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Full text of "Tribuene der Kunst und Zeit 6-11"

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TRIBUNE DER 
KUNST UND ZEIT 

Eine Schriftensammlung 

Herausgcgcbcn von 

Kasimir Edschmid 



Nummern 6-11 
1919-1920 



KRAUS REPRINT 

A Division of 

KRAUS-THOMSGN ORGANIZATION LIMITED 

Nendeln/Liechtenstein 

1973 



1 ,,iii> Original from 

' '°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Die Schriftenreihe „Tribune dei Kunst und Zeit 4 * wurde nachge- 
druckt mit Genehmigung von Fiau Elisabeth Edschnrid, Darm- 
stadt und Frau Lotte Jacobi-Reiss, Deering, N.H., U.S.A.. Aufier- 
dcm wurden folgende NachdrucksUzenzen erteilt: Fur WiJhelm 
Hausenstein, Frau Renee-Marie Parry Hausenstein, London; fur 
Theodox Daubler, Koesel- Verlag, Miinchen; fiir Walter Muller- 
Wulckow, Frau Anna-Maria Muller, Oldenburg; fur Iwan Goll, 
l t o * Frau Claire Goll, Paris; fur Rene Schickele, Verlag Kiepenheuet 

& Witsch, Koln; fur Frans Masereel, Herr Fram Maseieel, Avi- 
gnon; fill Willi Wolfradt, Herr Dr. WUli Wolfradt, Hamburg; fiir 
Gottfried Benn, Limes Verlag, Wiesbaden; fur Gustav Friedrich 
Hartlaub, Frau Erika Hartlaub, Heidelberg; fur Kurt Hiller, Herr 
Dr. Kurt Hiller, Hamburg; fiir Wilheim Michel, Hen Giinther 
Michel, Darmstadt; fur Walter Rilla, Herr Dr. Walter Rilla, Ober- 
audorf; fiir Carl Steinheim, Hermann Luchterhand Verlag, Neu- 
wied am Rhein; fur Annette Kolb, S, Fischer Verlag, Frankfurt; 
fiir Alfred Wolfenstein, Frau Henriette Hardenberg-Franken- 
schwert, London. 



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Reprinted from the copy held by the 
University of Maryland Library, College Park, 



Printed in Germany 



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Tribune 
der Kunst und Zeit 

Eine Schriftensammlung 

Herausgcgcben von 

Kasimir Edschmid 



VI 
Paul Bekker 

Neue Musik 



Berlin 

Erich ReiB Verlag 

7920 



1 ' **s.r\r%lsz Originalfrom 

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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



NEUE MUSIK 



von 



Paul Bekker 



Ftinfte Auflagc 



Berlin 

Erich ReiB Verlag 

1920 



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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Spamersche Buchdr uckerei in Leipzig 



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Ubarschaut man die Spielplane der meisten 
Operntheater, die Programme dcr gro- 
Ben Orchcster- und Chorkonzert-Institute, 
der namhaften Kammermusik-Vereinigun- 
gen, der beruhmten Sanger, Sangerinnen und 
Instrumentalvirtuoscn, so scheint es, als ob 
in der musikaliscHen Produktion der Gegen- 
wart ein hochst auffalliger Stillstand, ja 
vollige Erschopfung herrsche. Dieser Zu- 
stand ist urn so merkwiirdiger, als gerade die 
letzten Jahre auf anderen Kunstgebieten nicht 
nur eine starke aufierliche Steigerung, son- 
dern gleichzeitig sehr bemerkenswerte Neu- 
erscheinungen in bezug auf Art und Rich- 
tung des Kunstschaffens gebracht haben. 
In der Architcktur erortert man die Fragen 
des offentlichen Bauwesens mit einem Ernst 
und einer Ernsigkeit, die weit hinausgreift 
iiber die friihere fachmannische Beratungs- 



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8 Ncuc Musik 



weise und die uns die Probleme der ban- 
Jichen Geslaltung wicder als Angelegcnheiten 
der Allgemeinheit zum Bewufitscin bringt. 
Bildhaucrci und Malcrei habcn sich in den 
letzten Jahren durch die Leislungen dcr ex- 
pressionistischen Kunstler als wichtige Vor- 
kampfer neucr Geistesstromungen crwicsen, 
die — mag sich der cinzeluc ihnen gcgcniiber 
zustimmend odor ablehncnd vcrliallen — dem 
geistigen Leben unscrcr Zeit zum mindesten 
starke Antriebe geben. Man spricht von 
Futurismus, ven Kubismus und andcrcn 
Dingcn, man hort und liest bald da bald dorfc 
von Ausstellungen der Werke soldier revo- 
lutionarer Kunstler, man diskuiicrt darubcr 
und che man sichs vcrsicht, ftililt man sich 
hineingerissen in den Wirbel cinander wider- 
streitender Anschauungcn. Eine ganze Rcihe 
Kunstzeitschriften lebt von der Propagierung 
der neuen Ideen oder auch von ihrer Be- 
kampfung. Und auch die Dichtkunst, die 
lyrische, wie die erzahlende und die dra- 
matische, lief ert in dauernd steigendem Mafie 



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Ncuc Mu si k 



Beitrage zu dieser neucn Geistesbewegung. 
Selbst die Theater, diese harlnackigsten 
Hiiter des Gewohnten, konnen sich dem An- 
sturm dcr Zeitidecn nicht niclir entzichen 
und suchen allmahlich ihrcn Elirgeiz darin, 
sich des Absoiulerlichen anzunehrnen, um 
sich Beachtung zu crzwingen und nicht ctwa 
als riickschrittlicli gcbrandmarkt zu werden. 
Nur in dcr Musik merkt man wenig oder 
fast garnichts von dicscm unniittelbaren 
Milcrlcbcn der Gegenwart* Ein grofier Tcil 
dcr Schuld daran ist dcr mustkalischcn Fach- 
prcsse zur Last zu legen, die, soweit ihr 
Interesse libcrhaupt iiber Inseraten-Akqui- 
sitiou hinausrekht, sich jeglichcr eigenen 
Initiative begeben hat und sich von den 
auflcren Ercignisscn des Musiklobens trciben 
laflt- Den Ablauf dieser aufiercn Ereignisse 
aber bestimmt dcr Agent, und dieser Agent 
wiederum ist nicht nur als Zwischcnhandlcr 
in moralischem Sznne eine hochst unerfreu- 
Uche Erscheinung, sondern ihm mangelt 
auch heutzutage vollig das, was sein Vor- 



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10 Neue Musik 



handensein im Interesse der Allgerneinheit 
verzcihlich und begreiflich machea konnte, 
namlich: der kiinstlerisch gerichtete Unter- 
nehmungssinn. Hermann Wolff etwa, der 
Begrtinder der Kon2ertdirektion Wolff, ver- 
fiigte iiber solchen Unternehmungssinn, ihm 
danktc er sein Emporkommen. Wolff war 
es z. B M der in Berlin die Biilow-Konzerte 
einrichtete. Sie bedeuteten fur die damalige 
Zeit ein Wagnis und eine Tat, zu der kein 
anderer befahigt gewesen ware. Unter den 
heutigen Musikagenten ist Keincr von ahn- 
lichcm Wagemut und Weitblick. Heute 
riskiert man nichts mehr, weder in bezug auf 
schaffende, noch auf ausiibende Kunstler. 
Man weifl, da/3 man mit Bach, Beethoven und 
Brahms, mit Juha Culp, Eugen d'Albert und 
Hubermann sichere und gliinzende Geschafte 
macht — - wozu da sich Gefahren aussetzen? 
Und die namliche satte, faule Zufriedenheit 
ist kennzeichnend flir die namhaften &u&- 
(ibenden Kunstler, Was ist es mit den Sin- 
fonieprogrammen von Richard StrauS In 



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Neue Musik n 



Berlin? Wenn sich da jemals eine Novitat 
einschleicht (es kommt zuweilen vor), so 
kann man sicher sein, dafl nur auBergewohn- 
liche personliche Beziehungen, nicht etwa 
Sachlicb.es Interesse dem betreffenden Kom- 
ponisten den Weg geebnet haben. Oder man 
lese die Liederabendprogramme einer Julia 
Gulp, einer Lula Mysz-Gmeiner, die Pro- 
gramme der namhaftesten Klavier- und 
Violinvirtuosen -*- es ist immer dasselbe* 
Schubert, Brahms, Hugo Wolf bei den San- 
gern, Beethoven, Brahms, Bruch und Men- 
delssohn mit ihren abgedroschenstcn Werken 
bei den Instrumentalisten — es gibt nichts 
anderes. GewiB sind die genanntcn aus- 
libenden Kunstler vortrefflich in ihrem Fach, 
aber ilire Konzerte haben fiir die Oifentlich- 
keit meist nur noch relatives Interesse. Be- 
df:utungsvoll sind sie in erster Linie fiir den 
Geldteutel der Konzertveranstalter* DaS 
diese dabei kiinstlcrisch nicht gewinnen, son- 
dem durch die unaufhfirliche Wiederholung 
der gleichen Stucke sich allmahlich zu Auto- 



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12 None Mus ilt 



mateti herabwurdigen, bedarf kaum der 
Feststellung. Unser Mangel an Personlich- 
keiten unter den ausiibenden Kiinstlcrn, Pcr- 
sonlichkeitcn vorn Range etwa eincs Rubin- 
stein, eincs Tausig, cities Biilow ist nicht 
etwa auf cinen Mangel an Talent zuriickzu- 
fiihrcn. Er beruht zum groOen Teil auf dem 
Maiiftcl nn Charaklcr unter den slarkeu 
a umi Louden Tnicntcn unsercrZcit. DicTages* 
press© abcr hat sich solchcnZustaiidcn gcgen- 
iiber bishcr noch nicht zu einhcitlichcr cut- 
schlosscner Stellungnahme aufraffen konnen. 
Zum Teil sieht sie Hire Aufgabe imnicr nocli 
darin, festzustcllcn, ob dicscr odcr jener 
seine Sache diesmal etwas besscr oder ctwas 
schlcchter gemacht Iiabe als sonst, zum Teil 
ist sie durch die jctzigen Raumschwieiig- 
kciten innerhalb der Zeitungcn in der Er- 
orterung grundsatzHcher Fragen behindcrt, 
zum Teil schlieBlich ist ihre Stellung inner* 
halb des Redaktionsorganismus und gegen- 
iiber den Verlegern iiberhaupt nicht derart 
gefestigt, da3 sie es wagen diirfte, iiber die 



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Neue Musik 



13 



Berichterstattung hinweg eine kritische 
Stellungnahme kulturcllen Zeitfragcn gegeti- 
iiber einzunehmcn. 

Diesc kurzc Feststcllung der Tatsachcn ist 
notig, um eine Erklarung zu gebcn fiir die 
an sich tiochst befrcmdlichc Tatsachc, dafi, 
wahrend auf alien andcren Kunstgebieten 
dcr Streit uiu das Ncuc ausgefochleu wild, in 
der Musik, die, rein auCeiltch genonuncn, 
gerade fiir den Masscnkonsum in crster Linie 
in Bctracht kommt, wenig oder gar ntchts 
davon zu spuren ist. Dcr Auiicnstehendc, 
der nur bcobachtct und die tiefercn Ursachcn 
dieser Zustande nicht erkennen kann, kommt 
lcicht zu dem RuckschluB, daB in dcr niusi- 
kalischen Produktion Ncues im sachlich 
ernsthaften Sinne eben nicht vorhanden sei. 
Er muB annehmen, daB die Produktions- 
kraft in der Musik, wenn nicht erschopft, so 
doch auf bestimmtc, langst gewohnte For- 
meln festgelegt sei } wie sie etwa durch die 
seit einem jahrzehnt anerkannten Musiker 
namentlich der neudeutschen Schule unter 



-I— Original from 

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Ncue Musik 



der Fiihrung von Richard StrauB zur Geltung 
gebracht werden. In den Werken dieser Mu- 
siker findet man nun allerdings noch gar 
nickts oder doch fast gar niches, was man 
irgendwie als ErneuerungsJrang oder Zu- 
kunftswillen ansprechen konnte, nichts Ex- 
perimentelles, nichts Abseitiges, nichts was 
sich dem Tagesgeschmack bewuBt oder un- 
bewufit entgegenstellt, nichts was zu kriti- 
scher Erforschimg ^nreizt. Man findet darin 
im Ccgenteil nur das Bemu hen, diescm Tages- 
geschmack so weit wie moglich entgegen- 
zukommen, seine Wiinsche instinktiv zu er- 
wittern und sie — wie es in der Hotelsprache 
heiBt — ,,mit allem Komfort der Ncuzeit" 
zum Ausdruck za bringen. Und da dies mit 
vielem Talent geschieht und besonders eine 
Personlichkeit wie StrauB durch aufler- 
ordentiiche Beherrschung des technischen 
Apparates und geniale Treffsicherheit des 
Wurfes immer wieder die Massen des Publi- 
kums wie der Musiker einzufangen weiB, so 
ist es erklarlich, daB der Fernerstehende in 



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Ncue Musik 15 



der zeitgenossischen Musik nichts von dem 
Sturmwind spurt, der durch alle anderen 
Kunste weht. Enttauscht und gelangweilt 
wcndet er sich vcn dieser innerlich verodeten 
Kunst ab — erstaunt zwar ob ihrer schein- 
baren Erstarrung und Schablonisierung, aber 
doch in der nicht unberechtigtcn Meinung, 
daB die Musik eben aufgehort habc, ctwas 
geistig Lebendiges zu sein und durch die 
vereinigten Bemiihungen der Agenten, der 
ausiibenden Kiinstler, der Prcsse und der 
Schaffenden zu einem der vielen Betriebs- 
mittel des industriellen Kapitalismus herab- 
gesunken sei. 

Wer nun freilich die Verhaltnisse und 
Menschen etwas genauer kennt, weiC, dafl 
dies alles nur Oberflachenerscheinungen sind, 
wie sie sich in einem auf den Geschaf tsbetrieb 
eingestellten Kunstleben kaum vermeiden 
lassen. Er weiB auch, daB die Klagen mancher 
emsthaften Kunstfreunde iiber das Nach- 
lassen der Erfindungs- und Schopfungskraft 
der Musiker den Tatsachen nicht entsprechen. 



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1 6 Neue Muslk 



Er weiB vor allcm ? dafl untcrhalb jenes auBer- 
lich blcndenden und dabci sachlich belang- 
losen Musikbetriebes, den wir „offenttickcs 
Musikleben" nennen, Krafte am Werkc sind, 
die, aus verschiedensten Quellea genahrt 
und im einzelnen verschiedensten Zielen zu- 
stretend, doch in einem einig sind: in der Ab- 
lehnung des heutigen Zustaudes unserer 
musikalischen Kultur, in dem Wunsch nach 
ihrer Erneuerung aus dem Geiste einer neu- 
zeitlichen Anschauung vom Sinn und Wesen 
der Musik iiberhaupt Solche Erneuerung 
kann von vrrschiedenen Gesichtspunkten 
aus crfolgen: sie kann das offentliche Musik- 
wesen, die Art unserer Konzertveranstal- 
tungen betreffen, sie kann sich auf das mu- 
sikalische Lehrwesen, auf die Heranbildung 
des musikempfangHchen Publikums wie des 
Musikers beziehen, sie kann auf die Herbei- 
fiihrung einer neuen Art kritischer Wertung 
zielen, und sie kann sich schlieBlich mit dem 
Wichtigsten: mit der geistigen Erneuerung 
der Musik selbst, also mit der eigentlich 



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NtMie Mnsik 17 



schopfcrischen Kundgebung musikalischen 
Fiililens beschaftigen. Anf all diesen EinzeU 
gebieten sind bei uns, gerade wis in den an- 
dercn Kiinsten, Bestrebungen vorhanden* 
Nur kommen sie aus zu verschiedenen Rich- 
lungcn und haben mit zu starken auBeren 
Widcrstanden zu kampfen, um gleich den 
ahnlichen Bestrcbungen in anderen Kiinstcn 
aufierhalb der unmittelbar interessiertcn 
Kreise Beachtung zu finden* Auch ist die 
Musik eine begriff lich zu schwer zu fassende, 
fiir literarisch asthetisclie Propaganda zu 
wenig handliclie Kunst, um fiir die feinsten 
Problerne ihres Seins gleich beredte Dar- 
Jegungen und ein interessicrtes Diskussions- 
publikum zu finden, Und schlieftlich diirfen 
wir uns nicht verhehlen, daB unter den neuen 
Regungen auf musikalischem Gebiet vieles 
ist, was nur der asthetischen Speculation, 
nicht einem unmittelbaren Produklionszwang 
sein Entstehen verdankt. Das darf uns nicht 
wundern und nicht abschrecken. Die aslhe- 
tische Spekulation gehtirt stets zu den bahn- 



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XS Ncue Musik 



brechenden Kraften und hat gerade auf 
musikalischem Gebiet — ich erinnere nur 
an die Entstehungsgeschichte der Oper — 
schorl bedcutungsvolle Ergebnisse gczeitigt. 
Es licgt aber im Wcsen solcher spekulativer 
Erneuerungsvcrsuchc, da3 sie zunachst 
immcr auf eincn klcincn Krcis bcschrankt 
blciben. Jetzt indc&scn ist es vicllcicht an 
der Zeit, alle diese Bemiihungcn, glcichviel 
woher sie kommen und welchen Motiven sie 
entspringen, einmal kurz zusaniincnzufasscn, 
gleichsam eine Bcstandsaufnahmczu machen 
— r- jetzt, wo unsre bisherige Musikwirtschait 
und unsere bisherigen Musikwirtschafts- 
groBen doch schon gar zu sehr in ihrer un- 
kiinstlerischenj rein geschaftsmaOigen Praxis 
auch dem gutglaubigen Laien durchschaubar 
wetden, Ich werdc also zunachst versuchen, 
eine knappe Ubersicht zu geben iiber das, was 
an Neuerungsbestrebungen in der Musik 
wahrend der letzten Jahre erkennbar ge~ 
worden ist, und ich werde dann versuchen, 
festzustellen, ob all diesen verschiedenartigen 



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Neue Musik 19 



Versuchen irgcndeine gemeinsame Grund- 
richtung eigen ist und wohin diese, falls sie 
zu erkennen ist, zielt. 



* * 



Als Andcrungsbcstrcbungcn cJcmcntarstcr 
Art zcigen sicli zunachst Bcmiihungcn zur 
Neugestaltung unseres Tons ys terns, Unser 
Tonsystcm erhalt seine charakteristischePra- 
gung durch den Wechsol von halbon und 
ganzen Tonstufcn* Man versucht nun, dicsc 
Stufenfolge zu erweitern und zu vermehren 
durch Einschaltung von Vierteltonen. Der 
„Schrei nach dem Viertclton 1 * ist schon eine 
Reihc von Jahren alt, besonders zum Be- 
wutitsein gekommen ist er uns ncuerdingsda- 
durch, daft W. von Mollendorf ein Harmonium 
konstruiert hat, auf dem Vierteltone akustisch 
darstcllbar sind — zwcifellos eine recht in- 
teressante Erfmdung. Ob sie in der vor- 
liegenden Form fiir unsere Musik praktische 
Bedeutung erlangen wird, scheint mir zwei- 



-I— Original from 

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20 Neue Musik 



felhaft. Psychologisch gewertet, bedeutet die 
Einfiihrung der Vierteltene zunachst eine 
Scharfung, gleichzeitig aber eine Verweich- 
lichung unseres Tonempfindens. Schon die 
Chromatid, wie sie namentlich Liszt und die 
ihm folgende neudeutsche Romantik ge- 
pflegt hat, stellt gleichsam eine Spaltung 
und Verzartelung der Empiindungsbewegun- 
gen dar. Denkt man sich diese durch die 
vermehrten modulatorischen Moglichkeiten 
bcrcits zu sehr fcinen und aparten Sinnes- 
reizungen entwickelten Ausdrucksmoglieh- 
keiten noch durch die Bichromatik ge- 
stei^ert und ins UnermeBliche vervielfacht, 
so erhalt man eine Tonskala, die aufierlich 
genoinmen zweifellos einen Gewinn, ihrem 
asthetischen Charakter und ihrer Wirkung 
nach ebenso zweifellos eine Degenerations- 
erscheinung bedeutet. Ich kann mir die 
pr&ktische Verwendung eines solchen, In- 
strumentes nur zu rein koloristischen Zwek- 
ken, also etwa zur Erzielung besonders 
aparter Wirkungen innerhalb des Orchesters 



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Neuc Musik 21 



denken, und tatsachlich hat ja Ernst Boehe, 
wenn ich recht unterrichtet bin, sich das bi- 
chromatische Harmonium in dieser Art be- 
reits nutzbar gemacht. Wieweit solche Ver- 
suche praktisch wirken werden, bleibt abzu- 
warten — es ist auch nicht meine Absicht, 
hier ein scharf formuliertes Urteil iibcr die 
Entwicklungsaussiehten der Bichromatik ab- 
zugeben, Ich will zunachst nur die Neu~ 
erungsversuche innerhalb der Elemente 
unserer Tonsprache einer kurzen Durchsicht 
unterziehen. 

Mollendoff ist nicht der einzigc, der mit 
Vierteltonen operiert. Andere haben schon 
vor ihm ahnliche Versuehu gemacht, vor 
allem hat Ferruccio B u s o n i bereits vor 
Jahrei: die Frage der Einfiihrung sowohl 
von Viertel- als auch von Drittel- und sogar 
von Sechsteltonen theoretisch-asthetisch er- 
ortert und zur Diskussion gestellt. Wir be- 
treten da freilich bereits die Gebiete der 
Phantastik, und die Schriften Busonis — es 
kommt da namentlich sein u Entwurf zu 



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22 Neue Musil: 



eincr neuen Asthetik der Tonkunst" in Be- 
tracht — haben in der Tat einen kleinen Bei- 
klang von Jules Verne. Ich mochte dieses 
Schriftchcn nicht nur wegen der Ausfiihrun- 
gen iiber die Viertcltone, sondern wegen 
sei:?es originellen und fesselnden Inhaltes 
jberhaupt empfchlen. Wie es falsch ware, 
dergleichen luftige Spekulationen nur als 
scherzhaftes Unterhaltungsspiel zu nehmen, 
ohne die anregende Kraft zu beachten, die 
darin enthalten ist, so ist es auch falsch, 
gegen diese Traumgcspinste einer kiihnen 
Virtuosennatur mit dem schweren Riist2eug 
des ehrbaren deutschen Kunstverteidigers 
zu Felde zu Ziehen, wie dies Hans Pfitzner 
in seiner gegen Busoni gerichteten Broschiire 
M Futuristengefahr" getan hat. Eine Futu- 
ristengefahr besteht, wie rneine einleitenden 
Worte beweisen, fiir die Musik uberhaupt 
nicht — ich kann nur hinzusetzcn: leider 
nicht Es besteht nur die Tatsache, daB 
alles, was an originellen Regungcn in der 
Musik laut wird, sofort nicht nur vom 



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1 lOOglt 



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Neue Musik 23 



Publikum — dieses ware noch zu cntschul- 
digen — sondern gerade von denen mit 
alien Machtmitteln zu Boden geschlagen 
wird, von dcnen man vorurteilsfreie Ein- 
schatzung und Freude an der lebendigen Be- 
wegung am ehesten zu erwarten bcrechtigt 
ware. 

Den Berniihungen um Einfuhrung des 
Vierteltonsystems entsprechen andere Be- 
rniihungen um die Einfuhrung des Ganz- 
tonsy stems, Freilich nicht eines Systems, 
das die heute ubliche Diatonik ausschlieBen 
oder verdrangen, sondern das sic nur er- 
ganzen soil. Die Ganztonleiter nimmt Be- 
zug auf das chinesisch-pentatonische Ton- 
system, das eino nur fiinfstufige Skala kennt. 
Wenn nun audi kaum ernstliche Aussicht 
besteht, ein solches, auf wcscntlich anderen 
kulturellen Voraussetzungen bcruhcndes Ton- 
system bei uns jemals hcimisch zu niachen, 
so bictct doch die Ganztonleiter namcntlich 
in harmonischcr und modulatorischcr Be- 
ziehung eine Fiille neuer Deutungsmoglich- 



-I— Original from 

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24 



Neuc Musik 



kciten, und von dicsen habcn verschiedene 
unscrer nanihaf tester* zeitgenossischen Mu- 
siker wahrend der letzten Jahre schoii in 
reichem Maflc Gebrauch gcmacht. Ich nenne 
hier nur die Namen Debussy und Schon- 
berg, in deren Wcrken dcr atherisch ab- 
strakte Charakter der Ganztonleiter, der die 
Vermeidimg vcrmittelnder Halbtonschritte 
elwas eigentiimlich Ober&innlichcs, Unwirk- 
liches, Spharenhaftes gibt, eine grofle Rolle 
spielt. Auch Hans Pfitzner hat sich gele- 
gentlich dieses Mittels zur Stimmungs- 
charakteristik bedient, am auffallcndsten in 
seiner Vertonung von Goethes „Fullest 
wieder Busch und Tal", wo das geisterhaft 
Zwingeiide des groSen elementaren Natur- 
lebens durch die gleichsam in unqrbittlicher, 
innerlich unbeweglicher Konseqaenz fort- 
schreitende Ganztonskala zum Ausdriick ge- 
bracht werden soil* 

Die Versuche, die Ganztonleiter bei un$ 
heimisch iu machen, sind ein Teil der Be- 
strebungen, die auf Einf iihrung e x o t i * 



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VERITY OF MICHIGAN 



Nene Musik 25 



seller Tonsystenic iibcrhaupt in die west- 
curopaische Musik ziclen* Sic stellen in Hirer 
Cesamtheit tin iniercssantes Goj;cnstiiok dar 
zu den Anrcguiiften, die sich cin Teil unsorcr 
bildeiulen Kiinsllcr, namcnllich Maler mid 
Bildhauer aus exotischen Landcrn geholt 
haben, Der Anfang dicser Bestrebungen 
liegt zlcmlich wcit zurilck. Ostliche Ein- 
fltisse ko 111 men tins schon in den tiirkischen 
Musiken des 18. Jahrhunderts — in Mozarts 
^Entfuhrung" und tiirkischem Marsch, in 
Beethovens Jt Ruinen von Athen" — zum 
BewuBtscm. Hicr handelt es sich allerdings 
mehr urn koloristische Anklange, wie sie 
durch die geographische Stellung Wiens 
als ostlicher Briickenkopf westeuropaischer 
Kultur leicht vermitlelt werden konnten, als 
um bewuflte Ubertragungen exotischer Ton- 
cysteme. Auch die ungarischen Anklange bei 
Haydn, Schubert und vor allem die Anleh- 
nungen an die Zigeunermusik, wie Liszt sie 
nachdriicklich gepflegt hat, sind als Bestre- 
bungen zur Erweiterung unseres tonalen 



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26 Ncue Mustk 



Ausdrucksvermogens aufzufassen. Die Ro~ 
mantik mit ihrem Hang 2um Fremdlandi- 
schen, besonders zum Osten hat diesen Faden 
weitergesponnen, obschon in ihrer Charak- 
teristik des Exotischen dieses weniger in 
seiner Urspriinglichkeit zum Ausdruck kam f 
als vielmehr die Vorstellung des Fremd- 
artigen, wie sie sich in der Phantasie des Mit- 
teleuropaers kristallisiert hatte. Die eigent- 
liche bewufite Obernahme exotischer Aus- 
drucksweisen fallt erst in die neueste 2eit f 
die Gclegenheit und Moglichkeit zu genauer 
wissenschaftiicher Erforschung auBereuro- 
paischer Tonsysteme fand und damit den da- 
fur empfanglichen europaischen Musikern 
reiches Anschauungsmaterial bot« Die Ar- 
bciten Capellens und in neuestcr Zeit na- 
mentlich Hornbostels haben uns in diescr 
Beziehung aufierordentlich gefordert. Von 
Musikein, die teils av-f Grund solcher An- 
regungen, teils aus cigener Erfahrung und 
Phantasietatigkeit die Verbindung der euro- 
paischen mit auBereuropaischen Musikkul- 



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Neue Musik 27 



turen zu fordern bestrebt waren, sind zu 
nennen Saint-Saens, dem sein Aufenthalt in 
den sudlichen Landern des Mittelmeeres, 
namentlich in Agypten, manches aus ara- 
bischen Gegenden zuwehte, Frederick Delias, 
der in Amerika altindianische und Sklaven- 
lieder-Melodien auffing, und wiedcrum De- 
bussy und Busoni, die wcniger aus eigener 
Erfahrung als aus Spekulationsdrang und 
natiirlichem Hang zum Fremdartigen sich 
die Anregungen dcr Exotik zunutze machten, 
Diese Namensnennungen sollen nicht etwa 
eine vollstandige Aufzahlung all der Musiker 
geben, die ihr Ausdrueksvermogen an auBer- 
europaischen Tonsystemen und Melodie- 
biMungcn berelchert haben — ich gebe nur 
einlge Stichproben, um das Vorhandensein 
solcher fur die Entwicklung der modernen 
Tonsprache bezeichnenden Bestrebungen zu 
belegen. 

Als letzte unter den Bemiihungen zur Er- 
weiterung unseres Tonsystems sind die Ver- 
suche zur Wiedercinfiihrung der alten Kir- 



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VERITY OF MICHIGAN 



28 Keue irfustk 



chentonarten zu nenneru Die Kirchen- 
tonarten, das Tonsystem des Mittelaltsrs, 
siad in der Neuzeit durch die Aufstellung der 
beiden Tongeschlcchter Dur und Moll auBcr 
Gebrauch gekommen. Da die gcsanitc Ent> 
wicklung der harmonischen Musik auf der 
Anerkennung dieser beiden Tongeschlechter 
a!s der eijentlichen Grundlage unseres musU 
kalischen Empfindens beruht, die Kirchea- 
tonarten aber im Gegensatz dazu der Aus- 
druck des homophonen, auch in der auBeren 
Vielstimmigkeit die Individualitat der Einzel- 
stimma wuhrenden Musikempf nutans sind, 
so konnte die Heranziehung dieser Tonarten 
zundchst keine andere Bedeutung haben, als 
die Benutzung exotischer Tonsysteme, der 
Ganztonleiter oder die Spekulationen mit 
Vierteltonen — namlich die koloristische 
Bereicherung des Ausdrucks durch archai- 
sierende Farben. Man findet auch hierfiir 
Gegcnstiicke in der Entwicklung der moder- 
nen bildenden Kunst, namentlich der Malerei 
und Bildhauerei, aber auch der Architektur, 



(~* , Ail , ,, I , Original from 

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Neue Musik 29 



die gleichfalls im Spiel mit Stilelementen 
langstvergangener Zeiten, Stilelementen, fiir 
deren Anwendung heut ein unmitteibarer 
Zwang nicht nichr vorliegt und die nur noch 
gleichsam als ornamentaler Ausputz zur 
Geltung konimen, sich neue Ausdrucksmog- 
lichkeiten zu schaffen sueht, 

Uberblickt man all dicse Einzelbestrcbun- 
gen auf musikalischem Gebiet im Zusam- 
menhang, so kommt man zu der Oberzeu- 
gung, dafl sie doch nicht nur spiclerische 
Laune, Streben nach auffallenden und selt- 
samen Wirkungen, Verlegenheit und Ge- 
dankenarmut bedeuten. Einzelne solcher 
Motive mogen wohl hier und da wirksam 
sein — aber damit erklart man nicht eine 
Bewegung, die, wie die Tatsachcn zeigen, 
von den verschiedensten Punkten aus ein- 
setzt und nicht etwa nur eine zufallige Epi- 
sode darstellt, sondern tnehr odor weniger 
alle schopferischen Geister erfaBt. Das Ziel, 
dem diese Bewegung zustcuert, sche ich zu- 
nachst in der Gewinnung einer neuen Me- 



-I— Original from 

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30 Neue Muslk 



lodik, ciner Mclodik, der die hcutigc Mi- 
schung von Ganz- und Halbtoncn nicht aichr 
geniigt, sondcrn die nach fcincrcn, mannig* 
faltigeren, reichcrcn Bczichuiigcn zwischen 
den Einzeltoncn strcbt, nach Bczielmngen, 
in denen ein starkeres melodisches Eigcn* 
leben, eine zarterc, fciner gcglicdertc Psyche 
sich offenbaren kann, als dies gcgenwartig 
der Fall ist. Abcr — so hore ich entgegnen — 
dies widerspricht ja gerade dem Wescn der 
neuen Musik. Diese neue Musik zeichnet 
sich doch dadurch aus, dafi sie von Grund 
auf immelodisch ist. Woher kommt denn 
der Schrei nach Melodic, der Ruf lt Zuriick 
zu Mozart*'? Doch nur daher, weil wir 
Heute Melodien uberhaupt nicht mehr zu 
horen bekommen, weil die modernen Korn- 
ponisten ftben keine Erfindung mehr haben 
und sich darauf beschranken, mehr oder 
minder interessante Gerausche zu produ- 
zieren. Nun — wer solches behauptet, der 
ist entwedcr ein Ignorant oder ein Bos* 
williger, denn das eigentlich Charakteristi* 



,,,|., Original from 



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Neue MusJk 31 



schc dcr neuen Musik ist ihr Strebcn nach 
neuen mclodisclien Ausdrueksfornieii, ihr 
Drang nach melcdischer Durchdringtmjj und 
Bcscclung des gnnzcn Tonsliickes, ihr Be- 
million, wieder hinwcgzukommfii fiber die 
Kluft zwischen Melodie und Nichtmclodie, 
d. h. Ihemalisch erarbeileter Slimnifiihrung, 
wie sic sich als Nachwirkung unscrcr klas- 
sisch-romantischcn Tonsprache allmahlich 
eingeburgert hat und zum bequemen Schema 
des Kompositionshandwerks gewordcu 1st, 
Man kann das innere Entwicklungsziel der 
neuen Musik, sofern man sie nur ehrlich 
kcnnenzulernen und sachlich zu begreifen 
sucht, gar nicht anders fasseii dean als 
bewufitcs Strebcn nach einer Erneucrung 
unsercs melodischen Empfindens, eines me- 
lodischen En ip find ens freilich, das nicht 
nur nach andcren Tonkombinationsnidglich- 
keiten innerhaJb der gegebencn Nor men 
strebt, sondern das eine grundlegende psy- 
chische Erneuerung und Erweiterung un- 
seres Musikempfindens iiberhaupt zur Vox-* 



-I— Original from 

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32 



Ncuc Musik 



aussetzung hat. Dies mag jetzt vielleicht 
noch als gewagte Behauptung erscheinen. 
Wer aber nur die bisher gekennzeichneten 
Bemiihungen zitr Umanderung unseres Ton- 
systems aufmerksam betrachtet, wer von 
dem subjektiv Spekulativeu und virtuos Ex- 
perimentellen, das ihncn im einzelnen an- 
haflot, absieht und dicse von den verschie- 
denstcr* Ausgangsquellcn her einsetzenden 
Versuche auf Aire syniptomatische Bedeu- 
tung bin wertet, erkennt darin den Drang, 
zu ncuen Moglichkeiten des melodisch line- 
al en Ausdrucks zu gelangen. Ich bitte, diese 
syniptomatische Bcdeutung (estzuhalten. 
Ich spreche hier ntcht fiber ein2elne mod erne 
Musiker, soridern iiber die ncue Musik, Fur 
die Erfassung ihrer Eigenart, ihrer Wer»eris- 
und Willensrichtung ist es tict bezeichnend, 
daB sie sich nicht an das Gegebene, Ober- 
lieferte klammert, sondern einsetzt mit einer 
Kritik an den Grundlagen dieses Ober- 
lieferten, an unscrem Tonsystem iiberhaupt, 
da£ sie versucht, die primitivsten Voraus- 



,,,!,, Original from 

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Neue Musik 33 



setzungen unserer Empfindungsart umzu- 
gestalten und dadurch zur Gcwinnung inner- 
lich erneuerter melodischer Wertbegriffe zu 
gelangen. 

Nun sind solche Versuche an sich nichts 
eigeirtlich Neues, sie lassen sich liberal 1 beob- 
achten, wo zwei Zeitatter und zwei Welt* 
anschauungcn miteinander kampfen. Die 
Melodik der Romantiker etwa ist etwas ganz 
anderes als die Melodik der Wiener Klassiker. 
Als Schumann, Chopin, Wagner und Liszt 
auftraten, hat man gerade so gezetert uber 
den Mangel an Melodie, wie hctitzutage. Man 
hat gespottelt iiber die sogenannte n unend- 
liche Melodie" Wagners, man hat Liszt fur 
einen Phrascndrescher, Schumann fiii eineti 
dilettanti ichen Charlatan, Chopin fur einen 
Tonklingler erklart. Das Neue, was diese 
und die andercn Romantiker — audi der 
leichter eingangliche und daher williger an* 
erkannte Mendelssohn « — brachten, war die 
poetische Beseelung der Melodie, die Ent- 
wicklung und Fortspinnung des melodischen 



{"" r\f\t\h • Original from 

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34 Neue Musik 



Gedaakens im Zusammcnhnng mit dcm 
poetischen. Fur die damaligen Musiker war 
dies die naturliche Forlsetzung des von Beet- 
hoven gebahnten Wegcs. Das Streben naeh 
Verse hmelzung verschiedcnartiger kunst- 
leriscner Anregungcn lag im Wescn dcr ro- 
mantischen Kunst und war fiir jene Zeit 
auch das eiruigc Mittel, sich das grofic, an 
sich einstweilen noch unangreifbare Vcr- 
rnachtnis der Klassiker im zeitgemalkn Sinne 
nutzbar zu machen. Die romnntische Be- 
wcgung war evolutionarcn Characters, sie 
riittclte nicht an den Gruncllagen, uc baute 
sich den Klassizismus nach ihren Gesichts- 
punkten urn. Wir stehen hcut dcr Banke- 
rotterklarung jener klassisch-romantischcn 
Kunst gegeniiber. Uber die genialen Rarock- 
schopfungen eines Wagner und Liszt hin- 
aus ist sie zur tcchnischen Kiinstelei, zu 
einem leeren Talentspiel, zu einem Handel 
mit ausgcmiinzten Wertcn geworden. Stellt 
eine Erscheinung wie Richard Straufl nicht 
das kiinstkrische Gegenstiick dar zu dem, 



,,,!,, Original from 

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Neue Musik 



35 



was wir irn hcutigen Wirtscliaftsleben In- 
dustrialisrnus und Kapitalismus ncnnen? 
Ich spreche hier nicht etwa von der Art semes 
geschaftlichen Gcbarens, von seinem Stre- 
ben, alio aufieren Mittcl der praktischen Be- 
einflussung unseres Musikbetriebes in seine 
Hande zu bckommen — wie etwa jetzt die 
Leilung der Berliner und Wiener Oper zu- 
gleich su fiihrcn und sich so die peisonliehe 
Vorherrscbaft im deutschen Buhnenbetrieb 
KU sichcrn. Ich spreche hier hauptsachlich 
von der Art seines kunstlerischcn Gchabcns, 
wie es in seinem ncuesten Sclmffen zutage 
tritt p das doch nichts andcres ist als einc 
Spckulation nuf Bourgeois- Jnstinktc, ein 
Spielen und Kokettieren mit Fortschritts- 
alliiren, hinter denen bei genaucm Zusehen 
nichts anderes steckt, als eine schr geschickt 
und blendend aufgeputzte, an sich aber au- 
Berst diirftigc und schwache Altmeistcrlich- 
keit, eine posicrende Ktihnheit und erheu- 
chelte Modernitat, die sich ungeheuer revo- 
lution^ gebardet und dabei ihrcr Gesinnvng 



f^" n*-\ f \i, > Original from 

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36 Neue Musik 



und ihrem Charakter nach genau so reak- 
tionar 1st, wie das ehrlich phi list rose Aka- 
demikeitum. 

Wir sind heute in der Musik iiber das 
Stadium hinausgelangt, in dem man meinte, 
Fortschritt sei gleichbedeutend mit tech- 
nischer Steigerung dcs Hergebrachten. Wir 
wissen, Fortschritt ist nur zu gewinnen 
durch Vereinfachung, Vereinfachung aller- 
dings nicht im Sinne jenes iiblen Modewortes 
,,Zuriick zu Mozart", das, auf seine wahre 
Bedeutung hin gepriift, nichts anderes ist, 
als die Erganzung jener Steigerungsmanier 
nach der entgegengesetzten Richtung einer 
gcistlosen Primitivitat. Wenn ich von Ver- 
einfachung spreche, so meine ich damit eine 
Priifung der Grundlagen unsercs musikali- 
schen Schaffens auf ihre'Giiltigkeit fur uns, 
auf ihre Wesenheit, auf ihre innere Berech- 
tigung, auch heut noch als Grundlage einei 
wahrhaften Tonsprache zu dienen. Das ist 
das Charakteristische der neuen Musik. Sie 
nimmt nicht das Gegebene und modelt es 



, T , Original from 

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Neue Muaik 37 



nach ihren Begriffen urn oder blast es tech- 
nisch auf — sondern sie stellt die Frage nach 
dem Daseinswert und der inneren Lebens- 
berechtigung dieses Gegebenen iiberhaupt. 
Und ski komrnt dabei zu dem Ergebnis, dafl 
dieses Gegebene, das Vermachtnis der klas- 
sisch romantischen Kunst, fur uns • nicht 
melir das Fundament sein kann, auf dem wir 
weiter bauen diirfen, sondern daQ wir uns 
dieser Kunst im hochstcn Grade kritisch 
gegenuberstellen, daB wir tiefer zuriickgreif en 
mussen, urn dann etwas im wahren Sinne 
Zeiteigenes schaffen zu konnen. 

Eine solche Erkenntnis ist unbequem, denn 
sie fordert von jedem einzelnen eine kritische 
Strenge der Selbstbesinnung, die man hochst 
ungern aufbringt. Es ist ja so viel angenehmer, 
in hergebrachten Formeln zu denken und zu 
sprechen, als sich iiber jedes einzelne Wort, 
iiber seinen Sinn und seine Daseinsberechtx- 
gung Rechenschaft abzulegen. Daher vor 
allem der Widerstand der austibenden Kunst- 
lerschaft gegen die neue Kunst. Andrerseits 



("" r\f\t\h • Original from 

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38 Neue Musik 



i'st nicht zu verkennen, daB diese neue Kunst 
einstweilen noch nicht mit allzu vieien fer- 
tigen Ergebnissen aufwarten kann. Sie selbst 
ist ja noch em Werdendes, das sieh Klarhcit 
und innere Bestimmtheit erst erkampfen mu0. 
Ich habe von den Bemuhungen zur Erweite- 
rung unseres tonalen Empfindens durch Neu- 
gestaltung unseres Tonsystems gesprochen. 
Diese Bemuhungen sind naturgemaB nur 
ein kleiner Teil der Bestrebungen zur Schaf- 
f ung neuer melodischer Erscheinungen. Ein 
andcrer, ebenso wichtiger, wenn nicht noch 
wichtigerer Teil sind die Bestrebungen zur 
Erweiterung unseres Harmonic - Empfin- 
dens. Sie hangen eng zusammen mit dem 
Protest gegen die Vorherrschaft des Dur- und 
Mollgeschlechtes, sie sind eigentlich bedingt 
durch sie, denn erst mit dem Zweifel an der 
ewigen Giiltigkeit von Dur und Moll konnte 
eine starkere Freiheit auch des harmonischen 
Denkens und Fiihlens einsetzen. Aber sie 
gehen in ihrer praktischen, nach aufien er- 
kennbaren Wirkung uber jene hinaus und 



/"* rt Original from 



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Ncue Musik 



39 



sie haben auch in der Tat heute schon er- 
hcblich mchr Bedeutung erlangt. 

Unser Musikernpfinden im allgemeinen ist 
em vorwiegend harmonisches. Man denkc 
sich irgendeine ganz einfache Melodie — 
etwa, um nur ein Bcispiel zu geben „Morgcii- 
rot, Morgenrot, leuchtest mir zum friihen 
Tod 11 — und beobachte sich selbst genau: 
Man wird sich diese Melodie, auch wenn 
man sie nur vor sich hersummt oder sie sich 
rein gehirnmaBig denkt, gar nicht anders 
vorstellen konnen, als mit harmonischcm 
Unterbau, Dies ist nicht etwa Gewohnheit, 
sondern die Melodie selbst zwingt dazu, Sie 
ist so gebaut, daO ihre deklamatorisch rhyth- 
misch wichtigsten Teile gleichzcitig Elcmente 
einer charakteristischen Harmonie sind. Was 
fiir dieses einfache Lied gilt, gilt zugleich fur 
die kompliziertesten thematischen Gebilde 
unserer gesamten Instrumental- und Vokal- 
literatur von der klassischen Zeit ab. Man 
kann Themen von Mozart, von Beethoven, 
von Richard Straufi nehmen — alien gleich- 



, I -, Original from 

' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN 



40 Neue Musik 



mafiig ist eigen, da6 sie nicht aus rein melo- 
dischem, sondern aus melodisch-harmoni- 
schem Empfinden erwachsen sindL Damit 
hangt zusammen. dafl sie als mclodische Ge- 
bilde an sich unselbstandig, unrollkommen 
sind, daB sie unbedingt der Erganzung durch 
die Harmonie bediirfen, urn zur vollen Wir- 
kung zu koinmen. 

Nun r.ehme man dagegen ein Thema von 
Bach f irgendeines der Fugenthemen aus 
dem wohltemperierten Klavier oder etwa 
das bekannte Air aus der D-Dur-Suite. Auch 
diese Melodien sind zum Teil auf harmo- 
nische Stutzung hin entworfen. Die Har- 
monie ist hier aber nicht Voraussetzung 
und Hedinftung der melodischen Entwick- 
lung, sondern sie ist ihr nur bei-, oder besser 
gesagt: neben- und untergeordnet Sie be- 
stimrnt nicht den Verteuf der melodischen 
Linie, sondern sie schmiegt sich ihm an, 
sie begleitet ihn. Diese Unterordnung del 
Harmonie unter die rnelodische Fiihrung 
kam auch auflerlich durch die Schreibart 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOgle 



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Ncue Musik 



41 



des Generalbasses zurn Ausdruck, Die Har- 
monien wurden nicht ausgefiihrt, sondern 
nur durch beziff erte Basse angedeutet — ein 
Zeichen dafur. dafl man sie nur als Neben- 
sache, die ausgefiihrte Melodic aber als 
Hauptsache ansah. Und je weiter man nun 
zuriickgeht auf den eigentlich polyphonen 
Stil, um so bedeutungsloser und unselbstan- 
diger erscheint die Harmonic. Sie ist nichts 
als das Ergebnis der ineinander verflochtenen, 
an sich durchaus selbstandigen Stimmen, 
dcren Zusammenklang zur Harmonie wohl 
won dem schaffenden Kunstler in Rechnung 
gestellt wird, aber keineswegs von ausschlag- 
gebendei Bedeutung ist und vor allem auf 
die Konzeption des melodischen Gedankens 
keinerlei EinfluB iibt. Hier offenbarcn sich 
zwei grundverschiedene musikalische Stil- 
priiizipien; das eine, der vorklassischen Zeit 
angehorend, gibt der Melodie, dem thema- 
tischen Gebilde, fiihrende Bedeutung, sieht 
in ihr den schopferischen Quell, das andere, 
klassisch romantische, wurzelt im harmo* 



( . ,,.(,, Original from 

I by V. lOOOIt 



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42 Ncue Musik 



nischen Empfinden und sieht in der melo- 
dischen Linie nur die Verbindung wechseln- 
der Harmonien, verlegt also den schopferi- 
schen Impuls in die harmonische Bewegung. 
Dies natiirlich sehr schroff formuliert. 
Aher wenn man die Klagen iiber das Nach- 
lassea der melodischen Kraft, den Schrei nach 
der Melodie, der jetzt von alien Seiten er* 
tont, recht begreifen will, muB man sich klar- 
machen, daft die Entwicklung von der Zeit 
der Klassiker her eigentlich darauf aus- 
gegangen ist, die Selbstandigkeit des melo- 
dischen Formungsvermogens zu unter- 
drucken dadurch, dafi es an das harmonische 
Formungsvermogen gebunden und diesem 
untergeordnet wurde. Wir konnen zu einer 
Erneuerung dtfr melodischen Gestaltungs- 
kraft nur gel an gen, indem wir uns von der 
mehr und mehr zur konventionellen Formel 
erstarrten harmonisch melodischen Denk- 
weise der Klassiker wieder frei machen und 
versuchen, zu einem neuen homophonen und 
daraus sich ergebenden polyphonen Stil zu 



.1 — Original from 

d :v, V lOOglt 



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Keue Musik 43 



gelangen, einem Stil, in dem die Tragkraft 
der einzeinen melodischen Linie wieder das 
zeugende Element, der Zusammenklang aber 
das Erzeugte, die Folge 1st. 

Die Deschreitung dieses Weges zuerst mit 
nachdrucklicher Bestimmtheit versucht und 
uns dadurch ven der Einseitigkeit des har- 
monischnn bedingten Denkens und Ernp» 
findens befreit zu haben, ist das Verdienst 
Max R e g e r s. Dieses geschichtliche Ver- 
dienst wird auch dadurch nicht gcschmalert, 
daB Reger nur zu Teilresultaten gelangt und 
selbst in diesen selten iiber eine barocke 
Nachahmung seiner Muster hinausgelangt 
ist. Aber Reger war der erste, der in seiner 
Kunst wieder auf die Vergangenheit ver- 
wies, die fiir uns, sofern wir iiberhaupt 
an eine Vergangenheit ankniipfen wollen, 
die fruchtbringendste ist, der also fiber die 
klassisch romantischen Vorbilder hlnaus an 
Bach anknupftc* GewiB, Bach ist zu alien 
Zeiten geschatzt und verehrt worden, Mozart 
und Beethoven haben ihm, sowelt sie ihn 



, . ,..!,, Original from 

I byLjOOgle 



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44 Ncu* Musik 



kannten, gehuldigt, die Romantiker haben 
fiir ihn geschwiirmt und ihn uns ptaktisch 
und theorctisch erschlossen — eine Erschei- 
nun^ wie Bach bietet eben alien Zeiten und 
alien Kunsianschauungen unerschopfliche 
Anregungen, Aber unser* Stellung zu Bach 
ist doch wieder erne ganz andere als die der 
friiheren Generationen. Wir sehen in Bach 
nicht nur den groflen Meister kontrapunk- 
tischen Kdnnens, wir sehen in ihm nicht nur 
den gewaltigen Tondichter, wir sehen in ihm 
vorzugsweise den unerreichbaren melodi- 
sehen Gestalter. Seine melodische Kunst 
war begriindet in einer vollig voraus- 
setzungslosen Kraft des Hnearen M usik- 
empfindens, fiir das uns die spateren Zeiten 
leider unbrauchbar gemacht, ja fiir das sie 
selbst bei allem Bachkultus keinen Blick 
gehabt haben* Ich mochte hier hinweisen auf 
ein Buch des Berner Privatdozenten Ernst 
Kurth iiber ,,Die Grundlagen des Hnearen 
Kontrapunkts", in dem die hier angedeute- 
ten Gedanken naher ausgefiihrt sind. Kurth 



, I , Original from 

Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Ncue Musik 45 



hat den Satz gepragt ,,Melodie ist Bewegung", 
d. h. sie ist die Kraft, die eine dauernde Be- 
wegung tragt, Und wenn Sie nun eine Bach- 
sche Stimme nehmen und sie durch ein 
gauzes Werk hindurch verfolgen, so werden 
Sie staunen iiber die unerhorte Mannig- 
faltigkeit der Bewegung, iiber die in sich ge« 
schlossene Lebensindividualitat, die sich hier 
in voller Freiheit offenbart. Und wenn Sie 
dagegen die Einzelstimme eines klassischen 
oder romantischen Werkes nehmen, so wer- 
den Sie sofort sehen, selbst im hochsten Fall, 
also etwa bei einem Streichquartett von Beet- 
hoven, daO hier nur ein relativ individuelles 
Leben spricht, das in seiner Gesamtentwick- 
lung durch das Ganze bedingt ist und erst 
aus der Vorstellung des Ganzen heraus 
seine Impulse empfangt. Damit soil nicht 
etwa ein Wertvergleich ausgesprochen, wohl 
aber gesagt werden, daB eine solche, das Ein- 
zelne dem Ganzen unterordnende und erst 
aus ihm heraus belebende Kunst unweiger- 
lich zur Verarmung des melodischeo Emp- 



(~* mr\r% \a Original from 

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46 Keue Musik 



findungs- und Schopfungsvermogens fiihren 
rnuBte. 

Wenn Regcr sich mit fast ungestiimer Ve- 
hemenz, wie sie seiner bajuvarischen Natur 
entsprach wieder Bach zuwandte, wenn er 
unser an harmpnische Periodizitat und Sym- 
metrie gewohntes Ohr krankte und wieder 
Einstellung des Ohrcs auf die mclodische Be* 
deulung der Esnzelstimme, auf die Ausdrucks- 
kunst dcs polyphoncn Stils verlangte, so war 
er damit theoretisch durchaus im Recht und 
war vor allem ein guter Lehrmeister. Frak- 
tisch freilich konnte die Wirkung nicht in 
unserem Sinne ausfallen. Zunachst darum 
nicht, well Reger nicht zu kiinstlerisch 
einheitlicher Durchbildung seines Stils ge- 
langte, sondern. ein Kind seiner Zeit, die 
verschiedenartigsten Stilelemente ineinander 
verwirrte, dabei bald durch wirklich groB und 
genial geschaute Einzelheiten inneriich pak- 
kend, bald durch konventionelle Natnahmung 
und Unsicherheit des eigenen Willens lah- 
mead , bald durch barock phantastische Will* 



Original from 



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Neue Musik 47 



kiir und Ubertreibung abstoBcnd, Vor allem 
aber deswegen nicht, weil die unrnittelbar 
auflerliche Ankniipfung an Bach, so lehr- 
reich sie war, so mannigfache Anrcgungen 
sie brachte und so sehr sie zum Nachdenken 
und zur Selbstbesinnung aufforderte, doch 
nicht den ersehnten neuen Wcg finden lassen 
konnte. Denn so sehr wir uns bewuflt scin 
miissen, daB wir am Ausgang dcr klassisch 
romantischen Zeit stehen und ihr Erbe auf- 
gezehrt haben, so deutlich wir erkennen, daB 
wir an cine weiter zuruckiicgende Vergangen- 
heit anzukniipfen haben, urn wieder zu einem 
eigenen Stil und eigenem Ausdrucksverrnogen 
zu gelangen — so klar miissen wir uns be- 
wuflt sein, dak diese Ankniipfung nicht durch 
aufierlicho Obernahme alter Ausdrucksarten 
in niodernisiertem Aufputz erfolgen kann, 
sondern nur durch Erkennung und Neuge- 
staltung der Stiielemente jener alten Kunst 
aus dem Geiste einer neuen Zeit. Regcr abcr 
war darin noch ganz der Nachkomnie des 
romantischen Zeitalters, daB er glaubte, 



i " , . Original from 



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4 8 Neuc M 1:31k 



durch das Mittel auBerlicher Nachahmung 
die geistige Kraft der alten Kunst beschwo- 
ren und neuen Zielen dienstbar machen zu 
konnen. 

Immerhin ist durch eine Erscheinung wie 
Roger das kritische BewuBtsein auBerordent- 
lich gescharft und das musikalische Gewohn- 
heitsrecht stark erschuttert worden, Wir 
sind zu einer lebendigeren Anschauung vom 
Wesen Bachs und der polyphonen Kunst vor- 
gedrungexij einer Anschauung, die nicht auf 
irgendwelchen mehr oder weniger interes- 
santen Auslcgungen beruht, sondcrn auf eine 
wahrhaft intensive Erfassung des musi- 
kalischen Organismus hinzielt* Wir sind vor 
allem dazu gebracht worden, die Kraft der 
melodischen Linie als solche mehr zu respek- 
tieren, uns ihrem Ablauf frei hinzugeben und 
uns dabei von der durch die harmonische 
Vorstellungsweise bedingten Gewohnheit des 
periodischen, strophenmaBigen Mel o die- Oder 
Themabaues zu emanzipieren. Wir sind 
also auch wieder zu freieren Anschauungen 



f~* f -\f\ l \\ i . Original from 

, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Neue Musik 49 



vom Wesen der rhythmischcn Gestaltung 
gelangt. Ich meine damit nicht nur die frcicre 
rhythmische Diktion im einzelncn, die die 
Melodic nicht in ein bestimmtes rhythmisches 
Schema zwangt, sondern umgekehrt den 
Rhythmus in den Dicnsk der melodischen Be- 
wegung stellt. Wir nehmen heute keinen An- 
stoQ mehr am haufigsten Taktwechsel inner- 
halb eines melodischen Gedankcns, wcil wir 
wissen, dafl ger*de dicser Taktwechsel die 
melodische Bewegungskraft beschwingt, und 
weil uns eben die linear© Bcdeutung dor me- 
lodischen Bewegung allmahlich wiedcr wich- 

* 

tiger wird als ihre rhythmische Geschlossen- 
heit, durch die der melodische Impuls ein- 
gcengt wird. Wir sind audi inbezug auf 
die tonartliche Einheitlichkeit des melo- 
dischen Gcdankens erheblich freigeistiger 
geworden, als cs fruher der Fall war — denn 
wir sehen in der Forderung der tonartlichen 
Einheit gerade wie in der rhythmischen Ge- 
schlossenheit nur Folgen jenes harmonischen 
Musikempfindens, das aus dem Geist und 



f~* r±f-\t\\t > Original from 

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50 Neue Musik 



Willen der Harmonie heraus den indivx- 
duellen Charakter der melodischen Bewegung 
auch inbezug auf rhythmische und tonart- 
liche Freihcit der Fiihrung ubcrall zu be- 
grenzen suchte. Damit zusammen hangt 
auch die allmahliche Zuriickdrangung des 
Periodenempfintiens, Es ist dieses Perioden- 
empfinden die natuiiiche Folge eines har- 
monisch, also vqrwiegend vertikal einge- 
stcilten Musikempfindens, das naturgemafi 
nacli symmetrischem Aufbau und erkenn* 
baren Gliederungen der Akkordmassen ver- 
!angt. Der Periodenbau ist also hervorge- 
gangen aus dem nattirlichen Bediirfnis, die 
Harmonie zu rhythmisieren, ihr architek- 
tonische Sp&nnungen und Losungen zu geben. 
Die Leidtragende ist hierbei wieder die Me- 
lodic, Sie als Gipfellinie der harmonischen 
Bewcgungcn mtiO sich auf derpn Bewegungs- 
bediirfnisse einstcllen, vielmehr: sie wird von 
vornherein so gestaltct, dafl die harmonische 
Gliederung durch sie nicht beeintrachtigt 
wird. Wohin man also sieht, findet man, dafl 



,' . ,,iL> Original from 



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Neue Musi It 51 



die Entwicklung, wie sie durch die Kunst der 
musikalischen Klassiker und deren unmitteU 
bare Vorganger, also von der 2* Halfte des 
18, Jahrhunderts an vorbercitet und bis in 
die neueste Zeit hinein durchgeftihrt wurde, 
eine immcr starkere Einengung des melo- 
dischcn Euipf indens und Formungsverrnogens 
zur Folge hatte> zugunstcn eines sich standig 
steigernden harmonischen E nip f indens. Wir 
sind heute so weit gediehen, dafl wir iiber- 
haupt nicht mehr wisscn, was eine wahr- 
hafte Melodie ist — namlich Bewegungs- 
kraft des linearen Ausdrucks — sondern daB 
wir die Melodie nur noch aufiassen und be- 
werten auf Grund oder doch unter still- 
schweigendcr, unbcwuBtcr InrechnungsteU 
lung der in ihr eingeschlossenen harmoni- 
schen Werte. 

