der Lungenoberfiäche 
mit Sicherheit vermieden wird. Eine kurze 
Aether- oder Chloroformnarkose von 10 
Minuten beeinträchtigt die baktericiden 
Kräfte der Lunge nicht. Längere Narkose 
dagegen hebt die Immunität auf und zwar 
entsprechend der Dauer der Narkose in 
steigendem Maasse: Ein nach der Infection 
45 Minuten lang narkotisirtes Thier stirbt 
nach 75 Stunden, ein 60 Minuten lang 
narkotisirtes nach 50 Stunden. Diese Wir¬ 
kung der Narkose hält nicht lange vor: 
Unmittelbar nach längerer Narkose inficirte 

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Gegenwart 1903. 

Thiere erliegen nicht. — Chloralhydrat- 
injectionen wirkten in ähnlicher Weise die 
baktericiden Fähigkeiten herabsetzend, resp. 
aufhebend, Morphininjectionen dagegen 
nicht. 

Da eine directe Wirkung des Chloro¬ 
forms und Aethers auf die Milzbrand¬ 
bacillen für das genannte Versuchsergeb- 
niss nicht maassgebend sein kann — denn 
die Chloroform- und Aetherdämpfe schwä¬ 
chen die Bacillen eher ab — zieht Ver¬ 
fasser die Schlussfolgerung: Die Nar¬ 
kose hebt die Immunität auf. Ver¬ 
fasser sieht in diesem Satze eine Erklärung 
für die Häufigkeit von Pneumonien nach 
Narkose und er räth zu entsprechenden 
Vorsichtsmaassregeln, besonders zu sorg¬ 
fältiger Reinigung von Mund- und Rachen¬ 
höhle vor jeder Narkose und zur Vornahme 
von Operationen nur in Zimmern mit mög¬ 
lichst sauberer Atmosphäre. 

F. Kl cm pc rer. 

(Berl. klin. Woch. 1903, No. 10.) 

M. Edel stellt in dem Artikel: „Lässt 
sich das Klima der Nordseeinseln auch 
im Herbst und Winter therapeutisch ver- 
werthen?“ auf Grund 9jähriger Beobach¬ 
tungen folgende Sätze auf: 1) Der Herbst 
ist die schönste Jahreszeit auf den Nord¬ 
seeinseln, der October ist ein besonders 
warmer Monat. 2) Der Winter ist nach der 
Höhe der Temperatur milder als in Wies¬ 
baden und wärmer als in Berlin. 3) Der 
März ist verhältnissmässig kalt, der Früh¬ 
ling kommt spät. 4) Die Temperatur ist 
Überaus gleichmässig, Temperatursprünge 
gehören zu den grössten Seltenheiten. 

5) Die mittlere Windstärke ist im Winter 
wenig grösser als im Sommer. 6) Die mil¬ 
den Südwest- und Westwinde sind die 
herrschenden Winde. 7) Der Regen dauert 
meistens nur kurze Zeit und hindert fast 
nie den Aufenthalt im Freien. 

Der Aberglaube von dem rauhen „Nord- 
I seeklima“ im Winter ist also unbegründet; 

, die Nordseeinseln eignen sich vielmehr 
: auch im Winter als Curorte für eine grosse 
Zahl von Kranken, so zum Beispiel für 
Tuberkulöse, die sich im AnfangSbtadium 
der Krankheit befinden, sowie für die Re- 
convalescenz und zur Nachcur nach fieber¬ 
haften Krankheiten. Lüthje (Tübingen). 

(Zeitschrift für diät. u. phvs. Ther. Bd. VI, 9.) 

Das Mesotan, ein flüssiger Salicylester, 
der in jedem Verhältniss mit fetten Oelen 
mischbar ist und im Verhältniss von 1:3 oder 
stärker angewendet wird, ist bekanntlich 
! zur Einreibung in die Haut empfohlen wor- 
i den und scheint sorgiältige Beachtung zu 

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182 


April 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


verdienen (vergl. die Untersuchungen von 
Reichmann, diese Zeitschrift 1902. S. 532). 
Gröber und v. Criegern (Leipzig) haben 
die ursprünglich nur für rheumatische 
Affectionen aufgesttllte Indication des Prä¬ 
parates zu erweitern versucht und resu- 
miren ihre Erfahrungen ungefähr wie folgt: 
Von den therapeutischen Eigenschaften 
des Mesotans tritt am meisten die deri- 
virende (hautreizende) in den Vorder¬ 
grund. Eine specifische Wirkung besteht: 
die des Salicyls; aber sie ist schwächer. 
Auf der Verbindung der überwiegenden 
hautreizenden Wirkung und der speci- 
fischen Salicylwirkung beruht der beson¬ 
dere Charakter des Mesotans gegenüber 
dem Salicylvasogen. Dieses theilt sonst 
mit dem Mesotan viele Indicationen, hat 
aber geringere Salicylwirkung. Die Haupt- 
indicationen bilden rheumatischeAffectionen 
der Gelenke, aber auch Ischias, Neuritis etc., 
ferner Pleuritis und vielleicht auch Gefäss- 
erkrankungen (Herz-, Aneurysma-Schmer¬ 
zen). Leo Schwarz (Prag). 

(Die Heilkunde 1903, No. 2.) 

Ueber neuere Nährpräparate in 
physiologischer Hinsicht hat N. Zuntz 
in der Berliner pharmaceutischen Gesell¬ 
schaft einen Vortrag gehalten, in welchem 
er aus seinen fast 20jährigen experimen¬ 
tellen Erfahrungen werthvolle Mittheilungen 
macht. Er betont, dass die rein chemische 
Untersuchung eines Nährpräparates in 
keiner Weise hinreicht, um die physiolo¬ 
gische Bedeutung erkennen zu lassen. Dies 
zeigte sich in frappanter Weise bei der 
Somatose, welche bekanntlich eine in 
Wasser lösliche Albumose darstellt, deren 
vollkommene Resorbirbarkeit man voraus¬ 
setzen sollte. Der Stoffwechselversuch am 
Hunde (15 g Somatose) wie am Menschen 
(33 g pro die) ergab aber, dass mehr als 
der vierte Theil (beim Hund sogar bei¬ 
nahe die Hälfte) des Somatose*N unresor- 
birt mit dem Koth ausgeschieden wurde. 
Ja selbst von einem Verdauungsprodukt, 
dass durch längere Einwirkung von Pepsin- 
Salzsäure auf Fleischmehl hergestellt wurde, 
kamen nur etwa 80% zur Resorption, 
während 20,8 % des verdauten N mit dem 
Koth in Verlust gingen. Es scheint also, 
dass die Darmresorption eben nur für die 
Abbauproducte des Eiweisses eingestellt 
ist, wie sie die Darmverdauung selbst 
liefert, während künstlich vorverdaute 
Eiweisskörper trotz leichter Lösbarkeit j 
keineswegs für die Resorption gut geeignet 
sind, ln denselben Versuchen ergab sich | 
aber andererseits, dass trotz der schlech- i 


teren Resorption der Somatose von der 
mit dieser zugeführten N-menge mehr zum 
Ansatz kam als von gewöhnlichem Schinken- 
eiweiss, und dieselbe Förderung der Assi¬ 
milation zeigte sich bei der Verfütterung 
selbst dargestellter isolirter Produkte der 
Pepsinverdauung, am stärksten nach Deu- 
teroalbumose. Dass der eine Eiweisskörper 
besser zum Ansatz verwendet wird, als der 
j andere, findet seine Erklärung in neuen 
Arbeiten von Pick, wonach die verschie¬ 
denen Fractionen der Albumosen in ihrer 
Structur und ihrer Zusammensetzung er- 
| heblich differiren. Der Körper muss ja 
| sein eigenes Eiweiss aus den im Darm 
entstandenen Spaltproducten auf bauen; es 
ist plausibel, dass verschiedene Eiweiss¬ 
körper in verschiedener Weise zur Syn¬ 
these geeignete Substanzen liefern. Hier¬ 
aus wird auch eine ältere Erfahrung von 
Zuntz verständlich, dass Gemische ver¬ 
schiedener Eiweisskörper bei gleichem N- 
gehalt einen reichlicheren Eiweissansatz 
erzielen, als jeder der Eiweisskörper für 
sich. — Des weiteren berichtet Zuntz über 
Messungen der Verdauungsarbeit, welche 
von verschiedenen Eiweisspräparaten dem 
Körper aufgebürdet wurde. Maassstab 
dieser Arbeit ist die Steigerung der O-auf- 
nahme und CCVabgabe, welche während 
der Verdauung bestimmter Substanzen zu 
erkennen ist; die Steigerung der Oxydation 
beruht nur zum geringsten Theil auf den 
mit der inneren Zersetzung verknüpften 
Processen; zum grössten Theil hängt sie 
ab von der mechanischen Arbeit des Darms, 
die bei der Resorption geleistet wird. Es 
zeigte sich, dass die Steigerung des 
Nüchternwerthes der Oxydation bei der 
Verdauung von Fleisch 10—20% beträgt, 
während sie bei Somatose nur 2—10% 
betrug. In dieser geringen Belastung des 
Darms liegt ein Vorzug der Albumosen 
gegenüber dem natürlichen Nahrungs- 
eiweiss. Schliesslich wurden die genuinen, 
nicht vorverdauten Eiweisspräparate Tro- 
pon, Plasmon, Soson, sowie die Pflanzen- 
eiweisse Aleuronat und Roborat geprüft 
und gegenüber der Somatose eine weit 
bessere Resorptionsfähigkeit (4—8 %) con- 
statirt. In Bezug auf den Eiweissansatz 
schreibt Zuntz den Caseinpräparaten, z. B. 
Plasmon, eine stärkere Wirksamkeit als dem 
Fleisch zu, während neuerdings Lüthje bei 
Typhusreconvalescenten besseren Eiweiss¬ 
ansatz durch Fleisch als durch Casein er¬ 
zielte. — In Bezug auf die am Kranken¬ 
bett wichtige Anregung des Appetits und 
der Secretion der Verdauungssäfte stehen 
die eiweissarmen Fleischsäfte und Ex- 


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April 


183 


Die Therapie der 


tracte den eigentlichen Nährpräparaten 
weit voran. — Aus seinen Studien über 
Fettnährpräparate erwähnt Zuntz nur die 
Untersuchungen der v. Mering sehen | 
Kraftchocolade, in welchen der Cacao- 
butter ein grösserer Gehalt an freien Fett¬ 
säuren beigemischt ist. Mittlere Gaben 
dieser Kraftchocolade wurden nicht besser 
resorbirt als reine Cacaobutter; bei Dar¬ 
reichung des Maximums der aufnehmbaren ! 
Dosis zeigte sich bessere Resorption der ! 
Kraftchocolade, welche durch ihre freie 
Fettsäuren besser emulgirbar ist. Zuntz j 
selbst konnte täglich 420 g dieser Kraft- , 
chocolade ohne Beschwerden aufnehmen. 
(Es ist aber bekanntlich zweifelhaft, ob 
man im Allgemeinen sagen kann, dass 
Beimischung von Fettsäure ein Fett be¬ 
kömmlicher macht. Lipanin (Oel mit 6o/ 0 
Oelsäure) wird nicht besser resorbirt als 
feinste Butter.) Wenige Bemerkungen 
macht Zuntz über den Bacteriengehalt j 
künstlicher Nährpräparate. Sofern nur 
keine pathogenen Bacterien gefunden wer¬ 
den, kann man die blosse Anwesenheit 
reichlicher Bacterien nicht als schädlich 
erklären, zumal man weiss, wie gut saure 
Milch, Kefir und Buttermilch vertragen 
werden und wie schlecht oft genug steri- 
lisirte Milch bekommt Die Schädlichkeit 
der letzteren führt Zuntz auf die anschei¬ 
nend schlechtere Resorption der Kalksalze 
zurück. 1 ) 

In Bezug auf Säuglings-Nährpräparate 
hebt Zuntz die Armuth der Milch an Eisen 
hervor; der Neugeborene bringt in der 
Leber Reserveeisen mit auf die Welt, von 
dem er neun Monat zehren kann; länger 
dauernde einseitige Milchnahrung gefährdet 
die Blutneubildung. Von künstlichen Prä¬ 
paraten erwähnt Zuntz nur zwei, die 
Rieth’sche Milch und v. Mering’s Odda. 
Die erstere, durch Zusatz von Albumose 
dargestellt, erwies sich als leichtverdaulich, 
machte aber bei längerer Darreichung 
schwere Nierenreizung, so dass das Prä¬ 
parat gänzlich aufgegeben ist. Mering 
ging von der in Zuntz’ Laboratorium ge¬ 
machten Erfahrung aus, dass Lecithine 
einen assimilatorischen Reiz auf die Gewebe 
ausüben, so dass stärkeres Zellwachsthum 
eintritt. Ueber diese Untersuchungen, die j 
namentlich den grossen Werth des Eigelb | 

*) Wenn Zuntz weiter meint, dass das Eiweiss 
der sterilisirten Milch besser verdaulicli ist, so kann 
ich ihm darin nicht folgen; es geht freilich weniger 
N in den Koth über, aber das liegt darin, dass von 
sterilisirter Milch mehr Ammoniak abgespalten wird, : 
als von roher, so dass in Wirklichkeit mehr N resor- 1 
birt wird. Aber der N des NH 3 dient nicht dem , 
Gewebsauf bau. 1 

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Gegenwart 1903. 


für die Ernährung demonstriren, hat Zuntz 
in unserer Zeitschrift selbst berichtet 
(Jahrg. 1901, S. 289). Maring’s Präparat ist 
weiter dadurch ausgezeichnet, dass es kein 
Buttersäure-Glycerid enthält, welches in der 
Kuhmilch zu 6<y 0 enthalten ist und mög¬ 
lichenfalls manche Störungen im Säuglings¬ 
magen verursacht. 

Zum Schluss bespricht Zuntz die Be¬ 
deutung der Nährmittel für die Muskel- 
thätigkeit, wie sie durch die taktmässige 
Arbeit an einem bestimmten Instrument, 
dem Mosso’schen Ergographen gemessen 
wird. Man wusste, dass der ermüdete 
Muskel nach Zuckergenuss schnell wieder 
arbeitsfähig wird. Der verstorbener re n tzel 
hat in Zuntz’ Laboratorium gezeigt, dass 
Eiweiss und Fett dieselbe rekreirende Wir¬ 
kung auf den Muskel haben, nur mit dem 
Unterschiede, dass der schnell aufgesaugte 
Zucker diese Wirkung am raschesten aus¬ 
übt, während die Eiweisskörper nicht so 
schnell, aber dafür länger dauernd ein¬ 
wirken. 

So bringt der Vortrag eine Fülle be¬ 
lehrender und anregender Mittheilungen, 
die in ihrer prägnanten Kürze den Wunsch 
des Lesers erregen, den verehrten Ver¬ 
fasser einmal ganz ausführlich über dies 
wichtige Gebiet zu vernehmen. 

G. Klcmperer. 

(Berichte der Deutschen pharmaccutischen Gesell¬ 
schaft 1902, H. 9.) 

Ueber eine neue Methode der Nephro- 
pexis berichtet Kukula (Prag). Der un¬ 
günstige Erfolg, sowie verschiedene Mängel 
der bisherigen Decortications- und intra¬ 
parenchymatösen Methoden bewogen den 
Autor zur Erwägung, ob die Wanderniere 
nicht auf eine andere Art fixirt werden 
könnte, und zwar ohne intraparenchyma¬ 
töse Stiche, ohne Deccrtication der Niere 
und endlich mit Ausschluss der Tampo¬ 
nade. Die Verwirklichung dieses Gedankens 
schien Verfasser am nächsten in der Fixa¬ 
tion der Niere in ihrem kleinsten Quer¬ 
schnitt in einer Muskelspalte; und so kam 
er zur folgenden Methode: Mit einem 
Simon’schen Schnitt (vom oberen Rande 
der zwölften Rippe längs des äusseren 
Randes des M. sacrolumbalis bis zum 
Kamme des Hüftbeines) wird successiv die 
Haut, das oberflächliche, dann das tiefe 
Blatt der Fascia lumbodorsalis, bis zum 
M.quadratus lumborumdurchgeschnitten; in¬ 
dem dieser Muskel in seiner ganzen Länge 
vorn von der Fascia perinealis, rückwärts 
vom M. sacrolumbalis abgetrennt wird, 
werden die Fasern stumpf in zwei läng¬ 
liche Hälften, von der Muskelinsertion an 

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184 Die Therapie der 


der zwölften Rippe angefangen bis zu 
seinem unteren Drittel getrennt. Dadurch 
entsteht eine Muskelspalte, auf deren unterem 
Ende sofort zwei Catgutnähte angelegt 
werden, welche die Spalte nach Einbringung 
der Niere verkleinern sollen. Nach Durch¬ 
schnitt der Fascia perinealis wird langsam 
die Niere im ganzen Umfange der unteren 
zwei Drittel bis zum Hilus von ihrer Fett¬ 
hülle befreit, worauf die Niere in die 
Muskelspalte eingeführt wird, und zwar so, 
dass sie mit ihrem Hilus auf dem unteren 
Winkel der Spalte aufspitzt; nach Ver¬ 
knüpfung der erwähnten Catgutnähte, wo¬ 
mit eine Verkleinerung der Spalte und 
feste Einschliessung der Niere durch die 
Muskelränder erzielt wird, folgt noch die 
Fixation der Niere mit etlichen Seiden¬ 
nähten, die von rückwärts durch die fibröse 
Hülle und die Ränder des M. quadratus 
lumborum durchgeführt werden und end¬ 
lich noch die Sutur der Fascienränder 
und der Haut nur bis auf eine kleine Stelle, 
wodurch ein kleiner steriler Gazestreifen 
bis zum unteren Pol der Niere eingeführt 
wird. 

Diese Methode wurde bisher in drei 
Fällen durchgeführt, und zwar in zweien 
mit vollkommenem Erfolg; der erste Fall 
endete letal, doch aus Gründen, die der 
Methode fern standen. Stock (Skalsko). 

(Öasopis öesk^ch Idkafö. 1902, No. 20, 21.) 

Plaeenta praevia 1 ) wird nächst Ec- 
lampsie mit Recht als schwerste Störung 
und Gefahr für die Gebärende und die 
Frucht bezeichnet. Unter Bearbeitung des 
klinischen Materials der kgl. Charite und 
eigener Beobachtung von 100 Fällen hat 
P. Strassmann die Entstehung dieser 
krankhaften Richtung der Fortpflanzung 
untersucht und die klinische Bedeutung der 
Plancenta praevia beleuchtet. Anatomische 
Forschungen lassen das Auftreten der ab¬ 
normen Placentarform als Anpassung an 
klinisch zu beweisende abnorme Beschaffen¬ 
heit des Endometrium und functioneile Um¬ 
wandlung der Eiwurzeln behufs Ernährung 
erklären. Die verschiedenen Gruppen der 
Totalis (centralis), Partialis (lateralis), 
Marginalis (tieferSitz),vertheilen sich der¬ 
art, dass die Erstgebärenden am meisten 
bei den geringeren Graden, die Mehrge¬ 
bärenden bei den höreren Graden betheiligt 
sind. Frauen mit höherer Geburtsziffer, 
zumal die. Vielgebärenden (über fünf Ge¬ 
burten), neigen zu Plaeenta praevia, be¬ 
sonders wenn das Endometrium schnell 

*) P. Strassmann: Plaeenta praevia. Archiv 
für Gynäkologie. Bd. 67, 1. 

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Gegenwart 1903. April 


hintereinander als Nährboden ausgenutzt 
ist, oder wenn in vorgerücktem Alter nach 
herabgesetzter Fruchtbarkeit Schwanger¬ 
schaft eintritt. Die Veränderungen des 
Mutterbodens treten auch dadurch zu Tage, 
dass über 37 % der Frauen mit Plaeenta 
praevia partialis und totalis mehrfache 
Aborte überstanden, so dass bei ihnen 
ein Abort auf 4, 12 Schwangerschaften 
kommt. Auch die Conception während oder 
unmittelbar nach der Lactation veranlasst 
heterotopische Zottenausbreitung. Weiter¬ 
hin gehen Katarrhe der Uterusschleimhaut 
mit oder ohne anderweitige Anomalien, 
vorausgegangene schwere Entbindungen, 
dann alte Cervixrisse und in hervorragen¬ 
dem Maasseeine früher überstandene „mehr¬ 
fache Geburt“ (Zwillinge) der Entwicklung 
der Plaeenta praevia vorauf. Auch Extra¬ 
uterinschwangerschaft mit späterer Plaeenta 
praevia kommt vor und Recidive dieser ge¬ 
fährlichen Placentation sind — wenn über¬ 
haupt noch das Zustandekommen von 
Schwangerschaft erfolgt — sehr häufig 
(7,4 %). Die Fehlerhaftigkeit des 
„Nestes“ wird corrigirt durch die Aus¬ 
dehnung der Plaeenta in Gebiete, die sonst 
nicht von Zotten besiedelt werden, daher 
findet man zumal bei den Partialisformen sehr 
ausgedehnte Fruchtkuchen und functionelle 
Formanomalien, die gewisse Aehnlichkeit mit 
tierischen Placenten annehmen, aber nicht 
als Atavismen erklärt zu werden brauchen, 
weil sie als Prägungen in Folge abnormer 
Nähr- und Raumverhältnisse zu erkennen 
sind. Kommen auch ausnahmsweise grosse 
Früchte bei Plaeenta praevia vor, so Hess 
sich doch durch klinische Wägungen fest¬ 
stellen, dass sehr oft in Folge der ungeeig¬ 
neten Plaeenta eine Unterernährung der 
F rucht auf diesem mangelhaften Nährboden 
stattfindet und dass der normalen Länge 
nicht das Gewicht entspricht. (Vom 6. Mo¬ 
nate an schon nachweisbar.) 

Von grosser praktischer und klinischer 
Bedeutung ist die Thatsache, dass die 
Schwangerschaft bei Plaeenta praevia sehr 
häufig vorzeitig unterbrochen wird. 

Nimmt man die Zeit bis zum achten 
Monat einschliesslich nach allgemeiner 
Praxis als Grenze der Lebensfähigkeit, so 
sind 33,3% der Schwangerschaften zu einer 
Zeit unterbrochen, dass die Frucht von 
vornherein keine Aussichten auf Erhaltung 
hat. Nur 66.6% der Früchte kommen 
lebensfähig zur Welt. Auffallend ist, dass 
gerade bei totaler Plaeenta praevia eine 
relativ grosse Zahl von Frauen (15,18%), 
bis zur Reife austrägt. Eine Aenderung 
der Therapie im Interesse der Kinder dürfte 


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April 


185 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


nur wenig Aussicht auf Besserung ge¬ 
währen, da die Hoffnung auf Erhaltung nur 
für die Hälfte bis zwei Drittel gerechtfertigt 
ist.— Das Zusammentreffen von Hydramnios 
mit Piacenta praevia ist jedenfalls nur ein 
zufälliges. Die Einstellung der Frucht 
zur Geburt wird durch die abnorme Pla- 
centation beeinflusst. Die Zahl der Schädel¬ 
lagen ist verringert zu Gunsten der Becken¬ 
end- und Querlagen; die Querlagen über¬ 
treffen aber um ein ganz Bedeutendes die 
Beckenendlagen. Es kann auch kaum 
einem Zweifel unterliegen, dass der vor¬ 
liegende Mutterkuchen und die veränderte 
Uterusform hier mitwirken. Die Zahl der 
Querlagen bei Piacenta praevia nimmt mit 
der Zahl der Entbindungen und mit dem 
frühen Eintritt der Geburt zu. 

Die Tamponade war wegen der Blu¬ 
tung vielfach vor Eintreffen der poliklini¬ 
schen Hilfe von Hebammen, Aerzten oder 
Praktikanten gemacht werden und zwar in 
gesteigerter Zahl mit Zunahme des Grades 
des Vorliegens. Strassmann selbst hat 
niemals tamponirt, sondern, den Lehren 
Gusserow’s entsprechend, die sofortige 
Eröffnung des Eies bezw. die kombinirte 
Wendung bei jeder konstatirten Piacenta 
praevia vorgenommen. Die Ursache für 
dieses Vorgehen ist in der Häufigkeit der 
Fieber gegeben, welche nach der Tampo¬ 
nade auftreten (66Tamponaden mit22Fieber 
= 34,9 %, fünf todt = 7,93 o/ 0 ). Der Arzt 
soll auf die Tamponade verzichten, die 
Hebamme muss sie gelegentlich vor Ein¬ 
tritt ärztlicher Hilfe machen. Die Anwendung 
des Metreurynters soll zur Beschleuni¬ 
gung der Geburt nur stattfinden, wenn die 
Frucht reif ist und die Eltern ein leben¬ 
des Kind wünschen; principiell aber nicht 
vor der 32. Woche, weil die Frucht keine 
Aussichten hat und für die Mutter ein dop¬ 
pelter nicht ganz ungefährlicher Eingriff 
nothwendig ist (Einrisse). Die vorsichtige 
manuelle Dilatation wird zur Erleich¬ 
terung der Wendung (nicht zur Extraction!) 
empfohlen. Der einfache Blasensprung 
darf bei Piacenta praevia marginalis und 
partialis zur Blutstillung vorgenommen wer¬ 
den, genügt aber bisweilen nicht, und die 
Wendung muss nachgeholt werden. 

Die äussere Wendung auf den Steiss 
ist eine beachtenswerthe Maassnahme bei 
der Behandlung der Piacenta praevia. 
Sie gelingt, da das Fruchtwasser erhalten 
ist, leicht und ohne Blutung nnd soll bei 
Schädel- und Querlagen als vorbereiten¬ 
des Verfahren für das Durchziehen des 
Fusses voraufgeschickt werden. Für das 
Durchziehen des Fusses bezw. die Wen- 

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düng wird Querbett-, nicht Seitenlage be¬ 
vorzugt. Man sucht, wenn möglich, auch 
wenn man den unteren Eipol eine Strecke 
weit ablösen muss, eine Eihautstelle zu er¬ 
reichen, um die Verletzung der Piacenta 
und grösserer Gefässe im Interesse des 
Kindes zu vermeiden. Die Wendung kann 
bei jeder stärkeren Blutung gemacht werden 
auch mit einem Finger. Den Fuss stelle 
man bei enger und langer Cervix auf die 
Zehen und schiebe ihn durch Eindrücken 
der Ferse von aussen über der Symphyse 
allmählich durch den Kanal! Man zieht den 
Fuss nur so weit an, dass der Scheiden- 
theil der Extremität wie eine Hose anliegt. 

Den Steiss bis zum äusseren Muttermund 
herabzuziehen, kann zu Zerreissungen 
führen. Strassmann hat mittelst einer 
Schlinge öfter einen constanten Zug an 
dem Fusse angebracht und gewissermaassen 
die Frucht selbst als Metreurynter benutzt. 

Dies beschleunigt die Entbindung. Bei der 
combinirten Wendung soll man bei Schädel¬ 
lage möglichst die Lage der Frucht nicht 
ändern, sondern mit zwei Fingern an der 
Stirn in die Höhe gehen, während man 
von aussen den Steiss fixirt; die Füsse 
trifft man oft unmittelbar an der Stirn. 

Die Extraction am Fusse nach der 
combinirten Wendung ist auch in lang¬ 
samer Form zu verwerfen (Zerreissung, 
Verblutung). Bei vollständig oder annä¬ 
hernd vollständig erweitertem Muttermunde 
(spontan oder^ nach Metreuryse) ist die 
Extraction ausnahmsweise dann gestattet, 
wenn die Eltern ein lebendes Kind wünschen 
und die der Zeit nach lebensfähige Frucht 
sicher lebt, aber nachweisbar an den Herz¬ 
tönen Gefährdung zeigt. Bei der spontan 
erfolgenden Beckenendgeburt ist es ge¬ 
stattet, bei zögernder Austreibung, wo es 
sich um lebensfähige Früchte handelt, die 
Arme zu lösen und den Kopf zu entwickeln, 
also ebenso vorzugehen wie bei der ein¬ 
fachen Steisslage. Schlechtes Befinden der 
Mutter ist keine Indication zur Extraction. 

Die Zeit zwischen Wendung und Geburt 
ist vielmehr zur Stärkung durch Flüssig¬ 
keitszufuhr (aber wenig Alkohol oder Kaffee) 
zu benutzen. 

Die Aussichten für die Früchte sind 
bei Piacenta praevia schlecht: 52,4% todte 
in der Poliklinik, 68,1% in der Klinik. Die 
Prognose verschlechtert sich gleichmässig 
von der Marginalis über die Partialis zur 
Totalis: 25,0%: 52,8%: 76,9% Am un¬ 
günstigsten sind die Aussichten nach der 
inneren oder combinirten Wendung, wenn 
die Austreibung vollständig der Natur über¬ 
lassen wird: 74,3%; das Resultat bessert 

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186 


Die Therapie der 

sich, wenn extrahirt wird: 38 8%; die 
besten Aussichten giebt es dort, wo weder 
extrahirt noch gewendet wird, also Blasen¬ 
stich —- oder äussere Wendung mit Fuss- 
anziehen: 37,5%. 

Die Resultate bei Hystereuryse über- 
treften die bisherigen Resultate kaum. Der 
neuerdings vorgeschlagene Kaiserschnitt 
bei Placenta praevia ist nicht erprobt 
worden. 

Die Mortalität von 100 Müttern betrug 
bei Strassmanns eigenen Fällen 5%, zu¬ 
sammen mit der Klinik, der viel ungünstige 
Fälle zugewiesen werden (12,9%) = 9,5%. 
Die Gefahren für die Mutter steigern sich 
mit dem Tieferrücken der Placenta: Die 
Sterblichkeit war bei der marginalen Form 
0%. bei der partiellen 2%, der totalen 15,3% 
in der Poliklinik. Todesfälle an Verblutung 
können auch ohne-Riss trotz rechtzeitiger 
Uterustamponade nach der Geburt zu 
Stande kommen, doch hat Strassmann 
in den letzten Jahren keinen Todesfall 
mehr erlebt, da er bei der Behandlung der 
Nachblutung activer geworden ist, und mit 
der Uterustamponade nicht mehr bis zum 
letzten Augenblick wartet. Die Mortalität 
betrug bei Geburten mit Extraction 20%, 
bei Wendung mit spontanem Verlauf 8,6%, 
bei Entbindung ohne Wendung und mit 
spontanem Verlauf 1,45%. Die Extraction 
verbessert die Prognose für das Kind um 
28% und verschlechtert sie für die Mutter 
um 11,4%. Cervixrisse können im unteren 
Uterussegment auch bei spontanem Ver¬ 
lauf Vorkommen. Dieser Abschnitt ist 
(wie die Tuba) nicht zum Placentarsitz ge¬ 
eignet. Mit der Zahl der Geburten und 
dem Grade des Vorliegens steigt die Dis¬ 
position zu Rissen. 

Die Nachgeburtszeit darf bei Placenta 
praevia abwartend behandelt werden, wenn 
es nicht blutet; oft aber (10%) ist die 
künstliche Lösung der ganzen Placenta 
oder von Theilen nothwendig. Vorbeu¬ 
gend empfiehlt es sich, gleich nach der 
Geburt des Kindes 2 g Secale zu geben. 
Die Verblutung kann aus der Placentar- 
stelle auch ohne Riss und bei Ausgebluteten 
schon durch sehr geringe Mengen erfolgen. 
Deshalb ist es ausnahmsweise erlaubt, auch 
prophylactisch zu tamponiren. Der Uterus 
soll sonst nicht einfach gerieben, sondern ins 
Becken gepresst werden, so dass er ge- 
wissermaassen dieses tamponirt, während 
die Fingerspitzen die Aorta durch die 
Bauchdecken hindurch corr primiren. Später 
wird durch einen Handtuchknotenverband 
das Hochsteigen des Uterus verhindert. 
Bei Anämie ersetze man zunächst die 

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Gegenwart 1903. April 

Flüssigkeit alle Viertelstunden durch mässige 
Mengen Bouillon, Milch, Kaffee; letzteren 
nicht zu stark und nicht zu viel, weil Er¬ 
brechen erfolgt. Bei schlechtem Pulse 
macht man Mastdarminfusionen: 1 1 38° C, 
warmen Wassers, 1 Esslöffel Kochsalz und 
1 Glas Wein. Fehlt den hochgradig Anä¬ 
mischen die Kraft, die Flüssigkeit zurück¬ 
zuhalten, so führe man den Daumen in 
den Mastdarm ein. Innerhalb 10 Minuten 
pflegt genug aufgenommen zu sein. Die 
im Rectum plätschernde Flüssigkeit lässt 
sich in das Colon von aussen hinüber¬ 
streichen. Von Analepticis ist, damit der 
Blutdruck nicht zu schnell gehoben wird, 
nur ein bescheidener Gebrauch zu 
| machen! 

Im Wochenbett sind Thrombosen häutig, 
j Besonders geeignet für Fieber sind 
i solche, die tamponirt sind. Die Morbidität 
von 209 Wöchnerinnen betrug 18,6% Von 
den Fiebernden waren 56,4% tamponirt, 
während der Gesamtprocentsatz der Tam- 
! ponirten nur 27,2% betrug. Die erste, 

| selbst hohe Fiebersteigerung nach der Ent- 
i bindung ist noch kein Grund zu lokaler 
| Behandlung. Sie geht bei Anämischen, 
die leicht fiebern, oft schnell vorüber. 
Spülungen sind nach Beendigung der Ent¬ 
bindung thunlichst zu vermeiden, höher 
concentrirte antiseptische Lösungen wegen 
der Resorption des offenen Placentar- 
bodens unstatthaft. 

Eine Verhütung der Placenta praevia 
ist anzustreben durch Ueberwachung einer 
guten Rückbildung nach jeder Geburt und 
jedem Abort. Endometritis, Cervixrisse, 
Knickungen sind zu behandeln. Nähren 
schützt im Allgemeinen am besten vor zu 
| schneller Folge der Geburten und Er- 
j Schöpfung des Uterus. Die Conception 
sollte bei der Nährenden nicht eintreten, 
bevor der Uterus sich nicht durch Men¬ 
struationen als voll functionsfähig darge- 
than hat. Zu schnelle Conceptionen von 
Vielgebärenden (mehrals5), nach Zwillingen, 
besonders aber nach überstandener Pla¬ 
centa praevia sind durch ärztlichen Rath zu 
, verhüten. Andere Ursachen, wie späte 
! Erstgeburten, Schwangerschaft im missbil- 
deten Uterus, die ebenfalls verhältniss- 
mässig oft zu Placenta praevia führen, 
stehen freilich ausserhalb der Möglichkeit 
| ärztlicher Einwirkung. P. Strassmann. 

■ (Autoreferat). 

Als ein besonders wirksames Mittel 
gegen Keuchhusten und Asthma bron¬ 
chiale resp. nervosum wird Pyrenol von 
E. Schlesinger, Berlin, empfohlen. 

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April Die Therapie der Gegenwart 1903. 187 


Pyrenol — chemisch Benzoylthymyl- 
natriumbenzoylooxybenzoicum — ist ein 
weisses, in Wasser lösliches Pulver von 
mild süsslichem Geschmacke. Seine her¬ 
vorstechendsten physiologischen Eigen¬ 
schaften sind Unschädlichkeit, auch in den 
höchsten in Betracht kommenden Dosen, 
und schnelle Resorbirbarkeit; den Blut¬ 
druck setzt es nicht herab, steigert ihn so¬ 
gar zeitweise. 

Die therapeutischen Erfolge des Pyrenol 
gründen sich auf folgende Eigenschaften: 

1. wirkt es schmerzlindernd, 2. krampf¬ 
stillend auf die glatte Muskulatur, 3. ex- 
pectorirend, 4. tonisirend, 5. fieberherab¬ 
setzend, 6. leicht diaphoretisch. 

Im Ganzen sind 214 Fälle publicirt, deren 
näheres Studium, wie Referent auch aus 
eigenen zahlreichen Erfahrungen bestätigen 
möchte, Folgendes ergiebt: In einer Anzahl 
Affectionen wird es von analogen Mitteln ( 
an Intensität der Wirkung übertroffen, so 
bei acutem Gelenkrheumatismus und Pleu¬ 
ritis exsudativa von Natrium salicylicum, 
bei Neuralgieen von Chinin etc. Eine 
deutliche Ueberlegenheit scheint ihm aber 
zuzukommen: im Keuchhusten; hier setzt 
es die Anfälle sehr schnell an Zahl herab, 
mildert ihre Heftigkeit, beseitigt schnell 
das Erbrechen und steigert den Appetit. 
Es wird während der ganzen Dauer der 
Erkrankung gegeben. Bequemste Verord¬ 
nung: Sol. Pyrenoli 2,0—4,0/100,0, 3—4 mal | 
täglich 1 Theelöffel bis 1 Kinderlöffel, event. 
vermischt mit einigen Tropfen Himbeer¬ 
saft; auch bei Asthma bronchiale, 
scheint es eine der Pertussis ganz analoge 
Wirkung zu haben, indem es den aus- , 
gebrochenen Anfall abkürzt und abschwächt | 
und weiteren Anfällen vorbeugt. Ver¬ 
ordnung täglich 1,5 bis 3,0; im Anfalle 
selbst: halbstündlich 0,5—0,75. Rp. Pyre¬ 
noli 0.5—0,75 Dosis X S. 3 mal täglich 
I Pulver; eventuell in Gtlatinekapseln oder 
Tabletten. Burchard (Berlin). 

Eine sehr lehrreiche Statistik über die 
Häufigkeit der Rachenmandelhyperplasie 
und ihren Einfluss auf die körperliche 
und geistige Entwicklung der Kinder 
giebt Dr. Wilbert (Bingen a. Rh.) Er 
untersuchte 375 Schulknaben im Alter von 
6%—12V2 Jahren. Von diesen hatten 
231=62% hyperplastische Rachenmandeln; 
krankhafte Erscheinungen aber | 
wurden durch dieselben nur bei 122 
oder 33% hervorgerufen. Bezüglich 
des Alters findet sich vom 6. bis 11. Lebens¬ 
jahr ein ungefähr gleich häufiges Befallen- ! 
sein, dann im 12. Jahre bereits ein erheb- 

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licher Abfall. Den grössten Procentsatz 
von 85%, resp. 77% zeigen die Gruppen 
der nach Angabe der Lehrer geistig schwach 
beanlagten, sowie der schlecht lernenden 
Kinder. Diese Untersuchungsergebnisse 
— schliesst Wilbert — sind geeignet, 
besonders den praktischen Arzt, dem die 
Pathologie der Rachenmandelhyperplasie 
lange nicht genugsam bekannt ist, für 
dieses höchst wichtige Kapitel der Er¬ 
krankungen desKindesalters zu interessiren, 
für den Schularzt bietet sich hier ein 
weites Feld erspriesslicher Thätigkeit zum 
Heile der seiner Obhut anvertrauten Kinder. 

F. K. 

(Deutsch, med. Wochenschr. 1903, No. 6.) 

Dass die RÖntgOgr&phie bei Rücken¬ 
markskrankheiten nicht nur von dia¬ 
gnostischer, sondern auch von prognostisch¬ 
therapeutischer Bedeutung sein kann, er¬ 
örterte von Leyden in einem Vortrag an 
zwanzig schwierigen Rückenmarkserkran¬ 
kungen seiner Klinik. Es zeigte sich z. B. 
in einem anfangs für luetisch gehaltenen 
Fall von Dorsalmyelitis, eine (tuberkulöse) 
Wirbelcaries, was erst zur Einleitung einer 
rationellen Suspensionsbehandlung führte. 
Namentlich bei traumatischen Myelitiden 
kann das Röntgenverfahren zur Kontrolle 
der Extensionsbehandlung mit Vortheil be¬ 
nutzt werden. Diagnostisch wichtig ist, 
dass bei allen vorgeschritteneren Myelitiden 
an den dem Sitz entsprechenden Wirbeln 
osteoporotische Veränderungen nachweis¬ 
bar sind. Auch Wirbeltumoren und Häma- 
tomyelie sind ev. dem Verfahren zugäng¬ 
lich. Bei negativem Röntgenbefund darf 
man mit grösster Wahrscheinlichkeit die 
Wirbelsäule als intact betrachten. In¬ 
wieweit man hieraus auf das Rückenmark 
Rückschlüsse machen darf, ist noch un¬ 
sicher. Weitere Untersuchungen müssen 
erst feststellen, ob und in welchem Stadium 
auch bei beginnenden rein centralen Mye¬ 
litiden, bei Poliomyelitis anterior und bei 
intrameningealen Tumoren aktinographisch 
Knochenveränderungen nachzuweisen und 
als Frühsymptome zu verwerthen sind. 

Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt.) 

(Beil. Gesellschaft für Psychiatrie und Nerven¬ 
krankheiten. 8. Dec. 1902. Bericht nach Berl. Klin. 
Wochenschr. 1903. No. 9.) 

In ihrer Abhandlung über die Schleim- 
kollk des Darms (Colica mucosa) und 
ihre Behandlung besprechen von Noorden 
und Dapper auch eingehend die Therapie 
dieses Leidens an der Hand von 76 be¬ 
obachteten Fällen. Die Verfasser vertreten 
in der Auffassung der Erkrankung den 

24* 

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188 


April 


Die Therapie der 


unitaristischen Standpunkt und sagen: Es 
handle sich stets um eine Secretionsneurose 
des Darms, diese kann sich auch bei einem 
Katarrh etabliren, braucht es aber nicht. 
Sehr häufig entsteht sie auf dem Boden 
einer chronischen Obstipation. Die Dauer 
der Krankheit, die Intensität der Schmer¬ 
zen, die dabei bestehende Neurasthenie 
oder Hysterie ist von untergeordneter Be¬ 
deutung, die Erkrankung des die Schleim- 
secretion des Dickdarms beherrschenden 
nervösen Apparates ist das Charakte¬ 
ristische. (Ewald hat hierfür zuerst die 
zutreffende Bezeichnung myxoneurosis coli 
eingeführt.) (Ref.) 

Die symptomatische Behandlung des 
Anfalls besttht in Bettruhe, heissen Um¬ 
schlägen auf den Leib, Narcoticis: Mor¬ 
phium subcutan resp. Zäpfchen von Opium 
und Belladonna. Ein applicirtes nicht 
zu grosses Clysma aus körperwarmem 
Wasser ohne reizende Zusätze wie Gly- 
ceiin, Seife oder Kochsalz befördert dann 
grosse Mengen Schleim heraus. Hierauf 
grosser Oeleinlauf 300—500 cm, der lange 
zurückzuhalten ist. Häufig ist durch die 
sich an dies Clysma anschliessende Ent¬ 
leerung von Koth und Schleim der Anfall 
überwunden. 

Die causale Behandlung hat das etwa 
vorhandene Darmleiden — und das ner¬ 
vöse Allgemeinleiden zu berücksich¬ 
tigen. Die Verfasser empfehlen daher 
die schon früher von von Noorden em¬ 
pfohlene schlackenreiche Nahrung: 250 g 
Schrotbrot, Hülsenfrüchte einschliesslich 
Schalen, cellulosereiche Gemüse, klein¬ 
kernige, grobschalige Früchte wie Johannis¬ 
beeren, Stachelbeeren, Weintrauben etc, 
reichliche Zufuhr von Butter und Speck. 
Eine solche Diät ist als leichtverdaulich 
für derartige Kranke anzusehen. Zur 
Unterstützung der Diät erwiesen sich Koch¬ 
salzwässer, Rakoczy und Homburger Eli¬ 
sabethquelle förderlich, während alkalische 
resp. alkalisch - muriatische Quellen sich 
nicht bewährten. Auch die Massage der 
Flexura sigmoidea während der ersten 8 
bis 10 Tage der Behandlung zeigte sich 
von sehr grossem Nutzen. 

Die Dauer einer solchen Cur währt in 
der Regel 3—5 Wochen, hierauf kann man 
allmählich zu der gewohnten Lebensweise 
übergehen, nur hat man dafür Sorge zu 
tragen, dass der Stuhlgang ohne Abführ¬ 
mittel regelmässig sich einstellt. Wenn es 
sich nach Beendigung der eigentlichen 
Cur, die am zweckmässigsten in einer 
Klinik oder in einem Sanatorium absol- 
virt wird, darum handelt, welchen Er- 

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Gegenwart 1903. 


holungsaufenthalt man anrathen soll, so ist 
vor 2 Extremen zu warnen: Seebad und 
allzugrosse Höhen. Mittlere Höhen mit 
waldiger Umgebung und Gelegenheit zu 
Spaziergängen haben sich als am besten 
geeignet bewährt. Die Verfasser ver¬ 
wahren sich gegen den Einwand, als ob 
ihre Methode die einzig richtige wäre, 
sie vindiciren ihr aber, wie Referent bestä¬ 
tigen kann, mit Recht die Bezeichnung 
einer durchaus bewährten, da sie von 76 
behandelten Fällen 60 geheilt entlassen 
konnten — 12 unvollständige Erfolge, zu¬ 
meist bedingt durch häusliche Behandlung, 

4 Misserfolge wegen zu frühen Abbruchs 
der Cur. — 

Referent kann die vorgeschlagene Be¬ 
handlung aus reicher Erfahrung nur drin¬ 
gend empfehlen, wenn ja auch in einzelnen 
selbst beobachteten Fällen nebenbei be¬ 
stehende Erkrankungen des Magens, des 
Genitalsystems bei Frauen, Erkrankungen 
des Darmes selber gewisse Abweichungen 
von der beschriebenen Methode sich öfters 
nöthig machten, so sind doch seit der 
ersten Veröffentlichung von Noorden’s 
alle Fälle in dieser Weise diätetisch be¬ 
handelt worden und haben sich recht be¬ 
friedigende Resultate erzielen lassen, spe- 
ciell unter zeitweiser Verwendung grosser 
Oeleinläufe. Carl Berger (Dresden). 

(Sammlung klinischer Abhandlungen über Patho¬ 
logie u. Therapie etc. von Prof. Carl von Noor- 
den, Berlin. Hirschwald 1903.) 

M. Weinberger empfiehlt für SüXU&l- 
neurastheniker mit pathologischen Pollu¬ 
tionen Curorte mit ruhiger diätetisch ge¬ 
regelter Lebensweise. Ist die Aufsuchung 
eines derartigen Curortes nicht möglich, so 
ist die Behandlung in Wasserheilanstalten 
anzuempfehlen; bei weniger aufgeregten 
Patienten sind kalte Leintuchabreibungen 
zu machen; bei schwächeren sensibleren 
Personen ist es angezeigt, die Cur mit 
Halbbädern von 32—28° C einzuleiten und 
erst dann zu Leintuchabreibungen überzu¬ 
gehen. Auch kühle Sitzbäder (25—20° C) 
von kurzer Dauer werden mit Erfolg an¬ 
gewandt. Daneben kommt abwechselnd der 
Winternitz’sche Psychrophor und der 
Atzberger’sche Kühlapparat (in den Mast¬ 
darm eingeführt) zur Anwendung. Stark 
gewürzte Speisen, reichliche Nachtmähler 
und starkes Rauchen sind zu verbieten. 
Alcoholica dürfen nur in beschränktem 
Maasse und nicht Abends gestattet werden. 
Bewegungstherapeutisch sind vor Allem 
Schwimmen und ausgedehnte Spaziergänge 
anzurathen (jedoch dürfen diese Bewegun¬ 
gen nicht bis zur Erschöpfung getrieben 

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April 


I)ic Therapie der 


werden). Das Rudern, der Fahrradsport 
und das Reiten sind schädlich. 

Die Behandlung der auf sexualneurasthe- 
nischer Basis entstandenen Spermatorrhoe 
stimmt im Wesentlichen mit der der patho¬ 
logischen Pollution überein. Es kommt hier 
jedoch neben dem Psychrophor und dem 
Atzberger’schen Mastdarmkühler auch die 
Behandlung mit Sondencuren und Elektri- 
cität (galvanischer und faradischer Strom) 
in Betracht. (Sehr zweckmässig die von 
Porosz eingeführte Faralisation der Pro¬ 
stata per rectum.) 

Bei nervöser Impotenz sind solchen 
Kranken, die durch geistige Arbeit er¬ 
müdet sind, Aussetzen der Arbeit und eine 
längere unterhaltende Reise zu empfehlen; 
Anderen ist die Anwendung von Wasser- 
curen und der Besuch von Höhencurorten 
anzurathen. Eine ausgezeichnete Wirkung 
auf nervöse Impotenz haben auch kohlen¬ 
säurehaltige Bäder. Bei körperlich Er¬ 
schöpften, mageren Personen ist nebst ge¬ 
nügender Ruhe gute Ernährung, eventuell 
Ueberernährung in Form von Mastcuren, 
angezeigt. Lüthje (Tübingen). 

(Zeitschr. für diät. u. phys. Ther., Bd. VI, 8.) 

Gestützt auf die Erfahrung mehrerer 
Autoren, dass Thiosinamin auf Narben¬ 
gewebe eine quellende und demulcirende 
Wirkung ausübt, hat E. Glas (Wien) 
Thiosinaminversuche bei Rhinosklerom 
angestellt, indem er je 0,5 cm 3 15°/ 0 ige 
alkoholische Thiosinaminlösung in Ab¬ 
ständen von mehreren Tagen subcutan in- 
jicirte. Der Autor giebt folgende Zu¬ 
sammen fasssung seiner Ergebnisse: 

1. Das Thiosinamin übt, wie klinische 
und histologische Befunde ergeben haben, 
seine Einwirkung ähnlich sonstigem Nar¬ 
bengewebe auch auf rhinoskleromatöses 
Gewebe aus, indem die Gewebsmassen und 
bindegewebigen Stränge weicher und dehn¬ 
barer werden, so dass die Tubagirung 
resp. Bougirung leichter gelingt. 

2. Das Thiosinamin an sich ohne me¬ 
chanische Nachhülfe führt zu keinem Bes¬ 
serungsresultat bei Rhinoskleromkranken. 
Es muss hier ebenso wie bei den Oeso- 
phagusstricturen zur Unterstützung durch 
Bougien oder sonstige Dilatationsmittel 
kommen, wodurch ein besserer und schnel¬ 
lerer Erfolg erzielt wird als bei rein me¬ 
chanischer Behandlung. 

3. Es ist daher die Thiosinamintherapie 
bei hochgradigen rhinoskleromatösen Ste¬ 
nosen der Nase als wirksames Adjuvans 
der mechanischen Therapie anzuempfehlen, 
während hochgradige subglottische Schwei- 

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Gegenwart 1903. 189 


lung mit Ausnahme der tracheotomirten 
Fälle wegen der die Stenose vergrössern- 
den Reactionserscheinungen eine Contra- 
indication dieser Behandlungsmethode 
geben. Leo Schwarz (Prag). 

(Wiener klin. Wochenschrift 1903, No. 11.) 

Es kann nicht bezweifelt werden, dass 
für eine grösstmögliche Zahl von Stoma- 
chicis ein Bedürfniss besteht. So mag in 
Kürze darauf hingewiesen werden, dass 
A. Brok (Wien) bei tuberkulöser Appetit¬ 
losigkeit, einfacher Anorexie, sowie bei 
acuten Krankheiten, bei Anwendung von 
Vial’s tonischem Wein in ca. 60 Fällen 
den Eindruck günstiger Wirkung auf den 
Appetit gewonnen hat. Es handelt sich 
um einen spanischen Wein, dem China- 
rindenextract, Kalklactophosphat und 
Fleichextract zugesetzt sind. 

Leo Schwarz (Prag). 

(Wiener med. Presse 1902, No. 38.) 

ln einer Arbeit über Wanderniere und 
chirurgische Behandlung derselben 
erörtert Hahn nach Auseinandersetzung 
der anatomischen Lage und Fixirung der 
Niere noch einmal die wichtigsten ätio¬ 
logischen Momente der Wanderniere. Die 
bisher schon feststehenden Thatsachen des 
häufigen Vorkommens beim weiblichen Ge¬ 
schlecht, besonders rechts, zumal nach 
vorangegangenen Graviditäten, nach starker 
Abmagerung u. s. w., gehen auch aus seinen 
umfangreichen Beobachtungen hervor. Ein 
Hauptmoment aber für die grössere oder 
geringere Sicherung der Lage der Nieren 
sieht Verfasser in der Ausbildung der die 
Nieren beherbergenden, zu beiden Seiten 
der Wirbelsäule gelegenen Nischen. Das 
Vorhandensein solcher Nischen ist von den 
russischen Autoren Woikoff und Delitzin 
nach Gypsabgüssen an Leichen in über¬ 
zeugender Weise gezeigt worden. Diese 
Gruben sind bei Frauen seichter und werden 
in den Fällen, wo Wanderniere beobachtet 
wird, ganz auffallend flach und zwar wieder 
besonders rechts. 

Zwischen dem Grad der Beweglichkeit 
und den Beschwerden, die eine Wander¬ 
niere verursacht, besteht kein Parallelismus. 

Nach Schilderung des sehr mannigfaltigen 
Symptomenkomplexes (Magendarmkanal, 
Genitalsphäre, Psyche u. s. w.) legt Hahn 
sein operatives Verfahren dar, wie es sich 
ihm auf Grund seiner langen Erfahrungen 
als brauchbar erwiesen hat. Freilegung 
der Niere nach Flankenschnitt und Vor¬ 
ziehung derselben. Spaltung der Fettkapsel 
und Bildung eines grossen Lappens aus 

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190 


April 


Hie Therapie der Gegenwart 1903 

der Capsula propria, wodurch die ganze lationsgewebe und ein sehr festes Narben- 
Hinterfläche der Niere entblösst wird. Die gewebe. Aus dem Grunde ist die Tampo- 
Fettkapsel wird an die Fascia, die Capsula nade dem primären Schluss durch die 
propria an Haut oder Subcutangewebe be- Naht vorzuziehen. Nicht die Kapselnähte 
festigt. Dann folgt die Tamponade der sondern die Narbenbildung hält die Niere in 
Wunde, sodass die Gaze auf das ent- ihrer Lage. Wichmann (Altona.) 

blöSSte Nierenparenchym zu liegen kommt. (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Band 67, 

Es bildet sich so ein reichliches Granu- Festschrift fnr v. Esmarch.» 

Therapeutische Casuistik. 

Ein Beitrag zur Frühoperation bei Appendicitis acuta. 

Von Dr. Schultz-Friedenau. 


An der Hand eines jüngst erlebten 
Falles will ich im folgenden zeigen, 1 ) dass 
die frühe Operation der Appendicitis nicht 
nur Heilung und Befreiung von einem 
qualvollen, das Leben in hohem Grade 
verbitternden Leiden bringt, sondern oft 
direkt lebensrettend wirkt. Ich kenne aus 
persönlicher Erfahrung die — leider — 
traurigen Verhältnisse auf dem platten 
Lande bei eingetretener Blinddarmentzün¬ 
dung, ich weiss positiv, dass dort noch 
heutzutage viele Menschen unoperirt oder 
„zu spät 44 operirt sterben, die hätten ge¬ 
rettet werden können. Und häufig das 
nur, weil der behandelnde Arzt sich zum 
Operirenlassen nicht zeitig genug ent- 
schliessen konnte. Daher wende ich mich 
in erster Linie an die praktischen Aerzte, 
in deren Hand speciell auf dem Lande j 
nicht selten das Schicksal der Blinddarm¬ 
kranken gelegt ist. 

Die Krankengeschichte der Patientin, 
um die es sich handelt, ist kurz folgende: 

Anamnese. Else H., 15 3 /* Jahr alt. Eltern 
und Geschwister gesund, mit Ausnahme eines 
Bruders, der an leichter Epilepsie leidet. Ausser 
Masern keine Kinderkrankheiten, seit dem drei¬ 
zehnten Jahr regelmässig menstruirt, stets ohne 
Beschwerden. Im Sommer 1901 Infraction des 
linken Schlüsselbeins (von mir behandelt). Stets 
vorzüglicher Appetit. Stuhl regelmässig, niemals 
Urinbeschwerden. Im August 1902 angeblich 
ohnmachtsähnlicher Anfall in der Schule beim 
Turnen. Am 5. November desselben Jahres 
erkrankte die Patientin mit Schmerzen in der 
rechten Unterbaucligegend, weshalb ich am 
6. November gerufen wurde. 

Status praesens. Sehr gut genährtes, 
kräftiges Mädchen. Puls regulär, voll, ca. 70. 
Temperatur 36,9 (Achselhöhle). Lunge und 
Herz gesund. Abdomen nicht aulgetrieben, 
weich. In der lleocöcalgegend keine Dämpfung, 

') Im folgenden ist nur die Littcratur der letzten 
beiden Jahre 1901 und 1902 berücksichtigt. Der 
hochinteressante Artikel Bäumler’s (Thcr. d. Geg. 
1903, Februar) ist mir erst Mitte März bekannt ge¬ 
worden, als das Manuskript meines Beitrages schon 
fertig zur Absendung bereit lag. 

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! keine Resistenz. Mc Burney’scher Punkt nicht 
i druckempfindlich, dagegen eine ganz um- 
I schriebene Stelle dicht oberhalb der 
Symphyse, bei sanftem Druck nach dem 
j kleinen Becken zu. 1 ) Hier anscheinend 
I ganz leichte Abschwächung des Percussions- 
i schalles. Keine Uebelkeit, kein Erbrechen, keine 
Blasenbeschwerden. Zunge gut aussehend bei 
! relativ geringem Appetit. Stuhl gestern etwas 
hart, ohne Schmerzen. Oedeme und Exantheme 
I fehlen. 

I Diagnose. Appendicitis simplex levissima. 

! Unter der üblichen Behandlung (Bettruhe, 

j Diät, feuchtwarme Umschläge, leichtes Abführ- 
| mittel (Cascara) 3 ) Auf hören des subjectiven 
Schmerzgefühles der Blinddarmgegend. Ob- 
jectiv deutliche Druckempfindlichkeit stets an 
derselben oben bezeichneten Stelle. 

25. November. Da niemals Temperatur¬ 
steigerung (tägliche genaue Messung!), nie¬ 
mals Uebelkeit und Brechneigung vorhanden. 
Stuhl auf Cascara weichbreiig, regelmässig ist 
und gänzlich schmerzfrei erfolgt, steht Patientin 
vorläufig täglich circa eine Stunde auf bei vor¬ 
trefflichem Allgemeinbefinden und glänzendem 
Appetit (breiige Diät). 

3. December. Bis auf geringen, namentlich 
beim Stehen und Gehen auftretenden „piken¬ 
den 4 * Schmerz oberhalb der Symphyse (rechts) 
nicht die mindesten Beschwerden. Patientin 
hält sich für völlig gesund und ist in über- 
müthiger Stimmung. Allgemeinbefinden so vor¬ 
züglich, dass sie schon für später Pläne zum 
Besuch der Eisbahn, zum Weihnachtsfest etc. 
macht. Sie verlangt fortwährend „mehr zu 
essen“. 

5. December. Bei meiner Vormittagsvisite 
finde ich die Patientin sehr verändert. Sie 
fühlt sich matt, abgeschlagen, depri- 
m i r t, hat schlecht geschlafen und 
keinen Appetit. Temperatur 38,6 (Achsel¬ 
höhle), Puls ca. 96, voll, regelmässig. Localer 
Druckschmerz anscheinend erheblich gesteigert, 
Leib nicht aufgetrieben. Kein Erbrechen, keine 

J ) Bäum ler (1. c.) macht ausdrücklich auf die 
Wichtigkeit dieses Symptoms für die frühe Diagnose 
der Appendicitis aufmerksam. 

-) Ich glaubte in diesem Falle von der Anwen¬ 
dung des Opium absehen zu können, stehe aber 
sonst in dieser Hinsicht ganz auf B äu m 1 e r's Stand¬ 
punkt. 

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April 


Die Therapie der Cegenwart 1903. 


Uebelkeit, keine Urinbescliwerden. (iestern 
Stuhl. 

Abends 6 Uhr. Patientin erregt, hoch¬ 
rot he Wangen. Temperatur 39.2, Puls ca. 
120, weich, viel Durst, phantasiert. In der ge¬ 
rechtfertigten Annahme, dass sich bei der 
Patientin eine Katastrophe vorzubereiten be¬ 
ginnt. dringe ich bei den um ihre einzige 
Tochter äusserst besorgten Eltern auf Zu¬ 
ziehung eines zweiten Arztes für innere Krank¬ 
heiten, der sich für Abwarten entscheidet 

Da einerseits die Eltern entschlossen sind, 
alles zu wagen, um ihre Tochter zu retten, 
andererseits ich. durch frühere ähnliche Er¬ 
fahrungen aus der Landpraxis gewitzigt, nichts 
unversucht lassen mochte, ziehe ich noch in 
der Nacht den Chirurgen Dr. Mennig (Eli^a- 
bethkrankenhaus) zu. Dieser erklärt sich für 
die Operation und läth zu ihrer unverzüglichen 
Vornahme, einer Ansicht, der ich beiptliehtc. 

6. December. Morgens 8 Uhr linde ich: 
Nacht leidlich, Temperatur 39,2 (Achselhöhle). 
Puls 120. klein, regulär. Kräftezustand gut, 
kein Erbrechen, keine Uebelkeit. Patientin 
blass, aber nicht verfallen aussehend. Vor¬ 
mittags Ueberführung in das Elisabethkranken¬ 
haus, um 1 Uhr Operation durch Prof Rinne. 

Operationsbefund. In tiefer Chloroform- 
narkose üblicher schräger Seitenschnitt (von 
Rinne 1 ) bevorzugt). Das sich darnach prä- 
sentirende Cöcum absolut unverändert, die 
Serosa glatt, glänzend und nicht injicirt. Der 
Processus, ca. 8—9 cm lang, nach dem kleinen 
Becken zu in der Tiefe gelegen, ist volu¬ 
minös, sieht starr wie e r i g i r t - > aus, 
seine Serosa glatt, glänzend, keine Spur I 
von Fibrin besch 1 ägen oder Adhäsionen, ! 
keine Eiterung, auch nicht in seiner Um¬ 
gebung. Der Operateur constatirt sofort beim 
Abtasten einen im mittleren Drittel sitzen¬ 
den Kothstein. Abtragung mittelst Pacquelin 
und Uebernähung des Stumpfes. Rechte Adnexe , 
üanz normal, Jodoformgazetamponade. Schluss 
der Wunde im medialen Drittel durch Naht. 

Im seiner ganzen Länge nach aufgeschnitte¬ 
nen Wurmfortsatz befindet sich im mittleren 
Drittel ein zwickel- bezw. spindelförmiger, circa 
1cm langer Kothstein von frischer Be¬ 
sch a I fe n h ei t. Die Schleimhaut des Pro- , 
cessus ist in der Ausdehnung seiner 
ganzen Berührungsfläche ulcerirt und 
bl au schwarz verfärbt, die Verfärbung 
reicht bis in die Submucnsa. 

6. December. Abends Temperatur 37,9. 
Puls kräftig, regelmässig, ca 100. 

7. December. Temperatur 37.3. 37,5, 37.1. 
Puls kräftig, ca 100. 

8. December. Es sind Blähungen abgegan¬ 
gen. Abdomen weich. Keine Harnbeschwerden, 
Allgemeinbefinden vortrefflich. Tempcratur36.8. 
Puls 90. 

9. December. Verbandwechsel. Temperatur 
36.4. Puls 80. 

l i Deutsche med. Wochenschrift 1902, 28 S. 499. 

a > cf. Rammstcdt, Deutsche med. Wochcnschr. 
1902, 51, S. 902. Fast der gleiche Befund. 

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31. December. Wunde geheilt bis auf eine 
ca. 2 cm lange Stelle in der äusseren (lateralen) 
Wundpartie. 

2. Januar. Patientin wird mit Leibbinde und 
Pelotte heilte nach Mause entlassen. Nach¬ 
behandlung durch Mausarzt. Vorzügliches All¬ 
gemeinbefinden bei glänzendem Appetit und 
regelmässigem Stuhl. 

Epikrise. Sehen wir uns den Fall 
etwas genauer auf seinen ganzen Verlauf 
an, so können wir, meine ich, hier wohl 
mit gutem Grunde von einer „Frühopera¬ 
tion“ sprechen. Denn knapp 24 Stunden 
nach Auftreten der bis dahin fehlenden 
alarmirenden Symptome (Fieber, Deli¬ 
rium) wurde die Operation gemacht. Frei¬ 
lich, der allererste Beginn der Erkrankung 
datirt ja zweifelsohne vom Anfang No¬ 
vember, aber dieselbe verlief doch so über¬ 
aus leicht, eigentlich ohne all und jedes „ty¬ 
pische“ Perityphlitisattribut 1 ) (cf. Kranken¬ 
geschichte), dass mit Ende November die 
Patientin als geheilt gelten konnte, we¬ 
nigstens im klinischen Sinne, im ana¬ 
tomischen war sie es ja, wie die Autopsie 
in viva (cf. Operationsbefund) zeigte, sicher¬ 
lich nicht. Es ist ja eine Thätsache, die 
erst neuerdings wieder von Sonnenburg, 
Fränkel 2 ) u. A. lebhaft urgirt wurde, dass 
„die Schwere resp. Leichte der klinischen 
Erscheinungen bei der Perityphlitis nicht 
immer im Einklang mit den anatomischen 
Veränderungen zu stehen brauche.“ Und 
doch, die schlimme Wendung, das bös¬ 
artige Recidiv vom 5. December kam so 
überraschend und war so frappant, dass 
es fast den Eindruck einer Neuerkrankung 
machte. In diesem Sinne kann man also 
wohl von einer frühen Operation der 
Appendicitis reden. 

Was war nun die Ursache für die so 
plötzliche Verschlimmerung der bis dahin 
ungemein leichten Erkrankung? Darauf 
giebt uns, denke ich, der Operationsbefund 
verlässliche Antwort: Der im Wurmfort¬ 
satz aufgefundene Kothstein hatte 
bereits die Schleimhaut gangränös 
verändert, ulcerirt und befand sich 
aufdem besten Wege durchzubrechen 
und in die freie Bauchhöhle zu perfo- 
riren, wenn nicht die Operation da¬ 
zwischen getreten wäre. Nach 24 bezw. 

48 Stunden wäre diese, das lässt sich mit 
einer hohen Wahrscheinlichkeit sagen, 
voraussichtlich schon „zu spät“ gekommen: 

Der Meinung Bänmlcr’s (1. c.), dass eine 

reine Appendicitis während des Lebens nicht 
oder nur sehr ausnahmsweise diagnosticirt werden 
kann, möchte ich mich nicht anschliessen. 

-) Deutsche med. Wochcnschr. 1902, 4 5. Ver¬ 
einsbeilage 45, S. 328. 

Original fram 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



192 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


April 


bei dem vollkommenen Fehlen aller Ad¬ 
häsionen und Abkapselungen hätte eine 
foudroyante allgemeine, sog. „aseptische“ 
Bauchfellentzündung, wie so oft in ähn¬ 
lichen Fällen, ein blühendes Menschenleben 
vernichtet. Die Frühoperation hat also 
hier direkt lebensrettend gewirkt. 

Was nun das Entstehen bezw. die Rolle 
derKothsteine hinsichtlich der Aetiologie 
der acuten Appendicitis anlangt, so will 
ich darauf nur ganz kurz eingehen. In 
seinem interessanten Artikel: „Die Appen¬ 
dicitis und ihr Zusammenhang mit Trau¬ 
men“, 1 ) sagt Sonnenburg: „Wie jetzt all¬ 
gemein angenommen wird, bilden sich die 
Kothsteine in der Regel im Verlauf eines 
Katarrhs des Wurmfortsatzes.“ Genau so 
erkläre ich mir hier den Hergang. Primär 
der Katarrh des Processus, der sich durch 
die von Anfang November datirende Er¬ 
krankung leichtester Art dokumentirte, 
secundär die Bildung des Kothsteins, die 
etwa in den letzten Tagen des November 
oder in den ersten Tagen des December 
erfolgt sein wird. Für diese Ansicht spricht 
das ganz frische Aussehen des Kothsteins, 
die helle Farbe und das Fehlen jeder Fa- 
cettirung. (Bäumler). Ferner auch das 
Nichtvorhandensein der Veränderungen 
um den Processus herum (Fibrinbeschläge, 
Verklebungen). 

Indem ich zum Schluss in aller Kürze 
zur Erörterung des Standpunktes der aus¬ 
ländischen Aerzte bezüglich der Therapie 
der akuten Perityphlitis übergehe, so er- 
giebt eine Durchsicht der einschlägigen 
Litteratur der beiden letzten Jahre, dass 
ausser den Franzosen, z. B. Dieulafoy, 2 ) 
Longuet, 3 ) u. a. neuerdings gerade die 
Amerikaner und Engländer die frühe Ope¬ 
ration mit aller Schärfe befürworten. Nach 
Deaver u. Ross, 4 ) die über ein Material 
von mehr als 400 Fällen verfügen, bedeutet 
„frühe Operation Heilung“ und Taylor 5 ) 
betrachtet jeden Anfall heftiger akuter 
Appendicitis wie einen eingeklemmten 
Bruch, indem er ihn sofort operirt. Ganz 
soweit, glaube ich, werden ja, wie ich 
schon oben erwähnte, unsere Chirurgen 
nie gehen, wenngleich, wie sich nicht ver¬ 
kennen lässt, die operationsfreundliche 
Stimmung entschieden zugenommen hat. 

J ) Deutsche med. Wochenschrift 1901, 38. 

a ) Deutsche med. Wochenschrift 1902, 35. V.-B. 
S. 276 Referat. 

3 ) Sem. medicale 1902, 23. 

4 ) The Journal of the American medical assoc. 
1902, 17, 24. 

5 ) The British medical Journal 1902, 8. Febr. 
Remarks on appendicitis and its treatment. 


Der praktische Arzt kann damit nur ein¬ 
verstanden sein, zumal wenn er bedenkt, 
wie der Wurmfortsatz von der Natur gerade¬ 
zu prädestinirt erscheint — ein Danaer¬ 
geschenk xar i&x ojv — als Depot aller 
möglichen und unmöglichen Gegenstände 
zu dienen. Was hat man in ihm nicht 
schon für heterogene Dinge gefunden? Da 
finde ich erwähnt und zitire der Curiosität 
halber: Stecknadeln , l ) Fischgräten, 2 ) Schrot¬ 
körner, 8 ) Haare, Fruchtkernchen, Kiesel¬ 
steine 4 ) und, last not least, Eingeweide¬ 
würmer. 5 ) Ja, selbst die so aktuellen Ba¬ 
cillen 6 ) dürfen nicht fehlen. Nimmt man 
hierzu noch die vielfachen Coroplicationen* 
die bei exspectativer Behandlung dem 
wohl vom Anfall, aber nicht von der Krank¬ 
heit 7 ) Geheilten drohen — ich erwähne 
nur den Darmverschluss durch Adhäsionen 
des Processus infolge Schlingenbildung 8 ) 
und die für das weibliche Geschlecht so 
überaus wichtigen und gar nicht so seltenen 
Erkrankungen der rechten Adnexe 9 ) durch 
Uebergang vom Wurmfortsatz (Lig. appen- 
diculo-ovaricum) —, so verstehe ich wohl 
den Standpunkt der Amerikaner, wenn sie 
sagen: Lieber einmal zu viel als zu wenig 
operiren. Vor allem aber so zeitig ein- 
greifen, dass es gar nicht zu den eben 
skizzirten deletären Folgeerscheinungen 
„dieser so häufigen und verderblichen 
Krankheit“ 10 ) kommt. Ich schliesse mit 
dem beherzigenswerthen Appell Roses 11 ) 
an die deutschen Chirurgen: „Wer sonst 
gesund ist, stirbt an der Wurmfortsatzent¬ 
zündung nur, wenn er zu spät operirt wird. 
Gerade wie bei der Brucheinklemmung.“ 

*) Rose, Deutsche med. Wochenschrift 1902, 
3. V.-B. S. 70. Malcolm, The Lancet 1902, 5. Juli. 

a ; Fränkel (Nürnberg), Deutsche med. Wochen¬ 
schrift 1902, 27. V.-B. S. 208. 

3 ) Holmes, cit. bei Rose, 1. c. 122 Stück im 
Wurmfortsatz. 

Rose, 1. c. 

5 ) Genser, Wiener med. Wochenschrift 1901, 19. 
Spulwürmer, dto. Metschnikow. Rammstedt, 
I. c. Faden Würmer. Girard, Röle des trichoce- 
phales dans Pinfection de l’appendice üeocoecale. 
Annales de Tinstitut de Pasteur 1901, Juin. (2 Tri- 
chocephalen). 

®t J. de Quervain, Die Aetiologie der Pneumo- 
coccenperitonitis. Corresp. für Schweizer Aerzte 
1902, 16. Die Erkrankung ging vom Wurmfort¬ 
satz aus, in dessen Lumen sich Pneumococcen 
befanden. 

7 ) Sonnenburg, Pathologie und Therapie der 
Perityphlitis, Leipzig 1900. 

8 ) Hermes, Einklemmung einer Dünndarm¬ 
schlinge. Deutsche med. Wochenschrift 1901, 23. 

9 ) Fränkel, Die Appendicitis in ihren Be¬ 
ziehungen zu den Erkrankungen der weiblichen 
Sexualorgane. S. klin. Vorträge, N. F. 323, 1901. 

10 ) Taylor, 1. c. 

n ) Rose, Deutsche med. Wochenschrift 1902, 14. 


1 iir die Red.iction verantwortlich: Prof. Ci. Klemperer in Berlin. — Verantwortlicher Kcdactewr ftir Oesterreich-Ungarn: 
P.u^-n Schwarzenberg in Wien. — Druck von J ulius Sitt en fold in Berlin. —Verlag von Urban & Schwarzenuerg 

in Wien und Berlin. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1903 


herausgegeben von Prof. Dr. Q. Klemperer 

In Berlin. 


Mai 


Nachdruck verboten. 

Ans der UL medicinischen Klinik der Charite. 

(Director: Geheimrath Prot Senator.) 

Zur Behandlung und Verhütung der Nierenwassersucht. 

Von Professor H. Strauss, Assistent der Klinik. 


In mehreren früheren Arbeiten 1 ), von 
welchen eine in dieser Zeitschrift erschienen 
ist, habe ich auf Grund fremder und eigener 
Untersuchungen gezeigt, dass bei chroni¬ 
schen Nephritiden Kochsalzretentionen 
Vorkommen können, und gefordert, dass 
diese Thatsache auch eine therapeutische 
Beachtung bezüglich der Kochsalzzufuhr 
erfahre. Die Gründe, die mich hierzu ver- 
anlassten, waren folgende: 

1. habe ich bei kryoskopischen Harn¬ 
untersuchungen und bei Studien über den 
Kochsalzstoffwechsel, die ich nach der An¬ 
lage früherer Versuche über alimentäre 
Glykosurie ausgeführt habe, feststellen 
können, dass bei chronischen Nephritiden 
im Zustande der Compensationsstö- 
rung nicht bloss die Wasserabscheidung 
sondern — und zwar nicht selten in noch 
höherem Grade —die Kochsalzausschei¬ 
dung durch die Nieren herabgesetzt ist. 
Es besteht in solchen Fällen häufig ein 
„Torpor renalis“ derart, dass die Niere 
die Ausfuhr nicht nur von Wasser son¬ 
dern auch von Kochsalz der Zufuhr 
nicht gehörig anzupassen vermag. 

2. haben Untersuchungen von Marisch- 
ler 2 ), Achard und Loeper 8 ), Claude 
und Maut6 4 ), Steyrer 5 ), sowie eigene 
Untersuchungen 6 ) gezeigt, dass gewisse 
Nephritiker auf die Zulage eines grösseren 
Quantums Kochsalz zu einer sonst gleich¬ 
bleibenden Diät nicht diejenige Steigerung 
der Kochsalzausscheidung erkennen lassen, 
die man beim Gesunden beobachten kann. 

3. haben Untersuchungen des getrennt 

*) H. St rau ss, Die chronischen Nierenentzün¬ 
dungen etc. Berlin 1902, A Hirschwald, ferner 
Berliner klinische Wochenschrift 1902. No 23, The¬ 
rapie der Gegenwart, Octoberheft 1902, Zeitschrift 
für klinische Medicin. Band 47, Heft 5 und 6. 

Marischier, Archiv für Verdauungskrank¬ 
heiten, Band VII, Heft 4 und 5. 

3 ; Achard und Loeper, Bull, et mem. de la 
soc. m6d. de höp. 1902, No 16. 

4 ) Claude und Maut6 ibid. No. 15 und Arch. 
generales de Medecine 1902, No. 16. 

s ) Steyrer, Hofmeister’s Beiträge, Band II, 
Heit 7 und 9 aöut 1902. 

6 ) H. Strauss, Zeitschrift für klinische Medi¬ 
cin, 1 . c. 


aufgefangenen Harnes bei einseitigen Nieren¬ 
erkrankungen (Albarran und Bernard 1 ), 
Casper und Richter 2 ), Kövesi und 
v. Illy^s 8 ) auf der erkrankten Seite eine so¬ 
wohl procentual als absolut geringere Koch¬ 
salzausfuhr ergeben als auf der gesunden 
Seite. 

Der Umstand, dass ich den „Torpor 
renalis“ meist zusammen mit procentual 
und in toto niedrigen Kochsalzwerthen 
und meistens bei solchen Nephritikern an¬ 
traf, welche gleichzeitig mehr oder we¬ 
niger ausgeprägte Zeichen von Com- 
pensationsstörungen (insbesondereOe¬ 
deme) erkennen Hessen — im Gegensatz 
zu Nephritikern, deren Krankheit gut com- 
pensirt war —, hat mich zu der schon in 
früheren Arbeiten angedeuteten Auffassung 
veranlasst, dass die Verminderung der 
Kochsalzausscheidung bei Nephritikern 

1. einen mehr oder minderengen Zu¬ 
sammenhang mit dem Eintritt der 
Compensationsstörung besitze und 

2. zum grössten Theile renalen Ur¬ 
sprungs sei. Eine Durchsicht der Kranken¬ 
geschichten der von den einzelnen Autoren 
untersuchten Fälle zeigte mir in der That, 
dass nicht nur die sub 1 ausgesprochene 
Voraussetzung meist zutraf, sondern dass 
auch die sub 2 ausgesprochene Anschauung 
insofern berechtigt ist, als sich gegen die 
einer solchen Anschauung entgegenstehen¬ 
den Auffassungen von Marischier sowie 
Achard und Loeper begründete Ein¬ 
wände (cf. später) erheben lassen. 

Auf dem Boden solcher Erwägungen 
habe ich Herrn Dr. von Koziczkowsky 
in diesem Winter veranlasst, bei Nephri¬ 
tikern systematische Untersuchungen 
über den Salzstoffwechsel nach den 
Fragestellungen zu unternehmen, die sich 
aus den Resultaten fremder und eigener 
kryoskopischer Harnuntersuchungen sowie 

J ) Albarran und Bernard, Annales des mal. 
des org. genito-urin. 

*) Casper und Richter, Funktionelle Nieren¬ 
diagnostik, Berlin 1901. 

3 ) Kövesi und v. Illyes, Berliner klinische 
Wochenschrift 1902. 

25 


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194 


Die Therapie der 


fremder und eigener Studien über den 
Kochsalzstoffwechsel bei Gesunden und 
Nierenkranken ergeben haben und hierbei 
ganz besonders auf die Frage der Com- 
pensation und der Decompensation und 
auf den Einfluss der Diurese auf den Koch¬ 
salzgehalt des Urins zu achten. Da bei 
diesen Untersuchungen weiterhin noch die 
Thatsache zu berücksichtigen war, dass bei 
den hier in Rede stehenden Fällen bisher 
so häufig ein Unterschied zwischen den 
Kochsalzwerthen und den die Gesammt- 
zahl der anorganischen Molecüle anzeigen¬ 
den Werthen für die elektrische Leitfähig¬ 
keit des Urins zu beobachten war, so war 
bei diesen Untersuchungen ausser dem 
Kochsalzstoffwechsel auch noch das Ver¬ 
halten der wichtigsten anderen im Urin 
vorkommenden Salze zu studiren. 

Deshalb wurden die betreffenden Unter¬ 
suchungen in der Weise ausgeführt, dass 
bei einer an den verschiedenen 
Tagen gleichartigen Diät während 
einer Reihe von Tagen die Kochsalz-, 
Phosphorsäure- und Schwefelsäure¬ 
ausfuhr im Urin bestimmt und der Einfluss 
einer an einem einzelnen Tage verab¬ 
reichten — aus 10 g Kochsalz, 2,5 g phos¬ 
phorsaurem Natrium und 2,5 g schwefel¬ 
saurem Natrium bestehenden — „Zulage“ 
auf das Verhalten der genannten Factoren 
im Urin während mehrerer auf die „Zulage“ 
folgender Tage untersucht wurde. 

In diesen Versuchen, bei denen auf 
lange Versuchsreihen Werth gelegt wurde 
und über deren Ergebnisse Herr Dr, v. Ko- 
ziczkowsky in Bälde Genaueres berichten 
wird, zeigten sich bei den untersuchten 
Nephritikern nicht selten Störungen in der 
Salzausscheidung, und zwar waren diese 
besonders ausgeprägt bei Nephriti¬ 
kern mit Hydropsien. Bei letzteren 
fand sich in der Regel; 

1. eine niedrige procentuale und abso¬ 
lute Kochsalzausscheidung 

2. keine oder eine nur unwesentliche 
Erhöhung der im Allgemeinen ziemlich 
stabilen procentualen und absoluten Koch- 
salzwerthe nach Verabreichung der Salz¬ 
zulage; 

3. dagegen keine Herabsetzung der 
Phosphorsäure- und Schwefelsäureaus¬ 
scheidung (im Gegensatz zur Kochsalzaus¬ 
scheidung). Meist war sogar zwischen der 
Kochsalz- und Phosphorsäure- sowie auch 
Schwefelsäureausscheidung ein gewisser 
Antagonismus in der Art zu bemerken, dass 
beim Sinken der Kochsalzausfuhr eine Er¬ 
höhung der Phosphorsäure- und häufig auch 
der Schwefelsäureausscheidung erfolgte; 

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Gegenwart 1903. M*i 


4. keine directe Beziehung zwischen 
der Kochsalz- und Wasserausscheidung 
während der verschiedenen Tage einer 
länger dauernden Beobachtungsreihe. Die 
Wasserausscheidung war im Gegensatz 
zu der relativen Stabilität des procentualen 
Kochsalzgehaltes oft recht sprunghaft und 
es waren nicht selten normale oder sogar 
erhöhte Urinmengen bei sehr niedrigen 
Kochsalzwerthen zu beobachten; 

5. nach der Salzzulage häufig eine Ver¬ 
minderung der Wasserausscheidung, wenn 
die Salzzulage nicht zu einer Vermehrung 
der Kochsalzausscheidung geführt hatte, 
trotzdem bei den betreffenden Versuchs¬ 
personen sonst keine Tendenz zur Ver¬ 
minderung der Wasserausscheidung in der 
betreffenden Zeit zu beobachten war; 

6. ein Schwinden der Oedeme beson¬ 
ders dann, wenn nicht bloss eine Poly- 
hydrurie sondern vor allem eine Poly- 
chlorurie erzeugt wurde, in der Art, 
dass trotz Erhöhung der Wasserabschei- 
dung der procentuale Kochsalzgehalt er¬ 
heblich (und damit in unverhältniss- 
mässig hohem Grade auch der absolute 
Kochsalzgehalt) anstieg. 

Wenn ich die Ergebnisse dieser mit 
einer zur Entscheidung der vorliegenden 
Fragen meines Erachtens ausreichenden 
Versuchsanordnung gewonnenen Unter¬ 
suchungen mit den Resultaten früherer 
Untersuchungen Zusammenhalte, über die 
ich bereits Eingangs berichtet habe, so 
glaube ich, aus ihnen den schon an früheren 
Orten von mir angedeuteten Schluss 
ziehen zu dürfen, dass die Hydrop¬ 
sien der hier in Rede stehenden 
Nephritiker 1 ) nicht bloss mit einer 
Kochsalzretention einhergehen son¬ 
dern auch höchstwahrscheinlich mit 
dieser in ursächlichem Zusammen¬ 
hang stehen, und dass die letztere 
selbst renalen Ursprungs ist. 

Dieser Satz erscheint mir im Hinblick 
auf die aus seiner völligen Anerkennung 
sich ergebende therapeutische Con- 

*) Anm,: Es sind hier diejenigen Hydropsien 
Nierenkranker nicht ins Auge gefasst, die rein Kar¬ 
dialen Ursprungs sind. Bei den letzteren scheinen, so¬ 
weit meine bisherigen — noch nicht abgeschlossenen 
— Untersuchungen ein Urtheil erlauben, die Dinge 
etwas anders zu liegen, da beim Hydrops cardialis 
im allgemeinen das Moment der Oligohydrurie aus¬ 
gesprochener und der procentuale Kochsalzgehalt höher 
zu sein pflegt, als bei den Fällen von Hydrops re- 
nalis im engeren Sinne. Meine bisherigen Unter¬ 
suchungen auf diesem Gebiete sind jedoch noch nicht 
so weit ausgedehnt, dass ich mich fiber diesen Punkt 
schon zu einem abschliessenden Urteil berechtigt 
fühle und sollen deshalb noch fortgesetzt werden. 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Die Therapie der Gegenwart 1903. 


195 


Mai 


sequenz von grosser praktischer 
Wichtigkeit. Wenn man die Literatur 
durchsieht, so findet man schon bei 
v. Koranyi 1 ) die Angabe, dass man „die 
Nephritiden auf Grund des Verhaltens von 

NaCi * n ^ Typen teilen könne . . . Kli¬ 
nisch scheinen jedoch diese Typen nicht 
wesentlich verschieden zu sein . . . Wenn 

eine Abnormität von vorliegt, so bleibt 

sie bei dem betreffenden Patienten constant. ] 
Abweichungen von dieser Regel kommen 
nur bei der Bildung und Entleerung von 
hydropischen Ergüssen vor.“ An einer 
anderen Stelle spricht v. Koranyi davon, 
dass „wenn der Körper sein Plus an festen 
Molecülen nicht entfernen kann, er sich in 
der Weise hilft, dass zur Aufnahme dieser 
überflüssigen Molecüle von aussen ein Plus 
an Wasser geboten wird.“ Kraus 2 ; sagt 
unter Bezugnahme auf die Untersuchungen 
seines Assistenten Steyrer, dass „bei 
kranken Nieren die Ausscheidung des Chlor- 
natiiums Zurückbleiben kann und dass ins¬ 
besondere im Stadium der urämischen In- 
toxication die anorganischen Molen oft stark 
zurückgehalten werden.“ Claude und 
Maut6 führen die in ihren Versuchen beob¬ 
achteten Störungen der Kochsalzausschei¬ 
dung direkt auf krankhafte Vorgänge in der 
Niere zurück und messen dem Verhalten 
der Kochsalzausscheidung bei Nieren¬ 
kranken eine gewisse prognostische Be¬ 
deutung bei. Ausserdem verlangen sie — 
und damit betreten auch diese Autoren 
den Boden einer praktisch therapeutischen 
Forderung — für Fälle mit gewissen Stö¬ 
rungen der Kochsalzelimination eine „strenge 
Hygiene, genaue Ueberwachung und zeit¬ 
weilige exclusive Milchdiät“. Im Gegensatz 
zu den eben genannten Forschern spricht 
jedoch Marischier die Ansicht aus, dass, 
wenn „bei chronisch parenchymatöser Ne¬ 
phritis“ eine Kochsalzretention gefunden 
werde, diese die Folge einer primären 
Wasserretention sei. Achard und 
Loeper sind geneigt, die Thatsache, dass 
bei acuten und chronischen Nephritiden 
Kochsalzretentionen beobachtet werden 
können, auf exti arenale Momente zurück¬ 
zuführen, weil man dieselbe Erscheinung 
auch bei acuten fieberhaften Krankheiten 
ohne klinisch nachweisbare Nephritis beob¬ 
achten könne. Sieht man jedoch die 
Krankengeschichten und Versuchsproto- 

v. Koranyi, Zeitschrift für klinische Medicin, 
Band 34 und 35. 

Kraus, Deutsche mcdicinische Wochenschrift 
1902, No. 49. 

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colle von Marischier im Einzelnen kri¬ 
tisch durch, so ergiebt sich hierbei — auch 
wenn man von der von mir bereits er¬ 
wähnten Beobachtung ganz absieht, dass 
Kochsalz- und Wasserausscheidung bei 
Nephritikern häufig divergiren — die Mög¬ 
lichkeit von Einwänden gegen die von 
Marischier gewählte Deutung seiner Be¬ 
funde. ImUebrigen ist sehr interessant, dass 
gerade derjenige Fall (III), welcher eine gute 
Kochsalz- und Wasserausscheidung zeigte, 
nach der Krankengeschichte den Eindruck 
eines gut compensirten Falles macht. Aus 
den Mittheilungen von Achard und Loe¬ 
per, die in der Mehrzahl der Fälle von 
acuter, subacuter und chronischer Nephritis 
eine Herabsetzung der Kochsalzausschei¬ 
dung feststellen konnten, lässt sich leider 
über das klinische Verhalten der einzelnen 
Fälle zu wenig ersehen, um die Frage des 
Einflusses der Decompensation auf die 
Kochsalzausscheidung genauer zu discu- 
tiren. Bezüglich der Deutung der Be¬ 
funde ist aber zu bemerken, dass man bei 
der Obduction von Patienten, die an 
acuten oder subacuten Infectionsktankheiten 
gestorben sind, nicht gerade sehr selten 
mehr oder weniger ausgeprägte Erschei¬ 
nungen von parenchymatöser Nephritis 
vorfinden kann, ohne dass bei diesen intra 
vitam klinische Zeichen einer Nephritis 
nachweisbar waren. Ich führe diese Beob¬ 
achtung — ohne die Möglichkeit bestreiten 
zu wollen, dass extrarenal wirksame Mo¬ 
mente in dieser Frage noch eine Rolle 
spielen können — mit Absicht gerade an 
dieser Stelle an, weil ich den Ein¬ 
druck gewonnen habe, als ob ausser 
Circulationsstörungen am Filtrations¬ 
apparat der Niere vor allem Störungen 
am Epithelialapparat 1 ) für das Zustande¬ 
kommen der Oligochlorurie von Bedeutung 
sind. Ich vermuthe dies nicht bloss des- 


A n m.: Solche Störungen am Epithelialapparat, 
zu welchem ich auch das Schlingen und Kapsel- 
cpithel der Malpighischen Körperchen rechne, können 
unter Anderem auch durch schwere Verände¬ 
rungen in der Nie renci rculation bedingt werden. 
Wenigstens bin ich geneigt, einen hierher gehörigen 
von mir bei einem Falle von paroxysmaler Tachycardic 
mit sehr niedrigen Blutdruck erhobenen Befund (cf. 
Zeitschrift lür klinische Medicin 1. c.1 und einige ähn¬ 
liche bei sc h w e rstcr Herzmuskehnsufficienz in den 
letzten Tagen vor dem Tode gemachten Befunde in 
di( sem Sinne zu deuten. Auch bei jenen schwersten, 
jeder Therapie trotzenden, prognostisch ominösen 
Formen der Herabsetzung der Kochsalzausscheidung 
im Terminalstadium mancher Fälle von parenchy¬ 
matöser Nephritis dflrftc das circulatorische Moment 
vielleicht in dem gedachten Sinne verschlimmernd 
wirken, weil ein erkranktes Parenchym gegen eine 
Herabsetzung der Circulationsgrösse von vornherein 
empfindlicher sein muss als ein primär gesundes. 

25* 

Original ffom 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 



196 


Die Therapie der 


halb, weil man Oedeme und Hydrämie — 
welch letztere ich ja schon früher als eine 
Folge der Kochsalzretention angesprochen 
habe — besonders häufig und besonders 
ausgeprägt gerade bei jenen Formen von 
Nephritis vorzufinden pflegt, die man ge¬ 
meinhin „parenchymatöse“ nennt, sondern 
auch aus dem Grunde, weil ich einige 
Male einen Wechsel in der Befähigung der 
Nieren zur Kochsalzausscheidung in der 
Weise erfolgen sah, dass in der Zeit, in 
welcher klinische Zeichen einer Exacerba¬ 
tion der Parenchymerkrankung (erhebliches 
Ansteigen der Menge des Eiweisses und 
der Formelemente sowie Auftreten von 
Blut etc.) zu Tage traten, eine Verminde¬ 
rung der Kochsalzausscheidung zu beob¬ 
achten war. Ausserdem habe ich einmal 
bei der mikroskopischen Untersuchung 
der Niere eines Falles, in welchem ich bei 
enormer Verminderung der Kochsalzaus¬ 
scheidung Oedeme auftreten sah, schwere 
Verfettungen an den Harnkanälchen aber 
fast völlig normale Glomeruli vorgefunden. 
(Fall Peschat in Ztschr. f. klin. Med., Bd. 47, 
H. 5 und 6). Einen ganz analogen Befund 
hat auch Bujniewicz 1 ) unter besonders 
günstigen Untersuchungsbedingungen er¬ 
heben können. Bei einer Frau welche eine 
Zerreissung der rechten Niere erfuhr, 
wurde diese bis auf geringe Reste exstir- 
pirt. An dem Reste bildete sich eine 
Nierenfistel aus. Der durch die Blase er.t- 
leerte Urin der gesunden Seite erwies sich 
durchaus normal, während der durch die 
Fistel abgesonderte Urin eine erhebliche 
Erniedrigung der Werthe für A und NaCl 
zeigte 2 ) Bei der einige Monate nach der 
ersten Operation erfolgten Entfernung des 
zurückgelassenen Nierenfragmentes waren 
die Glomeruli gesund, aber die Epithelien 
der Tubuli contorti und der Tubuli recti 
zeigten tiefgehende Veränderungen. 

Wmn ich den hier gemachten Aus¬ 
führungen noch hinzufüge, dass, wie ich 
in der Zeitschrift für klinische Medicin 
Bd. 47 gezeigt habe, selbst bei Nephriti- 
kern mit ausgeprägten Oedemen (aber ohne 
Urämi«) die Ausfuhr der „Achloride“ im 
Allgemeinen eine genügende zu sein 
pflegt, so muss ich sagen, dass nichts auf 
eine piimäre Zurückhaltung von „Achlo- 
riden“ hinweist, von welchen man an nehmen 
könnte, dass sie erst zu einer Zurückhal¬ 
tung von Wasser und — zur Erhaltung 

M Bujniewicz: Le physiologistc russe 1901. 

Anm.: Auf der gesunden Seite betrug (im 
Mittel aus 7 Tagen) A *= — 1,24° und NaCl = 0.66 "/o, 
aut der kranken Seite waren die entsprechenden 
Werthe = — 0,29° bezw. 0,30 %. 


Gegenwart 1903. Mai 


des normalen procentualen Kochsalzgehaltes 
im Blut und in den Körpersäften — 
secundär zu einer Zurückhaltung von 
Kochsalz führen würden. Wenn ich dazu 
noch das wiederhole, was ich über 
die Durchlässigkeit der hier in Rede 
stehenden Formen von Nierenerkrankungen 
einerseits für Wasser andererseits für 
Kochsalz ausgeführt habe, so halte ich 
die Forderung für berechtigt, 1 ) dass man 
zum mindesten bei schon hydropischen 
Nephritikern (neben den sonstigen für 
die Bekämpfung der Hydropsien erprobten 
Methoden) therapeutisch eine Ein¬ 
schränkung der Kochsalzzufuhr und 
eine Vermehrung der Kochsalzausfuhr 
anstreben soll. 

Der ersten Forderung wird am besten 
durch eine kochsalzarme Diät ent¬ 
sprochen, bei der die vor allem auch von 
Senator — noch aus sonstigen Gründen — 
stets empfohlene Milchkur (die selbst¬ 
verständlich nicht identisch ist mit einer 
ausschliesslich en Milchdarreichung) 
eine grosse Rolle spielt. Wenn ich der 
Milch hier auch noch unter dem speciellen 
Gesichtspunkt des Salzstoffwechsels 
der Nephritiker das Wort rede, so veran¬ 
lasst mich hierzu ausser ihrer Kochsalz- 
armuth auch noch die Erkenntniss, dass,, 
wie ich bereits erwähnt habe, bei ödema- 
tösen Nephritikern die Ausfuhr der Phos¬ 
phorsäure und Schwefelsäure und wohl auch 
der meisten sonstigen „Achloride“ in der 
Regel nicht vermindert ist. (Bezüglich des 
letzteren Moments sei hier auch darauf 
hingewiesen, dass nach neueren Unter¬ 
suchungen von Hans Meyer 3 ) und CX 
Loewi 8 ) die Ausscheidung von Kochsalz 
und Harnstoff auch beim Gesunden einen 
anderen Weg geht, als diejenige der Phos¬ 
phate und der Harnsäure.) 

Liegt in Fällen nephrogener Vermin¬ 
derung der Kochsalzausscheidung eine Ver¬ 
anlassung zur subcutanen „Kochsalzinfu¬ 
sionen“ oder zu rectalen „Salzwasserein- 
giessungen“ vor, so rathe ich auch nicht 

*) An m.: Selbst wenn das Kochsalz nur ein Indicator 
für andere gleichfalls nephiogen zurückgehaltene 
und zur Qedembil lung führende Substanzen sein sollte, 
würde dies die hier gestellten Forderungen nicht ent- 
krälten. Das gleiche gilt auch, wenn sich die Bedeutung 
des circulatorischen Momentes tür das Zustande¬ 
kommen ,,renaler Hydropsien" grösser erweisen 
sollte, als es z. Zt. den Eindruck macht. Denn wie 
später ausgeführt ist, lege ich auf dieses Moment 
für die Herstellung eines Ausgleiches renaler In- 
sulhcienz einen besonderen Werfh. 

*• H. Meyer, Sitzungsberichte der medic. Ge¬ 
sellschaft zu Marburg 1902. 

O. Loewi, Arch. f. exp. Pathol u. Pharm. 
Bd. 49, Heft 5 und 6 


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Gck igle 


Original fro-m 

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197 


jtfai Die Therapie der 


zur Benutzung blutisotonischer, sondern — 
wie es Senator schon aus anderen Grün¬ 
den (Rücksicht auf den osmotischen Druck) 
-empfohlen hat — hypotonischer Koch¬ 
salzlösungen. Noch rathsamer erscheint 
mir jedoch zur Vermeidung der Kochsalz¬ 
zufuhr in derartigen Fällen die Anwendung 
isotonischer Zucker- oder Natriumsaccharat- 
lösungen (nach Schücking.) Dass ich 
bezüglich der gerade in diesem Zusammen¬ 
hänge besonders interessirenden Frage der 
Grösse der Wasserzufuhr bei ödematösen 
Nephritikern den Forderungen von Noor- 
den’s 1 ) nicht principiell, sondern nur mit 
spezieller Wahl der Fälle beitreten kann, 
habe ich nicht nur früher schon betont, 
sondern ergiebt sich auch aus dem, was 
ich an anderer Stelle über die compen- 
satorische Bedeutung der Polyhydurie bei 
Nephritiden und hier über die Rolle des 
Kochsalzes für die Pathogenese derOedeme 
(wenn Kochsalz in den Säften zurück¬ 
gehalten wird, muss auch Wasser zurück¬ 
gehalten werden, da der Kochsalzgehalt 
der Säfte auch bei Oedemen unverändert 
bleibt [6 g zurückgehaltenes Kochsalz 
müssen ca. 1 1 Wasser im Körper zurück¬ 
halten)) sowie schliesslich noch über die 
— auch bei Bestehen von Oedemen nicht 
immer herabgesetzte — Durchgängigkeit 
der Nieren für Wasser ausgeführt habe. 
Im Uebrigen scheint es, als ob der Orga¬ 
nismus des Nephritikers retinirtes Koch¬ 
salz auch abseits vomSäftestrom inner¬ 
halb der Gewebe unterbringen kann 
-(„ Historetention“ im Gegensatz zur 
„Seroretention“), da bei Fällen von 
Urämie Bohne 2 ) in der Leber 8 ) und 
Achard und Loeper 4 ) in den Muskeln 
und im Gehirn eine Vermehrung des Chlor¬ 
gehalts gegenüber der Norm feststellen 
konnten. Aehnliches habe auch ich 8 ) be¬ 
obachten können. Da bei der Urämie 
jedoch die Vorgänge verwickelt sind — 
nach am Blutserum angestellten Unter¬ 
suchungen scheint hier das wesentliche 
Moment in der Retention N-haltiger 


*) v. Noorden, Sammlung klin. Abhandlungen 
■der Pathologie und Therapie des Stoffwechsels und 
Ernährungsstörungen, Heft 2. Berlin, A. Hirseh- 
wald 1902 und a. a. O. 

Bohne, Fortschr. d. Med. 1897, No. 4. 

3 ) Anm.: So konnte ich einmal in einem Falle 
von schwerster Urämie bei Granularatrophie ohne 
Hydropsicen den ausserordentlich hohen Werth von j 
0,54% NaCl und in einem zweiten ähnlichen Falle, , 
in welchem aber Ascites und Oedeme bestanden, den 
gleichfalls hohen Werth von 0,223 °/ 0 NaCl in der 
Leber feststellen. (Bohne hatte bei drei Fällen von 
Phthisis pulm. bezw. Care, mammae im Durchschnitt 
0,07 0 i NaCl gefunden"). 

L Aciiard et Loeper, Soc. de biol. 1901. 

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Gegenwart 1903. 


Stoffwechselschlacken gelegen zu sein, es 
kommt aber nach Urinuntersuchungen 
auch eine Kochsalzretention vor — so 
behalte ich mir vor, die Frage der Koch¬ 
salzretention in den Geweben bei 
Nephritikern unter specieller Bezug¬ 
nahme auf die klinischen Aeusse- 
rungen der Krankheit, insbesondere 
auf das Vorhandensein oder Fehlen von 
Oedemen, noch weiter zu verfolgen. 

Die zweite Forderung, die Anregung 
der Kochsalzausscheidung wird durch 
die Anwendung solcher Diuretica erfüllt, 
die ausser der Wasserabgabe noch in be¬ 
sonderem Grade die Kochsalzausschei- 
dung zu steigern vermögen. 

Dies sind zunächst die Herztonica, 
die durch Verbesserung der Circulations- 
geschwindigkeit in den Nierengefässen nicht 

| nur die Wasserabscheidung, sondern speciell 
auch die Kochsalzausscheidung erhöhen. Das 
wissen wir nicht nur aus der Betrachtung des 

Factors zur Zeit einer guten oder 

geschwächten Herzthätigkeit, sondern es 
hat auch v. Koranyi gezeigt, dass bei 

! Compensationsstörungen unter dem Ein¬ 
fluss von Digitalis und Strophanthus der 

; Quotient j^q sinkt und Steyrer hat bei 

der durch Digitalis erzeugten Polyhydrurie 
gleichzeitig ein erhebliches Ansteigen des 
procentualen Kochsalzgehaltes, also eine 
Steigerung der gesammten Kochsalzaus¬ 
fuhr beobachtet, die grösser war, als der 
Steigerung der Wasserausfuhr allein ent¬ 
sprach und damit auch den Namen einer 
Polychlorurie verdient. 1 ) Die Steigerung 
der Circulationsgeschwindigkeit in den 
Nierengefässen erscheint für die Behandlung 
der Hydropsien der Nephritiker aus dem 
Grunde einer besonderen Beachtung werth, 
weil dieser zur Erhöhung der Kochsalz¬ 
ausfuhr führende Weg nicht nur durch 
keinerlei Nierenaffectionen contraindicirt 
ist, sondern weil wir auch bemerken, dass 
die Natur selbst diesen Weg betritt, um den 
Defect in der Functionsleistung auszu¬ 
gleichen, wenn diese durch eine Erkrankung 
des Parenchyms herabgesetzt ist. Sehen 

*) Anm.: Von eigenen diesbezüglichen Beobach¬ 
tungen (näheres siehe bei v. Koziezko wsky) war 
mir eine besonders interessant, in welcher bei einem 
an diffuser — insbesondere parenchymatöser — 
Nephritis mit Oedemen leidenden Kranken, dessen 
eine Niere völlig in einen Eitersack auf¬ 
gegangen war, die combinirte Darreichung von 
Digitalis, Scilla, Strophanthus und Liquor kalii acetici 
neben einer sehr starken Polyhydrurie ein Ansteigen 
des procentualen Kochsalz werthes auf das 
Doppelte und damit gleichzeitig auch eine sta rke 
Polychlorurie erzeugt hatte. 

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198 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Mai 


wir doch, dass bei chronischen Nephri- j 
tiden und nach einer gewissen Zeit auch 
bei acuten Nephritiden eine Steigerung 
der Herzkraft die durch die Erkrankung 
gesetzten Störungen auszugleichen ver¬ 
sucht und zwar nicht nur bei den Fällen 
von sogenannter chronisch interstitieller 
Nephritis, sondern auch bei der soge¬ 
nannten chronisch parenchymatösen Ne¬ 
phritis. Ja es scheint sogar, wie ich schon 
in meiner Monographie (1. c.) ausge¬ 
führt habe, als ob in manchen Fällen 
der Uebergang einer chronisch paren¬ 
chymatösen Nephritis in eine sogenannte 
secundäre Schrumpfniere zum grossen 
Theile von der Fähigkeit des Herzens zu 
hypertrophiren abhängt. Aus diesem 
Grunde scheint mir, wie ich es schon an 
jener Stelle betont habe, bei den par¬ 
enchymatösen Formen von Nephritis 
von Anfang an die Sorge für eine 
gute bezw. gesteigerte Herzthätig- 
keit und die dauernde Ueberwa- 
chungdesHerzens ebenso wichtig wie 
bei denjenigen Formen, bei denen 
vorzüglich das interstitielle Gewebe 
erkrankt ist. In der That habe ich auch 
bei den Oedemen der parenchymatösen 
Nephritiker wiederholt von der alleinigen 
Anwendung von Herztonicis guten Erfolg 
gesehen. 

Was die Darreichung der Diuretica 
im engeren Sinne betriflt, so scheinen die 
Coffein präparate speciell befähigt zu 
sein, die Kochsalzausfuhr zu verstärken. 
Wenigstens hat Dreser 1 ) beim Theocin 
eine besonders starke Steigerung der Aus¬ 
fuhr der Elektrolyte beobachtet, unter 
welchen ja die Kochsalzmolecüle beson¬ 
ders stark vertreten sind. Dreser knüpft 
hieran die Bemerkung, dass uns dieses 
Factum im Hinblick auf die Anschauungen 
v. Koranyi’s einen Hinweis darauf gebe, 
„dass der Circulus vitiosus des pathologi¬ 
schen Zustandes der Wassersucht auf die 
wirksamste Weise durchbrochen werden 
kann, indem zu allererst und besonders 
die Salze aus dem Blut entfernt werden. 
Das dadurch mobil gemachte Wasser kann 
dann leicht nachfolgen“. Le Noir und 
Camus 2 ) haben neuerdings gezeigt, dass 
unter Einfluss von Coffein und Theobro¬ 
min ebenso wie unter dem Einfluss der 
. . . AV 

Digitalis —p- (= Valenzzahl pro kg Körper¬ 
gewicht) ansteigt, was wesentlich durch eine 

] ) Dreser, 74. Versammlung Deutscher Natur¬ 
forscher und Aerzte zu Carlsbad 1902. 

a ) Le Noir und Camus, Journ. de physiol. 
et de palhol. gen. Bd. V, 1903. 

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die Zunahme der die Wasserausscheidung 
überragende Vermehrung der Kochsalz¬ 
ausfuhr, also durch eine echte Polychlor- 
urie, zu Stande kommt. Im Einzelnen fanden 
die zuletzt genannten Autoren beim Ge¬ 
sunden das Coffein am wirksamsten, da¬ 
nach kam das Theobromin und an dritter 
Stelle die Digitalis. Da wir selbst in 
schweren Fällen von cardialen Hydrop- 
sien und auch bei hochgradigen Hydrop- 
sien in Folge von schweren chronisch 
interstitiellen Nephritiden von der zu¬ 
erst von Fürbringer 1 ) warm em¬ 
pfohlenen combinirten Darreichung meh¬ 
rerer Herztonica und Diuretica sehr häufig 
auch dann Erfolge gesehen haben, wenn 
die isolirte Anwendung eines einzelnen 
Herztonicums oder Diureticums nicht zum 
Ziele geführt hatte, so haben wir auch 
den Einfluss einer solchen Mischung auf 
die Kochsalzausscheidung studirt und, wie 
aus der Arbeit von Kociczkowsky’s 
ersichtlich sein wird, hierbei nicht nur ein 
starkes Ansteigen der Wasserausschei¬ 
dung, sondern auch eine erhebliche pro- 
centualeSteigerungderKochsalzaus- 
scheidung constatiren können. Es dürften 
also in solchen Fällen von Hydrops renalis, 
in denen der Anwendung der Coffeinprä¬ 
parate keine Bedenken im Wege stehen 
— also vor allem in Fällen von chronischer 
Nephritisohne stärkere acule Exacerbation — 
diese allein oder in Verbindung mit Herz¬ 
tonicis zur Erzeugung der nach unserer 
Erfahrung für die Beseitigung des 
Hydrops so wichtigen Polychlorurie 
einer besonderen Beachtung werth sein- 
Wenn wir die hier entwickelten Grund¬ 
sätze, die sich beim ferneren Studium der 
hier in Betracht kommenden Verhältnisse 
sicher noch erweitern resp. genauer um¬ 
grenzen lassen und die ferner zunächst 
nur für die chronischen Formen der Ne¬ 
phritis, wahrscheinlich aber auch — hier¬ 
über sind meine Erfahrungen noch nicht 
abgeschlossen — für eine grosse Anzahl 
acuter Nephritiden Geltung haben, zunächst 
für alle diejenigen Fälle empfehlen, in denen 
irgend eine Form von Hydrops renalis 
vorliegt, so müssen wir doch noch hinzu¬ 
fügen, dass es auch solche Fälle von Ne¬ 
phritis giebt, bei denen man trotz mittlerer 
Kochsalzzufuhr in einer gewissen Phase der 
Krankheit ausgesprochene Oligochlor- 
urie und einen an verschiedenen Tagen 
wenig veränderlichen procentualen Koch¬ 
salzgehalt ohne Vorhandensein von 
Hydropsien feststellen kann. 

j Fürbringer, Deutsche med. Wochenschrilt 

I 1890, No. 12. 


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UNIVER3ITY OF CALIFORNIA^ 






Mai 


199 


Die Therapie der (Gegenwart 1903. 


Derartige Falle, die aus dem Grunde 
möglich erscheinen, weil, wie angedeutet 
ist, ein Unterbringen grösserer Kochsalz¬ 
mengen in den Geweben ausserhalb der 
Säftebahn vorzukommen scheint und weil 
auch nicht ganz unerhebliche Mengen von 
Wasser im Körper zurückgehalten werden 
können, ohne dass es zur Oedembildung 
kommt (cf. meine diesbezüglichen Bemer¬ 
kungen in Ztschr. f. klin. Med. Bd. 47), 
können im Gegensatz zu denjenigen Fällen 
von Nephritis, bei welchen die Kochsalz¬ 
ausfuhr der Zufuhr entspricht, meines Erach¬ 
tens nicht als vollwerthig compensirt 
angesehen werden, sondern sie stellen wohl 
nur eine geringere Stufe einer Störung 
dar, die bei stärkerer Entwickelung wohl 
meist zur Oedembildung führen dürfte. 

Aus diesem Grunde bedürfen derartige 
Fälle einer ähnlichen Ueberwachung des 
Kochsalzstoffwechsels, wie die Fälle, welche 
deutliche Hydropsien zeigen. Wenn auch 
die Mehrzahl derjenigen Patienten, die eine 
ausgeprägte Verminderung der Kochsalz¬ 
ausscheidung zeigen, nach meinen Er¬ 
fahrungen mehr oder minder deutliche 
Zeichen einer Störung des körperlichen 
Befindens erkennen lässt, so giebt es doch 
auch solche Patienten, die trotz einer Ver¬ 
minderung der Kochsalzausscheidung keine 
klinische Zeichen darbieten, welche eine 
Kochsalzretention vermuthen lassen. Des¬ 
halb müsste man eigentlich der Kochsalz¬ 
ausfuhr eines jeden Nephritikers von vorn¬ 
herein sowohl nach der diagnostischen als 
auch nach der therapeutischen Seite eine 
mehr oder weniger grosse Aufmerksamkeit 
schenken, oder mit anderen Worten, man 
müsste genaue quantitative Bestimmungen 
des Kochsalzes im Urin unter Berücksichti¬ 
gung der Kochsalzzufuhr in jedem einzelnen 
Falle von Nephritis ausführen. Trotzdem 
habe ich vorerst im Allgemeinen den Ein¬ 
druck gewonnen, als ob es in praxi zu¬ 
nächst genügt, derartige Untersuchungen 
gerade in solchen Fällen von chronischer 
Nephritis vorzunehmen, die irgend eine 
Störung des körperlichen Befindens darbie¬ 
ten. Ich benutze und empfehle für derartige 
in praxi vorzunehmende Untersuchungen 
eine im vorigen Jahr von Achard und 
Thomas 1 ) angegebene „approximative“ 
Methode 2 ), die auch von Ungeübten am 

1 ) Achard et Thomas, Bull, ct mein, de la 
vj>:. rned. des hop. 1902, No. 22. 

•) A n m.: Dieselbe wird mit Hülle eines dem 
F. s bac h "sehen Albuminimeter ähnlichen Röhrchens in 
der Weise ausgeführt, dass man 5 ccm titrirtc Silber¬ 
nitratlösung (29,075 u /ui) in das Röhrchen füllt und 
hierzu 3—4 Tropfen Natriumchromatlösung (1 : 5 ) j 
hir.zufügt. Nun lässt man unter langsamem Umdrehen I 

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Krankenbette leicht ausgeführt werden 
kann und innerhalb weniger Minuten ein 
Resultat giebt, das nach meinen Erfahrun¬ 
gen zwar nicht absolut genau, aber für die 
Zwecke der vorliegenden klinischen 
Fragestellung doch völlig ausreichend 
ist. Bei der Vornahme derartiger der 
Erforschung des Kochsalzstoffwechsels 
dienender Untersuchungen interessirt nicht 
nur der procentuale Kochsalzgehalt, son¬ 
dern auch der Gesammtkochsalzgehalt, und 
es ist vor allem darauf zu achten, ob die 
procentualen und absoluten Kochsalzwerthe 
im Verhältniss zur Kochsalzzufuhr 
auffallend niedrige sind und ob die 
procentualen Kochsalzwerthe an verschie¬ 
denen Tagen trotz eventueller Aenderung 
der Urinmenge und der Kochsalzzufuhr 
eine auffallende Stabilität zeigen. In der 
Mehrzahl derjenigen Fälle, in denen das 
angedeutete Verhalten ausgeprägt ist, halte 
ich zwecks Einleitung einer entsprechenden 
Therapie einen typischen Versuch auf ali¬ 
mentäre Chlorurie nicht für absolut nöthig, 
ja man muss sogar unter Umständen mit 
der Möglichkeit einer Schädigung der Pa¬ 
tienten rechnen, weil es nach dem hier 
Gesagten für Patienten, deren Fähigkeit zur 
Kochsalzausscheidung vermindert ist, nicht 
gleichgültig sein kann, ob sie viel oder 
wenig Kochsalz zugeführt erhalten. Aller¬ 
dings wird das Untersuchungsergebniss 
durchsichtiger, wenn man von vornherein 
oder erst dann, wenn der Befund nicht 
ausgeprägt ist, für eine Reihe von Tagen 
eine „Probediät“ anwendet, deren Koch¬ 
salzgehalt und deren Einfluss auf die Koch¬ 
salzausscheidung beim Gesunden genau 
bekannt ist. 

Ich bin mir wohl bewusst, dass die hier 
entwickelten theoretischen Auffassungen 
und therapeutischen Grundsätze noch man¬ 
ches Hypothetische enthalten und einer 
weiteren Erforschung und ausgedehnter 
praktischer Prüfung bedürfen, ehe über 
ihre Richtigkeit ein definitives Urtheil mög¬ 
lich sein wird, und ferner, dass nicht alle 

allmählich von dem—sauren—-Urin solange zulliessen, 
bis die durch den Natriumcln omatzusatz erzeugte 
braunrothe Farbe einem gelblich-grauen Farbenton 
IMatz macht. Mine am Röhrchen angebrachte Gra- 
duirung ermöglicht es, aus der Menge des zur Er¬ 
zeugung des Farbenumschlags nöthigen Urins die in 
einem Liter Urin enthaltene Kochsalzmenge in Gramm 
zu bestimmen. Nach Verglcichsuntersuchungcn, die 
ich mit der Vol h a rd'sehen Methode angestellt habe, 
zeigt dieses von ihren Autoren nur „approximativ“ 
genannte Verfahren Fehler, die meistens zwischen 5 
und 15 (, /o betrugen. Trotzdem ist cs für den vor¬ 
liegenden Zweck ausreichend, weil hier nur grobe 
Differenzen ein klinisches Interesse besitzen. 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



200 


Die Therapie dir Gegenwart 1903. 


Mai 


Formen von Hydrops bei Nierenkranken 
sich in den Rahmen des hier Besprochenen 
einfügen. Trotzdem halte ich aber das zur 
Zeit vorliegende Material für ausreichend, 
um jetzt schon die hier ausgesprochenen 
Forderungen an die Therapie zu stellen und 
ich selbst habe auch in einer ganzen Reihe 
von Fällen von chronischer Nephritis, in 
denen ich die hier entwickelten therapeuti¬ 
schen Grundsätze praktisch zur Anwendung 
brachte, den Eindruck gewonnen, als wenn 
ich mich auf dem richtigen Wege be¬ 
fände. Allerdings gebe ich gern zu, dass 
meine eigenen Beobachtungen noch einer 
erheblichen Erweiterung und Nachprüfung 
bedürfen, weil ein sehr grosses klinisches 
Material nöthig ist, ehe es auf dem Wege der 
Empirie möglich sein wird, über die Zweck¬ 
mässigkeit der hier entwickelten Grundsätze 
ein abschliessendes Urtheil zu fällen. 

An den Schluss dieser Darlegungen 
möchte ich noch eine kurze theoretische 
Bemerkung anfügen, welche die Bedeutung 


des Faktors 


betrifft. Wenn ich 


/I 

Na CI 

mich auch auf Grund der von v. Ko- 
ziezkowsky ausgeführten Untersuchungen 
davon überzeugt habe, dass der genannte 
Quotient in keiner Weise als Maassstab für 
das Verhalten der Salze im Urin über¬ 
haupt betrachtet werden kann, so kann 


! 

I 


ich ihm trotzdem eine specielle Bedeutung 
nicht absprechen, weil das Kochsalz nicht 
nur an Menge die anderen Salze im Urin 
bedeutend übertrifft, sondern vor allem, 
weil es in der Art seiner Ausscheidung 
seinen besonderen Weg geht. In der That 
werden, wie ich an anderer Stelle (Ztsichr. 
f. klin. Med. 1. c.) gezeigt habe, die Werthe 
für den osmotischen Druck des Urins bei 
Nephritikern weit mehr von dem wechseln¬ 
den Verhalten der Chloride als von dem¬ 
jenigen der „Achloride“ beeinflusst, und 
ich habe mich gerade aus dieser Erwäg;ung 
zu eingehenderen chemischen Studien über 
den Salzstoffwechsel bei Nephritikern an¬ 
regen lassen, die unter den hier entwickel¬ 
ten Gesichtspunkten meines Erachtens wieder 
ein höheres Interesse gewinnen und einer 
weiteren Bearbeitung bedürfen. Ja, man 
darf vielleicht noch allgemeiner sagen: nach¬ 
dem Untersuchungen über den osmotischen 
Druck des Urins neue Probleme aufgerollt 
und der wissenschaftlichen und praktischen 
Fragestellung eine Reihe neuer Wege ge¬ 
wiesen haben, scheint es jetzt am Platze, 
die rein chemischen Untersuchungs¬ 
methoden wieder etwas mehr in den Vorder¬ 
grund zu rücken, um hierdurch unsere durch 
physikalisch-chemische Methoden ge¬ 
wonnenen Kenntnisse weiter auszubauen 
und zu vertiefen. 


Der Speichel als Heilfactor. 

Von Dr. med. J. Bergmann-Hanau a. M. 


In der Volksmedicin hat der Speichel 
seit den ältesten Zeiten eine grosse Rolle 
gespielt. Bei den alten Juden war sein 
Gebrauch zu Heilzwecken so gewöhnlich, 
dass unter den am Sabbath verbotenen 
Heilthätigkeiten ausdrücklich das Bestrei¬ 
chen der Augenlider mit Speichel genannt 
wird. Die Evangelisten berichten an drei 
Stellen, dass Christus bei seinen Heilungs¬ 
wundern die leidenden Theile mit seinem 
Speichel benetzt habe. Dass auch das 
klassische Alterthum vom Glauben an die 
Heilkraft des Speichels nicht frei war, be¬ 
weist der Bericht des Tacitus, wonach 
Kaiser Vespasian einen Blinden dadurch, 
dass er ihm nach der Weisung eines Traum¬ 
orakels in die Augen spuckte, geheilt haben 
soll. Und damit neben der biblischen und 
Profangeschichte ein Beispiel aus der Litte- 
ratur nicht fehle, so sei an den ergötzlichen 
Bürgersmann ausHeine’s „Harzreise“ er¬ 
innert, welcher dem Dichter erzählt, „zu¬ 
weilen leide er an Hautübeln und dannkurire 
er sich jedesmal mit nüchternem Speichel.“ 



Die moderne Medicin hat dieses Secret 
aller ihm zugeschriebenen mystischen Eigen¬ 
schaften entkleidet und seine therapeu¬ 
tische Verwendung, mit anderen Kurio¬ 
sitäten der „Dreckapotheke“, wohlverdienter 
Vergessenheit anheimfallen lassen. Obwohl 
demnach der Speichel seine Rolle als Heil¬ 
mittel ausgespielt hat, so lässt sich doch 
zeigen, dass sich derselbe, wenn auch nicht 
als Träger, so doch als Vermittler von 
Heilwirkungen verwerthen lässt. In diesem 
Sinne giebt es 4 Krankheitsformen, gegen 
welche der Patient vom Speichel, und zwar 
natürlich von seinem eigenen, mit grösstem 
Nutzen Gebrauch machen kann. 

1. Halsentzündungen. Auf diesem 
Gebiete, mag es sich um gewönliche ka¬ 
tarrhalische Mandelentzündung oder um 
specifische Affectionen, wie Scharlach, An¬ 
gina oder gar Diphtherie handeln, nimmt 
noch immer das Gargarisma eine domi- 
nirende Stellung ein, deren Berechtigung 
jedoch sehr in Zweifel zu ziehen ist. 

Das Gurgeln kann einen doppelten 

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_ UNIVERSITY QF CALIFORNIA^ 





Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


201 


Zweck haben, einen hygienischen und 
einen therapeutischen. Der erstere be¬ 
steht darin, die Schleimhaut der Mund¬ 
höhle zu reinigen und insbesondere von 
zurückgebliebenen und anhaftenden Speise- 
theilchen zu befreien. Diese leicht zersetz- 
lichen und daher gesundheitswidrigen Re¬ 
siduen befinden sich jedoch ausschliesslich 
im vorderen Theile der Rachenhöhle; 
denn sobald etwas von ihnen in die hin¬ 
tere Rachenparthie gelangt, ruft es reflec- 
torisch den Schluckact hervor und wird 
durch denselben unweigerlich aus der 
Rachenhöhle entfernt. Seine hygienische 
Aufgabe als Reinigungs- und Erfrischungs¬ 
bad der Mundhöhle vermag also das Gurgel¬ 
wasser in vollstem Maasse zu erfüllen. 
Anders steht es um den therapeutischen 
Zweck desselben bei den verschiedensten 
Formen der Angina. Denn es ist experi¬ 
mentell auf das Bestimmteste nachgewiesen 
worden, dass es selbst durch das kräftigste 
Gurgeln nicht möglich ist das Gargarisma 
an die hinteren Rachentheile, besonders 
nicht an die Mandeln, heranzubringen. 
Diese Thatsache, von deren Richtigkeit 
sich Jeder durch ein die Schleimhaut fär¬ 
bendes Gurgelwasser, z. B. durch eine Lö¬ 
sung mit Syrupus kermesinus, sehr leicht 
überzeugen kann, raubt dem Gargarisma 
jeden rationellen Heilwerth und lässt es 
als therapeutische Spielerei erscheinen. 

Dagegen besitzt der Patient in seinem 
eigenen Speichel, den er herunterschluckt 
und auf diesem Wege stets den Ort der 
Entzündung passiren lässt, ein vortrefiliches 
Mittel, die Mandeln und die anderen ent¬ 
zündeten Theile der hinteren Rachenhöhle 
zu bespülen, nach Art eines Oleosum ein- 
zubüllen und somit ihren Reizzustand zu 
mildern. — 

2. Superacidität des Magens, 
saure Dyspepsie. Diese Affection, welche 
entweder als Krankheit sui generis oder im 
Gefolge und als Begleiterscheinung der 
sauren Diathese auftritt, äussert sich be¬ 
kanntlich durch Sodbrennen, saures Auf- 
stossen, Erbrechen, Druckempfindung im 
Epigastrium, Gastralgie, kurz, durch eine 
Reihe lästiger subjectiver Symptome, zu 
denen sich nicht selten objectiv ein Ulcus 
ventriculi hinzugesellt, und ist auf eine ab¬ 
norm vermehrte Menge von freier Salz¬ 
säure im Magensaft zurückzuführen. 

So naheliegend auch der Gedanke ist, 
dieses Säureübermaass durch Zuführung 
von Natrium bicarbonicum, Magnesia usta 
und ähnlichen Stoffen zu beseitigen, so hat 
sich doch diese Alkalitherapie in der Praxis 
längst als ganz erfolglos herausgestellt und 

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auch in der Theorie wurde ihre Unzuläng¬ 
lichkeit bewiesen durch Boas, welcher 
zeigte, dass zur wirklichen Neutralisation 
eines Magensaftes von 3 pro Mille HCl 
nicht weniger als 12 g Natrium bicarboni¬ 
cum erforderlich sind, eine Dosis, welche 
gewiss auf ebenso entschiedenen wie be¬ 
rechtigten Widerstand von Seiten des Pa¬ 
tienten stossen dürfte. Wagner in seiner 
Arbeit „Zur Behandlung der Superacidität“ 
(Therapeutische Monatshefte 1896, Mai) be¬ 
zeichnet sogar die Alkalitherapie derSuper- 
acidität und des Magengeschwürs nicht 
bloss als nutzlos, sondern als direct schä¬ 
digend, indem er mit Recht darauf hin¬ 
weist, dass „bei der Einverleibung grösserer 
Dosen von Alkalien dieselben mit der über¬ 
schüssigen Salzsäure NaCl bilden, welches 
in grösseren Mengen stark reizend auf die 
Magenschleimhaut wirkt und letztere zu 
immer stärkerer Salzsäureausschei¬ 
dung anregt.“ 

Auch hier nun, in der Behandlung der 
sauren Dyspepsie, bietet? sich uns im 
Speichel ein wegen seiner Einfachheit 
und Wirksamkeit höchst willkommenes' 
Hilfsmittel dar. Der verschluckte Speichel 
erscheint ja in Folge seiner alkalischen 
Beschaffenheit schon physiologisch dazu 
bestimmt, den Säuregrad des Magensaftes 
zu reguliren. Jedoch besteht hier die 
Schwierigkeit, dass der Speichel des Dys- 
peptikers gewöhnlich eine zu geringe Al- 
kelescenz besitzt, und es ist daher noth- 
wendig, seine Speicheldrüsen durch an¬ 
haltendes und kräftiges Kauen zur Ab¬ 
sonderung eines reichlichen, hochalkalischen 
Secrets anzuregen. Auf diesem Wege er¬ 
folgt die Bindung des Säureüberschusses 
in einer Art, welche sich ganz dem phy¬ 
siologischen Vorgänge anschliesst und wel¬ 
che zugleich ohne die geringste Reizung 
der besonders bei Magengeschwür so über¬ 
aus schonungsbedürftigen Schleimhaut vor 
sich geht. Die Erfahrung zeigt denn auch, 
dass die Beschwerden des Dyspeptikers 
sich durch regelmässig verschluckten Kau¬ 
speichel mit grosser Sicherheit beseitigen 
lassen. 

3. Fettleibigkeit. Seit Oertel sieht 
man in der Verminderung der Wasser¬ 
menge des Körpers eine der wichtigsten 
Aufgaben jeder Entfettungscur. Es genügt 
zu diesem Zweck nicht, die Wasserauf¬ 
nahme in der Nahrung des Patienten ein¬ 
zuschränken, denn diese Maassregel wird 
in Folge quälenden Durstgefühls beinahe 
undurchführbar und mehr oder weniger 
illusorisch. Man ist daher weit mehr darauf 
angewiesen, dem Patienten das in seinem 

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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 



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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Körper vorhandene Wasser zu entziehen, 
eine Indication, welche man bisher nur 
durch Dampfbäder und ähnliche Schwitz- 
proceduren zu erfüllen wusste. 

Statt der Schweissdrüsen lassen sich 
aber mit gleichem Erfolge und grösserer 
Bequemlichkeit die Speicheldrüsen in 
Contribution setzen. Durch lange fortge¬ 
setztes Kauen und Ausspeien des hier¬ 
durch producirten Speichels ist es möglich, 
dem Körper ganz erstaunliche Wasser¬ 
mengen zu entziehen und auf diese Weise 
das Körpergewicht erheblich herabzusetzen. 
Als Wright in einer Woche 250 Drachmen 
Speichel zu Experimenten verbrauchte, 
also seinem Organismus grössere Mengen 
dieses Secrets entzog, verlor er in dieser 
Zeit 11 Pfd. an Körpergewicht (nach einer 
Mittheilung G. Stricker’s in seiner höchst 
verdienstvollen Schrift „Die Bedeutung des 
Mundspeichels“, 1889). 

Ein besonderer Vorzug dieser Methode 
der Entfettung liegt darin, dass sie im 
Gegensatz zu den Schwitzproceduren das 
Herz der Fettleibigen schont und daher 
in jedem Falle anwendbar ist. Dazu kommt 
noch, dass die Esslust des Patienten in 
Folge des seinem Magen entzogenen Spei¬ 
chels beträchtlich nachlässt und ihm daher 
die bei Tisch gebotene Enthaltsamkeit weit 
weniger schwerfällt. 

4, Wassersucht. Auf diesem Gebiete 
war v. Leube der Erste, welcher die Ent- 
speichelung an wandte« und zwar führte 
ihn zu dieser Methode die Beobachtung 
an einem Asciteskranken, welcher durch 
einen spontan sich einstellenden Speichel¬ 
fluss von seinem Leiden befreit wurde. 
Ueber die vortrefflichen Erfolge, welche 
v. Leube mit der Entspeichelung erzielte, 
lässt er sich im „Sitzungsbericht der Phy¬ 
sikalisch - Medicinischen Gesellschaft zu 
Würzburg“, 1899, mit folgenden Worten 
aus: „Durch energisches Kauen kann man, 
wie mich die Erfahrung an Kranken lehrte, 


eine stärkere Salivation als mit allen me- 
dicamentösen Speichelmitteln erzielen und 
im Tage bequem 400 bis 1000 ccm eines 
wässerigen, aus dem Munde überschüssig 
abfliessenden Speichels erhalten. Wäh¬ 
rend der Anwendung der Kautabletten 
darf, damit der Salivationseffect derselben 
richtig beurtheilt werden kann, natürlich 
nicht mehr Flüssigkeit als gewöhnlich ge¬ 
trunken werden. In fünf Fällen von Pleu¬ 
ritis exsudativa war der Erfolg der Ptya- 
lise jedesmal positiv, in einem der Fälle 
weniger ausgesprochen als in den vier an¬ 
deren Fällen, in welchen eine vollstän¬ 
dige Resorption des Exsudats in 
kürzester Zeit zustande kam.“ (Vergl. 
diese Zeitschr. 1899, S. 480). 

Diese Ergebnisse Leube’s eröffnen 
unserer Therapie des Hydrops einen neuen 
Weg, welcher schon durch die grosse 
Autorität seines Urhebers der allgemeinen 
Beachtung sicher ist. In der That giebt 
es denn auch kein anderes Mittel, mit wel¬ 
chem sich die Entwässerung des Körpers 
so sicher, rasch und einfach herbeiführen 
lässt, als durch die Leube’sche Methode 
der Entspeichelung. 

Aus dem Gesagten geht wohl zur Ge¬ 
nüge hervor, dass der Speichel auch in 
der modernen Therapie seine Stelle ein¬ 
zunehmen verdient. Jedoch bedarf es, um 
ihn methodisch verwerthen zu können, 
vor Allem eines Mittels, durch welches der 
Patient in der Lage ist, Speichel stets in 
ausreichender Menge zu produciren. Zu 
diesem Zweck habe ich schon vor 7 Jahren 
die Kaupräparate angegeben, welche von 
der Firma Krewel & Co. in Köln a. Rh. 
in vier verschiedenen Arten als Halskau¬ 
pastillen, als Magenkautabletten, als Kau¬ 
tabletten gegen Fettleibigkeit sowie als 
Kautabletten gegen Wassersucht her¬ 
gestellt werden und in der ärztlichen 
Praxis bereits vielfach Eingang gefunden 
haben. 


Aus dem pharmakologischen Institut der Universität Jena. 

(Director: Prot Dr. Kionka.) 

Ueber die therapeutischen Indicationen des Scopolaminum 

hydrobromicum. 

(Zugleich ein Beitrag zur Schneiderlin-Korff’schen Narkose.) 

Von Dr. med. Martin Kochmann» Assistent am Institut. 


Im letzten Jahrzehnt ist ein Mittel un¬ 
seres Arzneischatzes in grössere Aufnahme 
gekommen, das von Psychiatern und Neu¬ 
rologen häufig angewandte Scopolamin, 
welches durch die combinirte Scopolamin- 


Morphinnarkose (Schneiderlin-Korff- 
sche Narkose) in Folge der Publicationen 
Kor ff s 1 ) und Bios’ 2 ) neuerdings ein 
actuelles Interesse gewann. Das Scopol¬ 
amin ist ein Alkaloid aus den verschieden- 


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203 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


sten Pflanzen der Belladonnagruppe, wel¬ 
ches mit Sfluren gut crystallisirte Salze 
giebt. Es besitzt die empirische Formel 
C 17 H 21 NO 4 und ist zwar nach der Ansicht 
Ernst's*) als reines Hyoscin, das Hyoscin 
des Handels also als verunreinigtes Scopo- 
lamin aufzufassen; nach neueren Arbeiten 
jedoch sind beide völlig identisch. Als 
Scopolaminum hydrobromicum ist es in 
die deutsche Pharmacopoe aufgenommen. 

Die Litteratur über Scopolamin und 
Hyoscin ist eine ganz beträchtliche. Die 
meisten Mittheilungen stammen von Psy¬ 
chiatern und Augenärzten und nur wenige 
stützen sich auf experimentelle Unter¬ 
suchungen. Hier sind besonders die Schüler 
Kobert’s, Ernst und Sohrt 4 ), sowie 
Walter 5 ) zu nennen, denen wir die Kennt- 
niss der pharmacodynamischen Wirkungen 
des Scopolamins bezw. Hyoscins besonders 
verdanken. Ausserdem habe ich an an¬ 
derer Stelle*) die Ergebnisse einer Reihe 
experimenteller Untersuchungen veröffent¬ 
licht, welche eine Ergänzung der Lücken 
in der Kenntniss der Wirkungsweise des 
genannten Alkaloids bilden sollten. 

Das zusammen fassende Resultat, welches 
sich aus diesen Arbeiten über das Scopo¬ 
lamin ergiebt, ist Folgendes: 

1 . Der Blutdruck wird durch kleine 
Gaben von Scopolaminum hydrobromicum 
in Folge Reizung des vasomotorischen Cen¬ 
trums gesteigert Durch grosse Gaben da¬ 
gegen stark erniedrigt. Letzteres beruht 
nicht auf einer Lähmung des vasomotori¬ 
schen Centrums, sondern auf einer Schädi¬ 
gung des „excitomotorischen“ Apparates 
des Herzens. 

2. Der Puls ist bei kleinen Dosen des 
Alkaloids nicht wesentlich gegen die Norm 
verändert, auf grosse Gaben tritt durch 
VagusreizungVerringerung der Pulsfrequenz 
und Grösserwerden der Pulselevationen ein 
(Vaguspuls). Auch beim Menschen ist bei 
der therapeutischen Darreichung die Blut¬ 
drucksteigerung und Pulsverlangsamung zu 
constatiren. 

3. Der N. vagus wird selbst durch 
grosse Dosen Scopolamins bei Hunden 
nicht gelähmt, bei Kaninchen dagegen ist 
schon auf mittlere Gaben eine Lähmung 
des Vagus zu bemerken. 

4. Die Erregbarkeit der Grosshirnrinde 
für faradische Ströme wird durch Scopo¬ 
lamin herabgesetzt. 

5. Hyoscin bezw. Scopolamin rufen selbst 
in kleinen Dosen beim Menschen und Hunde 
Schlaf hervor, dem motorische Unruhe, 

*) Archivcs internationales de Pharmacodynamie 
et de Therapie. Bd. XI. 

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wahrscheinlich auf Hallucinationen beruhend, 
vorausgeht. Analgesie besteht während des 
Schlafes nicht. Bei Kaninchen kommt diese 
sedative Wirkung nicht zum Vorschein, beim 
Frosch ist auf Scopolamin hin eine cen¬ 
trale Lähmung und Retlexunerregbarkeit 
nach vorangehender Irradiation der Reflexe 
zu bemerken. 

6 . Die Respiration wird beim Hunde 
und Menschen durch therapeutisch schon 
wirksame Dosen nicht geschädigt. Bei 
grossen Dosen ist eine Schädigung der 
Athmung immer zu constatiren. Bei Kanin¬ 
chen tritt sogar primärer Athemstillstand ein. 

7. Die Speichel-, Schweiss- und Schleim- 
secretion wird durch Scopolamin aufge¬ 
hoben. 

8 . Sowohl bei localer Instillation ins 
Auge als auch resorptiv treten Mydriasis 
und Accomodationslähmung ein, welche 
aber schneller vorübergehen als bei Atropin. 

9. Scopolamin lähmt die motorischen 
Endapparate des Vagus im Darm, hebt aber 
den Splanchnicustonus auf. 

10. Scopolamin wird durch die Nieren 
ausgeschieden. 

Auf diese durch experimentelle Unter¬ 
suchungen gefundenen Resultate stützt sich 
die therapeutische Verwendung des Scopo¬ 
lamins, welches dem Hyoscin, bezw. dem 
Scopolamin, natürlicher Weise immer vor¬ 
zuziehen ist. 

Bevor ich mich aber über diese weiter 
verbreite, möchte ich kurz auf die vom 
toxicologischen Standpunkt interessanten 
Thatsachen beim Menschen hinweisen. Es 
giebt in der Litteratur eine Anzahl von 
Hyoscinvergiftungen welche —- soweit sie auf 
einwandsfreien Beobachtungen fussen — da¬ 
für sprechen, dass Todesfälle bei dieser Ver¬ 
giftung nicht möglich zu sein scheinen. 

Auch bei den Thierversuchen konnte ich 
zwar für Frösche und Kaninchen eine letale 
Dosis aufstellen, aber weder Sohrt und 
Ernst noch mir ist das Gleiche bei Hun¬ 
den gelungen, welche sich in Bezug auf 
die Scopolaminwirkung anscheinend wie 
Menschen verhalten. Selbst ganz enorme 
Gaben des Scopolaminum hydrobromicum, 
nämlich 0,5 g intravenös, auf einmal ein¬ 
verleibt, vermochten nicht den Tod eines 
7 kg schweren, gesunden Hundes hervor¬ 
zurufen, welcher kurz vorher ebenfalls bei 
intravenöser Application kleinere Dosen 
des Alkaloids erhalten hatte, so dass ihm 
innerhalb von ungefähr 2 Stunden im 
Ganzen 1,5 g des Scopolaminum hydro¬ 
bromicum injicirt wurden. Wenn man be¬ 
denkt, dass die wirksame Gabe auch bei 
Hunden unter 1,0 mg liegt, so ist der Spiel- 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


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raum zwischen dieser und der letalen Dosis 
ein ganz colossaler, er beträgt jedenfalls 
mehr als 1500 mg des bromwasserstoff¬ 
sauren Salzes. 

Die Symptome, welche beilntoxicationen 
gesehen wurden, sind je nach der Reinheit 
des Präparates und der Höhe der Dosis 
ganz verschiedene gewesen. In dem einen 
Falle riefen 48 mg Hyoscinum hydrochlori- 
cum keine anderen Erscheinungen hervor, 
als tiefen, langdauernden Schlaf. Nach Ab¬ 
lauf von 24 Stunden war der Patient wieder 
völlig gesund (Githgens) 6 ). In einem an¬ 
deren Falle zeigte sich Lähmung des Be¬ 
wusstseins, nach ungefähr einer Stunde 
Coma, Krämpfe, Anämie der Haut, My- 
driasis und Lähmung der Speichelsecretion. 
Puls klein, weich, frequent. Alsbald traten 
Jactation und leichte Delirien heiteren In¬ 
halts auf. Nachdem der Patient kurze Zeit 
wach gewesen war, schlief er wieder fest 
ein. Am nächsten Morgen waren ausser 
einer ziemlich erheblichen Mattigkeit und 
Trockenheit des Halses nur noch die Er¬ 
scheinungen von Seiten des Auges, welche 
an die Qberstandene Intoxication erinnerten 
(Adler) T ). In wieder anderen Fällen kamen 
noch einige andere Symptome, wie sterto- 
röse Athmung, Röthung des Gesichts hinzu. 
Im Ganzen mögen gegen zehn Fälle von 
Hyoscinintoxication in der Litteratur er¬ 
wähnt sein, welche in kurzer Zeit, gewöhn¬ 
lich in 5 Stunden, immer aber nach 24 
Stunden, die Vergiftung überstanden hatten. 
Nur die Trockenheit des Halses und der 
Haut, sowie die Mydriasis und Accomo- 
dationslähmung am Auge bestanden noch 
kürzere oder längere Zeit fort. Nur zwei 
Fälle sind in der Litteratur bekannt, welche 
zum Exitus führten. Der eine wird von 
Wood 8 ), der andere von Ostermayer 9 ) 
berichtet. Doch hebt der erstere selbst 
hervor, dass es ungewiss gewesen sei, ob 
das scharlachkranke Kind in Folge der 
Hyoscindarreichung oder aus einem an¬ 
deren Grunde gestorben sei, und der letz¬ 
tere publicirt nur einen nicht selbst beob¬ 
achteten Fall. Deshalb können die beiden 
Todesfälle bei der Beantwortung der Frage, 
ob tödtliche Intoxicationen mit Hyoscin 
bezw. Scopolamin Vorkommen könnten, 
nicht sehr in die Waagschaale fallen. 

Was die therapeutische Verwendung des 
Scopolamins angeht, so wäre etwa Fol¬ 
gendes zu sagen: 

I. Die Anwendung des Scopolamins 
in der Psychiatrie. 

Schon Sohrt und Ernst empfahlen 
das Hyoscin bezw. Scopolamin in allen 

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Fällen von Geisteskrankheiten, welche mit 
starken Aufregungszuständen verbunden 
sind. Die theoretische Stütze für diese 
Anwendung beruht auf der Thatsache, dass 
Scopolamin die Erregbarkeit der Grosshirn¬ 
rinde für faradische Ströme herabsetze. 
Das Alkaloid wurde bei den verschieden¬ 
sten Arten der Geisteskrankheiten gegeben; 
bei Manie, Delirium tremens, Melancholie 
und anderen. In neuerer Zeit scheint sich 
die Ansicht ausgebildet zu haben und als 
Directive für die Verwendung des Scopo¬ 
lamins bei Geisteskrankheiten angegeben 
zu werden, welche unter anderem auch 
Bumke 10 ) in einer erst vor Kurzem er¬ 
schienenen Mittheilung vertritt, und welche 
sich etwa in folgenden Sätzen präcisiren 
lässt: 

1. Scopolamin ist in allen Fällen von 
Geisteskrankheiten, welche von ausser¬ 
ordentlich heftigen Aufregungszuständen 
begleitet sind, indicirt, und zwar besonders 
dann, wenn andere Hypnotica und Sedativa 
geringen Erfolg haben oder zu versprechen 
scheinen oder die Art ihrer Application, 
nämlich per os gegenüber der subcutanen 
Injection des Scopolamin, nicht möglich ist. 

2. Scopolamin wird also am Besten 
subcutan in Dosen von 0,5—1,5 mg als 
Scopolamin. hydrobromicum in frisch be¬ 
reiteten Lösungen gegeben. Aber auch 
höhere Dosen können getrost angewandt 
werden. 

Wie mir Herr Dr. Berger, Privatdocent 
und Hausarzt an der hiesigen psychiatri¬ 
schen Klinik (Geh. Rath Prof. Dr. Bins- 
wanger) in liebenswürdigster Weise bereit¬ 
willig mittheilte, ist auch hier die Anwen¬ 
dung des Scopolamins auf Patienten mit 
starker motorischer Unruhe beschränkt. 
Ungefähr 15 Minuten nach der Application 
des Präparates werden die Kranken ruhig 
und verfallen in einen tiefen Schlaf. Der 
Puls wird meistens ruhiger und voller, die 
Respiration ist im Schlaf tief und regel¬ 
mässig. Als unerwünschte, aber verhält- 
nissmässig leicht zu vernachlässigende 
Nebenwirkungen kommen in Betracht die 
manchmal noch tagelang anhaltende Mydria¬ 
sis und Accomodationslähmung,Trockenheit 
im Munde und Rachen. Herr Dr. Berger 
hat öfters vor dem Eintreten des Schlafes 
Hallucinationen bei Patienten gesehen, 
welche solche nie gehabt hatten oder später¬ 
hin zeigten, welche daher als Scopolamin- 
wirkung aufgefasst werden mussten. 

Diese Beobachtungen stimmen auch mit 
denen überein, welche ich bei Hunden im 
Experiment habe machen können. Auch 
das manchmal bei Patienten auftretende 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


205 


Muskelzittem findet seine Analogie in 
meinen Thierexperimenten am Hunde. 
Schliesslich machte mich Herr Dr. Berger 
darauf aufmerksam — ich finde diese That- 
sache in der Litteratur nicht angegeben, 
konnte aber Aehnliches in meinen Ver¬ 
suchen beobachten — dass die meisten 
Patienten am Morgen nach der Scopolamin- 
injection erbrechen und die Nahrungsauf¬ 
nahme verweigern; letzteres mag wohl 
einerseits auf der bestehenden Anorexie, 
andererseits aber auf der Trockenheit des 
Rachens, welche den Schluckact erschweren 
kann, vielleicht aber auch auf einer Läh¬ 
mung oder Parese der glatten Musculatur 
desOesophagus beruhen (s. Atropin), welche 
das Schlucken Oberhaupt unmöglich machen 
würde. Aus diesem Grunde kann Scopo- 
lamin nicht dauernd gegeben werden, weil 
dann die Patienten in ihrer Ernährung so 
herunterkommen und so kachectisch werden, 
dass sie gegen die leichteste Infection wider¬ 
standslos werden. Es muss deshalb als 
dritter Satz für die Indication der Anwen¬ 
dung des Scopolamins zu den beiden ersten 
die Forderung hinzugefQgt werden: 

Das Scopolamin soll nur ab und zu, 
aber nicht dauernd gegeben werden. 

Das genannte Alkaloid wirkt natürlicher 
Weise nur symptomatisch und palliativ, 
niemals aber auch causal. Von einer Heilung 
oderBesserungder Geisteskrankheiten durch 
Scopolamin an und für sich kann daher 
selbstverständlich nie die Rede sein. 

II. Anwendung des Scopolamins in 
der Neuropathologie. 

Bei Nervenkrankheiten ist das Scopo¬ 
lamin ebenfalls häufig angewandt worden. 
In dieser Beziehung sind die Beobachtun¬ 
gen von Erb ^.Buddee 12 ), Windscheid*) 
und Anderen von Interesse. Auch hier 
wirkt Scopolamin, wenn es überhaupt einen 
Effect hat, nur symptomatisch. Von ausser¬ 
ordentlich günstiger Wirkung ist das Prä¬ 
parat bei Paralysis agitans, wo es das lästige, 
heftige Zittern bis zu 12 Stunden beseitigt 
und den erschöpften Patienten mehrstün¬ 
digen, ruhigen Schlaf verleiht. Bei Tremor 
aus anderen Ursachen (Tremor alcoholicus 
und senilis) erwies sich das Alkaloid eben¬ 
falls als brauchbares Palliativum, freilich 
kehrte schon wenige Stunden nach der 
Application das Zittern wieder. Andere 
Krankheiten des Nervensystems wurden 
nach Buddee durch Scopolamin nicht 
beeinflusst, z. B. Chorea minor, Athetosis, 
Tabes, Muskelspasmen aus irgend welchen 
Ursachen etc. 

*) Nach Buddee. 


In neuester Zeit ist man wohl auch von 
der Anwendung des Scopolamins bei diesen 
Krankheiten immer mehr zurückgekommen, 
einerseits hat man wirksamere therapeuti¬ 
sche Wege eingeschlagen, andererseits hat 
man sich von der Nutzlosigkeit jeder Thera¬ 
pie überzeugt, nur bei der Behandlung der 
Paralysis agitans erzielt das Scopolamin 
so gute Erfolge in symptomatischer Be¬ 
ziehung, dass diese Therapie fast allgemein 
beibehalten worden ist. 

III. Anwendung des Scopolamins bei 

anderen, meistens somatischen 
Krankheiten. 

Bei anderen Krankheiten, dem Asthma 
bronchiale, Pertussis, Cardialgien und den 
verschiedensten Arten von Neuralgien ist 
das Alkaloid versucht worden. Aber auch 
hier bestehen die widersprechendsten Be¬ 
richte über den gesehenen Erfolg. In der 
Mehrzahl der angegebenen Fälle findet das 
Scopolamin kaum noch Anwendung; die¬ 
selbe Hesse sich bei Neuralgien, Cardial¬ 
gien oder Schmerzen in Folge von Car- 
cinom etc. auch garnicht rechtfertigen. In 
meinen Thierversuchen habe ich — auch 
andere Autoren machen darauf aufmerk¬ 
sam — selbst im tiefsten Scopolaminschlaf 
niemals Analgesie beobachten können. Bei 
den genannten Erkrankungen sind andere 
Medicationen, z. B. elektrische und hydro¬ 
therapeutische Behandlung, Arsen, Chinin 
und Morphin entschieden von günstigerem 
Erfolge. 

Schon eher wäre eine plausible theore¬ 
tische Basis für die Anwendung des Sco¬ 
polamins bei Asthma bronchiale vorhanden. 
Wenn man annimmt — und das ist wohl 
allgemein die herrschende Ansicht — dass 
Asthma bronchiale auf einem Krampf der 
Ringmuskulatur der Bronchien beruhe; so 
ist es ohne Weiteres verständlich, dass 
Scopolamin, welches ja gleich Atropin, die 
glatte Muskulatur bezw. ihre Nervenendi¬ 
gungen zu lähmen im stände ist, diesen 
Krampf aufhebe und dadurch die Asthma¬ 
anfälle beseitige. Vielleicht ist das Scopol¬ 
amin das wirksame Princip, welches in 
den manchmal mit frappantem Erfolg ver- 
ordneten Strammoniumcigarren enthal¬ 
ten ist 

Ebenso erklärlich sind die Erfolge, 
welche Edlefsen und Illing 18 ), sowie 
CI aussen 14 ) und andere, mit Scopolamin 
bezw. Hyoscin bei Enteralgien erzielten. 
Wir wissen, dass manche Koliken, z. B. die 
Bleikolik, durch krampfartige Contractionen 
der Darmmuskulatur entstehen. Durch die 
Lähmung dieser Muskulatur bezw. ihrer 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


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Nervenendigungen durch Scopolamin wer¬ 
den die Kolikschmerzen beseitigt. Ich glaube 
aber, dass bei derartigen Affectionen das 
Opium wirksamere Effecte hervorbringt, 
denn es beseitigt nicht nur ebenfalls den er¬ 
höhten Muskeltonus und löst dadurch den 
Krampf der Darmmuskulatur, sondern es 
bleibt/ da es, wie angenommen wird, in 
den ^Ganglienzellen des Darmes deponirt 
wird, längere Zeit wirksam und entwickelt 
ausserdem noch central analgesirende, nar¬ 
kotische Fähigkeiten, welche das Scopol¬ 
amin nicht besitzt. Auch beim Asthma 
bronchiale dürfte dasselbe im Morphin einen 
sehr erfolgreichen Concurrenten haben. 

In letzter Zeit ist bekanntlich wiederum 
auf die Behandlung des Ileus mit Atropin 
aufmerksam gemacht und dieselbe warm 
empfohlen worden. Die günstige Beein¬ 
flussung, welche dem Atropin in manchen 
Fällen von Ileus zukommen mag, soll nicht 
ohne weiteres bestritten werden, meistens 
dürfte ein operativer Eingriff mehr zu 
empfehlen sein. Sei dem wie ihm wolle, 
der Streit wogt wie in vielen Fragen der 
Therapie hin und her, und wenn man unter 
besonderen Umständen einen Versuch mit 
dieser Medication machen will, so möchte 
ich daran erinnern, dass dem Scopolamin 
dieselben wirksamen Eigenschaften auf den 
Darm zukommen wie dem Atropin. Viel¬ 
leicht wäre aus diesem Grunde und in An¬ 
betracht der geringeren Todesgefahr selbst 
bei hohen toxischen Gaben des Scopol- 
aminum hydrobromicum dieses statt des 
Atropins hier anzuwenden. Ausserdem 
wird auch gerade in solchen Fällen die 
sedative und hypnotische Wirkung ein sehr 
günstiger Nebeneffect dieser Medikation 
sein. 

Unbestrittne Erfolge hat die Verwen¬ 
dung unseres Präparats zur Einschränkung 
übermässiger Secretion der Schleim-, 
Speichel- und Schweissdrüsen errungen. 
Wir wissen durch die Versuche von Sohrt 
und Ernst, dass die Secretion der ge¬ 
nannten Drüsen durch Scopolamin gelähmt 
wird, ebenso wie es das Atropin thut. Die 
ersten therapeutischen Versuche mitHyoscin 
(Scopolamin) in dieser Hinsicht machten 
Claussen, 14 ) Erb, 11 ) Fraentzel, 15 ) Bla¬ 
sius, 16 ) Sohrt, Ernst und andere. Die 
Meisten hatten überwiegend günstige Re¬ 
sultate und zwar bei Phthisikern und Rheu¬ 
matikern. Wenn einige auf Dosen von 
0,5 mg sehr bedenkliche Nebenerscheinun¬ 
gen gesehen haben, so wird das wohl daran 
liegen, dass sie mit unreinen Präparaten 
gearbeitet haben. Alle Autoren heben auch 
bei dieser Anwendung des Scopolamins 

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dessen sedative Wirkung hervor, welche 
bei Phthise oder Rheumatismus articularis 
als sehr erwünschte Beigabe betrachtet 
wird. Die Dosen sind hier 0,5—1,5 mg 
per os in Pillen gereicht. Blasius, wel¬ 
chem ein relativ grosses Material zur Ver¬ 
fügung stand, hat für gewöhnlich keine 
Intoxicationserscheinungen bei diesen Dosen 
wahrgenommen, nur bei empfindlichen Pa¬ 
tienten, die offenbar eine Idiosynkrasie 
gegen Hyoscin hatten, traten auf 1,5 mg 
die bekannten Erscheinungen, Trockenheit 
im Munde, Uebelkeit, Erbrechen, Sehstö¬ 
rungen etc. auf. Dagegen bestätigt er die 
Angabe Fraentzel’s, dass man mit Hyo¬ 
scin manchmal günstige Erfolge sogar da 
erzielen kann, wo selbst das Atropin im 
Stiche lässt. 

Offenbar steht auch nichts im Wege, 
das Scopolamin gelegentlich bei Ptyalismus 
anzuwenden. Angaben darüber habe ich 
in der Litteratur nicht finden können, Da¬ 
gegen liegen Mittheilungen von Wood 8 ) 
und Robinson 9 ) vor, welche von Hyoscin, 
dem verunreinigten Scopolamin günstige 
Erfolge bei Spermatorrhoe sahen. Von 
anderer Seite konnten diese nicht bestätigt 
werden. Und diese Anwendung des Sco¬ 
polamin dürfte wohl kaum noch geübt 
werden. 

IV. Anwendung des Scopolamins in 
der Augenheilkunde. 

Das genannte Alkaloid macht gleich dem 
Atropin Mydriasis und Accomodationsläh- 
mung. Darin sind alle Autoren, Hirsch¬ 
berg, 17 ) Emmert, 18 ) Walter, 8 ) welchem 
wir eine Experimentaluntersuchung ver¬ 
danken, ferner Raehlmann, 19 ), Belljar- 
minow,*) Illig, 21 ) und Schultz, 21 ) einig. 
Die Erfahrungen, welche mit dem Sco¬ 
polamin gemacht worden sind, lassen 
sich in Folgendem kurz dahin zusammen¬ 
fassen, dass Scopolamin schon in schwäche¬ 
ren Lösungen wirksam sei als das Atropin, 
dass es in gleich starken eine energischere 
Wirkung entfalte (Pupille wird weiter), 
dass aber die Wirkung auf Pupille und 
Accomodation eine schneller vorüber¬ 
gehende sei. Der intraoculäre Druck soll 
garnicht oder doch nur wenig, trotz Iris- 
reflung, durch Scopolamin erhöht werden, 
was wahrscheinlich auf eine Verengerung 
der Gefässe des Bulbus zurückzuführen 
ist, welche von Ernst immer beobachtet 
werden konnte. Eine von Raehlmann 
behaupte antiphlogistische Wirkung des 
Scopolamins konnte von anderen Klinikern 

*) Citirt nach Ernst und Illig. 

Original fram 

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207 


Die Therapie der 


trotz der ebenerwähnten Thatsache nicht 
constatirt werden. 

Die Indication zur Anwendung des Sco- 
polamins in der Ophthalmiatrie dürfte 
heutigen Tages in der Arbeit Illig’s 20 ) aus¬ 
gesprochen sein, welche etwa lautet: Wenn 
das Scopolamin auch nicht unter allen Um¬ 
ständen als absolut gleichwerthig dem Atro¬ 
pin zur Seite gestellt werden darf (kürzere 
Dauer der Wirkung), so muss es doch als 
der beste Ersatz für das Atropin angesehen 
werden, in allen den Fällen, in welchen 
Atropin von den Patienten nicht vertragen 
wird (Idiosynkrasie) oder in welchen bei 
Anwendung von Atropin ein Secundär- 
glaucom zu befürchten ist. Schliesslich 
dürfte unser Präparat auch da indicirt sein, 
wo das Atropin nicht energisch genug wirkt 
(Schultz). 21 ) 

V. Anwendung des Scopalamins in 
der Schneiderlin - Korffschen Nar¬ 
kose (Scopolamin-Morphin-Narkose). 

Im Jahre 1900 veröffentlichte Sehnei- 
derlin 22 ) eine Arbeit unter dem Titel 
„Eine neue Narkose" und schildert darin, 
dass er durch die Anwendung des Scopol- 
amins in der psychiatrischen Praxis dazu 
gelangt sei, dieses Alkaloid in Verbindung 
mit dem Morphin auch in der Chirurgie 
als Narcoticum zu versuchen. Er that dies 
in verschiedenen Fällen mit ausgezeich¬ 
netem Erfolge. Die Art der Application 
und die Dosen waren von Schneiderlin 
noch nicht genügend ausgearbeitet wor¬ 
den, als dass sich die Narkose schon für 
die allgemeine Praxis hätte eignen können. 

Korff 1 ) nahm sich nun mit Eifer der 
neuen Narkose an und arbeitete ihre Me¬ 
thodik genauer aus. Nach mehreren Ver¬ 
suchen, deren Resultat er in einer kurzen 
Arbeit niederlegte, theilte erin einer zweiten 
Veröffentlichung mit, wie die neue Nar¬ 
kose schliesslich von ihm gehandhabt 
werde. Eine halbe Stunde vor der ersten 
Injection (0,01 g Morphin + 0,0012 g Sco- 
polamin. hydrobromic.) wird dem Patienten 
ein flüssiges Frühstück gereicht. Nach zwei 
Stunden wird die zweite Injection (gleiche 
Dosis) gegeben und nach weiteren 1 1 /s 
Stunden die dritte. Bei 130 Fällen wurde 
von Korff diese Narkose angewandt. Un¬ 
günstige Resultate sind nicht aufgetreten, 
nur einmal zeigte sich bei einer kachec- 
tischen Patientin nach der zweiten Injec¬ 
tion Herzschwäche, welche durch Kamphor- 
injectionen erfolgreich bekämpft wurde. 
Von Nebenerscheinungen machten sich 
nach Korff eine GefässerWeiterung im 
Carotidengebiet (?) und die bekannten 


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Gegenwart 1903. 


Augenerscheinungen geltend, die aber bald 
vorübergingen. Auf Grund dieser Beob¬ 
achtungen und Empfehlungen Korff s 
versuchte E. Bios 2 ) die Schneiderlin- 
Korffsche Narkose (wie sie wohl mit 
Recht genannt werden muss) an 105 Pa¬ 
tienten und hatte dabei einen Todesfall, 
in zwei Drittel aller Fälle hatte er eine 
geradezu ideale Narkose. Die Gefahr der 
Narkose liegt nach diesem Autor im Ath- 
mungsstillstand, bei einer guten Narkose 
sollen die Pupillen erweitert sein. Die 
Dosis, welche Bios an wendet, beträgt 4 
bis 5 mg Scopolamin mit 0,02 g Morphin, 
nachdem eine Probedosis von 2,5 mg Sco¬ 
polamin + 0,015 — 0,02 g Morphin versucht 
worden ist. Da Scopolamin ein sehr zersetz- 
liches Präparat sei, so solle man immer 
frische Lösungen bereiten; die Scopolamin- 
krystalle in Charta cerata, nicht aber in 
einem Glas aufbewahren, da sie sich an 
den Wänden des Gefässes zersetzten. Bios 
giebt in seiner Arbeit eine genaue Ueber- 
sicht über die einzelnen Fälle und schildert 
die Erfahrungen, welche er bei der neuen 
Narkose machte. Meistenteils trat eine 
Pulsbeschleunigung auf (z. B. bei einer 
eitrigen Pleuritis von 120—140(!)) und eine 
Verlangsamung der Athemfrequenz. In 
manchen Fällen soll das Herz günstig be¬ 
einflusst worden sein, indem der vorher 
unregelmässige Puls regelmässig wurde, 
manchmal trat auch das Umgekehrte ein. 
Auch Cyanose wurde mehrfach beobachtet. 
Der Todesfall war bei einem Individuum 
mit Myocarditis, Empyem und Tuberkulose 
zu verzeichnen. Da das Scopolamin mit 
dem Urin ausgeschieden wird, muss man 
bei Insufficienz der Nieren den Patienten 
sehr sorgfältig überwachen, weil es sonst 
bei einer mehrmaligen Injection zu einer 
Cumulation kommen kann. Andere Pa¬ 
tienten zeigten eine Idiosynkrasie gegen 
Scopolamin; zu diesen gehören vor allen 
Dingen die hysterischen und neurasthe- 
nischen Individuen. Erbrechen nach der 
Narkose, doch meistens ohne vorherige 
Nausea, ist öfters beobachtet worden. 

Witzei 28 ) sah bei der Anwendung der 
Korffschen Narkose bei einem an Arte¬ 
riosklerose leidenden Herrn einen Todes¬ 
fall, Und auch von anderer Seite scheinen 
die Erfolge mit der neuen Narkose nicht 
gerade günstig ausgefallen zu sein. 

Betrachten wir einmal diejenigen Punkte, 
welche als Vorteile der Scheiderlin- 
Korff sehen Narkose geltend gemacht wer¬ 
den! Da ist erstens der Umstand zu nennen, 
dass ein Assistent, welcher sonst der Nar¬ 
kose vorstehen muss, frei bezw. entbehr- 


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208 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Mai 


lieh wird. Dann wird auf die Gefahrlosig¬ 
keit der Narkose aufmerksam gemacht, 
welche darauf beruhen soll, dass Scopol- 
amin und Morphin Antagonisten seien, 
ferner wird erwähnt, dass die Nachwehen 
einer jeden Inhalationsnarkose und das 
Excitationsstadium fehlten, schliesslich dass 
mehrstündiger Schlaf der Narkose folgte. 

Bei der kritischen Würdigung der an¬ 
gegebenen Vorzüge ist zunächst hervor¬ 
zuheben, dass das Freiwerden oder die 
Entbehrlichkeit des Narkotiseurs in Wirk¬ 
lichkeit gar nicht einen so grossen Vortheil 
bedeute. Der Patient muss nach Korff’s 
Vorschrift schon vier Stunden vor der 
Operation in Behandlung genommen wer¬ 
den, es wird dreimal, wenigstens aber 
zweimal die Morphin-Scopolamincombina- 
tion injicirt. Der Kranke muss während 
dieser vier Stunden ärztlich überwacht 
oder mindestens öfter eontrolirt werden. 
Aus dem Gesagten ergiebt sich, dass zwar 
ein Assistent während der Schneiderlin- 
schen Narkose frei wird, die Einleitung der 
Narkose und ihre ganze Technik keines¬ 
wegs weniger Zeit erfordert und einfacher 
zu sein scheint, als die gewöhnliche In¬ 
halationsnarkose. 

Dass ein Excitationsstadium bei der 
Schneiderlin’schen Narcose nicht besteht, 
kann für die meisten Fälle zugegeben werden. 
Ob aber nicht manchmal vor Eintritt der 
Narkose, besonders dann — wie Bios es 
will —, wenn das Scopolamin das Ueber- 
gewicht in der Wirkung über das Morphin 
hat, delirienartige Zustände auftreten 
könnten, möchte ich nach den Erfahrungen 
in der hiesigen psychiatrischen Klinik nicht 
ohne weiteres verneinen; immerhin werden 
diese wohl durch das Morphin hintange¬ 
halten, meistens sogar gänzlich unter¬ 
drückt! Das Excitationsstadium kann aber 
auch bei der Chloroform- oder Aether- 
narkose durch Combination mit Morphin 
(0,02 g) auf ein Minimum herabgemindert, 
wenn nicht gar vollkommen aufgehoben 
werden. 

Was nun die Nachwehen anbetrifft, 
welche wohl nach jeder Chloroform- oder 
Aethernarkose auftreten, so sind dieselben 
allerdings sehr unangenehm, aber auch bei 
Scopolamindarreichung ebenso wie nach 
Morphininjectionen kann man Erbrechen 
beobachten, nicht nur im Thierexperiment 
an Hunden, welche ein leicht erregbares 
Brechcentrum haben, sondern auch an 
Menschen. Auch Bios giebt zu, dass 
am nächsten Tage Erbrechen eintritt, aller¬ 
dings ein ganz eigenthümliches Erbrechen 
ohne jede Nausea. Es mag dies ein Vor¬ 


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theil für das subjective Wohlbefinden des 
Patienten sein, für eine Laparotomiewunde 
dürfte auch ein solches Erbrechen eine Schäd¬ 
lichkeit bedeuten. In der hiesigen psychiatri¬ 
schen Klinik waren übrigens schon bei 
0,9 mg Scopolamin am nächsten Morgen 
Erbrechen mit Uebelkeit und Verweigerung 
von Nahrungsaufnahme zu beobachten ge¬ 
wesen. (s. o.) 

Nun schliesslich der letzte Punkt, der 
als der grösste Vortheil angegeben wird, 
die Gefahrlosigkeit der Schneiderlin- 
Korffsehen Narkose. Die citirten Autoren 
stützen sich auf den von Binz constatirten 
Antagonismus zwischen Morphin und Atro¬ 
pin. Nun sind Atropin und Scopolamin 
wohl verwandte und ihrer Wirkung nach 
ähnliche, aber keineswegs vollkommen 
gleiche Alkaloide. Wie aus sämmtlichen 
experimentellen Arbeiten hervorgeht, be¬ 
stehen bedeutsame Unterschiede. 

Wenn nun Bios sagt, dass die Combi¬ 
nation von Morphin und Scopolamin des¬ 
halb eine so besonders glückliche ist, weil 
sie sich in ihren narkotischen Wirkungen 
summiren, in ihren übrigen aber geradezu 
widersprechen, so ist das nicht ohne wei¬ 
teres zutreffend. 

Schneiderlin sowohl als auch Korff 
und Bios sagen über diesen Antagonismus 
etwa folgendes: 

1. Morphin verlangsamt den Puls, Sco¬ 
polamin beschleunigt ihn. 

2. Morphin vermindert die Athemfre- 
quenz und macht die Athmung oberfläch¬ 
lich, Scopolamin beschleunigt und ver¬ 
tieft sie. 

3. Morphin lähmt die sensiblen, Scopol¬ 
amin die motorischen Nerven. (?) 

4. Morphin macht eine Miosis, Scopol¬ 
amin eine Mydriasis. 

5. Morphin wirkt gefässerweiternd, Sco¬ 
polamin gefässverengernd; 

6. Morphin lässt die Secretion intact; 
Scopolamin lähmt sie. 

Dazu ist nun zu bemerken: 

1. Nach den übereinstimmenden Resul¬ 
taten verschiedener Autoren macht Morphin 
in kleinen Dosen eine Vermehrung der 
Pulszahl, grosse Dosen vermehren die Fre¬ 
quenz anfangs, um sie dann zu vermindern. 
Scopolamin macht nach den Untersuchun¬ 
gen von anderen und mir vielleicht manch¬ 
mal, jedenfalls aber nicht constant, Ver¬ 
mehrung der Pulsfrequenz, bei höheren 
Gaben dagegen Pulsverlangsamung. 

2. Scopolamin lässt bei kleinen Gaben 
die Athmung zwar intact, vermehrt sogar 
etwas die Athemgrösse, bei grossen Gaben 
kommt es aber immer zu einer Schädigung 


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Mai 


Die Therapie der 


der Athmung, indem sowohl Frequenz als 
auch Athemgrösse geringer werden. 

3. Dass Morphin die sensiblen und Sco- 
polamin die motorischen Nerven lahme, 
ist aus keiner einzigen Mittheilung der 
Litteratur zu ersehen. Die Nerven werden 
durch Morphin im Grossen Ganzen Ober¬ 
haupt nicht gelähmt, sondern nur das Cen¬ 
tralorgan, Scopolamin lähmt zwar einige 
Nervenendigungen in der glatten Muskula¬ 
tur, die allgemeine Lähmung, welche ich 
für den Frosch nachweisen konnte, ist 
lediglich eine central bedingte. 

4. Morphin macht in der That eine 
Miosis, Scopolamin eine Mydriasis; das ist 
richtig; aber wenn man bedenkt, dass letz¬ 
teres seinen Anpriffspunkt in den Endi¬ 
gungen des N. occulomotorius im Sphincter 
iridis hat, jenes aber eine centraler be¬ 
dingte Reizung des Occulomotorius mache 
(denn durch Instillation von Morphium¬ 
lösung kann man die Miosis nicht erzeugen), 
so kann auch hierbei von einem antago¬ 
nistischen Spiele nicht die Rede sein. 

5. Dass Morphin gefässerweiternd wirke, 
ist insofern richtig, als die Hautgefässe er¬ 
weitert werden, die Innengefässe müssen, 
da der Blutdruck nicht sinkt, im Gegensatz 
hierzu enger werden. Schon daraus sieht 
man, dass die Behauptung Bios’s und 
Schneide rlin's in ihrer Allgemeinheit 
nicht zutreffend sei, abgesehen davon, dass 
Scopolamin nicht so ohne weiteres als ge- 
fässverengerndesAlkaloid angesehen werden 
darf, hat doch Ernst bewiesen, dass es 
sogar an isolirten Organen die Gefässe er¬ 
weitere. 

Gefahrlos ist die Narkose ja auch in 
der That gar nicht, das giebt auch Kor ff, 
der die ganze Sachlage offenbar richtig 
und kritisch mit nüchternem Blick über¬ 
schaut, selbst zu. Der Todesfall von Bios 
würde wahrscheinlich oder doch wenigstens 
möglicherweise, auch bei Chloroform und 
Aether eingetroffen sein, und derjenige, 
den Witzei im Anschluss an die Schnei- 
derlin-Korff’sche Narkose erlebte, hätte 
sich ebenfalls bei den gebräuchlichen Nar¬ 
kosen ereignen können. Die in ungefähr 
10°/o aller Fälle auftretende Cyanose, die 
bei manchen Patienten sich zeigende Herz- 
arythmie oder Herzschwäche sind viel eher 
ein Beweis dafür, dass auch diese Nar¬ 
kose nicht unbedenklich sei. 

Es geht auch schon aus den Mitthei¬ 
lungen Witze l’s und Bios’ hervor, wo 
die Gefahren der Narkose zu suchen sind, 
der eine Autor hat Herzschwäche bei einer 
Arteriosklerose, der andere Athmungsstö- 
rungen und auch Herzschwäche gesehen. 

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Gegenwart 1903. 209 


Die Athmungsstörungen fasst Bios nur als 
Morphinwirkung auf, ich glaube, sie dürften 
zum Theil auch auf Scopolaminwirkung 
zurückzuführen sein. 

Die üblen Zufälle einer jeden Narkose 
beruhen ja auf einer Schädigung der Ath- 
mung oder der Circulation oder beider. 

Auch bei der Schneiderlin-Korffsehen 
Narkose ist dies der springende Punkt. 

Die Gefahren derselben sollen nach den 
bisherigen Erfahrungen und experimentellen 
Untersuchungen kurz skizzirt werden: 

1. Die Hauptgefahr ist die Verschieden¬ 
heit in der Wirkung bei den verschiedenen 
Individuen. So sind Neurastheniker und 
hysterische Personen besonders empfind¬ 
lich gegen Scopolamin. Dann sind auch 
eine Anzahl anderer, sonst ganz gesunder 
Personen mit einer gewissen Idiosynkrasie 
gegen das genannte Alkaloid belastet, 
ebenso wie gegen Morphin. So kann es 
kommen, dass verhältnissmässig geringe 
Dosen des Scopolamins schon ernsthafte 
Störungen der Circulation und Respiration 
hervorrufen können. 

2. Immerhin sind auch die Gaben, welche 
von Scopolamin und Morphin gereicht 
werden, garnicht so gering, betragen sie 
doch bis zu 5,0 mg Scopolamin und 0,03 g 
Morphin. Von einem gesunden Individuum 
werden, wie die vorgekommenen Intoxica- 
tionen und die experimentellen Arbeiten 
zeigen, selbst ganz enorme Dosen von 
Scopolamin vertragen. Aber die bisherigen 
Erfahrungen (die beiden vorgekommenen 
Todesfälle und einer meiner Versuche*) 
lehren wohl, dass kranke Individuen hef¬ 
tiger auf Scopolamin reagiren als kräftige, 
gesunde. Auch Bios sagt, dass Greise und 
Kinder oder auch kachectische Patienten 
schneller durch Scopolamin-Morphin in 
Narkose zu versetzen seien als normale. 

Dass eventuelle Schädigungen, von welchen 
sich kräftige, gesunde Personen ohne wei¬ 
teres erholen, bei krankem Organismus zu 
einer dauernden werden und zum Tode 
führen können, ist ohne weiteres begreiflich. 

Ein an Arteriosklerose und mithin an Myo- 
carditis leidender Patient wird eine starke 
Blutdrucksenkung, welche nach meiner An¬ 
sicht auf einer Schädigung des excitomo- 
torischen Apparates des Herzens beruht, 
eventuell nicht überstehen können. Das 
Herz hält die neue Schädigung nicht aus, 

"■) Ein an Staupe erkrankt gewesener Hund, der 
auf einem Auge erblindet war und cerebrale Reiz¬ 
erscheinungen zeigte, ging auf 0,1 g Scopolaminum 
hydrobromicum an Athmungslähmung zu Grunde, 
während die anderen Versuchshunde selbst durch 
1,5 g des Alkaloids nicht getötet wurden! 

27 

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210 


Mai 


Die Therapie der 


es versagt den Dienst. Der Tod durch 
Herzcollaps nach der Schneiderlin- 
Korff sehen Narcose (in der Witzefschen 
Klinik) könnte auf diese Weise ziemlich 
zwanglos erklärt werden. 

Im anderen Falle, wenn ein Patient 
schon vorher eine bedenkliche Lungenaffec- 
tion hat, wird er bei einer Schädigung der 
Athmung oder Circulation ebenfalls leicht 
zu Grunde gehen. Und Scopolamin kann 
eine Athmungs- und Circulationsschädi- 
gung hervorrufen! Hierauf dürfte der von 
Bios mitgetheilte Todesfall beruhen. 

Ich will nicht bestreiten, dass bei Chloro¬ 
form und Aether ähnliche Schädigungen 
vorliegen, und ich glaube, wie ich schon er¬ 
wähnte, dass die Todesfälle ebenso gut 
bei Chloroform- und Aethernarkose hätten 
Vorkommen können, aber es besteht nach 
dem Gesagten kein Vorzug der Schnei¬ 
derlin-Korff’schen Narkose. 

3. Eine weitere Gefahr scheint mir in 
der Applicationsart der Scopolamin- 
Morphinnarkose zu beruhen. Ich glaube 
jede Injectionsnarkose hat gegenüber der 
Inhalationsnarkose Nachtheile. Es ist z. B. 
trotz Probedosis nicht immer ersichtlich, 
ob der Patient nicht bei der nächsten In- 
jection seine Idiosynkrasie zeigen wird; 
oder ob nicht bei der dritten Injection, 
vielleicht durch Cumulation eine Störung 
eintreten werde. Zeigt sich aber etwas 
derartiges, so ist das einmal applicirte 
Narcoticum nicht mehr aus dem Organis¬ 
mus zu entfernen, sondern wird vollkommen 
resorbirt. Bei der Inhalationsnarkose kann 
durch Fortlassen des Narcoticums mittelst 
weniger Athemzüge der Aether und das 
Chloroform aus dem Körper entfernt 
werden. 

Aus alle diesem gehen die Folgerungen 
hervor, dass dieSchneiderlin-Korff’sehe 
Narkose mindestens nur bei sehr streng 
ausgewählten Fällen angewandt werden 
dürfte und empfehlenswerth sei. Die In- 
dication müsste so formulirt werden: Die 
Schneiderlin - Korff sehe Narkose ist 
nur bei Personen in gutem Ernährungs¬ 
zustand, mit gesundem Herzen und ge¬ 
sunden Respirationsorganen, die weder 
hysterische noch neurasthenische Symptome 
zeigen, anzuwenden. 

Bei einem solch engbegrenzten Kreis 
könnte mit dieser Narkose Gutes geleistet 
werden. Doch trotz mancher unbestreit¬ 
baren Vortheile, weicheich schon gebührend 
gewürdigt habe, wird sich diese Narkose 
nicht in die allgemeine Praxis einbürgein. 
Mindestens ein bis zwei Stunden alles in 

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Gegenwart 1903. 


allem dürften verstreichen, ehe Narkose 
oder wenigstens Analgesie eingetreten ist 
Diesen Nachtheil ebenso wie den von Bios 
schon beobachteten, dass trotz Analgesie 
keine vollkommene Erschlaffung der Muskeln 
eintrete, hatte ich bisher noch nicht er¬ 
wähnt; aber aus diesen beiden Thatsachen 
ergiebt sich ersichtlich, dass die Indication 
für die Schneiderlin - Korff sehe Nar¬ 
kose noch enger gezogen werden muss als 
wir es bisher schon gethan haben. Handelt 
es sich um einen sofortigen Eingriff, z. B. 
in der Geburtshülfe, oder bedarf man, wie 
zum Beispiel bei der Reposition mancher 
Luxation, völlige Muskelentspannung, so 
ist die Schneiderlin-Korff sehe Nar¬ 
kose nicht anwendbar. 

Aus diesen Gründen sieht man wohl 
am besten von der reinen Schneiderlin- 
Korff sehen Narkose ab; in welcher 
zweifelsohne (wie Korff sagt), ein guter 
Kern steckt. Es war immerhin ein glück¬ 
licher Gedanke, das Scopolamin mit dem 
Morphin combinirt als Narcoticum in die 
Chirurgie einzuführen. Ich habe mich über¬ 
zeugt, dass durch Combination dieser bei¬ 
den chemischen Körper Wirkungen er¬ 
zielt werden können, welche jedes Alka¬ 
loid allein nicht zu erzielen im Stande ist. 
Durch Versuche an zwei Hunden habe ich 
festgestellt, dass 0,01 Morphin ausser einer 
gewissen Benommenheit keine anderen Er¬ 
scheinungen hervorrufe, und dass 0,0005 g 
Scopolaminum hydrobromicum allein sub- 
cutan applicirt nur kurz dauernden Schlaf 
ohne Analgesie hervorrufe. Wenn man 
aber diese beiden Gaben mit einander ver¬ 
einigt, trat bei dem einen Hunde immer 
ein tiefer Schlaf mit vollkommener Anal¬ 
gesie, bei dem anderen Hund Schlaf mit 
bedeutender Herabsetzung der Schmerz¬ 
empfindung auf (individuell verschiedene 
Wirkung des Scopolamins bei gleich 
schweren Hunden). Und dieser Zustand 
hielt in meinen Versuchen ungefähr fünf 
Stunden an. Auch am nächsten Tage be¬ 
stand noch erhöhtes Schlafbedürfniss der 
Thiere. Es tritt hier bei dieser Combination 
ungefähr dasselbe ein, was Honigmann 34 ) 
von der Combination von Chloroform und 
Aether zahlenmässig nachweisen konnte, 
nämlich, dass wenn m % Chloroformdämpfe 
der Inspirationsluft des Patienten beigemischt 
sein müssen, um eine Narkose zu erzielen, 
oder n % Aetherdämpfe, bei einer Mischung 

dieser beiden nicht ~ % Chloroform 4 - 

2 % Aetherdämpfe in der Inspirationsluft 
vorhanden sein müssen, sondern schon 

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211 


}lai 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


m 10 °/o Chloroformdämpfe + ^°/ 0 Aether- 

dämpfe genügen, um den gleichen Effect 
zu erzielen. Aehnlich scheint es sich hier 
zu verhalten. Trotz dieses Vorzugs der 
Morphin-Scopolamincombination halte ich 
eine allgemeine tiefe Narkose damit nicht 
für opportun, was ich ausführlich zu be¬ 
gründen versucht habe. Aber dieser Vor¬ 
zug derMorphin-Scopolaminmischung weist | 
beinahe gebieterisch darauf hin, dieselbe j 
in Verbindung mit der Inhalations- j 
narkose anzuwenden, wie es Korff schon 
gethan hat, oder auch diese Injection von 
M. -h Scop. der Operation vorauszuschicken, 
welche unter Schleich’scher Infiltrations¬ 
anästhesie vorgenommen werden soll. 

Nach meinen Thierversuchen würde eine 
Injection von Morphin, hydrochlor. 0,01 g 
+ Scopolamin. hydrobromic. 0,0005 g Va 
Stunde vor Beginn der Narkose oder Be- I 
ginn der Infiltrationsanästhesie vollkommen ! 
genügen. 

Als allgemeine Narkose würde wohl 
wegen der geringeren Gefahr die Aether- 
narkose zu empfehlen sein, deren lästige 
Nebenerscheinungen, die übermässige 
Schleimsecretion, infolge der Lähmung der¬ 
selben durch Scopolamin vermieden werden. 

Die Vortheile einer solchen combinirten 
Narkose dürfte die Beruhigung der Pa¬ 
tienten vor der Operation, die leichte Nar- 
kotisirbarkeit der Kranken mit Aether, das 
kurze Excitationsstadium, der geringe 
Aetherverbrauch und der lange anhaltende 
Schlaf nach der Operation, ferner schliess¬ 
lich die Secretionsbeschränkung während j 
und nach der Operation sein. 

Eine Schädigung der Athmung und der 
Circulation dürfte bei den geringen, oben | 
angegebenen Dosen des Scopolamins und I 
Morphins selbst bei empfindlichen Patienten ! 
(Idiosynkrasie. Alter, Ernährungszustand) , 
kaum zu befürchten sein. j 

Litteratur. ! 

1) B. Korff, Die Narkose des Herrn Dr. J 
Schneiderlin. Münchn. med. Wochenschrift | 

1901, No. 29. S. 1169. B. Korff, Morphin- i 
Scopolamin-Narkose. Münchn. med. Wochen- 1 
schrift 1902. No. 27. S. 1133. Zur Morphin- j 
Scopolamin-Narkose. Münchn. med. Wochen¬ 
schrift 1902, No. 33. S. 1408. — 2) E. Bios, 
lieber die Schnciderlinsche Scopolamin-Mor¬ 
phiumnarkose. Beiträge zur klinischen Chirurgie 

1902. S. 565. — 3) R. Ernst, zur Frage über I 


die Wirkung des bromwasserstoffsauren Sco¬ 
polamins. Inaugural-Dissertat. Dorpat 1893. —■ 
4) A. Sohrt, Pharmacotherapeutische Studien 
über das Hyoscin. Inaugural-Dissertation. Dorpat. 

1886. — 5) O. Walter, Experimentelle und 
klinische Beobachtungen über die Wirkung des 
llyoscins in der Augenheilkunde. Inaugural- 
Dissertation. Dorpat. 1887. — 6) W. Githgens, 
Recovery from four fifths of a grain of Hyo- 
scine. The Therap. Gazette 1887. — 7) Adler, 
ein Fall schwerer Hvoscinvergiftung. Berl. 
klin. Wochenschrift 1891. — 8) H. Wood, Hy- 
oscine its physiological and therapeutic action. 
The Therap. Gazette 1885. Note on Hydro- 
bromatc of Hyoscine. The Therap. Gazette 
1885. — 9) Ostermayer, lieber die sedative 
und hypnotische Wirkung des Atropin und 
Duboisin. Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie 
1891. — 10) Bumke, Paraldehyd und Sco¬ 
polamin (Hyoscin) als Schlaf- und Beruhigungs¬ 
mittel für körperlich und geistig Kranke. 
Münchn. med. Wochenschrift 1902. No. 47. — 
11) Erb, über Hyoscin. Therap. Monatshefte 

1887. — 12) Fr. Buddee, Zur Würdigung der 

Wirkungsweise des Hyoscins am Krankenbett. 
Inaugural-Dissertation. Berlin 1888. — 13) 

Edlefsen und Illing, Heber die therapeutische 
Verwendung des Hyoscinum, hydrochloricum 
und hydrojodicum. Centralblatt für die med. 
•Wissenschaften 1881. — 14) Th. Claussen, 
Die Wirkungen des Hyoscinum hydrojodicum 
und hydrobromicum im Vergleiche mit denen 
des Atropins und des Extractum Hyoscyami. 
Inaugural-Dissertation. Kiel 1883. — 15) L. 
Fraentzel, lieber die Wirkungen des Hyoscins 
gegen die Nachtschweisse der Phthisiker. 
Charite-Annalen 1883. — 16) W. Blasius, 
lieber die Wirkung des Hyoscinum hydrojodi¬ 
cum gegen die Nachtschweisse der Phthisiker. 
Inaugural-Dissertat. Bonn 1886 — 17) Hirsch¬ 
berg, Anwendung des Hyoscins in der Augen¬ 
heilkunde. Centralblatt fürprakt. Augenheilkunde 
1881. — 18) Emmert, Anwendung des Hyo¬ 
scins in der Augenheilkunde. Centralblatt für 
prakt. Augenheilkunde 1882.— 19)Raehlmann, 
lieber die Anwendung eines neuen Mydria- 
ticum, des Scopolamins in der ophthalmolo- 
gi sehen Praxis. Wiener medezin. Wochen¬ 
schrift XL. IV, 20. 1894. — 20) L. Illig, Bei¬ 
trag zur Kenntniss der Wirkungen des Sco- 
polaminum hydrobromicum. Münchn. med. 
Wochenschrift 1895 No. 33. — 21) H. Schultz, 
Die älteren und neueren Mydriatica, Miotica und 
Anaesthetica in der Augenheilkunde. Archiv 
für Augenheilkunde. Bd. 40. 1900. — 22) 

Schneidcrlin, Eine neue Narkose Aerztlichc 
Mittheilungen aus und für Baden 1900. No. 10. — 

23) O. Witzei, Wie sollen wir narkotisiren? 
Münchn. med. Wochenschrift 1902. No. 48. — 

24) F. Honigmann, Ueber Mischnarkosen. 
Archiv für klinische Chirurgie. Heft 58. 


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27* 

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212 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Mai 


Ueber die symptomatische Behandlung raumbeengender 

Qehirnkrankheiten. 

Von D. Heinr. di Gaspero, Graz. 


Die wichtigste Frage bei der Radical- 
behandlung einer Krankheit, die Indicatio 
raorbi causalis, fällt bei raumbeengenden 
Hirnkrankheiten mit Hirndrucksymptomen 
fast ausschliesslich in das Capitel der Hirn¬ 
chirurgie. — 

Die wenigen Fälle, wo bei specifischen 
Proliferations- bezw. Exsudationsprocessen 
durch Einleitung der causal indicirten Be¬ 
handlungsweise Heilung brachte (z. B. Lues, 
Tuberkulose) oder wo die glückliche Punction 
einer Echinococcusblase oder ein glücklich 
operirter Oberflächentumor alle Krankheits¬ 
erscheinungen dauernd zum Schwinden 
brachte, sprechen als Ausnahme nur für 
diese Regel. Das Eine kann hier aus¬ 
gesagt werden, dass schon die Schwierig¬ 
keit in der Diagnostik und noch mehr in 
der Topik, ferner die oft unüberwindlichen 
technischen Schwierigkeiten und die Ge¬ 
fahr ernster Complicationen die radical 
operative Therapie zu einer ausserordent¬ 
lich preeären, in gegebenen Fällen sogar 
zu einer unmöglichen macht. 

Diese Erfahrungssätze nöthigen uns zur 
Ausgestaltung der symptomatischen Be¬ 
handlungsweise behufs einer rationellen 
einschlägigen Praxis am Krankenbette. 

Es müssen zu diesem Zwecke die 
praktisch-empirisch bewährten ärztlichen 
Erfahrungen herangezogen und durch eine 
wissenschaftliche approbirte Grundlage ge¬ 
stützt werden. 

Die Ansicht vieler Autoren, dass einer 
energischen Jodcur bei Tumoren ein cau- 
saler Heilwerth zukomme, ist vielleicht 
etwas übertrieben; die sehr spärlichen 
Fälle in der Literatur, nach welchen bei 
innerlichem Gebrauche hoher Jodsalzdosen 
Neoplasmen etc. zum Schwinden gebracht 
würden (Wernicke, Baginsky) können 
nicht als Beweis für eine causale Jod¬ 
wirkung hingestellt werden. In den weit¬ 
aus meisten Fällen hatte die Jodtherapie 
keinen nennenswerthen Effect; zu versuchen 
ist diese Therapie jedoch in allen Fällen, 
wobei die Erscheinungen des acuten bezw. 
constitutionellen Jodismus in Kauf zu 
nehmen sind. — Dies eine kann der Jod¬ 
therapie zugesprochen werden, dass sie 
regressive Metamorphosen und die Re¬ 
sorption derselben befördern kann, also 
als Resorptionscur immerhin Ansehen ver¬ 
dient. 


Am Krankenbette eines an einer raum¬ 
beengenden Hirnkrankheit Leidenden er¬ 
heischen in erster Linie die diffusen Er¬ 
scheinungen des manifesten Hirndruckes, 
die entsprechende Behandlung. Darunter 
ist zu verstehen: Kopfschmerz, Erbrechen,. 
Benommenheit, Unruhe, Schlaflosigkeit, 
Schwindelgefühl, Krämpfe, Verschlechte¬ 
rung des Sehvermögens, Respirations¬ 
störungen etc. — Die genaue Prüfung der 
Herzaction, der Pulsqualität, der Carotiden- 
spannung und des Blutdruckes giebt hier 
in der Regel den Schlüssel zur Therapie. — 

Es ist vor allem der Gefahr zu be¬ 
gegnen, dass die Correlation zwischen 
Hirndruck und Blutdruck in den Hirn¬ 
arterien bezw. Capillaren sich zu Ungunsten, 
der letzteren gestaltet. — 

Es darf unter keinen Umständen der 
Hirndruck den Blutdruck erreichen oder 
gar übersteigen. — Es ist nämlich bekannt,, 
dass Hirncompression, oder besser gesagt 
erhöhter Hirndruck, lange Zeit hindurch 
ohne wesentliche Störungen der physio- 
i logischen Function und ohne schwerere 
subjective Beschwerden gut vertragen wird 
(Naunyn, Schreiber, Falkenheim„ 
Kocher u. A.), wenn der Blutdruck im 
Gehirne ein entsprechend hoher und an¬ 
dauernd hoher ist, dass erst bei erheb¬ 
lichen Blutdruckschwankungen bezw. Sinke» 
desselben oft wie mit einem Schlage alle 
objectiven und subjectiven Erscheinungen 
des manifesten Hirndruckes in die Er¬ 
scheinung bringt, sogar rasch tödlich 
wirken kann. — Die Erfahrung am Kran¬ 
kenbette bestätigt dies vollauf, indem in 
der Regel, wenn die beschriebenen Sym¬ 
ptome paroxysmal auftreten, die Herzkraft. 
darniederliegt und der Blutdruck (Tono¬ 
metermessung) sich in unternormale» 
Grenzen bewegt. 

Die Gesichtspunkte für die Einleitung" 
der Therapie sind also: Herabsetzung des 
intracerebralen Druckes, Erhöhung des Blut¬ 
druckes, des Gefässtonus und der Vis a 
tergo. 

Man muss also Excitantien verabreichen, 
Cardiotonica und Vasoconstringentia. — 
In dieser Hinsicht wirkt am besten die 
Digitalis und das Nebennierenextract; — 
Digitalis entweder als Infus, als Tinctur, 
oder subcutan als Digitoxin; Nebennieren¬ 
extract am geeignetsten stets subcutan als- 


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.Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


213 


Extractum fluidum suprarenale haemostat. 
(Merck) in 10% Lösung. — 

Es genügt unter Umständen nicht allein 
<iie Anregung der Herzkraft durch Digitalis 
und dadurch bedingte Erhöhung des 
Aortendruckes, es muss auch das Vaso- 
motorencentrum angeregt, die Arterien 
spastisch verengert werden. Spastisch 
verengerte, contrahirte Arterien bewirken 
*ine Herabsetzung des Hirndruckes, 
schaffen durch ihre Zusammenziehung ein 
kleineres Volumen, also mehr Raum für 
-das Gehirngewebe und bringen günstigere 
Blutströmungs-, somit bessere Ernäh¬ 
rungsverhältnisse in den Hirncapillaren 
zuwege. — Es wird dadurch das wichtigste 
Postulat der Therapie erreicht: Herab¬ 
setzung des Hirndruckes, Versorgung mit 
frischem Blut, rasche Entfernung der Ab¬ 
fuhrstoffe, Vermeidung einer venösen 
Stase. — Es werden dadurch die 
schweren drohenden Reiz- und Läh- 
mungserscheinungen nach Thunlichkeit 
verhindert. 

Alle diese therapeutischen Aufgaben 
vermag das Nebennierenextract, das Vaso- 
constringens zaf zu erfüllen (Biedl, 

Reiner, Spina u. A.). Ausser diesen 
positiven Maassnahmen muss Alles ver¬ 
mieden werden, was eine Herabsetzung 
des Blutdruckes und der Gefässspannung 
bewirken, ausserdem eine Schädigung des 
Herzmuskels etwa im Sinne fettiger oder 
parenchymatös degenerativer Vorgänge zur 
Folge haben könnte. — Es ist demnach 
in paroxysmalen Himdruckzuständen die 
Verabreichung von Chloralhydrat und 
dessen Derivaten, sowie von Morphin z. B. 
zum Bekämpfen von Unruhe, Schlaflosig¬ 
keit, Krämpfen, Kopfschmerz u. s. w. als 
contraindiciert anzusehen und zu vermei¬ 
den, ausserdem eine Venaesection unter 
allen Umständen zu unterlassen. — Bei 
schlafbringenden und krampfstillenden 
Chloraldosen wurde ein rasches und be¬ 
trächtliches Sinken des Hirnarteriendruckes 
beobachtet (Bechterew - Laboratorium), 
bei entsprechenden Morphindosen Er¬ 
schlaffung der Hirnarterien-Gefässwand, 
Blutstauung und Steigerung des intracra- 
niellen Druckes. — Choral lähmt in 
grösseren Dosen das Grosshirn, und haupt¬ 
sächlich das für die Aufrechterhaltung der 
wichtigsten physiologischen Körperfunctio¬ 
nen so wichtige Spiel der Reflexvorgänge 
(Vasomotorencentrum). 

Abschwächungen der Reflexvorgänge 
können speciell bei Hirntumoren und ana¬ 
logen Processen unmittelbar todbringend 
werden. 


Da es eine bemerkenswerthe — und 
durch eigene Beobachtungen auch mehr¬ 
fach bestätigte — Erscheinung ist, dass 
die Hirndrucksymptome besonders Nachts, 
gegen die Morgenstunden zu spontan exa- 
cerbiren und oftmals gefährliche Wen¬ 
dungen annehmen, rasch eintretende Col- 
lapszustände, sogar plötzlichen Exitus zur 
Folge haben können — was wahrscheinlich 
mit physiologischen Druckschwankungen 
zusammenhängt — muss man bei der Ver¬ 
abreichung von Schlafmitteln überhaupt 
vorsichtig sein, besonders in Fällen, wo 
souveräne Hypnotica indicirt erscheinen. — 
Eine principielle Vermeidung von Schlaf¬ 
mitteln wäre jedoch gewiss nicht am Platze. 
Nach den bisherigen Resultaten ist das 
Paraldehyd und das Amylenhydrat, 
ausserdem das Trional und das Codein 
zu versuchen. — Die beiden ersten Mittel, 
die sich durch ihre rasche Resorbirbarkeit 
und Ausscheidung und relative Ungefähr¬ 
lichkeit auszeichnen, können auch in höhe¬ 
ren Dosen angewendet werden, dann aber 
mit einigen Tropfen Digitalistinctur com- 
binirt, das Trional und das Codeln am 
besten mit CoffeYn combinirt in den ge¬ 
wöhnlichen Gaben. 

Brom salze versprechen nach dieser 
Hinsicht nicht viel; in grösseren Dosen, 
etwa von 3 g an, ist das Brom speciell 
am Abend nicht angezeigt wegen der 
Herabsetzung der Reflexerregbarkeit und 
„ Bromanämie Ä der Hirngefässe, wiewohl es 
gegen motorische Krampfzustände, Convul- 
sionen, Rindenepilepsieanfälle wieder am 
Platze ist. 

Von den anderen in Betracht kommen¬ 
den Medicamenten ist das Antipyrin, 
Antifebrin und Phenacetin hervorzu¬ 
heben. 

Besonders dem Antipyrin und seinen 
Verbindungen bezw. Derivaten, dem Anti- 
pyr. coffeYno-citric., dem Pyramidon u. s. w., 
wegen der in der Regel günstigen und 
raschen Wirkungsweise das Wort zu 
sprechen. — Sie beeinflussen wirksam den 
Kopfschmerz, die neuralgiformen Schmer¬ 
zen, Nackenschmerzen, die Schwindel¬ 
attacken, ja selbst das Erbrechen. Diese 
Präparate haben bekanntlich eine günstig 
erregende Wirkung auf die Medulla oblon- 
gata und bedingen Steigerung des Blut¬ 
druckes. In besonders hartnäckigen Fällen 
mit Vorwiegen der subjectiven Symptome 
leistet eine Combination von Antipyr. coff.- 
citr. mit Heroin oft gute Dienste, welch’ 
letzteres Opiat als ein vorzüglicher Ersatz 
fllr das Morphin angesprochen werden 
kann. 


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214 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Mai 


Was die Venaesectio bei allgemeinen 
Convulsionen oder tonischer Körperstarre 
mit Sopor anbelangt, kann ich die Ansicht 
einiger Autoren nicht theilen; denn in den 
wenigen Fällen, wo ich die Venaesectio 
nach der Vorschrift dieser Autoren an¬ 
wandte, sah ich kein ermunterndes Resultat, 
einmal hingegen einen schweren Collaps 
mit Sistiren der Athmung, was erst nach 
einer einstündigen künstlichen Athmung 
behoben wurde. — Die vielfach gerühmte 
Wirkung der localen Blutentziehungen 
(Schröpfköpfe etc.), die jedenfalls die 
Stockung des venösen Abflusses im Gehirn 
und dessen Hüllen bekämpfen sollen, kann 
durch eine kräftige Halsmassage, durch 
thermische und medicamentöse Hautreize, 
durch Ableitung auf den Darm und durch 
Anregung tiefer Inspirationen vollauf er¬ 
setzt werden. — Am ehesten kann bei tem¬ 
porären Amaurosen (Stauungspapille!) 
oder rapider Verschlechterung des Sehver¬ 
mögens die Application von trockenen 
Schröpfköpfen (Augenwinkel, Schläfe, 
Warzenfortsatz, Emissaria Santorini) in 
Anwendung kommen. 

Nach diesen Erörterungen, welche die 
Fragen der Erhaltung bezw. Erhöhung des 
Blutdruckes und der Gefässspannung be¬ 
langen, muss noch die erste und eigentlich 
näherstehende Frage der Druckentlast¬ 
ung des Gehirnes ventilirt werden, zumal 
diese dem causal-therapeutischen Interesse 
am nächsten kommt. 

Ausgehend von der bekannten That- 
sache, dass ein manifester Hirndruck in 
der Mehrzahl der Fälle — oftmals einzig 
und allein — durch vermehrten Hirn¬ 
liquor bedingt ist, muss hinsichtlich der 
Therapie stets darauf geachtet werden, die 
Hirnliquormenge zu verringern (Quincke, 
Krönig, Fürbringer, Lenhartz, Boen- 
ninghaus, Kocher u. v. A.). Die Wege 
sind verschiedener Art; es ist zuerst immer 
der Versuch zu machen, die physiologischen, 
automatisch fungirenden Regulatoren und 
Compensationsvorrichtungen zu beheben, 
darunter in erster Linie den Abfluss des 
überschüssigen Liquors in die Hirnvenen, 
Sinusse, Diploövenen zu verstärken. Ander¬ 
seits ist die Quincke’sehe Lumbalpunction 
als symptomatisch • palliative Behandlung 
vorzunehmen. Die Meinungen über den 
therapeutischen Werth derselben sind ver¬ 
schieden, z. Th. widersprechend. Wenn 
auch in einigen Fällen üble Folgezustände, 
sogar rascher letaler Ausgang gemeldet 
werden (Fürbringer, Lichtheim, Krö¬ 
nig, Stadelmann, Wilms etc.), sind 
andererseits weitgehende temporäre Linde- 

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rungen, sogar entscheidende Wendungen 
zu günstigem Verlaufe verzeichnet (z. B. 
v. Ziemssen). 

In manchen Fällen sogar, wo die Ursache 
des Hirndruckes in abnormer Vermehrung 
des Hirnliquors allein lag, bedingt durch 
seröses Exsudat, hämorrhag. Extravasat, 
Stauungstranssudat z. B. Meningitis serosa 
acuta, (Boenninghaus), wirkte die Lum¬ 
balpunction sogar lebensrettend und führte 
oftmals rapide Heilung für immer herbei 
(eigene Beobachtung). — Für die benignen 
Formen (Boenninghaus) der Meningitis 
serosa acuta ext. und int. ist die Lumbal¬ 
punction daher Indicatio morbi, sie kann 
aber auch bei der Meningo-Encephalitis 
serosa als palliativer Eingriff von Werth 
sein. Trotzdem wir in der Lumbalpunction 
eine symptomatische Behandlungsform von 
unzweifelhaft hohem Werthe besitzen, ist 
sie immerhin als ein ernster Eingriff anzu¬ 
sehen, der nur bei gegebener Indication 
angewendet werden soll, besonders dann* 
wenn die übrigen therapeutischen Behelfe 
sich als unzulänglich erweisen und rasche 
Hilfe nöthig erscheint. Doch abgesehen 
davon, dass die Lumbalpunction nicht 
selten gänzlich im Stiche lässt, indem kein 
Tropfen Liquor abfliesst, kann sie von 
sehr unangenehmen Folgen begleitet sein* 
wobei ausser dem schon erwähnten un¬ 
glücklichen letalen Ausgang noch Blutungen 
in den Duralsack und Caudaverletzungen 
gemeint sind. 

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass bei 
hoher Druckspannung in den Ventrikeln 
und Abschluss derselben nach forcirtem 
Ablassen des äusserlichen, frei abfliess¬ 
baren, dem Ventrikeldruck Gegendruck 
haltenden Liquors das Kleinhirn mit der 
Medulla oblongata in das Foramen occipi- 
tale stark eingepresst werden kann, was 
sofortige Respirationslähmung bedingen 
würde. 

Durch die rasche Druckentlastung in 
den Hirnkammern bei forcirtem Abfliessen 
der Ventrikel fl üssigkeit kann es ferner zu 
einem Durchbruch in die geleerten Ventrikel 
hinein kommen, weil hier ein Locus mi- 
noris resistentiae geschaffen wurde. — Be¬ 
steht ein Verdacht auf ein intracranielles 
Aneurysma oder besteht abnorme Brüchig¬ 
keit der Gefässwandungen, so durch Ar¬ 
teriosklerose oder bei hämorrhagischer 
Diathese, so ist wegen der hohen Ruptur¬ 
gefahr die Lumbalpunction zu unterlassen 
(Oppenheim). 

Aspiration bei der Lumbalpunction 
ist unbedingt in allen Fällen zu ver¬ 
meiden. 

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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


215 


Es erübrigt noch, zwei andere Palliativ¬ 
operationen zu besprechen, welchen als 
druckentlastende Eingriffe bei raumbeengen¬ 
den Gehirnprocessen eine symptomatisch- 
therapeutische Wichtigkeit zukommt, näm¬ 
lich die palliative Eröffnung des 
Schädels — die Trepanation — und die 
Ventrikelpunction nach vorausgegange- , 
ner Trepanation. 

Indicirt ist die palliative Trepanation, 
sobald das Bestehen eines progressiven 
Proliferationsprocesses — Tumors — mit 
rapidem Wachsthum evident geworden ist, 
sobald der Kranke objectiv rasch ad pejus 
geht und sobald schwere subjective, durch 
kein anderes Mittel, selbst nicht durch die 
Lumbalpunction zu lindernde Beschwerden 
vorherrschend sind. Dieser Eingriff kommt 
besonders bei Neoplasmen zu seinem Rechte 
(Henschen, Sahli, Bruns, Bergmann 
u. A.). Es vermag diese Operation — ob¬ 
wohl nur eine palliative — bei unausschäl- 
baren, das Hirngewebe infiltrirend durch¬ 
wuchernden Neoplasmen, oder bei mul¬ 
tiplen Tumoren durch Setzung eines per¬ 
manenten Druckventiles nachgewiesener- 
maassen die Lebensdauer der betroffenen 
Menschen erheblich — selbst um Jahres¬ 
frist — zu verlängern und denselben ein 
halbwegs erträgliches Dasein zu gewähren. 
— Selbstverständlich ist dieser Eingriff 
stets ein zweischneidiges Schwert und die 
gemachten statistischen Zahlen sprechen 
zu gleichen Theilen von Erfolg und Miss¬ 
erfolg. 

Die Trepanation soll am Besten stets 
Ober den sogenannten „stummen Hirn- 
theilen“ ausgeführt werden, ausser wenn j 
gewisse Symptomencomplexe — z.B. Jack- i 
son’s Epilepsie — einen ganz bestimmten j 
Ort des Eingrifts indiciren. Die Dura soll 
womöglich intact gelassen, eine darunter 
liegende Cyste oder ein Hämatom durch 
Punction entleert werden. — Die Ge¬ 
fahr, dass an der Trepanationsöffnung 
durch den gesetzten Locus minoris resi- 
stentiae ein Hirnprolaps oder eine Blut¬ 
geschwulst oder irgend eine andere Com- 
plication entstehen könne, ist immer vor 
Augen zu halten. 

ln den nicht so seltenen Fällen, wo ein 
abgeschlossener progressiver Ven- 
trikelhydrops vorliegt, entweder idio¬ 
pathisch entstanden durch eine Meningitis 
serosa acuta interna mit automatischem 
Verschlüsse oder secundär z. B. nach einem 
Tumor des Oberwurmes, Obliteration des 


Aquaeductus Sylvii u.s.w., wobei die Druck¬ 
erscheinungen grösstentheils dem Ventrikel- 
hydrops zugeschrieben werden müssen, ist 
die Ventrikelpunction nach Trepanation 
vorzuschlagen (Beck, Henschen, Schil- 
ling, Robson, Hahn u. A.). — Indicirt 
ist die Trepanopunction bei progressiver 
Steigerung des Ventrikeldruckes mit unauf¬ 
haltsamer Zunahme derHirndrucksymptome, 
so Sopor, Krämpfe, excessiven subjectiven 
Beschwerden und weitgehenden Störungen 
der Elementarfunctionen des Gehirns — 
bei Verschluss der Ventrikel. In solchen 
electiven Zuständen bietet die Trepano¬ 
punction günstige Chancen und ist bei allen 
nöthigen Cautelen eine fast ungefährliche 
Operation. — Auch hier ist Aspiration 
verpönt. 

Dass als unterstützende Therapie hier 
Diurese, Diaphorese, resorbirende Medi- 
cation (Jodpräparate — Jodvasogen, Jod- 
eisensyrup, Jodipin etc., Hydrargyrumprä- 
parate) und Application äusserer Reizmittel 
in Betracht gezogen werden kann, braucht 
nicht eigens bemerkt zu werden. 

Bei Zusammenfassung des Vorliegenden 
muss noch betont werden, dass in den 
einzelnen Erkrankungsfällen immer der 
Charakter der klinischen Symptome, die 
Schwere und der Verlauf der Krankheit 
dem Arzte die entsprechenden therapeuti¬ 
schen Maassnahmen dictiren muss, und 
dass für die mannichfaltigen Arten der in- 
tracraniellen Processe, die Hirndrucksym¬ 
ptome zur Folge haben, stets der nach 
Indication und Contraindication zweck- 
mässigste Eingriff in Frage kommen soll. 

Wenn bisher die Behandlungsweise der 
allgemeinen Symptome des manifesten Hirn¬ 
drucks zwischen dessen Beginn und dessen 
Höhepunkte erörtert wurde, bedarf es der 
Vollständigkeit halber noch die Therapie 
der allgemeinen Erscheinungen des latenten, 
noch compensirbaren Hirndrucks kurz zu 
streifen. 

Hier liegt das Hauptgewicht in einer 
genau geregelten und genau einzuhaltenden 
körperlichen und geistigen Diät, in Zufuhr 
I reizloser, roborirender Kost, tonisirender 
Mittel, in Sorge für reichliche Darm¬ 
entleerungen, für Schlaf, in Vermeidung 
aller Gemüthsbewegungen, Erregungen, 
Affectzuständen und Excedirungen, sowie 
in Vermeidung jeglicher körperlichen sowie 
geistigen Anstrengung. Die Cur soll den 
Charakter einer direct vorbeugenden 
tragen. 


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216 


Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Beitrag zur Behandlung der veralteten traumatischen 

Luxation der Hüfte. 

Von Dr. W. Klink-Berlin. 


Bei der heute allgemein üblichen anato¬ 
misch-physiologischen Repositionsmethode 
der Luxationen bietet auch die Reposition 
einer Luxatio iliaca femoris im Allgemeinen 
keine Schwierigkeit, wenn der Verletzte 
bald in Behandlung kommt, namentlich da 
uns ja die Narkose als unschätzbares Hülfs- 
mittel zur Verfügung steht. Erschwert, ja 
unmöglich gemacht, wird in manchen Fällen 
die Reposition durch Complicationen, wie 
gleichzeitige Fracturen der betheiligten 
Knochen, Zwischenlagerung von Kapsel- 
theilen u. a. m. Die Prognose der frischen, 
richtig behandelten Luxation des Ober¬ 
schenkels ist im Ganzen auch günstig, in¬ 
sofern das Bein meist wieder ganz ge¬ 
brauchsfähig wird. 

Ganz anders verhält sich eine veraltete 
Luxation des Oberschenkelkopfes nach 
hinten ; und diese Veraltung tritt sehr bald 
ein, meist schon nach einigen Wochen. 
Allerdings soll in einigen Fällen die Repo¬ 
sition noch nach Jahren gelungen sein, 
doch sind das seltene Ausnahmen. Der 
Schenkelkopf bildet an seinem neuen Platze 
eine Nearthrose und zwar eine solche von 
oft sehr vollkommener Art. Trotzdem bildet 
die ungünstige Stellung des verkürzten und 
einwärts gerollten Beines ein grosses Hinder¬ 
niss beim Gehen. Die Verkürzung wird 
noch dadurch verschlimmert, dass das luxirte 
Bein bei jungen Individuen im Wachsthum 
zurückbleibt; auch wird es bald in Folge 
der schnell eintretenden Atrophie schwächer, 
als das gesunde Bein. Dazu kommen dann 
noch bisweilen Innervationsstörungen und 
heftige Schmerzen durch Druck des luxirten 
Schenkelkopfes auf den N. ischiadicus. Die 
Kranken % müssen sich meist einer Krücke 
oder eines Stockes bedienen. In Folge 
dieser Momente sind sie in ihrer Erwerbs¬ 
fähigkeit stark herabgesetzt. Auch bietet 
ein derartiges neues Gelenk mit seinen 
pathologischen Bestandtheilen immer Ge¬ 
legenheit zur Entwicklung einer Arthritis 
deformans mit ihren Beschwerden. 

Selbstverständlich wird man in jedem 
Fall von veralteter Luxation des Ober¬ 
schenkels, der in Behandlung kommt, zu¬ 
erst eine unblutige Reposition versuchen. 
Führt dieselbe nicht zu dem gewünschten 
Resultat, so wird man bei alten Leuten die 
Beschwerden je nach der Beschaffenheit 
des Falles zu lindern suchen; bei jüngeren 
Personen aber wird man, unter Beobach- 

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tung der strengsten Asepsis, auf blutigem 
Wege möglichst normale Zustände herzu¬ 
stellen suchen. 

Die Zahl der blutig behandelten Luxa¬ 
tionen des Oberschenkels ist erst klein, da 
die Gefahren einer Eröffnung des Hüft¬ 
gelenks vor der Kenntniss der Anti- und 
Asepsis zu gross waren. Immerhin be¬ 
rechtigt die Erfahrung, die in diesen wenigen 
Fällen gesammelt wurde, die blutige Repo¬ 
sition in geeigneten Fällen zur Methode zu 
erheben. 

Da unter den bis jetzt blutig behan¬ 
delten Luxationen eine ganze Reihe von 
„pathologischen Luxationen“ (der Ausdruck 
ist schlecht, denn jede Luxation ist patho¬ 
logisch) nach Typhus, Scharlach, Variola, 
Gelenkrheumatismus u. a. sich befindet und 
dadurch die Zahl der traumatischen ver¬ 
alteten Luxationen, die auf diese Art be¬ 
handelt wurden, noch kleiner wird, so halte 
ich mich für berechtigt, einen von mir ope- 
rirten, einschlägigen Fall mitzutheilen, zu¬ 
mal bei demselben die Zeit zwischen Ver¬ 
letzung und Operation bedeutend länger 
ist, als in den bisher bekannten Fällen. 

Patientin ist eine Dienstmagd von 23 
Jahren. Es besteht keine erbliche Be¬ 
lastung. Patientin ist nie schwer krank 
gewesen. — Vor 4 Jahren fiel sie von einer 
Leiter. Als sie wieder aufstehen wollte, 
war ihr dies wegen grosser Schmerzen in 
der linkep Hüfte unmöglich. Auf das linke 
Bein konnte sie nicht auftreten. Es stellte 
sich bald eine Schwellung der linken Hüfte 
ein. Die sofort eingeleitete ärztliche Be¬ 
handlung bestand in Bettruhe und Streck¬ 
verband. Nach 6 Wochen musste sie wie¬ 
der arbeiten. Wegen heftiger Schmerzen 
in der linken Hüfte konnte sie noch nicht 
auf das linke Bein treten und benutzte 
deshalb bis zum heutigen Tag eine Krücke. 
Die Schmerzen in der Hüfte verschwanden 
allmählich, aber es bestand eine grosse 
Unsicherheit in der Hüfte beim Auftreten. 
Seit einigen Monaten stellten sich auch 
wieder Schmerzen beim Gehen und Stehen 
ein, die von der Hinterseite des Hüftgelenks 
bis in die Wade zogen, zeitweise sehr heftig 
waren. 

Als die Kranke in meine Behandlung 
kam, bot sie folgenden Befund: Sehr fette, 
kräftige, mittelgrosse Person. Innere Or¬ 
gane, Puls, Athmung, Psyche bieten nichts 
Abnormes. Es besteht kein Fieber. Das 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Mai 


217 


linke Bein ist dünner und kürzer, als das 
rechte. Die genaueren Maasse sind fol¬ 
gende: 

Rechts Links 
cm cm 


Entfernung von Spin. il. a. s. 


bis Malleol. ext. . . 


84 

75 

Umfang an Gesässfalte 


67 

66 

„ 20 cm oberhalb 

Patella. 

der 

55 

54 

Umfang 10 cm oberhalb 
Patella. 

der 

44 

42 

Umfang an Patella . . 


33 

33 

n an Wadendicke 


31,5 

31,5 

„ oberhalb d. Knöchel 

19 

19 


In Rückenlage der Kranken liegt das 
linke Bein ohne jede Beugung oder Rota¬ 
tion oder sonstige pathologische Winkel¬ 
stellung auf der Unterlage. Durch Zug 
lässt es sich ziemlich leicht auf die Länge 
des rechten Beines bringen. Bei passivem 
Auf- und Abschieben und Rotation des 
linken Beines im Hüftgelenk, was sehr aus- | 
giebig möglich ist, fühlt und hört man ein I 
Krepitiren, wie wenn rauhe Knochen sich j 
reiben. Wird das angezogene Bein los¬ 
gelassen, so schnellt es jedesmal in seine 
verkürzte Stellung zurück. Bewegung des 
Beines in der Hüfte, Druck auf den Tro¬ 
chanter oder Stoss gegen das Bein sind 
nicht schmerzhaft. Die bedeckende Haut 
ist unverändert. Spitze des Trochanter 
major steht 3 Querfinger über der Roser- 
Nelaton'schen Linie. Der Schenkelkopf ist 
ausserhalb des Gelenkes nicht zu fühlen. 
Die Untersuchung wird durch das unge¬ 
heure Fettpolster sehr erschwert. Bei Ro¬ 
tationen dreht sich der Oberschenkel um 
einen sehr kleinen Radius, wie bei extra¬ 
kapsulärer Schenkelhalsfractur. Das linke 
Bein wird activ bis zu 1300 (zur Wirbel¬ 
säule), passiv zu 1 R W. erhoben. Abduction 
ist passiv bis zu 1100, Adduction zu 650 
<zur Verbindung der Spinae iliacae) mög¬ 
lich. Das gesunde Bein kann bis zu 1350 
abducirt werden. Innenrotation wie auf der 
gesunden Seite, Aussenrotation weiter als j 
rechts möglich, so dass die äussere Kante 
des linken Fusses bei gestrecktem Knie 
ohne Gewaltanwendung der Unterlage auf¬ 
zuliegen kommt. Patellarsehnen- und Fuss- 
sohlenreflex links viel lebhafter als rechts. 
Sensibilität ist ungestört. Beim Gehen und 
Stehen, das nur mit Stütze möglich ist, 
steht der linke Fuss auf den Zehen; das 
Becken wird dabei nicht gesenkt, die Wirbel¬ 
säule bildet keine Skoliose: das kranke 
Bein ist ausgeschaltet. 

Die Diagnose war nicht leicht. Die 
grosse Beweglichkeit des Beines, der kleine i 


Radius bei Rotationen, die Krepitation, die 
ungeheure Verschieblichkeit in der Rich¬ 
tung der Längsachse, das Fehlen eines fühl¬ 
baren Schenkelkopfes ausserhalb des Ge¬ 
lenkes, die gesteigerte Aussenrotirungs- 
fähigkeit, das Fehlen einer Beugestellung, 
das alles sprach für Fractura colli femoris 
und zwar für eine extrakapsuläre. Eine 
solche hatte ja wohl auch der behandelnde 
Arzt nach dem Unfall angenommen. Das 
Alter der Kranken sprach allerdings mehr 
für Luxation und wenn wir annahmen, 
dass neben der Luxation noch eine Frac- 
tur, in erster Linie des Pfannenrandes be¬ 
stehen konnte, so waren alle Symptome 
ebenso gut erklärt. Dagegen sprachen 
allerdings die Rotationsverhältnisse. Das 
Zurückschnellen des Beines in seine ver¬ 
kürzte Stellung bei Nachlassen des Zuges 
an demselben war ja bewirkt durch die 
Contraction der am Trochanter ansitzenden 
Muskeln und diese traten ja bei beiden 
Möglichkeiten in gleicher Weise in Thätig- 
keit. 

Die Kranke war in ihrer Arbeit sehr 
behindert und durch die Schmerzen sehr 
gequält. Sie wünschte Befreiung von ihren 
Beschwerden und war mit einer Operation 
einverstanden. Ich wollte mich durch die 
Autopsie in vivo von der näheren Be¬ 
schaffenheit der das Gelenk bildenden 
Knochen- und Weichtheile überzeugen und 
danach handeln. Fand ich eine Fractur, 
so beabsichtigte ich durch Draht und Stifte 
möglichst alles zu vereinigen, was an 
Knochen erhalten werden konnte und die 
Weichtheile in möglichst normale Verhält¬ 
nisse zurückzubringen; fand ich eine Luxa¬ 
tion, so handelte es sich darum, die alte 
Pfanne, die bekanntlich sehr bald verödet, 
wieder herzustellen und den Kopf in der¬ 
selben festzuhalten. Um Entfernung eines 
Repositionshindernisses konnte es sich 
nicht handeln, denn ein solches konnte, 
nach der Lage der Verhältnisse zu urtheilen, 
nicht bestehen. 

Nach gründlicher Desinfection der Haut 
durch mehrtägige Sublimatumschläge wurde 
zur Operation in Morphium-Chloroform¬ 
narkose geschritten. Die Operation wurde 
in der von Kocher angegebenen Weise 
ausgefühlt: Bogenförmiger Hautschnitt an 
der Aussenseite der Hüfte von 20cm Länge. 
Nach Durchtrennung des ungeheuren Fett¬ 
polsters und stumpfer Trennung der Fasern 
des M. glutaeus maximus kann man zwi¬ 
schen M. glutaeus med. und piriformis 
den Schenkelkopf dem Darmbein aufliegen 
fühlen. Er macht alle Bewegungen des 
Oberschenkels mit: es handelt sich also 


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218 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Mai 


um eine Luxatio iliaca. — Die Fascie und 
Sehnen der Glutaei werden auf der Aussen- 
seite des Trochanter major von dessen 
Spitze bis Basis ohne Verletzung des M. 
vastus lateralis bis auf den Knochen ge¬ 
spalten. Dann wird von diesem Schnitt 
aus mit breitem Meissei nach vorn und 
hinten eine dünne Periost-Knochenschaale, 
die die Ansätze der Glutaeen enthält, los¬ 
gelöst und auseinander geklappt. Nun hat 
man bei stark gebeugtem und adducirtem 
Oberschenkel einen guten Einblick. Die 
sehr weite Gelenkkapsel zeigt keinen Riss 
und umschliesst den Schenkelkopf. — Sie 
wird an ihrer Oberseite breit eröffnet und 
nun lässt sich der Kopf luxieren, d. h. aus 
seiner luxirten Stellung noch mehr heraus- 
sttilpen. Er ist abgeflacht, verbreitert, rauh, 
sitzt auf einem sehr kurzen Hals. Ober¬ 
halb der alten Pfanne hat sich eine neue, 
flache Pfanne mit glattem Boden und leichter 
Erhebung am oberen Rande gebildet. Auf 
dem Boden ist etwas Synovia. Von dem 
Lig. teres ist keine Spur zu finden. Die 
alte Pfanne ist ganz ausgefüllt, ihr Boden 
rauh, ihre Ränder verstrichen. Das Kre- 
pitiren kommt zu Stande, wenn der Kopf 
über den flachen Rand zwischen alter und 
neuer Pfanne streicht. Ein Knochenfrag¬ 
ment ist weder gelöst im Gelenk, noch an 
der Kapsel hängend zu finden. Wegen der 
starken Veränderungen des Schenkelkopfes 
und der Verödung des Acetabulum ent¬ 
schloss ich mich zur Resection des Kopfes, 
die mit einem Meissei sich leicht ausführen 
Hess. Nun wurde mit einem Hohlmeissel 
die knochenharte Ausfüllungsmasse des 
Acetabulum etwa 1 cm tief ausgehöhlt, aus 
der Gelenkkapsel ein grosses Stück rese- 
cirt, so dass sie jetzt sich anlegte, wenn 
der Trochanter sich im Acetabulum befand. 
Die Kapsel wurde mit Pagenstecher- 
schem Celluloidzwirn genäht, die abge¬ 
lösten Lamellen des Trochanter wieder 
durch Naht vereinigt. Nach Einlegen eines 
Drain, der zu der jetzt ausser Gebrauch 
gesetzten Pfanne führte und eines Drain 
unter die Haut, wird die Hautwunde ver¬ 
näht. Zu allen Unterbindungen und Nähten 
wurde Pagenstecher’ scher Celluloidzwirn 
benutzt, der zwei Mal in strömendem Dampf 
sterilisirt war. Nach starker Polsterung 
wurde das Bein durch einen ganz locker 
angelegten Gipsverband, der das Becken 
und das gesunde Bein bis zum Knie ein¬ 
schloss, in abducirter und aussenrotirter 
Stellung fixirt. An einer im Gipsverband 
befestigten Eisenschiene wird durch Gummi¬ 
züge an dem kranken Bein eine kräftige 
Extension ausgeübt. Der Blutverlust bei 

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der Operation war sehr gering. Antiseptica 
wurden nicht verwandt. Es wurde mög¬ 
lichst instrumentell, ohne Berührung der 
Wunde mit den Fingern, gearbeitet. 

Der Schenkelkopf ist ungeheuer abge¬ 
flacht. Sein Breitendurchmesser beträgt 

4 cm, während die Höhe nur 2 cm be¬ 
trägt. Von dem Lig. teres hängt ein sehr 
dünner Rest von 1 cm Länge am Kopf. 
Nur das hintere Drittel der Gelenkfläche 
des Kopfes besitzt einen Knorpelüberzug, 
doch ist auch er etwas rauh und zum Theil 
bis auf den Knochen flach abgeschliffen. 
Mitten über die Kuppel des Kopfes von 
oben nach unten zieht eine tiefe Furche. 
Der Schenkelhals war an seiner längsten 
(unteren) Seite 2 cm lang, bildete mit dem 
Schenkelschaft den normalen Winkel. Seine 
grösste Dicke beträgt 2 cm. An ihrem 
oberen Rande sass die Gelenkfläche fast 
ohne Hals dem Schaft an. Die Ränder 
des Kopfes fallen wie bei einem Pilz über 
den Hals herab. Der Knochendurchschnitt 
sieht gesund aus. Von einer früheren 
Fraktur ist nichts zu entdecken. 

Der weitere Verlauf war ein ungestörter 
und fieberloser. Der Gipsverband wurde 
nach 4 Wochen entfernt: Verband fast 
trocken, Hautwunde primär geheilt. Fäden 
und Drains werden entfernt. Oberschenkel 
steht ziemlich fest in leichter Abduktion 
und Aussenrotation. Anlegung eines neuen 
Gipsverbandes mit Extension. 

8 Wochen nach der Operation wird der 
neue Gipsverband entfernt. Die Wunde 

ist bis auf eine kleine Stelle, wo der Drain 
gelegen hatte, geheit. Das linke Bein ist 

5 cm kürzer, als das rechte. 

Rechts Links 
cm cm 

Umfang der Mitte des Ober¬ 
schenkels . 48 44 

Umfang oberhalb des Knies 38 37 

» der Schenkelbeuge . 57 54 

„ „ Wadendicke. . 31 30 

ln Rückenlage kann Patientin aktiv das 
Bein bei Streckung des Knies soweit heben, 
dass die Ferse 20 cm über der Unterlage 
ist; passiv kann es bis zu 1350 (mit der 
Wirbelsäule) in gestreckter, bis zu 100o 
in gebeugter Stellung des Knies gebracht 
werden (rechts 90°, bezw. 45°). Die Ab- 
duction reicht links passiv bis 125°, aktiv 
bis 110° (rechts 115° bezw. 110°). Die 
Aussenrollung ist links bedeutend weiter, 
die Innenrollung viel weniger weit möglich, 
als rechts. Grobe Kraft links viel geringer, 
als rechts. Beim Gehen wird die linke 
Beckenhälfte gesenkt, das linke Bein aussen- 
rotirt und abducirt. 

Original from 

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Mai 


219 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Die kleinere Fistel schloss sich nach 
Entfernung eines tiefens Fadens bald. Die 
weitere Behandlung bestand in Massage, 
Elektrizität, activen Bewegungen in Appa¬ 
raten, Gehübungen. 

4 Monate nach der Operation konnte 
die Kranke mit einem Schuh mit hoher 
Sohle ohne jede Beschwerde und ohne 
Stotze den ganzen Tag Ober umhergehen, 
Treppen steigen, Haushaltungsarbeiten ver¬ 
richten. Das vorher stark atrophische Bein 
nahm an Umfang auch schnell zu. 

Ich habe die Patientin dann leider aus 
den Augen verloren. 

Das Resultat war, dank der streng 
durchgefQhrten Asepsis und dem guten 
Allgemeinzustand der Kranken, ein sehr 
gutes. Man könnte einwenden, dass die 
Resection des Kopfes nicht nöthig gewesen 
wäre, und wirklich habe ich mich auch 
erst bedacht, denselben zu reseciren. Aber 
die Veränderungen an Kopf und Pfanne 
waren zu gross. Namentlich bewog mich 
der Umstand, dass der obere Rand des 
Acetabulum ganz fehlte und dass ich bei 
einer Aushöhlung von etwa 1 cm Tiefe 
mich schon auf dem Boden der alten Pfanne 
wähnte, den Kopf zu reseciren. Ich fürchte, 
es wäre bald wieder zu einer Luxation 
gekommen. Allerdings hätte man den Kopf 
durch eine Reihe von Nägeln an der Stelle 
des oberen Pfannenrandes in der Pfanne 
festhalten können, wie das von Witzei 
empfohlen ist, aber Ober diese Methode 
fehlte mir jede Erfahrung, jedenfalls hätte 
das Resultat nach Belassung des Kopfes 
kaum besser sein können. Eine Osteoto¬ 
mie des Halses oder Trochanter, wie sie 
bei veralteter Luxation vorgeschlagen ist, 
kam im vorliegenden Fall natürlich nicht 
in Betracht. 

Sehr interessant war die ungeheure 
Erweiterung der Gelenkkapsel und die 
Vollkommenheit der neugebildeten Pfanne. 
Ein neues Lig. teres hatte sich nicht ge¬ 
bildet, wie das schon beobachtet wurde 
und von Volkmann in Thierversuchen be¬ 
stätigt wurde. Die alte Pfanne obliterirt 
sehr bald und zwar durch bindegewebige 
Massen, die mit der Zeit fast knochenhart 
werden, so dass man selbst mit dem Hohl- 
meissel Mühe hat, sie zu entfernen. Diese 
Schwarten scheinen in einigen Fällen von 
der metamorphosirten Kapsel abzustammen, 
doch glaube ich dies für den vorliegenden 
Fall ausschliessen zu können. 

Auch im vorliegenden Fall machte sich 
die Verkürzung der Muskulatur, die am 
Trochanter major und minor inserirt, sehr 
bemerklich. Sie ist in vielen Fällen eine 

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Erschwerung der Reposition. Namentlich 
kommen in diesem Sinne die Glutaei in 
Betracht. 

Am ehesten nach der Luxation hat 
Helferich operirt, nämlich nach 16 Tagen. 

Die längste Zeit, nahezu 2 Jahre, war in 
dem Fall von Karewski und von Payr 
verstrichen. Diese Zeit wird überholt von 
dem vorliegenden Fall, in dem reichlich 
4 Jahre seit der Luxation verflossen waren. 

Was die Operationsmethode anbelangt, 
so halte ich das Kocher’sche Verfahren 
für das beste: Es zerstört am wenigsten 
und giebt genügend Raum. Das Verfahren 
nach v. Mikulicz scheint mir wegen des 
Zuges der Glutaei am Trochanter unzweck¬ 
mässig; doch sind auch mit dieser Methode 
gute Resultate erzielt; sie scheint mir aber 
in Fällen mit starker Verkürzung gewagt. 

Die Nachbehandlung kann natürlich in 
verschiedener Weise geführt werden. Ist 
man seiner Asepsis sicher, so ist wohl 
Naht der Wunde mit Anlegung eines 
lockeren Gipsverbandes und Extension das 
zweckmässigste. Der Zug kann der Ein¬ 
fachheit halber an einem im Gipsverband 
befestigten, den Fuss überragenden Bügel 
ausgeübt werden mit Gummischläuchen 
oder Spiralfedern. In anderen Fällen, wo 
man den Verband bald wechseln muss, 
also vor allem da, wo die Wunde nicht 
genäht, sondern tamponirt wurde, wird 
man am besten einen einfachen Extensions¬ 
verband anlegen, da ein gefensterter Gips¬ 
verband doch viele Unannehmlichkeiten hat. 

Das Resultat der Operation hängt von 
dem Alter des Kranken, seinem Allgemein¬ 
befinden, der Beschaffenheit der Gelenk¬ 
theile und dem Wundverlauf ab. Bei 
frischen, traumatischen Luxationen jugend¬ 
licher Individuen kann man nahezu eine 
Restitutio ad integrum erzielen. Ist der 
Gelenkknorpel der Pfanne oder des Schen¬ 
kelkopfes zerstört, so ist natürlich das Re¬ 
sultat viel schlechter. Immerhin ist aber 
ein nur wenig bewegliches oder ankylo- 
tisches Bein in leichter Abduktion für den 
Träger bedeutend werthvoller, als ein 
luxirtes. Erfolgt die Heilung nicht per 
primam, so wird das Resultat dadurch na¬ 
türlich auch beeinträchtigt. Für die Be¬ 
weglichkeit des Gelenkes ist es auch von 
grosser Bedeutung, dass der Oberschenkel 
möglichst wenig skelettirt wird bei der 
Operation. Leider ist die völlige Skeletti- 
rung des Trochanter in schwierigen Fällen 
kaum zu umgehen. 

Litteratur: 

Gr aff, H., über die Spontanluxationen des 
Hüftgelenks im Verlauf von akuten Infektions- 

28 * 

Original frorn 

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Mai 


220 Die Therapie der Gegenwart 1903. 


kranklieiten. Deutsche Zcitschr. f. Chir. 1902. Luxationen des Hüftgelenks bei Erwachsenen. 

LXli. S. 588. — May dl. K.. die operative Deutsche Zeitschrift für Chir. 1900. LVII. 

Therapie irreponibler Hüftgelenksluxationen. S. 14. Hier auch die bis dahin erschienene 

Gasopis lekaru ceskyeh 1903. No. 1 und 2. — Litteratur. — Schoemaker. Reposition einer 

Payr, E , Verhandlungen d. deutsch. Ges. für veralteten pathologischen Hüftgelenksverren- 

Chir. 1901. — Payr, E., über blutige Reposition kung. Deutsche Zeitschrift für Chir. 1902, 

von pathologischen und veralteten traumatischen LX1I. S. 204. 


Ueber die Totalexstirpation des septischen puerperalen Uterus. 1 ) 

Von Dr. O. Fels-Frankfurt a. M. 


Das uns beschäftigende Thema stand 
auf dem 4. internationalen Congress für 
Geburtshilfe und Gynäkologie zu Rom zur 
Discussion. Der eine Referent (Fehling) 
fasste seinen Standpunkt in den Worten 
zusammen: „Die Hysterectomie des puer¬ 
peralen Uterus kann rationell nur empfohlen 
werden, wenn der Herd der Intoxication 
oder Infection auf den Uterus beschränkt 
ist, also bei Zersetzung durch Verhaltung 
der Placenta oder Theilen derselben, bei 
Verjauchung puerperaler Myome, bei ver¬ 
jauchten Eiresten nach Abort und Unmög¬ 
lichkeit der Entfernung derselben auf an¬ 
derem Wege. Die Indication hierzu wird 
demnach sehr selten vorhanden sein.“ 
Ganz in demselben Sinne äusserte sich 
auch der 2. Referent (Leopold). In der 
anschliessenden Discussion wurden eben¬ 
falls die Grenzen für die Vornahme der 
Operation eng gesteckt; darin war man 
jedoch einig, dass es Fälle geben kann, 
wo die Totalexstirpation das einzige Mittel 
zur Heilung der septischen Wöchnerin 
darstellt; es sind das hauptsächlich die 
Fälle totaler oder partieller Placentarreten- 
tion, wo es nicht möglich ist, die Nach¬ 
geburt auf natürlichem Wege zu entfernen. 

Ausgeführt wurde die Operation zuerst 
von B. S. Schultze, der 1886 einen septisch 
inficirten Uterus mitsammt der noch darin 
befindlichen Placenta supravaginal ampu- 
tirte und dadurch die Patientin rettete. 
Dieser berühmt gewordene Fall war fol¬ 
gender: es handelte sich um eine Früh¬ 
geburt im 7. Monat. Beim Versuch der 
Hebamme die Nachgeburt zu entfernen, 
wurde die Nabelschnur abgerissen. Der 
hinzugerufene Arzt fand die Cervix so 
eng, dass es unmöglich war zur Placenta 
zu gelangen. Der Uterus war am Fundus 
zweitheilig; nur ein Finger passirte die 
Strictur, die in das rechte Uterushorn, in 
dem die Placenta lag, führte. Dieselbe 
war fest adhärent, nur ein kleines, stin¬ 
kendes Stück derselben konnte mit dem 

*) Nach einem Vortrag, gehalten am 7. Marz 
1903 in der 1. Sitzung der niittelrhcinischen Gesell¬ 
schaft für Geburtshilfe und Gynäkologie. 


| Finger entfernt werden. Es wurde zu- 
| nächst abgewartet, jedoch stieg am 4. Tag 
! p. p. die Abendtemperatur auf 41,1°; es 
j traten Schüttelfröste auf, sowie die An¬ 
zeichen peritonealer Reizung. Man be¬ 
schloss die Laparotomie vorzunehmen. 
Schultze sagt: „als ich zur Laparotomie 
! schritt, schloss ich die Möglichkeit nicht 
| aus, diese als eine conservative, sozusagen 
Placentarkaiserschnitt, zu vollenden oder 
j mich mit Amputation der rechten Uterus- 
| hälfte zu begnügen. Am wahrscheinlichsten 
i war es, dass es nothwendig würde, den 
ganzen Uterus zu entfernen.“ Es wurde 
zunächst die die Placenta enthaltende 
Uterushälfte abgetragen, jedoch zeigte sich 
| auch die Entfernung der anderen Hälfte 
i nothwendig. Die Uteruswand war morsch, 

] ihr fauliger Zerfall reichte bis nahe an den 
. Peritonealüberzug. Die Stümpfe wurden 
i in die Bauch wand eingenäht; die Patientin 
fieberte noch einige Zeit, genas aber dann. 

; In den Fällen von Stahl 1 ) handelte es 
I sich um einen myomatösen puerperalen 
Uterus mit beginnendem Zerfall der My¬ 
ome; es wurde auch hier die supravaginale 
Amputation mit glücklichem Ausgang vor¬ 
genommen. 

Die 3. Beobachtung über unseren Gegen¬ 
stand rührt von Sippel 2 ) her. Es lag 
eine septische Endometritis infolge Zer¬ 
setzung zurückgebliebener Placentarreste 
vor; andere Maassnahmen, die Nachgeburt 
zu entfernen, waren ohne Erfolg gewesen, 
bis die supravaginale Amputation mit extra¬ 
peritonealer Stielversorgung Heilung 
brachte. 

Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, 
alle einschlägigen Fälle der Reihe nach 
aufzuzählen, sondern ich werde den von 
mir beobachteten Fall vortragen, um dann 
daran anschliessend und an der Hand der 
vorliegenden Litteratur die Indicationen 
für den Eingriff darzustellen: Es handelt 
sich bei meiner Beobachtung um einen 
Abort. Die Frau hatte, als ich kam, einen 

*) Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie, 
Gcdenkschrilt, f. A. Heger, Stuttgart 1899. 

y i Centralblatt für Gynäkologie, Bd. 19. 


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Gck igle 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


221 


Schüttelfrost, 40o Temperatur, 140 Pulse 
und machte einen verfallenen Eindruck. 
Die Grösse des Uterus dem 3. Monat 
der Gravidität entsprechend, Muttermund 
geschlossen; es geht etwas Blut ab. Tam¬ 
ponade der Scheide, Ueberführung in die 
Klinik. Am nächsten Morgen betrug die 
Temperatur 36,6°, Puls 125. Es wird in 
Narkose mit Hegarstiften dilatirt und der 
Fötus leicht entfernt. Es gelingt jedoch 
nicht, die Placenta von der Uteruswand ab¬ 
zuschälen, da der Finger nicht in die Grenz¬ 
zone zwischen Placenta und Uteruswand 
gelangt, sondern sich in die Muskulatur 
einwühlt. Auch der Versuch, die Placenta 
mit einer Abortzange zu entfernen, miss¬ 
lingt, nur einzelne Stücke werden heraus¬ 
befördert. Unter diesen Umständen muss 
auch von der Anwendung der Curette Ab¬ 
stand genommen werden. Es wird nun 
mit Lysol ausgespült und mit steriler Gaze 
tamponirt, in der Hoffnung, dass sich die 
zurückgelassenen Placentarreste vielleicht 
spontan eliminiren. Eisblase. Opium. Am 
nächsten Morgen ist die Temperatur 38,2. 
Puls 120, Abends 37,9, Puls 130. Ich ent¬ 
schlösse mich abzuwarten, zumal keine 
peritonitischen Erscheinungen vorhanden 
sind. Am nächsten Morgen ist die Tempe¬ 
ratur 39°, Puls 135, der Gesammteindruck 
nicht gut, namentlich ist die Qualität des 
Pulses gering, jedoch besteht keine Peri¬ 
tonitis. Es wird nun der 2. Versuch ge¬ 
macht, in Narkose die zurückgebliebenen 
Placentarstücke zu entfernen, jedoch gelingt 
dies wiederum nicht, der Finger dringt tief 
in die Muscularis ein und die eingeführte 
Abortzange fährt ohne jedes Hinderniss 
durch den Uterus. Unter diesen Umstän¬ 
den, besonders im Hinblick auf das schlechte 
Allgemeinbefinden, wird sofort die vaginale 
Totalexstirpation mit Zurücklassen beider 
Ovarien angeschlossen, die leicht und glatt 
vor sich geht, die Bauchhöhle mit steriler 
Gaze drainirt Einige Stunden nachher 
sinkt die Temperatur auf 38° und Abends 
auf 37° ab, der Puls geht an demselben 
Tage noch auf 86 zurück. Während der 
Puls nun andauernd gut bleibt und vom 
4. Tag nach der Operation 100 nicht mehr 
überschreitet, gebraucht die Temperatur 
noch 8 Tage, um sich nicht mehr über die 
Norm zu erheben. Besonders bemerkens- 
werth ist bei Besichtigung der Temperatur¬ 
tabelle, dass sich der Puls viel eher als die 
Temperatur zur Norm senkte, worauf ge¬ 
stützt ich die Prognose günstig stellen 
konnte. 

An dem entfernten Uterus bot sich das 
Bild der putriden Endometritis. Die ganze 

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deciduale Auskleidung des Uteruscavum war 
in eine schwärzlich-grünliche, schmierige 
Masse verwandelt; man sieht zahlreiche 
Placentarstücke noch haften. Die Muscu- 
latur ist ausserordentlich weich, jedoch lässt 
sich nirgends Eiter aus den Gefässen aus- 
drücken. Besonders muss noch hervor¬ 
gehoben werden, dass keine Perforation 
des Uterus nachzuweisen, dass jedoch an 
manchen Stellen die Musculatur bis nahe 
an das Peritoneum aufgewühlt war. Bei 
der Färbung auf Bakterien im Schnitt fan¬ 
den sich mehr oder weniger zahlreiche 
Coccen in den Schichten der Mucosa. Je¬ 
doch finden sich die Bakterien nicht so 
massenhaft, wie man nach dem makro¬ 
skopischen Bilde erwarten durfte. Die 
tieferen Schichten des Uterus und be¬ 
sonders die Venen zeigen sich frei von 
Bakterien. 

Wenn wir der Operation ihre Berechti¬ 
gung zugestehen, und nach den vorliegen¬ 
den Erfahrungen können und müssen wir 
dies thun, so ist die wichtigste Frage die 
nach der Indicationsstellung. Wir können 
uns dabei nicht zu viel auf die vorliegenden 
Litteraturangaben verlassen, da viele Fälle 
ungenau publicirt sind. Im Grossen Ganzen 
ergeben sich aus den veröffentlichten Beob¬ 
achtungen ca. 50% Todesfälle (bei bis jetzt 
etwa 120 publicirten Fällen) 1 ). 

Pro.chownik 2 ) hat versucht, die Indi¬ 
cationsstellung klarer zu gestalten, indem 
er in den betreffenden Fällen regelmässig 
Blutculturen anlegte und nach dem positiven 
Ausfall (Streptococcen) die Anzeige zur 
Exstirpation erfüllt sah, selbstverständlich 
unter gleichzeitiger genauer klinischer Beob¬ 
achtung des Falles und in der Voraussetzung, 
dass der Process noch auf die Gebärmutter 
beschränkt sei. Wie spätere Nachunter- 
! suchungen jedoch ergaben, lässt uns gerade 
in schweren Fällen die bakteriologische 
Untersuchung des Blutes oft im Stich, so 
dass wir vor der Hand noch hauptsächlich 
auf die klinische Beobachtung angewiesen 
sind. 

Am Klarsten liegt unser Handeln vor¬ 
gezeichnet, wenn, wie in dem von uns mit- 
getheilten Falle, wir der sicheren Ueber- 
zeugung sind, dass der Herd der Intection 
einzig und allein auf den Uterus beschränkt 
ist und alle Versuche, die Ursache des Fie- 


*) Bemerkenswerth ist, dass die Fälle von Braun 
(Sitzg. der gyn. Gesellsch. Mai 1897). Gradenwitz 
^ Münch med. Wochenschr. No. 51, 1902, eine Beob¬ 
achtung) und Wype Ipma (Inaug.-Diss. Freiburg 
1895) innerlich während der Geburt nicht untersucht 
worden waren. 

®) Monatsschr. f. Geburtsh. Bd. IX, S. 761. 


Original from 

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222 


Die Therapie der 


bcrs zu beseitigen, vergeblich gewesen sind. 
In solchen Fällen — selten werden sie ja der 
Natur der Sache nach immer sein —, kann 
man mit Recht die Exstirpation des Uterus 
der Absetzung einer inficirten, nicht zu er¬ 
haltenden Extremität vergleichen. Wie an¬ 
geführt, gehören in dieses Gebiet: Pla- 
centarverhaltung, die auf andere Weise 
nicht zu beheben ist, in Puerperio ver¬ 
jauchte Myome, zersetzte Eireste etc., also 
solche Fälle, wo grösstentheils Sapro- 
phyten sich neben septischen Keimen im 
Uterus angesiedelt haben. Die Indication 
zur Entfernung des Uterus wird nur in 
vereinzelten Fallen gegeben sein, und mit 
Recht hat ein Redner (Treub) in der 
Discussion zu Rom gesagt: „Derjenige, der 
in diesen Fällen die Operation häufig aus¬ 
führt, operirt sicherlich zu viel“. 

Wenn wir jedoch auf Grund genauer 
Beobachtung die Ueberzeugung haben, 
■dass alle conservativen Hilfsmittel erschöpft 
sind, so dürfen wir bei diesen so traurig 
liegenden Fällen den Eingriff nicht unter¬ 
lassen, wenn auch dadurch die Frau ver¬ 
stümmelt und sterilisirt wird. 

Eine Publikation (aus der Klinik Döder- 
lein’s) von Baisch 1 ) erwähnt einen Fall, 
wo es infolge eines Totalprolapses zur 
Frühgeburt kam; die Portio war mit stark 
secernirenden Erosionen besetzt, infolge 
dessen kann es unter der Geburt zur In- 
fection des Uteruscavum. Da bei der Ri¬ 
gidität und Länge der Cervix auf eine 
spontane Entbindung nicht gerechnet wer¬ 
den konnte, so wurde die Totalexstirpation 
des kreissenden Uterus mit bestem Erfolge 
vorgenommen. 

In jüngster Zeit ist man über diese, 
wohl allgemein anerkannte Indication hinaus¬ 
gegangen, indem man früheren Vorschlä¬ 
gen Sippel’s und Freund's folgend, bei 
der puerperalen Pyämie, d. h. bei der sep¬ 
tischen Thrombose der Uterus- und Becken¬ 
venen chirurgisch eingriff. Es herrscht 
dabei der Gedanke vor, durch Beseitigung 
der primären, septischen Thromben und 
durch Unterbindung der ableitenden Ve¬ 
nenstämme die Gefahren der Erkrankung 
(Verschleppung der Thromben, Allgemein- 
infection) zu beseitigen. 

T rendelenburg 2 ) ging bei der Behand¬ 
lung der puerperalen Pyämie von derselben 
Ueberlegung aus, die zur operativen Be¬ 
handlung der otitischen Pyämie führte. 
Er schlägt ein extraperitoneales Verfahren 
vor wie zur extraperitonealen Unterbindung 

J ) Beiträge z. Geburtsh. u. Gyn. Bd. 6, 3. Heft. 

u j Münch, med. Wochenschr. 1902, No. 13. 

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Gegenwart 1903. Mai 


der A. iliaca externa, das Parametrium wird 
entfaltet und nach Thromben in den Venen 
des Parametrium gesucht. Finden sich 
solche, so sind sie auszuräumen und V. 
hypogastricae und spermaticae zu unterbin¬ 
den. Eventuell hat man sich nur auf die 
Unterbindung der grossen Venenstämme 
zu beschränken. Da doppelseitige Throm¬ 
bose doppelt so häufig als einseitige ist, 
so empfiehlt es sich zunächst, beide Hypo¬ 
gastricae zu unterbinden, und die Sperma- 
tica, wenn sie keine Thromben enthält, 
unberücksichtigt zu lassen. Bei wiederholtem 
Schüttelfrost ist nach Trendelenburg 
die Berechtigung zum Eingriff gegeben. 
Auch bei der chronischen Form der Pyä¬ 
mie sind noch Erfolge mit dieser Methode 
zu erzielen, wie folgender Fall Trendelen¬ 
bur gs beweist: Abort im dritten Monat, 
Ausräumung, darauf Fieber und Schüttel¬ 
fröste. Nach 14 Tagen Eröffnung eines 
Abscesses im Lig. lat. von der Vagina aus. 
Die Fröste dauern an, leichte Pleuritis. 
Daraufhin doppelte Unterbindungund Durch¬ 
schneidung der rechten V. hypogastrica 
vor ihrer Vereinigung mit der V. iliaca 
ext. Die nächsten zehn Tage tritt kein 
Frost ein. Dann wieder Fröste, Kräfte¬ 
verfall, Gewicht sinkt bis 30 kg. Darauf¬ 
hin: Freilegen der rechten V. spermatica. 
Resection eines 5 cm. langen Stückes, das 
thrombosirt ist. Von jetzt an tritt kein 
Frost mehr auf. Es wird nach einigen 
Tagen ein subcutaner, metastatischer Ab- 
scess in der rechten Scapulargegend er¬ 
öffnet, dann Genesung.“ 

In neuester Zeit ist auf die Veröffent¬ 
lichung Trendelenburgs eine Arbeit von 
Bucura 1 ) erschienen, der an dem Ma¬ 
teriale der Klinik Chrobak nachweist, 
dass zwei und mehr Schüttelfröste nicht 
nur bei Pyämie, sondern auch bei andern 
puerper alen Erkrankungen (Parametritis, 
Endometritis etc.) Vorkommen, dagegen 
werden mehr als fünf Schüttelfröste nur 
bei Pyämie beobachtet. Ausserdem giebt 
es auch Pyämie ohne Fröste. 

Demnach wird man nicht ohne weiteres 
dem RathTrende lenburg’s folgen können 
und sich nach dem zweiten Schüttelfrost 
zu einem operativen Eingreifen entschliessen, 
zumal wir trotz zahlreicher Schüttelfröste 
noch Heilungen von Pyämie eintreten 
sehen. 

Der Vorschlag Trendelenburgs ist, 
besonders was die chronische Pyämie an¬ 
langt, für uns von grösstem Interesse; ein 

*) Monatsschr. f. Geburtsh. u. Gyn. Bd. XVI, 
Heft 4. 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 






Mai 


223 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 

abschliessendes Urtheil Ober den Werth jetzigen Anschauungen unter den ange- 
des Verfahrens werden wir jedoch so bald gebenen Anzeigen ein Verfahren, das bei 
noch nicht abgeben können. strenger Indicationsstellung wohl im Stande 

Die Exstirpation des puerperalen, sep- sein kann, ein sonst verlorenes Leben zu 
tischen Uterus jedoch ist nach unsern retten. 

Aus der Universit&ts-Olireiikliiiik der Königlichen Charite in Berlin. 

(Director: Geh. Rath Prot Dr. Passow). 

Das Yohimbin (Spiegel) als lokales Anästheticum, besonders 
in der Behandlung der Ohren- und Nasenerkrankungen.') 

Von Dr. Haike. Assistent der Klinik. 


Ich möchte Ihnen über Versuche mit 
einem Anästheticum berichten, das Ihnen 
durch andere arzneiliche Wirkungen be¬ 
reits bekannt ist Das Yohimbin, das von 
Spiegel aus der Rinde des in Süd-Kame¬ 
run wachsenden Yohimbehe-Baumes als 
reines Alkaloid isolirt worden ist, wurde 
von Oberwarth auf seine allgemeinen 
Wirkungen und von Löwy auf seine Ein¬ 
wirkungen auf den Geschlechtsapparat an 
Thieren studirt und ist auf Grund dieser 
Versuche seit längerer Zeit unserem Arz¬ 
neischatz als Aphrodisiacum in der Form 
des salzsauren Salzes einverleibt. 

Meine Versuche begann ich, angeregt 
durch eine mündliche Mitteilung des Herrn 
Prof. Löwy von der landwirtschaftlichen 
Hochschule, über eine von ihm beobachtete 
Wirkung, dass nämlich Thiere, denen man 
die Nasenschleimhaut mit einer Lösung 
von Yohimbinum hydrochloricum pinsle, 
auf Einathmen von Ammoniak nicht mehr 
mit Athemstillstand, wie sonst, reagirten, 
sondern völlig ungestört weiter athmeten. 
Dieser Vorgang, welcher auf eine anästhe- 
sirende Wirkung hinwiess, veranlasste Prof. 
Löwy zusammen mit Herrn Dr. Franz 
Müller, diese Eigenschaften des Yohim¬ 
bins durch physiologische Versuche weiter 
zu studiren, deren Ergebnisse jüngst in 
einem Vortrag in der physiologischen Ge¬ 
sellschaft mitgeteilt worden sind, während 
ich inzwischen die praktische Verwerthung 
des Präparates prüfte, wozu mir Herr Prof. 
Löwy freundlichst ein kleines Quantum 
desselben überliess. 

Die Ergebnisse meiner Versuche möchte 
ich Ihnen in Folgendem mittheilen: 

Die Stärke der Lösung war vorge¬ 
schrieben durch die sehr geringe Löslich¬ 
keit des salzsauren Yohimbins in Wasser, 
sodass ich zunächst nur eine 1 % ige Lö¬ 
sung zur Verfügung hatte. Diese versuchte 
ich an der Conjunctiva und erreichte durch 

*) Vortrag, gehalten in der Sitzung der Berliner 
otologischen Gesellschaft am 10. März 1903. ; 

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die Einträuflung einiger Tropfen völlige 
Anästhesie nach etwa 10 Minuten unter 
Eintritt einer Hyperämie. Danach begann 
ich die Versuche an Nase und Ohr, zu¬ 
nächst ohne den erwarteten Erfolg. Die 
Lösung, welche die Conjunctiva empfindungs¬ 
los machte, welche die Nerven der Nasen¬ 
schleimhaut gegen die Einwirkung des 
Ammoniaks abstumpfte, genügte nicht zur 
Anästhesie gegen Berührung, noch viel 
weniger gegen Schmerzeinwirkungen. Eben¬ 
so verhielt es sich mit der Schleimhaut des 
Mittelohrs. Deshalb erneuerte ich die Ver¬ 
suche mit einer Lösung, die ich durch Zu¬ 
satz von Alkohol concentrirter machte, 
so zwar, dass ich eine 1,5°/o ige Yohimbim- 
lösung in 30 % igem Alkohol erhielt. 

Diese wirkte vorzüglich anästhesirend 
auf die Schleimhaut des Mittelohres und 
auch auf das Trommelfell, wenn die Epi¬ 
dermis gelockert war, aber sie war auf der 
Schleimhaut der Nase nur dort anwendbar, 
wo nicht der Alkohol, was ja gewöhnlich 
der Fall, unangehmes Brennen verursachte. 

Aus diesem Dilemma brachte mich die Er¬ 
fahrung, dass mit kochendem Wasser auch 
2% ige Lösungen herzustellen seien, und 
mit diesen habe ich auch für die Nase die 
völlig anästhesirende Wirkung erreicht, 
wenigstens an der Oberfläche, in einer ge¬ 
wissen Tiefe scheint auch diese Concentra- 
tion nicht absolute Anästhesie hervorzu¬ 
rufen, denn beim tiefen Kauterisiren wurde 
etwas Schmerz empfunden, obwohl die 
Patienten gegen Aetzungen, z. B. mit Tri- 
chloressigsäure, unempfindlich blieben. 

Da wir nun in dem Cocain ein so vor¬ 
zügliches Anästheticum besitzen, fragt es 
sich, ob das Yohimbin Eigenschaften hat, 
die seine Verwerthung neben ihm oder statt 
desselben erwünscht machen. 

Wir kennen neben den Vorzügen des 
Cocains als seinen bedenklichsten Nachteil 
seine Giftigkeit, die nicht bloss von einer 
bestimmten Dosis aufwärts, sondern oft 
ganz unberechenbar schnell bei kleinsten 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



224 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Mai 


Dosen ihre fatale Wirkung auf das Herz 
übt, die wir uns nur durch Indiosynkrasie 
zu erklären vermögen. Eine ähnliche Ge¬ 
fahr scheint, so viel ich bis jetzt gesehen 
habe, das Yohimbin in der gewöhnlichen 
anzuwendenden Dosis nicht zu haben, und 
es wird uns deshalb immer dort sehr er¬ 
wünscht sein, wo wir durch Erfahrung die 
Intoleranz gegen Cocain festgestellt haben 
oder wo, wie bei Kranken und Schwäch¬ 
lichen, von vorn herein eine ungünstige 
Cocainwirkung zu befürchten steht. Wie 
Yohimbin von Kindern vertragen wird, 
habe ich an einer grösseren Zahl noch 
nicht feststellen können. In den ange¬ 
wandten Fällen habe ich Nachtheile nicht 
beobachtet. 

Ein zweiter wichtiger Unterschied gegen¬ 
über dem Cocain ist das Ausbleiben einer 
Anämisierung der Schleimhäute, die uns 
ja vielfach sehr erwünscht, oft aber durch¬ 
aus unerwünscht ist und uns gerade des¬ 
halb in manchen Fällen, in denen wir die 
Anästhesie brauchten, auf das Cocain ver¬ 
zichten lässt, so beim Entfernen von hyper¬ 
trophischen hinteren Muschelenden, die uns 
oft unter Cocain fast vollständig verschwin¬ 
den und für die Schlinge oder Zange dann 
schwer zu fassen sind. Ebenso ergeht es 
uns beim Entfernen kleiner Granulationen 
und Polypen aus dem Gehörgang und dem 
Mittelohr. Für diese Fälle ist uns ein 
Anästheticum, das die Gewebe nicht durch 
Anämisirung zum Schrumpfen bringt, sehr 
willkommen, und diese Postulate erfüllt das 
Yohimbin. 

Ueberall da, wo wir aber die anämisi- 
rende Wirkung nicht entbehren mögen, 
können wir die Vorzüge des Yohimbin doch 
verwerthen, indem wir die Anämie durch 
Nebennierenextrakt herbeiführen. Die Eigen¬ 
schaften dieser beiden Substanzen vereini¬ 
gen die Vorzüge des Cocains, ohne dessen 
nachtheilige Wirkungen zu haben. 

Ueber die Anwendungsweise im Einzel¬ 
nen möchte ich Folgendes bemerken: Die 
Lösung wird am besten frisch bereitet, mit 
kochendem destillirtem Wasser, wenn sie 
sich auch wochenlang halten kann, beson¬ 
ders unter einem Zusatz von einem Tropfen 
Chloroform. Sie muss in dunklen Flaschen 
aufbewahrt werden. Ihre Wirksamkeit 
scheint am schnellsten und intensivsten ein¬ 
zutreten in 1,5% iger Lösung in 30%igem 
Alkohol, und so wende ich sie stets im 


Ohr an. In der Nase, deren Schleimhaut 
den Alkoholzusatz unangenehm empfindet, 
ist die 2°/ 0 ige wässrige Lösung am wirk¬ 
samsten und für Aetzungen und oberfläch¬ 
liche Kauterisation anzuwenden. Bei tiefen 
Kauterisationen scheint sie mir nicht bei 
allen Patienten wirksam genug zu sein. 

Ist eine völlige Anästhesie nicht noth- 
wendig, z. B. bei Sondenuntersuchungen 
der Nase und dem Katheterismus empfind¬ 
licher Patienten, sondern nur eine Herab¬ 
setzung der Empfindlichkeit, dann genügt 
eine 1 / 2 — 1 % ige Lösung. Das Präparat ist 
auch im Ohr schneller wirksam, wenn es 
eingepinselt, als wenn es eingeträufelt 
wird. Die Wirkung tritt etwa 3—5 Minuten 
nach der Einpinselung auf und hält 20—30 
Minuten an. Zu erwähnen bleibt noch die 
Dosierung. 

Innerlich sind V 2 —74 mg bisher gegeben 
worden, subcutan hat Eulenburg bis 2 cg 
3 mal täglich injicirt, ohne Nebenwirkungen 
von Belang zu sehen. Von der 2% igen Lö¬ 
sung würden etwa 6—24 Tropfen der Höhe 
der Einzeldosis entsprechen. An Neben Wir¬ 
kungen sind bei innerlichem Gebrauch 
Speichelfluss, Frösteln und Schweissaus¬ 
bruch vorübergehend beobachtet worden. 
Ich habe bei äusserlicher Anwendung 
des Mittels diese Erscheinungen niemals 
bemerkt. Ich selbst habe bei mir nach 
mehrfachen Pinselungen der Nase etwas 
Völle im Ohr verspürt, die etwa 10 Minuten 
andauerte. Von meinen Patienten ist mir 
Aehnliches nie mitgetheilt worden, auch 
aphrodisiastische Wirkungen scheinen durch 
die Pinselungen nie eingetreten zu sein. 

Natürlich wird wie bei der Behandlung 
von Nase und Ohr das Yohimbin (Spie¬ 
gel) auch auf die anderen Schleimhäute 
gleiche Wirkungen entfalten, von denen 
ich es nur bei der Conjunctiva habe prüfen 
können, an der es auch Magnani 1 ) in Turin» 
wie ich erst während meiner Versuche er¬ 
fuhr, schon vor längerer Zeit bei Operationen 
erprobt hat. 

Wie gross die Resorbirbarkeit des 
Mittels durch die Schleimhäute ist, und bei 
welchen Mengen der Pinselung etwaige 
Nebenerscheinungen auftreten können, wird 
uns, wie bei den meisten Mitteln, erst eine 
lange Anwendung und die Erfahrung Vieler 
von uns bringen können. 


Clinica modema 1902 No. 35. 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


225 


Zusammenfassende Uebersicht. 

Die neuesten Bestrebungen auf dem Gebiet der Nierenchirurgie.') 

Von weil. Prof. M. Schede-Bonn. 


Meine Herren! Seitdem in einem glück¬ 
lichen Zusammentreffen gerade im Beginn 
der antiseptischen Aera G. Simon durch 
seine so berühmt gewordene erste Exstir¬ 
pation einer functionirenden Niere den An- 
stoss dazu gegeben hatte, auch allerlei 
Nierenkrankheiten in das Bereich chirur¬ 
gischer Eingriffe zu ziehen, sind bekannt¬ 
lich in der kurzen Zeit von 3 Jahrzehnten 
diagnostisch und therapeutisch Fortschritte 
auf diesem bis dahin ziemlich stagnirenden 
Gebiete gemacht worden, die mit zu dem 
Ueberraschendsten gehören, was überhaupt 
jemals in irgend einem Zweige unserer 
Wissenschaft geleistet worden ist Die Ge¬ 
schichte dieser Entwicklung ist überreich 
an den interessantesten Momenten. Im 
Anfang bald vorsichtig zögernd und un¬ 
sicher tastend, bald über das Ziel hinaus- 
schiessend, schreitet die junge Wissenschaft 
zunächst nur langsam vorwärts. Die Si¬ 
mon* sehe Grossthat, die ihr das Leben 
gab, Qbte anfangs einen geradezu hypnoti- 
sirenden Einfluss, die Frage der Nieren¬ 
exstirpation war es eine Zeit lang, welche 
die neue Nierenchirurgie sehr einseitig be¬ 
herrschte. Zunächst freilich beschränkten 
ungenügende Methoden ihre Anwendung 
und beeinträchtigten die Erfolge. Als aber 
dieses Hinderniss überwunden war, als die 
breiten Flankenschnitte eventuell unter 
Zuhülfenahme von Rippenresectionen das 
Operationsgebiet ganz anders freigelegt 
hatten, als der alte Simon’sche Längs¬ 
schnitt, als für die ungefährlicheren retro- 
poritonealen Methoden auch die grössten 
Tumoren angreifbar und die gefährlicheren 
transperitonealen Methoden in den Hinter¬ 
grund gedrängt wurden, da verführte die 
naive Freude am operativen Können wohl 
Manchen, die Indicationen zur Exstirpation 


*) Gelegentlich des im vorigen Heft gebrachten 
Referates über die operative Behandlung des Morbus 
Brigbtii wurde ich aus dem Leserkreise darauf auf¬ 
merksam gemacht, dass der kQrzlich verstorbene 
Bonner Chirurg Geh. Rath Schede kurz vor seinem 
Tode in einem Vortrage im Aerzteverein des Reg.- 
Bezirk Cöln sich Ober die Edebohls’sche Operation 
geäussert habe. Durch das gütige Entgegenkommen 
der Angehörigen Scbede’s wurde mir dieser Vortrag 
zum Abdruck überlassen, der im Juli v. J. im Corre- 
spondenzblatt der ärztlichen Vereine in Rheinland und 
Westfalen erschienen ist. Jeder, der die ausgezeichnete 
Uebersicht liest, wird von schmerzlicher Trauer erfüllt 
sein, dass der Meister, welcher den Fortschritten seiner 
Kunst mit so feuriger Theilnahme folgte, uns so schnell 
entrissen worden ist. Der Herausgeber. 


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wesentlich weiter zu stellen, als sich einer 
reiferen Erkenntniss als zulässig erwiesen 
hat. Es kam die Periode, wo die Diagnose 
einer Hydronephrose, einer Steinniere stets 
schon an sich genügte, um die Indication 
für eine Exstirpation festzusetzen, und be¬ 
kanntlich ist selbst die Wanderniere eine 
kurze Zeit lang, wenn auch lange nicht all¬ 
gemein, einem gleichen Schicksal erlegen. 

Aber das dauerte nicht lange. Der 
Entwicklungsgang, den unsere ganze Chirur¬ 
gie durchgemacht hat, vollzog sich auch 
hier, diesmal aber in unglaublich kurzer 
Zeit. Das Gebiet der beraubenden Me¬ 
thode wurde nur erobert, um sofort wieder 
verlassen zu werden. Auf der ganzen 
Linie siegte die conservative Chirurgie. 

Man lernte, die Wanderniere zu flxiren, 
die Steine aus dem Nierenbecken und 
mitten aus dem Parenchym oder auch aus 
dem Ureter zu excidiren, bei Hydro- und 
Pyonephrosen durch kühn erdachte Opera¬ 
tionen das Abflusshinderniss zu beseitigen, 
Ureteren neu in das Nierenbecken oder in 
die Blase einzupflanzen, Resection und 
Nephrotomie an die Stelle der Nieren¬ 
exstirpation zu setzen. Schritt für Schritt 
verlor diese, die den ganzen Anstoss zu 
der mächtigen Bewegung gegeben hatte, 
an Terrain, und eine Fülle von feinen und 
genial ausgedachten Operationen trat an 
ihre Stelle, die es ermöglichten, in jedem 
einzelnen Falle zu erhalten, was irgend zu 
erhalten war. 

Eine so feine Differenzirung der Thera¬ 
pie hatte natürlich einen eben so feinen 
Ausbau der Diagnostik zur Voraussetzung. 

Zu den längst geübten Methoden der chemi¬ 
schen und mikroskopischen Nierenunter¬ 
suchung trat eine minutiöse Ausbildung der 
Palpation, die Cystoskopie, die isolirte Ge¬ 
winnung des Urins einer jeden Niere durch 
immer sicherer werdende Methoden, die 
functionelle Nierendiagnostik, die unter dem 
Namen der Kryoskopie zusammengefasste 
Gefrierpunktsbestimmung des Urins und 
des Blutes, die Durchleuchtung mit Röntgen¬ 
strahlen. Und mit der Verbesserung der 
diagnostischen Hülfsmittel und der thera¬ 
peutischen Wege hielten die Erfolge glei¬ 
chen Schritt. Eine mühsame und sehr 
verdienstvolle Zusammenstellung statisti¬ 
scher Daten, die kürzlich von Herrn Dr. 
Schmieden gemacht wurde, hatte das 
ebenso merkwürdige wie erfreuliche Er- 

29 

Original fro-m 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 




226 


Die Therapie der 


gebniss, dass, wenn wir die Mortalität der 
operativen Eingriffe im ersten Decennium 
der neuen Nierenchirurgie *= 1 setzen, wir 
dieselbe im zweiten Decennium auf 
im dritten auf 3 /s sinken sehen. Und das 
gilt von der Gesammtheit der Operationen 
so gut wie von jeder einzelnen. 

So ist die moderne Nierenchirurgie, zu 
der Simon vor kaum mehr als 30 Jahren 
den ersten Grundstein legte, heute ein 
stolzes Gebäude geworden, das wohl noch 
in manchen Theilen des inneren Ausbaues 
und der Ausschmückung bedarf, das aber 
doch längst unter Dach ist und auf festen 
Fundamenten ruhend als gesicherter Besitz 
betrachtet werden kann. 

Lassen Sie mich nun, meine Herren, 
nach diesem kurzen historischen Rückblick 
auf einige Fragen kommen, die in neuester 
Zeit aufgeworfen sind und vielleicht eine 
neue und bedeutsame Phase der Entwick¬ 
lung einzuleiten bestimmt sind. 

Ernstes Forschen auf irgend einem Ge¬ 
biet wird nicht immer dadurch belohnt, 
dass man Gesuchtes findet. Zuweilen er- 
giebt sich ganz etwas Anderes, zuweilen 
noch Vieles über das Gesuchte hinaus. 
Auch manche Bereicherungen unserer 
Kenntnisse auf dem Gebiete der Nieren¬ 
chirurgie sind mehr zufälliger Natur ge¬ 
wesen. 

So ist es den zahlreichen anatomischen 
Untersuchungen in vivo zu danken, dass 
unsere Anschauungen über die Ursachen 
der Nierenkolik viel reifer geworden sind, 
als früher. Wir wissen heute, dass sie 
nicht nur durch eingeklemmte Steine, son¬ 
dern durch jede rasch ansteigende Ver¬ 
mehrung der Kapselspannung ganz in 
gleicher Weise bedingt wird. Wir haben 
die verschiedensten Ursachen einseitiger 
Nierenblutungen kennen gelernt und wissen 
ihnen im Nothfall zu begegnen durch Be¬ 
seitigung von Abknickungen, durch Spal¬ 
tung geschrumpfter Kapseln, durch Nephro¬ 
tomie. Wir haben gelernt, dass es eine 
Reflexanurie giebt, der Art, dass eine 
ganz gesunde Niere plötzlich aufhören 
kann, Urin zu secerniren, bloss deswegen, 
weil irgend ein Reiz, z. B. die Einkeilung 
eines Steines, die sympathischen Nerven 
der andern trifft; und wir wissen, dass die 
Beseitigung dieses einseitigen Reizes ge¬ 
nügt, um sofort die Function beider Nieren 
wieder herzustellen. Einige neue Erfah¬ 
rungen scheinen darauf hinzudeuten, dass 
das chirurgische Messer auch andere Ur¬ 
sachen der Anurie und Oligurie zu besei¬ 
tigen im Stande ist, und auf diese Beobach¬ 
tungen, die eine neue Perspective für eine 


Gegenwart 1903. Mai 


erfolgreiche Therapie mancher bisher hoff¬ 
nungsloser Fällen zu eröffnen scheinen, 
möchte ich Ihre Aufmerksamkeit einen 
Augenblick lenken, da es gerade hier 
wesentlich von der gemeinsamen Arbeit 
der inneren Aerzte und der Chirurgen ab- 
hängen wird, festzustellen, wie weit solche 
Hoffnungen berechtigt sind. 

Das Thema wurde unter dem Titel: 
Renal Tension and its treatment by surgi- 
cal means — Nierenspannung und ihre Be¬ 
handlung durch chirurgische Mittel — von 
Reginald Harrison im vergangenen Jahre 
zum Gegenstand seiner Präsidentenrede in 
der Londoner Medical Society gemacht, 
nachdem er schon 1896 seine ersten Beob¬ 
achtungen in dieser Richtung veröffent¬ 
licht hatte. 

Harrison theilte zunächst eine Anzahl 
von Fällen mit, die das Gemeinsame hatten, 
dass einseitige Nierenerkrankungen Vorlagen 
mit Albuminurie, Hämaturie, einseitigen, 
theils dauernden, theils zu kolikartigen 
Anfällen sich steigernden Schmerzen und 
auffallender Herabminderung der Nieren- 
secretion. Die klinischen Symptome waren 
zum Theil so heftige, dass Nierensteine 
oder Nierenabscesse diagnosticirt wurden 
und Harrison sich auf Grund solcher An¬ 
nahmen zu chirurgischen Eingriffen ent¬ 
schloss. Und die Incision legte so extrem 
gespannte und geschwollene, purpurrothe 
oder blaurothe Nieren bloss, dass auf den 
ersten Blick erst recht an Nierenabscesse 
gedacht wurde. Eine Incision, eine Nieren¬ 
spaltung entleerte reichlich Blut und Urin, 
liess aber weder Steine noch Abscesse 
entdecken. Indess sofort nahm die Nieren- 
secretion zu und stieg eventuell in Zeit 
von 24 Stunden auf das Doppelte des 
früheren; die Schmerzen und bald auch die 
Albuminurie Hessen nach, urämische Symp¬ 
tome verschwanden und die Patienten 
wurden gesund. Und der Verlauf war ganz 
derselbe, mochten nun die bedrohlichen 
Erscheinungen sich an Scharlach, Influenza, 
wiederholte Erkältungen oder an ein Trauma 
angeschlossen haben. 

Harrison zog aus seinen Beobachtun¬ 
gen den Schluss, dass die extreme Span¬ 
nung der Kapsel und die dadurch herbei¬ 
geführte Stauung die Rückbildung eines 
Entzündungsprocesses wie dieUrinsecretion 
zu hindern im Stande sei. Er gewann die 
Ueberzeugung, dass Aufhebung der Span¬ 
nung durch Incision der Niere genüge, 
um dem Entzündungsprocess die Tendenz 
zur Heilung zu geben und die Harnsecre- 
tion wieder in Gang zu bringen. Er fand 
ferner, dass es genüge, eine Niere zu in- 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



227 


Mai Die Therapie der 


cidiren, um auch die andere zu entlasten. 
Ja, selbst die günstige Rückwirkung solcher 
Entlastung auf schon entwickelte Herzhyper¬ 
trophie konnte in einem Falle demonstriert 
werden. 

In praktischer Beziehung schlägt Har- 
rison vor, diese Erfahrungen in erster 
Linie bei der acuten Scharlachnephritis zu 
verwerthen, und zwar erstens dann, wenn 
dieselbe nicht in der normalen Zeit zurück¬ 
geht, sondern in den chronischen Morbus 
Brightii überzugehen droht, und zweitens 
und ganz besonders dann, wenn im acuten 
Stadium eine Suppressio urinae auftritt 
und Urämie droht oder beginnt. 

Der wohlthätige Einfluss der Nieren¬ 
spaltung auf entzündliche Processe der 
Niere ist seit Harrison’s erster Mitthei¬ 
lung vielfach constatirt worden. Auf die 
bekannte Arbeit von James Israel, der 
die Nierenspaltung besonders bei Haemat- 
urien und Nierenkoliken in Anwendung 
zog, will ich hier nur im Vorübergehen 
hinweisen. Aber wichtige neue Bestätigungen 
und Erweiterungen jener Erfahrungen 
brachte die letzte Sitzung der französischen 
Gesellschaft für Urologie, in welcher 
Loumeau und Reyn£s von Marseille, 
vor allem aber Pousson eine Reihe von 
einschlägigen Erfahrungen mittheilten. In 
den Fällen von Loumeau, von Reyn£s 
sowie in dem einen von Pousson handelte 
es sich um Zustände, die als acute Con- 
gesdon einer Niere beschrieben werden 
mit so starker Spannung und palpabler 
Vergrösserung, dass man eine Pyonephrose 
diagnosticirte. Die Freilegung und Spal¬ 
tung bewies, dass es sich nur um ganz 
ungewöhnliche Congesdonszustände ge¬ 
handelt hatte. In allen Fällen wurde der 
bludge und eiweisshaltige Urin wieder 
normal und die beängsdgende Oligurie 
hörte auf. 

Noch interessanter waren vier weitere 
Fälle Pousson’s. In diesen handelte es 
sich theils um chronischen Morbus Brightii, 
theils um Schrumpfnieren, einseitige so¬ 
wohl wie doppelseitige. Schwere urämische 
Symptome, enorme Kopfschmerzen, be¬ 
ängstigendes Sinken der Urinsecretion be¬ 
stimmten Pousson zur Nephrotomie, die 
stets, auch in den doppelseitigen Fällen, 
nur einseitig ausgeführt wurde. Auch hier 
war der Erfolg zunächst immer ein über¬ 
raschend guter, insofern als die Urin- 
secredon sdeg, Kopfschmerzen und Oedeme 
schwanden und das subjective Befinden 
sich gewaltig besserte. 

Von ganz besonderer Wichtigkeit ist 
die Beobachtung Pousson’s bei einer 

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Gegenwart 1903. 


31jährigen Frau: Linksseitige Nieren¬ 
blutungen, Oligurie (700—800), urämische 
Symptome: Erbrechen, Kopfschmerz, Dys¬ 
pnoe, Sehstörungen. Nephrotomie. Urin¬ 
menge nach 48 Stunden 2000. Schnelle 
Besserung! 

Diese Besserung wich indess einer zu¬ 
nehmenden Verschlechterung, je mehr die 
Wunde heilte, Abermals stellten sich 
urämische Symptome ein. Da nun unter¬ 
dessen constatiert war, dass die rechte 
Niere gesund war, wurde die früher nur 
incidirte linke jetzt exstirpirt. Eine rapide 
Heilung erfolgte, die Urinmenge hielt 
sich dauernd auf 1600 und die Patientin 
genas vollkommen. Ihre völlige Gesund¬ 
heit wurde nach zwei Jahren und zehn 
Monaten festgestellt. 

Das neue und ausserordentlich Inter¬ 
essante an den Pousson’schen Mit¬ 
theilungen, was früher nicht in dieser 
Schärfe beobachtet war, sehe ich haupt¬ 
sächlich darin, dass sie die Existenz einer 
Reflexanurie beweisen, die nicht durch 
mechanische Verlegung der abführenden 
Wege ausgelöst wird, sondern gelegent¬ 
lich auch durch eine einseitige Nephritis, 
und dass dieser Reflex am sichersten auf¬ 
gehoben wird durch die Exstirpation 
der kranken Niere. 

Lassen Sie mich endlich noch kurz 
die Bestrebungen des verdienten New- 
Yorker Arztes Edebohls erwähnen, die 
vielleicht die allerwichtigsten Fortschritte 
in der Therapie von Nierenkranken an¬ 
zubahnen erlesen sind. Edebohls machte 
die Erfahrung, dass von fünf nephritischen 
Wandernieren drei durch die Spaltung der 
Kapsel, die gelegentlich der Nephropexie 
vorgenommen wurde, dauernd zur Heilung 
gebracht wurden. 

Edebohls erdachte in Folge dessen 
eine Operation, die er „Decorticatio“ oder 
„Decapsulatio“ nennt, und die im Spalten 
und Abziehen etwa der halben Kapsel der 
nephritischen Niere besteht. Nur zweimal 
exstirpirte er die Kapsel ganz. Die so 
von der Kapsel entblösste Niere wurde 
dann angenäht. 

Im Ganzen wurden 18 operirt, 14 ein¬ 
seitig, 4 doppelseitig. 13 mal handelte es 
sich um interstitielle, 5 mal um parenchy¬ 
matöse Nephritis. Niemals trat ein Todes¬ 
fall, ausnahmslos dagegen Besserung ein. 
Von den neun Patienten, bei denen seit 
der Operation mehr und zum Theil der 
beträchtlich mehr als ein Jahr vergangen 
war, waren acht völlig geheilt, die neunte 
ohne Frage sehr gebessert. Sie konnte 
später eine einseitige Nierenexstirpation 

29* 

Original from 

UN1VERSITY OF CALIFORNIA 



228 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Mai 


überstehen, um dann noch fünf Jahre zu 
leben. 

Meine Herren! Was jüngst noch Israel 
in seiner Kontroverse mit Senator als 
eine ganz ungerechtfertigte Unterstellung 
zurückwies, die Meinung, als erstrebe er 
eine chirurgische Behandlung des 
Morbus Brightii, das sehen wir bei 
Edebohls bereits klar und scharf aus¬ 
gesprochen in optima forma als bewusste 
und scharf pointirte Absicht mit der vollen 
Ueberzeugung nicht nur von der hypo¬ 
thetischen, sondern von der bereits be¬ 
wiesenen Möglichkeit des Erfolges. Ich 
kann jedes weitere Wort sparen, die un¬ 
geheuere Tragweite eines solchen Ge¬ 
dankens auszumalen. 

Wie kann man sich nun vorstellen, 
dass so merkwürdige Heilungen durch so 
einfache Mittel zu Stande kommen. 

Edebohls giebt auch dafür eine Er¬ 
klärung, der wir eine gewisse Berechtigung 
nicht absprechen können. 

Er erinnert an die weitgehende, uns 
allen ja bekannte Fähigkeit gesunden 
Nierenparenchyms, vicariirend die Funktion 
von zu Grunde gegangenem zu übernehmen. 
Wie eine eine ganze gesunde Niere ein- 
treten kann für den verloren gegangenen 
Paarling, der zurückgebliebene Nierenrest 
für den gesunden Theil, so können auch 
gesund gebliebene Theile einer erkrankten 
Niere durch Hypertrophie des übrigge¬ 
bliebenen noch funktionirenden Parenchyms 
die zu Grunde gegangenen Theile ersetzen. 
Die Möglichkeit einer vollkommenen 
Heilung des Morbus Brightii beruht zum 
Theil ohne Zweifel auf diesem Gesetz. 
Aber Bedingung ist, dass die Blutcirculation 
ungestört sei. 

Edebohls fand nun 3 mal bei Opera¬ 
tionen an Nieren, die früher einmal ange¬ 
näht gewesen waren, starke bindegewebige 
Cohäsionen zwischen Niere und Umgebung, 
die von zahlreichen und blutreichen Ge- 
fässen durchzogen waren. Alle arteriellen 
Gefässe hatten die Richtung nach der 
Niere, die Operation hatte also eine 
wesentliche Vermehrung der arteriellen 
Blut Versorgung für die Niere zur Folge 
gehabt. Diese ist es vermuthlich, die „eine 


allmähliche Resorption der interstitiellen 
und intertubulären Entzündungsproducte 
herbeiführt. Dadurch wird die Circulation 
wieder eine normale und die regenerative 
Neubildung von functionsfähigem Epithel 
wird möglich.“ — So die Worte Edebohls! 
Setzen wir an die Stelle der letzteren, 
bekanntlich unrichtigen, Vorstellung die 
Worte: „Die anatomische Hypertrophie 
und die functioneile Leistungssteigerung 
des erhalten gebliebenen secernirenden 
Parenchyms wird möglich“, so haben wir 
es in der That mit einer Vorstellung zu 
thun, die wir nicht berechtigt sind, in das 
Gebiet der Utopien zu verweisen. 

Wir werden Edebohls vielleicht bei¬ 
stimmen müssen, wenn er dabei an den 
günstigen Einfluss der Talma’schen Ope¬ 
ration auf die Lebercirrhose erinnert und 
die Meinung ausspricht, dass Adhäsionen 
zwischen Leber und Zwerchfell vielleicht 
auch noch mehr leisten werden, als bloss den 
Rückfluss des venösen Blutes zu erleichtern. 

Edebohls räth, einstweilen einmal 
jeden Morbus Brightii zu operiren, der 
nicht an unheilbaren Complicationen leidet 
und voraussichtlich mindestens noch einen 
Monat zu leben hat. Denn die günstige 
Wirkung der Decortication kann nicht vor 
dem zehnten Tage beginnen uud sich nur 
sehr langsam vollziehen. 

Meine Herren! Es würde zweifellos 
ein grosser Fehler sein, auf Grund der 
wenigen bisher vorliegenden Thatsachen 
allzu sanguinisch in die Zukunft zu sehen. 
Was aber vorliegt, ist doch ernst genug, 
um eine eingehende und sorgfältige Prü¬ 
fung zu verdienen. Erfüllt sich nur ein 
Theil von den Hoffnungen, die man an 
diese neueste Phase chirurgischer Eingriffe 
bei Nierenkrankheiten knüpfen kann, so 
stehen wir heute unzweifelhaft vor einem 
der grössten therapeutischen Fortschritte, 
die je auf dem Gebiete der Erkrankungen 
lebenswichtiger innerer Organe gemacht 
worden sind. 

Ihre Aufmerksamkeit auf diese neuen 
Anschauungen zu lenken, Sie um ihre 
thätige Mitwirkung bei der Prüfung auf 
ihren wahren Inhalt zu bitten, war der 
Zweck meines Vortrags. 


Bücherbesprech u ngen. 


