TRIBUNE DER
KUNST UND ZEIT
Eine Schriftensammlung
Herausgcgcbcn von
Kasimir Edschmid
Nummern 6-11
1919-1920
KRAUS REPRINT
A Division of
KRAUS-THOMSGN ORGANIZATION LIMITED
Nendeln/Liechtenstein
1973
1 ,,iii> Original from
' '°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Schriftenreihe „Tribune dei Kunst und Zeit 4 * wurde nachge-
druckt mit Genehmigung von Fiau Elisabeth Edschnrid, Darm-
stadt und Frau Lotte Jacobi-Reiss, Deering, N.H., U.S.A.. Aufier-
dcm wurden folgende NachdrucksUzenzen erteilt: Fur WiJhelm
Hausenstein, Frau Renee-Marie Parry Hausenstein, London; fur
Theodox Daubler, Koesel- Verlag, Miinchen; fiir Walter Muller-
Wulckow, Frau Anna-Maria Muller, Oldenburg; fur Iwan Goll,
l t o * Frau Claire Goll, Paris; fur Rene Schickele, Verlag Kiepenheuet
& Witsch, Koln; fur Frans Masereel, Herr Fram Maseieel, Avi-
gnon; fill Willi Wolfradt, Herr Dr. WUli Wolfradt, Hamburg; fiir
Gottfried Benn, Limes Verlag, Wiesbaden; fur Gustav Friedrich
Hartlaub, Frau Erika Hartlaub, Heidelberg; fur Kurt Hiller, Herr
Dr. Kurt Hiller, Hamburg; fiir Wilheim Michel, Hen Giinther
Michel, Darmstadt; fur Walter Rilla, Herr Dr. Walter Rilla, Ober-
audorf; fiir Carl Steinheim, Hermann Luchterhand Verlag, Neu-
wied am Rhein; fur Annette Kolb, S, Fischer Verlag, Frankfurt;
fiir Alfred Wolfenstein, Frau Henriette Hardenberg-Franken-
schwert, London.
(/.t-ti
Reprinted from the copy held by the
University of Maryland Library, College Park,
Printed in Germany
.,,L Original from
' '°°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
f~* f -\f\ l \\ i . Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Tribune
der Kunst und Zeit
Eine Schriftensammlung
Herausgcgcben von
Kasimir Edschmid
VI
Paul Bekker
Neue Musik
Berlin
Erich ReiB Verlag
7920
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d :v, V lOOgie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
NEUE MUSIK
von
Paul Bekker
Ftinfte Auflagc
Berlin
Erich ReiB Verlag
1920
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I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Spamersche Buchdr uckerei in Leipzig
f~^ r~\f\t\li ' Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ubarschaut man die Spielplane der meisten
Operntheater, die Programme dcr gro-
Ben Orchcster- und Chorkonzert-Institute,
der namhaften Kammermusik-Vereinigun-
gen, der beruhmten Sanger, Sangerinnen und
Instrumentalvirtuoscn, so scheint es, als ob
in der musikaliscHen Produktion der Gegen-
wart ein hochst auffalliger Stillstand, ja
vollige Erschopfung herrsche. Dieser Zu-
stand ist urn so merkwiirdiger, als gerade die
letzten Jahre auf anderen Kunstgebieten nicht
nur eine starke aufierliche Steigerung, son-
dern gleichzeitig sehr bemerkenswerte Neu-
erscheinungen in bezug auf Art und Rich-
tung des Kunstschaffens gebracht haben.
In der Architcktur erortert man die Fragen
des offentlichen Bauwesens mit einem Ernst
und einer Ernsigkeit, die weit hinausgreift
iiber die friihere fachmannische Beratungs-
f~* f -\f\ l \\ i . Original from
, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN
8 Ncuc Musik
weise und die uns die Probleme der ban-
Jichen Geslaltung wicder als Angelegcnheiten
der Allgemeinheit zum Bewufitscin bringt.
Bildhaucrci und Malcrei habcn sich in den
letzten Jahren durch die Leislungen dcr ex-
pressionistischen Kunstler als wichtige Vor-
kampfer neucr Geistesstromungen crwicsen,
die — mag sich der cinzeluc ihnen gcgcniiber
zustimmend odor ablehncnd vcrliallen — dem
geistigen Leben unscrcr Zeit zum mindesten
starke Antriebe geben. Man spricht von
Futurismus, ven Kubismus und andcrcn
Dingcn, man hort und liest bald da bald dorfc
von Ausstellungen der Werke soldier revo-
lutionarer Kunstler, man diskuiicrt darubcr
und che man sichs vcrsicht, ftililt man sich
hineingerissen in den Wirbel cinander wider-
streitender Anschauungcn. Eine ganze Rcihe
Kunstzeitschriften lebt von der Propagierung
der neuen Ideen oder auch von ihrer Be-
kampfung. Und auch die Dichtkunst, die
lyrische, wie die erzahlende und die dra-
matische, lief ert in dauernd steigendem Mafie
,,,1^, Original from
IbyLsOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ncuc Mu si k
Beitrage zu dieser neucn Geistesbewegung.
Selbst die Theater, diese harlnackigsten
Hiiter des Gewohnten, konnen sich dem An-
sturm dcr Zeitidecn nicht niclir entzichen
und suchen allmahlich ihrcn Elirgeiz darin,
sich des Absoiulerlichen anzunehrnen, um
sich Beachtung zu crzwingen und nicht ctwa
als riickschrittlicli gcbrandmarkt zu werden.
Nur in dcr Musik merkt man wenig oder
fast garnichts von dicscm unniittelbaren
Milcrlcbcn der Gegenwart* Ein grofier Tcil
dcr Schuld daran ist dcr mustkalischcn Fach-
prcsse zur Last zu legen, die, soweit ihr
Interesse libcrhaupt iiber Inseraten-Akqui-
sitiou hinausrekht, sich jeglichcr eigenen
Initiative begeben hat und sich von den
auflcren Ercignisscn des Musiklobens trciben
laflt- Den Ablauf dieser aufiercn Ereignisse
aber bestimmt dcr Agent, und dieser Agent
wiederum ist nicht nur als Zwischcnhandlcr
in moralischem Sznne eine hochst unerfreu-
Uche Erscheinung, sondern ihm mangelt
auch heutzutage vollig das, was sein Vor-
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
10 Neue Musik
handensein im Interesse der Allgerneinheit
verzcihlich und begreiflich machea konnte,
namlich: der kiinstlerisch gerichtete Unter-
nehmungssinn. Hermann Wolff etwa, der
Begrtinder der Kon2ertdirektion Wolff, ver-
fiigte iiber solchen Unternehmungssinn, ihm
danktc er sein Emporkommen. Wolff war
es z. B M der in Berlin die Biilow-Konzerte
einrichtete. Sie bedeuteten fur die damalige
Zeit ein Wagnis und eine Tat, zu der kein
anderer befahigt gewesen ware. Unter den
heutigen Musikagenten ist Keincr von ahn-
lichcm Wagemut und Weitblick. Heute
riskiert man nichts mehr, weder in bezug auf
schaffende, noch auf ausiibende Kunstler.
Man weifl, da/3 man mit Bach, Beethoven und
Brahms, mit Juha Culp, Eugen d'Albert und
Hubermann sichere und gliinzende Geschafte
macht — - wozu da sich Gefahren aussetzen?
Und die namliche satte, faule Zufriedenheit
ist kennzeichnend flir die namhaften &u&-
(ibenden Kunstler, Was ist es mit den Sin-
fonieprogrammen von Richard StrauS In
, I , Original from
'°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik n
Berlin? Wenn sich da jemals eine Novitat
einschleicht (es kommt zuweilen vor), so
kann man sicher sein, dafl nur auBergewohn-
liche personliche Beziehungen, nicht etwa
Sachlicb.es Interesse dem betreffenden Kom-
ponisten den Weg geebnet haben. Oder man
lese die Liederabendprogramme einer Julia
Gulp, einer Lula Mysz-Gmeiner, die Pro-
gramme der namhaftesten Klavier- und
Violinvirtuosen -*- es ist immer dasselbe*
Schubert, Brahms, Hugo Wolf bei den San-
gern, Beethoven, Brahms, Bruch und Men-
delssohn mit ihren abgedroschenstcn Werken
bei den Instrumentalisten — es gibt nichts
anderes. GewiB sind die genanntcn aus-
libenden Kunstler vortrefflich in ihrem Fach,
aber ilire Konzerte haben fiir die Oifentlich-
keit meist nur noch relatives Interesse. Be-
df:utungsvoll sind sie in erster Linie fiir den
Geldteutel der Konzertveranstalter* DaS
diese dabei kiinstlcrisch nicht gewinnen, son-
dem durch die unaufhfirliche Wiederholung
der gleichen Stucke sich allmahlich zu Auto-
i Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
12 None Mus ilt
mateti herabwurdigen, bedarf kaum der
Feststellung. Unser Mangel an Personlich-
keiten unter den ausiibenden Kiinstlcrn, Pcr-
sonlichkeitcn vorn Range etwa eincs Rubin-
stein, eincs Tausig, cities Biilow ist nicht
etwa auf cinen Mangel an Talent zuriickzu-
fiihrcn. Er beruht zum groOen Teil auf dem
Maiiftcl nn Charaklcr unter den slarkeu
a umi Louden Tnicntcn unsercrZcit. DicTages*
press© abcr hat sich solchcnZustaiidcn gcgen-
iiber bishcr noch nicht zu einhcitlichcr cut-
schlosscner Stellungnahme aufraffen konnen.