Es ist gewiB schon eine Errungenschaft, 
daB wir heute dahin gelangt sind, dieses 
Grundiibel der neuzeitlichen Musikentwick- 
lung, diese innerste Ursache unserer melo- 
dischen Verarmung zu erkennen. Es ist 

4' 



Original from 

byV. lOOgK 



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52 Neue Musik 



auch zweifellos eine Errungenschaft, dafi 
wir in den anfangs erwahnten Bestrebungen 
2um Ansbau unseres Tonsystems, in den 
weiterhin angedeuteten Bemiihungen zur 
Neubelebung des polyphonen Musikempfin- 
dens Symptome einer Reaklion verzeichnen 
konnen, die gegen das vorwiegend har- 
monische Musikempf inden und -gestalten ge- 
richtet sind und auf eine Starkuug und Be- 
tonung des melodischen Elementes zielen, 
Aber dariiber diirfen wir uns doch keiner 
Tauschung hingeben, daS dies zunachst nur 
Ansatze und Einzelerscheinungen sind, und 
dafl vor allem von diesen Ausgangspunkten 
allein aus eine wirkliche Neugestaltung un- 
seres musikalischen Ausdrucksvermogens 
nicht erfolgen kann. Ob rnelodische oder ob 
harmonische Gestaltung iiberwiegen — dies 
ist eine Frage, die mehr die kritisch asthe- 
tische Bctrachtung angeht als den schopfe- 
rischen Musiker. Das eigentliche Problem 
der neuen Musik liegt darin, die Gesetze einer 
neuen Fortnung zu finden und aufzu- 



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Neue Musilt 53 



stellen, Gesetze also, die hervorgegangen Find 
aus der neuen, melodisch individualistischen 
Musikauffassung und die beweisen, daB auch 
aus diesen heraus tine solche neue Formung 
eifolgen kann, ja daB diese neue Formung 
erst die Daseinsnotwendigkeit des ihr zu- 
grunde liegenden Stilprinzipes richtig erweist. 



Dieses also xst das Kernproblem dcr neuen 
Musik — und es ist ernes, an dem sich Gene- 
rationen die Zahne ausbeificn konnen. Ich 
habe bis jetzt von der harmonischen Vor- 
stellungs- und Empfindungsart in etwas 
oppositionellem Tone gesprGchen, und ich 
mochte mich nun gegen den Vorwurf ver- 
wahren, als ob ich in ihr etwas irgendwit 
Minderwertiges erblicke. Das harmonische 
Musikempfinden ist vielmehr eines der groB- 
artigsten Stilprinzipe gewesen, das die Musik* 
geschichte kennt. Es steht dem ihm voran- 
gehenden melodisch polyphonen urn nichts 



f^" n*-\ f \i, > Original from 

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<J4 Ncue Musttc 



an innerem Reichtum und kiinstlerischem 
Reiz nach. Wcnn ich hier gcgen es spreche, 
so geschieht dies nicht, weil ich cs als an sich 
unzureichend ablchne — dies ware cine Tor- 
heit, gegen die man die gesamte Musik von 
Gluck bis Straufl und Pfitzner als Gegen- 
beweis anfxihren konnte — sondern weil ich 
es als heute vcrbraucht ansehe, weil ich die 
Stilwende empfindc, an der wir heute stphcn 
und an der wir uns klar werden rniissen iiber 
die Richtung, in der wir nun zu marschieren 
haben, urn an das uns vorschwebende neue 
2iel zu gelangcn. 

Um dies aber recht zu konnen, darf man 
das Vergangene nicht mit verachtlicher Ge- 
barde beiseitestoBen, sondern man muB die 
Krafte recht erkennen Iernen, auf die es sich 
stutzte und die ihm die bisherige Herrschaft 
ermoglicht haben, Und die Krafte des me* 
lodisch harmonischen Stils sind von einer 
kaum hoch genug zu wertenden Bedeutung 
gewesen, gerade im Hinblick auf das form- 
bildende Vermogen dieses Stils. Sie haben 



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Neue Musik 53 



zv/ar der Melodie die Initiative genommen, 
sie haben sie mehr und rnehr zum Dieacr, 
zum gefHHigen Ornament des Gcschchcns 
gemacht, aber sie haben ihr dafiir cine Ex- 
pansions- und Wandlungsfahigkcit , eine 
Breite und Tragkraft gegeben, wie sie eben 
nur der Stil cincs auflerordentlich frueht- 
baren, in seincn genialsten Vertrcicrn auf 
aufierster Hohe stehenden Zcitalters gewah- 
ren konnte, Ich weise hier nur auf das Gc- 
setz der Formbildung durch thematische und 
motivische Arbeit bin — ein Gesetz, das an 
sich aus durchaus unmclodischcr Dcnkwcise 
entsprungen ist, denn es dient der Wetter- 
fiihrung der harmonischen Entwicklung und 
macht die thematische oder motivische eben 
nur zum Bindeglied, zum Mittler dieser har- 
monischen Weiterfiihrungt Und doch, welch 
eine unabsehbare Reihe musikalischer Form- 
organismen hat sich aus diesem Urgesetz 
gestaltet, Welch eine gcwaltige Schopfung 
ist die Sonate, dieses Prototyp des har- 
monischen Musikempfindens •*- mag sie 



f^" n*-\ f \i, > Original from 

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g5 Neue Musik 



nun als Sinfonie, als Kammermusikschop- 
fung, als Solosonate erscheinen, mag sie sich 
im einzelnen als Sonatensatz, als mehr oder 
minder erweitertes Liedj als Variationen- 
gebilde oder als Rondo darstellen. Diese So- 
nate, die sich schon in der gegensatzlichen 
tonartlichen Gliederung als harmonisch be- 
stimmter Organismus kennzeichnet, inner- 
halb dessen das Thema eigentlich nur noch 
die Rolle eines rein akzidentellen Mottos 
spieltj diese Sonate mit all ihren Spielarten 
bis zur sinfonischen Dichlung ist das Werk 
einer Zeit, vor deren gestaltender Kraft wir 
hochste Achtung hegen mussen. Und wenn 
man nun die kaum zu erschopfende Kunst 
cer motivischen Durchbildung betrachtct, 
wie sie etwa Wagner in semen Biihnenwerkcn 
zur Entfaltung gebracht hat, so muC man 
gestehcn, daG es kein Leichtes ist, sich von 
diesen ebenso groBartigen wie fur die Nach- 
ahmung bequemen Mustern loszusagen und 
sich dariibcr klar zu werden, daQ die Wege 
dieser grofien Kiinstler- und Schopfernaturen 



i Original from 



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Neue Musik ^7 



nicht mehr die unsrigen sind und nicht mehr 
sein diirfen. 

Aber welches sind nun diese Wege ? Kann 
man sis aus einem rein spekulativen Willen 
heraus findcn, gehort nicht dazu in erster 
Linie eben wieder die groBe schopferische 
Individualitat, die 'mit nachtwandlcrischcr 
Sicherheit das findet und trifft, was die nur 
verstandesmafiige Opposition menials er- 
reichen kann? Gewitf — nur diirfen wir 
nicht glaubcn r dafi auch der ganz groBe 
Klinstler so rein aus blindem Instinkt heraus 
gleich das Ziel findet* Und wenn man sich 
nun unsere Produktion genau ansicht, und 
zwar nicht nur die landlaufige bekannte, die 
ftuf alien Gasscn und in alien Zeitungen als 
das neucstc ausgeschriccn wird, sondcrn die, 
die vielfach noch gar nicht oder nur voriibcr- 
gehend und von wenigen bemerkt zu to- 
nendem Lebcn erwcckt worden ist, so findet 
man tioch vicles, was, an sich gewiB noch 
nicht vollkommen, doch deutlich einen Willen 
und einen Wcg zu neuen Fonnungsgesetzen 



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58 Neue Musik 



spiiren laQt. Ich nenne hier zunachst die 
Bestrebungen, die, unter bewuBter Umgehung 
der harmonischen Vorstellungsweise, an die 
alten Vorbilder des polyphonen Stiles an- 
kniipfen, ohne dabei der akademischen Nach- 
ahmung zu verfallen. Und als ersten unter 
diesen Fiihrern zu neuen Zielen nenne ich 
einen der groflten Meister des rnelodisch- 
harmonischen Stiles : Beethoven. Nicht 
den Beethoven der Eroica und der 9. Sinfome, 
sondern den Beethoven der grofien E-Dur- 
Fuge aus op, 106, den Beethoven der groflen 
B-Dur-Fuge aus der Missa solcmnis und den 
Beethoven der groBen B-Dur-Fuge fur Streich- 
quartett. Dies sind drei Stiicke, die vollig 
auBerhalb des sonstigen Schaffens audi des 
spaten Beethoven stehen und nicht nur des 
spaten Beethoven, sondern des ganzen Jahr- 
hunderts y das ihm folgte, drei Stiicke von 
einem ungeheuren Zukunftsahnungsvermo- 
gen, das uns aufs ticfste bctroffen macht, 
drei Stiicke, an deren Problematik die nachst- 
folgenden Generationen stumm und scheu 



, I -, Original from 

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Keue Musik 50 



voriibergegangen sind, denn hier war etwas, 
das alien Glattungsversuchen widerstand, 
hier war etwas, was sie nicht begreifen 
konnten — ich meine : nicht begreif en dem 
Sinne der Konzeption nach, Es ist das 
Problem des neuen melodischen Stiles 
aus dem Geist der alten Polyphonie, 
das Beethoven hier vorahnend aufgreift, in 
drei unerhort gewaltigen Werken behandelt 
fiir Klavier, Chor und Streichquartctt und 
dann wieder beiseiteschiebt. Ob er es weiter- 
verfolgt hatte, ware ihm ein langeres Leben 
vergonnt gewesen, vermogen wir nicht zu 
sagen, obsclion manche Skizzen und Ent- 
wjirfe, vor allem die innere Wahrschein- 
lichkeit dafiir sprechcn* Aber wir sehen, daB 
der einsame, taube Beethoven dieses Problem 
erkannt hatte und es da aufgriff, wo die 
Nachkommen ein Jahrhundert spater wieder- 
ankniipften* Im Laufe dieses Jahrhunderts 
ist manche Fuge, manches ehrliche, gesunde 
polyphone Stuck geschrieben worden — aber 
doch keines, das den melodischen Geist und 



f~* ,-± f \,\ I, . Original from 

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60 Neue Musik 



Atem des polyphonen Stiles in sich gehabt 
hatte. Man benutzte nur das Schema der 
polyphonen Musikformen und spannte es in 
den Rahmen des harmonischcn Empfindens, 
innerhalb dessen es natiirHch jegliche stil- 
bildende Eigenkraft verier und lediglich als 
willenlose Formel wirkte. Dies gilt fiir die 
polyphone Musik von Mendclssonn bis zu 
Richard Straufi — sie ist bar jeglichen Geistes 
der Polyphonic, denn dieser Geist der Poly- 
phonie dokumentiert sich darin, da6 das Me- 
lodische als primare Elementarkraft, das 
Harmdnische lediglich als Folge und Zu- 
sammenfassung empfunden wird. Nur einige 
Erscheinungen der jiingsten Zeit machen 
hiervon eine Ausnahme: ich nenne Busoni 
mit seiner Fantasia contrapunctistica und 
Regcr mit einem Teil namentlich seiner 
groflen Orgelwerke. 

Ich mochte nun aber das Problem der 
neuen Musik nicht dahin deuten, da3 cs etwa 
dahin zielte, unter AuBerachtl&ssung der 
klassisch romantischen Kunst den Anschlufl 



-I— Original from 

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Neue Musik 6 1 



an die Ausdrucksart der Mcister der Poly- 
phonic zu finden. Dies ware im Grunde nur 
cine bcsondere Art der Neuromantik, und 
cJahin zielten audi keineswegs Beethovens 
Bemiihungen. Es gilt vielmehr einen neuen 
melodischen Stil zu finden, der an bilden- 
der Kraft dem der alten polyphonen Kunst 
gleich ist, ohne ihn nachzuahmen, der ihm 
also nur der Art, dem Prinzip nnch verwandt 
ist und nun, innerlich angeregt durch den 
formalen Reichtum der polyphonen wie der 
harmonischen Kunst eine neue Art form- 
bildender Kraft aus sich heraus gebiert. Das 
etwa ist die Aufgabc dessen, was tch neue 
Musik nennc. Geldst ist diese Aufgabe noch 
mcht, ab'^r wenn wir genau zusehen, finden 
wir mancherlei schopferisch recht beach tens- 
werte Versuche, zu einer Losung zu gelangen. 
Ich glaube, es ist unsere vornehmste Pflicht, 
dafl wir, wenn wir iiber neue Musik sprcchen, 
nicht wahllos nach personlichem Gutdiinken 
dieses gut und jenes schlecht nennen, son* 
dern uns zunachst fragen, ob es etwas Ge- 



...I,, Original from 

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62 Ncuc Musik 



meinsames gibt, das d:esen an sich recht 
verschiedenartigen Bestrebungen zugrunde 
liegfc, und was denn dieses Gemeinsame ist? 
Die erste Fr&ge glaube ich beantwortet zu 
haben. Erst von der Grundlage dieser Ant- 
wort aus ist es moglich, die Erscheinungen 
im einzelnen zu werten, Es kommt dabei 
nicht so sehr darauf an, die Begabungs- 
grenzen dieses oder jenes Komponisten fest- 
zustellen, als zu erkcnnen, in welehcm Ver- 
haltnis scin Schaffcn zu der inneren, alien 
gemcinsamen Richtung der neuen Musik 
•tehti Ich gebe nun jetzt eine kurze Obcr- 
sicht der wiehtigsten Erscheinungen unter 
den neuzeitlichen Komponisten, in denen die 
hier skizziertcn Bestrebungen mehr oder 
weniger deutlich zum Ausdruck kommen, 



Als anregendc Kraft ist an erster Stelle 
Claude Debussy zu nennen, der vor etwa 
einem Jahre verstorbene franzosische Mu- 



,' . ,,.1., Original from 



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Neue Musik 63 



siker und Fiihrer der sogenannten jungfran* 
zosischen Schule. Sein Hauptwerk „Pelleas 
und Melisande" ist vielen bekannt, weniger 
bekannt sind seine gleichfalls recht bedeut- 
samcn Instrumental- und Orchestcrwerkc, 
am wenigsten bekannt die geistige Richtung 
seines Schaf fens. Sie war bedingt durch eine 
zum Teil stark n&tionalistische Rcaktion 
gcgen Wagner, eine Rcaktion, der nian aber 
doch uurccht tun und die man fjar zu'auBer- 
lich nehmen wtirde, wollte man sie lcdiglich 
aus nationalistischen Gcsichtspunkten er-> 
klarcn* Audi bei Debussy war innerste Trieb- 
feder der Drang nach Bcfrciung von dor 
hemmcuden Uiuschniirung des rein har~ 
nionischcn Musikempfindcns* Er griff darum 
zuriick auf den franzosischen „Vater der 
Harmonie 1 ', auf Rameau, urn von ihm aus 
den Wcg zu ciner neuen freien Entfaltung 
des melodischen Stiles zu finden* Ich will 
mich hicr nicht in Einzelheiten und in eine 
Kritik der Persdnlichkeiten einlassen, ich 
will nur einige bestirnmende Grundziige an- 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



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64 Ncue Musik 



deuten, Debussy hat durch seine JRiickwen- 
dung zu Rameau das erreicht, was er er- 
reichen wollte. Er ist zunaehst zu einer fur 
die Begriffe seiner Zcit auflcr ordentlich freien 
Behandlung der Harmonie gclangt, die in 
Wirklichkeit nichts anderes war, als eine 
Auflosung der bisherigen harmonischen 
Grundgesetze, ihre Unterstellung unter die 
Gesetze des melodischen Wardens, Und es 
ist ihm dank seinem franzosischen Formen- 
sinn auch gclungen, solche Gesetze des me- 
lodischen Werdens in seinen Werken auf- 
zustellen, Formungen zu finden, die auf der 
Suprematie der Melodik bcruhen. Freilich 
ist die von Debussy gefundene Losung noch 
irn hoehsten MaSe subjektiv bedingt, sie setzt 
vor allem eine bewufite enge Anlehnung an 
die Literatur voraus und steht auBerdern 
unter dem Zwange des impressionistischen, 
sich auf den Reiz des augenblicklichen, fluch- 
tigen Stimmungseindrucks beschrankenden 
Kunstschaffens. Sie beriihrt sich darin mit 
der Kunst des genialen Russen Mussorgsky 



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Neuc Musik 65 



der, gleichfalls unter Umgehung zeitgenossi- 
scher Schaffensart, aus dem groBen Schatz 
der russischen Volks- und Kirchenmusik neue 
Qucllen des melodischen Ausdrucks — eben- 
lalls in imprcssionistischcr Manier — erschlofl. 
Debussy und dem ihin angeschlossenen 
Krcise ist auch der iilterc Cesar Franck, 
sowie der ausgczeichnctc, allerdings mehr 
didaktisch als schopfcrisch gertchlete Kcnner 
der alten Musik Vincent d'Indy zuzurechnen. 
Ihnen nahe steht der Ameri leaner Frederick 
Deli us. Auch er ein Freilichtki'mstler, we- 
nigcr inncrlich als auBerlich an die Jung- 
franzosen gebunden, eine sehr fein profilterte 
Lyriker-Erscheinung, in der sich angelsach- 
sische, deutsche und franzosische Elemcnte 
in merkwiirdiger Mischung durchdringen. 
Eine ahnliche Mischnatur, obwohl aus ganz 
andcren Bestandteilen zusammengesetzt, ist 
Ferruccio Busoni, seinem Denken nach 
Deutscher, dem Empfinden nach durchaus 
Romane, ein Kiinstler, der fur Gebilde von 
virtuoser Phantastik sich stets eine Begriin- 



...I,, Original from 

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66 Neue Musik 



dung im Begrifflichen zu schaffen sucht und 
dessen unruhiges, aus tiefsehnendem Ernst 
und weltmannischer Ironie gemischtes Na- 
turell :n der Tat etwas von einem italieni- 
sierten Faust hat. Busonis Anregungen sind 
hochst mannigfaltiger Art, sie gehen von 
Spekulationen iiber die technischen Einzel- 
heiten unseres Musiksystems his zu den 
Grundideen der kiinstlerischen Konzeption 
iiberhaupt, sie umfassen ausiibende wie schaf- 
fen de Kunst, Busoni ist, wie jeder echte und 
groBe Virtuose, ein Fackeltrager, vielleicht 
auch ein Wegebahner. Wieweit er auch 
Pfadfinder ist — das miissen wir noch ab- 
warten. Einstwetlen ist sein Wollen kiihner 
als sein Tun, und das Internationale an Bu- 
soni, das ihn ahnlich wie Liszt zum berufenen 
Mittler der Kuituren macht, scheint ihn an 
einer fasten Verwurzelung seines Wesens 
zu behindern. 

Ich habe zunachst Kunstler romani- 
schen Geblutes oder doch mit starkem ro- 
manischen Einschlag genannt, well hier das 



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Neue Musik 67 



Hauptproblem der modernen Musik: die 
Formgestaltung in der natiirlichen, national 
bedingten Anlage zum Formalen cine starke 
Stiiize findet und scheinbar am schnellsten 
schon zum Ziele geftthrt hat. Zu verhehlen 
ist aber nicht, dafl diese leicht gefundene L6- 
sung noch keine Losung in umfassendem 
Sinne ist. Debussy und seine Nebenmanner, 
Delius, Busoni — sie sind gewiB Erschei- 
nungen von hohem kiinstlerischen Ernst. 
Was sie uns aber geben, ist noch keine grund- 
satzliche Losung der Frage, ob und wieweit 
die neue Musik eigene Formun^cn zu finden 
vermag — es sind gCinstigstenfalls person fiche 
Kompromisse. Nun weiB ich wohl, dafi in 
Kunstdingen schlieBlich jcde Losung indi- 
viduell bedingt ist und daB man nicht etwa 
denken darf, es galte ein alleinseligmachendes 
Schema zu finden, mit Hilfe dessen nun 
jeder sozusagen auf neue Manier lustig 
drauflos komponieren kann. Aber es gibt 
doch Dinge, die iiber die rein tndividuelle 
Erledigung hinausreichen. Ich nannte Tor- 
s' 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



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68 Neue Musik 



hin die Sonate. Sie ist kein Schema, sie 
ist ein Kunstbegriff, an dessen Feststellung 
Generationen gearbeitet, ein Formproblem 
fur das Unzahlige immer neue Losungen 
jjefunden haben und das doch in seiner 
Grundidee jenseits aller Problematik steht 
als Erzeugnis einer ganz bestimmten Kunst- 
anschauung. Ahnliches gilt von der Fuge als 
Reprasentantin des melodisch polyphonen 
Stils. Die Frage bleibt : ist es der neuen Musik 
moglich, eine solche, alle individueUen Ver- 
schiedenheiten iibcrbrii ckende f ormale Grund- 
idee als Ausdruck ihres Witlens zu pragen? 
Und wenn ich vorhin sagte, die bisher vor- 
Hegenden Werke der romanischcn Kiinstler 
gcben keine klare Antwort, sondern bedcuten 
nur individuclle Komprornisse, so wollte ich 
damit andeutcn, daB eben das Hauptproblem 
der neuen Musik, ungeachtet genialer Ein- 
zelleistungen, bisher nur gestreift und indi- 
vidual beleuchtet, aber nicht gcklart ist. Wie 
steht es nun mit den deutschen Musikern? 
Es liegt auch hier bereits eine betracht- 



f~* ,-±f\,\l, . Original from 

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Ncue Mmik 69 



liche Anzahl von Einzclversuchcn vor. Ich 
mochte sie, der X) bersichtlichkeit halber, 
fliichtig gmppiercn nach Gattungen: Oper, 
Lyrik, Kammermusik und InstrumentaU 
musiJ: groBen Stiles* In der Opcr fesjelt zu- 
nachst sine Erscheinung wic Franz Schre- 
ker. Er ist zweifellos die grofite musik- 
dtamatischs Begabung, die wir scit Wagner 
kennen. Man darf hinzusetzen: audi die 
einzige wirklich musikdrnmatir><;hc Bcgabung 
sr^it Wagner, Schreker ist kciu Nachahmer, 
die dramatische Urtdce in ihm ist ganz andcrs 
verwurzclt als bei Wagner und hat sich dcm- 
entsprechend cine wescntlich anders gcrich- 
tete Tcchnik crzcugt. Auch Schrckcr bedient 
sich noch der motivischcn Tcchnik, doch in 
einer von Wagner grundverschiedencn Be- 
dcutung. Bei ihm sind romanische Einflusse 
stark spiirbar, die Melodic gewinnt wicder den 
Eigenwert der musikalischen Erscheinung, 
das Motiv ist nicht Mittel der psychologischcn 
Charakteristik und Verdeutlichung, sondern 
es slnkt in das UnterbewuBtsein. Es ist da- 



,,,|., Original from 



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yo Neue Mmik 



her, technisch genommen, auch nicht das 
Mittel zur Fortspinnung des melodischen Fa- 
dens, sondern die Melodie empfangt ihre Im- 
pulse aus dem Ablauf des dramatischen Ge- 
schehens und das Motiv bleibt, soweit es 
nicht in absichtlicher Breite als Reminiszenz 
auftritt, das auBcrlich fast unbemerkbare 
Band inneren Geschehens. Mir scheint, dafi 
sich hier einc ncuc Art musikdramatisehen 
Gestaltens ankitndigt, cine Art, die> wic De- 
bussy an Rameau ankniipft, so hier auf 
Gluck und Handel, auf den Stil der mclo- 
disch homophonen Dram at ik zuriickwcist — 
frcilich nicht in auBerlicher Anlchnung, son- 
dern nur der Art der inneren Anschauung 
nach und aus dem Geist eines nanientlich 
koloristisch ganz anders gearteten Empfin- 
dens heraus* Die kommenden Werke Schre- 
kers werden lehren, ob es ihm gelingt, den 
Weg zur melodischen Gestaltung des dra- 
matischen Ausdrucks weiterzuschrsiten. 

In der Lyrik mochte ich hier wieder nach- 
driicklich auf die Gesange und die mit diesen 



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Neue Musik 71 



in engem Zusaminenhang stehendc M Ge- 
schwister' '-Kompositiun Ludwig Rotten* 
bergs hinweisen* Ich betone — es kommt 
hier nicht auf die Wertung, sondern auf die 
Hrkenntnis des inneren Wcsens der Werke 
an* Gcrade in dieser Bcziehung abcr wiiflte 
ich nichts, was dem modcrncn Drange nach 
Expansion dcr Melodik, nacli Beseitigung 
des konvcntionellen, harmonisch bedingtcu 
Periodcncharnktcrs dcr Liodinelodie, nach 
melodischer Durchseelung der frei flieflenden 
TonsprO-che so starken, unmittclbarcn Ans- 
druck gabc, wie die Lyrik Rottcnbcrgs. Man 
hat dicsen Licdern nachgesagt, sie seien zu 
rezitativisch gehalten* Dieses UrtcH ist be- 
zeichnend fur die walirhaft jammerlichc 
AuCerlichkeit in der Art der Entgegennahme. 
Was sich von vier zu vier Takten in hiibsch 
geschlossenen harmonischen Pcrioden rundet, 
das ist nach dieser Auffassung eine Melodie, 
was dariiber hinausgeht, dem Horer nicht 
die Eselsbriicken der ziinftigen Kadenz bietet, 
ist Rezitativ. DaS Melodie innerer Bewe- 



f^" n*-\ f \i, > Original from 

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72 Ncuc Musik 



gungsimpuls, dafl sie daher nicht an Takt 
und Tonart gebunden 1st, sondern ihre Kraft 
gerade erweist, indem sie diese Grenzen iiber- 
springt* dafi sie ein Erschautes 1st, ein Spiegel- 
bild geistigen Geschehens — davon wissen 
die Leute nichts. Aber ich mochte wohl 
wissen, ob Menschcn, die so kurzatmig 
denken und empfinden, wirklich imstande 
sind, eine Schubertsche Melodie richtig zu 
horcn — oder ob es bet ihnen nicht auch da 
die auBerlichen rhythmisch harmonischen 
Glicderungen sind, die sie als Offenbarung 
Schubertscher Melodienkraft bewundern? 
Wir haben uns heute frei gemacht von der 
strophisch bedingtcn Anschauung des Ge- 
dichtes, wie Schubert sie hatte, von dcr stim- 
mungsmafcigen, wie sie der Romantik, na* 
mentlich Schumann eigen war, von der psy- 
chologisch charakterisierenden, wie sie die 
reudeutsche Schule und namentlich Hugo 
Wolf pflegte. Wir sehen heute im Lied nicht 
so sehr die Worte und deren Inhale, wir sehen 
das geistige Geschehen, das der Dichtung 



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IbyLsOOgle 



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Ncue Muslk 



73 



als solcher zugrunde liegt. Und dieses 
geistige Geschehen in tin musikalisches um- 
zusetzen t das UnterbewuBte des dichterischen 
Vorgangs, das den Worten und Stimmungen, 
iiberhaupt dem irgendwie auBerlich FaB- 
baren des Gedichtes oft ganz fern liegt — 
dieses in eine meiodische Bcwegnng zu 
fassen — das ist das Wesen und Ziel des mo- 
dernen Liedcs, und fur dieses crscheint mir 
die Lyrik Rottenbergs als bcsonders reines 
und inncrlich selbstandij^es Betspiel. 

Die neue Knmmermusik wird am bezcich- 
nendsten wohl durch Arnold Schonberg 
reprasentiert. Schonberg ist eine Erschei- 
nung, dcren schopferische Bcrieutung auch 
von einem groflen Teil derer ancrkannt wird, 
die seincm Schaffen, namentlich den spa- 
teren Werken, ablehnend gegeniiberstehen. 
Die Ablehnung grundet sich hauptsachlich 
aui den auBerlich abstoBenden Eindruck von 
Schonbergs klangsinnlicher Tonsprache. Sie 
ist auflerst herb und sprode, dem Ohr, das 
gewohnt ist, iibcrredet zu werden, unan- 



Original from 
IbyLsOOglC 



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74 Ncue Musilc 



genehm, wenn nicht gar widerwartig. Es 
ist cine Sprache von Tonideen, gehirhmaOig 
crfaBt* nicht aus der Vorstclhmg der Klang- 
wirkung, sondcrn aus der der Klangbedeu- 
tung heraus konzipiert. Es mag nun dahin- 
gestellt bleiben, ob und inwieweit das Ohr f 
dessen Anpa^sungstahigkeit ja, wie die Ge- 
schichte an unzahligen Beispielen crweist, 
unbegrenzt ist — ob und wieweit das Ohr 
auch dicscn seltsamen Klangersdieinungen 
gcgeniiber durch Gewohnung zur Aufnahme- 
willigkcit zu crziehen ware. Ich wiirde in 
dcm Hinweis auf solche allmahliche Ge- 
wohnung allein nocli kcin uberzeugendes 
Argument fiir die Bercchtigung von Schon- 
bergs Tonsprache schen, denn mit soldier 
Bcgriindung ware schliefllich die sinnloseste 
Kakophonie zu rechtfertigen. Hier aber 
handelt es sich uni die Frage nach dem Sinn 
und der geistigen Kraft soldier Musik, nach 
ihrer schtfpferisdicn Notwcndigkeit — und 
da gestehe ich, daC diese inir urn so iiber- 
zeugendcr erscheint, je genauer ich mich 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOgle 



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Ncue Musik 



75 



mit Schonberg beschaftige, Ich dcnke vor 
allem an zwei flir die hier zu betrachtende 
Kunstart besondcrs charakteristischc Werke: 
das Fis-Moll-Streichquartett mit Gesang und 
die Kammersinfonie fiir 15 Instruments 
Ich gestehe, daB ich, namentlich in dcr Kam- 
mersinfonie, den ersten grofl angelegtcn Ver- 
such der Neuzeit erblicke, an den Beethoven 
dcr B-Dur-Fugen nnzukniipfen, nicht in 
auGerlicher Nachahmung, sondern in gei- 
stiger Weitcrverfolgung des dort angebahn- 
tcn Wcges, Ich finde in diosem Wcrk eine 
Kraft und cincn FluB des mclodischen Wil- 
lens, ich finde in ihtn vcr allem cine Fa- 
higkeit der Organisierung dieses mclodischen 
Willens, frci aus sich hernus, unbehindert 
durch konventionelle Hcmmungen irgend- 
welcher Art, daO ich sagen niochtc: von 
alien schopfcrischen Kraftcn der nmsika- 
lischen Gcgcnwart scheint niir Schdnberg 
die geistig starkste, inncrlich selbstandigste* 
weitest blickende, ahnungsreichste zu sein. 
Das Fehlen der klangsinnlichcn Ausdrucks* 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



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*j£ Neue Musilc 



kraft, day ilm audi auf das abstrakteste 
Schaffensgcbict: die inslrumentalc Kammcr- 
musik verweist, ergibt sich aus dcr rein 
ideelleu Richlung seines Mnsikempfindens, 
Und v/enn dies eia Mangel sein solltc — ich 
behauptc das nkttt, obschon ich nicht sagen 
will, daO es cin Vorzug sci — so wird dicscr 
Mangel reich aufj;cwogcn durch ein aufler- 
Oicieiitlichcs formorgauisatorisches Vcnno- 
gnn, durch das Schonberg, wie bisher kein 
auderer, die fonnbildcndc Kraft des neuen 
melodischen Musikernpfhidcns crwiescn und 
damit das Grundproblcm dcr hcutigen Musik 
als der Losung fuhig gezeigt hat. 

Mit dicsem Grundproblcm hat auch dcr 
sein Lebcn hindurch gerungen, dessen Schaf~ 
fen das groflte Vermachtnis an die ncue Zeit 
auf sin(onischem Gcbiet bedcutet : Gustav 
Mahler. Gewifl, audi Max Rcgcr mit seinen 
Chor- und Orchesterwerken, vor allem dem 
xoo. Psalm und den Hiller-Variatfonen ist 
hier zu nennen. Aber Reger bietet stets das 
gleiche Bild: genial intuitives Erfassen des 



Original from 
IbyLsOOglC 



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Neue Musik 77 



Problemcs, Fallcnlassen und Zuriickwcichcn 
in barock modcrnisicrtc Nachahmungcn al- 
tercr Muster nach dent crsten Anlauf. Dei 
Mahler, dcr nns nur Sinfonicn und Licclcr 
liintcrlassen hat, ist dies andcrs. Von der 
erstcn, auBcrlieh noch viclfach der Obcr- 
licfcrung folgcndcn und doch inncrlich bercits 
gauz frcicn, sclbstandigcn Sinfonie bis zum 
Lied von der Erde und der 9. Sinfonie zeigt 
sich ein unausgesctztes lcidcuschaftliches, 
bis zu unersattlicher Heftigkcit sich stei- 
gcrndes Ringen um das Probtem der neuen 
groBen sinfonischen Form, dcr Form, fur 
die das The ma nicht Baustein ist, die den 
Begriff des Themas im alten Sinn iibcrhaupt 
aufhebt und das sinfonische Gebilde cigent- 
lich als groBartige Entfaltung cines cinzigen 
mclodischen Urgcdankens auffaOt. Charak- 
teristisch ist, daB, wenn man sich vcrschie- 
dene Analyse:^ einer Mahlerschen Sinfonie 
vornimmt, man bemerkt, daB die einzelnen 
Verfasser meist ganz verschiedenartige The- 
men als Grundgedanken der Satze angeben. 



C~* r\f\t\h ■ Original from 

Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



78 Ncue Mnsik 



Mahlers sinfonischer Bau spottet der her- 
kommlichen Zergliederungs- und Betrach- 
tungsart, er laOt sich nicht in das landlaufige 
Sonatenschenia einspannen, die Gesetze sei- 
nes inneren Werdens sind anderer Art, als 
man sie au! den Konservatorien zu lehren 
pflegt. Bezeichnend ist auch fur Mahler, daft 
in verschiedeucn Werken das thematische 
Urgebilde ein ganz einfaches Tonsymbol ist 
— so in der I. Sinfonie ein aus nur zwei 
Tonen bestehendes Quartcnmotiv, in der 
6. der Akkordwechsel A-Dur, A-Moll, in 
dem Lied von der Erde. die Tonfolge g-a-c. 
Dies sind nur einzelne Beispiele, die nicht 
etwa als durchgehendes Prinzip gedeutet 
werden diirfen, Mahler hat die Losung des 
sinfonischen Formproblems von den ver- 
schiedensten Gesichtspunkten aus unter- 
nommen, ohne dall man deswegen seine 
Sinfonien etwa als Versuche ansehen diirfte, 
aus irgendwelchen Vorsatzen heraus Form- 
probleme aufzurollen. Sie sind Emanationen 
einer auBerordcntlichen geistigen Kraft, nicht 



Original from 

I | ,; >gie 



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Ncuc Musik 



aus begrifflich faBbaren Absichten heraus 
geschaffen, wohl aber fur uns, die wir dem 
Wesen der neuen Musik uns begrifflich zu 
nahcrn versuchcn, wertvolle und aufschluB- 
reiche Kundgebungen eine 5 Willens, dcr 
nicht nur durch die einzclne Personlichkeit 
sondern durch die Zeit geht. 



Ich wiedcrliolc: ich habe nur etnigc Na- 
mcn als Beispiele gcnannt, ich wollle koine 
vcllzahligc Aufstellung gebcti, sondern das 
Typischc der neuen Musik hcrvorheben und 
durch cinige bcsonders charakteristische Bci- 
spiele belegen. Wir sind in der Musik gegcn- 
wartig keineswcgs so arm an schdpferischcn 
Kraften, wie es unseren Konzertprogrammen 
nach den Anschein hat. Freilich sind diese 
Krafte einstwcilen noch meist im Werden 
begriffen, und man konnte vielleicht fragen, 
ob es nicht eine IJbertreibung, ein zu weit- 
gehendes Entgegenkommen bedeutet, wenn 
man fiir sie heute schon eine Beachtung 



f^" n*-\ f \i, > Original from 

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$0 Neue Musk 



verlangt, die durch unzweifelhaft allgemeine 
Anerkennung ihres Willens und ihres Voll- 
bringens nicht gestutzt wird. 1st es nicht 
uberhaupt faiscL, so ernstlich nach diescm 
Wollcn zu fragen und zu forschen? Geniigt 
es nicht, wenn wir uns an die Ergebnisse 
halten? Hat nicht Beethoven gesagt: Das 
Neue und Originelle gebiert sich von selbst, 
ohne daB man danach suchet? Nun gcwiB, 
diese neue Musik wird sich Beachtung und 
Geltung erzwingen, audi wenn wir ihr nicht 
dabei helfen, Wenn wir das tun, so geschieht 
es nicht in ihrem, sondern in unscrem eigenen 
Interesse. Und es ist torichte Uberhcblich- 
keit, wenn wir nieinen, mit unserer Teil- 
nahme warten zu konnen, bis unanfecht* 
bare Resultate vorliegen. Die Probleme der 
neuen Kunst gehcn uns alle ins Inn erst e an, 
es sind Probleme unsercs heutigen Menschen- 
tums iibcrhaupt, Nur in dem MaBe> wie wir 
uns alle an ihrer Losung beteiligen, zu ihnen 
innerlich Stellung nehmen, konnen wir das 
Heraufbluhen einer neuen Kunst erwarten. 



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, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Tribtine 

der 

Kunst und Zeit 

Bine Schriftensammlung 

Herausgegeben 
von 

Kasimir Edsctjmid 



M-MHMM 



Berlin 
Erich Reifi Verlag 



f^" n*-\ f \i, > Original from 

' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



L 



DaG schcn vor Jahren Ans&tze bestinden 
zu einer Bcwegung, die auf neues Welt- 
gefiihl aus ist in den Kiinsten, das ist be* 
kannt. DaB die Bcwegung durchdrang, weifl 
jeder. Es ware Albernheit, hier noch Fanfaren 
zu blasen. Dringlicher erscheint es heute f wo 
jeder Greis M Stellung nimmt", jeder Jung- 
ling Unertragliches schwarmt, den ganzen 
Komplex zu uberschauen: woher das Neue 
kam, wohin es will — keine Schlagworte zu 
pragen, sondern besonnen das Eigentliche zu 
sagen — nicht riickw&rts zu referieren, nicht 
zu wiederholen und auf keinen Fall zur 
Theorie zu kommen , . . sondern auszusagen, 
zu bekennen, darzustellcn, zu wiineehen und 

zu postulieren und so bet aller Weit- 

heit des Rahmens dennoch zur Rundheit zu 
kommen* Nie stand der Ktinstler so mitten 
in der Welt wie heute. Nie lief in so un- 
geaeurer Tragodie dieVerantwortung so bin- 
dend zwischen ihm und der Zeit. Vom 
Kiinstler aus gesehen, mit der Kunst als 
Zentralproblem, wird jede Darstellung heu- 
tiger Ziele eine Darstellung der Zeit: Poll- 



Original from 

I | ,; >gie 



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tisches, Religioses, Forderunghaftes mischcn 
sich, kfium zu trenncn, ja unlosbar mit den 
Fragen der Kunst. Kiinstler mit ihrer Kon- 
fession, Gelehrte, die Sachlichcs dichtcrisch 
zu sagen wissen, Essayisten, die nlcht spie- 
lerisch n zett&strn u > sondern produktiv im 
eigentlichen Sinn derKritik aufbauen, schrei- 
ben bier an ciner kleinen Geschichte unserer 
Kunst und unserer Zeit. 



Bisher sind erschienen: 

Kasimir Edschmid: Uber den Expression 
nisrnus in der Literatur und die neue 
Dichtung 

Wilhelm Hausenstein : tlber Expressio- 
nlsmus in der Malerei 

Theodor Daubler; imKampf um die mo* 
derne Kunst 

Walter Muller-Wulckow: Aufbau — 

Architektur 

Paul Bekker: Neue Musik 

Max Krell: Ober neue Prosa 

I W an Goll: Die drei guten Geister F;ankreichs 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



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Ren6 Schickele: Der 9- November 

Schopferische Koniession 
Kurt Hitlet: Geiart werde Herr 
Willi Wolfradt: Die neue Plastik 
Gottfried Benn: Das moderne Ich 
Carlo Mierendorff: Hattc ich das Kino I 
Gust a v Hartlaub: Neue Graphik 
Wilhelm Michel: Der Mensch versagt 
Paul Colin: Fluch dern Siege 
Henri Barbusse: Auf zur WalirheitI 
Franz Masereel: Politische Zeichnungen 
Ren6 Arcos: Abendiand 

WaltherRilla:Revolution t Politiku.Gewalt 

Manifesto des bruderlichen Geistes 

Weitere Bandchen folgen. 

Wenn bei 20 Bandchen diese Reihe einmal ab- 
schlieBt, wird in scharfen Zugen ein Weltbild urn- 
rissen sein, das Profil der geistigen Kraite, die 
die Welt bewegen, geschlossen dnstehon, Es wird 
eine Sozioloftie uns<*rcr Epoch* durch die Kunst 
beobachtet wie durch ein Okular, cine Diagnose 
durchs Auge> So — wenn es bei 20 Bandchen 
bleibt Werden es 100, dann ist diese Tribune der 
Kunst der Anfang einer Enzyklopadie des 20. Jahr- 
hundcrts. Tribunal. D*rtncudt 




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°°S K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Tribtine 
der Kunst und Zeit 

Eine Schriftensammlung 

Herausgegeben von 

Kasimir Edschmid 

VII 

Max Krell 
Uber neue Prosa 



Berlin 

Erich ReiB Verlag 

1919 



f~* r-\f\t\\t ' Original from 

, WKK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Uber neue Prosa 



von 



Max Krell 



Z weite Au flage 



Berlin 

Erich Reifl Ver 1 ag 

1919 



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byV. lOOgK 



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Spamersche Buchdruckere in Leipzig, 



,,.!,» Original from 

1 .oogic 



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I* 

Es kaun sich nicht darum handeln, Be- 
rcchtigtuigen festzustcllen oder nach 
bestimmten kritischen Mafien cine Rang- 
orthiung 211 formicrcn. Glcichwohl 1st ,,ncue 
Frosa" iu besondcrcr Begrcnzung vcrstan- 
den. Leitmotivisch wird die expressionistische 
Auffassung zugrunde gelegt als erne letzte, 
die Begriffe wahrhaft modern empfangende 
und gebende. Sie gelte nicht als Evangelium 
hier, nur als sondernde Einstellung t els ein 
zugeschnittencr Rahmen, Und auch in dieser 
Verengung des Sehfeldes sind nur einzelne 
Figuren sichtbar, von denen das Spiel ini 
wesentlichen bestritten wird. Die nicht minder 
wichtigen Schachbauern entdeckt der ver- 
stehende Blick itn nachsten Umkreis* 

Wir haben eine Erseheinung. Sie bekam 
den Namen Expressionismus, Expressionis- 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



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8 0b*r neue Prosa 



xnus stieg aus dem Abgrund einer Not, Schon 
das Wort hat den Atem der Not, 

Ein Jahrhundert, gezeichnet durch Ballung 
dec Nationen und der Wirtschaft, warf das 
Tor seines Ausgangs zu. Romantische Fiusse, 
die den Morgen blau durchspiilten, triibte der 
Mittag, schwarzte der Abend mit RuB ge- 
waltiger, alleinherrschender Fabrikcn. Einst 
fette Wiese war von Schienen zcrfleischt. 
An fcrncm Felseti biB das Zahnracl gellende 
Spur. Aus StraBen wurde der wandernde 
FuB gefegt, denn es wuchs ein Tausendfaches 
an SchnelJigkeit. Materia bestimrnte die ein- 
zelnen Stunden. Organisation, Schema, So- 
zietat, Nummer gaben Platze an in Staat und 
Wirtschaft Es schwoll der Bauch. Stoff 
wurde Alp und Maschine Gebriili, die drangend 
das stille Beharren des Geistcs umzingelten. 
An Kunst riittelte der ewige Feind Kapital 
mit letzter Gewalt. Konkurrenz, Vielheit 
krallte sich mit schnellen Fangen auch in die 
Bedachtsamkeit des Kiinstlers* Distanzen 
verwischten sich unter brandiger Damme- 



Original from 

I | ,; »gie 



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t)bcr ncue Pfosa 



rung. Stimmen zerschmctterten Stimmen* 
Bis in den innersten Frieden frafi sich Poll- 
tik. Im Chaos der hochsten Ordnung ham- 
merten alle gegen alle, Krieg — auch er von 
letzter schneidender Vollkommenheit — stei- 
gertc die Vcrwirrung ins Himmclhohe. 

Einsame standen in dicsem Brand* Die 
altcn Gebetc half en nicht; in ihr Gefiige, 
das sich mit Phrasen jahrhundertschwer ge- 
tiirmt hat, schossen die Blitze des larmen- 
den Andrangs. Gebet im Kampf wird Ge- 
stammei. Abbricht der Zierat, die verstie- 
gene Metapher. Nackt jagt das Wort in die 
Ekstase der Abwehr. Das Elementare trotzt 
neben dem Elementaren, Die Wucht des 
Unumschriebcnen, Ausgekernten, hart hin- 
ter hart, atemlos verschleudert, raubt die 
Besinnung, Aller Umkreis ist erfiillt von 
Massen satter Bilder. Wie aber die Zeit 
sich verwirrt und in krausen Netzen verfangt, 
so zertrummert sie auch den stillen Spiegel 
der Kiinste. Die Seher ergrimmen. Laut 
wird das Gebet und Sturzflut und schau- 



f~~* ,x*\ f \ I, > Original from 

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10 Obcr neue Frosii 



mender Katarakt. Das einzelne ertrinkt. 
Alles will aus der Seele steigen. Kein Ufef 
licgt zu hoch. Es gibt nirgends kleine Be- 
denken. Es gibt Ansturm, Aufsturm* Und 
der Krieg, wie er drauBen die Grenzen be- 
spie — und der Krieg hat seine Mafilosigkeit 
in diesen ineinandcr prassclndcn Ausdrucks- 
formen gefunden. Und des Krieges Meta- 
physik war, ehe er begann, in diesen Strudeln 
schon erlebt. 

Aber es ist wahr: die Erscheinung — 
nenne man sie summarisch Expressionis- 
mus — komrnt nicht als ganzlich neue iiber 
uns. Im Chaos und in der Glut vieler Note 
ist sic sichtbar geworden. Ihre Zeit nur kam 
als eine, die sie voll erkannte. Die Tube des 
Gerichtes rief sie zur augenblicklichen Fiih- 
rung auf, damit der Extrakt ihres Wesens 
am hohen Pyramidenwerk der Kiinste sein 
Mortelkorn ablege. Im friihen Papyrus fand 
man seine Spur, in der ernsten Falte indischer 
Kolossalgrotesken, am Bau der Briider Asam, 
bei Greco und im bildnerischen Handwerk 



.,,L Original from 

I :y, V lOOgle 



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Oher neuc Prosa 1 1 



zentralafrikanischer Neger, bci Matthias 
Griinewald un<l in den farbigen Schnitten 
des Harunobu* Immer war sie da. Sie wurde 
auch in ihren Sparlichkciten gcsehen, von 
einzelnen begriffen, von jencn, die triebhaft 
alle Zusammonhange in der Kunst erlcbcn. 
Aber bewuBt gcmacht hat sie der heutige. 
Ihr Fermcntalcs riickte cr ans Licht. Ver- 
sinkt sie wicdcr — und immer ist es bet 
solchen Erschcinungen, dafl ihre Verwesung 
beginnt, wenn ihre Erkenntnis anhob — so 
bleibt sie doch erhalten als erkannte Kraft. 
Man wird gelernt haben. Lehren und Ge- 
sichtspunkte werden — es gilt gleich: ob 
positiv oder negativ — gewonnen sein * . . 
Expressionismus — - Sammelwort eines Ge- 
fiihls- und Anschauungskomplexes — ist 
kein Programm. Es gibt einen Bund von 
Aktivisten, nicht von Expressionist en, Dort 
ruht das Ziel in der Bindung, in der Losung 
hier. Die Zange, die Geistige, Kiinstler, 
Schaffende zn gleichem Programm um- 
zwingen will, ist 2m verdammen, Programm 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOgle 



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12 Ober neue Prosa 



ist Tcndenz, ist Bindung. Bindung ist ster- 
bendes Ich. Ich: Abenteuer der seelischen 
Einsamkeit. Diese Einsamkeit gebiert das 
Werk. 

Es gibt dennoch Gemeinsamkett — im Ge- 
fiihl von Sekunden, im Zielen der Gedanken. 
Aus weitlaufigen Entwicklungen schieBcn 
die Strange plotzlich parallel. Voriiberschwir- 
rendem Ton, einem Pinselstrich, gesagtem 
Wort entflackert gleicher Begriff. Bewuflt- 
sein: neben dem Ich steht ahnendes Du, er- 
hoht die schaffendc Kraft. Ich fiihle; du 
fiihlst auch. I en denke, auch du hast diese 
Logik erlebt. Doch nicht Programm, 

Schworen heute Tausende auf den Ex- 
pressionismus, so lassen — verblafit er — 
Tausende ihn lachelnd kreuzigen. Sie ver- 
banden sich ihm, weil fluchtiger Pulsschlag 
ihnen ahnliches Wissen, ahnliches Emp- 
finden gab, wie es ihm entleuchtet. Oder 
nach der Bestimmung eines Geschaftes. Nie- 
mals waren sie seinem Kern nahe, wie 
sie niemals dem Kern eines Werkes und der 



, I , Original from 

' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



fiber neue Prosa 



13 



Kunst nahe waren . , . Nein, nicht Pro- 
gramm f nicht dogmatisch verpflichtende 
Pflicht. Scharf sei bet out: es gibt kein ex- 
pressionistisches n Wir". Es ware Wahn. 
Was aus einzelnem sich schmcrzlich, als 
Reaktion einer Not loslost, kann nie der 
Bindung gehoren. Nur cin Gleichklang der 
Gebarden, eine dunkle Ahnlichkeit der Bil- 
der lockt: Uniformierung der Willensmei- 
nungen und Zicle zu vermuten. Das Wort, 
die Marke ist Sammlung vielfaltiger Begriffe. 
Es sammelt diese Zeit, die Stoff und Harte 
und Bedrangnis ist. Es sammelt deren Aus- 
druck t Anschauung, Bekcnntnis, das cinen 
Schrei nach Freihcit und ein Gebet zu be- 
freiender Gottlichkeit bedeutet. Wieder frei 
iiber den Dingen stehen mochte der gefangene 
Mensch, den Wundern nahe sein, dem Olymp 
verwandt, von dessen Gottern er seine Seele 
empfing, Expressionismus qualt sich solcher 
Freiheit und Befreiung entgegen und ver- 
kdrpert die Sehnsucht dieser Augenblicke* 
Das ist es. Erkennt man seine gotischen 



r^/-\ir\afi > Original from 

1 °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



^4 Ober neue Prosa 

■ ■ — »«■■ ^^' ^ ^■■- '■ ■ ■ ■■ ' — ^.» 

Rippen, so weifi man ihn auch elngeordnpt 
in den Schaukelgang der Erscheinungen, die 
wechselnd stets auf ein verflossenes Form- 
oder Geistideal zuriickgreifen. 

Thomas Mann („Betrachtungen eines Un- 
politischen") nannte ihn eine Kunstrichtung, 
die, ,,in heftigem Gegensatz zu der Passivi- 
tat, der demiitig aufnehmcndcn und wteder- 
gebenden Art des Impressionismus, die Nach- 
bildung der Wirklichkeit aufs tiefste ver- 
achtet, jede Verpflichtung an die Wirklich- 
keit entschlossen kundigt und an ihre Stclle 
den souveranen, explosiven, riicksichtslcs 
schopferischen ErlaB des Geistes setzt." In- 
dessen muB er spater einige Partikel dieser 
Definition korrigieren. Es ist keine Verach- 
tung der Wirklichkeit und ?hrer Nachbildung 
— es ist die Entschalung der Dinge von der 
Realitat, damit die Seele und der Geict fiihl- 
bar werde. Nicht das Sichtbare gilt es auf- 
zuzeigen, sondern das Schaubare, nicht das 
Objekt, sondern im Herzen des Objektes das 
Subjekt. Edschmia zirkelt den ferncren Be- 



, I , Original from 

-OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Ubcr neue Prosa 15 



reich des Expressionismus ab — ,,Expressio- 
nismus in der Dichtung": ,,Vor allem gab es 
gegen das Atomische, Verstiickte der Im- 
pressionisten nun em groBes umspannendes 
Weltgefiihl." Hier ist die Wegrichtung. 
Aus dem stoffltchen Neugebiet, das Natura- 
list und Impressionist eroberten, soil es de- 
fer oder hoher gehen: durch die Materie hin- 
durch in den geistigen Extrakt der Materie. 
Eine neue Anschauung erzwingt sich Ton, 
Farbe, Wort. Nicht die Grundkomplexe, 
Natur, Mensch, Kunst wurden zerschmettert 
und neu gefiigt. Doch Blickpunkt und Ein- 
stellung erfuhren entscheidende Wendung. 
Vom Wandel friiherer Epochen scheidet so 
sich nichts, da auch ihre Kaustik in der An- 
schauung lag. Die neue Einstcllung bedeu- 
tet Angriff auf die banale Atmosphare des 
ReinauBerlichen, in der das Gefolge des Na- 
turalismus — noch lebt er viel zu herrlich 
und betrachtsam vor sich hin — breit und 
lahtnend gebietet. Sie heiBt Kampf gegen 
den Selbstzweck der Materie, gegen die Herr- 



r^/-\ir\afi > Original from 

' °°8 K UNIVERSITYOFMICHIGAN 



1 6 Ober neue Prosa 



schaft realer Ein^elheiten, gegen die Physik 
des Alltags. Erstrebt ist die Verdeutlichung 
der seelischen Struktur, Man hat das friiher 
auch gewollt mit psychologischem Apparat: 
Haufung der Charaktere, Treue im Rapport 
ucr Beobachtungen, Zerlcgung nach natur- 
wissenschaftliclien Rezepten — zum Effekt 
eines reich urid subtil schillernden Impressio- 
nismus. Dies abcr ist das Neue: daB man den 
Wert des Ganzen, kiihn: einen Weltwert, zu 
dem Ictzthin alle Kunst sich bekennen miifite, 
ins Mittelfeld riickt. Die Verbindungsachse 
vom Herzen des Menschen zum Kosmos, 
zum All, zur Irrealitat soil gezogen werden, 
Eine tiefcrc naturwissenschaftliche Erkcnnt- 
nis; das eins von All und Scele lose ab den 
in die Kunst verirrten Kampf urn Mindest- 
lohn und Arbeiterrecht — fiir den es ge- 
eignetere Anwalte und Plattformen gibt. 
Denn es steht da eine Religion von groBeren 
Aspekten: metaphysische Gestalten seien un- 
seren Hirnen eingebrannt. Kunstwerk ist 
sichtbarer Ausdruck der metaphysischen Ge- 



-I— Original from 

' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Obcr neur. Prosa ij 



staltcn; und also: lebendiger Regulator der 
Schwiugungen im menschlichen Gefiihls- 
leben. Es ist der BSrscnbericht der Empfin- 
dungswelt, der Anschauungskrisen. 

Aueh insofern ist die Definition Thomas 
Manns bestrcitbar, dafi es stch urn etne 
^Kunstrichtung" handle. Express! on is mus 
kann keine Erseheinung der Kunst allein 
sein. Verwobcnheit der Kunst mit der Zeit 
und ihrcm Eifer, ihrem Handel, Hirer suinma- 
rischen Anschauung, verbindet, was dort 
gilt, dem, was hier sich bildet. Alle Bezirke 
werden von der ewigen Diagonale der Zu- 
sammenhange gekreuzt. Aber die Kunst ist 
das hochste, sublimste, letzte Ausdrucks- 
mittel. Sie mac lit diese Erscheinung sicht- 
bar; klarend, rundend gestaltet sie die erd- 
haften Verworrenheiten ; und das Unter- 
streichen weckt ihre Phosphoreszenz. Alle 
Bereiche akklamierten diese Anschauung 
und Einstcllung. Ihr Name wurde schlagen- 
des Wort, Munze des Marktes. Eine ZAh- 
mung ins Schmeichlerische und Banale, 



C* r\f\t\\i ■ Original from 

Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



iS Ober neue Prosa 



Liebenswiirdige gelang schon; Mode war 
darnit geschaffen und Sport. So wie mit 
Lavaters Physiognomik „zur Beforderung 
der Menschenkenntnis und Menschenliebe", 
die sehntausend spielerische Silhouetten- 
scheren heftig in Bewegung setzte. 

Die Prosa als das Bee ken der heterogenen 
Elemente weise hier auf, was von den be- 
zeichneten Elementen ihr eignet, wieweit sie 
teilhat am Schwung der Entwicklung. 



f~~* t-\.f\t\li > Original from 

' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



2. 

Ich spreche zuerst von den Novellen 
Kasimir Edschmids. Sie wuchsen mit 
tropischer Schnelligkeit in jene Augenblicke 
hinein, die daj Wesen des neuon Gcfiihb 
eten erst bewuBt machten. Sie kamen selbst 
vollig aus UnbewuBtern. Ihr Eindruck war 
Oberraschung. Sie haben am starksten die 
Symptome dieser neuen Kunst gesammelt 
und habcn teil an ihrer GesetzmaBigkeit, 
Allen Winden halten sie das Gesicht zu- 
gekclirt. Ziel, Summe der letzten grofien 
Anschauung ist noch unkenntlich. Denn: 
Expressionismus wird auch ihm nur Durch- 
gang und ein verhallender Name sein, Doch 
in der Deutung, die er da fur fand, zeigt sich, 
daB er den Willen zur rundenden Anschau- 
ung hat* Die Stroma quellen, werden Gewalt, 
zerbrechen Damme und rauschen zu den 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



UNIVERSITY OF MICHIGAN 



30 &ber neue Prosa 



groBen Meeren, Instinkt schleudert sie in 
den letzten SchoB, zu dem sie kommen 
miissen. 

Jugend ist diese Dichtung. Jugend ist 
vielwollendes Drangen, Die Driisen spannen 
sich von Saften. Berahrt sie fliichtiger Finger, 
so verspritaen sie maBIosen OberfluB in alle 
Rciche. 

Chaos ist sie, das, ^u garender Stauung, 
in Schlauche und Fasser sich nicht zwangen 
lafit. Noch nicht* Ein dionysisches Fest hat 
noch nicht aufgehort. Das Universum lebt 
nur fiir das Wort des Dichters. Ungehemm- 
ter Eigenwille tobt sich aus. Satt sind die 
Satze von leidenschaftlich zusammengeraff- 
ter Beziehungsfulle, Ihre Eile ist MaSlosig- 
keit* Sie brcnnen* ,,rasendes Leben". 

Woher ? 

Warnung ist diese Gewalt. Sie scheucht 
bequeme Gcwohnheit. Der Stil will crkannt 
scin. Das Augenfallige dicser Dichtung ist 
der Stil. Und Edschmid ein Problem der 
Fcrrn, Tieferhin erst wird aus dem schmissi- 



r**. . , [,-, Oriqinal from 

1 H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



t)b«r neue Prosa 21 



gen Gefiige das Verwachsensein sichtbar von 
Gedanke, Bild, Gebarde, Ton. 

Zwischen Goethe und Nietzsche ist die 
Wortbildung stumm und taub geblieben. 
Unterhaltungsliteratur, ins Uferlose treibend, 
vergafl die Pflicht der kiinstlerischen Pilege. 
Leistcnarbeit brachte Stagnation, Die Phrase 
gait, der stehende Ausdruck, das abgegriffene 
Bild, Die dichterische Arbeit stellte sich dar 
als Orgelspiel, bei dem man vox celeste, vox 
humana schaltet, urn die gelaufigen Nuancen 
aufzutragen. 

Es lebt als Wichtiges, Bestimmendes in 
Edschmid und den folgenden der HaB auf 
Festgewordenes, auf Tradition, Abhangig- 
keit, auf Standartworte und auf den ein- 
gefressencn Begriff, der die Faulheit des 
Denkens oder Aufnehmens liebend beibe- 
hielt, Er strich die alte Floskel aus. Das 
ncuc Satzbild kam. Auf seinen tiefsten 
schlummernden Begriff besann sich nun das 
Wort. 

Ein ganz Erstaunliches stieg in das Be- 



("" r\f\t\h • Original from 

Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



2z Ober nen* Prosa 



vmfJtsein: die Fluoreszenz des Wortes war 
entdeckt. Wieder. Denn der GroBe, der 
Einzelne hat sie immer gesehen. Hier wurdc 
sie ins Offene hinausgesprengt. Alle sahen 
sie. Das Wort bekam leuchtcnde Farbkraft, 
Bewegung, Schrci, Scharfe, Lebcndcs, Stcr- 
bendcs. Die Modulationsfahigkcit erwies sich 
als unerschopflich* Jedes Wort stieg in einc 
Intensitat. Im Wort der Tatigkeit war fiihl- 
bar der ProzeB des Tuns gesammelt; im Wort 
der schmiickenden Umrahmung alle Farbe 
angehauft; und jener ragende Begriff, dem 
das Gcfiige gait, war Wucht, eindeutig, Starke, 
Sublimierung, Blitz. Das lctzte war heraus- 
geholt, die hochste WeiBglut des Wertes 
ausgestrahlt. 