F. Gumprecht. Die Technik der spe- 
ciellenTherapie. EinHandbuch für 
die Praxis. III Auflage 1903. G. Fischer, 
Jena. 8 Mk. 

Dass dieses Buch in einem Zeitraum 
von 5 Jahren 3 Auflagen erlebt hat, beweist 


am besten, dass es einem wirklichen Be- 
dürfniss des ärztlichen Publikums entgegen¬ 
gekommen ist. Die praktische und gefällige 
Form in der es geschrieben ist, hat zu 
seiner schnellen Verbreitung wesentlich 
beigetragen und so bedarf diese jüngste 


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Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 






Mai 


229 


Die Therapie der 


Auflage schon keines Wortes der Empfehlung 
mehr. Neu hinzugekommen sind die Kapitel 
über Brustschnitt mit Rippenresecdon über 
die Methoden zur Erzeugung von lokalen 
Anästhesien und über die Narkose. U. 

A. Albu. Die vegetarianische Diät; 

Kritik ihrer Anwendung für Ge¬ 
sunde und Kranke. Leipzig 1903. 

G. Thieme. 4 Mk. 

Wenn ich das Geständniss an die 
Spitze der Besprechung setze, dass ich 
das Albu’sche Buch in einem Zuge und 
mit anhaltendem Interesse bis zu Ende 
durchgelesen, so bedeutet dies mindestens 
eine Anerkennung der nicht langweiligen 
Factur desWerkchens. Weit entfernt von 
Phrasen und allzuscharf-schartigen Sätzen 
geht der Verfasser seiner im Titel gezeich¬ 
neten Aufgabe ebenso vorsichtig als sorg¬ 
fältig zu Leibe; gerade als Einer, der theore¬ 
tisch und praktisch Stoffwechselfragen be¬ 
herrscht, eignet sich Albu trefflich zum 
Verteidiger der wissenschaftlichen Diätetik 
gegenüber den unwissenschaftlichen An¬ 
griffen seitens der Vegetarianer. Ge¬ 
schichte, Litteratur, Umgrenzung der Be¬ 
griffe: Vegetarismus und Vegetarier bilden 
die allgemeine Einleitung; die sog. Beweis¬ 
mittel der Lehre, die sie sich aus allen 
Zweigen und Unterlagen der Geistes- und 
Naturwissenschaften, von der Entwicke- 
lungsgeschichle, insbesondere der ver¬ 
gleichenden, von der Urgeschichte und 
Physiologie bis zu ästhetisch - religiösen 
Bekenntnissen herbeiholt, werden ge¬ 
wissenhaft und objectiv geprüft und der 
Reihe nach widerlegt bezw. in ihrem oft 
so einfachen Kern aufgeklärt; ich nehme 
nur die klaren Auseinandersetzungen aus 
zwei so verschiedenen Gebieten wie die 
ethnologischen Grundlagen des Vegetaris¬ 
mus und ferner die oft behauptete Ueber- 
wertigkeit der vegetarischen Lebensweise 
für den Dauerlaufsport als besonders ge¬ 
lungene Theile heraus. — Im zweiten Theil 
werden an der Hand der eigener Er¬ 
fahrung des Verfassers die therapeutischen 
Indicationen, die Erfolge und auch die 
Misserfolge der von Albu lactovegetabil 
genannten Diät bei Neurosen sowohl bei all¬ 
gemeinen, als bei solchen des Magendarm¬ 
canals, bei Stoffwechselaffectionen etc. ge¬ 
schildert. — Mit einem zusammenfassenden 
Schlusswort und ausführlichen Litteratur- 
angaben (auch der populären Schriften) 
schliesst das 168 S. starke Werk, dem wir 
die beste Prognose auszustellen vermögen. 

B. Laquer (Wiesbaden). 


Gegenwart 1903. 

L. Freund (Wien). Grundriss der ge- 
sammten Radiotherapie für prak¬ 
tische Aerzte. 1903. Urban & Schwar¬ 
zenberg. Berlin-Wien. 12 Mk. 

Der Versuch, den der Verfasser unter¬ 
nahm „die Grundsätze einer neuen The¬ 
rapie dem Verständniss eines grösseren 
Kreises von Aerzten zugänglich zu machen 
und nicht nur die Techniken, die Indica¬ 
tionen und die voraussichtlichen Resultate 
der verschiedenen radiotherapeutischen Me¬ 
thoden in verständlicher Weise darzu¬ 
stellen, sondern auch durch Zusammen¬ 
fassung der fundamentalen physikalischen 
Gesetze, welchen die hier besprochenen 
Naturkräfte folgen, sowie deren soge¬ 
nannter physiologischer Wirkungen höhe¬ 
ren Ansprüchen gerecht zu werden“, muss 
als ein wohlgelungener bezeichnet wer¬ 
den. — Das Buch fördert die Verbreitung 
der Kenntnisse und der Vorkenntnisse 
über Strahlenbehandlung unter den prak¬ 
tischen Aerzten und damit auch die Mög¬ 
lichkeit, dass auch der Praktiker in diese 
Therapie sich einzuführen und sie auszu¬ 
üben vermag. 

Die Elemente der Elektricitätslehre 
werden im Kap. I behandelt. 

Kap. II umfasst die Behandlung mit 
Hochfrequenzströmen, ihre Indicationen; 
im Anhang wird auch die elektromagne¬ 
tische Permea-Behandlung geschildert. 

Kap. III schildert die Behandlung mit 
X-Strahlen, ihre Methoden,Heilanzeigen, die 
Vermeidung von Schädlichkeiten; Becquerel¬ 
strahlen Kap. IV, Phototherapie, Kap. V 
folgen; wir können das mit Autoren- und 
Sachregister versehene, treffliche Werk in 
jeder Hinsicht empfehlen. 

B. Laquer (Wiesbaden). 

E. Jaeobl. Atlas der Hautkrankheiten 
mit Einschluss der wichtigsten 
venerischen Erkrankungen für 
praktische Aerzte und Studirende. 
I. Abtheilung. Berlin-Wien bei Urban 
& Schwarzenberg. 1903. Preis 12,50 M. 

Kaum in einem anderen Zweig der 
praktischen Medicin ist das Bedürfniss 
nach guten Bildwerken so gross wie in 
der Dermato - Syphilidologie. Bei dieser 
Specialität, wo es aufs Sehen in aller¬ 
erster Linie ankommt, kann eine gute Ab¬ 
bildung dem Verständniss förderlicher sein, 
als ausführliche und eingehende Beschrei¬ 
bungen. Wir besitzen nun zwar schon 
eine Anzahl Atlanten. Allein dieselben sind, 
wenn sie gut sind, so theuer, dass der 
Praktiker nicht auf sie recurriren wird, oder 
sie sind wohlfeil, dann aber meistens doch 


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230 


Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


nicht allen Anfordei ungen an eine gute 
Reproduction vollkommen entsprechend. 
Der vorliegende Atlas, dessen erster Theil 
bisher erschienen ist, ist auf dem Wege 
einer der neuesten photomechanischen 
Methoden und zwar der von Dr. Albert in 
München erfundenen Citochromie herge¬ 
stellt worden. Die Bilder sind nach Mou¬ 
lagen angefertigt worden, welche der 
Breslauer, der Berliner Klinik, der Lassar- 
sehen Sammlung, dem Hospital St. Louis 
und einigen anderen Instituten entstammen. 
Die Auswahl der Bilder ist so getroffen, 
dass nicht gerade seltene, sondern die 
wichtigen und häufigen Dermatosen abge¬ 
bildet sind. Im zweiten Theil werden 
auch die venerischen Krankheiten in Be¬ 
zug auf ihre wichtigsten Erscheinungs¬ 
formen dargestellt werden. Die Repro¬ 
duction ist in der That ausgezeichnet; 
und es ist ein grosses Verdienst des 
Autors, das Verfahren in die medicinische 
Praxis eingeführt zu haben. Von jeder 
reproducirten Krankheit ist eine kurze, 


die wichtigsten Momente berücksichtigen¬ 
den Beschreibung gegeben. Wir haben 
einen Atlas, der von den bisher vorhandenen, 
wie Neisser mit Recht in dem Begleitwort 
hervorhebt, nur von dem grossen He bra¬ 
schen Atlas übertroffen wird. Keiner der 
kleineren Bildwerke erreicht ihn. Für den 
Praktiker, der fern von den medicinischen 
Centren gerade in dieser Specialität oft 
sich schwer orientiren kann, wird der Atlas 
ein gutes Hülfsmittel, für den Studirenden 
ein vortreffliches Nachschlagebuch sein zur 
Auffrischung des früher Gesehenen. Ich 
glaube, dass das Werk zur Verbreitung der 
Kenntnisse unserer Specialität, welche na¬ 
türlich durch einen Atlas allein nicht, son¬ 
dern durch eigene Anschauung gewonnen 
werden kann, die aber sehr durch ein 
gutes Bildwerk ergänzt werden, ausser¬ 
ordentlich fördernd sein wird. Es sei gerade 
denen, für die es bestimmt ist, den Studi¬ 
renden und dem praktischem Arzt empfohlen. 

Buschke (Berlin). 


Referate. 


Spontanzertrümmerungen von 
Blasensteinen sind ausserordentlich selten 
beobachtete Vorkommnisse. Ganz interessant 
ist eine Mittheilung von L. Görl (Nürnberg), 
der zufolge er einen solchen Vorgang in 
der Blase cystoskopisch controliren konnte. 
Bei einem Kranken, der an Steinbeschwerden 
und starker Fettsucht litt, konnte Verf. durch 
das Cystoskop einen grossen Harnsäure¬ 
stein (2:1 cm) in der Blase erkennen. 
Nach einer Entfettungscur waren die Stein¬ 
beschwerden verschwunden und es liess 
sich auch cystoskopisch feststellen, dass 
jetzt zwei erbsengrosse gleichmässig runde 
Steine vorhanden waren. Von diesen ging 
einer spontan ohneBeschwerden, der andere 
spontan aber unter Schmerzen ab und da¬ 
mit war die Blase concrementfrei. Nach 
Verfassers Meinung ist die Ursache dieser 
Lösung und Spontanzertrümmerung des Stei¬ 
nes in der Blase die veränderte Beschaffen¬ 
heit des Urins gewesen, die sich infolge 
der Entfettungskur bei gleichzeitigem Ge¬ 
brauch von Lithionwässern eingestellt hat. 

F. Umber (Berlin). 

(MQnch. med. Wochenschr. 1903, No. 14.) 

In einer der H. Neumannschen 
Poliklinik entstammenden Arbeit über 
rheumatische Chorea und ihre anti¬ 
rheumatische Therapie bestätigt 
Kobrak für seine Fälle zunächst den Zu¬ 
sammenhang des Leidens mit anderen 


rheumatischen Symptomen am gleichen 
Individuum, um weiterhin über die bei der 
Behandlung gesammelten Erfahrungen zu 
berichten. In 17 Fällen mit ausgesprochen 
rheumatischen Antecedentien oder Begleit¬ 
erscheinungen kam 11 mal Aspirin zur 
Anwendung, 9 mal war dabei ein Vergleich 
der Arsen- und Aspirinwirkung auf die 
Zuckungen möglich. 5 mal war Aspirin 
dem Arsen überlegen, 2 mal gleich, 1 mal 
sicher, 1 mal wahrscheinlich weniger wirk¬ 
sam. Im Ganzen wurde unter 11 Fällen 
9 mal gute Wirkung gesehen. Von 5 nicht 
mit Aspirin behandelten Fällen waren 4, 
bei denen Arsen gegeben wurde. Nur 
einmal war hier Erfolg zu sehen, 2 mal 
wurde daneben noch glycerinphosphor¬ 
saures Natrium versucht; beidemal mit 
gewissem, aber nicht sehr ausgesprochenem 
Nutzen, 1 mal wurde nur glycerinphosphor¬ 
saures Natrium gegeben, ohne überzeugen¬ 
den Erfolg. Bei den exquisit rheumatischen 
Fällen ist also Aspirin dem Arsen vorzu¬ 
ziehen. 

In 7 weiteren Fällen, wo Rheumatis¬ 
mus weder in Anamnese noch im weiteren 
Verlauf bemerkt war, zeigte sich Arsen 
5 mal exquisit wirksam. 2 mal leistete 
Aspirin mehr. 

Völlig wirkungslos steht Aspirin der 
Entwicklung von Herzfehlern gegenüber, 
ebenso Arsen. 

Neben den Medicamenten sind hydro- 


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231 


Mai Die Therapie der Gegenwart 1903 


therapeutische Maassnahmen, beruhigende 
Packungen, besonders Schwitzpackungen, 
täglich 1 mal Vormittags sehr nützlich. 
Die letzten sind zu unterlassen bei Herz¬ 
fehlern und schlecht genährten Blutarmen. 
Bettruhe ist nöthig. Zu hohe Aspirindosen 
sind nicht rathsam, Kobrak gab 3—4x0,5 
pro die. Finkeistein. 

(Archiv f. Kinderheilk. 36.) 

Vor einiger Zeit hat Dr. Focke (Düssel¬ 
dorf) in dieser Zeitschrift (1902, S. 44) darauf 
hingewiesen, wie sehr die Wirksamkeit der 
Digit&lisblätter durch Lagern abnimmt, 
so dass ein im Juli aus vorjährigen Blättern 
bereitetes Infus viermal schwächer wirkt 
als ein Infus, welches im selben Monat aus 
eben geernteten Blättern bereitet wird. In¬ 
zwischen hat Focke in einer andern Arbeit 
gezeigt (Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 46, 
S. 377), dass die in der Litteratur be¬ 
schriebenen Digitalisvergiftungen fast 
alle durch den Genuss von Infusen aus 
frischen Blättern zu Stande gekommen sind. 
Neuerdings hat der unermüdliche Autor 
sich in eigener experimenteller Thätigkeit 
der Werthbestimmungder Digitalisblätter 
zugewandt. Die von ihm angewandte 
Methode besteht in der Erschöpfung von 
2 g getrockneter und gepulverter Digitalis¬ 
blätter mit 24 ccm kochenden Wassers; 
das Filtrat wird auf 20 ccm gebracht und 
hiervon einem Frosch in den Oberschenkel- 
Lymphsack injicirt, bis systolischer Dauer- 
Stillstand des freigelegten Herzens eintritt. 
Der Giftwerth (V) besteht in dem Verhältniss 
von angewandter Dosis (d) und nothwendiger 
Zeit (t) zum Gewicht (p) des Frosches 

In Bezug auf die Verwerthbar- 

keit dieser Methode, welche für die hier 
in Betracht kommenden Verhältnisse ge¬ 
nügend brauchbar erscheint, macht Verf. 
selbst mehrere Einschränkungen, die event 
im Original nachzulesen sind. 

Fock es Untersuchungen erstrecken sich 
zuerst auf den Standort der Pflanzen. Er 
bestätigt die bekannte Thatsache, dass die 
in Gärten cultivirte Digitalis weit weniger 
wirksam ist als die wildgewachsene, und 
dass die Kraft der letzteren in sehr 
wechselnder Weise von ihrem Wuchsort 
abhängig war; in dem einen Jahr war eine 
Probe aus dem Harz besonders gut, im 
nächsten Jahr eine aus dem Schwarzwald, 
im dritten Jahre eine aus einem andern 
Bezirk. Eine Gleichmässigkeit des Heil- 
werthes wäre nur dadurch zu erzielen, dass 
in Grosshandlungen verschiedene Posten 
aus verschiedenen Gegenden durcheinander- 

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gemischt werden. Ferner wurde das Ent¬ 
wickelungsstadium der Pflanzen studirt; 
am wirksamsten sind die Blätter aus der 
Zeit des Blühens, wie denn auch die ältere 
Pharmacopoe folia e plantis florescentibus 
verlangt; es blühen aber die zweijährigen 
Pflanzen in den ersten Julitagen, die ein¬ 
jährigen Anfang August. — Neue Versuche 
bestätigten die Erfahrung des „Alterns“ der 
getrockneten Digitalisblätter in den Apo¬ 
theken, sodass sie im Laufe eines Jahres 
den grössten Theil ihrer Wirksamkeit ver¬ 
lieren. Meist tritt die Zersetzung schon in 
den ersten Wochen auf; eine Probe verlor 
69% ihres Giftwerthes in 3 Wochen, eine 
andere 76 % in 2s/ 4 Monat u. s. w. Hier¬ 
bei war nicht etwa das Licht wirksam, 
sondern nur die Feuchtigkeit der Blätter, 
die beim Trocknen zurückgeblieben oder 
beim Aufbewahren wieder eingedrungen 
war. Focke verlangt danach — und er 
stimmt darin vollkommen überein mit den 
Forderungen von Kobert und A. Wolff 
(diese Zeitschr. 1902, S. 424), dass in den 
Gross-Drogenhandlungen die Digitalisblätter 
sofort nach dem Eintreffen schnell soweit 
getrocknet werden sollen, dass der Wasser¬ 
gehalt unter 1,5 % betrage, dass hierauf 
bei gleichmässiger trockener Wärme die 
Blätter grob gepulvert und nun Quantitäten 
von verschiedenen Standorten gleichmässig 
gemischt werden. In den Apotheken sollen 
diese groben Pulver in kleinen Quantitäten 
(zu etwa 50 g) in luftdicht verschlossenen 
Gefässen aufbewahrt werden. Die Anregung 
Focke’s, dass so hergestellte Blätterpulver 
an Stelle der ganzen Blatter in die Phar- 
mokopoe aufgenommen werden sollten, 
verdient allgemeine Unterstützung. — Bis 
auf weiteres wäre den Aerzten zu empfehlen 
Digitalisblätter bekannter Herkunft zu ver¬ 
schreiben, die in ähnlicher Weise präparirt 
sind, also die Blätter von Siebert und 
Ziegenbein (Marburg) oder Brunnen¬ 
gräber (Rostock); auch das Digitalis- 
dialysat von Golaz, dessen Wirksamkeit 
experimentell geprüft ist, vei dient empfohlen 
zu werden. G. Klemperer. 

(Archiv d. Pharmacie 1903, S. 128.) 

Einen Beitrag zur Kenntniss des 
N.-Stoffwechsels bei Fettsucht der 
Kinder liefert Hellesen durch Bilanz¬ 
versuche bei einem 12V 2 jährigen, 48 kg 
schweren Mädchen aus mütterlicherseits zur 
Fettsucht neigender Familie. Die Versuche 
umfassen Perioden mit Erhaltungskost, 
Perioden mit starker und solche mit 
schwacher Unterernährung bei vorwiegen¬ 
der Verminderung einmal des Fettes, 

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232 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Mai 


andermal der Kohlehydrate. Es ergab 
sich zunächst in Bestätigung aller bisher 
bekannten Versuche, dass eine Herab¬ 
setzung des Stoff- oder Energieverbrauches 
auch bei diesem Kinde aus den Zahlen 
nicht herauslesbar war; der direkte Ver¬ 
gleich mit einem normalen, gleichaltrigen 
Mädchen zeigte übereinstimmenden Bedarf: 
Zwar verbrauchte das Vergleichskind pro 
Kilo 51,1 Kalorien gegenüber 43,4 des fetten 
Kindes, aber auf die (direkt gemessene) 
Oberfläche berechnet verblieben gleiche 
Werthe. Wahrscheinlich war eine ge- 
wohnheitsgemäss geringe Muskelarbeit im 
Spiele. — Weiterhin zeigte es sich, dass 
es keineswegs leicht war, bei der Unter¬ 
ernährung N.-Verluste zu verhüten. Bei 
stärkerer Unterernährung ( 2 /s der Er¬ 
haltungsdiät) war der N.-Verlust selbst bei 
reichlicher Eiweisszufuhr überhaupt nicht 
zu umgehen, bei leichterer wirkte Ent¬ 
ziehung von Kohlehydraten viel ungünstiger 
auf die N.-Bilanz, als solche von Fett; bei 
vorwiegender Eiweiss-Kohlehydratdiät ge¬ 
lang es sogar, trotz Abnahme des Körper¬ 
gewichts N.-Ansatz zu erzielen. Für die 
Technik von Enfettungskuren beim Kinde 
ergiebt sich hieraus als zweckmässig Ein¬ 
schränkung der Fettgabe bis herab zu 
einem Kalorienwerth der Gesammtnahrung 
der nicht unter 4 /§ der Erhaltungskost 
fallen darf. Finkeistein. 

(Jahrb. f. Kinderheilk. 57.) 

Um die Bärentraubenblätter, Folia uv&e 
UFSli die ja auch heute noch in der uro- 
logischen Praxis besonders beim Blasen¬ 
katarrh ein werthvolles therapeutisches 
Adjuvans darstellen, bequemer verabreichen 
zu können, hat Werler ein Extractum 
fluidum dargestellt, welches nach seinen 
Erfahrungen die gleiche Wirkung entfaltet 
— adstringirend und antiseptisch — wie 
der Thee und vor letzterem den Vorzug 
hat, dass nicht soviel Flüssigkeitsmengen 
vom Patienten genommen werden. Er ver¬ 
abreicht es in folgender Weise: 

JEkctracti fluid . uvae ursi . . . 15*0 

S.: 3—4 mal tgl. 20—40 Tropfen auf Zucker 
nach der Mahlzeit. 

Ausserdem hat Werler ein Trockenextract 
der Blätter in Tablettenform als zweck¬ 
mässig befunden. Er nennt das in diesen 
Tabletten enthaltene Mittel ÜPOpurin und 
lässt 3—4 mal täglich 1—2 Tabletten nach den 
Mahlzeiten mit Wasser nehmen. Auch combi- 
nirte Tabletten desUropurin mitSalol oder 
Hexamethylentetramin oder Aspirin haben 
sich ihm bewährt. Buschke (Berlin). 

(Aerztl. Rundschau 1902, No. 16.) 

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Für eine Reihe von Reizzuständen 
im Urogenitalsystem empfiehlt Strauss 
das Heroinum hydroehlorlcum als Seda¬ 
tivum, und zwar in Dosen von 0,01 inner¬ 
lich oder als Suppositorium. So hat es 
ihm gute Dienste geleistet bei Pollutionen, 
dann bei sexueller Neurasthenie, Sperma- 
torrhoe; bei acuter Gonorrhoe gab er das 
Mittel mit Erfolg bei schmerzhaften Erec- 
tionen, Hodenschmerzen, Schmerzen in der 
Harnröhre, bei Cystitis, Prostatitis; auch 
nach operativen Eingriffen, wie Phimosen¬ 
operationen ist es empfehlenswerth. Selbst¬ 
verständlich werden gleichzeitig die sonst 
üblichen therapeutischen Maassnahraen bei 
den einzelnen Affectionen angewendet. 
Vor dem Morphium hat es noch den Vor¬ 
zug, dass es nicht verstopfend wirkt. 

Buschke (Berlin). 

(MQnchener med. Wochenschr. 1902 No. 36.) 

Die Erfolge, die Länderer mit der 
Hetolbehandlung der Tuberkulose er¬ 
reicht haben will, hat Cantrowitz (Schmidts 
Jahrbücher B. 271) durchaus bestätigt. 
Ho ff-Wien (1901) behandelte Fälle von 
Lungentuberkulose mit kräftigen Alkohol¬ 
verbänden über der vorderen Brustpartie, 
die sich gegen das Fieber als durchaus 
wirksam erwiesen. Nach Länderer*s 
Veröffentlichungen machte Hoff Versuche 
mit einer Solution die 3 % Zimmtsäure 
enthielt. Daneben gab er 3 Mal täglich ein 
Glas Peru-Cognac. Seine Erfolge damit 
waren sehr gute. 

Pflüger macht Mittheilungen über sub- 
conjunctivale Hetolinjectionen bei Herpes 
der Hornhaut, tiefen Hornhautgeschwüren, 
parenchymatöser traumatischer Ceratitis, 
recidivirender Scleritis. Pflüger injicirt 
alle 2 Tage 0,4—0,4 cg einer 1 %igen 
Hetollösung. 

Frank kommt bei seinen therapeuti¬ 
schen Bemühungen mit Hetol zu dem 
Schluss, dass die Hetolbehandlung bei be¬ 
ginnender Tuberkulose begründete Aus¬ 
sicht auf Besserung bietet. Auch bei tuber¬ 
kulösen Catarrhen empfiehlt sich diese Be¬ 
handlung. 

Heusser rühmt ebenfalls die Hetol¬ 
behandlung die man allerdings noch unter¬ 
stützen soll durch Hochgebirgsklima, das 
durch die trockene staubfreie Luft, Nebel¬ 
freiheit, Windstille mit viel Sonne beson¬ 
ders günstig wirkt. Soweit die Anhänger 
der Hetolbehandlung. 

E. Tobias macht darauf aufmerksam, 
dass die Zahl der Gegner der Hetolbehand¬ 
lung nicht unbeträchtlich ist. Namentlich 
sind die Erfolge, wie sie in Berlin an ver- 

Orifinal from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Mai 


233 


Die Therapie d» r 


schiedenen grossen Krankenhäusern ge¬ 
macht sind, nicht so günstig wie die 
oben gegebenen Berichte. Tobias hebt 
hervor, dass der Werth des Hetol viel- \ 
leicht auf dem Gebiete der Behandlung 
lokaler Tuberkulosen zu suchen sein wird, | 
wofür die oben erwähnten Erfahrungen j 
von Pflüger aus der ophthalmologischen ! 
Praxis sprechen. 

M. Rosenfeld (Strassburg). 

(Fortschritte der Medicin 1902, No. 35.1 

Durch eine grosse Anzahl von Arbeiten 
hat Werl er bereits auf die Vorzüge und j 
die praktische Brauchbarkeit des Hydrar- ! 
gypum colloidale einer in Wasser lös¬ 
lichen Form des metallischen Quecksilbers, 
für die Syphilidologie und Chirurgie hin- I 
gewiesen. In der vorliegenden Arbeit j 
stellt er seine Erfahrungen, die an einem : 
grösseren Material gesammelt sind, noch j 
einmal zusammen. Für die Behandlung ! 
der Syphilis kommt in erster Linie in \ 
Betracht die Einreibungscur mit einer 
10%igen Mercurcolloidsalbe. Hierbei 
kommt es zu schneller und vollkommener 
Resorption des Medikaments. Neben¬ 
erscheinungen hat Werl er nicht beob¬ 
achtet. Urinuntersuchungen ergaben, dass 
die Ausscheidung des Quecksilbers lang¬ 
sam, allmählich vor sich geht, sodass eine 
nachhaltige Quecksilberwirkung hierdurch 
gegeben ist. Dem entsprechen auch die 
guten therapeutischen Resultate. Die Menge 
der applicirten Medikamente wird von der 
Constitution des Patienten und der Inten¬ 
sität der Krankheitserscheinungen abhängig 
gemacht. Als Anfangsdosis verwendet 
Werler Einreibungen mit 2 g, geht als¬ 
dann allmählich zu 3 und 4 g über, so- 
dass die Cur wie folgt verläuft: 

erste 3 Tage = je 2 g 

folgende 3 w = je 3 g 

„ 30 „ = je 4 g 

Bei sehr schweren Affectionen können 
auch 5 g verwendet werden. Als höchste 
Gesammtdosis genügen 240 g. Auch bei i 
Kindern hat sich die Methode bewährt mit 
entsprechend kleinen Dosen. Für prak¬ 
tische Zwecke wichtig ist, dass die Be- j 
handlung nicht kostspielig ist. Neben der 
Schmiercur bilden die Mercurcolloidpillen 
für die interne Behandlung der Syphilis 
eine brauchbare Form: 

Hydrargyri colloidalis 0*3 

Argillae alb • 

Glycerini a. a, q. 8. 
ut f. Fttulae No, 30 

D. S. 3mal tgl. 1—2 Pillen 

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Gegenwart 1903. 


Mercurcolloid . 3*0 

Argillae alb, q, s, 
ut f, rilulae No, 30 

D. S. 3 mal tgl. 1—2 Pillen na< h der Malil/eit. 

Verdauungsstörungen fehlen bei der An¬ 
wendung der Pillen fast gänzlich. 

Zur lokalen Application von Queck¬ 
silber empfiehlt sich das Collemplastrum 
Mercurcolloid oder Mercurcolloidsalbe ev. 
mit Extractum Opii. Buschke (Berlin). 

(Therapeutische Monatshefte 1902, Heft 1 und 4.) 

Soll man Milzbrandpusteln bei Men¬ 
schen radical excidiren, oder exspectativ 
behandeln? Die Ansichten darüber sind 
bekanntlich noch keineswegs einheitliche. 
Federschmidt (Duckelsbühl) theilt einige 
einschlägige Beobachtungen mit, die er an 
Arbeitern von Pinselfabriken seines Be¬ 
zirkes gesammelt hat. Es handelt sich um 
10 Fälle von Pustula maligna, von denen 
3 operativ vom Verfasser behandelt wurden 
(Excision und feuchte Sublimatumschläge), 
während die übrigen 7 Fälle nicht ope¬ 
rativ und nur mit antiseptischen Um¬ 
schlägen behandelt worden waren. Die 
drei erstgenannten Fälle verliefen alle 
ausserordentlich leicht, sogar ohne regio¬ 
näre Lymphdrüsenschwellungen, während 
von den 7 übrigen 2 starben und 5 ge¬ 
nasen jedoch unter verhältnissmässig 
schwererem Krankheitsverlauf. So geht 
also auch aus dieser Beobachtungsweise 
ein zweifelloser Erfolg der chirurgischen 
Behandlung gegenüber der exspectativen 
hervor. F. Umber (Berlin). 

(MQnch. med. Wochcnschr. 1903, No. 14.) 

Die Leser dieser Zeitschrift werden 
sich noch des Aufsatzes von Riegel (Jahr¬ 
gang 1900, S. 337) über den Einfluss des 

Morphiums auf die Magensaftsecretion 

erinnern, in welchen er der fast allgemein 
gültigen Meinung entgegentrat, das Mor¬ 
phium wirke auf die Magensaftdrüsen 
secretionshemmend und sei desshalb bei 
vermehrter Salzsäureabscheidung empfeh- 
lenswerth. Riegel prüfte damals den Ein¬ 
fluss des Morphiums auf die Saftsecretion 
bei Hunden mit Pawlow’scher Fistel und 
konnte dabei stets eine secretionserregende 
Wirkung konstatiren, die mit steigende 
Dosis immer grösser wurde, Ergebnisse, 
die sich ihm am Menschen bestätigten. 

Das veranlasste ihn, die Verabreichung 
von Morphium zum Zweck einer Ver¬ 
minderung der Salzsäuresecretion bei Ulcus 
ventriculi direkt zu widerrathen. Diese 
therapeutisch so wichtige Frage hat nun 
Holsti (Helsingfors) wieder aufgenommen 

30 

Original from 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 



234 


Mai 


Die Therapie der 


und sie durch Beobachtungen an neun 
Personen weiter verfolgt, denen in elf 
Versuchen ein Ewald’sches Probefrühstück 
zusammen mit Morphium in Dosen von 
0,01—0,015 g verabreicht wurde, nachdem 
Control versuche mit Ewald ’schem Probe¬ 
frühstück ohne Morphium vorausgegangen 
waren. Neunmal hat sich dabei eine an¬ 
fängliche Hemmung der Saftsecretion be- 
merklich gemacht, desgleichen in den beiden 
übrigen Malen, sowie die Morphiumdosis 
eine gewisse Höhe erreicht hatte (nämlich 
0,015 g). Manchmal vermisste er sogar 
die Salzsäure dabei gänzlich. Indess ging 
dieses Stadium der Hemmung meist schnell 
vorüber, um nach etwa eineinhalb bis zwei 
Stunden von einer Erregung der Saft¬ 
secretion gefolgt zu werden. In drei Fällen 
hatte Verfasser zwar anfangs eine Hem¬ 
mung der Saftsecretion und nichts von 
Erregung derselben beobachtet. Jedoch 
wirkte auch in diesen drei Fällen eine 
geringere Dosis Morphium (0,01) deutlich 
safterregend, 0,015 g Morphium dagegen 
secretionshemmend. Aehnliche Resultate 
ergaben auch entsprechende Versuche am 
Nüchternen. Bei chronischer Verabreichung 
kleinerer Morphiumdosen waren die Re¬ 
sultate noch wechselnder und nicht ein¬ 
deutig. Im Ganzen ist Verfasser der Mei¬ 
nung, dass die schädliche Wirkung des 
Morphiums auf den Magen mehr einer 
Störung der Motilität als einem Einfluss 
auf die Magensaftsecretion zuzuschreiben 
ist. Wenn auch zur definitiven Entschei¬ 
dung dieser Frage die Aushebungsversuche 
am menschlichen Magen nicht wohl ge¬ 
eignet sind, weil dabei ja der nach dem 
Duodenum hin entleerte Theil des Magen¬ 
saftes dabei ganz und gar vernachlässigt 
werden muss — ein Einwand, den übrigens 
Holsti auch selber nicht unterdrückt —, 
so kann man doch wohl auch nach diesen 
Beobachtungen an dem Riegel’schen Satz 
festhalten, dass man bei Ulcus ventriculi 
sowie bei Hypersecretio acida überhaupt 
gut thut, die Darreichung von Morphium 
nach Möglichkeit zu vermeiden. 

F. Umber. 

(Zeitschr. f. klin. Medicin, Bd. 49.) 

In einer Arbeit: Beitrag zur Anwen¬ 
dung des Murphyknopfes bei Magen- 
und Darmoperationen liefert Neu¬ 
weiler zunächst einen geschichtlichen 
Ueberblick über die ganze bisherige Ent¬ 
wicklung dieser Frage, indem er die ge- 
sammte europäische Litteratur und die haupt¬ 
sächlichsten amerikanischen Veröffent¬ 
lichungen berücksichtigte. Neu weil er 

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Gegenwart 1903. 


kommt zu dem Schluss, dass die Anwen¬ 
dung des Knopfes in Amerika viele, in 
England und Frankreich dagegen fast 
keine Anhänger habe, und dass derselbe 
in Deutschland auch nur von wenigen 
Chirurgen öfter angewandt werde. Auf 
Grund von 28 eigenen Fällen und der in 
der Litteratur niedergelegten, zieht Neu¬ 
weiler dann einen Vergleich zwischen 
den Vorzügen und Nachtheilen der Knopf¬ 
methode gegenüber der Naht. Die Haupt¬ 
vorzüge sind die grössere Schnelligkeit 
des Operirens, die für heruntergekommene 
Kranke, mit denen man es doch in vielen 
Fällen zu thun hat, eine entscheidende 
Rolle spielen kann, ferner die Einfachheit 
der Technik und die leichtere Handhabung 
der Asepsis, weil man nur an einem 
offenen Darmlumen zur Zeit zu arbeiten 
braucht. Dann sollen sich an der Ana- 
stomosenstelle weniger Adhäsionen und 
Pseudomembranen bilden als bei der Naht. 

Bei den cirkulären Darmverbindungen 
ist in Bezug auf spätere Verengerung die 
Knopfmethode der Naht etwas überlegen, 
während sich sonst in funktioneller Be¬ 
ziehung beide Methoden ungefähr gleich 
stehen. Ein Vergleich beider Methoden 
bezüglich ihrer Leistungen bei den ver¬ 
schiedenen Operationen; Resection von 
Dick- und Dünndarm, Pylorusresection 
und Gastroenterostomieen bei gutartiger 
und maligner Pylorusstenose führt zu fol¬ 
genden Schlüssen: 

Bei der Vereinigung der zwei Enden 
eines resecirten Dickdarmes ist die Ge¬ 
fahr der Verstopfung des Knopllumens und 
der Perforation sehr gross. Bei seitlicher 
Anastomose kommt noch der Nachtheil hin¬ 
zu, dass man die Oeftnung nicht beliebig 
gross machen kann. Bei diesen Operationen 
verdient die Naht den Vorzug. Bei einer 
Anastomose zwische Dünn- und Dickdarm 
darf man nur dann den Knopf verwenden, 
wenn die Darmwände nicht zu sehr ver¬ 
dickt sind und eine Annäherung zur End- 
zu End oder zur End- zu Seit-Anastomose 
ohne Spannung möglich ist, sonst mache 
man stets die Naht. 

Bei Resection des Dünndarms wegen 
Einklemmung in einer Hernie verdient 
nach Verfasser der Knopf den Vorzug 
wegen der Ungleichheit der zu ver¬ 
einigenden Darmlumina und derödematösen, 
morschen Beschaffenheit der zuführenden 
Schlinge, beides Dinge, die die Naht sehr 
erschweren und weil grade in diesem Fall 
die Gefahr der Perforation und der Ver¬ 
engerung der Nahtstelle sehr gross sein 
soll. Bei Enteroanastomose am Dünndarm, 

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Mai 


Die Therapie der 


ist ebenfalls wie am Dickdarm, die Naht 
vorzuziehen. 

Bei einer Gastroduodenostomie nach 
Pylorusresection empfiehlt Verfasser ganz 
besonders den Knopf, nicht zum wenigsten 
wegen der Abkürzung der Operation, und 
weil die Funktion ausnahmslos sehr gut 
sei und der Knopf fast immer symptomlos 
abgehe. 

Bei der Wölfler’schen Methode der 
Gastroenterostomie verwirft Verfasser unter 
allen Umständen den Knopf, es sei denn, 
dass man die Braun’sche Anastomose 
(mittelst Knopf) dazu mache. Dagegen 
soll die v. Hacker'sche Methode auch mit 
dem Knopf stets gute Resultate geben, der 
Knopf hierbei auch kaum je in den Magen 
fallen, was doch bei der vorderen Ana¬ 
stomose recht häufig ist. 

Doch sieht Verfasser einen Ausschlag 
gebenden Unterschied in der Art der 
Pylorusstenose, ob carcinomatös oder gut¬ 
artig. Im letzteren Fall, wo die Patienten 
immerhin Aussicht auf ein längeres Leben 
haben, hält er die Vereinigung durch Naht 
für besser, einmal, um das Liegenbleiben 
des Fremdkörpers im Magen von vorn¬ 
herein auszuschliessen, und dann, weil eine 
nachträgliche Narbenstenose bei einer 
exacten Vereinigung der Schleimhaut durch 
die Naht wohl kaum vorkommt. 

Wichmann. Altona. 

(Langenbeck’s Archiv, Band 69, Heft 3 und 4.» 

Die Ernährung unserer Nierenkran¬ 
ken bespricht der holländische Kliniker 
P. K. Pel in einem sehr anregend ge¬ 
schriebenen Aufsätze, dessen Wieder¬ 
gabe unsern Lesern freilich wenig Neues 
bringen dürfte. Pel weist mit Recht darauf 
hin, das aprioristische Betrachtungen und 
einseitige Verwertung experimenteller 
Beobachtungen zu ergötzlichen Wider¬ 
sprüchen in den diätetischen Verordnungen 
verschiedener Kliniker geführt hätten. So 
will der eine die Nierenkranken ganz ohne 
Fleisch ernähren, der zweite nur weisses 
Fleisch gestatten, während ein dritter 
gerade Kalbfleisch für schädlich hält; ein 
amerikanischer Arzt rühmt gerade die 
Fleischdiät als bestes Mittel zur Bekämpfung 
der Albuminurie. Ueber Fischnahrung ist 
ebensowenig Einigkeit unter den Gelehrten 
wie über Eierspeisen; ja selbst von Ge¬ 
müsen wird von einzelnen abgeraten, weil 
ihr Kaliumgehalt die roten Blutkörperchen 
schädigen könne. Unter den Gemüsen 
perhorresciren viele den Spargel, den 
v. Noorden wiederum für ganz unschädlich 
erprobt hat. Nur in Bezug auf ein Er- 

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Gegenwart 1903. -**5 

nährungsmittel herrscht allgemeine Ueber- 
einstimmung; die Werthschätzung der 
Milch für Nierenkranke kennt keine Aus¬ 
nahme und keine Grenzen. 

Pel seinerseits schliesst aus den besten 
experimentellen Untersuchungen, dass 
massige Mengen unserer gewöhnlichen 
Nahrungsmittel (Brot, Kartoffeln, Kolonial- 
waaren, Fleisch, Fisch, Eier, Fett, Gemüse, 
Früchte) für chronisch Nierenkranke nicht 
schädlich sind. Maassgebend auch für die 
Ernährung Nierenkranker soll der allge¬ 
meine Grundsatz sein, dass über dem er¬ 
krankten Organ der kranke Mensch steht. 

Der Arzt soll bei seinen Verordnungen 
ein offenes Auge haben für individuelle 
Reaction, Neigung und Lust der Kranken, 
er soll besonders die gute Gemüthsstimmung 
desselben erhalten, und wenn es nöthig 
ist, dadurch erhöhen, dass er ihn so wenig 
wie möglich durch beschränkende Vor¬ 
schriften, die täglich wiederkehren, an seine 
Krankheit oder Invalidität erinnert. Jeden¬ 
falls soll sich der Nierenkranke von ge¬ 
mischter Kost ernähren und nur Stoffe 
vermeiden, welche eine schädliche Wirkung 
auf die kranken Nieren oder andere Organe 
ausüben könnten oder wofür er beson¬ 
ders empfindlich ist. So muss er 
ausserordentlich vorsichtig sein im Genuss 
von Alcoholicis, Wild mit haut geüt, 
scharfem Käse, reizenden Gewürzen 
oder lieber diese Stoffe ganz ver¬ 
meiden. Vor allem soll er beim Essen 
sehr mässig sein und sich vor Verdauungs¬ 
störungen hüten. Milch ist in jedem Fall 
ein ausgezeichnetes Nahrungsmittel für 
Nierenkranke, doch ist vor zu grossen 
Mengen zu warnen; namentlich bei 
Schrumpfniere kann dadurch das Herz 
überlastet werden. 1—1V 2 Liter täglich 
sollten genügen. Es empfiehlt sich die 
Darreichung mit Mehlspeisen als Suppe 
oder Brei, sowie die Zufügung von Thee, 

Kaffe, Chocolade. Buttermilch ist be¬ 
sonders in der warmen Jahreszeit eine 
köstliche Abwechslung. — Allein bei den 
Kranken mit acuter Nephritis im ersten 
Stadium der Krankheit oder bei den 
peracuten Exacerbationen der chronischen 
Nephritis empfiehlt Pel in den ersten 
Tagen den beinah ausschliesslichen Ge¬ 
brauch von Milch und Milchspeisen in 
massiger Menge. — Wir dürfen uns wohl 
mit allen Aeusserungen Pels einverstanden 
erklären, nur nicht mit der am Schluss aus¬ 
gesprochenen Behauptung, dass die Meisten 
seinen liberalen Standpunkt nicht einnehmen, 
wenigstens nicht danach handeln. In 
Deutschland vertritt wohl die überwiegende 

30* 

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236 


Mai 


I>ic Therapie der Gegenwart 1903. 


Mehrzahl der Kliniker und der Aerzte seit 
lange die Meinung, „dass auch bei der 
Regelung der Diät eines Nierenkranken 
keine zu grosse Einseitigkeit in der Er¬ 
nährung angewandt zu werden braucht, 
und das wenigstens für die chronischen 
Formen ganz gewiss eine verständige 
gemischte Diät die empfehlenswertheste 
ist." G. K. 

(Zeitschr. diät. phys. Ther. VII S. 3.) 

Ueber die Beziehungen zwischen 
Ozaena und Lungentuberkulose theilt 
A. Alexander einige bemerkenswerthe 
Daten mit. Unter 200 Phthisikern, die er 
untersuchte, fanden sich nur 1 typischer 
Ozaenafall und 6 Fälle von hochgradiger 
Atrophie der Nasenschleimhaut, die mit 
einiger Wahrscheinlichkeit als im klinischen 
Sinne geheilte Ozaenafälle zu deuten 
waren — also im ganzen höchstens 3 72 % 
Ozaenafälle unter den Phthisikern, d. h. 
die Ozaena ist keine besonders häu¬ 
fige Begleiterscheinung der Lungen¬ 
phthise. 

Unter 50 ozaenösen Patienten dagegen, 
deren Lungen untersucht wurden, fanden 
sich nicht weniger als 22 mit sicherer Lungen¬ 
tuberkulose, ausserdem 7 auf Phthise Ver¬ 
dächtige. Alexander zieht daraus den 
Schluss, das die Ozaena zweifellos eine 
Disposition zur Erkrankung an 
Lungenphthise schafft. Das Wesen 
dieser Disposition erblickt er darin, dass 
die Nase durch den Ozaenaprozess die ihr 
normaler Weise eigenen Schutzvorrichtun¬ 
gen (Flimmerepithel, baktericide Fähigkeit 
des Nasenschleims) eingebüsst hat und 
statt eines Filters für die Athmungsluft, 
vielmehr eine Brutstätte für die in ihr ent¬ 
haltenen Keime darstellt. 

Diese Feststellung Alexanders ist 
überraschend. Bisher ist eine derartige 
Häufigkeit tuberkulöser Erkrankung unter 
Ozaenakranken nicht bekannt gewesen. 
Zufälligkeiten des Materials erscheinen 
nicht ausgeschlossen. Da die Thatsache 
des Zusammenhanges zwischen Ozaena und 
Tuberkulose, wenn sie sich bestätigt, sowohl 
für die prognostische Beurtheilung der 
Ozaena wie auch für die Prophylaxe der 
Tuberkulose nicht ohne Bedeutung ist, 
verdient Alexanders Mittheilung mög¬ 
lichst ausgedehnte Nachprüfung. Zu solcher 
anzuregen, ist der Zweck dieser Zeilen. 

Von praktischem Interesse ist noch die 
gelegentliche Angabe Alexanders, dass 
er in 7 seiner Ozaenafälle säurefeste 
Bacillen im Ozaenasecret fand, die von 
Tuberkelbacillen im mikroskopischen Bilde 


I schwer oder garnicht zu unterscheiden 
| waren. Auch dieser Punkt bedarf sehr 
der Nachprüfung (Ref. hat zahlreiche 
I Ozaenasekrete bakteriologisch untersucht, 

■ aber noch nicht ein einziges Mal säurefeste 
I Stäbchen darin gefunden); aber wenn er 
i sich bestätigt, berechtigt er zu dem Schluss, 
j den Alexander daraus zieht: „Bei 
I suspectem Lungenbefund und gleichzeitiger 
| Ozaena auf das Ergebnis der Sputum- 
I Untersuchung keinen entscheidenden Werth 
| zu legen.“ F. Klemperer. 

(FraenkeFs Archiv f. Laryngologie. XIV, 1. S. 1. I 

i 

! Unter den zahlreichen Präparaten, welche 

, einen Fortschritt in der k&nstllchen Säug- 
| lingsernährung anstreben, zeichnen sich 
I zwei durch hervorragende Leistungsfähig¬ 
keit aus und verdienen weiteste Verbreitung. 
Essinddernach denAngabenProf.Soxh lets 
( von der Nährmittelfabrik Pasing hergestellte 
Nährzucker und die verbesserte 
i Liebigsuppe derselben Fabrik. 

I Der Nährzucker stellt ein leicht lös¬ 
liches, Dextrin und Maltose in annähernd 
gleichem Verhältniss enthaltendes, auf Grund 
hier nicht zu erörternder theoretischer, die 
Verhütung von Rachitis beweckender Er¬ 
wägungen mit 2 °/ 0 Kochsalz vermischtes 
und leicht gesäuertes Pulver dar. Es wird 
in Mengen von 10 g pro 100 cm 8 Milch, 
unter Umständen auch reichlicher, den ge¬ 
wöhnlichen Milchmischungen an Stelle 
anderer Zuckerarten zugesetzt. Die bis 
jetzt vorliegenden Berichte von Frucht 
i (Münch, med. Wochenschr. 1902 No. 2 ). 

I Rommel (ibid. 1903 No. 6), Klautsch 
' (Centralbl. f. Kinderheilk. 1902 No. 7), 
j Weissbein (Deutsch, med. Wochenschr. 

1902 No.2), Moro (Klin.therap. Wochenschr. 

! 1903 No. 5) lauten übereinstimmend ausser- 
1 ordentlich günstig und auch Ref. kann diese 
empfehlenden Urtheile aus eigener Erfahrung 
bestätigen. Rommel hat die Indicationen 
präciser zu fassen versucht und räth zum 
Nährzucker 1. als alleinige Nahrung in 
acuten Fällen als Erstes nach der Wasser¬ 
diät, 2 in den meisten Fällen, wo Kellers 
Malzsuppe angezeigt ist (vergl. diese Zeit¬ 
schrift Februar 1901), d. h. bei chronischen 
Ernährungsstörungen, zumal solchen, die 
bei Milch und fettreicher Nahrung aufge¬ 
treten sind. Das Fehlen unveränderten 
Mehles lässt 3. den Nährzucker auch für 
Kinder im ersten Lebensquartal geeignet er¬ 
scheinen. 4. Für ältere Kinder mit stinken¬ 
den alkalischen Stühlen ist die Keller sehe 
Malzsuppe dem Nährzucker überlegen. 

Die günstige Wirkung äussert sich bald 
in gesteigerter Gewichtszunahme. Das 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


237 


spätere Gedeihen der Kinder ist gut. Der 
Stuhl wird fest, zuweilen sogar mehr als 
wünschenswerth hart. 

Die verbesserte LiebigscheSuppe stellt 
das rühralichst bekannte Liebigsche Mittel 
in leicht dosirbarer Pulverform dar und 
unterscheidet sich vom Nährzucker durch 
grösseren Gehalt an Maltose und durch 
Gegenwart von pflanzlichem Eiweiss. Be¬ 
richte in der Litteratur liegen wohl noch 
nicht vor. Ref. kann aus eigener, aus¬ 
gedehnter, fast zweijähriger Erfahrung das 
Präparat als eines der Besten bezeichnen, 
das unter ähnlichen Indicationen wie die 
aufgeführten sehr Vieles, zuweilen Besseres 
als der Nährzucker leistet und alle Vorzüge 
der alten Suppe ohne die Schwierigkeit von 
deren Herstellung besitzt. Es wird in 
Mengen von 50—70 g pro Liter fertiger 
Nahrung, der Süssung wegen mit etwas 
Rohrzucker, zugesetzt. Finkeistein. 

Eine wirksame Bekämpfung der See¬ 
krankheit sieht O. Dornblüth darin, 
dass man während der Abwärtsbewegungen 
des Schiffes, welche die unangenehmen 
Empfindungen im Beginn der Seekrankheit 
auslöst, tiefe Inspirationen macht, so dass 
der Leib vorgetrieben und das kontrahirte 
Zwergfell fest angespannt wird. DasTragen 
einer fest anliegenden Leibbinde kommt 
dabei wirksam zu Hülfe. Die Widerstands¬ 
fähigkeit gegen Seekrankheit sowie gegen 
die Lieblichkeiten bei Bahnfahrten wird 
erhöht durch abendliches Einnehmen von 
2—3 g Bromnatrium während der letzten 
Woche vor der Reise. Vor einer kürzeren 
Bahnfahrt genügt es, diese Medikation 
während der letzten 3 Tage durchzu¬ 
führen. Bei mehrtägiger Fahrt empfiehlt 
Dornblüth auch während der Reise¬ 
tage die gleiche Dosis zu nehmen und 
bei längeren Fahrten die Dosis allmählig 
zu verringern. U. 

(Münch, med. Wochenschrift 1903, No. 14.) 

In einem sehr lesenswerthen Aufsatz 
bespricht Block die grosse Bedeutung, 
welche allgemeine und hygienisch diäteti¬ 
sche Maassnahmen bei der Behandlung der 
Syphilis neben der eigentlichen specifi- 
schen Therapie haben. Er geht hierbei 
von dem Gesichtspunkt aus, alle diejenigen 
schädlichen Momente auszuschalten, die 
allein schon ähnliche Erkrankungen — be¬ 
sonders im Circulations- und Nervensystem 
— hervorrufen können wie die Syphilis, 
und ferner durch Reizung syphilitische Er- 
krankungen in edleren Organen hervor- 
rufen können. 


DieBerufsthätigkeit kann aus praktischen 
Gründen in der grossen Mehrzahl der Fälle 
nicht unterbrochen werden, auch aus 
psychologischen Gründen ist es oft zweck¬ 
mässig, dass der Patient seiner gewohnten 
Beschäftigung nachgeht, wenngleich zweifel¬ 
los, besonders auch bei Patienten, die zu 
Hause nicht unter so günstigen Bedingungen 
leben, die Krankenhausbehandlung auch 
wegen der Infectionsgefahr zweckmässig 
ist. Block tritt für die Gründung von 
Volksheilstätten für die Behandlung Syphi¬ 
litischer ein. Vor körperlicher und geistiger 
Ueberanstrengung soll der Kranke bewahrt 
werden; er soll genügend Erholungszeit 
haben, Bewegung in frischer Luft ist sehr 
nothwendig, deswegen ist auch Sport 
in mässigen Grenzen empfehlenswerth, 
während vor Uebertreibungen in dieser 
Hinsicht zu warnen ist. Die Ernährung 
soll kräftig und gut sein. Der Alkohot- 
genuss soll möglichst auf ein in den 
gewöhnlichen Grenzen sich haltendes 
Quantum herabgesetzt werden. Starkes 
Rauchen ist zu verbieten, mässiges in den 
meisten Fällen nicht schädlich. Verbot 
des Geschlechtsverkehrs, das aber in den 
weiteren Jahren der Krankheit kaum ganz 
aufrecht zu halten ist; immer muss der 
Patient auf die Infectionsgefahr hingewiesen 
werden. Wasserbehandlung ist als unter¬ 
stützendes Mittel, Erholung in Bädern 
empfehlenswerth, psychische Beeinflussung 
sehr wesentlich. Buschke (Berlin.) 

(Zeitschr. f. diätetische und physikalische Therapie 
Bd. 6, Heft 10.) 

Die Tetanie gehört bekanntlich zu den 
gefürchtetsten Complicationen derjenigen 
schweren gastrischen Erkrankungen, die 
mit hochgradiger Stenose des Pylorus oder 
Duodenums und Gastrektasie einhergehen. 
Ihr Auftreten ist prognostisch ungünstig, 
da die Mortalität dabei noch über 70°/<> 
hinausgehen kann. DieseTetanie gastrischen 
Ursprungs ist nicht* grade häufig, und die 
Litteratur berichtet bisher über etwa 
40 Fälle. Eine grosse Zahl davon ent¬ 
stammt der Beobachtung Fleiners, dessen 
kürzlichen Ausführungen über dieses Ca- 
pitel wir einige bemerkenswerthe Punkte 
entnehmen wollen, die lür unser thera¬ 
peutisches Eingreifen in solchen Fällen 
bedeutsam sind. Wenn bei solchen Gastr- 
ektasieen das Körpergewicht und die täg¬ 
liche Urinmengen trotz zweckmässiger 
Diät und Körperruhe abnehmen, so ist — wie 
Fl einer betont — die Gastroenterostomie 
indicirt. wenigstens bei gutartigen Stenosen. 
Dieses Stadium ist es, welches vor allen 
zur Tetanie prädisponirt; sie ist mit um so 


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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 







238 


Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


grösserer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, 
wenn die mechanische Erregbarkeit der 
Muskeln und Nerven sich bei der Unter¬ 
suchung als gesteigert erweist, wenn vor 
allem das Facialisphänomen und das Trous- 
seau sche Phänomen leicht auszulösen ist. 

Irgend eine erneute Störung, welche zu 
dem gekennzeichneten Stadium eines mo¬ 
torisch insufficienten, zu Pylorospasmus 
und Hypersecretion neigenden Magens hin¬ 
zutritt, kann den ersten tetanischen Krampf¬ 
anfall vorbereiten, der dann wie Fl einer 
hervorhebt nicht selten durch profuses 
Erbrechen oder Magenausspülung ausgelöst 
wird. Kussmaul hat auf jene eigen¬ 
tümlichen convulsiven Anfälle, die wir 
als Tetanie bezeichnen, zuerst hingewiesen 
und ihren tonischen Charaker hervor¬ 
gehoben. Solche von leichten Zuckungen 
unterbrochene Krämpfe spielen sich ab in 
den Beugern der Arme, in den Waden¬ 
muskeln und Bauchmuskeln, und können 
auch auf Gesichtsmuskeln, Kiefer- und 
Halsmuskeln übergehen, in schweren Fällen 
schliesslich auf die gesammte willkürliche 
Muskulatur, sodass dann ein dem Tetanus 
ähnliches Bild entstehe. Es giebt einseitige 
und symmetrische Tetanien. Symmetrisch 
pflegen vor allem die ersten Krampfanfälle 
zu sein, und alle durch profuses Erbrechen 
oder Magenspülungen hervorgerufenen 
Attaken. Flein er betont besonders — 
gestützt durch Beobachtungen an etwa 
30 Krampfanfällen — dass bei entwickelter 
Disposition zur Tetanie die willkürliche 
Innervation der Muskeln von grosser Be¬ 
deutung für die Auslösung eines Krampf¬ 
anfalles ist. So sah er Anfälle ausgelöst 
werden an bestimmten Muskelgruppen da¬ 
durch, dass dieselben in erhöhtem Maasse 
in An>pruch genommen wurden, so z. B. bei 
einer Frau an den Armen, nachdem sie sich in 
sitzenderStellung im Bette frisirt hatte u. s. w. 
Fl einer hält bezüglich der Frage nach 
der Entstehung der Disposition zur Tetanie 
bei Magenkranken an der alten Kuss¬ 
mau Tschen Erklärung fest, die rasche 
Bluteindickung und Austrocknung der 
Nerven und Muskeln dafür verantwortlich 
macht. Die Eindickung des Bluts in Folge 
der starken Wasservermehrung erklärt 
auch die dabei gleichzeitig zu beobachtende 
Vermehrung von Hämoglobin und rothen 
Blutkörperchen gegen die Norm. 

Daraus ergeben sich von selbst die 
Geaichispunkte für die Behandlung der 
gastlichen Tetanie. Wo Pylorusverschluss, 
Hypersecretion und Ueberfüllung des 
Magens besteht, da soll der Magen so 
rasch und schonend als möglich ausge¬ 


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waschen werden bis er völlig entleert ist. 
Nach überstandenem Tetanieanfall soll er 
ausser Funktion gesetzt werden und rectale 
Ernährung eingeleitet werden (Fleischbrüh- 
Weinklysmen). Energische Flüssigkeits¬ 
zufuhr geschieht durch Subcutaninjection 
von steriler V 2 0 /o*’ger Kochsalzlösung 
2 mal pro Tag je J /2 1* Nach 24 bis 
48 Stunden werden alle Stunde 50 bis 
100 g Vichywasser per os verordnet, bis 
die Operation ausgeführt werden kann. 
Denn der Ausbruch der Tetanie ist wie 
Fl ein er angiebt, eine dringende Mahnung 
zu möglichster Beschleunigung einer Ope¬ 
ration, welche das Hinderniss am Magen¬ 
ausgang oder Darmeingang beseitigt oder 
umgeht, d. h. Resection oder Gastro¬ 
enterostomie. Flein er hat 8 Fälle von 
gastrischer Tetanie, davon sind 6 operirt 
worden, 3 davon heilten, 3 starben. Von 
den beiden übriggebliebenen Fällen war einer 
wegen zu grosser Schwäche nicht mehr 
operabel, der andere genass spontan. Mit 
diesen Erörterungen über die gastrische 
Tetanie decken sich auch die Beobachtungen 
Fleiners an einem interessanten Fall von 
intestinaler Tetanie, der in extenso 
mitgetheilt wird, hier hatten profuse 
Diarrhoen die prädisponirende Wasser¬ 
verarmung der Gewebe herbeigeführt. 

F. Umber (Berlin). 

(Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 11.) 

Das Dimethylxanthin oder Theophyllin, 
das neuerdings als Theocin in den Handel 
eingeführt worden ist, und über dessen 
klinische Verwendung zuerst Minkowski 
im November vergangenen Jahres in dieser 
Zeitschrift berichtet hat, hat inzwischen 
bereits in einer ganzen Anzahl von Publi¬ 
kationen günstige Beurtheilung als wirk¬ 
sames Diureticum erfahren. So liegen Be¬ 
richte vor von Mein er tz aus dem Char¬ 
lottenburger städtischen Krankenhaus über 
23 damit behandelte Fälle von Herz- und 
Nierenkrankheiten, Pleuritis, cirrhotischen 
Ascites und Chlorose (Therap. Monatsch. 
Februar 1903), von Döring über 20 Fälle 
der Fränkel’schen Abtheilung am Urban 
(Münch, med. Wochensch. 1903 No. 9), von 
Kramer über 6 Fälle aus der Giessener 
Klinik (Münch, med. Wochensch. 1903No. 13), 
über einen bemerkenswerthen Fall von 
K. W. Hess (Gera-Untermhaus), aus der 
ärztlichen Praxis (Therap. Monatsh., April 
1903), abgesehen von der den Lesern dieser 
Zeitschrift bekannten Publikation H. Schle¬ 
singers- Wien (cf. diesen Jahrgang S. 115). 

Die Beobachtungen haben einstimmig 
ergeben, dass in erster Linie Flüssigkeits- 


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239 


INIai Die Therapie der 


an Sammlungen in den Geweben bei Circu- 
lationsstörungen und Nierenerkrankungen 
die Indicationen für die wirksame Anwen¬ 
dung des neuen Diureticums abgeben. Wo 
pathologische Flüssigkeitsansammlungen im 
Körper nicht bestehen, da scheint das 
Mittel auch, den Erfahrungen Meinerts 
nach, einen Einfluss auf die Diurese nicht 
zu entfalten. Andererseits heben alle die 
verschiedenen Autoren hervor, dass zum 
Zustandekommen seiner Wirkung immer 
noch ein einigermaassen ausreichend funk- 
tionirender Herzmuskel nöthig ist. Wo 
die Transsudatansammlungen in den Ge¬ 
weben auf Eikrankungen des Herzens und 
der Gefässe zurückzuführen sind, da ist 
die Wirkung des Mittels eine besonders 
ausgiebige, während dieselbe, wie Mei¬ 
nerts hervorhebt, durch Schädigungen der 
Nierenepithelien mehr oder weniger beein¬ 
trächtigt wird. In geeigneten Fällen ist das 
Theocin nach der übereinstimmenden An¬ 
sicht der verschiedenen Autoren wirksamer 
als unsere bisherigen Diuretica, sogar als 
Diuretin und Agurin. 

Indess haften dem Theocin auch ge¬ 
wisse Nachtheile an. Schon Meinerts 
hebt hervor, dass zwar die Urinmenge 
schon sehr bald nach der Verabreichung 
des Mittels ausserordentlich ansteigt, bis 
auf das 4- und 5 fache, dass jedoch die 
Wirkung keine nachhaltige ist, sondern 
spätestens nach einer Woche erlischt. 
Diesen Vorwurf erhebt auch Döring, nach 
dessen Beobachtung das Mittel, im Gegen¬ 
satz zu Diuretin, schon versagt, wenn es 
längere Zeit hintereinander gegeben wird. 
Indess bleibt dabei seine gesammte diure* 
tische Leistung doch immerhin grösser als 
die des Diuretins. Freilich hat Meinerts 
in einem Fall von Intervallen 10 Wochen 
lang in 7 Perioden von 4—9 Tagen Theo- 
cin gegeben, ohne dass seine jedesmalige 
Wirkung nachgelassen hätte, wie dies bei 
einer entsprechenden Beobachtung von 
Minkowski der Fall war. 

Das Mittel ist ferner nicht ganz frei von 
allerhand störenden Nebenwirkungen: es 
führt leicht zu Appetitlosigkeit, Ueblichkeit 
und Erbrechen, in zwei von Schlesinger 
beobachteten Fällen verursacht es sogar 
allgemeine Convulsionen von epileptischem 
Charakter. Ein schädlicher Einfluss des 


Gegenwart 1903. 


Theocins auf die Nieren ist von keinem 
der Beobachter konstatirt worden, Albu¬ 
minurie wird dadurch nicht hervorgerufen. 
Irgend einen Einfluss auf den Blutdruck 
hat Kramer mit dem Gärtner’schen Tono¬ 
meter nicht nachweisen können, und auch 
Döring vermisst eine Wirkung auf das 
Herz, wie wir ihn z B. vom Coffein her 
kennen. Somit ist auch die Empfehlung 
einer Combination von Theocin mit kleinen 
Digitalisdosen oder mit Digitalis-CoffeVn, 
wie sie Meinertz giebt, gewiss berechtigt. 
Die ungünstige Beeinflussung des Schlafes 
wird durch gleichzeitige Verabreichung von 
0,5 Trional wirksam behoben (Döring). 
Um die krampferregende Wirkung zu 
compensiren, combinirt Schlesinger das 
Theocin mit Adonis vernalis (cf. S. 117). 

Was die Anwendungsform des Theocins 
betrifft, so kann er als Pulver zu 2,5 oder 
0.3 in Oblaten gegeben werden, oder in 
Solution, am besten in Form der neuer¬ 
dings hergestellten Tabletten ä 0,25 g. 
Döring bemerkt ausdrücklich, dass man 
mit einer Tagesdosis von 0,75 g die glei- 
| chen Resultate erzielt wie mit einer solchen 
i von 1.2 g. 

Was zu Gunsten des Theocins ins 
Gewicht fällt, ist sein verhältnissmässig 
wohlfeiler Preis (1 g = 50 Pfg.), den es 
seiner synthetischen Darstellung verdankt. 

F. Umber (Berlin). 

Kirstein empfiehlt zur Behandlung des 
UlCUS molle Betupfen mit Jodtinctur. 
Darunter soll die Heilung schnell vor sich 
gehen; event. wird nach 24 Stunden das 
Verfahren noch einmal wiederholt. Der 
Autor glaubt, dass diese Behandlung vor 
der Aetzung mit flüssiger Carbolsäure, die 
von Neisser empfohlen wurde, Vorzüge 
habe; nach Aetzung mit letzterer soll eine 
Geschwürsfläche von torpider Beschaffen¬ 
heit Zurückbleiben. Ref. hat die Carbol¬ 
säure zur Behandlung der Ulcera mollia 
in zahlreichen Fällen verwendet und ist zu 
der Ueberzeugung gelangt, dass sie nach 
dem Jodoform das bisher beste und ein 
sehr gutes Mittel zur Behandlung und Hei¬ 
lung des Ulcus molle darstellt. 

Buschke (Berlin). 

(Dermatol. Centralblatt 1903, No. 7.) 


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Mai 


240 Die Therapie der Gegenwart 1903. 

Zur Behandlung der Vorderarmbrüche, 

Von Dr. Georg Müller- Berlin. 


In der Geschichte der Medicin finden 
wir nicht selten, dass der Zufall eine wichtige 
Rolle bei der Entscheidung schwebender 
Streitfragen spielt. 

Ein Fall von Radiusfractur, den ich 
kürzlich zu beobachten und zu behandeln 
Gelegenheit hatte, erscheint mir in dieser 
Beziehung sehr interessant und will ich 
nicht unterlassen, denselben mitzutheilen. 

Bekanntlich haben sich, während man 
früher einen Vorderarmbruch eo ipso mit 
fixierenden Verbänden behandelte, in 
letzter Zeit immer mehr Stimmen dagegen 
erhoben, und jeden Verband, auch die 
einfache Pappschiene verworfen. Ich 
meinerseits hatte schon lange die Beobach¬ 
tung gemacht, dass, je länger und je inten¬ 
siver der fixierende Verband angelegt 
wird, desto schlimmer die Functionsstörun- 
gen waren, wie Gelenkversteifungen,Muskel¬ 
schwund, Oedem etc., ja, es gehörte garnicht 
zu den Seltenheiten, dass ein Verletzter j 
mit geheilter Radiusfractur, bei der 
fixierende Verbände angewandt waren, j 
einen geradezu erschreckenden Status auf¬ 
wies. Die Finger waren sämmtlich in Streck¬ 
stellung versteift, Hand-, Ellenbogen- und 
Schultergelenk mehr oder weniger steif, 
der Arm blau, kalt, ödematös und völlig 
kraftlos. Zuweilen gelang es selbst einer 
mehrmonatlichen Behandlung nicht, völlige 
Functionslähigkeit wieder zu erzielen. 

Unser Fall i*t folgender: 

Der Arbeiter Otto W. aus Berlin. 34 Jahre 
alt, verunglückte am 7. September 1902 dadurch, 
dass eine herablallende Bogenlampe seinen 
linken Arm verletzte. Er begab sich gleich 
nach der Unfallstation, dann zum Kassenarzt, 
der eine Einknickung des Radius 7 cm ober¬ 
halb des Handgelenks annahm und den Patienten 
bis zum 6. X. 1902 mit kalten Umschlägen und 
Massage behandelte. Von dieser Zeit an hat der 
Patient wieder gearbeitet. Da er jedoch noch 
über Schmerzen im Handgelenk klagte, wurde er 
am 13. II. 1903 meiner Behänd.ung überwiesen. 

Der am genannten Tage festgcstellte Befund 
war folgender: Pat. ist ein gesund aussehender 
Mann mit guter Muskulatur und geringem 
Fettpolr-ter. Die Muskulatur des linken Armes 
fühlt sich nicht wtlker an als die des rechten. 

Die Umfänge betragen: 

Oberarm rechts 22,0 cm, links 21.5 cm 

Vorderarm „ 21.5 „ , „ 21.0 „ 

Hand ohne Daumen „ 19.5 * 19,5 „ 

7 cm üi.er dem Handgelenk fühlt man eine deut¬ 
liche Knochenverdickung der Speiche. Die Beweg¬ 
lichkeit ist im Schulter-, Ellenbogen-, Hand- und 
sämmtlichen Fingergelenken activ und passiv 
frei, nur sollen die extreme Pro- und Supination 
empfindlich sein. Die Hand kann mit gebeugten 
Endgliedern fest zur Kaust geschlossen werden. 
Der Händedruck wird mit etwas verminderier 


I Kraft ausgeübt. Pat. empfindet bei der Arbeit 
noch Schmerzen im Arm 



Obgleich die Diagnose der Einknickung 
sicher schien, ergab die gewohnheitsmässige 
Röntgenaufnahme das überraschende Re¬ 
sultat, dass es sich nicht um eine Infraction* 
sondern um eine ganz reelle Fractur ge¬ 
handelt hat, die, wie aus dem Röntgenbilde 
ersichtlich ist, geradezu ideal geheilt war. 
Schon am 7. III. 1903 konnte Pat. mit nor¬ 
maler Functionsfähigkeit aus der Behand¬ 
lung entlassen werden. 

DieZahl der Vorderarmbrüche, welche m 
den letzten 10 Jahren mir zur Nachbehand¬ 
lung überwie*en wurden, beläuft sich auf 
mehrere Hundert Fälle, welche durchweg 
mit fixirenden Verbänden behandelt waren* 
doch findet sich unter denselben auch kein 
einziger, welcher quoad functionem ein so 
ausgezeichneiesResultataufwies. DerZufall* 
dass hier eine Fractur für eine Infraction irr- 
thümlich angesehen war, hat im Streite der 
Meinungen ein Urtheil gefällt, dem sich kein 
Arzt wird entziehen können. Dass man aber 
auch typische Radius-Rissfracturen ohne 
fixirende Verbände behandeln soll, werde 
ich an der Hand einiger so behandelter 
Fälle in einer späteren Arbeit beweisen. 


l'tir die Rejü^ion ver ntwg. tlich: Piof. G. Klempercr in Berlin. — Verantwortlicher Redactewr für Oi str-rTeicii-Ungarn: 


DÄtäöi'gr 


/ien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. —Verlag von Urba tfi& S‘C h:V a tft n ü e r £ 

in Wien -nd Berlin. (JNIVERSITY OF CALIFORNIA 










Nicht von der Röntgentherapie, die sich 1 Nuitzeffect des Röntgenverfahrens für die 
binnen weniger Jahre, insbesondere seit interne Therapie übernehme, so ist nach 
der sachverständigen Besprechung auf dem : dem Gesagten damit dieselbe nach Form 
Hamburger Naturforscher-Congress 1901, I und Inhalt als Skizze berechtigt und ent¬ 
ein eigenes Gebiet und ein specielles Stu- schuldigt, zumal für die Diagnose erst die 
dium gesichert hat, soll in folgenden Zeilen 1 Wechselbeziehung der Untersuchungs- 
die Rede sein, sondern es soll eine kurze methoden die einzelnen vollgültig er- 
Darstellung gegeben werden, wann, wo scheinen lässt. 

und wie das Röntgenverfahren in der Noch eine Einschränkung kommt hinzu, 
inneren Medicin rathend und helfend, soweit nämlich der Internist in weitaus 
mittelbar und unmittelbar in den Heilplan den meisten Fällen, in denen das Röntgen¬ 
einzugreifen geeignet ist. Insofern nun verfahren ihm therapeutischen Nutzen 
die Therapie den Endzweck jeder wissen- bringt, seine Stelle dem Chirurgen abzu- 
schaftlichen und praktischen Medicin dar- treten hat. Diese Grenzgebiete sind aber 
stellt, und zwar in allgemeiner Gültigkeit, selbstverständlich in die folgenden Be- 
nicht nur vom idealen Standpunkt der trachtungen mit einzubeziehen. 

Humanität im weitesten Sinne oder vom Eine ganze Reihe neuerdings einge- 
praktischen socialer Hygiene aus be- führter und weiter ausgebildeter Verfahren 
trachtet, und insofern weiterhin eine be- verdankt seine Entstehung dem Bestreben, 
rechtigte und aussichtsreiche Therapie sich den feinsten unserer Sinne, das Auge, zur 
nur auf einer mit allen Erfahrungs- und Stellung der Diagnose und zur Ausführung 
Hülfsmitteln begründeten Diagnose auf- der Therapie zu verwerthen; um so dank¬ 
bauen kann, würde also die Behandlung barer Hessen es sich die medicinischenDisci- 
meines Themas identisch sein mit der Be- plinen angelegen sein, die Entdeckung der 
antwortung der oft ventilirten Frage: »wel- Röntgenstrahlen in ihren Specialgebieten 
chen Nutzen bedeutet das Röntgenver- nutzbar zu gestalten. Unter Röntgenver¬ 
fahren für die innere Medicin?“ Bezüglich fahren versteht man bekanntlich heute so- 
der hülfsfreudigeren und hülfsreicheren wohl die Untersuchung mittelst des Fluo- 
Chirurgie könnte eine derartige Identifici- rescenzschirmes, als auch die Verwendung 
rung allerdings eine gewisse Berechtigung der photographischen Platte, Radioscopie 
beanspruchen, für die innere Medicin ist und Radiographie. Beide sind, das muss 
das leider keinesfalls angängig. Können immer wieder betont werden, gleich- 
wir doch hier auf Grund der uns heute werthige, einander ergänzende, aber keines- 
zur Verfügung gestellten exacten That- wegs sich ersetzende Untersuchungsmetho- 
sachen nur ausnahmsweise und unter be- den. Während Bewegungsvorgänge, bei- 

sonders günstigen Bedingungen dem Orga- spielsweise des Herzens, nur auf dem 

nismus in seinem individuellen Kampfe Schirm und nicht, wie man anfangs meinte, 
ums Dasein durch Aenderung der für ihn auch aus den Tiefenvariationen der Schatten¬ 
pathologischen Bedingungen und Vorgänge Silhouette auf der Platte erkannt werden 
zu Hülfe kommen, — und haben doch hier können, so vermag wiederum die photo- 

erst vor nicht allzu langer Zeit die biolo- graphische Platte durch Summirung ge- 

gischen Wissenschaften ihre gemeinsame ringerer Helligkeitsverschiedenheiten, als 
Arbeit aufgenommen! — Also nur unter sie dem Auge empfindbar sind, Resultate 
besonderen und engen Gesichtswinkeln ist zu liefern. Reize summiren kann das Auge 
hier der Nutzen, den die innere Medicin aus nicht, bezüglich einer Differenzerkennung 
einem ihrer diagnostischen Hülfsmittel, muss die Reizschwelle überschritten sein, 
dem Röntgenverfahren, zieht, zu betrachten. Die Helligkeitsdifferenzen sind aber ab- 
Und wenn ich also die aus praktischen hängig von der Absorptionsfähigkeit der 
Gesichtspunkten wünschenswerthe Beant- durchstrahlten Materie für Röntgenstrahlen 
wortung der direkten Frage nach dem und diese wieder von deren Dichte und 


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242 Die Therapie der 


dem Atomgewicht ihrer elementaren Theile. 
— Werden nun die physiologischen Durch¬ 
leuchtungsverhältnisse des menschlichen 
Organismus als bekannt vorausgesetzt, so 
werden sich pathologische Resultate überall 
da ergeben, wo erstens der eigene oder 
reciproke Bewegungsmodus darstellbarer 
Organe oder ihr Situs sich geändert hat, 
und wo zweitens, Grösse, Dichte oder die 
Elementargewichte derselben sich durch 
Resorptions-, Infiltrations- oder Substitu¬ 
tionsvorgänge in einer die obigen Voraus¬ 
setzungen erfüllenden Intensität verschoben 
haben. Die ersteren Folgezustände können 
ohne die zweiten oder neben ihnen oder 
durch sie entstehen. Damit wäre eine 
Disposition auch unseres Themas gegeben, 
der wir jedoch um Wiederholungen zu 
vermeiden, nicht folgen wollen. 

Aus dem Gebiete der sogenannten 
akuten Infectionskrankheiten ist 
nichts über einen therapeutischen Effect 
des Röntgenverfahrens im angenommenen 
Sinne zu melden, falls wir Secundärin- 
fectionen, Complicationen und Nachkrank¬ 
heiten, wie septische und pyämische Er¬ 
krankung der Gelenke, des Periosts, Mus¬ 
kel- und Lungenabscesse, eitrige Pleuri¬ 
tiden u. s. f. ausschliessen und einer späte¬ 
ren Besprechung reserviren. 

Unter den Krankheiten des Respira- 
tionstractus bilden diejenigen der Nase 
und des Kehlkopfes den Gegenstand eige¬ 
ner Fachwissenschaften. Der Vollständig¬ 
keit halber sei angeführt, dass hier specielle 
therapeutische Resultate vorliegen. In 
seinen Arbeiten „die Orientirung auf dem 
Röntgenbilde des Gesichtsschädels und des 
Studiums der oberen nasalen Nebenhöhlen 
auf demselben“ und „in welcher Weise 
kann bei eitrigen Erkrankungen der oberen 
nasalen Nebenräume das Röntgenbild des 
Gesichtsschädels den Operationsplan, diese 
Hohlräume durch äussere Eingriffe frei 
zu legen, modificiren?“ weist Win ekler 
auf das Siebbein, als Mittelpunkt der durch 
nasale Krankheiten entstandenen Herd¬ 
eiterungen hin, zeigt auf kritisch erläuterten 
Röntgenbildern die Darstellungsmöglichkeit 
der betreffenden Schädelpartien und fixirt 
seinen Standpunkt so, dass vor Einleitung 
jeder Therapie, wenn man eine Nebenhöhlen¬ 
eiterung richtig beurtheilen wolle, die Be¬ 
schaffenheit und Betheiligung der Siebbeins 
an dem Process festzustellen sei, auch 
wenn diese Ermittelung längere Zeit in 
Anspruch nehmen sollte, und weiter, dass 
das Röntgenbild bei der Wahl der Ope¬ 
rationsmethode jeweils von beachtens- 
werthem Einflüsse sein könnte. 


Gegenwart 1903. Juni 


Auf dem Gebiet der Laryngologie 
ist es besonders Sc hei er gewesen, der 
durch eingehende Arbeiten die Verwen¬ 
dungsmöglichkeit der Röntgenstrahlen be¬ 
wies. Neben Fremdkörpern sind es die 
Verknöcherungsprocesse am Kehlkopf, die 
z. B. auf den Palpationsbefund eines extra- 
laryngealen Tumors und seine Operabilität 
Einfluss gewinnen können. 

Unter den primären Erkrankungen 
der Trachea und der grossen Bron¬ 
chien wird die Feststellung einer oder 
mehrerer Stenosen nur einen minimalen 
therapeutischen Werth haben. Vielleicht 
Hesse sich in geeigneten Fällen von Syphilis 
der grössten Luftwege, in denen der Haupt¬ 
bronchus einer Seite stärker betroffen 
wäre, der Erfolg einer antiluetischen Cur 
an dem Verschwinden oder Geringerwerden 
der drei Symptome: Hochstand und min¬ 
dere inspiratorische Abwärtsbewegung des 
Zwerchfells, Hinübergezogenwerden des 
Mittelschattens in die stenosirte Seite bei 
der Inspiration und steileres Abfallen der 
enger an einander liegenden Rippen gegen¬ 
über der gesunderen Seite — verfolgen. 
Dagegen kann die ätiologische Erklärung 
einer sekundären Dislocation und Steno- 
sirung der Trachea, z. B. in Gestalt eines 
durch eine Spondylitis hervorgerufenen 
Abscesses, von therapeutischer Bedeutung 
werden. 

Ein dankbareres Gebiet ist das der 
Fremdkörper in den Luftwegen, aber 
auch nur bezüglich geeigneter Fälle. Zu¬ 
nächst kann ein Fremdkörper als zufälliger 
Befund, so als Grund einer Abscedirung 
in den Lungen gefunden werden. Sodann 
wird durch exacte Lokalisation, ev. unter 
Einführung von Instrumenten die Entschei¬ 
dung getroffen werden können, ob der 
Fremdkörper noch mittels der Killian- 
schen Methode von der Trachea aus zu 
erreichen ist. 

Spiess theilte vor zwei Jahren einen 
hierhergehörigen interessanten Fall mit: 
Patient hatte vor ö 1 /* Jahren beim An¬ 
kleiden in Folge eines Hustenanfalls einen 
Hemdenknopf „verschluckt“. Aus dem auf¬ 
gehobenen Geräusch über dem Unterlappen 
war der Fremdkörper im zuführenden 
Bronchus angenommen, eine sofort vor¬ 
genommene Tracheotomie lieferte damals 
kein Resultat. Nach wiederholter Tracheo¬ 
tomie konnte nun Spiess 20 cm entfernt 
von der Wunde die Fussplatte des Knopfes 
sehen, tasten und mittelst aufgenommener 
Röntgenbilder documentiren, dass die 
Zange direct am Knopf in einer kleinen 
Abscesshöhle lag. Die Extraction gelang 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


243 


nicht, weil sich im Laufe der Jahre der I 
Bronchus oberhalb des Knopfes stark ver- i 
engt hatte. So musste der Patient zu | 
Grunde gehen, während jetzt, nach Ent- ! 
deckung der Röntgenstrahlen, die vorge¬ 
nommene Untersuchung ihn wahrscheinlich , 
gerettet hätte. Dass es oft trotzdem nicht 
gelingen kann den Fremdkörper zu ent¬ 
fernen, zeigt ein Fall von Thost (aspirirte 
Federhalterhülse als quergestellter Schatten 
vor der Wirbelsäule). 

Maassgebend muss immer das Material 
des Fremdkörpers sein, je specifisch schwe¬ 
rer er ist, desto leichter darstellbar wird 
-er sein. Aehren, Gräten, Holzstückchen, 
Bohnen, Erbsen, Kerne, Fleischstücke, Spul¬ 
würmer werden nicht, Knochenstückchen 
nur, wenn sie etwas grösseren Kalibers 
sind (z. B. Zähne), alle metallischen oder 
mineralischen Gegenstände mehr oder min¬ 
der gut erkennbar sein. Wenn auch die 
Fremdkörpertherapie an sich fast immer 
eine chirurgische sein wird, so kann es 
doch auch wünschenswerth erscheinen nach 
Entfernung des Corpus alienum, die durch 
Lagerung des Kranken, eventuell verbun¬ 
den mit künstlichem Erbrechen gelang, zu 
erfahren, ob der noch längere Zeit em¬ 
pfundene Reiz auf Residuen eines zer¬ 
bröckelten Körpers beruht. 

Die genauere Lokalisation der Bron- 
chialcarcinome und Bronchialdrüsen¬ 
tumoren ist für die Therapie belanglos, 
dagegen die Röntgenuntersuchung der 
Bronchiectasen keineswegs. Zunächst 
wird man über Grösse und Sitz einer 
bronchiectatischen Caverne sich einwands¬ 
freier, als mittelst der Percussion und der 
Auscultation allein, orientiren können, so¬ 
dann wird der Füliungszustand nach Ein¬ 
nahme einer bestimmten Körperlage und 
eventueller Beeinflussung durch Inhalations¬ 
mittel einen therapeutischen Erfolg docu- 
mentiren können, vor Allem wird aber die 
Indicationsstellung einer operativen Be¬ 
handlung durch Feststellung der Abwesen¬ 
heit sonstiger Heerde möglich. Ausserdem 
werden die Beziehungen zur Pleura und 
zum Mediastinum demonstrirt werden. Die 
Differentialdiagnose zwischen Bronchi- 
ectasie, chronischem Lungenabscess und 
mit dem Bronchialbaum communicirendem 
chronischem Empyem ist allerdings ebenso 
wie mittelst anderer Untersuchungsmetho¬ 
den oft unmöglich, da ja die Umgebung 
bei allen dreien zum Theil in der ver¬ 
wachsenen oder verdickten Pleura be¬ 
stehen kann. Allen dreien ist ja aber der 
operative therapeutische Modus gemeinsam, j 
Neben weiteren hier nicht zu erwähnen 


den Ursachen für eine Bronchiectasie kann 
in ungemein seltenen Fällen intrapulmonal 
entstandene und in die Bronchien gelangte, 
oder auch in ihnen entstandene Concre- 
cremente in Betracht kommen. DieBron- 
chiolithiasis (Poulalion, Fraenkel 
u. A.) äussert sich in asthmatischen An¬ 
fällen mit eventueller spärlicher Hämoptoe 
und Aushustung eines oder mehrerer Con- 
cremente. Damit kann Heilung eintreten. 
Da ein solches Kalkconcrement in der Ein¬ 
zahl vorhanden sein kann (Ursprung meist 
eine verkalkte und durch einen Einschmel- 
zungsprocess in den Bronchialbaum ge¬ 
langte Drüse), so wäre eine Röntgenunter¬ 
suchung hierfür gleichwerthig, wie für einen 
von aussen eingedrungenen Fremdkörper. 
Eigene Fälle habe ich nicht beobachtet. 
Zu Verwechselungen müsste die Pseudo- 
phthisis calculosa führen können. 

Wenn wir an dieser Stelle der übrigen 
Formen von nicht cardialem Asthma ge¬ 
denken, so ist von denselben in unserem 
Sinne nichts anzuführen. Das Studium des 
typischen Bronchialasthma-Anfalles (Levy- 
Dorn, Rumpf) konnte therapeutisch nicht 
benutzt werden, auch hilft uns, wenn wir den 
Namen beibehalten, bezüglich des Asthma 
thymicum nichts die allerdings mit Röntgen¬ 
strahlen leicht darstellbare Grösse der Drüse. 

Von den Röntgenuntersuchungen der 
| Lungenkrankheiten liefert uns diejenige 
des Emphysems ein doppeltes Resultat. 
Zunächst ist durch die Darstellung der 
wahren Herzgrösse, die für die Percussion 
durch das Emphysem erschwert oder ver¬ 
eitelt, für die Röntgenuntersuchung er¬ 
leichtert wird, der Prognose, der Prophy¬ 
laxe und directen „Herztherapie* ein Dienst 
geleistet. Zweitens ist die Möglichkeit ge¬ 
geben durch Betrachtung und Aufzeichnung 
der Zwerchfellexcursionen neben anderen 
Factoren Erfolge der manuellen oder ma¬ 
schinellen oder pneumatischen Therapie 
zu constatiren und zu controliren. Die 
begleitende Bronchitis verdunkelt allerdings 
ein oder beide Lungenfelder, mehr die 
unteren Partieen oder diffus; Verdichtungs¬ 
heerde sind ceteris paribus in emphyse- 
matösen Lungen entgegen den übrigen 
physikalischen Untersuchungsmethoden 
leichter erkennbar, als in sonst normalen. 
— Die radiologischen Resultate bei ausge¬ 
dehnteren Atelectasen, Lungenödem 
und auch den Lobulärpneumonieen 
sind unergiebig; schon der meist schwere 
Zustand des Kranken lässt eine Röntgen¬ 
untersuchung nicht zu. 

Günstiger steht es mit der Lobär¬ 
pneumonie. Der Nachweis central ge- 


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Juni 


244 Die Therapie der Gegenwart 1903. 


legener pneumonischer Heerde gelingt vor 
deren klinischem Nachweis (Lichtheim). 
Vornehmlich sind es aber die Resolutions¬ 
vorgänge, die ein hohes Interesse bean¬ 
spruchen. An einer grösseren Zahl von 
Pneumonikern konnte ich im letzten Win¬ 
ter beobachten, dass fast ausschliesslich 
sich Helligkeits- und Zwerchfellbewegungs¬ 
differenzen zu Ungunsten der vorderen 
erkrankten Seite in der Reconvalescenz 
noch finden, wenn Percussion und Auscul- 
tation nur noch minimale oder gar keine 
Abweichungen vom Normalen ergaben. 
Das entspricht nicht einfach der „ver¬ 
zögerten Lösung“, sondern es scheinen 
doch die Autodigestionsvorgänge später 
abgeschlossen zu sein, als man sich ge¬ 
wöhnlich vorstellt. Das könnte für die 
Prophylaxe der Nachkrankheiten, ebenso 
wie für den Begriff der Heilung Werth 
erlangen. Die Verhältnisse am Herzen, 
speciell am rechten, sind während der 
Pneumonie auch in den Fällen, in denen 
der Infiltrationsschatten nicht stört, unüber¬ 
sichtlich schon wegen der Massenänderung 
der ergriffenen Lappen und des im Fieber 
erhöhten diastolischen Volumens; dem 
zweiten accentuirten Pulmonalton entspricht 
eine ergiebige Pulsation des mittleren lin¬ 
ken Bogens. Prognostische oder thera¬ 
peutische Schlüsse für das Pneumonieherz 
lassen sich nicht gewinnen. Dem Ausgang 
der Pneumonie in Schrumpfung entspricht 
natürlich ein entsprechender Röntgen¬ 
befund, über den in Gangrän oder Abscess 
siehe weiter unten. 

Viel discutirt ist die Frage: ist die 
Frühdiagnose der Lungenphthise mit¬ 
telst der Röntgenuntersuchung ebenso gut, 
besser oder schlechter zu stellen, als mit¬ 
telst unserer anderen Untersuchungs¬ 
methoden. Die zur Zeit zu gebende Ant¬ 
wort ist einfach: Unter Verzicht auf die 
Controle der letzteren schlechter, als mit¬ 
telst dieser allein; in Verbindung mit ihnen 
in einzelnen Fällen besser, in den meisten 
Fällen ebenso gut, wie vordem. Aber schon 
diese einzelnen Fälle fordern die ausge¬ 
dehnte Anwendung der Röntgenstrahlen 
bei sonst zweifelhaftem Befund. Die Früh¬ 
diagnose ist das einzig sichere Fundament 
einer aussichtsvollen Therapie. Die Dia¬ 
gnose: beginnende Lungentuberkulose ist 
manchmal nur eine bacteriologisch begrün¬ 
dete. Das ist bezüglich zu erwartender 
Röntgenresultate ebenso zu berücksich¬ 
tigen, wie der Umstand, ob wir es mit 
einer frischen Infection oder mit einer Ex¬ 
acerbation eines theilweise abgeheilten 
Processes zu thun haben. Die diffusen 

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schwachen Schatten einer Lungenfeldspitze 
sind selten in positivem Sinne stricte be¬ 
weisend. Es kommen hier auch ohne spe- 
cifische Erkrankung entsprechend dem 
Schallunterschied überden Spitzen Schatten¬ 
differenzen beim Gesunden vor. Ausge¬ 
heilte, eventuell verkalkte Heerde werden 
sich viel deutlicher darbieten, als die frischen 
Infiltrate. Ob nun neben ersteren frische 
Processe vorhanden sind, das zu entschei¬ 
den, ist das Röntgenverfahren sicher nicht 
berufen. Jene einzelnen Fälle, in denen 
die Röntgenuntersuchung Specielles leistet, 
sind zweierlei Art. Erstens sind es jene, 
in denen bei einem frischen Infect die 
Bronchialdrüsen miterkranken, oder viel¬ 
leicht den Ausgang der Infection bilden 
(bei Kindern Vorsicht!) oder in denen ein 
Symptom, das auch sonst bei Spitzen¬ 
erkrankungen oft (in meinen Fällen in 
über 30 %) gefunden wird, ohne den siche¬ 
ren Nachweis einer solchen positiv ist. 
Dies zuerst von Williams beschriebene 
Phänomen beruht auf einer inspiratorischen 
Minderbeweglichkeit der betreffenden 
Zwerchfellhälfte und erklärt sich vielleicht 
durch primäre, ohne sonstige Erscheinun¬ 
gen verlaufende trockene Pleuritiden zu¬ 
sammen mit nervösen Einflüssen. Wo wir 
dies Symptom ohne weitere Anomalieen 
des Thorax oder Abdominalorgane finden, 
sind wir berechtigt an einen gleichseitigen 
Spitzenkatarrh zu denken. — Die weitaus 
ergebnissreichere Röntgendiagnose der vor¬ 
geschritteneren Processe kommt an dieser 
Stelle nicht in Betracht. 

Jeder Fall von Lungengangrän sollte, 
wenn irgend möglich, heutzutage radio¬ 
logisch untersucht werden. Erstens ist es 
mittelst geeigneter Versuchsanordnung fast 
ausschliesslich angängig den Heerd genau 
zu lokalisiren und sich von der Abwesen¬ 
heit sonstiger Schatten zu überzeugen, und 
zweitens ist die vom Chirurgen erwünschte 
Verklebung der Pleurablätter, jedenfalls 
bezüglich der unteren Lungenränder, zu 
demonstriren. (Die radiologischen Erschei¬ 
nungen der Verwachsung der unteren 
Lungenränder sind, richtig gewürdigt, zu¬ 
verlässig; . . . An höher gelegenen Stellen 
der Pleura ist die Diagnose der Oblitera¬ 
tion unsicher und an Zufälligkeiten gebun- 
bunden. Holzknecht.) Vorher circum- 
script gehörtes pleuritisches Reibegeräusch, 
das bei Constantbleiben oder Fortschreiten 
des Processes mehr oder minder plötzlich 
verschwindet, ist bezüglich Verklebung 
der Pleura fast beweisend. So erinnere 
ich mich eines Falles, in dem das Röntgen¬ 
bild zusammen mit diesem Symptom einen 

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245 


Juni Dir» Therapie der 


apfelgrossen Gangränheerd (typisches Spu¬ 
tum) im unteren Theile des rechten Ober¬ 
lappens mit Verklebung der Pleurablätter 
annehmen Hess. Die Eröffnung an der 
Stelle, an der früher das pleuritische Reiben 
gehört war, Ausspülung und Verschorfung 
mit dem Paquelin brachte die Gangrän zum 
Stillstand und Heilung. Bei der Section 
der später an Nephritis gestorbenen Frau 
erwies sich die Ausheilung als manifest. 

Der Lungen ab sc es s ist nach gleichen 
Gesichtspunkten zu betrachten. — Unter 
den Geschwülsten der Lunge kommt thera¬ 
peutisch wohl nur der Echinococcus in 
Betracht. Die scharfe Abgrenzung gegen 
das Lungenparenchym lassen eine exacte 
Localisation und Grössenbestimmung zu. 
Auch über den Infectionsmodus erfahren 
wir unter Umständen etwas. So ging in 
dem von Levy-Dorn und Zadek mit- 
getheilten Falle von dem im Inneren hel¬ 
leren, mit dem Bronchialbaum (Sputum!) 
communicirenden Sacke ein Schattenband 
nach dem lungenwärts stumpfwinklig ab¬ 
geknickten Zwerchfell als Ausdruck der 
Infectionsrinne von der Leber her. (Ausser¬ 
dem ein kleinerer Sack im linken Lungen¬ 
feld ; Lage und Grösse der Heerde konnte 
mangels physikalischer Befunde am Thorax 
— Bronchialkatarrh — nicht vermuthet 
werden.) 

Von den Erkrankungen der Pleura 
kann die acute trockene Pleuritis hier 
ausser Acht gelassen werden; wo sie sich, 
nicht durch andere physikalische Methoden 
nachweisbar, als Pleuritis diaphragmatica 
durch Minderbeweglichkeit der betreffenden 
Zwerchfellhälfte erkennen lässt, kann ihr 
Vorhandensein allerdings wichtig genug 
werden. Ein so hohes diagnostisches In¬ 
teresse ferner die kleinen pleuralen Er¬ 
güsse, Ort und Art ihrer Entstehung haben, 
therapeutische Maassnahmen sind daraus 
nicht abzuleiten. Anders steht es mit den 
grösseren und grossen Ergüssen. Wenn 
Gerhardt im Allgemeinen als Indication 
für die Punction eines Exsudates drei 
Hauptpunkte namhaft machte, nämlich: 
1. Wenn das Exsudat durch seine Ver¬ 
drängungserscheinungen oder seine Grösse 
lebensgefährlich wird, 2. wenn unerträg¬ 
liche subjective Beschwerden vorhanden 
sind und 3. wenn trotz anderweitiger The¬ 
rapie in 2—3 Wochen das Exsudat nicht 
abnimmt, so sind bezüglich des 1. und 
3. Postulates wichtige röntgenologische 
Daten beizubringen. Ebenso wie die Ver¬ 
drängungserscheinungen der Mediastinal- 
organe, ist auch das Zu- und Abnehmen 
der Flüssigkeit und die Beweglichkeit ein- 

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Gegenwart 1903. 


wandsfrei zu studiren. Auch für die Punc- 
tionsstelle lassen sich durch das Röntgen¬ 
bild Resultate gewinnen. An dieser Stelle 
sei übrigens darauf hingewiesen, dass wirk¬ 
lich frei beweglich nur das Exsudat im 
Pneumothorax ist, selbst die beweglichsten 
Transsudate stellen sich erst nach Secunden 
bei Lagewechsel horizontal ein, die Exsu¬ 
date äusserst selten und niemals mit schar¬ 
fer geradliniger oberer Grenze, zumal wenn 
sie etwas länger bestanden haben oder im 
Abnehmen begriffen sind. 

Von grösstem therapeutischen Interesse 
sind nun die Röntgenbilder der sogenann¬ 
ten interlobären Pleuritiden, resp. 
Empyeme, während das gewöhnliche Em¬ 
pyem sich nicht anders, als eine nicht 
eitrige Pleuritis darstellt. Das klinische 
Bild dieser interlobären Pleuraergüsse, zu¬ 
mal eitriger Natur, ist keinesfalls eindeutig, 
dabei aber ein operativer Eingriff lebens¬ 
rettend. Beel er e hat speciell in seinem 
Büchlein: „Les Rayons de Röntgen et le 
Diagnostic des affections thoraeiques non- 
tuberculeuses“ die Aufmerksamkeit auf dies 
Krankheitsbild gerichtet und einen unge¬ 
mein instructiven Fall mitgeteilt: „J’en rap- 
pellerai brievement un seul cas, celui d'un 
enfant de cinq ans, pr£sentant tous les 
symptömes d’une affection consomptive des 
poumons, abondante expectoration puru¬ 
lente, fievre hectique, amaigrisseraent, 
doigts hippocratiques, et qui, v^ritable 
phtisique dans le sens £tymologique du 
mot, etait depuis huit mois traite par plu- 
sieurs medecins comme un tuberculeux 
vulgaire. Chez cet enfant, l’examen 
radioscopique contribua avec d’autres 
signes ä rectifier le diagnostic; il montra 
l’integritg du poumon et fit reconnaftre 
Texistence d une pleur^sie interlobaire sup- 
purde, d’origine pneumococcique, en com- 
munication avec les bronches. Une Inter¬ 
vention chirurgicale, malheureusement trop 
tardive, en mit l’existence hors de doute. 
Voici quels £taient les signes radioscopiques: 
l’image du poumon gauche etait entiere- 
ment claire du sommet ä la base; celle du 
poumon droit, parfaitement claire au som¬ 
met, pr£sentait, entre cette zone inter- 
mediaire sup£rieure tres brillante et la 
base moins brillante, mais encore claire, 
une zone interm€diaire tout ä fait sombre, 
nettement limitee en haut par un ligne 
oblique qui correspondait assez exactement 
au siege et ä la direction de la grande 
seissure interlobaire; cette zone sombre etait 
moins bien limitee ä sa partie inferieure.“ 

Nach geschehener Punction eines Pleura¬ 
ergusses orientirt die Röntgenuntersuchung 


Original fram 

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246 


Die Therapie der 


über die BewegungsverhältnissederThorax- 
seite und Zwerchfellhälfte, über vorüber¬ 
gehende Verklebungen, bleibende Ver¬ 
wachsungen, Schwarten, Adhäsionsstränge 
u. s. f. Speciell in Fällen, die die Unfalls¬ 
versicherung betreffen (Thoraxtrauma durch 
Quetschung, Stoss, Fall etc.), kann bezüg¬ 
lich der oft vagen, aber ständigen Klagen 
der Rentenbewerber ein Röntgenbefund 
geradezu erlösend wirken und im Verfolg 
bestimmen, was durch eine rationelle phy¬ 
sikalische Therapie noch zu erreichen ist. 

Die Röntgenuntersuchung eines Pneumo¬ 
thorax ergiebt zunächst Grösse eines be¬ 
gleitenden Exsudats, die Verdrängung des 
Mediastinums und die Zwerchfellconfigura- 
tion, eventuell dessen paradoxe Bewegung, 
aber orientirt auch, was für unsere Zwecke 
von grosser Bedeutnng ist, falls das Ex¬ 
sudat nicht zu bedeutend ist, über Lage, 
Form und Grösse der collabirten Lunge. 
Prognostisch und unter Umständen auch 
therapeutisch ist z. B. doch ein Pneumo¬ 
thorax, in dem die Lunge völlig collabirt 
dem Mittelschatten anliegt, von einem sol¬ 
chen, in dem sie durch Infiltrate, Ver¬ 
wachsungen etc. an dem Collaps mehr oder 
minder gehindert wird, zu trennen. So¬ 
dann sind aber besonders die Heilungs¬ 
vorgänge mittelst des Röntgenverfahrens 
controlirbar. Speciell für den auf trauma¬ 
tischem oder operativem Wege entstande¬ 
nen Pneumothorax lehrten Beck u. A. wäh¬ 
rend des Heilungsverlaufes die Grösse der 
Höhle durch Wismuthausgiessungen etc. 
darstellen, um zu entscheiden, ob bei Ver¬ 
schluss der äusseren Fistel am inneren 
Ende eine Höhle besteht oder nicht. Dass 
übrigens, ebenso wie mittelst anderer Me¬ 
thoden, ein abgesackter Pneumothorax 
nicht von einer sehr grossen Caverne 
durch die Röntgenuntersuchung unter¬ 
schieden werden kann, dafür erlebte ich 
jüngst einen instructiven Fall, den ich an 
anderer Stelle mittheilen werde. 

Die Röntgenuntersuchung der Media- 
stinaltumoren, die differentialdiagnostisch 
so unendlich werthvoll ist, ist therapeutisch 
unfruchtbar. Echinococcen, Dermoidcysten 
und einfache Cysten, die übrigens durch 
mitgetheilte Pulsation von der Aorta her 
selbst dilatatorische Pulsation und damit 
einen Aneurysmasack Vortäuschen können 
(Pflanz), kämen höchstens operativ in Be¬ 
tracht. Die persistente oder vergrösserte 
Thymus, die dann ihrerseits Ausgang einer 
Neubildung sein kann, ist bisher nicht 
Gegenstand einer Therapie geworden. 

Die Pathologie des Herzens ist von 
Anfang an Hauptgegenstand der Röntgen¬ 


Gegenwart 1903. Juni 


forschung gewesen. Und doch müssen 
wir dies Capitel an dieser Stelle kurz er¬ 
ledigen, insofern die Therapie, auch wenn 
wir ihr die Prophylaxe in weitgehendstem 
Maasse zurechnen, wenig profitirt hat. 
Auch aus der Methodik der Orthodiagraphie 
sind nicht die Anfangs gehofften glänzen¬ 
den Resultate hervorgegangen. Erstens 
lässt sich eben eine Funktionsprüfung des 
Circulationsorgans nicht einfach aus den 
Grössenverhältnissen des Motors allein 
entnehmen, wenn zweitens zudem noch 
diese Grössenverhältnisse in gewissem Sinne 
einseitig beurtheilt werden müssen. Ein 
direkter und zwingender Einfluss therapeu¬ 
tischer Maassnahmen, wie z. B. von Kohlen¬ 
säure-Bädern, elektrischen oder Massage- 
Proceduren, konnte gleichfalls bisher nicht 
in allgemeiner Gültigkeit festgestellt werden. 
Darin schützt jedenfalls das orthodia- 
graphische Verfahren vor Scheinresultaten, 
wie sie mit neuerdings beliebten und 
keineswegs physikalisch begründeten Metho¬ 
den erhalten und mitgetheilt werden. 

Auch über die Therapie des Aorten¬ 
aneurysma, dessen Diagnose und Diffe¬ 
rentialdiagnose durch das Röntgenverfahren, 
speciell durch Betrachtung in den schrägen 
Durchleuchtungsrichtungen ein tüchtiges 
Stück gefördert wurde, gehen wir still¬ 
schweigend hinweg. Von den Gelatine- 
injectionen, die den Aneurysmasack sicht¬ 
lich verkleinern sollten, ist es still geworden. 

Unter den Erkrankungen des Di¬ 
gestionsapparates sind es zuerst Ano¬ 
malien der Dentition, die hier in Betracht 
kommen. Albers - Schönberg weist in 
seinem vor Kurzem erschienenen, trefflichen 
Buch „Die Röntgentechnik“ auf das Miss¬ 
verhältnis hin, das zwischen der An¬ 
wendung des Röntgenverfahrens von Seiten 
der Zahnärzte und den erreichbaren Re¬ 
sultaten besteht. Aber nicht nur für den 
zahnärztlichen Therapeuten, sicher auch 
für den Kinderarzt ist es wichtig, über den 
Grund ausbleibenden oder anomalen Zahn¬ 
wuchses und -Wechsels orientirt zu sein. 
Auch ermöglicht die Differentialdiagnose 
zwischen Zahnerkrankungen und neural¬ 
gischen Beschwerden, zwischen Cysten. 
Fisteln, carciösen und gummösen Erkran¬ 
kungen der Kiefer, wie sie in der That 
das Röntgenverfahren zu Stande bringt, 
erst die Befolgung einer exakten Therapie. 
Für die Darstellung der Zahnverhältnisse 
sind meist kleine, wenige cm 2 messende, 
sorgfältig in wasser-und lichtdichtes Material 
eingewickelte Filmsstreifen in Verwendung, 
sodass die Aufnahme vom Munde aus ge¬ 
schieht. 


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Juni 


247 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Auf Bildern, die eine Larynx-Aufnahme 
bezwecken, gelingt es, sich über die 
Glandula submaxillaris und in ihr be¬ 
findliche Speichelsteine zu orientiren. The¬ 
rapeutisch hat dies gewiss Interesse. Die 
Struma ist weiter unten gelegentlich der 
Besprechung des Morbus Basedowii aus 
Zweckmässigkeitsgründen abgehandelt. — 

Retropharyngealabscesse grenzen 
sich undeutlich oder garnicht ab. Dass 
aber Fremdkörper im Pharynx differential¬ 
diagnostisch oder therapeutisch recht er¬ 
heblich in Frage kommen können, dafür 
hat Eid jüngst einen Fall beigebracht 
(Archives of the Roentgen Ray. 1903. July. 
A set of artificial teeth lodged in the 
pharynx): Pat. fiel aus dem Bett und verlor 
das Bewusstsein. Nach dem Erwachen 
Klagen über Nacken- und Brustschmerzen. 
Die Diagnose wurde auf Wirbelfraktur ge¬ 
stellt und der Kranke mit extendirenden 
und fixirenden Verbänden behandelt. Dar¬ 
auf lässt er sich auf eigene Hand durch¬ 
leuchten und zeigt triumphirend seinen 
Aerzten das Bild des verschluckten Ge¬ 
bisses in seinem Pharynx. Am folgenden 
Tage wurde die Extraction bewerkstelligt. 
(Ref. in den Fortschritten auf dem Gebiete 
der Röntgenstrahlen VI. 2. 114.) — Die 
Sondirung als Heilfactor bei gutartigen 
Oesophagusstenosen kann aus der 
Röntgenuntersuchung, speciell der Durch¬ 
leuchtung im schrägen Durchmesser, Nutzen 
ziehen. Wismuth in Oblaten lagert sich 
Schatten producirend oberhalb der Ste¬ 
nosen ab, ist manchmal als feiner Schatten¬ 
faden nach dem Zergehen der Oblate in 
der Stenose, und meist als intensiver 
Schatten unterhalb derselben zu sehen. 
Danach lässt sich manchmal die Enge, 
meist die Länge dpr stenosirten Partie ent¬ 
scheiden. Die leicht und exact mittelst 
eines aufgeblasenen Gummiballons nach 
vorheriger Wismuthdarreichung darzustel¬ 
lenden Divertikel bieten keinen therapeu¬ 
tischen Angriffspunkt. Dagegen lassen sich 
heilbare Krampfformen des Oesophagus 
(Hysterie) auf dem Röntgenschirm studiren 
und beurtheilen. 

Wichtig ist selbstverständlich auch für 
den Oesophagus die Constatirung und Lo- 
calisation von Fremdkörpern, besonders 
auch ob dieselben bereits den Oesophagus 
passirten und sich im Magen oder Darm 
befinden. Abadie theilt einen hierher 
gehörigen Fall mit: Kleines Mädchen ver¬ 
schluckt eine grosse Stahlnadel mit dickem 
Knopf. Heftiger Schmerz im Pharynx! Radio¬ 
graphie am nächsten Tage lässt die Nadel 
im Coecum erkennen. Einige Tage später 


Nadel im Stuhlgang. — Hier ist der gut¬ 
artige Verlauf, der sich durch die Wande- 
derung der Nadel mit dem Kopf voran er¬ 
klärt, bemerkenswerth. Bleibt ein spitzer 
oder eckiger Fremdkörper im Magen oder 
Darm an derselben Stelle liegen, so kann 
man, falls keinerlei Reizerscheinungen von 
Seiten des Peritoneums vorhanden sind, 
durch reichliche Nahrungsaufnahme ver¬ 
bunden mit milden Abführmitteln versuchen 
denselben rectalwärts weiter zu befördern 
Mehrfache Röntgenaufnahmen ergeben das 
Beurtheilungsmaterial; jegliche eingehen¬ 
dere Palpation ist zu vermeiden. Tritt nun 
Festspiessung, Einkeilung etc. mit ihren 
Folgeerscheinungen ein, so ist der Fall ein 
chirurgischer ; die Localisation des Corpus 
alienum ist aber bereits erledigt. Glatte, 
runde oder rundliche, leichte und schwere 
Fremdkörper werden mit seltenen Aus¬ 
nahmen Magen und Darm glatt passiren. 
Wie oft schlucken Kinder alle Kirschkerne 
mit, weil „zu viel dranbleibt“! Handelt es 
sich um specifisch schwere runde Fremd¬ 
körper, so kann man, meist wohl nur zur 
Beruhigung des Beherbergenden, resp. 
seiner Umgebung, sich von dem Durch¬ 
gang derselben durch den Darm über¬ 
zeugen. So brachten mir vor fünf Jahren 
erregte Eltern ihren neunjährigen Jungen, 
der eine eiserne Marmel (Buttcher) ver¬ 
schluckt hatte und sie noch deutlich im 
Magen fühlte! Die Durchleuchtung ergab 
die Anwesenheit derselben bereits im 
kleinen Becken (18 Stunden nach dem Ver¬ 
schlucken). Ein einfacher Einlauf förderte 
dieselbe prompt zu Tage. — Die Darstel¬ 
lung antiperistaltischer Randbewegung im 
Darm mittelst Wismuthboli hat bisher nur 
ein physiologisches Interesse. 

Der Magen ist das einzige Abdominal¬ 
organ, dessen Grössenverhältnisse gut dar¬ 
stellbar sind, und zwar mittels einer Wis¬ 
mutaufschwemmung die sogenannte untere 
Grenze (durch einen weichen Magenschlauch 
eingegossen, Wolf Becker, Deutsche med. 
Wochenschr. 1901 No. 2). (Diese Me¬ 
thode ist besser, als alle anderen, meist 
auch umständlicheren [mit Quecksilber oder 
Schrot gefüllte oder mit Gummi überzogene 
Metallgliedersonden] besser auch für Rönt¬ 
genzwecke, als die Kohlensäureauftreibung). 
Mittelst Betrachtung der Zwerchfellkuppe 
links lässt sich die obere laterale feststellen 
Die Therapie aber entnimmt der Magen¬ 
grösse eine Reihe ihrer Begründungen. 

Die Constatirung einer Zwerchfell¬ 
hernie (meist Prolaps des Magens in die 
linke Pleurahöhle) berechtigt zum opera¬ 
tiven Einschreiten. 


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248 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juni 


Der untere Leberrand wird nur aus¬ 
nahmsweise, dann zumeist bei Kindern 
sichtbar werden. Inspection, Palpation und 
Percussion sind immer ausschlaggebend. 
Aber unter der rechten Zwerchfellkuppe 
können sich in oder auf der Form bedin¬ 
genden Leber subphrenische, einer opera¬ 
tiven Therapie zugängliche Processe ent¬ 
wickeln (Echinococcen, abgekapselte Eite¬ 
rungen u. s. f.) (Championnere berich¬ 
tete über einen Mann, bei dem zufällig bei 
einer Durchleuchtung ein Leberabscess ge¬ 
funden wurde. Die Punction bestätigte die 
Röntgendiagnose. Der Kranke genas.) — 
Links wird der subphrenische Abscess 
meist leichter diagnosticirt werden können. 

Ein Schmerzenskind für die Röntgen¬ 
diagnostik ist bisher die Cholelithiasis 
gewesen und eigentlich auch bis zum heu¬ 
tigen Tage geblieben. Mag man die The¬ 
rapie als chirurgische auffassen oder sie 
den Grenzgebieten zurechnen, jedenfalls 
liefert eine einwandsfreie Diagnose vor¬ 
handener Steinbildung doch erst den Boden 
für die Discussion weiterer Erwägungen. 
Und ist schon die palpatorische Diagnose 
der Gallenblasensteine eine keineswegs 
immer ausreichende, besonders bei der be¬ 
gleitenden Entzündung der Blasenschleim¬ 
haut, so ist die auf klinischen Schluss¬ 
folgerungen beruhende intrahepatischer 
Steine noch um ein beträchtliches un¬ 
sicherer. Deshalb ging man von Anfang 
an die Röntgenmethodik um Leistungen 
auf diesem Gebiete an. Albers-Schön- 
berg, dem es selbst gelang Gallensteine 
auf dem Röntgenbild darzustellen, meint 
in seinem bereits erwähnten Buch, dass 
gegenüber den vielen hunderten Fällen, in 
denen die Röntgendiagnose ein negatives 
Resultat ergeben hätte, die wenigen mit- 
getheilten positiven kaum in Betracht 
kämen. Trotzdem hofft er auf Grund der 
Thatsache, dass alle Gallensteine einen 
mehr oder minder deutlichen Schatten 
ausserhalb des Körpers geben und, dass 
nur die Diffussion der Röntgenstrahlen in 
der Leber eine zu bedeutende sei, es 
werde mit der Zeit unter Anwendung von 
Blenden durch eine verbesserte Technik 
gelingen, einwandsfreie Resultate zu för¬ 
dern. Euphorischer äussert sich Beck- 
New-York (Berl. klin. W. 1901 No. 19), 
dem es in mehreren Fällen gelang Posi¬ 
tives zu erreichen. Er erklärt, dass die 
verschiedene Darstellungsfähigkeit der 
Gallensteine ähnlich derjenigen der Nieren¬ 
steine zum Theil von dem Typus ihrer 
chemischen Zusammensetzung abhinge. . 
Er fügt der Mittheilung eines Röntgen- [ 

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bildes von intra vitam in der Gallenblase, 
im Ductus cysticus und intrahepatisch ge¬ 
legenen Steinen einen Nachtrag an: „So¬ 
gar die einfachen Gallensteine, welche ich 
vorher für transparent gehalten hatte, 
konnten bei verbesserter Technik darge¬ 
stellt werden. In der Monatssitzung der 
Academy of medicine (17. Januar 1901) 
hatte ich Gelegenheit die Röntgogramme 
der stecknadelkopfgrossen Gallensteine eines 
34jährigen Mannes vorzulegen. Grössere 
Steine waren in diesem Falle auch in den 
Lebergängen zu erkennen. Dieselben 
waren nicht so deutlich, als die Blasen¬ 
steine, aber immerhin noch deutlich genug.“ 

Guilloz (Sur la radiographie des cal- 
culs biliaires — Revue m£dicale de l*Est, 
1901, 15. März) erhielt in einem palpatorisch 
sicheren Fall von Gallenblasensteinen ein 
fast negatives Resultat. Die operativ ent¬ 
fernten Concremente erwiesen sich als 
reine Cholestearinsteine. Ihrem fast den 
Muskeln gleichen Durchleuchtungsvermögen 
schreibt Guilloz die mangelhafte Differen- 
zirung zu. — Zur Zeit liegt die Frage 
der Darstellbarkeit der Gallensteine, wenn 
ich resumiren und das Resurae nach meinen 
eigenen Erfahrungen als zu Recht bestehend 
bezeichnen darf, folgendermaassen: Der 
negative Ausfall einer Röntgenuntersuchung 
beweist keineswegs die Abwesenheit von 
Gallensteinen, der positive (unter allen Cau- 
telen gedeutete) beweist die Anwesenheit 
der dargestellten Concremente, aber nicht 
die Abwesenheit weiterer, nicht sichtbarer. 

Weit besser steht es um die Diagnose 
der Nieren-, Ureteren- und Blasen¬ 
steinbildungen. Tritt auch die interne 
Therapie weit hinter die operative rationell 
zurück, so ist es doch oft aus einer Reihe 
von Gründen die erstere, die zunächst 
versucht wird, wenn secundäre Erschei¬ 
nungen (Nierenbeckeneiterungen etc.) fehlen. 
Ueber das Kleinerwerden, Verschwinden, 
den Abgang der Concremente würden wir 
in diesem Falle durch die Röntgenunter¬ 
suchung etwas erfahren. 1 ) Noch wichtiger 
aber ist die exacte Diagnose für den Ope¬ 
rateur. Albers - Schönberg, der sich 
speciell mit der Darstellung der Nieren- 
und Ureterenconcremente seit jeher be¬ 
fasste, folge ich in der Beurtheilung der 
vorliegenden Verhältnisse. Erinnern wir 
uns an die in der Einleitung betonten Mo¬ 
mente, so erfuhren wir dort, dass die Ab¬ 
sorptionsfähigkeit gleich grosser Körper 

l ) Wichtig genug muss auch oft der positive 
Befund für differential-diagnostische Erwägungen — 

| chronische Appendicitis, Adnex-Erkrankungen, Nieren- 
I blutungen ohne bestimmte Ursache etc. — sein. 

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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


249 


für Röntgenstrahlen verschieden ist auf 
Grund der Atomgewichte ihrer Bestand¬ 
teile und ihrer Dichte. Auf die Nieren- 
concremente angewandt, würde dies be¬ 
deuten, dass die Calcium-Phosphatsteine, 
gleiche Dichte vorausgesetzt, am besten 
darstellbar wären (neutrales Calcium- 
Phosphat: Atomgewicht 310), dann ran- 
girten die Calcium - Oxalat- (Atomgewicht 
= 128) und schliesslich die Calcium- 
Carbonatsteine (Atomgewicht = 100). 

Erst das Hinzutreten dieser anorganischen 
Salze zu den organischen Bestandtheilen 
ermöglicht das Sichtbarwerden auf der 
Platte, da die organischen Elemente ja 
sämmtlich ein niederes Atomgewicht haben. 
Nun sind aber die oxalsauren Steine die 
dichtesten und daher die am besten dar¬ 
stellbaren, dann kommen die Phosphat¬ 
steine, dann die harnsauren Concremente 
(nur auf Grund ihres Kalkgehaltes), am un¬ 
günstigsten präsentiren sich die Xanthin- 
und Cystinsteine. Auf die Technik einzu¬ 
gehen ist dies gewiss nicht der Ort. Er¬ 
wähnt sei nur, dass an eine gute „Nieren¬ 
platte“ folgende Forderungen zu stellen 
sind: 1) Sichtbarkeit der Processus trans- 
versi der Wirbelsäule (Structur), 2) deut¬ 
liche Sichtbarkeit der letzten beiden Rippen, 
mit Structur, 3) Differenzirung des Mus- 
culus psoas, eventuell auch des Quadratus 
lumborum. Zunächst wird eine Ueber- 
sichts-, dann ein Localbild angefertigt. 
Nierenbecken-, Ureteren-, Blasengegend 
wird durch Einzelaufnahmen „abgesucht“. 
— Einige Referate, die besonders für Er¬ 
folge und Misserfolge kennzeichnend sind, 
seien an dieser Stelle der Wichtigkeit des 
Gegenstandes halber eingeschaltet: Char¬ 
les Lester Leonard (Annals of surgery 
1901 April) hält die Röntgenuntersuchung 
für das wichtigste und zuverlässigste dia¬ 
gnostische Hülfsmittel bei Nephrolithiasis. 
Bei 136 einschlägigen Fällen fand er 36 
Mal Steine in der Niere oder im Ureter. 
In den 100 negativen Fällen war nur ein 
einziges Mal ein infolge technischen Feh¬ 
lers nicht diagnosticirter Stein vorhanden. 
Daher hält er auch negative Resultate für 
beweisend. Dabei sei der Röntgenbefund 
geeignet dem Operateur den Weg zu 
weisen. In mehr als der Hälfte seiner 
Fälle sassen die Steine im Ureter. Ferner 
sei die Entscheidung möglich, ob die an¬ 
dere Niere steinfrei ist. Ob conservativ 
oder chirurgisch vorgegangen werden 
muss, könne aus dem Röntgenbild ge¬ 
schlossen werden und im letzteren Falle, 
auf welchem Wege. Liege z. B. ein kleiner 
Stein im unteren Ureter, so könne man 

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abwarten, ob er passiert. Andernfalls 
Hesse sich Ureterenbougirung von der 
durch hohen Steinschnitt eröffneten Blase 
aus vornehmen, der leichter zum Ziele 
führt, als die Freilegung des Nierenbeckens 
und Ureters durch den lumbaren Sections- 
schnitt. 

Im Mai 1902 1 ) konnte derselbe Verfasser 
dann in den Archives of the Roentgen 
Ray über mehr als 200 Fälle unter Auf¬ 
rechterhaltung seines früheren Standpunkts 
berichten. 

Im März 1902 theilte Taylor 1 ) (Bristol 
med. Journal) Krankengeschichten und 
Bilder von 5 Nierensteinfällen mit. Nur 
zweimal war vorher die richtige Diagnose 
gestellt. In einem dritten Fall war Nieren¬ 
tuberkulose angenommen. Im vierten Falle 
zeigte die Röntgenaufnahme 3 Steine in 
der rechten Niere, von denen einer nahe 
der Wirbelsäule lag. Dieser wurde bei 
der Operation nur mit Mühe gefunden und 
wäre ohne das Röntgenbild sicher dem Ope¬ 
rateur entgangen. Im fünften Falle wurde 
der renale Ursprung des Leidens und die 
Entscheidung, welche Niere die kranke 
war, erst durch das Röntgenbild klarge¬ 
stellt. Phosphat- und Oxalsteine gaben 
genügend deutliche Schatten. 

Gleichfalls warm für die Wichtigkeit 
der Röntgendiagnose bei der Nephro¬ 
lithiasis, wenn auch nicht so radical wie 
Lester Leonard, treten in einem um¬ 
fangreichen, 37 Fälle enthaltenden Original¬ 
aufsatz in den „Fortschritten auf dem Ge¬ 
biete der Röntgenstrahlen, Bd. V, S. 157. 

C. Comas und A. Priö Llaberia bei. 

Sie halten die Diagnose auf röntgographi- 
schem Wege möglich in allen Fällen, wo 
nicht folgende3Umstände Zusammentreffen: 

1) Ausserordentliche Körperfülle des Pa¬ 
tienten, 2) Winzigkeit des vorhandenen 
Steines, 3) Tranparente Natur derselben. 

Ich glaube, man kann Albers-Schönberg’s 
Worten, mit denen er die Besprechung 
der heutigen Technik und Erfolge der 
Radiologie der Nierensteine beschliesst, 
voll und ganz beistimmen. ,,Wir sehen 
also aus dem Vorstehenden, dass die 
Röntgendiagnose der Nierensteine eine nur 
theilweise Selbstständigkeit beanspruchende 
Methode ist. Es ist deshalb ausserordent¬ 
lich unangebracht, die therapeutischen 
Maassnahmen einzig oder in erster Linie 
auf den Röntgenbefund zu basiren. Der 
Methode kommt nur ein die übrigen klini- 

*) Die hier aufgeführten Referate sind als solche 
aus den „Fortschritten auf dem Gebiete der Röntgen- 
strahlen ", herausgegeben von Dr. A Ibers-Schönberg- 
Hamburg übernommen. 

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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



250 


Die Therapie der 


sehen Methoden ergänzender Werth zu. 
Letzterer ist indessen nicht zu unter¬ 
schätzen und von solcher Bedeutung, dass 
man es nicht unterlassen sollte, jeden 
nierensteinverdächtigen Patienten der 
Röntgenuntersuchung zu unterziehen. Die¬ 
jenigen Fälle, in welchen die Diagnose so¬ 
fort und unzweideutig in positivem Sinne 
gestellt werden kann, sind natürlich für 
den Untersucher die dankbarsten, jedoch 
dürfen Erfolge in dieser Richtung nicht zu 
der Annahme verleiten, dass stets und bei 
allen Kranken die Untersuchung ein so 
sicheres Ergebniss zeitigt.“ 

Der Röntgendiagnose derBlasensteine 
ist die Sondirung, auch die cystoskopische 
Untersuchung überlegen, wenn auch erstere, 
namentlich bei Kindern, gute Resultate 
liefert. 

Von den Erkrankungen des Skeletts 
sind für die innere Therapie zunächst die¬ 
jenigen der Wirbelsäule von Belang. 
Kienböck gab in der Wiener klinischen 
Wochenschrift 1901, No. 17 ein umfassen¬ 
des Referat (Die Untersuchung der ge¬ 
sunden und kranken Wirbelsäule mittels 
des Röntgenverfahrens). Ihm entnehmen 
wir, dass zunächst die Frage, ob Luxation 
oder Fractur der Wirbelkörper oder beides 
vorliege, entscheid bar ist. Der dort aus¬ 
gesprochene Wunsch, man möge in Fällen, 
in denen es unsichei sei, wie weit die 
Lähmungserscheinungen auf blosser — 
durch Reposition wieder zu behebender 
— Compression des Marks und der Wur¬ 
zeln oder, wie weit sie auf unbeeinfluss¬ 
baren Queschungsheerden der Rücken¬ 
markssubstanz selbst beruhen, deutbare 
Bilder erlangen, hat sich, so weit ich sehe 
nicht erfüllt. 

Ist es zur Bildung eines Gibbus, resp. 
einer Dislocation und Form Veränderung der 
Wirbelkörper gekommen, so unterstützt ein 
Röntgenbefund Diagnose und Therapie. 
Hinsichtlich der Spondylitis incipiens, 
sowie überhaupt von Heerden im Wirbel¬ 
körper, ist auf die Befunde von Eugen 
Fränkel und Albers-Schönberg zu ver¬ 
weisen, welche ergaben, dass ein Heerd, 
sofern er sich physikalisch vom gesunden 
Knochen nicht unterscheidet, nicht darstell¬ 
bar ist. Innerhalb der Spongiosa diffe- 
renzirt sich das gesunde oder das tuber¬ 
kulös veränderte Knochenmark nicht, nur 
erstere selbst. Sowie es sich allerdings 
um Prozesse handelt, die den Knochen ein- 
schmelzen, so werden diese in Folge 
besserer Durchleuchtungsmöglichkeit sich 
als hellere, falls Verkalkung stattgehabt hat, 
als dunkeiere Partieen abheben, — Thera¬ 


Gegenwart 1903. Juni 


peutisch wichtig ist übrigens, dass sich 
spondylitische Abscesse, besonders 
bei Kindern gut darstellen lassen, ohne 
und mit Jodoformglycerininjectionen. 

Aus der durch den Röntgenbefund nicht 
unwesentlich geförderten Differentialdia¬ 
gnose mancher klinisch sich ähnelnder 
pathologischen Processe am Knochensystem 
muss natürlich auch die Therapie direct 
profitiren; sie braucht nicht erst als Hilfs¬ 
mittel der Diagnose, zur Stellung der 
Diagnose ex juvantibus herangezogen wer¬ 
den. Besonders in Betracht kommt hier 
natürlich die acquirirte und ererbte Lues 
in allen ihren Formen. Es würde zu weit 
führen die hierhergehörigen, gewiss nicht 
geringen Verdienste des Röntgenverfahrens 
aufzuzählen, zumal dieselben in erster Linie 
pathologisch-anatomisches, in zweiter dia¬ 
gnostisches und in letzter therapeutisches 
Interesse beanspruchen. Besonders wichtig 
erscheinen mir die Arbeiten von Holz- 
knecht und Kienböck (Fortschritte etc. 
No. 247) über Osteochondritis syphilitica, 
von Hochsinger, Fischl über Phalangitis 
syphilitica (Differentialdiagnose gegenüber 
der Spina ventosa und Rhachitis), von 
Kienböck: zur radiographischen Anatomie 
und Klinik der syphilitischen Knochen¬ 
erkrankungen an Extremitäten. Zur radio¬ 
graphischen Anatomie und Klinik der tuber¬ 
kulösen Erkrankung der Fingerknochen, 
Spina ventosa, namentlich der nicht nach 
aussen perforirenden Form, nebst Diffe¬ 
rentialdiagnose gegen Syphilis (Zeitschr. 
f. Heilkunde. XXIII. 1902. Juli H. 6.), 
von Simmonds über Chondrodystrophia 
hypoplastica und hypertrophica, resp. sog. 
Rachitis foetalis u. a. — Wie gesagt ist 
hier nicht der Ort das Erreichte eingehen¬ 
der zu würdigen. 

Eine therapeutische Rarität sei noch 
erwähnt: Sick zeigte am 5. Februar 1901 
im ärztlichen Verein in Hamburg das 
Röntgenbild von einer Wirbelsäule mit 
ausgeheiltem Riesenzellensarkom ausgehend 
vom 4. Lendenwirbel. Das Sarkom war 
zuerst operativ behandelt, ohne jeden Er¬ 
folg. Eine langdauernde Arsenkur brachte 
das Sarkom dann derart zur Heilung, dass 
2 V 2 Jahr post operationem Patient sich ge¬ 
sund und gut aussehend wieder vorstellt 
Das Röntgenbild zeigt einen vom 4. Lenden¬ 
wirbel ausgehenden, grossen, rundlichen, 
knochenharten Tumor, der dem Patienten 
keine Beschwerden macht. 

Was die Gelenkerkrankungen be¬ 
trifft, so besteht hier zwischen Röntgen¬ 
forschung und interner Therapie ein ge¬ 
wisser wechselseitiger Gegensatz, insofern 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


251 


die akuten, therapeutisch beeinflussbaren 
Arthritiden und Polyarthritiden nur ganz 
ausnahmsweise Gegenstand einer erfolg¬ 
reichen Röntgenuntersuchung sein werden, 
während an den chronischen, deformiren- 
den Processen, die die verschiedenartigsten 
Veränderungen im Röntgenbild zeigen, zu¬ 
meist die Therapie nichts ändern kann. 
Vielleicht kann letztbezüglich die jüngst 
mit Eifer aufgenommene Antistreptococcen¬ 
serumtherapie erwünschten Wandel schaffen. 
Dann wäre auch wohl das Röntvenverfah- 
ren mit dazu ausersehen, die Rolle des 
objectiven Beurteilers zu übernehmen. 

Eine Sonderstellung nimmt entsprechend 
ihrer .klinischen Bewerthung die gonor¬ 
rhoische Gelenksentzündung ein. Der 
frühzeitige und häufige Ausgang in Anky- 
losirung weist ihr hinsichtlich Prognose, 
leider auch Therapie ihren besonderen 
Platz an. 1 ) 

Die echte Gicht, die Gelenkverände¬ 
rungen derTabiker, die Osteoarthro¬ 
pathie hypertrophiante pneumique 
und die chronische ankylosirende 
Entzündung der Wirbelsäule in ihren 
verschiedenen Formen sind kaum einer 
Therapie als solche zugängig. 

An einen hübschen Sonderfall möchte 
ich hier erinnern: Katzenstein stellte am 
12. December 1900 in der Berliner medici- 
nischen Gesellschaft einen Erguss ins rechte 
Kniegelenk vor, der nach Fall aufs Gelenk 
entstanden war. Da alle therapeutischen 
Maassnahmen versagten, nahm Katzen¬ 
stein einen Fremdkörper im Gelenk an, 
der auch durch das Röntgogramm in Ge¬ 
stalt einer Nadel nachgewiesen wurde. 

Die Osteomalacie verdient noch 
einige besondere Worte. Lauper hat in 
den Fortschritten auf dem Gebiete der 
Röntgenstrahlen, 1901/02 V. S. 201, eine 
umfangreiche Monographie über die Osteo¬ 
malacie veröffentlicht, die sich keineswegs 
nur auf Röntgenstudien beschränkt. Es 
wird dort die Therapie, hauptsächlich die 
Phosphortherapie und die Castration unter 
Heranziehung der gesammten Litteratur 
eingehend gewürdigt. Lauper kommt 
zu dem Schluss, dass in der Therapie die 
Röntgen-Photographie auch nur in soweit 
Nutzen bringen könne, als sie gestatte in 
grösseren Zeiträumen den Erfolg eines Me- 

! ) Auf dem zweiten internationalen Congress für 
medicinische Elektrologie und Radiologie — Bern, 
1.—6. September 1902 — hielt Kienböck einen 
Vortrag über Knochenveränderungen bei acut begin¬ 
nender gonorrhoischer Arthritis: helleres verschwom¬ 
menes Schattenbild der Knochen infolge acuter Er¬ 
weichung von Knorpel und Knochen (Sudeck sche 
acute Knochenatrophie s. u.). 

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dicaments etc. anschaulich zur Darstellung 
zu bringen; ferner, dass sie durch ihre 
Beihülfe zur Frühdiagnose es ermöglicht, 
die Krankheit schon in den ersten An¬ 
fängen mit einer rationellen, energischen 
Phosphorcur zu bekämpfen und ihre Dauer 
dadurch abzukürzen. 

Was auf dem Gebiete der Nerven¬ 
krankheiten die Therapie aus dem 
Röntgenverfahren Nutzbringendes schöpfen 
kann, ist bei der an sich leider dürftigen 
Ausdehnung ersterer herzlich wenig. Fast 
nur da werden Resultate zu erwarten sein, 
wo sich das Knochensystem direct oder in- 
direct, primär oder secundär, pathologisch 
verändert zeigt. Das meiste Hierhergehö¬ 
rige erwähnten wir bereits, einiges ist hin¬ 
zuzufügen. 

Cariöse Processe sind darstellbar als 
Grund einer peripheren Facialislähmung, 
Luxationen und Fracturen sind bedeut¬ 
sam für die sogenannten traumatischen 
Lähmungen, Knochen- und Periost¬ 
geschwülste für Neuritiden mannigfachster 
Art. Eine Ausnahme macht die Zwerch¬ 
felllähmung. — Unter den Erkrankungen 
des Rückenmarks geben die Verletzun¬ 
gen (abgebrochene Messerklinge) und zwar 
meist die Schussverletzungen mit stecken 
gebliebenem Projectil röntgographirt die 
idealsten therapeutischenlndicationen. Alles 
was wir sonst erfahren, bezieht sich wieder 
nur auf die Wirbelsäule. Das ging z. B. 
auch deutlich aus einem gross angelegten 
gemeinsamen Vortrag von v. Leyden und 
G runmach unlängst in der Gest lisch, f. 
Psychiatr. u. Nervenkrankh., Berlin, hervor. 
Therapeutische Leistungen können wir aller¬ 
dings einem universelleren Symptom, das 
als trophisches zu deuten ist und desshalb 
hier kurz Erwähnung finden soll, nur in 
beschränktem Maasse entnehmen (Uebungs- 
therapie); trotzdem ist es recht wichtig, 
ich meine die zuerst von Sudeck studirte 
acute und chronische, trophoneurotische 
reflectorische Knochenatrophie, wie sie 
nicht nur nach Fracturen, Distorsionen und 
Quetschungen der Gelenke, Weichtheil- 
verletzungen, Arthritiden, sondern auch 
nach Narbenverletzungen, Neuritiden und 
bei den mannigfachsten Rückenmark- 
affectionen (Nonne) auftritt. So findet 
sich denn auch häufig bei Rückenmarks¬ 
erkrankungen Osteoporose der peripher- 
wärts gelegenen Wirbelkörper. (Grun- 
mach). — 

Noch weniger ergiebig ist die thera¬ 
peutische Anbeute aus den Röntgen¬ 
befunden der Gehirnkrankheiten, wenn 
wir die Fremdkörper und die knöchernen 

32* 

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252 


Die Therapie der Gegenwart 1903. Juni 


Tumoren der Orbita ausschalten. Bene¬ 
dikt referirte allerdings auf dem erwähnten 
Berner Congress über Röntgendiagnostik 
der Schädel-, Hirn- und Wirbelsäule-Er¬ 
krankungen in stark optimistischer Weise: 
Oedeme der Meningen, entzündlicher und 
nicht entzündlicher Art, Verdickung der 
Meningen, meningeale Blutungen, sowie 
neoplastische Veränderungen am Hirn er¬ 
klärte er mittelst der Radiologie für nach¬ 
weisbar. Die Discussionsredner stimmten 
ihm sämmtlich nicht zu. Holzknecht 
wies mit Recht darauf hin, dass die Atom¬ 
gewichte von Schädel, Gehirnmasse, Blut 
und Fett zu wenig different seien, um 
genügende Schattendifferenzen hervorzu¬ 
rufen. 

Nur unter ganz besonderen Umständen 
gelingt es einen Tumor cerebri röntgo- 
graphisch nachzuweisen. Grün mach be¬ 
richtet von einem solchen, den die Section 
bestätigte. (Cystenartiger, Kalkconcremente 
enthaltender Tumor). — Weiter Albers- 
Schönberg: Gliom der Dura mater mit 
Usurirung des Schädels, sodass auf dem 
Os parietale sich die Figur des Tumors 
deutlich abzeichnete. Die Operation förderte 
den Tumor in der gezeichneten Figur zu 
Tage. 

Eher noch sind Tumoren der Hypo¬ 
physis cerebri darzustellen, falls sie Ver¬ 
änderungen an der Sella turcica veran- 
lassen(Albers-Schönberg). Die Therapie 
der Encephalocele, die durch das 
Röntgen verfahren wesentlich geförde rt 
wurde, ist rein chirurgisch (Beck). 

Zum Schluss sei noch kurz einiger Ergeb¬ 
nisse aus dem Gebiete der Neurosen gedacht. 

Bezüglich des Morbus Basedowii 
erfahren wir nichts. Eingeschaltet sei 
übrigens an dieser Stelle, dass wir über 
die Natur der sonstigen Kröpfe, speciell 
die Kalkablagerungen, durch das Röntgen - 
bild orientirt werden. Beck tritt auf Grund 


solcher Befunde in einem Artikel „Beitrag 
zur Diagnostik und Therapie der Struma“ 
(Fortschr. IV, 122) für die Injection in die 
folliculären und colloiden Formen ein. 

Diagnose und Therapie der sogenannten 
traumatischen Neurose kann natürlich 
durch einen Röntgenbefund (s. o. Pleuri¬ 
tis etc.) wesentlich variirt werden. 

Die Hysterie mit ihrem ungeheuren 
Symptomenreichthum muss auch hin und 
wieder der Gegenstand der Röntgen¬ 
forschung werden können. Besonders er- 
wähnenswerth ist, dass bei hysterischen 
Lähmungen sich jene, oben besprochenen, 
trophoneurotischen Knochenveränderungen 
nicht finden. 

Dass die Durchleuchtung selbst, be¬ 
sonders beim ersten Mal, einen mächtigen 
Eindruck auf die Hysterica ausübt und so¬ 
mit direct als Heilfactor wirken kann, liegt 
auf der Hand. 

Damit wäre ich am Ende. Ich hoffe, 
ohne Anspruch auf Vollständigkeit machen 
zu können, eine Beantwortung der anfangs 
begründeten Frage, „welchen Nutzen zieht 
die interne Therapie aus dem Röntgen¬ 
verfahren?“ in gedrängter Kürze gegeben 
zu haben. Aus dem Mitgetheilten geht 
weiter hervor, dass von unserem prakti¬ 
schen Gesichtspunkte aus betrachtet die 
Summe der Röntgenerfolge nicht gross ist, 
dass aber das Röntgenverfahren als voll¬ 
wertige klinische Untersuchungsmethode 
angesehen werden will und in enger 
Wechselbeziehung zu älteren Methoden 
bisher nicht Erreichtes leisten kann. Tech¬ 
nischer Gründe halber wird die Radiologie 
immer ein Specialstudium bleiben, die 
wachsende Anwendungsmöglichkeit wird 
reichere Gelegenheit ihre Vortheile zu ge¬ 
messen schaffen. Schon heute dürfte im 
geeigneten Falle eine Durchleuchtung 
weder als Luxus, noch als ultimum refu- 
gium aufgefasst werden können. 


Nierenblutung und Nierenschmerzen. 

Von Dr. Wilhelm Klink, 

Assistent am Central-Diakonissenhaus Bethanien zu Berlin. 


Die Erfolge der Nierenchirurgie, die 
sich in den letzten drei Jahrzehnten in 
grossem Fortschreiten gebessert haben, 
wie die grosse Sammelstatistik Schmie¬ 
dens zeigt, haben die Chirurgen veran¬ 
lasst, ein Krankheitsbild, von dem man 
früher sehr wenig wusste, in Angriff zu 
nehmen. Die Operation geschah sozusagen 
immer auf falsche Diagnose hin; man nahm 
Tuberkulose, Neubildung, Nierenstein an. 

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Erst die operative Autopsie lehrte, dass 
es sich um Nephritis, um alte fibröse Peri¬ 
nephritis oder um normale Nieren han¬ 
delte. Früher fasste man das Krankheits¬ 
bild zusammen als essentielle Hämaturie, 
renale Hämophilie, Nephralgie h^maturique. 
Es handelte sich in den betreffenden Fällen 
um Blutung aus einer oder beiden Nieren, 
die nur angedeutet bis sehr stark sein 
kann, stunden- bis monatelang dauern 

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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 253 


kann, nach freien Zwischenräumen wieder¬ 
kehren kann, sich oft jahrelang hinzieht; 
im Harn findet sich ausser Blut kein pa¬ 
thologischer Bestandtheil. Mit der Blutung 
verbunden oder ganz unabhängig von ihr 
treten Schmerzen einseitig meist, doch 
auch beiderseits, auf, die in nichts von 
den Schmerzen bei Nierenstein zu unter¬ 
scheiden sind. In einer Reihe von Fällen 
bestand Reichthum an Uraten und Oxa¬ 
laten im Urin. 

Die Internisten, die ihr Arbeitsfeld von 
dem schaffensfrohen Chirurgen immer mehr 
eingeengt sehen, machen ihm die Behand¬ 
lung der „Nephralgia haematurica“ mit 
dem Messer streitig. So haben sich denn 
zwei Parteien gebildet; an der Spitze der 
einen steht J. Israel, Rovsing u. a.; die 
für die Entstehung der Nephralgia haema¬ 
turica eine anatomische Veränderung der 
Niere zur Bedingung machen, mag dieselbe 
auch nur in kleinen Heerdchen nephriti- 
scher Natur bestehen; an der Spitze der 
anderen steht G. Klemperer, der die 
Entstehung des Symptomencomplexes in 
einer anatomisch unveränderten Niere für 
möglich hält und von einer angioneuroti- 
schen Nierenblutung redet, d. h. von einer 
Blutung, die auf eine Störung des Nerven¬ 
systems zurückzuführen ist. Ausserdem 
nimmt Klemperer eine Blutung aus ge¬ 
sunden Nieren in Folge Ueberanstrengung 
an. Ferner wird von Manchen, darunter 
Senator und Klemperer, eine Nieren¬ 
blutung auf hämophiler Basis angenommen, 
auch wenn im Uebrigen keine Blutungen 
bestehen oder bestanden haben; die Ab¬ 
stammung aus Bluterfamilien ist schon be¬ 
lastend. Es sind hierfür beweisende Fälle 
in der Literatur niedergelegt. Von diesen 
will ich hier nicht sprechen, ebensowenig 
von den Wandernieren, die zu Blutung und 
Schmerzen führten. 

In der Literatur sind 18 Fälle nieder¬ 
gelegt, die wegen Blutung, 14, die wegen 
Schmerzen und 23, die wegen Blutung und 
Schmerzen einer operativen Behandlung 
der Niere unterzogen wurden. Die Ope¬ 
ration bestand in einfacher Freilegung der 
einen Niere (in weitaus den meisten Fällen 
gingen die Beschwerden von der rechten 
Niere aus), in Nephrolyse, Acupunctur, 
Nierenspaltung einer oder beider Nieren, 
partieller oder totaler Exstirpation einer 
Niere. Geheilt sind hiervon 38 (= 69%), 
gebessert sind 5 («= 9 %), ungeheilt blieben 
3 (= 5%), gestorben sind 9 (== 16°/ 0 ). 
In diesen Fällen war durch den makro¬ 
skopischen Befund bei der Operation Ne¬ 
phritis in 9 Fällen festgestellt, durch mikro-» 

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skopische Untersuchung in weiteren 13 
Fallen; geringfügige Veränderungen fanden 
sich in zwei Fällen, feste Verwachsung der 
Niere mit der Umgebung bestand 14 Mal; 
als normal für makroskopische Betrachtung 
wird die Niere 15 Mal angegeben, bei 
mikroskopischer Untersuchung wurde sie 
drei Mal normal befunden. Auf die An¬ 
gabe einer Nephritis aus dem Zustand der 
Niere bei der Operation darf nicht zu viel 
Gewicht gelegt werden, da die ohnehin oft 
sehr schwierige Diagnose der Nephritis 
ohne Mikroskop bei der Operation noch 
bedeutend erschwert wird, wenn es sich 
nicht um ganz zweifellose chronische Ne¬ 
phritiden handelt. Die mikroskopisch fest¬ 
gelegten 13 Fälle (==25%) sind als sicher 
zu betrachten; aber dass Massenblutungen 
bei chronischer Nephritis Vorkommen, war 
nichts Neues; allerdings sind sie selten, 
am seltensten wohl bei Schrumpfniere; 
weniger bekannt war das Vorkommen von 
Nierenkoliken bei chronischer Nephritis. 

Israel hat für das Entstehen dieser Ko¬ 
liken die von Harrison aufgestellte 
Theorie der intrarenalen Spannungszu¬ 
nahme übernommen. Senator und K1 em - 
perer sind ihm scharf entgegengetreten. 

Israel legt wohl den kleinen Veränderun¬ 
gen der Niere zu grossen Werth bei, aber 
unter 13 einschlägigen Fällen von ihm be¬ 
standen doch in 4 mikroskopisch nach¬ 
gewiesene nephritische Veränderungen und 
zwar chronisch parenchymatöse Nephritis. 
Verwachsung fand sich in 8 Fällen, auf 
die Rovsing so grossen Werth legt; bei 
mikroskopischer Untersuchung wurde die 
Niere einmal als normal befunden. Auch 
ist seine Theorie von der Spannungs¬ 
zunahme in der Niere während des An¬ 
falls nicht widerlegt, denn er operirte 
ausserhalb des Anfalles und in dem einen 
Fall, wo er im Abklingen des Anfalles 
operirte, war die Spannung in der Niere 
erhöht. Auch eine Reihe anderer Fälle 
in der Literatur sprechen dafür; wir kön¬ 
nen da lesen, dass die Niere bei der Ope¬ 
ration aufs Doppelte geschwollen und blau- 
roth war und wenige Stunden später weich, 
blass und von gewöhnlicher Grösse. Auch 
drei Fälle Pousson's, wo nach Verhei¬ 
lung der Operationswunde die bis dahin 
bestehende Besserung schwand und das 
alte Krankheitsbild zurückkehrte, sprechen 
für die Israel’sche Theorie. Schliesslich 
dürfen wir auch nicht vergessen, dass 
Israel sechs Heilungen zu verzeichnen 
hat. Wie nun allerdings diese Heilungen 
zu erklären sind, ist wohl noch dunkel; 
ich glaube, dass es nicht genügt, die kurz 

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254 


Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


dauernde Entspannung als Ursache zu be¬ 
trachten; dann wären aber auch die Hei¬ 
lungen nach einfacher Freilegung (Broca, 
Albarran) nicht zu erklären. Ich glaube 
aber auch nicht, dass man mit Klempe- 
rer einfach eine suggestive Wirkung an¬ 
nehmen darf. Wir wissen* es eben nicht. 
Wir wissen auch, dass die tuberkulöse 
Peritonitis durch einfache Laparotomie 
günstig beeinflusst wird und sind uns trotz 
aller Theorien über die Wirkungsart der 
Operation nicht klar. Ich glaube, man darf 
Israel und Klemperer recht geben, 
jedem für einen Theil der Fälle, aber kei¬ 
nem für alle. Die Fälle, die Israel und 
Rovsing, um die zwei hervorstechend¬ 
sten herauszugreifen, operirt haben, muss¬ 
ten operirt werden, weil die innere Medicin 
am Ende ihres Könnens angelangt war. 
Ausserdem wird eine Operation, natürlich 
erst nach erfolgloser innerer Behandlung 
solange entschuldigt werden, als wir die 
Diagnose der Nephralgia haematurica nicht 
sicher stellen können, und bis jetzt können 
wir es nicht. Aus diesem Grund dürften 
wir auch meistens um eine probatorische 
Spaltung der Niere nicht herumkommen, 
da wir nicht genau wissen, ob nicht eine 
organische Erkrankung die Ursache ist. 

Rovsing hat in 9 einschlägigen Fällen 
7 Mal nephritische Veränderungen (2 Mal 
chronische parenchymatöse Nephritis, 3 Mal 
chronische diffuse Nephritis, 2 Mal chro¬ 
nische interstitielle Nephritis) gefunden; 
mikroskopisch festgestelit sind hiervon 5. 
Einmal war die Niere normal. In 6 Fällen 
bestanden Verwachsungen. Seine Opera¬ 
tion bestand in Nephrolyse, Nierenspaltung 
oder beiden zusammen. Geheilt wurden 
6, gebessert 1, ungeheilt blieb 1, es starb 1. 

Von mehreren Seiten ist auf das häu¬ 
fige Vorkommen von Steigerung der Harn- 
stoflmenge im Urin hingewiesen worden. 

Auch finden wir mehrmals Gicht in der 
Anamnese angegeben. Ich glaube, man 
sollte darauf mehr Werth legen als ätiolo¬ 
gisches Moment. Ich selbst habe einen 
derartigen Fall zu beobachten Gelegenheit 
gehabt, den ich kurz mittheilen will. 

Es handelte sich um eine Frau von 
56 Jahren, die schon mehrmals Gichtanfälle 
gehabt hatte. Sie wies am Körper an 
mehreren Stellen Gichtknoten auf. Der 
Urin war sehr reich an Uraten, enthielt 
bisweilen eine Spur Albumen; sonst war 
er normal. Es bestand eine chronische 
Bronchitis mit ausgedehnten Bronchecta- 
sieen. Anfallsweise traten bei der Frau 
heftige kolikartige Schmerzen in der rech¬ 
ten Nierengegend auf, nach der Blase aus¬ 


strahlend. Die Schmerzen verschwanden 
gewöhnlich nach einigen Tagen auf Kata- 
plasmen hin. Allerdings war meist im 
Anfang Morphium nöthig. Die Niere war 
nicht zu fühlen, auch im Anfall nicht, doch 
war im Anfall Druck auf die Nierengegend 
von den Bauchdecken aus schmerzhaft. 
Diagnose wurde mit Wahrscheinlichkeit 
auf Nephrolithiasis gestellt, doch war bei 
dem elenden Allgemeinzustand der Frau 
an Operation nicht zu denken. Sie kam 
bald zum Exitus. Bei der Autopsie fand 
sich eine typische Gichtniere. 

Klemperer hat Fälle von Nierenblutung 
nach Ueberanstrengung angeführt. Man 
hat diese Fälle von anderer Seite anders 
zu deuten gesucht, ich glaube mit Unrecht. 
Diese Nieren sind wohl im Uebrigen als 
gesund zu betrachten, sie sind nur der 
grossen, ungewohnten Arbeit nicht ge¬ 
wachsen. Kennen wir doch Albuminurie, 
die bei gesunden Individuen nach grosser 
Anstrengung auftritt; sie ist neuerdings 
von Leube ausführlicher beschrieben. 
Warum sollte nicht auch Sanguis in den 
Urin übergehen können? Ich will einen 
einschlägigen Fall hier kurz mittheilen. 

Ein gesunder Einjähriger schied nach 
starken Uebungen im Urin reichlich Blut 
aus. Sonst fand sich im Urin nichts Pa¬ 
thologisches. Das Blut schwand nach 
einigen Tagen, wenn der Dienst weniger 
streng war, von selbst, ohne dass der 
Mann zu Bette lag. 

Es könnte ja einer behaupten, dass 
dieser Fall eine Nephritis vorstellt, da es 
Nephriten ohne Albumen und Cylinder 
giebt; ich glaube er wird wenig Glauben 
finden. Ich glaube vielmehr, dass man 
den Fall denen Klemperer’s zuzählen 
kann. 

Ich komme nun zur Besprechung der 
Fälle, die von Klemperer als neuro- 
pathische Blutung aufgefasst werden. Ich 
fand deren in der Literatur 18; sie sind 
von Baar, Casper, Castan, Durham, 
Debaisieux, Guyon, Hamonie, Israel, 
Klemperer, Naunyn, Potherat, Pas¬ 
set, Schede, Socoloff mitgetheilt. Klem¬ 
perer hält auch die Fälle von Ander¬ 
son, Broca und Sabatier für hierher¬ 
gehörig; ich kann mich hierin seiner An¬ 
sicht nicht anschliessen, sondern nehme in 
diesen drei Fällen Nephritis an. Der Fall 
von Baar ist mir auch noch sehr zweifel¬ 
haft; die Beschwerden schwanden, nach¬ 
dem der Mann eine grosse Fahrt durch 
die Prairie gemacht hatte, d. h. nachdem j 
er ordentlich durchgeschüttelt war. Könnte 
diese Körperbewegung nicht ebenso gut 


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255 


Juni Die Therapie der 

gewirkt haben, wie die psychische Erregung, 
indem sie einen vielleicht vorhandenen und 
festsitzenden Nierenstein in seiner Lage 
löste? Sind doch neuerdings Erschütte¬ 
rungen der Nierengegend zu diesem Zweck 
als Therapeuticum empfohlen worden. 

In den 18 Fällen handelte es sich 9 Mal 
um Blutung, 3 Mal um Nierenkolik, 6 Mal 
um beides zusammen. Operationen wurden 
9 Mal ausgeführt: 6 Mal Nierenspaltung, 

3 Mal Exstirpation einer Niere. In einem 
Fall trat Heilung von der Blutung nach 
Ureterenkatheterismus ein, in einem anderen 
Fall (Passet) stand die Blutung aus der 
Niere auf Blasenspülung, bei ihrer Wieder¬ 
kehr auf Cystotomie. Die übrigen Fälle 
heilten ohne Operation. Nach einer 
Nephrectomie wegen Blutung und Schmer¬ 
zen trat Exitus ein. Die Niere fand sich 
in allen Fällen, wo sie zu Gesicht kam, 
normal; zweimal wurde mikroskopische 
Untersuchung ausgeführt. 

Besonders interessant und beweisend 
für das Vorkommen von Nierenblutung 
auf nervöser Grundlage ist derFallPassets: 
Bei einer Frau trat während der Menses 
Haematurie auf. In dem sauren Harn war 
ausser Blut nichts Pathologisches zu finden. 
Nach einmaliger Blasenspülung mit Silber¬ 
nitratlösung schwindet die Haematurie, 
kehrt nach 1V *2 Jahr wieder, und steht 
diesmal nicht auf Blasenspülungen. Des¬ 
halb Eröffnung der Harnblase: Aus dem 
rechten Ureter kommt Blut. Schluss der 
Blase. Von da an 2 Jahre frei von Blutung, 
dann kurz dauernde Haematurie, die auf 
Bettruhe schwand. 

Einen ähnlichen Fall, den ich beob¬ 
achten konnte, will ich hier anführen: 

Es handelte sich um einen 25 jährigen 
Erdarbeiter. Erblich nicht belastet. Früher 
nicht schwer krank gewesen. Vor 2 Monaten 
holte er sich eine Gonorrhoe, die noch 
nicht geheilt ist. Vor 4 Wochen bemerkte 
er Blut im Urin, Gerinnsel, so dick wie 
Würmer. Seitdem sei immer etwas Blut 
im Urin gewesen. Sehr viel Blut geht 
seit 8 Tagen fort, sodass der Urin meist 
fast schwarz aussieht. Dabei bestand viel 
Urindrang und Druck in der Blase. Schmerzen 
in der Nieren- und Blasengegend werden 
entschieden in Abrede gestellt. — Der 
Kranke ist ausserordentlich blass, sonst 
kräftig und gut genährt. Intellekt ist stark 
vermindert. Es besteht kein Fieber. Puls 
und Athmung bieten nichts Besonderes. 
Innere Organe zeigen keine pathologische 
Veränderung. Nieren sind nicht zu fühlen; 
Nierengegend auf Druck nicht empfindlich, 
wohl aber die Blasengegend. Aus der 


Gegenwart 1903. 

Urethra kein Eiter auszupressen. Urin 
ist reichlich sauer, dunkelroth von Blut; 
am meisten bluthaltig ist der zuletzt ent¬ 
leerte Urin; dieser enthält auch Gerinnsel 
von etwa 2 mm. Dicke, mehreren cm. Länge. 
Das Sediment besteht aus Blut. Die 
Erythrocyten sind gross und klein, haben 
ihre Gestalt gilt bewahrt; sehr reichliche 
Leucocyten, gross und klein, ein- und 
mehrkernig. Daneben spärliche Platten- 
epithelien. Keine Cylinder, keine Bakterien. 
Spur Albumen, dem Blut entsprechend. — 
Die Behandlung bestand 3 Tage lang in 
Bettruhe, Kataplasmen auf der Blasen¬ 
gegend, Fol. uvae ursi, Ergotin, Blasen¬ 
spülung mit Kal. hypermang. Alles halt 
nichts, die Blutung dauerte an und die 
Anaemie erreichte einen bedenklichen 
Grad. Ein Cystoscop stand mir leider 
nicht zur Verfügung; für Erkrankung der 
Niere sprach in der Anamnese und im 
gegenwärtigen Befund nichts. Dahingegen 
Hess die Empfindlichkeit der Blase und 
der Harndrang, sowie die stärkere Blut- 
haltigkeit des zuletzt entleerten Urins 
(Fürbringer) an eine Blutung in der 
Blase denken. Vom Rectum und von den 
Bauchdecken aus war keine Neubildung 
zu fühlen ; für Tuberkulose waren im übrigen 
Körper keine Anhaltspunkte; auch waren 
keine Tuberkelbazillen im Harn nachweis¬ 
bar. Einen Stein konnte ich weder mit 
der Sonde noch mit dem Röntgenapparat 
entdecken. So nahm ich eine Blasenblutung 
aus mir unbekannter Ursache an und be¬ 
schloss, durch die Autopsie in vivo mir 
Gewissheit zu verschaffen. Die Anaemie, 
die stetig zunahm, erlaubte kein längeres 
Warten. Für Haemophilie sprach nichts. 
Aus der Fingerbeere entnommenes Blut 
zeigte ausser leichter Leucocytose nichts 
Abnormes. Am letzten Tage konnte ich 
in dem getrockneten Urinsediment Gono- 
coccen nachweisen. — Operation: In 
Morphiumchloroformaethernarkose wird die 
Blase oberhalb der Symphyse eröffnet: 
Die Schleimhaut ist stark geröthet; sonst 
zeigt die Blase nichts Besonderes, vor 
allem ist keine Quelle der Blutung in der 
Blase selbst zu finden. Hingegen entleert 
sich aus dem rechten Ureter beständig 
tropfenweise sozusagen reines Blut. Am 
liebsten hätte ich gleich die rechte Niere 
freigelegt, doch hatte der Kranke eine 
Operation an der Niere nicht erlaubt. Die 
Blase wurde wieder geschlossen und ein 
Dauerkatheter mit Heberdrainage durch 
die Urethra in die Blase gelegt. Die 
Operation hatte nur kurz gedauert und 
war ohne Störung verlaufen. Es wurde 


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Juni 


256 Die Therapie der Gegenwart 1903. 


eine subcutane Kochsalzinfusion ange¬ 
schlossen. Abends 39,1° C. Druck in 
der Blase, der Urin enthält Spur Blut 
Allgemeinbefinden gut. Auf eindringliches 
Befragen gibt Patient nun folgendes an: 
Vor 4 Wochen habe er plötzlich einen 
Schmerz in der linken Nierengegend ver¬ 
spürt; derselbe sei so heftig gewesen, dass 
er sich auf dem Boden gewälzt habe. Am 
andern Tag sei der Schmerz in der rechten 
Nierengegend gewesen, nach einigen Tagen 
wieder geschwunden, aber verschiedene 
Male, zuletzt etwa 4 Tage vor seinem Ein¬ 
tritt ins Krankenhaus, wiedergekehrt, doch 
weniger heftig. Bei dem ersten Schmerz¬ 
anfall sei auch zuerst Blut im Urin aufge¬ 
treten. Am Tag nach der Operation:. 
Wohlbefinden. Urin morgens frei von 
Blut, enthält Mittags Spur Blut, reagirt 
sauer. Abends 39,2° C. — 2 Tage nach 
der Operation: Allgemeinbefinden gut, 
Urin sauer, enthält viel Leucocyten, fast 
lauter kleine mononucleäre, wenig Erythro- 
cyten, viel Blutkörperchencylinder, spär¬ 
liche Plattenepithelien. Die Heilung machte 
gute Fortschritte. Die Cystotomiewunde 
heilte glatt. Blut schwand bald ganz aus 
dem Urin. Die Gonorrhoe exacerbirte 
noch einmal, wohl unter dem Einfluss des 
Dauerkatheters. Patient wurde geheilt 
entlassen. 

Ich glaube, man kann den Fall als 
Blutung auf nervöser Grundlage auffassen. 
Die Heilung nach der Operation war ein 
post hoc, ergo propter hoc ohne allen 
Zweifel. Es könnte vielleicht noch gesagt 
werden, die Chloroformnarkose habe den 
heilenden Einfluss gehabt; dass das Chloro¬ 
form die Niere stark beeinflusst, wissen 
wir, dass es aber eine Nierenblutung stillt, 
wäre noch nachzuweisen. Ob die Opera¬ 
tion rein suggestiv gewirkt hat, oder ob 
von der eröffneten Blase aus reflectorisch 
eine Beeinflussung der Niere stattfand, 
lasse ich unentschieden. Dass zwischen 
Blase und Niere nervöse Wechselbeziehun¬ 
gen bestehen, wissen wir bestimmt. 

Für die Diagnose giebt Klemperer 
an: „Angioneurotische Nierenblutung ist 
zu diagnostisiren, wenn der blutige Urin 
eine einfache Mischung von Blut und 
Harn, ohne jeden andern pathologischen 
Bestandtheil darstellt und die Palpation 
der Nieren dieselben nicht vergrössert er¬ 
weist. Der renale Ursprung der Blutung 
wird durch Empfindlichkeit einer Niere, 
Blutkörperchencylinder oder Cystoscopie 
erwiesen. Zeichen allgemeiner Neurasthenie 
unterstützen die Diagnose, sind aber für 
dieselbe nicht nothwendig. Es sind auch 


angioneurotische Nierenblutungen mit ■ 
Schmerzanfällen beobachtet, welche mit | 
Nierensteinkoliken die grösste Aehnlichkeit 
haben. Sie unterscheiden sich von ihnen | 
durch die geringere Intensität und die 
kürzere Dauer der Schmerzen, sowie die 
suggestive Beeinflussbarkeit derselben.“ I 
„Die Behandlung besteht in vollkommener ! 
Bettruhe, vorwiegender Milchdiät und wohl- 
bedachter psychischer Einwirkung. Sehr i 
zu empfehlen sind hydrotherapeutische 
Proceduren, vielleicht auch lokale Electri- 
sation. Die probatorische Freilegung der 
Niere darf erst in Frage kommen, wenn I 
nach mehrwöchentlicher innerer Behand¬ 
lung kein Rückgang der Blutung zu er¬ 
kennen ist und die Anämie das Leben 
gefährdet.“ 

Litteratur. 

Baar, G., Fall von geheilter Nierenblutung. 
Therapie der Gegenwart 1901, S. 336. — 

Casper, Fortschritte der Nierenchirurgie, 
Arch. f. klin. Chir. 1901, LXIV. — Derselbe, 
Deutsche med. Wochenschr. 1902, V. S. 66 und 
1903, V. S. 90. — Castan, Ann. d. mal. d. org. 
gen. ur. 1899, S. 1194. — Debaisieux, De 
Thematurie r£nale essentielle, Ann. de la Soc. 
beige de Chir. 1898. — Durham, Brit. med. 
Journ. 1872. — Guyon, La physiologie et la 
pratique de Chirurgie urinaire, Ann. d. mal. d. 
org. g6n. ur. 1898, S. 1121. — Hamonic, P.. 
Ann. d. mal. d. org. gen. ur. 1899, S. 1191. — 
Israel, J., Ueber den Einfluss der Nieren¬ 
spaltung auf acute und chronische Krankheits- 
processe des Nierenparenchyms, Mitth. a. d. 
Grenzgeb. d. inn. Med. u. Chir. 1899, V. S. 471 
Derselbe, Chirurgische Klinik der Nieren¬ 
krankheiten, Berlin 1901. — Derselbe, Deutsche 
med. Wochenschr. 1902, No. 9. — Derselbe, 
Deutsche med. Wochenschr. 1903, V. S. 90. — 
Klemperer, G., Neue Gesichtspunkte in der 
Behandlung von Nierenblutung, Nierenkolik und 
Nierenentzündung, Ther. d. Gegenw. 1901, S. 30. 

— Derselbe, Ueber Nierenblutung bei ge¬ 
sunden Nieren, Deutsche med. Wochenschrift 
1897, S. 129. — Derselbe, Deutsche med. 
Wochenschr. 1902, V. S. 65.’ — Martens, 
Deutsche med. Wochenschr. 1902, V., S. 247. — 
Naunyn, B., Hämaturie aus normalen Nieren 
und bei Nephritis, Mitth. a. d. Grenzgeb. f. inn. 
Med. und Chir. V., 1899, S. 443. —Pousson, A., 

De Intervention chirurgicale dans certaines 
vari6t6s de n6phrites mddicales; Assoc. franc. 
d’urologie 1899, S. 455 und Ann. d. mal. d. org. 
g£n. ur. 1902, Mai, Juni, Juli. — Derselbe, 
Contribution ä la physiologie pathologique de 
Tincision du rein, 4. session de l’assoc. fran<^. 
d’urologie 1901. — Derselbe, Des phdnomenes 
congestifs dans la pathog6nie des hemorrhagies, 
Bull, de la Soc. de Chir. de Paris, Juni 1898. — 
Derselbe, De l’intervention chirurgicale dans 
les nöphrites m£dicales, Paris, Maloine 1903. — 
Passet, Ueber Hämaturie und renale Hämo- 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


257 


.1 uni 


philie, Centralbl. f. d. Krankh d. Ham- und 
Sexualorg. 1894, No. 8. — Poth^rat, Hämat¬ 
urie d’origine renale. Bull, de la Soc. de Chir. 
de Paris 1898, S. 634, und Semaine medic. 1898, 
S. 267. — Rovsing, Th., Wann und wie müssen 
chronische Nephritiden operirt werden? Mitth. 
a. d. Grenzgeb. f. inn. Med. u. Chir. 1902, X, 
S. 283. — Senator, H, Nierenkolik, Nieren¬ 
blutung, Nephritis, Deutsche med. Wochenschr. 


1902, No. 8. Discussion darüber V. S. 65. — 
Derselbe, Ueber renale Hämophilie, Berl. klin. 
Wochenschr. 1891, No 1. — Sokoloff, Ueber 
einen Fall von wiederkehrender Nierenblutung 
im Zusammenhang mit jedesmaliger Erkältung 
des Integumentum commune, Berliner klinische 
Wochenschr. 1874, No. 20. — Schede, Neue 
Erfahrungen über Nierenexstirpation, Jahrb. d. 
Hamb. Staatskrankenanst. 1889, S 13. 


Zur Behandlung von Gallen» und Nierensteinkoliken 
mittelst neuconstrulrtem Heissluftapparat. 

Von Dr. Richard Sachs-Karlsbad. 


Von der Thatsache ausgehend, dass 
uns in der Medicin zur Linderung der ge¬ 
fürchteten Gallen- und Nierensteinkoliken 
nur zwei Hilfsmittel zur Verfügung stehen: 
Narcotica innerlich resp. subcutan und 
heisse Applicationen äusserlich (resp. 
als heisse Getränke innerlich), müssen wir 
uns fragen, welchen Effect wir mittelst 
derselben erzielen wollen. 

Eine bekannte Erklärung für die Wir¬ 
kungsweise des Morphiums geht dahin, 
dass abgesehen von dessen so wichtiger 
schmerzlindernden Wirkung durch die ent¬ 
stehende Anästhesirung eine spontane 
Lösung der krampfhaft um den einge¬ 
klemmten Stein sich contrahirenden Gallen¬ 
gangmuskulatur erfolgt, so dass der Stein 
hernach leichter passiren könne. 

Bezüglich der heissen Applicationen 
wird auf die ableitende Wirkung hinge¬ 
wiesen, indem durch den starken äussern 
Reiz, ähnlich wie bei andern Neuralgien, 
der intensive Schmerz zum Theil abge¬ 
leitet wird, zum Theil aber auch durch die 
hervorgerufene Hyperämie eine leichte 
Anästhesie zu Stande kommt, welche in 
minder schweren Fällen obengenannte 
Wirkung des Morphiums (Lösung der 
krampfhaft contrahirten Musculatur) allein 
schon zur Folge haben könne. 

Aehnlich wird die Wirkung sein, wenn 
die Schmerzen von der mit Steinen ge¬ 
füllten entzündeten Gallenblase ausgehen, 
welche sich mit Gewalt derselben entledi¬ 
gen möchte und wir eine Beruhigung der 
durch Krampf der Gallenblasenmuskulatur 
hervorgerufenen Schmerzparoxismen her¬ 
beiführen wollen. 

Jeder Praktiker hat es erfahren, wie 
der intensive, fulminante Schmerz den 
Kranken in der Regel die Schmerzhaftig¬ 
keit der heissen Application vergessen 
lässt; letzterer verlangt oft stürmisch nach 
den heissesten Umschlägen, so heiss wie 
möglich, um nur den unerträglichen Schmerz 

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zu lindern und so sehen wir denn auch 
nach kurzer Zeit, trotz Einfettens, dass 
die Haut bald wund wird und deutliche 
Verbrennungszeichen aufweist, welche bei 
sich wiederholenden Attakken eine un¬ 
angenehme Störung bilden können. 

Dazu kommt noch, dass auf der Höhe 
des Anfalles oder nach längerer Dauer 
desselben die Empfindlichkeit der Gallen¬ 
blasengegend so enorm wird, dass auch 
der leiseste Druck nicht vertragen wird 
und die Umschläge, Thermophore etc. alle 
als unerträgliche Last empfunden werden. 

Hier tritt nun meistens das Morphium 
in seine Rechte, leider nur zu häufig. 

Wie aber, wenn der Patient an Idiosyn¬ 
krasie gegen Morphium leidet? 

Das Chloralhydrat ist kein so verläss¬ 
liches Ersatzmittel, mit Atropin und Cocain 
werden wir aber jederzeit vorsichtig sein 
müssen; oder wenn die Anfälle sich häufig 
und längere Zeit hindurch wiederholen und 
der gewissenhafte Hausarzt nach Möglich¬ 
keit mit der häufigeren Einflössung des 
Morphiums zögert, um nicht vorzeitig 
dessen böse Folgen heraufzubeschwören? 

Ich kenne selbst Kranke und speciell 
gallensteinkranke Collegen, welche aus 
obigem Grunde ziemlich heftige, häufig 
auitretende Koliken ohne Morphium zu 
überstehen trachten, um sich dieses nur 
für den äussersten Nothfall zu reserviren. 

In diesen an den Praktiker häufig genug 
herantretenden Fällen bleibt nun, wenn 
alle Versuche der innern Medication als: 
Narcotica, Oelcuren, heisse Getränke, heisser 
Sprudel, Eunatrol, Podophyllin, Cholagoga 
etc. uns im Stiche gelassen haben oder aber 
z. B. wegen heftigen Erbrechens nicht an¬ 
wendbar waren, die Hitze als einziges, 
einfachstes und unschädliches Linderungs¬ 
mittel übrig. Dieselbe wird sich natürlich 
auch als Unterstützungsmittel von Narco- 
ticis, welche für sich allein keine genügende 
Anästhäsie hervorgerufen haben (also öfter 

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259 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juni 


wandelt, welche mit einem einfachen Ruck I 
<ien gewollten Zweck erreicht. Ein in der | 
Mitte und an den Seiten von der Asbest¬ 
decke herabfallendes Filztuch dient zum 
raschen und bequemen Abschlüsse des 
inneren Luftraumes, welcher überdies mit- | 
telst einerDecke noch inniger abgeschlossen | 
werden kann. Einen absoluten Abschluss 
benöthigen wir nicht. Das Trichterrohr ! 
wird mittelst zweimal gebogenem Rohre 
mit dem bekannten Schornsteine verbun¬ 
den und die Heizung mittelst Spiritusgas¬ 
brenner, Gasbunsenbrenner kann sofort 
beginnen. Mit der Hand wird anfangs 
unter der Filzdecke nachgefühlt, ob der 
Heissluftstrom die richtige Direction ge¬ 
nommen hat und hernach nur zeitweise 
der Schweiss weggewischt, sowie eventuell 
nachgefühlt, ob sich die betreffende Stelle 


nicht zu stark erhitzt hat, in diesem Falle 
wird nur vermittelst der Schiebevorrich¬ 
tung der Trichter etwas höher gestellt. 

Häufig tritt die beruhigende Wirkung 
schon nach zehn Minuten ein und steigt 
mit der Dauer der Application. Der Appa¬ 
rat ist rechts und links verwendbar. Die 
kleine Oeffnung, welche für ein tief einzu¬ 
führendes Thermometer bestimmt ist, kann 
auch verstopft werden, da die Hitzemessung 
bei zeitweiliger Controle mit der Hand 
ohne Weiteres unterbleiben kann, indem 
sie nur relativen Wert besitzt. 

Die Anfertigung des Apparates für 
Deutschland habe ich dem Medicinischen 
Waarenhause in Berlin übergeben und 
bin überzeugt, dass derselbe bei einiger 
Uebung als sehr brauchbar anerkannt 
werden wird. 


Zur Frage der inneren Erkrankungen und plötzlichen Todesfälle 
im Anschluss an die Heilung eines Säuglingsekzems. 

Von Dr. Michael Cohn, Kinderarzt (Berlin). 


In der Versammlung der niederrheinisch- 
westphälischen Kinderärzte zu Düsseldorf 
am 8. Dezember 1901 schloss sich an einen 
Vortrag von I. G. Rey (Aachen) über das 
Säuglingsekzem eine lebhafte Discussion 
an, in der fast alle Redner übereinstim¬ 
mend davon zu berichten wussten, dass 
sie bei der Abheilung eines chronischen 
Ekzems bei kleinen Kindern gelegentlich 
nicht nur auffällige Krankheitserscheinungen, 
wie z. B. hohes Fieber, Durchfälle, sondern 
selbst plötzliche Todesfälle beobachtet 
hätten. Man berief sich dabei auch auf 
die Autorität Henoch’s, der in der That 
selbst noch in den neueren Auflagen seines 
Lehrbuchs die Lehre von den Metastasen 
der Hautkrankheiten vertheidigen zu müssen 
glaubt, wonach also die Unterdrückung 
gewisser Hautleiden zuweilen schlimme 
Folgen für den Organismus nach sich ziehen 
könne, eine Lehre, die, bereits von Celsus 
vertreten und in der. Humoralpathologie 
wurzelnd, in der Neuzeit mit dieser von 
der Mehrzahl der Aerzte als veraltet und 
irrig betrachtet wird und nur noch in der 
Volksvorstellung mit einer gewissen Zähig¬ 
keit haftet. Henoch erklärt nach künst¬ 
licher Suppression eines chronischen Kopf¬ 
ausschlags mehrmals fast unmittelbar darauf 
exsudative Pleuritis, Bronchitis und Diarrhoe 
beobachtet zu haben und erwähnt überdies 
zwei ganz junge Kinder betreffende Fälle, 
in denen 8—10 Tage nach der raschen 
Heilung eines Ekzema capitis et faciei Con- 

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i vulsionen mit letalem Ausgang eintraten, 

Fälle, die trotz ihres vereinzelten Auftretens 
doch, wie er hinzufügt, auf ihn einen tiefen 
Eindruck gemacht hätten. 

Durch die obigen Angaben einer ganzen 
j Reihe von Praktikern wird die, wie gesagt, 

! von den Meisten wohl längst als in nega¬ 
tivem Sinne entschieden geltende Frage 
nach dem etwaigen Zusammenhänge 
zwischen Ekzemheilung und inneren Er¬ 
krankungen resp. Todesfällen speziell bei 
Kindern von Neuem zur Erörterung ge- 
, stellt. An der nämlichen Stelle, an der 
jene Discussion nebst dem Rey’schen Vor¬ 
trag abgedruckt ist, im 56. Bande des 
Jahrbuchs für Kinderheilkunde, ist auch 
bereits eine Arbeit von Strauss (Krefeld) 
über das Säuglingsekzem erschienen, die 
hierzu Stellung nimmt. Strauss wendet 
sich gegen die dort vertretenen Anschau- 
| ungen, er warnt davor die Lehre von den 
j üblen Säften, von der Dyskrasie in Bezug 
| auf das Säuglingsekzem wieder aufleben 
j zu lassen und erklärt dieses für eine rein 
lokale, lediglich durch äussere Reize ent¬ 
stehende Affection, nach deren Heilung er 
einen Todesfall nie gesehen habe. Nach 
seiner Ansicht kämen in den erwähnten 
Todesfällen ätiologisch Convulsionen, Sep- 
| sis, vielleicht durch das Ekzem selbst ent- 
I standen, oder Laryngospasmus in Betracht; 
er erinnert daran, dass ja auch sonst zu¬ 
weilen plötzliche Todesfälle bei Säuglingen 
vorkämen, mithin es nicht wunder nehmen 

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260 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juni 


könne, wenn gelegentlich ein solcher auch 
im Verlaufe eines chronischen Ekzems 
zur Wahrnehmung gelange. 

Im Folgenden möchte ich mir nun 
meinerseits erlauben Ober eine Beobachtung 
zu berichten, die ich kürzlich zu machen 
Gelegenheit hatte, und die wohl als ein 
Beitrag zu der wieder strittig gewordenen 
Angelegenheit gelten dari. 

Am 8. Janaar d. J. wurde mir das 1 x / 4 
Jahre alte Kind Lucie L. aus Mariendorf bei 
Berlin von den Eltern in die Sprechstunde 
gebracht, weil es an Halsdrüsen leide, und sie 
wissen wollten, ob es deshalb „geschnitten“ 
werden müsse. Es handelte sich um ein kräf¬ 
tiges, gut genährtes Kind, dessen behaarte 
Kopfhaut von einem stark nässenden, zum 
Theil borkigen Ausschlage eingenommen war, 
der nach hinten sich am Nacken abgrenzte, 
während er vorn auch auf die Haut der Stirn 
Übergriff. Zu beiden Seiten des Halses be¬ 
fanden sich, vornehmlich in der Gegend der 
Kieferwinkel gelegen, ziemlich beträchtliche 
Lymphdrüsenpackete; die einzelnen Drüsen 
bildeten Knollen bis Pflaumengrösse, waren 
im Uebrigen hart, unempfindlich und unter 
der Haut verschieblich. Sonst bot das Kind 
an seinem Körper noch leichte Zeichen von 
Rachitis, im Uebrigen aber nichts Abnormes 
dar. Nach der Angabe der Eltern bestand 
der Ausschlag bei dem Kinde, das mit der 
Flasche genährt worden war und keinerlei 
Krankheiten bisher durchgemacht hatte, seit 
seinem 5. Lebensmonate; er hatte sich zeit¬ 
weise, unter ärztlicher Behandlung, gebessert, 
war aber nie völlig geschwunden; seit ca. 5 
Wochen war er wieder schlimmer geworden, 
und seit dieser Zeit war auch die starke An¬ 
schwellung der Drüsen am Halse aufgefallen. 
Ich klärte die Eltern darüber auf, dass in 
erster Reihe das Ekzem der Gegenstand der 
Behandlung sein müsse und ordnete die Ent¬ 
fernung der Kopfhaare sowie die konsequente 
lokale Applikation von Oleum Zinci (Ol. Oli¬ 
varum, Zinci oxyd. ana) an. 

Am 14. Januar, also 6 Tage später, führten 
mir die Eltern das Kind wieder zu mit der 
Erklärung, der Ausschlag sei besser geworden, 
jedoch fiele ihnen seit vorgestern auf, das die 
Hände und Füsse des Kindes etwas 
geschwollen seien; das Allgemeinbefinden 
sei im Uebrigen ein gutes gewesen, das Kind 
habe gut getrunken, nicht gebrochen; auch 
war eine Verminderung in der Harnentleerung 
nicht aufgefallen. Die Untersuchung ergab 
folgenden Befund: Ekzem der Kopfhaut er¬ 
heblich gebessert, völlig trocken, nur noch 
spärliche Borkenbildung; Gesichtshaut voll¬ 
kommen frei; Drüsen am Halse vielleicht etwas 
kleiner. An den Nates leichte intertriginöse 
Rötung. Geringes Oedem an Hand- und 
Fussrücken; sonst nirgends Oedeme nachweis¬ 
bar. Temperatur nicht erhöht. Der in spär¬ 
licher Menge beim Abhalten des Kindes ent¬ 
leerte Harn ist hell, klar, ohne merkliche 

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Trübung. Beim Kochen und Zusatz von 
Salpetersäure entsteht ein starker Nieder¬ 
schlag, der beim Absetzen den 4. Theil der 
Flüssigkeitssäule im Reagensglase ausmacht; 
auch bei der Heller’schen Schichtprobe bildet 
sich eine starke, ringförmige Trübung an 
der Berührungsstelle. Im Essbach’schen 
Albuminimeter gemessen betrug der Eiweis¬ 
gehalt 2 pro Mille. Die am nächsten Tage 
vorgenommene mikroskopische Untersuchung 
der untersten Tropfen des im Spitzglase 
sedimentirten Urins ergab die Anwesenheit 
von hyalinen, zum Theil auch körnigen, mit¬ 
unter mit Leukocyten und Epithelien be¬ 
deckten Cylindern. Verordnung: Heisse Bäder 
mit nachfolgenden Einpackungen, Wildunger 
Helenenquelle. 

Nach zwei Tagen erhielt ich den Bescheide 
das Kind wäre bei Nacht etwas unruhig, bei 
Tage aber ganz munter; die Schwellungen 
an Händen und Füssen seien zurückgegangen,, 
obwohl die verordneten Bäder — das Kind 
war bisher nie gebadet, sondern nur täglich 
gewaschen worden — sich infolge hartnäckigen 
Sträubens des Kindes nicht hätten ausführen 
lassen. Der mitgebrachte Urin war hellgelb,, 
klar, specif. Gewicht 1012; Albumengehalt 
erheblich geringer, im Essbach */a pro 
Mille; mikroskopisch: einzelne hyaline Cylinder 
nebst Leukocyten. 

Am 21. Januar erhob ich folgenden Befund: 
Ekzem fast völlig abgeheilt, nach Erklärung 
der Eltern bisher noch nie so gut gewesen. 
Die Drüsen am Halse nicht mehr so gross wie 
früher, aber doch noch intumescirt. Urin hell,, 
klar, Albumen nicht mehr nachweisbar. 
Allgemeinbefinden gut. 

Bei einer Nachuntersuchung am 25. März 
konnte ich mich überzeugen, dass das Kind 
völlig genesen war. Vom Ekzem waren 
keinerlei Spuren mehr vorhanden, auch die 
Drüsen am Halse bis auf geringe Reste ge¬ 
schwunden. 

Um zusammenzufassen, so handelt es 
sich im vorliegenden Falle um ein 
1 V 4 Jahre altes Kind, bei dem drei Tage 
nach Beginn der erfolgreichen Behandlung 
eines chronischen Ekzema capitis die deut¬ 
lichen Zeichen einer leichten Ne¬ 
phritis (Oedeme an Hand- und Fuss¬ 
rücken, Albuminurie, Cylindrurie) sich be¬ 
merkbar machen, um innerhalb der nächsten 
acht Tage, ohne wesentliche Störungen des 
Allgemeinbefindens verursacht zu haben, 
allmählich wieder zu verschwinden, wäh¬ 
rend auch das Ekzem gleichzeitig völlig 
abheilt. Dass nun zwischen dem chro¬ 
nischen Ekzem resp. dem Abheilungspro- 
cess desselben und der Nephritis ein un¬ 
mittelbarer Zusammenhang existirt, lässt 
sich freilich nicht mit absoluter Sicherheit 
beweisen, muss aber doch als sehr wahr¬ 
scheinlich angesehen werden; denn ein 
anderes ätiologisches Moment wie etwa 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


261 


J uni 


ein vorangegangener Darmkatarrh oder 
eine vielleicht nicht genügend beachtete 
Scharlacherkrankung war durch die Anam¬ 
nese trotz genauen Nachforschens absolut 
nicht festzustellen, und auch eine medika¬ 
mentöse Nephritis kann als ausgeschlossen 
gelten, da die applicirte Salbe völlig in¬ 
differenter Natur war, eine interne Thera¬ 
pie aber überhaupt nicht zur Anwendung 
kam. Wäre nun mit diesem Falle die 
Möglichkeit des Vorkommens einer acuten 
Nierenentzündung im Verlaufe und im Zu¬ 
sammenhänge mit der Abheilung eines 
chronischen Ekzems der Säuglinge er¬ 
wiesen, so läge es auch nahe die oben 
erwähnten unaufgeklärten Todesfälle bei 
solcher Gelegenheit zum Theil wenigstens 
als die Folge einer nicht erkannten Ne¬ 
phritis aufzufassen und die öfters dabei 
-erwähnten Convulsionen als urämische zu 
deuten. Es ist ja ohnehin bekannt, dass 
die Nephritis ganz junger Kinder schon 
wegen der Schwierigkeit der Uringewin¬ 
nung nicht so selten in der Praxis über- 1 
sehen wird. Mit der Möglichkeit einer 
Nephritis als Todesursache rechnet in der 
obigen Discussion auch Bloch (Köln) bei 
der Erwähnung des Falles eines acht Mo¬ 
nate alten Brustkindes, das nach rascher 
Heilung eines fünf Wochen lang be¬ 
stehenden Gesichtsekzems plötzlich nach I 
leichten vorhergegangenen Krämpfen starb. I 
Und Castenholz erwähnt bei gleicher i 
Gelegenheit eine „Reihe von plötzlichen J 
Todesfällen“, die er bei nässenden Ekzemen | 
im Kinderhospitale erlebt, und bei denen 
die Sectionen „nichts als höchstens Hy¬ 
perämie der Nieren“ ergeben hätten; er 
selbst betrachtet allerdings in diesen Fällen 
als Todesursache die Störung der Haut¬ 
respiration infolge der Einsalbung ausge¬ 
dehnter Hautpartieen. 

Was die Entstehungsweise einer sol¬ 
chen acuten Nierenentzündung im Ab- I 
heilungsstadium eines chronischen Säug¬ 
lingsekzems anlangt, so braucht man zu 
deren Erklärung, wie uns scheint, gewiss 
nicht auf die alten Anschauungen von den 
zurückgedrängten schlechten Körpersäften, 
von dem Nachinnenschlagen der Krankheit 
und dergleichen mehr zurückzugreifen, 
vielmehr Hesse sich hierfür wohl auch eine 
Deutung finden, die mit unsern modernen 
wissenschaftlichen Anschauungen mehr im 
Einklang steht. So Hesse sich darauf hin- 
weisen, dass ja bei einer ganzen Gruppe 
von Krankheiten sich gelegentlich* in der 
Abheilungsperiode eine Nephritis einstellt, 
nämlich bei den acuten Infectionskrank- 
heiten; wie angenommen wird, sind es hier 

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die toxischen Infectionsstoffe, die, während 
sie vom Organismus durch die Nieren aus¬ 
geschieden werden, diese in den Zustand 
der Entzündung versetzen. Nun scheint 
freilich auf den ersten Blick zwischen einer 
acuten Infectionskrankheit und einem chro¬ 
nischen Ekzem wenig Aehnlichkeit zu be¬ 
stehen; immerhin ist hier doch wohl in 
Bezug auf den in Rede stehenden Punkt 
eine gewisse Analogie denkbar. Ganz 
gleichgiltig nämlich, ob man für die Ent¬ 
stehung des Ekzems, speciell auch des 
Säuglingsekzems, nach dem Vorgänge der 
Wiener Schule mehr äussere Reize und 
Schädlichkeiten verantwortlich macht, oder 
aber, wie es die französische Schule thut 
und hinsichtlich desSäuglingsekzems neuer¬ 
dings wieder Rey hervorhebt, den innern 
Ursachen die entscheidende Rolle zuweist, 
soviel scheint doch nach neueren Unter¬ 
suchungen wohl sicher zu sein, dass auch 
hier Mikroorganismen, Eitererreger, insbe¬ 
sondere Staphylococcen (cfr. Scholz, 
Deutsche med. Wochenschr. 1900, No. 29 
u. 30, Bockhardt, Mon. f. prakt. Dermat. 
Bd. XXXIII. No. 9), und sei es auch nur 
als Nosoparasiten, eine gewisse Rolle 
spielen. Sie werden hier stets angetroffen, 
und zum mindesten so lange das Ekzem 
sich auf der Höhe befindet, erzeugen sie 
jedenfalls am Locus affectionis gewisse 
Stofiwechselproducte, die von den Lymph- 
bahnen aufgenommen in die benachbarten 
Lyraphdrüsen gelangen und diese in den 
Zustand der Schwellung versetzen, einen 
Zustand, der während der Dauer des 
Ekzems offenbar infolge continuirlicher 
Zufuhr reizender Stoffe aus dem Entzün¬ 
dungsgebiete bestehen bleibt. Diese An¬ 
schwellung der regionären Lymphdrüsen, 
die gerade im Kindesalter, wohl wegen 
der hier besonders starken Reizbarkeit des 
lymphatischen Apparats, oft eine beträcht¬ 
liche ist, stellt an sich gewiss einen für 
den Gesammtorganismus nützlichen Vor¬ 
gang dar, indem hierdurch jene reizenden 
Stoffe in irgend einer Weise in den Drüsen 
festgehalten und an einem Eindringen in 
die Blutbahu gehindert werden. Mit der 
Abheilung des Ekzems pflegen sich be¬ 
kanntlich auch die Drüsen mehr oder we¬ 
niger rasch zurückzubilden. Hierbei muss 
es nun zweifellos zu einer Resorption der 
in den Drüsen vorhandenen irritirenden 
Substanzen (Staphylococcentoxine) kommen, 
und diese Resorption wird um so plötz¬ 
licher einsetzen, je rascher die Abheilung 
des chronischen Ekzems sich vollzieht, je 
plötzlicher und unvermittelter also die bis¬ 
herige Reizung der Lymphdrüsen unter¬ 


em rigiraal from 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juni 


brochen wird. Man kann sich vorstellen, 
dass auf diese Weise gelegentlich eine 
ziemlich acute Resorption einer so grossen 
Menge dieser Substanzen und Eindringen 
derselben in die Blutbahn stattfindet, dass 
sie nunmehr bei der Ausscheidung durch 
die Nieren diese in einen entzündlichen 
Zustand zu bringen im Stande sind. 

Ob nun dieser Erklärungsversuch zu¬ 
treffend ist oder nicht, vorerst handelt es 
sich weit mehr darum das Vorkommniss 
selbst erst noch durch weitere Beobach¬ 
tungen sicher zu stellen. Systematische 
Urinuntersuchungen bei Kindern während 
der Abheilungsperiode chronischer Ekzeme 
könnten hier vielleicht am ehesten Aufschluss 
geben. In der Litteratur finden sich aller¬ 
dings auch bereits einige Mittheilungen 
über das Auftreten acuter Nephritis bei 
Kindern im Gefolge chronischen Ekzems 
resp. Impetigo; sie stammen von italieni¬ 
schen Aerzten her. So beschrieb Guaita 
(Mailand) i. J. 1890 unter dem Titel „Ne¬ 
phritis acuta, eine nicht seltene Ursache 
überraschender Todesfälle bei Kindern“ 
einige Fälle dieser Art im Archivio italiano 
di Pediatria, und an der gleichen Stelle 
berichteten in den folgenden Jahren Canali 
(1891), Regoli (1891), Felici (1892) und 
Celoni (1893) über analoge Vorkommnisse. 
Nach den mir vorliegenden Referaten (Jahrb. 
f. Kinderheilkunde Bd. 37, S. 444, Bd. 38, 
S. 506) handelte es sich dort zumeist 


um ältere Kinder; auch ist nicht er¬ 
sichtlich, ob die Nephritis mit der Abhei¬ 
lung der Hautausschläge zusammenhing 
resp. in Zusammenhang gebracht wurde. 

Sollten aber auch Beobachtungen von 
der Art der mitgetheilten sich mehren, 

| so würde dadurch, wie zum Schluss her¬ 
vorgehoben werden mag, der praktische 
| Standpunkt, dass jedes Kinderekzem thera- 
* peutisch in Angriff genommen und nicht 
| etwa als ein noli me tangere betrachtet 
| werden müsse, gewiss dadurch in keiner 
Weise verrückt werden. Denn sicherlich 
handelt es sich hier nur um relativ seltene 
Vorkommnisse, und zweifellos ist die Zahl 
jener Fälle beträchtlich grösser, in denen 
die Vernachlässigung eines Säuglings¬ 
ekzems fatale Folgen in Form von Phleg¬ 
monen, Erysipel, Sepsis u. s. w. nach sich 
zieht. So sah ich selbst erst vor noch 
nicht so langer Zeit in meiner Poliklinik 
ein fünf Monate altes Kind an einem Ery¬ 
sipel zu Grunde gehen, das von einem 
chronischen Ekzema capitis et faciei seinen 
Ausgang genommen hatte, und bald da¬ 
nach einen sechsmonatlichen Säugling mit 
einem seit einem Vierteljahr bestehenden 
nässenden Gesichtsekzem, das ein höchst 
fötides Sekret absonderte, unter Erschei¬ 
nungen erkranken und ziemlich rasch 
enden, welche die Annahme einer von dem 
Ekzem ausgegangenen acuten Sepsis nur 
allzu nahe legten. 


Aus Dr. Parisers Sanatorium für Magen- und Darmkrankheiten in Homburg vor der Höhe. 

Ueber Tanocol. 

Dr. med. Hans Schlrokauer. 


Im Frühjahr 1902 wurde uns von der 
Actiengesellschaft für Anilinfabrikation ein 
grösseres Quantum Tanocol zur Prüfung 
übersandt. Schon vorher hatte mein ver¬ 
ehrter Chef, Herr Dr. Pariser, vorwie¬ 
gend auf die Empfehlung in der Arbeit 
Rosenheim’s dieses Mittel I 1 /* Jahre hin¬ 
durch bei Indication zu Tannindarreichung 
systematisch angewandt. Es kann daher 
über die Wirkung des Mittels berichtet 
werden, wie sie sich an einem grösseren, 
vorwiegend klinischen Beobachtungsmate¬ 
rial bei regelmässiger Untersuchung der 
Stuhlentleerungen ergab. 

Für diejenigen, denen das Tanocol in 
seiner chemischen Form und seinen phy¬ 
sikalischen Eigenschaften nicht genauer 
bekannt sein sollte, seien einige Daten 
darüber gegeben. Das Tanocol ist ein 
von Dr. Altschul dargestelltes Leim- 
tannat und ist ein gelbliches, geschmack- 
und geruchloses, in kalten Flüssigkeiten 

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leicht lösliches Pulver. Es besitzt in 
noch höherem Grade als die bisher be¬ 
kannten organischen Tanninverbindungen, 
die für therapeutische Zwecke wichtige 
Eigenschaft, das Tannin während der 
Passage durch den Magen nur wenig ab¬ 
zugeben, die Magen Verdauung in Folge 
dessen nicht zu alteriren, sondern erst im 
alkalischen Darminhalte, also in loco affec- 
tionis, in seine Bestandtheile zu zerfallen. 
Im Uebrigen sei bezüglich dieser Verhält¬ 
nisse auf die Angaben von Altschul und 
Flatow's Nachprüfung hingewiesen. 

In Uebereinstimmung mit den Angaben 
der übrigen Beobachter können auch wir 
es nur bestätigen, dass die Darreichung 
des Tanocols selbst durch Wochen hin¬ 
durch keine subjective oder objective 
Schädigung der Magenverdauung herbei¬ 
führt. Es wurde sowohl bei Superacidität 
gut vertragen, als auch rief es bei chroni¬ 
schen Gastritiden mit Anacidität und dabei 

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263 


Juni Die Therapie der Gegenwart 1903. 


bestehender grosser Sensibilität der Magen- | 
Schleimhaut keinerlei Beschwerden hervor. ! 

Die Indication zur Darreichung eines 
Adstringens wird für den praktischen Arzt 
so gut wie immer durch das Symptom der 
Diarrhoe gegeben sein. Es sei gleich hier 
bemerkt, dass es eine grosse Gruppe von , 
Diarrhöen giebt, bei denen nach allge¬ 
meiner Erfahrung von der Darreichung 
von Adstringenden und so auch der Tan- | 
ninpräparate von vornherein als aussichts- 1 
los Abstand genommen werden kann. Es J 
ist dies die Gruppe der rein nervösen j 
Diarrhöen in ihren verschiedenen Unter¬ 
arten. Andererseits giebt es eine nume¬ 
risch nicht kleine Zahl von Fällen, die in 
das Wirkungsgebiet des Tanocols gehören, 
ohne dass eine Diarrhoe vorhanden ist, 
wie im Nachfolgenden etwas ausführlicher 
erörtert werden soll. Es kann ein Ver¬ 
sagen einer adstringirenden Medication bei 
rein nervösen Diarrhöen ja eigentlich nicht 
überraschen, wenn wir uns vergegenwär¬ 
tigen, dass die diarrhoische Entleerung da¬ 
bei nicht durch eine katarrhalische Altera¬ 
tion der Darmmucosa zu Stande gekommen 
ist, sondern nur das Product einer com- 
plexen Neurose ist, einer nervösen Stö- i 
rung der Motilität und Secretion, wahr- j 
scheinlich auch oft einer gleichzeitig vor- | 
handenen nervösen Schädigung der Re- j 
sorption. Einige Versuche, die wir mit 
dem uns zur Verfügung gestellten Tano- 
col nach dieser Richtung hin in ganz 
reinen Fällen — ich möchte sagen der 
Ordnung wegen anstellten — blieben denn 
auch selbstverständlich negativ und wurden 
nicht weiter fortgesetzt. Etwas anders 
steht es mit der Anzeige für Tannindar¬ 
reichung bei jener umfangreichen und 
praktisch wichtigen Gruppe von Diarrhöen, 
die Mischfälle von Katarrh und Neurose 
darstellen. Hier hat oft erst der Katarrh 
den Boden für die Neurose abgegeben. 
Das soll folgendes sagen: Bei einem auch 
sonst die objectiven Symptome der Neu¬ 
rasthenie bietenden Individuum giebt der 
katarrhalich erkrankte Darm mit seiner 
schon durch den Katarrh gesteigerten, 
leichten localen nervösen Ansprechbarkeit 
die Gelegenheit zur Ausbildung und dem 
Auftreten eines neurasthenischen Symptoms 
an einem Organ, das sonst aller Wahr¬ 
scheinlichkeit nach von dieser prägnanten 
nervösenMitergriffenheitfreigeblieben wäre. 
Hier muss die Therapie neben einer Be¬ 
handlung der Neurasthenie vor allem auch 
beim Katarrh einsetzen. Leider ist auch 
in diesen Fällen die symptomatische Wir¬ 
kung, d. h. die Beeinflussung der Diarrhoe 

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eine unsichere und schwankende. Wir 
können den Katarrh an sich — wie weiter 
unten noch erörtert werden wird — zwar 
symptomatisch beeinflussen, aber nicht 
ganz ausheilen und Recidive sind an der 
Tagesordnung. Man darf aber nicht ver¬ 
gessen, dass es sich eben hier um Misch¬ 
fälle handelt und dass neben der leichten 
Antwort auf periphere, d. h. die Darm¬ 
wand selbst treffende Reize auch central- 
bedingte Einflüsse auf die Beschleunigung 
der Peristaltik jeden Augenblick sich gel¬ 
tend machen können. In gewissem Sinne 
gehören in diese Gruppe der Mischfälle 
auch die tuberkulösen und dysenterischen 
Diarrhöen. Bei beiden Formen von di- 
arrhoischen Darmerkrankungen wird die 
gesteigerte Peristaltik wahrscheinlich weni¬ 
ger durch den gleichzeitig bestehenden 
Katarrh als durch den directen, andauern¬ 
den Nervenreiz vom Geschwürsgrund aus 
veranlasst. Ebenso wird es sich bei den 
urämischen Diarrhöen verhalten, wo neben 
der allgemeinen im Blut kreisenden Noxe 
oft eine specielle locale Ursache durch die 
bei dieser Affection bekanntlich häufigen 
Darmgeschwüre gegeben ist, und ebenso 
wohl beim Typhus. Namentlich bei den 
letztgenannten Kategorien wird ein Ad¬ 
stringens immer versagen müssen. Tuber- 
culöse Diarrhöen und Typhen haben wir 
hier nicht zu Gesicht bekommen, wohl 
aber liefert der Verfolg je eines Falles von 
urämischer Diarrhoe und tropischer Amöben¬ 
dysenterie, bei denenTanocol - schon a priori 
mit geringen Erwartungen gegeben wurde 
— auch für uns von neuem den auch schon 
von anderer Seite vielfach erbrachten Beweis. 

Es wurde im Vorhergehenden eine 
kurze Charakteristik derjenigen Arten von 
Diarrhöen gegeben, bei denen sich Ad¬ 
stringenden unwirksam erweisen müssen, 
und also auch von dem uns hier inter- 
essirenden Vertreter dieser Arzneimittel¬ 
gruppe, dem Tanocol, keine günstigen 
Folgen erwartet werden durften. 

Wenden wir uns nun zu denjenigen 
Formen von Diarrhöen, bei denen Adstrin¬ 
genden erfahrungsgemäss mit Erfolg an¬ 
gewandt werden unter der besonderen 
Berücksichtigung der Tanocolwirkung, so 
kommen hier in erster Reihe die acuten 
Darmkatarrhe in Betracht. Es hat uns 
unzweideutig den Eindruck gemacht, als 
ob, selbstredend bei passender Diät, unter 
gleichzeitiger Tanocoldarreichung die Stö¬ 
rungen schneller ausgeglichen wurden als 
ohne das Mittel. 

Wir hatten auch Gelegenheit, einige 
Fälle von heftigem, subacutem Darmkatarrh 

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264 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juni 


bei Kindern zu sehen, bei denen trotz 
sorgfältigster Diät die Diarrhöen und Ko¬ 
liken bisher nicht verschwunden waren 
und bei denen das Tanocol in der Dosis 
von 0,5 g 3—4mal täglich offensichtig aus¬ 
gezeichnete Erfolge zeitigte. 

Das Hauptwirkungsgebiet des Tanocols 
ist naturgemäss das des diffusen chro¬ 
nischen Darmkatarrhs mit Diarrhöen. 
Wir können nur sagen, dass die Wirkungs¬ 
weise des Tanocols nach unseren Beob¬ 
achtungen in diesen Fällen eine ganz vor¬ 
zügliche war, und dass das Mittel Empfeh¬ 
lung verdient. Ganz in Uebereinstimmung 
mit den Ergebnissen anderer Prüfungen 
müssen wir hervorheben, dass da, wo das 
Tanocol einmal versagte, auch die anderen 
modernen Adstringentien wie Tannalbin, 
Tannigen keine besseren Erfolge zu Tage 
treten Hessen. Auch wir möchten darauf 
hinweisen, dass ein Erfolg abhängig ist 
von einer systematischen und längeren 
Darreichungsweise. Wenn nach der Be¬ 
seitigung der Diarrhoe die Tanocolmedi- 
cation bald ausgesetzt wird, so stellen sich 
leicht von neuem dünnflüssige Entlee¬ 
rungen ein. Es kann dies nicht verwun¬ 
dern, da ein ausgesprochener chronischer 
diffuser Darmkatarrh im eigentlichen Sinne 
des Wortes nicht ausgeheilt werden kann, 
sondern sich nur eine functioneile, sub- 
jective Beschwerdelosigkeit erzielen lässt. 

Einige Beobachter erwähnen eine Com- 
bination der Verwendung von Tanocol mit 
Opium in besonders hartnäckigen Fällen. 
Unabhängig von diesen Mittheilungen, die 
wir erst kürzlich kennen lernten, sind wir 
schon seit längerer Zeit eben auch für 
weniger leichte Fälle zu derselben Dar¬ 
reichungsform gelangt und können gleich 
den anderen Autoren dieselbe nur em¬ 
pfehlen. Es bleiben oft bei bereits eingetrete¬ 
ner fester Consistenz der Stuhlgänge ein 
sehr belästigendes Kollern und Gurren und 
mehr oder weniger leichte Koliken zurück. 
Gerade gegen diese restirende motorische 
und sensible Empfindlichkeit leistet die er¬ 
wähnte Combination sehr gutes. Die 
Opiumdosen können nach unseren Erfah¬ 
rungen recht klein genommen werden, 
3—5 Tropfen Tct. simplic. pro dosi ca. 
3 Mal täglich genügen. Auch hier ist zur 
Erzielung eines Erfolges eine systema¬ 
tische, längere Darreichung geboten. 

Die Verstopfungen, die wir im Anschluss 
an längeren Tanocolgebrauch beobachteten, 
waren an sich stets mässige und durch 
kleine, laue Einläufe leicht zu beseitigen. 
Die Tanocoldosis betrug etwa 1,0 g 3 bis 
4mal täglich. Im Interesse einer billigeren 

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Receptur wollen auch wir erwähnen, dass 
bei der absoluten Ungefährlichkeit des j 
Mittels dasselbe auch als Schachtelpulver i 
verordnet werden kann, mit der Vorschrift I 
3—4mal täglich eine Messerspitze zu neh¬ 
men. Obwohl wir das Medikament in leich¬ 
teren Fällen bei leerem wie bei vollem 
Magen gegeben haben, möchten wir doch 
für hartnäckigere Fälle die Darreichung 
Morgens nüchtern resp. etwa Stunde 
vor der Mahlzeit mehr befürworten. 

Wir können die Besprechung über die 
Indication zur Tanocoldarreichung nicht 
schliessen, ohne jener Gruppe von Darm¬ 
katarrhen Erwähnung zu thun, die, wie 
gesagt, in das Anwendungsgebiet der Ad¬ 
stringentien gehören, obwohl Diarrhöen | 
damit nicht verbunden zu sein brauchen 
und oft genug damit nicht verbunden sind. 

Es sind dies die isolirten chronischen Dünn¬ 
darmkatarrhe. Es ist ein unbedingtes 
Verdienst Rosenheim’s, in seiner Arbeit 
über Tanocol meines Wissens als der erste i 
das symptomatische Bild dieser Erkrankung 
scharf gezeichnet zu haben. Dr. Pariser 
sieht diese isolirten Darmkatarrhe von Jahr 
zu Jahr in steigender Menge und auch ich I 
konnte mit ihm eine Anzahl significanter 
Fälle hier beobachten. Um die Erschei- 1 
nungen ganz in Kürze zu skizziren, klagen 
die Patienten über Auftreten von Unruhe 
und Koltern, Aufgetriebensein und Blähun¬ 
gen, sowie über Koliken, die bald nur von 
geringerer Intensität sind und ohne grosse 
Schmerzen nörgelnd und belästigend wir¬ 
ken, bald ausserordentlich heftig sind. Diese 
peristaltische Unruhe und gesteigerte Sen¬ 
sibilität des Darmes beginnt — was ein 
Charakteristicum ist — nicht bald nach der 
Mahlzeit, sondern meist 2—3 Stunden hinter¬ 
her und tritt, wie wir in Uebereinstimmung 
mit Rosenheim constatiren konnten, be¬ 
sonders Nachts auf, oft in der That zu der¬ 
selben Minute zu früher Morgenstunde, 
etwa zwischen 4 und 5 Uhr. Der ungün¬ 
stige Einfluss von Erkältungen, den Rosen¬ 
heim hervorhob, ist gleichfalls auch un¬ 
serer Erfahrung nach ein stark ausgeprägter. 

Der Schlaf leidet bei allen diesen Patienten 
ausnahmslos erheblich, bisweilen bis zu 
den stärksten Graden der Insomnie; da¬ 
durch und durch das stete Vorhandensein 
von mehr oder minder starken unangeneh¬ 
men Empfindungen, durch den daraus re- 
sultirenden Zwang sich dauernd ängstlich 
zu beobachten, werden die Patienten, die 
häufig von vornherein wenig widerstands¬ 
fähig sind, neurasthenisch. Sie kommen 
gewöhnlich auch in unsere Behandlung un¬ 
ter der Diagnose der reinen Neurasthenie, 

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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


265 


und die Darmbeschwerden werden als reine 
Neurose gedeutet, d. h. als reine uncompli- 
cirte Neuralgie und rein nervöse peristal¬ 
tische Unruhe. Nicht mit Recht Der sehr 
begreifliche Grund zu dieser Auffassung 
und der Ablehnung der Annahme eines 
Darmkatarrhs liegt darin, dass die Patien¬ 
ten oft berichtet haben, der Stuhlgang sei 
im grossen Ganzen regelmässig nach Zahl 
und Consistenz der Entleerungen, höch¬ 
stens ab und zu breiig, und dass ärztliche 
Stuhluntersuchungen bei ambulanten Pa¬ 
tienten bei der Schwierigkeit der äusseren 
Verhältnisse oft unterlassen werden. Eine 
wirkliche Fäcaluntersuchung zeigt aber aufs 
Unzweideutigste in Stuhlgängen von fester 
Consistenz ansehnliche Schleimbeimengun¬ 
gen, in der grossen Zahl der Fälle sogar 
gelb gefärbt, als dem Zeichen der Herkunft 
aus dem Dünndarm. Es soll nicht geleug¬ 
net werden, dass sich im weiteren Verlauf 
rein nervöse Darmerscheinungen zeigen 
können in der Form von Diarrhöen mit 
dem Stigma der nervösen Diarrhoe, z. B. 
in Abhängigkeit von bestimmten Ingestis, 
Gewürzen, Nicotin etc. Wir sehen somit, 
dass diese Gruppe von Fällen eng ver¬ 
wandt ist mit jenen oben gekennzeichneten 
Mischformen von Darmkatarrh und Darm¬ 
neurose. Wir haben diese Fälle deshalb 
hier besonders besprochen, weil in jenen 
Fällen die Neurose in Form von Diarrhöen 
auftritt, während hier der Stuhlgang normal 
erscheint und gerade dieses anscheinend 
normale Verhalten zu irrthümlicher Dia¬ 
gnose führt. Und auch zu falscher Thera¬ 
pie. Es besteht vielfach die Ansicht, dass 
bei reinen Neurosen des Darmes die Diät 
keine grosse Rolle spiele, was nicht zu¬ 
gegeben werden kann, und dass, was richtig 
ist, die Adstringenden nicht angezeigt 
wären. Wir sehen auch demgemäss die 
Patienten vielfach ohne streng regulirte 
Diät und ohne Adstringenden behandelt, 
nachdem ein vorheriges entgegengesetztes 
Regime sich als erfolglos erwiesen, und 
gerade in dieser Erfolglosigkeit einer anti¬ 
katarrhalischen Therapie ein neuer dia¬ 
gnostischer Hinweis auf den rein nervösen 
Charakter des Leidens erblickt wurde. Wir 
haben oben auseinandergesetzt, dass für 
Mischfälle die Therapie gerade beim Katarrh 
beginnen muss und dies gilt für die eben 
erwähnten Fälle von isolirtem Dünndarm¬ 
katarrh in womöglich noch höherem Maasse. 
Die Gründe, warum die antikatarrhalische 
Behandlung in den letztgenannten Fällen 
versagte, sind folgende: erstens wurde 
häufig die Diät nicht streng genug gefasst 
und besonders diese Fälle bedürfen einer 


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sehr vorsichtigen Diät, mit längerem Aus¬ 
schluss jeglicher Gemüsekost und der Dar¬ 
reichung der Amylaceen in nur bestaufge¬ 
schlossener Form; das Fleisch muss oft 
genug nur hachirt gegeben werden. Zwei¬ 
tens muss eine solche Diät relativ lange 
durchgeführt werden, denn diese Fälle sind 
ungemein hartnäckig; ein völliges Ausheilen 
des Katarrhs ist kaum je zu erwarten und 
acutere Exacerbationen bei irgendwelchen 
Diätfehlern sind ausserordentlich häufig. 
Drittens kommt man gewöhnlich mit der 
Diät allein überhaupt nicht aus. Die zweck¬ 
mässige Darreichung gewisser Brunnen¬ 
arten wirkt unterstützend, aber auch diese 
genügt meist nicht. Hier sind wir zur Er¬ 
zielung eines möglichst guten Erfolges 
geradezu auf die Anwendung von Adstrin¬ 
genden angewiesen und zwar wiederum 
auf längere Zeit hinaus, womöglich in oben 
erwähnter Combination mit kleinen Opium¬ 
dosen. Aber so gut wie nie wird bei nicht 
richtigem Erkennen des Sachverhaltes durch 
Fäcaluntersuchung ein Tanninpräparat in 
diesen Fällen angewandt oder höchstens 
vorübergehend des Versuches halber, weil 
das indicirende Symptom, die Diarrhoe, 
meist fehlt. Vielmehr werden bei der häufig 
gleichzeitigen Klage über Blähungen Ab¬ 
führmittel oder Curen mit abführenden 
Wässern verordnet, immer ohne Nutzen. 

Und doch sind Adstringenden hier viel¬ 
mehr angezeigt. Ganz im Sinne der Er¬ 
gebnisse Rosenheim’s können wir auf 
Grund ausgedehnter Beobachtungen sagen, 
dass zusammen mit passender Diät das 
Tanocol uns die nach Lage der Sache 
bestmöglichen Erfolge gewährt hat, und 
können wir die systematische Darreichung 
dieses Tanninpräparates in solchen Fällen 
auf das Wärmste empfehlen. 

Zum Schluss sei es mir gestattet, Herrn 
Dr. Pariser für die freundliche Ueber- 
lassung des Materials und für das dieser 
Arbeit entgegengebrachte Interesse meinen 
besten Dank auszusprechen. 

Litteratur. 

Prof. Dr. Rosenheim. Ueber Tanocol. Vor¬ 
trag gehalten in der Berliner medicinischen Ge¬ 
sellschaft 23. März 1899. — Dr. Robert Fla- 
tow, Ueber Tanocol, ein neues Darmadstrin¬ 
gens. Deutsche medicinische Wochenschrift 
1899. No. 22. — Dr. H. Brat, Beobachtung 
etc. über Tanocol. Berliner klin. Wochen¬ 
schrift 1899 S. 394. — Dr. Goliner: Ueber Ta¬ 
nocol. Medicinische Rundschau No. 55 1899. — 

Dr. E. Stadelman: Neue pharmaceutische Prä¬ 
parate. Separatabdruck a. d. deutsch. Aerzte- 
Zeitung 1899. — Dr. C. Pariser, Chronische 
nervöse Diarrhoe und ihre Behandlung. Deut¬ 
sche Medicinalzeitung 1900. 

34 

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266 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juni 


Therapeutisches aus Vereinen und Congressen. 

Therapeutisches aus den Pariser medicinischen Gesellschaften. 


Variot hat in der Sitzung vom 17. März 
der Soci£te de Pädiatrie auf eine besondere 
Art von Intoleranz der Säuglinge gegen 
vollkommen normale Milch der Mutter oder 
einer bestimmten Amme aufmerksam ge¬ 
macht. Es ist dies eine rein gastrische 
Intoleranz, welche Redner bis jetzt in 
12 Fällen die Gelegenheit hatte zu beob¬ 
achten und die, unter Umständen, mit con¬ 
genitaler Hypertrophie (oder Krampi) des 
Pylorus verwechselt werden kann. Sie 
äussert sich in ständigem Erbrechen der ge¬ 
nossenen Milch, mit rascher Abmagerung 
und Kräfteverfall, trotz regelrechter Dar¬ 
reichung der Brust, trotzdem die betreffende 
Mutter- oder Ammenmilch sich als vorzüg¬ 
lich nicht nur bei blosser Inspection, son¬ 
dern auch bei der chemischen Analyse er- 
erweist. Sterilisirte Kuhmilch wird oft auch 
nicht vertragen. Es genügt aber das kranke 
Kind von einer anderen Frau stillen zu 
lassen um alle dyspeptische Erscheinungen 
bei ihm wie mit einem Schlage schwinden 
zu sehen. Redner ist der Meinung, dass 
unter den, als congenitale Hypertrophie 
des Pylorus beschriebenen und mit Pyloro- 
plastik behandelten Fällen, manche nichts 
anderes waren, als solche gastrische In¬ 
toleranzen einer bestimmten Frauenmilch 
gegenüber, die durch deneinfachenWechsel 
der Milch geheilt werden könnten. 

M 6 ry hat diese Ansicht des Vorredners 
in einem Falle aus seiner Praxis vollkommen 
bestätigen können. 

In der Sitzung vom 7. April der Acadömie 
de M^decine machte Leredde eine Mit¬ 
theilung über die erfolgreiche Anwendung 
der Phototherapie bei Acne rosacea. Diese 
Behandlung, die schon von Finsen gegen 
die genannte Krankheit angewandt worden 
ist, muss, nach der bisherigen Erfahrung 
Leredde’s, als ein grosser Fortschritt in 
der Therapie der Acne rosacea angesehen 
werden. In der That hat Redner bei allen 
8 Patienten, die er bis jetzt wegen Acne 
rosacea der Lichtbehandlung unterzog, 
Heilung erhalten. Und dies waren meistens 
schwere Formen von Acne rosacea. welche 
von den alten therapeutischen Methoden 
unbeeinflusst blieben. Aus Furcht von 
consecutiven Narbenbildungen, liess An¬ 
fangs Leredde die phototherapeutischen 
Sitzungen nicht länger als eine halbe Stunde 
dauern. Nach und nach kam er aber zu 
eben so langen Sitzungen, wie es bei Lupus 
üblich ist, und erreichte damit vollkommene 

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Heilung in zwei bis drei Monaten, ohne 
Spur von Narben. 

Nicht bei allen Fällen von Fettleibig¬ 
keit findet man einen relativ schwachen 
Puls mit Erniedrigung des arteriellen 
Druckes (Fettherz). Manche Fettleibige, 
die zugleich arteriosclerotisch sind, zeichnen 
sich sogar durch einen erhöhten arteriellen 
Druck aus. Bei diesen letzten ist, nach 
einer Mittheilung von Fiessinger in der 
Sitzung vom 25. März der Socidte de 
Th^rapeutique, eine hauptsächlich aus 
Fleisch bestehende Nahrung dem lacto- 
vegetarianischen Regime entschieden vor¬ 
zuziehen. Jedoch ist diese diätetische Be¬ 
handlung nur in frühen Stadien der arte- 
riosclerotischen Fettleibigkeit und dann bei 
solchen Kranken ange/eigt, bei welchen 
eine Intoxication mit Producten der Fleisch¬ 
nahrung nicht zu befürchten ist, d. h. wenn 
keine Dyspnose während der Verdauungs¬ 
periode (Huchard’s dyspn£e toxi-alimen- 
taire), keine Kopfschmerzen, keine Albu¬ 
minurie bestehen und wenn, andrerseits, 
die Zeichen arterieller Hypertension deut¬ 
lich hervortreten: harter, gespannter Puls 
mit Verstärkung des diastolischen Tones 
in der Aorta. 

In solchen Fällen verschreibt nun Fies- 
singer die Fleischdiät, aber mit der 
Warnung bei der geringsten nächtlichen 
Dyspnoe (oder bei Zunahme einer schon 
früher vorhandenen dyspnöe toxi-alimen- 
taire), bei den ersten Anzeichen von Kopf¬ 
schmerzen diese Ernährungsweise sofort 
zu sistiren. Mit dieser Vorsicht hätte man 
nichts zu befürchten. Wenn aber der 
Kranke die Fleischdiät gut verträgt, setzt 
man selbe natürlich fort. 

Bei der Anordnung der Diät folge man 
am Besten der von Professor Robin 
modificirten Schweninger’schen Methode: 
der Kranke verzehrt täglich 75 Gramm 
Brod, trinkt 8/4 bis 1 Liter heissen Thee 
und isst ad libitum Fleisch und gesottene 
grüne Gemüse. Mehlspeisen, Fette und 
Zucker sind verboten. Der heisse Thee 
fördert die Verdauung und stillt genügend 
den Durst. Unter dem Einfluss dieser Er¬ 
nährungsweise, welche nach Vortragendem, 
bei Anwesenheit von Azoturie ebenso gut 
wirkt, wie in Fällen, wo ein normales Quan¬ 
tum von Harnstoff ausgeschieden wird — 
fühlt sich der Arteriosclerotische sofort er¬ 
leichtert: sein Gewicht nimmt rasch ab 
! (durchschnittlich um 10 Kilogramm in drei 

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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


267 


Wochen). Dabei fühlt sich Patient um so 
wohler, als er weder an Hunger noch an 
Durst zu leiden hat. 

In späten Stadien der Fettleibigkeit, 
wenn das Herz dilatirt ist, schon erheb¬ 
liche Oedeme bestehen, die Leber an- j 
schwillt und zu Symptomen arterieller 
Hypertension sich durch Niereninsufficienz 
bedingte Autointoxicationserscheinungen 
anschliessen, muss man natürlich zur Milch¬ 
kur seine Zuflucht nehmen. j 

In der Discussion bemerkte G. Bau- 
douin, dass Prof. Robin sein Regime 
nur für die „obeses par defaut“, nicht aber 
für die „obeses par exces“ anempfohlen 
hat. Darauf gab Fiessinger die Antwort, 
dass die Ausscheidungsgrösse des Harn¬ 
stoffes für die Bestimmung der Fälle, 
welche sich für die angegebene diätetische 
Behandlung eignen, irrelevant sei. So hat 
er bei einem Kranken, der 45 Gramm Harn¬ 
stoff in jedem Liter Urin ausschied und 
bei welchem somit die Fleischernährung 
contraindicirt schien, einen eklatanten Er- I 
folg durch die nach Robin modificirte 
Schweninger’sche Kur gesehen. 

In derselben Gesellschaft (Sitzung vom 
13. Mai) haben L. Jullien und F. Berlioz 
eine Mittheilung über vier neue lösliche, 
für subcutane Anwendung bestimmte 
Quecksilberpräparate gemacht. Das eine 
von ihnen, eine Verbindung von kakodyl- 
sauren Ammonium mit Quecksilberoxyd 
nach der Formel: As (CH 3 ) 2 —O — O N 2 Hg 
ist ein gräulich-weisses, in Wasser leicht 
lösliches Pulver, das 56% Quecksilber ent¬ 
hält. In ca. 50 Fällen, wo es bis jetzt er¬ 
probt worden ist, wurde es bei subcutaner 
Einspritzung in der Dosis von 0,01 bis 
0,03 sehr gut vertragen. 

Das zweite Präparat ist eine durch Er¬ 
hitzen des gelben Quecksilberoxyd in einer 
Lösung von Salmiak erhaltene Verbindung 
von der Formel: HgC1 2 2(NH 4 CI), sie 
enthält 53% Merkur, ist wenig toxisch und 
hat die wichtige Eigentümlichkeit, dass 
sie Eiweiss nicht coagulirt und deswegen 
keine Schmerzen bei Injecction verursacht. 

Die dritte Verbindung ist das Oxychlor- 
hydrargyrum von der Formel Hg0 2HgCl 2 , 
welche 79o/ 0 Quecksilber enthält. Sie ist 
wenig löslich und stark sauer, wird aber 
durch Chlorammonium löslich und für 
subcutane Einspritzungen in der Dosis von 
0,01 bis 0,02 vollkommen eigen gemacht. 
Dazu bedient man sich am Besten folgen¬ 
der Receptformel: 

Oxychlorhydrargyri . 2*0 

Ammonii chlorati . 0*0 

Aq . destil . 100*0 

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Die vierte Verbindung ist das ammoni- 
akalische gelbe Quecksilberoxyd. Man be¬ 
reitet es indem man einfach das gelbe 
Quecksilberoxyd in einer heissen Lösung 
von Chlorammonium auflöst. Nimmt man 
I dabei 5,0 Chlorammonium auf 1,0 gelbes 
Quecksilberoxyd, so hat man eine Ver¬ 
bindung, die 92% Merkur enthält. Eine 
1 % wässerige Lösung derselben enthält 
somit etwas weniger als 0,01 Quecksilber 
| in jedem Kubikcentimeter Flüssigkeit; sie 
bringt Eiweissstoffe nicht zur Gerinnung. 

In der Sitzung vom 24. April der 
Societe M^dicale des Höpitaux sprach 
Babinski über günstige Resultate, die er 
bei Kranken, welche an Schwindel und 
subjektiven Ohrgeräuschen in Folge von 
Labyrintherkrankung litten, durch die 
Lumbalpunktion erhalten hat. Manche 
dieser Patienten litten nur an dem Meniere- 
schen Symptomenkomplex; bei anderen 
bestand eine eitrige Mittelrohrentzündung. 

In allen diesen Fällen sind die subjektiven 
I Geräusche und die Schwindelerscheinungen 
dauernd verschwunden. Dabei verschwan¬ 
den auch manchmal psychische Störungen, 
die anscheinend an die Labyrintherkrankung 
geknüpft waren. Was aber das Gehörs¬ 
vermögen anbetrifft, so hat es sich in 
einigen Fällen ausserordentlich gebessert, 
während in den anderen es unbeeinflusst 
blieb. Es ist selbstverständlich, dass die 
Lumbalpunktion nur in Fällen wo das La¬ 
byrinth nicht zerstört ist mit Erfolg ange¬ 
wendet werden kann. Da man aber nicht 
im Stande ist festzustellen, ob das Labyrinth 
erhalten oder zerstört ist, so räth Vor¬ 
tragender in jedem Fall von hartnäckigem 
Schwindel und Ohrgeräuschen labyrinthi- 
schen Ursprunges die Lumbalpunktion zu 
erproben. 

Das Verschwinden aller subjectiven 
und der meisten objectiven Symptome einer 
Lebercirrhose unter dem Einfluss organo- 
therapeutischer Anwendung thierischer 
Lebersubstanz erscheint so unglaublich, 
dass wir einen ersten von Galliard in 
der Sitzung vom 23. Januar in der Sociötö 
Medicale des Höpitaux mitgetheilten Fall 
dieser Art unerwähnt Hessen. In der 
Sitzung des 2. Mai derselben Gesellschaft 
hat nun Galliard eine zweite analoge 
Beobachtung mitgetheilt. Es erscheint so¬ 
mit nöthig, diese beiden Fälle in Kürze 
und mit aller Reserve zu referiren. 

In den ersten von ihnen handelte es 
sich um eine zweiundfünfzigjährige Frau, 
welche seit mehr als einem Jahre hoch¬ 
gradige Symptome einer atrophischen 
Lebercirrhose zeigte. Als sich Vortragen- 

34* 

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Juni 


268 Die Therapie der Gegenwart 1903. 


der zur Organotherapie entschloss, schien 
Patientin dem Tode nahe zu sein: sie 
hatte kolossale Oedeme der Unterextremi¬ 
täten — im grellen Kontrast mit der 
skelettischen Abmagerung des Gesichts, 
Rumpfs und Unterextremitäten — Ascites, 
sehr wenig Urin, daneben Soor und grosse 
Prostration. Man gab ihr nun (zugleich 
mit einer ausschliesslichen Milchnahrung) 
150 g Schweinsleber täglich. Schon nach 
einigen Tagen stieg die tägliche Urinmenge 
bis auf 2 x /2 1; die Oedeme, der Ascites 
und das abdominale Venennetz gingen zu¬ 
rück. Nach etwa 4 Monaten, während wel¬ 
chen die Schweinsleber weiter gebiaucht 
wurde, schwanden alle krankhafte Er¬ 
scheinungen. Nur die Leber blieb, natür¬ 
lich, atrophisch und man fand einen ge¬ 
wissen Grad von Milztumor. Ein halbes 
Jahr später machte Patientin wegen ein¬ 
getretener Oligurie (aber ohne hydro- 
pische Erscheinungen) eine neue organo- 
therapeutische Kur mit dem besten Erfolg 
durch. 

Die zweite Beobachtung Galliard’s be¬ 


trifft eine achtunddreissigjährige alkoho¬ 
lische, aber weder syphilitische noch tuber¬ 
kulöse Frau. Seit zwei Jahren litt sie an 
Lebercirrhose, welche sich noch im Stadium 
der Hypertrophie befand. Nach Punktion 
des Ascites (8 1 Flüssigkeit) wurde zur 
Organotherapie geschritten. Diesmal wandte 
aber Galliard eine Maceration (mit nach¬ 
träglicher Expression durch Mousseline) 
von 125 g Schweinsleber in Klystierform an. 
Es wurde Nachmittags um 4 Uhr ein 
solches Klysma applicirt und gewöhnlich 
anstandslos bis spät in der Nacht von der 
Kranken behalten. Nebenbei ausschliess¬ 
liche Milchdiät. Unter dieser Behandlung 
hob sich schon nach einigen Tagen die 
Urinmenge von 800 qcm auf 2 1, dann auf 
37a 1; das Allgemeinbefinden besserte sich 
in erfreulicher Weise, der Ascites kehrt 
nicht zurück, die Milz schwoll ab und so¬ 
gar die Leber zeigte die Tendenz ihr nor¬ 
males Volumen anzunehmen. Bis jetzt 
(drei Monate) bleibt der Zustand ein vor¬ 
züglicher. 

W. v. Holstein (Paris). 


Bücherbesprechungen. 


Frederic W. Mott. Vier Vorlesungen 
aus der allgemeinen Pathologie 
des Nervensystems, übersetzt von 
Dr. Wal lach. Wiesbaden 1902, J. F. Berg¬ 
mann. 

Vier Vorlesungen, die er im Juni 1900 
vor dem Royal College of Physicians of 
London gehalten hat, hat der geistreiche 
Verfasser in dem vorliegenden, trefflich 
illustrirten Büchlein zusammengestellt, ln 
der ersten behandelt er die Neurontheorie, 
in der zweiten die Wirkungen der Ver¬ 
letzung eines Neuron, die Wirkungen zeit¬ 
weisen oder dauernden Blutmangels auf 
das Neuron, von Blutungen, veränderter 
Blutbeschaffenheit, toxischen Zuständen 
von Blut und Lymphe und den reactiven 
Einfluss der Gifte. Die dritte Vorlesung 
hat die chemischen Vorgänge bei der Ent¬ 
artung und ihre Beziehungen zur Auto- 
intoxication, die vierte einige chronische 
Vergiftungszustände, die Verwandtschaft 
von Tabes und Paralyse, die Verhältnisse 
der primären Degeneration, Polyneuritis, 
Erblichkeit und Degeneration zum Gegen¬ 
stand. 

Es kann hier nicht auf den reichen Inhalt 
desBucheseingegangenwerden.EinVorwort, 
das Ed in ge r dem fliessend übersetzten 
Werkemitaufden Weg gegeben hat, preist es 
mit Recht auf Grund der zahlreichen ori- 

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ginalen Untersuchungen des Verfassers 
und der lebendigen, klaren und anschau¬ 
lichen Darstellungsart des schwierigen 
Stoffes. de la Camp (Berlin). 

Dr. Paul Cohn (Charlottenburg). Ge- 
müthsbewegungen und Krank¬ 
heiten. Eine Studie über Wesen und 
Sitz der Gemüthserregungen, ihre Be¬ 
ziehung zu Erkrankungen und über Wege 
zur Verhütung. Berlin 1903. Vogel und 
Kreienbrink. 

Der Sinnspruch, den C. F. Meyer über 
eine seiner Perlen: „Huttens letzte Tage“ 
setzte und der da lautet: 

Dies ist kein ausgeklügelt Buch 

Dies ist der Mensch mit seinem Widerspruch! 

könnte auch an der Spitze dieses 146 Seiten 
starken Büchleins stehen. Das Psycho¬ 
logische ist jetzt wieder Gegenstand leb¬ 
hafter Interessen; O. Binswanger stellt 
sich in seiner wenig bekannt gewordenen, 
in unsererLitteratur secretirten academischen 
Festrede (erschienen Deutsche Rundschau, 
Oct. 1900) die Aufgabe, die Bedeutsamkeit 
der psychologischen Denkrichtung für die 
Allgemeinbildung d % es praktischen Arztes zu 
beweisen, und von den Wechselbeziehungen 
zwischen Medicin und Naturwissenschaft 
Zeugnis abzulegen; Binswanger giebt 

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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


269 


zum Schluss dem Wunsche Ausdruck, dass 
nicht nur durch die empirische Psychologie 
unserer Zeit, sondern auch durch die 
naturwissenschaftlich geläuterte Psycho¬ 
pathologie dem ganzen Lehrgebäude der 
Philosophie eine fruchtbringende Erkennt¬ 
nis zugeführt werden möge. Dieser 
Wunsch ist, wenn wir Alles in Allem 
nehmen, durch das Paul Cohn’sche Buch 
in Erfüllung gegangen. In dem Vorwort 
wendet Verf. seine psychologische Methode 
in erster Linie auf sich an und analysirt mit 
anerkennenswerthem Freimuth seine Ab¬ 
sichten, es handelt sich um eine Psycho¬ 
logie peinte par lui m€me; als Autodidact 
bezeichnet sich der Verfasser; die ersten 
Anregungen kamen wohl von einer ge¬ 
steigerten Reizbarkeit für die Aussenwelt, 
für ihre Lichter und Schatten, für ihre 
Oberflächen und Tiefen und liegen Jahre 
zurück; es ist vollkommen „eigenes Wachs¬ 
thum“, wie es hier an den Rheinufern 
lautet; auch der stellenweis noch gährende 
Most gehört dazu, kurz — eine psycho¬ 
logische „Robinsonade“! Unter diesem 
Gesichtswinkel betrachtet gehört das Buch 
unseren Erachtens zu den schmackhaftesten 
und interessantesten Dingen, die wir am 
Schreibtisch seit Langem zu uns genommen! 
Ich gestehe, es in einem Zuge gelesen zu 
haben, mich freuend, Einem zu begegnen, 
der, wie einst von Th. Meynert gesagt 
wurde, die Heilkunde zu beseelen sucht, 
indem er Seelenheilkunde vorträgt. 

Inhaltlich trennt Verf. sein Werkchen 
in 3 Abtheilungen: Was sind Gemüths- 
erregungen und wie wirken sie psycho¬ 
logisch? Wie können Gemüthserregungen j 
pathologisch wirken? Wege zu einer Pro¬ 
phylaxe. Um diesen beträchtlichen Kern 
liegen einige Schaalen von Litteratur- 
Nachweisen und Anmerkungen. — Das Buch 
wird und muss seinen Weg machen. — 

R. Laquer (Wiesbaden). 

Fernand Cathelln. Die epiduralen In- 
jectionen durch Punction des Sa- 
cralcanals und ihre Anwendung bei 
den Erkrankungen der Harnwege. 
Uebersetzt von Arthur Strauss. Stuttgart 
bei Ferdinand Enke 1903, 123 S. 

Nach einer historischen Einleitung über 
die Entwickelung der Lumbalpunction, ihre 
Modificationen, Verwendung zu therapeu¬ 
tischen und diagnostischen Zwecken geht 
Cat hei in auf die Uebelstände dieser Me¬ 
thodik und die event. üblen Consequenzen 
derselben ein. Nach einigen anatomischen 
Vorbemerkungen geht er sodann zur Schil- 

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derung seiner Methode über, die er zunächst 
an Thieren erprobt hat. Das Wesentliche 
derselben ist, dass das Rückenmark gar 
nicht tangirt wird, sondern alle Injectionen 
in den epiduralen Raum gemacht werden. 

Dieser Raum ist wahrscheinlich ein Lymph- 
raum, gelegen zwischen der Dura mater des 
Rückenmarks, und dem Wirbelperiost. Er 
enthält zahlreiche Venengeflechte, lockeres 
Zellgewebe und Rückenmarksnerven. Seine 
Punction wird durch die sacrale Schluss¬ 
membran ausgeführt und ist anscheinend 
bei einiger Uebung nicht schwierig. Zahl¬ 
reiche Abbildungen erläutern die ein¬ 
schlägigen anatomischen und practischen 
Verhältnisse. Nach den Angaben des Autors 
lässt sie sich in Bezug auf ihre Wirkungs¬ 
weise mit der Anästhesirung des Rücken¬ 
marks und der Lumbalpunction gar nicht 
analogisiren; allem Anschein nach ist das 
Wesentliche die schnellere Resorption in- 
jicirter Substanzen gegenüber der sub- 
cutanen Einverleibung, vielleicht aber auch 
in einer Wirkung auf die Nervenwurzeln 
— wahrscheinlich nicht in Form einer ein¬ 
fach medicamentösen Wirkung, beispiels¬ 
weise injicirter Cocainlösung, sondern durch* 
„Imbibition“, durch eine Art nervösen spi¬ 
nalen Chock. Aus letztem Gründen und 
auch auf Grund practischer Beobachtungen 
ist der Autor dann auch schliesslich von 
Cocaininjectionen wesentlich zurückge¬ 
kommen und injicirt hauptsächlich physio¬ 
logische Kochsalzlösung. 

Was nun die therapeutischen Effecte be¬ 
trifft, so sollen bei Ischias, Lumbago, Arthr- 
algieen, Schmerzen bei Herpes zoster, In- 
I tercostalneuralgieen, bei visceralen Schmer¬ 
zen, besonders im Verlauf der Tabes bei 
Bleikolik gute Wirkungen gezeigt haben. 

Ganz besonders gute Ergebnisse in Bezug 
auf Schmerz- und Reizphänomene sollen 
sich bei Affectionen der Harnorgane 
gezeigt haben: bei schmerzhafter Cystitis 
und Urethritis, bei Schmerzen im Verlauf 
von Carcinom der Prostata. Hier wurden 
Cocaininjectionen und zwar häufiger aus¬ 
geführt; die Erleichterung war eine tem¬ 
poräre; besser scheint das Verfahren in 
chronischen, als in akuten Fällen zu wirken. 

Bei Incontinenz soll das Verfahren in einer 
Anzahl von Fällen (Anwendung von Koch¬ 
salzlösung) gute Dienste geleistet haben, 
wenngleich keineswegs immer. Noch bei 
anderen Affektionen der Harn- und Ge¬ 
schlechtsorgane, so bei Pollutionen, bei 
Impotenz, bei neurasthenischen Beschwerden 
soll das Verfahren erfolgreich gewesen sein. 

So interessant an sich die ganze Studie 
des Autors ist, so vorsichtig werden wir 

Original fmm 

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270 


Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


bei der Beurtheilung der practisch thera¬ 
peutischen Ergebnisse sein müssen. Das 
Verfahren ist zweifellos ein eingreifenderes 
als eine subcutane oder endovesikale Pro- 
cedur und wir werden immer erwägen 
müssen, ob nicht in vielen der geschilder¬ 
ten Fälle auch auf anderem Wege ähnliches 
sich hätte erreichen lassen. Für alle Fälle 
sind die Versuche von grossem Interesse, 
wenngleich auch ihre theoretische Er¬ 
klärung hier und da Widerspruch finden 
dürfte. Buschke (Berlin). 


E.Deutsch. Prof.EduardLang’sThera- 
peutik für Venerische und Haut¬ 
kranke. 4. umgearbeitete und vermehrte 
Auflage. Wien bei Josef Safar. 1903. 234 S. 

Das bereits früher in dieser Zeitschrift 
empfohlene Büchlein kann auch in seiner 
erweiterten neuen Form allen denen em¬ 
pfohlen werden, die sich über practische — 
speciell auch technische — Dinge, Rezepte 
und kurz über den Behandlungsplan bei 
venerischen und Hautkrankheiten orientiren 
wollen. Buschke (Berlin). 


Referate. 


Einen wichtigen Beitrag zur klini¬ 
schen Behandlung der entzündlichen 
Adnexerkr&nkungen giebt Nebesky 
nach den Beobachtungen der 2. gynäkolog. 
Klinik in München (Vorstand Amann). 
Die Behandlung dieser so häufigen Ver¬ 
änderungen soll principiell conservativ- 
expectativ eingeleitet werden. Sie besteht 
in möglichst langer, bis zu 3 Monaten 
fortgesetzter Bettruhe, daneben reizlose 
gemischte Kost, Regelung von Harn- und 
Stuhlentleerung. Erst wenn die Patientinnen 
fieber- und schmerzfrei sind und die objec- 
tiven Veränderungen bis auf Adhäsionen 
und Spangen verschwunden sind, darf 
Patientin aufstehen. Im acuten Stadium sind 
Eisblase und Priessnitz erforderlich. Selbst 
Perforationsperitonitis bei gonorrhoi¬ 
scher Pyosalpinx kann durch diese Behand¬ 
lung zur Abkapselung gebracht werden, 
septische ausnahmsweise, wenn nicht 
schleunigste Laparotomie und Drainage dem 
sonst drohenden Exitus zuvorkommt. Im 
chronischen Stadium tritt die resorbirende 
Behandlung in ihre Rechte, vor allem 
Hydrotherapie und Heissluftbehandlung, 
zumal Dampfcompressen, in Verbindung 
mit Thermophor, heisse Ausspülungen und 
Sitzbäder. Auch die Belastungstherapie 
(Lagerung, Colpeurynter, Schrotbeutel) 
würde anzuwenden sein, ist aber schmerz¬ 
hafter wie die erste. Mehr noch als 
Ichthyoltampons haben sich Tampons mit 
30% Alkohol bewährt, sowie Compressen 
auf den Leib mit höher concentrirtem 
Alkohol. Verstärken sich die Schmerzen, 
so hat die locale Behandlung aufzuhören. 
Zuletzt werden Badecuren und bei pro¬ 
fusen Menstruationen Stypticininjectionen 
und Massage angewendet, die Zahl der 
Heilung steigt mit der Dauer des Aufent¬ 
haltes, ebenso die Arbeitsfähigkeit, doch 
wurden z. B. von 1Ö5 nur 44 = 42,7 als 
arbeitsfähig entlassen. Die objectiven Ver- 

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änderungen geben nur in den seltensten 
Fällen eine Indication zur Operation. Das 
subjective Befinden kann diese abgeben, 
dabei braucht durchaus nicht immer 
der Befund den Beschwerden zu ent¬ 
sprechen. Diese darf erst erfolgen, wenn 
eine Monate lange palliative Behand¬ 
lung versagt hat. Ueber die Ge¬ 
fahren und Aussichten der Operation ist 
die Patientin aufzuklären. Die Operationen 
sind durchaus nicht immer als radicale 
von vornherein anzulegen. In 50 Fällen 
wurde wenigstens 27 mal ein Ovarium con- 
servirt, die Entfernung des Uterus wurde 
dabei nur 21 mal benöthigt. Spätere 
Stumpfbeschwerden erfordern conservative 
Behandlung. Exudate werden wenn irgend 
zugängig incidirt und drainirt. 

P. Strassmann. 

(O. Nebesky, Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gynäk. 
Bd. XLV1II, 3.) 

Um die Wirkung des Adrenalins auf 
den thierischen Organismus zu studiren, 
stellte P. P. Belawenz im pharmakolo¬ 
gischen Institute der militärmedicinischen 
Academie zu St. Petersburg unter Leitung 
von Professor N. P. Krawkoff eine Reihe 
von Versuchen an, die zu folgenden Re¬ 
sultaten geführt haben: Die blutdruck¬ 
steigernde Wirkung des Adrenalins wird 
durch spastische Contraction der Gefässe 
und direkte Reizung des Herzens bedingt. 
Die spastische Contraction der Gefässe ist 
die Folge einer direkten Einwirkung des 
Präparates auf die Gefässwand. Das Adre¬ 
nalin wirkt zunächst erregend, dann lähmend 
auf die Vaguscentren. Auf die peripheren 
Endapparate dieser Nerven hat das Mittel 
keinen Einfluss. Kleine Quantitäten Adre¬ 
nalin steigern den Stoffwechsel, grössere 
setzen ihn stark herab, wobei auch eine 
beträchtliche Abnahme der Körpertempe¬ 
ratur beobachtet wird. Giftige Dosen 
Adrenalin verursachen den Tod durch 

Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


271 


Lähmung des Athmungscentrums. Auf das 
centrale Nervensystem wirkt das in Betracht 
kommende Präparat deprimirend. Die in¬ 
travenöse und subcutane Anwendung von 
Adrenalin muss sehr vorsichtig geschehen, 
da die Wirkung desselben unbeständig ist. 
Da das Adrenalin stark hygroskopisch ist, 
so soll es nur in bereits fertiggestellten 
Lösungen benutzt werden. Verändert eine 
Adrenalinlösung ihre Farbe, so verliert sie 
trotzdem an Wirksamkeit nicht. Wird 
nach subcutanen oder intravenösen Adre- 
nalininjectionen der Puls beschleunigt, so 
ist erneute Einverleibung des Präparates 
contraindicirt. 

Zu den Versuchen wurde Adrenalinum 
hydrochloricum Poehl und Adrenalin (Tak- 
amine) von der Firma Parker, Davis Co. 
benutzt. Beide wirken im Grossen und 
Ganzen gleich, doch scheint die Wirkung 
des letzteren stärker zu sein. 

N. Grünstein (Riga). 

(Russki Wratsch 1903, No. 7.) 

Zahradnicky (Deutsch-Brod) hat 156 
Fälle von Amput&tio interscapulothora- 
Cica gesammelt und beschreibt im Anschluss 
an die Litteratur seinen eigenen Fall. Es 
handelte sich um eine 65jährige Frau, bei 
welcher im Verlaufe von drei Jahren sich | 
in der Gegend der rechten Schulter eine 
Geschwulst entwickelte. Diese Geschwulst, 
die sich in den letzten sechs Monaten bis 
zur Kindskopfgrösse vergrösserte, ver¬ 
ursachte solche Schmerzen, dass sich die 
Patientin, indem sie die kranke Extremität 
nicht gebrauchen konnte, zur Operation 
entschloss. Verfasser machte einen ovalären 
Schnitt, resecirte das Schlüsselbein in seiner 
Mitte, unterband die A. und V. subclavia, 
wodurch die Blutung sistirte und die Ope¬ 
ration wurde leicht beendet. Die Patientin 
war nach drei Wochen vollkommen ge¬ 
sund. Mikroskopisch wurde erwiesen, dass 
es sich um ein Chondro-osteo sarcom han¬ 
delte, der sich vom Kopfe des Humerus 
bis auf die Cavitas glenoidalis des Schulter¬ 
blattes erstreckte. Verfasser beschäftigt 
sich ausführlich in seiner Arbeit mit der 
Litteratur dieser Operation und bezeichnet 
alle Quellen, die ihm zugänglich waren. 

Stock (Skalsko). 

(Sbornik klinick^ Bd. 111, H. 5.) 

Die Lehre von der Arythmie des 
Herzens und Pulses ist neuerdings, 
vornehmlich unter dem Einfluss der Engel- 
mann’schen Herzforschungen in ein neues 
Licht getreten. Diese letzteren zum ersten 
Mal sozusagen in das Klinische übersetzt 

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zu haben, ist ein Verdienst, das dem 
holländischen Kliniker Wenckebach ge¬ 
bührt. Fussend auf den Forschungser¬ 
gebnissen Engelmanns hat nun jüngst 
E. Rehfisch in enger Anlehnung an 
die Wenckebach’schen Vorstellungen 
einen geschickten Versuch gemacht, die 
Prognose der Herzarythmieen aufzu¬ 
bauen. Die Grundlage für diese ganzen 
modernen Anschauungen beruhen in der 
von der Engelmann’schen Schule ver¬ 
tretenen Vorstellung von der myo- 
genen Thätigkeit des Herzens, d. h. der 
Herzmuskel hat die Fähigkeit ganz losge¬ 
löst und unabhängig vom Nervensystem, 
weiter zu schlagen. Das hat Engel mann 
in mehr als 15 000 Einzel versuchen be¬ 
wiesen. Diese Fähigkeit des Herzmuskels 
beruht auf seinen 3 kardinalen Eigen¬ 
schaften: Erstens ist er nämlich automatisch 
erregbar, und zwar entstehen die Reize, 
die ihn zu seiner Thätigkeit anregen, intra- 
cardial in der Nähe des Sinus. Zweitens 
werden diese Reize von Muskdzelle zu 
Muskelzelle des Myocards weiter gegeben 
infolge seines Leitungsvermögens. Drittens 
besitzt der Herzmuskel die Fähigkeit 
der Contractilität. Im lebendigen Körper 
steht freilich der Herzmuskel mit seinen 
genannten Kardinaleigenschaften unter di¬ 
rekter Abhängigkeit vom Nervensystem, 
vor allem unter dem regulirenden Ein¬ 
fluss des Vagus und Accelerans, aber 
dieser Einfluss ist mehr sekundärer 
Natur. Eine Störung eines der drei 
Momente der Herzthätigkeit als Erreg¬ 
barkeit, Leitungsvermögen, Contractions- 
vermögen macht meist ganz be¬ 
stimmte Formen von Arythmie, die 
prognostisch verschieden zu beurtheilen 
sind. 

Dem Engelmann’schen Gesetz von 
der Erhaltung der physiologischen Reiz¬ 
periode zufolge entstehen die normalen 
automatischen Reize am venösen Abschnitt 
des Herzens in rythmischer Folge, und 
werden von da über die Vorhöfe und 
die Blockfasern nach den Ventrikeln hin¬ 
geleitet. Wenn das Herz gegen erhöhte 
Widerstände anzukämpfen hat, oder wenn 
infolge abnorm gesteigerter nervöser Reiz¬ 
barkeit zwischen zwei normalen Systolen 
neue Erregungen entstehen, so können 
diese „Extrareize“ auch eigne Contractionen 
des Herzens verursachen: Extrasystolen 
(Engelmann). Diese Extrasystolen können 
aber nur dann zu Stande kommen, wenn 
die Extrareize in einem Augenblick ent¬ 
stehen, in welchem der Herzmuskel auch 
erregbar ist. Das ist nicht immer der 

Original from 

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272 


Die Therapie der 


Fall; wenn sich derselbe nämlich in 
systolischer Contraction befindet, ist er 
auch für stärkste Reize unempfindlich, d. h. 
„refractär“. Erst beim Erschlaffen der 
systolischen Contraction vermag er wieder 
auf Reize — seien es Extrareize oder 
normale Reize — anzusprechen. Entsteht 
also ein Extrareiz schon in einem Augen¬ 
blick der Herzevolution, in dem der Muskel 
sich noch in systolischer Contraction be¬ 
findet, so prallt er sozusagen wirkungslos ab 
und macht sich weder am Herzen noch am 
Pulse bemerklich. Tritt er etwas später 
ein, in dem Moment, in welchem die 
systolische Contraction gerade eben zu 
Ende ist, und die diastolische Er¬ 
schlaffung beginnt, so wird er zwar eine 
neuerliche hörbare und fühlbare Con¬ 
traction des Herzens verursachen aber die 
Blutwelle, die dabei durch den eben erst 
entleerten Ventrikel erzeugt wird, ist so 
gering, dass sie an dem Radialpuls nicht 
zum Ausdruck kommt Der auf diesen 
Extrareiz folgende nächste Reiz für den 
Herzmuskel ist der nun fällige normale 
Reiz; derselbe trifft nun den Herzmuskel 
noch in der refractären Phase der da¬ 
zwischen gekommenen Extrasystole, und 
muss also wirkungslos bleiben; daher die 
„compensatorische Ruhe" nach der Extra¬ 
systole! Erst der übernächste normale 
Reiz wird wieder eine normale Herz- 
contraction erzielen. So entsteht das, was 
Quincke und Hochhaus als frustrane 
Herzcontraction bezeichnet haben; d. h. 
ein Aussetzen des Pulses, bei gleichzeitigem 
hörbarem systolischem Muskelton (Puls¬ 
intermittenzen). 

Tritt der Extrareiz indess später nach 
der vorausgegangenen Systole auf, so dass 
er also den Herzmuskel in diastolischer Er¬ 
schlaffung und merklicher Füllung vor¬ 
findet, so bringt er ihn auch zu einer zwar 
vorzeitigen aber wirksamen Contraction, 
so dass man am Herzen ersten und zweiten 
Ton vernimmt und einen entsprechenden 
Pulsschlag an der Radialis, natürlich zeit¬ 
lich im Verhältniss zum normalen Rhyth¬ 
mus zu früh, gewissermaassen ein Nach¬ 
schlag zur vorausgegangenen normalen 
Systole. Die nächste normale Systole muss 
natürlich wieder ausfallen, weil der dazu¬ 
gehörige normale Reiz den Herzmuskel 
noch im refractären Zustande der Extra¬ 
systole antrifft; es entsteht also wieder 
eine compensatorische Ruhe an Herz und 
Puls. Dieser letztbeschriebene Vorgang 
ist nichts anderes als das, was wir seit 
Traube Pulsus bigeminus nennen. 
Diese beiden Formen des intermittirenden 

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Gegenwart 1903. Juni 


Pulses, die also beide auf Extrasystolen 
des Herzens beruhen, sind weitaus die 
häufigsten Formen aller Arythmieen. Am 
geschriebenen Pulsbild charakterisiren sie 
sich dadurch, dass die Zeit zwischen 
dem voraufgehenden normalen Pulse der 
ihm folgenden Extrasystole, der darauf 
folgenden compensatorischen Ruhe zwei 
regelmässigen Pulsintervallen fast genau 
entspricht, wie sich das an Curven mit 
gleichzeitiger Zeitschreibung direct aus¬ 
messen lässt. Geringe Verkürzung oder 
Verlängerung dieser Zwischenzeit zwischen 
zwei normalen Pulsen scheint davon ab¬ 
hängig zu sein, an welcher Stelle des Her¬ 
zens der Extrareiz entsteht. 

Die beschriebenen Extrasystolen können 
sich so häufen, dass daraus eine Tachy- 
cardie werden kann, und nur ab und 
zu normale Intervalle auftreten, die uns 
dann den extrasystolischen Ursprung 
dieser Tachycardie verrathen. 

Die Arythmieen durch Extrasystolen 
sind verhältnissmässig günstig prognostisch 
zu beurtheilen. Sie pflegen dann aufzu¬ 
treten, wenn ein Missverhältniss zwischen 
Herzkraft und verlangter Leistung herrscht. 
Das kommt vor bei acuten Vergiftungen* 
bei fieberhaften Zuständen, vor allem aber 
bei drei Kategorieen von Kranken, näm¬ 
lich bei Arteriosklerotikern, bei Herz¬ 
kranken und bei Nervösen. Mit zunehmen¬ 
dem Widerstand wächst die Spannung des 
Muskels, die ihrerseits die Erregbarkeit 
steigert. Dazu genügen schon z. B. bei 
nervösen Leuten Blutdrucksschwankungen 
in Folge von Gemüthserregungen. Findet 
sich bei solchen extrasystolischen Aryth¬ 
mieen weder arteriosklerotische Blutdruck¬ 
steigerung noch gesteigerte nervöse Erreg¬ 
barkeit, so muss an die Möglichkeit einer 
Herzmuskelerkran kun g gedacht werden. 
Immerhin kommt, wie Rehfisch mit Recht 
betont, dieser Form von aussetzendem 
Pulse, die auf abnormer Erregbarkeit des 
Herzmuskels beruht, nicht die üble Pro¬ 
gnose zu, wie Traube sie vormals aus¬ 
genommen hat. 

Anders verhält sich das mit denjenigen 
Formen, die auf Veränderungen der beiden 
andern Cardinaleigenschaften des Herz¬ 
muskels, nämlich der Leistungsfähigkeit 
und der Contractilität beruhen. 

Die Ventrikel contrahiren sich bekannt¬ 
lich a /5 Secunde später als die Vorhöfe. 
Man erklärt das daraus, dass die Block¬ 
fasern, d. h. die Muskelelemente, die die 
Vorhöfe mit den Atrieen verbinden, schlech¬ 
tere Reizleiter sind. Wenn die Leitung 
im Herzen geschädigt ist, leiden diese 

Original ffom 

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Juni 


273 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Blockfaaern am ersten Noth, und die durch 
sie gesetzte Arretirung im Fortschreiten 
der Reizleitung führt zu Ungleichheit der 
einzelnen Reizperioden, unter Umständen 
zur zeitweiligen vollkommenen Leitungs¬ 
unterbrechung an dieser Stelle („Herz¬ 
block“). Bei klinischer Beobachtung be¬ 
merkt man dann in diesem Moment ein 
Aussetzen des Pulses und der Herz¬ 
action, also das was man als Pulsus 
deficiens zu bezeichnen pflegt. Das cha¬ 
rakteristische dieser Form der Arythmie 
tritt am geschriebenen Puls insofern her¬ 
vor, als das Intervall zwischen den beiden 
Pulsen, zwischen denen einer weggefallen 
ist, kleiner ist als die Summe zweier Puls¬ 
perioden. Der Grund dafür ist klar: die 
Ventrikelcontractionen, die bei normaler 
Leitung ^5 Secunden nach der Vorhofs- 
contraction erfolgen sollen, verzögern sich 
in Folge der mangelhaften Leitung immer 
mehr und mehr bis der Herzblock ein- 
tritt und die Ventrikelcontraction damit 
einmal überhaupt wegfeilt. Hat sich nun 
in Folge der Ruhe das Leitungsverraögen 
wieder erholt, so tritt nunmehr nach dem 
Aussetzen eine rechtzeitige Systole auf, 
die also der letzten erhebiieh verspäteten 
fortgeleiteten Contraction näher liegen 
muss, als die Summe zweier Pulsperioden 
von normalem Rhythmus. Dies Spiel 
kann sich wiederholen in regelmässiger 
Folge, dann kommt es zum regelmässig 
— nach 3, 4, 5 etc. Schlägen — aus¬ 
setzenden Puls. 

Charakteristisch ist ferner bei dieser 
Form, dass die der Intermission folgende 
Pulsperiode immer etwas grösser ist, als 
die zweitfolgende. So kommt es, dass da 
wo die Pulsfrequenz in der Minute ein 
Multiplum der voraufgehenden oder fol¬ 
genden darstellt, eine prognostisch stets 
ernster zu beurtheilende Arythmie durch 
Leitungsstörung anzunehmen ist, und nicht 
nur ein nervöser Extrasystolen puls. Dieser 
letztere ist ausserdem dadurch gekenn¬ 
zeichnet, dass er noch weit mehr als der 
gesunde Puls in Abhängigkeit von In- und 
Exspiration steht. Wird die Leitungs¬ 
störung so beträchtlich, dass nur noch 
hin und wieder ein normaler Reizinter¬ 
vall zu beobachten ist, so kann es zu 
Bradycardie kommen; hier kann die 
Differentialdiagnose zwischen Läsion von 
Leitungsvermögen oder Vagusreizung oft 
sehr schwierig werden, wenngleich es 
auch schon gelungen ist, im Röntgen¬ 
bild (A. Hoffmann) oder mit dem 
Stethoskop (Huchard, His) die Con- 
tractionen der Vorkammern bei gleich- 

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zeitigem Stillstand der Ventrikel direct zu 
beobachten. 

Die Ursachen für diese Arythmieformen, 
also für den echten Pulsus deficiens, sind 
meist schwere myo- und endocarditische 
Veränderungen, schwere Infecte mit Diph¬ 
therie, Scharlach, Masern und vornehmlich 
Influenza. Am deutlichsten werden sie da 
im Reconvalescenzstadium und sind nach 
Rehfisch’s Ansicht immer als ernste 
Störungen unter sorgfältiger Controle zu 
halten. 

Bei gestörter Contractilität des Herz¬ 
muskels leidet ebenfalls das Gleichmaass 
des Pulses Noth. Es resultirt in schwersten 
Fällen das regellose Delirium cordis oder 
aber die Contractionen verkürzen sich 
immer mehr um dann nach erreichtem 
Minimum, wieder stärker zu werden 
und so fort: Pulsus myurus! Endlich 
können schwächere mit stärkere Con¬ 
traction regelmässig ab wechseln: Pulsus 
alternans! ein Pulsbild das bekannt¬ 
lich selten genug in reiner Form zur Be¬ 
obachtung kommt, und von sehr schlechter 
Vorbedeutung ist. 

Es ist zweifellos als ein grosser Fort¬ 
schritt zu betrachten, dass auf Grund 
strenger physiologisch experimenteller 
Forschung auch in das klinische Bild der 
früher so unzusammenhängenden Aryth- 
mieen eine gewisse Klärung und besseres 
Verständniss hineingetragen worden ist. 

Am fruchtbarsten erweist sich dabei jeden¬ 
falls die Erkennung und richtige Deutung 
der Extrasystolen bei der Beurtheilung 
von Herz und Puls. Ob sich aber die 
Trennung zwischen Störungen der Lei¬ 
tung und Störungen der Contractilität, wie 
sie die Physiologen haben wollen, wie sie 
aber mit klinischer Beobachtung häufig 
schwer in Einklang zu bringen ist, auf die 
Dauer rechtfertigen lässt, scheint vielleicht 
zweifelhaft; die Störungen dieser beiden 
Faktoren dürften wohl — wenigstens 
klinisch — meist unzertrennlich bleiben. 

Für die ärztliche Beobachtung und klinische 
Durcharbeitung bleibt da noch manche 
dankenswerthe Fragestellung! 

F. Umber (Berlin). 

(Deutsche raed. Wochenschr. 1903, No. 20 u. 21.) 

C&rcinom und Diabetes sah J. Boas 
unter 366 Fällen von Intestinalcarcinomen 
12mal vereinigt. Dabei nimmt das Car- 
cinom in der einen Reihe von Fällen, 
wenn der Diabetes florid ist, einen un¬ 
gewöhnlich rapiden und stürmischen Ver¬ 
lauf; in anderen, bei denen der Diabetes 

35 

Original frorn 

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274 


Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


im Symptomenbilde mehr zurücktritt, er¬ 
loschen, resp. im Erlöschen ist, zeigt das 
Verhalten des Carcinoms keinerlei Ab¬ 
weichungen von dem gewöhnlichen, seine 
Entwicklung ist eher eine langsamere als 
bei uncomplicirtem Verlaufe. 

Bezüglich des Einflusses des Carcinoms 
auf den Diabetes ist ebenfalls ein wechseln¬ 
des Verhalten zu constatiren. Einmal 
schwindet der Diabetes mit dem Einsetzen 
des Carcinoms, es tritt eine ganz über¬ 
raschende, sonst schwer in dieser Rein¬ 
heit zu beobachtende Toleranz gegen 
Kohlehydrate ein. In anderen Fällen bleibt 
trotz fortschreitender Entwicklung des 
Carcinoms der Diabetes ungehemmt be¬ 
stehen, nur dass er in Folge der zunehmen¬ 
den Cachexie, verringerten Nahrungsauf¬ 
nahme u. a. an Umfang abnimmt. Eine 
Erklärung, weshalb das Carcinom in ein¬ 
zelnen Fällen direct als Antagonist auf den 
Diabetes wirkt, in anderen ihn ganz un¬ 
beeinflusst lässt, vermag Boas nicht zu 
geben. In allen Fällen ist das Carcinom 
die secundäre Affection, der Diabetes die 
primäre. Das Carcinom selbst hat keine 
Neigung, Glykosurie oder Diabetes hervor¬ 
zurufen, was schon daraus hervorgeht, dass 
selbst das Pankreascarcinom nur selten mit 
Diabetes verbunden ist. 

In therapeutischer Hinsicht ergeben 
sich aus der Combination von Diabetes 
und Carcinom nur insofern Gesichtspunkte, 
als die Gefahr einer Operation des Car¬ 
cinoms durch die Complication mit Dia¬ 
betes natürlich erheblich gesteigert wird. 
Selbst ein latenter Diabetes kann nach der 
Operation wieder aufleben und die schwer¬ 
sten Grade annehmen. Trotzdem wird 
man, wo die Möglichkeit eines Radical- 
eingriffes gegeben ist, vor demselben nicht 
zurückschrecken dürfen, bei manifestem 
Diabetes freilich erst nach vorheriger Ent¬ 
zuckerung. Für die interne Behandlung, 
sofern operative Erwägungen nicht im 
Vordergrund stehen, verlangt Boas, da 
der Carcinomdiabetes an sich eine Tendenz 
zum Erlöschen der Glykosurie zeigt und 
da es sich meist um Patienten in vor¬ 
gerückten Lebensjahren und um eine 
leichte Form des Diabetes handelt, mög¬ 
lichste Zurückhaltung in der Beschränkung 
der Kohlehydrate. Besonders empfiehlt 
er die Darreichung grosser Fettmengen in 
geeigneter Form, falls die Localisation 
des Carcinoms dies gestattet. 

F. Klemperer. 

(Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 11.) 


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Ueber die Behandlung einiger Chorea» 
formen mit Streptococcenheilserum be¬ 
richtet P. A. Preobraschensky (Moskau). 
Verfasser weist zunächst auf die seiner 
Ansicht nach nicht genügend hervorge¬ 
hobene Thatsache hin, dass die Chorea 
keine ätiologisch einheitliche Krankheit 
darstelle, sondern verschiedenen Ursprungs 
sein könne: während sie einmal als Sym¬ 
ptom einer organischen Hirnaftection auf- 
treten kann, wird sie ein anderes Mal re- 
flectorisch oder durch Infection hervorge¬ 
rufen. Dementsprechend kann auch die 
Therapie dieses Leidens keine einheitliche 
sein; vielmehr wird man in jedem Falle 
genau nach der ätiologischen Ursache 
forschen und sich danach richten. Sonder¬ 
barerweise wird die Infection als Ursache 
der Chorea meist ganz aus dem Auge ge¬ 
lassen, obwohl sie gar nicht so selten vor¬ 
zukommen scheint. Im vorigen Jahre ist 
es Verfasser gelungen, aus sämmtlichen 
Organen eines Choreakranken reine Kul¬ 
turen von Streptococcen zu züchten. In 
einem zweiten sehr schweren Falle, dessen 
Krankengeschichte ausführlich mitgetheilt 
wird, konnte sowohl mit narkotischen 
Mitteln, als auch mit Arsen keine Besserung 
erzielt werden. Nach Injection von Strepto¬ 
coccenheilserum hörten die choreatischen 
Zuckungen auf und die Patientin genas. 
Verfasser räth in jedem Fall von Chorea 
eine bakteriologische Untersuchung des 
Blutes anzustellen. Dann wird man sich 
auch überzeugen können, dass die infec- 
tiöse Form des Leidens gar nicht so selten 
vorkomme. Lässt sich die Chorea auf 
Streptomykosis zurückführen, so kann sie 
mit dem genannten Heilserum erfolgreich 
bekämpft werden. N. Grünstein (Riga). 

(Medicinskoje Obosrenije 1902, No. 21). 

J. Boas berichtet über einen Fall von 
operativ geheilter Colitis ulcerosa. 
Die Patientin war seit 5 Jahren darm¬ 
leidend. Anfangs wechselten Diarrhoen mit 
Verstopfung, später wurden die ersteren 
überwiegend; den Stuhlgängen war regel¬ 
mässig Blut und Eiter beigemengt. Das 
Rectum war frei, das Colon *auf Druck em¬ 
pfindlich. (Da das Krankheitsbild allmählig, 
jedenfalls ohne vorhergehende acute Dy¬ 
senterie sich entwickelt hat, will G. es 
nicht als chronische Dysenterie, sondern 
als Colitis ulcerosa bezeichnen.) Die diae- 
tetische Behandlung und Darmspülungen 
mit allen möglichen empfohlenen Mitteln 
versagten ganz oder gaben höchstens einen 
vorübergehenden Effect. Deshalb wurde 
eine Coecalfistel angelegt. Der Stuhlgang 

Original fro-m 

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Juni 


Die Therapie der 


erfolgte zunächst ausser durch die Fistel 
auch rectal, nach 4 Wochen aber nur noch 
durch die Fistel. Vom Beginn der Ope¬ 
ration an wurden täglich, später alle paar 
Tage, Spülungen mit Argentumlösungen, 
dann auch mit Jodlösungen vorgenommen, 
u. z. centrifugal und centripetal. Noch 
7 Monate nach der Coecostomie war in dem 
Spülwasser Blut durch die Guajakprobe 
nachweisbar, dagegen kein Eiter mehr. 
Erst nachdem auch Blut dauernd nicht 
mehr gefunden wurde — 12 Monate nach 
der Operation — wurde die Fistel ge¬ 
schlossen. Die Patientin ist, bis auf eine 
leichte Obstipation, vollkommen gesund. 

F. K. 

(Deutsch. Med. Woch. 1903, No. 11.) 

Einen Todesfall nach Cortex rad. 
poniee gr&n&t. theilt Eiselt (Prag) mit. 
Einem 72jährigen Manne, der an Taenia 
saginata litt, wird mit der Sonde, da die 
früher eingenommene Arznei erbrochen 
wurde, ein Dekokt von 150 g macerirter 
Granatwurzel eingegossen. Gleich darauf 
neues Erbrechen, das trotz Eispillen nicht 
gestillt werden konnte, nach einer halben 
Stunde auffallender Kräfteverfall, Ohn¬ 
mächten, Pulsbeschleunigung, sodass zum 
Ausspülen des Mageninhaltes mit lauem 
Wasser geschritten wurde, da über die 
ProvenienzdesMittelsgezweifeltwurde.Nach 
einem Klysma Abgang eines Va m Band¬ 
wurms, später unwillkürliche Entleerungen, 
das Bewusstsein getrübt, es folgen Collapse, 
die vergebens mit Campher-Aetherinjec- 
tionen, warmen Einpackungen, Cognac, 
künstlicher Athmung bekämpft wurden und 
nach 10 Stunden Tod. Die Gerichtsobduc- 
tion ergab, dass die Ursache des Todes 
eine Lungenentzündung war, die durch 
Aspiration des Erbrochenen bei getrübtem 
Bewusstsein zu Stande kam. 

Stock (Skalsko.) 

(Öasopis öesk^ch likafti 1902, No. 19.) 

Dass das Dextrin zur subcutanen 
Ernährung ungeeignet ist, hat Leube in 
seinen Ausführungen über extrabuccale 
Ernährung in der „deutschen Klinik“ be¬ 
reits hervorgehoben. Es wird unverbrannt 
im Harn wieder ausgeschieden. Thier¬ 
versuche, die jüngst Paul Mayer im 
Salkowski’schen Laboratorium zur genauen 
Prüfung dieser auch für den Kohlehydrat¬ 
zerfall im Körper bedeutsamen Angaben 
ausgeführt hat, erweisen deren Richtigkeit. 
P. Mayer hat in 5 Versuchsreihen am 
Kaninchen festgestellt, dass subcutan ein¬ 
geführtes Dextrin zu einem beträchtlichen 

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Gegenwart 1903. 275 

Antheil der Oxydation im Körper entgeht, 
und nicht weniger als 34—35 pCt. davon 
im Harn wiedererscheinen. Es wurden 
Lösungen von reducirendem mit Jod roth- 
färbbarem Dextrin, also Erythrodextrin¬ 
lösungen, injicirt. Dasselbe veränderte 
während seiner Passage durch die Blutbahn 
seine Eigenschaften insoweit als der im 
Harn wiedererscheinende Bruchtheil in 
nicht mehr reducirendes, mit Jod nicht 
mehr färbbares Achroodextrin übergegan¬ 
gen ist. Glycogen hingegen, das in 
gleicher Weise subcutan verabfolgt wurde, 
wurde so gut wie völlig verbrannt. Daraus 
ergiebt sich die auch physiologisch nicht 
gleichgültige Schlussfolgerung, dass Gly- 
cogendextrin und Amylumdextrin nicht 
identisch sind, oder dass der Abbau des 
Glycogens nicht über die Dextrinstufe 
erfolgt. F. Umber (Berlin). 

(Fortschritte der Medicin 1903, S. 41 7 ff .) 

Geburtscomplicationen bei ausge¬ 
dehnter V&ricenbildung, zumal an Vulva 
und Vagina bis zur Portio, hat Düntz- 
mann zum Gegenstände eines practisch 
wichtigen Vortrages in der pommerschen 
gynäkologischen Gesellschaft zu Stettin 
gemacht. In 5 Fällen hat die Ausbildung 
mächtiger Blutadergeschwülste drei Mal 
zu schweren Blutungen geführt, denen 
eine Zwillingsmutter trotz der anwesenden 
klinischen Hilfe erlag. Düntzmann räth 
in der Schwangerschaft zur Ruhe, daneben 
vorsichtig Ergotingebrauch (2—3 Mal täg¬ 
lich 1 Spr.) vorausgesetzt, dass noch nicht 
Wehen da sind, oder Frühgeburt zu be¬ 
fürchten ist. Ist die Geburt im Gange, bei 
der die Varicen natürlich noch mehr an¬ 
schwellen, so wird am besten bei den Press¬ 
wehen — um jedes Mitpressen auszuschalten 
— schon die Narkose eingeleitet und der 
Kopf mit grösster Schonung entwickelt. Ist 
es trotzdem zur Durchreibung gekommen, 
so muss sofort umstochen und genäht 
werden. Die Tamponade ist oft machtlos 
und wegen Infectionsgefahr verwerflich. 
Wenn die Blutung sofort gefahrdrohenden 
Charakter hat, so klemme man die bluten¬ 
den Stellen provisorisch mit Kugelzangen 
ab, um dann bei stehender Blutung und 
freiem Operationsfelde definitiv zu ver¬ 
nähen. P. Strassmann. 

(Monatsschr. für Geb. und Gyn. März 1903.) 

Im Jahre 1897 haben Czerny und 
Trunecek zur Behandlung äusserer, be¬ 
sonders H&utc&rclnome, Pinselungen mit 
Arsen in folgenden Lösungen empfohlen: 

35* 

Original from 

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276 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juni 


Rp. Add. arsenic. pul. PO 
Alcohol. absol. 

Aqua dest. . . ana 75*0 

Rp. Add. arsenicos . . . PO 

Alcohol. absol. 

Aqua dest. . . ana 25*0 

Die Lösungen werden in allmählich steigen¬ 
der Concentration gebraucht; sie werden 
aufgepinselt, eventuell damit das Arsen in 
das Krebsgewebe eindringt, wird eine kleine 
Wunde geschaffen. Die bepinselte Fläche 
wird nicht verbunden. Es bildet sich 
meistens schon nach 24Stunden eineKruste; 
diese wird nicht entfernt, sondern auf die 
sich bildende Kruste wird immer wieder 
gepinselt. Nach Abstossung oder Ent¬ 
fernung der Kruste bleibt dann schliesslich 
eine gute Granulationsfläche. Aber dann 
ist es zweckmässig, noch einmal zu pinseln; 
bildet sich dann nur noch eine dünne, gelb¬ 
liche oder grünliche Kruste, dann ist die 
Behandlung erledigt; bildet sich aber eine 
dickere, dunkler gefärbte, fest anhaftende 
Kruste, so muss die Behandlung noch fort¬ 
gesetzt werden. In 5 Fällen hat Beck 
diese Behandlung versucht; es zeigt sich, 
dass sie bei ganz oberflächlichen Haut- 
carcinomen zum Ziel führt; aber hierfür 
giebt es auch andere Methoden. Bei Reci- 
diven ist aber Messer, scharfer Löffel oder 
Thermokauter mehr empfehlenswerth. Für 
andere Carcinome dürfte die Methode wohl 
nicht zu empfehlen sein. 

Buschke (Berlin). 

(Monatsh. f. prakt. Dermatol. Bd. 36, Heft 7.) 

Experimentelle Untersuchungen, die 
Freymuth im Koch’schen Institut über 
die Beziehungen leichter lnfectionen 
zum blutbildenden Apparat angestellt hat, 
ergaben, dass schon ungemein kleine Dosen 
von Infectionserregern z. B. Typhuskeimen 
oder auch von gelösten giftigen Bacterien- 
producten, die noch kaum merkliche all¬ 
gemeine Krankheitserscheinungen hervor¬ 
zurufen im Stande sind, bereits eine spe- 
cifische Wirkung auf den blutbildenden 
Apparat, Knochenmark und Milz, ausüben, 
und denselben zu einer anormalen sehr 
starken Thätigkeit anregen können. Im 
Knochenmark pflegen dabei die grossen 
gewöhnlich mit Fett gefüllten Maschen durch 
Zellproliferation enger zu werden oder ganz 
zu verschwinden, bei gleichzeitiger Ver¬ 
mehrung der Zellmitosen, der Myelocyten 
und Uebergangsformen. Auch die Zellen 
mit Riesenkernen im Knochenmark, sowie 
die von Türck als Reizungsformen be¬ 
schriebenen Elemente sind dabei regel¬ 
mässig vermehrt. Verfasser betrachtet 

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diese Erscheinungen als Ausdruck einer 
gesteigerten Inanspruchnahme des hämo- 
poetischen Systems, das ja erwiesener- 
maassen bei der Bildung von specifischen 
Schutzstoffen gegen eine eindringende In- 
fection besonders in Anspruch genommen 
wird. Darunter leidet dann die normale 
Function des blutbildenden Apparats, näm¬ 
lich die Blutregeneration, und auf diese 
Weise erklärt sich — nach der Meinung 
des Verfassers — vielleicht eine grössere 
Zahl von anämischen und chlorotischen 
Processen dunklen Ursprungs. 

F. Umber (Berlin). 

(Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 20.) 

Ueber die Behandlung der acuten Mor¬ 
phium- und Opiumvepg , iftung , en gehen 
die Ansichten bekanntlich noch weit aus¬ 
einander. Während viele Pharmakologen 
das Atropin als einen Antagonisten des 
Morphins empfehlen, können die praktischen 
Aerzte zur Anwendung dieses gefährlichen 
Gegengifts sich nur schwer entschliessen 
und ziehen demselben die üblichen Me¬ 
thoden — Magenspülungen, künstliche Ath- 
mung, Aether- und Kampherinjection — 
bei weitem vor. 

Vor 10 Jahren empfahl M. Moor (New- 
York) das Kalium hypermanganicum als ein 
vorzügliches Gegengift für Morphium und 
Opium. Die Wirkung des erwähnten Kali¬ 
salzes basirt nach seinen Angaben auf 
der Eigenschaft desselben Sauerstoff an 
leicht oxydirbare Körper abzugeben und 
durch Oxydation dieselben zu zerstören. 

W. F. Weljamowitsch bestätigte die 
Moor’schen Angaben: im Reagenzglase 
wird Morphium oder Opium von über¬ 
mangansaurem Kali vollständig zerstört. 
Wenn man eine tödtliche Dosis von Opium 
oder Morphium, mit einer genügenden 
Menge Kal. hypermangan. versetzt, zu sich 
nimmt, bleiben jegliche Vergiftungser¬ 
scheinungen aus. Setzt man zu einem 
Gemisch von Morphium bezw., Opium und 
einer anderen leicht oxydirbaren Substanz, 
beispielweise Zucker, Kal. hypermang. 
hinzu, so werden zunächst die Alkaloide 
in Angriff genommen und erst nach völliger 
Zerstörung dieser wird der Zucker oxydirt. 
Moor berichtet über 71 Fälle von Morphium¬ 
vergiftungen, wo das übermangansaure Kali 
lebensrettend wirkte. Weljamowitsch 
rettete einem das Leben, indem er ihm 
bald nach der Vergiftung 0,6 Kali hypermang. 
in den Magen einführte, S. A. Fink ei¬ 
st ein beschreibt einen Fall, wo ein junges 
Mädchen suicidii causa ca. 1,0 Morphium 
zu sich nahm. Sie war als Verfasser 

Original from 

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Juni Die Therapie der 


IV 2 Stunden darauf zu ihr kam, völlig be¬ 
wusstlos. Die Athmung war flach, von 
Cheyne Stokes’schem Typus. Puls unregel¬ 
mässig, klein, verlangsamt, 38 Schläge 
in der Minute. Pupillen waren stark 
verengert, reagirten nicht auf Licht. Er 
injicirte 1,0 einer 4 %igen Kali hyper- 
manganicumlösung, wonach bereits erheb¬ 
liche Besserung eintrat. Nach einer halben 
Stunde wurde die Injection widerholt und 
nach 3 Stunden konnte er die Gerettete 
verlassen. 

Die Dosirung des Kal. hypermang. ist 
folgende: Zu subcutanen Injectionen wird 
eine 4 bis 5 %ige Lösung benutzt von der 
man jede halbe bis ganze Stunde je 1,0 
subcutan injicirt, bis die bedrohlichen Sym¬ 
ptome völlig verschwunden sind. Innerlich 
giebt man auf je 3 gran Morphium 4 gran 
Kal. hypermang. und auf jede Unze Opium- 
tinctur 6 gran Kal. hypermang. Ist die 
Quantität des Giftes unbekannt, so führt 
man 8—10 gran übermangansaures Kali in 
einem Glas Wasser in den Magen ein und 
spQlt noch letzteren mit einer schwachen 
Lösung aus. N. Grünstein (Riga). 

(Russki Wrmtsch 1903, No. 1.) 

Die Berechtigung der Perforation des 
lebenden Kindes, welche in den letzten 
Jahren von französichen Geburtshelfern 
zum Theil bestritten wurde, hat Hofmeier 
in den Annales de Gynäcologie ver- 
theidigt. Trotz der grossen chirurgischen 
Fortschritte der Geburtshülfe bleibt die 
Perforation des lebenden Kindes nicht nur 
in der Privatpraxis, sondern selbst in Ent¬ 
bindungsanstalten, unter voller Berücksich¬ 
tigung der geburtshülflichen Situation ärzt¬ 
lich gelegentlich die beste Zuflucht. Man 
ist auf Grund von nur moralischen oder 
theoretischen Betrachtungen über die 
Lebensansprüche des Kindes nicht er¬ 
mächtigt, an ihre Stelle die Symphyseo- 
tomie oder den Kaiserschnitt zu setzen. 
Allerdings muss es wünschenswerth er¬ 
scheinen, das Opfer eines lebenden Kindes 
in den Kliniken wenigstens möglichst ein¬ 
zuschränken auf Grund möglichst kritischer 
Entscheidung und unter Sichtung der Indi- 
cationen. Noch zählt nämlich nach den 
Berichten der 2. Wiener geburtshülflichen 
Klinik über die letzten 10 Jahre diese 
Operation 35% aller Craniotomieen, wäh¬ 
rend sie an anderen Anstalten zwischen 
12 bis 54% schwankt. Es giebt Geburts¬ 
fälle, wo man z. B. nach vergeblichem 
Zangenversuch bei hohem Kopfstande 
und Fieber mit der Eröffnung abnormer 
Geburtswege zur Rettung des Kindes un* 


Gegenwart 1903. 277 

verhältnissmässig grosse Gefahren für die 
Mutter bei zweifelhaftem Resultate für die 
Frucht heraufbeschwören würde. Wichtig 
ist es zur Vermeidung solcher auf die 
Thatsache zu achten, dass, wenn die in 
Narkose ausgeübte Impression des hoch¬ 
stehenden Kopfes gänzlich wirkungslos ist, 
auch von der hohen Zange nicht viel zu 
erwarten ist. Immerhin ist sie vorsichtig 
erlaubt, zumal in der Praxis, wo die Sym- 
physeotomie sich nicht als geläufige Opera¬ 
tion wird einbürgern können. 

P. Strassmann. 

(Hofmeier: Annales de Gynecologie Jan vier 
1903. Tome LIX). 

Zu der recht in den Vordergrund ge¬ 
rückten Frage der Behandlung der 
tuberkulösen Peritonitis äussert sich 
Friedländer auf Grund des Materials der 
König’schen Klinik, der Charitö, sowie 
von dem Sectionsmaterial des Urbankranken¬ 
hauses. Es wird vorausgeschickt, dass vor 
etwa 20 Jahren die tuberkulöse Bauchfell¬ 
entzündung durchweg für eine Krankheit 
mit übelster Prognose gehalten wurde. Da 
zeigte 1884 König, dass bei einer Anzahl 
vonLaparotomirten die Bauchfelltuberculose 
thatsächlich geheilt war. Es kamen nun 
rasch zahlreiche bestätigende Arbeiten, die 
das Problem der räthselhaften Heilung durch 
den einfachen Bauchschnitt ventilirten — 
während König eigentlich aus seinen Er¬ 
folgen mehr die Consequenz ziehen wollte, 
dass „die herrschenden Anschauungen über 
den Process selbst (sc. seine Unheilbarkeit) 
einer Revision unterzogen würden.“ Das 
geschah denn auch allmählich, immer mehr 
an Boden gewann die Ueberzeugung, dass 
eine grosse Reihe von tub. Bauchfellent¬ 
zündungen heilten, auch ohne Operation, 
dass die Operation vielfach überflüssig sei 
— und wie sich die Geschichte der Therapie 
nun einmal in Extremen gefällt, so wird 
jetzt (durch Borchgrevink) der Satz auf¬ 
gestellt, dass die Laparotomie zur Heilung 
der Bauchfelltuberkulose nie beitrage, ja in 
vielen Fällen direkt schade. Die wahrhaft 
schlimmen Formen seien die mit schwerer 
Entzündung, die Laparotomie aber füge erst 
eine Hyperämie hinzu und sei mithin in der 
Lage, aus einer bisher harmlosen Tuber¬ 
kulose eine maligne zu machen. 

Aus den pathologischen und klinischen 
Bemerkungen Friedländer’s geht hervor, 
dass er mit König überzeugt ist von der 
spontanen Ausheilung von Bauchfelltuber¬ 
kulosen und die Erfolge der Laparotomie 
durchaus nicht für glänzend hält. Es gilt 
jetzt, Stellung zu der Frage zu nehmen: 
1 . wann werden wir mit Nutzen bei tuber- 


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Gck igle 


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278 


Die Therapie der 

kulöser Peritonitis laparotomiren, und 2. 
können wir mit dem Eingriff schaden? Und 
da sagt F., bei einem Exsudat, das sich 
auch nach Rückgang der ersten Erschei¬ 
nungen nicht resorbirt, müssen wir ent¬ 
leeren, so gut wie bei einer Pleuritis, und 
zwar mit Laparotomie, weil die Punction 
durch Adhaesionen bedenklich werden kann. 
Wenn sich abgesackte Ergüsse mit Fieber 
gebildet haben, müssen wir entleeren: 
das giebt gerade die besten, unbestrittenen 
Erfolge. 2. Als schädliche Folge ist die 
tub. Kotfistel sehr ernst anzusehen, sie 
kommt offenbar nach Operationen mehr 
vor wie ohne solche, und zwar besonders 
von aussen nach innen durch die Granu¬ 
lationen. Bei der Operation muss sofort 
die Bauchhöhle geschlossen werden: die 
Drainage, bzw. Tamponade begünstigt die 
Kotfistelbildung, und bei der Operation 
sollen wir das Lösen von Adhaesionen 
möglichst vermeiden, da wir sonst riskiren, 
Darmulcerationen anzureissen und so die 
Kotfistel zu provociren. 