Zum Teil sieht sie Hire Aufgabe imnicr nocli
darin, festzustcllcn, ob dicscr odcr jener
seine Sache diesmal etwas besscr oder ctwas
schlcchter gemacht Iiabe als sonst, zum Teil
ist sie durch die jctzigen Raumschwieiig-
kciten innerhalb der Zeitungcn in der Er-
orterung grundsatzHcher Fragen behindcrt,
zum Teil schlieBlich ist ihre Stellung inner*
halb des Redaktionsorganismus und gegen-
iiber den Verlegern iiberhaupt nicht derart
gefestigt, da3 sie es wagen diirfte, iiber die
,,,!,, Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik
13
Berichterstattung hinweg eine kritische
Stellungnahme kulturcllen Zeitfragcn gegeti-
iiber einzunehmcn.
Diesc kurzc Feststcllung der Tatsachcn ist
notig, um eine Erklarung zu gebcn fiir die
an sich tiochst befrcmdlichc Tatsachc, dafi,
wahrend auf alien andcren Kunstgebieten
dcr Streit uiu das Ncuc ausgefochleu wild, in
der Musik, die, rein auCeiltch genonuncn,
gerade fiir den Masscnkonsum in crster Linie
in Bctracht kommt, wenig oder gar ntchts
davon zu spuren ist. Dcr Auiicnstehendc,
der nur bcobachtct und die tiefercn Ursachcn
dieser Zustande nicht erkennen kann, kommt
lcicht zu dem RuckschluB, daB in dcr niusi-
kalischen Produktion Ncues im sachlich
ernsthaften Sinne eben nicht vorhanden sei.
Er muB annehmen, daB die Produktions-
kraft in der Musik, wenn nicht erschopft, so
doch auf bestimmtc, langst gewohnte For-
meln festgelegt sei } wie sie etwa durch die
seit einem jahrzehnt anerkannten Musiker
namentlich der neudeutschen Schule unter
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
14
Ncue Musik
der Fiihrung von Richard StrauB zur Geltung
gebracht werden. In den Werken dieser Mu-
siker findet man nun allerdings noch gar
nickts oder doch fast gar niches, was man
irgendwie als ErneuerungsJrang oder Zu-
kunftswillen ansprechen konnte, nichts Ex-
perimentelles, nichts Abseitiges, nichts was
sich dem Tagesgeschmack bewuBt oder un-
bewufit entgegenstellt, nichts was zu kriti-
scher Erforschimg ^nreizt. Man findet darin
im Ccgenteil nur das Bemu hen, diescm Tages-
geschmack so weit wie moglich entgegen-
zukommen, seine Wiinsche instinktiv zu er-
wittern und sie — wie es in der Hotelsprache
heiBt — ,,mit allem Komfort der Ncuzeit"
zum Ausdruck za bringen. Und da dies mit
vielem Talent geschieht und besonders eine
Personlichkeit wie StrauB durch aufler-
ordentiiche Beherrschung des technischen
Apparates und geniale Treffsicherheit des
Wurfes immer wieder die Massen des Publi-
kums wie der Musiker einzufangen weiB, so
ist es erklarlich, daB der Fernerstehende in
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ncue Musik 15
der zeitgenossischen Musik nichts von dem
Sturmwind spurt, der durch alle anderen
Kunste weht. Enttauscht und gelangweilt
wcndet er sich vcn dieser innerlich verodeten
Kunst ab — erstaunt zwar ob ihrer schein-
baren Erstarrung und Schablonisierung, aber
doch in der nicht unberechtigtcn Meinung,
daB die Musik eben aufgehort habc, ctwas
geistig Lebendiges zu sein und durch die
vereinigten Bemiihungen der Agenten, der
ausiibenden Kiinstler, der Prcsse und der
Schaffenden zu einem der vielen Betriebs-
mittel des industriellen Kapitalismus herab-
gesunken sei.
Wer nun freilich die Verhaltnisse und
Menschen etwas genauer kennt, weiC, dafl
dies alles nur Oberflachenerscheinungen sind,
wie sie sich in einem auf den Geschaf tsbetrieb
eingestellten Kunstleben kaum vermeiden
lassen. Er weiB auch, daB die Klagen mancher
emsthaften Kunstfreunde iiber das Nach-
lassen der Erfindungs- und Schopfungskraft
der Musiker den Tatsachen nicht entsprechen.
[ , , ,L Originalfrom
d byV^iOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
1 6 Neue Muslk
Er weiB vor allcm ? dafl untcrhalb jenes auBer-
lich blcndenden und dabci sachlich belang-
losen Musikbetriebes, den wir „offenttickcs
Musikleben" nennen, Krafte am Werkc sind,
die, aus verschiedensten Quellea genahrt
und im einzelnen verschiedensten Zielen zu-
stretend, doch in einem einig sind: in der Ab-
lehnung des heutigen Zustaudes unserer
musikalischen Kultur, in dem Wunsch nach
ihrer Erneuerung aus dem Geiste einer neu-
zeitlichen Anschauung vom Sinn und Wesen
der Musik iiberhaupt Solche Erneuerung
kann von vrrschiedenen Gesichtspunkten
aus crfolgen: sie kann das offentliche Musik-
wesen, die Art unserer Konzertveranstal-
tungen betreffen, sie kann sich auf das mu-
sikalische Lehrwesen, auf die Heranbildung
des musikempfangHchen Publikums wie des
Musikers beziehen, sie kann auf die Herbei-
fiihrung einer neuen Art kritischer Wertung
zielen, und sie kann sich schlieBlich mit dem
Wichtigsten: mit der geistigen Erneuerung
der Musik selbst, also mit der eigentlich
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
NtMie Mnsik 17
schopfcrischen Kundgebung musikalischen
Fiililens beschaftigen. Anf all diesen EinzeU
gebieten sind bei uns, gerade wis in den an-
dercn Kiinsten, Bestrebungen vorhanden*
Nur kommen sie aus zu verschiedenen Rich-
lungcn und haben mit zu starken auBeren
Widcrstanden zu kampfen, um gleich den
ahnlichen Bestrcbungen in anderen Kiinstcn
aufierhalb der unmittelbar interessiertcn
Kreise Beachtung zu finden* Auch ist die
Musik eine begriff lich zu schwer zu fassende,
fiir literarisch asthetisclie Propaganda zu
wenig handliclie Kunst, um fiir die feinsten
Problerne ihres Seins gleich beredte Dar-
Jegungen und ein interessicrtes Diskussions-
publikum zu finden, Und schlieftlich diirfen
wir uns nicht verhehlen, daB unter den neuen
Regungen auf musikalischem Gebiet vieles
ist, was nur der asthetischen Speculation,
nicht einem unmittelbaren Produklionszwang
sein Entstehen verdankt. Das darf uns nicht
wundern und nicht abschrecken. Die aslhe-
tische Spekulation gehtirt stets zu den bahn-
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
XS Ncue Musik
brechenden Kraften und hat gerade auf
musikalischem Gebiet — ich erinnere nur
an die Entstehungsgeschichte der Oper —
schorl bedcutungsvolle Ergebnisse gczeitigt.
Es licgt aber im Wcsen solcher spekulativer
Erneuerungsvcrsuchc, da3 sie zunachst
immcr auf eincn klcincn Krcis bcschrankt
blciben. Jetzt indc&scn ist es vicllcicht an
der Zeit, alle diese Bemiihungcn, glcichviel
woher sie kommen und welchen Motiven sie
entspringen, einmal kurz zusaniincnzufasscn,
gleichsam eine Bcstandsaufnahmczu machen
— r- jetzt, wo unsre bisherige Musikwirtschait
und unsere bisherigen Musikwirtschafts-
groBen doch schon gar zu sehr in ihrer un-
kiinstlerischenj rein geschaftsmaOigen Praxis
auch dem gutglaubigen Laien durchschaubar
wetden, Ich werdc also zunachst versuchen,
eine knappe Ubersicht zu geben iiber das, was
an Neuerungsbestrebungen in der Musik
wahrend der letzten Jahre erkennbar ge~
worden ist, und ich werde dann versuchen,
festzustellen, ob all diesen verschiedenartigen
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 19
Versuchen irgcndeine gemeinsame Grund-
richtung eigen ist und wohin diese, falls sie
zu erkennen ist, zielt.