Vom iiberlieferten zartlichen Gebaude der 
Satze schmolz die Verzierung ab. Stehen 
blieb die Mauer, leuchtend aus innerern 
Licht; der Charakter, unz\veideutig scharf 
geschnitten. Nichts war iibrig mehr zu 
suchen, nichts zn verkennen. Seele lag ent- 
bloBt. Biut schiug laut Augen erlitten die 



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Obtr neuc Prosa 23 



greazenlose und doch seelige Qual des Alles- 
sehen-miisscns oder *konnens. Sic wurden 
Linse, der die schattierendc Blende entfieL 

Das macht diese Dichtung unmittelbar. 
Du bist vor ein Massiv gestellt. Massiv tiirmt 
sich noben Massiv. Ragcndc Drohung schafft 
Angste . • * Oder: Sehachtc offncn sich ueben 
Feldern neuer Abstiirze, Inimer mahnt Gc- 
fahr die Lust des Abschweifens. Scheinbar, 
wenn auch nicht als letztes Gebot, gebietet 
die Sensation, Mittel ist sie. Ihre Pcitschc 
gibt nicht Ruhe. So herrscht die Leiden- 
schaft zum Heftigen, zu Drang, Begierde und 
Veranderung. 

Diese Knappheit, die Gehor und Eindriick- 
lichkeit will f umschlieBt konzentrierteste 
Fulle. Verworfen ist der Umwcg. Verachtet 
weicht die psychologische Hilfe. Subjekti- 
visches Bestreben schlagt sich hart und quer 
durch Mauer oder Gestriipp. £s ist ein Tempo 
das wir kaum noch messen konnen: das 
Tempo jener letzten Friedensspanne, Da- 
mals wax es aus Maschinen geboren. Ver- 



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2 4 



Ober ncue Proaa 



kehf outricrte es. Und unsere Art zu leben 
verflocht sich clem. Hier 1st es aufgczeichnet 
als Dynamik aus tieferen Quellen denn den 
mechanischen : aus Natur und seelischem 
Befund. 

Von diesem Blickpunkt aus hort iCasimir 
Edschinid auf ein Problem nur der Form zu 
sein. Er ist verstrickt in die exprcssionistische 
Bewegung, Fast identifiziert e,r sich init ihr, 
und vielfach ist er als ihr Fiihrer angerufen 
worden. In seinem instruktiven Vortrag 
(„Neue Rundschau' 4 , Marzheft 1918) iiber 
den ^Expressionismus in der Dichtung" 
schalt er dessen Grundbegriffe heraus: 

„Dic Tatsachen haben Bedeutung nur so* 
weit, als durch sie hindurchgreifend die Hand 
des Kiinstlers nach dem greilt, w$s hinter 
ihnen steht." 

Der Bezirk des Expressionismus und sein 
Tempo sind nicht mehr an irdische Impera- 
tive gebunden, um die sonst kiinstlerische 
Bewegungcn stritten. Es ist sternhaftes, nach 
Kosmischem schweifendes Tempo, das hinter 



, I , Original from 

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0b*r ncuft Pro»a 25 



den Realitaten kreist und treibt und innerste 
Zusammenhange verfolgt. Es ist eine neue 
Art der Psychologic, die das Gemeinsame des 
Menschcn und der Pflanze, des Bcrges, 
Meeres und der Sonne sieht, sucht, mitlebt. 
Sic greift die ideale Gemeinschaft aus den 
existcnten Erschcinungen; das was man als 
Motor der Dinge ntcht sieht, nur ahnt, was 
deni Menschen Seele und Flugel, dem Stein 
das Geheimnis seines Wurfzieles gibt: 

Die Vision — und nur die Vision. 

Diese neue Art ist eine uralte, weil sie zur 
Quelle des Dichterischen zuriickkehrt. Weil 
sie das Sichtbare nicht holier bewertet, denn 
als Mtttel, Umgebung, Weg; man sieht 
dariiber hinaus. Gefiihl als das unendliche 
MaB der Dinge wird eingesetzt in sein konig- 
liches Rccht. Vision aber ist dem Dichter 
die Vollendung des Gefiihls, 

Vergangener Epoche gait Mitleid, Religiosi- 
tat, Humamtat, Nationalisms und anderes 
als Summe der Gefiihle. Diesem hier — und 
seinen Brudern — erscheinen solche Begriffe 



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2$ Ober ueue prosa 



nur ais Stiicke. Welt als Ungeteiltes ist ihm 
ein Gefuhl. Er strebt, seinen restlosen Zu- 
sammenhang mit dieser Welt nachbildend 
zu ergriinden. 

In diesem Betracht gab Kasimir Edschmid 
Verkiindigung, Unter diesem Gesichtspunkt 
schwindet der Eindruck des Seltsam**n, Un- 
geheucrlichen. Die weitgespannten Unirisse 
seiner Novellen werden selbstverstandlich, or- 
ganisch. Feme Menschen, Lander, seltene 
Baume und die groBen Meere werden Rah. 
Er ergreift sie als Eigentum in jencr Besitzes- 
bedeutung, die ^eigen' 1 gleichsetzt mit ,,er- 
kannt". Urawitterte Personlichkeit wahlt 
er, auf die die Sonne der Exotik brennt; den 
Mann, der Volker zerschlug und formte. 
Ohne dozierende Gebarde lebt er den Rhyth- 
mus der Historic aus. Blutvoll wird vergange- 
ner Mensch. Erinnerung wird Sturm. Und 
aus den Griiften fiebert die Erwartung neuer 
Siege. So ist Timur, Joussouf, so Villon. 
Selbst heutige Atmosphare gibt er mit hero- 
ischer Tinktur und mit den MaBen des Ge- 



, I , Original from 

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Ober neue Prosa 27 



schichtlichen. Immer ist Person oder Er- 
lebnis klar und grofi in die Pupille gestellt* 
Nur das Notwendige ist an den steilen Korper 
gehangt. Seine Novellen haben fast immer 
Hoch format. 

Und dieses noch: sie brennen, leben, fie- 
bern; sie sterben in spruliende Asche hinein* 
Sie sind ersehreckend; nicht mit dem Sclirek- 
ken Poes, Swifts, Hoffmanns gehammert. 
Denn Edschmids Schrecken kennt Siifie, Licht, 
himmlischen Ton. Es ist der Schrecken 
des Vorhandcnen, Naturlichen, der Realitat, 
des Nicht-crst-Konstruierten. Jcde Zeile be- 
kennt Realitat, die mittelbare der Vision. 
Im ZusammcnreiBen des Wichtigcn, im Er- 
toten der Zwisehenphase, des nur Entwick- 
lungshaften, ballt sich Dynamik des Werdcns 
heiB, unvermittelt. Es ist der Schrecken des 
nackten Gesichtes. 

So zeigen die Novellen ihren Dichter auf. 
Sie warea Anf ang, der erregte und Meinungen 
schuf. Jetzt verlangen sie Erfiillung, damit 
sie nicht einsarn untergehen als Blitze der 



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28 Ober neuc Prosa 

[■■■■I ■ ■! Ill ■ ■ ■ »■»!■■!■■ I " '" ' ~ ' " ■--_. 

Leidenschaft, denen die Wirkung niemals 
folgte* Vielleicht hatten Friede und un- 
vcrschlossene Grenze ihm eine raschere Ent~ 
wicklung gegeben. Reise — hier notwendig, 
weitend, klarend, zuchtvoll sammelnd — 
ware gekommen. Die Intuition hatte rei- 
cheren Eindruck sich verbunden. Denn auf 
Bindung ferner Bilder und Gestalten baut 
sich seine Vision. 



,,,!,» Original from 

1 .oogic 



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Alfred Do Win ist nicht diese saugende 
Kraft, die die Tone, die Blitze, die Pris- 
men aller Zonen zusammenreifJt, um wie- 
der sie zu blindeln und durch einen heftigen 
Dynamo hinauszuschleudcrn. Ist auch nicht 
Fanfare, Pathos, Tat, noch schmetternde Gc- 
walt, die rascnd alle Spliaren zusammenhiegt, 
liiit Metaphor n scharf und reich eine ganze 
Erde zur einzigen Plastik hammert. Dennoch 
Gewalt und Kraft und Zahigkcit. Und in 
ihnen ein Bruder Edschmids. 

Er schrieb Novellen: gesteilte Phantasie, 
bizarren Reichtum. Pfeil fliichtiger Andeu- 
tung riO treffend ein Herz auf. Zwei schnelle 
Konturen umschnitten die lebendige Figur. 
Das Fleisch der realistischen Notwendigkeit 
war knapp hineingepreBt. Motive aus my- 
stischem Bereich schlugen die Briicken zwi- 



, if , Original from 

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3<> 



Obcr ncue Prosa 



schen Welten und Spharen. Manche Manuale 
waren gezogen zu einem Piobespiel, desscn 
dammernde Fiille das gro3e Epos ahnen 
lieCcn, 

Als „Die drei Spriinge des Wa&g-lun" er- 
schienen, staunten wir: hier war alles; wir 
batten em erstes Bucb nach der Unend- 
lichkeit unserer nicht sehr kleinen Wiinsche; 
ein Buch aus Weisheit und hoher Intuition. 
Seinen Filter passierten die grofiten und die 
heftigsten Gedanken — jedes Schicksal, jede 
Schicht, auch jedes Gliick, ob es aus gliihen- 
dem Grtff oder aus kiihlem Fatalismus kam. 
Philosopbie dieses neuen Weltgefiihls ver- 
breitete sich. Und eine grofie Vision war nahe- 
geriickt: die jenseits des aktiven Willens, 
die Idee des Geistes, die liber aJlem thront 
wie Gott, die vielleicht Gott selber ist. In 
diesem Burfie heiftt sie China; das Volk der 
seltenen und schonen Gieichnisse war erlebt 
mit briiderlicher Inbrunst. 

Die Wucht erinnert an friihe Monumente . * . 
Ich sah im apufiscben Barletta den bronzenen 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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Obcr neue Prosa 31 



Kolofi Valcntinian, iiber den die zunftige 
Historik schweigt ; Gemisch von Wtirde, 
Grausamkeit, Kriegersinn und roh ange- 
nommcner Zivilisation, dahinter Verweich- 
lichung schon und Dammerung des nahen- 
dcn Unterganges . . . So hier riesiges Ma6, 
Gebaude, Schliff r ein vielverzweigtes All- 
genieines, fliichtig, doch auch mit erschrek- 
kender Intuition punktiert die Mystik der 
Beziehungen - und weitcrhin die Vision 
einer Welt. 

Zuuachst und obenhin : ein China der Sek- 
tiercr. Religion — nicht die der Dogmen, 
doch Religion — ist aufgcstellt als die dunkel 
auf wiihlencje Kraft des Volkes und als Damon, 
der Erkenatnisse gibt. Die Tausende von 
Jahren, die dieses Volk lebte, vegetierte, 
dachte, fiihlte f starb und weiterdammerte, 
sie sind hier wahrhaft nur ein Tag* Sie 
schwinden wie die Generationen und wie 
alle Volker* Einer sagt das Gedicht eines 
einzigen Satzes iiber sie: und alles Vergang- 
liche ist nun blitzhaft War. Der Soldat, die 



,,,|., Original from 



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3a Obtt neua Pros* 



Dime, dcr Dichter, der Kaiser ist erfafit mit 
einem ahnenden Strich. Man merkt auf: 
eiu Giiltiges ist ausgesprochen, das sich im 
Querschnitt aller Volker wiederholt, ia diesem 
aber, das so uralt und so erstarrt, unveriinder- 
lich scheint, eincn sxehtbaren MaGstab und 
eincu Bcwcis fiadet. So teilen sich die Ncbel 
zwischen den Volkern. Ihr forschtet; eui'e 
Professoren klagten: wir wcrden nie dieses 
Voile erkennen, denn seine Secle ist nicht 
unsere Seele; die SchragcnmaBe seines Kopfes 
sind den unseren nicht kongruent; der Duft 
seiner gelben Haut ist kiinftiger Verwandt- 
schaft hinderlich. 

Dieser aber war kiihn und war! das Nie- 
gesehene in genialer Ballung auf. Das Gltick 
— ihr nennt es auch Genie — und die Intui- 
tion seiner Seele schenkten ihm die voile 
Sicherheit: viele Fiiden innerster Verbin- 
dungen zu finden und zu fassen dort, wo 
keine Trennungen mehr sind zwischen 
schwarz, gelb, weiB, Religion, Wissenschaft, 
Faust, Mephisto. Es fehlen also auch die 



, I , Original from 

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Ober neue Ptost 33 



Leidenschaften. Es hcrrscheu die Gesetze, 
die groBeri, einzigen der geistigcn Synthese. 
Geborgen stcht Doblin in dcr unbekrieg- 
baren Briiderlichkeit aller Volker, die von 
den Mi'ittern kommt, in der heiligsten Har- 
monie aller Lander, Felder, Gebirge, Meere, 
die vom unverriickbaren Grenzstein nichts 
weiB. Seine Marchen in ihrer hohen Wahr- 
helt unci seine Wahrheiten in ihrer barocken 
Erfindung sind zur unheimlichen Folge von 
Bild, Geschehnis, Sage, {Catastrophe, zum 
Getiirm von Wcsen, Idee, Masse geworden 
und nun ein Epos dieser Welt . . . nicht Spie- 
gel irgend einer Zeit, aber ein sehr Gemein- 
sames aller Zeit. Wie Ossa und Olyrnp ist 
es geschichtet. Sein Scheitel durchragt die 
Wolken, das Netz der metaphysischen Ver- 
strickungen . . . Weil solches geriet, ziirnen 
wir nicht, dafi der zweite Romanberg — 
„Wadzeks Kampf mit der Dampf turbine" — 
sich als brockelnder Sandstein erwies; die 
Projektionen des ersten Buches waren auf 
dieses wesensandere iibertragen; eine Me- 

i 



.,,L Original from 

1 d, v lOogie 



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34 t)ber neuc Prosa 



thode, die das GroSe in seine Partien zer- 
schlug, war verewigt an einem Kleinen, das 
aufgeblasen werden wollte und in den Ka- 
tarakt metaphorischen Oberflusses sturzte. 
Der Irrtum verschlang eine ungeheuere Miihe 
und trieb Artismus auf, der ablenkt von na- 
tiirlicher Strafie. 



,' . ,,.1., Original from 

I by V. lOOOIt 



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Die Vision werde erfiilltl Hierauf stent 
der Ton, man vergessc das nicht. 

Eine Furche zieht sich durch den Acker: 
sie ist nicht mehr nur Einschnitt, von Pflii- 
gen aufgeschorft, sie ist Wunde im Leibe 
der Welt, Empfangerin neuen Samens, Tra- 
gerin, SchoB ewigen Beharrens, das iiber die 
allgeineinen Mcnschenfristen hinaus die Zei- 
ten aneinanderbindet. Zwischen den Furchen, 
die die Blitze in den Himmel reiCen, brennt 
das Gold der Htille Oder der Hcrrlichkeit; 
;;wischen den Furchen des Ackers schimmert 
Leben und Ver^anglichkeit als Same und 
Frucht, Scholle und Engerling. Der Dichter 
mutet — und er findct: Vision. 

Fur Wilhelm Lehmann, den Dichter von 
naturgesattigten Romanen und Novellen, 
sind die Dinge plotzlich und nur edeuchtet 



r*-.. . , 1,-, Oriqinal from 

' ' K \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



36 Ohcr iieue Pros.i 



nach den ihnen innewohnenden geheimnis- 
vollen Gesetzen; etwas ist transparent ge- 
worden. Symbole wcrden erfullt und durch- 
gefiihrt, die realen Hullen von den Kernen 
abgespelH — nicht gerade v/ie bei Meyrink 
zum Zweck einer Auftroselung senderbarer, 
grauenhafter, mystischer Verkniipfungen, 
aber die Gemeinschaft aller Erscheinungen 
weist stch am gelaufigen Naturbild auf. Die 
Seele eines aufgeschleuderten Menschen tragt 
die Ziige einer im Wind verworfenen Schmet* 
terlingspuppe, der wurzelarmen, wcltverlore- 
nen Kreatur. Aufgetan fiir diese Vision ist 
dct Blick des Dichters mit tieferem Gesichts- 
sinn in die letzten Verwandtschaften von 
Mensch zu Pflanze zu Tier zu Luft und kos- 
mischern Gesetz, Sein Herz empfangt offen 
die warmen Atemzuge ewiger Passate, die 
belebend, bienenfleiBig die Flugsamen alles 
Emsseins mittragen. Mit franziskanischer 
Demut begriifit er die Schwester Biume, die 
ihm ein aufierstes Gleichnis und eine erste 
Liebe gilt. An ihm wird es deutlich, daB 



, I , Original from 

■ 00 8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Ober neue Prosa 



37 



dieses „ neue Weltgefiihr* von pantheistischem 
Charakter ist. Die Totalitat der Erschei- 
nun gen, die Einheit aller Wesen ist seine 
grofie Dominante. 

Wenn aber Parallelen und Vergleiche er- 
laubt sind, so werden sie nachteilig scin fiir 
Wilhchn Lchmann und in weitcrer Pcrspek- 
tivc fur seine Zeit. Man braucht nicht bis 
zu Goethes gcwaltiger unci weitcr Vision zu 
flichcn. In Francis Jammcs und in Rainer 
Maria Rilke ist diesc groBe Gemeinschaft 
dcs Lebens ein so ganz inneres und selbstan- 
diges Toil der Seele gewordcn, daS urn ihret- 
willen sie nicht zu sprechcn wiinschen. Sic 
Jassen sie ahnen als verborgenes Fundament. 
Jeder einzelne vermag mit den Schaucrn 
seines Instinkts die Mystik seines Lebens zu 
ahnen. Ein Blumenberg von Phantasie bliiht 
— — — Hier bricht Lehmanns Schwachc 
schwarend auf. Er ist ein armerer Mann 
als Hamlet, Klettend am natiirltchen Bild, 
es in seinen barocken, gestriipphaften Ver- 
zweigungen nachziselierend mit staubgefaB- 



, I , Original from 

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38 Ober neue Prosa 



getreuer Dcutlichkeit vollzieht er doch nur 
zwangsmafiige, niche selbstverstand'iche Ver* 
ticfung. Unerfullt durch die Phthisik seiner 
Worte bleibt der sehnende Schrei nach heiBem 
Erlebcn, Hunger, brennender Vitalitat. Er 
ist deutsch: vnrtraumt, dennoch arm aa 
Iebcndiger, schaffendcr Phantasic. Schincrz- 
Hch wiichst die Miihsal seiner Buclier, Herbst- 
geruch des Weltvcrgehens schwebt dariiber. 
Ihm fehlt, was etwa Franz Jung hat: der die 
Hebel kennt und von Physik der inneren Be- 
ziehungen so sehr vie! weiG, ohne im Effekt, 
in der Sensation und im naturalistischen Ge- 
form z\i crsticken. Nein. Es ist philologisch 
graues, verkniffenes Arbeiten. Immer ist 
die sommerlichc Fiille seiner Bilder angc- 
krankelt vom HerbstfraB* Lehmann ist ein 
liter arisclier Treibhausgartner in Nord- 
deutschland, dessen Pflanzen einen po- 
lierten, iibertriebenen Glanz haben. Es ist 
nichts da von der Wanderung Pans zwischen 
den Waldern und Landern, die in heidnischer 
Wildheit und Sattheit Gustav Sack anbetete, 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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Obcr neue Prosa jp 



Man spurt die Nahc der Nebel, die aus dem 
Novemberhimmel striken. Und sein Ton hat 
zu wcnig Musik. Soviele neue Dichter haben 
zu wenig Musik. Er ist Symptom fur sic. 
Abcr er hat nicht einmal den inneren Rhyth- 
mus dcr mcislcn. Sein Wort ist unschwingend 
cine schr fliichtige, ganz augenblicktichc Vi- 
bration, es hat nur mechanise he Pflichtcn. 
Die Idee, das Wollen, die Konstruktion, die 
Blindheit der wahrhaft inneren Gesichten 
haben herrschende Gewalt iiber ihn, und 
nicmals steigt er ins Ethos, dessen starke, 
wesentliche Werte — ein Bcispiel — Paul 
Kornfeld in der ,,Legende'* als dichterische 
Essenz buchen kann. Eine Kerze erlischt 
schwalend. Der Rauchkamm verschwebt 
nicht einmal zur metaphysischen Figur. 
Als nicht mehr junge Frau schrieb Bettina: 
„Du muBt ewig ein Kind sein und muBt 
mit grofiem Auge dem Schonen, dem Gott- 
l&chen ins Augenlid schauen. Du muBt nicht 
scheuen, trunken dahin zu taumeln, zwischen 
dem, was du ahnst, aber nicht begreifst," 



.,,L Original from 

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40 Ober neue Prosa 

— ■ ■ ■ ■i ■ ■! .T il a m I I i t »■ » m i ll ■ ■ I ■ —— — m ■ I u I i ■ ■ I WW— MWW«*W 

Das fehlt den meisten. Edschmid hat ci- 
niges da von Bisweilen auch Klabund. 
Gleichwohl verschwendet sich dieser — der 
at eh Fanfare ist und auch das Lebendige 
und Tatsachliche aus den'Dingen herausholt 
— zn sehr an den Augcnblick. Seine Ex- 
pression erlischt mit der Minute. Sie hat 
keinen tiefen Atem. Sie ist im Grunde ganz 
anckdotisch. Wahrend es wohl denkbar 
ware, dafi Edschmid in einem fest geturm- 
ten Roman die Vielfalt dcs Geschauten zur 
Einheit verdichtete, hat Klabund sein Un- 
vermdgen hteizu schon erwiesen. Er trifft 
in das Herz der kleinen Dinge. Die Einzel- 
heiten sind ihm erschlossen, nicht die 2u- 
sammenhange. Und wiewohl er Saft und 
Frische zetgt, Eindruck und Gebarde mit 
einer sehr kuhnen Hand ins Sichtbare stellt, 
hat er doch nicht die Kraft, das lockere Ge- 
binde seiner Bilder fest zu verflechten, aus 
der Spiegelung ihres Wesens jenes „G6tt- 
liche" abzulesen. Er hat Bettinas Taumel 
wohl, hat die schone Unbekummertheit, den 



, I , Original from 

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t)ber neuc Prosa 41 



Witz, die Lcidenschaft, wahrend zuineist 
die anderen pcinlich fleiflige Schattiercr des 
seelischen Erlcbnisses bleiben. 

Doch Schattcn ist Kiihle, das Herz nur 
Pumpwerk diinner Adern. Ornamentstiickc 
von verbliiffender Schonhoit geratcn, in deren 
architektonischer Sprachc sich reden IaBt, 
aber deren Musik kcinen aufwuhlenden Laut 
tont* Aufler vielleicht bei Robert Walser und 
Mechtild Lichnowsky - — und es bleibt frag- 
Iich, ob uberhaupt sie diesen nahestehen. 
Die Lichnowsky hat fur die Modulationen 
ihres „Stimniers" eine au&erordcntliche see- 
lischc Rhythmisierung eingesetzt, und im 
melodischen Gepragc die fiihlenden Nerven 
gezeigt. Nicht technisch allein r audi nach 
dem Klang sind hier Lebensinhalte in die 
Spannungen von Tonen und inusikalischen 
Intervallen gelegt . . . Hingegen Walser: der 
die kleinen Dinge erzahlt, wie staunendes 
Erlebcn sie ihm aufschlofi; von sonderbarer 
Einfachheit, schnorkellos und jedem Tern* 
perament wohllaunig verwandt; die Saite 



.,,L Original from 

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42 Obor neue Prosa 



etnes Instruments, die auf alle Strichc und 
Griffe reagiert; im Blut jenen SchuB Tauge- 
nichts aus Deutschland her; und von ent- 
schiedener schoner Einsilbigkeit der malen- 
den Sprache. 

Was aber aus alien an herrlichen Werten 
sich hm und wieder uns verscheukte — bei 
Lchmann die Transparenz der irdischen Ge- 
heimnisse; bei Doblin die wilde Flut der Ge- 
sichte; bei Edschmid der junge schaumende 
Sturm; die imnierwachsende und mit hei- 
ligem Eifer ergriffene Materie be! Hcinrich 
Mann; und in derSehnsucht nach geistigen 
Gipfeln das Bekennertum bei Rene Schickele 
— das ist in emer groGen Orgie das Kampfes 
eintnal schon als Ganzes angedeutet gewesen. 
Unter Erschiitterungen rang Wollen zum 
Licht, doch stiefi ein raschcr Tod t von der 
Kugel des europaischen Brudermordes ge- 
worfen, den Dichter zuriick in die Einsam- 
kcit seines beginnenden Werkes, Er hieB 
Gustav Sack. Seine Hitze und seine ewige 
Miihe haben etwas vom Windmuhlenkampf 



, if , Original from 

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Uher neue Prosa 



43 



des Don Quixote — und das schon macht inn 
schon. Eine Tolllieit, erne gro0e Garung, 
eine stifle Liebe und eine stumme Ahnung: 
So vielleicht war er und getroffcn immer von 
einem Blitz Verzweiflung iiber das Rats el- 
hafte, Nichtzubandigende, das die Welt war 
wie er selbst. 



f.,,.,,|,, Original from 



VERITY OF MICHIGAN 



Was zu Beginn bemerkt steht — namlich, 
daB Erscheinungcn wie die als Expres- 
s ion ism us bezeichnete niemals Gcbilde einer 
bestimniten Gegenwart sind ; dafl vielrnehr 
ihre Existenz komctenhaft aus ferner Dunkel- 
heit in groBgeschwungener Elipse unset Seh- 
feld erreicht, Spur und Eindruck hinterlaSt, 
ehc sie aufgeht ins Allgemeine — das ist 
angedeutet im Werke Heinrich Manns. Er 
ist, bevor dicse Erschcinung sichtbar Raum 
gewann und in unser BewuBtsein stieB, mit 
einer bliihenden Kunst gekommen, die schon 
und durchaus nut jenem Geist gesattigt war, 
aber durch Verwurzelung und ein gewisses 
Anschauungsresiduum noch der sterbenden 
Generation verbunden steht. Man denke: es 
batten die tausendfachen Ausdrucksformen 
expressionistischen Geistes sich vorabendlich 



r^/-\ir\afi > Original from 

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Ober neue Prosa 45 



gebiindelt und seien als starker Strom durch 
diesen Kanal, dcr Heinrich Mann heifit, in 
die ncue Erde ausgestromt. 

Ober die materialistischen Wellen und 
Wehen des Naturatismus stieg er empor. 
Dessen heiligste Gedanken hat er zur fun- 
damentalen Idee erhoben: Idee der Men- 
schenliebe, als eine Forderung des Geistes, 
als Aufruf an die Kunstler und die Geistigen. 
Menschenliebe bis zu jener magischen Ver* 
quickung, wo HaB nicht rnehr von Liebe trenn- 
bar steht, wo aber das Protoplasma beider 
den neuen Menschen gebaren soil. Sein im 
edelsten Sinne sozialer Geist zwang sich 
noch mit Machten zu rechnen, mit Kapitalis- 
mus und bourgeoiser Hartnackigkeit, die 
der neue Dichter gleichgiiltig miBachtet oder 
als iiberwunden schon vergiBt* Gerade aber 
die Geburt aus materialistischer Wurzel, die 
biirgerliche Heimat seiner Seek und der ganze 
Habitus seiner Tradition haben ihm die Mog- 
Uchkeit geboten, das unsoziale Obel mit der 
breiten Waife der Kenntnis anzugreifen. 



, if , Original from 

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46 Ober neue Prosa 



Diese Arbeit ist so notwendig gewesen — 
wie vorbereitend die der verfehmten Natura- 
listen notwendig war — urn dem visionaren 
Zentrum oberhalb unserer realistischen Ein- 
stellung iiberhaupt nahezukommen. Einer 
muBte audi das tun. 

So ist im Rahmcn dieses historischcn Bil- 
des gesehen. Heinrich Mann cin unbedingtes 
Eindeelied dcr Gencrationcn. Dort noch cr- 
fiillt von der Nachdenklichkeit des Impressio- 
nistischen Detaillisrnus, und damit beJebt 
vom Riickschlag des empfangenen Eindrucks. 
Schon aber hincingedrangt in die absolute 
Vehement des Geistes, die die Politik des 
Menschlichen anstrebt, die die Versomien- 
heit und die Liebe 2ur blauen Blume gering- 
wertet ; hef tig dafiir die aufierordentliche 
Klarheit nach Zielen, Methoden, nach for- 
derndem ZusammenschluB im Sinne einer ent- 
scheidenden Kultivierung, nach Befreiungaus 
innerem Chaos; nicht deutsch, sondern euro* 
paisch; und innerhalb dieses Internationalism 
mus erhoben von der Idee der Menschenliebe. 



Original from 
: bj L lOOglC 



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Ober neue Prosa 47 



Es scheint, als habe Heinrich Mann erst 
im zweitcn, politisch durchschnittenen Tcil 
seines Werkes dieser Idee gclebt. Faktisch 
aber bekannte or sich scit je zu ihr. Die 
„GSttinncn" und was ansteigend folgt bis 
in die Gassen und den Platz der M klcinen 
Stadt 4 *> ist tiefer schon verankert, als nur 
im Rausch eincr Farbcnwclt. Schon hier 
crhebt sich em unbedingtes Bckenntnis zu 
intellektueller, zu zunachst formal orien- 
tierter, im Geist aber und in der Liebe fug* 
lich romanischer Einstellung, Das Land 
zwischen siidlichcn Breitengraden, siidlicher 
Erhitzung und Leidenschaft, Italien und seine 
gallische Nuance, wird mehr als Relief oder 
Soffite, wenn so der Prospekt sich offnet. 
Es wird im besonderen Sinne die groBe Sehn- 
sucht der Deutschen, Land der Blaue, des 
Meeres und der Sonne; Land der rnensch- 
lichen Geltung, der demokratischen Denkart, 
ein aus der Schwerfalligkeit geloster Bezirk. 

Heinrich Mann hat recht behalten, Nicht 
weil er aus dem Duster lange ungerechtfer- 



, I -, Original from 

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48 Oher neuc Proia 



tigten Verkanntseins jah in die Flammen 
vieler Scheinwerfer geriickt wurde. Das ist 
sekundar. Die Erkennung muflte kommen* 
well die innere Folgerichtigkeit seiner auf- 
gczeichneten Anschauung frtiher oder spater 
als Beweisstiick sichtbarer Geschehnisse zu 
unterstreichen war. Sie kam aus dem Krieg 
und der Entmenschlichung, Sie wuchs in 
dem MaBe, wxe der Krieg Revolution wurde 
jnd wie aus der Urnkehr aller giiltigen Werte 
der Sieg des Menschheitsgedankens, der 
grofien demokratischen Idee leuchtend wurde. 
Man erinnere sich seines suletet erschiene- 
nen Romans n Der Untertan*^ der in namen- 
loser Steigerung das Hohnische, Glatte, das 
durchaus nicht Sympathische, aber aus den 
Gluten und dem Eis der Erkenntnisse und 
aus dem Reichtum seiner Blicke Gestrdmte 
aufschlug. Hier ist mit den Widerhaken sa- 
tyrischer Obertreibung das Fleisch vor einem 
Herzen aufgerissen worden. Das zuckende 
Herz ist sichtbar und von kiihlgrausamer 
Hand auf den Rost geworfen worden, der 



("" r\f\t\h • Original from 

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Ober neue Prosa 49 



es mit neuem Blut und neuem Brand er- 
fiillen soil. Mit Zolas Gebirgen und Balzacs 
romantischen Plaidoyers hat das nichts zvl 
tun, was hier aus intuitivem Einfuhlen in 
erne Gegenwart sich bildet. Heinrich Mann 
sammelte das Gift fiir die notwendige Zer- 
setzung des verlotterten Gebaudes. £r riB 
ein, zerfaltete den Bestand durch Fest- 
stellungcn, nicht mit Ibsenschcr Apotheker- 
allure, sondern mit der puren Errechnung 
der Realitat. Unter dem Fazit oder Minus 
ragte die auch erfiihlte Idee von morgen. 
Sein Wille sucht teils methodisch, teils 
visionar das Ziel der demokratischen Seele. 
Hier licgt der berechnete Schachzug legiert 
mit dem genialen Einfall, der die Entschei- 
dung bringt, hinwegspringend iiber das 
Exempel. 

Nicht sei geleugnet, daB Heinrich Mann 
mehr die Idee licbt als ihrc Inhalte, mehr den 
Rhythmus als die Melodie, und daB er im 
Winkel der theoretischen Erneuerung sich 
heimischer weifi als in der Tat. Das hat 



f~* #-\f\, vl, . Original from 

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50 Ober neue Pray a 



mit personlichem Bekennertum nichts zu 
tun. Dieses Werk steht auOerhalb der Tat 
und immer innerhalb der Reserve. Vielleicht 
hemmte ihn der jahrelange zunachst aus- 
sichtsarme Kampf, vielleicht und wahr- 
scheinlich die reflexive Art seines Gehabcns, 
das sich mit Dokumenten begniigt, einm&l, 
zwcimal auch noch Forderungen erhebt. Nie 
aber der Liebc wirklich zuganglich ist. Sein 
Herz gliinmt. Es brennt nicht. Seine Worte 
wiihlen, sie befeuern nicht. Sie hassen, doch 
sie entsonden keine Musik des Berzens, Sie 
haben natiirlich nicht das Pathos, das irgend- 
wo gcbunden liegt, sondern immer den 
kampferischen, oft synischen, bedriickenden 
Gestus, der aktiv, immerbereit, sinnlich, 
bitter, ohne Humor und literarisch sein muB. 
Der Weg aber zeigt sich beschritten, der 
ihn in die Kreise der Jugend fiihrt: der Weg 
eben der Idee, nicht mehr allein des Werkes, 
der Weg aus der Romantik in den Willen, 
durch die Realitat in die Metaphysik, die nun 
herrschend sich iiber Leben und Sterbeu er- 



/"*/xj k/iln Oriqinal from 

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Ober neue Prosa 



51 



hebt. Das spann sich an in der ,,kleinen 
Stadt", wurdc bcredt in dem dennoch ent- 
tauschenden Roman von den „Armen" und 
phosphoreszicrte aus dem zornigen Pamphlet 
vom „Untertan". 



,,,!,» Original from 

1 .oogic 



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6. 

Ein Ruf nach Menschenltebe, Versohn- 
lichkeit, eine religiose Ekstatik nach 
innerer Genesung geht neu durch alle. Zer- 
schmetterung hat das Blut aus den Wunden 
geqnetscht. Der Kruppel will die fruhere 
Obcrhebung nicht inehr kennen und dem 
Gesunden gleich geachtet werden. Aus dem 
heulenden Sterbechor ist der Ruf gestotien. 
Wer aber lauschte, kannte ihn vordem* Jede 
Katastrophe hat ihre prophetischen Warner. 
Hier war es Lconhard Frank, 

Die n Rauberbande c< gelte nicht als Kinder- 
idyll mit gefiihrlichem Streifen noch als ein 
Spatling naturalistischer Geburt — etwa 
weil das Ge>icht van unseren Zugen, die 
Landschaft eine scharfe zeichnerische Linea- 
tur trug. Sie war Protest! Sic scbne M Pro- 
testl 11 , herzhafter noch, £ellender t als ihn 



.,,L Original from 

1 lOogie 



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Obcr neuc Prosit 



53 



die Dime Max Brods in die Freudenhauser 
schrie. Protest! Wir waren Kinder. Die 
kleine Stadt mit Tucken und ausgefransteu 
Menschenseelen, mit psychisch verkrtippel- 
ten Paukern hat uns angefressen. Protest! 
Wir w.ollen nicht! Die Welt ist groft. In 
tiefen Griiften und unermeBIichen Weiten 
hat sie herrliche Schatze. Reisen wir nach 
den Schatzen! Amerika! Ach, es ist weit, 
unsere Muskeln sind noch zu diinn, daB sie 
bis dorthin aushielten. Aber such die nahe 
Stadt hat Schatze, Kinder sehen den Schatz 
im einfachsten Besitz. Heraus aus der Phili- 
sterklaue! Es ist naiver Bubenkommunis- 
rnus. Danach die erste dumpfe Anklage 
gegen das Erwachsene, gegen die cigen- 
machtige, anmaCende Bevorrechtigung, ge- 
gen Bednickung, Tyrannis, die vielleicht sein 
mufl, aber in den dazu empfanglichen Ackern 
Saaten zeugt von unberechenbaren, furcht- 
bar schonen Friichten. 

Spott und hclle Farbe verloschen. Die 
hundert G Jock en von Wiirzburg verlieren 



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54 Ober neue Prosa 

ihre abendliche Musik. Zu grauer Silhouette 
verschrumpft die Stadt und was an viel- 
gcstaltigem Erlebnis eine Jugend war, das 
kristallisiert sich zar einzigen bittcrcn Er- 
innerung, zur n Ursache". Den tnusend 
Gleiehgulttgen ein Augenblick, dem einen 
Sensiiivcn die Erschiitterung und das Gc- 
richt. Aus vielen Ziigen dcr cine Zug. Aus 
martcrnden Schmcrzen dor Schmcrz. Aus 
Schuid die Last. Abcr ncin: alios dieses 1st 
gleichgiiltig. So augenfailig ist aus dcin 
EmzeJbilddasAUgemeine ablesbar, Derdurch 
alberne, bornierte Zuriicksetzung gezeich- 
nete Knabe erleidet den Schimpf geachteter 
Klasse, woraus fortwirkend seine Lebens- 
bahn beschattet, die Sonne verloscht ist, die 
ihm doch gehort wie alien, Aus der Damme- 
rung aber gliiht der Protest. Protest! —- 
auch wenn er vernichtet Kennt ihr das 
Lied ? Habt ihr diese fanatisch bekannte 
Idee nicht heute, gestern durch die Strafie 
schnellen horenr Menschen sind gestiirzt 
unter ihrem Schritt Nun aber hat die Idse 



, I , Original from 

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Ober neue Prosa 



55 



begonnen leuchtend zu werden iiber alien. 
In unserer Friihe waren wir getroffen durch 
Vorurteil und Zuriicksetzung, Klasse und 
Mutwillen. Nun wollen wir aitfstehcn und 
an den Menschen riittcln, damit sie sinh be- 
wuflt werden. Hier ist Beispiel, hier ist 
Perspcktive zu unscrm ganzen Volk — und 
dieses Bekenntnis tief politisch. 

Das dritte Buch aber schrie — schrie 
nackt und unverhtilltc Scht die Stigmata I 
Seht das Blut! Christus wurde wieder ge- 
krcusigtl Ihr alle scid Christus! Ihr alle 
wurdct wieder gekreuzigt- Die Philister 
eures Volkes haben Golgatha geschichtetl 
Nun klagt sie an! Aber ihr alle seid und 
bleibt mitschuldigl Ihr vergaCet eucrMcnsch- 
tumt Ihr vergaBct die Liebcl 

Leonhard Frank steht gebiiekt vor der 
groBen Anklage gegen das ganzc Menschen- 
geschlecht. Ticfster Mcnsclicnschmcrz, daB 
noch Klassen sind nach auBercr Distinktton, 
daB zweitc, dritte Garnitur Mensch nach ei- 
genwiUigcn, perversen Motiven zerschlagen, 



,,,|., Original from 



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56 Ober neue Prosa 



gemordet, verschlckt werden kaxm — lebcn- 
diges Flcisch, lebendiges Stiick Seele — das 
hat ihm Fauste gemacht* die nicht inehr in 
der Tasche wiihltcn, die viclmchr Worte in 
den Europaer stampftcn, als es noch ge- 
fahrlich war, Vcrnunft zu zeigen, Worte des 
Hcrzens, Leidens, Griibelns, der Ohnmacht, 
der Kraft, Das ist wie heilige schmerz- 
schwerePolitikder groBen dichtcndenRussen, 
bei denen aus anklagendem Hafi Liebe auf- 
ersteht, wie aus Beethovens heroischem 
Konzept Schillers Menschen-umspannender 
Hymnus stieg, Aber es ist auch noch anders 
und anderes als bei den Russen. Dort war 
ein mystischer Schleier iiber die Zornwiilste 
gelcgt, Es war nicht gewagt, Anklage mit 
dem donnernden Namen der Anklage zu er- 
heben. Indirektes litt ihre Tragik aus, Doch 
Frank schmetterte den Hari ohne Verschleie- 
rung und Milde hinaus, mit dem stoBweisen 
Schrei seiner wilden Novellistik — wo jene 
mit dem gewaltigen Turm eines babyloni- 
schen Epos erdriieken wollten. 



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Ober n*ue Pros* 



57 



Der Mensch ist gut! Doch ist dieses Buch 
HaQ, wie Franks vorherige sehon, die vom 
HaB gezeugt sind und von seiner blutigen 
Rote brennen* Es ist der Hafi der Licbe — 
HaB und Liebe in jener produktiven Vcrwo- 
benheit aus Pessimismus und Optimismus; 
Pessimismus als Erkenntnisform vom schA- 
len Substrat der menschlichen Riickstande, 
ihren hassenswerten * Schlechtigkeiten, die 
blasenhaft die sanfte Oberflache aufsprengen 
als verruchte Institutionen — es ist der pro- 
duktive Pessimismus als Grundlage ernes 
Ncubaues, In seiner Ticfe schon zeigt sich 
die silberne Kapsel halbgeoffnet, die den 
Strahl der Bejahung, das Bekcnntnis zur 
Liebe uns zuwenden soil, 

Es ist das Erbe der noch zu nahen natura- 
listischen Verg.ingenheit, dafl ergiebiger De- 
taillismus herrscht. Grofle Probleme wcrden 
zu haufig noch aus der Froschperspektive 
gesehen — im Auge der Politiker wie der 
schaffenden Kunstler. Stark konstruktives 
Element gibt Entwicklungsbilder ab ovo, da 



-I— Original from 

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58 ftb^r ncufc Prosa 



rascher, klarer Blick in den Zenith notiger 
ware. Gefiihlstcilc statt Gcftihl. Rede statt 
Wort. Dahinter scheint UneinheitHchkeit 
der Anschauung zu lie gen, Die Anschauung 
so vieler Diehter vergibt sich gleichzeitig 
an Dutzend Traume; die Traume miinden 
ins All und in die vielbeschaftigte Seele des 
Zeitgenossen, — — 

Von wenigen abcr, denen Konsequenz und 
einheitliche Pragung eignet — und nur 
Thomas Mann kann in seiner Weise diese 
Folgcrichtigkeit und innere Abgeschlossen- 
heit seiner Anschauung fur sich buchen — 
hat Leonhard Frank sie seit seinem Begin* 
ncn durchgesetzt. Einheit d$r Anschatiung: 
Legicrung aus Ja und Ncin. Nicht Tendcnz 
fur Nein um des Neins willcn, nicht Blindheit 
fiir das J a, des Jas wegen. Zusammen- 
schweiDen der Kampf telle im Menschen. 
Weil aber inneres AusmaB, innere Leiden- 
schaft, innere Zersctzung und innerer Auf- 
bau das Miniaturbild der allgemeinen sind, 
und weil die These seiner Menschcnliebe 



,,.!,, Original from 

1 lOOgie 



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Obtr itetie Prosa 59 



sich der heuttgen, auch der morgigen, d. h. 
der produktiven, nicht historischen Men- 
schengemeinschaft zukehrt — ist hier poli- 
tische Dichtung. Es ist erste politische 
Dichtung in Deutschland seit Schiller 
und Biichncr, erste politische Epik 
iiberhaupt bei uns. RuEland hat immer 
seine grofic politische Secle gehabt. Deutsch- 
land krankte an seiner politischen Indiffe- 
rent — oder blieb dadurch stark fiir eiiie 
ncue Gcburt — « Unstorbar stieg die Linie 
solcher Anschauung einer zentralen For- 
mung zu. Zwischen glattem Rasen asthe- 
tizistischer Literatur, breiter deutscher Bild- 
nismalerei und philosophischer Sezierung 
ist von Leonhard Frank ein mcnschhoitspoli- 
tisches Manifest angesagt worden. Das dich- 
terische Plakat, das die komrncnde Revolu- 
tion ankundigte. Das Werbemittel fiir Men- 
schenschutz, j enen hohen Gedanken eines 
neuen Zeitalters, fiir Liebe, unriittelbare Ge- 
sinnung vom wahren Sinne (nicht die, mit 
der sich heute jeder schmiickt), vorurteils- 



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1 d, v lOogie 



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60 Obtr neue Pros a 



lose Sozietat. Will Revolution diesem Grund- 
gedanken zum Siege verhelfen, so hat die 
idealistische, moralische Wehrbarxnachung 
ihren Vorkampfer in Leonhard Frank ge- 
habt — wie sie in Albert Steffen mit dem 
Hebereichen Buch , ,SibylIe Mariana" iiber 
den Zwiespalt der Volker stieg, die Mcnsch- 
heit zum Adel der Liebesidee drangte — 
Frank, vor dem nichts war in diesem Geiste 
denn Chaos . Dunkel, Einsamkeit. Sein Name 
helSt Morgendammerung der iiberpolitischen 
dcutschen Dichtung, des Aufstiegs zuglcich 
ins allmenschliche und eine heilsame Ant- 
wort an den Doktrinarismus der Aktivisten, 



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' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Eines haben sie alie. Es bindet sie fester 
als Blut der gleichen Mutter: sie sind 
aus dem traditionellen deutschen Beschauen 
und Beharren hinaufgewachsen in einen Fa- 
natismus* Sic bekennen sich hinein in den 
Sturm. Sie sind entziindet vom knaben- 
haften Drang nach den neucn Rhythmen 
der Dinge. Und so hallt das Wort bei ihnen 
immer wie Aufruhr und Aufruf, Sie wissen 
ein Echo in aller Welt. Sie streben hinaus 
aus den Latidern in die geistigc BriiderJxch- 
keit der Menschen. So geschieht ganz in- 
stinktmafiig eine Anlehnung an die revolu- 
tionare Idee der Politik, Sie fordern Politi- 
sierung im Bewufltsein, dafl dort adaquate 
Ziele und Gefiihle licgen. In diesem Betracht 
wird ihnen Ren6 Schickele zum Symbol, 
Aber sie sollten sich hiiten, ihn zum ent- 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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tz Uber neue Pros* 



scheidenden Muster und zum Merkur ihres 
Weges zu wahlen. Seine besondere Wurzel 
verbietet das. 

Denn; anders als Heinrich Mann steht 
Ren6 Schickele zwischen den Rassen. In 
jenes Puisen mischt sich neu das Blut zweier 
groBen Volkerfamilien ; die Garung ist noch 
zu keineni Austrag gekommen. In Schickele 
sind die Rassen seit Generationen gekreuzt, 
er leidet unter dem ncuen Anprall der Volker 
von aufien; der Elsasser ist der von auflen 
feindlich Umworbene, nicht nur der in sich 
mit widerstreiteuden Blutkorpern Zerstrdmte. 
Ihm ist der Krieg der Menschen die Peitsche, 
aus irdischen Wucherungen hinauszustre- 
ben in die lauternde, absolute Klarheit des 
Getstes. Ober dem Mecr der gefallenen Brii- 
der aus zahllosen Kricgen tiirmt er einen 
neuen Krieg, bei dem nicht leiblicher Tod 
gefordert, nicht die zerschmetternde Bru- 
talitat der Krafte eingesetzt wird, Er ent- 
liidt die Revolution des Geistes gegen den 
Ungeist, gegen die burgerliche Leidenschafts- 



f - "* r-\ f \t\\t > Original from 

.yl»OOglt UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Ober neue Prosa 63 



losigkeit. £r ist etn so entflammter Kampfer, 
daB der MiBerfolg nur Sporn zum Erfolg, 
die Niederlage nur Steigerung des schopfe- 
rischen Wiilcns wird. Es ist der ziigellose 
Fanatiker gleichermafien aus den En gen 
der Politik wie aus den atherischen Regionen 
der Kiinste und des Geistes. Oberall zer- 
staubt er mit heftigen und weitreichenden 
Energien die saturicrte Phrase, Keine An- 
griffsstellung versaumt er. Er ist durchaus 
personHch und immer konzentriert im Be- 
streben, durch die barocke Schalc der Reali- 
tat an den kosmischen Kern der Seele heran- 
zukommen. 

Seine Prosa spiegelt diesen Eifer in einer 
seinem Fanatismus entspreehenden, kerne 
Konzession billigendcn Art. Sie wirkt so 
subjektiv und neu wie keine heutige. Mit 
derZerstorungderWirklichkeit als der gleich- 
giiltlgen Architektur unseres weltlichen Blik- 
kes reiBt er auch systematisch iibernommene 
Formen des dichterischen Auibaus cin. Dem 
banalen Auge erscheint sein Werk notwendig 



.,,L Original from 

1 d, v lOogie 



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<54 ^ ljer "de Prosa 



abstrus. Es raumt gebieterisch auf mit der 
Nebensache. Es zerteilt mit einem unerhdrt 
konsequenter: Anarchismus die existenten 
biirgerlichen Erscheinungen. Es riickt die 
Revolutionierung des Geistes in die Perma- 
nent. So stoQt er vor in die Tiefe, wo das 
Chaos liegt, so sttirzt er, was menschlipher 
Ordnungssinn als technischen Behelf sich 
errichtete, in Angst und ZwangsmaBigkeit 
mit gottlichen Rechten iiber sich baute, in 
die Aonen hinaus. Denn der Durchgang 
durch die Zertriimmerung einer kunstlichen 
Umwelt ist der Weg in die Klarheit — mag 
seine Philosophic sagen. Xch kann seinen 
Widcrsachcrn nicht beipfliehtcn, daft Schik- 
kele — und mit ihm die neue Jugend — ohne 
Totalitat sei, daB ihnen die beste deutsche 
Eigenschaft, „der groBe Eingang in Gott oder 
die Welt oder die Totalitat unvollicommcn" 
sei (Otto Flake; „Von der jiingsten Litera- 
tur", Neue Rundschau, September 191 5). 
Er und sie sind getragen vom Streben nach 
dieser letzten Totalitat, Sie haben sich dar- 



.,,L Original from 

1 d, v lOogie 



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Ober ncue Prcsa fiij 



an gemacht die Mauern vor Gott einzureiBen, 
sich hinaufzuschwingen in die gottlichen 
Reiche. Streben ist immer aus Unvollkoni- 
menheit. Indem sie aber den letzten Vor- 
hang des Tempels zerreifien, schicken sie 
sich schon an, das Allerheiligste zu betreten. 
Wo anders als dort, tm Ziel ihres hcftigen 
Suchens, ist Totalitat — also ein glimmen- 
der Funke davon auch im Wollen dieses 
Suchens. Und weil sie schreiten wie auf 
einem hochgespannten Seil, beginnend schon 
in einer Hdhe, die das letzte geradeaus vor 
das Auge stellt, so kann wohl ein Vorwurf 
sie treffen, daB ihnen die Steigcrung fehle, 
dafl der n grofie Eingang in Gott** nicht „ins 
UnvergeBliche, sondern insArmliche" wachse, 
Solche Armut tragt aber die strahlenden Male 
des Glaubcns an sich. 

Schon in seinem friihesten Buch lf Der 
Fremde", vollkommener damn im Frauen- 
trdster H BenkaT' erhartet Ren6 Schickeie, 
worauf es bet diesen Dichtern ankommt: 
das Viele, Vielformige und Vielinhaltliche, 



,,,|., Original from 



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66 Ober ncue Prcsa 



was ist, durch ein Haarsieb 2u schiitien und 
seine Essenz chne die nurasthetische GenuB- 
sucht, vielmehr mit dem Gefiihl panischer 
Lust aufzunehmen. Man wird linden, dafi 
die gebrauchliche Bauweise von These und 
Antithese kluglos aufgehoben wurde. Sckik- 
kele begann wohl selbst mit den einfachen, 
impressionistischen Mitteln seine Umwelt zu 
malen, Allmahlich aber ri0 er die Geruste 
ein, stretfte er ihr Wirkliches ab. Jener Kern, 
auf den eben es hier ankommt, der uoter 
der Kruste der Realitaten iiberall schlum- 
mert, jenes Sinnliche, jenes aus Phantasie 
und Vision sich Aufringende wuchs hinaus 
iiber Kleid und Mauer, funkelte. Das Aktive 
horte auf* Das Vegetabile der Vision, das 
Selbstverstandliche gewann den einzigen 
Raum, ohne gleichwohl die Spuren erdhafter 
Begriffe ganz zu verlicren* Um eine letzte 
Losung, eine Loslosung zu vollziehen; ist 
Schickele zu sehr Dichter, ein Stuck empi- 
risch, zu sehr im Blut des Lebens und der 
menschlichen Liebe geronnen. Nur ein ganz 



, I , Original from 

Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Ober neue Pros* 67 



aus dcrn Intellckt Schreibender konntc die 
Nabelschnur 2wischen sich und der Welt 
zerschneiden — Carl Einstein, als er sich 
itn ipBebuquin 11 vom Gefiihl befreite und den 
Versuch einer rein zerebralen Dichtung an- 
stellte, 

Nirgends wie in der anarchischen Zcr- 
schmctterung der alten Formen kommt es 
auf die Pers6n!ichkeit an* Halbheit als Er- 
satz ware der dauernde Tod. Schickele 
konntc den Umsturz wagen, weil die Vision 
in ihni machtig war, weil er gegen die Phrase 
das Ethos, gegen harte Substanz die gliihende 
Seele einzusetzen hat* Einstein aber zeigt 
den Abgrund, in den der starre Intellekt den 
Ehrgeizigen schleudert, der das warme Blut- 
korn verachtet. 



,,,!,» Original from 

1 .oogic 



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8. 

Zwei polare Figuren vcrdeut lichen das 
gesamte Bild, wenn sie auch nicht die 
entscheidenden sind. Es ist noch von Carl 
Sternheim und Gustav Meyrink zu sprechen. 
Wenn der junge Dichter sich hindurch- 
miiht durch den Stacheldraht der Welt und 
der Menschheit und sich in VerzweiHung 
gegen soviel allmachtige Verwirrung kehrt, 
sie urn hoherer Werte willen zu zertriimmern, 
so reitet Sternheim kreuzfahrerisch mit einer 
verbissenen Freude an, Er sammelt den 
lacher lichen Titaniden, der die Welt heute 
beherrscht, in ein burgcrliches Gebilde. Die- 
sem seltsamen Sarazenen entreiBt er Waffe 
und Schuppenkinn, Lendentuch und Sieg- 
geschrei — und zeigt ihn; weiter nichts: er 
zeigt ihn, erbarmungslos. Und die Fetzen 
cieser abgebriihten Haut brennen unter wil- 



Original from 

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Ober ticue Prosa 69 



der Schamrote* Zwar: Sternheim transpo- 
nierte das Rezept seiner dramatischen Ent- 
schleierung von Burger und Spiefler in seine 
Novellistik; mit nicht sehr anderen Mittcln 
als dort bricht er ihm die krampfhaft ge- 
schlossenen Fauste auf , die nichts umspannen 
ais giftigste Essenzen, Aber durch eine Kon- 
zentrierung alien Lichtes auf diese eine zen- 
trale Figur und durch eine Zerstorung aller 
Nebenreflexe schichtete er rasch das novel- 
listtsche Bild, Der Wesenskern des Burgers 
wird scharf strahlig aus der Fassung gebrochen . 
Ohne handelnde Entwicklung, knapp, ein- 
fach, brutal. An der Oberflache erscheint 
wahrhaft nur die Expression der seelischen 
Mot or en. Der Zweck, der fcige, dem die 
allgemeineVerlogenheit dient, wird entschalt; 
die anmaBende Heftigkeit der technischcn Be- 
heKe, der Errungenschaften, derSpekulation, 
des Geldes, Luxus werden ganz cinfach auf- 
gehoben oder in ihren zersetzenden Effekten 
beleuchtet* Immer nur gegen die Seelen- 
losigkeit der biirgerlichen Seele zischt der 



Original from 

I I ,; >gie 



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70 



Ober neue Prosa 



Karnpf schonungslos auf. DaB der Mensch 
die Dinge hat Gewalt nehmen las-en uber 
sich, statt uber sie zu befehlen, daB er Ball 
wurde der kleinen untergeordneten Krafte, 
statt ihnen das Diktat seines besonderen 
Geistes und Herzens aufzulegen — in diesem 
miindet das Sternheimsche Wort. Sein Kampf 
entladt wohl HaB. Aber wenn er auch aus 
Hohn, abgriindiger Skepsis, Bitterkeit und 
kaltgliihendem Spott stromt — ein Gott- 
Hches, eine elementare Sehnsucht streift 
durch seinen schnellen Atem dennoch hir.aus 
in das All, wo vielleicht, nein, er weifl es: 
der Geist in seiner magischen Inkarnation 
gelagert ist. 

Dem in solchcm Sinne ethischen Bermihen 
Sternheims war es hinderlich — und den 
jungen Dichtern wird es, freilich durch den 
Zorn der Spott^etroffenen, mit Bosheit im- 
mer wieder betont — : wie die konzentrierte 
Harte seines Stils jede Syntax uberrannte 
und mit den eisernen Hammern seiner Be- 
sessenheit jede giiltige Form zerschlug. (Kerr : 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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Ober neue Prosa *j\ 



„Liebermanr, sagt hcrrlich: ,Zeichnen ist 
Weglassen.' Jawohl, Aber Weglassen, Karl 
Sternheim, ist noch nicht Zeichnen. Es 
kommt darauf an, was einer weggelassen 
hat . . .") Sternheim laBt mitunter nur die 
Theorie stehen, Theoretiker der Form, Stil- 
former, der ein neues Zeitalter einleiten 
mochte. Er schrie den apostolischen Ruf 
„Kampf der Metapherl" in die literarischen 
Gelande und Bergwerke, zUletzt gleichwohl 
immer tiefer in die Stollen der Metapher stiir- 
zend, einer Abhangigkeit anhcimgegeben, 
gegen die er strafend wtitete. Jcdoch: man 
iibersehe das, weil es durchaus unwesentlich 
ist. Man mil he sich hindurch. Denn das 
Ende ist gut, wenn es auch hinter bizarren 
Wucherungen verborgen ruht. 

Die Antithese Sternheim-Meyiink ist leicht 
ablesbar: Sternheim deutet sich am Kon- 
kreten aus. Er zerschlagt die alte, iiberkom- 
mene Gestalt, das niichterne Gehause mit 
unerschiitterbaren Feststellungen. Alles 
wird gesagt. Nur den metaphysischen Rest 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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72 



Obtr neut Pros* 



sollt ihr selber erkennen. Meyrink aber 
zertriimmert die hohe Glocke des mystischen 
Himmels, der unser Wissen und Wiinschen 
einengt. Er dringt umweglos in den Kern des 
Abstrakten von Und einmal xnu0 er auf den 
Trakt stoflen, an dem Sternheim baut; denn 
die Ziele differieren nicht, nur die Wege. 

Man erkenne die hohe Gestalt des Chidhcr 
Grun im „Grtinen Gesicht". Sie umschlieBt 
die Meyrinksche Geistigkeit. In ihr kulmi- 
niert das Symbol seiner Dichtung. Bildhaft 
ragt ihre Struktur iiber das ganze Werk als 
ein massives Produkt zahlloser Lcgenden 
und Kulte — unbeirrt von deren Tendenzen: 
denn alles ist vermischt, nicht mehr herrschend 
(Kabbala, buddhistische, agyptische Mystik), 
weil seine Welt des Obersinnlichen Unter- 
schiede nicht mehr begreift* Aus allem ge- 
nommen, hat er — und ist er vielleicht — 
die Seele von allem, oder wenigstens (mit 
Goethe) „ihr Dasein in Tatigkeit gedacht"; 
unsichtbar~sichtbare Figur, seine Maske erz- 
haft oliven, da£ sie Gesichtern Vorzeitlicher 



, I , Original from 

■ 00 8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Ober n«ue Prosa 73 



gleich in schwarzgriinem Golde schimmert 
(griin, sagt Meyrink, ist an sich keine wirk- 
liche Farbe ... sie ist aus einer Mischung 
von Blau und Gelb entstanden . . . „Erkenne 
du aus diesem Beispiel, daB, wenn er dir 
als ein Mann mit griincm Antlitz begegnen 
sollte, sein wahres Gesicht dir trotzdem noch 
immer nicht offenbar 1st 44 ) und mit schwarzer 
Binde umhullt: nur Berufenen sei sein An- 
blick gegonnt; er reicht vom Gestern in das 
Morgan; vom Anfang in das unerforschte 
Gliick. Chidher Griin bedeutet Kopfwesen, 
geistige Macht des Unwlrklichen, Sammlung 
dessen, was menschliche Griibclei aus Ober- 
sinnlichem sog, und motorisches Zentrum der 
ganzen Magie. Denn — und das unterbricht 
die Star re seiner ewigen Existenz — er darf 
Reine zur Freiheit, Strebende zum Logos 
ftihren. Nicht ein einzelnes Beweisbei spiel 
genii gt Meyrink: er zieht eine ganze Welt 
in die hundertfache Strahlenbrechung seiner 
Linse. 