Die Behandlung der Frage wird wohl 
so bald noch nicht zur Ruhe kommen. 

Fritz König (Altona). 

(Lang. Arch. f. Klin. Chir. Bd 70, Heft 1.) 

Pels-Leusden berichtet über 3 Fälle 
von Fremdkörpern im Oesophagus, die 
durch Oesophagotomie entfernt wurden. 
Bemerkenswerth ist besonders der eine 
Fall, in dem eine schwere jauchige 
perioesophageale Phlegmone bestand. 
Auch dieser Fall kam zur Heilung, was 
zum grossen Theil wohl dem Umstand zu¬ 
zuschreiben ist, dass die Patientin, nach 
Einlegung eines dicken Drainrohrs in die 
Phlegmonehöhle, zur Schaffung günstiger 
Abflussbedingungen für den Eiter nicht 
allein völlig horizontal im Bett gelagert 
wurde, sondern das Fussende des 
letzteren auch noch um 25 cm erhöht 
wurde. Nur bei und */4 Stunde nach der 
Fütterung durch ein weiches Schlundrohr 
wurde die Patientin im Bett etwas hoch¬ 
gesetzt, im Uebrigen nahm sie die obige 
Lage ein und wurde nebenbei auch noch 
von Zeit zu Zeit über den Bettrand hinaus 
nach unten gebeugt, wobei regelmässig 
noch etwas retinirter Eiter abfloss. F. K. 

(Berl. Klin Wochenschr. 1903, No. 15.) 

In einer Besprechung über den zeitigen 
Stand der operativen Behandlung der 
Prostatahypertrophie kommt Brans- 
ford Lewis zu folgenden Schlüssen: Durch 
die Sectio alta erreichbar sind Fälle mit 
allgemeiner Hypertrophie des Organs, be¬ 
sonders starkem Hervorragen des medianen 

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Gegenwart 1903. Juni 

oder der Seitenlappen oder Stielung des 
intravesicalen Tumors. Vom Damm aus 
kann das Leiden operativ behandelt werden 
bei Vergrösserung des Organs ohne stärkere 
Prominenzen nach der Blase zu, bei starker 
Entwickelung der Prostata nach dem Rec¬ 
tum, bei beträchtlicher Compression der 
Urethra von Seiten der stark vergrösserten 
lateralen Lappen, bei dieser Operations¬ 
methode muss aber das Allgemeinbefinden 
des Kranken noch gut sein. Bottini 
empfiehlt er hauptsächlich prophylaktisch 
gegen weiter zunehmende Beschwerden, 
sobald der Katheter nöthig wird, dann für 
Fälle mit schlechtem Allgemeinzustand bei 
nicht zu starker medianer Hypertrophie 
und Balkenbildung. Buschke (Berlin). 

(Centralblatt für Harn- und Sexualerkrankungen 
Bd. 14, Heft 1.) 

Auf die grosse Bedeutung und die 
Häufigkeit der gonorrhoischen Prosta¬ 
titis für Diagnose, Prognose und Therapie 
der Gonorrhoe ist vom Ref. in dieser 
Zeitschrift mehrfach bereits hingewiesen 
worden. Die grosse Zahl von Publicationen 
über den Gegenstand, dessen eigentliche 
Kenntniss ja nun schon ziemlich alten 
Datums ist, beweist, welchen Werth jetzt 
in specialärztlichen Kreisen der Affection 
beigemessen wird. Nach den Erfahrungen 
des Ref. ist diese Kenntniss, vor allem aber 
auch die Anerkennung dieser Thatsache 
bei den Nichtspecialisten noch nicht so 
durchgedrungen, wie es die Wichtigkeit 
des Gegenstandes erheischt. Es ist des¬ 
halb vielleicht nicht überflüssig wiederum 
auf eine diesbezügliche Arbeit von W äl«ch 
über die chronische gonorrhoische Prosta¬ 
titis hinzuweisen. Bei 200 chronischen 
Gonorrhoen fand er in 162 Fällen chro¬ 
nische Prostatitis, deren Diagnose theils 
durch die Untersuchung per rectum, resp. 
durch die mikroskopische Untersuchung 
des exprimirten Sekrets gestellt wurde. 
Die Bedeutung des Leidens liegt vor allem 
in den — wenn oft auch geringen, so doch 
sehr quälenden — subjectiven Symptom 
und der Möglichkeit, dass der Erkrankung 
der Drüse ein Infectionsherd zu Grunde 
liegt. Mit Recht warnt Wälsch vor 
Polypragmasie in der Behandlung bei 
chronischer Prostatitis und führt zur War¬ 
nung ein kurzes Beispiel an. Wie Ref. 
des öfteren schon betont hat, kommt es 
darauf an, die Prostatitis früh zu entdecken 
und früh zu behandeln, dann sind die Aus¬ 
sichten der Therapie gute; in chronischen 
Fällen ist nur ein vorsichtiger Versuch 
i gerechtfertigt, da forcirte Massage, Local- 

Original fro-m 

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279 


Juni Die Therapie der 


behandlung von der Urethra aus, hydri- 
atische Therapie etc. in den meisten Fällen 
nichts nützt und nur die sexualneurastheni- 
schen Beschwerden hochgradig vermehrt. 

Buschke (Berlin). 

(Prager med. Wochenschrift 1903. 15—16.) 

Zur Behandlung der Psoriasis vulgaris 
empfiehlt Dreuw aus Unna’s Klinik 


folgende Salbe: 

Add, salicyl, . 10*0 

Chrysarobini 

OL Rusd nov, ana . . . 20*0 

Sapon ririd • 

Vaselini ana . 25*0 


Die Salbe wird mit dem Borstenpinsel 
zweimal täglich eingepinselt 3—4 Tage 
lang, dann wird dieselbe mit Pasta zinci 
sulfurata beseitigt. Die umgebende Haut 
wird mit Zinkleim bedeckt, ev. auftretende 
Schmerzen durch Zinkschwefelpaste ge¬ 
mildert. 

Referent ist in der grossen Mehrzahl 
der Fälle von der Anwendung starker 
Chrysarobinsalbe — wie der oben erwähn¬ 
ten — zurückgekommen. In den meisten 
Fällen von Psoriasis lässt sich durch J / 4 
bis 1%Chrysarobin-Zinkpaste,resp. Vaseline 
in milderer Weise dasselbe erreichen, in 
hartnäckigen Fällen kann es allerdings er¬ 
forderlich sein auch stärkere Concen- 
trationen zu verwenden. Zu einer milden, 
oft aber ausreichenden Behandlung, die den 
Vorzug vor der Chrysarobintherapie hat, 
dass die Wäsche nicht ruinirt wird, eignet 
sich auch die sog. Lapsasalbe: 

Acidi carboUd .... 1*0 

Hydrargyri praedp, albi 


Balsam peruv. ana . . 2*0 

Lanolini .5*0 

Vaselini flavi ad ... . 50*0 

M. S. 


Buschke (Berlin). 

Luftliegecuren bei Psychosen wer¬ 
den von W. Alter (Irrenanstalt Leubus) 
warm empfohlen. Sie scheinen ihm indi- 
cirt als partieller Ersatz der Bettruhe bei 
allen Geisteskranken, deren psychisches 
Verhalten es irgend ermöglicht. In erster 
Linie kommen hypomanische und depres¬ 
sive Zustände, ruhige Paralytiker und De¬ 
mentia praecox in Betracht. Vor allem wird 
der körperliche Kräftezustand, dann aber 
auch die Stimmung günstig beeinflusst. 
Die'Klagen über „das ewige im Bett liegen“ 
treten zurück und es wird so indirectauch 
der Durchführung einer anderweitigen Be¬ 
handlung (Alter combinirt die Liegecur 
namentlich mit Hydrotherapie) Vorschub 
geleistet. 


Gegenwart 1903. 


Tippei weist noch besonders auf den 
moralischen Einfluss hin, den die Luftliege- 
cur in Irrenanstalten erzielt, indem sie die 
Behandlung derjenigen der rein körper¬ 
lichen Krankheiten noch mehr annähert 
und so mithilft dem Geisteskranken das 
Gefühl des Krankseins und Behandeltwer¬ 
dens zu verschaffen. Die Methodik unter¬ 
scheidet sich in nichts von der in Lungen¬ 
heilstätten geübten und von da in den 
meisten Nervensanatorien längst eingebür¬ 
gerten. Insoweit in letzteren Anstalten 
auch leichtere Psychosen oft zur Behand¬ 
lung kommen, ist die Freiluftbehandlung 
auch als psychiatrischer Heilfactor kein 
Novum. 

Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt.) 

(Psychiatr.-Neurolog. Wochenschr. IV. Jahrgang 
No. 52 und V. Jahrg. No. 3.) 

Salmlakgeistvergriftungen sind ver- 
hältmssmässig selten, die Zahl der bis 
heute bekannten Fälle beträgt ungefähr 45, 
von denen die Hälfte tödtlichen Verlauf 
nahm, Reckzeh theilt aus dem Kranken¬ 
haus Bethanien einen Fall mit, der günstigen 
Ausgang nahm, trotzdem die Vergiftungs¬ 
dose eine verhältnissmässig bedeutende 
war. Die Patientin hatte 10—15 g Liq. 
ammonii caustici mit einem Ammoniak¬ 
gehalt von 0,7—1,0 g versehentlich her¬ 
untergeschluckt. Es traten sofort starke 
Haischmerzen ein und Erbrechen. Das 
Sensorium war bei der Aufnahme leicht 
benommen und es bestand starke Dyspnoe. 
Lokal fanden sich Schleimhautbeläge in der 
Mundhöhle hinunter bis hinter die Epi¬ 
glottis, Oedem im Larynx, Bronchitis. Im 
Vordergrund der Symptome waren Er¬ 
brechen und starker Speichelfluss. Dabei 
bestand ein anfangs geringes, bis zum 
5. Tag ansteigendes Fieber. Nach 14 Tagen 
wurde die Patientin geheilt entlassen. U. 

(MQnch. medicin. Wochenschr. 1903, No. 9.) 

Die S&menbl&sen erkranken acut in 
Folge Gonorrhoe, wobei es zur Bildung von 
Abscessen kommen kann, die operativ leicht 
erreichbar sind ; chronische Affectionen des 
Organs sind besonders die Tuberkulose, 
selten Carcinom, Concrementbildung. Be¬ 
sonders für die Exstirpation tuber¬ 
kulöser Samen bl äsen empfiehlt Kessler 
das von Fritz König angewandte opera¬ 
tive Verfahren, welches analog ist der von 
Schlange angegebenen osteoplastischen 
Resection hochsitzender Rectumcarcinome. 
Hierbei werden ev. mit den erkrankten 
Samenblasen, die afficirten Vasa deferentia, 
Testikel entfernt, tuberkulöse Herde aus 
der Prostata excochleirt. Verfasser geht von 


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Juni 


280 Die Therapie der 


dem Gesichtspunkte aus, dass sehr häufig 
die Genitaltuberkulose ganz solitär auftritt; 
und es ist deshalb nothwendig, möglichst 
radikal und frühzeitig den Localherd zu 
entfernen. Der Autor berichtet über gün¬ 
stige Resultate auch in Bezug auf die 
Blasenfunction. Buschke (Berlin). 

(Arch. f. klin. Chir. Bd. 67, H. 2.) 

Die Möglichkeit therapeutischer Ver¬ 
wendung intravenöser Sauerstoff- 
infusionen war näher zu untersuchen, 
seitdem Gärtner die Erfahrung mitgetheilt 
hatte, dass man beträchtliche Sauerstoff¬ 
mengen in die Jugularvene eines Hundes 
kontinuirlich einfliessen lassen kann, 
ohne dass dabei üble Zufälle passiren. 
Stuertz hat sich an der Kraus’schen 
Klinik der Aufgabe unterzogen die Bedin¬ 
gungen dieser Infusionen an Hunden ge¬ 
nauer zu prüfen um damit einer ev. thera¬ 
peutischen Verwendung dieser Art von 
Sauerstoffeinverleibung einen sichereren 
Boden zu geben. Er haf dabei in erster 
Linie die Gefahrsgrenzen derartiger 
Injectionen festgestellt und ausserdem auf 
den respiratorischen Gaswechsel ge¬ 
achtet. Zur gleichmässigen Infusion des 
Gases stellte Verf. einen Apparat zusammen, 
in welchem durch leicht regulirbaren 
Wasserzufluss ein continuirlicher Gasstrom 
aus einer gasgefüllten Wulff'schen Flasche 
in die Injectionskanüle getrieben wurde, 
Die Versuche erstreckten sich im Ganzen 
auf 5 Stunden. Das Sauerstoffbedürfniss 
eines Hundes pro kg Körpergewicht be¬ 
trägt 750 ccm in der Stunde. Aus den 
Untersuchungsreihen von Stuertz, in die 
er auch Berechnungen aus den Gärtner 
sehen Versuchen mit einbezieht, geht nun 
hervor, dass intravenöse Sauerstoffinfu¬ 
sionen mit Geschwindigkeit bis zu Vs des 
O-Bedürfnisses keine Lebensgefahr beim 
Hund hervorrufen, selbst bei 15 Minuten 
langer Dauer. (Unter Geschwindigkeit ver¬ 
steht er dabei den Bruchtheil des Gesammt- 
Sauerstoftbedürfnisses pro Minute.) Die 
Dosis V 4 ist bereits nicht mehr gleichgültig, 
bei Vs tritt gewöhnlich schon hohe Lebens¬ 
gefahr ein und die Dosen von V 2 wirken 
nach mehreren Minuten sicher tödtlich. 
Die Todesursachen sind dabei nicht etwa 
Sauerstoffembolien, sondern acute Herz¬ 
dilatation. Alle diese Zahlen gelten nur 
für gesunde Herzen, und da, wo irgend 
nur Schwächezustände des Herzens vor¬ 
handen sind — wie es in vielen Krank¬ 
heitszuständen beim Menschen in mehr 
minder grossem Masse der Fall sein dürfte — 
da sind schon viel kleinere Dosen lebens- I 

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Gegenwart 1903. 


gefährlich. Beim Menschen sind deshalb 
auch — nach Verf. Ansicht — Sauerstoff¬ 
infusionen überall da zu widerrathen, wo 
eine Schädigung des Herzens wahrscheinlich 
ist. Dass die infundirten Sauerstoffmengen 
wirklich der Athmung dienen, schliesst 
Verf. aus seinen Respirationsversuchen. 
Der respiratorische Gaswechsel ändert sich 
nämlich im Verlauf der Infusionen, und 
zwar nimmt der Sauerstoffverbrauch inner¬ 
halb gewisser Grenzen um so mehr ab, je 
mehr Sauerstoff dem Körper intravenös 
einverleibt wird. Eine Steigerung oder 
Verminderung der CO-Ausscheidung ist 
dabei nicht wahrnehmbar. Verf. warnt 
übrigens bezgl. dieser Sauerstoffinfusionen 
ausdrücklich vor übertriebenen therapeu¬ 
tischen Hoffnungen und ist der Meinung, 
dass ihre Anwendung beim Menschen stets 
nur beschränkt sein könne. So bei höchster 
Lebensgefahr in Folge acuter Störung der 
äussern Athmung bei noch gut erhaltener 
Herzkraft, z. B. bei Erstickungsgefahr durch 
Feuerkörper, Croupmembranen etc. in den 
Luftwegen, sonst besonders in Fällen, in 
welchen die Athemmuskeln nicht fungiren. 

F. Umber (Berlin). 

(Zeitschr. f. diät. u. physik. Therapie, 1903 4 
Bd. VII, Heft 2 u. 3.) 

Im Anschluss an die Berichterstattung 
über die bekannt gewordenen Tetanus- 
erkrankungen nach subcutaner Gelatine¬ 
einspritzung, die in dieser Zeitschritt fast 
vollzählig besprochen worden sind, sei der 
neueren einschlägigen Erfahrungen fran¬ 
zösischer Aerzte Erwähnung gethan. 
Chauffard bespricht gelegentlich eines 
solchen Todesfalls (Lop und Murat) 

17 einschlägige Fälle der Weltliteratur und 
schlägt vor, zur Vermeidung der Tetanus- 
infection die zur Einspritzung dienende 
Gelatine der staatlichen Controle zu unter¬ 
werfen. Auch Dieulafoy theilt einen sol¬ 
chen Fall mit, wo die Patientin am 11. Tage 
nach der Gelatineinjection an Tetanus starb. 
Sowohl der Eiter des Abscesses an der 
Einstichstelle als auch die Gelatine enthielt 
virulente Tetanuskeime (positiver Ausfall 
des Thierexperiments). Zusammen mit vier 
weiteren Fällen sind im Ganzen 23 tödtliche 
Erkrankungen an Tetanus in Folge Gela¬ 
tineinjection bis jetzt bekannt geworden. 
Dieulafoy spricht sich dafür aus, Gelatine 
zum Zweck der Subcutaninjection nur nach 
vorheriger Prüfung am Thier verkaufen zu 
lassen. Lancereaux, welcher die Gela¬ 
tinebehandlung bei Aortenaneurysmen ein¬ 
geführt hat, weist darauf hin, dass ihm bei 
I seinen ausserordentlich zahlreichen Gela- 

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Juni 


281 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


tineeinspritzungen nie ein derartig schwerer 
Zufall zugestossen sei. 

Bekanntlich ist der Wirkungsmodus der 
Gelatine als blutstillendes Mittel noch nicht 
aufgeklärt. Gley und Chantemesse 
empfehlen an Stelle der Gelatine Chlor¬ 
calciumlösungen subcutan und innerlich: 
Hayem Salzwasser innerlich. Nach den 
Untersuchungen von Gley reagirt die 
Gelatine des Handels immer sauer und ent¬ 
hält 2—5% Chlorcalcium. Neutralisirte 
und chlorcalciumfreie Gelatine sei ohne 
blutstillende Wirkung. Ergänzend sei be¬ 
merkt, dass die in Deutschland offici- 
nelle Gelatina alba neutral ist und 
höchstens 2% Asche enthalten darf. 

E. Rost (Berlin). 

i v Academie de Medecine 1903, 7. April, 5. und 
12. Mai; Society de biologie 1903, 4. April. — La 
semaine medicale 1903, S. 111, 113 u. 152. 

C. A. E wald macht auf die atypischen 
Typhen aufmerksam, die jetzt viel häu¬ 
figer als früher sind, und weist darauf 
hin, dass dasselbe Vorkommnis, die 
grössere Häufigkeit atypischer Formen, 
bei allen Infectionskrankheiten zu beob¬ 
achten ist, wenn dieselben in ihrer allge¬ 
meinen Intensität nachlassen. 

Die Abweichungen von dem typischen 
Verlaufe des Typhus, wie er uns seit den 
klassischen Schilderungen des Krankheits¬ 
bildes von Griesinger, Murchison und 
Liebermeister geläufig ist, betreffen zu¬ 
nächst das Verhalten der Temperatur. 
Fälle, in denen die vom ersten Tage an 
beobachtete Temperatur fast unmittelbar 
auf eine beträchtliche Höhe sich erhebt 
und sofort den Charakter einer Febris hec- 
tica, wie z. B. bei einer Tuberkulose, an¬ 
nimmt, sind zahlreich. Selbst plötzlicher 
Beginn mit einem Schüttelfrost ohne 
die üblichen präcursorischen Symptome 
von Seiten des Digestionsapparates oder 
des Nervensystems ist nicht so selten. Ein 
Fall, den Ewald ausführlicher beschreibt, 
setzte plötzlich mit Frösteln und den Sym¬ 
ptomen eines acuten Rachen- und Luft¬ 
röhrenkatarrhs ein; da subjective Herz¬ 
beschwerden bestanden und das Herz ob- 
jectiv vergrössert war, blieb die Diagnose 
lange zweifelhaft, zumal nie ein typischer 
typhöser Stuhl vorhanden war und sich 
nur sehr spärliche und unsichere Roseolen 
zeigten, die Milz nie palpabel war und erst 
spät eine mässige Dämpfungsverbreiterung 
zeigte; am 53. Krankheitstage erst ergab 
die Widal’sche Probe eine zweifellose 
Agglutination. — Auch auf die plötzlich 
und unvermittelt in der Reco n valescenz 
auftretenden einmaligen mit Schüttelfrost 

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einsetzenden hohen Temperaturen, sowie 
diejenigen Fälle, wo der Typhus mit einer 
acuten lobären Pneumonie einsetzt 
und erst nach einigen Tagen durch das 
Auftreten von Roseolen und die Sero- 
reaction seine wahre Natur documentirt. 
weist Ewald hin. 

Bezüglich der Darmentleerungen 
constatirt Ewald, dass die typischen brei- 
weichen oder dünnen erbsenbrühartigen 
Stühle nicht nur nicht regelmässig ange¬ 
troffen werden, sondern sogar selten sind 
— „eher die Ausnahme als die Regel“ 
bilden — dass häufig braune, theils breiige, 
theils geformte Stühle vorhanden sind 
und nicht selten starke anhaltende Con- 
stipation besteht. Reichliche Schleim¬ 
beimengung zum Stuhle kommt beim Typhus 
vor. Blutungen, durch Hämorrhoiden be¬ 
dingt, können zu Täuschungen Anlass 
geben. So kann die Diagnose zwischen 
Typhus und Darmtuberkulose (welch letz¬ 
tere nach Ewald’s Beobachtungen durch¬ 
aus nicht immer mit Durchfällen einher¬ 
gehen muss) oder zwischen Typhus und 
Colitis diphtherica längere Zeit hindurch 
schwanken. 

Als Abweichungen vom gewohnten Bilde 
des Typhus hebt Ewald weiter das Auf¬ 
treten nervöser Excitationssymptome 
hervor. In einem Falle sah er die De¬ 
lirien bis zu einem förmlichen Tobsuchts- 
anfalle sich steigern, der selbst durch 3 cg 
Morphium nicht beseitigt wurde und schliess¬ 
lich die Cloroformnarkose nöthig machte. 

Schliesslich zeigt auch das Exanthem 
atypische Formen. Statt der Roseola sah 
Ewald einmal einen verbreiteten bläschen¬ 
förmigen pemphigusartigen Ausschlag, 
in einem anderen Falle — was besonders 
bemerkenswerth ist — einen Herpes 
labialis, der am achten Krankheitstage 
auftrat, ohne dass die Lungen in diesem 
Falle betheiligt waren, in einem dritten 
eine Pustelbildung an der Ulnarseite 
beider Vorderarme. 

Die Diagnose derartig atypischer Fälle, 
in denen alle die bekannten klinischen 
Zeichen versagen, kann auf die grössten 
Schwierigkeiten stossen und in manchem 
Falle während langer Zeit überhaupt nicht 
sicher gestellt werden, auch durch die 
neueren diagnostischen Hülfsmittel — Di- 
azoreaction,Gruber-Widal’sche Reaction, 
Typhusbacillennachweis — nicht, welche 
ebenfalls, namentlich in der ersten Krank¬ 
heitswoche, oft im Stiche lassen. 

Bezüglich der Behandlung schliesst 
sich Ewald dem Ausspruch Curschmann’s 
an: „dass für leichtere, mittelschwere und 

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282 


Die Therapie der Gegenwart 1903, 


Juni 


selbst manche schwere und complicirte 
Fälle, namentlich bei früher gesunden Per¬ 
sonen, die diätetische Behandlung und im 
übrigen sorgfältiges Ueberwachen jedes 
sonstige Heilverfahren überflüssig machen.“ 
Auch in solchen Fällen giebt Ewald 
Bäder „der Reinlichkeit und Erfrischung 
wegen“. Im übrigen erkennt er die zu¬ 
nächst lauen, während des Bades abzu¬ 
kühlenden Vollbäder als das einfachste 
und beste Verfahren der Antipyrese an. 
Von eigentlichen Antipyreticis macht er 
nur selten Gebrauch; Pyramidon und 
Lactophenin haben sich ihm gelegentlich 
gut bewährt, doch giebt er dem Chinin 
(per os oder per rectum, nicht mehr wie 
Vj— : 8 /4—1 g nach Bedarf 2—3 mal täglich) 
den Vorzug, ohne indess seine regelmässige 
Anwendung zu befürworten. — In der 
Diät frage hält er an der schonenden Er¬ 
nährung durch flüssige, resp. breiige 
Nahrungsmittel fest; die neuerdings wieder¬ 
holt empfohlene Darreichung einer „sub¬ 
stantielleren“ gemischten Kost hält er 
für nicht unbedenklich, ganz abgesehen 
davon, dass der Kranke sie meist garnicht 
zu nehmen in der Lage ist. Er hat nur 
zu oft gesehen, wie „verhältnissmässig 
kleine Diätfehler ein Nachfieber oder 
gar ein Recidiv veranlassen“, während er 
„noch nie den Eindruck oder auch nur 
die leiseste Spur eines Beweises dafür 
gehabt hat, dass ein Typhuskranker bei 
unserer jetzigen Ernährung deswegen 
gestorben wäre, weil es seinem Organismus 
an den nöthigen Calorien gefehlt hätte, 
um den Kampf mit den Toxinen der 

Krankheit durchzukämpfen!“ 

* * 

* 

Die obigen Anschauungen über die 
Bäderbehandlung werden heute wohl all¬ 
gemein getheilt, doch haben sie für die 
ärztliche Praxis nicht dieselbe Geltung wie 
für die Klinik. In der Praxis ist das Be- 
dürfniss nach einer medicamentösen Anti¬ 
pyrese trotz aller Erfolge und Vorzüge 
der Badebehandlung unleugbar ein grosses. 
Deshalb verdienen die Mittheilungen Be¬ 
achtung, die Prof. Valentini (Danzig) 
„über die systematische antifebrile 

Behandlung des Unterleibstyphus mit 
Pyramidon 4 « macht. Valentinigab seinen 
Kranken zweistündlich Tag und Nacht 
hindurch regelmässige Pyramidongaben 
(esslöffelweise, in wässriger Lösung) bei 
den leichteren Fällen 0,2 g, bei den schwe¬ 
reren 0,3—0,4 g während des ganzen 
Krankheitsverlaufes. Er sah niemals schäd¬ 
liche Wirkungen, trotzdem das Mittel ein¬ 
zelnen Kranken 4—5 Wochen lang fort¬ 


gesetzt 2stündlich gereicht wurde. Der 
Effect war ein überaus eclatanter: Die 
leichteren Fälle waren nach 24 Stunden 
fieberfrei und blieben es dauernd; ihr Puls 
fiel um 10—15 Schläge, ihr Sensorium war 
so frei, dass sie sich selbst wuschen, ohne 
Hilfe urinirten etc. Aehnlich „ideal und 
zauberhaft“ war der Effect bei den mittel¬ 
schweren Fällen, trotzdem hier die Tem¬ 
peratur noch zwischen 37,5 und 38,5 
schwankte und der Puls nicht immer bis 
zur Norm herunterging; von einem Status 
typhosus war aber auch in dieser Gruppe 
von Fällen nach 48 stündigem Pyramidon- 
gebrauch kaum mehr die Rede. Bei den 
allerschwersten Fällen von Typhus waren 
die Erfolge nicht immer so glatt, doch 
glaubt sie V a 1 e n t i n i gegenüber der Schwere 
der Erkrankung beinahe noch höher an¬ 
schlagen zu dürfen. Die Temperatur blieb 
in diesen Fällen zwischen 38 und 39°, um 
erst nach mehreren Tagen sich der Norm 
zu nähern; der Puls wurde meist nicht er¬ 
heblich, aber doch etwas günstig beein¬ 
flusst; das Sensorium aber wurde auch 
hier wunderbar verändert, daher die 
Nahrungsaufnahme gebessert, die Pflege 
erleichert. . 

Valentini berichtet bisher über 19 
Kranke, die er systematisch mit Pyramidon 
behandelte. Von diesen zeigten 12 ein 
ganz schweres Krankheitsbild, während 4 
als schwerkrank und nur 3 als leicht be¬ 
zeichnet werden konnten. Es starben zwei 
Kranke, einer an Pneumonie und Pyämie, 
ein zweiter nach dreiwöchentlicher Er¬ 
krankung an Herzschwäche. [Das Pyramidon 
hatte bei dem letzteren auf das Sensorium 
eine gute Wirkung gehabt, die Temperatur 
war bis auf kleine und kurzdauernde Fieber¬ 
steigerungen normal geworden, der Puls 
aber war dauernd schlecht geblieben]. 

Auf Grund seiner Erfahrungen an diesen 
19 Fällen hält Valentini das Pyramidon 
nur für ein symptomatisches Mittel, 
nicht für ein specifisches: die Krank¬ 
heit nimmt ungekürzt ihren Gang, verläuft 
aber fieberlos und bei gutem Sensorium. 
Danach stellt er folgende Regeln für die 
Anwendung des Mittels auf: 

Die Pyramidonbehandlung ist zu be¬ 
ginnen, sobald die Diagnose auf Unterleibs¬ 
typhus mit Sicherheit gestellt ist, also 
frühestens nach 4—5 Tagen, meistens erst 
am Ende der ersten Krankheitswoche. 
(Ein früherer Beginn verwischt das Krank¬ 
heitsbild und erschwert die Diagnose 
eventuell bis zur Unmöglichkeit.) Die Aus¬ 
wahl der richtigen Dosis erfordert eine 
gewisse Uebung. „Die richtige Dosis ist 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 283 


die, bei der der Kranke dauernd fieberfrei 
ist. Bei Kindern genügen dazu 0,1—0,2 g 
zweistündlich, bei Erwachsenen 0,3—0,4 g, 
je nach der Schwere des Falles. Man gebe 
anfangs dreiste Dosen, da auch ein starkes 
Sinken derTemperatur (35°) keinen Schaden 
bringt. Ist der Kranke einige Tage fieber¬ 
frei, so kann man die Dosis ermässigen.“ 

Schwierigkeit macht die Frage, wann das 
Mittel ausgesetzt werden soll. Valentini 
empfiehlt, es durchschnittlich 3—4 Wochen 
zu geben; erst dann soll es probeweise 
einige Male fortgelassen werden, wird aber, 
sobald sich die erste oft unbedeutende 
Fiebersteigerung zeigt, sofort wiedergege¬ 
ben, bis nach 3—4 Tagen der Versuch des 
Aussetzens wiederholt wird. — Die diäte¬ 
tische und Allgemeinbehandlung werden in 
der gewohnten Weise die ganze Zeit der 
Krankheit und der Reconvalescenz hindurch 
streng durchgeführt. Bäder (von 24° R. und 
5 Minuten Dauer) giebt Valentini zweimal 
wöchentlich. 

Vor Valentini’s Publikation bereits 
theilt Dr. Byk (Berlin) einen Fall mit, den 
er mit häufigen Pyramidondosen behandelte 
und der sehr günstig verlief. Auch er sah 
nach den ersten Pyramidonpulvern einen 
Temperaturabfall von 4° ohne Collaps- 
erscheinungen (der Patient „machte den 
Eindruck eines Reconvalescenten“) und er 
betont, dass trotz des mehrwöchentlichen 
Gebrauchs des Mittels niemals Intoxications- 
oder unangenehme Nebenerscheinungen 
sich bemerkbar machten. Der Verlauf 
seines Falles weicht von den Beobachtungen 
Valentini’s in mancher Hinsicht ab, es 
wurde aber auch das Pyramidon nicht so 
regelmässig gegeben, wie Valentini em¬ 
pfiehlt. Für die Nachprüfung, zu der diese 
bemerkenswerthen Resultate fraglos auf¬ 
fordern, dürfte die systematische Behand¬ 
lung nach Valentini’s Methode zu em¬ 
pfehlen sein. F. Klemperer. 

(Berl. klin. Woch. 1903, No. 4 u. 5, u. Deutsch. 
Med. Woch. 1903, No. 16 u. 3.) 

RubeSka (Prag) verglich die Mor¬ 
talität der Uterusraptureil während des 
Geburtsaktes in den Statistiken von 
Merz und Klien mit denselben auf seiner 
Klinik und der Gebäranstalt in Prag und 
fand dieselbe gegen jene merklich erhöht. 
Als Ursache dieses Unterschiedes kann 
jene bekannte Thatsache angesehen werden, 
dass allgemein günstige Fälle mehr publi- 
cirt werden, als tödtliche. Merz fand unter 
230 Fällen 64,4°/ 0 Mortalität, Klien eine 
Mortalität von 50% in 381 Fällen. Ver¬ 
fassers 315 Fälle dagegen weisen eine Mor- 

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talität von 72% auf, also um 22% mehr 
als Klien. Die Ursache des Todes war 
in der grossen Mehrzahl der Fälle eine 
puerperale Septikämie. In Betreff der 
therapeutischen Maassnahmen empfiehlt 
Verfasser folgendes Verhalten: 

1. Ist der Kopf über oder in dem 
Beckeneingange, soll derselbe perforirt und 
mittelst Kranioclasts herausgeschafft werden. 

2. Bei Querlagen und gut zugänglichem 
Fusse, ist die Wendung und Extraction, 
sonst die Embryotomie am Platze. 

3. Tritt die ganze Frucht, oder der 
grösste Theil in die Bauchhöhle heraus, 
ist die Laparotomie durchzuführen und der 
Gebärmutterriss so zu versorgen, wie später 
gesagt werden wird. 

4. Würde das Kind auf natürlichem 
Wege geboren, soll der Riss gründlich 
untersucht werden, besonders ob es sich 
um einen completten oder incompletten 
Riss handelt. 

5. Im Falle eines incompletten Risses 
und mässiger Blutung genügt es, die Wunde 
zu drainiren und den Bauch zu comprimiren. 

6. Ist die Blutung eine abundantere 
und spielt sie sich besonders unter dem 
Bauchfelle der Hüftengrube ab, so ist es 
am Platze, einen langen Schnitt über dem 
Poupartschen Bande zu machen, den 
Gebärmutterriss blosszulegen, die blutenden 
Gefässe zu unterbinden, eventuell den 
Riss zusammenzunähen, die subperitoneale 
Höhle zu reinigen und nach aussen hin zu 
drainiren. 

7. Im Falle completter Ruptur soll bei 
glatten und nicht inficirten Rändern per 
laparotomiam der Riss zusammengenäht 
werden, sonst ist die totale Hysterektomie 
durchzuführen. Ist ein subperitoneales 
Haematoma vorhanden, ist dasselbe aus¬ 
zuleeren und entweder durch die Scheide, 
oder durch Contraincision über dem Pou- 
part’schen Bande zu drainiren. 

8. ln der Privatpraxis ist die folgende 
Einrichtung am Platze: Ist eine Operation 
indicirt, so soll, wo möglich, auch auf der 
Stelle operirt werden. Bei Blutungen 
drücke man mit einer Hand den Tampon 
auf die Ruptur, die andere von aussen auf 
die antiflectirte Gebärmutter, so lange, bis 
der Operateur sich einfindet. 

Stock (Skalsko). 

(Sbornik klinick^ Bd. IV, H. 3.) 

Ueber Volksheilstätten für Nerven¬ 
kranke, ihre Nothwendigkeit, Einrichtung 
und Ausführung hat sich Determann- 
St. Blasien in einem bei J. F. Bergmann 
soeben erschienenen Vortrag ausführ- 

36* 

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284 


Juni 


Die Therapie der 


lieh geäussert. Es ist eine oft gehörte und 
noch öfter niedergeschriebene Klage, dass 
die Aerzte im öffentlichen Leben nicht die¬ 
jenige Stellung einnehmen, die ihnen kraft 
ihrer Bildung und der Bedeutung ihres 
Berufes zukommt; es hiesse oft Gesagtes 
wiederholen, wenn wir sämmtliche Gründe 
für die Ursachen dieser Klagen anführen 
wollten; als ein Trost diene uns, dass auch 
andere akademische Berufe gleiche Be¬ 
schwerden äussern. Eins der Mittel, die 
angegeben wurden, diesen Beschwerden 
abzuhelfen, besteht darin, dass wir in Frage 
der Volkshygiene öfter und vor Allem 
öffentlich unsere Stimme erheben und als 
Lehrer der Menschheit auftreten. — In der 
Frage der Schwindsuchtsbekämpfung ist 
dies ja mit unleugbarem Erfolge geschehen; 
eine zweite Gelegenheit, unsere verlorene 
Stellung uns wieder zu erobern, wäre die 
Wohnungsfrage; sie hängt ja, wie dies auch 
Rob. Koch auf dem Tuberkulosecongress 
in London betonte, aufs engste mit jener 
zusammen; eine dritte volkswirthschaftlich 
und hygienisch durchaus hervorragende 


Gegenwart 1903. 


Bedeutung nimmt der Kampf bezw. die 
Prophylaxe der Nerven- und Geisteskrank¬ 
heiten ein. 

Determann hat die Frage der Volks¬ 
heilstätten für Nervenkranke auf 45 Seiten 
so trefflich behandelt, dass jede Kritik 
schweigt; in jeder Zeile ruhige Ueberlegung, 
illusionsfreie Darlegung der Umstände, kurz, 
Rechnung mit gegebenen Faktoren! Ein 
Nothstand herrscht, das ist keine Frage. — 
Helfen wollen wir, das ist der Kern unseres 
Berufs! Aus der Organisation der Lungen¬ 
heilstättenbewegung, die ja, wie jedem Ein¬ 
geweihten bekannt ist, eben durch die thäti- 
gen und rastlosen Bemühungen Einzelner 
das geworden ist, was sie mit allen ihren 
Fehlern und Vorzügen ist — auch die 
Ueberschätzung der Erfolge gehört dazu 
wie die Schale zum Ei — wollen wir lernen; 
neben dem Kampf für unsere eigensten 
Standesinteressen dürfen wir auch nicht 
die salus publica ausser Acht lassen. Wenn 
es dann zur That kommt, so ist das 
Determann’sche Buch unser „Rufer im 
Streit“. B. Laquer (Wiesbaden). 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Aus der chirurgisch - orthopädischen Klinik des Geheimraths Prof. Dr. Hoffa, Berlin. 
Ueber ein neues, äusserlich verwendbares Salicylpräparat. 


Von Dr. R. Pfeiffer, I 

Vor Kurzem hat Zeigan 1 ) in einer Ar- 
. beit: „Die Behandlung des Rheumatismus 
durch äussere Anwendung von Salicyl- 
präparaten“ über die Erfolge berichtet, die 
er mit dem Salicylpräparat Rheumasan 
erzielt hat. Dieses Medikament, eine über¬ 
fettete Salbenseife, die constant 10% freie 
Salicylsäure enthält, hat nunmehr noch in¬ 
sofern eine Verbesserung erfahren, als es 
mit Salicylsäure - Estern gesättigt wor¬ 
den ist, wodurch eine Erhöhung des Ge- 
sammtsalicylgehaltes und vor allem die 
Möglichkeit einer noch schnelleren und 
intensiveren Resorption des Salicyls be¬ 
wirkt worden ist. Die günstigen Erfolge 
einer äusseren Verwendung der Salicyl- 
säure-Ester bei Gelenkrheumatismus waren 
zwar längst bekannt, indessen fand diese 
Therapie trotz guter Empfehlung in 
Deutschland wenig Verbreitung, weil der 
unangenehme und durchdringende Geruch 
der Salicylsäure-Ester leicht Kopfschmerzen 
hervorrief. Da dieser Uebelstand bei dem 
neuen, Ester-Dermasan 2 ) genannten Prä- 

*) Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 12. 

2 ; Erhältlich in der Rheuraasanfabrik von Dr. 
Reiss, Berlin N. 4, Invalidenstr. 101. 

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. Assistenten der Klinik. 

parate in glücklicher Weise vermieden ist, 
liess ich mich um so leichter dazu be¬ 
stimmen, eine Prüfung dieses neuen Heil¬ 
mittels vorzunehmen, als ich hoffte, seinen 
Indicationskreis erweitern zu können. Mass¬ 
gebend für diesen letzteren Gedanken war 
vor allem die längst erfolgte Feststellung 
der schmerzlindernden Wirkung aller äusser¬ 
lich anwendbaren Salicylpräparate und 
ferner die zwar wissenschaftlich wenig be¬ 
gründete, aber praktisch bedeutsame That- 
sache, dass eine am erkrankten Körperteile 
selbst vorgenommene Behandlung bei 
Patienten, die an chronischen Krankheiten 
leiden, wirkungsvoller zu sein pflegt. Nun 
hat das Ester-Dermasan die Hoffnungen, 
die ich in seine Verwendbarkeit setzte, in 
der That erfüllt, wenn auch von vornherein 
zuzugeben ist, dass seine Wirkung nach der 
ganzen Art mancher Erkrankungen, bei 
denen es Anwendung fand, eine rein sympto¬ 
matische bleiben musste. 

Die Anwendung des Medicamentes 
geschah in der Form, dass je nach der 
Grösse der zu behandelnden Fläche 5—10 g 
des Mittels 1 — 2 mal täglich leicht auf 
die erkrankten Körpertheile aufgestrichen 

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Juni 


285 


I)ic Therapie der Gegenwart 1903. 


wurden. Die betreffenden Partien wurden 
dann mit unentfetteter Watte umhüllt. In 
dieser Weise wurde das Ester-Dermasan 
bei rheumatischen Erkrankungen, zu¬ 
nächst bei akutem Muskelrheumatis¬ 
mus angewendet, wobei unmittelbar nach 
Applikation des Mittels eine wohlthätige 
Wärmeempfindung der behandelten Partien 
und ein Nachlass der Schmerzen zu beob¬ 
achten war. Derartige Fälle wurden ohne 
innerliche Darreichung von Salicyl- 
präparaten in kurzer Zeit vollständig ge¬ 
heilt. Akuter Gelenkrheumatismus 
kam in der zur Verfügung stehenden Be¬ 
obachtungszeit nicht zur Behandlung; da¬ 
gegen wurden 3 Fälle von Arthritis 
deformans des Hüft- resp. Kniegelenkes, 
die mit starker Schmerzhaftigkeit der be¬ 
fallenen Gelenke einhergingen, mit gutem 
Erfolge behandelt, sodass schon vor An¬ 
legung der entlastenden Schienenhülsen¬ 
apparate ein Nachlassen der Schmerz¬ 
empfindungen eintrat. Auch ein Fall von 
hartnäckiger Ischias, der zu einer reflek¬ 
torischen Verkrümmung der Wirbelsäule 
geführt hatte und ohne endgültigen Erfolg 
mit fixierenden Gipskorsets und später mit 
Massage behandelt worden war, konnte 
durch Ester-Dermasan geheilt werden. Seine 
schmerzlindernde Wirkung bewährte das 
Mittel auch bei anderweitigen Erkran¬ 
kungen des Nervensystems. So trat 
eine zeitweilige Besserung in zwei mit 
Dermasaneinreibungen behandelten Fällen 
von tabischen Schmerzen der Beine ein, 
wenn auch naturgemäss hier ein Dauererfolg 
nicht zu erzielen war. In einem ähnlich 
hoffnungslosen Falle trat die gleiche Wir¬ 
kung ein. Es handelte sich dabei um einen 
Patienten, der in Folge einer inoperablen 
Hüftgelenksgeschwulst an starken, ziehen¬ 
den Schmerzen in dem Bein der befallenen 
Seite litt. Dieses wohl durch Druck auf 
Nerven hervorgerufene Symptom ver¬ 
schwand während der zweiwöchentlichen 
Behandlungszeit vollständig; der Patient 
wurde später in ein Siechenhaus aufge¬ 
nommen. Einen weiteren Erfolg hatte 
Ester-Dermasan bei Gelenkschmerzen, 
die durch akute Ergüsse hervorgerufen 
waren. Solche Ergüsse treten häufig ein, 
wenn ein sonst gesundes, aus irgend einem 
Grunde längere Zeit fixirt gewesenes Ge¬ 
lenk seine ersten Bewegungen ausführt; sie 
sind wegen der mit ihnen einhergehenden 
Schmerzen und der dadurch bedingten 
Funktionsstörung äusserst lästig. Diese 
Fälle, die ja speciell in orthopädischen 
Kliniken häufig zur Beobachtung kommen, 
heilten bedeutend rascher aus, wenn die 


i sonst geübte Compressionsmethode mit der 
Dermasanbehandlung combinirt wurde. Er¬ 
wähnt seien hier noch einige erfolgreiche 
Versuche die bei Spondylitis auftretenden, 
längs den Rippen ausstrahlenden Schmerzen 
t durch Dermasaneinreibungen zu ver¬ 
mindern. 

Hier, wie in den meisten anderweitigen 
| Fällen ist die gute Wirkung des Medica- 
| mentes wohl in erster Reihe seiner haut- 
; reizenden, ableitenden Eigenschaft 
zuzuschreiben. Indessen ist die hervorge¬ 
rufene active Hyperämie kaum je so stark, 
dass sie eine auffällige oder gar unange¬ 
nehme Hautröthung hervorbringt; gewöhn¬ 
lich ist ihr einziges Zeichen ein angenehmes 
Wärmegefühl. Ein andrer therapeutischer 
Faktor, die Massage, die von Zeigan bei 
seinen Versuchen mit Rheumasan zuweilen 
angewendet wurde, war bei den Versuchen 
mit Ester-Dermasan von vornherein ausge¬ 
schaltet worden, da sich bei dem ersten 
derartig behandelten Falle die Hautreizung 
als doch zu stark herausstellte. Es bleibt 
noch als dritter Heilfaktor die Salicyl- 
wirkung, die bei Anwendung der Salicyl- 
säure-Ester besonders rasch und intensiv 
eintritt, was sich bei den mit dem neuen 
Medicament behandelten Fällen jedesmal 
nachweisen liess. Es genügten zur Schmerz¬ 
linderung bedeutend geringere Salicyldosen 
als bei der vorher angewendeten inneren 
Darreichung von Salicylnatron, was wohl 
auch darauf zurückzuführen ist, dass die 
resorbirten Salicyltheile direct in dieLymph- 
bahnen der erkrankten Körpertheile über¬ 
gehen und damit sofort in unmittelbare 
Berührung mit den dortigen Nerven¬ 
endigungen gelangen. Irgend welche un¬ 
angenehme Nebenwirkungen brachte 
die resorbirte Salicylsäure nicht hervor; 
der leichte Schweissausbruch, der gewöhn¬ 
lich etwa zwei Stunden nach Anwendung 
des Ester-Dermasan eintrat, wurde durchaus 
nicht störend empfunden. Nur in zwei 
Fällen traten stärkere Hautreizungen 
ein; in dem einen, der schon erwähnt wurde, 
bildete sich nach intensiver Massage mit 
Ester-Dermasan ein pustulöses Eczem, der 
andere betraf einen schon stark proster- 
nirten, an Spondylitis cervicalis leidenden 
Patienten, der einen miliariaähnlichen Aus¬ 
schlag an den mit Ester-Dermasan behan¬ 
delten hinteren Partien des Halses bekam. 
Beide Male Hessen sich diese Erscheinungen 
durch Borvaseline innerhalb weniger Tage 
beseitigen. Zur Vermeidung derartiger Zu¬ 
fälle dürfte es sich empfehlen, noch an¬ 
haftende Reste der Salbe vor einer erneuten 
Applikation jedesmal sorgfältig zu entfernen. 


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286 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juni 


Leider war einerseits die mir zur Ver- j Anwendung des Ester-Dermasan möglichen 
fügung stehende Beobachtungszeit ziemlich j Indicationen zu versuchen. Ich hoffe in¬ 
kurz, andererseits war das Krankenmaterial, I dessen, dass diese kurze Notiz manchen 
wie es eine orthopädische Klinik bietet, | Collegen dazu bewegen wird, weitere Ver- 
naturgemäss zu einseitig, um alle für die j suche anzustellen. 


Zur Kenntniss der Verwendung des Scopolamin bei Magenleiden. 

Von Dr. Max Plckardt-Berlin. 


Die im Maiheft der „Therapie der Gegen¬ 
wart“ enthaltenen Mittheilungen von Koch- 
mann (Pharmakolog. Institut-Jena) über die 
pharmakodynamischen Eigenschaften des 
Scopolamin und die sich hieraus ergeben¬ 
den Indicationen für die klinische Verwen¬ 
dung desselben veranlassen mich, kurz über 
Erfahrungen zu berichten, welche ich mit 
diesem Präparat in einer Richtung gemacht 
habe, die von K. nicht in das specielle Be¬ 
reich seiner Betrachtungen gezogen wurde. 

Es handelt sich um das Resultat von 
Versuchen, das Scopolamin heranzuziehen 
zur arzneilichen Behandlung der mit Hyper- 
secretion verbundenen Erkrankungen des 
Magens. Die Veranlassung dazu gaben 
die Berichte von Riegel über die Wirkung 
von Medicamenten bei Thieren mit Paw- 
loffscher Fistel, denen zufolge das Morphin 
bei jeder Anwendungsweise nach anfäng¬ 
licher Verminderung der Saftsecretion des 
Magens diese später erhöht. Riegel hat 
selbst den Thierversuch auf den Menschen 
übertragen und ist (Therapie der Gegenwart 
1900, No. 8 und Zeitschrift für praktische 
Aerzte 1900, No. 17) auch hier zu dem 
Schluss gekommen, dass dem Morphium eine 
secretionserregende Eigenschaft zukomme, 
seinem Antidot Atropin eine hemmende. 

Bei einer Nachprüfung dieser Ergebnisse 
im Jahre 1902 erhielt ich jedoch für Morphin 
— wie übrigens auch einige andere Opium¬ 
alkaloide : Narcein,Narcotin, Codein — nichts 
weniger als eindeutige Resultate, indem 
sowohl beim nüchternen Magen wie auch 
nach Probemahlzeiten in einer grossen Ver¬ 
suchsreihe — ähnlich auch Holsti, Zeit¬ 
schrift f. klin. Medicin, Bd. 49 — ein so 
wechselndes Verhalten in Bezug auf Quan¬ 
tität und Qualität des Magensaftes sich 
manifestirte, dass bindende Schlüsse im 
Sinne Riegel’s zu ziehen mir nicht erlaubt 
schien. Wohl dagegen erwies sich Atropin, 
in den üblichenDosenvon3—5Decimilligrm., 


ohne Ausnahme als hemmend in Bezug auf 
die Menge des ergossenen Secrets. 

Bei einem mehrere Wochen hindurch 
fortgesetzten Versuch, diese Eigenschaft an 
einem Fall von chronischem Magensaftfluss, 
den ich damals gerade in Behandlung hatte, 
zu erproben, konnte ich sie zwar durch 
prompten Erfolg bestätigen, musste aber 
bald von der Fortsetzung Abstand nehmen, 
da sich sehr bald bei diesen Dosen — und 
bei Wiederaufnahme der Versuche immer 
wieder erneut —, wie auch bei den ent¬ 
sprechenden Dosen von Tct. und Extract 
Belladonnae, die üblichen Idiosynkrasien 
einstellten, geringere Mengen aber nicht 
wirkten. Da griff ich, von der Erwägung 
ausgehend, dass Belladonna- und Hyoscy- 
amuspräparate in vielen Beziehungen phar¬ 
makologisch sich ähnlich verhalten, zum 
Scopolamin und hatte, was ich brauchte: 
sichere Hemmung der Saftsecretion ohne 
Nebenwirkung. Ich gab dasMittel alsBromid 
zu zweimal je 0,3 Milligrm. in Lösung zwei¬ 
mal täglich je 4 Wochen mit dem Effect, 
dass in dieser Zeit die Secretion, die sub- 
jectiven Beschwerden bis jetzt dauernd ge¬ 
ringer wurden. 

In zwei weiteren Fällen von Gastrosuc- 
corrhoe — beide idiopathische, ohne vor¬ 
ausgegangenes Ulcus, ohne Atonie — habe 
ich seitdem den gleichen Erfolg gehabt, 
den besten subjectiven bei einer Dame mit 
M. Basedowii; letzteres vielleicht desshalb, 
weil hier das Scopolamin auch als Sedativum 
in Action trat, als welches es von Psychiatern 
und Neurologen reichlich herangezogen 
wird, seitdem es gelungen ist, ein chemisch 
reines Präparat von constantem Schmelz¬ 
punkt herzustellen. 

Angesichts der sonstigen Unzulänglich¬ 
keit der therapeutischen Massnahmen bei 
der Gastrosuccorrhoe möchte ich jedenfalls 
empfehlen, Versuche in gleicher Richtung 
zu machen und über diese mitzutheilen. 


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Juni 


287 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Kussmauls Methode 

zur Stillung übergrosser menstrueller Blutungen. 

Von G. Klemperer. 


Anämie und reizbare Schwäche des 
gesammten Nervensystems erwächst bei 
Frauen nicht selten aus übergrossen und 
langdauernden menstruellen Blutverlusten, 
die sie in kurzen Zwischenräumen erdulden. 
Sofern diese profusen Hämorrhagien durch 
pathologische Processe hervorgerufen sind, 
können sie durch geeignete Eingriffe be¬ 
seitigt werden; so viel ich beurtheilen kann, 
haben sich neuerdings neben der Aus¬ 
kratzung die Vaporisation und ganz be¬ 
sonders Menges Formalinmethode bei der 
Behandlung der Endometritis sehr bewährt. 

Es ist aber zweifellos, dass profuse 
Menstruationen auch bei anatomisch intacter 
Uterusschleimhaut häufig genugvorkommen. 
Ursächlich wirksam ist hier vielfach Ver¬ 
schlechterung der Blutmischung, welche 
namentlich durch Blutverluste bei Ent¬ 
bindungen entstanden ist; aber auch alle 
hygienischen Missstände, die zu Anämie 
führen, kommen ätiologisch in Betracht. 
Jeder Anämische bekommt schlecht ge¬ 
nährte durchlässige Gefässwände und also 
eine Neigung zu Blutungen. Frauen ge- 
rathen dadurch in einen verhängnisvollen 
Circulus vitiosus, indem die Anämie zu 
profusen Menses führt, die ihrerseits wieder 
die Anämie verstärken. Besonders hervor¬ 
zuheben ist der Einfluss des Nervensystems 
auf die menstruellen Blutungen; ich habe 
eine Reihe frappanter Beobachtungen ge¬ 
sammelt, die die Abhängigkeit der Stärke 
und der Dauer menstrueller Blutungen von 
dem jeweiligen Kraftzustand des Nerven¬ 
systems, ja von dem psychischen Verhalten 
beweisen. Auch hier besteht die unglück¬ 
selige Wechselbeziehung, dass die Blut¬ 
verluste die armen Frauen immer nervöser 
machen und dass die wachsende Nerven¬ 
schwäche die Neigung zu profusen Blutungen 
steigert. Die Verhinderung zu starker 
Hämorragien ist deshalb eins der dringend¬ 
sten Desiderien in der ärztlichen Thätig- 
keit. Mir selbst ist diese Pflicht oft nahe 
getreten, da ich nervöse und blutarme 
Damen häufig zu berathen habe, die auch 
ein grosses Contingent zu den Insassen 
meiner Privatklinik stellen. Früher habe 
ich in gewohnter Weise neben Bettruhe und 
Eisblase eine Reihe von Medicamenten an¬ 
gewandt, unter denen namentlich Stypticin 
sich oft bewährt hat. Aber jede der 
hier in Betracht kommenden Arzneien hat 
ihre Schattenseiten und meist tritt durch 


Gewöhnung Unwirksamkeit ein. Gradezu 
glänzende Erfolge habe ich aber erzielt, 
j seit ich eine Methode anwende, die von 
i dem grossen Kliniker Kussmaul ersonnen 
s und von seinem langjährigen Mitarbeiter 
Flein er bekannt gemacht worden ist. 
Vielen Collegen, denen ich gelegentlich bei 
Consultationen davon sprach, war die 
Methode unbekannt; das liegt wohl daran, 
dass sie meines Wissens nur an einer 
Stelle beschrieben ist, von der aus sie 
1 nicht so leicht zur allgemeinen Kenntniss 
kommen konnte. Es ist deshalb vielleicht 
meinen Lesern erwünscht, wenn ich die 
Beschreibung der Methode hier wörtlich 
wiedergebe. Sie steht in dem sehr empfeh- 
lenswerthen und an praktischen Fingerzeigen 
reichen „Lehrbuch der Magenkrankheiten“ 
von W. F1 e i n e r (Stuttgart, Enke 1897) S. 160. 

„Zur Beseitigung übergross er,men- 
strueller Blutverluste bei Frauen hat 
sich ein von Kussmaul ersonnenes und 
von ihm, von Czerny und auch von mir 
häufig geübtes Verfahren als absolut sicher 
blutstillend wirkend stets bewährt: ich 
meine die Compressionstamponade des 
Uterus.“ 

„Wie man eine Blutung an irgend einer 
zugänglichen Körperstelle, sagen wir am 
Arme, stillt, indem man kunstgerecht die 
zuführenden Gefässe comprimirt oder wenn 
dies nicht angeht, auf die blutende Wunde 
selbst einen Druck ausübt oder einen Druck¬ 
verband anlegt, so kann das auch bei 
stärkeren Blutungen aus dem Uterus ge¬ 
schehen, indem man durch kleine Tam¬ 
pons, welche man hoch hinauf in das 
Scheidengewölbe einführt, den Uterus, 
wenigstens den unteren Abschnitt desselben 
und den Cervix von allen Seiten so zu¬ 
sammendrückt, dass jede übermässige Blut¬ 
zufuhr aufhört und die Menstrualblutung 
nach Belieben eingeschränkt oder ganz 
unterdrückt wird.“ 

„Man beginnt dieTamponade, „die Blut¬ 
stopfung“, bei Frauen, welche erfahrungs- 
gemäss bei jeder Periode zu stark und zu 
lange bluten, in der Regel etwa 12—24 
Stunden nach dem Eintritt der Periode, 

; unter Umständen auch gleich im Beginne 
i derselben. Zuvor wird der Darm (durch 
j ein Klystier) entleert und die Scheide 
i durch eine Ausspülung mit lauwarmem 
1 (24—26o) Borwasser gereinigt. Die Tam- 
| pons hat sich der Arzt unterdessen, etwa 


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288 


Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


3—4 an der Zahl, vielleicht auch noch 
mehr, hergestellt durch festes Aufrollen 
schmaler, in lauwarmes Borwasser gelegter 
Wattestreifen. Während des Rollens wird 
die Watte so geknetet, dass der fertige 
Tampon die Form einer Spindel hat und 
so dick, aber nicht ganz so lang wie ein 
mittelgrosser Daumen ist. Damit die 
Patientin sich selbst die Tampons später 
wegnehmen kann, ist es zweckmässig, 
letztere gleich an einem Baumwollfaden 
zu befestigen. Nachdem schliesslich die 
Tampons mit Borvaseline gut eingefettet 
sind, führt man in der Rückenlage der 
Frau, mit hochgezogenen Knieen, während 
2 Finger der linken Hand die Labien 
etwas auseinanderhalten, mit der rechten 
Hand den grössten Tampon zuerst in die 
Scheide, natürlich der Längsachse des 
Tampons entsprechend, und wenn er da 
schon ziemlich hoch liegt, geht man mit 
dem rechten Zeigefinger ebenfalls in die 
Scheide, dreht den Tampon so, dass er 
quer zu stehen kommt und schiebt ihn 
nun im hinteren Scheidengewölbe so weit 
hinauf, als es ohne Schmerzen möglich ist. 
In ähnlicher Weise wird der zweite, etwas 
kleinere Tampon in das vordere Scheiden¬ 
gewölbe geschoben und wenn nöthig, noch 
ein dritter oder vierter kleiner Tampon 
rechts oder links hin, da wo noch eine 
Lücke ist. Bei einiger Geschicklichkeit 
kommt man mit 3 Tampons aus, mit einem 
grösseren hinteren, einem kleineren vor¬ 
deren und wieder einem grösseren, den 
man zur Stütze der beiden anderen auch 
noch einschiebt und querstellt. Macht man 
die Tampons sehr klein, so braucht man 
natürlich mehr, auch muss dann zum Schluss 
noch ein grösserer Tampon quer in die 
Vagina gelegt werden.“ 

„Mit Ausnahme eines Druckgefühles im 
Becken haben die Patientinnen keine Be¬ 
schwerden; nur müssen sie liegen bleiben, 
damit die Tampons sich nicht verschieben. 
Nach 24 Stunden entfernt man die Tam¬ 
pons — und ist dabei oft erstaunt, zu 
finden, dass kaum einer von ihnen blutig 
imprägnirt ist, wenn die Stopfung gut ge¬ 
macht worden ist — lässt den Darm ent¬ 
leeren und die Scheide spülen, um die 
Manipulationen von Neuem zu beginnen. 
Oft genügt für eine Periode ein 2maliges, 
meistens ein 3maliges Tamponiren, hin 
und wieder kann das Stopfen auch 4mal, 
seltener gar 5mal erforderlich sein.“ 

„Allerdings muss dieselbe Procedur bei 
den nächsten Perioden wiederholt werden. 


I 

Es ist jedoch nicht nothwendig, dass dies 
immer durch die Hände des Arztes ge¬ 
schieht — wiewohl ich dies für das Sicherste 
halte — den jede einigermassen anstellige 
Hebamme oder Wärterin kann die be¬ 
schriebene Methode lernen und ohne 
Schaden für die Frau ausführen, wenn sie 
sorgfältig und reinlich verfährt. Mit der 
Zunahme der Kräftigung der Kranken lässt 
übrigens die Neigung zu den Blutungen 
nach, hört wohl auch ganz auf, so dass 
feinfühlige Patientinnen nicht zu befürchten 
brauchen, bis zum Climacterium allmonatlich 
gestopft werden zu müssen.“ 

„In Betreff der Leistungsfähigkeit der 
Methode will ich schliesslich nur noch an¬ 
fügen, dass sie in keinem Falle, wo die 
Tamponade ausführbar war — manche Ent¬ 
zündungen und schmerzhafte, abnorme 
Fixationen des Uterus können sie hindern 
und unmöglich machen — ihren Dienst 
versagt hat; freilich braucht ein Jeder, der 
die Stopfmethode ausführen will, einige 
Uebung bis er seiner Sache ganz sicher 
ist. Wiederholt habe ich schwere Blutungen 
durch Tamponade gestillt in Fällen, bei 
welchen gegen dasselbe Uebel wiederholt 
operativ vorgegangen werden war. In 
vielen Fällen wird jedenfalls das so häufig 
geübte Auskratzen des Uterus durch die 
unblutige Tamponade ersetzt werden 
können.“ 

Ich möchte dieser ausgezeichneten Dar¬ 
stellung nur hinzufügen, dass ich selbst 
7 Mal Gelegenheit gehabt habe, die Kuss- 
maul’sche Tamponade anzuwenden. In 
jedem Fall mit vorzüglichem Erfolg. Unter 
der Tamponade verlief die Blutung weitaus 
massiger als vorher; nach der dritten oder 
vierten Anwendung war die Menstruation 
an sich schwächer geworden und erforderte 
nur noch kürzere Dauer der Stopfung; 
schliesslich konnte man sie ganz weglassen. 
In den Zwischenzeiten gelang es durch 
diätetische und hygienische Behelfe Er¬ 
nährungszustand und Nervenkraft der 
Patientinnen zu heben und ihnen die lang 
vermisste Lebensfrische und Freudigkeit 
wiederzugeben. 

Die Methode ist so wohl erdacht und 
so zweckmässig, so absolut unschädlich und 
von so ausserordentlichem Nutzen, dass 
sie allgemeine Anwendung zur Bekämpfung 
profuser Metrorrhagien verdient. Möchten 
ihre Erfolge auch dazu beitragen, das An¬ 
denken des unvergesslichen Meisters wach 
zu halten, über dessen Grab nun das erste 
Jahr hinweggerauscht ist. 


Für die Redaktion verantwortlich: Piof. G. Klempercr in Berlin. — 'Verantwortlicher Kedacteur für Oestrrreich-Ungarn: 
Eugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban &Schwarzenberg 

in Wien und Berlin. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1903 herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 

in Berlin. 


Juli 


Nachdruck verboten. 

Lieber die diätetische Beeinflussung des Wasserhaushaltes 
bei der Behandlung Herzkranker. 

Von F. Kraus -Berlin. 


Bei der Aufstellung allgemeiner Grund¬ 
sätze für die Therapie der Herzkrankheiten 
ist, besonders auf die Anregungen Kör¬ 
ner’s und Oertel’s hin, grosses Gewicht 
gelegt worden auf die Regelung des 
Wasserhaushaltes. Eine Ueberlegung der 
theoretischen Grundlagen und die vor¬ 
liegenden praktischen Erfahrungen setzen 
uns wohl gegenwärtig bereits in den Stand, 
den Nutzen der vielfach zu stark gerühm¬ 
ten und ebenso zu stark verketzerten 
Flüssigkeitsbeschränkung bei der Behand¬ 
lung Herzkranker richtig einzuschätzen. 

Wenn auch jetzt noch unsere ein¬ 
schlägigen Kenntnisse lückenhafte sind, 
kann man doch sicher behaupten, dass 
Oertel in theoretischer Beziehung von 
einer unbewiesenen Voraussetzung aus¬ 
gegangen ist: er nahm eine Verdünnung 
des Blutes neben gleichzeitiger Ver¬ 
mehrung seiner Menge bei den Herz¬ 
kranken an. Seine Gegner haben es sich 
aber bisweilen auch zu leicht gemacht: 
weil die Theorie schwach gestützt war, 
wurde das ganze praktische Verfahren, bei 
welchem die Regelung der Flüssigkeits¬ 
zufuhr nur einen Theil darstellt, grund¬ 
sätzlich verworfen, und dies ist entschie¬ 
den zu weit gegangen. 

Die Bezeichnung Hydrämie ist nicht 
immer in gleichem Sinne gebraucht worden. 
Zunächst hat man jede Zunahme des 
Wassergehaltes des Gesammtblutes so 
genannt. Ein erhöhter Wassergehalt des 
ganzen Blutes kann hervorgerufen sein 
durch eine wirkliche Zunahme des Wasser¬ 
gehaltes des Plasmas und der Blutkörper¬ 
chen. Aber auch die blosse Abnahme des 
Gesammtvolums der Blutkörperchen im 
Blute muss, wegen des starken Ueber- 
wiegens des Wassergehaltes des Serums 
über denjenigen der Blutzellen, durch ge¬ 
steigerten Wassergehalt des Gesammt¬ 
blutes sich kundgeben. Die Anwendung 
des Begriffes Hydrämie auf den Fall der 
Verminderung des Blutkörperchenvolums 
bei sonst normaler Beschaffenheit der 
Erythrocyten und des Serums in Bezug auf 
deren Gehalt an festen Stoffen ist aber 
doch offenbar ganz unpassend. Der Aus- 

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druck Hydrämie ist vielmehr bloss für 
jenen Zustand vorzubehalten, in welchem 
der Wassergehalt eines der zwei Blut- 
bestandtheile, des Plasmas und der Kör¬ 
perchen, oder beider als gesteigert sich 
herausstellt. Aus diesen Andeutungen geht 
schon hervor, welche Methode der Blut¬ 
analyse zu befolgen ist, wenn ein wirk¬ 
licher Einblick in die Zusammensetzung 
des Blutes unter solchen pathologischen 
Bedingungen gewonnen werden soll. Alle 
bloss am Gesammtblut angestellten Unter¬ 
suchungen können schon aus dem Grunde 
keine hinreichend untereinander vergleich¬ 
baren Ergebnisse liefern, weil das quanti¬ 
tative Verhältniss zwischen den frischen 
Blutkörperchen und dem Serum unbekannt 
geblieben ist und doch nicht etwa (bei den 
verschiedenen Graden der Anämie vieler 
Herzkranker) als constant vorausgesetzt 
und weil die Zusammensetzung der Blut¬ 
zellen und des Plasmas für sich ebenfalls 
nicht unter allen Verhältnissen als gleich¬ 
bleibend angenommen werden darf. Ery- 
throcytenzählungen ersetzen erfahrungs- 
gemäss den ersterwähnten analytischen 
Mangel nicht. Schon geringfügige Ver¬ 
schiebungen des Verhältnisses zwischen 
Erythrocyten- und Serumvolum müssen 
wegen der völlig differenten quantitativen 
Zusammensetzung der Blutkörperchen¬ 
substanz und der Plasmaflüssigkeit zu 
ganz bedeutenden Aenderungen der Zu¬ 
sammensetzung des Gesammtblutes Ver¬ 
anlassung geben. Es sind also beide Be¬ 
standteile des Blutes, Körperchen und 
Flüssigkeit, einer getrennten genauen quan¬ 
titativen Analyse zu unterwerfen. Bei 
der Untersuchung des Plasmas ist dies 
leicht zu erreichen. Von den Methoden, 
mittels derer man die quantitative Zu¬ 
sammensetzung der Erythrocyten festzu¬ 
stellen sucht, sind leider sowohl die 
direkten, als die indirekten nicht absolut 
verlässlich. Die Lösung dieses Problems 
mittels einer irgendwie angestrebten Be¬ 
stimmung des Sedimentvolums scheint mir 
ein Rückschritt zu sein für die klinische 
Untersuchung. Jeder anderen bisher vor¬ 
geschlagenen Verfahrungsweise gegenüber 

37 

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290 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


besitzt die von M. und L Bleibtreu an¬ 
gegebene (bei Auswahl der dem Serum 
isosmotischen Salzlösung auf Grund der 
Bestimmung des Gefrierpunktes des Serums 
mit dem Beckmann*sehen Apparat und 
mit N-Bestimmung in der Ausführung) 
immer noch wesentliche Vorzüge, welche 
in dem zu Grunde liegenden exacten Princip 
und der verhältnissmässig einfachen und 
sicheren Technik gelegen sind. Wenn 
auch nicht auf einmal alles Wissenswerthe 
in den Bereich einschlägiger Untersuchung 
gezogen werden kann, müssen sich solche 
Analysen, welche uns über die Auftheilung 
der festen Stoffe auf Plasma und Körper¬ 
chen belehren sollen, doch wenigstens auf 
die Bestimmung des Wassergehalts, des 
Gehalts an N-haltigen Substanzen über¬ 
haupt und des Haemoglobingehaltes im 
Speciellen erstrecken. Für die Bestimmung 
des Trockenrückstandes empfiehlt sich die 
Wägung sowohl des Blutes als des Serums. 
Die Menge des Ausgangsmateriales darf hier 
nicht zu klein gewählt werden. (Stintzing 
und Gumprecht haben wohl zu wenig 
genommen.) Wegen der Hygroscopicität 
des Trockenrückstandes zu niedrige Tem¬ 
peraturen beim Trocknen anzuwenden, be¬ 
dingt gleichfalls Fehler, weil man so nicht 
den wirklichen Wassergehalt bestimmt, 
auch wohl kaum, wie Stintzing und 
Gumprecht angenommen haben, einen 
constanten aliquoten. Die Bestimmung des 
specifischen Gewichtes, welche zu den 
nöthigen Umrechnungen von Volum- auf 
Gewichtsprocente erforderlich ist, kann nur 
mit Hilfe der pyknometrischen Methode aus¬ 
reichend genau vorgenommen worden. 
Wird schon auf die wünschenswerthe 
Untersuchung der speciellen Vertheilung 
der einzelnen Mineralstoffe verzichtet, muss 
doch wenigstens die Molecularconcentration 
berücksichtigt werden. In dieser Weise 
ist bei Blutanalysen zuerst Kossler vor¬ 
gegangen, dessen Ergebnisse man deshalb 
wohl auch am ehesten einschlägigen theore¬ 
tischen Ueberlegungen zu Grunde legen darf. 

Der Trockenrückstand des Blutes ist 
auch bei normalen Menschen kein völlig 
constantei, er schwankt nach den in meinem 
(Grazer) Laboratorium vorgenommenen Be¬ 
stimmungen zwischen 19,84 und 21,64%, 
im Mittel beträgt er 20,7 %. Die feuchte 
Körperchensubstanz bewegt sich zwischen 
38,5—47,0 Gewichtsprocent des Gesammt- 
blutes, im Mittel macht sie 42,79 % aus. Bei 
der beschränkten Zahl der gemachten Ver¬ 
suche (7) ist allerdings kaum anzunehmen, 
dass wirklich die bei normalen Menschen 
möglichen Grenzwerthe durch diese Zahlen 


vollständig erschöpfend festgestellt wären. 
Ein anderer meiner Mitarbeiter, Pfeiffer, 
fand bei 6 Männern das Körperchenvolum 
zwischen 37,6 und 55,8 (Mittel: 46,1), bei 
7 Weibern zwischen 43,5 und 48,4 (Mittel: 
41,4); das Mittel sämmtlicher Werthe be¬ 
trug 43,6. Eine Verminderung der Ge- 
sammtblutmenge (Olygaemia vera) als 
länger dauernden pathologischen Zustand 
kennen wir bei Menschen überhaupt nicht. 
Falls er existirte, entzieht er sich der 
genaueren Messung. Nach Massgabe aller 
einschlägigen Untersuchungen findet hier¬ 
gegen jede klinisch beobachtete anä¬ 
mische Beschaffenheit des Blutes ihren 
Ausdruck in einer Verschiebung des rela¬ 
tiven Verhältnisses zwischen Körperchen¬ 
substanz und Plasmaflüssigkeit. Es wurde 
schon darauf hingewiesen, dass die Ab¬ 
nahme der ersteren auf Kosten der letz¬ 
teren nicht als Hydrämie bezeichnet wer¬ 
den sollte; nicht viel zutreffender ist der 
Ausdruck: seröse Plethora. Bei Plethora 
denkt man doch immer an Vermehrung des 
Gesammtinhaltes der Blutgefässe. Eine Ver¬ 
mehrung der Gesammtblutmenge ist nicht 
sicher erwiesen, bei verschiedenen Zustän¬ 
den des Menschen spricht allerdings die 
Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein 
einer Plethora vera. Zu einer Bestimmung 
derselben am (lebenden) Menschen fehlt je¬ 
doch eine allgemein verwendbare Methode. 
Hier interessirt uns aber vorwiegend bloss die 
Frage, ob bei Herzkranken durch Vermeh¬ 
rung des Serums, bezw. durch Verwässe¬ 
rung des Plasmas (eventuell durch einOedem 
der Blutzellen) bei Herzkranken die Blut¬ 
menge vermehrt wird. Die quantitative Zu¬ 
sammensetzung der Erythrocytensubstanz 
ist unter normalen Verhältnissen eine ziem¬ 
lich constante, insbesondere gleichbleibend 
erweist sich der Trockenrückstand und 
der N-Gehalt. Eine Differenz bei Män¬ 
nern und Weibern ist nicht ersichtlich. Im 
Allgemeinen bewegt sich der Gehalt an 
festen Stoffen von 33,6 bis 36,4%, der 
N-Gehalt von 5,3420 bis 5,9278 g in 100 Kör¬ 
perchensubstanz. Im Mittel beträgt der 
Trockenrückstand 35,1 %, der N-Gehalt 
5,74%. Natürlich ist auch die Relation 
zwischen Trockenrückstand und N (der 
N-Gehalt der trockenen Zellensubstanz) 
nur sehr geringen Schwankungen unter¬ 
worfen; die Grenzwerthe liegen bei 15,9 
und 16,7 o/ 0 , das Mittel beträgt 16,2%. Als 
Mittelwerth des Haemoglobingehaltes der 
feuchten Körperchensubstanz hat sich 29,8% 
ergeben; für die trockene Erythrocyten¬ 
substanz liegt der Mittelwerth bei 84,2% 
Die Schwankungen des Wassergehaltes 


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Juli 


291 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


der rothen Blutkörperchen sind nun nach 
den vorliegenden Erfahrungen unter patho¬ 
logischen Verhältnissen relativ gering zu 
veranschlagen gegenüber den Schwankun¬ 
gen des Wassergehaltes des Plasmas. Es 
empfiehlt sich deshalb doch wohl» den 
Begriff der Hydrämie ganz eng zu fassen 
und als solchen ausschliesslich den er¬ 
höhten Wassergehalt des Plasmas zu 
bezeichnen. In diesem Sinne ist übrigens 
die Hydrämie schon öfter von älteren 
Autoren (Andral und Gavarret, C. 
Schmidt) aufgefasst worden. Eine Quel¬ 
lung der rothen Blutkörperchen (Hydro- ! 
cythämie) besteht thatsächlich, z. B. bei \ 
Chlorose, wo der Wassergehalt der Ery- i 
throcytensubstanz bis gegen 20% der Norm 
zunehmen kann. Bei anderen Anämien 
finden sich gewöhnlich normal wasser¬ 
haltige rothe Blutkörperchen, dies gilt auch 
für viele Fälle von Secundäranämie bei 
M. Brightii. Die Werthe für den Gehalt 
des Serums an festen Stoffen liegen nach 
Kossler bei Gesunden zwischen 8,85 und 
9,23 %, als Mittel ergibt sich 8,99 %. Hohe 
Grade erreicht die Hydrämie in oben 
definirtem Sinne besonders in Fällen von 
chronischer Nephritis: da finden sich 
Werthe von 7,55, 6,41, 5,64% Trocken¬ 
substanz des Serums, also Verarmung an 
festen Stoffen um 37 % des Normalwerthes! 
Nächst anzureihen käme die Hydrämie in 
Fällen vorgeschrittener Lungentuberkulose 
und bei Krebskranken. Eine regulirende 
Thätigkeit eines der beiden Blutbestand- 
theile auf den Wassergehalt des andern 
unter pathologischen Bedingungen kommt, 
entgegen den Vermuthungen von A. 
Schmidt, nach den in meinem Laboratorium 
gemachten Untersuchungen durchaus nicht 
zum Ausdruck. Die osmotische Spannung 
des Blutserums beim Menschen entspricht 
im Mittel einer 0,92 % Chlornatriumlösung. 
Eine Verringerung der Molecularconcen- 
tration in einem pathologischen Falle 
spräche am ehesten für Verdünnung, eine 
Zunahme jedoch nicht mit derselben Wahr¬ 
scheinlichkeit für Bluteindickung; letztere 
kann vielmehr verschiedene Ursachen be¬ 
sitzen. 

Ich setze nun zum genaueren Vergleich 
mit dem Gesunden drei Versuchsproto- 
colle Kossler’s hierher: 

1. Johanna K., 51 Jahre alt. Insufficientia 
valvulae mitralis. (Section.) Schwere Com- 
pensationsstörung. Cyanose, starker Hydrops, 
Orthopnoö. Stauungsalbuminurie. Aderlass am 
8. August 1896, 11 Uhr Vormittags. 

Bestimmungswerthe: 5330 000 rothe 
Blutkörperchen im Kubikmillimeter. Spec. 


Gewicht des Blutes: 1055,7; spec. Gewicht des 
Serums: 1027,3. 

Trockenrückstand des Blutes (Mittel zweier 
Proben) 19,78%; Trockenrückstand des Serums 
(Mittel zweier Proben) 8,646%, 

lOOccm Blut enthalten (Mittel dreier Proben): 
3.2417 g N: lOOccm Serum enthalten (Mittel 
zweier Proben): 1,1851 g N 

Gefrierpunktserniedrigung des Serums: 
— 0,58° C. Aequimolekulare Salzlösung: 
0,95° oige NaCl-Lösung. Verdünnung zur 
Serumvolumbestimmung: 25 ccm Blut 15 ccm 
NaCl-Lösung. lOOccm Serum-Kochsalzmischung 
enthalten (Mittel zweier Proben) 0.5940 g N. 

Extinktionskoefficient (G1 a n ’s Spectrophoto- 
meter) bei 150facher Verdünnung: * = 0,7990306. 

Berechnete Werthe: 100 ccm Blut ent¬ 
halten 60,3 ccm Serum; 100 g Blut enthalten 
58.7 g Serum und 41,3 g Körperchen. 

100 g Blut enthalten 19,776 g feste Stoffe, 
davon 5,073 g im Serum und 14,703 g in den 
Körperchen, somit enthalten 100 g feuchte Kör¬ 
perchen 35,57 g feste Stoffe. 

100 g Blut enthalten 3.0705 g N, davon 
0,6768 g im Serum und 2,3937 g in den Kör¬ 
perchen, also enthalten 100 g Serum: 1,1536 g N, 
100 g feuchte Körperchen 5,8050 g N, 100 g 
trockene Körperchen 16.3 g N. 

Hämoglobingehalt des Blutes 13,85%, der 
feuchten Körperchen 33,5%, der trockenen 
Körperchen 94%. 

2. Caroline B„ 53 Jahre alt. Stenosis ostii 
venosi sin. (Section). Schwere Compensations- 
störung. Cyanose, starker Hydrops, Orthopnoö. 
Aderlass am 26. October 1896, 5 Uhr Nach¬ 
mittags. 

Bestimmungswerthe: 6256 000 rothe 
Blutkörperchen im Kubikmillimeter. Spec. 
Gewicht des Blutes: 1058,3; spec. Gewicht 
des Serums: 1028,3. 75% Hämoglobin nach 

v. Fleischl. 

Trockenrückstand des Blutes (Mittel zweier 
Proben) 20,65%; Trockenrückstand des Serums 
(Mittel zweier Proben): 8,82%. 

lOOccm Blut enthalten (Mittel dreier Proben): 
3,5371 g N; 100 ccm Serum enthalten (Mittel 
zweier Proben): 1,2987 g N. 

(Isotonie der rothen Blutkörperchen nach 
v. Li mb eck = 0,525 %ige NaCl-Lösung.) Ver¬ 
dünnung zur Serumvolumbestimmung: 40 ccm 
Blut -f 20 ccm NaCl-Lösung). 100 ccm Serum- 
Kochsalzmischung enthalten (Mittel zweier 
Proben) 0,72863 g N. 

Berechnete Werthe: 100 ccm Blut ent¬ 
halten 64,1 ccm Serum; 100 g Blut enthalten 
62,3 g Serum und 37,7 g Körperchen. 

100 g Blut enthalten 20,65 g feste Stoffe, 
davon 5,498 g im Serum und 15,152 g in den 
Körperchen, somit enthalten 100 g feuchte 
Körperchen 40,2 g feste Stoffe. 

100 g Blut enthalten 3,2929 g N, davon 
0,7856 g im Serum und 2,5073 g in den Kör¬ 
perchen, also enthalten 100 g Serum: 1,2611 g N, 
100 g feuchte Körperchen: 6,6507 g N, 100 g 
trockene Körperchen: 16,5 g N. 


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31 * 

Drigii M fron 

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292 


Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


3. Josefa G., 45 Jahre alt. Stenosis ostii 
venosi sin. (Section.) Schwere Compensations- 
störung. Cyanose, Hydrops. Orthopnoe. Stau¬ 
ungstumoren der Leber. Milz, Stauungsalbumin¬ 
urie. Aderlass am 25. Juli 1895, 9 Uhr Vor¬ 
mittags. 

Bestimmungs werthe 6100000 Blut¬ 
körperchen im Cubikmillimeter; 65% Hämo¬ 
globin nach v. Fleischl. Spec. Gewicht des 
Blutes: 1050,8; spec. Gewicht des Serums: 
1026.3. 

Trockenröckstand des Blutes (Mittel zweier 
Proben): 17,60%; Trockenrückstand des Serums 
(Mittel zweier Proben): 8,05%. 

100 ccm Blut enthalten (Mittel zweier Pro¬ 
ben): 2,9075 g N; 100 ccm Serum enthalten 
(Mittel zweier Proben) 1,1480 g N. 

(Isotonie der rothen Blutkörperchen nach 
v. Limbeck = 0,525%ige NaCl-Lösung.) Ver¬ 
dünnung zur Serumvolumbestimmung: 35 ccm 
Blut + 20 ccm Na CI-Lösung. 100 ccm der 
Serum-Kochsalzlösung enthalten (Mittel zweier 
Proben): 0,6040 g N. 

Berechnete Werthe: 100 ccm Blut ent¬ 
halten 63,4 ccm Serum; 100 g Blut enthalten 
61,5 g Serum und 38,5 g Körperchen. 

100 g Blut enthalten 17,60 g feste Stoffe, 
davon 4,95 g im Serum und 12,65 g in den 
Körperchen, somit enthalten 100 g feuchte 
Körperchen 32,8 g feste Stoffe. 

100 g Blut enthalten 2,7481 g N, davon 
0,6884 g im Serum und 2,0597 g in den Körper¬ 
chen, also enthalten 100 g Serum: 1,1186 g N, 
100g feuchte Körperchen: 5.3415gN und 100g 
trockene Körperchen: 16,2 g N. 

In den ersten beiden Fällen entspricht 
trotz starker Venostasis und Hydrops die 
Zusammensetzung der rothen Blutkörper¬ 
chen vollständig in allen Werthen der 
Norm. Im zweiten Falle erscheinen Trocken¬ 
rückstand und N-Gehalt sogar um ein ge¬ 
ringes erhöht. Auch das Serum der beiden 
ersten Fälle bietet normale Verhältnisse 
dar. Es bestand somit in denselben keine 
Hydrämie. Im dritten Falle weicht die 
Zusammensetzung der rothen Blutkörper¬ 
chen etwas von der normalen ab, die 
Erythrocyten enthalten etwas mehr Wasser 
und sind dementsprechend N-ärmer. Auch 
das Serum dieses Blutes zeigt einen leichten 
Grad von Hydrämie. 

Die Zahl der untersuchten Fälle ist aller¬ 
dings eine geringe. Eine Beantwortung der 
strittigen Fragen über die Abhängigkeit des 
Hydrops und der Hydrämie von einander, 
über das passagere Auftreten von Hydrämie 
im Verlaufe der Resorption grosser Trans¬ 
sudate würde grosse Versuchsreihen er¬ 
fordern. Jedenfalls zeigen aber die mit der 
nöthigen Genauigkeit und Vollständigkeit 
durchgeführten Versuche Kossler’s soviel, 
dass bei schweren Herzerkrankungen mit 
Stauung und Wassersucht die Zusammen- 

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Setzung des Blutes als Ganzes, wie auch 
diejenige des Serums und der Erythro- 
cytensubstanz, keine Anomalien aufzuweisen 
braucht. Selbst wenn für eine Reihe von 
Kranken mit stark decompensirten Herz¬ 
fehlern eine Hydrämie angenommen werden 
müsste, ist es nach Allem mindestens recht 
unwahrscheinlich, dass bei Herzkranken 
Schwankungen der Blutmasse resultiren, 
welche die Füllungen der Kammern wesent¬ 
lich vergrössern und die Ansprüche an 
deren musculäre Leistungen beträchtlich 
steigern würden. Es ist dies umsoweniger 
anzunehmen, als auch der Blutdruck inner¬ 
halb gewisser Grenzen unabhängig scheint 
von der wechselnden Gesammtblutmenge. 

Ein Vergleich der in dieser Beziehung 
als maassgebend geltenden Arbeiten unter 
einander (Stintzing-Gumprecht, Maxon, 
Askanazy) ist nicht leicht möglich. Wich¬ 
tiger als dielncongruenz der Versuchsergeb¬ 
nisse fällt der Umstand ins Gewicht, dass 
die angewandten Methoden keine sichere 
Auskunft über eine vorhandene Hydrämie 
zu geben im Stande sind, weil schon eine 
Verminderung des Volums der Erythro- 
cytensubstanz den Wassergehalt des Ge- 
sammtblutes erhöht und eine solche con- 
comitirende Verschiebung des Volums der 
beiden Blutbestandtheile durch die Zählung 
der Erythrocyten, bezw. durch Bestimmung 
des Hämoglobins nach v. Fleischl doch 
nicht genügend ausgeschlossen wird. 

Es scheint nur noch wichtig, wenigstens 
tabellarisch eine Reihe von Blutgefrier¬ 
punkten Herzkranker hier anzuführen (siehe 
Tabelle S. 293). 

Aus diesen Zahlen würde hervorgehen, 
dass bei incompensirten Herzfehlern die 
Gefrierpunktserniedrigung des Blutes ab¬ 
norm gross ist. Der Begriff Hydrämie 
müsste sonach eine weitere Einschränkung 
erfahren, es bliebe bloss übrig die Ver¬ 
armung des Trockenrückstandes an be¬ 
stimmten werthvollen Stoffen, z. B. Hyp- 
albuminämie; die allgemeine moleculare 
Concentration der Lösung verhält sich da¬ 
bei normal oder sie ist sogar merklich ge¬ 
stiegen. Sehr wahrscheinlich ist eine solche 
Erhöhung des osmotischen Druckes im 
Blute Herzkranker auf Kohlensäureretention 
zu beziehen. Die Steigerung der Wasser¬ 
verdunstung aus den Lungen infolge der 
Dyspnoe, die Beschränkung der Diurese 
wegen des hohen venösen Druckes, die 
consecutige Niereninsufficienz, geänderte 
osmotische Beziehungen zwischen Lymph- 
und Blutgefässen sind zwar nicht zu unter- 1 
schätzende Momente, geben aber hier wohl j 
kaum den Ausschlag. , 

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Juli 


293 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Diagnose 

A des Serums 

A des Harns 

Autor 

Degeneratio adiposa musculi cordis. Kein Hydrops 
Insuff. valv. bicuspid., stenos. ostii venös, sin. Kein 

— 0,61 

-1,37 

A. v. Koranyi 

Hydrops. Zweiter Tag der Digitaliswirkung . . . 

Insuff. valv. bicusp. Grosse Anämie, mässige 
Dyspnoe, geringe Cyanose, etwas ai hythmischer 

— 0.62 

- 1,90 

n 

Puls. Kein Hydrops. 

Insuff. valv. bicusp. Geringe Dyspnoe. Geringer 
Hydrops. Die Diurese stellte sich während indiffe* 

— 0,53 

— 1,93 

n 

renter Behandlung ein. 

— 0,59 

— 1,78 

— 1,34 

n 

Insuff. valv. aortae. Dyspnoe. Geringer Hydrops . 
Insuff. valv. aortae. Stenosis ostii arteriös, sin. Ge¬ 

— 0,59 

— 1,58 

” 

ringer Hydrops. Albuminurie. 

— 0,55 

— 1,86 

w 

Insuff. val. bicuspidalis. 

Insuff. valv. bicuspidalis. Stenosis ostii venös, sin. 

— 0,62 

— 1,73 

» 

Geringe Cyanose, kein Hydrops, Athembeschwerden 
Congenitale Cyanose, ohne wesentliche Stauung im 

— 0,67 

-2,05 

n 

grossen Kreislauf. 

— 0,69 

— 

n 

Herzkrankheit. 

- 0,585 

— 

Bousquet 

Incompensirte Mitralinsufficienz. 

— 0,570 

— 

M. Senator 

Incompensirte Mitralstenose. 

-1,099 (?) 

— 

• 

Incompensirte Aorteninsufficicnz. 

— 0.636 

— 

• 

Vitium cordis. Pleuritis. Lungeninfarct .... 

— 0,63 

— 

O. Moritz 


Viele noch vorhandene Unklarheiten 
legen es dringend nahe, mittels der von 
Kossler benutzten und der physikalisch¬ 
chemischen Methoden, sowie der quantita¬ 
tiven Analyse wenigstens einiger Mineral¬ 
stoffe (Chlornatrium) einschlägige Unter¬ 
suchungen fortzusetzen, insbesondere auch 
mit Hilfe des Thierexperimentes. 

Nach meiner Meinung müssen aber ein¬ 
schlägige theoretische Ueberlegungen noch 
weit mehr den Flüssigkeitsgehalt der 
Gewebe berücksichtigen. Wir kennen aller¬ 
dings die Verschiebung des Wassergehaltes 
der einzelnen Gewebe bei den verschie¬ 
denen Graden der Stauung und des Hydrops 
Herzkranker keineswegs ausreichend, aber 
wenigstens die vermehrte Ansammlung 
von Flüssigkeit im Unterhautgewebe, die 
Schwellungen in Folge von Störung der 
Lymphbewegung innerhalb der dehnbaren 
Maschen des Zellgewebes, sowie die Ergüsse 
in die grossen Körperhöhlen sind ja ganz 
grob sinnenfällige Symptome. Bei venöser 
Stauung kommt es zu sehr beträchtlicher 
Erhöhung des Blutdruckes im Capillar- 
system (bis auf das Vier- und Fünffache 
der Norm). Geht man von der physikali¬ 
schen Erklärung der Lymphbildung aus 
(combinirte Wirkung von Filtrations- und 
Diffussionskräften), muss man unter diesen 
Bedingungen auch schon ohne Alteration 
der Blutgefässwände eine gewaltige, wenn 
auch nicht proportionale Steigerung des 
Flüssigkeitsstromes vom Blut in die Ge- 
websspalten annehmen. Aber auch die 
umgekehrt gerichtete Strömung, die Rück¬ 
transsudation durch die Venen, wird 


wegen der begleitenden Erhöhung des 
Blutdruckes in den (kleinen, dünnwandigen, 
aber selbst auch den grösseren) Venen be¬ 
trächtlich erschwert, bezw. völlig gehemmt 
sein. Ja die Circulation der Lymphe 
erfährt noch dadurch eine Behinderung, 
dass der Druck in den Venae subclaviae, 
in welche sie einfliesst, ebenfalls gewachsen 
ist. Tritt noch zur verminderten Strom¬ 
geschwindigkeit und zur Druckerhöhung 
eine Veränderung der functionellen Eigen¬ 
schaften der Endothelhaut hinzu, wird die 
Schnelligkeit der Anasarkabildung noch 
weiter begünstigt. Oedeme, welchen ein 
Stauungsmoment im venösen Gefässgebiet 
zu Grunde liegt, müssen sich somit von 
allem Anfang an durch Ausdehnung und 
Spannung auszeichnen. Durch Nachprüfung 
der einschlägigen Versuche Länderer’s 
an hydropischen Herzkranken kann man 
sich auch meistens unschwer überzeugen, 
wie bedeutend die Zunahme der Span¬ 
nung des Unterhautgewebes werden kann. 
Durch den darauf lastenden Druck wird 
die Elasticität des Zellgewebes zu stark 
in Anspruch genommen, und in Folge 
dessen erfährt das Elasticitätsmaass eine 
Verminderung. Auch diese Veränderung 
der elastischen Eigenschaften als eine 
Begleiterscheinung, (aber nicht, wie Län¬ 
derer, will als Ursache) des Hydrops 
begünstigt noch die weitere Zunahme des¬ 
selben. Was die Gewebsflüssigkeit und 
die Gewebe physiologisch in elastische 
Spannung versetzt, ist wenigstens zu einem 
Theile der Blutdruck. Das die Gefässe 
umschliessende Gewebe trägt andererseits 


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294 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


einen Theil des Blutdruckes. Die Spannung 
der Gewebeflüssigkeiten ist eine der physi¬ 
kalisch nothwendigen Voraussetzungen für 
die Strömung des Blutes in den Capillaren. 
Und endlich stellt auch die elastische 
Spannung der Gewebe noch eine von den 
Triebkräften dar für die örtliche Flüssig- 
keits- (Lymph-) Bewegung (Länderer). 
Mittels eines Modellversuchs, welcher trotz 
seiner anscheinend fundamentalen Bedeu¬ 
tung auffallender Weise gar keine Berück¬ 
sichtigung fand, war Körner schon früher 
zu dem Ergebniss gelangt, dass jede Flüssig¬ 
keitsbewegung durch eine Gefässbahn, 
welche eine Strecke lang mit dünnhäutigen 
Wandungen versehen und hiervon einem ge¬ 
schlossenen Raum umgeben ist, dort selbst 
Transsudation (Filtration) vermittelt und un¬ 
ausgesetzt eine Vermehrung und Druck¬ 
steigerung der umgebenden Flüssigkeit be¬ 
wirkt. Diese Drucksteigerung der ausserhalb 
der Gefässbahn befindlichen Flüssigkeit wird 
entweder zum Stauungsmoment in der Ge¬ 
fässbahn selbst oder sie muss als Triebkraft 
Verwendung finden für abgehende Bahnen, 
deren Ursprung sich im Wirkungsbereiche 
dieser äusseren Flüssigkeit befindet. Sind 
derlei ableitende Bahnen gegeben, so hat 
die Triebkraft in denselben eine Bewegung 
des flüssigen Inhaltes zur Folge, wobei das 
im Innern vorhandene Druckgefälle, somit 
auch das zwischen Triebkraft und Wider¬ 
ständen bestehende Verhältniss massgebend 
wird. Ohne solche ableitende Bahnen 
aus dem Bezirk der transsudirenden Ge- 
fässe wird eine gleichmässige continuir- 
liche Flüssigkeitsbewegung in der Haupt¬ 
bahn schliesslich zur physikalischen Un¬ 
möglichkeit. Klemensiewicz hat dann 
auch noch Versuche am thierischen 
Gefässsystem angestellt und gezeigt, dass 
unter entsprechenden Bedingungen eben¬ 
falls hier die Durchleitung wie im Schema 
verläuft. Ich glaube nun, dass es hauptsäch¬ 
lich die erwähnten Untersuchungen Län¬ 
derers und diejenigen von Körner- 
Klemensiewicz sind, welche uns den 
Schlüssel liefern könnten für ein allerdings 
die Rolle der Filtration im Vergleich zu 
derjenigen der osmotischen Kräfte bei der 
Lymphbildung und Bewegung stark accen- 
tuirendes Verständniss des praktischen 
Werthes der Entwässerung für die Ent¬ 
lastung der Circulation bei decompensirten 
Herzfehlern. Es fragt sich dann nur, ob 
neben der so wirksamen Vermehrung der 
Flüssigkeitsausscheidung durch den Harn, 
nach der Haut, der Entfernung von Flüssig¬ 
keit aus den Lymphspalten durch Troi- 
carts etc. auch die einfache Beschränkung 

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der Flüssigkeitszufuhr eine in Betracht kom¬ 
mende allgemeine und speciell die Hydro- 
psien vermindernde Flüssigkeitsentziehung 
überhaupt zu bewirken vermag? Eine 
fast sanguinische Beantwortung dieser 
letzteren Frage hat bereits der gewichtigste 
Gegner Oertel's, Lichtheim, gegeben: 
Die hydropischen Erscheinungen gehen 
unter dem Einfluss der Diät (streng durch¬ 
geführte Beschränkung der Flüssigkeits¬ 
zufuhr) rasch zurück. Deswegen sei auch 
der Einfluss der Cur auf die Blutconcen- 
tration ein viel geringerer, als bei gesunden 
Individuen, bei denen er übrigens gleich¬ 
falls nur unbedeutend ausfalle. Jetzt, wo 
schon ein grösseres klinisches Beobach¬ 
tungsmaterial vorliegt, kann man wohl ab¬ 
schliessend sagen, dass uns wirklich, aber 
doch verhältnissmässig selten, Fälle be¬ 
gegnen, bei denen durch Reduction der 
Flüssigkeitsaufnahme allein (oder in Ver¬ 
bindung mit höchstens ganz kurz dauern¬ 
der und schwacher Digitalisbehandlung) 
ein Schwinden sämmtlicher Erscheinungen 
der Decompensation herbeigeführt wird. 
Häufiger sind dagegen die Fälle, wo die 
Wirksamkeit der Cardiotonica, nachdem 
dieselben bereits versagt hatten, wieder 
hervortritt, wenn gleichzeitig der Wasser¬ 
haushalt des Patienten regulirt wird. Auch 
in dieser Beschränkung aber sollte, mit 
Rücksicht auf die dargelegten theoretischen 
Unterlagen und die erwähnten klinischen 
Erfahrungsthatsachen, die Regelung der 
Flüssigkeitszufuhr nach den Ausscheidun¬ 
gen grundsätzlich immerhin eine nicht zu 
vernachlässigende Maassnahme bei der Be¬ 
handlung chronischer Herzkrankheiten dar¬ 
stellen. Wird neben im Uebrigen genügender 
Ernährung wenig (zu wenig) Wasser dar¬ 
geboten, sinkt der Flüssigkeitsgehalt der 
Organe und Gewebe. Was dieser diäteti¬ 
schen Beeinflussung des Wasserhaushaltes, 
welche allerdings, wenn sie sich gegen den 
(einseitigen) Durst bei gleichzeitiger Auf¬ 
nahme von verhältnissmässig viel trockenen 
Nahrungsmitteln kehrt, einen starken Ein¬ 
griffbedeutet, gegenüber anderen therapeu¬ 
tischen Methoden, mittels deren wir den 
Organismus der Herzkranken von über¬ 
schüssiger Flüssigkeit befreien können, 
welche sich in den Geweben angesammelt 
hat, vor Allem denjenigen, bei denen eine 
Steigerung der Ausscheidungen (Nieren, 
Haut, Lungen) maassgebend ist oder bei 
denen Flüssigkeit direkt den Lymphspalten 
entzogen wird, an momentaner Leistungs¬ 
grösse abgeht, könnte sie vielleicht in Be¬ 
zug auf die Möglichkeit dauernder Durch¬ 
führung voraushaben. 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


295 


Die Indication zu einer (stärkeren) Ein¬ 
schränkung der Wasserzufuhr sollte sich 
im Sinne der vorstehenden Darlegungen 
nicht mehr danach richten, ob „hydrä- 
mische Plethora“ oder ob Hypalbuminämie 
besteht Dieselbe würde vielmehr bestimmt 
gegeben sein, sobald Flüssigkeitsretention 
in Folge von Stauung im grossen Kreislauf 
beginnt oder, bei schon bestehendem Hy¬ 
drops, zunimmt, beziehungsweise, wenn 
ein erreichtes Gleichgewicht im Flüssig¬ 
keitswechsel des Organismus neuerdings 
gestört wird. Von vornherein muss uns 
jedoch dabei klar sein, dass es nicht 
Wasser ist, was im Körper zurückbleibt, 
sondern eine, unter Umständen hyper¬ 
osmotische, Salzlösung die Säftemasse ver¬ 
mehrt, in welcher der Eiweissgehalt relativ 
abnimmt Die dem Verfahren zu Grunde 
liegende Absicht kann in erster Linie nur 
die Heranziehung der überschüssigen Ge¬ 
websflüssigkeit zu den Ausscheidungen 
sein, erst indirect, in zweiter Linie die Er¬ 
höhung der Geschwindigkeit der Blut¬ 
strömung am Uebergang des Capillar- ins 
Venensystem. 

Es wird nach dem Bisherigen sich kaum 
Jemand darüber täuschen, dass die Be¬ 
einflussung des Wasserhaushaltes bei der 
Behandlung decompensirter Herzfehler nur 
einen bescheidenen Platz als Glied einer 
Reihe das gleiche Ziel erstrebender Maass¬ 
nahmen beanspruchen darf. Der grösste 
Uebelstand für eine Uebertragung des Ver¬ 
fahrens in die Praxis ist, dass wir über¬ 
haupt eine genaue Kenntniss der Wasser¬ 
bilanz Herzkranker nicht besitzen und dass 
wir im Einzelfall gegenüber den etwa ver¬ 
ursachten subjectiven Beschwerden (Durst) 
leicht in Verlegenheit gerathen können, 
wenn wir den objectiven Erfolg der Flüssig¬ 
keitsbeschränkung erwägen sollen. Der 
Körper verliert beständig Wasser durch 
den Harn, den Koth, durch Verdunstung 
an der Haut und aus den Lungen. Der 
Wasserverlust ist aber bei demselben In¬ 
dividuum je nach den Umständen sehr ver¬ 
schieden. Für die Wasserausscheidung im 
Harn wird neben der Grösse der Wasser¬ 
zufuhr auch die Menge der in den Nieren 
eliminirten Stoffe bestimmend sein, für die 
Excretion durch Haut und Lungen die 
Aussentemperatur, die Feuchtigkeit und 
Bewegung der umgebenden Luft, die Be¬ 
schaffenheit der Haut und die Zahl der 
Athemzüge etc. Deshalb lassen sich nur 
schwer bestimmte Werthe für die Abgabe 
und die Zufuhr von Wasser aufstellen. 
Nur sind wohl unter gewöhnlichen Lebens¬ 
verhältnissen die Verschiedenheiten im 


Wasserconsum wenigstens vorwiegend von 
der wechselnden Wasserverdunstung an 
der Haut abhängig. Ob und inwieweit der 
pathologische Zustand beim decompensir- 
ten Herzkranken eine Verschiebung der 
Betheiligung der einzelnen Organsysteme 
an der Wasserausscheidung (speciell auf 
dem sogenannten insensiblen Wege) ver¬ 
ursacht, darüber sind wir gegenwärtig 
durchaus nicht genügend unterrichtet. Einen 
wirklichen Einblick in die Grösse des 
Wasserumsatzes besonders bei Herzkran¬ 
ken besitzen wir dermalen überhaupt kaum. 
Daraus geht zur Genüge hervor, wie be¬ 
denklich es wäre, nach den auf Vergleich 
der Nahrungs- und Harnwassermengen 
beruhenden O er tel’ sehen „Differenz¬ 
bestimmungen“ die Grösse der Flüssig¬ 
keitsretention einzuschätzen. 

Den Anhaltspunkt für die beginnende 
Nothwendigkeit, den Wasserhaushalt Herz¬ 
kranker unter Berücksichtigung der in der 
Nahrung zugeführten (bezw. auch der im 
Stoffwechsel resultirenden) Molen und des 
Wasserquantums zu beeinflussen, möchte 
ich deshalb auch in der Praxis mehr 
in der Ursache des Oedems, in einer ge¬ 
wissen Höhe der Stauung im grossen Kreis¬ 
lauf, suchen. Indem ich einem ähnlichen 
Gedankengange A. v. Koranyi’s folge, 
glaube ich einen passenden Maasstab in 
der vollständigen osmotischen Analyse 
(kryoskopische Untersuchung und Fest¬ 
stellung der elektrischen Leitfähig¬ 
keit) des Stauungsharns, sowie in der 
quantitativen Bestimmung einzelner wich¬ 
tiger Harnbestandtheile (N,NaCl) gefunden 
zu haben. Der Factor A. v. Koranyi’s 

empfiehlt sich deshalb weniger, weil 

bei pathologisch geringer Ausscheidung 
der Elektrolyte nach den Untersuchungen 
A. Steyrer’s die Verminderung der Leit¬ 
fähigkeit nicht einfach parallel geht mit 
dem Werth für Na CI. Dagegen möchte ich 
Ce 

in der Relation (C = Gesammtconcen- 

tration in Molen, Ce = Concentration der 
Elektrolyte) einen annähernd brauchbaren 
Gradmesser der renalen Stauung sehen, 
sofern N und Na CI jeweilig mit bestimmt 
Ce 

werden (^v geht nicht immer der Relation 

parallel!), und nicht die bloss ein¬ 
malige Feststellung dieser Werthe, sondern 
Beobachtungsreihen mit Berücksichtigung 
der Zufuhr zu Grunde gelegt wird. Die 
theoretische Unterlage für diesen Maass¬ 
stab der Schätzung finde ich in folgenden 


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296 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


Thatsachen und Ueberlegungen. Auch bei 
bestehenden schweren Compensations- 
störungen ist zunächst die Gesammtmolen- 
ausscheidung Herzkranker eine verhältniss- 
mässig hohe, die Nieren sind in dieser Be¬ 
ziehung innerhalb gewisser Grenzen suffi- 
cient. Die Verlangsamung der Blutströmung 
in den Nieren und des Secretes in den Harn- 
canälchen muss den resorptiven Austausch 
zwischen dem zu Harn sich umbildenden 
Glomerulusfiltrat und dem Nierenvenenblut 
begünstigen. Der Austausch betrifft aber 
naturgemäss hauptsächlich die Elektrolyte, 
da die N-haltigen Molecüle etc. durch spe- 
cifische celluläre (Drüsen-)Thätigkeit in den 
Harn gelangen. Wichtiger vielleicht als 
diese Ueberlegung ist die Erfahrungsthat- 

Ce 

Sache, dass der Quotient ^ sowohl bei 

Digitalis- als bei Calomeldiurese zu wachsen 
pflegt, und während der Compensations- 
störung auffallend klein werden kann. Die 

Ce 

Aenderung der Relation ^ ist ein Sym¬ 
ptom, welches, sobald die Mittel des Or¬ 
ganismus für die Erhaltung einer normalen 
Circulationsgeschwindigkeit nicht mehr aus¬ 
reichen, die Diagnose früher gestattet, als 
die anderen Merkmale des sog. Stauungs¬ 
harns (insbesondere auch als das Wachsen 
seiner Molecularconcentration). Vielleicht 
lässt sich, behufs frühzeitiger Erkennung 
der Stauung, noch ein Behelf v. Koranyi’s, 
die Muskelanstrengung, heranzuziehen. Die 
Herabsetzung der Gesammtmolenausschei- 
dung bedeutet eine Complication. Von Be¬ 
deutung wird ferner die Feststellung des 
gleichen Verhältnisses im Blutplasma des¬ 
selben Patienten sein. Besteht auch nicht 
annähernd Proportionalität zwischen den 
Gliedern dieser Relationen, wird der Urin 
verhältnissmässig gegenüber dem Serum 
elektrolytenärmer, ist dies gleichbedeutend 
mit Flüssigkeitsretention im Organismus des 
Kranken. Bei stationärem Hydrops, wenn 
gerade wieder ein gewisses Gleichgewicht im 
Flüssigkeitswechsel des Organismus erreicht 
ist, kann jene Proportionalität vorhanden 
sein. Wächst der Hydrops jedoch neuer¬ 
dings, kommt auch die Aenderung der Re- 
Ce 

lation -£ als Indicator wieder zur Geltung. 

Man kann aus solchen Bestimmungen 
natürlich nicht einfach schliessen, dass der 
Patient zuviel Wasser getrunken hat. Man 
erfährt bei Berücksichtigung aller Lebens¬ 
bedingungen des Patienten höchstens so¬ 
viel, dass er sich nicht der Leistungsgrösse 
seines Herzens entsprechend verhalten 
haben muss. Dagegen erkennt man ver¬ 


hältnissmässig sicher und frühzeitig den 
Moment, in welchem die Störung zur Bil¬ 
dung von Oedemen Anlass giebt, in wel¬ 
chem also auch (selbstverständlich neben 
entsprechenden anderweitigen diätetischen 
Maassnahmen) eine Regelung des Wasser¬ 
haushaltes in’s Auge zu fassen ist. 

Wenn man bei dieser Art des functio- 
nell-diagnostischen Vergehens sich auf die 
Ergebnisse der osmotischen Analyse stützt, 
könnte man, mit Rücksicht auf den Um¬ 
stand, dass bei Herzkranken mit Compen- 
sationsstörungen an und für sich schon 
hohe (abnorm hohe) osmotische Drucke des 
Blutes gegeben sind (vergl. oben), princi- 
pielle Bedenken tragen, mit Flüssigkeits¬ 
entziehung überhaupt und Beschränkung 
der Wasserzufuhr im Speciellen vorzu¬ 
gehen. Es ist auch wirklich von verschie¬ 
denen Seiten die Befürchtung ausgesprochen 
worden, dass Wasserentziehung eine be¬ 
reits bestehende Anomalie künstlich stei¬ 
gert, bezw. die schon vorhandene Erhö¬ 
hung der Molecularconcentration der Säfte¬ 
masse noch stärker macht. Auf Grund 
eigener experimenteller Erfahrung kann ich 
aber dem gegenüber bestimmt aussagen, 
dass wenigstens der normale thierische 
Organismus auf Flüssigkeitsentziehung nicht 
in solcher Weise reagirt. Die Molecular¬ 
concentration der Mäuse z. B. erweist sich 
als auffallend constant, und die Thiere 
halten an der Concentration ihrer Lösung 
ausserordentlich zähe fest. Durch Heiss¬ 
luftbehandlung entzog ich Mäusen den 
10. Theil ihres Lebensgewichtes an Flüssig¬ 
keit und schliesslich zeigte ihr Presssaft 
eine Gefrierpunktserniedrigung, deren Werth 
nahe der unteren Grenze der Norm stand. 
Ebenso, wie also im Körper nicht Wasser 
sondern eine Salzlösung retinirt wird (vgl. 
oben), wird durch die Ausscheidungsorgane 
auch nicht Wasser, sondern eine Salzlösung 
entfernt. Natürlich ist das Festhalten an der 
Eigenconcentration an die Intaktheit jener 
Organe geknüpft, und ihre Unversehrtheit 
muss nicht in allen Fällen von decom- 
pensirten Herzfehlern vorhanden sein. Von 
vornherein ist aber auch keine Insufli- 
cienz der Ausscheidungsorgane anzu¬ 
nehmen. Gleichzeitige moleculare Oligurie 
und Wachsen der osmotischen Spannung 
des Blutes wäre unter diesen Bedingungen 
ein kaum zu übersehendes WarnungssignaL 

Eine Schwierigkeit für die Einführung 
der osmotischen Analyse des Harns in die 
Praxis besteht gegenwärtig wohl nicht mehr. 
Schröpf blut ist nicht geeignet für die Fest¬ 
stellung der einschlägigen Constanten; das 
Blut müsste hierzu einer Vene direkt ent- 


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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


297 


nommen werden. Eine Venaesection wäre tion auch dauernd höher einstellen. Diesen 
aber unter diesen Bedingungen nicht bloss Fällen gegenüber steht eine grosse Zahl 
eine diagnostische Maassregel, sondern (statistische Angaben kann ich leider nicht 
hätte auch eine gewisse therapeutische machen) solcher, bei deren wir unter sonst 
Berechtigung, denn es ist durch Starling gleichen diätetischen Bedingungen keine 
wenigstens sehr wahrscheinlich gemacht, günstige Schwankung der Harnausscheidung 
dass das Blut nach Aderlässen eine (massige) beobachten. Bei mittlerer Erhöhung oder 
Flüssigkeitszunahme aufweisst, welche auf Beschränkung der Einnahmen erscheint an 
Resorption durch die Blutcapillaren (kleine nähernd die gleiche Menge Urin. Höchstens, 
Venen) zurückzuführen ist. dass eine starke Erhöhung der Wasser- 

Natürlich ist es aber ein dringendes aufnahme einen Ausschlag bewirkt im 
wissenschaftliches Postulat, etwa mittels der Sinne einer erheblicheren Verminderung 
von Rubner und seinen Schülern entwor- des Harns im Vergleich zu der Einnahme, 
fenen Methoden ein ausreichendes That- und eine bedeutende Reduction der letz¬ 
sachenmaterial über den gesammten Wasser- teren eine Schwankung im Sinne eines 
Wechsel im Organismus decompentierter noch weiteren Herabsinkens der Urin- 
Herzkranken zu sammeln. Erst bis wir ausscheidung. 

über ein solches verfügen, wird sich zeigen, Die Ursache dieser häufigen Misserfolge 
inwieweit wir auch im klinischen Einzelfall mag zum Theil darin begründet sein, dass 
von diesen Methoden profitieren können, die Herzkraft vieler Patienten bereits zu 
Grob sinnenfällige Oedeme oder die tief gesunken ist. Dies legt uns nahe, 
angeführten functionell-diagnostischen Kri- neben der diätetischen Beeinflussung des 
terien lassen uns rechtzeitig, selbst prae- Wasserhaushaltes auch rechtzeitig die Car- 
ventiv, die Indication zur Beeinflussung diotonica heranzuziehen. Aber geringe 
des Wasserhaushaltes Herzkranker auf- Leistungsgrösse des Herzens ist gewiss 
stellen. Aber sie liefern uns im Einzel- nicht der einzige Grund des Misslingens. 
fall keinen speciellen Anhaltspunkt, mit Bei der Bildung der Gewebeflüssigkeit 
welcher Methode der Flüssigkeitsentziehung handelt es sich um eine unter Druck 
wir reussiren werden, ob nicht von vorne- stehende Flüssigkeit, welche durch eine 
herein einer Reduction der Wasserein- poröse Scheidewand in einen mit eben¬ 
nahmen viel besser die Flüssigkeitsent- falls unter Druck stehender Flüssig¬ 
ziehung durch Erhöhung der Harnmenge, keit erfüllten Raum hineingepresst wird, 
durch Ausscheidung an der Haut, durch Ausser der Grösse des endocapillären 
mechanische Eröffnung der Lymphspalten Druckes, der Permeabilität des Endothel- 
etc. vorzuziehen ist. (Höchstens die mittels rohrs, dem osmotischen Druck des Blut- 
osmotischer Analyse des Harns oder gar plasmas kommt also für die Bildung und 
durch starke Albuminurie und Cylindrurie die (locale) Bewegung der Lymphe noch 
constatirte Insufficienz der Nieren lässt in Betracht: die chemische Beschaffenheit, 
sofort von einer diätetischen Beeinflussung bezw. der jeweilige osmotische Druck der 
des Wasserhaushaltes wenig erhoffen.) Gewebszellen, die Permeabilität der Zellen 
Schon daraus geht hervor, dass wir uns der verschiedenen Gewebe, die mit der 
hier nicht, wie es eine Zeitlang die thera- Arbeit der Organe schwankende Grösse 
peutische Mode unter Compromittirung des des Gewebsdruckes, welcher seinerseits 
Verfahrens mit sich brachte, an ein Schema mit die Differenzen der osmotischen Span¬ 
halten dürfen. Die bei der Beschränkung nung der Gewebsflüssigkeiten bewirkt, und 
der Wasserzufuhr an Herzkranken ge- manches andere. Ob hier Filtration oder 
machten praktischen Erfahrungen lehren, osmotische Kräfte überwiegen, ist gegen- 
dass es Fälle mit Stauung, bereits mani- wärtig für alle Fälle nicht leicht zu ent- 
festen Oedemen und selbst merklich verrin- scheiden. Wahrscheinlich aber liegt es 
gerter Harnmenge giebt, in welchen nach am complicirten Getriebe der letzteren, 
Reduction der Wassereinnahmen eine mehr wenn das Blut decompensirter Herzkranker 
oder weniger erhebliche procentische Zu- bei vorhandener Leistungsfähigkeit der 
nähme der Urinsecretion erfolgt. Selbst Ausscheidungsorgane sein Bedürfniss nach 
bei schon ausgedehnten, mächtigen Hydro- Wasser nicht immer durch Resorption aus 
psien tritt manchmal, wenn ausreichende den übernormal von Salzlösung durch- 
Herzkraft vorhanden und die Leistungs- tränkten Geweben des Körpers zu be- 
fähigkeit der Nieren erhalten, nicht unbe- friedigen vermag. 

deutend vermehrte Harnausscheidung auf. Solche Erfahrungen nöthigen uns, von 
Wird die Wasserreduction längere Zeit vornherein die diätetische Beeinflussung 
aufrecht erhalten, kann sich die Urinsecre- des Wasserhaushalts der decompensirten 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


Herzkranken vorwiegend als Präventiv¬ 
maassregel anzusehen, neben der Regelung 
der Wassereinnahmen immer auch die an¬ 
deren Methoden der Flüssigkeitsentziehung 
entsprechend zu verwerthen und überhaupt 
immer wieder in jedem Einzelfall zu pro- 
biren. Als Anhaltspunkt für den Effect 
der Reduction des zugeführten Wassers 
kann man neben dem alsbald hervortreten- 

Ce 

den Wachsen der Relation ^ im Harn 

mit Vortheil unter den nöthigen Cautelen 
(längere Beobachtung, Berücksichtigung 
der Art, bezw. Gleichartigkeit der festen 
Nahrung etc.) die Oer tel’sehe Differenz¬ 
bestimmung benutzen. Diese Bestimmung 
des Differenzverhältnisses zwischen Flüssig¬ 
keitsaufnahme und Ausscheidung liefert uns 
(vgl. oben) kein zuverlässiges Maass der 
Flüssigkeitsretention im Körper, aber sie 
lehrt uns, obwohl daneben gewiss in nicht 
genau ermitteltem Grade die Perspiratio 
inversibilis abnimmt, wenigstens annähernd 
quantitativ, in wie weit wir im Einzelfall 
erfolgreich mit (stärkerer) Reduction der 
Wassereinnahme vorgegangen sind. 

Von Gesunden wird ungefähr 20—35% 
weniger Harn ausgeschieden, als Wasser 
aufgenommen wurde. Theils der Flüssig¬ 
keitsgehalt der festen Speisen, theils ver¬ 
schiedene äussere Bedingungen (nach 
Tripold besonders klimatische Factoren) 
beeinflussen positiv oder negativ diesen 
Unterschied. Vielleicht spielt endlich hier 
noch eine gewisse Periodicität mit. Die 
Methode der Differenzbestimmung findet 
sich in den einschlägigen SchriftenO er tel’s. 
Beim normalen Individuum hat A. Dennig 
die Bedeutung starker Schwankungen der 
Wasserzufuhr näher zu erforschen gesucht. 
Nach Herstellung von N - Gleichgewicht 
legte er bei ausgiebiger Calorienzufuhr 
seinen Versuchspersonen tagelang ener¬ 
gische Flüssigkeitseinschränkung auf. Ich 
schliesse hier zunächst eine kurze Zu¬ 
sammenstellung der Versuchsergebnisse 
Dennig’s, soweit sie die Grösse der Harn¬ 
ausscheidung betreffen, an: 

Versuchsperson A: 20jähriger gesunder 
Mann, 175 cm lang, gracil gebaut, sehr mager 
(64 kg schwer), nahm bei dauernder Bettruhe, 
den Wassergehalt der Nahrung eingerechnet, 
durch 


Versuchsperson B: 26jähriges, gesundes 
Weib, 147 cm lang, 57,4 kg schwer, nahm durch 


7 Tage täglich 2070 ccm und schied aus 55,2% 
7 „ „ 381 „ „ „ * 147,0 „ 

5 „ „ 2070 „ „ „ , 46,0, 

Versuchsperson C: 38jähriger, gesunder 
Mann, 172 cm lang, 86 kg schwer, nahm durch 

6 Tage täglich 2360 ccm und schied aus 49,0% 

6 „ „ 550 „ „ „ B 111;0 „ 

6 w » 1850 n n n rr 52,6 9 

Versuchsperson D: 23jähriger, gesunder 
Mann, 168 cm lang, 93,2 kg schwer, war ausser 
Bett und machte leichte Bewegung im Zimmer. 
Er nahm durch 

6 Tage täglich 2415 ccm und schied aus 71,0% 
6 n n n n n n 172,7 „ 

6 * „ 2415 „ „ „ 68,8 „ 

Es überstiegen sonach in der Durstzeit 
die Flüssigkeitsausgaben durch den Harn die 
Wassereinnahme um ein bedeutendes (173%, 
172,70/o. 163,1 %, 140,7% und 111%). Die 
Untersuchungsresultate Dennig’s hinsicht¬ 
lich des Verhaltens des gesammten Körpers, 
insbesondere des Stoffwechsels, lassen sich 
in folgenden Sätzen kurz zusammenfassen: 
das Allgemeinbefinden leidet bei starker 
Wasserreduction (von 2000—6001), nament¬ 
lich giebt sich steigender Widerwille gegen 
feste Nahrung kund. Das Körpergewicht 
nimmt rapid ab. Die Arterienspannung 
lässt nach. Hämoglobingehalt und Zahl 
der Blutkörperchen ändern sich nur un¬ 
erheblich. Dagegen soll das Plasma ein¬ 
gedickt werden (Trockenrückstand, spec. 
Gewicht). Während der Zeit der Wasser¬ 
entziehung und in den unmittelbar folgen¬ 
den Tagen ist die ausgeschiedene N-menge 
absolut und relativ grösser als in der Vor¬ 
periode. (tiweisszerfall, zeitweilige Re¬ 
tention der Zerfallsproducte). Hinsichtlich 
der Körperwärme tritt eine Tendenz zum 
Ansteigen hervor. Die Perspiratio insensi- 
bilis nimmt von Tag zu Tag ab und steigt 
in der folgenden Trinkperiode wieder an. 
Das in der Durstperiode verlorene Wasser 
wird gedeckt durch Flüssigkeitsverarmung 
der Gewebe sowie durch Verbrennung 
von Eiweiss und Fett. Bei Personen, welche 
kurz nach Beendigung einer ersten Wasser¬ 
entziehung (nach Wiederbeschickung des 
Körpers mit Flüssigkeit) eine zweite folgen 
lassen, tritt für einige Zeit Gewöhnung ein. 
Dass wir diese Versuchsergebnisse Den- 
ning’s (vorausgesetzt übrigens, dass sie 
sich sämmtlich bestätigen lassen), auch nur 

57,0 o/ 0 
163,0 „ 

63,9 „ 

173,0 „ 

89,0 „ 

hinsichtlich der Flüssigkeitsausscheidung 
in der Durstperiode nicht einfach vom Ge- 


6 Tage täglich 2150,0 ccm und schied hiervon aus im Harn 

6 v » 533,0 „ „ „ „ „ „ 0 

6 tt ft 2441,6 nt, tt tt V n ff 

5 „ „ 580,0 „ „ n „ „ „ n 

6 »* n 2330,0 n ff tt » v ft n 


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Original fro-m 

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Juli 


299 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


sunden auf den Herzkranken übertragen 
dürfen, bedarf nach dem früher Dar¬ 
gelegten keiner weiteren Ausführung. 

Wenden wir uns nunmehr zusammen¬ 
fassend nochmals der Frage zu, welche 
praktischen Erfolge und welche Nach¬ 
theile hat das Trockenregime bei Herz¬ 
kranken? Gegenüber der grossen Zahl von 
ausgezeichneten Kritiken der theoretischen 
Unterlagen des Verfahrens (Bamberger, 
Lichtheim, in jüngster Zeit mit beson¬ 
derer Sachkenntnis und Gründlichkeit 
Krehl) ist die Publikation einschlägiger 
praktischer Erfahrungen eine auffällig ge¬ 
ringe. Ich selbst übte das Verfahren in 
sehr vielen Fällen, seitdem ich nach Graz 
gekommen (1894), wo es seit Körner all¬ 
gemein üblich war. Nehme ich aus den 
Berichten OerteFs und Glax’ den viel¬ 
leicht zu warm-positiven Gefühlston fort, 
kann ich nicht umhin, dieselben theil- 
weise zu bestätigen. Auch schon alleinige 
Flüssigkeitsreduction wirkt, allerdings mit 
starker Inconstanz und bloss bis zu einem 
gewissen, meist nicht sehr hohen Grad, bei 
decompensirten Herzkranken flüssigkeits¬ 
entziehend, bezw. diuresevermehrend. Ich 
füge sofort hinzu, dass ich die diätetischen 
Maassnahmen nur ausnahmsweise auf eine 
„Durstcur 41 beschränkte, dass ich bei der 
Wasserreduction fast immer successive (mit 
1500 ccm beginnend) und nie über eine ge¬ 
wisse Grenze (unter 1000—800 ccm) vorging, 
dass ich die Regelung der Wasserzufuhr 
vorwiegend als ein Praeventivverfahren an¬ 
sehe und mit den anderen Methoden der 
Flüssigkeitsentziehung passend zu combi- 
niren bestrebt bin. Vor allem möchte ich 
nochmals betonen, dass in sehr vielen Fällen 
die bereits mangelhaft gewordene Wirk¬ 
samkeit der Herzgifte wieder stärker her¬ 


vortritt, wenn gleichzeitig der Wasserhaus¬ 
halt des Patienten regulirt worden ist Nach¬ 
theile habe ich bei vorsichtigem Verfahren 
nicht häufig beobachtet. Insbesondere ist 
die Klage über quälenden Durst beinahe 
selten. Viel häufiger ist Abneigung gegen 
feste Speisen, Appetitverlust, stärkere Ab¬ 
nahme des Körpergewichtes. Ich sollte nun 
mit der Aufstellung der allgemeinen Regeln 
für die Wasserzufuhr in der Nahrung Herz¬ 
kranker schliessen. Ueber die Nothwendig- 
keit der Gewinnung eines wenigstens an¬ 
nähernden Urtheiles inBetreff der aufgenom¬ 
menen Flüssigkeitsmenge, über die Fest¬ 
stellung solcher Complicationen, welche 
pathologischen Durst zur Folge haben, end¬ 
lich über die Schädlichkeit unmässiger 
Wassereinnahmen, besonders in der Form 
von Bier, Wein etc. brauche ich aber doch 
wohl kein Wort zu verlieren. Fälle von 
chronischer Insufficfenz des Herzens, be¬ 
sonders solche mit erst beginnender De- 
compensation eignen sich mehr als Fälle von 
Klappenfehlern zum Vorgehen mit ener¬ 
gischer Wassereinschränkung. Bezüglich 
der Absicht, der ich bei dem Trocken¬ 
regime zustrebe, hinsichtlich derlndications- 
stellung, sowie endlich in Betreff der Be- 
urtheilung des Erfolges verweise ich aut 
die früheren Ausführungen, welche auch die 
nöthigen technischen Winke enthalten. Ge¬ 
wöhnlich lege ich stärkere Wasserbeschrän¬ 
kung den Patienten anfangs nur perioden¬ 
weise auf. Sie erhalten an Flüssigkeit 
durchschnittlich 1500 ccm, dann wird für 
eine Reihe von Tagen heruntergegangen 
auf 1200, selbst 1000, nach der Durstzeit 
bekommen sie wieder 1500 ccm. So habe 
ich gefunden, dass auch bei Herzkranken 
Gewöhnung'eintreten kann. Viele Individuen 
halten es bei 1000 ccm ganz gut aus. 


Ans der Poliklinik von Priv&tdocent Dr. H. Nenmann, Berlin. 

Buttermilch als Säuglingsnahrung in der poliklinischen Praxis. 

Von Dr. Erwin Kobrak, Assistenten der Poliklinik. 


Es erscheint vielleicht überflüssig, zu den 
zahlreichen, mit Buttermilch als Säuglings¬ 
nahrung sich beschäftigenden Arbeiten noch 
einen ferneren Beitrag liefern zu wollen. 
Doch neben den eingehenden klinischen 
Arbeiten 1 ) über dieses Thema liegen aus 
poliklinischer Thätigkeit meines Wissens 
von deutscher Seite Berichte nicht vor. 
Zwar hat aus Holland erst in jüngster Zeit 


*) Salge Jahrb. f. Kinderheilk. 3. F. 5. Bd. S. 157 
(aus der Heubnerschen Klinik). Caro Arch. f. Kinder¬ 
heilk. 1902 (aus der Baginskischen Klinik). 


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Teixeira de Mattos 1 ) ausführlich auch 
über Erfolge an poliklinischem Material 
berichtet; aber eine Uebertragung seiner 
Resultate auf deutsche Verhältnisse ist ohne 
weiteres nicht statthaft, vor allem deswegen, 
weil der enorme Milchreichthum Hollands 
den Michhändler viel weniger in Versuchung 
führt, die zum Verbrauch oder zur weite¬ 
ren Bearbeitung gelangende Milch ver¬ 
fälschen oder zu lange conserviren zu 


*) Teixeira de Mattos Jahrb. f. Kinderh. 3. F. 
5. Bd. S. 1 1902. 


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UNIVERSUM OF CALIFORNIA 




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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903, 


wollen. Und doch ist die Möglichkeit 
Buttermilch in der Privatpraxis zu ver¬ 
ordnen, jedenfalls mehr von dem poli¬ 
klinischen, als dem klinischen Erfolg ab¬ 
hängig. 

Die in der Dr. Neumann’schen Poli¬ 
klinik benutzte Buttermilch stammt in 
der ersten Hälfte unserer Beobachtungen 
(bis 14. November 1902) aus einer anderen 
Quelle als später. Sofort nach dem Ein¬ 
treffen in der Poliklinik wurde die von 
Teixeira angegebe Mischung der Butter¬ 
milch (1000 g Buttermilch, 12 g Weizen¬ 
mehl, 60 g Rohrzucker) hergestellt und nach 
seiner Anweisung abgekocht. Dann wurde 
für jedes der mit Buttermilch zu ernähren¬ 
den Kinder nach Recept des Arztes die 
nöthige Anzahl Flaschen mit der vorge¬ 
schriebenen Menge Buttermilch abgefüllt. 
Was die Dosirung anlangt, so erhielten 
Kinder unter 3000 g Gewicht im Allge¬ 
meinen 9—10, schwerere Kinder 6—8 
Flaschen. Die gesammteTagesmenge wurde 
meist durch die rasch orientirende Be¬ 
rechnung der dem Kinde pro Kilogramm 
Körpergewicht zukommenden Calorien- 
menge 1 ) ermittelt. Im Allgemeinen ver¬ 
brauchten die stark atrophischen Kinder 
besonders hohe Calorienmengen. Man thut 
gut, bei diesen Kindern am ersten Tage zur 
Gewöhnung an die neue Nahrung mit weni¬ 
gen Gramm pro dosi zu beginnen (30—40 g), 
den nächsten Tag ca. 120 Calorien per kg 
Körpergewicht zu geben und dann rasch, 
unter Controle des Stuhles und des Ge¬ 
wichtes bis auf 180 Calorien im Bedarfs¬ 
fälle anzusteigen. Höhere Mengen waren 
nur ganz ausnahmsweise erforderlich. 
Nicht atrophische Kinder kommen mit 100 
bis 120 Calorien per kg Körpergewicht 
aus. In einzelnen Fällen sahen wir uns 
veranlasst, die Zusammensetzung der Butter¬ 
milch etwas zu verändern. Statt Weizen¬ 
mehl wurde mit Erfolg Theinhards lös¬ 
liche Kindernahrung bis 50 g auf 1 Liter, 
zwei Mal ebenfalls mit günstigem Effect 
Loefflunds Malzsuppenextract in verschie¬ 
dener Dosis gegeben. 

Mit beiden Zusätzen — letzterer nur in 
jeder zweiten Flasche — Hess sich ausser 
vermehrtem Ansatz leichterer Stuhl er¬ 
reichen. Der Zusatz von Fetten, so z. B. 
von dem Biedert’schen Rahmgemenge hat 
sich nicht bewährt. 

Die Entwöhnung von der Buttermilch 
macht nach meinen Erfahrungen gar keine 
Schwierigkeiten. Wir stiegen zwar meist 
dabei mit Buttermilch langsam ab und 

*> 1 Liter Buttermilch von der oben angegebenen 
Zusammenstellung = 710 Calorien. 

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gleichzeitig mit der Süssmilch an. Aber 
selbst in den Fällen, wo die Mütter plötz¬ 
lich statt Buttermilch Süssmilch gaben, 
ging alles ohne Schwierigkeiten ab. 

Die in der eben beschriebenen Weise 
zurechtgemachten Flaschen wurden im 
Laufe des Vormittags von den Frauen ab¬ 
geholt. Die anfänglich bestehende Ab¬ 
neigung der Mütter gegen die „sauere 
Nahrung“ wurde dadurch rasch gehoben, 
dass wir in der Sprechstunde selbst uns 
überzeugten, ob die Kinder die Milch gut 
nahmen, kurz danach etwa erbrachen, etc. 
Günstige Erfolge in zahlreichen Fällen be¬ 
wirkten es, dass selbst grosse Entfernungen 
nicht gescheut und die Nahrung monate¬ 
lang täglich bei uns abgeholt wurde. Den 
Leuten die Bereitung der Buttermilch selbst 
zu überlassen, vermieden wir noch im All¬ 
gemeinen. Unser Material stammt nämlich 
nur aus den ärmsten Theilen der Berliner 
Bevölkerung, da irgendwie Bemittelte 1 ) 
(Lehrer etc.) bei uns keine Behandlung 
finden. Sociale Schichten, wie die, an 
denen Teixeira de Mattos seine Versuche 
machte, hatten wir daher nicht zur Ver¬ 
fügung. Die Buttermilch hatte aber schon 
im Gegensatz zur klinischen Prüfung eine 
harte Probe bei unserer Art der Dar¬ 
reichung durchzumachen, da sie erstens 
nach dem Abkochen in nicht maximal ge¬ 
kühlter Weise nach der Wohnung trans- 
portirt, dort zweitens sicher unter un¬ 
günstigen Verhältnissen conservirt und end¬ 
lich in Hast und Eile und auch nicht mit 
der erforderlichen Regelmässigkeit von der 
stark überbürdeten Mutter dargereicht wurde. 
Insgesammt wurde Buttermilch bei polikli¬ 
nischen Fällen 65 mal gegeben. Das An¬ 
wendungsgebiet war das Uebliche: Schwach 
und frühgeborene Kinder, besonders Zwil¬ 
linge, Pädatrophien, chronische Dyspepsien 
und Kinder im dyspeptischen Stadium 
nach Darmkatarrh. Bei einem Theil dieser 
Kinder (28 Fälle) verfügen wir nur über 
eine kurze Beobachtungszeit. Die Gründe 
für die rasche Unterbrechung verdienen 
eine kurze Erwähnung; es waren — in 
28 Fällen — folgende: 

a) Es starben in Folge der bereits be¬ 
stehenden, nicht mehr aufhaltbaren schweren 
Entkräftung, im dyspeptischen Stadium nach 
schweren Darmkatarrhen bei 2— 5 tägiger Butter¬ 
milchernährung: 

9 sicher ) zusammen 15 Fälle. 3 ) 

6 wahrscheinlich ) 

*) Vcrgl. die bei Teixeira angeführten Berufs- 
| arten der Eltern in den Journalen. 

3 ; Mehrmals wurde noch in den letzten Tagen 
| ante exitum die Buttermilch gut genommen. 

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Juli 


Die Therapie der 


b) An anderweitigen Krankheiten starben: 

2 Falle an Pneumonie. 

c) Wegen Rückfalles aus dem dyspep¬ 
tischen Stadium in das Stadium der spritzenden 
Stühle: 3 Fälle. 

d) Misserfolg bei chronischer Dyspepsie mit 
nachherigem Erfolg anderer Nahrung: 1 Fall. 

e) Wegen Verweigerung der Nahrung weg¬ 
gelassen: 2 Fälle. 

f) Nicht wiedergekommen: 5 Fälle. Davon 

3 Fälle mit circa einer Woche lang beobachtetem 
gutem Erfolg. 1 Fall mit unbekanntem Erfolg. 
1 Fall mit angeblichem Misserfolg. 

Von den 37 länger beobachteten Fällen 
wurde die Buttermilch angewandt bei Kindern: 
unter 3 Monaten in 31 Fällen, dabei bewirkte 
die Buttermilch: guten Erfolg: in 16 Fällen. 
(5 mal im dyspeptischen Stadium mittelschwerer 
Darmkalarrhe, 8 mal bei schwächlichen und 
frühgeborenen Kindern, davon 1 Fall mit Allai- 
tement mixte. 2 mal Pädatrophie, 1 mal Furunku¬ 
lose mit septischen Erscheinungen.) Geringen 
Erfolg: in 4 Fällen. (1 mal dyspeptisches 
Stadium nach schwerem Darmkatarrh, 1 mal 
nach mittelschwerem Darmkatarrh, 1 mal Früh¬ 
geburt mit Pemphigus, 1 mal sehr schwach 
geborenes Kind.) Keinen Nutzen: 6 Fälle. 
(3 mal dyspeptisches Stadium nach schwerem 
Darmkatarrh. 1 mal nach leichtem Darmkatarrh, 
1 mal Atrophie, 1 mal chronisches Erbrechen.) 
Geringen Schaden: 5 Fälle. (1 mal dys¬ 
peptisches Stadium nach schwerem Darm¬ 
katarrh, 2 mal nach mittelschwerem Darm¬ 
katarrh, 1 mal bei schwachem Kind, 1 mal bei 
chronischem Ikterus). 

Im Alter von 3—6 Monaten wurde Butter¬ 
milch angewandt in 6 Fällen: dabei bewirkte sie: 
guten Erfolg in 2 Fällen. (Bei Pädatrophien). 
Keinen Nutzen: in 2 Fällen. (Im dyspep¬ 
tischen Stadium nach schweren Darmkatarrhen.) 
Geringen Schaden: in 2 Fällen. (Bei Atro¬ 
phie nach Darmkatarrhen.) 

Nach Krankheiten geordnet, wurden mit 
Buttermilch behandelt: Im dyspeptischen 
Stadium nach schweren Darmkatari hen 
7 Fälle. Dabei erzielte Buttermilch 
einen vorübergehenden Erfolg: 1 mal 
keinen Nutzen: 5 mal 

geringen Schaden: 1 mal 

Im dyspeptischen Stadium mittel- 
schwerer Darmkatarrhe. 9 Fälle. Dabei 
erzielte Buttermilch 
guten Erfolg: 6 mal 

geringen Erfolg: 1 mal 
geringen Schaden: 2 mal 

Im dyspeptischen Stadium eines 
leichten Darmkatarrhs. 1 Fall. Dabei er¬ 
zielte Buttermilch keinen Nutzen. 

Länger bestehende Atrophien: 6 Fälle. 
Dabei erzielte Buttermilch 
eclatanten Nutzen: 3 mal 
keinen Nutzen: 1 mal 

geringen Schaden: 2 mal. 

In diesen beiden letzteren Fällen führte 
die Buttermilch-Ernährung ein neues dyspep¬ 
tisches Stadium herbei. 


Gegenwart 1903. 301 

Von schwach geborenen, nicht zu¬ 
nehmenden Kindern: 11 Fälle. Dabei er¬ 
zielte Buttermilch 
guten Erfolg: in 8 Fällen 

geringen Erfolg: in 2 Fällen 
geringen Schaden: in 1 Fall 

Bei chronischem Erbrechen blieb ein 
poliklinischer Fall ohne Nutzen, hingegen liegt 
aus früherer Zeit noch eine klinische Beob¬ 
achtung mit glänzendem Erfolge vor. 

Ausserdem brachte die Buttermilch guten 
Erfolg: in 1 Falle von Furunkulose mit sep¬ 
tischen Erscheinungen. Geringen Schaden: 
in 1 Falle von chronischem Icterus. 

Insgesammt also wurde erzielt 
bei ausreichend beobachteten Fällen: 
guter Erfolg: 18 mal 

geringer Erfolg: 4 mal 
kein Nutzen: 8 mal 

Schaden: 7 mal 

unbestimmt: — 

bei nicht genügend beobachteten Fällen: 

guter Erfolg: 4 mal 

geringer Erfolg: 0 mal 

kein Nutzen: 19 mal 

Schaden: 4 mal 

unbestimmt: 2 mal 

Abgesehen davon, wie weit die Wirkung 
der Buttermilch dabei in Betracht kommt, wäre 
festzustellen, dass von den 37 länger beobachte¬ 
ten Fällen sicher starben: 8 Fälle. (1 mal 
schwere Dyspepsie und Atrophie, 2 mal schwere 
Darmkatarrhe, 3 mal Atrophien, von denen 2 
an Pneumonie starben, 2 mal Sepsis.) Sicher 
heilten: 18 Fälle. (7 mal mittelschwere Darm¬ 
katarrhe, 7 mal Pädatrophien, 3 mal Früh¬ 
geburten, 1 mal leichter Darmkatarrh.) Der 
Ausgang blieb unsicher: bei 11 Fällen. 

Diese Zusammenstellung soll nur einen 
zahlenmässigen Ueberblick geben. Zur 
Erfassung des wahren Werthes der Butter¬ 
milch ist viel wesentlicher eine individuelle 
Durchsicht der einzelnen, beobachteten 
Fälle, und die Beantwortung einiger dabei 
sich aufdrängender Fragen: In erster Linie 
werden wir sehen müssen, ob die Butter¬ 
milch in einzelnen Fällen Entscheidendes 
zu leisten im Stande ist, d. h. Heilung und 
Besserung in sonst annähernd verzweifelten 
Fällen, oder rasche Heilung in solchen 
Fällen, die nach ärztlicher Voraussicht 
mindestens noch einem langen Siechtum 
verfallen wären. Die Krankengeschichten 
derartiger Fälle seien in kurzem angegeben: 

1. Else D. 1 Vs Monat. (Journal Nr. 4422). 
Seit 22. Juli 1902 an ziemlich schwerem Darm¬ 
katarrh mit nachfolgender Dyspepsie in Be¬ 
handlung. Ernährung zunächst Reisschleim, 
dann in steigender Dosis Biedertsches Rahm¬ 
gemenge, dann Milch Verdünnungen, schliesslich 
Schweizer Milch, gleichzeitig mit unterstützen¬ 
der, medikamentöser Therapie richten nichts 
aus bis 21. September. 22. Juli Gewicht 3850 g. 
19. August Gewicht 3370 g. 21. September 


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302 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


Gewicht 3510 g. Nun Buttermilch in Tages¬ 
rationen von 500 g ansteigend bis 1050 g, nach¬ 
her wieder langsam absteigend auf 600 g. fort¬ 
gesetzt bis lö.November. Gewicht21. September 
3510 g. 28. September 3890 g. 4. Oktober 
4100 g. 12. Oktober 4280 g. 25. Oktober 4450 g. 

1. November 4760g. 15.November5320g. Butter¬ 
milch ausgesetzt. Ein schöner Erfolg nach 
zwei Monate langer erfolgloser anderweitiger 
Behandlung. 

2. Aehnlich der folgende Fall. Trude G. 
4 Wochen alt. (6484/02), mittelschwerer Darm¬ 
katarrh und Atrophie, in Behandlung seit 
10. November 1902. Innerhalb von 4 Wochen 
Abnahme von 3650 auf 2490 g, blieb inner¬ 
halb dieser Zeit unserer Behandlung fern. Nun 
in den nächsten 3 Wochen Buttermilch bis 
480 g Tagesmenge. 2. Januar 2920 g (142 g 
Zunahme pro Woche.) Aus äusseren Gründen 
Buttermilch ausgesetzt, 9 Tage nachher leider 
Rückfall bei Biedertscher Sahne. Nicht wieder¬ 
gekommen. 

3. Bei dem sehr schwachen 8 Monatskind L. 
(Nr. 7246/03), welches am 9. Januar 1903 im 
Alter von 23 Tagen mit einem Gewicht von 
2230 g in unsere Behandlung trat und bis dahin 
eher abgenommen statt zugenommen hatte, 
feierte die Buttermilch folgenden Triumpf: 
9. Januar 1903 2230 g. 18. Januar 2820 g! 

30. Januar 3210 g! 5. Februar 3750 g! 15. Fe¬ 
bruar 3850 g! 23. Februar 4000 g! 

4. Auch bei Erich K. J.-No. 7117/02 ist eine 
aussergewöhnlich günstige Beeinflussung durch 
Buttermilch anzuerkennen. War bei der Auf¬ 
nahme 6. November 1902 im Alter von 5 Wochen, 
fast seit Geburt dyspeptisch, nahm nicht zu. 
Soor. Buttermilch mit 400 g pro die beginnend 
bis auf 650 g steigend: 6. November 3150 g. 

13. November 3380 g. 3. Dezember 3760 g. 

15. Dezember 4060 g. 24. Dezember 4400 g. 

31. Dezember 4550 g. 11. Januar 4800 g. 

5. Sehr überzeugend auf uns wirkte auch 
das bei Eintritt in die Behandlung äusserst 
matte, stark dyspeptische mit reichlichem Soor 
behaftete Kind Emmy S. (661/03) besonders 
auch in sofern, als dem Kinde bis zur Auf¬ 
nahme neben Kuhmilch auch Brust zur Ver¬ 
fügung gestanden hatte: 28. Januar (24 Tage 
alt) 1800 g, bis 5. Februar noch Brust und Kuh¬ 
milch 1800 g. Nun Buttermilch: 11. Februar 
2000 g, 19. Februar 2140 g, 26. Februar 2320 g, 
3. März 2480 g. 

6. Zu diesen Fällen mit entscheidender 
Wirksamkeit gehört weiter Lucie H. (6359/02), 
deren Krankheitskurve auch infolge der langen 
Fortführung der Beobachtung lehrreich ist: 
Bei der Aufnahme 7 Monat alt. Diagnose, 
Dyspepsie, Atrophie, Intertrigo. Gewicht 2040 g. 
Buttermilch in Tagesmengen von 500—710 g. 
Dies 1 Monat 8 Tage lang. Dann 14 Tage 
lang: Milchmischung mit annähernd gleichem 
Caloriengehalt, darauf wieder Buttermilch 600 g 
bis 1050 g pro die 2 Monate lang. Gewichte: 
1. Buttermilchperiode: 4. November 2040 g. 

14. November2800g! 29.November3180g. Süss¬ 
milchperiode: 15. Dezember 3110 g! 20. De- 

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zember 3100 g! 2. Buttermilchperiode: 2. Januar 
3650 g, 14. Januar 3910 g, 26. Januar 4300 g. 
Entwöhnungsperiode (Buttermilch abstei¬ 
gend), Süssmilch ansteigend 15. Februar 4630 g, 
25. Februar 4850 g. 

7. Ferner sei hier erwähnt das 3 Monate 
alte, schwer atrophische, gleichzeitig an Ver¬ 
stopfung leidende Kind Frieda Th. (902/03) 
6. Februar (3 Monate alt) 3050 g. Buttermilch 
in Tagesmengen von 700 -800 g ergiebt prompt 
folgende Zunahme: 10. Februar 3180 g! 16. Fe¬ 
bruar 3580 g! 27. Februar 3880 g, 2. März 3900 g. 

8. Auch bei Paul R. (6525/02) beweisen 
die Zahlen das entscheidende Eingreifen der 
Buttermilch: 11. Februar 6 Wochen alt, schwer 
atrophisch 2300 g. Buttermilch pro die 500 
bis 600 g. (1 Tag vorher probeweise 300 g). 

19. November 2780 g! 2. December 3000 g, 
31. December 3520 g. 

9. Weiter gehört hierher Paul V., Pflege¬ 
kind (7315/02) 30. Dezember mit geringer Dys¬ 
pepsie aufgenommen, I 1 /« Monate alt, 3650 g, 
nicht wiedergekommen. 1 Monat später 29. Ja¬ 
nuar 3030 g, 4. Februar 3610 g, 11. Februar 
3900 g! 18. Februar 4250 g! 25. Februar 4500 g! 

10. Desgleichen Hellmuth J. (5881/02), 4 
Wochen alt. Im Alter von 27 Tagen am 9. Ok¬ 
tober 1902 aufgenommen mit multiplen Abscess- 
bildungen und gleichzeitigen septischen Er¬ 
scheinungen: Petechien, Somnolenz. Bei sorg¬ 
fältiger anderweitiger Ernährung unter anderm 
auch 8 Tage Muttermilch als Zugabe: Gewichts¬ 
absturz vom 9. Oktober bis 30. Oktober von 
3550 g auf 2700 g. Nun zunächst 12 Tage 
Allaitement mixte mit Buttermilch. Darauf 
nur Buttermilch 3 Tage 950 g, dann 710 g pro 
die, 5 Tage lang, am Ende nur 370 g, zusammen 
2 Monate lang Buttermilchernährung. Gewichte 
30. Oktober 2700 g, 10. November 3310 g, 

16. November 3670 g, 2. December 4200 g, 

17. December 4450 g. Doch der septische, 
offenbar im Kinde trotz der glänzenden Ge¬ 
wichtszunahme noch fortglimmende Infections- 
stoff sollte den sonst vollen Erfolg vereiteln. 
Am 28. December trat Icterus auf, suppige 
Stühle und 15 Tage nachher mit raschem Ver¬ 
fall Exitus letalis. 

11. Endlich Käthe R. (1815/03) 2 Monate 
alte Frühgeburt (8 Monatskind). In geradezu mori¬ 
bundem Zustand eingeliefert. Gewicht 1700 g! 
Reagiert nicht. Temperatur 34,0. Nur durch 
Einflössen der Buttermilch-Nahrung durch die 
Nase zu ernähren. Durch sehr häufiges, heisses 
Abwaschen excitiert. Buttermilch nach Belieben. 

20. März schon 1860 g! 9. April 2100 g. All¬ 
mähliche Erholung. Etwas Erbrechen. Noch 
oft subnormale Temperaturen. Seit 9. April 
Buttermilch zurückgewiesen. Daher Süssmilch; 

2 Strich Milch, 3 Strich Hafermehl 2stündlich: 
9. April 2100 g, 17. April 2160 g, 21. April 
2230 g, 28. April 2300 g! 

Dazu gehörend noch ein Fall aus der 
Privatpraxis Erna Sch., der insofern wichtig 
ist, als bei diesem die intelligente Mutter die 
Herstellung der Nahrung übernahm Kind 
5 Monate alt. Gewicht bei der Aufnahme am 

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Juli 


303 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


9. März 2530 g! Schon sehr vieles ander¬ 
weitig versucht. Zuerst Malzsuppe, nach¬ 
her Mellin giebt nur vorübergehenden Erfolg, 
dann wieder Gewichtsabfall. Seit 2. April 
Buttermilch beginnend mit 540 g steigend auf 
800 g pro die giebt bis jetzt constanten Gewichts¬ 
anstieg bei völligem Wohlbefinden: 11. April 
2570 g, 18. April 2750 g. 24. April 2860 g, 
30. April 3090 g, 12. Mai 3230 g, 18. Mai 3450 g. 

Zu diesen Fällen, in denen das Eingreifen 
der Buttermilch geradezu entscheidend 
wirkte, kommt eine Gruppe von Fällen, bei 
denen nach ärztlicher Erfahrung zwar auch 
eine Heilung bei anderer Nahrung hätte 
erzielt werden können. Die Grösse und 
Promptheit aber der erzielten Gewichts¬ 
zunahmen rechtfertigen ihre Anführung in 
diesem Zusammenhang: 


1. Carl T. (6464/02) Zwillingskind 21. Sep¬ 
tember 1903. 5 Wochen alt 2300 g. Allaitement 
mixte: 21. September 2300 g, 26. Dezember 
3350 g, 31. Januar 4100 g. 

2. Ebenfalls glänzender Erfolg des Allai¬ 

tement mixte. Brustkind Elsbeth W. 7. Fe¬ 
bruar 1903. 6 Wochen alt 3570 g. Zunächst 

nur Brust. 12. Februar 3500 g. Nun Butter¬ 
milch 23. Februar 4170 g! Per Tag 61 g zu¬ 
nehmend, 10. März 4450 g. 22. März 4620 g. 

3. Ferner Lucie M. (4984/02) 3 Wochen alt. 
Seit 19. August 1902 ziemlich schwerer Darm- 
katarrh mit spritzenden Stühlen. 22. August 
Gewicht: 2220 g. Im nun bestehenden dys¬ 
peptischen Stadium bei noch stehenden Haut¬ 
falten Buttermilch. Besserung zunächst all¬ 
mählich. Oefters dazwischen Reisschleim ein¬ 
geschaltet. 18. September 2960 g, 25. October 
3220 g! (83 g pro die) Zunahme, 7. November 
3550 g, 17. November 3970 g, 14. December 4520 g. 

Zu einer gerechten Würdigung der 
Buttermilch ist selbstverständlich neben 
den Mittheilungen von Paradefiällen auch 
die Hervorhebung unerwünschter Neben¬ 
wirkungen von Nöthen. 

Häufig kommen, selbst bei den sonst 
günstig verlaufenden Fällen (so auch bei 
den oben angeführten Fällen in der Mehr¬ 
zahl) kleine, rasch vorübergehende dys¬ 
peptische Attacken vor; sei es, dass der 
Stuhl einmal etwas häufiger und dünner 
wird, sei es, dass Erbrechen oder vielmehr 
Speien eintritt. Solche Kinder strecken 
häufig in eigenthümlicher Weise die Zunge 
aus dem an Speichel reichen Munde heraus 
und scheinen mit einer meist allerdings 
nicht erheblichen Uebelkeit zu kämpfen. 

Uebelkeit und massiges Erbrechen 
sollten aber nicht von der Weiterdarrei¬ 
chung abhalten. Ich könnte 8 unter meinen 
Fällen anführen, die kräftig und stetig 
trotzdem gediehen. Anders verhalten sich 
länger dauernde oder von vornherein hef¬ 
tig einsetzende Darmdyspepsien, besonders 


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dann, wenn der Stuhl, der bei Buttermilch 
sonst alkalisch, meist gebunden, weich ge¬ 
formt, gelb bis gelbbraun ist, auf Lakmus 
stark sauer, schleimuntermischt und zerhackt 
wird. In 3 solchen Fällen konnten wir 
uns, bei weiterer versuchsweisen Butter¬ 
milchdarreichung von der ständig fort¬ 
schreitenden Verschlechterung des Zu¬ 
standes überzeugen. Von diesen, während 
einer günstig verlaufenden Buttermilchcur 
auftretenden Dyspepsien zu unterscheiden 
sind Rückfälle aus dem dyspeptischen 
Stadium eines Darmkatarrhs in sein florides 
Stadium mit spritzenden, wässrigen Stühlen. 
In 5 Fällen gab dieses Ereigniss das Signal 
zum sofortigen Aussetzen der Buttermilch.* 
Einmal konnte nach einer Woche wieder 
von Neuem mit Erfolg zur Darreichung 
derselben geschritten werden. 

In der Mehrzahl der Fälle hat Butter¬ 
milch stopfende Wirkung. Sie hielt sich 
in unseren Beobachtungen meist in massi¬ 
gen Grenzen, so dass nur dann und wann 
wegen Verstopfung von mehr als 24 Stunden 
Dauer ein Klystir nöthig wurde. In 3 Fällen 
hingegen, bei denen die Buttermilch meh¬ 
rere Monate Verwendung gefunden hatte, 
wurde die Stuhlentleerung sehr massig und 
mit recht erheblichenBeschwerden verknüpft. 
Mehrmals erwies sich die Combination der 
Buttermilch mit dem abführenden Malz- 
suppenextract 1 ) recht nützlich. 

Die Verstopfung ist keineswegs eine 
regelmässige, unerwünschte Nebenwirkung. 
Abgesehen davon, dass in einer Anzahl 
Beobachtungen nichts davon bemerkt ist, 
erzielte ein Mal die Buttermilch sogar 
direct das Schwinden einer bestehenden 
lästigen Obstipation. Eng mit hochgradiger 
Verstopfung ist offenbar die Gefahr des 
Entstehens der kindlichen Tetanie ver¬ 
knüpft. Abgesehen von solchen Fällen, in 
denen die Tetanie sich schon kurze Zeit 
nach derButtermilchdarreichung entwickelte 
(hier war vielleicht die Art der früheren 
Ernährung verantwortlich zu machen), kam 
in 2 Beobachtungen bei monatelanger, aus¬ 
schliesslicher Buttermilchernährung die Te¬ 
tanie zum Ausbruch. Selbstverständlich 
ist nicht die Nahrung allein bei dieser in 
ihrer Entstehungsweise unklaren Krankheit 
verantwortlich zu machen; in einem Fall 
ergab sogar umgekehrt neben den gewöhn¬ 
lichen Untersuchungsmethoden auch die 
galvanisch-elektrische Methode' 2 ) nach Erb 


b Vergl. oben. 

a ) Die Aufzeichnungen Ober diesen Fall verdanke 
ich Dr. Japha, der in der Dr. Neumann’schen 
Poliklinik eine grosse Reihe tetaniekranker Kinder 
untersuchte, Ober die er demnächst berichten wird. 

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304 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


und Thiemich vor Anfang der Buttermilch¬ 
darreichung die Zeichen sicherer Tetanie, 
während nach mehrwöchentlicher Butter¬ 
milchkost die Krankheit verschwand. Noch 
schwerer zu beurtheilen ist es, ob die lange 
fortgeführte Buttermilchernährung zu Rachi¬ 
tis disponirt. Dazu ist die procentuale 
Anzahl der in dem betreffenden Alter uns 
vorgeführten Rachitiker eine viel zu hohe. 
Jedenfalls vermag diese Kost nicht den 
Eintritt der Rachitis zu verhindern, wie 
5 Fälle mit monatelang durchgeführter aus¬ 
schliesslicher Buttermilchnahrung beweisen, 
in denen sich Rachitis entwickelte. Nicht 
ganz von der Hand zu weisen ist ein 
Zusammenhang zwischen der langdauern¬ 
den Buttermilchernährung und der Ent¬ 
stehung von Milz- und Leberanschwel¬ 
lungen, zu denen sich oft gleichzeitig 
Anaemie gesellt. Gerade in dem bei uns 
am längsten (6 Monate) continuirlich so 
ernährten Falle waren diese Symptome am 
ausgesprochensten. Im Ganzen verfüge ich 
über 5 Fälle, bei denen die Milz frühestens 
nach 1 1/2 Monate langer Darreichung ver- 
grössert erschien. Ein sicherer Zusammen¬ 
hang ist aber auch hier keineswegs ge¬ 
geben, da ja sowohl Milztumor wie Anae¬ 
mie bei schwer atrophischen Kindern auch 
sonst häufig ist. In einem Falle schwand 
der Milztumor allmählich nach dem Aus¬ 
setzen der Buttermilch. Vielleicht ist die 
Säure in der Buttermilch das diese Störun¬ 
gen hervorrufende Moment. Die Möglichkeit 
einer chronischen Vergiftung durch diese 
wird ja von einigen Autoren angenommen. 
Vergl. die Ausführungen von Teixeira 
de Mattos und seine Litteraturcitate. 

Ueberblicken wir zum Schluss kurz 
unsere Resultate, so sind es folgende: 

I. Es ist wünschenswerth und auch 
angängig, ambulant Kinder der ärmeren 
Bevölkerung mit Buttermilch in gewissen 
Fällen zu ernähren. Nur ist es vor der 
Hand noch nöthig, dass diese Nahrung in 
einer Centralstelle mit ärztlicher Directive 
(Poliklinik oder dergl.), der tadellose rohe 
Buttermilch zur Verfügung steht, nach ärzt¬ 
licher Vorschrift in Portionsflaschen ab- 
getheilt hergestellt wird. Tägliche Ab¬ 
holung ist Voraussetzung. 

II. Die Anwendungsgebiete für die 
Buttermilch sind: 

1. Frühgeburten und bei Geburt schwach 
entwickelte Kinder, denen Brustnahrung 
nicht gegeben werden kann. Beste 
Erfolge! 

2. Atrophische Kinder. 


3. Verwendung zum Allaitement mixte, 
speciell bei den unter 1 und 2 ge¬ 
nannten Kindern. 

4. Verwendung lm dyspeptischen Stadium 
mittelschwerer und leichter Darm¬ 
katarrhe, hingegen nicht im acuten 
Stadium. 

5. Bei angeborenem oder früh erworbe¬ 
nem Erbrechen schwerer Art, deswegen 
weil es zuweilen gelingt, bei seltener 
Darreichung und spärlicher Nahrungs¬ 
menge eine relativ hohe Calorienzahl 
zuzuführen. 

Für contraindicirt halte ich Buttermilch: 

1. Wenn sie mit grossem Widerwillen 
trotz mehr als zweitägigen Versuches 
genommen wird. 

2. Wenn bei ihr Dyspepsie mit stark 
sauren Stühlen entsteht. 

3. Wenn bei ihr heftiges, sonst nicht be¬ 
stehendes Erbrechen eintritt. 

4. Wenn bei ihr ein Darmkatarrh mit 
spritzenden Stühlen entsteht oder reci- 
divirt. 

5. Im dyspeptischen Stadium schwerer 1 ) 
Darmkatarrhe. 

6. Bei Tetanie, wenn die objectiven Symp¬ 
tome, vor Allem die elektrische Er¬ 
regbarkeit und der Laryngospasmus 
sich bei dieser Nahrung verschlimmern. 

7. Bei sehr hochgradiger Verstopfung, es 
sei denn, dass sonstige dringende In- 
dication vorliegt; in diesem Falle lässt 
sich unter Umständen durch Zusatz 
abführender Substanzen, wie Malz- 
suppenextract, auch Theinhardt’s 
löslicher Kindernahrung, die stopfende 
Wirkung der Buttermilch aufheben, 

8. Bei Barlow’scher Krankheit. 

Schliesslich haben wir die Vermuthung, 
dass eine zu lange Ernährung mit Butter¬ 
milch eine constitutionelle Störung (Anae¬ 
mie, Schwellung der Milz und Leber) ver¬ 
ursachen kann. Aus diesem Grunde unter 
anderen widerrathen wir auch die Ver¬ 
wendung der Buttermilch als Säuglings¬ 
nahrung ohne besondere Indication. 

Meinem hochverehrten Chef Herrn 
Privatdocent Dr. H. Neumann für die 
Ueberlassung des Materials und für sein 
reges Interesse an der Arbeit verbind¬ 
lichsten Dank! 

M Unter diese Categorie rechne ich diejenigen 
Darmkatarrhe, bei denen die Kinder unter sehr zahl¬ 
reichen Entleerungen (Erbrechen und Stuhlgänge) 
im Laufe von 1—2 Tagen rasch verfallen, subnormale 
Temperaturen haben und alle Zeichen starker Wasser¬ 
verarmung aufweisen. 


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Juli 


305 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Aus der Königl. dermatologischen Universitätsklinik in Breslau. 
(Director: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Neisser). 

Ueber Empyroform, ein trockenes, fast geruchloses 

Theerpräparat. 

Von Dr. Bruno Slclarek, Assistenzarzt. 


Es ist sicherlich überflüssig, an dieser 
Stelle die grosse Bedeutung, die dem Theer 
in der Therapie der Hautkrankheiten zu¬ 
kommt, auseinanderzusetzen. Jedem Prak¬ 
tiker ist bekannt, dass de;r Theer — ab¬ 
gesehen von seiner Verwendung bei der 
Psoriasis, den pruriginösen Affectionen und 
Lichen-Formen — bei richtiger Anwendung 
eines der wichtigsten Mittel der Ekzem- 
Therapie darstellt. 

Aber ebenso bekannt ist, dass eben die 
„richtige Anwendung“ oft eine sehr schwere 
Aufgabe ist, so dass der Theer sich als 
eine schwer zu handhabende und zwei¬ 
schneidige Waffe erweist. Ist er auf der 
einen Seite dadurch, dass er die hyperae¬ 
misch - entzündlichen Zustände beseitigt, 
das Jucken mildert und die normale Ver¬ 
hornung befördert, oft unentbehrlich zum 
Abschluss einer Ekzem-Behandlung und 
Heilung einer chronisch-ekzematösen Der¬ 
matitis, so erlebt man leider auch nicht 
selten, dass eine wochenlange Behandlung 
des Ekzems und ein mühselig erreichtes 
Resultat zu nichte gemacht wird durch zu 
frühe oder zu intensive Theer-Application. 
Gilt es auch als Regel, den Theer erst bei 
Beseitigung der acuten nässenden Stadien 
und stets nur an kleinen Stellen in starker 
Verdünnung zu versuchen, so muss doch 
zugegeben werden, dass selbst der er¬ 
fahrenste Praktiker Missgriffe macht, für die 
der Patient durch acute Exacerbationen des 
wieder auflebenden Ekzems büssen muss. 

Zu den die Anwendung des Theers er¬ 
schwerenden Eigenschaften gesellen sich 
als unwichtigere, aber in der Praxis doch 
bedeutsame Momente: die schwarze 
Farbe und der starke, Vielen sehr lästige 
und unangenehme Geruch. 

Seit Jahren sind daher die Fachleute 
bemüht, Ersatzpräparate zu finden, die 
möglichst nur die guten Eigenschaften des 
Theers ohne seine schlechten darbieten. 
Ich nenne hier das Tumenol und das 
Oleum tumenoli, den Liquor carbon. deterg. 
anglic., schliesslich auch die Salicylsäure 
und dergl. 

Meine Untersuchungen erstrecken sich 
auf die Brauchbarkeit eines Condensations- 
productes von Theer und Formaldehyd. 
Diese Verbindung, die von der Chemi- 

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sehen Fabrik auf Actien (vorm. 

E. Schering) in Berlin hergestellt und 
unter dem Namen „Empyroform“ in den 
Handel gebracht wird, wurde bereits in den 
Jahren 1899 und 1900 von Herrn Professor 
Nicolaier in der Königl. medicinischen 
Universitätsklinik zu Göttingen bei einer 
Anzahl von Ekzemkranken verwendet. Die 
mit diesem Präparate erzielten Resultate 
waren recht günstige. Da Herr Professor 
Nicolaier aus äusseren Umständen diese 
therapeutischen Versuche nicht weiter fort¬ 
setzen konnte, hat er Herrn Geheimrath 
Neisser gebeten, dieses Mittel an einem 
grösseren Materiale weiter zu prüfen. Herr 
Geheimrath Neisser hatte nun die Güte, 
mir diese Prüfung zu übertragen, und wir 
haben das neue Präparat in über 100 Fällen 
von Hauterkrankungen verschiedenster Art, 
welche ich zum grössten Theil selbst zu 
behandeln und mit geringen Ausnahmen 
wenigstens zu sehen Gelegenheit hatte, an 
Stelle des Theers angewandt, und ich habe 
mich bemüht, hierbei darauf zu achten, 
inwieweit das Empyroform dem Theer 
nahesteht, ob ihm ähnliche Eigen¬ 
schaften wie den anderen Präparaten 
zukommen, und ob es diesen gegen¬ 
über Vorzüge besitzt. 

Das Empyroform ist, wie gesagt, ein 
Condensationsproduct von Formaldehyd 
und Theer und stellt ein trockenes, nicht 
hygroskopisches, bräunliches Pulver von 
schwach eigenartigem Geruch dar, der 
nicht mehr an Theer erinnert. Beim Er¬ 
hitzen spaltet es leicht Formaldehyd ab. 

Es ist in Wasser unlöslich, löst sich da¬ 
gegen in Aceton und kaustischen Alkalien 
und noch leichter in Chloroform. Durch 
seine Farbe und den schwachen Ge¬ 
ruch besitzt das Empyroform meines 
Erachtens schon gewisse Vorzüge vor dem 
Theer. Eine Empyroform - Zinkpaste ist 
grau, während eine entsprechend starke 
Theerzinkpaste schwarz ist. Besonders ist 
hervorzuheben, dass allen Kranken das 
geruchlose Präparat sympathischer war als 
der Theer. 

Die Anwendung des Empyroforms in 
Pulverform, als pure Substanz oder mit 
Zink und Amylum gemischt, kommt fast 
ausschliesslich beim nässenden Ekzem in 
Betracht. Ich möchte aber diese Form der 

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306 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


Anwendung des Empyroforms — ebenso 
wie die jeder anderen Puderbehandlung — 
beim nässenden Ekzem nur empfehlen, 
wenn das Pulver mit Salbenlint bedeckt 
wird, weil sonst das Pulver mit dem Ver¬ 
bandmaterial und dem eintrocknenden 
Sekret zu einer dicken Kruste verklebt, 
deren auch noch so vorsichtige Lösung beim 
Verbandwechsel immer wieder Läsionen 
setzt, welche den Heilungsprocess zum 
mindesten stören und in die Länge ziehen. 
Wird der Puder dagegen mit einem Salben- 
Fleck bedeckt, so ist seine Verwendung 
recht brauchbar. Entschieden empfehlens- 
werther und bequemer ist aber die Empyro- 
form-Anwendung in einer Mischung mit 
Salbe oder Zinkpaste. 

Wir haben das Empyroform in Salben¬ 
form als 1—5—10—20% Empyroform« 
Vaseline, 10—20% Empyroform-Blei- 
Vaseline (Ung. Vaselin, plumbic. Kaposi) 
und 5—10—20% Empyroform-Zink- 
paste und unter Elimination des Zinkes 
aus dieser als 25% Empyroformpaste 
(Empyrof. und Amyl. ana 25,0 mit Vaseline 
50,0) verwandt. 

Mit Vaseline zu gleichen Teilen 
giebt das Empyroform eine natürlich noch 
stärkere Mischung von pastenartiger Con- 
sistenz, also eine 50% Empyroformpaste. 
Bei solch hohen Concentrationen wird der 
Geruch des Mittels zwar deutlicher, aber 
nicht unangenehm. Auch in Form der so¬ 
genannten Trockenpinselungen ist das 
Empyroform in Folge seiner austrocknen¬ 
den Eigenschaften recht brauchbar. Man 
kann es der gewöhnlichen Trockenpinselung 
(Zinc. oxydat., Tale, venet., Glycerin., Aq. 
destill. ana) in verschieden hoher Dosis zu¬ 
setzen; dabei muss man aber berücksich¬ 
tigen, dass diese Empyroform-Trockenpinse- 
lungen sehr schnell eintrocknen und somit 
eher unbrauchbar werden. Es empfiehlt 
sich daher, nicht zu grosse Quanten auf 
einmal zu verschreiben; also etwa: 

Rp. Empyroform . 15'O 

Tale. venet. 

Glycerin .... ana lO'O 

Aq . dest . 20*0 (oder 

Spirit, vin. und Aq. destill. 

ana lO'O) 

M. D. S. Pinselung. Vor dem Gebrauch gut 
umzuschQtteln. 

Hier ist in analoger Weise wie in der 
Empyroformpaste das Zink ganz eliminiert. 
— Bei dieser Gelegenheit will ich noch 
bemerken, dass solche Trockenpinselungen 
sich sehr gut bewährt haben und von den 
Kranken angenehmer empfunden wurden 
als Salbenverbände. Besonders brauchbar 

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sind die Pinselungen bei Individuen, welche 
eine Idiosynkrasie gegen Fette haben. An¬ 
dererseits wird man zu dieser Applications- 
form nur in Fällen mit nicht zu starker Ex¬ 
sudation greifen können. Die wahre Do¬ 
mäne der Trockenpinselung ist das ery- 
thematöse Stadium des Ekzems oder das 
Stadium, in dem schon eine gewisse Ein¬ 
trocknung und Schuppung aufgetreten ist. 

Ebenso gut wie in den Schüttelmischun¬ 
gen habe ich das neue Mittel als Firniss 
bezw. Tinctur verwenden können. In 
diesen Combinationen erscheint das Prä¬ 
parat allerdings schwarz, aber fast ganz 
geruchlos. Zuerst gebrauchte ich es als 
Firniss, indem ich mir eine Lösung von 
Empyroform in Chloroform im Verhältniss 
von 1 :3 herstellen Hess. Dieser Firniss war 
jedoch trotz nachherigen Einfettens zu 
spröde und blätterte zu leicht von der Haut 
ab. Ich habe deshalb später eine Tinctur 
verwendet und damit therapeutisch ebenso 
gute, bezüglich des Festhaftens der Tinctur 
an der Haut bessere Resultate gehabt: 

Rp. Empyroform . . . 5*0—10*0 
Chloroform . 

Tinct. Benz, ana ad 50*0 
M. D. S. Pinselung. 

Den Empyroformfirniss und die Empyro- 
formtinctur habe ich in den ersten Sta¬ 
dien des Ekzems angewandt und beson¬ 
ders mit dem Firniss sehr gute Erfolge er¬ 
zielt. So habe ich z. B. einen acuten 
Bläschenschub an den Armen durch zwei¬ 
maliges Aufpinseln von Empyroformfirniss 
coupiren können. Ob der günstige Erfolg 
allein auf die Rechnung des Empyroforms 
zu setzen ist oder auf den durch den Firniss 
erzeugten Abschluss von Luft und Feuchtig¬ 
keit von der erkrankten Hautpartie und 
einen gewissen Grad von Compression, will 
ich nicht entscheiden. Jedenfalls kann man 
den Firniss auch bei anderen vesiculösen 
Affectionen, z. B. Zoster-Eruptionen, mit 
Erfolg verwenden. 

Im squamösen Stadium des Ekzems kann 
man zur Beseitigung chronischer Infiltra¬ 
tionen die Pinselung der Empyroform-Tinctur 
in geeigneter Weise mit der Anwendung 
eines Salicylseifenpflasters (von Beiers¬ 
dorf, 5—10%) verbinden, das nach ge¬ 
schehener Pinselung applicirt wird. 

Entgegen der bekannten Scheu vor der 
Anwendung des Theers im nässenden 
Stadium des Ekzems habe ich das neue 
Theerpräparat aber auch hierbei als 5 bis 
10% Empyroform-Zinkpaste und 10—20% 
Empyroform-Tinctur benutzt und es als 
sehr brauchbar befunden. Dies steht ira 
Gegensatz zu den bisherigen Erfahrungen, 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


307 


welche man mit Theerpräparaten beim 
nässenden Ekzem gemacht hat und die 
Neisser noch kürzlich in seinen „Krank¬ 
heiten der Haut“ (Handbuch der praktischen 
Medicin von Ebstein und Schwalbe) in 
die Regel zusammenfasste: „Ekzeme, die 
noch nässen, oder trocken gewordene Ek¬ 
zeme, bei denen man durch Reiben an der 
Oberfläche leicht wieder die nässenden, 
glänzenden Pünktchen hervorbringen kann, 
sind nicht mit Theer zu behandeln". 

Erstens ist hervorzuheben, dass die 
Application des Empyroforms von den 
Patienten subjectiv sehr angenehm em¬ 
pfunden wurde, und dass fast alle die stark 
jucklindernde Kraft des neuen Mittels 
lobten. Ich habe gegebenen Falles, z. B. 
bei Ekzemen beider Arme gewöhnlich den 
einen mit Erapyroform, den anderen zur 
Controlle mit Tumenol behandelt und hier¬ 
bei festgestellt, dass die Heilung der mit 
Empyroform behandelten Seite nicht nur 
mindestens ebenso gute Fortschritte machte, 
sondern dass auch, wie die Patienten fast 
stets versicherten, das Jucken auf der mit 
Empyroform behandelten Seite um ein Er¬ 
hebliches geringer geworden war. 

Ferner kommt, wie schon erwähnt, in 
Betracht die austrocknende Eigenschaft des 
Empyroforms. 

Reizwirkungen habe ich nur in der 
ersten Zeit, in der uns das Mittel nicht 
ganz feinpulverig, sondern mit grossen 
Körnchen untermischt, von der Fabrik zur 
Verfügung gestellt wurde, gesehen; seit¬ 
dem aber das Empyroform ganz fein ge¬ 
pulvert geliefert wurde, habe ich diese 
unangenehmen Nebenwirkungen — gleich¬ 
gültig an welchen Körpertheilen das Prä¬ 
parat angewendet wurde — nicht beobach¬ 
tet. Dabei bin ich später bei der Appli¬ 
cation des Empyroforms nicht mit der 
gleichen Vorsicht wie sonst bei der Theer- 
behandlung vorgegangen; vielmehr habe 
ich, so oft sich mir die Gelegenheit dazu 
bot, sofort ganz ausgedehnte Körperstellen 
damit tractirt, ohne mich in jedem einzel¬ 
nen Falle vorher davon zu überzeugen, ob 
das Mittel auch vertragen wurde. Bei Acne 
und Folliculitis scheint das Empyroform 
contraindicirt, ich habe einmal dabei eine 
wirkliche „Theerakne" sich entwickeln sehen. 

Intoxicationen (Fieber, Erbrechen, 
Uebelkeit, Diarrhoeen mit Entleerung 
schwarz gefärbter Massen, schmerz- und 
krampfhafte Entleerung dunkelgrünen oder 
schwarzgefärbten Urins) sind von mir nie 
beobachtet worden, obgleich das Empyro¬ 
form bei den ausgebreitetsten Ekzemen, in 
einem Falle sogar bei einem universellen 


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Ekzem des ganzen Körpers, ferner auch 
bei einem Nephritiker angewandt wurde. 

Als ein ganz besonderer Vorzug des 
Empyroforms ist schliesslich noch hervor¬ 
zuheben, dass es die Fähigkeit besitzt, auch 
Menschen, welche/Theer vorher nicht 
vertrugen, langsam an diesen zu ge¬ 
wöhnen. Der Abschluss einer idealen 
Ekzemtherapie besteht nun einmal in einer 
Theerbehandlung; es ist also ein Vortheil, 
jetzt in dem Empyroform ein Mittel zur 
Hand zu haben, welches uns selbst in hart¬ 
näckigen Fällen, in denen der reine Theer 
nicht vertragen wird, in den Stand setzt, 
über diese Klippe hinwegzukommen. Ich 
habe wiederholt in solchen Fällen das 
Empyroform benutzt und gutes gesehen: 
Patienten, welche Theer vorher nicht ver¬ 
trugen, bei denen selbst die vorsichtigste 
Anwendung von Theer Reizungen, neue 
Ekzemschübe hervorrief, haben sich durch 
Behandlung mit Empyroform an Theer ge¬ 
wöhnt, so dass später nicht nur Theer in 
Form einer schwachen Theer-Zinkpaste, 
fondern auch als Theertinctur gut vertragen 
wurde, wodurch das Ekzem einer definitiven 
Heilung zugeführt wurde. 

Ausser Ekzem, bei dem ich so günstige 
Resultate hatte, habe ich auch einige Fälle 
von Psoriasis, Prurigo, Trichophytie mit Em¬ 
pyroform behandelt. Indess lieferte diese Be¬ 
handlung keine befriedigenden Ergebnisse. 

Wenn ich nun noch einmal kurz reca- 
pituliren und die Vorzüge des neuen 
Mittels zusammenfassen darf, dessen 
günstige Wirkung wahrscheinlich der Kom¬ 
bination des Theeres mit Formaldehyd zu 
danken ist, so muss ich zuerst wieder 
seine in hohem Grade juckstillenden 
und austrocknenden Eigenschaften be¬ 
tonen. Ferner ist zu rühmen, dass das 
Präparat weder locale Reizungen noch 
Intoxicationen hervorruft, dass man 
mit dessen Hilfe Patienten langsam an 
Theer gewöhnen kann, selbst wenn 
dieser früher nicht vertragen wurde, und 
dass das neue Theerpräparat fast ganz 
geruchlos ist. Seine weniger intensive 
Farbe ist in Bezug auf Reinlichkeit der 
Verbände, sowie der Leib- und Bettwäsche 
nicht zu unterschätzen. So darf, glaube 
ich, der Einführung des neuen Mittels in 
die Dermotherapie die Berechtigung nicht 
abgesprochen werden. 

Zum Schluss ist es mir ein Bedürfniss, 
meiner Dankespflicht meinem hochverehrten 
Chef, Herrn Geheimrath Neisser gegen¬ 
über zu genügen für die Uebertragung 
dieser Arbeit und die gütige Ueberlassung 
des Krankenmaterials. 

39 * 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


Therapeutisches aus Vereinen und Congressen. 

Therapeutisches vom 32. Congress der deutschen Gesellschaft 
für Chirurgie, Berlin, 3.-6. Juni 1903. 

Bericht von Dr. W. Klink -Berlin. 


Unter dem Vorsitz von Küster tagte 
vom 3.—6. Juni 1903 der 32. Chirurgen¬ 
kongress. Die Beteiligung war eine sehr 
grosse, auch aus dem Ausland; das Pro¬ 
gramm war umfangreich und mannigfaltig, 
die Theilnahme bis zum letzten Augen¬ 
blick eine sehr rege. 

Einen grossen Theil der Verhandlungen 
nahm die Abdominalchirurgie ein. Der 
Vortrag von Kraske über Beckenhoch¬ 
lagerung und ihre Gefahren gab, wie bei 
der Wichtigkeit des Gegenstandes für die 
moderne Abdominal- und Beckenchirurgie 
zu erwarten, zu eifriger Discussion Ver¬ 
anlassung. Kraske giebt selbst die grossen 
Vortheile der Lagerung zu, hat aber ver¬ 
schiedene üble Erfahrungen gemacht, die 
er der Methode zur Last legt, so Pero¬ 
neuslähmung, Emphysem der Bauchdecken 
bei Laparotomie, Exitus bei Myocarditis 
trotz Aethernarcose, Darmverschluss, Ab¬ 
schnüren des Colon durch das Netz. Be¬ 
sonders bei fetten Personen wirkt wohl 
die Stauung in der V. gastr. sup. nach¬ 
theilig. König ist besonders bei der Ope¬ 
ration von Bauchabscessen mit der Becken¬ 
hochlagerung vorsichtig. Kümmell,Tren¬ 
delenburg, v. Eiseisberg, Lauenstein 
haben wenig Nachtheile, aber viel Vor¬ 
theile von der Beckenhochlagerung ge¬ 
sehen. 

Wullstein bespricht vergleichend-ana¬ 
tomisch und entwicklungsgeschichtlich die 
Pathologie des Sanduhrmagens. Ausser 
den bisher üblichen Verfahren zur chirur¬ 
gischen Heilung dieser Erkrankung em¬ 
pfiehlt er ein Vorgehen, dass er an Hunden 
ausprobirt hat, nämlich Gangränerzeugung 
des Sporns durch Umstechung und Gefäss- 
unterbindung. Narath demonstrirt einen 
von ihm construirten, recht praktischen 
Apparat zur Erleichterung der Magendarm¬ 
operationen, „Gastrophor“ genannt. Zur 
Technik der Gastroenterostomie spricht 
noch v. Kader. 

Petersen berichtet über die Erfolge 
der Heidelberger Klinik bei der Operation 
von Magencarcinom. Von 30 Patienten, 
bei denen wegen Carcinom Magenresection 
ausgeführt wurde, sind 12 bei der Ope¬ 
ration gestorben, von den übrigen 18 sind 
noch 7 am Leben. Die Resection selbst 
wird sehr ausgedehnt gemacht, weniger 

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radical wird bei der Ausräumung der re¬ 
gionären Lymphdrüsen vorgegangen. Die 
Resultate bei diesem Vorgehen und seine 
mikroscopischen Untersuchungen führen 
ihn zu dem Schluss, dass in den Drüsen 
viele Carcinomzellen zu Grunde gehen, da 
man annehmen muss, dass schon Meta¬ 
stasen in den regionären Drüsen bestehen. 
Die Resultate der Magenchirurgie sind 
besser, als man jetzt allgemein anzunehmen 
geneigt ist. Seine Statistik zeigt, dass die 
Gastroenterostomie das Leben durchschnitt¬ 
lich um 4—5 Monate, die Magenresection 
um 6—8 Monate verlängert. Das Magen¬ 
carcinom hat mehr die Neigung, sich in 
der Schleimhaut auszudehnen, während das 
Rectumcarcinom mehr nach der Tiefe 
wächst. 

Brodnitz zeigte das Präparat eines 
peptischen Magengeschwürs, dass sich 
nach Gastroenterostomie gebildet hatte. 
Es war mit den Bauchdecken fest ver¬ 
wachsen und machte den Eindruck einer 
Netzhernie. Die ganze gastroenterostomo- 
tische Partie musste entfernt werden. 
Entstehung einer Magenfistel, die bei Rec¬ 
talernährung leicht heilte. Jetzt hat sich 
wieder ein Ulcus pepticum gebildet, das 
intern erfolgreich behandelt wird. 

Steiner theilt einen Fall schwerer 
chronisch eiteriger Dysenterie mit, der 
durch temporäre Darmausschaltung geheilt 
wurde. 

Ueber selbstständige Reparation von 
Darmstenose, die dit Symptome einer In- 
vagination zeigte, spricht Haasler unter 
Anführung einiger Fälle. Schl off er führt 
die Entstehung mancher Stricturen auf Ver¬ 
letzung des Mesenteriums zurück; Darm¬ 
narben konnte er experimentell so erzeugen. 

In einem grossen Bruchtheil von Her¬ 
nien bei Kindern hat Maass einen neu¬ 
gebildeten Bruchsack gefunden; die Bruch¬ 
pforte braucht nicht verändert zu sein. 
Bei Nabelbrüchen empfiehlt er statt der 
fortlaufenden Naht die Tabaksbeutelnaht 
Seine Erfahrungen beziehen sich auf 80 
Fälle von Hernien, sie werden von Cr edel 
bestätigt. Zur Behandlung von Hernien 
empfiehlt Eckstein Hartparaffinprothesen. 
Diese Methode wird in der Discussion 
verworfen. Eine operable Hernie ist zu 
operiren, die Paraffinprothese verdeckt 

Original frorn 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


309 


die Hernie, aber sie heilt sie nicht. Der 
Unterschied zwischen Hart- und Weich¬ 
paraffin ist in den Resultaten und der 
Gefahr der Embolie nicht gross, wohl 
aber der Unterschied in der Schwierigkeit 
der Herstellung der Prothesen. 

Clairmont hat den experimentellen 
Nachweis geliefert, dass die Darmgifte, 
die sich bei Ileus bilden, von Bakterien 
stammen; es sind echte Toxine, wie ihre 
Hitzebeständigkeit zeigt. Immunisirungs- 
versuche mit Serum waren erfolglos. 

Die Vorträge von Payr über Frühope¬ 
ration der Epityphlitis und von Sonnen¬ 
burg und Federmann über die Bedeutung 
der Leukocytose bei der Perityphlitis gaben 
Anlass zu einer recht lebhaften Discussion, 
die leider wegen der Fülle der noch aus¬ 
stehenden Vorträge abgekürzt werden 
musste. Payr macht darauf aufmerksam, 
dass unter Frühoperation ein Vorgehen 
nach den allerersten Erscheinungen von 
Appendicitis zu verstehen ist, die noch 
ganz leicht sind, denn die ersten stürmi¬ 
schen Erscheinungen können schon eine 
Perforation bedeuten, und dann kann von 
einer Frühoperation keine Rede mehr sein. 
Wohl nur auf diesen Unterschied im Be¬ 
griff der Frühoperation ist auch der Unter¬ 
schied von 2—3 % Mortalität in seinen 
Fällen gegen 6—9% in Sprengel’s Fällen 
zurückzuführen. Die Operation soll nach 
dem allerersten Anfall ausgeführt werden. 
Wenn auch die Fossa iliaca frei ist, so 
kann der Processus vermiformis verlagert 
und schwer erkrankt sein, und Abwarten 
kann verhängnisvoll werden. Sprengel 
ist ein überzeugter Anhänger der Früh¬ 
operation. Seine Resultate haben sich un¬ 
geheuer verbessert, seitdem er im Braun¬ 
schweiger Krankenhaus alle Perityphlitiden 
auf die chirurgische Abtheilung bekommt 
und sie früh operiren kann. Er macht 
keinen Flankenschnitt, sondern eröffnet 
neben dem M. rectus. Noch begeisterter 
spricht sich Riedel für die Frühoperation 
aus. Er hat die Aerzte in der Umgegend 
von Jena für die Frühoperation zu inter- 
essiren verstanden und erhält deshalb die 
Kranken recht frühzeitig. Er operirt sofort, 
wenn die Kranken eingeliefert und die 
Diagnose sicher gestellt ist. Mittels Zick¬ 
zackschnitt eröffnet er die Bauchhöhle 
über dem Appendix; ist der Appendix 
krank, aber noch nicht perforirt, so ex- 
stirpirt er ihn und näht den Bauch wieder 
zu; ist er bereits perforirt, so wird drainirt. 
Auch Körte spricht sich für die Früh¬ 
operation aus. Kümmell räth, zu indi- 
vidualisiren. Man sähe den Fällen meist 


an, ob man gleich operiren müsse, oder 
man bis zum intermediären Stadium warten 
könne. Sei letzteres möglich, so sei es 
immer zu empfehlen, da dann die Verhält¬ 
nisse einfacher und die Virulenz der Eiter¬ 
erreger abgeschwächt sei. Es sei immer 
zu bedenken, dass eine Laparotomie ein 
schwerer Eingriff sei. Meisl führt nach 
seinen Untersuchungen die Obliteration 
des Processus auf eine Endophlebitis obli- 
terans zurück. Federmann hat in einer 
grossen Reihe von Perityphlitiden aus dem 
j Material Sonnenburg’s fortlaufende täg¬ 
liche Zählungen der Leukocyten vorge¬ 
nommen. Er kam zu dem Schluss, dass 
nur oft wiederholte, regelmässige Zählungen 
mit Anlegung einer Curve von Werth sind. 

' Er glaubt, aus der Bestimmung der Leuko- 
I cytose einen Schluss darauf ziehen zu 
dürfen, ob der Verlauf der Krankheit ein 
i gutartiger oder stürmischer sein wird. 

Auch bei freier Peritonitis giebt die Leuko- 
! cytose einen guten Prüfstein für die Schwere 
der Erkrankung ab. Dauernde erhebliche 
i Vermehrung der Leukocyten zeigten die 
‘ Fälle, die in Heilung übergingen, während 
I die Fälle mit tödtlichem Ausgang eine 
! schnell abfallende Leukocytose zeigten. 
Federmann legt der Bestimmung, der 
Leukocytose grossen diagnostischen und 
prognostischen Werth bei, allerdings unter 
gleichzeitiger Beobachtung des klinischen 
Bildes. Demgegenüber sprach sich Spren¬ 
gel, dessen einfache, kritische Erörterungen 
überhaupt sehr überzeugend wirkten, dahin 
aus, dass nach seinen Erfahrungen der Be¬ 
stimmung der Leukocytose kein Werth 
beizumessen sei, sie sei nur ein Mittel der 
Internen, den Chirurgen von der Operation 
abzuhalten. In demselben Sinne sprach 
sich Riedel aus, der besonders darauf auf¬ 
merksam machte, dass durch Blutkörperchen¬ 
zählerei oft der richtige Zeitpunkt für die 
Operation versäumt werde. 

v. Brunn berichtet über Pneumococcen- 
peritonitis. Dieselbe lokalisirt sich meist 
unterhalb die Nabels; die im Bauch vor¬ 
handene Flüssigkeitsmenge ist sehr gross, 
die Temperaturcurve entspricht nicht einer 
eiterigen Peritonitis. Das Exsudat ist sehr 
fibrinreich und neigt zur Abkapselung. Im 
Anfang bestehen oft Durchfälle, später ist 
Verwechselung mit Tuberkulose möglich. 
Spontanheilung durch Durchbruch, meist 
am Nabel, kommt vor. 

In einem Fall, der wie Tumor des 
Ductus choledochus aussah, fand Körte 
eine Verengerung der Choledochusmündung. 
Er spaltete den verengernden Ring, er¬ 
weiterte ihn, vernähte die Erweiterung, 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


führte einen Nelatonkatheter ein, den er 
nach aussen leitete. Auch den Ductus 
Wirsungianus drainirte er. Die Heilung 
erfolgte per primam. An dem gewonnenen 
Pankreassaft wurden interessante physio¬ 
logische Erfahrungen gemacht. 

Bunge hat mit Erfolg versucht, Pankreas¬ 
blutung und Fettgewebsnekrose zu er¬ 
zeugen. Er schreibt der Embolie grosse 
Bedeutung zu und räth sofortigen Eingriff, 
v. Beck hat im Anschluss an andere Ope¬ 
rationen dreimal Pankreasblutung erlebt. 
Köhler hat zwei derartige Fälle mit Erfolg 
operirt. 

Kümmell trägt seine reichen Erfah¬ 
rungen über die neuen Untersuchungs¬ 
methoden und operativen Erfolge bei Nie¬ 
renkrankheiten vor. Nierensteine können 
seiner Ansicht nach bei jedem Patienten 
und bei jeder Grösse und Beschaffenheit 
der Steine auf der Röntgenplatte wieder¬ 
gegeben werden. Der Ureterenkatheteris- 
mus bietet grosse Vortheile. Er ist unge¬ 
fährlich, auch bei Blasentuberkulose. Die 
Kryoskopie des Harns beider Nieren, der 
gesondert aufgefangen wird, giebt wichtige 
Aufschlüsse über die Erkrankung der bei¬ 
den Nieren und ist für die Aussichten einer 
Operation von grossem prognostischen 
Werth. Das gilt auch für die Diagnose 
einer aufsteigenden Nephritis bei Prostata¬ 
hypertrophie. Bei grossen gutartigen Tu¬ 
moren und bei Infektionskrankheiten, wie 
Typhus abdominalis u. a. m., konnte er die 
von anderer Seite beobachtete Erniedrigung 
des Blutgefrierpunktes nicht finden, hin¬ 
gegen ist in den späteren Stadien bös¬ 
artiger Tumoren, wenn der allgemeine Stoff¬ 
wechsel gestört ist, der Blutgefrierpunkt 
erniedrigt. Bei weiterer Vervollkommnung 
der Kryoskopie wird man den Nierentod 
vermeiden können. Barth bezweifelt es, 
dass alle Nierensteine sich mit dem Rönt¬ 
genapparat nachweisen lassen. Betreffs 
Ureterenkatheterismus und Kryoskopie des 
Urins ist er derselben Ansicht, wie Küm¬ 
mell. Unterstützt wird die Kryoskopie 
durch die Phloridzinmethode, d. h. durch 
die Fähigkeit jeder einzelnen Niere nach 
Phloridzininjektion Zucker auszuscheiden. 
Die funktionelle Nierendiagnostik giebt uns 
heute bisweilen die Berechtigung, ruhig 
zuzusehen, wo man früher sicher zum 
Messer gegriffen hätte. Die Gefrierpunkts¬ 
bestimmungwird diagnostisch ergänzt durch 
die elektrische Leitungsfähigkeit, wie Lö¬ 
wenhardt gefunden hat, da dieselbe mit 
ihr parallel geht. Derselbe stellt eine Pa¬ 
tientin vor, deren trostlosen Zustand er 
bedeutend gebessert hat, indem er bei 

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rechtsseitiger Pyonephrose und linksseiti¬ 
ger Pyelonephritis bei rechtsseitiger Ab¬ 
knickung des Ureters Dauerkatheterismus 
beider Ureteren ausführte. Riese äusserte 
sich zur Klinik der subcutanen Nieren¬ 
verletzungen. Die Gefahren bestehen in 
Peritonitis, Verblutung, Eiterung, Später¬ 
krankung, Sackbildung, Aneurismen etc. 
491 einschlägige Fälle hat er zusammen¬ 
gestellt. In den meisten Fällen, die ope¬ 
rativ behandelt wurden, reichte die Lapa- 
ratomie nicht aus, sondern die Niere musste 
noch freigelegt werden. Es ist deshalb 
immer der Lumbalschnitt von vorn herein 
auszuführen, natürlich nur in schweren 
Fällen; in leichten Fällen ist exspectativ 
vorzugehen. Körte hat in 13 Jahren Ge¬ 
legenheit gehabt, 31 Nierenrupturen zu be¬ 
obachten; hiervon heilten 26, 5 starben; 
19 isolirte Nierenrupturen heilten alle. In 
27 Fällen war die Behandlung exspectativ. 
Auch v. Beck räth, nur bei schweren 
Komplikationen sofort operativ vorzugehen. 
22 Mal war er in die Lage gesetzt, wegen 
Nierenzerreissung einzuschreiten. Einmal 
musste er eine zugleich zerrissene Milz 
exstirpiren; in einem anderen Fall exstir- 
pirte er sie nicht und sie heilte ebenso 
wie die zerrissene Niere. Behandlung be¬ 
stand in Ruhelage und Eisblase. 

Hock demonstrirt ein Instrument zur 
Separation der Blase und gesonderten Auf- 
fangung der Urine beider Nieren. Kutner 
empfiehlt warm die Bottini’sche Opera¬ 
tion. Er demonstrirt einen 600 g schweren 
Blasenstein, den er durch Sectio alta mit 
Abtragung der Recti entfernt hat; 2 Tage 
nach der Operation ging der Kranke an 
Urämie zu Grunde. Bei der Section fanden 
sich die Nieren weitgehend erkrankt. Bei 
Seitenschnitten der Bottini’schen Opera¬ 
tion erlebte Freudenberg in 2 Fällen 
tödtliche Nachblutung; die Schnitte waren 
über die Prostata hinausgegangen. Ferner 
sah er einen eigenthümlichen Fall von 
Blasenruptur bei Bottini'scher Operation: 
trotz sofortiger Laparotomie Tod. Schoe- 
maker bevorzugt die Prostatectomia supra- 
pubica. Die anatomischen Studien über 
den Blasenverschluss bei Prostatahyper¬ 
trophie führten Reerink zu dem Schluss, 
dass die perinealen Methoden bei Prostata¬ 
hypertrophie vorzuziehen sind. Eine neue 
Art des Blasenschnittes giebt Frank an. 

Bei einem 4jährigen Knaben bildete 
sich nach Ueberfahrung in Folge Leber¬ 
ruptur mit Verletzung der Gallenwege ein 
grosser abgekapselter Gallenerguss. Sechs 
Wochen nach der Verletzung machte Hahn 
die Laparotomie; die Rupturstelle im Duc- 

Original from 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


31 1 


tus cysticus oder choledochus, war nicht 
zu finden, doch bestand eine Verwachsung 
einer Jejunumschlinge mit dem Colon trans- 
versum und hier eine Oeffnung. Tampo¬ 
nade. Heilung nach 6 Wochen. 

Schloffer sucht an der Hand von fünf 
Operationsgeschichten und Photographien 
und Präparaten nachzuweisen, dass die ab¬ 
dominale Methode der Rectumexstirpation 
nicht so schwierig ist, als allgemein ange¬ 
nommen wird. Kümmell ist derselben 
Ansicht. Er benutzt die abdominale Me¬ 
thode als Voroperation zur Lockerung des 
Mesorectums und führt danach die Exstir¬ 
pation von unten aus, ohne Knochenope¬ 
ration. Auch Kraske spricht sich für die 
kombinirte abdominal-sacrale Methode aus. 

Riedel spricht über die Behandlung 
des Kryptorchismus. Die Schwierigkeit der 
Operation besteht darin, den Testikel ins 
Scrotum herunterzuholen, nicht, ihn darin 
festzuhalten. Ursache ist nicht die Rigi¬ 
dität des Samenstranges, sondern die Ver¬ 
kürzung der Vasa spermatica; sie müssen 
gedehnt werden. Er legt den Schnitt höher 
oben an. Auch König (jun.) ist dieser 
Ansicht. Heidenhain lässt 2 — 3 Jahre 
lang ein nach unten federndes Leisten¬ 
bruchband tragen und ist mit den dadurch 
erzielten Resultaten zufrieden. Manchmal 
bildet sich dabei eine Scrotalhernie, doch 
verschwindet sie allmählich durch Obli¬ 
teration. 

Im Anschluss an sieben selbst ausge¬ 
führte Milzexstirpationen berichtet Jordan 
über seine Erfahrungen auf diesem Gebiet. 

Derselbe liess sich über die von Lucas 
Champonniere schon lange empfohlene 
und jetzt doch wohl viel mehr, als Redner 
annimmt, ausgeführte Massagebehandlung 
der frischenFracturen aus. Er hat sie in über 
100 Fällen der Heidelberger Klinik ausge¬ 
führt. Neben der Massage werden Schienen¬ 
verbände angelegt. Mit den Resultaten ist 
er sehr zufrieden. Die Heilung war schneller 
und die Function besser, als bei fest¬ 
stellenden Verbänden. Wenn er ja mit 
dem Rathschlage, die feststellenden Ver¬ 
bände auf das geringste Maass zu be¬ 
schränken, zweifellos Recht hat, so ist 
doch immer zu bedenken, dass er vor 
einem Forum von Chirurgen sprach. Nur 
für diese ist sein Vortrag durchweg zu 
berechnen. In der Hand des praktischen 
Arztes, für den denn doch die Diagnose, 
die dem Chirurgen oft genug Kopfzer¬ 
brechen macht, nicht immer sicher zu 
stellen ist, und der nicht immer über einen 
Röntgenapparat verfügt, ist die frühzeitige 
Massage ein recht zweischneidiges Schwert, 

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er wird gut daran thun, sich recht oft der 
stillstellenden Verbände zu bedienen, aller¬ 
dings möglichst wenig und nur den un¬ 
bedingt stillzustellenden Theil der Extre¬ 
mität in Verband legen. Ausserdem dürfen 
wir wohl auch noch erwarten, dass von 
chirurgischer Seite gegentheilige Erfahrun¬ 
gen laut werden, denn von einer allge¬ 
meinen Anwendung der Methode kann vor¬ 
läufig natürlich noch keine Rede sein. 

Jordans Ansicht wurde von Barden¬ 
heuer ebenfalls vertreten. 

In einem Falle von altem Kniescheiben¬ 
bruch mit Quadricepslähmung hat Schanz 
den Sartorius an den beiden Patellafrag¬ 
menten festgenäht. Das Resultat ist vor¬ 
züglich; der Patient geht ungestört, steigt 
Treppen, streckt das Bein kräftig. 

Kölliker lässt der Versammlung eine 
Schiene zur Behandlung des Schenkelhals¬ 
bruches vorführen; sie bietet nichts beson¬ 
ders Neues. Auch Vulpius hat zu der 
Menge schon bestehender Schienenmodelle 
eine neue Universalschiene aus Aluminium 
zugefügt. Sie besteht aus einem Stab, auf 
den beliebig Querstücke aufgeschoben 
werden können. Durch die Biegsamkeit 
des Metalls lässt er sich den verschieden¬ 
sten Formen anpassen. Die Schiene ist 
leicht, was wohl auch ihr einziger Vorzug 
vor manchen schon bekannten Modellen 
ist. Warnekros zeigt eine abnehmbare 
Schiene zur Heilung von Unterkiefer¬ 
brüchen. 

Im Gegensatz zu der in letzter Zeit 
vielfach empfohlenen blutigen Behandlung 
veralteter Hüftgelenkluxationen empfiehlt 
Gold mann die unblutige Methode. Er 
fand eine Erleichterung der Reposition 
darin, dass er die hintere Luxation in eine 
vordere verwandelte und umgekehrt. Seine 
Resultate waren gut. 

In einem Fall von veralteter Luxatio 
radii nach vorn hat Riese die blutige Re¬ 
position mit Erhaltung des Capitulum radii 
ausgeführt. Das Resultat ist gut, wie der 
vorgestellte Patient beweist. Sprengel 
hat in einem derartigen Fall auch die 
blutige Reposition versucht, hat aber dann 
doch, um ein gutes Dauerresultat zu be¬ 
kommen, die Resection des Radius¬ 
köpfchens anschliessen müssen. Katzen¬ 
stein hat aus der Gelenkkapsel ein künst¬ 
liches Ligamentum annulare gebildet, mit 
gutem Erfolg. König ist für Resection 
des Radiusköpfchens, da die Resultate 
ebenso gut seien. 

Bunge hat aus dem Material der 
Königsberger Klinik eine reiche Zusammen¬ 
stellung über die Frage der Bedeutung von 

Original fro-m 

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312 


Juli 


Die Therapie der 


traumatischen Schädeldefecten und deren 
Deckung geschaffen. Die Patienten mit 
offenen Schädeldefecten haben zumeist 
dauernde Beschwerden zurückbehalten, die 
um so grösser waren, je älter die Schädel- 
defecte waren. Bei einigen hat sich in der 
Folge richtige Epilepsie eingestellt. Da, 
wo primär oder secundär der Defect ge¬ 
deckt wurde, waren die Resultate gut. 
Bei secundärer Deckung wurde das ein¬ 
gepflanzte Knochenstück häufig resorbirt. 
Wo es möglich war, wurde stets die 
Deckung nach Müller-König vorge¬ 
nommen. 

Müller hat eine Phalanxdiaphyse eines 
Fingers durch ein Periostknochenstück der 
Ulna ersetzt. Die Function wurde vor¬ 
züglich, das Mitwachsen des Fingers wurde 
nicht gestört. Derselbe berichtet über 
Osteochondritis dissecans. 

Gelenkkapselenchondrome sind nach 
Riedels Erfahrungen als Folgeeiner hyper¬ 
trophischen specifischen Gewebswucherung 
aufzufassen, der ein Trauma zu Grunde liegt. 
So hat er einmal auch nach starker Zerrung 
des M. brachialis int. eine knöcherne Ge¬ 
schwulst in diesem Muskel beobachtet und 
exstirpiert. 

An der Hand von Röntgenbildern weist 
Ludloff auf die Bedeutung der Knochen¬ 
protuberanzen bei Knochentuberkulose, so¬ 
wie auf die grössere Durchsichtigkeit des 
tuberkulös erkrankten Knochens hin. In 
der Nähe der Protuberanzen sitzt immer 
ein tuberkulöser Herd. Die Tuberkulose 
lokalisirt sich gewöhnlich an der Knorpel¬ 
knochengrenze. 

Stolz und Credel berichten über 
2 Fälle des seltenen Schädelechinococcus. 

v. Oettingen demonstrirt eine neue 
Methode des Redressements des Klump- 
fusses Neugeborener durch Binden. Die 
Binde muss bei rechtwinklig gebeugtem 
Knie über dasselbe angelegt werden. Die 
Behandlung muss möglichst früh beginnen. 

Für die Exarticulatio pedis durch Zirkel¬ 
schnitt statt der gekünstelten jetzt gebräuch¬ 
lichen Methoden bricht Samter eine Lanze. 
Man kann oft bei dieser Methode mehr 
erhalten, als bei den anderen. Der Stumpf 
des vorgeführten Patienten ist gut. 

Anschliessend an den vorjährigen Vor¬ 
trag von Mikulicz empfiehlt Borchard 
bei circumscripten malignen Tumoren des 
Oberschenkels die Resection statt der Am¬ 
putation oder Exarticulation. Bei einem 
19jährigen Mädchen mit myelogenem Sar- 
com des Oberschenkels ging er so vor; 
er resecirte 15 cm. Die Konsolidation 
dauerte längere Zeit. Jetzt ist sie geheilt. 

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Gegenwart 1903. 


Körte berichtet über einen Patienten mit 
Spindelzellensarkom, bei dem er vor5 Jahren 
die Resection ausgeführt hat. Auch Gold¬ 
man n ist bei drei Patienten mit Tumor 
der Tibia so vorgegangen. Die Photo¬ 
graphien zeigen eine deutliche functionelle 
Hypertrophie der Fibula des operirten 
Unterschenkels nach der Resection. 

Höpfner hat zahlreiche Versuche über 
Gefässtransplantation und Replantation am- 
putirter Extremitäten an Tieren gemacht. 
So resecirte er Stücke aus Blutgefässen 
und pflanzte sie umgekehrt wieder ein, 
setzte Stücke der A. femoralis in die Carotis 
ein. Die Einheilung erfolgte ohne Funk¬ 
tionsstörung, theils nach Naht, theils nach 
Anwendung einer Magnesiumprothese. 
Ueberpflanzung von Venen in Arterien 
misslangen, desgleichen Ueberpflanzung 
von Arterien zwischen verschiedenen Tier- 
species. Vortragender fordert zur Nach¬ 
ahmung beim Menschen in geeigneten 
Fällen auf. Payr hat ebenfalls mit gutem 
Erfolg Gefässe transplantirt. 

Interessante Ergebnisse brachte der Vor¬ 
trag von Krause über die chirurgische 
Behandlung der nicht traumatischen Jack- 
son sehen Epilepsie. Er hat die Versuche 
von Hitzig wiederholt und gefunden, dass 
beim Affen die hintere Centralwindung 
keine Bedeutung für die Lokalisation hat. 
Vier einschlägige Fälle hat er operirt. Die 
anatomische Bestimmung der Centra war 
in jedem Falle falsch. Er legt in grosser 
Ausdehnung das Gehirn frei und bestimmt 
das gesuchte Centrum durch faradische 
Reizung. Ist es gefunden, so wird es in 
einer Tiefe von 5 mm exstirpirt. Die 
Lähmung, die nach Exstirpation von 5 bis 
25 mm eintrat, ging immer zurück. Wenn 
keine Veränderungen, wie Narben, Cysten 
u. a. gefunden werden, ist die Prognose 
schlecht. Die entfernten Theile des Gehirns 
waren meist stark krankhaft verändert. 
Nach der Ansicht Brauns muss dieSchädel- 
öffnung grösser sein, als 5—6 cm im Quad¬ 
rat, wenn man sich über die Topographie 
der Hirnwindungen klar werden will. Die 
Heilungen sind sehr vorsichtig aufzunehmen. 
Er hat 1890 einen Mann operirt, der dann 
7 Jahre frei von Anfällen war, wonach sie 
wieder eintraten. Kümmell glaubt auch 
nicht an eine Dauerheilung, sieht aber schon 
einen grossen Erfolg darin, dass die Kranken 
auf Monate oder Jahre von ihren Leiden 
befreit werden. Derselben Ansicht ist 
Jolly. 

Bei Kopfschüssen hat Wilms unter 
dem Kinn beiderseits eine hyperalgetische 
Zone gefunden, die er auf das 2., 3. und 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


313 


4. Cervicalsegment und Anastomosen des 
Plexus caroticus mit dem Halsmark zurück¬ 
führt. Brodnitz sah einen ebensolchen 
Fall. Müller konnte das Symptom an sich 
nach Aufraeisselung des Warzenfortsatzes 
feststellen. 

Ringel teilt Fälle von ausgedehnter 
Rippenresection mit Resection der Scapula 
mit. Franke beschreibt eine interessante 
Verletzung. Durch Sturz von der Leiter 
bohrte sich ein Besenstiel 36 cm weit im 
3. Intercostalraum in den Thorax einer 
Frau. Er ging translateral durch beide 
Thoraxhälften hindurch, verletzte aber an 
der Austrittsstelle die Haut nicht. Dieser 
Umstand rettete der Frau das Leben. Es j 
bildete sich ein ungeheures Hautemphysem ' 
an Brust, Hals und Kopf und doppelter , 
Pneumothorax. Der Besenstiel wurde heraus- j 
gezogen; feste Tamponade und Verband. 
Glatte Heilung in 14 Tagen. Dasselbe sah j 
v. Beck nach einer derartigen Verletzung 
durch eine Pistolenkugel. Rehn und j 
Garre sind für Annähung der Lunge bei | 
traumatischem Pneumothorax, v. ßramann i 
empfiehlt in solchen Fällen Einnähung eines j 
festen Drains in die Thoraxwunde, an dem 
ein elastischer Schlauch befestigt wird. 
Bei der Inspiration soll dann der Schlauch 
wie ein Ventil wirken. Bezüglich Thoraco- 
plastik spricht sich Jordan für multiple 
Rippenresectionen ohne Entfernung der 
Clavicula und Scapula aus. Die Decorti- 
cation der Lunge ist dabei in jedem Fall 
zu empfehlen, um ihre Ausdehnungsfähig¬ 
keit festzustellen. Die Erfolge bei Tuber¬ 
kulose sind gering, man erlebt häufig Ver¬ 
schlimmerung des Grundleidens nach dem 
Eingriff. Rehn warntvorUnterschätzungder 
Gefahren einer Thoracoplastik und erinnert 
an die Bronchialfisteln. Ihm schliesst sich 
Perthes an. König (jun.) ist für Incision 
der Schwarten und teilweise Decortication. 

Bei einer Frau von 51 Jahren, die unter 
den Erscheinungen einer Pleuritis erkrankte, 
entfernte v. Eiseisberg einen grossen 
Mediastinaltumor,, ein Epidermoid. Von 
Seiten der Lunge und des Herzens be¬ 
stehen keine Beschwerden mehr, nur sind 
noch Neuralgien vorhanden. Ein anderer 
Fall, den er früher operirt hat, hatte keinen 
so guten Ausgang. 

Brauer stellt 2 Patienten vor, bei denen 
eine chronische Verwachsung des Pericard 
mit dem Mediastinum bestanden hatte mit 
Stauungen, diastolischem Herzstoss, fort¬ 
schreitender Herzinsuffizienz etc. Die in¬ 
terne Behandlung hatte gar keinen Erfolg. 
Da die Herzinsuffizienz nach seiner An¬ 
sicht auf die Einziehung und Verwachsung 


der unnachgiebigen Thoraxwand zurück¬ 
zuführen ist, so resecirte er die in Betracht 
kommenden Rippenknorpel, in einem Fall 
auch ein Stück des Sternum. Die Myo- 
carditis schwand nicht ganz, wohl aber 
Ascites, Leberstauung, Cyanose, und die 
Leute wurden wieder arbeitsfähig. Cardio- 
lysis verlängert den Eingriff sehr, was 
bei der Gefahr der Narkose in diesen Fällen 
sehr zu berücksichtigen ist, ausserdem 
kehren die Verwachsungen doch wieder. 
Das Periost muss auch entfernt werden, 
damit sich keine neuen Rippen bilden. 

Gross war die Zahl der neu mitgetheilten 
Fälle von operativ behandelter Herzver¬ 
letzung: Bei einer Stichverletzung des 
rechten Vorhofs resecirte Schwerin den 
4. und einen Theil des 5. Rippenknorpels, 
erweiterte die Herzbeutelwunde, zog das 
Herz an einem Haltefaden, den er nach 
Pagenstechers Vorgang durch die Herz¬ 
spitze legte, heraus und vernähte die kleine 
Wunde. Trotz Pneumonie, Pleuritis, Em¬ 
pyem der Pleura und des Pericard, die 
sich einstellten, heilte der Mann nach 
2 Monaten. Noll ging bei einer Schuss¬ 
verletzung des Herzens folgendermassen 
vor: Erweiterung der Einschussöffnung in 
Thoraxwand und Pericard; Naht der 17* cm 
langen Wunde, die stark blutete. Drainage 
des Pericard und der Pleura. Empyem. 
Heilung. Kugel (7 mm) lag unten in der 
linken Pleurahöhle. Bei einer Stichver¬ 
letzung des linken Ventrikels mit völliger 
Pulslosigkeit zog Wolf, um die Wunde 
vernähen zu können, das Herz mit einer 
Kugelzange heraus. Nach 14 Tagen Exitus 
an Empyem der Pleura und des Pericard. 
Barth räth auf Grund von 3 eigenen 
Fällen, von denen einer starb, die Wunde 
im Pericard zu nähen, nicht zu drainiren, 
da die Drainage zu ausgedehnten Ver¬ 
wachsungen mit der Thoraxwand führe. 
Rehn hält das Fassen mit der Kugelzange 
für sehr gewagt. Man solle immer der 
Wunde nachgehen und nicht die Thor¬ 
flügelmethoden anwenden. König hält 
die typischen Methoden für nicht entbehr¬ 
lich, wenn z. B. die Verletzung von hinten 
oder von der Seite her erfolgt ist. 

Zur Exstirpation von Lymphdrüsen am 
Hals und unter dem Kiefer, die noch be¬ 
weglich sind, beschreibt Dollinger ein 
sehr umständliches Verfahren, das er seit 
11 Jahren übt und in 128 Fällen erprobt 
hat. Er legt am hinteren oberen Rande 
des M. sternocleidomastoideus einen 6 cm 
langen Schnitt an und entfernt von hier 
aus die Drüsen. Die Blutung ist gering 
und die hässlichen Narben fallen weg. 


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314 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


Katolizki stellt einen Fall von ausge¬ 
breitetem Lymphangiom der Hand und des 
Vorderarms vor, unter dessen Einfluss 
Knochenschwund und mehrfache Spontan- 
fracturen durch Druckatrophie eintraten. 
Payr hat in einem Fall von Lymphangiom 
des Gesichts Gerinnung und Heilung durch 
Versenkung mehrerer Magnesiumpfeile er¬ 
zielt, v. Bramann hat Erfolg mit Injection 
von Carbolsäure gehabt. 

Wu liste in räth, zur Heilung des Caput 
obstipum nicht nur den verkürzten Sterno- 
cleidomastoideus zu durchschneiden, son¬ 
dern auch den gesunden um A —6 cm zu 
verkürzen. Die Gefahr eines Recidivs auf 
der früher gesunden Seite bestehe nicht. 

Bei Facialislähmung hat Hackenbruch 
auf den Facialis s /s des der Länge nach 
gespaltenen N. accessorius aufgepfropft. 
Nach 9 Monaten wurden die Mundwinkel 
schon bewegt. Auch mit Pfropfung des 
N. tibialis auf den N. peroneus bei spinaler 
Kinderlähmung hat er Glück gehabt. Körte 
hat mit gutem Erfolg den Hypoglossus auf 
den gelähmten Facialis gepfropft. D o 11 i n g e r 
räth, den Ramus cervicalis des N. acces¬ 
sorius zur Anastomose zu nehmen, da nach 
Resection der Nerven nicht selten Läh¬ 
mungen im Sternocleidomastoideus auf- 
treten. 

Bei Kropffisteln, mögen sie auf Fremd¬ 
körper, Strumitis, Tuberkulose, Neubildung 
zurückzuführen sein, räth Payr, den Herd, 
eventuell die kranke Drüsenhälfte, zu be¬ 
seitigen. 

Bei einer Frau, der die ganze Kopf¬ 
haut durch eine Maschine abgerissen 
war, hat Karg den Verlust gut durch 
Thiersch’sche Transplantationen ersetzen 
können. 

Ehrhardt empfahl die Intubation an 
Stelle der Tracheotomie wegen der Kürze 
der Behandlungsdauer. 

Braun, Perthes, Meisl berichten über 
lokale Anaesthesie mit 1% Cocain, dem 
1—5 Tropfen der gewöhnlichen Adrenalin¬ 
lösung zugesetzt sind. - 

Perthes hat von 18 Fällen mit Warzen 
der Hand 16 völlig durch Röntgenstrahlen 
geheilt. Die Röntgenstrahlen sind ein Feind 
der Epithelzellen. Auch ein Ülcus rodens 
carcinomatöser Natur an der Stirn und ein 
Recidiv eines Mammacarcinoms in der 
Operationsnarbe hat er so geheilt. Die 
weichen Röhren sind für die Behandlung 
oberflächlicher Carcinome, die harten Röhren 
für tiefe zu verwenden. Auf das Binde¬ 
gewebe wirken die Strahlen wenig. Lassar 
hat auch ein Cancroid der Nase mit Be¬ 
strahlung geheilt. Nach seiner Erfahrung 

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heilen auch viele Dermatitiden auf Bestrah¬ 
lung. Kümmell erzählt, dass er bei einem 
Arbeiter unter dem dauernden Einfluss der 
Röntgenstrahlen am Handrücken sich ein 
Ekzem, danach ein Ulcus und aus diesem 
ein Carcinom sich bilden sah, das Ampu¬ 
tation nöthig machte. 

Küttner hat die alten Versuche über 
Bluttransfusion wiederholt und hat eben¬ 
falls feststellen können, dass Blut ein be¬ 
sonderer Saft ist. Wenn reine Kochsalz¬ 
infusionen wirkungslos waren, so hat er 
noch Erfolg gehabt mit physiologischer 
Kochsalzlösung, die mit Sauerstoff gesättigt 
war. Er demonstrirt einen kleinen hand¬ 
lichen Apparat zur Aufnahme von Koch¬ 
salzlösung und Sättigung mit Sauerstoff 
und dann zur Infusion. 

Gärtner zeigt einen kleinen Apparat, 
der während der Narkose am Arm des 
Patienten angebracht wird und an dem der 
Puls vermöge eines sich bewegenden 
Zeigers beobachtet werden kann. 

Heusner empfiehlt zur Sterilisirung 
seidener Katheter Kochen in schwefel¬ 
saurem Ammoniak oder Zuckerlösung oder 
Paraffinlösung. Freudenberg wickelt die 
Katheter in Fliesspapier, damit sie sich 
nicht berühren und sterilisirt sie in strö¬ 
mendem Dampf. 

Wessely stellte Versuche über die 
Wirkung lokaler Reize und lokaler Wärme- 
application an. Sie haben nur theoretisches 
Interesse. 

Dührssen berichtet über seine sehr 
günstigen operativen Erfolge in Bezug auf 
Asepsis. Die Heisswasser-Alkohol-Subli- 
matdesinfection der Hände reicht nach 
seiner Ansicht völlig aus. Ne über hat 
durch strenge Asepsis, die er seit 18 Jahren 
durchgeführt, es auf 97°/ 0 primäre Heilungen 
gebracht. Grossen Werth legt er auf Hände¬ 
pflege des Operateurs, da eine rissige Haut 
sich schlecht desinficiren lässt. Der Kranke 
muss gut vorbereitet werden. Die P6ans 
werden an der Spitze erhitzt, damit die 
Blutgerinnung schneller eintritt. Statt der 
Nähte verwendet er Michaux’sche Metall¬ 
klammern. Man soll möglichst trocken 
operiren. Lauenstein weist darauf hin, 
dass man auch bei schon inficirten Sachen 
streng aseptisch Vorgehen muss. Nach 
Neubers Erfahrungen ist das Jodoform in 
Höhlenwunden, bei Injection in die Ge¬ 
lenke das wirksamste unter unseren Anti- 
septicis, weil es sich hier am meisten 
zersetzt und den wirksamen Körper, das 
Jodacetylen abspaltet. 

Ein Abend war der Vorführung von 
Projectionsbildern gewidmet. Zu Ehren- 

Qriginal from 

UNIVERSUM OF CALIFORNIA 





Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


315 


mitgliedern wurden Czerny und Kocher, 
zum Vorsitzenden für das nächste Jahr 
B rau n-Göttingen gewählt. Mit dem Kongress 
war eine Ausstellung verbunden. Auf der¬ 
selben fielen besonders die schönen Rönt¬ 
genbilder von injicirten Gefässen von 


Stegmann aut. Ausser vielen bewährten 
alten Sachen war wenig besseres Neues 
ausgestellt, namentlich kommt man in dem 
Kapitel Operationstisch nächstens wohl an 
die Grenze des möglichen Unpraktischen 
und Unschönen. 


Zweiter Congress der Deutschen Gesellschaft für orthopädische 

Chirurgie. 

Bericht, erstattet von Prof. Dr. Joachlmsthal -Berlin. 


Am 2. Juni fand in Berlin in dem Audi¬ 
torium der chirurgischen Universitätsklinik 
unter Hoffa’s Leitung der zweite Congress 
der Deutschen Gesellschaft für orthopädische 
Chirurgie statt. Als Hauptverhandlungs¬ 
themata hatte die Congressleitung die Frage 
der Sehnenplastik und die Besprechung 
der Schenkelhalsverbiegungen, mit 
besonderer Rücksichtnahme auf ihre Aetio- 
logie, bestimmt. 

Vulpius (Heidelberg)berichtet als erster 
Referent, gestützt auf über 400 eigene Ope¬ 
rationen, über den heutigen Stand der 
plastischen Sehnenoperationen. Er 
bespricht nach einander 1) die plastische 
Verlängerung, 2) die Verkürzung der 
Sehnen, 3) die Sehnenüberpflanzung. 

Die plastische Verlängerung wird er¬ 
zielt durch den Treppenschnitt nach Bayer 
und seine subcutane Modification, durch 
frontale Spaltung der Sehne, durch Sehnen¬ 
durchschneidung im Bereiche des Muskel¬ 
bauches, durch Anlegung einer künstlichen 
Sehne. Die Heilung verläuft wie die der 
Tenotomiewunde: an die primäre binde¬ 
gewebige Regeneration schliesst sich eine 
secundäre tendinöse Regeneration an. Die 
Resultate sind bezüglich der Form und Func¬ 
tion der operirten Sehne sehr gute zu nennen. 

Die Verkürzung erfolgt durch Ex- 
cision eines Sehnenstückes, Durchschnei¬ 
dung der Sehne und longitudinale Ver¬ 
schiebung, durch Faltenbildung, durch Raff¬ 
naht, durch aufsteigende periostale Ueber- 
pflanzung. Die Heilung kommt unter leb¬ 
hafter Regeneration und Degeneration zu 
Stande. Ihre Indicationen findet diese Ope¬ 
ration bei Ueberdehnung von Muskel- 
Sehnennarben, paretischer Erschlaffung (In- 
activität) etc. Die Resultate bestehen in 
der Wiederkehr der Function atrophischer 
Muskeln, z. B. bei der Radialislähmung, in 
der Fixation schlotternder Gelenke. 

Die Ausführung der Sehnenüber¬ 
pflanzung geschieht nach genauer Aufstel¬ 
lung des Operationsplans unter strengster 
Asepsis und Blutleere. Vor der Transplan¬ 
tation muss die vorhandene Deformität cor- 

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rigirt werden. Von den verschiedenen Ver- 
pflanzungsmethoden bevorzugt Vulpius 
die absteigende Transplantation auf den 
nicht durchschnittenen Kraftempfänger. Man 
überpflanze möglichst functionsverwandte 
Muskeln, verlagere die Sehnen subfascial 
oder durch die Membrana interossea. Die 
Befestigung erfolge unter mittlerer Span¬ 
nung mittelst Knopf- und Kreuznähten. Als 
Nähmaterial bevorzugt Vulpius die Seide. 

Die Wunde wird völlig geschlossen, der 
Gypsverband bleibt etwa sechs Wochen 
liegen. Später kommen Massage und 
Uebungen, Schienenstiefel und dergleichen 
zur Verwendung. Voraussetzung für die 
Ausführung der Operation ist ein Functions¬ 
verlust bezw. eine Gleichgewichtsstörung 
innerhalb der Gelenkmuskulatur sowie das 
Vorhandensein von genügend gesundem 
Muskelmaterial. Das Resultat besteht in 
der sofortigen Fixation des Gelenks, die 
durch den Heilverlauf eine definitive wird. 

Es kommt nicht zu einer völligen Resti¬ 
tution von normalem Sehnengewebe. Die 
künstlichen Sehnen dienen als Leitseil für 
die jungen Sehnenfibrillen; sie bewahren 
ferner während des Heilverlaufes die rich¬ 
tige Spannung. Das Endresultat ist ab¬ 
hängig von dem Muskelbefund. Je um¬ 
schriebener die Lähmung war, desto voll¬ 
kommener gestaltet sich der Effect. Die 
Erfolge bestehen in der Beseitigung der 
Deformität, der Wiederkehr activer Beweg¬ 
lichkeit in normalen Bahnen, dem Ver¬ 
schwinden des Krampfes bei spastischen 
Lähmungen. Ihre speciellen Indicationen 
finden die Sehnenüberpflanzungen bei peri¬ 
pheren Lähmungen durch Verluste von 
Sehnen und Nerven, bei spinalen Lähmun¬ 
gen, speciell bei Poliomyelitis, bei spasti¬ 
schen Lähmungen cerebralen und spinalen 
Ursprungs. Ausser den Lähmungen eignen 
sich zur Ueberpflanzung auch Fälle von 
arthrogener Kniecontractur, ferner einzelne 
Fälle von congenitalem Klumpfuss. Ver¬ 
einzelt kamen Sehnenüberpflanzungen bei 
Knick- und Plattfuss, Hallux valgus, Pa- 
tellarluxationen u. a. m. zur Ausführung. 

40* Original fron 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Juli 


316 Die Therapie der 

Lange (München) tritt als Correferent 
im Wesentlichen für das in einem Falle be¬ 
reits von Drobnik angewandte und von 
ihm weiter ausgebaute Verfahren der pe¬ 
riostalen Sehnenverpflanzung ein, 
das darin besteht, dass der kraftspendende 
Muskel nicht mit der gelähmten Sehne, 
sondern direct mit dem Periost vernäht 
wird. Es werden also Muskelansätze am 
Knochen geschaffen, welche unter normalen 
Verhältnissen garnicht existiren. Für die 
Wahl der Einfügungsstelle ist es maass¬ 
gebend, welche Function der neugebildete 
Muskel ausüben soll. Der Vorzug der pe¬ 
riostalen Verplanzung gegenüber der alten 
Methode ist ein doppelter. Einmal gewinnt 
das Resultat wesentlich an Sicherheit, weil 
bei der Bildung des neuen Muskels keine 
atrophische Sehne verwendet wird, und da¬ 
her eine nachträgliche Dehnung unter dem 
Einfluss der Contractionen ausgeschlossen 
ist. Einen zweiten Vorzug sieht Lange in 
der Freiheit, welche man in der Wahl des 
Ansatzpunktes für den neuen Muskel be¬ 
kommt. Man kann dadurch der ausser¬ 
ordentlich verschiedenen Aufgabe, welche 
die Behandlung der Deformitäten stellt, in 
viel präciserer Weise entsprechen, als dies 
bisher möglich war. Sind die Sehnen zu 
kurz, als dass sie direct mit dem Periost 
an der gewünschten Stelle verbunden 
werden können, so bildet Lange künst¬ 
liche Sehnen aus Seidenfäden. Die¬ 
selben erwiesen sich bei Nachoperationen 
als vollkommen von neugebildetem Sehnen¬ 
gewebe umwachsen. 

In der Discussion empfiehlt Schanz 
(Dresden) lange Hautschnitte anzulegen, 
weil durch diese das Operationsfeld über¬ 
sichtlich gemacht wird, und weil alsdann 
die neuen Verbindungen in directem Ver¬ 
lauf zwischen Ursprungs- und Ansatzstelle 
angespannt werden können. Als Material 
für versenkte Nähte benutzt Schanz Draht. 
Der kraftspendende Muskel wird niemals 
durchschnitten. Speciell bespricht Schanz 
noch seine Quadricepsplantationen. 
Er verwendet als Kraftspender Sartorius und 
Biceps oder statt des Letzteren den Tensor 
fäsciae latae, die er in die Quadriceps- 
sehne direct an der Patella einnäht. Seidene 
Sehnen, wie sie Lange für nöthig erklärt, 
hat er dabei niemals anzulegen gehabt. 
In einem Fall von veraltetem Knie¬ 
scheibenbruch stellte Schanz die Func¬ 
tion des Streckapparates dadurch wieder 
her dass er den Sartorius über die Bruch¬ 
stücke der Kniescheibe herüberlagerte und 
mit denselben vereinigte. In neuerer Zeit 
hat Schanz bei Klumpfussoperationen fast 

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Gegenwart 1903. 


regelmässig eine Luxation und eine Ver¬ 
kürzung der Peronaei ausgeführt. Man er¬ 
reicht dadurch einen directeren Verlauf der 
Muskeln und damit günstigere Arbeits¬ 
bedingungen derselben; in ihrer Wirkung 
setzt man an die Stelle der Beugungs- eine 
Streckungscomponente. 

Ueber die Bedeutung der Sehnentrans¬ 
plantation für die Behandlung choreati¬ 
scher Formen der infantilen Cere¬ 
brallähmung berichtet Wittek (Graz) 
an der Hand der Krankengeschichte eines 
9 jährigen Mädchens, das im dritten 
Lebensjahre plötzlich an Convulsionen 
mit gleichzeitiger Bewusstseinsstörung er¬ 
krankt war und nach Ablauf der acuten 
Erscheinungen ein dauerndes Krankheits¬ 
bild mit Erscheinungen einer hochgradigen 
spastischen Paraplegie, vergesellschaftet 
mit Athetose und Chorea, ohne Blasen-, 
Mastdarm- und Sensibilitätsstörungen dar¬ 
bot. Nach erfolglosen Versuchen mit an¬ 
deren Behandlungsmethoden wurde (erst 
an dem einen Bein) der Ueopsoas teno- 
tomirt, am Knie aber Biceps einerseits, 
Semimembranosus sowie Semitendinosus 
andererseits auf die Streckseite überpflanzt. 
Nach vier Wochen zeigte sich nach der 
Verbandabnahme ein überraschend gün¬ 
stiges Resultat. Die choreatischen Be¬ 
wegungen blieben am Knie vollständig aus 
und erschienen an der Hüfte wesentlich 
gebessert. Dasselbe Resultat Hess sich auch 
am andern Bein erreichen. Durch eine 
energische Uebungstherapie gelang es, die 
Kranke ohne Zuhilfenahme von Schienen¬ 
hülsenapparaten etc. zur aufrechten selbst¬ 
ständigen Fortbewegung auf Krücken zu 
bringen, was vordem absolut unmöglich 
war. Es ist also durch die Operation nicht 
nur ein Schwinden der choreatischen Un¬ 
ruhe, sondern auch eine willkürliche Be¬ 
weglichkeit ermöglicht worden. Da die Re¬ 
sultate am Knie (Transplantation) in beiden 
Beziehungen bessere geworden sind als an 
der Hüfte (Tenotomie), so empfiehlt Wittek 
für analoge Fälle auf Grund von Leichen¬ 
versuchen eine Ueberpflanzung auch an der 
Hüfte in der Form, dass der lleopsoas vom 
Trochanter minor abgelöst und auf die Rück¬ 
seite des Trochanter major überpflanzt wird. 
Codivilea (Bologna) und Reiner (Wien) 
berichten über eine Methode zur tendi- 
nösen Fixation von Gelenken bei 
totaler Lähmung. Die Methode, die 
Reiner Tendodese benennt, besteht in der 
Herstellung künstlicher Insertionspunkte für 
natürliche und künstliche Sehnen und be¬ 
zweckt die Fixation der Gelenke und die 
Verhinderung des Eintritts von Lähmungs- 

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Juli 


317 


Die Therapie der 


deformitäten resp. die Verhinderung des 
Recidivs nach der Correctur. Seggel 
(München) schildert seine Befunde bei 
experimenteller Sehnenplastik an der Tri- 
cepssehne des Kaninchens. Aus den von 
Seggel demonstrirten mikroskopischen 
Präparaten ist zu erkennen, dass der Blut¬ 
erguss, der die Plastikschlinge zunächst 
umgiebt, vom Peritenonium aus organisirt 
wird. Letzteres bildet in seinen äusseren 
Schichten eine fibrilläre Scheide. Die Re¬ 
generation in der Sehne selbst setzt erst 
am 15. Tage ein, nachdem eine beträcht¬ 
liche Hyperämie des Sehnenstumpfes zu 
constatiren gewesen ist. Am 50. Tag ist der 
Höhepunkt der Regeneration erreicht. Die 
vom proximalen Sehnenstumpf entstandene 
neue Sehne erstreckt sich durch die ganze 
Länge des Defects und ist von dem noch um 
den Plastikfaden nachweisbaren primären 
Ersatzgewebe haarscharf geschieden. Am 
90. Tage kann von einem Uebergang in den 
Ruhezustand noch nicht gesprochen werden; 
es können sogar auch hier noch Regene¬ 
rationserscheinungen in nekrotisch gewor¬ 
denen Sehnenpartien nachgewiesen werden. 

Spitzy (Graz) bespricht im Anschluss 
an die Discussion über Sehnenplastik, an 
der sich mit rein technischen Mittheilungen 
noch Müller (Stuttgart), Joseph (Berlin), 
Gocht (Halle), Hoffa (Berlin), Möhring 
(Cassel), Drehmann (Breslau), Rehn 
(Frankfurt a. M.) betheiligen, einen Fall von 
Luxation der Sehne des Musculus pollicis 
longus. Im Verlaufe eines neuromuscu- 
lären Lähmungsprocesses wurden bei einem 
jungen Manne die kleinen Handmuskeln 
an beiden Händen paretisch. In Folge der 
Relaxation der Gewebe in den betreffenden 
Gebieten, vielleicht in Folge des gestörten 
Muskelgleichgewichts, glitt die schief über 
den Handrücken laufende Sehne des langen 
Daumenstreckers vom Metacarpusköpfchen 
zeigefingerwärts ab und vermittelte in dieser 
pathologischen Lage bei Contraction des 
Muskels nicht mehr die Extension, sondern 
die Adduction des Daumens. Das Ueber- 
wiegen dieser Bewegungsrichtung war so 
stark, dass der Daumen fortdauernd den 
anderen Fingern angepresst gehalten wurde; 
Opposition und Abduction waren auf¬ 
gehoben. Die Affection war in fast gleicher 
Weise an beiden Händen vorhanden. 
Durch Freilegung der Sehne, seitliche An¬ 
frischung derselben wie der Sehne des 
Extensor pollicis brevis, ferner durch Ver¬ 
einigung („Bindung“) dieser Sehnen durch 
Längsnaht wurde die luxirte Sehne reponirt 
und dadurch der normale Bewegungsmodus 
wiederhergestellt. 

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Gegenwart 1903. 


Auch das zweite für die Verhandlungen 
des Congresses gewählte Thema, die Lehre 
von der Coxa vara, gab Gelegenheit zu 
einer anregenden Besprechung der noch 
vielfach dunklen Erkrankung. 

Joachimsthal (Berlin) bespricht als 
Referent an der Hand von Krankheits¬ 
fällen, Röntgenbildern und Präparaten die 
verschiedenen Formen der Sehen kelhals- 
verjDiegungen. Es giebt zweifellos con- 
geh.^_.le Fälle. Bei den betreffenden 
Patienten werden die Erscheinungen des 
Krankheitsbildes, wie bei der Hüftverren¬ 
kung, bei den ersten Gehversuchen augen¬ 
fällig. In einer von Joachimsthal be¬ 
sprochenen Beobachtung hatte von zwei 
Geschwistern das eine fünfjährige Mädchen 
eine doppelseitige angeborene Schenkel¬ 
halsverbiegung, während der sechsjährige 
Bruder wegen einer doppelseitigen Hüft¬ 
verrenkung mit Erfolg dem Lorenz'sehen 
Repositionsverfahren unterzogen werden 
konnte. Ein elfjähriger Knabe, den 
Joachimsthal vorstellt, zeigt neben einer 
hochgradigen, seit den ersten Gehversuchen 
beobachteten linksseitigen Schenkelhals¬ 
verbiegung eine auch bei einem Bruder 
seit der Geburt bestehende Ichthyosis uni- 
versalis. Charakteristisch ist für diese 
angeborenen Fälle der Befund auf dem 
Röntgenbilde, ein langgezogener, wal¬ 
zenförmig gestalteter Kopf, der an 
der von oben aussen nach unten innen 
verlaufenden Epiphysenlinie fast ohne 
Hals direct in den Schenkelschaft über¬ 
geht. 

Eine weniger typische Form ist die mit 
dem angeborenen Oberschenkel- 
defectinBeziehungstehendeFormder 
Coxa vara congenita. Der Vortragende 
demonstrirt einen vierjährigen, von ihm seit 
dem ersten Lebensmonat beobachteten und 
regelmässig mittelst des Röntgenverfahrens 
untersuchten Knaben, an dem zunächst ein 
Defect des oberen Endes des linken Ober¬ 
schenkels angenommen werden musste, 
die weitere Beobachtung indess zeigte, dass 
es sich um eine hochgradige Coxa vara 
handelte, in die nicht allein der Hals, 
sondern auch das obere Femurende 
einbezogen war. Die in diesem Falle con- 
statirte Verzögerung der Ossification in 
dem abgebogenen Theil des Oberschenkels 
findet sich, wie Joachimsthal an Bei¬ 
spielen zeigt, auch sonst vielfach bei den 
sogenannten intrauterinen Fracturen. 

Die rachitische Schenkelhalsverbie¬ 
gung äussert sich, wie der Referent an 
Präparaten und Kranken zeigt, entweder 
in einer Verkleinerung des Schenkelhals- 


Original frorn 

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318 


Juli 


Die Therapie der 


Winkels oder in einem Herabgleiten des 
Kopfes in der Epiphysenlinie und veran¬ 
lasst dann zur Annahme eines speciell an 
der Ossificationsgrenze gelegenen Er¬ 
weichungsheerdes. Die Annahme, dass bei 
einem solchen Erweichungsprocess eine 
wenn auch geringfügige traumatische 
Einwirkung die unmittelbare Ursache der 
Deformität geworden ist, hat etwas bei der 
Betrachtung der Röntgenbilder ungemein 
Bestechendes und gewinnt an Wahrschein¬ 
lichkeit, wenn, wie in einem von Joachims¬ 
thal demonstrirten Falle, die Erscheinungen 
sich unmittelbar an ein Trauma anschliessen. 

Schwieriger und zur Zeit trotz der ver¬ 
schiedensten Erklärungsversuche noch 
völlig im Dunkeln liegen die ätiologi¬ 
schen Verhältnisse bei der im jugend¬ 
lichen Alter auftretenden sogenannten 
statischen Form der Schenkelhals¬ 
verbiegungen. Joachimsthal bespricht 
die verschiedenen Erklärungsversuche die¬ 
ser Affection durch die Annahme einer 
Spätrachitis, einer juvenilen Osteomalacie, 
durch ein Missverhältniss zwischen Aus¬ 
bildungsstadium und Beanspruchung des 
Schenkelhalses und durch Ueberbean- 
spruchung des normalen und dem Alter 
entsprechend entwickelten Collum femoris. 
Vielfach sind traumatische Einflüsse 
im Spiel. 

Endlich werden noch die im Verlaufe 
der Osteomalacie, der Osteomyelitis 
der Tuberkulose, Ostitis fibrosa 
und Arthritis deformans auftretenden 
Schenkelhalsverbiegungen an der Hand 
von Präparaten kurz besprochen. 

Die Discussion über diesen Gegenstand 
eröffnet Schanz (Dresden); er zeigt, wie 
sich das pathologisch-anatomische Bild der 
Coxa vara unter dem Gesichtswinkel seiner 
Theorie der Belastungsdeformitäten erklärt, 
und welche Regeln aus dieser Erklärung 
für die Behandlung der Deformität zu 
ziehen sind. Borchard (Posen) macht auf 
die Häufigkeit der Traumen bei der 
Entstehung der Schenkelhalsverbiegungen 
aufmerksam. Fröhlich (Nancy) hat bei 
drei Fällen von essentieller Coxa vara 
bakteriologische Befunde erheben kön¬ 
nen, denen er eine ätiologische Bedeutung 
zuschreibt. Codivilla (Bologna) führt bei 
der operativen Behandlung der Coxa 
vara adolescentium einen Hautschnitt ent¬ 
sprechend dem Raum zwischen Sartorius 
und Tensor fasciae latae von der Spina ilei 
ant. sup. nach abwärts und entblösst in 
diesem Raum die Vorderfläche der Regio 
trochanterica. In der Trennungslinie 
zwischen den Insertionsstellen der Gelenk¬ 


Gegenwart 1903. 


kapsel und jenen der Mm. pyramidales, 
glutaeus minimus und cruralis, d. h. gleich 
nach aussen von der Linea intertrochan- 
terica anterior, trennt er den Hals vom 
Schaft. Der Schnitt im Sinne eines Halb¬ 
kreises wird mit einem passend gekrümmten 
Scalpell ausgeführt. Somit wird die Regio 
cervicotrochanterica in zwei Theile getheilt, 
einerseits den Hals mit den Insertionen der 
Kapsel und der Ligamente, andererseits 
der Rest der Regio trochanterica mit 
sämmtlichen Muskelinsertionen. Die krumm¬ 
linige Osteotomie wird zu dem Zwecke 
ausgeführt, damit nur scharnierartige Ver¬ 
schiebungen zwischen den beiden Knochen¬ 
enden stattfinden können. Nach vollführter 
Charnierosteotomie wird durch eine eigene 
Tractionsmethode die Deformität corrigirt. 
Die Methode wurde bisher in 3 Fällen bei 
Individuen von 9 bis 16 Jahren ausgeführt. 

Die verschiedenartigen ätiologischen 
Momente der Coxa vara an der Hand von 
Röntgenbildern erörtert Lu dl off (Breslau). 
Reiner (Wien) beleuchtet die Beziehungen 
zwischen congenitaler Coxa vara und 
congenitalem Femurdefect, er weist 
nach, dass am Femur im frühen Entwick¬ 
lungsstadium sogenannte schwache Stellen 
vorhanden sind, bei deren Läsion je nach 
der Stärke der äusseren pathologischen Ein¬ 
wirkung Coxa vara oder Femurdefect als 
Zwischenstadium sich herausbilden. Zur Er¬ 
läuterung demonstrirt er das Skelett einer 
sechsmonatlichen Frucht, welche an einer 
dieser Stellen (Regio subtrochanterica) eine 
Continuitätstrennung und Pseudarthrosen- 
bildungen nachweisen lässt. Mit der Frage 
der Coxa vara congenita beschäftigen sich 
noch Franz (Berlin), Drehmann (Breslau) 
und Hoffa (Berlin). 

Auch sonst bot das reiche Programm 
des Congresses vieles Interessante. 

Ueber das Problem der absoluten 
Ausgleichbarkeit des spondyliti- 
schen Buckels spricht Finck (Charkow). 
Nach Ablauf der ersten Erscheinungen der 
Erkrankung, welche bei ruhiger Horizontal¬ 
lage im Lorenz'sehen Gypsbett abgewar¬ 
tet werden, wird durch allmählich gestei¬ 
gerte Unterlagen von kleinen Polstern der 
Buckel von der Unterlage (Gypsbett) be¬ 
ständig mehr abgedrängt. Als Polster 
werden kreuzweise zusammengelegte, zu¬ 
rechtgeschnittene Wattestreifen benutzt, 
kreuzweise, damit das Centrum des Polsters 
höher wird als die Peripherie. Wächst 
das Polster zu sehr in die Höhe, dann 
wird, der veränderten Form des Rückens 
entsprechend, ein neues Gypsbett ange¬ 
fertigt. In dieser Lage verharren die 


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Juli 


319 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Patienten so lange, bis die Rückbildung 
der secundären Veränderungen und der 
Totalausgleich erfolgt ist, was gewöhnlich 
binnen Jahresfrist eintritt. Diese Methode 
ist nur bei kleinen Buckeln anwendbar. Ist 
der Buckel schon grösser (ganz grosse sind 
in Ruhe zu lassen), dann muss er zunächst 
durch präparatorische schonende Streckun¬ 
gen mit nachfolgendem grossen Calot’schen 
Gypsverbande verkleinert und von seinen 
Verwachsungen befreit werden. Dann erst 
wird der Kranke in derselbe Weise, wie 
dies eben geschildert wurde, gelagert. 
Die Erhaltung der Correction ist nachher 
eine verhältnissmässig leichte. Das Corset 
wahrt die durch das Liegen erreichte 
extreme Reclination; es ist vorne offen, 
reicht bei Buckeln vom 11. Brustwirbel ab¬ 
wärts auf die Oberschenkel hinab, bei 
höheren bis unter den Kopf. Bei ersterer Form 
wird der Oberkörper durch zwei sich vorn 
an den Thorax anlegende Stützen zurück¬ 
gehalten, ohne die Achseln zu heben. Das 
Modell zum Corset muss bei horizontaler, 
die Reclination wahrender Bauchlage des 
Patienten gefertigt werden. Zum Corset 
muss ein starres Material verwendet werden. 
Die absolute Ausgleichung ist vom Vor¬ 
tragenden in 16 Fällen an Buckeln der 
unteren Hälfte der Wirbelsäule, also vom 
6. Brustwinkel abwärts, erreicht worden. 
Ueber höher sitzende Buckel fehlt ihm 
bisher die Erfahrung. 

Bardenheuer (Köln) vertritt den 
Standpunkt, dass die Naht bei frischen 
Fracturen fast ausnahmslos zu umgehen ist. 
Er legt bei der Behandlung der Fracturen 
neben der Correction der Fragmentstellung, 
die er in der bekannten Weise durch Ex¬ 
tension nach verschiedenen Richtungen 
erreicht, den Hauptaccent auf die früh¬ 
zeitige gymnastische Behandlung, 
die er beim Handgelenk vom vierten, beim 
Ellenbogengelenk vom achten, beim Schulter¬ 
gelenk vom ersten Tage nach der Ver¬ 
letzung ab, bei der Hüfte und dem Knie 
vom Beginn der zweiten resp. dritten, beim 
Fussgelenk vom Beginn der zweiten Woche 
ab durchführt. 

Reiner (Wien) berichtet über eine 
Methode zur Correctur des X-Beines bei 
Kindern. Sie besteht im Wesentlichen aus 
einer Epiphysentrennung, welche durch 
eine subcutane Voroperation ermöglicht 
wird. Diese Voroperation bezweckt die 
Beseitigung des vom Periost der Epiphyseo- 
lyse entgegengesetzten Widerstandes und 
besteht demnach in der subcutanen Durch¬ 
schneidung des Periosts knapp oberhalb 
der Epiphysenfuge. 


Helbing (Berlin) bespricht auf Grund 
von 13 einschlägigen Fällen den Zusam- 
menhangvonScoliose und Halsrippen 
Ungefähr 2% aller Skoliosen verdanken 
ihre Entstehung dem Vorhandensein von 
Halsrippen. Auf Grund eines operativ in 
Angriff genommenen Falles, bei welchem 
die convexseitige Halsrippe exstirpiert 
wurde, vertritt Helbing die Ansicht, dass 
es sich bei den Halsrippenscoliosen, bei 
welchen die Kürze der Halsrippe kein 
direktes mechanisches Bewegungshinder- 
niss der Halswirbelsäule abgeben kann, 
um eine reflectorische Scoliose — ana¬ 
log der bei Ischias auftretenden — handelt. 
Helbing stellt dann unter Demonstration 
von Photographien und Röntgenbildern 
einen Knaben von 1 Va Jahren vor, der bei 
der Geburt einen totalen Tibiadefect, 
verbunden mit Polydaktylie, aufwies. 
Die zum Gehen vollkommen unbrauchbare 
Extremität wurde durch mehrere Operatio¬ 
nen in ein tragfähiges, gerades, nur ver¬ 
kürztes Bein umgewandelt. Die zwei über¬ 
schüssigen Metatarsi wurden mit den sie 
deckenden Weichtheilen in die Innenfläche 
des Unterschenkels implantiert, wodurch 
die Varusstellung des Fusses beseitigt 
wurde, und die Metatarsi gewissermassen 
die Rolle des fehlenden Malleolus internus 
übernahmen. In einer zweiten Sitzung 
wurde eine Arthrodese im Knie ausgeführt 
und endlich wurde durch zweifache Osteo¬ 
tomie der verkrümmten Fibula auch der 
Unterschenkel geradegestellt. 

Interessante Hüftgelenkspräparate 
demonstrirte Müller (Stuttgart)). Bei 
den beiden Patienten, denen sie entnommen 
waren, war zwei Jahre resp. 6 Wochen 
vor dem Tode die unblutige Reposition 
einer angeborenen Luxation vorge¬ 
nommen worden. An dem ersten Präparat 
sind die Verhältnisse so normale, dass von 
einer vollständigen anatomischen Hei¬ 
lung gesprochen werden kann, das zweite 
zeigt die im Anschluss an den Eingriff ein¬ 
tretenden Heilungsvorgänge, die in einer 
Umformung der Pfanne und einer Schrum¬ 
pfung der Kapsel sich kennzeichnen. 

'Hülfsapparate bei der Behandlung 
der angeborenen Hüftluxation de- 
monstriren Wullstein (Halle) und Heus- 
ner (Barmen). Der letztere zeigt weiterhin 
einen Apparat zur Behandlung des 
Klumpfusses und Mayer (Köln) vermag 
an einem 50jährigen Patienten die ge¬ 
lungene Redression eines hochgradigen 
angeborenen Pes varus vor Augen zu 
führen. Die Geradestellung erfolgte nach 
theils offener, theils subcutaner Durch- 


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320 


Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


schneidung der Weichtheile mittelst des 
Stille-Lorenz’schen Osteoklasten. 

Spitzy (Graz) wendet sich gegen den 
von Hüter, Küstner und Lorenz auf¬ 
gestellten Lehrsatz, dass der Neugeborene 
einen platten Fuss habe. Die Flachheit 
der Fusssohle beziehe sich beim Neuge¬ 
borenen lediglich auf die umhüllenden 
Weichtheile und habe mit dem Knochen¬ 
gerüst des Fusses nichts zu thun. 

Für das Krankheitsbild, das Kümmell 
im Jahre 1891 als Spondylitis trau¬ 
matica charakterisirt hat, tritt Brodnitz 
(Frankfurt a. M.) an der Hand eines Krank¬ 
heitsfalles, bei dem sich vier Monate nach 
einem Fall auf den Rücken ein schmerz¬ 
hafter Gibbus im Bereiche des ersten und 
zweiten Lendenwirbels entwickelte, ein, und 
Grätzer (Görlitz) vertritt die Anschauung, 
dass die tabische Osteoarthropathie 
der Wirbelsäule ein weit häufiger vor¬ 
kommendes Leiden darstellt, als bisher an¬ 
genommen wurde. 


Ausser Bade’s (Hannover) Betrachtun¬ 
gen über den Werth des orthopädischen 
Corsets bei der Behandlung der Sko¬ 
liose erwähne ich schliesslich noch die 
Vorführung eigenthümlicher Gang¬ 
arten auf den Händen bei Lähmungs¬ 
zuständen der unteren Gliedmaassen 
durch Höft man (Königsberg) und die 
Vorstellung zweier interessanter angebore¬ 
ner Anomalien durch Hirsch (Berlin) und 
Blumenthal (Berlin). In ersterem Falle 
handelte es sich um einen doppelseiti¬ 
gen angeborenen Hochstand des 
Schulterblatts bei einem 1 Jahr 8 Monate 
alten Mädchen, in letzterem um eine sel¬ 
tene Deformität beider Ellenbogen¬ 
gelenke bei einem 3 1 / 2 < jährigen Knaben 
mit Behinderung der Pronation. 

Das reichhaltige und interessante Pro¬ 
gramm auch des diesjährigen Congresses 
hat die Existenzberechtigung der Deutschen 
Gesellschaft für orthopädische Chirurgie 
aufs Glänzendste erwiesen. 


Therapeutisches von der XXVIII. Wanderversammlung der 
südwest-deutschen Neurologen und Irrenärzte, in Baden-Baden 

am 23. und 24. Mai 1903. 

Bericht von Dr. R. Laudenheimer- Alsbach (Hessen). 


Unter 21 zum Wort gekommenen Vor¬ 
tragenden behandelten therapeutische 
Themata im engeren Sinne nur Fürstner 
(Strassburg) und Bayerthal (Worms), 
beide aus dem Grenzgebiet der Hirn¬ 
chirurgie. 

Fürstner (Zur Pathologie und 
operativen Behandlung der Hirn¬ 
geschwülste) berichtet über 4 auf seine 
Veranlassung von Madelung operirte 
Fälle, in denen die Diagnose Tumor bezw. 
Abscess aus sicheren Symptomen zu stellen 
war, ohne, dass die Möglichkeit einer ge¬ 
nauen Localisation bezw. Zugänglichkeit 
für das Messer vorlag. Die Trepanation 
mit Duraeröffnung wurde als Palliativ¬ 
operation ausgeführt. Ein Tumor oder 
Abscess wurde in keinem Fall aufgefunden, 
dagegen in jedem Fall vermehrte Spannung 
des freigelegten Gehirns. 

Der Erfolg war in allen Fällen über¬ 
raschend günstig, das Sehvermögen besserte 
sich, auch wo hochgradige Stauungspapille 
bestanden hatte, stets, in einem Fall kehrte 
sogar nach völliger Blindheit vorüber¬ 
gehend Lichtschein wieder, die Kopf¬ 
schmerzen schwanden, das Gewicht zeigte 
eine Zunahme von durchschnittlich 20 bis 
25 Pfund. Von diesen vor 1 bezw. 3 /i Jahr 
operirten Fällen, stehen drei als dauernd 

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gebessert noch in Beobachtung, einer ist 
an einem interkurrenten Leiden (Aneurysma 
der Lunge) — nicht an den Folgen der 
durch die Section bestätigten vier Kleinhirn¬ 
tumoren oder der Operation gestorben. 

Die Operation wurde mit Wagner’schen 
Hautknochenlappen zweizeitig ausgeführt, 
so dass Eröffnung der Dura erst zwei bis 
drei Tage später erfolgte. Der Schädel¬ 
knochen wurde resecirt. Es kam regel¬ 
mässig zu Hirnbrüchen (bis zu Apfel¬ 
grösse), jedoch bildeten sich diese, aus¬ 
genommen ein Fall, in dem die Hernie in 
Folge zu früh verrichteter körperlicher 
Arbeit mehrmals recidivirte, stets vollständig 
zurück. Für die Behandlung der Hernie 
hält Fürstner die rechtzeitige Bedeckung 
mit normalen Hautlappen, namentlich zur 
Verhütung von Infection, für wesentlich. 

Vortragender nimmt, insbesondere auch 
im Hinblick auf den einen (ausführlich be¬ 
handelten) Sectionsbefund, an, dass die 
Trepanation den Hirndruck verminderte und 
durch Circulationsänderungen das Wachs¬ 
thum des Tumors beschränke. Er räth die 
Palliativoperation möglichst früh, d. h. be¬ 
vor das Sehvermögen geschwächt ist, zu 
machen und stets zweizeitig. Von Punktion 
ist, wenn man nicht direct auf den Tumor 
stösst, kaum Nutzen zu erwarten. 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


321 


In der Diskussion äusserte sich Axen- 
feld (Freiburg) bezüglich des Rückgangs 
der Stauungspapille zustimmend und 
Bäumler (Freiburg) erwähnte einen Fall, 
wo nach Durchbruch des Tumor Rückgang 
der Symtome eintrat. 

Bayerthal in seinem Vortrage: Zur 
operativen Behandlung der Hirn¬ 
syphilis besprach unter sorgfältiger Ana¬ 
lyse eines eigenen Falles und der einschlä¬ 
gigen Litteratur, die Ursachen für die 
wiederholten Misserfolge der auf luetischer 
Basis beruhenden Jackson'sehen Epilepsie. 
Dass die chirurgische Behandlung nur da 
in Betracht kommt, wo die specifische 
Therapie völlig versagt, bedarf kaum der 
Erwähnung. Bayerthal weist nach, dass 
die cortikalen Krämpfe nicht für die Lues 
der Centralwindungen pathognonomisch 
(wie Nonne angiebt) sind, sondern auch bei 
Herden des Stirnlappens Vorkommen kann. 
NichtbeachtungdieserThatsache führte in des 
Vortragenden Fall, wie in den andern Fällen, 
dazu, dass über den Centralwindungen 
trepanirt und der Tumor nicht aufgefunden 
wurde, ein Misserfolg, der durch Hemi- 
kranektomie hätte vermieden werden können, 
da durch letztere naturgemäss auch die 
autoptisch festgestellte schwartige Meningo- 
Encephalitis des Stirnhirnpoles freigelegt 
worden wäre. Natürlich ist die Hemikranek- 
tomie als schwerster Eingriff nur da be¬ 
rechtigt, wo andere lokalisatorische Stütz¬ 
punkte fehlen. Die Lokaldiagnose der 
Hirnhaut an der Konvexität wird zwar 
erleichtert durch die Thatsache, dass 
Centralwindungen und Stirnlappen die 
Prädilektionsstellen sind, aber eine sichere 
Differentialdiagnose zwischen beiden Oert- 
lichkeiten ist nur in dem seltenen Fall 
möglich, wo isolirte Krämpfe des Kopf- 
Augencentrums den frontalen Sitz erhärten. 
Erwähnt sei noch, was im Sinn des Fürst- 
ner’sehen Vortrags spricht, dass nach 
der Operation in Bayerthal’s Fall trotz 
Nichtauffindung des Tumors die Konvul¬ 
sionen schwanden. Jedoch starb der Patient 
am 7. Tage an den Folgen eines Hirn¬ 
prolapses. 

Ein verwandtes Thema berührte Ger¬ 
hardt (Strassburg) in seinem Vortrag über 
Hydrocephalus bei Erwachsenen. 
Der erste von seinen drei Fällen bewies 
recht deutlich die Unsicherheit der Diag¬ 
nose „Hirnlues“ bei Hirndruckerscheinungen 
ex juvantibus. Es handelte sich um einen 
Mann, der 8 /4 Jahr vor seinem Tod plötzlich mit 
Hinterhauptschmerz, Erbrechen, Schwindel 
und Lichtscheu erkrankte. Nach 8 Tagen 
war alles vorüber. Patient arbeitete wieder 

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2 Monate, dann kamen mehrere ähnliche 
Anfälle mit dazwischen liegender weit¬ 
gehender Besserung, die scheinbar an die 
Schmierkur sich anschloss, wobei insbe¬ 
sondere auch die vorhandene Stauungs¬ 
papille zurückging. Schliesslich Tod unter 
apoplektiformen Anfällen ohne bleibende 
Herdsymptome. Die Sektion ergab nur 
starken Hydrocephalus internus neben 
Zeichen einer längst abgelaufenen Ent¬ 
zündung des Ependyms im IV. Ven¬ 
trikel. 

Der zweite Fall betraf eine 35 jährige 
von jeher sehr nervöse Frau. Sie bekam 
Kopfweh, Erbrechen, Schwindel, dann 
Amblyopie und Stauungspapille; unter 
Jodipin langsame Besserung, Rückgang 
aller Symptome bis auf Gesichtsfeldein¬ 
engung und Herabsetzung der Sehschärfe. 

Nach U /2 Jahren Oedem der Füsse, das 
nach einigen Wochen unter Arsengebrauch 
schwand und bei völligem Mangel anderer 
Ursachen wohl nur als an gione uro tisch es 
Oedem gedeutet werden kann und die 
schon von Quincke hervorgehobene Ana¬ 
logie dieser Affection mit Hydrocephalus 
(Meningitis serosa) nahelegt. 

Aus den Vorträgen Axenfeld’s (Frei¬ 
burg) über Stauungspapille und Hirntumor 
sei nur die Beobachtung erwähnt, dass 
basale Hirntumoren relativ häufig zu Men¬ 
struationsanomalien führen, wie Vortragen¬ 
der vermuthet durch Vermittlung der Hypo¬ 
physe, wie auch bei Akromegalie, Ame¬ 
norrhoe als Frühsymptom vorkommt, des¬ 
gleichen bei echten Hypophysistumoren. 

Das ausführliche Referat von Gau pp 
(Heidelberg) über die Prognose der pro¬ 
gressiven Paralyse, ergab namentlich be¬ 
züglich der Therapie keine neuen Gesichts¬ 
punkte, es sei denn, dass man die absolute 
Skepsis des Vortragenden gegenüber allen 
angeblich geheilten Paralyse-Fällen hier 
erwähnen wollte. Einen sehr wichtigen 
Beitrag zur Aetiologip der Paralyse und 
Tabes lieferte der Bericht von Brosius 
über die heut nachweisbaren Folgen 
einer vor 12 Jahren abgelaufenen 
Syphilisendemie. Er verfolgt die Schick¬ 
sale von 5 Glasbläsern, die sich 1891 mit 
einer Glaspfeife gleichzeitig luetisch inficirt 
und darauf im Saarbrücker Bürgerspital 
6 Wochen lang mit Jod und Hg rite be¬ 
handelt worden waren. Von diesen fünf 
blieb nur einer gesund, vier haben die 
Symptome schwerer organischer Nerven¬ 
erkrankung und zwar leiden zwei an zwei¬ 
felloser (klassischer) Paralyse bezw. Tabes, 
bei den zwei anderen kann dieselbe Dia¬ 
gnose mit grösster Wahrscheinlichkeit ge- 

41 

Original fro-m 

ÜNIVERSITY OF CALIFORNIA 



322 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Jul» 


stellt werden. Dabei sind bei den im Alter 
von 30—41 Jahren stehenden Kranken son¬ 
stige ausschlaggebende ätiologische Mo¬ 
mente ausser der Syphilis nicht vorhan¬ 
den. — Die enorme Gefahr der meta¬ 
syphilitischen Erkrankung, trotz sachge- 
mässer Luesbehandlung ist wohl noch nie 
so eindringlich und klar demonstrirt wor¬ 
den, wie durch die Brosius’schen Beob¬ 
achtungen. 


Socialgesetzgeberisch interessant ist 
noch, dass die Inficirten ihre Lues vor 
12 Jahren als Betriebsunfall anmeldeten, 
jedoch abgewiesen wurden, weil „kein Be¬ 
triebsunfall, sondern eine allmählich einge¬ 
tretene Krankheit“ vorliege. Man kann 
wohl kaum zweifeln, dass unsere heutige 
weitherzige Unfall-Jurisdiction zu einem 
für die armen Opfer günstigeren Resultat 
gekommen wäre. 


Therapeutisches aus den Pariser medicinischen Gesellschaften* 


In der Sitzung vom 11. Mai der Acad£mie 
des Sciences hat Calmette über seine Ver¬ 
suche örtlicherAnwendungdesantite- 
tanischen Serums gesprochen. Obgleich 
es sich hier einstweilen nur um Thier¬ 
experimente handelt, sind die erhaltenen 
Resultate so günstig, dass sie auch zu Ver¬ 
suchen an kranken Menschen ermuthigen. 

Vortragender hat sich zuerst überzeugen 
können, dass es leicht ist Meerschweinchen 
gegen Tetanusinfection zu immunisiren, 
indem man bei ihnen kleine Quantitäten 
des antitetanischen Serums durch eine 
3—4 Millimeter lange Hautwunde absor- 
biren lässt. Jedoch erhält man auf diesem 
Wege eine Immunisation nur, wenn man 
statt des gewöhnlichen flüssigen, getrock¬ 
netes, pulverförmiges antitetanisches Serum 
auf die Wunde bringt. Wenige Milli¬ 
gramme dieses Pulvers genügen schon, um 
Meerschweinchen gegen eine Dose des 
Tetanusgiftes zu immunisen, deren zehnter 
Theil für Controlthiere sich als tödtlich 
erweist. In Folge dessen drängte sich der 
Gedanke auf, das Anstreuen von tetanisch 
inficirten Wunden mit getrockenetem anti- 
tetanischem Serum müsse im Stande sein, 
die Entwickelung des Starrkrampfes zu 
verhindern. 

Diese Vermuthung konnte nun Calmette 
auf experimentellem Wege vollkommen be¬ 
stätigen. Es wurde Meerschweinchen durch 
kleine Hautschnitte ein bei 80° getrock¬ 
netes Gemisch von Staub, Erde und un¬ 
gewaschenen Tetanussporen beigebracht. 
Sich selbst überlassen, gingen die so be¬ 
handelten Thiere nach 4 bis 6 Tagen an 
Tetanus zu Grunde. Wenn man aber ihre 
(durch Reiben angefrischten) Wunden — 
2 bis 6 Stunden nach der Infection — mit 
getrocknetem antitetanischem Serum be¬ 
streute, so genügte 1 Milligramm dieses 
Pulvers um Meerschweinchen von 400,0 
Gewicht zu retten: keines von ihnen zeigte 
die geringste Spur von Starrkrampf. 

Calmette glaubt daher, dass die lokale 
Anwendung des getrockneten antiteta- 

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nischen Serums beim Menschen sich als 
erfolgreiches Prophylacticura des Starr¬ 
krampfes bei allen des Tetanus verdäch¬ 
tigen Wunden erweisen wird. Auch 
könnte es zum Verbinden der Nabelwunde 
bei Neugeborenen als Schutz gegen Tetanus 
neonatorum Anwendung finden. 

Einen interessanten Beitrag zur Wür¬ 
digung des psychischen Verhaltens Syphi¬ 
litischer brachte Prof. A. Fournier in der 
Sitzung vom 19. Mai der Acad^mie de 
Medecine durch seinen Vortrag über 
Selbstmord bei Syphilitikern. Wie 
manche Kollegen, hat auch Redner im 
Laufe seiner langen Specialistencarriere 
mehrere Fälle erlebt, in denen der Selbst¬ 
mord durch die brutale ärztliche Erklärung* 
der Betreffende leide an Syphilis, hervor¬ 
gerufen worden ist. 

Es giebt, wie bekannt, Leute, die eine 
übertriebene, kolossale Angst vor der 
Syphilis haben. Syphilidophoben, die in 
allen anderen Beziehungen recht tapfer 
sein können, gerathen in heftige Ver¬ 
zweiflung und werden sogar ohnmächtig, 
wenn bei ihnen die Diagnose auf Syphilis 
gestellt wird. Kein Wunder also, wenn 
dieser Affect auch unter Umständen zum 
Selbstmord treiben kann. Und es ist auch 
leicht einzusehen, warum solche Selbst¬ 
morde — wie es die Erfahrung lehrt — 
einen impulsiven, reflectorischen Charakter 
tragen: ohne Zagen und Nachdenken raubt 
sich der Unglückliche das Leben bei der 
ersten besten Gelegenheit, dazu wenige 
Tage, einige Stunden sogar nach der — 
wie sich Fournier ausdrückt — notification 
premi&re de la syphilis. 

Diese traurigen Erlebnisse haben Prot. 
Fournier bewogen die Diagnose Syphilis 
einem Kranken nie ex abrupto mitzu- 
theilen. Man soll zuerst sagen, die Natur 
der Erkrankung sei noch unklar, hoffent¬ 
lich aber wäre es keine Syphilis. Erst 
später gebe man zu verstehen, dass es sich 
um eine Syphilis handle, aber um eine 
recht milde Form derselben, die der Be- 

Qriginal fro-m 

UNIVERSUM OF CALIFORNIA 



Juli 


323 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


handlang mit Leichtigkeit weichen werde 
(was selbstverständlich der Arzt nie im 
Voraus wissen kann). — Diese Regel ist 
gewiss eine humane. Für eine Autorität 
ist sie auch durchführbar, aber anders liegt 
die Sache für den ärztlichen Praktiker, aus 
Gründen, die leicht zu begreifen sind. 

Bei unstillbaren Diarrhoeen der 
Phthisiker hat sich, nach einer Mittheilung 
von L. Re non in der Sitzung vom 27. Mai 
der Sociöt6 de Therapeutique, das Me¬ 
thylenblau in 80% der Fälle gut bewährt. 
Das Mittel wurde in der täglichen Dosis 
von 0,15—0,20, mit einer vierfachen Menge 
von Milchzucker verrieben, in Oblaten ge¬ 
reicht. Die Stühle wurden vom ersten 
Tage an seltener und in drei Tagen 
schwand gewöhnlich der Durchfall; manch¬ 
mal ging er sogar in Verstopfung über. 
Diese Wirkung sei Folge der antibacteriellen 
Eigenschaft des Methylenblaus, welches alle 
in die tuberkulösen Darmgeschwüre ge¬ 
langten secundär-infectiösen Keime zur 
Abtödtung bringt. 

Prof. A. Robin berichtete über die von 
Le Blond und Ch. David mit Vanadin¬ 
säure angestellten therapeutischen Ver¬ 
suche bei verschiedenen Hautläsionen, 
gynäkologischen Erkrankungen und 
Lungentuberkulose. Die Vanadinsäure 
ist ein energisches Oxydationsmittel, wel¬ 
ches, in einer Lösung von 0,05 auf 1 Liter 
Wasser angewandt, die Heilung von Haut¬ 
geschwüren und Hautwunden befördert und 
auch bei Vaginitis und Endometritis — hier 
aber in einer aus Wasser und Glycerin 
zu gleichen Theilen bestehenden Lösung, 
die 0,25 der genannten Säure per Liter 
enthält — eine günstige Wirkung entfaltet 
und, infolge ihrer Geruchslosigkeit, für das 
bei gynaekologischen Affectionen so oft 
gebrauchte Ichthyol und Kreosotglycerin 
einen guten Ersatz bildet. Auch wirke bei 
Schwindsüchtigen der innerliche Gebrauch 
der Vanadinsäure (täglich zwei Esslöffel 
einer Lösung von 0,015 auf ein Liter 
Wasser) als stärkendes Mittel, in der Art 
der Eisenpräparate, aber noch energischer 
als diese. 

Chevalier referirte über die Ergeb¬ 
nisse seiner mit krystallinischem Adrenalin 
von Clin angestellten pharmakologischen 
Versuche. Sie haben gezeigt, dass bei 
einem Kinde von 20 kg Gewicht nach 
einer intravenösen Einspritzung von 0,001 
der genannten Substanz, zuerst eine enorme 
Verlangsamung der Herzcontractionen mit 
ebenso grosser Erniedrigung des Blut¬ 
drucks erfolgt. Erst nach einer Minute 
zeigt sich die entgegengesetzte Erscheinung, 

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eine arterielle Hypertension mit Herzbe¬ 
schleunigung, welche drei Minuten an¬ 
dauert. — R. Blondel machte die Be¬ 
merkung, dass bei seinen pharmakologi¬ 
schen Versuchen mit Nebennierenextract 
er eine sofortige Erhöhung des Blutdrucks, 
ohne initiale Hypotension mit Herzverlang¬ 
samung, immer eintreten sah. Auch konnte 
er die Dauer dieser Hypertension durch 
eine im Moment des Maximums der Adre¬ 
nalinwirkung gemachte Einspritzung phy¬ 
siologischer Kochsalzlösung erheblich ver¬ 
längern. Darauf antwortete Chevalier, 
seine Versuche bezögen sich nur auf das 
krystallinische Adrenalin, während das von 
Blondel angewandte Nebennierenextract 
noch Substanzen enthalte, deren Wirkung 
eine ganz andere, sein könne. 

Aufsehen machte in der Sitzung vom 
9. Juni der Academie de Medecine die 
durch Prof. A. Robin übermittelte Mit¬ 
theilung von den Professoren Lemoine 
und Do um er (Lille) über erfolgreiche Be¬ 
handlung krebsiger Geschwülste des 
Magens und der Mamma durch Röntgen¬ 
strahlen. Einer dieser Fälle wurde in ex¬ 
tenso mitgetheilt. Es handelte sich um 
eine alte Frau, die alle Anzeichen eines 
Magenkrebses (leicht fühlbare und schmerz¬ 
hafte Geschwulst mit Cachexie und charak¬ 
teristischen Verdauungsstörungen), aber 
ohne merkliche Betheiligung der Lymph- 
drüsen darbot. Nach vier radiotherapeuti¬ 
schen Sitzungen verkleinerte sich derTumor 
erheblich; nach drei weiteren Sitzungen 
verschwand er spurlos; zugleich schwanden 
alle übrigen krankhaften Erscheinungen. 

Lemoine und Doumer haben noch zwei 
andere Magencarcinome und einige Mamma- 
carcinome mit den R öntgen’schen Strahlen 
erfolgreich behandelt. Aber in einigen 
Fällen (Carcinom des Pylorus, des Oeso¬ 
phagus, secundäres Carcinom der Leber, 
Gebärmutterkrebs etc.) hat diese Behand¬ 
lung vollkommen im Stiche gelassen. 

Bei zweiPatienten mitMorbus Brightii, 
deren Nephritis eine vorwiegend parenchy¬ 
matöse war, hat Widal — worüber er in 
der Sitzung vom 12 Juni der Soci6t£ M£di- 
cale des Höpitaux berichtete — durch täg¬ 
liche Darreichung von 10,0 Kochsalz (wäh¬ 
rend einiger Tage genommen) Oedeme 
hervorbringen können und ihr nachträg¬ 
liches Verschwinden nach Einstellen der 
Chlornatriumzufuhr erhalten. (Vergleiche 
die über dasselbe Thema im Maiheft der 
„Therapie der Gegenwart“ erschienene Ab¬ 
handlung von H. Strauss). Eine Einver¬ 
leibung von Kochsalz im Ueberschuss ruft 
jedoch nicht bei allen Nephritikern Oedeme 

41 * 

Original from 

UNIVERSITtf OF CALIFORNIA 




324 


Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


hervor. So hat Vortragender bei 4 Arterio- 
sclerotischen mit Nephritis interstitialis keine 
Spur wässeriger Ergüsse durch Chlornatrium 
eintreten sehen. Und auch bei der Nephri¬ 
tis parenchymatosa entstehen nicht immer 
Oedeme unter dem Einfluss des Kochsalz¬ 
genusses. Als Beispiel dazu citirt Vor¬ 
tragender einen Fall parenchymatöser Ne¬ 
phritis, welche auf Erkältung zurückzuführen 
war und schon seit sieben Jahren bestand, 
und wo Chiornatrium, eine ganze Woche 
lang genommen, keine Oedeme herbei¬ 
führen konnte, während hier noch kurze 


Zeit zuvor Anasarca bestanden hatte. 
Dieser Kranke befand sich offenbar im 
Moment des Versuches in einer Periode 
verstärkter Elimination von Chlornatrium 
durch die Nieren. Eine Retention von 
Chlornatrium im Organismus ist somit für 
das Eintreten von Oedemen unter dem 
Einfluss des Kochsalzes erforderlich. Unter 
solchen Umständen findet auch die koch¬ 
salzarme Kost ihre Indication und erfolg¬ 
reiche therapeutische Anwendung. 

W. v. Holstein (Paris). 


Bücherbesprechungen. 


E. V« Leyden’s Handbuch der Ernäh¬ 
rungstherapie und Diätetik. Zweite 
Auflage, herausgegeben von Georg 
Klemperer. I. Band, 502 S. Leipzig 
1903. Verlag von G. Thieme. 11 M. 

Als ein empfindlicher Uebelstand unserer 
medicinischen Literatur ist es gewiss von 
Vielen empfunden worden, dass so viele 
neuere Sammelwerke so wenig sich auf ihr 
eigentliches Thema beschränkten. In einem 
Handbuch der Therapie fand man die ge- 
sammte Aetiologie und Symptomatologie, 
oft genug auch die Diagnostik abgehandelt; 
in einem Sammelbuch über physikalische 
Therapie wurden alle übrigen Zweige der 
Krankenbehandlung breit erörtert. So 
nahmen diese Werke einen ausserordent¬ 
lichen Umfang, dementsprechend auch einen 
hohen Preis an, und das Schlimmste war, 
dass der Arzt in vielen neuen Werken, so 
verschieden auch ihr Titel war, immer 
wieder dieselben Gegenstände behandelt 
fand. 

Es erschien mir als eine zeitgemässe 
Pflicht, hier ein gutes Beispiel zu geben. 
Deswegen habe ich es mit Freuden be- 
grüsst, als mir Herr v. Leyden die Heraus¬ 
gabe einer zweiten Auflage seiner rühm- 
lichst bekannten Ernährungstherapie antrug. 
Ich habe aus dem Werk alles fortgelassen, 
was nicht wirklich auf die Ernährung der 
Kranken Bezug hatte. So ist es gelungen 
das Werk wesentlich zu kürzen, demzufolge 
auch den Preis sehr zu erniedrigen und 
vor allem Jedem, der es sich anschafft, die 
Garantie zu bieten, dass er wirklich erhält, 
was er zu haben wünscht, nämlich eine er¬ 
schöpfende Darlegung aller allgemeinen und 
speciellen Lehren, welche auf die Kranken¬ 
ernährung Bezug haben, aber nichts darüber 
hinaus. Damit stellt das Werk eine ge¬ 
wiss werthvolle Ergänzung jeder Pathologie 
und Therapie dar, ohne eine Wiederholung 

Digitized by Gouole 


wesentlicher Abschnitte derselben zu ent¬ 
halten. 

In dem ersten Band ist ein kurzer ge¬ 
schichtlicher Abriss von Petersen ent¬ 
halten, eine erschöpfende Darstellung der 
Physiologie der Ernährung von Rubner, 
der Pathologie von Fr. Müller. Die allge¬ 
meinen Grundzüge der Ernährungstherapie 
beschreibt v. Leyden, der Referent die 
künstlichen Nährpräparate; v. Leube die 
künstliche (extrabuccale) Ernährung, F. A. 
Hoffmann die diätetischen Kuren. Alle 
Bearbeitungen sind durch Aenderungen 
und Zusätze dem heutigen Stand der Er¬ 
kenntnis und des Könnens angepasst. Die 
grösste Aenderung gegenüber der I. Auf¬ 
lage stellt die Bearbeitung der Ernährungs¬ 
pathologie von F. Müller dar; hier ist in 
umfassender und präciser Weise das enorme 
Material der neuen Forschungen zu einer 
meisterhaften Darstellung verwerthet. Ich 
möchte glauben, dass auch Aerzte, denen 
die vielfältig verschlungenen Wege der Er¬ 
nährungschemie bisher verschlossen waren, 
durch diese Arbeit in glücklichster Weise 
in das schwierige Gebiet eingeführt werden. 
Der Werth und die Bedeutung der übrigen 
Beiträge des I. Bandes sei nicht verringert, 
wenn ich die Arbeit des Münchener Klini¬ 
kers als diejenige ansehe, die in praktischer 
wie wissenschaftlicher Beziehung wohl den 
grössten Einfluss ausüben wird. 

Die in der I. Auflage enthaltenen Ab¬ 
schnitte über Medicamente, physikalische 
Therapie, Krankenpflege sind ganz weg¬ 
geblieben. 

Der demnächst erscheinende II. Theil, 
welcher die Ernährung in den einzelnen 
Krankheiten bespricht, wird ebenfalls ganz 
wesentlich gekürzt sein, da die Herren Mit¬ 
arbeiter das Programm acceptirt haben, 
alles Beiwerk, welches nicht unbedingt zur 
Sache gehört, fortzulassen. Ich möchte 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


hoffen, dass das in dieser Bearbeitung 
documentirte Bestreben nach sachlicher Be¬ 
schränkung bei den Aerzten Billigung und 
Beifall finden wird; vielleicht wird das 
Werk dann eine erfreuliche Einwirkung 
auch auf andere literarische Darbietungen 
ausüben. G. Klemperer. 

W. Frleboes« Beiträge zur Kenntniss 
der Guajakpräparate. Mit 10 Ab¬ 
bildungen. Stuttgart. Enke 1903. 119 S. 

Diese gekrönte, mit einem Vorwort 
Koberts versehene Preisschrift stellt ein 
Glied in der Serie von Untersuchungen 
über Saponinstoffe dar, die Robert 
schon seit langem mit Erfolg ausführt. 
Verfasser hat aus den einzelnen Theilen 
der Droge (Guajacum officinale) die 
wichtigsten Bestandteile isolirt und sie 
im Thierexperiment untersucht. Die Gua- 
jaksaponinsaure und das neutrale Guajak- 
saponin zeigten sich toxikologisch nicht 
oder nur wenig wirksam. Nicht toxisch 
waren auch die Guajakharzsäure und die 
Guajakonsäure. Er empfiehlt alle Theile 
der Droge (und auch das Holz von Bul- 
nesia Sarmienti Lor.) therapeutisch zu 
verwenden. Die Holztranke wirken diure- 
tisch und, verbunden mit der Inunctions- 


325 


| kur angewendet, vielleicht heilend auf die 
Syphilis ein. 

Wegen der Ungiftigkeit des neutralen 
G.-Saponins und der geringen Wirkung 
der G.-Saponinsäure hält Verfasser diese 
beiden Stoffe technisch für verwendbar, 
z. B. um alkoholfreies Bier und Limonaden 
schäumend zu machen und um Leberthran 
und Ricinusöl in haltbare Emulsionen zu 
I verwandeln, was für keins der anderen 
Saponine wegen ihrer Giftigkeit zulässig sei. 

Im Uebrigen enthält die Arbeit eine kurze 
Kritik der Geschichte der wohl schon vor 
1492 in der alten Welt bekannten Syphilis, 
gegen die Guajak schon im Beginn des 
16. Jahrhunderts im Gebrauch war (Ulrich 
v. Hutten, „Ueber die Heilkraft des Gua¬ 
jacum und die Franzosenseuche“), ferner 
erschöpfende pharmakognostische und che¬ 
mische Ausführungen über die Droge und 
ihre Bestandtheile. Besonders sei noch 
hingewiesen auf die guten, den äussern 
und innern Bau der Droge wiedergebenden 
Abbildungen, auf die Zusammenfassung 
aller zur Kobert'sehen Reihe gehörenden 
Saponine und die Pflanzen, in denen sie 
Vorkommen (S. 38—53), sowie endlich auf 
die Litteraturübersichten. 

E. Rost (Berlin). 


Referate. 


Bekanntlich sind neuerdings begründete 
Bedenken gegen die alkalische Reaction 
des Blutes und der Körpersäfte über¬ 
haupt besonders von Friedenthal er¬ 
hoben worden. Schon früher hatten sich 
Maly und F. Kraus scharfsinnig gegen j 
das Bestehen alkalischer Reaction im 
Blute in gewissem Sinne ausgesprochen. 
Höher meint aber durch physikalisch¬ 
chemische Messungen [in Concentra- 
tionsketten mit Gaselectroden *) wird das 
Potential gemessen, wobei permanent 
Wasserstoff durch das Serum strömt: 
Stösst nämlich eine Lösung von bekannter 
Concentration der OH-Ionen mit einer an¬ 
deren Lösung von zu messender OH*Con¬ 
centration zusammen, so lässt sich der Ge¬ 
halt der letzteren an O H-Ionen berechnen 
durch die elektromotorische Kraft einer 
solchen Gas-Kette] festgestellt zu haben, 
dass die Hydroxylionen im defibrinierten 
Rinderblut in einer Konzentration von 
etwa 0,1 .10~ 5 vorhanden sind. Darnach 
wäre das Blut eine schwach, aber doch 
deutlich alkalische Flüssigkeit, da in reinem 

*) Mit Platinschwarz überzogene Platinbleche, die 
mit H beladen werden. 