* *
Als Andcrungsbcstrcbungcn cJcmcntarstcr
Art zcigen sicli zunachst Bcmiihungcn zur
Neugestaltung unseres Tons ys terns, Unser
Tonsystcm erhalt seine charakteristischePra-
gung durch den Wechsol von halbon und
ganzen Tonstufcn* Man versucht nun, dicsc
Stufenfolge zu erweitern und zu vermehren
durch Einschaltung von Vierteltonen. Der
„Schrei nach dem Viertclton 1 * ist schon eine
Reihc von Jahren alt, besonders zum Be-
wutitsein gekommen ist er uns ncuerdingsda-
durch, daft W. von Mollendorf ein Harmonium
konstruiert hat, auf dem Vierteltone akustisch
darstcllbar sind — zwcifellos eine recht in-
teressante Erfmdung. Ob sie in der vor-
liegenden Form fiir unsere Musik praktische
Bedeutung erlangen wird, scheint mir zwei-
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
20 Neue Musik
felhaft. Psychologisch gewertet, bedeutet die
Einfiihrung der Vierteltene zunachst eine
Scharfung, gleichzeitig aber eine Verweich-
lichung unseres Tonempfindens. Schon die
Chromatid, wie sie namentlich Liszt und die
ihm folgende neudeutsche Romantik ge-
pflegt hat, stellt gleichsam eine Spaltung
und Verzartelung der Empiindungsbewegun-
gen dar. Denkt man sich diese durch die
vermehrten modulatorischen Moglichkeiten
bcrcits zu sehr fcinen und aparten Sinnes-
reizungen entwickelten Ausdrucksmoglieh-
keiten noch durch die Bichromatik ge-
stei^ert und ins UnermeBliche vervielfacht,
so erhalt man eine Tonskala, die aufierlich
genoinmen zweifellos einen Gewinn, ihrem
asthetischen Charakter und ihrer Wirkung
nach ebenso zweifellos eine Degenerations-
erscheinung bedeutet. Ich kann mir die
pr&ktische Verwendung eines solchen, In-
strumentes nur zu rein koloristischen Zwek-
ken, also etwa zur Erzielung besonders
aparter Wirkungen innerhalb des Orchesters
,,,!,, Original from
IbyLsOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neuc Musik 21
denken, und tatsachlich hat ja Ernst Boehe,
wenn ich recht unterrichtet bin, sich das bi-
chromatische Harmonium in dieser Art be-
reits nutzbar gemacht. Wieweit solche Ver-
suche praktisch wirken werden, bleibt abzu-
warten — es ist auch nicht meine Absicht,
hier ein scharf formuliertes Urteil iibcr die
Entwicklungsaussiehten der Bichromatik ab-
zugeben, Ich will zunachst nur die Neu~
erungsversuche innerhalb der Elemente
unserer Tonsprache einer kurzen Durchsicht
unterziehen.
Mollendoff ist nicht der einzigc, der mit
Vierteltonen operiert. Andere haben schon
vor ihm ahnliche Versuehu gemacht, vor
allem hat Ferruccio B u s o n i bereits vor
Jahrei: die Frage der Einfiihrung sowohl
von Viertel- als auch von Drittel- und sogar
von Sechsteltonen theoretisch-asthetisch er-
ortert und zur Diskussion gestellt. Wir be-
treten da freilich bereits die Gebiete der
Phantastik, und die Schriften Busonis — es
kommt da namentlich sein u Entwurf zu
("" f -\f\ l \1 i . Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
22 Neue Musil:
eincr neuen Asthetik der Tonkunst" in Be-
tracht — haben in der Tat einen kleinen Bei-
klang von Jules Verne. Ich mochte dieses
Schriftchcn nicht nur wegen der Ausfiihrun-
gen iiber die Viertcltone, sondern wegen
sei:?es originellen und fesselnden Inhaltes
jberhaupt empfchlen. Wie es falsch ware,
dergleichen luftige Spekulationen nur als
scherzhaftes Unterhaltungsspiel zu nehmen,
ohne die anregende Kraft zu beachten, die
darin enthalten ist, so ist es auch falsch,
gegen diese Traumgcspinste einer kiihnen
Virtuosennatur mit dem schweren Riist2eug
des ehrbaren deutschen Kunstverteidigers
zu Felde zu Ziehen, wie dies Hans Pfitzner
in seiner gegen Busoni gerichteten Broschiire
M Futuristengefahr" getan hat. Eine Futu-
ristengefahr besteht, wie rneine einleitenden
Worte beweisen, fiir die Musik uberhaupt
nicht — ich kann nur hinzusetzcn: leider
nicht Es besteht nur die Tatsache, daB
alles, was an originellen Regungcn in der
Musik laut wird, sofort nicht nur vom
,,,!,, Original from
1 lOOglt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 23
Publikum — dieses ware noch zu cntschul-
digen — sondern gerade von denen mit
alien Machtmitteln zu Boden geschlagen
wird, von dcnen man vorurteilsfreie Ein-
schatzung und Freude an der lebendigen Be-
wegung am ehesten zu erwarten bcrechtigt
ware.
Den Berniihungen um Einfuhrung des
Vierteltonsystems entsprechen andere Be-
rniihungen um die Einfuhrung des Ganz-
tonsy stems, Freilich nicht eines Systems,
das die heute ubliche Diatonik ausschlieBen
oder verdrangen, sondern das sic nur er-
ganzen soil. Die Ganztonleiter nimmt Be-
zug auf das chinesisch-pentatonische Ton-
system, das eino nur fiinfstufige Skala kennt.
Wenn nun audi kaum ernstliche Aussicht
besteht, ein solches, auf wcscntlich anderen
kulturellen Voraussetzungen bcruhcndes Ton-
system bei uns jemals hcimisch zu niachen,
so bictct doch die Ganztonleiter namcntlich
in harmonischcr und modulatorischcr Be-
ziehung eine Fiille neuer Deutungsmoglich-
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
24
Neuc Musik
kciten, und von dicsen habcn verschiedene
unscrer nanihaf tester* zeitgenossischen Mu-
siker wahrend der letzten Jahre schoii in
reichem Maflc Gebrauch gcmacht. Ich nenne
hier nur die Namen Debussy und Schon-
berg, in deren Wcrken dcr atherisch ab-
strakte Charakter der Ganztonleiter, der die
Vermeidimg vcrmittelnder Halbtonschritte
elwas eigentiimlich Ober&innlichcs, Unwirk-
liches, Spharenhaftes gibt, eine grofle Rolle
spielt. Auch Hans Pfitzner hat sich gele-
gentlich dieses Mittels zur Stimmungs-
charakteristik bedient, am auffallcndsten in
seiner Vertonung von Goethes „Fullest
wieder Busch und Tal", wo das geisterhaft
Zwingeiide des groSen elementaren Natur-
lebens durch die gleichsam in unqrbittlicher,
innerlich unbeweglicher Konseqaenz fort-
schreitende Ganztonskala zum Ausdriick ge-
bracht werden soil*
Die Versuche, die Ganztonleiter bei un$
heimisch iu machen, sind ein Teil der Be-
strebungen, die auf Einf iihrung e x o t i *
f ' , , ,L Original from
. I I H >glt
VERITY OF MICHIGAN
Nene Musik 25
seller Tonsystenic iibcrhaupt in die west-
curopaische Musik ziclen* Sic stellen in Hirer
Cesamtheit tin iniercssantes Goj;cnstiiok dar
zu den Anrcguiiften, die sich cin Teil unsorcr
bildeiulen Kiinsllcr, namcnllich Maler mid
Bildhauer aus exotischen Landcrn geholt
haben, Der Anfang dicser Bestrebungen
liegt zlcmlich wcit zurilck. Ostliche Ein-
fltisse ko 111 men tins schon in den tiirkischen
Musiken des 18. Jahrhunderts — in Mozarts
^Entfuhrung" und tiirkischem Marsch, in
Beethovens Jt Ruinen von Athen" — zum
BewuBtscm. Hicr handelt es sich allerdings
mehr urn koloristische Anklange, wie sie
durch die geographische Stellung Wiens
als ostlicher Briickenkopf westeuropaischer
Kultur leicht vermitlelt werden konnten, als
um bewuflte Ubertragungen exotischer Ton-
cysteme. Auch die ungarischen Anklange bei
Haydn, Schubert und vor allem die Anleh-
nungen an die Zigeunermusik, wie Liszt sie
nachdriicklich gepflegt hat, sind als Bestre-
bungen zur Erweiterung unseres tonalen
i " , . Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
26 Ncue Mustk
Ausdrucksvermogens aufzufassen. Die Ro~
mantik mit ihrem Hang 2um Fremdlandi-
schen, besonders zum Osten hat diesen Faden
weitergesponnen, obschon in ihrer Charak-
teristik des Exotischen dieses weniger in
seiner Urspriinglichkeit zum Ausdruck kam f
als vielmehr die Vorstellung des Fremd-
artigen, wie sie sich in der Phantasie des Mit-
teleuropaers kristallisiert hatte. Die eigent-
liche bewufite Obernahme exotischer Aus-
drucksweisen fallt erst in die neueste 2eit f
die Gclegenheit und Moglichkeit zu genauer
wissenschaftiicher Erforschung auBereuro-
paischer Tonsysteme fand und damit den da-
fur empfanglichen europaischen Musikern
reiches Anschauungsmaterial bot« Die Ar-
bciten Capellens und in neuestcr Zeit na-
mentlich Hornbostels haben uns in diescr
Beziehung aufierordentlich gefordert. Von
Musikein, die teils av-f Grund solcher An-
regungen, teils aus cigener Erfahrung und
Phantasietatigkeit die Verbindung der euro-
paischen mit auBereuropaischen Musikkul-
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 27
turen zu fordern bestrebt waren, sind zu
nennen Saint-Saens, dem sein Aufenthalt in
den sudlichen Landern des Mittelmeeres,
namentlich in Agypten, manches aus ara-
bischen Gegenden zuwehte, Frederick Delias,
der in Amerika altindianische und Sklaven-
lieder-Melodien auffing, und wiedcrum De-
bussy und Busoni, die wcniger aus eigener
Erfahrung als aus Spekulationsdrang und
natiirlichem Hang zum Fremdartigen sich
die Anregungen dcr Exotik zunutze machten,
Diese Namensnennungen sollen nicht etwa
eine vollstandige Aufzahlung all der Musiker
geben, die ihr Ausdrueksvermogen an auBer-
europaischen Tonsystemen und Melodie-
biMungcn berelchert haben — ich gebe nur
einlge Stichproben, um das Vorhandensein
solcher fur die Entwicklung der modernen
Tonsprache bezeichnenden Bestrebungen zu
belegen.