Aus dem Rembrandtschatten der Grach- 



r**. . , [,-, Oriqinal from 

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74 



Ober neje Prose 



ten flammt mystische Begierde: arme Kon- 
ventikler, Schuster, Schnapshandler, exal- 
tierte Weifaer, geschmiickt mit biblischen 
Namen, warten der Geburt des Geistme nschen : 
Sie und ein anderer Kreis, in dem die Scharfe 
der Ekstase durch Skepsis und Resignation 
gemildert wird, bindet der Wunsch: „Iieber 
alte Formen mit neuen Augen, statt neue 
Formen mit alten Augen sehen zu lernen." 
Erkenntnis ist noch nicht das Neue. Alle 
Wesenheiten sind unverloren und kehren 
wieder; ihr Ferment ist, was von innen 
kommt, das innere Wort — M der groSe In- 
nerliche". Zur letzten Konsequenz erf ii lit 
sich das Schicksal des Fortunat Kauberisser 
und seiner Geliebten, die den Stachel des 
Schmerzes brechen: erst miisse man sich 
die alten Augen aus dem Kopfe weinen, ehe 
man vermochte, die alte Welt mit neuen 
Augen Iachelnd zu betrachten. Das Rezept 
dieses Sieges heiBt : Am Anfang sei das Wach- 
sein, die vollkommene Anspannung des rei- 
nen Willens. Die als Erwachte sich erneuern 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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Ober neuc Prosa 75 



— sie haben nichts zu tun mit dem Reich 
der Toten, sie sind unspiritistisch, ihr Ziel 
ist „ewiges Sein" — darf der groBe Innerliche 
in die letzte Hohe f iihren iiber, nach Menschen- 
meinung, leiblichen und geistigen Tod und 
einen Gomorrasturm hinweg, der die Erde 
unter ihnen zu Splittern fegt. 

Chidher Griin wirft die Geschicke seiner 
Wesen durch alle Bezirke; Metaphysik kreuzt 
sich nut wirklichern Bestand: es gibt keine 
Grenzen zwischen ihnen, also auch keine 
Losung des Verbliiffenden, keinen Versuch, 
mit der Saure des Wirklichen eine Reaktion 
zu vollziehen. So bleiben die Begriffe — 
selbst dort f wo sie sich dem Barocken zeit- 
lichen Witzes verbinden — nur fiihlbar dem 
Oberempiriker von Meyrinkscher Einsam- 
keit. Unbestreitbare GroBe liegt im Moglich- 
wirken der Darstellung: in einem futurist! - 
schen Spiel (des Konkreten und Abstrakten, 
des Tiefschlafs und der hellen Sonne), das 
an Bluff hinstreift und plotzlich Tiefe auf- 
reiBt, uqverlegen um Effekt und Laune. 



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7<> Ober neue Pros a 



So korperlich stellen sich die transzendenten 
Begriffe auf, da8 kein Ernsthafter ihnen 
entrinnt und jeder, zweifelnd an der Wahr- 
heit seiner eigenen Existent, durch eine gei- 
stige Wiedergeburt schreitet. Dunkelheit 
ist zu uberwinden und als das zu nehmen, 
was sie tatsachlich ist: am neuen Stoff das 
ungeheuere Erlebnis eines weisen Mannes, 
der nach Worten strebt, es mitzuteilen, 
leicht aber am Unzulanglichen unseres Auf- 
nahmevermogens scheiteri. 



, if , Original from 

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Viele noch entladen unter edler Miihe die 
heftigen Erre gunge n ihrer Vision. Viele 
sind Schopfer aus dem Geist. Und einige 
auch von ihnen sind iiber die dunkle Grenze 
des Traumes hinausgekommen. Kafka, des- 
sen schone Starke es ist, ohne Zerpfliickung 
den Gehalt eines Gef uhles oder eines Augen- 
blickes zu sagen, hat mit vollkommener 
Durchdringung der Begriffe das ganze SiiQe 
und das ganze Bittere, das vor dem Tod ist, 
in eine geistige Dammerung gefaBt. Fur 
Gottfried Benn ist Metaphysik eine langst 
erfiillte, nicht mehr behauptete, sondern be- 
wiesene Welt, parallel unserer Wirklichkeit. 
Er steht ntittendrin mit einer an Brutal it at 
grenzenden Klarheit. Er identifiziert sich 
mit ihr. Benn wird selbst zum metaphy- 
sischen Element, das den Realitaten ihre 



.1 — Original from 

d :v, V lOOglt 



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yS Cber neue Prosa 



Farbe und Sprache entreiBL Diesseitiges 
und Jenseitiges zvl unerhortem Expressionis- 
mus serbricht. Die Stucke der alten Welt 
fliegen unter seinen Handen auseinandcr, 
um — hier wendet sich Benns negative Pro- 
duktivitat — an den Bruchflachen die Pole 
des Neuen zu weisen. In diesem Gestalter, 
den Gott selber aus vulkanischem Ton 
machte, steckt das Heimliche, Starke, den 
Mikrokosmos Erfassende des Unbelrrbaren, 
d. h. des Dichters, der die endlichen Zu- 
sammenhange schon mit dem ersten Instinkt 
ahnte. Auch Alfred Wolfenstein steckt voller 
Anschauung, Wissen, Kiihle des inneren 
Blickes und voller Klarheit uber die Wirrnis 
der Gefiihle. Gleichwohl ist seine Seele das 
konstruierende Element seiner (Gedichte und) 
Novellen ; in seiner Erfindung verkrampft 
er sich nicht in die Fallen des aufleren Man- 
tels, Paul Adler tragt den Giirtel eines reli- 
giosen Fluidums, Er vielleicht hat die Zeit 
am tiefsten begriffen und sie mit der groBen 
Einfalt seines Herzens in ungebrochenen 



("" r\f\t\h • Original from 

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Ober neue Prosa 79 



Linien aufgezeichnet. Ahnlich Martin Buber 
unter den Essayisten. Im Ringen um die 
neue Form und um den neuen Gedanken 
losten diese sich aus der trockencn Tradition, 
durchleuchtcten mit den Strahlungen ihrer 
Farbe die Sachlichkeit und erfiillten mit Blut 
und Bliiten, mit Farbe und Dichtung ihre 
hymnischen Autrufe. Ihre Einstellung sah 
das Vergangene neu und gab der neuen 
Kunst erkennbar die Begriindung vor alien 
Augcn. 

Diaser Versuch schnitt aus. Er loste den 
Augenblick aus semen Wurzeln. Er schrieb 
ein Streben auf, das vom Brand heiliger 
Willensfeuer durchglliht ist und teilhat an 
notwendiger Erneuerung. Es kann andere 
kritische Einstellungen hicrzu gcben, die 
zu vernichtenden Resultaten kommen. Aber 
nur, wenn das Mitempfinden ausgeschaltet 
wird. Wenn der Kritiker sich auf eincn Ob- 
jektivismus zuruckzieht, der gemaB den Ge- 
setzen historischer Kritik richtet. Man ver- 



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So Ober neue Prosa 



gesse nicht, dafl diese Bewegung ihren Aus- 
gang aus einem BHckpunkt nahm, aus einer 
Anschauung, die wieder ihre Berechtigung 
aus den S tran gen des Gefiihls zog t und das 
ist subjektivisch. 



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Tribtine 

der 

Kunst und Zeit 

Eine Schriftensammlung 

Herausgegeben 
von 

Kasimir Edschmid 



Berlin 
Erich ReiB Verlag 



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I | ,; »gie 



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DaG schon vor Jahren Ansatze bestanden 
zu einer Bewcgung, die auf ncues Welt- 
gefiihl aus ist in den Ktinstcn, das ist be- 
kannt. Dafl die Bewegung durehdrang, weiB 
jeder. Es w&re Albernhcit, hier noch Fanfaren 
zu blasen. Dringlieher erscheint es heute, wo 
jeder Greis „Stellung ninnit* 1 , jeder Jiing- 
ling Unertragliches schwarmt, den ganzen 
Komplex zu iiberschauen; woher das Neue 
kam, wohin es will — keine Schlagworte zu 
prSgen, sondern besonnen das Eigentliche zu 
sagen — nicht riickwarts zu referieren, nicht 
zu wiederholen und auf keinen Fall zur 
Theorie zu kommen ♦ . * sondern auszusagen, 
zu bekennen, darzustcllen, zu wiinschen und 

zu postulieren und so bei aller Weit- 

heit des Rahmens dennoch zur Rundheit zu 
kommen. Nic stand cler Kunsiler so mitten 
in der Welt wie heute. Nie lief in so un- 
geheurer Tragodie die Veranwortung so bin- 
dend zwischen ihm und der Zeit. Vom 
Kiinstler aus geschen, mit der Kunst als 
Zentralproblem, wird jede Darstellung lieu- 
tiger Ziele eine Darstellung der Zeit; Poli- 



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tisches t Rcligioses, Forderunghaftes mischcn 
sich, kaum zu trennen, ja unlosbar mit den 
Fragen der Kunst Kiinstler mit ihrer Kon- 
fessiou, Gelehrte, die Sachltchos dichterlsch 
zu sagen wissen, Essayisten, die nicht spie* 
Ie/isch H zerfasern"» sondcru produktiv im 
eigentlichenSinn derKritik aufbauen, schrei- 
ben hier an einer kleinen Gcschichte unserer 
Kunst und unserer Zeit. 



Bisher sind erschienen; 

Kasimir Edschmid: Ober den Expression 
nismus in der Literatur und die neue 
Dichtung 

Wilhelm Hausenstein; Ober Expressio- 
nismus in der Malerei 

Theodor Daubler: Im Kampf um die mo- 
derne Kunst 

Walter Muller-Wulckow: Neue Archi- 

tektur 
Paul Bekker: Neue Musik 
Max Krell: Ober neue Prosa 
I w an Go 11: Die drei guten Geister Frankreichs 



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In rascher Folge wcrden u. a. erscheinen: 

Kurt Pinthus: Das neue Theater 
Kurt Hiller: Aufruf an junge europaisehe 
Genies 

Friedrich Markus Hubner: Philosophi- 

sche u. moralische Grundlagen neuer Kunst 

Alfred Wolfensiein: Neue Lyrik 
Willi Wolfradt: Heutige Plastik 
Gustav Hartlaub: Neue Graphik 
Fritz von Unruh: Das neue Drama 
Rudolf Leonhard: Gespracheiiber heutige 
Jugend und Kunst 



Subskriptionen und Bestellungen 

iiimmt jede Buchhandlung Oder der 

Verlag entgegen 




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1 .oogic 



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Tribune 
der Kunst und Zeit 

Eine Schriftensammlung 

Herausgegebcn von 

KasimirEdschmid 



VIII 

Rene" Schickele 
Der neunte November 

Mit cinctn Nachwort und cinem Anhang 



Berlin 

Erich ReiB Verlag 

1919 



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Der neunte November 



von 



Ren6 Schickele 



Mit eincm Nachwort und eincm Anhnng 



Zweite bis fUnftc Auflage 



Berlin 

Erich Rei B Verlag 

1919 



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Spamcrschc Buchdruckeui in Lcip 



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Motto: 

Vtrhohnuttg dutch die Hausticre 

Ihr Geistigen, furchtet ihr cuch nicht vor dem Werk t das itir 
beginnen woilt, uric vor dem Tod? 

Stcht ihr nicht oft von der Arbeit auf wie aus dem Grab? 

Schwankt ihr nicht den Weg vom Schrcibtisch turn lictt und 
seid verbraucht, verwi\stet % zcrschhtgcn % ats hdttet ihr socben in 
det- vier Stundcn euer ganzes Leben gefebt? 

Stetll Ditch nicht der zufdlligc Wick eittes Unbekanuten auf 
dtr Straflfi vor die Ltzten Fragcn % so dafl ihr nicht wetter 
ktinnt and cuch an die. Wand tehnt t hatb ohmntlchtig vor Er- 
schiitterung? 

Oeht ihr nicht hcrttw, *)hnc Sehaitcn und wie vetioten, und 
tiegt schtaflasi weit e% each nicht grliitgt, titter Fordcrung an 
die Menschcn den Giftstavhet xu nehmen? 

I-'ilhtt ihr nicht i vor Vngerechtigkeit und Gcvtatt r ntit kattem 
Schwcift auf der Stint, das IiachcbcdUrfnis Jwranxichcn wie 
eincn epilepiischen An fall? 

IMraehtet ihr nicht , mil muhsamem Ldchehi, cure If dude, 
bis die- Lust £H wiirgrn aus inner* cnUvichcn i$t? 

Lcbt ihr nicht so in nig wit dem Tier, daft vieifUitig sein 
Tfich itt cuch widerhaVt? 

Datum vcrsteht ihr den Staatsstrcich des FseLs, der sich turn 
Ixonig der Tierc ausricf: es war ihm geitntgrn, sein ^J-A 11 so 
hack zu zilthten t dap die V other damns ein Ifauch von Gottvs 
Wort anwehie, Und die Schlauheit der Wolf&hunde^ die ein 
Attge iudriichen und ihm divnen, weit sic mit ihm Gott auf ihrc 
Seitc gebratht habrn. 

Datum versteht ihr dax toil gewordene Lamm, das in seiner 
panischen Angst den Tiger srth&t erschrecht. 

Die Ilaustiere hrdnken each nicht \ wnn sic t urn attch einmal 
ihr en Spafi xu haben t cuch cinladen $ ihnen aits der Hand £U 
fressen t weit ihr so front m seid. 

/?, S, t „Die Gcnfcr Reise". 



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Die Frucht fallt 

Wir machen, auf dem Heimweg, halt* 
Es ist am Freitag, den 8, November, 
irn alten Westen, spat abends, Im Haus 
Viktoriastrafie i richten Jager ihre Ma- 
schinengewehre ein. Der Oberkommandant 
in den Marken hat die J ungens nach 
Berlin beordert, urn die Revolution nieder- 
zuknallen. Sie stellen die Feuerbiichsen im 
Vorgarten auf und schaffen die Munition 
iiber den Platz, in dessen Mitte der ver- 
steinerte Roland in Ewigkeit strammsteht* Die 
grauen Munitionskasten haben graue Autos 
gebracht, deren Chauffeure Zigaretten rau- 
chen und gelassen die Vorgange betrachten. 
Die Jager unter den Stahlhelmen, die die 
Knabenhaftigkeit dieser Soldaten noch ver* 
deutlichen, bummeln hin und her zwischen 



-I— Original from 

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io Der nsunte November 



dem Auto und dem Eckhaus, aus dem sie 
morgen schieBen sollen, ein Feldwebel blickt 
angestrengt in den HimmeLund hofft, daB 
ein Sternbild seine Zweifel lose, vier Schutz- 
leute drehn sich langsam und mit groBen 
Liicken im Gesprach um die Frage, welches 
Morgen sich unter den Sturmhauben der 
kleinen Jager verberge. Nicht gibt ihnen 
GewiBheit, daB die Munitionskasten, einer 
nach dem andern, an ihnen vorbeiwandern. 
Die Helme sind so, daB man den Jungens 
nicht ins Gesicht sieht. Keine Maske konnte 
ein Gesicht besser verbergen. 

Ein Trupp Madchen blunt, wunderbar, in 
der BellevuestraEe au£ und fallt schnur- 
stracks in den Vorgarten des Eckhauses 
Glekh sind die kleinen Jager geschmiickt 
und schon halb berauscht. Man lacht und 
bewegt sich wie zu eirxem Menuett den 
Biirgersteig hinauf, den Biirgersteig hin- 
unter, nach rechts und nach links. Die vier 
Schutzleute nehmen die Haltung des Roland 
an, sic stehn regungslos in einer Reihe uber 



f~* i-\f\t\li • Original from 

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Der neunte November IX 

dem Schiebetanz der Soldaten und M&dchen. 
Sie ragen. Versteinert. Ein Denkmal der 
Urzcit. Ihrcn Sockel umglanzt, weithin, der 
Asphalt. Und das Auto unten kann warten. 
Die Chauffeure unten ziehn eine Zeitung 
heraus und lesen. Eine religiose Stille um- 
giht die Kinder beiderlei Geschlechts, die 
einander in einem leisen Reigen ernsthafte 
und folgenschwere Artigkeiten sagen. Sie 
schweben zwischen Unten und Oben. Sohwe- 
bend lassen sie sich gehn — sie wollen gar 
nicht wissen, wohin. 

Nach einer Viertelstunde stecken die Kraft- 
fahrer die Zeitung ein und inachen sich ohne 
weiteres davon. Der Bann ist gebrochen, 
weithin kommen die Dinge in FluB. Die 
Schutzleute wechseln den Gegcnstand ihrer 
Aufrnerksamkeit. Sie machen M Links kehrtl u 
und glotzen dem Auto nach. Es ist schon 
lange veischwunden, da ragen sie noch 
irnrner, in einer Reihe, den Blick in die 
Feme gebohrt, in die das Auto gestiirzt ist. 
Dann raten sie einander, mit einem Blick, 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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12 Der ntuntc November 

„Ruhrt euchl", murmeln etwas und setzen 
sich unauffallig in Bewegung. Weg sind sie, 
nicmand will wissen, wohin. Die Madchen 
schieben unter jeden Stahlhelm einen Kufl. 
Halt er, der Kufl? Sie befestigen ihn — fur 
jeden Fall — und machen sich auf den Weg 
die Siegesallee hinunter zum Reichstag. 
Dort liegt das nachste Kommando Jager. 

Die bis an die Zahne bewaffneten Jun- 
gens drucken sich durch die Gartenpforte 
des Hauses Viktoriastra3e x« Sie wollen 
schlaien gehn. Sie werden gut schlafen. 
Noch nie, seitdem sie vom Krieg gehort 
haben, noch nie waren sie so friedlichen, so 
zufriedenen, so heiteren Gemiits. 

Darf man rnit euch reden ? Wir mochten 
wissen, ob ihr morgen schieBt. 

„Wir sebieflen?! Morgen zwischen zwei 
und drei kommen die J ugendlichen und 
holen unsere Waffen, Am Abend fahren 
wir nach Hause," 

Das ist ein Wort. Damit laBt sich munter 
nach Hause gehn. 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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Der neunte November 13 

Morgan legt der deutsche Michel scinen 
Helm ab und geht nach Hause. Morgen. 
Am neunten November. Von dem es in 
den Schulbiichern heiBen wird: M Neunter 
November, Ausbruch der Revolution." 

Und was geschieht am neunten November, 
wie vollzieht sic sich, die Revolution? Die 
Maschine bleibt von selbst stehn. Der Atem 
ist ihr ausgegangen. Fertig. Mag nun die 
Welt am deutschen Wesen genesen oder 
nicht. Der deutsche Michel ist es miide, 
mat iiberspannter Muskelkraft nachzuhelfen, 

Dae Soldaten bis zum Feldwebel aufwarts 
erhalten die Revolution umsonst. Aber die 
0rfi2iere bezahlcn mit einer boson Viertel- 
stunde. Man reiBt ihnen die Achselstiicke 
ab, mitten auf der StraBc, und die Kokarde, 
und reiBt ihnen den Sabel vom Leib. Die 
sich dleser nicht nur dekorativen Symbole 
freiwillig entledigt haben, riihrt keiner an* 
Die andern lassen, bleich und zahneknir- 
schend, mit sich geschehn. Das Publikum 
applaudiert. Der Kasernenhof hat sich in 



r**. . , [,-, Oriqinal from 

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14 Der neuntc November 

die StraOen ergossen und laBt sich seine 
Rache schmecken, Ich mache mich aus 
dem Staub. 

Gegen drei Uhr riickt die rote Profession 
in der ViktoriastraBe an, ein Trupp Madchen 
und Burschen dringt in dert Vorgarten des 
Eckhauses ein im selben Augenblick, wo die 
kleinen Jager brav ihren Maschinengewehren 
zu£treben, Ihr werdet doch nicht — ? In 
einer Minute ist die Angelegenheit erledigt. 
Gewehre und Mitrailleusen auf der Schulter 
schlieflen die Jugendlichen sich dem Zug an, 
der nicht gestockt hat, und ihre behelmten 
Kameradcn — knapp achtrehnjahrig, Spiel- 
genossen — ! kehren ins Haus zuriick und 
holen ihre „Sachen" . . . So einfach ist das 
Leben! Eine Viertelstunde spater traben sie, 
mit einem Strahlen, das ihnen wie ein Bart 
unter dem Sturmhelm heraushangt, zum 
Bahnhof. 

Auf dem Potsdamer Platz fahren die rot- 
geflaggten Autos auf, einer halt eine Rede, 
die keiner versteht, alle rufen dreimal 



.,,L Original from 

1 lOogie 



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Der netmte November 15 



„HochI", der Wagen knattert weiter, und 
das nachste rotgeflaggte Auto stemmt den 
nachsten Redner. Blitzblank, schon, ge- 
winnend und sehr wurdig sind die Matrosen, 
die auf dem Trittbrett mitfahren. Sie sind 
noch vom ersten Aufgebot . . . Die Masse 
kommt angeschwemmt, flutet iiber, sie staut 
sich, wo eine Insel, ein Wehr entsteht, darauf 
ein Redner auftaucht, nimmt, ohne dafi sie 
im Larrn ein Wort zu verstehn brauchte, 
die Verkiindigung seiner Herrschaft ent- 
gegen. Und mi£St t weiterwandernd, die Stunde 
seines Geburtstages und blickt selig drein. 

Mitten in Berlin, so in der Mitte wie noch 
nie, liegt der Reichstag. Er gehort den Sol- 
daten. Sie purzcln herein und wollcn wissen, 
was los ist. Was mit ihnen zu geschehen 
habe. Wie und wo sie Ordnung in das fest- 
liche Durcheinander bringen pollen. Einen 
Ausweis verlangen sie, Brot und Munition. 
Zu den Fiifien Wilhelms des GroCen in der 
Mitte der Halle liegen die Maschinengewehre 
aufgehauft wie altes Eisen. Matrosen in den 



.,,L Original from 

1 d, v lOogie 



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I ft Der neunte November 

Klubscssem ptitzcn xhre Gewehre. Andre, 
die meinen, dafi es nun geschafft und eine 
Ztgarre erlaubt sei, haben ihre Glieder im 
weichen Leder gelost und ruhn Im siebenten 
HimmeL Andre schlafen. Wir lassen uns 
im Sitzungssaal des Bundesrats niedcr und 
fullen Waffenscheine aus. Matrosen sam- 
meln sie ein und tragen sie zum Vollzugsrat, 
wo sie unterschrieben werdcn. Dann ver- 
fassen wir Plakate und Flugblattcr. Dann 
durchsuchen wir das Haus nach den Fiihrern 
und Delegierten, die gebraucht werden. Wir 
finden sie, aber es ist unmoglich, sie fiinf 
Mtnuten beisammenzuhalten. So nimmt die 
Suche kein Ende, SchlieSlich kcnsolidieren 
wir uns als A.uskunftsstellc. „Zimmer 15, 
Zimmer 3 a, den Gang entlang, die Treppe 
hinunter, die Tur rechts." Fur die einen 
braucht der Hauptling nicht immer da zu 
sein, die crnsthaftcren Pfadsucher fiihrt man 
zu iiim. Welche Enttauschung, wenn auch 
er nicht Bescheid weiB oder nicht sofort, auf 
derStelle, helfen kinnl Welche Genugtuung, 



, I , Original from 

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Der neunte November 17 

ihm die Hand gcdruckt 2U habcnl Wir tun, 
was wir konnen, aber was wir konnen, ist 
so gut wie nicbts. Was Umwulzendes ge- 
schieht, geschicht von selbst. Wir sind die 
flciQigen Statisten. Es gibt koine Pausen. 
Manchmal findet eineft cin Stiick Brat in 
seiner Tasche, das man tcilt und verschlingt, 
Es gcht zu p wic cs immcr zugeht. Bercits 
crregen, bereits weiden die Prcrnierentiger 
sich in Geriichten von gegenrevolutionaren 
Anschlagen. 191 4 warfen die Franzosen Bom- 
ben auf Niirnberg, jetzt haben sich, ebenso 
amtlich verbtirgt, Offiziere im Dom ver- 
barrikadiert und schicfien. 1914 waren es 
die Goldautos, jetzt ist es die Potsdamer 
Garnison, die auf Berlin marschiert. 

Alarm! 

Nach Mitternacht rasseln Kraftwagen auf 
den Potsdamer Platz. Jeder, der die Hand 
ausstreckt, erhait ein Gewehr, eine Pistole, 
einen Sabel. Das Volk wird bewaffnet 
Matrosen sperren den Potsdamerplatz und 
die Seitenstraflen ab. Das Volk soil kampfen. 



r**. . , [,-, Oriqinal from 

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18 Der neunte November 

Urn drei Uhr, heifit es, werden die Potsdamer 
zur Stelle scin. Gan? Berlin ist entschlossen, 
sich zu wehren bis auf den letzten Mann. 
Aber tla niemand sie weckt, bleiben die Pots- 
damer in ihrem besten Schlaf. Nach einer 
Stunde wachen nur noch Patrouillen und 
Huren. 

Im August 19x4 ubernahm die Zensur das 
Kommando tiber die deutsche Presse, Die 
Spartakusleute sind bescheidener; sie be- 
setzen den „Lokalanzeiger" und drucken die 
erste Nunimer dcr „Roten Fahnc". 

Ein Frcund bekommt vor lauter Gliick 
einen Weinkrampf, als em Haufen Schutz- 
leute en t waff net, wie gepriigclte Wolfe mit 
ausgebrochcnen Zahnen, vorbeizieht. M DaB 
man das edcbt!" 

DaB man das erlebt. Urns Himmels willen, 
sorgt dafiir, daO es so bleibtl Stellt die 
Republik auf die Beine. Schafft, ohne eine 
Minute zu zogern, den Apparat, der einen 
Staat schafft und ihn erha.lt. Da liegt, von 
Triimmern bedeckt, der weite Platz. Saubert 



r^/-\ir\afi > Original from 

' °°8 K UNIVERSITYOFMICHIGAN 



Der neunte November 19 

ihn und errichtet darauf die neue Stadt* 
Und beginnt sofort, um euch selbst zu be- 
statigen, wenn auch nur da rum, und damit 
man euch glaube, mit der Verstaatlichung 
der Betriebe. Beginnt, zum Beispiel, mit der 
Nationalisierung der Riistungsindustrie. Kein 
Burger wird mit der Wimper zucken, nicht 
einmal der Aktionar, den schon lange das 
Gewissen driickt. 

Die Revolution des neuntcn November 
war der Zusammenbruch der Autokratie, 
Die Autokratie erklarte sich selbst fur ab- 
getan, Sie trat, kampflos, ab. Am selben 
Tage begann die sozialistische Regierung die 
Dekrete zu erlassen, die der Demokratie die 
Tiire offnete. Der Demokratie. Der neunte 
November war, in ihren Handlungen, eine 
biirgerliche Revolution. 

Hierauf, Sozialisten, ware es an der Zeit, 
Ernst zu machen. Zogern wir, so versuchen 
es die Spartakusleute mit dem Dreinschlagen. 
Alls wissen, dabei ist viel zu verlieren, keiner 
weifl p was zu gewinnen. 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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20 Der ncuntc November 

Inzwischen feiern wir. An diesem cincn 
Tag wurde an Freiheit mehr gewonncn, als 
in (iinfzig, in kundert Jahren erhandelt 
worden ware. Wir feiern. Fetere audi dul 
Feiert allel Mit alien Abzeichen der Freude 
gleitet in die Masse. Blickt nicht nach rechts, 
nicht nach links, laBt nicht eure Sorge sich 
im Sprung iiber den Jubel hinwegsctzen, be- 
wahrt den Gcdanken an das russische BeU 
spiel fur niorgen, zieht den warnenden 
Finger ein, der sich erheben will. Wir sind 
keine Russen, keine Brussilbw-Offensive ist 
auf uns zuriickgeprallt, hinter Ebert und 
Haase rurnoren nicht die Heinzelmanner, die 
Kerenski und Martoff die Fersen geheizt 
haben . . . Bitte, danke, jauchze, liberlasse 
dich fraglos dem Wunder, denn nie, nie 
wieder haltst du und tragst durch entziickte 
Straflen das Geschenk eines solchcn Tages. 
Geniigt es dir nicht, so sprich es aus, — nur : 
sage es droben, auf der Festtribline t hoher 
treibe mit deiner Rede die Freude, steigere 
sie dem Ideal entgegen, fordere mehr an 



,,,!,, Original from 



UNIVERSITY OF MICHIGAN 



D«r ncunte November 2 I 

Gliick, aber machc es nicht schlecht, das 
Cluck, weil es eben erst begonnen hat. 

Jetztl 

Jetzt, jctzt. Endlich. Jetztl 

Die neue Welt hat begonnen. Das ist sie, 
die befroite Menschheit! Das Bild von Sai's 
hat sich cnthullt, Ein Gesicht erschcint im 
Atmospharenwust der Angst und Luge: das 
Gesicht des Mcnschen. Das Gesicht einer 
Kreatur, iiberirdisch glanzend. Davonflie- 
gend im licht. Und dennoch, erdhaft ge- 
bunden, cincr Krcatur. Jctzt macht er Ernst, 
der Mensch. Endlich. Ernst mit sich, der 
leben will fiir soin Gliick, Es gibt nur das 
eine und untcilbare Gliick des Menschcn, 
an dem alle tcilhaben, die des Morgens cine 
menschliche Stirn heben vor dem aufziehen- 
den Tag und den Mund bewegen zu Xautcn, 
die fur seinesglcichen das Erkennungswort 
sind im kosrnischen Tumult. 

Jetztl Beginnen wir t befreit vom Gepack 



r^/-\ir\afi > Original from 

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22 Der netmte November 



des Mittelalters, den Marsch in die NeuzeitI 
Los! Von selbst, wie ein FluB, enteilt der 
Zug der Kameraden und biegt um die Ecken 
und entdeckt immer von neuem den Horizon^ 

Ich rufe die Namen von Freunden, die, 
durch den Krieg versprengt, Rehofft haben 
in alien Demiitigungen und Niederlagen. Was 
sage ich? Gehofft? Geglaubt haben sie, das 
ist tausendmal mehr. Wie undeutliehe Funk- 
spriiche haben unsere Zuruf e einander erreicht 
in diesen unsaglichen Jahren ; Irrwische, spre- 
chende, des Glaubens, hinflitzend iiber den 
Blutsumpf, Kaum wuBte man, von wem das 
Zeichen kam, nur: daB es das Gedenkeji 
eines Freundes war, der litt und, vor der 
talschen Glorie der Zeit verkrochcn, sich 
bereit hielt, indem er Gutes tat. 

Wie tateit wir Gutes? Mein Gott, es war 
nicht viel, es war elendes Machwerk der 
Giite. Kaum, daB wir durchdrangen damit. 
Als ob wir auf einer Halbinsel verbarrikadiert 
gewesen waren, zwischen speienden Vul- 
kanen, in Waldern, die an einem verpesten- 



r^/-\ir\afi > Original from 

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Der neunte November 23 

den Ausschlag gelitten, in der Gesellschaft 
menschenahnlicher Phantome, die, der Ver- 
nichtung kaum entronnen, sich noch zu 
dcutlich erinnert hatten. 

So blieben wir auch in der Entfernung 
unter ihnen, die totcten und sich toten 
lie Ben, dicnten ihrem Leben, dcm geistigen 
und dem kdrperlichen. Ihnen, den Wahn- 
sinnigen, zum Trotz, und um uns vor An- 
steckung zu schiitzen, um den Menschen 
nicht zu vergessen, iibten wir, Kinder der 
neuen Zeit, und ein wenig wie Kinder im 
Dunkel die Angst versingen, iibten das 
Alphabet der Menschlichkeit ... So war 
unsere Gute, nicht mehr. Sie war, genau be- 
sehn, die primitivste Form der Selbst- 
erhaltung, 

Freunde, es war eine elende Zeitt Zum 
zweitenmal iiberiebte ich sie nicht. 

Freunde, es war, im Vergleich zu dcm, 
was unsere Kameraden in der Feuerlinie an 
Blut und Kot zu wiirgen hatten, ein Rentner- 
leben. Eine Villeggiatura. Ferien. Mit cr- 



.,,L Original from 

1 d, v lOogie 



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24 Der neunte November 

hebenden Genugtuungen, herzhaften. Dabci 
licfl sich leben, wenn auch nicht arbeiten. 
Traumen lieQ sich, wenn auch nicht leben. 
Immerhtn, es KeO sich allerhand arbeiten, 
was iiber die krasse Wirklichkeit des Gc- 
schebens vvie mit Opiatcn, aber auch mit 
grofien, mit denkwiirdigen Signalen: „Das 
Ideal lebt noch!" hinweghalf. 

In der engen Stube eines Hauschens auf 
dem Schweizcr Ufer des Bodcnsees, das ich 
bewohiiCj sitzt Leonhard Frank und liest mit 
aufgesperrten blauen Augen, unter dencn 
das harfre GeifJlergesicht sich wciB verkrumclt, 
cine Novcile. Es ist der ^Kcilncr* 1 (spater 
fl der Vatcr" uoigcnannt) , die erstc jener 
kaltheiBen Anklagen, die er spater unter 
dem Titel; ,,Der Mensch ist gut'* hcraus- 
geben wird, Schnell in die Druckerci da- 
mit, fur die „WeiCen Blatter", und hinaus 
mit den Heften nach Deutschland, Frank- 
reich, Italien, England und Ostcrreich, dafi 
sich das Echo runde! Carl Sternheim schickt 
„TabuIa rasa", nach ,,1913", diesem glan- 



r^/-\ir\afi > Original from 

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Der neunte November 25 



zendsten deutschen Beitrag zur Vorgcschichte 
dcs Kricgs, die fruhsreitige Warnung vor der 
Anpassung dcs Proletaries an den Bourgeois. 
Von Heinrlch Mann kommt n Madame Le~ 
gros", von Werfel ,,Der Traum einer neuen 
Holle", der wunderbare „H6lderIin" von 
Gustav Landauer, wilde Aufschreic von 
Bccher, Zornrede von Ehrenstcin, beschwo- 
rende Gedichte von Daubler, Leonhard, 
Hasenclever, Wolfenstein und vielen, vielen 
andern jungen Dichtcrn: Kameraden, alle, 
die sich als solche fiihlen, sich als solche 
bev/ahren, allcl In triiben Zurcher Tagen 
flammt Rubincrs „Himmlisches Licht" auf, 
Ich crhalte ein noch ganz frisches Exemplar 
des „Fcuers*' von Barbussc. Zwanzig Seiten, 
aus dem Buch gerissen, gehn an Hugo Ball: 
schnell ubcrsetzen! Und in die Druckerci* 
Die Korrekturcn schon fliegen, in einigen 
Dutzend Abziigcn, nach Deutschland. Zur 
gleichen Zeit bringt die Post ein Manu- 
skript aus Davos, von eineni kranken, un- 
garischen Offizicr: „Heldcntod" von Andreas 



Original from 



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26 Der neunte November 

Latzko. Der Kreis wachst und verzweigt 
sich jenseits der Grenzen . . . George Du- 
hamel beschreibt das „Leben der Martyrer", 
Raymond Lefebvre und Vaillant-Couturier 
zeigen ingiimmig, wie der „Krieg der Sol- 
daten" aussiehi, das, was der Burger kollernd 
,,Krieg' f nennt, was die Soldaten drauBen 
tun, den Krieg, wie er gefiihrt wird , . , 

Wie gern ga.be ich zu, daB wir feig und trage 
und selbstsiichtig gewesen seien, wir, die, 
den Haschern entronnen, glaubten nicht mit- 
kiimpfcn zu durfen, auf welcher Seite, fur 
wetchen Vorwand immer. Aber das ware 
eine Luge. Feig waren wir nicht. Nein. 
Auch nicht trage. Und selbstsiichtig nur in- 
sofem, als wir oft krank und auf uns an- 
gewiesen waren. V'elmehr lie Ben wir es uns 
viel kosten, geduldig zu bleiben und, nichts 
als ein Maulwurfhaufen in der bengalischen 
Bcieuchtung des falschen Heldentums, die 
Dunkelheit und die Stille um uns zu prtifen, 
ob wir wahrhaftig seien . . . Wir hatten 
nichts fur uns, nichts, als die Zweideutigkeit 



, , , I, , Original from 



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Der neunte November 27 

und das Dunkel unserer Lage. Als diese 
Stille. 

Freunde haben mir gesagt, dafl sie in 
so'cher Stille durch das Sperrfeucr gewandelt 
seien . . . 

Plotzlich aber geschah es. Endlich, Was? 
Das Ungcheuere. Das FHigelbreiten, groB 
wie im Traum, und die Erhohung. 

Jetzt fangen wir an. Wir sind beisammen, 
du und ich und alle Kinder der Erde. Durch 
unsern einmiitigen EntschluB allein schaffen 
wir das Elend aus der Welt. Die Trauer. 
Den bosen Zorn. Und, mit dem frechen 
Glanz des Herrn, den bittern Auf stand des 
Sklaven, der der Herr sein mochte, um 
nicht langer der Sklave zu sein. Der Unter- 
weisungen und Gesange waren genug: in 
den Ti'ummern des Zusammenbruchs liegt 
das neue Werk und wartet, handgreiflieh, 
dafl es getan werde. 

Der Tag der unromantischen Verwirk- 
lichung ist da. Jetzt ist die neue Zeit da, 
die sozialistische. Es wird erklart: Die Erde 



.,,L Original from 

1 d, v lOogie 



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28 Be** neuntc November 

gchort den Menschen. Alle Menschen sind 
gleich vor ihrcr Erdc, Allen gch&rt sic zu- 
gleich. Jcder hat, urn sie 211m hSchstcn 
Bliihen zu bringcn, das gleiche zu leistcn, 
alien gehoren die Friichte zugleich. Und cs 
w ; rd mit den MaBnahmen begonnen, die 
diese Gleichheit der Erntevertcihing ebenso 
sichcrstcllon, v/ie die Gleichheit in der Arbeit, 
Wic wird damit begonncn? Auf cine Art, 
die klcinbiirgcrlich und pedantisch aussicht, 
die in Paragraphcn einhermarschiert, was 
iramer cin pcinlichcr Anblick ist> mit polizet* 
haft aussehenden Avantgardcn vorn und 
viol Troll hintcrher, auf die Art, wie Menschen* 
horden sich nun cinmal fortbewegen, wenn 
sic auf dem Marsch sind und der eine Trupp 
vor dem andcrn durch Ordnung geschiitzt 
sein will . . . 

Am Marstall wird geschosscn* Jedcr 
SchuB sagt, wie ein mystisches Kommando, 
das von weither kommt, ohne an Eindring- 
lichkeit das geringste eingebuBt zu habenr 

la vier Wochen muB der Sozialismus be- 



, . ,..!,, Original from 

I byLjOOgle 



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Der rteunte November 29 



gonnen haben, wcrktatige Arbeit a Her fiir 
alle zn sein — oder Europa verfallt der 
Barbarei. 

In vier Wochen muQ mit der Vergcsell- 
schaftung der Produktion begonnen sein — 
oaer Wirtschaft, ZiviHsalion und Kultur 
gehn in Bandenkampfen unter. 

Jetzt, endlich, ist die Menschenfrage klar- 
gcstellt: willst du fiir dich leben oder gegen 
dichr* 

Klargeworden ist, daB jeder gegen sich, 
gegen seine Art lebt, der nicht zugleich fiir 
den Mitmenschen lebt, Der einc und un- 
teilbareMcnsch ist — in wclcherNotl — seiner 
bewuOt geworden, 

Scht im Sozialismus nicht die Erfindung 
eifernder Rabbincr, noch den Schwarm roter 
MeBknaben, noch das Ressentiment einer 
Klasse. Seht in ihm die einzig menschen- 
wiirdige Ordnung der Gescllschaft. 

Jetzt oder nie haltet euch an das kom- 
munistische Manifest, das erklart: „AHe 
bisherigen Bewegungen waren Bewegungen 



.,,L Original from 

1 d, v lOogie 



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30 Der neunte November 

■ ■ — -------- — 

von Minoritaten, aber im Interesse von 
Minoritaten. Die proletarische Bewegung ist 
die selbstandige Bewegung der ungeheuern 
Mehrzahl im Interesse der ungeheuern Mehr- 
zahl." Jetzt muB die ungeheuere Mehrzahl 
zu ihrem Recht kommen. Und dann erst 
unsere Minderheit. Dann erst der ewige 
Einzclne und seine Eigenart, Dann erst, 
dann aber auch die Minderheit der Philo- 
sophen, Kiinstler und aller Geistigen, dieun- 
ausrottbar ist, wie der Traum und die Liebe, 
und ohne die das Leben ein einziger triiber 
Tag ware und eine Nacht ohne Sterne. 



Am andern Tag 

Mit drei Gerauschen stellt Berlin sich an 
meinetn Bett ein. Ein Hahn kraht, die 
Elektrische schnurrt, ein Maschinengewehr 
knattert. 

Gestern war der Aufschwung. Gestern 
war die Verbriiderung. Tief unten im Sumpf 
versank der Krieg, weithin versanken, mitten- 



, I , Original from 

1 °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Der neunte November 31 



drill, die gepanzerten Kommandoposten : 
winzige Geldschranke* Am Abend zogen die 
Berliner in tapferer, vertrauensseliger Kind- 
heit durch ihre Strafien und zeigten sich ein- 
ander. Durch die selben Strafien, die sie bis- 
her mit ihren niiirrischen oder frcchen Ge- 
sichtern, Hirer Hast, ihrcm herausfordcrnden 
und entwiirdigenden Witz ernicdrigt batten. 
Gestern war Feicrtag. Wie er alle paar Jahr- 
hunderte einm.il dieSchleusen dcr geknech- 
teten und verdorbenen Herzen sprengt und 
die Stadte und Lander mit GroOmut iiber- 
schwemmt, Gestern batten wir, wenn so 
etwas moglich ware, an diesem und einem 
Tag die Gemeinschaft der Menschen auf- 
gerichtet, mit Hausern, StraBen, Platzen und 
dem tausentifach verschlungenen Netz von 
Beziehungen, die bedachtig gekniipft und 
sorgfaltig unterhalten sein wollen, damit 
jeder in ihm seine Freiheit und Sicherheit 
habe. O f gestern batten wir spiclend er- 
richtet ♦ . . wie es nennen? Ich suche ein 
Wort fur lt Citt". Gemeinschaft ist zu ab- 



-I— Original from 

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32 D**r aetitite November 

strakt, Und M Cite" habcn wir im Dcutschcn 
nur in dcr Form vcn M Gottesstadt l( , Sagen 
wir; die Frcie Stadt, die Frcistadt. Das ist 
die Stadt, die dcr Ausdruck, die Verkorperung. 
das sichibarg Lcbcn unserer Gedankcn ist* 
Die Stadt im grofien Garten des Landes, das 
sie ernahrt und mit Waldern, Fliissen, Seen 
und Feldern winkt, metodischen, spiegelnden, 
die hohe, dichte Stadt im weiten, weiten, 
aufgelostcn Land. Hier sausen die Fabriken, 
und dort bereiten die Briider das mor^ige 
Brot. In zehn Stunden hatten wir die Freie 
Stadt aufgerichtet* Gestern. Wenn man uns 
nur hatte machen lassen, Wenn wir nur 
j/leica zusammengekommen waren und das 
Kotige sofori ausgeiiihrt hatten. An nichts 
hat es gefehlt, als daran. An dem; sofort 
das Notige zu tun, Wir fanden wieder etnmal 
nicht die Zcit. Wir wuCten wieder einmal 
nicht, wie cs ansteilen. Die Freude hatte 
alle auseinandcrgeblasen. Sie waren auf 
der Strafle. Sie hielten Reden, in Auto- 
mobilen zwischen zwei Maschinengewehren. 



Original from 
IbyLsOOglC 



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Der iteuntG November 33 



Im Reichstag. Auf dem Dcnkmal Albfcchts 
ties Baren. Sie riefca: ^Hoch!" Sic rieben 
sich (tie Au^en, und, um es wahr zu haben, 
riefen sie noch einmal „Hoeh" und hielteu 
noch eine Rede. Denn> wahrhallig, cs war 
tin Wunder, 

Und jetzt? 

Was tun? 

Die Welt andcrn, wie Rubiner sagt, und 
ich habc, seinerzeit, natiiiiich beigestimmt. 
In einem Punkt nur waren wir uns f seiner- 
zeit, nicht einig: Ich meinte, mit der Peitsche 
sei sie gewift ebensowenig zu andern wie mit 
dem SabeL Und er> Rubiner, hatte aus Ver- 
zweiflung iiber die Tragheit, die Feigheit, die 
Heimtiicke der Zeitgenossen eine Vorliebe 
zur Peitsche gefaBt. Die Meinungsverschie- 
denheit ist, iiber Nacht, akut geworden, Und 
so verwandeln sich Literatensorgcn in geistige 
Weltepidemien* Entpuppen sich als eine 
alles beherrschende Zeitfrage, das Entweder- 
Oder, werden zam Gedrange am Scheideweg. 
Das Handgemenge im Cafe im Jahre 1906 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



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34 £* cr neuntc November 



und 191 6 — da haben wir es auf der Strafie, 
auC alien StraGen Europas und, morgen, der 
Welt. So gcwaltig, daQ es uns, ohne jeden 
Grand, imponicrt, Wie der verspatcte Erfolg 
eines Buchcs eincm imponiert, das man seit 
longom kcnnti und das eincm von jehcr 
imponiert hat. Was nun? 

Was nun? 

Unbedenklichc Initiative odcr Geduld? Hall 
im Bienst der Liebe oder der Versuch, den 
HaO durch Liebe zu entwaffnen, damit die 
Menschcn erst einmal lieben lernen? Das 
Gesicht Radeks taucht vor mir auf im Ca£6 
du Theatre in Bern und auf der Tribune im 
Volkshaus, es sagt, mit einer Entschlossen- 
heit, die an Zynismue grenzt: „Nach uns 
die Liebe und der Friede auf Erden! Unser 
Horoskop kiindet Kampf." Wie die Sonnen- 
blitze iiber einen See fliteen die langen fana- 
tischen Blicke Lenins iiber sein Lacheln, 
das die Milde selbst ist. Und Sinowidff, ein 
stammiger Bursche mit Armen, die kurzer- 
hand anpacken, was man vielleicht vor- 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOglC 



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Dcr neuntc November 35 



sichtiger bchandehi sollte, tobt wie em Hans- 
Lcnecht, der sein Abitur gcmacht liritte, 

Sie fahren nach RuBland. Deutschland 
verliert den Kricg, Barth sanunclt Waf£cn, 
Haasc la(Jt es gem gcschchcn, Liebknecht 
wird befrcit, und am ncunten November, das 
war gestcrn, erklart das alte Prcufien sich 
bankrott, ohnc viel Schwierigkeiten zu 
machen. Plotzlich 1st- das Volk da, ist 
da und obenauf, und niemand widersetzt 
sich seiner Herrschaft, und als ich vim Mitter- 
nacht in den Reichstag gehe, urn Haase auf- 
zusuehen, — wie sehe ich den Sitzungssaal 
wieder, den ich seit den Verhandkmgen iiber 
Zabern nicht mehr betreten habe? Ausge- 
schlagenmit rotem Tuch, voller Menschen mit 
roten Abzeichen, die sich gar nicht langweilen, 
die sich, nach aufgehobener Sitzung, lang- 
sam zerstreuen, ohne dafl sie d&bei im Ge- 
fiihl ihrer Oborf liissigkeit verschwanden ; 
man raucht, und Haase, Haase steht auf 
der Tribune des Bundesrats und unterrichtet 
einen sehlanken, gutgebauten Burschen, der 

r 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



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3G Der neunte Kovemter 

ihm, unten im Saal, mit zuruckgebeugtem 
Kopf king zuhort, iiber die Diktatur des 
Proletariats, 

Da haben wir'sl Es heiBt j'etzt Diktatur 
des Proletariats* Und gleich stellt sich httaus, 
sie konnen nicht genug Diktatur haben* 
Nicht geniigt, dafi das Proletariat Deutsche 
land ohne Widerspruch beherrscht, nicht 
einmal das Maschinengewehr an jedem Aus - 
gang des Reichstags kann sie beruhigen. Die 
Verhaftungen fehlen, die Besetzung der 
Banken, eine standrechtliche Demonstration 
hier und da. Revolution? Schon, aber es ge- 
schieht nichts Revolutionares. Die SchieQerei 
hat aufgehort und darnit, fiirchten sie, die 
Revolution. Nun, Robespierre war die Sach- 
lichkeit selbst, v/eder gut, noch grausam. 
Und sehr bedachtig. Und Robespierre, meine 
ich, verdient durchaus, daB man ihn einen 
Revolutionar nenne. Nicht wahr? Aber 
der Bursche, dem Haase — wie gutig, wie 
geduldig! — sich widmet, leidet an der 
Psychose des Attentats. Er will hingehn und 



, I , Original from 

-OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Dt»r neunie November yj 

expropriicren. Ahnt er, daB er sich nur 
sclber expropriiertc ? Und, ini Handum- 
drehn, verschwcndete, entwertete, was sein 
Eigentum ist, das er auf cine Art und Weise 
an sich bringen soil, daB bei der ,,Obcr- 
schrcibung" moglichst weriig verloren gche? 
Er ahnt es nicht, und wenn er es ahnte — 
er pfiffe darauf. Er will gar nichts fur sich 
haben. Er will dem andern nehmen* Und 
er will es ihm so nehmen, daB der andere 
begreift, was die Uhr geschlagen hat und 
die Rache spurt. Jawohl. Er will ihn dc- 
miitigen. Er will als Herr auftreten* Er will 
der Polizeikommissar sein, der die Hand 
auf die Schulter legt und spricht: „Im Namcn 
des Gesetzes , * ." Denn die Revolution ist 
ein Gesetz wie ein anderes . , , Wenn man 
dem Mann sagte, daB die Revolution kein 
Gesetz sei, sondern der Umsturz dcs bis- 
herigen Gesetzes, so witrde er crwidern; 
lf Sehr wohl, und mcine Initiative ist das 
neue Gesetz, das aus dem Umsturz hervor- 
gegangen ist . . .*' Also begniigt Haase sich, 



r**. . , [,-, Oriqinal from 

1 H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



33 Der neunle November 

den Drangler des Sozialismus, dcm die Ellen- 
bogen jucken, davon zu iiberzeugen, dafl die 
Diktatur des Proletariats tatsachlich ja schon 
bestehe . . ♦ Im Werk von Marx steht kein 
Wort, das Haasc ins Unrccht sctzcn kountc, 
Er halt die orthodoxestc Fredigt. Er spricht 
fiut, und er spricht lange . . . Hat er den 
Gcnosseu iibcrzeugt? Der dankt, aber cr 
kaut an seincm Schnurrbart, und seine Augen 
sind ebenso erregt v/ie zuvor , . . Jcder tragi 
in solchen Tagen doppelt und drcifach scin 
Schicksal. Wer wciB, was den so ungeduldig 
gemacht hat? Und was man Gcsindel nennt 
— immer soil Gcsindel im Spiel sein, wenn 
Artne die Gcduld vcrlieren! — so sind das 
Lcute, die erst die Bcherrschcr von Land 
und Mcer zu Piraten und Banditen gemacht 
haben. Sklavcn nehmen immer die Mentalitat 
ihrer Hcrren an, und das gerade ist cs, was 
sic unertraglich macht . . . Haasc wendet 
sich strahlcnd um. Gutigster, geduldigster 
Mensch* Im Dicnst des Ideals. Das macht. 
dafl er sich nicht verlieren kann. Daher 



, I , Original from 

'°°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Oer neunle November jg 

kommt es, daft sie ihn, links, cincn Oppor- 
tunisten scheltcn (denn immcrhin dient er 
auch in ihren Augen, wcnn auch schwachlich, 
dem Ideal) und rcchts eincn Fanatiker (dcnn 
cr Icrcist nur utn das Ideal, cr vcrlaflt os nicht). 

Die Peitschc odcr die hclfcnde Hand, die 
of fane Hand, die jedem gchort, der sich in 
sie gcbcn will, Hand ohnc Krampf, wandelnd 
in zielsichcrer Geduld? 

Alle waren in diescn Jahren — wenn auch 
noch so Heimlich » ein Chaos von Instinktcn, 
Erkcnntmssen, Forderungen. Jetzt stehn 
wir aut dcr Strafle, und die StraiJe wandcrt. 
Wohin? Das wissen wir. Das Wesen und 
die Schnelligkcit ihrer Bewcgung bereiten 
uns Sorgc. Da kann ich nur bekennen, was 
mein Glaube ist. Ein Glaube, der wisscn- 
schaftlich,dasheiftt: M efkeniitnistheoretisch", 
so gut untermancrt ist, wie cs meinen Vcr- 
standeslcraftcn entspricht, Ich glaube, 

daB der Sozialismus kommen mufi mit 
einer groBen, tiefen Flut von Licht, die alle 
Menschen durchdringt, 



r**. . , [,-, Oriqinal from 

' ' H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



40 Dcr neunte November 

daB er wachsen muB, nach innen mid 
auflen, in einer Atmosphare, die alle Men* 
schen verwandelt, 

daB er jene vollige Erneuerung sein wird, 
von der die Arzte sagen, daB dor Korper sie 
in bcstirnmtcn Perioden erfahre, die vfillige 
Erneuerung der Menschheit in ihrem ganzen 
Organismus, 

ich glaube, daB er die Stationen aller 
Schopf ung und j cdes Lebewesens zuriick- 
legen wird, vom Keim znr Bliile, vom Kind 
zum Mann. 

Die Menschheit besteht aus dem Lebeu 
und Sterben der einzelnen, sie wird leben, 
solan ge Menschen lebeu. Sie ist unser ewiges 
Leben in der Idee, und auch korperlich. 
Deshalb crscheint mir die sozialistische Go- 
sellschaft, die einfach die freie, zwanfjos, 
kraft der Solidaritat organisierte Menschheit 
ist als die retfe Mannlichkeit der Kreatur, 
die, in Miihe und Gcnufl, ihren endgiiUigen 
Ruhepunkt gefunden hat. Sie wird stark 
genug sein, die wiidesten Ausschweifungen 



f~* f -\f\ l \\ i . Original from 

, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Dor ncunte November 



41 



des immer unruhigen Geistes ohns Er- 
schiitterung zu ertragen, und es wird weder 
dcr Parnafi, noch das Kapitol fehlen, von 
den Weisesten und ewig neu Liebenden gc- 
hiitet, wo die anarchischen Kinder des 
Geistes sich sammeln. Vielleicht wird der 
Arbeiter nichts von ihnen wisscn, vielleicht 
ihnen miOtrauen oder ihnen gar das Reclit 
auf ihr Leben absprechen. Ware das neu 
fill sic ? Eine Oberraschung ? Eine Ent- 
tauschung? Es ware die milderc Form des 
Miflverstandnisses und des — ach, so wir- 
kungslosenl — Bannes, mit dencn die bur- 
gerliche Gesellschaft sie von jeher belegt hat. 
Jedoch, mich diinkt, daB die von der 
inater'ellen Not befreite Menschhcit — Hcrz 
und Hirn frei fur viele Stunden des Tages, 
ein Zwang fast ? den Sinn auf das Spiel zu 
tichtenl — in jeder Hinsicht Wunder wirken 
rnuB * . * Die Geistigen, die Angst vor der 
dauernden Diktatur des Fabrikwebcls haben 
— und wir haben alle gelegentlich Angst 
davor — iibersehen, dafl der ein (invertiertes) 



r*-.. . , 1,-, Oriqinal from 

' ' K \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



42 D* r neimte November 

Geschopf der biirgerlichen Gesellschaft ist 
und mit ihr erst verkiimmern, dann ver- 
schwinden wird. 

Eine einzige Gefahr droht, und ich schatzc 
sie nicht gering ein, Der Sozialismus konnte 
sich verburgcrlichen. Tut cr das nicht, so 
wird cr in einigcn Generationen cine geistige 
Hohe erreicht haben, zu dcr das Biirgertum 
nie emporgestiegen ware. Auch daran glaube 
ich, und damit ist mein Glaubensbekeuntnis 
beendet* 

Die Elektrische surrt, ein Hahn kraht. 
Das Maschincngewehr ist verstummt. 

Exegese 

Um den roten Tisch sitzen die Schrift- 
gelehrten und fahren einander in die Haare. 
Darunter Kautsky und Lenin, beide Marxisten. 
Jedoch in der Auslegung dcr Schrift klaffen 
sie wo it ausetnander. Da ist vor allem die 
Diktatur des Proletariats, Der Ausdruck 
kommt vor in einem Brief , den Marx 1875 



,,,|., Original from 



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Dor neurit* November" 43 

geschrieben hat, in folgendem Zusammen- 
hang: 

t> Zwischcn dcr kapitalistischen unci der kom- 
mimi&tischen Gesellschaft liegt die Periode dcr 
Umwandlung dcr oinen in die anctere. Der ent- 
sprieht auch cine politische Ubergangspcriode, dercn 
Staat nichts andcrs sein kann, als die revolutionise 
Diktatur des Proletariats/ 1 

Darauf hat Lenin sich bcrufen, als cr an 
die Macht kam. Unci dies wiedcrum hat 
Kari Kautsky veranlafit, eine Schrift ubcr 
die Diktatur des Proletariats zu verfassen, 
die, weil sie der Versuch einer briiderlichen 
Aussprache 1st, die wutigen Beschimpfungen 
durch die bolschewistische Presse durchaus 
nicht verdient hat*). 

Hdren wir also zu. Und ich bitte zu ent- 
schuldigen, daB ich hier und auf den nachsten 
Seiten des langeren zitiere: ich mochte den 



*) Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats. 
Wien, Veriag der Volksbuchhandlung Ignaz Brand 
& Co. 



r*rt(M\fi > Original from 

' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



44 



Der neuute November 



Menschen, urn die es sich handelt, moglichst 
zu ihrem Recht verhelfen, statt von vorn- 
herein iiwischcn sie und dieses ihr Rccht zu 
treten, wodurch die moisten Polcmike? sich 
ihre Aufgabe zu erieichtern suchen. 

Kautsky also legt d*n Begriff dtr prole* 
tarlschen Diktatur aus: 

M Marx hat cs leider unterlassen, a? her anzu- 
fuhrcn, wie er sich dicse Diktatur vorstellt, Buch- 
stablich genommen bedeutet das Wort die Auf- 
he bung der Demokratie, Aber frdlich buchst&blich 
genommen bedeutet es audi die Allcinhcrrschaft 
cines einzclnen, der an keincrlei Gcsetzc gebunden 
ist. Ei ne Allcinherrschaft , die sich von cincm Despo- 
tismus dadurch unterscheidet, daQ sie nicht als 
st&ndige Staatseinrichtung, sondcrn als eine vor- 
iibergehende NotstandsmaBregel gedacht ist. 

Dor Ausdruck Diktatur des Proletariats, also 
Diktatur nicht eincs cinzelnen, sondern einer 
Klasse, schlieBt bereits aus, daQ Marx hierbei an 
eine Diktatur im buchstablichen Stnne des Aus- 
drucks gedacht hat 

Er sprach hier nicht von ciner Rcgierungsform, 
sondcrn einem Zustande, der notwendigcrweise 



-I— Original from 

' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Dcr neuftte November 45 

liberal! eintreten musse, wo das Proletariat die 
politische Macht crobcrt hat- Dafl er hier kcine 
Regie rungs form tin Auge hatte, wire! schon da- 
Jurch bezeiigt, daQ er der Ansicht war, in England 
und Arnerika konne sich der Ubergang frirdlich, 
also auf demokratischem Wege vollzichen. 