Wasser, in dem die O H- und H-Ionen im 
Gleichgewicht sind, die Concentration der 
OH-Ionen (ebenso wie der H-Ionen) etwa 
1,0.10— 17 beträgt 1 ) (theoretischerNeutralitäts¬ 
punkt). Dagegen ist eingewendet worden, 
| dass die stundenlange H- Durchleitung das 
Co 2 -reiche Blut durch Austreiben der aus¬ 
pumpbaren Co? alkalisch macht, ebenso 
wie eine mit Phenolphthalein versetzte, 
farblose Lösung von Natriumbicarbonat 
beim Durchleiten von H-Blasen schon nach 
Minuten durch Rotfärbung alkalische Re¬ 
action anzeigt. Friedenthal konnte nach- 
weisen, dass wohl Lackmus, eine mittel¬ 
starke Säure unter den Indikatoren, Blau¬ 
färbung des Serums zeigt, nicht aber die 
sehr schwache Säure Phenolphthalein Roth- 
färbung, wovon man sich leicht überzeugen 
kann. Lackmus treibt die C 02 aus dem 
Blut aus, nicht aber Phenolphthalein. 
Neuerdings hat nun P. Fraenckel in 
Nernst’s Institut ebenfalls physikalisch¬ 
chemisch die Frage untersucht. Er wandte 
Palladiumelektroden an, die er für eine 
gewisse Zeit mit völlig gleicher Menge 


l ) d. h. 1 g OH in 10 Millionen Liter. 


Difitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




326 


Juli 


Die Therapie der 


H beladen konnte (so dass ein in ihren 
Stromkreis eingeschaltetes Galvanometer 
keinen Ausschlag gab); die Beladung der 
Elektroden geschah nicht durch stunden¬ 
lange H-Durchleitung, sondern von vorn¬ 
herein durch Elektrolyse. Auf diese Weise 
lässt sich eine Concentrationskette 
herstellen, in der Blut mit einer Mess¬ 
flüssigkeit verglichen, ihre Potentialdiffe¬ 
renz (unter Verwendung einer Kohl- 
rau sch’sehen Messbrücke als Widerstand) 
gemessen wird. 

Frisches defibriniertes Blut und 
frisches Serum zeigt eine H-Ionen- 
concentration, die der des Wassers 
annähernd gleich kommt. Das Blut ist 
also neutral. Diese Messungen werden 
bestätigt durch Messungen Salessky’s, 
ebenfalls aus dem Nernst'sehen Institut, 
über die zum ersten Male in absolutem 
Maass ausgedrückte Empfindlichkeit der In- 
dicatoren. Frisches Blutserum wird durch 
Phenolphthalein nicht geröthet; die Re- 
action kann sich also nur bis auf einige 
Hundertmillionstel normaler O H-Concen- 
tration von der des Wassers entfernen. 

Es entsteht nun die Frage, ob die 
neutrale Reaction, die für den normalen 
Organismus also hiernach nicht noth- 
wendig wäre, auch in pathologischen 
Zuständen angetroffen wird. Durch Titriren 
mit Säure unter Verwendung von Lackmus 
als Indikator bestimmt man nicht die 
„actuellen“ OH-Ionen allein, die die wahre 
„Reaction“ ausmachen, sondern auch die 
„potentiellen“, d. h. sowohl die in Ionen- 
form vorhandenen, als auch die, welche 
aus den nicht dissociirten Molekeln erst 
infolge der Austreibung der CO 2 zur 
Wiederherstellung des Lösungsgleich - 
gewichts in Lösung gesendet werden, d. h. 
die Gesammtheit der mit Säure absättig- 
baren OH-Bestandteile. Da aber „das 
Blut ein Gemisch ist, das zwar im Ganzen 
als neutral zu betrachten ist, aber sowohl 
säure- wie alkalibindende Eigenschaften 
besitzt“, so ist auch die Kenntnis der bis¬ 
her ermittelten „potentiellen“ OH-Ionen- 
concentration für das Verständnis bio¬ 
chemischer Vorgänge unentbehrlich. 

Nach Friedenthals und v. Rohrers 
Versuchen reagiert auch der menschliche 
Harn stets neutral oder sehr schwach 
sauer, ebenso wie der Dünndarminhalt 
nach J. Munk (auf Phenolphthalein); jeden¬ 
falls enthält Darminhalt und Harn nicht so¬ 
viel OH- bezw. H-Ionen, wie eine Flüssig¬ 
keit mit einem Gehalt an OH- oder H-Ionen 
entsprechend einer Lösung von 1 g in 
10 Mill. Litern. Hiernach würden mit Aus- 

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Gegenwart 1903. 


nähme des Magensaftes und des Bauch¬ 
speichels alle Säfte des Körpers an¬ 
nähernd neutral reagiren. 

E. Rost (Berlin). 

(Pflügers Arch.f.d. ges.Physiol. Bd.96, Heft 11/12, 
S. 601.) 

Fälle von schweren cerebralen Stö¬ 
rungen (Kopfschmerzen, Parästhesien, 
Angstgefühle, acute Psychosen, epilepti- 
forme Anfälle, Bewusstseinsstörungen) in¬ 
folge von intestinaler Autointoxieation, 
d. h. Resorption giftiger Zersetzungs- 
producte im Darmcanal, die bisher nur in 
spärlicher Zahl veröffentlicht sind, ver¬ 
dienen das besondere Interesse des Prak¬ 
tikers, einmal weil sie leicht zu Verwechse¬ 
lung mit ernsteren cerebralen Affectionen, 
speciell mit Meningitis, Veranlassung geben, 
ferner aber weil sie, richtig gedeutet, der 
Therapie ein sehr dankbares Object 
bieten. 

Deshalb soll der folgende, von Stürtz 
kürzlich mitgetheilte Fall aus der Kraus- 
schen Klinik hier Erwähnung finden: 
17jähriger Patient hat am I.Mai nach Ge¬ 
nuss von Eis Leibschmerzen, die die 
nächsten Tage anhalten, mit Stuhlverhal¬ 
tung, ohne Uebelkeit oder Erbrechen. Am 

5. Mai, bei anhaltenden Leibschmerzen, 
sehr reichlicher Genuss grüner Bohnen; 
danach Zunahme der Leibschmerzen, mehr¬ 
maliges grünes Erbrechen, starke Kopf¬ 
schmerzen. In der Nacht vom 5. zum 

6. Mai treten plötzlich Krämpfe ein; in 
völliger Bewusstlosigkeit, mit Schaum vor 
dem Munde wird der Kranke gegen Morgen 
in die Klinik aufgenommen. Dort lassen 
die Temperatur von 38—38,3, klonische 
Zuckungen, fehlende Reaction der weiten 
Pupillen, geringe Nackensteifigkeit, etwas 
eingezogener Leib, der Puls, der zuerst 
72 beträgt, bald auf 52 heruntergeht, an 
Meningitis denken, die vorgenommene 
Lumbalpunction aber ergiebt regel¬ 
rechten Befund der Cerebrospinalflüssigkeit. 
Der Harn enthält sehr reichlich Indican, 
kein Aceton, keine Acetessigsäure. Der 
Patient erhält zweimal täglich 0,2 Calomel 
und täglich eine hohe Darmspülung mit 
physiologischer Kochsalzlösung. Nach Ent¬ 
leerung reichlicher Massen sehr stinkenden 
Stuhlgangs bessert er sich rasch; das an¬ 
fänglich noch anhaltende Erbrechen wird 
durch eine Magenspülung beseitigt. Die 
Bradycardie (die Kraus bei intestinaler 
Autointoxication nach Obstipation mehrfach 
beobachtet hat) schwindet erst innerhalb 
12 Tagen. 

Für die Therapie kommen ausser der 
Darmentleerung durch Calomel und hohe 

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Juli 


327 


Die Therapie der 


DarmspQlungen und der Magenspülung 
noch die Regelung der Diät in Betracht; 
der Wechsel derselben (Kohlehydrat- 
nahrung an Stelle der Eiweissnahrung) 
ist geeignet, eine Aenderung der Darm- 
bacterienflora und ihrer Stoffwechsel- 
producte, welche als die Ursache der ner¬ 
vösen Krankheitserscheinungen anzusehen 
sind, herbeizuführen. F. Klemperer. 

(Berl. klin. Wochenschrift 1903, No. 23.) 

In einer ausführlicheren Bearbeitung 
theilt L. Schwarz in der Festschrift für 
Pribram Untersuchungen über Diabetes 
als Ergebniss mehrjähriger Bearbeitung 
mit, über die hier etwas eingehender 
berichtet sei. Ist doch diese Arbeit die 
letzte aus der Feder unseres begabten 
Collegen und befreundeten Mitarbeiters, 
der inmitten seiner unermüdlichen und 
fruchtbaren Thätigkeit als Assistent an der 
Pribram’schen Klinik ganz vor kurzem von 
einem jähen Tod dahingerafft worden ist. 

Die Lehre von der Acetonurie bei 
Diabetes, die Schwarz seit einer Reihe 
von Jahren zum Gegenstand seines be¬ 
sonderen Interesses gemacht hatte, und 
die durch seine Arbeiten ja auch wesent¬ 
liche Förderungen erfahren hat, nimmt 
auch hier wieder den Hauptraum ein. Er 
hat durch seine früheren Untersuchungen 
der Vorstellung, dass die Acetonaus¬ 
scheidung bei Diabetikern in engem ge¬ 
netischen Zusammenhang mit dem Nah¬ 
rungsfett stehe, wesentliche Grundlagen 
gegeben, indem er nachwies, dass durch 
Zulage grosser Buttermengen zu gemischter 
Eiweisskohlenhydratdiät oder zu reiner 
Eiweisskost bei Diabetikern beträchtliche 
Steigerung der Acetonausscheidung in Harn 
und Athemluft eintritt (vergl. auch diese 
Zeitschrift, Jahrg. 1900, S. 221). Bereits 
damals hatte er in einigen Versuchsreihen 
die Erfahrung gemacht, dass der Zusammen¬ 
hang von Fettnahrung und Acetonaus¬ 
scheidung beim gesunden, gut ernährten 
Menschen ein schwankender und daher 
nicht eindeutiger sei. In neuerlichen Ver¬ 
suchsreihen an 3 Gesunden ergab sich 
wieder dasselbe Resultat; selbst grosse 
Fettmengen in der Nahrung erzeugen beim 
Gesunden entweder nur minimale Zunahme 
der Acetonausscheidung oder lassen über¬ 
haupt keinen Einfluss darauf erkennen. 

Die klinischen Beobachtungen, dass bei 
einer Anzahl von Krankheitszuständen, die 
mit starker Einschmelzung des Körperfettes 
einhergehen, wie bei Carcinomen des 
Intestinaltractus, bei Verdauungsstörungen 
und acuten Infectionskrankheiten der Kin¬ 


Gegenwart 1903. 


der, bei Abdominaltyphus, bei abstinenten 
Geisteskranken, bei Intoxicationen mit 
Phosphor, Chloroform und anderen Nar- 
coticis, Acetonausscheidung ein häufiges 
Vorkommniss ist, dass hingegen beim 
Schwinden des Körperfettes durch pro¬ 
grediente Tuberkulose, durch Entfettungs- 
curen u. dergl. kein Aceton ausgeschieden 
wird, diese klinische Thatsache glaubt er 
dadurch erklären zu müssen, dass nicht 
jeder Fettzerfall, sondern nur ein abnormer 
Fettzerfall zur Aceton- resp. Aceton¬ 
körperausscheidung (d. i. /J-Oxybuttersäure, 
Acetessigsäure, Aceton) führe. — 

Einen genetischen Zusammenhang der 
Acetonausscheidung des Diabetikers mit 
dem Fettzerfall wird man wohl heute kaum 
mehr bezweifeln können. Schwarz hat 
nun in zahlreichen Versuchen an schweren 
Diabetikern, an denen die Pribram’sche 
Klinik offenbar einen beneidenswerthen 
Reichthum aufzuweisen hat, geprüft wie 
sich verschiedenes Fett, resp. verschiedene 
Fettsäuren dabei verhalten; er hat dabei 
festgestellt, dass die Butter die Aceton¬ 
körperausscheidung bedeutend stärker ver¬ 
mehrt als Schweinefett, Rinderfett oder gar 
Olivenöl. Demgemäss wirkten auch isolirt 
verabreichte niedere Fettsäuren mit Butter¬ 
säure, Valeriansäure, Capronsäure viel 
stärker acetonvermehrend als die höheren 
Glieder der Fettsäurereihe mit Palmitinsäure 
und Stearinsäure. Am geringsten ist der 
Einfluss der Repräsentanten der ungesättig¬ 
ten Oelsäurereihe: der Olsäure und der 
Erucasäure. Dem Ergebniss dieser experi¬ 
mentellen Studien glaubt Schwarz auch 
in der Formulirung der Kostordnung für 
den schweren Diabetiker Rechnung tragen 
zu müssen: „man wird wohl nicht mehr eine 
möglichst reichliche Fettzufuhr ganz all¬ 
gemein anordnen dürfen, sondern man 
wird ähnlich wie man von Fall zu Fall dem 
Patienten seine Kohlehydratration zumisst, 
nach der Intensität der Acetonkörper¬ 
ausscheidung ermitteln müssen, welche 
Menge von Feft dem Einzelfalle zuträglich 
ist.“ Es liegt ihm indess — wie er aus¬ 
drücklich betont — fern, die Fette etwa 
principiell aus der Ernährung der Dia¬ 
betiker streichen zu wollen. Glücklicher¬ 
weise! denn womit sollen wir denn schliess¬ 
lich einen schweren Diabetiker noch er¬ 
nähren, wenn nun auch noch das Fett, das 
uns bisher noch als kostbarste Kraftquelle 
für den schweren Diabetiker so werthvoll 
war, in Misscredit kommen sollte. Ist doch 
auch das Fleisch als Zuckerbildner für ihn 
schon gefährlich genug, ganz abgesehen 
davon, dass wir ihn damit nicht auf die 


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328 


Juli 


Die Therapie der 


Dauer auf seinem Calorienbedarf erhalten 
können! Ich möchte indess meinen, dass 
zwar gerade die Schwarz’schen Unter¬ 
suchungen die Fette in ihrer Rolle als 
Acetonkörperbildner stark befestigt haben, 
indess scheinen sie mir auch heute noch 
nicht zu beweisen, dass die Fette die 
alleinigen Acetonbildner darstellen! 

Schwarz hat seiner Zeit darauf hin¬ 
gewiesen, dass die Gluconsäureverfütterung 
die Acetonkörperausscheidung stark herab¬ 
zusetzen im Stande ist. Das wird auch 
durch seine neuerlichen Untersuchungen 
wieder bestätigt. Daraus dürften wir indess, 
meine ich, vorderhand noch kaum thera¬ 
peutischen Nutzen ziehen, da das Präparat 
einerseits ganz ausserordentlich theuer ist, 
(1 kg Acid. glyconic. = 250 Mk.!) und ja 
eine rationelle Gluconsäuretherapie immer 
eine länger dauernde sein müsste, anderer¬ 
seits leicht Verdauungsstörungen unange¬ 
nehmer Art hervorruft. 

Caramel erhöht bcmerkenswerther 
Weise die Glycosurie nicht, wobei er 
freilich auch nichts von acetonvermindern¬ 
dem Einfluss erkennen lässt. 

Um hartnäckigen Zuckergehalt des 
Diabetikers erfolgreich herabzudrücken, 
bedient man sich bekanntlich des Hunger¬ 
tages besonders seit Naunyn’s warmer 
Empfehlung desselben, freilich in der Regel 
erst dann, wenn der Harnzucker bereits 
bis unter 1 % heruntergebracht ist. 
Schwarz ist auf Grund seiner Erfahrungen 
der Meinung, dass die Anwendung des 
Hungertages schon beim Uebergang von 
der kohlehydratreichen zur kohlehydrat¬ 
freien Diät zweckmässig ist. 

Den Fettgehalt des Blutes fand 
Schwarz etwas höher beim schweren 
Diabetiker als beim Nichtdiabetiker (0,41 % 
gegen 0,26%). Die Lipämie findet sich 
im schweren Diabetes auch bei fettfreier 
Kost und ausserhalb des Comas. Schwarz 
hält einen Zusammenhang von Lipämie und 
Ace.tonkörperausscheidung für wahrschein¬ 
lich. Ein schwerer Diabetiker wird nach 
der Resorption grösserer Fettmengen in 
der Nahrung in der Regel alimentär lipä- 
misch. Da das Blut lipämisch beschaffen 
sein kann, ohne erhöhten Fettgehalt zu 
besitzen, hält Schwarz eine Herabsetzung 
der lipolytischen Fähigkeit des Diabetiker¬ 
blutes für die wahrscheinliche Ursache der 
Lipämie. 

Auch auf das Vorkommen von Laevulose 
hat Schwarz in seinen Fällen geachtet 
und unter 19 Diabetikern 6 gefunden, die 
gleichzeitig Laevulose ausschieden. In 
manchen, indess nicht in allen Fällen 

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Gegenwart 1903. 


scheint die Ausscheidung derselben bis zu 
einem gewissen Grade von der Kohlhydrat¬ 
zufuhr abhängig. Zugleich vermehrt 
Schwarz die Casuistik der spontanen 
Laevulosurie ohne gleichzeitige Glycosurie, 
die bisher sehr spärlich ist, um einen 
weiteren Fall. . F. Umber (Berlin). 

(Deutsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 76. 1903.) 

v. Aldor (Karlsbad) empfiehlt die 
Behandlung chronischer Dickd&rm- 
catarrhe mit hohen Eingiessungen, mit 
denen er auffallend günstige Resultate erzielt 
hat. Seine Methode besteht darin, dass er 
nach vorausgehendem Reinigungsklystier 
eine hohe Eingiessung von Karlsbader 
Sprudelwasser von 45—50° C. mitttels 
einer 85 cm langen Magensonde vornimmt. 
Die weiche Sonde wird der ganzen Länge 
nach eingeschoben; wie Aldor angiebt, 
gelingt es bei einiger Uebung leicht, sie 
über die Flexura sigmoidea hinaufzuführen. 
Zunächst wird nur 1 Liter Wasser einge¬ 
gossen, nach wenigen Tagen schon wird 
auf 27 2 —3 Liter gestiegen. Nach der 
Eingiessung wird ein Thermophor auf 
den Bauch applicirt; die Kranken halten 
den Einlauf zunächst % Stunden, später 
2—3 Stunden und noch länger, nach 
Aldor’s Angaben ohne Beschwerden. 

Aldor theilt mehrere Krankengeschich¬ 
ten mit, in denen nach 15—20 maliger, 
bisweilen auch 25maliger Wiederholung 
dieser hohen und grossen Einläufe Heilung 
oder wesentliche Besserung eintrat und 
zwar sowohl bei Fällen mit habitueller 
Obstipation als auch bei solchen mit chroni¬ 
schen Diarrhoen und Wechsel beider. Das 
Aldor’sche Verfahren wird von J. Boas 
einer sehr zutreffenden Kritik unterzogen. 

Boas hält es für unmöglich, eine Magen¬ 
sonde weiter als höchstens 15—20 cm in 
den Mastdarm vorzuschieben. Leichten¬ 
ste rn hat dies bereits für die elastischen 
(steifen) Mastdarmrohre behauptet, des¬ 
gleichen Naunyn, welcher schreibt: „Wo 
man glaubt, die elastischen Rohre einen 
halben Meter oder meterlang eingebracht 
zu haben, hat man sie im Mastdarm auf¬ 
gerollt.“ Noch mehr gilt dies natürlich 
von dem weichen Magenschlauch; Boas 
ist es oft unschwer gelungen, eine ganze 
Magensonde usque ad finera in den 
Mastdarm einzuführen, aber die Digital¬ 
untersuchung hat dann jedesmal erwiesen, 
dass die Sonde im unteren Mastdarm ge¬ 
knickt und aufgerollt lag. Eine hohe Ein¬ 
giessung in dem von v. Aldor und anderen 
damit verbundenen Sinne giebt es also 
gar nicht; sie ist aber auch übeiflüssig, 

Original fro-m 

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Juli 


329 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


denn es ist durch Beobachtungen an 
Patienten mit Coecumfisteln sicher festge¬ 
stellt, dass Flüssigkeiten, die aus 10—15 cm 
(und sogar nur 4—5 cm) weit eingeführtem 
Darmrohre unter gelindem Drucke in den 
Mastdarm einlaufen, in ganz kurzer Zeit — 
in einem Falle von Boas schon nach 
wenigen Sekunden — im Coecum er¬ 
schienen. 

Für nicht unbedenklich hält Boas auch 
die Grösse der eingegossenen Flüssigkeits¬ 
menge; er fürchtet davon eine Schädigung 
der Darmmuskulatur, die durch so grosse 
und lange fortgesetzte Einläufe leicht über¬ 
dehnt, atonisch werden könnte. 

Das Wirksame an den v. Aldor’schen 
Einlaufen scheint Boas deren hohe Tem¬ 
peratur zu sein, die als Reiz für die Darm¬ 
muskulatur wohl von Nutzen sein kann. 
Dabei dürften aber nach Boas’ Ansicht 
nicht Dickdarmcatarrhe mit Obstipation und 
solche mit chronischen Diarrhoen in gleicher 
Weise behandelt werden; für letztere 
scheinen ihm kleine heisse Infusionen, wie 
sie u. a. Pollatschek (Karlsbad) empfiehlt, 
eher am Platze. Für beide Arten von 
Dickdarmcatarrh aber stellt er als oberstes 
Gebot der Therapie, dessen Berücksich¬ 
tigung meist für sich allein ausreicht, das 
Leiden zu beseitigen, die strenge Re¬ 
gelung der Diät hin. F. Klemperer. 

(Berliner klin. Wochenschrift 1903, No. 19 u. 22.) 

In einer sorgfältigen kritischen Studie 
hat Wieland die Erfahrungen der Basler 
Kinderklinik über Wirkungsweise des 
Diphfherieheilsernms und seine Lei¬ 
stungsgrenzen bei operativer La- 
rynxstenose bearbeitet. Auch er kommt 
zu dem Schlüsse, dass Spitalsstatistik, kli¬ 
nische und namentlich anatomische Befunde 
einen günstigen Einfluss der Serumbehand¬ 
lung auf die Diphtherie und speciell auf 
die operative Eingriffe erfordernde Larynx- 
stenose erkennen lassen. Die Wirksamkeit 
ist wesentlich eine locale und äussert sich 
in beschleunigter Rückbildung sowie Ver¬ 
hinderung weiterer Ausbreitung der ge¬ 
bildeten Membranen. 

Wie bekannt, sind die Leistungen des 
Serums um so zuverlässiger, je frühzeitiger 
die Behandlung einsetzt. Aber die Prognose 
im einzelnen Falle hängt nicht in erster 
Linie von der Krankheitsdauer, sondern 
vom Grade der bestehenden Allgemein- 
infection (Virulenz, individuelle Empfäng¬ 
lichkeit) ab. So sieht man die besten Er¬ 
folge bei langsam verlaufenden (schwach 
toxischen) Fällen, bei denen es früher fast 
regelmässig zu absteigendem Croup kam. 

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Je rascher, toxischer der Verlauf, desto 
geringer die Chancen auch frühzeitiger 
Behandlung. Hier gewährt nur ganz frühe, 
sofort nach erfolgter Infection angewandte 
Injection grössere Aussichten, wie die Re¬ 
sultate bei den sogleich nach Ausbruch 
der ersten Krankheitserscheinungen „ge¬ 
spritzten“ Spitalsinfectionen beweisen. In 
den wenig günstigen Resultaten des Serums 
bei toxischen Fällen dürfte in erster Linie 
der Grund zu suchen sein, weshalb die in 
Basel seit Jahrzehnten registrirten unregel¬ 
mässigen Schwankungen der städtischen 
Diphtheriemortalität seit Einführung der 
Serumbehandlung nicht verschwunden sind 
und weshalb die Spitalletalität gerade der 
schweren operativen Croupfälle nach wie 
vor starkem Wechsel unterliegt. 

Nach Wieland bestehen angesichts der 
überwiegenden Localwirkung des Serums 
bei der menschlichen Diphtherie einstweilen 
keine zwingenden Gründe, in den gift¬ 
bindenden Eigenschaften nach Analogie 
der in vitro und im Thierkörper nach¬ 
gewiesenen specifischen Vorgänge das 
Hauptmoment für das Zustandekommen 
der Heilung auch beim Menschen zu er¬ 
blicken. Vielmehr scheint nach dem Er¬ 
gebnis der Wieland’schen Untersuchun¬ 
gen die Bedeutung des Serums gegenüber 
den toxischen Diphtherieproducten zum 
grösseren Theil in einer bloss indirecten, 
weitere Gifterzeugung verhütenden Wirk¬ 
samkeit zu liegen, während die Unschäd¬ 
lichmachung der bereits gebildeten und in 
die Circulation aufgenommenen Toxine züm 
Theil wohl auch dem Heilserum, zum grösse¬ 
ren Theil aber den verschiedenen gift¬ 
widrigen Factoren des Organismus selbst 
überlassen bliebe. 

Das Behring’sche Serum ist somit 
nach Wieland’s Erfahrungen ein zwar 
äusserst werthvolles, aber kein absolut — 
d. h. kein in allen Fällen klinisch echter 
Diphterie, gleich sicher zum Ziele führendes 
Heilmittel. Dagegen scheint es ein durch¬ 
aus sicheres Prophylacticum zu sein. Zur 
Vermeidung der namentlich bei toxischem 
Epidemiecharakter drohenden Misserfolge 
tritt Wieland für prophylactische Immuni- 
sirung ein. Finkeistein (Berlin). 

(Jahrb. f. Kinderheilk. 57.) 

Die Eklampsie gehört ins Grenzgebiet 
des internen und geburtshilflichen Interesses. 

Die Therapie hat indess davon bisher noch 
wenig Vortheil gehabt und ist ja auch heute 
noch bei der Eklampsie bekanntlich keine 
sehr glückliche und erfolgreiche. Die grosse 
Zahl der Aerzte steht heute wohl noch auf 

42 

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330 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


der Seite derer, die die Krankheit durch 
interne Mittel, Narkotica, diaphoretische 
Verfahren, Aderlass und Kochsalzinfusion 
bekämpfen. Die Zahl der Geburtshelfer, 
die actives Eingreifen und zwar Entbin¬ 
dung wünschen, ist noch nicht gross. 
Halbertsma und Dührssen waren unter 
den ersten. Zweifel und Leppold traten 
in der Folge ebenfalls dafür ein, gestützt 
auf günstige Erfahrungen. Nunmehr nimmt 
auch der Hallenser Gynäkologe Bumm zu 
der Frage Stellung, und zwar tritt er mit 
Entschiedenheit für die sofortige Ent¬ 
bindung beim Ausbruch eklamp- 
tischer Convulsionen ein. In den Jahren 
1882—1895 behandelte er die Eklampsien 
symptomatisch, indem er durch Narkotica 
die Krampfanfälle zu unterdrücken strebte 
und nur dann die Geburt künstlich herbei¬ 
führte, wenn die Eröffnung der Weichtheile 
genügend fortgeschritten war, wie es eben 
damals meistens üblich war. Von 47 der¬ 
artig behandelten Frauen starben 15, d. i. 
30°/o. In den folgenden Jahren von 1895 
bis 1900 machte Verfasser in 43 Fällen von 
Eklampsie neben der üblichen Morphium¬ 
behandlung consequenten und ausgiebigen 
Gebrauch von Schwitzkuren, dabei in9Fällen 
von Aderlass und Kochsalztransfusion, aber 
auch so waren die Resultate nicht besser, 
Von den 43 eklamptischen Frauen starben 
13 = 30%! Diese mangelhaften Erfolge 
der eigentlich exspectativen Therapie ver- 
anlassten Bumm, von nun an aktiver vor¬ 
zugehen, in dem er sich sagte, dass die 
eklamptischen Störungen, auf welcher Ur¬ 
sache sie auch immer beruhen mögen, in 
letzter Linie gewiss durch die Schwanger¬ 
schaft und den Geburtsreiz hervorgerufen 
werden. Deshalb liess Verfasser nun vom 
1. April 1901 ab an der Frauenklinik in 
Halle alle eklamptischen Frauen sofort ent¬ 
binden, d. h. es wurde bei den in der An¬ 
stalt befindlichen Schwangeren sogleich 
nach dem ersten oder zweiten Anfall, bei 
eklamptisch eingelieferten, gleichgültig in 
welchem Stadium der Geburt sie sich be¬ 
fanden, bis längstens in ^2 Stunde nach 
der Einlieferung die Entleerung des Uterus 
vorgenommen. Von 25 Eklamptischen, die 
nach diesen Principien behandelt wurden, 
starben nur 2, die beide moribund und 
hoffnungslos eingeliefert wurden, an den 
Folgen der eklamptischen Vergiftung, 22 
genasen völlig, und eine starb, frei von 
eklamptischen Symptomen, nach 12 Stunden 
an einer Schluckpneumonie. Damit war 
also eine Mortalität von 8% erreicht, eine 
Zahl, die allerdings für die Zweckmässig¬ 
keit der Bumm’schen Massnahmen zu 

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sprechen scheint. Ist die Eröffnung des 
Gebärmutterhalses bereits im Gange, so 
kommt Zange, Wendung oder Perforation 
in Frage, bei theilweiser Entfaltung des 
Cervix combinirte Wendung auf den Fuss 
mit nachfolgendem permanentem Zug an der 
herabgeholten Extremität, ev. vaginalem 
Dührssen’scher Kaiserschnitt. 

Auch bei Schwangerschaftsnephritis, die 
sich trotz geeigneten diätetischen Verhal¬ 
tens nicht bessert, empfiehlt Bumm die 
Unterbrechung der Schwangerschaft, um 
die Kranken vor grösseren Gefahren zu 
bewahren. Es wäre gewiss wünschens- 
werth, dass diese therapeutischen Grund¬ 
sätze angesichts der wenig erfolgreichen 
internen Therapie bei Eklampsie in grös¬ 
serem Umfang in der Praxis herangezogen 
würden. Denn nur grosse Zahlen können 
da endgültig entscheiden! 

F. Umber (Berlin). 

(Münch, med. Wochenschrift 1903, No. 21.) 

Uebermässige Fleischnahrung haben 
die Aerzte von jeher gern in ätiologische 
Beziehung zur Gicht gesetzt und die prak¬ 
tische Erfahrung hat uns im allgemeinen 
in der Therapie der Gicht auf reichlichere 
Fleischzufuhr zu Gunsten der Vegeta- 
bilien verzichten gelehrt. Früher glaubte 
man diese Erfahrung einfach dadurch 
erklären zu können, dass man im Fleisch 
die Muttersubstanzen der Harnsäure an¬ 
nahm, welche nach der damaligen Vor¬ 
stellung als Vorstufe des Harnstoffs galt. 
Heute wissen wir indess, dass die Harn¬ 
säurebildung zwar nicht ganz ausschliess¬ 
lich aber sicherlich zum weitaus grössten 
Theil mit dem Umsatz der Purinkörper im 
intermediären Stoffwechsel zusammenhängt. 
Diese Purinkörper finden sich aber in den 
Substanzen des Zellkernes, d. i. in den 
Nucleoproteiden, und nicht in dem Proto¬ 
plasma. Daher erklärt sich auch, dass die 
Harnsäureausscheidung weit mehr gestei¬ 
gert wird durch die Verabreichung kern¬ 
haltiger Organe in der Nahrung als durch 
kernarmes Muskelfleisch. Es ist denn auch 
seither nicht recht gelungen auf experimen¬ 
teller Grundlage bestimmte Anhaltspunkte 
für die bei den meisten Therapeuten in Ehren 
stehende Causalbeziehung zwischen Fleisch¬ 
nahrung und Gicht zu finden. Kionka hat 
bekanntlich vor einiger Zeit die Beobach¬ 
tung gemacht, dass man bei Hühnern durch 
monatelange ausschliessliche Fleischfütte¬ 
rung Uratablagerungen in den Gelenken 
hervorrufen kann. Indess geht der Harn- 
säurestoflfwechsel bei Vögeln andere Bahnen 
wie beim Menschen, auf welchen man also 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


331 


die Kionka'sehen Ergebnisse nicht ohne 
weiteres übertragen darf. Kochmann hat 
nun neuerdings im Kionka schen Institut 
die Frage wiederum aufgenommen und Be¬ 
obachtungen darüber angestellt, ob durch 
ausschliessliche Fleischnahrung bei Säuge- 
thieren pathologisch-anatomische Verände¬ 
rungen nachweisbar wurden. Zu diesem 
Zweck hielt er 3 Hunde im Stoffwechsel¬ 
käfig je 40 Tage lang unter ausschliess¬ 
licher Fleischkost, und zwar fütterte er 
einem Thier Rindfleisch, zwei Thieren Pferde¬ 
fleisch, das nach Pflügers Erfahrung bei 
länger dauernder Darreichung an Hunde 
Störungen der Verdauung und des Allge¬ 
meinbefindens verursacht. Bei allen drei 
Hunden, abgesehen von zeitweiligen Spuren 
von Albumen bei 2 Hunden, und etwas 
grösseren Mengen Albumen (bis zu 74 °/oo) 
beim 3. Hund, fanden sich keine Störungen 
der Gesundheit, indess bei der Obduction 
anatomische Hinweise auf acute oder sub¬ 
acute Nephritis bei massigen Verfettungs¬ 
erscheinungen an den Nierenepithelien. (Es 
ist indess zu beachten — worauf auch 
der Verfasser hinweist — dass auch bei 
normalen Hunden in der Gefangenschaft 
Verfettungen geringen Grades stets be¬ 
obachtet werden.) 

Ferner fanden sich trübe Schwellung 
des Leberparenchyms sowie Pigmentab¬ 
lagerungen in der Milz, nach Verfassers 
Meinung Folgezustände einer gemeinsamen 
Schädlichkeit, die in der ausschliesslichen 
Fleischkost gelegen war. Bei z\tfei Con¬ 
trolhunden, die einen gleichen Zeitraum 
hindurch ebensoviel Fleisch bei reichlicher 
Kohlehydratzulage erhalten hatten, fanden 
sich ausser geringen Spuren von Verfettung 
in den Nieren nichts abnormes. 

Diese bemerkenswerthen Resultate, die 
leichte Parenchymschädigungen der Organe 
des Fleischfressers durch übermässigen 
ausschliesslichen Fleischgenuss erweisen, 
will nun der Verfasser rein deductiv in 
genetische Beziehung zur uratischen Dia- 
these setzen; das wird indess der Kliniker 
nicht ganz ohne Einspruch hinnehmen! 
Wenn durch irgend eine Schädigung in 
Leber und Niere, sagt Kochmann, sich 
schwere Degenerationen des Parenchyms 
entwickeln, so muss die Harnsäurezerstö¬ 
rung ins Stocken gerathen, welche ja eine 
Funktion dieser Organe ist. Mangelnde 
Muskelarbeit lähmt auch die letzte Stätte 
der Harnsäurezerstörung, die Muskeln. Die 
kranke Niere vermag nun die im Laufe 
der Zeit gebildete, aber nicht zerstörte 
Harnsäure nicht auszuscheiden, und so 
kommt es zur Ansammlung und schliess¬ 


lich Ablagerung derselben an besonders 
disponirten Stellen des Körpers, d. h. es 
könnte (beim Menschen) das klinische und 
pathologisch-anatomische Bild der Gicht 
entstehen. Für diese Deductionen Beweise 
zu erbringen, möchte wohl nicht leicht 
sein. Wie häufig können wir im Gegen- 
theil die Beobachtung machen, dass 
schwerere Parenchymschädigungen der 
Organe, als hier Vorlagen, ohne Aufstape¬ 
lung oder gar Ablagerung von Harnsäure 
im Körper vor sich gehen! Wie häufig 
sehen wir länger bestehende allmählich 
sich entwickelnde degenerative Verände¬ 
rungen an Nieren und Leber ohne bei der 
Obduction consecutive Ablagerungen von 
Harnsäure im Körper zu finden! Dass 
bei Uratikern parenchymatöse Veränderun¬ 
gen der Nieren und zeitweilig leichte Ver¬ 
änderungen an der Leber gefunden werden 
können, erlaubt wohl noch nicht, denselben 
eine ätiologisch bedeutsame Rolle zuzu¬ 
weisen. Die Entscheidung ob Ursache oder 
Wirkung ist da recht gefährlich! — 

F. Umber (Berlin). 

(Pflüger’s Archiv, Bd 94, 1903.) 

Einer inneren Behandlung der 
tuberkulösen Peritonitis der Kinder 
an Stelle der chirurgischen redet L. Guthrie 
nachdrücklieh das Wort. Ihm starben von 
14 laparotomirten 7, von 27 intern be¬ 
handelten nur 4, und auch bei diesen war 
dreimal septische Perforationsperitonitis, 
einmal Phthise die Todesursache. Dass 
die chirurgischen Fälle schwerere waren, 
lässt Guthrie vielleicht für die Gestorbenen 
gelten; die Geheilten jedoch waren nicht 
anders, als die der zweiten Gruppe. Der 
wichtigste Factor der inneren Behand¬ 
lung ist Bettruhe und vor Allem gute 
Landluft. 

Was den Ascites anbetrifft, so ist in 
acuten Fällen die Entferung nur dann an¬ 
gezeigt, wenn grosse Beschwerden da 
sind; denn gerade unter diesen Umständen 
erfolgt schnelle Wiederkehr. In chronischen 
Fällen dagegen ist das Ablassen nöthig und 
zwar ist zur Vermeidung von Nebenver¬ 
letzungen die Incision einer Punktion vor¬ 
zuziehen. Bei Obstructionssymptomen und 
Verdacht auf Eiterung, ebenso bei septischer 
Peritonitis sowie bei Gegenwart von käsigen 
Knoten ist die Laparotomie empfehlens- 
werth. Finkeistein (Berlin). 

(Arch. of Pedriatrics. April 1903.) 

Der Schwefel ist zweifellos eines der 
besten und wirksamsten dermatotherapeu- 
tischen Präparate, das wir besitzen. Der 


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Gck igle 


42* 

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332 


Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


grosse Nachtheil des gewöhnlich verwen¬ 
deten Schwefelpräparats, des Lac sulfuris, 
ist die Unlöslichkeit. Saalfeld berichtet 
nun über Versuche mit einem neuen lös¬ 
lichen Schwefelpräparat, dem Thigenol. 
Es ist das eine concentrirte Lösung der 
Natriumverbindung der Sulfosäure; 10 Pro¬ 
cent Schwefel sind in diesem dunkelbraunen 
Oel organisch gebunden. Vor dem Ichthyol 
hat es den Vorzug, geruchlos zu sein. Es 
ist in Wasser, verdünntem Alkohol, Gly¬ 
cerin völlig löslich. Gemäss den von einigen 
anderen Autoren früher bereits gemachten 
Angaben hat Saalfeld die günstigen Wir¬ 
kungen des Mittels bei einigen Hautkrank¬ 


heiten bestätigen können. Besonders bei 
Ekzemen, auch der Kinder und in erster 
Linie bei Seborrhoe und den mit diesem 
im Zusammenhang stehenden Ekzemen war 
das Mittel in Form von */ 4 % bis 15%igen 
Salben wirkungsvoll. Spirituöse Lösungen 
zu Pinselungen haben sich bei Acne rosacea 
bewährt; bei Sycosis konnte durch 10 bis 
20%ige Thigenolsalbe ein günstiger Effect 
constatirt werden; bei Frost wandte er 
10—15%ige Salbe oder bis 33 l /3%iges 
Thigenolkollodium an; bei Scabies scheint 
es nicht eine regelmässig gute Wirkung 
zu haben. Buschke (Berlin). 

(Therapeut. Monatsh. 1903 April.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Erfahrungen über Renoform (das wirksame Princip der Nebenniere) 
und Renoformpräparate. (Renoformpulver, Renoformwatte.) 

Von Dr. Bruno Qoldschmidt- Berlin. 


Die wachsende Bedeutung des Neben¬ 
nierenextraktes für die Rhinologie ver¬ 
anlasst mich zur Veröffentlichung von Be¬ 
obachtungen, die ich theils mit dem Extrakt 
selbst, theils mit Präparaten die denselben 
enthalten, und .deren Anwendung ich 
empfehlen möchte, angestellt habe. Meinen 
Versuchen und Beobachtungen liegen die 
Erzeugnisse der „Berliner Fabrik organo- 
therapeutischer Präparate“ Dr. Freund 
und Dr. Redlich zu Grunde, welche mit 
dem Vorzug grosser Wirksamkeit den 
ausserordentlicher Wohlfeilheit verbinden, 
und welche sich, meiner Erfahrung nach, 
vor dem Adrenalin durch die Eigenschaft 
der Reizlosigkeit auszeichnen. Während 
ich z. B. beim Adrenalin erlebt habe, dass 
Einpinselung desselben zum Zweck der 
Behandlung einer vasomotorischen Rhi¬ 
nitis heftige Reizerscheinungen, als Niesen, 
Brennen etc. hervorrief, habe ich bei An¬ 
wendung des Berliner Präparates niemals 
dergleichen beobachtet. Möglicherweise 
rührt diese Reizwirkung des Adrenalins 
von dem ihm zur Conservirung beigefügten 
Zusatz von Aceton-Chloroform her, während 
das „Renoform“ mit welchem Namen die 
genannte Firma das wirksame Princip der 
Nebenniere bezeichnet, ausschliesslich 
Glycerin zum Zweck der Conservirung 
enthält. 

Die Indicationen für die Anwendung 
des flüssigen Nebennierenextraktes sind be- 
kanntermaassen Schwellungszustände oder 
Blutungen der Nasenschleimhäute; dem¬ 
entsprechend verwendete ich das Renoform: 

1. Als diagnostisches Mittel. 

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2. Als ischämisches und secundär se- 
cretionsbeschränkendes Mittel bei Zuständen 
vasomotorischer Reizung. 

3. Als Präventivmittel gegen Blutungen 
vor operativen Eingriffen. 

4. Als Stypticum bei operativen und 
nichtoperativen Blutungen. 

Die Punkte 1 und 2 bedürfen keines 
weiteren Commentars; die Wirkung des 
Renoforms bei diesen beiden Indicationen 
ist sattsam bekannt und besprochen. Zu 
Punkt 3 möchte ich erwähnen, dass Auf¬ 
pinselung einer 2—5% Lösung vor opera¬ 
tiven Eingriffen (Resection vorderer oder 
hinterer Muschelenden, Abtragung von 
Spinen und Cristen, Resection grösserer 
Muschelpartien) mit darauf folgender Co- 
cainisirung der zu operirenden Stellen, bei¬ 
nahe vollständige Blutleere des Operations¬ 
feldes ermöglichte. Auch die nach dem 
Eingriff einsetzende Blutung war zumeist 
sehr gering. Wurde die Nase darauf in der 
üblichen Weise mit Jodoformgaze tamponirt, 
so sah ich niemals eine stärkere (etwa 
durch heftigere Nachblutung in Folge 
reaktiver Lähmung der Vasoconstrictoren 
verursachte) Durchtränkung des Tampons, 
als nach operativen Eingriffen ohne Extrakt 
Ich erwähne dies ausdrücklich, weil von 
mehreren Seiten vor heftigen Nachblutungen 
nach Anwendung von Nebennierenextrakt 
bei Operationen gewarnt worden ist. Die¬ 
selbe günstige Wirkung sah ich bei der 
Bepinselung der Gaumentonsille vor ihrer 
Entfernung. Auch hier war die sonst ge¬ 
wöhnlich recht heftige, unmittelbar ein¬ 
setzende Blutung ganz minimal: eine Nach¬ 


ts rigi na I from 

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Juli 


333 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


blutung trat Oberhaupt nicht ein. Aller¬ 
dings sind ja Nachblutungen aus operirten 
Tonsillen Oberhaupt etwas Seltenes, doch 
wird diese geringfügige Reizung hierzu 
durch die vorhergehende Behandlung mit 
Renoform jedenfalls nicht erhöht. 

Zu Punkt 4: wurde nach Entfernung 
vorderer oder hinterer Enden oder nach 
anderen operativen Eingriffen die blutende 
Stelle mit einem in Renoform getauchten 
Wattebausch bedeckt, so stand die Blutung 
sehr schnell. Das gleiche günstige Resultat 
zeigte sich bei Behandlung des blutenden 
Locus Kieselhachii. Hier möchte ich noch 
erwähnen, das ich nie einen ungünstigen 
Einfluss auf das Allgemeinbefinden des 
Patienten beobachtet habe, obgleich das 
Renoform doch in unmittelbare Berührung 
mit den offenen Blutbahnen kommt. Diese 
Beobachtung ist um so wichtiger, wenn 
man die ausserordentlich grosse Resorptions¬ 
fähigkeit der Nasenschleimheit für allerhand 
chemische Agentien kennt. Es spricht 
dies jedenfalls für die Unschädlichkeit des 
Präparates. 

Die günstigen Erfahrungen, die ich mit 
dem flüssigen Extract bei allen Zuständen 
acuter oder chronischer Schwellung der 
Nasenschleimhäute gemacht hatte, legten 
den Gedanken nahe nach einer Anwen¬ 
dungsform des Extractes zu suchen, welche 
handlich, billig und dennoch wirksam, seine 
Verwendung sowohl in ärztlichen Händen, 
als auch als populäres .Schnupfenmittel“ 
ermöglichte. Die bisher übliche Art der 
Anwendung in Gestalt von Lösungen ist, 
besonders für letztgenannten Zweck, un¬ 
geeignet, und findet aus naheliegenden 
Gründen sehr bald seine Grenzen. 1 ) Eine 
hierfür geeignete Form scheint mir die des 
„Pulvers“ zu sein. Zahlreiche Versuche 
zeigten, dass ein Zusatz von 0,10 g Reno¬ 
form sicc. zu 5,0 g eines indifferenten 
Pulvers (in diesem Falle: Acid. boric. subtil, 
pulveris. Sacch. lact.), sorgfältig mit 
diesem verrieben, eine Mischung ergab, 
welche auf der Nasenschleimhaut dieselben 
ischämischen Symptome hervorzurufen im 
Stande ist, wie die gleichprocentigen 
Lösungen. Das Pulver hatte leider lange 
den Nachtheil, dass ihm der Organgeruch 
recht deutlich anhaftete. Nach langen Ver¬ 
suchen ist es der Fabrik nun gelungen, ein 
absolut geruchloses, haltbares und reiz¬ 
loses Pulver herzustellen. Dasselbe hat 
sich mir und anderen Collegen in der 
Praxis ausserordentlich bewährt. Das 
Pulver, das in kleinen Flacons in den 


Vergl. Therapie der Gegenwart. August 1902. 

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Handel kommt, wird aufgeschnupft. Für 
Fälle, wo das Aufschnupfen wegen voll¬ 
ständiger Verstopfung unmöglich ist, habe 
ich ein Röhrchen anfertigen lassen, dessen 
eines Ende der Patient in den Mund, dessen 
anderes er in die Nase steckt, und so 
durch leichtes Blasen die nöthige, vorher 
in das Röhrchen aufgeschaufelte Menge 
Pulver in die Nase bringt. Die Wirkung 
pflegt in der Weise aufzutreten, dass sich 
zunächst eine stärkere Secretion einstellt, 
die nach kurzer Zeit, ca. 10—15 Minuten, 
ausgesprochener Trockenheit Platz macht. 
Die Abschwellung der Schleimhäute tritt 
nach kaum 1 Minute ein und hält, mit in¬ 
dividuellen Abweichungen, stundenlang an. 

Während also dieses Pulver zunächst 
als populäres „Schnupfenmittel“ gedacht 
war, veranlasste mich die Bequemlichkeit 
seiner Anwendnng bald, dasselbe selbst in 
der Praxis dauernd zu verwenden. Da 
das Pulver die Eigenschaft hat, sehr schnell 
auf der Schleimhaut zu zergehen, so konnte 
ich es mit grösstem Nutzen da anwenden, 
wo ich zum Zweck der Diagnose oder der 
Therapie eine prompte Anämisirung be¬ 
zweckte. Die Wirkung tritt nach 1 bis 
2 Minuten in durchaus prägnanter Weise 
auf und hält, je nach individuellen Eigen¬ 
schaften (mehr oder minder grosse Schlaff¬ 
heit der Schwellkörper, Vorhandensein 
von Adenoiden und anderen Abfluss¬ 
hindernissen des Blutes), mehrere Stunden 
an. Nichts lag näher als diese Eigen¬ 
schaften auch zur Blutstillung in der Nase 
zu verwenden. Es ist klar, dass sich zu 
diesem Zweck ein Pulver stets besser 
eignet als eine Flüssigkeit, die man mittels 
Spray oder Wattetampon auftragen muss. 
Das Einsprayen von Flüssigkeit in die 
Nase ist schon an und für sich eine für 
den Patienten höchst unangenehme Pro- 
cedur; die Bepinselung einer blutenden 
Stelle mittels eines Watte- oder anderen 
Pinsels zerstört zunächst einmal mechanisch 
leicht etwa beginnende Gerinnselbildung 
und ist, wie jeder Praktiker aus Erfahrung 
weiss, zeitraubend und unsicher. Die 
Tamponade mittels eines in Lösung ge¬ 
tränkten Tampons wirkt zwar prompt, ist 
aber, wie jeder Tampon in der Nase, 
höchst lästig, und führt zu der Gefahr, bei 
Entfernung des Tampons eine neue Blu¬ 
tung zu erzeugen. Das Renoformpulver 
hat sich nun als recht gutes Stypticum be¬ 
währt. 

Andere Collegen und ich haben es viel¬ 
fach bei operativen und nichtoperativen 
Nasenblutungen erfolgreich angewandt. So¬ 
gar Muschelresectionen, Abtragungen vor- 


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334 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


derer und hinterer Enden standen nach 
Einpulverung von Renoform. Auch post¬ 
operative Larynxblutungen wurden durch 
Renoformeinblasungen gestillt. Die sterile 
Art der Herstellung und der Zusatz von 
Borsäure gestattet auch die unbedenkliche 
Auftragung auf Wunden. Stärkere Nach¬ 
blutungen habe ich nicht erlebt. 

Natürlich giebt es Fälle, in denen die 
Blutung so heftig, die Contractionsfähigkeit 
des Schwellgewebes so gering ist, dass 
man zur Tamponade greifen muss. Die 
allgemein übliche Tamponade mittels fester 
Ausstopfung der ganzen betreffenden 
Nasenhälfte mit Jodoformgaze ist bekannt¬ 
lich einer der unangenehmsten und schmerz¬ 
haftesten Eingriffe. Ein Mittel, das sicher 
blutstillend wirkt, ohne die höchst lästigen 
Begleiterscheinungen der Tamponade zu 
bieten, glaube ich gefunden zu haben durch 
Herstellung einer „Renoformwatte“. 
Auch dieses Präparat wird von der Firma 
Freund & Redlich in der Weise hergestellt, 
dass sterile Watte mit dem Nebennieren- 
extract getränkt wird, so dass 100 Gewichts- 
theile Watte 2 Gewichtstheile Renoform 
enthalten. Die Watte wird dann getrocknet 
und behält trocken ihre ischämischen 
Eigenschaften. 

Der Vorzug dieser Watte vor der ge¬ 
wöhnlich zur Tamponade verwandten 
Jodoformgaze besteht zunächst darin, dass 
es genügt, dieselbe nur leicht gegen die 
blutende Stelle anzudrücken und dort 


liegen zu lassen, dass man nicht die ganze 
Nase auszustopfen braucht, und endlich, 
dass die Nachblutung bei Entfernung des 
lockeren Tampons sehr gering oder gar- 
nicht vorhanden ist. Offenbar wird durch 
die lang anhaltende ischämische Wirkung 
der Watte, verbunden mit dem leichten 
Druck, die Gerinnselbildung der blutenden 
Gefässe beschleunigt, so dass bei Entfer¬ 
nung des Tampons eine Blutung nicht mehr 
stattfinden kann. 

Hervorheben möchte ich noch den 
grossen Vorzug, den die Watte gegen¬ 
über der Sesquichloridwatte und anderen 
Stypticis (Ferripyrin etc.) durch die Sauber¬ 
keit ihrer Anwendung bietet. 

Wir haben die Watte vielfach nach 
operativen Eingriffen in der Nase in der 
oben beschriebenen Weise verwendet, ohne 
Nachblutungen beobachtet zu haben. Der 
am nächsten Tage entfernte Tampon ist, 
auch an der Berührungsstelle mit der 
Wunde, nicht roth, sondern elfenbeingelb 
gefärbt, anscheinend eine auf Veränderung 
des Blutfarbstoffes beruhende Farben- 
reaction. 

Zum Schluss noch die Bemerkung, dass 
meiner Erfahrung nach das Renoform in 
seiner Wirksamkeit in keiner Weise hinter 
dem sauren Adrenalin zurücksteht; es ist 
geruchlos und klar wie dieses und, wie 
gesagt, reizloser für die Schleimhäute. 
Die neuen Renoformpräparate seien den 
Collegen warm zur Nachprüfung empfohlen. 


Ueber Dymal. 

Von Dr. J. Stock -Skalsko. 


Es giebt viele pharmakotherapeutische 
Neuigkeiten, die wahrlich vollkommen werth¬ 
los sind, indem sie nicht einmal annähernd 
denselben Erfolg erreichen wie längst be¬ 
währte alte Mittel. Wenige giebt es solcher, 
die wenigstens in irgend einer Richtung 
wirksam sind, die seltensten sind doch jene, 
die durch ihre specifische Wirkung oder 
allseitige Anwendung gleichen könnten 
jenen alten Grössen, so wie z. B. Chinin, 
Hydrargyrum, Morphium u. A. 

So giebt es auch eine ziemlich grosse 
Reihe jener chemischen Mittel, die uns in 
der Wundbehandlung zur Disposition stehen, 
und doch wissen wir, wenn wir diese 
grosse Reihe bisher bekannter und üblicher 
Mittel durchgehen, dass selten eines den 
Zweck vollkommen erfüllt. 

Etwa vor einem Jahre kam mir ein 
neues, von der Firma Zimmer & Co. in 
Frankfurt erzeugtes Präparat, Dy mal, 

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zur Hand, das mir als wirksames Wund¬ 
streupulver anempfohlen wurde. 

Das Dymal wird bei der Fabrikation von 
Auerstrümpfen, die, wie bekannt aus Didym, 
Cerium und Lanthan bestehen, als Neben- 
product gewonnen und besteht aus salicyl- 
saurem Didym von der chemischen Formel: 
Di 2 (Cß H 4 OH. C 00)c. Es ist ein feines, 
rosaweisses Pulver, ohne Geruch, das nicht 
zusammenballt und mit einem Pinsel sich 
gut aufstreuen lässt. 

Der erste, der auf Overlach’s Ver¬ 
anlassung das Dymal durchprobte, war Prof. 
Ko pp in München. 1 ) In Fällen kleiner 
Schnitt-, Riss- und Quetschwunden erwies 
sich ihm Dymal als ein gutes, antiseptisches, 
austrocknendes Mittel. Auch Verbrennun¬ 
gen heilen unter Dymalverband bald, be- 


l ) C. Ko pp (Mönchen), Ueber Dymal (Therap. 
Monatshefte Febr. 1902). 

Original fro-m 

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Juli 


335 


Die Therapie der 

sonders die Sekretion nimmt rasch ab. Bei 
den genannten, mehr der kleinen Chirurgie 
angehörigen Kranken hatte also Ko pp das 
Dymal als ein ungiftiges und reizloses, 
sekretbeschränkendes und austrocknendes 
antiseptisches Wundstreupulver kennen ge¬ 
lernt, sodass er es nun bei folgenden Der¬ 
matosen in Anwendung zog: Acutes und 
chronisches, nässendes und trockenes Ek¬ 
zem, Psoriasis, Impetigo contagiosa, Erysi¬ 
pel, Hyperidrosis, Intertrigo, Ichthyosis und 
verschiedene Formen von Hautgangrän. 
Zur Behandlung des Erysipels und der 
Psoriasis findet Ko pp das Dymal als un¬ 
geeignet, dafür aber bewährt es sich in 
Fällen von Hyperidrosis und Intertrigo. In 
Fällen von Hautgangrän, bei Decubitus, 
Ulcus cruris, Erfrierungen 3. Grades und 
seniler Gangrän kann auch das Dymal 
sehr gut angewandt werden, besonders der 
üble Geruch solcher gangränöser Processe 
wird rasch beseitigt. 

Auch Roth 1 ) ist mit der Wirkung des 
Dymals sehr zufrieden und gebrauchte es 
in Fällen von nässenden und trockenen, 
besonders acuten Ekzemen, bei Impetigo, 
Hyperidrosis, Combustio, Herpes und Pru¬ 
rigo und bewährte es sich ihm immer als ein 
austrocknendes, hautschützendes" und reiz¬ 
stillendes Mittel. Die austrocknende Wir¬ 
kung des Dymals bewährte sich auch bei 
oberflächlichen Eiterungen (Impetigo). 

Munks 2 ) Versuche mit dem Dymal be¬ 
schränken sich hauptsächlich auf ambula¬ 
torische Behandlung von Wundkrankheiten, 
bei welchen er die Beobachtung zu machen 
Gelegenheit hatte, dass das Dymal, ausser 
den von Kopp und Roth angegebenen 
Eigenschaften auch noch den weiteren, 
nicht zu unterschätzenden Vorzug besitzt, 
dass man von dem auf die Wundfläche 
gestreuten Pulver, es mag noch so dicht 
aufgestreut worden sein, Tags darauf beim 
Verbandswechsel keine Spur mehr vor¬ 
findet, indem das Dymal nicht so, wie dies 
bei anderen Wundstreupulvern der Fall 
ist, der Wundfläche anhaften bleibt, so¬ 
dass das Aussehen und Beschaffenheit der 
Wunde nicht wahrzunehmen ist, sondern 
es wird gänzlich resorbirt, sodass bei Ab¬ 
nahme des Verbandes die Beschaffenheit 
der Wunde genau beurtheilt werden kann. 
Ausser Fällen von kleineren Quetsch-, 
Riss- und Schnittwunden, welche mit Dy- 

*) Dr. Alfred Roth, Ueber Dymal („Pester 
medicin. chir. Presse - , Jahrgang XXXVII (1902), 
No. 44. 

*) Dr. J. Munk, Ueber die Verwendbarkeit des 
Dymals in der Chirurgie (,Aerztl. Centr.-Zeitung", 
XIV. Jahrg. 1903, No. 13). 

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Gegenwart 1903. 

mal bestreut, auffallend rasch ohne jede 
Eiterung vernarbten, machte er auch bei 
grösseren Verletzungen in einem Falle 
traumatischer Gangrän und in einem Falle 
von Anthrax davon mit bestem Erfolge 
Gebrauch. Sonst lobt er die Wirksamkeit 
desselben Streupulvers bei Intertrigo, acu¬ 
tem Ekzem und als Insufflationsmittel bei 
acutem Nasen- und Rachenkatarrh. 

Die eigenen Fälle, in welchen ich vom 
Dymal Gebrauch machte, entstammen eben¬ 
falls der kleinen chirurgischen Praxis, ins¬ 
besondere kleine Quetsch- und Schnitt¬ 
wunden (32), ausserdem ein Fall subacuten 
nässenden Ekzems (1), Verbrennungen (2), 
ein ziemlich ausgedehnter Decubitus (1), 
Intertrigo (6), Hyperidrosis (2) und Fuss- 
geschwüre (3). Der Gesammterfolg war 
durchaus gut, denn es zeigt das Dymal, 
es mag auch in grosser Menge aufgestreut 
worden sein, auch bei ganz kleinen Kin¬ 
dern, gar keine giftigen Eigenschaften und 
trocknet die Wunden sehr gut aus. Klei¬ 
nere Quetsch- und Schnittwunden heilen 
ganz gut und sehr rasch; mit anderen 
antiseptischen Mitteln wäre derselbe Erfolg 
in demselben Zeiträume nicht zu erreichen 
gewesen. 

Die austrocknende Eigenschaft des 
Dymals bewährt sich sehr gut bei Intertrigo 
Erwachsener und Kinder, wo dieses Mittel 
immer sehr gut anempfohlen werden kann; 
die Wirkung ist hier ziemlich prompt. 
Aehnlicher Weise und vielleicht aus dem¬ 
selben Grunde ist auch die Hyperidrosis 
ein für das Dymal dankbares Behandlung¬ 
object, wenigstens meine zwei Fälle, die 
verschiedenen, vorangehenden Behand¬ 
lungsversuchen nicht weichen wollten, 
scheinen dies zu bekräftigen. 

Bei Verbrennungen ist der günstige 
Einfluss ebenfalls evident, denn das Dymal 
vermindert die starke Secretion, es hat 
aber den Fehler, dass es die Schmerzen 
nicht im geringsten lindert, ob es schon 
in Form einer Salbe oder Streupulvers an¬ 
gewandt wurde. Aus dem Grunde empfehle 
ich in Fällen von Verbrennungen und Fuss- 
geschwüren eine Combination des Dymals 
mit Anaesthesin, dessen analgetische Wir¬ 
kung die Kranken sehr loben. 

Der Behauptung Munk’s, dass das 
Dymal auf die Wunde, noch so dicht auf¬ 
gestreut, sich gänzlich resorbirt, so dass am 
andern Tage nicht die geringste Spur nach¬ 
gewiesen werden kann, kann ich im vollen 
Umfange nicht beipflichten. Allerdings, bei 
kleinen Wunden, wo nicht viel aufgestreut 
wurde, resorbirt sich das Pulver gänzlich, 
aber nach stärkerer Aufstreuung, so wie 


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336 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Juli 


ich es in einem Falle eines ausgedehnten 
Decubitus that, fand ich immer den zweiten 
Tag die Wunde mit einer Dymalschicht, 
wie mit einer Kruste, die öfters auch künst¬ 
lich entfernt werden musste, bedeckt. 

Demgegenüber blieb das Dymal voll¬ 
kommen unwirksam in einem Falle nässenden 
Ekzems, obwohl es durch längere Zeit 
applicirt wurde, bis ich mich genöthigt sah, 
zum bewährten Resorcin zurückzukehren, 
welches das Ekzem in kurzer Zeit aus¬ 
trocknete und zur Heilung brachte. 


Fassen wir also die Erfolge eigener Be¬ 
obachtungen zusammen, so können wir 
sagen, dass das Dymal ein nicht reizendes 
und ungiftiges, antiseptisches Mittel 
ist, das die Wunde gut austrocknet 
und heilt. 

Der Vorzug des Dymals vor anderen 
gleich wirksamen antiseptischen Streu¬ 
pulvern liegt in seiner grossen Billigkeit* 
die es zur Anwendung in der Armen- und 
Kassenpraxis ganz besonders empfehlens- 
werth erscheinen lässt. 


Dr. Leo Schwarz 


A.us dem engeren Kreis der ständigen Mitarbeiter dieser Zeitschrift hat der 
Tod ein erstes schmerzliches Opfer geholt. Unser Referent für österreichische 
Litteratur, Dr. Leo Schwarz in Prag, ist am 30. Mai im 31. Lebensjahr unver- 
muthet und plötzlich einem apoplectischen Insult nach latenter interstitieller Nephritis 
erlegen. 

Leo Schwarz war ein jüngeres Mitglied der Prager biochemischen Schule, 
deren Hauptvertreter jetzt in deutschen Landen auf Physiologie wie auf Klinik 
heilsamen und befruchtenden Einfluss ausüben. Schwarz hat unter Hofmeister 
in Prag und später in Strassburg gearbeitet, und war mehrere Jahre Assistent 
bei Pohl in Prag, ehe er zur medicinischen Klinik von Pribram übertrat, der er 
zuletzt als erster Assistent angehörte. 

Schwarz’ wissenschaftliche Arbeiten stehen in engem Zusammenhang mit 
dem grossen Eiweissproblem, 4 esse n Erforschung die Prager Schule ihre Haupt- 
thätigkeit widmet; er hat über die Kupferalbuminsäure, das Verhältniss von Oxamin- 
säure zu Harnstoff, die Aldehydverbindungen der Eiweisskörper, die Oxydation 
der Ketone der Fettsäurereihe gearbeitet. Von der letztgenannten Forschung fand 
er den Weg zu klinisch bedeutsamen Fragestellungen, indem er die Gesetze der 
Bildung und Ausscheidung des Acetons und der Acetessigsäure studirte. Es ge¬ 
lang ihm die Feststellung des Zusammenhangs der Acetonbildung mit Fettnahrung 
und ihre Verminderung durch Gluconsäure, die er danach als ein Mittel gegen 
diabetisches Coma ansprach. Von hier aus trat er in weitere Forschungen über 
den Diabetes ein, die er in seiner letzten Arbeit zusammenfasste; ein Referat über 
dieselbe ist in diesem Heft enthalten. 

Die kurz skizzirte Summe seiner Lebensarbeit zeigt, von welch hingebendem 
Fleiss und Eifer der jugendliche Forscher beseelt war; es sei hinzugefügt, dass 
jede einzelne seiner Arbeiten jene tadellose Exactheit und Zuverlässigkeit zeigte, 
welche wir als ein Attribut der Schule betrachten dürfen, in der er erwachsen war. 

Dieser Zeitschrift und ihrem Herausgeber ist Leo Schwarz während eines 
mehrmonatlichen Studienaufenthalts in Berlin im Frühjahr 1899 nahegetreten; ich 
habe ihn als einen guten und aufrichtigen Menschen, eine idealerfüllte Seele, 
voll von Begeisterung für unsere Wissenschaft kennen und schätzen gelernt. Wir 
durften glauben, dass seiner Begabung, seinem Fleiss, seinem untadligen Wesen 
die schönsten Früchte beschieden sein würden. Nun vernahmen wir erschüttert 
die Kunde von seinem allzufrühen Heimgang. Doch wollen wir sein Loos nicht 
beklagen. Im Frühling stolzer Hoffnungen ist er von der blühenden Erde ge¬ 
schieden; die Bitterniss vieler Enttäuschungen ist ihm erspart geblieben. — Als 
eine anima candida wird er in unserm Andenken fortleben. 


Für die Redaction verantwortlich: Prof. G. Klempercr in Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Oesterreich-Ungain. 
Eugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag voft Urban &Schwarzenb6rg 

in Wien und Berlin. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1903 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 

in Berlin. 


August 


Nachdruck verboten. 


Ueber die specifische Behandlung des Morbus Basedowii. 

Von Dr. Burghart, dirig. Arzt am Luisenhospital in Dortmund, 
und Privatdocent Dr. Bllimentlial, Assistent der I. med. Klinik in Berlin. 


Nachdem neuerdings von verschiedenen 
Seiten günstige Erfolge nach Anwendung 
von Blutserum oder Milch entkropfterThiere 
bei Morbus Basedowii mitgetheilt worden 
sind, scheint es uns, die wir an der Ent¬ 
wicklung dieser organotherapeutischen Be¬ 
strebungen Antheil zu haben glauben, nicht 
überflüssig, über unsere Anschauungen 
und therapeutischen Beobachtungen zu 
berichten. Zunächst seien uns einige 
historische Bemerkungen erlaubt. 

Im Jahre 1897 kam Burg hart auf die Idee, 
das Blut einer an Myxödem leidenden Kranken 
zur Behandlung des Morbus Basedowii zu be¬ 
nutzen, ausgehend von dem besonders durch 
Moebius begründeten Gedanken, dass Myx¬ 
ödem und Morbus Basedowii gegensätzliche 
Krankheiten sind, und dass beide auf Ver¬ 
giftung des Körpers durch Functionsverände¬ 
rungen oder Erkrankungen der Schilddrüse be¬ 
ruhen. Den unmittelbaren Anlass zur Ver¬ 
folgung der genannten Idee bot der Zufall, dass 
auf der Abtheilung Burgharts in der I. medi- 
cinischen Klinik der Charite gleichzeitig eine 
schwer Myxödematöse und eine schw’er 
Basedowkranke lagen. Die Erfolge, welche 
durch Einspritzen eines Kochsalzauszuges des 
Blutes der Myxödemkranken bei der an Basedow 
leidenden Patientin erzielt wurden, waren in 
vielfacher Beziehung, namentlich in Bezug auf 
die Einwirkung auf das Körpergewicht, das 
Zittern, den Schweiss, die Tachycardie so 
evidente, dass die Möglichkeit, den Basedow 
durch Zufuhr von Myxödemblut specifisch zu 
beeinflussen, vorhanden erschien, und dass 
hierdurch die Annahme, dass diese beiden 
Krankheiten in gewissem Gegensatz in Bezug 
auf ihren ätiologischen Zusammenhang mit der 
Schilddrüse stehen, eine erhebliche Stütze er¬ 
fuhr. Auf Grund dieser Erfahrungen erwogen 
wir gemeinsam, ob nicht mit Rücksicht auf die 
Seltenheit des Vorkommens von Myxödem, 
welche die Anwendung des Myxödemblutes 
gegen Basedow im grösseren Maassstabe un¬ 
möglich machen musste, durch Benutzung von 
Blut entkropfter Thiere ähnliche Wirkungen 
erzeugt werden könnten. Wir wählten zu¬ 
nächst aus äusseren Gründen Hunde. Von 
diesen ist es bekannt, dass sie in Folge der 
Schilddrüsenexstirpation zu einem grossen 
Theil an Tetanie erkranken, und ferner, dass 
diese Tetanie durch Gaben von Schilddrüsen- 
extract theilweise verhütet, theilweise gemildert 
werden kann. Die Versuche mit dem Blut der 

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entkropften Hunde ergaben in der That eben¬ 
falls ein günstiges und eindeutiges Resultat. 

Erzielt wurden die günstigen Erfolge ebenso 
gut mit einem Kochsalzauszuge, wie mit dem 
Serum des Blutes bei subcutaner Anwendung, 
wie mit Verabreichung eines durch Alkohol¬ 
fällung erzeugten Blutpulvers per os. Die 
besten Ergebnisse allerdings hatte die Verwen¬ 
dung des Blutkochsalzauszuges. 

Ueber diese Versuche hat Burghart, nach 
dem von uns eine gewisse Anzahl von Basedow- 
kranken dieser Behandlung unterzogen worden 
war, am 17. Juli 1899 im Verein für innere 
Medicin in Berlin in einem Vortrage: „Beiträge 
zur Organotherapie“ Mittheilung gemacht *). Da¬ 
mals wiegten wir uns in dem Glauben, dass 
unsere Anwendung von Hundeblut gegen 
Morbus Basedowii zuvor noch niemals geübt 
worden war. Erst unmittelbar bevor der Vor¬ 
trag gehalten wurde, erfuhren wir, dass Ver¬ 
suche, und zw r ar mit Hundeblutserum subcutan, 
schon vor uns von Ballet und Enriquez, 
und zwar gleichfalls mit gutem Erfolge, ange¬ 
stellt worden waren, Diese Versuche, mit¬ 
getheilt in La mödecine moderne 1895 No. 104: 

Des effets de l’hyperthyreoidisation experi¬ 
mentale sind ohne Zweifel Vorläufer der 
unserigen, wie wir anzuerkennen nie Anstand 
genommen haben; doch w T eder Ballet und 
Enriquez selbst, noch andere Forscher haben 
auf ihnen weiter gebaut oder nur sie weiterhin 
therapeutisch verwerthet. So kam es, dass wir 
ohne ihre Kenntniss dieselbe Idee gehabt haben. 

Kurze Zeit nach Burghart’s Vortrag er¬ 
schien im Correspondenzplatt für Schweizer 
Aerzte eine Arbeit, in welcher Lanz a ) über 
günstige Beeinflussung des Morbus Basedowii 
durch innere Verabreichung von Milch ent¬ 
kropfter Ziegen berichtete. Wir haben bereits 
in der Festschrift für E. von Leyden 3 ) dankend 
anerkannt, dass diese Arbeit uns als eine 
wesentliche Verbesserung der specifischen Be¬ 
handlung des Morbus Basedowii in sofern er¬ 
schien. als die Milch thyreoidectomirter Thiere 
ein leichter anwendbares Mittel darstellt, als 
uns in den Blutpräparaten thyreoidectomirter 
Hunde bisher zur Verfügung stand, und wir 
finden, obwohl Lanz in seiner Arbeit unserer 
Versuche mit keinem Worte gedenkt, keinen 
Anlass, sein Verdienst nachträglich zu ver- 

*) Burghart, Deutsche med. Wochenschrift 
1899, No. 37 u. 38. 

a ) Lanz, Correspondenzblatt für Schweizer 
Aerzte 1899. 

3 ) Burghart und Blumenthal, Festschrift 
für E. v. Leyden. 1902. Berlin, Hirschwatd. 

43 

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338 


August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


kleinern. Nun macht uns Lanz in seiner 
neusten Publikation in der Münchener medici- 
nischen Wochenschrift 1903 No. 4 den Vorwurf, 
eine von ihm schon vorher veröffentliche Arbeit, 
in der er die Idee, Milch thyreoidectomirter 
Thiere zu serumtherapeutischen Zwecken zu 
verwenden, mitgetheilt hatte, nicht gekannt zu 
haben. Diese Idee findet sich nämlich in einer 
Arbeit in den Mittheilungen aus Kliniken und 
medicinischen Instituten der Schweiz 1895 ver¬ 
öffentlicht. Dieser Vorwurf kann uns indessen 
aus dem Grunde nicht treffen, weil das 
von Herrn Lanz zur Publikation gewählte 
Blatt uns unzugänglich und die Existenz der 
Lanz’schen Arbeit erst durch die neuste Publi¬ 
kation Lanz’s uns bekannt geworden ist. 
Lanz hätte unseres Erachtens besser gethan, 
sich vor diesem Vorwurf zu hüten, da ihm 
sogar unsere in der Deutschen medicinischen 
Wochenschrift, einem doch gewiss überall leicht 
zugänglichen Organ, veröffentlichen Versuche 
entgangen sind, und er auf dieselben seinem 
eigenen Geständniss nach erst durch die 
Rodagenankündigung der Vereinigten chemi¬ 
schen Werke aufmerksam gemacht worden ist. 

Zwei Jahre nach der zweiten Publication 
von Lanz und der unsrigen, nämlich 1901, 
hat dann Moebius auf dem Vereinstag mittel¬ 
deutscher Psychiater, wie wir einem Referat 
in der Zeitschrift für Psychiatrie entnehmen, 
über von ihm angestellte Versuche mit Serum¬ 
behandlung des Morbus Basedowii berichtet. 
In diesem Bericht erwähnt Moebius zwar, dass 
Burghart das Blut einer Myxodematösen mit 
Erfolg zur Behandlung des Basedow verwandt 
hat, er erwähnt aber nicht unsere Versuche 
mit dem Blut thyreoidectomirter Hunde, welche 
in derselben Arbeit mitgetheilt worden sind. 
Moebius hat nun an Stelle von Hunden 
Hammeln die Schilddrüse exstirpirt und mit 
dem Serum dieser Hammel seine Kranken be¬ 
handelt; das Serum ist jetzt von der Firma 
Merck in Darmstadt unter dem Namen „Anti- 
thyreoidserum Moebius“ in den Handel gebracht. 
Es unterscheidet sich also das Moebius’sehe 
Serum nur durch die Art der Thiere von dem 
von Ballet und Enriquez und uns benutzten. 
Es stellt im Princip nichts Neues dar. Dies 
möchten wir nur deshalb betonen, da durch 
die Hinzufügung des Namens Moebius der 
Anschein erweckt werden könnte, als stamme 
die Behandlungsmethode von Moebius. 

In No. 4 der Münchener medicinischen 
Wochenschrift 1903 berichtet nun Moebius 
weiter über seine Resultate mit diesem Serum, 
welches er Anfangs subcutan, später per os gab. 
Auch diese sind günstig und scheinen ihm 
sogar der Wirkung der Milch entkropfter Thiere, 
welche er, wie sie als Rodagen in den Handel 
kommt, angewandt hat, etwas überlegen. 

Hieraus geht hervor, dass die Conception 
und practische Ausführung der Idee verschie¬ 
denen Autoren mehr oder weniger unabhängig 
von einander zugeschrieben werden muss; die 
Idee, das Blut entkropfter Thiere zu benutzen 
Ballet und Enriquez und uns, die Idee, 


Milch zu verwenden Lanz, die Idee das Blut 
entkropfter Tiere per os zu geben, ausschliess¬ 
lich uns. 

Ehe wir auf unsere Erfahrungen über den 
therapeutischen Wert dieser entkropften 
Thieren abgewonnenen Heilmittel gegen Base¬ 
dow eingehen, sei es uns erlaubt, über die 
Herstellung des Rodagens, sowie über an unsern 
entkropften Thieren gemachten physiologischen 
Beobachtungen zu berichten. 

Bei den Versuchen, die Milch thyreoid- 
ektomirter Ziegen zu verabreichen, stiessen 
wir auf ein fundamentales Hinderniss, wel¬ 
ches gegeben war einerseits dadurch, dass 
die Milch in natura den Kranken schon 
nach kurzer Zeit widerlich wurde, andrer¬ 
seits dadurch, dass die Milch sich nicht 
conserviren Hess und namentlich in der 
Sommerzeit in wenigen Stunden sich zer¬ 
setzte. Wir empfanden es daher bald als 
eine unumgängliche Aufgabe, aus der Milch 
ein dauerhaftes Präparat herzustellen, wel¬ 
ches die Stoffe specifischer Wirksamkeit 
enthielt und möglichst geschmacklos war. 
Nach verschiedenen Versuchen gab uns die 
Alkoholfällung der Milch das beste und 
einheitlichste Resultat. 

Das so gewonnene Milchpräparat wurde 
zur Erzielung leichter Pulverisirbarkeit mit 
gleichen Theilen Milchzucker versetzt und 
fein vermahlen; so resultirte ein süss 
schmeckendes Pulver. Es ist leicht zu 
nehmen und haltbar. Zwar haftet auch 
ihm noch eine kleine Unvollkommenheit 
an, insofern als es bisweilen nach länge¬ 
rem Aufbewahren einen leichten Käse¬ 
geschmack annimmt, offenbar in Folge 
nicht absoluter Entfettung, doch sind Ver¬ 
suche im Gange, diesem Uebelstande ab¬ 
zuhelfen. 

Was unsere physiologischen Beobach¬ 
tungen an den thyreoidectomirten Ziegen 
betrifft, so scheinen sie uns in hohem Maasse 
wichtig und interessant und um so mit- 
theilenswerther, als, wie wir aus einer Arbeit 
von Rydel 1 ) entnehmen, unrichtige Vorstel¬ 
lungen über die Wirkung der Entkropfung 
u. s. w. gang und gäbe sind. Es sei vor¬ 
ausgeschickt: Die Operation selbst ist nicht 
schwierig, nur darf man nicht, wie schon 
Lanz 2 ) betont, die Speicheldrüse mit der 
Schilddrüse verwechseln und den Isthmus 
glandulae thyreoideae übersehen. Mit 
einiger Besonnenheit und bei einiger Er¬ 
fahrung ist übrigens die Möglichkeit, diesen 
Fehler zu begehen, nicht gross. Dass die 
Ziegen eine Chloroformnarkose schlecht 
vertragen, ist Thierärzten bekannt. In der 

l ) Rydel, Charite-Annalen, 27. Jahrgang. 

Lanz, Münchn. med. Wochenschr. 1903. 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903« 


339 


That haben auch wir bei oder im Gefolge 
der Narkose eine grössere Reihe von 
Thieren verloren, so dass wir gradatim 
dazu gelangten, von jeder Narkose abzu¬ 
sehen. Bei geschickter Operation äussern 
die Thiere so gut wie keine Schmerz¬ 
empfindung und sind unmittelbar nach der 
Operation genau so munter und fresslustig 
wie zuvor. Was die Folgen der Operation 
anlangt, so bleiben die nicht narkotisirten 
Thiere mit nur wenig Ausnahmen am 
Leben, aber völlig unzutreffend wäre es, 
anzunehmen, wie noch jüngst Rydel es 
gethan, dass die Entkropfung nicht allmäh¬ 
lich schwere, auch äusserlich erkennbare 
Gesundheitsstörungen der Thiere nach sich 
zöge. Für die Entscheidung der Frage, ob 
entkropfte Ziegen durch die Entkropfung 
ähnlich wie der Mensch vergiftet werden 
und im Blut und in Secreten (Milch) spe- 
cifische Giftstoffe enthalten, ist die Klar¬ 
stellung dieses Punktes gewiss von der 
grössten Wichtigkeit. Nach unserer Er¬ 
fahrung liegt die Sache folgendermaassen, 
worin wir mit einzelnen, namentlich fran¬ 
zösischen Physiologen übereinstimmen. 

Exstirpirt man bei Ziegen versehentlich 
mit der Schilddrüse die Nebendrüse, so 
bekommen die Thiere gleich den Hunden 
Tetanie, entfernt man aber nur die Schild¬ 
drüse, so treten selten tetanische Erscheinun¬ 
gen auf, immer aber augenfällige Störun¬ 
gen, welche dem menschlichen Myxödem 
ausserordentlich ähnlich sehen, und welche 
auch von französischen Physiologen direkt 
als Myxödem angesprochen werden. Wir 
haben dieses Myxödem bereits an den 
zuerst von uns benutzten Hausziegen ge¬ 
sehen, in besonders schöner Ausbildung 
aber an einer edlen Schweizer Ziegenrasse. 
Die der letzteren angehörigen Thiere waren 
im Bau wesentlich von der deutschen Haus¬ 
ziege verschieden, mehr einer Antilope 
ähnlich als einer Ziege, wie sie bei uns 
heimisch ist. Die Thiere waren schlank 
und graeiös gebaut, hörnerlos, besassen 
weiches Fell und einen für Ziegen unge¬ 
wöhnlich edlen Kopf. Bei diesen stellten 
sich nun allmählich in steigendem Maasse 
folgende Erscheinungen ein: 

Sie verloren das Graciöse des Baus, 
und wenn man so sagen darf, den intelli¬ 
genten Gesichtsausdruck in einer Weise, 
welche unabweislich an Myxödem erinnerte. 
Ferner büssten sie einen grossen Theil der 
Haare ein, zeigten sich in ihrem ganzen 
Verhalten stumpfer, weniger lebhaft als 
zuvor. Nach Monaten wuchsen zwar die 
Haare theilweise wieder, indessen wurde 
der Pelz rauh, auch nicht so dick wie 

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früher; ausserdem ging die Milchsecretion 
bei diesen Thieren immer mehr und mehr 
zurück und versiegte schliesslich ganz. Auf¬ 
fällig war, dass alle diese Ziegen zwar in 
diesem Frühjahr, d. h. ein Jahr nach der 
Operation, concipirten, aber keine lebenden 
Jungen warfen. Ein Theil abortirte, ein 
Teil resorbirte nach Ansicht eines consul- 
tirten Thierarztes die Frucht. Als eine 
von diesen Ziegen, welche ausser den oben 
erwähnten Zeichen gesund zu sein schien, 
geschlachtet wurde, zeigte sich, dass sie in 
allen Organen ein ausgedehntes sulziges 
Oedem hatte, eine Beobachtung, welche 
auch Lanz bei einer Ziege gemacht hatte. 

Ein kleiner Theil der Ziegen verendete 
übrigens im Laufe des ersten Jahres nacl; 
der Operation. Wenn aber die entkropften 
Ziegen in so sinnfälliger Weise an Myx¬ 
ödem oder Myxödem sehr ähnlichen, bis¬ 
weilen sogar das Leben vernichtenden Krank¬ 
heitszuständen leiden, so kann kein Zwei¬ 
fel sein, dass die Ziegen ähnlich den Men¬ 
schen durch die Entfernung der Schild¬ 
drüse specifisch erkranken, und dass ihr 
Blut und ihre Secrete Stoffe enthalten 
dürften, welche gegen die nach unserer 
Anschauung dem Myxödem gegensätzliche 
Krankheit, den Morbus Basedowii, ange¬ 
wandt, letztere specifisch zu beeinflussen 
im Stande sind. 

Was nun unsere eigenen Erfahrungen 
anbetrifft, welche wir mit der specifischen 
Basedowtherapie gemacht haben, so haben 
wir die schönen mit dem Blut thyreoidec- 
tomirter Hunde erzielten Erfolge a. a. O. 
früher mitgeteilt. Wir erhielten sie bei 
Verabreichung des Blutes per os fast 
ebenso wie bei der subcutanen Einspritzung. 

Zu ersterer benutzten wir mit Alkohol ge¬ 
fälltes und mit Aether getrocknetes und 
dann pulverisirtes Blut, zu letzterer aus¬ 
schliesslich Blutkochsalzauszüge, welche 
auf die von Huber und Blumenthal 1 ) 
beschriebene Art hergestellt waren. Wir 
haben den Eindruck, dass diese Blutkoch¬ 
salzauszüge, welche nicht nur das Serum, 
sondern auch die lösungsfähigen Bestand¬ 
teile der rothen und weissen Blutkörper¬ 
chen enthalten, noch wirksamer als das 
reine Serum sind. Jenen früher mitge- 
theilten Resultaten der specifischen Ba¬ 
sedowtherapie reihen wir jetzt einige wei¬ 
tere an, welche sich auf das Merck'sche 
Antithyreoidserum Moebius und auf das 
von den Vereinigten chemischen Werken 
zu Charlottenburg aus Milch hergestellte 
Rodagen beziehen. Das Serum Merck- 

*) Huber und Blumenthal, Berliner klinische 
Wochenschrift 1897, No. 31. 

43* 

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340 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


Moebius haben wir in zwei Fällen ange¬ 
wendet, und zwar in zwei sehr schweren. 

In dem einen Fall handelte es sich um ein 
24jähriges Mädchen, welches seit circa drei 
Jahren erkrankt war mit starker Struma, Ex¬ 
ophthalmus, wirrem Aussehen, starkem Zittern, 
Puls von 160, Schlaflosigkeit, Schwitzen 
und starker Abmagerung im Ganzen etwa 
20 Pfund in den letzten 3 Monaten, bei der 
sämmtliche bekannten Basedowtherapien von 
den verschiedensten Aerzten erfolglos an¬ 
gewandt waren. Von Bedeutung ist noch, dass 
seit Beginn des Basedow die Menstruation aus¬ 
geblieben war. Dieselbe wurde uns von Herrn 
Collegen Privatdocenten Dr. Albu zugeschickt 
mit der Bitte, sie mit Rodagen zu behandeln. 
Da letzteres damals nicht erhältlich war, bekam 
die Kranke Einspritzungen des Merck’schen 
Hammelserums, die ersten 8 Tage täglich ein¬ 
mal, später 3 Wochen lang jeden zweiten Tag 
je 1 ccm. Sehr schnell besserte sich die 
Patientin. Sie wurde ruhiger, die Schlaflosig¬ 
keit wich schon nach einigen Tagen, nament¬ 
lich ging das Phantasiren während des Schlafes 
zurück, das nach 14 tägiger Behandlung voll¬ 
kommen geschwunden war. Das spannende 
Gefühl in der Struma liess nach und ging der 
Umfang von 36 auf 34 zurück. Das wirre 
Aussehen verschwand ebenfalls, die Patientin 
konnte sich wieder in Gesellschaft zeigen. Die 
Beeinflussung des Pulses war hingegen keine 
sehr erhebliche. Die Frequenz ging zwar auf 
120 Schläge nach etwa 3 Wochen zurück, liess 
sich aber sehr leicht wieder durch die geringste 
Erregung auf die alte Höhe bringen. Patientin 
nahm während der vierwöchentlichen Behand¬ 
lung um 10 Pfund zu, obgleich ihr keine weiteren 
diätetischen Vorschriften gemacht waren, auch 
in ihrer Ernährung sich nichts geändert hatte, 
da sie sich nicht in das Krankenhaus aufnehmen 
liess, sondern in der Sprechstunde behandelt 
wurde. Sie selbst fühlte sich nach 4 Wochen 
so gebessert, dass sie erklärte, sie sei nunmehr 
völlig arbeitsfähig und dass sie sich nur mit 
Mühe bewegen liess, vorläufig noch sich zu 
schonen. Die Menses traten nach dreiwöchent¬ 
licher Behandlung wieder auf, wiederholten sich 
nach 14 Tagen und sind seitdem (5 Monate) 
regelmässig alle 4 Wochen gekommen. Nach 
3 Monaten wurde die Cur aus äusseren Gründen 
auf 4 Wochen unterbrochen. In dieser Zeit 
hatte die Patientin wieder 5 Pfund abgenommen, 
hatte wieder ein stärker spannendes Gefühl in 
der Struma, wieder 150 Pulse, dagegen war 
die Schlaflosigkeit und das Schwitzen nicht 
mehr so stark wie früher. Sie bekam nunmehr 
Rodagen, 3 mal täglich 6 1 /* g. Hierbei zeigten 
sich schon nach 8 Tagen wieder deutliche 
Besserungen, indem das spannende Gefühl im 
Halse sich verlor, und die Patientin sich auch 
wieder kräftiger und ruhiger fühlte. Der Hals¬ 
umfang beträgt jetzt 33. Diese Patientin be¬ 
kommt seit 6 Wochen wieder zweimal wöchent¬ 
lich Hammelserum 1 ccm subcutan und seit 
3 Wochen ausserdem noch 5 g Rodagen pro 
Tag. Diese combinirte Behandlung sagt ihr 


sehr zu. Sie fühlt sich ganz arbeitsfähig und 
wiegt jetzt 100 Pfund, d. h. sie hat seit Beginn 
der Behandlung im ganzen 10 Pfund zuge¬ 
nommen. 

Bei dem zweiten, mit Hammelserum ge¬ 
spritzten Fall, handelte es sich um eine 40jährige 
Frau mit geringer Struma, starker Herzpalpi- 
tation, Herzerweiterung bis zum obern Rand 
der 3. Rippe, dem rechten Sternalrand und 
der Axillarlinie, kleinem unzählbarem Puls, 
starker, psychischer Depression und ausge¬ 
sprochenem Exophthalmus, Zittern, Schwitzen. 
Auch diese Patientin zeigte nach subcutaner 
Behandlung mit 1 ccm Hammelserum pro die 
nach 14 Tagen deutliche Besserung, insofern 
als das Zittern und die Struma zurückgingen, 
die Patientin sich kräftiger fühlte, im Zimmer 
etwas gehen konnte und die psychischen Er¬ 
regungen deutlich nachliessen. Auf das Herz 
selbst hatte das Serum keinen nennenswerten 
Einfluss. 

Bei dieser Patientin wurden einmal nach der 
Einspritzung von 2 ccm Serum schwere Herz- 
palpitationen, welche an Angina pectoris erinner¬ 
ten, wahrgenommen, weshalb das Mittel mehrere 
Tage ausgesetzt wurde. Nach etwa 4 wöchent¬ 
licher Behandlung wurde diese Kur unterbrochen 
und durch eine hydrotherapeutische ersetzt. 
Diese Behandlungsmethode hat der Patientin 
aber subjectiv nicht so zugesagt, weshalb sie jetzt 
wieder mit Rodagen behandelt wird, 3 mal 
täglich 5 g, was die erzielte geringe Besserung 
bisher festzuhalten scheint. Dieser Fall ist für 
eine sichere Beurteilung spec. Behandlung aus 
später zu erörternden Gründen nicht geeignet. 

Ausser diesen beiden Fällen, in denen 
das Hammelserum angewandt war, haben 
wir noch 10 Fälle mit Rodagen, d. h. mit 
Milchpulver entkropfter Ziegen behandelt, 
die wir nicht alle im einzelnen aufführen 
wollen. Wir möchten nur einige heraus¬ 
greifen. ♦ 

Ein 38jähriger Lehrer erkrankte im Sommer 
1900 nach Influenza an allgemeiner Mattigkeit, 
Exophthalmus, Herzbeschwerden und Struma. 
Nachdem er mit allen erdenkbaren Mitteln be¬ 
handelt worden war, kam er Anfang Juni vorigen 
Jahres in unsere Behandlung. Er machte auf 
den ersten Blick den Eindruck eines Basedow¬ 
kranken durch seinen stieren Blick, den Exoph¬ 
thalmus und die Nervosität. Die Untersuchung 
des Herzens ergab ein systolisches Geräusch und 
mässige Verbreiterung nach rechts und links. 
Tremor und Gräfe’sches Symptom ausgebildet. 
Patient klagte über grosse Mattigkeit und 
Schwitzen, Herzklopfen und Schlaflosigkeit. 
Puls 130, Gewicht 123 Pfund. Am 17. Juli kommt 
Patient, nachdem er täglich 15 g Rodagen ge¬ 
nommen hatte, wieder. Herzklopfen ist nur noch 
gering, systolisches Geräusch verschwunden. 
Puls 80. Er klagte nicht mehr über Schweiss und 
giebt an, guten Schlaf zu haben. Der Tremor 
ist geringer, der Blick nicht mehr so stier, aber 
das Herz ist noch stark erregbar, und er selbst 
betont auch noch dessen starke Erregbarkeit. 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


341 


Das Körpergewicht ist 131 Pfund. Wir Hessen 
nun das Rodagen aussetzen. Patient kommt 
am 8. Januar wieder und berichtet, dass das 
Aussetzen ihm nicht gut gethan habe. Der 
Schlaf sei allmälig wieder schlecht geworden, 
die Mattigkeit etwas stärker, dagegen sei das 
Transpiriren nicht wieder aufgetreten. Die 
Pulsfrequenz beträgt 96, ein Geräusch ist am 
Herzen nicht wahrzunehmen. Er bekommt nun¬ 
mehr von neuem Rodagen und zwar 10 g pro 
Tag. Am 12. Februar meldet er, der Schlaf sei 
wieder besser geworden; Puls 88, Tremor 
vollkommen verschwunden, dagegen klagt er j 
noch über Herzklopfen. Am 30. März erscheint ! 
er von neuem. Er betont, dass er sich unter j 
Fortgebrauch des Rodagens bedeutend besser | 
fühle, Schweiss habe er fast garnicht mehr. | 
Seine Umgebung könne den Exophthalmus bei 
ihm nicht mehr bemerken, ja, er hätte seinen 
Beruf schon wieder aufgenommen und könne 
mit leidlichem Erfolge täglich einige Stunden 
geben. Das Gewicht ist 129 Pfund. Patient 
erzählt dabei, dass versuchsweises Aussetzen 
des Rodagen-Gebrauches seinen Zustand un¬ 
günstig beeinflusse. 

In allen übrigen Fällen, 1 ) die sich von 
diesen nur dadurch unterscheiden, dass 
einige von ihnen im Krankenhaus beob¬ 
achtet worden sind, wo man ja einen Theil 
des Erfolges auf die Ruhe und sorgfältige 
Verpflegung und Beobachtung beziehen 
kann, haben wir gleichfalls Beobachtungen 
gemacht, welche mit Sicherheit für die 
specifische Wirkung der Milch entkropfter 
Thiere sprechen. Es waren unter unsern 
10 mit Rodagen behandelten Fällen vier 
Männer und 6 Frauen. 4 Fälle waren als 
leichte zu bezeichnen, insofern als sie zwar 
Zittern, Tachycardie, Schwitzen und Schlaf¬ 
losigkeit, ferner Nervosität und Struma 
zeigten, aber Glotzaugen, Herzdilatation 
und Herzgeräusche nicht besassen. Der 
Rest betraf klassische und in allen Einzel¬ 
heiten ausgesprochene Fälle. 

Wir sahen die weitaus besten Erfolge 
in Bezug auf die Schlaflosigkeit, welche 
in jedem Falle der specifischen Behandlung 
wich, ferner auf die Körperschwäche, Ab¬ 
magerung, auf das Zittern und Schwitzen. 
Wir möchten hier, um gerade den Einfluss 
auf die Schlaflosigkeit zu demonstriren, 
einen Fall besonders erwähnen, der seit 
10 Jahren von Basedow geheilt ist, nur 
Schlaflosigkeit zurückbehielt und nach 
2 tägigem Gebrauch von 10 g Rodagen vor¬ 
züglichen erquickenden Schlaf bekam und 
dann unter 3 g abends behielt. Die speci¬ 
fische Wirksamkeit des Rodagens wurde 
noch erhärtet dadurch, dass in einem Falle 


*) Einige dieser Fälle wird Herr Stephens in 
einer Dissertation aus der ersten medizinischen Klinik 
publiciren. 


einer Kranken, welche durch Rodagen 
sehr erheblich gebessert war, plötzlich 
ohne dass sie oder das Wartepersonal es 
ahnte, an Stelle des Rodagens ebenso 
hergestelltes gewöhnliches Milchpulver in 
Original Rodagenflaschen verabreicht wurde. 
Sie hatte vorher 1V 2 Pfund unter Rodagen 
in einer Woche zugenommen und nahm 
nunmehr in 16 Tagen an Gewicht 7 Pfund 
ab, und es stellten sich alle früheren Be¬ 
schwerden, insbesondere Schlaflosigkeit, 
Unruhe, Herzklopfen wieder ein. Sie be¬ 
kam dann von Neuem 15 g Rodagen und 
nahm in 3 Wochen wieder 4 Pfund zu 
unter gleichzeitiger Abnahme der Struma 
und subjektiven Beschwerden. Meist weniger 
deutlich als die oben genannten Symptome 
wurden beeinflusst Struma, Glotzaugen und 
Pulszahl, obwohl wir in einzelnen Fällen 
ausgezeichnete Erfolge auch hinsichtlich 
dieser Symptome hatten und 4 Mal sogar 
als allererste Wirkung der Rodagenbehand- 
lung Verkleinerung der Struma und Rück¬ 
gang der Glotzaugen, 2Mal als ersteWirkung 
Kräftigung und Verlangsamung des Herz¬ 
schlages sahen. In zwei Fällen traten 
die Glotzaugen so weit zurück, dass 
nur noch der Arzt, nicht aber mehr 
der Kranke dieselben als ein patho¬ 
logisches Symptom wahrnehmen 
konnte. Was die Struma anbetrifft, so 
blieb dieselbe zwar in einigen Fällen im 
Umfang unverändert, aber sie wurde doch 
stets weicher und hörte damit auf, dem 
Kranken erhebliche Beschwerden zu be¬ 
reiten. 

Was nun die Grenze der Leistungs¬ 
fähigkeit der Blut- oder Milchtherapie an¬ 
langt, so ist es klar, dass wir mit derselben 
nur das von der Schilddrüse im 
Uebermaass gebildete Gift zu neu- 
tralisiren, nicht aber auch schwerere 
anatomische Veränderungen, welche 
bereits in den Organen vorhanden 
sind, und welche die Folge der 
langen Dauer der Vergiftung dar¬ 
stellen, zu beeinflussen vermögen. 
Deshalb werden wir, wo bereits schwere 
anatomische Läsionen des Herzmuskels 
wie Myokarditis bestehen, ebenso bei 
secundären Veränderungen der Nieren auf 
eine Wirkung der specifischen Therapie 
nicht rechnen können. Aus diesem Grunde 
konnte auch in denjenigen Fällen, welche 
Rydel mitgetheilt hat, in denen bereits 
durch Veränderung der Nervenzellen 
schwere Symptome sich eingestellt hatten, 
Heilung nicht erzielt werden. Wenn Rydel 
in dem einen seiner Fälle Verlangsamung 
des Pulses von 150 auf 90—100 Schläge, 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


das Ausbleiben von Angstanfellen, in einem 
anderen Falle schon am elften Tage der 
Behandlung eine Linderung der Schlaf¬ 
losigkeit, Kopfschmerzen und Unruhe be¬ 
merkt hatte, so scheint uns das ein um so be- 
merkenswertherer Erfolg des Rodagens zu 
sein, und wenn Rydel in einem dritten 
Falle jede Wirkung vermisste, so liegt das 
unseres Erachtens vielleicht daran, dass bei 
dieser Patientin sich die lebenswichtigen 
Eingeweide schon in krankhaftem Zustande 
befanden. Nicht ausgeschlossen aber ist, 
dass in diesem Falle, in welchem jede Struma 
fehlte, eine Hypersecretion der Schilddrüse 
überhaupt nicht vorhanden war, also auch 
eine specifische Therapie Erfolg schon 
ä priori nicht haben konnte. Wir betonen 
noch einmal: Der Wirksamkeit des Roda¬ 
gens sind Schranken gesetzt, in sofern 
schwere anatomische Schäden wichtiger 
Organe sie beeinträchtigen, und wir glauben 
hinzufügen zu sollen, dass es ein Organ 
giebt, welches, wenn es bereits anatomisch 
schwer geschädigt ist, möglicher Weise 
in einzelnen Fällen durch die specifische 
Behandlung, und zwar ebenso gut durch Se¬ 
rum wie auch durch die Milch thyreoidecto- 
mirter Thiere eher ungünstig als günstig 
beeinflusst werden kann. Dieses Organ 
ist das Herz. Wir haben oben schon 
von einem Fall berichtet, wo nach An¬ 
wendung des Hammelserums schwere Herz¬ 
erscheinungen auftraten. Wir haben diese 
Beobachtung mit Rodagen zweimal gemacht 
bei Frauen, welche Jahre lang krank waren 
und durch ihre Krankheit schwere Beein¬ 
trächtigungen der allgemeinen Leistungs¬ 
fähigkeit, schwere Herzdilatation und 
Tachykardie zeigten. Bei der einen dieser 
Frauen steigerten sich nach Anwendung 
des Rodagens die Herzbeschwerden nicht 
nur subjectiv, sondern auch objectiv durch 
Zunahme der Herzgeräusche. In beiden 
Fällen wurde Rodagen ausgesetzt, und es 
stellte sich danach der frühere erträgliche 
Zustand wieder her. Auch wurde uns von 
einem Kollegen mitgetheilt, dass er ebenfalls 
in 2 Fällen, in denen sehr hohe Dosen Ro¬ 
dagen genommen wurden, eine beängsti¬ 
gende Pulsbeschleunigung gesehen habe. 
Wir glauben also, dass das Serum, und 
die Milch entkropfter Thiere bei schweren 
Herzleiden kein indifferentes Mittel 
ist, sondern mit einiger Vorsicht an¬ 
gewandt werden muss. Wir empfeh¬ 
len in allen Fällen erheblicher Herz¬ 
erkrankungen die Dosen nur all¬ 
mählich zu steigern unter strenger 
Beobachtung ihres Einflusses auf 
das Herz. In allen anderen Fällen war 


aber das Serum und das Rodagen nach 
unserer Beobachtung durchaus unschädlich, 
und besonders das Rodagen haben wir 
oftmals in sehr grossen Dosen — bis zu 
50 g pro die — gegeben, ohne eine andere 
Wirkung als mehr oder weniger schnellen 
Rückgang der subjectiven und objectiven 
Krankheitserscheinungen zu sehen. Im 
Allgemeinen hängt die Dosis von der 
Schwere der Krankheit und deren Neigung 
sich zu verschlimmern ab. Einzelne Kranke 
kommen mit einer Tagesgabe von 5 g aus, 
andere brauchen erheblich mehr. In ein¬ 
zelnen Fällen sahen wir deutlichen Erfolg 
erst nach Steigerung der Rodagendosen 
auf 15—20 g, ja 30 g eintreten. In wie 
weit individuelle Resorptionsverhältnisse 
dahin sich geltend machen, dass erst ver- 
hältnissmässig hohe Rodagengaben einen 
sichtlichen Heileffekt erzielen, muss dahin¬ 
gestellt bleiben. 

Schliesslich möchten wir betonen, dass 
man gut thut, bei der Aufstellung des Heil¬ 
planes nicht ausser Acht zu lassen, dass 
subcutan angewendete Mittel sicherer wirken 
als per os gegebene, und dass daher in 
schweren Fällen im Allgemeinen die sub- 
cutane Einverleibung von Serum bis zum 
Eintritt deutlicher Besserung den Vorzug 
verdient. Danach würde die Rodagen- 
behandlung mit Erfolg einsetzen. In leich¬ 
teren Fällen ist die letztere der Serum¬ 
behandlung von Anfang an gleichwerthig 
und in manchen Fällen, schweren sowohl 
wie leichten, sogar deshalb überlegen, weil 
das Serum nicht selten Erythem, Gelenk¬ 
schmerzen und allgemeines Unbehagen 
verursacht, eine Erscheinung, die wir als 
Folge der Verwendung von Ziegenserum 
sowohl wie von Hammelserum beobachtet 
haben. 

Man kann nicht, wie dies Rydel gethan 
hat, auf Grund einer vier- oder gar nur 
dreiwöchentlichen Behandlung zu irgend 
einem sichern Urtheil über den Verlauf des 
einzelnen Falles kommen. Wir haben eben¬ 
so wie Enriquez und Ballet, Moebius 
und Lanz unsere Fälle Monate lang mit 
Blut oder Milch behandelt und müssen uns 
auf Grund der so gewonnenen Erfahrungen 
in unserm Urtheil diesen Autoren und 
neuerdings G. Rosenfeld 1 ) anschliessen, 
dass nämlich die specifische Therapie, 
sei es mit Milch, sei es mit Blut ent¬ 
kropfter Thiere, ein günstiges Re¬ 
sultat bei einer grossen Anzahl von 
Basedowfällen giebt. 


*) Rosenfeld, Allgem. med. Centralzeitung 1903 
No. 8. 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


343 


Aus der II medlciulscheu Universitätsklinik in Berlin. 

Zur Kritik der sogenannten modernen Methoden der Herz¬ 
grössenbestimmung. 

Von Privatdocent Dr. de la Camp« 


Prognostische und therapeutische Be¬ 
strebungen auf dem Gebiete der Herzkrank¬ 
heiten haben den functionell-diagnostischen 
Begriff der Sufficienz und Insufficienz des 
Herzens in zweckmässiger Weise eingeführt 
und werthschätzen gelehrt. Ein fest nor- 
mirter oder causal verstandener konnte der¬ 
selbe bisher nicht sein, sondern sich natur- 
gemäss nur auf Symptome, resp. Symptom- 
complexe und deren Verhältniss beziehen. 
Eine Begriffsfixirung hätte die Veränderung 
der uns insbesondere durch die Engel¬ 
mann sehen Arbeiten bekannt gegebenen 
Grundeigenschaften des automatisch schla¬ 
genden Herzens unter den mannichfaltigen 
in und ausserhalb des Muskels liegenden 
histologischen, chemischen und nervösen 
Einflüssen, an sich und in ihrer Wechsel¬ 
beziehung in Betracht zu ziehen. Rechnet 
man die directe oder indirecte Rückwirkung 
auf den Circulationsapparat jedweden patho¬ 
logischen Geschehens im Gesammtorganis- 
mus hinzu, so sind die Definitionsschwierig¬ 
keiten als zunächst unüberwindliche ge¬ 
zeichnet. 

Man hat deshalb gesucht unter bewusster 
Bezugnahme auf die Einheit des Herz- und 
Gefässsystems gewisse Gesammtäusserun- 
gen des Herzens als Urtheilmodus zu ver- 
werthen; man hat die chemischen Diffe¬ 
renzen des arteriellen und venösen Blutes 
unter Beachtung der Physik und Chemie 
der Athmung bei einer schätzbaren dem 
Herzen zugemutheten Arbeitsleistung stu- 
dirt, man hat in einfacherer, aber auch 
speciellerer Weise die Veränderung der 
Pulseigenschaften, des Blutdrucks oder der 
Herzaction selbst (Spitzenstossforschung) 
zur Beurtheilung in besagter Beziehung 
herangezogen. 

An sich und besonders in ihrem gegen¬ 
seitigen Causalverhältniss haben alle diese 
Forschungen naturgemäss werthvolle Re¬ 
sultate gefördert, ohne damit den Universal¬ 
modus einer quantitativ und qualitativ ex¬ 
perimentell leicht ausführbaren Methodik 
zur Sufficienzprüfung an die Hand gegeben 
zu haben. 

Noch weniger ist an sich die Betrach¬ 
tung der Grösse des Herzens zur Lösung 
der vorliegenden Frage geeignet, da Suffi¬ 
cienz und Insufficienz und gewöhnliche und 
ungewöhnliche Grösse nicht ohne Weiteres 
in directem Verhältniss zu einander stehen. 

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Insofern allerdings musste diese Forschung 
von grundlegender Bedeutung werden, wenn 
sich zeigen liess, dass bei einer irgendwie 
(unter günstigen Verhältnissen dosirbaren) 
experimentell hervorgerufenen Mehrarbeit 
des Herzens sich principiell das gesunde 
vom nicht gesunden unterscheiden würde. 
Dieser als wichtigstes Capitel die Frage 
der acuten Dilatation in sich schliessende 
Gegenstand hat nun von jeher bis auf den 
heutigen Tag das höchste Interesse des 
experimentell wie klinisch forschenden 
Arztes in Anspruch genommen; zu der in 
fliessender Discussion stehenden Frage ver¬ 
mag ein Jeder Beantwortungsmaterial zu 
beschaffen, sofern dasselbe mit einer be¬ 
gründeten und anerkennenswerthen Me¬ 
thode beschafft wurde. Dass allerdings 
bisher die Antwort so verschieden ausfiel, 
liegt zum Theil an einer für die Schwierig¬ 
keit der Aufgabe nicht immer zulänglichen 
Methode, zum Theil aber auch daran, dass 
letzthin Resultate mitgetheilt wurden, die 
durch ein Untersuchungsverfahren gewon¬ 
nen wurden, welches nicht den Anspruch 
auf Anerkennung erheben darf. — Nach 
Beendigung einer umfangreichen experi¬ 
mentellen Arbeit über die acute Herzdila¬ 
tation 1 ) bin ich gern einer Aufforderung 
der Redaktion der „Therapie der Gegen¬ 
wart“ nachgekommen, auf erstere bezug¬ 
nehmend die Methodik der Herzgrössen¬ 
bestimmung, wie sie zur Zeit sich darstellt, 
kurz kritisch zu beleuchten. 

Die percutorische Bestimmung der ab¬ 
soluten Herzdämpfung, die trotz aller ge gen¬ 
theiligen Behauptungen einen hohen dia¬ 
gnostischen Werth besitzt (Oestreich), ist 
zur subtilen Beantwortung geringfügiger 
Herzgrössenunterschiede nicht verwendbar. 
Die sogenannte tiefe Percussion zwecks 
Projection der wahren Herzgrösse auf die 
Thoraxwand liefert bei nicht complicirenden 
Lungenverhältnissen, insbesondere auch bei 
hochgradigerer Massenzunahme des Herz¬ 
volumens brauchbare Annäherungswerthe, 
doch auch kaum mehr als solche; dass bei 
Ausdehnungen des Herzens bis zur vor¬ 
deren Axillarlinie und darüber hinaus die 
Projection auf die gekrümmte Thoraxwand 
entsprechend einer Percussion von seit- 

*) Dieselbe befindet sich im Druck und wird 
demnächst in der Zeitschrift fQr klinische Medicin 
erscheinen. 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


liehen Herztheilen eine relativ grössere wer¬ 
den muss, ist selbstverständlich. Die Eb- 
stein'scheTastpercussion liefert meist noch 
bestimmtere Grenzen; in ihrer Combination 
mit der tiefen Percussion macht sie letztere 
in werthvoller Weise überflüssig. 

Ein objectives Verfahren der Bestim¬ 
mung der wahren Herzgrösse besitzen wir 
jedoch in der orthodiagraphischen Methode 
— selbstverständlich mit einigen Einschrän¬ 
kungen. Bei der Aufzeichnung der Schatten¬ 
silhouette auf die vordere Thorax wand ist 
zunächst eine geringfügige Verkürzung 
aus dem Grunde vorhanden, weil die 
Längsachse des Herzens nicht in einer der 
vorderen Brustwand parallelen Frontal¬ 
ebene verläuft; aber dieser Fehler kommt 
allen physikalischen Untersuchungsmetho¬ 
den zu, die eine Darstellung des Herz¬ 
körpers als Thoraxflächenprojection be¬ 
zwecken. Und zweitens ist die Thorax¬ 
oberfläche keine Frontalebene. Der Fehler, 
der diesbezüglich entsteht, wenn der 
Spitzenstoss innerhalb der Mammillarlinie 
liegt, ist, wie sich aus der Berechnung des 
Krümmungswinkels ergiebt, ein verschwin¬ 
dend geringer; es bildet eben die vordere 
Thoraxfläche zwischen den Mammillar- 
linien annähernd eine Frontalfläche. Ver- 
grössert sich das Herz über die Mammillar¬ 
linie nach links hinaus, so fällt allerdings 
die seitliche Thoraxkrümmung mit zu¬ 
nehmender Vergrösserung immer mehr ins 
Gewicht: die Herzprojection in dorso-ven- 
traler Richtung muss zu klein werden. 
Die Spitzenstossverhältnisse und die Per¬ 
kussion müssen hier ergänzend eingreifen. 
Eine Ausdehnung der orthodiagraphischen 
Zeichenmethode auf schräge Durchmesser 
(Röhre rechts hinten, Platte links vorn) 
oder die Frontalrichtung hat abgesehen 
von der Schwierigkeit der Technik bisher 
keine ergänzenden Resultate geliefert. 

Was nun die Herztheile betrifft, die an 
der Bildung der Schattenränder der in 
dorso - ventraler Richtung aufgezeichneten 
Schattensilhouette theilnehmen, so ist 
darüber folgendes zu sagen: Bei mittlerer 
Exspirationsstellung stellen sich rechts 2, 
links 3 Bögen dar, von denen nur die beiden 
unteren Herztheilen entsprechen. Der 
rechte obere ist Gefässschatten (Vena cav. 
sup. und Aort. asc.), ebenso der obere 
linke (Aortenbogen und Anfangstheil der 
Aort. desc.) f der mittlere flache linke wird 
sicher von dem linken Herzohr und 
dem Anfang der Art. pulmon., vielleicht 
auch von den Randprojectionen des ganz 
hinten, median und oben liegenden linken 
Vorhofs gebildet. Der rechte untere 

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Bogen, dessen Schnittpunkt mit dem 
Zwerchfellkuppenschatten in dieser Re¬ 
spirationsphase dem Beginn des somit 
ganz auf dem Zwerchfell ruhenden rechten 
Ventrikels bildet, ist die Randprojection 
des rechten Vorhofs; die Ven. cav. inf. 
liegt weiter medial (s. 'die topograph.- 
anatom. Abbildungen in dem v. Barde- 
leiden, Haeckel, Frohse’schen Atlas. 
1901) und kann nur unter besonderen 
pathologischen Bedingungen den rechten 
Vorhof — Zwerchfellkuppen-Winkel aus¬ 
füllen. Der linke untere Schattenbogen 
gehört ganz dem linken Ventrikel an. Im 
inspiratorischen Stillstand wird unter gleich¬ 
zeitiger Verlängerung des Schattenbildes 
und Verlagerung der Herzspitze nach 
unten und innen die Herzspitze, deren 
Muskulatur dem Papillarmuskelsystem des 
linken Ventrikels im wesentlichen angehört, 
in bekannter Weise „vom Zwerchfellkuppen¬ 
schatten frei.“ — 

Die zahlenmässige Berechnung der ver¬ 
schiedenen Durchmesser des Schattenbildes, 
die senkrechte Entfernung der Bogen von 
der Mittelachse und den Mammillarlinien 
empfiehlt sich mehr, als die Berechnung 
des Flächeninhalts des Herzschattens, die 
die künstliche Construction der unteren 
Herzgrenze (rechter Ventrikel) und des 
Grenzbogens gegen die grossen Gefässe 
hin voraussetzt. 

Es liegt nun auf der Hand, dass die 
Orthodiagraphie vornehmlich dann objec¬ 
tives Beweismaterial liefert, wenn bei ver¬ 
schiedenen Aufnahmen völlig gleiche Werthe 
gefunden werden, also im Sinne einer nicht 
eingetretenen Vergrösserung des Herz¬ 
volumens. Lediglich eine Zunahme des 
Herzens im Tiefendurchmesser ohne gleich¬ 
zeitige Veränderung seiner seitlichen 
Schattenränder erscheint ausgeschlossen. 
Es muss allerdings betont werden, dass 
zum endgültigen Urtheil eine völlig gleiche 
Lagerung des zu Untersuchenden, sowie 
eine mittelst der orthodiagraphischen Me¬ 
thode constatirteCongruenz der Zwerchfeli¬ 
configuration und -Standes Voraussetzung 
ist. — Mittelst dieser Versuchsanordnung 
konnte ich in Uebereinstimmung mit 
Moritz, Hoffmann, v. Criegern u. A. 
zunächst constatieren, dass eine Dilatation 
des Herzens nach maximalen Anstrengun¬ 
gen (Ringen mit und ohne Einschnürung 
des Unterleibs, bis zur Dyspnoe und Cya- 
nose), nach heissem Bad, Alkoholgenuss 
u. s. f., eine Dilatation passagerer Natur, wie 
sie u. A. auch von Schott angenommen 
wird, nicht eintritt, wenn der Herzmuskel 
nicht erkrankt ist. Aber auch bei Recon- 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


345 


valescenten. Anämischen, Chlorotischen. den und dem vergrösserten diastolischen 
Kachectischen, Fiebernden, Lungen- und Volumen entsprechen. Hier passt sich das 
Herzkranken konnte eine bis zum allge- Herz durch reflectorische Aenderung seines 
meinen Ermüdungsgefühl in möglichst Tonus sowohl dem grösseren Volumen als 
kurzer Zeit in möglichst grossem Umfang der Bewältigung desselben in der Zeit¬ 
geleistete Arbeit (Zuntz’scherBremsergo- einheit durch erhöhte Pulsfrequenz u. s. w. 
raeter) nicht eine irgendwie erhebliche Ver- an. — Physiologisches und pathologisches 
grösserung des Herzens erzeugen. Je nach Geschehen findet somit gerade in dtr 
der Krankheitsschwere und -typus war die fehlenden resp. stattfindenden Vergrösse- 
Arbeitsfähigkeit naturgemäss verschieden; rung des Herzschattens seinen Ausdruck, 
bei Weitem am Allerwenigsten hingegen Diese Daten wollte ich im Anschluss 
leisteten die an sogenannter Neurasthenia an die Besprechung der Orthodiagraphie 
vasomotoria leidenden Kranken, deren Herz- voranschicken, ehe ich auf weitere Methoden 

Silhouette nach der Arbeitsleistung manch- zur Bestimmung der Herzgrösse eingehe. — 
mal um ein Minimales kleiner erschien, als Je schwieriger eine Materie, desto grösser 
vor derselben. — Die Frage, ob eine acute die Zahl der angebotenen Methoden. 
Dilatation nach maximaler Arbeit bei kran- Man hat versucht die Ergebnisse der 
kem Herzmuskel möglich sei; konnte nur Transsonanz (Zuelzer, Ritter) für die 
durch das Thierexperiment Beantwortung Herzgrössenbestimmung nutzbarzu machen, 

finden. Man hat die Möglichkeit lufthaltige glatt- 

Während bei Hunden, deren Herzmuskel wandige Organe durch Auscultation ihrer 
gesund war (auch Hunden mit künstlicher I Resonanzausdehnung zu begrenzen (Hen- 
Aorteninsufficienz), nach grösstmöglicher sehen, Runeberg), auch bezüglich fester 
Arbeit (Laufen über 70 km im Tretrad) Körper, des Herzens, zu erreichen ver- 
keine Dilatation entstand, trat eine solche sucht (Buch). 

ein, wenn der Herzmuskel schwer ge- Sofern die Erzeugung des auscultatori- 


schädigt war (Infectionsfieber, Hunger und 
Phloridzininjectionen etc.). Aber diese Dila¬ 
tation bildete sich nicht wieder zurück. 1 ) — 
Dass nun beim Menschen unter dem Zu¬ 
sammenwirken verschiedener Factoren 
(psychische Affecte -* einem durch Vagus¬ 
reizung hervorgerufenen passageren diasto¬ 
lischen Herzstillstand plus einer maximalen 
Anstrengung etc.), auch wenn der Herz¬ 
muskel scheinbar intact ist, einmal eine 
acute Herzdilatation eintreten könnte, ist 
zuzugeben, nur müsste dies Ereigniss zu 
den grössten Ausnahmen gehören, und auf 
der anderen Seite ist zuzugeben, dass eine 
bei krankem Herzen zur Entwickelung ge¬ 
kommene acute Dilatation sich binnen län¬ 
gerer Frist unter günstigen Bedingungen 
wieder, wenigstens theilweise, zurückbilden 
kann. Aber principiell sind diese relativ 
seltenen acuten diktatorischen Vorgänge, 
deren Hauptcharakter die bleibende Schädi¬ 
gung des Herzmuskels bildet, verschieden 
von jenen geringfügigen (nur nach Milli¬ 
meter rechnenden) Vergrösserungen des 
Herzschattens, die zusammen mit der leb¬ 
hafteren Herzaction, dem verstärkten und 
verbreiterten Spitzenstoss so leicht palpa- 
torisch und percutorisch überschätzt wer- 

*) Bezüglich aller Einzelheiten, Versuchsanord¬ 
nungen, speciell der Begründung der Resultate, der 
Vagus-Reizungsversuche und Arbeitsversuche, die 
nach Ausschaltung aller extrapericardialen Nerven 
vorgenommen wurden, der Bewerthung der verschie¬ 
denen Herzschädigungsmomente muss ich auf das 
Original verweisen. 


sehen Phänomens in senkrecht zur Thorax¬ 
oberfläche geführten Percussionsschlägen, 
deren Erschütterungskegel sich bis zu einer 
gewissen Tiefe fortsetzt, besteht, sind Re¬ 
sultate erhältlich, bessere, als mittelst der 
palpatorischen Percussion sicher nicht, so¬ 
weit sie das Herz betreffen. Ausserdem 
ist die Lautheit des Schalles anstrengend 
und störend. 

Reichmann suchte mittelst Kratzen 
auf einem auf die Haut fest aufgedrückten 
Stabe eine Schallerscheinung hervorzu¬ 
rufen, die differentiell auscultirbar sein soll, 
solange das auscultirte Organ unmittelbar 
der Körperoberfläche anliegt. — Ich er¬ 
sehe kein Bedürfniss die völlig sichere ge¬ 
wöhnliche Percussion der absoluten Herz¬ 
dämpfung zu compliciren. Ueber die Mög¬ 
lichkeit die einzelnen Lungenlappen auf 
diese Weise abzugrenzen, habe ich mich 
hier nicht einzulassen. 

Gänzlich unbrauchbar ist nach meinen 
Erfahrungen, die eine Bestätigung ander¬ 
weitiger Mittheilungen besagen (Grote, 
Lilienstein) die Methode aus dem An¬ 
sprechen einer centripetal zum auscultirten 
Herzen bewegten Stimmgabel die Herz¬ 
grösse zu bestimmen (J. Hofmann, Schloss 
Marbach). Das Ansprechen der auf dem 
schallleitenden Thorax aufgesetzten Stimm¬ 
gabel richtet sich nach der Grösse des 
Auscultationstrichters, der in ähnlicher 
Weise als Resonanzboden wirkt, wie etwa 
die Caverne, deren Durchmesser durch den 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Stimmgabelversuch nach Geigel, bestimm¬ 
bar wird. Es ist akustisch nicht verständ¬ 
lich, warum von einem ständig sein Volumen 
ändernden luftleeren Körper von fernher 
durch lufthaltiges Gewebe dringende Töne 
just in dem Moment besser fortgeleitet 
werden sollen, wenn sich die Stimmgabel 
senkrecht oberhalb der in der Tiefe ge¬ 
legenen Grenze des kugeligen Körpers 
befindet. 

Ein weiteres Verfahren die Herzgrösse 
annähernd genau zu bestimmen, soll die von 
ßazzi-Bianchi angegebene F rictions- 
methode sein, welche in Deutschland vor 
allem von Smith (früher Schloss Marbach 
jetzt Berlin) vertreten wird. Sie beruht auf 
Anwendung des (seither verbesserten) 
Phonendoskops, mittelst dessen durch den 
streichenden Finger (Bianchi) oder mit 
einem Borstenpinsel hervorgerufene Haut¬ 
erschütterungen, welche sich zu dem aus- 
cultirten Organ oder Organteil fortpflanzen 
sollen, je nach ihrem Hörbarwerden oder 
Verschwinden zur Grenzbestimmung des 
letzteren verwandt werden. 

Das Phonendoskop ist das alte Re- 
sonanzsthetoskop, welches seinerzeit wegen 
der allerdings die acustischen Phänomene 
verstärkenden, aber auch entstellenden 
Eigenschaften wieder der Vergessenheit 
anheimfiel und nun unter wohltönendem 
Namen vom Fabrikanten handlich und 
schmuck ausgestattet seine Wiedererstehung 
feiert. Die von Smith empfohlene Ver¬ 
besserung besteht in einer regulirbaren 
Oeffnung im Dach der Resonnanztrommel. 

Auf eine Besprechung der Theorie ein¬ 
zugehen, darf ich mir versagen, da eine 
solche in discutirbarer Form nicht besteht; 
unverständlich bleibt immerhin die Vor- # 
Stellung, wie das auf der Hautoberfläche 
erzeugte Reibegeräusch seine Intensität, 
auscultirt von einem Punkte eines unter 
der Thoraxoberfläche gelegenen Organs, 
durch ein anderes lufthaltiges Organ hin¬ 
durch gerade dann ändern soll, wenn sich 
der Entstehungsort des Schalles annähernd 
senkrecht über der in der Tiefe befind¬ 
lichen runden Kante des Organs befindet 
(senkrecht bezogen auf die Tangentialebene 
des Thoraxpunktes). Wäre das den 
Schallentstehungort umgebende Medium 
ein homogenes, so würde sich der Schall 
nach allen Seiten gleichmässig stark und 
schnell fortleiten; unter den vorliegenden 
Umständen sind aber die Leitungsbedin¬ 
gungen der zunächst liegenden Körper- 
theile in erster Linie massgebend: die den 
lufthaltigen Thorax umspannende Haut, 
die Rippen u. s. f. — Selbst zugegeben, 


das Herz könnte als solches von irgendwo 
her empfangene Schallwellen fortleiten, so 
gehört doch eine gewaltige Phantasie da¬ 
zu, sich vorzustellen, dass nun z. B. auf 
der Thoraxoberfläche nicht nur an Orten, 
an denen das Herz anliegt, sondern von 
fernab gelegenen Herzteilen, z. B. dem 
weit hintenliegenden linken Vorhof her. 
der gar keiner Perkussion zugänglich ist. 
eine genaue akustische Flächenprojection 
(beim normalen Herzen in kaum ver- 
grössertem Massstabe) sich darstellt. Nicht 
nur die einzelnen Höhlen des compacten 
blutgefüllten Herzmuskels, die doch an 
sich wahrlich keine Schallfortpflanzungs¬ 
varietäten bieten können, sondern auch 
die grossen Gefässe, Herzohren sollen je 
nach dem Aufsatzpunkt des Phonendoscop- 
stiftes als sich theilweise überdeckende 
Ovale und Kreise darstellbar sein! 

Wie steht es nun mit der Nachprüfung 
der genannten Methodik? 

Eine Methode darf erst, auch bei fehlen¬ 
der theoretischer Begründung, auf Grund 
objectiver experimenteller Prüfung abge- 
urtheilt werden. Seit mehr als U /2 Jahren 
habe ich versucht, gerade als Vergleichs¬ 
material der orthodiagraphischen Befunde 
mit der Frictionsmethode (verbessertes 
Phonendoscop), ausgeführt nach den An¬ 
weisungen von Smith. Resultate zu er¬ 
halten, besonders auf Veranlassung mehr¬ 
facher Interpellationen gelegentlich der 
Perkussionskurse. Ich kann sagen, dass 
es mir, wie Hoffmann sich ausdrückt, 
gelang „allerlei Kreise und Ovale auf 
der Haut aufzuzeichnen", niemals eine 
mit der orthodiagraphisch oder perku¬ 
torisch bestimmten sich deckende Figur. 
Massgebend ist meiner Meinung nach: 
1. die Qualität (Durchfeuchtung, Span¬ 
nung, Ernährung, Spannungsrichtung) der 
Haut, 2. der Zustand der subcutanen, 
die Hautspannung modificirenden Musku¬ 
latur. Bei Anspannung des Pectoralis 
major z. B. werden die erhaltenen Kreise 
sofort kleiner. Nach einer Muskelanstren¬ 
gung, nach einem heissen Bade, nach 
Alkoholgenuss ändern sich mit dem 
Muskeltonus auch sonst weitgehend die 
Qualitäten der Haut (Erweiterung peri¬ 
pherer Gefässe u. s. f.), 3. die respirato¬ 
rische Excursion des Thorax ist als ver¬ 
anlassendes Moment im besagten Sinne 
wichtig, 4. nur ganz ausnahmsweise scheinen 
stark vergrösserte, thoraxwandständige 
Herzen irgend einen, sicher aber nicht 
lokalisatorischen Einfluss auf das Frictions- 
geräusch zu haben, 5. von einer Begren¬ 
zung fernabliegender Herztheile, die ihrer- 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


seits wieder von anderen Herztheilen 
überlagert sind, kann keine Rede sein. — 
Ich weiss, dass Herr Smith sich mit 
einer derartigen Nachprüfung der Frictions- 
methode nicht zufrieden geben wird ! ). doch 
glaube ich zunächst als Entschuldigung an¬ 
führen zu dürfen, dass meiner Ansicht nach 
die objective Beurtheilung einer Untersu¬ 
chungsmethode, die leichter erlernbar sein 
soll, als die Perkussion, auch ohne den 
persönlichen Einfluss des Autors mög¬ 
lich sein müsste. Trotzdem kann ich 
mich auf die Besprechung der von Herrn 
Smith selbst publizirten Befunde*) be¬ 
schränken, denn: Zu zweit hat Herr 
Smith die Congruenz der Frictions- 
und orthodiagraphischen Befunde als 
Hauptbeweis für die Richtigkeit des 
ersteren angeführt. Da ich nun neben 
den oben mitgetheilten orthodiagraphischen 
' Aufnahmen, für deren Richtigkeit ich aller¬ 
dings auf Grund mehrjähriger Erfahrung 
und Uebung eintreten kann, weitere be- 


] ) Die in Betracht gezogenen Zeichnungen sind 
dem Separatabdruck aus den Verhandlungen des 
18. Congresses für innere Medicin „Ober einige neue 
Methoden zur Bestimmung der Herzgrenzen* ent¬ 
nommen; Verlag von Martin Wallach Nachf., dem 
Fabrikanten des verbesserten Phonendoscops. 

*) Smith, Schloss Marbach: lieber den heutigen 
Stand der funktionellen Herzdiagnostik und Herz¬ 
therapie. Berliner Klinik. 166. April 1902: — 
a Fs ist natürlich unmöglich, ohne genaues Studium 
der Methode, dieselbe zu verwerthen oder Schlüsse 
aus scheinbaren Resultaten zu thun: genau wie die 
Perkussion muss dieselbe erst gelernt werden. Die 
mannigfachen Veröffentlichungen gegen dieselbe ent¬ 
springen zum Theil der Verfolgung gewisser Anfftn- 
gerfehler, und ich sehe bei jedem Collegen, der ge¬ 
wissenhaft genug war, vor einer beabsichtigten 
Stellungnahme erst bei uns sich noch einmal zu 
orientiren, wie wenig es möglich ist, durch blosse 
Beschreibung neue Phänome der Akustik klar zu 
machen. Die Collegen wandten die Methode aus¬ 
nahmsweise in einer Art an, bei der ich auch nichts 
feststellen konnte, und es war mir recht beschämend 
zu erfahren, dass dieselben sich nach meinen Publi¬ 
kationen gerichtet haben wollten. Es ist aber Nie¬ 
mand, der sich bei mir eine zeitlang mit der prac- 
tischen Ausübung der Methode nach unserer Art 
beschäftigt hat und mit dem Moritz’schen Apparat 
sich controlliren konnte, fortgegangen, ohne von der 
absoluten Objectivität der Untersuchungen überzeugt 
zu sein, sowie davon, dass es ebenso unsinnig wäre, 
nach der verhältnissmässig kurzen Zeit von einigen 
Wochen wissenschaftliche Folgerungen zu machen, 
als wenn ein Student nach einigen Wochen Perkus¬ 
sionskurs, wo er eben an fängt, Unterschiede zu 
hören und technische Gewandheit zu bekommen, 
nun seinerseits die abenteuerlichste Kritik üben 
wollte. Technik will erlernt sein und zwar ebenso 
vom Studenten wie vom Geheimrath, und ich muss 
auf das allerentschiedenste dagegen protestiren, dass 
sich Gelehrte herausnehmen, eine Methode abfällig 
beurtheilen zu wollen, von der sie erst den Beweis 
zu erbringen hätten, dass sie dieselbe überhaupt 
kennen — von beherrschen will ich ganz schweigen 
u. s. w. 


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zügliche Resultate zur Verfügung habe, 
so bin ich allerdings in der Lage, die 
Smith’schen Friktionsresultate mit gleich¬ 
sinnigen orthodiagraphischen Aufnahmen 
zu vergleichen. Dabei sind die Einschrän¬ 
kungen der Gültigkeit des orthodiagraphi¬ 
schen Verfahrens, wie vorhin besprochen 
vollauf beachtet — 

Um Wiederholungen zu vermeiden darf 
ich einige besonders eklatante Beispiele 
herausgreifen. Die 1. Tafel (S. 11) zeigt 
die Einwirkung der Kola aufs Herz bei 
gleichzeitiger Nichtaufnahme von Nahrung 
und Flüssigkeit. Vor der ersten Aufnahme: 

Semmel, 2 Tassen Kaffee mit viel Milch. 

1. Herz klein, der rechte Ventrikel 
bildet die Herzspitze (!), der linke Vorhof 
liegt fast frei vom linken Ventrikel direkt 
oberhalb des rechten. Nach 6 Stunden 
schwerer Erdarbeit zeigt sich die Pro- 
jectionsfläche auf das etwa vierfache ver- 
grössert, dabei diejenige des linken Ven¬ 
trikels doppelt so gross, wie die des rechten! 

Er erhält zweimal Vi g Kola; nach weiterer 
dreistündiger Arbeit hat sich die Projec- 
tionsfläche auf ca. das siebenfache ver- 
grössert; der linke Ventrikel stellt sich in 
ihr 2 Vs mal so gross als das rechte dar, 
der wurstförmig völlig horizontal (wie eine 
Gondel unter dem Ballon) den linken mit 
der Hälfte seiner Projectionsfläche deckt. 
(Ueberanstrengungstypus). 3 /* Stunden 
später nach einer Mahlzeit von einem Teller 
Suppe, elf faustgrossen Kartoffelklössen 
mit viel Apfelkompott und einer Flasche 
alkoholfreiem Bier und Ruhe ist das Herz 
wieder in der Projection um über die Hälfte 
kleiner geworden; die frühere Grösse wird 
nach weiterer dreistündiger Ruhe erreicht. 

Wenn die anfängliche, nur auf die vor¬ 
dere Thoraxwand projicirte Fläche den In¬ 
halt einer nur durch die orthodiagraphische 
Methode gelieferten Projection ein Mittel 
von 100Dem gehabt hätte, so hätte die 
maximale Frictionssprojectionsfläche (=700 
□ cm) auf einem kräftigen Thorax, selbst 
wenn man die linken Ränder in die linke 
Axillarlinie verlegt hätte, nicht Platz; der 
linke Vorhof müsste sich auf die rechte 
Supra- und Infraclaviculargrube projiciren. 

Nun glaubt aber Herr Smith auf Grund 
anderweitiger Frictionsresultate die Grösse 
des normalen Herzens auf minimale Werte 
reduciren zu sollen: (— „so sind wir wohl be¬ 
rechtigt, eine Länge von 7—8cm, eine Höhe 
von 5—6 cm als dem normalen, gesunden 
Menschen zukommend, anzunehmen und jede 
Vergrösserung über dies Maass hinaus als 
pathologisch zu bezeichnen“ — und weiter 
unten: — „so erhielten wir einen Kubik- 

44* 

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348 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


inhalt des ganzen Herzens von (7x5x5=) 
175 bis (8x6x6=) 288 cm, bei welchen 
Massen ein Inhalt der Herzhöhlen von ca. 
150 ccm ohne weiteres als entsprechend be¬ 
trachtet werden kann —).“ Da die Frictions- 
methode das diastolische Herz darstellen 
soll, so kommen nach Abzug des Schlag¬ 
volumens (150 ccm) ein Herzgewicht und eine 
Herzgrösse heraus, die einfach ein Unding 
ist! (ca. 30 g schwer, anstatt 300 g.) 1 ) Die 
Orthodiagraphie lehrt, dass nach Anstren¬ 
gung, auch ohne Nahrungs- und Flüssigkeits- 
aufnahme sich keine Vergrösserung des 
Herzschattens zeigt, oder nur ein solcher 
um wenige Millimeter dem vergrösserten 
diastolischen Volumen entsprechend! — 

2. Frictionsmethode: — Herz Verän¬ 
derung bei Ueberhitzung des Körpers durch 
heisses Bad —: Nach heissem Bade von 
35o R, 15 Minuten Dauer: Vergrösserung 
der Projectionsfläche auf das dreifache. 
Nach 2 Tagen noch Vergrösserung auf 
über das Doppelte; — geht dann auf ein 
iaradisches Bad hin zur Norm zurück, 
worauf die Unlustgefühle verschwinden. — 

Orthodiagraphie: Nach einem heissen 
Bade (s. a. Moritz, Münch, med. Woch. 
1902, I) keine Vergrösserung des Herz¬ 
schattens! — Bezüglich der „vergrösserten“ 
Frictionsprojectionen ist übrigens noch zu 
bemerken, dass, selbst wenn dieselben, 
was ja nicht der Fall ist, Herzvergrösse- 
rungen entsprächen, das Verhältniss zur 
wahren Herzgrösse immerhin ein recht un¬ 
sicheres und mathematisch nicht fixirbares 
sein müsste. 

3. Frictionsmethode: Nach Injection von 
1 ccm Alkohol, Herzvergrösserung um 
1 V 2 cm. 

Orthodiagraphie: Selbst nach Aufnahme 
erheblicher Alkoholmengen (s. a. Moritz) 
Gleichbleiben des Herzschattens! — (auch 
beim Abstinenzler!) 

4. Frictionsmethode: —„Der galva¬ 
nische Strom wirkt bei localer Anwendung 
nicht auf das Herz, bei allgemeiner Appli¬ 
cation, wie im galvanischen Bade, in der¬ 
selben Weise wie Ueberhitzung, herzerwei¬ 
ternd und erzeugt Unlustgefühle. — Der 
faradische Strom, sowohl local auf das Herz 
allein geleitet, wie auch bei Allgemeiner 
Faradisation des ganzen Körpers, wie auch 
bei alleiniger Durchströmung grösserer 
Muskelgruppen wirkt herzverkleinernd, und 
zwar ist diese Wirkung am grössten bei 
reiner Dilatation, geringer bei Dilatation 
und Hypertrophie und am geringsten bei 
Leuten, deren äusserer Habitus schon auf 


4 ) Vierordt’s Zahlen: 14,9:10,8:8,8 (statt 7:5:5)! — 

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starke Verfettungsvorgänge schliessen lässt , 
und den Verdacht auf Fettherz nahe legt I 
Die Stärke des Stromes wurde der sub- j 
jectiven Toleranz angepasst, d. h. er wurde ■ 
jeweils so verstärkt, dass deutliche Muskel¬ 
zuckungen und Schmerz eintraten.“ — , 

Orthodiagrapisch ist bei galvanischen 
und faradischen Manipulationen keinerlei 1 
Herzveränderung zu constatiren! 

5. Wirkung einer hypnotischen Sug¬ 
gestion aufdasHerz! Frictionsmethode Herz¬ 
erweiterung mit epileptoiden Anfällen. 

„In der Sitzung vom 1. März 1900, II a. m. 
wird dem Patienten suggerirt, er fühle I 
genau, dass sein Herz kleiner werde, er 
merke das characteristische erleichterte 
Gefühl in der linken Brust, es zöge sich 
deutlich mehr und mehr zusammen. Da 
Patient sonst zu dieser Zeit sein faradisches 
Bad, das stark zusammenziehend auf das 
Herz wirkt, bekommen hat, wird erwartet, 
dass die Suggestion Erfolg hat. Bei der 
Nachuntersuchung zeigen sich dagegen 
haarscharf die Herzgrenzen, die vor der 
Hypnose bei der ersten Untersuchung auf¬ 
gezeichnet waren. 

In der Sitzung vom 2. März 1900, zu 
derselben Zeit und unter denselben Ver¬ 
hältnissen wird dem Patienten suggerirt, 
er ziehe sich aus und steige ins faradische 
Bad. Jetzt höre er die Batterie klappern, er 
fühle es in den Beinen zucken (Pat. zuckt 
leise mit den Beinmuskeln), jetzt im Rücken, 
jetzt in den Armen (Zusammenziehung der 
Muskeln wie im faradischen Bade). 

Nach der Hypnose: Starke Verkleinerung 
des Herzens, die durchaus der Art ent¬ 
spricht, wie dieselbe nach dem faradischen 
Bade zu beachten ist!“ 

Diese Vergleichsbeispiele mögen ge¬ 
nügen. Nur noch einige anatomische 
Curiosa. Die Grösse des normalen Herzens 
und des Sitzes des linken Vorhofs in der 
Darstellung der Frictionsmethode wurden 
schon erwähnt. Nun ergeben ferner manche 
Projectionsbilder, dass der rechte oder 
venöse Ventrikel die Herzspitze ausschliess¬ 
lich bildet. Herr Smith äussert sich dazu: 
„Ich verfüge unter einer grossen Samm¬ 
lung von Herzen nur über ein einziges, 
wo die arterielle Kammer ausschliesslich 
an dem Zustandekommen des linken Herz¬ 
randes betheiligt ist, und habe beim 
Lebenden nur in wenigen Fällen von Ueber- 
anstrengung des arteriellen Herzens vor¬ 
übergehend das Phänomen beobachten 
können. Ebenso habe ich nur in verhält- 
nissmässig wenigen — aber häufigeren als 
den eben erwähnten — Fällen eine alleinige 
Bildung der Herzspitze von der rechten 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


349 


Kammer im Leben und an der Leiche 
sehen können; meist wird, wie auch schon 
Luschka festgestellt hat, die Herzspitze 
von beiden Kammern gebildet/ Ich citire 
dagegen nur einen Passus aus dem neuen 
Werke von Albrecht (Albrecht, Der 
Herzmuskel etc. Berlin 1903) S. 33: „Be¬ 
kanntlich wird an einem normalen Herzen 
seine Spitze lediglich vom linken Ventrikel 
gebildet. Der unterste Rand des rechten 
hört eine Strecke oberhalb desselben auf; 
anders ausgedrQckt kann man die Situation 
so darstellen, dass die Kammerscheidewand 
von dem Punkte an, wo die untere Be¬ 
grenzung des rechten Ventrikels aufhört, bis 
zur Herzspitze hin allein die rechte Wand 
desSpitzentheils der linken Kammer bildet/ 

Nach allem Angeführten können wir es 
nur dankbar anerkennen, dass die Ortho¬ 
diagraphie uns in eindringlicher Weise vor 
voreiliger Anerkennung einer allerdings 
schon durch ihre Resultate gerichteten 
Methode warnt. — Hornung (Schloss 
Marbach) geht allerdings weiter und will 
der Frictionsmethode zu Liebe die Ortho¬ 
diagraphie geringer einschätzen (20. Con- 
gress für innere Medicin). Ueber die 
Leistungsgrenzen der Orthodiagraphie ist 
oben das Nöthigste in möglichster Kürze 
zusammengefasst. 

Resum£: Die allen bekannten und 
anderweitig (Perkussion, Orthodia¬ 
graphie) exact darstellbaren That- 
sachen widersprechenden Resultate 
der Frictionsmethode beweisen die 
Verwendungsunmöglichkeit dersel¬ 
ben für die Herzgrössenbestimmung; 
die mit ihr erhaltenen akustischen 
Phänomene beziehen sich auf andere 
Faktoren. 

Es erübrigt noch einer weiteren von 
Herrn Smith angegebenen „subjectiven* 
Methode der Herzgrössenbestimmung zu 
gedenken: „Versuche, ob es gelingen würde, 
wie bei der Faradisation der Muskeln bei 
dem Durchleiten eines faradischen Stromes 
durch das Herz einen deutlichen Ton zu 
hören, fielen bis jetzt nicht einwandsfrei 
aus. Aber ein anderes Phänomen kam 
dabei zum Vorschein, welches eine sub- 
jective Bestimmung der Herzgrenze ermög¬ 
lichte. Bei allmählicher Verstärkung des 
von vorn nach hinten geleiteten Stromes 
(vorn Knopfelektrode, hinten grössere 
Plattenelektrode) zeigt sich, dass sehr bald 
die untersuchte Person deutlich den Strom 
in der Tiefe am Herzen fühlt, und zwar 
bei gut abgemessenem Strom nur so lange, 
als die Elektrode über dem Bereich des 
Herzens sich befindet/ — und weiter 


unten: „Es mag noch erwähnt werden, dass 
auch bei der Durchleitung des galvanischen 
Stromes einen Moment lang das Herz ge¬ 
fühlt wird; dann verschwindet allerdings 
das Gefühl, ohne dass man es diagnostisch 
benutzen kann/ 

Ich habe auch diese Methode nach¬ 
geprüft, allerdings ohne auf irgend ein 
Resultat zu hoffen, und zwar mit völlig 
negativem Erfolg. Die Versuchsperson war 
ein intelligenter, der Versuchsanordnung 
den besten Willen entgegenbringender 
Mann, der nicht „statt der verabredeten 
Lautreaction das bekannte verständnissvoll 
erstaunte Grinsen“ zeigte. 

Auch dieser Methodik gegenüber möchte 
ich zwei kurze Citate aus einem Remak- 
schen Aufsatz über Elektrodiagnostik 
(Eulenburg -Encyklopädie) anführen, die 
den Kern der Sache treffen. 

Ueber den galvanischen Leitungswider¬ 
stand (der galvanische Strom zeigte sich 
für die obige Methodik nicht geeignet) des 
Körpers heisst es dort: „Nach Ueber- 
windung der Hautwiderstände vertheilt sich 
der Strom nun in jedem unregelmässig ge¬ 
formten Leiter so, dass die Stromdichte bald 
unterhalb der Ansatzstellen durch Auf¬ 
lösung des Stromes in zahlreiche Strom¬ 
fäden bedeutend abnimmt, übrigens aber 
ceteris paribus in der geraden Verbindungs¬ 
linie der Ansatzstellen am stärksten bleibt, 
um in den von derselben erttfernteren 
Körperschichten immer geringer zu werden. 
-Mit Berücksichtigung aller dieser Ver¬ 
hältnisse hat man sich zu denken, dass der 
Strom nach seinem Eintritt in die Haut 
ziemlich gleichmässig über die verschiede¬ 
nen Weichtheile sich vertheilt und nur die 
um zwei Fünftel schlechter leitenden 
Knochen (E. Danion), wie man sich aus¬ 
zudrücken pflegt, umgeht/ 

Wie wenig direktiv müssen da die Strom¬ 
dichtigkeitsverhältnisse im Körperinnern 
bei Anwendung einer grossen indifferenten 
Plattenelektrode sein! — Ueber den fara¬ 
dischen Strom finden wir ebenda: „Bei 
der Verbreitung des inducirten Stromes im 
menschlichen Körper nach Ueberwindung 
des Hautwiderstandes ist bei der geringen 
Stromstärke der einzelnen nur durch ihre 
Schnelligkeit wirksamen Inductionsschläge 
weniger von einer Wirkung in die Tiefe 
oder auf die Körperstrecke zwischen den 
Ansatzstellen die Rede (v. Helmholtz), 
sondern die physiologischen Wirkungen 
beschränken sich auf die letzteren/ — 
Und zu alledem kommt, dass wir vom 
Herzmuskel bewusste Empfindungen nicht 
erhalten. — 


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350 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


Mit der Bazzi-Bianchi’schen Frictions- 
methode fallen naturgemäss solche thera¬ 
peutischen Erwägungen, welche sich ledig¬ 
lich auf deren Ergebnisse aufbauen. Dass 
diese Methode aber unwerth ist, zur Herz¬ 
grössenbestimmung verwandt zu werden 


— eine schon von manchen Autoren ander- 
weit geäusserte und begründete Thatsache 
—, sollte auf Grund eigenen Untersuchungs¬ 
materials vorliegend nochmals erörtert 
werden. 


Ueber Akromegalie. 

Von Dr. L. Hllismans, dirigirendem Arzt der inneren Abtheilung des St. Vincenzhauses, Cöln. *) 

(Mit 9 Abbildungen.) 


Der Hirnanhang (Hypophysis s. glan- 
dula pituitaria) ist eine Blutgefässdrüse, 
welche in der Sattelgrube des Schädels 
lagert Er besteht aus einem nach hinten 
gelagerten kleineren und einem vorderen 
grösseren Abschnitt; beide sind entwicke¬ 
lungsgeschichtlich heterogen. Der hintere 
Lappen ist die Fortsetzung des Infundi- 
bulum und besitzt im embryonalen Zustande 
eine mit dem dem III. Ventrikel durch das 
Infundibulum communicirende Höhle; er ist 
also ein Hirnbeständtheil, besteht im späte¬ 
ren Leben meist aus Bindegewebe und 
enthält wenig nervöse Elemente (Lewan- 
dowsky 1 ) u. A.). Der vordere Lappen 
leitet sich ab von einem ectodermalen 
Schlauche der Mundbucht, welcher, von 
seiner Ursprungsstelle abgeschnürt, eine 
geschlossene längliche Blase bildet; aus 
deren Epithelwand sprossen nun kleine 
Schläuche und so entsteht ein aus Drüsen¬ 
schläuchen, Epithelmassen und wenig Binde¬ 
gewebe bestehender röthlicher Körper, der 
nach Verwachsung mit dem schon erwähn¬ 
ten hinteren Lappen von der Schädelhöhle 
durch das Diaphragma Hypophyseos, von 
der Mundhöhle durch den inzwischen ver¬ 
knöcherten Keilbeinkörper getrennt ist 
(Gegenbaur). 

Friedreich hatte nun schon 1868 Fälle 
von Hyperostosie des gesammten Skelettes 
veröffentlicht und, nachdem noch andere 
Autoren über ähnliche Beobachtungen be¬ 
richtet, brachte Pierre Marie 1886 diese 
Krankheitsbilder in Verbindung mit Ver¬ 
änderungen der Hypophysis, welche in fast 
allen Fällen gefunden wurden. Marie be¬ 
trachtete die Akromegalie als eine allge¬ 
meine Dystrophie. Er fand (citirt nach 
Eulenburg 2 )) „eine beträchtliche Grössen¬ 
zunahme der Hände, der Füsse und des 
Gesichts (Nasenknochen, Jochbein, Unter¬ 
kiefer, weniger des Schädels); die Wirbel¬ 
säule war kyphotisch verkrümmt; Schlüssel¬ 
beine, Rippen, Kniescheiben und Becken 
erschienen auch etwas vergrössert, die 

*) Vortrag, gehalten am 18. Mai 1903 im allge¬ 
meinen ärztlichen Verein in Cöln. 


langen Röhrenknochen dagegen ganz un¬ 
verändert, die Muskulatur war abgemagert 
und die Zunge auffällig gross. Die Kranken 
klagten über Schmerzen im Kopf, dem 
Rücken und den Armen, sowie über allge¬ 
meine Schwäche und Mattigkeit. Bemer¬ 
kenswerth war die Steigerung des Durst¬ 
gefühls, Vermehrung der Urinmenge und 
die Verkleinerung der Schilddrüse." 

Mit der Zeit mehrten sich die Beobach¬ 
tungen. Die Zahl der bekannten Fälle 
stieg bald auf 83 im Jahre 1893 (Coliins*)) 
und auf 210 in der Zusammenstellung von 
Sternberg 1897 4 ) und wie wohl meist inder- 
artigen Fällen entstand nun ein gewaltiges 
Sichten und Richten. Alte Fälle wurden 
ihrer Erstlingsrechte beraubt, neue dem 
Krankheitsbilde einverleibt. Es ergab sich 
vor Allem die nicht verkennbare Nothwen- 
digkeit, entsprechend dem erweiterten Bilde 
auch eine erneute Prüfung seiner Genese 
eintreten zu lassen. 

Abgesehen von der Thymus-Theorie 
(Klebs) und der nervösen Theorie (Reck¬ 
linghausen), welche ich nur kurz er¬ 
wähnen möchte, weil sie sich keinen dauern¬ 
den Platz erwarben, traten neben der 
Pierre Marie’schen zwei neue Akrome¬ 
galie-Hypothesen auf, zunächst die von 
Mendel 5 ) u. A., wonach ein unbekanntes 
Gift die sämmtlichen Blutdrüsen mit spe- 
cieller Bevorzugung der Hypophysis er¬ 
kranken lässt, endlich die von Strümpell. 4 ) 
Letzterer zählt die Akromegalie zu den 
endogenen Krankheiten, deren Auftreten 
durch eine von vornherein gegebene ab¬ 
norme Veranlagung des Körpers bedingt 
ist: „wenn die Erkrankung der Hypophysis 
wirklich im Mittelpunkte des ganzen Lei¬ 
dens steht, vielleicht die alleinige Ursache 
aller übrigen Krankheitserscheinungen ist, 
dann ist die Akromegalie im Wesentlichen 
nur eine endogen bedingte Krankheit der 
Hypophysis“. „Ehe aber nicht weitere ge¬ 
wichtigere Gründe für die oben erwähnte 
Ansicht angeführt werden, möchte Strüm¬ 
pell die Hyperplasie und Tumorbildung in 
der Hypophysis zwar für eine fast regel- 


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An^nst 


351 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


massige durchaus specifische Erscheinung 
bei der Akromegalie halten, welche aber 
den übrigen Symptomen nur koordinirt ist, 
nicht aber in einer causalen Beziehung zu 
ihnen steht.“ 

Ich habe im Augenblicke drei Fälle von 
Akromegalie in klinischer Beobachtung. 
Wenn nun auch der Werth pathologisch¬ 
anatomischer Untersuchungen, wie sie Ar¬ 
nold 7 ) anstellte, nicht hoch genug ange¬ 
schlagen werden kann, so schien mir an- i 
dererseits auch mein klinisches Material 
eine wahre Fundgrube zu sein, um hier 
und dort klärend zu wirken. Auf alle Fälle 
wird eine Demonstration desselben geeignet 
sein, die Ansicht auszumerzen, dass die 
Akromegalie eine Krankheit ist, deren Ur¬ 
sache eine Vergrösserung der Hypophysis, j 
deren Symptome eine Volumenzunahme der 
Körperenden ist. 

Fall 1. Herr S. aus C., 42 Jahre alt, seit 
20 Jahren krank, ist derselbe Patient, welchen 
ich schon im vorigen Sommer bei anderer Ge- I 
legenheit 19 ) beschrieb und den ich damals aus 1 
äusseren Gründen nur kurz beobachten konnte. 
Die weitere Untersuchung ergab verschiedene 
interessante Details, so dass ich seine Kranken¬ 
geschichte hier nochmals ausführlicher wieder 
gebe. 



Fall 1.*) 

S. war früher immer gesund und bemerkte 
während seiner Dienstzeit 1882/83. dass er der 
rechten Arm nicht über die Horizontale er¬ 
heben konnte. Diese Serratuslähmung ging 
wesentlich zurück, bald stellte sich jedoch eine 
Abmagerung der rechten Schulter, des rechten 

*) Die meisten der ursprünglich stereoskopischen 
Photographiecn verdanke ich der Liebenswürdigkeit 
des konsultirenden Augenarztes ara St. Vincenzhause— 
Cöln, Herrn Dr. Jung. 


Oberarms und Oberschenkels und der Gesichts¬ 
muskulatur ein, die auch heute noch besteht. 
Die Unterarme wurden dabei dick und sind 
auch heute noch dicker als normal, dabei aber 
motorisch schwach. 

Die elektrische Untersuchung der Muskeln 
ergiebt keine Entartungsreaktion. Der rechte 
Biceps reagiert weder auf faradischen noch 
galvanischen Strom. Beugung des rechten 
Unterarms in Pronation ziemlich stark, in Su¬ 
pination äusserst schwach, d. h. rechter Biceps 



Fall 1. Type massif. 



Fall 1. Type massif. 

fast vollkommen atrophisch, an seiner Stelle 
eine tiefe Furche, Brachialis internus erhalten. 

1884 zeigten sich zuerst die Erscheinungen 
an Händen und Füssen. Auffallend sind be¬ 
sonders die dicken Jochbeine, der mächtig pro¬ 
minente Unterkiefer, welcher mit seiner Zahn¬ 
reihe den Oberkiefer umfasst. 

Die Hutnummer nahm in den 20 Jahren 
der Krankheit von 567a auf 597a cm zu. 


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352 Die Therapie der Gegenwart 1903. August 


Oberes Augendach beiderseits stark vor¬ 
tretend, Glabella normal. Die Zähne sind 
grösstentheils defect, „fielen in Stücken aus“. 
Zunge stark verdickt. 

Schlüsselbeine und Rippen enorm breit; 
beide Hände ausserordentlich plump, die Haut 
derselben weich und schlaft', im Röntgenbilde 
allgemeine Verdickung sämmtlicher Hand¬ 
knochen. Die Hände bieten das Bild des type 
massif (Pierre-Marie). 

Füsse weniger in Bezug auf die Länge als 
auf die Dicke abnorm vergrössert. An der 
Aussenseite ein massiger Ilautwulst, welcher 
die Füsse scheinbar nach hinten verlängert. 
An den Nägeln trophische Störungen in Form 
von Riffelungen und chronischen Entzündungen 
im Nagelfalz. 

Lange Röhrenknochen ohne Anomalie, Brust¬ 
wirbelsäule kyphotisch. 

Herz und Lunge normal, keine Thymus¬ 
dämpfung. Thyreoidea von normaler Grösse. 
— Haut im übrigen schlaff und weich. 

Es besteht starke Neigung zum Schwitzen. 
Gesichtsfarbe dunkel, entschiedene Bronce- 
färbung an der Haut des Halses, auch da, wo 
der Kragen den Hals bedeckt. 

Von Zeit zu Zeit entsteht eine schmerz¬ 
lose Anschwellung des linken Hodens, der 
ebenso wie der rechte im übrigen normales 
Verhalten zeigt. Potenz erhalten. 

An den Beinen Varicen. 1899 wurden 
Hämorrhoiden operativ entfernt. 

Keine Augenstörungen. Patellarreflexe er¬ 
halten, nicht gesteigert. 

Sensibilität ohne Anomalie. 

Von einer Hypophysis-Therapie wurde aus 
mehreren Gründen abgesehen, vor allem auch, 
weil die Krankheit keine weiteren Fortschritte 
machte, schon lange besteht und das Allgemein¬ 
befinden durchaus gut ist. 

F a 11 2. Frl. U. aus F., 42 Jahre alt Auch sie 
war früher stets gesund. Die Eltern starben (Vater 
an Schwindsucht, Mutter an Altersschwäche). 

Vor 3 Jahren stellte sich Magendruck, Kopf¬ 
weh, spontanes Erbrechen ein. Patientin fühlte 
sich matt und müde. Zu gleicher Zeit bemerkte 
sie ein „Singeln“ (d. h. Ziehen und Ameisen¬ 
laufen) sowie Abmagerung im linken Arm, was 
zu der Diagnose Neuritis führte. Sie kam des¬ 
wegen auch zu mir. Indessen liess sich die 
Diagnose Akromegalie aus den Gesichtsver¬ 
änderungen sowie aus den Veränderungen an 
beiden Armen unschwer stellen. 

Patientin hat jetzt stark verdickte, vor- 
springende Jochbeine, einen massigen, über 
den Oberkiefer vorspringenden Unterkiefer. 

Zunge und Unterlippe stark verdickt. Zähne 
stark cariös, fallen seit D/a Jahren „in Stücken“ 
aus. Es besteht eine Gingivitis ulcerosa mit 
Atrophie der Alveolarwände, wodurch ein 
grosser Theil der Zahnwurzeln blossgelegt wird. 

Die Fingerspitzen reichen im Stehen bis 
unter die Kniee. Bei einer Grösse von 165 cm 
ist die Spannweite der Arme — 181,5 cm. 
Patientin giebt an, dass die Aermel ihrer Kleider 
zu kurz geworden seien. Einzelmaasse: 


Entfernung der Acromien.36 cm 

Abstand von Acromion zum Olecranon 

rechts 39 cm, links 37 cm 
Abstand vom Olecranon zur Mittelfinger- 

spitze . . . rechts 47,5 cm. links 46 cm 

Muskelatrophien finden sich an beiden Unter¬ 
armen (besonders die linken Beuger sind stark 
betheiligt), ferner an beiden Händen (Thenar, 
Antithenar. Interossei), sonst nicht. 



Fall 2. 

Die elektrische Erregbarkeit ist erhalten, sie 
fehlt nur vollständig am linken Antithenar 
(völliger Muskelschwund). 



Fall 2. Type en long. 

Beide Hände bieten den type enlong(Marie). 
Die Haut derselben ist trocken und spröde, 
über den Streckseiten der Finger mit vielen 
Querfalten versehen, so dass die Finger den 
Eindruck machen, wie wenn ihre Haut zu gross 
wäre. Nägel stark längs- und quergeriffelt, der 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


353 


Nagelfalz an einzelnen Stellen chronisch ent¬ 
zündet. Endphalangen trommelschlägelförmig 
verdickt. 

In der Ruhe nehmen die Hände eine eigen¬ 
tümliche Stellung ein. Während Daumen und 
Zeigefinger gestreckt gehalten werden, nehmen 
die Finger nach dem fünften hin immer mehr 
die Klauenhandstellung ein. Scheinbar ist in 
erster Linie der N. ulnaris für diese motorischen 
Störungen verantwortlich zu machen, während 
für die trophischen Störungen, welche nach 
den Fingerspitzen hin zunehmen, Ulnaris, Media¬ 
nus und Radialis gleichmässig in Betracht 
kommen. 

Keine Kyphose. — Patientin gibt an, dass 
auch die Füsse grösser geworden sind. Sie 
konnte ihr altes Schuhzeug nicht mehr anziehen. 
Im Uebrigen machen die Füsse einen durch¬ 
aus proportionierten, beinahe schlanken Ein¬ 
druck (type en long). 



Fall 2. Type en long. 


Uebrige Knochen und Muskeln normal. 
Patellarreflexe erhalten. 

Keine Sensibilitätsstörungen. 

Augenbefund normal. — Gehör, Geruch 
ohne Anomalie. 

Die Thyreoidea ist entschieden atrophisch 
— man fühlt in der tiefen Jugulargrube nichts 
von ihr, sondern unter der Haut sofort die 
Trachealringe. — Seit Beginn der Erkrankung 
starke Neigung zum Schwitzen. — Starker Haar¬ 
ausfall. 

Keine Thymusdämpfung, nirgends Pigmen¬ 
tierungen. 

Im Urin weder Zucker noch Eiweiss. Ver¬ 
abreichung von tOOgr. Traubenzucker erzeugte 
keine alimentäre Glycosurie. 

Periode regelmässig, alle 3—4 Wochen, seit 
Beginn der Krankheit schwächer, als früher. 

Allgemeinbefinden gut, Verordnung all¬ 
gemein tonisierender Mittel. 

Fall 3. FrauD. ausC., 36Jahre alt. Eltern und 
eine Schwester an Phthise gestorben. Patientin 
war immer gesund, heirathete vor 9 Jahren. 

Seit 8 Jahren ist Patientin amennorrhoisch; 
sie bemerkte, dass sie dicker wurde. Zugleich 
wurde sie matt und müde, unfähig zur Arbeit, 
litt viel an Kopfschmerz, hatte auch zeitweise 
Erbrechen. 


Vor ca. 2 Jahren stellte sich Verdickung 
der Hände und Füsse sowie des Gesichtes ein, 
ferner stetig zunehmender Rückenschmerz, 
welcher Patientin auch zu mir führte. 

Seit D/a Jahren, jedenfalls nach Erscheinen 
der Veränderungen an Kopf, Händen und Füssen, 
trat eine Abnahme der Sehkraft ein. In der 
Haut des Bauches und der Leiste entwickelten 
sich massenhaft weiche Fibromata pendula. 



Fall 3. 


Frau D. ist eine mittelgrosse, blasse Frau 
mit plumpen Gesichtszügen. Besonders auf¬ 
fallend ist die dicke Unterlippe und Nase sowie 
die voluminöse, blasse, fleischige Zunge. Joch¬ 
beine vorspringend. Der Unterkiefer umfasst 
mit seiner Zahnreihe den Oberkiefer. Die 
Zähne gingen „in Stücken“ fort. Besonders 



I | = unterbrochene Leitung. 

Fall 3. 

am Oberkiefer starke Zahnkaries. Die weitere 
Untersuchung ergiebt ein Empyem des linken 
Sinus maxillaris, offenbar zusammenhängend 
mit der Zahnkaries. 

In der Nase ist die linke mittlere Muschel 
hyperplasiert, am Septum anliegend. Am Ein¬ 
gang zum Antrum Highmori polypoide Wuche- 


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354 


August 


Die Therapie der 


rungen. Zwischen den Polypen kommt Eiter 
zum Vorschein. — Mandeln und Rachenschleim¬ 
haut, Epiglottis und Aditus laryngis (Taschen¬ 
bänder) verdickt und blass. 

Stimme rauh, Sprache langsam. 

Nerven der Schädelbasis mit Ausnahme 
des Opticus normal. Letzterer ist links voll¬ 
kommen atrophisch, das linke Auge vollkommen 
amaurotisch, rechts besteht ein Ausfall der 
nasalen Netzhauthälfte. Aus diesem Befund 
ist zu schliessen, dass ein Tumor der Hypo¬ 
physis sich hauptsächlich nach links entwickelte 
und vor dem Chiasma den linken Opticus, 
hinter dem Chiasma den linken Tractus opticus 
total zerstörte. — Kein Exophthalmus. 

Thyreoidea deutlich verdickt, nicht pul¬ 
sierend, — Häufige starke Schweisse, starkes 
Ausfallen und Grauwerden der Haare. 

Ueber dem Manubrium stemi eine leichte 
Dämpfung; am Angulus Ludovici springt das 
Brustbein wulstförmig vor. 

Herz und Lunge normal, reine Herztöne. 
Puls andauernd etwas beschleunigt (92—96 in 
der Minute). Respiration 22 in der Minute. 

Im Urin kein Eiweiss, kein Zucker. 

Kyphose der Brustwirbelsäule. 

An den Händen zeitweise feinschlägiger 
Tremor. Atrophien bestehen deutlich nur an 
den Interossei beider Hände. Elektrische Er¬ 
regbarkeit normal. Hände und Ftlsse bieten 
das Bild des type massif (Marie). Nägel über¬ 
wachsen und geriffelt. 

Patellarrefiexe beiderseits deutlich gestei¬ 
gert, kein Fussklonus. 

Nirgends Sensibilitätsstörungen. 

An den Gefässen finden sich merkwürdige 
Störungen. Von Zeit zu Zeit tritt mit gleich¬ 
zeitiger totaler Verstopfung der Nase ein 
hauptsächlich auf die Gegend der Nasenwurzel 
beschränktes, sich aber auch durch stärkere 
Schwellung der Unterlippe bemerkbar machen¬ 
des Oedem auf. Ein anderes Mal erscheinen 
die Endphalangen der Finger oder auch die 
ganzen Finger bläulich weiss, kalt und im Ge¬ 
fühl herabgesetzt, erst nach Stunden geht das 
Blut wieder in die Finger". Aehnliche Er¬ 
scheinungen finden sich an den Füssen, 
nur dass hier manchmal ein ganzer Fuss 
ergriffen und schmerzhaft ist. — Oedeme an 
den Füssen. 

Patientin erhielt nun Glandula pituitaria 
von Parke Davies and Co. (Pulver) und Bur- 
roughs Welcome and Co. Tabloids. Bis jetzt 
hat man kaum eine Einwirkung derselben ge¬ 
sehen — nur Fränkel 10 ) verzeichnet zeitweise 
Besserung. Merkwürdigerweise erfolgte eine 
wesentliche Aenderung des Zustandes. Die 
Hände, welche über den Metacarpophalangeal- 
gelenken 23 cm gemessen hatten, nahmen 1 
bis 1,5 cm an Umfang ab, die Haut wurde 
dünner, sodass nun deutlich die Atrophie der 
Interossei auf dem Handrücken zu Tage trat. 
Die Nase, Unterlippe und Zunge nahmen 
deutlich an Volumen ab. Die Unterlippen¬ 
schleimhaut legte sich in kleine Falten. Ueber- 
haupt magerte Patientin deutlich ab, der Ilaar- 


Gegenwart 1903. 


ausfall und das Schwitzen hörte auf. Patientin 
giebt an, besser sehen zn können. Kein Kopf¬ 
weh mehr, ebenso Verschwinden der vaso¬ 
motorischen Erscheinungen und des zeitweise 
exacerbierenden Schmerzes in den Füssen. 

Mit anderen Worten: Frau D. verhielt sich 
nach Darreichung der Tabletten wie ein Myx- 
oedemkranker nach Thyreoid-Medication, nur 
mit dem Unterschiede, dass bei ihr noch be¬ 
sonders ein Nachlass der vasomotori¬ 
schen Erscheinungen in die Augen 
sprang. 

Bei der Fülle klinischer Einzelheiten er¬ 
scheint es mir zunächst zweckmässig, auf 
die schon oben erwähnte grundlegende 
Arbeit von Arnold zurückzukommen. Wir 
werden so zunächst eine Unterlage für un¬ 
sere klinischen Befunde gewinnen, anderer¬ 
seits aber auch hier und da neue Gesichts¬ 
punkte einfügen können. 

„Die Haut zeigte sich an den meisten 
Körperstellen, deren Volumen zugenommen 
hatte, mehr oder weniger verdickt und zwar 
namentlich in Folge der Zunahme der un¬ 
tersten Schichten der Lederhaut und des 
Unterhautzellgewebes * (Arnold). Bei 
meinen Patienten 1 und 3 war sie ebenfalls 
verdickt, zugleich aber schlaff und weich, 
im Falle 2 dick und trocken. 

Pierre Marie unterschied schon an den 
Händen Akromegalischer einen Type massif 
und Type en long und auch Sternberg 
erwähnt „die verbreiterte massive“ und „die 
ganz vergrösserte riesige“ Hand. Fall 1 
und 3 vertreten den ersteren, Fall 2 den 
letzteren Typus. Auffallend ist dabei, dass 
die Röntgenaufnahme bei beiden wohl eine 
leichte allgemeine Verdickung der Knochen 
ersehen lässt, dass aber im Uebrigen zwi¬ 
schen beiden Röntgenbildern trotz des ver¬ 
schiedenen Aeusseren der Hand keine 
wesentlichen Unterschiede bestehen. Dar¬ 
aus folgt, dass eben in den drei Fällen die 
Haut verschieden betheiligt ist und so der 
Hand ihr charakteristisches Gepräge giebt. 
(Im Falle 2 kommt allerdings noch eine 
Verlängerung der Knochen hinzu s. u.). 

— Merkwürdig ist die Entwickelung von 
Fibromata pendula in Folge der Krankheit. 

— An den Schleimhäuten treten gerade 
in vivo ähnliche Veränderungen auf, wie 
an der äusseren Haut und besonders bei 
Pat. 3 sind dieselben an der Nase, dem 
Rachen und Kehlkopf sehr stark. Auch 
Sternberg (L c.) erwähnt, dass die Nasen- 
und Rachenschleimhaut häufig verdickt war 
und erweiterte Gefässe zeigte. 

„Die constanteste Veränderung der 
Knochen bei Akromegalie ist die Ver¬ 
dickung des Periosts sowie die subperiostale 
und supracorticale Knochenneubildung, zu 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


355 


welcher sich eine enostale zur Sklerose 
des Knochens führende hinzugesellen kann“. 
Es entsteht also eine durch Hypervolumen 
der Weichtheile und Dickenzunahme der 
Knochen bedingte Vergrösserung der „En¬ 
den“; „ein gesteigertes Längenwachsthum 
der Knochen ist bisher nicht nachgewiesen“ 
(Arnold). Dem Letzteren gegenüber muss 
betont werden, dass im Falle 2 die Röhren¬ 
knochen an Armen und Händen entschieden 
verlängert sind und zwar rechts um 3 l /2 cm 
mehr wie links. Schon anamnestisch war 
die Angabe der Patientin auffallend, dass 
die Aermel zu kurz geworden seien. Be¬ 
weisend erschien mir die Thatsache, dass 
die Körperlänge nicht, wie sonst, gleich 
der Spannweite ist, sondern im Verhältniss 
yon 165:181,5cm steht — ein Atavismus 
erscheint mir ausgeschlossen, ebenso Gi- 
gantosomie, da die Verlängerung sich nach 
beendetem normalem Wachsthum ent¬ 
wickelte. Holsti fand übrigens nach Ar¬ 
nold eine nicht unbedeutende Verlänge¬ 
rung der Knochen, von welcher verhältniss- 
mässig am meisten die Nagelphalangen be¬ 
troffen wurden. 

Abgesehen von diesen sehr seltenen 
Beobachtungen finden sich auch in unseren 
Fällen die schon von Pierre Marie sche¬ 
matisch aufgestellten Knochenveränderun¬ 
gen. Wir sehen Hyperostosen am Stirn¬ 
bein (Fall 1), Vorspringen der Orbitalbögen 
und des massigen Unterkiefers. Sicherlich 
ist auch, besonders im Falle 3, der Türken¬ 
sattel erweitert und difform. Jochbeine, 
Schlüsselbeine, Manubrium sterni, Rippen 
u. s. w. betheiligen sich durch (periostale) 
Vergrösserung ihres Volumens. 

Eine Kyphose der Brustwirbelsäule, 
welche als besonders charakteristisch gilt, 
ist nur im Falle 1 und 3 nachweisbar, bei 
Fall 2 nicht. 

Die Muskeln fand Arnold fast sämmt- 
lich mehr oder weniger degenerirt. Ein¬ 
fache Atrophie wechselte ab mit Pseudo¬ 
hypertrophie, zu gleicher Zeit fand sich 
Vermehrung undSklerosirung desZwischen- 
bindegewebes (die kleinsten Muskelgefässe 
waren ausgesprochen hyalin degenerirt). 
Entsprechend war auch unser klinischer 
Befund. Wir beobachteten vollkommenen 
Muskelschwund (mit Fehlen jeglicher elek¬ 
trischen Reaction, z. B. im rechten Biceps 
(Fall 1), Hypothenar (Fall 2), andererseits 
partielle Atrophie in den Unterarmbeugern 
des Falles 2 und endlich auch wirkliche 
Pseudohypertrophie (Unterarm bei 1). In 
letzterem Falle bestand ein auffallendes 
Missverhältniss zwischen Muskelvolumen 
und Arbeitsleistung. 

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An den Nerven fand Comini wirkliche 
Entzündung (Radialis), Arnold lamelläre 
Verdickung der Scheiden, Zunahme des 
Bindegewebes im Innern derselben, die 
Spinalganglien ärmer an breiten dunkel- 
randigenNervenfasern, einzelne vacuolisirte 
Ganglienzellen enthaltend, starke Vermeh¬ 
rung des Bindegewebes. Seine weiteren 
Befunde im Gehirn und Rückenmark seien 
unten erwähnt. Am Sympathicus ähnliche 
Veränderungen wie an den Spinalganglien. 

— Eine deutliche Betheiligung der Nerven 
war klinisch nur bei Patientin 2 als „Sin¬ 
geln“ im Unterarm vorhanden. 

Die Ge fasse verhielten sich bei Akro¬ 
megalie höchst auffallend. Die Wände der 
Arterien und Venen waren enorm verdickt 
(Arnold): Aorta 2,3 mm, normal 1,6 mm; 

Arteria renalis 1 mm, normal 0,4 mm; Ra¬ 
dialis 1,0 mm, normal 0,14 mm. Die Messun¬ 
gen ergaben also, dass die Wanddicke um 
so mehr zunimmt, je kleiner das Gefäss 
wird. Häufig ist die Wand hyalin degene¬ 
rirt; schliesslich finden sich an Stelle der 
feinsten Verzweigungen helle glasige Kugeln, 
bei denen nur noch die Andeutung eines 
Lumens ihre Herkunft von einem Geftss 
beweist. — Dass den Gefässen eine hervor¬ 
ragende Rolle im Bilde der Akromegalie 
zukommt, lässt sich schon daraus erkennen, 
dass sich Veränderungen an denselben in 
allen Geweben finden; wir können es ferner 
schliessen aus den schweren vasomotori¬ 
schen Störungen im Falle 3. Hier bestan¬ 
den neben den schon oben erwähnten Sym¬ 
ptomen auch zeitweise Schmerzen. Bekannt 
sind ja die rheumatoiden Schmerzen bei 
Angiospasmus (Bäumler 8 )); letzterer ist 
auch wohl bei Patientin 3 periodisch vor¬ 
handen, er muss schliesslich zur Arbeits¬ 
hypertrophie der Gefässmuscularis und da¬ 
mit zu Wandverdickungen führen. Secundär 
degeneriren dieGefässwände. — Die Hämor¬ 
rhoiden und Varicen bei Fall 1 sind offen¬ 
bar Folgen der Akromegalie. 

Wichtig ist nun ein Studium des klini¬ 
schen Verhaltens der Blutdrüsen und ein 
Vergleich desselben mit den Arnold'sehen 
Befunden. Von der Hypophysis allein 
darf und kann hier keine Rede sein. 

Der Beweis für Linser’s 9 ) Satz, „dass 
die eigentlichen Blutdrüsen, zu denen zu 
rechnen sind Thyreoidea, Hypophysis, 
Thymus, Nebennieren und Geschlechts¬ 
drüsen, sämmtlich unter einander in 
näherem Zusammenhänge stehen, so dass 
sie sich in ihren Functionen gegenseitig 
beeinflussen und ergänzen können“, wird 
auf das Schlagendste durch das klinische 
Bild der Akromegalie erbracht. 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


Allerdings ist in unseren Fällen die 
Thymus nicht nachweisbar betheiligt. Im 
Falle 3 besteht zwar eine kleine Dämpfung 
über dem Manubrium sterni. Da abergleich¬ 
zeitig der Angulus Ludovici wulstförmig 
vorspringt, möchte ich diese Dämpfung nicht 
auf eine Persistenz der Thymus, sondern 
auf starke Verdickung des Manubrium sterni 
(Arnold) zurückführen. 

Die Betheiligung der Nebennieren 
documentirt sich im Falle 1 durch die starke 
Pigmentirung des Halses. Die letztere 
wurde von Pierre Marie und Strümpell 
(1. c.) ebenfalls schon bemerkt. Arnold 
fand, dass „dieRetezellen mehr oderweniger 
gelbes oder braunes körniges Pigment ent¬ 
sprechend der schon dem unbewaffneten 
Auge auffälligen Pigmentirung einzelner 
Hautpartien führten“. Die Adspection wie 
die mikroskopische Untersuchung ergiebt 
also denselben Befund, wie wir ihn bei 
Morbus Addisonii zu sehen gewohnt sind. 

Fränkel 10 ) u. A. beobachteten mehrfach 
Diabetes, die auf eine Betheiligung des 
Pankreas zu beziehen wäre (Minkowsky, 
Pineies 11 )). In meinen Fällen fanden sich 
wederZuckerausscheidung, noch liess sich 
alimentäre Glycosurie erzeugen. 

Störungen in den Sexualorganen 
sind in allen Fällen mehr oder weniger 
vorhanden. Im Fall 1 zeigt sich bei er¬ 
haltener Potenz eine zeitweise auftretende 
schmerzlose Schwellung des linken Testikels; 
im Fall 2, der erst seit drei Jahren sich 
entwickelt, ist die Periode schwächer wie 
früher, aber regelmässig. Bei der dritten 
Patientin besteht aber seit acht Jahren als 
erstes auffallendes Symptom Amenorrhoe, 
Libido sexualis erloschen. Bezüglich der 
Amenorrhoe ist zu bemerken, „dass nach 
Sternberg in keinem Falle eine amenor- 
rhoische Patientin, die an Akromegalie litt, 
geschwängert worden ist, während ja be¬ 
kanntlich Frauen, bei denen in Folge von 
anderen Erkrankungen, z. B. Chlorose oder 
Anämie, Amenorrhoe besteht, concipiren 
können. Die Amenorrhoe ist also bei der 
Akromegalie eine mit den Ovarien direkt 
zusammenhängendeKrankheitserscheinung“ 
(Pineies 1. c.). — Mendel fand übrigens 
bei seiner Patientin cystische Degeneration 
der Ovarien. 

DieThyreoidea erwies sich bei unseren 
Patienten einmal als normal gross, einmal ent¬ 
schieden atrophisch, im Falle 3 als hyper¬ 
trophisch. Man sollte nun entsprechend 
den Erfahrungen, welche uns der Morbus 
Basedowii und das Myxoedem lieferten, er¬ 
warten, dass auch die Neigungzum Schwitzen 
mit der verschiedenen Grösse der Thy- 

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roidea correspondirte. Dem ist nicht so. 

In allen drei Fällen bestand starke Neigung 
zum Schwitzen*) — andererseits aber eben¬ 
falls starker Haarausfall, im Fall 3 mit Grau¬ 
werden der Haare. Pulsveränderungen be¬ 
stehen nur bei Patientin 3 (92—96 Schläge 
in der Minute), ausserdem ist bei derselben 
die Athemfrequenz gesteigert. 

Exophthalmus wurde nicht beobachtet. 
Corvini (Morgagni 1902, März) führt den¬ 
selben bei langsamem Eintritt auf Verände¬ 
rungen der Orbitalknochen zurück, bei 
plötzlichem Beginn auf Druck von Seiten 
der Hypophysisgeschwulst auf den Sinus 
cavernosus. 

Dass ein Myxoedem sich mit der Akro¬ 
megalie combinirt, wie im Falle 2, haben 
ja Pineies 11 ) u. A. schon beschrieben. 
Auch Basedow-Erscheinungen sind bei der 
Akromegalie schon häufig beobachtet (Lan- 
ceraux). Ulrich, 18 ) Osler, M. Faure, 
Möbius haben uns früher mit Fällen be¬ 
kannt gemacht, bei welchen Basedow in 
Myxoedem überging und zeitweise die Er¬ 
scheinungen beider bestanden. Bis jetzt ist 
aber meines Wissens kein Fall bekannt, wie 
mein dritter, bei dem sich zur Akromegalie 
Basedow und Myxoedem gesellen: hier ist 
der Schweiss, die gesteigerte Puls- und 
Athemfrequenz, der Tremor in den Händen 
auf den Basedow, die rauhe Stimme, der 
Haarausfall, die Verdickung der Gesichts¬ 
haut auf Myxoedem zurückzufahren. 

An der Hypophysis finden sich fast 
immer anatomische Veränderungen. Er¬ 
wähnt sei aber, dass Benda (1. c.) in allen 
Fällen 1. die völlige Unbetheiligtheit des 
hinteren, dem Centralnervensystem ange¬ 
hörenden Lappens und 2. die Herkunft 
der Geschwulstzellen aus den epithelialen 
Elementen des Hypophysisvorderlappens 
nachwies. 

Die Betheiligung der Hypophysis kann 
klinisch in allen drei Fällen angenommen 
werden. Im Beginn der Erkrankung trat 
zeitweise Kopfschmerz auf, im Falle 2 und 3 
verbunden mit spontanem Erbrechen. 
Sicher war dieselbe im Falle 3, in welchem 
eine sich hauptsächlich nach links ent¬ 
wickelnde Hypophysisgeschwulst für die 
Veränderungen der optici herangezogen 
wergen muss. 

Mendel 5 ) führte auch die fehlenden 
Patellarreflexe auf den Hypophysistumor 
zurück, dieselben fehlten in seinem Fall» 
sowie bei den Patienten von Duchesneau, 
Tanzi, Nonne, Freund. Seiner Erklä- 

'■) Anatomisch fand Arnold die Schweissdrüsen 
sehr entwickelt und reich an enggewundenen Knäueln, 
ihre bindegewebigen Umhüllungen dick. 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


357 


rung (Druckwirkung des Tumors auf die 
motorischen Bahnen mit Degeneration) steht 
die Fürstner’sche Ansicht gegenüber, 
dass der in Folge der Atrophie der Ober- 
schenkelmusculatur fehlende Muskeltonus 
die Ursache ist. Letztere Ansicht scheint 
mir den Thatsachen am meisten zu ent¬ 
sprechen, wenn man bedenkt, wie häutig 
die Muskeln des Oberschenkels sich durch 
Atrophie betheiligen. — Bei meinen Fällen 
sind^die Patellarreflexe entweder vorhanden 
oder wie im Falle 3 sogar deutlich ge¬ 
steigert. 

Bekanntlich sind manche Fälle von 
Akromegalie nachträglich (auch von Pierre 
Marie) einem anderen Krankheitsbilde, der 
Osteoarthropathie hypertrophiante 
pneumique, eingereiht worden, und wenn 
man nur die Trommelschlegelfinger in den 



Fall 2. Trommelschlegelfinger, 

Atrophie des Thenar etc. 

Vordergrund stellen wollte, könnte man 
versucht sein, auch unserem Fall 2 das¬ 
selbe Loos zu Theil werden zu lassen. In¬ 
dessen spricht dagegen erstens der typische 
Befund am Unterkiefer (Prognathie), die 
Verdickung der Jochbeine, die Caries der 
Zähne, die Atrophie der Schilddrüse, das 
Freibleiben der Gelenke etc., ausserdem 
der normale Befund der übrigen Organe, 
besonders der Lunge. Denn wir müssen 
festhalten, „dass die Akromegalie eine pri¬ 
märe selbstständige Krankheit, die Osteo¬ 
arthropathie eine secundäre Erkrankung 
ist, welche im Verlaufe von Affecten der 
Lunge und des Kreislaufs, syphilitischer 
und wahrscheinlich auch anderer Processe 
auftritt." (Arnold.) 

Der Verlauf der Akromegalie kann ein 
verschiedener sein. Neben Fällen, in denen 

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die Krankheit 50 Jahre bestand, sind solche 
bekannt, welche in 3—4 Jahren ad exitum 
führten. Sternberg 4 ) unterschied deshalb 
chronisch-benigne und acut-maligne For¬ 
men. Für letztere postulirte er stets ein 
Sarkom der Hypophysis. Ben da 10 ) fand 
dagegen in acuten Fällen maligne Ade¬ 
nome und Gabler 12 ) eine gänseeigrosse 
einfache Hyperplasie. Malignität des Ver¬ 
laufes und Malignität der Hypophysisver¬ 
änderungen fallen also nicht zusammen, viel¬ 
mehr bezieht sich der Ausdruck „benigne" 
und „maligne" Akromegalie lediglich auf 
die Dauer der Krankheit. Es kommen auch 
Remissionen vor, wie bei unserem Fall 1. 

Fall 2 gehört zur benignen Form, Fall 3 
dagegen wohl unbedingt zur anderen 
Categorie. 

Nach Sternberg tritt die Akromegalie 
in 14—15% vor dem 20. Lebensjahre, in 
50—55% zwischen dem 20. und 30., in 
25 % zwischen dem 30. und 40. und in 5 % 
nach dem 40. Jahre auf. Später Beginn 
ist nach ihm bei Frauen weit häufiger als 
bei Männern. Diese Angaben bestätigen 
meine Patienten. 1. erkrankte im 22.Lebens¬ 
jahre, die Patientinnen 2 und 3 39 resp. 

28 Jahre alt, 

Ein Trauma oder eine Infectionskrank- 
heit war bei sämmtlichen Patienten nicht 
vorhergegangen. 

Die Akromegalie kann auch halbseitige 
Symptome machen, wie z. B. in unserem 
Falle 1 bezüglich der musculären Erschei¬ 
nungen. Auch Bregmann 13 ) beschrieb 
bei Akromegalie Atrophie einer Zungen¬ 
hälfte und Schwund der Musculatur des 
linken Schultergürtels. Diese Fälle können 
ohne Weiteres zur Myopathie akromega- 
lique (Duchesneau) gerechnet werden. 
Auffallend ist auch der Fall von C ursch- 
mann, 20 ; der halbseitigen partiellen Riesen¬ 
wuchs an Brust und Bein bei normalem 
Fuss demonstriren konnte. 

In solchen Fällen könnte man versucht 
sein, an einen cerebrospinalen Process zu 
denken. Arnold fand im Falle Ruf eine 
Degeneration des medialen Theils der 
Hinterstränge, ferner des rechten Vorder¬ 
pyramidenstranges und des linken Seiten¬ 
pyramidenstranges , dementsprechend Er¬ 
weichungsheerde im rechten Scheitelhirn 
und im linken Schläfenlappen. Dieselben 
müssen nach ihm „zweifellos als die Folge 
der hochgradigen Alteration der Hirn- 
gefässe aufgefasst werden". Ein Fall von 
halbseitiger Akromegalie mit halbseitigen 
Hirn- und Rückenmarksveränderungen ist 
bisher nicht beobachtet. — Beschränkt sich 
nun gar die Akromegalie hauptsächlich auf 

Qriginsal fröm 

UMIVERSITY OF CALIFORNIA 






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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


die obere Körperhälfte, wie im Falle 2, 
bei dem ein auffallender Unterschied 
zwischen den schweren Symptomen an den 
Händen und den fast gar nicht veränderten 
schlanken Füssen besteht, so wird der 
cerebrospinale Ursprung des Processes 
unmöglich. 

Die Alteration der Arterien und 
Venen ist die Ursache der zufällig nach 
dem Typus der Halbseiten- resp. Quer¬ 
erkrankung auftretenden Veränderungen an 
Knochen und Muskeln und sowohl diesen 
wie den Hirnveränderungen super- 
ordinirt. 

Bezüglich der Theorie der Akrome¬ 
galie sei in erster Linie daran erinnert, dass 
Strümpell wie in den Fragen der Myelitis, 
der Strangdegenerationen auch hier an dem 
Satze festhält, dass die Akromegalie eine 
endogene, d. h. „durch eine von vornherein 
gegebene Veranlagung des Körpers be¬ 
dingte“ Erkrankung ist. Wie ich schon an 
anderer Stelle, bei Gelegenheit einer Be¬ 
sprechung der Genese, der Friedreich- 
schen Ataxie etc. anführte, dass diese so¬ 
genannten hereditären resp. endogenen Er¬ 
krankungen erst mit dem Besuche der Schule 
und nach Infectionskrankheiten, besonders 
nach Masern, sich entwickelten, so möchte 
ich auch hier auf die auffallende Thatsache 
aufmerksam machen, dass die Akromegalie 
in den meisten Fällen erst nach dem 
20. Lebensjahre (&5%) beginnt. Die Ver¬ 
anlagung an sich möchte ich dabei keines¬ 
wegs abstreiten, gleichzeitig aber doch be¬ 
tonen, dass es unseren modernen An¬ 
schauungen wohl nicht entspricht, nur eine 
Disposition resp. Veranlagung für eine 
Krankheit verantwortlich zu machen. Doch 
davon später. 

Gegenüber der P. Marie’schen Hypo¬ 
physistheorie vertrat Virc ho w „von Anfang 
an den Standpunkt, dass die Veränderung 
der Hypophysis ein gleichgültiger Neben¬ 
befund sei. Die Veränderungen der Ex¬ 
tremitäten kämen auch ohne Hypophysis¬ 
tumor vor“ (cf. Benda 14 ). 

Ein abnormes Wachsthum der Knochen 
ist z. B. auch von Linser 9 ) auf eine Er¬ 
krankung anderer Blutdrüsen zurückgeführt 
worden. Er machte ein Hypernephrom der 
linken Nebenniere für die Thatsache ver¬ 
antwortlich, dass ein 5V2 Jahre alter Junge 
eine Körperlänge von 155 cm zeigte und 
äusserlich den Eindruck eines 17—lÖjähri- 
gen machte. Gerade die Franzosen be¬ 
tonten den Einfluss der Thyreoiden auf 
die Knochen und verordneten geradezu 
Thyreoidtabletten zur Beschleunigung der 
Callusbildung bei Fracturen. 

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Gewiss, es sind auch Fälle bekannt, wo 
Akromegalie ohne Hypophysistumor ver¬ 
lief — cf. Sternberg S. 111 — und an¬ 
dererseits solche, in welchen Tumoren der 
Hypophysis keine Zeichen der Akromegalie 
verursachten (P o n fi c k 15 ). 

Indessen rein anatomische Befunde be¬ 
weisen an sich nichts. Denn ein Tumor, 
mag er selbst anatomisch eine Hyperplasie 
der Drüsenelemente darstellen, hat darum 
doch nicht ohne Weiteres Hypersecretion 
specifischer Körper zur Folge. Anderer¬ 
seits spricht fehlender Tumor resp. nor¬ 
male Grösse in keiner Weise für Unter- 
secretion. Wir sind eben nicht im Stande, 
allein durch die anatomische Untersuchung 
einer Drüse uns ein Bild ihrer Leistungs¬ 
fähigkeit zu construiren. 

Solche und ähnliche Gedanken veran- 
lassten Friedmann und Maas, Pineies, 
Benda, Lewandowskyju. A. Thierexperi¬ 
mente vorzunehmen. Sie exstirpirten 
Katzen die Glandula pituitaria (in manchen 
Fällen auch die Gl. thyreoidea), indem sie 
theils die Drüse mit dem Messer resp. der 
Scheere entfernten, theils Chromsäure ver¬ 
wandten. Der Eingriff ist furchtbar grob 
— physiologisch, die meisten Thiere gingen 
ein, bevor irgend welche Folgeerscheinun¬ 
gen beobachtet werden konnten. Die 
Autopsie ergab in anderen Fällen, in denen 
keine Folgeerscheinungen eintraten, dass 
die Operation Ueberreste der Hypophysis 
im Körper liess. Wenn nun gar Hypophy¬ 
sis und Thyreoidea gleichzeitig entfernt 
wurden, dann darf es nicht Wunder nehmen, 
wenn keine Resultate erzielt wurden. 
Denn erstens ist der Eingriff schon wieder 
blutiger, zweitens muss man immer im 
Auge behalten, dass manches auf eine 
theilweise Wechselwirkung zwischen Hypo¬ 
physis und Thyreoidea hin weist. (Uthoff 16 ) 
fand z. B. in seinem Ealle „eine Atrophie 
der Schilddrüse mit sekundärer (?) Ver- 
grösserung der Hypophysis.“ Durch Ex¬ 
stirpation beider Drüsen kann man also 
unter Umständen die Wirkung des Experi¬ 
mentes aufheben. 

Man beschritt einen anderen Weg. 
Zunächst wurden Stoffwechselversuche an¬ 
gestellt. A. Schiff 17 ) „fand bei einem 
Patienten mit typischer Akromegalie nach 
der Darreichung von Hypophysis-Tabletten 
neben einer unbedeutenden Vermehrung 
der Stickstoffausscheidung eine recht er¬ 
hebliche Steigerung der Phosphorsäure- 
Ausscheidung.“ Diese unter dem Einflüsse 
der Hypophysis vor sich gehende Aende- 
rung des Stoffwechsels bezieht Schiff 
auf einen gesteigerten Zerfall eines ver- 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


359 


hältnissmässig stickstoflarmen und phos¬ 
phorreichen Gewebes und denkt nach Aus¬ 
schluss des Nervengewebes, das zu bald 
vollkommen erschöpft sein würde, in erster 
Linie an das phosphorreiche Knochenge¬ 
webe. 

von Morascewsky (M. M. W. 1901), 
kommt bei der Stoffwechselbehandlung der 
Akromegalie zu dem Resultate: „Die Akro¬ 
megalie besitzt eine Tendenz, organbildende 
Stoffe (Stickstoff, Chloride) namentlich aber 
Phosphor und Kalksalze zurückzuhalten.* 

Aus beiden Untersuchungen müsste 
man also schliessen, dass im Körper vor¬ 
handene normale Hypophysis hemmend 
auf das Knochenwachsthum wirkte und 
dass die Akromegalie durch einen Ausfall 
der Hypophysisfunktion zu Stande käme. 
Für diese Anschauung würden auch die 
Lewandowsky’schen Fütterungsversuche 
sprechen. „Bei wachsenden Thieren 
trat nämlich eine Rachitis ein, das eine 
Mal höchsten Grades, zu einer Hemmung 
des Wachsthums und Abnahme des 
Körpergewichtes um fast ein Drittel führend, 
gemessen an dem Verhalten eines aus dem 
gleichen Wurfe stammenden Controlthieres, 
das vollständig gesund blieb.* 

Diesen Ableitungen stehen nun aber 
andere Erfahrungen gegenüber. Benda 10 ) 
und Woods Hutchinson fanden, „dass 
wirklich zerstörende Hypophysisgeschwülste 
entweder ohne Veränderungen des Kochen¬ 
baues einhergingen oder gar mit Zwerg¬ 
wuchs verbunden waren.* Um diese That- 
sachen mit den Lewandowsk y'sehen R esul- 
taten in Einklang zu bringen, scheinen zu¬ 
nächst nur zwei Annahmen möglich, erstens, 
dass in den oben erwähnten Fällen immerhin 
genügende Drüsensubstanz verblieb — 
Benda wies ja in seinen Fällen normales 
Hypophysisgewebe im malignen Tumor 
nach — oder zweitens die Tumorzellen 
die Funktionen der Hypophysis übernahmen, 
wie schon von anderer Seite vermuthet 
wurde. Beide Annahmen erscheinen äusserst 
gezwungen. Wir müssen dagegen eines 
immer gegenwärtig halten, dassbei der Akro¬ 
megalie in den seltensten Fällen nur die 
Hypophysis erkrankt; meist sind die an¬ 
deren Blutdrüsen, insbesondere die Thy¬ 
reoidea, mitergriffen. Und dann erklärt 
sich der Zwergwuchs ungezwungen durch 
ein kompiieierendes Myxoedem. 

Vielleicht sind auch meine Resultate 
mit Hypophysis-Tabletten als nicht unwich¬ 
tig zu erachten, insofern sie ex juvantibus 
einen Schluss auf die Funktion der Hypo¬ 
physis gestatten. 

Benda 14 ), dessen schöne Arbeiten ich 

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mehrfach citirte, spricht sich allerdings 
sehr absprechend über die Verwen¬ 
dung der Tabletten aus und tröstet sich 
nur in dem Gedanken, dass „die aktiven 
Bestandtheile derselben durch die Ver¬ 
dauungssäfte vermuthlich zerstört werden. 

Er erhofft „von der kühnen Hand des 
Chirurgen, die schon bis zum benachbarten 
Ganglion Gasseri vordringt,“ andere und 
bessere Resultate. Ob nun wirklich eine 
derartige Operation ungefährlicher und vor 
allem zweckmässiger ist, wie die Einver¬ 
leibung von Hypophysis-Tabletten? Ich 
meine, wenn schon der Versuch, die Hypo- 
physis beim Thier zu erreichen, beim Thier 
mit dem Tode endigte, dann wäre auch 
beim Menschen vor derartigen Versuchen 
dringend zu warnen. Ausserdem müsste 
diese Operation in den länger bestehenden 
Fällen auf fast alle Organe und Gewebe 
ausgedehnt werden. 

Jedenfalls fühlte ich mich berechtigt zu 
einem Versuch mit den Tabletten und 
zwar mit dem Erfolge, dass die vasomo¬ 
torischen Erscheinungen sich verloren, 
dass der Umfang der Mittelhand um durch¬ 
schnittlich 1 cm abnahm, dass die Rücken¬ 
schmerzen verschwanden und das All¬ 
gemeinbefinden sich hob. (Näheres cf. 

Fall 3). 

Ich verwandte absichtlich nur Hypo¬ 
physis-Tabletten, um auch nur eine Hypo- 
physis-Wirkung zu erzielen. 

Man könnte einwenden, dass es sich 
bei meinem Erfolge um eine spontane Re¬ 
mission handelte. Indessen spricht mir 
das prompte und anhaltende Auftreten 
der Reaktion dagegen. Führte ich keine 
Thier-Hypophysis mehr ein, so erneuerten 
sich die vasomotorischen Symptome, um 
bei erneutem Gebrauch wieder zu ver¬ 
schwinden. 

Die Einführung von Thier-Hypophysis 
verhinderte das Auftreten von Angiospas- 
men, so wie sie bei den Lewandowsky- 
schen Thieren direkt hemmend auf das 
Knochenwachsthum einwirkte. Man muss 
also schliessen, dass die Hypophy¬ 
sis vermittelst ihrer specifischen 
Secrete eine neutralisirende Wir¬ 
kung im Körperhaushalte ausübt, 
mit anderen Worten eine Hemmung 
resp. Regulation gewisser Körper¬ 
funktionen bewirkt. 

Des Weiteren geht aus dem Erfolg 
meiner Hypophysis-Medication hervor, dass 
wir unter Umständen im Stande sind, das 
Bild der Akromegalie zu beeinflussen, so¬ 
weit die Symptome derselben von 
der Alteration der Hypophysis ab. 

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360 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


hängig sind und so lange wir es mit 
einfacher Arbeitshypertrophie der Gefäss- 
wände, mit oedematöser Imbibition des 
Periostes etc., kurz, mit dem initialen Sta¬ 
dium der Akromegalie zu thun haben. Ich 
glaube nämlich, dass der Erfolg der Hy¬ 
pophysis-Tabletten bei Pat. 3. wesentlich 
deshalb möglich war, weil bei ihr die Krank¬ 
heit eine gewisse Progredienz zeigt. Im 
Falle 1 und 2 habe ich die Tabletten nicht 
angewendet, weil dieselben offenbar einen 
sehr chronischen Verlauf haben resp. wie 
bei 1 seit langer Zeit zum Stillstand ge¬ 
kommen sind, 

In letzter Linie möchte ich nur kurz 
auf meine Ausführungen in der Therapie 
der Gegenwart (1902/8) hinweisen und be¬ 
sonders hervorheben, dass der Erfolg der 
Tabletten uns den Beweis liefert, dass bei 
der Akromegalie , die „innere Secretion“ 
der Hypophysis ausgefallen ist. 

Die Marie’sche Hypophysis-Theorie giebt 
scheinbar dem Bilde der Akromegalie keine 
ausreichende Erklärung. Der klinische 
Befund lehrt uns, dass auch die übrigen 
Blutdrüsen an der Erkrankung betheiligt 
sind. Wir finden Vergrösserung der Schild¬ 
drüse mit ausgesprochenen Basedowsymp¬ 
tomen (z. B. Lanceraux, S6maine m£dicale 
IV. 1895), Atrophie derselben mit Myx¬ 
ödem (Fall 2. Pineies, 1. c.), ferner eine 
Combination von Basedow mit Myx¬ 
ödem (Fall 3). Das Pancreas betheiligt 
sich durch Diabetes, die Nebennieren durch 
Broncefärbung der Haut, die Ovarien durch 
Amenorrhoe. Manchmal persistirt auch 
die Thymus. Jedoch nicht nur das. Es 
treten bei der Akromegalie Erscheinungen 
an Gefässen, Muskeln und Nerven auf, wie 
wir sie sonst bei keiner Erkrankung 
anderer Blutdrüsen zu sehen ge¬ 
wohnt sind. 

Diese Thatsachen lassen zunächst mehr 
die Mendel’sche Auffassung in den Vor¬ 
dergrund treren. Auch Pineies kommt 
zu einem ähnlichen Resultate, „dass Akro¬ 
megalie Myxoedem, Kretinismus, Morbus 
Basedowii und in manchen Fällen auch 
Diabetes Erkrankungen von Blutdrüsen 
darstellen, in deren Verlaufe oft anato¬ 
mische oder funktionelle Störungen ande¬ 
rer Blutdrüsen entstehen.“ Pineies lässt 
es dabei unentschieden, ob diese gleich¬ 
zeitige Erkrankung auf dem Wege der 
Blutbahn oder durch sympathische Bahnen 
erfolgt. 

Wir werden eigentlich gerade durch 
Beobachtung Akromegalie-Kranker unwill¬ 
kürlich zu der Anschauung gedrängt, dass 
Akromegalie, Morbus Basedowii etc. nur 

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die Ausläufer derselben Grundkrankheit 
sein können, dass diese Krankheitsbilder 
secundär auftreten und nur beweisen, dass 
im speciellen Falle die eine oder die an¬ 
dere Blutdrüse oder mehrere zusammen 
erkrankt sind. 

Indessen halte ich doch für ausge¬ 
schlossen, dass wir gelegentlich z. B. einem 
Myxoedem mit akromegalischen Symptomen 
begegnen, mit anderen Worten, dass es 
zu einer secundären Erkrankung der 
Hypophysis kommt. Denn die Akromegalie 
scheint mir doch eine gewisse Sonder¬ 
stellung einzunehmen. 

Fragen wir uns bei der Akromegalie 
nach der Grundkrankheit, so möchte ich 
noch einmal kurz daran erinnern, dass in 
meinem Falle 3, der offenbar progredient 
ist, sehr beträchtliche Störungen des Ge- 
fässsystems vorhanden sind, die sich zu¬ 
nächst noch als Angiospasmen zeigen. 
Arnold fand in seinem Fall Ruf die 
schwersten Veränderungen an den Gefässen 
und besonders an den kleinsten Gefässen 
hyaline Degeneration. Ei* fand letztere in 
allen Organen und hält sie ebenfalls für 
das Primäre. 

Auch ich glaube, dass wir schon einen 
bedeutenden Schritt weiter kommen, wenn 
wir die Gefässveränderungen den anderen 
pathologisch - anatomischen Veränderungen 
überordnen. Jedoch sind die Gefässe kein 
eigentlich actives Gewebe; sie sind ein 
Organ, welches die Blutversorgung ver¬ 
sieht und an sich wieder abhängig ist von 
anderen Factoren, vom Sympathicus und 
vor allen Dingen vom Blute selbst. Auch 
der Sympathicus erscheint mir aber bei 
der Akromegalie secundär erkrankt, weil 
er in seinen Ganglien und Bahnen die¬ 
selben Gefässveränderungen, dieselbe Ver¬ 
mehrung des Bindegewebes zeigt wie die 
übrigen Organe. 

In der Blutbahn werden die Vor¬ 
bedingungen zum akromegalischen 
Bilde gelegt. Secundär erkranken 
die Gefässe in durchaus specifischer 
Weise und in Folge dessen sowohl 
Blutdrüsen wie die übrigen Gewebe. 

Für die weitere Frage nach der Ur¬ 
sache dieser abnormen Vorgänge in der 
Blutbahn kann es nur eine Alternative 
geben: entweder ist das Blut oder die 
Hypophysis primär erkrankt. Der Einwand, 
welchen Mendel 5 ) gegen die Hypophysis¬ 
theorie erhebt und der es ihm unmöglich 
erscheinen lässt, dass die Erkrankung der 
Hypophysis eine solche der übrigen Blut¬ 
drüsen nach sich zieht — dass nämlich 
sichere Fälle von Akromegalie „ohne“ Er- 

Qrigmal fro-m 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


361 


krankung der Hypophysis bekannt sind —, 
dieser Einwand kann uns als Bestätigung 
dafür dienen, dass in manchen Fällen eine 
primäre Erkrankung des Blutes alsGrund der 
akromegalischen Symptome anzusehen ist. 

Es wäre ein Leichtes, diese von mir 
supponirte primäre Erkrankung des Blutes 
mit dem gefälligen Namen einer Dyskrasie 
zu belegen. Aber wie ich schon oben die 
rein endogene Entstehung einer Erkrankung 
glaubte ablehnen zu sollen, so möchte ich 
auch hier auf das bekannte x y z zurück¬ 
greifen, eine Disposition wohl gelten lassen, 
auch die Möglichkeit einer Gelegenheits¬ 
ursache (Trauma/Schreck, cf. Sternberg) 
zugeben, im Uebrigen aber logischer Weise 
die Erkrankung des Blutes einer chroni¬ 
schen Infection zuschreiben — es mögen 
dabei verschiedene Infectionsspecies in 
Frage kommen. Schon Arnold dachte 
übrigens an die Möglichkeit einer Infection, 
als er die verschiedensten Organe auf 
Bakterien durchmusterte. 

Andererseits ergiebt sich aber aus an¬ 
deren Fällen von Fränkel, Stadelmann, 
Benda und von Mendel selbst ein schwer¬ 
wiegender Einwurf gegen die primäre Er¬ 
krankung des Blutes. Auch primäre ma¬ 
ligne Tumoren der Hypophysis riefen 
nämlich Veränderungen an den anderen 
Blutgefässdrüsen und das typische Bild der 
Akromegalie hervor. Ich glaube, es giebt 
hierfür nur eine Erklärung, zu der ich 
übrigens schon ex juvantibus geführt wurde, 
dass der maligne Tumor zu echten Aus¬ 
fallsymptomen von Seiten der Hypophysis 
führte. Dadurch prävalirten im Blut die 
Secrete der übrigen Blutdrüsen und führten 
zum Bilde der Akromegalie, 

Fassen wir nun zusammen, so ergiebt 
sich Folgendes: 

1. Die Hypophysis spielt im Körper 
eine ausserordentlich wichtige Rolle. Sie 
neutralisirt durch dieProducte ihrer inneren 
Secretion im Blute die Secrete anderer 
Blutdrüsen. Sie wirkt so regulirend auf 
das Gefässsystem und hemmend auf ein 
abnormes Knochenwachsthum. 

2. Die Akromegalie entsteht durch den 
Ausfall der Hypophysisfunction. 

3. Dieser Ausfall ist die Folge einer 
primären oder secundären Erkrankung der 
Hypophysis. 

4. Primär wird derselbe bedingt durch 
maligne Tumoren und Hypoplasie der 
Hypophysis. 

5. Der Ausfall kann aber auch primär 
bei anatomisch normalem Befunde und bei 
Hyperplasie der Hypophysis auftreten. Wir 
sind nicht in der Lage, vom anatomischen 

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Befunde auf die Function der Hypophysis 
zu schliessen. 

6 . Andererseits kann aber auch eine 
primäre chronische Infection des Blutes in 
erster Linie zu einer secundären Beein¬ 
trächtigung der Hypophysisfunction führen 
und so das Bild der Akromegalie hervor- 
rufen. 

7. Therapeutisch ist zu bemerken, dass 
eine Einwirkung von Thierhypophysis auf 
das Bild der Akromegalie entschieden vor¬ 
handen ist, solange und insoweit es sich 
um reine Hypophysis-Ausfallsymptome han¬ 
delt. Ausgeschlossen erscheint eine solche, 
falls sich im weiteren Verlaufe der Krank¬ 
heit dauernde Veränderungen (Degenera¬ 
tion) an den Gefässen und damit an an¬ 
deren Blutdrüsen und Organen etablirten. 

Litteratur. 

1) Lewandowsky, die Grundlagen der 
Organtherapie. Zeitschrift für diät. u. physik. 
Therapie. Band V, Heft 1. — 2) Eulenburg, 
Akromegalie, in Realenyklopädie. Band 1. — 

3) C o 11 i n s, Akromegaley, Journal of [nerv, 
and mental disease 93. —* 4) Stern berg, „die 
Akromegalie“ in Nothnagels specieller Patho¬ 
logie und Therapie. Band VII, II. Theil. — 

5) Mendel, Obductionsbefund eines Falles 
von Akromegalie. Berl. klin. Wochenschrift, 

1900. — 6) Strümpell, Ein Beitrag zur Patho¬ 
logie und pathologischen Anatomie der Akro¬ 
megalie. Deutsche Zeitschrift für Nervenheil¬ 
kunde. Band XI.— 7) Arnold, Weitere Beiträge 
zur Akromegaliefrage. Archiv für pathol. Ana¬ 
tomie und Physiologie, Band 135, Folge VIII, 

Band V. — 8) Bäumler, Gefässerkrankungen 
in Penzoldt und Stintzing Band III. — 

9) Lins er, Ueber die Beziehungen zwischen 
Nebennieren und Knochenwachsthum, Beiträge 
zur klinischen Chirurgie. Band 37, Heft 1 u.2. — 

10) Fränkel, Stadelmann und Benda, kli¬ 
nische und anatomische Beiträge zur Lehre 
von der Akromegalie. Deutsche Med. Wochen¬ 
schrift 1901 No. 31. — 11) Pineies, die Be¬ 
ziehungen der Akromegalie zum Myxoedem 
und zu anderen Blutdrüsenerkrankungen. Samm¬ 
lung klinischer Vorträge. Neue Folge. No. 242. 

— 12) Gübler, über einen Fall von acuter 
maligner Akromegalie. Correspondenzblatt für 
schweizer Aerzte, 1900 No. 24. — 13) Breg¬ 
mann, Deutsche Zeitschrift für Nervenheil¬ 
kunde. Band 17, Heft 5—6. — 14) Benda, 
Akromegalie, Deutsche Klinik, 59. Lieferung. — 

15) Ponfick, Deutsche Med. Wochenschrift 
1901 (V. S. 275). — 16) Uthoff, Berl. klin. 
Wochenschrift 1897. — 17) Schiff, Wiener klin. 
Wochenschrift 1897, S. 279. — 18) Ulrich, 

Ueber Morbus Basedowii und Myxoedem, Thera¬ 
peutische Monatshefte 1900, S 291. — 19) L. 
Huismans, Bemerkungen zur Organtherapie 
im Anschluss an Fälle von Akromegalie, Myx- 
oedema infantile, Morbus Addisonii. Therapie 
der Gegenwart 1902 No. 8. — 20) Curschmann, 

Deutsche Med. Wochenschrift 1901 (V. S. 261). 

46 0n:;iral frcn 

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362 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


Casulstische Beiträge zur Eisenlichtbehandlung. 

Von Dr. E. Clasen- Hamburg. 


Die durch die Anwendung blauen und 
violetten Lichtes erzielten grossartigen 
Heilresultate Finsens bei Lupus und 
anderen Hautkrankheiten konnten nicht 
verfehlen, ein lebhaftes Interesse für diese 
Heilmethode zu wecken und zu vielfachen 
Versuchen anzuregen, dieselbe dem practi- 
schen Arzte zugänglich zu machen durch 
Auffindung anderer Lichtquellen für Blau 
und Violett, da die unerschwinglich hohen 
Anschaffungs- und Betriebskosten des 
Finsenlichtes ein unüberwindliches Hinder¬ 
niss für seine Einführung in die Praxis 
bilden. 

Diesen Untersuchungen, um die sich 
hauptsächlich, Bang, Kjeldsen, Strebei 
u. A. verdient gemacht haben, verdanken 
wir die verschiedenen Dermolampen und 
Dermoscheinwerfer, bei denen der zwischen 
zwei Eisenelectroden überspringende Volta^ 
bogen — das „Eisenlicht“ — als Licht¬ 
quelle dient. Das Finsensche, durch Fil¬ 
tration und Wasserkühlung von seinen 
langwelligen Licht- und Wärmestrahlen 
befreite Kohlenlicht liefert in der Haupt¬ 
sache Blau und Violett neben verhältniss- 
mässig wenig Ultraviolett, das Eisenlicht 
dagegen vorwiegend ganz kurzwelliges 
Ultraviolett neben wenig Violett und noch 
weniger Blau; bei seinem dadurch beding¬ 
ten ausserordentlich spärlichen Gehalt an 
Wärmestrahlen — das Eisenlicht kann in 
der Praxis als kalt betrachtet werden — 
kann von einer Abfiltration der Wärme¬ 
strahlen abgesehen werden. So gering¬ 
fügig diese Unterschiede dem ferner 
Stehenden erscheinen mögen, so sind sie 
doch für die therapeutische Wirkung von 
wesentlicher Bedeutung und haben Anlass 
zu dem Zweifel gegeben, ob das Eisenlicht 
das Finsenlicht zu ersetzen vermöge. Dem 
letzteren kommt bei seinem vorwiegenden 
Gehalt an langwelligeren Strahlen in Blau 
und Violett eine erheblich grössere Tiefen¬ 
wirkung zu und zugleich eine weit geringere 
entzündungserregende Eigenschaft, als den 
kurzwelligen ultravioletten Strahlen des 
Eisenlichtes, deren Wirkung weniger in 
die Tiefe der Haut hineindringt und ausser¬ 
dem bei manchen Personen eine so inten¬ 
sive Reizwirkung entfaltet, dass schon 
mehrfach der Wunsch laut geworden ist 
(Kromeyer, Breiger), ein Licht zu finden, 
welches statt des störenden Ultraviolett 
einen reicheren Gehalt an Blau und Violett 
aufzuweisen hätte. Wenn auch dieser 
Wunsch für gewisse Fälle, besonders für 


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tief sitzende Lupusknoten, manche chro¬ 
nische infiltrirte Eczeme u. dgl. seine Be¬ 
rechtigung haben mag, so bleiben anderer¬ 
seits doch verschiedene an der Epidermis 
und an der Cutis sich abspielende Krank¬ 
heitszustände übrig, in denen gerade der 
Reichtum des Eisenlichtes an ultravioletten 
Strahlen mit und trotz ihrer Reizwirkung 
als ein wichtiger Heilfactor zu betrachten 
ist, ganz in dem Sinn, wie man in der 
Dermatotherapie vielfach äussere Mittel zur 
Erzeugung oberflächlicher Dermatitis und 
Desquamation verwendet. Diese Schluss¬ 
folgerung ergiebt sich fast mit Notwendig¬ 
keit aus der täglich zu machenden Be¬ 
obachtung nicht nur bei Hautkrankheiten, 
sondern auch bei verschiedenen nervösen 
Beschwerden, namentlich Anämischer, dass 
die Heilwirkung in einem gewissen Ab¬ 
hängigkeitsverhältnisse steht zu der Stärke 
der erfolgten Reizwirkung des Eisenlichtes 
und demgemäss mehr oder minder versagt 
mit dem Ausbleiben derselben. 

Die auf die Einwirkung des Eisenlichtes 
folgende Reaction der Haut zeigt bei den 
verschiedenen Menschen erhebliche indi¬ 
viduelle Abstufungen. In der Regel stellt 
sich auf eine (2—) 4—6 Min. dauernde 
Eisenlichtbestrahlung nach 6—8 Stunden 
unter mehr oder weniger starkem Brennen 
und bräunlichrother Verfärbung der Haut, 
eine ganz oberflächliche Dermatitis ein, 
die nach etwa 36 Stunden mit feinschuppi¬ 
ger Abstossung der Epidermis und zurück¬ 
bleibender Pigmentirung der Haut ab- 
schliesst. Der späte, erst nach vielen 
Stunden beginnende und bis dahin ohne 
alle subjective und objective Merkmale ein¬ 
setzende Eintritt der Dermatitis liefert den 
besten Beweis dafür, dass es sich nicht um 
eine Wärmewirkung, sondern um eine 
specifische Lichtwirkung handelt. Dabei 
verdient bemerkt zu werden, dass es hin 
und wieder Leute giebt, deren Haut auf 
das Eisenlicht wenig oder kaum bemerkbar 
reagirt. Ueber der Natur der Lichtderma- 
titis schwebt noch ziemliches Dunkel, 
ebenso wie darüber, ob und wie weit die 
bei der Dermatitis als solcher sich ab¬ 
spielenden Vorgänge oder die bactericiden 
Eigenschaften des Ultraviolett die Heilung 
bewirken. 

Nachdem seit länger als einem Jahre 
das Eisenlicht in die Praxis eingeführt 
worden und in der Form der verschie¬ 
denen Dermolampen und Dermoschein¬ 
werfer vielfach in Gebrauch genommen 

Original from 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


363 


worden ist, lässt sich allmählich der Wert 
des Ultraviolett des Eisenlichtes als Heil¬ 
mittel beurtheilen. Man hat dasselbe nach 
zwei Richtungen hin ausgenutzt, zur Heilung 
mancher nervöser Beschwerden (nament¬ 
lich Anämischer) sowie mancher Haut¬ 
krankheiten, speciell parasitärer Ober- 
flächenaffectionen. Durch Finsens grund¬ 
legende Untersuchungen geweckt hat sich 
das allgemeine Interesse in erster Linie 
auf die Beeinflussung der Hautkrankheiten 
durch das Licht gewendet und hier hat 
man über den grossartigen Erfolgen der 
Lichtbehandlung bei Lupus viel zu sehr 
die Einwirkung des Lichtes auf die übrigen 
Hautkrankheiten aus den Augen verloren, 
was um so mehr zu bedauern ist, als auch 
hier die Lichtbehandlung zum Theil Vor¬ 
zügliches leistet. Für den practischen Arzt 
kann es sich dabei zunächst nur um die 
Frage handeln, wie weit das Eisenlicht in 
diesem Sinne zu verwenden ist und es 
werden deshalb einige Mittheilungen über 
diesen Gegenstand von Interesse sein. 

Nach. den bisherigen Erfahrungen von 
Aerzten, die sich mit. der Eisenlichttherapie 
beschäftigten, lassen sich zahlreiche Haut¬ 
krankheiten erfolgreich mit Eisenlicht be¬ 
handeln soweit dieselben einen ober¬ 
flächlichen Sitz in der Haut haben und 
nicht zu tiefgreifenden Infiltrationen der¬ 
selben führten. Geradezu überraschende 
Erfolge sieht man bei Impetigo contagiosa, 
Acne vulgaris, beginnenden Furunkeln, 
manchen Formen von Pruritus, frischen 
oberflächlichen papulösen und vesiculösen 
Eczemen und wohl noch verschiedenen 
anderen, über die mir indess noch keine 
Erfahrungen zu Gebote stehen. Einer 
etwas längeren aber vollkommen erfolg¬ 
reichen Behandlung bedurfte ein Fall von 
Jahrelang auf andere Weise vergeblich 
behandeltem Cementeczem und ein Fall 
der sonst nur sehr schwer heilbaren 
Rosacea pustulosa (nicht zu verwechseln 
mit der gewöhnlichen Rosacea). Der Lupus 
reagirt, so lange er nicht in die tieferen 
Hautschichten eingedrungen ist, in der be¬ 
kannten günstigen, wenn auch langsamen 
Weise wie auf das Finsenlicht, so auch auf 
das Eisenlicht. 

Der Lupus hat bisher als Maassstab für 
die Tiefenwirkung einer Lichtquelle gegolten, 
er ist aber nicht der einzige. Gewisse 
Fälle von Acne vulgaris und von Sycosis 
lassen sich etwa in demselben Sinne ver¬ 
werten, da beide Affectionen unter der 
Einwirkung des Eisenlichtes fast ohne Aus¬ 
nahme in wenigen Sitzungen abheilen, so 
lange die Affection oberflächlich bleibt; je 

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mehr aber der Krankheitsprocess bis in 
die unteren Schichten der Cutis oder noch 
tiefer sich erstreckt, desto mehr entzieht 
er sich dem heilenden Einfluss des Eisen¬ 
lichtes. ZurBestätigung dieser Beobachtung 
sei hier eine Casuistik sämmtlicher mit 
Eisenlicht behandelter Fälle von Acne und 
Sycosis wiederzugeben gestattet. 

Fall 1. Frl. H., 40 Jahre alt, leidet seit 
Jahren an Acne indurata des ganzen Gesichtes, 
so dass kaum ein Fleckchen gesunder Haut 
sichtbar ist. Die Infiltration der Haut reicht 
nur wenig in die Tiefe, die Eiterpusteln sind 
verhältnissmässig spärlich, da es meist nur zur 
Bildung von kleinen schlappen lividroten Knöt¬ 
chen kommt. Nach der ersten Bestrahlung 
von nur 2 Minuten Dauer stellt sich unter leb¬ 
haftem Brennen der ganzen Gesichtshaut ein 
ungemein starkes Lichterythem ein, das nach 
2 Tagen einer starken Abschuppung Platz 
machte und einer unverkennbaren auffallenden 
Besserung. Nach 8 Tagen, nach der vierten 
Bestrahlung vollständige Heilung und bis jetzt 
nach einem Jahre kein Recidiv. 

Fall 2. Frl. v. H., 23 Jahre alt. Acne dis¬ 
seminata und indurata des ganzen Gesichtes, 
namentlich der Stirn seit 7 Jahren, trotz wieder¬ 
holter specialärztlicher Behandlung. Ausser¬ 
ordentlich zahlreiche Acnepusteln in allen 
Stadien, von denen sich eine grosse Anzahl 
als kleine Abscesse bis zu Erbsengrösse in 
das Unterhautzellgewebe fortsetzt. Tägliche 
Eisenlichtbestrahlung von 3—4 Minuten Dauer. 

Unter Auftreten der gewöhnlichen Eisenlicht- 
reaction bessert sich die Acne vom ersten Tage 
an. Nach 18 Tagen vollständige Heilung, die 
sich so lange hinausgezögert hat wegen der 
subcutanen Abscesse, die sich nur langsam 
resorbirten. Einige der grössten mussten 
schliesslich durch Incision entleert werden. 

Fall 3. Frau S., 36 Jahre. Hat am Kinn 
um den Mund herum einen Kranz ganz dicht 
stehender, auffallend derb infiltrirter Acne- 
knötchen, die von einer ganz kleinen Acne- 
pustel gekrönt sind. Eisenlichtbestrahlung 
dreimal in der Woche, da Patientin häuslicher 
Verhältnisse wegen nicht öfter kommen kann. 

Nach 10 Bestrahlungen sind die Eiterpusteln 
eingetrocknet, die Acneknoten verkleinert, aber 
nicht geschwunden. Patientin bricht die Cur 
ab wegen häuslicher Behinderung. 

Fall 4. Frl. C., 23 Jahre, chlorotisch. Acne 
disseminata mässigen Grades im Gesicht, haupt¬ 
sächlich an der Stirn. Nach der ersten Be¬ 
strahlung von 3 Minuten Dauer starke Eisen- 
lichtreaction, Aussehen wie nach mehrwöchent¬ 
lichem Seeaufenthalt. Abheilung im Lauf einer 
Woche. In den nächsten 7 Monaten zweimal 
leichtes Recidiv, das prompt auf 1—2 malige 
Bestrahlung heilt. 

Fall 5. Arbeiter Sch., 40 Jahre, leidet seit 
Jahren an Acne indurata des Gesichtes, be¬ 
sonders zu beiden Seiten der Nase und des 
Kinnes. Die Eiterpusteln sind unter der grossen 
Zahl der Acneefflorescenzen nur spärlich ver- 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


treten und klein. — Patient ist vergeblich lange 
Zeit mit den verschiedensten Mitteln behandelt 
worden. — Unter starker Lichtreaction der 
Haut und reichlicher Abschilferung trocknen 
die Eiterpusteln sichtlich ein. Patient hält sich 
nach 4 Bestrahlungen für geheilt, stellt sich 
jedoch eine Woche später wieder ein. Der 
Zustand zeigt sich, besonders in Bezug auf diö 
Pustelbildung erheblich gebessert. Eisenlicht¬ 
bestrahlung dreimal in der Woche 4 Wochen 
lang. Die Infiltration bessert sich zwar, bleibt 
aber dann stationär, so dass wieder zur An¬ 
wendung einer Schälpaste übergegangen wird. 
Als auch dies keine wesentliche Besserung 
bringt, wird wieder auf die Eisenlichtbestrahlung 
zurückgegriffen und damit diejenige des Marine¬ 
scheinwerfers verbunden, um durch die Hyper- 
ämisirung der torpiden Efflorescenzen die 
Heilungstendenz anzuregen. Unter dieser Be¬ 
handlung trat dann in 6 Wochen bei 3 Be¬ 
strahlungen in der Woche allmählich dauernde 
Heilung ein. 

Fall 6. Maschinenbauer R., 51 Jahre, seit 
7 Jahren behaftet mit Acne disseminata des 
Rückens und der Brust bis zur Magengrube. 
Beide sind von zahllosen Acnepusteln in den 
verschiedensten Entwickelungsstadien und von 
noch zahlreicheren weissen Narben früherer 
Acnepusteln dicht besät. Patient klagt über 
unerträgliches Jucken, wovon viele aufgekratzte 
Pusteln zeugen. — Eisenlichtbestrahlung von 
3 Minuten am Rücken wie an der Brust. Bei 
der Wiedervorstellung des Patienten nach zwei 
Tagen waren sämmtliche Acnepusteln voll¬ 
ständig verschwunden; man sieht nur noch eine 
kleine Anzahl von Krusten der vor der ersten 
Bestrahlung zerkratzten Pusteln, teil weis von 
Einern schmalen roten Hof umgeben. Das 
unerträgliche Jucken hat vollkommen aufgehört. 
Zur Sicherung des unerwartet günstigen Re¬ 
sultates werden noch zwei Bestrahlungen ge¬ 
geben. 

Fall 7. Lehrling P. L., Acne disseminata 
massigen Grades im Gesicht. Heilung nach 
6 Bestrahlungen. 

Fall 8. Frl. Br., 24 Jahre, Acne disse¬ 
minata an Gesicht Brust und Rücken massigen 
Grades, die nach 8 täglich wiederholten Be¬ 
strahlungen verschwindet. Acht Tage später 
zeigen sich vereinzelte neue Acnepusteln, die 
nach einigen Bestrahlungen abheilen. 

Fall 9. Arbeiter J. W., 21 Jahre, Acne 
disseminata an Rumpf und Gesicht. Heilung 
nach 8 Bestrahlungen. 

Fall 10. Arbeiter W. P., 30 Jahre. Acne 
disseminata an Rücken, Schultern und in 
schwächerer Entwickelung auch am Bauch, 
überall von starkem Jucken begleitet. 6 Be¬ 
strahlungen, Heilung. 

Fall 11. Fr. M., Lehrling. Comedonen und 
Acne punctata des Gesichtes. Die Acne heilt 
nach 5 Bestrahlungen, Comedonen unverändert. 

Fall 12. Frl. L., 17 Jahre. Leichte Acne 
disseminata ums Kinn herum. Nach der dritten 
Bestrahlung alles abgeheilt. 

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Fall 13. Frl. B., 22 Jahre alt. Acne dis¬ 
seminata des Gesichtes. Nach 5 Bestrahlungen 
scheinbar alles abgeheilt. Die Bestrahlung 
macht kein bemerkenswerthes Lichterythem; 
Patientin, ein äusserst anämisches Mädchen 
pflegt auch bei ihrem jährlichen Heufieber¬ 
aufenthalt auf Helgoland kaum merkbar zu ver¬ 
brennen. Vier Wochen später leichtes Recidiv. 
Patientin bricht nach der vierten Bestrahlung 
die Behandlung ab vor vollendeter Heilung. 

Fall 14. Frl. R. f 21 Jahre. Seit dem 
12. Jahr Comedonen und Acne punctata in 
allen Stadien im Gesicht und am Hals in 
schwer entstellendem Grade. Zur Zeit der I 
Menstruation pflegt sich der Zustand noch zu 
verschlimmern. Abheilung der Acne nach 8 Be¬ 
strahlungen. 14 Tage später beim Einsetzen 
der Menstruation leichtes Recidiv, das nach 
einigen Bestrahlungen abheilt. In der Folge 
noch öfter Recidive auf Grund der stark ent¬ 
wickelten Comedonen. 

Fall 15. Arbeiter C. M., 30 Jahre. Sy¬ 
cosis vulgaris des ganzen Bartes bis an den 
Hals. Da nach 10 Bestrahlungen — allerdings 
in 4 Wochen — keine Besserung erzielt wird, 
lässt sich Patient ins Krankenhaus versetzen. 

Fall 16. Arbeiter P. Kl., 26 Jahre. Sycosis. 
Gesunder, kräftiger junger Mann stellt sich 
vor mit einem scharf umgrenzten ovalen roten 
Fleck von etwa 6 cm Länge und 4 cm Breite 
auf der Wange vor dem linken Ohre. Die 
Rötung des Fleckes kommt zu Stande durch 
kleine, livid rote, dicht gedrängt stehende, 
in der übergrossen Mehrzahl von einem Bart¬ 
haar durchbohrter Spitzpapeln, die übrigens 
stellenweise Flecken und Streifen gesunder 
Haut zwischen sich frei lassen. Bei der ersten 
Vorstellung zeigte keine einzige Spitzpapel — 
die Affection hatte erst einige Wochen bestanden 
— eine Andeutung von Eiterbildung, so dass 
die Diagnose auf Sycosis nur mit Vorbehalt 
gestellt wurde. Eisenlichtbestrahlung von 5 Min. 
Dauer am 1. 5. und 9. Tage. Nach der ersten 
Bestrahlung ausserordentliche Besserung, nach 
der zweiten dem Anscheine nach Heilung. 

Vier Wochen erscheint Patient wieder, nach¬ 
dem sich seit 8 Tagen an der alten Stelle genau 
die frühere Affection wieder eingestellt hat 
Behandlung wie. früher. Bei der zweiten Be¬ 
strahlung, 5 Tage nach der ersten augenfällige 
Besserung, fast Abheilung. Nach der zweiten 
Bestrahlung bleibt Patient fort. 

Genau 14 Tage nach der letzten Bestrahlung 
stellt sich Patient abermals ein. Diesmal hatte 
er auf beiden Wangen, ziemlich symmetrisch, 
zwei scharf umschriebene Flecke, den auf der 
linken Wange genau auf der alten Stelle, der 
auf der rechten Wange war weniger scharf aus¬ 
gesprochen. Das Krankheitsbild war im Ganzen 
dasselbe wie bei der ersten Vorstellung, nur 
hatten diesmal zahlreiche Papeln des zuerst 
entstandenen Fleckes ein spitz zulaufendes 
minimales Eiterbläschen an der Spitze. An 
Stellen, wo die Papeln dichter stehen, ist die 
dazwischen liegende Haut livid gerötet. — 
Zwölf Tage später, nach sechs Bestrahlungen 

Original fro-m 

UNIVER3ITY OF CALIFORNIA . 



August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


365 


sind sämmtliche Papeln und Eiterpusteln, sowie 
die entzündlichen Erscheinungen an der Haut 
völlig geschwunden. An Stelle zahlreicher er¬ 
krankt gewesener Follikel finden sich feine 
glashell durchscheinende Krusten, die sich zum 
Teil leicht ablösen lassen. Die Haut macht 
den Eindruck völliger Gesundheit. Patient, der 
seine Arbeit nicht unnötig versäumen kann, 
bleibt jetzt fort. 

Nach 14 Tagen kommt er jedoch wieder 
mit einem Recidiv an der linken Seite. Da es 
ihm wegen seiner Arbeit unmöglich ist, öfter 
zu kommen, so wird jetzt die übliche Salben¬ 
behandlung eingeleitet mit Epilation (durch den 
Patienten selbst). Bei der nachlässigen Durch¬ 
führung der Behandlung — Patient liess sich 
in 6 Wochen nur zweimal sehen — entwickelte 
sich die Sache zum Bilde der classischen Sycosis. 
Patient beginnt daher wieder mit der Licht¬ 
behandlung, die aber jetzt mit regelmässiger 
Epilation verbunden wird. Da sich jedoch in 
diesem Stadium nicht der gewohnte Erfolg 
zeigt, zum Teil auch wohl, um der schmerz¬ 
haften Epilation zu entgehen, lässt sich Patient 
nach 14 Tagen, nach 10 Bestrahlungen ins 
Krankenhaus versetzen, ohne dass eine wesent¬ 
liche Besserung erreicht worden wäre. 

Fall 17. Bahnbeamter O. W., 34 Jahre. 
Sycosis im ganzen Bart seit 11 Jahren von Ohr 
zu Ohr und bis an die untere Grenze des Bart¬ 
wuchses am Halse. Lange und vergeblich von 
verschiedenen Specialärzten behandelt. Die 
ganze Haut der erkrankten Stelle bildet eine 
gleichmässig ziemlich stark infiltrirte livid rote 
Fläche, welche an den natürlichen Hautfalten 
Neigung zu Abschuppung zeigt und sich schwer 
zu Falten erheben lässt. Die Eiterung in den 
Haarbälgen zeigt sich nur in der kleineren 
Hälfte der Haarbälge und ist dabei nicht sehr 
tiefgehend. Patient erhält Eisenlichtbestrah¬ 
lungen in 5—6 Minuten dauernden Sitzungen, 
aber ziemlich unregelmässig, da er seines 
Dienstes wegen manchmal 8—10 Tage fortbleibt. 
Auf diese Weise erhielt er in 6 Monaten nur 
32 Bestrahlungen. 

Nach der zehnten Bestrahlung machte sich 
eine deutlich sichtbare Besserung bemerkbar in 
Verminderung der Infiltration, Aufhören jeder 
Follikeleiterung, Verkleinerung des infiltrirten 
Gebietes von den Rändern her. Namentlich im 
oberen Theil des Bartes, vor den Ohren beider¬ 
seits findet bereits eine vollständige restitutio 
ad integrum statt. Im Lauf der folgenden 
Wochen verkleinert sich unter weitergehender 
Abnahme der Infiltration von den Rändern her die 
erkrankte Hautpartie immer mehr, so dass im 
vierten Monat nur noch das Kinn eine (nicht 
mehr livide, sondern) gelbliche Rötung und 
leichtere Infiltration und an den Rändern sowie 
den Hautfalten eine etwas grobblättrige De¬ 
squamation zeigt. Der Zustand befriedigte den 
Patienten, der immer nur schwer abkommen 
kann, so sehr, dass er allmählich fortblieb. 

Die Zahl der hier mitgeteilten Fälle 
ist nicht gerade sehr gross, aber immerhin 
gross genug, um eine Unterlage zur Be- 

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urteilung der Eisenlichtwirkung nach ver¬ 
schiedener Richtung hin zu gewähren. Vor 
allen Dingen erweist sich dasselbe als ein 
Heilmittel für Acne, das hinsichtlich seines 
Erfolges und der Annehmlichkeit seiner 
Anwendung für den Patienten seines 
Gleichen nicht hat. Acneßllle schwerster 
Art, die Jahre lang bestanden haben, nach 
einer (Fall 6) oder nach wenigen Sitzungen 
innerhalb weniger Tage glatt abheilen zu 
sehen, überrascht immer wieder aufs Neue, 
selbst den, der es schon öfter hat geschehen 
sehen. Von 14 Fällen blieb Fall 3 unge- 
heilt. Die Acneknoten boten hier durch 
ihre Kleinheit und dabei ungemein derbe 
Infiltration der Knötchen von vornherein 
auffallende Abweichungen vom gewöhn¬ 
lichen Charakter der Acne, dass ein ver¬ 
langsamter Heilungsverlauf nicht über¬ 
raschen konnte. Die Heilung wäre auch 
in diesem Falle wohl eingetreten, wenn 
nicht die Patientin, Mutter einer grossen 
Kinderschaar, wegen der Entfernung ihres 
Wohnortes zu jeder Sitzung einen halben 
Tag hätte opfern müssen. 

Recidive traten ein in Fall 4, 8, 13 und 
14, was bei einer Affection, die unter jeder 
anderen Behandlung in der Mehrzahl der 
Fälle Recidive macht, immerhin noch als 
ein günstiges Resultat angesehen werden 
kann. In Fall 4 und 8 handelte es sich 
beim Recidiv nur um ganz wenige Acne- 
knötchen, die unter Wiederholung der Be¬ 
strahlung sofort wieder schwanden. Fall 13 
lieferte die Bestätigung für die öfter zu 
machende Beobachtung, dass die Heil¬ 
wirkung des Eisenlichtes an die specifische 
Lichtreaction — Lichtentzündung mit Pig- 
mentirung und Desquamation — der Haut 
mehr oder weniger eng gebunden ist; die¬ 
selbe Beobachtung kann man machen bei 
der Lichtbehandlung nervöser Beschwerden 
Anämischer. — Fall 14 war eine jener Un¬ 
glücklichen, deren ganzes Gesicht von 
Jugend an mit Comedonen und den daraus 
sich entwickelnden Acneefflorescenzen dicht 
besät war. Derartige Fälle trotzen vielfach 
jeder Behandlung, wie es auch hier der 
Fall gewesen war. Ein Verschwinden jeg¬ 
licher Acneentzündung in so kurzer Zeit 
bei einem mit Acnepusteln bedeckten Ge¬ 
sicht wie bei dieser Patientin kennzeichnet 
trotzdem die Lichtbehandlung ohne Frage 
als eine jeder anderen Behandlungsweise 
überlegene. 

Die Vorzüge der Lichtbehandlung der 
Acne machen sich auch noch nach einer 
anderen Richtung hin geltend, in der An¬ 
nehmlichkeit derselben für die Patienten, 
die nichts dabei zu tun haben, als sich 


Original fro-m 

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366 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


einige Male für wenige Minuten dem Eisen¬ 
licht auszusetzen, was mit keinerlei sub- 
jectiven Empfindungen irgend einer Art 
verbunden ist, nicht einmal einer Wärme¬ 
empfindung. Das Einzige, was zu Bedenken 
Anlass geben könnte, wäre die Lichtreaction 
an der Haut mit der daran sich anschliessen¬ 
den Pigmentation derselben. Indess setzen 
sich die Patientinnen nach meiner Erfah¬ 
rung darüber ohne Ausnahme leicht hin¬ 
weg, zumal man ihnen ohne Bedenken die 
Versicherung geben kann, dieselbe werde 
bald wieder verschwinden. Es ist ent¬ 
schieden zu weit gegangen, aus diesem 
Grunde, wiez.B. Strebei will, die Eisen¬ 
lichtbehandlung der Acne überhaupt zu 
unterlassen. Wenn man die Wahl hat 
zwischen der Eisenlichtbehandlung und der 
üblichen Salben- bzw, Schälpastenbehand¬ 
lung, so kann man meines Erachtens über¬ 
haupt garnicht zweifelhaft sein, wofür man 
sich zu entscheiden hat, zumal die letztere 
Behandlungsart für Manche mit so viel 
Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten 
verbunden ist, dass sie lieber auf die 
Heilung des entstellenden Leidens ver¬ 
zichten, als dass sie sich der entsprechen¬ 
den Behandlung unterwerfen. 

Auch vom theoretischen Standpunkte 
bietet die mitgeteilte Casuistik einiges 
Interesse insofern, als sich aus derselben 
deutliche Fingerzeige hinsichtlich der Tiefen¬ 
wirkung, sowie überhaupt über die Wir¬ 
kung des Eisenlichtes entnehmen lassen. 
Als erste Veränderung nach der Bestrah¬ 
lung bemerkt man an den Eiterpusteln der 
Acne wie der Sycosis ein Schlapperwerden, 
ein Einsinken der Pustel, sowie eine Ver¬ 
färbung des Pustelinhaltes. Daran schliesst 
sich dann unmittelbar ein Nachlass der 
entzündlichen Infiltration der Umgebung 
des Pustelinhaltes, ein Zusammenfallen der 
ganzen Acneefflorescenz an. Und zwar 
scheint die Wirkung um so stärker zu sein, 
je zarter die die Eiterpustel bedeckende 
Epidermiskuppe ist, wie Fall 3 und Fall 6 
aufs Schlagendste zeigen. Im ersteren Fall 
handelte es sich um minimale Pusteln mit 
derber deutlich gelber Epidermisdecke, im 
letzteren um grosse prall gefüllte Eiter¬ 
bläschen, die von einer maximal gedehnten, 
glashell durchscheinenden Epidermislamelle 
überwölbt waren, welche bei dem leisesten 
mechanischen Insult platzte. Man gewinnt 
immer wieder den Eindruck, als hätte die 
Ursache der Acne- bzw. der Sycosispustel, 
die eigentliche Krankheitsnoxe, ihren Sitz 
in dem flüssigen Inhalt der Pustel, der 
durch den Einfluss des Eisenlichtes seiner 
giftigen Eigenschaften beraubt würde. Da- 

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nach könnte man fast geneigt sein, schliess¬ 
lich doch Bockhardt Recht zu geben, 
welcher bekanntlich den in den Pusteln in 
Reinkultur vorhandenen Staphylococcus 
pyogenes aureus und albus als die eigent¬ 
liche Ursache der Acne wie der Sycosis 
anspricht, wenn auch diese Ansicht aus 
klinischen wie aus anderen Gründen man¬ 
chen Bedenken begegnen mag. Von dieser 
Anschauung ausgehend, würde man bei der 
Acne wie bei der Sycosis die Wirkung des 
Eisenlichtes, dessen eminente bactericide 
Eigenschaft ja allgemein anerkannt ist, als 
bactericide Wirkung auffassen müssen und 
auch die in manchen Fällen geradezu ver¬ 
blüffende Schnelligkeit der Heilung und 
andererseits auch das in gewissen Fällen 
sich zeigende Versagen der Wirkung leicht 
verstehen. Das von den Eisenelektroden 
gelieferte Ultraviolett wird ja nicht bloss 
von der Luft, sondern noch viel mehr von 
der Haut absorbirt und um so mehr seiner 
eigentümlichen Wirksamkeit entkleidet, je 
tiefer es in dieselbe eindringt. Demnach 
wird sein heilender Einfluss hauptsächlich 
bei Oberflächenerkrankungen zur Geltung 
kommen und um so geringer ausfallen, je 
tiefer die Affection in der Haut sitzt. Die 
oben wiedergegebene Casuistik erläutert 
diese Verhältnisse aufs Deutlichste. Wie 
aus derselben zu ersehen, heilten die Fälle 
von gewöhnlicher Acne und oberfläch¬ 
licher Sycosis nach einer oder mehreren 
Sitzungen ohne Ausnahme ab, während bei 
tieferem Sitz des Krankheitsprozesses die 
Heilung ebenso ausnahmslos ausblieb. Be¬ 
sonders lehrreich in dieser Beziehung 
zeigten sich Fall 2 und 16. Im ersteren 
handelte es sich um einen jener schweren 
Acnefälle, bei denen es zur Entwickelung 
zahlreicher im Unterhautzellgewebe einge¬ 
betteter kleiner Abcesse gekommen war. 
Hier kam es prompt zur Heilung des ge- 
sammten Acneprozesses an der Haut. Die¬ 
selbe war glatt und vollkommen normal, 
während unter ihr eine grössere Anzahl 
abgesackter kleinster Abcesse, ausnahms¬ 
weise bis zu Erbsengrösse, zurückblieb, 
weil die Wirkung des Eisenlichtes sich 
nicht bis zu dieser Tiefe erstreckte. — 
Fall 16 betraf einen Fall von frisch be¬ 
gonnener Sycosis, bei welchem sich deut¬ 
lich zeigte, dass die Sycosis als Oberflächen- 
affection beginnt und erst allmälig an den 
Haarbälgen entlang in die Tiefe wandert. 
Die auf die Behandlung mitEisenlicht prompt 
eingetretene Heilung wurde nur deshalb 
keine vollständige, weil der Patient, ein auf 
seinen Tagelohn angewiesener Arbeiter, die 
Behandlung sofort aufgab, sobald die Haut 

Original ffom 

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August 


367 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


anscheinend ihr normales Aussehen wieder¬ 
erlangt hatte, so dass seiner Meinung eine 
Weiterbehandlung überflüssig erschien. 
Dies gab Gelegenheit, an demselben Kranken 
die gewiss seltene Beobachtung zu machen 
von einem durch dasselbe Verfahren drei 
Mal glatt erzielten Erfolge, so lange die 
Affection ihren Sitz in den oberen Haut¬ 
schichten hatte und einem Versagen des¬ 
selben, sobald sie an den Haarbälgen ent¬ 
lang bis ins Unterhautzellgewebe vorge¬ 
drungen war, ein Verhalten, das sich voll¬ 
kommen aus den bekannten Eigenschaften 
des Eisenlichtes erklärt. 

Wenn demnach die hier wiedergegebe¬ 
nen Beobachtungen über den Grad und die 


Grenzen der Eisenlichtwirkung deutlich 
darauf hinweisen, dass das Eisenlicht nicht 
ganz die Tiefenwirkung des Finsenlichtes 
und damit nicht ganz dessen therapeutische 
Wirkungen entfaltet, so zeigen sie anderer¬ 
seits doch auch ebenso deutlich, dass das 
Eisenlicht wenigstens einen annähernden 
Ersatz für das Finsenlicht leistet und 
jedenfalls einen wichtigen Fortschritt der 
Lichttherapie und der Therapie überhaupt 
darstellt, der um so höher zu ver¬ 
anschlagen ist, als die Anwendung der 
Lichttherapie bei Hautkrankheiten über¬ 
haupt erst in der Gestalt des Eisenlichtes 
weiteren ärztlichen Kreisen zugänglich ge¬ 
worden ist. 


Zusammenfassende Uebersichten. 

Zur Tuber kulosefrage. 


Zu der durch Koch’s Londoner Vor¬ 
trag (d. Zeitschrift 1901, S. 411) angeregten 
Frage nach den Beziehungen zwischen 
Menschen- und Rindertuberkulose ist in 
der eben erfolgten Veröffentlichung des 
von einer Commission des Reichsge¬ 
sundheitsamts angestellten Versuche ein 
wichtiger Beitrag erschienen, von dem an 
dieser Stelle Notiz genommen werden muss. 

Die grosse Bedeutung der von Prof. 
Kossel mitgetheilten Experimente 1 ) liegt 
in ihrem ausserordentlichen Umfang: Es 
wurden 7 Culturen von Tuberkulose von 
Rindern und Schweinen und nicht weniger 
als 39 verschiedene, frisch aus tuber¬ 
kulösen Erkrankungen beim Men¬ 
schen gezüchtete Tuberkelbacillen¬ 
stämme auf ihre Wirksamkeit beim Rinde 
geprüft. 

Von den 7 Thierstämmen tödteten 2 
die Rinder acut nach 8—9 Wochen; 4 
riefen eine etwas chronischer verlaufende, 
aber ebenfalls allgemeine Tuberkulose 
hervor. Ein Stamm jedoch verursachte 
nur an der Impfstelle ein Infiltrat, in der 
nächstgelegenen Bugdrüse und einer Me- 
diastinaldrüse vereinzelte käsige Herde, 
im Uebrigen aber keine weitere Aus¬ 
breitung der Tuberkulose. 

Von den 39 von Menschen stammenden 
Culturen — und zwar 19 von Erwachsenen, 
16 von Kindern — riefen 19 beim Rinde 
nicht die geringsten Erscheinungen hervor. 
9 Rinder zeigten nach 4 Monaten ganz 
minimale Herde in den Bugdrüsen, die 
zum grossen Theil verkapselt waren und 
keine Neigung zum Fortschreiten erkennen 


*) Berl. klin. Wochenschrift 1903, No. 29. 

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Hessen. Etwas stärkere Bugdrüsenerkran¬ 
kungen waren in 7 der Fälle vorhanden; 
auch hier war es jedoch nicht zu einer 
wesentlichen Ausbreitung des Processes 
über die zunächst gelegenen Drüsen hinaus 
gekommen. 4 Stämme aber — aus zwei 
Fällen von primärer Tuberkulose an den 
Verdauungsorganen und 2 Fällen von Mi¬ 
liartuberkulose bei Kindern — verur¬ 
sachen eine Erkrankung des Rindes 
an allgemeiner Tuberkulose; sie waren 
zwar nicht so virulent, wie die virulente¬ 
sten Culturen aus Thieren, verhielten sich 
jedoch so „wie die schwächeren Rinder¬ 
tuberkulosestämme". 

Aus diesen Versuchen ergiebt sich 
zweierlei mit voller Klarheit: 1) Sowohl 
unter den Tuberkelbacillen des Rin¬ 
des wie denen des Menschen finden 
sich Virulenzunterschiede. Im Allge¬ 
meinen sind die von Rindern stammenden 
Tuberkelbacillen für das Rind ausserordent¬ 
lich pathogen, die von Menschen stammen¬ 
den dagegen gar nicht oder nur wenig. 
Eine sichere Differenzirung der Tu¬ 
berkelstämme durch die Uebertra- 
gung auf das Rind ist jedoch nicht 
möglich, denn immerhin erzeugte 1 von 
7 Rinderculturen (d. i. 14 74%!) beim Rinde 
keine allgemeine Tuberkulose, während an¬ 
dererseits 4 von 39 (d. i. fast 10%) 
Menschentuberkulosebacillenstämmen eine 
solche herbeiführten. — 2) Eine Ueber- 
tragung der Tuberkulose vom Men¬ 
schen auf das Rind ist möglich; sie ist 
in 4 von 39 Fällen geglückt (man kann so¬ 
gar die 7 Fälle noch hinzurechnen, in 
denen sich leichtere tuberkulöse Verände¬ 
rungen einstellten; es wären dann 11 gleich 


Original from 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


über 25%). Diese Fälle lassen zwar den 
Einwand offen, dass es in ihnen bei dem 
Menschen um eine Infection mit Rinder¬ 
tuberkelbacillen sich gehandelt habe. Aber 
diese Deutung berührt den Kern der Frage 
nicht, indem auf alle Fälle — wie Orth 1 ) 
scharf hervorhebt — der Beweis erbracht 
bleibt, dass „Mensch und Rind durch 
denselben Bacillen stamm progressiv 
tuberkulös werden können“. 

Somit sichert das Resultat dieser neuen 
und ausgedehnten Versuche den Stand¬ 
punkt, zu dem bereits die Arbeiten zahl¬ 
reicher anderer Autoren geführt und dem 
wir in unseren früheren Referaten über 
diesen Gegenstand (vergl. 1901 S. 446; 
1902 S. 500 und 1903 S. 170) wiederholt 
Ausdruck gegeben haben; Koch*s Be¬ 
hauptung, die Tuberkulose des Menschen 
könne nicht auf das Vieh übertragen wer¬ 
den, lässt sich in diesem Umfange nicht 
aufrecht erhalten; auch seine Schlussfolge¬ 
rung: der Mensch könne nicht durch Tu¬ 
berkulose des Viehs inficirt werden und 
prophylaktische Maassnahmen nach dieser 


Richtung seien deshalb unnöthig, erfährt 
damit eine Erschütterung. 

Es muss aber betont werden — wie es 
auch von Orth in einer Discussion über 
diesen Gegenstand in der Berl. Med. Ge¬ 
sellschaft (Sitzung vom 1. und 8. Juli d. J.) 
geschah — dass nur die generelle, die 
Unterfrage: Ist die Tuberkulose vom 
Menschen auf das Vieh, vom Vieh auf den 
Menschen übertragbar? erledigt und zwar 
positiv, in bejahendem Sinne erledigt ist; 
die besondere, die praktisch wichtige 
Frage: Wie oft findet eine solche Ueber- 
tragung wirklich statt, spielt dieselbe eine 
Rolle, stellt sie eine Gefahr dar? — ist 
noch nicht entschieden und bedarf weiterer 
Untersuchung. Bisher spricht alles dafür, 
wie wir dies früher schon ausführten 
(d. Band S. 167 u. 170), dass die Ueber- 
tragung der Tuberkulose vom Vieh auf 
den Menschen nur eine seltene, aus¬ 
nahmsweise ist — und darin läge zwar 
eine Einschränkung, aber bis zu einem ge¬ 
wissen Grade doch eine Bestätigung der 
Koch’schen These. F. Klemperer. 


Neuere Arbeiten über die operative Behandlung der Nieren¬ 
krankheiten. 


Ueber die operative Behandlung chroni¬ 
scher Nierenentzündung, welche der ameri¬ 
kanische Gynäkologe Edebohls in etwas 
stürmischer Weise inaugurirt hat (vergl. 
den Bericht S. 170 dieses Jahrgangs), 
liegt uns jetzt eine neuere Arbeit 
Edebohls vor (Renal Decapsulation for 
chronic Bright’s Disease), aus der wir einen 
Einblick über den weiteren Ausbau der 
Methode und deren Resultate gewinnen 
sollen. 

Zu den 18, bis Ende 1901 operirten 
Fällen, sind in einem Jahre — bis Ende 
1902 — 32 fernere gekommen, wo der Ein¬ 
griff der Decapsulation vorgenommen wor¬ 
den ist. Für die Beurtheilung der Erfolge 
der Operation sind von den gesaramten 
51 Fällen allerdings nur 40 zu verwerthen, 
da naturgemäss eine längere Frist nach 
der Operation verstreichen muss, ehe man 
sich über den Zustand der operirten Nieren 
ein einigermassen sicheres Urteil bilden 
kann. Von diesen 40 Patienten starben 
insgesammt 13, von dreien blieb Edebohls 
ohne weitere Nachricht, 2 blieben unge- 
heilt, 12 wurden gebessert und 10 geheilt. 
Edebohls sieht als Heilung die Fälle an, 
wo mindestens sechs Monate lang, bei 

1 ) Berl. klin. Wochenschrift 1903, No. 29, S. 660. 

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gutem Allgemeinbefinden, der Urin in nor¬ 
maler Menge entleert wird und frei von 
pathologischen Bestandteilen bleibt und 
wo jegliche sonstigen Symptome des Morbus 
Brighti fehlen. Die Zeitdauer der erlangten 
Heilung erstreckt sich bei 9 der geheilten 
Fälle über Zeiträume von 1 Jahr 9 Monaten 
bis zu 10 Jahren nach der Operation, 
durchschnittlich über 4 Jahre. Eine Pa¬ 
tientin starb an den Folgen einer Tubar- 
gravidität. 

Ueberblickt man die kleine Tabelle, auf 
der die geheilten Fälle zusammengestellt 
sind — Krankengeschichten fehlen hier 
vollständig, ein Mangel, der unser Urtheil 
über die angebliche Heilung entschieden 
trüben muss — so finden wir unter den 
gesammten 10 Fällen 9 Mal chronische 
interstitielle Nephritis und einmal chronische 
diffuse Nephritis. Bei den neun chronisch 
interstitiellen Nephritiden war in sieben 
Fällen nur eine Niere erkrankt. Das Vor¬ 
kommen einseitiger Nephritis, das nach 
Edebohls bei den Nieren-Chirurgen eine 
längst bekannte Thatsache ist, erregt bei 
den Internisten Erstaunen; weniger kann 
uns aber in Verwunderung setzen, dass 
gerade hier bei der Einseitigkeit des Pro- 
cesses der Operationserfolg ein so gün- 
j stiger ist, denn mag man der Ansicht 

Original from 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


369 


Edebohls sein, der da meint, es seien dies 
Anfangsstadien der chronischen Nephritis, 
oder nicht, anzunehmen ist jedenfalls, dass 
ein Heilerfolg unter Umständen auch erzielt 
worden wäre, wenn man in diesen Fallen 
die kranke Niere exstirpirt hätte. 

Die bis jetzt notirten Heilungen, die 
alle aus froheren Jahren bis 1901 stammen, 
sieht Edebohls als leichtere Fälle an; da¬ 
gegen stellen die im Jahre 1902 operirten 
32 Fälle sämmtlich schwere Nierenaffec- 
tionen dar. Die Heilung eines solchen 
schweren Casus bleibt also noch abzu¬ 
warten! Die Schwere dieser Nierenerkran¬ 
kungen erhellt auch aus der Operations¬ 
mortalität. Es starben 7 Patienten inner¬ 
halb 17 Tagen post operationem; als Ge- 
sammtmortalität berechnet 13 2 /s °/ 0 . Wir 
können demnach den Eingriff durchaus 
nicht mehr als ungefährlichen bezeichnen. 
Edebohls sucht zwar diese hohe Morta¬ 
lität damit zu entschuldigen, dass z. Th. 
ganz aussichtslose Fälle auf den Operations¬ 
tisch gebracht wurden, wie sich auch aus 
den hier in grosser Breite ausgefQhrteo 
Krankengeschichten ersehen lässt, aber wir 
können darin keine Entschuldigung finden, 
da man das Princip der Humanität nicht 
als lndicadon für chirurgische Operationen 
gelten lassen soll; Oberhaupt vermissen wir 
eine strickte Indicationsstellung für die Ope¬ 
ration: Angaben wie, dass das Allgemein¬ 
befinden nicht zu schlecht, dass die Ver¬ 
änderungen des Gefässsystems und die 
Herzhypertrophie nicht zu weit vorge¬ 
schritten sein dOrfen, sind zu allgemein 
gehalten um sich fOr eine präcise Indi¬ 
cationsstellung im Einzelfalle verwerthen zu 
lassen. 

Was die specielle Diagnose der Ne¬ 
phritiden betrifft, so klassificirt Edebohls 
nach den zur Zeit der Operation an den 
Nieren Vorgefundenen Veränderungen die 
Fälle in chronisch parenchymatöse, chronisch 
diffuse und chronisch interstitielle Nephri¬ 
tiden. Mag Edebohls auch diese Ein¬ 
teilung als sehr zweckmässig fOr den heu¬ 
tigen Stand unserer Kenntnisse ansehen, 
so tritt für uns das Fehlen jeder klinischen 
Diagnose empfindlich hervor. Wenn Ede¬ 
bohls chronisch interstitielle Nephritis ats 
anatomische Diagnose angiebt, so kann 
klinisch der Fall als eine Schrumpfniere 
verlaufen sein, oder der Ausgang einer 
chronisch diffusen Nephritis gewesen sein. 
Die Unsicherheit in der Beurtheilung wird 
noch dadurch vermehrt, dass wir keine 
Daten Ober Menge des Urins und Ober die 
Menge und Art seiner pathologischen Be¬ 
standteile erfahren, dass wir ferner nichts 

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von functioneller Nierendiagnostik und 
nichts von Ureterenkatheterismus lesen, der 
bei einseitigen Nierenerkrankungen zum 
mindesten doch berechtigt ist. Wir können 
daher in der Bewertung der Heilungen, die 
Edebohls durch die Operation erzielt 
haben will, nicht vorsichtig genug sein. 

Was die Fälle anbetrifft, in denen Ede¬ 
bohls nur Besserung erreicht haben will, 
so ist es schwer, hier ein bestimmtes Ur¬ 
teil sich zu bilden; die chronischen Nephri¬ 
tiden bieten Zeiten der Verschlimmerung 
und der Besserung oft in solchem Wechsel 
dar, dass eine Besserung nicht stets als 
Folge der Operation aufgefasst zu werden 
braucht. 

Interessant sind die Beobachtungen, die 
Edebohls bei seinen geheilten resp. ge¬ 
besserten Fällen in Bezug auf die Nieren¬ 
funktionen nach der Operation gemacht 
haben will. Zuerst steigt die tägliche Harn¬ 
menge an, am ausgiebigsten im 2. und 3. Mo¬ 
nat, und geht dann allmählich zur Norm Ober. 

Dann verschwinden aus dem Harn Fett-, 

Wachs- und Epitheleylinder, sodass nur 
noch hyaline und granulirte Cylinder übrig 
bleiben. Das Eiweiss — das auch allmäh¬ 
lich abnimmt — überdauert auch noch die 
hyalinen und granulirten Cylinder, um dann 
anch gänzlich zu verschwinden. 

Nicht unerwähnt mag bleiben, dass bis 
zu dieser Publikation im ganzen 9 Fälle 
von anderen Chirurgen nach der Methode 
von Edebohls operirt und auch publizirt 
worden sind. Dass die Methode, die selbst 
von Edebohls als eine sehr schwierige und 
grosse Erfahrung erheischende dargestellt 
wird, den Ungeübten nicht zu empfehlen 
ist, beweist ein Fall, den Edebohls selbst 
erzählt, wo ein Chirurg 4 Patienten durch 
Decapsulation operirt hat, aber alle 4prompt 
nach der Operation verlor. 

Es ist nun von grossem Interesse, den 
Resultaten der amerikanischen Chirurgen 
einige Erfahrungen deutscher Operateure 
gegenüber zu stellen, die bisher nur ver¬ 
einzelt bekannt gegeben sind. Unter den 
chirurgischen Erfahrungen über 
Nierenkrankheiten bei Anwendung 
der neueren Untersuchungsme¬ 
thoden, wie sieKümmell und Rumpel 
in den letzten Jahren gemacht haben, be¬ 
finden sich auch einige über die Edebohls- 
sche Operation bei Nephritis. Es sind im 
ganzen drei Fälle, von denen der eine ein 
weit vorgeschrittener Fall von Nephritis 
parenchymatosa ehronica war. Vor der 
Operation war der Albumengehalt des 
Urins 10 0 /oo. Nach der Operation der 
linken Niere, die in Spaltung der Kapsel 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


bestand, nimmt der Albumengehalt ständig 
zu, bis nach 6 Monaten der Exitus letalis 
unter uraemischen Erscheinungen erfolgt. 
Bei einem zweiten Fall chronischer Ne¬ 
phritis wurde die Decapsulation beider 
Nieren vorgenommen. Der Albumengehalt 
des Urins, der vor der Operation 7—8%o 
betrug, sinkt 4 Monate nach der Operation 
auf ^2— 2°/oo. Auch eine Besserung des 
Allgemeinbefindens ist zu verzeichnen. Der 
letzte Fall betrifh eine acute Scharlach- 
Nephritis mit häufigen uraemischen Anfällen 
vor der Operation. Nach derselben (De¬ 
capsulation beider Nieren) bleiben zwar die 
Anfälle aus, doch zeigt sich der Eiweiss¬ 
gehalt (etwa 5°/oo) unverändert. Der erste 
wurde also nicht durch die Operation be¬ 
einflusst; ob wir die Aufbesserung des 
Allgemeinbefindens und die Abnahme des 
Eiweissgehaltes im zweiten Falle auf Rech¬ 
nung der Operation zu setzen haben, ist 
sehr fraglich, da Schwankungen der Ei¬ 
weissausscheidung wie des Allgemeinbe¬ 
findens bei chronischer Nephritis etwas 
gewöhnliches sind. Im dritten Falle — hier 
ist die Beobachtungszeit vielleicht nicht 
gross genug — finden wir keine Beein¬ 
flussung der Nephritis durch die Operation. 
Im Grossen und Ganzen können diese Be¬ 
funde nicht der Edebohls*schen Operation 
eine Stütze sein, doch muss man hier ohne 
weiteres zugestehen, dass weitere Erfah¬ 


rungen nothwendig sind, ehe man endgültig 
aburtheilt. Hervorgehoben soll noch werden, 
dass Kümmell und Rumpel den Hei¬ 
lungen Edebohls sehr kritisch gegenüber¬ 
stehen und zwar hauptsächlich wegen der 
so oft diagnosticirten einseitigen chro¬ 
nischen Nephritis, die Beide ganz und gar 
in Abrede stellen. Wir müssen auch 
Kümmell und Rumpel zugestehen, dass 
ihren Erfahrungen über diesen Punkt weit 
mehr Gewicht beifeulegen ist, als denen 
Edebohls. Während sich dieser nur auf 
die Urinuntersuchung und die Autopsie 
während der Operation, die zu grossen 
Täuschungen Veranlassung geben kann, 
bei der Diagnosenstellung stützt, stellen 
jene ihre Diagnosen auf Grund von Er¬ 
fahrungen, die sie mittels der Kryoskopie» 
dem Ureterenkatheterismus und der Au¬ 
topsie intra vitam und post mortem ge¬ 
wonnen haben. Gegen Edebohls spricht 
daher sehr die Erfahrungsthatsache von 
Kümmell und Rumpel, dass eine ein¬ 
seitige Nierenerkrankung, wie sie sich durch 
Blut, Eiweiss, Cylinder im Urin u. a. zu 
erkennen giebt, differential - diagnostisch 
gerade nicht als Nephritis, dagegen als 
eine andere Erkrankung wie Stein, Tumor, 
Pyelonephritis u. a. anzusehen ist. 

Th. B rüg sch (Berlin). 

(Medical Record, 28. März 1903. Bruns Beiträge 
zur Chirurgie Bd. 37, S. 975 fl). 


Therapeutisches aus den Pariser medicinischen Gesellschaften. 


G. Bardet berichtete in der Sitzung 
vom 24. Juni der Soci£t6 de thdrapeutique 
über günstige Resultate, die er bei Gichti¬ 
schen überhaupt, besonders aber bei jenen, 
welche gleichzeitig an Entzündungszustän¬ 
den der Harnwege (in Folge von Nieren¬ 
steinen) leiden, durch innerliche Darreichung 
des Chinoformins, einer Combination 
der Chinasäure mit Urotropin, erlangte. 
Dies neue Präparat, das dem Sidonal (china¬ 
saures Piperazin) analog ist, kann, da es 
keine toxischen Eigenschaften besitzt, in 
sehr grossen Dosen (bis zu 12,0—15,0 pro 
die) gegeben werden, jedoch genügen schon 
Dosen von 2,0—4,0 pro die, um den ge¬ 
wünschten therapeutischen Effect zu er¬ 
halten. Das Chiniformin wird in Oblaten 
oder in Lösung (es löst sich leicht in 
Wasser) verschrieben, (ln Deutschland hat 
die Chinasäure mit ihren Verbindungen wie 
Urosin und Sidonal ihre Rolle als Gicht¬ 
mittel wohl endgiltig ausgespielt. Red) 

In derselben Sitzung berichtete Lau- 
monier über vier Fälle tuberkulöser Misch- 
infection der Lungen, welche er mit Erfolg 

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durch die innerliche Anwendung des Phos- 
p hot als (Phosphorcreosot, Phosphite de 
cr£osote) bekämpfen konnte. Im Gegensatz 
zu den reinen Formen der Lungentuber¬ 
kulose, bei denen man nur oder vorwiegend 
Tuberkelbacillen auffindet und auf welche 
das Creosot oft günstig wirkt, widerstehen, 
angeblich tuberkulöse Mischinfectionen 
der Lunge (bei denen sich pyogene Mikro¬ 
organismen mit Tuberkelbacillen associiren) 
den üblichen Creosotpräparaten. Nun scheint 
es anders zu sein mit dem Phosphotal, das 
gleichzeitig durch Creosot und den Phosphor 
auf die pyogenen Mikroorganismen einen 
vernichtenden Einfluss auszuüben imStande 
wäre. Bei den vier Kranken, die Vor¬ 
tragender mit Phosphotal in der Dosis von 
1,0—2,0 pro die (das Mittel wurde in Kapseln 
per os oder in Form einer Emulsion per 
rectum gegeben) behandelte, nahm die Zahl 
der begleitenden Mikroben im Sputum rasch 
ab, das Fieber schwand in zwei Wochen 
und nach vier bis fünf Monaten wurden 
die Kranken dauernd gebessert und hatten 
an Körpergewicht bedeutend zugenommen. 

Original frorn 

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August 


371 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Natürlicher Weise kamen die Lungen läsionen 
nicht zur Abheilung, aber die Krankheit 
hatte eine entschieden mildere Form und 
einen langsameren Verlauf angenommen. 

Huchard hielt in der Sitzung vom 
30. Juni der Acad£mie de medecine einen 
grossen Vortrag Ober dieBehandlung der so¬ 
genannten Praesklerose (Stadium dauern¬ 
der Blutdruckerhöhung, welches den arterio¬ 
sklerotischen Läsionen vorhergeht) und der 
in Folge arterieller Läsionen sich entwickeln¬ 
der Herzerkrankungen — Cardiopathies ar¬ 
terielles. Die zur Bekämpfung solcher Zu¬ 
stände sich eignenden Mittel sind solche, 
welche auf den Blutdruck erniedrigend, 
hypotensiv wirken. Hierher gehören, wie 
Huchard als sicher annimmt, die lacto- 
vegetabilische Kost, die Massage, gewisse 
diuretische Mineralwässer, verschiedene Ni¬ 
triten (Nitroglycerin, Amylnitrit, Sodium- 
nitrit, Erythroltetranitrit etc.) und auch 
manche organotherapeutische Präparate, 
wieThyroidextract und Jodothyrin, Thymus- 
extract (von welchem Vortragender beson¬ 
ders gute Resultate erhalten hat und dessen 
Gebrauch, im Gegensatz zumThyroidextract, 
ungefährlich ist) und das Extractum ovarii 
(bei Frauen im Klimacterium). 

Zu betonen ist in Huchard's Mitthei¬ 
lung der Punkt, dass Vortragender vor An¬ 
wendung kohlensäurehaltiger Bäder bei ar¬ 
teriellen Cardiopathien auf s Strengste warnt. 
Diese Bäder sind sehr nützlich bei Herz¬ 
klappenfehlern, wo sie den abgeschwächten 
Blutdruck erhöhen, aber bei arterieller Car- 
diopathie steigern sie die schon vorhandene 
vasculäre Hypertension und können sogar 
einen Exitus letalis bedingen. Huchard 
hat Patienten gesehen, welche bald nach 
einer Cur in Nauheim an Folgen der ar¬ 
teriellen Vasoconstriction und Hypertension 
oder an acutem Lungenödem gestorben 
sind. (So wenig wir im Einzelnen H u c h a r d's 
Behandlungsweise beipflichten, so möchten 
wir doch seiner Warnung vor CO^-Bädern 
bei Arteriosklerose zustimmen. Red.) 

In der Sitzung vom 1. Juli der Soci£t6 
Medicale des Höpitaux lieferte Achard 


einen interessanten Beitrag zur Oedem er¬ 
zeugenden Wirkung des Chlornatriums. Er 
hat erstens einen Fall von Pneumonie beob¬ 
achtet, in welchem eine subcutane Ein¬ 
spritzung von 1 1 physiologischer Kochsalz¬ 
lösung (also Einführung von etwa 7,0 Chlor¬ 
natrium) — während einer Periode vermin¬ 
derter Elimination von Chlorverbindungen 
durch die Nieren — das Erscheinen eines 
pseudo - meningitischen Symptomencom- 
plexes bewirkte. Patient gerieth in Er¬ 
regung, delirirte, hatte Genickstarre und 
bot auch das Kernig’sche Zeichen in ex¬ 
quisiter Weise dar. Bei derLumbalpunction 
entleerte sich in starkem Strahl 20 cbcm 
einer klaren CerebrospinalflQssigkeit. Sie 
enthielt weder corpusculäre Elemente noch 
Bacterien; die mit ihr angestellten Cultur- 
und Thierversuche fielen negativ aus. Bald 
nach der Lumbalpunction milderten sich 
die pseudo-meningitischen Erscheinungen, 
um gegen Abend desselben Tages gänzlich 
zu schwinden. 

Zwei andere Beobachtungen Achard's 
beziehen sich auf schwächliche, unter¬ 
ernährte (athreptische) Säuglinge, welche 
mit subcutanen Einspritzungen physiolo¬ 
gischer Kochsalzlösung behandelt wurden. 
Diese Einspritzungen verursachten regel¬ 
mässig mehr oder weniger verbreitete Haut¬ 
ödeme, die bei einem der Kinder auch in 
entfernten Hautregionen entstanden und 
welche nach Sistirung der in Rede stehen¬ 
den Behandlung sogleich vollkommen und 
definitiv schwanden. 

Die so eminent nützlichen subcutanen 
Einspritzungen physiologischer Kochsalz¬ 
lösung können somit unter Umständen, 
nämlich dann, wenn eine Retention von 
Chlorverbindungen im Organismus besteht, 
auch in Abwesenheit von Nephritis oder 
Herzkrankheit (vergl. „Therapie der Gegen¬ 
wart“, Juli 1903, S. 324) ödemerzeugend 
wirken und sogar Hirnerscheinungen in 
Folge eines sub-arachnoidalen Oedems her- 
vorrufen, wie es in der ersten Beobachtung 
Achard's wahrscheinlich der Fall war. 

W. v. Holstein (Paris). 


Referate. 


Unter dem Zeichen der aseptischen 
Wundbehandlung und unserer fortge¬ 
schrittenen Operationstechnik ist für die 
meisten Chirurgen z. Zt. auch die Blasen- 
steinzertrümmerung mit nachfolgen¬ 
der Aspiration in den Hintergrund ge¬ 
treten. Für sie eine Lanze zu brechen, 
unternimmt an der Hand von 103 eigenen 
Litholapaxieen Krüger, einer der Aerzte 

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von Bad Wildungen, der Hochburg der 
Lithotripsie, welche nach ungefährer 
Schätzung Krüger’s dort in der „Saison“ 
durchnittlich etwa 150 Mal ausgeübt wird. 
Krüger meint, dass der Arzt sich getrost 
an die Operation heranmachen könne, der 
sie öfters hat ausführen sehen, mit Metall¬ 
katheter und Sonde umzugehen weiss und 
ein für den Fall geeignetes Instrumentarium 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


besitze. Geringfügigkeit des Eingriffs und 
der Nachbehandlung sind die Hauptvorzüge. 

Der Sectio alta überweisen will Krüger 
Divertikelsteine, Concremente im Kindes¬ 
alter oder mit Neoplasmen combinirte, 
grössere Oxalate, excessiv grosse Steine 
überhaupt Auch räth er ab bei Ent¬ 
artungsprocessen der Blasenwand bei 
schlaffen, functionsunfähigen Blasen der Pro¬ 
statiker: er hat 1 Todesfall mit gesehen 
durch Ruptur einer solchen Blase infolge 
der Aspiration. Entzündliche Processe um 
die Blase können ebenfalls den Schnitt 
wünschenswert machen. Die Hindernisse 
für das Einführen des Instruments bei 
Strictur hat er 4 Mal mit Glück durch 
Urethrotomia interna beseitigt, der sofort 
die Lithotripsie folgte. 

Weiter bespricht Krüger das Zurück¬ 
bleiben grösserer Steinreste, das nament¬ 
lich bei starken Balkenblasen und bei 
starker Krampfblase zumal bei weichen 
(Phosphat-) Steinen passiren kann. Tiefe 
Narkose hebt den Krampf auf, bestimmte 
Art der Lagerung lässt weiterhin dies 
Missgeschick vermeiden. Nachdem die an¬ 
fängliche leichte Reaction der Blase (3 bis 
4 Tage) vorüber ist, hat aber eine sorg¬ 
fältige Untersuchung auf etwa zurück¬ 
gebliebene Reste stattzufinden mit dem 
Cystoskop sowohl wie mit dem Mikroskop 
(auf rothe Blutkörperchen). Um einen 
Catarrh zu vermeiden, wird am Ende der 
Lithotripsie 1 o/oo Höllensteinlösung in die 
Blase gespritzt, Camphersäure, vorher und 
nachher gegeben, verhindert Schüttelfröste. 
Nach 3 Tagen kann der Lithotripsirte auf¬ 
stehen. 

Krüger hat von 105 Blasensteinkranken 
103 lithotripsirt, einem die Sectio alta ge¬ 
macht; einer hat sich auswärts später diesem 
Eingriff unterzogen. Nur ein 78jähriger 
Herr ist gestorben, der nach dem Eingriff 
liegen musste und hypostatische Pneumonie 
bekam. 61 mal wurde Chloroform, 6 mal 
Aether angewandt, 22 mal mit localer und 
14 mal ohne jede Anästhesie operirt. 
83 Steinkranke wurden in dieser Sitzujig 
von ihren Concrementen befreit; 16 in zwei, 
einer in 3 Sitzungen. 

Fritz König (Altona). 

(Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 68, Heft 3 und 4, 
S. 291). 

Velten macht in einem Vortrag „die 
klimatischen Kurorte“ eindringlich auf¬ 
merksam auf eine Reihe von werthvollen 
CuFOPten des Auslands, die relativ leicht 
und bequem erreichbar sind, gute Aerzte 
am Orte haben und nicht allzu theuer sind. 
Verfasser spricht aus eigener reicher Er- 

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fahrung heraus. In Betracht kommen die 
peruanische und bolivianische Hochebene 
(Jauja und Huancayo, in Peru Arequopa, 
2100 m hoch mit ewigem Frühling, Puno 
am Titicacasee, 3400 m hoch). Ferner wer¬ 
den Jamaica und die mexicanische Hoch¬ 
ebene warm gerühmt. Hier giebt es Ge¬ 
genden, in denen die Tuberkulose ganz 
unbekannt ist (z. B. die Gegend der Silber¬ 
stadt Zacatecas, 2500 m hoch). Die wärmste 
Empfehlung verdient auch die Stadt Algier 
als Winterstation für Lungenkranke, Scro- 
phulöse, Bleichsüchtige, Bronchitiker und 
Neurastheniker. Algier ist relativ leicht zu 
erreichen (Schnellzug ohne Wagen Wechsel 
über Basel, Genf, Lyon nach Marseille; 
von dort fährt fünf Mal in der Woche ein 
grosser Passagierdampfer in 26 Stunden 
nach Algier). Das Leben in Algier ist 
äusserst billig (in erstklassigen meist von 
Deutschen geleiteten Hötels 10—12 Frcs. 
pro Tag, alles einbegriffen). Als die Perle 
aller hier in Betracht kommenden Cur- 
plätze bezeichnet Verf. die südliche Mittel¬ 
meerküste von Spanien (Almeria, Murcia, 
Alicante, Valencia und vor allem Malaga). 

Lüthje (Tübingen). 

(Zeitschr. f. phys. u. diät. Therapie Bd. VII.) 

In Anbetracht der grossen Gefahren, 
welche die Complication mit Diabetes 
mellitus wie bei anderen so auch 
bei Gynäkologischen Operationen 
birgt, macht Fueth aus der Leipziger 
Klinik, die 3 Kranke nach Carcinom- 
Operationen an Coma verlor, folgende 
Vorschläge: In schweren Fällen soll mit 
Ausnahme vitaler Indicationen (Gangrän 
etc.) jede Operation unterbleiben. Mittel¬ 
schwere und leichte Fälle gestatten einen 
Eingriff, wenn maligne Tumoren, Ovarial¬ 
kystome etc. vorliegen. Bei leicht Kranken 
sind auch die Operationen von Er¬ 
krankungen wie grosse Hernien, Pro¬ 
lapse, die das Allgemeinbefinden ernst¬ 
lich stören, statthaft. Es ist notwendig 
die Kranken vorher zuckerfrei zu machen. 

Die antidiabetische Behandlung hat mög¬ 
lichst in der Klinik stattzufinden, schon 
damit die Kranke sich an die Umgebung 
gewöhnt und dadurch die nervöse Erregung 
vor der Operation verringert wird. Frei¬ 
lich kann die lange Zeit, die schwere Fälle 
zur Entzuckerung erfordern, bei maligner 
Erkrankung des Uterus auch wieder ver¬ 
hängnisvoll sein. Nach dem Vorgänge 
von Rumpf wird bei strenger Diät zur 
Vermeidung des Coma die Eingabe von 
Natrium citricum 10—30 g empfohlen. Erst 
wenn eine reichliche Ernährung gesichert 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


373 


ist, darf operirt werden. Hungern und 
starkes Abführen vor der Operation darf 
nicht als Vorbereitung gemacht werden. 
Man begnüge sich mit Clystiren und Wis- 
muthgaben. Die allgemeine Narkose ist zu 
vermeiden und durch Spinalanästhesie zu 
ersetzen (obschon auch Coma ohne Nar¬ 
kose nach Operationen vorkommt!). — Bald 
nach der Operation muss Flüssigkeit und 
Nahrung per clysma gegeben werden, und 
sowie das Erbrechen vorüber ist, mit ent¬ 
sprechender Nahrung begonnen werden. 
Auch ist, vorausgesetzt, dassComplicationen 
fehlen, durch Massage der Extremitäten und 
des Thorax die active Muskelbewegung zu 
ersetzen. P. Strassmann (Berlin). 

(Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 3—4.) 

Ueber die Diagnose und Behand¬ 
lung der Genitaltuberkulose beim Weibe 

berichtet Sellheim nach den Erfahrungen 
der Freiburger Frauenklinik. Bei 58 inner¬ 
halb 8 Jahren klinisch aufgenommenen 
Frauen wurde die Diagnose gestellt. 31 
wurden palliativ in der üblichen Weise, wie 
bei entzündlicher Adnexerkrankung be¬ 
handelt, Rückfälle und Verschlimmerungen 
kamen natürlich vor. 

Operirt wurde in 27 Fällen, wenn die 
palliative Behandlung versagte, der Process 
mit Fieber, starken Allgemeinstörungen etc. 
einherging und Darmperforation drohte. 
Für contraindicirt wurde die Operation er¬ 
achtet, wenn die Tuberkulose anderer Or¬ 
gane den Genitalbefund als nebensächlichen 
erscheinen liess, bei zu schweren Verän¬ 
derungen des localen oder allgemeinen Be¬ 
findens. 3 starben in den ersten Tagen 
nach der Operation. Von 15 seit über 
einem Jahr operirten Patientinnen, die 
nachcontrollirt werden konnten, haben 7 
volle Arbeitsfähigkeit erlangt und sind ge¬ 
heilt von allen Beschwerden. 8 können 
leichtere Arbeit verrichten, auch von diesen 
sind 3 ganz beschwerdefrei. Operirt wur¬ 
den 7 mit abdominaler, 1 mit vaginaler 
Radicaloperation. 2 wurden die Adnexe 
abdominal, 1 mal vaginal allein exstirpirt. 
3 mal wurde nur laparotomirt, 1 mal nur 
vaginal ein Abscess eröffnet. Am besten 
waren die radical Operirten dran, die local 
sämmtlich geheilt waren und von denen 
nur eine durch spätere Lungen-» und Darm 
tuberculose sich verschlimmert hatte. Diese 
Operation wird daher empfohlen und zwar 
auf abdominalem Wege. In allen zweifel¬ 
haften Fällen ist der Uterus mitzunehmen 
und nach unten zu drainiren. Dies schützt 
am besten vor Rediviren. Harte Tuben¬ 
knoten deuten auf Stillstand des Processes. 

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Muss wegen unerträglicher Beschwerden 
operirt werden, so kann hier auch bei Rück¬ 
lassen des Uterus das Resultat gut sein. 

P. Strassmann. 

(Hegar's Beiträge Bd. VI, Heft 3.) 

Impens hat Versuche über die Wir¬ 
kung eines neuen Harndesinficiens, des 
Helmitol, angestellt. Es handelt sich 
hier um eine Verbindung der Anhydro- 
methylencitronensäure mit dem Hexame¬ 
thylentetramin. Es zeigte sich, dass das 
Mittel etwas kräftiger wirkt als Urotropin. 

Nach Verabreichung von 2 g Helmitol 
zeigt der Harn, welcher in den folgenden 
6 Stunden secernirt wird, gährungswidrige 
Eigenschaften. Die analoge Urotropindosis 
schützt nur in der ersten Stunde. Aus 
diesem Grunde kommt man mit ent¬ 
sprechenden geringeren Mengen Helmitol 
für die Harndesinfection aus. Das ist des¬ 
wegen nicht gleichgiltig, weil bei zu hohen 
Dosen Urotropin Irritationsphänomene be¬ 
sonders auch in der Blase eintreten können. 

Buschke (Berlin). 

(Monatsschr. für Urologie. Bd. 8, Heft 5.) 

Den 39 bisher bekannt gegebenen Fällen 
von Herzn&ht wegen Herz Verletzung, 1 ) 
fügt Wolff drei von Barth (Danzig) ope- 
rirte hinzu. Der erste hatte einen Stich 
in die Magengrube von rechts her erhalten, 
ausser der rechten Pleura war der rechte 
Ventrikel verlezt. Es wurde nach Extrac¬ 
tion mächtiger Coagula aus dem Herz¬ 
beutel die Herznaht, die Naht der Pleura 
gemacht; das Pericard wurde zum Theil 
offen gelassen für einen in den Herzbeutel 
eingeführten Tampon. Es kam zur Re¬ 
tention hinter dem Tampon; Patient starb 
am vierten Tage. Neben Pleuritis fand 
sich der Herzbeutel mit fibrinösem Exsudat 
erfüllt. Die beiden anderen Stichverletzun¬ 
gen kamen zur Heilung, die eine betraf 
den linken, die andere den rechten Ven¬ 
trikel, beide wurden genäht, beide Mal der 
Herzbeutel vernäht. Die verletzte Pleura 
wurde beide Mal genäht. 

Aus der Litteratur berechnet Wolff 
40,4% Heilungen durch die Operation; am 
häufigsten war die Naht der Ventrikel, die 
Verletzungen der schlaffen Vorhöfe und 
Herzohr verbluten sich in der Regel als¬ 
bald. Einmal war die Coronaria verletzt. 

Die Pleura war in den 42 Fällen 40 mal 
mit verletzt, darunter 3 mal die rechte. 

Der Tod ereignete sich 9 mal an Anämie, 

1 mal Verblutung aus der Coronararterie, 

*) Vergl. den Bericht Ober den Chirurgencongress 
im Juliheft S. 313.) 

Original fro-m 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


6 mal an eitriger Pleuritis, 3 mal eitriger | 
Pericarditis, 3 mal combinirt, 1 mal Pleu¬ 
ropneumonie. Die Schussverletzungen sind 
ungünstig für die Operation, können übrigens 
ohne solche heilen. Glücklich operirt wurde 
auch eine stumpfe Contusion des Herzens 
von Mansell-Moullin. 

Nach Wolff besteht bei starker primärer 
Blutung und bei „Herztamponade“ durch 
die Coagula absolute Indication zum Ein¬ 
griff; da aber auch bei scheinbarer Heilung 
die Gefahr secundärer Blutungen durch 
Platzen der jungen Narbe etc. sehr gross 
ist, so will Wolff operiren, sobald der 
Verdacht vorhanden ist, dass der Stich das 
Herz getroffen haben kann, um so mehr als 
eine Schädigung durch die Operation bis¬ 
her nicht verzeichnet wurde. 