Als letzte unter den Bemiihungen zur Er-
weiterung unseres Tonsystems sind die Ver-
suche zur Wiedercinfiihrung der alten Kir-
/^ ,-.. ■.,,!,• Original from
VERITY OF MICHIGAN
28 Keue irfustk
chentonarten zu nenneru Die Kirchen-
tonarten, das Tonsystem des Mittelaltsrs,
siad in der Neuzeit durch die Aufstellung der
beiden Tongeschlcchter Dur und Moll auBcr
Gebrauch gekommen. Da die gcsanitc Ent>
wicklung der harmonischen Musik auf der
Anerkennung dieser beiden Tongeschlechter
a!s der eijentlichen Grundlage unseres musU
kalischen Empfindens beruht, die Kirchea-
tonarten aber im Gegensatz dazu der Aus-
druck des homophonen, auch in der auBeren
Vielstimmigkeit die Individualitat der Einzel-
stimma wuhrenden Musikempf nutans sind,
so konnte die Heranziehung dieser Tonarten
zundchst keine andere Bedeutung haben, als
die Benutzung exotischer Tonsysteme, der
Ganztonleiter oder die Spekulationen mit
Vierteltonen — namlich die koloristische
Bereicherung des Ausdrucks durch archai-
sierende Farben. Man findet auch hierfiir
Gegcnstiicke in der Entwicklung der moder-
nen bildenden Kunst, namentlich der Malerei
und Bildhauerei, aber auch der Architektur,
(~* , Ail , ,, I , Original from
/^,OOgK UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 29
die gleichfalls im Spiel mit Stilelementen
langstvergangener Zeiten, Stilelementen, fiir
deren Anwendung heut ein unmitteibarer
Zwang nicht nichr vorliegt und die nur noch
gleichsam als ornamentaler Ausputz zur
Geltung konimen, sich neue Ausdrucksmog-
lichkeiten zu schaffen sueht,
Uberblickt man all dicse Einzelbestrcbun-
gen auf musikalischem Gebiet im Zusam-
menhang, so kommt man zu der Oberzeu-
gung, dafl sie doch nicht nur spiclerische
Laune, Streben nach auffallenden und selt-
samen Wirkungen, Verlegenheit und Ge-
dankenarmut bedeuten. Einzelne solcher
Motive mogen wohl hier und da wirksam
sein — aber damit erklart man nicht eine
Bewegung, die, wie die Tatsachcn zeigen,
von den verschiedensten Punkten aus ein-
setzt und nicht etwa nur eine zufallige Epi-
sode darstellt, sondern tnehr odor weniger
alle schopferischen Geister erfaBt. Das Ziel,
dem diese Bewegung zustcuert, sche ich zu-
nachst in der Gewinnung einer neuen Me-
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
30 Neue Muslk
lodik, ciner Mclodik, der die hcutigc Mi-
schung von Ganz- und Halbtoncn nicht aichr
geniigt, sondcrn die nach fcincrcn, mannig*
faltigeren, reichcrcn Bczichuiigcn zwischen
den Einzeltoncn strcbt, nach Bczielmngen,
in denen ein starkeres melodisches Eigcn*
leben, eine zarterc, fciner gcglicdertc Psyche
sich offenbaren kann, als dies gcgenwartig
der Fall ist. Abcr — so hore ich entgegnen —
dies widerspricht ja gerade dem Wescn der
neuen Musik. Diese neue Musik zeichnet
sich doch dadurch aus, dafi sie von Grund
auf immelodisch ist. Woher kommt denn
der Schrei nach Melodic, der Ruf lt Zuriick
zu Mozart*'? Doch nur daher, weil wir
Heute Melodien uberhaupt nicht mehr zu
horen bekommen, weil die modernen Korn-
ponisten ftben keine Erfindung mehr haben
und sich darauf beschranken, mehr oder
minder interessante Gerausche zu produ-
zieren. Nun — wer solches behauptet, der
ist entwedcr ein Ignorant oder ein Bos*
williger, denn das eigentlich Charakteristi*
,,,|., Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue MusJk 31
schc dcr neuen Musik ist ihr Strebcn nach
neuen mclodisclien Ausdrueksfornieii, ihr
Drang nach melcdischer Durchdringtmjj und
Bcscclung des gnnzcn Tonsliickes, ihr Be-
million, wieder hinwcgzukommfii fiber die
Kluft zwischen Melodie und Nichtmclodie,
d. h. Ihemalisch erarbeileter Slimnifiihrung,
wie sic sich als Nachwirkung unscrcr klas-
sisch-romantischcn Tonsprache allmahlich
eingeburgert hat und zum bequemen Schema
des Kompositionshandwerks gewordcu 1st,
Man kann das innere Entwicklungsziel der
neuen Musik, sofern man sie nur ehrlich
kcnnenzulernen und sachlich zu begreifen
sucht, gar nicht anders fasseii dean als
bewufitcs Strebcn nach einer Erneucrung
unsercs melodischen Empfindens, eines me-
lodischen En ip find ens freilich, das nicht
nur nach andcren Tonkombinationsnidglich-
keiten innerhaJb der gegebencn Nor men
strebt, sondern das eine grundlegende psy-
chische Erneuerung und Erweiterung un-
seres Musikempfindens iiberhaupt zur Vox-*
-I— Original from
■ >OOg[L UNIVERSITY OF MICHIGAN
32
Ncuc Musik
aussetzung hat. Dies mag jetzt vielleicht
noch als gewagte Behauptung erscheinen.
Wer aber nur die bisher gekennzeichneten
Bemiihungen zitr Umanderung unseres Ton-
systems aufmerksam betrachtet, wer von
dem subjektiv Spekulativeu und virtuos Ex-
perimentellen, das ihncn im einzelnen an-
haflot, absieht und dicse von den verschie-
denstcr* Ausgangsquellcn her einsetzenden
Versuche auf Aire syniptomatische Bedeu-
tung bin wertet, erkennt darin den Drang,
zu ncuen Moglichkeiten des melodisch line-
al en Ausdrucks zu gelangen. Ich bitte, diese
syniptomatische Bcdeutung (estzuhalten.
Ich spreche hier ntcht fiber ein2elne mod erne
Musiker, soridern iiber die ncue Musik, Fur
die Erfassung ihrer Eigenart, ihrer Wer»eris-
und Willensrichtung ist es tict bezeichnend,
daB sie sich nicht an das Gegebene, Ober-
lieferte klammert, sondern einsetzt mit einer
Kritik an den Grundlagen dieses Ober-
lieferten, an unscrem Tonsystem iiberhaupt,
da£ sie versucht, die primitivsten Voraus-
,,,!,, Original from
IbyLsOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 33
setzungen unserer Empfindungsart umzu-
gestalten und dadurch zur Gcwinnung inner-
lich erneuerter melodischer Wertbegriffe zu
gelangen.
Nun sind solche Versuche an sich nichts
eigeirtlich Neues, sie lassen sich liberal 1 beob-
achten, wo zwei Zeitatter und zwei Welt*
anschauungcn miteinander kampfen. Die
Melodik der Romantiker etwa ist etwas ganz
anderes als die Melodik der Wiener Klassiker.
Als Schumann, Chopin, Wagner und Liszt
auftraten, hat man gerade so gezetert uber
den Mangel an Melodie, wie hctitzutage. Man
hat gespottelt iiber die sogenannte n unend-
liche Melodie" Wagners, man hat Liszt fur
einen Phrascndrescher, Schumann fiii eineti
dilettanti ichen Charlatan, Chopin fur einen
Tonklingler erklart. Das Neue, was diese
und die andercn Romantiker — audi der
leichter eingangliche und daher williger an*
erkannte Mendelssohn « — brachten, war die
poetische Beseelung der Melodie, die Ent-
wicklung und Fortspinnung des melodischen
{"" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
34 Neue Musik
Gedaakens im Zusammcnhnng mit dcm
poetischen. Fur die damaligen Musiker war
dies die naturliche Forlsetzung des von Beet-
hoven gebahnten Wegcs. Das Streben naeh
Verse hmelzung verschiedcnartiger kunst-
leriscner Anregungcn lag im Wescn dcr ro-
mantischen Kunst und war fiir jene Zeit
auch das eiruigc Mittel, sich das grofic, an
sich einstweilen noch unangreifbare Vcr-
rnachtnis der Klassiker im zeitgemalkn Sinne
nutzbar zu machen. Die romnntische Be-
wcgung war evolutionarcn Characters, sie
riittclte nicht an den Gruncllagen, uc baute
sich den Klassizismus nach ihren Gesichts-
punkten urn. Wir stehen hcut dcr Banke-
rotterklarung jener klassisch-romantischcn
Kunst gegeniiber. Uber die genialen Rarock-
schopfungen eines Wagner und Liszt hin-
aus ist sie zur tcchnischen Kiinstelei, zu
einem leeren Talentspiel, zu einem Handel
mit ausgcmiinzten Wertcn geworden. Stellt
eine Erscheinung wie Richard Straufl nicht
das kiinstkrische Gegenstiick dar zu dem,
,,,!,, Original from
IbyLsOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik
35
was wir irn hcutigen Wirtscliaftsleben In-
dustrialisrnus und Kapitalismus ncnnen?