Wohl sichert die Dcmokratie noch nicht den 
friedlichen Obergang. Sic her aber ist dieser ohne 
Dcmokratie nicht moglich," 

Einverstanden, antwortet Lenin, schwarz 
auf weiB in dcr Schrift: „Die nachsten Auf- 
gaben der Sowjet-Maeht"*) : 

„Die erste Aufgabe jeder Partei der Zukunft ist, 
die Mehrheit des Volkes von der Richtigkeit ihres 
Programms und ihrer Taktik zu iiberzeugen. Diese 
Aufgabe stand unter dem Zarismus, wic auch in 
der Periode der Verstandigung der Tschernoffs und 
Zeretellis mit Kerenski und Kischkin auf dem ersten 



*) N. Lenin, Die nachsten Aufgaben der Sowjet- 
Macht. Belp-Bern, Promachos-Verlag. Der Ver- 
lag ist anlafllich des Landesstreiks im November 
191 8 von der Schweizer Regierung gesperrt, die 
Best&nde sind beschlagnahmt wo r den. 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



UNIVERSITY OF MICHIGAN 



46 X>tf iteunte November 

" ■ ■ nr-gi ii ii 1 — - 1 — 

Plane* Jetzt ist dicse Aufgabe, die gewifi bei weitem 
noch nlcht vollendet ist, und die niemals bis zur 
Neige erschcpft warden kann, in ih/en Haupt- 
zugen gelost, denn die Mchrheit der Arbeuer und 
der Bauern Rufllands stent wi&sentlich auf der 
Seite der Bolschewiki, wle es der letzte KongreB 
der Sowjets in Moskau unbestritten zeigte. Die 
zweite Aufgabe unscror Partci war die Eroberung 
der politischen Macht und die Unterdr uckurig des 
Widcrstandes der Ausbeuter/ - 

Den Gegensatz zwischen Kautsky und 
Lenin kennzeichnen zwei Wdrter: Lenin 
fordcrt n die Unterdriickung des Widerstandes 
der Ausbeuter", Kautsky den „friedlichen 
Obergang". 

Eine ge waltsarne Unterdriickung des Wider- 
standes ware nur moglich, wenn man alle, 
die Widerstand leisten, aber auch alle, bis 
auf den letzten Mann, umbrachte. Und 
weil Lenin sehr wohl weiB, daB dieser Massen- 
mord — ich mochte sagen: technisch — un- 
ausfiihrbar ist, schlagt er den Ausweg ein, 
dafi er die Diktatur des Proletariats nicht als 



r"AA/ili > Original from 

' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Dt-r ncwntc November 47 

■ - - — ■ ■ 

Obergang, sondern als dauernden Zustand 
erklart. Dies ist der zweite fundameutale 
Gegensatz zwischen den Bolschewiki und 
Kautsky (und Marx), Die Billigung des 
sozialistischen Staates durch cine Mclirhcit 
halten bcide fur notig. Nur will der eine sie 
durch einen organise hen Prozcfl hefbei- 
fiihren, der andrc durch den Terror er- 
zwingen, Kautsky erinuert daran, daQ wir 
gewisse Erfahrungen gemacht liaben init 
der terroristischen Methode; 

M An Encrgie laBt sich die Schrcckcnsherrschaft 
von 1793 nicht iiborbieten. Trotzdcm gelang es 
den Pariser Proletarian* nicht, sich dadurch an 
der Macht zu halten. Die Diktatur wurde eine 
Methode, durch die sich die verschicdencn Frak- 
tionen der proletarischen und kleinbiirgerlichen 
Potttik untercinander bekampften, und schlieBlich 
wurde sie die Methode, jeder proletarischen und 
kleinbtirger lichen Politik ein Ende zu machen.*' 

Und wiederum sieht Lenin ein; 

M Wcnn wir als MaOstab die westeurop&ischen 
Revolutionen nehmen, so stehen wir jetzt ungefahr 



f^" n*-\ f \i, > Original from 

' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



48 Ber neunte November 

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auf dem Niveau des im Jahre 1793 und im Jahre 
1871 Erreichten." 

Bleiben wir noch funf Minuten bei den 
Texteri. Kautsky fahrt in seinen Aus- 
fiihrungfn iiber die proletarische Diktatur 
fort: 

M Doch um zu erfahren, was Marx iiber die 
Diktatur des Proletariats dachte, dazu brauchen 
wir gar kein Riitst-lraten. Wcnn Marx 1875 nicht 
mehr ausfuhrte, was er uater der Diktatur des 
Proletariats verstehe, so ^eschah es wohl deshalb, 
well er sich wenige Jahre vorher in seiner Schrift 
iiber den ,Burgerkrieg in Frankreich' 1871 dar- 
iiber gcauBcrt hatte. Dort erklarte er : 

3 Die Kommune war wcsentlich ein^ Regie rung 
der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfes der 
h^rvorbringenderi gegen die aneignende Klassc, die 
endlich entdeckte poIHische Fotm, unter der die 
okonomischc Bcfrehing itei" Arbeit sich vollziehen 
konnte. 

Also die Pariser Kommune war, wie das Engeln 
in seiner Eintcitung zur dritten Auf tag 2 der Marx- 
schen Schriften ausdriicklich feststellt ,die Dik- 
tatur des Proletariats'. 



,1 , Original from 

, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Der neunte November 49 

Sie war aber gleichzeitig nicht die Auihebung 
der Demokratie, sondern beruhte auf ihrer weitest- 
gehenden Anwendung auf der Grundlage des all* 
pcmeinen Stirnnirechts. Die Rcgicrungsgewalt 
sollte dem allgcmeinen Stimmrccht nnterworfen 
werden. ,Die Komuuine bildelc sich titis den durch 
allgemeines Stirnmrecht in den verscluedenen Be- 
zirhen von Paris gewahltcn Stadtratcn. Das all- 
gemcine Stimiiirccht sollte dem in Konmiuncn kon- 
stiUncrten Volke dienen, wie das individuclle Stirnm- 
recht jedem andcrn Arbeitgcber dazu dient, Ar- 
bcitcr usw. auszusuchen usw. (Scite 46, 47). Immcr 
wieder spricht hier Marx voni allgcmeinen Stirnm- 
recht des gesamten Volkcs, nicht von Wahlrccht 
einer besonderen privilegierten Klasse. Die Dik- 
tatur des Proletariats war ihm ein 2 us t and, der 
bci ubcrwiependem Proletariat aus der rcinen De- 
mokratie notwendig hcrvorgeht. Auf Marx durfen 
sich also dicjenigen nicht berufen, die fur die Dik- 
tatur im Gcgensalz zur Demokratie eintretcn. 
Natiirlich ist damit noch nicht bewiesen, daB sie 
unrcchf: haben. Nur mtnsen sie .sich nach and r en 
Bewcisgrundcn umsehen, Bei Untersuchung der 
Frage rnuC man sich hiiten, die Diktatur als Zu- 
stand mit der Diktatur als Regierungsform zu ver- 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOgle 



UNIVERSITY OF MICHIGAN 



50 Der neurits November 

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wechseln* Nur das Anstreben der letztcren ist eine 
strittige Frage in unsern Reihen. Die Diktatur als 
Regierungsform ist gleichbedeutend mit der Ent- 
rechtung der Opposition, Ihr wird das Wahlrecht 
genommen, die PreB- und Vertinsfreiheit. Die 
Frage ist die, ob das siegreiche Proletariat dieser 
MaOregeln bedarf, ob mit ihrer Hilfe am besten 
oder gar nur durch sie der Sozialismus erreich- 
bar ist. 1 * 

Kautsky ist der Oberzeugung, daB das 
siegreiche Proletariat dieser MaBregeln nicht 
bedarf, daB mit ihrer Kilfe und gar nur 
durch sie der Sozialismus nicht erreichber 
ist* 

Probe aufs Exempel: Wo steht die bol- 
schewistische Politik heute? Im April 191 8 
rief Lenin zum , f erbarmungslosen Kampf 
gegen das Chaos und die Desorganisation" 
auf. Es muC also wohl Chaos und Des- 
organisation herrschen im bolschewistischen 
RuBland, Einen Monat vorher hielt Trotoki 
auf der Moskauer stadtischen Konferenz der 
Russischen Kommunistischen Partei einen 



r**. . , [,-, Oriqinal from 

1 lK \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Der neunte November 51 

Vortrag: „Arbeit> Disziplin und Ordnung 
werden die sozialistische So wj et- Republik 
rttten"*), 

Der Vortrag ist ein verzweifelter Appell 
an das Proletariat zur organisierten Arbeit. 
Schoti damals trat der Bolschewismus auf 
der g arizen Lime den n taktischen Riickzug" 
an , den Lenin also erklarte: 

,,Ohne die Anleitung von Fachleuten der ver- 
schiedenen Zweige des Wisscns, der Technik, der 
Erfahrungen ist der Obergang zum Sozialismus 
unmoglich, weil der Sozialismus einc bewuOte 
Masscn-Vorwartsbcwcgung zu der im Vcrgleiche 
mit dem Kapitalismus hoheren Arbeitsproduktivitat 
verlangt, und zwar auf der Basis des durch den 
Kapitalismus Erreic'nten. Der Sozialismus muB auf 
seine Art und Weise, durch seine Methoden — 
sagen wir konkreter: durch Sowjet- Methoden — 
diese Vorwartsbewegung verwirklichen, Und die 



*) Leo Trotzki, Arbeit, Disziplin und Ordnung 
werden die sozialistische Sowjet-Republik retten, 
Belp-Bern, Promachos-Verlag, 

4* 



... I, , Original from 

°°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



53 Der neunte November 

"^ — - — -• — ' — ■ — ^- - -- ~ 

Fachteute sind in der Mehrzaht unvermeidlich 
biirgerlich, infclge der ganzen Umgcbung des 
Bftontlichen LHxms, das sic zu Fachlcuten gcrnacht 
hat, Wenn unset Proletariat, nachdem cs sich der 
Macht bemlfchtigt hatte, sclinell die Aufgabe der 
Rcclimtngsfcgung, der Kontrollc und der Organi- 
sation iin itllgcmcirsn MaBstabc gelost hfiltc — 
(das war infol^e des Krtegcs und der Ructcstiindig- 
keit RuBlands nicht zu vcrwirklichen), dann batten 
wir, nachdem wir die Sabotage gebrochen batten, 
durch allgemeine Einreihung und Kontroile uns 
auch vollig die biirgerlichcn Faclilcute zunuize 
gemacht. Infolge der erheblichen Verspatung bei 
der Rechnungslegung und der Kontroile iiberhaupt, 
haben wir t obwohl wir auch die Sabotage zu be* 
siegen vermocht haben, die Verhaltnisse, die uns 
die biirgerlichen Faehlcute zu unsercr Verfiigung 
stcllen, noch nicht geschaffen ; die Masse der Sabo- 
teure t stellt sich in den Dicnst', aber die besten 
Orgdnisatoren und die groflten Fachleute konnen 
durch den Staat zur Arbeit herangezogen werden, 
entweder auf alte Art und Weise f auf burgerliche 
Art (d, h. fur hohe Bezahlung) oder auf ncue Weise, 
auf proletarische Art (d. h, durch Schaffung von 
Verhfiltnissen der allgemeinen Rechnungslegung 



f~* f -\f\ l \\ i . Original from 

, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Der neuntt November 53 

und Kontrolle, die unvermeidlich und von sclbst 
die Fachlcute oinordnen und cinstcllen wikden)* 

Wit muflten jctzt zu dem altcn, bUrgerlichcn 
Mittel grcifen utul auf cine schr hohe Bczahlung 
der Dienstleislun&eil der grofltcn unter den biir- 
geriichen Fachleuten cingehen. Alle, die die Sachc 
kciuien, sehen das, abcr nicht alle dringon in die 
Bedeutunc dieser MaOnahme seitens eines prole* 
tarischen Staatcs cm. Es ist klar, daB solch eine 
Mafinaltme em Komprojiiifi ist, ein Abrticken von 
den Prinzipicn der Pariser Kommunc und jeder 
prolctatischen Macht, die eine Glcichstellung der 
Gehaltcr init der Entlohnung eines Durchschnitts- 
arbeiters verlangen, einen Kampf gegen das 
,Karrieremaehen' in Taten und nicht in Worten 
fordern. 

Nicht genug damtt. Es ist klar, daO solch eine 
MaBnahme nicht nur den Stitlstand — auf gewissem 
Gcbicte und in gewissem Grade — der Offensive 
gcgen das Kapitel bedeutet (weil das Kapital nicht 
die Summe an Geld ist, sondern ein bestinimtes 
gcscllschaftliehcs Verhftltnis), sondern audi ein 
Schritt nach ruck warts seitens unsrer sozialistischen 
Sowjet-Staatsgewalt, die von Anfang an eine Politik 
der Herabsetzung der hohen Geh&lter bis zum Ver- 



Original from 

byV. lOOgK 



UNIVERSITY OF MICHIGAN 



54 ^ r ncunte November 

^ — ™™ — ~ ■ •> • »^ ^ ^»~ 

dicust eines Durchschnittsarbeiters angesagt und 
durchgefuhrt hatte"*). 

Nennen wir die Tatsache beim Namen. 
Die Bolschewiki waren nacli einem Jahr 
anarchistischer Versuche dort angelangt, wo 
die Sozialislerung zu begin nen hat, wenn sie 
gelingen soil : bei der organischen Ver- 
wandlung der kapitalistischen in die sozi- 
alistische Gesellschaft. Nicht durch 6211 
Terror hat die kapitalistische Gesellschaft so 
lang bestanden, sondern durch die biirgpr- 
liche McntaJitat der Mehrheit, die eine FoJge 
einer jahrhundertelangcn „Erziehung" f das 
heifit Verfiihrung war. GewiB, es gab eine 
Polizei, im weitesten Sinne, und die tibte 
die Gewalt aus, Aber jede Folizei ist nur 
so stark, wie dte Mehrheit sie als das Ord- 
nungsorgan fiir den Schutz ihrer Interessen 
bctrachtet. Die kapitalistische Gesellschaft 
lebt vorn Irrtum, von der Tauschung, in der 
die Mehrheit iiber ihre Interessen lebt. Und 



*) W, Lenin, Die nSchsten Aufgaben der Sow- 

jet-Macht 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOgle 



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Dcr neunte November 55 

die Demokratic ist das Mittel, die Mehrheit 
iiber diesen Irrtum aufzuklaren, das Mittel, 
die Mehrheit zu uberzeugen. 

Man iiberzcugt nicht durch Gewalt. Die 
Diktatur des Ideals, das ist das sicherste 
Mittel zu verhiiten, dafl die Idee zu Fleisch 
und Blut werde, daB die theoretische Ein~ 
sicht sich in aktives Leben verwandle, sie 
ist die Maucr, die Sozialisten vor dem 
sozialistischen Ziel aufrichten. Die Diktatur 
des Proletariats aber, wie die Bolschewiki 
sie aufgefaOt und ausgeiibt haben, das ist 
die Gegenrevolution innerhalb der Partei des 
proletarischen Ideals* Wem hilft es, wenn 
sie nun schreien, das Zentrum und die Rechte 
der Partei hatten sie ans Ruder gezwungen* 
Die, und niemand anders hatten sie zu dem 
gemacht, was sie seien. Aus Verzweiflung 
hatten sie die Macht erobert, weil die andern, 
wie Trotzki sagt, n zur Losung keiner ein- 
zigen Anforderung schritten, alle Fragen 
verschleppten und bremsten, alle Schwierig- 
keiten yermehrten und den Charakter einer 



f^" n*-\ f \i, > Original from 

' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



56 Der neunte November 



schrecklichen historischen Last jener Erb- 
schaft verliehen, die uns im Oktober zu- 
fiel" # ). Wcm Mitt esr 

Vielleicht dem Mann des russischen 
j 8, Brumaire, der unterwegs ist. Er wird 
wenig Widerstand finclen, wenn er nur genug 
Maschinengewehre und Kanonen mitbringt, 
denn die Bolschewiki haben die biirgerliche 
Demokx*atie, ohne die das heutige RuBland 
zu keiner pioduktiven und dauerhaftcn Or- 
ganisation gelangen kann, mit dem roten 
Schreckon in die Keller und in die Gefangnisse 
gej agv und hinterher die sozialistischen 
Bruderparteien, die allein die russische so- 
zialistische Revolution hatten retten konnen, 
und rlie, so hoffen wir, schlieBlich noch die 
russische Demokratic retten wtrden. 

Die feindlichen Briider 
Hier muB gesagt werden, daB kein Mili- 
tarist von gestern und heute irgendwoher 



*) In der friiher angegebenen Schrift. 



r*-.. . , 1,-, Oriqinal from 

' °°g K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Der neunfcc November 57 

eine Berechtigung herleiten kann, gegen die 
Bolschewiki auch mir mit einern Hauch zu 
protestieren, und wean diese fiir ihr Ideal 
sogai halbsoviel Menschen opferten wie sie, 
die Militaristen, mit Begeisterung fiir ihre 
ungleich zweifelhafteren M Ideen" iiber Bord 
geworfen haben. 

Ausgesprochen muB werden, gerade von 
uns, fiir die dcr Terror, gleichgiiltig welcher 
Art, die Aufhebung des Begriffes Mensch ist: 
die Aufhebung allcs dessen, was das Leben, 
das arme nacktc Leben Icbenswert macht : 
sogar dieses und erst recht ein von Erden- 
fiille strotzendcs Dasein, fiir dessen Er- 
hohung es keine andre Recht fertigung gibt, 
selbst wenn der Weg zu jenem hoheren 
Leben: zum M Reichtum", zum H Luxus" 
jedem einmal of fen steht, dessen Nerven 
feiner und starker sind als die der andern: 
und den die geheimnisvolle Macht, Talent 
genannt, iiber den Werktag hinaushebt, ihn 
tiefer in sich hmeinsenkt, zur selbstsuchtigen 
Schopfung, zum HochgenuB der Welt, 



Original from 



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5$ D* f neuntc November 

laut unci deutlich miissen wir aussprechen, 
schon urn ketn Mifiverstandnis und dadurch 
falsche Verbundete aufkommen zu lasscn, 
da0 der Volkskommissar der Auswartigen 
Angelegenheiten Tschitscherin mit seiner 
Antwortnote auf die Beschwerde der neu- 
tralen Staaten vom 5. September 1 918 iiber 
bolschewistische Grausamkeiten im Recht 
war — im Recht, wie cs den Menschen bisher 
recht war — Punkt urn Punkt im Recht* lis 
er unter anderm zweierlei feststellte: 

1. ,,AHe diese Bildcr der Ausrottung der Arbeiter- 
klasse im Namen der Inter essen des Kapitals, all 
die Bilder des weiSen Terrors der Bourgeoisie dem 
Proletariat gegenuber sind den Regierungen der 
neutralen Lender und ihren Vertretern in Rufiland 
mehr als wohlbekannt. Und doch ? entweder ver- 
gaOen sie die* ho her en Ideale der , Humanist* oder 
sie vergaQen in diesern Fall, die Bourgeoisie der 
kriegfuhrenden Lander, die vom Blut der Volks- 
m&ssen triefen, an sie zu erinnern,* 1 

2. „Wir lehnen aufs cntschiedenste die Ein- 
mischung der neutralen kapitalistischen M&chte zu* 
gunsten der nissischen Bourgeoisie ab und erkliren. 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOglC 



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Der ncunte November 59 

daB jeder Versuch von sciten der Vertreter dieser 
Machte, die Grenzen des gesetzlichcn Schutzes der 
Interessen ihrer Burger zu liberschreittn, als ein 
Versuch der Unterstiitzung der russischen Konter- 
revolution betrachtet werden wircl*). 11 

Im Recht ist Lenin, wenn er in seinem 
Brief an die amerikanischen Arbeiter vom 
20. August 1 9 18 dekreiiert (Lenin spricht 
nicht und schreibt nicht; er dekreiiert; das 
Dekret ist seine Ausdrucksform) ; 

,.Die englischcn Bourgeois haben ihr Jahr 1649, 
die Franzosen ihr 1793 vergessen. Der Terror war 
gerecht und berechtigt, als er von der Bourgeoisie 
zu ihren Guns ten gegen die Feudal herrschaft an- 
gewandt wurde* Der Terror wurde aber ungeheuer- 
lich und verbrechensch, als ihn die Arbeiter und 
die armen Bauern gegen die Bourgeoisie anzu- 
wenden wagten* Der Terror war gerecht und be- 
rechtigt, als er zu dem Zweck angewandt wurde, 
daB an Stelle der einen ausbeutenden Minorit&t 



*) Ein Notenwechsel iiber den weifien und roten 
Terror. Zurich, herausgegebenen von Fritz Flatten, 
Nationalrat 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



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6o D«t neuntc Novrmbrr 

eine andere ausbeutcnde Minoritit trate, Aber der 
Terror wurde ungcheuerlich und verbrecherisch, 
air er dazu ancjewandt werden sollte, da3 jede aus- 
beutende Minoritat iiberhaupt abgcschafft wei'de; 
als er im Intcressc der tatsachlich vorwie^enden 
Majoritiit angewandt wurde* im Intercssc des Pro- 
letariats und des Halbproletartats, der Arbeiter- 
klasse und der srmen Baucrnschaft, Die Bour- 
geoisie des Internationale n Impcrialismus hat es 
fertig gebracht, in ,ihrcm* Kricge zehu Millionen 
Menschen abzuschlachten und zwanztg Milli- 
onen zu Kriippeln zu machen — dem Kriege, 
im Namen dessen, ob die englischen odcr 
deutschen R&uber die ganze Welt bcherrschen 
sollen. Sollte unser Krieg, der Krieg der Unter- 
drilckten und der Ausgebeuteten gegen die Unter- 
driicker und die Ausbeuter* in alien L&ndern eine 
halbe oder eine ganze Million Opfer kosten, so 
wiirde die Bourgeoisie dennoch sagen, die Opfer 
des Weltkrieges seicn berechtigt, die des Biirger- 
kricges abcr verbrecherisch." 

Wie sehr die Bolschewiki von heute gegen 

die Militaristen, diese konsolidierten und zur 
Ordnungspartei gewordenen Bolschewiki von 



.,,L Original from 

i d, v lOOgie 



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Dcr tieunte November 6 1 

gestern, im Recht sind, indem sie es aus dem 
Wald schallen lassen, wie jene hineingerufen 
haben, wie sehr sie eines Geistes sind mit 
ihren Vorgangern — wir erkeimen es sogar 
an ihrer Tcrminologie, ihrem Vorstellungs- 
kreis, der Bewcgung ihrcr Phantasie, dem 
Ausdruck ihres Temperaments. Sie denken 
und sprechen im iiblichen Kauderwelch 
der bewaffnetcn Gewalt. 

„Jetzt ist die Epoche der dirckten Attacke 
gegen das Kapital, der direkten Niederwerf ung 
und Zers toning des imperialistischen Raub- 
staates", heifit es in der 19. der „ The sen fiber 
die soziale Revolution*". Seht einmal zu, 
Vergleieht. Legt die Anweisungen zur Unter- 
driickung nebeneinander. Woran erinnert 
der Abschnitt iiber „Die neue Phase des 
Kampfes gegen die Bourgeoisie" in den 
„Nachsten Aufgaben der Sowjet-Macht" von 
Lenin? An Gneisenau und Schlicffen. An 
Bernhardt. An die Auslassungen ihrer Epi- 
gonen, der Zeitungsgenerale, die den deut- 
scheu SpieOer zum Strategen gemacht haben. 



, , , I, , Original from 



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62 Der nettnte November 

Dieser Abschnitt enthullt sich wie jede 
Theorie der Kriegs-„Kunst" als ein SchieB- 
reglement. Er bcginnt mit der „Offensive 
gegen das Kapital", die fortgesetzt werden 
miisse, weil das Kapital zweifellos noch nicht 
H niedergerungen soi", worauf, — wie schlaul 
— die „Einstellur.'g" der Offensive aus stra- 
tegischen Griinden gefordert wird. Wir 
haben es hier mit nichts geringerem, als 
dem aus den Kriegsberichten bekannten 
M sttategischen Riiekzug" zu tun, Man diirfe, 
heifit es, von der „Einstellung" der Offensive 
nur in Anfiihrungszeichen sprechen. Die 
Lage der Bolschewiki set die eines siegreichen 
Heeres, das haltmachen miisse, um neue 
Krafte zu sammeln: 

n . . . eines siegreichen Heeres, d : is, sagen wtr, 
dcm Fciude die Halftc oder zwei Drittel des Terri- 
tortums abgenomir.en hat und die Offensive ein- 
zustellen gezwungcn ist, um Krfifte zu sammeln, 
die Vorrdte an Kriegsmitteln zu erhdhen, die Ver- 
bindungslinien auszubessern und zu versrarken, 
neue Magazine zu errichten, neue Reserven heran- 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOglC 



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Der neunte Novemtrtr 63 

zubringen usw. Die Einstellung der Offensive eines 
stegreichen Heeres unter ahnliehen Verhaltnissen 
erscheint gerade im Interesse der Eroberung des 
iibrigen Territoriums vom Feinde, d. h* im In- 
teresse eines vollstandigen Sieges, notwendig/ 1 

Wer spricht? Der Generalmajor. Blum? 
Nein, Lenin! 

Bald ist das Mariovcr so weit gediehen, daS 
die schwere Artillerie herangeholt werden 
kann: 

„Wenn man den Feind lediglich durch Ab- 
teilungen leichter Kavallerie schlagen und zuriick- 
drangen kann, so muB man es tun. Und wenn man 
dies nur bis zu einer bestimmten Grenze mit Erfolg 
durchfiihren kann, ist es vollkommen dcnkbar, dafl 
hinter dieser Grenze die Notwendigkeit der Her an- 
bnngung von sohwerer Artillerie auftaucht. Zndem 
wir zugeben* daB das VcrsSumte jetzt durch Heran- 
bringung von schwerer Artillerie nachzuholen 
ndcig ist, erkennen wir in keiner Weise die siegreiche 
Kavallcrieattacke als einen Fehler an. 11 

Wo habe ich das schon gelesen? In den 
Betrachtungen des Obersten Egli, des Feld- 
herrn der ^Easier Nachrichten'\ 



{ . ,,.!., Original from 



VERITY OF MICHIGAN 



64 Dcr neunte November 

Sogar die Terminologie, die bet der Er- 
orterung der beriihmten M Eiakreisung" iiblich 
war, finden wir wieder. „Der imperialistische 
Ring, der uns zusammenprefit, wird von der 
proletarischen Revolution gesprengt werden", 
verspricht Trotzhi*). 

So viel von der Strategic Aber es gibt auch 
die Taktik. Die Bolschewiki haben sie nicht 
auBer acht gelassen. Die bolschewistische 
Taktik genii gt, was Gertssenheit und Un- 
bedenklichkeit anbelangt, den strengsten An- 
fordcrungen. Welcher Patriot diirfte mit 
seiner Zustimmung zuriickhalten, fiiefit ins 
geubte Ohr ihm folgende Episode, die Lenin 
in seinem Brief an die amerikanischen 
Arbftiter erzahlt: 

„Als d;c Raubheldendesdeutschen Irnperialismus 
im Februar 191 8 ihre Armeen gegen das wehrlose, 
demobilisierte RuBland wxrfen, das sich der inter- 



*) Im SchluBwort seiner Schrift „Von der Ok- 
toberre volution bis zum Brester Friedensvertrag". 

Be'p-Bern, Promachos-VerJag. 



Original from 

I I ,; »gie 



UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Dcr neuute November 65 

_ .r ■ i - r 1 * — ' ' — " *~~ *- ' ' " ~ — ^~-~ ' ' ' — ' --—-—-■ — --— ■■ — ' — - — ■ — — — ■ — — — — — . — — _ — -_^ .. 

nationalen Solidaritat des Proletariats anveriraut 
h&tte, bevor die Internationale Revolution ganz 
ausgereift war — da zogerte ich keinen Augenbtick, 
mit den franzosischen Monarchisten eine gewisse 
f Abmachung* zu treffen. Der franzosische Kapitan 
Sadoul, der in Worten mit den Bolschewiki sym- 
pathisierte, in der Tat aber dem franzosischen Im- 
parl alismus treu diente, brachte den franzosischen 
Offizier de Lubersac zu mir* ,Ich bin Monarchist, 
mem einziges Ziel ist die Niederwerfung Deutsche 
lands', erklarte mir de Lubersac. ,Das ist selbst* 
rcdend (cela va sans dire)*, erwidcrte ich. Das 
hinderte mich keineswegs, mit de Lubersac mich 
zu verstandigen liber die Dienste, die die Fach- 
leute im Sprengwesen unter den franzosischen Gffi- 
zieren uns erweisen sollten, um durch Zerstoren 
der Eisenbalmlinien den deutschen Vormarsch auf- 
zuhalten. Das war das Muster einer > Ver stand igung', 

wie sie jeder zielbewufite Arbeiter bilHgen muB — 

* 

einer t Verstandigung* im Interesse des Sozialismus* 
Die franzosischen Monarchisten und wir druckten 
uns die Hand, obwohl wir wuQten, daB jeder von 
uns semen ^Partner* gern hatte aufkniipfen lassen, 
Aber unsere Interessen fielen vortibergehend zu- 
sammen, Zur Abwehr der vorriickenden raub- 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOgle 



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66 Der neuntc November 

gierigen Dcutschen machten wit uns im Interesse 
derrussischenund der internationalensozialistischen 
Revolution die ebcnso raubgierigen Gegeninteressen 
dcr andorn Iinperialisten zunutze. Auf dicse Weisc 
fdrdcrten wir die Intercssen ccr Arbciterklasse 
RuQlands und andrer Lander; so stiirkten wir das 
Proletariat und schw&chten die Bourgeoisie der 
ganzen Welt, indem wir von der absolut gesetz* 
mnfiigen und in jedem Kriege unumg&ngHchen 
Methode des Manovriercns, des Laviercns und des 
Abwartens des Moments Gebrauch machten, bis 
die schnell reifende proletarische Revolution in den 
vorgeschrittenen L&ndern zur vollen Reife gelangen 
wtirde*).*' 

Die Mentalitat der Bolschewikt bezeichnet, 
kurz und gut, die 10, der bereits erwahnten 
„Thesen uber die Sozialrevolution", und 
deshalb stehe sie hier als das SchluBwort 
einer Betrachtung, iiber die ein Bolschewik, 
wie iramer: nut Rerht, aufiern konnte, ich 
hatte nach Tier Kriegsjahren den Krieg ent- 
deckt. Die These lautet: 



* N. Lenin, Ein Brief an die amerikanischen 
Arbeiter. Ohne Angabe von Verlag oder Druckort. 



f^" n*-\ f \i, > Original from 

' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Der neunte November 67 

tl Der Sinn der proletarischen Diktatur besteht 
also sozusagen iin pcrmancnten Kricgszustand 
gegen die Bourgeoisie. Es ist also ganz klar, daO 
alle, die tiber ^Gcwalttatcn 4 der Kommunisten 
schreien, voilkommen vergesscn, was cigentlich 
Diktatur heifit. Die Revolution selbst 1st em Akt 
der »rohen Gewalt*. Das Wort Diktatur bedeutct 
in alien Sprachcn nichts anderes, als Gcwaltregime, 
Wichtig ist hicr der Klasseninhalt der GewalL 
Damit ist die lustorische Rechtfertiftung der revo- 
hitionaren Gewalt gegeben. Es ist auch ganz klar, 
dafi je schwieriger die Lage der Revolution ist, um 
so schSrfer die Diktatur sein muB." 

Klar wie eine StraOenlaternet 

Ich erwarte die Griindung bolschewistischer 
Kadettenhauser. Ich erwarte die Griindung 
einer bolschewistischen Kriegsschule. Die 
Generalsta.be konnen bleiben, wie sie sind* 
Zu andern ware nur der Klasseninhalt der 
Gewalt. Militarismus und Imperialismus 
haben nur die Farbe zu wechseln oder sagen 
wir : die Kundschaft* Ludendorf f braucht 
sich um die Anderung seiner Mentalitat 
nicht im geringsten zu bemiihen, Er darf, 

5* 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



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C& Der neurit* Nc?ernb«r 

- — ._. ... ^.... .-. — 

er soil der berufskluge Tollhausler bleiben, 
der er ist. Der Teufel braucht nur die Woh- 
nung 2u wechseln, um als ein Heiliger zu 
gelten. 

Der tiefste Grund 

Doch dies alles dreht sich um die Theorie, 
dreht sich im Kampf um die Theorie, den 
man Polemik nennt. Die Theorie ist eine 
gute Sache, vor allem eine notwendigc. Fast 
so unentbehrlich wie Sonne und Sterne fiir 
die Schiffahrt und sicher so unentbehrlich 
wie Mafle und Gewichte fiir jede Berech- 
nung. Immerhin — wie man mit dem 
gleichcn Text 2u einer so sebr verschiedcnen 
Melodic sagt — ' man konnte glueklich sein 
ohne sie. Chne die Theorie. Die Bolschewiki 
konnten Wunderdinge verrichten ohne eine 
paragraphierte Lehre f die mit dem Komcten- 
schweif der unentbehrlichen Kommentare 
ihr geistiges Firmament belebt Sie konnten 
Wunderdinge verrichten ganz allein mit dem 



,,,|., Original from 



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Der neuntc November 69 

Glauben, und ohnc lange zu fragen und 
ohne vizi zu erklaren, und sich damit bc- 
gniigen, dafi sie ihren Weg gingen durch die 
lange Alice heller Gesichter, womit korper- 
lich befreite Sklaven zu ihrem Fest illu- 
minierten, und auch vieler, die hdher strahl- 
ten, weil Freiheit die Herzen mit einem bisher 
ungeahnten Licht erfiillte. £5 hat nie einen 
Heiligen gegeben, der dem Burger nicht als 
ein Narr erschienen ware, und die Griechen, 
die von solchen Dingen mehr verstanden, als 
allc die so aufgeklarten Genies der alten wie 
der neuen Welt zusammen, hatten nur ein 
Wort fiir den Heiligen und den Wahnsinnigen. 
Die Bolschewiki haben keinen Glauben, sic 
dekretieren und fiisilieren in kalter Tobsucht. 
Sie konnen keinen Glauben haben, weil sie 
nicht lieben. Sie sind Hasser: Pratorianer 
des Proletariats in seinem Massenwahn, die 
Kosaken des Sozialismus, die Flammcn- 
werfer der Internationale, die Heulderwische 
einer Wirtschattslehre. Nein, fiir mtch be- 
deutet der Sozialtsmus das Gegenteil einer 



.1 — Original from 

d :v, V lOOglt 



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70 



Der neuntc November 



Klassenherrschaft, namlich die endgiiltige 
Autlosung der „Klassen" in jcner Gemein- 
schaft von uaergriindlicher Tiefe, die Nietz- 
sche mit seinem Wort von den „Griechen 
als traumenden Homeren und Homer als 
einem traumenden Griechen" angedeutet 
hat, Worin der Aibeiter aufgehdrt hat, ein 
Proletarier zu sein, und ein lebendiges Stlick 
Arbeit selbst ist und, wenn auch nur nut 
einer winzigen Handreichung an der Ma- 
schine, nicht nur das Symbol der „Froduk- 
tion'S sondern, jeder fur sich und die ganze 
Gesellschaft, die schaffende Natur selbst, der 
Mensch selbst die Arbeit, die Arbeit aller, 
der ungeheninue , leicht slromende Blut- 
umlauf alles dessen, was auf unstrm Planeten 
Menschonantlitz tragt* Ich bin fiir jeden 
Sozialtsrnus, den ich auf dem Weg, clem 
langcn Wcg dahin vermute. Die Bolschewiki 
sprengen, allcin riurch ihre Mentalitat, schon 
die ersten Brticken auf dem Weg sie massa- 
krieren schon nach den ersten Sehritten mit 
ihrer wissenschaftlichen Earbarei die Ach- 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOgle 



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Dor neunte November yi 

tung vor dem Menschen samt alien &ndern 
geistigen Tugenden, ohne die wir me 
eine Obereinstimmung der m e i s t e n , ge- 
schweige denn die Gemeinsarnkeit erreichen. 
Die Bolschewiki konnten in der Theorie 
zebntausendmal recht haben, ich ginge 
nicht mit ihnen, weil sie gegen die Men- 
schen gehn. 

Ober sie denke ich letzten Endes, wie 
Charles P6guy iiber jene bis zum Grauen 
unheimlichen Kerle dachte, die den Begriff 
der Holle gefunden und, nicht genug damit, 
ihn gefaegt und gepflegt haben bis auf unsre 
Tage. Im ersten Jahrgang der „Cahiers" 
schreibt er dariiber — die Grippe halt ihn 
hn Hause fest, und er liest Pascal — und 
er beschworc sich und seine Leser, dafl die 
MSgiichkeit, ja die Vorstellung ciner Holle 
jeder, aber auch jeder zuriickweisen miisse, 
der den Begriff Menschheit ererbt oder fiir 
sich erworben habe. „Nie wird'S schreibt 
er, ,,dieser Vorstellung zustimmen^wer einen 
tiefen und aufrichtigen Sinn des Kollektivis- 



.,,L Original from 

1 lOogie 



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72 Der ncuntc November 

■ I- < ■— ■■ ■ ■ I - !■ 1 - ' "---- — — __ 

mus ererbt oder sich zu eigen gemacht 
hat, Kein Genosse, der die einfache Soli- 
darity kennt," Dann folgen die paar 
Satze, die sehr genau erklaren, warum 
ich die Diktatur des Proletariats, wie die 
BolschewikI sie ausiiben (ob ganz frei- 
willig oder gedrangt oder gar gezwungen, 
andert nichts an ihrer Art) als die Holle 
empfinde, die gewaltigste Holle, die Holle 
auf Erden nicht nur, sondern auch im dit>s- 
seitigen Jenseits, unsre Vorganger s&gten: 
in der Republik des Geistes. 

tjWir dulden nicht, daB Menschen unmensch- 
Hch behandelt werden. Wir dulden nicht, daB 
Burger (citoyens) unburgeriich (inciviquement) 
behandelt werden. Wir dulden nicht, daB es Men- 
schen gebe, die von der Schwelle irgendeiner Ge- 
meinschaft gewiesen werden, Hier sitzt der 
Grund der Bewegung, die uns beseelt, hier ent- 
springt die groBe Bewegung der Universit&t, die 
die Kantsche Moral beseelt, und die uns beseelt 
in unsern Forderungen. Wir dulden nicht eine 
einzige Ausnahme, nicht, daB irgendwem die Ttire 
vor der Nase zugeschlagen werde. Die Vorstellung 



r**. . , [,-, Oriqinal from 

' ' H \S K UNIVER5ITY0FMICHIGAN 



Der neimte November yj 

■ i — m ■m r^m m I ■ I' l l ■ ■ ' I ■— — -^— -^^ -— -— -^^— _^^_^.^„ f __ . ._^ _ g-_. — . , 

einer Verbanming ist die, die jedem sozialistischen 
Empfinden am tiefsten widerstrebt," 

Lenin, als der Militarist, der er ist, libt die 
willkiirlichste, die grausamste Form der Ver- 
bannung, die Vernichtung. Dieses Wort 
wimmelt in semen Schiiften und springt aus 
jedem dritten Satz seiner Reden: Unter- 
driickung, Ausrottung, Vernichtung. Immer 
dasselbe Wort. Er kann sich nicht genug 
tun damit. Er tanzt das Feuer mit ihm und 
streut Pechfackcln aus, als ob er saete* Wenn 
man ihn lafit, wird er nicht ruhn, bis von 
diesem Feuer die Welt brennt Bis er auf 
dem romischen Hugel steht und der Schein 
der iibermenschlich aufgeschossenen Feuer- 
saatden Himmel friBt, er sehr hoch dortsteht, 
aber nahe genug der Galerie, um von einem 
Literaten das Stichwort zu empfangen: Qualis 
artifex ptereol 

Tn Lenin und seinen Freunden rast der 
Krieg ideell in seiner ganzen Erbarmungs- 
losigkeit weiter. Es ist die neueste, wohl 
kaum die letzte Phase der Gewalt und nicht 



.1 — Original from 

d :v, V lOOglt 



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74 Ber rreuntc November 

eimnal die vorletzte Phase der Liquidation! 
in die die alto Welt im August 19x4 ein- 
getreten ist. 

Scien wir uns dmuber klar: der Krieg war 
die Explosion der Gewa.t, und die Gewalt, 
das ist die Welt, in der die bisherige Mensch- 
heit felebt hat. Die Festungen der Gewalt- 
haber, von ihnen selbst in Brand gesteckt, 
brcchen nun, eine nach der anisrn, zu- 
sammen, das Feuer schlingt weiter, es fri0t 
nach innen, sucht neue N ah rung, immer 
tiefer, immer weiter. Die Kriegsfackel von 
1914, sie ist auch die Kriegsfackel und Waff e 
der Bolschewiki. Sie haben sie ergriffen, als 
sic der schwach gewordcnenHand des Gegners 
entsank, und sie haben sie gegen ihn gekehrt. 
Nun stoBt blindwutig nach oben, was Jahr- 
tausende lang blindwutig nach unten stieQ: 
riicksichtsloser Kamnf um die Macht und 
Behauptung der Macht* Riicksichtsloser 
Freiheitskrieg rnit Repressalien, Prozessionen 
imd Kirchengesang. Der Kirchengesang ist 
marxistisch, die Prozessionen erweisen sich 



r**. . , [,-, Oriqinal from 

1 lK \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Dcr neuntc November 75 

■- — .-- " — ■ 

als soaufklarend, wie ein guter, notgedrungen 
summarischer Volksunterricht sein kann, 
und ohne Repressalien lafit sich of fen bar 
kein Krieg fiihren, nicht eiamaJ ein Freiheits- 
krieg, nicht einmal einer, der von alien bis- 
herigen Freiheitskriegen vielleicht am ehesten 
seinen Namen verdiente. 



Glaube, Hoffnung, Liebe. 

Kein, tausendmal nein! Ich bin Sozialist, 
aber wenn man mich uberzeugte, daB der 
Sozialismus nur mit der bolschewistischen 
Methode zu vcrwirklichen sei, so wiirde ich, 
und nicht nur ich, auf seine Verwirklichung 
verzichten. Denn die Erdbewohner hatten 
es nicht verdient, den Tag zu ericben, wo 
die Menschheit die geordnete Menschlichkeit 
ware und die freiwillige Arbeit: und das 
zwanglose Recht ihre naturlichc Funktion. 
Sie ware es nicht wert, weil sie dazu gar 
nicht fahig, weil dieser Zustand, durch Ge- 
walt hergestelJt und mit Gewaltmitteln er- 



.,,L Original from 

1 d, v lOogie 



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76 D*f neunte November 



halten, die grofite Liige ware, in der jemals 
Sklaven gelebt hatten. 

Nein, tausemlmal neinl Ich will keine 
Sklaven, auch nicht befreite Sklaven, die 
immer Sklaven bleibei, solangc sie, sogar 
in ihrem eigenen „Interessc", gezwungen 
werden miissen, gezwungen durch Aufsehcr 
ans ihrer Mitte oder selbst verfuhrt zur 
dauernden Anwendung der Gewalt dadurch, 
tiaB man eine, natiirlich inoglichst ohn- 
machtige Herrenkaste beibehalt, deren Unter- 
driickung den Vorwand abgibt, damit die 
Sklaven sich als die Herren auffiihren. Ich 
will, dafl der Sklave, der Inbegriff dessen, 
was den Sklaven ausmacht, ob er nun im 
Klassenkampf, dieser primitiven Lebens- 
form, oben liegt oder unten, ich will, dafl 
der Komplex der Gewalt aus der Welt 
verschwinde. Darauf, Kameraden, darauf 
kommt es an, Wobei ich, zu meiner Ent- 
scluildigung, auf den Unterschied hinweisc, 
ob eincr in Unkcnntnis des Sozialismus, der 
sozialistischen Literatur, seiner Geschichte, 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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Dcr mnunte November 77 

seiner Personalien das Blaue vom Himmel 
herunterschwarmt und solche sehr eigen- 
willige Fiktion als Sozialismus auszugeben 
beliebt, 

odcr ob er, bchcimatct auf der schr griind- 
lichen Basis des Sozialismus, das Wesen 
der befreienden und die Freiheit organisiercn- 
den, geschichtlichen Handlung iiber alles 
stellt, hingepflanzt im Gedrange und im 
Sturm der Parteigeschafte, der Parteikampfe, 
vor den KompafJ, dessen Magnet nach dem 
Menschheitsziel weist, unerschiitterlich und 
unverfiihrbar und jederzeit im Bewufitsein, 
dafl sein Reich weder von dieser Legislatur- 
periode ist, noch, vermutlich, von der 
nachsten. 

Wie kennen wir einandert Fiir euch, Ge- 
werkschaftler, bin ich ein Kolibri, unbe- 
trachtlich, ein bunter Vogel t dcr nicht beiBt. 
Fiir euch, Anwerber roter Pratoriancr, ein 
Nichts, ein Hauch in eincr belcbten Stra0e, 
ein Traum, bestenfalls, der am Morgen ver- 
fliegt. Harmlos. Ein Feuillcton, das man, 



f~* f -\f\ l \\ i . Original from 

, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



78 Der neuntc November 

wenn es gegen keine Kirchcuregel verstdBt, 
unterm Strich drucken kann, und das den 
Leser vielleicht unterhalt. Und nur deshalb 
nicht ganz nutzlos. Ein Dichter, der, mit 
alien Waffcn des Klassenkampfes ausge- 
rustet, sich etwas darauf einbildet, daQ er 
trotzdem nicht mittue, Ein Narr y der sich, 
statt an einen shakespearischen Konig, an 
Karl Marx attachiert hat, mit Schellen an 
der phrygischen Miitze. Der Gast itn Bil- 
dungsausschuB, der in den Klassenkampf 
Serenaden einlegt. Euch, Unentwegten, sei's 
in dieser Stunde gesagt. Der Drehorgelmann, 
der fur das Herz im Htnterhaus arbeitet, 
streikt. Er hort auf, die Kurbel zu drehn 
und ruft zu euern Fenstern hinauf. Ver- 
rottete SpieBer, ruft er t so hort wenigstens, 
kommt en die Fenster und hort, was ich 
euch nicht langer unter Gassenhauern ver- 
schv/eigen kann 

Legt ihr's nur darauf an, so viel zu ver- 
dienen, daB ihr eine Wohnung im Westen 
mietet, Ulrike finen Klavierunterricht be- 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOglC 



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Der neurit* November 79 

kommt utid Paul wahrhaftig Latem lernt: 
gut. Aber dann steht davon ab, von Sozialis- 
mus zu redcn. Dieses Geschaft hat vom 
Sozialismus nur das Aushangeschild. Glaubt 
ihr nicht, daB der Mensch aus eigcnem — ich 
sage nicht : sich befreie, denn seine Befreiung, 
das ist der letchtere Teil der Aufgabe — glaubt 
ihr nicht, daB der Mensch aus cigenem sein 
freies Leben in freiwilligen Formen leben 
konne, die, weil alien gemeinsam, keinen 
unterdriicken, dann laBt sie, die Menschen. 
LaBt sie, wo sie sind, und wie auch mit 
thnen geschehe. LaBt sie unter den Tieren. 
Macht sie nicht noch ungliicklicher, als sie 
schon sind, indem ihr Anspruche an sic stellt, 
von denen ihr wiBt, daB sie sie nie erfiillen. 
Dann, Genossen, ist die ganze sozialistische 
Bewegung nichts weiter, als ein bosartiges 
M Baumchen, wechsle dich", Nichts weiter 
als der blutige, endlose und ganz sinnlose 
Kampf 2weier Schacher um die Butterseite. 
Dann, meine Frcunde, wollen wir ins Kloster 
gehn und so tun, als ob nichts ware, bis die 



f^" n*-\ f \i, > Original from 

' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



So Der neunte November 



klassenbewuflten Gardistcn irgendeines Lenin 
die dringendc Notwendigkeit empfinden, uns 
arrne Kirchenmause des Ideals auszurotten, 

Wie verstanrilich, wenn die Driickeberger 
der militarist is chen Zeit auch die Drucke- 
berger dor Revolution warenl Sie fiihren 
nicht Krieg. (Jnd es ist noch immer Krieg, 
und es wird noch lange Krieg sein. 

Deunochl Helfen und nicht verzweifelnl 
GUuben und geduldig sein f bis der Krieg 
vorbei ist! Der Krieg ist die Selbstverbren- 
nung einer Epoche. Einmal wird von ihm 
nur Asche iibrig sein. Die Menschen, todlich 
erschopft, konnten 2u Boden sinken und 
nicht einmal die Kraft haben, die mfid- 
gewtirgten Hande 2u hebcn. 

Dann. 

Dann ware die Zeit, in die Stadte zu gehn 
und zu helfen, dann, wo wirklich Hilfe ware, 
was man fiir die andern tate. 

Dies fiir ucn Fall, dafl der Bolschewismus 
Europa unterjochte und damit die Welt in 
die Barbarei stiirzte. Es konnte ihm ge- 



,,,|., Original from 



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Dcr neimtc November 3 1 

U T T " ' 1 1 ' 

Hngen, wenn Lenin sich mit Ludendorff 
verbiindete : der verzweifelte, in seiner Macht- 
steliung bedrohte Marxist mit dem ver- 
zweifelten Mann der Revanche, der Soldaten 
nimrut, wo er sie bekommt. Die Parole ist 
ausgegeben. Von Radek: „Wir miisscn die 
Sowjet-Republik am Rhein verteidigen." Und 
ich denke an die Worte, die mir, vor drei 
Monatcn, ein preuDischer Junker ins Ge- 
sicht schrie: ,,Wenn wir geschlagen werden, 
gche ich z\x den Bolschewiki und stecke die 
Welt an den vier Enden an." Worte. Ver- 
zweiflung fanatischer Naturen konnte sie 
wahr machen. Heute, wo ich dies schrcibe, 
befinden die Bolschewiki sich in eincr sol- 
chen Geistesverfassung, dafi sic alle andern 
Sozialistcn mchr hassen, sie heftiger bekamp- 
fen als die deutschen Militaristen. 

Ich spreche von der schlimmsten allcr 
Moglichkciten. Wir Gcistigen haben keine 
Wahl. Wir wisscn und sagen schon lange, 
dafl eine geistige Angelegenhcit niemals 
vom Waf fenerf olg abhange, auf welcher Seite 



Original from 

byV. lOOgK 



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82 Dei neunlc November 

tt sich auch einstelle. Die Bolschewiki stehn 
und fallen mit ihrem „Waffengliick". Das 
Ideal steht daruber: unberuhrt* Wir haben 
nur eine Aufgabe, und die bleibt uns unter 
alien Urnstanden: dafiir zu sorgen, daO das 
Ideal, und wenn auch nur bei hundert, wenn 
nur bei zehn Mcnschen, nicht in Vergessen- 
heit gerate. Die Liebe lieben! Hoffen, und 
ware es nur, damit die Hoffnur.g am Leben 
bleibe. Glaubenl Und ware es nur, um nicht 
zu verzweifeln, Als Trost und GewiBheit 
schallt das Wort nach, das Fritz Adler in 
jcnexn Gerichtssaal ausricf - tl Man totet nicht 
den Geist, ihr Briidcr!" 

Wir alle wollen die Welt andern, Wir alle 
wollen die Gercchtigkeit. Wir alle wollen 
das Reich des Glucks, in dern die Menschen 
einander das Leben leicht machen, um den 
Zugang zu sichcrn zu einer neuen, hoheren, 
wenn auch noch so schweren, noch so pro- 
bleniatischen Form des Lebens. Ich stehe 
dafiir, daB Gewalt keine Anderung schafft, 
nur Wechsel. Wechsel des Besitzes, Wechsel 



r*-.. .-I- Oriqinal from 

' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



[w nMiiil* November 83 

der Macht, Wcchsel dcssen, was, unter dcm 
Namen Gesinnung, wieder nur als Waffe 
benutzt wlrd. 

Wlr Geistigen konnen weder niit Faraden, 
noch init Stnatsstreichen, mit keinem Schau- 
stiick irgcndwelcher Art konnen wlr auf- 
warten. Wir gehn, in ticfstcr Stillc, den un- 
abschbaren Weg der Menschenverwandlung. 
So heftig wir t ,lcben" mogen, auftauchend 
in Stadten, voll tierischer Energic, redend, 
schreibend und an der Spitze provisorischer 
Umzuge, die von einer Etappe der politischen 
und wirtschaftlichen Revolution zur andern 
fortschreiten, - unser Schicksal wirkt im 
Traum von dem, was wir, ganz, vicllcicht in 
tausend Jahren sein werden: Menschen. Wir 
wiirden es nie, verlieBen wir diesen Traum, 
vergaBen wir jene lautlosc, gerade StraBe, 
fanden wir nicht dort nach jeder Aktion 
unsre Kameraden wieder* Die konnen wir 
nicht verlieren, sie konnen uns nicht im 
Stich lassen: sie nicht, sie allein nicht. Es 
ist auch ihr Weg, und es gibt keinen andern. 



f^" n*-\ f \i, > Original from 

' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



84 Dtr neunte November 

Wir erkennen einander im Aufruhr der 
Stadte, in Volksversammlungen, in Am*- 
schiissen an einer seltsamen Haltung, die 
andre als plotzliche Nachlassigkeit deuten, 
als Zuriickhaltung angesichts entschlossener 
Agitatoren und andrer Manner der Tat, als 
SIccpsiSj die der Zynismus in seiner Kind- 
heit 1st. Sie tun uns unrecht. Wir sind die 
Tapferen im Trubel. Wir sind die guten 
Fischer im Triiben. Wir sind die wahren 
Glaubigen, Credimus, quia absurdum. 

Urn das Ideal sozusagen bei sich und im 
Beruf zu zeigen, darum habe ich zum Schlufl 
noch einmal von uns gesprochen, und dies 
mufite wohl geschehen, nachdem ich mich 
soviel auf das Ideal bcrufen hatte. 

Wir spielen nicht die Buddhisten, Wir 
stolzieren nicht in Luxusdrucken und iegen 
auf Vorzugsausgaben geringen Wert, Und 
noch halten wir es fiif sehr unwahrscheinlich, 
rtaB auch wir von der Verzweiflung gepackt 
und in ein Klostcr geworfen werden, Noch 
sind wir dabei* Wo wir konnen, Wie wir konnen. 



,,,!,, Original from 



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Der neunte November 85 

Unsre schone, gerade, stille„Privatstra0e" : 
am 9. November tat sie, was sich fur sie 
gehorte, sie behing sich mit roten Fahnen 
und versammelte, fur ihre Demonstration, 
so viel Sonne, wie sie finden konnte, Und 
wir, wir warcn in der Stadt. 

Das eine tun, ohne das andere zu ver- 
lassen. Es fallt nicht schwer, wenn man 
keinen Ehrgeiz hat. 

Desember 3U1S. 



Original from 

I :r,-V lOOOIt 



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Nachwort 

Heute, noch nicht ein Jahr spater, miiflte 
ich eine namenlose Enttauschung bekennen, 
batten nicht die inneren Kampfe, die ich 
wahrend des Krieges ausgetragen habe, mich 
auf diese Enttauschung vorbereitet. Leichter 
mag ich sie da iiberwinden, als viele meiner 
Kameraden, die, gestern noch hingerissen 
vom Kriegslarm oder davon wie zerschlagen, 
am befreienden Tag vermeint hatten, mit 
einem Sprung aus der Holle in den Himmel 
zu setzen. Das konnen wir zwar, du und ich, 
und sogar mehrmals am Tage und in der 
Nacht t und wir tun es auch, aber wir nehmen 
die Menschen nicht mit, sogar die besten 
Freunde folgen nur zogernd oder gar nicht, 
und wenn wir von unsercr Himmelfahrt 
zuriickgekehrt sind, zeigt sich, daB die 
meisten unsre Abwesenheit nicht einmal 
bemerkt haben* Der 9. November war der 



.1 — Original from 

d :v, V lOOglt 



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Der neunte November 87 

schoaste Tag meines Lebens. Am 9. No- 
vember war ich am glaubhaftesten, fast 
mochte ich sagcn: nachweislich im Himmel. 
Ich glaubte, von nun an nie mehr allein zu 
sein, nie mehr an mir una an den andern zu 
verzweifcln, Zum erstenmal lag ich, ge- 
borgen, Deutschland am Herzen. Die neue 
Welt stand weit geoffnet. Wenig bedeutete, 
dafl die Schwierigkeiten sich tiirmten, die 
alteingesessenen Piraten sich zur Wehr setz- 
ten und ihre Fuchsgange vervielfachten, die 
kuhnsten Arbeiter der Stunde zusehends er- 
mudeten, die schnell, aber frisch gebackenen 
Fiihrer sich hier und da rausperten, wie ihre 
Vorganger gespuckt hatten — wenn nur die 
Gemeinschaft im Geiste jenes Tages bestehen 
blieb mit ihren Millionen unerschdpflich sich 
erhebenden Handen und Herzen 1 Darauf 
karn %s an. Darauf allein. Bei einer Revo- 
lution kann man nicht erklaren: „So, jetzt 
ist's genug", umsich dann aufs revolutionare 
Ohr zu legen und den Rest durch die „ Evo- 
lution" besorgen zu lassen. Eine Revolu- 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



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gg Der neurit* November 

tion dauert so tange, wie ihre Vorausset- 
zungen bestehen, 

Der revolutionare Akt selbst ist ein »For~ 
tissimo", wie der Krieg* Es strotat von 
Pauken und Trompeton, die Blechinstru- 
mente bringen es schier zumPlatzen* Daher 
der bezauberndc Eindruck auf die ungc- 
schlachtesten, die aufpcitschcnde Wirkung 
auf die feinsten Nerven, von den Sohlen iibcr 
den Unterleib ins Gehirn. Deshalb wundere 
ich mich auch nicht, wenn ich Zeitgenossen, 
die ich 1914 und noch 1918 als Imperialisten 
verlieB, seit dem November als Bolschewiki 
wiederfinde. Das Fortissimo ist schuld, nicht 
sie. Das sind, wenn nicht die landlaufigen 
Konjunkturhasen, extreme Naturen, auch 
emotionelle genannt, die nicht geizen kon- 
nen, wenn sie beschenkt werden, weder mit 
ihrer Obcrzeugung noch mit ihrer Begeiste- 
rung, Oder sie folgen einem statischen Ge- 
setz t sie mlissen, werden sie von ungewohn- 
lichen Ereignissen iiberrascht, auf dem Kopf 
stehn, urn sich gerade zu halten, Nur habe 



, I , Original from 

Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Dcr neuntc November 89 

ich die Erf ah rung gemacht, dafl sie es in der 
Lage nicht lange uushalten, was wiederum 
niemand erstaunen kann. Zu ihnen spricht 
das Wesen des Paukenschlags, sie brauchen 
sich wirklich nichts daraus zu machen, was 
fiir Hosen dcr Paukenschlagcr gerade an- 
hat. Vcrschicclcn ist nur der Sinn der Musik. 

Von wem, und fiir wen sie aufspiclt. 

Danach erhalt sie ihrcn Namen ,,Krieg" 
oder ..Revolution". Der Sinn ist es, der ent- 
scheidet, verpflichtet. 

Und es ist noch immer* die Musik des 
9. November, die wir horen, trotzdem dcr 
Aufmarsch der Gegenrevolution sich in mu- 
stergiiltiger Ordnung vollzieht, wie das an- 
ders seit Ende Dezember nicht mehr zu er- 
warten war. 