Von den Verfahren empfiehlt Wolff 
am meisten das von Giordano: schicht¬ 
weises Vorgehen im Wundkanal, Resection 
von Knochen und Knorpel, soweit der Fall 
es nothwendig macht. Das complete Fehlen 
der knöchernen Bedeckung des Herzens 
hat in einem geheilten Fall Barth’s nichts 
geschadet. 

Mit Knopfnaht soll Epi- und Myocard 
gefasst werden. Auch den Herzbeutel will 
Wolff primär vernähen. Von 7 Fällen, 
bei denen letzterer tamponirt oder drai- 
nirt war, starben 5, alle hatten eitrige oder 
fibrinöse Pericarditis; in 9 Fällen war das 
Pericard primär genäht, es starben 2, 
wurden 7 geheilt. Keiner von allen hatte 
Pericarditis. Deshalb und zur Vermeidung 
der Synechien verwirft Wolff das Offen¬ 
halten des Herzbeutels. 

Fritz König (Altona). 

(Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 69, Heft 1, S. 67). 

Zur symptomatischen Behandlung einer 
Reihe von Erkrankungen der Respirations¬ 
organe, wenn es sich darum handelt die Ex- 
pectoration durch Verflüssigung der Secrete 
zu fördern und zugleich den Hustenreiz 
zu mildern, empfehlen Labadie-Lagrave 
und M. Rolin den Gebrauch des Jod- 
kodelns (Codeinum bijodatum s. Codeinum 
jodhydricum acidum). Man erhält diese 
Verbindung durch Erwärmen von zwei 
Aequivalenten Acidi jodhydrici mit einem 
Aequivalent Codeini puri, wobei sich nadel- 
förmige, gelbliche, in Wasser leicht lösliche 
Krystalle von Jodkodein ausscheiden. Man 
verwendet diese Substanz in Form eines 
Syrups oder in Pillen, auch zur subcutanen 
Injection. Innerlich giebt man 0,02—0,04 
pro dosi und bis 0,10—0,15 pro die. Für 
die subcutane Einspritzung verwendet man 
0,01—0,03. 

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Die besten Resultate hat Jodkodein 
beim Lungenemphysem ergeben, wo es 
expectorirend wirkt, die Dyspnoe, den 
Husten mildert und Schlaf erzeugt. Man 
giebt hier das Mittel am Abend in mehreren 
auf einander folgenden Dosen bis im Ganzen 
davon 0,08—0,15 genommen werden. Auch 
bei Asthma, Tracheo-bronchitis, Bronchitis 
acuta, im Anfangsstadium des Keuch¬ 
hustens und bei Bronchitis chronica simplex 
oder infolge einer Heraffection hat sich 
Jodkodein bewährt. Endlich wäre dies 
Mittel ein guter Ersatz für das nicht ge¬ 
fahrlose Morphium bei der urämischen 
Dyspnoe und bei der secundären Bronchitis 
der Brightiker. Hier ist Jodkodein sub- 
cutan anzuwenden. Auch wurde Jodkodein 
zur Beseitigung von Schmerzen bei sub- 
cutaner Application von Jodkalium (deren 
Labadie-Lagrave bei der Behandlung 
syphilitischer Gummata sich bedient) mit 
Erfolg angewandt: wenn man zur 8%igen 
Jodkaliumlösung, die eingespritzt wird, 0,03 
Jodkodein hinzufügt, so empfindet Patient 
keine Schmerzen. W. v. H o 1 s t e i n (Paris). 

(Bulletin M6dical 1903, No. 41). 

Ueber die Behandlung einiger Infec- 
tionskrankheiten mittels KochS&lz- 
Infustonen 1 ) berichtet P. W. Ljubomu- 
droff. Verf. wandte eine Kochsalzlösung 
von 0,75°/o bis O,9o/ 0 , die entweder sub- 
cutan oder per Klysma eingeführt wurde. 
Anfangs wurden stets recht grosse Mengen 
einverleibt, von x /2 bis zu 1 L. Später 
aber überzeugte er sich, dass kleinere 
Quantitäten (etwa 100—200 ccm), in kür¬ 
zeren Zwischenräumen eingeführt, bessere 
Erfolge geben, als grössere und seltenere 
Infusionen, und dem Kranken keine 
Schmerzen verursachen, was bei Kindern 
und empfindlichen Patienten, sowie im Be¬ 
ginn der Krankheit besonders in Betracht 
kommt. Oft wurde auch die Kochsalz¬ 
lösung per rectum eingeführt. Die Wirkung 
dieser Klysmen steht der der subcutanen 
Infusionen in Bezug auf Beeinflussung der 
Herzthätigkeit, des Pulses etc. nur wenig 
nach, doch haben sie den Uebelstand, dass 
sie mitunter, besonders von soporösen Pa¬ 
tienten nur kurze Zeit zurückgehalten 
werden. — Ausserdem wurde noch eine 
1%ige Lösung von Sal physiol. Poehl zu 
Klysmen benutzt. Diese Lösung bleibt 
länger im Darm zurück und wird rascher 
resorbirt. Die günstige Wirkung der In¬ 
fusionen äussert sich zunächst in der Besse¬ 
rung des Allgemeinbefindens: der Kranke 

l )Vergl. besonders Erkelentz, diese Zeitschr. 1903, 
S. 5. 

Original fro-m 

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August 


375 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


wird munterer, die Somnolenz verschwindet; 
der Puls wird voller und kräftiger, die 
Urinsecretion nimmt erheblich zu, mitunter 
tritt geradezu Polyurie (3—4 L. pro die) 
ein. Die günstige Wirkung hält aber nur 
kurze Zeit an und die Infusionen müssen 
daher oft wiederholt werden. — Ausser den 
Fällen von Typhus abdominalis (mehr als 
50 Fälle), wurden die Kochsalzinfusionen 
noch bei Erysipel, Scarlatina, Variola vera, 
Typhus exanthematicus und Diphtherie 
ebenfalls mit recht gutem Erfolg angewandt, 
sodass Verf. schliesslich die Ansicht vertritt, 
die Kochsalzinfusionen müssen als ultimum 
refugium bei jedem schwer Kranken ange¬ 
wandt werden. Besser jedoch ist es, mit 
denselben rechtzeitig zu beginnen, dann 
ist auch der Erfolg bedeutend sicherer. 

Mit derselben Frage beschäftigt sich auch 
S. N. Tscherepnin, der über die Be¬ 
handlung von 31 Typhuskranken mit Koch¬ 
salzklysmen berichtet. Der Kranke nimmt 
die linke Seitenlage ein, die Beine an den 
Leib angezogen. Auf der Höhe von V 2 
Arschin (ca. 30 cm) wird ein Irrigator mit 
1000,0 ccm einer Kochsalz + Na-Bicarbon- 
lösung (je 6,0 von beiden auf 1 L. Wasser) 
gestellt. Die Temperatur der Lösung 
schwankt zwischen 15°—20 0 . Mit Hülfe 
eines gewöhnlichen Hartgummiansatzes 
wird nun die Lösung langsam und unter 
sehr geringem Druck in den Darm einge¬ 
gossen was etwa 1 Stunde in Anspruch 
nimmt. Ein so applicirtes Klysma hat keine 
abführende Wirkung, es wird Va bis 2, 
häufig sogar 6—8 Stunden zurückgehalten. 
Der Leib wird nach der Eingiessung weich 
und unempfindlich. Die beim Unterleibs¬ 
typhus oft vorkommenden Tenesmen lassen 
nach, sobald geringe Schleimmengen und 
übelriechende Fäcalmassen entleert worden 
sind. Unmittelbar nach der Eingiessung 
sinkt die Körpertemperatur um 0,4°—0,5°. 
Genaue Messungen haben ergeben, dass 
ein Theil der eingeführten Lösung (etwa 
300—400 ccm) vom Dickdarm resorbirt 
wird. Mitunter — allerdings selten — wird 
das ganze Klysma resorbirt. Die günstige 
Wirkung dieser Klystiere auf das Nerven¬ 
system ist unverkennbar; die Störungen 
desselben hören auf, der Status typhosus 
wird geringer. Das Bewusstsein kehrt 
wieder, der Kranke antwortet auf Fragen, 
bekommt Interesse für die Umgebung. 
Sein Blick wird klarer, der Appetit grösser, 
der Schlaf fester. Dieser Umschwung 
steht in directer Beziehung zur Quantität 
der resorbirten Lösung und tritt gewöhnlich 
erst 20 bis 30 Stunden nach der Appli¬ 
cation des Klystiers ein, was leicht ver¬ 


ständlich wird, wenn man bedenkt, dass 
die Verdünnung bezw. Ausschwemmung 
der Toxine eine gewisse Zeit beansprucht 
und die Nervenzelle auch nach der Ent¬ 
ziehung des Giftes nicht sofort normal zu 
functioniren beginnt. Abgesehen von der 
bereits erwähnten, unmittelbar nach der Ein¬ 
giessung auftretenden Temperaturerniedri¬ 
gung zeigt sich noch ein anderer 1—2 
Tage anhaltender Temperaturabfall von 
1—2°. Gleichzeitig ist auch eine Besserung 
des Pulses zu constatiren. — Was den 
Stuhl anlangt, so wird er schon 1 Tag 
nach der Eingiessung normal. Mitunter 
tritt 1 bis 2 Tage lange Verstopfung ein. 
Die Diurese steigert sich sehr erheblich. 
Die erwähnte Besserung hält 1 bis 2 Tage 
an, dann tritt wieder Verschlimmerung ein, 
die Temperatur steigt an, der Kranke wird 
benommen etc. Eine erneute Eingiessung 
bringt wiederum Erleichterung. Im Durch¬ 
schnitt betrug die Zahl der jedem Kranken 
während der ganzen Krankheitsdauer ge¬ 
machten Eingiessungen drei. 

N. Grünstein (Riga). 

(Wojenno-tnedicinski, Journal 1903, Mai, Prakti- 
tschesski Wratsch 1903, No. 1 und 2. 

Einen durch seine eigenartige Ent¬ 
stehung bemerkenswerthen Fall von Kopf- 
tet&nus theilt Schütze mit. Die Patientin 
war von einem Pfau in die Stirn ge¬ 
bissen worden; 3—4 Tage später trat eine 
linksseitige Facialislähmung ein, 
8 Tage nachher bestand Trismus. Als der 
Kinnbackenkrampf zunahm und Schling¬ 
beschwerden sich einstellten, wurde die 
Patientin 4 Wochen nach dem Trauma dem 
Berliner Institut für Infectionskrankheiten 
zugeführt. Hier erhielt sie, obgleich die 
Prognose bei der verhältnissmässig langen 
Dauer des Leidens und dem Fehlen 
allgemeiner tetanischer Krampfanfälle — 
nur die Muskulatur im Versorgungsge¬ 
biete des Nervus trigeminus und Nervus 
facialis war betheiligt — von vornherein 
günstig gestellt werden musste, zwei mal 
je 125 Immunitätseinheiten des Behring- 
schen Tetanusheilserums subcutan injicirt. 
— Von der Wunde an der Stirn, die 
keine Tendenz zur Heilung zeigte, wurde 
der oberflächlich aufsitzende Schorf ent¬ 
fernt und es gelang, einen tief im sub- 
cutanen Gewebe verborgenen Fremdkörper 
zu entfernen, der sich bei genauerer Be¬ 
trachtung als die abgebrochene äusserste 
Spitze des Pfauenschnabels erwies. 
Mit dieser Schnabelspitze inficirte Schütze 
nach einander eine Reihe von Mäusen und 
Meerschweinchen, die alle an Tetanus ein¬ 
gingen, und schliesslich züchtete er durch 


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376 


August 


Die Therapie der 


Einbringung der Schnabelspitze in Agar 
direct von dieser Tetanusbacillen in 
Reincultur. — 

Die Wunde, die nach Entfernung des 
Fremdkörpers gründlich gereinigt und aus¬ 
gebrannt war, heilte glatt, die Masseteren- 
spannung ging stetig zurück, ebenso die 
Facialislähmung. Die Patientin konnte nach 
ca 3 Wochen geheilt entlassen werden. 

F. K. 

(Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 23.) 

Die Lävulose, entweder in reiner kry- 
stallinischer Form oder in syrüpöser Form 
(Satrass genannt) oder in Form von Lävu- 
losechocolade wird von L. Fürst sehr 
warm empfohlen als Nahrungs- und Genuss¬ 
mittel für schwächliche, unterernährte und 
scrophulöse Kinder; desgleichen für recon- 
valescente Kinder. Lüthje (Tübingen). 

(Zeitschr. für diät. u. phys. Ther., Bd. VI, H. 11.) 

Alfred Exner (Klinik Gussenbauer) 
behandelte drei Fälle von inoperablem 
M&mm&c&relnom mit Röntgenstrahlen. 
Die zu den Bestrahlungen verwendeten 
Röhren waren stets mittelweit und wurden 
den zu belichtenden Stellen thunlichst nahe 
gebracht, so dass bei kleinen Objecten die 
Focusdistanz 9—10 cm, bei grösseren jedoch 
17 cm betrug. Um die Umgebung der zu 
bestrahlenden Stellen zu schützen, ver¬ 
wendete er 0,5 mm dicke Bleiplatten. Zur 
Dosirung des angewendeten Menge Röntgen¬ 
lichtes bediente er sich des von Holz- 
knecht angegebenen Chromoradiometers. 
In den ersten zwei Fällen wurde nur der 
Erfolg erzielt, dass die Jauchung, die früher 
sehr stark gewesen war, zum Aufhören 
gebracht wurde. Viel günstiger gestaltete 
sich der dritte Fall, wo lokal scheinbar 
Heilung erzielt wurde. 

Nachdem bei der Behandlung mit 
Röntgenstrahlen der Tumor schichtweise 
zum Verschwinden gebracht wird und es 
nur nach dem Zugrundegehen der ober¬ 
flächlichen Schicht möglich wird, auf die 
tiefer liegende zu wirken, hält es Exner 
für zweckmässig vor der Behandlung mit 
Röntgenstrahlen in geeigneten Fällen mit 
dem Messer die erkrankten Partieen soweit 
als möglich zu entfernen. Man könnte 
auch daran denken, nach der Exstirpation 
eines Tumors das Operationsfeld einer 
energischen Einwirkungder Röntgenstrahlen 
auszusetzen. Bei den Fällen von lmpf- 
recidiven, die nach der Exstirpation eines 
Tumors auftreten, könnte dieses Recidiv 
durch eine derartige Behandlung vielleicht 
vermieden werden. Auch in einem Falle 
von Melanosarkom mit zahlreichen Meta- 

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Gegenwart 1903. 


stasen trat nach Röntgenbehandlung ein 
Verschwinden der einzelnen Tumoren ein, 
ohne dass aber eine Heilung des Patienten 
erfolgte. Dabei bildeten sich die Tumoren 
rascher zurück als die Pigmentablagerungen. 

H. Wiener (Prag). 

(Wiener klin. Wochenschrift No. 25.) 

Bereits von anderen Autoren — Motz, 
Berger — ist früh zur Behandlung der 
rhronischen Urethritis die M&SS&g6 döP 
Urethra empfohlen worden. Bartring 
empfiehlt das Verfahren für die Behand¬ 
lung chronischer Urethritis und von Stric- 
turen. Er führt es in der Weise aus, dass 
er auf einem Metallbougie ca. 5 Minuten 
die Urethra, besonders infiltrirte und stric- 
turirte Stellen, massirt; es ist naturgemäss 
schwer zu beurtheilen, wieviel von seinen 
guten Resultaten auf Rechnung der einfachen 
mechanischen Bougiebehandlung, wieviel 
auf die Massage zu setzen ist, wenngleich 
der Autor der Massage einen grossen Werth 
beilegt. Die Massage zur Behandlung an 
diesen Punkten hat sich bisher nicht sehr 
eingebürgert, trotzdem prinzipiell die Rich¬ 
tigkeit ihrer Anwendung an dieser Stelle 
nicht zu bestreiten ist, und bei vorsichtiger 
Anwendung Schädigungen kaum eintreten 
dürften. Buschke (Berlin). 

R. Blondel hat gefunden, dass das 
Milchserum ein werthvolles therapeuti¬ 
sches Mittel ist. Dasselbe wird aus Kuhmilch 
durch Fällen des Caseins mittelst einer 
Säure mit nachfolgender Filtration bereitet. 
In zugeschmolzenen Röhren, bei Anwesen¬ 
heit von Kohlensäure, bleibt es auf un¬ 
begrenzte Zeit erhalten. Unter die Haut 
eingespritzt, wirkt das Milchserum als 
Diureticum, wobei auch die Excretion der 
Producte des Stoffwechsels mit dem Urin 
vermehrt wird. Bei acuten Infections- 
krankheiten (Typhus, Pneumonie, Erysipel, 
Puerperalfieber) setzt es die Temperatur 
rasch und bedeutend herab, wie Verfasser 
an vielen Patienten in der Abtheilung Prof. 
Robins und bei kranken Wöchnerinnen 
in mehreren Pariser Gebäranstalten fest¬ 
zustellen Gelegenheit hatte. In einem Falle 
von schwerer Gesichtsrose sah Blondei 
nach Einspritzung von 10 ccm Serum, die 
Temperatur von 40,6° auf 36,60 herabgehen, 
wonach die Krankheit rasch in Genesung 
überging. (Hierbei bleibt freilich sehr frag¬ 
lich, ob es das Serum war, welches diese 
Wendung herbeigeführt hat). 

Verfasser ist der Meinung, dass das 
Serum der Kuhmilch bei Infectionen, in 
welchen die allgemeinen Störungen trotz 
Vernichtung des localen Infectionsheerdes 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


377 


andauern, wie es bei Puerperalerkrankungen 
nach Ausschabung des Uterus vorkommt, 
sich am Besten bewähren wird. Und er 
hat auch thatsächlich in 20 solcher mit 
Milchserum behandelten Fälle nur einen 
einzigen Exitus letalis beobachtet. In defc 
übrigen trat nach subcutaner Einspritzung 
von 20 ccm Serum in zwei Portionen ver¬ 
theilt (bei einer Kranken wurden sogar 
60 ccm in drei Portionen eingespritzt) 
schon am nächsten Morgen eine Temperatur¬ 
erniedrigung von 1 bis 30 ein. Dann ging 
die Temperatur wieder etwas in die Höhe, 
aber nur auf kurze Zeit, und es folgte eine 
rasche und definitive Entfieberung. 

Ein Zusatz von 0,05 bis 0,10 Chinini sul- 
furici zum eingespritzten Quantum Milch¬ 
serum verstärkt bedeutend die antipyretische 
Wirkung des letzteren. 

(Weitere Versuche mit subcutaner In- 
jection sterilen Milchserums dürften immer¬ 
hin zu empfehlen sein, da es aus vielen 
theoretischen Gesichtspunkten der ein¬ 
fachen Kochsalzlösung vorzuziehen sein 
dürfte, deren Infusion sich in schweren In- 
fectionskrankheiten so oft bewährt.) 

W. v. Holstein (Paris). 

(Revue de thtrapeutique mddico-chirurgicale 1903, 
No. 11.) 

Die Kenntniss der Polymyositis ist 
trotz zahlreicher Publikationen der letzten 
Jahre noch wenig verbreitet. Oppen¬ 
heim schildert die Symptomatologie dieser 
mehr oder weniger diffusen, entzündlichen 
Muskelerkrankung, deren Aetiologie bis¬ 
her nicht genügend klar gestellt ist. Nach 
einem in Abgeschlagenheit und gastrischen 
Beschwerden bestehenden Prodrom, folgen 
heftige Schmerzen eines oder mehrerer 
Muskelgebiete, oft unter Fieber (von nicht 
charakteristischer Curve) ein. Die Musculatur 
ist, auch auf Palpation, äusserst schmerz¬ 
haft, bald von derber, bald succulenter 
Beschaffenheit; Haut und Zellgewebe dar¬ 
über ödematös geschwellt, meist entzünd¬ 
lich verändert (Dermatitis). Auch Schleim- 
hautentzündunghäufig.Bewegungshemmung 
zunächst durch Schmerz, später durch de- 
generative Veränderungen der Muskeln be¬ 
dingt, kann bis zu völliger Lähmung und 
Versteifung sich steigern. Contracturen 
nicht selten. Elektrische Reaction even¬ 
tuell bis zum völligen Verschwinden her¬ 
abgesetzt In späteren Stadien Atrophie. 

Im Gegensatz zu anderweitigen Publica- 
tionen fand Oppenheim die Prognose 
nicht ganz ungünstig, da er unter 12 Fällen 
nur 2 Todesfälle, dagegen 5 Heilungen 
sah. Für letztere scheint die von ihm ein¬ 
geschlagene Therapie von Bedeutung. 

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In den ersten Stadien Diaphorese, am 
besten durch heisse Luit, eventuell durch 
Aspirin und heisse Getränke unterstützt. 

Nach einigen Wochen Thermomassage, 
Elektrotherapie, später passive Bewegungen 
und Aufenthalt in warmen Klimaten. 

Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt.) 

(Berl. klin. Woch. 1903, No. 17 u. 13.) 

Ueber die Anwendung von Spiritus- 
COmpressen ist in dieser Zeitschrift öfters 
berichtet worden. Prof. N. A. Ssaweljew 
wendet dieselben seit 2 Jahren bei Ent¬ 
zündungen der Pleura, des Peritoneums und 
der Gelenke mit gutem Erfolge an. In 
einem Falle von Peritonitis, die im An¬ 
schluss an Perforation eines Ulcus ventri- 
culi sich entwickelte, führten Alcoholum- 
schläge zu langsamer, aber vollständiger 
Heilung. Ebenso günstig war der Erfolg 
in einem zweiten Fall, wo die Peritonitis 
nach einer Appendicitis auftrat. In einem 
Fall von Pleuritis sicca hörten die Schmer¬ 
zen bald nach der Application der Spiritus- 
compressen auf und führten rasche Heilung 
herbei. (Wratschebnaja Gaseta 1903, No. 

3—6). Auch J. S. Kolbassenko sah von 
den Alcoholcom pressen gute Erfolge. Vor 
5 Jahren erkrankte er im Anschluss an eine 
Verletzung der Hand, die er sich bei der 
Entbindung einer bald darauf an Septicämie 
zu Grunde gegangenen Frau zugezogen, 
unter dem Bilde einer Blutvergiftung. 
Nachdem 12 Tage lang der ganze linke 
Arm ununterbrochen in Alcoholcompressen 
gewickelt wurde, Hessen die Erscheinungen 
nach und Verf. genas. Seither hat er die 
Spiritusumschläge an einem sehr reichen — 
meist chirurgischen — Material angewandt. 

Sehr wichtig ist es nach Kolbassenko’s 
Angaben, dass die Compresse regelrecht 
applicirt wird: Die betroffene Stelle wird 
erst mit einer in 700—90°—95<> Spiritus ge¬ 
tauchten Gazeschicht und darüber mit einem 
viel grösseren Stück Paraffinpapier, bezw. 
Wachstuch bedeckt. Zarte empfindliche 
Haut oder offene Wunden sollen erst mit 
Xeroform bestreut bezw. mit einer Xero¬ 
formsalbe bestrichen werden. Verf. konnte 
sich auch von der anästhesirenden Wir¬ 
kung der in Rede stehenden Umschläge 
überzeugen; solange die Compresse feucht 
ist, fühlt man in den entzündeten Geweben 
keinen Schmerz, ist der Spiritus verdun¬ 
stet, tritt wieder Schmerzhaftigkeit ein. 

Die anästhesirende Wirkung der Com- 
pressen soll sich nicht nur auf die un¬ 
mittelbar darunterliegenden Gewebsteile, 
sondern auch auf die in der Tiefe gele¬ 
genen Partien erstrecken, daher der 

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378 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


Nutzen derselben bei Entzündungen der 
tiefen Halsdrüsen, bei Endo- und Para- 
metritis. Die Compressen werden solange 
gelegt, bis die spontanen Schmerzen ver¬ 
schwinden. Ein weiterer Vorzug der er¬ 
wähnten Umschläge ist darin zu suchen, 
dass sie im Stande sind, eine beginnende 
Eiterung zum Stillstand zu bringen. Bei 
Furunkeln und Carbunkeln verschwindet 
bald nach der Application der Compresse 
der Schmerz, die Eiterung und Gewebs- 
nekrose bleiben entweder ganz aus, oder 
entwickeln sich nur in geringem Maasse. 

Verf. führt zur Bestätigung des oben 
Auseinandergesetzten mehrere Kranken¬ 
geschichten an. N. Grünstein (Riga). 

(Praktitscheski Wratsch 1903, No. 9.) 

Fast zu gleicher Zeit sind drei Ab¬ 
handlungen über die hereditäre Syphilis 
erschienen. Inderersten giebt Matzenauer 
ein kurzes Resummg über seine Anschau¬ 
ungen entsprechend einem in der Wiener 
Gesellschaft der Aerzte gehaltenen Vor¬ 
trag. Die sehr ausgedehnte, über mehrere 
Sitzungen sich erstreckende Discussion, 
welche sich an diesen Vortrag anschloss, 
ist in dem ersten der unten bezeichneten 
Werke ausführlich mitgetheilt. Gerade 
diese Discussion beansprucht einen hohen 
Werth, giebt sie doch die Anschauungen 
der hervorragendsten Syphilidologen und 
Pädiater Wiens in prägnanter Weise 
wieder, ich erwähne nur Hochsinger 
Kassowitz, Riehl, Neumann, Zeissl, 
Finger u. A. In dem zweiten Werk giebt 
Matzenauer an der Hand einer kritischen 
Litteraturübersicht und eigener Erfahrungen 
eine Uebersicht über den Stand unserer 
Kenntnisse über den Gegenstand. Das 
Wesentliche seiner Ausführungen — und 
das, was besonders heftig angefochten 
wurde — ist die Leugnung der paternellen 
Vererbung. 

In ebenso eingehender Weise, aber mit 
wesentlich anderen Schlussfolgerungen be¬ 
handelt Rosinski die gleiche Frage, wo¬ 
bei er auch den praktischen Gesichts¬ 
punkten gerecht wird. Ich möchte auf 
keine der behandelten Fragen hier im 
Referat genauer eingehen. Denn bei der 
Schwierigkeit des Gegenstandes ist dies 
ohne ausführliche und eingehende Er¬ 
örterung garnicht möglich; ich verweise 
diesbezüglich auf eine ganz kurze, lediglich 
praktischen Zwecken dienende Darstellung 
der Frage in der „Berliner Klinik“, Heft 179. 
Dagegen möchte ich gerade auch Praktikern 
die Lektüre der unten angegebenen drei 
Werke auf’s angelegentlichste empfehlen. 


Die hereditäre Syphilis gehört zu den inter¬ 
essantesten, wichtigsten und umstrittensten 
Kapiteln der Medizin. Die Beurtheilung 
der hierher gehörenden Fragen ist ohne 
gute Kenntniss der Grundlagen kaum 
möglich; und doch wird dem praktischen 
Arzt, dem Hausarzt häufig genug diese 
Aufgabe gestellt. Durch die Lektüre des 
Matzenauer’schen und des Rosinski- 
schen Buches wird man gerade wegen ihrer 
verschiedenen Standpunkte über alle Streit¬ 
fragen orientirt. Buschke (Berlin). 

(Rudolf Matzenauer, Die Vererbung der Syphi¬ 
lis. Ist eine paterne Vererbung erwiesen? Separat¬ 
abdruck aus der Wiener klinischen Wochenschrift 
1903, No. 7—13. Wien, bei Braumüller. 126 S. — 
Rudolf Matzenauer, Die Vererbung der Syphilis. 
Ergänzungsheft zum „Archiv für Dermatologie und 
Syphilis“. Wien, bei Braumüller. 1903. 216 S. — 
Bernhard Rosinski, Die Syphilis in der Schwanger¬ 
schaft. Stuttgart, bei Ferdinand Enke. 1903. 206 S.) 

Das Tannoform, über dessen Anwen¬ 
dung bei Intertrigo der kleinen Kinder wir 
bereits an dieser Stelle (vergl. diese Zeit¬ 
schrift 1902, S. 379) berichtet haben, wird 
auch von S. E. Ostrowsky zum selben 
Zweck sehr warm empfohlen. Verfasser 
wandte dasselbe entweder in Form eines 
Streupulvers mit Amylum ana oder — und 
letzterer Form giebt er den Vorzug — als 
10%ige Vaselinsalbe, die nach gründlicher 
Reinigung der betroffenen Stelle mit 
22%iger Borsäurelösung in dicker Schicht 
aufgetragen wurde. Verfasser berichtet 
über 50 Fälle, in denen er das Tannoform 
angewandt hat. Es waren darunter mehrere 
stark vernachlässigte Fälle (6), die bereits 
zu Geschwürsbildung geführt haben. Stets 
trat nach kurzer Zeit prompte Heilung ein. 
Die Secretion hörte auf, die Röthung ver¬ 
schwand und die Haut nahm ihr normales 
Aussehen an. Reizerscheinungen hat Ver¬ 
fasser auch bei einige Tage alten Kindern 
nicht beobachtet. Verfasser empfiehlt den 
Müttern eine Tannoformsalbe vorräthig zu 
halten und beim ersten Auftreten von 
Röthung an irgend einer Hautfalte dieselbe 
zu appliciren. N. Grünstein (Riga). 

(Russki Wratsch 1903, No. 2.) 

In einer systematischen Untersuchung 
zur Erforschung der Wirkungen des 
Tetanusgiftes, die wegen ihrer Anordnung, 
Schärfe der Beweisführung und Exakt¬ 
heit mustergiltig ist, haben Hans Meyer 
und Fred Ransom bedeutsame Auf¬ 
schlüsse über den experimentell erzeugten 
Tetanus beim Thier gebracht, von denen 
hier einige allgemein interessirende Befunde j 
wiedergegeben seien. Beim Versuchsthier 
entsteht bei subkutan er Toxineinspritzung I 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


379 


zunächst ein lokaler Tetanus, der beim 
Menschen auch bisweilen zur Beobachtung 
kommt. Der Gifttransport vom Unter¬ 
hautzellgewebe nach dem Angriffspunkt 
des Tetanustoxins, den mit der betreffen¬ 
den Extremität durch den Nerven verbun¬ 
denen Vorderhornganglien des Rücken¬ 
marks, findet ausschliesslich im mo¬ 
torischen Nerven statt. Das subcu- 
tan einverleibte Gift wird von den Ner- 
venendausbreitungen in den Muskeln auf¬ 
gesaugt und im Achsencylinder weiter¬ 
befördert. Diese Oberaus merkwürdige 
Giftbeförderung ist mehrfach sichergestellt: 
1. Nach subcutaner Impfung mit Tetanus¬ 
gift lässt sich das Gift (ausser im Blut) im 
Nerven nachweisen. Marie und Morax, 
welche diese Befunde bestätigten, konnten 
ihrerseits durch Nervendurchschneidung 
nachweisen, dass der Transport an die 
Integrität des Achsencylinders gebun¬ 
den ist. 2. Die gefährdeten Rückenmarks- 
centren können durch Sperrung der zu¬ 
führenden Nerven infolge Einspritzung 
von Antitoxin in den Nerven vor dem 
Toxin geschützt werden. 3. Das Aufwärts¬ 
steigen des in die motorischen Vorderhorn¬ 
ganglien transportirten und sich ausbrei¬ 
tenden Gifts in den Nervenfasern des 
Rückenmarks wird durch Durchschneidung 
des Rückenmarks gehemmt 

Eine gleiche Wanderung im Nerven haben 
Di Vestea und Zagari für das Lyssa¬ 
gift wahrscheinlich gemacht 

Entsprechend der erwiesenen Vorstel¬ 
lung von dem Gifttransport in der lang¬ 
samen Protoplasmaströmung im Achsen¬ 
cylinder der motorischen Nerven wird die 
Incubationszeit abgekürzt bei Injec- 
tion von Tetanusgift in den betreffenden 
Nerven selbst, noch mehr und sicherer 
bei Einspitzung desselben in das Rücken¬ 
mark. Zur Erzielung gleicher Effecte 
bedarf es vom Nerven aus geringerer 
Giftmengen. „Der grösste Theil der 
Incubationszeit beim Tetanus wird für die 
intraneurale Giftwanderung bis zu den 
giftempfindlichen Rückenmarkscentren ver¬ 
braucht.“ Hat die Vergiftung von der 
Blutbahn aus stattgefunden, so tritt das 
Gift zu allen motorischen Nervenendi¬ 
gungen, die Erkrankung ist dann diffus. 

Die Versuchsergebnisse, nach denen 
das subcutan oder selbst in grösster Menge 
in die Blutbahn eingespritzte Antitoxin 
nicht in die Nerven einzudringen ver¬ 
mag, erklärt,warum eine tödtlicheVergiftung 
mit Tetanusgift beim Menschen in der Regel 
nicht mehr aufgehoben wird, wenn man 
Antitoxin mehrere Stunden später injicirt. 

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Nur das in der Blutbahn noch kreisende 
oder im Unterhautzellgewebe noch befind¬ 
liche Toxin kann vom Antitoxin neutralisirt 
werden; das vom Nerven aufgesaugte Toxin 
wird dagegen vom Antitoxin nicht erreicht. 
Dagegen ist es gelungen, ein durch v. Beh¬ 
ring activ sehr hoch immunisirtes Kanin¬ 
chen durch Injection von Tetanusgift in den 
Nervus ischiadicus tödtlich zu vergiften. 
Interessant ist, dass ein im Anschluss 
hieran von E. Küster auf der chirurgischen 
Klinik in Marburg behandelter Kranker, 
bei dem trotz baldiger Subcutaninjection 
grosser Antitoxinmengen ein lokaler Tetanus 
ausbrach, nach Einspritzung von Antitoxin 
in die Nervenstämme des erkrankten Armes 
die tetanischen Symptome verlor und später 
ganz genas. E. Rost (Berlin). 

(Arch. f. exp. Pathol. und Pharmakol. 1903 Bd. 49 
S. 369;. 

Der Theer, welcher früher fast das ge¬ 
bräuchlichste Mittel bei der Behandlung von 
Hautkrankheiten war, ist in letzter Zeit durch 
eine Anzahl neuerer Medikamente in den 
Hintergrund gedrängt worden. Als Ur¬ 
sache hierfür sind besonders einige äussere 
unangenehme Eigenschaften des Theers 
anzusehen, besonders seine Farbe, seine 
Dickflüssigkeit. Sack und Vieth haben 
nun die färbenden Bestandtheile des Theers, 
besonders das Pech, entfernt und ihn in 
eine dünnflüssige Form übergeführt, sodass 
er äusserlich dem Olivenöl ähnlich wird, 
sich von diesem aber durch seinen speci- 
fischen Theergeruch unterscheidet. Dieses 
Oel mischt sich mit Olivenöl, Alkohol,Aether, 
Paraffin, Vasogen. Das Präparat Anthra- 
sol hat die vorzüglichen Eigenschaften des 
Theers, scheint aber nicht so leicht wie 
jener irritirend zu wirken. Es wird zu 
Pinselungen als reines Anthrasol, ferner 
2,0—10,0 zu 30,0 Alkohol absolutus, dann 
als Anthrasolsalbe und -Paste gebraucht. 

Als jucklinderndes Mittel, ferner bei para¬ 
sitären Hautaffectionen, bei Ekzemen (mit 
Ausnahme acuter Ekzeme) hat es sich nach 
Angabe Sacks bewährt. 

Buschke (Berlin). 

(Manch, medicin. Wochcnschr. 1903, No. 11.) 

Vor etwa einem Jahre erschien eine 
Abhandlung von Arlt, in welcher über die 
erfolgreiche Behandlung von 107 Fällen von 
Trachom und seinen Complicationen mit 
Cuprum citricum berichtet wird. Bald 
darauf wurden diese günstigen Erfahrungen 
auch von Bock bestätigt, der mit dem in 
Betracht kommenden Mittel von 58 Tra¬ 
chomkranken 38 vollständig heilen konnte. 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


Auf Veranlassung von Professor Bell- 
jarminoff unterzog nun A. G. Krotoff 
die Wirkung dieses Präparats einer Nach¬ 
prüfung. Er wandte das Cuprum citricum 
in verschiedenen Formen an: 1. als 5% 
bis 10%iges Pulver (Cupr. citric. 5.0—10,0 
Sacch. albi 100,0); 2. Als 5%—20%ige 
Glycerinsalbe; 3. In Form von Stiften mit 
5%—• 20%igem Cuprumgehalt und 4. in 
Form einer Lösung von 1 :9143. Bei der 
Anwendung des Präparats in den drei 
ersten Formen beobachtet man vermehrte 
Thränensecretion, wobei die Thränen eine 
grünliche Färbung annehmen, Gefühl von 
Hitze und geringes Brennen im Auge. Die 
Bindehaut wird hyperämisch. Alle Erschei¬ 
nungen halten ca. 10 Minuten an und ver¬ 
schwinden. Krotoff unterzog der Behand¬ 
lung mit Cuprum citricum 109 Augenkranke, 
von denen 89 genau verfolgt werden kon¬ 
tern Es waren darunter 39 mit Pannus 
tenuis, 17 mit Pannus crassus bei bereits 
vernarbter oder noch in Narbung begrif¬ 
fener Bindehaut, 7 mit frischem Trachom, 
5 mit chonischer Conjunctivitis und 21 
mit Corneaflecken. Vollständige Heilung 
trat in 62,0%, in 35,2% war kein Erfolg 
zu constatiren, in 2,20/ 0 trat Verschlimme¬ 
rung ein. Am günstigsten war der Erfolg 
bei Pannus tenuis, wenn man das citro- 
neunsaure Kupfer als Salbe verordnete, 
während bei frischem Trachom der Stift 
die besten Dienste leistete. Die bereits 
von Bock hin und wieder beobachtete 
Exacerbation des Leidens nach der Appli¬ 
cation von Cuprum citricum hat auch 
Verf. 11 mal gesehen, doch hielt dieselbe 
nur kurze Zeit an und verschwand, sobald 
das Mittel ausgesetzt und Atropin ein¬ 
geträufelt wurde. 

Verf. schliesst sich der bereits von Bock 
ausgesprochenen Ansicht an, dass das 
Cuprum citricum allen bis jetzt gebräuch¬ 
lichen Mitteln bei der Behandlung der in 
Rede stehenden Krankheiten entschieden 
vorzuziehen sei. N. Grünstein (Riga). 

(Russki Wratsch 1903, No. 17.) 

Mit dem Veron&l, über das seine Ent¬ 
decker in dieser Zeitschrift zuerst berichtet 
haben (vergl. S. 96), hat A. Lilienfeld 
(Gr. Lichterfelde) in ca. 60 Fällen mit 450 
Einzeldosen so günstige Erfahrungen ge¬ 
macht, dass er es als „fast unfehlbares 
Hypnoticum, dem keines unserer bisherigen 
Schlafmittel an Sicherheit und Intensität 
der Wirkung gleichkommt“, bezeichnet 
Er gab es in einer Dosis von 0,5 g, die in 


einer Tasse warmen Thee, warmer Milch u.a. 
gern genommen wurde, und sah danach 
sehr schnell, etwa im Verlauf einer Viertel¬ 
stunde einen vollkommen ruhigen, von 
unangenehmen Neben- und Nachwirkungen 
freien Schlaf, der in den meisten Fällen 
7—9 Stunden anhielt. Die Wirkung war 
gleich gut bei rein nervöser Agrypnie, bei 
Neurasthenie, Hysterie, Hypochondrie, 
melancholischer Depression, wie bei be¬ 
ginnender progressiver Paralyse, bei or¬ 
ganischen Rückenmarkskrankheiten, wäh¬ 
rend und nach der Morphiumentziehung, 
auch bei Herzaffectionen u. a. Einmal 
sah Lilienfeld bei einer Hysterica einen 
dem Antipyrinexanthem ähnlichen Haut¬ 
ausschlag nach dem Mittel auftreten, der 
indessen jedesmal rasch wieder verschwand; 
sonst beobachtete er keinerlei Neben¬ 
wirkungen, insbesondere blieben Herz- und 
Athmungsthätigkeit völlig unbeeinflusst. 
Gewöhnung an das Mittel oder Ab¬ 
schwächung seiner Wirkung trat auch nach 
längerem Gebrauche nicht ein. F. K. 

(Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 21.) 

Ueber Veränderungen des Wurm¬ 
fortsatzes bei gynäkologischen Er¬ 
krankungen hat Hermes von 75 nach¬ 
einander folgenden Laparotomien eine Zu¬ 
sammenstellung gemacht. Es fanden sich 
bei 40 Pat. = 53,3% der Fälle solche 
und zwar bei Tubargravidität (22) 8 mal, 
bei Pyosalpinx (20) 9 mal, bei chronischer 
Adnexerkrankung (16) 11 mal, bei Ovarial- 
cyste (11) 5 mal und bei 6 Myomen 4 mal. 
In 14,7% der Fälle handelt es sich um 
gleichzeitige chronische Erkrankung des 
Wurmfortsatzes, ohne directen Zusammen¬ 
hang mit der Genitalaffection und ohne 
klinisch nachweisbare Symptome (Ver¬ 
änderung der Schleimhaut, abnormer In¬ 
halt etc.). Bei den übrigen Formen ge¬ 
wann mit Ausnahme eines Falles, wo die 
Spitze des Fortsatzes in einen Ovarial- 
abcess hineintauchte, Hermes den Ein¬ 
druck, dass die häufigste Art der Fort¬ 
leitung von den primär erkrankten Genital¬ 
organen auf den Wurmfortsatz hin statt¬ 
findet. Es sind Verwachsungen, die zu 
secundärer Erkrankung führen. Bei jeder 
Laparotomie, die wegen Genitalerkrankung 
ausgeführt wird, soll man sich von dem 
Zustande des Wurmfortsatzes überzeugen 
und bei Erkrankungen diesen entfernen, 
wenn nicht besondere Contraindicationen 
vorhanden sind. P. Strassmann. 

(Deutsche Zeitschrift für Chirurgie). 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


381 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Ueber die physiologische Dosirung von Digitalispräparaten. 

Von Dr. A. Wolff -Rostock 


Im September 1902 brachte ich in dieser 
Zeitschrift eine kurze Besprechung über 
dieses Thema. Die in Aussicht gestellten 
weiteren Untersuchungen des Herrn Prof. 
Dr. Kobert der von Brunnengräber im 
Vacuum getrockneten und pharmako- 
dynamisch untersuchten Digitalisblätter 
sind jetzt vollendet. 

Kobert schreibt darüber: 

„Die sorgfältige Prüfung der mir in einer 
Blechbüchse übergebenen zerkleinerten 
Digitalisblätter des vorigen Jahres ergab 
Folgendes: 

Aussehen der Blätterstücken (wie auch 
der unzerkleinerten Blätter) schön grün. 
Besonders nach vorsichtigem Einweichen 
in Wasser sehen die Blätter und Blatt- 
stücken frischen auffallend ähnlich, 
so dass man kaum glauben kann, dass 
sie schon ein Drogenalter von einem 
Jahre haben. Der Chlorophyllgehalt 
scheint dem Aussehen nach ganz unver¬ 
ändert zu sein. Die mikroskopische 
Untersuchung zeigt, dass alle Gewebstheile 
und Haargebilde prachtvoll erhalten sind. 

Die physiologische Prüfung ergiebt 
dagegen ganz unzweifelhaft, dass über 50°/ 0 
der wirksamen Stoffe verschwunden sind. 
Während nämlich bei der Prüfung des 
vorigen Jahres 5 mg Folia genügten, um 
das Herz von Mittelfröschen zum Stillstand 
zu bringen, genügen jetzt 10 mg Folia kaum, 
um bei den kleinsten Fröschen unseres 
Vorraths, d. h. bei solchen von 25 g, eine 
deutlich ausgesprochene und andauernde 
Stillstellung des Herzens in Systole (bei 
Einspritzung unter die Beinhaut) zu Stande 
zu bringen. Bei ordentlich grossen Exem¬ 
plaren von Rana esculenta (Mittelfrösche 
hier zu Lande haben 40—45 g Gewicht) 
reichen selbst 20 mg Folia (als Wasser¬ 
auszug) dazu noch nicht hin. 

Daraus ergiebt sich: 

Dass die vorliegenden Blätter jetzt 
zwar noch gerade so stark sind, wie die 
Ziegenbein’schen in der besten Zeit 

Anmerkung des Herausgebers! Wir bringen 
die vorliegende Mittheilung gern zum Abdruck, um 
das Interesse unserer Leser an dieser wichtigen 
Frage wach zu erhalten. Wir möchten aber be¬ 
sonders darauf hinweisen, dass die hier empfohlene 
Art der Conservirung durch Compression noch der 
praktischen Erprobung bedarf. Bisher ist noch nicht 
bewiesen, dass die Digitalis-Tabletten wohlgetrock¬ 
netem Pulver oder gar den Dialysaten überlegen 
sind. Hoffentlich sind wir bald in der Lage Über 
praktische Erprobung der Brunnengräber’schen 
Präparate zu berichten. 

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waren. Dieser Autor giebt nämlich 40 mg 
Droge auf 100 g Frösche als gerade aus¬ 
reichend, um Systole zu erreichen, an. 
Trotzdem muss ich die Blätter als sehr 
minderwerthig geworden erklären.“ 

Durch diese exacten Untersuchungen 
hat Kobert nochmals festgestellt, dass es 
also nach unseren bisherigen Methoden 
nicht möglich ist, den Wirkungswerth einer 
Digitalisdroge für das Jahr hindurch auf¬ 
recht zu erhalten. Ich hatte die Hypothese 
aufgestellt, däss durch die eigenartige 
Vakuumtrockenmethode mit ziemlicher Ge¬ 
wissheit anzunehmen sei, dass die in den 
Blättern durch Fermentwirkung bedingte 
Glykosidspaltung nicht mehr eintreten 
würde, der trotzdem eingetretene vermin¬ 
derte Wirkungswerth dürfte auf die Oxy¬ 
dationswirkung des Sauerstoffs der Luft 
durch Oxydasewirkung zurückzuführen sein. 
Hier ist also der Hebel anzusetzen, um ein 
Dauerpräparat zu erhalten. Mit Kobert 
bin ich der gemeinsamen Ansicht, dass zu 
der vorzüglichen Prozedur des sofortigen 
Trocknens im Vakuum noch die zweite 
Prozedur der sofortigen Kompression unter 
Zusatz möglichst indifferenter Stoffe, (Milch¬ 
zucker, Amylum, ja nicht Gummi arabicum, 
da dieses Oxydasen enthält) und Umgeben 
der gepressten Tabletten mit einem den 
Sauerstoffdurchtritt völlig hindernden Ueber- 
zug hinzukommen muss. 

Die Firma Dr. Brunnengräber, Ro¬ 
stock, bringt nun derartige präparirte Ta¬ 
bletten in den Handel. Dieselben werden 
in zwei verschiedenen Stärken angefertigt. 
Die erstere Form besteht in einer Glas¬ 
röhre mit 10 Tabletten, jede Tablette ent¬ 
spricht einem Esslöffel voll eines wirksamen 
Digitalisinfuses mit angegebenem Wirkungs¬ 
werth nach der physiologischen Unter¬ 
suchung. Diese moderne Darreichungsform 
dürfte dem „alten Schlendrian des Digitalis¬ 
infuses“ (Kobert) vorzuziehen sein. Denn 
hierdurch hat der Arzt es in der Hand 
dem Patienten eine genaue haltbare Digi¬ 
talisdose zu verabfolgen, während bei 
einem Infus häufig die Beobachtung gemacht 
ist, dass sich die wirksamen Bestandteile, 
da dieselben in Wasser unlöslich sind, am 
Boden absetzen, und somit der Patient an¬ 
fänglich eine unwirksame Mixtur ein¬ 
nimmt und zum Schluss eine zu starke 
Dosis bekommt; ausserdem tritt besonders 
in der warmen Jahreszeit rasch ein Trübe- 
und Schleimigwerden des Infuses ein 


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382 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


August 


Namentlich für die Praxis des Landarztes 
dürfte die Tablettenform äusserst practisch 
und werthvoll sein. 

Um nun auch denjenigen Aerzten ge¬ 
recht zu werden, die ein Infusum verordnen 
wollen, werden auch die reinen Folia 
Digitalis pulv. ohne Zusatz in Tabletten¬ 
form ä 1,0 g gepresst, so dass der Apo¬ 
theker auf Verordnung des Arztes ein In¬ 
fusum aus diesen Tabletten hersteilen kann. 

Die Löslichkeit der Tabletten erleidet 
durch den Ueberzug keine Einbusse, die 
Wirkung wird gegenüber dem Digitalis- 
infusum wohl ebenso prompt eintreten, da 
die Blätter als feinstes Pulver zur An¬ 
wendung kommen. 

Gerade die Verwendung der ganzen 
Droge gegenüber den reinen Alkaloiden 
als Heilmittel passt sich den Anschauungen 
der jüngsten Zeit an. Auf dem letzten 
internationalen Kongress für angewandte 
Chemie weist Prof. Thoms in Gemein¬ 
schaft mit dem bekannten Pharmakologen 
Liebreich darauf hin, dass für die Werth¬ 
bestimmung der narkotischen Extracte der 
Gesammtgehalt derselben an organischen 
Säuren und an Gerbstoffen von sehr grosser 
Bedeutung ist. (S. Pharm. Ztg. No. 53 1903.) 
Gerade diese gerbstoffhaltigen Substanzen 
zeigen ganz andere Resorptionsbedingungen 
und Wirkungen, als die reinen Alkaloide 
oder deren Salze. Die kleinen Mengen, 
zum Theil noch unbekannter Nebenbestand- 
theile vervollständigen erst das Gesammt- 
bild des pharmakologischen Werthes eines 
Arzneipräparates und bedingen zum grössten 
Theile dessen Individualität. Die zwei 
wichtigsten Glykoside der Digitalisdroge 
sind das Digitalinum (verum Kiliani) und 
das Digitoxinum (Merck), ausserdem sind 
noch verschiedene andere Glycoside darin 
enthalten, die Wirkung dieser beiden ge¬ 
nannten ist nicht identisch, aber sich sehr 
ähnlich. Da diese Präparate ausserdem 
sehr schwierig darzustellen sind, so dürfte 
die oben erwähnte Anregung dahin lenken 
gerade bei Digitalis eine notorisch wirk¬ 
same Gesammtdroge zu verwenden, die 
frei ist von den giftig wirkenden, krampf¬ 
erregenden Spaltungsproducten Digitaliresin 
und Toxiresin. Eine solche Droge liegt 
uns in den „Folia Digitalis Brunnengräber“ 
vor. Hierdurch werden wir allerdings 
wieder von der Werthbestimmung der 
exacten Einzelanalyse derJDrogen auf die 
Kumulativwirkung des Gesammtgehaltes 
zurückgeführt, jedoch ist nicht zu vergessen, 
dass die Einzelanalyse durch die werth¬ 
vollere pharmacodynamische Prüfung phy¬ 
siologisch am lebenden Thier ersetzt ist. 


Diese Methoden werden schliesslich den 
Sieg behalten und wahrscheinlich auch da¬ 
zu beitragen, den Drogen in ihrem schweren 
Kampfe gegen die „chemisch reinen“ Er¬ 
zeugnisse der Industrie den Standpunkt 
zu wahren, der ihnen noch immer zu- I 
kommt. 

Zu dem Referat der Pharm, Central¬ 
halle (1902 No. 43) über Folia Digitalis 
Dr. Ziegenbein. „Die kleinen Original¬ 
packungen ermöglichen es jedem Apotheker 
allzeit genau eingestellte, in der Wirkung 
stets gleichmässige Droge und Tinctur vor¬ 
rätig zu halten"; sowie zu der Abhandlung 
über Folia Digitalis Ziegenbein und 
Brunnengräber, Therapie der Gegen¬ 
wart Mai 1903 von G. Klemperer, „die 
Anregung Focke’s, dass so hergestellte 
Blätterpulver an Stelle der ganzen Blätter 
in die Pharmakopoe aufgenommen werden 
sollten, verdient allgemeine Unterstützung", 
gestatte ich mir folgende These aufzu¬ 
stellen: „Es ist auf Grund vorliegender 
Untersuchung nicht ausreichend, dass die 
Digitalisblätter sorgfältig getrocknet, phar- 
makodynamisch untersucht und dann in 
den Handel gebracht werden“. Denn selbst 
wenn die Blätter in luftdichten Gefässen 
aufbewahrt werden, so ist dennoch von 
vornherein genügend Sauerstoff mit ein¬ 
geschlossen, so dass eine Oxydation statt¬ 
findet, weiterhin hat bei dem jeweiligen 
Oeffnen des Gefässes zur Entnahme der 
Sauerstoff ungehindert Zutritt, der Wir¬ 
kungswert geht zurück und der ursprüng¬ 
lich festgestellte pharmakodynamische Titre 
wird illusorisch. Diese Mängel sind bei 
der vorliegenden Tablette beseitigt, zu 
der vorzüglichen Procedur des sofortigen 
Trocknens im Vacuum kommt noch die 
zweite Procedur der sofortigen Compression 
unter starkem Druck. Die eingeschlossene 
Luft wird aus den Zwischenräumen heraus¬ 
gepresst, der Oxydation von aussen her 
wird ein Widerstand entgegengestellt durch 
das Umgeben der gepressten Tablette mit 
einem den Sauerstoffdurchtritt völlig hin¬ 
dernden Lacküberzug. 

Es liegt uns somit in der „Brunnen- 
gräber'schen Digitalis -Tablette" eine 
Arzneiform par excellence vor. Die wesent¬ 
lichen Vorzüge bestehen in dem pharma- 
kodynamisch festgestellten und gleich¬ 
bleibenden Gesammtwirkungswert der 
Droge, in der unbegrenzten Haltbarkeit und 
genauen Dosirung einem Infusum gegen¬ 
über und in der bequemen und schnellen 
Darreichung. Es wäre den Aerzten zu 
empfehlen durch Verordnungen dieser 
dosirten Tabletten (1 Tablette gleich einem 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1903, 


383 


Esslöffel wirksamen Infuses) das alte Digi- 
talisinfusum abzuschaffen. Sollte aus be¬ 
stimmten Granden ein Infusum vorgezogen 
werden, dann dürfte an Stelle der un¬ 
sicheren Folia ein Infus. Tablett. Digitalis 1,0 
„Brunnengräber“ zu verordnen sein. 

Es wird auch fernerhin eine pharraa- 
kodynamisch eingestellte Digitalis- und 
Strophanthustinctur aus frischen Blättern, 
beziehungsweise grünen Samen in den 
Handel gebracht werden. Ein Röhrchen 
mit 10 Tabletten kostet in der Apotheke 
1,25 Mk., stellt sich also nicht wesentlich 
teurer, wie ein Infusum; ein aus den 1,0 g 
Tabletten verordnetes Infusum hat den¬ 
selben Preis wie die bisherigen Infuse. 

Wie Dr. Fränkel (Therapie der Gegen¬ 
wart No. 3. 1902) durch experimentelle 
Versuche festgestellt hat, bewegt sich der 
Wirkungswerth der Infuse und Tincturen 
von Digitalis und Strophanthus in enorm 
weiten Grenzen. Nach der aufgestellten 
Tabelle III wurden zwischen 6 Digitalis- 
infusen (1 :100) die aus verschiedenen 
Apotheken bezogen wurden, Differenzen 
von 100— 275 % gefunden, d. h. ein Esslöffel 


des stärksten Infuses, enthält ebensoviel 
wirksame Substanz, als 27s Esslöffel voll 
des schwächsten Infuses. Zwischen den ver¬ 
schiedenen untersuchten Digitalistincturen 
wurden Unterschiede von 100—400% ge¬ 
funden. Noch weit schlimmer bei der 
Strophanthustinctur, es ergaben sich die 
enormen Schwankungen von 100—6000%. 

Da wir nun genau dosirte, haltbare 
Präparate dieser so wichtigen Digitalis- 
und Strophanthuspräparate haben, ist es 
dringend zu erstreben, dass Angesichts 
dieser jeder präcisirten Arzneidosirung 
spottenden Ungenauigkeit strengere An¬ 
forderungen hierfür von dem Deutschen 
Arzneibuch verlangt werden. Namentlich 
müssen die Präparate frei sein von den 
Gehirnkrampf erregenden Spaltungspro- 
ducten Digitaliresin und Toxiresin, die bei 
dem bisher üblichen langsamen Lufttrocken¬ 
verfahren entstehen. 

Diese Präparate werden von der Firma 
Dr. Chr. Brunnengräber in Rostock 
unter Musterschutz bezw. Patent in den 
Handel gebracht, um vor Nachahmungen 
geschützt zu sein. 


Die Besprechung der „Rahmgemenge“ im Februarheft der Therapie der 

Gegenwart und ihre Kritiker. 1 ) 

Von Fritz Geras heim- Worms. 


Mit einem durch „Unbefangenheit“ aus¬ 
gezeichneten Urtheil verarbeitet ein junger 
Assistent der Breslauer Kinderklinik in 
einem Referat 3 ) meinen nach einem Vor¬ 
trag weiter ausgearbeiteten Artikel „Die 
Rahmgemenge und ihre neuere Ergänzung“, 
indem er — so scheint es — den Beweis 
liefern will, dass man ohne genauere 
Kenntniss der Geschichte und der gegen¬ 
wärtigen Lage dessen, was man bespricht, 
am schnellsten zu einem Urtheil kommt. 
Der mit „Indicationen“ als Schlagwort 
operirende Kritiker sieht Rahmgemenge 
und Ramogen, i. e. künstliches Rahmge¬ 
menge, nicht als wesentliche Bereiche¬ 
rung unserer Ernährungstherapie an, ohne 
anscheinend eine Ahnung davon zu haben, 
dass diese Präparate seit 30 Jahren min¬ 
destens das leisten, wie alle anderen 
Muttermilchsurrogate, dass durch zahlreiche 

J ) Bartenstein in Monatsschrift fQr Kinder¬ 
heilkunde II., Mai 1903, No. 2. 

*) Ich habe auf eine ungewöhnlich feindselige 
Besprechung (deren Inhalt aus dem obigen ersicht¬ 
lich ist), der in dieser Zeitschrift No. 2 abgedruckten 
Uebersichtsarbeit am 2. Juli 1903 nachfolgende Er¬ 
widerung eingesandt und erst unter dem Datum 
vom 15. Juli 1903 eine Weigerung des Herrn Keller- 
Bonn, meine Erwiderung zu nehmen, erhalten. Ich 
gebe dieselbe deshalb, leider verspätet, hier wieder. 


Litteraturangaben (citirt in Biedert’s „Kin¬ 
derernährung“) das eingehend begründet 
ist, dass jene trotz der neuen und neuesten 
Methoden und Moden in der Säuglings¬ 
ernährung stets beharrlich den vornehmsten 
Platz einnehmen . . , . 

Als Antwort gestatte man mir die 
wörliche Wiedergabe einer Zuschrift des 
Herrn Geh. Rath Biedert, die mir auf 
meine Anfrage in dieser Sache zugeht. 
„Sieh, es gleicht der Wein dem Regen, 

Der im Schmutze selbst zum Schmutz wird, 

Doch auf gutem Boden Segen 
Bringt und jedermann zu Nutz wird, 

Nach des Trinkenden Begabung. 

„So geht es auch jedem Schriftwerk; 
seine Wirkung hängt an des Lesenden 
Begabung. Wer hier nicht weiss, dass 
das Rahmgemenge schon über ein Viertel¬ 
jahrhundert durch alle Moden durch an 
Ansehen wächst, wer weder die zahllosen 
genau notirten Einzelbeobachtungen im 
Hagenauer Spital, noch die zahlreichen 
daraus und sonst veröffentlichten Mitthei¬ 
lungen *) kennt; wer dann noch nicht weiss, 

•!) Virch. A. LX 1874. J. f. K. X1 1877; ibid. XII und 
XIV, XVII, XIX, XXVIII. D. mcd. W. 3/1883. 
Biedert, die diätet. Behandl. d. Verdauungsstör, 
d. Kinder. Stuttgart 2. Aufl. 1901. — Gernsheim 
M. M. W. 1900 u. v. A. 


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384 


August 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


dass Soxhlet jetzt erst wieder in Hamburg 
trotz seinem ausgezeichneten Nährzucker 
erklärt hat, das Rahmgemenge sei das 
einzige Ersatzmittel der Muttermilch, in 
dem ein klares natürliches Princip mit 
Glück verwerthet ist — fast wörtlich der 
einleitende Satz meiner im Titel genannten 
Arbeit — und wer doch bei einer zusam¬ 
menfassenden Darstellung darüber mitredet, 
wird eben das liefern, was der „Weise“ 
und Dichter oben sagt. Wer von der 
praktischen Wichtigkeit einer scharf ab¬ 
gemessenen oder einer Minimal-Nahrung 
noch nicht durchdrungen ist, wird den 
„Ausnahmefall“ einer geglückten über¬ 
reichen Nahrungszufuhr so schief taxiren, 
wie diesmal ein jungerMann in einer jungen 
Zeitschrift, und wer von der nun ein Jahr¬ 
zehnt spielenden Angst vor zu starker 
Verdünnung, zu grosser Wasserzufuhr, 
nichts weiss, wird auch die Anführung 
der Fälle einer erfolgreichen Verwendung 
einer solchen so wenig würdigen wie viel¬ 
leicht auch das Bemerkenswerthe, das eine 
glänzende Ernährung mit nur conservir- 
ter Milch (Löflund) und Rahmconserve 
das ganze erste Jahr hindurch (bei dem 
Kinde eines Arztes) gerade jetzt hat. Dass 
aber ausgewählte Fälle von Gelingen einer 
Ernährung da, wo andere versagt hatten, 
das vornehmste Beweisstück für eine Me¬ 
thode sind, sollte man in Breslau wissen 
(vergl. Czerny J. f. K. XVI 3/4 und 
Biedert Kinderernähr. S.156). Wenn diese 
Untersuchungen zur Einführung der Butter¬ 
milchernährung und das häufige Fehlen 
frischer Buttermilch von verlässlicher Zu¬ 
sammensetzung zur Schaffung haltbarer 
Buttermilchmischungen und von ^Butter- 
milchconserven Anlass gab, so sollte die 
Insinuation, dass das einer Fabrik zu lieb 


geschehe, anständigerweise von einem 
Breslauer nicht ausgehen, welcher wohl 
weiss, dass man bei Kindersuppen manch- i 
mal auf ganz bestimmte Fabriken für 
Lieferung wichtiger Bestandtheile hinweisen 
muss.“ j 

Nach diesen Ausführungen des Herrn 
Geh. Rath Biedert will ich noch der 
Hoffnung Ausdruck geben, dass der Bres¬ 
lauer Paediater vielleicht aucn weiss, dass 
Biedert die Kindersterblichkeit von einem 
höheren Standpunkt aus betrachtet und 
dass er für die so wahrgenommene sociale 
Ursache derselben das allein mögliche 
Heilmittel in diesem Zusammenhang sucht 
Dass er für dies Ziel nicht nur die aus 
den „Fabriken“ kommenden kleinen Ab¬ 
gaben durch einen gemeinnützigen Verein 
nutzbar machen will, sondern dafür auch 
eine beträchtliche Menge kostbarer Zeit 
und Arbeit und neben diesen stetige eigene 
Zuwendungen opfert, braucht den Respect 
eines jungen vor einem verdienten alten 
Herrn nicht zu vermindern. 

Zur selben Zeit ungefähr, wie dieser 
Anwurf erfolgte (mit Dat. vom 11.6. 03) 
erhielt Biedert einen Brief eines hervor¬ 
ragenden Collegen (Universitätsprofessor 
und Director einer Poliklinik) mit eingehen¬ 
der Darlegung einer Lebensrettung in der 
Familie des Schreibers durch die Biedert- 
sche Rahmconserve, dessen Schluss ich 
herzusetzen in der Lage bin: „Empfangen 
Sie, verehrter Herr Geh. Rath, im Namen 
meiner Familie unseren innigsten Dank 
mit dem Wunsche, dass Ihr segensreiches 
Wirken auf dem Gebiete der Kinder¬ 
ernährung möglichst vielen Familien in 
gleicher Weise Glück bringe, überall be¬ 
kannt werde zum Wohle und Besten der 
armen schwächlichen Kinder.“ 


Ein Fall von Vergiftungserscheinungen nach dem Gebrauch von Borax 

mittelst Sprayapparat. 

Von Dr. Wilh. Dosquet-Manasse-Berlin. 


Wenn sich auch immer mehr die Reihen 
derjenigen zu lichten beginnen, welche die 
Gesundheitsschädlichkeit der Borsäure und 
des Borax leugnen möchten, empfiehlt es 
sich doch, jeden Fall, der einen positiven Be¬ 
weis für die Schädlichkeit dieser Präparate 
liefert, in die Oeffentlichkeit zu bringen. 

Der Postillon Ph. W., 27 Jahr alt, suchte 
im Februar h. a. wegen Halsschmerzen die 
Poliklinik der Charite auf. Dort wurde ihm 
eine Flüssigkeit verordnet, die 1 Theelöffel 
Borax auf */2 Liter Wasser enthielt. 


Jedesmal, wenn sich der junge, kräftige 
Mann mittelst Zerstäubungsapparates kleine 
Mengen dieser Flüssigkeit in die Nase und 
den Rachen gebracht hatte, traten Uebel- 
keit und Schwindelanfälle ein, sodass er 
seinen Dienst nicht versehen konnte. 

Als der Patient nach ßtägiger Appli¬ 
cation der Boraxlösung, die stets von den¬ 
selben üblen Folgen begleitet war, zur 
Zerstäubung von Camillenthee aus eigenem 
Antriebe überging, blieben die oben er¬ 
wähnten Erscheinungen fort. 


Für die Rcdaction verantwortlich: Prof. G. Klempererin Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Oesterreich-Ungarn. 
Eugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julias Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban&Schwarzenberg 

in Wien und Berlin. 


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Die Therapie der Gegenwart 

1903 herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer September 

Nachdruck verboten. 

Die Behandlung: der Nierenstein-Krankheit. 

Von G. Klemperer. 


ii. 1 ) 

In der vorigen Vorlesung habe ich aus¬ 
einandergesetzt, dass Nierensteinkoliken 
zumeist von selbst zur Ausstossung eines 
Nierensteins führen und dass in seltenen 
Fällen der Stein durch chirurgischen Ein¬ 
griff entfernt werden muss. Ich fügte hin¬ 
zu, dass die wichtigste Aufgabe der Be¬ 
handlung erst nach dem Abgang eines 
Steines beginnt. Es gilt dann den Patien¬ 
ten so zu berathen, dass er von Recidiven 
seines Leidens verschont bleibt. In der 
heutigen Vorlesung will ich diese Pro¬ 
phylaxe der Nierensteinkrankheit darlegen 
und begründen. 

Jeder Nierenstein besteht aus einem 
krystallinischen Bestandteil und einer orga¬ 
nischen Grundsubstanz. Wir wissen durch 
Moritz, dass diese organische Grundsub¬ 
stanz jedem einzelnen Krystall angehörig 
ist, der aus dem normalen Urin sich nieder¬ 
schlägt. Wenn man ein Krystall von Harn¬ 
säure oder oxalsaurem Kalk vorsichtig 
unterm Mikroskop zur Auflösung bringt, 
kann man sich diese Grundsubstanz als einen 
Schatten sichtbar machen, ja man kann sie 
mit Farbstoffen imprägniren. Die chemische 
Isolirung dieser Grundsubstanz, welche von 
allen aus dem Urin krystallisirenden Salzen 
eingeschlossen wird, ist bisher nicht ge¬ 
lungen, weil es kaum möglich ist, sie in 
genügender Menge zu gewinnen. Die mi¬ 
krochemischen Reactionen weisen auf eine 
eiweissartige Substanz hin. Ich habe Grund 
anzunehmen, dass es sich um die Schleim¬ 
substanz handelt, welche in jedem normalen 
Urin enthalten ist, und deren Abscheidung 
als Nubecula man in jedem frischen Harn 
bald nach dessen Entleerung beobachten 
kann. Die durch Centrifugirung noch kör¬ 
perwarmen Urins gewonnene Nubecula 
lässt keine mikroskopische Structur er¬ 
kennen; sie erscheint als eine homogene 
durchscheinende Gallerte, die übrigens 
häufig einige kleinste Kryställchen suspen- 
dirt enthält. In ihren chemischen Eigen¬ 
schaften wird die Nubecula durch das Aus¬ 
fallen in dem abgekühlten Urin denaturirt, 

l ) Vortrag, gehalten im Fortbildungskursus für 
praktische Aerzte. (Vergl. den ersten Vortrag im 
December-Heft 1902.) 


man kann sie danach nicht mehr in Wasser 
lösen. Sie scheint der normalen Schleim¬ 
haut des Nierenbeckens bezw. der Blase 
zu entstammen und aus Nucleoalbumin zu 
bestehen. 

Die unbezweifelbare Thatsache, dass 
die organische Gerüstsubstanz der kry¬ 
stallinischen Abscheidungen einen Bestand- 
•theil jedes normalen Urins bildet, ist für 
! die Prophylaxe der Nierensteinkrankheit 
von der grössten Bedeutung. Nach der 
älteren Lehre, dass ein primärer Katarrh 
; der Schleimhäute die Grundsubstanz der 
: Nierensteine erzeugte, behielt die interne 
Therapie stets etwas Problematisches, da 
der steinbildende Katarrh sich der Behand¬ 
lung zu entziehen schien. Nun wir wissen, 

I dass ein Concrement sich stets bilden kann, 
wenn Krystalle innerhalb der normalen 
Harnwege aus dem Harn ausfallen, da sie 
die Gerüstsubstanz immer vorräthig finden, 
darf die Verhinderung des Ausfallens 
von Krystallen aus dem Urin als die 
wesentlichste Aufgabe unserer Prophylaxe 
, derNierensteine bezeichnet werden.— Zwei¬ 
tens ist zu sagen, dass ein Krystall und 
auch mehrere Krystalle noch keinen Stein 
1 bilden, wenn sie nicht Gelegenheit haben, 
lange am Ort der Bildung liegen zu bleiben, 
um durch Apposition zu wachsen. Die 
! zweite Aufgabe der Prophylaxe besteht also 
1 in der Entfernung kleinster Krystall- 
bildungen aus den Harn wegen. 

Obwohl von diesen beiden Aufgaben 
die erste, die Verhinderung des Ausfallens 
i der im Urin gelösten Substanzen als die 
wichtigste erscheint, will ich die zweite, 
die Ausspülung doch ausgefallener Kry¬ 
stalle, zuerst behandeln. Denn die Er¬ 
füllung der ersten Aufgabe setzt bei wei¬ 
tem vielseitigere Ueberlegungen voraus. 
Es gibt verschiedenartige Substanzen im 
1 Urin, deren Ausfallen zu Steinbildung 
führen kann (Harnsäure und ihre Salze, 
oxalsaurer Kalk, phosphorsaurer Kalk); je 
nachdem die Behandlung auf die bessere 
Lösung des einen oder andern dieser 
Bestandtheile zielt, ist diese Aufgabe in 
anderer Weise zu lösen. Die zweite Auf- 
I gäbe aber ist eine rein mechanische; es 
| kommt darauf an, kleine Krystallkörperchen 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


herauszuspülen und dies muss immer in 
gleicher Weise geschehen, wenn auch die 
chemische Zusammensetzung der Concre- 
mentchen eine ganz verschiedene ist. 

Ich bespreche also zuerst die mecha¬ 
nische Prophylaxe der Nephrolithiasis, 
welche durch die Flüssigkeitszufuhr ge¬ 
währleistet wird, zu zweit die causale Pro¬ 
phylaxe, welche durch Diätetik wie durch 
medicamentöse und hygienische Maass¬ 
nahmen angestrebt wird. 

A. Die Flüssigkeitszufuhr. 

Die Bildung eines Nierensteines kann 
nie zu Stande kommen, wenn dauernd ein 
reichlicher Strom von Flüssigkeit durch die 
Harnwege sich ergiesst. Wo der Urin nur 
spärlich abgesondert wird, bilden sich leicht 
Harnsteine. Die geringe Harnmenge bildet 
eine concentrirte Lösung, aus der die zur 
Krystallisation geneigten Bestandtheile 
leichter ausfallen wie aus verdünnten Lö¬ 
sungen. Einzelne Krystalle aber werden 
durch eine reichliche Diurese fortgespült, 
während sie bei spärlichem Fliessen liegen 
bleiben und sich allmählich vergrössern. 

Also kommen Nierensteine in allen Zu¬ 
ständen von Oligurie häufig vor. Bei Herz¬ 
kranken mit Stauungserscheinungen sind 
Nierenkoliken und Hämaturien nicht selten; 
oft genug lehrt der überraschende Abgang 
von Concrementen, dass es sich nicht um 
den meist diagnosticirten hämorrhagischen 
Infarct gehandelt hat. Wenn ein Gleiches 
bei chronischen Nierenkranken verhältniss- 
mässig selten ist, so liegt es wohl daran, 
dass hier mit der Oligurie auch eine Ver¬ 
minderung der im Urin gelösten Bestand¬ 
theile einhergeht. Die Nierensteine, welche 
in den ersten Lebensmonaten beobachtet 
werden, rühren von der Harnstockung der 
ersten Lebenstage her. Manches Concre- 
ment, das bei Gesunden abgeht, mag 
während einer früheren fieberhaften Krank¬ 
heit entstanden sein, die mit ihrer spär¬ 
lichen Urinausscheidung günstige Ent¬ 
stehungsbedingungen darbot. 

Im Gegensatz zu diesen oligurischen Zu¬ 
ständen sind Nierensteine bei Polyurien 
höchst selten. Wenn ein Diabetiker eine 
Nierenkolik bekommt, kann man darin ein 
Zeichen einer sehr energischen Behandlung 
sehen, die das Hauptsymptom des Leidens 
gründlich beschränkt hat; bei Diabetes 
insipidus ist Nierenkolik wohl noch nie 
vorgekommen; die oft discutirte Seltenheit 
von Nierensteinen bei Leukämie und Gicht, 
trotz der bei diesen Affectionen regel¬ 
mässigen starken Harnsäureausscheidung, 


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ist nur durch die gewöhnlich reichliche 
Urinmenge zu erklären. 

Die Nierensteine, mit denen wir ge¬ 
wöhnlich zu thun haben, bilden sich in 
Folge der geringfügigen Harnabsonderung, 
die bei sehr vielen Menschen die Regel 
ist, weil sie viel zu wenig Getränk zu sich 
nehmen. Es giebt Viele, namentlich Frauen, 
welche nur trinken, wenn sie ausge¬ 
sprochenes Durstgefühl haben, und da dies 
sehr wechselnd ist und bei manchen auf¬ 
fallend schnell gestillt wird, so kommen in 
der That häufig genug solche gewohn- 
heitsmässigen Oligurien zu Stande. Bei 
vielen Frauen kommt noch die missver¬ 
ständliche Auffassung gewisser populär- 
medicinischer Lehren hinzu; sie glauben 
die von der Mode vorgeschriebene Schlank¬ 
heit um so eher zu erlangen oder zu be¬ 
wahren, je mehr sie sich des Trinkens ent¬ 
halten. Wenn man controlirt, was sehr 
viele Damen gewöhnlich an flüssiger Nah¬ 
rung zu sich nehmen, so sind es ein bis 
zwei Tassen des Morgengetränks, zu Tisch 
wenige Löffel Suppe und ein Glas Wein, 
danach eine Tasse Kaffee, und zu Abend 
oft genug auch nicht mehr als */4 1 Getränk, 
so dass Tags über kaum mehr als 1 1 zu¬ 
sammenkommt. In meiner Privatklinik 
habe ich bei körperlich gesunden Damen 
der besseren Stände, denen die Flüssig¬ 
keitsaufnahme vollkommen freistand, Tage 
lang hintereinander 24stündige Urinmengen 
von 4—600 ccm notirt. Bei Männern ist so 
grosse Enthaltsamkeit im Genuss von 
Flüssigkeiten viel seltener zu finden. Hier 
liegt die Fehlerhaftigkeit in der ausserordent¬ 
lichen Unregelmässigkeit der Flüssigkeits¬ 
aufnahme. Oft genug hört man, dass 
Herren in der Frühe eine Tasse Thee mit 
Gebäck geniessen und dann erst nach fünf 
bis sechs Stunden, oft noch später, wieder 
etwas trinken. In vielen Fällen hat die 
Abendmahlzeit zwischen 7 und 8 Uhr 
Abends stattgefunden und das dabei con- 
sumirte Getränk hat vor dem Schlafen¬ 
gehen den Körper schon wieder verlassen, 
so dass der Frühurin spärlich und hoch 
gestellt ist. Das sind Bedingungen der 
zeitweisen Oligurie, die ohne Weiteres zur 
Entstehung von Nierensteinen Veranlassung 
geben können. Oft genug wird nun frei¬ 
lich die Ebbe des Vormittags bezw. des 
Tages durch die abendlichen Fluten alko¬ 
holischen Getränks abgelöst, und durch die¬ 
selben gewiss auch manches Krystallagregat 
aus der Niere geschwemmt, das ohne diesen 
in anderer Beziehung weniger lobenswerthen 
Bier- und Weinconsum zum Concrement 
ausgewachsen wäre. 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


387 


Gegenüber diesen unhygienischen Ge¬ 
wohnheiten muss als erstes Gesetz der 
Prophylaxe der Nephrolithiasis verkündet 
werden: Die Getränkaufnahme sei 
ausreichend und geschehe in regel- ! 
massigen Zwischenräumen, so dass | 
sie eine ununterbrochene Durchspülung des | 
Harnapparates verbürgt. Die tägliche 
Harnmenge gesunder Erwachsener soll 
1500—2000 ccm betragen, eher mehr als j 
weniger. Zieht man die Wasserverluste 
durch Haut, Lungen und Darm in Betracht, 
so ist eine Flüssigkeitsaufnahme von etwa 
2 1 /* 1 in 24 Stunden mindestens nothwendig. 
Diese ist am besten so anzuordnen, dass 
zu den drei Mahlzeiten, in welche die 
meisten Menschen ihre Nahrung ein- 
theilen, je Va 1 getrunken wird, dass aber 
zwischen denselben des Vormittags und I 
Nachmittags je eine Flüssigkeitsaufnahme 
stattfindet und dass unbedingt vor dem 
Schlafengehen noch ein Nachttrunk ge¬ 
nehmigt wird. In vielen Familien, nament- | 
lieh in kleinern Städten wird dieses Postulat j 
erfüllt durch die in unserm Sinne löbliche ; 
Einrichtung eines „zweiten Frühstücks* 
zwischen erstem Frühstück und Mittag, und 
einem „Nachmittagskaffe“ (der Jause der 
Oesterreicher). In den Grossstädten ist 
diese Ordnung gewöhnlich zu Gunsten der 
obligaten Dreitheilung in Frühstück, Mittag, 
Abendbrot oder bei den Höhergestellten 
zeitlich noch ungünstiger in Frühstück, 
Luncheon und Dinner aufgegeben. 

Welche Art von Flüssigkeit in den ein¬ 
zelnen Mahlzeiten genehmigt wird, spielt 
bei der Rücksicht auf die hier geforderte 
Reichlichkeit und Regelmässigkeit der Diu¬ 
rese eine untergeordnete Rolle. Die spe- 
cielle Indication der diätetischen Prophylaxe 
macht bei manchen Diathesen Thee, Milch 
und Cacao weniger wünschenswerth, wäh¬ 
rend sie für gewöhnlich zuzulassen sind. 
Ein Verbot alkoholischer Getränke ist für 
die Prophylaxe der Nierensteine keinesfalls 
notwendig; Bier und leichte Weine können 
sogar in mancher Beziehung als nützlich 
betrachtet werden. Das Beste ist auch 
hier das Wasser. Für die meisten Kate¬ 
gorien von Nierensteinen empfehlen sich 
zum regelmässigen Genuss schwach alka¬ 
lische und kohlensäurehaltige Getränke, 
wie sie die Natur so reichlich darbietet. 
Es braucht aber wohl kaum besonders be¬ 
tont zu werden, dass es keinen durchgreifen¬ 
den Nutzen haben kann, wenn Jemand 
etwa 4 Wochen lang ein solches Wasser 
zu sich nimmt. Das mag ja für die Zeit 
des Kurgebrauchs ganz nützlich sein, aber 
sicher vor der Bildung von Nierenteinen 

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ist nur, welcher sein Leben lang für regel¬ 
mässige und aussreichende Diurese sorgt. 

— Es sei mit Rücksicht auf manche mo¬ 
derne Irreleitung besonders hervorge¬ 
hoben, dass auch die Art des Wassers 
verhältnissmässig nebensächlich ist, wenn 
nur regelmässig getrunken wird. Auch 
Brunnen- oder Leitungswasser sind sehr 
nützlich. Heranwachsende Kinder bekom¬ 
men so selten Nierensteine, weil sie oft 
klares Wasser trinken, und auch in der ar¬ 
beitenden Bevölkerung kommen namentlich 
bei den Frauen Nierenkoliken so viel seltener 
vor als bei den Bessersituirten, weil sie viel 
häufiger gewöhnt sind bei der Arbeit und 
zu den Mahlzeiten Wasser zu trinken. 

Den Nutzen und die Annehmlichkeit der 
bekannten natürlichen Mineralwässer ver¬ 
kenne ich nicht, wir dürfen ihn aber auch 
nicht zu hoch einschätzen. Das Alkali 
des Wassers kann leicht durch etwas mehr 
vegetabilische Bestandteile der Kost ersetzt 
werden. Ueberdies kann man natürlich 
auch kleine Mengen Natron bicarbonicum 
dem Trinkwasser zusetzen. Wenn man 
Wasser mit Citronensaft mischt und dessen 
Säure vorsichtig mit wenig doppeltkohlen¬ 
saurem Natron abstumpft, so erhält man 
ein Getränk, das den Wässern von Fachin¬ 
gen, Bilin, Vichy, Offenbach, Salzbrunn 
u. s. w. wohl gleichwertig ist. 

Zum Schluss will ich für solche, die 
eine reglementarische Festsetzung lieben, 
eine Getränkordnung hersetzen, wie ich sie 
oft Solchen verordne, die an Nierenkoliken 
oder Nierenstein gelitten haben. 

7—8 Uhr Vm.: 1/2 1 Kaffe oder Thee 
oder Milchcacao oder Mehlsuppe. 

11 Uhr Vm.: V 4 1 Bouillon oder Citronen- 
wasser oder Mineralwasser oder Milch. 

2 Uhr Nra.: J /4 1 Suppe, V 2 I Tafelgetränk 
(je nach Gewohnheit oder specieller Indi¬ 
cation Mineralwasser oder Citronenlimo- 
nade oder Obstsaft oder Bier oder Wein.) 

5 Uhr Nm.: x /4 1 Getränk (Milchkaffee 
oder Thee oder Wasser). 

8 Uhr Nm.: ^2 1 Bier oder Wasser oder 
Milch, auch Sauermilch. 

11 Uhr Nm.: */4 1 alkoholisches oder 
wässriges Getränk (event. Zuckerwasser 
oder Citronensaft oder Baldrianthee). 

Man wird diese Trinkregel in verschie¬ 
denster Weise variiren und den Geschmacks¬ 
richtungen und medicinischen Indicationen 
Rechnung tragen können, wenn nur das 
Resultat erzielt wird, dass die Patienten 
alle 3—4 Stunden des Tages mindestens 
V 4 1 Urin lassen und dass derselbe hell 
und klar ist. Solange dieser Erfolg be¬ 
wahrt bleibt, kann man seinen Clienten 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


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ruhigen Herzens garantieren, dass sie vor 
der Bildung neuer Nierensteine beschützt 
bleiben werden. 

B. Die Nahrungszufuhr. 

Man darf im Allgemeinen sagen, dass 
jede einseitige Bevorzugung einer beson¬ 
deren Nahrungskategorie zu Nierensteinen 
führen kann, insbesondere wenn sie sich 
mit Unregelmässigkeiten der Getränkauf¬ 
nahme vereint. Ausschliessliche Fleisch¬ 
esser können Harnsäuresteine, fanatische 
Vegetarier Oxalat- oder Phosphatsteine be¬ 
kommen. Das Heil liegt in der von der 
Natur gebotenen gemischten Kost. Wer 
stets zum Fleisch Gemüse und Früchte ge- 
niesst, wer in richtiger Abwechselung Milch 
und Eier mit Mehlspeise isst, dessen Urin 
wird eine solche Zusammensetzung haben, 
dass nicht leicht eine gelöste Substanz aus 
demselben ausfallen wird. Ebenso darf 
ganz im Allgemeinen der Rath gegeben 
werden, die Speisen nicht zu stark zu 
würzen oder zu salzen. Wer allzu 
pikante und geräucherte Nahrung bevor¬ 
zugt, bekommt nicht selten Salzsäure¬ 
überschuss des Magens, der in vieler Hin¬ 
sicht für Nierensteindisponirte schäd¬ 
lich ist. Das Kochsalz der Nahrung aber 
geht quantitativ in den Urin über, erhöht 
dessen specifisches Gewicht und erleichtert 
ceteris paribus das Auskrystallisiren anderer 
gelöster Bestandteile. — Schliesslich ist der 
Hinweis auf die Nützlichkeit regelmässigen 
Lebens, unter Vermeidung grosser Er¬ 
regungen, auch hier am Platz. Denn nur 
die allgemeine Gesundheit des Nerven¬ 
systems sichert die regelmässigen Func¬ 
tionen speciell der Magenverdauung, die 
für die Normalität der Urinsecretion uner¬ 
lässlich sind. 

Eine solche allgemeine diätetische Be¬ 
ratung wird am Platz sein und wohl auch 
ausreichen, wenn wir nur im Allgemeinen 
wissen oder Grund zu dem Verdacht haben, 
dass Jemand an Nierensteinen gelitten hat. 
Unsere Ratschläge werden aber etwas prä- 
ciser ausfallen, wenn wir feststellen konnten, 
was für eine Art von Nierenstein der Pa¬ 
tient entleert hat. 

Die Untersuchung eines Concrements 
ist nicht so schwer, wie viele Collegen 
glauben. Ein Stück Platinblech, zur Noth 
eine Porzellanscherbe, ist das Hauptinstru¬ 
ment. Darauf hält man eine kleine Pulver¬ 
menge, die man mit dem Taschenmesser 
von dem Stein abgeschabt hat, über die 
Flamme. Wenn nach der Verkohlung alles 
verglüht und garnichts zurückbleibt, so be¬ 
stand das Concrement aus reiner Harn¬ 


säure; so ist es in mehr als der Hälfte 
aller Fälle. Bleibt aber beim Glühen ein 
Rückstand, so kann das Concrement aus 
harnsaurer Salzverbindung oder oxalsaurem 
Kalk oder phosphorsaurem Kalk bestehen. 
Nun löst man eine neue Probe des Stein¬ 
pulvers in erwärmter verdünnter Salzsäure 
und filtrirt; den Rückstand prüft man mit 
der Murexidprobe auf Harnsäure; das 
Filtrat macht man mit Ammoniak schwach 
alkalisch, danach mit Essigsäure wieder 
schwach sauer; ein weisser Niederschlag 
ist oxalsaurer Kalk. Die Prüfung auf Phos¬ 
phorsäure verlangt Zusatz von molybdän¬ 
saurem Ammoniak, das ausserhalb der Labo¬ 
ratorien nicht so ohne Weiteres zu haben 
ist. Aber diese Prüfung ist oft zu ersetzen 
durch die Betrachtung des Urins des be¬ 
treffenden Patienten. Im Allgemeinen kann 
man daran festhalten, dass Phosphatsteine 
nur bei alkalisch reagirendem Harn Vor¬ 
kommen, während Uratsteine und Oxalat¬ 
steine aus saurem Urin ausfallen. Freilich 
ist die Ermittlung der Zusammensetzung 
des Concrements nicht immer so einfach, 
und verlangt doch öfters eine laboratoriums¬ 
geübte Hand. Wer also im Einzelfalle 
seiner Sache nicht sicher ist, wird gut 
thun, das Concrement von einem Sachver¬ 
ständigen untersuchen zu lassen. 

Hat man nun die Zusammensetzung des 
Steins ermittelt, so kommt es darauf an, 
eine solche Nahrungsmischung zu ver¬ 
ordnen, dass aus dem danach entleerten 
Urin der ermittelte Steinbildner nicht mehr 
ausfallen kann. 

In vielen Fällen gelingt dies ohne 
Schwierigkeit, wie aus unserer Besprechung 
hervorgehen wird. Oft genug aber sind 
so präcise Vorschriften nicht möglich, weil 
viele Steine nicht nur aus einer, sondern 
aus mehreren Substanzen bestehen. In 
diesen Fällen thut man gut, sich auf die 
oben gegebenen allgemeinen Vorschriften 
zu beschränken. In jedem Fall aber hat 
man sich vor zu rigorosen Beschränkungen 
und zu weit gehenden Beeinflussungen zu 
hüten. Es kann sonst leicht passiren, 
dass man zwar das Ausfallen der einen 
Substanz aus dem Urin verhindert, aber 
nun erst selbst veranlast, dass eine andere 
Substanz zum Auskrystallisiren gebracht 
wird. 

Unter Berücksichtigung dieser wesent¬ 
lichen Einschränkungen hat die diätetische 
Prophylaxe der Nierensteine die folgenden 
Fragen zu beantworten: 

a) Welche Nahrungsmittel verursachen 
das Uebertreten der steinbildenden Sub¬ 
stanz in den Urin? 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


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b) Welche Nahrungsmittel beeinflussen 
die Löslichkeit der steinbildenden Substanz 
im Urin? 

Wir wollen diese beiden Fragen im 
folgenden für die drei Hauptcategorien 
der Nierensteine beantworten. 

1. Diätetische Prophylaxe bei harn¬ 
sauren Nierensteinen. 

Die Harnsäure des Urins entstammt der 
prosthetischen Gruppe der Nucleoproteide, 
welche den wesentlichen Bestandtheil der 
Zellkerne bilden; ob sie noch aus anderen 
Quellen entsteht, ist zweifelhaft. Für die 
praktische Diätetik darf als ausgemacht 
gelten, dass Fleischkost reichlich Harn¬ 
säure bildet, am meisten die zellreichen 
drüsigen Organe (Thymus, Leber, Niere 
u. s. w.), während durch Milch und Eier, 
Mehlspeisen und Pflanzenkost keine Harn¬ 
säure erzeugt wird. Obwohl individuelle 
Schwankungen zu berücksichtigen sind, 
kann man sagen, dass nach dem Genüsse 
von 1 Pfund Fleisch in 24 Stunden etwa 
1.5 g Harnsäure übertreten; nach 1 Pfund 
Thymus beträgt die Menge sogar 2—3 g. 
Bei gänzlich fleischfreier Diät verschwindet 
die Harnsäure niemals ganz, da eine ge¬ 
wisse (endogene) Menge derselben stets 
durch den im Körper stattfindenden Ab¬ 
bau von Nucleoproteiden gebildet wird. 
Aber man kann durch eine lacto-vegeta- 
rische Diät die tägliche Quantität der Harn¬ 
säure auf 0,4—0,6 g herabdrücken. Es ist 
danach unbedingt richtig, Leuten, die harn¬ 
saure Nierensteine gehabt haben oder 
Krystalle von Harnsäure mit dem Urin ent¬ 
leeren, eine gemischte Kost zu empfehlen, 
in der nicht zu viel Fleisch enthalten ist; 
etwa V 2 Pfund Fleisch wird die ungefähre 
Tagesgabe sein. Ihnen aber das Fleisch 
ganz zu verbieten ist keineswegs noth- 
wendig, denn es giebt viele Möglichkeiten 
die in den Urin übertretende Harnsäure 
daselbst zur guten Lösung zu bringen. 
Eben weil die Beförderung der Lösung 
ebenso wesentlich ist wie Einschränkung 
der Harnsäure-Produktion, kann man sich 
alle Spitzfindigkeiten und Kleinigkeits¬ 
krämereien in der Diätverordnung wohl 
ersparen. Es ist also gleichgiltig, welche 
Sorten von Fleisch gegessen werden, es 
ist auch kein Unterschied zwischen 
schwarzem und weissem zu machen. Bouillon 
braucht nicht verboten zu werden, denn die 
darin enthaltenen Extractivstoffe tragen nur 
ganz unwesentlich zur Erhöhung der Harn¬ 
säurezahl bei. Fisch ist ebenso zu behandeln 
wie Fleisch, da er erwiesenermassen in 


derselben Weise auf die Harnsäureproduc- 
tion wirkt. — 

Von grosser Bedeutung nun ist die 
weitere Frage, wodurch die im Allge¬ 
meinen so schwer lösliche Harnsäure im 
Urin in Lösung gehalten wird. Wir sind 
heut in der Lage diese Frage erschöpfend 
zu beantworten und danach in präciser 
Weise unsere diätetischen Massnahmen zu 
treffen. Im Wesentlichen kommt die Harn¬ 
säure in zwei Formen im Urin vor: als leicht 
lösliche Basenverbindung und als schwer 
lösliche freie Harnsäure. Wir wissen durch 
die schönen Untersuchungen von His, 1 ) 
dass die letztere fast nur spurweis wirklich 
gelöst ist, dass sie vielmehr zum grössten 
Teil in einer Art von Suspension, in phy¬ 
sikalischer (übersättigter) Lösung, sich be¬ 
findet, aus der sie durch blosses Schütteln 
zur Ausfällung gebracht werden kann. 2 ) 
Dass der Urin die Harnsäure in dieser 
wunderbaren Art in Lösung halten kann, 
dankt er seiner colloidalen Eigenschaft, die 
ihm durch den normalen Harnfarbstoff, das 
Urochrom, verliehen wird. Je dunkler ge¬ 
färbt ein Urin ist, desto mehr freie Harn¬ 
säure vermag er in Lösung zu halten. In 
dieser Eigenschaft müssen wir eine der 
feinen Regulationen des Organismus be¬ 
wundern; je concentrirter ein Urin ist, desto 
eher und schneller sollte er die Harnsäure 
fallen lassen, aber der durch die Concen- 
tration vermehrte Farbstoffgehalt wirkt der 
Sedimentirung entgegen. 3 ) Es ist gewiss, 
dass ohne diese Eigenschaft des colloidalen 
Urochroms Nierensteine noch weit häufiger 
sein würden. — Wir müssen aber be¬ 
kennen, dass wir auf die Fähigkeit des 
Urins die freie Harnsäure physikalisch ge¬ 
löst zu erhalten durch die Diät in keiner 
Weise einwirken können. Die Colloidalität 
des Urins können wir nicht vermehren 
und die Menge des Harnfarbstoffs nicht 
beeinflussen; die letztere scheint eine 
Function des Nierenepithels zu sein und 
wird in anscheinend gleichbleibender Weise 
tagtäglich abgeschieden; es hat sich bisher 
nicht zeigen lassen, dass Schwankungen 
der Diät zu Veränderungen der Farbstoff- 

l ) Dieselben sind in dieser Zeitschrift (October 1901) 
publicirt worden. 

*) Nur die physikalisch gelöste, durch Aus- 
schüttelung ausfällbare Harnsäure darf als .freie* 
bezeichnet werden. Die früher gehegte Vorstellung, 
dass ein Theil der Harnsäure beim Filtriren leicht 
ausfiele, und deshalb als »frei* zu benennen sei, ist 
als falsch erwiesen. 

3 ) Aus übermässig concentrirtem Urin (bei Fieber 
und Stauung) sedimentirt fast niemals Harnsäure, 
sondern immer hamsaures Natron. Die Nierensteine 
der Herzkranken bestehen nach meiner Beobachtung 
immer aus Uraten. 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


bildung geführt hätten. Nur durch die 
Flüssigkeitszufuhr vermögen wir auf die 
Concentration des Harnfarbstoffs einzu¬ 
wirken, aber da sind ja unsere Bestrebungen 
aus den oben erörterten Gründen auf die 
Verdünnung des Urins gerichtet, durch 
welche seine Colloidalität gerade ver¬ 
mindert wird. 

Da also die freie Harnsäure durch die 
Diät nicht löslicher gemacht werden kann, 
so muss unser Bemühen darauf gerichtet 
sein, einen möglichst grossen Antheil 
derselben in basische Bindung zu 
bringen; denn das saure harnsaure Natron 
ist bei Körpertemperatur in Wasser ver- 
hältnissmässig leicht löslich. Das Verhält- 
niss zwischen freier Harnsäure und saurem 
harnsauren Alkali ist von der Reaction des 
Urins abhängig. Die letztere wird bedingt 
durch das quantitative Verhältniss zwischen 
sauren und basischen Molecülen im Urin. 
In dem Verhältniss zwischen salzartig ge¬ 
löster Harnsäure (saurem harnsaurem Al¬ 
kali) und freier (ausschütteibarer) Harn¬ 
säure ist ein quantitativ vcrwerth barer 
Maasstab der Harnreaction gelegen. 1 ) 

Es ist nun festgestellt, dass die Reac¬ 
tion, d. h. also in meinem Sinn das Ver¬ 
hältniss zwischen freier und basischer Harn¬ 
säure, in ausserordentlicher Weise durch 
die Diät beeinflusst werden kann. Fleisch¬ 
nahrung lässt dem Harn saure Molecüle 
zufliessen, während vegetabilische Nahrung 
alkalische Molecüle zuführt. Nach aus¬ 
schliesslicher Fleischnahrung ist die ge- 
sammte Harnsäure in freier Form im Urin 
enthalten und auf die physikalische Lösung 
durch das Urochrom angewiesen. Kein 
Wunder, dass es sehr leicht zum Ausfallen 
einzelner Krystalle kommt, die gewisser- 
maassen als Impfmaterial wirkend immer 
weiteres Ausfallen verursachen. Bei über¬ 
wiegender Fleischnahrung und wenig pflanz¬ 
licher Kost beträgt der Gehalt an freier 
Harnsäure 80—90 %, immer noch ein Ver¬ 
hältniss, das ein leichtes Ausfallen der¬ 
selben begünstigt. Bei vollkommen ge¬ 
mischter Kost ist das Verhältniss zwischen 
freier und gelöster Harnsäure etwa 50%, 

! ) Man kann dies Verhältniss im Laboratorium 
feststellen, indem man zuerst die Gesammtharnsäure 
nach Ludwig-Salkowski bestimmt und danach 
diejenige Menge von Harnsäure findet, welche durch 
24 stündige Ausschöttelung im rotirenden Cylinder 
nach Zusatz von Impfsalz gewonnen wird. Die aus¬ 
geschüttelte Menge ist die freie, die Differenz zwischen 
Gesammt- und freier Harnsäure ist die basisch ge¬ 
bundene. Ein minimaler Fehler, weicher durch den 
chemisch gelösten Antheil der freien Harnsäure ver¬ 
ursacht wird, kommt praktisch nicht in Frage. Ueber 
die esterartig gebundene Harnsäure vergl. den Ab¬ 
schnitt über Medikamente. 

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d. h. die Hälfte der ausgeschiedenen Harn¬ 
säure ist als saures harnsaures Salz chemisch 
gelöst, die andere Hälfte ist im Zustand 
der übersättigten Lösung. Man kann nun 
durch Steigerung der vegetabilischen Be¬ 
standteile und gleichzeitiger Verminderung 
des Fleisches in der Nahrung das Verhält¬ 
niss nach Gefallen beeinflussen, dergestalt, 
dass man bei rein vegetarischer Diät alle 
Harnsäure in Form des harnsauren Natrons 
zur Ausscheidung bringt. Damit ist dann 
die sog. alkalische Reaction erreicht, der 
Urin trübt sich durch Ausscheidung von 
phosphorsaurem Kalk. — Für die prak¬ 
tische Diätetik ergiebt sich die Forderung, 
die Nahrung so gemischt zu gestalten, dass 
mindestens 50 % der Harnsäure als lös¬ 
liches Salz ausgeschieden werden. Das 
wird dadurch erreicht, dass bei mittleren 
Fleischmengen reichlich und regelmässig 
Gemüse und Früchte genossen werden. 
In Bezug auf die Reaction des Urins sind 
dem Fleisch und dem Fisch die Legumi¬ 
nosen beizurechnen, die also nur sparsam 
zu geniessen sind. Als Alkalibildner sind 
alle Gemüse und Früchte gleichwerthig zu 
betrachten, doch müssen verhältnissmässig 
grosse Mengen genossen werden, um deut¬ 
liche Wirkungen zu erzielen. Es sind volle 
Teller von Gemüse zu nehmen, wenn mög¬ 
lich zweimal am Tage, und die täglichen 
Obstportionen müssen mindestens ein Pfund 
betragen, wenn man bei mittleren Fleisch¬ 
mengen erreichen will, dass die Urinharn¬ 
säure zu mehr als 50% in gebundenem 
leichtlöslichen Zustand erscheine. — Es 
ist aber dies Verhältniss auch leicht da¬ 
durch zu erreichen, dass man der Nahrung 
direkt Alkalien zuführt. 

Man erhält bei gemischter Kost und 
mittlerer Fleischmenge die gesammte Harn¬ 
säure in salzartiger Bindung, wenn man 
5 Mal täglich 1 g doppeltkohlensaures 
Natron einnimmt. Die Natronmenge muss 
um so grösser sein, je mehr saure Molecüle 
dem Urin zufliessen, d. h. unter normalen 
Verhältnissen je mehr Fleisch, Fisch und 
Leguminosen genossen werden. Wichtig ist 
auch, dass man das Natron nicht unmittel¬ 
bar nach der Fleischnahrung einnimmt, 
denn dann ist die Salzsäure im Magen 
festgehalten und in Folge dessen der Urin 
normalerweise säurearm; am besten erfolgt 
die Natronzufuhr 3-—4 Stunden nach der 
Fleischkost. Am zuträglichsten scheint die 
Alkaligabe zu sein — und das berechtigt 
sie unter den diätetischen Verordnungen 
abzuhandeln — wenn man sie in Form 
von natürlichen Mineralwässern einführt. 
Zwei bis drei Mal täglich V 4 1 Fachinger 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


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oder eines ähnlichen Mineralwassers in 
den Zwischenräumen einer im Uebrigen in 
gewöhnlicher Weise gemischten Kost ge¬ 
nossen, drücken den Anteil der freien Harn¬ 
säure im Urin auf25—40% herab, wobei ein 
Ausfallen kaum zu befürchten ist. Uebrigens 
sei noch als besonders günstiger Umstand 
hervorgehoben, dass diese Mineralwässer 
eine grosse Menge freier Kohlensäure in 
den Urin überführen, welche die an sich 
schon erhebliche Löslichkeit des sauren 
harnsauren Natrons noch erhöhen. — Es 
braucht nicht noch einmal wiederholt zu 
werden, dass die natürlichen Mineralwässer 
durch gleichverdünnte Lösungen von Na¬ 
tron bicarbonicum ersetzt werden können 
und dass namentlich verdünnte Obst- und 
Fruchtsäfte mit einem kleinen Zusatz von 
NaHCOs gleich günstige Wirkungen er¬ 
zielen. Alle Obstcuren, Trauben-, Citronen- 
curen kommen hier in Betracht, doch sind 
die letzteren Früchte verhältnissmässig 
basenarm und bedürten eines geringen 
Alkalizusatzes. 

Es fragt sich nun, ob es in der ärzt¬ 
lichen Praxis ein leicht zu handhabendes 
Mittel giebt, um das Verhältnis zwischen 
freier und gelöster Harnsäure zu erkennen, 
da doch die quantitative Feststellung des¬ 
selben nur durch complicirte chemische 
Analyse möglich ist. Ein solches Mittel, aus¬ 
reichend scharf für practische Bedürfnisse, 
ist in der Prüfung des Urins mit Lakmus- 
papier gegeben. Urin, der seine gesammte 
Harnsäure frei enthält, röthet deutlich blaues 
Lakmuspapier, während solcher, der seine 
gesammte Harnsäure basisch gebunden ent¬ 
hält, rothem Lakmus ganz deutlich blaue 
Farbe verleiht. Bei etwa 25% freier Harn¬ 
säure wird blaues Lakmus kaum noch ver¬ 
ändert, während rothes eben einen blauen 
Schimmer bekommt. Es ist also die für 
Lakmus amphotere, an der Umschlags¬ 
grenze zwischen sauer und alkalisch 
stehende Reaktion, die wir erstreben. 

Wer sich in diese Verhältnisse ein¬ 
aben will, kann es ganz leicht an sich 
selbst thun. Man lebe einige Tage aus¬ 
schliesslich von Fleisch, gehe allmählich 
zu reiner Pflanzenkost über, nehme stei¬ 
gende Mengen alkalischer Wässer, und 
prüfe dabei häufig die Reaction des Urins 
mit Lakmuspapier, so wird man leicht die 
Abhängigkeit derselben von der Diät er¬ 
kennen. Bei 20—25% freier Harnsäure 
beginnen meist die Phosphate auszufallen. 
Dann ist die Grenze erreicht, bis zu wel¬ 
cher man die Basenzufuhr treiben darf. 

Ich darf die diätetische Prophylaxe, bei 
Neigung zum Ausfallen von Harnsäure aus 

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dem Urin, dahin präcisiren, dass die Kost 
am besten aus mitderen Fleischmengen, 
vielem Gemüse und Obst zusammengesetzt 
werde, ohne besondere Einschränkung der 
übrigen Nahrungsmittel, unter täglicher Zu¬ 
gabe von V 2 — 3 A 1 alkalischem Mineral¬ 
wasser. 

2. Diätetische Prophylaxe bei Oxal¬ 
säuren Nierensteinen. 

Der oxalsaure Kalk des Urins stammt 
zum grössten Theil aus der Nahrung. We¬ 
sentliche Mengen von Oxalsäure sind im 
Spinat und im Thee, auch im Cacao ent¬ 
halten, geringere Mengen auch in den 
übrigen Gemüsen, im Obst, im Bier. Fleisch 
ist ziemlich arm an Oxalsäure, nur der 
bindegewebige Antheil kann erheblicher 
zur Bildung derselben beitragen. In der 
Nahrung ist die Oxalsäure zumeist als 
unlösliches Kalksalz enthalten und wird 
erst durch die Magensalzsäure löslich und 
resorbirbar. Je saurer der Magensaft, 
desto mehr Oxalsäure kann in den Urin 
übergehen. 

Man könnte den Urin möglichst arm an 
Oxalsäure machen, wenn man Spinat, Thee 
und Cacao gänzlich vermiede, das Fleisch 
vor dem Genuss ganz von Sehnen und Faser 
befreite und im Uebrigen etwas Alkali mit 
der Nahrung genösse, um durch Ab¬ 
stumpfung der Magensäure die doch in der 
Mahlzeit enthaltenen kleinen Mengen von 
Oxalsäure unresorbirbar zu machen. 

Auch hier aber stellt sich die Sache 
ähnlich wie bei der Harnsäure; auch bei 
gänzlicher Unterdrückung der Zufuhr kann 
man den Urin nicht frei von Oxalsäure 
machen. Die endogenen Quellen derselben 
liegen im Kreatinin und der Glycochol- 
säure, die nach neuern Experimenten als 
Oxalsäurebildner anzusehen sind. Auch 
bei der Oxalsäure wird es also empfehlens¬ 
wert sein, dieselbe Politik zu verfolgen wie 
bei der Harnsäure; man wird versuchen, 
durch die Diät die Löslichkeit der durch 
den Urin ausgeschiedenen Oxalsäure zu 
erhöhen. Zwei Factoren kommen hier in 
Frage. Oxalsaurer Kalk wird leichter lös¬ 
lich in Lösungen von saurem phosphor¬ 
saurem Natron, dessen Menge im Urin um 
so grösser ist, je stärker sauer dessen 
Reaction ist. Wenn wir uns auf diesen 
Factor verlassen wollten, so müssten wir 
dem Oxaluriker ausschliesslich Fleisch ver¬ 
ordnen und dann würden wir ihn unter 
die Bedingungen versetzen, die wir im 
vorigen Abschnitt als besonders schädlich 
erkannt haben. Es besteht zum Glück 
noch ein zweiter Factor. Oxalsaurer Kalk 

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392 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


wird leichter löslich in Lösungen von 
Magnesiäsalzen, schwerer löslich bei An¬ 
wesenheit von Kalksalzen. Es ist nun der 
Gehalt an Kalksalzen relativ gross in der 
Milch, in Eiern und in frischen Gemüsen, 
während Fleisch, Leguminosen, Mehl¬ 
speisen , Kartoffeln und Aepfel reich an 
Magnesia sind. 

Es stellt sich also die diätetische Ver¬ 
ordnung einigermaassen entgegengesetzt 
der im vorigen Abschnitt entwickelten, in¬ 
dem hier das Fleisch nützlich, das Gemüse 
schädlich ist. Gerade deswegen aber muss 
man sich vor Uebertreibungen hüten. Es 
ist vor Allem zu bedenken, dass ein gewisser 
Gehalt an Oxalsäure in der Nahrung durch 
kleine Mengen Alkali unresorbirbar, also 
unschädlich gemacht wird. In diesem Falle 
muss natürlich das Alkali während der 
Mahlzeit genommen werden. — In gleicher 
Weise erlaubt für den Tisch .des Uratikers 
wie des Oxalurikers sind die Mehlspeisen, 
welche für den ersteren indifferent, für 
den zweiten durch den Magnesiagehalt 
nützlich sind. Auch die Früchte nament¬ 
lich die Aepfel sind beiden Kategorien zu 
empfehlen. 

Ich darf die diätetische Prophylaxe, bei 
Neigung zum Ausfallen von oxalsaurem 
Kalk aus dem Urin, dahin präcisieren, dass 
die Kost am besten aus Fleisch und Mehl¬ 
speisen und mittleren Mengen von Gemüsen 
und Früchten zusammengesetzt sei, unter 
Vermeidung von Spinat, Ei, Thee und 
Cacao, sowie grösserer Mengen von Milch. 
Empfehlenswerth ist der Genuss alkalischer 
Wässer zu eien Mahlzeiten. 

3. Diätetische Prophylaxe bei 
Phosphatsteinen. 

Phosphorsaurer Kalk fällt aus dem 
Urin aus, wenn in demselben die alkalischen 
Molecüle gegenüber den sauren die Ober¬ 
hand gewinnen, wenn also der oben be¬ 
schriebene Zustand eintritt, dass sämmtliche 
Harnsäure in basische Bindung über¬ 
gegangen ist. Diese alkalische Reaction 
kommt bekanntlich zu Stande, wenn durch 
bacterielle Infection des Urins der Harn¬ 
stoff in Kohlensäure und Ammoniak zer¬ 
setzt wird. Von dieser ammoniakalischen 
Beschaffenheit des Urins, die sich leicht 
durch den Geruch zu erkennen giebt, soll 
aber hier nicht die Rede sein, obwohl sie 
natürlich auch zu Harn- und Blasensteinen 
Veranlassung giebt. Die causale Behand¬ 
lung dieser Zustände besteht in der Be¬ 
einflussung der primären Krankheits¬ 
zustände, welche die Urininfection ver¬ 
anlasst haben, bezw. in der Desinfection 

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und Spülung der Harnwege. Hier ist 
vielmehr nur von derjenigen Alkalisirung 
des Urins die Rede, welche durch Zu- 
fliessen basischer Molecüle bezw. die Ver¬ 
hinderung der Zufuhr saurer Molecüle vom 
Blut her verursacht wird, die wir also als 
hämatogene Alkalinurie bezeichnen dürfen. 1 ) 

Ueber diese Alkalinurie können wir nur 
aussagen, dass sie oft mit der Ausscheidung 
und dem Verweilen der Salzsäure im 
Magen Hand in Hand geht. So sehen wir 
bei allen Gesunden vorübergehend während 
der Verdauung alkalische Reaction des 
Harns auftreten; dieselbe ist um so aus¬ 
gesprochener, je grösser die aufgenommene 
Mahlzeit gewesen ist. Kehrt die Salzsäure 
in den Kreislauf zurück, d. h. 3—5 Stunden 
nach einer grösseren Mahlzeit, so stellt 
sich auch die saure Reaction des Urins 
wieder her. In Fällen, wo der saure 
Mageninhalt durch Erbrechen oder durch 
Spülungen nach aussen entfernt wird, kann 
die Alkalinurie dauernd bleiben. Man hat 
das Gleiche bei hochgradig neurasthe- 
nischen Menschen beobachtet, die zugleich 
an Hyperacidität des Magensafts litten, und 
hat angenommen, dass durch einen Krampf 
des Pylorus bei diesen die Salzsäure ab¬ 
norm lange im Magen zurückgehalten wurde. 
Ob es noch andere Ursachen der Säure¬ 
retention bezw. der Alkalizufuhr zum Urin 
giebt, muss nach dem heutigen Stand 
unserer Kenntnisse zweifelhaft bleiben. Es 
ist neuerdings von Soetbeer gezeigt 
worden, dass in einem Falle von Alkalinurie 
mit gleichzeitigen Darmstörungen eine 
Störung der Kalkausscheidung durch den 
Darm bestand; ich bin aber vorläufig nicht 
in der Lage zu beurtheilen, ob diesem 
Befund allgemeinere Bedeutung zuzu¬ 
schreiben ist. Die Fälle von echter „Phos- 
phaturie“ sind nicht häufig genug, um 
solche Untersuchungen auf breiter Basis 
leicht zu ermöglichen. 

Nach unseren bisherigen Erfahrungen 
muss die diätetische Prophylaxe der Al¬ 
kalinurie vor allem auf eine Verbesserung 
der meist gestörten Gesundheit des all¬ 
gemeinen Nervensystems bedacht sein. 
Wenn sich specielle Störungen in der 
Function der Verdauungsorgane zeigen, 
so muss man diese abzustellen versuchen. 
Im Allgemeinen wird sich eine gemischte 
Diät von Fleisch-, Mehl-, Milch- und Eier¬ 
speisen empfehlen. Vollkommene Ent¬ 
haltung von vegetarischer Kost ist durch¬ 
aus nicht anzustreben, denn erfahrungs- 
gemäss wird die erhoffte Wirkung auf die 

*) Man hat sie auch „fixe* Alkalinurie genannt, 
weil eben das flüchtige Alkali Ammoniak fehlt. 

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September 


393 


Die Therapie der 


Harnbeschaffenheit dadurch nicht erzielt. I 
Zu vermeiden ist nur ein Uebermass von 
Gemüse und Obst, ebenso wie Fruchtsäfte 
und natürlich auch alkalische Wässer. Die 
hier besonders nothwendige Indication der 
reichlichen Diuresis wird durch klares i 
Wasser erfüllt, am besten mit einem reich¬ 
lichen Gehalt von Kohlensäure, da dieselbe 
nach neueren Untersuchungen in relativ 
grossen Mengen in den Urin Übertritt und 
dadurch zur Mehrung der sauren Molecüle 


Gegenwart 1903. 


also zur Lösung der Phosphate beiträgt. 
Alle natürlichen Sauerbrunnen und Säuer¬ 
linge sind hier zu reichlichem Getränk zu 
empfehlen. 


In der nächsten Vorlesung werde ich 
die medicamentöse und hygienische Pro¬ 
phylaxe in den eben besprochenen Zuständen 
und auch die Behandlung der selteneren 
Formen von Nierensteinen erörtern. 

(Ein Schlussartikel folgt.) 


Aus dem pharmakologischen Institut der Universität Jena. 

(Direktor: Prof Dr. Kionka.) 

Nimmt das Soolbad unter den Bädern eine Sonderstellung ein? 

Dr. med. Friedrich Bahrmann u. Dr. med. Martin Kochmann. 


Das Bestreben die Wirkung der Sool- 
bäder experimentell zu analysiren und da¬ 
mit ihrer praktischen Anwendung eine 
theoretische Grundlage zu verschaffen, hat 
eine Reihe von Arbeiten entstehen lassen, 
die zwar durch die Summe des darauf ver¬ 
wandten Fleisses unsere Bewunderung her¬ 
ausfordern, hinsichtlich der gewonnenen 
Resultate aber wenig glücklich gewesen 
sind. 

Da die Frage von der Resorptions¬ 
fähigkeit der Haut immer nebenhergeht 
und von den verschiedenen Autoren ver¬ 
schieden beantwortet wurde, so wird man 
sich denken können, dass die Arbeiten in 
zwei Gruppen zerfallen, je nachdem diese 
Frage positiv oder negativ beantwortet 
wurde. Nachdem nun die Arbeiten von 
Fleischer, 1 ) Du Mesnil 2 ) undFilehne 3 ) 
die Durchlässigkeit und Resorptionsfähig¬ 
keit der Haut in entscheidender Weise 
klargestellt haben, wird wohl auch über 
die Bäderwirkung und ihre Theorie ein 
helleres Licht verbreitet werden. Nach 
diesen Untersuchungen muss die Annahme 
einer Einwanderung des Wassers und der 
darin gelösten Salze, also der eventuell 
wirksamen Bestandteile der Soolquellen, 
durch die Haut als ein Irrtum bezeichnet 
werden, da alle diese Arbeiten die Un¬ 
durchdringlichkeit der Haut für Wasser 
und darin gelöste Salze erwiesen haben. 
Filehne fand, dass unter anderem Chlor¬ 
natrium- und Chlorkaliumlösungen die 
Epidermis nicht durchdringen können, da 
sie von den die Haut bedeckenden und 
durchsetzenden Cholesterinfetten und La¬ 
nolin nicht aufgenommen werden, und 
schliesst seine Erörterungen mit den Wor¬ 
ten: „Dem Biologen wird vielleicht am in¬ 
teressantesten aus dem Mitgeteilten die 

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’ Tatsache erscheinen, dass sich das Haut¬ 
organ des Warmblüters durch Cholesterin¬ 
bildung und durch Hauttalgüberzug gegen 
das Eindringen nicht bloss des Wassers, 
sondern namentlich der im Meeres- und 
I Flusswasser gelösten Salze gesichert hat, 
was für die im und auf dem Wasser leben¬ 
den Warmblüter ja in der Tat eine 
Lebensfrage war“. 

Für die Erklärungsversuche der Sool- 
badwirkung ist diese Tatsache nicht we¬ 
niger eine Lebensfrage, und wenn auch in 
I dieser Hinsicht noch nicht das letzte Wort 
gesprochen zu sein scheint, so viel steht 
fest, der Weg von aussen nach innen 
durch die unverletzte Haut ist für Wasser 
sowohl als für darin gelöste Substanzen im 
Allgemeinen versperrt. Die Haut ist also 
| lediglich Schutz- und Ausscheidungsorgan, 
j Dass der Weg von innen nach aussen auch 
! im Bade, entgegen einer lange bestehenden 
! Meinung, offen ist und gelegentlich sehr 
intensiv benutzt werden kann, beweisen 
die Beobachtungen von Willemin, 4 ) 

Riess 5 ) und Lohsse, 6 ) die nach prolon- 
girten warmen Bädern Gewichtsverluste 
bis zu 1V 2 kg fanden, Verluste, die nicht 
anders erklärt werden können, als durch 
die Annahme, dass durch die Haut eine 
Ausscheidung von Wasser und darin ge¬ 
lösten Substanzen (N, Chloriden und anderen 
Bestandteile des Schweisses) stattgefunden 
habe, was durch die von genannten Autoren 
angestellten Untersuchungen auch bestätigt 
wurde. 

Wenn nun mit der Feststellung der Un¬ 
durchdringlichkeit der intacten Haut eine 
Sonderwirkung der Soolbäder sehr unwahr¬ 
scheinlich wird, so finden wir diese Ver¬ 
mutung in der Litteratur bewahrheitet. 

Es liegen eine ganze Reihe von Arbeiten 

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September 


394 Die Therapie der 


vor, in denen die widersprechendsten Re¬ 
sultate niedergelegt sind. Abgesehen von 
der obenerwähnten Differenz finden wir 
über die Stickstoffausscheidung im Harn, 
die Abgabe der Chloride, über die Harn¬ 
menge, Pulsfrequenz, Blutdruck, Atem¬ 
grösse, O-Verbrauch und CCVAbgabe nach 
Anwendung von Soolbädern sehr ver¬ 
schiedene, mit einander unvereinbare An¬ 
gaben. Bei näherer Sichtung des Materials 
kommt man jedoch zu der Ueberzeugung, 
dass man von den meisten namentlich der 
älteren Arbeiten absehen kann, da einer¬ 
seits die Verfasser mit den ihnen zu Ge¬ 
bote stehenden Mitteln nicht im Stande 
waren, Versuche, welche unseren heutigen 
Anforderungen an Genauigkeit entsprechen, 
anzustellen, andererseits die notwendigen 
Voraussetzungen und Cautelen, welche 
eine gewisse Garantie für einwandsfreie 
Resultate bieten, ausser Acht Hessen. Zu¬ 
weilen hat man auch den Eindruck, als ob 
die Untersuchenden, wenn auch unbewusst, 
unter dem mächtigen Einfluss des „Brun¬ 
nengeistes“ der von ihnen zu ihren Ver¬ 
suchen benutzten Soolquellen stünden 
oder sich ihm doch nicht völlig haben 
entziehen können, indem sie zu Schlüssen 
gelangen, für welche die Prämissen in ihren 
Untersuchungsresultaten nicht gegeben 
sind. Es mag immerhin dabei der Wunsch, 
die therapeutischen Erfolge, welche ja 
nicht zu leugnen sind, experimentell zu 
erklären, nicht in letzter Linie mitsprechen. 
Der Grund, dass so verschiedene und va- 
riirende Resultate bei den Explorationen 
gefunden wurden, lag und liegt wohl an 
dem Mangel einheitlicher Grundlagen und 
einer einheitlichen Methode. Solange diese 
nicht gegeben sind, können wir keine mit 
einander vergleichbaren Resultate er¬ 
warten. 

Die Schwierigkeit, der specifischen Wir¬ 
kung der Soolbäder auf dem Wege ein¬ 
wandsfreier Versuche näher zu kommen, 
ist allerdings gross, denn wir müssen alle 
Einwirkungen, welche dem Wasserbade 
ohne Salzzusatz zukommen, ausschliessen 
oder doch die Anordnung des Versuchs 
so treffen, dass man im Stande ist, die 
eventuellen Sonderwirkungen des Sool- 
bades genau von denen des einfachen 
Wasserbades zu trennen, um ein Urteil 
über den Effect des Soolbades zu bekom¬ 
men, welches ein Recht auf Allgemein¬ 
gültigkeit hat. Im Folgenden sollen nun 
einige Gesichtspunkte, welche zur Erzielung 
einer einheitlichen und ausreichenden Me¬ 
thode in Betracht kommen können, kurz 
erörtert werden. 


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Gegenwart 1903. 


Einen physikalisch-chemischen, mecha¬ 
nischen und thermischen Reiz werden wir 
mit jeder Wasseranwendung, ausüben, nur 
die Reizgrösse steht je nach Form der 
Anwendung bis zu einem gewissen Grade 
in unserer Hand. Können wir nun den 
Reiz so gering wählen, dass er keinen 
nachweisbaren Effect ausübt, dann sind 
wir auf unserem Wege einen Schritt vor¬ 
wärts gekommen. In der Tat haben wir 
in den sog. indifferent warmen Bädern 
eine Form der Wasseranwendung, welche 
keine nachweisbaren oder doch unwesent¬ 
liche Schwankungen der körperlichen 
Functionen hervorruft. Die Temperatur 
dieser Bäder ist von verschiedenen Autoren 
verschieden angegeben worden [Wiek, 7 ) 
Leichtenstern, 8 ) Riess, 5 ) von Hoess- 
lin, 9 )] doch scheint sie zwischen 33° bis 
36° C. zu liegen. Die Verschiedenheit der 
Angaben hat wohl ihren Grund in gerin¬ 
gen individuellen Verschiedenheiten des 
Verhaltens der Versuchspersonen diesen 
Temperaturen gegenüber. Die Beeinflus¬ 
sung der Körpertemperatur, Pulsfrequenz 
und de& Blutdrucks [Wiek, 7 ) der Atem¬ 
frequenz (Jamikoff, 10 ) Goralewitsch, 11 ) 
Orloff, 12 )] ebenso des Stoffwechsels [Va- 
lentiner, 13 ) Dommer 14 )] ist geringfügig 
und auf individuelle Verschiedenheiten zu¬ 
rückzuführen [Karner, 15 ) v. Renz 16 )]. 
Wenn wir nun über die specifische Wir¬ 
kung der Soolbäder Untersuchungen an¬ 
stellen wollen, können wir wohl nur diese 
Temperaturen wählen. In dieser Beziehung 
müssen wir H. Winternitz beipflichten, 
welcher schreibt: „Eine Forderung muss 
aber bei allen derartigen Versuchen, na- 
mentHch, um sie mit einander vergleichbar 
zu machen, unbedingt erfüllt werden, das 
ist die Anwendung indifferenter Tempera¬ 
turen; nur so kann es gelingen, die chemi¬ 
schen Wirkungen von den thermischen 
einigermaassen zu trennen“. 

Wir möchten darin noch etwas weiter¬ 
gehen und mit Rücksicht auf die oben er¬ 
wähnten individuellen Verschiedenheiten 
das Postulat aufstellen, dass zuerst die für 
das Versuchsindividuum indifferente oder 
indifferenteste Temperatur durch eine Reihe 
von Vorversuchen mit einfachen Wasser¬ 
bädern festgestellt werde, bevor man daran 
geht, mit indifferent warmen Soolbädern zu 
experimentiren, denn sonst ist unmöglich die 
an und für sich geringen Schwankungen 
als durch den Salzzusatz bedingt zu be¬ 
zeichnen. 

Diesen Bedingungen, welche das Bad 
betreffen, sind noch einige, welche das Ver¬ 
suchsindividuum angehen, hinzuzufügen. 

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September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 395 


Wenn sich die Untersuchungen über 
den Einfluss der Soolbäder auf den Stoff¬ 
wechsel erstrecken sollen, so ist es unbe¬ 
dingt nötig, dass sich das Versuchsindi¬ 
viduum im StickstofTgleichgewicht befindet, 
und zwar im Stickstoffgleichgewicht wäh¬ 
rend einer ßadeperiode mit indifferent 
warmen Süsswasserbädern, die derjenigen 
mit gleichtemperirten warmen Soolbädern 
vorauszugehen hat; denn so allein ist die 
Differenz zwischen der Wirkung der Süss¬ 
wasser- und derjenigen der Soolbäder 
eruirbar. Die zufälligen oder in der Tat 
als Wirkung der Bäder auftretenden 
Schwankungen des Stoffwechsels, welche 
man als Erfolg mancher Bäder angegeben 
findet, entbehren unseres Erachtens der 
beweisenden Kraft, da sie teils einfache 
Verschiebungen in der Leistung einzelner | 
Organe bedeuten (Niere, Haut oder Darm), ! 
teils nicht erheblich grösser sind als die 
Schwankungen, welche auch normaler 
Weise beim Menschen auftreten. 

An dieser Stelle soll gleich noch auf 
einen andern Punkt eingegangen werden. 
Das ist der Wert resp. die relative Wert¬ 
losigkeit der Experimente am Tiere. Wenn 
es schon von vornherein nicht statthaft er¬ 
scheint, an Tieren gefundene Resultate 
ohne Weiteres auf den Menschen zu be¬ 
ziehen, so hat auch die Nachprüfung der 
Ergebnisse dieser Versuche am Menschen 
noch keine Uebereinstimmung des Verhal¬ 
tens in irgend einer Beziehung ergeben, 
was ja auch zu erwarten ist, wenn man 
bedenkt, dass die Haut der Tiere, welche 
in der Regel mit einem mehr oder minder 
dichten Haarpelz bekleidet ist, anders orga- 
nisirt ist, eine andere physiologische Be¬ 
deutung hat und demgemäss sich Bädern 
gegenüber anders verhalten wird als die¬ 
jenige der Menschen. Es ist daher keines¬ 
wegs erlaubt, vom Verhalten der Tiere 
Schlüsse auf das des Menschen zu ziehen, 
und es wird sich empfehlen, nur am Men¬ 
schen gefundene Resultate als massgebend 
zu betrachten. 

Nachdem wir nun in kurzen Zügen die 
allgemeinen Voraussetzungen erörterthaben, 
wollen wir die bisher gewonnenen Daten 
über die oben erwähnten Funktionen näher 
betrachten! Es können dabei natürlich nur 
solche Arbeiten Berücksichtigung finden, 
deren Versuchsanordnung den oben er¬ 
wähnten Gesichtspunkten möglichst ent¬ 
spricht! 

Ueber die Stickstoffausscheidung 
liegen Arbeiten von Benecke 18 ), Kel¬ 
ler 19 ), Robin 20 ) und Köstlin 21 ) vor. Bei 
Keller und Robin gehen den Versuchen 

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nur 3 resp. 4 Normaltage voraus, eine Zeit, 
welche zur Herstellung des Stickstoffgleich¬ 
gewichts nicht immer eine genügende sein 
wird, worauf schon Glax 84 ) hingewiesen 
hat, Benecke fand eine unwesentliche Ver¬ 
mehrung der Harnstoffausscheidung, wäh¬ 
rend Köstlin bei Versuchen mit Stassfurter 
Badesalz, das sehr chlorkaliumhaltig ist, 
eine Verminderung der N-Ausscheidung 
beobachtete: Zu der letzteren Arbeit möch¬ 
ten wir folgendes bemerken. Der Ver¬ 
fasser befindet sich am Anfang der Ver¬ 
suche mit 16,4187 g N im Stickstoffgleich¬ 
gewicht. während er am Ende der Ver¬ 
suche nur noch 14,3398 N im Mittel aus¬ 
scheidet. Das Stickstoffgleichtgewicht ist 
also nicht geblieben. Ferner findet sich 
zwischen dem 11. und 12. Tage eine Diffe¬ 
renz von 1,0738, welche denjenigen, die als 
Wirkung der Bäder aufgeführt werden 
(1,38012—1,66774), fast gleichkommt. Es 
finden sich zwischen dem 5. und 6., sowie 
6. und 7. Tag ähnliche Differenzen, doch 
kann man dieses damit erklären, dass der 
Körper bestrebt ist, das Stickstoffgleich¬ 
gewicht wieder herzustellen; nur ist es 
dann auffallend, dass dieses Bestreben nicht 
auch nach dem 2., 3. und 4. Soolbade in 
derselben Weise erkennbar ist, sondern 
die N-Ausscheidung, wie oben erwähnt, 
auf einem niedrigeren Niveau stehen bleibt. 
Wenn diese Tatsache so zu erklären wäre, 
dass Verfasser N gespart hätte, so müsste 
er an Körpergewicht zugenommen haben; 
das ist aber nicht der Fall. Auch respira¬ 
torische Verluste können nicht zur Erklä¬ 
rung des Mangels einer Körpergewichts¬ 
steigerung herangezogen werden, da H. 
Winternitz 17 ) gezeigt hat, dass warme 
Soolbäder beim Menschen die Respiration 
nicht beeinflussen. Wie kurz dauernd 
übrigens der Einfluss von Bädern sein und 
wie schnell das Individuum sich wieder aut 
N-Gleichgewieht einstellen kann, zeigen die 
Untersuchugeu von Lohsse 6 ), der bei 
Anwendung von heissen Bädern nur in 
der Zeit des Vormittags, wo die Bäder 
genommen wurden, eine Beeinflussung der 
N-Ausscheidung fand, während sie am 
Nachmittag desselben Tages schon keine 
Schwankungen mehr zeigte. Es ist daher 
zum mindesten merkwürdig, dass die Wir¬ 
kung des ersten Soolbades bei Köstlin 
sich auf zwei Tage erstrecken sollte, wie 
dieser anzunehmen geneigt ist, eine Er¬ 
scheinung, die übrigens nach den folgenden 
Bädern nicht wiederkehrt. Wenn wir nun 
auch die Zahlenangaben Köstlin's als 
richtig gelten lassen, so bleibt immer ein 
Punkt von grosser Wichtigkeit zu bedenken, 

50 * 


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396 


September 


Die Therapie der 


und das gilt für alle derartigen Unter¬ 
suchungen, nämlich der, dass N mit 
dem Schweiss in das Badewasser ausge¬ 
schieden worden ist, was nach den Unter¬ 
suchungen von Lohsse 6 ), Spitta 32 ) und 
H. Winternitz 17 ) bei warmen Bädern 
tatsächlich der Fall ist. Es steht nach 
diesen Experimenten fest, dass die Haut 
in der Tat in das Badewasser N aus¬ 
scheidet, der nach dem Bade im Harn ver¬ 
misst wird. Diese Tatsache lässt die Re¬ 
sultate Köstlin’s als höchst problematisch 
erscheinen, denn es ist sicher, dass auch 
bei seinen Versuchen N ins Badewasser 
ausgeschieden worden ist. In Folge dessen 
kann aber von einer Beeinflussung des 
Stoffwechsels keine Rede mehr sein, höch¬ 
stens von einer Verschiebung im Wege der 
Ausscheidung, indem mehr N durch die 
Haut im Schweiss abgegeben wird, während 
der Eiweisszerfall derselbe bleibt. Damit 
ist auch zugleich das Gleichbleiben des 
Körpergewichts des Verfassers erklärt. Auf 
einen Punkt möchten wir noch hinweisen, 
nämlich auf die N-Ausscheidung im Kot. 
Wir wissen durch die Untersuchungen von 
Katz 26 ), Potthast 27 ) und von Noorden 28 ), 
dass die N-Ausfuhr mit dem Kot eine 
ausserordentlich schwankende ist und grosse 
Differenzen zeigt, für welche wir heute 
noch keine gesetzmässigenUrsachen wissen. 
Wenn sich daher ein Forscher auf die N- 
Bestimmung im Harn beschränkt und nicht 
zugleich die N-Menge im Badewasser und 
Kot bestimmt, so sind seine Angaben für 
die Beurteilung des Eiweisszerfalles im 
Körper wertlos, denn aus den angegebenen 
Gründen kann von den Ergebnissen der 
Harnuntersuchung allein nicht auf den Um¬ 
satz im Körper geschlossen werden. Wir 
können somit die vonKöstlin gezogenen 
Schlussfolgerungen nicht als richtig aner¬ 
kennen. Für alle übrigen bisherigen Ar¬ 
beiten, von denen uns ausser den oben 
angegebenen nur noch diejenige von 
Dom me r 14 ) bekannt ist, der, an einem 
Pudel experimentirend, eine Steigerung 
des Eiweisszerfalles gefunden zu haben 
glaubte, wobei das Thier aber an 7 Bade¬ 
tagen merkwürdigerweise noch 320 g an 
Körpergewicht zunimmt, dürfte dasselbe 
gelten. 

Die Ausscheidung der Chloride im Harn 
ist nach den Angaben von Keller 19 ), Leh¬ 
mann 22 ), Heymann 23 ) und Robin 20 ) ge¬ 
steigert, während Köstlin eine Steigerung 
nicht wahrnehmen konnte. Diesen Resultaten 
kann nur wenig Wert beigemessen wer¬ 
den, da das Auftreten der Chloride im 
Harn so wenig gesetzmässig und je nach 


Gegenwart 1903. 


der Tageszeit, der Zusammensetzung der 
Speisen und je hach der Individualität so 
verschieden ist, dass es keinen Sinn hat, 
von den nach Bädern gefundenen Werten 
auf eine Wirkung derselben schliessen zu 
wollen, bevor wir nicht die Gesetze der Aus¬ 
scheidung kennen und die Zufuhr während 
der Versuche nicht genau geregelt ist. Was 
die Harnmenge anbetrifft, so steigt dieselbe 
nach Anwendung von Soolbädern nach den 
Angaben von Lehmann 22 ), Heymann 23 ) 
und Keller 19 ), während Köstlin 21 ) diese 
Beobachtungen bei seinen Versuchen nicht 
bestätigen konnte und Robin 20 ) geradezu 
eine Verringerung derselben angiebt. Wir 
stehen auch hier noch unaufgeklärten Tat¬ 
sachen gegenüber, da wir die Gesetze, 
welche die Harnausscheidung nach ihrer 
Menge beherrschen, noch nicht kennen. 
Teilweise erklärt sich der Widerspruch 
daraus, dass die Untersuchungen nicht mit 
gleichen Temperaturen angestellt wurden 
(Lehmann 22 )). 

Die Pulsfrequenz ist nach den An¬ 
gaben von Trautwein 32 ) bei Soolbädern 
von indifferenter Temperatur unverändert. 
Die abweichenden Resultate anderer Autoren 
beruhen wohl darauf, dass dieselben mit 
nicht ganz indifferenten Temperaturen ar¬ 
beiteten. 

Der Blutdruck steigt, wie derselbe 
Forscher beobachtete, im thermisch indiffe¬ 
rentem Soolbade. Doch bedarf diese An¬ 
gabe noch der Bestätigung, da sie nur auf 
Grund der Beobachtung des Ansteigens der 
Pulswelle gemacht ist, eine Erscheinung, 
welche bekanntlich auch anders erklärt 
werden kann. Stifler’s 24 ) Angabe, der 
eine Blutdruckerhöhung von 20 mm Hg 
fand, kommt nicht in Betracht, da die Tem¬ 
peratur seiner Bäder nicht als indifferent 
anzusehen ist. 

Ueber die Atemgrösse machten 
Lehmann 22 ) am Menschen und Röhrig 
und Zuntz 25 ) am Tiere Beobachtungen, 
welche ein Tiefer- und Seltnerwerden der 
Atmung ergaben, doch werden beide durch 
die einwandfreien Versuche von Winter¬ 
nitz 17 ) widerlegt, der beim Menschen eine 
nennenswerte Beeinflussung der Atem¬ 
grösse bei thermisch indifferenten Sool¬ 
bädern nicht fand. 

Dass eine Steigerung des Sauer¬ 
stoffverbrauchs und der Kohlensäure¬ 
abgabe bei der Anwendung von warmen 
Soolbädern stattfinde, schien festzustehen, 
seit vor nunmehr über 30 Jahren Röhrig 
und Zuntz ihre schönen Versuche an 
Kaninchen veröffentlicht hatten. Sie fan¬ 
den nämlich, dass ein 3%iges warmes 


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Original fro-m 

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September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


397 


Soolbad gegenüber einem gleichtemperirten 
Süsswasserbad eine deutliche Vermehrung j 
des O Verbrauchs und der CO^-Abgabe j 
herbeiführe und schlossen aus der Beob- ! 
achtung, dass diese Wirkung beim curari- 
sirten Tiere ausblieb, dass diese Wirkung 
reflectorisch durch chemische Reizwirkung | 
auf das Nervensystem zu Stande käme, j 
Für das Kaninchen sind diese Resultate 
ohne Widerspruch geblieben, dass wir 
aber nicht berechtigt sind, sie ohne wei¬ 
teres auf den Menschen zu übertragen, 
beweisen die exakten Versuche von H. 
Winternitz, 17 ) der eine Beeinflussung 
des Gaswechsels in den Lungen durch in¬ 
different warme Soolbäder nicht feststellen 
konnte. Die Resultate von Lehmann,--) 
der eine Vermehrung des Sauerstoffver- 
verbrauchs und der Kohlensäureabgabe 
nach Anwendung von Bädern der Quellen 
von Oeynhausen fand, können nicht als 
Folge der Salzwirkung angesehen, sondern 
müssen vielmehr zum Teil der Temperatur 
Wirkung zugeschrieben werden, da die Soole 
von Oeynhausen eine Temperatur von nur 
31° C. hat. Ein anderer Faktor spielt bei 
den Experimenten Lehmanns als Ur¬ 
sache der Vermehrung des Gaswechsels 
in der Lunge eine nicht zu unterschätzende 
Rolle, das ist der Kohlensäuregehalt der 
von ihm benutzten Soole. Nach den Unter¬ 
suchungen von H. Winternitz, die wir 
schon mehrfach erwähnt haben, ist es näm¬ 
lich die Kohlensäure und zwar die im 
Badewasser enthaltene Kohlensäure, — da 
sie durch die Haut resorbirt wird, — 
welche auf den Sauerstoffverbrauch und 
namentlich auf die Kohlensäureabgabe 
durch die Lungen vermehrend einwirkt. 
Ebenso wird das Atemvolumen grösser, 
wodurch der günstige Einfluss CO 2 haltiger 
Soolen (Nauheim) auf Herzkrankheiten eine 
Erklärung findet, da eine ausgiebige Respi¬ 
ration die Arbeit des Herzens bedeutend 
erleichtert. Dem einfachen Soolbade kommt 
aber eine solche Wirkung nicht zu. 

Die Schwierigkeit auf experimentellem 
Wege bezüglich der physiologischen Wir¬ 
kung der Soolbäder zu greifbaren Resul¬ 
taten zu kommen, die Mannigfaltigkeit des 
Einflusses und die Verschiedenheit des 
Einflusses hat dazu geführt, die Ursache 
desselben in einer Reflexwirkung vom 
peripherem Nervensystem aus zu suchen. 
Es ist klar, dass die Reactionsfähigkeit 
der einzelnen Individuen das Wirkungsbild 
der Bäder überhaupt und der Soolbäder 
im Besonderen sehr mannigfaltig gestalten 
wird, je nach der Beschaffenheit des ge- 
sammten Nervensystems, seiner ursprüng¬ 


lichen Veranlagung und dem Zustand der 
peripheren Endigungen. Die letzteren 
bilden offenbar den Angriffspunkt der Bade¬ 
wirkung, und es wird mit der mehr oder 
weniger grossen Anspruchsfähigkeit der¬ 
selben die Wirkung des Bades variiren. 
Das Verhalten der Tastempfindlichkeit der 
Haut vor und nach der Application von 
Soolbädern ist auch Gegenstand von Unter¬ 
suchungen gewesen, die ebensowenig wie 
alle vorhererwähnten zu einheitlichen Re¬ 
sultaten geführt haben. Während Jacob 20 ) 
jeden Einfluss selbst bei Anwendung 15°/ 0 
Salzbäder leugnet, geben Santlus 30 ) und 
Beneke is ) an, dass die Tastempfindlich¬ 
keit gesteigert sei. Bezüglich der Reflex¬ 
erregbarkeit giebt Trautwein 31 ) an, dass 
sie im thermisch indifferenten Soolbad er¬ 
heblich herabgesetzt, wenn nicht gar ganz 
erloschen sei, da er weder vom Sool¬ 
bade, noch von electrischen Reizen, welche 
während desselben applicirt wurden, irgend 
eine Einwirkung auf Puls, Respiration und 
Körpertemperatur feststellen konnte. 

Da wir glaubten, dass in der Tat die 
Soolbäder einen Einfluss auf das periphere 
Nervensystem haben könnten, prüften wir 
die Angaben über die Sensibilität der Haut 
auf tactile Reize eingehender. Wir wählten 
dazu folgenden Weg. Es wurde mit dem 
Tasterzirkel die Grösse der Empfindungs¬ 
kreise festgestellt, und zwar zunächst im 
normalen Zustand bei Zimmertemperatur, 
dann nach einem kalten Bade (14° C.) von 
15 Minuten langer Dauer. Am nächsten 
Tage wurde wiederum zunächst das Nor¬ 
malexperiment wiederholt, und dann die 
Veränderungen festgestellt, welche durch 
ein ^ständiges Bad von 35° C„ das sich 
bis auf 33° C. abkühlte, hervorgerufen 
wurden. Am dritten Tage schliesslich 
wurde derselbe Versuch angestellt, nur 
dass anstatt eines indifferenten Wasser¬ 
bades ein 15 Minuten währendes 3% Sool¬ 
bad zur Anwendung gelangte. Da ein 
Vollbad zu diesen Versuchen nicht nötig 
zu sein schien, andererseits die immerhin 
umständliche Prüfung an einem kleinen 
Körperteil genauer und exacter auszu¬ 
führen war, als wenn die ganze Körper¬ 
oberfläche untersucht werden musste, so 
wandten wir nur Armbäder an. Es wurde 
immer nur der linke Arm geprüft. Wir 
untersuchten eine Anzahl Collegen, welche 
sich uns in liebenswürdigster Weise zur Ver¬ 
fügung stellten. Zwei der Herren hatten kein 
ganz intactes Nervensystem, der eine zeigt 
ganz leichte, der andere ziemlich schwere 
neurasthenische Symptome, die beiden 
anderen dagegen waren vollkommen gesund. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



398 Die Therapie der 

Aus den beigegebenen Protokollen ist 
ersichtlich, dass in Bezug einer Soolbad- 
wirkung ein wesentlicher Unterschied 
gegenüber einfachen Wasserbädern ohne 
Zusatz nicht besteht. Es zeigt sich, dass 
sowohl beim kalten Wasserbad, beim ther¬ 
misch indifferenten einfachen Wasserbad 
und schliesslich beim indifferenten Soolbad 
meistens eine Erweiterung der Empfindungs¬ 
kreise eintritt; in einigen Fällen ist eine 
Aenderung überhaupt nicht zu konstatiren, 
und in einigen anderen war eine Ver¬ 
kleinerung der Empfindungskreise zu be¬ 
merken. Alle Versuchspersonen verhielten 
sich gleich. 

Aus diesen Versuchen geht wohl mit 
Sicherheit hervor, dass die Soolbäder 
keinen anderen Einfluss auf die Sensi¬ 
bilität ausüben als kalte oder sog. in¬ 
differente Bäder, dass aber ein gewisser 
Einfluss auf das Nervensystem überhaupt 
nicht in Abrede gestellt werden kann, ln 
welchem Sinne dieser Einfluss zu deuten 
ist, vermögen wir nicht anzugeben, noch 
weniger, wie er therapeutisch verwendet 
werden könnte. 

Es ist bisher, wie wir gesehen haben, 
nicht gelungen eine specifische Wirkung 
des Salzzusatzes zum Wasser nachzuweisen, 
und wir sind daher gezwungen, für die 
nicht zu leugnenden therapeutischen Er¬ 
folge eine andere Erklärung zu suchen. 
Ein Moment, welches hierbei wohl in Betracht 
kommt, ist oben erwähnt worden. Es ist 
sehr gut denkbar, dass eine durch die 
COj-haltigen Soolbäder vertiefte und ge¬ 
wiss auch erleichterte Atmung sehr gün¬ 
stig auf die Arbeit des Herzens wirken 
kann, welche doch sehr wesentlich durch die 
Druck- und Raumverhältnisse im Thorax 
beeinflusst wird, und zwar ist die Herz¬ 
tätigkeit um so leichter je ausgiebiger 
die Atemzüge. Die Besserung der Herz¬ 
tätigkeit und der Circulation wird sich 
bald durch Schwinden etwa vorhandener 
ödematöser Schwellungen bemerkbar 
machen. Wenn wir nun in Betracht ziehen, 
dass mit der Hebung der Circulation auch 
eine gründlichere Arterialisation des Blutes 
einhergeht, so ist damit auch der günstige 
Einfluss der Soolbäder auf Constitutions¬ 
anomalien, Skrophulose etc. teilweise zu 
erklären, indem der darniederliegende 
Stoffwechsel eine mächtige Anregung er¬ 
fährt. 

Zum grossen Teil wird man die gün¬ 
stige Wirkung des Badeaufenthaltes auch 
in der geregelten Lebensweise, Diät und 
klimatischen Factoren zu suchen haben. 
Nicht zuletzt kommt auch eine suggestive 

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Gegenwart 1903. September 

Wirkung des Badeaufenthalts in Betracht, 
die wir nicht unterschätzen dürfen. Ausser¬ 
dem ist es ohne Zweifel sicher, dass in 
vielen Fällen die Besserung darauf zurück¬ 
zuführen ist, dass der Patient sich bei 
einer Badecur (vielleicht zum ersten Male 
in seinem Leben) entschliesst, den Vor¬ 
schriften des Arztes in vollem Umfange 
nachzukommen. Wie wenig das für ge¬ 
wöhnlich der Fall ist, wird jeder Praktiker 
wissen, abgesehen davon, dass materielle 
und andere Verhältnisse es dem Patienten 
oft unmöglich machen. Für viele Patienten, 
namentlich Kinder, sind die hygienischen 
Verhältnisse in den Musteranstalten vieler 
Soolbäder um vieles besser als in der ge¬ 
wohnten Umgebung zu Hause. Besonders 
wird dies bei den Kindern minder be¬ 
mittelter Eltern anzutreffen sein. Und dass 
diese hygienischen Verhältnisse bei der 
Behandlung sämmtlicher Krankheiten mit¬ 
spielen können, ist über jeden Zweifel er¬ 
haben. 

Während man alle diese Factoren 
schliesslich auch in jedem anderen Bade, 
nicht nur in den Soolbädern, als thera¬ 
peutisch wirksam in Betracht ziehen muss, 
macht sich vielleicht gerade bei Behand¬ 
lung der Scrophulose ein specifischer Ein¬ 
fluss der Soolbäder geltend. Wer einmal 
gesehen hat, in wie kurzer Zeit manchmal 
scrophulöse Augenentzündungen zurück¬ 
gehen können, wird eine specifische Wir¬ 
kung auch gar nicht leugnen. Dies kann 
man zum Teil wenigstens damit erklären, 
dass durch Verspritzen des kochsalzhalti¬ 
gen Wassers (3—10%) auch eine gewisse 
Quantität dieses Wassers in den Conjunc- 
tivalsack gelangt und hier einen regeren 
localen Stoffwechsel im Auge anregt 
Diese Erklärung würde auch mit den Re¬ 
sultaten übereinstimmen, welche man auch 
bei anderen Erkrankungen des Auges mit sub- 
conjunctivalen Injectionen von NaCl-Lösun- 
gen erzielt. Bei Anwendung von Soolbädern 
ebenso wie bei der letzteren Medication 
findet ein regerer Flüssigkeitsverkehr im 
Inneren des Auges statt. Aehnlich kann 
man sich eine Wirkung auf die Bronchial¬ 
schleimhaut vorstellen, zu der ja auch die ver¬ 
spritzten Tröpfchen hypertonischer Koch¬ 
salzlösungen mit der Inspirationsluft ge¬ 
führt werden. 

Im Uebrigen möchten wir noch darauf 
hinweisen, dass diese locale Wirkung der 
Soole auch ganz systematisch beabsichtigt 
wird; denn in den Wandelhallen neben 
den Gradirwerken, welche sich ja in jedem 
Soolbade befinden, ist die Luft erfüllt mit 
Wassertröpfchen, die NaCl enthalten. 

Original ffom 

UNIVERSUM OF CALIFORNIA 



399 


September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Versuchsprotokolle. — Grösse der Empfindungskreise. 



17° C 
Zimmer¬ 
temperatur 

15 Min. 
Bad von 
14° C. 

17° C. 1 
Zimmer¬ 
temperatur ; 

15 Min. 
Bad von 
34—36°C. 

17° C. 
Zimmer¬ 
temperatur 

1 5 Min. 

3% Soolbad 
von 35° C. 

I. Dr. B. 



i 


i 


Extensorenseite d.Unterarms 





1 


proximal, radial. ... 

2.4 

2.7 

2.7 

2.6 

2.4 

2,7 

ulnar. 

2.7 

2,2 

2,2 

2,5 

2,7 

4,3 

distal, radial. 

2,7 

2.5 

2,5 

1,7 

2,5 

3,2 

ulnar. 

2.2 

2,0 

2,0 

2.0 

2,1 

3.2 

Handrücken. 

1,5 

1.4 

1.5 

1,4 

1.5 

1,5 

Flexorenseite 







proximal, radial . . . 

3,4 

3.5 

3.4 

4.0 

3,4 

4,5 

ulnar. . . . 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

distal, radial. 

2.0 

2.2 

2,0 

2.5 

2,1 

4.4 

ulnar. 

2.4 

20 

2,0 

1,8 

2.2 

3.0 

Hohlhand. 

0,8 

1.1 

0,9 

t.t 

0,8 

1,7 


20" C. 

15 Min. 

20° C. 

15 Min. 

21 0 C. 

15 Min. 


Zimmer- 

Bad von 

Zimmer- 

Bad von 

Zimmer- 

3°/o Soolbad 


temperatur 

16° C. 

temperatur 1 

34— 36°C. 

temperatur 

von 35° C. 

II. Dr. H. 







Extensorenseite d.Unterarms 







proximal, radial. . . . 

2.2 

3,6 

4,1 

4.9 

6.2 

7,1 

5.0 

ulnar. .... 

4,8 

4.3 

5,0 

4.3 

5,0 

distal, radial. 

4,1 

4,2 

2,7 

3,7 

3,3 

2,9 

ulnar. 

4.2 

2.5 

2,4 

3,4 

2,5 

2,3 

Handrücken. 

U 

2,7 

2,1 

2,1 

1,9 

2,0 

Flexorenseite 







proximal, radial. . . . 

4,3 

4.9 

6.3 

5,6 

4,7 

6,2 

ulnar . 

4,5 

5,6 

5.4 

5,8 

4.2 

6,8 

distal, radial . 

1.9 

2,6 

3.5 

2,5 

2,1 

2,2 

ulnar.. 

1.8 

2.5 

2.9 

2.6 

2,0 

2,8 

Hohlhand . 

0,7 

1,0 

0,9 

1,0 

1,0 

i.o 


20° C. 

15 Min. 

20° C. 1 

15 Min. 

20° C. 

15 Min. 


Zimmer¬ 

Bad von 

Zimmer¬ 

Bad von 

Zimmer¬ 

3% Soolbad 


temperatur 

15° C. 

temperatur 

34 — 36°C. 

temperatur 

von 34—36°C. 

ni. Dr. K. I. 






| 

Extensorenseite d.Unterarms 
proximal, radial. . . . 

5,9 

6.9 

5.7 

7,1 

5,0 

5,2 

ulnar. 

3.3 

5,0 

3.9 

i s;6 

3,2 

1 4,5 

distal, radial. 

2.8 

2.8 

2,7 

3,4 

20 

2,4 

ulnar. 

2.6 

2.6 

2.4 

2.1 

2.2 

1,6 

Handrücken. 

2,0 

1,7 

1,5 

1,8 

1,1 

1,4 

Flexorenseite des Unterams 







proximal, radial. . . . 

8,0 

7.4 

7.5 

7,4 

7,0 

6.7 

ulnar . 

7,2 

7,7 

5,9 

i 7.6 

6,7 

6,2 

distal, radial . 

2.6 

3,6 

2,6 

2.9 

2,2 

2.7 

ulnar . 

2.7 

2,3 

2,6 

2,4 

2,4 

1,4 

Handrücken . 

1,1 

1,2 

1,2 

1,0 

0.9 

i 0,6 


20» C. 

15 Min. 

19° C. 

15 Min. 

18° C. 

15 Min. 


Zimmer¬ 

Bad von 

Zimmer¬ 

! Bad von 

Zimmer¬ 

3% Soolbad 


temperatur 

15° C. 

temperatur 

! 36 — 38°C 

temperatur 

von 34 — 36°C. 

IV. Dr. K. II. 

Extensoren Seite d.Unterarms 
proximal, radial. . . . 

3.2 

3,6 

3.1 

4,1 

3.8 

1 

1 

4,5 

ulnar. 

3,3 

3,0 

3,0 

3.7 

1,9 

3,1 

distal, radial. 

2,2 

3,1 

2,3 

2,4 

2,7 

3,4 

ulnar. 

2,8 

i 3,0 

2.5 

2,7 

2.9 

3,8 

Handrücken . 

1,3 

1 2 .1 

1.4 

1,4 

0,9 

1,6 

Flexoren des Unterarms 






proximal, radial. . . . 

2,7 

4.3 

4,6 

3,4 

5.4 

4.4 

ulnar. 

1.8 

3,2 

3,2 

i 3.3 

3,5 

3.5 

distal, radial. 

1.7 

2,7 

3,2 

1 3,1 

3,1 

3,0 

ulnar. 

1.7 

2.7 

2,4 

2,4 

3,0 

2,8 

Handrücken 

1,0 

1,1 

0,6 

i 1,0 

0,9 

0.9 


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Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



















































400 


September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


L i 11 e r a t u r. 

1) Fleischer, Untersuchungen über das 
Resorptionsvermögen der menschlichen Haut. 
Habilitationsschrift, Erlangen 1877. — 2) Du 
Mesnil, Ueber das Resorptionsvermögen der 
menschlichen Haut. Deutsches Archiv für kli¬ 
nische Medicin. Bd. 50, 51, 52. — 3) Filehne, 
Ueber die Durchgängigkeit der menschlichen 
Epidermis für feste und flüssige Stoffe. — Berlin, 
klin. Wochenschrift Nr. 3, 1898. — 4) Wille¬ 
min, Archiv general, Sörie VI, II, 1863. —• 
5) Riess, Ueber die Wasserausscheidung des 
menschlichen Körpers durch Haut und Nieren 
bei thermisch indifferenten Bädern. Archiv für 
exp. Path. u. Pharmakolog. Bd. 24. — 6) Lohsse, 
Ein Beitrag zu der Lehre von der Einwirkung 
des heissen Bades auf den menschlischen Stoff¬ 
wechsel. Dissert. Halle 1900. — 7) Wieck, 
Ueber die physiologischen Wirkungen ver¬ 
schiedener warmer Bäder und über das Ver¬ 
halten der Eigenwärme im Allgemeinen. Wien 
und Leipzig 1894 und Wiener kl. Wochenschr. 
1894, No. 36, 37. — 8) Leichtenstern, Allge¬ 
meine Balneotherapie 1880. — 9)Hoesslin, 
Penzoldt’s und Stintzing’s Handbuch der spe¬ 
ziellen Therapie innerer Krankheiten. Bd. 5. 
Liefrg. 18. — 10) Jakimoff, Zur Lehre von 
den lauwarmen Wasserbädern. Dissert. Peters¬ 
burg 1883. — 11) Goralewitsch, Zur Frage 
von der Wirkung der kalten, indifferenten und 
heissen Vollbäder bei ruhigem und fliessendem 
Wasser auf gesunde Personen. Wratsch 1890, 
Nr. 29 und 30. — 12) Orloff, Zur Frage von 
dem Einflüsse der Bäder auf die Hautsperspira¬ 
tion. — 13) Valentiner, Handbuch der Bal¬ 
neotherapie 1876. — 14) D ommer, Ueber den 
Einfluss verschiedener Bäder auf den Eiweiss- 
zerfall. Zeitschrift für klin. Medizin, Bd. XI, 
1886. — 15) Karner, Ueber Badetemperaturen. 
Prag 1862. — 16) v. Renz, Die Heilkräfte der 
sogenannten indifferenten Thermen. Bonn 1879. 
II. Auflage. — 17) H. Winternitz, Ueber die 
Wirkung verschiedener Bäder (Sandbäder, Sool- 
bäder, Kohlensäurebäder etc.) insbesondere auf 
den Gaswechsel. Deutsches Archiv für klin. 
Medicin. Bd. 72. — 18) Beneke, Nauheims 
Soolthermen und deren Wirkung. Marburg 
1859. Zum Verständnis der Soolbad Wirkung. 


Berlin, klinische Wochenschrift. Bd. 71. No. 27. 

— 19) Keller, Ueber den Einfluss von Sool- 
bädern und Süsswasserbädern auf den Stofl- 
w T echsel des gesunden Menschen. Correspon- 
denz-Blatt für Schweizer Aerzte 1891. — 20) Ro- 
bin, La balnöation chloruree, ses effets sur 
nutrition, ses nouvelles indications. Acad. de 
Mödecine 1891. — 21) Köstlin, Ueber den Ein¬ 
fluss warmer 4°/oiger Soolbäder auf den Ei¬ 
weissumsatz im Menschen. Inaugural - Dis- 
sertat. Halle 1892. Ueber den Einfluss von 
Salzbädern auf die Stickstoffausscheidung des 
Menschen. Fortschritte der Medicin 1893. — 
22) L. Lehmann, Bad Oeynhausen (Rehme), 
mit 4 lithogr. Tafeln. Berlin 1874. Bad Oeyn¬ 
hausen. Für Aerzte und Laien. Lg. 1863. Die 
Thermen zu Bad Oeynhausen und das ge¬ 
wöhnliche Wasser. Göttingen 1856. Urinmengen 
nach Bädern aus gewöhnlichem und Thermal- 
soolwasser. Berlin, klin. Wochenschrift No. 20, 
1886. — 23) Hey mann, Mineralquellen und 
Winteraufenthalt in Wiesbaden. Wiesbaden 1875. 

— 24) Stifler, Ueber physiologische differente 

Bäderwirkung. 16. Versammlung der balneologi- 
schen Gesellschaft. Berlin 1895. — 25) Röhrig 
und Zuntz, Pflügers Archiv 1871. — 26) Katz, 
Einfluss der Harzburger Crodo-Quelle. Dissert. 
Berlin 1894. — 27) Potthast, Beiträge zur 
Kenntnis des Eiweissumsatzes im tierischen 
Organismus. Münster 1887. — 28) v. Noorden, 
Lehrbuch der Pathologie des Stoffwechsels. 
Berlin 1893. — 29) Jacob, Giebt es hautreizende 
Bäder oder nicht? Virchows Archiv 1893. 6. Ver¬ 
sammlung der baineologischen Section. Berlin 
1884. — 30) Santlus, Ueber den Einfluss der 
Chlornatriumbäder auf die Sensibilität der Haut 
Dissertat. 1872. Marburg. — 31) Trautwein, 
Ueber das Verhalten des Pulses, der Respiration 
und der Körpertemperatur im elektrischen Sool- 
bade. Deutsches Archiv für klinische Medicin. 
Bd.44,1887.—32) Spitta, Ueber die Grösse der 
Hautausscheidungen und Hautquellungen im 
Bade. Archiv für Hygiene. Bd. 36,1899. 33) N e u - 

mann, Ueber den Einfluss grösserer Wasser¬ 
mengen auf die Stickstoffausscheidung beim 
Menschen. Archiv für Hygiene. Bd. 36, 1889. 

— 34) Glax, Lehrbuch der Balneotherapie. 
I. Bd. Stuttgart 1897. 


Beitrag zur Mechanotherapie der Lungenphthise. 

Von Dr. H* Cybulski, Secundärarzt der Dr. Brehmer’schen Lungenheilanstalt zu Görbersdorf i. Schl. 


Die Behandlung der Lungentuberkulose 
durch systematische Beklopfung des Brust¬ 
korbs, welche der Schweizer Arzt Erni vor 
einigen Jahren beschrieben hat, und deren 
Erfolge von vielen Seiten bestätigt worden 
sind, hat unter den praktischen Aerzten bisher 
augenscheinlich wenig Anwendung erfahren. 
Es sei mir deswegen gestattet, an dieser Stelle 
noch einmal auf die Erni’sche Methode 
zurückzukommen. Die Behandlung besteht 
im Beklopfen (tapotement) des Brustkastens. 
Der Patient nimmt mit vollständig entblösster 

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Brust auf einem Stuhl Platz. Nachdem die 
Brust mit Vaselin oder einer beliebigen 
Salbe (Erni gebrauchte mit Vorliebe Sali- 
cylsalbe) gut eingefettet worden ist, be¬ 
ginnt der Arzt mit dem Klopfen in Form 
von kurzen, ziemlich starken, rasch aufein¬ 
ander folgenden Schlägen. Die ganze 
Procedur dauert nur einige Minuten (drei 
bis fünf). Auf diese Weise umkreist man 
den ganzen Brustkorb, wobei man die 
Supraclaviculargruben, die Schlüsselbeine, 
die Brustwarzen und beim Weibe die Brüste 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


401 


als äusserst empfindliche Theile vermeiden 
muss. 

Man kann sich hierbei entweder eines 
starken Spatels oder eines schweren Papier¬ 
messers aus Metall bedienen, im Gewichte 
von 75 bis 100 g, Erni empfiehlt ein 100 g 
schweres silbernes Messer. Selbstverständ¬ 
lich ist es, dass die Schläge mit der flachen 
Seite geführt werden müssen. Für gewöhn¬ 
lich empfinden die Patienten in den ersten 
Sitzungen Schmerzen; sie gewöhnen sich 
jedoch bald daran» wenn auch im allge¬ 
meinen sehr abgemagerte und sehr fette 
Personen infolge grosser Schmerzhaftig¬ 
keit diesen Eingriff nur schwer ertragen. 

Nach Anwendung dieser Massage färbt 
sich die Haut lebhaft roth, manchmal sieht 
man sogar subcutane Blutaustritte auftreten. 
Mit Nachlass des Eingriffes hören auch die 
Schmerzen sofort auf. 

Bei den Kranken macht sich ein Er¬ 
frischungsgefühl geltend, ähnlich wie nach 
Anwendung einer Brause. Bei kräftigen 
Personen kann man die Massage täglich, bei 
schwächeren jeden zweiten oder dritten 
Tag anwenden. 

Im Allgemeinen genügen 20 bis 30 Sitzun¬ 
gen, um einen Erfolg wahrzunehmen. Die 
Schläge müssen kurz, rasch und ziemlich 
kräftig erfolgen» wobei man das Instrument 
zwischen dem Zeigefinger und dem Daumen 
hält und nur das Handgelenk spielen lässt. 

Soviel über die Technik der Massage. 
Erni l ) war der erste, welcher diese Methode 
bei etwa 650 Fällen von Lungenschwind¬ 
sucht angewendet hatte. Die Wirkung 
dieses Eingriffes beschreibt der Verfasser 
folgendermaassen: 

Sofort nach der Massage konnte man 
ein Sinken der Temperatur um 0,2 bis 0,5 0 
wahrnehmen. Dieses Absinken ist entwe¬ 
der vorübergehend, d. h. es dauert Vs Stunde 
bis zu mehreren Stunden, oder aber es 
hält den ganzen Tag über an. 

Eine solche Wirkung konnte der Ver¬ 
fasser in 75 °/o aller seiner Fälle beobachten. 
Ausserdem konnte er ein Verschwinden der 
Nachtschweisse feststellen, welcher Um¬ 
stand sich leicht aus der unmittelbaren Ein¬ 
wirkung auf die Haut erklären lässt. 

Die Kurzathmigkeit wird geringer, der 
Appetit und das Körpergewicht erfahren 
eine Steigerung (in 64%). Daneben sah 
Verfasser einen wohlthätigen Einfluss auf 
die Blutbeschaffenheit, ganz besonders bei 
anaemischen und chlorotischen Personen, 
selbst wenn sie Anfangs nicht an Tuber¬ 
kulose litten. 

1 ) Die Behandlung der Lungenschwindsucht. 
II. Theil, F. 75. 

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Die wichtigste und hauptsächlichste Wir¬ 
kung aber erzielt man durch diesen Ein¬ 
griff auf die Exspectoration. 

Schon nach drei bis vier Sitzungen 
überrascht sowohl den Patienten als auch 
den Arzt die Vermehrung des Auswurfes 
und die Leichtigkeit der Abscheidung. Nach 
der Meinung des Verfassers wirkt das Be¬ 
klopfen des Brustkorbes als Exspectorans 
viel intensiver, als alle zu diesem Zwecke 
verabreichten Medicamente. 

Die Neigung zu Blutungen bildet keine 
Contraindication; im Gegenteil, eine grosse 
Anzahl solcher Kranken hatte viel weniger 
Blutungen als vorher; dagegen können 
Spuren von Blut in Gestalt kleiner Streifen 
im Auswurf, sehr leicht nach Anwendung 
der Massage auftreten. 

Als ganz besonders für diesen Eingrifl 
geeignet, sieht Verfasser Höhlen in der 
Lunge an, welche sich rasch reinigen; 
ebenso stellt Verfasser den günstigen Ein¬ 
fluss auf trockene Pleuritiden fest 

Friedländer 1 ) bestätigt im Allge¬ 
meinen die Erfahrungen E r n i ’ s. Der Ver¬ 
fasser hat im Grossen und Ganzen günstige 
Erfolge in Bezug aufReinigung des Lungen¬ 
gewebes, Verminderung der Geräusche, 
Zunahme des Gewichtes und des Appetits 
erhalten. Er beschreibt die Wirkung der 
Massage etwa folgendermaassen: 

Bei manchen Personen tritt ein fieber¬ 
hafter Zustand auf, welchen Friedländer 
theilweise auf die specifische Einwirkung 
dieses Eingriffes auf die Phthise selbst be¬ 
zieht, ähnlich der Wirkung des alten Tuber¬ 
kulins, theilweise auf ein Uebergreifen der 
pathologischen Massen auf die noch ge¬ 
sunden Theile der Lunge. Es entsteht eine 
bedeutende Exspectoration und der Appetit 
beginnt nachzulassen. Nach einigen Tagen 
schwinden alle diese Erscheinungen voll¬ 
ständig, Appitit stellt sich wieder ein, das 
Körpergewicht hebt sich und die Lungen 
reinigen sich. 

Professor Sahli 2 ), Bern, äusserst sich 
ebenfalls günstig über diesen Eingriff. 

Ausserdem hat Goebel 3 ) seine Beob¬ 
achtungen bei der Anwendung dieser 
Methode bei Emphysem der Lungen ver¬ 
öffentlicht. Er sah sehr günstige Folgen; 
nach seiner Meinung beruht die Wirkung 
dieses Eingriffes auf einer Durchblutung 
des Lungengewebes; in Folge dessen wird 
die Lebenskraft des Gewebes erhöht, was 
wiederum wohlthätig auf das Emphysem 
einwirkt, da ja diese Krankheit auf einer 

*) Therapie der Gegenwart. No. 2, 1901. 

a ) Citirt bei Friedländer, 1. c. 

3 ) Deutsche med. Wochenschr. 1892, No. 14. 

51 

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402 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


angeborenen oder erworbenen Schwäche 
des elastischen Gewebes der Lunge beruht. 

In den letzten Tagen hat Thieme 1 ) 
seine Beobachtungen über die Wirkung 
des Klopfens veröffentlicht. Er bestätigt 
den günstigen Erfolg zur Erzielung guter 
Exspectoration bei der Lungenschwind¬ 
sucht, wie auch bei Anfällen von bron¬ 
chialem Asthma; Verfasser empfiehlt diese 
Methode aufs wärmste. 

Hasebroeck 2 ) studirte im Allgemeinen 
die Wirkung des Tapotement. Nach 
starkem Beklopfen des Brustkorbes trat Ver¬ 
langsamung des Pulses ein, der Druck in 
den Blutgefässen wurde erhöht; die Menge 
der ausgeschiedenen Kohlensäure nahm ab. 

Die Ursache dieser Erscheinung erklärt 
Länderer 3 ) auf die Weise, dass in Folge 
der Erschütterung ein Zusammenziehen der 
kleinsten Gefässe auftritt, wodurch die 
Respirations- und Diffusionsfläche kleiner 
wird. In Folge dessen entsteht eine kurz 
andauernde (fünf Minuten) Retention von 
CO 2 im Organismus, welche die diesem 
Zustande eigenthümlichen Erscheinungen 
von Reizung der Medulla oblongata her- 
vorruft, wie Pulsverlangsamung, Zusammen¬ 
ziehung der Gefässe und Erhöhung des 
Blutdrucks. Ausserdem äussert sich noch 
die Wirkung des Tapotements in einem 
erhöhten Blutzufluss und rascherem Auf¬ 
saugen der Säfte. 

Dass energisches Beklopfen der Herz¬ 
gegend auf die Thätigkeit des Herzens 
einen Einfluss auszuüben vermag, haben 
Seitler 4 ), Astley-Lewin 5 ) nachgewiesen; 
sie beobachteten ein energisches Zusam¬ 
menziehen der Herzmuskulatur und Ver¬ 
langsamung des Pulses. 

Es besteht also die Wirkung der Massage 
zuerst in einer starken Durchblutung der 
Lungen, in Folge Erhöhung des Blut¬ 
druckes. 

Neben der reichlichen Durchblutung 
äussert sich das Beklopfen des Brustkorbes 
noch in einer anderen Richtung, welche 
für die Therapie von ganz besonderer Be¬ 
deutung ist, nämlich in der Vermehrung 
der Exspectoration. Sie wird unzweifel¬ 
haft bewirkt durch den Krampf der glatten 
Muskelfasern, welche sich in den mittleren, 
kleinen und kleinsten Bronchien befinden. 

Zander 6 ) stellte die Thatsache fest, 
dass beim Beklopfen der Kreuzbeingegend 


! ) Görbersdorfer Veröffentlichungen aus Dr. Breh- 
mer’s Heilanstalt 1902. 

J ) Bum, Massage und Heilgymnastik, S. 189. 

3 ) Länderer, Mechanotherapic S. 99, 100. 

4 ) . 5 ) Bum, I. c. 

,; ) Bum, S. 94. 

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ein so starker Krampf der glatten Muscu- 
latur des Rectums und der Blase eintritt, 
dass die Patienten mit aller Kraft einem 
sofortigem Austritt des Inhaltes entgegen¬ 
arbeiten müssen. 

Diese Thatsache bestätigen auch Erni 
und Friedländer, ohne dieselbe zu er¬ 
klären; ganz prägnant trat sie in folgendem 
Falle auf: 

Herr H. befand sich Anfangs vier Monate 
in der Anstalt. Die Temperatur, welche zuerst 
37,6 bis 37,8 erreichte, begann langsam abzu¬ 
fallen, hielt sich jedoch beim Beginn der Be¬ 
handlung mit Massage noch immer auf 37,3. 
Der Patient hatte viel an Körpergewicht zuge¬ 
nommen (gegen 18 kg), dagegen schritt die 
Besserung in den Lungen nur sehr langsam 
vor, so dass man zu Beginn der Behandlung 
im Bereiche fast der ganzen oberen Partie des 
rechten Lungenflügels kleinblasiges Rasseln, 
sowie Crepitation wahrnehmen konnte. Nach 
jedesmaliger Massage warf Patient ausnahms¬ 
weise sehr viel aus (vorher sehr wenig), so- 
dass nach zwei Wochen das kleinblasige 
Rasseln vollständig verschwand und nur noch 
einzelne grossblasige Geräusche zurückblieben, 
die aber nach weiteren 14 Tagen ebenfalls 
verschwanden. Daraufhin wurde die Behand¬ 
lung abgebrochen. Die Temperatur kehrte zur 
Norm zurück und stieg nie über 37,0 (im Munde). 
Nach weiteren zwei Wochen trat wieder un¬ 
bedeutendes Rasseln in der rechten Lungen¬ 
spitze auf, verschwand jedoch nach 14 tägiger 
Massage für immer. Dagegen konnte man eine 
geringe Gewichtsabnahme feststellen, die Tem¬ 
peratur blieb normal (unterhalb 37,0). 

Der oben beschriebene Fall kann als 
beweisendes Beispiel dieses Eingriffes 
dienen. Ausserdem besitze ich mehrere 
Fälle, in denen das Resultat einer lang¬ 
wierigen Behandlung dennoch ein aus¬ 
nahmsweise gutes war, obwohl eine sicht¬ 
bare Wirkung unmittelbar nicht vorhanden 
war. Es sind dies meistens Fälle, welche 
lange Zeit in der Anstalt ohne sichtbare 
Besserung verweilten und bei denen die 
Tendenz zur Heilung erst mit Beginn der 
Massage einsetzte. 

Unter anderen verdienen folgende drei 
Fälle einer besonderen Erwähnung: 

Herr A. befand sich seit Monaten in der 
Anstalt; in der linken Spitze mittelgrossblasiges 
und kleinblasiges Rasseln in massiger Menge. 
In den ersten drei Monaten kaum merkliche 
Besserung — nach Anwendung der Massage 
verschwand das Rasseln im Laufe von einem 
Monat vollständig. 

Herr F. ist seit fünf Jahren krank. In beiden 
Lungenspitzen ist ein alter Prozess zu finden, 
mit mässigem mittelgrossblasigem Rasseln. — 
Frappante Besserung nach Anwendung der 
Massage. 

Bei Frau M. besserte sich der Zustand in 
den ersten drei Monaten bedeutend, im vierten 

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403 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


trat ein Recidiv ein; die Temperatur stieg bis 
auf 37,5; in der rechten Lungenspitze nahm 
man frisches Rasseln wahr. Nach sechs- 
wöchentlicher Anwendung der Massage ver¬ 
schwand das Rasseln, die Temperatur war 
schon zur Norm zurückgekehrt. 

Freilich kann man nicht in allen Fallen 
günstige Resultate erwarten. Ich verfüge 
über eine Reihe von Fallen, wo die Massage 
nicht den geringsten Nutzen gebracht hat, 
ja in einem rief sie sogar ein mehrwöchiges 
Fieber mit Temperaturen bis zu 38,0 her¬ 
vor, während der Patient früher niemals 
gefiebert hatte. 

Nach meiner Erfahrung tritt in ca. 60% 
eine Besserung ein, während dagegen in 
anderen Fällen sich die Massage garnicht 
eignet. Als geeignet zur mechanischen 
Behandlung sieht Erni fast jeden Fall von 
Tuberkulose an, namentlich aber verbreitete 
Cavernen, trockene Pleuritiden; Fried- 
länder geht nicht näher auf die Indications- 
stellung ein. 

Nach meiner Meinung ist die Anwen¬ 
dung der Massage sehr individuell und 
manchmal ist es recht schwer, das Re¬ 
sultat im voraus zu bestimmen. Mir scheint 
os, dass zu dieser Behandlung am besten 
frische Fälle sich eignen (selbst mit er¬ 
höhten Temperaturen) mit zahreichen fein¬ 
blasigen Geräuschen und zweitens sehr alte 
Fälle von Lungenschwindsucht. 


Grosse Cavernen, trockene Pleuritiden 
und im Allgemeinen das Ergriffensein der 
unteren Lappen ergeben keine guten Re¬ 
sultate. 

Freilich bin ich weit davon entfernt, 
dieser Methode allzu weitgehende thera¬ 
peutische Einwirkung zuzuschreiben, doch 
glaube ich, dass sie wohl im Stande ist, 
als Hilfsmittel bei der gewöhnlichen Art 
der Behandlung der Phthise gute Dienste 
zu leisten. 

Die Wirkung ist in manchen ausge¬ 
wählten Fällen sehr stark, namentlich wo 
es sich um Erhöhung der Exspectoration 
handelt; doch verlangt die Anwendung der 
Massage gewisse Vorsichtsmaassregeln, 
wobei man genau zu achten hat, wie der 
Kranke darauf reagirt. 

Ausser bei Lungenschwindsucht ergiebt 
noch diese Methode günstige Resultate bei 
Emphysem der Lungen mit erschwerter 
Exspectoration, worauf Goeber aufmerk¬ 
sam gemacht hat. 

Möglich ist es, dass auch im Asthma¬ 
anfall ein Erfolg erzielt werden kann, ob¬ 
wohl ich selbst darin keine Erfahrung besitze. 

Ausserdem drängt sich der Gedanke 
auf, ob diese Methode in Fällen von capil- 
lärer Bronchitis, wo der ganze Prozess in 
einer Stagnation des Secretes in den 
kleinsten Bronchien und Alveolen besteht, 
nicht gute Dienste leisten würde. 


Die Anästhesirung der obern Luftwege bei Tuberkulösen. 

Von Dr. Eiemir Pollatschek, 

Praktikant der I. med. Klinik zu Budapest, ordinirender Kehlkopfarzt des Königin Elisabeth-Lungensanatoriums. 


Die Veränderungen der oberen Luft¬ 
wege und besonders des Kehlkopfes sind 
von grosser Wichtigkeit bezüglich des Ver¬ 
laufs der tuberkulösen Lungenerkrankung. 
Abgesehen von den mit der Insufficienz 
der Nasenathmung einhergehenden unan¬ 
genehmen Folgeerscheinungen sehen wir 
so viel Veränderungen an dem Pharynx 
und Larynx, die, wenn auch nicht gleichen 
Ursprungs wie die Grunderkrankung, doch 
die Lungenerkrankung ungünstig zu beein¬ 
flussen im Stande sind. Unter den Pha¬ 
ryngealerkrankungen sind Pharyngitis sicca, 
granulosa und die Verdickung der lateralen 
Rachenfalten am häufigsten zu finden. 
Von den Kehlkopferkrankungen können 
ausser den specifischen Veränderungen, 
die katarrhalische Laryngitis und beson¬ 
ders die Laryngitis posterior (die ober¬ 
flächliche Entzündung der Schleimhaut der 
Aryknorpel und der Processus vocales) den i 
Rachenerkrankungen ähnliche Unannehm- ! 

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lichkeiten verursachen. Die erwähnten 
Pharyngealveränderungen rufen besonders 
das Gefühl der Trockenheit und des Fremd¬ 
körpers hervor, während die Kehlkopf¬ 
veränderungen durch das manchmal schreck¬ 
lich peinigende Juckgefühl dem Kranken 
unerträglich werden. Diese Parästhesien 
tragen wesentlich zur Entstehung eines 
charakteristischen Symptomes der Lungen¬ 
tuberkulose, des Hustens, bei, dessen 
Unterdrückung für das Wohlbefinden des 
Kranken so nothwendig ist. 

Die specifischen Erkrankungen des 
Kehlkopfes werden auch infolge des 
Schmerzes unangenehm. DerSchmerz kann 
sich entweder beim Essen und Trinken 
als Schluckschmerz einstellen oder auch 
unabhängig hiervon besonders in der 
Nacht oder in den Morgenstunden. Die 
Schluckbeschwerden werden besonders 
durch die Erkrankung des Epiglottis oder 
der Cart. arytaen. verursacht, die des 

51* 

Original fro-m 

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404 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


Nachts auftretenden Schmerzen hingegen 
am häufigsten von den genannten beiden 
Erkrankungen, oder von der Veränderung 
der Articulatio arycricoidea. Die tuber¬ 
kulösen Processe der übrigen Kehlkopf- 
theile verursachen selten Schmerzen, und 
oft finden wir erstaunliche Veränderungen, 
ohne dass dieselben den Kranken, von einer 
geringen Heiserkeit abgesehen, besondere 
Unannehmlichkeiten verursachen. 

An den Kehlkopfleidenden des Königin 
Elisabeth-Sanatoriums habe ich recht oft 
Gelegenheit diesbezügliche Fälle zu sehen. 
In meiner Behandlung steht derzeit ein 
Fall, wo beiderseitig Prolapsus ventric. 
Morgagni, Infiltratio lig. glott. spur, und 
ähnliche Erkrankung der Pars interarytaen. 
besteht, ohne dass der Patient überhaupt 
Klagen bezüglich des Kehlkopfes vorbringt. 

Es ist ohne Weiteres klar, dass die 
Schluckschmerzen in jedem Fall bekämpft 
werden müssen. Sie erschweren die Er¬ 
nährung, oft hungern die Patienten, um nur 
die mit dem Schlucken einhergehenden 
Schmerzen zu vermeiden. Sie wirken 
äusserst deprimirend auf das Gemüth der 
Patienten ein, und schliesslich halten sie 
die Heilung des entzündlichen Processes 
auf. Ich möchte mich wenigstens durchaus 
Spiess anschliessen, welcher behauptet, 
dass zwischen der Schmerzlinderung und 
der Heilung ein causaler Nexus besteht. 
Spiess nimmt an, dass bei einer patholo¬ 
gischen Gewebsveränderung die einbe¬ 
zogenen Nerven reflectorisch die Vaso¬ 
motoren erregen, infolge dessen Hyper¬ 
ämie und Schwellung entsteht, was wieder 
der Infection als neuer Boden dienen 
kann. Ich möchte indess auf Grund meiner 
Beobachtungen eine viel einfachere Er¬ 
klärung vorschlagen. Es stellen sich die 
Schluckschmerzen besonders bei jenen 
Veränderungen der Epiglottis und der 
Aryknorpel ein, die von dem vorbeigleiten¬ 
den Bissen direkt oder indirekt berührt 
werden. Erfahrungsgemäss führen solche 
Patienten viel häufiger Schlingbewegungen 
aus, als es der im Munde sich ansammelnde 
Speichel erfordert; diese Schlingbewegungen 
wirken auf die Rachenmuskulatur und auf 
die entsprechenden Kehlkopftheile viel 
irritierender, als die bei der Nahrungsauf¬ 
nahme vollführten Schluckbewegungen. Ich 
möchte also den ungünstigen Einfluss des 
Schmerzes auf die Heilung des Kehlkopf¬ 
leidens dieser durch denselben hervor¬ 
gerufenen mechanischen Irritation zu¬ 
schreiben. 

Wie kann nun der praktische Arzt 
ohne grosses Instrumentarium die hier 

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geschilderten Beschwerden der Kranken 
lindern? 

Die meisten Aerzte behandeln den 
Husten der Phthisiker mit narkotischen 
Mitteln, deren Dosen allmählich gesteigert 
werden. Aber nach meiner Ueberzeugung 
liegt die Ursache des Hustens wenigstens 
in 70% der Fälle in den oberen Luft¬ 
wegen. Die Störungen der Nasenathmung, 
das vom Nasenrachenraum herabfliessende 
oder von dort herstammende Sekret, die 
verschiedensten Veränderungen des Rachens 
und Kehlkopfes werden von der üblichen 
Therapie nicht beeinflusst, während die 
causale Behandlung die Kranken oft von 
grossen Unannehmlichkeiten befreit und 
die Heilungsmöglichkeit bedeutend beför¬ 
dert. Der Leiter des „Königin Elisabeths- 
Sanatoriums, Herr Doc. Dr. Desider 
v. Kuthy, unterlässt es nie, die hustenden 
Patienten hierauf untersuchen zu lassen. 
Bei eintrocknendem Nasensecret ist die 
Ausspülung der Nase mit lauer 2%iger 
Na-Bicarbonatlösung, bei Pharyngitis sicca 
ist das Eintropfen von Vaselinöl in die 
Nase, um während der Nacht den Rachen 
feucht zu halten, oft von grösserer Wir¬ 
kung, als die Verordnung des Heroins. 
Bei den Pharynx-Erkrankungen ist ausser¬ 
dem nöthig, zweitäglich mit adstringirenden 
Lösungen (Tannin, Zinc. sulf., Jod-Glycerin) 
zu pinseln, was der behandelnde Arzt oder 
eventuell nach gehöriger Uebung der Pa¬ 
tient selbst verrichten kann. 

Die im Kehlkopf entstehende Trocken¬ 
heit sowie das Kratz- und Juckgefühl sind 
mit lokalen Anästheticis zu behandeln. 
Die Anästhetica werden in Form von 
Pinselungen, Einspritzungen und Inhala¬ 
tionen angewendet, die letzteren sind die 
wichtigsten, da dieselben der Patient bei 
Schmerzen selbst anwenden kann. Wir 
selbst lassen vor den 3 Mahlzeiten etwa 
eine Stunde kalte Umschläge auf die Kehl¬ 
kopfgegend und zwar jede 5 Minuten einen 
frischen Umschlag machen oder wir wenden 
eine entsprechende Form desLeiter’schen 
Kühlapparats an. Oft gelingt es auf diese 
Weise die Schmerzen zu lindern. 

Von den Anästheticis wenden wir 
besonders das Cocain und das Ortho- 
form an, das erstere in Form von 
Pinselungen, Einspritzungen und Inha¬ 
lationen, das Letztere in Form von Insuffla- 
tionen. Der Nachtheil beider Mittel ist, 
dass sie nicht in unbeschränkter Menge 
angewendet werden können, da sie toxisch 
wirken. Das Bild der Cocainintoxication 
ist bekannt, die Orthoformvergiftung ist in 
der neueren Litteratur mehrfach beschne¬ 
id rigi na I fro-m 

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September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


405 


ben, sie äussert, sich in Exanthemen und 
in heftigen Allgemeinerscheinungen. Das 
Cocain anästhesirt unbedingt, wenn es in 
gehöriger Weise und Concentration appli- 
cirt wird, die anästhesirende Wirkung hält 
aber verhältnissmässig kurze Zeit an; Aehn- 
liches kann über das besonders in Pulver¬ 
form anwendbare Orthoform gesagt werden. 

In neuester Zeit hat v. Noorden ein 
neues Anästheticum eingeführt, das An¬ 
äs thesin, welches ebenfalls zur Orthoform- 
gruppe gehört (Para-Amido -Benzoesäure¬ 
ester), mit dessen localer äusserer sowie 
innerer Anwendung er gute Erfolge er¬ 
zielte und das angeblich gar keine toxische 
Wirkung besitzt. Seit einem Jahre stelle 
ich Versuche mit diesem Mittel an in den 
verschiedensten Mischungen, und ich ge¬ 
brauche es jetzt ständig zur Anästhesirung 
des Rachens und Kehlkopfes und zwar mit 
sehr gutem Erfolge, ausgenommen selbst¬ 
verständlich beim operativen Eingriffe, wo 
es das Cocain nicht entbehrlich machen 
kann. Nach den Angaben in der Litteratur 
löst sich das Rifsert’sche Anäthesin, ein 
weissliches Pulver, in fetten und ätheri¬ 
schen Oelen; indessen gelang mir diese 
Auflösung nicht, in warmen Oelen löst 
sich das Anästhesin zwar, doch wenn die 
Lösung abkühlt, so fällt das Anästhesin 
wieder aus. Es gelang aber eine Emulsion 
zusammenzustellen, welche zur Kehlkopf¬ 
einspritzung wie zur Inhalation geeignet 
ist und zwar: 

Rp. Menthol . 1*50 

JPulv. gummi arab. 

OL amygd. dtdc. 

Aquae dest. aa .... W*0 
M. f. emulsio, adde 
AnöMhesini . . 

Spirit. Vini conc ..... 40*0 
Aquae dest . 65*0. 

Die Wirkung des Menthols als schwaches 
Adstringens hatte ich oft Gelegenheit zu 
beobachten, deshalb halte ich es für nöthig, 
die anästhesirende und adstringirende Wir¬ 
kung zu combiniren. Die Wirkung ist zu¬ 
friedenstellend, oft frappirend. 'Von dieser 
Lösung 1 cm 8 , was 3—4 ctg Anästhesin 
entspricht, in den hartnäckigsten Fällen 
von Dysphagie angewendet, bringt An¬ 
ästhesie in fünf bis acht Minuten hervor, 
und hält die Wirkung von drei Stunden 
bis zu 24 —30 Stunden an. Verdünnen wir 
die Lösung mit Wasser, so wird sie zur 


Inhalation sehr geeignet und bringt eine 
deutliche anästhesirende Wirkung hervor. 
Das unangenehme Kratzen nnd Juckgefühl 
wurde sehr oft durch diese Einspritzungen 
behoben. 

Ein sehr erfreuliches Resultat erzielten 
wir mit den Einspritzungen bei dem Husten 
laryngealen Ursprunges. Stets wurde der¬ 
selbe auf fünf bis sechs Stunden, oft auch 
auf zwei Tage gestillt. Diese Einspritzungen 
sind sehr leicht vom Arzt auszuführen, oft 
genug auch durch Inhalationen zu ersetzen; 
die Narcotica werden zumeist vollkommen 
überflüssig gemacht. 

In Pulverform wendete ich das Anästhesin 
nicht gerne an, da ich in Wasser unlös¬ 
liche Pulver zu Kehlkopfeinblasungen bei 
viel Secret erzeugenden Lungenerkran- 
kungen nicht für geeignet halte. Das Pulver 
ballt sich mit dem Secret zusammen und 
reizt nachträglich den Kehlkopf. Ausser¬ 
dem verursacht das in den Kehlkopf ein¬ 
geblasene reine Anästhesinpulver ein sehr 
unangenehmes Erstickungsgefühl. 

Intoxication von Anästhesin sah ich nie, 
trotzdem ich es in 350 Fällen angewendet 
habe (theils an den laryngologischen Ordi¬ 
nationen des Herrn Professor Irsai an der 
I. internen Klinik zu Budapest, theils im 
„KöniginElisabeth “-Sanatorium). Bei einem 
Phthisiker meiner Privatpraxis, der sich im 
Endstadium der Krankheit befand, ver¬ 
brauchte ich in den zwölf letzten Lebens¬ 
tagen zur Anästhesirung der sehr schmerz¬ 
haften Rachengeschwüre 30 g, ohne dass 
sich die geringsten Intoxicationserschei- 
nungen gezeigt hätten. An der I. internen 
Klinik wurde es per os in mehreren Fällen 
(Ulcus ventriculi, Carcinoma ventriculi) in 
Dosen von 3—4 g pro die mit gutem Er¬ 
folg und ohne Intoxicationssymptome ver¬ 
abreicht. 

Ich erwähne noch, dass ich in zwei 
Fällen von Dysmenorrhöe anstatt Cocain 
die erwähnte Lösung zur Einwirkung auf 
die Nase anwendete und dass die vorher 
eingetretenen Krämpfe danach wegblieben, 
als wenn Cocain angewendet worden wäre. 

Auf Grund meiner Beobachtungen und 
Heilerfolge halte ich das Anästhesin für 
ein zuverlässiges und unschädliches Mittel 
zur Anästhesirung des Kehlkopfes, zur 
Linderung der Dysphagie und besonders 
zur Unterdrückung des laryngealen Hustens 
der Phthisiker. 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


Ans dem Städtischen Siechenhanse zn Frankfurt a. U. 

(Oberarzt: Dr. August Knoblauch.) 

Ueber spinale und cerebrale Störungen der Harnblasen¬ 
innervation und die Pflege der Incontinenten. 1 ) 

Von Dr. August Homburger, 1. Assistenzarzt. 


M. H! Nachdem man angefangen hatte, 
in den nervösen Centralorganen nicht nur 
einen Zusammenschluss von Faserzügen, 
Ursprungs- und Endstatten von solchen 
und den Sitz seelischer Vorgänge ganz im 
allgemeinen zu sehen, sondern die^Abhän- 
gigkeit bestimmter Functionen von ebenso 
bestimmten Oertlichkeiten im Centralorgan 
zu erkennen, ist man auch bald zu dem 
Bestreben gelangt, in systematischer Weise 
der Analyse und Localisation einzelner 
Organinnervationen näher zu treten. Selbst¬ 
verständlich schien es am leichtesten, in 
solche Functionsabläufe eine gewisse Ein¬ 
sicht zu gewinnen, deren Abhängigkeit von 
dem Centralapparat schon die Erfahrung 
des täglichen Lebens ausser Zweifel stellte. 

Es kann daher nicht Wunder nehmen, 
dass gerade die Innervation der Harnblase 
zu den Mechanismen zählte, in deren In¬ 
terna man verhältnissmässig bald glaubte 
eindringen zu können. Der Weg schien 
ja gegeben; die Abhängigkeit vom Gehirn 
als dem Organ des Willens und Bewusst¬ 
seins war an sich klar, eine gewisse Ab¬ 
hängigkeit vom Rückenmark schloss man 
aus den Störungen, die man bei Erkran¬ 
kungen und Verletzungen dieses Abschnittes 
der Centralorgane beobachtete. Damit 
präcisii^te sich die Fragestellung dahin: 
In wieweit ist die Blaseninnervation vom 
Gehirn, inwieweit vom Rückenmark ab¬ 
hängig, und wo im Gehirn, wo im Rücken¬ 
mark ist der Sitz der Regelung, der dieses 
Abhängigkeitsverhältniss beherrscht? Noch 
klarer schien die Sachlage, wenn man die 
beiden dominirenden Hirnfunctionen, Wille 
und Bewusstsein, getrennt betrachtete. Der 
Willkürlichkeit präsentirte sich die Unwill- 
kürlichkeit, dem Bewusstsein die Bewusst¬ 
losigkeit nicht nur rein speculativ, sondern 
der praktischen Erfahrung entsprechend 
auf das natürlichste als Gegensatz. 

Das Bewusstsein hatte als Allgemein¬ 
vorgang aus der localisatorischen Betrach¬ 
tung auszuscheiden, und so blieb auf der 
einen Seite die Frage nach dem psycho¬ 
motorischen Hirnrindencentrum, auf der 
anderen die Frage nach dem automatischen 
Rückenmarkscentrum der Blase. 

*) Nach einem im ärztlichen Verein zu Frankfurt 
a. M. am 2. März 1903 gehaltenen Vortrag. 

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Die Trennung des cerebrospinalen Lei¬ 
tungsweges durchRückenmarksdurchschnei- 
dung bot augenscheinlich eine zuverlässige 
Grundlage zur Isolirung des spinalen 
Blasencentrums und damit zu einer Ana¬ 
lyse des ganzen Innervationsvorganges. 
Nachdem nun Budge 1858 im Sakralmark 
das Centrum der glatten Blasenmuskulatur 
festlegte, schien zunächst die ganze Frage 
erledigt, und namentlich schienen die klini¬ 
schen Erscheinungen völlig erklärt. 

Das Bild des ständigen Harnträufelns, 
der Incontinentia vesicae schlechthin, war 
am Krankenbett anscheinend das gleiche 
wie das Experiment es hervorbrachte. 
Man beruhigte sich auch hierbei, bis Fried¬ 
rich Goltz gegen alle bisherigen Experi¬ 
mente am Gehirn und Rückenmark den 
Nichtigkeitseinwand erhob, weil Niemand 
die Beobachtungen lange genug, d. h. so 
lange fortgeführt habe, bis die unmittel¬ 
baren Folgen des Eingriffes — Shok, Blu¬ 
tung u. s. w. — sich nach Möglichkeit aus¬ 
geglichen hatten, und das wirkliche Resul¬ 
tat der Operation als definitiver Dauer¬ 
zustand vorlag. Goltz wurde zunächst als 
Apostat behandelt und ignorirt und, als er 
zwei Decennien später seine Experimente 
mit moderner Technik wieder aufnahm, 
war der Erfolg kein wesentlich anderer. 
Allerdings führten sie zu gewichtigen Zwei¬ 
feln an der Souverainetät des Sakralcen¬ 
trums der Blase. Denn Goltz fand, dass 
auch bei Exstirpation des Sakralmarkes, 
nach vorübergehender absoluter Incontinenz 
die Blase die Fähigkeit wiedererlangt, Urin 
zurückzuhalten. In den letzten Jahren 
haben nun jüngere Autoren auf dieser 
Basis weitergebaut, und sind zu Resultaten 
gelangt, die physiologisch und klinisch von 
dem allergrössten Interesse sind. Unter 
ihnen sind besonders Reh fisch 1 ) und 
L. R. Müller 2 ) zu nennen. Die Ergeb¬ 
nisse ihrer Arbeiten seien kurz referirt. 
Zwei Nervenpaare ziehen zur Blase: der 
rein spinale N. erigens, der die gesammte 
Muskulatur derselben innervirt und der 
sympathische N. hypogastricus, welcher 
dem Ganglion mesentericum inferius ent- 

1 ) Ueber die Innervation der Harnblase, Vir- 
chow’s Archiv. Bd. 161. 

a ) Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 1901. 


Original fro-m 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 



September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


407 


stammt, den Blasengrund, das Trigonum 
und den Sphincter vesicae int. versorgt. 
Beide Nerven führen motorische und sen¬ 
sible Fasern. Bei isolirter Erigensreizung 
zieht sich die Blase in toto zusammen, bei 
isolirter Hypogastricusreizung nur der 
Blasenhals. In beiden Fällen fliesst kein 
Urin ab. Durchschneidet man alle vier 
Nerven, so findet fortwährender Harn¬ 
abfluss statt; reizt man dann die Hypo- 
gastrici, so hört der Abfluss auf, und reizt 
man die Erigentes, so sistirt er ebenfalls. 
In beiden Fällen öffnet sich nach einiger 
Zeit der Sphincter. Damit ist jedenfalls 
die Lehre von dem Antagonismus von 
Hypogastricus und Erigens widerlegt, so¬ 
wie die Ansicht Zeissl’s, dass die Er¬ 
regung des einen immer mit einer Hem¬ 
mung des anderen einhergeht. Reh fisch 
denkt sich nun den Ablauf der Urinentlee¬ 
rung derart, dass zur normalen tonischen 
Sphinctercontraction die Contraction der 
übrigen Blasenmuskulatur hinzukommt; der 
Blaseninhalt wird also erst unter einen 
maximalen Druck versetzt, ehe das Gefühl 
dieses Druckes, der Harndrang, auf reflec- 
to rischem Wege ein Nachlassen des 
Sphinctertonus bewirkt 

L. R. Müller trat nun der Frage näher, 
inwieweit dieser Mechanismus statt hat, 
wenn jeglicher Willenseinfluss ausgeschal¬ 
tet ist; er fragte aber nicht wie Budge, 
wie tief im Rückenmark, sondern wie nahe 
der Blase sitzt die Regulierung, ohne zu 
präjudiciren, dass sie im Rückenmark selbst 
sitzt. Zunächst wiederholte er die Goltz- 
schen Experimente unter allen Cautelen 
der Asepsis, und durch Verhütung des De¬ 
cubitus gelang es ihm ebenso wie Goltz, 
die Thiere am Leben zu erhalten; voll und 
ganz bestätigten sich die Goltz'sehen Re¬ 
sultate: die ursprüngliche absolute Inconti- 
nenz wich einem späteren definitiven Zu¬ 
stande, auf den wir gleich zurückkommen 
werden. Es war für das Endresultat dabei 
ganz gleichgültig, ob eine Durchschneidung, 
eine Resection oder eine vollständige Ex¬ 
stirpation des Sakralmarkes vorgenommen 
wurde, und Müller fand, dass bei seinen 
des Sakralmarkes beraubten Thieren der 
Entleerungsmechanismus genau derselbe 
war, wie er ihn bei Kranken gesehen hatte, 
die an Quermyelitis litten. 

Es entleert sich unwillkürlich der Urin 
im Strahl, mehrfach von ganz kurzen 
Pausen unterbrochen; katheterisirt man da¬ 
nach, so findet man immer Residualharn. 
Es kommt vor, dass der Kranke vergeblich 
zum Uringlase greift und wenige Minuten 
später der Urinentleerung nicht wehren 

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kann. Dies erfolgt in nahezu gleichen Zeit¬ 
abständen und mit ceteris paribus annähernd 
gleichen Urinmengen; in den Zwischen¬ 
zeiten aber besteht kein Harnträufeln. 

Also nicht Lähmung der Blase liegt vor, 
sondern automatische Regulirung; deren 
Sitz aber ist das sympathische Ganglion 
mesentericum inferius und der Nervus 
hypogastricus seine Bahn. Der Unterschied 
gegen die Norm besteht also darin, dass 
die Urinentleerung dem Willen entrückt 
ist und den Impulsen, die auf dem Wege 
des Nervus erigens von den Central¬ 
organen zur Blase dringen. 

Auch wir haben im Städtischen Siechen¬ 
hause analoge Erfahrungen bei Hämato- 
myelie, bei syphilitischer Quermyelitis 1 ) ge¬ 
macht, aber abgesehen von spinalen Affec- 
tionen begegneten wir der automatischen 
Blasenentleerung auch bei cerebralen Affec- 
tionen und zwar in scharf umschriebenen 
Grenzen. 

Wir hatten schon lange vor der Ver¬ 
öffentlichung der Müllerischen Arbeit die 
Beobachtung gemacht, dass ein Hemiple- 
giker, dessen Cerebrum von einer Läsion 
der cortico-spinalen, durch die innere 
Kapsel ziehenden Faserung abgesehen, in- 
tact ist, die nach dem Insult verloren ge¬ 
gangene Beherrschung der Blase wieder¬ 
erlangt. Alle Hemiplegiker, die als „un¬ 
rein“ der Anstalt zugefhhrt wurden, sind 
wieder vollständig continent geworden und 
sind es auch dauernd geblieben. In dia¬ 
metralem Gegensatz hierzu aber lernten 
wir eine zweite Kategorie von Kranken 
mit cerebralen Läsionen kennen, welche 
eine spastische Parese beider Beine, ohne 
oder fast ohne Betheiligung der Arme hatten. 
Diese Kranken verloren die Beherrschung 
der Urinentleerung und haben sie nicht 
wiedererlangt. Aber sie hatten keine 
Blasenlähmung, kein continuirliches Harn¬ 
träufeln, sondern es spielte sich derselbe 
Mechanismus automatischer Entleerung ab, 
wie bei spinalen Affectionen. Auf die De¬ 
tails der Lähmungstypen und gewisse da¬ 
mit verbundener statischer Störungen 
möchte ich nicht eingehen, ihre Besprechung 
einer anderen Gelegenheit vorbehaltend. 2 ) 
Die Sectionsbefunde, es sind bis jetzt deren 
zehn, solcher Patienten zeigten nun, dass 
bei freier innerer Kapsel und bei Fehlen 
sonstiger Herderkrankungen zahlreiche, 10 
bis 20 und noch mehr kleinere und grössere 
Erweichungsherde in Linsenkern und Seh¬ 
hügel sich fanden und zwar auf beiden 
Seiten. Wi r konnten feststellen, dass in 

*) Münchener med. Wochenschr. 1903, No. 6. 

*) Neurol. Centralbl. 1903, No. 5. 


Original from 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 






408 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


Fällen dauernder Automatie — natürlich 
bei fehlender Spinalaffection — regelmässig 
die Centralganglien erweicht waren, und 
wir fanden die Ganglien nur in den Fällen 
mit Erweichungsherden durchsetzt, bei 
denen in vivo Automatie und atypische Pa¬ 
resen bestanden hatten. Bezeichnend für 
diese Art beiderseitiger Paresen, die haupt¬ 
sächlich die Beine befällt, die Arme aber 
fast frei lässt, ist nach unseren Erfahrungen 
das Fehlen des Babinski’schen Reflexes, 
worauf ich bereits früher einmal aufmerk¬ 
sam gemacht habe. 1 ) 

Die genannten Erscheinungen setzen 
also ein wohlcharakterisirtes Krankheitsbild 
zusammen, welches auf Erweichung der 
beiderseitigen Centralganglien zu beziehen 
ist. — Was ausser den eben geschilderten 
Ergebnissen eigener Untersuchungen über 
die Beziehungen dieser Hirntheile zur 
Urinentleerung bekannt war, haben Czyh- 
larz und Marburg 2 ) im vorigen Jahre zu¬ 
sammengestellt und gelangten unter Ver¬ 
wertung einiger neuer Fälle zu dem Re¬ 
sultat, dass im Thalamus und im Linsen¬ 
kern sogenannte Centren der Blase sich 
finden. 

Als ich von dem vorhin entwickelten 
Gesichtspunkte der Beiderseitigkeit der 
Affection als Grundlage der sog. dauern¬ 
den Incontinenz die von Czyharz und 
Marburg sorgfältig gesammelten Fälle 
überprüfte, ergab sich mir ein Resultat, 
das geradezu ein Beweis für die Richtig¬ 
keit unserer Beobachtungen ist. In den 
Fällen nämlich — es handelt sich in der 
Hauptsache um Tumoren — in denen man 
eine vorübergehende Störung der Urin¬ 
entleerung notirte, fand sich eine einseitige 
Affection, und wo man bei der Obduction 
ein beiderseitiges Ergriffensein fand, war 
die Störung eine dauernde gewesen und 
hatte den Typus der Automatie gezeigt. 

Wir kommen jetzt zu den Folgen der 
Herde im Tractus cortico-spinalis bezw. 
der motorischen Rinde selbst, also zu den 
Störungen, die mit der typischen Hemi¬ 
plegie einhergehen. Es ist eine merkwür¬ 
dige, der Beachtung sehr wohl werthe 
Thatsache, dass doppelseitige Herde in 
diesen Regionen so ungemein selten Vor¬ 
kommen. Selbst in unserer Anstalt, wo 
sich das Material an cerebralen Herderkran¬ 
kungen naturgemäss anhäuft, ist ein solches 
Vorkommniss noch nicht beobachtet wor¬ 
den und auch Czyhlarz und Marburg, 
denen das grosse Material der Nothnagel- 

*) Neurol. Centralbl. 1901 No. 15, 1902 No. 4. 

2 ) Jahrbücher für Psych. 1901; Wiener klinische 
Wochenschr. 1902 No. 31. 

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sehen Klinik und des Obersteiner’schen 
Instituts zur Verfügung steht, sind in der 
gleichen Lage. So können wir Bestimmtes 
nur von einseitigen Herden aussagen. Nach 
jederKapselhämorrhagie oder corticalenEr¬ 
weichung in der motorischen Region tritt 
in der ersten Zeit bekanntlich Incontinenz 
auf, der die Ischuria paradoxa vorausgeht. 
Aber diese Incontinenz bildet sich zurück 
und zwar in allen Fällen und selbst dann, 
wenn die ganze motorische Rinde sammt 
der Blasenregion im Gyrus postcentralis 
einseitig vollständig zerstört ist, wie wir 
es selbst zweimal sahen, und wie es aus 
der Litteratur bekannt ist. 

M. H.! Wie sollen wir uns nun er¬ 
klären, dass bei manchen Läsionen vor¬ 
übergehende, bei anderen dauernde Un¬ 
reinheit auftritt, wie in der scheinbar so 
complicirten, wechselreichen Reihe cerebro¬ 
spinaler Blasenstörungen einen sicheren 
Weg finden? Ich glaube, dass dies auf 
eine ungemein einfache Weise möglich ist. 
Wie Broadbent zuerst erkannt hat, sind 
alle motorischen Innervationen, welche bi¬ 
lateral functioniren, auch bilateral im Ge¬ 
hirn vertreten, derart dass von jeder He¬ 
misphäre die Innervation beider Seiten 
möglich ist. Auf unsere Frage angewandt, 
heisst dies aber nichts anderes als: eine 
Hirnhälfte genügt zur Unterhaltung eines 
regulären Functionsablaufes. Ein einseitiger 
Herd in der Rinde im Centrum semiovale 
oder an jeder beliebigen Stelle der cor¬ 
ticalen Kapselfaserung, nicht minder Er¬ 
weichungsherde eines Thalamus opt. und 
eines Linsenkerns führen zur Incontinenz, 
die eine vorübergehende ist, und so lange 
dauert, bis wir gelernt haben die Inner¬ 
vation von der anderen Seite her auszu¬ 
nutzen. Hingegen führt, wie wir sicher 
wissen, die Erweichung beider Linsenkerne 
und Sehhügel und, wie wir theoretisch 
postuliren müssen, doppelseitige Kapsel- 
und Rindenläsion zu dauernder Incontinenz 
richtiger Automatie; aus den gleichen Grün¬ 
den führt die Halbseitenläsion, wenn sie 
wirklich nur eine Hemisection ist, nie zu 
dauernder Blasenstörung, wohl aber die 
Querdurchtrennung und überhaupt jede 
transversale Spinalerkrankung. Demnach 
sind wir, sobald festgestellt ist, ob die Lä¬ 
sion, die zur Blasenstörung führt, einseitig 
oder doppelseitig ist, auch in der Lage zu 
sagen, ob die Incontinenz dauernd und un¬ 
heilbar oder vorübergehend und heilbar ist. 

Und nun gestatten Sie mir einige Worte 
über die Pflege der sogenannten Unreinen. 
Sie gehört ja zu den schwierigsten Pro¬ 
blemen der Anstaltspflege überhaupt. 

Original from 

UMVERSITY 0F CALIFORNIA 



September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


409 


Die Incontinenz zu verhüten, wo sie 
droht, sie zu beseitigen wo sie vorhanden 
ist, und Kriterien zu gewinnen, inwieweit 
ein solches Bestreben Aussicht auf Erfolg 
hat, diesen Aufgaben hatten wir näher zu 
treten. Nächst der „Unreinheit 4 * kommt 
auch die grosse Neigung zum Decubitus in 
Betracht, die immer mit ihr Hand in Hand 
geht Die Bekämpfung des ersteren Uebels 
ist auch eine solche der letzteren. Durch 
ein systematisches Vorgehen, durch sorg¬ 
fältigste Behandlung jeder oberflächlichsten 
Hautverletzung ist es denn auch ohne be¬ 
sondere Einrichtungen gelungen, den De¬ 
cubitus zu einer sehr seltenen Erscheinung 
zu machen. 

Zuerst nahmen wir die Hemiplegiker 
vor, brachten sie in gewöhnlich hergerich¬ 
tete Betten mit Durchzug eventuell mit 
Luft- oder Wasserkissen, und legten ihnen 
ständig eine Urinflasche vor. Die Kranken 
wurden angehalten, die gefüllte Flasche in 
einen neben der nichtgelähmten Seite 
stehenden Topf zu entleeren, und sie sich 
dann selbst wieder anzulegen. So wurde 
die Aufmerksamkeit der Kranken dem Ent¬ 
leerungsacte wieder zugewandt. Dann 
wurde ihnen die Flasche nicht mehr stän¬ 
dig vorgelegt, sondern so neben das Bett 
gestellt, dass der Kranke sie erreichen 
konnte, wenn er Drang verspürte. Da 
zeigte es sich denn, dass es eine geraume 
Zeit dauerte, bis der Hemiplegiker selbst 
nur den Füllungszustand seiner Blase wieder 
beurtheilen lernt. Ist dies aber erreicht, 
so muss er sich auch die Beherrschung 
der Entleerung systematisch wieder an¬ 
eignen, indem man ihm das Glas nur noch 
in Zwischenräumen von 2—3—4 Stunden 
allmählich ansteigend reicht. 

Was die Incontinentia alvi, die ich hier 
kurz erwähnen darf, anlangt, so ist ihre 
Beseitigung noch viel einfacher. Zunächst 
wird durch breiige Kost ev. unter Zuhülfe- 
nahme kleiner Opiumdosen dem Stuhle die 
erforderliche Konsistenz ertheilt und täg¬ 
lich durch eine hohe Darmirrigation eine 
vollständige Stuhlentleerung erzielt. Hier¬ 
durch erreicht man mit absoluter Sicher¬ 
heit die Ausschaltung weiterer Stühle. 
Nach kurzer Zeit kann das Opium weg¬ 
gelassen werden, und ein gewöhnliches 
Klysma täglich Morgens applicirt stellt 
einen genügenden Reiz zu vollständiger 
Defäcation dar. Der Kranke erlangt wieder 
das Gefühl von Füllung und Entleerung 
des Darmes. Es ist uns auf diese Weise 
gelungen, alle Hemiplegiker ohne Aus¬ 
nahme dauernd continent zu halten, so dass 
sie fremder Hülfe nicht bedürfen. Anders 

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und weit ungünstiger liegen die Verhält¬ 
nisse bei allen denjenigen Kranken, bei 
denen die Doppelseitigkeit der Affection 
zur automatischen den Willenseinflüssen 
völlig entrückten Blasenthätigkeit geführt 
hat. Die Pflege hat hier ebenfalls ein klar 
vorgeschriebenes Bestreben: Man muss bei 
jedem einzelnen Kranken ausprobiren, in 
welchen Zwischenräumen er Urin entleert, 
und ihn dann zu Stuhle bringen. Wichtig 
ist, dass man die Urinmenge Nachts ein¬ 
schränkt, dadurch dass die Kranken Abends 
möglichst keine Flüssigkeit mehr erhalten. 

Man kann sie Nachts auf ein Luttkissen 
mit Boden legen, der mit fein ausgebreite¬ 
tem Torfmull bestreut ist. So liegt der 
Kranke trocken und auch der Decubitus 
wird vermieden. Das Torfmull desodorisirt 
so gut und saugt so reichlich auf, dass 
diese Kranken für die anderen keine Be¬ 
lästigung darstellen. Schliesslich muss der 
Incontinenz der Tabiker noch ein Wort 
gewidmet werden. Erzieht man diese von 
vornherein, worauf Edinger 1 ) schon im 
Jahre 1898 aufmerksam gemacht hat, dazu 
in Zeitabständen von 2—3 Stunden und 
auch mindestens einmal in der Nacht Urin 
zu lassen, so vermeidet man die durch die 
Hypästhesie der Blase sonst leicht ent¬ 
stehende Ueberdehnung und damit den 
nächsten Anlass zur Incontinenz. Beson¬ 
ders wichtig ist es, dass man auch der 
leichtesten Cystitis die grösste Aufmerk¬ 
samkeit zuwendet, denn sie führt zum 
Harnträufeln und dies begünstigt das Ein¬ 
treten dauernder Incontinenz. Besonders 
aber muss man sich hüten cystitische Be¬ 
schwerden als Blasenkrisen aufzufassen, 
und sie entsprechend anderen Krisen mit 
Narkoticis zu behandeln. Die Gefahr des 
Morphinismus ist bei der Tabes schon an 
sich eine sehr grosse, und von allen andern 
Nachtheilen abgesehen, führt der Morphium¬ 
gebrauch dazu, dass der Tabiker das Fül- 
lungsgefühl der Blase ganz verliert, und 
dazu eine chronische Obstipation bekommt, 
die ihrerseits wieder die Cystitis ungünstig 
beeinflusst. 

M. H.! Ich habe versucht. Ihnen in 
kurzen Zügen ein Bild zu geben von dem 
jetzigen Stande der Frage der spinalen 
und cerebralen Blasenstörungen; noch 
liegen hier, wie Sie sehen, eine Reihe un¬ 
gelöster Fragen, vor allen die nach den 
Leitungswegen im Gehirn und Rückenmark 
und die Frage der sogenannten willkür¬ 
lichen Erschlaffung des Sphinctertonus. 
Bezüglich dieses Punktes sind unsere 
Kenntnisse noch ganz ungenügend. Gleich- 

*) Congress für innere Medicin, Wiesbaden 1898. 

52 

Original fro-m 

UNIVERSUM 0F CALIFORNIA 



Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


1 


410 


wohl haben die letzten Jahre die Frage 
der automatischen Entleerung in befriedi¬ 
gender Weise gelöst und die Rolle der 
centralen Ganglien aufzuklären begonnen. 
Wie ich hoffe überzeugend dargethan zu 


haben, wohnt diesen Erkenntnissen nicht 
nur ein theoretisches Interesse inne, son¬ 
dern sie geben uns klare Direktiven für 
die Prognose der Blasenstörungen und für 
unser therapeutisches Handeln. 


Bücherbesprechungen. 


F. L. Dumont. Handbuch der allge¬ 
meinen und localen Anaesthesie. 
Für Aerzte und Studirende. Berlin und 
Wien 1903, Urban & Schwarzenberg. 
234 Seiten mit 116 Abildungen. 7,— M. 

Verfasser giebt in dem vorliegenden 
Buch eine umfassende Darstellung der bis 
jetzt bekannten mehr oder weniger ge¬ 
bräuchlichen Methoden der allgemeinen 
und lokalen Anaesthesirung. Die mitge- 
theilten Ergebnisse entstammen zum Theil 
den Erfahrungen Anderer, zum grossen 
Theil aber hat sie Verfasser aus eigner 
Erfahrung mitgetheilt. Sehr lebhaft be¬ 
dauert er es, dass die Narkose auf den 
Universitäten noch immer als Stiefkind be¬ 
handelt wird und dass so viele Mediciner 
in die Praxis gehen, ohne jemals Gelegen¬ 
heit gehabt zu haben, eine Narkose unter 
der Anleitung eines erfahrenen Lehrers 
auszuführen. Nach einem historischen 
Ueberblick bespricht er die einzelnen 
Methoden der Allgemeinanaesthesie, der 
Medullaranaesthesie und der Localanaesthe- 
sie. Am ausführlichsten ist natürlich die 
Aether- und Chloroformnarkose besprochen. 
Verfasser bekennt sich als begeisterter 
Anhänger der Aethernarkose. Die Er¬ 
krankungen der Luftwege nach der Narkose 
führt er auf die Art der Darreichung des 
Aethers zurück; die Aetherdämpfe führen 
eine vermehrte Schleimabsonderung herbei; 
darauf ist das Trachealrasseln in der Nar¬ 
kose und die Erkrankung der Luftwege 
nach der Narkose zurückzuführen. Auch 
bei Kindern ist die Anwendung des Aethers 
zu empfehlen (dies wird auch durch die 
in Bethanien gemachten Erfahrungen be¬ 
stätigt, Ref.), ebenso bei alten Leuten, 
ausser bei Emphysematikern und Leuten 
mit schwachen Lungen. Bei alten Leuten 
ist die Allgemeinnarkose der lokalen 
Anaesthesie vorzuziehen, da infolge des 
Schmerzes der Blutdruck steigt, wodurch 
die Gefahr einer Apoplexie herantritt. Die 
Erstickungsmethode ist zu verwerfen. Auch 
bei Kreissenden ist der Aether mehr zu 
empfehlen. — Verfasser hat es verstanden, 
den Stoff so zu behandeln, dass man das 
ganze Buch lesen kann, ohne bei der durch 

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den Gegenstand bedingten Gleichartigkeit 
der einzelnen Kapitel das Interesse zu 
verlieren. Für den Anfänger ist das Buch 
eine gute Einführung in das Gebiet der 
Narkosen, für den erfahrenen Chirurgen 
ist es ein gutes Nachschlagebuch, denn es 
dürfte wohl kaum einen einschlägigen 
Gegenstand geben, der vergessen wäre. 
Auch das Litteraturverzeichniss ist sehr 
reichhaltig. Sehr zahlreich und gut sind 
die Abbildungen. Die Einteilung ist recht 
übersichtlich. Die äussere Ausstattung ist 
die bei der Verlagshandlung gewohnte gute. 

Klink (Berlin). 

Schedel. Beiträge zur Kenntniss der 
Wirkung des Chlorbariums beson¬ 
ders als Herzmittel. Mit einem Vor¬ 
wort von R. Robert. Stuttgart. Enke 
1903. 108 S. 4,— M. 

Auf Grund von Versuchen an Thieren, 
Beobachtungen an sich selbst und Kranken- | 
behandlungen empfiehlt Verf. das leicht | 
dosirbare, innerlich und subcutan anwend¬ 
bare Chlorbarium (Ph. G. IV Barium 
chloratum), das jederzeit rein und von 
gleichem Wirkungswerth in den Apotheken 
zu erhalten ist und endlich den Vorzug der 
Billigkeit besitzt, als ein Ersatzmittel 
der Digitalis. In Thierversuchen hat 
sich deutlich eine blutdrucksteigernde 
und pulsverlangsamende Wirkung des 
Chlorbariums feststellen lassen. Die Blut¬ 
drucksteigerung wird durch directe Beein¬ 
flussung des Herzmuskels und ausserdem 
der Gefässe, die Pulsverlangsamung durch 
Vagusreizung hervorgerufen. Die Indika¬ 
tionsstellung ist nach ihm dieselbe wie bei 
der Digitalis-Verordnung „bei allen orga¬ 
nischen Herzerkrankungen“. 0,02 g mehrere- 
male gegeben mit 0,2 g Zucker, erhöhen 
die Herzaction durch Vermehrung des 
Pulsvolums, steigern den Blutdruck und 
machen den Puls regelmässig. Gaben von 
0,03 g und noch mehr die von 0,05 g be¬ 
wirken eine noch grössere Blutdrucksteige¬ 
rung (um 45 mm Hg) und eine Pulsverlang¬ 
samung. „Selbst bei schweren, mit Cyan ose, 
Oedemen, Lungenstauungen einhergehen¬ 
den Zuständen infolge organischer Herz- 

Qrigiraal from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



September 


411 


Die Therapie der 

leiden tritt erhebliche Besserung ein, der 
Puls wird regelmässig, voll, verlangsamt, der 
Blutdruck steigt, sämmtliche bedrohlichen 
Erscheinungen schwinden, reichliche Diurese 
wird wie in allen andern Fällen, so nament¬ 
lich auch in den schweren beobachtet. 
Die blutdrucksteigernde Wirkung hält im 
allgemeinen nicht länger als drei Tage an, 
jedoch besteht noch acht Tage später 
kräftigerer Puls und Besserung des Allge¬ 
meinbefindens. 11 

Eine kumulative Wirkung ist dem Chlor¬ 
barium eigen. Im Thierversuch sind ferner 
Blutaustritte im Magen und Darm, Reizung 
der motorischen Darmwandganglien und 
Koliken festgestellt. Die sehr hohe 
Giftigkeit der löslichen Bariumsalze 
ist bei Nachprüfungen an Kranken, zu 
denen Verf. mit Recht auflordert, nicht aus 
dem Auge zu lassen. Eine solche Vergif¬ 
tung würde mit sofortigem Aussetzen des 
Mittels, Ausspülung des Magens mit verdünn¬ 
ter Glaubersalzlösung zur Bindung des Ba¬ 
riumchlorids (Bariumsulfat), Atropin zur 
Ruhigstellung der gereizten Darmganglien 
bei der Barytkolik, mitElektrisiren, Massage, 
Reizmitteln bei beginnender Barytlähmung zu 
behandeln sein. S. 53—108 umfassen die 
Versuchsprotokolle, Krankengeschichten, 
Blutdruckkurven. Den Schluss dieser Schrift 
bildet eine mikroskopische Tafel eines Blut¬ 
extravasats im Magen nach Chlorbarium¬ 
vergiftung. E. Rost (Berlin). 

Konr&d Schweizer. Schwindsucht 
eine Nervenkrankheit. München1903. 
48 S. Preis 1,20 M. 

Verfasser sucht den klinisch-prognosti¬ 
schen Symptombegriff der alten Medicin 
dem Bewusstsein des modernen Arztes 
wieder näher zu bringen. Es wird bei 
dieser Betrachtung der durch die bacte- 
riologisch-ätiologische Forschungsrichtung 
Ober Gebühr vernachlässigte, übrigens 
doch auch von neueren Pathologen (Mar- 
tiusu. A.) wieder mehr gewürdigte Factor 
der Konstitution in den Vordergrund 
gerückt. Das Ziel der im Ganzen beweis¬ 
kräftigen Deductionen ist, dass eben der 
Zustand des Nervensystems das ausschlag¬ 
gebende konstitutionelle Moment ist, von 
dem es abhängt, ob eine einfache — heil¬ 
bare — Tuberkulose, oder „Schwindsucht“ 
sich etablirt Das Büchlein ist anregend 
geschrieben, wenngleich ein Uebermaass 
im Gebrauch des bildlichen Ausdrucks 
manchmal störend wirkt Jedenfalls hat 
man es, was gegenüber dem etwas sensa¬ 
tionell klingenden Titel vielleicht hervor¬ 
zuheben ist, mit dem Werk eines wissen¬ 


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Gegenwart 1903. 

schaftlich und selbstständig denkenden 
Arztes zu thun. 

Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt.) 

Rad. FiflChl. Die Ernährung des Säug¬ 
lings in gesunden und kranken 
Tagen. Stuttgart. F. Enke 1903. 132 S. 
2,- M. 

Der bekannte Prager Kinderarzt giebt 
in diesem Büchlein 6 populäre Vorträge 
wieder, die als volkstümlicher Hochschul¬ 
kurs an der Prager deutschen Universität 
gehalten werden. Vom neuesten Stand¬ 
punkt aus behandeln sie in allgemeinver¬ 
ständlicher Form das ganze Gebiet — von 
der Säuglingssterblichkeit an über che¬ 
mische und physiologische Eigenschaften der 
Milch bis zu den Nährpräparaten und der 
Behandlung in der Krankheit. Die dem 
geschauten Verf. eigene elegante, wenn 
nötig auch drastische Schreibweise macht 
neben den sachlichen Vorzügen auch 
formell die Lectüre zu einer angenehmen 
Beschäftigung. Finkeistein (Berlin). 

L. E. Leredde. La nature syphili- 
tique et la curabilitö duTabes et de 
la Paralysie gdnörale. Paris, C. Naud. 
1903. 141 S. 

ln dieser Monographie tritt Leredde 
auf Grund literarischer Studien und eige¬ 
ner Erfahrungen für die syphilitische Natur 
von Tabes und Paralyse ein. Er kann die¬ 
selben nicht als parasyphilitische Affec- 
tionen im Sinne Fournier’s — d. h. zwar 
durch Syphilis veranlasst, aber selbst nicht 
mehr syphilitischer Natur — auffassen, 
sondern reiht sie sowohl auf Grund der 
pathologisch-anatomischen Thatsachen, als 
auch besonders vom therapeutischen Ge¬ 
sichtspunkte der tertiären Syphilis an. Er 
citirt aus der Literatur eine grosse Reihe 
von Fällen, in denen durch antisyphilitische 
Behandlung Heilung und Besserung ein¬ 
trat. Auf Grund eigener Erfahrungen 
glaubt er nun, dass diese günstigen Resul¬ 
tate sich erweitern lassen, wenn man nicht 
die landläufige Dosirung der Quecksilber¬ 
behandlung einhält, sondern mit erheblich 
höheren Dosen arbeitet, die nach seinen Er¬ 
fahrungen vertragen werden (? Red.). Hier¬ 
bei räth er von Inunctionen ganz abzusehen 
und zu Injectionen, sowohl unlöslicher 
Salze, ganz besonders aber zur Injection 
hoher Dosen löslicher Quecksilbersalze 
seine Zuflucht zu nehmen. Die Höhe der 
Krankheitserscheinungen soll nicht den 
Maassstab der Behandlung abgeben, da 
die nervösen Symptome secundärer Art, 
abhängig von den interstitiellen und Gefäss- 
veränderungen sind, und nicht ohne weiteres 

52* 


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1 


412 Die Therapie der Gegenwart 1903.__ September 


auf die Intensität und Ausdehnung der 
eigentlichen primären ursächlichen Ge- 
websläsionen schliessen lassen. Er er¬ 
örtert natürlich auch die sog. Pseudopara¬ 
lyse und Pseudotabes, die klinisch so wenig 


sichere Begriffe sind, dass sie praktisch 
nicht in Betracht gezogen werden können. 
Auch die Leucoplacie zieht er zum Schluss 
in* den Kreis seiner Betrachtungen. 

Buschke (Berlin). 


Referate 


R. Bloch berichtet über sehr günstige 
Erfolge, die er durch locale Anästhesl- 
runjf nach Schleich sowohl in therapeu¬ 
tischer, als diagnostischer Beziehung bei 
rheumatischen Affectionen aller Art er¬ 
zielte. Bei diesen Erkrankungen waren 
die Heilerfolge sowohl was die Schmerzen 
als auch die Functionsstörung betrifft, so 
prompte, dass aus dem Fehlschlagen dieser 
Therapie auf eine andere, als rheuma¬ 
tische Aetiologie geschlossen werden 
konnte, was sich dann bei genauerer Nach¬ 
forschung als richtig erwies. Speziell bei 
den rheumatischen Neuralgien und Myal¬ 
gien wurde meist durch eine Infiltration 
ein Dauererfolg erzielt. Bei den rheuma¬ 
tischen Affectionen der Gelenke und der 
Sehnenscheiden war der Effect von vorn¬ 
herein kein so dauernder, konnte aber zu 
einem solchen gemacht werden, wenn man 
die Infiltration mit Application von Wärme 
und äusserlicher Anwendung von Salicyl- 
präparaten, unter denen sich das Glycosal 
am besten bewährte, combinirte. 

Zur Injection wurde stets eine 0,2% 
Tropacocaift - Chlornatriumlösung verwen¬ 
det, die mittelst einer eigens construirten 
Intracutanspritze bis zur starren Infiltra¬ 
tion der Haut applicirt wurde. 

H. Wiener (Prag). 

(Die Therapie No. 8. 1903.) 

Ueber die Behandlung der Anky- 
lostomiasls, die gerade jetzt in unseren 
Bergwerksdistricten zu einer actuellen 
Frage geworden ist, berichtet Dr. Nagel 
aus dem Bochumer Elisabeth-Hospital auf 
Grund einer reichen Erfahrung an 4000 in 
den letzten sieben Jahren daselbst behan¬ 
delten Ankylostomumkranken. Die Kur 
bestand Anfangs ausschliesslich in der 
Verabreichung einer einzigen vollen Dosis 
(nur bei sehr geschwächten Patienten in 
refracta dosi) von 10—13 g Extractum 
filicis pur oder mit schwarzem Kaffee; zwei 
bis drei Stunden nachher erhielt der Patient 
0,3 g Calomel. Der Erfolg war meist ein 
guter, nur wurde er häufig durch leichte 
Vergiftungserscheinungen (Kopfschmerzen, 
Schwindel, Pulsbeschleunigung, Tempera¬ 
tursteigerungen bis 39,5 o) getrübt, ge¬ 
legentlich auch durch schwerere Symptome 


(Sehstörungen, erweiterte starre Pupillen, 
starke Schweisse. Durch 1 g Salipyrin 
oder Phenacetin wurde gewöhnlich schnelle 
Besserung erzielt.) Indessen Versuche, das 
Extractum filicis durch andere Mittel zu 
ersetzen, führten zu keinem Resultate: 
Santonin, Decoct. rad. Granati, Flor. Koso 
und Kamala wirkten wenig oder gar nicht, 
Thymol wirkte besser, aber erst in Gaben 
von mindestens 8 g pro die und bei diesen 
waren die Intoxicationserscheinungen nicht 
geringer. So wurde immer wieder auf das 
Farnextract zurückgegriffen, das einen 
ziemlich sicheren Erfolg verspricht, wenn 
es frisch ist, d. h. von der in der letzten 
Saison gesammelten Pflanze stammt. 

Die Gefahr der Filixmedication ist in 
den letzten Jahren dadurch noch ge¬ 
wachsen, dass jetzt weniger anämische, 
geschwächte Individuen, sondern zahlreich 
die sogenannten nichtkranken Wurm¬ 
träger, also kräftige Männer, zur Behand¬ 
lung kommen. Bei diesen muss die Dosis 
noch verstärkt werden, da sie dem wirk¬ 
samen Stoffe im Extractum filicis grossen 
Widerstand entgegensetzen; unglücklicher¬ 
weise scheinen sie für das toxische Princip 
weit empfänglicher, denn es sind schwere 
Intoxicationen beobachtet worden (so zwei¬ 
mal bereits plötzliche totale Amaurose mit 
Pupillenstarre und fortschreitender Atrophie 
des Sehnerven nach 10 g, bezw. nach 2 mal 
5 g; beidemal versagte der wurmabtötende 
Stoff). Es ist daher in diesen Fällen be¬ 
sondere Vorsicht geboten; Nagel bevor¬ 
zugt die Darreichung in Gelatinekapseln 
oder besser noch die Mischung: Extractum 
filicis 8—10 g, Chloroform gtt X XV, 
Sirup. Sennae 16 g. 

Neuerdings hat Kraft die sämmtlichen 
sauren Bestandtheile des Filixextractes in 
sieben gut charakterisirten Körpern dar¬ 
gestellt; der eine derselben, der nach Ver¬ 
suchen von Jaquet der reine Träger der 
anthelmintischen Wirkung sein soll, ist im 
sogenannten Filmaron dargestellt. Nagel 
hat dieses Präparat in neun Fällen ver¬ 
sucht, in denen Extractum filicis und Thy¬ 
mol versagt hatten, und zwar in folgender 
Form: Filmaron 0,7, Chloroform 1,5, Ol. 
Ricini 20,0 (in den letzten vier Fällen 
wurde noch Thymol 5,0 hinzugefügt). In 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


413 


allen neun Fallen gelang die Abtreibung, 
wenn auch erst nach zwei- bis vier¬ 
maliger Kur. F. K. 

(Deutsche Med. Wochenschrift 1903, No. 31.) 

Günstige Erfolge in der Behandlung des 
Keuchhustens hat Kittel-Mückenberg 
mit dem unlängst von Stursberg em¬ 
pfohlenen neuen Chininpräparat, dem 
Arlstochin erzielt. Er hatte Gelegenheit, 
seine Wirkung bei einer hartnäckigen 
Keuchhustenepidemie an 34 Fällen zu er¬ 
proben und hat damit eine Abkürzung der 
Krankheitsdauer auf zehn Tage bis vier 
Wochen erzielt. Besonders prompt fand 
er die Wirkung bei Kindern unter einem 
Jahr und im Beginn der Erkrankung. Die 
verabreichte Dosis betrug bei Kindern unter 
einem Jahr dreimal täglich so viel cg wie 
die Kinder Monate zählten bis zu 0,1 g, 
bei grösseren Kindern dreimal täglich 0,2 g. 
Das Präparat wurde gern genommen, wirkte 
appetitfördernd und Hess keinerlei üble 
Nebenwirkungen erkennen. F. U. 

(Therapeutische Monatshefte, August 1903.) 

Motz weist an der Hand eigener Beob¬ 
achtungen daraufhin, dass man die Blasen- 
tuberkulose nicht so ohne weiteres als 
ein unheilbares oder unangreifbares Leiden 
auflassen solle. Zunächst muss der All¬ 
gemeinzustand gebessert werden. Des 
weiteren ist vor Allem zu überlegen, dass 
die Blasentuberkulose selten primär ist, 
sondern meist im Gefolge von Nieren¬ 
oder Genitaltuberkulose auftritt. Bei Nieren¬ 
tuberkulose kann nach Exstirpation der 
Niere selbst schwere Blasentuberkulose 
ausheilen; dasselbe gilt von der Entfernung 
primärer Herde von Tuberkulose in den 
Genitalorganen. In vielen Fällen ist dann 
eine Localbehandlung der Blase selbst 
unnöthig; in anderen ist das Curettement, 
Instillationen von Sublimat 1/5000 zweck¬ 
mässig. BezügUch der Prognose ist die 
Menge der im Urin nachweisbaren Tu¬ 
berkelbacillen keineswegs massgebend. 

Buschke (Berlin.) 

(Annales des mal. des org. Gin. ur. 1903.) 

In der Sitzung der Pariser Academie 
de M6decine vom 28. Juli berichtete 
A. Chantemesse über die Erfolge der 
Chlornatrium-Entziehiingr bei Behand¬ 
lung der Phlegmasia alba dolens der 
Typhuskranken. Diese ziemlich häufige 
Complication des Abdominaltyphus zeichnet 
sich gewöhnlich durch einen recht protra- 
hirten Verlauf aus. Nun hat Vortragender 
in 6 Fällen versucht dieselbe durch völlige 
Entziehung von Chlornatrium aus der Nah- 

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rung günstig zu beeinflussen. Er ging da¬ 
bei von dem Factum aus, welches er po¬ 
sitiv nachweisen konnte, daß nämlich beim 
Abdominatyphus, — wie es Achard und 
Andere für den Morbus Brightii festgestellt 
haben — eine Retention von Chlornatrium 
im Organismus und zwar in den Geweben, 
nicht im Blute, stattfindet. Und in der 
That hat die salzarme Kost in Fällen ty¬ 
phöser Phlegmasia alba dolens eine emi¬ 
nent günstige Wirkung ausgeübt; die noch 
in ihrem Initialstadium befindlichen Phle¬ 
bitiden nahmen einen abortiven Verlauf, 
trotzdem die erkrankte Vene verstopft 
blieb; schon ausgebildete, aber noch recente 
bildeten sich rasch zurück und schwanden 
im Verlaufe einiger Tage; veraltete venöse 
Phlegmasien gingen, vom Moment der An¬ 
stellung der salzarmen Kost, in Besserung 
und später in Heilung über — weniger 
rasch als die recenten, aber verhältniss- 
mässig doch schnell. 

Aus diesen Beobachtungen glaubt Vor¬ 
tragender folgenden Schluss ziehen zu 
dürfen: die Phlegmasia alba dolens der 
Typhuskranken ist das Resultat der Intoxi- 
cation eines Gliedes durch Chlornatrium; 
die Venenobiiteration spielt dabei nur die 
Rolle eines prädisponirenden Factors. 

Es sei noch erwähnt, dass Chante¬ 
messe durch die salzarme Kost einen 
eclatanten Erfolg auch in einem Falle von 
Venenthrombose im Bereiche von entzün¬ 
deten Varicen der unteren Extremität er¬ 
halten hat. Es handelte sich hier um eine 
zugleich an Diphterie leidende alte Frau 
mit Zeichen der Retention von Chlor¬ 
natrium im Organismus. Nach stattgehabter 
Chlornatrium • Entziehung wurde Patientin 
in zwei Tagen von Schmerzen und Schwel¬ 
lung im kranken Beine völlig befreit. 

Diese letztere Beobachtung lässt ver- 
muthen, dass.* die salzarme Kost sich viel¬ 
leicht auch bei der Phlegmasia alba dolens 
der Wöchnerinnen und der Cachektischen 
bewähren werde. W. v. Holstein (Paris). 

Unter dem Namen der Cytodi&gnostik 
ist von französischen Autoren eine dia¬ 
gnostische Methode] beschrieben worden, 
die den ätiologischen Charakter eines se¬ 
rösen Höhlenergusses aus dem Ueber- 
wiegen dieser oder jener zeitigen Elemente 
in demselben zu bestimmen sucht. Widal 
und seine Schüler haben auf Grund ihrer 
Untersuchungen folgende „cytologische 
Formel“ aufgestellt: 

1. Ueberwiegen der Lymphocyten, 
d. h. der einkernigen Leukocyten, charak- 
terisirt ein (pleuritisches, peritoneales, 

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414 


September 


Die Therapie der 


cerebro*spinales) Exsudat als tuberku¬ 
lösen Ursprungs. 

2. Ueberwiegen der polynucleären 
Leukocyten (der neutrophilen und eosi¬ 
nophilen) weist auf infectiösen, nicht- 
tuberkulösen Ursprung des Ergusses 
(Infection mit Staphylo-, Strepto-, Pneumo-, 
Meningococcen u. a.). 

3. Ueberwiegen von endothe¬ 
lialen Zellen weist auf mechanischen 
Ursprung des Ergusses (Transsudate 
bei Herz-, Nieren- und Leberkranken). 

Die Untersuchung findet in der Weise 
statt, dass der steril entnommene Erguss 
rasch centrifugirt, der Bodensatz mit phy¬ 
siologischer Kochsalzlösung gewaschen, 
auf dem Objectträger ausgebreitet und in 
der gewöhnlichen Weise fixirt und gefärbt 
wird. 

Mehrfache Nachuntersuchungen, auch 
von deutscher Seite (Litten, M. Wolff), 
haben die Widal’schen Formeln nur zum 
Theil bestätigt. 

Auch Czerno-Schwarz und J. Bron- 
stein (Moskau), die neuerdings über dies¬ 
bezügliche Untersuchungen berichten, 
schränken ihre Gültigkeit wesentlich ein. 
Sie fanden in 4 Fällen von serösem Er¬ 
guss bei Patienten mit Lungentuberkulose, 
also bei sog. secundär-tuberkulösen Exsu¬ 
daten, ein Vorherrschen der Lymphocyten 
im mikroskopischen Bilde; aber auch bei 
einem serös-hämorrhagischen Erguss eines 
Patienten mit Myocarditis, der bei der 
späteren Section keinerlei Zeichen von 
Tuberkulose bot, constatirten sie ebenfalls 
ein Ueberwiegen der Lymphocyten und 
in einem Falle von serösem Streptococcen¬ 
exsudat eines Scharlachkranken bei der 
ersten Punction am 6. Tage ein Ueber¬ 
wiegen der Lymphocyten (neben zahl¬ 
reichen polynucleären und Endothelzellen), 
bei zwei späteren Punctionen am 12. und 
15. Tage ein Prävaliren der Polynucleären. 
Bei zwei serös-hämorrhagischen Exsudaten 
endlich von Kranken ohne Anzeichen von 
Tuberkulose, jedoch mit Verdacht auf 
Pleuraneubildung überwogen einmal die 
Lymphocyten, das andere Mal Endothel¬ 
zellen. 

Danach kommen die Verfasser zu dem 
Schluss, dass die secundär-tuberkulösen, 
die infectiösen und die mechanischen Er¬ 
güsse nicht durch eine unabänder¬ 
liche cytologische Formel charak- 
terisirt werden. Dagegen glauben sie, 
dass für die primär-tuberkulösen Er¬ 
güsse (denen das Hauptinteresse zukommt, 
da alle anderen diagnostische Schwierig- 

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Gegenwart 1903. 


keiten nicht bieten) entsprechend der Wi- 
dal'schen Angabe das Ueberwiegen der 
Lymphocyten zutrifft, jedoch mit der Ein¬ 
schränkung. dass die cytologische Unter¬ 
suchung nicht in den ersten Tagen, son¬ 
dern erst am Schlüsse der zweiten Woche 
die differentielle Diagnose gestattet. 

Bei 4 Fällen von tuberkulöser Menin¬ 
gitis fanden die Verfasser ein ausgespro¬ 
chenes Ueberwiegen der Lymphocyten in 
der Cerebrospinalflüssigkeit. Dasselbe Re¬ 
sultat haben zahlreiche andere Autoren 
erhalten, während ebenso von zahlreichen 
Untersuchern bei Cerebrospinalmeningi¬ 
tiden verschiedener Aetiologie ein Präva¬ 
liren der polynucleären Leukocyten con- 
statirt worden ist. Allein auch hier fehlen 
nicht abweichende Befunde: Vereinzelt 
wurde bei tuberkulöser Meningitis Ueber¬ 
wiegen der Polynucleären, oder bei früh¬ 
zeitiger Punction Ueberwiegen dieser und 
erst bei späterer Prävaliren der Lympho¬ 
cyten, gelegenlich wurde auch das Fehlen 
zeitiger Elemente in der Cerebrospinal¬ 
flüssigkeit überhaupt constatirt; auf der 
anderen Seite wurde bei Mischinfection 
Ueberwiegen der Polynucleären, in einem 
Falle von Typhus mit meningealen Erschei¬ 
nungen Vorherrschen der Lymphocyten 
beobachtet. — 

Nach allem darf der Cytodiagnostik 
im Sinne der Widal’schen Formeln eine 
entscheidende Bedeutung nicht zuerkannt 
werden, wenn sie auch als Unterstützungs¬ 
mittel in diagnostisch zweifelhaften Fällen 
nicht ohne Werth zu sein scheint. F. K. 

(Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 34.) 

Mo sau er verabreichte Dioretln und 
Agurin an Nierengesunde und fand 
nach beiden Medicamenten im Harn mit¬ 
unter hyaline Cylinder, manchmal auch 
eine massige Albuminurie. Diese Unter¬ 
suchungen lehren, dass sowohl dem Diuretin 
wie dem Agurin nicht so selten eine 
stärkere nierenreizende Wirkung zukommt, 
und dass deshalb bei längerem Gebrauch 
dieser Mittel eine gewisse Vorsicht, nament¬ 
lich bei Nierenkranken geboten ist. Bei 
längerer Anwendung müssen jedenfalls 
häufiger Harnuntersuchungen vorgenommen 
werden, um bei stärkerer Albuminurie das 
Mittel vorübergehend auszusetzen. Dauernde 
Nierenschädigungen werden bei rechtzeiti¬ 
gem Aussetzen des Mittels wohl nicht zu 
befürchten sein, da kurze Zeit nach dem 
Aussetzen der Präparate der Harn seine 
normale Beschaffenheit annimmt. 

H. Wiener (Prag). 

(Wiener med. Wochenschrift 1903, No. 27.) 

Original fro-m 

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September 


Die Therapie der 

N. S. Schdan-Puschkin empfiehlt bei 
Enteritis der kleinen Kinder die Anwen¬ 
dung der besonders in Russland als Volks- 
mittel viel verbreiteten Schwarzbeere 
<Vaccinium Myrtillus). Man giebt sie am 
zweckmässigsten in Gestalt eines alkoholi¬ 
schen Aufgusses, den man sich selbst zu¬ 
bereiten kann, indem man in eine mit 
frischen Schwarzbeeren gefüllte Flasche 
£uten Branntwein zugiesst und längere Zeit 
stehen lässt. Verfasser wandte ein Jahr 
alten Aufguss an, von dem er dreimal täg- j 
lieh 15 bis 20 Tropfen bis zu einem Thee- 
löffel voll nehmen liess. In allen Fällen 
— auch in solchen, wo Opium und Bismuth. 
subnitr. versagten — war der Erfolg sehr 
günstig. Der Durchfall wurde geringer, 
und hörte bald ganz auf, das Erbrechen 
und die abnorme Auftreibung des Leibes 
verschwanden schon in. den ersten Tagen 
der Behandlung. Die Zunge wurde reiner, 
der Appetit besser. Das Mittel, welches 
von den Kindern gern genommen wird, 
bat keine üble Nebenwirkung; es enthält 
nur wenig Spiritus und viel Gerbsäure. 

N. Grünstein (Riga). 

(Practitscheski Wratsch 1903, No. 8.) 

Reich berichtet «über seine Abortiv- 
behanlung der Furunkulose mittelst 
überhitzter trockener Luft: Recht¬ 
zeitig, d. h. vor Entstehung der Gewebs- 
nekrose und der Eiteransammlung im Unter¬ 
hautzellgewebe zur Behandlung gekommene 
■Furunculosen sind in keinem der vom Verf. 
behandelten Fälle zu Vereiterung und Ge¬ 
webszerfall gekommen. Infiltrationen bei 
.abortiven Formen scheinen sich zeitlich 
rascher zurück zu bilden als bei anderen 
Behandlungsmethoden. Auch ältere binde¬ 
gewebige Schwartenresiduen abgelaufener 
Furunkel sind durch das Heissluftverfahren 
im Sinne einer Rückbildung beeinflussbar. 
Auf den die Furunkel umgebenden Haut¬ 
gebieten kam eine erneute Infection kein 
einziges Mal zur Beobachtung. — Verfasser 
bediente sich zur Herstellung der trockenen 
überhitzten Luft eines von ihm construirten 
Apparates „Thermo-Aörophor“. Da dieser 
Apparat aber ziemlich kostspielig ist, em¬ 
pfiehlt er für die tägliche Praxis den Kalo- 
risator von Vorstädter (im Berliner medi- 
cinischenWaarenhaus für 15Mk. erhältlich). 

Lüthje (Tübingen). 

(Zeitschrift für diit. u. phys. Ther., Bd. VI, H. 12.) 

Die Untersuchungen, die v. Büngner 
über die Anatomie und Pathologie der 
Gallenwege und des Pankreas ange¬ 
stellt hat* haben ihn zu folgenden Resul¬ 
taten geführt: Der Ductus choledochus 

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Gegenwart 1903. 415 


geht fast stets durch die Substanz des 
Pancreas hindurch, er vereinigt sich fast 
nie mit dem Ductus Wirsungianus; beide 
münden getrennt am Boden des Diverticu- 
lum der Papille. Der Ductus Wirsungianus 
verläuft in der Regel ungetheilt. Aus 
diesen Thatsachen ergiebt sich: Auf 
stumpfem Wege kann der Ductus chole¬ 
dochus nur bis zum Pancreas freigelegt 
werden, weiter nur durch blutige Spaltung 
des Pancreas, Alle Erkrankungen, die zu 
einer Schrumpfung oder pathologischen 
Vergrösserung des Pancreaskopfes führen, 
müssen eine Compression des Ductus 
choledochus und Wirsungianus nach sich 
ziehen; im klinischen Bild zeigen sich 
dann die Erscheinungen einer Retention 
des Pancreassaftes (Fettstühle, Melliturie) 
und der Galle (acholische Stühle, Gallen* 
farbstoff im Urin, Icterus). Die Verlegung 
eines Ganges zieht nicht notwendig die 
des anderen nach sich. Erst bei Ver¬ 
legung des Diverticulum der Papille 
(katarrhalische Schwellung, Steinobtura- 
tion, Carcinom der Papille) treten Ausfall¬ 
erscheinungen der Gallen- und Pancreas- 
saftsecretion ein. Klink (Berlin). 

(v. Bruns 1 Beitr. z. klin. Chir. XXXIX, 1.) 

Der Op thalmologe v. H i p p e 1 -Heidelberg 
macht auf Grund mehrjähriger Betrachtun¬ 
gen in seinem speciellen Wirkungskreis auf 
die relative Häufigkeit heredit&r-syphiliti- 
scher Gelenkerkrankungen bei jugend¬ 
lichen Individuen aufmerksam. Unter 77 
Kranken, die eranKeratitis parenchyma¬ 
tös a behandelte, und die ausserdem noch 
sichere Symptome hereditärer Lues aufzu¬ 
weisen hatten, waren nicht weniger als 43 
mit nachweislichen Gelenkerkrankungen. 
Dabei handelte es sich in der weitüber¬ 
wiegenden Mehrzahl der Fälle um doppel¬ 
seitigen Kniegelenkserguss bei jugendlichen 
Individuen, am häufigsten im Alter von 
sechs bis zehn Jahren. Die Functions¬ 
störung der befallenen Gelenke ist dabei 
meist unbedeutend und nur in einzelnen 
Fällen waren die Kranken bettlägerig oder 
fieberhaft. Nach Wochen oder Monaten 
tritt häufig Spontanheilung ein. Schwerer 
eitriger Verlauf der Gelenkerkrankung mit 
Fistelbildung und dauernden Veränderun¬ 
gen ist dabei sehr selten, kann indess Vor¬ 
kommen; gewöhnlich handelt es sich um 
einen spontan eintretenden, meist doppel¬ 
seitigen serösen oder serofibrinösen Ge¬ 
lenkerguss. Wenn Verfasser auch in einigen 
Fällen Gelegenheit hatte, eine schnelle 
günstige Wirkung specifischer Jodbehand¬ 
lung festzustellen, so bezeichnet er doch 


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416 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


seine therapeutischen Erfahrungen als un¬ 
zureichend. Es kommt ihm Oberhaupt 
weniger darauf an, in seinen Mittheilungen 
klinisch oder therapeutisch Abgeschlossenes 
zu geben, als vielmehr darauf, auf Grund 
seiner Beobachtungen an Augenkranken 
die Häufigkeit dieser hereditär-luetischen 
Späterkrankung in’s rechte Licht zu setzen, 
von der er — wohl mit Recht — annimmt, 
dass sie im allgemeinen unterschätzt wird. 

Eine einschlägige Beobachtung einer 
derartig localisirten hereditären Spätlues, 
welche der Chirurg Jordan-Heidelberg 
am gleichen Ort mittheilt, illustrirt die 
v. HippeTschen Ausführungen in sehr 
charakteristischer Weise: Ein 22jähriger 
Offizier war wegen spontan aufgetretenen 
doppelseitigen Gelenkergusses etwa ein 
Jahr lang in ärztlicher und auch spe- 
cialistischer Behandlung, jedoch ohne jeden 
Erfolg, so dass er bereits entschlossen 
war, den Dienst zu quittiren. Verfasser 
liess sich nun von der Ueberlegung leiten, 
dass die gewöhnliche Aetiologie derartiger 
Gelenkerkrankungen, nämlich Trauma, hier 
ausgeschlossen war, ebenso acuter Gelenk¬ 
rheumatismus, Gonorrhoe oder erworbene 
Lues. Gegen Tuberkulose schienen ihm 
der Verlauf, die vielfachen Schwankungen 
und vor Allem die Doppelseitigkeit zu 
sprechen, dazu kam noch ein negativer 
Operationsbefund und erfolglose Incision 
und Drainage. Somit kam hereditäre 
Lues vor Allem in Frage. Die nach¬ 
trägliche Erhebung der Anamnese ergab 
nun, dass Patient bisher zwar niemals 
Zeichen hereditärer Lues dargeboten 
hatte, aber von syphilitischen Eltern 
stammte. Eine antiluetische Cur von 
90 g Quecksilbersalbe und 118 g Jodkali 
führte in sechs bis acht Wochen zu voll¬ 
ständiger Heilung und Diensttauglichkeit 
des Patienten. 

Auch ein zweiter von Jordan mitge- 
theilter Fall bei einem fünfjährigen Knaben 
wurde erst wegen doppelseitiger exsudativer 
Gonitis (mit gleichzeitiger Keratitis paren- 
chymatosa) erfolglos in der gewöhnlichen 
Weise behandelt und dann durch specifisch 
antiluetische Behandlung dauernd geheilt. 
Jordan fordert deshalb, dass wir bei 
doppelseitig auftretenden Kniegelenksent¬ 
zündungen nicht nur im Kindesalter, son¬ 
dern auch bei jugendlichen Erwachsenen 
ätiologisch mit der Möglichkeit hereditärer 
Syphilis rechnen und in diagnostisch zwei¬ 
felhaften derartigen Fällen einen energischen 
Versuch mit antisyphilitischer Behandlung 
machen sollen. F. Umber (Berlin). 

(Münch, med. Wochcnschr. 1903, No. 31.) 

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Die von Amerika aus empfohlene, in 
Deutschland aber selten ausgeübte elek¬ 
trolytische Behandlung der Harn- 
röhrenstricturen zeitigt, wie Choltzoff 
meint, die besten Erfolge und verdient den 
übrigen Methoden vorgezogen zu werden. 
Sie ist keineswegs gefährlicher als das 
Bougiren oder sonstige Eingriffe und führt 
nach 1 —2 Sitzungen zum Ziele. Der Effect 
tritt unmittelbar auf, denn schon am fol¬ 
genden Tage uriniren die Patienten im 
starken Harnstrahl und ganz beschwerde- 
frei. Neben- oder Nachwirkungen fehlen 
(nur einmal wurde leichte Epididymitis und 
in einigen Fällen ein mehrere Stunden an¬ 
haltendes Urethralfieber constatirt). Reci- 
dive traten in allen 53 Fällen, welche 
Choltzoff zum Theil über ein Jahr nach 
der Heilung verfolgte, nicht auf. Die 
Elektrolyse beseitigt frische und alte Stric- 
turen gonorrhoisctterwie auch traumatischer 
Natur, die letzteren freilich etwas un¬ 
günstiger. Meist kommt man mit ihr allein 
aus; bei sehr grossen Stricturen jedoch 
bougirt man einigemal (oder lässt sogar 
ein elastisches Katheder ein bis zwei Tage 
lang liegen) bis die Harnröhre einiger- 
maassen (für No. 10—12 Charrieres) per¬ 
meabel wird. Dann 'untersucht man mit 
der Knopfsonde, um sich über Localisation, 
Zahl und Character der Strictur zu orien- 
tiren. Die Elektroden (Verfasser empfiehlt 
die von Paste au angegebenen) können 
mit verschieden starken Oliven (No. 14 
bis 30 Charrieres) mit oder ohne Einschnitt 
versehen werden und sollen, wenn man sie 
einführt, das Lumen der Harnröhre um 
zwei bis drei Nummern übertreffen. Hat 
die Elektrode die verengte Stelle erreicht, 
so verbindet man sie mit dem negativen 
Pol, während die positive indifferente 
aufs Abdomen gelegt wird. Den Strom 
steigert man langsam auf 5—6 Milliamperes 
und passirt vorsichtig durch die verengte 
Stelle. Alsdann zieht man das Bougie zu¬ 
rück und wiederholt die Manipulation so 
lange, bis die Harnröhre für die Olive 
ganz frei durchgängig ist. In ähnlicher 
Weise behandelt man die zweite und die 
folgenden Stricturen. Vor Schluss der 
Sitzung (gewöhnlich nach 2—20 Minuten) 
geht man mit dem Strom langsam auf 0 
herab. Die zweite Untersuchung erfolgt 
dann nach einem Monat mit Metallbougie 
und Knopfsonde. Findet man jetzt noch 
eine Strictur, so wiederholt man das obige 
Verfahren. Die nächste Exploration ge¬ 
schieht erst nach 6—8 Wochen und im 
Falle, dass neue Sitzungen noch nöthig 
sind, nach drei Monaten. Im Durchschnitt 

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September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


417 


wurde die Heilung nach fünf Sitzungen ; 
erzielt. M. Urst ein < Berlin). 

(Russkij Wratsch 1902, No. 5.) | 

Die durch Kall hypermanganicum bei 

Lupus vulgaris in Russland und Frankreich 
erhaltenen Resultate haben P. Soubeyran 
bewogen, dasselbe Mittel auch bei anderen 
localen Tuberkulosen in der chirurgischen I 
Klinik des Prof. Tedenat in Montpellier zu 
erproben. Es hat sich gezeigt, dass in einer 
2% Lösung Kali hypermanganicum den 
Jodoformäther und das Jodoformglycerin ! 
zur Behandlung kalter Abscesse mit Erfolg 
zu ersetzen im Stande ist. Man spritzt, 
je nach der Grösse des Eiterherdes, 10.0 
bis 20,0 dieser Lösung ein (nach Aspiration 
des Eiters) und verschliesst die Punktions- j 
öflnung mit Collodium. Die Einspritzung i 
wird nötigenfalls wiederholt. Sie ver¬ 
ursacht keine Schmerzen. Auch hat Ver¬ 
fasser das Kali hypermanganicum in Sub- | 
stanz auf tuberkulös erkrankte Knochen¬ 
partien nach deren Ausschabung mit dem 
scharfen Löffel appliciert. Beim nächsten 
Verbandwechsel fand er einen braunen 
Schorf, welcher sich bald löste und eine 
gut granulierende, unter dem Einfluss von 
Waschungen mit einer 1 % Lösung von i 
Kali hypermanganicum rasch abheilende 
Wunde hinterliess. W. v. Hol st ein (Paris). 

(Bulletin general de th^rapeutique 1903, No. 10.) 

Für die Behandlung der multiplen 
Kehlkopfy&pillome im Kindesalter sind 
zahlreiche endolaryngeale Methoden 
vorgeschlagen worden, Aetzungen mit den 
gewöhnlichen Aetzmitteln oder mit dem 
Galvanokauter, Bepinselungen mit Salicyl- 
säure, Alkohol, Formalin u. a., ferner die 
Intubation, das Löri’sche Verfahren, wel¬ 
ches in der Einführung von Metallkathetern 
besteht, die mit scharfrandigen Oeffnungen 
versehen sind und beim Zurückziehen die 
in die Oeffnungen sich hineindrängenden 
Geschwulsttheile abschneiden, schliesslich 
die endolaryngeale Exstirpation mit der 
Zange. Die grosse Neigung der Papillome 
zum Recidiviren, gegen die keine dieser Me¬ 
thoden aufkommt, hat zahlreiche Autoren 
veranlasst, der Radicaloperation durch 
die Laryngofissur den Vorzug zu geben. 
Gegen diese wendet sich in einer neueren 
Arbeit L. Harmer von der Chiari sehen 
Klinik in Wien. Er hat in mehreren Fällen 
mit Modificationen der alten, viel befehde¬ 
ten Volt olini’sc he n Schwammmethode 
gute Resultate erzielt, theils, indem er die 
Geschwulstmassen mit einem cocainbe¬ 
feuchteten kurzen steifen Borstenpinsel 
rieb, theils, indem er an einem in den 

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Kehlkopf ein- und zur Tracheotomiewunde 
herausgeführten Faden mehrere kleinnuss¬ 
grosse Schwammstückchen mit einiger 
Kraftanstrengung durch den Kehlkopf hin¬ 
durch- und wieder zurückzog. Bei der 
ersten Methode wurden die Tumoren zer¬ 
wühlt und aufgelockert und später ausge¬ 
hustet, bei der zweiten blieben fast jedes¬ 
mal Geschwulsttheile an den Schwämmchen 
hängen. Harmer verkennt nicht, dass 
diese Verfahren, die er übrigens nur in 
besonders schweren Fällen in Gebrauch ge¬ 
zogen wissen will, „mehr oder weniger „un¬ 
chirurgisch“ sind, aber er hält ihre Anwen¬ 
dung für vollauf gerechtfertigt, insofern 
dadurch die Spaltung des Kehlkopfes ver¬ 
mieden werden kann. Denn diese ist nach 
seiner Meinung keine gefahrlose Operation, 
auch sie verhütet die Recidive nicht und 
führt leicht zu Folgezuständen, besonders 
in functioneller Hinsicht, die ein langes 
Siechthum bedingen können und unter 
Umständen die ganze sociale Existenz 
untergraben. Für die Laryngotomie 
wegen Papillomen bei Kindern besteht 
darum nach Harmer niemals eine Be¬ 
rechtigung, sie ist in jedem Falle, wie 
immer er auch sei, zu verwerfen. F. K. 

(FränkePs Archiv f. Laryngologie Bd. XIV, S. 58.) 


Magnus-Levy hat bei 7 jüngeren mit 
endemischem Kretinismus behafteten In¬ 
dividuen mit Schilddrüsentabletten sehr 
befriedigende Erfolge erzielt. Ausnahms¬ 
los nahm bei den Kranken, die in ver¬ 
schiedenem Grade schwachsinnig, niemals 
jedoch total verblödet waren, Intelligenz 
und Regsamkeit zu. Bisher stumpfsinnige 
Schulkinder konnten dem Unterricht wieder 
folgen und zwei in Accordlohn beschäftigte 
Patienten verdienten das Doppelte wie bis¬ 
her. Schnelles Längenwachsthum (von 
8—21 cm in 2 Jahren) und Schwinden der 
myxomatösen Hautveränderungen war 
ebenso wie die intellectuelle Besserung 
schon nach einigen Wochen zu constatiren. 

Diese therapeutischen Erfolge stehen 
im Gegensatz zu den Mittheilungen frühe¬ 
rer Autoren (Scholz), die bei endemischem 
Kretinismus keine Wirkung der Schild¬ 
drüsensubstanz sahen, sondern nur bei spo¬ 
radischem und bei Myxödem. Wahrschein¬ 
lich handelte es sich bei diesen um alte Fälle 
schwerster Art, während Magnus-Levy 
junge, nui mässig ausgebildete Fälle beob¬ 
achtete. — Bei diesen jüngeren Kretinen 
fand Magnus-Levy auch die typisch 
myxomatösen Erscheinungen, welche sonst 
nur bei sporadischem Kretinismus und Ca- 
chexia strumipriva beschrieben wurden, 

53 

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418 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


bei endemischen Kranken aber angeb¬ 
lich fehlen. Hieraus und aus dem Erfolg 
der Thyreoidbehandlung schliesst der 
Autor, dass ein principieller Unterschied 
zwischen endemischem Kretinismus und 
dem sporadischen bezw. dem Myxödem 
nicht besteht, sondern dass alle diese 
Krankheiten in letzter Linie auf dem Fort¬ 
fall oder der Veränderung der Schild- 
drüsenthätigkeit beruhen. 

Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt). 

(Berliner klin. Wochenschrift 1903, No. 32.) 

H. E. Schmidt bespricht kurz die 
theoretischen Grundlagen der Finsen’schen 
Lichtbehandlung und der Behandlung 
der Hautkrankheiten mit Röntgenstrahlen 
und theilt dann die Erfahrungen mit, die 
in diesem Gebiet an der Kgl. Universitäts¬ 
poliklinik für Hautkrankheiten in Berlin ge¬ 
macht sind. Die Finsenbehandlung hat 
sich im Wesentlichen beim Lupus vulgaris 
bewährt. Beim Lupus erythematoides, bei 
Alopecia areata sind die Resultate sehr 
zweifelhaft. Bei Cancroid ist die Behand¬ 
lung nicht empfehlenswerth. Ein beson¬ 
derer Vorzug der Finsenbehandlung bei 
Lupus vulgaris ist ihre elektive Wirkung, 
das Ausbleiben eigentlicher Narbenbildung; 
es entsteht höchstens eine geringe Atrophie. 
Bei stark infiltrirten und tiefen Fällen 
empfiehlt Schmidt eine Vorbehandlung 
mit lOprocent. Pyrogallussalbe, dagegen 
empfiehlt si$h hierfür nicht die Heissluft¬ 
kauterisation; Recidive nach dieser Methode 
sind sehr resistent gegen Lichtbehandlung. 
Bisher ist nur die Behandlung mit starkem 
Licht mit dem eigentlichen Finsenapparat 
erfolgreich gewesen. Ersatzinstrumente, 
welche besonders eine Verkürzung und 
Verbilligung der Behandlung bezweckten, 
haben sich nicht bewährt, das Eisenlicht 
speciell, auf das wegen seines Reichthums 
an ultravioletten Strahlen so grosse Hoff¬ 
nungen gesetzt wurden, wirkt zu ober¬ 
flächlich. Für die Behandlung mit Röntgen¬ 
strahlen eignen sich Favus, Sycosis, Hyper- 
trichosis. Die Behandlung muss sehr vor¬ 
sichtig gehandhabt werden, stärkere 
Reaktionen sind zu vermeiden. 

Buschke (Berlin.) 

(Zeitschrift für diätetische und physikalische 
Therapie 1903, No. 7, Jahrg. 4.) 

Die Bemühungen zur Sicherung der 
Diagnose des Magencarcinoms verdienen 
aufmerksame Registrirung auch in diesen 
Blättern, weil die Erfolge der chirurgischen 
Therapie durchaus von der Präcision der 
Frühdiagnose abhängig sind. Bekanntlich 


sind die bisher gefundenen Kriterien (Salz¬ 
säuremängel, Nachweis der Milchsäure bezw. 
langer Bacillen) einerseits nicht eindeutig 
und vielfach auch erst in so späten Stadien 
ausgesprochen, dass es für eine erfolgreiche 
Operation zu spät ist. Neuerdings empfiehlt 
nun H. Salomon (Frankfurt a. M.) für 
zweifelhafte Fälle folgendes Verfahren: 
Der Patient, der bereits Vormittags nur 
flüssige Nahrung erhält, wird von Mittags 
2 Uhr an mit einer zugleich flüssigen 
und eiweissfreien Kost (Bouillon, 
Kaffee, Wein, Thee) ernährt; um 9 Uhr 
Abends wird dann der Magen mit grösseren 
Mengen Wassers gründlich ausgewaschen, 
bis die Spülflüssigkeit klar abläuft. Nach¬ 
dem der Patient in der Nacht nichts ge¬ 
nommen hat, werden am Morgen 400 ccm 
physiologischer Kochsalzlösung durch 
Trichter und Magenschlauch in den Magen 
eingegossen, zurückgehebert und nach 
nochmaligem Einlaufen und Zurückhebern 
(behufs gründlicher Abspülung der ge- 
sammten Magenschleimhaut) mittels des 
Esbach’schen Reagens auf ihren Ei¬ 
weissgehalt untersucht. 

Salomon erhielt bei der Mehrzahl der 
in dieser Weise untersuchten Magenerkran¬ 
kungen, bei nervöser Dyspepsie, chro¬ 
nischen Magencatarrh, Gastroptose, und 
auch bei chronischem Ulcus (frisch be¬ 
stehende, stark schmerzhafte Ulcera wur¬ 
den begreiflicher Weise nicht der Unter¬ 
suchung unterworfen) in der Waschflüssig¬ 
keit keine Reaction mit Esbach’schem 
Reagens oder nur eine leichte Opales- 
cenz, dagegen gab die Waschflüssigkeit 
in allen untersuchten Fällen von Ma- 
gencarcinom eine intensive, schnell 
flockig werdende Trübung mit dem 
Esbach’schen Reagens. Der Stick¬ 
stoffgehalt der Spülflüssigkeit betrug in 
der ersten Reihe der Fälle zwischen 0 und 
16 mg N auf 100 ccm Spülflüssigkeit, bei 
den Carcinomen 10—70 mg. 

Den Eiweissgehalt der Spülflüssigkeit 
führt Salomon auf eine Serumaus¬ 
schwitzung aus der Magenschleimhaut zu¬ 
rück. Die Frage, ob dieselbe nur bei ul- 
cerirtem Carcinom stattfindet oder bereits 
in einem früheren Stadium, lässt er offen. 
Dass sie in den untersuchten Fällen von 
chronischem Ulcus fehlte, erklärt er damit, 
dass dieselben vielleicht schon in der Ver¬ 
narbung befindlich waren; es sind also 
weitere Beobachtungen nötig, ob nicht in 
anderen Fällen das Ulcus zu einem posi¬ 
tiven Ausfall der Untersuchung führt. Auch 
hält Verfasser selbst es für möglich, so¬ 
gar für wahrscheinlich, dass auch ein in- 


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September Die Therapie der 


tensiver chronischer Catarrh einmal zu 
einer beträchtlicheren Eiweissausscheidung 
auf der Magenoberfläche führt. Der Werth 
der Methode liegt darum wohl mehr 
nach der negativen Seite. In zwei 
Fallen, in denen gewichtige Momente für 
Magencarcinom sprachen (Abmagerung, 
massige motorische Insufficienz, Fehlen 
freier Salzsaure im Magensaft etc.), 
schloss Salomon auf Grund des nega¬ 
tiven Ausfalls der Probe Carcinom 
aus und der weitere Verlauf, bezw. die 
von anderer Seite trotzdem vorgenommene 
Operation bestätigte die gutartige Diagnose. 

F. K. 

(Deutsche Med. Woch. 1903, No. 31.) 

Für die locale Behandlung der 
Pharyngitis sicca (Xerose der Hals¬ 
schleimhäute) empfiehlt F. Blumen¬ 
feld neben Gurgelungen und Inhala¬ 
tionen von Wiesbadener Kochbrunnen 
die Application von 10<>/ 0 igem Jodipin, 
von dem er 1 —2 ccm unter gelindem Druck 
vom Munde aus in den Rachen einspritzt, 
so dass sie sich über die Schleimhaut des¬ 
selben vertheilen. Da aber die Xerose des 
Rachens vorwiegend eine secundäre Er¬ 
krankung ist, die ihre Ursachen in consti¬ 
tutioneilen Leiden (Diabetes, Arthritis u. a.) 
oder localen Erkrankungen der Nase und 
des Rachendaches hat, hält er die allge¬ 
meine Behandlung der ersteren und die 
chirurgische der letzteren für die noth- 
wendige Voraussetzung der localen The¬ 
rapie. 

H. Strebei (München) verwendet nach 
Finsen das Licht zur Heilung der chro¬ 
nischen Pharyngitis, und zwar deratrophi- 
schen, wie der hypei trophischen. Mittelst 
einer von ihm angegebenen Lampe (herge¬ 
stellt von der Firma Elektron, München, 
Lindwurmstrasse 25) kann er das kalte 
Licht auf umschriebene Stellen der Rachen¬ 
schleimhaut einwirken lassen und je nach 
der Dauer der Einwirkung einfache Hyper¬ 
ämie bis zu ausgesprochener Entzündung 
mit Blasenbildung, sowie Verschorfung zur 
Erneuerung des ganzen Epithelüberzuges 
der Schleimhaut oder tiefergreifende zur 
Zerstörung von Gefässwucherungen, Gra¬ 
nulationen etc. erzeugen. F. K. 

(Fränkel’s Archiv f. Laryngologie Bd. XIV, 
Heft 3 S. 476 u. Heft 1 S. 99.) 

Ueber eine bisher wenig bekannte Form 
der Peritonitis, die Pneumococcenperi- 
tonitis, lässt sich v. Brunn aus. Sie 
kommt ziemlich selten vor, bei Kindern 
immer noch häufiger, als bei Erwachsenen. 
Secundär kann sie sich an Erkrankungen 

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Gegenwart 1903. 419 


der Lunge und Pleura sowie an Mittel¬ 
ohrerkrankungen anschliessen, doch tritt 
sie auch auf, ohne dass sich der Ausgangs¬ 
punkt feststellen lässt, vielleicht vom 
Intestinaltractus ausgehend. Da sie bei 
Mädchen viel häufiger befällt, als bei 
Knaben, so muss man auch die Genitalien 
als Eingangspforte in Erwägung ziehen. 

Das pathologisch-anatomische, sowie das 
klinische Bild sind oft so charakteristisch, 
dass die Diagnose Pneumococcenperitonitis 
sich ohne bakteriologische Untersuchung 
stellen lässt. Das Exsudat ist meist ein 
mehr oder weniger dicker, rahmiger, grün¬ 
licher oder grünlich*gelber Eiter, bisweilen 
etwas haemorrhagisch. Wenn keine Misch- 
infection zu Stande kommt, ist er ganz 
geruchlos. Seine Menge ist meist sehr 

gross, „literweise“. Der grosse Fibrin¬ 
reichthum des Exsudates führt zu weit¬ 
gehender Verklebung der Organe. So 
kommt es häufig vor, dass die Bauchein¬ 
geweide alle zu einem Klumpen zusammen¬ 
gebacken sind und in der Eitermasse 
liegen. Besonders gern sammelt sich der 
Eiter unterhalb des Nabels an; an diesem kann 
es dann zum spontanen Durchbruch 

kommen. Auch zwischen Bauchdecken 

und Netz kann der Eiter abgekapselt 

werden (P£ritonite prd£piploique). In sel¬ 
teneren Fällen kommt das Bild einer ge¬ 
wöhnlichen eiterigen Peritonis zu Stande, 

Die typischen Fälle beginnen wie eine ge¬ 
wöhnliche akute Peritonitis; nach einigen 
Tagen folgt ein chronisches Stadium, das 
mehrere Wochen dauern kann; die Tem¬ 
peratur kann dann trotz reichlicher Eiter¬ 
ansammlung normal sein. Findet das immer 
mehr wachsende Exsudat keinen Abfluss, 
so ist das Kind verloren. Nach der Ent¬ 
leerung des Eiters erfolgt die Heilung 
meist schnell. Bei Erwachsenen ist das 
Krankheitsbild nicht so typisch. Diffe¬ 
rential-diagnortirch kommt im akuten 
Stadium besonders Typhus und Appen- 
dicitis, im chronischen tuberkulöse Peri¬ 
tonitis in Betracht. Die Prognose ist bei 
Kindern, wenn rechtzeitig operativ einge- 
griften wird, gut; ohne Operation geht die 
Mehrzahl zu gründe. Die Behandlung be¬ 
steht in breiter Eröffnung der Abscess- 
höhle und Entleerung des Eiters mit fol¬ 
gender Drainage. Klink (Berlin). 

(v. Bruns’ Beitr. z. klin. Chir. XXXIX, 1.) 

Sehr günstig über die Kreosotalbe- 
handlung der Pneumonia crouposa 
äussert sich Cr ha (Beneschau)« Die Art 
seiner Application war einfach. Da das 
Kreosotal ein dicker, wenig flüssiger Stoff 

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420 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


ist und das Dosiren erschwert wäre, lässt 
er die Flasche mit dem Kreosotal eine 
Weile in warmem Wasser stehen, wodurch 
das Kreosotal flüssiger wird und sich leichter 
dosiren lässt. Die abgemessene Dosis giebt 
man in Vs L. warmer Milch, in welcher 
in kurzer Zeit eine Emulsion entsteht. 
Warme Milch verdeckt den ölartigen Ge¬ 
schmack und die Kranken nehmen es 
gerne ein. 

Die tägliche Dosis war beim Erwach¬ 
senen 12 g (= ein Kaffeelöffel), bei circa 
10 jährigen Kindern die Hälfte, was während 
6—8 Stunden eingenommen wurde. 

In dieser Höhe wurde das Kreosotal in 
den ersten Tagen der Entzündung gegeben, 
so lange kein evidenter Fieberabfall zu 
verzeichnen war. Fiel die Temperatur ab, 
konnte in manchen Fällen die Gabe auf 
die Hälfte reducirt werden, ohne dass das 
Fieber gestiegen wäre. In der Mehrzahl 
der späteren Fälle wurde die ursprüng¬ 
liche Dosis so lange gegeben, bis sich die 
Krisis einstellte, dann erst wurde die Gabe 
auf die Hälfte oder ein Drittel erniedrigt. 
Verfasser hält die höhere Dosis für besser, 
denn in Fällen, in welchen bei den Er¬ 
wachsenen kleinere Gaben (5—7 g) ange¬ 
wandt wurden, war der Erfolg nicht so 
evident. Das Kreosotal wurde noch nach 
der Krisis durch 2—3 Tage gereicht, natür¬ 
lich in kleineren Gaben, da die Resolution 
rascher vor sich ging, und da in manchen 
Fällen, wo nach der Defervescion vor der 
Beendigung des Processes das Kreosotal 
ausgelassen wurde, das Fieber von neuem 
aufloderte. 

Verfasser will nicht das Kreosotal als 
ein Specificum gegen die Pneumonie an- 
sehen, doch die Erfolge, die mit dieser 
Behandlung im Beneschauer Krankenhause 
erzielt wurden, sind günstiger als bei ge¬ 
wöhnlicher Therapie. 

Am besten bewährte sich das Kreosotal 
in Fällen anfangender Pneumonie, wo bald 
nach Darreichung des Kreosotal die Krisis 
eintrat und in 9 Fällen der Process sich 
weiter nicht entwickelte, sondern endete als 
eine abortive Form. Aber auch in Fällen 
entwickelter Entzündung lief der Process 
unter Kreosotalbehandlung schwächer und 
günstig ab. 

Obwohl ziemlich grosse Gaben gegeben 
wurden, hatte der Verfasser gar keine un¬ 
angenehmen Nebenerscheinungen von Seite 
des Kreosotais zu verzeichnen. 1 ) 

Stock (Skalsko). 

(CUsopis öeskych lekarü 1903, No. 17, 18.) 

1 ) Die vor einiger Zeit geäusserten Zweifel an 
der Wirksamkeit des Kreosotal bei Pneumonie werden 

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Strychnininjectionen zur Bekämpf¬ 
ung von Polyurie, insbesondere beim 
Diabetes insipidus empfiehlt F eil che n- 
feld. Er machte dieselben (0,0025 täg¬ 
lich) bei einem 60jährigen Herrn mit 
Polyurie und Blasenlähmung, in der 
Absicht auf die letztere einzuwirken, und 
sah, während die Blasenlähmung sich nicht 
besserte, ein schnelles und . erhebliches 
Heruntergehen der Urinmenge. Daraufhin 
versuchte er die Injectionen bei einer Frau 
mit Diabetes insipidus, die über 4 1 Urin 
vom spec. Gew. 1002 täglich entleerte. 
Dieselbe erhielt subcutan 0,005 Strychni- 
num nitricum täglich mit dem Erfolge, dass 
die Urinmenge täglich um 200—400 ccm 
zurückging, der Durst, die Trockenheit, 
der Urindrang sehr schnell schwanden; 
nach 8 Tagen betrug die Urinmenge nur 
noch 2V2 U das spec. Gew. aber war 
1002—1003 geblieben. Hieraus und aus 
der Schnelligkeit des Erfolges schliesst 
Feilchenfeld auf eine centrale Einwir¬ 
kung des Strychnins auf das Nerven¬ 
system. Wie lange diese Wirkung der 
Injectionen vorhält, ob sie auch beim Dia¬ 
betes mellitus die Harnmenge zu beein¬ 
flussen vermag, sollen weitere Beobach¬ 
tungen lehren. F. K. 

(Deutsche Med. Woch. 1903, No. 31.) 

K. J. Bergmann stellte eine Reihe 
von Versuchen an, um die Wirkung des 
in dieser Zeitschrift bereits wiederholt be¬ 
sprochenen 1 ) Abführmittels Purg&tin zu 
studiren. Es ergab sich nun, dass das 
Purgatin bei Kaninchen keine abführende 
Wirkung hat, auch wenn man das Mittel 
in weit grösseren Dosen einführt, als man 
es Menschen und Hunden zu geben pflegt. 
Bei Hunden wird durch 1,5—3,0 Purgatin 
fast immer weicher, meist breiartiger Stuhl 
erzielt. Einmalige relativ grosse Dosen 
(bei Kaninchen 10,0, bei Hunden 15,0) haben 
keine üble Nebenwirkung, dagegen war 
bei längere Zeit fortgesetztem Gebrauch 
von mittelgrossen Gaben des in Rede 
stehenden Abführmittels bei Kaninchen 
Abnahme des Körpergewichts, Appetit¬ 
losigkeit und Apathie zu constatiren. Bei 
einem graviden Kaninchen trat nach 4 Tage 
langem Gebrauch von 1,0 Purgatin Abort 
ein, bei zwei anderen trat nach 3 Wochen 
langer Einführung des Mittels intensiv 
blaue Färbung der Haut und der sicht¬ 
baren Schleimhäute auf.— Hunde gewöhnen 

durch das obige Referat nicht vermindert; wir 
möchten die damals ausgesprochene Bitte um Mit¬ 
theilung auch ungünstig verlaufener Fälle wieder¬ 
holen. Vergl. auch den Bericht S. 426. Red. 

1902 S. 2, 1902 S. 247 ff. 

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September 


421 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


sich leicht an Purgatin, nach längerem 
Gebrauch tritt bei ihnen sogar Verstopfung 
ein. Das Purgatin wirkt, wie bereits an¬ 
dere Forscher betont haben (Ebstein etc.) 
durchaus nicht so sicher wie es früher an¬ 
genommen wurde. In Dosen unter 2,0 
wirkt es überhaupt nicht. Die vom Ver¬ 
fasser parallel angestellten Versuche mit 
Schwefelmilch ergaben, dass letztere in 
Gaben von 2,5—3,0 als Laxans dem Pur¬ 
gatin keineswegs nachsteht. 

N. Grünstein (Riga). 

(Russki Wratsch 1903, No. 6.) 

Um eine intensivere Quecksilberein- 
Wirkung auf den von hereditärer Sy¬ 
philis bedrohten Fötus zu erzielen, 
empfiehlt Riehl neben allgemeiner antisyphi¬ 
litischer Behandlung die Mutter intravaginal 
zu behandeln und zwar in folgender Weise : 
es lverden Globuli vaginales aus je 1 g 
officineller grauer Salbe und 1—2 g Buty- 
rum Cacao bis zur Portio vaginalis ein¬ 
geführt, durch vorgelegte mit Tanningly¬ 
cerin getränkte Tampons oder durch ein 
Tamponspecuium fixirt. Diese Behandlung 
beginnt man sobald die Schwangerschaft 
konstatirt ist und setzt sie bis zum Schluss 
der Gravidität fort. Schädigungen treten 
nicht ein. Vörner vergleicht in der vor¬ 
liegenden Arbeit die aus Riehl s Klinik 
bei dieser Behandlung gemachten Erfah¬ 
rungen mit den Statistiken anderer Me¬ 
thoden, bei welchen lediglich Allgemein¬ 
behandlung Platz griff, und kommt zu dem 
Resultat, dass bei diesem Vorgehen die 
Prognose der hereditären Syphilis sich 
bessert. Buschke (Berlin.) 

(Arch. für Denn. u. Syph. 1902, Bd. 66, Heft 1 u.2.) 

Ein Beitrag zur Frage der Behandlung 
des Rectumc&rcinoms liefert Niederle 
(Prag): 

Verfasser unterstützt seine Arbeit mit 
239 Fällen, die in den letzten 10 Jahren 
auf der chirurgischen Klinik des Prof. 
May dl in Prag beobachtet wurden: 

I. In 92 Fällen wurde radikal operirt. 
Als Contraindicationen eines radikalen Ein¬ 
griffes Hess man gelten: 1. sehr tiefe Ad¬ 
häsionen mit den Nachbarorganen und der 
Blase; 2. zahlreiche Metastasen; 3. vorge¬ 
schrittenes Alter oder Kachexie. 

In 29 Fällen (fast ein Drittel) wurde auf 
dem perinealem Wege (nach der Lis- 
franc’schen Methode) operirt. Die post- 
operative Mortalität betrug 10,3%. Defini¬ 
tive Heilung (keine Recidive im Verlaufe 
von 3 Jahren nach der Operation) in 7,7%. 

In 62 Fällen wurde der dorsale Weg 
angewandt (nach der Methode nach Ver- 

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neuil, Wölfer, Kraske). In der Mehr¬ 
zahl handelte es sich um eine Amputation 
des Rektums. Es resultierte eine sehr hohe 
Mortalität — 30,6% und die Zahl definitiver 
Heilungen betrug nur 7% 

In Betreff der gesammten Mortalität 
waren die Erfolge der perinealen Methode 
evident besser. 

Ein einziger Patient wurde nach der 
perineoabdominalen Methode nach Qucnu 
operirt. 

In der Zahl aller 92 radicalen Opera¬ 
tionen betrug die Mortalität 23,9% und 
7% die definitive Heilung. Doch nach und 
nach verbesserten sich die Resultate in 
Folge der Vervollkommnung der operativen 
Technik, sodass in den letzten 5 Jahren 
die Mortalität auf 19,6% sank, dagegen 
stieg die definitive Heilung auf 90 / 0 . 

II. Die zweite Gruppe umfasst die pallia¬ 
tiven Operationen, die jn 90 Fällen durch¬ 
geführt wurden, was 49% von der Ge- 
sammtzahl ausmacht. Diese Zahl scheint 
im Vergleiche mit anderen Statistiken, be¬ 
sonders mit denselben aus Deutschland, 
sehr hoch zu sein. 

Zwei Fälle ausgenommen wurde immer 
die Kolotomie nach May dl durchgeführt, 
die bei allen radikal Unoperabilen die 
besten Erfolge lieferte. 