Ich spreche hier nicht etwa von der Art semes
geschaftlichen Gcbarens, von seinem Stre-
ben, alio aufieren Mittcl der praktischen Be-
einflussung unseres Musikbetriebes in seine
Hande zu bckommen — wie etwa jetzt die
Leilung der Berliner und Wiener Oper zu-
gleich su fiihrcn und sich so die peisonliehe
Vorherrscbaft im deutschen Buhnenbetrieb
KU sichcrn. Ich spreche hier hauptsachlich
von der Art seines kunstlerischcn Gchabcns,
wie es in seinem ncuesten Sclmffen zutage
tritt p das doch nichts andcres ist als einc
Spckulation nuf Bourgeois- Jnstinktc, ein
Spielen und Kokettieren mit Fortschritts-
alliiren, hinter denen bei genaucm Zusehen
nichts anderes steckt, als eine schr geschickt
und blendend aufgeputzte, an sich aber au-
Berst diirftigc und schwache Altmeistcrlich-
keit, eine posicrende Ktihnheit und erheu-
chelte Modernitat, die sich ungeheuer revo-
lution^ gebardet und dabei ihrcr Gesinnvng
f^" n*-\ f \i, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
36 Neue Musik
und ihrem Charakter nach genau so reak-
tionar 1st, wie das ehrlich phi list rose Aka-
demikeitum.
Wir sind heute in der Musik iiber das
Stadium hinausgelangt, in dem man meinte,
Fortschritt sei gleichbedeutend mit tech-
nischer Steigerung dcs Hergebrachten. Wir
wissen, Fortschritt ist nur zu gewinnen
durch Vereinfachung, Vereinfachung aller-
dings nicht im Sinne jenes iiblen Modewortes
,,Zuriick zu Mozart", das, auf seine wahre
Bedeutung hin gepriift, nichts anderes ist,
als die Erganzung jener Steigerungsmanier
nach der entgegengesetzten Richtung einer
gcistlosen Primitivitat. Wenn ich von Ver-
einfachung spreche, so meine ich damit eine
Priifung der Grundlagen unsercs musikali-
schen Schaffens auf ihre'Giiltigkeit fur uns,
auf ihre Wesenheit, auf ihre innere Berech-
tigung, auch heut noch als Grundlage einei
wahrhaften Tonsprache zu dienen. Das ist
das Charakteristische der neuen Musik. Sie
nimmt nicht das Gegebene und modelt es
, T , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Muaik 37
nach ihren Begriffen urn oder blast es tech-
nisch auf — sondern sie stellt die Frage nach
dem Daseinswert und der inneren Lebens-
berechtigung dieses Gegebenen iiberhaupt.
Und ski komrnt dabei zu dem Ergebnis, dafl
dieses Gegebene, das Vermachtnis der klas-
sisch romantischen Kunst, fur uns • nicht
melir das Fundament sein kann, auf dem wir
weiter bauen diirfen, sondern daQ wir uns
dieser Kunst im hochstcn Grade kritisch
gegenuberstellen, daB wir tiefer zuriickgreif en
mussen, urn dann etwas im wahren Sinne
Zeiteigenes schaffen zu konnen.
Eine solche Erkenntnis ist unbequem, denn
sie fordert von jedem einzelnen eine kritische
Strenge der Selbstbesinnung, die man hochst
ungern aufbringt. Es ist ja so viel angenehmer,
in hergebrachten Formeln zu denken und zu
sprechen, als sich iiber jedes einzelne Wort,
iiber seinen Sinn und seine Daseinsberechtx-
gung Rechenschaft abzulegen. Daher vor
allem der Widerstand der austibenden Kunst-
lerschaft gegen die neue Kunst. Andrerseits
("" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
38 Neue Musik
i'st nicht zu verkennen, daB diese neue Kunst
einstweilen noch nicht mit allzu vieien fer-
tigen Ergebnissen aufwarten kann. Sie selbst
ist ja noch em Werdendes, das sieh Klarhcit
und innere Bestimmtheit erst erkampfen mu0.
Ich habe von den Bemuhungen zur Erweite-
rung unseres tonalen Empfindens durch Neu-
gestaltung unseres Tonsystems gesprochen.
Diese Bemuhungen sind naturgemaB nur
ein kleiner Teil der Bestrebungen zur Schaf-
f ung neuer melodischer Erscheinungen. Ein
andcrer, ebenso wichtiger, wenn nicht noch
wichtigerer Teil sind die Bestrebungen zur
Erweiterung unseres Harmonic - Empfin-
dens. Sie hangen eng zusammen mit dem
Protest gegen die Vorherrschaft des Dur- und
Mollgeschlechtes, sie sind eigentlich bedingt
durch sie, denn erst mit dem Zweifel an der
ewigen Giiltigkeit von Dur und Moll konnte
eine starkere Freiheit auch des harmonischen
Denkens und Fiihlens einsetzen. Aber sie
gehen in ihrer praktischen, nach aufien er-
kennbaren Wirkung uber jene hinaus und
/"* rt Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
i ■■ ■ ■ ■
Ncue Musik
39
sie haben auch in der Tat heute schon er-
hcblich mchr Bedeutung erlangt.
Unser Musikernpfinden im allgemeinen ist
em vorwiegend harmonisches. Man denkc
sich irgendeine ganz einfache Melodie —
etwa, um nur ein Bcispiel zu geben „Morgcii-
rot, Morgenrot, leuchtest mir zum friihen
Tod 11 — und beobachte sich selbst genau:
Man wird sich diese Melodie, auch wenn
man sie nur vor sich hersummt oder sie sich
rein gehirnmaBig denkt, gar nicht anders
vorstellen konnen, als mit harmonischcm
Unterbau, Dies ist nicht etwa Gewohnheit,
sondern die Melodie selbst zwingt dazu, Sie
ist so gebaut, daO ihre deklamatorisch rhyth-
misch wichtigsten Teile gleichzcitig Elcmente
einer charakteristischen Harmonie sind. Was
fiir dieses einfache Lied gilt, gilt zugleich fur
die kompliziertesten thematischen Gebilde
unserer gesamten Instrumental- und Vokal-
literatur von der klassischen Zeit ab. Man
kann Themen von Mozart, von Beethoven,
von Richard Straufi nehmen — alien gleich-
, I -, Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
40 Neue Musik
mafiig ist eigen, da6 sie nicht aus rein melo-
dischem, sondern aus melodisch-harmoni-
schem Empfinden erwachsen sindL Damit
hangt zusammen. dafl sie als mclodische Ge-
bilde an sich unselbstandig, unrollkommen
sind, daB sie unbedingt der Erganzung durch
die Harmonie bediirfen, urn zur vollen Wir-
kung zu koinmen.
Nun r.ehme man dagegen ein Thema von
Bach f irgendeines der Fugenthemen aus
dem wohltemperierten Klavier oder etwa
das bekannte Air aus der D-Dur-Suite. Auch
diese Melodien sind zum Teil auf harmo-
nische Stutzung hin entworfen. Die Har-
monie ist hier aber nicht Voraussetzung
und Hedinftung der melodischen Entwick-
lung, sondern sie ist ihr nur bei-, oder besser
gesagt: neben- und untergeordnet Sie be-
stimrnt nicht den Verteuf der melodischen
Linie, sondern sie schmiegt sich ihm an,
sie begleitet ihn. Diese Unterordnung del
Harmonie unter die rnelodische Fiihrung
kam auch auflerlich durch die Schreibart
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ncue Musik
41
des Generalbasses zurn Ausdruck, Die Har-
monien wurden nicht ausgefiihrt, sondern
nur durch beziff erte Basse angedeutet — ein
Zeichen dafur. dafl man sie nur als Neben-
sache, die ausgefiihrte Melodic aber als
Hauptsache ansah. Und je weiter man nun
zuriickgeht auf den eigentlich polyphonen
Stil, um so bedeutungsloser und unselbstan-
diger erscheint die Harmonic. Sie ist nichts
als das Ergebnis der ineinander verflochtenen,
an sich durchaus selbstandigen Stimmen,
dcren Zusammenklang zur Harmonie wohl
won dem schaffenden Kunstler in Rechnung
gestellt wird, aber keineswegs von ausschlag-
gebendei Bedeutung ist und vor allem auf
die Konzeption des melodischen Gedankens
keinerlei EinfluB iibt. Hier offenbarcn sich
zwei grundverschiedene musikalische Stil-
priiizipien; das eine, der vorklassischen Zeit
angehorend, gibt der Melodie, dem thema-
tischen Gebilde, fiihrende Bedeutung, sieht
in ihr den schopferischen Quell, das andere,
klassisch romantische, wurzelt im harmo*
( . ,,.(,, Original from
I by V. lOOOIt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
42 Ncue Musik
nischen Empfinden und sieht in der melo-
dischen Linie nur die Verbindung wechseln-
der Harmonien, verlegt also den schopferi-
schen Impuls in die harmonische Bewegung.