Nur : wir sind nicht mehr die vielcn, dencn 
die andern, verspielt, verzweifelt, ausge- 
pumpt, sich anvertrauen, Wir waren es 
genau vierzehn Tage. Im November hatten 



,,,|., Original from 



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90 Der neunte Ncrtmbcr 

die Wahleti ausgeschrieben werden, spate* 
stens vier Wochen spater hatten sie statt- 
finden sollen. Im November hatte die Re- 
gierung alle grcficn Kriegsbctiicbe — und 
welche Betriebe waren es nicht? — in Ge~ 
meingut ubcrnchmen kiinnen, ohne da0 ein 
Aktionar geraucksc, ein Ingenieur sich vcr- 
wcigert hatte. Im November hatten die 
tausend oder zchntausend Intcllektuellen, 
die bereit waren, alles fur ein neues Deutsche 
land und die neue Welt herzugeben, in den 
Stand gesetzt werden miissen, Gymnasiasten 
(die, da sie gut genug fur den Krieg waren, 
wohl auch fur die Revolution nicht zu schlecht 
gewesen waren) ? Studenten, Handlungsge- 
hilfen, junge Arbeiter, Daktylographinnen, 
heimkehrende Soldaten, die draufien alles 
bis auf das naclcte Leben eingcbiiflt hatten, 
kurz das ganze geistige Proletariat in so- 
zialistischen Begeisterungs-, Erneuerungs*, 
Rettungsausschiissen, oder wie diese SammeU 
stellen tatigen Geistes sich sonst genannt 
hatten, zu sammeln, sie aufzuklaren, zu 



r**. . , [,-, Oriqinal from 

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Der ncunte November 91 

leiten — ein Kinderspiel ware es gewesen, 
zur reprasentativen Korperschaft der jungen 
Republik zu erheben und weithin sicht- 
bar, weithin fruchtbar zu machen, was iiber- 
all in Deutschland, uberall enthusiastisch 
aufbrach und auf eigenc Faust losging und 
dabei sein wollte, wo plotzlich alles jung und 
f risch war : Nachbar, Heimat, Erde, zwanzig-, 
sechzehnjahrig die Welt, wie fur die Frei- 
willigen der ersten groften Republik. Es war 
die Stundc der deutschen Jugend, und die 
deutsche Jugend hat sie nicht verfehlt. Auf 
alle Amter lief sie, jedern Arbeitersekretar bot 
sie sich an, sturmte die Redaktionen der 
Parteiblatter, sternschnuppte und HeB sich 
nicht ausloschcn vom Flederwisch in biirger- 
lichen Redaktionen : die deutsche Jugend 
nahm ihre Slunde wahr. Viernial hatte die 
Erde sich gedreht, und die Zeit hatte nichts 
vermocht gegen ihre Jugend. Nach vier 
Jahren, in denen sie sich hatte schlachten 
lassen in alien Himmelsrichtungen, wie es 
ihr von entruckten Greisen befohlen war, 



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92 



Drr neunte November 



schnellte sie auf, Hydra des Ideals, und bot 
stch dar, riickhaltlos, bedingungslos, Und 
diesmal ging es nicht fiir den Ka*ser und dm 
Export, ^ondein um das deutschc Volk, die 
in Nacktheit glauzendc Masse von sechzig 
Millionen Menschen, die eine gemeinsame 
Sprache haben, Sprache, die in der Welt 
verhurt worden war zur Sprache der Ge- 
walttatigkeit und der Lii^e, und die darum 
nicht weniger ihre Sprache und ilir ein- 
faches wahres Leben war von Mund zu 
Mund. Diesmal deckte sich deutsches Volk 
mil Volk schlcchthin und also mit Mcnsch- 
heit, Nie hatte die Sonne also iiber Deutsch- 
lAiid gestanden wic in diescn vierzehn Tagcn. 
Sie ging nicht unter in seinem Reich. Was 
ein Kaufinann in die Front seines Ge- 
schaflshauses gemeiflelt hatte: ,,Mein Reich 
ist die Welt", in diescn vierzehn Tagen war 
cs deutsches Schicksal. Schicksal, herein- 
gebrochen, wie Schicksal kommt, fast blen- 
dend vor ungeahnterWirklichkeit, wie Schick- 
sal sich schenkt. 



,,,!,, Original from 

IbyLsOOgle 



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Der neurit* November 93 

Und ging voriiber. 

Wieder waren es die alten Manner, die die 
Jugcnd an das Bestehende verrietcn, das 
i miner die Vergangenheit ist und diesmal 
ganz handgrciflich die Vergangenheit war: 
Zusimmenbruch, Tod und Verwesung. Die 
Greise verrieten die Jugend, um sich, nur 
auf ein Viertelstundchen, zu erhalten. Um 
dieses elende Viertelstundchen drehen sich die 
Kampfe der Gcnerationen. Was als Revo* 
lution begonnen hatte, endete als betriige- 
rischer Bankrott Die sozialdemokratischen 
Juniorchefs des Hauses Hohcnzollern batten 
ihrc volkischc Mission darin erkannt, von der 
Konkursmassc zu rctten, was in der zu er- 
wartetiden Wcltpanik zu retten ware* Sie 
hielten zur Rcpublik unter der Bedingung, 
da0 allcs beini alten blicbe, soweit das Alte 
sich nicht bercits selbst ausgeschaltet hatte. 
Die Revolution hatte sie in den Sattel ge- 
hoben. Nun wollten sie zeigen, da0 sic reiten 
konnten wie Ludendorff und der Prinz von 
Baden in einer Person* 



d :v, V lOOglt 



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94 Der rU'imle Novejuher 

Die Weltpanik blieb aus. Die Genossen 
in Moskau und Paris steckten den kunter- 
bunten Epigonen eines Millerand, die Vial my 
neueinstudieren wollten, einige zusarnmen- 
fassende Grobheiten und liefien sie allein, 
wo die Fiichse einander gute Nacht sagen. 

Der Neudeutsche mit der Ballonmiitze als 
Tabakbeutel, dem Namenszug Marxens als 
Krawattennadel und der Balm, die ihn ge- 
fiihrt Lassalle als Kriegskarrlere, der sich 
bis in die WilhelmstraBe vorgeschoben hatte, 
machte zwar die Zeche der Revolution, aber 
als er sie begleichcn sollte, spielte er den 
Kavalier. M Ich weiQ jetzt f wer du bist," 
sagte er zu der proletarischen Erscheinung," 
lt ich lasse mich nicht erpressen", und er 
holte die Polizei. Seitdem ruht die deutsche 
Welt auf Noskes starkem Nacken. 

Arme deutsche Jugend 1 Wie hatte die 
zweifeln diirfen, wo Hugo Haase vertraute? 
Warum hatte sie weniger auf die Macht der 
politischen, wirtschaftlichen und seelischen 
Verhaltnisse bauen sollen als Kautsky, Ditt* 



Original from 



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Der neuntt November 95 

raann, Breitscheid, Eisner, Arco, Gerlach, 
Simon, Bernstein und alle, alle wahrhaften 
Erncucrer, die im bezaubernden Morgenlicht 
auftitmend in die Hand einschlugen, die sich 
ihnen entgegenstreckte wie die eines wieder- 
gefimdenen Bruders? 

Vierzehn Tage wahrte fur uns das Para- 
dies, fur die andern die Angst. Dann er- 
kannten sie, dafl sie noch am Leben waren, 
und daB die kostlichste Errungenschaft der 
Revolution die Freiheit sei. Sie unter- 
nahmen sie, ihre Freiheit I Mit dem Erfolg, 
der ihrer gleichgearteten Unternehmung ge- 
gen den auCeren Feind vcrsagt geblieben war. 
Liebknecht, Luxemburg, Eisner, Landauer 
wurden erschlagen, deutsche Stadte im Sturm 
genommen. Die Morder jener Manner leben. 
Die Morder Deutschlands aber schreiben in 
tiefster Gemiitsruhe Artikel und Biicher, 
darin sie beweisen, daB das feige Verhalten 
ihres Opfers in seiner Todesstunde sie um 
den Lohn ihrer Huhmestaten betrogen hat. 



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96 Der neuiitc November 



Dennoch. 

(Wieviele Kapitel unseres Lebens werden 
wir noch so teginnen miissenl) 

Dcnnocli hdrt, wer Ohren hat zu horen, 
noch imimr die Musik des 9, November, 

Trotz der falschen Fiihrer, die den Krieg 
fortfiihren wollten statt der Revolution. 

Trotz der Zauberer, die im stillen die 
Kriegswut weiterpflegen in der Hoffnung auf 
den historischen Theatercoup, wo der unter- 
irdisch fliefiende Strom auftauchend noch 
einnial, und diesmal endgultig, die Wider- 
siande niederreiBe. 

Trotzdem diese Hyancn es sich gut 
seia lassen auf dem Leichenfeld eines 
greficn Volkes, das sie herabgewiirdigt 
haben tief unter das Mafl der europaischen 
Familie. 

Trotzdem Intelicktuelle, die gestern philo- 
sophische Menschenfresser oder doch die 
Wankelmut selbst waren, heute als radikale 
Denker aufmarschieren, die vor keiner Ge- 
fahr zuruckschrecken, wenn sie voriiber ist. 



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Def neimte November 97 

Gestem feig nach rechts, heute nach links, 
wankelmiitig selbst in ihrer Feightit. 

Trotzdem die heutigen Fiihrer dc*r deut- 
iichen Republik als richtige Emporkomm- 
Hnge sich immer angstlicher und dement- 
sprechend frech unter die Kaste ducken, die 
innerlich und auBerlich zu ersotzen sie vom 
Volke beauftragt worden siud. Wie die 
Henne auf ihren XCiicken sitzt die Kaste 
auf den neuen Mannern, glucksend vor 
Vergniigen, den Schnabel kriegerisch im 
Wind. 

Dennoch wcbt die Musik der November- 
tage eiti allem, was offentlich gcschicht, und 
selbst im Vcrrat, wie die Wahrheit in der 
Luge. Eine Sonne wie die des November 
1 9 18 blcibt unvergeClich jedem, der sie da- 
mals gesehcn hat, als ware sie ein neues Feuer 
am Himmel gewesen, Und es sind sechzig 
Millionen, die sie so erblickt und von ihr das 
Urteil entgegengenommen haben : M Tod 4< 
fiir die einen, fiir die andern „Leben". In 
jedem einzelnen steht sie da, genau wie an 



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byV. lOOgK 



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$8 Der neunte November 

jenem Tag, keine Gewalt holt sie herunter, 
Mogen die eincn sioh wehren bis aufs Blut 
und die andern noch so ermiiden; der Sieg 
ist so gewiB, wie gewifi ist, dafl im November 
zwanzig deutsche Fiirsten Angst vor ihren 
Thronen bekamen und ein Heer von sechs 
Miliionen deutscher Untertanen das Joch 
abwarf wie einen Alp. 

Was gibt es, angesichts dieses unverlier- 
baren Gewinns, fur uns zu f iirchten ? Nieder- 
lage auf Niederlage der Revolution, so wie 
die Entente sie vier Jahre lang erlitten nat? 
Sturz der Sowjetrepublik und wirtschaftlichen 
Bonapartismus in aller Welt? Letzte Panik 
miidgeputschter Arbeiter, die ihre Fiihrer 
totschla^en, das gcrettete Viertelstiindchen 
des Kapitalismus, Atempause, Hochkon- 
junktur? 

Diese Funzel wird die Menschen nicht 
erwarmen, von solchem Brot wird keiner 
satt, 

Aber der Kapitalismus wiirde sich zur 
hochsten Kraftanstrengung aufgerafft, das 



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' ' H \S K UNIVER5ITY0FMICHIGAN 



Der ncunte November 99 

Proletariat sich in der Arbeit neu gefestigt 
uad in der wirtschaftlichen wie poiitischen 
Organisation so entwickelt ha ben, dafl die 
Produktion ihm in die Arme fallen konnte, 
ohne es zu efdriicken, so wie den Deutschen 
die Republik in die Arme gefallen 1st 



Original from 
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Anhang 



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IbyLsOOglC 



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B ruder Suares! 
(Ein vergebliclier Aufruf aus dem Juli 19x8.) 

Unter dem Titel „Die Einpeitscher" wollte 
ich ein Buch iibsr die inteliektuellen Banditen 
des Kricges sclireiben, ein zornigcs, ein hoses 
Buch, Die Notizen waren bereits zu einem 
Haufcn angewachsen, da warf ich sie in 
den Kamin mid verbrannte sic, 

Wozu ein Buch schreiben, das Schaden- 
freude geweckt und niemand geholfen hatte? 

Es geniigt zu sagen: die ersten Reservisten 
wsren noch nicht aus dem Haus, da brach 
es los, in alien Tonlagen, von den Pyrenaen 
iiber die Vogesen zur Wolga und verier sich 
nicht in der sibirischen Steppe. Denn in 
Tomsk saQ ein tatarischer Arzt, Veteran des 
Krimkrieges, und rief die Rechtglaubigen in 
Versen, die er selbst unter die rnarschbereiten 
Soldaten verteilte, zum Kreuzzug auf. 



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Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



204 ^ er neurite November 

" — — ■ ■ ■ ^m-r^-. , - J - l.l. II ■ ■ I , I i ,, . , ■■ It l l M 

Er vcrgriff sich nur im Feind, der ja p da 
er wechsalt, von imtergcordncter Bedeutuug 
ist. In Treu und Glauben, ini guten Willcn, 
im Seelen^chwung stand er keincm der 
Mcistersinger nach, die auf einen Schlag die 
KuKurzentrcn mit ihrem Geheul er- 
sehutterten. 

Die deutschen Intcllektuellen bildeten erst 
cine Lawine, dann gingen sie nieder. Der 
Lustspieldichter Ludwig Fulda setzte einen 
Protest auf, fiir den neunzig Unterschriften 
heibcitelegraphiert wurden. Es muDte schnell 
gehen. Es ging schnell. Und cs war ein 
Wurfi Fulda schuf das Mcisterwerk, das 
ihn iiberleben wird. Noch die Enkelkinder 
wird die Komik dieser Schofarblascr in einen 
Abgrund widerhallenden Gelachtcrs stiirzen. 

Kipling in England blicb heroisch. Es 
bedurfte, fur ihn, weiter keiner geistigen An- 
strangling, um i estzustellen : jetzt oder nie. 
Chesterton gewann dem Krieg die ulkige 
Seiteab. Dafiirwarer auf die Welt gekommen. 
Wells aber sprach von der „exerzierenden, 



Original from 
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Der neunte November 105 

— - - - — — - — - — 

trarnpclnden Narrhcit im Hereon Europas", 
mit der endlich einmal cin Ende gemacht 
werden solle, welche Meinung Shaw auf- 
richtig teilte. Darauf land Wells, daft der 
Krieg selbst seine ungewohnliche Vorstel- 
lungskraft iibertroffen habe und begann M klar 
zu sehen". Er schrieb ehien aus^czeichneten 
Roman, worin er darlegte, wieso diescr Krieg 
langst nicht mchr ein Krieg zwischen zwei 
politischen Machtegruppcn sei, sondern ein 
Kampf, auf Gedeih und Verderb aller, urn 
eine ncue Welt. 

Italien fiihrte d'Annunzio in den Krieg, 
als ware der Krieg ein Ballett uad die Rubin- 
stein die Pallas Athene- Er schrieb ihr, in 
Vers und Prosa, eine fabelhafte Rolle auf 
den Leib, der Pallas Athene. Auch sah man 
den alten Garibaldi, wie er von ihr Helm 
und Lanze entgegennahm und diese zuerst 
an seine Sohne und Enkel und dann an den 
General Cadorna weitergab. Dieser Dichter 
war mutig, Es konnte noch so bitter kommen, 
er blieb, bei Lebensgefahr, dabei, daQ der 



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' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



tod Der neunte November 

Krieg ein Ballett sei . Er bef and sich auf einem 
Torpedoboot, das den Hafen von Pola for* 
cierte. Das Schiff entkam, aber d'Annunzio 
liefi eine Flaschenpost zuriick mit „Sonetten 
der Herausforderung". Er flog und warf den 
Csterreichern abwediselnd Bomben und 
kuustvollendete Aufrufe auf den Kopf. Das 
alles habe ich photographies gesehen. 

Die Amerikaner hielten sich am langsten 
zuriick, Sie werden am langsten dabci bleiben. 

Die schonste Stimme in Frankrcich besaG 
Andre Suares. Wenn der Erasmus von 
Holbein einen alten Propheten darstellte, so 
hatte Suares ihm aufs Haar geglichen. 

So viel und nicht mehr davon. Was ist 
uns Saulus? 

Der Acker liegt in aufgcwuhlter Blofic 
unterm Himmel. Am Horizont tauchen die 
Saer auf. Der Wind geht wie am Schopfungs- 
tag. Freuen wir uns, daB wir nicht allein 
sind und schreiten wir, als batten wir ein- 
ander nie verloren, schreiten wir unbe- 
kummert auf einander zu. 



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1 H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Der aeunte November 107 

In Ihnen, Suares, griifie ich Frankreich, 
die Martyrerin der Menschheit. Ware sie 
geringer, de hatte tausendmal recht, sich 
lieber im Sarg auszustrecken als ihr Gesicht 
wieder nach Osten zu wenden. Aber wenn 
der Damp! von Pulver und Blut sich ver- 
zieht, ich bin gewifi, wird die hohe Saerin 
daraus hervortreten mit ihrer vcrschwen- 
derischen Gebarde, die liber die Erde weht. 
Hinge ihr Gcwand in Fetzen, ware sie selbst 
nackt, urn so strahlender hobe sich ihr 
schrUtender Leib, urn so heller floge das 
Korn, 

Schwester meiner Mutter, du weiflt, ich 
gchfire nicht zu jenen Heuchlcrn, die Liebes- 
worte murmeln, wall rend sich ihre Hande 
um deinen Hals zusammenzichen. Ich hattc 
nie die Hand gcgen dich gehoben. Du hassest 
das Chaos, nicmand hat die kiihne und an- 
mutige Ordnuug mehr geliebt als du, ohne 
dich ware Europa ein sinnloser Begriff. 
Ohne dich ist Europa verloren, Wir konnen 
keine Brahmanen werden, und ohne dich 



, I , Original from 

■ 00 8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



to8 D*r neunte November 

konnen wir nicht Christen sein, Nur im 
Parages — ich wage kaum, es auszuspr echen 
— werden du und Deutschland einander 
wieder begegncn* Ich kann nicht anders, 
ais es zu wiinschen, zu hoifcn und, in meiner 
Ohnmacht, zu erstreben. Die Welt ist ver- 
loren, wenn sich nicht hinter den Toren } die 
allenthalben zu Boden sinken, das Paradies 
offnct. 

Lassen Sie mich mit Ihnen sprechen, 
Suar6s. 



Sie haben eine g.anze Reihe von Pam- 
phleten verfaBt, Dancben Biicher iiber P6guy 
und Cervantes, die nicht minder polemisch 
waren* Ais den groBen Bruder der Jeanne 
d'Arc haben Sie den Don Quichote hin- 
gestellt, der, aufgereckt in den Steigbugeln, 
ein Volk cntziickter Traumer gegen die 
deutsche Maschine fiihrte. Der Held wurde 
stiller, er wurde starker, er wurde alter und 
inniger, je n&her er an den Feind kam. Jetzt 



...I,, Original from 

byV. lOOgK 



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Der neuntc November 



109 



war er der heilige Michael, der die Nische 
seines gotischen Domes verlasscn hatte, urn 
gegen die GroBmuttcr des Teufels und ihre 
aufgeschossenc Drachensaat ins Feld zu 
Ziehen. H inter ihm k am das game steinerne 
Volk der Kathedralen und glanzte in Waf fen. 
Es drangte und betete und sang* Es schrie 
„Dieu le voult" und schlug Schwerter und 
Leitartikel zusammen. In den entlcerten 
Stadten folgtcn die Frauen und die Kinder 
der lachelndcn Mutter Gottes und warfen 
ihr das „Dieu le voult'* mit Straufien roter 
und weifier Blumen zu. Auf den StraBen 
standen die Altare, wo die Prozession ver- 
weilte, wie Zorn brannte die Monstranz 
zwischen jungen Birken und Feldblumen, 
und auf dem weiOen Leincntuch, worin der 
tote Christus wie in lauter Unschuld gcbettet 
worden war, lehnte ein finsteres, ein unbe- 
kanntes Bueh, die Alte Lehre, und war mit 
Lesezeichen gespickt. Die hieltcn die Stellen 
der Schrift klar, wo Gott auf die Menschen 
tritt, als waren sie Regenwurmer, und mit 



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1 lOogie 



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HO Der neuntc November 

^ ^ — .1 .»^- - — -I. .1 ■■ I. I I ■ I . 1 . ■ ■ HI - ■ — - 1.1 I ■ I ■- 1 — ■■ 1^ 111 . M^ l. i 

seincm HaB die Erde beschattet. Die Stddte 
versanken in Glockengelaut, die kriegerische 
Vision slob iiber dem Fcind in den Himmeh 

Das alles war noch edler Suares. Die 
Dummheit selbst, dieses Haupt der Gorgo, 
war, wo es auftauchte, nicht ohne einen an- 
mutigen Zug. Der sonst wohlgeborene Na- 
turen zu verstopfen pflegt, der HaB envies 
sich als himmlisches Purgativ. Nie waren 
die Regeln des besten bel canto auBer acht 
gelassen* 

Seit Mounet-Sully hat Frankreich ketnen 
bessern Tragoden, als Sie. 



Im August 191 7 began nen Sie eine klcine 
Monatsschrift herauszugeben, die Sie allein 
schrciben, Sie sagten von Goethe: f ,0b man 
will oder nicht, es gibt grofle Deutsche* Sie 
gehen Europa an und das gauze Menschen- 
geschlecht. Oft verdirbt der Deutsche in 
ihnen den Universalmenschen, aber der Uni- 



,,,!,, Original from 

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Der neunte November t II 

» ' ■ i n — ^ ^^— ^ — — — -^— ■ I 1 ■ -■ ■ ■ - . — I -^^JfcH ^ I I III ■ I ^ IM^^* 

versalmensch ware unmoglich ohne den 
Deutschen." Sie merkten iiber Moltdre an, 
er habe Gott Konig gewonnen, um ein fur 
alle Mai die Holle seiner Heiligen loszusein. 
Sie glaubten unser wichtigstes Problem zu 
losen, indem Sie befahlen: )( Wenn es nicht 
die Moral ist, die iiber die Gewalt verfiigt, 
so wird die Gewalt die einzige Moral sein/' 
Ich wiirde sagen: „Wenn es nicht der Moral 
gelingt, die Gewalt aufzuheben, so wird die 
Gewalt die einzige Moral bleiben." 

Doch entdeckten Sie immer wieder die 
Liebe. 

Ich fand so viel Gemeinsames, dad ich 
Ihre Hand im Gewiihl nie ganz verlor, aber 
Sie priesen den Krieg, weil sie an ihn glaubten 

Sechs Monate spater siegte der Maximalis- 
mus, was so viel heiflt wie: es zeigte sich, 
wesson einige entschlossene Kerle in einem 
ausgepumpten und moralisch erschopften 
Land fahig sind, Kerenski wurde gefallt 
und Gorki im selben Ansturm iiberrannt wie 
die ganze sozialistische Mehrheit. Die Dik- 



,,,!,, Original from 

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tin Der neunte November 

tatur des Proletariats hob fiber dem Land 
zwischen den Schutzengraben und der asia- 
tischen Grenze ihre Tatze und senkte sie in 
Blut und Feuer. Ein kleiner Mann bestieg 
die Kanzcl und verdammte die >,alten Phra- 
scn" von Gleichhcit, Freihcit, Bruderlichkeit, 
Dernokratie und Menschenrechten a!s blasse 
Schemen der biirgerlichcn Ideologie. Der 
Zar lag am Boden, alles, was nicht Lenin 
und sein Anhang war, lag am Boden, Der 
Terror war geblieben oder noch schlimmer 
geworden j er hatte nur die Farbe gewechselt. 
Die alte Knute hatte nur die Hand gewechselt, 
Nie war Tolstoi so tot gewesen. 



Da bru bt bei Ihncn, SuareF, die neue Wut 
aus und das neuo Leben. Sie toben burleske 
Szenen aufs Papier. Unter dem Motto: „Denn 
auch das Ideal hat seine Gemeinheit", ver- 
reifien Sie die bolschewistische Revolution. 
Sie schleudern das Wort von der „gecken- 



,,,|., Original from 



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Der neuntc November 113 



halten Selbstgefalligkeit der Illumiuaten, 211- 
mal jener niedrigsten Art, der Sklaven einer 
einzigen Idee, die die Gewalt anrufen, damit 
sie ihnen recht gtbt", schleudern es, Soldat 
der Gcgenrevolution, wie einc Handgranate. 
Figuren dieses wiitigcn Marioneitenspicls, 
betoncn Sie, „schneidcn vom Schcitel bis 
2ur Sohle die Grimasse von Gehangten", die 
man zu fruh abgeschnitten hat. Sie laufen 
heruni, ,,griin vor Arger, und a lies an ihnen 
schreit nach dem Galgen. Sie sind durchaus 
wiirdigt daran festgenagelt zu werden und 
so in Ewigkcit den Christus der Mittelmiiliig- 
keit darzustcllen". Sie hohnen wie der be- 
gabteste Militarschreiber der Gegenrevolution. 

Die neuc Wut — das neue Leben. 

Sie entdecktcn den Humor gewisser Volks- 
belustigungen; 

,,Einer so wcisen und harmonischen Revolution 
darf es an Harmonie nicht fehlen. Die Musik der 
Roten Garde la3t sich horen. Sie geht los, wann 
es ihr gefallt, und wie der Heilige Geist es ihr ein- 
gibt, Kein Dirigent, keine Noten: weiB das Volk 



Original from 

byV. lOOgK 



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1 14 Der neuittc November 

nicht alles aus seinem Instinkt alletn? Hat man 
es je false h singen gehort ? 1st es nicht die hochste 
Kunst, die nochsu Schonheit sclbst, wie es die 
leibhaftige Wahrheit ist und die fleischgewordene 
Tugend? Sie brauchen keiae einxige Note zu ver- 
stelicn und sind doch au;gczeich:ictc Musikanten, 
und urn zu singen, bedtirfen sie keiner Stimtne : 
sie haben die Bauchtrommel, ihre kleinen Gotts* 
donnerwetter ; vox popiili, vox Dei, wie geschrieben 
fteht" 

Ist es so lange her, daB Sie, Suar£s, end- 
lose Variationen iiber das Thema „Gesta Dei 
per francos" abgewandelt haben? 

,,Eine Bande Trunkenbolde in drei Gesang- 
stimmen, die sich erbrechen und ihre Winde ab~ 
blascn, vollfiihren ein bewunderungswiirdiges Kon- 
zert und das natiirlichste von der Welt : nicht linger 
ist die Kunst die Mutter alter Verderbtheit* Die 
guten Mdnche seibst finden hier ihre Zellen- und 
Klosterorgel wieder und sind vergniigt. Diese 
Musikanten blascn in aller Unschuld auf ihren 
naturiichen Instrumenten : endlich ist der Natur 
Geniige getan." 

EndJich? Mir tcommt es vor, als dauerte 



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f>«*r neunt* Novembei 1 115 

1 - ---- - — -- — ^^ 

das Konzert schon viele Jahre. Die Ab- 
wesenhcit Gottes und die Wiirdelosigkeit 
des Spektakeis ist Ihnen erst aufgeganger, 
seitdeni die Revolution in RuBland den 
Schlussel des Musikstiicks geandert hat. Die 
Perspcktive der Notwehr, auf die Sic sich 
vielleicht berufen, ist auch die der Bolsche- 
wisten. 

pl Eiii Trupp freier Frauen, Chemikerinncn, Arz* 
tinnen und Philosophinnen braucht wedcr Flotcn 
noch Pfeifen; sie denken laut im Disk ant und 
schreicn im Takt : Ich bin ich, ich, ich! Wer ist, 
wie ich, ich, ich! Und ihre Mclodie sowohl wie 
der Klang ihrer Stimmen verhelfcn den Frauen 
cndlich zu ihrem Recht: sie sind obenauf," 

Es hat vier Jahre an Mannern gefehlt. 
Ihren Platz nahmen Frauen ein. Snares, hier 
kreischen Sie wie ein Pfaffe. 

Im Verlauf der rhetorischen Ereignisse 
lassen Sie v nach Trotzki, den ,,Caliban-Lenin" 
mehr bemitlcidet, als dafi er ihn hafite, 
Coriolan und Danton auftreten. Die be* 
gegnen der Allgemeinheit der proletarischen 



r*-.. . , [,-, Oriqinal from 

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Il6 frer neunte November 

Diktatur mit Allgemeinheiten, wie der Frage : 
,,Warum sollten die Lause keine Ideale 
haben?* 1 Coriolan ruft aus: H Das Beil iiber 
den Pobell" Und gcnug des Geredes von 
der Kindlieit eines Volkes: „Die Schwache 
d^r Kinder macht sie liebenswert. Hatten sie 
die Kraft, sie waren Ungeheuer ♦ . /' Ke- 
renskij der erklart: n Ich will kein Marat 
sein", erhalt von Danton zur Antwort: „Sag' 
lieber, daQ du ein Schwachling bist. Du wirst 
dich selbst in deiner Badwanne ersaufen." 
Worauf Kerenski: „Ich habe ein gutes Herz, 
und ich bin krank." 

So und nicht anders lassen Kraftnaturen 
seit vier Jahren die M Pazifisten M reden. 

Es ware ein Wunder gewesen, wenn nicht 
in diesem Augenblick ein General der fran- 
zosischen Revolution von der Zimmerdecke 
hcrabgestiegen ware, Er zieht den Sabel, 
und wir sind mitten in der Legende: fl Du 
hattest Kormlow 4 *, schnauzt Danton: 

,,Er hfitte ein Hoche sein kdnnen, er h&tte dich, 
Kerenski, gerettet und RuBland mit dir * . * Ab;r 



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Der ncuntc N 5 /ember ny 



du> der du alio Verrater begnadigt,t, ihn hast du 
zvm Tode verurteilt. Du konntest nicht das Blut 
eiues riiudtgen Huhncs vergieflcn; at>er du schrickst 
nicht davor zurLick, eincni Mann den Kopf ab- 
sclmcldcn zu lasscn, wenn dicser Kopf hundert- 
tausend anderc wcrt ist. Allc Schwuchlingc sind 
Heuchler, alle Schw&chlinge sind Lugner," 

Seit vier Jahren gibt man, in hundert 
Fassungen, die Legende aus, dafi wir irgeiuU 
cin Glanzstiick aus der Geschichte wiedcr- 
holen, Blutcnde Gespenster! V/ir bratichen 
nicht einmal die Hand auszustrecken, um 
die reifen Friichte unscrcr idealistischen Er- 
ziehung zu plliicken. („Warum sollten die 
Lause kcine Ideale haben ?") Sic zertrommcln 
die Kopfe, ohnc dafl dicse sich riihrtcn, bis 
unter die Erde, in die sie sich verkriechen* 
( t Alle Schwachlinge sind Heuchler, alle 
Schwiichlingc sind Lugncr": ibre grenzen- 
lose Schwache hat die Menschhcit in diesen 
Krieg stiirzen lassen, ihre unermcflliche 
Schwache halt sie in dem magischen Sumpfe 
fest. 



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1 18 Der ncunte November 

Die Maximalisten haben die Zeit nicht ge- 
Sndert. Sie konnten sie nicht andern, weil 
sie sich, urn zu „siegen", den Bedingungen 
des Sieges unterwarfen. Sie schlossen nicht 
Frieden, sie wechselten den Fcind. Sie ver- 
legten den auBercn Krieg nach innen. Sie 
kapitutierten nach auflen, um den Krieg im 
Innern zu fuhren. Sie fiihren ihn, wie Kriege 
gefiihit werden, nicht schlechter und nicht 
besser, Siclier veruben die Roten zu Hause 
keine einzige Greueltat, die sie nicht schon 
als WeiBe drauBen veriibt hatten, oder f bei 
gegebener Gelegenheit, hatten veruben kon- 
nen, ohne daB sie in den Augen der Welt zu 
Mdrdern und Dieben herabgesunkcn warcn. 
Wir erkennen sie wieder, die Noyades de 
Nantes, d:e Septembermorde, aber auch das 
Koblenzer Entrustungsgeschrei! In jeder 
'Revolution gibt es eine Stunde, wo der 
Sieger die Kanaiile ist. Dann herrscht die 
Dlktatur der Plunderung und dec willkiir- 
lichen Todschlags. Man kennt nur zwei 
Mittel dagegen: entschlossen unter die Ka- 



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IbyLsOOgle 



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Der neuntfi November HO 

naille gehen oder sich verkriechen, bis sie 
vorbei ist Selbst Taine fand nicht den Mut, 
die Kanaille auf die Rechnung der Revo- 
lution zu setzen. Das Wort: M Wenn der 
Konig trinkt, ist das Land besoffen", gilt 
fiir alle Regierungen und allc Staatsaktionen. 
Augc um Auge, Zahn urn Zahn: clamit 
hat die Menschheit sich von einer Kata- 
strophe zur andern geschaukelt bis zxxt 
letzten, die tins, natiirlicherweise, als die 
grdBte erscheint. Ob er sich nun Gerechtig- 
keit, Sicherheit, Ehrc oder sonstwie nennt, 
es ist der Rachegedanke, der in jeder Hand- 
lung dieses Krieges herrscht, der kleinsten 
wie der groBten. Der Rache wegen will der 
Starkere noch einmal schlagen und so seine 
Oberlegenheit festigen; dann wird er Frieden 
schlieOen. Aus Rache steift der Schwachere 
den Riicken und halt aus in der Hoffnung, 
hinauf und dem Gegner iiber den Kopf zu 
kommen. Dann wird er Frieden schlieBen, 
Was geschieht in Wirklichkeit? Kaum ist 
er oben, so iibernimmt der Gegner die Rolle, 



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120 Dcr tieiit&ta November 

worin er sich selbsc mit Gliick bchauptet hat. 
Was wiederum bleibt diesem, obea angelangt, 
von seinem Sieg f als die Sorge, lange geivug 
oben zu bleibenl So warten beide Jahr urn 
Jahr darauf, daB der andere miide wird und 
von der Schaukel herabfallt. 

So lange und nicht langer, sagt Lenin, 
soil auch die Diktatur des Proletariats dauern. 
Dann wird er Frieden schlieBen* 

Dies gilt nicht nur fiir den russischen 
Burger und den russischen Proletaries viel- 
mehr wird dem kapitalistischen Weltkrieg 
der sozialistische folgen, und der muB, in 
der Form der V/eltdiktatur des Proletariats, 
dauern, bis -*- nun, eben so lange, wie der 
jetzige Krieg nach dem Willen derer dauern 
soil, die ihn fiihren: bis zur volligen Nieder- 
lage des Fe:ndes, aber statt, wie der burger- 
liche Krieg, bis zum volligen Sieg der einen 
Staatengruppe und zur Gesellschaft der 
Nationen, iiber die Niederwerfung dieses 
zusammengehallten, hochstentfalteten Biir- 
gertums hinaus bis zum letzten, zum rich- 



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Dm tiriuita November 121 

— ■ ■ — ■ ^-~- 

tigen Ende: dem Weltverein clcr Arbeiter- 
und Bauernrcpubliken. 

Gibt es etwas Verniinftigeres als due solche 
Gedankenf olge ? Was konntc logischer sein, 
als die Arbeit der Kriegsmaschine, gleich- 
giiltig, fiir wen sie arbeitet? 

Stecken Sie die Hand in ihr Getriebe, 
Suares, und Sie werden sehen, wie recht die 
Maschine mit ihrem Recht hat* Das ist sie, 
Ihre Morale die iiber die Gewalt verfiigt! 



Der Maximalismus ist im August 1 9 1 4 
aufgebrochen. Neben jedem Soldaten schritt 
ein Roter Gardist. Mit jedem Tag, der das 
Kleid und den Geist des Soldaten abnutzte, 
nahm der Doppelganger festere Form an. 
Die letzten Gedanken und die Urgefiihle 
stromten in das Schattenbild und fiillten es, 
bis es ein Mensch war, der den alten Sol- 
daten wie eine abgelegte Haul hinter sich 
herzog* Die als biirgerliche Imperialisten 



... J, , Original from 

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132 Dcr ncunte November 

-■ ■ — — - — — — i — i - - *-^_ 

au&geruckt waren, sie marschieren als prole- 
tarische Imperialisten weiter. Die Welt 
soilte den Vielen, den Starkea, den Er- 
oterern gehdren. Sie sind unterwegs. 

Man hat sie gerufcr, unci sie slid ge- 
komiuen. Man hat sie gclohr^ wie man die 
Schwacheren sich unterwirft. Sie haben cr- 
fahren, welche Wunder die jahe Gewalt 
und der aufgerichtete Schrecken vollbringen, 
wonn sie auf den geringeren V/iderstand 
stoBem Die bestgearteten unter ihnen haben 
sich damit abgefunden, dafl dcr Krieg keine 
weiche Sache ist. Und ganz nebenbei haben 
sie, auf dem Gebiet des Ideals, einiges ge* 
lernt, was durchans ihre Hand und ihten 
FuB hat. Unter anaerm, dafi alie Kathe- 
dralcn zusammen nicht das Leben eines 
einzigen Soldaten wert seien, vorausgesetzt, 
daB er in den eignen Reihen kampfe. Es 
wird eines Tages schwer fallen, sie zu iiber- 
zeugen, daB eine Fabrik, ein SchloB, cine 
Bank, eine ihnen unbequeme Konventinn, 
es wird schwer fallen, ihnen klarzumachen, 



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IbyLsOOglC 



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Dcr ncuiitc Nnvmibm* 123 

-- - - ■ — --_ . -_.- -_--- _ — - . _ 

warum die gesamte biirgerliche Zivilisation 
unci Kultur schwerer wiege, als das Leben 
cines cinzigen Arbeitcrs. 

So brauchen Sie, Suares, in Ihrem hoh- 
nischen Spiel von der Revolution nur die 
Natnen der Hauptpersoncn zu rindern, nnd 
Sie haben, in seiner furchtbaren Groteske, 
das Spiel von diesem Krieg; Sic brauchen 
nur die Namcn zu erganzen, und Sie schiidem 
den Krieg: don einen und unteilbaren Krieg. 

Eincn Schritt noch, den entscheidenden, 
und Sie sind unter uns. 

Die hohe Sacrin taucht auf, sie hat selbst 
ihr Gewand abgelegt, um wahrer zu sein, 



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1 .oogie 



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Tribune 

der 

Kunst und Zeit 

Eine Schriftensammlung 

Herausgegeben 
von 

Kasimir Edschmid 



Berlin 
Erich Reifl Verlag 



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byV. lOOgK 



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<4 



Da9 schon vor Jahrcn Ans&tze bestanden 
zu einer Bewegung, die auf neues WelU 
gefuhl aus ist in den Kiinsten, das ist be- 
kannt. DaB die Bewegung durchdrang, weiB 
jeder. Es ware Albernheit, hier noch Fanfaren 
zu Maseru Dringlicher erscheint es heute, wo 
jeder Greis „Stellung nimmt*', jeder J ting- 
ling Unertr&gliches schw&rmt, den ganzen 
Komplex zu iiberschauen: woher das Neue 
karri, wohin es will — keine Schlagworte zu 
pr&gen, sondern besonnen das Eigentliche zu 
sagen — nicht rikkwarts zu referieren, nicht 
zu wiederholen und auf keinen Fall zur 
Theorie zu kommen . • * sondern auszusageu, 
zu bckennen, darzustellen, zu wiinschen und 

zu postulieien und so bei aller Weit- 

heit des Rahmens dennoch zur Rundheit zu 
kommen. Nie stand der Kunstler so mitten 
in der Welt me heute. Nie lief in so un~ 
geheuror Tragodie die Veranwortung so bin- 
dend zwischen ihm und der Zeit. Vom 
KUnstler aus gesehen, mit der Kunst als 
Zentralpfoblem, wird jede Darstellung heu- 
tiger Ziele einc Darstellung der Zeit: Poll- 



f~* f -\f\ l \\ i . Original from 

, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



tisches, Religifises, Forderunghaftes mischen 
sich, kaum eu trennen, ja unlosbar mit den 
Fragen der Kunst. Kiinstler mit ihrer Kon- 
fession, Gelchrte, die Sachliches dichterisch 
*u sagen wissen, Essayisten, die nicht spie- 
lerisch „zerfasern", sondern produktiv im 
eigentlichen Sinn der Kritik aufbauen, schrei- 
ben hier an einer klelnen Geschichte unserer 
Kunst und unserer Zeit. 



Bisher sind erschienen: 

Kasimir Edschmid: ttber den Expression 
nismus in der Literatur und die neue 
Dichtung 

Wilhelm Hausenstein : Ober Expression 
nismus in der Malerei 

Theodor Daubler: imKampf urn die mo* 

derne Kunst 

Walter Mailer- Wuickow: Neue Archl- 

tektur 

Paul Bekker: Neue Musik 

Max Krell: Ober neue Prosa 

I W an Goll: Die drei guten Geiste r Frankreichs 



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In rascher Folge werden u. a. erscheinen: 

Kurt Pinthus: Das neue Theater 

Kurt Hiller: Aktivismus 

Friedrich Markus Hiibner: Philosophi- 

sche u. moralische Grundlagen ncuer Kunst 
Alfred Wolfenstein: Neue Lyrik 
Willi Wolfradt: Hcutige Plastik 
Gustav Hartlaub: Neue Graphik 
Fritz von Unruh: Das neue Drama 
Rudolf Leonhard: Gespracheiiberheutige 

Jugend und Kunst 
Carlo Mierendorff: Hatt' ich das Kino 

Walter Rilla: Gegen die Gewalt 
Wilhelm Michel: Der Mensch versagt 

Gottfried Benn: NarciB odef das 
moderne Ich 



Weiterhin Bande von: 

Jean Debrit, J. G. v. Beerfelde, 
Frans Masereel, Rene" Arcos usw. 




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Tribfine 
der Kunst und Zeit 

Eine Schriftensammluxig 

Herausgegeben von 

Kasimir Edschmid 

x 

Frans Masereel 
Politische Zeichnungen 



Berlin 

Erich Reifi Verlag 

1924 



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Politische Zeichnungen 



von 



Prans Masereel 



Funftes Tausend 



Berlin 

Erich Reifi Verlag 

1924 



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IbyLsOOglC 



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Spamersche Buchdruckeret in Leipzig 



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IbyLsOOglC 



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Frans Masereel 

▼on 
Kasimir Edschmid 

Der Belgier Masereel, der ein guter Euro- 
paer ist, hat das Schicksal, zeichnen zu 
mussen, wie ein anderer schreit oder stirbt. Er 
ist ein guter Soldat gewesen, und sein Kriegs- 
dienst an der Idee begann friiher und hef- 
tiger als irgendeines der Trabanten der Ge- 
walt, und jeden Tag gab er der Genfer ,Feuille' 
ein Blatt, das sich dem Wahnsinn der Welt 
entgegenwarf. Der Zeichner hatte da eine 
Tribune, von der er wie nur irgendeiner der 
groBen Mdnche predigt. 

Gleich ihnen bat er nur eine Fahne, die 
Glaube heiBt, eine Waffe, die Humanitat, 
und seine Feldherrn kommen aus anderen 
Bezirken als den „eisern" kommandierenden, 
weil seine Welt gestaffelt ist aus Terrassen, 
wo zuletzt die Kriegerischen stehen und zu 
oberst die Beladenen. 

Es ist ein Zufall, dafi sein Himmel sich 
zeichnerisch gestaltet, denn er konnte seine 



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8 Politische Zeichnungen 

Intensitat auf Hornern blasen, in Gedichte 
schweiBen, von den Schaubtihnen hcnanter- 
rufen. Denn nur daB er leidet unter dem 
Greuel von Krieg und Revolte laflt ihn an- 
klagen und zeichnen. Aus biblischem Furor, 
nicht aus der Begeisterung der Linie kommt 
seine Graphik. In ekstatischem Zorn macht 
er seine Manifeste, nicht aus Groteske oder 
Liebe zur Kunst. Die Zeitung wird ihm das 
europaische Paukenfell, auf dem seine Pro- 
klamationen des Zeichenstifts trommeln. 

Endlich ist uber Daumier die Graphik 
wieder eingetreten in den Kreis des wissen- 
deren Mittelalters, das gesinnungsheiB den 
Ideen lebte und sie ausdruckte mit Mund 
und Aktion und Kunst, und wo die Zeit der 
schdnen Kiinste auch die der ergreifenden 
Suchenden und tie fen Erkenntnisse war, fiir 
die zu streiten ein tnnerer Kreuzzug und ein 
legendarer Krieg war. 

Am Ende dieser Kette steht der kleine 
Belgier und schafft mit einem Riesenmut 
und verbissener Verzweiflungsflamme. Das 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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Politische Zeichnungen 



formal Kiinstlerische ist nicht so bestrickend 
und straff wie sein Glaubensmuskel, allein 
die Spannung seiner Idee hebt ihn ins Bedeu- 
tende. £s kommt keine Ermiidung iiber ihn, 
wenn Tag auf Tag das Fechten neu beginnt. 
Seine Form erhalt in der reifienden Aktuali- 
tat der Tage die feste Grundf orm der zeit- 
losen Holzschnittproklamationen des Geistes 
alter Jahrhunderte, die zwischen Tod und 
Leben die siifie Gewalt des wahrhaftigen Le- 
bens suchen und in ihren wutenden GeiBelun- 
gen der Zeitlichkeit im Strich und der Linie 
den besseren Glauben flagellanttsch fordern. 
Wenn „Connaisseure" und Affen finden, 
sein Kunstwert sei zweifelhaft, begriffe er 
es nicht. Denn er arbeitet nicht wie Htrten 
und Lammer in idyllischen Horizonten, son- 
dern fanatisiert sich durch die Zeitlichkeit 
hindurch mit jedem Herzschlag zu dem ma- 
gnetischen Kern seines sozialistischen Zu- 
kunftsgef iihls. Er platzt in das Foyer der ver- 
sammelten gegenwartigen Gesellschaft und 
jagt die dekolletierte Attrappe in Fetzen an 



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IO Politische Zeichnungen 

den Rand seines graphischen Manifestes, in 
dessen Zentrum sein ethisches Postulat irgend- 
wie zittert. Ein genialer und einzigartig neuer 
Journalismus der Gesinnung entsteht in der 
Zeichnung nunmehr, die nicht illustriert und 
niemals erzahlt oder ergdtzt und vertieft, 
sondern aufhetzt und heult und sich windet 
und blutet und am eigenen Leib jedes Laster 
und jede Barbarei des Kriegs und der Re- 
volution aufbrechen laBt. 

Eine Ziichtigung der Zeitliige beginnt, wie 
sie seit jahrzehnten keiner sah, denn er hat 
nichts an sich von der Ironie und der gro- 
tesken Konstatierung Gulbranssotis, sondern 
die Zornrote des heiligen Wirkungswillens 
schlagt sich in jedes Werk. Die Schlagworte 
werden in die Luft gesprengt, und ein gro- 
fies Demaskieren beginnt. Das fletschende 
menschliche Ungeheuer taucht aus denTrans- 
parenten, wo vorher die Gloriolen der Na- 
tion alhyrrmen klangen und alte Manner die 
JungUnge verdarben, indem sie ihnen pre* 
digten, es sei schon zu sterben, statt in Hebe- 



, if , Original from 

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Politische Zei chnungen 1 1 

vollerem Wettlauf der Arbeit die Menschheit 
zu schnelleren Siegen und heftigeren Be- 
freiungen aufzurufen. 

Zwischen dem befrackten Zug der Gewalt- 
haber, die Wolkenkratzer im Arm, ,, Taylor 
. . . Business "-Schilder iiber sich, die Gesichte 
mit eisernen Corned-Beef-Lanren plakatiert, 
anstiirmen und dem Streiter , im Stacheldraht 
stigmatisiert, zwischen Engel und Landsehaft, 
Granatloch und dem Skelettzug der Mobili- 
sierten bewegt sich rastlos sein Griffel . . . 
das ist die Welt, durch die sein Aufruf heiB 
lauft. Tag fur Tag geht seine Phantasie auf 
neue Schopf ungform aus, erobert sich neue 
Bastionen und hifit, fast ersterbend vor soviel 
Bemiihung, vor jedem Tod zwischen Un- 
flatigem und scheuBlichem Auswurf immer 
neu die humanitare Standarte. Ein genialer 
Kontakt gibt ihm aus Wolffbericht, Tittoni- 
rede, Stefanimeldung, Reuterdrahtung, Dis- 
kurs des Senators Reed, Anspruch des Bischof 
von Canterbury das Wechselbild, das Gegen- 
teil. Sagt Clemenceau in der Kammer, er 



.,,L Original from 

i d, v lOogie 



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12 Politische Zeichnungen 

habe gut geschlafen, verreckt in seiner Gra- 
phik ein Soldat am Marterpfahl. 

Die gegenstandliche Spannung wird un- 
geheuer in der Erregung, anfeuernd in der 
Wiederholung von Tag zu Tag, in der Ballung 
des stundlichen noch blut- und nervenwarmen 
Ereignisses. Die Luge jedes Morgens schleift 
er an den Haaren durch seine gerechte Wut. 
Die Schminke glitscht herab unter der Hitze 
seiner Heftigkeit. Um die neue Welt zu 
suchen, rennt sein Herz anklagend und 
schreiend durch die Walder des Zivilisato- 
rischen und die verhaBten Stadte. Hat er eine 
Etappe erreicht, vier Jahre dafiir streitend, 
vier Jahre die kleine Brust dem wahnsin- 
nigen Europa entgegengeschleudert, hat er 
den Frieden erreicht, liegt der als kalter 
Alp zwischen ihm und seiner Bemiihung. 
Ach, er hatte ihn anders gewollt. Die Toten 
sind umsonst gestorben, und schon stehen in 
Zeichnung und Plakat die Steinplatten auf, 
und die Gefallenen beginnen ihren beschwo- 
renden Zug in die Menschheit hinein, die 



.1^ Original from 

d :v, V lOOglt 



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Politischc Zeichnungen 13 

nichts gelernt hat und wenig begreift. Wii- 
tender wird seine Unrast nun. Er hat das 
Plakat der Gesinnung an die von vielen 
Schrif tzugen der Verleumdung besudelte Saule 
Europas geschlagen ; als keiner der Begnadet- 
sten, aber der Tapferste sicher martyrerhaft 
den Ausdruck der Seele graphisch zum Aus- 
druck der Zeit, dienend im Tagwerk, gefiihrt, 
auf vieles verzichtet in dieser Erregung zu 
helf en, zu klagen, zu fordern und viele Men- 
schen entflammt. Jede Zeichnung ein Gebot, 
jede Kurve eine Mahnung. Sein Plakat kennt 
keine Nation, keine Grenze. Das Manifest 
heifit immer: auf Kamerad. Jede Zeichnung 
hat ein Herz: Confreres et Amis. 

Einer hat die politische Zeichnung auf- 
gegriffen und ist unter die Menschen damit 
gel auf en, und weil seine Hand rein und sein 
Herz von schonen Traumen der Gerechtig- 
keit schmerzlich und leidenschaftlich bewegt 
war, hat das Paukenfell des geheimen Euro- 
pas der einzelnen Handlung Grofie und Tiefe 
des Klangs gegeben. 



.,,L Original from 

1 lOOgie 



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H 



QUAND LA GUERRE VA, TOUT VA. . . 

Le message Wilson a €t6 accueUli dans les cercles of fidels, 
commerciaux et politiques comme l'ample demonstration 
d'une longue durie de la guerre. Tous applaudissent A la 
fermet£ des id£es exprim£es* (D<pMi« h*tu du cyii) 



Wenn der Krieg geht, geht attes 

Wilsons Bctschafl ward in Kretsen der Regierung* des Handel* und der 
Politik als bOndlger Bewets etner tangm Kriegsttauer aufgenommen* AOe 
rQhmen die Fes&igkeit der darin nitdergeUgUn Gedanken. 

(Atcldung Havas am Chile.) 



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15 







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i6 



CONSCIENCE 1917 

Nous sommet tous au combat sous les ordres de la Con- 
science humaine. (Dipcoun Clcmcntem i I* cldtur* 4* U eonffcc&ca 

tate»ui6e.| 



Gewissen igiy 

Wir stehtn all* irn Kampf unUr dtm Obttbefthl des Gewissem der 
MtnschheiU (Rede CUrmnczam zum SchUffi der inttraUUertcn 

Konjerenz.) 



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1 d, v lOOgie 



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*7 



<M*# 




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i8 



MAIS LA CHASSE 
A LA GUERRE EST INTERDITE 

La lutte centre le pavilion blanc est d£clar£e obligatoire 
pour les communes et les proprittaires fonciers, avec le 
concours de la jeunesse scolaire. 

(Ordooamce du Cornell d'Etat du canton de B*rn* ) 



Aber die Jagd auf den Krieg i$t verboten 

Der Kompf gegen den Kohtwelpting mit Hitfe far Schuljugend wird den 
Qtmeinden und QrundbestUem zur Pfllcht gemocht. 

(Verordnung des Staatsrato im Kanion Bern.) 



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LA LUMIERE, 
LES HOMMES ET LEUR OMBRE 

Au cours des seines tragiques qui se d£roulent actudle- 
ment dans cette guerre, une luxnidre crue et impitoyable 
se projette sur tout arte et sur chaque homme* (womo.) 



Das Licht, die Menschen and ihr Schatten 

lm Lauf dtr tragischen Ereigntsst, die sich fetd in dt&em Kritg abspleUn, 
fdiU tin grtUts, unbarmherzigm Lidtf auf ftde Tat und jtdtn Mtnschen. 

(Wilson.) 



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21 




*ib* - 




A* 



I by C>0( 



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MOLOCH A FAIM 

Ce matin, Pattaque ennemie s'est produite sur un tr6s 

large front. (CoDununiquifrttt^ai*.) 



Moloch hat Hunger 



Heute morgm begann der feindtiche Angriff QtiS sehr brtittr Front, 

( Franz&sUcher Heircsbtridti.) 



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■-,. ■ ._ r'/M^nLi Original from 

. by^OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN 



FAUT PAS S'EN FAIRE 

Paris, 6, Haras. — Les journaiuc apprennent de Washing* 
ton que Is raid des sous-niarins allemands aux Etats~ 
Unis n'a produit nulls fenotion dans les cercles officiels. 



Man darf sich nichts draus machen 

Parte, 6 t Haws. — Dm Zeittmgm wird aus Washington gttruldti, detfi 
die Unternehnumg far dtut&chen UnUnttbooU gegm die Vereinigim Siaedm 
in offizitllm Kreiaen kitne Erregtmg vtrurwocht hot. 



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25 




i by Google 



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26 



ET LA BELGIQUE? 

Depuis le debut de la guerre, nous avons pratique une 
politique de managements & regard des neutres. 



Und Betgien? 



Sett Kriegsbegtnn haben wir den NeutraUn gegentlber tine schoneruU PaUtik 
verfoigt, (Stresemann im Reichstags 



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28 



DECISIONS INEBRANLABLES 

. . . Les peupies amtricain* et fran^ais . * * enviiagent 
avec une fermeti inibranlable, dans la sereine conscience 
de leur devoir, la t&cfae liMratrice qu'ili ont jur£ d p ac- 
complir jusqu'au bout . . . (Potaart) 

... En avant done, avec Dieu, vers de nouveaux exploits 
et de nouvdles victoires! <G«flituro*n. R) 



UnerschutterlUHe Entschtiisse 

. . . Die V&lktr Anrnlkm und Frmxkrttdm . . .fasten mit tmtmthMterlither 
FttUgktii und im ktarm BmvtifttMin Uirtr Pfltcht dU Aufgdb* dtr Btfntung 
ins Auge, dit ste big nan Bndt durdaufOhrm ge&hwerm hotm, 

(PoincariJ 

Und nun vorwtols mit Gait, nmm T&m und mum Sitgen tnt&gml 

(WiXhdm //, JU 



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i d, v lOogie 



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ABATTOl 







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3<> 



PLASTIQUE MODERNE 

Londres. — Lea aviateurs britanniques sur le front de 

I'Aisne font un travail admirable* 

Berlin. — Fiddle aux traditions l'escadrille a ajouti de 

nouveaux succ&s aux anciens. 

Paris* — 8 tonnes d'explosifs ont 6tfc utilises de cette 

maniire, donnant les meilleurs r£sultats. 



Moderne Plastik 

London.— Die brittschen Flitger vtrrichtm an derAisne- Front bewundems- 

werte Arbeit, 

Berlin. — Qetreu ihren Traditional, hat die Staffel neue Brfolge den atten 

hinzugefdgt. 

Paris. — Acht Tonnen Sprmgk&rper wurden oaf dies* Welse verwendet 

und gaben die besten Result ate. 



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3* 



FETES DE L'AN: LES UNS MEURENT . . 

D'autres en profitent et I'amuaent 



Jahrestage: Die einen sterben , . 

Andtn zfcftm Avon* VoittU and VtrgnOgm. 



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CHAMPION DU PACIFISMS 

Je suis chaleureusement en faveur de la pais et je suis 
profond&nent convaincu que la pais ne peut pas #trc 
obteaue sans la victoirc et sans que rAUemagne re- 
connaisie qu'elle est battue. (DtdmtbaCcdi.) 



Vorkampfer des Pazifisrnus 

Ich bin tin warmer Freund da Friedent and bin tie/ davon fiberzeugt, 
dqfi dtr Fried* nicht erreicht werdrn harm ohne Sttg and ohne die Etnsicht 
DtutschUmd&t d&fi es geschlagtn ist. (Erkt&nmg Cecils.} 



.1 — Original from 

d :v, V lOOglt 



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Original from 
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EST-IL PERMIS D'EN DOUTER* 

M. Barrds, dans l'Echo de Paris, 6crit: Nous sommes 
autorisfo i, constater, le ccour dibordant de joie t que les 
£v6nements prennent un tour plus favorable pour la 
France et la liberti des peuples. 



fst's ertaubt zu zweifetn? 



Maurice Harris schreibt irn Echo de Parts: Wir durfen mtt Qberstrtmender 
Freude unseres Herzms feststetUn, daft die Ereignisse elne far Frankretch 
and die Vdtkerfreiheit gQnsttgere Wendung nehmen. 



, I , Original from 

-OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN 



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Original from 
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MAIS LE VRAI DIEU RfiPOND: PAIX SUR 
LA TERRE ET BIENVEILLANCE PARMI 

LES HOMMES 

Washington, 9 (S. A.)* — Le Sjnat a adopts une re- 
solution priant le president de lancer tine proclamation 
au peuple am£ricain pour que celui-d consentit une 
minute de pri&re quotidiennement k midi pour invoquer 
Tissue victorieuse de la guerre* 



Aber der wahre Gott antwortet; Friede auf Erden und 
den Menschen ein Wohlgefatlen 

Washington, 9 (S, AJ* — Der Senat hat tint Entschtteflung angenommen § 
die den Prdsidenten trsucht, einen Aujruf an das amerlkanische VoUt zu 
ertassen, dqft dieses jeden Tag urn it Uhr tint Minute tang far ein steg- 
niches Krtegsende bete. 



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1 lOogie 



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Original from 
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4° 



LE SERMON DANS LA CATHEDRALE . . . 

. . . QUI N'A RIEN A VOIR 
AVEC LE SERMON SUR LA MONTAGNE 

(Havas.) — Dimanehe, a cu lieu, dans tous Les diocises 
de France, une journ&e de priire pour le succfa des 
armies, prescrite par les 6r£ques de France. 
Des pri&res ont eu lieu ausst, dimanche, pour la mfonc 
intention, dans les tglises et les temples d'Angleterre, 
sur rinvitation du gouvernement 



Die Kaihedralenpredigi . . . 
, * , die nichts gemein hat mit der Bergpredigt 

(HavasJ — Am Sonntag fond in alien Ditizesen Frar}kr$ichs auf V*r« 
ordrmng der frarutisischen Bischdfe tin etntagigea Qtbet far den Erfotg der 
Metre stan. 

Oebeie zu gUtchem Zweck fanden am Sonntag auf Aujfordirung der Regie- 
rung in den Klrchen and Tempein England* statt. 
Jnschrtft uber dem Kntziftx: Du sotigt ntcht tMm. 



.1 — Original from 

d :v, V lOOglt 



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Original from 
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4* 



L'AUTEUR 

C'est moi qui fais la politique. (Phwmi «-^mi } 



Der Urheber 

Dit Politik madte I eh. (Rede Hertiing$J 



r^/-\ir\afi > Original from 

' °°8 K UNIVERSITYOFMICHIGAN 



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Original from 
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44 



COMMENT ELLE SERA 

II veut la paix, mais par la guerre uniquement 

(Le pr**td«it dc la Lift* loeiale dtmocratiqiM 4'Am6riquc) 



Wie er aussehen wird 

Br wilt dm PrUdm, abtr nur dureh dm Krieg. 

{Dcr Vorsiiunde dm mntatdemokratisehm Verbandes von Amerikaj 



, I , Original from 

Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



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46 



Madame Sorgue auCongris de 1" Union socialist* italtenne 
Vive la guerre! L'tcho du front: Mamanll 



Frau Sorgue wtf dm Kongrtfi && Soztaitsttoehen Bund** von HaUm: B» 
kbt der Kritgt Echo von der Front: Mutter! 



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' ' K \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



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Original from 
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4« 



IL Y A TENSION ET TENSION 

Nous, A r&rritre. supportons la tension comme nos sol- 
data l'ont supports, avec confianoe, courage et espoir. 

(AppL pfOlongis.) (Ditcour* Boa*r Uw.) 



Spannung und Spannung 

Wtr in der Htimaf ertragen die Spannung tbmso vie unsre Soldattn sie 

ertragen haben, mii Zuversteht, Mid und Hoffnung. { Umganhattmder 
BeifalL) (Red* Bonar Laws.) 