57 Fälle wurden aus verschiedenen 
Gründen nicht operirt. 

Auf Grund dieser klinischen Erfahr¬ 
ungen glaubt Verfasser behaupten zu 
können: 

Bei radicalen Operationen des Carci¬ 
noma recti ist immer die im gegebenen 
Falle geeigneteste und einfachste Methode, 
mit der noch eben, mit gehöriger Rück¬ 
sicht auf die Erhaltung der Function, aus¬ 
gekommen werden kann, anzuwenden; be¬ 
sonders die perinealen Methoden haben 
sich am besten bewährt. In Fällen, die 
sich auf der äussersten Grenze eines radi¬ 
calen Eingriffes befinden, ist es besser, die 
palliative Kolotomie zu wählen, sowie auch 
in Fällen, wo eine zu schwere Operation 
zu erwarten wäre, oder wo die Höhe des 
Sitzes der Neubildung nicht festgestellt 
werden kann. Unter letzteren Umständen 
kann die Laparotomie als Mittel zur Er¬ 
forschung der Operabilität des Tumors 
dienen und die angeschlossene Kolotomie 
wird zum vorläufigen Schritte zur folgenden 
radicalen Operation. Stock (Skalsko). 

(Sbomfk klinicky B. IV, H. 3.) 

Ueber den therapeutischen Werth des 
Rheumatins, auf das E. Pieper in dieser 
Zeitschrift bereits aufmerksam gemacht 


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September 


422 Die Therapie der 


hat (1902, S. 238), hat J. Sigel auf der 
Ewald’schen Abtheilung bei ca. 40 Fällen 
von acutem und chronischem Gelenk¬ 
rheumatismus recht günstige Erfahrun¬ 
gen gesammelt. Das Mittel, das eine Ver¬ 
bindung von Salicylsäure und Chinin 
darstellt, wurde je nach Alter und Schwere 
des Falles in einer Tagesdosis von 2—6 g 
(im Allgemeinen 3—4 g pro die) gegeben. 
Es zeigte bei meist prompter spezifischer 
Wirkung so geringe Nebenwirkungen, spe- 
ciell auf Herz und Nieren, dass ihm nach 
des Verfassers Meinung schon dadurch 
ein dauernder Platz in der Behandlung 
des Gelenkrheumatismus gesichert sein 
wird. Sigel hält es für angezeigt 1. bei 
acuten Fällen, wenn dieselben bereits mit 
ausgesprochenen Complicationen von Seiten 
des Herzens und der Nieren in Behand¬ 
lung kommen — es ist aber auszusetzen, 
wenn nach mehrtägigem Gebrauch Tem¬ 
peratur und Gelenkerscheinungen nicht 
zurückgehen; 2. bei denjenigen acuten 
Fällen, in denen andere Präparate schlecht 
oder gar nicht vertragen werden; 3. bei 
den subacuten und chronischen Fällen 
von Muskel- und Gelenkrheumatismus, in 
denen es darauf ankommt, die Medication 
zu wechseln, eventuell um den durch Sali¬ 
cylsäure oder Aspirin erreichten Erfolg auf 
der Höhe zu erhalten. F. K. 

(Berl. Klin. Wochenschrift 1903, No. 31.) 

Als Spondylitis infectiosa bezeichnet 
Quincke eine Form von Wirbeler¬ 
krankung, bei welcher eine Schädigung 
des Wirbelmarkes durch Einwanderung 
pathogener Organismen hervorgerufen wird 
und wie sie z. B. als Spondylitis thyphosa 
im Gefolge typhöser Erkrankungen bereits 
in einer Reihe von Fällen auf seine An¬ 
regung hin beobachtet worden ist. Seine 
hier mitgetheilten Beobachtungen betreffen 
einen Fall von Pneumococcenspondy- 
litis, der sich sechs Wochen nach einer 
mittelschweren Pneumonie bei einem 46jähr. 
Arbeiter in den oberen Lendenwirbeln ent¬ 
wickelt hatte. Die Wirbelerkrankung charak- 
terisirte sich hier durch sehr heftige Schmer¬ 
zen und Steifigkeit in der Lendenwirbelsäule, 
sowie durch leichte Prominenz des zweiten 
und dritten Lendenwirbeldornfortsatzes. 
Der Verlauf der Krankheitserscheinungen 
war ein acuter und fieberloser ohne mo¬ 
torische Symptome. Sechs Monate nach 
dem Beginn der spondylitischen Erschei¬ 
nungen wurde derKranke mit einem leichten 
Gibbus am dritten Lendenwirbel, als ge¬ 
heilt entlassen. In einem andern Fall 
seiner Beobachtung entwickelte sich eine 


Gegenwart 1903. 


ähnliche, gleichfalls günstig verlaufende 
Erkrankung der Lendenwirbelsäule im An¬ 
schluss an ein vermuthlich primär ent¬ 
standenes, eitriges Pleuraexsudat, das vor¬ 
wiegend Streptococcen enthielt. Verfasser 
bezeichnet sie daher als Streptococcen- 
spondylitis, indem auch hier ganz ähn¬ 
lich wie in dem ersten Fall andere ätio¬ 
logische Momente ausser Frage kamen. 
Er bezieht sich dabei auf die E. Fränkel- 
schen Untersuchungen des Wirbelmarkes 
von Personen, die an Typhus und anderen 
Infectionskrankheiten gestorben waren, 
und bei welchen auch das Wirbelmark in 
ungeahnter Weise an den verschiedensten 
allgemeinen und localen bacteriellen Er¬ 
krankungen anatomisch mitbetheiligt war, 
ähnlich wie die Milz. Die Resorption 
dieser kleinen Infectionsherde geschieht in 
solchen Fällen zwar meist symptomlos, 
indess kann sich auch jenes Krankheits¬ 
bild dabei mehr minder vollkommen her¬ 
ausbilden, dass eben Quincke als Spon¬ 
dylitis infectiosa bezeichnet; die dabei 
auftretende Schwellung sowie die häufig 
zurückbleibende Versteifung des erkrankten 
Wirbelsäulenabschnittes deutet er dabei als 
Miterkrankung des Periostes und der Bänder, 
die manchmal bemerkbare leichte Gibbus¬ 
bildung als Höhenabnahme des Wirbel¬ 
körpers durch Resorption besonders zahl¬ 
reicher mikroskopischer Nekroseherde. 

Bei der Beobachtung von Recon- 
valescenten nach schweren Infectionen 
sollte man aus prognostischen und thera¬ 
peutischen Gesichtspunkten allemal der 
Quinckeschen Mittheilung eingedenk sein. 

F. Umber (Berlin). 

(Mittheilungen aus den Grenzgebieten der Medicin 
und Chirurgie 1903. Bd. XI, 5.) 

In einer Arbeit Beiträge zur Kenntniss 
des Tetanus traum&ticus berichtet El¬ 
sässer über 24 Fälle, die in den Jahren 
1877—1902 in der Kocher’schen Klinik 
zur Beobachtung kamen. Verletzungen 
waren immer nachweisbar, in einzelnen 
Fällen auch schwere, aber in der Regel 
handelte es sich um verhältnismässig ge¬ 
ringfügige Wunden, die kaum oder sogar 
gar keine Behandlung zu verlangen schienen. 
Die erste Forderung, wenn man einen 
Tetanus erkannt hat, ist eine gründliche 
gewissenhafte Reinigung der Wunde. Der 
Verlauf ist, wie Verfasser an einem Fall 
beobachtete, der der Art der Verletzung 
nach eine äusserst schweren Infektion ver- 
muthen liess, doch wohl gutartiger, als 
wenn die Wunde unbehandelt bleibt. Der 
Ausbruch der Erkrankung fällt etwa in 
Vs der Fälle in die erste Woche nach der 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


423 


Verletzung, in etwa der Hälfte in die zweite 
Woche; einige wenige erkranken noch 
später. 

Was die Therapie anbetrifft, so sind 
zunächst einige allgemein gQltige Forderun¬ 
gen zu erfüllen: Isolirung des Patienten 
in ein ruhiges Zimmer, Fernhalten aller 
äusseren Reize, Ernährung mit flüssiger 
Diät, solange die Schluckbewegungen noch 
keine Krämpfanfälle auslösen, dann mit 
Nährklystiren. 

Für reichliche Wasserzufuhr muss durch 
Kochsalzinfusionen gesorgt werden. Die 
Reinigung der Wunden hat mit einem 
Mittel zu geschehen, das nicht nur desin- 
ficirend, sondern auch antitoxisch wirkt, 
also mit Jod, Carbolsäure, saurem Sublimat. 

In allen Fällen, wo Krampfanfälle vor¬ 
handen sind, gebe man Narcotica, am 
besten Chloralhydrat zur Herabsetzung der 
Reflexerregbarkeit und Morphin zur Ver¬ 
minderung der Erregbarkeit, der Gross¬ 
hirnrinde, eventuell wechsle man mit beiden 
Mitteln ab. Bei sehr häufigen und hefti¬ 
gen Krämpfen muss man eventuell zur 
Chloroformnarcose greifen. 

Sodann stehen uns zwei Methoden zur 
Verfügung, das eigentliche, ursächliche 
Moment, das Tetanustoxin in seiner 
Wirkung abzuschwächen resp. zu zer¬ 
stören. Die Serumwirkung beruht auf 
Immunisirung. Es wird also am besten 
wirken, wenn es prophyplaktisch einge¬ 
spritzt wird, Meistens wird aber der 
Tetanus schon zum Ausbruch gekommen 
sein, wenn man injicirt, und man darf 
infolgedessen nicht auf eine augenblick¬ 
liche Wirkung hoffen, sondern kann nur 
einen gewissen Stillstand der Erscheinungen 
erreichen, dadurch dass die noch nicht 
vergifteten multipolaren Ganglienzellen ge¬ 
schützt werden. 

Dagegen bezweckt die Verabreichung 
von Jod und Carbolsäuie, besonders der 
letzteren, die Zerstörung des Giftes durch 
ein chemisches Gegengift. 'Man injicirt 
die Carbolsäure in einer 3proc. Lösung, und 
zwar je nach Schwere des Falles in Inter¬ 
vallen von einer bis mehreren Stunden 
1 ccm. 

In einer Reihe von Fällen wurde Serum- 
und Carboisäurebehandlung gleichzeitig 
angewandt. Verf. ist geneigt, die letztere 
für die überlegene Methode zu halten. 
Die Resultate, die mit verschiedenen 
Behandlungsweisen erzielt wurden, sind 
verhältnissmässig gut, wenn auch die ab¬ 
solute Mortalität natürlich hoch ist, Es 
starben von 24, nach verschiedenen Prin- 
cipien behandelten Fällen 14,10 sind geheilt. 


Die Behandlung des traumatischen 
Tetanus würde sich also, noch einmal 
zusammengefasst, etwa so gestalten: 

1. Möglichst frühzeitige energische Wund¬ 
behandlung unter Zuhilfenahme von 
Jodtinctur, Carbolsäure, ev. Thermo- 
cauter. 

2. Sofortige Serurainjection, bei besonders 
dringlichen Fällen intracerebral oder 
intradural, um das noch freie, speciell 
im Blut circulirende Toxin zu binden. 

3. Ausgiebige Darreichung von Nar- 
coticis, um die Gefahr der Anfälle zu 
beseitigen, Chloralhydrat, Morphin, 
Chloroform. 

4. Systematische Carbolinjectionen vom 
ersten Tage an, stündlich oder zwei¬ 
stündlich 0,03. 

5. Subcutane Kochsalzinfusion, Nähr- 
klystire, Isolirung. 

Wichmann, (Altona). 
(Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Band 69, 
Seite 236.) 

Ueber Theooin (Theophyllin) das neue 
Diureticum, welches von Minkowski in 
die Therapie eingeführt worden ist, (diese 
Zeitschrift 1902, S. 490) liegt eine Disser¬ 
tation aus der Leube’schen Klinik vor. 
Der Verfasser Dr. Rattner berichtet über 
28 Fälle von Hydrops und Oedemen aus 
verschiedenen Ursachen. In allen war die 
stark harntreibende Wirkung des Mittels 
deutlich bemerkbar und überdauerte die 
Darreichung meist um mehrere Tage; mehr¬ 
fach war diese Wirkung noch zu erzielen, 
wenn andere Diuretica versagten. An¬ 
gewandt wurden täglich 3—5 mal 0,2 g. 
Von Nebenwirkungen hat Verfasser öfters 
Uebelkeit, Erbrechen und Durchfall beob¬ 
achtet, glaubt aber, dass diese vermeidbar 
sind, wenn das Theocin statt in Pulverform 
in Lösung gereicht wird. Eventuell erweist 
es sich auch in Suppositorien sehr wirk¬ 
sam. Erregungszustände, Schlaflosigkeit, 
Krampfanfälle hat Rattner nicht nach 
Theocin gesehen, ebensowenig Albumin¬ 
urie. Bei Kindern gab er von einer Lösung 
0,1 : 75 3—5 Kinderlöffel — maximale Tages¬ 
dosis 0,05 g — mit sehr gutem Erfolg ohne 
schädliche Nebenwirkung. Rattner be¬ 
zeichnet danach das Theocin als das zur 
Zeit am besten wirkende Diureticum. 

(Anmerkung des Referenten: Ich 
habe das Theocin (Theophyllin) in mehr 
als 20 Fällen mangelnder Diurese haupt¬ 
sächlich bei Herzkranken verordnet und 
in keinem Falle die harntreibende Wir¬ 
kung vermisst. In einzelnen schweren 
Fällen war dieselbe ausserordentlich und 
erinnerte an die enormen Effecte, die man 


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424 


1 


Die Therapie der 

manchmal in desperaten cardialen Hydrop- 
sien von Calomel erlebt. (So stieg bei 
einer hilflos geschwollenen Patientin mit 
Mitralstenose, bei der auch das lange wirk¬ 
sam gewesene Diuretin versagte, nach fünf¬ 
mal 0,3 g Theocin, in 2 Tagen gereicht, die 
Harnmenge auf 5 1 und hielt sich ohne Er¬ 
neuerung der Medication in der durch¬ 
schnittlichen Höhe von 2—3 1, bis die Pa¬ 
tientin ihre Oedeme vollkommen los war. 
Dieser überraschend gute Zustand währt 
zum grossen Ruhm der ärztlichen Kunst 
nun schon 3 Monat). Ich habe aber auch 
eine Reihe unerwünschter Nebenwirkungen, 
neben gastrischen Störungen insbesondere 
ein grosses Gefühl allgemeiner Schwäche 
danach auftreten sehen. Ich möchte also 
glauben, dass das Theocin ein heroisches 
Mittel ist, welches besonders dann An¬ 
wendung verdient, wenn die anderen Diu- 
retica nicht mehr wirken). 

G. Klemperer. 

(Würzburger Dissertation 1903.) 

Ziemlich günstig über die Behandlung 
der Tuberkulose nach der Methode von 
Länderer äussert sich Stock (Skalsko), 
indem er über 25 Fälle zu berichten weiss, 
in welchen allen eine Besserung zu ver¬ 
zeichnen war. Freilich war der Verfasser 
in der Auswahl seiner Fälle vorsichtig, 
indem er dem Rathe Länderers gemäss 
nur anfangende Tuberkulose der Behand¬ 
lung unterzog. In 5 Fällen war die Tuber¬ 
kulose überhaupt nicht nachweisbar, nur aus 
den subjektiven Beschwerden und Neben¬ 
umständen (Antecedenz und Aehnliches) 
wurde sie geahnt. Die übrigen 20 Fälle 
gehören unter jene, die Länderer als un- 
complicirt bezeichnet. In den ersten 5 Fällen 
schwanden alle Symptome binnen D/ 2 —2 
Monaten, in welcher Zeit die Patienten, 
indem sie sich vollkommen gesund fühlten, 
die Behandlung selbst unterbrochen haben. 
In 13 Fällen, von denen 5 noch in Behand¬ 
lung stehen, war die Behandlungsdauer 
3—6 Monate, in einem Falle über ein Jahr, 
und dauert noch bisher weiter. In allen 
diesen Fällen trat eine unbedingte 
subjektive und objektive Besserung 
ein, aber für vollkommen geheilt will Ver¬ 
fasser keinen von diesen 13 erklären, da 
die objektiven Merkmale doch nicht voll¬ 
kommen verschwunden sind. 7 Kranke 
unterbrachen die Behandlung vorzeitig 
selbst. Im Ganzen hält Verfasser diese 
Behandlungsmethode für vollkommen un¬ 
schädlich (intravenöse Injectionen) und 
glaubt, dass ein günstiger Einfluss auf die 
Tuberkulose nicht geleugnet werden kann. 

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Gegenwart 1903. September 

Besonders die Besserung der sub- 
jectiven Symptome ist bezeichnend 
und unleugbar. 

Haemoptisen, Müdigkeit und Schlaf¬ 
sucht, so wie dies Ewald beschreibt, hatte 
Verfasser nicht zu verzeichnen, warnt aber 
vor weiteren Injectionen bei eintretender 
Haemoptoe oder auch leichten Haemoptisen, 
l da er bei einem mit leichter Haemoptise 
behafteten Kranken, ein paar Minuten nach 
der ersten Injection (V* mg) von einem 
ziemlich starken Blutsturz unangenehm 
überrascht wurde. Stock stimmt also 
mit manchen Autoren (Katzenstein, 
Rys), die bei Haemoptoe mit den Injec¬ 
tionen fortzufahren empfehlen, nicht über¬ 
ein, und glaubt, dass, wenn dieselben bei 
ihrem Verfahren nie unangenehm über¬ 
rascht wurden, es eher ihrem Glücke, als 
dem Einflüsse des Hetols zuzuschreiben 
wäre. 

Verfasser endet mit Länderers Worten: 
„Die Heilbehandlung gibt eine Menge Skro- 
phulöser und Tuberkulöser dem praktischen 
Arzte zurück“ und fügt nur hinzu: ob der¬ 
selbe sie auch dem Leben wieder zurück 
zu geben vermag, bleibt eine bisher offene 
Frage. Autoreferat. 

(Öasopis cesk^ch 16kaf& 1903, No. 21, 22, 23.) 

In einem lesenswerthen Aufsatz i 
Schwenk’s werden die Resultate mit- 
getheilt, welche an der Kutn er 'sehen 
Poliklinik bei der Behandlung der chro¬ 
nischen Urethritis anterior mittels der 
von Kutn er angegebenen Druckspülung 
gewonnen wurden. Die Methode wird am 
zweckmässigsten so ausgeführt, dass mit¬ 
telst einer 100—120 ccm fassenden Hand¬ 
druckspritze und eines ca. 4 cm langen 
Nelatonkatheters kurze und kräftige Injec¬ 
tionen mehrere Mal hintereinander ausge¬ 
führt werden, wobei das Orificium urethrae 
um den Katheter comprimirt und dann 
zur Entleerung der Flüssigkeit wieder 
geöffnet wird. Zur Injection wird Argen¬ 
tum nitricum verwendet: 1 ccm einer 
5%igen Lösung auf 50 ccm aqua dest. Die 
Resultate waren sehr befriedigende. In 
Bezug auf den weiteren Inhalt der Arbeit sei 
hervorgehoben, dass der Verfasser dieOber- 
län der'sehe Dehnbehandlungsmethode aus 
theoretischen und praktischen Gründen für | 
die Behandlung der chronischen Gonor¬ 
rhoe ganz aufgegeben hat. Er nähert sich 
hierin dem Standpunkte des Referenten, 
der zwar die Methode für einzelne Indica- 
tionen für zweckmässig hält, ihr aber 
keineswegs die grosse Bedeutung für die 
Behandlung der chronischen Gonorrhoe 

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UMIVERSITY OF CALIFORNIA J 



September 


425 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


vindiciren kann, welche die Oberländer- 
sche Schule ihr beilegt. 

Buschke (Berlin). 

J. K. Wischnewsky will in 6 Fällen 
von Variola vera von der innem Dar¬ 
reichung von Xylol sehr gute Erfolge 
gesehen haben. Diese Behandlungsweise 
ist nach Verfassers Behauptung sowohl 
der symptomatischen, als auch der Behand¬ 
lung mit forcirter Impfung bei weitem vor¬ 
zuziehen. In allen Fällen, in denen er die 
Xylolbehandlung bereits im Stadium der 
Eruption beginnen konnte, blieb die Pustel¬ 
bildung aus. Waren vor dem Beginn der 
Behandlung einige Pusteln eiterig gewor¬ 
den (meist an der behaarten Kopfhaut und 
im Gesicht), so schrumpften sie zusammen 
und hinterliessen eine dünne oberflächliche 
Kruste. Die im Beginn der Behandlung 
aufgetretenen Papeln gingen nicht in Pusteln 
über, so dass keiner der mit Xylol behan¬ 
delten Kranken die' für diese Krankheit so 
typischen Narben zurückbehielt. Die Krank¬ 
heit verläuft entweder ganz fieberfrei oder 
bei nur geringen Temperatursteigerungen. 
Das Xylol wird je nach der Schwere des 
Falles und der Zeit, in welcher er in Be¬ 
handlung kommt, zu 15—20Tropfen 4—6mal 
täglich in einem Glase Rothwein verabfolgt, 
solange bis das Exanthem völlig verschwun¬ 
den ist. Irgend welche üble Nebenwirkun¬ 
gen hat das Mittel nicht. 

N. Grünstein (Riga). 

(Russki Wratsch 1903, No. 6.) 

Zur Casuistik der ViscePalsyphlUs 
theilt H. Quincke eine Reihe sehr inter¬ 
essanter Beobachtungen mit, die so recht 
geeignet sind, uns in dem alten Grundsatz 
zu bestärken, bei chronischen Erkrankungen 
zweifelhaften und dunkeln Ursprungs stets 
an die Möglichkeit luetischer'Grundlage zu 
denken. 

Der erste Fall betrifft einen 55jährigen 
Mann, der nach voraufgegangenen Zeichen 
von Magengeschwür unter Erscheinungen 
von Erweiterung des Magens hochgradig 
abmagerte. Die Palpation erwies 1894 auf 
der stark pulsirenden Bauchaorta einen 
faustgrossen länglichen Tumor; der Magen¬ 
inhalt enthielt reichlich Salzsäure. (Pat. 
hatte ais junger Mann Ulcus durum, 1892 Kopf¬ 
schmerzen mit periostitischen Verdickun¬ 
gen des Schädels gehabt, die auf Jodkali 
verschwunden waren.) Es wurde neben 
diätetischer Magenspülung eine regelrechte 
Schmiercur eingeleitet, danach Jodkali ge¬ 
geben. Es trat allgemeine Besserung ein, 
das Gewicht stieg von 127 auf 151 Pfd., 
der Tumor wurde kleiner. Erst 6 Jahre 

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später (1900) kam es zu neuen Erschei¬ 
nungen motorischer Mageninsufficienz, wie¬ 
der bewies sich Hg und JK hilfreich, und 
Patient hielt sich unter häufigen Magen¬ 
spülungen leidlich bis 1902, wo er einer 
Gesichtsrose erlag. Die Section konnte 
erst 80 Stunden p. m. gemacht werden, 
erwies aber doch mit genügender Sicher¬ 
heit, neben alten Ulcusnarben im Magen, 
eine Verdickung und Zellinfiltration des 
Mesenteriums, woraus Verf. ein teilweis 
zur Rückbildung gekommenes Gumma 
diagnosticirt. (Dieser Fall ist ausserordent¬ 
lich lehrreich; er ermahnt von Neuem, in 
jedem Fall anscheinenden Magencarcinoms 
nach Lues zu fragen und eventuell spe- 
cifische Cur einzuleiten; auf die vielen un¬ 
vermeidlichen Fehlschläge kommt doch hin 
und wieder ein grosser Erfolg!) 

Quincke’s zweite Beobachtung handelt 
von einem 60jährigen Kaufmann, der unter 
den Erscheinungen eines leicht fieberhaften 
Icterus und mässiger Verengerung des Kehl¬ 
kopfs fortschreitend abmagerte und nach 
4 Monaten starb. Die Leber war anfangs 
vergrössert, verkleinerte sich aber zu¬ 
sehends, unterhalb derselben war im Ab¬ 
domen eine unbestimmte Resistenz quer 
verlaufend zu fühlen. Die Diagnose 
schwankte zwischen Carcinom und Lues, 

Jod blieb erfolglos. Bei der Obduction 
zeigte sich die Leber cirrhotisch verklei¬ 
nert, in und hinter der Radix mesenterii 
eine grosse Geschwulst, die als Drüsen- 
convolut mit Gummiknoten zu deuten war. 

In diesem Falle hatte die Geschwulst selbst 
keine schlimmen Folgen, weil sie an un¬ 
gefährlicher Stelle sass; der Tod wurde 
durch die luetische Hepatitis verursacht. 

Der Patient wäre zu retten gewesen, wenn 
an die specifische Behandlung einige Jahre 
früher gedacht worden wäre; statt dessen 
hatte man den Patienten mehrfach nach Ems 
und Kissingen geschickt. 

Im dritten Fall hatte ein 35 jähriger 
Herr so heftige Kolikschmerzen mit schliess- 
lichem Icterus, dass wegen dringenden Ver¬ 
dachtes einer Cholecystitis zur Operation 
geschritten wurde. Dieselbe zeigte die 
leere Gallenblase von einer lappigen Ge¬ 
schwulst umgeben, welche wegen der Ver¬ 
wachsungen mit der Umgebung inoperabel 
erschien. In der Vermuthung, dass es sich 
um eine Gummigeschwulst handele, wurde 
eine Jodkalibehandlung durchgeführt (3;0 
pro die drei Monate lang), die zur voll¬ 
kommenen Heilung führte. Patient ist jetzt 
21/2 Jahre ganz gesund. (Diesem Falle kann 
Referent zwei ganz analoge aus der eigenen 
Erfahrung zur Seite stellen, in denen 

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UNIVERSUM OF CALIFORNIA 



Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


426 


äusserst heftige Leberkoliken durch Queck- 
silbercuren geheilt wurden. Referent möchte 
als eine allgemeine Forderung aufstellen, 
Patienten mit anscheinenden Gallenstein¬ 
koliken, die nachweislich luetisch inficirt 
waren, specifischen Curen zu unterwerfen, 
ehe man sie operiren lässt.) 

Im letzten Fall erkrankte ein 40 jähriger 
Herr, dessen luetische Infection 17 Jahre 
zurücklag, nach lang dauernden gastrischen 
Beschwerden an Icterus mit Milzschwel¬ 
lung mit sehr schlechtem Allgemeinbe¬ 
finden, wozu sich schliesslich Ascites und 
Oedem beider Beine gesellte. Patient be¬ 
kam Jodnatrium und von seinem Hausarzt 
mehrfach Calomel, ohne dass ein sofortiger 
Umschwung eintrat. Erst allmählich kam 
es zur Besserung und schliesslich zur voll¬ 
kommenen Heilung, die Patient selbst auf 
den Gebrauch eines diuretischen Haus¬ 
mittels (Decoct von Sambucus nigra) zu¬ 
rückführte. Zweifellos besteht Quinckes 
Annahme zu Recht, dass es sich in diesem 
Fall um gummöse Wucherungen an der 
Porta hepatis gehandelt hat, die durch die 
specifische Therapie zur Rückbildung ge¬ 
bracht sind, während der Effect auf Gallen¬ 


wege und Pfortader erst nach Aussetzen 
der Mittel eintrat. 

Dieser höchst lehrreichen Casuistik von 
schweren Krankheiten der Unterleibsorgane 
reiht Quincke 3 Fälle von Aortenaneurysma 
an, die durch energische antiluetische 
Kuren wesentlich gebessert wurden. In 
Kiel hat die Mehrzahl der Aortenaneurysmen 
syphilitischen Ursprung, was nach meiner 
Erfahrung für das Berliner Material nicht 
in dieser Allgemeinheit zutrifft. Körperliche 
Ueberanstrengung ist sehr oft als alleinige 
Ursache anzusehen. Nichtsdestoweniger 
ist natürlich Quinckes Rath zu beherzigen, 
Jod und Quecksilber auch bei fehlender 
Anamnese zur Anwendung zu bringen; man 
braucht darüber die übrige hygienisch¬ 
diätetische Therapie und eventuell die 
Gelatineinjection nicht zu vernachlässigen. 

Zum Schluss beschreibt Quincke drei 
Fälle von Hirnsyphilis, von denen zwei 
durch das vorwiegende Befallensein des 
Facialis- und Acusticusgebiets, der dritte 
durch die lange andauernde subnormale 
Temperatur bemerkenswert!! ist. 

G. Klemperer. 

(Deutsches Archiv für klin. Medicin. Bd. 77.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Aus Dr. H. Neumann’s Kinderpoliklinik zu Berlin. 

Erfahrungen mit Creosotal 

bei der Behandlung der Erkrankungen der Athmungsorgane. 

Von Dr. Alfred Badt. 


Die zahlreichen Berichte über meist 
glänzende Heilerfolge mit Creosotal bei 
Erkrankungen der Athmungsorgane ver- 
anlassten mich an der Hand einer längeren 
Beobachtung einer grösseren einschlägigen 
Krankenzahl die Wirkungen des genannten 
Mittels zu prüfen. Die betreffenden Fälle 
entstammen der Kinderpoliklinik des Herrn 
Priv.-Doc. Dr. H. Neumann; es wurden im 
Laufe mehrerer Monate etwa 75 Kinder 
mit den verschiedensten Erkrankungen des 
Respirationstractus der Creosotal-Behand¬ 
lung unterzogen, während gleichzeitig eine 
entsprechende Anzahl correspondenter Fälle 
zum Vergleich in der sonst an der Poli¬ 
klinik üblichen Weise von mir behandelt 
wurde. In beiden Gruppen handelt es 
sich um einfache Fälle leichter Bronchitis, 
um katarrhalische Pneumonien und crou- 
pöse Pneumonien. Schliesslich wurden 
auch einige Fälle von Lungentuberkulose 
und Scrophulose mit Creosotal be¬ 
handelt. 

Bevor ich auf die Krankengeschichten im 
Einzelnen eingehe, möchte ich eine Anzahl 

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allgemeiner Beobachtungen über die Wir¬ 
kungen des in Rede stehenden Mittels vor¬ 
ausschicken. Da das Creosotal von der 
Fabrik von Heyden jetzt als ziemlich ge- 
ruch- und geschmackloses Präparat herge¬ 
stellt wird, so wurde es von allen Kindern 
gern genommen. Bei Säuglingen und Kin¬ 
dern in den beiden ersten Lebensjahren 
rief es jedoch häufig in den nächsten Tagen 
Erbrechen hervor, ein Uebelstand, den ich 
nur manchmal durch Verordnung in Schleim 
beseitigen konnte. In anderen Fällen wieder 
rief das Mittel schweren Durchfall hervor, 
der zwar auf Aussetzen der Medikation 
nachliess, aber mit dem Beginn der Creo- 
sotal-Darreichung sich sofort wieder ein¬ 
stellte. In vielen Fällen war es erforderlich, 
längere Zeit fortgesetzt grosse Dosen des 
Mittels zu verabreichen, so bei der Behand¬ 
lung der Tuberkulose und Scrophulose. 
Hier trat dann bei den meisten Kindern 
heftiger Widerwille gegen die Medizin ein; 
Erbrechen und Nachlassen des Appetits 
nöthigten wiederholt dazu, die Creosotal- 
Darreichung zu unterbrechen, 

Original fro-m 

UNIVERSUM 0F CALIFORNIA 




September 


427 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Von sonstigen Nebenwirkungen ist zu 
berichten über die ausnahmslos eintretende 
grüne Verfärbung des Urins, die sofort 
nach Beginn der Behandlung zu konstatiren 
war. In keinem Falle war trotz grösster 
Gaben des Mittels Eiweiss im Urin nach¬ 
zuweisen, sodass also eine eventuelle schäd¬ 
liche Wirkung auf die Nieren nicht zu be¬ 
fürchten ist. Der charakteristische Geruch 
der Ausathmungsluft machte sich bei allen 
Kranken schon am ersten Tage der Be¬ 
handlung bemerkbar. 

Was schliesslich die Dosirung anbetrifft, 
so habe ich in den Fällen von Pneumonie 
die hohen Gaben nach Cassoute angewen¬ 
det, d. h. je nach dem Alter des Kindes 
1—6 g innerhalb 24 Stunden, und zwar 
am Tage in dreistündlichen Pausen und 
zwei Mal in der Nacht. Die Verabreichung 
geschah in warmer Milch oder in Emulsion. 
Bei der Behandlung der leichteren Bron¬ 
chitiden begnügte ich mich mit dreimaliger 
Dosis von 2—10 Tropfen pro die; in den 
chronischen Fällen endlich wurden langsam 
steigende Mengen ebenfalls dreimal täglich 
gegeben. 

Meine Beobachtungen erstreckten sich 
insbesondere in jedem Falle auf die Be¬ 
einflussung von Schmerz, Husten, Auswurf 
und Appetit, abgesehen von der selbst¬ 
verständlichen Kontrolle der Temperatur 
und des Lungenbefundes. Regelmässige 
Wägungen der chronisch kranken Kinder 
vor und während der Creosotal-Behandlung 
vervollständigten ferner die möglichst un¬ 
befangene Beurtheilung meiner Versuche. 

Gehen wir nunmehr zur Besprechung 
der einschlägigen Fälle über, so beginnen 
wir zweckmässig mit den einfachen Bron¬ 
chitiden. Bei einigen derselben war die 
Beobachtungsdauer zu kurz, da die be¬ 
treffenden Kinder, vermuthlich gebessert, 
sich nicht wieder vorstellten. Die Mehr¬ 
zahl der behandelten Bronchitiden wurde 
durch Creosotal günstig beeinflusst, insofern 
als sich unter dem Einfluss dieser Medika¬ 
tion der Appetit besserte und die Schmerzen 
(Stiche) nachliessen; auch objektiv liess sich 
ein günstiger Einfluss auf das Schwinden 
der Lungenerscheinungen konstatiren. Dies 
war insbesondere bemerkenswerth in einigen 
Fällen, wo vordem Ipecacuanha-Infus oder 
dergl. ohne Erfolg angewandt worden war. 

Katarrhalische Pneumonie wurde in etwa 
30 Fällen mit Creosotal behandelt; hier war 
der Erfolg bereits ein bedeutend geringerer. 
In leichten Fällen konnte auch hier eine 
günstige Einwirkung zuweilen festgestellt 
werden, auch hier besserte sich der Appetit, 
der vordem gänzlich darnieder gelegen 

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hatte, in bemerkenswerthem Masse, die 
Stiche liessen nach, die objektiven Krank¬ 
heitssymptome schwanden in kurzer Zeit. 

In schwereren Fällen jedoch erreichten wir 
mit der Creosotal-Therapie wenig; die 
Lösung des Krankheitsprozesses liess leider 
meist eben so lange auf sich warten, wie 
in den anders behandelten Fällen. Die 
mittlere Krankheitsdauer betrug bei dieser 
Gruppe 3—4 Wochen, ein Zeitraum, der 
auch unter den sonst üblichen Methoden 
nicht überschritten wurde. In manchen 
Fällen konnte ich, anstatt dass eine Besse¬ 
rung unter der Creosotal-Darreichung ein¬ 
trat, im Gegentheil von Tag zu Tag ein 
Fortschreiten des Prozesses auf den Lungen 
konstatiren, sodass ich mich schliesslich 
genöthigt sah, zu anderen Mitteln zu greifen. 

Im Ganzen hatte ich nicht den Eindruck, 
als ob, worauf es doch in diesen Fällen 
sehr wesentlich ankommt, das Creosotal 
eine kräftige Expektoration anregen könnte; 
im Gegentheil liess zugleich mit den 
Schmerzen und dem Husten auch die 
Menge des Auswurfs nach, während die 
Temperatur und der Lungenbefund wenig 
oder garnicht beeinflusst wurden. 

In den schwersten Fällen von Broncho¬ 
pneumonie schliesslich versagte das Creo¬ 
sotal gänzlich; bei einigen Kindern, welche 
mit subjektiven und objektiven Symptomen 
einer ausgedehnten Entzündung in Behand¬ 
lung kamen, konnte trotz Darreichung der 
vorgeschriebenen hohen Dosen keinerlei 
Wirkung erzielt werden; die betreffenden 
Kinder kamen ausnahmslos zum exitus. 
Dagegen möchte ich auf Grund meiner 
Beobachtungen behaupten, dass es mir in 
gleich schweren Fällen gelang, mit Digitalis- 
Darreichung und ähnlicher Therapie noch 
günstige Resultate zu erzielen. Ich muss 
also dringend davor warnen, in Fällen, wo 
die Kinder mit den Zeichen der schweren 
Lungenentzündung in Behandlung kommen, 
mit der Anwendung von Creosotal die in 
diesen Fällen recht kostbare Zeit zu ver¬ 
lieren, da meiner Erfahrung nach in keinem 
derartigen Krankheitsfalle ein Erfolg zu 
erwarten sein wird. 

Was nun die croupöse Pneumonie an¬ 
betrifft, so konnten bei unserer meist aus 
ganz jungen Kindern sich rekrutirenden 
Krankenzahl nur wenige Fälle mit Creosotal 
behandelt werden. Ich kann nur sagen, 
dass die grossen subjectiven Beschwerden, 
Athemnoth und Stiche, in keinem Falle 
verringert wurden; den von anderer Seite 
so gerühmten sofortigen Temperaturabfall 
habe ich in keinem Falle bisher beobachten 
können. Der Verlauf dieser Krankheits- 

54* 

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428 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


September 


form war im Ganzen genau derselbe wie 
in Fällen ohne Creosotal-Darreichung. 

Wir kommen alsdann zur Besprechung 
der Fälle von Phthise und chronischer 
Oberlappen-Pneumonie, welche mit Creo- 
sotal behandelt wurden. In einem Falle 
konnte, bei wiederholtem Aufflackern des 
krankhaften Prozesses innerhalb von sechs 
Monaten, ein günstiger Einfluss festgestellt 
werden: die Gewichtszunahme ging in¬ 
zwischen ungestört von Statten. In einem 
anderen Falle konnte bei längerer Behand¬ 
lung die Ausheilung verfolgt werden, die 
betreffende Brusthälfte war zum Schluss 
beträchtlich retrahirt, Bronchialathmen, 
Rasselgeräusche und Dämpfung geschwun¬ 
den, das Kind nahm an Gewicht zu. 

In anderen Fällen wiederum blieb der 
Erfolg aus; der Pfozess hielt sich auf der 
Höhe und führte schliesslich zur Allgemein- 
infection des Körpers. Mehrere Kinder, 
bei denen im Auswurf wiederholt Tuberkel- 
Bacillen nachgewiesen werden konnten, 
kamen nach mehrmonatlichem Kranken¬ 
lager zum exitus; bei einem derselben 
traten zum Schluss die Erscheinungen der 
Lungengangrän auf. 

Endlich einige Fälle von Scrophulose 
mit Bronchialdrüsen-Schwellungen, welche 


versuchsweise zur Beobachtung der Ein¬ 
wirkung auf das Allgemeinbefinden mit 
Creosotal behandelt wurden! Die subjec- 
tiven Beschwerden mancher dieser Kinder 
Hessen nach, objectiv Hess sich eine lang¬ 
same Gewichtszunahme constatiren. Meist 
jedoch sah ich mich nach längerer Dauer 
der Behandlung gezwungen, das Creosotal 
auszusetzen, weil heftiger Widerwille, Er¬ 
brechen und Nachlassen des Appetits sich 
geltend machten. 

Ich fasse demgemäss meine Beobachtun¬ 
gen, wie folgt, zusammen: 

1. Das Creosotal kann in Fällen von 
Bronchitis und leichter Bronchopneu¬ 
monie oft als Ersatzmittel für Ipeca- 
cuanha, Senega u. dgl. mit gutem Er¬ 
folge verwendet werden. 

2. In schweren Fällen der Broncho¬ 
pneumonie und bei croupöser Pneu¬ 
monie ist die Anwendung von Creosotal 
zu widerrathen. 

3. Bei der Behandlung der Phthise und 
der Scrophulose kann eine längere 
Verabreichung von Creosotal versucht 
werden. 

4. Schädliche Nebenwirkungen sind nicht 
zu befürchten. 


Zur externen Behandlung der rheumatischen, rheumatoiden, myalgischen 
und neuralgischen Erkrankungen. 

Von Dr. J. Arnold Qoldmann-Wien. 


Vor drei Jahren schon habe ich im 
Verlaufe meiner Abhandlung: „Der thera¬ 
peutische Werth des Saligenin Lederer“ 
(Klinisch therapeutische Wochenschrift 
1899, No. 50 u. 51) darauf hingewiesen, 
dass ich bei einzelnen Erkrankungen auch 
versucht habe „Saligenin“ sowohl in Sal¬ 
benform, als auch in Form flüssiger Ein¬ 
reibungen zu verwenden. Ich habe diese 
Versuche seit dieser Zeit fortgesetzt und 
habe mir im Verlaufe derselben die Ueber- 
zeugung verschaffen können, dass der the¬ 
rapeutische Effect der äusseren Application 
wesentlich davon abhängig, welches Vehi¬ 
kel oder Constituens zur Herstellung der 
Salbe, beziehungsweise Lösung mitver¬ 
wendet wird. Ich habe als Salbenconsti- 
tuens abwechselnd bald Vaselin oder La¬ 
nolin bald Ung. simpl. oder auch emolli- 
ens verwendet und habe gefunden, dass 
die Wirkungsweise des Präparats sehr 
variirend ist, offenbar deshalb, weil die 
Resorption durch die Haut keine gleich- 
mässige, in manchen Fällen also nicht 
ganz ausreichende ist. Ich habe gelegent¬ 
lich dieser Wahrnehmung zur controll- 

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weisen Sicherstellung zu diesem Zwecke, 
anstatt Saligenin, Acidum oder Natrium 
salicylicum, auch Salipyrin und wiederholt 
auch Acetopyrin verwendet und ebenso 
gefunden, dass auch diese Salicylmittel 
genau so wie Saligenin nicht immer gleich- 
mässig resorbirt werden. Dieselbe Beob¬ 
achtung machte ich mit alkoholischen Lö¬ 
sungen, wobei sich noch einigmal die un¬ 
liebsame Erscheinung bemerkbar machte, 
dass die mit denselben eingeriebenen 
Hautstellen stark gereizt und noch mehr 
entzündlich geröthet wurden, weshalb ich 
für die Folge von spirituösen Einreibungen 
endgültig abstand. Durch die ncorpori- 
rung der verordneten Salicylpräparate in 
„Vasogenum purum spissum“ konnte 
ich eine ausreichende und gleichmässige 
Resorption und zu Folge dieser auch den 
erwünschten therapeutischen Effect errei¬ 
chen. Es ist bekannt, dass „Vasogen“ 
(oxygenirte Vaseline, mit Sauerstoff im- 
prägnirte Kohlenwasserstoffe) in weit hö¬ 
herem Grade arzneiliche Stoffe in sich auf¬ 
zunehmen vermag, als jedes andere Vehi¬ 
kel und dass dasselbe auch, ohne irgend 

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429 


September Die Therapie der 

welche Reizwirkung auf die Haut auzu- 
üben, von dieser am vollkommensten und 
am raschesten resorbirt wird, wovon man 
sich, je nach dem verwendeten Arznei¬ 
mittel durch die Harnuntersuchung alsbald 
Ueberzeugung verschaffen kann. Zu meiner 
besonderen Befriedigung finde ich diese 
Art der externen Verwendung von „Sali¬ 
genin 44 bei der Behandlung rheumatischer 
Erkrankuugsformen auch von Peters in 
seinem Werke: „Die neuesten Arzneimittel 
und ihre Dosirungen 44 bei Besprechung der 
Vasogenpräparate ausgeführt, ohne dass 
ich vorher von ähnlichen Versuchen des 
genannten Autors überhaupt Kenntniss 
hatte. Desgleichen bespricht Dr. Müller, 
Assistenzarzt der Klinik Mosler in Greifs¬ 
wald (Therapie der Gegenwart I, 4. April 
1899) die externe Verwendung von 
10% Salicylvasogen in recht günstigem 
Sinne. 

Im Verlaufe von drei Jahren hatte ich 
vielfach Gelegenheit diese von mir zu jener 
Zeit wohl erst versuchte externe Salicyl- 
behandlung bei rheumatischen Erkrankun¬ 
gen verschiedenster Extensität und Locali- 
sation erfolgreich durchzuführen, wobei ich 
mich, nach Erprobung des Vasogen, nun¬ 
mehr ausschliesslich desselben bediente, 
einerseits, weil dieses zur richtigen Ein¬ 
verleibung des ausgewählten Arzneimittels 
das geeignetste, in seiner reizlosen Wir¬ 
kung das mildeste und gleichzeitig auch 
aseptische Vehikel ist, andererseits wegen 
seiner prompten und gleichmässigen Re- 
sorbirbarkeit, ein Vorzug, welchen in 
diesem Ausmaasse wohl kaum noch ein 
anderes mit ihm zu theilen vermag und 
gegenwärtig auch schon allgemein zuge¬ 
standen wird. Meine diesbezüglichen Be¬ 
obachtungen erstrecken sich auf eine Reihe 
von Fällen acuter Polyarthritis, dar¬ 
unter auch einige, welche zu wiederholten 
Malen von typischen, aber doch immer 
wieder von bestimmt acuten Gelenksent¬ 
zündungen befallen wurden. Die meisten 
dieser Fälle setzten mit Schüttelfrost ein 
und es kamen wiederholt Temperatur¬ 
steigerungen bis nahe an 400 vor, darunter 
auch solche mit Delirien, so dass in diesem 
Stadium viel eher an den Ausbruch irgend 
einer anderen, schweren Infectionskrank- 
keit gedacht werden konnte, also an eine 
im Anzuge befindliche Gelenksentzündung, 
welche gewöhnlich erst am zweiten oder 
auch dritten Tage durch die grosse 
Schmerzhaftigkeit und durch die localen 
Entzündungserscheinungen in den befalle¬ 
nen Gelenken manifest wurde und speciell 
in einem Falle, bei einem 28 jährigen 


Gegenwart 1903. 

Manne, waren die Reizungserscheinungen 
von Seiten des Gehirns so ausgesprochene 
und fast 48 Stunden lang anhaltende, dass 
sowohl ich, als auch ein anderer College 
das Vorhandensein einer schweren Menin¬ 
gitis als sehr wahrscheinlich hinstellten und 
erst am dritten Tage war durch die, bei 
schon frei gewordenem Sensorium ge- 
äusserten heftigen Schmerzempfindungen 
des Kranken und die sichtbaren entzünd¬ 
lichen Schwellungen an beiden Kniegelen¬ 
ken die Diagnose einer acuten Gelenks¬ 
entzündung eine sicher fundirte. 

Ich habe in allen diesen Fällen, sobald 
über den Erkrankungsfall kein Zweifel mehr 
aufkommen konnte, lediglich nur die ex¬ 
terne Behandlung, ursprünglich mit den 
schon früher angegebenen Salicylpräpa- 
raten und mit „Vasogenum purum 
spissum“ hergestellt, geübt und je nach 
der Schwere des Falles und der Extensität 
der Gelenksschwellungen solche von ver¬ 
schiedenem Gehalte an Salicylmitteln ver¬ 
wendet und zwar in der Weise, dass ich 
in den ersten 2—3 Tagen über die ent¬ 
zündeten Gelenke mit dem Präparate gut 
imprägnirte Leinenlappen legen liess, dar¬ 
über eine ausgiebige Lage weicher Watte 
und mit einer Calicot- oder Mullbinde gut 
anliegend, jedoch ohne besonderen Druck 
auszuüben, befestigte. Diese Procedur 
wurde nur zweimal täglich vorgenomraen. 
Schon unter den ersten Paar Verbänden 
konnte ich mit Befriedigung wahrnehmen, 
dass die heftigen Schmerzen allmählich 
aber stetig an Intensität einbüssten, die 
Kranken wurden ruhiger und verhielten 
sich auch bezüglich ihrer Bettlage tole¬ 
ranter, wobei aber auch gleichzeitig ein 
Temperaturabfall von 1—1,5° zu consta- 
tiren war. Nach zwei, in selteneren Fällen 
erst nach drei Tagen war unter der Ver¬ 
bandbehandlung immer eine nicht unwe¬ 
sentliche Abnahme der Gelenksschwellung 
wahrzunehraen, die Schmerzhaftigkeit eine 
bedeutend verminderte und namentlich die 
ödematöse Schwellung der Haut um das 
Gelenk herum nahezu ganz verschwunden, 
die Temperatur kaum mehr, als um einige 
Zehntel über das Normale gesteigert, so 
wie auch die, bis dahin bestandene grosse 
Druckempfindlichkeit nicht mehr vorzu¬ 
finden war. In diesem Stadium der Er¬ 
krankung liess ich die Gelenke unter 
massigem Drucke mit der Vasogensalbe 
schon direkt einreiben, je nach vorhan¬ 
dener Schwellung 2—3 mal täglich, mit 
einer Schicht Watte bedecken und wie an¬ 
gegeben, verbinden. Die Kranken ver¬ 
trugen diese Applicationsweise sehr gut 


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430 


September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


und ohne besondere Schmerzempfindung 
und habe ich bei solcher Art 12—14 Tage 
lang fortgesetzter Behandlung in keinem 
einzigen Falle irgend welche örtliche oder 
allgemeine, störende Nebenwirkung wahr¬ 
nehmen können. Die vollständige Ent¬ 
fieberung, das Ablaufen der Entzündung 
und die vollkomme Abschwellung der Ge¬ 
lenke ging verhältnissmässig rasch und 
ohne complicirenden Zwischenfall anstands¬ 
los vor sich. Die Kranken hatten schon 
nach den ersten paar Verbänden guten 
Appetit, rege Esslust bei befriedigender 
Verdauungsthätigkeit, hatten auch anhal¬ 
tend ruhigen Schlaf, so dass sie nach kur- j 
zer und glatter Reconvalescenz als voll- ' 
kommen genesen aus der Behandlung ent¬ 
lassen werden konnten. 

In Fällen chronischer Polyarthritis 
von der einfachsten Form bis zu den be¬ 
reits vorhandenen Verdickungen der Ge¬ 
lenkskapsel und der Gelenksenden, habe 
ich zumeist nur flüssiges 10%iges Sa- 
licylvasogen (in den Apotheken fertig¬ 
gestellt, erhältlich) zur externen Behand¬ 
lung verwendet. Bei der Langwierigkeit 
dieser Erkrankungsform an und für sich, 
eignet sich diese ganz besonders für diese 
externe Behandlungsart, schon aus dem 
Grunde allein, weil wir an den Kranken 
und seine ohnedies schon in Mitleidenschaft 
gezogene Verdauungsorgane thatsächlich 
unmöglich die Zumuthung stellen können, 
das bei diesem Leiden specifisch wirkende 
Salicyl oder auch dessen Ersatzpräparate 
lange Zeit hindurch intern zu verwenden. 
Ich liess an den erkrankten Gelenken, je 
nach der Intensität des Falles zwei- bis 
dreimal täglich eine Einreibung vornehmen 
und genau so wie bei der acuten Erkran¬ 
kung mit Watte und Binde gut anliegend, 
umhüllen. Die meisten meiner in dieser 
Weise behandelten Patienten waren mit 
derselben um so mehr einverstanden, als 
sie gewöhnlich schon nach drei bis vier 
Tagen auffallend geringere Schmerzen ver¬ 
spürten und insbesondere in Bezug auf 
Bewegungsvermögen bessere Erfolge er¬ 
sahen, als nach anderen, wiederholt ver¬ 
suchten Curen. 

In jenen Fällen, in welchen ich nach 
mehrwöchentlicher Behandlung mit Salicyl- 
vasogen noch keine ausreichend befriedi¬ 
gende Erfolge erzielen konnte, namentlich 
in solchen Fällen, in welchen die Krank¬ 
heit schon Jahre lang bestand und in Folge 
wiederholter und heftiger Exacerbationen 
Verdickungen und grössere Schwellungen 
zurückgeblieben waren, habe ich nach 
Salicylvasogen auch 6—10%iges Jod¬ 


vas o gen verwendet, mit welchem ich 
schon nach zwei bis drei Wochen be- 
merkenswerthe Besserung und nach vier 
bis sechs Wochen zufriedenstellende, wenn 
auch nicht volle Heilerfolge beobachten 
konnte. Mittelschwere Fälle, nicht gar zu 
alter Provenienz heilen unter Salicylvasogen- 
behandlung zwei bis drei Monaten ganz 
schön aus, ich habe solche Erfolge in vier 
Fällen mit Sicherheit constatiren können; 
es waren dies Fälle, welche unter interner 
Medication und wiederholtem Gebrauche 
von Schwefelthermen wohl gebessert, aber 
noch keineswegs zur Ausheilung kommen 
wollten. 

Prompten und sehr günstigen Erfolg 
erzielte ich mit der externen Verwendung 
von 10% Salicylvasogen in zwei Fällen 
von Pleuralgie nach Influenza. Beide 
Fälle (bei einem 47jährigen Manne und bei 
einer 32jährigen Frau) heilten nach vier 
und sechs Tagen, bei täglich dreimaliger 
Einreibung, trotz ursprünglich grosser und 
anhaltender Schmerzen vollständig und 
ohne Recidive aus. Solche Pleuralgien 
kommen bekanntlich im Verlaufe der In¬ 
fluenza, oft aber auch nach Ablauf dieser, 
nach der gegenwärtigen, ziemlich allge¬ 
meinen Anschauung als Infectionserkran- 
kung aufzufassenden Krankheitsform sehr 
häufig vor, ebenso wie wir sie als speci¬ 
fisch rheumatische, localisirte Erkrankung 
antreffen und da bewährt sich eine externe 
Behandlung mit Salicylvasogen hinsichtlich 
einer raschen und gründlichen Ausheilung 
auf das allerbeste, wie sie sich auch bei 
Neuralgien, welche entweder im Ver¬ 
laufe oder als Folgeerkrankung der In¬ 
fluenza, als therapeutisch prompt wirksam 
erweist, wie ich dies in einigen Fällen von 
Trigeminusneuralgien, sowohl in ihrer 
Form als Supraorbitalneuralgie, wie 
auch als Facialisneuralgie mit gutem 
Heileffecte zu erproben Gelegenheit hatte. 
Die mitunter ziemlich heftig aufgetretenen, 
bekanntlich recht qualvollen Schmerzen 
cessirten schon nach drei bis vier kräftig 
ausgeführten Einreibungen, wozu nebst der 
guten Salicylvasogenwirkung offenbar auch 
die mit der energischen Einreibung ver¬ 
bundene, wohlthätige Massage von aus¬ 
gezeichneter Wirkung war. Ich habe aber 
bei dieser externen Behandlung der bis 
nun angeführten Erkrankungsformen auch 
die zweifellose Wahrnehmung machen 
können, dass sie neben ihrer pharma- 
kodynamischen und analgetischen Wirkung 
auch einen merklichen hypnotischen Effect 
hatte, indem die, von ihren heftigen 
Schmerzen mitunter auch recht schwer 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


431 


heimgesuchten Kranken schon nach den 
ersten paar Einreibungen in dem Maasse 
beruhigt wurden, dass sie in einen er¬ 
quickenden Schlaf verfielen. 

Prägnante und in jeder Beziehung zu¬ 
friedenstellende Erfolge erzielte ich bei 
einer nennenswerthen Anzahl von sowohl 
acuter als auch chronischer Muskel¬ 
rheumatismen, bei Myalgien verschie¬ 
denen Sitzes, auch in einigen Fällen von 
Ischias, sowie wiederholt in Fällen von 
Lumbago. Bei Muskelrheumatismen, mit 
ihren bekannt wandernden und oft auch 
sprungweise wechselnden Localisationen, 
bei Myalgien, vorzugsweise solchen, welche 
charakteristisch die Rücken- oder Lenden- 
muskeln, wiederholt auch beide zugleich zu 
ihrem Lieblingssitze auszuwählen belieben, 
haben sowohl mehrtägige Einreibungen 
von 10%igem Salicylvasogen, oder auch 
solche von Campher - Chloroform- 
vasogen (part. aequ.) prompte Besserung 
und alsbaldige einwandfreie Heilung ge¬ 
bracht. Es empfiehlt sich, je nach Wahl, 
mit einem oder dem anderen der beiden 
genannten Präparate zwei- bis dreimal 
täglich, die ganze Rücken- und Lenden¬ 
muskulatur kräftigst einzureiben und nach 
derselben ein bis zwei Stunden Bettruhe 
anzuordnen. Der gute Heil- und nach¬ 
haltig schmerzstillende Effect bleibt bei 
solcher Behandlungsart sicherlich nicht aus 
und zeitigt positive und sehr zufrieden¬ 
stellende Erfolge. Bei Ischias und Lum¬ 
bago empfiehlt sich derselbe Modus der 
externen Behandlung, nur lasse ich nach 
vollzogener Einreibung einen gut ab¬ 
schliessenden Priessnitzumschlag appliciren, 
welcher erst nach jeder Einreibung er¬ 


neuert werden soll und verordne dabei 
wegen Vermeidung neuerlicher Exacerba¬ 
tionen für so lange strengste Bettruhe, bis 
vollständige Heilung eingetreten ist, welche 
bei Beobachtung dieser Vorschriften in den 
von mir behandelten Fällen in fünf, spä¬ 
testens in acht Tagen ausnahmslos zu ver¬ 
zeichnen war. 

Einen bemerkenswerth schönen und 
dauernden Heilerfolg sah ich nach schon 
zehnmaliger Einreibung von Salicylvasogen 
bei einer chronischen Urticaria, welche 
bei interner Behandlung mit verschiedenen 
indicirten Arzneimitteln wohl immer für 
eine Zeit lang verschwand, aber nach kurzen 
Intervallen wiederholt recidivirte. Ich Hess 
die Kranke, ein 15jähriges sonst ganz ge¬ 
sundes Mädchen zweimal täglich und zwar 
abwechselnd einmal am Stamme, das andere 
Mal am Unterkörper mit 10o/ 0 Salicylvasogen 
tüchtig einreiben. Der Heilerfolg war ein 
so guter, dass sich seither, nach Ablauf 
von nunmehr 8 Monaten keine Recidive 
zeigte, währenddem sich früher alle 3 bis 
4 Wochen eine neue Eruption pünktlich 
einzustellen pflegte. 

Zum Schlüsse will ich noch bemerken, 
dass in keinem von mir behandelten Falle, 
selbst in solchen nicht, in welchen der 
chronischen Form der Erkrankung ent¬ 
sprechend die externe Behandlung längere 
Zeit fortgesetzt werden musste, trotz des 
verhältnissmässig doch grösseren Ver¬ 
brauches von Salicyl auch nicht eine Spur 
von Albuminurie constatirt werden konnte, 
dessen Auftreten bei der internen Ver¬ 
wendung des Arzneimittels in diesem 
Quantum wohl kaum zu vermeiden ge¬ 
wesen wäre. 


Einige practische Erfahrungen mit dem 
Adstringens und Protectivum: Bismutose 
möchte ich kurz veröffentlichen und gleich¬ 
zeitig dazu anregen, dieses Präparat in 
längeren systematischen Versuchen mit 
anderen Wismuthpräparaten neben ein¬ 
ander zu vergleichen. Ich werde Derartiges 
künftig anderen überlassen müssen, denen 
ebenfalls ein grosses Material zu Gebote 
stehen muss, da die bevorstehende Aende- 
rung meiner amtlichen Verhältnisse meine 
klinische Thätigkeit einschränkt. — 

Ich hatte mir bei einem heftigen Un¬ 
wohlsein, das bei einem teuren Familien¬ 
mitglied zu einer sehr ungelegenen Zeit 
gekommen war, gelobt, dass ich es ver¬ 
öffentlichen wolle, wenn diesmal die Bis¬ 


mutose mir als wirklicher Helfer rechtzeitig 
erschiene. Es war eine Wurstvergiftung 
mit der bekannten starken allgemeinen Ab- 
geschlagenheit und einer angeschlossenen 
heftigen Enteritis, die mir bei der in den 
Verdauungsorganen von je angrifflichen 
Persönlichkeit durch ihre Hartnäckigkeit 
über stärkste diätetische Beschränkung hin¬ 
aus Sorge machte. 2 oder 3 Tage Bis¬ 
mutose zu dreimal täglich 5 g beseitigten 
diese Sorge und hier ist meine dankbare 
Mittheilung davon. — Ich selbst hatte schon 
früher und, wie mir schien, zu stark die 
den Secretions- und Bewegungsreiz be¬ 
schränkende Wirkung der Bismutose er¬ 
fahren. — Mir schien damals unangenehm, 
dass in dem zu einer zu langen Beherber- 


Bismutose und Entero-Colitis. 

Von Geh Rath Prof. Biedert-Hagcnau. 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


gung seines Inhalts geneigten Colon die 
schwarzen Bismutose-Koth-Bröckel oft über¬ 
mässig lange liegen blieben. Ich habe in¬ 
zwischen die regelmässigen Fleiner’schen 
Kamilleneinläufe kennen gelernt, die eine 
wahre Wohlthat für den sind, dessen Ver- 
hängniss es ist, aus einer Trägheit des 
Colon mit Verstopfung in einen auf con- 
secutivem Reiz-Zustand beruhenden Durch¬ 
fall zu verfallen. 1 ) Mit Hilfe dieser Ein¬ 
läufe würde man wohl auch mit der Ueber- 
wirkung der Bismutose im gegebenen Fall 
fertig werden. Vielleicht hatte ich schon 
einmal selbst davon den Vortheil, indess 
eine prüfende Wiederholung der Bismutose- 
Wirkung seit Monaten Dank dem Fl ein er¬ 
sehen Mittel nicht mehr nöthig gehabt. — 
Ein Arbeiter ferner, mit recht schwerer 
Colitis neben Anacidität (im Spital), ging, 
gleichzeitig gut beeinflusst durch Bismutose 
nach Hause. — Bei Säuglingen haben mich 
meine Neigung zu rein diätetischer Be¬ 
handlung und die mich abschreckende 
Empfehlung grosser Dosen, die ich ein- 
oder zweimal unbefriedigt versuchte, nicht 
mehr zu ausgiebiger Prüfung kommen lassen. 

Gerade bei Säuglingen hatte ich aber 
durch Mikroskopirung der Stühle einen 


Grund gefunden, der mir für Verwendung 
der Bismutose an Stelle der gewöhnlichen 
Wismuth-Präparate zu sprechen schien: die 
feineren, abgerundeten, mehr vertheilten 
Körnchen, welche die Bismutose gegen¬ 
über den kantigen, spitzen grösseren 
Krystallen der anderen Wismuthpräparate 
im Darm zurücklässt. 

Ich glaube angeben zu können, dass 
man entsprechend dem Wismuth-Gehalt 
sich auf die 3- (höchstens 5-) fache Dose 
gegenüber den Wismuthsalzen, also etwa 
auf ein Gramm Bismutose statt 0,3 Bismuth 
subnitr. mehrmals täglich, wird beschränken 
können, und für die sonst sehr schwer mit 
Flüssigkeiten mischbare Dose vermag ich 
ein bequemes Verabreichungsverfahren an¬ 
zugeben : Man setzt zu der Bismutose- 
Portion erst einen Tropfen Flüssigkeit und 
verreibt ihn, dann wieder einen und so 
weiter, bis die ganze Pulvermenge benetzt 
und endlich ein dicker Brei geworden ist, 
der sich dann beliebig weiter mit Flüssig¬ 
keit mischen lässt. (Nützlich ist wohl auch 
die Starck’sche Verordnung einer 15 %- 
Bismutose - Emulsion mit Mucil. gummi 
arab. aa stündlich 1 —2 Kaffeelöffel.) (Münch, 
med. Wochenschr. 1902, No. 47). 


Zur Kussmaul’schen Tamponade bei übergrosser Menstruation. 

Von Dr. C. Kasbaum - Heidelberg. 


Zu dem Artikel von G. Klemperer in 
Nr. 6 dieser Zeitschrift über Stillung über¬ 
grosser menstrueller Blutungen nach Russ¬ 
in aul erlaube ich mir zu bemerken, dass 
ich diese Methode mit einer geringen aber 
für den Praktiker wichtigen Modifikation 
seit 3 Jahren in einer sehr grossen Reihe 
von Fällen mit bestem Erfolge angewendet 
habe. 

Nachdem ich mit Jodoformgazetamponde 
mich oft vergeblich abgequält hatte, die 
angegebene Art der Tamponade aber zu¬ 
weilen trotz hinreichender Uebung wegen 
allzugrosser Empfindlichkeitmancher Frauen 
mir versagte, verfahre ich jetzt derart, dass 
ich mir schmale, lose Wattestreifen ab- 
kochen lasse und hierzu vor dem Gebrauche 
das nöthige Lysol oder Lysoform zusetze. 
Mit diesen triefenden, schlüpfrigen, anti- 
und aseptischen Streifen lässt sich auf 
dem Querbett mit einem Rinnenspekulum 
ausserordentlich rasch und absolut schmerz¬ 
los eine noch dichtere, nicht drückende 
Tamponade der Vagina erzielen, mit der 
man die Patientinnen, wenn nöthig, sogar 

! ) Vergl. Therapie der Gegenwart 1901, No. 1. 


in beschränktem Maasse ihrer Arbeit nach¬ 
gehen lassen kann. 

Dabei fällt beim Wechseln des Tampons 
noch auf, dass der üble Geruch, der bei 
der Anwendung trockener Tampons natur- 
gemäss nach 24stündigem Liegenlassen 
durch Urindurchfeuchtung und unter Ein- 
wirkun g der Scheidenkeime sich einstellt, und 
wohl auch gerade in dieser Zeit als Zeichen 
von Fäulniss in dem gestauten Scheiden¬ 
sekret und menstruellen Blut recht uner¬ 
wünscht ist, fehlt. 

In gleicher Weise verwende ich die 
Watte statt mit Lysollösung mit Glycerin 
getränkt mit sehr gutem Erfolge bei den 
verschiedensten gynäkologischen Er¬ 
krankungen. Einziger Nachtheil ist, dass 
die Tamponade nur in den Händen 
des Arztes eine brauchbare ist und auch 
nur von diesem mit Spekulum und Korn¬ 
zange allerdings wieder sehr leicht und 
im Gegensatz zu den gerollten Tampons 
schmerzlos entfernt werden kann. Mit 
dem Einlegen der Tampons durch Heb¬ 
ammen habe ich nur die schlechtesten Er¬ 
fahrungen gemacht. 


Für die Redaction verantwortlich: Frof. G. Klemperer in Berlin. — Verantwortlicher Redactenr tür Oesterreich-Une-arn: 
Kugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban & Schwarzenberg 

in Wien und Berlin. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1903 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer Oetober 

ln Berlin. V^iuuei 


Nachdruck verboten. 

Aus der UL medicinischeu Klinik der Universität Berlin. 

(Director: Oeheimr&tli Prof. Dr. Senator.) 

Zur Frage der Kochsalz- und Flüssigkeitszufuhr bei Herz- 

und Nierenkranken. 1 ) 

Von Professor H. StraUSS, Assistent der Klinik. 


Im Mai ds. J. habe ich in dieser Zeit¬ 
schrift für die Behandlung von Nephritikern, 
bei welchen nephrogene Hydropsieen vor¬ 
liegen oder drohen, eine Einschränkung 
der Kochsalzzufuhr und eine Anregung 
der Kochsalzausfuhr empfohlen. Dasselbe 
haben inzwischen auch Widal und Javal 2 ) 
für die genannten Zustände bei Nephritiden 
w ä pr^dominance epitheliale“ gefordert und 
es sind M. Achard 8 ) sowie H. Claude im 
Verein mit Moog und Maute dieser For¬ 
derung beigetreten. Bei der genannten 
Empfehlung hatte ich seiner Zeit nur solche 
Compensationsstörungen von Nephritikern 
im Auge, welche nicht cardialen Ur¬ 
sprungs sind und behielt mir ein bindendes 
Urteil bezüglich der Kochsalzzufuhr bei den 
cfardialen Compensationsstörungen von 
Nephritikern bis zu dem Zeitpunkte vor, wo 
meine damals im Gange befindlichen Unter¬ 
suchungen bei cardialen Hydropsieen einen 
grösseren Umfang erreicht haben. Das 
scheint mir jetzt der Fall, und ich möchte 
mir deshalb heute erlauben, Ihnen einige Ge¬ 
sichtspunkte zu unterbreiten, die sich mir 
hierbei aus meinen eigenen diesbezüglichen 
Untersuchungen sowie aus der Betrachtung 
einschlägiger in der Literatur vorhandener 
Versuchsprotocolle — so vor allem von v. 
Koranyi, 4 ) Lindemann, 5 ) M. Senator, 6 ) 
Steyrer, 7 ) Loeper, 8 ) u. A. — ergeben 
haben, um an der Hand derselben einige 

l ) Nach einem auf der diesjährigen Naturforscher- 
Versammlung zu Cassel gehaltenen Vortrag. 

Widal und Javal, Soc. medicale des höpi- 
taux, Sitzung vom 26. Juni 1903. 

3 ) M. Achard und H. Claude ibid. 

4 ) v. Koranyi, Ztschr. f. klin. Med. Bd. 33 und 
folgende. 

M. Lindemann, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 

Bd. 65. 

6 ) M. Senator, Deutsche med. Wochenschr. 
1900, No. 3. 

7 ) Steyrer, Hoffmeister's Beiträge, Bd. II. 

8 ) Loeper, Mdcanisme regulateur de la com* 
position du sang. Paris 1903. G. Steinheil. 

Anm.: Zur Erleichterung des Verständnisses 
benütze ich die Ausdrücke Hypo- und Hyper* 
für die procentualen Werte und die Ausdrücke 
Oligo- und Po ly- für die Gesammtwerte. 

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Fragen des Kochsalz- und Flüssigkeits¬ 
stoffwechsels bei vorhandenen oder 
drohenden cardialen Hydropsieen von 
Herz- und Nierenkranken kurz zu be¬ 
sprechen. 

Wie ich schon früher auf Grund fremder 
und eigener Untersuchungen ausführte, ist 
das Characteristicum des Urins bei cardi¬ 
alen Hydropsieen in der Oligohydrurie 
sowie in einem normalen oder eventuell 
sogar leicht erhöhten procentualen Koch- 
salzgehalt (Euchlorurie oder Hyper¬ 
chlor urie) gegeben, während wir bei re¬ 
nalen Hydropsieen meist eine nur weniger 
erniedrigte Urinmenge und einen stär¬ 
ker erniedrigten procentualen Koch¬ 
salzgehalt antreffen. Dies ist wenigstens 
im allgemeinen das Verhalten solcher 
Fälle, bei welchen die Compensations- 
störung einen gewissen mittleren Grund 
nicht überschritten hat. Ist dagegen die 
Compensationsstörung eine maximale, so 
finden wir meistens — wenn auch nicht 
ohne Ausnahme — bei beiden Formen 
die Verbindung von Oligohydrurie mit 
Hypochlorurie. Betrachten wir indessen die 
Frage der Gesammtausfuhr des Koch¬ 
salzes, so liegen die Dinge etwas anders, 
denn wir finden hierbei, dass auch bei 
nicht maximalen Formen von car- 
dialer Compensationsstörung trotz 
normaler Werthe für den procen¬ 
tualen Kochsalzgehalt die Gesammt¬ 
ausfuhr des Kochsalzes infolge der 
Oligohydrurie häufig erniedrigt ist. 

Wir haben also bezüglich der Gesammt¬ 
ausfuhr des Kochsalzes auch bei 
nicht maximalen Formen von cardialer 
Compensationsstörung ein ähnliches 
Verhalten wie bei nicht maximalen 
Formen von renaler Compensations¬ 
störung, nur ist die Ursache dieses 
Verhaltens in beiden Fällen eine 
verschiedene. • 

Die hier ausgesprochenen Sätze grün¬ 
den sich zunächst auf die Beobachtung 
zahlreicher Fälle von Herzmuskelerkran- 

55 

Original from 

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434 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


1 


kung in den verschiedensten Phasen 
der Erkrankung sowohl unter Berück¬ 
sichtigung des innerhalb 24 Stunden aus¬ 
geschiedenen Urins als unter Benutzung 
des von mir empfohlenen „Wasserversuchs" 
und „Kochsalzversuchs“ 1 ). Von alimen¬ 
tären Kochsalzversuchen habe ich auch 
noch solche von Steyrer und Loeper 
mitbenutzt. Auch diese haben ergeben, 
dass bei cardialen Compensations- 
störungen die Steigerung der Koch¬ 
salzausfuhr im Urin unter dem Ein¬ 
fluss einer Kochsalzzulage zur Nah¬ 
rung meist geringer ausfällt, als bei 
Gesunden oder bei denselben Herz¬ 
kranken im Stadium vorhandener 
Compensation. Ich lege gerade auf die 
zuletzt genannte Thatsache besonderen 
Wert — sie konnte auch bei den ohne 
Kochsalzzulage ausgeführten Versuchen 
häufig constatirt werden und trat besonders 
deutlich in je einem von mir und von 
Loeper bei paroxysmaler Tachycardie 
während des Anfalls und nach demselben 
ausgeführten Versuche zu Tage — und 
habe gerade mit Rücksicht auf die Noth- 
wendigkeit, den Einfluss möglichst ver¬ 
schiedener Phasen derselben Krank¬ 
heit auf die Ausscheidungen im Urin zu 
studiren, den hier geschilderten Versuchs¬ 
modus gewählt. Weiss man doch beim 
Beginne von Stoffwechselversuchen, selbst 
wenn diese Wochen umfassen, nie im Vor¬ 
aus, in welche Phase der Functionsstörung 
man später einen Einblick bekommt und 
haben mich doch — soweit renale Compen- 
sationstörungen hier in Frage kommen, 
— frühere Versuche darüber belehrt, 
dass der Ausfall des Versuches in solchen 
Fällen weit mehr von Art und Grad der 
Compensationsstörung als (im Gegensatz 
zur Zeit vorhandener Compensation) 
von der Nahrungszufuhr beeinflusst wird. 

Wenn ich das z. Z. vorliegende Material 
zusammenfassend betrachte, so besagen die 
derzeit vorliegenden Thatsachen aller¬ 
dings zunächst noch nichts Bestimmtes be¬ 
züglich der Frage, ob die Verminderung 
der Kochsalzausscheidung bei cardialen Hy- 
dropsieen eine di recte oder eine in- 
directe Folge der Compensationstörung 
ist. Denn gerade bei cardialen Compen- 
sationsstörungen muss man besonders 
gründlich die Frage erwägen, ob nicht die 
aus der Oligohydrurie entstehende 
Flüssigkeitsretention im Organismus 
auf iirdirectem Wege eine Zurückhaltung 
von Kochsalz veranlasst. Diese Frage 


\) Cfr. H. St rau ss, Ztschr. f. klin. Med. Bd. 47. 


October 


muss man für die cardialen Compensadons- 
störungen ohne Weiteres bejahen, aber 
trotzdem ist die andere Frage immer noch 
berechtigt, ob bei cardialen Compensations- 
Störungen daneben noch eine directe 
Kochsalzretention möglich oder wahr¬ 
scheinlich ist. In der That bin ich nach 
Erwägung aller in Betracht kommenden 
Momente vorerst geneigt, neben einer bei 
cardialen Hydropsieen durch Flüssigkeits¬ 
retention bedingten indirecten Kochsalz¬ 
retention auch eine directe Kochsalzreten¬ 
tion anzunehmen und zwar vor allem auf 
Grund folgender Betrachtung. Käme eine 
directe Kochsalzretention nicht vor, so 
wäre bei der Energie, mit welcher die 
zurückgehaltene Flüssigkeit das verfügbare 
Kochsalz zur Erzielung des normalen pro- 
centischen Kochsalzgehalts der Gewebs¬ 
flüssigkeit an sich reisst, kaum zu erwarten, 
dass die Gewebe von Patienten, die an 
länger dauernden cardialen Compensations- 
Störungen gestorben sind, reicher an 
Kochsalz sind, als es der Norm entspricht 
Das ist aber nach den bis jetzt vorliegen¬ 
den — allerdings noch etwas spärlichen — 
Untersuchungen thatsächiich derFall. Denn 
es fand Loeper in dem: 


Muskel¬ 

fleisch 

Herz¬ 

fleisch 

Gehirn 

Fett 

im Fall VI ohne Hy¬ 

% 

% 

% 

% 

dropsieen .... 
im Fall VII mit Hy¬ 

0,383 

— 

0,310 

— 

dropsieen .... 
im Fall III mit Hy¬ 

0,353 

— 

— 

0,278 

dropsieen .... 
im Fall XIII mit leich¬ 

0,410 

0,313 

— 

— 

ten Hydropsieen . 

— 

— 

— 

0,370 


und ich selbst fand bei 2 Fällen von car- 
dialer Compensationsstörung mit Oedemen 
in dem einen Falle in den Muskeln 0,340 %, 
in dem anderen Falle in der Leber 0,308 %. 
Dies ist aber erheblich mehr, als der Norm 
entspricht. Denn Hammarsten 1 ) giebt für 
den Kochsalzgehalt der Muskeln 0,04 bis 
0,1 % an, Loeper bemerkt, dass er in 
den Geweben von 2 Personen, die eines 
plötzlichen Todes gestorben sind, 0,192% 
Kochsalz gefunden habe und Bohne 2 ) 
fand bei 3 Fällen von Phthisis pulm. bezw. 
Care, mammae im Durchschnitt nur 0,07 % 
Kochsalz. Weiterhin wäre in Anbetracht 
der bekannten Zähigkeit, mit welcher der 
zur Kochsalzsparung gezwungene Organis¬ 
mus das Kochsalz festhält, die von mir 
und auch von Anderen wiederholt gemachte 
Beobachtung etwas auffallend, dass auch 


*) Hammarsten, Lehrb. der Physiolog. Chemie 
4. Aufl. 

*) Bohne, Fortschr. der Med. 1897, No. 4. 


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Original fro-m 

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October 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


435 


nach länger dauernden cardialen Compen- 
sationsstörungen Herztonica oder Diuretica, 
so insbesondere Digitalis, neben der Ver¬ 
mehrung der Wasserausscheidung häufig 
eine relativ noch viel stärkere Koch¬ 
salzausscheidung erzeugen und dass 
gerade diejenigen Diuresen, welche 
mit einer besonders starken Koch¬ 
salzausscheidung einhergehen, sich 
auch hier für die Entfernung von 
Hydropsieen besonders leistungs¬ 
fähig erweisen. Die genannten Erwä¬ 
gungen scheinen mir die Annahme zu 
rechtfertigen, dass wir bei cardialen Hy¬ 
dropsieen ausser mit einer indirecten Koch¬ 
salzretention auch mit der Möglichkeit 
einer directen Kochsalzretention rechnen 
dürfen. In diesem Sinne haben sich auch 
Mercklen, Achard und Widal in der 
Soci£t£ des höpitaux 1 ) jüngst ausgesprochen 
und es haben speciell die Letzteren Pleura¬ 
ergüsse von Herzkranken unter dem Ein¬ 
fluss grosser Kochsalzdosen ansteigen 
sehen. 

Freilich dürften solche Kochsalzreten¬ 
tionen bei cardialen Hydropsien seltener Vor¬ 
kommen und da, wo sie Vorkommen, meist 
auch weniger ausgeprägt sein, als bei den 
renalen Hydropsieen, gerade so wie auch 
die an dem specifischen Gewicht oder dem 
Eiweiss- bezw. dem Gesammtstickstoffgehalt 
des Blutserums gemessene Hydraemie, 
die in diesem Zusammenhänge besonders 
interessirt, bei cardialen Hydropsieen sel¬ 
tener und weniger ausgeprägt zu sein 
pflegt, als bei den renalen. Es ist wohl 
von einer Reihe von Autoren, so schon 
von Becquerel und Rodier, 2 ) später 
besonders von Grawitz, 3 ) Askanazy 4 ) 
u. A., in einem Falle auch von Kosslei 5 ) (in 
2 anderen aber nicht) auch bei Fällen von 
cardialerCompensationsstörung eine Herab¬ 
setzung der Serumdichte constatirt worden, 
doch war dieselbe meist nicht so stark 
ausgeprägt und auch nicht so häufig vor¬ 
handen, als man dies bei der Untersuchung 
des Blutserums bei Fällen voh renaler 
Compensationsstörung beobachten kann. 
Da Kraus 6 ) die hier in Betracht kommen¬ 
den Verhältnisse erst jüngst hier einer 
eingehenden kritischen Beleuchtung unter¬ 


worfen hat, so will ich mich nach dieser 
Richtung hin hier nur auf die Wieder¬ 
gabe einiger eigener Beobachtungen be¬ 
schränken. Dieselben erstrecken sich auf 
durch Venenpunction gewonnenes Blut, 
dessen Serum nach 24stündigem Absitzen 
im Eisschrank zur Untersuchung gelangte. 


Fall ^ pcc * Ges. N. Rest. N. * 




mg 

mg 


Be. . . . 

_ 

1372 

68 

_ 

T. . . . 

. . . 1023 

980 

38 

— 

R. . . . 

. . . 1025 

1316 

— 

— 

Sch. . . 

. . . 1021 

892 

70 

— 0.59» 

Sg. . . . 

. . . 1027 

1510 

47 

— 0.54 0 

Bl. . . . 

. . . 1025 

1148 

100 

- 0,560 

M. . . . 

. . . 1024 

1120 

— 

— 0.57 0 


Bestimmungen des Eiweissgehaltes des 
Blutserums durch Bestimmung des Bre¬ 
chungsvermögens, die ich in neuester 
Zeit mit dem „Abb^’schen Refractometer“ 
ausgeführt habe — es genügt zur Bestim¬ 
mung ein einziger grosser Blutstropfen 
— haben noch nicht einen solchen Umfang 
erreicht, dass ich die mit dieser compen- 
diösen und nach meinen bisherigen Erfah¬ 
rungen zur Bestimmung gröberer Diffe¬ 
renzen ausreichenden Methode gewonnenen 
Ergebnisse in diesem Zusammenhänge 
schon verwerten könnte. Aus meinen 
eigenen hier erwähnten Untersuchungen 
möchte ich aber das schliessen, was be¬ 
reits Kraus betont hat, dass man bei car¬ 
dialen Hydropsieen nur zuweilen ein re¬ 
lativ niedriges specifisches Gewicht und 
relativ niedrige Werthe für den Gesammt- 
stickstoff beobachten kann. 

Wie ich hier nur ganz nebenbei be¬ 
merken will, schwankten meine Werthe für 
die Gefrierpunktserniedrigung inner¬ 
halb der Grenzen, wie sie nach meinen 
Beobachtungen unter Umständen auch ein¬ 
mal bei Gesunden getroffen werden können. 
Wenn sie auch für die hier vorliegende 
Frage weniger interessiren, als das specifi- 
sche Gewicht und der Gesammtstickstoff, 
so möchte ich doch nicht unerwähnt lassen, 
dass ich die Gefrierpunktserniedrigung von 
hydropischen Flüssigkeiten bei cardialen 
Compensationsstörungen einige Male ab¬ 
norm gering fand. Da auch Loeper Aehn- 


*) Soc. des höpitaux de Paris, Juni 1903. 

*) Becquerel und Rodier, Untersuchungen 
Ober die Zusammensetzung des Blutes in gesunden 
und kranken Zuständen, Erlangen 1845. 

3 ) Grawitz, Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd.54 
u. a. a. O. 

4 ) Askanazy, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 
Bd. 59. 

6 ) Kossler, Centralbl. f. innere Med. 1897. 

6 ) Kraus, Therapie der Gegenwart, Juli 1903. 


An in.: Die ersten 5 Fälle sind bereits in meiner 
Monographie: .Ueber die chronischen Nierenentzün¬ 
dungen etc.*, Berlin, 1902, S. 115 angegeben. 

Anm.: Bei den betreffenden Versuchen ging ich 
so vor, dass ich einen grossen Blutstropfen in eine 
Glascapillare einsog und diese oben und unten zu¬ 
schmolz. Nach 24 stündigem Stehen im Eisschrank 
fand sich meistens in der Capillare eine zur Vor¬ 
nahme der Untersuchung ausreichende Menge von 
Serum vor. 

55* 

Original frorri 

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October 


4 36 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


liches beobachtet hat, so gebe ich die be¬ 
treffenden Befunde hier wieder, ohne dass 
ich sie vorerst weiter erklären will. 

Eigene Beobachtungen: t 

L. hydropische Flüssigkeit . —0.49° 

Sch. „ . . — 0,51 0 

G. Hydrothorax.—0,52° 

Loeper fand: 

Fall XX: Spinalflüssigkeit . — 0,57 ° 

- XIX: » • -°AV* 

. XVIII: „ . — 0,53° 

„ VI: hydropische Flüssig- 

" keit.— 0,42 0 

„ VIII: hydropische 
Flüssigkeit. 
n XVI: hydropische 
Flüssigkeit . 

” g*. Ascites . . 


— 0,48° 

— 0,44 0 
ähnlich 

dem Normalen 


NaCl 

% 

? 

0.56 

0,65 

0,675 

0,715 

0,705 

0,570 

0,880 

0,675 

0,650 

0.575 


Die hier mitgetheilten Thatsachen und 
hier besprochenen Erwägungen dürften 
nicht ganz ohne Bedeutung für die 
Frage unseres therapeutischen Handelns 
sein. Für eine solche Betrachtung scheint 
es mir aus practischen Gründen wichtig, 
die Fälle mit und ohne Hydropsieen ge¬ 
trennt zu besprechen. Bezüglich der Fälle 
von renaler Hydropsie möchte ich hier nur 
das wiederholen, was ich schon früher aus¬ 
geführt habe, nämlich, dass mir hier bei 
annähernd normaler Urinmenge eine Reduk¬ 
tion der Kochsalzzufuhr wichtiger zu sein 
scheint, als eine Reduction der Wasserzufuhr. 
Die letztere kann allerdings neben dererste- 
ren bei Fällen von maximaler Compensations- 
störung, beim „Torpor renalis“, also dann in 
Frage kommen, wenn nur sehr geringe 
Mengen eines äusserst kochsalzarmen 
Urins abgeschieden werden. Doch kann 
in solchen Fällen unter Umständen auch 
die Zufuhr normaler oder reichlicher 
Wassermengen nutzbringend oder zum 
mindesten nicht schädlich wirken. Ich 
habe speciell einen derartigen Fall in Er¬ 
innerung, bei welchem ich nach voraus¬ 
gegangener mehrtägiger hochgradiger Oli¬ 
gurie von der Anwendung Wernitz’scher 
Eingiessungen 2 ) — allerdings nicht mit phy¬ 
siologischer Kochsalzlösung, sondern mit 
reinem Wasser — einen sehr günstigen Ein¬ 
fluss auf die Diurese und den ganzen 
Krankheitsprocess beobachtet habe. Man 
reducire also auch beim „Torpor renalis" 
nicht schematisch die Flüssigkeitszufuhr, 
sondern individualisire in den einzelnen 
Fällen. 

Bei den durch cardiale Compen- 
sationsstörung entstandenen Hy¬ 
dropsieen scheint es mir nach den hier 

H. Strauss, Ther. der Gegenwart. Mai 1903. 

3 ) lieber die Technik derselben, cf. Wernitz, 
Centralbl. f. Gynäkologie 1902, No. 6 und 23 u. a. a. O. 


gemachten Ausführungen in Ueberein- 
stimmung mit herrschenden Anschauungen 
(cf. hierüber besonders die jüngst hier 
erschienene Arbeit von Kraus) geboten, 
das Hauptaugenmerk auf eine Reduction 
der Flüssigkeitszufuhr zu richten. Aber 
doch scheint mir auch hier die Kochsalz¬ 
zufuhr wenigstens nach zwei Richtungen 
einer gewissen Beachtung werth. Einmal 
scheint mir mit Rücksicht auf das Gesagte 
auch bei cardialen Compensationsstörungen 
die Verhütung eines jeden Uebermaases 
in der Kochsalzzufuhr am Platze, und eine 
Reduction der Kochsalzzufuhr wenigstens in 
den Fällen von maximaler Compensations- 
störung geboten, bei welchen der Urin 
einen nur minimalen procentischen Koch¬ 
salzgehalt zeigt. Inwieweit auch noch in 
anderen Fällen eine zielbewusste Reduction 
der Kochsalzzufuhr am Platze ist, lässt 
sich z. Zt. nicht bestimmt sagen, da unsere 
derzeitigen klinisch-experimentellen Me¬ 
thoden zur exacten Feststellung des je¬ 
weiligen Anteiles derdirecten und indirekten 
Kochsalzretention im concreten Falle 
recht dürftig sind. 

Was die Fälle von Nieren- und Herz¬ 
erkrankungen ohne Hydropsieen be¬ 
trifft, so möchte ich bezüglich der Koch¬ 
salzzufuhr bei Nierenkranken auf das 
verweisen, was ich schon früher in dieser 
Zeitschrift ausgeführt habe. Für eine be¬ 
stimmte Regelung der Kochsalzzufuhr bei 
gut compensirten Herzkranken haben 
die hier mitgtheilten Untersuchungen keine 
speciellen Gesichtspunkte ergeben. Bezüg¬ 
lich der Flüssigkeitszufuhr bei Nieren¬ 
kranken muss ich auch hier den von 
mir schon an verschiedenen Stellen ver¬ 
tretenen Standpunkt wiederholen, dass 
man sich in Fällen von Nephritis, in 
welchen nicht specielle Symptome 
von Seiten des Circulationsapparates 
zur Vorsicht mahnen, besinnen soll, ehe 
man eine länger dauernde Reduction der 
Flüssigkeitszufuhr durchführt. Ich behaupte 
dies nicht bloss mit Rücksicht auf die von 
mir an anderer Stelle betonte und be¬ 
gründete Notwendigkeit, Nephritikern das¬ 
jenige Quantum von Wasser zur Verfügung 
zu stellen, dessen sie zur Erzielung der für 
sie nützlichen „compensatorischen“ Poly- 
hydrurie bedürfen, sondern auch deshalb, 
weil ich mit Krehl 1 ), Romberg 2 ) u. A. 
glaube, dass die Gefahren, welche eine 

1) Krehl, Herzmuskelerkrankungen: in Noth¬ 
nagels Specieller Pathologie und Therapie, Wien, 
Hölder. 

Romberg, Erkrankungen des Herzens in. 
Ebstein-Schwalbes Handbuch, Stuttgart, Enke. 


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Gck igle 


Original fro-m 

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Octobcr 


437 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


länger dauernde Zufuhr normaler oder das 
normale Maass etwas übersteigender Flüs¬ 
sigkeitsmengen dem Herzen bringt, noch 
an gar manchen Stellen überschätzt werden. 
Ohne dies weitläufig zu begründen, möchte 
ich in diesem Zusammenhang nur an das 
Herz bei Diabetes insipidus und an die 
nicht gerade seltenen Fälle von Diabetes 
mellitus — es sind dies fast 7 / g aller ob- 
ducierten Fälle — erinnern, bei welchen 
trotz lange bestehender Polyhydrurie (und 
sonstiger für das Herz ungünstiger Be¬ 
dingungen) Herzveränderungen ausbleiben. 
Ferner möchte ich hier erwähnen, dass ich 
die mit den v. Basch'sehen Sphygmomano¬ 
meter gewonnenen Ergebnisse von Rieder 
und von Maximowitsch 1 ) durch Unter¬ 
suchungen, die Herr Dr. Ekgren auf meine 
Veranlassung j üngst mit dem G ä r t n e r sehen 
Tonometer ausgeführt hat, sowohl für ge¬ 
sunde als auch für kranke Herzen bestäti¬ 
gen kann. Denn auch bei zwei Fällen der 
letzteren Art liess die Zufuhr von Va bezw. 

1 1 Wasser auf den leeren Magen eine 
deutliche Steigerung des Blutdrucks ver¬ 
missen. Weiterhin muss ich auch nach 
den Erfahrungen, welche ich bei meinem 
Falle von Fistel des Ductus thoracicus 3 ) 
über die Veränderungen des Chylus 
unter dem Einfluss alimentärer Eingriffe 
gemacht habe — ich habe hier be¬ 
sonders den „Wasserversuch“ im Auge —, 
die Möglichkeit einer plötzlichen Ueber- 
schwemmung des Kreislaufs für sehr un¬ 
wahrscheinlich bezeichnen und sehe darum 
die Möglichkeit einer eventuellen Schä¬ 
digung des Herzens mehr in den durch 
eine zu grosse Wasserzufuhr gesteigerten 
Anforderungen an die Gesammtleistung, 
als in der Wirkung acuter Insulte ge¬ 
geben. Nach der hier genannten Richtung 
war mir jüngst eine Patientin mit einer nicht 
gerade ganz leichten Form von chronischer 
Nephritis (starke Blässe, zahlreiche Cylin- 
der, 3 %o Albumen bei 4 1 Urin) von einem 
gewissen Interesse, bei welcher von anderer 
Seite die tägliche Urinmenge durch Wer- 
n|itzsche Eingiessungen wegen eines gynae- 
cologischen Leidens mehrere Monate 
lang von U/a I auf 3—4 1 erhöht worden 
war, und bei welcher ich nicht die ge¬ 
ringsten Störungen von seiten des Herzens 
feststellen konnte. Da bei den Wernitz- 
schen Eingiessungen der Uebertritt von 


Flüssigkeit in die Säfte nur ganz allmählich 
erfolgt und es dem Darm ’völlig überlassen 
bleibt, soviel aufzunehmen, als es der je¬ 
weilige FlQssigkeitsgehalt des Organismus 
und der Zustand des Circulationsapparates 
gestattet, so halte ich sie für die Zwecke 
der Durchspülung auch bei Nephritikem 
für recht geeignet. Allerdings rate ich 
hier von einem Kochsalzzusatz — zum 
Mindesten bei vorwiegender Parenchym¬ 
erkrankung — Abstand zu nehmen. 

Wenn ich bei der Wasserzufuhr von 
Nierenkranken die „Giftgefahr“ im All¬ 
gemeinen höher einschätze, als die „Herz¬ 
gefahr“, so kann mir doch nach Allem, 
was ich an anderen Stellen über die Not¬ 
wendigkeit der Herzschonung und Herz¬ 
kräftigung für alle Formen von Nephritis 
geäussert habe, nicht der Vorwurf einer 
zu geringen Bewerthung der Herzschonung 
gemacht werden. Habe ich sie doch für 
die Behandlung von Nephritikem in jeder 
Form empfohlen, nur nicht in derjenigen, 
in welcher ‘ihre Durchführung unter Um¬ 
ständen einmal zum Anlass einer thera¬ 
peutischen Unterlassungssünde werden 
könnte. 

| Dabei Herzkrankenmitgut erhaltener 
Compensation eine specielle Indication 
einer genügenden bezw. reichlichen Durch¬ 
spülung nicht existiert, so sinken hier 
die Bedenken, welche vom Standpunkte 
der Blutreinigung gegen den Versuch 
einer länger dauernden Reduktion der 
Flüssigkeitszufuhr zu erheben sind. In¬ 
wieweit aber bei gut compensierter Herz- 
thätigkeitlediglich aus prophylactischen 
Gründen zu einer solchen ein begründeter 
Anlass vorliegt, ist erst noch zu discutiren. 
Jedenfalls reicht aber das zur Erörterung 
dieser Frage z. Zt. vorliegende Material 
nach dem übereinstimmenden Urteil von 
Krehl, R.'omberg und Kraus zur Be¬ 
gründung einer länger dauernden Flüssig¬ 
keitsreduktion auch hier nicht in dem Grade 
aus, dass man ein Recht hätte, von den 
Patienten hierfür irgend welche Entsagun¬ 
gen zu verlangen oder sie auch nur in 
ihrem subjectiven Behagen hierdurch 
irgendwie ernstlich zu stören. 

*) Rieder und v. Maximowitsch, Deutsch. Arch. 
f. Klin. Med., Bd. 46. 

*) H. Stra uss, Deutsche med. Wochenschrift. 
1902, No. 37 und 38. 


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438 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


Aus der medicinischen Klinik der Universität Halle. 

(Director: Prof. Dr. von Mering.) 

Der Einfluss des Veronal auf die Stickstoffausscheidung: 

beim Menschen. 

Von Dr. med. Curt Trautmann. 


Das Veronal, dem die Formel CO* 
(NH*CO)a,C(C 2 H 5)2 zukommt, ist, seitdem 
E. Fischer und J. v. Mering seine hyp¬ 
notische Wirkung vor einigen Monaten 
entdeckt, von zahlreichen Klinikern und 
Aerzten eingehend geprüft und überein¬ 
stimmend als ein ungemein brauchbares 
Schlafmittel bezeichnet worden. Während 
man das Veronal, wie gesagt, am Kranken¬ 
bett vielfach erprobt und auch dem Ein¬ 
fluss des Mittels auf den Circulations- und 
Respirationsapparat seine Aufmerksamkeit 
zugewandt hat, ist dasselbe bis jetzt hinsicht¬ 
lich seiner Wirkung auf die Eiweisszer¬ 
setzung im Organismus nicht Gegenstand 
exacter Untersuchung gewesen. Es schien 
mir deshalb von Interesse, durch Versuche 
am Menschen die Frage zu entscheiden, 
ob unter dem Einfluss des Veronal die 
Stickstoffausscheidung im Harn eine Ver¬ 
änderung erleide oder nicht. Zur Beant¬ 
wortung dieser Frage brachte ich mich mit 
folgender Nahrung in’s Stickstoflgleich- 
gewicht. Es wurden pro Tag genommen: 

8 Uhr früh: 

15 g Kaffeebohnen auf250ccm Wasser. 

50 ccm Milch. 

50 g Weissbrot. 

10 Uhr Vormittags: 

100 g Schwarzbrot. 

20 g Wurst. 

20 g Butter. 

20 g Käse. 

1 Uhr Mittags: 

250 g Fleisch gebraten in 25 g Butter, 
dazu 4 g Salz. 

70 g Schwarzbrot. 

400 ccm Bier. 

3 Uhr: 

250 ccm Kaffee. 

50 ccm Milch. 

71/a Uhr: 

200 g Schwarzbrot. 

60 g Wurst. 

25 g Butter. 

30 g Käse. 

400 ccm Bier. 

Diese Nahrungsmittel enthalten, wie aus 
folgender Zusammenstellung, nach den 
Tabellen von Voit, König und Rubner 
berechnet, ersichtlich ist: 


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117 g Eiweiss = 18,7 g Stickstoff. 
140 g Fett. 

311 g Kohlehydrate. 

26 g Alkohol 

und liefern 2654 Calorien. 



g 

Ei¬ 

weiss 

g 

Fett 

g 

Kohle¬ 

hydrate 

Ca¬ 

lorien 

Kaffee . . 

30,0 

_ 


. 

. 

Wasser . . 

1200,0 

— 

— 

— 


Salz . . . 

4,0 

— 

— 

— 

— 

Bier . . . 

800,0 

4,0 

— 

40,0 

182 

Milch . . . 

100,0 

3,1 

3,5 

4,5 

65 

Schwarzbrot 

370,0 

23,72 

— 

194,5 

895 

Weissbrot . 

50,0 

3,41 

0,5 

27,75 

145 

Rindfleisch. 

250,0 

52,5 

2,25 

— 

238 

Wurst . . 

80,0 

14,0 

36,72 

— 

420 

Butter . . 

70,0 

— 

60,9 

0,35! 

570 

Käse . . . 

1 50,0 

16,35 

10,29 

3,4 

144 


Das Fleisch wurde stets sorgfältig von 
Sehnen und Fett befreit; da immer ein 
möglichst wenig durchwachsenes Stück aus 
der Küche geliefert wurde, bot dieses Ver¬ 
fahren keine Schwierigkeit dar. 

Die Milch wurde, um einem Wechsel 
in der Beschaffenheit vorzubeugen, als 
Kindermilch bezogen. 

Der Versuchstag begann um 8 Uhr 
Morgens und endete um 8 Uhr am andern 
Morgen. Der sämmtlich während dieser 
Zeit gelassene Urin wurde gesammelt; bei 
der Stuhlentleerung wurde darauf Rück¬ 
sicht genommen, dass ein Verlust an Urin 
vermieden wurde. 

ImUebrigen lebte Verfasser während der 
Versuchszeit ganz wie sonst und ging ins¬ 
besondere seinen gewohnten Beschäfti¬ 
gungen nach. 

Der Stickstoff im Urin wurde täglich 
nach der Methode von Kjeldahl bestimmt. 

Die folgende Tabelle enthält die wäh¬ 
rend der neun tägigen Versuchsreihe ge¬ 
wonnenen Resultate. 

Der Gehalt der täglichen Nahrung be¬ 
trägt, wie angegeben, 18,7 g Stickstoff. 
Die Versuchsreihe der ersten vier Tage 
ergiebt nun im Mittel 17,79 g N im Harn. 
Die Differenz erklärt sich, abgesehen von 
der geringen Ungenauigkeit der Tabellen¬ 
werte, durch den Verlust an Stickstoff mit 
dem Koth. 

Am 5. Versuchstage wurde Morgens 
8 Uhr und Abends 9 Uhr 1 g Veronal ge- 


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October 


Die Therapie der Gegenwart 1903, 


439 


Ergcbniss der Stickstoftanalyse des Harns nach Kjeldahl. 


Versuchs¬ 

tag 

Urinmenge 
in ccm 

Spec. 

Gewicht 

Gesammt- 
menge des 
Stickstoffs 

Mittel 

Diffe¬ 

renz 

Bemerkungen 

1 

1 000 

1 025 

17,6400| 




2 

960 

1 028 

17.41301 

4 n na i 


Am 5. und 6. Versuchstage wurden 

3 

1 010 

1 027 

17,9860| 

1 /, /V 1 


Morgens und Abends je 1 g Veronal 

4 

1 225 

1 018 

18,10421 



genommen. Da durch 4 g Veronal 

5 

955 

1 027 

17,3810) 



0,61 N mehr aufgenommen sind, so 

6 

1 960 

1 014 

17,7262 \ 

16,99 

0,79 

sind 0,2 g von 16,99 g abzuziehen 

7 

1 025 

1 024 

15,8711/ 



= 16,79 g N. Differenz also 0,99 

8 

1 280 

1 020 

17,2012 



oder abgerundet 1 g. 

9 

1 100 

1026 

17,8640 





nommen. Im Urin finden sich 17,3810 g N. düng um 3 g ca 90 g Muskelfleisch, die 
Die Differenz gegen den vorhergehenden eingespart wurden, verursacht. 

Tag beträgt somit 0,6, gegen das Mittel Im Gegensatz hierzu verursacht Chloral- 
der vier ersten Tage 0,4 g. hydrat, wie aus den Untersuchungen von 

Am 6. Versuchstage wurden wieder Taniguti und Peiser hervorgeht, eine 
Morgens und Abends 1 g Veronal ge- erhebliche Steigerung des Eiweisszerfalles, 
nommen. Die nachfolgende Untersuchung während den Disulfonen (Sulfonal, Trional 
ergiebt 17,726 g N, gegen das Mittel der etc.) kein Einfluss auf die Stickstoffaus- 
4 ersten Tage also 0,06 weniger. Scheidung zukommt; letztere stehen somit 

Besonders zur Geltung kommt der gewissermaassen in der Mitte zwischen 
eiweissersparende Einfluss des Veronals Veronal und Chloralhydrat. 
am 7. Versuchstage, an dem, obwohl Mit Rücksicht auf die Thatsache, dass 
kein Veronal mehr genommen wird, die das Veronal durch seine eiweissersparende 
Stickstofimenge auf 15,8711 herabgeht. Wirkung den Ernährungszustand günstig 
Desgleichen steht der 8. Tag noch etwas beeinflusst, wird man dem Veronal als 
unter Veronaleinfluss mit 17,20 g Stick- Schlafmittel den Vorrang einräumen müssen 
Stoff und erst am 9. Tage wird mit in den Fällen, in welchen während längerer 
17,86 die Höhe der Vortage wieder er- Zeit die Darreichung eines Hypnoticums 
reicht. indicirt ist, sowie bei allen Erkrankungen, 

Fasst man die beiden Veronaltage und bei welchen erfahrungsgemäss eine Steige- 
den ihnen folgenden zusammen, so steht rung des Eiweisszerfalls stattfindet, vor 
das Mittel aus ihnen 16,99 g dem der Vor- allem also bei fieberhaften Zuständen, bei 
tage mit 17,78 g N gegenüber. Rechnet Erkrankungen, die mit hochgradiger Athem- 
man den in 4 g Veronal enthaltenen Stick- noth einhergehen, bei Anämie und zehren- 
stoff noch ab, so erhöht sich die Differenz den Krankheiten, besonders Lungentuber- 
zwischen Vor- und Veronaltagen auf 0,99 g. kulose, Carcinom und Diabetes mellitus, 
Es haben also 4 g Veronal in den 3 Tagen sowie bei Geisteskranken, welche die 
eine Verminderung der Stickstoflausschei- Nahrung verweigern. 

Zur Therapie der Basedowschen Krankheit. 

Von Med.-Rat Dr. Kirilberger-Mainz. 

Die Erfahrung, dass die Basedowsche in manchen sonst ganz scharf entwickelten 
Krankheit keine so seltene ist, wie man Fällen oft nur schwach angedeutet Ich 
früher annahm, muss sich jedem Arzt, möchte dagegen als charakteristische Trias 
allerdings nach Gegenden in verschiedenem lieber die Tachycardie, den kurzschlägigen 
Maasse, aufdrängen und ist durch die zu- Tremor und die alsbald auftretende Ab- 
sammenstellende Arbeit von Linke aus magerung in den Vordergrund gestellt 
der Hallenser Klinik mittelst der sich da- wissen, weil dies eben Zeichen sind, die 
rauf beziehenden Literatur zahlenmässig niemals fehlen. An sie schliessen sich 
bestätigt worden. Es würde dies noch dann mehr oder minder ausgesprochen die 
mehr hervortreten, wenn nicht ein Theil anderen Symptome, die Struma, der Ex- 
der Aerzte bei der Stellung der Diagnose: ophthalmus, mit dem Stellwag’schen, das 
Morbus Basedow an der alten Symptomen- Graefe sehe und Moebius'sche Symptom, 
trias: Exophthalmus, Struma, Tachycardie die allerdings recht häufige Schlaflosig- 
festhielte. Aber gerade der Exophthalmus keit, der veränderte elektrische Leitungs¬ 
fehlt recht häufig und auch die Struma ist widerstand der Haut u. s. w. an. Bezüg- 


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440 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


lieh der Grundursache aller dieser Er¬ 
scheinungen ist wohl jetzt allgemein der 
Moebius’sche Standpunkt acceptirt, der 
dieselbe bekanntlich in einer vermehrten 
krankhaften Thätigkeit der Schilddrüse 
sieht, wobei es sich nach neueren Unter¬ 
suchungen von Ehrig aus der Rostocker 
chirurgischen Klinik um einen aus den 
überfüllten Capillaren stammenden und 
quantitativ vermehrten, im Uebrigen aber 
normalen Follikelinhalt, mit einer von der 
arteriellen Hyperaemie abhängigen gestei¬ 
gerten epithelialen Neubildung handelt. 
Unentschieden mag es dabei bleiben, ob 
die Thätigkeit der Drüse in der Hervor¬ 
bringung von dem Stoffwechsel vorstehen¬ 
den Substanzen besteht, oder ob es sich 
um solche handelt, welche die aus dem 
Stoffwechsel resultirenden schädlichen End¬ 
produkte durch Bindung unschädlich macht 
(Blum). Erstere Annahme erscheint mir 
allerdings als die wahrscheinlichere, weil 
sie auch besser die weiterhin entwickel¬ 
ten therapeutischen Maassnahmen erklär¬ 
lich macht. Nur Ostwald in Zürich will 
neuerdings die Erkrankung der Schild¬ 
drüse nicht als Ursache, sondern als Folge 
der Basedow’schen Krankheit angesehen 
wissen. Jedenfalls steht aber soviel fest, 
dass die Entfernung der erkrankten Schild¬ 
drüse auf operativem Wege den Sym- 
ptomencomplex des Basedow im wahren 
Sinne des Wortes abschneiden kann. Bei 
vier aus meiner Praxis operirten Fällen 
ging der Puls oft schon direct nach der 
Operation von 120—140 Schlägen auf die 
Zahl von 80 bis 90 herunter und auch die 
Abmagerung sistirte nicht bloss, sondern 
eine Patientin, deren Körpergewicht von 
90 auf 56 kg gesunken war, erreichte 
innerhalb acht Monaten nach der Operation 
wieder ihre frühere Körperfülle. Gerade 
bei dieser Patientin, bei der die Struma 
besonders stark entwickelt gewesen, hatte 
ich die auch von Anderen gemachte Beob¬ 
achtung constatiren können — es war noch 
in der Vor-Baumann’sehen Periode —- 
dass eine eingeleitete Jodcur fast mit der 
Sicherheit eines Experimentes bei bereits 
eingetretener Besserung einen schweren 
Rückfall hervorrief, wie dies ja auch später 
nach der Baumann’schen Entdeckung 
beim Einnehmen von Thyreoid-Pastillen 
constatirt werden konnte. Die Drüse pro- 
ducirt eben in ihrer krankhaften Thätig¬ 
keit neben Anderem auch Jod in ver¬ 
mehrter Menge, wie dies Baumann bei 
einer ihm seiner Zeit von mir einge¬ 
schickten exstirpirten B a s e d o w-Drüse 
direct nachweisen konnte. Es lag mir nun 


der Gedanke nahe, dass diese vermehrte 
Jodproduction neben anderen Drüsenpro¬ 
dukten zur Hervorrufung einzelner Symp¬ 
tome, insbesondere der im Verlaufe der 
Krankheit stetig auftretenden Abmagerung 
beitragen könne und ich versuchte darauf¬ 
hin, besonders auch mit Rücksicht auf die 
ungünstigen Erfahrungen der Jodordination, 
ein Jodantidot, das sulfanilsaure Natron, 
das ich in Dosen von 10 g, auf den Tag 
verteilt, geben Hess. Das Mittel ward 
stets sehr gut vertragen, und vermehrte 
in allen Fällen den Appetit, die Abmage¬ 
rung sistirte nicht nur, sondern sämmtliche 
Patienten nahmen an Körperfülle bis zu 
mehreren Kilo zu. Hand in Hand damit 
schwand das die Kranken so sehr be¬ 
ängstigende Schwächegefühl und machte 
im Gegentheil dem Gefühl des subjectiven 
Wohlbefindens Platz. Von den weiteren 
objectiven Zeichen des Basedow konnte 
ich allerdings nur in zwei Fällen ein Zu¬ 
rückgehen des Kropfes, in allen ein Ruhiger¬ 
werden des Pulses beobachten, insofern 
als sich die Zahl der Schläge aut 100 bis 
110 erniedrigte, dabei blieb es aber und 
der Tremor ward fast gamicht beeinflusst; 
es handelte sich eben nur um eine sym¬ 
ptomatische Therapie, nicht um eine radicale 
Heilung, aber es war doch damit soviel 
gewonnen, dass von nun an ein operativer 
Eingriff unterbleiben konnte. Im Gegen¬ 
teil machte sich gerade bei einer Patientin 
(deren Mutter auch an Basedow gelitten 
hatte und der Krankheit in Folge secun- 
dären Herzleidens erlegen war), welcher 
wegen ihres jugendlichen Alters von 
18 Jahren aus Vorsicht nur eine Struma¬ 
hälfte exstirpirt worden, und bei der der 
Erfolg gegenüber den vier früher radicaler 
Operirten gleich Null gewesen war, der 
günstige Einfluss der Medication aufs deut¬ 
lichste geltend. Im Verlaufe zweier Jahre, 
in denen das Mittel mit Unterbrechungen 
gereicht wurde (in die allerdings auch noch 
ein Gebirgsaufenthalt in mittlerer Höhe 
fiel), machte die Besserung trotz der erb¬ 
lichen Belastueg solche Fortschritte, dass 
ich schliesslich meine Zustimmung zum 
Eingehen der Ehe erteilen konnte, trotz¬ 
dem von vollkommener Heilung noch 
keine Rede war. Es fehlte eben noch das 
specifische Mittel. Ob dieses in dem von 
Burghart und Blumenthal sowie von 
Möbius empfohlenen Rodagen, dem ge¬ 
trockneten Milchpulver thyreoectomirter 
Thiere, oder in dem Merk'schen Thyreoid- 
Serum gefunden ist, müssen weitere Prü¬ 
fungen dieser Mittel zeigen. Ich hoffe, 
einen kleinen Beitrag dazu zu liefern. Das 


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October 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Rodagen (in Dosen von 5 —10 g) hat jeden¬ 
falls meiner Patientin sichtbaren Nutzen 
gebracht. Da dasselbe wegen zeitweilig 
eintretender Einwirkung auf das Herz nicht 
ständig gereicht werden kann, so gab ich 
es neben und abwechselnd mit dem sulfa- 
nilsauren Natron in Dosen von 5 —10 g 
pro die. Die bei der Patientin noch übrig 
gebliebenen, wenn auch nur wenig mehr 
ausgeprägten Basedowsymptome sind 
unterdessen ganz geschwunden, und hält 
dieser günstige Zustand bereits durch 
Monate hindurch an. Ein zweiter, sehr 
ausgesprochener Fall von Basedowscher 
Krankheit, den ich auf gleiche Weise be¬ 
handelte, bekam ich vor ca. D /2 Jahren in 
der Tochter eines nach Mainz versetzten 
höheren Offiziers in Behandlung. Auch 
hier trat nach Anwendung des sulfanil- 
sauren Natrons alsbaldige Besserung im 
Wohlbefinden und Zunahme des Körper¬ 
gewichts sowie der Kräfte ein, aber keine 
vollkommene Heilung, resp. Schwinden 
aller Basedow-Symptome ein; auch hier 
hatte das Rodagen in Verbindung mit dem 


44! 


sulfanilsauren Natron (ebenfalls alternirend 
genommen), den gewünschten Erfolg. Die 
Struma ist vollkommen geschwunden, eben¬ 
so der Tremor und der Puls ist von 140 
Schlägen nunmehr auf 80 heruntergegangen. 
Dieser günstige Zustand hatte zu Beginn 
dieses Sommers bereits über mehrere 
Monate angehalten, trotzdem habe ich den 
Eltern den Rath erteilt, zur weiteren Be¬ 
festigung der Gesundheit die Tochter noch 
einen längeren Sommeraufenthalt im Ge¬ 
birge (Engelberg) nehmen zu lassen. 

Zur Anwendung des Merk’schen Serums 
hatte ich bis jetzt keine Gelegenheit, aber 
auch keine Veranlassung, weil ich ja mit 
der combinirten Behandlung mittelst Ro¬ 
dagen und sulfanilsaurem Natron zweifel¬ 
lose günstige Erfolge erzielte. 

Wenn ich auch nur über obige zwei 
Fälle von Heilung verfüge, so sind sie 
doch hinreichend lange beobachtet, um den 
im Augustheft der Therapie der Gegen¬ 
wart von Burghart und Blumenthal ver¬ 
öffentlichten Fällen ergänzend an die Seite 
gestellt werden zu dürfen. 


Ueber Thiosinamin und seine Anwendung. 

Von Dr. Alfred Lewandowskl-Berlin. 


Nicht über ein neues Mittel soll in den 
folgenden Zeilen berichtet, nicht gegen 
bestimmte Krankheiten ein Specificum 
empfohlen werden, welches die bisher ge¬ 
brauchten Medicamente zu verdrängen be¬ 
rufen sein könnte, nur neubelebt und 
wiedererweckt werden soll das Interesse 
der ärztlichen Welt für einen chemischen 
Stoff* von eigenartiger Wirkung, der vor 
nunmehr elf Jahren von autoritativer Stelle 
in die Medizin eingeführt, seit dieser Zeit 
auch von manchen Seiten beachtet, benutzt 
und bis auf unsere Tage empfohlen ist, 
ohne, wie es scheint, den ihm gebührenden 
Platz in der „Therapie der Gegenwart" 
errungen zu haben. 

Dieses Mittel, das Thiosinamin ist, wie 
soeben gesagt, nicht als ein Mittel gegen 
Krankheiten zu betrachten, sondern als ein 
chemischer Körper, der die merkwürdige 
Eigenschaft besitzt, auf pathologische 
Gewebe bestimmter Natur in beson¬ 
derer Weise einzuwirken und zwar, da 
diese Gewebsveränderungen bei den ver¬ 
schiedensten Processen und in den ver¬ 
schiedensten Organen des Körpers sich 
ausbilden, in den mannigfachsten Disci- 
plinen unserer vielgestaltigen Wissenschaft 
und Kunst zur wirksamen Anwendung ge¬ 
langt. 

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Im Jahre 1892 machte von Hebra 1 ) 
auf dem internationalen dermatologischen 
Kongress Mittheilung von einem Mittel- 
weiches subcutan einverleibt, sich wirksam 
bei der Behandlung Lupöser erwiesen 
habe. Es war dies die Zeit, in der durch 
die Tuberkulinenttäuschung das Vertrauen 
in eine in ähnlicher Art sich manifestirende 
Behandlung tuberkulöser Hautprocesseganz 
ausserordentlich geschwunden war. Hebra, 
der sogar noch die Angabe gemacht hatte, 
dass dieses Mittel im Stande sei* Thiere 
gegen bakterielle Infection (Milzbrand) zu 
immunisiren, — eine Beobachtung, die 
später nicht mehr aufrecht erhalten werden 
konnte — hatte diesen Stoff im November 
1890 von von Froschhäuter erhalten. 
Es handelte sich um das Thiosinamin, ein 
Allylthioharnstoff, Rhodallin, einen substi- 
tuirten Harnstoff, in welchem ein H-atom 
einer Amidogruppe durch den Allylrest 
vertreten ist 

/NH 2 

SC< .CH 2 .CH:CH 2 
n NH 

Man erhält den Körper 2 ) durch Erwär¬ 
men einer alcoholischen Senflösung mit 
NH 3 auf 100 0 unter Druck als farblose, 
bitter schmeckende Prismen, die in reinem 
Zustande ohne Geruch sind. Er ist löslich 

56 


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442 


October 


Die Therapie der 


in Wasser, leicht in Alkohol und Aether. 
Hebra fasste seine Beobachtungen in fol¬ 
gende fünf Punkte zusammen: 

Thiosinamin ist ein Mittel, welches 

1 . auf Lupusgewebe in günstiger Weise 
einwirkt, 

2 . das Narbengewebe so sehr erweicht 
und flexibel macht, dass die verschiedensten 
vorhanden gewesenen Störungen beseitigt 
werden, 

3. eine intensive verkleinernde Wirkung 
auf Drüsentumoren ausübt, 

4. auf Cornealtrübungen aufhellend 
wirkt, 

5. die Resorption in die Gewebe ge¬ 
setzter Exsudate begünstigt. 

Er wählte als Injectionsstelle den Rücken 
und benutzte eine 15 procent. alkoholische 
Lösung. Er constatirte bei einigen Lu- 
pösen eine locale Reaction, Röthung und 
Schwellung; bei allen übrigen Processen 
war örtlich keine Reaction zu bemerken. 
Er warnt davor, Fälle zu behandeln, bei 
denen der krankhaft-entzündliche Process 
noch nicht völlig abgelaufen sei; so hat er 
bei einer noch nicht beendeten Keratitis 
Verschlimmerung gesehen, nur bei solchen 
floriden Processen sei zu injiciren, bei 
denen man von der entzündlichen Reaction 
eine Besserung der Verhältnisse erwarten 
dürfe. So sah er z. B. bei einem Lupösen 
unter Thiosinaminbehandlung eine alte 
Knochenaffection wieder aufleben. Es bil¬ 
dete sich ein Abscess mit Durchbruch und 
Eiterung der Fistel, durch den ein alter 
Sequester losgestossen wurde; der Fall 
heilte danach aus. 

Er constatirte niemals eine Schädigung 
des Allgemeinbefindens, erwähnt im Gegen- 
theil euphorischen Einfluss und Linderung 
subjectiver Beschwerden. Bei einigen 
Tuberkulösen trat Fieber auf und Besse¬ 
rung der Nachtschweisse. Albumen wurde 
nie gefunden, niemals eine locale ent¬ 
zündliche Reaction, nie ein Abscess an 
der Injectionsstelle. Als günstigen Ein¬ 
fluss bei Lupösen schildert er, wie z. B. 
ein stark prominenter Lupus tumidus 
wesentlich eingefallen, verflacht sei und 
seine Geschwüre sich gereinigt hätten. 
Maligne Tumoren will er sich verkleinern 
gesehen haben, aber nicht syphilitische; er 
macht in Folge dessen auf den differential- 
diagnostischen Werth aufmerksam zwischen 
Lues und Tuberkulose. Den Hauptwerth 
seiner Mittheilungen darf man aber wohl 
in dem erblicken, was er über die Wir¬ 
kung auf das Narbengewebe angiebt. 
Contracturen von Hautnarben, Bändern 
und Sehnen wurden weich, Verkrümmungen 


Gegenwart 1903. 


wurden beseitigt, Ektropien bildeten sich 
zurück, dabei war es ganz gleich, welches 
die Ursache der Narbenbildung gewesen 
war, ob Verletzungen, Verbrennungen oder 
zerstörende Processe anderer Art. Eine 
Erklärung dieser überraschenden elektiven 
Wirkung des Thiosinamin, das sich, im 
Blute kreisend, gleichsam das Narbenge- 
webe aufsucht, vermochte er nicht zu geben. 

Seine Mittheilungen sind nicht unbe¬ 
achtet geblieben. Van Hoorn, 3 ) der nur 
bei Lupösen das Thiosinamin angewendet 
und sich nach Professor Duclaux-Paris 
Vorgang einer 10 procent. wässerigen Gly¬ 
cerinlösung bedient hatte, empfiehlt das 
Thiosinamin nicht so sehr beim Lupus 
selbst, bei dem seine Resultate nicht ein¬ 
wandsfrei seien, als vielmehr für die Folge¬ 
zustände desselben (Narben). Andere 
Autoren suchten die Indication für die 
Thiosinaminanwendung zu erweitern. So 
machten Latzko, 4 ) Kalinkusch 5 ) sehr 
interessante Mittheilungen über erfolgreiche 
Anwendung bei veralteten Exsudaten der 
weiblichen Geschlechtsorgane: parametrale 
Narben von chronischer derber Beschaffen¬ 
heit, Exsudate der Parametrien sahen sie 
sich verkleinern, vor allem aber lobten sie 
die subjective schmerzlindernde Wirkung. 
B£kess 6 ) berichtete über Versuche bei 
drüsigen Tumoren in der Kinderpraxis. 
Von 30 solchen Fällen sah er einen gänz¬ 
lichen Schwund dieser Packete in vier, 
Verkleinerung in sieben, Entzündung und 
Eiterung in sechs, keinen besonderen Ein¬ 
fluss in acht Fällen. Er wendete eine 
15 prozent. Lösung an und lobt nicht nur 
die Gefahrlosigkeit des Thiosinamins, son¬ 
dern noch besonders seine günstige Wir¬ 
kung auf das Allgemeinbefinden (Appetit 
u. s.w.) Zweimal beobachtete er Urticaria 
ohne sonstige Störungen. Einen diureti- 
schen Einfluss will Mertens 7 ) gesehen 
haben, welcher aber keine Erfolge bei 
Lupus hatte, weder bei subcutaner noch 
innerlicher Anwendung. 

Ueber sehr ausgedehnte und vielseitige 
Versuche berichtet der Amerikaner Tou- 
sey. 8 ). Er bestätigte und erweiterte He- 
bra’s Angaben bezüglich der Anwendung 
bei Narbengeweben und preist Thiosin¬ 
amin gleichsam als Specificum für Keloide; 
ferner hat er als erster das Thiosinamin 
bei malignen Tumoren mit Erfolg ange¬ 
wendet. Bei Carcinom der Blase und 
Lippe sah er durch Erweichung der Ope¬ 
rationsnarben so erhebliche Besserung im 
Befinden, dass das Leben der Patienten 
erträglicher gestaltet und verlängert werden 
konnte. Fernerberichtet er, wie Hebra (l.c.) 


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October 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


443 


über seine Anwendung bei alten Horn¬ 
hautflecken und bei Taubheit auf sklero- 
sirender Grundlage; auch bei Cataract 
will er Resorptionserscheinungen gesehen 
haben. Bei Lupösen sind seine Resultate 
nicht ermutigend, nur bei abgelaufenen 
Processen. Er erwähnt und nach ihm 
Newton 9 ), dass auch bei Harnröhren- 
stricturen erfolgreiche Versuche gemacht 
seien, doch kann er Ober dauernde Besse¬ 
rungen nicht berichten. Letztere Angaben 
finden Bestätigung durch Hane 10 ), welcher 
constatirt, dass die Behandlung solcher 
Stricturen gut vertragen wird, ihr eine auf¬ 
fallend rasche Erweichung nachrahmt, aber 
keine dauernde Heilung gesehen hat. Wie es 
scheint, hat er nicht lange genug behandelt. 

Suker 11 ) wandte in zwei Fällen von 
Chorioiditis disseminata exsudativa Thio- 
sinamin an und erzielte schnelle Besserung 
der Sehschärfe. Bestätigung über Auf¬ 
hellung von Cornealnarben und Besserung 
der Sehschärfe bringen Richter 12 ) und 
Ruoff 13 ). Ersterer musste allerdings das 
Auftreten einer frischen Phlyctäne con- 
statieren. Scholtz 14 , dessen Erfolge bei 
mit Vitiligo combinirter Mycosis fungoides, 
zweifelhaft sind, lobt seine narbener¬ 
weichende Wirkung bei einem schweren 
Fall von narbiger Schrumpfung des Ge¬ 
sichts nach Lupus. Lion 15 ) hat bei streifen¬ 
förmiger Sklerodermie der Stirn mit Thio¬ 
sinamin-Pflastermull (Unna) sehr gute Er¬ 
folge erzielt; nur macht er auf die Ge¬ 
fahren einer akuten Dermatitis, die der 
Pflastermull im Gefolge hat, aufmerksam. 

V on neueren Autoren berichten T e 1 e k y 16 ) 
und Juliusberg 17 ) beide aus dem Jahre 1901; 
beiden verdanken wir auch sehr sorg¬ 
fältige Litteraturangaben. Juliusberg 
bringt aus der Ne iss ersehen Klinik eine 
sehr wesentliche Bestätigung über erfolg¬ 
reiche Anwendung bei hypertrophischen 
Narben, Narbenkeloiden, Sklerodermie 
und Oesophagusstricturen. Für die Angaben 
von Sachs 18 ), welcher über, wenn auch 
zweifelhafte Erfolge bei der sogenannten 
plastischen Induration der Corpora caver- 
nosa penis berichtet hatte, ist meines 
Wissens bisher eine Bestätigung nicht 
erfolgt. Alle Autoren sind aber einig in der 
Betonung der Gefahrlosigkeit der Injection 
für das Allgemeinbefinden. Von patho¬ 
logischen Folgezuständen wird von B£kess 
<1. c.) zwei mal Urticaria angegeben, doch 
scheint es zweifelhaft, ob man diese Erup¬ 
tion bei den Kindern als unbedingte Thio- 
sinamin-Wirkung anzusehen hat, da Urti¬ 
caria ja bekanntlich durch soviel andere 
^Ursachen £ hervorgerufen werden kann. 

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Keitel 19 ) berichtet über einen Fall von 
Hautanästhesie nach Thiosinamin-Injection; 
doch auch hier muss es zweifelhaft er¬ 
scheinen, ob man diese Nervenläsion auf 
Thiosinamin oder auf die Injektion als 
solche, zu beziehen hat, zumal da ja auch 
nach Injektionen von Aether und Antipyrin 
(Falk, Möbius) ganz ähnlich Anästhesie 
beobachtet worden ist. Ueber einen Fall 
von Hautanästhesie und Parästhesie be¬ 
richtet Glas 20 ); doch auch er schiebt dies 
einer zufälligen Läsion des entsprechenden 
Hautnerven (N. cutaneus antebrachii me- 
dialis) zu. 

Von deutschen Klinikern hat besonders 
Schweninger 21 ) das Thiosinamin ange¬ 
wendet und mehrfach warm empfohlen. 

In der Hautklinik und Poliklinik der Königl. 
Charite ist das Thiosinamin seit 1893 häufig 
und erfolgreich angewendet worden und 
zwar hauptsächlichst in Form einer 15% 
alkoholischen Lösung; diese Concentration. 
hat sich am meisten bewährt Man kann 
wässerige Lösungen (10 %) anwenden, 
doch haben diese den Nachtheil, dass sich 
das Thiosinamin beim Stehen wieder ab¬ 
scheidet und vor jedesmaligem Wieder¬ 
gebrauch neu erwärmt werden muss und 
dass seine Wirkung nicht so zuverlässig 
erscheint, wie bei alkoholischen Lösungen; 
das letztere glaubten wir auch bei inner¬ 
lichem Gebrauch (Pillen) constatieren zu 
müssen, doch soll über diese beiden letzten 
Anwendungsweisen kein endgültiges Urteil 
gefällt werden, da die Versuche noch nicht 
abgeschlossen sind und andere Autoren 
günstiger berichten. ZB. fertigte sich Sil- 
ferskiöld 22 ) eine 5proc. Warmwasser¬ 
lösung an; davon eine 5proc. Lösung in 
0,5proc. Carbolsäure. Er lobt die Halt¬ 
barkeit und Schmerzlosigkeit des Präparats. 

Eine ungünstige lokale oder allgemeine Wir¬ 
kung nach den Injektionen ist von uns in 
keinem Falle beobachtet worden. Als In- 
jectionsstelle wurde poliklinisch stets der 
Unterarm gewählt. Hebra injicierte ge¬ 
wöhnlich in den Rücken. Es wurde mit 
drei Teilstrichen der 15% Lösung be¬ 
gonnen, zweimal wöchentlich und rasch 
bis zur vollen Spritze gestiegen. In be¬ 
stimmten Fällen wurde die Injection auch 
drei bis vier mal wöchentlich, einige Male 
sogar kurze Zeit täglich gemacht; niemals 
wurde auch nur eine Spur von Schädigung 
gesehen, niemals Abscesse oder Eiterungen. 

Das Einzige, worüber von den Patienten 
geklagt wurde, war ein leichtes, kurzes 
Brennen an der Injectionstelle (Alkohol¬ 
wirkung), das aber nach ca. einer Minute 
wieder verging. 

56* 

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444 


October 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Angewendet wurde das Thiosinamin 
bei Narben ganz gleich welcher Provenienz 
(Verletzungen, Verbrennungen, Operationen 
etc.), Keloiden, Sklerodermie, bei Psoriasis 
chronica hyperplastica, bei Adhäsionen ent¬ 
zündlicher Art, bei Gelenkcontracturen, 
bei Hornhautflecken, bei hinteren Synechien 
nach Iritis. Im Laufe der Zeit drängte 
sich uns die Auffassung auf, dass die In- 
dication des Thiosinamin damit durchaus 
nicht erschöpft sein könne, sondern dass 
es wohl ermuthigend sein müsse, überall 
da im Inneren des Körpers, wo es sich um 
Narbengewebe oder ihm verwandtes Orga¬ 
nisationsgewebe (Ribbert 23 ) handelte, ja 
sogar wo Neubildungen sich einstellten, die 
auflösende Kraft des Thiosinamin zu ver¬ 
suchen. Ob es sich überall bei der Neu¬ 
bildung und Wucherung um wirkliche 
, Bildung von reichlichem neuem Zellmaterial 
handelt, oder nur um eine erschwerte Fort- 
. Schaffung des in normaler Menge sich 
bildenden (Schweninger) soll hier un- 
erörtert bleiben. In der Tat erwies sich 
diese Ueberlegung in manchen Beziehungen 
recht fruchtbar. Natürlich konnte es uns 
nicht in den Sinn kommen durch die Thio- 
sinamin-Behandlung etwa den Ablauf ma¬ 
ligner Processe aufhalten zu wollen, aber 
es war die Möglichkeit gegeben, die durch 
maligne Processe, besonders nachdem sie 
operirt und eventuell recidivirt waren, 
bedingten sehr quälenden Zustände (starre 
Narben) zu bessern und zu lindern. 

Von überaus günstiger und für das ärzt¬ 
liche Herz besonders erfreulicher Wirkung 
war das Thiosinamin bei einem Falle von 
zweimal operirtem Carcinoma linguae, der 
in einem traurigen Zustande unsere Poli¬ 
klinik aufsuchte. Ausführlich hat Eisen- 
berg 24 ) über diesen Fall berichtet. Dieser 
Erfolg musste den Gedanken nahe legen, 
an allen den Kranken, bei denen nach 
Operationen die quälenden Erscheinungen 
von Seiten der Narbe das klinische Biid 
beherrschten, die Wirkung des Thiosinamin 
zu versuchen. Es eröffnet sich hier dem 
Arzte ein weites Feld seiner Thätigkeit; 
man denke nur an die vielen Unterleibs¬ 
operationen, an Blinddarm, Gallenblase, 
Magen (Ulcus ventriculi), Tumoren der 
weiblichen Geschlechtsorgane (Myome) und 
ihrer Adnexe, an die mannigfaltigen Lage¬ 
veränderungen des Uterus, an die so 
häufigen Verwachsungen mit Rectum 
und Blase und man wird begreifen, wie 
weit das Anwendungsgebiet des Thiosin- 
amins sich erstrecken kann. Aber auch 
als prophylaktisches und präparatorisches 
Mittel muss das Thiosinamin sich erweisen. 

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Bei der absoluten Gefahrlosigkeit scheint 
es geboten, in einem Falle, wo der Chirurg 
oder der Gynäkologe zu einer Operation 
sich genöthigt sieht, wegen Beschwerden, 
die auf Verklebungen, Adhäsionen, Strängen 
etc. zurückzuführen sind (Appendicitis und 
Gallenblase) mit Thiosinamin einen Ver¬ 
such zu machen. Er kann dabei nur ge¬ 
winnen. Gelingt es nicht, die volle lösende 
Wirkung zu erzielen, so sind mindestens 
die Operationschancen durch die präpara¬ 
torische Behandlung besser geworden, 
(Myomoperationen). Es ist, wie besonders 
betont werden muss, ganz gleichgiltig, wie 
lange solche narbigen Veränderungen 
schon bestehen; wir hatten z. B. erst in 
jüngster Zeit eine Narbe am Oberschenkel, 
die einer französischen Kugel des 70 er 
Krieges ihren Ursprung verdankte, wegen 
starker Schmerzen mit Thiosinamin be¬ 
handelt und prompten Erfolg gesehen. 

Wenn nun aber trotz alledem sich ein 
operativer Eingriff als unabweisbar heraus¬ 
stellt, so ist Thiosinamin für viele aus der 
Operation sich ergebenden Folgezustände, 
als welche hauptsächlich sich eben die aus 
der Narbe selbst sich entwickelnden Be¬ 
schwerden anzusehen sind, das geeignete 
Mittel. 

Der Nachweis der erweichenden und 
lösenden Thiosinwirkung, welche auf der 
Haut so sinnfällig ist, macht natürlich in 
den Körperhöhlen grössere Schwierig¬ 
keiten; ist doch schon allein die Diagnose 
adhäsiver Zustände oft nur schwer zu 
stellen, es bedarf daher grosser Sorgfalt 
und Kritik, um die Wirkung beurtheilen zu 
wollen, Es giebt ja günstige Fälle, wie 
z. B. die Aufrichtungen eines fixirten 
Uterus, wo der Einfluss der Behandlung 
dem palpirenden Finger zugänglich ist; 
in der Mehrzahl der Fälle aber liegen die 
Verhältnisse schwieriger. 

Es würde den Rahmen dieser Arbeit 
überschreiten, wenn alle die Zustände, bei 
denen Verklebungen und Adhäsionen 
innerer Organe zu Beschwerden führen, 
hier ausführlich geschildert werden sollten. 
Zwei Beispiele mögen genügen, um den 
Wert der Thiosinaminbehandlung zu er¬ 
härten, das eine betrifft die Frage der 
Gallensteinoperationen, das andere be¬ 
stimmte Fälle von Stuhlverstopfung, 

W. Körte 25 ) wohl einer der besten und 
erfahrensten Kenner dieser Verhältnisse 
bemerkt bei Fixirung der Indicationen auf 
die Frage nach der Garantie der Gallen¬ 
steinoperationen, dass auf drei Arten nach 
der Operation Beschwerden Zurückbleiben 
oder von neuem veranlasst werden können. 

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October Die Therapie der 


1 . Durch Neubildung von Steinen — 
echte Recidive, 

2 . dadurch, dass Steine übersehen 
werden, unechte Recidive, 

3. durch Verwachsungen, welche nach 
der Operation Zurückbleiben. 

Die beiden ersten Punkte interessiren 
uns hier nicht, obgleich adhäsive Vorgänge 
zu echten Recidiven führen können; wohl 
aber der dritte. Von ihnen sagt Körte, 
dass die dritte Art der Nachbeschwerden, 
die von Verwachsung herrührenden in der 
Regel nach der Operation zunächst bleiben. 
Sehr treffend weist er auf die Eigenschaft 
der Serosa hin, Verklebungen zu bilden, 
auf denen ein grosser Teil der Sicherheit 
der Bauchoperationen beruht. „Gegen 
diese Art der Nachbeschwerden, haben wir 
vor der Hand kein sicheres Mittel, freilich 
sind dieselben fast stets nicht in Vergleich 
zu stellen mit den vor der Operation be¬ 
standenen Qualen, und sie bessern sich 
stets mit der Zeit. Es giebt allerdings 
unter den Gallensteinkranken besonders 
unter denen weiblichen Geschlechts solche, 
deren Nervensystem durch jahrelange 
Schmerzen krank geworden ist, so dass 
auch nach Entfernung der Steine bezw. 
der kranken Gallenblase, eine Hyperästhesie 
der Gegend bleibt, welche sie die von den 
Adhäsionen herrührenden Beschwerden 
sehr lebhaft empfinden lässt.“ 

In allen solchen Fällen sollte man einen 
Versuch mit der gefahrlosen Thiosinamin- 
behandlung machen; man wird sicherlich 
Linderung der postoperativen Beschwerden 
erreichen. 

Als zweites Beispiel mögen uns einige 
Fälle von Stuhlverstopfung beschäftigen 
(Ebstein). 86 ) Es ist bekannt, dass sich 
mit besonderer Vorliebe an den Krüm¬ 
mungen des Colons die chronischen par¬ 
tiellen Peritonitiden entwickeln, welche die 
chronische Coprostase so sehr begünstigen 
und von denen Virchow 27 ) annimmt, dass 
sie ihrerseits der Entstehung dieser ent¬ 
zündlichen Prozesse sehr Vorschub leisten. 
In diese Kategorie der hier in Betracht 
kommenden umschriebenen chronischen 
Peritonitiden gehören auch die als Ad- 
häsiones peritoneales inferiores beschrie¬ 
benen Krankheitsprozesse. Gersuny und 
nach ihm Alteneder 28 ) haben diesen Ent¬ 
zündungen die gebührende Aufmerksamkeit 
zugewendet. Es sind hier als von beson¬ 
derer Wichtigkeit die Adhäsionen am 
Wurmfortsatz hervorzuheben, welche er- 
fahrungsgemäss auch vergesellschaftet mit 
Affectionen der weiblichen Genitalien Vor¬ 
kommen. Neben diesen Adhäsiones e peri- 

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Gegenwart 1903. **5 


typhlitide chronica sei hier als andere 
Form der Adhäsiones inferiores der gleich¬ 
artigen Veränderungen links an der Flexura 
sigmoidea gedacht. Indem wir das Krank¬ 
heitsbild selbst übergehen, soll nur er¬ 
innert werden, dass als objectiv wahr¬ 
nehmbare Zeichen beim weiblichen Ge¬ 
schlecht recht oft in Form von Strängen 
tastbare und durch Lageveränderungen 
erkennbare Adhäsionen zu finden sind. 

In einer anderen Gruppe von Fällen hat 
bereits R. Virchow (1. c.) für viscerale 
Neuralgien in Adhäsionen des Dickdarms 
die wirksame anatomische Grundlage ge¬ 
funden. Ebstein sagt: die sachgemässe 
Diagnose führt uns dann auch hier bei der 
Erfolglosigkeit einer anderen Behandlung 
zu einer erfolgversprechenden operativen 
Behandlung. 

Nach dem, was über die Thiosinamin- 
wirkung bisher gesagt ist, scheint es 
ermuthigend, in allen solchen Fällen von 
Constipatio, deren Ursachen in Verwach¬ 
sungen bestehen, in Verbindung mit an¬ 
deren diätetischen und sonstigen Maass¬ 
nahmen, auf die hier nicht näher einge¬ 
gangen werden kann, das Thiosinamin in 
Anwendung zu bringen. 

Nach der Seite der Neubildungen waren 
von grossem Interesse unsere mit Thiosin¬ 
amin bei Rhinophym, jener späten und 
schweren Form der Acme rosacea erzielten 
Erfolge. Pathologisch-histologisch bestehen 
die lappigen und geschwulstartigen Neu¬ 
bildungen der Kupfernase (sogenannte 
Acme rosacea dritten Grades) (Kaposi) 29 ) 
aus neugebildeten gallertartigem Gewebe, 
welches wohl einer Organisation zu festem 
bleibendem Bingegewebe fähig ist, aber 
ebenso gut auch zur Schrumpfung und 
Resorption gelangen kann (Kaposi); doch 
gilt letzteres nur für die jüngeren Pro¬ 
duktionen. Hierzu kommt eine Ausdeh¬ 
nung und Hypertrophie der Talgdrüsen, 
Neubildung von Gefässen, Erweiterung vor¬ 
handener, oberflächlicher, aber auch tiefe¬ 
rer Gefässe (Corium); es kommt zu Telean- 
giectasieen u. s. w. Unsere Hilfsmittel 
diesem entstellenden Leiden gegenüber 
bestanden bisher nur in der rein chirur¬ 
gischen Behandlung, Excisionen, Abschnü¬ 
rung, Abtragung mit dem Messer. Thio¬ 
sinamin vermag in Verbindung mit anderen 
Maassnahmen, die gleich besprochen wer¬ 
den sollen, zu erheblichen Verkleinerungen 
solcher Nasen zu führen. Einer Allgemein¬ 
behandlung, wie wir sie bei Rosaceakran¬ 
ken stets einleiten, bestehend in Regelung 
der Diät, Verdauung, aller Ausscheidungen. 
Anregung des Stoffwechsels, Massage des 


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446 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


Unterleibs und der Nase, heisse Bäder, 
locale Scarificationen führen eben in den 
schwersten Formen dritten Grades 
nicht mehr allein zum Ziel; aber sie können 
eine Thiosinaminbehandlung auf das wirk¬ 
samste unterstützen und dürfen auf keinen 
Fall unterbleiben. Wir haben unter solchem 
Regime erfreuliche, auch die Ansprüche 
der Aesthetik befriedigende Besserungen 
von Rhinophym gesehen. Im Anschluss 
hieran verdienen die Mittheilungen Erwäh¬ 
nung, welche Glas (1. c.) über seine Thio- 
sinaminerfahrungen bei Rhinosclerom ver¬ 
öffentlicht hat. 

Angeregt durch die Erfolge, welche 
Teleky (1. c.) bei Oesophagustricuren und 
Kaufmann bei perigastrisch entzündlicher 
Schwellung erzielt hatte, versuchte er das 
Thiosinamin bei einer Anzahl Rhinosklerom- 
kranker und zwar theils in Form von In- 
jectionen, theils innerlich, letzteres bei 
Frauen. Er erreichte, dass die Gewebs- 
massen weicher und dehnbarer wurden, so 
dass dieTubagirung resp.Bougirung leichter 
gelang. Doch betont er, dass Thiosinamin 
nur als Adjuvans der mechanischen Thera¬ 
pie anzusehen, ohne die letztere nicht von 
Einfluss sei. Auch in einem Falle von 
tertiärer Lues des Pharynx sah er vom 
Thiosinamin günstige Beeinflussung der 
narbigen Stränge. Von besonderem Inter¬ 
esse in seiner Mittheilung ist aber, dass er 
zum erstem Male einen histologischen 
Beitrag zu der Thiosinaminfrage zu liefern 
in der Lage ist. Er bringt den histolo¬ 
gischen Befund eines mit Thiosinamin be¬ 
handelten, rhinoskleromatösen Gewebs- 
stückes, welches mittels Laryngofissur ent¬ 
fernt worden war. „In diesem Stückchen 
finden wir zahlreiche Rundzellen, dazwischen 
eingesprengt eine Anzahl epithelioider 
Zellen, in geringer Menge hyalin degene- 
rirte und Mikuliczsche Formen. Auffallend 
sind die das Granulationsgewebe weithin 
durchziehenden Bindegewebsstränge,welche 
eine von anderweitigem Narbengewebe ab¬ 
weichende Gestaltung zeigen. Die Grenzen 
der einzelnen Bindegewebsfasern sind auf¬ 
fallend undeutlich, die einzelnen Konturen 
verwischt, die Bindegewebskerne an ein¬ 
zelnen Stellen weit von einander abge¬ 
drängt, der ganze Strang zeigt ein stark 
gequollenes Aussehen, die Bindegewebs¬ 
fasern sind wulstig und gedehnt.“ 

Fragen wir nun, wie wir diese merk¬ 
würdige Eigenschaft des Thiosinamin zu 
erklären haben, so ist zur Zeit eine be¬ 
friedigende Antwort darauf nicht zu er¬ 
teilen. Es lag der Gedanke nahe, beim 
Thinosinamin als einem Derivate des Senf- 

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Öles an die acut hyperämisirende, irriti- 
rende, blasenerzeugende Wirkung des Senf¬ 
öles zu denken, etwa in der Weise, dass 
das Thiosinamin, ein chemisch verändertes 
Senf öl, vielleicht sich einen microchemischen 
Rest dieser Eigenschaft bewahrt hat, welche» 
wenn auch der groben Beurtheilung und 
Betrachtung nicht zugänglich, dennoch im 
Stande ist, auf die Zellen im lympha- 
gogen Sinne einzuwirken. 

Das von allen Forschern constatirte 
Fehlen jeder besonderen localen Reaction, 
einige ganz verschwindende Fälle ausge¬ 
nommen, der fieberfreie Verlauf lässt die 
Analogie mit dem Tuberkulin nicht für die 
Deutung der Vorgänge verwerten, eher 
wird man an das Cantharidin, dessen noch 
nicht genug gewürdigte Wirkung uns 
Liebreich vermittelt hat und an das 
Teucrin (von Mosettig) erinnert. Auch 
beim Cantharidin fehlt die locale Reaction 
und auch das im Blute kreisende Cantha¬ 
ridin sucht sich gleichsam mit Kennerblick 
den Locus affectus auf, während es den 
Organismus ohne jede Einwirkung verlässt, 
wenn ein solcher fehlt. Ich spreche natür¬ 
lich von nicht toxischen Dosen. 

Ueber sehr interessante Versuche be¬ 
richtet Döllken 8°) aus dem pharmalogi- 
schen Institut zu Marburg. Er untersuchte 
neben einer Reihe verwandter Stoffe, wie 
Harnstoff, Sulfoharnstoff, Phenylsolfoharn- 
stoff u. s. w. vor allem die Wirkung des. 
Thiosinamin und zweier isomerer Sulfo- 
harnstoffderivate, nämlich Propylenpseudo- 
thioharnstofl und Propylenthioharnstoff. Er 
konnte Langes 81 ) Angaben über Thiosin¬ 
amin bestätigen, dass Frösche nach Thio- 
sinaminvergiftung tagelang anhaltendes 
Anasarca bekommen. „Bei Kaninchen 
zeigte sich Zittern, später Schläfrigkeit und 
Apathie. Hunde bekommen Erbrechen, 
Speichelfluss, verlangsamte tiefe Respi¬ 
ration, Zittern, Mattigkeit, Schlafsucht 
Japanische Ratten boten nach subcutaner 
Injection von 0,05 eine tiefe Narkose mit 
ruhiger verlangsamter Athmung. Kein 
prodomales Aufregungsstadium. Die Ratten 
gingen ein; Sectionsbefund wie bei Lan ges 
Kaninchen und Hunden: Lungenödem und 
Hydrothorax.“ Zunächst wurde pharma- 
kolologisch ein Einfluss auf die Respiration 
constatirt, ferner erst eine Erregung des 
Centralnervensystems, danneineHemmung 
seiner Function und zwar ist beim Thio¬ 
sinamin langsame Resorption nötig. 

Richter (1. c.) untersuchte den Einfluss 
des Thiosinamin auf das Blut. Er fand un¬ 
mittelbar nach der Injection raschen Abfall 
der Leukocythen (Leukolyse, Löwitt) 82 ), 

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October 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


447 


vier Stunden nach derselben Ansteigen bis 
zur deutlichen Leukocythose. Der Haemo- 
globingehalt wurde in neun von elf Fällen 
vermehrt gefunden. Die Eigenschaft, diese 
Leukolyse mit darauffolgender Leukocytose 
herbeizuführen, haben eine grosse Menge 
von Körpern, wie Hemialbumose, Pepton, 
Pepsin, Nucleinsäure, Nuclein, Blutegel- 
extract, ferner Bakterienproteine, wie Pyo¬ 
cyanin, Tuberkulin, dann Curare, Harnstoff, 
Harnsäure, harnsaures Natron. Allen ge¬ 
meinsam ist das Prinzip der Reizung durch 
die Circulation in dem erkranktem Gewebe 
(Spiegler) 33 ) und zwar ist nachLöwitt (l.c.) 
die Leukolyse als Ursache der später ein¬ 
tretenden Leukocytose anzusehen, indem 
neue Blutelemente aus den blutbereitenden 
Organen in den Kreislauf einströmen. Viel¬ 
leicht spielen hier chemotaktische Wir¬ 
kungen von Stoffen eine Rolle, die vom 
Standpunkt der chemischen Anlockung 
(positiverChemotropismus, Grawitz)* 4 ) auf¬ 
gefasst, auf Bewegung und Ansammlung 
der Leukocyten im Tierkörper Einwirkung 
haben. Für Bakterien, Flagellaten und 
Volrocineen, ist dieser Beweis schon längst 
erbracht (Pfeffer)* 5 ). Es muss der Zukunft 
überlassen bleiben, den geheimnissvollen 
Vorgang, wie er sich bei der Thiosinamin- 
wirkung abspielt, noch näher aufzuklären. 

Fassen wir nun aber das Gesagte noch 
einmal kurz zusammen, so lassen sich 
folgende Leitsätze aus Litteratur und 
eigenen Erfahrungen entwickeln: 

1 . Das Thiosinamin ist als ein für den 
Gesammtorganismus unschädlicher Stoff 
anzusehen, 

2 . seine Anwendungsweise geschieht 
vorläufig am Zweckmässigsten in Gestalt 
von subcutanen Injectionen 15% alkohol¬ 
ischer Lösungen, welche vor wässerigen 
der zuverlässigen Wirkung wegen den 
Vorzug verdienen. Ueber innerliche Dar¬ 
reichungen ist das Urteil noch auszusetzen. 
Die Anwendung in Form von Pflastermullen 
(Una) kann zu heftigen Reizungen führen, 
ist aber in geeigneten Fällen zu ver¬ 
suchen, 

3. eine Erklärung seiner elektiven 
Wirkung ist zur Zeit nicht zu geben. 

4. Indiciert ist seine Anwendung 

a) bei allen narbigen Zuständen der 
äusseren Haut und des inneren Körpers, 
ganz gleich, welcher Provenienz die Narbe 
ist, so ist es erfolgreich bei allen Haut¬ 
narben, Verbrennungen, Lupus, Carcinom, 
bei Adhäsionen, Verklebungen, Verwachs¬ 
ungen innerer Organe untereinander und 
mit serösen Häuten, ferner bei Keloiden 
und Sklerodermie und Rhinophym, 

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b) als präparatorisches Mittel vor Ope¬ 
rationen, welche wegen gefährlichen Ver¬ 
wachsungen Schwierigkeiten bereiten, 

c) als narbenerweichendes Mittel nach 
Operationen, wo die Narbe die Ursache 
der postoperativen Beschwerden ist, 

d) in der Augenheilkunde bei alten 
Hornhautflecken, Cataract, iritischen Ver¬ 
wachsungen (hintere synechie), Chorioiditis 
disseminata exsudativa. 

e) bei jenen Fällen von Schwerhörigkeit 
und Taubheit, die durch fibröse Massen 
und narbige Veränderungen im inneren 
Ohr (Paukenhöhle) verursacht werden. 

4) Seine Anwendung ist contraindiciert 
oder nur mit grosser Vorsicht erlaubt, 
wenn die Möglichkeit vorliegt, dass acute 
oder eben abgelaufene entzündliche Prozesse 
durch ihr Aufflammen dem Organismus 
Gefahr bringen könnten (frische Keratitis). 

Liegt eine Propagation der Entzündung 
in Rahmen der therapeutischen Absicht, 
steht seiner Anwendung nichts im Wege. 

Litteratur. 

1) H. v. Hebra, Verhandlungen des II. in¬ 
ternationalen Dermatologencongresses, Wien 

1892, S. 413ff. Unna’s Monatshefte für prac- 
tische Dermatologie, 1892, Bd. XV, S. 43211. 
Archiv für Dermatologie, Bd. XLVIII, S. 120. 

— 2) Liebreich -Mendelsohn, Encyclopädie. 

— 3) v. Hoorn, Monatshefte für pract. Derma¬ 
tologie 1894, Bd. XVIII, S. 605—607. — 4) Wiener 
klin.Wochenschrift 1893, VI, S. 103. — 5) Prager 
medicin. Wochenschrift 1893, No. 39. — 6)Archiv 
für Kinderheilkunde 1895. S. 439ff. — 7) Mer¬ 
tens. Archiv für Dermatologie 1895, Bd. XXX, 

S. 122. — 8) New-York med. Journal 1896, LXIII, 

S. 579-582 und 1897, LXIV, S. 624 - 628. — 9) 
New-York med. Journal 1897 vom 20. März 1897. 

— 10) Wiener med. Presse 1893, S. 286, — 11) 
Suker, Ref. im Centralblatt für Augenheil¬ 
kunde 1898, S. 515. — 12) Richter, Wiener 
med. Wochenschrift 1893, Bd. XLIII, S. 28. — 

13) R u o f f, Thiosimamin in der Augenheilkunde. 

The Boston med. and sury report 1898, 16. Mai. 

— 14)Scholtz, Archiv für Dermatologie Bd. LIII, 

S. 395. — 15) Lion, Archiv für Dermatologie, 
Bd.LIV, S. 366. — 16) Teleky, Centralblatt für 
die Grenzgebiete der Medicin und Chirurgie 
1901, No. 1, S.32ff. — 17) Juliusberg, Deutsche 
medicinische Wochenschrift 1901, No.35, S.591 ff. 

— 18) Sachs, Wiener klin. Wochenschrift 1905, 

No. 5, S. 111. — 19) Keitel, Charitöannalen 

1893, Bd. XVIII, S. 639. — 20) Glas, Wiener 

klin. Wochenschrift 1903, No. 11, S. 310. — 21) 
Schweninger, Charit6annalen 1898, No. 25 
und Jahresberichte des Lichterfelder Kreiskran¬ 
kenhauses 1902—1903. — 22) Silverskiöld, 
Virchow - Hirsch, Jahresbericht 1896, 1, 

S. 354. — 23) Ribbert, Lehrbuch der patho¬ 
logischen Histologie 1901, S. 77ff. — 24) Eisen- 
berg, Charit6annalen 1898, No. 25, S. 524. — 

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448 


Octobei 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


25) Körte, Deutsche mcdicinische Wochen¬ 
schrift 1903, No. 15. S. 262. — 26) Ebstein, 
Stuhlverstopfung 1901, S. 47fF u. S. 109tT. — 27) 
Virchow’s Archiv, Bd. 1853, S. 281 ff. — 28) 
Alteneder, Zeitschrift f. Heilkunde 1901, Bd. 
XXII, Heft 3, S. lOff. — 29) Kaposi, Eulen- 
burgs Realencyclopädie. — 30) Döllken, Ar¬ 
chiv für exper. Pathologie 1897, Bd. XXVIII, 


S. 321ft. — 31) Lange, Dissertation Rostock 
1894. — 32) Löwitt, Physiologie des Bluts 
und der Lymphe. Jena 1892, S.24. — 33) Spieg- 
ler, Centralblatt für klinische Medicin 1893. 
No. 36, S. 745. — 34) Grawitz, Klinische Patho¬ 
logie des Blutes 1902, S. 116. — 35) Pfeffer. 
Untersuchung aus dem Botan. Institut zu Tü¬ 
bingen, Bd. 11, S. 581 ff. 


Aus der königl. Universitäts-Poliklinik für Hautkrankheiten in Eiei. 

(Director: Prof. Dr. von Düring.) 

Die Heissluftbehandlung mit dem Vorstaedter’schen Kalorisator. 

Von Dr. Fr, Beringt Assistent der Poliklinik. 


Schon seit einer Reihe von Jahren ist 
die Behandlung mit heisser Luft ein wich¬ 
tiger Factor der modernen Therapie. Seit 
Klado tuberkulöse Kniegelenke zur Be¬ 
handlung in einen Backofen brachte, sind 
eine Menge verschiedener Apparate ge¬ 
baut worden, um die heisse Luft zu Heil¬ 
zwecken zu verwenden. Unter ihnen sind 
die bekanntesten die von Quincke, 1 ) 
Bier 2 ) und Ullmann. 3 ) Aber alle diese 
Apparate eignen sich, so vorzüglich sie 
für den klinischen Betrieb sind, wenig für 
die ambulante Behandlung; sie sind zu 
umfangreich und oft auch zu kostspielig. 
Aus diesen Gründen haben sie in den 
Händen der praktischen Aerzte nicht die 
wohlverdiente Verwendung finden können. 
Von diesen Gesichtspunkten geleitet con- 
struierte Vorstaedter im Jahre 1900 
einen Apparat, den er Kalorisator nannte, 
der vielen Bedürfnissen gerade der Sprech¬ 
stunde des praktischen Arztes vollkommen 
entspricht. 

Auch in der hiesigen dermatologischen 
Poliklinik ist der Kalorisator, welcher die 
heisse Luft in Form von Luftdouchen auf 
die betreffenden Körperstellen applicirt, 
in Gebrauch. Mit ihm wurden bei Tricho- 
phytia profunda und Sycosis coccogenes*), 
welche beide in Folge ihrer grossen Hart¬ 
näckigkeit und Erfolglosigkeit aller thera¬ 
peutischen Maassnahmen den Arzt oft 
rathlos machen, Versuche gemacht. 

Nachdem gerade der erste Versuch, 
welcher einen Fall betraf, in dem der Pa¬ 
tient bereits seit mehreren Monaten die 
verschiedensten Heilmittel vergebens an¬ 
gewandt hatte, von einem auffallend gün¬ 
stigen Erfolg gekrönt war, wurde die Sy¬ 
cosis immer mit dem Kalorisator behan¬ 
delt und immer mit demselben guten Er¬ 
folg. 

*) Wir bezeichnen als Trichophytia profunda die 
alte Sycosis parasitaria, als Sycosis coccogenes die 
S. non parasitaria 


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Diese guten Resultate mögen zu einer 
kurzen Mittheilung berechtigen, und im 
Verein mit der Billigkeit und Handlichkeit 
des Apparates dazu beitragen, dass dieser 
in der Praxis gerade bei solchen hart¬ 
näckigen Affectionen immer mehr Verwen¬ 
dung finde. 

Fall 1. Carl Sch. 31. Mai. Patient leidet 
angeblich bereits seit 3 Monaten an Tricho¬ 
phytia profunda und will auf Anraten verschie¬ 
dener Aerzte mit Jodpinselungen, Sublimat¬ 
umschlägen und Kataplasmen behandelt wor¬ 
den sein. 

Kinn und Wangen sind in ganzer Ausdeh¬ 
nung mit rundlichen, erhabenen, schmutzigroth 
verfärbten, framboesieartigen, sehr schmerz¬ 
haften, auf ihrer Oberfläche stellenweise mit 
Krusten überlagerten Tumoren bedeckt, zwi 
sehen denen vereinzelte kleine Knötchen mit 
verklebten Haaren hervorragen. Nach Aufwei¬ 
chung der Borken fühlt man unter entzündlich 
geröteten Stellen feste, in die Tiefe gehende 
Infiltrate, welche auf Druck Eiter entleeren. 

Diagnose Trichophytia profunda, die noch 
durch die mikroskopische Untersuchung bestä¬ 
tigt wurde. Die Haare werden kurz geschoren, 
die Borken mit Oel aufgeweicht. Sodann wird 
Patient täglich ungefähr eine Stunde lang mit 
dem Kalorisator behitzt. Schon nach wenigen 
Tagen lässt die anfangs sehr starke Eiterung 
nach. Nach kaum 4 Wochen sind alle Infiltrate 
unter Bildung von glatten Narben geheilt. 

Patient wird am 5. Juni aus der Behand¬ 
lung entlassen. Kein Recidiv. 

Fall 2. Ernst Fr., 15. Mai. Auf der linken 
Wange disseminirt stehende, ungefähr linsen¬ 
grosse secernirende Pusteln, welche innerhalb 
der letzten acht Tage entstanden sein sollen, 
ganz vereinzelt auch mit Krusten bedeckt. Die 
Infiltrate sind nur oberflächlich. 

Diagnose: Trichophytia profunda. 

Behandlung: Kurzschneiden der Barthaare, 
Verbot des Rasirens, tägliche Bestrahlung mit 
dem Kalorisator 20 Minuten lang. Vollständige 
Heilung nach acht Tagen. Kein Recidiv. 

Fall 3. Wilhelm Fr., 17. Mai. Beide Wan« 
i gen und Kinn sind besät mit einer Menge 
I kleiner Eiterpustelchen von Stecknadelkopf- 


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449 


Octobrr Die Therapie der Gegenwart 1903. 


bis Linsengrösse, aus deren Mitte je ein Haar 
ragt; ganz vereinzelt zusammenfliessende 
Pusteln mit oberflächlicher Infiltratbildung. 
Das Leiden soll bereits seit U/2 Jahren be¬ 
stehen und von dem Patienten selbst mit 
Schwefelsalben behandelt worden sein. Dia¬ 
gnose Sycosis coccogenes. 

Patient wird täglich */* Stunden lang be- 
hitzt. ^Venn an einer Stelle die Pusteln ver¬ 
schwunden sind, treten in der Umgebung gleich | 
wieder neue auf. Nach einer verlängerten I 
Sitzung einmal eine Brandblase von der Grösse 
eines Markstückes. Am 24. Juni wird Patient 
geheilt entlassen; doch kommt er schon am 
30. Juni wegen eines Rccidivs wieder. Nach 
einer abermaligen Behandlung von 3 Wochen 
wird Patient am 20. Juli geheilt entlassen. 

Bis zum 26. August kein Rccidiv. 

Fall 4. Curt T., 24 Juni. Auf der rechten 
Wange und an der rechten Halsseite eine ge¬ 
ringe Menge kleiner mit Krusten bedeckter 
Knötchen, die innerhalb 10 Tagen entstanden 
sein sollen. 

Diagnose: Trichophytia profunda. 

Täglich l jt Stunde langBehitzung mit Heiss¬ 
luft. Nach 8 Tagen wird Patient geheilt ent¬ 
lassen. Kein Recidiv. 

Fall 5. Ernst Sch. 24. Mai. Wangen und 
Kinn sind voller fester, tiefer, mit harten Borken 
bedeckter, confluirender schmerzhafter Infiltrate, 
die innerhalb 5 Wochen entstanden und bis 
jetzt mit Jodpinselungen ohne Erfolg behandelt 
sein sollen. 

Diagnose: Trichophytia profunda. 

Behandlung: Aufweichen der krustösen 
Massen, Kurzscheeren der Barthaare und Be¬ 
strahlen mit dem Kalorisator. 

28. Juli. Die Infiltrate sind zum grossen 
Teil verschwunden und nur noch wenig 
schmerzhaft; keine Eiterung mehr. Patient 
muss wegen einer nothwendigen Reise 8 Tage 
die Behandlung aussetzen. Rückkehr am 5. Juli. 
Wesentliche Verschlimmerung; Behandlung 
wird wieder aufgenommen. Am 24. Juli wird 
Patient geheilt entlassen; überall glatte Narben. 
Kein Recidiv. 

Fall 6. Otto W„ 16. Juni. Fünf linsen¬ 
grosse mit Krusten bedeckte Pusteln am Kinn, 
die seit wenigen Tagen bestehen sollen. 

Diagnose: Trichophytia profunda. 

Nach täglicher Behitzung mit dem Kalori¬ 
sator wird Patient am 21. Juni geheilt entlassen. 
Kein Recidiv. 

Fall 7. Hermann Kl., 29. Juni. Am Kinn 
ein Fünfmarkstückgrosses tiefes, mit einer 
dicken Borke . bedecktes, sehr schmerzhaftes 
Infiltrat, welches angeblich seit ungefähr 
6 Wochen besteht. Die übrigen Theile des 
Gesichtes sind frei. 

Diagnose: Trichophytia profunda. 

Aufweichung der Borken; täglich l /i Stunde 
lang Bestrahlung der erkrankten Stelle. Am 
10. Juli wird Patient geheilt entlassen. Kein 
Recidiv. 


Fall 8. Paul Kl., 7. Juli. Beide Wangen 
voller kleinster bis erbsengrosser theilweise mit 
Krusten bedeckter Pusteln Das Leiden be¬ 
steht angeblich seit 10 Tagen. 

Diagnose: Sycosis coccogenes. 

Patient wird täglich 3 / 4 Stunden lang be- 
hitzt. Am 20. Juli geheilt entlassen. 

Fall 9. Br., 20. Juli. Auf der linken Wange 
und an der linken Halsseite vereinzelt stehende, 
mit Borken bedeckte, theilweise confluirende 
Pusteln, die innerhalb weniger Tage entstan¬ 
den sein sollen. 

Diagnose: Trichophytia profunda. 

Täglich 1 ,a Stunde lang Behitzung mit dem 
Kalorisator. Am 29. Juli wird Patient geheilt 
entlassen. 

Fall 10. V. CI., 24. Juli. Auf der rechten 
Wange ein fast die halbe Wange einnehmen¬ 
des, mit dicken Krusten bedecktes Infiltrat, 
welches sehr tief geht und schmerzhaft ist. 
An Kinn und Hals vereinzelte Knötchen. Pa¬ 
tient will sich vor ungefähr 5 Wochen an einem 
Rind inficirt haben. 

Diagnose: Trichophytia profunda. 

Behandlung: Das Infiltrat wird in seiner gan¬ 
zen Ausdehnung mit dem scharfen Löffel aus¬ 
gekratzt. Die kleinen Knötchen, nach zwei Tagen 
auch schon die Wundränder, werden mit dem 
Kalorisator behitzt. Patient ist zur Zeit noch in 
Behandlung. Die Wunde granulirt gut; Re- 
cidive scheinen nicht aufzutreten, sodass Patient 
voraussichtlich in wenigen Tagen geheilt ent¬ 
lassen werden kann. 

Fall 11. Otto J., 28. Juli. Die rechte Kopf- 
i hälfte ist bedeckt mit einer Menge linsen- bis 
fünfmarkstückgrosser rundlicher, wenig scharf 
begrenzter Scheiben, in denen kleine Knötchen 
und Bläschen, theilweise mit Krusten bedeckt, 
stehen. 

Diagnose: Herpes tonsurans. 

Die Haare werden kurz geschoren und der 
Kopf täglich Vs Stunde behitzt. Nach 6 Tagen 
wird Patent geheilt entlassen; auch mikrosko¬ 
pisch sind keine Pilze mehr nachweisbar. 

Bis auf den Fall 3 war die Wirkung 
des Kalorisators eine sehr prompte. Hier¬ 
bei handelte es sich, wie bereits oben 
erwähnt, um eine sehr hartnäckige Sycosis 
coccogenes, die bereits D /2 Jahre bestand. 
Auch im Falle 1 war die Trichophytia 
profunda schon Monate alt. Aber hier 
trat dennoch, wie in all den andern Fällen 
von trichophytia profunda, die Wirkung sehr 
schnell ein. Die Sycosis coccogenes er¬ 
fordert eine längere Heissluftbehandlung; 
jedoch wird auch hier bei etwas Geduld 
stets Heilung erzielt — Jedenfalls schneller 
als wir es bei anderen Methoden erleben. 

Für die Behandlung der Sycosis mit 
Heissluft vermittels des Vors taedter sehen 
Kalorisators lassen sich in kurzem folgende 
Grundsätze aufstellen: Die Barthaare werden 
kurz geschoren, aber auf keinen Fall 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


rasirt: jede Stelle wird täglich eine Viertel¬ 
stunde lang behitzt bei der höchsten Tem¬ 
peratur, welche von dem Patienten vertragen 
wird. Ohne sonderliche Schmerzempfindung 
kann sie auf 95—110, ja sogar darüber 
hinaus gesteigert werden; die höchst er¬ 
reichbare ist 160—170Grad. Neu auftretende 
Infiltrate werden sofort behitzt und so ge¬ 
radezu coupirt. Ausser desinficirenden 
Waschungen mit Kamillenaufguss und 
Borsäurelösung, sowie leichter Puderung 
mit Amylum wurde keine weitere Therapie 
angewandt. 

Die Wirkung dürfte wohl eine doppelte 
sein. So hohe Temperaturen wirken schon 
direct microbicid, sowohl auf die Coccen, 
wie auf die Hyphomyceten. Dann aber 
tritt infolge Erweiterung der Hautgefässe 
eine sehr starke Hyperaemie und dadurch 
eine reichliche Blutcirculation ein. Hier¬ 
durch tritt einerseits die bactericide und 
globulicide,. andererseits die resorptive 
Fähigkeit des Blutes in Thätigkeit; d. h. 
die Produkte der Entzündungserreger 
werden fortgeschleppt, zugleich aber auch I 
die zum Aufbau des Gewebes notwendigen i 
Stofte zugeführt. Diese Wirkung der j 
heissen Luft wird vielleicht mechanisch ; 
noch dadurch unterstützt, dass infolge der 
Krustenbildung die Haare mit den daran 
sitzenden Mikroorganismen von ihrer Unter¬ 
lage abgehoben werden und diesen somit i 
der nöthige Nährstoff entzogen wird. 

Leichte oberflächliche Verbrennungen 
wurden bei uns nur wenige Male beobachtet; 
sie waren aber ohne Bedeutung und ver¬ 
zögerten die Heilung nicht. Trotz der 
reichlichen Transpiration erfolgt infolge 
der hohen Temperatur eine sehr schnelle 
Verdunstung des secernirten Schweisses 
und so eine fast vollständige Austrocknung 
der Haut. Aus diesem Grunde werden 
Verbrennungen wohl selten auftreten. 

Des auffallenden Erfolges halber sei 
noch ein Fall von hypertrophischer Psoriasis 
erwähnt. Der betreffende Patient hatte 
Anfangs vorigen Jahres eine universelle 
Psoriasis durchgemacht; 3 Stellen im Rücken 
waren nicht ganz zurückgebildet und 
stellten warzenähnliche, wie grosse hyper- 
trophirende, teilweise confluirende lichen- 
plaques aussehende Gebilde dar, die keiner 
Behandlung weichen wollten. Auch diese 
wurden mit dem Kalorisator jeden dritten 
Tag behitzt, und unter ständigem Ab¬ 
schuppen ist jetzt nach 2 monatlicher Be¬ 
handlung eine Stelle vollständig verschwun¬ 


den, während die beiden andern noch 
leichte Erhabenheiten aufweisen, aber doch 
zweifellos in voller Resorption sind. 

Wir Dermatologen müssen jede physi¬ 
kalische Heilmethode, die uns von den 
unappetitlichen Salben und Fettverbänden 
erlöst, freudig begrüssen. Zweifellos lässt 
sich für einen grösseren Betrieb Prak¬ 
tischeres und Besseres hersteilen, so be¬ 
sonders die Hand durch einen mechanischen 
Betrieb ersetzen und durch eine kleine 
AenderungdasBestreichengrössererFlächen 
erreichen, als mit dem Vorstaedter’sche 
Kalorisator möglich ist. Für den Praktiker 
aber ist gerade dieser kleine billige, hand¬ 
liche Apparat, welcher von dem Medi¬ 
cinischen Waarenhaus A. G. Berlin ange¬ 
fertigt wird, von ausserordentlichem Vorteil. 
Der Bequemlichkeit wegen lasse ich hier 
eine Beschreibung und Abbildung des 
Apparates folgen; 



Ueber dem Spiritusbehälter brennt eine Flamme. 
Ein Gebläse treibt die heisse Luft durch die Oeff- 
nung eines halbkreisförmigen Spiegels in das Asbest¬ 
rohr (15 cm lang; an der MQndung 2cm im 
Durchmesser). Durch dieses wird die heisse Luft 
auf die betreffenden Hautstellen appliciert. 

Herrn Prof. Dr. v. Düring sage ich für 
die gütige Ueberlassung des Materials sowie 
für seine liebenswürdige Unterstützung 
meinen verbindlichsten Dank. 

Litteratur : 

1) Quincke, Ueber therapeutische Anwen¬ 
dung der Wärme. Berl. klin. Wochenschr. 1896, 
No. 16; 1897, No. 49. — 2) Bier, Zum Bericht 
über den Congress für innere Medicin 1901. — 
3) Uli mann, Ueber die Heilwirkung der durch 
Wärme erzeugten lokalen Hyperämie usw. 
Wiener klinisch. Wochenschrift 1901, No. 1. 
Apparat zur Application konstanter Wärme. 
Illustrirte Monatsschrift d. ärztlich. Polytechnik 
1903. —4) Vorstaedter, Eine portative Vor¬ 
richtung für aerothermische Lokalbehandlung: 
Zeitschrift für diätetische und physikalische 
Therapie 1900/01, Bd. IV, Heft 8. 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


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Ans der Allgemeinen Physikalischen Kuranstalt nnd Fango-Kuranstalt zu Berlin. 
Gonorrhoische Gelenkerkrankungen und deren Behandlung 
mit lokalen Fangoappllcationen. 

Von Dr Schuppen Hauer, Assistenzarzt der Anstalt. 


Die Lehre von der Metastasenbildung 
lokaler gonorrhoischer Affectionen (Ure¬ 
thritis, Vulvitis, Conjunctivitis gonorrhoica) 
hat sich, seitdem der Gonococcus in 
erkrankten Gelenken, Sehnenscheiden, 
Schleimbeuteln, in Haut- und Drüsen- 
abscessen, in den Auflagerungen des ul- 
cerös erkrankten Endocardiums, im Trans¬ 
sudat der Pleura und auch im strömenden 
Blute (Hewes 1 ) 1894, Ahmann 2 ) 1897) 
häufig genug mit Sicherheit nachgewiesen 
ist, zu allgemeiner Anerkennung durch¬ 
gerungen. Während die Endocarditis und 
Pleuritis gonorrhoica, sowie die Drüsen- 
und Hautabscesse seltene Lokalisationen 
sind, kommen gonorrhoische Gelenkentzün¬ 
dungen verhältnismässig häufig zur Beob¬ 
achtung. Das Bild und der Krankheits¬ 
verlauf derartig afficierter Gelenke ist ein 
mannigfaltiges, neben schnell schwinden¬ 
den, kaum schmerzhaiten, manchmal vom 
Patienten gamicht oder nur zufällig be¬ 
merkten Erkrankungen finden sich die hart¬ 
näckigsten, ausserordentlich schmerzhaften, 
mit vollständiger Zerstörung des Gelenkes 
endenden Fälle. Diese Mannigfaltigkeit 
des Krankheitsbildes hat Koenig 3 ) ver¬ 
anlasst, auf Grund des pathologisch-ana¬ 
tomischen Befundes nach der Art der Ent¬ 
zündung folgende vier Formen zu unter¬ 
scheiden: 

1 . Hydrops articularis, 

2. Hydrops articularis serofibrinosus und 
catarrhalis (Volkmann), 

3. Empyem des Gelenks, 

4. Phlegmone des Gelenks, bald mehr 
eitrig, bald mehr faserstoffhaltig. 

Diese vier Formen kommen teils rein 
vor, teils in Combination, so dass z. B. 
neben der Phlegmone des Gelenks und der 
umgebenden Weichteile in der Gelenk¬ 
höhle ein Erguss mässig getrübten oder 
stark fibrinhaltigen Serums oder eine Aus¬ 
scheidung von trockenem Fibrin oder ein 
Erguss rein eitriger Natur sich finden 
kann. 

Hewes, H. F., Two cases of gonorrhoeal 
rhcumatism with specific bacterial organisme in the 
blood. Boston med. and surg. joum. Bd. 131, 
No 21. 

*) Ahmann, G., Zur Frage der gonorrhoischen 
Allgemeininfection. Archiv für Derm. u. Syphilis. 
Bd. 39, Heft 3. 

3 ) Koenig, F., Ueber gonorrhoische Gelenk¬ 
entzündung. Deutsche med. Wochenschr. 1896, No.47. 


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Die in praxi übliche Behandlung der 
gonorrhoischen Gelenkerkrankungen er¬ 
streckt sich bekanntlich neben den Anti- 
rheumaticis im acuten Stadium auf Eis¬ 
blase, kühle oder hydropathische Umschläge, 
fixierenden Verband, Hochlagerung, im 
chronischen Stadium auf feste Verbände, 
Einreibungen, Pinselungen, warme oder 
medicamentöse Bäder, Sandbäder etc.; 
dazu kommt für bestimmte Fälle, wie für die 
Coxitis, auf Koenigs Empfehlung die Ex¬ 
tension in Anwendung. Trotz dieser vielen 
uns zu Gebote stehenden Massnahmen 
ist die Prognose in der Mehrzahl der Fälle 
ungünstig, oft genug bieten die Gelenke 
nach dem Abklingen des entzündlichen 
Processes ein trauriges Bild dar, totale 
oder partielle Ankylose, Subluxationen, 
Schlottergelenke sind besonders bei der 
häufigsten Form, der Phlegmone, garnicht 
selten. In neuerer Zeit (1898) wurde von 
Loewenhardt 1 ) als ein exquisit schmerz¬ 
stillendes Mittel, das auch den Process 
günstig beeinflussen soll, angelegentlichst 
die trockene Wärme mittelst des Heissluft¬ 
apparates für alle Formen, mit Ausnahme 
des Empyems, empfohlen. In demselben 
Jahre berichtete Davidsohn 2 ) über sehr 
gute Erfolge, die er im Laufe des Jahres 
1897 in acuten, subacuten und chronischen 
Fällen von gonorrhoischer Gelenkentzün¬ 
dung durch die Behandlung mit lokalen 
Fangoapplicationen, also mit feuchterWärme, 
erzielt hatte. Ich selbst habe in den letz¬ 
ten 1 l /j Jahren (vom 1. Januar 1902 bis 
1. August 1903) Gelegenheit gehabt, 32 Pa¬ 
tienten mit gonorrhoischer Arthritis wäh¬ 
rend der Behandlung mit lokalen Fango¬ 
applicationen genau zu beobachten. Bei 
allen diesen Fällen steht die gonorrhoische 
Natur der Erkrankung fest. Sehr wahr¬ 
scheinlich ist unter den übrigen Patienten 
der Anstalt eine grössere Zahl gewesen, 
deren Gelenkerkrankung die Folge einer 
Gonorrhoe war. Aus äusseren Gründen 
konnte — auch in manchen verdächtigen 
Fällen — auf diese Aetiologie nicht immer 
gefahndet werden, und daher kommt es 

l ) Loewenhardt, Zur Pathologie und Therapie 
der gonorrhoischen Gelenkerkrankungen. Wiener med. 

Presse. No. 45. 

9 ) Davidsohn, Hugo, Die Ergebnisse der 
Fangobehandlung nach den Erfahrungen an der Ber¬ 
liner Fango-Curanstalt. Verlag von August Hirsch¬ 
wald. Berlin 1898. 

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452 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


wohl, dass unter meinen Fällen das weib¬ 
liche Geschlecht in so kleiner Zahl ver¬ 
treten ist, nicht etwa in Folge einer ge¬ 
wissen Immunität desselben; denn die alte 
Ansicht von der Immunität des weiblichen 
Geschlechts ist ja längst zurückgewiesen, 
hatte doch Bennecke 1 ) unter 56 Patien¬ 
ten sogar 2 / s Frauen und nur Vs Männer. 
Von meinen 32 Fällen betreffen 28 das 
männliche Geschlecht, nur 4 das weibliche; 
unter diesen war ein Mädchen von 8 Jahren. 

Was das Stadium anbetrifft, in dem die 
Patienten in die Behandlung eintraten, so 
muss ich vorausschicken, dass das Kranken¬ 
material sich von demjenigen eines allge¬ 
meinen Krankenhauses sehr wesentlich da¬ 
durch unterscheidet, dass verhältnismässig 
wenig frische Fälle zur Behandlung kamen, 
dass die grössere Zahl der Patienten schon 
wochen-, ja monate- und jahrelang mit 
ihrem Leiden behaftet und ebenso lange 
mit internen Mitteln, Verbänden, Sool- 
bädern oder dergl. behandelt war. 

Was ich soeben über die Art des 
Krankenmaterials gesagt habe, brachte es 
mit sich, dass nur ein Fall von acutem go¬ 
norrhoischen Hydrops in meine Beobach¬ 
tung gekommen ist. 

Fall 1. HerrSch. Seit 10 Tagen Schmerzen 
und Bewegungsbeschränkung im linken Knie. 
Bisherige Behandlung: Intern, Jodvasogen, com- 
primierender Verband. Da unter dieser Therapie 
der Erguss nicht zur Resorption kam, zur Be¬ 
handlung mit Fango überwiesen. — Objectiver 
Befund: Linkes Knie stark geschwollen, Fluc- 
tuation. Streckung nur bis 165° ca. möglich. — 
Nach 5 Applicationen hat Patient keine Be¬ 
schwerden mehr. Im oberen Recessus noch 
geringe Flüssigkeitsansammlung. Knie kann 
ganz durchgedrückt werden. Patient bricht die 
Cur ab. 

Ein Fall von einfachem chronischen 
Hydrops kam nicht zur Beobachtung. Ge¬ 
wöhnlich nehmen ja die Fälle von acutem 
gonorrhoischen Hydrops, bei denen es sich 
also nur um einen Erguss, nicht um eine 
Schwellung der Kapsel und der Weich¬ 
teile handelt, bei der üblichen Behandlung 
in einigen Wochen einen günstigen Aus¬ 
gang, ohne eine Neigung zu Recidiven zu 
hinterlassen. 

Rein serofibrinöse Entzündungen kamen 
ebenfalls nicht zur Beobachtung. 

Die Fälle von chronischem Hydrops 
oder serofibrinöser Gelenken tzündung waren 
mit Ausnahme von Fall 1 alle mit solchen 
Veränderungen der Weichteile verbunden, 

l ) Bennecke, E., Die gonorrhoische Gelenk¬ 
entzündung nach Beobachtungen der chirurgischen 
Universitätsklinik in der Kgl Charite in Berlin. Ver¬ 
lag von August Hirschwald. 1898. 


dass man sie der phlegmonösen Form zu¬ 
rechnen muss, und zwar sind darunter 
acute und chronische, monarticuläre und 
polyarticuläre Fälle. 

Die phlegmonöse Form der gonorrhoi¬ 
schen Gelenkerkrankungen mit intensiver 
lokaler Wärmeanwendung zu behandeln, 
mag gewagt erscheinen. Loewenhardt 
aber berichtet, dass er alle Stadien der 
gonorrhoischen Arthritis — mit Ausnahme 
des Empyems — mit sehr gutem Erfolg 
mit lokaler Wärme behandelt hätte, und 
Holzmann 1 ) hat schon vor einigen Jahren 
einen Fall von gonorrhoischer Polyarthritis 
veröffentlicht, bei dem er nach vergeblicher 
wochenlanger Gabe von Salicyl und Salol 
die Behandlung mit Fangoapplicationen 
trotz Schwellung und Rötung der Gelenke 
begann und nach 8 Applicationen Heilung 
erzielte. — Trotzdem, muss ich gestehen, 
gingen wir an den ersten Fall acuter phleg¬ 
monöser gonorrhoischer Entzündung, der 
uns von einem Collegen zur Behandlung 
mit Fango überwiesen wurde, nur mit einer 
gewissen Scheu und unter genauester Beob¬ 
achtung des Patienten heran. Der prompte, 
unmittelbare Erfolg, die täglich zu verfol¬ 
gende Abnahme der Schwellung und die 
Linderung der ausserordentlich grossen 
Schmerzen zerstreuten jedoch bald die Be¬ 
denken. 

• In dem soeben angeführten Falle (2) han¬ 
delte es sich um einen Studenten P., der seit 
14 Tagen an einer Gonorrhoe und seit 8 Tagen 
an einer äusserst schmerzhaften Affection der 
linken Hand litt. Bisherige Behandlung: Ruhig¬ 
stellender Verband mit Ichthyolsalbe. Objec¬ 
tiver Befund: Sehr starke, teigige, auf Druck 
und bei den geringsten passiven Bewegungen 
äusserst empfindliche Schwellung der ersten 
Phalanx des Daumens, des benachbarten Meta- 
carpo-phalangeal- und Interphalangeal-Gelenkes. 
Active Bewegungen in diesen Gelenken unmög¬ 
lich. Am geschwollenen Handgelenk eine fünf¬ 
pfennigstückgrosse, stark druckempfindliche 
Stelle. Therapie: täglich Fangohandbad. eine 
Stunde lang, von 46° allmählich auf 51° stei¬ 
gend; leichter, ruhigstellender Verband. — Bett¬ 
ruhe wurde nicht gehalten. — Sogleich am 
Tage nach der ersten Application berichtete 
Patient, weniger Beschwerden, geringere 
Schmerzen gehabt zu haben. Nach dem zweiten 
Handbade war neben der subjectiven Empfin¬ 
dung eines weiteren Nachlasses der Schmerz¬ 
haftigkeit eine Abnahme der Schwellung zu 
verzeichnen. Am dritten Tage zeigte sich eine 
leichte Lymphangitis in der Ellenbogenbeuge 
und im Sulcus bicipitalis internus, die auf Ver¬ 
band mit essigsaurer Thonerde nach weiteren 
zwei Tagen geschwunden war. Zu dieser Zeit 


1 ) Holzmann, M., Ueber die Fangotherapie. 
Monatsschrift für praktische Balneologie. 


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October 


453 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


waren zwei erbsengrosse Drüsen in der Achsel¬ 
höhle fühlbar. Nach einer Behandlungszeit von 
insgesamt 14 Tagen war Schwellung und 
Schmerzhaftigkeit geschwunden, gute Beweg¬ 
lichkeit in den afficierten Gelenken, allerdings 
noch nicht in normaler Breite, vorhanden. Pa¬ 
tient muss abreisen, ist mit dem Erfolg zu¬ 
frieden. 

Ein ähnlicher, sehr bemerkenswerter 
Fall kam bald darauf zur Behandlung. 

Fall 3. Luise K., 8 Jahre alt, Vulvitis go- ! 
norrhoica (wie die jüngere Schwester vom Vater I 
inficiert). 6 Wochen vor Eintritt in die Behänd- ! 
lung erkrankt mit Schmerzen im linken Hand- 
und linken Fussgelenk. Letzteres war nur ein 
bis zwei Tage afficiert. — Die kleine Patientin 
hatte bei den geringsten Bewegungen sehr 
starke Schmerzen in der ganzen linken Hand. — \ 
Objectiver Befund: Starke Schwellung des lin- 1 
ken Handgelenks: starke, polsterartigc, teigige ! 
Schwellung der Volar- und Dorsaltlächc der 
linken Hand; active Bewegungen in Hand- und 
Kingergeleaken aufgehoben. — Bisherige Be¬ 
handlung: Antirheumatica, heisse Handsalz- 
bäder, Spir. salicyl.. Ichthyol, ruhigstcllender 
Verband. — Ein bemerkenswerter Erfolg zeigte 
sich bereits nach zwei Fangohandbädem; die 
Hand ist etwas abgcschwollen. die Schmerzen 
haben ganz bedeutend nachgelassen, Beweglich¬ 
keit ein wenig gebessert. Im Laufe der Be¬ 
handlung trat ein weiterer bedeutender Rück- j 
gang der Schwellung ein, die Schmerzen hörten 
auf, die Beweglichkeit der Gelenke nahm zu. 
Nach 14 tägiger Behandlung wird das Kind, das 
von auswärts ist, vor Eintritt der völligen Heilung 
nach Hause genommen, da die Mutter mit diesem 
Erfolge zufrieden ist. — Bei der Nachforschung 
nach dem weiteren Verlauf drückte der behan- I 
delnde Arzt seine grosse Freude über den Er- j 
folg aus. die Schwellung ist bald ganz ge- I 
schwunden. von der Bewegungsbehinderung j 
sind nur Spuren zurückgeblieben. Auch in 
diesem Falle war die schnelle, günstige Beein¬ 
flussung der hochgradigen Schmerzen, die nicht 
jedesmal nur für einige Stunden anhielt, wie 
dies gewöhnlich nach Salicyl. Aspirin etc. der 
Fall ist, sondern eine dauernde war. sowie die 
schnelle Einleitung der Resorption, die auf an¬ 
dere Weise in mehrwöchentlicher Behandlung 
nicht hatte erreicht werden können, bemerkens¬ 
wert. 

Zwei Falle phlegmonöser, gonorrhoischer 
HandgelenkentzOndung möchte ich kurz 
anfQhren, um nicht den Eindruck hervor¬ 
zurufen, dass alle Fälle so schnell wie die 
soeben angeführten ablaufen müssten. 

Fall 4. Frl. M. H. bekam 5 Monate vor 
Eintritt in die Behandlung mit Fango unter 
Fieber plötzlich eine Anschwellung der rechten 
Hand. Allmähliche Besserung unter Behand¬ 
lung mit Salicyl (innerlich), Salieylsalbe, Gyps- 
verband. In der 7. Woche Massage, danach 
Verschlimmerung. — Objectiver Befund: Schwel¬ 
lung und Cyanose der ganzen rechten Hand 
Schwellung des rechten Handgelenks, Atrophi o 

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der Unterarmmuskulatur. — Allmähliche Ab¬ 
nahme der Schmerzen, der Schwellung und der 
Cyanose. Nach 20 Fangohandbädern war das 
Handgelenk noch etw^as schmerzhaft und ge¬ 
schwollen. Patientin war nach siebenwöchent¬ 
licher Cur, in der sie 35 Mal behandelt worden 
war, vollständig geheilt. 

Fall 5. Herr Gl. Schwellung, Schmerz¬ 
haftigkeit, Steifigkeit des linken Handgelenks 
und der Finger der linken Hand. Nach 20 Fango¬ 
handbädern, während der letzten zur Unter¬ 
stützung medico-mechanische Hebungen, Rück¬ 
gang der Schmerzhaftigkeit und der Schwel¬ 
lung; Bewegungen in einiger Breite ausführbar. 

Patient entzieht sich der Behandlung. 

Von gonorrhoischen Hüftgelenkentzün- 
dungen sind drei Fälle in meine Beobach¬ 
tung gekommen. 

Einer davon (Fall 6 Herr Gi.) w*ar ein ziem¬ 
lich frischer, recidivierender, monarticulärer, 
sehr schmerzhafter Fall, der — ambulant be¬ 
handelt — mehrmals in Folge von Ueberanstren- 
gung Exacerbationen durchmachte, nach 13 
Applicationen aber doch zur Heilung kam und 
— der Patient stellte sich nach ungefähr einem 
Jahre wieder vor — ohne Recidiv geblieben 
ist. Der zweite (Fall 7 Herr Ge.) war ein seit 
länger als 3 Monaten bestehender, seit 3 Tagen 
mit heftigen Schmerzen exacerbierter Fall links¬ 
seitiger gonorrhoischer Coxitis. bei dem gleich¬ 
zeitig das rechte Knie erkrankt war. Auch bei 
diesem Patienten trat bei ambulanter Behand¬ 
lung vollständige Heilung nach 15 Applicationen 
ein. — In dem dritten Falle endlich handelte 
es sich um eine doppelseitige, sehr schmerz¬ 
hafte, mit Erkrankung vieler anderer Gelenke 
verbundene Afiection (Fall 8 Herr P. W.), die 
schon mehrere Wochen bestand und ebenfalls 
in Heilung ausging. 

Koenig erwähnt, dass nach dem Acqui- 
rieren einer Gonorrhoe jedes Gelenk er¬ 
kranken könne und Bennecke bespricht 
in seiner vorzüglichen Monographie: „Die 
gonorrhoischeGelenkentzündungnachBeob- 
achtungen der chirurgischen Universitäts¬ 
klinik in der Kgl. Charite zu Berlin 41 im 
Einzelnen das Krankheitsbild der verschie¬ 
denen Gelenke. Danach sind — die Mono¬ 
graphie bezieht sich auf einen Zeitraum 
von 2 Jahren mit 56 Fällen — einige Lo¬ 
kalisationen, die ich bei polyarthritischen 
Fällen beobachten konnte, nicht vorgekom¬ 
men, nämlich die Erkrankung der Kiefer¬ 
gelenke, der Sternoclavigulargelenke und 
der Gelenkverbindungen der Wirbelsäule. 

Eine Affection der Kiefergelenke fand 
sich in drei Fällen polyarthritischer Er¬ 
krankung. 

Der eine, w*enig schmerzhafte (Fall9 HerrBl.) 
wurde auf Wunsch des Patienten garnicht, der 
andere (Fall 10 Herr St.) mit lokalen Bogen- 
‘ lichtbestrahlungen und stundenlang fortgesetzter 
lokaler Wärmeapplication mittelst Leiter’scher 
Röhren behandelt; bei dem dritten (Fall 11 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



454 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Octobcr 


Herr v. H.) wurde ein guter Erfolg mit Fango- 
applicationen erzielt. In den beiden ersten 
Fällen war die AfFection beiderseitig, bei dem 
letzteren linksseitig. 

Die Sternoclavigulargelenke waren bei 
zwei Patienten (Fall 8 Herr P. W. und 
Fall 12 Herr O.) und zwar beiderseits er¬ 
krankt. Die Affectionen erwiesen sich als 
sehr hartnäckig, wahrscheinlich deshalb, 
weil aus äusseren Gründen die Behandlung 
nicht durch Ruhigstellung der Gelenke 
unterstützt werden konnte und in Folge 
dessen durch die häufigen Bewegungen im 
oberen Extremitätengürtel ein steter Reiz 
gesetzt wurde. Beide Fälle wurden nach 
längerer Behandlungsdauer bis auf ein zeit¬ 
weises geringes Ziehen schmerzfrei bei 
voller Bewegungsfreiheit. 

Gonorrhoische Erkrankungen derWirbel- 
gelenke waren — neben der Erkrankung an¬ 
derer Gelenke — bei drei Patienten vor¬ 
handen. Bei dem einen (Fall 13 Herr K.) 
bestand seit 10 Wochen eine hartnäckige 
Schmerhaftigkeit zwischen dem 7. Hals¬ 
wirbel und 1. Brustwirbel, sowie zwischen 
dem 1. und 2. Brustwirbel. Nach 8 Appli- 
cationen haben die Schmerzen wesentlich 
nachgelassen, Patient fühlt sich in seinen 
Bewegungen freier, ist dann nicht mehr 
zur Cur erschienen. — Zahlreiche Gelenk¬ 
verbindungen der Wirbelsäule waren bei 
den beiden andern Patienten afficiert. Diese 
Fälle bieten in mehrfacher Beziehung des 
Interessanten genug, um eine kurze Schilde¬ 
rung des Befundes und Verlaufes berech¬ 
tigt erscheinen zu lassen. 

Fall 8. Herr P. W., 25 Jahre alt; vor 
3 Jahren Gonorrhoe; anscheinend geheilt; vor 
3 Monaten plötzlich Blasenkatarrh und Schmer¬ 
zen in der Urethra; am 8. Tage beiderseitige 
Epididymitis. Reissen in den Armen, Beinen 
und im Rücken, heftige Schmerzen in den Fuss-, 
Knie-, Hüft-, Schulter-, Hand- und Sternoclavi- 
gulargelenken, sowie im Genick bei den ge¬ 
ringsten Bewegungen. Patient erhielt von seinem 
Arzt zunächst Salicyl, sodann 4 Wochen lang 
täglich 4— 6 mal 0,5 Aspirin mit dem Erfolg, 
dass die Schmerzen nach jeder Gabe auf einige 
Stunden etwas nachliessen; auf den Process 
aber war kein Einfluss zu constatieren gewesen. 
Aldann machte Patient eine Schwitzcur durch, 
eine Woche lang jeden Tag, sodann eine Woche 
lang einen Tag um den andern, ohne Erfolg; 
Patient fühlte sich danach sehr matt. — Nach 
diesen fruchtlosen Bemühungen wurde der Pa¬ 
tient von dem behandelnden Arzte der Anstalt 
zur stationären Behandlung mit Fango über¬ 
wiesen. — Objectiver Befund: Grosser, sehr 
anämischer Mann mit geringem Fettpolster* 
Starke, teigige, druckempfindliche Schwellung 
der Füsse, Kniee und Hände; starke Bewegungs¬ 
beschränkung in allen erkrankten Gelenken. 

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Gehen nur unter grössten Schmerzen zwei bis 
drei Schritt bei starr nach vom gebeugter Hal¬ 
tung des Oberkörpers möglich. Bei vorsich¬ 
tigster Betastung der Wirbelsäule: Excessive 
Schmerzhaftigkeit zwischen den Processus spi- 
nosi des 6. und 7. Halswirbels: starke Druck¬ 
empfindlichkeit zwischen den Processus spinosi 
des 1. und 2. Halswirbels, des 4. und 5., sowie 
des 5. und 6. Brustwirbels, des letzten Brust¬ 
wirbels und 1. Lendenwirbels und zwischen 
denen des 3. und 4. Lendenwirbels. Ein etwas 
stärkerer Druck auf die übrigen Partieen der 
Wirbelsäule wird ebenfalls als schmerzhaft, je¬ 
doch von diesem sehr verständigen Patienten 
als erträglich bezeichnet. — Vom 7. Brustwirbel 
ab Skoliose, Convexität nach links. Hals- und 
Brustwirbelsäule in starrer, nach vorn gebeugter 
Haltung Bewegungen in den Wirbelgelenken 
nicht möglich, der schüchternste Versuch ausser¬ 
ordentlich schmerzhaft. 

Therapie: Täglich lokaleFangoapplicationen 
(Temp.46--51 °j ohne Schwitzprocedur, Anfangs 
% Stunden lang, allmählich auf 2 Stunden 
steigend. 

Auch in diesem Falle berichtete Patient be¬ 
reits am Tage nach der ersten Application, 
dass ein geringer Nachlass der Schmerzen in 
der Halswirbelsäule — die Affection der Wirbel¬ 
säule stand im Vordergrund dieses schweren 
Krankheitsbildes — eingetreten sei. Von Tag 
zu Tag an Intensität nachlassend, waren die 
Schmerzen am 5. Tage zwischen dem 6. und 
7. Halswirbel geschwunden, Patient konnte ohne 
Schmerzen die Wirbelsäule strecken und, da 
auch die Hüft-, Knie- und Fussgelenke sich ge¬ 
bessert hatten, in gerade Haltung einige Schritte 
gehen; Druckschmerz war allerdings noch in 
recht beträchtlichem Grade, besonders zwischen 
dem 4. und 5., sowie dem 5. und 6. Brustwirbel 
vorhanden. Während nach zwölftägiger Be¬ 
handlung die Wirbelsäule sonst nirgends mehr 
druckempfindlich war, hielt die Schmerzhaftig¬ 
keit zwischen dem 5. und 6. Brustwirbel auf 
stärkeren Druck noch 8 Tage an. — Auch die 
Erscheinungen in den übrigen Gelenken gingen 
nach einer stationären Behandlungsdauer, die 
im Ganzen 4 Wochen betrug, zurück, so dass 
Patient auf seinen Wunsch nach Hause ent¬ 
lassen werden konnte. Patient stand nach einer 
Unterbrechung der Cur von 2 1 /* Wochen — der 
weite Weg und die 2 Treppen zu seiner Woh¬ 
nung Hessen eine ambulante Behandlung zu¬ 
nächst nicht ratsam erscheinen, da die Füsse 
auf Anstrengungen noch mit Schmerzen rea¬ 
gierten — wegen geringer ziehender Schmerzen 
noch mehrere Wochen in ambulanter Behand¬ 
lung (3 Applicationen wöchentlich) und hat ohne 
medico-mechanische Uebungen oder Massage 
u. dgl. volle Bewegungsfreiheit in allen Gelenken 
erlangt. Das Allgemeinbefinden — ich möchte 
das nebenbei als eine oftmals gemachte Beob¬ 
achtung erwähnen — hat sich ungemein ge¬ 
hoben, Patient hat an Gewicht erheblich zuge¬ 
nommen und sieht wohl und frisch aus. 

In einem anderen Falle (14 Herr Ba.) von 
schwerer Polyarthritis gonorrhoica, der in einer 

Original fro-m 

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Octobcr 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


455 


hiesigen Klinik ebenfalls Wochen lang mit Aspi¬ 
rin, wannen Salzbädern, wannen Wasser¬ 
umschlägen und Jodpinselungen ohne jeden 
Erfolg behandelt war und danach zur Fango¬ 
behandlung überwiesen wurde, waren haupt¬ 
sächlich die Gelenkverbindungen zwischen Atlas 
und Occiput, zwischen dem letzten Halswirbel 
und ersten Brustwirbel, zwischen den fünf ersten 
Brustwirbeln, zwischen dem 4. und 5. Lenden¬ 
wirbel, diesem und dem Kreuzbein und die 
Articulationes sacro-iliacae äusserst empfindlich 
auf Druck oder bei den geringsten Bewegungen. 
Der Kopf wurde schief, die ganze Wirbelsäule 
steif und vornübergebeugt gehalten. Patient 
nahm auf Anordnung seines Arztes ambula¬ 
torisch einen Tag um den andern eine Fango- 
application. Schon nach der zweiten Appli¬ 
cation war ein Nachlass der Schmerzen vor¬ 
handen, nach der vierten konnte die Halswirbel¬ 
säule ohne Schmerzen frei bewegt werden. Die 
Behandlung wurde einige Wochen mit dem Er¬ 
folge fortschreitender Besserung durchgeführt. 
Patienst reist alsdann in einen Badeort. 

Beiläufig möchte ich erwähnen, dass bei 
diesem Patienten eine ausgedehnte, starke 


Atrophie der rechten Schultergegend und 
des rechten Oberarmes auffiel. Sie war 
die Folge einer phlegmonösen gonorrhoi¬ 
schen Entzündung des rechten Schulter¬ 
gelenks. Untermedico* mechanischen Uebun- 
gen und elektrischer Behandlung nahm die 
Muskulatur wieder zu. Solche starken, 
schnell um sich greifenden Atrophieen habe 
ich bei der phlegmonösen Form sehr häufig 
beobachtet. Bennecke bezeichnet sie 
geradezu als charakteristisch für phleg¬ 
monöse gonorrhoische Entzündung. 

Die übrigen von mir beobachteten Fälle, 
die alle der gonorrhoisch-phlegmonösen 
Form angehören, sind folgende: 

Die Complication der gonorrhoischen 
Phlegmone mit Empyem des Gelenks kam 
in einem Falle zur Beobachtung. 

Fall 32. Stud. phil. D. erkrankte 4 Wochen 
nach dem Acquirieren einer Gonorrhoe, die mit 
Cystitis verbunden war, unter Fieber mit 
Schmerzen im rechten Ellenbogengelenk. Zwei 
Wochen danach wurde er zur Behandlung mit 


Fall 

Name 

Afticierte Gelenke 

Krank seit 

Applicationen 

Ausgang 

15 

Herr P. 

Linkes Knie 

2 Monaten 

ca. 10, noch in 
Behandlung 

Bedeutende 

Besserung 

16 

Herr Sch. 

Rechtes Knie 


15 

Heilung 

17 

Herr Bla. 

Linkes Knie 

7 , 

1 

— 

18 

Frau H. 

Linkes Knie 

7 „ 

Noch in Be¬ 
handlung 

Besserung 

19 

Frau Pr. 

Rechtes Knie 

I 1 /* Jahren 

Noch in Be¬ 
handlung 

— 

20 

Herr K. 

Rechtes Knie 

ca. 30 Jahren 

16 

Bedeutende 

Besserung 

21 

Herr D. 

Beide Kniee 

2*/* Monaten 

1 

— 

22 

Herr G...b 

Rechtes Fussgelenk, linkes 
Handgelenk 

5 Wochen 

5 

Bedeutende 

Besserung 

23 

Herr J. 

a) rechtes Fussgelenk, 

b) rechtes Kniegelenk 

a) 5 Wochen, 

b) mehr. Jahren 

17 

a) Heilung, 

b) Besserung 

24 

Herr Dr. J. 

Mehrere Metatarso-phalan- 
gealgelenke, Tendovagi- 
nitis 

2 1 /* Jahren 

3 


25 

i 

i 

Herr W. 

1 

i Linkes Fussgelenk, 3. und 
i 4. Metatarso-phalangeal- 
gelenk des r. Fusses 

3 Wochen 

ca. 10, noch in 
Behandlung 

Bedeutende 

Besserung 

26 

Herr H. 

Beide Fussgelenke 

— 

: 

— 

27 

Herr A. 

Beide Fussgelenke 

37> Monaten 

15 

Bedeutende 
Besserung 
Ohne Nachricht 

28 

Herr Ha. 

Rechtes Fuss-, linkes Knie¬ 
gelenk, 1. Interphalan- 
gealgelenk des linken 

5. Fingers 

3 Monaten 

10 

29 

Herr Schi. 

1 Beide Fussgelenke, Tibio- 
fibulargelenk, Matacarpo- 
' phalangealgelenk d. lin¬ 

ken Mittelfingers 

3 Wochen 

15 

Heilung 

30 

Herr M. 

Beide Fussgelenke, rechtes 
Hand-, linkes Ellenbogen- 
i gelenk 

3 Monaten 

i 

4 1 

Besserung 

31 

Herr F. 

, Beide Fussgelenke, linkes 
Kniegelenk 

2 Monaten 

6 

Besserung 


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456 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


Fangoapplicationen überwiesen. Das Fieber 
bestand noch, Temp. 38—39°. Das rechte Ellen¬ 
bogengelenk zeigte eine starke, fast spindel¬ 
förmige, articuläre und periarticuläre Schwel¬ 
lung, die sich eine Hand breit auf den Oberarm 
und auf den Unterarm erstreckte. An der 
Streckseite in der Gegend des Olecranon Fluc- 
tuation. Der innere Condylus des Humerus 
und das proximale Ende der Ulna stark druck¬ 
empfindlich. Passive Bewegungen in einer 
Breite von 10—15° möglich. Die Diagnose 
lautete: Arthritis gonorrhoica. Phlegmonöse 
Form. Empyem? — Patient erhielt in 8 Tagen 
7 lokale Applicationen, die Schwellung ging 
am Oberam ein wenig zurück, sonst blieb sie 
im Gegensatz zu den bisher beobachteten acuten 
Fällen bestehen. Auch die Schmerzhaftigkeit, 
die in den übrigen Fällen an Intensität schnell 
verloren hatte, und das Fieber, das unter der 
Fangobehandlung in den wenigen von uns beob¬ 
achteten fieberhaften Fällen in den ersten Tagen 
schwand, hielten sich auf gleicher Höhe. Die 
Punction ergab eitrigen Erguss, bestätigte also 
den von vornherein bestehenden Verdacht. 

Eine längere Beobachtung ist in solchen 
Fällen, bevor man chirurgisch eingreift, 
stets nötig, denn es ist bei der teigigen 
Schwellung der Weichteile dieser phleg¬ 
monösen Infiltrate gonorrhoischen Ur¬ 
sprungs ungemein schwierig, ja vielleicht 
unmöglich, sofort zu unterscheiden, ob 
neben der Phlegmone ein serofibrinöser 
oder eitriger Erguss oder ein Abscess in 
den Weichteilen besteht. Bennecke sagt 
hierüber: „Als Regel gelte grösste Zurück¬ 
haltung mit dem Schneiden! Besonders an 
Hand- und Fussrücken täuscht die phleg¬ 
monöse Weichteilschwellung öfter tiefe 
Fluctuation vor; zur Abscedierung kommt 
es aber fast nie und wenn man einschneidet, 
so fällt man nur in ein entzündlich ge¬ 
lockertes, mit trübem Serum gefülltes Binde¬ 
gewebe." — Bei sorgfältiger Ueberwachung 
dürfte durch die Wärmebehandlung ein 
Schaden selbst in den seltenen Fällen der 
Empyembildung nicht entstehen, zu der 
nach meinen Beobachtungen besondere Be¬ 
dingungen — vielleicht Mischinfection? — 
nötig sind; im Gegenteil, die Abscedierung 
wird schneller vor sich gehen, die Krank¬ 
heitsdauer dadurch, dass der chirurgische 
Eingriff eher vorgenommen werden kann, ab¬ 
gekürzt werden. Zu diesem muss aber die 
Diagnose Empyem feststehen, denn durch 
einen Schnitt in die gonorrhoisch infil¬ 
trierten Weichteile ohne Abscedierung wer¬ 
den nach Bennecke’s Erfahrungen grosse 
Narben gesetzt, es wird aber keine Er¬ 
leichterung geschafft und die Heilung nicht 
im Geringsten beschleunigt. 

Die genaue Beobachtung der Wirkung 
der Fangobehandlung hat uns gezeigt, dass 


dieselbe mit Ausnahme des Empyems bei 
allen Formen der gonorrhoischen Gelenk¬ 
entzündung, sowohl im acuten Stadium, 
wie im subacuten und chronischen eine 
wertvolle Bereicherung der Therapie dieser 
schweren Erkrankung darstellt. Hat sie 
doch in der stattlichen Zahl der von uns 
beobachteten Kranken da, wo das ganze 
Heer der Antirheumatica im Stich liess, 
wo Suspension, Fixation, Jodpinselungen etc. 
keine Besserung mehr brachten, zu den 
besten Resultaten geführt. Ich habe nicht 
die Absicht, unterschiedslos für jeden Fall 
dieWärmebehandlungzu empfehlen,manche 
leichte Erkrankung wird ohne dauernde 
Störung mit der üblichen Therapie geheilt 
werden. Auch würde in Fällen, bei denen 
excessive Schmerzhaftigkeit grössere Lage¬ 
veränderungen verbietet, wie sie z. B. bei 
Packungen der Hüfte und bei der nach¬ 
folgenden Reinigung erforderlich sind, von 
dieser Behandlung zunächst Abstand ge¬ 
nommen werden müssen, dagegen könnten 
Hand-, Ellenbogen- und Schultergelenk, 
Fuss- und Kniegelenk ohne grosse Belästi¬ 
gung des Patienten nach dieser Methode 
i behandelt werden. 

In den Fällen aber, bei denen innere 
und äussere Mittel vergebens verabreicht 
wurden, da muss die physikalische Behand¬ 
lung einsetzen. Besonders wäre es empfeh¬ 
lenswert, bei der phlegmonösen Form nicht 
länger als höchstens einige Wochen zu 
warten, am Besten nicht länger, als bis die 
zur Application nötigen Lageveränderun¬ 
gen ertragen werden. Ich glaube, dass 
durch rechtzeitiges Einsetzen der Wärme¬ 
behandlung manche Versteifungen hinten¬ 
angehalten werden könnten, viele anschei¬ 
nend schon steife Gelenke, das haben die 
beobachteten Fälle gezeigt, eine gute Be¬ 
wegungsfähigkeit erlangen würden. Die 
schlimmen Folgen der phlegmonösen go¬ 
norrhoischen Gelenkentzündung, die De- 
struction des Gelenks, die Atrophie der 
Muskulatur, die Bewegungsstörungen und 
Ankylosen treten nur zu schnell ein. Ist 
doch die Patella oft genug schon nach 3 bis 
4 Wochen (Koenig) mit der Umgebung 
fest verwachsen und finden sich solche Ver¬ 
wachsungen auch in „anscheinend unschul¬ 
digen Fällen“ (Koenig). Besonders ist 
diese Therapie auch deshalb angezeigt, 
weil, worauf Davidsohn schon Vorjahren 
hin weisen konnte, die Reconvalescenz nach 
acuten und subacuten Fällen durch dieselbe 
ganz erheblich abgekürzt wird. 

Es sei mir erlaubt, über die Zeitfolge 
der einzelnen Behandlungen und über die 
Dauer der ganzen Cur einige Worte zu 


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October 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


457 


sagen. — Leider ist es häufig genug vorge- 
kommen, dass Patienten von ihrem Arzte 
angewiesen waren, wöchentlich 1 oder 
2 Applicationen zu nehmen, dass sie nach 
5 oder 6 Applicationen die Cur abbrachen, 
weil ihnen diese Anzahl als ausreichend 
zum Erfolg angegeben war. — Es braucht 
wohl nicht betont zu werden, dass zur Re¬ 
sorption chronischer Infiltrate in manchen 
Fällen sogar Monate lange Behandlung 
nötig ist und dass die Verordnung, wöchent¬ 
lich eine Application zu nehmen, keinen 
Erfolg haben kann. 3 bis 6 malige Appli¬ 
cation in der Woche, je nach dem Falle, 
der Constitution des Patienten und etwaigen 
Begleitumständen, ist notwendig; ja, es 
giebt Fälle, bei denen es erforderlich ist, 
die Wärmeappiication zwei- und mehrmals 
am Tage vorzunehmen. Die Dauer der 
einzelnen Application wird zweckmässig 
nicht zu kurz bemessen, gewöhnlich auf 
3 / 4 bis 1 Vs Stunden, doch giebt es Patienten, 
bei denen durch noch länger dauernde An¬ 
wendungen bessere Erfolge erzielt werden. 

Uebrigens muss hervorgehoben werden, 
dass die Behandlung, die mit Ausnahme 
der Hand- und Fussbäder zweckmässig 
stets auf einem Ruhebett, nicht im Sitzen 
vorgenommen wird, die Kräfte des Patien¬ 
ten garnicht in Anspruch nimmt, vermeidet 
man nur, dass der Patient jedes Mal dabei 
transpiriert. Wo die Indication zu einer 


gleichzeitigen Schwitzcur vorliegt, kann 
eine mehr oder weniger starke Transpira¬ 
tion leicht durch eine Einpackung des Kör¬ 
pers herbeigeführt werden. Betonen möchte 
ich aber, dass die Transpiration nach un¬ 
seren Erfahrungen nicht das Wesentliche 
der Behandlung darstellt; haben wir doch 
in einer sehr grossen Zahl von Fällen, bei 
denen lange fortgesetzte Schwitzproce- 
duren, wie russisch-römische Bäder, Licht- 
und Dampfkastenbäder etc. ausser der 
momentanen subjectiven Empfindung der 
1 Erleichterung gar keinen oder nur wenig 
Erfolg hatten, noch die besten Resultate 
von der constanten lokalen feuchtenWärme- 
anwendung gesehen. Und das erscheint 
: mir gerade als ein grosser Vorzug der 
| Fangobehandlung, dass sie ohne Schwitz- 
| procedur ihre günstige Einwirkung ent- 
| faltet. Dadurch ist es möglich, ohne jede 
Gefahr allen denjenigen Patienten eine pro- 
longierteWärmebehandlung zu Teil werden 
zu lassen, welche die Wärmebehandlung im 
Licht-, Dampfkasten-, Moor- oder russisch- 
römischen Bade nicht vertragen. Dem Ur¬ 
teil des Arztes muss es überlassen bleiben, 
die Ausdehnung der Körperregion, die be¬ 
handelt werden soll, zu bestimmen. Da¬ 
durch kann die Cur so milde gestaltet wer¬ 
den, dass selbst Herzfehler, Myocarditis, 
Arteriosklerose und hohes Alter keine 
Contraindication abgeben. 


Von der 75. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte, 
Cassel ao.—25, September 1903. 


Die 75. Versammlung Deutscher Natur¬ 
forscher und Aerzte hat einen schönen 
Verlauf genommen, auf welchen wohl alle 
Theilnehmer mit voller Befriedigung zurück¬ 
blicken. Die allgemeinen Sitzungen brach¬ 
ten eine Reihe ausgezeichneter Vorträge, | 
welche der grossen Menge der Gebildeten I 
die Einwirkungen der Naturforschung auf j 
Denken und Leben in lebendiger Weise 
demonstrirten. In der gemeinschaftlichen 
Sitzung der medicinischen und naturwissen- I 
schaftlichen Hauptgruppe wurden einige j 
fachwissenschaftliche Themata erörtert, 
welche wohl geeignet waren, den Zu¬ 
sammenhang zwischen Medicin und Natur¬ 
wissenschaften vor Augen zu führen, ln 
den Sitzungen der medicinischen Haupt¬ 
gruppe wurden Gegenstände verhandelt, 
die allen Medicinern gemeinschaftliches 
Interesse darboten. 

So hat denn wirklich die Casseler Ver¬ 
sammlung das Programm verwirklicht, in 
dem die Existenzberechtigung der Natur- , 

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forscher-Versammlungen liegt: ein einigen¬ 
des Band um die Angehörigen aller bio¬ 
logischen Forschungsgebiete zu bilden und 
unter den Aerzten der Zersplitterung und 
Specialisierung entgegenzuarbeiten. 

Andererseits ist in Cassel die Special¬ 
arbeit der Einzelabtheilungen nicht zu kurz 
gekommen. Es war ein reiches Programm 
vorbereitet, welches mit Ernst abgearbeitet 
worden ist. Wie weit sich die Theilnehmer 
an dieser Specialarbeit beteiligten, blieb na¬ 
türlich dem Willen desEinzelnen überlassen. 

Es waren auch diesmal viele gekommen, 
die sich mit den Anregungen der allge¬ 
meinen Sitzungen begnügten und anstatt 
der Arbeit in den Sectionen, Erholung in 
Natur und Kunst suchten. Aber es waren 
doch auch viele, die zum Arbeiten ge¬ 
kommen waren. Sehr bewährt hat sich 
die in Cassel angewendete Methode, an 
jedem Morgen die genaue Reihenfolge der 
in jeder Section zu haltenden Vorträge im 
Tageblatt zu veröffentlichen. So konnte 

58 

Original frn-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



458 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


jeder wählen, was ihm zu hören beliebte, 
und in der That sah man deutliche Strö¬ 
mungen von einer Abtheilung zur anderen, 
je nach der angenommenen Bedeutung der 
Vortragenden oder ihrer Themata. Gerade 
in dieser Erneuerung akademischer Frei¬ 
heit liegt wohl eine Hauptanziehungskraft 
der Versammlung für die allgemeinen 
Praktiker, ohne dass die ernsthafte Arbeit 
der durch Beruf oder Neigung an eine 
Section Gefesselten darunter zu leiden 
braucht. Ich möchte mich also aus vollem 
Herzen denen anschliessen, welche die 
Naturforscherversammlung für eine sehr 
nützliche Einrichtung halten, und allen 
Collegen zu öfterer Theilnahme rathen. 
Es kehrt Niemand ohne Anregung und 
Erhebung zu des Tages Arbeit zurück. 
Wenn ich an dieser Stelle zur Organisation 
der Versammlung einen Wunsch äussern 
dürfte, so wäre es der um Freigabe des 
ganzen dritten Tages für die Sections- 
arbeiten, unter Ausfall der gemeinschaft¬ 
lichen Sitzung beider Hauptgruppen. Diese 
letztere ist doch nur eine andere Form einer 
dritten allgemeinen Sitzung, auf die zu ver¬ 
zichten man sich seit lange entschlossen 
hat. Die Verfügung über zwei volle Tage 
hintereinander würde den Abtheilungen 
aber die Möglichkeit eines lebendigeren 
Zusammenhangs und intensiverer Thätig- 
keit gewähren. Dafür würde ich dann Vor¬ 
schlägen, den Nachmittag des vierten Tages 
gänzlich der Erholung frei zu geben, die 
den arbeitenden Theilnehmern bisher immer 
nur am Abend vergönnt war. 

Bevor ich nun zur Berichterstattung 
über den Casseler Congress übergehe, 
will ich mit vielem Dank die organisa¬ 
torische Arbeit hervorheben, durch welche 
die Casseler Collegen das Gelingen der 
Tagung vorbereitet hatten; es hat dies¬ 
mal wirklich alles vorzüglich „geklappt.“ 
Auch sei gestattet, einen besonderen Dank 
dem „Damencomit£“ abzustatten, welches 
mit herzlicher Gastlichkeit seiner Aufgabe 
gewaltet hat, und schliesslich gebührt ein 
freundlicher Dank dem Museumsdirector 
Geh. Rat Eisenmann, welcher uns in reiz¬ 
vollster Weise die unvergleichlichen Schätze 
der Casseler Gemäldegalerie erläuterte. 


Aus den allgemeinen Sitzungen. 

Obwohl dieser Bericht den ärztlichen 
Bedürfnissen angepasst sein soll, möchte 
ich doch den gewaltigen Eindruck hervor¬ 
heben, den der erste Vortrag des Bres¬ 
lauer Chemikers La den bürg über den 
Einfluss der Naturwissenschaften 
auf die Weltanschauung hervorrief. 

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Ohne unseren Kenntnissen und Vor¬ 
stellungen etwas Neues hinzuzufügen, 
deckte er die Widersprüche auf zwischen 
vielen Glaubenslehren der kirchlichen Ge¬ 
meinschaften und den unantastbaren Fest¬ 
stellungen der Naturforschung; er betonte 
die absolute Gesetzmässigkeit der Natur¬ 
erscheinungen, die weder durch Wunder 
noch durch das Eingreifen eines persön¬ 
lichen Gottes jemals gestört wurde. Er 
zeigte die Unvereinbarkeit des Unsterb¬ 
lichkeitsglaubens mit vielen Thatsachen, 
insbesondere der Psychiatrie, und hob 
hervor, dass die eximirte Stellung des 
Menschen unter den Lebewesen durch die 
Lehren der Entwickelungsgeschichte be¬ 
seitigt sei. So sehr übrigens der Redner 
die Souveränetät der Naturforschung be¬ 
tonte, so wenig Aggressives gegen „gläu¬ 
bige“ Menschen lag in seiner Rede. Es 
war auch eine Art von Gottesdienst, wenn 
er die Erhabenheit ewiger eherner Gesetze, 
denen alle Wesen gehorchen, mit beredten 
Worten hervorhob, und wenn schliesslich 
seine Rede in eine begeisterte Mahnung 
zu werkthätiger Menschenliebe ausklang. 
Der stürmische Beifall der sichtlich er¬ 
regten Hörerschaar zeigte, wie viele ver¬ 
wandte Empfindungsseiten der Redner in 
Schwingungen gebracht hatte. Mag der 
Vortrag immerhin auch in Manchen wider- 
streitende Gefühle wecken, er zog doch die 
allgemeineVersammlungauf das hohe Niveau 
der naturwissenschaftlichen Forschungser¬ 
gebnisse und machte sie zu einem Areopag. 
von welchem eine machtvolle Einwirkung 
auf das Geistesleben der Nation ausgeübt 
wird. 

Den zweiten Vortrag hielt der neuer¬ 
nannte Hallenser Psychiater Ziehen über 
die physiologische Psychologie der 
Gefühle und Affecte. In demselben 
erörterte er die Vorstellungen, die er 
aus seinen zahlreichen Untersuchungen 
über die „Reactionszeit“ in verschiedenen 
Affecten bei Geistesgesunden und Kranken 
gewonnen hat. Der Sitz der Affecte 
liegt zweifellos in der Hirnrinde. Der 
gefühlserzeugende Process ist die Hirn¬ 
rinden Erregung, Gefühlstöne und Affecte 
sind niemals von Empfindungen und 
Vorstellungen unabhängig. Es ist völlig 
sichergestellt, dass auch die scheinbar 
selbständigsten Stimmungen von nachzu¬ 
weisenden primären Empfindungen und 
Vorstellungen ausgehen. Die Ablaufszeit 
derselben ist eben die Reactionszeit, 
welche sich mit grosser Exactheit fest¬ 
stellen lässt. Es hat sich nun zeigen 
lassen, dass positive Affecte den Vor- 

Original from 

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October 


459 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Stellungsablauf beschleunigen, während 
negative ihn herabsetzen. Indessen handelt 
es sich nicht bei positiven Affecten um 
gesteigerte, bei negativen um verminderte 
Erregbarkeit. Es werden vielmehr in 
Depressionszuständen Unlustvorstellungen 
ebenso rasch erweckt, wie Lustgefühle bei 
Heiterkeitszuständen; die Erregbarkeit der 
Hirnrinde bleibt unverändert. Auch die 
Intensität der Erregung ist unbeeinflusst 
von der Art des Gefühlstons; negative 
Affecte sind oft sehr intensiv. Das Wesen 
der Aftecte beruht auf der Entladungs- 
Fähigkeit und Bereitschaft. Bei positiven 
Affecten besteht Steigerung, bei negativen 
Herabsetzung der Entladungsfähigkeit. 
Lustgefühle führen zu schnellen Ent¬ 
ladungen, weswegen sie auch schnell 
verklingen. Negative Affecte zeigen lang¬ 
same Entladung, sie dauern lange Zeit, in 
ihnen besteht eine Unlust zur Thätigkeit. 
Die Verlangsamung der Entladungsfähigkeit 
zeigt der Redner eingehend am klinischen 
Bilde des Melancholikers, bei dem die ein¬ 
fachsten psychischen Operationen gehemmt 
erscheinen, während unter Umständen die 
aufgespeicherten Erregungsreize zu explo¬ 
siven Entladungen (gewaltsamen Hand¬ 
lungen, Selbstmord) führen können. Eine 
anatomische Localisation der Affecte ist 
unmöglich, danach zu suchen völlig aus¬ 
sichtslos. 

Die zweite allgemeine Sitzung am 
Schlusstag des Congresses brachte nach 
einem Vortrag des englischen Chemikers 
Ramsay über das periodische System der 
Elemente einen Vortrag von Griesbach 
(Mühlhausen) über den Stand der Schul¬ 
hygiene. Aus diesem Vortrag möchte ich 
die Bemerkungen über die Schularzt- 
frage herausheben. In 65 % der mittleren 
und Volksschulen sind Schulärzte bisher 
nicht angestellt; an höheren Schulen giebt 
es solche vorläufig nur in Sachsen-Meinin¬ 
gen. Dabei wird der schulärztliche Dienst 
noch sehr verschieden ausgeübt, während 
Einheitlichkeit doch äusserst wichtig wäre; 
auch die Zahl der auf einen Arzt kommen¬ 
den Schüler ist noch sehr verschieden. 
Wenn 1200—2000 Kinder auf einen Arzt 
kommen, sei die Herbeiziehung von Spe- 
cialitäten nothwendig, namentlich bei dem 
ausserordentlichen Procentsatz von Seh¬ 
störungen. Das Vertrauen der Eltern zu 
den Schulärzten hat sich als ein sehr 
grosses erwiesen; von 5000 Kindern haben 
sich nur 8 der schulärztlichen Untersuchung 
entzogen. Die Ausdehnung dieses Dienstes 
aufTöchterschulen ist dringend nothwendig. 
ln Bezug auf die Hygiene des Unterrichts 

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empfiehlt G. weitgehende Abstriche an dem 
jetzigen Lehrplan, da namentlich in den 
unteren Klassen das Gehirn überanstrengt 
würde; besonders die den alten Sprachen 
gewidmete Stundenzahl sei zu beschränken, 
und der Nachmittagsunterricht aufzuheben; 
dafür seien Spiele und gymnastische Uebun- 
gen im Freien einzusetzen. Auch der Re¬ 
ligionsunterricht nehme zu viel Zeit in An¬ 
spruch; mindestens soll er mit dem Kon¬ 
firmationsunterricht abschliessen. Zum 
Schluss plädirte G. für Abschaffung des Abi¬ 
turientenexamens, das oft genug eine ganz 
schädliche Ueberreizung des Nervensystems 
herbeiführe. 

Das Ende der Tagung bildete der 
mit Spannung erwartete Vortrag Beh¬ 
rings über die Tuberkulosebekämpf¬ 
ung. B. sprach zuerst über die ausser¬ 
ordentliche Verbreitung der Tuberkulose 
beim Rindvieh, welche er durch seine neue 
Schutzimpfungsmethode mittels abge¬ 
schwächter Tuberkelbacillen (vgl. diese 
Zeitschr. S. 263) in grösstem Umfange be¬ 
kämpfen will. Seine weitverzweigten Un¬ 
tersuchungen sind so weit gediehen, dass 
er die Sicherheit seiner Schutzimpfung für 
erwiesen hält. Die Ausrottung der Rinder¬ 
tuberkulose ist bloss noch eine Frage der 
gewissenhaften und technisch einwandfreien 
Ausführung der Schutzimpfungen; daneben 
allerdings auch noch eine Frage der Zeit. 

In der Milch der hoch immunisierten Kühe 
hofft nun Behring ein Kampfmittel gegen 
die menschliche Tuberkulose in die Hände 
zu bekommen, dem sich keins der bisher 
bekannten Tuberkulosemittel auch nur an¬ 
nähernd an die Seite stellen lässt. Zu¬ 
gleich erklärte aber der Vortragende ganz 
bestimmt, dass er seine Heilmittel nicht 
eher an Patienten abgeben werde, als bis 
ihre therapeutische Wirksamkeit in zweifel¬ 
losen Versuchen bewiesen sein würde. 
Danach ging Behring auf die Beziehungen 
zwischen den Tuberkelbacillen des Men¬ 
schen und des Rindes ein und stellte sich 
in stricten Gegensatz zu der Kochschen 
These von der Artverschiedenheit dersel¬ 
ben ; er hält sie vielmehr für nur gradver- 
schieden, aber artgleich. — Danach ging 
der Vortragende auf die Menschentuber¬ 
kulose über, deren ungeahnt weite Ver¬ 
breitung er hervorhob. Nach den Unter¬ 
suchungen von Naegeli in Zürich wurden 
in jeder Leiche von Menschen, die über 
30 Jahr alt verstorben waren, Zeichen statt¬ 
gehabter Infection mit Tuberkulose vorge¬ 
funden. Im Alter von 18 bis 30 Jahren 
waren 96%, im Alter von 14—18 Jahren 
50%, von 5—14 Jahren 33%, von 1 bis 

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460 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


5 Jahren 17 o/ 0 mit tuberkulösen Herden 
behaftet, während kindliche Leichen bis zu 
1 Jahr keine tuberkulösen Herderkrankun¬ 
gen zeigten. An Menschen hat ein öster¬ 
reichischer Stabsarzt Dr. Franz in der 
Herzegowina ein analoges Resultat erzielt, 
in dem er bei Injection von 3 mg Tuber- 
culin über 60 %, bei Injection von 10 mg 
sogar 96 °/ 0 positive Reaction fand. Da¬ 
nach ist B. überzeugt, dass die Bevölkerung 
in dicht zusammenlebenden Schichten all¬ 
gemein tuberkulose-durchseucht sei und 
dass durch Absperrung und Desinfection 
nichts zu nützen sei. Aber die tuberkulöse 
Infection bedeutet durchaus nicht dasselbe 
wie tuberkulöse Schwindsucht. Gerade die 
ungeahnte Ausdehnung der tuberkulösen 
Infection ohne folgende Erkrankung be¬ 
weist die spontane Heilbarkeit der Tuber¬ 
kulose. Es gelten dieselben Verhältnisse 
wie früher bei der Diphtherie, bei denen 
die leichteren Infectionen zur Heilung, die 
schwereren zum Tode führten. In Be¬ 
zug auf die Entstehung der Lungentuber¬ 
kulose beim Menschen hält B. die gewöhn¬ 
liche Annahme von der Ansteckung durch 
Inhalation für gänzlich unbewiesen. Ebenso 
wen ig glaubt er an die entscheidende Be¬ 
deutung erblicher Factoren; weder die Ver¬ 
erbung der körperlichen Disposition noch 
des Tuberkelbacillus spiele eine practisch- 
wichtige Rolle. Behring hat sich vielmehr 
die Anschauung gebildet, dass die Haupt¬ 
quelle für die Schwindsuchtsentstehung in 
der Säuglingsmilch gelegen sei. Der 
menschliche Säugling entbehrt wie die 
thierischen Säuglinge in seinem Verdau¬ 
ungsapparat der Schutzeinrichtungen, 
welche im erwachsenen Zustand normaler 
Weise das Eindringen von Krankheitserre¬ 
gern in die Gewebssäfte verhindern. Beh¬ 
ring führt nun aus, dass während der aller¬ 
ersten Kindheit mit der Milch stomachal 
importirte Tuberkelbacillen die schutzlose 
Darmschleimhaut passiren und im Körper 
abgelegt werden und dass es dann viele 
Jahre dauern kann, ehe die Infection zur 
manifesten Krankheit führt. Ungünstige 
Lebensbedingungen führen den Ausbruch 
derselben herbei. Auf diese Anschauungen 
und Fesstellungen baut nun Behring fol¬ 
genden Plan der Tuberkulosebekämpfung 
auf. Für Säuglinge ist tuberkelbacillenfreie 
Milch unbedingt nötig; junge Kinder sind 
von hustenden Phthisikern fernzuhalten. 
Desgleichen ist jeder ältere Mensch vor 
Berührung mitTuberkelbacillen zu schützen, 
wenn er in Verdauungsstörungen, Darm¬ 
krankheiten oder in der Reconvalescenz ex- 
anthematischer Krankheiten Epitheldefecte 


im Darmkanal hat. Bei Verdacht stattge¬ 
habter Tuberkulose-Infection ist auf die 
Besserung des allgemeinen Kräftezustandes 
hauptsächlich durch die Ernährung Werth 
zu legen. Hierzu können die Lungenheil¬ 
stätten mithelfen. Behring hofft mit der 
Zeit alle Schwindsuchtsheilstätten über¬ 
flüssig zu machen sowohl durch die Milch¬ 
überwachung im Säuglingsalter als auch 
durch die schliessliche Anwendung der bei 
der Rindertuberkulose erprobten Impf¬ 
methoden. 

In der gemeinschaftlichen Sitzung der 
medicinischen und naturwissenschaftlichen 
Hauptgruppe 

hielt zunächst Professor Schwalbe (Strass¬ 
burg) einen Vortrag über die Vorge¬ 
schichte des Menschen, in welchem er 
unsere Abstammung von fossilen Affen¬ 
geschlechtern als bewiesen hinstellte, 
übrigens auf die vielen Streitfragen und 
Lücken auf diesem Gebiet mit hohem wissen¬ 
schaftlichen Ernst hinwies. 

Danach sprach Sanitätsrath Alsberg 
(Cassel) über erbliche Entartung in¬ 
folge socialer Einflüsse. Der Vor¬ 
tragende glaubte aus verschiedenen statisti¬ 
schen Zusammenstellungen eine Verschlech¬ 
terung unserer Rasse erschlossen zu können. 
Unter den Ursachen beschuldigt er den 
Alkoholmissbrauch und die Geschlechts¬ 
krankheiten, sowie insbesondere dasZurück- 
drängen des natürlichen Auslesegesetzes 
infolge der fortschreitenden Kultur, die 
längere Erhaltung der Schwachen und 
Kranken. Als Entartungsthatsachen und 
Symptome bezeichnet Alsberg die zu¬ 
nehmenden Erkrankungen des Nerven¬ 
systems und Gehirns, dieZunahme derKurz- 
sichtigkeit, der Zahncaries, der Knochen¬ 
deformitäten, namentlich der weiblichen 
Beckenknochen, der Verminderung der 
Stillfähigkeit der Frau. Durch diese letztere 
wiederum wird die erschreckende Zunahme 
der Kindersterblichkeit bedingt. Abhilfe 
erhofft der Redner von rassehygienischen 
Maassnahmen, welche die Erzeugung krank¬ 
hafter Nachkommen soviel wie möglich 
einschränken sollen. Er rechnet auf die 
Zunahme des sittlichen Pflichtgefühls in 
der Nation, wünscht aber zugleich eine 
Untersuchung aller Heirathskandidaten 
durch beamtete Aerzte! Er schloss mit 
einem Appell an Volk und Behörden, für 
gesunde und starke Nachkommenschaft zu 
sorgen. 

Zum Schluss sprach Prof. Conwentz 
(Jena) über Erhaltung von Natur-Denk¬ 
mälern. 


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Oetobcr 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


461 


Die medicinische Hanptgruppe 

machte die Einwirkungen des Lichts 
auf den Menschen zum Gegenstand der 
Verhandlung. 

Ueber die physiologischen Wirkungen 
des Lichts sprach P. Jensen (Breslau). 
Unter den Lichtreactionen des Menschen 
unterscheidet er diejenigen der Haut und 
der Augen. Die erstere wird durch allzu 
starkes Licht in Entzündung versetzt, wie 
das Sonnenekzem und der Gletscherbrand 
lehren. Massige Belichtung fördert den 
Stoffwechsel der Haut und macht sie 
widerstandsfähiger; es ist möglich, dass 
sich diese Stoffwechselsteigerung mittelst 
des Nervensystems auf die übrigen Organe 
fortpflanzt, aber diese Fernwirkung ist 
jedenfalls sehr geringfügig. Auch die 
specifischen Lichtreactionen des Auges be¬ 
stehen in Stoffwechseländerungen und zwar 
der Netzhautelemente; auch von hier aus 
werden durch das Centralnervensystem dem 
ganzen Körper gelinde Stoffwechselantriebe 
erteilt. Die Bedeutung des Lichts für das 
körperliche Leben darf aber nicht über¬ 
schätzt werden; denn auch Blinde und 
solche, deren Haut wegen sehr dichter 
Kleidung dauernd unbelichtet ist, leben 
ohne Störung weiter. Von viel grösserer 
Bedeutung für die Menschen und Thiere 
sind die Lichtreactionen ihrer Umgebung. 
Die grünen Pflanzen, welche für unser 
Leben unentbehrlich sind, können ohne 
Licht, besonders ohne rothe Strahlen, nicht 
leben. Hinzukommt die Fähigkeit inten¬ 
siver Strahlung, Bacterien in ihrer Ent¬ 
wickelung zu hemmen oder zu töten. 
Höchste Bedeutung hat das Licht für unser 
geistiges Leben und unsere Kultur. 

Die bisherigen Erfolge der Licht¬ 
therapie erörterte H. Rieder (München). 
Natürliche Lichtquellen werden in LufUicht- 
und Sonnenbädern therapeutisch ausgenutzt. 
Beim Luftbad handelt es sich um die 
Wirkung eines thermisch - mechanischen 
Reizes, der durch die bewegte Luft auf 
die entblösste Haut ausgeübt wird, während 
die Lichtwirkung kaum in Betracht kommt. 
Eis leistet gute Zwecke zur Abhärtung, 
auch wohl zur Behandlung der Skrophulose 
und Rachitis. Das Sonnenbad regt die 
Circulation und Secretion in der Haut an 
(Röthung und Schweiss), wodurch das Blut 
aus den inneren Theilen abgeleitet und 
eventuelle Schädlichkeiten ausgeschieden 
werden. Die Hauptwirkung kommt dabei 
den Wärmestrahlen zu; die therapeutische 
Verwendung kann überall stattfinden, wo 
Schweissbildung erwünscht ist. Von künst¬ 
lichen Lichtarten wird das elektrische Glüh- 

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und Bogenlicht verwendet. Das Glühlicht¬ 
bad, in Form der bekannten mit Spiegel¬ 
glas ausgekleideten Holzkästen angewendet, 
kann als ein sehr angenehmes, bequemes, 
wirksames Schwitzbad bezeichnet werden, 
welches auch nervösen schwächlichen 
Patienten und Reconvalescenten unbedenk¬ 
lich verabfolgt werden kann, vorausgesetzt, 
dass während des Schwitzens Kopf und 
eventuell auch Herzgegend durch kaltes 
Wasser gekühlt wird. Die örtliche Be¬ 
strahlung einzelner Körpertheile durch 
Glühlicht, behufs Aufsaugung krankhafter 
Producte, wird besser durch Heissluft¬ 
apparate ersetzt, weil diese höhere Wärme¬ 
grade liefern und besser ertragen werden. 

— Das elektrische Bogenlicht, auf welches 
wegen der chemisch wirksamen Strahlen 
grosse Hoffnungen geknüpft wurden, hat 
sich in unconcentrirter Form nirgends be¬ 
währt und verdient keine Anwendung. 

Um das elektrische Bogenlicht zur Be¬ 
handlung von Hautkrankheiten zu ver¬ 
wenden, muss dasselbe stark concentrirt 
werden. Durch Anwendung grosser Strom¬ 
stärke, Concentration des Lichtes durch 
Quarzlinsen sowie Beseitigung des grössten 
Teiles der Wärmestrahlen hat Finsen 
(Kopenhagen) im Jahre 1893 ein äusserst 
wirksames Licht geschaffen. Aber erst 
wenn das Blut, welches die Lichtstrahlen 
stark absorbirt und ihrem tieferen Ein¬ 
dringen in die Haut hinderlich ist, aus 
derselben verdrängt wird, gelingt es, eine 
genügend starke, zur Heilwirkung noth- 
wendige künstliche Lichtentzündung der 
Haut zu erzeugen. Die Versuche, an 
Stelle des Kohlenbogenlichtes das Eisen¬ 
licht , welches noch mehr ultraviolette 
Strahlen als jenes enthält, zu verwenden, 
haben sich nach Rieder nicht bewährt, 
weil diese Strahlen schon in den ober¬ 
flächlichen Hautschichten aufgesaugt werden 
und demnach nicht in grössere Tiefe wirken 
können. Ein vollgültiger Ersatz für den 
kostspieligen, aber sehr wirksamen Licht¬ 
sammelapparat von Finsen ist bisher noch 
nicht geschaffen worden, wenn auch die 
von Strebei neuestens konstruirte Kohlen¬ 
bogenlampe in dieser Hinsicht gute Aus¬ 
sichten eröffnet. 

Wie bei der Verwendung der Röntgen¬ 
strahlen handelt es sich auch beim Lichte 
um eine entzündungserregende Wirkung, 
welche allmählich in die Tiefe weiter¬ 
schreitet und ein Zugrundegehen der Ba¬ 
cillen bedingt, indem ihr Nährboden durch 
die im Gewebe sich abspielenden entzünd¬ 
lichen Processe für ihre Lebensbedingungen 
untauglich gemacht wird. 

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462 


J 


Die Therapie der Gegenwart 1903. October 


Die Bestrahlung mit concentrirtem elek¬ 
trischem Licht nach Finsen ist schmerz¬ 
los und unschädlich; sie zerstört nur er¬ 
krankte Gewebe, während das gesunde er¬ 
halten bleibt. Nach Rieder kann die 
Finsenbehandlung in den meisten Fällen 
durch Röntgenbehandlung ersetzt werden; 
die Anwendung der letzteren setzt sehr 
grosse Sachkenntnis und äusserste Vor¬ 
sicht voraus, da sich vielfach unliebsame 
Entzündungen auf der Haut nachträglich 
gezeigt haben. Das Finsenlicht hat sich 
glänzend gegen Lupus bewährt (in Kopen¬ 
hagen 85 % Heilung), die Behandlung 
dauert freilich ^ 2 —1 Jahr. Röntgen¬ 
strahlen dienen bei milder Belichtung zur 
Anregung des Haarwuchses, in intensiver 
Anwendung zur Enthaarung; auch bei pa¬ 
rasitären Haarkrankheiten hat sich die 
Radiotherapie bewährt, desgleichen bei 
vielen Hautkrankheiten. Hautkrebse sind 
durch Röntgenstrahlen heilbar, selbst bei 
tiefergehenden Carcinomen kann Stillstand 
im Wachstum und Nachlass der Schmerzen 
erzielt werden 1 ). — Gewöhnlich wird weisses 
Licht therapeutisch angewendet, doch kann 
durch Filtration desselben durch farbiges 
Glas oder wässrige Farblösungen auch 
farbiges Licht hergestellt werden (Chro- 
motherapie). Blaues Licht soll beruhigen, 
rothes erregend wirken. Insbesonders soll 
der Aufenthalt in roth belichteten Räumen 
auf die Narbenbildung bei Pocken, sowie 
die Heilung acuter Exantheme günstig 
einwirken. Dem Heilerfolg blauen Lichts 
bei Nervenkrankheiten steht Rieder 
skeptisch gegenüber. 

Aus der Abtheilung für Innere Medlcin. 

Die Verhandlungen wurden begonnen 
mit einem Vortrag des Petersburger Che¬ 
mikers von Poehl, über die Verwendung 
physiologischer Katalysatore als Heilmittel. 
Unter Katalysatoren versteht von Poehl 
solche Stoffe, welche die Zeitdauer der 
Reactionen beeinflussen und ohne deren 
Mitwirkung die Erhaltung des Lebens und 
die Beschaffung der erforderlichen Energie 
undenkbar ist. Er unterscheidet positive 
und negative, allgemeine und specifische 
Katalysatoren. Allgemeine Katalysatoren 
sind Spermin und Adrenalin. Specifische 
Katalysatoren sind solche Körper, welche 
die Funktion eines Organs oder die Ge- 
websathmung desselben beeinflussen. Für 
therapeutische Zwecke hat von Poehl 
„synergetische Gruppen von Leukomainen“ 
gewonnen wie z. B. Cerebrin, Ovarin, 

*) Vergleiche den Bericht über die chirurgische 
Abtheilung S. 468. 

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Mammin etc. Das Cerebrin beeinflusst 
katalytisch die Excretion der Nierenstoff- 
wechselproducte und hilft bei Epilepsie, 
Neurasthenie und Alkoholismus, das Ovarin 
bei Klimacterium, das Mammin bei Uterus¬ 
myom! Man darf wohl Herrn Naunyn 
besonderen Dank wissen, dass er in einer 
energischen Bemerkung darauf hinwies, dass 
es sich bei diesem Vortrag um lauter Worte 
ohne eigentlichen Inhalt handele und dass 
keine der Behauptungen des Vortragenden 
irgendwie bewiesen wäre. Es ist wohl zu 
hoffen, dassnach dieser Kennzeichnung durch 
einen der anerkanntesten und verehrtesten 
Führer der deutschen MedicinHerr v.Poehl 
sich nicht mehr zu ähnlichen Vorträgen in 
deutschen Versammlungen einfinden wird. 

Danach sprach Hr. Schottelius (Frei¬ 
burg) über die Eintrittspforten der Pest- 
infection. Er hält die Pest für eine Wund- 
infectionskrankheit, die nur bei empfäng¬ 
lichen, schlecht genährten Individuen sich 
entwickele. Die Infection geschieht meist 
von kleinen Hautwunden, die leicht über¬ 
sehen werden. Sie könne auch vom Munde 
aus stattfinden, aber nicht durch directe 
Inhalation, sondern durch kleine Risse in 
der Mundschleimhaut und im Isthmus fau- 
cium, von wo dann die Halsdrüsen inficirt 
werden und von diesen durch Lymph- 
bahnen die Pleura. Primäre Lungenpest 
durch Inhalation ist jedenfalls sehr selten. 
Durch den Nachweis von Pestbacillen im 
Auswurf werde sie nicht bewiesen, da 
alle Pestkranken Bronchitis oder hyposta¬ 
tische Pneumonie mit Ausscheidung von 
Pestbacillen bekommen. Die Infections- 
gefahr für Europäer hält Schottelius für 
sehr gering, da Aerzte und Pfleger in In¬ 
dien sehr selten erkranken (von 98 Diako¬ 
nissen nur 3). Doch solle man die Gefahr 
für Europa nicht unterschätzen, da es auch 
in den Epidemieen vergangener Jahr¬ 
hunderte 50 Jahre gedauert hat, ehe die 
Pest von Asien nach Europa kam. Es 
wäre wohl möglich, dass eine allmähliche 
Anpassung des Pestbacillus an das euro¬ 
päische Klima einträte. Uebrigens befällt 
die Pest auch in Indien nur unterernährte, 
schlechtversorgte Menschen. 

In der Discussion berichtet Kraus über 
den in Berlin vorgekommenen Pestfall, bei 
dem ein Nasenausfluss wie bei maligner 
Diphtherie bestand. Als differential-dia¬ 
gnostisches Mittel für Infection vom Munde 
aus bezeichnet er den Halsbubo. 

Rumpel (Hamburg) hat in einem Fall 
die Pestdiagnose stellen können, indem er 
20 ccm Blut aus der Armvene auf eine 
Nährplatte ausgoss und Pestbacillen wachsen 


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October 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


463 


sah; er empfiehlt danach die Blutbacterio- 
skopie als wichtiges diagnostisches Mittel. 

Eine Gedächtnissrede auf Virchow 
namentlich in seinen Beziehungen zur 
inneren Medicin hielt Ebstein (Göttingen.) 
Er erwähnte Virchow’s Reden über die 
Ausbildung der Aerzte, seine litterarischen 
Verdienste um die practische Medicin, 
seine Bemühungen um die Verknüpfung 
socialer Reformen mit der Medicin, schliess¬ 
lich seine Stellung als Arzt der Gefangenen¬ 
station in der Charite und seine gelegent¬ 
lichen Aeusserungen über die Therapie, 
deren nihilistische Strömungen er ver¬ 
urteilte. Die schönen Bemerkungen über 
allgemeine Therapie, die Virchow 1899 in 
dieser Zeitschrift niedergelegt hat, sind dem 
Vortragenden leider entgangen. Der Schluss¬ 
mahnung Ebstein’s, wir sollten Vir- 
chow’s Andenken nichtnurdurch das Denk- 
mal ehren,sondern indem wir seine Schriften ' 
studiren und das Fördernde herausnehmen, 
stimmte die Abtheilung lebhaft zu. 

Ad. Schmidt (Dresden) berichtete über 
die Anwendung des Menzer’sehen Anti¬ 
streptococcenserum bei Gelenkrheuma¬ 
tismus. Es wurden 8 subacute und 
3 chronische neben 4 acuten behandelt. 
15—20 ccm wurden täglich in der Nähe 
der befallenen Gelenke injicirt, die Ein¬ 
spritzung bis zu 8 mal wiederholt. Eine 
specifische Reaction fehlte, dagegen meist 
ausgesprochene locale Rötung und Schwel¬ 
lung. In 6 Fällen war deutlich objectiver 
Erfolg, 5 mal war die Behandlung erfolg¬ 
los, 4 mal wurde subjective Erleichterung 
erzielt. Schmidt empfiehlt die Menzer- 
schen Injectionen für die subacuten Fälle, 
bei denen alle anderen Methoden versagt 
haben. Kraus (Berlin) schiiesst sich der 
Empfehlung für solche Fälle an, die zwi¬ 
schen acutem und chronisch productivem 
Verlauf stehen; er hat dabei bessere Be¬ 
weglichkeit der Gelenke ohne Abschwellen 
gesehen; er warnt vor der Anwendung in 
acuten Fällen, bei denen die Gefahr 
schlimmer Complication (Pericarditis, Pleu¬ 
ritis) drohe. 

Zur Anwendung von Nährklystiren 
empfiehlt A. Schmidt eine fertige Mi¬ 
schung von 250 ccm 0,9 % Kochsalzlösung 
50 g Dextrin und 20 g Nährstoff Heyden, 
die im zugeschmolzenen Glasrohr sterili- 
sirt sind; das Glasrohr kann nach Ab¬ 
brechen der Spitze direct als Irrigator 
dienen. Leider steht der Preis (4,50 M. 
für 1 Klystier) der allgemeinen Anwendung 
im Wege. 

Prof. Dam sch (Göttingen) berichtete 
über 4 Fälle chronisch interstitieller Pneu- 


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monie, die Jahre lang ohne Fieber ver¬ 
liefen und unter den Symptomen der 
fibrösen Induration schliesslich zu functio- 
neller Insufficienz des Herzens führten. 
Augenscheinlich hat das Symptomenbild 
eine grosse Aehnlichkeit einerseits mit den 
postpneumonischen Lungenschrumpfungen, 
andererseits mit der chronisch-indurativen 
Form der Lungenphthise. Nach Damsch 
aber handelt es sich in seinen Formen um 
idiopathische Erkrankungen dunklen Ur¬ 
sprungs, bei denen es nur zur Starrheit, 
aber nicht zur Schrumpfung der Lungen 
kommt und bei denen Tuberkelbacillen nie¬ 
mals Vorkommen. In der Discussion be¬ 
tonte Rumpf, dass er in ähnlichen Fällen 
doch schliesslich Tuberkulose habe nach- 
weisen können, während Bäumler zeit¬ 
weises Fieber beobachtet hat. Auch Litten 
hat derartige schleichende Pneumonien 
ohne grosse Bronchiektasien und Schrump¬ 
fungen nicht gesehen. 

Dr. Delius (Hannover), der sich seit 
längerer Zeit mit der specialistischen Aus¬ 
übung der Hypnose beschäftigt, hielt einen 
Vortrag über die Behandlung der functio- 
nellen Störungen des Stuhlgangs, besonders 
der Obstipation durch hypnotische 
Suggestion. Der Vortragende glaubt, dass 
für die Stuhlentleerung neben dem auf das 
Rectum ausgeübten Reiz der angesammel¬ 
ten Kothmassen vor allem „centrale Auto¬ 
matismen“ in Betracht kommen, die ihrer¬ 
seits unter dem Einfluss von Zeit- und an¬ 
deren Vorstellungsassociationen stehen. 
Bekannt ist die auffallende zeitliche Gleich- 
mässigkeit der Defäcation bei vielen Men¬ 
schen und ihre Abhängigkeit von dem 
Glauben, dass dies und jenes hemmend 
oder fördernd einwirkt. Als wichtigste 
Ursache der Verstopfung bezeichnet De¬ 
lius die Trägheit der Innervation des 
Sympathicus, bezw. das Fehlen der diese 
Innervation erregenden Reize. Abführ¬ 
mittel und Klystire hält er für direct 
schädlich, da sie den Darm an grössere 
Reize gewöhnen und beim Patienten die 
Vorstellung fixiren, dass es ohne Hilfe 
nicht geht. Dagegen werden die „trägen 
Automatismen“ durch hypnotische Sug¬ 
gestion wieder angeregt, und man kann 
die unbewussten Automatismen wieder an 
die Norm gewöhnen, indem man täglich 
zur bestimmten Zeit „eine kräftige Inner¬ 
vationswelle“ erfolgen lässt. Die Erfolge, 
welche durch Massage und Elektrisiren 
erzielt worden sind, schreibt der Vor¬ 
tragende alle auf’s Conto der Suggestion 
(„Wachsuggestion“) und vergleicht sie mit 
den Erfolgen der Gebetsheilung; ungleich 

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Original fro-m 

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464 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


1 


sicherer wirke die hypnotische Suggestion, 
und zwar um so nachhaltiger, je tiefer sie 
ist. Die Patienten sind in verschiedenem 
Grade hypnotisirbar; einige wenige gar 
nicht (2%), einige nur bis zu leichter Schläf¬ 
rigkeit (3°/ 0 ), die überwiegende Mehrzahl 
(75°/o) gerathen in einen kataleptischen 
Zustand vollkommener Automatie, doch 
ohne Amnesie, während 20% in wahren 
Somnabulismus mit nachheriger Amnesie 
verfallen, Der Vortragende legte eine 
sehr detaillirte Tabelle über 84 Kranke 
vor, unter denen nur 4 gänzlich unbeein¬ 
flusst blieben, während 13 gebessert, 67 
gänzlich geheilt wurden. Hiervon haben 
32 durch spätere Nachricht die Dauer¬ 
heilung bis nach 7 % Jahren bekundet. 
Diese Mittheilung bildet jedenfalls einen 
interessanten Beleg für den mächtigen 
Einfluss, die der Arzt durch seine Persön¬ 
lichkeit auf die dem Nervensystem unter¬ 
stehenden Functionen seiner Patienten aus¬ 
zuüben vermag. 

Dr. Fisch (Franzensbad) demonstrirte 
Badetabletten, durch welche eine genaue 
Dosirung künstlicher Kohlensäure¬ 
bäder bewirkt werden soll. Durch Zusatz 
derselben kann man nach Belieben dem 
Bade einen Gehalt von 1—3o/ 0 Kochsalz 
sowie von 0—210 1 CO 2 verleihen. Diese 
Tabletten werden in der Fabrik des 
Dr. Sedlitzki in Hallein (Oesterreich) 
hergestellt und verdienen wohl bei Herz¬ 
kranken geeignetenfalls erprobt zu werden. 

Dr. Katz (Berlin) sprach über Deutsch- 
Südwestafrika als klimatischen Cur- 
aufenthalt für Tuberkulöse. Er führte 
ungefähr Folgendes aus: Es gibt zwei 
Mängel, wenn man heute tuberkulöse 
Patienten in klimatische Curorte oder 
Heilanstalten schickt. Erstens kommt der 
Patient nach kürzerer oder längerer Zeit 
wieder in seine alten, schlechten Lebens¬ 
bedingungen zurück, zweitens wird der 
Wenigbemittelte durch den Müssiggang 
der Heilstätten jeder Arbeit entwöhnt. 
Wir müssen also suchen, den Kranken 
dauernd den Schädlichkeiten seinerHeimath 
zu entziehen. In Deutsch - Südwestafrika 
bietet sich uns nun ein Land, in dem für 
Lungenkranke vorzüglich günstige klima¬ 
tische Verhältnisse herrschen und reichlich 
Arbeitsgelegenheit vorhanden ist. In 
unseren Kolonien ist eine sehr gleich- 
mässige Jahrestemperatur, die Tages- und 
Nachtschwankungen sind beträchtlich, so- 
dass dort die Nachtluft kühl und erquickend 
ist. Während des Winters kann man den 
ganzen Tag im Freien sitzen. Die Luft 
ist rein und trocken, der Himmel ewig 


heiter und blau, wie in Griechenland; kurz, 
unsere Kolonien sind das geeignetste Land 
für Lungenkranke. Natürlich dürfen wir 
nur Leute hinschicken, die bei ihrer Er¬ 
krankung noch einigermassen arbeitsfähig 
sind. Besonders wäre die Ansiedelung 
schwächlich gebauter junger Leute mit 
Tuberkulose-Disposition anzurathen. Die 
Kolonisten kaufen sich dort eine Farm, 
die zu dem Preise von 40—50000 Mk. er¬ 
worben werden kann. Die Zahlung des 
Kapitals kann ratenweise erfolgen. Damit 
ist ihnen ein gutes Auskommen gesichert; 
ja bei einiger Tüchtigkeit kann durch An¬ 
lage von Seidenspinnereien, Tabaks¬ 
pflanzung u. s. w. ein erheblicher Gewinn 
erzielt werden. Weniger kapitalskräftige 
Leute können als Verwalter, Beamte, Ar¬ 
beiter in solche Farmen ein treten. Gegen 
die weite Reise und Seefahrt ist vom 
ärztlichen Standpunkt aus nichts einzu¬ 
wenden. Gerade die Seefahrt ist für 
Lungenkranke besonders geeignet, hat 
man doch gerade für Tuberkulöse so¬ 
genannte schwimmende Sanatorien erbauen 
lassen. — Zweckmässig wäre es, wenn in 
der Nähe der Häfen grosse Sanatorien 
von deutschen Aerzten eingerichtet würden. 
Dort könnten die Ankommenden sogleich 
nach Ankunft Unterkunft finden. Dort 
sollten sie die ersten Wochen zubringen, 
um sich zu acclimatisiren und sich all¬ 
mählich an ihre neue Thätigkeit zu ge¬ 
wöhnen. — Nach seinem Vortrag liess 
Dr. Katz eine öffentliche Aufforderung 
zum weiteren Studium der klimato-thera- 
peutischen Verhältnisse Südwestafrikas 
circuliren, welche die Unterstützung Wal- 
deyers gefunden hatte und die auch von 
zahlreichen Klinikern und Aerzten unter¬ 
schrieben wurde. 

G. Klemperer (Berlin) berichtete über 
experimentelle Untersuchungen zur Aetio- 
logie des Fiebers, welche sich wegen ihres 
rein theoretischen Inhalts vorläufig nicht 
zum Referat an dieser Stelle eignen. 
Ebensowenig möchte ich referiren über 
die Vorträge von Neubauer (München) 
über die Natur des Urobilins, sowie von 
Falta (Basel) über Alkaptonurie, welche 
glänzende physiologisch - chemische That- 
sachen zu unserer Kenntniss brachten und 
in wissenschaftlicher Beziehung den Ar¬ 
beiten unserer Section dauernde Bedeutung 
verliehen. 

Aus dem Vortrag des Berner Physiologen 
Professor Asher über Diurese möchte 
ich die exacten Feststellungen der Wechsel¬ 
beziehung zwischen Niere und anderen 
Organen hervorheben. Bekanntlich erregt 




Oktober 


465 


Die Therapie der 


Pilocarpin eine ausserordentliche Speichel- 
serretion, während die Nierenarbeit da¬ 
durch weder positiv noch negativ beein¬ 
flusst wird. Wenn nun beim Hunde die 
Speicheldrüsen durch Pilocarpin in Thätig- 
keit gesetzt werden, so sinkt die Nieren- 
thätigkeit und kann auch durch stärkste 
Diuretica bei dauernder Pilocarpinwirkung 
nicht entsprechend erhöht werden. Selbst 
die enorme Anregung der Nierenthätigkeit 
durch Kochsalzinfusion, welche eine hydrä- 
mische Plethora erzeugt, wirkt nur sehr 
gering. Andererseits ist experimentell zu 
beweisen, was wir ja aus der Klinik wissen, 
dass Resorptionen sich aus serösen Höhlen 
schneller als gewöhnlich vollziehen, wenn 
die Diurese angeregt wird. Wie sind 
die geheimnisvollen Wechselbeziehungen 
zwischen Niere und anderen Organen zu 
erklären? Eine active Anpassung der 
Niere muss angenommen werden. Sonst 
wäre z. B. nicht zu verstehen, wieso die 
Niere bei Kochsalzhunger weniger Koch¬ 
salz absondert, während der Kochsalz¬ 
gehalt des Blutes constant bleibt. Der 
Vortragende nimmt an, dass die Nieren¬ 
zellen ihre Thätigkeit im Stoffwechsel 
ändern, indem sie durch das Lymph- und 
Nervensystem Impulse zugeführt erhalten 
und an dasselbe Thätigkeitsproducte ab¬ 
geben. — Der hieran anschliessende Vor¬ 
trag von Strauss (Berlin) über Kochsalz¬ 
zufuhr in Herz- und Nierenkrankheiten ist 
in diesem Heft abgedruckt. 

Von grossem, allgemeinem Interesse 
waren die Darlegungen von Franken¬ 
häuser (Berlin) über die thermische 
Wirkung von Salzen auf die Haut, 
welche vielleicht geeignet sind, die Wirkung 
der Salzbäder auf vielerlei Krankheiten 
unserem Verständniss näher zu bringen. 
Bekanntlich muss als erwiesen angesehen 
werden, dass Salzlösungen die Haut nicht 
zu durchdringen vermögen, wie noch letzt¬ 
hin von den Schülern Kionkas in dieser 
Zeitschrift auseinandergesetzt worden ist. 
Die Balneologen sind in der peinlichen 
Lage, die empirisch feststehenden Wir¬ 
kungen der Salzbäder auf wissenschaft¬ 
lichem Wege nicht erklären zu können. 

Frankenhäuser glaubt nun den Nach¬ 
weis erbracht zu haben, dass die Salze 
ihre Wirksamkeit auf den Körper ausüben, 
gerade weil sie nicht in denselben ein- 
dringen, sondern sich auf der Haut aus¬ 
breiten, ihr anhaften, und ihre physikalische 
Oberfläche verändern. Ihre Wirkung ist 
also keine chemische, sondern eine 
physikalische. Und zwar ist sie eine 
ganz eigenartige Wärmewirkung. Während 

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Gegen wu; t 1903. 


Wasser der gewöhnlichen Atmosphäre 
rasch verdunstet, verdunsten wässrige Salz¬ 
lösungen langsamer, die Verdunstung wird 
unter Umständen gleich Null, ja es kann 
infolge der Anziehungskraft zwischen Salz 
und Wasser an Stelle der Verdunstung die 
Aufnahme von Wasser aus der Luft 
treten, wie wir das bei allen sogenannten 
zerfliesslichen Salzen täglich beobachten. 

Nun wird durch Verdunstung Abkühlung, 
durch Condensation von Wasser umgekehrt 
Erwärmung erzielt. Das geschilderte 
Verhalten von Salzlösungen macht sich 
daher unmittelbar durch Einwirkung auf 
das Thermometer geltend. 

So zeigte z. B. bei einer Lufttemperatur 
von 14,5° C. ein mit Wasser befeuchtetes 
Thermometer 13,0° C., ein mit Kreuznacher 
Mutterlauge befeuchtetes Thermometer aber 
15,25° C. 

Da nun der menschliche Körper fort¬ 
während Wasser verdunstet, und zwar 
einen sehr wesentlichenTheil seinerWärme- 
production (regelmässig mehr als 20°/o) 
durch Wasserverdunstung verliert, so kann 
es für das Befinden nicht gleichgültig sein, 
ob seine Oberfläche mit einer künstlichen 
Schicht aus solchem die Verdunstung 
hemmenden Material überzogen ist. 

Frankenhäuser zeigte, dass die Salze 
thatsächlich diese Wirkung auch auf der 
Haut entfalten, und zwar desto energischer, 
je höher die äussere Luftfeuchtigkeit stieg. 

Es würde sich also der Patient im Laufe 
der Badekur mit einem nach und nach 
immer wirksamer werdenden Mantel zu um¬ 
geben haben, der die Wärme- und Wasser¬ 
abgabe von der Haut vermindert, die Tem¬ 
peraturschwankungen mildert, eine bessere 
Durchblutung der Haut und dadurch gleich¬ 
zeitig eine Entlastung des Blutgefässsystems 
ermöglicht. 

Diese eigenartige thermische Wirkung 
ist also als Nachwirkung der Bäder zu 
denken; es würden danach die Mineral¬ 
bäder ein Mittelglied zwischen Wasser¬ 
behandlung und klimatischen Einflüssen 
bilden. Freilich wäre dann die Wirkung 
der Mineralbäder von dem betreffenden 
Kurort unabhängig und manche Mineral¬ 
wasser gewiss in Klimaten fern von ihrem 
natürlichen Ursprung noch wirksamer. Man 
darf von der Nachprüfung der Franken- 
häuser’schen Theorie jedenfalls eine Be¬ 
fruchtung unserer balneologischen Erkennt¬ 
nis erwarten. 

Eine Stärkung der wissenschaftlichen 
Balneologie bedeuten auch die Unter¬ 
suchungen von Löwy und Müller über 
den Einfluss der Seebäder und des 

59 


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466 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


Seeklimas auf den Gesammtstoffwechsel 
des Menschen. Sie fanden an sich selbst 
schon nach den ersten Nordseebadern in 
Sylt den Sauerstoffverbrauch und das 
Athemvolum beträchtlich vergrössert, wäh¬ 
rend sich bei einer etwas zarten Frau 
keine Vermehrung des O-Verbrauchs er¬ 
kennen liess. Es ist damit die allgemeine 
Erfahrung sanctionirt, dass der Organismus 
kräftiger Menschen an der Nordsee eine 
gewaltige Anregung erfährt, während 
Schwächliche dadurch eher in ihrem Stoff¬ 
wechsel geschädigt werden. — 

Von nicht geringer practischer Bedeu¬ 
tung war der Vortrag des Prof. Grun- 
mach, Leiters des staatlichen Röntgen¬ 
instituts in Berlin, „über die Leistungen 
der X-Strahlen zur Bestimmung der Lage 
un[d Grenzen des Herzens“. Was der 
Vortragende in methodischer Beziehung 
berichtete, deckte sich grösstentheils mit 
den Mittheilungen de laCamps im letzten 
Heft dieser Zeitschrift. Grunmach hat 
mittelst der Orthodiagraphie festgestellt, 
dass das gesunde Herz in seinen Grenzen 
und seinem Inhalt nicht verändert wird, 
weder durch Arbeit noch durch Bewegung 
noch durch Alkohol. Ein krankhaft er¬ 
weitertes Herz lässt sich durch Digitalis, 
namentlich bei gleichzeitiger Morphiumgabe, 
beträchtlich verkleinern. Wie exact solche 
Feststellungen zu machen sind, möge aus 
folgendem Beispiel hervorgehen: Bei einem 
gesunden Mann von 168 cm Körperlänge 
betrug der Flächeninhalt des Herzens 
100 qcm; der grösste Längsdurchmesser 
13,5 cm; der grösste Querdurchmesser 
10,5. Bei einem gleich grossen Mann 
mit schwerer Aorteninsufficienz im Sta¬ 
dium schlimmster Compensationsstörung 
betrug der Flächeninhalt 264 qcm, die bei¬ 
den anderen Maasse 21 bezw. 15. Bei diesem 
Kranken ging unter Digitalis und Morphium 
der Flächeninhalt auf 200 zurück; bei der 
beschwerdefreien Entlassung betrug er 
178 qcm. Von grossem Interesse waren 
die Versuche mit physikalischer Therapie: 
durch keine Art von Hydrotherapie, ins¬ 
besondere nicht durch C 02 Bäder, liess 
sich eine Verkleinerung des Herzvolums 
erzielen. Diese Feststellung wird wohl zu 
einer etwas bescheideneren Einschätzung 
der jetzt vielfach allzusehr gepriesenen 
Bäderbehandlung der Herzkrankheiten bei¬ 
tragen. Dagegen liess sich durch directe 
Massage des Herzens eine nachweisbare, 
wenn auch nicht sehr beträchtliche Ver¬ 
kleinerung des vergrösserten Herzens er¬ 
zielen. Mittelst der Orthodiagraphie hat 
Grunmach zahlreiche Herzneurasthe- 

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niker untersucht und dabei zuerst eine 
Kategorie mit vollkommen normalem Cor, 
mit leicht gesteigerter, aber regelmässiger 
Pulsfrequenz gefunden. Eine zweite Kate¬ 
gorie zeigt das Herz ebenfalls nicht ver¬ 
grössert, jedoch nach abwärts und zur 
Seite gelagert, so dass es der Figur einer 
Ente vergleichbar ist (Cardioptose). Der 
Puls ist regelmässig, oft beschleunigt. In 
einer dritten Kategorie ist der Puls auf¬ 
fallend unregelmässig, so zwar, dass der 
2. oder 3. Schlag aussetzt (Pulsus bige- 
minus, trigeminus); das Herz ist dabei 
leicht vergrössert. In der Discussion hob 
Naunyn hervor, dass man diese dritte 
Kategorie wohl nicht mehr zu den Ge¬ 
sunden rechnen dürfe, wie ja die con- 
statirte Dilatation beweise; nach seiner 
Erfahrung deutet Bigeminie des Pulses 
immer auf einen pathologischen Zustand 
des Herzens. — Prof. Grunmach hat 
nun das orthodiagraphische Verfahren zur 
Nachprüfung der Untersuchungsmethoden 
von Dr. Smith benutzt, „welcher jetzt in 
Berlin eine so bedenkliche Rolle spielt“. 
Es zeigte sich in 100 untersuchten Fällen, 
dass die mit dem Phonendoskop nach 
Smith gefundenen Ergebnisse 86mal der 
Wirklichkeit nicht entsprachen. Oft lag 
das nach Smith umgrenzte Herz ganz 
wo anders als da, wo die Orthodiagraphie 
die wirkliche Lage zeigte. Uebrigens 
wurden die Untersuchungen von zwei 
Assistenten ausgeführt, die die Methode 
von Dr. Smith selbst erlernt hatten. 
Danach erklärte Prof. Grunmach die 
Untersuchung mittelst Phonendoskop ein 
für allemal für werthlos. Grunmachs Aus¬ 
führungen stimmen in erfreulicherweise mit 
den Ausführungen de la Camps in unserer 
Zeitschrift überein. Wir dürfen wohl 
jetzt mit Bestimmtheit aussprechen, dass 
therapeutische Methoden, deren Ergebnisse 
nach so unzuverlässigen Kennzeichen fest¬ 
gestellt sind, keine Empfehlung verdienen. 

Aus den übrigen Mittheilungen möchten 
wir noch erwähnen, dass Dr. Aböe (Nau¬ 
heim) von Neuem die Erfolge seiner Herz- 
stützen betonte, von denen in dieser 
Zeitschrift schon früher kritisch gesprochen 
wurde, und dass Dr. Fried län der (Reichen¬ 
hall) Thiosinamin zur Behandlung pleu- 
ritischer Schwarten empfahl, mit ähnlicher 
Begründung, wie sie von Lewandowski in 
diesem Hefte gegeben wird. G. Klemperer. 

Aus der Abtheilung für Kinderheilkunde 
(zugleich Sitzung der Gesellschaft für 
Kinderheilkunde.) 

Die nachstehenden Zeilen sollen kein 
ausführliches Referat der Verhandlungen 

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Octobcr 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


467 


darstellen, sondern möglichst nur die Vor- 
träge berücksichtigen, die von praktischem 
und besonders von therapeutischem Inter¬ 
esse sind. 

Herr Cahen- Brach berichtete über 
einen Fall von hochgradiger Stuhl Verstopf¬ 
ung bei einem dreijährigen Knaben, der 
durch methodische Anwendung hoher Oel- 
klystiere wesentlich gebessert wurde. Bei 
den Eingiessungen legte der Vortragende 
Werth auf eine sehr hohe Einführung der 
Sonde, da sonst nach seiner Meinung die 
gewünschte Wirkung nicht zustande kommt. 
Ob seine Annahme, dass es sich hier 
wirklich um eine Colonektasie gehandelt 
habe, zutrifft, muss dahin gestellt bleiben, 
zu erwähnen ist aber, dass nach Ansicht 
sehr erfahrener Autoren, wie z. B. Biedert, 
die Einführung des Schlauches • in der 
Länge, in der es der Vortragende wünschte, 
23 cm, nur sehr schwer gelingt, da die 
Sonde sich aufrollt. Es genügt auch voll¬ 
ständig mit dem Katheter über denSphincter 
internus zu kommen und bei hochgestelltem 
Becken das Oel einfliessen zu lassen aus 
einer Höhe von ca. Va Meter, dabei dringt 
das Oel genügend weit herauf, um wirken 
zu können. 

Mit Recht wurde von Ganghofer darauf 
hingewiesen, dass eine noch wirksamere 
Behandlung der Obstipation die methodi¬ 
sche Bauchmassage ist, die gerade bei 
jungen Kindern häufig zu einer Dauer¬ 
heilung führt. Referent möchte dem noch 
hinzufügen, dass diese ausgezeichnete und 
sehr einfache Methode viel zu wenig be¬ 
kannt ist und viel zu selten angewendet 
wird. Sie führt, natürlich unter Zuhilfe¬ 
nahme der bei Darmträgheit üblichen Diät, 
beinahe stets zum Ziele. 

Die nächsten Vorträge von Reinach- 
München und Siegert-Strassburg 
gelten dem schon in der vorjährigen Ver¬ 
sammlung angeschnittenen Thema der 
Fermenttherapie bei den Verdauungs¬ 
störungen der Säuglinge. 

Rein ach hat Versuche mit dem be¬ 
kannten Labferment gemacht, das unter 
dem Namen Pegnin in den Handel ge¬ 
kommen ist. Die Ansichten über den 
Werth dieser Methode, das Casein der 
Milch mit diesem Präparat auszufällen und 
das ausgefallene Casein durch energisches 
Schütteln fein zu vertheilen, sind noch 
recht widersprechend. R ei nach kommt 
bei seinen Untersuchungen zu dem Re¬ 
sultat, dass die Methode für chronische 
Fälle keine besonderen Vortheile bietet, 
weder was die Ausheilung der Darmstörung, 
noch die Hebung des Ernährungszustandes 

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anlangt; wesentlich günstiger gestaltete 
sich die Ausheilung acuter Verdauungs¬ 
störungen. 

Ausserdem wurden namentlich Magen¬ 
störungen, Erbrechen, Unruhe nach dem 
Trinken prompt durch die Labung der Milch 
beseitigt. 

Herr Siegert verbreitet sich eingehend 
über die Ferment-Therapie bei Atrophie 
der Säuglinge. Er stellt als Indikationen 
für diese Therapie auf, die mangelnde Se- 
cretion der Verdauungsdrüsen, Magen, 
Dünndarm, Pankreas. Ihre Diagnose er¬ 
folgt aus dem Nachweis von reichlichem 
Fett, unverdauter Stärke, zahlreichen Pa¬ 
racaseinflocken im Stuhl, unter Ver¬ 
hältnissen, wo diese Bestandtheile sonst 
fehlen bezw. nur feinste emulgirte Fett¬ 
tropfen beobachtet werden. Aber auch 
dann kann auf mangelnde Funktion der 
Verdauungsdrüsen geschlossen werden, 
wenn bei fehlender anderweitiger Organ¬ 
erkrankung trotz zweckmässiger Nahrung 
die Gewichtszunahme ungenügend bleibt. 

Dass eine grosse Zahl von Atrophie- 
Fällen nur so zu erklären ist, lehrt der 
überraschende Erfolg der Fermenttherapie. 

Die Leistungen der mit Pegnin ge¬ 
labten Kuhmilch und ihrer Verdünnungen, 
die Wirkung der Pankreaspräparate (Pan- 
creon) vor allem auch der Buttermilch, 
dieses ausgezeichneten Erregers des Dünn¬ 
darms und Pankreas veranlassen den Vor¬ 
tragenden zur wärmsten Empfehlung einer 
derartigen Behandlungsweise. Vorstehend 
eine Wiedergabe ungefähr der eigenen 
Worte des Vortragenden. 

Die Diskussion führt zu keinem ein¬ 
deutigen Resultat, zeigt vielmehr eine 
überraschende Vielseitigkeit der Ansichten 
und Vorstellungen, so dass es nicht nützlich 
erscheint, sie hier dem Leser ausführlich 
wiederzugeben, da eine weitere Klärung 
der Frage dadurch nicht zu erzielen wäre; 
letztere kann nur durch weitere Beobach¬ 
tungen von verschiedener Seite gebracht 
werden. 

Nur ein Punkt muss herausgegriffen 
werden. 

Schlossmann sprach gegenüber Sie¬ 
gert die Meinung aus, dass die Lehre: „Bei 
akuten Darmkrankheiten die Milch weg a 
zwar alt aber eine Irrlehre sei; voraus¬ 
gesetzt eine tadellose Beschaffenheit der 
Milch, könne man auch ganz akut darm¬ 
kranken Kindern sofort Milch geben und 
vermeide dabei den Verfall, der im Ge¬ 
folge des Hungers eintrete. „Ist denn 
die Milch ein Gift? so fragt Schloss¬ 
mann. Diese Ansicht widerstreitet ab- 

59» 

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Octobcr 


4 68 Die Therapie der 


solut langjähriger, viel hundertfältiger Er¬ 
fahrung und muss desshalb, wenn sie diese 
Erfahrung stürzen und sich an ihre Stelle 
setzen will, doch wohl noch eingehender 
mit Veröffentlichung genauester Kranken¬ 
geschichten belegt werden. Solange das 
nicht in absolut überzeugender und ein¬ 
wandfreier Weise geschehen ist, müssen 
wir an der Ansicht festhalten, dass bei 
akuten Darmstörungen die Milch sofort 
auszusetzen ist, und dass Herrn Schloss- 
manns Frage für die Fälle mit schweren 
akuten Darmstörungen namentlich für den 
akuten Enterokatarrh dahin zu beantworten 
ist: „Für diese Kinder ist die Milch 
allerdings Gift“. 

M. H ir s c h fe 1 d (Charlottenburg), welcher 
sich durch eingehende Studien über Homo¬ 
sexualität bekannt gemacht hat, sprach über 
das urnische Kind. Man versteht dar¬ 
unter mädchenhaft veranlagte Knaben und 
knabenhafte Mädchen. Es war dem Vor¬ 
tragenden bei der Beobachtung und Unter¬ 
suchung von 1800 Homosexuellen aufge¬ 
fallen, dass fast alle angaben, sie wären 
bereits als Kinder anders gewesen, wie 
die gewöhnlichen Knaben und Mädchen. 
Es stimmt das mit der heute wohl zumeist 
angenommenen Anschauung überein, dass 
es sich bei der homosexuellen Neigung um 
eine angeborene Erscheinung handelt. Die 
Verehrung urnischer Knaben für manche 
Lehrer und Kameraden, diejenige urnischer 
Mädchen für bestimmte Lehrerinnen und 
Mitschülerinnen trägt oft den Charakter 
hochgradiger Schwärmerei. Das Interesse 
für den Unterrichtsgegenstand steht bei 
vielen im engsten Zusammenhang mit der 
Person des Lehrers. Im Uebrigen wird die 
meist vorhandene geistige Befähigung ur¬ 
nischer Kinder durch eine gewisse Un¬ 
sicherheit und Verträumtheit, oft auch durch 
Zerstreutheit infolge allzu reger Phantasie 
wesentlich beeinträchtigt; urnische Knaben 
sind meist besonders schlecht für Mathe¬ 
matik und Turnen, oft auffallend gut für 
Literatur, Geschichte, Zeichnen und Musik 
veranlagt. Das Schamgefühl äussert sich 
früzeitig und unbewusst mehr dem eigenen 
Geschlecht gegenüber. Was die körper¬ 
lichen Zeichen betrifft, so tritt u. a. bei 
urnischen Knaben der Stimmwechsel häufig 
sehr spät und schwach, manchmal garnicht 
ein; urnische Mädchen bekommen oft in 
der Pubertätszeit eine tiefere Stimmlage. 
Der Bartwuchs stellt sich bei urnischen 
Jünglingen oft sehr spät, sehr spärlich und 
ungleich ein; dagegen findet sich nicht 
selten zur Reifezeit ein mit Schmerzhaftig¬ 
keit verknüpftes Anschwellen der Brüste. 

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Gegenwart 1903. 


Bemerkenswert ist es auch, dass bei ur¬ 
nischen Knaben verhältnissmässig häufig 
Migräne und Chlorose auftreten, zwei 
Krankheiten, von denen sonst meist nur 
das weibliche Geschlecht heimgesucht wird. 
Hirschfeld wendet sich gegen den Vor¬ 
schlag des Petersburger Naturforschers 
Tarnowsky, Knaben, welche zu weiblichen 
Beschäftigungen neigen, recht zu verspot¬ 
ten, um so der Entstehung homosexueller 
Triebe vorzubeugen. Er hält die Mass¬ 
nahmen gegenüber einer so tief in der 
Persönlichkeit wurzelnden Anlage nicht 
nur für wirkungslos, sondern geradezu für 
schädlich und verhängnisvoll, weil sie das 
ohnehin schüchterne, empfindsame urnische 
Kind noch zaghafter machen. Eine wohl- 
bedachte Erziehung soll das psychologische 
Erfassen der Kinderseele zur Grundlage 
haben, und der Arzt kann durch frühzeitige 
Erkenntnis und Würdigung der sexuellen 
Zwischenstufe den Eltern und vor allem 
den Kindern selbst oft einen höchst werth- 
vollen Dienst für ihr Leben erweisen. 

B. Salge (Berlin). 

Aus der Abtheilung für Chirurgie. 

Am ersten Sitzungstag wurde von Krön- 
feld (Wien) über Heilung eines Mamma- 
carcinoms durch Röntgenstrahlen be¬ 
richtet. Die betreffende Patientin bot am 
7. Februar 1903 folgenden Status dar: Die 
ganze linksseitige obere Thoraxhälfte von 
einem Tumor eingenommen, der breithalsig 
dem Thorax aufsass, mit der Unterlage 
fest verwachsen, zum grössten Teil von 
derber Consistenz. Der Tumor zog sich 
vom linken Sternalrand bis in die Achsel¬ 
höhle, dort mit den Drüsen vollkommen 
verwachsen, an Stelle der grössten Breite 
etwa 8 cm breit, an Stelle der grössten 
Höhe 3 cm hoch, mit grossentheils ulcerirter, 
mit jauchigem Sekret bedeckter Oberfläche, 
die bei leisester Berührung leicht blutete. 
An der untersten Peripherie sassen zehn 
bis zwölf haselnussgrosse Tumoren, die 
gleichfalls leicht bluteten. Am Rücken der 
entsprechenden Seite fünf derbe Knoten 
von derselben Grösse. Unterhalb des 
Knollens in der Achselhöhle zeigte sich 
ein taubeneigrosser, kraterförmig vertiefter 
Defect mit nekrotischen Rändern und zer¬ 
fallenem Grund, von jauchigem Sekret er¬ 
füllt. Die Drüsen der Supra- und Infracla- 
vicularpartie zu derben Paketen ange¬ 
wachsen. Patientin leidet sehr an den 
lancinirenden Schmerzen. Die Diagnose 
lautete: Inoperables Carcinom der linken 
Mamma mit Hautmetastasen. Die Patientin 
wurde dem Röntgeninstitut des Professor 

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October Die Therapie dei 


Schiff zugewiesen, welcher den Fall zwar 
für vollkommen aussichtslos hielt, sich aber 
doch aus Menschlichkeit zu einem Versuch 
entschloss. Schon nach der dritten Be¬ 
strahlung Hessen die heftigsten Schmerzen 
nach und die jauchige Secretion ver¬ 
minderte sich. Einige Tage später war die 
Geschwürsfläche gänzlich gereinigt, die 
Hautmetastasen wesentlich verkleinert. Von 
nun an war unter Fortsetzung der Be¬ 
strahlung die Besserung eine ausserordent¬ 
liche. Am 5. Juni waren die Hautmetastasen 
verschwunden, an Stelle der Geschwulst 
eine glatte, von leicht erweiterten Capillaren 
durchzogene Narbe. Das subjective Be¬ 
finden und der Ernährungszustand erheblich 
gebessert. Die histologische Untersuchung 
excidirter Stückchen ergab Narbengewebe, 
in dem freilich noch kleine Krebs- ! 
reste nachweisbar waren. In der Dis- I 
cussion sprach Perthes (Leipzig) aus, was j 
sich jedem Leser von selbst aufdrängen I 
wird, dass danach von wirklicher Heilung j 
bezw. Dauerheilung noch keine Rede sein 
könne. Jedenfalls verdient aber der erzielte 
Erfolg die Aufmerksamkeit aller Aerzte 
und fordert dringend zur weiteren Aus¬ 
bildung der Behandlungsmethode auf. 
Perthes selbst hat mit Röntgenstrahlen 
8 Fälle von Ulcus rodens mit 4 Heilungen, 

2 Fälle von Zungenkrebs mit Heilung, 

4 Mammacarcinome mit gutem Erfolg aber 
nicht mit dauernder Heilung beobachtet. 
Er hält es vorläufig noch für unsicher, ob 
die Röntgenstrahlen bei Carcinom nur eine 
Oberflächen- oder auch eine Tiefenwirkung 
haben. 

In derselben Sitzung sprach Prof. Rehn 
(Frankfurt a. M.) über den Werth der 
Leucocytenzählung für die Behand¬ 
lung der Appendicitis. Bekanntlich hat 
Curschmann vor einigen Jahren diese für 
sehr werthvoll erklärt, da eine lokalisirte 
Eiteransammlung stets von einer Vermehrung 
der im Blut kreisenden weissen Blutkörper¬ 
chen begleitet sei, so dass man im Nach¬ 
weis der Hyperleucocytose eine Indication 
für die Operation erkennen könne. Diese 
Indication war u. A. von Sonnenburg 
anerkannt worden. Rehn stellte sich nun 
nach seinen Erfahrungen auf einen geradezu 
entgegengesetzten Standpunkt. Er hat 
Fälle ohne wesentliche Vermehrung der 
Leucocytenzahl gesehen, bei denen sich 
doch Eiter nachweisen Hess, andererseits 
solche, bei denen die vermehrte Leucocyten- ' 
zahl sich wieder verringerte (abfallende 
Leucocytencurve nach Curschmann) und 
die doch wegen reichlichen Eiters operirt 
werden mussten. Er hält also die auf die ! 