Dies natiirlich sehr schroff formuliert.
Aher wenn man die Klagen iiber das Nach-
lassea der melodischen Kraft, den Schrei nach
der Melodie, der jetzt von alien Seiten er*
tont, recht begreifen will, muB man sich klar-
machen, daft die Entwicklung von der Zeit
der Klassiker her eigentlich darauf aus-
gegangen ist, die Selbstandigkeit des melo-
dischen Formungsvermogens zu unter-
drucken dadurch, dafi es an das harmonische
Formungsvermogen gebunden und diesem
untergeordnet wurde. Wir konnen zu einer
Erneuerung dtfr melodischen Gestaltungs-
kraft nur gel an gen, indem wir uns von der
mehr und mehr zur konventionellen Formel
erstarrten harmonisch melodischen Denk-
weise der Klassiker wieder frei machen und
versuchen, zu einem neuen homophonen und
daraus sich ergebenden polyphonen Stil zu
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Keue Musik 43
gelangen, einem Stil, in dem die Tragkraft
der einzeinen melodischen Linie wieder das
zeugende Element, der Zusammenklang aber
das Erzeugte, die Folge 1st.
Die Deschreitung dieses Weges zuerst mit
nachdrucklicher Bestimmtheit versucht und
uns dadurch ven der Einseitigkeit des har-
monischnn bedingten Denkens und Ernp»
findens befreit zu haben, ist das Verdienst
Max R e g e r s. Dieses geschichtliche Ver-
dienst wird auch dadurch nicht gcschmalert,
daB Reger nur zu Teilresultaten gelangt und
selbst in diesen selten iiber eine barocke
Nachahmung seiner Muster hinausgelangt
ist. Aber Reger war der erste, der in seiner
Kunst wieder auf die Vergangenheit ver-
wies, die fiir uns, sofern wir iiberhaupt
an eine Vergangenheit ankniipfen wollen,
die fruchtbringendste ist, der also fiber die
klassisch romantischen Vorbilder hlnaus an
Bach anknupftc* GewiB, Bach ist zu alien
Zeiten geschatzt und verehrt worden, Mozart
und Beethoven haben ihm, sowelt sie ihn
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
44 Ncu* Musik
kannten, gehuldigt, die Romantiker haben
fiir ihn geschwiirmt und ihn uns ptaktisch
und theorctisch erschlossen — eine Erschei-
nun^ wie Bach bietet eben alien Zeiten und
alien Kunsianschauungen unerschopfliche
Anregungen, Aber unser* Stellung zu Bach
ist doch wieder erne ganz andere als die der
friiheren Generationen. Wir sehen in Bach
nicht nur den groflen Meister kontrapunk-
tischen Kdnnens, wir sehen in ihm nicht nur
den gewaltigen Tondichter, wir sehen in ihm
vorzugsweise den unerreichbaren melodi-
sehen Gestalter. Seine melodische Kunst
war begriindet in einer vollig voraus-
setzungslosen Kraft des Hnearen M usik-
empfindens, fiir das uns die spateren Zeiten
leider unbrauchbar gemacht, ja fiir das sie
selbst bei allem Bachkultus keinen Blick
gehabt haben* Ich mochte hier hinweisen auf
ein Buch des Berner Privatdozenten Ernst
Kurth iiber ,,Die Grundlagen des Hnearen
Kontrapunkts", in dem die hier angedeute-
ten Gedanken naher ausgefiihrt sind. Kurth
, I , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ncue Musik 45
hat den Satz gepragt ,,Melodie ist Bewegung",
d. h. sie ist die Kraft, die eine dauernde Be-
wegung tragt, Und wenn Sie nun eine Bach-
sche Stimme nehmen und sie durch ein
gauzes Werk hindurch verfolgen, so werden
Sie staunen iiber die unerhorte Mannig-
faltigkeit der Bewegung, iiber die in sich ge«
schlossene Lebensindividualitat, die sich hier
in voller Freiheit offenbart. Und wenn Sie
dagegen die Einzelstimme eines klassischen
oder romantischen Werkes nehmen, so wer-
den Sie sofort sehen, selbst im hochsten Fall,
also etwa bei einem Streichquartett von Beet-
hoven, daO hier nur ein relativ individuelles
Leben spricht, das in seiner Gesamtentwick-
lung durch das Ganze bedingt ist und erst
aus der Vorstellung des Ganzen heraus
seine Impulse empfangt. Damit soil nicht
etwa ein Wertvergleich ausgesprochen, wohl
aber gesagt werden, daB eine solche, das Ein-
zelne dem Ganzen unterordnende und erst
aus ihm heraus belebende Kunst unweiger-
lich zur Verarmung des melodischeo Emp-
(~* mr\r% \a Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
46 Keue Musik
findungs- und Schopfungsvermogens fiihren
rnuBte.
Wenn Regcr sich mit fast ungestiimer Ve-
hemenz, wie sie seiner bajuvarischen Natur
entsprach wieder Bach zuwandte, wenn er
unser an harmpnische Periodizitat und Sym-
metrie gewohntes Ohr krankte und wieder
Einstellung des Ohrcs auf die mclodische Be*
deulung der Esnzelstimme, auf die Ausdrucks-
kunst dcs polyphoncn Stils verlangte, so war
er damit theoretisch durchaus im Recht und
war vor allem ein guter Lehrmeister. Frak-
tisch freilich konnte die Wirkung nicht in
unserem Sinne ausfallen. Zunachst darum
nicht, well Reger nicht zu kiinstlerisch
einheitlicher Durchbildung seines Stils ge-
langte, sondern. ein Kind seiner Zeit, die
verschiedenartigsten Stilelemente ineinander
verwirrte, dabei bald durch wirklich groB und
genial geschaute Einzelheiten inneriich pak-
kend, bald durch konventionelle Natnahmung
und Unsicherheit des eigenen Willens lah-
mead , bald durch barock phantastische Will*
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 47
kiir und Ubertreibung abstoBcnd, Vor allem
aber deswegen nicht, weil die unrnittelbar
auflerliche Ankniipfung an Bach, so lehr-
reich sie war, so mannigfache Anrcgungen
sie brachte und so sehr sie zum Nachdenken
und zur Selbstbesinnung aufforderte, doch
nicht den ersehnten neuen Wcg finden lassen
konnte. Denn so sehr wir uns bewuflt scin
miissen, daB wir am Ausgang dcr klassisch
romantischen Zeit stehen und ihr Erbe auf-
gezehrt haben, so deutlich wir erkennen, daB
wir an cine weiter zuruckiicgende Vergangen-
heit anzukniipfen haben, urn wieder zu einem
eigenen Stil und eigenem Ausdrucksverrnogen
zu gelangen — so klar miissen wir uns be-
wuflt sein, dak diese Ankniipfung nicht durch
aufierlicho Obernahme alter Ausdrucksarten
in niodernisiertem Aufputz erfolgen kann,
sondern nur durch Erkennung und Neuge-
staltung der Stiielemente jener alten Kunst
aus dem Geiste einer neuen Zeit. Regcr abcr
war darin noch ganz der Nachkomnie des
romantischen Zeitalters, daB er glaubte,
i " , . Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
4 8 Neuc M 1:31k
durch das Mittel auBerlicher Nachahmung
die geistige Kraft der alten Kunst beschwo-
ren und neuen Zielen dienstbar machen zu
konnen.