.,,L Original from 

1 lOogie 



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49 




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So 



LA GRANDE AUBE 

Le peuple d'Amfcrique sent battre dans son cceur un 
grand sentiment de sympathie pour les homines de tous 
les pays qui souffrent et sont opprimes, U n'6pargne ni 
son sang ni son argent afin qu'il puisse, lui et les homines 
de tous les pays, voir luir l'aube du jour oft triompheront 
le droit, la justice et la paix, (Dimim de H. Wii*» + > 



Die grope Morgenrote 



Das amerikanische Volk filhtt in seinem Herzen eine grofie Zuneigung 
teben JiXr die Menschen alter Lander, die tetden und unierdriickt werden. 
Es spart ntcht sein Blut noch setn Geld, damlt es, und mit ihm die Menschm 
alter Lander , dte Morgenrtite jenes Tages konnen leuchten $ehen t da Recht, 
Gerechtigkeit and Frteden triumphieren werden. (Rede Wilsons.) 



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1 lOogie 



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Si 




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S3 



QUAND LE BATIMENT VA, TOUT VA 

Dans mon for int&rieur, je suis convaincu que les si&cles 
de pais n'auraient pu cimenter 1* union de cette nation 
comme l'a fait cette seule ann£e de guerre et, mieux 
encore, si cela est possible, qu'elle cimente 1'union du 

inonde. (Allocation Wfltao.) 



Wenn der Bau geht, geht alles 

In meinem innersten Qewtssen bin ich Qberzeugt t dafi die Jahrhunderte 
des Frtedens die Einhett dieser Nation nickt so fest HQtten kitten k&nnen, 
wle es dieses eine Kriegsjahr getan hat; ja, tin Besseres noch, wenn dies 
mdglieh ist: dap dieses Kriegsjahr die Etnheit der Wett gekittet hat. 

(Ansprache Wilsons*) 



, I , Original from 

'°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN 



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Gonok 



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LES HOMMES ET LA GUERRE 



Die Menschen and der Krieg 

Dtr Sitter. 



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1 °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



57 



LAPRES5E 




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LE SABBAT 

lis se disent enchant£s de leur visile au front am&ricain, 
ou ils constatent une confiance, une bonne humeur et 
un entrain extraordinaires, (Le Matin.) 



Hexensabbat 

Sit ntnntn sich tntzQckt von ihrem Besueh an der amerikant&ehen Front, 
wo sU tine Zmrtrsicht, eine Wohlgtlauntheit und ttnen Etfer ohnegleichen 

feststeUen. (U Matin,) 



Original from 
: ■:.■: I lOOglC 



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IbyGoOgl* 



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PERSONNE NE V ATTEND . . . 
. . . SAUF LE MONDE ENTIER, A GENOUX 

Persoane n'attend la paix oette aonfc, 

{*LU dtpui* Borfeud i « aumta unirfcftfa*.) 



Niernand erwartet ihn 

. . . N«r kniegebeugt die game WeU 

SUmand erwarUt dm Frttdm in d/««m Jahr 

(Abgwr&xettr Borland in dm amtrikmtehm Konmcr.j 



.1 — Original from 

d :v, V lOOglt 



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*. •* 




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L'INVOCATION SACRILEGE 

Malheur aux nations qui ont cru pou voir iteindre pendant 
la guerre le flambeau du sentiment chrttien. 

i DUcourt du price* Max de Bade aii Grand Due, ) 



Gotteslasterliche Anrufung 

Wehe den VOikern, die wGhrend dts Kriegs die LeucMe des chrisilichm 
GefUhls gtaubten vcrl&schtn zu kdnnen. 

(Ansprache des Prinzen Max von Baden an den GrqfiherzogJ 



, I , Original from 

-OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN 



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Dig 



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So 



A LA FONTE 
ET SI ON COMMANCAIT PAR CELUI-LA 

A propoi de la fonte prochaine de monuments historiques 
en Allemagne, la «Gazette de l'Allemagne du Hord* est 
d'aiis que Ton peut facilement se consoler de la perte 
de nombreux monuments sans valeur et mal situis* 



Zur Schmetze 
Sollte man nicht mit dem da anfangen? 

Zur bcvorafohtndm Einschmelzung historltcher Denkmtlier in Deutschtand 
btmtrkt die Norddeutsdu AUg. Zttiung, man kOnnt sich Ittcht trdsttn titer 
dm Veriutt zahtrelttxr Dmkm&Ur, die ohm Wtri and sthttcht mfgtsUUt 



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i d, v lOogie 



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CIVILISATION 

P, T, S. — New- York. — Les race* blanches reprfsentent 
la civilisation et ^instruction. (DUcour* 4u Sfoateur Ru4) 



Zivilisatton 

P. T. S r — Ntuyork. — Die wtipm Rassen sUUm dit Zivilisatton und 
dii Bildang dm, (Rede dm Senators Read.} 



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i d, v lOogie 



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6« 



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Original from 
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84 



LA MORALITE D£ DEMAIN 

Washington (Reuter) — Les Etats-Unis tie peuvent pas 
refuser leur role de guide moral, sans infliger k L'humanitt 
line profonde deception, 



Die Sitttichkeit von morgen 

Washington (Reuter). — Die Veretnigten Staaten U&nnm stch ihrer Roile 
ate FQhrer zur Sitttichkeit nicht mtziehen, ohne dtr Menschhett tine tiefe 
Enttduschung zu be r til en. 



, I , Original from 

Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



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Original from 
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86 



AU PAYS DES 14 POINTS 

P. T. S, New-York* — Une souscription publique sera 
ouverte vers la fin du mois de juin en viie de la construction 
d'un grand monument de la victoire & Washington. 



Im Land der 14 Punkte 



P. T. 8* Neuyork* — Ende juni wird tine dffmitithe Subskriptlon er- 
tosstn werden zugunsien tines grofien Sitgesdmkmals in Washington* 



, I , Original from 

Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



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Dig 



Original from 
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88 



CE N'EST PAS UN RfcVE 

Ceux qui sont morts, sont morts pour qu'une abominable 
guerre ne recommence pas* Nous sommes, non des 
reveurs, mais des r&alisateurs de la paix. 

(Declaration de U. Bourgeois tu banquet d* diMfpam dm luttkfw.) 



Dos ist kein Traum 

Die QefaUmm sind gtfallm t damit tin verabschewrwv&rdiger Krieg nicht 
von ntwm begirmt, Wir sind ktine FriedmstrAamer t aondern FrUdm*- 
verwirkltchtr, 

{Rzde von Bourgeois beim BanJuttdtr V#lkerab&rdnungm*) 



.1 — Original from 

d :v, V lOOglt 



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Original from 
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LES VICTIMES INNOCENTES 

Paris 16. — Au cas oil l'Allemagne refuserait da signer 
le traitf, les Quatre ont d6cid6 le blocus absolu. 



Die unschuldigen Opfer 

Part* 16 . ~ FQr dm Fait, dap Deutschland die UrUentichnung des Ver~ 
frogs wrweigem s&lite t habm die Vi*r die voUst&ndig* Blockade b &mkl BMm* 



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1 lOogie 



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9* 



FINIS CORONAT OPUS 

Rome (P. T* S«)< — Le diputi Monti Guarnicro a pre- 
senti & la Chambre un projet de loi demandant que le 
Podgora, le Monte San Michele et le Sabotino, thMtxes 
de la guerre, soient proclamis monuments nationaux. 



Ende gut, alks gut 



Ham, — Der Abgeordntte Monti Quarniero hat in der Rammer elnen Oe- 
seizesvorschiag eingtbracht, der vtrfangt, dafi der Pod&>ra t der MonU San 
MieheU taut der Sabottno, Schmpttitu des Krtegs, zu NatimaktenkmOUrn 
trkUtri werdm. 



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ET LA DANSE RECOMMENCE 

Laibach, 10 (ag.). — Le Bureau de presse tch^eo-slovaqua 
communique: Aujourd*hui a commenct avec un grand 
meets la mobilisation de cinq classes d'Ages* Les soldats 
sont arrivfcs en grand nombre et tr£s joycux. 



Und der Tanz beginnt von neuem * . * 

Laibach, zo. — Das tsehecho-stowaktsdu Pre&stbfkro teW mit: HmU begann 
mit grafitm Erfolg die Mobitmaehung von fQnf Jahrestdassen. DU Soldattn 
attUttn sich in grafter Zahl und In uhr ht Hirer Stimmtmg, 



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POUR COMPLETER LA DANSE 

Petrograd (Wolff). — Le cholfcra a 6c!at£ & Petrograd. 
Environ cinq cents cas ont &t& annoncis hier. 



Um den Retgen voltzumachen • . . 

Petersburg (Wolff). — Die Chalera ist in Petersburg wugebroehm. Qtstem 
wurdm ungef&hr 500 F3Ue gemeldet. 



.1 — Original from 

d :v, V lOOglt 



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Original from 
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98 



SOUVENONS-NOUS 

Nous devons nous souvenir des grandes lemons de cette 

gU£JT€. (Diicoun de M. Clemeac«*u, i Locdret.) 



Denken wir daran . . . 

Wtr masstn an die grofien Lchrtn dieses Kritges denken, 

(Rede Clemenceaus in London.) 



, I , Original from 

' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



99 




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Original from 
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100 



ELLES SE SUI VENT . . . 

Londres (Reuter). — On rapporte que le gouvernement 
hongrois a didari la guerre bolch6viste contre une sMe 
de pays voisins. 



$ie folgen einander 



London ( Renter }*— Eswlrd gemtldei, dafi die tmgari&che Regicrwig eintr 
Reihe von Nochbart&ndtrn den botacluwistischm Krieg erkl&rt hoi. 



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-OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN 



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L'EXPOSITION? 

Rome (Stefani), — Du 12 au 17 octobre aura lieu & Rome 
la lie conference interalliee pour les invalides de guerre. 
La conference sera compl£t£e par une exposition. 



Die Ausstellung? 



Rom (Stefani}.— Vom xa. bis 17, Oktober findet in Rom die zmitt inter- 
alliterte Konferenz ftir die Kriegsinvaliden staff, Die Konferenz wird durch 
tint Ausstellung ergdnzt werden. 



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d :v, V lOOglt 



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103 




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Original from 
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104 



UN EXCELLENT MONUMENT NATIONAL 

Rome (P. T. S.)- — II est question de faire dseler let 
noms de tous lea 500 000 soldats et of ficsers italiens tomb&s 
dans la guerre, dans le monument giant de Victor* 
Emmanuel II, 4 Rome. Le monument deriendrait ainsi 
un excellent monument national. 



Ein ausgezeichnetes Nationaldmkmal 

Rom {P. T. $.). — Man spricht davon, die Namm samtUcner 300 000 iia- 
lienischm Soldatm undOffteitn, die im Krieggefatlm stnd, in das Ritsm- 
denkmal Emartutls IL zu Rom tinmetfitin zu Imam. Das Denkmal wQrds 
so m eimm ausgezeichnetm Nattonaldmkmal wtrdm. 



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CE N'ETAIT PAS LA PEINE 

Washington (Havas). — La Ligue des nations pr£voit tine 
action militaire pour proteger ses membres. 



Das war nicht der AAiihe wert 

Washington (Mayas), — Der Vdlktrbund sieht tint mititarische Aktion 

zum Schuize seiner Miigiieder vor. 

(Aufschrift auf dem Grahstein : Qestorben l&r die TQtung des Kritgs.) 



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HEUREUSEMENT QU'ILS ONT LA TETE 

SOLIDE 

P* T. S, — Milan. — A l'assembtte de protestation contre 
la pais de Versailles, ML Turmti dit que Pheure des pro- 
Ktariats et des peuples a sonni. 



GUickticherweise haben sie harte Kopfe . , . 

F* T. & — Matland. — B*i &*r ProtatoewBtimlung gegm dm Fricdtn 
von VirsaiiUs $egie Turatt, dit StuncU <&$ Proletariate tmd der V90ctr 



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HIER C'ETAIT UN CRIME . . . 
AUJOURD'HUI 

Chacun n'aura qu'une pens6e; en tuer beaucoup, jus- 
qu'A ce qu'ils en aient assez. (Gfoiml G<mr«id,j 



Gestern war es ein Verbrechen , . . 

Heute . . . 

Jeder soil nur einen einzigen Gedanken haben: viele von ihnen zu tdtm, 
bis sie genug davon Hubert, (General Gouraud.) 



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■ 'OOglt UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Tribune 
der Kunst und Zeit 

Eine Schriftensammlung 

Herausgefjeben von 

Kasimir Edschmid 

Willi Wolfradt 
Die neue Plastik 



Berlin 

Erich ReiB Verlag 

1920 



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Die neue Plastik 



von 



Willi Wolfradt 



Dritte Auflage 



Berlin 

Erich Reifl Verlag 

1920 



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Spamersohe Buohdruokerel in Leipzig 



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Dem Musiker und Freund 

Arthur Willner 

Geschrieben Januar 1919 



Original from 
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Das plastische Bildwerk ist wesentlich 
materiell, tin Ding, anzufassen, vorhan- 
den* Aber es steht bei uns, ob wir im Bild 
des Dinges seine Dinglichkeit oder seine Bild- 
haftigkeit aufsuchen wollen. Es steht bei 
dcm> der die Dingc macht, das Bild Mittler 
des Dinges oder Sinn des Dinges werden zu 
lassen. Das heifit: ob es das dem Sein ent- 
tauchte Sinnbild des Werdens — oder das 
aus dem Werden zum Sein sich verfestigende 
Bild in Urnacht heimkelirender Besinnung 
sein soil. Danach bekommt es eine Gravi- 
tation zur Quelle oder zur Grtnze, zum 
Wesen oder zur Emanzipation, zum Elemen- 
taren oder zur Differenzierung. 

Dies ist die fundamentale Wahl des Zeit- 
geistes vor dem Kdrperlichcn, vor der Sub- 
stanz liber haupt : ob er den Korper, die Sub- 



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10 Die neuc PUstik 



stanz a*s Kern des Wesens oder als Gehaus 
des Wesens auffassen will, — anders aus- 
gedriickt : ob er das Wesen der Dinge als in 
ihrem Korper bcschlossen oder als jenseits 
und trotz demselben geschehend erkennt. 

Wir stehen also vor dem plasttschen Ding 
als dem Gleichnis des Dinges iiberhaupt und 
verfugen, ob es in seiner korperlichen Ge- 
stalt mchr vom Urgrund seines, ja alien 
Seins oder mehr von der Gebarde eines jen- 
seits des elementaren Seins geschehenden 
Werdens und Auswirkens bergen soil. Es 
heiBt, das Sein eincs Korpers betonen, wenn 
man in seiner Darstellung all das hintan- 
setzt, was ihn kennzeichnet abgesehen 
von den Grundbedingungen seiner Existenz. 
Solche Grundbedingungen waren etwa seine 
Dreidimensionalifcat, seine Kontinuitat, seine 
Substanz, seine Statik. Dagegen ist die Be- 
wegtheit, die Physiognomic, dieAktion eines 
Korperwesens vielleicht auGerst kennzeich- 
nend, nicht aber seine Existenz als Ding — 
bedingend. Ein Plastikstil also, der danach 



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Die neue Plastik 1 1 



strebt, das Sein zu formen, wird in gewisser 
Weise absehen von allcm, was nicht Be- 
dingung 3 sendern Widcrspruch, AuflSsung 
und Durchbrcchung der Existenz ist. 

Die Plastik der letzten Jahrzehnte und 
Jahre zeigt einen aUgemeinen Zug zur Ge* 
staltung des Seins, ein stetiges Abebben 
dessen, was eine Durchbrechung oder Ver- 
schleierung des Existentiellen bedeutete. 
Neues Gclten des Steins, des Blocks, des 
Korperhaften hat den Rcichtuin der Ge- 
barden und Aktionen mchr und mehr iiber- 
wunden. In der Malcrei ist die illusionistische 
Leugnung der Malflache ihrer Betonung ge- 
wichen; die Architektur gonnt der Wand 
einen neuen Stolz; und ganz entsprechend 
hat sich die Plastik auf ihre elementaren 
Gestaltungsmoglichkeiten besonnen. Sie hat 
die Form auf die in den einfachen Bedin- 
gungen ihrer schieren Existenz sich satti- 
gende Korperlichkeit reduziert. Die Kon- 
zentriertheit und Geschlossenheit des Steins, 
der enthaltsam von Zerkliiftung und zer- 



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i a Die neue Plastik 



setzender, aufloscnder Gliederung das Ge- 
sicht seiner materiellen Schwere ehcr wahrt 
als aufzuhebentrachtet, die summarischo Ge- 
haltenheit und kernhafte Ballung der neuen 
plnslischea Form versimibildlichcn treffend 
das in sich beschlossene, unzersplittcrte 
und einfache Dasein, in dem Material und 
Idee noch zur Einheit harmonieren, und wo 
es Sinn und Sendung ist, sich sclbst zu er- 
fullen. 

Wie sehr aber auch die Darstellung des 
Seins im Wollen der neuen Plastik liegen 
mag, sie ist nur seine eine Seite und mu0 
sich tatsachlich nut eincr andcren, fast ent- 
gc^cngeselzt gerichtctcu Dominant*: dieses 
Wollcns auseinandcrsctzcn. Mit dicscm Du- 
alismus der Tendenz ninimt die neue Plastik 
nur an der Problematik der gesamlen mo- 
dcrnen Kultur teil, zu der es gehort, in jede 
Lcbcnsform ihren Gegensatz als Latenz auf- 
zunehmen, sei es als cinen Faktor des Aus- 
gleichs oder als ein Moment des Konflikts. 
So macht es die eigentumliche Problematik 



-I— Original from 

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Die ncue Plastik 13 



der neucn Plastik aus, der Elemcntarisierung 
der kubischcn Form ehic gestci^crtc Dyna- 
mik des Aar.drucks, der neuen G&schlosscn- 
hcit eiiien neucn Gcstus, der ncaca fonnalen 
Logik cine neue Psychologie zu gcsellen. In 
nichts aber vcrrat sich das tiefste Wescn dcs 
hicr untefsuchten Ausschnittcs der modcrncn 
Kultur besser, als in der Wandlung dcs ur- 
sprun^Iichen Geftcncinandcrs der sich wider- 
sprcehenden Tendenzen zu eincm Inein* 
an der, 

Gestds: Das ist die Quintesscnz alles 
dessen, was jenncits dcm rcinen Sein liegt. 
Der Cogcnsatz von Sein iind Wcrdcn tragt 
sich kunstlcrisch aus als die Antipodie von 
Masse und Gcstus, Jcdcs Kunstwerk ist cin 
Schauplatz dicscr eplicniorcn Auseinander- 
setzung, ja, jedes Kunstwerk ist im Grttnde 
nichts als das* Die Kunst ist quasi ein 
cinziges Abrea^icren dieses metnphysischen 
KonHikts. Wcnn man nun der rituen Plastik 
nachsagen kann, daG die Pole ihrcs Wesens 
mit den Sciten dieses allgcmeinsten Konflikts 



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14 Die neue Plastik 



identisch sind, so heiBt das, daB sich in ihr 
das prinzipiell kiinstlerische Begeben zu be- 
sonderer Intensitat verdichtet hat. 

Wir erwarten, die neue Plastik set der Oft 
entschiedenster Spannung zwischen Sein und 
Werden, Hier wiirden die Angriffe der Dyna- 
mik auf die kubische Existenz mit heiflcstem 
Ungestiim prallen. Aber von vereinzelten 
dynamischen Exzessen abgesehen, eignet der 
neuen Plastik ein Stil auBerster Beruhigung. 
Der Abstand vom modernen Malstil, der 
keineswegs ein hemmungsloses Austoben des 
Dynamischen, sondern ebenfalls ein Zugleich 
von Element arisat ion und geheizter Ge- 
bardung enthp.lt, ist frappant. Grund: Nicht 
Veidrangung oder Auflosung der Ma- 
terie durch die Empfindung, nicht Destruk- 
tion der reinen Form durch die atzende Saurc 
des Gestus, — sondern statt dessen cine tiefe 
Vereinigung und stille Durchdringung 
des Kubischen und des Dynamischen, der 
Masse und des Gestus, — womit das Wcsen 
der jiingsten Plastik und zugleich ihre 



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Die neue Plastik 15 



Schonheit und kulturelle Bedeutving be- 
zeichnet sei. 

Ein Zeitalter lebhaf tester analytischer Nei- 
gungen ist im Begriffe, in Europa durch eine 
synthetische Reaktion abgelost zu werden. 
In der Plastik licgt von Haus aus einc Be- 
stimmung zu Konzentration und Einheit, 
die es erklart, daB gerade sie berufen ward, 
das moderne synthetische Wollen zu ge- 
stagen. Der junge Mensch entwickelt als 
ersten seinen Tastsinn, So glanzen primi- 
tive und junge, aber auch zu ihrer Jugend 
fluchtende Kulturen in der Plastik, die die 
Kunst des Tastbaren ist. Wichtiger aber ist : 
in der Plastik spricht die Substanz als solche 
jhre eigene Sprache und arbeitet mit ihrer 
Festigkeit und Undurchdringlichkeit, mit 
ihren statischcn Notwendigkeiten, ihrer 
Schwerzerlegbarkeit und materiellen Un- 
leugbarkeit der Vereinheitlichungstendenz ge- 
radezu vor. Dadurch, daB die Plastik fester 
als irgendelne Kunst (auBer der jedoch durch 



, I , Original from 

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i6 Die acno Plastik 



ihre Zwccke determinierten Architektur) an 
die Substanz gebunden ist, ist sic vor alien 
andercn Kiinsten zur einheitlichen Form 
bcrufen. Jcdc Plastik* 

Was ware einhciUich, wenn nicht das 
Scin? Ebcn wenn ein Gebilde eine solchc 
Vcrflechtung und Organisation dcr Tcile auf- 
weist, dafi cin kontinuierlicher Lebensstrom 
sic zu durchcilcn und cia Gesetz sie zu regie- 
ren schcint, sprechon wir ihm vorstellungs- 
rnafiig die Qualitat des Seins zu. So ist also 
vollends solche Plastik, die den Ton auf die 
(das Sein konstituierenden) Grundbedin- 
gungon korperlichcr Existenz Iegt,synthetisch ; 
und da die Synthase jeder Plastik (wie so- 
eben f est&estellt) soz usage n im Blute liegt, so ist 
solche Plastik die eigentlichc und echte. So darf 
man dor sUiPmierenden, auf Gebundenheit und 
Vereinfachung, auf Sein und Ursprung gerich- 
teten Plastik nachnihmen, daB sie ihrem inner- 
sten Wesen Ausdruck verleiht, und darf Zei- 
ten solchen Plastikstils sicherlich als Bliitezei- 
tender eigentlichpIastischenKraftansprechen. 



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Die ncue PUtfilc 17 



Das schwerer zu bearbeitende, daher ein 
langeres und bcsonneneres Schaffen erzcu- 
gende Material der Plastik, feiner aber die 
unabweisbar sich aufzwingcnde Bezichung 
der dreidimensionalen (zweckfrcmden) Kunst 
zum menschlichcn K6rpcr, der als ein regu- 
lierendes Vorbild, als Kanon wirkt, bcstitn- 
men von vonihcrcin die konservativc Nci- 
gung der Plastik. Und so fallt der modcrncn 
Plastik insbesondere die Rolle einer maBigen- 
den Reaktion zu, die das chaotische Wider- 
einander der Richtungen, wie es etwa in 
der Malerei herrscht, betrachtlich aus- 
gleicht und der einzelnen Form ihre jahe 
Zerrissenheit nimmt. Dieser Umstand eben 
verleiht t im Gegensatz zur moderncn Malerei, 
hier der synthecischen Tendenz das Uberge- 
wicht. 

Darstellung des Seins auf der einen, dyna- 
misch gesteigerter Ausdruck auf der anderen 
Seitc waren die beiden Dominanten der neuen 
Plastik. In der neuen Malerei ist gewifi auch 
die erste als Tendenz aufzeigbar. Es fiihrt 



, I -, Original from 

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ifl Die n*ne PUstik 

erne deutliche Lime, die etwa bei Gauguin 
in den Lichtkreis der Gegenwartsbetrachtung 
eintritt, iibcr Picasso, Henri Rousseau, Ma- 
tisse, Purrmann, Pechstein, Erbsloh, Kofer, 
Oito Miiller, Pellegrini, Marc usw., die aber 
audi bei Cdzanne, Munch, Klee, kurzum bet 
fast alien Stavkcn und Schwachen aufzeigbar 
ist und bcweist, wie machtig das Moment 
des in sich becchlosscncn Scins auch in der 
neuen Malerei wirkt. Wie ware denn auch 
zvl erwarten, dafl gleichzcitige Plastik und 
Malerei voneinander nichts wissen. Weit 
lebh after &ber schlagt die Welle dynamischer 
Expansion iiber die Leinewaud unscrcr Tage. 
Sie schaumt alle Namen in einen allgemeinen 
Strudel hinein, sie ist die Grundlage des mo* 
dernen Mais tils, Sie peitscht auf das Bild der 
Natur ein, daB es sich in wilden Kraftlinien 
anbaumt, sie zerrt und preCt die Menschen- 
leiber zu rasender Himmelfahrt, sie beult 
die Stirnen und kliiftet die Gesichter, gischtet 
etnpor in ficbrig zuckender Gcbarde, sie tobt 
einher in gellenden und lohenden, in zy- 



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Die nrnc Plastik 19 



■ J n ,m n hi ib 



nischcn und hymnischcn Farbeksfasen, f&Ut 
in glitschendcn Kurven und polternden Kas- 
kaden iiber die zerwiihlte Flache, zickzackt 
elektrisierten Kontur, wirft Mcnschenstapel 
auf, schieBt ins Diagonale und zertriimmert 
die rundc Anscliaulichkeit in grausam-vicl- 
eckige Splitter, sie geilt jah heran, urn ge- 
brochen abzustiirzen, sie engt und schniirt 
unmaBig die Gewalten, um furchtbar zu 
explodieren, sie stohnt und stirbt, aufer- 
steht und triumphiert aus Hollenschwarzen in 
Posaunenglanz, umjagt mit Gigantenschritt 
den vagen Unikreis aller Moglichkeitcn, ge- 
spannt und gcladen mit Empfindung, zer- 
berstend in Expression. Ein zentrifugaler 
Fanatismus sprengt alle Form, um die kalei- 
doskopische Zersprengtheit, das Domino- 
gefiige der Scherben Form zu nennen. Un- 
bandiger Utopismus hastet in atemlosem 
Tempo und sich in Sell n sue htsbranden ver- 
zehrend iiber das Sein hinweg ins be- 
rauschende Nichts — und schwingt sich aus 
kiihnen Negationen durch den Raketenwald 



, I , Oriqmal from 

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20 Die.neue Plastik 



aktivistiscner Forderung hindurch in kaum 
erahnbare Imagination hiniiber. — 

Im ganzeri betrachtet, ist die moderne 
Malerei efne heftige Revolution, die rnit de.m 
vielschneidigen Werkzeug impressionist ischer 
Analytik durch den Kosmos pfliigt, um bis 
zum Wesen der Dinge gewaltsam hindurch- 
zuftoflcn. Auch ihre letzte Einstellung geht 
auf Synthese, abcr sie gestaltet diese Synthese 
noch nicht. Wie auf dem Grunde des revo- 
lutionaren Chaos der politischen Gegenwart 
ein fester Wille zum Staat liegl, dessen Vbr- 
stellung noch das . anarchistische Weltbild 
wie mit dem Winkelmafl zimmert, so liegt 
der dynamischen Wucherung divergierender 
uad sich hart uberschneidender Formvorstel- 
lungen in der Malerei der Gegenwart ein 
unenlwegter Wille zum Aufbau zugrunde. 
Da ist bei allem Umsturz dos Gewohnten 
und Gcfalligen eine Besinnung auf die 
Flache, ein Zug zum Geometrischen, eine 
klare Absage an die Illusion, ein konstruk- 
tives Streben, ein Augenmerk auf ciie Vor- 



-I— Original from 

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Die neue Plastik 21 



gange der Gewichtsverteilung, Akzentver- 
schiebung, Aufteilung, Rhythmik und so fort, 
so daB die Baugesinnung audi der oft so gesetz- 
los erscheinenden neuen Malerei ganz aufier 
Zweifel steht. Aber wenn sie auch in jedem 
Falle zur Synthese gedciht, wie es ja keinen 
kiinstlerischen Eindruck gibt, ohne dafl ir- 
gendwie die Vereinheitlichung oder (wie es 
die asthetische Wissenschaft nennt) die „Esn- 
heit in der Mannigfaltigkeit" zustande kommt, 
so bleibt es fast immer bei einer Synthese, 
in der die revolutionise, psychodynamische, 
antimaterielle Tendenz die Fiihrung hat, wie 
es dem Wesen des Malerischen im Gegensatz 
zum Flastischen auch nur entspricht. 

Hier, glaubc ich, darf die geistige Struktur 
der neuen Plastik bereits mit der vollen 
Komplikation ihrer Eigenart bezeichnet wer- 
den, ohne unverstandlich zu bleiben: sie ist 
die Synthese des analytischen und des syn- 
thetischcn Wollens der Moderne, unter der 
Oberhoheit (Praponderanz) der synthetischen 
Tendenz, wie sie der AnschluB an die Grund- 



, I -, Original from 

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22 Die neue Plastik 



bedingungen des kdrperlichen Seins not- 
v/endig bewirkt. 

Unrndglich, von der neuen Plastik zu 
sprechen, ohne immer wieder von Plastik 
ganz im allgemeinen zu sprechen. Und das 
deshalb, weil die Plastik unserer Zeit eine 
Renaissance dcs spezifisch Plastischen be- 
deutet. 

Die Plastik etwa des Barock hat Unge- 
heures vor die Menschen hingcstellt. Aber 
sie hat die Menschen dabei just um alle 
Plastik gebracht. Sie ist ein oft beruckend 
kii liner und genialer Putsch gegen die Ur- 
gesetze der Steinsprache, ein Sprung iiber 
die Einhcit des Dinges, eine blendende Riiek- 
stchtslosigkeit gegen die Tast- und Steh- 
wiinsche im Menschen. Man denke nur : 
Pugetl Tatze und Schreil Das packt — aber 
es erlost nicht. Man kommt iiber die Ver- 
bliiffung nicht hinweg, dafl diese furiose Be- 
wegun^ starr ist, daft sie steht und bleibt. 
Eine Versinnlichung eigener Seinselemente 



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Die neiic Piastik 33 



ist daraus nicht zu entnehmen. Das aber ist 
die Wurzel aller kiinstlerischen Wiinsche 
der Gcgenwart. Erhohung des Korperge- 
fiihis, des EigenbewuBtseins ! Wir wollcn in 
der Sehwere des Steins das Wunder des Ge- 
wichts erlebcn, wollen an den Proportionen 
des Steins die Magie der Funktion, in der 
kubischen Gcschlossenheit der Skulptur den 
Mythos vom Fiirsichsein des Einzeldings er- 
fahren, urn fiir Last, Organisation und In- 
dividualist des cigenen Korpers im Kunst- 
werk ein Excmpel statu iert zu sehen und 
uns selbst daran zu begreifen. 

Nach so vielen Jahrzehnten vcrkummerter 
Schatzung des Korperlichcn und verkiim- 
merter Korper hat der Geist endlich wieder 
Einblick in die ursachliche Vcrbundenheit 
seines Lebens mit der korperlichen Substanz 
gewonnen. Etwas wie ein Korperfriihling 
(in Wirklichkeit eher ein Friihling der Sub- 
stanz: vgl. die Handlung in der modernen 
Erzahlung, die Tat im politischcn Denken !) ist 
iiber die hirnhypertrophe Kultur des Westens 



Original from 
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24 Die ncue Plastik 



gekommen. Gymnastik ist ein neuer Ernst 
geworden. Der blutlose Duckmauser von 
einem Gelehrten, der kranke, in seiner Er- 
scheinung verwahrloste, an der Tinte fest- 
geklebte Literat: sie sind im Versehwinden. 
Langsam bekommt der Tanz etwas von seiner 
kultlichen Wurde zuriick. Ein guter Schritt, 
ein fester Atem, eine volltonende Stimme 
gelten wieder etwas. Eine geistige Be- 
wegung kann heute nicht mehr eine rein 
zerebrale Angelegenheit sein, sondern sucht 
im physischen Dasein Wurzelgrund. 

Die Beispiele zu haufen, ist kaum ver- 
meiclich. Der Aufschwung der Plastik ver- 
anschaulicht nur diese Auferstehung des 
Leiblichen. Das Innenwesen korperlicher 
Existenzbedingu.ngen, der Geist ihrcr funk- 
tioncllen Ineinanderordnung, kurzum: das 
Scin steht neu im Brennpunkt des ieelischen 
Erlebens, Und das bringt unsere Plastik in 
Verwandtschaft init der klassisch-helleni- 
schen, daS beide sich auf dem Korpergefuhl 
aufbauen. GewiB, das ist letzten En des die 



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Die neue Plastik 25 



Grundlage aller Kunst, wirkt mittelbar 
jedwede Form. Aber die neue Plastik ist 
unmitteibar von jener Lust am Sein, am 
Leben, am Korperhaben gespeist, aus dem 
Geist des Fleisches, aus der Transzendenz 
des Physischen geboren. 

Was meint: M neue Plastik' 1 ? So wertvoll 
die Zerlegung des kunstgeschichtlichen Ab- 
Jaufs fur die Typenbildung und diese wieder 
fiir die Klarung der Stilentwicklung gewesen 
ist, die moderne Neigung zur Synthese, die 
auch in der Wissenschaft wirkt, fuhlt sich 
von so glatterAufteilung des nimrner stocken- 
den, einheitlichen Ablaufs der Geschicbte be- 
frenidet. Wo sollte im Strom die Grenzlinie 
sein, an der das Alte endet und das Neue 
beginnt ? 

Selten nur tritt eine schopferische Persfin- 
lichkeit so unzweideutig in den Vordergrund, 
dafl man einfach nicht darum hcrumkommt, 
von ihr ab das Neue zu daticren, Rodin 
aber war eine Potenz solchen Ranges. Ob- 



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U6 Die neue Plastik 



wohl das, was hier als ,,neue Plastik'* be- 
trachtet wird, in den meisten wesentlichen 
Punk ten gerade als antipodisch zu ihm, als 
Oberwindung Rodins gelten muB, so ist der 
Autor der u Eva u und des M Denkers" und 
insbesondere des M Balzac <( doch der Beginn 
der plastischcn Renaissance. Zwar ist die 
Annaherung an das Ncuc gcradezu ein Ab- 
ebben des Rodinismus; abcr erst Rodin hat 
das geistige Niveau fur das Neue geschaffen. 
Indcm sich seine Nachwirkungen rnit denen 
Adolf Hildebrands, des Bildhaucrs und strcn- 
gen Formtheorctikers, kreuzten» lebte das 
Neue auf, in dem sie beide sind, wie die 
Reaktion das sie provozierende Zustandliche 
in sich birgt, Und sie sind darin in einer von 
Hans von Marees vorgebildeten organischen 
Verschirelzung, die nun bestimmend wird 
fiir die Folge. 

Der Begriff einer , f neuen Plastik" im 
weiteren Sinne kann sich aber nicht auf den 
Bezirk der nach Rodin und Hildebrand 
entstandenen piastischen Schopfungen be* 



i " , . Original from 



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Die neue Plastik 37 



schranken, sondcrn mutt auch alios das 
umfassen, was das Schen aus dem Kunstgut 
fruherer unci fremder Epochcn als Gegen- 
wartigkeit erlebbar niacht Und es hat 
seinen guten Sinn, hier eigens darauf hin- 
zuweisen. Die konservative Natur dcr Pla- 
stik stellt namlich cine so besondcrs innige 
Verkniipfung zwischen Modern© und Vcr- 
gangenheit her, dafl Vorwiirfe wie ,,Niggerel 
und Manierismus", die mit Vorliebe gegen 
die neuesetc Plastik erhoben werden, ganz 
unangebracht erschcinen« Wcnn Plasttkcr 
sich Stilen der Vergangenheit anpassen, so 
1st das etwas grundsatzlich anderes wie in 
der Dichtung oder in der Malcrei. Namlich 
kein archaisicrendes Plagiat oder dergleichen, 
sondern ein Einlenken in die immanente 
Tendenz des Plastischen iiberhaupt, die eine 
Riickkehr zum Ursprung, zum SchoB ist. Die 
alten Stile primitiver Volker waren meist 
elementarer, — daher der Zug zum Elemen- 
taren die neue Plastik oft den alten Formen 
naheruckt. Das Plastikwerden der Plastik, 



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8 Die r.eue Pffwtik 



die so lange zum Maleriscben, zur Entkorpe- 
rung, zur Illusion abgeirrt war, wcist in die 
Richtung der Primitive, Neben den Quali- 
tiiten des VorstoBes werdcn die stilleren der 
Besinnung leicht ubersehen, indeni ver- 
gessen wird, dafl die Besinnung der Vorstofl 
in die Vergangcnheit ist, Nicht irgendwclche 
For men werdcn jetzt wieder aufgcnommen, 
sondorn solchc, die in sich den gleichen 
Rhythmtis tragen wie die Bewegung des 
Zuruckgehens auf bie. Mit anderen Worten: 
eine Besinnung auf zentrifugale Elcmente, 
auf Zerrissenheit und Auflosung hatte ntchts 
von innerer Notwcndigkcit, konnte also durch- 
aus nianieristisch sein, wohingegen Zentri- 
petalitat selbst eine besinnungsmafiige Be- 
wegung ist. Es gibt nicht Besinnung auf das 
Werden, nur auf das Sein* 

Was Rodin gibt, ist freilich Werden und 
Wachsen und hat noch nichts von jencr ku- 
bisehen Abgeschlossenheit, in die aller Gestus 
sich zuriickgezogen hat. Er hat noch nicht 
das vorwaltende Erlebnis des Korperbaus, 



[ , , ,L Originalfrom 

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Die ntuc PListil; 29 



kein Gran Empfindung wiirde er der puren 
Dreidimensionalitat opfern* Doch hebt be- 
reits mit Rodin die Neugeitung des Korper- 
lichen, als cities Moments ini scelischen Be- 
wufitsein, an p indem cs 2um transparcntcn 
GefaB einer gleitenden Inucrliciikeit win!. 
Sie ist atinospliarisch, Psyches Gabc, cin Duft 
uber oder unier der schimmcrnden Mnrmor- 
haut. Nicht eins etwa mit Fleisch, Gclcnk 
und Materie. Nicht Geist der Substanz, 
Aber doch ebon audi nicht mchr erschupft 
in Faltcnwurf und Aktion, Statlk ist nicht 
Rodins oberstcs Gesetz, gewiO nicht. Aber 
sie dammert bereits lcise durch den uufuB- 
baren Mclos seiner Steinrichtungen herauf 
und festigt sich bereits in etni;*cii derbercn 
Korpcrn (^Denkcr") zum Riickgrat. Noch 
ist die bildhaftc Erscheinung, nicht das ding- 
liche Sein t Rodins Konzeptionspunkt. Aber 
in dem psychischen Lcben seiner Darstel- 
lungen entfaltct sich eine Einsamkeit und 
Tiefe, daB der Atem des schlummcrnden 
Seins sie unversehens einhiillt. AuBerdem 



{"" r\f\t\h • Original from 

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30 Die neue Plastik 



aber ist Rodin fiir uns die Befreiung von 
einem hohlen Akademismus, dessen sche- 
matische Ruhe nicht Beruhigung, sondem 
Leere war. Rodin wurzelt seine Kunst ge- 
wiB nicht in den SchoB der «aftetreibenden 
Erde ein, aber in ihm lebt doch eine feine 
Sinnlichkeit, von der die Eiszapfen Can ova 
und Thorwaldsen nichts ahnten. Unkult- 
Hch und fern aller hieratischen Strenge, hat 
seine Kunst durch die Tiefe ihrer Beseelung 
und ihre tragische Haltung, durch die zarte 
Blute ihrer Erotik und durch ihren irra- 
tionalen Glanz einen vollen religiosen Unter- 
ton, dessen Hallen nicht mehr abreiBt, bis 
in unsere Tage. Rodin gibt ein Schwanken- 
des und Transsubstantiiertes, aber er gibt 
es in geistig so geveifter I-age, gleichsam in 
solcher inneren Kondensation, daB er der 
modernen Verfestigung und Substanzwer- 
dung gleichwohl vorarbeitet. Er ist nicht 
Besinnung, aber er ist voller — Sinnung. 
Er ahnt kaum den Ursprung seiner Kunst 
aus dem Block, aber er ist originell, d. h. 



[ , , ,L Originalfrom 

d byV^iOOglC 



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Die neue Piastik 31 



seinern eigenen Ursprung nahe und immer- 
hin in halb resigniertem Karnpf mit dem 
Block. So steht Rodin am Eingang dieser 
Epoche dor plastischen Kunst, ilir Wider- 
part, und zugleich doch ihr Wegbereiter. 
Und vielleicht immer noch ihr Groflter. 

Vom Griechentum, von der freien Heiter- 
keit des Seins war Rodin weitab. Ihn be- 
fruchtete die vielregige Problomatik des mo- 
dcrnen Lebens, aber nicht die zweifelsfreie 
Organik der vermoge ihrer Seinslust und 
Selbctverstandlichkeit starken Existenz. Erst 
die Synthese aus beidem macht den neuen 
Menschen aus. Einiges mogen die Deutsche 
Romer dem Plastikstil des 20. Jahrhunderts 
davon vererbt haben, aber man wird diese 
Erbschaft audi nicht neben dem iiber- 
schatzen durfen, was sich ganz natiirlich 
;*us der Korperschnsucht an formalen Re- 
flcxen dcrsclben cntwickelt hat, Als Stifter 
ernes neuen Regelgefiihls, als Propheten 
eines formstrengen ktinstlerischen Idealis- 
mus aber haben die Mar6es, Fiedler und Hilde- 



, . ,..!,, Original from 

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32 Dk neue Plastik 



brand ihren Anteil am Neuen. Der Letzt- 
genannte vollnnds wirkte durch die Baulogik, 
Werk*oJiditat und Fhraseiilosigkcit seiner 
mafivollen Kunst als Reiniger und Aufruf 
zur Bcsinnung. Sein etwas trockenes Grie- 
then tun i f das mehr lehrhift als erfiillcnd 
•var, nahm bcgierig den Zustrom an Sccle 
aufj der von Rodin auspn^, So sttht audi 
er am Eingang des Gartens der neuen 
Plastik, 

Von alien Kunstcn haben sich die Musik 
und die Plastik am engstcn eincm Kanon 
angcschlossen, einor festen ftegel oder Grund- 
form. Ein vereinbartes System einer Har- 
monic von Tonen im einen Fallc, der natiir- 
liche, nach seiner gesunden Vollkommenheit 
hin ideal isierte menschliche Korper im an- 
deren Falle dienen als feste GroBe, auf die 
alle Form als eine Abwandlung ihrer be- 
zogen wird. Form heifit: Abweichung vom 
Kanon. Indent dieser in aller Auflerung 
gleichsam als Mafistab enthalten ist, be* 



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Die ntue Plastik 33 



deutct er einc feste Bindung der Form, Aber 
wie die Uniform jede kleine Inkorrektheit 
odcrVeranderungdesAnzugs auffallig macht, 
so laBt der Kanon gerade die feinercn Diffe- 
renzen der Gestaltung sehr deutlich hcrvor- 
tretcn und ermoglicht eben ein leises und 
docli deutliches Aussprcchen, 

(Zwischenbemerkung: vielletcht findet die 
mcrkwiirdige Tatsache, dafi die Briten weder 
eine nennenswerte Plastik noch Musik her- 
vorgebracht haben, in dieser Gemeinsamkeit 
der beiden Kunste ihre Erklarung. Denn der 
britischc Mensch ist von Natur aits stark ge- 
bunden, die Kunst aber gestaltet immer im 
Sinne der Sehnsucht, d. h. dessen, was man 
nicht hat. Daher in England zarte Lyrik 
und dynamische Dramatik vorherrschend.) 

Der engere AnschluB der neuen Plastik 
an den Kanon des mensehlichen Korpers 
bedeutet fiir sie einen dcutlichen Schritt auf 
dem Wege Zum Ursprung, da der mensch- 
liche Korper eine recht gedrangte, statischc, 
einheitliche, kubisch eindeutige Form hat 



-I— Original from 

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34 Die ncue Plastik 



und ja gerade der Prototyp des Organisierten 
fur uns ist Vor allem gibt es keinen un- 
mittelbarsren Reprasentanten des Seins als 
unseren KSrpcr, von dem ja alle Seins- 
erfahrurg direkt stammt. 

So ist denn dcr measchliche Korper, befreit 
meist von alien Hiillen, von allem Beiwerk 
und aller Umgcbung, dcr cinzclnc Lcib das 
fast ausschlicfilichc Thema dcr ncucn Plastik 
geworden. Wcdcr Gewand noch Gruppc 
entsprcchen heutc tinsercn Fordcrungcn nach 
Einhcitlichkeit, Zusanmienfassung, Gcschlos- 
senheit jnd Gebauthcit der Form. Die Gruppc 
mag dcr Ktinstler noch so innig mit ciuhcit- 
licher Hmpfindung durchdrmgen, mit cincr 
Akt ion urnschlieficii, sic blcibt ein Viel- 
teiliges gerade als Sein, ein Plural dcr Exi- 
stenzen, ein Gcgeneinander odcr bcstenfalls 
Mitcinandcr von Glicdern. Rodin hat spatcr- 
liin versneht, die Gruppc im Block festzu- 
halten, Klingcr ist von ahnlichen Bcniii- 
hungen zu jenem grotcsken Bildwerk, M Dra- 
ma'* heiBt es wohl, verfiihrt worden, dessen 



i " , . Original from 



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Die nru« Plostik 35 



Widerorganik, Ruhelosigkcit und Nicht- 
schaubarkeit kaum zu iibertreffen sind, Ro- 
dins „ Burger von Calais" beweisen aber eben 
dadurch, da8 sie zu dem psych ologisch Tief- 
sfen und Reichsten aller Zeiten gehoren, wie 
feind die Gruppe der Plastik ist; wirkt doch 
auch diese durch subtile Fiigung wcitgchend 
vercinheitlichtc Zueinanderordnung mchrcrer 
Korper wie cine Szene auf dem Theater. 
Eh c dem meinte man, den innigen Zusam- 
menhang der Telle durch ihre Mimik her be! - 
fiihren zu konnen, wollte mittels der Ge- 
b&rde die Gruppe zur Geschlosscnheit bringen. 
Heute hat eine von der Physis des Steins, 
des Klotzes bclehrte Einsicht gczeigt, daO 
nur die Annahcrung an den unzcrkliifteten, 
massiven, einhcitlichen Block die elemen- 
taren Forderungen zu befriedigen vermag. Ist 
schon der Einzelmensch kein urspriingliches 
Gebilde — die Gruppe ist es erst recht nicht. 
Die Gcgenwart fordcrt von der Plastik: 
Tastbarkeit. Darin mag man das Wieder- 
erwachen eines Sinnes erblicken und wieder- 

j* 



{"" r\f\t\h • Original from 

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36 Die ncue Plastik 



um jene Renaissance des Korpergefiihls und 
der schamfremden Sinnlichkeit als einer 
geistig ligitimierten Instanz bestatigt finden, 
oder man mag sich darauf besinnen, daB 
das primitive Getast die Schwere und Run- 
dung des plastischen Massivs unmittelbar 
zu erleben berufen ist und, wie es denn auch 
des Eros bevorzugter Sinn ist, den Eindruck 
des Seins am reinsten zu vermitteln vermag, 
Der tiefe Zusammenhang der Tastbarkeits- 
forderung mit dem ganzen Wesen unserer 
Plastik liegt ja zutage. Die Gruppe jcdoch 
entzieht sich der Tastbarkeit : die kompliziert 
sich kreuzenden Innenflachen der Gruppe 
sind der tastenden Hand cntzogcn. Sie kann 
wohl im groBen und ganzen den Umfang 
der Gruppe abfiihlen f aber die dramatischc 
Beziehung zwischen den Teilfiguren muB 
ihr selbsfc bei grofier Schulung entgehen, 

Uberdies n6tigt die Gruppe die Bewegung, 
aus ihrer Latenz herauszutreten, um zum 
Trager des vorganghaften Lebens, das sich 
zwischen den Teilen entspinnt, zu v/erden. 



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Die ntue Plastik 37 



Und es wird schwer sein, dicse handlungs- 
bedeutende Gebardung mit jener Reinheit 
der Flachen und Umrifilinien zu vereinen, 
die der Wunsch nach harmonischer Einfach- 
heit erfordert. 

Auch gegeniiber einer weiteren, erst recht 
nicht unbedingten, aber doch im Wesen der 
neuen Plastik gegriindeten Forderung wird 
die Gruppe in der Regel versagen : es ist die 
Forderung der Allseitigkeit. Sie Hegt der 
modernen Kunst so nahe, wie die der All- 
weisheit dem allgcmeinen Geistcsleben. Ein- 
seitigkeit und Spezialistentum gchoren der 
analytischen Epoche an, wahrcnd Allseitig- 
keit eine synthctische Konsequcnz ist, Auch 
das Relief ist heute selten geworden oder hat 
sich, wo es besteht, der Flachenkunst gc- 
nahert. Die AUseitigkeit, die den Beschauer 
um die Plastik herumschreiten lSBt, gibt 
diesem Schritt ein Ebenmafl der Bewegung, 
das 2um vasomotorischen Erlebnis der Rund- 
heit und Harmonie der Plastik, aber auch 
ihrer Isoliertheit wird. Nur das Allseitige ist 



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38 Die neue PI a* tile 



vollstandig, also abgeschlossen. Die Gruppe 
wird es im allgemeinen nicht vermeiden 
konnen, durch leere, verwirrende, unrhyth- 
mische Linien und Flachen die Gletch\ erteilt- 
heit der Leitwolbungen zu durchqueren. 
(Wenn es doch gelingt, das zu vermeiden, so 
wird es nur auf Kosten der Gruppenhaftig- 
keit geschehen konnen. Unter diesem Vor- 
behalt gibt es natiirlich Ausnahmen von 
alien hier und in der Folge aufgestellten, 
stets nur im Prinzip gcltenden Regeln. 
Selbstverstandlich setzt sich die lebendige 
Kunst unmet' uber die Regel hinweg.) Die 
Gruppe griindet sich zu sehr auf den psycho- 
logischen Kontakt Mehrerer, um der Logik 
des Korperlichen an sich entgegenzukommen. 
Aus ahnlichen Griinden bevorzugt die neue 
Plastik den unbekleideten Korper, wie sie es 
ubrigcns zumeist getan hat, Nach einer im- 
pressionistischen Epoche, die sich an die Er- 
scheinung hielt mit all ihren ZufalUgkeiten 
und Hullen, bedeutet die Nacktheit wiederum 
eine Riickkehr zum Wesen und zum Sein. 



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Die new Plastik 39 



Alles Kernhafte wird vom Gewand ver- 
schleiert, die Tastbarkeit vcrmindert, die 
Substanz des Korpers denn Auge entzogen. 
Das Gewand ist — ganz wortlich genom- 
men — vielfaltig, es lockert die ruhige Ge- 
schlossenheit der festen Masse, lafit sie in 
Bewegung vcrrieseln. Die organischc Ein- 
heit, der Bau, das Ware Gefiige des Leibes 
liiBt es Terschwimmen und die Schwere, die 
heilige Schwere, entflattern. Das Gewand 
hat ctwas Unernstes und Triviales, das den 
einsamen Schlummer des korpcrlichen Seins 
profaniert; es ist nicht Element, sondern 
Zutat, nicht plastischen, sondern malerischen 
Wesens* 

Was ware niehr gegen den Sinn der Zeit 
als eine malerische Plastik? Haare sind das 
Malerischste am MEenschen, obschon ihm 
organischer verbunden als etwa das Ge- 
wand* Es ist nur eine selbstverstandliche 
Konsequenz des neuen Stils, die Haare, 
jenes vielteilige, in sich iibcraus bewegte, 
diffuse und denkbar unkubische Element! 



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40 Die neue Plastik 



zur Masse, zum Wulst zu binden, die Nach- 
ahmung der stofflichen Besonderheit hintan- 
zusetzen, Periicke und Kopfform nahezu 
zu verschmelzen. Gefielen sich audere Zeiten 
darin, jede Locke einzeln aufzulegen, so ist 
eine leichte Wellung der ganzen Haarmasse 
heute in der Regel das Suflerste, was gewagt 
wird. Der Kopf ist mehr oder weniger ein 
Wiirfel oder eine Kugel ; diese ausgesprochene 
und einfache Grundform soil das Haar mog- 
iichst wenig verstecken, mag dessen Eigen- 
form physiognomisch so bedeutsam sein, 
wie sie will. (Die moderne Frisur entspricht 
den plastischen Forderungen : Scheitel und 
kompakte, helmartige Bildungen herrschen 
vor. Manner mit Locken sind vollends selten 
geworden und auch das immer haufigere 
glattrasierte Gesicht gehort in diesen Zu- 
sammenhang.) 

Uberhaupt hat auch die Physiognomie an 
Geltung eingebuBt. Noch Rodin, der noch die 
Gruppe, das Haar und (seltener) das Gewand 
gibt, gipfelt alles 1m Physiognomischen. Es 



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Die neue Plastik 41 



ist die Besonderheit seiner lebcnspriihenden 
Portratbiisten, wie eine bis ins Letzte indi- 
vidualisierende Lebhaftigkeit, eine vibrie- 
rende Durchnervtheit sich darin zur schla- 
genden Charakteristik erhebt, so daB man 
oft bis auf Sprechakzent, Rauspern und 
Schnaufen die spezielle Personlichkeit vor 
sich zu sehen und zu horen meint Bei 
Rodin ist gleichsam alles Gesicht. Rilke sagt 
einmal von der Gestalt des „ Mamies der 
ersten Zeiten", jede Stelle seines Leibes sei 
ein Mund. Nun ist wohl von alien Teilen des 
Gesichts der Mund der substanzloseste, un- 
korperlichste, dem Getast unzuganglichste. 
Er ist das Organ des Atems und der Rede, die 
ins Weite weiscn ; er ist das aktivste Mitglied 
des ganzen Gesichts. Die Leiber Rodins 
haben in der Tat das alles voir* Mund, sie 
atmen und verstromen. Da lugt aus jeder 
Schenkelgrube oder Brustsenkc eine indi- 
viduelle Physiognomic Demgegeniiber er- 
scheint in der Folge : die Typik, die das Ge- 
sicht so weit zum Schematischen vereinfacht, 



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42 Die neue Plastik 



als es dem Ausdruck des Seins irgend zutrag- 
lich ist. Die subtile Modellierung der Ziige 
geht auf in straffer Bcschrn-nkung auf wenige 
Hauptfonnen, und auch diese scheinen we- 
niger urn ihrer selbst willcn gegeben ?.u sein, 
als um der Proportionierung der rcinen Kubik 
willcn. Es geht bis zur volHgen Loschung 
der Ahnlichkeitsanspriichc. Selbst im Bikinis, 
das doch immcr ziemlich an die personliche 
Gesichtsform gebunden ist, wird mehr der 
Mensch als ein Herr soundso dargestellt; 
vollends in frcieren Aufgaben herrscht die 
Typilc. Auch das augenblickliche, handiungs- 
mafiige Mtenenspiel, die Gebarde der Ge- 
sichtsziige, verschwindet um der dauerndea 
Verhaltnisse und einfiiltigen Formen willen. 
Es schcint hier ein urspriinglicher Gegen- 
satz zwischen Plastik und Naturalismus auf- 
gedeckt zu werden. Die Widergabe des Zu- 
falligen und Momentanen ist gegen den Sinn 
der Plastik, denn deren echte Aufgabe ist das 
Sein, und das Sein ist jenseits des Zufalligen 
und Momentanen. Unter Naturalismus ist 



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Die neue Plastik 43 



ja nicht eine Betrachtungsweise zu ver- 
stehen, die die innerste Natur der Dinge auf- 
greift, sondern im Gegenteil diejenige, welche 
ihre empirische Erscheinung ins Auge fa8t. 
Die Reproduktion des optischen Eindrucks 
stcht eher dcr Malerci zu. Spar lie h genug 
sind denn auch die impressiontstischen Ver- 
suche in der Plastik ausgef alien. Rodin ge- 
hdrt keineswegs dahin, wie man falschlich 
oft horen kann. Troubetzkoj, Carpeaux 
(„Ugolino" I) und unzahlige kleine Namen 
kommen hier in Betracht. Diese wie mit 
Spachtel und Pinsel bearbeiteten Unkorper- 
lichkeiten sind denkbar unorganiscli und 
gestaltlos, wtrken bei alter tcchnischcn Mei- 
sterschaft und all em Temperament wie Ex- 
perimente. Es ist kein Zufall, daB die Oppo- 
sition zum Naturalismus wieder einmal eine 
groBe Plastik heraufgefiihrt hat. Denn die 
Typisierung in der neuen Plastik ist nicht 
etwa das Produkt eines zufalligen Sichbe- 
gegnens zweier Tendenzen, namlich einer 
antinaturalistischen, uberimpressionistischen 



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44 Die "cue Plastik 



mit einer dementarisicrenden, vereinheit- 
lichenden, sonderu riiese Tendenzen er- 
weisen an dioser Sxelle nur besonders deut- 
lich ihre sachliche Identitat. Typik ist: 
Zuriickfuhrung auf das Ailgcmeina, den 
SchoO, die Substnnz, Das Sein 1st aicht indi- 
viditcll, cs ist typisch. 

Der Leib herrscht. Wie das Haai sich den 
Grundformen aes Schadels unterordnen mufl, 
so der Schadel scinerseits dem Hnupimassiv 
dcs Rumples, Die physiognomischen Details 
iretc-n hinter der Funktion zuriick. War bei 
Rodin der gauze Leib AntHtz, so wird jetzt 
das Antlitz zum Leib, In extremen Fallen 
kdnneu sich kaum tioch Ohren, Mund und 
Nase bchaupten, Wir kommen wieder zur 
H&ske und zur Puppe. Nur das Grundsatz- 
liche tritt irn Ausdruck hervor. Runzeln, 
Fatten, Zerkluftungen gleichen sich aus, urn 
einer runden Reinheit der gewolbten Flache, 
nm stereometrifrch-einfacher Bildung des 
Korperlichen nicht im Wege zu sein. Das 
Gesicht hat nur wenig mehr von jener reich- 



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Die neuc Plastik 45 



bewegten Flache, die es zum feinen Spiegal 
der Seele macht, sondern ist aufgegangen 
im Kubus, der erst dadurch die allseitige und 
undurchbrochene Geschiossenheit gewinnt, 

Riickkehr zur Typik ist die Voraussctzung 
der rcligiosen Kunst, uni die alles in unscrer 
dem Religiiisen machtig zustrebenden Kultur 
wirkt. Jeder Gott wird in einer Sphare des 
ganz Wesentlichen vorgestellt, die jenseits 
der bunten Welt des Individuellen liegt. Das 
Ding, einsam und unberiihrbar wie es ist, ruft 
eine Scheu hcrvor, die unbedingt religios ge- 
nannt werden muQ. Die Anfange der Plastik 
sind umgekehrt aus religioser Scheu, die sich 
das distanzierende, verehrbare Ding schuf, 
entstanden. So ist der Weg der neuen Plastik 
zum Ding: ein Weg zur kultlichen Kunst. 
Je weniger das Kunstwerk sich in Effekten 
verausgabt, um so gehcimnisvoller wird es. 
Je schweigsanier, um so heiliger. 

Rodins Skulptur ist in alien Fibern Seele. 
Und gerade darum so irdisch; denn nur in 



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46 Die ntue Plastik 



der Latenz, dem Korper einverleibt, entzieht 
sich die Seele unseren Begriffen. Die Mystik 
des ruhenden, toten, abcr darum nur urn so 
geheimnisvollcr Icbcnden Dingcs, seine bru- 
tende, laullose, hypnotische Macht iiber den 
unsteten Menschen, die entsetzliche Un- 
beirrbarkeit des Dinges in mitten der Chaotik 
unseres Alltags und der geheimnislosen Be- 
tricbhaftigkeit der Strafien und Bureaus : das 
sucht sich die Plastik zu eigen zu machen. 
Schon das Elementare des Steins macht uns 
befangen. (Man kann da einfaeh nichts 
Entsprcchendcs wie: „Ach je, Leinewand, 
Faibcn und Pinsell" denken.) Die Maske in 
ihrer Starr he it vollendet das, denn sie ist 
uns fremd, und doch unser aller Urbild — 
wie Gott. 