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Gegenwart 1903. *69 


, Blutkörperchenzählung begründete Indica- 
| tionsstellung nicht nur für überflüssig, 
sondern direct für gefährlich, 
j Der 2. Sitzungstag der chirurgischen 
i Abtheilung begann mit einem Vortrage 
j Brauns (Göttingen) „Ueber acute und 
j chronische Darminvagination 44 . Vor¬ 
tragender wies auf die eigenthümliche Ver- 
' theilung der Krankheit in den verschiedenen 
Ländern hin; so z. B. käme sie in England 
besonders häufig vor, während in Deutsch- 
| land selbst die beschäftigtsten Aerzte nur 
von Zeit zu Zeit eine lntussusception zu 
sehen Gelegenheit haben. Die Diagnose 
des acuten Anfalles ist meistens leicht: pal- 
pabler Tumur, blutige und schleimige Ab¬ 
gänge, Schmerzen, sowie complete Ob¬ 
stipation sichern die Diagnose. Schwieriger 
ist die Feststellung des chronischen Sta¬ 
diums, doch auch hier gelangt man bald, 
namentlich durch peinliche Erhebung der 
Anamnese, zum Ziel. Was die Therapie 
betrifft, so empfiehlt Vortragender bei der 
acuten Invagination kleiner Kinder nicht 
viel Zeit mit Eingiessungen etc. ver¬ 
streichen zu lassen, sondern baldmöglichst 
zum Messer zu greifen und die Desinva- 
gination zu machen. Vor grösseren Ein¬ 
griffen, wie Resectionen warnt Braun, 
da die kleinen Patienten dies meistens 
nicht überstehen. Kredel (Hannover) be¬ 
stätigt dies. Von 8 von ihm operierten 
Fällen starben 7 bald nach der Operation. 

Von 3 nicht Operirten ist einer durch Ab- 
stossung geheilt. 

Hirschsprung (Kopenhagen) weist 
ebenfalls auf die eigenthümliche Ver¬ 
keilung dieser Krankheit nach Ländern 
hin. Seit 1876 hat er 96 Fälle von In¬ 
vagination gesehen, von denen 60% zur 
Heilung kamen. Seine Therapie besteht 
in Massage und grossen Einläufen, womit 
er so häufig zum Ziele kam. Diese Heil¬ 
erfolge sind so auffallend gut, dass von 
verschiedenen Seiten an der Richtigkeit der 
Diagnose gezweifelt wurde. 

In der Nachmittagssitzung spricht 
Braun über operative Behandlung der kon¬ 
genitalen Dilatation des Colon (Hirsch- 
sprung’sche Krankheit) und demonstriert 
Präparate von kolossal dilatirten Dick¬ 
därmen. 

Am 3. Sitzungstage berichtet Madelung 
(Strassburg) über einen von ihm mit Er¬ 
folg operierten Fall von Dermoid des 
Mediastinum anticum, ebenso über eine 
Heilung von Stichverletzung der Becken- 
blutgefässe. Um hier erfolgreich vor¬ 
zugehen, ist es nöthig durch Leibschnitt 
sich den Weg zugänglich zu machen, um 

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470 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


auf diese Weise eine Digitalcompression 
ausführen zu können. 

Schulze-Berge (Oberhausen) hat 
zwei Fälle von traumatischer Epilepsie 
durch Trepanation des Schädels geheilt. 
Der eine ist seit 13 Jahren, der andere 
seit 5 Jahren vollständig frei von Anfällen. 

Um zu erproben, welche Desinficientien 
am besten geeignet seien die Gallenwege 
zu desinficieren, hat Kuhn (Cassel) ver¬ 
schiedene Mittel erprobt und kam zu dem 
Schlüsse, dass das Salicyl als das beste 
Desinficiens anzusehen sei. Ihm ebenbürtig 
sind Thymol und Menthol, während Naph- 
thol, Ichthyol, Methylenblau selbst in hohen 
Concentrationen kaum einen nennens- 
werthen Einfluss auszuüben vermögen. 

Der 4. Sitzungstag brachte einen Vortrag 
von v. Hippel über Catgutsterilisation, 
v. Hippel empfiehlt die Sterilisation mit 
Jod nach Claudius, welche als die 
billigste, zuverlässigste und das Catgut am 
wenigsten angreifendste anzusehen sei. 
Die von anderer Seite hervorgehobene 
rasche Resorbirbarkeit eines so behandelten 
Catguts konnte Vortragender nicht finden. 

Stern (Düsseldorf) hat im zwei Fällen 
beobachtet, dass durch Nephrotomie bei 
chronischer Nephritis, schon 2 Stunden 
nach dem Eingriffe, eine enorme Harnflut 
sich bei den früher complet anurischen 
Patienten einstellte. Beide gingen an pro¬ 
fuser Blutung zu Grunde. Bei einem 3. Pa¬ 
tienten dagegen verschwanden nach der 
Operation die Oedeme, der Ascites, das 
Eiweiss aus dem Urin, und Patient befindet 
sich zur Zeit wohl. 

Bei einem durchschnittenen und ligirten 
Gefäss pflegt die Communication sich durch 
Bildung von collateralen Gefässen wieder 
herzustellen. Ledderhose (Strassburg) 
hat einen Fall beobachtet, wo die durch¬ 
schnittene und ligirte Vena saphena für 
den Blutstrom so duchgängig wurde, dass 
die beiden Enden wieder zusammen¬ 
wuchsen. Die mikroskopische Unter¬ 
suchung ergab, dass es sich keineswegs 
um ein collaterales Gefäss, sondern um 
ein veritables neugebildetes Mittelstück 
handelte. L. Caro (Berlin). 

Aus der Abtheilung für Gynäkologie. 

Veit (Erlangen). Tuberkulose und 
Schwangerschaft. Practische Zwecke 
führten die Gynäkologen dazu, sich mit der 
Tuberkulose bei der Gravidität zu beschäfti¬ 
gen. Man erkannte, wie verderblich die Gra¬ 
vidität auf das Fortschreiten der Phthisis 
wirkt. Es liegt auf der Hand, dass man 
Mitleid haben muss mit der Arbeiterfrau, 


welche durch die Geburten ihr Leiden ver¬ 
schlimmert, man kann auch Sympathie mit 
dem Hegarschen Standpunkt haben, der 
wegen der Gefahr, dass auch das Kind 
wahrscheinlich der Tuberkulose erliegen 
wird, die Schwangerschaft unterbrechen 
will, um so eine allgemeine Abnahme der 
Tuberkulose zu erzielen. Denn das ist ja 
sicher, dass, wenn eine tuberkulöse Frau 
schwanger ist, die Tuberkulose auf das 
Kind übergehen kann, Tuberkelbacillen sind 
in der Placenta gefunden worden, und es 
ist nicht zu bestreiten, dass die Gefahren, 
die das Wochenbett mit sich bringt, grosse 
sind. Hingegen ist es sicher, dass eine 
Reihe von Frauen trotz ihrer Tuberkulose, 
die Schwangerschaft gut überstehen; sehr 
selten ist jedenfalls ein plötzlicher Exitus 
durch Hämoptoe, ohne dass es zur Ent¬ 
bindung oder zur Unterbrechung der 
Schwangerschaft kommt. Wichtig ist nach 
den Erfahrungen von Veit, dass man bei 
tuberkulösen Frauen eine genaue Gewichts¬ 
bestimmung vornimmt, dieses führt Veit 
consequent durch und stellte fest, dass es 
auffallend ist, wie häufig tuberkulöse Frauen 
mehr zunehmen, als dem Gewicht des 
Kindes, des Fruchtwassers und der Placenta 
entspricht, und zwar kann bei gutem Be¬ 
finden die Gewichtszunahme eine recht be¬ 
deutende sein; die Erklärung dieser Ge¬ 
wichtszunahme ist eine schwierige. 

Findet eine regelmässige Gewichtszu¬ 
nahme bei Tuberkulösen während der 
Schwangerschaft statt, so dürfen wir unter 
keinen Umständen eine Unterbrechung der 
Schwangerschaft empfehlen, denn auch 
durch die Unterbrechung der Schwanger¬ 
schaft wird die Phthisis als solche nicht 
geheilt. Ist die Gewichtszunahme aber eine 
geringere als normal, so ist die Frau durch 
die Schwangerschaft zweifellos gefährdet; 
ob sie durch die Einleitung der künstlichen 
Frühgeburt gerettet werden kann, ist frag¬ 
lich, doch ist zuzugeben, dass dieses Fälle 
sind, bei denen ein Versuch ihrer Rettung 
durch Einleitung der künstlichen Früh¬ 
geburt gerechtfertigt wäre. Bei den Frauen 
aber, bei denen eine Gewichtsabnahme 
während der Gravidität eintritt, ist die Ein¬ 
leitung der künstlichen Frühgeburt zweck¬ 
los. Die Herausnahme der Frauen aus 
ihrer Häuslichkeit vor einer Gravidität zur 
Heilung der Tuberkulose ist das wichtigste, 
wichtiger als die Unterbrechung der 
Schwangerschaft. Die Frauen sollen, ehe 
sie schwanger werden, so weit als möglich 
geheilt werden, alsdann wird der Eintritt 
einer Gravidität nicht wesentlich schaden. 
Auch aus Ehen Tuberkulöser können sehr 


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Octobcr 


471 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


wohl nützliche Mitglieder der menschlichen 
Gesellschaft hervorgehen, und schon aus 
diesem Grunde ist der erwähnte Hegar¬ 
sche Standpunkt zu verwerfen. Die all¬ 
gemeine Indication, dass jede Phtisica von 
ihrer Frucht befreit werden sollte, ist nicht 
zu billigen und es muss in jedem Fall der 
Einleitung einer Fehlgeburt die genaue 
Feststellung, ob eine Gewichtszunahme 
stattgefunden hat, vorausgehen. 

Fellner jun. (Wien-Franzensbad). In¬ 
wiefern verbieten interne Krank¬ 
heiten vom geburtshilflichen Stand¬ 
punkte aus das Heirathen? Der Vor¬ 
tragende rechtfertigt zunächst den specifisch 
geburtshilflichen Standpunkt, bei welchem 
selbstverständlich auch auf die Anschau¬ 
ungen der inneren Mediziner, inwiefern 
Krankheiten durch die Schwangerschaft 
verschlechtert werden, Rücksicht genommen 
werden muss; nicht berücksichtigt wissen 
will F. die wechselnden Ansichten des 
Hygienikers, inwiefern eine Heirath für 
Mann und Kind gefährlich werden könnte. 
Unter Heirathsverbot ist das Verbot der 
Ausübung des befruchtenden Beischlafes 
zu verstehen. Gestützt auf Arbeiten von 
Schauta und Fellner, welche bei circa 
70 Krankheiten alles Erwägenswerthe in 
Betracht gezogen haben, bespricht Vor¬ 
tragender bei jeder einzelnen Erkrankung 
die Nothwendigkeit des Heirathsverbotes; 
er unterscheidet hierbei zweierlei Arten, 
diejenige bei Nulliparen und diejenige bei 
solchen Frauen, welche bereits bei einer 
Qberstandenen Schwangerschaft von einer 
der betreffenden Krankheiten befallen 
wurden. Nach Ansicht des Vortragenden 
sollte ein Heirathsverbot nur dann aus¬ 
gesprochen werden, wenn die Mortalität 
der in Betracht kommenden Krankheit min¬ 
destens 10% beträgt. 

Zu der ersten Kategorie ist die Lungen¬ 
tuberkulose zu rechnen, freilich nur in 
schweren Fällen, da ihre Mortalität unter 
10% beträgt, die künstliche Unterbrechung 
aber eine eventuelle Verschlechterung 
coupiren kann; als unbeding- ter Grund 
des Heirathsverbotes hingegen ist die 
Kehlkopftuberkulose anzusehen. Von Herz 
fehlem sind zu rechnen nur die Mitral¬ 
stenose und diejenigen Fälle mit ausge¬ 
sprochener Compensationsstörung; die Myo- 
carditis, die chronische Nephritis. Von 
chirurgischen Erkrankungen betrachtet F. 
als hierzu gehörig nur die bösartigen Ge¬ 
schwülste, während gutartige nur eine 
Operation indiciren. 

In die zweite Gruppe gehört die Chorea, 
wznn die vorausgegangene Erkrankung 

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sehr schwer war, ebenfalls Geisteskrank¬ 
heiten, da die durch die Schwangerschaft 
aufgetretenen Psychosen sehr häufig re- 
cidiviren; Epilepsie nur in schweren Fällen. 

Tritt bei Lungentuberkulose eine wesent¬ 
liche Verschlechterung ein, so ist eine 
weitere Schwangerschaft contraindicirt. 
Ebenso gerechtfertigt ist das Heirathsverbot, 
d. h. eine weitere Schwangerschaft bei 
schweren Compensationsstörungen bei Vi¬ 
tium cordis, sowie bei denen der Basedow¬ 
schen Krankheit. Nicht gerechtfertigt ist 
das unbedingte Heirathsverbot bei Eklam¬ 
psie. 

Natürlich ist das oben Angeführte nur 
als allgemeine Regel zu betrachten, da im 
einzelnen Falle aus allen geburtshilflichen 
resp. internen Fällen die Erfahrungen und 
Kenntnisse in Betracht gezogen werden 
müssen. Immerhin, sagt Vortragender, 
müsse man stets mit vollem Ernst des 
Traurigen eines Heirathsverbotes eingedenk 
sein, können wir doch event. leicht durch 
eine Unterbrechung der Schwangerschaft 
die schweren Folgen aufheben; andererseits 
hingegen ist auch die Verantwortung, die 
der Arzt in fraglichen Fällen durch das 
Gestatten der Heirath auf sich nimmt, eine 
nicht geringere. 

Dr. Edmund Falk (Berlin). Zur Be¬ 
handlung der chronischen Gonorr¬ 
hoe. Die Ursache, warum in nicht wenigen 
Fällen die Urethritis der Frauen in ein 
chronisches Stadium übergeht, sieht Vor¬ 
tragender in der häufigen gonorrhoischen 
Infection der Drüsen und Lacunen am 
Harnröhreneingang. Diese Urethritis ex¬ 
terna hat ihren Sitz einerseits in den be¬ 
kannten dicht neben oder in der Harn¬ 
röhrenmündung gelegenen Urethralgängen 
(Skene*sehen Drüsen), andererseits in 
zwei 1 U— l h cm weit von der hinteren 
Harnröhrenmündung entfernt gelegenen 
Gängen, welche im Gegensatz zu den 
Urethralgängen nicht parallel mit der seit¬ 
lichen Harnröhrenwand verlaufen, sondern 
nach aussen hinten, dicht unter der 
Schleimhaut der seitlichen Vaginalwand. 

Diese Gänge, welche bis zu 2 cm lang 
sein können, fasst Falk als Residuen der 
in dem Hymen gelegenen Lacunen auf, 
und bezeichnet sie als Lacunae hymenales. 

Bei der gonorrhoischen Infection der¬ 
selben ist eine Spaltung der Lacunen nach 
der Scheide zu notwendig, während die 
inficirten Urethralgänge am besten mit 
einer glühenden feinen Sonde oder mit 
dem Paquelin zur Verödung gebracht 
werden. — Bei der Endocervicitis und 
Endometritis-Behandlung ist bei ambulanter 

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472 


October 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Behandlung von jeder intrauterinen The¬ 
rapie abzusehen, welche für klinische Be¬ 
handlung reservirt bleiben muss. Hier 
kommt nach genügender Erweiterung der 
Cervix die locale Anwendung von Medica- 
menten in Form von Uterusausspülungen 
in Betracht, welche unter niedrigem Druck 
täglich einmal von zeitlich möglichst langer 
Dauer ausgeführt werden. Schwache Pro- 
targollösungen oderThigenol (4%) in einer 
V2%ig en Lysollösung gaben relativ gute 
Resultate. Zur Nachbehandlung wurden 
Antrophore mit 1 % Chlorzink und 0,1 % 
Sublimat in Anwendung gebracht. Ist 
wegen unregelmässiger Blutungen, welche 
allerdings häufig durch eine im Entstehen 
begriffene Adnexerkrankung verursacht 
werden, eine Abrasio notwendig, so soll 
dieselbe in Narkose vorgenommen werden. 
— Sind Exsudate in die Eileiter oder in 
das Beckenzellgewebe bereits eingetreten, 
so hängt es von dem Befunde in jedem 
einzelnen Falle ab, ob ein operativer Eingriff 
zweckmässig ist. Wegen der so häufig in 
zurückgelassenen noch gesunden Adnex- 
theilen später auftretenden Eiterungen nach 
abdominalen Laparotomieen, entschliesst 
sich Vortragender zu dem abdominalen 
Eingriff nur 1. wenn durch Fortleitung der 
gonorrhoischen Infection eine allgemeine 
Peritonitis entsteht, 2. wenn ein Durch¬ 
bruch in ein benachbartes Organ statt¬ 
gefunden hat, ohne dass es zur dauernden 
Entleerung des Eitersackes kommt. 

Liegt der Abscess, der im Verlaufe 
einer gonorrhoischen Adnexerkrankung 
entsteht, der Scheide an, so ist die Eröff¬ 
nung von der Scheide aus dringend not¬ 
wendig. Dieser operative Eingriff wurde 
24 mal ausgeführt. Gestorben ist keine 
dieser Kranken. 19 Frauen konnten ohne 
nachweisbaren Abcess aus der Klinik ent¬ 
lassen werden und bei den meisten blieb 
auch für die Folge das Resultat ein gutes. 
Besonders gut sind die Resultate in Bezug 
auf Dauererfolge, seitdem jeder eröffnete 
Absces einer energischen Nachbehandlung 
unterzogen wird. Das Vorhandensein meh¬ 
rerer Abscesse ist keine Kontraindication 


für die Eröffnung derselben, vorausgesetzt, 
dass jeder einzelne durch eine Scheiden¬ 
inzision erreichbar ist. Die Nachbehand¬ 
lung besteht, nachdem das nach der Ope¬ 
ration eingeführte Drainrohr nach 6 bis 
8 Tagen entfernt ist, in täglich auszufüh¬ 
renden Ausspülungen der Abscesshöhlen 
und zwar verwendet Falk zuerst 4% Thi- 
genollösung und später, wenn die Secretion 
nachlässt, eine Auflösung von Jodtinktur 
in Wasser. Dass trotzdem der eine oder 
andere Fall nicht zur Ausheilung kommt, 
ist wohl erklärlich, wenn man an den Ope¬ 
rationspräparaten sieht, wie verderblich 
der Gonococcus in Verbindung mit dem 
wohl stets vorhandenen Streptococcus wirkt, 
wie viele Abscesse sich in den nicht selten 
faustgrossen Ovarien finden, wie viele von 
einander abgeschlossene Eiterhöhlen in 
einem Eileiter vorhanden sein können. 
In diesen Fällen tritt namentlich bei Frauen, 
welche auf Verdienst durch schwere Arbeit 
angewiesen sind, die vaginale Radikalope¬ 
ration in ihr Recht. 

Die Fälle, welche mit vaginaler Incision 
behandelt wurden, bedürfen ebenso wie 
diejenigen, in denen sich gonorrhoische 
Adnexerkrankungen ausbilden, die keine 
operativen Eingriffe erfordern, häufig einer 
resorbirenden Nachbehandlung und da ist 
es vor allem der Schwefel, der in mannig¬ 
faltiger Form, als Sitzbad, als Vollbad, als 
lokale Einwirkung in Form von Tampons, 
weit günstigere Resultate lieferte als die 
gebräuchlichen Sool-, Salz- und Moorbäder. 
50% Thigenoltampons, jeden zweiten Tag 
eingeführt, Schwefelbäder, durch Zusatz 
von 30 g Kalium sulfuratum und 100 g 
Leim zu einem Sitzbade oder durch Auf¬ 
lösung von 40 g Thigenol in einem Seifen¬ 
sitzbade hergestellt, und endlich heisse 
Ausspülungen bewirken, wenn auch lang¬ 
sam eine Resorption, welche wesentlich 
beschleunigt wird, wenn den Kranken ihr 
Kräftezustand es gestattet, ein Schwefel¬ 
bad aufzusuchen. 

E. Falk (Berlin). 

(Ein zweiter Bericht folgt.) 


Bücherbesprechungen. 


Dr.G.Flügge, Geheimer Regierungsrath, Se¬ 
natsvorsitzender im Reichsversicherungs¬ 
amt. Das Recht des Arztes. Zum 
Gebrauch für den Arzt nach den reichs¬ 
rechtlichen und den preussischen landes¬ 
rechtlichen Bestimmungen (unter Abdruck 
dieser Bestimmungen). Urban & Schwar¬ 
zenberg, Berlin u. Wien, 1903. Geb.M.6,—. 


Das überaus klar und gemeinverständ¬ 
lich geschriebene Buch will es dem Arzt 
ermöglichen, mühelos und schnell sich 
über die für seinen Beruf gültigen Rechts¬ 
normen zu orientiren. Der erste Theil giebt 
in höchst übersichtlichem Aufbau eine 
systematische Darstellung der ärztlichen 
Rechtsverhältnisse, während der zweite 


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October 


Die Therapie der 


Theil die Texte der im ersten Theil dar¬ 
gestellten Gesetze und Verordnungen 
chronologisch geordnet giebt. 

Der erste Abschnitt ist der öffentlichen 
Ordnung des Aerzterechtes gewidmet. Der 
Beruf des Arztes ist nach dem Deutschen 
Sprachgebrauch kein Gewerbe, da er eine 
wissenschaftliche Vorbildung voraussetzt. 
Dennoch sind die grundlegenden Bestim¬ 
mungen in die Gewerbeordnung für das 
Deutsche Reich aufgenommen. Diese Be¬ 
stimmungen über Approbation, Nieder¬ 
lassung, Concessionirung von Privatkranken¬ 
anstalten werden vom Verfasser wieder¬ 
gegeben und eingehend erläutert. 

Der Verfasser geht sodann zur Dar¬ 
stellung der Rechte und Pflichten des 
Arztes als solchen über. Die besonderen 
Rechte sind wenig zahlreich. Denn die 
eigentliche Thätigkeit des Arztes, die 
Krankenbehandlung, ist kein Specialrecht 
des Arztes, sondern sie ist jedem frei- 
gegeben, dies Recht ist, wie der Verfasser 
treffend sagt, mit jedem Deutschen ge¬ 
boren. Nur das Recht auf Ausübung der 
„Heilkunde 14 als Gewerbebetrieb im Um¬ 
herziehen ist dem approbirten Arzt Vor¬ 
behalten! Auch das Recht auf Dispensiren 
von Arzneien wird durch die Approbation 
nicht erworben. Nur zwei Ausnahmen be¬ 
stehen für den Arzt: An Orten, in denen I 
oder in deren Nähe keine Apotheke sich 
befindet, ist das Halten einer Hausapotheke 
für die eigene Praxis gestattet. Ferner 
dürfen „nach homöopathischen Grund¬ 
sätzen 11 zubereitete Arzneien von allen 
Medicinalpersonen, die eine besondere 
hierfür eingerichtete Prüfung abgelegt 
haben, für die eigene Praxis zubereitet 
werden. 

Als die speciellen, nur dem approbirten 
Arzt zustehenden Rechte zählt die Ge¬ 
werbeordnung (§ 29) drei auf: Erstens das 
Recht auf die Bezeichnung als Arzt, zwei¬ 
tens das Recht, Seitens des Staates oder 
der Gemeinde als Arzt anerkannt zu wer¬ 
den und drittens das Recht, mit amtlichen 
Functionen betraut zu werden. Das wich¬ 
tigste ist das zweite Recht. Es bedeutet: 
wo immer die Gesetze oder Verwaltungs¬ 
vorschriften bestimmen, dass ein Arzt ge¬ 
wisse Functionen ausüben dürfe oder 
müsse, da dürfen die öffentlichen Korpo¬ 
rationen und ihre Organe, die Beamten, 
diese Functionen nur von einer Person 
ausüben lassen, die die Approbation er¬ 
langt hat. So darf nur der approbirte 
Arzt nach dem Impfgesetz vom 8. April 1874 
Impfungen vornehmen; jedes Auswanderer¬ 
schiff muss einen approbirten Arzt an 


Gegenwart 1903. 4 73 

Bord haben; nur der approbirte Arzt hat 
Zutritt zu Kranken oder Krankheits- oder 
Ansteckungsverdächtigen, welche nach dem 
Gesetz betreffend die Bekämpfung gemein¬ 
gefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900 
isolirt worden sind; nur auf Grund schrift¬ 
licher, mit Datum und Unterschrift ver¬ 
sehener Recepte eines approbirten Arztes 
dürfen gewisse starkwirkende Arzneimittel 
verabreicht werden; es sind ferner hervor¬ 
zuheben: das Recht, das zweite Halbjahr 
als Unterarzt abzudienen, das Recht, die 
Berufung als Schöffe oder Geschworener 
abzulehnen; das Recht, in Preussen (ausser 
in Hessen-Nassau) die Uebernahme städti¬ 
scher Ehrenämter (ausgenommen Mitglied¬ 
schaft der städtischen Gesundheitscom¬ 
missionen) abzulehnen; in einzelnen Pro¬ 
vinzen (Hannover und Westfalen) auch das 
Recht, die Uebernahme von Ehrenämtern 
in Landgemeinden abzulehnen; das Recht 
zur Zeugnissverweigerung im Civil- und 
Strafprocess. Alle diese einzelnen und 
eine Reihe weiterer hierhergehöriger Rechte 
erörtert der Verfasser eingehend an der 
Hand der betreffenden Gesetzesbestim¬ 
mungen. Diesen Rechten steht eine Reihe 
öffentlichrechtlicher Pflichten gegenüber. 
Nicht verpflichtet ist der Arzt, seine ärzt¬ 
liche Kunst auf Verlangen auszuüben, von 
Bedeutung ist aber der § 360, Ziffer 10 
St. G. B., wonach bestraft wird, wer bei 
Unglücksfällen oder gemeiner Noth oder 
Gefahr von der Polizeibehörde oder deren 
Stellvertreter zur Hülfe aufgefordert, keine 
Folge leistet, obwohl er der Aufforderung 
ohne erhebliche eigene Gefahr genügen 
konnte. Hervorzuheben ist ferner, die 
durch das Preussische Gesetz vom 25. No¬ 
vember 1899, betreffend die ärztlichen 
Ehrengerichte u. s. w., dem Arzte auferlegte 
Verpflichtung, seine Berufsthätigkeit ge¬ 
wissenhaft auszuüben und durch sein Ver¬ 
halten in Ausübung seines Berufes und 
ausserhalb desselben sich der Achtung 
würdig zu zeigen, die sein Beruf erfordert. 
Bei der Frage würdigen Verhaltens müssen 
nach § 3 Abs. 3 des citirten Gesetzes poli¬ 
tische, wissenschaftliche und religiöse An¬ 
sichten oder Handlungen „als solche“ 
ausser acht bleiben; aber der Arzt muss 
bei der Bethätigung solcher Ueberzeu- 
gungen die Formen beobachten, welche 
die Berufsachtung von ihm erheischt. 
Welche Formen das sind, das zu unter¬ 
scheiden, ist dem ärztlichen Ehrengericht 
überlassen. 

Besondere Bestimmungen für Aerzte 
giebt das Strafgesetzbuch im § 174 Ziffer 3 
(unzüchtige Handlungen mit Personen, die 

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474 


October 


Die Therapie der 


in Gefängnisse oder in öffentliche Kran¬ 
ken- u. s. w. Anstalten aufgenommen sind) 
und im § 278 (Ausstellung eines unrichti¬ 
gen Zeugnisses über den Gesundheits¬ 
zustand eines Menschen zum Gebrauch bei 
einer Behörde oder Versicherungsanstalt 
wider besseres Wissen.) 

Besonders eingehend behandelt der Ver¬ 
fasser sodann die Rechte und Pflichten des 
Arztes als Sachverständiger. 

Verfasser behandelt sodann die An¬ 
zeigepflicht des Arztes, — die Unterlassung 
der Anzeige kann unabsehbare Schadens¬ 
ersatzansprüche erzeugen! —, empfiehlt 
hierbei mit Rücksicht auf die Mannigfaltig¬ 
keit des Rechtszustandes, dass sich jeder 
Arzt bei der Niederlassung von dem Kreis¬ 
arzt seines Bezirks über die Anzeigepflicht 
unterrichten lasse, und behandelt eingehend 
den Schutz der besonderen Rechte des 
Arztes und die ärztlichen Standesvertre¬ 
tungen, die Aerztekammern, die Zuständig¬ 
keit von Ehrengericht und Ehrengerichtshof, 
das Disciplinar- und Berufungsverfahren. 

Im zweiten Abschnitt sind die privat¬ 
rechtlichen Beziehungen des Arztes dar¬ 
gestellt. Zwischen dem Arzt und dem 
Kranken besteht ein Dienstvertrag. Sein 
Inhalt ist die Behandlung gegen Vergütung, 
Er kommt zu Stande durch die Willens¬ 
einigung darüber, dass der Arzt die Be¬ 
handlung übernehme. Sie kann in Worten 
ausgedrückt werden oder in konkludenten 
Handlungen zu Tage treten, so durch Er¬ 
scheinen in der Sprechstunde. Er kann 
mit dem Patienten selbst abgeschlossen 
werden oder mit einem Dritten, so mit dem 
Haushaltungsvorstand über die Behandlung 
der Hausgenossen. 

Der Arzt hat Anspruch auf die Ver¬ 
gütung. Die Höhe derselben unterliegt 
ohne Beschränkung der freien Verein¬ 
barung. Ist nichts vereinbart, so ist sie 
zu zahlen, wenn die Behandlung nach den 
Umständen des Falles nur gegen Ver¬ 
gütung zu erwarten ist, und zwar in Höhe 
der taxmässigeQ Vergütung. Da über die 
Höhe lediglich der vermuthete Parteiwille 
entscheidet, so kann nach der Ansicht des 
Referenten unter Umständen angenommen 
werden, dass eine höhere als die tax- 
mässige Vergütung vereinbart sei. 

Der Verfasser stellt sich sehr ener¬ 
gisch auf den Standpunkt, der auch nach 
der Meinung des Referenten der allein zu¬ 
treffende und jedenfalls in der Praxis, ins¬ 
besondere der strafrechtlichen, der herr¬ 
schende ist, dass der Arzt seine Befugniss 
zur Behandlung des Kranken ausschliess¬ 
lich aus dem Willen des Patienten her- 


G egenwart 1903. 


leitet. Er darf daher nichts gegen den 
Willen des Patienten thun und er darf vor 
allem keinen operativen Eingriff ohne den 
Willen des Patienten vornehmen. Er darf 
nur diejenigen Eingriffe vornehmen, von 
denen er weiss, dass der Kranke oder 
sein gesetzlicher Vertreter sein Einver¬ 
ständnis mit ihnen erklärt hat oder — 
wenn eine solche Erklärung etwa wegen 
Bewusstlosigkeit zu erlangen nicht möglich 
ist — von denen er den Umständen nach 
annehmen muss, dass der Kranke oder 
sein gesetzlicher Vertreter mit ihnen sein 
Einverständnis erklärt haben würde, wenn 
es möglich gewesen wäre. 

„Wenn es dem Arzte schwer erscheinen 
sollte, angesichts des Kranken, der sich 
bewusstlos in seinem Bette wälzt, oder im 
Operationssaal vor dem geöffneten Leibe 
des Kranken diese Erwägungen anzu¬ 
stellen und aus ihnen die richtige Antwort 
zu formuliren, die auch vor dem Rechte 
bestehen kann — dann wolle er zweierlei 
bedenken. Die Antwort auf die letzten 
Fragen der Pflicht ist transcendent. Das 
Wissen nicht — das Gewissen giebt sie 
und das Gewissen entscheidet schnell wie 
das Empfinden und bedarf nicht langer 
verstandesmässiger Erwägungen. Und 
ferner: Hat der Arzt nach seinem Gewissen 
jene Frage beantwortet, so soll er sicher 
sein, das seine Antwort auch den Spruch , 
der irdischen Richter nicht zu scheuen hat. 
Wird es nöthig, dass er vor sie hintritt, 
so soll er glauben: wie er in der Seele 
des Kranken las, als er sich zu dem Ein¬ 
griff entschloss, den er vorgenommen hat, 
so verstehen auch sie in der Seele eines 
anderen, in seiner Seele zu lesen, und in¬ 
dem sie finden, dass der Arzt nichts ge- 
than hat, das nach seinem Gewissen wider 
den Willen des Kranken gewesen wäre, 
finden sie, dass er nichts gethan hat, das 
wider das Recht wäre, und sie finden 
keinen Schuldspruch.“ 

Freilich ist auch der Wille des Patienten 
nicht unbedingt maassgebend, so darf der 
Arzt selbst dann nicht zur Tötung der 
Mutter schreiten, damit die Leibesfrucht 
geboren werde, wenn die Mutter dies ver¬ 
langen sollte: Das Verbotsgesetz des §216 
Str.G.B., das die Tötung mit Einwilligung 
des Getöteten unter schwere Strafe stellt, 
ist ein absolutes. Deswegen darf er auch \ 
bei unheilbaren Kranken unter gar keinen 
Umständen dem Verlangen der Tötung 
entsprechen. 

Der Arzt hat im Zweifel seine Dienste 
persönlich zu leisten — Gehilfen oder Ver¬ 
tretern kann er die Behandlung nur über- 


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October 


475 


Die Therapie der 


tragen, soweit die Umstände ergeben, dass 
es dem Willen des Patienten entspricht. 
Er hat ferner die Pflicht zur Verschwiegen¬ 
heit hinsichtlich aller ihm kraft seines 
Standes anvertrauter Privatgeheimnisse, so¬ 
fern der Kranke nicht mit der Offenbarung 
einverstanden ist. Die Verletzung dieser 
Pflicht ist unter Strafe gestellt. 

Bei Erfüllung seiner Vertragspflichten 
hat der Arzt regelmässig Vorsatz und 
Fahrlässigkeit zu vertreten; bedient er sich 
eines Gehilfen oder Vertreters, so steht er 
auch für deren Vorsatz und Fahrlässigkeit ein. 
Die Folge ist überall Ersatz des durch das 
Verschulden verursachten Schadens; unter 
Umständen ist zugleich auch ein strafrecht¬ 
licher Thatbestand, wie der der Körper¬ 
verletzung, gegeben. 

Ueber die Aufhebung des Vertragsver¬ 
hältnisses entscheidet zunächst die Verein¬ 
barung der Parteien. Ist nichts vereinbart, 
so gelten die folgenden Sätze: Das Ver- 
tragsverhältniss kann jeder Zeit vom 
Kranken wie vom Arzt gekündigt werden. 
Der Arzt kann immer sofort kündigen, 
wenn ihm ein wichtiger Grund zur Seite 
steht, sonst nur so, dass sich der Kranke 
die ärztlichen Dienste anderweit verschaffen 
kann. Ist ein dauerndes Vertragsverhält- 
niss mit fester Vergütung eingegangen, so 
endet es mit Ablauf der Zeit, gilt aber als 
auf unbestimmte Zeit verlängert, wenn der 
Arzt nach Ablauf der Zeit seine Dienste 
mit Wissen des anderen Theils fortsetzt, 
ohne dass dieser widerspricht. Ist das 
dauernde Vertragsverhältniss auf unbe¬ 
stimmte Zeit oder ohne Zeitbestimmung 
eingegangen, so ist die Kündigungsfrist 
gleich den Zeitabschnitten, nach welchen 
die Vergütung bemessen ist. Je nachdem 
die Vergütung als tägliche, wöchentliche, 
monatliche, vierteljährliche oder längere 
bemessen ist, findet tägliche Kündigung 
oder solche für den Ablauf der Woche, 
des Monats oder Vierteljahrs statt und 
zwar spätestens am ersten Tage der Woche, 
am 15ten des Monats oder 6 Wochen vor 
dem Schluss des Kalenderquartals. Diese 
letztere Kündigungsfrist ist die längste. 
Sie ist die allein anwendbare bei Aerzten, 
die mit festen Bezügen angestellt sind und 
deren Gewerbsthätigkeit durch diese 
Stellung vollständig oder hauptsächlich in 
Anspruch genommen ist. Auch bei dem 
dauernden Vertragsverhältniss gilt das 
Recht der sofortigen Kündigung aus wich¬ 
tigen Gründen. 

Die Ansprüche des Arztes für seine 
Dienstleistungen und Auslagen verjähren 
in zwei Jahren. Die Frist beginnt mit dem 


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Gegenwart 1903. 


Ende des Jahres, innerhalb dessen der 
Anspruch entstanden ist. Blosse Mahnung 
unterbricht die Verjährung nicht, wohl 
aber Anerkennung durch den Schuldner, 
und Klageerhebung. 

Zum Schluss giebt der Verfasser noch 
einige Winke für die civilprozessuale Ver¬ 
folgung der Ansprüche des Arztes. 

Die vorstehende Inhaltsangabe wird ein 
Bild von der reichen und interessanten Fülle 
des besprochenen Buches geben, das wir 
jedem Arzte aufs beste empfehlen können. 

Der zweite Theil mit seinen Gesetzes¬ 
texten macht das Buch auch zu einem für 
den Juristen äusserst brauchbaren. Er 
findet hier alle einschlägigen Verordnungen» 
Erlasse, Bekanntmachungen etc. geordnet 
bei einander, deren Aufsuchen an ver¬ 
streuten und entlegenen Stellen auch dem 
Juristen die grösste Mühe verursachen, dem 
Laien aber überhaupt kaum möglich sein 
würde. Auch ein gutes Sachregister und ein 
sehr sorgfältiges und erschöpfendes Inhalts¬ 
verzeichnis fehlen dem Buche nicht. B. K. 

Walther Frieboes. Beiträge zur Kennt- 
niss der Guajakpräparate. Mit einem 
Vorwort von Professor Dr. R. K o b e r t. Mit 
10 in den Text gedruckten Abbildungen. 
Stuttgart bei Ferdinand Enke 1903. 109 S. 

Auf Anregung von Robert hat Friboes 
die seit Jahrhunderten zur Behandlung der 
Syphilis empfohlenen Guajakpräparate einer 
genaueren chemischen und pharmakologi¬ 
schen Untersuchung unterzogen. Es ergab 
sich, dass in der Rinde und dem Holze 
sich je zwei Saponine finden, das eine 
Saponinsäure, das andere neutrales Sapo¬ 
nin. In den Blättern findet sich ebenfalls 
Saponin, das aber von dem des Holzes 
und der Rinde verschieden ist. Die Wur¬ 
zel enthält ebenfalls Saponin. Auch das 
Holz einer anderen Pflanze — Bulnesia 
Sarmienti — ist saponinhaltig. Nen¬ 
nenswerte toxische Wirkungen auf den 
Organismus haben die Präparate nicht. 
Therapeutisch empfiehlt Friboes Decocte 
aus Kernholz, Splint, Rinde, Blättern, ev. 
auch aus Holz der Bulnesia Sarmientis. 
Friboes hält es nicht für ausgeschlossen» 
dass der Gebrauch der Decote neben 
der Innuctionscur vielleicht günstig auf den 
Verlauf der Syphilis wirken könnte. Ob die 
Präparate wirklich allein für sich heilend auf 
Syphilis wirken, ist fraglich und müsste erst 
durch neue exacte Versuche geprüft werden. 
Jedenfalls wird durch die interessante Arbeit 
von Neuem die Aufmerksamkeit auf diese 
alten jetzt fast ganz verlassenen Medicamente 
gelenkt. Buschke (Berlin). 

- 60* 


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476 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


October 


Referate. 


Zur Behandlung von Acne und beson¬ 
ders Acne rosacea empfiehlt v. Fleischl 
eine in Italien schon vielfach zu diesem 
Zweck benutzte vulkanische Erde: Fanghi 
di Sclafani, welche in Sicilien gefunden 
wird. Der wirksame Bestand theil ist 
Schwefel, der ja auch bei uns für diese 
Affectionen ein viel benutztes, gutes Mittel 
darstellt. Es wird in der Weise verwendet, 
dass das Pulver mit etwas Wasser ver¬ 
mischt, über Nacht auf die erkrankten Par¬ 
tien aufgetragen, morgens wieder beseitigt 
wird. Buschke (Berlin). 

Zur Gonorrhoebehandlung ist das Cru- 
rin pro injectione — Chinolinwismuth- 
rodanat von Jacobi (auch in dieser Zeit¬ 
schrift) empfohlen worden. Stern berichtet 
aus Josephs Poliklinik, aus der es früher 
bereits zur Behandlung von Unterschenkel¬ 
geschwüren empfohlen wurde, über weitere 
günstige Resultate. Es wird in x /2—1V 2 ev. 
auch 2%igen Glycerinemulsionen verordnet, 
soll reizlos, gonococcid und adstringirend 
wirken. B. 

(Deutsche med. Wochenschr. 1903. No. 12.) 

E. Weil, A. Lumi£re und M. P£hu 
haben durch directe klinische Erfahrung 
die practisch wichtige Thatsache feststellen 
können, dass die Gelatine besser und 
und rascher als Bismuth und Tannin 
(und ihre Derivate, wie Bismuthose, Tan- 
nalbin und Tannigen) die Brustkinderdiar¬ 
rhoen, welche sich noch nicht bis zur 
Cholera infantum entwickelt haben, 
zum Verschwinden bringt. Wichtig 
ist es auch, dass bei dieser Behandlung 
alle Arzneien, die irgend eine directe oder 
cumulative toxische Wirkung auszuüben im 
stände sind, vermieden werden können. 
Die Gelatine selbst ist harmlos unter der 
Voraussetzung, dass sie nur in sterilisiertem 
Zustande gebraucht werde. Da sie ferner 
geschmacklos ist, so wird sie von Kindern 
gern genommen, was für die Praxis auch 
nicht zu unterschätzen ist. 

Man verordnet eine 10% Lösung che¬ 
misch reiner (gelber oder weisser) Gelatine 
in siedendem Wasser. Die Lösung wird 
filtrirt während sie noch heiss ist und dann 
im Autoclav bei 120° eine halbe Stunde 
lang sterilisirt. Alsdann wird sie, noch 
vor ihrem Erkalten, in Probierröhrchen ge¬ 
gossen. Jedes Probierröhrchen erhält 
10 Cub. Centimeter der 10% Lösung, also 
1,0 Gelatine. Dieses Quantum wird, nach 
vorläufigem Erwärmen, zu jeder Flasche 


sterilisirter Milch, die man dem Kind zu 
saugen giebt, zugethan. Man beginnt mit 
drei solchen Dosen per Tag, also mit 3,0 
Gelatine pro die, und steigt jeden folgen¬ 
den Tag um 1,0 bis man die tägliche Dosis 
von 6,0 bis 8,0 Gelatine erreicht. Aber 
man kann Säuglingen auch 12,0—14,0 Ge¬ 
latine per Tag anstandslos geben. 

Unter dem Einfluss dieser Behandlung 
nehmen die Stühle ihre normale Farbe und 
Konsistenz rasch an und die Diarrhoe ver¬ 
schwindet. Bei Recidiven führt eine aber¬ 
malige Anwendung der Gelatine ebenso 
rasch zum Ziel. 

Nur die förmliche Cholera infantum 
widersteht, wie gesagt, der Gelatinebehand¬ 
lung. Auch bleibt letzte ohne Wirkung 
auf die Lungencomplicationen, welche sich 
in einigen Fällen von Diarrhoe bei Säug¬ 
lingen entwickeln. 

Was endlich die Ursache der stopfen¬ 
den Wirkung der Gelatine betrifft, so handle 
es sich um eine mechanische Neutralisation 
von Darmtoxinen, (?) W. v. Holstein. 

(Lyon mddical 1903 No. 34). 

i Der Herpes progenitalis dürfte, wie 

! Ehrmann in einer bemerkenswerthen 
Arbeit ausführt, stets auf Störungen im 
Nervus pudendus communis zurückzuführen 
sein. Eine sehr häufige Ursache dieser 
Störung ist der Plattfuss. Der Nervus pu¬ 
dendus communis verlässt mit der gleich¬ 
namigen Arterie das Foramen ischiadicum 
majus und kehrt durch das foramen ischia¬ 
dicum minus wieder in die Beckenhöhle 
zurück, zieht an der medialen Fläche des 
aufsteigenden Sitzbeinastes und zerfällt in 
seine Aeste. Es ist nun klar, dass die 
Stellung der unteren Extremität auf den 
Verlauf des Nervus pudendus communis 
nur dort einwirkt, wo er aus dem ischia¬ 
dicum majus in das ischiadicum minus tritt 
und das ligamentum spinososacrum über¬ 
quert. Der Plattfuss beeinflusst nun die 
Stellung des Oberschenkels zum Becken 

! in der Weise, dass der Oberschenkel beim 
Stehen in Abductionsstellung und leichte 
Rotation nach innen kommt. Durch diese 
Stellung wird jener Theil des verstärkenden 
Hüftgelenkbandes gespannt, welcher in die 
Gelenkkapsel übergehend sich an jener 
Stelle inserirt, wo auch in geringer Entfer¬ 
nung davon das ligt spinososacrum von 
der Spina posterior entspringt. Dadurch 
wird der Nervus pudendus communis, der 
letzteres Lipament kreuzt, in Mitleiden¬ 
schaft gezogen. Es entsteht nämlich ein 


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October 


477 


Die Therapie der 


chronischer Reizzustand des Periosts an 
dieser Stelle, wodurch entweder direct auf 
den Nerven ein Druck ausgeQbt oder im 
Nerven ebenfalls ein chronischer Reiz¬ 
zustand erzeugt wird. 

Es ist selbstverständlich, dass nicht 
jeder Herpes progenitales gerade vom 
Plattfußs herrührt, aber sehr viele Herpes¬ 
fälle werden trotzdem durch eine Hyper- 
aemie des Periosts erzeugt. H. W. 

(Wiener klin. Wochenschrift No. 34.) 

Vor mehreren Jahren wurde von Negro 
der Vorschlag gemacht, die ischi&lgischen 
Beschwerden durch kräftiges Drücken mit 
dem Finger auf den Nerven über dem Fo- 
ramen ischiadicum zu bekämpfen. Rzad 
hat sich in den letzten 5 Jahren dieser 
Methode bedient und konnte selbst in ver¬ 
alteten Fällen oder solchen, wo die übri¬ 
gen Massnahmen erfolglos geblieben, sehr 
günstige Resultate erzielen. Statt des 
Fingers benutzt er zum Drücken einen 
kleinen Stampfer in Form eines T. Die 
Manipulation dauert 1—I 1 /* Minuten und 
schafft schon nach der ersten Sitzung eine 
vorübergehende Linderung der Schmerzen. 
Diese Procedur wird je nach der Schwere 
des Falles (in Intervallen von einem bis 
mehreren Tagen) 2—3 mal wiederholt und 
in allen hartnäckigen Fällen wurden die 
ischialgischen Beschwerden nach höchstens 
6—7 Sitzungen behoben. Zuweilen traten 
nach dem Schwinden der Schmerzen in 
den betreffenden Extremitäten Parästhesien 
auf. Selbst wenn nach 2—3 Sitzungen die 
Beschwerden fortbestehen, räth Verfasser 
zur weiteren Anwendung der Methode. 
Von 60 Fällen versagte sie nur in 3, die 
übrigen Kranken wurden von den Schmer¬ 
zen dauernd befreit, und trotzdem sie bis 
zu 5 Jahren in Beobachtung blieben, trat 
kein Recidiv auf. Der Druck muss kräftig 
sein, richtet sich aber nach der Empfind¬ 
lichkeit des Patienten und der zu über¬ 
windenden Hindernisse (Dicke der Fett- 
und Muskelschicht etc.) 

M. Urstein (Heidelberg). 

(Czasopismo lekaoskie, Januar 1903.) 

An der Hand des Materials der Züricher 
chirurgischen Klinik bespricht Schön- 
holzer die Chirurgie des Magenkrebses. 
Er klagt darüber, dass die Patienten oft 
den Arzt zu spät aufsuchen, da das be¬ 
stehende Carcinom häufig erst Beschwer¬ 
den mache, wenn es zur Operation zu 
spät ist. Dann behandeln die Aerzte zu 
lange intern, wenden die Magensonde zur 
Diagnosenstellung zu selten an. Ein älterer 

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Gegenwart 1903. 


Patient, der früher keine Magenbeschwer¬ 
den hatte, ist von vornherein carcinom- 
verdächtig, wenn er jetzt Magenbeschwerden 
hat. Ist die Magenwand fest infiltrirt, wo¬ 
möglich noch adhärent, so kann es nicht 
zum Erbrechen kommen; andererseits kann 
es ohne bestehende Pylorusstenose zur 
Stagnation kommen in Folge der Insuffi¬ 
zienz der Magenmuskulatur. Heredität 
bestand in 13% der Fälle. Freie Salz¬ 
säure fehlte fast in allen Fällen, Milchsäure 
war fast immer nachzuweisen. Die Ope¬ 
ration des Magencarcinoms muss ebenso 
populär werden, wie die der Perityphlitis. 
In der Regel ist es unmöglich, sich vor 
der Probelaparotomie bestimmt über Ope¬ 
rabilität oder Nichtoperabilität eines Magen¬ 
carcinoms auszusprechen. Von 264 Patienten 
waren 67 von vornherein inoperabel, bei 
73 musste man sich auf die Probelaparo¬ 
tomie beschränken, bei 74 wurde die 
Gastroenterostomie, bei 50 Magenpylorus- 
resection ausgeführt. Mortalität nach Probe¬ 
laparotomie betrug 9,5 %, nach Gastro¬ 
enterostomie 24,3 °/ 0 , nach Gastrectomie 
28 %. Gastroenterostomie ist indicirt: 1. in 
den Fällen unexstirpirbarer Pyloruscarci- 
nome, die wirkliche Stenosenerscheinungen 
machen, 2. in den Fällen, wo auch ohne 
Pylorusstenose die Stagnationserscheinun¬ 
gen in dem Krankheitsbild deutlich in den 
Vordergrund treten. Sie verlängert das 
Leben im Mittel um 100 Tage. Die besten 
Resultate werden erzielt, wenn das Car¬ 
cinom auf den Pylorus beschränkt, der 
übrige Magen frei ist. Die Mortalität der 
Gastrectomie wird auch in Zukunft nicht 
günstiger werden. Der Tumor ist zu ex- 
stirpiren, wenn er leicht beweglich ist, 
keine unexstirpirbaren Metastasen bestehen, 
wenn der Allgemeinzustand es erlaubt. 
Grösse des Tumors ist ohne Belang. Ein¬ 
mal wurde der ganze Magen exstirpirt 
(Exitus nach sieben Tagen an Perforativ- 
peritonitis). Meist (77 %) sass der Tumor 
am Pylorus. In 22 Fällen trat ein Recidiv 
ein; sie lebten im Mittel 532 Tage nach 
der Operation. Zwei Patienten waren nach 
der Operation vier bezw. acht Jahre reci- 
divfrei, sind also als geheilt zu betrachten« 
Damit ist die Heilbarkeit des Magencarci¬ 
noms durch Gastrectomie bewiesen. 

Klink (Berlin). 

(v. Bruns, Beitr. z. klin. Chir. 1903, XXXIX, 1 —2). 

In einer Arbeit „Die Kardiolysis und 
ihre Indicationen“ giebt Brauer (Heidel¬ 
berg), eine Methode bekannt zur chirur^ 
gischen Behandlung der chronischen 
adhäsiven Medi&stino-Peric&rditis. Das 


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478 


October 


Die Therapie der 


Herz, das Pericard und die grossen Ge- 
fösse sind durch feste Verwachsungen mit 
der vorderen Brustwand, dem Zwerchfell 
und den Lungen verbunden. Ist die Herz¬ 
kraft ausreichend, so werden jene Organe 
den Herzbewegungen folgen müssen, im 
andern Fall hindern sie die Entleerung 
des Blutes durch die grossen Gefässe. 
Verfasser verfügt über drei mit Erfolg 
operirte Fälle, die folgende Erscheinungen 
aufwiesen: Es bestanden Pleuraschwarten, 
subjective und objective Zeichen beträcht¬ 
licher Herzinsuffizienz, Stauungsleber- 
cirrhose mit Ascites. Ein kräftiger pulsa- 
torischer Stoss in der Herzgegend ergab 
sich bei näherer Untersuchung nicht als 
Spitzenstoss, sondern war darauf zurück¬ 
zuführen. dass das noch kräftige Herz in 
der Systole die vordere Brustwand einzog 
und sie dann in der Diastole wieder vor¬ 
schnellen Hess. Solche Kranke gehen bald 
zu Grunde, weil das Herz auf die Dauer 
der enormen Leistung, die knöcherne 
Brustwand einzuziehen, nicht gewachsen 
ist. Verfasser kam nun auf den Gedanken, 
das Herz zu entlasten durch Entfernung 
der Rippen eventuell eines Theiles des 
Sternum, so dass nur die Weichtheil- 
bedeckung vom Herzen in Mitbewegung 
versetzt zu werden braucht. Es genügt 
die Entfernung eines Stückes (7 bis 9 cm) 
von der 3., 4. und 5. Rippe, eventuell ist 
ein Theil des Sternum mit zu reseciren. 

Die drei Patienten, bei denen dies Ver¬ 
fahren in Anwendung gezogen wurde, 
wiesen bald eine erhebliche Besserung 
auf: die Oedeme, Dyspnoe, Cyanose und 
der nachweisliche Ascites verloren sich. 
Ein Patient, der auf dem diesjährigen Chi¬ 
rurgenkongress gezeigt wurde, ist sogar 
im Stande, in einer Maschinenfabrik als 
Monteur erhebliche körperliche Arbeit zu 
leisten. 

Die gewichtigste Indication ist also die 
systolische Einziehung breiter Thorax¬ 
partien. Geschieht die Mitbewegung noch 
kräftig, so darf man von der Operation 
einen guten Erfolg erwarten; denn ein 
Herz, das dazu im Stande ist, muss noch 
über eine gute Kraft verfügen. Wahr¬ 
scheinlich ist der Eingriff aber auch in 
vielen Fällen adhäsiver Pericarditis am 
Platz, die diese Einziehung nicht aufweisen, 
da die Adhäsionen sicherlich auch dann 
schon, wenn sie noch nicht zu dieser Er¬ 
scheinung geführt haben, eine erhebliche 
Circulationsstörung und Stauungsleber- 
cirrhose bedingen können. Von dem Lösen 
der Verwachsungen nach D^lorme ver¬ 
spricht Verfasser sich nicht viel, weil die 


Gegenwart 1903. 


Operation ein zu schwerer Eingriff ist und 
die Verwachsungen sich bald wieder bilden. 

Wich mann (Altona). 

(Langenbeck’s Archiv, Band 71, S. 258.) 

Ueber 33 Fälle von progedient eitriger 
Peritonitis aus dem Stadtkrankenhaus 
Friedrichstadt-Dresden berichtet Weber. 
Ausgeschlossen sind Fälle mit Bildung 
multipler Abscesse der Peritonealhöhle, 
eingeschlossen sind Fälle mit peritonealer 
Sepsis im Sinne Wegener's, wenn auch 
hierbei das Exsudat ganz fehlen kann. Sie 
wurden alle operirt, Ausgangspunkt war: 
Dünndarmgeschwür, Magengeschwür, Sal¬ 
pingitis, Volvulus, Appendicitis (24). Da¬ 
von starben 19 (von Appendicitis 50%) 
Indikation zur Operation ist gegeben, so¬ 
bald die Diagnose „progrediente eitrige 
Peritonitis“ feststeht. Je früher operiert 
wird, desto besser ist die Prognose. Die 
Mortalität nach der Operation bewegt sich 
in aufsteigender Linie bei der Peritonitis 
durch Gonococcen, Staphylococcen, In¬ 
fluenzabacillen, Pneumococcen, Colibacillen, 
Streptococcen. Die Ueberschwemraung des 
Peritoneums geschieht schneller von den 
nach dem Zwerchfell zu sitzenden Organen 
aus, als von den Beckenorganen aus. Alle 
Fälle mit jauchig-eitrigem, rein-eitrigem, 
serös-eitrigem, fibrinös- eitrigem Exsudat 
sind heilbar, mit Ausnahme derer mit peri¬ 
tonealer Sepsis. Die Resultate sind besser 
geworden, seitdem an Stelle der aus¬ 
giebigen Spülung der Bauchhöhle mit Koch¬ 
salzlösung und nachfolgender Drainage mit 
Gummiröhren, die trockene Toilette der 
ganzen Bauchhöhle und Drainage mit Gaze 
getreten ist. Sehr bewährt haben sich 
wieder reichliche subcutane und intravenöse 
Kochsalzinfusionen. Klink (Berlin). 

(v. Bruns, Beitr. z. klin. Chir. 1903. XXXIX, 2). 

Pelzl tritt abermals für die Pilocarpin- 
behandlung der croupösen Pneumonie 
ein. Er verabreichte meist am 2. Be¬ 
handlungstage das Pilocarpin innerlich 
(einmal 20 Tropfen einer 1 proc. Lösung, 
nachdem am ersten Behandlungstage Di¬ 
gitalis verordnet worden war). Der günstige 
Einfluss dieser Behandlung äusserte sich 
fast allgemein darin, dass schon während 
der Diaphorese ein Temperaturabtall um 
ca. 1° und subjectives Wohlbefinden ein¬ 
trat. Dem Temperaturabtalle folgte aller¬ 
dings nach einigen Stunden wieder ein 
Fieberanstieg, das Besserbefinden [hielt 
jedoch an. In der Hälfte der Fälle trat 
die Krise binnen 48 Stunden ein. H. W. 

(Wiener medic. Presse No. 37). 


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Original fro-m 

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October Die Therapie der 


Im Verfolg seiner Studien Ober den 
Mechanismus des Zustandekommens der 
Inaktivirung desTetanusgiftes durch 
das Tetanusantitoxin ist E. v. Behring 
neuerdingszu Anschauungen gelangt, welche 
für die praktische Anwendung der 
antitoxischen Tetannstheraple von Be¬ 
deutung sind und deshalb hier Erwähnung 
finden müssen. — Während v. Behring 
früher, ebenso wie Ehrlich, eine chemische 
Bindung zwischen Giftmolekül und Anti¬ 
toxinmolekül — nach dem Typus der Säure- 
neutralisirung durch Alkali — annahm, ist 
er jetzt zu der Auflassung geführt worden, 
dass die Inaktivirung des Tetanusgiftes 
durch das Heilserum den fermentativen 
Umwandlungen der Proteine an die Seite 
zu stellen ist. Es genügt deshalb nicht, 
dass der antitoxische Antikörper (A) in 
vitro oder vivo zusammen mit dem toxischen 
Körper (t) in der gleichen Flüssigkeit ge¬ 
löst wird, um eine Inaktivirung herbei¬ 
zuführen; es muss vielmehr noch ein dritter 
Körper hinzukommen, welcher zwischen 
dem toxischen und dem Antikörper den 
Contact herstellt. Dieser Körper, den 
v. Behring als Conductor(C) bezeichnet 
und den er geneigt ist mit der Substanz 
des Axencylinders (bezw. mit einem Be- 
standtheil dieser Substanz) zu indentificiren, 
ist viel hinfälliger als der Antikörper; er 
ist beispielsweise in frischem Blutserum 
tetanusimmunisirter Pferde viel reichlicher 
vorhanden, als in einem Blutserum, wel¬ 
ches schon längere Zeit gestanden hat 
(während der Antitoxingehalt beider gleich 
sein kann oder doch nicht in gleichem 
Masse verschieden ist), und er wird 
in frischem Blutserum durch mehrtägiges 
Erwärmen auf 40—50° einseitig (d. h. 
ohne gleichzeitige Abnahme des Anti¬ 
toxins) vermindert. Seiner Natur nach ist 
dieser Körper noch vollständig hypo¬ 
thetisch, seine Existenz aber sieht v. Beh¬ 
ring durch Versuche, die an dieser 
Stelle nicht wiedergegeben werden können, 
als erwiesen an. 

Entsprechend dieser Auffassung reicht 
die bisherige Bewerthung des Antitoxin¬ 
gehalts eines Heilserums durch den Mi¬ 
schungsversuch in vitro (d. h. durch die 
Feststellung, wieviel von dem Serum er¬ 
forderlich ist, um in vitro eine Gifteinheit 
unschädlich zu machen) nicht mehr aus, 
um über seinen Schutz- und Heilwerth 
Auskunft zu geben; denn der Mischungs¬ 
versuch bestimmt nur die vorhandene An¬ 
titoxinmenge, ohne den Gehalt an C zu 
berücksichtigen, v. B eh r i ng prüft deshalb 
das Tetanusserum, das zum Gebrauch ab¬ 


Gcgenwart 1903. *79 


gegeben wird, von jetzt ab nicht mehr bloss 
auf seinen Mischungswerth, sondern auch 
auf seinen Schutzwerth und Heilwerth 
im Thierexperiment. Er hat zu diesem 
Zwecke die Production der Tetanusheil¬ 
sera ganz nach Marburg verlegt und 
ihren geschäftlichen Vertrieb der dortigen 
Firma Dr. Siebert und Dr. Ziegen¬ 
bein übertragen. Die Dosirung und 
Anwendungsweise der neuen Sera hier 
wiederzugeben, ist überflüssig, weil mit 
jeder Dosis eine genaue Gebrauchsan¬ 
weisung abgegeben wird, welche auch die 
in Frage kommenden wissenschaftlichen 
Gesichtspunkte in Kürze klar legt. Von 
besonderer Bedeutung ist, dass auch ein 
Trocken-Antitoxin abgegeben wird (zum 
Einstreuen in inficirte Wunden oder zur 
parenchymatösen Injection nach Auflösung 
in sterilisirter Kochsalzlösung), welches 
wegen seiner grossen Haltbarkeit und 
seines mässigen Preises (3 Mark für das 
Fläschchen mit 20 A. E.) nicht bloss in 
Apotheken und Krankenhäusern, sondern 
auch vom Arzte selbst vorräthig gehalten 
werden kann. Mit diesem Präparat kann 
die Behandlung sofort eingeleitet und 
fortgesetzt werden, bis die erforderlichen 
stärkeren Sera im Bedarfsfälle eintreffen. 
Auf die Schnelligkeit, mit der die anti¬ 
toxische Therapie in Kraft tritt, legt 
v. Behring nach wie vor den allergrössten 
Werth. Er weist mit Recht darauf hin, 
dass auch bei der Diphtherie die Heilserum¬ 
behandlung nicht ihren grossen, jetzt überall 
anerkannten Einfluss hätte ausüben können, 
wenn man in jedem Einzelfalle das Heil¬ 
mittel erst auf grosse Entfernungen mit 
einem Zeitverlust von mindestens36 Stunden 
von der Productionsstätte hätte kommen 
lassen müssen. Greifen dieselben Prin¬ 
zipien, die bei der Diphtheriebehandlung 
längst durchgeführt sind, in der Tetanus¬ 
therapie Platz — wozu die neuen Mar- 
burger Präparate den Boden ebnen sollen 
— so erwartet v. Behring ein gewaltiges 
weiteres Heruntergehen der Sterblich¬ 
keitsziffer an Tetanus, die nach maass¬ 
gebenden Statistiken jetzt bereits unter 
dem Einflüsse der Serumtherapie von ca. 
88 % auf 45—40 % herabgedrückt ist! 

F. K. 

(Deutsche med. Wochenschrift 1903, No. 35.) 

Aus dem Koch’sehen Institut berichtet 
Dr. F. Neufeld über ausgedehnte Ver¬ 
suchsreihen an Eseln, Ziegen und Rindern, 
die sich mit der Immunisirung gegen 
Tuberkulose beschäftigen. Das wesent¬ 
liche Resultat derselben ist eine Bestäti- 


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October 


480 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


gung der von E. v. Behring im vorigen 
Jahre mitgetheilten Thatsache (vergl. diese 
Zeitschr. 1902, S. 263), dass es gelingt, 
durch intravenöse Injection von le¬ 
benden, vom Menschen stammenden 
Tuberkelbacillen - Culturen gegen 
eine nachfolgende Infection mit einer 
sicher tödtlichen Dosis virulenter 
Perlsucht Immunität zu erzielen. Durch 
abgetötete Tuberkelbacillen war dieser Er¬ 
folg nicht zu erreichen, und ebensowenig 
gelang es, eine lmmunisirung bei Meer¬ 
schweinchen zu erzielen, die für mensch¬ 
liche und Rindertuberkelbacillen in gleicher 
Weise empfänglich sind. Bei den drei oben 
genannten, nur für Perlsucht empfänglichen 
Thierarten dagegen gelang die;Immunisirung 
durch die lebenden Bacillen sehr leicht; 
schon eine einmalige kleine intravenöse 
Injection von Menschentuberkelbacillen ge¬ 
währte einen relativ erheblichen Schutz. 
Aber bei Steigerung der injicirten Dosen 
zeigte sich bald eine Grenze, die zu über¬ 
schreiten bisher nicht möglich war. Die I 
Thiere erlagen der Injection grösserer 
Dosen der menschlichen Tuberkelbacillen, 
und zwar die Esel etwa bei einer Dosis 
von 50—80 mg, Ziegen bei Ueberschrei- 
tung einer Dosis von 30 mg. Neufeld 
führt dies auf eine Giftwirkung zurück und 
schliesst daraus, dass menschliche Tuber¬ 
kulose und Perlsucht, so verschieden sie 
in ihrer Infectiosität sind, in ihrer Gift¬ 
wirkung sich sehr nahe stehen. Eine 
nennenswerthe Gewöhnung an das Gift war 
nicht zu erzielen, daher auch keine weitere 
Steigerung der Immunität gegen die Perl¬ 
suchtbacillen. — Wie weit die praktische 
Verwerthung dieser Immunisirungsmethode 
hierdurch eine Einschränkung erfährt, muss 
weiteren Untersuchungen Vorbehalten blei¬ 
ben; ihre ausserordentliche Bedeutung, auf 
die wir bei der Besprechung der Behring- 
schen Mittheilung bereits hingewiesen haben 
(1902, S. 264), bleibt unangetastet. 

F. Klemperer. 

(Deutsche med. Wochenschrift 1903, No. 37). 

Das durch E. Fischers und v. Me- 
ring’s Veröffentlichung in dieser Zeit¬ 
schrift (1903, Heft 3) in die Therapie ein¬ 
geführte Schlafmittel Veronal, hat bereits 
eine Reihe von Mittheilungen hervor¬ 
gerufen, die die günstigen Berichte der 
Erfinder durchweg bestätigen. Ausser 
Rosenfeld’s gleichfalls in dieser Zeit¬ 


schrift (1903, Heft 4) berichteten Erfahrungen 
hat Poly in der Würzburger med. Klinik 
mit Dosen von 0,25—0,75 bei einfacher 
Agrypnie meist prompt Schlaf erzielt, nur 
bei gleichzeitigen Schmerzen versagt das 
Mittel. Unangenehme Nebenwirkungen und 
Angewöhnung wurden nicht beobachtet. 
Aronheim hat auch bei schmerzhaften 
Affectionen mit 1,0 Veronal Sehlaf erzielt. 
Lilienfeld hatte bei Geisteskranken aus¬ 
gezeichnete Erfolge und räumt dem Mittel 
den ersten Platz unter den Hypnodcis ein. 
Wirth, der an 84 Kranken (mit 2100 Ein¬ 
zelgaben) der Hofheimer Irrenanstalt 
seine Untersuchungen anstellte, hat das 
Veronal nicht nur auf seine schlaferzeu¬ 
gende Wirkung (die er bestätigt), sondern 
auch auf seine Brauchbarkeit als Beruhi¬ 
gungsmittel bei erregten Geisteskranken 
geprüft. Er fand, dass nach 0,5—1,0 g je 
nach Intensität der Erregung 3—9stündiger 
ruhiger Schlaf erfolgt. Durchschnittlich 
wurde 0,5 g 3—4mal täglich verwandt. 

I Diese Einzeldosis entspricht etwa 1,0 g 
Trional. Veronal zeigt aber im Gegensatz 
zu jenem keine kumulativen Eigen¬ 
schaften. Tagesdosen von 2,5 g und 
Darreichung von 41 g in einem Monat 
riefen keine ernsteren toxischen Erschei¬ 
nungen hervor. Das Körpergewicht nahm 
unter der Behandlung häufig zu. Nur ganz 
selten wurden schwankender Gang und 
! benommenes Sensorium beobachtet. 2mal 
kamen masernähnliche juckende Exantheme 
vor, die nach Aussetzen des Mittels rasch 
schwanden. Die Zeitdauer bis zum Eintritt 
der Wirkung war in den einzelnen Fällen 
und auch je nach der Art des zu behandeln¬ 
den Zustandes verschieden und schwankte 
von einer halben bis zu zwei Stunden. — 
Wenngleich man nach Analogie sonstiger 
Erfahrungen erwarten muss, dass mit der 
Zeit noch mehr Nebenwirkungen bekannt 
werden, dass namentlich auch bei diesem 
Mittel nach langem Gebrauch durch Ge¬ 
wöhnung die Wirksamkeit sich abschwächen 
wird, so erhält man doch aus den bis¬ 
herigen Veröffentlichungen den Eindruck, 
dass das Veronal ein den besten bis¬ 
herigen Hypnoticis zum mindesten eben¬ 
bürtiges Mittel ist. 

Laudenheimer (Alsbach-Darmstadt). 

Poly, Mönch, med. Wochenschr. 1903, No. 20: 
Aron heim, Medicin. Woche 1903, No. 31; — 

Lilienfeld, Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 21; 
— Wirth, Psychiatr. neurolog. Wochenschr. 1903, 
I No. 9). 


rroi Mcnpnn ... .. — Verantwortlicher Kedacteur lür Oesterreich-Ungarn; 

EÜ«n'Schwär.'enber P in Wien. - Drück von Julius S, Umfeld in Berlin. - Verlag von U r ban & S c h w ar r e n b erg 
* in Wien und Berlin. 


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Original frorn 

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Die Therapie der Gegenwart 

1903 herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer November 

in Berlin. 


Nachdruck verboten. 

Die Stellung der physikalischen Heilmethoden in der heutigen 

Therapie. 1 ) 

Bemerkungen zur physikalischen Therapie 
der Krankheiten des Respiration«- und Clrculationsapparats. 

Von O. Vlerordt- Heidelberg. 


Die Einführung der physikalischen Heil- ! 
methoden in die wissenschaftliche Medicin 
bedeutet einen Wendepunkt von weit- 
tragender Bedeutung in der Geschichte 
unserer Wissenschaft. Es ist nicht lange 
her, dass die Schulmedicin diese Methoden ; 
mit verschwindenden Ausnahmen unbenutzt - 
bei Seite liess, dass sie es geradezu zu¬ 
rückwies, sich mit ihnen zu befassen, dass 
sie sie zu ihrem eigenen Schaden den 
rohen und ungebildeten Empirikern, den 
Pfuschern überliess — und warum? — 
weil der vollständige Mangel an wissen¬ 
schaftlichen Grundlagen für diese Ver¬ 
fahren, das Fehlen einer exakten Er- j 
forschung ihrer Wirkung den wissenschaft¬ 
lich gebildeten Arzt abstiess, ihm Miss¬ 
trauen, ja Verachtung einflösste. 

Das ist nun anders geworden; die 
Elektrotherapie und Hydrotherapie als zeit¬ 
lich erste, die Ernährungstherapie (wenn 
es gestattet ist, dieselbe hiermitzuerwähnen) 
später hinzukommend, die beiden ersteren 
aber an thatsächlichen Grundlagen rasch 
überholend, ferner die Bewegungs-, Luft-, 
Lichttherapie und wie sie alle heissen, sie 
sind in ihren Wirkungen unserem wissen¬ 
schaftlichen Verständniss näher gerückt. 
Die Lehre von ihrer Wirkung ist von 
massenhaftem, unklarem, theilweise mysti¬ 
schem Wust gereinigt worden und sie hat I 
dafür an positiven Thatsachen gewonnen. | 

Ich will Sie jetzt nicht mit der gewissen- | 
haften Aufzählung aller der Zustände er¬ 
müden, bei welchen die physikalischen Me¬ 
thoden ihre heilsamen Einflüsse entfalten. I 
Die Geschichte der wissenschaftlichen Be- j 
arbeitung dieser Dinge setzt ein mit der j 
noch nicht lange zurückliegenden Zeit, da 
verschiedene Forscher begannen, sich mit 
der Hydrotherapie einerseits der acuten 
fieberhaften, andererseits der chronischen 
Zustände zu beschäftigen, da durch Ar¬ 
beiten aus den Kurorten und von Specia- 

*) Einleitender Vortrag gehalten bei Eröffnung j 
der balneologischen Curse in Baden - Baden am 
5. October 1903. 

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listen unternommen wurde, die Wirkungen 
der Mineralwässer nach modernen Me¬ 
thoden zu studiren, da die Elektrotherapie, 
dann die Massage gegen Krankheiten des 
Nervensystems angewandt wurde. In¬ 
zwischen ist die Anzahl der Heilfactoren 
vermehrt, der Kreis ihrer Anwendbarkeit 
erweitert, und heutzutage sind wir so weit, 
dass es ausgesprochen werden darf, es 
gebe kein Organ des menschlichen Körpers, 
welches nicht durch physikalisch-diätetische 
Einflüsse getroffen werden kann, und es 
gebe kein internes Leiden, bei welchem 
nicht, unbeschadet der gesicherten Indica- 
tionen der medicamentösen und antitoxi¬ 
schen, bezw. der chirurgischen Therapie, 
die Methoden der medicinlosen Heilweise 
angezeigt wären. 

Unter den medicinlosen Heilmethoden 
der inneren Medicin ist ja bisher eigent¬ 
lich nur von der Ernährungstherapie zu 
sagen, dass sie bereits ein stolzes, fest¬ 
gefügtes, in manchen Beziehungen einiger- 
maassen abgeschlossenes Gebäude auf der 
* Basis gesicherter naturwissenschaftlicher 
| Thatsachen darstellt. In dem physikalischen 
Theil dieser neuen Heilmethoden ist unser 
streng wissenschaftlicher Besitz noch ge¬ 
ringer und weniger geschlossen, und es 
erscheint die Klage von Winternitz in 
dem vor zwei Jahren erschienenen Hand¬ 
buch der physikalischen Therapie über 
spärlich gelieferte neue Arbeit nicht un¬ 
berechtigt, — wenigstens was deren Er¬ 
gebnis an exacten, wohlbeobachteten 
Thatsachen bedeutet. 

Dennoch müssen wir vor allem an- 
ei kennen, dass uns auch in diesen Disci- 
plinen gerade in der neuesten Zeit viel¬ 
fach entgegengearbeitet ist durch die 
grundlegenden Arbeiten von Rubner und 
anderen über den Wärmehaushalt des 
Körpers und den Stoffwechsel überhaupt, 
durch Arbeiten über das Verhalten des 
Blutes, des Nervensystems, des Circulations- 
apparates unter physikalischen Einflüssen. 

Dies zusammengenommen mit einem Theil 

61 

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482 


November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


der zahlreichen alteren und neueren direkt 
therapeutischen Arbeiten hat denn doch 
schon einen gewissen festen Bestand an 
Gesichtspunkten und sicheren Grundlagen 
für diese Therapie ergeben. 

Das Resultat ist, dass die Indicationen 
für die Maassnahmen der physikalischen 
Therapie anfangen präciser zu werden. 
Und dies ist ein grosser Fortschritt! Wie 
eine nach bestimmten Indicationen han¬ 
delnde Therapie auf die Erweiterung un¬ 
serer Kenntnisse in der Pathologie und 
Klinik und insbesondere auf die Verfeine¬ 
rung der Diagnostik zurückwirkt, das zeigt 
uns die Entwicklung der Chirurgie und 
inneren Medicin in deren Grenzgebieten, 
die Geschichte der Appendicitis, der Lo- 
calisationen im Grosshirn, der eitrigen 
Pleuraexsudate u. a. m. Das Umgekehrte 
tritt ein, wenn, wie dies früher bei den 
physikalischen Heilmethoden der Fall war, 
die Richtung der Therapie unbestimmter 
wird, wenn die Behandlung die Ziele all¬ 
gemeiner Kräftigung oder sonstiger all¬ 
gemeiner Beeinflussung des Organismus 
verfolgt, weniger individuell der Dia¬ 
gnose und speciellen Natur des Einzel¬ 
falles angepasst wird. Exacte Diagnosen 
erscheinen dann nicht nöthig und werden 
denn auch vielfach nicht gestellt; „Kräfti¬ 
gung des Herzens“, „Hebung der Er¬ 
nährung“, „Abhärtung“ etc. sind ja in 
der That Indicationen, die auf Vieles 
passen. Und so werden die Diagnosen 
leicht salopp. — Diese Klippe hat in der 
ersten Zeit der Anwendung der physika¬ 
lischen Methoden eine wohl erkennbare 
Rolle gespielt; manche Vertreter dieser 
Richtung sind an ihr gescheitert. 

Es ist ein überall hervortretendes Ge¬ 
setz in der Entwicklung der Medicin, dass, 
je spärlicher die naturwissenschaftlichen 
Kenntnisse, je oberflächlicher die An¬ 
schauungen gewesen, desto mehr die 
Aerzte sich an Schemata, an deductiv er¬ 
sonnene Systeme gehalten haben. In der 
Therapie bauten sie sich nicht selten auf 
mystisch übertriebene Vorstellungen von 
der Heilkraft einzelner Stoffe und Factoren 
auf. So ist es schon von Alters mit dem 
Wasser, mit der Luft, mit der Sonne ge¬ 
wesen, nicht nur in der Hand der illegi¬ 
timen Vertreter, der Pfuscher; auch die 
wissenschaftlich gebildeten Aerzte, soweit 
sie sich mit diesen Heilfactoren abgaben, 
verfuhren schematisch; für was sollte bei¬ 
spielsweise nicht alles die „gute Luft“, die 
„Luftveränderung“, der Ganzwickel mit 
Schwitzen und Douche heilsam sein, 
wie gedankenlos wurden sie angewandt. 

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Diese Hinneigung zum Schema ist der 
physikalischen Therapie noch lange nach¬ 
gegangen; selbst die durchaus wissenschaft¬ 
lich entwickelte Hydrotherapie des Abdo¬ 
minaltyphus litt z. B. ursprünglich an über¬ 
grossem Schematismus. Aber gerade hierin 
ist es neuerdings ganz anders und besser 
geworden; die Erweiterung unserer Kennt¬ 
nisse von der Wirkung dieser Heilfactoren 
hat gelehrt, dass sie derselben, ja vielfach 
einer noch feineren lndividualisirung fähig 
sind, als die medicamentöse Therapie, dass 
Diagnose und individuelle Natur des Einzel¬ 
falles zuvor sorgsam festgestellt werden 
müssen, ehe es sich entscheidet, ob und 
welche physikalischen Methoden, ob sie 
allein oder in Combination mit medicamen- 
töser Therapie anzuwenden sind. 

In alledem also haben wir eine Wand¬ 
lung zum Besseren erlebt; wir sind auf dem 
Wege, eine Wissenschaft der physika¬ 
lischen Therapie zu besitzen, so sehr die¬ 
selbe auch noch in den Anfängen steckt. 

Andere Schwierigkeiten aber, die sich 
der jungen Disciplin in den Weg stellen, 
sind schwerer zu beseitigen. Sie sind ver- 
hältnissmässig trivialer Natur. 

Die physikalische Therapie ist umständ¬ 
licher, zeitraubender, oft theurer als die 
medicamentöse. Das Publikum wirft sich 
ihr theilweise freilich mit einer all dies 
überwindenden Begeisterung in die Arme, 
leider auch heute noch recht vielfach dann, 
wenn sie von der Hand eines reklame¬ 
treibenden, mit dem mystischen Glanze des 
Zauberers sich umgebenden Pfuschers dar¬ 
geboten wird. Ein grosser Theil der Pa¬ 
tienten verhält sich aber besonders in der 
Hauspraxis ablehnend, nimmt es übel, wenn 
der Arzt nicht die bequemeren Pillen und 
Tropfen verordnet. 

Hier sind nun manche Curorte und Sa¬ 
tt atorien in besonderemMaasse bahnbrechend 
gewesen; die Patienten kommen hier willig 
entgegen, sie haben Zeit und sie gehören 
im allgemeinen zu Denen, welche über die 
nöthigen Mittel verfügen; hier hat sich denn 
hauptsächlich Gelegenheit geboten, die 
Laien vom Werth der physikalischen The¬ 
rapie zu überzeugen. 

So sollte man meinen, dass diese Heil¬ 
faktoren sich denn doch den Weg auch in 
die eigentliche ärztliche Praxis sollten 
bahnen können, — wenn nicht hier noch 
besondere Schwierigkeiten im Wege stün¬ 
den. Die oben erwähnte, dass diese Dinge 
umständlich, zeitraubend und theuer sind, 
wird durch die Technik und Organisation, 
wenn ich so sagen darf, der Therapie und 
durch die Einsicht und den guten Willen 

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483 


November Die Therapie der Gegenwart 1903. 


-der Patienten allmählich wohl überwunden 
werden. Die Lösung einer anderen Schwie¬ 
rigkeit ist für mich vorläufig nicht abzu¬ 
sehen: Der Hausarzt hat meist nicht 
die nöthige Zeit, um die physikali¬ 
sche Therapie selbst anzuwenden 
oder persönlich zu überwachen. 
Die Forderung, die praktischen Aerzte 
sollen diese Methoden selbst ausüben, ist 
schon oft genug erhoben; besonders zur 
wirksamen Bekämpfung des Pfuscherthums 
wurde das vielfach gerathen. Am be¬ 
stimmtesten vielleicht hat vor fünf Jahren 
Rubner in einemsehr lesenswerthenVor¬ 
trag über Volksgesundheitspflege und me¬ 
dizinlose Heilweise hier an die Hausärzte 
appellirt. Allein da der Erwerb des Arztes 
eine Funktion aus der Zahl seiner Besuche 
und den Einzelhonoraren ist, und bei dem 
allgemeinen Standard der letzteren, ist der 
Hausarzt nur ausnahmsweise in der Lage, 
sich hier zu bethätigen. Es bleiben für 
ambulante Kranke in den Städten die viel¬ 
fach entstandenen, sehr segensreich wirken¬ 
den Institute für physikalische Therapie, 
wiewohl sie bekanntlich den Nachtheil 
haben, dass sie leicht den Patienten dem 
Hausarzt aus dem Auge kommen lassen. 
Wie soll aber die häusliche Therapie 
ausgeübt werden? Gewiss ist Win ternitz’ 
Wort richtig, dass man oft nicht viel 
Apparat braucht, dass man mit einem Hand¬ 
tuch und einem Kübel Wasser das Meiste 
in der Hydrotherapie ausführen kann. Da 
lässt sich ja der Patient zu Manchem an¬ 
leiten, was er selbst machen kann. Aber 
denken wir auf der anderen Seite an die 
differenteren Methoden, beispielsweise an 
ärztliche Massage nichtambulanter Kranker, 
an die so ausserordentlich wichtige Hydro¬ 
therapie besonders der akuten Schwer- 
kranken und Vieles andere — wer soll das 
machen? 

Man kann sich die Lösung dieser Frage 
verschieden denken, entweder durch die 
Hebung der hausärztlichen Honorare, die 
mehr Zeit auf den einzelnen Kranken zu 
verwenden gestattet, oder durch Schaffung 
«ines geschulten, nur unter Aufsicht ar¬ 
beitenden Personals etwa von der Qualität 
der früheren Aerzte II. Klasse; dies letztere 
ist aber bei der heutigen Lage der Gesetz¬ 
gebung, die das Pfuschen freigiebt, durch¬ 
aus ausgeschlossen; das gewöhnliche Pflege¬ 
personal wiederum hat für die eingreifen¬ 
deren und complicirteren Methoden nicht 
die nöthige Vorbildung. 

Im Auslände hat sich theilweise in 
grossen Städten eingebürgert, dass junge 
angehende Aerzte ihre Sporen mit den 

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häuslichen Manipulationen der physika¬ 
lischen Therapie verdienen; auch in 
Deutschland kommt derartiges vor, es 
fragt sich, ob dieser Weg nicht der Beste 
ist. 

Mögen diese Fragen gelöst werden, wie 
sie wollen, — eine Lösung wird mit der 
Zeit kommen, daran kann nicht gezweifelt 
werden. Die durchbrechende Ueber- 
zeugung vom Werth der physikalischen 
Therapie wird dafür sorgen. 

Worin besteht der Werth der 
physikalischen Heilmethoden? 

Die alte Behauptung der Naturärzte, 
dass ihre Verfahren unschädlicher seien, 
als Medicin, ist in ihrer Allgemeinheit 
falsch. Das kalte Bad kann dem Fiebern¬ 
den Collaps und Tod bringen, die Priess- 
nitz’schen und Kn ei pp'sehen Methoden 
haben zahllosen Menschen durch Schädi¬ 
gung des Herzens, der Nieren das Leben 
gekostet; Massage phlebitischer Beine, 
oder eines eitrigen Appendicitisrestes ist 
eben so gefährlich wie eine toxische Mor¬ 
phiumdosis, auch die diätetische Ent- 
fettungscur kann tödtlich sein, — was soll 
ich die Beispiele noch vermehren? 

Falsche Diagnosen also und Pferde- 
curen führen hier wie in der medikamen¬ 
tösen Therapie zur Schädigung und selbst 
Vernichtung des Organismus. 

Aber innerhalb der Grenzen, die 
durch richtige Diagnostik und durch 
kunstgemässe Anwendung gezogen 
sind, lassen sich die physikalischen 
und diätetischen Heilmethoden, ins¬ 
besondere in ihren vielfältigen 
Combinationen, mit einer Feinheit 
abstufen, welche von der medika¬ 
mentösen Therapie nur selten er¬ 
reicht wird. 

Es kommt dann weiter hinzu, dass viele 
Faktoren der physikalischen Therapie und 
der Diätetik, die Wärme und Kälte, die 
Belichtung und mechanische Beeinflussung, 
die Bewegung und Ruhe etc., theils quali¬ 
tativ identisch sind mit den physiologischen 
Faktoren, welche tagtäglich die Funktionen 
des Körpers beeinflussen, theils ihnen 
nahestehen; es liegt auf der Hand, dass 
mit ihnen am Besten und Schonendsten 
Verschiebungen im Sinne der Schonung 
und Uebung, der Verminderung und Stei¬ 
gerung der Funktionen, der Hebung der 
Circulation zum Zweck der Weg-chaffung 
pathologischer Produkte, kurz im Sinne vie¬ 
ler Gesichtspunkte unserer heutigen The¬ 
rapie ei reicht werden können. 

Schädliche Nebenwirkungen kommen 
bei der physikalisch-diätetischen Therapie 

61 * 

Original fro-m 

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484 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


November 


auch vor, allein sie sind, wenn gut dia- 
gnosticirt, vernünftig verfahren und während 
der Behandlung sorgsam beobachtet wird, 
immer vermeidbar, was bekanntlich z. B. 
von der Jod-, Arsentherapie, der Therapie 
der Schlafmittel etc. nicht gesagt werden 
kann. — Umgekehrt ist die günstige Nach¬ 
wirkung dieser Curen im Allgemeinen be¬ 
deutender als wie diejenige vieler medica- 
mentösen; das hängt theilweise mit einem 
Umstande zusammen, der den Hauptwerth 
der physikalisch-diätetischen Therapie in 
sich schliesst, dass nämlich der Patient 
aus diesen Curen fast immer etwas 
ins tägliche Leben mit hinüber 
nimmt. 

Die Zeit reicht nicht, um Ihnen dies 
mit Beispielen zu belegen; das ist aber 
auch wohl vor erfahrenen Collegen nicht 
nöthig. Die Abhärtung, das Maass der 
nöthigen Wärme, die Uebung und Scho¬ 
nung, die Erkenntniss, was dem eigenen 
Körper an Bewegung zugemuthet werden 
kann und muss, gewisse Regeln der Diä¬ 
tetik, auch psychische Diätetik, — das alles 
nimmt der Patient, falls er genug Einsicht 
und guten Willen hat, aus diesen Curen 
mit zu dauernder Nutzanwendung; sie 
stehen so mit einem Wort in engster Be¬ 
ziehung zur Hygiene, und zwar der Hygiene 
des Lebens, der Wohnung, der Kleidung, 
der Ernährung im Allgemeinen, wie zu der¬ 
jenigen specifischen Hygiene, die im Einzel¬ 
fall den Leidenden unter Leitung eines 
Arztes zur weiteren Bekämpfung seines 
Zustandes, dem Genesenen zur Abwendung 
des Rückfalles frommt. So bekommt der 
Einzelne in das, was sein Körper verlangt, 
denjenigen Einblick, welcher ihn nicht zum 
Hypochonder macht, sondern ihm Hoffnung 
auf Erhaltung der Gesundheit oder eines 
möglichst hohen relativen Maasses der¬ 
selben einflösst, — er lernt zu leben! 
— Damit haben wir die „naturgemässe 
Lebens-", die „naturgemässe Heilweise“ 
auf wissenschaftlicher Basis. 

Dass dabei ein gewisser Grad von Mit¬ 
wirkung bei der Cur und nach derselben 
von Seiten des Patienten nöthig ist, geht 
aus dem Gesagten hervor. Diese Mit¬ 
wirkung, richtig geleitet, ist bei chronisch 
Kranken und für die Prophylaxe von hohem 
Werth, und sie beeinflusst die Stimmung 
des Patienten. Der Frohsinn und bis zur 
Sinnlosigkeit gesteigerte Enthusiasmus 
vieler Patienten, der bei den Naturcuren 
der Pfuscher obwaltet, ist wohlbekannt; er 
kommt zum guten Theil daher, dass die 
Patienten täglich mit sehr sichtbaren Mit¬ 
teln den Kampf gegen das Leiden selber 


führen helfen; dass dort gerade dieser 
durch keine Sachkenntniss eingedämmte 
Enthusiasmus von Arzt und Patient vielen 
die Gesundheit und das Leben kostet, das 
wissen wir. An uns aber ist es, mit der¬ 
jenigen weisen Mässigung und Einschrän¬ 
kung, welche die wissenschaftliche Er¬ 
kenntniss auferlegt, von diesem Heilfactor 
Gebrauch zu machen. 

Ueber die Grenzen der Wirksamkeit 
der physikalischen Therapie zu reden, das 
ist bei einer so jungen, werdenden Disci- 
plin schwer. Dass ihr das, was heut zu 
Tage unter specifisch immunisirender und 
antitoxischer Therapie verstanden wird, 
abgeht, dass sie auch gewisse specifische 
Medikamente nicht ersetzen kann, liegt auf 
der Hand, von der chirurgischen Therapie 
gar nicht zu reden. — Wenn wir freilich 
die Wirkung des Lichts auf Bakterien und 
die glänzenden Lichtcuren des Lupus, die 
Einwirkung der Hitze auf Furunkel u. a. 
sehen, wenn wir bedenken, dass manches 
für die toxinausscheidende Function des 
Schweisses spricht, wenn wir an die eigen¬ 
tümliche Wirkung der Bier’schen Stau- 
ungshyperaemie denken, so müssen wir 
zugeben, dass da und dort directe und in- 
directe specifisch antibakterielle und anti¬ 
toxische Wirkungen physikalischer Fac- 
toren auftauchen, ganz abgesehen davon, 
dass gerade nach unseren allerneusten An¬ 
schauungen die Einwirkung der allgemeinen 
Kräftigung des Organismus, der Stärkung 
der Widerstandskraft seiner Zellen von 
nicht abzusehender Bedeutung für den 
Kampf mit den specifischen Bakterien und 
specifischen Schädlichkeiten jeder Art ist. 

Auf der anderen Seite sehen wir aber 
zur Zeit derartige Fortschritte im Gebiete 
der specifischen immunisirenden und anti¬ 
toxischen Therapie, derartige Erweiterung 
und Vertiefung unserer Kenntnisse von 
der Wirkung der medicamentösen Heil¬ 
mittel, dass in absehbarer Zeit keine Rede 
von einer Verdrängung derselben durch 
die physikalischen Faktoren sein kann. — 
Was aber spätere Zeiten bringen können, 
zu erörtern, ist vom naturwissenschaft¬ 
lichen Standpunkt vollkommen müssig. 

Gestatten Sie mir noch mit ein paar 
Worten auf die allgemeintherapeutischen 
Ziele des physikalischen Heilverfahrens 
zurtickzugreifen und daran einige Bemer¬ 
kungen über die allgemeine Methodik der¬ 
selben zu knüpfen. 

Zunächst verfolgen diese Verfahren die¬ 
selben Gesichtspunkte, wie überhaupt ein 
grosser Theil der modernen Therapie. Sie 
wollen der Natur zu Hilfe kommen durch 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


485 


Schaffung günstiger Allgemeinbedingungen, 
durch Schonung und Uebung kranker Or¬ 
gane, Uebung von Organen, welche vica- 
riirend für kranke eintreten; in diesem 
Sinne wirkt theilweise die Ableitung er¬ 
leichternd auf die Function des kranken 
Organs. Hebung der allgemeinen Wider¬ 
standskraft des Körpers durch Abhärtung, 
durch Förderung der Circulation und des 
Stoffwechsels der Gewebe, Uebung des 
Herzens, eventuell Erhöhung des Blut¬ 
drucks. Die letzteren Gesichtspunkte 
spielen natürlich eine grosse Rolle in der 
Therapie des Circulationsapparates. — Be¬ 
einflussung des Stoffwechsels im Allge¬ 
meinen durch Diätetik und physikalische 
Methoden ist auf vielfache Weise nützlich; 
unter die Kategorie der örtlichen Beein¬ 
flussung der Circulation und des örtlichen 
Gewebstoffwechsels fällt die Beseitigung 
von Exsudaten, die Einwirkung auf ent¬ 
zündete Gelenke, Muskelrheumatismus u. A. 
— Die Beeinflussung der grossen Schleim- 
4iautflächen des Verdauungs- und Respi¬ 
rationsapparates durch Mineralwässer, Diä¬ 
tetik, Inhalation, Klima, durch ableitende 
und abhärtende, zum Theil auch reflecto- 
risch wirkende Methoden ist Aufgabe einer 
grossen Gruppe von Methoden. — Die 
eigentümliche belebende, erfrischende 
Wirkung, welche der Gesunde nach ge¬ 
wissen Proceduren empfindet, wird mit 
Fug und Recht mutatis mutandis auf chro¬ 
nische und acute krankhafte Zustände über¬ 
tragen, seitdem festgestellt ist, dass diese 
Wirkung auch hier an Puls, Appetit, Be¬ 
wusstsein, Belebung der Reflexe u. s. w. 
erkennbar ist. 

Hierher gehört der schwer klar definir- 
bare Vorgang, den die Hydrotherapie als 
Reaction bezeichnet; der Vorgang be¬ 
steht darin; dass nach Kälteapplication aüf 
die Haut mehr weniger rasch und intensiv 
an Stelle der zuerst erfolgenden Con- j 
traction der Hautgefässe mit Blässe der 
Haut und Kälteempfindung eine Erweite¬ 
rung der Hautcapillaren mit frischer Röthe 
und wohliger Wärmeempfindung tritt, 
welche, wenn der beeinflusste Hautbezirk | 
eine gewisse Ausdehnung besitzt, mit auf¬ 
fälliger Anregung und Erfrischung des 
ganzen Körpers einhergeht. Genaue Blut¬ 
druckmessungen bei diesem Zustand haben 
keine nennenswerthen Ausschläge ergeben, 
das Nervensystem bietet keine für uns 
greifbaren oder gar messbaren Verände¬ 
rungen dar, die Untersuchungen des Ge- 
sammtstoffwechsels haben keine wesent¬ 
liche Aenderung erkennen lassen, und doch 
besteht die Erscheinung; der Gesunde 

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kann sie leicht an sich produciren, ganz 
besonders durch ein kurzes Bad in stark 
bewegter See, aber bekanntlich auch durch 
die verschiedensten Süsswasserproceduren. 

Bald mehr als eine nervöse, bald als eine 
circulatorische Erscheinung aufgefasst, ist 
dieser Vorgang, streng genommen, noch 
nicht erklärt, er ist aber das nothwendige 
Ingrediens jeder kalten oder kühlen Hydro¬ 
therapie; keine kühle Procedur soll ohne 
Reaction einhergehen; sie spielt eine Rolle 
bei der Abhärtung, den ableitenden Me¬ 
thoden, der Belebung benommener, schlecht 
expectorirender Schwerkranker. Sie kann 
leicht zum Schema werden, das 
Schema ist aber gerade hier tödtlich, denn 
diese sogenannte Reaction ist ganz indi¬ 
viduell. Eine Procedur, die für den Einen nach 
Temperatur und Dauer zu stark ist, ist für 
den Anderen zu schwach. Individualisirend 
angewandt aber, von Fall zu Fall studirt 
und geändert, ist sie ausserordentlich viel¬ 
seitig. 

Hieraus sehen Sie am deutlichsten, wie 
wir uns bequemen müssen, ganz neue Ge¬ 
sichtspunkte in’s Auge zu fassen, wenn wir 
uns mit diesen Dingen beschäftigen. 

Zum richtigen Zustandekommen all 
dieser Einwirkungen gehören nun aber 
zwei Dinge, die ich Ihnen nicht genug für 
die praktische Ausführung aller physika¬ 
lischen Therapie an’s Herz legen kann: 
diese Heilfactoren müssen nach Intensität 
und Dauer der Ausführung aufs genaueste 
dosirt werden, ihre Wirkung muss, eben 
weil sie individuell höchst verschieden ist, 
während der Behandlung sorgsam beauf- 
j sichtigt, und es muss je nach dem die 
Dosis geändert werden. 

Sie werden mir gewiss Recht geben, 

I wenn ich darauf hinweise, dass in diesem 
Punkt bisher viel gefehlt worden ist, und 
dass das oft zu irrigen Vorstellungen über 
die Wirkung dieser Proceduren geführt 
hat; nicht nur im täglichen Leben, bei 
Consilien sehen wir das, auch in der Lite¬ 
ratur giebt es hierfür zahlreiche Beispiele. 

Da erklärt ein Autor von wissenschaft¬ 
lichem Namen, er habe mit der Hydro¬ 
therapie gewisser acuter Krankheiten 
schlimme Erfahrungen gemacht und sie 
fallen gelassen. Geht man der Sache nach, 
so hatte er „kalte“ Bäder oder Bäder mit 
„kühlen“ Uebergiessungen angewandt, von 
Berücksichtigung der Temperatur, Anwen¬ 
dungsweise und Dauer ist nicht die Rede; 
solcher Beispiele giebt es viele in allen 
Zweigen der physikalischen Therapie. 

So geht es eben nicht; dieselbe heilige 
Scheu, die wir vor der Maximaldose des 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


November 


Morphins haben, dieselbe Sorgfalt, die wir 
überhaupt auf die Dosirung der Arzneien 
verwenden, sie muss auch auf die Inten¬ 
sität und Dauer der physikalischen Heil¬ 
mittel angewandt werden. Und wo wir 
kein Maass der Dosirung haben, z. B. bei 
der Massage, da muss um so sorgsamere 
Beachtung der Wirkung eintreten bezw. 
wie z. B. in vielen Fällen bei der Bauch¬ 
massage, der Arzt selbst die Procedur aus¬ 
führen. 

Wenn ich mehrfach betont habe, dass 
die physikalisch-diätetischen Methoden der 
mannigfaltigsten Combinationen fähig sind, 
so möchte ich von diesem Gesichtspunkte 
noch ein Wort über Curorte und Curen 
beifügen. 

Die Curorte der alten Zeit haben in 
der Hauptsache je ein Heilmittel besessen; 
bald war es ein zum Trinken, bald ein 
zum Baden oder zu beiden benütztes Mine¬ 
ralwasser, bald war es ein natürlicher 
Dampf und dergleichen, bald war es in 
späterer Zeit die Luft, besonders die 
Höhenluft, die den Curort in Ansehen 
brachte. Ein bischen Mystik lief gerne mit 
unter und so bekam das Curmittel des 
Orts den Nimbus der Zauberkraft. Die 
heutige, nüchterner erwägende Zeit und 
unsere lediglich auf wohl beobachtete That- 
sachen sich berufende moderne Medicin 
hat sich vom mystischen Theil dieser 
Werthschätzung frei gemacht und sie hat 
vor Allem erkannt, dass Mineralwässer, 
Klima u. s, w. allein viel weniger wirken, 
als in Gemeinschaft mit allen möglichen 
anderen Faktoren der Therapie, der Diä¬ 
tetik, der Hygiene. Wir nehmen eben das 
Gute, wo und wie es sich bietet, und 
klammern uns nicht in übermässiger Ver¬ 
ehrung an Höhenluft, Wasser u. s. w. Aus 
diesen Gesichtspunkten ist die moderne 
Behandlung der Phthise entstanden. 

So haben aber auch die Badeorte, die 
ihre Zeit verstanden haben, getrachtet, 
sich Alles brauchbare der physikalischen 
und diätetischen Methoden zu nutze zu 
machen; alle sind es nicht, die diese Auf¬ 
gabe voll erfasst haben, gerade unter den 
altberühmten sind manche noch zurück. 
Baden-Baden aber ist hier von jeher, 
durch das Verdienst zielbewusster Aerzte 
und unter dem Schutze einer weisen Re¬ 
gierung, mit an der Spitze gewesen, und 
ich möchte es nicht unterlassen, bei dieser 
Gelegenheit den Namen Heiligenthal mit 
Verehrung zu nennen. Dass aber auch die 
Sanatorien nach dieser Richtung für com- 
plicirter liegende und schwerere Fälle, ferner 
für schwer zu dirigirende oder sonst wie 

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genauer zu controlirende Patienten, end¬ 
lich für difficile Curen physikalischer wie 
besonders diätetischer Art eine hervor¬ 
ragende Rolle spielen, ist Ihnen bekannt 
und ich freue mich constatiren zu können, 
dass wir hier in Baden-Baden deren meh¬ 
rere haben, die zu den Besten ihrer Art 
gehören. 

Schon manchmal haben sich gewichtige 
Stimmen gegen den Missbrauch der Curen 
erhoben, nach denen der Patient wieder 
zum gewohnten Leben zurückkehrt. Curen 
indess an Orten mit vollentwickelter physi¬ 
kalischer Therapie und, wo es nöthig ist, 
mit Zuhilfenahme der Diätetik, sie sollen 
eben nicht abgeschlossene Perioden bilden, 
sondern dem Patienten Fingerzeige für sein 
sonstiges Leben geben, wie ich das früher 
hervorgehoben habe. 

Indem wir die Rolle, die hierin gewisse 
Curorte spielen, voll anerkennen, können 
wir nicht leugnen, dass die Universitäten 
hier erst später zugegriffen haben, natür¬ 
lich nicht in den Fragen des Stoffwechsels 
und der Ernährung, wo sie ja führend ge¬ 
wesen, wohl aber in manchen Zweigen der 
physikalischen Therapie. In der Forschung 
sind sie allerdings in letzter Zeit, nach¬ 
dem wissenschaftliche Grundlage n gewonnen 
worden, energisch auf den Plan getreten, 
im Unterricht sind sie, das kann nicht ge¬ 
leugnet werden, noch in manchen der hier 
in Betracht kommenden Disciplinen zu¬ 
rück; ich habe mich seit geraumer Zeit 
bemüht und habe jetzt auch Grund zu 
hoffen, dass das speciell in Heidelberg in 
allernächster Zeit anders werde. 

Noch vieles aber bleibt der wissen¬ 
schaftlichen Forschung Vorbehalten, wir 
stecken noch in den ersten Anfängen; der 
Bestand an mess- und greifbaren wohl¬ 
beobachteten Thatsachen ist noch spärlich. 
Vieles ist in diesem Gebiet noch räthsel- 
haft; viel werden wir aber von der Zu¬ 
kunft erwarten dürfen, denn die Fort¬ 
schritte der Physik in der Erforschung ge¬ 
rade der Factoren, die hier in Betracht 
kommen, sind zur Zeit ja erstaunlich. 

Hierfür lassen sie mich nur zwei Bei¬ 
spiele anführen: AerztlicheErfahrung schien 
von jeher darauf hinzuweisen, dass natür¬ 
liche Mineralwässer intensiver auf den Körper 
wirken, als die künstlichen Lösungen ihrer 
hauptsächlichen Salze; aber gerade die 
exacten Leute, die Chemiker und Physiker 
haben das früher als undenkbar, ja lächer¬ 
lich erklärt. Da warf die von Arrhenius 
begründete Ionenlehre ein völlig neues 
Licht auf das Verhalten der Salze in wässe¬ 
rigen Lösungen, und es ist zwar noch nicht 

Original ffom 

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November 


487 


Die Therapie der 

sicher erwiesen, aber wie insbesondere 
Liebreich auseinandergesetzt hat, doch 
in den Bereich der Denkbarkeit gerückt, 
dass das native Mineralwasser sich physi¬ 
kalisch und in Bezug auf den Organismus 
anders verhält, als das künstliche; die 
Lacher aber sind verstummt. 

Noch eindrucksvoller aber ist es, zu 
überlegen, was wir bis vor nicht allzu 
langer Zeit vom Licht und von seiner Ein¬ 
wirkung auf lebende Organismen gewusst 
haben, und was uns in der neuen und 
neuesten Zeit hierüber die Physik und die 
biologischen Wissenschaften lehren. Es 
war vorhin schon davon die Rede. Wir 
haben erfahren, dass das Sonnenlicht und 
insbesondere gewisse Strahlen des Spec- 
trums eigenthümliche Wirkungen auf Bak¬ 
terien, Gewebe des menschlichen Körpers 
und Gewebsveränderungen üben, wir haben 
in den Röntgen- und Becquerelstrahlen 
Strahlen kennen gelernt, welche die Schich¬ 
ten des menschlichen Körpers durchdringen 
und ebenfalls spezifische Einwirkungen auf 
die Gewebe haben. Auch der Durchtritt 
der chemischen und baktericiden Strahlen 
des Sonnenlichts durch die Haut wird 
neuerdings studirt. Dadurch ist die An¬ 
wendung des Lichts zu therapeutischen 
Zwecken in völlig neue Bahnen gelenkt. 

Im Hinblick hierauf dürfen wir wohl 
annehmen, dass auch in Zukunft noch 
mancherlei Geheimnisse der uns umgeben¬ 
den Natur gelüftet werden, noch mancherlei 
über die physikalischen und chemischen 
Einflüsse, die täglich unsern Körper treffen, 
uns klarer werden wird. Und von da bis 
zu dem Gedanken, dass auch der physika¬ 
lischen Therapie eine noch grössere Zu¬ 
kunft beschieden sein wird, ist nur ein 
kleiner Schritt. 

Gestatten Sie mir, hiermit den allge¬ 
meinen Theil meines Vortrags zu ver¬ 
lassen und noch einige Bemerkungen, über 
physikalische Therapie des Respi- 
rations- und Circulationsapparates 
anzuschliessen. Ich bitte um die Erlaub- 
niss, hier willkürlich dies und jenes her¬ 
ausgreifen zu dürfen. 

Für die physikalische Therapie der Er¬ 
krankungen des Respirationsapparates ist 
es von Bedeutung gewesen, dass die Er¬ 
kältung als Ursache von Entzündungen 
bakterieller Natur nunmehr in ihr Recht 
eingesetzt ist. Die strenge Bakteriologie 
hatte ihr den Hals gebrochen; heutzutage 
können wir uns im Hinblick auf physiolo¬ 
gische Arbeiten über den Mechanismus der 
Gefässreflexe und nach klinischen Beob¬ 
achtungen der Einsicht nicht verschliessen, 


Gegenwart 1903. 

; dass Abkühlung der Körperoberfläche, vor 
1 allem wenn nicht rasch Reaction eintritt, 
mit Fluxion nach inneren Gefässbezirken, 
besonders wohl nach schon früher erkrankt 
gewesenen Gegenden, den Loca minoris 
resistentiae, einhergeht, und dass es zur 
Erkältung kommt, wenn Fluxionen nach 
irgend welchen Körperbezirken, in diesem 
Fall nach den Schleimhäuten des Respira¬ 
tionsapparates, die in Nase und Mund stets 
vorhandenen Bakterien anlocken und zur 
! Virulenz kommen lassen. 

Es kann demnach heute auch vom 
wissenschaftlichen Standpunkt kein Zweifel 
mehr sein, dass ein Erkältungscatarrh durch 
Abkühlung der Körperoberfläche ohne 
nachfolgende Reaction erzeugt wird. 

Aus diesen Voraussetzungen ergeben 
I sich zwei Gesichtspunkte: einmal, dass der 
Neigung zur Erkältung wird vorgebeugt 
werden können, wenn es gelingt die regel¬ 
rechte Reaction der Haut (im früher er¬ 
wähnten Sinne) durch Kaltwasserapplica- 
| tionen mit nachfolgender Reaction einzu- 
| üben. Damit sehen wir die Abhärtung 
j durch Einübung der Gefässreflexe, einen 
Begriff, den Dubois-Reymond schon 
| vor langen Jahren aufgestellt hat, dem 
| wissenschaftlichen Verständniss näher ge¬ 
rückt. 

Zweitens darf man wohl annehmen, 
dass bei den innigen reflectorischen Be¬ 
ziehungen der Respirationsschleimhaut zur 
Hautoberfläche es auch möglich sein sollte, 
vorhandene Entzündungen der Schleim¬ 
häute, mindestens deren Fluxionen, von 
| der Hautoberfläche in günstigem, vielleicht 
I heilendem Sinne zu beeinflussen. 

' Dass sind Schlussfolgerungen, die wohl 
verstanden an der Hand der Beobachtungen 
geprüft werden mussten. An der Richtig¬ 
keit der ersteren, derjenigen von der ab¬ 
härtenden Wirkungen kalter Proceduren 
mit nachfolgender starker Reaction, kann 
aber jetzt schon kein Zweifel mehr sein. 
Was die zweite betrifft, so lehrt die Beob¬ 
achtung, dass verschleppte (wohlgemerkt 
nicht frische akute) und ebenso chronische 
Catarrhe der Respirationsschleimhaut durch 
die angedeutete Form der Hydrotherapie 
in der That in ausserordentlich günstiger 
| Weise beeinflusst werden können. Wenn 
so sowohl der Prophylaxe gegen Entzün¬ 
dungen der Respirationsschleimhaut als 
der Beseitigung bestehender Entzündungen 
durch dasselbe Verfahren genügt werden 
kann, so ist das nicht widersinnig, wenn es 
augh etwas schematisch erscheint. Im Uebri- 
gen ist es mit dem Schema nicht weit her, 
denn die Erzeugung der Reaction hat bei 


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488 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


November 


Anämischen und Vollsaftigen, Fiebernden 
und Nichtfiebernden und endlich rein indi¬ 
viduell in sehr verschiedener Weise zu ge¬ 
schehen. 

Hiermit ist aber für die Pathologie und 
Therapie der Erkältungszustände, einer 
Gruppe von Leiden, denen die Schul- 
medicin früher mit Scheu aus dem Wege 
gegangen ist, die Grundlage eines wissen¬ 
schaftlichen Verständnisses gewonnen. 

Klärung ist auch allmählich eingetreten 
in den Indicationen und der Methodik 
der expectorativen physikalischen 
Therapie. Sie ist von um so höherem 
Werth, da wir bekanntlich keine Ursache 
haben mit den Erfolgen der medicamen- 
tösen Expectorantien sehr zufrieden zu 
sein. 

Was hier die Indicationen betrifft, so 
gehe ich auf die Catarrhe der Bronchial¬ 
schleimhaut nicht weiter ein; hier liegen 
die Indicationen verhältnissmässig einfach 
und über die Therapie selbst werden Sie 
in den nächsten Tagen noch eingehender 
hören. — Dagegen eine Bemerkung über 
die Pneumonien. Hier verdient Hervor¬ 
hebung, dass unter den Pneumonien die 
bronchogenen allein diejenigen sind, bei 
denen ein expectoratives Verfahren von 
Nutzen ist, dass dagegen die croupöse 
Pneumonie vor der Lösung am besten von 
dieser Behandlungsart verschont wird. Es 
ist merkwürdig, wie wenig in Lehr- und 
Handbüchern und selbst in Monographien 
dieser Unterschied klar ausgesprochen 
wird. Nur eine Form der nicht selten wohl 
bronchogenen Pneumonie macht eine Aus¬ 
nahme: diejenige bei Influenza, welche wie 
die Influenza überhaupt, eingreifendere 
Wasserproceduren schlecht verträgt. Hier¬ 
von abgesehen, sind also die broncho¬ 
genen Pneumonien expectorativ zu be¬ 
handeln, die andern nicht, das lehrt die 
klinische Erfahrung; es ist aber auch 
wissenschaftlich begründet, denn eines- 
theils verschliesst Secretanhäufung in den 
feineren Bronchien den Zugang zur Lunge, 
macht also Atelectasen und verschlimmert 
die Gesammtstörung, anderntheils bildet 
das Secret als Nährboden die Brücke für 
das Einwandern von Keimen in die Tiefe; 
das wissen wir seit den Untersuchungen 
Müller’s. 

Was die Methodik der expectorativen 
Therapie anbetrifft, so steht der mehr 
weniger brüske Kältereiz, besonders im 
Nacken, und die Inhalation von feinzer¬ 
stäubtem Wasserdampf weitaus obenan. 

Der brüske Kältereiz auf die Haut der 
Brust, des Rückens und vor Allem des 


Nackens löst tiefe Inspirationen aus und 
wirkt auf diesem Wege expectorirend; er 
wird am besten als Anspritzung oder 
Uebergiessung mit kühlem Wasser im wär¬ 
meren Voll- oder Halbbad angewendet. 
Diese Procedur kann und muss je nach 
Umständen ausserordentlich modificirt wer¬ 
den. Hohes Fieber bei guter Herzkraft 
verträgt meist kühlere Badetemperatur (30 
bis 32 0 C.) und kurze Angiessung mit 8 
I bis 10 und 12 und mehr Grad kühlerem 
| Wasser; normale Körpertemperatur ver- 
| langt ein Bad von ca. 34 0 C. und Differenz 
| des Begiessungswassers von ca. 7 bis 10 
I und mehr Grad, je nach dem Stande der 
i Herzkraft; bei collabirten Kranken wird 
[ das Bad wärmer, selbst sehr warm, mit 
zunächst mässiger Begiessungsdifferenz; 
stets fange man milde an und steigere die 
Energie des Eingriffs je nach der gemachten 
l Beobachtung der Wirkung des vorher- 
| gehenden. Diese expectorirende Methodik 
ist ein gutes Beispiel der feinen Abstuf- 
| barkeit der Hydrotherapie. 

| Der Inhalation von feinzerstäubtem 
Wasserdampf messe ich als exspectori- 
rendem Agens bei der Therapie nicht nur 
der chronischen, sondern auch der acuten 
Bronchitiden und bronchogenen Pneumonien 
grosse Bedeutung bei. Sie werden hier in 
! Baden auf der Höhe der erreichbaren Voll- 
j kommenheit sehen, was heut zu Tage über- 
I haupt in der Inhalationstherapie, auch der 
medikamentösen, bei ambulanten Kranken 
geleistet wird. Aber auch bei bettlägerigen 
acuten Kranken muss sie noch mehr an¬ 
gewandt werden, es ist erfreulich, dass 
Wassmuth neuerdings einen transpor¬ 
tablen Apparat nach seinem bewährten 
Princip construirt hat. Ich füge bei, dass 
grobe Dampfinhalation combinirt mit äusserer 
Hydrotherapie sich zuweilen mit gross¬ 
artigem Erfolge verwerthen lässt bei chro¬ 
nischen Bronchitiden, besonders de3 Em¬ 
physems, falls der Patient nicht zu alt und 
von guter Herzkraft ist; ich meine durch 
Anwendung von Dampfbädern mit nach¬ 
folgenden kühlenBegiessungen desNackens. 
Dass hier die Patienten vorsichtig ausge¬ 
sucht und die Curen sehr zurückhaltend 
begonnen werden müssen, liegt auf der 
Hand. 

Endlich noch ein Wort über eine Gruppe 
von sozusagen ableitenden Methoden, welche 
besonders am Respirationsapparat von 
Werth sind und sicherlich eine Zukunft 
haben; ich meine die Einreibungen mit 
Kaliseife und die Einseifungen nach der 
j in Tölz geübten Methode. — Es ist Ihnen 
: wohl bekannt, dass Czerny diese Ver- 


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November 


489 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


fahren vor Kurzem besonders bei der 
Phthise empfohlen hat. Hierüber gerade 
besitze ich wenig Erfahrung, weil ich sie 
hier nur ausnahmsweise verordnet habe; 
dagegen wende ich sie seit Jahren in 
immer steigendem Maasse bei pleuritischen 
Exsudatresten, Schwarten, eventuell mit 
chronischer Pneumonie, ferner bei mehr 
minder begründetem Verdacht auf Bron¬ 
chialdrüsentuberkulose und bei der Scro- 
phulose an, und ich bin von diesen Curen, 
besonders soweit sie in Tölz vorgenommen 
werden, ausserordentlich befriedigt. Ich 
wende diese Verfahren aber auch in der 
Klinik an und habe in letzter Zeit öfter 
Kranke mit diesem Vorschlag in Sanatorien 
unter Anderem gerade nach Baden-Baden 
geschickt. Ich wünsche diesen Methoden 
eine grössere Ausbreitung; sie werden in 
Tölz mit besonderer Virtuosität und, wie 
gesagt, hervorragenden Erfolgen geübt, 
sind aber sehr wohl der Verpflanzung 
fähig. Meiner Ansicht nach sollten sie vor 
Allem in allen Soolbädern ausgeführt 
werden. 

Diese Verfahren sind bisher rein em¬ 
pirisch begründet; eine genügende theo¬ 
retische Erklärung ihrer Wirkung besitzen 
wir bislang nicht. 

Damit ist die physikalische Therapie 
des Respirationsapparates, auch wenn ich 
von der Phthise ganz absehe, natürlich 
nicht erschöpft. Es wäre der Athmungs- 
gymnastik, der Massage, der oft sehr wich¬ 
tigen Behandlung des Herzens, ferner der 
Sauerstoffinhalation, der Inhalation medica- 
mentöser Stoffe u. s. w. zu gedenken. Das 
hier herausgegriffene möge genügen. 

Was die Erkrankungen des Herzens 
betrifft, so sind wir ja im Punkte der 
Diagnose glücklich über die Zeiten hinaus, 
wo die klinische Diagnose bei der Fest¬ 
stellung der groben Veränderungen der 
Klappensegel ev. des Herzfleisches Halt 
machte. Wenn die Bedeutung der In- 
sufficienz des Herzmuskels heute gebührend 
gewürdigt wird, so ist der Anstoss hierzu 
zu einem guten Theil von der physikali- 
echen Therapie ausgegangen. Sie wissen, 
welche Verdienste hier die Nauheimer 
Schule hat. Auch hier ist also eine Rück¬ 
wirkung der therapeutischen Richtung auf 
die Anschauungen in Klinik und Diagnose 
zu erkennen. 

Fast will mir sogar bedünken, als wenn 
zur Zeit in der Diagnose durch die Be¬ 
rücksichtigung der Function des Herz¬ 
muskels die Bewerthung der grob anato¬ 
mischen Diagnose gelegentlich über Ge¬ 
bühr vernachlässigt würde. Es ist denn 

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doch für die Prognose nicht gleichgültig, 
ob einer Insufficienz des Herzmuskels eine 
reine Mitralinsufficienz oder eine solche, 
combinirt mit Stenose zu Grunde liegt; 
und es ist nicht nur für die Prognose, 
sondern auch für die Therapie ein grosser 
Unterschied, ob neben einem Mitralfehler 
eine Aorteninsufficienz besteht. Man soll 
beiden Seiten der Diagnostik in gleicher 
Weise gerecht werden, und es muss be¬ 
tont werden, dass gerade auch für die In- 
dicationen der physikalischen Therapie 
z. B. die Art des Klappenfehlers, ferner 
die Frage, ob Insufficienz des hyper¬ 
trophischen linken Ventrikels durch Klappen¬ 
fehler oder Arteriosclerose oder chronische 
Nephritis oder andere Ursachen entstanden 
ist, — wesentlich in Betracht kommt. 

Die moderne physikalisch - diätetische 
Behandlung der Insufficienz des Herz¬ 
muskels ist im Grossen und Ganzen durch 
ein paar inhaltsschwere Schlagworte cha- 
rakterisirt; sie besteht stets in der Haupt¬ 
sache in der Combination von Schonung 
und Uebung des Herzmuskels. — Schonung 
durch Wegschaffung aller nicht unbedingt 
nöthigen Anforderungen an ihn: imPunkte 
der motorischen und psychischen Auf¬ 
regung, im Punkte der Verdauung, und 
des Stoffwechsels, im Punkte der Beseiti¬ 
gung von Körperfett, event. auf dem Um¬ 
wege der Schonung der primär erkrankten 
Nieren. Uebung des Muskels für dasjenige 
Maass der Arbeit, welches von ihm ge¬ 
fordert werden muss, wenn das Leben und 
der beste erreichbare Grad von Wohl¬ 
befinden garantirt sein soll. 

In der Indication der Uebung des Herz¬ 
muskels durch Regulirung siqjner Thätig- 
keit, Herabsetzung der Pulsfretmenz, Ver¬ 
längerung der Diastolendauer, Kräftigung 
seiner Contractionen und mit dem Ge- 
sammtresultat der gleichmässigen Erhöhung 
seiner Leistungen und Hebung des Blut¬ 
druckes, — in dieser Indication hat die 
physikalische und diätetische Therapie so 
recht gezeigt, wie viel feiner, wie viel 
nachhaltiger, wie viel mehr ohne Neben¬ 
wirkungen sie arbeitet, gegenüber der me¬ 
dikamentösen, mit der sie sich übrigens 
nicht selten mit Vortheil combiniren lässt, 
und welche sie in den schweren Fällen, 
wo rasche gewaltsame Einwirkung nöthig, 
nie ersetzen kann. Hier gerade zeigt sich 
auch der Vortheil der physikalischen The¬ 
rapie, dass sie dem Patienten beibringt, wie 
er auch ausserhalb der Cur in Bezug aut 
Körperbewegung, Diätetik etc. zu leben hat. 

Bekanntlich nimmt seit langer Zeit Nau¬ 
heim mit seinen kohlensäurehaltigen Koch- 

62 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


November 


salzthermen und seiner hochentwickelten 
mechanisch-gymnastischen Behandlung in 
der Therapie der Herzkrankheiten eine 
ganz hervorragende Stellung ein; ist es 
doch in der Balneotherapie des Herzens 
bahnbrechend gewesen. Später ist von 
Manchen die reine Bewegungs- und diäte¬ 
tische Behandlung, dann auch die kQhle 
Hydrotherapie in den Vordergrund gestellt 
worden, auch eine steigende Anzahl von 
Curorten mit warmen und kalten mehr 
weniger kohlensäurehaltigen Soolen, mit 
kohlensäurehältigen Eisen- und salinischen 
Wässern, endlich mit indifferenten Thermen 
und guten Anstalten für Hydrotherapie 
und Bewegungstherapie sind auf den Plan 

I » getreten, die künstlichen Kohlensäurebäder 
| sind hinzugekommen, und wild wogt der 
f Streit der Meinungen, welchen Wässern 
* und welchen Methoden der Vorrang ge¬ 
bühre. Diese Streitfrage wird sich zu all¬ 
gemeiner Zufriedenheit nicht lösen lassen. 
Im Grossen und Ganzen hängt bei der Be¬ 
handlung des Herzens mehr wie irgend¬ 
wo der Erfolg nicht nur von der Wirk¬ 
samkeit und vor allem der Abstufbarkeit 
der Heilfactoren, sondern auch von der 
Sachkenntniss, Vorsicht und sorgsamen 
Beobachtung seitens des Arztes und von 
der verständigen Mitwirkung des Patienten 
ab. Dieselbe Methode giebt dem Einen 
schöne Resultate, dem Anderen Miss¬ 
erfolge. 

So lässt sich denn auch heute eine exacte 
Skala der Bewerthung nicht aufstellen. 
Nach wie vor steht Nauheim für die Be¬ 
handlung der Klappenfehler mit Ausnahme 
eines Theiles der Aorteninsufficienzen, ferner 
der chronischen Herzstörungen nach Ueber- 
anstrengung, manchen Formen der chroni¬ 
schen Myocarditis, des Tabak-, Alcohol- 
und Fettherzens in der ersten Reihe; die 
Abstufbarkeit seiner Thermen nach Tem¬ 
peratur, CO 2 * und Salzgehalt und Appli- 
cationsweise, sowie die Ausbildung der 
gymnastischen Methoden etc. ist hervor¬ 
ragend. Aber auch an anderen Curorten 
werden mit Mineralwässern, mit Gymnastik, 
Hydrotherapie und Massage im Verein mit 
Diätetik gute und zum Theil ausgezeich¬ 
nete Erfolge erzielt. Sie werden sich in 
den nächsten Tagen hier in Baden von 
denselben überzeugen. Besonders erfreu¬ 
lich ist, dass man in der neueren Zeit be¬ 
gonnen hat, den Werth des künstlich er¬ 
gänzten oder zugesetzten CCVGehalts der 
Bäder gründlich zu studiren. Dieses Cur- 
mittel mit seiner oft räthselhaft guten und 
nachhaltigen Wirkung verdient noch wei¬ 
teste Ausbreitung. 

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Dass Curorte, in denen gleichzeitig 
evaeuirende bezw. diuretische und herz¬ 
übende natürliche Curmittel zur Verfügung 
sind, wie vor allem Kissingen und Marien¬ 
bad, eine besondere Bedeutung haben, 
liegt auf der Hand; beide genannten 
passen übrigens nur für leichtere Herz¬ 
störungen bei einer gewissen Resistenz 
des Organismus. — Selbstverständlich lässt 
sich aber auch diese Combination an an¬ 
deren Orten zu Stande bringen. 

Was die Streitfrage betriflt, ob leich¬ 
tere Arteriosclerosen und ob chronische 
Nephritiden nach Nauheim oder für Curen 
nach Nauheimer Verfahren passen, so kann 
auch diese nicht generell beantwortet wer¬ 
den. Die allergrösste Vorsicht, tastendes 
Beginnen der Cur sind hier nöthig; ich habe 
seit Jahren fortgesetzt Kranke dieser Art 
in Beobachtung, welche sich alljährlich 
durch kohlensaure Soolbäder oder Hydro¬ 
therapie und Gymnastik lange Monate des 
Wohlbefindens verschaffen. Dass eine ge¬ 
wisse Höhe des Blutdruckes, die schwereren 
Formen der Stenocardie, Reizbarkeit des 
Herzens, überhaupt ein gewisser Grad von 
Nervosität absolute Gegenanzeigen sind, 
ist bekannt. Man muss eben die Fälle 
sorgsam auswählen, um die Entscheidung 
zwischen dieser und milderen baineothera¬ 
peutischen, oder milder evaeuirenden, diu- 
retischen Bewegungscuren zu treffen. 
Gleiche Beachtung aber wie die 
Finesse der Diagnostik verdient die 
Finesse der Cur; denn die nützliche 
und schädliche Wirkung auf den Herz¬ 
muskel liegen bei allen diesen Verfahren 
ebenso nahe bei einander, wie bei der 
Digitalistherapie. 

Sie werden über diese Dinge hier von 
berufenster Seite [noch Näheres erfahren. 
— Ich darf nur noch bemerken, dass die 
Beurtheilung der Wirkung während der 
Cur sowohl auf Grund des subjectiven 
Wohlbefindens des Patienten, des Ver¬ 
haltens der Bewegungsdyspnoe etc., als 
auf Grund des objectiven Befundes an 
Herz und Gefässen zu geschehen hat, und 
dass in letzterer Beziehung die Röntgen¬ 
durchleuchtung sehr schöne Resultate zu 
geben verspricht; die Weite der Herz¬ 
höhlen, die Grösse und Form des Herz¬ 
schattens also steht in äusserst feinen Be¬ 
ziehungen zu Aenderungen in der Leistung 
des Herzmuskels, und trotz des Wider¬ 
spruchs von gewissen Seiten zweifle ich 
nach meinen eignen Beobachtungen nicht 
im mindesten daran, dass es mit sorgfältiger 
Technik gelingt, auch kleine Unterschiede 
in der Herzgrösse zu registrireri. 

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November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


491 


Gegenüber der Reichhaltigkeit der blut¬ 
drucksteigernden Methoden tritt die Zahl 
und die Brauchbarkeit der Verfahren für 
Herabsetzung des Druckes bei Neur¬ 
asthenikern, bei Arteriosclerose und Ne¬ 
phritis bisher leider zurück. Vermeidung 
unnöthiger Reizung des Herzens und der 
Vasomotoren durch übertriebene Bewegung, 
psychische Erregung und falsche Diätetik, 
beim Nephritiker Minderung des Blut¬ 
druckes durch die verschiedenen Gesichts¬ 
punkte der Entlastung der Nieren, — das 
ist eigentlich alles, was bisher angewendet 
wird; bei den den Blutdruck herabsetzen¬ 
den stärkeren Schwitzcuren im Dampfbad 
muss man meist, wie Frey und Heiligen¬ 
thal hier in Baden gezeigt haben, zu¬ 
vörderst eine Erhöhung des Druckes in 
Kauf nehmen, und das macht sie gefähr¬ 
lich; dagegen ist meine feste Ueber- 
zeugung, dass häufig wiederholte kleine 
Aderlässe in ausgewählten Fällen, und nicht 
wie früher rabiat angewendet, wieder zu 
Ehren kommen werden. Die von mir vor 
einigen Jahren hervorgehobene, zuweilen 
höchst auffällige Wirkung des Jods, be¬ 
sonders der neuen Jodpräparate, auf den 
Blutdruck bei Arteriosclerose (bei Aus¬ 
schluss von Nephritis) gehört natürlich 


nicht in den Rahmen der physikalischen 
Therapie. 

Ich will hier schliessen; ich habe mit 
diesem einleitenden Vortrag versucht, Ihnen 
einen Einblick zu geben in die vielfach 
neue Betrachtungsweise und die eigen¬ 
artigen Gesichtspunkte, die wir in der phy¬ 
sikalischen Therapie haben. Die besondere 
Schwierigkeit derselben besteht darin, dass 
quantitative Beziehungen von allgemeiner 
Gültigkeit zwischen therapeutischem Agens 
und Wirkung hier eine geringere Rolle 
spielen, als in der medicamentösen, anti¬ 
toxischen, chirurgischen Therapie; es ist 
eben hier Alles in besonderem Maasse in¬ 
dividuell, und daher kommt es, dass nur 
unter Beachtung der Individualität, d.h. unter 
Beobachtung der Wirkung am Einzelnen und 
durch tastendes Vorgehen im Heilplan, etwas 
Rechtes geleistet werden kann. Die Haupt¬ 
sache aber ist, dass die neue Wissen¬ 
schaft sich wie alle Naturwissen schaft 
ausschliesslich gründet auf den Boden 
von wohlbeobachteten Thatsachen; 
und dass hierin schon sehr beachtenswerthe 
und brauchbare Anfänge vorliegen, das, 
hoffe ich, werden sie aus dem Gesagten ent¬ 
nommen haben und in den nächsten Tagen 
weiter bestätigt finden. 


Aus der medicinisolien Klinik der Universität Tübingen. 

(Director: Prot Dr. KrehL) 

Zur Frage der sogenannten febrilen Albuminurie nebst einigen 
Bemerkungen über die Bedeutung der Cylinder. 

Von Dr. Hugo Lüthje» Privatdocent und I. Assistent der Klinik. 


Die Ausscheidung von Eiweiss mit dem 
Harn ist in der Mehrzahl der Fälle das 
Zeichen einer Nierenerkrankung. Darüber 
besteht kein Zweifel. Die Untersuchung 
des Harns auf Eiweiss ist in der Sprech¬ 
stunde des Arztes die einfachste und wohl 
zunächst auch immer fast ausschliesslich 
geübte Art, sich ein vorläufiges Urtheil 
über den Zustand der Nieren zu bilden. 

Nun wissen wir aber seit langer Zeit, 
dass Eiweiss im Harn erscheinen kann, 
und zwar in nicht unerheblicher Menge, 
ohne dass eine Erkrankung der Nieren 
vorliegt. Von der accidentellen also un¬ 
echten Albuminurie, d. h. von jenen Fällen, 
in denen das Eiweiss nicht innerhalb der 
Nieren, sondern im Verlaufe der Harn¬ 
wege aus irgend einem Grunde dem Harn 
beigemengt wird, sei hier ganz abgesehen. 

Diese Formen der renalen Albuminurie 
bei Gesunden, sind eingehend namentlich 
von v. Leube studirt. Sie können auf- 

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treten nach starken körperlichen Anstren¬ 
gungen, nach kalten Bädern, nach seeli¬ 
schen Erregungen u. a.; man bezeichnet sie 
als physiologische Albuminurien. Es ist 
zweifelhaft, ob man hierher auch die unter 
anderen Umständen gelegentlich zu beobach¬ 
tenden Ausscheidungen von Eiweiss rechnen 
darf, die mit den verschiedensten Namen 
von den Autoren belegt sind: die cyklische 
Albuminurie, die intermittirende, die mini¬ 
male, die constitutionelle, die orthotische, 
die functionelle Albuminurie und wie die 
Namen sonst noch lauten mögen. Allen 
diesen Formen der Albuminurie gemeinsam 
ist das zeitweilige Auftreten von Eiweiss 
im Harn, entweder in bestimmten Cyclen 
oder bei bestimmten Körperstellungen, oder 
in bestimmten Lebensjahren (Pubertäts¬ 
albuminurie), ohne dass sonst Zeichen 
ernsterer Erkrankung des Organismus und 
speciell auch der Nieren vorliegen. Wer 
die Litteratur über diesen Gegenstand 

62 * 

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November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


etwas genauer studirt, wird alsbald finden, 
dass so vielen verschiedenen Namen zwei¬ 
fellos nicht so viele verschiedene Zustände 
entsprechen und deshalb dürfte es wün- 
schenswerth erscheinen, die Nomenclatur 
zu vereinfachen. Aber das ist Sache der¬ 
jenigen, die sich mit diesen Erscheinungen 
klinisch eingehender befassen oder befasst 
haben. Sicher ist auch, dass bei genauerer 
und vorschriftsmässiger Untersuchung des 
Harnsediments in solchen Fällen manche 
derselben doch eine etwas ernstere Be¬ 
deutung erlangen würden. Jedenfalls ist 
es einzelnen Autoren, die das Harnsedi¬ 
ment genauer untersucht haben, auch ge¬ 
lungen, [in Fällen von cyklischer Albumi¬ 
nurie mikroskopische Bestandtheile zu 
finden, die auf einen ernsteren Ursprung 
der Erscheinungen hinweisen. 

Dass es eine physiologische Albuminurie 
giebt, ist so sicher, wie es eine physio¬ 
logische Glycosurie giebt: in jedem Harn 
finden sich geringe Mengen, allerdings mit 
den gewöhnlichen Mitteln nicht nachweis¬ 
bare Mengen von Eiweiss, Dass diese Ei¬ 
weissmengen unter bestimmten Bedingun¬ 
gen auch grösser werden können, (0,1 bis 
0,4 °/ 0 ), beweisen die Untersuchungen 
v. Leube’s, v. Noorden's u. a. Sicher 
wissen wir ja auch, dass die Einführung 
grosser Mengen artfremden nativen Ei- 
weisses (z. B. Hühnereiweisses) in den 
Magen eine Ausscheidung von Eiweiss mit 
dem Harn nach sich zieht; wir haben also 
entsprechend der alimentären Glycosurie; 
eine alimentäre Albuminurie. x ) 

So unsicher ein grosser Theil der 
obengenannten Formen der Albuminurie 
hinsichtlich ihrer Genese und ihrer Auf¬ 
fassung sind, so unsicher ist bis heute auch 
die Bedeutung der sogenannten febrilen 
Albuminurie. Man versteht darunter seit 
Gerhardt, der zum ersten Mal ausdrück¬ 
licher auf sie hinwies, die Ausscheidung 
von Eiweiss, die häufig bei fieberhaften 
Erkrankungen beobachtet wird, namentlich 
bei den Infectionskrankheiten. Diese febrile 
Albuminurie ist seitdem des öfteren be¬ 
schrieben worden, aber bis heute ist man 
dem eigentlichen Wesen derselben, speciell 
auch ihrer Ursache nicht erheblich näher 
gekommen. Die Schwierigkeit liegt ein¬ 
mal in dem Mangel genügend zahlreicher 
autoptischer Befunde; vor Allem aber da¬ 
ran, dass wir — so merkwürdig das auch 
klingen mag — klinisch nicht immer hin- 

1 ) In mehreren neuen Arbeiten wird diese That- 
sache als eine Entdeckung neueren Datums hinge¬ 
stellt; man kannte diese Formen der alimentären 
Albuminurie aber schon vor bald fünfzig Jahren. 

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reichend orientirt sind, wann wir eine Er¬ 
krankung der Nieren annehmen sollen und 
wann nicht. Die Diagnose der Nierenent¬ 
zündung oder Nephritis gründet sich zwar 
klinisch in erster Linie auf dem Vorhanden¬ 
sein von Eiweiss im Harn; daneben ist 
aber, wenigstens für die acuten Entzün¬ 
dungen, der Nachweis bestimmter Form- 
bestandtheile im Harnsediment erforderlich. 
Von den entfernteren Folgen der Nephritis 
am Circulationsapparate, im Unterhautzell- 
gewebe u. s. w. soll hier nicht die Rede 
sein. 

Unter diesen Formbestandtheilen spielen 
die grösste Rolle die Harncylinder, so 
dass man gemeinhin aus dem gleichzeitigen 
Vorhandensein von Eiweiss und Cylindern 
im Harn die Diagnose Nephritis ableitete, 
auch wenn andere Symptome fehlen. Nun 
kommen aber, gerade wie Eiweiss ohne 
Cylinder im Harn erscheinen kanji, auch 
Cylinder sehr häufig und unter demmannig- 
fachsten Umständen im Harn vor, ohne 
dass sich Eiweiss in Mengen vorfindet, die 
mit den gebräuchlichen Reagentien ohne 
Weiteres nachweisbar sind. Man ist sogar 
allgemein geneigt, das Auftreten von „eini¬ 
gen“ hyalinen Cylindern als einen durch¬ 
aus harmlosen Vorgang hinzustellen. Für 
diese Auffassung fehlt zweifellos die rich¬ 
tige Basis. Wenn man bei ganz gesunden 
und auch fernerhin gesund bleibenden 
Leuten hier und da hyaline Cylinder findet, 
so darf deshalb dieses Vorkommen noch 
nicht als physiologisch betrachtet werden. 
Im Harn gesunder rationell lebender 
Menschen finden sich keine Cylinder. 
Dass man sie hier und da gefunden hat, 
oder haben will, mag in verschiedenen 
Umständen seinen Grund haben. Es ist 
zweifellos, dass vielfach Verwechselungen 
stattfinden zwischen hyalinen Cylindern 
und Cylindroiden. Die Unterscheidung 
dieser beiden Gebilde ist unter Umständen 
in der That ausserordentlich schwierig, 
selbst für den geübtesten Beobachter. Die 
bandartigen, ganz homogen erscheinenden, 
Cylindroide können den hyalinen Cylindern 
ungemein ähnlich sehen. 

Auch die Identificirung der granulirten 
Cylinder kann auf Schwierigkeiten stossen; 
es können z. B. bei Anwesenheit von harn¬ 
sauren Salzen durch bestimmte Strömungs¬ 
richtungen unter dem Deckglas Gebilde 
entstehen, die zunächst durchaus als gra- 
nulirte Cylinder imponiren (sogen. Pseudo- 
cylinder). 

Es bleiben aber eine Reihe von Fällen, 
wo sich trotz Fehlens aller anderer Zeichen 
einer Erkrankung einige hyaline Cylinder 

Original from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


493 


im Harn finden. Es dürfte sich dann trotz¬ 
dem nicht um normale Verhältnisse han¬ 
deln. Unser Culturleben, vor Allem unser 
Ernährungsmodus, bietet eine ganze Reihe 
von Factoren dar, denen eine mehr we¬ 
niger schädliche Wirkung auf die Nieren 
nach neueren und älteren Untersuchungen 
zuerkannt werden muss. Wenn man eine 
grössere Reihe von Harnen bei Kindern 
untersucht, die mit reizloser Kost ernährt 
worden sind, so findet man nie Cylinder; 
es sollen unten noch einige Belegzahlen 
dafür angeführt werden. Andererseits 
findet man gar nicht so selten nach dem 
Genuss schärfer gewürzter Speisen, nach 
dem Genuss einzelner Gemüse wie z. B. 
Rettig (Penzoldt) und wie uns direct da¬ 
raufhin angestellte Versuche gezeigt haben, 
vor allem auch nach Genuss alkoholischer 
Getränke Cylinder im Harn, die kurze Zeit 
nach Aussetzung der betreffenden Er¬ 
nährungsweise wieder verschwinden. 

Unter 89 Einzeluntersuchungen bei ge¬ 
sunden Schulkindern fanden sich zweimal 
bei einem Knaben ganz vereinzelte hyaline 
Cylinder; alle übrigen Harne waren voll¬ 
ständig frei. In zehn Einzeluntersuchungen 
an gesunden Studenten» fanden sich nie¬ 
mals Cylinder. Also im Ganzen bei 99Fällen 
nur einmal Cylinder und da die Ernährung 
des Knaben, bei dem sich die Cylinder 
fanden, nicht bekannt ist, ist es nicht un¬ 
wahrscheinlich, dass in diesem Falle irgend 
ein schädigendes Moment in der Nahrung 
enthalten war. 1 ) 

Die Alkoholversuche waren folgende: 

1. K. W., Krankenwärter, drei Tage nach¬ 
einander weder Albumen noch Cylinder im 
Harn. 

Am 13. September: im Verlaufe des Abends 
100 gr Alkohol untermischt mit lOOgr Wasser 
genossen. Am 14., 15. und 16. September fan¬ 
den sich im Harn hyaline und granulirte Cy- j 
linder, zahlreiche Leukocyten, runde und po¬ 
lygonale Zellen (Nierenepithelien?) und viel¬ 
leicht auch einzelne rothe Blutkörperchen. Ei- 
weiss war nicht vorhanden. Die Untersuchun¬ 
gen am 19. und 21. September zeigten den Harn 
wieder frei von Formbestandtheilen. 

2. E. H., cand. med. An fünf aufeinander 
folgenden Tagen kein Eiweiss, keine Cylinder. 

Am I. Februar, im Laufe des Abends, 100 g 
Alkohol absol. und 100 gr Wasser genossen 
ohne besondere Beeinträchtigung des Be¬ 
findens. An den nächsten drei Tagen finden 
sich hyaline und einzelne granulirte Cylinder. 
Daneben Leukocyten und zahlreiche Epi- 
thelien. 

l ) Hier sind eingerechnet die Untersuchungen an 
Gesunden, die bereits im Arch. f. klin. Med. Bd. 74, 

S. 196 mitgetheilt sind. 

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3. J. D., cand. med. Harn vorher an zwei 
Tagen untersucht: kein Albumen, keine Form- 
bestandtheile. 

Am 15. September, Abends, Genuss von 
26 Schnitt Lagerbier und 4 Cognac. 

Am nächsten Tag ist der Harn eiweisshaltig 
und zeigt ein reichliches Sediment: zahlreiche 
Leukocyten, hyaline und schwachgranulirte 
I Cylinder, ein Leukocytencylinder, Nieren- und 
Plattenepithclien. 

Wir sehen also, wie derartige Nieren¬ 
reizungserscheinungen nach Abusus spiri- 
tuos. eintreten, die sich vor allem doku- 
mentiren durch das Auftreten von Cylindem. 

Wenn wir dazu noch das Auftreten von 
Cylindern nehmen nach Gebrauch einer 
ganzen Reihe von Arzneimitteln, von denen 
garnicht wenige zu Jedermann zugäng¬ 
lichen Hausmitteln geworden sind, so ist 
es nicht auffallend, dass man, solange die 
veranlassenden Ursachen dieser Cylindru- 
rien unbekannt waren, zu der Ansicht 
kam, es handle sich um normale Vorgänge 
ohne jede Bedeutung. 

Grosse ernste Bedeutung hat dieses 
vereinzelte Auftreten von Cylindern gewiss 
nicht; aber wir dürfen nicht vergessen, 
dass schliesslich doch ernstere Störungen 
gesetzt werden können durch eine oft 
wiederholte reizende Schädlichkeit; und 
wenn man überlegt, dass der chronische 
Missbrauch des Alkohols zweifellos zu einer 
dauernden schweren Nierenentzündung 
führen kann, so wird man das Auftreten 
einzelner Cylinder nach einer einmaligen 
schwereren oder leichteren Alkoholintoxi- 
cation nicht mehr als ganz harmlos be- 
| zeichnen können: das Auftreten einzelner 
Cylinder zeigt hier einen Bruchtheil jener 
schweren Gesammtschädigung der Nieren, 
die im Verlaufe der Jahre durch die chro¬ 
nische Wirkung des Alcohols gesetzt wird. 
Aehnliches gilt von anderen Giften, z. B. 
vom Blei; auch bei einer acuten Bleiintoxi- 
cation, z. B. einer Bleikolik, findet man 
einige hyaline Cylinder im Harn, unter 
Umständen ohne Eiweiss. Auch hier wird 
man die Cylindrurie als prämonitorisches 
Symptom einer ernsteren Nierenerkrankung 
ansehen müssen, die bei fortgesetzter Wir¬ 
kung des Giftes nur selten ausbleibt. 

Und so wird man weiter auch in den 
Fällen die Cylinder nicht als harmlos an¬ 
sehen dürfen, wo die Ursachen der Cylin¬ 
drurie nicht gleich ganz klar sind. Es 
giebt, wie schon erwähnt, genug Momente 
in unserem Culturleben, welche eine Cylin¬ 
drurie verursachen können. Wenn auf 
dem Obductionstisch eine Nierenerkran¬ 
kung vorgefunden wird, deren Aetiologie 


Original frorn 

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494 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


November 


nach der Anamnese und dem übrigen Organ¬ 
befund nicht klar ist, so nimmt man meist 
zu der genetischen Bedeutung des Alkohols 
seine Zuflucht; es dürfte aber nicht un¬ 
wahrscheinlich sein, dass noch eine ganze 
Reihe anderer, uns harmlos erscheinender 
Culturgewohnheiten eine ätiologische Be¬ 
deutung haben (starker Kaffee, Thee, 
scharfe Gewürze, Missbrauch von Arznei¬ 
mitteln u. a.). 

Es war diese Abschweifung nöthig, um 
die Stellung, die weiter unten der febrilen 
Albuminuriezuertheilt wird,zu rechtfertigen; 
es sollte betont werden, dass das Auftreten 
von Cylindern im Harn keine gleichgültige 
Erscheinung ist. Die Litteratur ist voll 
der widersprechendsten Ansichten nicht 
nur über die Genese, sondern auch über 
die diagnostische Bedeutung der Cylinder; 
freilich mehr und mehr ist man davon zu¬ 
rückgekommen, aus bestimmten Formen 
der Cylinder auf bestimmte anatomische 
Zustände in den Nieren zu schliessen. 
Aber ziemlich allgemein findet man ange¬ 
geben, dass einige hyaline Cylinder im 
Harn ohne pathologische Bedeutung sind. 

Gerade die febrile Albuminurie bestärkt 
noch weiter in der oben vertretenen An¬ 
sicht, dass Cylinder unter keinen Um¬ 
ständen harmlose Producte sind. 

Bezüglich der Orientirung über die bis¬ 
herige Auffassung der febrilen Albuminurie 
wird es am besten sein, die bedeutungs¬ 
vollsten Aeusserungen aus der Litteratur 
hier wörtlich wiederzugeben. Senator 
äussert sich darüber so: „man zählt hier¬ 
her diejenige vorübergehende Albuminurie, 
welche auf der Höhe des Fiebers auftritt, 
mit seinem Nachlass schwindet und wobei 
der Harn auch wieder ausser dem Eiweiss 
und allenfalls hyalinen Cylindern, keine 
auf eine anatomische Läsion der Nieren 
hinweisenden morphotischen Bestandtheile 
zeigt“; und weiter unten: „Von diesen For¬ 
men gilt, dass wohl leichte und der schnellen 
Rückbildung fähige Veränderungen vor¬ 
handen sind, die sich dem klinischen und 
häufig auch dem anatomischen Nachweis 
entziehen. Ob man diese hypothetischen 
Veränderungen als die ersten Anfänge 
einer „acuten Nephritis“, die durch die 
fiebererregenden Agenden verursacht sind, 
zu betrachten hat, wie Manche wollen, 
lässt sich nicht entscheiden.“ (Eulen- 
burg’s Realencyclop. S. 277.) 

An anderer Stelle äussert sich der¬ 
selbe Autor: „Als febrile Albuminurie be¬ 
zeichnet man nach Gerhardt die Eiweiss¬ 
ausscheidung, welche namentlich bei acuten 
Infectionskrankheiten während des Fiebers 


eintritt und mit demselben schwindet 
Ausser dem Eiweiss enthält der Harn auch 
öfters hyaline Cylinder und ferner Albu- 
mosen (Propepton), zuweilen auch letztere 
allein ohne Albumin, dagegen keine an¬ 
deren, auf ein eigentlich entzündliches 
Nierenleiden hinweisenden (morphotischen) 
Bestandtheile. Gerade bei diesen Fällen 
hat man in neuester Zeit die eben er¬ 
wähnten (Epithel) Veränderungen gefunden, 
welche von Manchen als die ersten An¬ 
fänge eines acut entzündlichen Processes, 
verursacht durch Infection oder Intoxi- 
cation, angesehen werden. Man könnte 
also die Albuminurie als den ersten Aus¬ 
druck einer allerleichtesten Nephritis be¬ 
trachten (v. Leyden). Es sind aber ausser¬ 
dem bei dem fieberhaften Process eine 
Reihe von Momenten im Spiel, welche für 
sich allein und noch mehr bei vereinter 
Wirksamkeit Albuminurie verursachen 
können. Dies sind MischungsVeränderungen 
des Blutes, Veränderungen des Blutdrucks, 
namentlich Ischämie der Nieren, sodann die 
Höhe der Temperatur und endlich auch 
wohl die Concentration des Harns.“ (Er¬ 
krankungen der Nieren in Nothnagel s 
Handbuch S. 19.) 

Gerhardt stellte die febrile Albumi¬ 
nurie der renalen gegenüber und sah, wie auch 
Bartels, ihre Ursache in der Erhöhung 
der Temperatur selbst. (Arch. f. klin. Med. 
Bd.V, S. 212.) 

Wagner giebt an, dass man im Falle 
des Todes weder makroskopisch noch 
mikroskopisch an den Nieren etwas findet, 
das Stroma und die Glomeruli sind normal, 
die Epithelien der Harnkanälchen stärker 
getrübt. „Dass die reinfebrile Albuminurie 
in wirklichen Morbus Brightii übergeht, ist 
unwahrscheinlich. “ 

Das sind die gewichtigsten Stimmen aus 
der Litteratur; auf Leyden’s abweichende 
Stellung wird noch unten zurückgekommen. 

In der Greifswalder medicinischen Klinik 
sind von Herrn cand. med. Weber unter 
meiner Aufsicht erneute klinische Unter¬ 
suchungen über das Wesen der febrilen 
Harnveränderungen angestellt, deren Re¬ 
sultate hier kurz mitgetheilt werden sollen. 
Die ausführlicheren Notizen werden an 
anderer Stelle veröffentlicht werden. Die 
Resultate sind kurz in der nachfolgenden 
Tabelle zusammengestellt. 

Zu der Tabelle ist zunächst Einiges zu 
bemerken. Es handelt sich um 38 fieber¬ 
hafte Fälle, welche, wie sie uns unter die 
Hand kamen, untersucht wurden. Darauf 
ist besonderes Gewicht zu legen: es sind 
nicht etwa ausgewählte Fälle. Sie 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


495 


Pneumonia crouposa. 


Patient 

und 

laufende Nummer 

F ieber- 

hühe 

Albu- 

men 

Fpithe- i 
lial- , 
und 

l.puko- 
cytrn- 
cy linder 

Gran. 

Cylind. , 

i 

1 

Hyal 

Cylind 

Nieren* 

epithe- 

lien 

Rothe 

Blutk 

Dauer 

der be- 

Leuko- des derbe- derbe- obach- 

beob- obach- obach- teten 

evten achte- teten teten Cylind 

ten Albumi- Cylin- über das 
Fiebers nurie drurie Fieber 

hinaus 

1. Arbeiter W. 
17 Jahre 

9 

' 

sehr 

reichl. 

1 

— 

sehr > 
viel 

sehr 

viel 

1 viel 

vor¬ 

han¬ 

den 

viel — mit 47Tge37Tge 

Unter¬ 
brech. 

47 Tgc 

2. Arbeiter B. 

15 Jahre 

bis 

39.0 

deut¬ 

lich 

— 

pos. 

pos. 

0 

0 

viel 4Tage mind. mind. 4Tage 
5 Tage 5 Tage 

3. 59jähr. Ar¬ 
beiterfrau Fr. 

38.0 

deut¬ 

lich 

pos. 

sehr 

viel 

0 

pos. 

0 

pos. ' — 3Tage'3Tage* Exitus 

4. 19jähr. Ar¬ 
beiter Sehr. 

40.0 

deut¬ 

lich 

pos. 

pos. 

pos. 

pos. 

viel 

viel 4 Tage 4 Tage 4 Tage 9Tage 

1 

5. 27jähriger 
Knecht B. 

41.1 

viel 

0 

reichl. 

reichl. 

! 

pos 

0 

viel 4 Tage 18 Tge 17 Tge 

i 

6. 22jähriger 
Schäfer B. 

39.8 

sehr 

viel 

pos. 

zieml. 

viel 

zieml. 

viel 

pos. 

pos. 

viel 12Tgc mit 17Tge5Tagc 
Unter¬ 
brech. 1 

17 Tgc 

7. 30jähriger 
Knecht Kr. 

39 8 

deut¬ 

lich 

0 

äusst. 

reichl. 

viel 

pos. 

0 

pos. 10Tgc lOTge 17Tge 7Tage 

8. 59jähr. Ar¬ 
beiter St. 

39.5 

viel 

0 

zahl¬ 

reich 

zahl¬ 

reich 

— 

pos. 

pos. 13Tge 14Tge l4Tge 13 Tge 
(?) 

9. 19jähr. Ar¬ 
beiter B. 

40.0 

pos. 

— 

pos. 

pos 

pos. 

0 

pos. 2 Lage 1 Tag 5 Tage 4 Tage 


10. 19 jähriges 
Dienstm. K. 

11. Cand. med. 
L. 

12. 9jähriger 
Knabe W. 

13. 26jährige 
Frau Br. 


37.5 j deut- 0 
lieh 

39.1 0 0 

37.8 0 0 

38.0 Spur 0 


0 


Masern. 

0 ' pos. pus. pos. 2Tage 2 Tage 


ein- ein- 0 

zelne zelne 
0 0 pos 


pus. pos. 3 Tage 
pos. pos. 2Tage 


lOTge 8 Tage 


0 ein- pos. 
zelne 


0 viele 2Tage 2 Tage 1 Tag 1 Tag 


Scharlach. 


14. 20jähriges 
Dienstmäd¬ 
chen W. 

39.1 

deut¬ 

lich 

0 

sehr 

zahlr. 

viele 

sehr 

viele 

! viele 

sehr 

viele 

11 Tge 50 Tge 50Tge 

1 

s. An¬ 
merk. 1 

15. 21 jähriger 
Knecht Br. 

38.6 

pos. 

pos. 

ein- 
1 zelne 

ein¬ 

zelne 

pos 

0 

1 viele 

4 Tage 1 Tag 7 Tage 

s. An- 
merk. 2 

16. 9jähriges 
Mädchen M. 

38.6 

Spur 

pos. 

ein¬ 

zelne 

ein¬ 

zelne 

pos. 

0 

viele 

|23 Tge 8 Tage 3 Tage 

t 

s. An¬ 
merk. 3 

17. 26jähriges 
Mädchen Fr. 

37.4 

Spur 

pos. 

0 

1 

zieml. 

viele 

pos. 

0 

pos. 

2 Tage 2 Tage 2 Tage 

s. An¬ 
merk. 4 

18. Kind M. 
Sehr. 

40,0 

Spur 

pos. 

viele 

viele 

viele 

pos. 

viele 

24 Tge 13 Tge 39 Tge 16Tge 

19. Anna B. 

39.3 

deut¬ 

lich 

0 

sehr 

viele 

sehr 

viele 

sehr 

viele 

zieml. 

viele 

sehr 

viele 

5 Tage 7 Tage 36 Tge 29 Tge 

20. 10 jähriges 
Kind Sch. 

41.0 

deut¬ 

lich 

0 

zahl¬ 

reich 

reichl., 

— 

pos. 

sehr 

viele 

5'Lage 5 Tage 35 Tge 

30 Tge 


Anm. 1. Etwa 1. Jahr später an vier aufeinander folgenden Tagen, 3 1 /* — 2^/4 — 3 und 2 3 /4 Liter 
Harn; derselbe enthält Spuren von Eivveiss, einzelne hyaline Cylinder und Leukocyten. 

Anm. 2. Etwa ein Jahr später hatte Pat. an drei aufeinander folgenden Tagen, l 1 /q — 1 — und 
1 Va Liter Harn; derselbe war frei von Eiweiss und Formbcstandtheilen. 

Anm. 3. Der Harn ist später andauernd frei von pathol. Bestandteilen. 

Anm. 4. Der Harn ist später andauernd frei von pathol. Bestandtheilcn. — Fall 3 u. 4 Waren ganz 
leichte Scharlachfälle. 


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Gck igle 


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496 


November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Typhus abdominalis. 


Patient 

und 

laufende Nummer 

Ficber- 

hbhc 

Albu- 

men 

Epithe- 

lial- 

und 

Lcuko- 
cyten- 
cy lind er 

Gran. Hyal 

Cylind Cylind. 

Nieren- 

epithe- 

lien 

Rothe 

Blutk 

Leuko- 

cyten 

des 

beob¬ 

achte¬ 

ten 

Fiebers 

D a 

der be¬ 
obach¬ 
teten 
Albumi¬ 
nurie 

u e r 

der be¬ 
obach¬ 
teten 
Cylin- 
drurie 

i der be- 
obach- 
1 teten 

1 Cylind. 
über das 
Fieber 
hinaus 

21. 21 jähriger 
Arbeiter K. 

39.7 

deut¬ 

lich 

0 

ein- ein- . 
zelne zelne 

viele 

ein¬ 

zelne 

1 

viel 

i 

19Tge 

5 Tage 

! 

9 Tage 

— 

22. 18jähr. Ar¬ 
beiter Tom, 

40.5 

viel | 

0 

■ 

sehr sehr 
zahlr. : zahlr. 

pos. 

! pos. 

pos. 

l26Tge 

i 

16Tge 

5 Tage 

— 

23. 46jährige 
Frau K. 

39.9 

viel 

pos. 

sehr viel j pos. 
viel ] 

Diphtherie. 

pos. 

j p° s * 

17 Tge 

!7Tge 

17 Tge 


24. 13 jähriger 
Knabe T. 

37.8 

1 deut- 
1 lieh 

! ein¬ 
zelne 

ein- | ein¬ 
zelne zelne 

viele 

pos. 

viele 

V i 

i 

— 

— 

1 nur 

3 Tage 
beob 

25. 14 jähriger 
Knabe M. 

38.2 

viel 

sehr 

zahlr. 

sehr 1 sehr 
zahlr. zahlr. 

pos. 

pos. 

sehr 

zahlr. 

13Tgej13Tge 13Tge 

am 

n. Tage 
Exitus 

26. 9jähriges 
Mädchen Str. 

37.5 

deut¬ 
lich ! 

i 

0 

sehr I reichl.: 
reichl. 

jlange u. 
zieml 
reichl. 

reichl. 

reichl. 

— 

— ! 

25 Tge 

— 


27. 51jährige 
Frau R. 

28 Pat. ß. 


29. 20jähriger 
Arbeiter K. 


30. 22jähriges 
Mädchen G. 


31. 19jähriger 
Schlosser Fr. 


32. Fr. Karl. 


33. 16 jähriger 
Knabe Br. 


34. 37jähriger 
Schlächter K. 


35. 43jähriger 
Arbeiter Bl. 


36. 16jähriges 
Mädchen Sch, 

37. 19jähriges 
Mädchen F. 

38. 38jähriger 
Arbeiter Sch. 


Variola. 


39.6 

deut¬ 

lich 

0 

reichl. 

| reichl. 

reichl. 

reichl. 

reichl 

bis zum 3. Tage, später 
eintret Exitus 

39.4 

Spur 

pos. 

mäss. 

| viel 

! spärl. 

! pos. 

pos. 

pos. 

nur zwei Tage beobachtet 



Angina parenchymatosa. 



37.9 

0 

0 

0 

ein¬ 

zelne 

0 

0 1 

i 

ein¬ 

zelne 

1 Tag — 2 Tage — 




Angina follicularis. 



39.6 

Spur 

0 

ein¬ 

zelne 

0 

0 

0 

pos. 

ITag - — — 




Angina catarrhalis. 



389 

0 

0 

0 

0 

pos. 

0 I 

i 

pos. 

2 Tage - - 




Tonsillarabcess. 




38.2 

deut¬ 

lich 

0 

ein¬ 

zelne 

0 

pos. 

pos. ! 

pos. 

1 Tag - - - 

I 




Erythema nodosum. 



39.2 

Spur 

pos. 

viel 

viel 

pos. 

viel 

viel , 

8Tage 4Tage 8Tage — 




Chron. Tuberkulose. 



39.3 | 

0 

0 

ein¬ 

zelne 

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Bronchitis fötida. 



408 

gering spärl. 

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pOS. ! 

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Malaria (Fall 36 u. 

37 cotidiana, 

Fall 38 

tertiana). 

40 8 ! 

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24 Tge — ^2Tage — 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 497 


sind im Einzelnen fortlaufend untersucht 
worden, soweit es die Umstände erlaubten. 
Es wurden im Ganzen 250 Einzelunter¬ 
suchungen gemacht. Es liegt in der Natur 
der Sache, dass alle Einzelheiten in einer 
solchen übersichtlich orientirenden Tabelle 
nicht wiedergegeben werden konnten. Die 
eingetragenen Temperaturen sind die beob¬ 
achteten Höchsttemperaturen. Besonders 
die letzten vier Rubriken waren in summa¬ 
rischer Zusammenfassung nicht leicht zu 
formuliren; meist kamen die Kranken schon 
fiebernd in die Klinik hinein, so dass die 
Dauer des beobachteten Fiebers sich, wo 
das nicht ausdrücklich anders angegeben 
ist, immer nur auf die in der Klinik beob¬ 
achtete Zeit bezieht. Bezüglich aller 
näheren Einzelheiten muss auf die dem¬ 
nächst erscheinende Dissertation von Herrn 
cand. med. Weber verwiesen werden. 

Die mikroskopische Untersuchung auf 
Cylinder wurde unter den Cautelen aus¬ 
geführt, wie sie im Arch. f. klin. Med., 
Bd. 74, S. 182‘beschrieben sind („über die 
Wirkung von Salicylpräparaten auf die 
Harnwege u. s. w.“); es ist die Innehaltung 
dieser Cautelen absolut nothwendig, um 
ein klares Urtheil über die im Harn ent¬ 
haltenen Formbestandtheile zu gewinnen. 
Auch muss der Harn noch sauer reagiren; 
schon die beginnende ammoniakalische 
Gährung zu einer Zeit, wo der Harn noch 
amphother reagirt, zerstört die Cylinder 
bereits. Gerade in den Urinen, die einen 
Tag lang auf den Krankensälen stehen, 
sieht man das besonders häufig. Das be¬ 
ginnende Ausfallen von Tripelphosphat¬ 
kristallen ist ein gut verwerthbares Zeichen 
dafür, dass die Destruction eventuell vor¬ 
handener Cylinder bereits begonnen haben 
kann. 

Die Tabelle zeigt zunächst, dass in der 
weitaus überwiegenden Mehrzahl dieser 
fieberhaften Erkrankungen Eiweiss mit dem 
Harn ausgeschieden wurde, bald in ge¬ 
ringeren, bald in reichlicheren Mengen, 
aber immer so reichlich, dass das Eiweiss 
mit den gewöhnlichen Reagentien nach¬ 
weisbar war. Diese Erssheinung ist ja 
eine allgemein bekannte, welche eben zu 
dem Begriff der „febrilen Albuminurie 41 ge¬ 
führt hat Aber wir sehen weiter — und 
besonders in den ausführlicheren Versuchs- 
protocollen kommt das besonders klar zum 
Ausdruck — wie die Intensität der Albu¬ 
minurie in gar keinem Parallelismus zur 
Höhe der Temperatur steht. 

Das ist besonders bemerkenswerth, weil 
man vielfach geglaubt hat, das Auftreten 
von Eiweiss im Harn sei in solchen Fällen 

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abhängig von der Erhöhung der Blut¬ 
temperatur; diese erhöhte Temperatur 
mache die Niere durchgängig für das Blut- 
eiweiss. Es braucht nur verwiesen zu 
werden auf die Diphtherie — und die 
Malariafälle; in den ersteren finden sich 
Temperatursteigerungen nur bis zu 38,2 
und die Eiweissausscheidung war stets 
reichlich. Bei den drei Malariafällen fand 
sich niemals Eiweiss, trotzdem wochen¬ 
lang ausserordentlich hohes Fieber bestand 
(in der Klinik bis zu 40,9 beobachtet.) 

Dieser Gegensatz ist hinreichend beweisend; 
übrigens kommt in den ausführlichen Pro¬ 
tokollen dieselbe Thatsache häufig zum 
Ausdruck. Es dürfte demnach statthaft 
sein, mit einiger Wahrscheinlichkeit zu be¬ 
haupten, dass die Temperatursteige¬ 
rung an sich nicht die Ursache der 
Eiweissausscheidung ist. 

I Neben dem Eiweiss finden sich nun 
weiter in allen Fällen — ausgenommen die 
beiden ersten Malariafälle — morphotische 
Bestandtheile im Harn, und zwar in grösse¬ 
rer oder geringerer Menge. Es muss auf 
diesen Punkt bei den meisten früheren 
Untersuchungen wenig oder garnicht ge¬ 
achtet sein; denn sonst ist es unverständ¬ 
lich, dass ein so auffallender und con- 
stanter Befund nicht längst erhoben ist; 
es findet sich angegeben, mit der febrilen 
Albuminurie kann die Ausscheidung ein¬ 
zelner hyaliner Cylinder verbunden sein. 

Hier sehen wir, dass nicht nur hyaline 
Cylinder, sondern auch granulirte Cylinder, 
Epithelial- und Leucocytencylinder, Nieren- 
epithelien, garnicht selten rothe Blutkörper¬ 
chen und constant Leucocyten in grösserer 
oder geringerer Menge ausgeschieden 
werden. Diese Bestandtheile sind nicht 
in jedem einzelnen Falle alle vorhanden, 
sondern nur zuweilen in einzelnen Ver¬ 
tretern, zuweilen aber auch alle. Es finden 
sich alle möglichen continuirlichen Ueber- 
gänge, von der Ausscheidung einzelner 
Cylinder bis zur Ausscheidung eines reich¬ 
lichsten, alle Formbestandtheile enthaltenden 
Sedimentes. 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, 
dass in allen diesen Fällen dieselbe Stö¬ 
rung der Niere zum Ausdruck kommt, nur 
graduell verschieden. Das Auftreten nur 
„einiger“ Cylinder ist principiell nicht ver¬ 
schieden von dem Auftreten reichlicher 
Cylinder aller Art, Nierenepithelien u.s.w. 

Und wie wir klinisch keinen Anstand 
nehmen, beim Vorhandensein von Eiweiss, 
zahlreichen Cylindern mannigfacher Art, 
rothen Blutkörperchen, Leucocyten, Nieren¬ 
epithelien von einer Nephritis zu sprechen, 

63 

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1 


498 Die Therapie der 

so dürfen wir nicht verkennen, dass 
dieselbe Affection auch da vorliegt, wo 
das Sediment weniger mannigfach und 
massig ist. Dass es aber so gut wie nie¬ 
mals ganz fehlt, wenn Eiweiss vorhanden 
ist (die Malaria-Fälle zunächst ausge¬ 
schlossen), das beweisen die obigen Unter¬ 
suchungen. Und das steht im Gegensatz 
zu den früheren Anschauungen über die 
febrile Albuminurie. Es giebt keine febrile 
Albuminurie in dem bisher meist ge¬ 
bräuchlichen Sinne des Wortes. Jedes 
Auftreten von Eiweiss bei diesen Zuständen 
ist stets auch begleitet von dem Auftreten 
eines mehr oder weniger reichlichen pa¬ 
thologischen Harnsedimentes. Wir haben 
stets eine Nephritis leichteren oder schwe¬ 
reren Grades vor uns, eine Ansicht, der 
Leyden bereits vor mehr als zwanzig 
Jahren zuneigte. Es ist kein rechter Grund 
sich klinisch an dem Worte „Nephritis" 
zu stossen, wenn es dem modernen patho¬ 
logisch-anatomischen Begriffe auch vielleicht 
nicht entspricht. Es findet sich wiederholt 
bei den Autoren die Angabe, dass in 
Fällen von febriler Albuminurie, die Section 
und Untersuchung der Nieren keine An¬ 
haltspunkte für das Vorhandensein einer 
Nierenerkrankung gegeben habe. 

Es ist klar, dass es sich bei einer grossen 
Mehrzahl der Fälle von febriler Albuminurie 
nur um ganz leichte, vor allem wohl auch 
räumlich nicht sehr ausgedehnte Ver¬ 
änderungen im Nierenparenchym handelt. 
Auch die entzündlichen Veränderungen 
des Myocards nach Infektionskrankheiten 
hat man erst genauer kennen gelernt, 
nachdem der ganze Herzmuskel systema¬ 
tisch durchuntersucht wurde. Vermutlich 
wird es bei diesen Formen der Nieren¬ 
erkrankung ähnlich sein: würde man im 
Falle des Todes solche Nieren systematisch 
untersuchen, so würden den klinischen Er¬ 
scheinungen entsprechende anatomische 
aufgefunden werden, wie sie ja hier und 
da auch bereits gefunden sind (Markwald 
citirt bei Leyden, Z. f. klin. Med., Bd. III, 
1880). Wird aber dies Postulat nicht er¬ 
füllt, so müssen Widersprüche zwischen 
klinischem und dem pathologisch-anatomi¬ 
schem Untersuchungsergebniss entstehen. 
Folgender Fall zeigt das besonders gut: 
Knabe Sch. erkrankt an Diphtherie, wird 
am 7. Krankheitstag mit 38,2° in die Klinik 
verbracht. Im Harn viel Albumen; zahl¬ 
lose Cylinder, meist epitheliale, doch auch 
hyaline, granulirte und Leucocytencylinder. 
Massenhafte Nierenepithelien. Rote Blut¬ 
körperchen und Leucocyten. Derselbe 
Befund im Harn wurde fast täglich er- 

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Gegenwart 1903. November 


hoben, bis zu dem 9 Tage später erfolgen 
den Tode— im Sectionsprotokoll fin¬ 
den sich Nierenveränderungen nicht 
erwähnt (die Nieren sind frisch mikros- 
copisch untersucht). 

In einem solchen Falle — das darf man 
wohl behaupten — sind die positiven kli¬ 
nischen Befunde beweisender als die nega¬ 
tiven pathologisch - anatomischen; es lag 
eine Nephritis vor. 

Nachdem oben gezeigt ist, dass die Zu¬ 
stände, die man bisher als „febrile Albu¬ 
minurie" bezeichnete, klinisch-diagnostisch 
als Nephritis anzuerkennen sind, dürfte es 
zweckmässig sein, die Bezeichnung „febrile 
Albuminurie" als irreleitend fallen zu lassen. 
Denn einmal giebt es fieberhafte Zustände, 
in denen j ede Albuminurie fehlt—ein weiterer 
Beweis dafür, dass die Fiebertemperatur 
an sich die Erscheinungen nicht bedingt 
—, und andererseits finden sich neben 
dem Eiweiss stets auch diejenigen Form- 
bestandtheile, auf Grund deren wir sonst 
die Diagnose einer Nierenerkrankung 
stellen. 

Wir haben noch zu fragen, welches 
die Ursache dieser Nierenschädi¬ 
gung ist. Dass es die erhöhte Blut¬ 
temperatur an sich nicht ist, haben wir 
bereits gesagt. 

Ausser der erhöhten Temperatur ist 
allen in der Tabelle genannten Erkran¬ 
kungen, bei denen es zu solchen Nieren¬ 
schädigungen kommt, noch gemeinsam, 
dass sie durch irgendwelche Bakterien er¬ 
zeugt sind; das darf man wohl mit gutem 
Grunde behaupten. Es liegt daher sehr 
nahe, in der Anwesenheit der Bakterien 
im Organismus die Ursache der Nieren¬ 
veränderungen zu suchen, und da es sich 
weiter bei den meisten Fällen um örtliche 
beschränkte Ansiedelungen von Bakterien 
handelt, dürfte die Annahme, dass die ent¬ 
ferntere Wirkung auf die Nieren durch 
Stoffwechselprodukte der Infectionserreger 
verursacht sei, die nächstliegende und 
wahrscheinliche sein (vergl. Markwald, 
cit. bei Leyden, Z. f. klin. Med., Bd. III. 
1880). Bei dieser der Wahrscheinlichkeit 
wohl am nächsten kommenden Annahme ist 
es sehr bemeikenswerth, wie die Malaria 
offenbar eine andere Stellung mit Bezug auf 
die secundären Wirkungen auf die Niere 
einnimmt. Die Fälle 36 und 37 sind beide 
schwere langdauernde Malariaerkrankungen 
(M. cotidiana) mit äusserst hohem, lang 
andauerndem Fieber; und in beiden Fällen 
fehlen alle Erscheinungen einer Nieren¬ 
reizung; auch in Fall 38 (Malaria tertiana) 
fehlt das Albumen; einzelne Cylinder sind 

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499 


November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


hier zwar vorhanden. Man muss diesen 
auffallenden Gegensatz doch wohl in Zu¬ 
sammenhang bringen mit dem ganz anders¬ 
artigen Infectionsmodus bei der Malaria: 
es handelt sich bei der Malaria um eine 
Hämosporidieninvasion des Organismus, bei 
den übrigen Erkrankungen aber um Bakte¬ 
rieninvasion: wir haben im letzten Fall eine 
Toxinbildung im Organismus, bei jener 
wissen wir dagegen von einer solchen nichts. 

Bezüglich der Prognose und des Aus¬ 
gangs dieser febrilen, oder wie man wohl 
besser sagen würde, infectiösen Nieren¬ 
ei krankung ist nicht viel zu sagen, ln 
den meisten Fällen ist sie ziemlich harm¬ 
loser Natur und endigt offenbar mit voll¬ 
ständiger Ausheilung. Im Uebrigen zeigt 
die Tabelle in sehr klarer Form ein den 
klinischen Erfahrungen entsprechendes Re¬ 
sultat bezüglich der Schwere der Nieren¬ 
veränderungen. Die schwersten Erschei¬ 
nungen zeigen sich beim Scharlach — hier 


bestanden in einem Fall etwa 1 Jahr nach 
| der ersten Untersuchung die Zeichen einer 
chronischen Nephritis; 1 ) es folgen die 
Diphtherie, die Variola und die Pneumonie; 
dann der Typhus abdominalis und in wei¬ 
teren Abständen die übrigen Erkrankungen. 
Besonders leicht und kurz vorübergehend 
waren die Reizerscheinungen bei den 
Masern — ganz entsprechend den kli¬ 
nischen Erfahrungen. 

Bezüglich der Therapie sind ausführ¬ 
lichere Bemerkungen überflüssig; sie ist ja 
im Allgemeinen bei jeder acuten Infections- 
krankheit schon so, wie sie etwa bei einer 
acuten Nephritis auch einzuschlagen wäre. 
Immerhin wird es gut sein, sich stets zu 
erinnern, dass die bei fieberhaften Erkran¬ 
kungen auftretende Albuminurie dasZeichen 
i einer mehr oder weniger ernsten Nieren- 
I Schädigung ist, bei der therapeutisch alles 
I zu vermeiden ist, was zu weiteren Nieren- 
i Schädigungen führen kann. 


Ans der II. med. Abtheilung des k. k. Kaiser-Franz-Joseph-Spitals in Wien. 
(Vorstand: Professor Schlesinger.) 

Neuere therapeutische Versuche beim Erysipel. 

Von Dr. Robert Pollatschek, Secundärarzt der Abtheilung. 


Das Erysipel gehört zu jener Gruppe 
von Krankheiten, deren Verlauf für den 
Arzt unberechenbar ist Wir haben gar 
keine Anhaltspunkte, auf Grund deren wir 
einen Fall von vornherein als leicht oder 
schwer bezeichnen könnten. Scheinbar 
schwere Fälle entfiebern oft rasch nach 
wenigen Tagen, Erysipele von geringem 
Fieber ziehen sich bisweilen lange hin 
und breiten sich oft plötzlich über den 
ganzen Körper aus. Immer und immer 
erleben wir Ueberraschungen, und darum 
ist die Beurtheilung der Wirkung von 
Heilmitteln bei dieser Krankheit sehr er¬ 
schwert. Wir sehen bei einer Reihe von 
Fällen das Fieber und die sonstigen Krank¬ 
heitserscheinungen nach der Anwendung 
eines Mittels rasch schwinden und sind 
ebenso rasch geneigt, dies als günstige 
Wirkung dieses Mittels hinzustellen, ohne 
zu bedenken, dass wir ja nicht beurtheilen 
können, wie die Krankheit ohne diese 
Behandlung verlaufen wäre. Wir oder 
andere prüfen die Behandlungsweise nach 
und finden zu unserem grossen Erstaunen 
nicht die Spur einer günstigen Wirkung. 
Jahr für Jahr, ja fast Monat für Monat, 
kann man es erleben, dass auf Grund 
einer solchen Serie leichter Erkrankungen 
Mittel als Specifica gerühmt werden, die 

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dann rascher oder langsamer, jedenfalls 
aber sicher vom Schauplatz der Therapie 
wieder verschwinden. Diesen Fehler in 
der Beurtheilung neuer Heilmethoden 
kann man sicher vermeiden, wenn man 
bei einem grossen Material die Durch¬ 
schnittsdauer der Krankheit ohne speci- 
fische Behandlung berechnet und mit der 
bei Anwendung des neuen Mittels ver¬ 
gleicht, vorausgesetzt, dass man dieses bei 
einer genügenden Anzahl von Kranken 
und ohne Auswahl derselben angewendet 
hat. Jeder noch so kühle und nüchterne 
Beobachter ist der Suggestion von seiner 
oder fremder Seite zugänglich, Zahlen 
allein sind beweisend. 

Auf diese Weise will ich das Material 
unserer Abtheilung — etwa 300 Fälle im 
letzten Jahre — prüfen. 

Als Normalverfahren gilt bei uns die 
Behandlung mit Umschlägen von eiskaltem 
Liquor Burowii im acutem Stadium und 
mit Borvabelm in der Reconvalescenz. Es 

l ) Es ist bemerkenswerth, dass es sich hier nicht 
etwa um einen Zustand handelt, der sich aus einer 
sogenannten Scharlachnephritis entwickelt hat; son¬ 
dern die Erscheinungen haben sich continuirlich aus 
der gleich im Anfang des Scharlachs vorhandenen 
„febrilen Albuminurie“ entwickelt. Schwerere Zeichen 
einer acuten Nephritis waren auch in diesem Fall 
nicht vorhanden. 

63 * 

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500 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Nov vmtR-r 


ergab sich hierbei — aus 80 Fällen be 
rechnet — als durchschnittliche 
Dauer des Fiebers vor Eintritt in das 
Spital (Anamnese) 2,3 Tage, 

Dauer des Fiebers während der Spitals¬ 
behandlung 5 Tage, 

Dauer der Reconvalescenz 7,1 Tage. 

Als Reconvalescenz wird die Zeit von 
der Entfieberung bis zum Austritt aus dem 
Spital, d. i. bis zum Schwinden jeglicher 
Schuppung, bezeichnet. 

Fälle mit Abscessbildung wurden in die 
Rechnung nicht mit einbezogen, da ja 
durch dieselbe sowohl die Dauer des Fie¬ 
bers, als insbesondere die der Reconva¬ 
lescenz verlängert wird. 

Mit rothem Lieht wurden 33 Patienten 
behandelt, wozu wir durch Publicationen 
Finsens und seiner Schüler angeregt 
wurden. Im Jahre 1900 berichtete Bie 1 ) 
über die Behandlung der Pocken mit rothem 
Licht bei etwa 150 Patienten. 

„Wenn die Patienten vor Beginn des 
Suppurationsstadiums ins rothe Licht 
kommen, so kommt es überhaupt nicht 
zur Eiterung, die Bläschen bleiben klar 
und wenn sie einige Tage bestanden haben, 
so trocknen sie ein zu Schorfen, welche 
später abfallen, ohne Narben zu hinter¬ 
lassen. Alle Symptome, welche von der 
Eiterung abhängen (Suppurationsfieber) 
bleiben aus, die Dauer der Krankheit wird 
verkürzt, die Mortalität bedeutend verrin¬ 
gert“. 

Dieser günstige Einfluss des rothen 
Lichtes auf den Verlauf der Pocken wird 
auch von anderer Seite bestätigt. Wie 
sollen wir uns denselben erklären? Theo¬ 
retisch könnten wir uns zweierlei vor¬ 
stellen: entweder wird durch das Sonnen¬ 
licht die Virulenz der ßacterien erhöht, 
oder es wird die Widerstandskraft der 
durch die Bacterien bekämpften Gewebe 
verringert. Dass das Tageslicht einen gün¬ 
stigen Einfluss auf Mikroorganismen aus¬ 
übt, können wir nicht annehmen, ja im 
Gegentheil, wir wissen, dass das Sonnen¬ 
licht eine bactericide Wirkung besitzt. Es 
bleibt uns also nur die zweite Alternative 
offen. Und in der That haben Widmark 
und Finsen den Nachweis erbracht, 1 ) 
„dass die Fähigkeit des Lichtes eine Ent¬ 
zündung hervorzurufen im Wesentlichen 
auf den ultravioletten, violetten und blauen 
Strahlen beruht, dass die rothen Strahlen 
nicht im Stande sind, selbst in concen- 
trirter Form eine Entzündung der Haut 
hervorzurufen.“ 2 ) Wenn also der schädi¬ 
gende Einfluss des Tageslichts wegfällt, 
ist das Gewebe im Stande, sich der ein- 

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gedrungenen Bacterien zu erwehren und 
die Eiterung unterbleibt. 

Bei anderen Erkrankungen als bei den 
Pocken wurde das rothe Licht noch recht 
selten angewendet. Chatiniere 3 ) publi- 
cirt 4 Masernfälle, die er mit Ausschluss 
des Tageslichts behandelt hat, darunter 
einen mit folgendem Krankheitsverlauf: 

Ein achtjähriger Knabe mit frischem Masern¬ 
exanthem und einer Temperatur von 39,3 wird 
am Morgen dem rothen Lichte ausgesetzt. Mittags 
war Fieber und Exanthem vollständig ge¬ 
schwunden, weshalb der Knabe von den Eltern 
wieder ans Tageslicht gebracht wurde. Nach 
drei Stunden war Exanthem und Fieber wieder 
zum Vorschein gekommen, weshalb der Kranke 
wieder ins rothe Zimmer gebracht wurde. Nach 
weiteren zwei Stunden war das Exanthem 
wieder, diesmal dauernd verschwunden. 

Krukenberg 4 ) behandelte 18 Fälle 
von Erysipel (13 Personen betreffend) im 
rothen Zimmer. Die Fieberdauer im rothen 
Zimmer betrug: 


in 7 Fällen weniger als 1 Tag 

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„ . .... t „ 

Krukenberg hat den Eindruck 


Wonnen, „dass die Krankheit durch diese 
Behandlungsmethode in ausserordentlich 
günstiger Weise beeinflusst wird“. Gleich¬ 
wohl giebt er zu, dass namentlich beim 
Erysipel „diese Anzahl von Fällen ein ab¬ 
schliessendes Urtheil über ein neues Heil¬ 
verfahren nicht gestatte“. 

Finsen 6 ) selbst hat in 7 Fällen von 
Erysipel keinen sicheren Erfolg gesehen, 
räth jedoch, die Versuche fortzusetzen. 

Die Resultate, die an unserer Ab¬ 
theilung mit dem rothen Zimmer er¬ 
zielt wurden, sind nicht derartige, 
dass wir die Behandlungsmethode 
oder gar die Einrichtung besonderer 
rother Zimmer in Spitälern für 
Zwecke der Erysipelbehandlung 
empfehlen könnten. 

Es betrug die Durchschnittsdauer 
des Fiebers vor Eintritt ins Spital 1,8 Tage 
„ „ im rothen Zimmer . 4,5 „ 

der Reconvalescenz.6,6 „ 

Das sind Zahlen, die von den bei der 
Eisburowbehandlung gewonnenen nicht 
wesentlich verschieden sind. Wir müssen 
also annehmen, dass der schädigende Ein¬ 
fluss, den das Tageslicht auf die erysipelatös 
erkrankte Haut ausübt, ein verschwindend 
kleiner ist im Vergleich zu der Wirkung 

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November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


501 


der Erysipelcoccen. Und das sehen wir ja 
auch durch die Erfahrung bestätigt. Führen 
ja Gesichtserysipele so selten zur Abscess- 
bildung, während bei Erysipelen der (be¬ 
sonders unteren) Extremitäten, die ja dem 
Tageslicht nicht ausgesetzt sind, die Ab- 
scedirung eine häufige Complication bildet. 
Wir finden hier also ein den Pocken ge¬ 
rade entgegengesetztes Verhalten und man 
kann darum von einer Behandlungsmethode, 
welche die Suppuration der Pockenpusteln 
verhindert, nicht auch eine Heilwirkung 
beim Erysipel erwarten. Die Behandlung 
im rothen Zimmer ist wohl vollständig un¬ 
schädlich, jedoch für die Patienten recht 
lästig. Es ist nicht so sehr die rothe Farbe, 
an die sich die Patienten sehr rasch ge¬ 
wöhnen, als vielmehr die schlechte dumpfe 
Luft, die vielen Patienten Kopfschmerzen 
verursacht. Wird ja doch mit dem Tages¬ 
licht gleichzeitig auch der Zutritt der Tages¬ 
luft abgeschnitten; es können während des 
Tages die Fenster natürlich nicht geöffnet 
werden, und so wird man sich nicht wun¬ 
dern, wenn die Patienten die Entfernung 
aus dem rothen Zimmer, die gewöhnlich 
l h —1 Tag nach der Entfieberung erfolgte, 
als eine Erlösung betrachteten. 

Wir haben darum auf unserer Abthei¬ 
lung das rothe Zimmer nach kaum drei¬ 
monatlichem Bestände wieder aufgelassen. 

Vor noch nicht langer Zeit wurde das 
Mesot&n in den Handel gebracht, ein 
Salicylpräparat, dem bei acutem und chro¬ 
nischem Rheumatismus eine äusserst gün¬ 
stige Wirkung nachgerühmt wurde. 6 ) Es 
wird von der localen Applicationsstelle 
rasch resorbirt — schon nach einer Stunde 
giebt der Harn die Salicylsäurereaction — 
und hat demnach eine sowohl locale als 
allgemein antiseptische Wirkung. Auf 
Grund dieser Eigenschaften wendeten wir 
es beim Erysipel an. Die erkrankte Haut 
wurde mehrmals täglich mit einer Mischung 
von Mesotan und Oleum olivarum ana partes 
aequales gepinselt. 

Das Resultat war nicht nur ein voll¬ 
ständig negatives, die Patienten klagten 
auch über brennende Schmerzen, auch 
objectiv war bei mehreren Eczembildung 
nachweisbar. Nach einer Reihe von zehn 
Fällen, standen wir von weiteren Ver¬ 
suchen ab. 

Dauer des Fiebers vor dem 

Spitalseintritt.2,2 Tage 

Dauer des Fiebers während 
der Spitalsbehandlung 8,6 „ 

Dauer der Reconvalescenz 7,4 „ 

Die längere Dauer des Fiebers ist ge¬ 
wiss nicht der Mesotanbehandlung zuzu¬ 


schreiben, sondern dem Umstand, dass es 
eben zufällig bei einer Reihe schwererer 
Fälle angewendet wurde. Jedenfalls 
aber sind die Zahlen für den Mangel 
einer Heilwirkung beweisend. 

Wohl für keine der versuchten Be¬ 
handlungsmethoden gelten die einleitenden 
Bemerkungen so sehr wie für die Behand¬ 
lung mit intravenösen Injectionen von 
Argentum colloidale Cred6. Es wurden 
nur schwerere Fälle dieser Behandlungs¬ 
methode unterzogen und darum kann die 
Vergleichung der durchschnittlichen Kran- 
heitsdauer hier nicht angewendet werden, 
und dies ist auch der Grund, weshalb wir 
zu einem eigentlichen positiven Ergebniss 
nicht gelangt sind. Ich kann mich wohl 
des Eindruckes nicht erwehren, dass in 
einem oder dem andern Falle die Krank¬ 
heit nach der Injection einen mildern Cha¬ 
rakter annahm, z. B. im folgenden Falle: 

Patientin R. N., 27 Jahre alt, wurde am 
16. Januar 1903 in die Gebäranstalt aufge¬ 
nommen. Es bestanden Oedeme an den un¬ 
teren Extremitäten, Fieber bis 38.9, Albuinen 

Curve I. 


In- In- 

jrction jrction 



im Harn (17a°/oo Essbach), im Sediment 
hyaline Cylinder, Leukocythen und Nieren- 
epithelien, sowie der Befund einer sechsmonat¬ 
lichen Gravidität. Am 19. Januar erfolgte die 
spontane Entbindung eines dieser Dauer ent¬ 
sprechenden Kindes. 

Kurz vor der Geburt wurde Schwellung 
und Rötung der rechten Schamlippe bemerkt, 
die sich dann rasch auf den rechten Ober¬ 
schenkel ausbreitete. Patientin wird am 20. Ja¬ 
nuar auf unsere Rothlaufabtheilung transfe- 
rirt. Das Erysipel hatte bereits beide untere 
Extremitäten und den Rücken der Patientin er¬ 
griffen. Die Prognose musste mit Rücksicht 
auf die Combination auf Puerperium, Nephritis 
und Erysipelas migrans als eine sehr ernste 
bezeichnet werden. Therapie: zweimalige inter¬ 
venöse Injection von Argentum colloidale. Die 
Weiterverbreitung des Erysipels stand still. 


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502 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


November 


der Fieberverlauf ist aus der Curve ersichtlich. | 
Am 7. Februar wird Patientin mit eiweissfreiem 
Harne geheilt entlassen. 

In anderen Fällen (z. B. Curve II u. VII) 
war nicht die Spur einer günstigen Wir¬ 
kung zu sehen. Der prompte Fieberabfall 
im Fall V scheint wohl nicht eine Folge 
der Collargolinjection zu sein; dieselbe 
wurde am 7. Krankheitstage wegen hohen 
Fiebers und schweren Allgemeinerschei¬ 
nungen vorgenommen, zu einer Zeit also, | 
da die Krisis wohl auch ohne Behandlung j 
erfolgt wäre. Es kam ja auch öfters vor, 
dass wir bei längerer Krankheitsdauer be- I 
reits die Vornahme einer Injection be¬ 
schlossen und als wir sie vornehmen woll¬ 
ten, wegen Entfieberung davon abstehen 
mussten. Hätten wir die Injection einige 
Stunden früher vorgenommen, würden die 
Curven uns einen imponirenden Erfolg 
vorgetäuscht haben. 

Wir injicirten in eine gestaute Armvene 
ein- oder zweimal 15 cm einer 1 %igen 
Collargollösung. Die Technik der Injection 
gestaltete sich nicht immer sehr leicht — 
die Mehrzahl unserer Erysipelkranken waren 
junge Mädchen mit gut entwickeltem Fett¬ 
polster —; wir mussten zu wiederholten 
Malen von der Injection Abstand nehmen, 
da wir keine passende Vene fanden und 
wir uns nicht entschliessen konnten, in 
einem Erysipelzimmer an Erysipelkranken 
die Blosslegung einer Vene (also eine 
aseptische Operation) vorzunehmen. 

Es wurden im Ganzen 12 Patienten auf 
diese Weise behandelt. 

Als Beispiele mögen die folgenden Cur¬ 
ven dienen; 

Curve II. 


viele andere 7 “ 12 ), ich würde jedoch bei 
schweren Erysipelfällen in Ermange¬ 
lung eines andern wirksameren Mit¬ 
tels auf die intravenöse Injection 
von Argentum colloidale nicht gerne 
verzichten. 

Curve III. 

Inj«ction 





Resümirend würde ich Folgendes sagen: 
Ich kann also nicht über imponirende 
Erfolge der intravenösen Collargol- 
behandlung — wenigstens bei Erysipelen 
— berichten, wie Cred£ und nach ihm 


Adrenalin wendeten wir bloss in einigen 
Fällen an. Als Beispiel führe ich folgende 
Krankengeschichte an: 

Es handelte sich um ein löjähriges Mäd¬ 
chen, dass vor zwei Tagen mit Röthung ur.d 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


503 


Schwellung im Gesicht erkrankt war. Unter 
hohem Fieber breitete sich das Erysipel über 
Rücken und Bauch aus und hatte am zwölften 
Krankheitstage bereits die Oberschenkel er¬ 
griffen. Nun versuchten wir durch Injection von 
Adrenalin dem Weiterschreiten des Kothlaufs 


Curve VI. 

Injrrtion 




Einhalt zu gebieten. Von einer mit der dop¬ 
pelten Menge physiologischer Kochsalzlösung 
gemischten 7io°/oo Adrenalinlösung wurde eine 
Pravazspritze voll ringsum an der Grenze des 
Infiltrates injiziert. Es entstand daselbst wohl 
eine deutliche Anämie der Haut, aber schon 


am nächsten Morgen hatte das Erysipel die 
Injectionsgrenze überschritten und erst zwei 
Tage später, als es bereits das Dorsum pedis 
ergriffen hatte, trat Entfieberung ein. 

Infolge dieser so vollständigen 
Wirkungslosigkeit wurde von wei¬ 
teren Versuchen Abstand genommen. 

Als ein gutes symptomatisches Mittel 
bewährte sich uns das Anaesthesin. Bei 
allzu starrer Infiltration der Haut klagen 
die Patienten über Spannungsgefühl und 
Schmerzen in der befallenen Hautpartie, 
besonders wenn das Ohr vom Erysipel 
ergriffen wird. Nach Auflegen einer 10% 
Anaesthesinsalbe trat prompt ein Nach¬ 
lassen der Schmerzen ein. Das gleiche 
günstige Resultat berichtet Henius 13 ) aus 
der Abtheilung v. Noorden, welch letzterer 
ja das Anaesthesin in die Therapie ein¬ 
geführt hat. 14 ) Er schreibt: „Das An- 
aesthesinverfahren hatte den unverkenn¬ 
baren Erfolg, die vom Erysipel befallene 
Haut vollständig schmerzfrei zu machen 
und während der ganzen Dauer der Krank¬ 
heit schmerzfrei zu erhalten.“ 

Nach all diesen therapeutischen 
Versuchen des letzten Jahres bleibt 
also nach wie vor die Behandlung 
mit Eisburow unser Normalverfahren 
beim Erysipel; bei schmerzhafter 
Infiltration der Haut wenden wir mit 
Vortheil die 10% Anaesthesinsalbe 
an, in schweren Fällen werden wir 
auch weiterhin unsere Zuflucht zu 
den intravenösen Collargollösungen 
nehmen. 

Zum Schlüsse möchte ich noch einige 
Daten über die Mortalität beim Erysipel 
hinzufügen. 

Es starben von unseren 300 Patienten 
14, das entspricht einer Mortalität von 
4,6%. Wenn wir die durch Complicationen 
(hohes Alter muss natürlich auch als Com- 
plication bezeichnet werden) bedingten 
Todesfälle in Abrechnung bringen, so 


Alter 

Art des Erysipels 

Complicationen 

Behandlung 

83 

Erys. migrans 


Eisburow 

80 

E. fae. et colli 

Pleuritis exsudativa 


73 

E. fac. 

— 


70 

E. fac. 

Endocarditis verrucosa valv. mitr. et aortae 


65 

E. fac. et colli 

Ulcera tbc. cutis multipl. Pneumonia hypost. 


65 

E. gangr. cruris 

— 


65 

E. gangr. migr. 

— 

Rothes Licht 

57 

E. gangr. cruris 

Cor adiposum 

Eisburow 

57 

E. gangr. cruris | 

— 

Collargol 

53 

E. migrans 

Arthritis deformans. Hochgradige Kachexie 

Eisburow 

32 

E. fac. 

Tbc. pulmon. 

n 

29 

E. migr. recid. 

Kachexie Anus praeternaturalis propter ulcera intestini 

Collargol 

18 

E. faciei 

— 

Eisburow 

16 

E. facici 

Pleuritis purulenta, Pneum. lobularis 

Collargol 


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November 


504 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


bleibt uns nur ein Fall, der ein sonst ge- j 
sundes Mädchen betraf, übrig, d. i. eine | 
Mortalitätsziffer von S 0 /^ j 

Dass hohes Alter allein keine absolut j 
ungünstige Prognose einschliesst, beweisen 
folgende Zahlen: . 


AU 1 Gesammtzahl der' , 

Alter i Patienten Ges,orben ; % 


60—79 

von 80 aufw. 
über 60 

Wir sind also berechtigt, in einem 
uncomplicirten Falle von Erysipel 
selbst bei schweren Allgemein¬ 
erscheinungen die Prognose fast 
absolut günstig, bei Complicationen 
je nach der Art derselben mehr oder 
minder zweifelhaft, selbst bei hohem | 
Alter nicht absolut ungünstig zu i 
stellen. t 

Herrn Professor Schlesinger danke 
ich für seine gütige Förderung dieser 
Arbeit. 

Litteratur. 

1) Bie, Finsens Phototherapic. Therap. 
Monatshefte 1900, Januar. — 2) Bie, a. a. O. — 


23 5 I 22 

5 2 i 40 

28 | 7 25 


3) Chatiniere, la presse mödicale 1898. citirt 
bei Bie. — 4) Kruckenberg, die Behandlung 
des Erysipels im rothen Zimmer. Münchener 
med. Wochenschr. 1902, S. 528. — 5) Finsen, 
die Behandlung des Erysipels durch Aus¬ 
schliessung der chemischen Strahlen des 
Sonnenlichtes. Referat in Münch, med. Wochen¬ 
schrift 1902, S. 1436. — 6) Floret, Mesotan, 
ein äusserlich anwendbares Antirheumaticum. 
Deutsche med. Wochenschr. 1902, No. 42. — 
7) Crede, Silber a’s äusseres und inneres 
Antisepticum. Dtsch. Arch. f. kiin. Chir. 1897, 
Bd. LV. — 8) Credö, die Behandlung septi¬ 
scher Erkrankungen mit intravenösen Collargol- 
injectionen. Dtsch. Arch. f. klin. Chir. 1903, 
Bd. LXIX. — 9) Crede, lösliches Silber als 
inneres Antisepticum. Berl. klin. Wochenschr. 
1901, No. 37. — 10) Wei ler, über chirurgische 
Erfahrungen mit löslichem metallischem Silber 
bei der Behandlung von septischen Wund- 
infectionen. Dtsch. med. Wochenschr. 1898, 
No. 40. — 11) Müller, Intravenöse Injectionen 
von Argentum colloidale Crede bei septischen 
Erkrankungen. Dtsch. med. Wochenschr. 1902, 
No. 11. — 12) Schmidt, über die Wirkung 
intravenöser Collargolinjectionen bei septischen 
Erkrankungen. Dtsch. med. Wochenschr. 1903, 
No. 15 u. 16. — 13) Henius, die Anästhesin- 
behandlung des Erysipels. Therapie der Gegen¬ 
wart 1903, No 1. — 14) v. Noorden, über 
Paraamidobenzoesäure-Ester als locales An- 
ästheticum. Berl. klin. Wochenschr. 1902, No. 17. 


Ueber die Behandlung der acuten Nierenentzündung mit Eis. 

Von L. Stembo -Wilna. 


Vor ungefähr acht Jahren erkrankte die 
achtjährige P. T. an einer Angina mit grau- 
weisslichem Belag. Von einem Ausschlag 
war nur sehr wenig an den Wangen und 
an der Brust zu sehen. Die Untersuchung 
des Belages ergab nur Streptococcen und 
keine Löfflerbacillen. Nach zwei Wochen 
stellten sich leichte Oedeme am Gesicht, 
Rücken und den Füssen ein. Der Urin 
wurde spärlich, eiweiss- und bluthaltig. 
Sein specifisches Gewicht war 1026 und 
enthielt rothe und weisse Blutkörperchen, 
Epithel aus den Harncanälchen und ver¬ 
schiedene Cylinder. Eine gewöhnliche in 
solchen Fällen während zwei Wochen ge¬ 
leitete Behandlung (Eis auf dem Kopf, 
warme Bäder, Einwicklungen, Digitalis, 
Secale cornutum, liq. ferri sesquichlor.) 
war erfolglos geblieben. Der Urin blieb 
spärlich und sehr bluthaltig, und manche 
urämische Erscheinungen (Kopfschmerz, 
Uebelkeit, Erbrechen) stellten sich ein, ob¬ 
wohl die Oedeme nicht sehr zugenommen 
hatten. 

In diesem Zustand Hess ich eine Eis¬ 
blase auf die Nierengegend legen, und 

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j schon nach 24 Stunden wurde der Harn 
reichlicher, viel blasser, nach 3 Tagen 
j schwanden Kopfschmerzen und Uebelkeit, 

I in 8 Tagen waren im Harn nur Spuren 
Eiweiss vorhanden, und die Kranke konnte 
als geheilt betrachtet werden. 

Nach einiger Zeit erkrankte der fünf¬ 
jährige X. an einer mittelschweren Schar¬ 
lachform und wurde nach allen Regeln der 
Kunst von Dr. Z. behandelt. Am Ende 
der dritten Woche wurden leichte Er- 
I scheinungen einer acuten Nephritis con- 
! statirt, die in einigen Tagen so Zunahmen, 

! dass im Verlauf von 48 Stunden nur 40 
bis 50 ccm eines stark bluthaltigen Urins 
| gelassen wurden. Die Temperatur stieg auf 
j 39,6, es wurden am Gesicht und den Ex¬ 
tremitäten leichte Zuckungen bemerkbar, 
so dass jeden Augenblick allgemeine Con- 
| vulsionen zu erwarten waren. Zum Con- 
I silium hinzugezogen, schlug ich Eis auf die 
| Nierengegend vor, und schon am nächsten 
| Tage fiel die Temperatur bis auf die 
I Norm, die Zuckungen Hessen nach, der 
| Urin wurde reichlicher, die Beimengung 
| von Blut geringer, und im Verlauf von 

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505 


Novi mber 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


10 Tagen war die Nephritis vorüber. | 
Durch diese 2 Fälle angespornt, versuchte j 
ich alle schweren Nephritiden, die in reich- | 
licher Zahl im Verlauf der letzten 18 Monate ! 
der in Wilna grassirenden Scharlach¬ 
epidemie in meine Behandlung kamen, | 
systematisch mit Eis zu behandeln. 

Ich muss sofort sagen, dass ich diese ! 
Behandlung, die sich durch ihre Einfach- j 
heit und Kürze der Krankheitsdauer aus- 
zeichnet,bestens zurNachprülung empfehlen 
kann, da ich sie in über 20 Fällen mit Er- , 
folg angewandt habe. 

Die Application des Eises ist eine sehr 
einfache. Es wird eine längliche bisquit- i 
förmige Blase, die mit kleinen Eisstücken | 
gefüllt ist, auf die Gegend beider Nieren | 
aufgelegt und durch eine Binde befestigt. ; 
Der Kranke wird womöglich auf eine Seite 
gelegt. Will der Kranke sich auf den 1 
Rücken legen, so muss er durch Kissen ! 
unterstützt werden, damit die Eisblase nicht 
auf den Rücken drückt. Nach 2—3stündi- i 
gern Liegenlassen, wird die Blase auf eine | 
Stunde entfernt und dann wieder auf- j 
gelegt. Bei sehr empfindlichen Patienten ! 
kann man zwischen Körper und Eisblase ! 
eine einfache oder doppelte Leinewand — ! 
oder Flanellschicht legen. Anfangs wandte 
ich Eis nur solange an, bis im Harn alle 
Spuren von Blut schwanden und ging 
darauf zur gewöhnlichen Behandlung der j 
Nephritis mit Bädern über, ln der letzten ! 
Zeit lege ich solange Eis, bis das Eiweiss j 
bis auf Spuren schwindet und gehe zu ' 
Bädern, als vollkommen überflüssig, gar- 
nicht mehr über. i 

Zur Illustration mögen folgende zwei | 
kurze Krankengeschichten dienen. j 

1. B. N. ein neun Jahre alter Knabe, Schüler | 
der ersten Klasse der hiesigen Kominerzschule, | 
erkrankte an Scharlach, der in seinem Verlaufe | 
nur während eines Tages eine Temperatur von ! 
40° aufzuweisen hatte; sonst war der Verlauf j 
ein günstiger. Die Pharynxschleimhaut war | 
kaum geröthet, die Lymphdrüsen unmerklich j 
vergrössert, im Urin keine Nierenformelemente, j 
nur Spuren von Eiweiss, die nach zwei Tagen 
schwanden. 

Am 16. Tage der Erkrankung stellte sich 
wieder leichte Drüsenschwellung ein, der Urin j 
aber zeigte sich noch frei von pathologischen | 
Beimengungen. Am nächsten Tage um 2 Uhr | 
begann ein sehr schwerer urämischer Anfall, j 
der 8 Stunden dauerte und zur Beseitigung 
Blutegel hinter die Ohren, grössere Dosen 
Chloralhydrat per elysma und Eisblase auf den 
Kopf erforderte. Der per Catheter entnommene 
Urin enthielt reichlich Blut- und Epithelial- 
cylinder und 2%o Eiweiss. Es wurden trockene 
Schröpfköpfe und darauf eine Eisblase auf die 
Nierengegend applicirt. Das Bewusstsein kehrte 

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noch vor Mitternacht zurück. Der selbstständig 
nelassene Harn war viel blasser und wies nur 
1.27oü Eiweiss auf. Nach und nach wurde die 
Harnmenge normal, und am neunten Tage 
konnte weder die chemische, noch die micro- 
skopische Untersuchung des Harns etwas Patho¬ 
logisches entdecken. 

2. Der vierjährige Knabe M. M. erkrankte 
Mitte Februar d. Js. an einer sehr leichten Form 
von Scharlach, so dass man eher an Rubeola 
scarlatinosa, als an echten Scharlach denken 
konnte. Da wir aus Erfahrung wussten, dass 
eben solche Fälle während der letzten Epidemie 
manchmal die schwersten Nephritisformen 
lieferten, sagte ich den Grosseltern, bei denen 
sich der Knabe zufällig befand, sie möchten 
sehr auf den Knaben aufpassen, ihn drei Wochen 
im Bett behalten und ausschliesslich eine Milch¬ 
diät innehalten. 

Am 13. Krankheitstag stieg plötzlich die 
Temperatur auf 39,6, das Kind vomirte und war 
36 Stunden constipiert. Der in ganz kleinen 
Mengen (30 ccm) gelassene Uiin enthielt Blut 
und Eiweiss. Nach verabreichter Aquila alba 
erfolgten drei flüssige Stühle, aber die Tempe¬ 
ratur stieg auf *10.3. es zeigten sich leichte 
Zuckungen im Gesicht und an den Extremitäten. 

Es wurden dann zwei kleine Eisblasen auf die 
Seitenfläehen des Halses und eine dritte grosse 
auf die Nierengegend gelegt und innerlich ein 
Decoct von Secale cornutum mit Ac. sulfur. 
verordnet; Chloroform und Chloralhydrat zum 
Nothfall vorbereitet. Unter dieser Medication 
fiel die Temperatur auf 38,5. um nach 2 Tagen 
zur Norm zurück zu kehren. Der Urin wurde 
reichlicher und enthielt nur Spuren von Blut, 
das nach Verabreichung von Liq. ferri sesquichl. 
1,0—100,0 ganz schwand, und nach weiteren 
6 Tagen war das Kind vollkommen hergestellt. 

Ich möchte noch hinzufügen, dass das Kind 
nach 2 Wochen wieder zu fiebern anfing, die 
Lymphdrüsen am Hals schwollen stark an, das 
Kind hörte zu essen und zu trinken auf, und 
der Urin wurde wieder sehr spärlich. Da ich 
4 Wochen abwesend war, bekam ich es wieder 
in einem sehr elenden Zustand zu sehen. Bei 
der Untersuchung konnte ich einen sehr be¬ 
trächtlichen Retropharyngealabscess constatiren, 
nach dessen Eröff nung die Temperatur zur Norm 
sank; das Kind fing zu trinken an, der Urin 
wurde reichlicher, und die letzte Untersuchung 
zeigte, dass er von abnormen Bestandtheilen 
ganz frei war. 

Diese Behandlung mit Eis zeigte sich 
mir nicht nur bei acuten Nierenentzündun¬ 
gen erfolgreich, sondern auch bei acut 
gewordenen chronischen Nierenentzündun¬ 
gen. Als kurzes Beispiel möge folgender 
Fall dienen: 

Frau Q.. 52 Jahre alt, leidet seit 12 Jahren 
an einer chronischen interstitiellen Nephritis. 

Der sonst bei ihr sehr reichliche Harn mit nur 
wenig Formelementen und niedrigem speci- 
fischen Gewicht nahm infolge einer starken Er¬ 
kältung an Menge ab. Sein specifisches Gewicht 

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506 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


November 


stieg über 1020 und ausser verschiedenen | 
Cylindern konnte man in ihm Blut in ziemlich i 
grosser Beimischung constatiren. Die gewöhn- | 
liehen in solchen Fällen angewandten Mittel | 
blieben erfolglos. Deswegen griffen wir zum 
Eisbeutel, den wir auf die Nierengegend appli- 
cierten, und schon nach 48 Stunden war jede 
Spur von Blut geschwunden, und der Harn 
kehrte zu seinem Status quo ante zurück. 

Wie ist die Wirkung des Eises bei 
Nephritis zu erklären, besonders nachdem 
das warme Bad so lange in der Behand¬ 
lung der Nierenentzündung einen so her¬ 
vorragenden Platz eingenommen hat? Be¬ 
kanntlich wurde die Wirkung der warmen 
Bäder bei dieser Krankheit so erklärt, dass 
durch sie die Haut von den auf derselben 
sich befindenden Abschuppungen befreit, 
so die Perspiration derselben hergestellt 
wird, die für den Organismus schädlichen 
Stoffe beseitigt und dadurch die Nieren 
entlastet werden. 

Dass diese Erklärung keine richtige ist, 
kann sehr leicht dadurch bewiesen werden, 
dass fast in jeder Epidemie viele sehr 
schwere Fälle von Scharlach mit starkem 
Ausschlag und reichlicher Desquamation, 
die lange anhält, Vorkommen und doch 
keine Nierenentzündung danach eintritt; 
und umgekehrt: Hunderte von Fällen mit 
sehr leichtem Exanthem und fast gar 
keiner Abschuppung, bei denen man die 


schwersten Nierenerkrankungen zu beob¬ 
achten Gelegenheit hat. 

Diese Erklärung genügt uns also nicht, 
so müssen wir uns nach einer anderen 
umsehen, und denke ich, dass wir durch 
warme Bäder langsam das erreichen, was 
wir durch Eis viel rascher erhalten, näm¬ 
lich eine verminderte Spannung in den 
erkrankten vergrösserten Nieren. Nur dass 
die Kälte direct auf die Nieren wirkt, 
die Wärme dagegen indirect; durch Hy- 
peraemisirung der Haut tritt Anaemie der 
inneren Organe und darunter auch der 
Nieren ein. Also das, was Harrison, 
James Israel, Pousson, Edebohls und 
andere bei chronischen Nephritiden und 
anderen Nierenleiden durch Nieren- und 
Capselspaltung (decapsulatio) erreichen, das 
gelingt sehr leicht bei der acuten Nephritis 
durch Kälteeinwirkung, nämlich eine Ent¬ 
spannung in dem Inneren der Nieren, wo¬ 
durch schnelle Heilung der Krankheit zu 
erklären ist. 

Ich will noch bemerken, dass in mehre¬ 
ren Fällen ausser dem Eis gar keine 
weiteren Verordnungen gemacht worden 
waren. 

Ob diese Behandlungsart der Nieren¬ 
entzündung in ferneren Epidemieen von 
| Erfolg gekrönt wird, muss die Zukunft 
lehren. 


Von der 75. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte, 
Cassel ao.—25. September 1903. 

(Schlussbericht.) 


Aus der Abtheilung für Kinderheilkunde. 

Herr Hochsinger (Wien) demonstrirt 
eine Reihe von Röntgenbildern, die ihn 
zu der Ueberzeugung gebracht haben, dass ! 
die Ursache des Stridor congenitus , 
meistens eine vergrösserte Thymus ist, so 
dass er den Namen Stridor thymicus vor¬ 
schlägt. 

Aus der Diskussion, an der sich Teixeira ! 
de Mattos, Ganghofner, Siegert, [ 
Thiemich und Feer betheiligen, geht • 
hervor, dass nach wie vor die Ansichten 
getheilt und die Frage offen ist, welchen I 
Antheil man der Thymusvergrösserung an 
dem Zustandekommen des Stridors zu- i 
messen soll. I 

Danach spricht Herr Ruppinger 
(Wien) über Laryngitis aphthosa. Der 
Vortragende erwähnt, dass die primäre 
Stomatitis aphthosa zwar in der über¬ 
wiegenden Mehrzahl der Fälle wirklich eine 
gutartige nur auf die Wundschleimhaut j 
localisirte Krankheit sei, nicht selten aber I 


progredienten Charakter zeige, insofern sie 
dann auf den Gaumen, Uvula, Tonsillen 
und hintere Rachenwand übergreife. In 
sehr seltenen Fällen ist auch der tiefere 
Veraauungstract betroffen. Andrerseits 
kann die aphthöse Entzündung auch auf 
den Larynx übergehen und dann besonders 
bei kleinen Kindern ausgesprochene Larynx- 
stenose erzeugen, welche die Kinder in 
direkte Erstickungsgefahr bringt. Verfasser 
beobachtete unter 900Kindern mit Stomatitis 
aphthosa sechs solche Fälle und bringt ein 
ausführliches Beispiel. Die Therapie be¬ 
steht in einer energischen Behandlung der 
Grundkrankheit. Hierzu benützt Verfasser 
Auswaschungen von Mund und Rachen mit 
Solutio Kali hypermang. und vermeidet 
interne Verabreichungen von Kali chloricum. 
Geht die Grundkrankheit zurück, so lassen 
auch die Symptome von seite des Kehl¬ 
kopfes bald nach. Zur Unterstützung werden 
mit bestem Erfolge Wasserdampfinhala¬ 
tionen und warme Umschläge am Halse 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


angewendet. Bei gefahrdrohender Larynx- 
stenose ist auch im Säuglingsalter die In¬ 
tubation der Tracheotomie schon wegen 
der voraussichtlich kurzen Intubationsdauer 
vorzuziehen. 

Herr Keller (Bonn) hielt einen Vortrag 
über die Erfolge und Organisation der See¬ 
hospize, der zu einer interessanten Dis¬ 
kussion der angeschnittenen Frage führte. 

Bei dem Interesse, das dieser Gegen¬ 
stand beanspruchen darf, sei es gestattet, 
ein ausführliches Referat des Vortrages zu 
geben. 

Die wesentlichsten Erfolge der deutschen 
Seehospize bestehen in dem Verschwinden 
der nervösen Beschwerden bei neuro- 
pathisch belasteten Kindern (in Zusammen¬ 
hang mit der Anstaltsbehandlung), in der 
günstigen Beeinflussung der Respirations¬ 
erkrankungen durch die relative Keim- und 
Staubfreiheit der Luft sowie die Gleich- 
mässigkeit der Temperatur und vor allem 
in der Erzielung erheblicher Körperge¬ 
wichtszunahme bei Kindern aus armen wie 
wohlhabenden Familien. 

Bei erholungsbedürftigen und recon- 
valescenten Kindern werden in Folge dessen 
gute Erfolge erzielt, aber sie sind von 
kurzer Dauer. Bei Scrofulose und Tuber¬ 
kulose kommt es zu einer Besserung des 
Allgemeinbefindens, zu einem vorüber¬ 
gehenden Verschwinden einzelner Symp¬ 
tome, aber von einer Heilung kann keine 
Rede sein. 

Der Vergleich mit den ausländischen 
Hospizen fällt zu Ungunsten der deutschen 
aus. Bleibt die Kurdauer in letzteren auf 
sechs Wochen beschränkt, dann sind die 
Seehospize nicht besser als die Ferien¬ 
kolonien, nur viel kostspieliger. 

Stellen die Hospize sich grössere Auf¬ 
gaben, eine ernste Bekämpfung derScrofulo- 
Tuberkulose. dann ist nothwendig: 

1. eine sorgfältige Auslese des Materials, 
vor Allem der Kinder, die unentgeltlich 
aufgenommen werden; 

2. eine erheblich längere Kurdauer; 

3. Durchführung des Winterbetriebes in 
grösserem Massstabe; 

4. dauernde ärztliche Beobachtung der 
Kinder auch nach der Entlassung aus der 
Heilstätte. 

Die Letztere, sowie die Auslese geeig¬ 
neten Kindermateriales ist in den Gross¬ 
städten den Kinderpolikliniken oder einzel¬ 
nen Aerzten zu überweisen, die ständig in 
Fühlung mit der Vereinsleitung und den 
Hospizärzten stehen. 

Die Bedingungen für guten Erfolg sind | 
gegeben, nur müssen sie voll und ganz 

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ausgenutzt werden, wenn die deutschen 
Heilstätten nicht weit hinter den auslän¬ 
dischen zurückstehen wollen. 

Aus der Discussion ist die von ver¬ 
schiedener Seite betonte günstige Beein¬ 
flussung tuberkulöser Erkrankungen her¬ 
vorzuheben, die bei einem längeren Auf¬ 
enthalt, wie er namentlich in den französi¬ 
schen Hospizen möglich ist, zu erreichen 
sind. Insbesondere geben Knochen- und 
Gelenktuberkulosen ungleich günstigere 
Resultate für die Operation in den See¬ 
hospizen als in den grossen Städten. 

Es folgt das von der Gesellschaft für 
Kinderheilkunde gestellte Referat „Die 
Hysterie im Kindesalter 4 ', das den 
Herren Thiemich (Breslau) und Bruns 
(Hannover) übertragen war. 

Herr Th ie mich stellte die Thatsache 
des häufig „monosymptomatischen“ Auf¬ 
tretens der Kinderhysterie in den Vorder¬ 
grund. Wir verstehen darunter das Fehlen 
der bekannten Charcotschen Stigmata. 

Um ein Verständniss für dieses Ver¬ 
halten anzubahnen geht Referent den Früh¬ 
formen der Kinderhysterie nach und schil¬ 
dert besonders einige derjenigen Krank¬ 
heitsbilder, die nicht Nervenkrankheiten, 
sondern Erkrankungen der vegetativen 
Systeme imitiren. Es handelt sich dabei 
öfter um sehr junge Kinder (2—4 Jahre 
alte) und meist um die psychogene Fort¬ 
setzung bezw. Wiederholung eines früheren 
organischen Leidens, dessen Hauptsymptom 
durch Auto-Imitation fortgeführt wird. Ne¬ 
ben der Auto Imitation spielt die Imitation 
fremder Leiden (beides natürlich mehr oder 
minder unbewusst) eine wichtige aetiologi- 
sche Rolle. Auch dies wird an Beispielen 
erläutert. Aus diesen Beobachtungen er- 
giebt sich die Wichtigkeit des Milieus für 
den Ausbruch hysterischer Erkrankungen; 
dafür spricht die ärztliche Erfahrung, dass 
eine Heilung oft nur durch Entfernung des 
Patienten aus seiner bisherigen Umgebung 
gelingt. Es ist wahrscheinlich, dass das 
ungeeignete Verhalten nervöser Eltern, Er¬ 
zieher u. s. w. die hysterische Manifestation 
nicht direct producirt, sondern nur dadurch 
schädlich wirkt, dass die wohl bei jedem 
Kinde gelegentlich zu beobachtenden 
kleinen Ansätze zur Hysterie nicht unter¬ 
drückt und ausgerottet, sondern grossge¬ 
zogen werden. 

Der Correferent giebt zunächst einige 
kurze statistische Daten nach seinem eigenen 
Materiale. Er hat unter 700 Fällen von 
Hysterie 144 bei Kindern beobachtet; also 
etwa auf 5 Hysterische ein Kind. Die 

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November 


508 Die Therapie der Gegenwart 1903. 


obere Grenze des Kindesalters setzt er ins 
16. Jahr. Die meisten Fälle fielen zwischen 
das 7. bis 12. Jahr; ziemlich viele darüber 
bis zum 16. Jahre; im 6, 5. und 4. Jahre 
hat er nur noch 6 Fälle beobachtet; die 
jüngsten waren zwei Knaben von 3 Jahren. 
Er hält die Hysterie unier diesem Alter 
jedenfalls für äusserst selten und die Hyste¬ 
rie der Neugeborenen, von der bosonders 
französische Autoren berichten, für unbe¬ 
wiesen. Alles in Allem kamen ihm etwa 
doppelt so viel hysterische Mädchen als 
Knaben zur Beobachtung; unter 9 Jahren 
war aber die Zahl der Knaben fast so 
gross, wie die der Mädchen. Mit dem 
höheren Kindesalter nimmt also die Hyste¬ 
rie bei Knaben relativ ab, bei Mädchen zu. 
40% seiner hysterischen Kinder waren 
Landkinder; bei diesen kommen ganz be¬ 
sonders schwere und hartnäckige Formen 
vor. — Die Formen der Hysterie sind sehr 
verschiedenartige; relativ sehr häufig ist 
die Astasie-Abasie; hysterische Krämpfe 
sind häufiger, als Bruns früher annahm, 
besonders bei älteren Kindern. Meist fehlen 
die Stigmtaa, besonders die Hautästhesien. 
Bruns sucht das Fehlen derselben aus 
Eigentümlichkeiten des kindlichen Vor¬ 
stellungslebens zu erklären; ihr Fehlen 
bilde deshalb keinen unerklärlichen Gegen¬ 
satz zu der Hysterie der Erwachsenen, es 
zeige vielmehr deutlich, dass auch die 
Stigmata der Hysterie psychisch bedingt 
sind. — Trotz des Fehlens der Stigmata 
sei die Diagnose wenigstens in Fällen mit 
neurologischen Symptomen bei der Kinder¬ 
hysterie auch vor der Heilung oder bei 
Nicptgelingen derselben meist sicher. Vor 
Allem gelte es, auch bei Kindern immer 
an die Möglichkeit der Hysterie zu denken, 
vor ihr auf der Hut zu sein. Dann halte 
man sich an die charakteristischen Eigen¬ 
thümlichkeiten der Symptome der Hysterie 
und ihrer Gruppierung, die Bruns näher 
ausgeführt; an die grosse psychische Be- 
einflussbarkeit; an das Missverhältniss 
zwischen Ursache und scheinbarer Schwere 
der Symptome. — Erschwerend für die 
Diagnose kann es manchmal wirken, wenn 
hysterische Erscheinungen als Imitationen 
oder Prolongationen organischer auftreten; 
z. B. hysterische Ankylosen nach Gelenk¬ 
rheumatismus, oder hysterische Chorea 
nach rheumatischer; oder überhaupt nach 
organischen Krankheiten, wie z. B. Astasie- 
Abasie nach Infectionskrankheiten. — Die 
Prognose der Kinderhysterie ist sowohl 
für die Heilung der Symptome, als für die 
Gesammtkrankheit eine viel bessere als die 
der Hysterie der Erwachsenen; ersteres 

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liegt an der grösseren Suggestibilität der 
Kinder; letzteres daran, dass bei ihnen 
der hysterische Charakter noch nicht fest¬ 
gewurzelt ist. — Für die Behandlung ist in 
allen hartnäckigen Fällen Aufnahme in’s 
Krankenhaus geboten. — Im Speciellen 
empfiehlt B r u n s für den betreffenden Einzel¬ 
fall wieder die Methoden, die er früher als 
Ueberrumpelungsmethode und als Methode 
der zielbewussten Vernachlässigung be¬ 
zeichnet hat, und weist die Behauptung, 
dass diese Methode den Kindern schädlich 
sei, kurz zurück. Nöthig sei jedenfalls, 
dass die hysterischen Manifestationen rasch 
und gründlich ausgerottet würden; dann 
sei eine Dauerheilung zu hoffen. 

Zu der jetzt so viel erörterten Frage, 
welche Bedeutung der intestinalen Infection 
für die Entstehung der Tuberkulose zu¬ 
kommt, hat Ganghofner einen interessanten 
Beitrag geliefert, der eine genauere Wieder¬ 
gabe gerechtfertigt erscheinen lässt. 

Da neuerdings unter Hinweis auf die 
Publicationen von Heller in Kiel von ver¬ 
schiedenen Autoren, im Gegensatz zu der 
bisherigen Anschauung der meisten Kinder¬ 
ärzte, die Behauptung aufgestellt worden 
ist, dass primäre Intestinaltuberkulose bei 
Kindern häufig und der Verdacht auf nicht 
so seltene Infection derselben durch den 
Genuss von perlsuchtbacillenhaltiger Milch 
begründet sei, sah sich Ganghofner 
veranlasst, das ihm zur Verfügung stehende 
pathologisch - anatomische und statistische 
Material zum Studium dieser Frage zu ver- 
werthen. Da sich die Sectionen von an 
vorgeschrittener Tuberkulose Verstorbenen 
zur Beurtheilung nicht eignen, benutzte 
er lediglich die Sectionen der an acuten 
Infectionskrankheiten (Diphtherie, Mor- 
billen, Scharlach, Variola) gestorbenen 
Kinder der verflossenen 15 Jahre und 
konnte feststellen, dass unter 973 an 
derartigen Krankheiten gestorbenen Kin¬ 
dern nur 5 Fälle sich befanden, welche 
ausschliesslich auf den Darm oder die 
Mesenterialdrüsen beschränkte Tuberkulose 
darboten, sonach als Fälle von sicher 
primärer Intestinaltuberkulose anzusehen 
waren, entsprechend 0,5 % aller Gestor¬ 
benen bezw. 2 % der darunter befindlichen 
253 Tuberkulösen, während Heller in 
Kiel unter 714 secirten Diphteriefällen 
53 solche von primärer Intestinaltuber¬ 
kulose gefunden hatte = 7,4 o/ 0 aller 
Gestorbenen bezw. 37,8 der darunter be¬ 
findlichen 140Tuberkulösen. Ganghofner 
hebt hervor, dass die Sectionsmethode 
dieselbe war wie in Kiel, dass alle Sek- 

Qriginal fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



November 


Die Therapie der 


tionen von sachkundiger Hand ausge 
führt wurden und hält danach eine Ver¬ 
allgemeinerung von Hellers Befunden, 
die bisher in Deutschland einzig dastehen, 
für nicht begründet, ebenso auch die daraus 
gefolgerten Schlüsse bezüglich der Gefahr 
von Perlsuchtbacillen enthaltender Milch. 

Bei der LJbiquität des vom Menschen 
stammenden Tuberkelbacillus, der ja auch 
in die Mundhöhle und in den Darm ge¬ 
langt, könne man selbst bei Fällen primärer 
Darmtuberkulose nie sicher entscheiden, ob 
Infection mit Rindertuberkulose vorliege 
oder nicht. 

Um der Frage noch auf einem an¬ 
deren Wege näher zu treten, hat Gang- 
hofner in ähnlicher Weise, wie dies 
Biedert im Algäu gethan, die etwaigen 
Beziehungen der Rindertuberkulose zur 
Tuberkulosefrequenz der Bevölkerung in 
den einzelnen Bezirken Böhmens auf Grund 
amtlicher statistischer Daten studirt. Er 
kam hierbei zu einem ganz ähnlichen Re¬ 
sultat wie Biedert. 

In Gegenden mit geringer Frequenz der 
Rindertuberkulose bei den geschlachteten 
Kühen fand sich häufig eine hohe Sterbe¬ 
ziffer an Tuberkulose bei der betreffenden 
Bevölkerung und umgekehrt war in Be¬ 
zirken mit verhältnissmässig viel Rinder¬ 
tuberkulose eine sehr geringe Tuberkulose¬ 
sterblichkeit bei den Menschen zu con- 
statiren. 

Da bisher vielfach angenommen wurde, 
dass nur von jenen an Perlsucht leidenden 
Kühen Perlsuchtbacillen in die Milch ge¬ 
langen können, welche an Tuberkulose des 
Euters leiden, so wurde auch die Häufig¬ 
keit der Euter-Tuberkulose in den einzelnen 
Bezirken des Landes mit der Tuberkulose¬ 
sterblichkeit derßewohner verglichen und er¬ 
gab sich auchhierkeinParallelismus. Gang- 
hofner gelangt zu folgender Auffassung: 
Wenn auch die Möglichkeit einer gelegent¬ 
lichen Uebertragung von Rindertuberkulose 
auf den Menschen zugegeben werden muss, 
so ist bisher kein Beweis dafür beigebracht, 
dass eine solche Uebertragung häufiger 
stattfindet. Weder die pathologisch-ana¬ 
tomischen Befunde, noch die statistischen 
Erhebungen über das Verhältnis von 
Rinder- und Menschentuberkulose sprechen 
dafür, dass der Genuss von perlsucht¬ 
bacillenhaltiger Nahrung für die Entstehung 
der menschlichen Tuberkulose — insbe¬ 
sondere auch im Kindesalter — von irgend¬ 
wie nennenswerter Bedeutung ist. 

Beobachtungen über die Bedeutung der 
Heredität für die Entstehung der R h a c h i t i s 
hat Siegert (Strassburg) mitgetheilt. 

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Gegenwart 1903. 

Die noch ganz unentschiedene Frage 
nach der Erblichkeit der Rhachitis suchte 
er dadurch zu lösen, dass er untersuchte, 
ob unter sonst gleich günstigen oder un¬ 
günstigen Verhältnissen die sämmtlichen 
Kinder von Familien an Rhachitis erkrarken 
oder von Rhachitis frei bleiben. 

Unter sehr ungünstigen socialen Ver¬ 
hältnissen lebende Familien mit durchweg 
natürlicher Ernährung der Kinder zeigten 
nun die auffallende Thatsache, dass in den 
gleichen Massenquartieren die Brustkinder 
der einen Familie ausnahmlos rhachisch 
wurden, die der anderen durchaus von 
Rhachitis verschont blieben. Letzeres 
Verhalten fand sich nur bei natür¬ 
licher Ernährung und bei rhachitis- 
freier Mutter. 

ln dem mitgetheilten Krankenmaterial 
sind Fälle schwerer Rhachitis bei Brust¬ 
nahrung und guten äusseren Verhältnissen 
verzeichnet, umgekehrt aber auch solche, 
wo unter denkbar ungünstigsten Verhält¬ 
nissen lebende Kinder (Brustkinder) von 
Rhachitis frei blieben. 

Die schwerste Rhachitis entwickelt sich 
bei hereditärer Belastung und künstlicher 
Ernährung. Sie beginnt dann schon im 
1.—2. Lebensmonat, erreicht die extrem¬ 
sten Grade und bedingt eine hohe Sterb¬ 
lichkeit. 

Erkrankungen der Verdauungs- und 
Athmungsorgane begünstigen ebenfalls die 
Entstehung der Rhachitis. 

Aus der Discussion sei an dieser Stelle 
nur erwähnt, dass Herr Rommel wieder 
einmal die Erklärung der Rhachitis durch 
mangelhafte Kalkzufuhr etc. erwähnte. Man 
konnte hoffen, dass diese Vorstellung end¬ 
lich abgethan wäre, und wenn Herr Rom¬ 
mel Stoeltzner’s einschlägige Arbeiten 
damit bei Seite schiebt, dass er ihm ohne 
jede Grundlage vorwirft, Stoeltzner habe 
Rey falsch citirt, so wird diese verblichene 
Anschauung dadurch nicht lebenskräftiger. 

Die weiteren über R hachitis von Stoeltz¬ 
ner und von Siegert gehaltenen Vorträge 
sind für die Wiedergabe hier nicht geeignet 
und ein Vortrag von Uffenheimer (Mün¬ 
chen) über Zusammenhang zwischen Di¬ 
phtherie und Scharlach wird besser im 
Original (Verhdl. d. Ges. f. Kinderhlk.) nach¬ 
gelesen, da das Zahlenmaterial in dem 
engen Rahmen des Referats nicht genügend 
übersichtlich ist. 

Die ausserdem gehaltenen Vorträge 
konnten an dieser Stelle keine Erwähnung 
finden, da wir hier nur das für die Praxis 
unmittelbar Wichtige wiederzugeben beab¬ 
sichtigten. B. Salge (Berlin). 

Original from 

UNIVERSUM OF CALIFORNIA 



November 


5 in 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Aus der Abtheilung: fflr Neurologie und 
Psychiatrie. 

Herr Pfister (Freiburg): Die Enuresis 
nocturna in neuropathologischer und 
forensischer Bewerthung. 

Vortragender hat ein grösseres Material 
von Geisteskranken, Nervenkranken und 
gesunden Kindern unter Ausschluss aller 
Fälle von organischen Erkrankungen des 
Centralnervensystems und des Harnappa¬ 
rates untersucht. 

Es traten zwei Gruppen der an Enuresis 
nocturna leidenden Kranken hervor: 

1. handelte es sich um ein seit frühester 
Kindheit bestehendes, anhaltendes d. h. all¬ 
nächtlich oder doch fast allnächtlich (selte¬ 
ner auch am Tage) auftretendes Einnässen, 
das meist allen Behandlungsmethoden 
trotzend bis zum 5. oder 10. Lebensjahr 
(oder auch länger) bestand, dann nach und 
nach (selten plötzlich) von selbst schwand 
oder: die physiologische Beherrschung des 
Blasenmechanismus durch das Bewusstseins¬ 
organ stellte sich zur rechten Zeit ein, be¬ 
stand längere Zeit, aber früher oder später 
(meist nach Infectionskrankheiten, Traumen 
oder in der Pubertät oder auch ohne 
äusseren Anlass) stellte sich plötzlich Enu¬ 
resis noct. ein, die (ziemlich allnächtlich) 
wochen- und monatelang anhält. 

In der 2. Gruppe tritt die Enuresis noct. 
erst nach dem 5.—7. Jahre ein, wiederholt 
sich in unregelmässigen Intervallen, bis¬ 
weilen in Serien und dauert eventuell 
sporadisch bis ins Alter fort. Die Patienten 
der letzteren Gruppe waren zum grössten 
Theil höchstwahrscheinlich epileptisch. 
In Gruppe I viele hereditär Belastete, 
Neurasthenische, Hysterische, angeboren 
Schwachsinnige. Auch in der Vorgeschichte 
von Dementia praecox, Katatonie, mani¬ 
scher Depression, progressiver Paralyse 
ist Enuresis noct. als ehemalige Kinder¬ 
krankheit häufig erwähnt. Gruppe I kann 
als „Stigma heredit.“ aufgefasst werden. 
Bei Gruppe II kann in foro eventuell die 
Diagnose einer epileptischen Seelenstörung 
erleichtert werden. 

Herr Lilien st ein (Bad Nauheim): 
Ueber die Einflüsse physikalischer 
Factoren auf das centrale und peri¬ 
phere Nervensystem. 

Die Grundlagen der physikalischen 
Therapie müssen physiologische und bio¬ 
logische Gesetze sein. Die meisten physi¬ 
kalischen Factoren, ganz besonders aber 
die in der physikalischen Therapie zur An¬ 
wendung kommenden, wirken durch Ver¬ 
mittelung des Nervensystems, im Gegen¬ 
satz z. B. zur Pharmakotherapie, deren 

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Heilmittel vorzugsweise durch die Blut- 
und Säftecirculation zur Wirkung kommen. 

Es wird im Einzelnen die physiologische 
Wirkung der Wärmezufuhr und Wärme¬ 
entziehung auf das Nervensystem be¬ 
sprochen, dabei auf die neue Technik der 
Wärmebehandlung eingegangen. Als be¬ 
sonders praktisch und wirksam werden die 
einfachen Bier’schen Kasten erwähnt. Dem 
Vortragenden hat sich auch eine einfache 
Heissluftdouche (Joh. Chr. Sander, Chem¬ 
nitz) als zweckmässiger Ersatz der theueren 
Frey’schen Heissluftdouche bewährt. 

Der Wärme- bezw. Kältereiz wirkt häufig 
reflectorisch, z. B. schmerzlindernd, und 
nicht durch directe Einwirkung auf den 
Krankheitsherd. Die Kälte bezw. Wärme¬ 
empfindlichkeit der Applicationsstelle spielt 
hierbei eine untergeordenete Rolle. Häufig 
sind Combinationen von thermischen und 
anderen physikalischen Einflüssen sowohl 
in der Natur als auch in der physikalischen 
Therapie. 

Von den Lichtstrahlen sind alle Arten 
im Stande, auf thierisches Gewebe Einfluss 
auszuüben. Die Indicationen für die ein¬ 
zelnen Farben sind noch nicht hinreichend 
geklärt. Keineswegs ist die Einwirkung 
des Lichtes auf Thiere so gross, wie die¬ 
jenige auf Pflanzen, welch letztere in direct 
proportionalem Verhältniss zur Lichtinten¬ 
sität steht. 

Bezüglich der Elektricität ist noch immer 
nicht der Antheil genau festgestellt, den 
die psychische Beeinflussung an der gün¬ 
stigen therapeutischen Gesammtwirkung hat. 
Die Ansichten anerkannter Autoren gehen 
hier noch weit auseinander. Die Erwar¬ 
tungen, die man an die Anwendung hoch¬ 
gespannter Ströme (Arsonval) geknüpft 
hat, haben sich bisher noch nicht erfüllt. 
Nachdem von Geitel und Elster starke 
Potentialdiflerenzen in der Luft nachge¬ 
wiesen worden sind, ist die Wahrschein¬ 
lichkeit von Einwirkungen derselben auf 
den menschlichen und thierischen Organis¬ 
mus nicht von der Hand zu weisen. Chro¬ 
nisch Nervenkranke scheinen den Einfluss 
der Schwankungen in der Luftelektricität 
stärker zu empfinden. Vortragender berichtet 
über einige Fälle aus der Praxis, die mit 
Bestimmtheit dahingehende Angaben mach¬ 
ten. Auch ein Einfluss der in der Luft 
enthaltenen — der Elektricität, den Ka¬ 
thoden- und Becquerelstrahlen nahestehen¬ 
den — verschiedenen Formen der Aether- 
schwingungen ist wahrscheinlich. Vortragen¬ 
der berichtet über einen Selbstversuch mit 
Radium-Becquerel-Strahlen und demonstrirt 
die noch bestehende Hautnarbe, die noch 

Original from 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 



N uv. uibcr 


Die riier.ijiic der Gegenwart 1903. 1 I 


jetzt, nach 1 3 / 4 Jahren, brennende Empfin- | 
düngen auslöst. 

Bemerkenswerth ist auch der wahrschein¬ 
lich gemachte Einfluss des bewegten mag¬ 
netischen Feldes auf das Nervensystem, 
wahrend der ruhende Magnetismus erwie- 
senermaassen ohne Einfluss ist. 

Im Allgemeinen erscheint der Weg der 
StofTwechseluntersuchungen am Nerven¬ 
system weniger aussichtsreich, als derjenige 
der Durchforschung der functionellen Lei¬ 
stungen. Das Eingreifen des Nervensystems 
in die übrigen Organsysteme ist ganz be¬ 
sonders zu beachten. Die Bedeutung der 
normal-physiologischen Reize für die Er¬ 
haltung des Lebens wird hervorgehoben. 

Herr Zabludowski (Berlin). Zur 
Therapie des Schreibkrampfes. Je 
mehr die Differenzirung der verschiedenen 
Formen der beim Schreiben auftretenden 
Störungen, welche noch immer vielfach 
unter dem Sammelnamen Schreibkrampf 
geführt werden, durchgeführt wird, desto¬ 
mehr kommt man in die Lage, die Therapie 
von Fall zu Fall anzupassen, und dann 
werden die bei der Behandlung zu ge¬ 
winnenden Resultate sich um so besser ge¬ 
stalten. Vortragender verweist hier be¬ 
züglich der Eintheilung in Gruppen auf 
seine früheren in der Volkmann'sehen 
Sammlung klinischer Vorträge veröftent- 
lichte Schrift: Ueber Schreiber- und 
Pianistenkrampf, Leipzig 1901, bei Breit¬ 
kopf & Härtel. 

Von der Schwere des Falles hängt es 
ab, ob auch zu Hülfsmitteln aus dem Ge¬ 
biete der Orthopädie, gewissermassen zu 
Prothesen, Zuflucht genommen wird oder 
nicht. In der That gelingt es bei schweren 
Formen, den Krampfformen im engeren 
Sinne, vermittelst einfacher Apparate, noch 
ein leidlich leserliches Schreiben zu er¬ 
zielen. Zu den der Therapie sonst trotz¬ 
bietenden Formen gehören Ueberreste nach 
apoplektischen Anfällen. Es gelingt noch, 
krallenförmig kontrahirte Finger zur Thätig- 
keit beim Schreiben heranzuziehen. Zablu¬ 
dowski benutzt einen von ihm für diese 
Fälle konstruirten Bleistifthalter. Beim 
Schreiben wird derselbe mit beiden Händen 
gleichmässig in der Schreibrichtung ge¬ 
führt. Es sind grobe Bewegungen der 
Hand; aber schon bei wenig LJebung be¬ 
kommt man eine leicht zu entziffernde 
Schrift. — Bei leichteren Formen, bei 
welchen ein früher stattgefundener apo- 
plektischer Insult sich durch nichts anderes 
kundgiebt, als durch ein Zittern oder einen 
Krampf beim Schreiben, geht man bald 
von den Uebungen mit dem Bleistiftträger 

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zum Schreiben mit einem von Zablu¬ 
dowski konstruirten Federhalter über. 

Bei den Krampfformen, der eigentlichen 
Berufskrankheit, bei welcher nahezu aus¬ 
schliesslich bei der Schreibarbeit ein 
Krampf sich einstellt, primär an den be¬ 
troffenen Fingern oder sekundär durch 
Insuffizienz antagonistischer Muskeln, ge¬ 
lingt es vielfach, eine hemmende Wirkung 
zu erzielen durch Fixirung des Hand¬ 
gelenkes und der Mittelhand vermittelst 
einer ledernen, zum Schnüren eingerichteten 
festen Hülse. Einigen Berufsschreibern 
gelang es, durch die Benutzung dieser 
Hülse in ihrem Berufe weiter zu verbleiben, 
ohne diese Hülse versagte ihnen die Hand 
sofort. — Bei den paralytischen Formen, 
bei welchen ein vollständiges Erlahmen, 
ein Versagen der Hand, beziehentlich 
der Finger zu arbeiten, beobachtet wird, 
bietet gute Dienste die Einschnürung der 
Mittelhand und des Handgelenkes mit einem 
elastischen Gummischlauche. Neben dem 
Halte, den diese Einschnürung giebt, haben 
wir noch mit der Wirkung der durch die¬ 
selbe bedingten Veränderung der lokalen 
Blutvertheilung und Blutgeschwindigkeit, 
sowie der oberflächlichen Spannung der 
Gewebe, der direkten Nervenreize, zu 
rechnen. Bei längerem Schreiben wird 
die Umschnürung, je nachdem sie gut ver¬ 
tragen wird, ein oder zwei Mal entfernt 
und von Neuem angebracht. Anders bei 
den häufigen neuralgischen Formen, welche 
oft die Ausgangsform ausmachen für die 
späteren schweren, mit Tremor oder Krampf 
einhergehenden Formen. Hier, wo Schmerz 
— lokalibirt oder ausgebreitet — das 
störende Moment beim Schreiben ausmacht, 
decken sich die Aufgaben des Arztes mit 
denjenigen der Schreiblehrer und Päda¬ 
gogen. In zweckentsprechendem Sitzen 
und richtiger Haltung des Körpers und 
der Hand beim Schreiben, in der ent¬ 
sprechenden Auswahl der Schreibutensilien, 
dann in der Aneignung des stenogra¬ 
phischen und Schreibmaschinenschreibens, 
liegen die Mittel, die Ueberanstrengung 
btim Sehre ben, beziehentlich dem Ueber- 
gange der leichten Krankheitsformen, der 
neuralgischen und paralytischen, in die 
schweren, die Tremor- und Krampfformen, 
entgegenzuwirken. Dadurch wird unschwer 
erreicht, dass die beim Schreiben zu ver¬ 
brauchende Kraft und Energie wesentlich 
geringer werden. Es werden nur diejenigen 
Muskeln und Nerven in Anspruch genommen 
werden, welche für das Schreiben unum¬ 
gänglich nothwendig werden, und die An- 
und Abspannungen derselben in zweckent- 

Original ffom 

UNIVERSUM 0F CALIFORNIA 



512 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


November 


sprechenden Intervallen stattfinden, somit 
nötige Ruhepausen innegehalten und 
schmerzhafte Druckpunkte genügend ent¬ 
lastet werden. In der rationellen Massage 
hat man ein wirksames Unterstützungs¬ 
mittel bei den angegebenen Behandlungs¬ 
methoden. 

HerrAschaffenburg(Hallea.S.) Straf¬ 
vollzug an Geisteskranken. Die Neu¬ 
ordnung der Strafprocessvorschriften ver¬ 
langt auch eine Revision der Paragraphen, die 
sich auf den Vollzug von Strafen an Geistes¬ 
kranken beziehen. Keiner Aenderung in¬ 
dessen bedarf der § 485 a, der den Vollzug 
der Todesstrafe an Geisteskranken unter¬ 
sagt. Vortragender wirft nun an der Hand 
eines bestimmten Falles die Frage auf, ob 
die Nichtanerkennung des ärztlichen Gut¬ 
achtens der Geschworenen auch die An¬ 
wendung des § 485 a ausschliesst. Auch 
der § 487, der den Vollzug einer Freiheits¬ 
strafe bei eingetretener Geisteskrankheit 
aufschiebt, ist in seiner jetzigen Fassung 
brauchbar. Dagegen ist § 493, die An¬ 
rechnung der Strafzeit, die wegen einer 
Krankheit in einem Krankenhause ver¬ 
bracht wird, der Erläuterung und vom 
Standpunkt des Arztes, der Ergänzung 
bedürftig. Der Strafvollzug an Geistes¬ 
kranken ist vom Standpunkte aller gang¬ 
baren Theorien (als Sühne, Abschreckung, 
Besserung, sittliche Missbilligung) zweck¬ 
los; endlich stört der Kranke die Anstalts- 
disciplin in unerträglicherWeise. Deshalb 
muss er ausgesondert werden. Das Ver¬ 
fahren in Preussen wird als zweckmässig 
und nachahmenswerth geschildert; es sieht 
Ueberweisungen der Kranken an die dazu 
errichteten Beobachtungsabtheilungen auf 
6 Monate vor, bei nicht zu erwartender 
Heilung Ausscheidung aus dem Strafvoll¬ 
zug. Der unheilbare Kranke darf und kann 
nie Object der Rechtspflege sein. Damit 
sind auch rechtlich die vielfach gewünschten 
Adnexe an Strafanstalten zur Dauerbewah¬ 
rung unzulässig, gegen die Vortragender 
auch sonst noch viele Bedenken geltend 
macht. Die Ueberweisung an Irrenanstalten 
ist z. Z. nicht geregelt. Provinzial- und 
städtische Behörden suchen sich oder dem 
Staate die Kosten zuzuschieben, weil die 
Entlassung geisteskranker Verbrecher nicht 
ohne Mitwirkung der Staatsanwaltschaft 
geschehen darf, die Unterbringung also 
nicht des Kranken, sondern der öffent¬ 
lichen Sicherheit wegen nothwendig sei; 
eine zweifellos nur theilweise berechtigte 
Anschauung. Aerztlich bedenklich ist, dass 
bei einer etwaigen Entlassung der Staats¬ 
anwalt sofort wieder die Einziehung zur 

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Abbüssung des Strafrestes verlangt und 
dadurch die Genesung sofort wieder ge¬ 
fährdet. Zu verlangen ist, dass auch die 
in einer Irrenanstalt in unmittelbarem An¬ 
schluss an die Strafe verbrachte Zeit auf 
die Strafdauer eingerechnet wird, und dass 
die Strafverbüssung nicht ohne ärztliche 
Begutachtung fortgesetzt werden darf. 

Herr Wichmann (Marburg): Ueber 
die Nervosität der Lehrer und Leh¬ 
rerinnen. Auf Grund einer Umfrage bei 
den deutschen Lehrern und Lehrerinnen 
erhielt Dr. Wichmann 1085 Antworten 
und zwar 305 von Lehrern, 780 von Leh¬ 
rerinnen. Darunter sind gesund 46 Lehrer 
und 240 Lehrerinnen. Unter den 305 Leh¬ 
rern sind 66 nervös erblich belastet; unter 
den 780 Lehrerinnen 177. Von den erblich 
belasteten Lehrern sind nur 5, d. i. 7,5 %, 
gesund, von den erblich belasteten Lehre¬ 
rinnen sind 25, d. i. 13°/ 0 . gesund. 

Unter den 259 kranken Lehrern und 


540 kranken Lehrerinnen 

kamen 

folgende 

Krankheiten vor: 

Lehrer 

% 

3 

Lehrerinnen 

0 

Organische Herzleiden 

0,9 

Lungen (Rippenfell-)Leiden 

7 

11 

Magen-, Darmleiden . . 

14 

13 

Nasen-, Rachen-, Hals-, 
Ohrleiden. 

23 

20 

Infectionskrankheiten . . 

27 

20 

Verschiedene Krankheiten 

9 

20 

Nervenkrankheiten . . . 

68 

68 

Blutarmuth rsp.Bleichsucht 

0 

42 


Die Seminar- und Examenszeit ist von 
Einfluss auf die spätere Nervosität. 53 Leh¬ 
rer und 82 Lehrerinnen, welche während 
der Examenszeit an nervösen Beschwerden 
gelitten haben, sind später dauernd nerven¬ 
krank geworden. Diese klagen über: 


Kopfdruck .... 

Lehrer 

7. 

. . 60 

Lehrerinnen 

65 

Herzklopfen . . . 

. . 50 

78 

Angstzustände . . . 

. . 49 

37 

Zwangsgedanken . . 

. . 37 

24 


Oft wird der Unterricht dadurch gestört. 
Von den Lehrern haben 54% die Ferien 
verlängert und 43% den Unterricht aus¬ 
gesetzt, von den Lehrerinnen 41 %. Bei 
den Lehrern tritt in 47% der Fälle, bei 
den Lehrerinnen in 41 % die Nervosität in 
den 5 ersten Lehrerjahren auf. Weitere 
Zahlen zeigen, dass die nervöse Belastung 
eine wichtige Rolle spielt. Die Sorge für 
die Angehörigen spielt eine grössere Rolle 
bei den Lehrern als bei den Lehrerinnen. 
Ferner ergab sich, dass nervöse Lehrer 
etwas schneller abgenutzt werden als ner¬ 
vöse Lehrerinnen. Schliesslich fand Wich¬ 
mann, dass die geistige Leistungsfähigkeit 

Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 








November 


Die Therapie der 


der nervösen Lehrer doch noch eine 
grössere ist, als die der nervösen Lehre¬ 
rinnen. Lilien st ein (Nauheim). 

Aus der Abtheilung ffflr Chirurgie. 

Möhring (Cassel) berichtet Ober die 
ambulante Behandlung der tuber¬ 
kulösen Wirbelentzündung und die 
Heilbarkeit der tuberkulösen Kyphose. 
Wenn die Behandlung zur rechten Zeit ein¬ 
setzt und richtig ausgeführt wird, dann ist 
die Sterblichkeit weit geringer, als sie sonst 
angegeben wird. 10% ist die höchste Zahl, 
die Verfasser erreicht hat. Seine Methode 
besteht in einem allmählich gesteigerten 
direkten Druck auf den Gibbus und von vorn 
auf die paragibbären Theile der Wirbelsäule, 
wobei der Druck, entsprechend dem Stadium 
der Erkrankung, dosirt wird. Hierauf kommt 
ein Gypsverband, um sobald als möglich zum 
abnehmbaren Corsett überzugehen. Die j 
Extensionsbehandlung wendet Möhring i 
nur bei Erkrankung der Halswirbelsäule 
an; bei kleinen Kindern genügt das Streck¬ 
bett nach Lorenz, wobei die Beine nicht i 
fixirt werden. Der Ausgleich der Kyphose 
kann in jedem Lebensalter eintreten. Zum 
Schluss demonstrirt Vortragender einen von 
ihm für Erwachsene construirten Apparat, ! 
der in Gesichtslage des Patienten angelegt 
wird. 

In seinem Vortrage über Lage Verän¬ 
derung der Leber und der Brust¬ 
organe weist Oppenheim (Berlin) darauf 
hin, dass das Verschwinden der Leber¬ 
dämpfung nicht auf einer Verschiebung der 
Leber nach oben beruht, sondern auf einer ! 
Drehung dieses Organs um seine frontale 
Achse. Diese Drehung kann nur durch Dick¬ 
darmmeteorismus zu Stande kommen, so 
dass es differentialdiagnostisch bei Ileus von 
Werth sein kann. Das Verschwinden der 
Leberdämpfung zeigt schon früh die begin¬ 
nende Peritonitis an, selbst wenn manchmal 
Puls und Temperatur dem Befund nicht 
entsprechen. Vortragendem ist es gelun¬ 
gen durch Aufblähen des Darmes bei 
Thieren Herzstillstand durch Lungenver- ! 
drängung hervorzurufen und durch Punc- 
tion des Dünndarmes wieder zu beseitigen. 
Darauf beruht auch die Wirksamkeit des I 
Anus praeternaturalis am Dünndarm bei j 
Ileus, während ein solcher am Dickdarm j 
erfolglos bleibt, da dadurch der Druck nach 
oben nicht aufgehoben wird. 

Um die Gefahr bei allgemeiner eitri- j 
ger Peritonitis, den Collaps durch Leer- ' 
pumpen des Herzens, zu beseitigen, macht 1 
Bertelsmann (Cassel) grosse Kochsalz- | 
infusionen (3—3% 1) und sucht auch in | 

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Gegenwart 1903. 513 

der Nachbehandlung durch reichliche Salz¬ 
wasserzufuhr das erweiterte Stromgebiet 
des Splanchnicus zu füllen. Nach seiner 
Ansicht ist die Peritonitis nicht eine Bac- 
teriämie, sondern eine Toxiniämie, welche 
eine Blutung in das Gebiet des Splanchni¬ 
cus und somit ein Leerpumpen des Herzens 
bewirkt. Vortragender hat von 14 Fällen 
7 Fälle zur Heilung gebracht, ausserdem 
noch einen Fall von Fettgewebsnekrose, 
wobei er nicht nur die Bursa omentalis, 
sondern auch das Peritoneum des Pankreas 
eröffnete, um dem Sekret des Letzteren 
1 Abzug zu verschaffen. 

Ebenfalls über günstige Erfolge mit 
grossen Kochsalzinfusionen bei Peritonitis 
berichtet Haberer (Wien). Derselbe de¬ 
monstrirt an einigen Fällen die schäd¬ 
liche Wirkung forcirter Taxisver¬ 
suche bei eingeklemmten Hernien. 

In einem Falle trat Tod durch eitrige Pe¬ 
ritonitis ein, in einem anderen war der 
Bruchsack zerrissen, im 3. Falle war das 
Mesenterium in grosser Ausdehnung vom 
Darm abgerissen, so dass 83 cm Darm re- 
secirt werden mussten. 

Hoffmann (Düsseldorf) sah eine enorme 
acute Magendilatation nach unmässigem 
Genuss von sauren Gurken. Patient erlag 
der Operation. Als Ursache nimmt Vor¬ 
tragender angeborene Atonie des Magens 
und Unmässigkeit im Essen an. 

Zur Casuistik der Pfählungsver¬ 
letzungen berichtete v. Büngner (Hanau) 
über einen Fall, wo dem Patienten eine 
Bohnenstange 21 cm tief durch das For. 
obturatorium in den Leib eingedrungen 
war und die Blase verletzt hatte. Der Fall 
kam zur Heilung, ohne dass die Blase ge¬ 
näht wurde, wie Vortragender überhaupt 
bei extraperitonealer Verletzung die Blasen¬ 
naht widerräth. 

Zum Schluss des letzten Sitzungstages 
sprach Kuhn (Cassel) über perorale Intu¬ 
bation und pulmonale Narkose, und de- 
monstrirte seinen zu diesem Zwecke con¬ 
struirten Apparat an Patienten. Sind auch 
die Vorzüge einer solchen Narkose ganz 
bedeutend, wie sie ja jeder Chirurg, der sie 
einmal angewendet hat, bestätigen wird, so 
ist sie in ihrer jetzigen Form kaum geeignet 
Gemeingut aller Aerzte zu werden. Schon 
dem Vortragenden, der die Anwendung an 
den Patienten einige Male erprobt hatte, 
gelang die Einführung der Tuben schwer, 
und wie sollte das erst beim ersten Male, 
bei mangelhafter Uebung werden? Rich¬ 
tiger wäre schon der Vorschlag, bei Ope¬ 
rationen im Rachen, Kehlkopf etc. die 
Tracheotomie zu machen und mit der 

65 

Original fro-m 

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514 


November 


• Die Therapie der 


Trendelenburg’schen Canüle zu narkoti- 
siren. Eine Tracheotomie ist weniger ge¬ 
fährlich als das Einführen der Tuben bei 
narkotisirtem Patienten, da man kaum weiss, 
ob der Tubus wirklich im Larynx oder im 
Oesophagus steckt Bei dem einen der 
vorgeführten Patienten schien er thatsäch- 
lich im Oesophagus zu stecken. 

Leo Caro (Berlin). 

Aus der Abtheilung für Gynäkologie. 

Herr B. Krönig (Jena) erstattete das 
Referat über die Beziehungen der functio- 
nellen Nervenkrankheiten zu den 
weiblichen Geschlechtsorganen in 
ätiologischer, diagnostischer und therapeu¬ 
tischer Hinsicht. 

Erkrankungen der Generationsorgane, 
vor Allem diejenigen, welche mit schweren 
Blutverlusten und langdauernden Entzün¬ 
dungen der Adnexe (gonorrhoische Pelvi- 
peritonitiden) einhergehen, können un¬ 
mittelbar einen schweren Erschöpfungs¬ 
zustand des Nervensystems bedingen, also 
die Neurasthenie hervorrufen. 

Auch die physiologischen Funktio¬ 
nen der Generationsorgane, gehäufte 
Schwangerschaften und Geburten, können 
ein prädisponirendes Moment für die Ent¬ 
stehung der Neurasthenie darstellen. 

Solange die Begriffsbestimmung der 
Hysterie bei den verschiedenen Autoren 
eine so differente ist, wird kaum eine Eini¬ 
gung der Meinungen darüber erzielt wer¬ 
den, welchen Einfluss die physiologischen 
und pathologischen Funktionen der Gene¬ 
rationsorgane auf die Entstehung der 
Hysterie haben. 

Auch bei der engeren Fassung der 
Hysterie als einer Psychose muss auf Grund 
der Beobachtungen am Krankenbett zuge¬ 
geben werden, dass Krankheiten der Gene¬ 
rationsorgane oft eine bis dahin latent ver¬ 
laufende Hysterie manifest werden lassen, 
und ferner, dass Erkrankungen der Gene¬ 
rationsorgane dem hysterischen Bilde oft 
eine ganz bestimmte Färbung verleihen. 
In gleicher Weise wirkt auch der physio¬ 
logische Ablauf der Funktionen der Gene¬ 
rationsorgane, z. B. Beginn der Pubertät, 
Menstruation, Geburt, das Abklingen der 
Geschlechtsreife (das Klimakterium). 

Die Anschauung, dass der mangelnde 
Geschlechtsverkehr beim Weibe das Ner¬ 
vensystem ungünstig beeinflusst und die 
Quelle hysterischer und neurasthenischer 
Beschwerden abgiebt, ist wohl ganz zu 
verneinen. Der manchmal beobachtete 
günstige Einfluss der Ehe auf eine be- 

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Gegenwart 1903. 

stehende Nervosität ist in ganz anderen 
Ursachen psychischer Natur zu erblicken. 

Der Geschlechtsabusus, die Mastur¬ 
bation, der Präventivverkehr, trägt bei der 
Frau viel seltener als beim Manne zur 
Entstehung neurasthenischer und hyste¬ 
rischer Zustände bei. 

Da bei einer bestehenden Hysterie und 
Neurasthenie sich die Krankheitserschei¬ 
nungen manchmal mit besonderer Inten¬ 
sität und Dauer in der Gegend der Geni¬ 
talsphäre lokalisieren, so können im Einzel¬ 
fall oft grosse diagnostische Schwierig¬ 
keiten auftauchen, ob das bestehende Krank¬ 
heitssymptom als eine Theilerscheinung 
der functioneilen Nervenkrankheit zu be¬ 
trachten ist, oder ob es durch irgend 
welche örtliche genitale Störung bedingt ist. 

Die Schwierigkeiten in diagnostischer 
Beziehung bestehen besonders dann, wenn 
örtliche Schmerzen sich mit Anomalien der 
Generationsorgane vergesellschaften. 

Der hysterische und neurasthenische 
Schmerz als solcher hat keine specifische 
Empfindungsqualität. Aus der Art, der 
Dauer, der Wandelbarkeit der Schmerz¬ 
empfindung kann nicht die Diagnose „hys¬ 
terischer Schmerz“ abgeleitet werden. 

Bei der grossen Verbreitung hysteri¬ 
scher und neurasthenischer Beschwerden 
einerseits, bei der Häufigkeit, mit welcher 
wir andererseits mittelst der verfeinerten, 
gynäkologischen Diagnostik Abweichungen 
vom Normalen an den Generationsorganen 
nachweisen können, darf es uns nicht 
Wunder nehmen, wenn oft irrthümlicher 
Weise ein ursächlicher Zusammenhang 
zwischen der Genitalanomalie und den 
Krankheitserscheinungen angenommen wird, 
wo nur eine zufällige Coincidenz der Er¬ 
scheinungen vorliegt. 

Durch eine solche irrthümliche Auf¬ 
fassung ist manche Genitalanomalie in 
ihrer klinischen Bedeutung zu hoch ein¬ 
geschätzt worden. Manche Krankheits¬ 
erscheinungen, welche man früher auf 
bestimmte Veränderungen der Genitalien 
zurückführen zu müssen glaubte, werden 
neuerdings in der Mehrzahl der Fälle als 
Theilerscheinung einer bestehenden Hysterie 
und Neurasthenie aufgefasst, 
so die Dysmenorrhoe, 
die Hyperemesis gravidarum, 
die vasomotorischen und trophischen 
Störungen, welche oft mit Beginn des 
Klimakteriums einsetzen. 

In therapeutischer Beziehung ist zu er¬ 
wähnen: 

Eine bestehende Neurasthenie und Hy¬ 
sterie schliesst keineswegs eine örtliche 

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November Dir Therapie d«-r 

Behandlung etwa gleichzeitig vorhandener 
genitaler Erkrankungen aus. 

Eine bestehende Hysterie und Neu¬ 
rasthenie kann sogar unter bestimmten Be¬ 
dingungen die Indication zu einem ört¬ 
lichen genitalen Eingriff abgeben in Fällen, 
in welchen man bei einem normalen, ge¬ 
sunden Nervensystem noch exspectativ 
verfahren würde; so wird man z. B. bei 
einem Myom, welches Menorrhagien hervor¬ 
ruft, einer hysterischen und neurastheni- 
schen Frau schon eher die operative Ent¬ 
fernung der Geschwulst anrathen, weil 
gerade lang anhaltende Blutungen be¬ 
sonders schädlich auf den hysterischen und 
neurasthenischen Zustand einwirken. 

Im Allgemeinen sollen aber bei einer 
bestehenden Hysterie und Neurasthenie 
örtliche therapeutische Maassnahmen an 
den Genitalien eingeschränkt werden. Er¬ 
fordert eine gleichzeitig bestehende geni¬ 
tale Erkankung eine Behandlung, so ist in 
den Fällen, in welchen die Heilung ent¬ 
weder durch eine Operation oder durch 
langandauernde nichtoperative Behandlung 
erreicht werden kann, im Allgemeinen der 
einmalige operative Eingriff der lang¬ 
andauernden örtlichen Behandlung vorzu¬ 
ziehen. 

Die Annnahme, dass conservative Ope¬ 
rationen an den Genitalien im Vergleich 
zu Operationen an anderen Organen 
einen besonders schweren psychischen In¬ 
sult darstellen, welcher direct Hysterie 
oder Neurasthenie hervorruft, ist entschie¬ 
den zu verneinen. 

Die Erkenntniss, dass früher die klini- 
nische Bedeutung mancher genitaler Ano¬ 
malien, vor Allem des Emmet’schen Risses, 
der Lagenanomalie des Uterus u. s. w. über¬ 
schätzt worden ist, legt uns die Verpflich¬ 
tung auf, in allen Fällen, bei welchen geni¬ 
tale Anomalien mit örtlichen und allge¬ 
meinen nervösen Symptomen verbunden 
sind, vor einer örtlichen Behandlung mög¬ 
lichst festzustellen, wie weit ein Abhängig- 
keitsverhältniss im Einzelfalle vorliegt. 

Es wird die Erkenntniss, dass neura- 
sthenische und hysterische Beschwerden 
sich oft in der Genitalsphäre lokalisiren, 
die Zahl der Operationen zur Hebung ge¬ 
wisser genitaler Anomalien einschränken. 
Vor allem sollen Operationen zur Hebung 
eines alten Cervixrisses (Emmet’scher Riss), 
einer Lageveränderung des Uterus erst 
dann erwogen werden, wenn eine län¬ 
gere Beobachtung ergeben hat, dass die 
vorhandenen Beschwerden auch wirklich 
auf die Anomalie der Genitalien zurück¬ 
zuführen sind. 

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Gegenwart 1903. 515 

Wenn wir auch bei den oben erwähnten 
hysterischen Krankheitserscheinungen 
Dysmenorrhoe, Hyperemesis gravidarum, 
nervöse Erscheinungen im Klimakterium — 
entsprechend der Auffassung dieser Symp¬ 
tome als hysterische Theilerscheinungen, 
die örtliche Behandlung zu Gunsten der 
allgemeinen antinervösen Behandlung zu¬ 
rücktreten lassen müssen, so ist doch oft 
die locale Behandlung — Discision des 
Muttermundes bei Dysmenorrhoe, Abortus 
provocatus bei schwersten Fällen von 
Hyperemesis — nicht zu entbehren. 

Ebenso ist die Einleitung des künst¬ 
lichen Abortus bei gewissen schweren 
Formen der Hysterie und bei schweren 
neurasthenischen Zuständen in Erwägung 
zu ziehen, wenn jede antinervöse Behand¬ 
lung ohne Erfolg ist. 

Die operative Sterilisirung der Frau ist 
nur dann auszuführen, wenn eine Frau 
nahe dem Klimakterium in Folge zahl¬ 
reicher aufeinander folgender Geburten 
schwere Erschöpfungszustände des Nerven¬ 
systems zeigt. 

Der Correferent Herr A. Eulenburg 
war durch Krankheit am Erscheinen ver¬ 
hindert, seine Leitsätze lagen gedruckt 
vor. Er betonte besonders, dass Neu¬ 
rasthenie und Hysterie — welche weit 
schärfer als es bisher geschieht, ausein¬ 
ander zu halten seien — nicht selten in ange¬ 
borenen zum Theil ererbten Anlagefehlern 
des Centralnervensystems ihre Grundlage 
finden, bestreitet aber, dass von den Geni¬ 
talerkrankungen des Weibes bei localen 
Erkrankungen Einflüsse ausgehen können, 
die unmittelbar als solche, sei es direct 
oder reflectorisch die Neurosen verur¬ 
sachen können. Hiergegen spielen patho¬ 
logische Zustände des weiblichen Genital¬ 
apparates eine grosse Rolle bei der Aus¬ 
lösung der secundären Betriebsstörungen 
des Nervensystems. Als Hauptsymptome 
der Neurasthenie erkennt er abnorme 
Reizbarkeit und excessive Erschöpfbarkeit 
auf somatischem wie auf psychischem Ge¬ 
biete. Für die Hysterie kann nicht eine 
bestimmte Symptomgruppe (ein sogenanntes 
hysterisches Stigma) pathognomisch sein, 
allein die Beobachtung des häufigen, oft 
plötzlichen Wandels und Wechsels im 
Krankheitsbild, die Loslösung selbst der 
schwersten functionellen Störungen von 
entsprechenden örtlichen Veränderungen, 
die Inkohärenz und scheinbare Willkür- 
lichkeit der Symptommischung, vor allem 
das Studium des hysterischen Charakters 
mit seiner krankhaften Neigung zur Sug¬ 
gestion, seiner Wandelbarkeit, Willens- 


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516 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


November 


schwäche u. s. w. lassen diese Psychose 
erkennen. Analog der sexualen Neura¬ 
sthenie des Mannes giebt es eine sexuale 
Neurasthenie und sexuale Hysterie des 
Weibes, von denen erstere durch Sensibi- 
litäts- und Secretionsstörungen im Bereiche 
der Genitalorgane charakterisirt ist, bei 
der letzteren hingegen handelt es sich ur¬ 
sprünglich um krankhafte Bewusstseins¬ 
veränderungen und davon herrührende 
secundäre Manifestationen, also um psy¬ 
chogen erzeugte und auf psychischem 
Wege realisirte Krankheitserscheinungen. 

In therapeutischer Beziehung er¬ 
wachsen natürlich aus dem Wandel der 
diagnostischen Anschauungen auch ent¬ 
sprechend veränderte Aufgaben und Ziele. 
Es kann selbstverständlich nicht davon die 
Rede sein, bei Bestehen der grossen 
functionellen Neurosen jede gynäkologische 
Lokalbehandlung, speciell jede operative 
Behandlung als unnütz oder schädlich 
unter allen Umständen zu verwerfen und 
den Arzt lediglich auf die Gesammtbehand- 
lung der Neurasthenie, der Hysterie u. s. w. 
als solcher einschränken zu wollen. Ganz 
abgesehen von der Häufigkeit rein com- 
plicirender oder coincidirender Genital¬ 
erkrankungen im Verlaufe der grossen 
Neurosen, würde eine solche generelle 
Verzichtleistung auf örtliche Genitalbehand¬ 
lung überhaupt viel zu weit gehen. 

Aber allerdings werden wir uns bei 
jedem örtlichen Eingriff, zumal operativer 
Natur, noch mehr als bisher die Frage 
vorzulegen haben, was damit erstrebt und 
erreicht werden soll; ob eine palliative 
oder kurative Einwirkung auf genuine 
Lokalsymptome, als Theilerscheinungen des 
nervösen Gesammtleidens, oder als Aus¬ 
gangs- und ^ Auslösungsstätten nervöser 
Reizzustände (Reflexepilepsie, hysterische 
Reflexkrämpfe u. s. w.) — was immerhin 
verhältnissmässig selten sein dürfte. In 
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, 
zumal bei Hysterischen, haben wir auch 
jede Form örtlicher Genitalbehandlung 
wesentlich nach Maassgabe ihrer allge¬ 
meinen neuropsychischen Rückwirkung, 
also als essentiell psychisches Heilagens 
zu bewerthen und zu beurtheilen. Aus 
diesem Gesichtspunkte kann jeder einzelne 
Akt lokaler Behandlung, jeder operative 
Eingriff unter Umständen auch bei Hyste¬ 
rischen gerechtfertigt sein (soweit er dem 
ne noceamus Rechnung trägt); doch wird 
man in der Mehrzahl hierher gehöriger 
Fälle mit einer individuell angepassten All¬ 
gemeinbehandlung, ohne oder mit nur einem 
Minimum lokaler Eingriffe, im Grossen und 

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Ganzen weiterkommen und nicht nur vor¬ 
übergehend bessere, sondern auch solidere 
und dauerndere Erfolge zu gewärtigen 
haben. Namentlich gerade bei den Formen 
der sexualen Neurasthenie und sexualen 
Hysterie ist — ebenso wie bei der ent¬ 
sprechenden Form sexualer Neurasthenie 
des Mannes — vor einem Uebermaasse 
genitaler Lokalbehandlung und überhaupt 
| vor einem allzu tiefen Eingehen auf die 
örtlichen Beschwerden aus psychischen 
Gründen meist entschieden zu warnen, 
i Eine therapeutische wie schon früher dia¬ 
gnostische Verständigung zwischen Frauen- 
; und Nervenärzten erscheint gerade in der¬ 
artigen Fällen schon im Interesse voller 
! Beruhigung der Kranken besonders häufig 
1 geboten. 

In der Diskussion weist Wille auf die 
Schwierigkeit der Diagnosenstellung hin; 
erleichtert wird diese dadurch, dass für die 
Hysterie bestimmte Stigmen bestehen, bei 
Neurasthenie und noch mehr bei Nervosi¬ 
tät fehlen diese objectiven Symptome. Ge¬ 
steigerte Patellarreflexe, Fehlen der Con- 
junctivalreflexe findet sich auch gewöhn¬ 
lich bei Neurasthenie, hingegen nicht das 
Fehlen des Gaumenreflexes. Die Ovarie 
ist kein eindeutiges Zeichen. Sehr wich¬ 
tig ist hingegen zur Sicherung der Dia¬ 
gnose eine genaue Aufnahme der Anam- 
I nese. Folgende vier Zeichen werden fast 
stets angegeben: Vielseitigkeit, Wechsel 
der Beschwerden, Abhängigkeit von Ge- 
| müthsbewegungen und endlich die Ueber- 
treibung. Deshalb ist die Frage: „werden 
I die Schmerzen nach Aerger stärker?“ 
sehr wichtig. Bei Bejahung kann man 
stets ein Nervenleiden diagnosticiren, und 
in diesem Falle ist natürlich ein operativer 
Eingriff contraindicirt. B. benutzt daher 
Fragebogen, derselbe nimmt Rücksicht 
auf Genitalstörungen und nervöse Be¬ 
schwerden, die ersteren bestehen in Un¬ 
regelmässigkeit der Menstruation, Sterilität, 
Vorfall etc., endlich in einem subjectiven 
charakteristischen Gebärmutterschmerz. 
Viel grösser ist die Zahl der nervösen 
Beschwerden. 

Menge betont, dass die Nervosität viel 
häufiger sei als die echte Hysterie bei 
gynäkologischen Erkrankungen. Klinisch 
bedeutungsvoll ist vor allem die Rück¬ 
wärtsverlagerung des Uterus, M. hält sie 
unter allen Umständen für pathologisch, 
denn bei dieser ist fast stets eine Neigung 
zum Descensus vorhanden, ferner kann der 
Uterus auch ohne Descensus incarceriren, 
und dann beobachten wir häufig An¬ 
schwellung des Uterus, welche nach der 

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November 


517 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Aufrichtung zurückgeht, endlich erschwert 
die Retroflexio die Conceptionsfähigkeit 
und verursacht durch Verlagerung des 
Ovarium Schmerlen beim Coitus. Alles 
dieses weist auf eine pathologische Lage 
hin, wie weit jedoch die Beschwerden eine 
Folge dieser Lageanomalie sind, ist eine 
andere Frage. Die Beschwerden sind 
allerdings meist die Ursache einer Nerven¬ 
erkrankung. Die Emesis gravidarum sieht 
M. als eine Reflexneurose an; vielleicht 
gehen am Endometrium derartige Ver¬ 
änderungen vor sich, die reflectorisch das 
Erbrechen auslösen. Häufig findet sich 
neben der Dysmenorrhoe ein Ovulations¬ 
schmerz, der unabhängig von dem Men¬ 
struationsschmerz ist. 

Binswangen Eulenburg hält die 
Hysterie für eine relativ seltene Erkran¬ 
kung, dieses hängt von der Definition der 
Hysterie ab, davon, was wir unter Hysterie 
verstehen. Die Mehrzahl der nervösen Er¬ 
krankungen funktioneller Art entstehen auf 
dem Boden der ererbten Prädisposition. 
Syphilis, allgemeine Tuberkulose, Alkoho¬ 
lismus bewirken eine partielle Nerven- 
schädigung, welche sich später durch funk¬ 
tionelle Aberration kundgiebt. Analog 
können Schädigungen in der frühesten 
embryonalen Entwickelung wirken. So 
kann z. B. Epilepsie entstehen. Diese 
Krankheit kann aber selbstverständlich auch 
später erworben werden. Die nervöse 
Constitution besteht in einer verringerten 
Widerstandskraft der Individuen, sie wirkt 
jedoch ganz verschiedenartig in den ver¬ 
schiedenen funktionellen Systemen. Hy¬ 
sterisch sind alle jene Krankheitserschei¬ 
nungen, die in einer Störung des psycho¬ 
physischen Gleichgewichts der corticalen 
Region bestehen. Auf eine psychologische 
Grundformel lässt sich die Hysterie nicht 
zurückführen, die Mehrzahl der hysteri¬ 
schen Symptome sind psychogen und be¬ 
ruhen auf einer Steigerung der Empfind¬ 
lichkeit, andere aber dokumentiren sich 
durch einen Ausfall der Empfindungen, 
hierher gehört die halbseitige Sensibilitäts¬ 
störung. Zur Feststellung ist die gleich¬ 
zeitige Berührung beider Seiten mit Steck¬ 
nadeln wichtig. Dieses Symptom findet sich 
bei der einfachen Neurasthenie nicht. Eine 
scharfe Grenze lässt sich jedoch zwischen 
Neurasthenie und Hysterie nicht ziehen, 
und besonders Traumen können Hystero- 
Neurasthenie bedingen. Wahre Hyper- 
aesthesien lassen sich sehr schwer fest¬ 
stellen, viel leichter natürlich Abschwächung 
der Empfindlichkeit. Sehr wichtig sind 
für die Diagnosenstellung der Hysterie die 

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sogenannten Mitempfindungen; Schmerz an 
zwei getrennten Stellen bei Berührung 
einer Stelle. Der zweite Punkt, welcher 
bei Hysterie zu beobachten ist, ist der 
hysterische Charakter mit den Schwan¬ 
kungen der Affecterregbarkeit. Gerade bei 
Hysterischen warnt B. vor der Aufnahme 
einer Anamnese in dem Sinne, wie es 
Wille thut, denn hierdurch werden hyste¬ 
rische Beschwerden sicher hervorgerufen. 

Bei Hysterie finden sich am häufigsten ge¬ 
mischte wandelbare Schmerzen, sie sind 
ein Theil der pathologischen Affecterreg¬ 
barkeit. Wichtig ist die Ablenkbarkeit des 
Schmerzes, der psychische Schmerz ist 
durch Erregung der Aufmerksamkeit ab¬ 
lenkbar; psychotherapeutisch lässt sich 
dieses benutzen. Sehr wichtig sind für die 
Diagnose der Hysterie die Abasie und 
Astasie, die Kranken können im Liegen 
die Beine richtig bewegen, nicht aber beim 
Gehen und Stehen. Lähmung durch Vor¬ 
stellung findet sich ebenfalls bei Hysterie. 
Latente Hysterie ist ein unglücklicher Aus¬ 
druck, es soll heissen, eine Hysterie be¬ 
steht, lässt sich aber nicht nachweisen. 

Die hysteropathische Disposition wäre 
allein als latente Hysterie zu bezeichnen. 
Allerdings muss man schwere und leichte 
Hysterie unterscheiden, erstere und mittel¬ 
schwere Formen sind am häufigsten, sie 
bilden die sogenannte vulgäre Hysterie. 

Veit: Castration und operative Sterili- 
sirung ist bei nervösen Kranken nur dann 
auszuführen, wenn sie auch bei nicht ner¬ 
vösen zu empfehlen ist. Sociale schlechte 
Verhältnisse dürfen nie einen Grund ab¬ 
geben, eine Kranke anders zu behandeln, als 
es objectiv nöthig ist. Für die Retroflexio 
uteri gilt dasselbe, die nervöse Erkrankung 
darf nie die Indication für den operativen 
Eingriff abgeben; wir müssen daher vor 
Allem die Lageveränderungen vornehmen, 
ohne dass es die Kranke bemerkt, schwin¬ 
den alsdann die Beschwerden nicht, so 
sind sie nicht abhängig von der gynäko¬ 
logischen Erkrankung. Die Schwierigkeit 
für uns besteht in der Diagnosenstellung, 
wir müssen daher als Gynäkologen mehr 
die Werke der Neurologen studiren. 

Schäffer: Im Vordergrund des Inter¬ 
esses steht nicht die Hysterie, sondern die 
Hysteroneurasthenie. Die Kranken sind 
vor allem allgemein zu behandeln, aber 
auch lokal, so ist z. B. die Retroflexio uteri 
zu behandeln. Eine spastische Contraction 
des inneren Muttermundes ist nicht allein 
die Ursache der dysmenorrhoischen 
Schmerzen, vielmehr sind es vasomoto¬ 
rische Störungen, welche die Schmerzen 

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518 


Die Therapie der Gegenwart 1903." 


November 


hervorrufen, denn bei zeitlich möglichst 
ausgedehnter Dilatation des Uterus 
schwindet der Schmerz, und bei Blutunter¬ 
suchung an der Portio weist man alsdann 
deutlich eine Erweiterung der Gefässe 
nach. 

v. Wild: Der Streit der Retroflexio- 
behandlung wird den Weg gehen, wie es 
bei vielen Operationen geht, viele Fälle 
verursachen zweifellos Beschwerden und 
müssen behandelt werden. Die gynäko¬ 
logische Behandlung der Dysmenorrhoe 
soll gleichfalls vorgenommen werden. 
Wichtig ist, dass man jungen Mädchen 
und jungen Frauen eine ihnen zusagende 
befriedigende Thätigkeit anräth. 

Krönig: Die Wichtigkeit der Dis¬ 
kussion lag in der Feststellung, dass sich 
das Krankheitsbild zwischen Hysterie und 
Neurasthenie nicht abgrenzen lässt, sondern 
dass sich die Kreise vielfach schneiden. 
Die Gynäkologen wollen eben so gut das 
Beste für die Kranke wie die Neurologen, 
und unser Bestreben ist es, nicht leicht¬ 
fertig mit Operationen vorzugehen. Auch 
wir sind in der Lage, oft gynäkologisch 
die Kranken zu heilen, die bei neurologi¬ 
scher Behandlung nicht Erfolg hatten, 
namentlich wenn erschöpfende Blutungen 
die Ursache der Neurasthenie sind. Die 
Suggestion werden wir bei der Behand¬ 
lung nicht entbehren können. Die Emesis 
gravidarum, sicher aber die Hyperemesis 
ist ein rein hysterisches Symptom; die Ur¬ 
sache, warum sie gerade in der Schwan¬ 
gerschaft auftritt, wissen wir nicht. 


werthen sind, nicht die fixirten. Während 
Corpus-, Cervixcatarrh, Endometritis fun- 
gosa, atypische Blutungen bei alter Retro- 
versio-flexio nicht Folge der Lageverände¬ 
rung sind, ist dies die durch Stauungs¬ 
erscheinungen in der Wand des Uterus 
bedingte Hyperplasie desselben, bezüglich 
die Metritis chronica. Auch bei definitiver 
Heilung der Lageveränderung bleibt die 
Metritis parenchymatosa bestehen mit den 
von ihr abhängigen Beschwerden und 
Symptomen (unheilbare spärliche Menses, 
Dysmennorrhoe, Sterilität). Gegenüber den 
bedeutungslosen angeblichen örtlichen Be¬ 
schwerden bei Retroflexio sind die reflec- 
torischen Symptome (Kopfschmerz, Magen¬ 
druck und Krampf, deprimirte Gemüths- 
störung etc.) directe Folge der Lagever¬ 
änderung. Obstipation wird durch Be¬ 
handlung der Retroflexio nicht geheilt, aber 
die schwere Defäcation nach Hebung der 
Druckempfindlichkeit der hinteren Wand 
des retroflectiren Uterus durch Correctur 
der Lage und Pessar. Ein zu behandeln¬ 
des Symptom der Retroflexio ist auch 
die habituelle Frühgeburt in den späteren 
Schwangerschaftsmonaten. — Vortragender 
steht ganz auf dem Küstner'sehen Stand¬ 
punkt, jede bewegliche Retroflexio bei der 
geschlechtsreifen Frau zu behandeln, auch 
wenn sie keine Symptome macht oder wenn 
diese noch nicht erkannt sind, denn sie ist 
eine Gleichgewichtsstörung der Becken¬ 
organe, welche, sich selbst überlassen, stets 
zum Descensus oder Prolapsus führt oder 
sich verschlimmert. Daesein therapeutischer 
Denkfehler ist die Behandlung eines als 
solchen erkannten Leidens von der Schwere 
der Symptome abhängig zu machen, ist es 
nicht unmodern, sondern bleibt logisch 
und zeitgemäss, die Retroflexio Uteri, auch 
diejenige ohne Symptome, zu behandeln. 

v. Guörard: Sind Ventrifixur und 
Vaginifixur im gebärfähigen Alter 
zu verwerfen? Wenn auch die Fixation 
der Gebärmutter keine normale Lage 
schafft, so darf man dennoch nicht aus 
theoretischen Gründen die Operation grund¬ 
sätzlich verwerfen. Bei Ventrifixur sind 
Geburtsstörungen vorhanden, ebenso wie 
bei Vaginifixur, wenn die Fixation zu fest 
ausgeführt wurde. So musste v. Guörard 
in einem Falle eine Laparotomie ausführen, 
bei der von anderer Seite bei einer Ventri¬ 
fixur der Uterus durch 14 Fäden befestigt 
war. Bei geringerer Fixation durch 2 bis 
3 Fäden unterhalb des Fundus sind keine 
Geburtsstörungen wahrscheinlich. — Eine 
Verwachsung des Uterus findet allerdings 
stets statt, auch wenn man den Uterus 


Koetschau (Köln): Ist es unmodern, 
die uncompiicirte Retroflexio Uteri 
zu behandeln? Während im letzten Jahr¬ 
zehnt das Interesse für die Retroflexio 
uteri sich vorwiegend um die Frage drehte, 
wie man am sichersten den Uterus fixiren 
kann, wurde die klinische Bedeutung der 
Lageveränderung nur seltener berührt. 
Die Autoren, unter diesen in allerjüngster 
Zeit Pfannenstiel warnen vor Ueber- 
schätzung der klinischen Bedeutung der 
Retroflexio und wollen diese nicht zum 
Gegenstand der lagecorrigirenden Behand¬ 
lung machen, wenn sie keine Complicationen 
aufweist. Letztere werden als Quelle der 
Beschwerden angegeben, nicht die Lage¬ 
anomalie selbst. Koetschau theilt die 
Ansicht von der Symptomlosigkeit der 
Retroversio-flexio nicht; er bespricht ein¬ 
gehend die Beschwerden und Complica¬ 
tionen und betont, dass zur Feststellung 
der Symptomatologie der Retroflexio nur 
die Fälle beweglicher Retroflexion zu ver- 

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519 


November Die Therapie der 

unterhalb der Wunde, also Peritoneum auf 
Peritoneum annäht. Die Resultate sind 
folgende: Gudrard hat 57 Geburten nach 
Ventrifixur beobachtet. Bei 2 Frauen 
waren Recidive der Lageanomalie ein¬ 
getreten. 51 Geburten verliefen glatt. 