Immerhin ist durch eine Erscheinung wie
Roger das kritische BewuBtsein auBerordent-
lich gescharft und das musikalische Gewohn-
heitsrecht stark erschuttert worden, Wir
sind zu einer lebendigeren Anschauung vom
Wesen Bachs und der polyphonen Kunst vor-
gedrungexij einer Anschauung, die nicht auf
irgendwelchen mehr oder weniger interes-
santen Auslcgungen beruht, sondcrn auf eine
wahrhaft intensive Erfassung des musi-
kalischen Organismus hinzielt* Wir sind vor
allem dazu gebracht worden, die Kraft der
melodischen Linie als solche mehr zu respek-
tieren, uns ihrem Ablauf frei hinzugeben und
uns dabei von der durch die harmonische
Vorstellungsweise bedingten Gewohnheit des
periodischen, strophenmaBigen Mel o die- Oder
Themabaues zu emanzipieren. Wir sind
also auch wieder zu freieren Anschauungen
f~* f -\f\ l \\ i . Original from
, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 49
vom Wesen der rhythmischcn Gestaltung
gelangt. Ich meine damit nicht nur die frcicre
rhythmische Diktion im einzelncn, die die
Melodic nicht in ein bestimmtes rhythmisches
Schema zwangt, sondern umgekehrt den
Rhythmus in den Dicnsk der melodischen Be-
wegung stellt. Wir nehmen heute keinen An-
stoQ mehr am haufigsten Taktwechsel inner-
halb eines melodischen Gedankcns, wcil wir
wissen, dafl ger*de dicser Taktwechsel die
melodische Bewegungskraft beschwingt, und
weil uns eben die linear© Bcdeutung dor me-
lodischen Bewegung allmahlich wiedcr wich-
*
tiger wird als ihre rhythmische Geschlossen-
heit, durch die der melodische Impuls ein-
gcengt wird. Wir sind audi inbezug auf
die tonartliche Einheitlichkeit des melo-
dischen Gcdankens erheblich freigeistiger
geworden, als cs fruher der Fall war — denn
wir sehen in der Forderung der tonartlichen
Einheit gerade wie in der rhythmischen Ge-
schlossenheit nur Folgen jenes harmonischen
Musikempfindens, das aus dem Geist und
f~* r±f-\t\\t > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
50 Neue Musik
Willen der Harmonie heraus den indivx-
duellen Charakter der melodischen Bewegung
auch inbezug auf rhythmische und tonart-
liche Freihcit der Fiihrung ubcrall zu be-
grenzen suchte. Damit zusammen hangt
auch die allmahliche Zuriickdrangung des
Periodenempfintiens, Es ist dieses Perioden-
empfinden die natuiiiche Folge eines har-
monisch, also vqrwiegend vertikal einge-
stcilten Musikempfindens, das naturgemafi
nacli symmetrischem Aufbau und erkenn*
baren Gliederungen der Akkordmassen ver-
!angt. Der Periodenbau ist also hervorge-
gangen aus dem nattirlichen Bediirfnis, die
Harmonie zu rhythmisieren, ihr architek-
tonische Sp&nnungen und Losungen zu geben.
Die Leidtragende ist hierbei wieder die Me-
lodic, Sie als Gipfellinie der harmonischen
Bewcgungcn mtiO sich auf derpn Bewegungs-
bediirfnisse einstcllen, vielmehr: sie wird von
vornherein so gestaltct, dafl die harmonische
Gliederung durch sie nicht beeintrachtigt
wird. Wohin man also sieht, findet man, dafl
,' . ,,iL> Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musi It 51
die Entwicklung, wie sie durch die Kunst der
musikalischen Klassiker und deren unmitteU
bare Vorganger, also von der 2* Halfte des
18, Jahrhunderts an vorbercitet und bis in
die neueste Zeit hinein durchgeftihrt wurde,
eine immcr starkere Einengung des melo-
dischcn Euipf indens und Formungsverrnogens
zur Folge hatte> zugunstcn eines sich standig
steigernden harmonischen E nip f indens. Wir
sind heute so weit gediehen, dafl wir iiber-
haupt nicht mehr wisscn, was eine wahr-
hafte Melodie ist — namlich Bewegungs-
kraft des linearen Ausdrucks — sondern daB
wir die Melodie nur noch aufiassen und be-
werten auf Grund oder doch unter still-
schweigendcr, unbcwuBtcr InrechnungsteU
lung der in ihr eingeschlossenen harmoni-
schen Werte.
Es ist gewiB schon eine Errungenschaft,
daB wir heute dahin gelangt sind, dieses
Grundiibel der neuzeitlichen Musikentwick-
lung, diese innerste Ursache unserer melo-
dischen Verarmung zu erkennen. Es ist
4'
Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
52 Neue Musik
auch zweifellos eine Errungenschaft, dafi
wir in den anfangs erwahnten Bestrebungen
2um Ansbau unseres Tonsystems, in den
weiterhin angedeuteten Bemiihungen zur
Neubelebung des polyphonen Musikempfin-
dens Symptome einer Reaklion verzeichnen
konnen, die gegen das vorwiegend har-
monische Musikempf inden und -gestalten ge-
richtet sind und auf eine Starkuug und Be-
tonung des melodischen Elementes zielen,
Aber dariiber diirfen wir uns doch keiner
Tauschung hingeben, daS dies zunachst nur
Ansatze und Einzelerscheinungen sind, und
dafl vor allem von diesen Ausgangspunkten
allein aus eine wirkliche Neugestaltung un-
seres musikalischen Ausdrucksvermogens
nicht erfolgen kann. Ob rnelodische oder ob
harmonische Gestaltung iiberwiegen — dies
ist eine Frage, die mehr die kritisch asthe-
tische Bctrachtung angeht als den schopfe-
rischen Musiker. Das eigentliche Problem
der neuen Musik liegt darin, die Gesetze einer
neuen Fortnung zu finden und aufzu-
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musilt 53
stellen, Gesetze also, die hervorgegangen Find
aus der neuen, melodisch individualistischen
Musikauffassung und die beweisen, daB auch
aus diesen heraus tine solche neue Formung
eifolgen kann, ja daB diese neue Formung
erst die Daseinsnotwendigkeit des ihr zu-
grunde liegenden Stilprinzipes richtig erweist.
Dieses also xst das Kernproblem dcr neuen
Musik — und es ist ernes, an dem sich Gene-
rationen die Zahne ausbeificn konnen. Ich
habe bis jetzt von der harmonischen Vor-
stellungs- und Empfindungsart in etwas
oppositionellem Tone gesprGchen, und ich
mochte mich nun gegen den Vorwurf ver-
wahren, als ob ich in ihr etwas irgendwit
Minderwertiges erblicke. Das harmonische
Musikempfinden ist vielmehr eines der groB-
artigsten Stilprinzipe gewesen, das die Musik*
geschichte kennt. Es steht dem ihm voran-
gehenden melodisch polyphonen urn nichts
f^" n*-\ f \i, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
<J4 Ncue Musttc
an innerem Reichtum und kiinstlerischem
Reiz nach. Wcnn ich hier gcgen es spreche,
so geschieht dies nicht, weil ich cs als an sich
unzureichend ablchne — dies ware cine Tor-
heit, gegen die man die gesamte Musik von
Gluck bis Straufl und Pfitzner als Gegen-
beweis anfxihren konnte — sondern weil ich
es als heute vcrbraucht ansehe, weil ich die
Stilwende empfindc, an der wir heute stphcn
und an der wir uns klar werden rniissen iiber
die Richtung, in der wir nun zu marschieren
haben, urn an das uns vorschwebende neue
2iel zu gelangcn.
Um dies aber recht zu konnen, darf man
das Vergangene nicht mit verachtlicher Ge-
barde beiseitestoBen, sondern man muB die
Krafte recht erkennen Iernen, auf die es sich
stutzte und die ihm die bisherige Herrschaft
ermoglicht haben, Und die Krafte des me*
lodisch harmonischen Stils sind von einer
kaum hoch genug zu wertenden Bedeutung
gewesen, gerade im Hinblick auf das form-
bildende Vermogen dieses Stils. Sie haben
i " , . Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 53
zv/ar der Melodie die Initiative genommen,
sie haben sie mehr und rnehr zum Dieacr,
zum gefHHigen Ornament des Gcschchcns
gemacht, aber sie haben ihr dafiir cine Ex-
pansions- und Wandlungsfahigkcit , eine
Breite und Tragkraft gegeben, wie sie eben
nur der Stil cincs auflerordentlich frueht-
baren, in seincn genialsten Vertrcicrn auf
aufierster Hohe stehenden Zcitalters gewah-
ren konnte, Ich weise hier nur auf das Gc-
setz der Formbildung durch thematische und
motivische Arbeit bin — ein Gesetz, das an
sich aus durchaus unmclodischcr Dcnkwcise
entsprungen ist, denn es dient der Wetter-
fiihrung der harmonischen Entwicklung und
macht die thematische oder motivische eben
nur zum Bindeglied, zum Mittler dieser har-
monischen Weiterfiihrungt Und doch, welch
eine unabsehbare Reihe musikalischer Form-
organismen hat sich aus diesem Urgesetz
gestaltet, Welch eine gcwaltige Schopfung
ist die Sonate, dieses Prototyp des har-
monischen Musikempfindens •*- mag sie
f^" n*-\ f \i, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
g5 Neue Musik
nun als Sinfonie, als Kammermusikschop-
fung, als Solosonate erscheinen, mag sie sich
im einzelnen als Sonatensatz, als mehr oder
minder erweitertes Liedj als Variationen-
gebilde oder als Rondo darstellen. Diese So-
nate, die sich schon in der gegensatzlichen
tonartlichen Gliederung als harmonisch be-
stimmter Organismus kennzeichnet, inner-
halb dessen das Thema eigentlich nur noch
die Rolle eines rein akzidentellen Mottos
spieltj diese Sonate mit all ihren Spielarten
bis zur sinfonischen Dichlung ist das Werk
einer Zeit, vor deren gestaltender Kraft wir
hochste Achtung hegen mussen. Und wenn
man nun die kaum zu erschopfende Kunst
cer motivischen Durchbildung betrachtct,
wie sie etwa Wagner in semen Biihnenwerkcn
zur Entfaltung gebracht hat, so muC man
gestehcn, daG es kein Leichtes ist, sich von
diesen ebenso groBartigen wie fur die Nach-
ahmung bequemen Mustern loszusagen und
sich dariibcr klar zu werden, daQ die Wege
dieser grofien Kiinstler- und Schopfernaturen
i Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik ^7
nicht mehr die unsrigen sind und nicht mehr
sein diirfen.