Und wie die Dargestellten durch die Damp- 
fung ihrer personlichen Zuge einer Gemeinde 
von Namenlosen einverleibt werden, so taucht 
auch der Kiinstler wieder unter in dem Chor 
der Anonymen, der allein berufen sein wird, 
uns eine religiose Kunst zu schenken, wie 



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Die neue Pl&stik 47 



sie die Gotik und die exotischen Kulturen be- 
safien, erschaffen nicht von einigen Nam- 
bnften, sondern von der unsichlbaren Schar 
dcr Erfullten, die da wirkten als die Hand 
der AUgemeinhcit sclbst. 

Auch die Gebarde tritt in der neuen Plastik 
in den Rumpf zuriick, aus dem sie kani. Wie 
Haar, Gewand und Physiognomic ist auch das 
Spiel der Gliodmaflen ein Veranderliches, 
das nicht das Sein der Gcstalt ausmacht, viel- 
tnehr cs durchbricht und aus der Geschlossen- 
heit der Masse hcrausfahrt wie auf altcn Bil- 
dern die Scele aus dem Korper. Die Geste 
ist der Erzfeind des Plastischen. In ihr ge- 
winnt die Linie eine selbstandigc Macht, die 
dem Korper gefahrlich wird. Sie hetzt das 
Sein aus seinen Tiefen und zcrpulvcrt es 
zu Aktion. Die Gebarde tastet sclbst und ist 
nichts weniger als tastbar. Es ist bereits zur 
Genuge gesagt, was die Gebarde alles im 
Schilde fiihrt, denn Haar, Gewand, Gruppe, 
individueller Gesichtsausdruck : das sind ja 



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48 Die nsue Plastik 



nur besondere Erscheinungsweisen der Ge- 
barde, und ihre Ubel hmsichtlich der echten 
Plastik sind die Obel der Gebarde. 

Wahrend der Plastikstil etwa das Barock 
sich in heftigen Gestikulationen geradezu 
erschopft und auch Rodin noch den Korper 
aus der Gebarde heraus entstehen Ia'Bt, macht 
sich bereits bei Adolf Hildebrand durch die 
Wiirdigung der Anatomie des Rumpfes eine 
Fortwendutig von allem Gebardenstil be- 
merkbar. Und in der Folge konnen wir be- 
obachten, wie sich die Arme dichter an die 
Masse des Korpers anlegen, sogar ganz mit 
ihm zu verse hmelz en wagen. Nicht selten 
hangen die Arme still und erfiillt herunter, 
und einfach, mit zwanglos aneinanderge- 
schlossenen Beinen, steht die unbewegte 
Vertikale des Aktes in einer Konzantration 
aller Kraftc vor uns, die lange Zeit vollig ver- 
lorengegangen war. Dieses schlichte, ent- 
spannte Dastehen ist geradezu die Grund- 
stellung der neuen Plastik geworden. Da- 
neben ein Sitzen und Hoeken, das eine noch 



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Die neue Plastik 49 



engere, blockmaflig summierende Inein- 
anderfaltung der GliedmaBen gestattet, bis 
letzte Versuche, etwa die eines Archipenko, 
nilt gewaltsamer Knauelung und embryo- 
nalen Verplumpungen sowie kunstlichen 
Torsobildungen ein Minimum an Gebarde, 
eine ganz verdichtete Fassung herzustellen 
suchen, 

DaB uns der Torso, die durch die abschlei* 
fende, abrundende Gewalt der mahlenden 
Jahrhunderte von der Gebarde aller Glieder 
und des Kopfes befreite Skulpfcur, nicht mehr 
als Kriippel und zerbrochener Plunder gilt t 
sondern in seiner besonderen Schonheit (nicht 
nur als Antiquitat) erkannt wird, kennzeich- 
net das WoIIen der neuen PJastik. Der Torso 
wirkt auf uns gar nicht als Bruehstuck, son- 
dern als der aus allem Fragmentarischen 
herausgeschalte Kern, als Vollendung, als 
ein Unzerstiickbares, als letztes oder doch 
vorletztes Produkt der Riickverwandlung 
ursprungwarts: zum Block aus Stein* 

(Noch eine Anmerkung zur englischen 



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50 Die ntue Pin %tifc 

~^ ■ — -^~- — - — . ■■ — ■ — ■ _, 

Plastik, die dadurch so intcrcssant ist, dafl 
cs sie nicht gibt. Die Englander sind im all- 
gemcinen McHSchen niit hochst cingeschrank- 
ter Gcbardensprache, gelassen und gebunden 
in ihrem ganzen Auftreten. Die Plastik hat 
nun dicse bciden psychologischen Voraus- 
setzungen: das Herumfahren der Hande im 
Raum oder die Vorwegnahme der tastenden 
Gestaltungsgcbarde in der Vorstellung einer- 
seits — und andererseits die Sehnsucht nach 
Gebardenlosigkeit, nach Verfestigur.g des 
korperlichen Ausdrucks. Diese Sehnsucht 
aber wird naturgemafi nur der haben, der 
an einem UbermaS der Geb&rde labor iert — 
und das ist gewifl nicht der Englander, dem 
beide Voraussetzungen des plastischen Ge- 
staltens somit fehlen.) 

Es besteht die Gefahr, daB die hier ge- 
machten Feststellungen fur endgultiger und 
unbedingter gehalten werden, als sie in der 
widerspruchsvollen Wirklichkeit ernstlich zu 
sein den Anspruch erheben konnen. Alle 



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Die n*ue Plastik 51 



Wirklichkeit steht untcr gewissen Gesctzen, 
ohne sie darum durchaus zu bcfolgcn. Vor 
alien 1 aber fur die Moderne ist jencs Gegen- 
einander der Tendenzen so cbarakteristiseh, 
das vorhin in scincm Zuglcich von Ent- 
sagung und Begchr, von Besinnung und Er- 
regung, von Verinnerlichung und Ausdrueks- 
streben zur Geniige beleuchtet worden ist. 
Auch die neue Plastik hat Teil an dieser 
Dualitat; wie sollte es auch anders sein. 

Gerade die Gebarde wird zum Zunglein 
an der Wage und zum Empfangnispunkt der 
Synthesis. Der dynamische Antrieb, der 
Expressionismus der Moderne fordert die 
Gebarde ebenso sturmisch, wie das Sein sie 
zahmt. Zwei Krafte modeln an ihr, eine 
aktive, die auf ihre Steigerung dr&ngt, und 
eine re aktive, die sie zu begrenzen und ein- 
zufangen trachtet. Das Ergcbnis: ein Sich- 
die-Wage-Halten der Einf llisse, das bald dort- 
hin, bald hierin neigt, im ganzen aber zu 
wechselseitiger Durchdringung und Befruch- 
tung wirkt. Wir finden Bildungen voll- 



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52 Die neue Flastik 



kommener kubischer Abschlieflung und 
solche, in denen die Ausdruckskurve alles an 
sich gerissen hat, Aber das sind Ausnahmen 
und Entartungen, die allenfalls als Rein- 
kaltur der einzelnen, aus dem Ganzen her- 
ausgelosten Formtriebe gelten dtirfen. Die 
Art sclbst geht auf Vermahlung. Sie steigert 
und speichert und iibertreibt die Explosiv- 
gewalt der dynamischen Kraft, indem sie sie 
•lurch die feste Form gleichsam wie durch 
schmale Zylinder jagt; sie laflt die Bewegung 
nur gerade um so viel aus der Latenz heraus- 
treten, als es die der Latenz innewohnende 
Spannung erzwingt; sie beutet den Stachel 
der Hemmung phantasievoll aus und ge- 
winnt gerade aus dem Brodeln und Kochen 
der Stille Heizstoff. Wie das leise nur at- 
mende Meer unendlich beklemmender ist 
als das sturmgepeitschte, wie der schiich- 
terne Laut oft umreiBt, wenn heroisch 
schmetterndes Pathos kalt liiBt: so ist die 
schamhafte, zart und sparsam sich regende 
Gebarde oft viel reicher an Ausdruckskraft, 



Original from 
: bj L lOOglC 



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Die neue Plastik 53 



als das wildeste Recken der Arme und das 
protzigste Spreizen der Beine. Wie die 
tiefer denn alle fliichtige Lust verschachtete 
Sehnsucht von der Distanz lebt, so die ver- 
innerlichte, sublimierte Gebarde der neuen 
Plastik von den matericllen Hcmraungen, 
die ihr seitens der korperlichen Substanz 
auferlegt werden. Sie entwickelt eine sang- 
liche Sprache der halben Bewegung, der 
feinen Geste und ganz schlichten Lebendig* 
keit, die in ihrer legendaren Einfachheit so 
packend und bergeversetzend ist, wie Ma* 
thias Claudius oder Christian Morgenstern 
oder das „t)ber alien Wipfeln". 

Die Riickkehr zur Grundform erlaubt dem 
Kiinstler, rnit kleinen Mitteln stark zu sein. 
An der frei und gelassen dastehenden Gestalt 
hat die leiseste Neigung des Hauptes, die 
schiichterne Hebung der Hand, das scheue 
Anheben einer Ferse etwas Bezwingendes. 
Die zartliche, hauchartige Modellierung ernes 
Leibes verwandelt die ganze Welt. Ein 
Armebreiten bekoxnmt ganz aus sich heraus 



P/MMvIo Oriqinal from 

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54 Die neue Piastik 



das Pathos einer das AH umfangenden Liebe, 
sob aid es sich mclcdienklar abhebt liber 
einem Ensemble rein ausschwingender Fla- 
chen, Eine schmale Dehnung im Gelenk, 
ein htipfender Vortakt im Knie, ein sachtes 
Hochkrampfen der Schulter, ein silbernes 
El in z ein der Lippcn : das Auge des Betrac li- 
ters weiB kaum davon, und doch ist dieses 
Minimum an Gebarde gewaltiger in der 
Wirkung als alle verzuckte Akrobatik. Die 
Verhaltnisse der Korperteile und ihre Ver- 
schiebungen, die Spitzung odor Rundung, 
Kehlung oder Wolbung einzelner Formen, 
etwa der Schultern, die Verlangerung oder 
Kiirzung des Halses * das sind die Grundlagen 
aitier taklerftillten, verhaltenen und dabei 
des wahrhaft GroBen wohl machtigcn Aus- 
druckskraft geworden. Die strotzende Schwel- 
lung, die kahle Glatte, der keimende Ansatz, 
das zage Abzweigen eines Gliedes und sein 
Heimweh nachher, die frohe Buchtung und 
ein miides Abgleiten, kiihnes Erkern und 
resigniertes Insichlehnen, schmerzliches Beu- 



[ , , ,L Originalfrom 



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Die neue Plastik 55 



gen und heitere Andacht des unbeirrten Ge- 
radevorsichhin : man nennt es, und konnte 
tausendmal mehr nennen, und finge doch 
den Reichtum der Register dieses behut- 
samen Instrumentes nicht ein. 

Die Oberflache gewinnt ein bluhendes 
Eigenleben, nicht durch delikate Wiedcr- 
gabe des Details, nicht durch verwirrende 
Entfaltung ihrer kichernden Lockung, nicht 
a!s Physiognornie — sondern als Funktion, 
als AbschluS der korperlichen Substanz gegen 
das Aufien. 1st ale doch das, worm die ku- 
bische Form ertastet wird, was als Verein- 
heitlichendes allseitig den Kern umschalt; 
die reine Flache, die wie in ein schutzendes 
Tuch a!le Krafte bindet und ihren Dorn- 
roschenschlaf bewacht; die Grenze, welche 
die Sumrae aller zum Massenzentrum hin- 
gezogenen Werte zieht, Auf der Oberflache, 
die der Spiegel der Tiefe ist, malt sich das 
doppelte Gesicht der neuen Plastik. Sie bleibt 
die feste bindende Grenz flache, aber sie wird 
gleichsam durchscheinend. Von innen her 



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56 Die neue P'jistik 



buchtet das in den Schranken der Immanenz 
zuriickgehaltene Leben heran, die Korper- 
seele rnarht das geschmeidige Gewebe der 
Kaut zu atmenden Formen schwellen, man 
sieht unter ihrem bebenden Teppich die 
dunklen Safte kreisen, und in einern Espen- 
zittern erkennen wir die Spuren jener damo- 
nischen Gewalten, die ein iiberlegener Stil- 
v/ille gehindert hat, im Cancan der Ge- 
blrdcn auszubrechen. Oft gleich einem ge- 
senkten Auge ist diese Oberflache, nach 
innen gewendet, bereit, skh aufzutun, scham* 
hatt Ifiohelnd. 

So ist die Nacktheit der neuen Plastik van 
der unbeirrbaren Keuschheit eines starken, 
aller Koketterie baren KorperbewuBtseins ; 
und sonder Liisternheit und niedlicher Pi- 
kanterie spannt sich die schone Oberflache 
der Kaut aus als ein den Korper in seiner 
Existenz Bedingendes und verzichtet auf die 
kosigen Lockungen des Deshabilles. Die 
stromende, duftende Haut war Rodins wun- 
derbarstes Wunder ; daher hat die Schar seiner 



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Die n*i:c Piastik 57 



Nachfolger vielleicht der Gestaltung ihrer 
Feinheiten, des hauchartigen Flaums, des 
porigen r Korns" des riihrenden Schmiegens 
mehr Raurti gegeben, als es der neuen Ge- 
sinnung entsprochen hatte, Schliefilich aber 
hat die Masse sich auch hierin radikal durch- 
gesetzt und hat die Oberflache immer stren- 
ger auf ihre Funktion als Abschlufi ver- 
wiesen, nicht ohne all ihre Gebardung auch 
noch in sich hineinzunehmen, gleichsam 
aufzusaugen. 

Dynamik f o r d e r t Gestus, Verf estigung 
beschneidet ihn: die Synthase findet da- 
zwischen den Ausweg, dem kubischen Gan- 
zen in seiner gesammelten Form Gebarde 
zu geben. Die Masse selbst wird Trager des 
Ausdrucks ; tragt als Masse den des Hinauf- 
greifens, des Ernpfangens, der Abwehr, des 
Erloschens. Der Gesamtrurnpf wird Gebet 
oder Reue, nur vermoge seiner Langsdch- 
nung oder seiner Einrollung. Schlankheit 
wird Sehnsucht, und Stammigkeit wird Mut. 
In einem seltsamen Winkel wartet der Tanz, 



C* i^.t\c\\i > Original from 

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58 Die neu<! Plnstik 



und cin statischer Widcrspruch kiindet Ka- 
tastrophen. Einc kaum mcrklichc Triibmig 
sonst vollkommcner Symmetric wird Triincn 
entfcsselndcr Seufzer vcrbisscnerf Wehs. Dcr 
Korpcr ist da nicht mchr Schauspicler dcr 
Empttudunj»en, sondcrn in seiner din/'Hchcn 
Exiutcnz von den Grundrliythmen dcr Emp- 
findung unmittelbar bedingt. Das Oval eincr 
Korpcrsilhouette fldsse etwas breiter aus, 
und es ware cin anderes Wesen und ein 
andcres Lied. Das erst vollcndet die Sub- 
stanzwerdung des Seelischen, seine Verleib- 
lichung. 

Ein gemeinsames Verlangen fiihrt so- 
vrahl aus der Fcrderung naeh kubischer Be- 
sinnung wie aus den dynamischen Ten- 
denzen heraus zum Monumentalen : das 
Verlangen nach Klarung. Im Monumen- 
talen klart sich die Form und die Empf indung. 
Weithin wirken soil das Monument. Das will 
von ihm Einfachheit, Gedrungenheit, klaren 
Aufbau, Kontur. Nicht viel Finessen und 



("" r\f\t\h • Original from 

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Die neue Plns.tl!c 59 



Details. Alles karg und dicht. Aus dcm 
Stehen odcr aus dem Ragcn kann das kom- 
men: da ist der Abstand von Statik und 
Gestus nicht mchr so grofl. Mnn kann der 
Endgiltigkcit odcr dem Wcrdcn ein Dcnkmal 
sctzen. Abcr so gcwiO ini Standbild dcs End- 
giltigen dffentlich gczcigt werden soil, wic 
es geworden ist, und wie in dem des War- 
dens das Ziel wird sichtbar gemacht scin 
miissen, zu dem cs strebt — so hat die Statik 
Ausdruck, und der Ausdruck bcstimmt das 
statische Gesetz. Im Monumental en schmilzt 
das alles ineinander und gibt dem Sein 
riesige Gebarde, der Handlung gefiigte Form. 
Andrerseits erzcugt in der neuen Plastik der 
synthetische Charakter eine heimliche Mo- 
numental itat, die noch aus ihren stillsten 
Gebarden wirkt. 

Eine noch andere Quelle aber speist den 
Monumentalismus der Gegcnwart; der ju- 
gendliche Freiheitsdrang. Wie die Gefuhle 
selbst, so wagt sich auch das gestaltete Ge- 
fiihl wieder ins Freie der Offentlichkeit; 



( "* f^r-\r*\n Original from 

d byV. lOOglt 



VERITY OF MICHIGAN 



<5o Die none Flrstlk 



und wie fur das gesamte Lebcn, politisches 
und personliches, die Offentlichkeit neue Be- 
deutang erlangt hat, so auch fiir die Kiinst. 
Expressionismus ist eigentlich eine Scheu- 
los'gkeit des AuBerns und Offentltchmachens, 
zutiefst verwandt mit dom seine Nacktheit 
nicht scheuenden frischen Stolz der Korper. 
Der metaphysische Zusammenhanft zwischen 
Freiheit und Bindung wird darin aufs Neue 
oifoakundig, dafi Freiheitsdrang allemal zu 
einer Restitution der strengen Form fiihrt, 
Man schfimt sich heute so wenig der fiifent- 
lichen Begeisterung wie ces freien Da- 
stehens, und dieses Bekenntnis zum selb- 
standigen Sein findet im statuenhaften Ge- 
baren der neuen Plastik seinen Ausdruck. 
Man fiirchtet sich immer weniger, sich so 
zu geben, wie einen Gott geschaffen hat (hat 
einen doch Gott so geschaffen I), und fiihlt 
im eigenen Sein das Millionensein der All* 
gemeinheit mitschwingen. Der eigene Kor- 
per wird offentliche Angelegenheit. Nicht 
gestort von iiberladenem Sockel, trivialem 



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I byLjOOgle 



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Die neue Plastltc <Si 



Umbau oder dekorativer Satilenhalle tritt die 
monumentale Figur frei in den weiten Raum 
hinaus wie auf ein Forum, ohne kokettes 
Schauspiel, bei aller Offentlichkeit ganz mit 
sich allein, gehiillt in den Mantel der helle- 
nisch-lreien Selbstverstandlichkeit, ohne 
Wissen um ein Publikurn. Die Werke der 
neuen Plastik unterhalten ganz seltcn Be- 
ziehungen zu cinem Objekt aufterhalb des 
materiellen Raurns ihrer Ktirperkantinuitat, 
— sie verkehren nur mit sich selbst Aber 
im hellcn Lichi tun sie das, nicht in heim- 
licher Zuriickgezogenheit ; frei und in sich 
beschlossen wie Tier und Pflanze. 

Es ist offenbar kein Zufall, daB heute die 
Tierplastik einen so starken Aufschwung ge- 
nommen hat* Die tiensche Form, die ihrer 
Natur nach jenseits der individuellen Ge- 
barde oder Physiognomie als Bild des unzer- 
spaltenen Seins besteht, kommt den Forde- 
rungen des neucn Plastikstils weit 6ntgegen. 
Andrerseits erfahrt logischerwcise die Dar- 



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6z Die aeue Plaitlk 



stellung des Menschen bei Betonung der 
korperlichen Substanz, der Einheitlichkeit 
und Typik eine tierahnliche Auspragung, wie 
primitive Voiksstamme sie in Wirklichkeit 
besitzen. Man konnte mane he Dar stellung 
menschlicher Korper sinnvoll zur Tierplastik 
rechnen, wie es in der Vergangenheit manche 
antropomorphe Tierdarstellung gegeben hat. 
Diese Leibhaftigkeit und keusche Scham- 
losigkeit, die unverwirrte Heiterkeit des 
Ganz-mit-sich-beschaftigt-seins: das kommt 
nur Wesen einer grofieren NaturnShe zu, als 
die meisten von uns sie sich bewahren konn- 
ten. Das Tier ist dem Stein und dem Holz- 
klotz zudem verwandter, als der differen- 
zterte homo sapiens, so dad die Annaherung 
der Aktplastik an den elementaren Stein ihr 
einen Geruch von Animalitat zutragt. Auch 
hier mag erkannt werden, daB die Anleh- 
nung der neuen Kunst an primitive Formen, 
etwa die der Negerplastik, keine willkurliche 
Mode, sondern ein Geschehen von tiefer 
innerer Notwendigkeit ist. 



Original from 
K> M" O F TIVERSITY OF MICHIGAN 



Die neue Pl&stik 6$ 



Uberdies besteht insofern ein enormer Un- 
terschied zwischen dem Stil der primitiven 
und dem der heutigen Plastik, als jene kein 
Zurucklenken aus dem Uberdrufl, keine Be- 
simiung zur Einfachheit ist, sondern die 
naive Einfachheit des Anfangs. Etwa bei 
Wertung der Modellierung ist diese Betrach- 
tung nicht ohne Belang. Ehedem war eine 
glattpolierte Korperflache unmodclliert, wah- 
rend sie heute eine bis auf ein Minimum be- 
schrankte Modellierung aufwcist. Es kam 
ehedem kaurn darauf an, ob die Wolbung der 
Oberf lache genau so oder anders verlief, wah- 
rend heute die Nuance alles ist. Wir haben 
eigentlich eine sehr heftige, aber verhaltene, 
unter die Flache zuriickgedammte Modellie- 
rung. Kurzum : das Insulanergotzenbild war 
fast ganz Symbol, wahrend wir, selbst bei 
noch fortschreitender Verkultung der Kunst, 
die Schonheit dcs mit sich identischen Gegen- 
standes suchen. Den Primitiven laBt die 
Furcht, uns die nur tiefer besitzende Scheu 
nicht naturalistisch werden, Die Ruhe der 



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64 Die <*?ue Plostilc 



Oberflache ist heute nicht Schreckstarre, 
sondern stilles Gebet, und es hat nie eine 
feinere Modellicrung gegeben, als in unserer 
Plastik. Ein Hauch furcht ihren schleiernden 
Wellenschlag, ein Stocken in der Atmpsphare 
verfinstert ihren sahnigen Spiegel. Sie ist 
auBerst reagibel und stets auf dem Sprunge, 
zur Sturmflut der futuristisch-dynamischen 
Exaltation aufzubrausen, 

Ganz ahnlich ist die mod erne Sratik 
keineswegs die selbstverstandliche, nie proble- 
matisch gewordene der Insulancr, sondern 
das Ergebnis vieler sich fast aufhebender 
Exzesse. Die griechische Scheidung nach 
Stand- und Spielbein, die als ein hohler 
Siegesalleenpomp bis in unsere Tage den 
Akademismus beherrscht, ist weitaus simpler, 
als das Stehen auf zwei gleichmaBig be- 
lasteten und von gleichen Spiclmoglichkeiten 
stabilisierten Beinen. Das ist ein gar cmp- 
findlich ausgewogener Zustand, eine schwe- 
bends Statik, in der tausend Tanze traumen 
und tausend Schritte harren. Der Nicht- 



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Die neue Plastik 65 



wissende und der Vielweise mogen vor den 
ewigen Fragen dieselben Antworteu geben, 
und doch sind diese Antworten so himmelweit 
verschieden voneinander. So verschieden 
sind auch die naive und die neue Statik, 
Hinter der einen steht die Natur, hinter der 
andern die Kultur, Unerhorte Erlebnisse 
hat die neue Statik hinter sich. Von Kathe- 
dralen weifl sie und von Fontanen. Sie hat 
den Sinn eincs Opfers. 

Der Opfcrndc weiB. Die neue Plastik ist 
eben bewuBt, ist Besinnung und Erinnerung, 
Ihre Sinnlichkeit ist ihr intellektuell ver- 
mittelt. Ihre Naturwerdung ist Kulturpro- 
dukt. Sie ist doch Psychologies aber ver- 
mogc der Logik der Substanz und des Kon- 
stiuktiven. Sie ist Abstraction — und appe- 
liert an die Einfiihlung. (Dies an Worringer 
und seine unhaltbare Antithcse!) Sie ge- 
langt zur stereometrischen Einfachheit wie 
der Geistreiche zur Bibcl. Ihre Kubik ist 
nicht Einfalt, sondern gekiihltcs Ausdrucks- 
fieber. Die lebhafteste Phantasie kommt 



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66 Die tKUC Plastik 



mit eincm Wiirfel aus, wo eine mattere das 
Panoptikum braucht. 

So ist sie eine KomSdie der Simptizitat? 
Nein, sic ist ehrlich, sie besinnt sich auf- 
richtig, abgcsehen viclleicht von einigen 
wenigen Simulanten des Primitiven. Und 
sie ware denn auch nicht der erste Geist- 
reiche, der durch Bibellesen jung, einfach 
und fromm geworden ist. Wird aus Denken 
mitunter Andacht, so hier aus der Synth ese 
der Form die Beschlossenheit der Knospe. 
So soil stilistisehe Logik zur Reinheit des 
Beginns leiten, zu einer Wiedergeburt des 
Seins aus dem Geiste der Plastik. 



Die tcchnische Bedingthelt dieser Erorte- 
rungen hinsichtlich Raum und Abbildungen 
verbietet es, der grundsatzlichen Kennzeich- 
nung des Neuen eine ausfiihrlicne Dar- 
stellung seiner wesentlichsten Vertreter und 
eine nachbildende Betrachtung ihrer schon- 



PaaivL> Oriqmal from 

5t ^i UWVffiSITY OF MICHIGAN 



Die neuc Plastlk &f 



sten Schopfungcn anzuschlieCcn. Die hatte 
im einzelnen die in vergrSbcrnder Verall- 
gemeinerung gemaehten Fcststellungen am 
konkreten Bcispiel zu demonstriercn und 
die Eigenheiten des neuen Stils eindring- 
licher erlebbar zu machen. Sie wiirde noch 
deutlicher darauf hinweiscn kdnnen, wie 
die hier auf Schlagworte ge bra elite n, charak- 
teristischen Erscheinungskomplexe einandcr 
kettenhaft bedingen. Das also kann an 
dieser Stelle nicht sein, und es mufi uns hier 
geniigen, zum AbschluB ohne Absicht auf 
Vollstandigkeit einige Nam en kurz anzu- 
f iihren, mit denen der Gang der Entwicklungs- 
kurve wenigstens angedeutet sei. 

Von dem Anteil Rodins und Hildebrands 
ist bereits die Rede gewesen. Gerade weil 
Rodin noch in alien Punkten fast der Anti- 
pode des Neuen ist, gehort er als sein erstes 
Aufkeimen dazu. Alles mit ihm Fallende 
hat den ganz unverkennbaren Akzent des 
„noch", der auch als ein „schon" gehort 
werden kann. 



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68 Die noue Plastik 



Die kontemplative Innerlichkcit und das 
freie Kcrpergefiihl beginncn immerhin, das 
Formgesetz zu bestimmen. Kubik und Sil- 
houette fehlen m&ist, obenauf Hegt ein 
Nervennctz, unvcrleiblicht regiert die Seele 
die Gestait, Rodins Empfinclung ist schon 
£nnz wie von heute, nur verbindet sie sich 
allzu locker einer ihr nicht homogenen 
Korperlichkeit. Ganz zu uns schelnt der 
Rodin des n Balzac <c zu gehoren. Da ist diese 
gelstfcrhaft hintiibergelehnte Geste des zur 
Mas^e feschlossenen, traumwandlerischen 
Gesamtkorpers, die unberiihrbare Monu- 
mentalitat des schwcr tappenden Schwebcns, 
die tfcrklaruug d*^s Kolosses aus der Masse 
herau^gogrif:en. Visionenwordung eines 
Steins, Steinwerdung cincr Vision zugleich. 
So wiirden auch wir die ratselhafte Ent- 
riickung des Scins durch die wolkenhafte 
Ka.Kmg somer Materiatitat gestaltcn konnen* 

Ein Impressionist ist vvcit ehcr Meunicr, 
in dessen knochigen Arbcitern die Harte Hirer 
Daseinsform Motiv wird. Enganliegende, 



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Die nriic Plnitik #9 



hauthaft faltcnarmc Kleidung und feste 
Kappen bcugcn der Zerstreuung der knapp* 
gefiigten Formen vor, das betonte Skelett 
hebt die Funktion utid Struktur der zusam- 
menwirkciiden Korpertcile kraftig heraus. 
Der Proletarier ist vielleicht in der Ge- 
wrungenheit und latenten Dynamik seiner 
gleich&am durch den sozialen Druck zu- 
sammengesprefiten Erscheinung nicht das 
ungeeignetste Vorbild einer echten Plastik. 
Er stcht bei Meunicr wie gehammert da, und 
die hammersclivvingende, lastenschleppende 
Kraft baumt sich in semen sehnigen Gliedern. 
Auch als Vertreter der Volksmasse, in der 
bei all ihrer quantitation Schwere imge- 
heurc Krafts dor Erhebung und Entladung 
aufgespeichert sind, kame er dem Wollcn 
der neuen Skulptur rein stofflich entgegen. 
Meunier ist an diesen Moglichkeitcn nicht 
voriibergegangen. Straffc, knulige Formen, 
cine strcnge Statik, ein erzener Rhythmus 
der schwieligcn Kraft lasscn hcrrliche Monu- 
mente erstehen. Der soziale Gedanke tritt 



( . ...I., Original from 

UK 



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70 Die neue Plistik 



da mit seiner ganzen freien, offentlichen 
Statu arik in die Arena, Em biBchen genre, 
Zolaismus schleppt nach. In seinem The men - 
kreis aber tat es ihm keiner nach. 

George Minne, ebenfalls Belgier, gelangt 
aus ahnlichen kiinstlerischen Bezirken aus- 
drucksvoller Robustheit, die zunachst selbst 
vor naturalistischer Akribie nicht zuriick- 
schreckt, zu einer ganz straffen und schlan- 
ken Einheit der Form. Ein wahrhaft go- 
tisches Empfinden gibt seinen Gestalten die 
energische und zugleich pcssimistische Stre- 
bung, hebt seinen Stil in cine von Starrheit 
nicht immer freie, asketische GroBe hinein, 
in eine fast fanatische Unbeugsamkeit, 
manchmal von herber Anmut gelindert. 
Minne bringc die neue Form bereits so sicher 
zur Auspr.igung, dafl man in ihm schon cine 
erste Reife der modernen Plastik rep rase n- 
tiert glauben konnte. Alle seine Menschen 
haben die bleiche Dehnung schmuckloser 
Pfeiler, in sich gebunden wie Glieder eines 
Domsystems, sind Trager imaginarer Ge- 



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Die neue Piastik 71 



wolbe. Eine Atmosphdre monchischen Le- 
bens ist urn diese hungrigen Steine gebreitet. 
Karge Bewegungen stoBen fast hysterisch 
ins Ungemessene, gleich Prophezeiungen ; 
eine unvergeflliche Linie meiBeln sie klaglos 
frierend in den leeren Raum* Wie in den 
Boden gepfahlt, jah geneigt, spinnig diirr 
wie gekrampfte Hande, und dabei doch be- 
kranzt mit einer siiBen Weise, stehen seine 
Menschen da, einem geheimnisvollen Orden 
unterworfen, unnahbar, schmcrzverzogen, 
Und alles das 1st Masse. Maillol, in dem die 
Befriedigung Gauguins, seines Lehrers, nach- 
wirkt, bringt der Moderne die schweren 
Safte der Erde, Minne ist noch zuckend und 
heimatlos. Jeder leichtere 2ug fiihrt ihn in 
die gefahrlichc Nahe des Jugendstilkitsches, 
darin Maeterlingk ahnlich. 

Maillol daneben ist rotes, dickes, tierisches 
Blut, das als erquickender Quell durch feste, 
fruchtbar zur Zeugung dammernde Leibcr 
kreist. Maillol ist wangig, breit, verwurzelt. 
Er hat die Materie des Fleisches mit der der 



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73 Die m"ut* Pla:.tilc 



Bronze zuriefst verschwistert. Rubens ist 
schwammig, fett, wuchernd — Maillol ker- 
nig. Rumpfe, in denen die Unschuld der 
neuen Plastik traumt und raunt, die mit 
Lungenkraft das dickfliissige Sein aus dem 
Boden zu saugen scheinen, in denen die all- 
umfassende Natur ihren guten Schlummer 
tut, Riimpfe, die sich selbst lachelnd im 
Traum erscheinen und die lachen und wogen 
wie ein hohes, gelbes Ahrenfeld; das ist 
Maillol, und aus diesem Strom hat er an 
seine Nachfolger ausgeschenkt. 

Wiihrend sich seit alters her in der Malerei 
eine Neigung geltend macht, Cliquen, Schu- 
len, Kreise und Kliingel aller Art zu zuchten, 
halt das Hr.ndwerkliche der Plastik, die tech- 
nische Schwierigkeit, die bereits die Tren- 
nung der einzelnen Stile voneinander mil- 
dcite, von ihr diesen Zerfall fern. Alle be- 
fruchten einander, selten nur machen per- 
sonliche Eigenheiten des Lehrers, sozusagen 
klischierbare Formen leichtfertig Schule. Um 
so schwerer ist es, Verwandtschaften festzu- 



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Di* no.» Plnr.tik 73 



stellen. Rodins direkte Abkommlinge in 
Frankreich, Eourdelle und Desbois, haben 
eher seine Form in eine schroffere, geniali- 
schere Zerkliiftung, in brennendes Unge- 
stiim und nervosen Titanismus fortzufuhren 
gesucht, als die durch den ,, Balzac" gewie- 
sene Bahn zu beschreiten. Dahin gehort 
auch der gewalttatige, genialische Ansprung 
des Plastikers Matisse. Eine ganze Schar 
MitteJmafiiger trifft sich in einer gefalligen 
Kreuzung von Rodin und Begas, in einem 
dvirch M SeeIe" gemilderten Bombast. Klin- 
ger, Bartholomew Hahn, Geyger: das sind 
ein paar dieser Art. Mit unterschiedlichem 
Konnen, aber von Hildebrand ererbter Ge- 
diegenheit schufen Tuaillon und Habich 
und etwa Lederer ihren Monumentalstil, in 
Vornehmheit und Wohlabgewogenheit der 
Flachen, nicht immer ganz befreit von 
akademischen TJberlieferungen, nicht immer 
rauh genug, um nicht einem neuen Akade- 
mismus des Freiheitsgetues, einer sich hor- 
bar in die Brust werfenden Statuarik, eines 



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Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



74 Die neue Plastik 



gefallig-dekorativen Mannertrotzes die Wege 
zu ebncn. Das weichliche Gegen stuck dazu 
etwa ein Klifnsch, der in zuckrigen Har- 
monien Psychen umflirtet, 

Die wirkliche Fortfiihrung Rodins er- 
kenne ich bei Kolbe, Hauler, Lehmbruck 
und ihren Nachbarn. Besonders die beiden 
ersten sind noch nicht so ganz der neuen 
Art ; sie, deren Stil der einer adligen Zuruck- 
haltung ist, konnten sich nicht, wie mancher 
Geringe, einfach auf die extreme Moderne 
umschalten. Obwohl sie das Gesicht der 
neuen Plastik ganz wesentlich mitbestimmen, 
verharren sie etwas abseits. Untereinander 
verbindet diese Kunstler die zarte und duftige 
Bchandlung der Oberflache, die ein reh- 
schlankes Madchendasein mit allem Schmelz 
des Keuschen zu umfacheln weiB. Sie geben 
eine blumig emporsprie3ende Gotik der ran- 
kenden, betauten Halberbluhtheit, die der 
Statik des f reien Dastehens den herben Zauber 
einer morgenfrischen, gleichsam nordisch- 
hellen Elastizitac und anmutvoller Schmieg- 



( " . , .L Original from 



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Die neue Ftaatik 75 



samkeit verleiht. Da ist die Mitte zwischen 
irdischer Schdnheit und abstrakter Form 
ganz fein get r of fen. Junge Baume konnen 
nicht ahnungsreiner ins Blau gleiten, rnelo- 
discher hangt kein Erlengezweig hernieder, 
milder schwingt keine schneeige Flur sich 
Ton Htigel zu Htigel. Erwachen hangt wie 
ein Reif urn die sinnenden Kdrper, die wie 
iiberrieselt sind von Erwartung und lacheln- 
dem Staunen. 

In Kolbe, der auch zu den besten Portra- 
tisten nach Rodin zahlt, pulscn die Rhyth- 
men kiihn und unwiderstehlich. Die Rhyth- 
men der Gerte, des Windes, der Diana und 
der Asienseglcr. Das kreist iiber alle Stile 
der Lander und Zeiten hinweg wie ein heiterer 
Tanz. Bailor ist beschlossener in Idylle, er 
lebt in der stilleren Luft gehaltener Tone, die 
ernst und mild sind wie die hochgeschwun- 
genen Braucn grofler Madchen. In Kolbe 
jubelt die tollere Freude der Hopfenranke, in 
Haller wiegt sich zum Gleichmafi des Atems 
auf hohem Stil ein schmaler Kelch. Kolbe 



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•j6 Dio ntue Pl.tstik 



ist vollkom metier, Haller (nicht umsonst 
cin Schweizer) pragt dauernder. 

Ein starkerer Zustrom Maillolscher Safte, 
ein Zurucktreten hellenischer Grazie zu- 
gunsten einer mehr gotischen Wendung 
pragt den Typus der Kur.st Lehmbrucks. 
Aucb in ihm der Wuchs sehnsiichtiger 
Schlankhcit, ein gebethaftes Ansteigen der 
Formen. Aber warmere Alttone schvvcrer, 
hirnenhaft-fleischiger Giieder wenden den 
BHck hinuntcr, Traum und Demut um- 
flieBen das Gcsegncte harmonischer W61- 
bung, a lies sucht irgendwie die Tiefen einer 
siiB-schwermutvollen Ahnung auf. Ohne 
Mittelalterei sind Lehmbrucks Akte in ein 
vollig originalcs Madonnentum hineinge- 
wachsen, lediglich aus dcm unsagbaren Zu- 
sammenklang ihrer sanftfiilligen Korper- 
formen heraus. Das verhangene Wesen alt- 
franzosischen Frauentums ist in diese Torsi 
eingekehrt, die Urbilder giitigen Weibtums 
gev/orden sind, ohne alle Gebardensprache, 
ohne KostCim noch Farbe. Bescheiden halt 



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Iby^OOglC __ UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Die itfruc Plnselk 77 



sich ein in Schmalheit demutvoller Kopf 
hinter dem Orgclklang des Rumpfes zuruck, 
urn ganz in der Milde seiner Neigung oder 
Wendung aufzugehen. Darin waltct nicht 
die Salongotik dcs modernen Dekorateurs, 
sondern das ursprunghafte, fromme Flehen 
der Ergebung, das alt ist wie die Welt. 
Lehmbruck gerat mit cinem lisenenartigen 
Vertikalismus der zartgliedrigen, sproden 
Schlankfuhrung weiterhin in die gotisclje 
Welt hinein. Eine f ,Kniende 4 ' von aufierster 
Steilspannung wurzelt unrnittelbar benach- 
bart dem Pctrusrelief von St. Pierre in 
Moissac. Das ist beinahe gratig, und doch 
von einer so kiihlen Kostlichkeit der Kurve, 
dafl keine noch so geringe Disharmonie 
aufkommt. 

Dieser Gruppe verwandt sind eine Reihe 
zum Teil auBcrst feiner Kiinstler, die jedoch 
nichts wesentlich Neues in die Entwicklung 
hineingetragen haben. Da ist etwa das leb- 
haftere Temperament des Siiddeutschen Al- 
biker, der bis zur Zierlichkeit eines vom 



( "* f^r-\r*\n Original from 

d byV. lOOglt 



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78 Die neue Plastik 



Gcist der modcrnen Empfindung beruhrten 
Rokoko seine Kreise dehnt ; da ist Antes, der 
zum knorrigen gotischen Schnitzwerk neigt ; 
Huf, der die Kultur des Physiognomischen 
mit den Mitteln der summierenden Wolbung 
bestreitet und eine ebenso aristokratische 
wie wohllautende Durchmodellierung gibt; 
da ist der satte Schlaf Engelmannscher Liege- 
figuren, der kraftige Formwille der S titer 
und Langer, die mitunter etwas steif bletben ; 
da sind noch viele, deren Personlichkeit 
noch nicht voll ausgepragt ist, am ver- 
heitiendsten vielleieht die des jungen Joachim 
Karsch, der eine machtige Ergrif fenheit in an 
Rodin gemahnender Weise physiognomisch 
auspragt, jedoch mit kiihnen Aeymmetrien, 
eher russisch als franzosi&ch in der geistigen 
Farbung, in kantigen Schnittflachen das ku- 
bische Wesen hineintragend in seinen vorerst 
etwas zeichnerisch differenzierenden Stil; und 
da ist nicht zuletzt diese einzige melancholische 
Frauen gestalt des Plastikers Ferdinand Hodler, 
so zart und wie mit fremdem Ohre lauschend 



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d byV^iOOglC 



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Di*- new Plasllk 79 



aus ihrem Abend heraus mit unauslosch- 
lichem Scheideblick an dieser Erde hangend. 
£s sind viele Kerzen angczihidet, viele 
Glocken singen und viele Hande sammeln 
das Sein auf ihre Art. 

Metzner gerat bei einem im modernen Sinne 
aufterst substanzhaltigen Pathos leicht in 
kraf tmeierndesMonumenttal mi. Seine brutal e, 
klobige Art, die uns einen protzigen und auf- 
dringiichen Dekoralionsstil eingebrockt hat, 
fordert unstreitig Werke von sellener Ge- 
schlossenheit und massiger Verve zul age, so- 
bald sie an die Gestaltung artverwandter 
Motive geht. Metzner hat in einigen Portrat- 
biisten herrischer Menschen echte Treffer zu 
verzeichnen. Aber auch in den wie mit Leder 
fest iiberzogenen groBen Figuren, die sich in 
einer stilisierten SchmerzHchkeit gefallen, be- 
harrt er so sic her auf seiner person lichen 
Manier, daS auch der, der Widerwillen gegen 
die ganze muskulose Art dieser Kunst emp- 
findet, nicht umhin kann, sie zu achten. 
Jedenfalls ist Metzner den dsterreichischen 



( . ,,.(,, Original from 

I by V. lOOOIt 



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So Die neue Plastik 



Gesinnungsverwandten Mestrowic und Stursa 
an Potenz welt iiberlegen. Seinen hochbe- 
gabten, f einer besaiteten Schiiler Totlla Albert, 
der wohl erst noch seinen eigenen Weg finden 
muB, wollen wir aus diesem Grunde eben nur 
nennen. 

Ein kompltzlerter Fall ist Bernhard Hoet- 
ger. Er darf nicht einfach niit jcnen Pseudo- 
kiinstlern verwechselt werden, die auf alien 
Stilen des Erdenrunds die fremden Federn 
auflesen, mit denen bet uns noch billige 
Ehren einzuheimsen sind, Starke Einfliisse 
von Maillol her trafen in Hoetger auf ein 
Gemisch aus Mut und Spielfreude, das sich 
von den Tendenzen der Gegenwart etwas 
bemmungslos nacheinander auf Romani- 
sches, Assyrisches, Ncrdisches und Ost- 
asiatisches vcrweisen liefi. In den zuerst 
bekanntgewordenen Werken, ich denke 
etwa an den Gerechtigkeitsbrunnen in Elbcr- 
feld, sprach eine eigenwillige Personlichkeit, 
die sich heute of f enbar etwas aus den Augen 
verlorcn hat. Sie war stark genug, daft man 



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Die neue Plastik 8 1 



iiber absonderliche MiBbildungen, iiber haC- 
lich verkiirzte und im Profanen stecken- 
gebliebcne Gestaltungen, an dcnen es nicht 
fehlte, hinwegsehen muBte, hiniiber zu dem 
kiihnen, temperamentvollen Pathetiker, der 
rnit aller Mache doch iiber den Tag hinaus 
interessant war. Gerade Hoetger hat viel 
von der Synthese aus Substanz und Bcwe- 
gung, Statik und Lyrik in seinera Werk zu 
vollziehen gewuflt (man spiirte: gewuBtl) 
und als einer der ersten im Sinne des Neuen 
gewollt. Viellcicht hat er zu viel und von 
alien gewollt, und eine gewisse Untiefe lieB 
ihn kaum iibcr eine Meisterschaft der pla- 
stischen Dekoration hinauskommen. Ein 
eklcktischer Zierkiinstlcr wie der mit viel 
sichererem Geschmack begabte und in alien 
Satteln gerechte Wackerle, der ein uner- 
schopfliches Fiillhorn anmutiger Einfalle 
ausschiittet, ist er seiner ganzen Einstellung 
nach gewiB nicht, mag er auch im Resultat 
nur wenig iiber solche weit leichter Wiegen- 
den hinaus gelangt sein. Wo ihn ein stets 



( "* f^r-\r*\n Original from 

d byV. lOOglt 



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82 Die neue Plastik 



lebhaf ter Ehrgeiz in Auf gaben f iihrte, die letzte 
Keuschheit der schaffenden Seele fordern, da 
blieb er vollends peinlich undelikat, absichts- 
voll und schematisch in der Wirkung. 

Im jiingsten Lehmbruck hebt dann jene 
energische Forfwendung vom Physiogno- 
mischen an, die sich bei Ernesto de Fiori in 
eine Art Ekstase des Typischen, in ein mario- 
nette nhaftes Schwarmen ausbildet, wo die 
Schicksalsmachte nicht mehr nur Schatten 
uber das Reine finstern, sondern das tragi- 
komische Puppentum des Daseins selbst 
Erscheinung werden lassen. Mit der stum- 
men Klage des Pierrot gleitet der bittere 
Scherz seiner empfindungstrunkenen Ge- 
schopfe voriiber Ohnmachte komplizierter 
Erotik schrauben die flehende Gebarde dieser 
Verziickungen in eine Traumwelt hinauf, 
in die trotz noch kon^equenterer Typisierung 
Milly Stegers erdfestere Wesen nicht hinein- 
reichen. In deren damonischen Akten orien- 
talischer Rasse spukt Lulu I Hart und brutal 
verriegelt sich diese Form, ein grausam zaher 



,' . , ,L Original from 



5r-U*«tfRSITY OF MICHIGAN 



Die neue Plastik 83 



Rhythmus, ein strenger Giftgeruch erfiillt 
die Maskenhaftigkeit nicht nur des Gesichts, 
sondern des ganzen Korpers. Riicksichts- 
lose Ausmitzung parallel gefiihrter Kon- 
turen von oft schneidender Frechheit und 
doch formalem Ernst laCt auch diese Kiinst- 
lerin den Weg zu starker, obschon etwas 
grober Monumentalitat findcn. 

Emmy Roedcr steuert allzu zaghaft ahnliche 
Bahnen, Garbesucht Lehmbruckserwacliende 
Linie einer derben Resolutheit in vorerst etwas 
suminariscker Art anzunahcrn, Rene Sin- 
tonis wandelt mit viel aparter Anmut und 
nicht ohne die Reize des Schiichternen und 
Unbeholfenen diese Typik in einem oft 
auBerst Hebcnswiirdtgen Kleinfigurcnstil ab. 

In noch strengerer, dem Stereometrischen 
bercits leisc angenaherter Abstraktion tiirrnt 
Edwin Schaiff aus bogigen Komplexen ver- 
moge der dicsen innewohriendcn natiirlichen 
Federkraft kiihn hingesteilte Leiber empor, 
die vom Menschen kaum mehr als die grob- 
sten Umrisse und einen Widerschein seiner 

6* 



Z'',-.. .,.!,, Original from 



vER.-.ITY OF MICHIGAN 



84 Die neue Plastik 



Proportionierung haben. Aber das ist nur 
eine weitlaufige Beziehung zum Kanon, In 
der Hauptsache crleben wir bei Scharff die 
Verkorpemng des Sichaufgipfelns, eine Mus- 
kelkonstruktion, wo spharisclie Kurvuturen 
stahlern den Raum durcbsicLeln. Die jahe 
Ragung wutend hochaufgeschmissenen 
Wuchses wuchtet alle Lieblichkeit des Go- 
tischen beiseite, urn aus einem v/eit piotz- 
lic Keren Willen heraus Monumente in den 
Raum zu stoBen. Hier hat die dynamische 
Erregung unleugbar die Obermacht, aber ihre 
Mittel bleiben rein kubisch. So scharf die 
Geste des Korpers aufschiefit, sie bleibt Kor- 
per. An andercr Stclle ist die Fuge des Leib- 
haftigen, trotzig vor Schwere, breit im 
Lasten, ausschlieSlicher gegcben. Wie aus 
geballten Fausten baut sich polykletisches 
Mafl, bcharrlich und festen Gelenkes, auf, 
ohnc der Kurve zu verfallen. Erst in den 
klarflachigen, geistvollen PortratkSpfen lugt 
sie in eleganten S-Schwingungen auf, wie 
denn dieser Jahe nie die elastische Linie 



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Die neire Plastik 8$ 



fehlt. Hat das Volumen, hat die Stcile das 
crste Wort, die Synthese ist diesem ganz 
starken Ktinstler unverlierbar. 

Launiger wirkt ein ahnlicher Grad von 
Stercometrie bei dem jungen Belling, der 
schmetternde Bewegungen, Gruppe und 
grotesk iibertreibende Aktion wagt, lauter 
widerplastische VorstoBe, und durch eincn 
die Tiefen philosophischer Paradoxic nicht 
schcuenden szenischen Witz doch alles zur 
Einheit fiihrt. Flott gekantet und zum 
Knauel geballt ziigelt Belling zur Masse, 
was wildeste Bewegung ist Manadischer 
Tanz aus Prall und Widerprall, Hieb und 
Wehr f Stampfen und Beckenschlagen, ein 
gellendes Getose der Fortnen • — ■ und durch 
eine gluckliche Komposition ist alles doch 
wie mit Gummischnuren aneinandergefesselt, 
daB es die plastische Balance nicht verliert. 

Trotzdem ist nicht zu verkcnnen, daB hier 
ein Dynamismus, ein furioses Temperament 
am Werke ist, das den eigentlichen Forde- 
rungen der Plastik fern steht und bereits zu 



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86 Die tv-?:- Plsllk 



einem neuii/i Kspitcl zu zahlcn sein wird, 
viellcicht nicht an letztcr Stelle. Weit proble- 
mairacb*:; erscb&inen jenc abrupten Kori- 
fi^urai-ioiiin diirchcitiand^&£rcscbaclitGlter A 
verpferchter, sckrill znsatiinienklappernder 
Bruclistiicku aus Floschenformcn, Prismen, 
Zylindern, Mcnschengliedcrn und dergleichen 
mehr, niit denen itatienieche Futuristen 
vorn Schiage dos Boccioni kaum eincn Alb- 
dnicfc, geschvseige denn em gcistiges Erlebnis 
bes una auslosen konacn. Aller Kraftauf- 
watxd verbliiffender Kurvaturen bringt da 
nicht mehr als wiistes Gerassel von einer 
jewissen rhytbmischen Pikanterie hervor. 
Und dech verraten noch soiclic Verzerrungen 
das Wesen der ueuen Plastik, denn auch bier 
jene Durchdringung von Schwung und reiner 
Kubik, van fast konvulsivischer Ausdrucks- 
ijifcr und Lcglk der plastischea Materie, Nur 
klafft hkr eben storrisch auseinander, was 
allein die stillen Gluten der Innerlichkeit zur 
Synthese bringen konnen* 

Die nicht uninteressanten Versuche der 



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Die Mwa Plastik 87 



vollig aus dcr Natur des Tons, also nicht des 
Steins gcborenen, skurril-malerischcn Plastik 
Gulf rounds tuid des zeichncrischen William 
Waiters entratcn des plastischen Wcsetis 
noch mehr. Die ausgemcrgclte Phantaslik 
rabiat gckrauselter Tonvegctation des Erst* 
genannten hat etwas so iiber aller Literatur 
Donquixotcskcs, cine Bizarrcrie des Anti- 
plastischcn, dafi Gutfreund viellcicht nicht 
iibersehen werden darf. Wauers Uneare 
Kurvaturen, die man sich als elegant ge- 
schlungene und gewundene Schnorkel ernes 
gebogenen Vierkants vorstcllen kann, lnin- 
dern die korperliche Existcnz vollig zu 
stangendtirrcr Diirftigkeit lierab und stellcn 
nichts dar als eine nicht austlruckslose, aber 
oberfl-ichlichc Ubertragung der Zeichnung 
auf das plastische Material, ohne daB dieses 
zum Leben erweckt wiirdc. Ernsterzu nehmen 
sind jene kakteenhaft auf getriebenen Gebilde, 
in denen Oswald Herzog den Versuch macht, 
den vom Gegenstandlichen losgelosten Rhyth- 
mus dinghaft auszukristallisieren, Solange 



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86 Die neuc PUstik 



ihm erne halb menschliche, halb baumhafte 
Gebarde Melodie gab und die Form bei alter 
Freiziigigkeit leise den Kanon suchte, schien 
er eine neue Mcglichkeit zu bieten. Heute 
hat sich seine etwas flache Virtuosenge- 
sinnung, von bilHger Theorie verlockt, in ein 
auQerliches Ubertragen musikalischer Figuren 
in das Raumliche verrannt. Die Musik fehlt 
freilich. 

Zum Schlufl sei noch an zwei Plastiker 
gedacht, die beide in ihrer Art ein auBergt 
starkes Verhaltnis zum Wesen ihrer Kunst 
habcn. Einmal an den Russen Archipenko, 
der in seinen wulstigen Akten das nackte, 
klobige Sein gibt und eine plumpe HaBlich- 
keit zu Fetischen des Ewig-Mollusken formt. 
Auf der einen Seite Rundung und Typisie- 
rung iiber alle feineren Regungen hinweg, 
abscheulich verdickt zu bauchhaften Schen- 
keln und schwammigen Rump fen, getragen 
von KlumpfuBen, Flossen die Hande, wider- 
liche Sacke die Briiste, — auf der anderen ver- 
renkte und deproportionierte Duette schlan- 



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Die neue flasttk 89 



genhafter Gestalten, an denen sich der Erz- 
feind alles Schonen ausgetobt zu haben 
scheint, so wild ist ihre HaBlichkeit, so 
unter irdisch ihre widerliche Form : und doch 
ein brennend starker Geruch des Seins, des 
Elementaren, des Trachtigen dariiber; uns 
Zwang, ihre Korpergeste uns einzuverleiben. 
Wenn es eines Beweises bedurfte, welche 
Macht die geschlossene Masse, die Tjrpik, 
der Torso, die Korpergeste usw. an sich be- 
sitzen, so ist er hier. Denn diese Macht ist 
so gro0, dai3 sie noch das Hafllichste, was 
Menschenhande je gemacht haben, kiinst- 
lerisch verklart. 

Zum Zweiten aber sei an Barlach gedacht, 
der seitab steht und doch wie kein anderer 
dem Neuen angehort. Nicht minder un- 
mittelbar als bei Archipenko spricht bei ihm 
die schiere Substanz, das Fleisch des Seins; 
und da* urn so unerhorter, als er nicht den 
nackten Menschen, sondern den bekleideten, 
physiognomisch charakterisierten, den stark 
bewegten, zu einem Objekt auBerhalb seiner 



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po Die wnie Ptaslik 



gcwandtcn Menschen, sogar die Gruppe gibt. 
Bailach stellt, auBerlich bctrachtet, alles auf 
den Kopf, was hier als Gesetz dcr neuen 
Plastik abgeleitet wurde. Aber das Gewand 
wird zur schweren Decke, die alle Geste auf- 
fiingt, die Bewegung bleibt dutch den Magne- 
tismus der blockhaften Masse unzertrennlich 
von ihr, die Gruppe umfaQt ein so starkes 
einhcitliches Schwergewicht, daB der Sieg 
der Substanz durch alle diese Widerstande 
nur urn so eklatanter wird, Nie noch ist in 
der Kunst so niit dem vollen Gewicht der 
Korpersubstanz gesessen, gelegen und auf- 
getreten worden ; nie noch hat der plastische 
Block derart von sich aus den Ausdruck 
gczeugt, nie noch wurde die Schwere, die 
3indung, die Substanz selbst so zur Gebarde. 
Niernals vollzog sich noch so restlos und alle 
Wiinsche sattig^nd jene Synthese, die der 
Sinn der neuen Plastik ist. 



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Tribune 

der 

Kunst und Zeit 

Eine Schriftensammlung 

Herausgegeben 
von 

Kasimir Edschmid 



Berlin 
Erich Reifi Verlag 



-I— Onqmal from 

A.OO^K UNIVERSITY OF MICHIGAN 



DaB schon vor Jahren Ansatze bestanden 
zu einer Bewegung, die auf neues Welt- 
gefrihl aus ist in den Kiinsten, das ist be- 
kannt* DaB die Bewegung durchdrang, wciB 
jeder* £s w&re Albernheit, hier noch Fanfaren 
zu blasen. Dringlicher erscheint es heute, wo 
jeder Greis ,,StelIung nimmt", jeder Jiing- 
ling Unertrfighches schw&rmt, den ganzen 
Komplex zu tiberfchauen: woher das Neue 
kam, wohin es will — keine Schlagworte zu 
pragen, sondern besonnen das Eigentliche zu 
sagen — nicht riickwarts zu referiercn r nicht 
zu wiederholen und auf keinen Foil zur 
Theorie zu kommen . . . sondern auszusagen f 
zu bekennen, darzustellen, zu wiinschen und 

zu postulieren und so bei aller Weit- 

heit dcs Rahmens dennoch zur Rundheit zu 
kommen. Mie stand dcr Kiinstler so mitten 
in dcr Welt w ; e heute. Nie lief in so un- 
^eheurcr Tragodie die Veranv/ortung so bin- 
dcnd zwischen ihm und dcr Zeit* Vom 
Kiinstler aus &eschen, mit der Kunst als 
Zentralproblem, wird jcde Darstellung heu- 
tiger Ziele erne Darstellung der Zeit: Poll- 



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Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN 



tisches t Religioses, Forderunghaftes rnischen 
sich, kaum zu trennen, ja unlosbar mit den 
Fragen der Kunst. Kiitistler mit ihrer Kon- 
fession, Gelehrte, die Sachliches dichterisch 
zu sagen wissen, Essayisten, die nicht spie- 
Ierisch , ,ze r f asern ( * , sondern produkti v im 
eigentlichen Sinn der Kritik aufbauen, schrei- 
ben hier an ciner kleinen Geschichte unserer 
Kunst und unserer Zeit 



Bisher sind erschienen; 

Kasimir Edschmid: Ober den Expression 
nismus in der Literatur und die neue 
Dichtung 

Wilhelm Hausenstein: Obcr Expressio- 

nismus in der Malerei 
Thcodor Daubler; ImKampf um die mo- 
de rne Kunst 

Walter Muller-Wulckow; Aufbau — 

Archi telttur 

Paul Bekker; Neue Musik 

Max Krell: Ober neue Prosa 

IwanGoU:DtedreigutenGeisterFrankretch5 



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Ren6 Schickcle, Der 9. November 

Schopferische Konfession 

Kurt Hiller: Geist werde Herr 
Willi Wolfradt: Heutige Fiastik 
Gottfried Benn: Das moderae Ich 

Carlo Mierendorff: Hatt ich das Kir.o 
Gustav Hartlaub: Neuc Graphik 

In raschcr Fol^e werden u. a. erscheinen: 
Kurt PinLhus: Das noue Theater 

Alfred Wolfenstein: Neue Lyrik 
Fritz von Unruh: Das nsue Drama 
Rudolf Leonharu : Gesprache iiber heutige 
Jugend und Kunst 

Walter Rilla: Gegen die Gewalt 
Wilhelm Michel: Der Mensch versagt 

Friedrich Markus Hiibner: Philosophi- 
se he u. moralische Grundlagen neuer Kunst 

Weiterhin Bande von: 

Barbusse, Toller, Masereel, Douglas 

Goldring, Paul Colin. Beerfelde, Rend 

Arcos usw. 




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_,.___._____ ,;_': . ^ JJMWERS1IY OF MICHIGAN