5 mal wurde die Zange angelegt. 1 mal 
trat eine sehr schwere Atonie ein (bei der¬ 
selben Patientin war bei einer früheren 
Geburt auch schon eineAtonie aufgetreten). 

41 mal beobachtete er Geburten nach Va- 
ginifixur. 4 Beckenausgangszangen mussten 
angelegt werden, die übrigen Geburten 
verliefen glatt Allerdings war der Befund 
während der Schwangerschaft wiederholt 
charakteristisch für die Vaginifixur. Eine 
Steigerung von Fehlgeburten konnte Gue- 
rard nicht beobachten. Guerard kommt 
zu dem Schlüsse: Nach einer wirklich 
sachgemäss ausgeführten Ventri¬ 
fixur oder nach einer wirklich sach¬ 
gemäss ausgeführten Vaginifixur 
sind Geburtsstörungen nicht zu be¬ 
fürchten. Falk (Berlin.) 

Ans der Versammlung abstinenter Aerzte. 

Wie alljährlich hatte auch auf der 
Casseler Versammlung der Verein absti¬ 
nenter Aerzte seine Mitglieder zu einer 
Tagung zusammenberufen und durch die , 
geschickte Wahl der Themata allgemeinstes j 
Interesse veranlasst. Prof. Rosemann j 
(Bonn) sprach über den. Alkohol als Nah- I 
rungsstoff, Dr. Keferstein (Göttingen) j 
über die Wirkung grosser Flüssig- | 
keitsmengen auf das Herz. 

Ersterer führte Folgendes aus: Die 
Frage, ob der Alkohol als Nahrungsstoff 
betrachtet werden kann, ist von weittra¬ 
gender Bedeutung. Theoretisch betrachtet 
kommt es darauf an, ob ein Stoff, der in 
grossen Mengen ein Gift ist, auch giftig 
wirkt, wenn er in kleinen Dosen dem 
Körper zugeführt wird. In den letzten 
Jahren hat sich das Material so geklärt, 
dass die Frage heute zu entscheiden ist. 
Zunächst handelt es sich darum, welche 
Eigenschaften ein Stoff besitzen muss, um 
als Nahrungsmittel zu gelten. Zu den 
Stoffen, die zum Aufbau der lebenden 
Zellen unbedingt nöthig sind, gehört der 
Alkohol allerdings nicht, und wir können 
ihn ohne jeglichen Schaden entbehren. 
Per Alkohol ist aber unstreitig ein Ver¬ 
tretungsstoff, er kann als nothwendig gel¬ 
tende Nahrungsstoffe ersetzen, weil er 
chemische Spannkraft besitzt. Wenn aber 
ein Körper chemische Spannkraft giebt, 
dann kann er theoretisch als Nahrungs¬ 
stoff gelten. Man hat indessen bestritten, 

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Gegenwart 1903. 

dass der Alkohol im Körper verbrenne, 
auch das ist durch die Versuche von Binz. 
Atwater und Benedict widerlegt. Ferner 
wird behauptet, der Alkoholgenuss sei von 
lähmenden Wirkungen begleitet und der 
Körper verbrenne darum andere Stoffe in 
minderem Maasse. Dieser Einwand ist 
wissenschaftlich nicht haltbar, wenngleich 
der Alkohol in grossen Mengen lähmende 
Erscheinungen hervorruft, denn man müsste 
von dieser angeblichen Lähmung der 
; Lebensvorgänge auch an den Lebens- 
| äusserungen der Versuchspersonen etwas 
! bemerken. Es wäre nun denkbar, dass 
| die chemische Spannkraft minderwerthig 
! wäre, der Alkohol keine eiweisssparende 
| Kraft besässe. Neumann’s, Clopatt’s 
I und des Redners eigene Versuche ergeben 
| demgegenüber, wie die Stickstoflfbilanz 
| nachweist, dass auch der Alkohol eiweiss- 
| sparend ist, dass er mithin in jeder Bezie- 
! hung sich den andern Nahrungsstoffen, 
j den Kohlehydraten und Fetten, vollständig 
I gleich verhält. Ist er aber auch praktisch 
| werthvoll, schädigt er nicht nebenher als 
Gift? In grossen Dosen unzweifelhaft, in 
geringeren indessen nach Rosemann’s 
Meinung nicht. 

Bei der Frage nach der schädlichen 
Wirkung des Alkohols ist aber nicht bloss 
die absolute Menge des aufgenommenen 
Alkohols in Betracht zu ziehen, sondern 
auch die Form in der er genossen wird. 
Gerade hierin, in der Concentration des¬ 
selben in den verschiedenen alkoholischen 
Getränken liegt die sehr wechselnde Gift¬ 
wirkung. Es kann keinem Zweifel unter¬ 
liegen, dass dieselbe Menge Alkohol eine 
sehr verschiedene schädliche Wirkung auf 
den Körper ausüben wird, je nachdem sie 
in Branntwein, Wein oder Bier auf¬ 
genommen, je nachdem sie in den leeren 
oder vollen Magen eingeführt wird. Wie 
man aber auch über die Schädlichkeit 
mässiger Dosen Alkohol denken mag, für 
die Ernährung des Gesunden kann der 
Alkohol, auch wenn er sicherlich ein Nah¬ 
rungsstoffist, seiner Nebenwirkungen wegen 
nicht in Frage kommen. Anders liegen 
die Verhältnisse beim Kranken, wo in 
vielen Fällen nicht, wie beim Gesunden, 
die nährende Wirkung des Alkohols eben¬ 
sogut durch andere unschädliche Nahrungs¬ 
stoffe ersetzt werden kann; hier wäre es 
falsch, principiell die Verwendung des¬ 
selben abzulehnen, nicht minder falsch aber 
auch ihn kritiklos zu empfehlen. Der Al¬ 
kohol hat aber ausser seiner Eigenschaft 
als Nahrungsmittel noch eine zweite, das 
ist die eines Genussmittels, und hier kann 


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520 


November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


seine eigenartige Wirkung nicht so leicht 
durch einen andern Stoff ersetzt werden. 
Wer aber infolge einer abnormen Ver¬ 
anlagung schon von geringen Mengen Al¬ 
kohol auf’s schwerste afficirt wird, soll 
ebenso den alkoholischen Getränken ent¬ 
sagen wie der, der nicht im Stande ist, 
die Grenze des massigen Genusses einzu¬ 
halten. Die Erfahrung lehrt, dass es für 
solche Individuen nur eine Rettung giebt, 
die vollständige Enthaltsamkeit. Wer aber 
bei normaler Veranlagung die geistige 
Kraft in sich fühlt, die dazu nöthig ist, im 
Genuss das richtige Maass zu finden und 
zu halten, der braucht nicht auf den Ge¬ 
nuss alkoholischer Getränke zu verzichten. 
Nach Rosemann’s zusammenfassenden 
Mittheilungen dürfte wohl die wissenschaft¬ 
liche Discussion, ob der Alkohol überhaupt 
ein Nahrnngsstoff sei, geschlossen sein; die 
andere Seite der Frage jedoch wird wohl 
nach wie vor je nach der Stellungnahme 
des Einzelnen, ob Abstinent ob Mässigkeits- 
anhänger, verschieden beantwortet werden. 
An zweiter Stelle sprach Keferstein und 
knüpfte an die von Hüppe aufgestellte 
Behauptung an, dass nicht der Alkohol, 
sondern nur die grosse Flüssigkeitsauf¬ 
nahme das Herz des Biertrinkers schädige, 
und das sogenannte „Bierherz“ veranlasse. 
Dagegen spricht schon von vornherein das 
Vorkommen des Bierherzens bei Schnaps¬ 
trinkern ohne reichliche Flüssigkeitsauf¬ 
nahme und weiterhin die übereinstimmen¬ 
den Beobachtungsergebnisse, dass die 
reichlichen Wassermengen nur in Verbin¬ 
dung mit überreichlicher Ernährung zur 
Vermehrung der Blutmenge, zur wirklichen 
Vollblütigkeit und dadurch zum Herzleiden 
führten. Das aufgenommene Wasser wird 
überraschend schnell durch die Nieren 
entfernt, beim Diabetes, wo unglaubliche 
Wassermengen oft aufgenommen werden, 
bleibt das Herz unverändert davon. Frei¬ 
lich hat das Herz nach starker Wasser¬ 
aufnahme mehr zu leisten als gewöhnlich, 


allein es compensirt diese stärkere In¬ 
anspruchnahme durch Erhöhung der Puls¬ 
zahl und Vermehrung der Blutmenge, die 
jede Herzkontraktion auswirft. Nun fragt 
sich, ob die Mehrarbeit, die das Herz nach 
grossem Wassergenusse zu leisten hat, 
diesen gewaltigen Reservekräften gegen¬ 
über nennenswert in Frage kommen kann. 
Da die Ausscheidung durch die Nieren 
aber nicht einfach ein vom Druck abhän¬ 
giger Filtrationsvorgang ist, so ist die dazu 
erforderliche Herzarbeit also nicht so ohne 
weiteres zu messen. Alles spricht dafür, 
dass die isolirte Einwirkung grosser Flüssig¬ 
keitsmengen die Regulirungsmöglichkeiten 
der Herzthätigkeit und der Ausscheidung 
unter normalen Verhältnissen nicht über¬ 
steigt. Dass sie bei gleichzeitiger Einwir¬ 
kung anderer schädigender Factoren nicht 
gleichgiltig ist, muss aber daneben betont 
werden. Aber dann hat man erst recht 
nicht die Möglichkeit, von einer einfach 
mechanisch erklärbaren Wirkung zu 
sprechen. Die Kreislaufverhältnisse sind 
so komplicirt, dass sich die hydro* dynami¬ 
schen Sätze nicht so einfach auf sie an¬ 
wenden lassen. Ein ganz verfehlter Ver¬ 
such ist z. B. die Darstellung von Smith, 
der die Herzwirkung des Alkohols nur aus 
den Veränderungen, die der Alkohol am 
Gefässquerschnitt erzeugt, erklären .will.j 
Was wir wissen, ist Folgendes: 1. die be¬ 
kannten, durch die klinische Beobachtung 
wie durch das Experiment gefundenen 
Thatsachen sprechen dagegen, dass Herz¬ 
veränderungen, die das bekannte Bild des 
„Bierherzens“ zeigen, nur durch über¬ 
mässige Flüssigkeitsaufnahmen zu Stande 
kommen können und 2. weder die Herz¬ 
veränderungen, die der Alkohol aner¬ 
kannter Weise erzeugt, noch die, die einige 
Autoren als Folge übermässiger Flüssig¬ 
keitsaufnahme hinstellen zu dürfen glauben, 
lassen .sich bis jetzt aus ihren Ursachen 
mechanisch erklären und construiren. 

J. Marcuse (Mannheim. 


Referate. 


Halkin hat in Neisser’s Klinik ex¬ 
perimentelle und klinische Untersuchungen 
über die Wirkung der Becquerelstr&hlen 
auf die Haut und deren eventuelle thera¬ 
peutische Verwendung angestellt. Es er¬ 
gab sich, dass die Wirkung der Strahlen 
auf die Gewebselemente ziemlich analog der 
der Roentgenstrahlen ist. Sie wirken zu 
gleicher Zeit auf die Epithel-, die Binde¬ 
gewebszellen und die Gefässe. Es ent¬ 
stehen Gefässerweiterungen, aber zunächst 


wenigstens ohne nennenswerthe entzünd¬ 
liche Veränderungen, wahrscheinlich be¬ 
dingt durch Veränderung der Wand. Ent¬ 
zündliche Veränderungen treten wohl 
wesentlich secundär hinzu. Therapeutisch 
hat Halkin bei Lupus vulgaris Versuche 
gemacht, allein es zeigte sich, dass zwar 
eine sehr intensive Oberflächenwirkung, 
aber so wenig Tiefenwirkung zu erzielen 
ist, dass wohl für die Behandlung des 
i Lupus vulgaris von dieser Methode nicht 


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November 


Die Therapie der 

viel zu erwarten ist. Vielleicht ergiebt ; 
sich bei weiteren Versuchen, dass der ! 
Lupus erythematodes und andere ober- | 
flächliche Dermatosen den Strahlen zu- I 
gänglicher sind. Buschke (Berlin). ; 

(Arch. f. Derm. u. Syph. Bd. 65 Heft 2.) 

ln einem sehr bemerkenswerthen Auf¬ 
satz der „Deutschen Klinik“ hat Casper 
seine reichen Erfahrungen über Bla86n- 
tuberkulose niedergelegt. Was zunächst 
die Entwickelung des Leidens betrifft, so 
ist häufig die Erkrankung der Blase se- 
cundär, abhängig von einer primären Lun- j 
genaffection, vor Allem aber von Nieren-und i 
Genitaltuberkulose. Allein auch primär i 
erkrankt das Organ. Sehr bemerkenswerth 
ist die Angabe des Autors, welche auch i 
mit den Erfahrungen des Referenten (cf. i 
die chronische Gonorrhoe in „Deutsche i 
Klinik“) conform ist, dass die Gonorrhoe ' 
bei tuberkulös disponirten Individuen den 
Ausgangspunkt einer Blasentuberkulose 
darstellen kann; länger dauernde Cystitiden 
solcher Individuen nach wesentlicher Ab¬ 
heilung der gonorrhoischen Erscheinungen 
müssen immer den Verdacht erwecken und 
veranlassen, genau nach dieser Richtung 
zu untersuchen. Es würde den Rahmen 
eines Referates überschreiten, wenn ich 
das von Casper bezüglich der Anatomie 
and Symptomatologie Vorgebrachte hier 
ausführlich berichten wollte. Bezüglich i 
der Behandlung tritt bei secundärer Blasen¬ 
tuberkulose oft nach Entfernung des pri¬ 
mären Hauptheerdes z. B. Nierenexstir¬ 
pation Spontanheilung oder doch schneller 
Heilung ein. Im Uebrigen kommen in 
erster Linie allgemeine oder hygienisch¬ 
diätetische Maassnahmen, Aufenthalt in 
warmem gleichmässigen Klima in Betracht. 
Des weiteren empfiehlt Caspar zur Reiz¬ 
linderung und Ruhigstellung der Blase Mor¬ 
phium und Belladonna, innerlich eventuell 
Creosot, Ichthyol (auch ev. in Form von 
Oelklystiren) und Guajacolcarbonat. Die 
Lokalbehandlung muss sehr vorsichtig ge- | 
handhabt werden, besonders darf die Blase 
nicht sehr dilatirt werden. Er empfiehlt 
5—50ccm zu injiciren; als Medikamente hier¬ 
für eignen sich 20procent. Milchsäure, die 
aber sehr leicht irritirt, oder Sublimat 
( x ioooo —Viooo)- Die Instillationen werden 
ein- bis zweimal wöchentlich gemacht. 
Keinesfalls darf diese Behandlung forcirt 
werden, weil sie sonst verschlechternd 
wirkt. In Bezug auf operative Eingriffe 
äussert sich Casper sehr reservirt; sie 
sind bei circumscripten Herden zulässig, 
aber nicht endovesical. (Referent hat auch 

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Gegenwart 1903. 521 

gelegentlich Jodoformemulsionen als In- 
jectionsmittel mit Vortheil verwendet.) 

Buschke (Berlin). 

In seinem Aufsatz „Beiträge zur Lehre 
über den Einfluss thermischer Anwen¬ 
dungen auf das Blutgefäss System“ zeigt 
A. Martin, dass die Application von Eis¬ 
beuteln längs der Wirbelsäule Verengerung 
der Hautgefässe der Extremitäten, antago¬ 
nistische Erweiterung (wahrscheinlich durch 
Wirkung der Dilatatoren) der Muskelgefässe 
auftritt. Eine secundäre Erweiterung der 
Hautgefässe war auch bei längerer Dauer 
der Application nicht festzustellen. 

Lüthje (Tübingen). 

(Zcitsclir. f. diät. u. phys. Ther. Bd. VII, 3 ) 

Baermann hat auf Neisser’s Klinik 
28 Fälle von gonorrhoischer Epididy- 
mitls • auf ihren Gehalt an Gonococcen 
untersucht und gleichzeitig therapeutische 
Versuche mittelst Punktion ausgeführt. Es 
ergab sich, dass in jedem Falle, auch wenn 
keine Abcessbildung vorlag, Gonococcen 
im Nebenhoden nachweisbar waren. Hier¬ 
mit ist die wichtige und viel ventilirte 
| Frage, ob die gonorrhoische Epididymitis 
I durch das Eindringen von Gonococcen 
hervorgerufen wird, gelöst. Ebenso konnte 
der Autor den Nachweis liefern, dass die 
im Verlauf der gonorrhoischen Epididy¬ 
mitis gelegentlich auftretende entzündliche 
Hydrocele durch Gonococcen selbst hervor¬ 
gerufen wird. In Bezug auf die hierauf 
angestellten therapeutischen Versuche 
empfiehlt Baermann bei Epididymitis mit 
sehr starken entzündlichen Erscheinungen 
im Nebenhoden die Punktion, weil hierbei 
eventuell Pseudoabscesse im Nebenhoden, 
oder im Bindegewebe sitzende Abscesse ent¬ 
leert und event. auf diese Weise weitere 
Einschmelzungsvorgänge mit consecutiver 
Narbenbildung coupirt werden. Auch 
die Punktion der entzündlichen Hydrocele 
empfiehlt der Autor, weil hierdurch die 
Circulationsverhältnisse gebessert werden. 
Die Punktion des Nebenhodens wird mit 
einer sterilisirten Glasspritze ausgeführt, 
welche eine 8 cm lange Canüle von mässig 
weitem Lumen hat. Der Nebenhoden wird 
mit der linken Hand gespannt und die 
Nadel senkrecht durch die Länge des 
ganzen Nebenhodens eingestochen, und 
unter langsamem Zurückziehen wird aspirirt. 
Von grosser praktischer Bedeutung ist 
auch, dass sich in alten Epididymitis- 
heerden Gonococcen finden können, und so 
hier lange Infectionsheerde bestehen können. 

! Die oben geschilderte Punktion ist aller- 

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November 


522 Die Therapie der Gegenwart 1903. 


dings nach den Angaben des Autors ziem¬ 
lich schmerzhaft. Buschke (Berlin). 

(Deutsche medicinische Wochenschrift No. 40.) 

In neuester Zeit traten mehrere Autoren 
mit der Behauptung hervor, dass die 
Laparotomie auf den Verlauf und die 
Heilung der tuberkulösen Peritonitis 
gar keinen günstigen Einfluss ausübe und 
Borchgrerink hält den Eingriff oft ge¬ 
radezu für schädlich. Aus diesem Grunde 
erscheint es zweckmässig, durch neue 
Untersuchungen diese Streitfrage zu lösen. 
Schramm ist der Ansicht, dass man hier 
nicht durch das Thierexperiment, sondern 
dadurch Klärung bringen kann, dass man 
die operirten und innerlich behandelten 
Fälle nicht nur während des Aufenthaltes 
im Krankenhause, sondern auch nach dem 
Verlassen desselben längere Zeit verfolgt. 
Das Material des Verfassers bezieht sich 
auf 45 Fälle (25 Knaben und 20 Mädchen 
im Alter von 1—12 Jahren). Von diesen 
wurden 25 mit den üblichen internen und 
äusserlichen Mitteln behandelt, während 
bei den übrigen 20 die Laparotomie zur 
Ausführung kam. Von den nicht operirten 
starben im Krankenhause 9 Kinder binnen 
einer Woche bis sechs Monaten an fort¬ 
schreitender Tuberkulose und allgemeiner 
Entkräftung; von den operirten dagegen 
nur 2 (ein Knabe an acuter Pneumonie 
und ein Mädchen, bei welchem wegen ulce- 
röser Processe ein grosses Darmstück re- 
secirt wurde und wo sich eine Kothfistel 
ausbildete, nach Ablauf von drei Wochen 
an Erschöpfung). 

Der Werth beider Methoden tritt noch 
deutlicher zu Tage, wenn man die mannig¬ 
fachen Krankheitsformen gegenüberstellt. 

Von 28 Patienten mit exsudativer Peri¬ 
tonitis, die wie allgemein anerkannnt wird, 
am ehesten zur Spontanheilung neigt, 
wurden 17 innerlich und II operativ be- 
. handelt. Von den ersteren starben im 
Krankenhause 6, von den letzteren nur 1 
(an Pneumonie), Bei der Peritonitis mit 
wenig oder ohne Erguss, dagegen mit 
starken Verdickungen des Bauchfells, Ver¬ 
wachsungen und ausgedehnten tuberkulösen 
Infiltraten stellt sich das Verhältniss wie 
folgt dar: Von den 7 intern behandelten 
Kindern starben 2, die übrigen wurden 
mit geringer Besserung entlassen, während 
alle 6 operirten Patienten am Leben blieben. 
Die ulceröse Peritonitis endlich wurde 
4 mal beobachtet; ein Kind starb vor der 
Operation, von den 3 laparotomirten ge¬ 
nas ein Mädchen vollkommen, das zweite 
wurde mit einer Eiterfistel entlassen und 

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das letzte starb an den Folgen einer Koth¬ 
fistel. 

Um sich über das weitere Schicksal 
der Patienten zu orientiren, zog Schramm 
nach Ablauf von mindestens 1 Jahre Er¬ 
kundigungen ein, was ihm in 10 intern und 
13 operativ behandelten Fällen gelang. 
Von den ersteren starben 8, die übrigen 2 
blieben krank; von den laparotomirten 
starben 3, die übrigen 10 sind vollkommen 
gesund. Auf die einzelnen Formen ent¬ 
fielen; 1. Exsudative Peritonitis. Von 
den nicht operirten 5 Kindern sind 3 
gestorben und 2 krank geblieben, von den 
operirten 6 Patienten jedoch sind alle ge¬ 
sund. 2. Peritonitis mit Verwachsun¬ 
gen und Infiltraten. Vier nicht lapa- 
rotomirte sämmtlich todt, während von 4 
operirten eins gestorben, die übrigen 3 
gesund geblieben sind. 3. Peritonitis 
ulcerosa: Von 3 operirten ist eins gesund, 
zwei sind gestorben. Schon diese Statistik 
lehrt, dass die Laparotomie sich bei jeder 
Form der tuberkulösen Bauchfellentzün¬ 
dung als wirksames, curatives Mittel er¬ 
weist und dass die exsudative Peritonitis 
die beste Prognose giebt. 

Zum Schluss erläutert Schramm die 
Theorien über die Wirkungsweise der La- 
| parotomie (wobei auch er die Hyperämie 
I für das wirksame Agens hält) und giebt 
eine genaue Beschreibung der Operations¬ 
technik. M. Urstein (Heidelberg). 

(Prozeglad lekarski No. 41, 1902.) 

Die chirurgische Therapie der Lungen- 
erkrankungen hat gerade in den letzten 
Jahren eine sehr wesentliche Förderung 
sowohl von chirurgischer wie von interner 
Seite erfahren. Ich erinnere nur an die 
interessanten Erörterungen in der 73. Ham¬ 
burger Naturforscher-Versammlung, welche 
sich an die bedeutenden Vorträge von 
Quincke und Garr£ angeschlossen haben 
und die Curschmann damals mit Recht 
als einen „Markstein in der Behandlung 
der Lungenkrankheiten“ gekennzeichnet 
hat. Wenn irgendwo, so ist hier ein Zu¬ 
sammengehen von Chirurgen und Internisten 
am Platz, wo auf scharfe Diagnose von 
Wesen und Sitz des Krankheitsheerdes so 
viel ankommt. Die Indicationssteliung zum 
chirurgischen Eingriff, die in den meisten 
Fällen wohl zunächst dem internen Arzt 
obliegt, ist hier von hervorragender Be¬ 
deutung, und in dieser Hinsicht ist der 
Karewski’sche Beitrag zur chirurgischen 
Behandlung der Lungen&bscesse in ver¬ 
schiedener Beziehung lehrreich. 

Die internen Aerzte sehen den Lungen- 

Qrigiraal fro-m 

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November 


523 


Die Therapie drr Gegenwart 1903. 


abscess im Allgemeinen als seltene Folge¬ 
erkrankung der croupösen Pneumonie 
an, wie das auch A. Fränkel in seiner eben 
im Erscheinen begriffenen speciellen Patho¬ 
logie und Therapie der Lungenkrankheiten 
ausdrücklich hervorhebt, indem er darauf 
hinweist, dass bei 760 Pneumonikern seiner 
Abtheilung nur llmal, d. h. in 1,5%, ein 
Lungenabscess eingetreten sei! Die Chi- 
rungen sahen unter den Lungenabscess- 
fällen, die sie in die Hand bekamen, die 
Pneumonie als viel häufigeres ätiologisches 
Moment, so Tuffier 23mal in 49 Fällen 
und Karewski 5mal in 14 Abscessfällen 
Indess darf man aus naheliegenden Grün¬ 
den die Zahlen der Chirurgen nicht neben 
diejenigen der Internisten stellen. Die 
Frage, ein wie grosser Procentsatz der 
Lungenabscesse durch Pneumonie ver¬ 
ursacht wird, deckt sich nicht mit der Frage, 
ein wie grosser Procentsatz der Pneumonie¬ 
kranken an Lungenabscess erkrankt! Ka- | 
rewski führt die Zahlen der Chirurgen 
als Beweis dafür an. dass es mit der 
Spontanheilung der metapneumonischen 
Abscesse doch nicht so günstig bestellt 
sei, wie das z. B. A. Fränkel annimmt. 
Indess sind auch wohl in diesem Punkt die 
Erfahrungen der Internisten maassgebender, 
weil eben die günstig verlaufenden und 
bald in Spontanheilung übergehenden meta¬ 
pneumonischen Abscesse dem Chirurgen 
nicht so leicht überliefert werden. Wohl 
möglich, dass sich das nun mit den Fort¬ 
schritten der Lungenchirurgie ändern wird, 
dann werden aber vermuthlich eher die j 
Chirurgen ihre Zahlen im Sinne der Internen I 
zu ändern haben! ( 

Die aus der Influenzapneumonie hervor¬ 
gehenden Lungenabscesse sind dem Inter- ; 
nisten und Chirurgen gleich unangenehm: 
Ersterem, weil sie viel seltener zur Spontan¬ 
heilung und oft genug zur Gangrän kom- ; 
men, letzterem, weil sie wegen ihrer Multi- ; 
plicität schlechtere Prognose für operative 
Eingriffe geben. | 

Bei den in ihrem Verlauf so unerfreu¬ 
lichen Fremdkörperabscessen sieht Ka¬ 
rewski nur dann einen chirurgischen Ein¬ 
griff indicirt, wenn der aspirirte Fremd¬ 
körper bereits vorher per vias naturales 
entfernt ist, denn unter 14 operirten Fällen 
von Abscess mit Fremdkörpern gelang es 
nur bei zweien durch Pneumotomie den j 
Fremdkörper aus dem Abscess zu entfernen. 

Die glücklicherweise seltenen Lungen¬ 
abscesse durch septische Embolieen sind 
gewöhnlich für chirurgische Eingriffe unge- j 
eignet, schon deshalb, weil es sich dabei i 
meist ummultiple Abscesse handelt. Solche 

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sind ja überhaupt immer für den chirur¬ 
gischen Eingriff* weniger günstiger als soli¬ 
täre, wie sie z. B. durch Arrosionen der , 
Lunge in Folge von Eiterungen in der 
Nachbarschaft entstehen. 

Unter Berücksichtigung dieser Gesichts¬ 
punkte, die die ätiologische Seite der 
Abscessbildung zur Grundlage haben, ver¬ 
tritt nunmehr Karewski den Standpunkt, 
dass der chiiurgische Eingriff dann indicirt 
ist, „wenn mit Sicherheit die Diagnose ge¬ 
stellt ist, und wenn schwere Allgemein¬ 
erscheinungen nicht schnell vorübergehen, 
oder aber wenn sie nach dem glücklichen 
Ereigniss des Spontandurchbruchs von 
neuem auftreten“. Darin liegt anderer¬ 
seits die Anerkennung einer Berechtigung 
in den nicht gerade bedrohlichen Fällen, 
zunächst einmal den Spontandurchbruch, 
also die Spontanheilung abzuwarten, 
und das sei hier hervorgehoben; denn 
glücklicherweise ist doch die Zahl der 
Fälle nicht gering, wo dieselbe eintritt, 
auch ohne dass sich Zeichen einer chro¬ 
nischen Sepsis, Hirnabscesse, metastatischer 
Gelenkentzündungen und dergl. einstellen! 

Eine Spontanheilung wird, wie Karewski 
auch hervorhebt, unterstützt durch jugend¬ 
liche Elasticität der Brustwand oder aber 
durch den Sitz des Abscesses in den Lun- 
genspitze^wegen des günstigeren Abflusses 
nach den Bronchieen, sofern der Abscess 
klein ist; ist derselbe gross, so bietet 
seine Localisation in den unteren Tho¬ 
raxabschnitten günstigere Heilungsbedin¬ 
gungen. — Darin wird indess wohl die 
Mehrzahl der Internisten Karewski recht 
geben, dass Fälle, in welchen die spontane 
Oefinung nicht schnell erfolgt, oder in wel¬ 
chen nach der Oeffnung kein schnelles Zu¬ 
rückgehen a**er Erscheinungen oder un¬ 
vollkommene Entleerung des Eiters zu 
merken ist, den chirurgischen Eingriff ver¬ 
langen. Die Gefahr bei verhältnissmässig 
frischen, acuten Abscessen, dass durch die 
Operation Eitererreger in die Pleurasäcke 
gelangen und dort Empyeme hervorrufen, 
kann durch die Operationstechnik ver¬ 
mieden werden. — Zur Beurtheilung des 
Dauerresultats scheint es uns übrigens 
wünschenswerth, noch grössere Erfahrun¬ 
gen zu sammeln und bekannt zu geben, 
um die Chancen der Spontanheilung gegen¬ 
über der Heilung durch chirurgischen Ein¬ 
griff richtig abzuwägen. Jedenfalls soll der 
Arzt bei jedem sicher diagnosticirten Lungen¬ 
abscess ernsthaft mit sich zu Rathe gehen, 
ob er es verantworten kann, Spontanheilung 
abzuwarten ohne Multiplicität oder Chroni- 
cität der Eiterung zu riskiren, oder ob er 

66 * 

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524 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


November 


den Kranken dem Chirurgen Oberantworten 
soll. „Der Schwerpunkt des erfolgreichen 
Handelns liegt in der rechtzeitigen Erken¬ 
nung der Abscesse“, sagt Karewski und 
darin hat er sicher Recht! 

F. Umber (Altona). 

Die Thatsache, dass die Salicylsäure 
und ihre verwandten Präparate die Ver¬ 
dauungsorgane oft nicht unerheblich beein¬ 
trächtigen, war von jeher ein Ansporn, nach 
Ersatzpräparaten zu suchen, in denen die 
für uns ja so gut wie unentbehrlich gewor¬ 
dene Salicylsäure in einer chemischen Bin¬ 
dung erhalten ist, durch welche die un¬ 
angenehmen Nebenwirkungen möglichst 
ausgeschaltet werden. So entstand vor 
Allem die acetylirte Salicylsäure (Aspirin), 
ferner die Verbindung von Salicylsäure und 
Antipyrin (Salipyrin), von Acetylsalicyl¬ 
säure und Antipyrin (Acetopyrin), der 
salicylsäure Phenoläther (Salol) u. a. m. 
Eines der allerjüngsten hierher gehörigen 
Präparate ist der Metoxymethylester der 
Salicylsäure, das Mesotan, das auf die Haut 
aufgepinselt wird und percutan zur Re¬ 
sorption kommt. Ueber dieses Präparat sind 
bereits mehrfach, zum Theil auch in dieser 
Zeitschrift, Erfahrungen mitgetheilt, die eine 
gute Salicylwirkung anerkennen und im 
Allgemeinen günstig lauten. Die Erfahrun¬ 
gen an der Naunyn’schen Klinik (Kayser) 
mahnen indessen auch zur Vorsicht bei i 
Anwendung dieses bisher so gut wie un¬ 
bescholtenen Salicylpräparates. In drei 
Fällen stellten sich in Folge seiner Anwen¬ 
dung (Einreibungen von Mesotan-Olivenöl, 

2 —3 Mal tägl. 1 Theelöffel voll über den 
erkrankten Körpertheil), recht hochgradige 
bullöse Dermatitiden ein, und allgemeine 
urticariaähnliche Hautausschläge gehörten 
besonders bei Frauen „zu den Alltäglich¬ 
keiten“. Deshalb empfiehlt Kayser das 
Mesotanöl (Mesotan, Ol. oliv, ana) aufzu¬ 
pinseln und zwar 2 Mal 1 Theelöffel voll am 
Tage; ein Verband von nicht entfetteter 
Watte soll die stets zu wechselnde Appli- 
cationsstelle in der Nähe des befallenen 
Gelenkes bedecken. Im Uebrigen erkennt 
Kayser gute und rasche Heilerfolge des 
Mittels bei acuten und subacuten rheuma¬ 
tischen Affectionen der Gelenke, Muskeln 
und Nerven sowie seine schmerzstillende 
Wirkung an. F. Umber (Altona). 

Versuche über intravenöse Sauerstoff- 
infosion bei Hunden hat E. Stuertz ge¬ 
macht. Die Versuche ergaben, dass Sauer¬ 
stoffinfusionen mit einer Geschwindigkeit 
bis zu Vs des O-Bedürfnisses der Thiere 
keine Lebensgefahr bedingen, auch bei 


15 Minuten langer Dauer nicht. Grössere 
Infusionsgeschwindigkeiten sind mehr oder 
weniger gefährlich, namentlich bei nicht 
ganz intactem Herzen. Bei zu starken und 
schnellen Infusionen können auch auf¬ 
tretende Herzdilatationen zur plötzlichen 
Todesursache werden. 

In wie weit sich die intravenöse Sauer¬ 
stoffinfusion therapeutisch beim Mensehen 
wird verwerthen lassen, ist noch unsicher; 
jedenfalls wird sie nur anwendbar sein bei 
Leuten mit ganz gesundem Herzen, wenn 
z. B. in Folge einer hochgradigen Fremd¬ 
körperstenose der Luftwege oder durch 
Lähmung der Athemmuskeln plötzlich sehr 
hohe Lebensgefahr auftritt. 

Lüthje (Tübingen), 

(Zeitschr. f. diät. u. physik. Ther. Bd. VII, 2 u. 3). 

Zur Prophylaxe gegen Scharlach- 
nephritis empfiehlt Widowitz die Dar¬ 
reichung von Urotropin. In 102 Fällen von 
Scharlach gab er bei Beginn der Erkran¬ 
kung an 3 aufeinanderfolgenden Tagen eine 
dem Alter des Kindes entsprechende Dosis 
(0,05—0,5) und ebenso zu Beginn der 
dritten Woche dieselbe Dosis wieder durch 
3 Tage. In keinem einzigen der so behan¬ 
delten Fälle trat eine Nephritis auf. Ja 
sogar in 2 Fällen, in denen früher kein 
Urotropin verabreicht worden war und bei 
denen grössere Mengen von Eiweiss im 
Harne constatirt wurden, verschwanden die¬ 
selben prompt nach Urotropindarreichung. 

H. W. 

(Wiener klin. Wochenschrift, No. 40.) 

Max Einhorn berichtet über die Be¬ 
handlung der Sitophobie und derlnanition. 
Unter „Sitophobie“ versteht Verfasser einen 
Zustand, in welchem aus Furcht vorSpeisen 
zu wenig Nahrung eingenommen wird; 
man begegnet in der That derartigen 
Kranken sehr häufig, namentlich in den 
besser situirten Klassen. Infolge der Furcht, 
es könnten nach der Nahrungsaufnahme 
Schmerzen oder unangenehme Empfindun¬ 
gen auftreten, reduciren derartige Patienten 
ihr Nahrungsquantum immer mehr. Aber 
nicht selten — und das hätte nach An¬ 
sicht des Referenten noch hinzugefügt 
werden können — sind unsere modernen, 
übermässig detaillirten, manchmal bis ans 
Lächerliche streifenden diätetischen Vor¬ 
schriften gegenüber den Patienten die Ur¬ 
sache dieser psychogenen Hyperästhesie. 
Derartige Patienten wissen schliesslich 
überhaupt nicht mehr was sie essen sollen: 
der eine Arzt hat ihnen dies, der andere 
das, der dritte jenes verboten, resp. er¬ 
laubt. Es bildet sich eine Art von Sug- 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. s 2~ 

gestionszustand heraus, hervorgerufen durch Zustände ein allmäiiges Angewöhnen an 
die übertriebenen diätetischen Vorschriften, eine kompaktere und mannigfaltigere Nah- 
Das ist die Schattenseite der modernen . rung unter entsprechender Suggestion und 
Ernährungstherapie — eine Ernährungs- erzieherischer Beeinflussung des Patienten, 
therapie hat es immer gegeben. Lüthje (Tübingen). 

Verfasser empfiehlt zur Heilung dieser (Zeitschr. f. diät. u. phys. Ther. Bd. vn, 4 > 

Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Zur Anwendung des Thiosinamins. 

Von Prof. E. ROOS- Freiburg i. B. 


Im Anschluss an die Abhandlung Le- 
wandowski’s „Ueber Thiosinamin und 
seine Anwendung“ im Oktober-Heft dieser 
Zeitschrift möchte ich kurz über einige Ver¬ 
suche berichten, die ich im Sommer 1902 
mit der Substanz angestellt habe. Durch 
die bisherigen, von Lewandowski aus¬ 
führlich wiedergegebenen Mittheilungen in 
der Litteratur *) über die narbenerweichende 
Wirksamkeit des Thiosinamins wurde ich 
veranlasst, zu untersuchen, ob sich damit 
vielleicht eine Einwirkung auf Herzklappen¬ 
fehler narbiger Herkunft erreichen lassen 
würde. Es liegt ja theoretisch durchaus 
im Bereiche der Möglichkeit, dass durch ein 
solches Mittel, das nach den Angaben der 
Autoren Narbengewebe specifisch lockernd 
beeinflusst, die bessere Entfaltbarkeit eines 
narbig geschrumpften Klappensegels oder 
Sehnenfadens, oder die Lockerung eines 
derben stenosirenden Ringes wie bisweilen 
bei Mitralstenosen oder ähnlicher Circula- 
tionshindernisse erreicht und damit eine 
bessere Klappenfunction erzielt werden 
könnte. Auch pericarditische Verwach¬ 
sungen, wie sie Brauer neuerdings durch 
die von ihm Kardiolyse genannte Operation 
mit Erfolg behandelt, 2 ) sollten in den Be¬ 
reich der Versuche gezogen werden. 

Ich begann die Thiosinamininjectionen 
bei einem Falle von Lebercirrhose mit star¬ 
kem Ascites, um zu sehen, ob die binde¬ 
gewebige Schrumpfung des für das Portal¬ 
blut fast undurchgängig gewordenen Or¬ 
gans vielleicht gelockert werden könnte. 
Leider entzog sich der empfindliche Patent 
offenbar wegen der Schmerzhaftigkeit der 
Injection der 15%igen alkoholischen Lösung, 
die Anfangs verwendet wurde, rasch der 
Behandlung. — Auch meine bisherigen Er¬ 
fahrungen bei Herzfehlern sind nur klein, 
die Versuche wurden ein ganzes Jahr unter¬ 
brochen und sind erst neuerdings, auch an 
Thieren wieder aufgenommen worden. Da 
aber durch die Lewandowski’sche Publi- 


! ) Vergl. auch die Literaturzusammenstellung von 
Teleky, Centralbl. f. d. Grenzgebiete d. Med. u. 
Chir. 1901, IV. Bd. S. 32. 

a ) Vergl. das Referaf im Octoberheft S. 477. 


’ cation die Frage jetzt in Fluss zu kommen 
! scheint, möchte ich einstweilen wenigstens 
kurz über die im vergangenen Jahre ge- 
! machten Erfahrungen berichten. Bisher 
wurden drei Fälle von Herzfehlern, aus¬ 
schliesslich Mitralinsufficienzen sicherlich 
entzündlichen Ursprungs, die keine schwe¬ 
ren Störungen machten, behandelt. Bei 
| einem 19jährigen, sonst kräftigen Mädchen, 
das im 11. Jahre einen acuten Gelenkrheu¬ 
matismus ohne spätere Recidive überstanden 
hatte und seit dieser Zeit öfters an Atem¬ 
beschwerden und Herzklopfen litt, wurde 
die Cur neun Wochen durchgeführt. Pa- 
| tientin kam drei Wochen vor Beginn der¬ 
selben wegen Zunahme der Beschwerden 
, in Beobachtung und hielt sich in dieser 
Zeit sehr ruhig, ohne dass erhebliche Besse- 
; rung eintrat. Ich begann mit den Injec- 
I tionen sehr vorsichtig und nur allmählich in 
! der Dosis steigend, da Bekess, 1 ) der ein 
| lOjähriges Kind mit Vitium cordis wegen 
j Drüsentumoren, ohne auf den Herzfehler 
; besonders zu achten, mit dem Mittel be¬ 
handelte, während der Cur die Endocarditis 
wieder acut werden sah. Er lässt es unent- 
| schieden, ob dies durch die Einspritzungen 
veranlasst wurde. Bei meinen drei Fallen, 
bei denen der entzündliche Process an den 
Klappen beim ersten acht Jahre, bei den 
beiden anderen viel längere Zeit zurück¬ 
liegt, ist so etwas nicht eingetreten. Es 
kam zwar vereinzelt zu etwas erhöhten 
Temperaturen, aber nie trat ein wirklich 
fieberhafter Zustand ein oder es entwickel¬ 
ten sich Zeichen des Aufflackerns der alten 
Entzündung am Herzens. Das subjective 
Befinden, wie das auch die meisten der 
j bisherigen Beobachter bei Behandlung an¬ 
derer Aftectionen mit dem Mittel angeben, 

I besserte sich in allen Fällen während der 
Kur, und der Appetit sowie die Neigung, 
sich zu bewegen, wurde grösser. Drei 
Wochen nach Beginn der Injectionen machte 
die Patientin trotz anfänglicher Abmahnung 
grössere Touren mit Steigungen, ohne vom 
j Herzen, wie sie sich ausdrückte, das 
, geringste zu spüren. Anfänglich wurde die 
| f. Kinderheilkunde 18. Bd. S. 439. 


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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


15%ige alkoholische Lösung gegeben, mit 
0,3 ebem anfangend, jeden dritten Tag um 
zwei Striche steigend, später wegen der 
Schmerzhaftigkeit der alkoholischen Injec- 
tionen die weniger unangenehme Lösung 
von 10 Thiosinamin in 20 Theilen Glycerin 
und 70 Wasser angewendet. Aus dieser 
fallen zwar manchmal bei mehrtägigem 
Stehen Thiosinaminkrystalle aus, doch wer¬ 
den sie bei gelindem Erwärmen der Flasche 
rasch wieder gelöst. Von der dritten Woche 
ab wurde jeden zweiten, manchmal nur jeden 
dritten Tag eine Spritze davon gegeben, 
einmal als Abendtemperaturen von 37,7° 
(Achsel) auftraten, einige Tage pausirt. Der 
Puls blieb dabei immer kräftig und regel¬ 
mässig (70—80). In der fünften und sechsten 
Woche erhielt die Patientin jeweils fünf 
Tage nach einander je 0,1 g Thiosinamin 
eingespritzt und, um das Herz eher zu ver¬ 
anlassen, mechanisch an der Verbesserung 
der Klappe mitzuwirken, von der Mitte der 
sechsten Woche ab sieben Tage lang jeweils 
zweimal täglich 0,1 g Pulvis fojior. Digi¬ 
talis. 

Durch diese Cur wurde sie immerhin 
etwas angegriffen und müde. Das Herz 
selbst hielt sich gut, blieb regelmässig, die 
Pulsfrequenz betrug 65—75 Schläge. Was 
den objectiven Befund anlangt, so schwankte 
die Intensität des sehr scharfen, langen und 
lauten systolischen Geräusches während 
<ler Cur, wie das auch sonst der Fall ist. 
Es machte aber am Schlüsse durchaus den 
Eindruck, als ob der erste Ton, der Anfangs 
völlig in dem Geräusche unterging, deut¬ 
licher wurde, sich mehr von dem Geräusche 
absetzte. Die zweifingerbreit die Mam- 
millarlinie nach links überschreitende, auch 
etwas nach rechts verbreiterte Dämpfung 
blieb während der Zeit der Beobachtung 
unverändert. Der Urin war immer eiweiss¬ 
frei, zeigte nur manchmal beim Erwärmen 
mit verdünnter Salpetersäure eine auffallend 
röthliche Färbung. Patientin verliess zehn 
Wochen nach Beginn der Cur, im August 
1902, bei recht gutem Befinden Freiburg 
und ist seither nicht mehr erreichbar. 

Die beiden anderen Fälle, eine 52jährige 
Frau und ein35jähriger Mann waren nur vier 
resp. fünf Wochen in Behandlung, eine lür 
eine allenfallsige objectiv nachweisbare 
Besserung wohl kaum genügende Zeit. Die 
Frau hatte schon im 19. Lebensjahr einen 
Gelenkrheumatis mus durchgemacht und 
später noch mehrere Anfälle. Seit ihren 
zwanziger Jahren wirdsie beiAnstrengungen 
leicht kurzathmig. Vom 25.—40 Jahre war 
sie verheirathet und gebar fünf Kinder ohne 
weitere Störungen. In den letzten Jahren 

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leidet sie sehr an Herzklopfen und zuneh¬ 
mender Engigkeit. Bei Beginn der Behand¬ 
lung war das Herz ziemlich stark nach 
rechts, weniger nach links verbreitert und 
arbeitete beständig sehr unregelmässig, mit 
häufigen, der Patientin fühlbaren frustranen 
Contractionen. In der Gegend der Spitze 
war meist ein deutliches systolisches Ge¬ 
räusch hörbar. Keine Oedeme. Die Injec- 
tionen wurden ähnlich wie oben, aber wie 
gesagt, nur vier Wochen durchgeführt. Das 
Auffallendste dabei war, dass Patientin eine 
starke Neigung zum Schlafen bekam und 
in der Nacht auffallend lange und tief 
schlief. Dies war ihr Anfangs sehr an¬ 
genehm, da sie in Folge der Herzunregel¬ 
mässigkeiten längere Zeit nur schlecht ge¬ 
schlafen hatte, später empfand sie die 
Schlafneigung aber so lästig, dass sie die 
Behandlung nicht weiter fortsetzen wollte. 
Objectiv änderte sich am Herzen auch be¬ 
züglich der Unregelmässigkeiten kaum etwas. 
Auch der Blutdruck blieb etwa derselbe. 
Die Frau, die ihre Lebensweise — leichter 
Dienst — nicht geändert hatte, fühlte sich 
aber subjectiv gebessert, konnte rascher 
gehen, ohne so schnell kurzathmig zu wer¬ 
den und fühlte auch sonst vom Herzen 
weniger Belästigung. Ich dachte in erster 
Reihe an die Möglichkeit, dass die Besse¬ 
rung vielleicht auf den längeren und ruhigen 
Schlaf zurückzuführen sein könnte. 

Jetzt, nach 15 Monaten, giebt die Pa¬ 
tientin an, das eben vergangene Jahr viel 
besser als die letzten Jahre vor der Be¬ 
handlung verbracht zu haben. Sie führt 
dies auch darauf zurück, dass sie in diesem 
Frühjahr keinen Katarrh und Husten be¬ 
kam, wie sonst regelmässig. Sie sieht 
besser aus, kann leichter als früher gehen 
und Treppen steigen, ohne so stark Engig¬ 
keit zu bekommen und fühlt weniger vom 
Herzen. Nur manchmal Nachts hat sie 
stärkere Anfälle von Herzklopfen. Objectiv 
ist das Herz nach links eher etwas grösser 
geworden, nach rechts ziemlich unver¬ 
ändert. Das systolische Geräusch ist meist 
deutlicher als früher zu hören, der 2. Pul¬ 
monalton accentuirt. Die Herzthäiigkeit ist 
viel regelmässiger, manchmal folgen sich 
30—40 und mehr Schläge ohne jedes Aus¬ 
setzen, dann aber kommen gewöhnlich 
wieder einige Unregelmässigkeiten. Ira 
Ganzen ist eine erhebliche Besserung gegen 
das Vorjahr nicht zu verkennen. Ob die¬ 
selbe mit den Injectionen zusammenhängt, 
ob sich vielleicht durch dieselben ein 
Strömungshinderniss verringert hat oder 
ob die Besserung aus einem anderen 
Grunde erfolgte, ist natürlich nicht zu 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


52 7 


entscheiden. 1 ) Jedenfalls hat die Frau 
seit der Injectionscur keinerlei Be¬ 
handlung bedurft, was die Jahre vorher 
fast immer der Fall gewesen war. Die 
Schläfrigkeit nahm rasch ab, als die Ein¬ 
spritzungen ausgesetzt worden waren. Ich 
füge zwei Sphygmogramme bei. Das erste 
stammt aus der Zeit kurz vor der Behand¬ 
lung (Juli 1902), das zweite aus den letzten 
Tagen (October 1903). Die Herzthätigkeit 
ist, wie gesagt, jetzt nicht immer so regel¬ 
mässig wie auf dem Bilde. Doch lassen sich 
mit Leichtigkeit solche regelmässigen Perio¬ 
den mit dem Sphygmograph fixiren. 

Beim 3. Fall mit ebenfalls seit Jahren 


Wochen konnte am Herzen objectiv eine 
| Aenderung nicht wahrgenommen werden. 

Das Jahr nach der Cur wurde vom Patien- 
i ten gut verbracht und jetzt besteht etwa 
derselbe Status, wie vor derselben. — Ich 
1 hoffe, in absehbarer Zeit Weiteres mittheilen 
zu können. 

Es braucht wohl nicht erst betont zu 
werden, dass diese wenigen Versuche weder 
1 im positiven noch negativen Sinne etwas 
Entscheidendes aussagen. Sie zeigen nur, 
dass das Thiosinamin bei genügender Vor¬ 
sicht bei Herzfehlern narbiger NaturohneGe- 
| fahr und anscheinend nicht ohne jede Aus- 
i sicht auf Besserung versucht werden kann. 




bestehender, gut compensirter Mitralinsuffi- 
cienz, die ausser gelegentlichen geringen 
Pulsunregelmässigkeiten keine Störungen 
macht, zeigte sich Anfangs ebenfalls der 
anregende Einfluss auf das Be finden. Später 
trat eher ein Gefühl von häufiger Mattig¬ 
keit ein. Sonst verliefen die Injectionen 
ohne weitere Störung, nur stellte sich an 
der Aussenseite des Oberschenkels, in den 
die Injectionen gewöhnlich gemacht wurden, 
Anästhesie eines über handgrossen Bezirkes 
ein, die wochenlang andauerte. Nach fünf 



Bei einem 30 jährigen Mädchen mit lange 
bestehenden Drüsenpaketen am Halse wurde 
drei Wochen lang Anfangs jeden dritten, 
dann jeden zweitenTag 1 ebem der 10%igen 
Glycerinwasserlösungeingespritzt. Anfangs 
fühlte sie sich durch die Injectionen etwas 
angegriffen, später nicht mehr. Die Drüsen- 
tumoren lockerten sich in den ersten HTagen 
sichtlich und wurden weicher. In der letz¬ 
ten Woche trat aber eine weitere Besse¬ 
rung nicht mehr ein, so dass die operative 
Entfernung vorgenommen wurde. 


Ueber das Phthisopyrin und seine Verwendung bei fiebernden Tuberkulosen 

Von Dr. E. Sobotta, Chefarzt der Johanniterheilanstalt Sorge (bei ßenekenstein). 


Antipyretische Mittel sind in den Lungen¬ 
heilanstalten nicht gut zu entbehren. Trotz 
aller Auswahl der sich meldenden Kranken 
lässt es sich nicht vermeiden, dass gelegent¬ 
lich einmal fiebernde Kranke aufgenommen 
werden, oder dass das Fieber bald nach 
der Aufnahme auftritt. Nicht immer gelingt 
es in solchen Fällen, durch Bettruhe und 
reichliche Ernährung die Entfieberung her- 

l ) Anmerkung bei der Correctur: Die 
Regel war in den letzten 2 Jahren immer noch vor¬ 
handen, unregelmässig, oft mehrere Monate pausirend. 
Die letzten 2 Male trat sie im Januar und Juni d. J. 
ein, seither ist sie noch nicht wiedergekommen. Doch 
hatte Patientin schon mehrmals kolikartige Schmerzen, 
die sie auf das Ausbleiben derselben zurückführte. 
Lm Unterleib objectiv nichts abnormes. 


beizuführen, und die antipyretischen Mittel 
sind gerade deshalb oft nothwendig, weil 
das gänzliche Darniederliegen des Appetits 
die Ernährung erschwert. 

Einen Erfolg von dieser antipyretischen 
Behandlung wird man sich bei dem chro¬ 
nischen Verlaufe der Tuberkulose natur- 
gemäss allerdings nur in solchen Fällen 
versprechen können, in denen die Körper- 
| wärme nur wenig über die Fiebergrenze 
hinausgeht, d. h. bei (Achselhöhlen ) Tem¬ 
peraturen von 37,3—38,0°. In diesen Fällen 
erreicht man bei geeignetem diätetischen 
Verhalten mit kleinen Dosen unserer ge¬ 
bräuchlichen Antipyretica meist den ge¬ 
wünschten Erfolg. Die Wahl des Fieber- 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


mittels hängt hauptsächlich von individuellen 
Verschiedenheiten ab, wenn auch einzelne 
Mittel immer mit besonderer Vorliebe ge¬ 
braucht worden sind. In letzter Zeit scheint 
das Pyramidon besonders bevorzugt zu 
werden, das neben unbestreitbaren Vor¬ 
zügen indessen auch einige Nachtheile hat: 
es beeinträchtigt bisweilen die Verdauung, 
ruft gelegentlich Schweisse hervor und 
versagt mitunter auch in leichten Fällen. 

Kürzlich ist nun von der Simon'sehen 
Apotheke in Berlin ein neues Fiebermittel, 
das Phthisopyrin, in den Handel gebracht 
worden, das aus Aspirin, Camphersäure 
und Arsen besteht und in Tablettenform ge¬ 
liefert wird. Ich habe diese Phthisopyrin- 
tabletten in der von mir geleiteten Lungen¬ 
heilanstalt Sorge in mehreren Fällen mit 
gutem Erfolge angewendet: es versagte nur 
bei Schwerkranken mit beträchtlichen Tem¬ 
peratursteigerungen, also in aussichtslosen 
Fällen, die besser garnicht erst in die Heil¬ 
anstalt gekommen wären. In den günstigen 
Fällen war die Wirkung auf die Körper¬ 
temperatur eine so prompte, dass weder 
Arzt noch Kranke die Wirksamkeit des 
Mittels bezweifelten. 

Ich habe das Phthisopyrin gewöhnlich 
auf 2—3 Tagesdosen vertheilt, indem ich 
mit 3 Tabletten (jede enthaltend 0,1 Aspirin, 
0,1—0,2 Camphersäure, 0 0005 Acid. arseni- 
cos) anfing und allmählich bis zu 9 Ta¬ 
bletten anstieg, um dann allmählich wieder 
herunterzugehen, bis auf 2 (oder 1) Tablette 
täglich. Ueber den stechenden Geschmack 
wurde nur einmal geklagt — die Klage ver¬ 
stummte, als das Mittel in Oblate gegeben 
wurde. Beschwerden irgend welcher Art 
traten nach dem Einnehmen niemals ein, 
und selbst in einem mit Magenerweiterung 
complicirten Falle, in dem die Ernährung 
besondere Schwierigkeiten machte, wurde 
das Phthisopyrin sehr gut vertragen. 
Schweisse wurden nur bei einer Kranken 
beobachtet, die auch nach Pyramidon 
Schweisse bekam. In einem Falle hat das 
Phthisopyrin sogar die bestehenden, aller¬ 
dings nur leichten Nachtschweisse unter¬ 
drückt. 

Die Temperatur fiel alsbald nach den 
ersten Dosen um einige Strich, ging bei 
Steigerung der Dosis weiterhin herunter 
und blieb nach Verminderung der Dosis 
niedrig, um nach dem Aussetzen des Mittels 
in normalen Grenzen zu bleiben. 

Besonders günstig wurde das Körper¬ 
gewicht beeinflusst. Selbst ehe die Ent¬ 
fieberung erreicht war, wurde bei Tempe¬ 


raturen von 37,4 und 37,5 während des 
Phthisopyringebrauchs eine leichteZunahme 
des Körpergewichts regelmässig festgestellt, 
während vor dem Einnehmen des Mittels, 
dem Fieber entsprechend, das Körper¬ 
gewicht abgenommen hatte. 

Nach den hier gemachten Erfahrungen 
ist demnach das Phthisopyrin als ein sehr 
brauchbares und werthvolles Hülfsmittel 
zur Bekämpfung des Fiebers bei Tuberku¬ 
lösen zu betrachten. Dass es in vorge¬ 
schrittenen Fällen versagt, vermag seinen 
therapeutischen Werth für die Mehrzahl der 
Fälle nicht zu verringern. Die von Schrö¬ 
der gemachten günstigen Erfahrungen mit 
Phthisopyrin (Ztschr. f. Tub. und Heilstätte 
Bd. IV, 1 und Dtsch. med Wchschr. 1903 
No, 21) kann ich somit vollauf bestätigen. 
Besonders hinweisen möchte ich noch auf 
die Thatsache, dass unter Phthisopyrin- 
behandlung trotz bestehender Temperatur¬ 
steigerung das Körpergewicht gewöhnlich 
zunimmt. Es liegt nahe, dies auf die Arsen¬ 
wirkung zurückzuführen. Für die Fieber¬ 
behandlung der Tuberkulösen ist Arsen 
früher von Büchner und neuerdings von 
Cy b u 1 s k i - Görbersdorf (Münch, med. Woch. 
1903 No. 33) empfohlen worden: Cybulski 
beobachtete bei Arsenanwendung eine 
zweifellose Herabsetcung der Temperatur, 
wenn auch die Erniedrigung nicht von 
Dauer war, ebenso eine Erhöhung der 
Appetenz, des Körpergewichts, Besserung 
des subjectiven Befindens, ja sogar die Be¬ 
seitigung der Schweisse. Es liegt nahe, 
anzunehmen, dass in dem Phthisopyrin die 
Arsenwirkung noch unterstützt und ver¬ 
längert wird; das im Magen unlösliche 
Aspirin wird, während und nachdem das 
Arsen vom Magen resorbirt worden, seiner¬ 
seits im alkalischen Darmsaft langsam auf¬ 
gespalten und gelangt somit sehr allmählich 
zur Wirkung, ohne dabei den Magen an¬ 
zugreifen, wie dies die Salicylpräparate zu 
thun pflegen. Insofern ist diese Kombina¬ 
tion von Arsen, Aspirin und Camphersäure 
der früheren von ten Kate Hoedemaker 
angegebenen Zusammensetzung von Arsen 
und Salicylsäure bedeutend überlegen. 

Die bequeme Dosirung, die handliche 
Tablettenform und der billige Preis (100 Ta¬ 
bletten kosten 3 M.) erleichtern die An¬ 
wendung des Phthisopyrin, das voraus¬ 
sichtlich eine dauernde Bereicherung unse¬ 
res Arzneischatzes vorstellt und in vielen 
Fällen von fieberhafter Tuberkulose inner¬ 
halb und ausserhalb der Lungenheilanstalten 
mit Vortheil zur Anwendung kommen wird. 


Für die Redactioti verantwortlich: Prof. (i. Kl ein per er in Kerlin. — Verantwortlicher Redacteur fiir Orstt-rreicii-Ungarn: 
Eugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfcld in Berlin. — Verlag von Urban & Schwarzenberg 

in Wien und Berlin. 


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Die Therapie der Gegenwart 

1903 herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer Decembör 

in Berlin. 

Nachdruck verboten. 


lieber die Wurmkrankheit Ankylostomiasis und ihre Bekämpfung. 

Von W. Zfllll-Berlin. 


In früheren Jahren nahm der Darm¬ 
parasit Ankylostoma duodenale wesentlich 
nur das Interesse der Aerzte in heissen 
Ländern, in Europa meist nur in einzelnen 
Bezirken mit Bergbau oder mit Ziege¬ 
leien in Anpruch. Die Kenntniss des Para¬ 
siten ist denn auch im Allgemeinen auf diese 
Gebiete beschränkt geblieben. Ausserhalb 
derselben hatten die Aerzte fast nie Ge¬ 
legenheit, Ankylostoma duodenale zu 
finden oder über den Parasiten in Kliniken 
an Kranken belehrt zu werden. 

Die ausserordentliche Verbreitung in¬ 
dessen, welche die Ankylostomiasis in den 
Jahren seit 1901 (weniger 1900) gerade auch 
in unserem Vaterlande in dem rheinisch¬ 
westfälischen Steinkohlenrevier ge¬ 
funden hat, macht mit einem Schlage diese 
Krankheit zu einer höchst actuellen und 
wichtigen Frage. Die Maassregeln zu ihrer 
Bekämpfung, welche seit Mitte Mai 1895 
im Bezirke des Allgemeinen Knappschafts¬ 
vereins zu Bochum und seit dem 8. Mai 

1896 des Königlichen Oberbergamtes in 
Dortmund in Fluss kamen, mussten eine 
weitgehende Verschärfung und Vertiefung 
erfahren. Gegenwärtig wird die Ausbrei¬ 
tung der Krankheit in Rheinland-West¬ 
falen und ihre Ursachen durch metho¬ 
dische Untersuchungen genau festgestellt. 
Die Ergebnisse, welche schon gewonnen 
sind oder noch zu erwarten stehen, werden 
unsere Kenntnisse über die Wurmkrank- 
heit noch vielfach erweitern und, wie wir 
hoffen können, zu einer wirksamen und 
erfolgreichen, wenn auch mühevollen Be¬ 
kämpfung der Seuche führen. In Ungarn 
und Belgien ist in den stark inficirten 
Steinkohlen-Revieren gleichfalls der Kampf 
gegen die Krankheit energisch aufge¬ 
nommen worden. Neuerdings haben wir 
auch aus England, woher bis zum Jahre 

1897 über das Vorkommen des Wurms 
nichts veröffentlicht war, die Mittheilung 
von dem Vorhandensein derselben auf der 
Dolcoathgrube (Zinnbergbau) in Cornwall 
erhalten. 

Ich folge sehr gern dem Wunsche der Re¬ 
daktion dieser Zeitschrift, die Ankylostoma- 
Frage in den wichtigsten Punkten zu schil¬ 
dern. Das allgemeine Interesse an dieser 

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Krankheit ist seit dem Bekanntwerden 
ihrer grossen Verbreitung im Ruhrkohlen¬ 
gebiete ein so lebhaftes geworden, dass 
die politischen Blätter von allen Fort¬ 
schritten in dem Kampfe gegen den Para¬ 
siten Bericht erstatten. Die Thatsache. 
dass nur ein verhältnissmässig kleiner Theil 
der Aerzte die Wurmkrankheit aus der 
Beobachtung eigener Fälle kennt, mag es 
rechtfertigen, wenn ich an manchen Stellen 
auch auf die Dinge näher eingehe, welche 
den Aerzten der betreffenden Gebiete seit 
Jahren geläufig sind. 

Ankylostoma (Hakenmund) duodenale, 
zu den Fadenwürmern (Nematodes), zur 
Familie der Strongylidae gehörig, lebt im 
Dünndarm des Menschen, nicht, wie der 
Name sagt im Duodenum, sondern im 
übrigen Dünndarm, besonders dem unteren 
Theil desselben. Der Name würde nach 
dem Vorschläge von Gold mann zweck¬ 
mässiger lauten Ankylostoma hominis. Die 
frisch abgetriebenen Würmer sehen meist 
weissröthlich aus. Das Kopfende enthält die 
sehr grosse tiefe Mundkapsel, dicht hinter 
der Mundöftnung mit vier nach hinten ge¬ 
richteten, starken hakenförmigen Zähnen 
an der Ventralfläche und zwei nach vorn 
gerichteten an der Dorsalfläche versehen; 
im Grunde der Mundhöhle findet sich dorsal 
ein nach vorn gerichteter Zahn und ventral 
zwei blattartig verbreiterte Chitinlamellen. 
(Braun.) Es folgt der muskulöse Pharynx 
und der Darm. Das Männchen ist 6—8, 
selten 10 mm lang; bezeichnend ist die 
schirmartige Verbreiterung des Schwanz¬ 
endes, die Bursa copulatrix mit dem Penis 
und den zwei langen frei herausragenden 
Spicula. Das Weibchen 10—12, seltener 
bis 18 mm lang, bis 1 mm dick, hat ein 
conisch zugespitztes Schwanzende. Die 
Vulva liegt dicht hinter der Mitte des 
Körpers und führt durch ein kurzes Rohr 
in eine doppelte muskulöse Vagina und an 
diese schliesst sich ein vorderer und ein hin¬ 
terer Uterus, welche beide in ein vielfach 
gewundenes langes Ovarium übergehen 
(S c h e u b e.) Bei der Begattung umklammert 
das Männchen mit der Bursa copulatrix 
den Körper des Weibchens. Die Eier, von 
elliptischer Form, mit sehr zarter Schale, 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Deccmber 


etwa 0,06 mm lang und 0,04 mm breit, wer¬ 
den in der Furchung abgelegt. Der graue 
Eidotter ist von dem Contour der Schale 
durch eine klare, durchscheinende Flüssig¬ 
keit getrennt. Dadurch gewinnt das Ei 
ein charakteristisches Aussehen, welches 
bei einiger Uebung Verwechslungen mit 
anderen Parasiteneiern ausschliesst. Man 
trifft im frischen menschlichen Kothe die 
Eier am häufigsten mit 4 Dotterkugeln, 
ihre Zahl nimmt beim Stehen rasch zu. 

Die Entwicklung der Eier vollzieht sich 
unter Bedingungen, die man künstlich 
leicht nachahmen kann, indem man den 
frischen, festen Stuhl sofort mit wenig er¬ 
wärmtem Wasser, auch mit feuchter Erde, 
zu einem dicken Brei anrührt, flächenartig 
ausbreitet und am besten in einem Brut¬ 
schrank bei etwa 26—300 C. aufstellt. In 
dieser Weise hat namentlich Leichten- 
stern, dem wir die eingehendsten Forschun¬ 
gen über dieLebensgeschichteunddenüeber- 
tragungsmodus des Parasiten verdanken, 
seine Untersuchungen angestellt. Seine Er¬ 
gebnisse sind von vielen Autoren durchaus be¬ 
stätigt worden. Ichselbsthabe das gleiche Re¬ 
sultat bei vielen Züchtungsversuchen erzielt. 

In wenigen Tagen (etwa 2—4) entwickelt 
sich aus dem Ei die junge Larve, die das 
Ei bald mit dem Kopf-, bald mit dem 
Schwanzende voran verlässt; sie ist sehr 
beweglich, rhabditisförmig, 0,2 mm lang 
und wächst nach einer Häutung bis etwa 
0,5 mm Länge aus. Die Larve umgiebt sich 
nunmehr mit einer zweiten Haut, die sie 
aber nicht verlässt. In diesem encystirten 
Zustande halten sich die Larven in feuchtem 
Schlamm oder Schmutz bis zu drei Mo¬ 
naten und mehr lebensfähig, selbst eine 
gewisse Trockenheit, gegen welche die 
Eier und die jungen Larven äusserst 
empfindlich sind, tödtet sie nicht ab. 

Die encystirten Larven gelangen, wie 
wir durch Versuche Leichtensterns 
sicher wissen, in den Darm des Menschen 
und entwickeln sich hier in etwa 4 bis 
6 Wochen zu geschlechtsreifen Männchen 
und Weibchen, deren meist befruchtete 
Eier nach dieser Zeit im Stuhl erscheinen. 
Einen Zwischenwirth gibt es nicht. Eine 
Vermehrung der Würmer im Darm ist 
ausgeschlossen. Eis ist immer wieder das 
Einbringen von Larven in den Mund des 
Menschen erforderlich. Das Eindringen 
der Larven durch die Haut (Looss, 
Sandwith) ist nach den bisherigen Mit¬ 
theilungen nicht anzunehmen. 

Die Gelegenheit zur Entwicklung 
der mit dem menschlichen Koth ent¬ 
leerten Eier zu Larven ist in den euro- 

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päischen Ländern (Deutschland, Belgien, 
Ungarn, Frankreich, England) am besten in 
denBerg werk engegeben. Vielfachhaben 
die Arbeiter die Gewohnheit, die Fäces an 
beliebigen Stellen der Gruben, oft etwas 
fernab von der Arbeitsstelle, zu depo- 
niren. Mit dem feuchten Erdreich mischen 
sich die Stühle zu einem Brei, in welchem 
bei der in vielen Gruben herrschen¬ 
den Temperatur von 25° und mehr die 
Entwicklung zu Larven in der günstigsten 
Weise vor sich gehen kann. Durch den 
Verkehr in der Grube, den Wechsel der 
Arbeitsstätten wird der larvenhaltige Koth 
überall hin verbreitet. Die Arbeiter kommen 
damit bei der Arbeit unfehlbar mit den 
Händen in Berührung und bringen sich 
dadurch die Larven an die Finger. Darauf 
gerichtete Untersuchungen haben dieLarven 
hier direkt nachgewiesen. Die mit dem 
Infectionsmaterial beschmutzten Finger wer¬ 
den bei den Mahlzeiten, bei dem Einschieben 
von Kautabak u. s. w. an den Mund ge¬ 
bracht; so gelangen die Larven selbst in 
den Mund und werden verschluckt, um 
sich, nach kurzem Verweilen im Magen, im 
Darm zu geschlechtsreifen Männchen und 
Weibchen zu entwickeln. 

Wir haben es einzig und allein 
mit diesem Infectionsmodus zu thun. 
Bei uns sind offenbar die Bergwerke 
mit höheren Temperaturen (um 25°) 
und grösserer Feuchtigkeit die ein¬ 
zigen Stätten, in denen sich dauernd 
aus den Eiern Larven entwickeln 
können. Die auf Ziegelfeldern vor¬ 
gekommenen Infectionen sind ursprünglich 
durch Bergarbeiter dorthin verschleppt 
worden; während des Sommers sind die 
Bedingungen zur Entwicklung der Larven 
in dem feuchten Lehmboden gleichfalls 
gegeben, im Winter sterben die Larven 
ab. Mit dem nächsten Sommer kann na¬ 
türlich der Wurm von inficirten Berg¬ 
arbeitern immer aufs Neue wieder einge¬ 
schleppt und während der warmen Jahres¬ 
zeit auf alle Ziegelei-Arbeiter übertragen 
werden. Die Gelegenheit zur Infection 
besteht nach den Erfahrungen Leichten- 
stern’s hier in hohem.Maasse, da die Ar¬ 
beiter die Gewohnheit haben, ihren Koth 
nicht weit von der Arbeitsstelle abzu- 
setzen. Der Koth mischt sich mit dem 
wasserreichen Lehm, die Eier entwickeln 
sich zu Larven; bei der unvermeidlichen 
Beschmutzung der Hände mit Lehm ge¬ 
langen die Larven in den Mund und so 
in den Darmcanal der Arbeiter. Aehn- 
liche Verhältnisse der Uebertragung sind 
für die warmen Länder, in welchen Ankylo- 

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i>' einbcr Die Therapie der 


storna überall heimisch ist, namentlich bei 
uncivilisirten Völkerschaften, anzunehmen. 

Die eingehende Kenntniss der 
Lebensgeschichte des Wurmes ist 
die Voraussetzung einer richtig 
durchgeführten Bekämpfung. 

Die Krankheitserscheinungen, wel¬ 
che durch Ankylostoma hervorgerufen wer¬ 
den, äussern sich in Anämie mit Ver¬ 
dauungsstörungen. Der Parasit saugt in seine 
Mundkapsel ein Stückchen Darmschleimhaut 
hinein, hakt sie mit den scharfen Haken fest 
und durchbohrt mit den Chintinzähnen im 
Grunde derMundhöhlediefeinenBlutgefässe; 
er ist also ein echter Blutsauger. Durch 
zahlreiche Würmer — man hat mehrere 
hundert bis tausend und mehr gefunden 
— wird allmählich ein erheblicher Blut¬ 
verlust entstehen müssen. Namentlich bei 
den Arbeitern, die der Neuinfection stän¬ 
dig ausgesetzt sind, wird die Zahl der 
Parasiten rasch zunehmen. Bei dem der 
weiteren Infection nicht mehr ausgesetzten 
Menschen sterben die Würmer in etwa 
5—6 Jahren ab (Spontanheilung). 

Inwieweit der Parasit durch Bildung 
giftiger Substanzen, die zur Resorption 
kommen, die Anämie der Träger vermehrt, 
ist noch nicht erwiesen. Nach den bis¬ 
herigen Beobachtungen und namentlich 
in Analogie mit dem breiten Bandwurm 
(Botriocephalus latus), von dem wir durch 
Schauman und Tallqvist 1 ) toxische Pro- 
ducte sicher kennen, ist auch bei Anky¬ 
lostoma eine solche Wirkung wahrschein¬ 
lich. Selbstverständlich wird die Blutent¬ 
ziehung in erster Linie für die Anämie 
verantwortlich zu machen sein. Die hier 
einschlägigen Fragen habe ich in früheren 
Arbeiten (zusammen mit Martin Jacoby) 
zusammengestellt. Eine Entscheidung dieses 
wichtigen Punktes kann erst erwartet wer¬ 
den, wenn es gelingt aus den Würmern 
Blutgifte darzustellen, die experimentell 
Anämie erzeugen. 

Bei der Kleinheit des Wurmes ist die 
Gewinnung des nöthigen Materials natur- 
gemäss mit viel grösseren Schwierigkeiten 
verbunden als bei dem Botriocephalus 
latus. Vorläufig kann man nur sagen, 
dass die blutsaugende Wirkung des Wur¬ 
mes in den meisten Fällen die Haupt¬ 
ursache der Anämie ist, während eine 
unterstützende Wirkung wahrscheinlich 
toxischen Substanzen zukommt. Dass es 
Fälle von schwerer Ankylostomen-Anämie 

*) Schauman und Tallqvist, Ucber die Blut¬ 
körperchen auflösendcn Eigenschaften des breiten 
Bandwurms. Deutsche med. Wochenschrift 1898, 
No. 20. 

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Gegenwart 1903. 51:1 


bei wenigen Parasiten giebt, können wir 
nach klinischen Beobachtungen zur Zeit 
am besten mit der Wirkung von Giften 
auf die blutbereitenden Organe und den 
Stoffwechsel erklären. 

Der Grad der durch den Parasiten er¬ 
zeugten Anämie ist ungemein verschieden. 

Wir kennen Fälle mit allen für die perni- 
ciöse Anämie charakteristischen Erschei¬ 
nungen. Namentlich in warmen Ländern 
sind Todesfälle häufig beschrieben worden 
(tropische Chlorose, tropische Anä- 
m i e). Besonders bekannt sind die Beobach¬ 
tungen von Griesinger und Bilharz im 
Jahre 1851 über Ankylostoma als Ursache 
der ägyptischen Chlorose. Auch heute spielt 
die Krankheit in Aegypten offenbar eine 
grosse Rolle. Nach Looss mussten z.B.1892 
in verschiedenen Bezirken Aegyptens 3,3 
bis 13,9o/ 0 der Gestellungspflichtigen wegen 
hochgradiger, durch Ankylostoma beding¬ 
ter Anämie zurückgewiesen werden. In 
dem inficirten Theile Deutschlands ge¬ 
hören schwerere Anämieen namentlich 
seit der Durchführung sanitärer Maass¬ 
nahmen zu den Seltenheiten. Todes¬ 
fälle an den Folgen der Krankheit sind in 
dem Ruhrkohlenrevier, soweit ich mich 
unterrichten konnte, nur fünf vorgekommen, 
bei vier Fallen bestanden aber Complica- 
tionen mit Tuberkulose, Herzfehler u. s. w. 

Meines Wissens konnte hier bisher nur bei 
dem von Tenholt (1898) ausführlich be¬ 
schriebenen Fall als einzige und alleinige 
Todesursache Ankylostoma (etwa 200 
Exemplare) festgestellt werden. 

Klinische Krankheitserscheinungen von 
Anämie zeigen nach Tenholt, der die 
Seuche im rheinisch-westfälischen In¬ 
dustriebezirke seit Jahren auf das Sorg¬ 
fältigste verfolgt und gerade in letzter Zeit 
häufiger seine umfangreichen Erfahrungen 
mitgetheilt hat, bei uns nur etwa 20% der 
mit Ankylostoma inficirten Bergleute, 
während bei den übrigen 80% der Wurm (d. 
h. seine Eier) nur gelegentlich der mikro¬ 
skopischen Kothuntersuchungen gefunden 
wurde. Bei sehr vielen Untersuchungen, 
welche ich im Laufe mehrerer Jahre (zum 
grossen Theil zusammen mit M. Jacoby) 
an etwa 100 Bewohnern wärmerer Länder, 
auch an mehreren deutschen Kolonisten 
aus verschiedenen Ländern, mehrfach unter 
klinischer Beobachtung vornehmen konnte, 
hat sich in keinem Falle eine schwere 
Anämie gezeigt. 

Für die auffällige Thatsache — (wir 
sehen genau dieselbe Erscheinung beim 
Botriocephalus latus und bei vielen anderen 
Darmparasiten) — warum unter den An- 

67 * 

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December 


5 32 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


kylo stoma-Trägern verhältnissmässig sehr 
viele keine klinisch wahrnehmbaren Sym¬ 
ptome von Anämie zeigen, lassen sich 
mehrere Gründe anführen: in erster Linie 
eine geringe Zahl von Parasiten, ferner 
die Kürze der Zeit seit der stattgehabten 
Infection, die verschiedene Widerstands¬ 
fähigkeit des Inficirten gegen die Anämie 
resp. gegen die von den Würmern wahr¬ 
scheinlich erzeugten Gifte. In dem ein¬ 
zelnen Falle wird man häufiger die ersten, 
zuweilen aber auch die letztgenannten 
Momente als ausschlaggebend zu bewer¬ 
ben haben. In der genannten Arbeit 
vom Jahre 1898 haben Jacoby und ich 
die verschiedenen Möglichkeiten diskutirt. 
Das Interesse an den Unterschieden in den 
Folgen, welche die Einwanderung von An- 
kylostoma - Larven für den Inficirten hat, 
ist ganz wesentlich als ein klinisches zu 
bezeichnen, wie mich auch spätere Erfah¬ 
rungen lehrten. Der Nachweis von Blut¬ 
giften in den Würmern würde für die 
Lösung dieser Fragen von grösster Bedeu¬ 
tung werden. 

Auf die Prophylaxe den Unterschied 
zwischen Wurmkranken und Wurmbehaf¬ 
teten weiter auszudehnen, kann man theo¬ 
retisch nur in gewissem Sinne empfehlen. 
Denn jeder Wurmbehaftete ist ebenfalls 
geeignet, die Krankheit weiter zu ver¬ 
breiten; nur wird wegen der meist gerin¬ 
geren Zahl von Eiern, die er mit seinem 
Koth entleert, die Zahl der sich ent¬ 
wickelnden Larven, d. h. also des An¬ 
steckungsmaterials, eben geringer ausfallen 
als bei einem Kranken, der in der Regel 
sehr viele Eier im Koth hat. Ausnahmen 
kommen indessen vor in dem Sinne, dass 
auch ein Anämischer nur wenige Parasiten 
und dementsprechend wenig Eier in seinem 
Darme beherbergt und umgekehrt. Ueber 
diese ganze Frage ist neuerdings eine Con* 
troverse entstanden. Von Bruns wird die 
Ausdehnung jenes Unterschiedes zwischen 
Wurmkranken und Wurmbehafteten auf 
die Prophylaxe der Krankheit lebhaft be¬ 
kämpft. Aus den Arbeiten Tenholts, 
gegen den sich Bruns wendet, geht je¬ 
doch keineswegs hervor, dass Tenholt 
einen solchen Standpunkt einnimmt. Ten¬ 
holt, dem wohl die grösste Erfahrung auf 
diesem Gebiete in Folge seiner langjährigen 
amtlichen Thätigkeit zur Verfügung steht, 
will nur die Inficirten mit Krankheits¬ 
erscheinungen in erster Reihe von der 
Arbeit ausschliessen. Bei diesen besteht 
dazu ein doppelter Grund; denn sie bilden 
nicht allein eine Gefahr für andere noch 
licht inficirte Arbeiter, sondern sie selbst 

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sind der Gefahr, in Folge zunehmender 
Anämie arbeitsunfähig zu werden, in hohem 
Grade ausgesetzt. Nur in diesem Sinne, 
dass man die Wurmkranken vor den Wurm¬ 
behafteten in Behandlung nimmt, wird man 
die Tenholt schen Vorschläge auffassen, 
die aus genauen und zutreffenden klinischen 
Beobachtungen hervorgegangen sind. 

Der Blutbefund bei der Ankylosto- 
miasis ist ja nach dem Grade der Anämie 
ein wechselnder. In den schweren Fällen 
findet man die Zeichen der progressiven 
pernieiösen Anämie im Sinne von Ehrlich. 
In den leichteren Fällen sind an den rothen 
Blutkörperchen keine bemerkenswerthen 
Veränderungen wahrzunehmen. Bei den 
weissen Blutzellen ist die Vermehrung der 
eosinophilen Zellen die Regel. (Müller 
und Rieder, Zappert, Bücklers.) Kürz¬ 
lich ist von v. Jaksch an einem Falle und 
von Bloch (Dtsch. Med. Wochenschr. 1903, 
No. 29, 30) an zwei Fällen dieses Verhalten 
wieder beschrieben worden. An einer 
grossen Zahl von Präparaten, die mir von 
vielen Ankylostomaträgern durch die Güte 
des Herrn Medicinalrath Tenholt 1 )» Ober¬ 
arzt des Allgem. Knappschafts-Vereins zu 
Bochum, zur Verfügung gestellt waren, fand 
sich als bemerkenswerthester Befund Eosi¬ 
nophilie. Netzhautblutungen kommen nur 
bei denKranken mit hochgradigerAnämie vor. 

Aus der Thatsache, dass bei uns An- 
kylostoma jetzt nur geringe Krankheits¬ 
erscheinungen hervorruft, zu folgern, dass 
der Parasit harmlos ist, wäre bedenklich. 
Die Verminderung derZahl derAnämi- 
schen istnur dieFolge derdurchdie 
Bekämpfung der Seuche ermöglichten 
frühzeitigen Diagnose, die sich auf den 
mikroscopischen Nachweis der Eier im fri¬ 
schen Stuhl gründet, und der zweckmässi - 
gen Behandlung. Welche schweren Ver¬ 
heerungen der Parasit unter den Arbeitern 
des Gotthardtunnels (im Jahre 1880ff.) ange¬ 
richtet hat, ist allgemein bekannt. Bei 
mangelnden Vorsichtsmaassregeln würde 
heute eine ähnliche Katastrophe unver¬ 
meidlich sein. Die Verbreitung der tropi¬ 
schen Chlorose legt auch heute Zeugniss 
für die Gefahr des Parasiten ab. Es 
leuchtet daher ohne Weiteres ein, wie nofh - 
wendig der energische Kampf gegen 
die Wurmkrankheit auch in unserem 
Vaterlande geworden ist, so mühevoll und 
kostspielig derselbe auch sein mag. 

Die Geschichte der Ankylostomen- 

*) Ich spreche diesem Herrn und seinem Assistenten. 
Herrn I)r. Nagel, für seine Güte und Unterstützung 
durch Ertheilung von Auskunft und Zusendung v» n 
Material auch an diesci Stelle meinen wärmsten Dank aus. 

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December 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


533 



Epoche 

Zeit 

Wichtigste Autoren 

Die Fortschritte, 

durch welche die Epoche gekennzeichnet ist 

I. 

1838 

Dubini (Mailand) 

Entdeckung des Ankylostoma duodenale 

11. 

1851 

Griesinger, Bilharz 

Ankylostoma ist die Ursache der ägyptischen 
Chlorose. 

III. 

1866 ff 

Wucherer (Lutzl8S5) 
u. A. 

Ankylostoma ist eine der häufigsten Ursachen 
der in Brasilien und in vielen tropischen und 
subtropischen Ländern sehr verbreiteten perni- 
ciösen Anämie. 

IV. 

1878 ff 

Bozzolo u. Graziadei, 
Grassi und Parona 
u. A. 

Ankylostoma findet sich bei anämischen 
Ziegeleiarbeitern. Die Gegenwart der Anky- 
lostomen im Darm lässt sich mit Leichtigkeit 
durch den Nachweis der Eier in den Fäces 
diagnosticiren 

V. 

1880 ff 

Bozzolo und Pagliani, 
Concato und Perron - 
cito a. A. 

Ankylostoma ist die Ursache der Gntthard- 
tunnel-Anämie. 

| 

VI. 

1881 ff 

Perroncito, Mayer 
u. A. 

Ankylostoma ist eine der wichtigsten Ursachen 
der Bergarbeiter - Anämie (Italien, Oester¬ 
reich-Ungarn, Frankreich, Belgien, Deutschland). 

VII. 

1882 ff 

Menche, Leichten¬ 
stern u. A. 

, Ankylostoma ist die Ursache der Ziegelbrenne r- 
i Anämie in Deutschland. 

VIII. 

1882 bis 
Gegenwart 

Bälz und Sch eube, 
j St am me sh aus u. A. 

Ankylostoma kommt vor in Asien (Vorder-rund 
! Hinterindien, Ceylon, Japan) und Australien. 

IX. 

1888 bis 
Gegenwart 

! Beck, Löbkcr, Ten* 

| holt 

i 

! Ankylostomiasis ist sehr verbreitet b e i 

1 deutschen Bergleuten im Rheinland und in 
Westfalen (Steinkohlenrevier). 


Krankheit wird in den wichtigsten , worden. Das am längsten heimgesuchte 
Epochen übersichtlich dargestellt in einer j Land ist Italien. Hier wird der Parasit 
kleinen Tabelle, die Jacoby und ich unserer j unter Bergleuten, Ziegelei-, Erd- und 
Monographie beigegeben haben. Die zu- Tunnelarbeitern in allen Provinzen des 
nehmende Bedeutung des Parasiten mag Königreichs (auch Sicilien und Sardinien) 
dTe Wiederholung an dieser Stelle recht- angetroffen. Die genaue Durchforschung 
fertigen. hat die Verbreitung in Italien als eine so 

Während in den warmen Ländern ungeheure kennen gelehrt, dass wir das 
Ankylostoma ausserordentlich verbreitet ist, j ganze Land als durchseucht ansehen 
haben wir es heute in Deutschland mit einer | können. 1 ) Offenbar sind bei dem milden 


Berufskrankheit der Bergleute zu 
thun. Die durch Leichtenstern in aus¬ 
gezeichneter Weise erforschten Fälle auf 
den Ziegelfeldern bei Köln sind durch 
Einschleppung von Bergleuten (Wallonen) 
zu Stande gekommen. Wir haben gesehen, 
dass der Wurm hier immer aufs neue im 
Sommer durch inficirte Bergarbeiter ein¬ 
geführt wurde. Im Winter sterben die 
Larven auf den Ziegelfeldern bei den nie¬ 
drigen Temperaturen ab. Unter den Zie¬ 
geleiarbeitern beobachtete Leichtenstern 
schwere Anämieen und mehrfach Todes¬ 
fälle. 

Die Seuchenheerde, in welchen 
die Larven bei uns einzig und allein 
dauernd und am besten gedeihen 
können, sind die Bergwerke mit Tem¬ 
peraturen um 25° und mehr und 
hohem Feuchtigkeitsgehalt (Tenholt). 

Der Parasit ist nach Deutschland wie 
nach den übrigen inficirten Ländern Europas 
ursprünglich aus den Tropen, wie wir be¬ 
stimmt annehmen müssen, eingeschleppt 


Klima des Landes nicht allein die Berg¬ 
werke, sondern auch die Ziegeleien und 
ähnliche Betriebe mit Erdarbeiten dauernde 
Seuchenheerde. Höchst wahrscheinlich hat 
bei dem Bau des Gotthardtunnels die An- 
kylostomiasis die verderbliche Massenaus¬ 
breitung durch die zahlreichen Italiener er¬ 
fahren, die dann von da aus die Seuche in 
andere Länder, zuerst namentlich nach den 
Bergwerken in Ungarn, von da nach Frank¬ 
reich, Belgien, Deutschland verbreiteten. 
Die Infection der rheinisch-westfälischen 
Steinkohlenbergwerke erfolgte nach der 
begründeten Annahme Tenholts beson¬ 
ders durch ungarische Bergleute. Die ersten 
Wege der Ausdehnung der Ankylostomiasis 
in Europa lassen sich heute nicht mehr mit 
Sicherheit feststellen; es ist durchaus wahr¬ 
scheinlich, dass schon vor dem Gotthard- 

! ) Das ausgezeichnete Werk von Parona Ober 
die Helminthologie Italiens enthält alle Ortschaften 
Italiens, in denen Ankylostoma bis 1890 gefunden 
war, aufgezählt und in eine Karte eingetragen 
(Genova 1894). 


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Original fro-m 

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534 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


December 


tunnelbau (1880) der Parasit in den anderen 
Ländern ausser Italien sich angesiedelt 
hatte; doch ist die grosse Verbreitung wohl 
auf die Verschleppung durch Arbeiter vom 
Gotthard zurückzuftihren; denn die Berg¬ 
arbeiter- und Ziegelbrenner-Anämie war 
schon vorher wohlbekannt, jedoch nicht 
ihre allerhäufigste Ursache: das Anky- 
lostoma duodenale. 

Der erste Fall von Ankylostomiasis im 
rheinisch-westfälischen Kohlen re vier 
ist 1885 vom Kreisphysikus Dr. Albers in 
Essen entdeckt worden. In den Jahren 
1893/1895 wurden 23 Erkrankungen (darunter 
2 Todesfälle) festgestellt. Wir sehen, dass 
in den folgenden Jahren Schritt für Schritt 
die Zahl der inficirten Zechen und der 
inficirten Arbeiter zunimmt. Die Zahl der 
Krankheitsfälle betrug nach Tenholt 


1896 

107 Fälle 

1897 

113 , 

1898 

99 „ 

1899 

94 „ 

1900 

275 „ 

1901 

1030 „ 

1902 

1872 , 


Die ganz ausserordentliche Verbreitung, 
mit der wir heute zu rechnen haben, zeigt 
erst das Jahr 1903. Mit der weiteren in 
Gang befindlichen methodischen Un¬ 
tersuchung aller Zechen und ihrer 
Belegschaft wird diese Zahl noch 
erheblich wachsen. Der ständige 
lebhafte Wechsel der Arbeiter von 
einer Grube zur andern trägt sehr zur 
Weiterverbreitung der Seuche bei. 

Im laufenden Jahre sind bis zum 
18. November d. J. im Regierungs- 
Bezirk Arnsberg, in welchem der 
rheinisch - westfälische Industriebe¬ 
zirk mit dem weitaus grössten Teile 
gelegen ist, bisher 7622 Erkrankun¬ 
gen an Ankylostomiasis gemeldet 
worden (Veröffentlichungen des Kaiserl. 
Gesundheitsamtes No. 4—46). Die einzelnen 
Zahlen sind für jede Woche vom 28. Januar 
an bis zum 18. November folgende: *) 


Erkrankungen 


Erkrankungen 


No. 

4 . 

. 42 

No. 15 

. 74 

ff 

5 . 

. 72 

„ 16 

. 27 

ff 

6 . 

. 57 

„ 17 

. 35 

n 

7 . 

. 33 

„ 18 

. 42 

tt 

8 . 

. 133 

19 

47 

n 

9 . 

66 

„ 20 

. 74 

n 

10 . 

. 33 

„ 21 

84 

n 

11 . 

49 

. 23 

. 76 

n 

12 . 

4 

. 24 

12 

n 

13 . 

41 

. 25 

. 80 

n 

14 . 

. 104 

„ 26 

. 34 

1 

l ) Am 3. 

Juni in 

No. 22 kein Fall gemeldet. 


Erkrankungen 

No. 27 . . 69 

No. 37 

Erkrankungen 

. . 367 

» 

28 . 

. 138 

n 

38 

. . 327 

tt 

29 . 

. 110 

tt 

39 

. . 461 

tt 

30 . 

44 

tf 

40 

. . 239 

n 

31 . 

. 110 

ff 

41 

. . 299 

n 

32 . 

. 249 

tt 

42 

. . 332 

tt 

33 . 

. 475 

ff 

43 

. . 267 

n 

34 . 

. 390 

ff 

44 

. . 176 

tt 

35 . 

. 476 

ff 

45 

. . 263 

tt 

36 . 

. 338 

ff 

46 

. . 273 


Unter 

den einzelnen 

Belegschaften 


schwankt die Zahl der Ankylostoma-Träger 
zwischen 26% bis 80%. 

Von sämmtlichen 241 Schachtanlagen 
waren im Jahre 1901 63 = 26,1% inficirt. 

Besonders gefährdet sind die Ar¬ 
beiter unter Tage und zwar besonders 
die Kohlenhauer, die den weitaus grös¬ 
sten Teil, 75%, der Befallenen ausmachen. 
Dieses Verhalten erklärt sich daraus, dass an 
den Betriebspunkten die grösste Hitze, eine 
drückende feuchtwarme Luft herrscht — 
die günstigsten Bedingungen der Larven¬ 
entwicklung — und dass die Schmutz- und 
Schlammheerde an diesen feuchtwarmen 
Orten hauptsächlich von den Hauern be¬ 
tastet und betreten werden. 

Die Arbeiter, welche fast nur ausserhalb 
der Grube — „über Tage“ — arbeiten, 
sind absolut und procentuarisch nur wenig 
(zu etwas mehr als 1% der Befallenen) be¬ 
theiligt. Auch die Frauen und Kinder der 
Bergleute sind nicht inficirt. 

In jüngster Zeit sind mehrfach zur Re¬ 
serve entlassene Soldaten, die sich im Ruhr¬ 
kohlenrevier dem Bergbau widmen wollten, 
als wurmkrank zurückgewiesen worden. 
Es besteht die Vorschrift nur Arbeiter an¬ 
zulegen, welche die ärztliche Bescheinigung 
der Wurmfreiheit vorlegen. So entstand 
das Gerücht, dass die Wurmkrankheit in 
der Armee ausgebrochen sei. Davon kann 
gar keine Rede sein. Die betreffenden 
Reservisten (etwa 90) sind sämmtlich Berg¬ 
leute, die vor 2 und 3 Jahren auf damals 
schon als verseucht geltenden Zechen ge¬ 
arbeitet und sich dort inficirt haben. Dass 
diese Soldaten jetzt noch den Parasiten 
beherbergen, ist nach den Kenntnissen von 
seiner Lebensgeschichte durchaus nicht 
wunderbar. Wir wissen durch Leichten- 
stern, dass der Wurm erst nach etwa 5, 
ja 8 Jahren abstirbt. Dass die Soldaten 
während der Dienstzeit den Wurm weiter 
verbreitet haben, ist nicht anzunehmen, da 
unter den gegebenen Verhältnissen die 
Larven sich nicht entwickeln können. 
Theoretisch wäre nur bei sehr schlechten 
Abortverhähi.issen in den Kasernen eine 


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December 


535 


I)ic Therapie der Gegenwart 1903. 


Uebertragung einmal denkbar. Doch wird für 
die Entstehung eines dauernden Seuchen¬ 
heerdes die Temperatur in den betreffenden 
Räumlichkeiten im Winter nicht ausreichen. 

Eserhebtsich nun dieFrage.au s welchen 
Gründen hat die Ankylostomiasis im 
Ruhrkohlengebiete in den letzten 
Jahren und namentlich im laufenden 
Jahre eine so ungeheure Verbreitung 
angenommen? 

Ohne Zweifel werden mit der zuneh¬ 
menden Aufmerksamkeit der beteilig¬ 
ten Behörden und Aerzte und ganz besonders 
seit der systematischen Untersuchung 
der Bergwerke und der Arbeiter viel 
mehr Fälle entdeckt, die früher bei dem 
Mangel von subjecti ven und obj ectiven Krank¬ 
heitszeichen entgangen sind. Die aus dem 
Studium der Lebensbedingungen des Para¬ 
siten abgeleiteten Erfahrungen haben ge¬ 
zeigt, dass seine Verbreitung von einem 
Seuchenheerde aus sehr leicht stattfindet. 
Die Vorbedingung ist, dass an dem be¬ 
treffenden Orte der eierhaltige Stuhl eines 
Inficirten genügend Wärme und Feuchtig¬ 
keit zur Entwicklung der Larven findet 
und dass die noch freien Personen durch 
ihre Lebensweise oder durch ihre Arbeit 
mit dem larvenhaltigen Material in Be¬ 
rührung kommen. Diese Momente treffen 
aber in vielen Gruben (wie in warmen 
Ländern) in hohem Maasse zu. Wenn also 
in ein Bergwerk mit jenen günstigen 
Bedingungen für die Larvenentwick¬ 
lung der Parasit eingeschleppt wird, 
so ist eine Uebertragung auf viele 
Arbeiter und damit wiederum eine 
sehr rasche, enorme Vermehrung 
des Infectionsmaterials die unaus¬ 
bleibliche Folge. 

Ein wichtiger Faktor, der die Zunahme 
der Ankylostomiasis in Westfalen be¬ 
günstigt hat, ist nach Tenholts Studien 
die Berieselung der Gruben, welche zur 
Verhütung der gefährlichen Kohlenstaub¬ 
explosionen aus Anlass des schweren Un¬ 
glücks auf Zeche Carolinenglück (115 Tote, 
am 15. Februar 1898) bergpolizeilich einge- 
führtwurde, und sich auch in dieserRichtung 
bewährt hat und deshalb beibehalten werden 
muss. Die Berieselung fördert durch die 
Zufuhr von Wasser die Feuchtigkeit des 
Bodens und zugleich die mechanische Fort- 
schwemmung der Kothhaufen; damit wird 
die Gelegenheit zur Infection vermehrt. 

Aus Belgien und Ungarn wird eben¬ 
falls eine bedeutende Zunahme der Anky¬ 
lostomiasis in den dortigen Bergwerken 
berichtet. Eine Berieselung ist dort nicht 
eingeführt. Wir müssen uns die Ver- 

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mehrung der Fälle mit den günstigen Ent¬ 
wicklungsbedingungen in den Gruben und 
mit thatsächlichen grösseren hygienischen 
Mängeln, als sie bei uns bestehen, erklären, 
ln Belgien ist der Bezirk Herve, dessen 
Zechen eine Temperatur von 17—18° haben 
und verhältnissmässig trocken sind, fast 
wurmfrei, während in den Bezirken Lüttich 
und Seraing sämmtliche Zechen, bis zu 
60% der Belegschaft, inficirt sind. Die 
| Gruben haben hier eine Temperatur von 
« 20—26° und sind feucht. Die Tages-Ar- 
beiter und die Familienglieder der 
Arbeiter sind wurmfrei. Die Bergleute, 
unter denen wiederum die Kohlenhauer 
am stärksten betheiligt sind, setzen ihre 
Fäces durchweg frei in der Grube ab; 

^ die Aufstellung von Abortkübeln hat sich als 
nutzlos erwiesen. Die Einzelheiten, die der 
amtliche Bericht von B ar b i e ranführt, decken 
sich fast völlig mit den Erfahrungen, die na¬ 
mentlich Tenholt, ferner Löbker in West¬ 
falen gemacht haben. Der Bericht Barbiers 
zeigt ferner die grossen Schwierigkeiten 
sehr deutlich, die in Folge des Wider¬ 
standes der Arbeiter und der Gleichgültig¬ 
keit vieler Arbeitgeber bei der Bekämpfung 
der Krankheit zu überwinden sind. 

ln Ungarn können sämmtliche Berg¬ 
werke als inficirt mit Ankylostoma be¬ 
trachtet werden. Der Kampf ist auch hier 
lebhaft im Gange, wie der neueste Bericht 
von Gold mann in Brennberg zeigt. Seit¬ 
dem ist in Brennberg die Zahl der Wurm¬ 
kranken von 47% im Jahre 1898 auf 8% 
im Jahre 1902 gefallen. 

Ueber den gegenwärtigen Stand der 
Ankylostomiasis in den französischen 
Bergwerken habe ich in jüngster Zeit in 
der mir zur Verfügung stehenden Literatur 
nichts gefunden. 

In England war bisher über das Vor¬ 
kommen der Wurmkrankheit nichts bekannt 
geworden. Von grossem Interesse ist da¬ 
her der amtliche Bericht von Haldane, 
der 115 Fälle mit Anämie auf der Dol- 
coathgrube in Cornwall (Zinnbergbau) in 
den Jahren von 1893 bis 1903 beobachtet hat. 
Der Bericht enthält leider hinsichtlich des 
Wesens der Krankheit mehrfache Irrthümer. 

Die Maassregeln zur Bekämpfung 
der Wurmkrankheit sind abgeleitet wor¬ 
den aus den Kenntnissen, die wir von 
dem Wesen der Krankheit, in dem west¬ 
fälischen Steinkohlenrevier hauptsächlich 
durch die fortgesetzten Forschungen Ten- 
holt’s und seiner Mitarbeiter, ferner Löb¬ 
ker s u.A. erlangt haben. Die dort gemachten 
Erfahrungen sind auf den verseuchten Gru¬ 
ben im Lütticher Becken und auf der Zeche 


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536 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


December 


Brennberg in Ungarn von Barbier und 
seinen Mitarbeitern, resp. von Goldmann 
und von Löbker selbst in allen wesent¬ 
lichen Punkten bestätigt worden. 

Die Hauptthatsachen seien hier in Kürze 
zusammengefasst: 

Ankylostoma wird durch Bergarbeiter, 
welche den Parasiten in ihrem Darm be¬ 
herbergen, in die Grube dadurch einge¬ 
schleppt, dass die inficirten Leute den 
eierhaltigen Koth frei in der Grube ab¬ 
setzen. Bei genügender Feuchtigkeit und 
einer Temperatur von etwa 220 und mehr 
entwickeln sich in dem mit dem Gruben¬ 
schlamm sich mischenden Kothe die Lar¬ 
ven und werden in der Grube durch den 
Verkehr der Arbeiter und durch Weiter- 
schwemmung verbreitet. Mit larvenhaltigem 
Material kommt durch seine Arbeit ganz 
besonders der unterirdische Arbeiter, 
namentlich der Kohlenhauer, unfehlbar 
in Berührung; er bringt mit dem Schmutz 
die Larven an seine Finger und von da 
bei mannichfachen Berührungen in den 
Mund. In diesen Neu Inficirten entwickeln 
sich im Darm dann die geschlechtsfähigen 
Ankylostomen, deren Weibchen ihre Eier im 
Darm ablagern, diese gelangen mit dem Kothe 
wieder in die Grube und schaffen somit rasch 
zahlreiche neue Infectionsheerde. In den 
verseuchten Gruben sind wiederholt 
Larven nachgewiesen worden. Eine 
Vermehrung der Würmer im Darm kann 
nur durch Verschlucken weiterer Larven 
entstehen. Wir haben es nur mit die¬ 
sem Uebertragungsmodus zu thun. 
In den Gruben, welche wenig feucht oder 
fast trocken sind und nur eine Temperatur 
von weniger als 22o, resp. 20° haben, 
gehen die Larven zu Grunde; eine solche 
Grube ist also der Gefahr der Verseu¬ 
chung nicht ausgesetzt. In Laboratoriums¬ 
versuchen habe ich, in Uebereinstimmung 
mit den Lütticher Befunden, noch bei Tem¬ 
peraturen bis zu 150 Larven gezüchtet. 
Doch ist sicher, dass die Zahl der zur 
Entwicklung kommenden Larven mit jedem 
Grad unter 20o ganz bedeutend abnimmt. 

Die Maassregeln gegen den Para¬ 
siten bezwecken: 

1. Die Vernichtung der Larven in 
den verseuchten Gruben und die Ver¬ 
meidung der Einschleppung von eier¬ 
haltigem Koth in die Grube. 

Der ersten Forderung wird genügt 
durch die Desinfection mit Kalkmilch an 
den besonders gefährdeten Stellen, ferner 
durch die Vorschrift, dass jeder Arbeiter 
seinen Koth entweder über Tage oder nur 
in die Abortkübel der Grube entleert. Da- 

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durch wird auch die Zufuhr neuen eier¬ 
haltigen Materials in die Grube verhindert. 

2. Feststellung der mit Ankylo¬ 
stoma inficirten Arbeiter und Ab¬ 
treibung der Würmer bei denselben. 

Da sich in der Praxis die ersten For¬ 
derungen bei der Gewohnheit der Arbeiter 
nicht strenge durchführen lassen, muss der 
zweite Weg energisch beschritten wer¬ 
den, um möglichst alle Inficirten wurm¬ 
frei zu machen. Nach den geltenden Be¬ 
stimmungen wird zur Arbeit neu nur der¬ 
jenige zugelassen, der die ärztliche Beschei¬ 
nigung der Wurm freih eit beibringt. 

In dem praktischen Kampf gegen die 
Seuche der Bergarbeiter müssen alleFac- 
toren einig und energisch Vorgehen. 
Es kann an dieser Stelle nicht auf die Einzel¬ 
heiten eingegangen werden. Es haben 
sich bei dem grossen Umlange der An- 
kylostomiasis naturgemäss erhebliche 
Schwierigkeiten ergeben, wie die noth- 
wendigen Maassregeln am besten durch¬ 
geführt werden können. Ueber manche 
Punkte gehen die Ansichten der betheiligten 
Sachverständigen noch auseinander. In der 
Hauptsache herrscht indessen Klarheit. 

Durch die Anlage von Brausebädern 
und Abtritten über Tage, durch die Auf¬ 
stellung und Reinhaltung von Abortkübeln 
in der Grube, ferner durch ausgiebige Be- 
lenrung der Arbeiter über die Seuche ist 
viel geschehen. 

Gegenwärtig sind zugleich die Unter¬ 
suchungen über die wirkliche Zahl der 
verseuchten Zechen und Belegschaf¬ 
ten in vollem Gange, um in dem ganzen 
Ruhrkohlengebiet die Prophylaxe und Be¬ 
kämpfung erfolgreich durchzuführen. Es 
leuchtet ein, dass schon bei dem jetzt be¬ 
kannten Umfange sehr bedeutende Kosten 
entstanden sind und noch entstehen und 
dass es sehr schwierig ist, die Maassregeln 
gegen die Seuche mit den wirthschaftlichen 
Interessen der Arbeitnehmer und -geber, 
soweit möglich, in Einklang zu bringen. 

Zur Abtreibung der Würmer ist bisher 
das frisch bereitete Extractum filicis 
maris aethereum in der Menge von 10 bis 
höchstens15,0 g allen anderen Mitteln vor¬ 
zuziehen. Die wirksame Substanz desExtrac- 
tes, das Filmaron (0,7), hat sich nach Nagel 
noch nicht als besser bewährt. Als Abtühr- 
mittel eignen sich Sennainfus, Purgatin u. a. t 
weniger das Ricinusöl. Die zuweilen nach 
Extractum filicis vorkommende Erblindung 
oder hochgradige Herabsetzung des Seh¬ 
vermögens ist ein fatales, aber glücklicher 
Weise äusserst seltenes Vorkommniss (bis¬ 
her unter mehreren tausend Curen ungefähr 

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December 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


537 


3—5 Fälle). Die Curen fördern oft mehrere 
Hundert Würmer zu Tage, Wenn nur 
wenige Parasiten im Darm vorhanden sind, 
ist oft selbst eine mehrmalige Cur nicht 
ausreichend, wie der spätere Befund von 
Eiern (ohne Neuinfection) beweist. Gerade 
diese Fälle häufen sich jetzt bei der metho¬ 
dischen Untersuchung der Belegschaften 
und sie werden unter fortlaufende Controle 
zu stellen sein, um die Weiterverbreitung 
des Infectionsmaterials zu hindern. Die hier 
vorhandenen praktischen Schwierigkeiten 
sind zur Zeit noch nicht erschöpfend gelöst. 

Der Kampf gegen die Seuche ist in 
dem Ruhrkohlengebiete Dank der An¬ 
regungen Tenholts und Löbkers schon 
seit dem Jahre 1893—1894 zunächst örtlich, 
seit 1895—1896 aber mit der Zunahme der 
Krankheit umfassender eingeleitet worden. 
Durch sanitäre Verordnungen im Bezirke 
des Allgemeinen Knappschaftsvereins zu 
Bochum, der weit grösser als der in ihm ent¬ 
haltene rheinisch - westfälische Industrie¬ 
bezirk ist, und des Königlichen Oberberg¬ 
amtes zu Dortmund wurde die Beseitigung 
der bisherigen Mannschaftsbassinbäder, die 
Einführung von Brausebädern, die aus¬ 
schliessliche Benutzung von Abortkübeln 
unter Tage, Desfection mit Kalkmilch u .s. w. 
angebahnt. Alle nöthigen Maassnahmen 
wurden, wie Tenholt mittheilt, in den fol¬ 
genden Jahren erweitert. Trotzdem ist die 
Zunahme der Seuche seit 1901 eine ganz 
ausserordentliche. Sie wird erklärt durch 
den grossen Wechsel der Belegschaften 
von Grube zu Grube, durch die grossen 
Schwierigkeiten in der wirklichen Durch¬ 
führung der für nothwendig befundenen 
Maassnahqien und durch die neugeschaffenen 
Berieselungs-Anlagen (Tenholt). 

Im September 1902 trat der Sonder¬ 
ausschuss zur Bekämpfung der Wurm¬ 
krankheit zusammen. Zugleich wurde 
ausser dem Oberärzte des Allgemeinen j 
Knappschaftsvereins (Med.-Rath Tenholt) j 
und seinen Mitarbeitern das im Jahre 1901 
von dem „Verein zur Bekämpfung der Volks¬ 
krankheiten im Ruhrkohlengebiet“ aus An¬ 
lass der bekannten Typhus-Epidemie ge¬ 
gründete bakteriologische Institut in Gelsen¬ 
kirchen (Dr. Bruns) zur Mitwirkung heran¬ 
gezogen. 

Die Frage erregte bald ein öffentliches 
Interesse und kam im laufenden Jahre 
besonders im Preussischen Abgeordneten¬ 
hause zur Sprache. Am 4. April d. J. tagte 
die von dem Minister für Handel und Ge¬ 
werbe nach Berlin einberufene Konferenz 
unter Theilnahme der betheiligten Behörden 
und sachverständigen Aerzte, in der die 

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getroffenen und zu treffenden Maassregeln 
eingehend berathen wurden. Die inter¬ 
essanten Verhandlungen dieser Conferenz 
sind im Reichsanzeiger veröffentlicht wor¬ 
den. Es wurden Commissionen zum Stu¬ 
dium der Ankylostomiasis nach Belgien und 
Ungarn entsandt. Die Ausdehnung der 
mikroskopischen Kothuntersuchung 
auf alle Zechen und wenn durchführ¬ 
bar auf die gesammten Belegschaften 
wird die genaue thatsächliche Ver¬ 
breitung der Seuche aufdecken und 
die Grundlage umfassender Maass¬ 
nahmen bilden. Im Juli standen mehr als 
200 mit der Wurmkrankheit vertraute Aerzte 
und 56 zur Behandlung der Wurmbehafteten 
eingerichtete Krankenhäuser zur Verfügung. 

Die oberirdischen Brausebad- und beson¬ 
ders die Abortanlagen werden vermehrt. 

Die einzelnen Staaten mit Kohlenberg¬ 
bau (Belgien, Böhmen, Galizien, Mähren, 
Steiermark, Sachsen, Bayern, Schlesien) 
haben Aerzte zum Studium der Krankheit 
in die von dem Knappschafts Oberarzte in 
Bochum geleitete Untersuchungsstation für 
Ankylostomakranke geschickt. 

Mit der vollständigen Erkenntniss 
des Wesens und des Umfanges der 
Seuche ist die erfolgreiche Bekämpf¬ 
ung mit Sicherheit zu erwarten. Bis¬ 
her ist bei uns, wie erwähnt, die Ankylo¬ 
stomiasis nur im Oberbergamtsbezirke 
Dortmund — hier allerdings ganz ausser¬ 
ordentlich — verbreitet. Von diesem 
Amte als der zuständigen Bergpolizeibe¬ 
hörde werden die weiteren Maassnahmen 
gegen die Krankheit durchgeführt. In den 
Oberbergamtsbezirken Breslau, Halle und 
Clausthal sind in den letzten Jahren 
keine, im Oberbergamtsbezirk Bonn nur 
ganz vereinzelte Erkrankungsfälle vor¬ 
gekommen. Eine Stichprobenunter¬ 
suchung der Stühle wäre aber in 
allen Bezirken entschieden ange¬ 
bracht. Wo überhaupt das Ankylo- 
stoma günstige Lebensbedingungen 
findet, kann man nach vielen Er- 
fahrungen'den Parasiten thatsächlich 
mit Wahrscheinlichkeit vermuthen: 
jedenfalls darf seine Abwesenheit nur 
auf Grund von mikroskopischen Stuhl¬ 
unter such un gen angenom men werden. 

Die Erfahrungen im Ruhrkohlenrevier 
und in anderen Ländern nöthigen aber 
dazu, in allen Bergbau-Bezirken auf 
der Hut zu sein, um eine Ein¬ 
schleppung der Seuche zu ver¬ 
hüten. Diese Forderung wird hoffent¬ 
lich durchgeführt werden. Denn die 
Lebensgeschichte des Parasiten zeigt, 

68 

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538 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


December 


dass es leichter sein wird, die Infection 
einer Grube zu verhindern als eine inficirte 
Grube, bei der raschen Vermehrung und 
Ausbreitung deslnfectionssmaterials, wieder 
zu befreien. 

Wir können uns in Anbetracht des 
energischen und planmässigen Vorgehens 
der betheiligten Kreise der Hoffnung hin¬ 
geben, dass in unserem Vaterlande 
wenn auch nach vielen Opfern und Mühen 
schliesslich nach Jahren die Seuche dauernd 
ausgerottet wird und ihre Wieder¬ 
entstehung verhindert werden kann. 
So werden uns die schweren Schädigungen 
an Gesundheit und Leben vieler arbeits¬ 
fähiger Menschen, wofür die Litteratur der 
Ankylostomiasis warnende Beispiele zeigt, 
erspart bleiben. 

Mein Bericht (vgl. auch den Nachtrag auf 
S.566) bezweckt nur eine zusammenfassende 
Uebersicht über die Seuche zu geben. Die 
Litteratur und die geographische Verbreitung 
der Krankheit auf der ganzen Erde (mit 2 
Karten) bis einschliesslich 1897 findet sich 
in der Monographie von Jacoby und mir 
(Leipzig, G. Thieme 1898). Von den zahl¬ 
reichen Arbeiten, die in den letzten Jahren 
erschienen sind, möchte ich hier nur die 


neuesten angeben, die gerade einen be¬ 
sonders guten Einblick in den Stand der 
Seuche im Ruhrkohlengebiete, in Belgien 
und Ungarn ermöglichen: 

Gesundheitsberichte des Allg. Knappschafts¬ 
schafts-Vereins zu Bochum von 1896 an (jähr¬ 
lich); ich verdanke dieselben der Güte des 
Herrn Oberarztes Medicinalrath Dr. Tenholt; 
Von demselben Autor: Generalbericht über 
das Gesundheitswesen etc. Bochum 1897; Zeit¬ 
schrift für Medicinal-Beamte 1898, 1903; Münch, 
med. Wochenschr. 1903; Referat in den Ver¬ 
handlungen des XI. internat. Congr. f. Hyg. u. 
Demogr. 2.—8. September 1903 in Brüssel; Die 
Ankylostomiasis-Frage. Jena, G. Fischer 1903 
(Zusammenfassende Uebersicht); Die Unters, 
auf Ankyl. etc. (Abbild.) Bochum 1903: 
W. Nagel, Deutsche med. Woch. 1903, No. 31; 
Bruns, „Glückauf", Berg- u.Hüttenmänn.Woch. 
1903, No. 10; Löbker, Die Ankylostomiasis. 
Wiesbaden (J. F. Bergmann 1896); Derselbe, 
Glückauf 1903, No. 12. Bericht über Ungarn, 
No. 26 über Belgien; Barbier, Amtl. Bericht 
über Belgien, übersetzt von Löbker (Leipzig 
1903); Goldmann. Die Hygiene des Berg¬ 
manns etc. (Ungarn). Halle, W. Knapp 1903; 
Derselbe, Die Ankylostomiasis etc. (W. Brau¬ 
müller, Wien 1900). Amtliche Mittheilungen im 
Deutschen Reichs- u. Königl. Preuss. Staats¬ 
anzeiger 1903. 


Aus der medicinisclien Klinik der Universität Breslau. 
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. v. Strümpell.) 

Beiträge zur Lichttherapie nach eigenen Versuchen. 

Von Privatdocent Dr. Paul Krause, Oberarzt der Klinik. 


Die Behandlung acuter Exantheme mit 
rothem Lichte wurde zuerst im Jahre 1893 
von Niels Finsen bei Pockenkranken 
durchgeführt; er ging dabei von der schon 
älteren Aerzten bekannten Beobachtung 
aus, dass sich die tiefsten und zahlreich¬ 
sten Narben gerade an den dem Lichte 
am meisten ausgesetzten Körperteilen 
von Pockenkranken, besonders an den 
Händen und im Gesichte finden, während 
die vom Lichte geschützten Körperteile 
viel weniger betroffen werden. 

Finsen nimmt an, dass die chemischen 
Strahlen durch reizende Wirkung bei der 
Vereiterung der Pockenbläschen eine ätio¬ 
logische Bedeutung haben und kam des¬ 
halb consequenterweise zur Behandlung 
seiner Pockenkranken mit rothem Lichte. 

Nach Finsen’s Berichte wird dadurch 
dieSuppuration unterdrückt resp. bedeutend 
abgekürzt und gemildert; die Narbenbildung 
wird aufgehoben, bezw. völlig verhindert. 

Finsen’s Angaben wurden von vielen 
Aerzten bestätigt, so von Lindholm, 
Feilberg, Strandgaard, Krohn, En¬ 
gel, Naunyn u. A. 

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Nach den zahlreichen vorliegenden Be¬ 
richten scheint thatsächlich diese Behand¬ 
lung der Variola einen grossen Fortschritt 
zu bedeuten. 

Es ist daher sehr begreiflich, dass durch 
diese therapeutischen Erfolge Versuche 
mit „rothem Lichte“ auch bei anderen 
Exanthemen angeregt und durchgeführt 
wurden, so berichten nach Bie, Chati- 
niere, Backmann, Schüler über gün¬ 
stige Beeinflussung der Morbilli durch 
„rothes Licht“, Krukenberg desgleichen 
bei Erysipelkranken. 

Krukenberg führt in seiner Arbeit 
aus, dass er 18 Fälle von Erysipel (15 Ge¬ 
sichtserysipele und 3 Erysipele an anderen 
Körperstellen) im rothen Zimmer behan¬ 
delt habe: „unter diesen 18 Fällen betrug 
die Fieberdauer nach dem stets sofort be¬ 
wirkten Abschluss der chemisch wirk¬ 
samen Strahlen in 7 Fällen, weniger als 
1 Tag, in einem Falle 1 Tag, in 2 Fällen 
U/a Tage, in 2 Fällen 2 Tage, in 3 Fällen 
2Va Tage, in 1 Fall 6 Tage, in 1 Fall 
7 Tage“. 

Schwere Complicationen hätten im All- 

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l>ecember 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


gemeinen gefehlt; nur in 2 Fällen sei eine 
Pneumonie, resp. starker Haarausfall auf¬ 
getreten. 

Der Vortrag Krukenbergs veran- 
lasste mich, diese neue Behandlungsweise 
bei den Erisypelkranken der medicinischen 
Klinik in Breslau zu erproben. 

Mit gütiger Erlaubniss des verstor¬ 
benen Herrn Geheimraths Käst wurde vor 
IV 2 Jahren in der Isolirbaracke ein „rotes 
Zimmer“ eingerichtet. 

Die Fenster wurden mit Rahmen, 
welche mit spektroskopisch geprüftem 
„photographisch“ - rotem Stoffe ausge¬ 
kleidet waren, lichtdicht geschlossen, die 
Thür durch eine rotbraune, dicke Filz¬ 
portiere desgleichen. 

Ich bemerke, dass dadurch ein Raum 
geschaffen wurde, welcher nur rothes Licht 
enthielt, wie durch Exponirung photo¬ 
graphischer Platten wiederholt festgestellt 
wurde. 

Die Beleuchtung fand mit einer roten 
Gaslampe statt, wie sie zu photographi¬ 
schen Zwecken benutzt wird. Eine ge¬ 
wisse Schwierigkeit erhob sich durch die 
Sorge um genügende Lüftung; dieselbe 
konnte nur durch eine etwa 1 qm grosse 
Schiebeklappe, welche in einen dunklen 
Corridor einmündet, in den Abend , resp. 
in den Nachtstunden auch durch Oeffnung 
der Oberfenster durchgeführt werden. 

Ich bemerke, dass während der Ver¬ 
suche nur bei Abwesenheit von weissen 
Strahlen gelüftet wurde. 

Ich behandelte bisher im Ganzen 20 
Erysipelkranke im „roten Zimmer“. 

Auf Auszüge der Krankengeschichten 
glaube ich hier verzichten zu sollen, da 
ich weiss, wie ermüdend sie zu wirken 
pflegen. 

Ich erwähne kurz folgende Daten: 
Unter den letzten 75 Erysipelkranken, 
welche seit Ende 1900 in der medicinischen 
Klinik behandelt worden sind, waren: 

30 Männer, darunter 26 Fälle mit Ge¬ 
sichtserysipel. 

45 Frauen, darunter 42 Fälle von Ge¬ 
sichtserysipel; die übrigen Fälle vertheilen 
sich aut Erysipel der Brust und vor allem 
der Extremitäten. 

Die durchschnittliche Behandlungszeit 
betrug 15,9 Tage. 

Unter den im roten Zimmer behan¬ 
delten 20 Kranken befanden sich: 

6 Männer und zwar mit Erysipelas fa- 
ciei 5 Fälle; mit Erysipel der rechten Brust¬ 
seite 1 Fall. 

14 Frauen, davon 13Fälle mit Erysipel, 
faciei; 1 Fall mit Erysipel an den Beinen. 

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Die durchschnittliche Behandlungsdauer 
betrug 11,5 Tage. 

Anders stellen sich die Zahlen, wenn 
ich wie Krukenberg die Fieberdauer 
berechne: 

Ich bekam da bei den im roten Zim¬ 
mer behandelten Fällen durchschnittlich 
4 3 gegenüber von 6,2 Tagen bei den oben 
erwähnten 75 Fällen heraus. 

Die meisten der behandelten Fälle 
waren uncomplicirt; bei einem trat eine 
Bronchopneumonie, bei einem zweiten Di- 
lirium tremens, bei einem dritten Abscess- 
bildung auf; ein Fall war durch Graviditas 
complicirt; ferner befand sich darunter ein 
Erysipelas migrans. 

Dass das letztere durch die Behandlung 
im roten Zimmer zum Stehen gekommen 
oder bloss am Fortschreiten gehemmt wor¬ 
den wäre, habe ich nicht beobachten 
können. 

Was nun, abgesehen von der Fieber¬ 
dauer, den Verlauf betrifft, so kann ich 
leider nicht sagen, dass ich den Eindruck 
bekommen habe, die im roten Zimmer 
behandelten Erysipelkranken hätten einen 
günstigeren Krankheitsverlauf gezeigt, als 
die auf andere Weise behandelten. 

Subjectiv fühlte sich eine Reihe von 
Kranken nicht sehr behaglich in dem roten 
Lichte: ich bin nach meinen Beobachtungen 
nicht berechtigt, wie Bi ne, F£r6 und 
Gilles de la Tourette das rothe Licht 
als ein nervenkräftigendes und excitiren- 
des Mittel anzusehen. Die von französi¬ 
schen Autoren angeführten Beispiele sind, 
soweit ich sehe, von deutscher Seite nicht 
bestätigt: so wird von ihnen erzählt, dass 
in der Fabrik für photographische Platten 
der Brüder Lumi£re in Lyon diejenigen 
Arbeiter, welche in den roten Sälen be¬ 
schäftigt waren, sich während der Arbeit 
sehr aufgeräumt zeigten, sangen, mit lauter 
Stimme raisonnirten und lebhafte Gesten 
machten, während sie sofort ruhiger wur¬ 
den, wenn die roten Scheiben durch grüne 
ersetzt wurden. 

Jeder, welcher selbst photographisch 
thätig war, wird mir bestätigen, dass ein 
längerer Aufenthalt im roten Zimmer 
nicht gerade anregend, viel eher nieder¬ 
drückend wirkt. 

Thatsächlich will Oleinikow gesehen 
haben, dass der Aufenthalt im roten Zim¬ 
mer bei Schwerkranken Delirien mit Hallu- 
cinationen hervorrief, welche sofort schwan¬ 
den, als die Kranken in einen hellen Raum 
gebracht wurden. Einer meiner Kranken, 
welcher ein Delirium tremens bekam, zeigte 
keine Abweichung von ar r* ^ 

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Die Therapie der Gegenwart 1903. 


December 


Ponza hat im Gegensätze zu der Mit¬ 
teilung von Oleinikow nach einer Arbeit 
aus dem Jahre 1876 beobachtet, dass grade 
Melancholiker nach mehreren Stunden Auf¬ 
enthalt im rothen Zimmer gesprächig und 
aufgelegt wurden, während rothes Licht 
auf manikalische Kranke beruhigend wirkte. 

Man sieht, dass auch in diesem Punkte 
die Ansichten sehr wenig geklärt sind. 

Unter meinen Kranken baten mich 
jedenfalls mehrere inständig, dass ich sie 
sobald wie möglich, aus dem roten Zim¬ 
mer in das „helle“ hinüberbringen Hesse, 
sie könnten es bei dem fürchterlichen 
rothen Lichte gar nicht aushalten. 

Auch die Abschuppung verlief in ähn¬ 
licher Weise, wie bei den z. B. mit ge¬ 
wöhnlichem Borsalben verband Behandelten: 
meist waren es grosse membranöse Fetzen, 
seltener kleinere schuppen- oder kleien¬ 
artige; der Eintritt und die Dauer der Ab¬ 
schuppung wurde nicht nennenswert beein- 

Femer konnte ich beobachten, dass 
Blasenbildung bei Gesichtsrose im 
roten Zimmer auftrat, dass bestehende 
Blasen daselbst nicht schneller eintrock¬ 
neten, als im Tageslichte. 

Die febrile Albuminurie blieb völlig 
unbeeinflusst; auch eine complicirende 
Bronchopneumonie erfuhr keine Besserung. 

Die Leukocytenzahlen im Blute 
wiesen keine Abweichungen von dem ge¬ 
wöhnlichen Befunde auf: ich fand im roten 
Zimmer in einigen Fällen Leukocyten¬ 
zahlen zwischen 4000—8000, geradeso 
wie im hellen Zimmer. 

Die Beobachtung Krukenberg’s, dass 
die besprochene Behandlungsart vor Re- 
cidiven nicht schützt, kann ich nach meinen 
Erfahrungen bestätigen. 

Die Wirkung des roten Lichtes 
wird bekanntlich allgemein nicht als speci- 
fisch aufgefasst, sondern vielmehr nur als 
solche, welche den schädigenden Einfluss 
der chemischen, activen Strahlen abhält: 
es ist aus dieser allgemein anerkannten 
Meinung ohne weiteres einleuchtend, dass 
die Wirkung des roten Lichtes beim Ery¬ 
sipel nicht viel anders sich verhalten kann, 
als die jener Mittel, welche gleichfalls 
einen licht- und luftdichten Abschluss be¬ 
wirken, wie z. B. Ichthyol, das neuerdings 
von Gersuny empfohlene Siccativ, über 
welche ich einige Erfahrung besitze: ich 
kann mich des Eindrucks nicht erwehren, 
dass thatsächlich diese Mittel der Behand¬ 
lung des Erysipels mit rothem Lichte eben¬ 
bürtig zur Seite stehen, vor ihr aber den 
Vorzug der Einfachheit und Billigkeit 
haben. 


Durch Studium der Wachsthums- 
Verhältnisse von Bacterien, speciell von 
Streptococcen und Staphylococcen fand 
auch ich, wie andere Forscher vor mir, 
dass dieselben im roten Lichte etwas 
weniger gut, als bei Lichtabschluss, da¬ 
gegen besser, als bei Tageslicht wuchsen; 
also eine bactericide Wirkung kann dem 
rothen Lichte nicht gut gerühmt werden. 

Im Anschluss an die vorstehende Mit¬ 
theilung will ich kurz über eine bisher nicht 
publicirte therapeutische Versuchsreihe be¬ 
richten, welche ich vor mehr als 3 Jahren 
auf Anregung von Herrn Professor Rumpf 
bei 51 Patienten ausprobirte, nämlich die 
Bestrahlung von Kranken mit einem elek¬ 
trischen Scheinwerfer, wie derselbe zu 
therapeutischen Zwecken von verschie¬ 
denen Seiten empfohlen und ausprobirt 
worden ist; und zwar komme ich deshalb 
hier darauf zurück, weil sich darunter auch 
5 Erysipelkranke befanden. 

Der elektrische Scheinwerfer wurde zur 
Lokalbehandlung aller möglichen Erkran¬ 
kungen vor Jahren mit grosser Reklame, 
wie auch heute noch viele Apparate zur 
Lichttherapie, in den Handel gebracht. 

Wir verwandten einen Schuckert- 
schen Scheinwerfer mit und ohne blaue 
Scheibe; die Patienten standen etwa U /2 m 
davor; während der Brennpunkt etwa 
1,36 cm von der Lichtquelle, 11 ,s von der 
Scheibe entfernt war. 

Nach Untersuchungen an mir und an¬ 
deren gesunden Personen stellte ich fest, 
dass durchschnittlich ohne Scheibe 22 Se¬ 
kunden, mit blauer Scheibe etwa das Dop¬ 
pelte der Zeit in diesem intensiven Lichte 
vertragen wurde; die dabei sich ent¬ 
wickelnde Wärme betrug durchschnittlich 
42—45, einmal gegen 640 C. 

Die Haut wurde darnach stets stark 
hyperämisch, schwitzte lokal; bei wieder¬ 
holter Bestrahlung trat Bräunung der be¬ 
troffenen Hautstellen ein. Meist wurde 
die Bestrahlung gut vertragen, nur einmal 
sah ich bei kurz dauernder Belichtung von 
20 Sekunden Auftreten von Blasen, welche 
mit klar seröser Flüssigkeit gefüllt waren, 
etwa 6 Stunden nachher; die Haut war 
etwa 36 Stunden lang geschwollen und 
mässig geröthet. 

Nenrastheniker gaben wiederholt an, 
während und nach der Beleuchtung sich 
schlechter zu fühlen, als vorher. 

Kranke mit Sensibilitätsstörungen, ich 
erwähne besonders 2 Leprakranken mit 
tuberöser Lepra, ertrugen die Bestrahlung 
viel länger, der eine, 1 1 /a — 2 Minuten, ohne 
dass Schädigungen eintraten. 


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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 






Dcccmbcr 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


541 


Bemerkenswerth erscheint mir hier die , 
Beobachtung, dass ein Kranker mit Ge¬ 
sichtserysipel gleichfalls eine Bestrahlung 
von 1 1 ,j Minuten aushielt — die Körper¬ 
temperatur ging am nächsten Tage kritisch : 
herunter, man kann, wenn man will, diesen i 
Fall als Glanzfall der eingeschlagenen ' 
Therapie betrachten; ich glaube persön- I 
lieh mehr an ein zufälliges mir allerdings i 
nicht erklärliches Zusammentreffen, da die j 
übrigen 4 Fälle immer nur 20—24 Sekunden ! 
Bestrahlung aushielten und zu ihrer Hei¬ 
lung 12, 16, 17, 14 Male bestrahlt werden 
mussten (2 Mal täglich). 

Ich bin weit davon entfernt, aus diesen * 
5 Fällen irgend einen weitgehenden Schluss j 
machen zu wollen: doch scheinen mir die | 
Resultate dieser der Rotlichtbehandlung | 
conträr gegenüber stehenden Behandlungs¬ 
weise immerhin dahin verwerthet werden 
zu können, dass bei beiden Arten der 
Lichttherapie des Erysipels strenge Kritik 
geboten erscheint: wie bei der medica- 
mentösen Therapie des Erysipels führen j 
auch hier die heterogensten Methoden zum 
Ziele. 

Von anderen Erkrankungen wurden der 


Bestrahlung mit dem Scheinwerfer Fälle 
von incipienter Lungentuberkulose (4), 
Neuritis alcoholica ( 2 ), Neurasthenie ( 2 ), 
Emphysema pulmonum (I), Cancroid des 
Gesichts (1), Ulcus cruris (1), Diabetes ( 2 ), 
Arthritis gonorrhoica ( 2 ) ohne jeden Erfolg 
zum Theil 10—30 Mal unterworfen. 

Zweifellos besser war das Resultat bei 
chronischem Rheumatismus der ( Muskeln und 
Gelenke (16 Fälle), Lumbago (10 Fälle), 
Trigeminusneuralgie(1 Fall),Ischias (2Fälle); 
sämmtliche Patienten gaben an, dass sie 
unmittelbar während und nach der Behand¬ 
lung eine Besserung ihrer Beschwerden 
fühlten, ein Zustand, der allerdings nicht 
lange andauerte; zu irgend einem anhal¬ 
tenden Erfolge kam man erst, wenn meh¬ 
rere Dutzend Male bestrahlt worden war. 

Litteraturverzciehniss. 

1) Mittheilungen aus Finsen’s Licht¬ 
institut. — 2) Freund, Grundriss der ge- 

sammten Radiotherapie. — 3) Rieder, im 
Handbuch der physikalisehenTherapie. Heraus¬ 
gegeben von Goldscheider und v. Leyden. 
— 4) Marcuse, Zeitschr. f. diätetische u. phy¬ 
sikalische Therapie. — 5) Haer, Münch, med. 
Wochenschrift 1903. No. 42. — 6) Krukenberg, 
Münch, med. Wochenschrift. 1902, No. 13. 


Ans der inneren Abtheilung des städtischen Krankenhauses Frankfurt a. M. 
(Direktor: Prof. Dr. von Noorden.) 

Ueber die therapeutische Verwendung natürlichen Magen¬ 
saftes (Dyspeptine) bei Magenkranken. 

Von Dr. Ludwig Carl Mayer, Assistent der Abtheilung. 


Die Versuche und die Operations- 1 
methode des russischen Physiologen Paw- 
low veranlassten Herrn Dr. M. Hepp in 
Paris, ein neues Mittel in die Behandlung ! 
verschiedener Magenerkrankungen einzu¬ 
führen. 

Hepp wollte bei gewissen Magenerkran¬ 
kungen den fehlenden menschlichen Magen¬ 
saft durch einen anderen natürlichen er- ! 
setzen, der ihm in Acidität und Gehalt an I 
wirksamen Fermenten möglichst gleich- ! 
kommt. 

Die nachPawlow’s Methode beiThieren j 
angelegte Magenfistel gestattete in kurzer 
Zeit eine genügende Menge vollständig 
reinen, durch Nahrung nicht verunreinigten 
natürlichen Magensaftes gleichsam fabrik- ! 
massig zu erlangen. 1 

Hepp machte seine ersten Versuche I 
am Hunde, musste aber die Erfahrung j 
machen, dass der so gewonnene Saft einen j 
zu hohen Säuregehalt, ausserdem einen ! 
unangenehmen fauligen Geruch hatte. 

Es gelang sodann am Schweine einen j 
Magensaft zu erhalten, der ganz rein, ohne i 

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unangenehmen Geruch, in seinen Eigen¬ 
schaften dem menschlichen sehr nahe 
kommt. 

Die Analyse dieses reinen natürlichen 
Magensaftes, vom lebenden Schwein ge¬ 
wonnen, der „Dyspeptine", hat folgendes 
Resultat: 

(Für 1000 ccm berechnet.) Spec. Gew. bei 


150 1008. 

Acidität (für HCl. angegeben) . 2,25 

Extract (trocken bei 100°) . . 22,60 

Asche.4,67 

Ci in organischen Verbindungen 2,29 

CI in basischen Verbindungen 

(K 2 0, Na 2 0, CaO etc.) . . . 1,87 

Phosphorsäure.0,28 

Schwefelsäure.0.03 

Potasche.1,51 

Natron.0,93 

Magnesia.0,06 

Kalk.0,20 

Eisen (in FC 2 O 3 ).0,02. 


Die Haltbarkeit der Dyspeptine ist recht 
gut. In der Originalpackung kalt aufbe¬ 
wahrt, hält sie sich viele Monate lang; auf 

Original fro-m 

ÜNIVERSITY OF CALIFORNIA 










54 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


December 


Eis gelegt ist die Dyspeptine nach Jahren 
noch in tadellosem Zustand und in voller 
Wirksamkeit. 

Die Erfolge, die He pp bei Anwendung 
der Dyspeptine meldet, sind in fast allen 
Fällen der verschiedenartigsten Magen- 
affectionen hervorragend. 

Wir haben hier in den letzten Monaten 
die Dyspeptine bei einer Anzahl von Magen¬ 
kranken zur Anwendung gebracht. Ueber 
die Erfolge, die wir erzielt, will ich im 
Folgenden kurz berichten, indem ich zu¬ 
nächst aus der grossen Zahl der mit Dys¬ 
peptine behandelten Fälle einige ausführ¬ 
licher referire. 

Fall 1. Frl. M. 24 J. Seit 2 Jahren ständige 
heftige Magenbeschwerden. Schmerzen in der 
Magengegend, Druckgefühl nach jeder Nah¬ 
rungsaufnahme. Appetitlosigkeit. Oefters Er¬ 
brechen. Abmagerung. Ohnmächten. Bis¬ 
herige diätetische Behandlung ganz ohne Er¬ 
folg. Magenbefund: Magen etwas dilatirt. Grosse 
Curvatur in Nabelhöhe. Magensaft nach Probe¬ 
frühstück: 1. freie Hel 0, Gesammtsäure 26, 
Milchsäure: Spuren. 2, freie Hel 0, Gesammt¬ 
säure 30. 3. freie Hel 0, Gesammtsäure 24. 
Magenentleerung verzögert. 

Es wurde dreimal täglich 15 ccm Dyspep¬ 
tine gegeben, mitten während der Mahlzeit, 
anfangs bei leichter, vorwiegend flüssiger Diät, 
wie vorher. Schon nach wenigen Tagen ver¬ 
ringerten sich die Magenbeschwerden und waren 
nach 14 Tagen vollständig verschwunden. 
Patientin konnte auch schwere Speisen ver¬ 
tragen und nahm in der Zeit von 3 Wochen 
10 Pfund zu. 

Die Secretion des Magens gestaltete sich 
folgendermaassen. 1 ) 

16. Juli (am 8. Tage der Dyspept. Behand¬ 
lung) freie Salzsäure: Spuren. Gesammtsäure 30. 

21. Juli freie Hel 10, Gesammtsäure 30. 24. Juli 
freie Hel 10, Gesammtsäure 32. 28. Juli freie 
Hel 14, Gesammtsäure 38. 

Patientin stellt sich nach ihrer Entlassung 
regelmässig vor. Sie ist bis heute vollständig 
beschwerdefrei geblieben. 

Fall 2. Fräulein M. S. 21 Jahre. Seit 
5—6 Monaten Magenbeschwerden. Erbrechen. 
Druck in der Magengegend. Uebelkeit. Appetit¬ 
losigkeit. Abmagerung. Kopfschmerzen. Keine 
Magenerweiterung. 

Nach Probefrühstück: 8. Juli 1. freie Hel 
Spuren, Gesammtsäure 32. 9. Juli 2. freie Hel 0, 
Gesammtsäure 24. 10. Juli 3. freie Hel 0, Ge¬ 
sammtsäure 28. Nach 40 Minuten. 

Vom 10. Juli ab Dyspeptine täglich dreimal 
15 ccm. Magenbeschwerden schwanden nun¬ 
mehr ziemlich rasch. Kein Erbrechen mehr. 

Schliesslich konnten alle Speisen, auch die 
schwersten, gut vertragen werden. Magen- 
secretion: 15. Juli freie Hel 18, Gesammtsäure 40. 

22. Juli freie Hel 14, Gesammtsäure 34. 27. Juli 

Selbstverständlich wurde an den für die 
Magenausheberung bestimmten Tagen morgens keine 
Dyspcptinc gegeben. 

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freie Hel 32, Gesammtsäure 62. 1. August freie 
Hel 22, Gesammtsäure 52. Gewichtszunahme 
in 4 Wochen 107a Pfund. 

Auch nach der Entlassung blieb Patientin 
ganz beschwerdefrei. 

Fall 3. Frau A. H. 34 J. Magenbeschwer¬ 
den seit 17s Jahren. Erbrechen, insbesondere 
in der Frühe Schleimerbrechen. Appetitlosigkeit. 
Uebelkeit. Druck und Schmerzen in der Magen¬ 
gegend. Magen ziemlich stark dilatirt. Grosse 
Curvatur 2 Finger unterhalb des Nabels. Im 
Magen alte Fleischreste etc. vom vorherigen 
Tage. Probefrühstück: 28. Juni. 1. freie Hel. 0. 
Milchsäure: schwach, Gesammtsäure 28. 4. Juni. 
2. freie Hel. 0, Gesammtsäure 10. 5. Juni. 3. freie 
Hel. 0, Gesammtsäure 0. 

Vom 5. Juni ab täglich dreimal 15 ccm Dys¬ 
peptine während der Mahlzeit. Die Beschwer¬ 
den schwanden hier nur ganz allmählich. Das 
Erbrechen trat nur noch in den ersten Tagen 
zuweilen auf, blieb dann vollständig aus. Ebenso 
schwanden auch alle anderen Beschwerden der 
Patientin. Zuletzt wurden reichliche Mengen ge¬ 
mischter Kost gut vertragen, Magensecretion: 
15. Juli freie Hel 10, Gesammtsäure 48. 22. Juli 
Probefrühstück mit 10 ccm Dyspeptine, freie 
Hel 14, Gesammtsäure 40. 29. Juli freie Hel. 16, 
Gesammtsäure 38. 

Am 2. August wurde mit der Darreichung 
von Dyspeptine ausgesetzt. Patientin blieb ohne 
Beschwerden bei gemischter Kost. 17. August 
freie Hel. 18, Gesammtsäure 36. 18. August 

freie Hel. 16. Gesammtsäure 50. Vom 19. August 
ab wieder dreimal täglich 15 ccm Dyspeptine. 

22. August freie Hel. 20, Gesammtsäure 50. 
Bei der Entlassung am 27. August bestand noch 
eine massige Magendilatation bis an den Nabel. 
Patientin ganz ohne Beschwerden. Gewichts¬ 
zunahme 5 Pfund. 

Fall 4. Fr. M. B., 37 Jahre. Seit 2 Jahren 
Magenbeschwerden, Appetitlosigkeit. Fast täg¬ 
liches Erbrechen schleimiger Massen. Druck¬ 
gefühl im Magen nach jeder Nahrungsaufnahme. 
Abmagerung. Patientin war unfähig zu arbeiten. 

Befund: Magendilatation bis zum Nabel. Bei 
Ausspülung des nüchternen Magens viel Schleim. 
Freie Hel 0, Gesammtacidität 0, Milchsäure: 
sehr pos. 

Vom 18. Juli ab Dyspeptine täglich dreimal 
15 ccm. Die Beschwerden der Patientin schwinden 
alsbald. Das Körpergewicht steigt sofort um 
4 Pfund. Gemischte Kost wird gut vertragen. 

23. Juli freie Hei 0, Gesammtsäure 18. 27. Juli 

freie Hel 0, Gesammtsäure 16. 

Am 3. August wird Dyspeptine ausgesetzt. 
Alsbald stellen sich wieder leichte Magen¬ 
beschwerden ein, Druck und Unbehagen nach 
der Nahrungsaufnahme. Gemischte Kost wird 
nicht mehr vertragen. Vom 17. August an 
wieder Dyspeptine 3x15 ccm. Beschwerden 
schwinden vollständig. Bei der Entlassung am 
26. September ist Patientin ganz beschwerde¬ 
frei. Es werden alle Speisen vertragen. Eine 
geringe Magendilatation besteht noch. 19. Sep¬ 
tember freie Hel 0. Gesammtsäure 14. Ge¬ 
wichtszunahme im Ganzen 8 Pfund. Auch 

Original from , 

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December 


Die Therapie der 


nach der Entlassung blieb Patientin bis jetzt 
beschwerdefrei. 

Fall 5. L. N. 27 J. Seit einigen Monaten 
Druck nach dem Essen. Schmerzen in der 
Magengegend. Zuweilen Erbrechen. Uebelkeit. 
Appetitlosigkeit. Nach Probefrühstück freie 
Hel 6. Gesammtsäurc 22. Bei Behandlung 
mit Diät und Acid. mur. schwanden die Be¬ 
schwerden nicht, das Körpergewicht sank. 

Vom 6. Oktober ab täglich 3x15 ccm 
Dyspeptine. Schon nach den ersten Tagen 
wurde Patientin ganz frei von Beschwerden. 
Es konnte schon am 3. Tag gemischte Kost 
gegeben werden. Das Körpergewicht stieg 
sofort an. 10. Oktober freie Hcl30, Gesammt- 
säure 46. 19. Oktober freie Hel 20, Gesammt- 
säure 42. 23. Oktober freie Hel 20. Gesammt- 
säure 44. Das Korpergcwicht war von 65.2 kg 
am 5. Otober auf 68,1 kg am 23. Oktober ge¬ 
stiegen. 

Patientin trat vollständig ohne Beschwerden 
aus der Behandlung aus. 

Ausser den angeführten Fällen wurden 
noch eine grosse Anzahl anderer Magen- 
aftectionen in ähnlicher Weise mit Dys¬ 
peptine behandelt. Es waren fast alles 
schon seit langem bestehende Magen¬ 
katarrhe, theils mit vollständig fehlender, 
theils mit sehr stark herabgesetzter Acidität, 
die schon vielfach mit anderen Mitteln und 
insbesondere mit vorsichtigster Diät be¬ 
handelt waren. 

In allen Fällen konnten wir einen sehr 
günstigen Einfluss der Dyspeptine kon- 
statiren. Es erfolgte schon wenige Tage 
nach Einsetzen der Dyspeptinebehandlung 
ein Schwinden der subjectiven Beschwerden, 
eine Steigerung des Appetits, ein langsames 
Ansteigen des Körpergewichts. Fast 
immer ergaben die wöchentlich 2 Mal 
vorgenommenen Untersuchungen des 
Magensaftes, dass freie Salzsäure wieder 
vorhanden, die Gesammtacidität gestiegen 
war. Allerdings nicht in allen Fällen Hess 
sich dieser günstige und auffallende Einfluss 
auf die Secretionsverhältnisse erzielen. 

Von allen Patienten, die mit Dyspeptine 
behandelt warden, hat uns keiner verlassen 
ohne erhebliche Zunahme des Körper¬ 
gewichts und vollständiges Schwinden 
aller vor dem seit langem bestandenen 
Beschwerden. 

Die Behandlung mit Dyspeptine wurde 
immer über 5—7 Wochen ausgedehnt. 
Auch nach Weglassen der Dyspeptine 
blieben sämmtliche Patienten ganz ohne 
Beschwerden. 

Ich trete ganz der Ansicht von Dr. H epp 
und anderen französischen Aerzten bei, 
dass die Wirksamkeit der Dyspeptine eine 
doppelte ist. Einmal ersetzt sie den in Folge 

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Gegenwart 1903. 543 


der Magenerkrankung unwirksamen oder 
ganz fehlenden Magensaft, und trägt zu 
einer raschen Verdauung bei; sodann in 
zweiter Linie übt sie einen direkt heilenden 
Einfluss auf die erkrankte Schleimhaut aus 
und hebt die vorher daniederliegende 
Secretion. 

Von grossem Nutzen erwies sich die 
Anwendung der Dyspeptine bei Tuber¬ 
kulösen, insbesondere bei schweren Phthi¬ 
sikern, deren Appetit vollständig darnieder¬ 
lag und deren Körpergewicht in stetem 
Sinken war. Schon nach kurzem Gebrauch 
der Dyspeptine Hess sich in der Mehrzahl 
der Fälle eine Steigerung des Appetits 
constatiren, sowie ein wenn auch geringes 
Ansteigen des Körpergewichts. In zwei 
Fällen war diese günstige Wirkung bis 
zum Tode zu verfolgen, und ich kann 
sagen, dass die Behandlung dieser hoff¬ 
nungslosen Fälle dadurch sehr erleichtert 
wurde, indem die armen Kranken bis zu¬ 
letzt in der guten Hoffnung lebten, in Folge 
des besseren Appetits und der grösseren 
Nahrungszufuhr wieder langsam in die Höhe 
zu kommen. 

Eine weitere Gelegenheit zur Anwen¬ 
dung der Dyspeptine bot sich bei chloro- 
tischen und anderen anämischen Zustän¬ 
den, die mit Appetitlosigkeit und Erbrechen 
einhergehen. Dyspeptine wurde in solchen 
Fällen mehrmals am Tage kurz vor der 
Mahlzeit gegeben. Auch hier zeigte sich 
ein günstiger Einfluss der Dyspeptine. Auf¬ 
hören des Erbrechens, Steigerung des Appe¬ 
tits und des Körpergewichts. 

Die Dosis, in der wir Dyspeptine ge¬ 
geben haben, schwankte je nach Art und 
Schwere des Falles. Bei lange bestehen¬ 
den chronischen Magenkatarrhen mit voll¬ 
ständig fehlender freier Salzsäure, bei 
Magendilatation giebt man am besten 
während und nach jeder Mahlzeit je 
15 ccm Dyspeptine. Später wenn eine 
günstige Wirkung bereits eingetreten 
ist, genügt es vollkommen drei Mal am 
Tage während der Mahlzeit 15 ccm zu ver¬ 
abreichen. Als Appetitmittel angewandt, 
genügt es, wie bereits oben erwähnt, 
l /2 Stunde vor jeder Mahlzeit 10—15 ccm 
zu geben. 

Die Art und Weise der Einführung der 
Dyspeptine ist eine recht einfache. Ge¬ 
schmack und Geruch dieses reinen natür¬ 
lichen Magensaftes sind kaum unangenehm 
und, wenn es sich nicht um sehr empfind¬ 
liche Patienten handelt, so kann man ihn 
unverdünnt geben oder mit etwas Pfeffer¬ 
minzessenz vermischen. Bei anderen, in 
Bezug auf Geschmack sehr eigenen Pa- 

Qriginal from 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




544 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Dccember 


tienten, bewährte sich Zusatz kleiner Men¬ 
gen von Citronensaft oder von Bier. 

Als Hauptindication für die Behandlung 
mit Dyspeptine muss man alle Magenerkran¬ 
kungen, acute oder chronische, ansehen, 
die mit verminderter oder ganz fehlender 
Säuresecretion einhergehen. Die Dyspep¬ 
tine bietet dann nicht nur einen vollwerti¬ 
gen Ersatz für den fehlerhaften Magensaft, 
sondern regt auch die Salzsäuresecretion 
an; sie wirkt hier symptomatisch und heilend 
zugleich. Sie übertrifft nach beiden Rich¬ 
tungen das künstliche Pepsin-Salzsäure¬ 
gemisch bei Weitem. 


Die Dyspeptine gewährt ferner grosse 
Vortheile als Appetit erregendes Mittel bei 
Tuberkulose und Anämie. Wir dürfen sie 
daher als ein vortreffliches „Stomachicum* 
bezeichnen, das um so mehr zu begrüssen 
ist, als die Zahl der wirklich brauchbaren 
und wirksamen Stomachica gering ist. 1 ) 

Meinem verehrten Chef, Herrn Professor 
von Noorden, spreche ich für die freund¬ 
liche Ueberweisung der Arbeit auch an 
dieser Stelle meinen besten Dank aus. 

Litteratur. 

Gazette des Hopitaux, 28. Mai 1903, No. 62. 
— Gazette des Hopitaux, 18. Juni 1903, No. 70. 


Die Behandlung der Fissura ani. 

Von Dr. M. Katzenstein-Bcrlin. 


Das Krankheitsbild der mit Sphincter- 
krampf einhergehenden Fissura ani ist 
zwar jedem Praktiker genügend bekannt, 
soll aber doch im folgenden kurz ent¬ 
worfen werden, um aus seiner Schilderung 
folgerichtig eine ebenso einfache wie in 
ihren Erfolgen befriedigende Therapie 
dieser hartnäckigen und schmerzhaften 
Krankheit entwickeln zu können. 

Die Fissura ani ist ein kleines rhaga¬ 
denartiges Geschwür, das in den Falten 
der Mastdarmschleimhaut versteckt liegt, 
in seiner Grösse schwankt, zuweilen von 
wallartigen Bändern umgeben und bei 
der leisesten Berührung ausserordentlich 
schmerzhaft ist und dann von einem Krampf 
des Sphincter ani begleitet wird. 

Die Frage nach dem ursächlichen Zu¬ 
sammenhang der Fissura ani und des 
Sphincterkrampf ist vielfach erörtert wor¬ 
den, zuletzt wohl von Rosenbach. !) 
Rosenbach meint, da Krampfzustände 
auch bei anderen Organen vorkämen und 
durch Beseitigung des Sphincterkrampfes, 
nicht aber des supponirten Geschwüres 
Heilung erzielt würde, dass eine Fissura 
ani nicht die Ursache des Sphincterkrampfes 
sein kann, dass vielmehr ein solcher ohne 
andere Veranlassung möglich ist. Dieser 
Sphincterkrampf ist nach Rosenbach’s 
Auffassung die Folge motorischer Inner¬ 
vationsstörungen und Circulationsanomalien 
bei Personen mit abnormen Circulations- 
verhältnissen im Abdomen, bei Nervösen 
und bei Kranken mit chronischem Reiz¬ 
zustand im Bereich der Sexualorgane. 

Diese Erklärung Rosenbach’s ist sehr 
geistreich, aber auch recht complizirt; 
zweierlei ist dagegen einzuwenden. 

*) Rosenbach, Zur Pathogenese und Therapie der 
sogenannten Fissura ani. Berl. klin. Wochenschr. 
1900, No. 10. 

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Rosenbach erzielt nämlich oft schon 
in wenigen Tagen durch mechanische Deh¬ 
nung des Sphincter eine Heilung des 
Krampfzustandes in diesem Muskel. Wenn 
chronische Circulationsstörungen im Ab¬ 
domen die Ursache dieses Leidens wären, 
so könnte eine so rasche Heilung nicht 
gut möglich sein oder häufig wiederkeh¬ 
rende Recidive wären unausbleiblich, da 
die angebliche Ursache doch weiter be¬ 
steht. Dann habe ich in vielen Fällen von 
Sphincterkrampf, die ich in Narkose zu 
untersuchen Gelegenheit hatte, nicht einen 
einzigen gesehen, bei dem nicht eine 
Fissura ani bestanden hätte. König*> 
schreibt in seinem Lehrbuch: „Erst wenn 
man den After erweitert, indem man ihn 
durch zwei hakenförmig eingeführte Finger 
auseinanderzieht und somit die Falten 
glättet, kommt das oberflächliche, meist 
glatt und roth aussehende, leicht blutende, 
nur selten in der Umgebung hart, infiltrirt 
und gelblich belegte, myrtenblattförmige 
Geschwür, die Fissura ani, zum Vorschein. 
Aber die hierzu nothwendige Untersuchung 
kann nur selten ohne Narkose vorgenommen 
werden," .... Es ist daher leicht erklär¬ 
lich, dass die Fissura ani, die ohne Nar¬ 
kose oft gar nicht zu entdecken ist, von 
Rosenbach nicht beobachtet wurde und 
dass dieser Autor den Sphincterkrampf, die 
auffallendste Begleiterscheinung der Fissura 
ani, als Krankheit sui generis auffasst, 
während wir in chirurgischen Lehrbüchern 
und Arbeiten die zweifellos richtige Mei- 
nungvorfinden, dass Sphincterkrampfimmer 
die Folge der Fissura ani ist. 

Wenn dies aber der Fall ist, so er- 

*) Bezugsquelle: H. Derenburg, Generaldepot für 
Deutschland. Frankfurt a. M. . 

a ) F. König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie 
1899, Bd. II, S. 534. 

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545 


December 


I)ic Therapie der Gegenwart 1903. 


scheint es doch seltsam, dass solch kleiner 
Epitheldefekt so hochgradige Reizerschei¬ 
nungen hervorruft und dass die Heilung 
dieses kleinen Geschwürs so schwierig ist 
und so oft eingreifender Operationen bedarf. 

Dieses auffallende Missverhältnis zwi¬ 
schen minimalem Epitheldefect und hef¬ 
tigstem langdauernden Sphincterkrampf 
lässt sich leicht aus der Sonderstellung, 
die der M. sphincter ani physiologisch ein¬ 
nimmt, erklären. Er ist der Muskel, der 
einer durch die Peristaltik des Darms u. s. w. 
fortbewegten Kothsäule einen Widerstand 
entgegensetzt: die geringste Menge Koth 
ruft reflektorisch durch mechanische Reizung 
der in der Mastdarmschleimhaut gelegenen 
sensiblen Nerven eine Contraction des M. 
sphincter hervor, die die sofortige und 
dauernde Entleerung der Faeces verhindert, 
vielmehr deren Ansammlung in der Flexur 
verursacht. 

Diese Funktion des M. sphincter dürfte, 
so segensreich an sich sie auch sein mag, 
die Hauptursache der häufigsten Kultur¬ 
krankheit, der chronischen Obstipation, 
sein; denn die durch die Peristaltik des 
Darmes vorgeschobenen Kothmassen wer¬ 
den unter der Thätigkeit des M. sphincter 
zurückgehalten; durch diesen dauernden 
Widerstand wird eine Trägheit der Darm- 
thätigkeit hervorgerufen, die als Haupt¬ 
ursache der chronischen Obstipation anzu¬ 
sehen ist. 

Kontrahirt sich der M. sphincter ani 
schon physiologisch so prompt, um wieviel 
mehr, wenn der Reiz von einer epithel¬ 
losen Stelle der Darmschleimhaut ausgeht, 
wenn der Reiz also einen frei liegenden 
Nerven trifft. In solchen Fällen tritt eben 
eine ausserordentlich heftige Contraction 
des M. sphinter ein, ein schmerzhafter 
Krampf. Dieser Krampf — und das ist 
gerade charakteristisch für ihn — tritt nur 
nach einem Reiz ein, sei es bei der Unter¬ 
suchung durch den Arzt, sei es bei und 
nach der Kothentleerung. 

Dieser durch die Kothentleerung auf¬ 
tretende Krampf des M. sphincter veran¬ 
lasst die mit Fissura ani behafteten Kran¬ 
ken die Faeces lange zurückzuhalten; in 
Folge dessen werden diese durch ihre 
Lagerung im Mastdarm immer fester und 
härter und verursachen bei ihrer Entleerung 
wieder neue Einrisse der Schleim häute. 

Wenn somit der kleine Epitheldefect 
die Ursache des ganzen Leidens ist, so 
müsste durch dessen Heilung auch ein 
vollkommenes Verschwinden aller Sym¬ 
ptome zu erzielen sein. Woran scheitert 
denn diese kausale Therapie? 

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Normaler Weise ist der Mastdarm ein 
ausserordentlich dehnbares Rohr. Bei 
Leuten, die an Fissuren leiden, entsteht 
bei jeder Kothentleerung ein Sphincter¬ 
krampf: aus dem weichen, dehnbaren Rohr 
wird ein starres, unnachgiebiges. Es können 
demgemäss die Epitheldefekte nicht nur 
nicht heilen, sondern es müssen immer 
neue entstehen. Der Krampf ist also die 
Folge des Epitheldefektes und zugleich die 
Ursache eines neuen. 

Bei diesem Circulus vitiosus darf also 
die Therapie nicht eine kausale sein: ge¬ 
richtet auf die Fissura ani, sondern sie 
muss auch deren Folge, den Krampf berück¬ 
sichtigen, sie muss auch symptomatisch sein. 

Bisher hat man immer nur die eine 
oder andere Therapie angewendet. 

So ist bei Praktikern vielfach die An¬ 
wendung des Höllensteinstiftes beliebt. Man 
will damit offenbar seine epidermisirende 
Eigenschaft benutzen; diese ist aber zwei¬ 
fellos nur eine indirekte. Ein Haupthinder¬ 
nis der Epidermisirung einer Granulations¬ 
fläche bilden die hypertrophischen Gianu- 
lationen, die durch Anwendung des Höllen¬ 
steinstiftes zum Niveau der umgebenden 
Epithelschicht, durch deren Zelltheilung 
eine Bedeckung der Granulationsfläche mit 
Epithelien stattfindet, erniedrigt werden. 

Bei der Fissura ani giebt es hypertrophi¬ 
sche Granulationen nicht, zumeist liegt der 
Geschwürsgrund tiefer als die umgebende 
Epithelschicht: das Geschwür ist von wall¬ 
artigen Rändern umgeben. Die Anwen¬ 
dung des Höllensteinstiftes zur Heilung 
der Fissura ani hat also keine Aussicht auf 
Erfolg und überdies ist sie so enorm 
schmerzhaft, dass man sie den ohnedies 
durch ihr Leiden heruntergekommenen 
Kranken nicht zumuthen darf. 

In gleicher Weise beabsichtigt die in 
neuester Zeit von Czerny 1 ) angegebene 
Methode lediglich eine Heilung der Fis¬ 
sura ohne Berücksichtigung des Krampfes. 
Czerny excidirt die Fissur und vereinigt 
die restirende Schleimhaut mit der äusse¬ 
ren Haut, ein Vorgehen, das eingreifend 
ist und vor Rezidiven nicht schützt. 

Zur Heilung des Geschwürs hat man 
sonst noch mancherlei Mittel angegeben, 
deren Einzelaufführung uns zu weit führen 
würde. 

Andere Autoren haben lediglich das 
Hauptsymptom, den Spincterkrampf, be¬ 
handelt durch allmähliche oder gewaltsame 
Dehnung des Sphincter ani. 

l ) Vincenz Czerny, „Zur Behandlung der 
Fissur und des Vorfalls des Mastdarms“, Beitr. z. 

Chir., Bd. 37, S. 765. 

tfrigiral frem 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



546 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Dceember 


So berichtet Rosenbach über gute Er¬ 
folge, die er durch allmähliche Dehnung 
des krampfartig zusammengezogenen 
Sphincters erzielt hat; zunächst wird der 
Finger, dann eine Bougie eingeführt. Diese 
Behandlung dürfte, da sie das Haupt- 
hinderniss der Heilung der Fissur, den 
Sphincterkrampf, aufhebt, indirekt zweifel¬ 
los zur Heilung des hartnäckigen Leidens 
führen — wenn sie durchführbar ist. Die 
leiseste Berührung derFissura ani bei der 
Kothentleerung oder bei vorsichtiger Unter¬ 
suchung ruft die entsetzlichsten Schmerzen 
hervor; wie schmerzhaft muss da die Ein¬ 
führung des Bougies sein! Diese Behand¬ 
lung setzt eine enorme Willensenergie des 
Patienten oder eine stark suggestive Kraft 
des Arztes voraus. 

Meist dürften die Patienten die opera¬ 
tive Behandlung ihres Leidens vorziehen, 
die in tiefer Narkose eine gewaltsame 
Dehnung oder Durchschneidung des 
Sphincter ani bezweckt; hierdurch wird 
der Krampf dieses Muskels aufgehoben 
und eine Heilung der Fissura in wenigen 
Tagen ermöglicht. 

Diese operative Behandlung führt stets 
zum Ziel; man wird sie aber nur in An¬ 
wendung bringen, wenn andere Methoden 
im Stiche lassen. Denn bei der Operation 
ist tiefe Narkose erforderlich, die Patienten 
sind länger oder kürzer arbeitsunfähig und 
ausserdem kommt doch nach tiefer Durch¬ 
schneidung des Sphincter zuweilen eine 
Incontinentia alvi mit allen ihren unange¬ 
nehmen Begleiterscheinungen vor. Ich 
habe zwei solche Fälle, von anderer Seite 
operirt, gesehen. 

Ich bin daher seit U /2 Jahren mit Er¬ 
folg bemüht gewesen, die Fissura ani und 
ihre Folgeerscheinungen medikamentös zu 
behandeln. Folgendes war hierbei zu be¬ 
rücksichtigen: 

1. Die in der Fissur liegenden Nerven¬ 
endigungen mussten abgestumpft werden. 

2. Der Krampf des Sphincters musste 
schwinden, nur dann war 

3. die Heilung der Fissura möglich. 

Cocain macht die Fissur unem¬ 
pfindlich, grosse Dosen von Ex- 
tractum Belladonnae hebt den 
Krampf auf und das desinficirende 
und die Oberfläche der Fissur 
glättende Ammonium sulf-ichtyo- 
licum bringt die Fissur zur Heilung. 

Rp. Eoctract. BeUadonn . . . 0*5 

Cocain mur .. 0 05 

Ammon . sulf-ichtyol. ad 6'0 

MDS. Vor dem Gebrauch erwärmen und uinschütteln. 

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Wie ich in der Literatur sah, wurde 
Belladonna schon im Jahre 1827 von La- 
marque 1 ) und im Jahre 1838 von Du¬ 
puytren 2 ) bei Fissura ani empfohlen. Co¬ 
cain haben zweifellos schon viele Aerzte 
versucht und ebenso Ichtyol z. B. Conitzer s > 
van der Willigen 4 ). Eine Mischung aller 
drei Mittel dürfte bisher noch nicht ange¬ 
wendet sein und gerade die gleichzeitige 
gemischte Anwendung dieser drei Medi¬ 
kamente ist wichtig und hat mir in einer 
grösseren Anzahl von Fällen ausserordent¬ 
lich gute Dienste geleistet; unter Anderem 
bei einem Collegen, der trotz mehrraonat- 
licher Behandlung mit allen möglichen Medi¬ 
kamenten colossal heruntergekommen war 
und sich zwecks Vornahme einer Operation 
an mich gewandt hatte. Bei dem Miss¬ 
trauen gegen alle Medikamente konnte ich 
mein „neues“ Mittel nur schwer anbringen, 
schliesslich gelang es mir, ihn zu einem 
Versuch zu überreden, der so ausserordent¬ 
lich günstig verlief, dass ich weiter behan¬ 
deln durfte und in ca. 14 Tagen völlige 
Heilung erzielte. 

Allerdings kommt es darauf an, wie 
man die Medikamente auf die Mastdarm¬ 
schleimhaut applicirt. 

Es wird ein kleines Stückchen Watte 
zu einem stricknadeldicken Faden auf¬ 
gewickelt und in die etwas angewärmte 
Mischung eingetaucht. Der in Seitenlage 
befindliche Patient hebt die obere Hinter¬ 
backe etwas an und durch Betastung der 
den Anus umgebenden Haut, die schmerz¬ 
haft ist, wo sie der Fissura gegenüber 
liegt, stellt man fest, wo die Fissura ge¬ 
legen ist. Hat man z. B. gefunden, dass 
sie sich an der vorderen Commissur be¬ 
findet, dann legt man den imprägnirten 
Wattefaden an die entgegengesetzte Seite, 
also an die hintere Commissur und schiebt 
nun vorsichtig der hinteren Mastdarmwand 
entlang mit einer feinen Knopfsonde den 
Wattefaden in den Mastdarm hinein. So 
vermeidet man jede Berührung der Fissur 
und macht die ganze Procedur zu einer 
schmerzlosen. Das geschmeidige halb¬ 
flüssige Ichtyol dringt in alle Schleimhaut¬ 
buchten vor und gelangt so zu der Fissur, 
Die Folge der ersten Einführung ist schon 
ein Gefühl wesentlicher Besserung, das der 
Patient äussert. Die Watte bleibt minde¬ 
stens 5 Minuten liegen und wird eventuell 
vom Patienten durch das ausserhalb liegende 
Ende entfernt oder bleibt bis zur nächsten 

l ) Lamarque Nouv. bibl. m£d. t. II. 1827. 

-) Dupuytren Bulletin de th£rapeutique 1838. 

Conitzer. Münch, med.Wochenschrift, 1899, S.80. 

4 ) Niederl. Zeitschrift f. Geburtskunde, 1893. 

Original frorn 

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Deccmber Die Therapie der Gegenwart 1903. 547 


Stuhlentleerung liegen, die meist schmerz- | Hebung der Beschwerden. Regulirung des 
los verläuft. 8 bis 14 Tage täglich ein- j Stuhls, Verabreichung von Sitzbädern 
bis zweimalige Application des Belladonna- beugen dem Neuauftreten dieses hart- 
Cocain-Ichtyol führt zur vollkommenen näckigen, schmerzhaften Leidens vor. 


Die dermatologisch wichtigen Bestandtheile des Theeres 
und die Darstellung des Anthrasols . l ) 

Von Dr. H. Vleth-Ludwigshafen am Rhein. 


lieber diejenigen Bestandtheile des 
Theeres, welche in dermatologischer Be¬ 
ziehung seine charakteristische Wirkung 
bedingen, findet man in der Litteratur 
merkwürdiger Weise keine sicheren Daten. 
Viele Autoren begnügen sich mit der An¬ 
gabe, dass die Phenole die wirksamen Be¬ 
standtheile des Theeres darstellen, oder 
mit der negativen Feststellung, dass die 
Harzsäuren der Holztheere an der derma¬ 
tologischen Wirkung wahrscheinlich nicht 
betheiligt sind. Die Spärlichkeit dieser 
Angaben ist um so auffallender, als der 
Theer, diese Urmutter der organischen 
Verbindungen, in chemischer Beziehung 
sehr weitgehend untersucht ist. Man hat 
ja z. B. aus dem Steinkohlentheer mehrere 
Hundert Einzelbestandtheile isolirt und 
chemisch genau untersucht; medicinisch 
und gar dermatologisch ist über diese 
Substanzen aber nur sehr wenig bekannt. 
In den letzten Jahren ist die dermatologi¬ 
sche Theerlitteratur allerdings dadurch be¬ 
reichert worden, dass viele Vergleiche 
zwischen der Wirkung des Steinkohlen- 
theers und des Holztheers angestellt wur¬ 
den : die betreffenden Autoren sprechen 
sich einstimmig zu Gunsten des Stein- 
kohlentheeres aus. 

Es schien mir nun von vornherein 
wahrscheinlich, dass, ähnlich wie bei den 
meisten natürlich vorkommenden Drogen, 
auch beim Theer eine oder mehrere Reihen 
verwandter Substanzen als wirksam zu be¬ 
trachten, während die übrigen Bestand¬ 
theile in medicinischer Beziehung als Ballast 
anzusehen sind und darum zweckmässig 
entfernt werden könnten. Um nun diese 
wirksamen Bestandtheile kennen zu lernen, 
wurde so vorgegangen, dass mehrere 
Gruppen von Einzelbestandtheilen, die 
sich durch eine gemeinsame chemische 
Eigenschaft auszeichneten, aus dem Theer 
herausgezogen und sowohl diese Extracte 
als die übrigbleibende Theermasse auf 
ihre Wirksamkeit geprüft wurden. 

Der rohe Theer wurde zu diesem Zweck 
in folgende 4 Antheile zerlegt; 

Vortrag, gehalten in der dermatologischen Ab¬ 
theilung der Naturforscher-Versammlung zu Cassel. 

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1. Bestandtheile, die mit Alkali extrahir- 
bar sind, also hauptsächlich die sauerstoff¬ 
haltigen Verbindungen, Phenole und 
Säuren, 

2. Bestandtheile, die mit Mineralsäure 
extrahirbar sind, also hauptsächlich die 
stickstoffhaltigen Basen, wie Pyridin und 
Ctfnolin, 

3. alle Bestandtheile, welche nach Ent¬ 
fernung der bisher genannten aus der 
übrigbleibenden Theermasse ira Vacuum 
abdestillirt werden können, hauptsächlich 
die Theerkohlenwasserstcffe, 

4. das Pech, welches bei der Destillation 
als Rückstand bleibt. 

Von diesen 4 Gruppen ist lediglich die 
erste bisher medicinisch genau untersucht. 

Diese Untersuchungen sind allgemein be¬ 
kannt und zum Theil sehr eingehend, ist 
doch sogar der Unterschied der 3 isomeren 
Kresole, o-, m- und p-Kresol, wenigstens 
toxikologisch ausführlich studirt worden. 

In dermatologischer Beziehung kommen 
aus dieser Gruppe der Sauerstoffverbin- 
dungen hauptsächlich die Phenole in Be¬ 
tracht, welche zweifellos einen wichtigen 
Antheil an der Theerwirkung haben, da 
sie von allen Theerbestandtheilen am 
stärksten juckstillend wirken. 

Der Steinkohlentheer enthält bekannt¬ 
lich hauptsächlich Phenol und Kresol, 
welche beide juckstillende Mittel par ex- 
cellence sind, der Holztheer hauptsächlich 
Kreosot, welches ebenfalls sowohl in Salbe 
als pur eingerieben vorzüglich juckstillend 
wirkt. Es hat gegen erstere den Nach¬ 
theil, dass es im Wasser sehr wenig lös¬ 
lich ist und ausserdem viel unangenehmer 
riecht. Diese Phenole unterscheiden sich 
ferner dadurch, dass das Kreosot am 
wenigsten ätzend wirkt, das Phenol am 
meisten. Das Kresol steht in der Mitte. 
Entfernt man diese Gruppe der Phenole 
durch erschöpfende Alkali*Extraction voll¬ 
ständig aus dem Theer, so wirkt der Rück¬ 
stand zweifellos weniger juckstillend als 
die Phenole selbst und auch als der ur¬ 
sprüngliche Theer; die anderen Eigen¬ 
schaften des Theeres aber, seine Wirkung 
auf chronische Ekzeme, seine kerato- 

69* 

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548 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


December 


plastische Kraft, sind nach wie vor stark 
ausgeprägt als Beweis, dass die Theer- 
wirkung nicht etwa von den Phenolen 
allein ausgeht, vielmehr fehlen diesen 
gerade die für den Theer charakteristischen 
und wichtigsten Eigenschaften. 

Wir müssen also die Untersuchung 
weiter fortsetzen. Zu diesem Zweck extra- 
hiren wir nun den Theer mit Mineralsäure. 
Wir erhalten dadurch als Extract des 
Steinkohlentheeres die Basen, hauptsächlich 
Pyridin und Chinolin, während der Holz- 
theer so gut wie gar keine säurelöslichen 
Bestandtheile liefert. Diese Basen besitzen 
nicht nur einen höchst widerlichen, anhaf¬ 
tenden Geruch, sondern sie sind auch 
recht giftig; da ihre Menge ausserdem 
ziemlich gering ist, so wurde von eiAer 
dermatologischen Prüfung vor der Hand 
abgesehen. 

Wir kommen nun zur dritten Gruppe, 
zu den Theerkohlenwasserstoffen, und 
hierin sind diejenigen Bestandtheile zu er¬ 
blicken, welche für die eigentliche derma¬ 
tologische Wirkung die Grundlage bilden. 
Der Steinkohlentheer enthält als Kohlen¬ 
wasserstoffe besonders die Glieder der 
Benzol-, Naphtalin-, Anthracen- und Phe- 
nanthrenreihe, der Holztheer enthält mehr 
Terpene. Einige Vorversuche orientirten 
darüber, dass beim Steinkohlentheer die 
höher siedenden Kohlenwasserstoffe die 
Hauptrolle spielen. 

Um die hiermit verbundenen Fragen 
vor allen Dingen mit möglichster Gründ¬ 
lichkeit zu untersuchen, mussten die reinen 
Kohlenwasserstoffe für sich, von allen 
anderen Bestandteilen befreit, dermato¬ 
logisch geprüft werden. Ausser meinem 
Mitarbeiter, Herrn Dr. Sack, in dessen 
Sanatorium für Hautkrankheiten zu Heidel¬ 
berg diese Produkte etwa ein Jahr lang 
fast täglich angewandt wurden, hat noch 
eine Reihe anderer Dermatologen sich in 
freundlicher Weise an der Prüfung dieser 
Theerpräparate betheiligt. Es kann nach 
diesen sehr zahlreichen, von verschiedenen 
Seiten mit dem gleichen Resultate aus¬ 
geführten Prüfungen keinem Zweifel 
unterliegen, dass abgesehen von der Juck- 
stillung die eigentliche Theerwirkung mit 
diesen Kohlenwasserstoffen verbunden ist. 
Ganz besonders möchte ich vom Stein¬ 
kohlentheer die flüssigen Methylnaphtaline 
hervorheben, vom Holztheer die aus ol. 
cadini gewonnenen Kohlenwasserstoffe. 

Medicinisch sind diese Substanzen bis¬ 
her anscheinend nirgends versucht worden; 
auch toxikologisch war darüber nichts be¬ 
kannt. Bei Versuchen an Kaninchen stellte 

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ich fest, dass innerliche Gaben von etwa 
V 2 g keinerlei Erscheinungen hervorriefen. 
Bei Gaben über 1 g trat vorübergehende 
leichte Albuminurie ein, selbst nach 4 g 
erholten sich die Thiere nach einigen Tagen 
wieder. Die Kohlenwasserstoffe wurden 
entweder pur oder mit Olivenöl gemischt 
per Schlundsonde gegeben. Die Giftigkeit 
dieser Kohlenwasserstoffe scheint also ge¬ 
ring zu sein. Bei der dermatologischen 
Anwendung wurden bisher in keinem Falle 
irgendwelche toxische Wirkungen beob¬ 
achtet, trotzdem oft grosse Hautflächen mit 
dem Präparate pur eingerieben wurden. 
Vor dem gewöhnlichen Naphtalin zeichnen 
sich die erwähnten Methylnaphtaline (haupt¬ 
sächlich Mono- und Dimethylnaphtalin) da¬ 
durch aus, dass sie bei gewöhnlicher Tem¬ 
peratur flüssig sind und ein hohes 
Durchdringungsvermögen für die Haut be¬ 
sitzen; sie härten die Haut beim Einreiben 
in charakteristischer Weise, wovon man 
sich auch im Thierexperiment ein Bild 
machen kann, wenn man unverletzte Haut¬ 
stellen mit diesen Kohlenwasserstoffen be¬ 
streicht. 

Bei der bereits erwähnten dermato- 
therapeutischen Prüfung wurden die ver¬ 
schiedenartigsten Hautkrankheiten, beson¬ 
ders auch subacute und chronische Ekzeme, 
mit diesen reinen Theerkohlenwasserstoffen 
behandelt, theils wurden sie pur, theils in 
alkoholischer Lösung, meist aber als 20o/ 0 ige 
Vaselin-Salbe verwendet. Stets zeigte sich 
die charakteristische Theerwirkung, nur die 
juckstillende Kraft war etwas schwächer 
als beim gewöhnlichen Theer. 

Als den letzten der Eingangs erwähnten 
Theerbestandtheile haben wir noch das 
Pech zu betrachten. Das Pech wurde 
früher in Form der Pechpflaster als wenig 
differente Klebemasse öfter angewandt. 
Zur Heilung von Hautkrankheiten ist es 
unbrauchbar, schon weil es wegen seiner 
Zähigkeit und Unlöslichkeit weder ge¬ 
löst, noch in Salben verrieben werden 
kann. Für die Theerbehandlung scheint 
es aber nicht nur nutzlos, sondern sogar 
schädlich zu sein. Durch seine Klebrigkeit 
verhindert es das Eindringen der flüssigen 
Theerbestandtheile in die Haut, verschliesst 
die Ausführungsgänge der Follikel und er¬ 
zeugt, da es nicht von der Haut resorbirt 
werden kann, Reizung und Theerakne. 

Aus den bisherigen Darlegungen geht 
nun deutlich hervor, welcher Weg für die 
Darstellung eines gereinigten Theeres 
einzuschlagen war, der nur die dermato- 
therapeutisch wirksamen Bestandtheile ent¬ 
halten sollte. Zu diesem Zweck musste 

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Decembcr 


549 


Die Therapie der 


vor allem das Pech entfernt werden, welches 
beim Steinkohlentheer etwa eine Menge 
von 50 — 60 o/o ausmacht. Ausserdem konn¬ 
ten auch die Pyridinbasen als relativ gif¬ 
tige und übelriechende Bestandteile be¬ 
seitigt werden. Es würden dann in dem 
erhaltenen gereinigten Theere in der 
Hauptsache nur die Phenole und die 
Kohlenwasserstoffe Zurückbleiben, welche 
sich ja als die dermatologisch wirksamen 
Antheile erwiesen hatten. 

So einfach diese Aufgabe Anfangs er¬ 
schien, so stellten sich doch dadurch grosse 
Schwierigkeiten ein, dass nach der Ex¬ 
traction der Basen mit Säure und der Ab¬ 
trennung des Peches durch Destillation 
dasAnfangs helle Präparat sich sehr schnell 
wieder schwarz färbte und beim Stein¬ 
kohlentheer sich ausserdem in zwei Theile, 
einen festen und einen flüssigen, trennte. 
Das schnelle Nachdunkeln wird durch ge¬ 
ringe Mengen chemisch noch nicht auf¬ 
geklärter Substanzen veranlasst, welche 
besonders unter dem Einflüsse von Luft 
und Licht sich rasch schwarz färben. Die 
Verhältnisse liegen hier jedenfalls ähnlich 
wie beim Phenol, welches bekanntlich auch 
sehr schwer farblos und haltbar zu be¬ 
kommen ist. Neuerdings wurde ja an¬ 
genommen, dass minimale Mengen schwefel¬ 
haltiger Verbindungen die Rotfärbung des 
Phenols bedingen. Der vom Pech und 
von den Basen befreite Teer wurde nun 
einer Reihe chemischer Reinigungsprozesse 
unterworfen, wodurch es schliesslich ge¬ 
lang, die das Nachdunkeln verursachenden 
Substanzen zu entfernen, während die 
festen Ausscheidungen des Steinkohlen- 
theers durch Mischung mit gereinigtem 
Wachholdertheer verflüssigt werden konn¬ 
ten. Diese festen Antheile, welche sonst 
sehr schwer löslich sind, lösen sich näm¬ 
lich auffallender Weise gerade sehr leicht 
in Wachholderholztheer; die erhaltene 
Lösung von Steinkohlentheer in Holztheer 
stellt ein Oel dar etwa von der Consistenz 
und Farbe des Olivenöls. 

Dieses Präparat ist unter dem Namen 
„Anthrasol“ in die Therapie eingeführt 
worden. Eine vorläufige Mittheilung über 
die dermatologische Brauchbarkeit des 
Anthrasols ist vor etwa einem halben Jahre 
von Dr. Sack und mir in der Münchener 
Medicin. Wochenschrift publicirt worden. 1 ) 

Leider war bei der ursprünglich an¬ 
gewandten Reinigungsmethode der grösste 
Theil der Phenole während des Prozesses 
verloren gegangen, was erst später be¬ 
merkt wurde, sodass das Präparat anfangs 

*) Siehe Manch. Med. Wochenschrift 1903, No. 18. 

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Gegenwart 1903. 


; weniger juckstillend wirkte. Dieser Uebel- 
! stand ist jetzt beseitigt und wir können 
wohl sagen, dass das jetzige Anthrasol 
l alle wirksamen Bestandtheile des Stein- 
' kohlentheeres wie des Wachholdertheeres 
in unveränderter chemischer Beschaffenheit 
enthält. 1 ) 

i Es ist noch zu erwähnen, dass dem 
Präparat als Geruchscorrigenz eine geringe 
Menge Ol. menthae zugesetzt ist. 

In unserer ersten Publikation haben 
wir besonders betont, dass der neue Thecr 
völlig reizlos sei. Diese Behauptung ist 
1 dahin zu modificiren, dass das Anthrasol 
( zwar reizloser ist als der gewöhnliche 
; Theer, dass aber doch in einzelnen seltenen 
i Fällen Reizerscheinungen bei Anwendung 
j von Anthrasol beobachtet werden. Unter 
| etwa 100 Fällen wurden von Dr. Sack nur 
j 2 solche Fälle gesehen, während der Pro- 
| centsatz der Fälle, die gewöhnlichen Theer 
! nicht vertragen, erheblich grösser zu sein 
i pflegt. Wiederholt wurden Patienten mit 
| reizbarer Haut beobachtet, welche Anthra- 
! sol selbst hinter den Ohren und am Scro- 
tum ohne die geringste Reizerscheinung 
vertrugen. 

Die mit Anthrasol hergestellten Theer- 
salben und sonstigen Zubereitungen be¬ 
stechen zunächst durch ihre Farblosigkeit. 
Dies ist nicht nur wichtig bei der Behand¬ 
lung sichtbarer Körpertheile, sondern auch 
dort, wo man am bekleideten Körper einen 
Verband vermeiden will. Das Anthrasol 
kann mit der Leibwäsche in Berührung 
kommen, es beschmutzt dieselbe in keiner 
Weise. Einzelne Patienten mit pruriginösen 
Affectionen haben sich monatelang täglich 
mit Anthrasolsalbe eingerieben und das 
Hemd direct darüber getragen. 

Eine oft sehr zweckmässige Grundlage 
für Anthrasol ist die Glycerinsalbe. Um 
das Anthrasol mit der officinellen Glyce¬ 
rinsalbe gut verreiben zu können, ist es 
nöthig, ein wenig Lanolin zuzusetzen, etwa: 


Anthrasol . 3,0 

Lanolin . 3,0 


Uno . glycerini . . . ad 30,0 

Diese Beimischung von 10% Lanolin 
ist auch sonst empfehlenswerth, da die 
Glycerinsalbe hierdurch Eigenschaften er¬ 
hält, welche sie einer viel ausgedehnteren 
Anwendung fähig macht, als dies ohne 
Lanolin möglich ist. 

Die genannte zehnprocentige Anthrasol- 
glycerinsalbe, welche sich auch durch 
Billigkeit auszeichnet, hat sich besonders 

! ) Das Anthrasol wird von der Chem. Fabrik 
Knoll & Co., Ludwigshafen a. Rh. in den Handel 
gebracht. 

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550 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Dccember 


bei Pruritus ani bewährt und ist hierbei der 
früher von uns empfohlenen zehnprocent. 
spirituösen Lösung noch vorzuziehen. Die 
juckstillende Kraft des Anthrasols gelangt 
hier vorzüglich zur Entfaltung und ausser¬ 
dem fällt das lästige Brennen weg, das der 
Spiritus auf Schleimhäuten verursacht. Es 
ist oft zweckmässig, neben der Anthrasol- 
salbe die bekannten heissen Analdouchen 
von 50—53 0 C. anzuwenden, die mit einem 
einfachen Irrigator applicirt werden können 
und schon für sich allein Gutes leisten. 
Von dieser combinirten Behandlung mit 
heissen Douchen und Anthrasolsalbe oder 
auch mit der Salbe allein wurden selbst 
bei sehr hartnäckigen Fällen, die jahrelang 
bestanden hatten, so gute Resultate erzielt, 
dass die Patienten, die von dieser Affection 
oft ausserordentlich belästigt werden, von 
der guten Wirkung überrascht waren. 

Die populärste Anwendungsweise des 
Theeres ist wohl die als Theerseife. Es 
werden nun jetzt mittelst Anthrasol auch 
farblose Theerseifen hergestellt, welche 
unter dem Namen Anthrasolseife oder 
farblose Theerseife erhältlich sind. Auch 
Combinationen mit Schwefel, Salicylsäure 
und anderen Medicamenten werden in 
Seifenform unter entsprechenden Bezeich¬ 


nungen dargestellt. Diese Seifen weisen 
allein durch ihren Geruch auf ihren Theer- 
gehalt hin und dürften wohl berufen sein, 
an die Stelle der schwarzen Theerseifen 
zu treten. Die milde Theerwirkung, die 
diese Seifen entfalten, leistet z. B. bei dem 
Juckausschlag der Kinder gute Dienste. 

Bezüglich der übrigen Anwendungs¬ 
weisen des Anthrasols möchte ich auf die 
bereits mehrfach erwähnte erste Publi- 
cation verweisen. Bei einem Präparate wie 
diesem, welches ja keine neuen, dem Arzte 
unbekannte Principien enthält, sondern 
nichts anderes ist als der allbekannte, 
tausendfältig erprobte Theer, nur in anderer, 
reinerer Erscheinung, ergeben sich die 
Indicationen von selbst. Vielleicht vermag 
der Theer in dieser neuen Form einen 
Theil jener Beliebtheit als Heilmittel wieder¬ 
zugewinnen, der er sich in der alten Me- 
dicin erfreute. Haben wir es doch jetzt 
nicht mehr mit jenem schwarzen klebrigen 
Mixtum compositum von schwankender und 
teilweise unbekannter Zusammensetzung zu 
thun, sondern mit einem ganz bestimmten, 
reinen Präparate über dessen Einzelbe- 
standtheile wir in chemischer wie medici- 
nischer Beziehung nunmehr genau unter¬ 
richtet sind. 


Zusammenfassende Uebersicht. 

Sammelreferate über neuere Erfahrungen in der 
Säuglingsernährung. 

Von Dr. H. Flnkelsteln, 

Privatdocent und Oberarzt am Kinder-Asyl und Waisenhaus der Stadt Berlin. 


I. Stillende Frauen. 

In immer weiterem Umfang entziehen 
sich die heutigen Mütter der Aufgabe, die 
Ernährerinnen ihrer Kinder zu sein. Nach 
statistischen Erhebungen ist die Zahl der an 
der Brust aufwachsenden Säuglinge in stän¬ 
diger Abnahme begriffen. Zwang der so¬ 
cialen Verhältnisse, Unfähigkeit zum Stillen, 
freier Entschluss oder Besorgniss vor Ge¬ 
sundheitsschädigungen wirken in gleicher 
Weise am Zustandekommen dieser Er¬ 
scheinung mit. Und nicht nur das Selbst¬ 
stillen verliert an Häufigkeit; auch die Be¬ 
reitwilligkeit, eine Amme zu nehmen, ist 
wesentlich geringer geworden. Nicht immer 
begründet der Kostenpunkt diesen Verzicht; 
vielleicht ebenso oft fallen die Abneigung 
gegen die bekannten mit der Amme in die 
Familie einziehenden Unannehmlichkeiten, 
die Furcht vor Ansteckung und schliesslich 
wohl auch ethische Bedenken entscheidend 
ins Gewicht. Und man wendet sich um so 

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leichter der künstlichen Ernährung zu, als 
das Vertrauen zu deren Leistungen im 
letzten Jahrzehnt in Laienkreisen erheblich 
gewachsen ist. 

Während dessen vollzieht sich unter 
den Aerzten eine direct gegenläufige Be¬ 
wegung. Bei aller Schätzung der guten 
Folgen der Uebertragung der aseptischen 
Methoden in die Kinderernährung, bei 
aller Anerkennung der Leistungen der 
Nährmittelindustrie und sonstiger Fort¬ 
schritte ist man heute mehr als je über¬ 
zeugt, wie unendlich weit jede Art der künst¬ 
lichen Ernährung hinter der natürlichen 
zurücksteht. Eindringlicher denn je zuvor 
führt die Forschung des Tages die funda¬ 
mentalen, in feinster biologischer Specifität 
begründeten und darum niemals überbrück- 
baren Unterschiede beider Ernährungs¬ 
methoden vor Augen; mehr als je wird 
klar, welche Gefahren bakterieller und che¬ 
mischer Natur bei der dauernden Einfüh- 

Qriginal from 

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December 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


551 


rang des fremdartigen Nährstoffes drohen. 
Und weiter als jemals früher werden die 
Grenzen gezogen, welche das Gebiet der 
mit der künstlichen Aufzucht verbundenen 
Störungen begrenzen. Denn nicht allein die 
Magendarmentzündungen und die in Be¬ 
einflussungen der Gewichtsverhältnisse aus¬ 
gedrückten eigentlichen Ernährungsstörun¬ 
gen fallen in ihr Bereich: mehr und mehr 
wird es klar, dass die Tetanie der Kinder, 
dass Laryngospasmus. dass die Mehrzahl 
der Eklampsieen, dass gewisse Formen von 
Anämie und manches Andere aufs Engste 
mit der Kuhmilchernährang in Beziehung 
stehen. 

So ist es denn nur allzu gerechtfertigt, 
wenn von Seiten der Aerzte heute mit 
besonderem Nachdruck der Mahnruf zu 
Gunsten der natürlichen Ernährung ertönt. 
Zu gleicher Zeit aber ergiebt sich die Not¬ 
wendigkeit, die Gründe zu untersuchen, 
welche die drohende „Stillungsnoth“ im 
Gefolge haben. 

Es haben sich darum in den letzten 
Jahren Geburtshelfer und Kinderärzte mit 
erneutem Eifer der Frage der Brust¬ 
ernährung zugewendet. Werthvolle ein¬ 
schlägige Arbeiten entstammen deutschen 
und namentlich auch französischen Entbin¬ 
dungsanstalten. Noch schätzenswerthere, 
weil über lange Beobachtungsperioden sich 
erstreckende Mittheilungen haben die erst 
in neuester Zeit entstandenen Säuglings¬ 
heim- und Heilanstalten geliefert. Mancher¬ 
lei Neues ist bekannt und manches werth¬ 
volle Alte, aber nicht genügend Vertraute 
nachdrücklich wieder hervorgehoben wor¬ 
den. Soweit diese Erfahrungen für die 
Praxis von Wichtigkeit sind, sollen sie 
nachstehend kurz zusammengefasst werden. 

Ueber die Ursachen des Rückganges 
des Stillens sind bereits im December- 
heft dieser Zeitschrift eine Anzahl von 
Aeusserungen referirt worden, die darum 
hier nur kurz wiederholt werden sollen. 
Es hat sich ergeben, dass sociale Fac- 
toren, — wenn man von dem Sonderfall 
der unehelichen Mutter absieht, — nur in 
einem nicht allzu erheblichen Bruchtheil 
das Hinderniss darstellen (Grätzer, 1 ) Nord¬ 
heim 2 ). Für den Rest haben einige For¬ 
scher Erklärungen zu geben versucht, die, 
wenn sie zutreffend wären, alle Gegen¬ 
bestrebungen nahezu aussichtslos machen 
würden. Der Basler Physiologe Bunge, 8 ) 
welcher dieses Versagen der Brust als 
Eigenart ganzer Familien gleichzeitig mit 
verschiedenartiger und gehäufter erblicher 
Belastung (Alkoholismus, Nervenkrank¬ 
heiten, Tuberkulose) aufgefunden zu haben 

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glaubte, sieht in ihm eine Theilerschei- 
nung einer noch in anderen Sym¬ 
ptomen sich äussernden allgemeinen 
Degeneration des Stammes. Nach 
einer anderen Auffassung (Hegar, 4 ) 
Bollinger 5 ) liegt hier nicht ein Zeichen 
allgemeiner Entartung, sondern eine 
isolirte vererbte Hypoplasie und 
functionelle Schwäche der Drüse 
vor, die entstand, weil das Organ Gene¬ 
rationen hindurch nicht in Anspruch ge¬ 
nommen wurde. 

Nach neuesten Feststellungen erscheinen 
diese Anschauungen glücklicherweise nicht 
zutreffend. Während Hegar die Zahl der 
zum länger andauernden Stillgeschäft un¬ 
tauglichen Mütter auf 30%, Fehling auf 
50% schätzt, haben die exakten Nach¬ 
forschungen von Mme. Dluski, 6 ) Mar¬ 
fan, 7 ) Blacker 8 ) gezeigt, dass in den 
ärmeren Volksschichten bei 99%, in den 
gutsituirten bei 90% aller Frauen die Drüse 
functionirt, oft in reichem, ja überreichem 
Maasse, zum Mindesten aber bis zu dem 
Grade, dass wenigstens ein Allaitement 
mixte möglich wird. In gleichem Sinne 
sprechen die Erfahrungen von Strauss (J ) 
aus der Münchener Entbindungsanstalt und 
von Schlossmann 10 ) und Referent 11 ) aus 
ihren Säuglingsheimen. 

Bei gar manchem Praktiker wird diese 
Behauptung von der fast ausnahmslosen 
Eignung zum Stillgeschäft dem Ein wand 
begegnen, dass nach seinen Erfahrungen 
in so und so vielen Fällen trotz redlichster 
Bemühung aller Betheiligten der Versuch 
schliesslich aufgegeben werden musste, 
weil „nichts da war“. Dem ist zu ant¬ 
worten, dass man zu früh abgebrochen hat. 

Denn nach den neueren klinischen Erfah¬ 
rungen ist selbst dann, wenn zunächst 
eine kaum nennenswerthe Secretion vor¬ 
handen ist, bei beharrlicher Geduld ein 
Ergebniss noch möglich. Tage- und 
Wochenlang kann die gelieferte Menge fast 
Null sein oder wenigstens nur einen sehr 
geringen Theil des kindlichen Nahrungs¬ 
bedarfes ausmachen und zur Beigabe der 
Flasche zwingen. Aber allmählich hebt 
sich die Production. Fälle, wo erst nach 
2 , 3, 5 Wochen der Zufluss etwas reich¬ 
licher wurde, sind zur Genüge bekannt 
und nicht Wenige wurden noch nach 
2 , 3 und mehr Monaten nicht nur noth- 
dürftige, sondern selbst reiche Milchspende¬ 
rinnen (Schlossmann 12 ), Comby 18 ) 
Budin 14 ), Eigene Beobachtungen). 

Zur Erreichung dieses Zieles bedarf, 
es nur eines: der regelmässigen, 
vollkommenen Entleerung der Brust 

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552 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


December 


durch einen kräftigen Säugling. 
Dies ist der specifische Reiz, der selbst 
die trägste Drüse allmählich zur Arbeit 
weckt. Schwache und „trinkfaule“ Neu¬ 
geborene freilich werden hier wenig ver¬ 
mögen und desshalb wird in der Praxis 
ein Ergebniss oft ausbleiben, wo in der 
Klinik durch Anlegen eines fremden, 
starken Kindes noch Erfolg erzielt worden 
wäre. 

Dieser Nachweis der auch heute noch 
weit verbreiteten Befähigung zum Stillen 
ist der erste Gewinn der neueren Unter¬ 
suchungen. Der zweite besteht in der 
Feststellung, dass die einmal in Gang 
gebrachte Brust ihre Leistungen zu 
früher ungeahnter Ergiebigkeit zu 
steigern vermag. Einmal den Mengen 
nach. Der Durchschnitt der in Säuglings¬ 
anstalten beschäftigten Frauen liefert pro 
Tag 11—1200 g (Schlossmann); nicht 
wenige jedoch — nach des Referenten 
Erfahrung ein Drittel und mehr — geben 
bis 2003, bis 2500, eine kleine Zahl über¬ 
schreiten auch diese Ziffern und in Aus¬ 
nahmefällen vermag das tägliche Milch¬ 
quantum für längere Perioden 3—372 Liter 
zu erreichen (Schlossmann 12 ),Referent 11 ). 
Der Factor, der die Drüse zu so intensiver 
Thätigkeit anregt, ist auch hier wieder die 
systematisch ausgeübte Entleerung durch 
gut saugende Kinder. Dabei hat sich nun 
die interessante Thatsache ergeben, dass 
— natürlich innerhalb gewisser Grenzen — 
die Milchproduction in engster Ab¬ 
hängigkeit von der Anforderung 
steht. „L’augmentation suit les demandes“ 
(Budin 14 ), Lesnay 15 ). Bei einer leistungs¬ 
fähigen Stillenden z. B., welche den Be¬ 
darf eines Kindes mit beispielsweise 
etwa 900 g deckt — steigt die Milch¬ 
menge innerhalb weniger Tage vielleicht 
auf 1500, wenn ein zweites Kind versorgt 
werden soll; ein drittes und viertes ver¬ 
mag diese Ziffern noch höher zu treiben. 
Eine besondere merkwürdige Bestätigung 
dieser Anpassungsfähigkeit bilden 
Fälle wie die von Quillier 10 ) mitgeteilten, 
deren Vorkommen ich bestätigen kann: 
Bei Müttern, deren eine Brust in Folge 
von Mastitis ausser Function trat, hob 
sich innerhalb kurzer Zeit die Leistung 
der anderen soweit, dass sie nunmehr 
allein zur Ernährung des Kindes ausreichte. 

Ausser über die Menge sind auch über 
die Dauer der Lactation interressante 
Daten gesammelt worden. Von 245 durch 
Planchon 17 ) controiirten Müttern stillten 
158 (64,4%) wenigstens bis zum siebenten 
Monat und 87 von 132 hatten noch im 

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14. Monat soviel Milch, dass sie noch das 
Allaitement mixte durchführen konnten. 
Eine Ergänzung erfahren diese Angaben 
durch die Beobachtungen aus den Säug¬ 
lingsheimen, welche zeigen, dass auch das 
„degenerirte“ Weib unserer Culturstaaten 
noch heute ganz hervorragender Leistungen 
fähig ist. Schlossmann 12 ) sah nach 14 
und lömonatigem Stillen noch ein täg¬ 
liches Quantum von 1800, Referent nach 
12monatigem noch 2000—2500; eine andere 
Frau seiner Beobachtung lieferte in all¬ 
mählichem Anstieg im ersten Halbjahr 
15—2700, ein weiteres Vierteljahr 3000 bis 
3500, ein weiteres Halbjahr 2000—2500 
und jetzt im 18 Monat post partum noch 
1500 g täglich. 

Eine Beförderung ungenügender 
Milc hsecretion durch andere Beein¬ 
flussung als den physiologischen Reiz des 
Saugens erscheint in ihrer Möglichkeit 
zweifelhaft. Jedenfalls sind hier Modi- 
ficationen in der Nahrung zwecklos. 
Selbstverständlich ist reichliche Absonde¬ 
rung nur bei entsprechender Zufuhr von 
Nährstoffen und Flüssigkeit denkbar und 
umgekehrt leidet bei Appetitlosigkeit oder 
Hungerkost auch die beste Brust; aber der 
Versuch, die spärliche Secretion einer gut 
genährten Frau durch Mast zu heben, ist 
nach übereinstimmenden Erfahrungen nutz¬ 
los. Selbst der in besonderem Rufe 
stehende Alkohol hat sich durch Rose¬ 
manns 18 ) Untersuchungen zum mindesten 
für das Thier als wirkungslos erwiesen. 
Die gegenteiligen Folgerungen Stumpfs 
erklären sich dadurch, dass dieser Forscher 
seine Untersuchungen in die Zeit spon¬ 
tanen Anwachsens der Secretion ausführte. 

Auch die Wirkung der Lactagoga ist 
nur mit grosser Vorsicht zu beurteilen. Der 
schon früher empfohlenen Somatose (ref. 
v. Hey mann 2°) reihen sich neuerdings 
Roborat (Baur 21 ), Tropon (Pletzer 22 ), 
Nährstoff Heyden (Flachs 23 , Hefel- 
mann 19 ) an, zuletzt das noch wenig geprüfte 
Lactagol. Die gelegentliche günstige 
Wirkung dieser Präparate kann wohl 
kaum geleugnet werden. Aber sie wirken 
wohl mehr durch Anregung des Appetites 
oder dadurch, dass sie zur Ausdauer im 
Anlegen aufmuntern und die nun spontan 
wachsende Function der Drüse zu Unrecht 
auf ihr Conto stellen lassen. Für eine spe¬ 
cifische Beeinflussung liegt kein irgendwie 
vertrauenswürdiger Fingerzeig vor. 

Die Frage der Contraindicationen 
des Stillens bei vorhandener Fähigkeit 
ist neuerdings mehrfach angeschnitten und 
in verschiedener Weise beantwortet wor- 

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Dceember 


553 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


den. Man kann sich des Eindrucks nicht 
erwehren, dass hier oft Geburtshelfer und 
Hausärzte und vor allem Hebaminen zu 
sehr um die Mutter besorgt sind, so dass 
das Kind oft unnötigerweise zu kurz 
kommt. Ein etwas stärkeres Angegriffen- ! 
sein durch das Wochenbett, einige ziehende J 
Schmerzen im Rücken oder andere geringe 
Gründe sind viel öfter selbst bei einfachen 
Frauen die Ursache des frühzeitigen Ab¬ 
setzens, als ernstere körperliche Anomalien. 
Der Kinderarzt, der die an der Flasche 
erkrankten Kleinen heilen soll, hört oft mit I 
innerem Kopfschütteln die unbedeutenden | 
Ursachen, welche zur Entziehung der ! 
Mutterbrust und damit mittelbar zur Krank- | 
heit des Kindes führten. Er selbst kennt, ! 
nachdem die Erfahrung berufener Kliniker ! 
namentlich in Frankreich (Budin u. A ) 
gezeigt haben, dass selbst albuminurische 
Wöchnerinnen, dass Herzkranke, Idioten, Hy¬ 
sterische etc. schadlos nähren können, mit 
Heubnei 24 ), Czerny 25 ), Marfan 26 ) nur 
eine generelle Contraindication. die Tuber¬ 
kulose. Im übrigen ist von Fall zu Fall zu 
urteilen nach dem Gesichtspunkt, ob Appetit 
und Körperkraft derart sind, dass eine Ab¬ 
gabe mehrerer 100 Calorien täglichen der 
Milch compensirt und schadlos ertragen 
werden kann. Schlossmann 12 ) geht so¬ 
gar so weit, auch die stationäre Tuberkulose 
nicht für ein absolutes Hinderniss anzu¬ 
sehen. Angesichts des Umstandes, dass 
durch dasStillen die für das Kind vorhandene 
Infectionsgefahr nicht vermehrt wird, dass 
ferner der häufig während des Stillens 
stattfindende Fettansatz bei den Frauen 
diese Zeit geradezu als eine Zeit der 
Mästung kennzeichnet, sieht er, auf mehr¬ 
fache Erfahrungen gestützt, bei gutem Appe¬ 
tit — zunächst allerdings nur bei vordem 
in schlechten Verhältnissen befindlichen 
Frauen — das Stillen eher als günstig wie 
als schädlich an. Die Berechtigung dieser 
Anschauung bleibe vorläufig noch dahin¬ 
gestellt. 

Eine häufige Indication zum Absetzen 
oder zum Wechsel der Stilenden ist für 
viele Aerzte die Annahme einer quali¬ 
tativ nachtheiligen Beschaffenheit 
der Milch. Sie pflegt erschlossen zu 
werden, wenn die Stühle der Kinder 
häufiger werden und das sogenannte 
dyspeptische (grüne, hackrige, dünnere) 
Aussehen annehmen. Dreierlei wird 
hier als Ursache zumeist in Betracht ge¬ 
zogen: abnorme Mischung der gewöhn¬ 
lichen Bestandtheile (namentlich zu grosser 
oder zu geringer Fettreichthum), Beimen¬ 
gung unbekannter, nach Art der Acria 

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wirkender Stoffe etwa durch ungeeignete 
Diät, Zustände der Ernährerin, besonders 
Menstruation. Häufig glaubt man eine 
Analyse der Milch vornehmen zu müssen 
und wenn dann Abweichungen vom Durch¬ 
schnitte entdeckt werden, so gilt das Erst¬ 
genannte für erwiesen. Indessen sind diese 
Schlüsse hinfällig, wenn man die neueren 
! Arbeiten über die Chemie der Frauen¬ 
milch (Sammelreferat Thiemich 27 ), Gre¬ 
gor 28 ), Schloss mann 29 ) betrachtet. Wenn 
auch der Durchschnittsgehalt auf etwa 1 °/ 0> 
Eiweiss, 4% Fett und 7% Zucker und 
entsprechenden Salzen angegeben werden 
darf, so schwanken die Werte selbst bei der¬ 
selben Frau, in verschiedenen Lactations- 
zeiten, nach verschiedenen Stunden, ja selbst 
nach den verschiedenen Entleerungsphasen 
derart, dass auch auflallende Werte der 
Einzelanalyse nichts Pathologisches dar¬ 
stellen. Die Beimengung abnormer Stoffe 
entzieht sich vorläufig noch unserem Nach¬ 
weis. Einen positiven chemischen Befund 
in einem solchen Fall, das Ausbleiben der 
Storch’schen Reaction*) glaubte Nord¬ 
mann 3°) gemacht zu haben, jedoch wurde 
die generelle Inconstanz dieser Reaction 
von Thiemich 81 ) erwiesen. Die Einfluss¬ 
losigkeit der Menstruation auf Befinden 
der Kinder und chemisches Verhalten der 
Nahrung hat in Einklang mit früheren Be¬ 
obachtern neuerdings wieder B e n d i x 32 > 
festgestellt. 

Aus dem Gesagten erhellt zum Mindesten, 
dass chemische Analysen der Milch 
für die in Rede stehenden Fälle keine 
Klärung bringen und also überflüssig 
sind. Und ebenso überflüssig und aus¬ 
sichtslos ist es, die Beschaffenheit der Milch 
durch diätetische Vorschriften ändern zu 
wollen. Die absolute Einflusslosig¬ 
keit der Ernährungs- und Lebens¬ 
weise — abgesehen natürlich von Unter¬ 
ernährung — auf die Beschaffenheit der 
Milch, soweit sie der Analyse zugängig 
ist, darf als gesichert gelten (Sammel¬ 
referat Thiemich 34 ), Temesväry 34 ) 
und in gleichem Sinne sprechen die kli¬ 
nischen Beobachtungen an in Anstalten 
nährenden Frauen (Budin 14 ), Schloss¬ 
mann 12 ), Referent) für die Gleichgültigkeit 
der Diätform. Damit ist auch die ängstliche 
Beaufsichtigung der Diät der Stillenden 
überflüssig. Die Frau darf — natürlich in 
vernünftigen Grenzen — essen und trinken, 
was und wieviel ihr schmeckt und selbst 
der Alkohol, den Schlossmann 12 ) verwirft, 

: ) 1 Theelöfel Milch giebt mit 1 Tropfen 0,2 °/o 
HaO a -Lösung und 2 Tropfen 2°/o Paraplienylendiamin- 
lösung Blaufärbung. 

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554 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


December 


ist in massiger Menge durchaus erlaubt. 
Was würde wohl, wenn das Bier schädlich 
wäre, aus den bayrischen Säuglingen? 

Diese Thatsachen haben manche 
(Thiemich 28 ) 34 ), Kieseintzky 36 ) davon 
überzeugt, dass es überhaupt keine 
zu beanstandende Frauenmilch 
giebt. In der That sind die beim 
Säuglinge zu beobachtenden Erscheinungen 
oft nur durch Fehler der Darreichung — 
namentlich Ueberfütterung — zu erklären 
oder es handelt sich vielfach garnicht um 
etwas Pathologisches. Die sogenannten 
dyspeptischen Stühle, die so oft die Ge- 
müther aufregen, verbinden sich zumeist mit 
ungestörtem Gedeihen der Kinder, so dass 
sie nicht den geringsten Grund zur Diät¬ 
änderung bieten, sondern als gleichgiltige 
äussere Form vernachlässigt werden können. 

Wenn somit in der Frage der Bekömm¬ 
lichkeit der Milch sehr viele festgewurzelte 
Meinungen sich als unbegründete Vor- 
urtheile erweisen, so ist doch zuzugeben, 
dass — wenn auch sehr selten — Kinder 
Vorkommen, die bei derselben Frau, welche 
andere Kinder mit Erfolg stillt, nicht ge¬ 
deihen und krankhafte Darmsymptome dar¬ 
bieten, an einer anderen Brust aber sich 
bessern. Und schliesslich kommen Kinder 
vor, die überhaupt Frauenmilch nicht 
vertragen. Hierher gehören die Kinder mit 
sogenannten „angeborenen Pylorusspas- 
men“ und eine wohl nah verwandte Gruppe, 
in denen die Neigung zu spastischen Er¬ 
scheinungen hauptsächlich in einer Art 
Colica flatulenta sich äussert, die nach 
Darreichung von Kuhmilch schwindet. 

Auch betreffs der Ursachen des früh¬ 
zeitigen Rückganges der Milch müssen 
manche Vorurtheile über Bord geworfen 
werden. Der Einfluss von Aufregung ist 
trotz aller Erzählungen durch keinen ein¬ 
wandfreien Fall gesichert, ebenso pflegen 
zahlreiche Frauen die Menstruation schad¬ 
los zu überstehen (Budin 14 ), Bendix 82 ). 
Sogar bei neuer Gravidität kann aus¬ 
nahmsweise die Milch noch lange Zeit 
erhalten bleiben (Budin). In den 
meisten Fällen ist fehlerhafte Be¬ 
handlung der Brust oder der 
Stillenden der Grund. Wir haben 
schon nachdrücklich darauf hingewiesen, 
dass nur eine regelmässige Entleerung der 
Brüste durch das Saugen die Secretion in 
Gang erhält. Saugschwache Kinder ver¬ 
derben deshalb schnell die beste Brust, 
ebenso unvernünftiges Anlegen in kurzen 
Zwischenräumen oder gar an beide 
Brüste, so dass keine recht leer wird. 
Von grösster Wichtigkeit ist auch der 


schädliche Einfluss aller Ueberwachung, 
Künstelei und Zwang in der Ernährung, 
die Nöthigung zur Vertilgung fader 
Suppen etc., worunter die Esslust leidet. 
Wenn eine Amme nicht einschlägt, ist 
mindestens eben so oft das ihr über¬ 
gebene Kind oder die Umgebung schuld, 
als die Person selbst. Am besten sehen 
das die Leiter von Säuglingsheimen; 
wochenlang als gut bewährte Frauen kehren 
nach Kurzem aus den Familien, wo sie 
Amme waren, zurück, weil sie die Milch 
verloren hätten. Zum Theil ist diese that- 
sächlich vermindert — aber nach 2—3 
Tagen geregelter Thätigkeit beginnt wieder 
der ergiebige Anstieg (Schlossraann 12 ), 
Referent). Das so vielfach in der Praxis 
beklagte schnelle Versagen Anfangs viel¬ 
versprechender Ammen ist in den An¬ 
stalten unbekannt — ein weiterer Beweis, 
wie nichts anderes als ungeschickte Be¬ 
handlung der Stillenden die Ursache des 
Verlustes ist. 

Hier noch etwas über die Behandlung 
der Mastitis. Schlossmann 12 ), welcher 
die Milchstauung für nachtheilig hält, lässt 
bis zur Reifung des A l bscesses, wenn kein 
Eiter in die Milch gelangt, weiter anlegen, 
andernfalls oder bei zu grossen Schmerzen 
wenigstens abziehen. Nach der Incision 
wird ebenso verfahren. Zweckmässiger, 
weil dadurch viele Entzündungen zurück¬ 
gehen, ist jedoch wohl die alte Methode der 
Ausserfunctionssetzung der kranken Seite. 
Wenn nach einigen Tagen Fieber und 
Schmerzen sichtlich nachlassen, kann 
einmal täglich, später öfter Milch entzogen 
werden; auch so gelingt es die Secretion 
zu erhalten. Quillier 16 ) hat noch nach 
30tägiger Ruhe die geheilte Brust wieder 
in Gang gebracht!, Referent selbst nach 
10 tägiger Pause. 

Zum Schluss noch einiges über die 
Ammenfrage. Weit entfernt von der 
Menge der früher aufgestellten Forderungen 
wird jetzt nur Gesundheit der Amme und 
genügende Milchsecretion als ausschlag¬ 
gebend hingestellt. Insbesondere ist auch 
die Dauer der Lactation gleichgiltig. Alte 
Ammen sind für Neugeborene höchstens 
dann nicht rathsam, wenn ihre Milch zu 
reichlich fliesst. Die Feststellung des Vor¬ 
handenseins der beiden Grundeigenschaften 
bietet jedoch die bekannten, durch ein¬ 
malige Untersuchungen nicht zu erledigen¬ 
den Schwierigkeiten, Hier streben nach 
dem Vorbilde der Schlossmann’schen An¬ 
stalt (Schlossman 10 ) die Säuglingsheime 
eine willkommene Reform an. Dort wer¬ 
den die Frischentbundenen mit dem Kinde 


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Dccembcr 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


aufgenommen. erholen sich, werden zur 
Leistungsfähigkeit herangezogen, und ihre 
Anwesenheit kommt nicht nur dem eigenen, 
sondern auch anderen kranken Kindern der 
Anstalt zu Gute. Nach längerem Aufenthalt, 
in dem Gesundheit und Milchreichthum 
genügend zuverlässig festgestellt werden 
konnte, werden sie in die Familie entlassen 
zu einer Zeit, wo ihr eigenes Kind über 
die Hauptgefahren hinaus ist. Auch weiter¬ 
hin bleibt das nunmehr in Pflege gebrachte 
Kind in der Aufsicht der Anstalt. So wird 
zugleich die Qualität der Amme gefördert, 
die Ansteckungsgefahr beseitigt und durch 
Versorgung des Kindes das Odium des 
Inhumanen auf ein Minimum vermindert. 
Nicht zum wenigsten ist auch die Be¬ 
kämpfung der Misswirthschaft der Ver- 
mietherinnen ein Vortheil. Ganz in ähn¬ 
licher Weise streben Escherich, 37 ) 
Pfaundler, 88 ) Weiss 3y j u. A. die Neu¬ 
regelung des Ammenwesens an. 

Mit Recht macht Schlossmann V1 ) auf¬ 
merksam auf die Ungerechtigkeit, welche 
darin besteht, dass eine früher gute Amme, 
nachdem sie wegen ungeschickter Behand¬ 
lung oder wegen Saugschwäche des Kindes 
die Nahrung verloren hat, einfach abgelohnt 
wird, nachdem ihr durch fremde Schuld 
das verloren ging, womit sie unter anderen 
Umständen monatelang sich bezw. ihr Kind 
erhalten hätte. Dass auch diese Seite der 
Ammenfrage einer Berücksichtigung bedarf, 
ist billigerweise nicht abzulehnen. 

Litteratur. 

1) Grätzer, Ein. üb. d. Ernähr, b. d. Berl. 
Arbeiterbevölkerung. Jahrb. f. Kinderh. 35. 

2) Nordheim, Beiträge zur Frage der | 
Stillungsnoth. Archiv f. Kinderheilkunde. 31. — ! 

3) Bunge. Die zunehmende Unfähigkeit der j 
Frauen, ihre Kinder zu stillen. München 1900. — 

4) Hegar, Brüste und Stillen. Deutsche med. 
Wochenschrift 1896, No. 34. — 5) Bollinger, 
Ueber Säuglingssterblichkeit und die ererbte 
functionelle Atrophie der Milchdrüse. Corr. Bl. d. 
Deutsch, anthropol. Gesellsch. 1899, No. 10. — 
6) Mme. Dluski, Contrib.ä l'etude de l’allaitem. 
maternel. These de Paris 1894. — 7) Marfan, 
Le pouvoir d’allaiter a-t-il diminue chez les 
femmes des nos jours. Rev. mens. d. malad, 
d. l’enf. Janv. 1902. — 8) Blacker, cit. bei 
Marfan. — 9) Strauss, Das Stillungsvermögen 
der Puerperae d. Münchener Frauenklinik. In.- 
Diss, 10) Schlossmann, Ueber Errichtung 
und Einrichtung von Säuglingskrankenanstalten. 
Archiv für Kinderheilkunde 33. — 11) Finkei¬ 


stein uud Ballin, Die Waisensäuglinge Berlins 
. etc. Urban und Schwarzenberg 1903. — 12) 
i Schlossmann, lieber die Leistungsfähigkeit 
der weiblichen Milchdrüsen und über Indication 
| und Contraindication zum Stillen. Monatsschr. 

; für Geb. u. Gyn. XVII, 1903. — 13) Comby, 
cit. nach Marfan, Traite de rallaitement. II Ed. 
i S. 246. — 14) Budin, le Nourrisson. Paris 
1900. — 15) Laisney, de laugment. progress 
de la secret lactce. These de Paris 1903. — 
16) Quillier, de 1‘augmcnt de la secret lactöe 
suiv. la demande. l’obstötrique 1902, VII, S. 291. 

— 17) Planchon, Duröe de lallaitement au 
sein, l'obst^trique VII, S. 193, — 18) Rose- 

! mann, Pflüger’s Archiv LXXVIII, 1900, — 19) 

I Hefelmann, Somatose, Tropon, Nährstoff 
I Heyden. Allgemeine medicinischeCentralzcitung 
I 1899, No. 40. — 20) Heymann, Deutsche 
Medizinalzeitung 1898, No. 59. — 21) Baur, 
i Einfluss des Roborats auf die Milchsecretion. 
i Centralblatt f. Gyn. 1902, No. 34, — 22) Pletzer, 
Zur Ernährung stillender Frauen. Münchener 
; medicinische Wochenschrift 1899, No. 46. — 

1 23) Flachs, Praktische Gesichtspunkte zur 
j Säuglingsernährung Archiv f. Kinderheilkunde 
j 33. — 24) Heubner, Pentzold Stintzing, Hand- 
! buch der Therapie IV. — 25) Czerny und 
Keller, Die Kindes-Ernährung und Ernährungs- 
; Störung etc. — 26) Marfan, Traite de l’allaite- 
ment. Paris 1903. — 27) Thiemich, Ueber 
Veränderungen der Frauenmilch durch physi- 
! logische und pathologische Zustände. Monats- 
j schrift für Geburtshilfe und Gyn. VIII. — 28) 
Gregor, Fettgehalt der Frauenmilch etc. Volk- 
j manns Vortr. N. F. No. 302. — 29) Schloss- 
] mann, Zur Frage der natürlichen Säuglings- 
| ernährung. Archiv für Kinderheilkunde XXX. 
| — 30) Nordmann, Ueber ein. posit. ehern- 
| Bef. bei Unverträglichkeit der Muttermilch. 
Monatsschrift fürGeb. und Gyn. 1902 — 31)Thie- 
mich, Ueber die Storch’sche Reaction etc. ibid. 
1903. — 32) Bend ix, Einfluss der Menstruation 
auf die Lactation. Chariteannalen 24. — 33) 
Bend ix, Beiträge zur Ernährungsphysiologie 
der Säuglinge. MünchenermedicinischeWochen- 
schrift 1900, No. 30. — 34) Thiemich, Ein- 
| fluss der Ernährung und Lebensweise auf die 
Zusammensetzung der Frauenmilch. Monats¬ 
schrift für Geb. und Gyn. IX. — 35) Temes- 
väry, Einfluss der Ernährung auf die Milch¬ 
absonderung. Pest. med. chir. Presse 1900, 
No. 34. — 36) Kieseintzky, Ueber Frauen¬ 
milchuntersuchung vom klinischen Standpunkt. 
Petersburger medicinische Wochenschrift 1901, 
No. 3. — 37) Escherich, Errichtung einer 
Ammen - Vermittlungsstelle in Graz. Mittheil, 
des Vereins der Aerzte in Steiermark 1903. 

— 38) Pfaundler, Zur Lohnammenfrage. 
Wien. klin. Wochenschr. 1903 No. 32. — 
39) Weiss, Die Säuglingsheilstätten. Wiener 
med. Presse 1903, No. 6. 


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1 


556 Die Therapie der Gegenwart 1903. Dcccmber 

Bücher besprech u ngen. 


Goldscheider. Diagnostik der Krank¬ 
heiten des Nervensystems. Dritte 
verbesserte und vermehrte Auflage. 
Berlin, Fischers medicin. Buchhandlung, 
M. 8,— 

Aus der bescheidenen Form eines klei¬ 
nen Compendiums, das sich freilich bereits 
in der ersten Auflage durch Selbstständig¬ 
keit und Gründlichkeit der Darstellung von 
vielen unter dem Namen Compendium 
gehenden Compilatorien vortheilhaft unter¬ 
schied, hat sich Goldscheider’s Buch 
in der zweiten und noch mehr in der 
vorliegenden dritten Auflage zu einem 
methodischen Lehrbuch der Untersuchung 
von Nervenkranken ausgewachsen. Dass 
ein Autor, dessen Arbeiten für wichtige 
Gebiete der diagnostischen Methodik grund¬ 
legend geworden sind — ich erinnere an 
die Sensibilitätslehre, an die Untersuchun¬ 
gen über Störungen der Sprache und 
Schrift u. A. m. — hierzu besonders be¬ 
rufen war, bedarf keiner Begründung. Ein 
Hinweis darauf ist aber vielleicht um so mehr 
am Platz, als Goldscheider's eigener 
Antheil an dem Aufbau des neurologisch¬ 
diagnostischen Lehrgebäudes in dem Buch 
nirgends hervorgehoben ist, so dass der 
Fernstehende kaum ahnt, wieviel eigenste 
Ideen und Untersuchungen des Verfassers 
hier als organische Bestandtheile einer 
bescheiden und objectiv referirenden Dar¬ 
stellung sich eingefügt haben. 

Die wichtigeren wissenschaftlichen Er¬ 
werbungen der letzten Jahre sind in der 
neuen Auflage ausreichend berücksichtigt. 
Auch in Bezug auf Abbildungen und Ta¬ 
bellen hat das Buch an Vollständigkeit und 
Uebersichtlichkeit noch gewonnen. 

Die Eintheilung * ist die frühere ge¬ 
blieben. Das erste Capitel ist den Unter¬ 
suchungsmethoden gewidmet, dann folgt 
die allgemeine Symptomatologie in einer 
bei aller Kürze geradezu erschöpfenden 
Darstellung. Der Elektrodiagnostik und 
der Untersuchung von Sprache und Schrift 
ist entsprechend der Eigenart und der 
differencirten Ausbildung dieser Methoden 
je ein besonderes Capitel zugetheilt. Es 
folgt ein fünftes Capitel über die topische 
Diagnose, das in klarer Knappheit des 
Ausdrucks und geschickter Auswahl der 
Abbildungen zu den gelungensten gehört, 
und als Schlusscapitel die specielle Dia¬ 
gnostik, die entsprechend der pädagogischen 
Absicht des Verfassers in erster Linie 
eine Anleitung zur Kranken-Untersuchung 
zu geben, gewissermaassen nur als „An- 

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hang“ behandelt, doch auf 80 Seiten 
in präcisester Form alles Wissenswerthe 
enthält. 

Dem Praktiker, dem es mit der Unter¬ 
suchung seiner Nervenfälle ernst ist und 
der sich daneben über den neuesten Stand 
der neurologischen Wissenschaft rasch zu 
orientiren wünscht, kann man keinen zu¬ 
verlässigeren Führer empfehlen. 

Laudenheimer (Alsbach bei Darmstadt). 

E. Jacobi. Atlas der Hautkrank¬ 
heiten mit Einschluss der wichtig¬ 
sten venerischen Erkrankungen. 
Für praktische Aerzte und Studirende. 
155 farbige und 2 schwarze Abbildungen 
auf 86 Tafeln, nebst erläuterndem Text. 

II. (Schlussabt.). Taf. 43—86.) Berlin- 
Wien, Urban u. Schwarzenberg. M. 14,50. 

Der in dieser Zeitschrift bereits beim 
Erscheinen der 1. Hälfte angezeigte Atlas 
der Hautkrankheiten von Jacobi liegt nun 
vollständig abgeschlossen vor. Ich ver¬ 
weise in Bezug auf die technische Grund¬ 
lage des Unternehmens, welche der Autor 
hierbei zum ersten Male mit ausserordent¬ 
lichem Erfolg für die Reproduction farbiger 
medicinischer Bildwerke verwerthet hat, 
auf meine damalige Besprechung. In Bezug 
auf den Inhalt dieser jetzt vorliegenden 
2. Hälfte des Werkes kann ich mit Befriedi¬ 
gung constatiren, dass die nach dem Er¬ 
scheinen der 1. Hälfte des Werkes gehegten 
Erwartungen voll und ganz sich erfüllt 
haben. Auch dieser zweite Theil zeigt fast 
durchgehends ausgezeichnete — sowohl in 
Bezug auf Plasticität wie Farbengebung 
reproducirte typische Paradigmen von Haut- 
und Geschlechtskrankheiten. Hervorheben 
möchte ich besonders die blasenbildenden 
Affectionen wie den Pemphigus. Ge¬ 
schwülste, Mycosis fungoides, Sarcomatosis 
cutis, sind ganz ausgezeichnet getroffen. 
Die syphilitischen Exantheme sind in ihren 
wichtigsten Formen sehr gut dargestellt. 
Der Text giebt in kurzer knapper Darstel¬ 
lung die wichtigsten Daten zur Erläuterung 
der Bilder. Auch in diesem zweiten Theil 
hat der Autor das Princip durchgeführt, 
nicht Raritäten, sondern die praktisch wich¬ 
tigen Typen abzubilden. Es erfüllt der 
Atlas den Zweck, dem Praktiker und Stu- 
direnden jeder Zeit zur Auffrischung früher 
gesehener Krankheitsfälle und zur Ver¬ 
gleichung typische Bilder in ausgezeich¬ 
neter Darstellung vorzuführen, vollkommen. 
Für die Güte des Werkes spricht auch der 
Umstand, dass gleichzeitig Uebersetzungen 

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December 


557 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


in englischer, französischer, italienischer 
und spanischer Sprache erscheinen. 

Buschke (Berlin). 

R. Lucke. Die chronische Harnver¬ 
haltung in diagnostischer und 
therapeutischer Beziehung. Für 
praktische Aerzte dargestellt. Anhang: 
Der Selbstkatheterismus. Vorschriften für 
Blasenkranke. Verlag von Gustav Fischer 
in Jena 1904. 40 u. 12 S. M. 1,- 


In ganz kurzer durch Abbildungen er¬ 
läuterter Form giebt der Verfasser einen 
Ueberblick über Anatomie, Physiologie, die 
wichtigsten Untersuchungsmethoden, die 
Diagnose und Behandlung der Störungen 
der Harnentleerung. Der Praktiker kann 
sich hier schnell über das Wichtigste orien- 
tiren. Die im Anhang gegebenen Vor¬ 
schriften werden auch dem Arzt bei der 
Behandlung Blasenkranker manchen nütz¬ 
lichen Wink geben. B. 


Referate. 


Von dem Italiener Daconto stammt 
eine warme Empfehlung des Acoin ge¬ 
nannten Alcaloids als Localanästheticum 
für kleinere und grössere chirurgische Ein¬ 
griffe. Verfasser injicirt eine 1%ige Lösung 
subcutan und rühmt die prompt und schnell 
eintretende Gefühllosigkeit. Er hält das 
Mittel für verhältnissmässig ungefährlich j 
und wenig toxisch wirkend; er konnte in 
einem Fall ohne irgend welchen Schaden 
20 ccm der 1°/oigen Lösung injiciren. Von 
den ausgeführten Operationen seien einige 
Beispiele angeführt: Tenotomie, ein¬ 
geklemmter Leistenbruch, Empyem, tuber¬ 
kulöse Lymphome, Hydrocele und die 
verschiedenartigsten Fingerverletzungen. 
Beim Nähen von Quetsch- und Risswunden 
und bei kleinen plastischen Operationen 
hat Verfasser niemals Injectionen gemacht, 
sondern nur Compressen mit Acoinlösung 
auf die Wunden gelegt, sobald die Blutung 
aufgehört hatte. Erwähnt sei noch die 
lange Haltbarkeit der Lösung. Diese 
Mittheilungen klingen ja sehr vielver¬ 
sprechend, man wird aber wohl auch hier 
vorsichtig sein und anderweitige Resultate 
abwarten müssen, ehe man dem Acoin 
seinen Platz unter den Localanästheticis 
anweist. Wich mann (Altona). 

(Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Bd. 69 ) 

Ueber 53 Fälle von Actinomycose be¬ 
richtet Heinzeimann aus der Tübinger 
chirurgischen Klinik. Die meisten standen 
im 20. bis 40. Jahr; nur ein Kind war dar¬ 
unter, 11 Jahre alt. Hierdurch wird auch | 
die von anderer Seite schon festgestellte 
Thatsache des seltenen Vorkommens der 
Actinomycose bei Kindern bestätigt. Die 
Behandlung bestand in möglichst gründ¬ 
licher Excision und Excochleation des 
kranken Gewebes mit folgender feuchter 
Tamponade der Wunde; zu der besonders 
Sublimat und Jodoform verwandt wurde. 
Daneben wurde gewöhnlich innerlich Jod¬ 
kali in grossen Dosen gegeben. Die Hei- 

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lungserfolge sind in erster Linie von dem 
Sitz der Erkrankung abhängig. Von den 
Actinomycosen der Knochen und Weich- 
theile von Hals und Gesicht werden 89,7 % 
geheilt. Dieser günstige Erfolg ist darauf 
zurückzuführen, dass in diesen Fällen der 
Sitz der Erkrankung dem Messer gut zu- 
; gänglich war. Viel ungünstiger ist die 
Prognose, wenn die Erkrankung innere 
Organe des Schädels, der Brust, des 
Bauches ergriffen hat. Von diesen Fällen 
wurden 27,2 % geheilt, darunter 2 Fälle 
von Perityphlitis. Im Uebrigen trägt auch 
die Actinomycose innerer Organe von vorn 
herein einen maligneren Charakter, vor 
allem aber ist der Krankheitsheerd weniger 
zugänglich. In allen beobachteten Fällen 
war die Krankheit bei Beginn der Behand¬ 
lung schon im chronischen Stadium. 2jäh- 
rige Heilung kann als Dauerheilung be¬ 
trachtet werden. Klink (Berlin.) 

(v. Bruns, Beitr. z. klin. Chir. XXXIX, H 2). 

Wo der Symptomencomplex von Leber¬ 
koliken sich mit ernsthaften Blutungen aus 
dem Magendarmcanal vergesellschaftet, da 
soll immer auch das Aneurysma der 
Leberarterie differential - diagnostisch in 
Betracht gezogen werden. Das lehren die 
bis dato vorliegenden einschlägigen Beob¬ 
achtungen, deren Zahl allerdings 22 noch 
nicht übersteigt und über die gewöhnlich 
erst die Obduction Klarheit brachte. Es 
handelt sich also um eine sehr seltene 
Affection, glücklicher Weise, denn bisher 
schien es, als ob die Therapie gegen diese 
Erkrankung machtlos sei. Dass die innere 
Behandlung hierbei nichts ausrichten kann, 
versteht sich von selbst. Der Versuch 
einer Operation schien bisher zwar ge¬ 
rechtfertigt, wenn sich auch erst zeigen 
musste, „wie weit die Unterbindung der 
Leberarterie beim Menschen überhaupt er¬ 
tragen wird“ (Quincke). Dieser letztere 
wichtige Punkt wurde bisher keineswegs 
einheitlich beurtheilt. Manche Autoren 


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1 


558 Die Therapie der Gegenwart 1903. December 


hielten Lebernekrose in Folge von Unter¬ 
brechung der arteriellen Zufuhr nach Unter¬ 
bindung der Art. hepatica für unvermeid¬ 
lich, und die Leberarterie selber also für 
etwas chirurgisch Unangreifbares. Andere 
hingegen hielten den Eingriff für erlaubt, 
da nach Thierversuchen zu urtheilen die 
Ausbildung reichlicher Anastomosen zwi¬ 
schen Leberarterie und benachbarten Ar¬ 
terien eine genügende Blutversorgung der 
Leber immerhin möglich erscheinen Hess. 
Die praktische Erfahrung konnte bislang 
darüber nicht allzuviel aussagen. Es ex- 
istirten seither nur drei Fälle, in denen die 
Leberarterie wegen Aneurysma chirurgisch 
angegangen war. Bei keinem dieser Fälle 
war vor oder auch während der Operation 
die richtige Diagnose gestellt worden und 
bei keinem daher der allein erfolgreiche 
Eingriff, nämlich die Unterbindung der 
Art. hepatica, ausgeführt worden. Vom 
ersten derartig operirten Fall berichtet nun 
neuerdings H. Kehr (Halberstadt). Es 
handelte sich hierbei um ein Aneurysma 
der Leberarterie bei einem 29 jährigen 
Mann, das offenbar schon seit 1®/4 Jahren 
bestand, circa U /2 Jahre vor der Operation 
geplatzt war und sein Blut in den Ductus 
cysticus, die Gallenblase, den Ductus chole- 
dochus und also in den Magendarmcanal er¬ 
gossen hatte. Demgemäss traten im Krank¬ 
heitsbild Anfangs anfallsweise Magen¬ 
krämpfe mit Erbrechen und Icterus auf, 
die sich nach einem halben Jahre mit star¬ 
kem Blutbrechen vergesellschafteten und 
von Zeit zu Zeit wiederholten. Die Diffe¬ 
rentialdiagnose schwankte zwischen Hydrops 
der Gallenblase mit Duodenalgeschwür, 
Duodenalgeschwür an der Papille, An¬ 
eurysma der Leberarterie, Echinococcus 
der Gallenblase. Bei der Laparatomie fand 
sich denn eine prall mit Blut gefüllte Gallen¬ 
blase, Fibringerinnsel im Ductus cysticus, 
bei deren Entfernung eine enorme Blutung 
aus einem damit communicirenden hühner¬ 
eigrossen, pulsirenden Aneurysma der 
Leberarterie eintrat. Kehr unterband die 
Art. hepatica peripherwärts von der Ab¬ 
gangsstelle der Art. gastroduodenalis! Es 
trat zwar im weiteren Verlauf eine trockne 
Nekrose am rechten Leberlappen ein, die 
zu einer theilweisen nekrotischen Ab- 
stossung des unteren rechten Leberrandes 
führte, aber dann vollkommen zum Still¬ 
stand kam. Der Patient wurde geheilt ent¬ 
lassen. — Damit ist freilich der Beweis ge¬ 
liefert, dass die Unterbindung der Leber¬ 
arterie am Menschen ausführbar ist. Ob sie 
freilich auch mit gleich günstigem Erfolge in 
Fällen, in welchen die Collateralenbildung bei 


kürzerem Krankheitsverlauf weniger Zeit ge¬ 
habt hat, vorgenommen werden kann, das 
muss die Zukunft lehren! F. U m b e r (Altona). 

(Münch, med. Wochenschr. 1903, No. 43.) 

In einer früheren Arbeit über Castra- 
tlon und ihre Folgen hatte Lüthje (vergl. 
diese Zeitschrift 1902, S. 521) durch ein¬ 
gehende Bilanzversuche an Thieren den 
Beweis erbracht, dass ein specifischer Ein¬ 
fluss der Geschlechtsdrüsen auf Fett- und 
Eiweissstoffwechsel nicht existirt. Da¬ 
mit war einer vielverbreiteten Vorstellung 
von bestimmter und specifiicher Beziehung 
der Keimdrüsen zu den Oxydationsvor¬ 
gängen im Organismus der Boden ent¬ 
zogen. Durch analytische Verarbeitung der 
Gesammtthiere auf ihren Phosphor- und 
Kalkgehalt hat derselbe Autor nunmehr 
auch die Frage, ob die Geschlechtsdrüsen 
in dieser Richtung einen specifischen Ein¬ 
fluss auf den Chemismus im Körper üben, 
zur Entscheidung gebracht, und zwar gleich¬ 
falls im negativen Sinne. 

Zwei Wiener Autoren, Breuer und 
Seiller, haben den Einfluss der Castra¬ 
tion auf den Blutbefund bei weiblichen 
Thieren verfolgt und entnehmen aus ihren 
Beobachtungen, dass nach der Castration 
junger Hündinnen bei völligem Wohlbefin¬ 
den der Thiere und bei gleichbleibendem 
oder zunehmendem Körpergewicht, ein vor¬ 
übergehendes Sinken des Hämoglobin¬ 
gehaltes sowie des Erythrocytengehaltes 
im Blute eintritt. Dem Vorwurf, dass diese 
Erscheinung einem operativen Eingriff an 
sich und den Folgen der Narkose zuzu¬ 
schreiben wäre, glauben die Verfasser da¬ 
durch zu begegnen, dass sie an Control- 
thieren eine supravaginale Amputation des 
Uterus durch Laparatomie Vornahmen und da¬ 
bei die übrigen äusseren Bedingungen mög¬ 
lichst gleich wie bei den castrirten Thieren 
gestalteten. Hierbei nahm merkwürdiger 
Weise Hämoglobingehalt und Erythrocyten- 
zahl zu! Daraus entnehmen sie, dass das 
Absinken der Blutwerthe bei den castrirten 
Thieren „zweifellos eine Folge der Entfer¬ 
nung der Ovarien war“. F. Umber (Altona). 

(Arch. für exp. Path. und Pharm. 1903, Bd. 50, 
Heft 3 und 4.) 

Die für das Verständniss des Wesens 
und der Behandlung des Diabetes wich¬ 
tige Thatsache der Verbrennung des 
Traubenzuckers in den Muskeln und 
ihre Beeinflussung durch das Pankreas 
ist von O. Cohnheim mit Erfolg studirt 
worden. Bekanntlich geht die Zuckerver¬ 
brennung in den Muskeln des lebenden 
I Körpers nicht ohne Weiteres durch ein in 


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December 


559 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


diesen selbst enthaltenes Enzym, wie in der 
Hefezelle und in höheren Pflanzen, vor sich. 
Auch im Blut war ein solches Enzym bis jetzt 
nicht nachweisbar. Festgestellt war aber, 
dass das Pankreas etwas in das Blut hinein- 
secernirt, dessen Fehlen die Verbrennung 
des Zuckers unmöglich macht, so wie die 
Verbrennung beim menschlichen Diabetes 
beschränkt oder gänzlich aufgehoben ist. 
Dieses Etwas scheint nun ein Enzym zu 
sein, das im Bedarfsfall mit dem Blut den 
Muskeln zufliesst, so dass die Activirung 
des Muskelzymogens und damit die Ver¬ 
brennung des Traubenzuckers im Muskel 
möglich wird. Während nämlich weder 
Muskeln noch Pankreas jedes für sich 
Traubenzucker zerlegen, ist diese Zer¬ 
legung experimentell gelungen mit einer 
zellfreien Flüssigkeit, die aus dem Ge¬ 
menge von Muskel und Pankreas sich 
gewinnen lässt. Die Zuckerverbrennung 
war eine totale. Vom weiteren Ausbau 
dieser Versuche (die Isolirung diesesMuskel- 
enzyms und seines etwa nach Art der 
Pawlow'schen Enterokinase — Enzym der 
Darmschleimhaut, welches das Trypsinogen 
des Pankreassaftes activirt — wirkenden 
activirenden Enzyms) sind vielleicht einmal 
Fortschritte in der Therapie der Diabetes 
zu erwarten. E. Rost (Berlin). 

(Zeitschr. f physiol. Chem. 1903, Bd. 39, S. 336) 

Vornehmlich durch die klassischen experi¬ 
mentellen Untersuchungen Minkowski’s 
wissen wir, dass man bei gewissen Thieren, 
namentlich beim Hunde, durch Entfernung 
des Pankreas einen echten Diabetes er¬ 
zeugen kann, bekanntlich den einzigen 
experimentellen echten Diabetes, den wir 
bisher kennen. Wenn sich auch Min¬ 
kowski wohl bewusst war, dass damit noch 
nicht der sichere Beweis für die Unmög¬ 
lichkeit einesZuckerverbrauchs im pankreas¬ 
losen Organismus geliefert sei, so hielt er 
dies doch immerhin für etwas unwahr¬ 
scheinliches. Bisher gab es auch keinen 
entscheidenden Grund, zu behaupten, dass 
im völlig pankreaslosen Organismus noch 
Zucker zerstört werde. Indess hat nun 
Lüthje in jüngster Zeit diesen nicht un¬ 
wichtigen Beweis erbracht. Es gelang ihm 
durch Resection des ganzen Duodenums 
mitsammt dem daran sitzenden Pankreas, 
eine — auch in mikroskopischem Sinne — 
vollständige Entfernung dieserDrüse bei sei¬ 
nem Versuchsthier zu erzielen. Ein solcher 
Hund, der vom vierten Tage von der Ope¬ 
ration an bis zu seinem Ende hungerte, 
überlebte die Operation sechs Tage lang, 
schied Anfangs reichlich Zucker aus, der 

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indess nach drei Tagen aus dem Urin ver¬ 
schwand. Trotzdem er nun andauernd agly- 
cosurisch blieb, war ein Blutzuckergehalt von 
0,312°/ 0 im Blut nachzuweisen. Daraus geht 
aho zweifellos hervor, dass auch der voll¬ 
ständig pankreaslose Hund die Fähigkeit des 
Zuckerverbrauchs nicht vollständig einbüsst. 
Lüthje sucht die Erklärung für diese That- 
sache darin, dass vielleicht mehrere Ge¬ 
webe im Körper coordinirt die Fähigkeit 
besitzen, das Zuckermolecül zu verarbeiten, 
oder aber, dass ein vom Pankreas ge¬ 
lieferter Stoff secretinartig eine zuckerzer¬ 
störende Kraft anderer Organe mächtiger 
anfache, derart, dass bei Pankreasausfall die¬ 
selbe in weit geringerem Umfange zur Wir¬ 
kung kommt. Als weitere Möglichkeit dis- 
cutirt Lüthje die Frage, ob nicht derjenige 
Zucker, der seinen Ursprung aus dem leben¬ 
den Organeiweiss nimmt, anderen Zer¬ 
setzungsbedingungen unterworfen sei, als 
derjenige, der dem Nahrungseiweiss ent¬ 
stammt. Mit dieser Vorstellung verträgt sich 
nach seiner Meinung auch die Erfahrung, 
dass geringe Zufuhr von fremdem Ei weiss bei 
pankreaslosen Hunden, die durch Hunger 
zuckerfrei gemacht worden sind, sofort wie¬ 
der Glycorusie hervorruft, und ferner, dass 
beim menschlichenDiabetes in schwercachek- 
tischen Zuständen oder auch bei hohem 
Fieber der Zuckergehalt im Harn absinkt. 
Referent selbst muss bekennen, dass diese 
letztere Vorstellung mancherlei für sich 
hat. Auch ich habe bei meinen Unter¬ 
suchungen über quantitative Zusammen¬ 
setzung des Eiweisses bei Thieren, welche 
schwerster Inanition und Schädigung ihres 
Stoffwechsels unterworfen und dann in toto 
analysirt waren (cf. Berl. klin. Wochenschr. 

1903 No. 39) gesehen, dass der Eiweiss¬ 
bestand des Organismus in Zeiten schwerster 
Noth kohlenstoffärmer werden kann als 
dem normalen Eiweiss entspricht, dass aber 
bald eine untere Grenze erreicht wird, 
unter die der Kohlenstoffgehalt nicht mehr 
herabsinkt, und die in einem bestimmten 
Quotienten (C : N = 3.25) ihren zahlen- 
mässigen Ausdruck findet. Dieses Ver¬ 
hältnis wird dann mit so grosser Zähig¬ 
keit festgehalten, als ob nunmehr die Ei¬ 
weisskörper gewissermassen nicht mehr 
denselben Gesetzen des Stoffumsatzes 
unterworfen wären. Mit dieser eisernen 
Ration seines Eiweissbestandes scheint der 
Organismus in anderer Weise umzugehen 
als mit dem Ueberschuss! Hierin begegnen 
sich also unsere von ganz verschiedenen Ge¬ 
sichtspunkten ausgewonneneVorstellungen! 

F. Umber (Altona). 

(MQnch. med. Wochenschrift 1902, No. 36.) 

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560 


December 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


An 180 Operirten der Heidelberger 
Klinik hat Schott seine Beobachtungen 
über Dauerheilungen nach Gallenstein¬ 
operationen angestellt. Steinrecidive tra¬ 
ten bei 17% der Operirten ein. Es han¬ 
delte sich dabei niemals um echte Recidive, 
d. h. Bildung neuer Steine, sondern um 
unechte, d. h. Uebersehen und Zurück¬ 
lassen von Steinen bei der Operation. 
Alle diese Patienten waren nach sehr 
langem Bestehen ihres Leidens operirt 
worden. Das mahnt wieder zur frühzeiti¬ 
gen Operation. So lange die Steine noch 
nicht in die tieferen Gallenwege gewandert 
sind und die Entzündungsvorgänge noch 
wenig ausgedehnt sind, ist die Operations¬ 
prognose gut. Hat man es erst mit nar¬ 
bigen Adhäsionen, mit starker Verdickung 
der Wandung der ausführenden Gallen¬ 
wege oder mit pericystitischen Abscessen 
zu thun, so kann eine Entfernung sämmt- 
licher vorhandenen Steine nicht gewähr¬ 
leistet werden. Bei 18 Patienten traten 
wieder Koliken mit Icterus, bei 31 Schmerz¬ 
anfälle ohne Icterus auf. Doch war das 
Allgemeinbefinden gut. Nur bei 9 Patienten 
bestanden nach 5—6 Jahren noch Symp¬ 
tome, die mit dem Gallensystem in Bezie¬ 
hung stehen können; mithin sind 95 % 
von ihrer Cholelithiasis dauernd geheilt. 
Aber bei diesen von Gallensteinen befreiten 
Menschen traten oft andere Störungen 
nach der Operation auf, die nicht mit dem 
Gallensystem in direkter Beziehung stehen. 
Hier spielt die Hernienbildung in der Ope¬ 
rationsnarbe die Hauptrolle. Solche trat 
bei 12% der Operirten auf, bei 3,3% mit 
Beschwerden. Die Zahl der zurückbleiben¬ 
den Gallenfisteln ist auf 4,4 % gesunken. 
Sie machen keine Beschwerden und sind, 
wenn sie nicht zu lange bestehen, geradezu 
als therapeutische Maassnahme, als Sicher¬ 
heitsventil zu betrachten. Bei 36,6 % der 
Fälle blieben nach den Operationen Magen- 
und Darmbeschwerden bestehen. Dieselben 
sind zurückzuführen auf die Adhäsionen, 
wie sie sich bei lange bestehendem Leiden 
vor der Operation schon entwickeln; sie 
führen zu Abknickungen und behindern 
die Peristaltik. Ihre operative Entfernung 
ist nicht möglich; durch die Operation 
kommen noch neue hinzu. Das spricht 
wieder für eine frühzeitige Operation der 
Cholelithiasis. Allerdings befinden sich 
unter den Fällen mit völliger Heilung auch 
solche, bei denen die Veränderung der 
Gallenwege eine sehr hochgradige war. 
Ein Carcinom der Gallenblase entwickelte 
sich einmal, im Laufe des der Operation 
folgenden Jahres. Der letztere Umstand 

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spricht dafür, dass der Keim des Carci- 
noms schon bei der Operation vorhanden 
war. Die Mortalität betrug bei 289 Ope¬ 
rirten 5 %; das beste Resultat in dieser 
Hinsicht hatte die in 151 Fällen ausgeführte 
Cystostomie (1,3 % Mortalität), während 
die 20 Mal ausgeführte Cystectomie das 
ungünstigste Resultat (20 % Mortalität) 
lieferte. Bei allen Operationsmethoden ist 
die Mortalität im Laufe der letzten Jahre 
geringer geworden. Klink (Berlin.) 

(v. Bruns, Beitr. z. klin. Chir. XXXIX, H. 2.) 

Endlich ist ein objectiver, exact-ex¬ 
perimenteller Beweis für die blutstillende 
Wirkung der Gelatine erbracht worden. 
Moll constatirte bei Hunden und Kaninchen 
nach Gelatineinjectionen eine bedeutende 
Zunahme des Fibrinogens, das er durch 
Ausfällen und Wägen quantitativ bestimmte. 
Dabei fand er, dass nach subcutaner 
Application der Gelatine diese Fibrinogen¬ 
vermehrung erst 12—24 Stunden nach der 
Injection aufirat und mehrere Tage an¬ 
hielt. Bei intravenöser Injection war der 
Effect bereits nach längstens 8 Stunden vor¬ 
handen. Viel stärker war noch die Wir¬ 
kung, wenn mehrere Gelatineinjectionen 
in drei- bis viertägigen Intervallen gegeben 
wurden. Bei stomachaler Verabreichung 
der Gelatine konnte Moll niemals eine 
Fibrinogenvermehrung nachweisen. Die 
Fibrinogen vermehrende Wirkung ist aber 
nicht für die Gelatine specifisch, sie kommt 
allen anderen Eiweisskörpern, vom nativen 
Eiweiss bis zu den Peptonen zu. In allen 
diesen Fällen ging die Fibrinogenver¬ 
mehrung mit einer Leukocytose einher. 
Dadurch wurde Moll angeregt, den Fibri¬ 
nogengehalt bei den verschiedenen Leuko- 
cytosen zu untersuchen und fand ihn that- 
sächlich stets erhöht. Für die Praxis zieht 
Moll daher den Schluss, als Zeitpunkt für 
kleinere Operationen den Höhepunkt der 
Verdauungs Leukocytose zu benutzen und 
bei grösseren Operationen, bei denen ein 
grosser Blutverlust zu befürchten ist, als 
Prophylacticum einen Tag zuvor eine sub- 
cutane Gelatineinjectionen zu machen. 

(Wiener klin. Wochenschrift No. 44.) H. W. 

Der spanische Arzt Codina Castellvf 
(Madrid) erzielt angeblich rasche Heilung 
von Ischias durch Injectionen von rei¬ 
nem Sauerstoff. Er verwendet bei einem 
Druck von 15 Atmosphären gereinigten 
Sauerstoff zur Injection. Der Apparat besteht 
aus einem, 4000 ccm Sauerstoff (unter 
einem Druck von 10 Atmosphären) fassen¬ 
den Gasometer, der mit einem Manometer 

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December 


561 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


versehen ist. An den Gasometer setzt 
sich, durch einen Hahn von ihm abge¬ 
schlossen, ein schlauchförmiges, mit einem 
ausdehnbaren Gummiballon versehenes 
Mittelstück an, daran, durch einen zweiten 
Hahn abgeschlossen, das mit der Injec- 
tionsnadel bewehrte Endstück. Soll der 
Apparat benutzt werden, so öffnet man 
den centralen Hahn und lässt die ge¬ 
wünschte, durch den Ausschlag des Mano¬ 
meters dosirbare Menge Sauerstoff in das 
MittelstOck eintreten. Der centrale Hahn 
wird nun geschlossen, die Injectionsnadel 
eingestochen, und nach Oeffnung des peri¬ 
pheren Hahns fliesst der Sauerstoff unter 
die Haut ab; das völlige Zusammensinken 
des beim Einströmen des Sauerstoffs in 
das Mittelstück sich aufblähenden Gummi¬ 
ballons zeigt an, dass die Injection voll¬ 
endet ist. 

Die subcutanen Injectionen sind völlig 
schmerzlos. Als Injectionsstelle dient die 
Glutäalgegend der erkrankten Seite bezw. 
die Stellen, wo der Nerv besonders druck¬ 
empfindlich ist. An derselben Stelle soll 
nicht öfter als alle 2—3Tage injicirt werden; 
doch kann man mehrere Injectionen an 
verschiedenen Stellen in einer Sitzung 
machen. Meist genügen zu einer Injection 
200—300ccm; doch kann man bis 1000ccm 
injiciren. Das Gas wird bis auf kleine 
Reste sehr rasch resorbirt; nach der In¬ 
jection verhütet man das Wiederaus¬ 
strömen durch einen kleinen Wattecollo- 
diumverband. 

Verf. hat bis jetzt 5 Fälle (Frauen) mit 
dieser Methode behandelt. Ein Fall war 
in der sehr langwierigen Reconvalescenz 
nach Influenza aufgetreten, zwei weitere 
im Anschluss an Erkältungsschädlichkeiten, 
ein vierter im Verlauf einer deformirenden 
Arthritis bei einem hysterischen Indivi¬ 
duum; der letzte Fall war unklarer Pro¬ 
venienz. 

Der Fall nach Influenza war schon 
wenige Stunden nach dem Auftreten der 
Schmerzen in Behandlung genommen wor¬ 
den; die anderen hatten bereits 2, 7, 7 ! /2 
Monate, einer 5 Jahre gedauert und trotz 
aller angewandten Mittel zu schweren und 
schwersten Functionsstörungen geführt. 

Der Fall nach Influenza erwies sich als 
der hartnäckigste, indem er 5 Injectionen 
zur völligen Beseitigung der Symptome 
nöthig hatte; die Patientin mit Arthritis 
deformans war bereits nach einer Injection 
bez. ihrer Ischias schmerzfrei; die anderen 
3 Fälle machten 2—4 Injectionen nöthig. 

Ausnahmslos verschwanden in allen 
Fällen nach jeder Einzelinjection die 

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, Schmerzen wenigstens im weiten Umkreis 
j um die Injectionsstelle, und zwar gaben 
die Patienten an, dass die Linderung be- 
' reits beim Einströmen des Gases auftrete. 

| Bezüglich Dauerheilung vermag Verf. nur 
j über einen Fall sicheres zu sagen, näm- 
| lieh bez. jener Patientin, bei der die 
i Ischias in schwerster Form bereits seit 
i 7 Monaten bestanden hatte; sie befand sich 
6 Monate nach den Injectionen noch völlig 
wohl. Die anderen Patienten waren ent¬ 
lassen worden mit der Aufforderung, bei 
Wiederauftreten der Schmerzen sich wieder 
zu zeigen, sind aber bis jetzt nicht wieder 
gekommen. 

Ohne ein vorschnelles Urtheil fällen zu 
wollen, ist Verfasser der Ansicht, dass 
seine Erfolge jedenfalls zur Nachprüfung 
der Methode ermuthigen. 

M. Kaufmann (Mannheim). 

(Rivista de Medicina y Cirurgia Präcticas 7. X. 03.) 

Holländer hat seit ca. 2 Jahren Ver¬ 
suche darüber angestellt, in wie weit die 
von ihm erfundene und weiter auspebildete 
Heissluftcauterisation zur Prftventiv- 
behandlung* des syphilitischen Primär- 
affects und zur eventuellen Coupirung 
der Syphilis sich eigene. Seine Versuche 
hat er an der Poliklinik von Max Joseph 
ausgeführt und unter dessen steter Con- 
trole. Zur Beurtheilung des Effectes ver¬ 
wertet Holländer aus einer bei weitem 
grösseren Zahl, 59 Fälle, die er selbst 
operirt und längere Zeit beobachtet hat 
Von diesen 59 Fällen haben 12 bestimmt 
Lues bekommen, während es bei 3 weiteren 
noch fraglich ist. Von den übrig gebliebe¬ 
nen 44 Kranken wurden 22 Fälle von 
Holländer in positivem Sinne in Bezug 
auf die Präventivbehandlung verwertet: 

5 davon sind über 2^2 Jahre, 17 über 
1 Jahr frei von Secundärerscheinungen 
geblieben, hinzu rechnet eventuell noch 
Holländer 10—12 Fälle, welche über 6 bis 
12 Monate frei von Erscheinungen blieben. 

Die übrigen Fälle sind fraglich, entweder 
in zeitlicher Beziehung oder in Bezug auf 
den Charakter des Primäraffects. Für die 
Beurtheilung der Heilung zieht der Autor 
mit heran, dass 5 dieser Patienten heirateten, 
ohne ihre Frau zu inficiren, einmal ein 
gesundes Kind geboren wurde, und 3 Mal 
eine Reinfection zu Stande kam, 9 Mal 
sind vorhandene Drüsenschwellungen 
zurückgegangen. In 3 Fällen wurden iso- 
lirte Packete exstirpirt, einmal wurde hier¬ 
bei die Syphilis coupirt. In Bezug auf den 
negativen Effect in den übrigen Fällen 
kann sich Holländer das Ausbleiben des 

71 

Original fro-m 

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562 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


December 


Erfolges nicht immer erklären; denn wenn 
sich auch einige prognostisch ungünstige 
Fälle mit Drüsenschwellungen darunter 
befanden, so waren doch auch einige 
günstige frühe Fälle dabei. Auf Grund 
dieser geschilderten Resultate empfiehlt 
Holländer die Cauterisation des Primär- 
affects, während er sich gegenüber der 
Drüsenexstirpation der doppelseitigen 
gegenüber völlig, der einseitigen wesent¬ 
lich ablehnend verhält. Auch in vielen 
Fällen, in denen ein definitiver Erfolg nicht 
erzielt wurde, wurde doch vielfach die 
Incubationszeit verlängert und die Krank¬ 
heit nahm im Allgemeinen einen milderen 
Verlauf. 

Was nun die Beurtheilung der oben ge¬ 
schilderten Resultate betrifft, so werden 
wir dem Autor dankbar sein, dass er diese 
praktisch ja ungemein wichtige Frage 
wieder in Fluss gebracht hat. Allein ich 
glaube doch, dass in Bezug auf die definitive 
Beurtheilung — und das giebt Holländer 
an einer anderen Stelle seines Aufsatzes 
selbst zu — ein viel längerer Zeitraum 
erforderlich ist. Bei dem proteusartigen 
Verlauf der Syphilis, bei ihrer eminenten 
Chronizität, und auch auf Grund einer 
grossen Zahl früherer, durch Excision an¬ 
scheinend geheilter und von späteren 
Autoren an Syphilis behandelter Fälle 
werden wir in Bezug auf die Beurteilung 
der Heilung uns vielleicht noch etwas 
reservirter verhalten wie der Autor, da 
6—12 Monate, ja 2 Jahre hierfür doch noch 
nicht ausreichen; denn dass in diesen 
Zeiträumen secundäre Ercheinungen nicht 
zur Cognition gelangten, kann ja zwar 
selbstverständlich auch auf Heilung be¬ 
ruhen, braucht es aber keineswegs; 
wissen wir doch, dass auch nach der 
Excision — und ich verfüge selbst über 
solche Erfahrungen, die in dieser Richtung 
denen Holländer’s conform sind — die 
Incubationszeit ausserordentlich verlängert 
werden kann, und dass allem Anscheine nach 
gelegentlich die secundäre Syphilis milder 
verläuft; dagegen ist dies keineswegs bei¬ 
spielsweise auch nach der radikalen Ex¬ 
cision des Primäraffects die Regel, beson¬ 
ders auch ist es fraglich in wie weit sich 
diese Wirkung auf das Gefürchtetste bei 
der Syphilis, auf die Spätererscheinungen 
erstreckt; immerhin scheint es nicht aus¬ 
geschlossen, dass vielleicht in einer Anzahl 
von Fällen durch die Beseitigung des 
Primäraffects der Verlauf der Krankheit 
günstig beeinflusst wird. Dagegen möchte 
ich mich einer Drüsenexstirpation gegen¬ 
über vollständig ablehnend verhalten. 

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Der Umstand, dass einer der Patienten 
ein gesundes Kind erzeugt hat, ist auch 
nicht beweisend, da wir wissen, dass ein 
florider Syphilitiker ein gesundes Kind 
zeugen kann; ebenso ist das Ausbleiben der 
Infection der Frau — zumal bei der relativ 
kurzen Beobachtungsdauer — noch nicht 
beweisend; in Bezug auf die Reinfection 
möchte ich ebenfalls darauf hinweisen, ob 
hier nicht eine Reinduration vorliegen kann; 
auch würde es wichtig sein, ob diese re- 
inficirten Patienten secundäre Erschei¬ 
nungen hatten, da sonst immer noch die 
Möglichkeit einer Gummibildung, die 
täuschend ähnlich einem Primäraffect sein 
kann, am Penis vorlag. 

Was nun die Excision anbelangt, so 
stehe ich selbst auf dem Standpunkte, dass 
jede im Anschluss an einen verdächtigen 
Coitus entstandene Verletzung, jedes Ulcus 
molle und jeder Primäraffect dann, wenn 
noch keine Drüsenschwellungen vorhanden 
sind und noch keine zu lange Zeit seit der 
Infection verstrichen ist, (die ersten beiden 
Affectionen, nachdem sie mit Carbolsäure 
verätzt sind unter Aethylchloridanästhesie) 
exstirpirt werden sollen, wenn die betreffen¬ 
den Herde dazu günstig gelegen sind und, 
was leider nicht immer der Fall ist, der 
Patient sich damit einverstanden erklärt. 
Ich würde auch heute noch die Excision 
der Cauterisation vorziehen, weil hierbei 
nach meinen Erfahrungen, abgesehen von 
der Einfachheit und den geringen Be¬ 
schwerden des Eingriffes mit wenigen Aus¬ 
nahmen eine schnelle primäre Heilung er¬ 
zielt wird, zumal ja sehr häufig genäht 
werden kann, während doch allem An¬ 
scheine nach die cauterisirten Stellen — 
wie Holländer an einer Stelle erwähnt — 
längere Zeit granuliren. Auf der anderen 
Seite bietet nach den Schilderungen Hol¬ 
länders auch die Cauterisation ebenso¬ 
wenig wie die Excision eine ganz sichere 
Garantie für die Lokalheilung. Ja sowohl 
nach meinen praktischen Erfahrungen wie 
auch theoretisch scheint mir nach dieser 
Richtung die in sorgfältiger Weise in ge¬ 
sunden Grenzen, wenn es eben möglich 
ist, ausgeführte Excision relativ sicherer 
zu sein, ganz analog dem Verhältniss 
der Cauterisation zu der Radicalexstir- 
pation des Lupus, in Bezug auf die Dauer¬ 
heilung, wo letztere ausführbar ist. Ich 
möchte deshalb die Cauterisation für die¬ 
jenigen Fälle — vorausgesetzt, dass die 
oben geschilderten Bedingungen erfüllt 
sind — reserviren, in denen die Excision 
nicht ausführbar ist. Inwieweit sich hier 
manche Lokalisationsstellen venerischer 

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563 


December Die Therapie der 

Geschwüre wie z. B. in der Gegend des 
Frenulums für die Cauterisation wegen der 
Dünnheit der Harnröhrenwand, eignen, ver- ( 
mag ich selbst nicht zu entscheiden; dies j 
führt uns indess bereits in die Technik der j 
Behandlung, derenguteKenntniss ja zweifei- 1 
los für die Nachprüfung, zu der Hol¬ 
länder auffordert, nothwendig ist, und die 
der Autor gewiss in einer weiteren aus¬ 
führlichen interessanten Mittheilung über ! 
den Gegenstand schildern wird ; auch würde 
gerade der lokale Wundverlauf und das 
definitive functionelle Resultat, die Narben¬ 
bildung etc. — über welche Holländer ! 
in dieser vorläufigen kurzen Mittheilung 
naturgemäss keine ausführlichen Angaben 
macht — wichtig für die praktische Be- 
werthung des Verfahrens sein. 

Holländer macht auch noch inter¬ 
essante Mittheilungen über die Verwerthung 
der Cauterisation zur differentiellen Dia¬ 
gnose zwischen Ulcus molle und Primär- 
aftect. Zur definitiven Beurteilung dieser 
Frage reichen allerdings nach seiner eigenen 
Angabe seine bisherigen Erfahrungen nicht 
aus, und wir werden seine weiteren Mitthei¬ 
lungen abwarten. Busch ke (Berlin). 

(Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 46.) 

Aus der Heidelberger Klinik berichtet 
Voelcker über die Behandlung der 
Prostatahypertrophie durch perineale 
Prostatectomie. Die erste derartige Ope¬ 
ration wurde an einem Patienten aus¬ 
geführt, bei dem schon 4 Mal anderweitige 
Eingriffe an der Prostata vorgenommen 
waren ohne dauernden Erfolg. Der Fall 
wies ein einwandfreies Dauerresultat auf. 
Von Bedeutung ist, dass geeignete Fälle 
ausgesucht werden. In Betracht kommen 
zunächst alle die, welche sich aus irgend 
einem Grunde (schwere Blutungen, Schüttel¬ 
fröste, Schwierigkeit des Katheterismus) 
zur Katheterbehandlung nicht eignen, dann 
die grossen, weichen, leicht blutenden 
Tumoren. Ein vorzüglich geeignetes Feld 
sind nach der Meinung des Verfassers die 
Fälle von gleichzeitigem Vorkommen von 
Prostatahypertrophie und Blasenstein. 

Der Schnitt wird bogenförmig geführt 
vor dem After bei hochgelagertem Becken. 
Vordringen bis auf die Prostatakapsel, die 
in der Mittellinie gespalten wird, Ver¬ 
tiefung des Schnitts durch das Drüsen¬ 
gewebe bis in die Harnröhre, Enucleation 
der Tumoren. Dringend zu vermeiden ist 
eine quere Durchtrennung der Harnröhre 
mit Aufhebung ihrer Continuität und ein 
Ueberschreiten der durch die Kapsel ge¬ 
gebenen Grenze. Die Nachbehandlung 

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Gege ii wnrt 1903. 


gestaltet sich so. dass nach einer 8tägigen 
Drainage der Blase vom Damm aus, ein 
Verweilkatheter durch die Urethra, ein* 
geführt wird. Von 11 Operirten sind 2 ge¬ 
storben, 1 Fall ist noch in Behandlung, 4 
sind einwandfrei geheilt und weisen eine 
gute Biasenfunction auf, 1 hat eine Urin- 
fistel am Damm und 2 weisen eine Com- 
munication zwischen Harnröhre und Mast¬ 
darm auf, die jedoch die Patienten nicht 
besonders belästigen soll. In dem letzten 
Fall, in dem Prostata sammt Kapsel ent¬ 
fernt war, ist eine Stenose eingetreten. 
Verfasser glaubt, dass durch weitere Aus¬ 
arbeitung der Technik und schärfere Be¬ 
achtung der Contraindicationen, z. B. 
Schrumpfniere, Myocarditis, Arteriosclerose 
etc., die Operationsresultate sich in Zu¬ 
kunft werden verbessern lassen. 

Wich mann (Altona). 

(Langcnbcck’s Archiv, Band 71, S. 1001.) 

Perthes (Leipzig) hat an einer Reihe 
von Fällen den Einfluss der Röntgen- 
Strahlen auf epitheliale Gewebe, ins¬ 
besondere auf das Carcinom beob¬ 
achtet und studirt. Er sah unter der 
Einwirkung der Röntgenstrahlen gewöhn¬ 
liche Warzen verschwinden. Etwa 10 Tage 
nach der Bestrahlung tritt eine Abflachung 
und Verhärtung der Warze ein, und nach 
3 Wochen stösst sich eine verhornte 
Schuppe ab. Sehr schnell tritt dann eine 
Regeneration der darunter gelegenen 
Epidermis ein. Die mikroskopisch fest¬ 
gestellten Veränderungen betreffen in 
erster Linie das Epithel, genau wie bei 
Einwirkung des Röntgenlichts auf normale 
Haut. Daraufhin wurde das Verfahren 
auch bei Carcinomen angewandt, und zwar 
bei solchen, die in der Haut selbst oder 
doch dicht unter ihr gelegen waren. Ein 
Hautcarcinom des Gesichts verwandelte 
sich bei dieser Behandlung in eine granu- 
lirende Fläche und vernarbte später. In 
zwei anderen Fällen ist das Verschwinden 
des carcinomatösen Gewebes durch histo¬ 
logische Untersuchung sichergestellt. In 
6 Fällen von Carcinoma mammae mit 
Hautmetastasen sah Perthes unter der 
Einwirkung der Strahlen die Metastasen 
sich verkleinern und schliesslich ganz 
schwinden. An Stelle der Epithelnester 
tritt zuletzt ein kernarmes Bindegewebe. 

In der Mamma selbst gelegene Geschwülste 
zeigten zwar auch eine Verkleinerung, sie 
heilten aber nicht in dem Sinne wie die 
Hautmetastasen. 

Den Einfluss der Röntgenstrahlen auf 
das Epithel hat Perthes auch an sauber 

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564 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


December 


granulirenden Wunden nachgewiesen. Die 
Ueberhäutung bestrahlter Wunden vollzog 
sich ganz bedeutend langsamer als die der 
nicht bestrahlten, im Uebrigen ganz gleich 
behandelten Wundflächen. Wie man sich 
die Wirkung zu erklären hat, ist vorläufig 
noch ungewiss. Verf. hält jedoch für mög¬ 
lich. dass in erster Linie die Function der 
Zellteilung geschädigt resp. aufgehoben 
wird. Von praktischem Interesse ist die 
Thatsache, dass die Strahlen weicher, d. h. 
ein geringeres Vacuum aufweisenderRöhren 
eine viel intensivere Wirkung auf die Haut¬ 
oberfläche haben, als die Strahlen harter 
Röhren. Diese dringen jedoch mehr in 
die Tiefe und erfahren eine gleichmässigere 
Vertheilung auf die einzelnen Gewebs- 
schichten. Wich mann (Altona). 

(Langenbeck's Archiv, Band 71, S. 955.) 

Ueber die auch für den praktischen 
Arzt so wichtigen Stich- und Schussver- 
letzungen des Thorax handelt ein Auf¬ 
satz von Borsz6ky. Nicht penetrirende 
Stichwunden können durch Fortpflanzen 
einer Eiterung nach der Tiefe oder durch 
Gefässverletzung (Subclavia, mammaria int., 
intercostalis, thoracia longa) gefährlich 
werden. Die Behandlung ist folgende: 
Reinigung der Umgebung der Wunde. 
Sorgfältige Blutstillung, wenn nöthig nach 
Erweiterung der Wunde; Ausspülen 
des Stichkanals mit 3% Bor- oder 1°/^ 
Sublimatlösung zur Entfernung von Ver¬ 
unreinigung; frische Wunden werden ge¬ 
näht. Die nicht penetrirenden Schuss¬ 
verletzungen sind weniger bedeutend, als 
die Stichverletzungen. Die Kugel wird 
entfernt, wenn sie irgend welche Störung 
macht oder wenn sie durch einen kleinen 
Eingriff entfernt werden kann. Sie soll 
immer durch direktes Eingehen auf sie, 
nie durch den Schusscanal entfernt werden. 
— Wenn bei penetrirenden Wunden nur 
die Pleura parietalis verletzt ist, so wachsen 
die Pleurablätter nicht zusammen und bei 
stattgehabter Infection entsteht kein ab¬ 
gekapseltes sondern ein diffuses Exsudat; 
das Hervortretendste im klinischen Bild 
ist aber der Pneumothorax, der jedoch nicht 
viel Belang hat. Auf Lungenverletzung 
lässt nur eintretende Haemoptoö schliessen; 
sie ist auch das beständigste Symptom. 
Hautemphysem kommt auch vor, wenn nur 
die Pleura parietalis verletzt ist, anderer¬ 
seits kann es bei Lungenverletzung auch 
fehlen. Verletzung der grossen Gefässe 
der Brusthöhle führt in einigen Minuten 
zum Tode. Isolirte Verletzung des Herz¬ 
beutels ohne solche des Herzens kommt 

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vor, ist Pericard und Pleura zugleich ver¬ 
letzt, so kann ein Pneumopericardium ent¬ 
stehen. Für die Diagnose einer Verletzung 
des Herzens sind folgende locale Erschei¬ 
nungen wichtig: Der Puls pflegt rasch, 
arythmisch, klein zu sein. Der Herzspitzen- 
stoss ist nicht zu fühlen oder abgeschwächt, 
je nach der Menge des in den Herzbeutel 
ergossenen Blutes. Die Herztöne zeigen 
oft keine Veränderung, manchmal sind sie 
abgeschwächt oder gar nicht zu hören. 
Sind die Klappen verletzt, so treten mannig¬ 
fache Geräusche auf. Bei grösserer Blu¬ 
tung bildet sich ein Hämopericard; die 
Blutung kann allerdings auch aus der Ver¬ 
letzung des Pericard stammen. Für Herz¬ 
verletzungen charakteristisch soll eine dem 
N. ulnaris entlang auftretende Paraesthesie 
sein, die aus der Verletzung des Plexus 
cardiacus abgeleitet wird. 

Zur Sicherung der Diagnose einer Herz¬ 
verletzung dient die Sondirung, Finger¬ 
untersuchung oder Freilegung des Herzens. 
— Penetrirende Thoraxwunden werden ge¬ 
näht, damit keine Spätinfection möglich 
wird und der Pneumothorax nicht wächst. 
Den Pneumothorax lässt man in Ruhe; 
nur wenn er sehr schnell wächst, die 
Lunge comprimirt oder das Herz verdrängt, 
punktirt man ihn. Bei penetrirenden Schuss¬ 
verletzungen wird nach Reinigen der Um¬ 
gebung der Wunde ein Deckverband an¬ 
gelegt. Selbst profuse Lungenblutungen 
werden exspectativ behandelt. Hämato- 
thorax wird nach 2—3 Wochen punktirt, 
doch entleere man nicht mehr als 500 bis 
600 ccm auf einmal. Ein frischer Lungen¬ 
vorfall durch die Wunde wird gereinigt 
und reponirt; besteht aber Strangulation 
oder Necrose, so wird das prolabirte Stück 
abgebunden und abgetragen. Auch bei 
penetrirenden Schüssen soll man die Kugel 
entfernen, wenn sie leicht zu erreichen ist. 
Frische Pericard Verletzungen sind exspec¬ 
tativ zu behandeln. Bei Herzcompression 
durch Hämopericard muss operativ vor¬ 
gegangen werden. Auch Herzverletzungen 
werden operativ behandelt. 

Klink (Berlin.) 

(V. Bruns, Beitr. z. klin. Chir., XL, H. 1). 

Das Theocin, das in vielen Beziehungen 
dem Diureiin den Rang abzulaufen scheint, 
wird nun auch als sicheres Mittel gegen 
Angina pectoris von Pineies empfohlen. 
Pineies verabreichte dasselbe in einer 
Anzahl von Fällen, gewöhnlich 0,2 g 
gleich nach dem Frühstück. Diese Dosis 
wurde in den nächsten zwei Tagen wieder¬ 
holt. Meist waren dann die Anfälle gebes- 

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1 »eccmbrr 


565 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


sert oder vollkommen beseitigt. Diese 
günstige Wirkung hielt eine Reihe von 
l agen an. Was den Blutdruck betrifft, so 
zeigte er manchmal nach Darreichung des 


Mittels eine merkliche Herabsetzung, in 
anderen Fällen blieb er trotz Beseitigung 
der Schmerzanfälle unverändert. 

(Heilkunde, lieft 10.) II. W. 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Die Vortheile des Chloroform-Anschütz. 

Von Pr. A. Rahü-Collm bei Oschatz. 


Das Chloroforrn-Anschütz Dt geradezu 
vorgerichtet für die ärztliche Praxis. Man 
betrachte sich die Originalflaschen von 
Chloroforrn-Anschütz, und man wird ein- 
sehen, warum das Arrangement so und 
nicht anders getroffen wurde. Während 
sonst zwischen der Fabrikation und der 
Verwendung des Chloroforms viele Möglich¬ 
keiten der Verunreinigung und Zersetzung 
liegen, hat die Fabrikation hier zum ersten 
Male darauf gesehen, dass der Arzt das 
Chloroform in Originalpackungen erhält 
und es in denselben auch verwenden kann. 
Es ist von der Fabrik in Flaschen von 25 
und 50 g verpackt. Die Fläschchen sind 
von dunkelbraunem Glase mit Glasstopfen 
verschlossen und plombirt. So kommen 
sie ins Engros-Lager, so gehen sie durch 
die Apotheken, und so gelangen sie ins 
Operationszimmer; erst am Krankenbette 
werden sie geöffnet. Die Original flasche 
benutzt der Chloroformeur zum Chloro- 
formiren, er setzt einfach einen Korkstopfen 
auf mit der Tropfvorrichtung, die gleich¬ 
falls Eigenthum der Fabrik ist. und nun ist 
die Tropfflasche fertig. Zur Controle der 
verbrauchten Chloroform-Menge hat jede 
Flasche noch eine Graduirung nach ccm 
erhalten. Das Chloroforrn-Anschütz wird 
also niemals umgegossen, es bleibt gleich- 
mässig; ausserdem ist die Anschütz-Tropf- 
methode sehr sparsam und zwar namentlich 
in der geburtshülfiichen Operationspraxis 
im Privathause; ich habe mehrere langan¬ 
dauernde geburtshülfliche Operationen mit 
etwa 10 g Chloroform auf 1 Stunde ge¬ 
rechnet, durchgeführt. Dabei kam mir die 
grosse Einfachheit des Anschütz-Apparates 
sehr zu statten; denn in 3 dringlichen ge¬ 
burtshülfiichen Fällen musste ich in der 
Noth eine Nachbarsfrau, die zum Helfen 


gerade mit da war. zum Chloroformiren 
anlernen: und es ging auch wirklich unter 
meiner steten Controle Alles gut ab. 

Die leichte Anwendung der Tropf¬ 
methode ist also höchst wichtig und un¬ 
entbehrlich für den oft auf sich ange¬ 
wiesenen Praktiker! Kommt es zu einer 
Unruhe des Kranken, so hat der Narko- 
tisirende bei Chloroforrn-Anschütz eher 
Freiheit und Herrschaft über seinen Apparat. 
Bei der Einfachheit desselben kann man 
ganz anders und viel schneller zugreifen 
und so. wenn es gilt, mit viel mehr Ruhe 
einem Zufalle in der Narkose begegnen. 
Gerade für die Gefahren der Narkose ge¬ 
wappnet zu sein und schnell die Hände frei 
zu haben, wenn es gilt, das ist ein Haupt¬ 
erfordernis für das Gelingen einer Narkose. 

Im Uebrigen ist das Anschütz-Chloro- 
form offenbar von besonderer Reinheit, da 
es anscheinend sehr selten üble Neben¬ 
wirkungen hervorruft. Nach meinen über 
80 mit diesem Chloroform vorgenommenen 
Narkosen ist mir nur einmal — und das war 
merkwürdigerweise nach sehrwenig(12ccm) 
Chloroform der Fall — über Stechen im 
Kopfe und Brechneigung geklagt worden. 

I Eine Verstimmung oder Mitgenommenheit 
oder auffällige Verschlafenheit aber habe 
ich bei der Anschütz-Narkose niemals beim 
Patienten beobachtet. 

Ich sehe mich daher veranlasst, ledig¬ 
lich auf das Anschütz'sche Chloroform und 
seine handliche gebrauchsfertige und sichere 
Verwendungsart in meiner Praxis stets 
wieder zurückzukommen; und ich möchte 
es auch den Collegen aufs Beste empfehlen, 
welche bei der Wahl ihres Chloroforms 
nicht immer der Herkunft und den sonstigen 
Schicksalen desselben jedesmal erst nach¬ 
gehen und nachspüren können. 


Zur Anaesthesirung der oberen Luftwege bei Tuberkulosen. 

Von Dr. Gustav Bradt-Berlin. 


In No. 9 dieser Zeitschrift (Jahrgang 
1903) berichtet Pollatschek über seine , 
Erfahrungen mit Anästhesin und empfiehlt 
für die Behandlung der Dysphagie Ein- | 

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Spritzungen einer Menthol - Anaesthesin- 
Emulsion in den Larynx. Nach dem 1. c. 
p. 405 abgedruckten Recept wünscht er 
1,50 Menthol in 150 g Emulsion d. h. eine 


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566 


Die Therapie der Gegenwart 1903. 


Dccember 


1 %ige Lösung, während man doch in der | 
Regel 10%—20% Menthollösungen bei 
der Larynxphthise anwendet. Es scheint 
mir hier ein Irrthum sich eingeschlichen 
zu haben, der von dem einen oder an 
deren Collegen leicht übersehen wird, 
wenn er das Recept einfach abschreibt. 

Im Uebrigen habe ich mit der hier vor¬ 
geschlagenen Medication — d. h. mit 15,0 
Menthol auf 150,0 Emulsion — in einem 
schweren Falle von Dysphagie bei Larynx¬ 
phthise einen sehr guten Erfolg beob¬ 
achtet. Die Patientin, welche seit zwei 


I Tagen nichts essen und trinken konnte 
und von dem behandelnden Collegen mit 
Nährclystiren ernährt werden musste, 
konnte bereits eine halbe Stunde nach der 
Injection von 1 cm 3 in dem Larynx pap¬ 
pige Speisen essen und am 2. Tage auch 
alles trinken. Im Gegensätze zu der von 
mir zuerst versuchten Cocainanaesthesie 
traten keine Intoxicationserscheinungen auf. 
Am 5. Tage genügten schon die Inhala¬ 
tionen der im Verhältniss von 1 :3 ver¬ 
dünnten Emulsion um die Dysphagie zu be¬ 
kämpfen. 


Aristochin bei Bronchialasthma. 

Von Dr. K. Dresler-Kiel. 


Mit Aristochin (Bayer) habe ich in drei 
Fällen von Asthma bronch. einen beach- 
tenswerthen, in einem Falle einen geradezu 
überraschenden Erfolg erzielt. Bei der 
Verwendung des Aristochins in der Be¬ 
handlung des Keuchhustens fiel mir auf, 
dass unter dem Einfluss des Mittels das 
Krampfartige der Hustenanfälle sehr schnell 
und erheblich gemildert wurde, während 
gleichzeitig Anzahl und Dauer der Anfälle 
nachliessen. Das brachte mich auf den 
Gedanken, das Mittel auch bei den, den 
Keuchhustenanfällen oft an Heftigkeit 
gleichkommenden, ebenfalls krampfhaften 
Husten- und auch Athemnothsanfällen der 
Asthmatiker zu verwenden. Nach einer 
anfänglichen, kurzen Verschlimmerung der 
Beschwerden verloren die krampfhaften 
Anfälle sehr bald an Heftigkeit, auch wur¬ 
den sie bei fortgesetztem Gebrauche immer 
kürzer und seltener, 

In einem Falle, wo seit 3 Jahren die 
quälendsten Athemnothsanfälle täglich auf¬ 
traten und die Patientin nach vergeblichem 
Versuche der verschiedensten Medica- 
mente und Behandlungsmethoden nur noch 


durch Räucherung sich geringe Erleichte¬ 
rung zu verschaffen vermochte, sind die 
Anfälle nach sechswöchentlicher Anwen¬ 
dung von 3 Mal täglich 0,4 g Aristochin 
vollständig verschwunden. Neben dieser 
Einwirkung auf die Husten- und Athem- 
noths-Anfälle machte sich auch eine allge¬ 
mein beruhigende Wirkung auf das bei 
allen Patienten sehr reizbare Nerven¬ 
system geltend. Besonders günstig war 
sie auf die Herztähtigkeit, die stets mehr 
oder minder beschleunigt und leicht un¬ 
regelmässig war mit einem Puls von 100 
bis 110. Nach kurzer Zeit wurde die Herz- 
thätigkeit regelmässiger und kräftiger und 
der Puls ging auf die normale Zahl zurück. 

Als einzige unangenehme Nebenwir¬ 
kungen traten zeitweise schnell vorüber¬ 
gehendes Hautjucken und leichtes Ohren¬ 
sausen auf, im Uebrigen wurde aber das 
Mittel wegen seiner völligen Geschmack¬ 
losigkeit stets gern genommen. 

Darnach möchte ich das Aristochin zur 
Verwendung in der Behandlung dieses so 
überaus qualvollen Leidens weiter em¬ 
pfehlen. 


Nachtrag zur Arbeit Ueber die Wurmkrankheit 
von Prof. Zinn. 

Während des Druckes dieser Arbeit ist in j ich mehrfach erwähnt habe, ist die sehr grosse 
dem Minister.-Blatt f. Med. u. mcd. Unterrichts- Zahl der Fälle durchaus verständlich, da das 
Angelegenh. No. 20 (16. XI.) der neueste Stand Ruhrkohlenrevier seit längerer Zeit inficirt 
der Krankheit mitgeteilt worden. Die Zahl der ist; denn die Weiterverbreitung ist überall 
Wurmkranken einschl. Wurmbehafteten be- da, wo sich Larven entwickeln können, in 
trägt bis jetzt 17161 Fälle unter 188730 Berg- den Bergwerken naturgemäss eine sehr 
arbeitern. Die unterirdische Belegschaft ist leichte. Mit der methodischen Unter- 
zwischen 1,4% und 28,0%. im Durchschnitt suchung der Stühle wird man jeden Inficirten 
zu 9,09% mit dem Parasiten inficirt. Wie auffinden. . r 


lür die Rcdaction vcr.mtwoi tlirh: i'iof. (i. Klein perer in Berlin. — Verantwortlicher Redacteur für Oestrrreirli-luic.il n. 
liugen Schwarzenberg in Wien. — Druck von Julius Sittenfeld in Berlin. — Verlag von Urban StSchwarzcnoerg 

in Wien und Berlin. 

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