Aber welches sind nun diese Wege ? Kann
man sis aus einem rein spekulativen Willen
heraus findcn, gehort nicht dazu in erster
Linie eben wieder die groBe schopferische
Individualitat, die 'mit nachtwandlcrischcr
Sicherheit das findet und trifft, was die nur
verstandesmafiige Opposition menials er-
reichen kann? Gewitf — nur diirfen wir
nicht glaubcn r dafi auch der ganz groBe
Klinstler so rein aus blindem Instinkt heraus
gleich das Ziel findet* Und wenn man sich
nun unsere Produktion genau ansicht, und
zwar nicht nur die landlaufige bekannte, die
ftuf alien Gasscn und in alien Zeitungen als
das neucstc ausgeschriccn wird, sondcrn die,
die vielfach noch gar nicht oder nur voriibcr-
gehend und von wenigen bemerkt zu to-
nendem Lebcn erwcckt worden ist, so findet
man tioch vicles, was, an sich gewiB noch
nicht vollkommen, doch deutlich einen Willen
und einen Wcg zu neuen Fonnungsgesetzen
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
58 Neue Musik
spiiren laQt. Ich nenne hier zunachst die
Bestrebungen, die, unter bewuBter Umgehung
der harmonischen Vorstellungsweise, an die
alten Vorbilder des polyphonen Stiles an-
kniipfen, ohne dabei der akademischen Nach-
ahmung zu verfallen. Und als ersten unter
diesen Fiihrern zu neuen Zielen nenne ich
einen der groflten Meister des rnelodisch-
harmonischen Stiles : Beethoven. Nicht
den Beethoven der Eroica und der 9. Sinfome,
sondern den Beethoven der grofien E-Dur-
Fuge aus op, 106, den Beethoven der groflen
B-Dur-Fuge aus der Missa solcmnis und den
Beethoven der groBen B-Dur-Fuge fur Streich-
quartett. Dies sind drei Stiicke, die vollig
auBerhalb des sonstigen Schaffens audi des
spaten Beethoven stehen und nicht nur des
spaten Beethoven, sondern des ganzen Jahr-
hunderts y das ihm folgte, drei Stiicke von
einem ungeheuren Zukunftsahnungsvermo-
gen, das uns aufs ticfste bctroffen macht,
drei Stiicke, an deren Problematik die nachst-
folgenden Generationen stumm und scheu
, I -, Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Keue Musik 50
voriibergegangen sind, denn hier war etwas,
das alien Glattungsversuchen widerstand,
hier war etwas, was sie nicht begreifen
konnten — ich meine : nicht begreif en dem
Sinne der Konzeption nach, Es ist das
Problem des neuen melodischen Stiles
aus dem Geist der alten Polyphonie,
das Beethoven hier vorahnend aufgreift, in
drei unerhort gewaltigen Werken behandelt
fiir Klavier, Chor und Streichquartctt und
dann wieder beiseiteschiebt. Ob er es weiter-
verfolgt hatte, ware ihm ein langeres Leben
vergonnt gewesen, vermogen wir nicht zu
sagen, obsclion manche Skizzen und Ent-
wjirfe, vor allem die innere Wahrschein-
lichkeit dafiir sprechcn* Aber wir sehen, daB
der einsame, taube Beethoven dieses Problem
erkannt hatte und es da aufgriff, wo die
Nachkommen ein Jahrhundert spater wieder-
ankniipften* Im Laufe dieses Jahrhunderts
ist manche Fuge, manches ehrliche, gesunde
polyphone Stuck geschrieben worden — aber
doch keines, das den melodischen Geist und
f~* ,-± f \,\ I, . Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
60 Neue Musik
Atem des polyphonen Stiles in sich gehabt
hatte. Man benutzte nur das Schema der
polyphonen Musikformen und spannte es in
den Rahmen des harmonischcn Empfindens,
innerhalb dessen es natiirHch jegliche stil-
bildende Eigenkraft verier und lediglich als
willenlose Formel wirkte. Dies gilt fiir die
polyphone Musik von Mendclssonn bis zu
Richard Straufi — sie ist bar jeglichen Geistes
der Polyphonic, denn dieser Geist der Poly-
phonie dokumentiert sich darin, da6 das Me-
lodische als primare Elementarkraft, das
Harmdnische lediglich als Folge und Zu-
sammenfassung empfunden wird. Nur einige
Erscheinungen der jiingsten Zeit machen
hiervon eine Ausnahme: ich nenne Busoni
mit seiner Fantasia contrapunctistica und
Regcr mit einem Teil namentlich seiner
groflen Orgelwerke.
Ich mochte nun aber das Problem der
neuen Musik nicht dahin deuten, da3 cs etwa
dahin zielte, unter AuBerachtl&ssung der
klassisch romantischen Kunst den Anschlufl
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 6 1
an die Ausdrucksart der Mcister der Poly-
phonic zu finden. Dies ware im Grunde nur
cine bcsondere Art der Neuromantik, und
cJahin zielten audi keineswegs Beethovens
Bemiihungen. Es gilt vielmehr einen neuen
melodischen Stil zu finden, der an bilden-
der Kraft dem der alten polyphonen Kunst
gleich ist, ohne ihn nachzuahmen, der ihm
also nur der Art, dem Prinzip nnch verwandt
ist und nun, innerlich angeregt durch den
formalen Reichtum der polyphonen wie der
harmonischen Kunst eine neue Art form-
bildender Kraft aus sich heraus gebiert. Das
etwa ist die Aufgabc dessen, was tch neue
Musik nennc. Geldst ist diese Aufgabe noch
mcht, ab'^r wenn wir genau zusehen, finden
wir mancherlei schopferisch recht beach tens-
werte Versuche, zu einer Losung zu gelangen.
Ich glaube, es ist unsere vornehmste Pflicht,
dafl wir, wenn wir iiber neue Musik sprcchen,
nicht wahllos nach personlichem Gutdiinken
dieses gut und jenes schlecht nennen, son*
dern uns zunachst fragen, ob es etwas Ge-
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
62 Ncuc Musik
meinsames gibt, das d:esen an sich recht
verschiedenartigen Bestrebungen zugrunde
liegfc, und was denn dieses Gemeinsame ist?
Die erste Fr&ge glaube ich beantwortet zu
haben. Erst von der Grundlage dieser Ant-
wort aus ist es moglich, die Erscheinungen
im einzelnen zu werten, Es kommt dabei
nicht so sehr darauf an, die Begabungs-
grenzen dieses oder jenes Komponisten fest-
zustellen, als zu erkcnnen, in welehcm Ver-
haltnis scin Schaffcn zu der inneren, alien
gemcinsamen Richtung der neuen Musik
•tehti Ich gebe nun jetzt eine kurze Obcr-
sicht der wiehtigsten Erscheinungen unter
den neuzeitlichen Komponisten, in denen die
hier skizziertcn Bestrebungen mehr oder
weniger deutlich zum Ausdruck kommen,
Als anregendc Kraft ist an erster Stelle
Claude Debussy zu nennen, der vor etwa
einem Jahre verstorbene franzosische Mu-
,' . ,,.1., Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 63
siker und Fiihrer der sogenannten jungfran*
zosischen Schule. Sein Hauptwerk „Pelleas
und Melisande" ist vielen bekannt, weniger
bekannt sind seine gleichfalls recht bedeut-
samcn Instrumental- und Orchestcrwerkc,
am wenigsten bekannt die geistige Richtung
seines Schaf fens. Sie war bedingt durch eine
zum Teil stark n&tionalistische Rcaktion
gcgen Wagner, eine Rcaktion, der nian aber
doch uurccht tun und die man fjar zu'auBer-
lich nehmen wtirde, wollte man sie lcdiglich
aus nationalistischen Gcsichtspunkten er->
klarcn* Audi bei Debussy war innerste Trieb-
feder der Drang nach Bcfrciung von dor
hemmcuden Uiuschniirung des rein har~
nionischcn Musikempfindcns* Er griff darum
zuriick auf den franzosischen „Vater der
Harmonie 1 ', auf Rameau, urn von ihm aus
den Wcg zu ciner neuen freien Entfaltung
des melodischen Stiles zu finden* Ich will
mich hicr nicht in Einzelheiten und in eine
Kritik der Persdnlichkeiten einlassen, ich
will nur einige bestirnmende Grundziige an-
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
64 Ncue Musik
deuten, Debussy hat durch seine JRiickwen-
dung zu Rameau das erreicht, was er er-
reichen wollte. Er ist zunaehst zu einer fur
die Begriffe seiner Zcit auflcr ordentlich freien
Behandlung der Harmonie gclangt, die in
Wirklichkeit nichts anderes war, als eine
Auflosung der bisherigen harmonischen
Grundgesetze, ihre Unterstellung unter die
Gesetze des melodischen Wardens, Und es
ist ihm dank seinem franzosischen Formen-
sinn auch gclungen, solche Gesetze des me-
lodischen Werdens in seinen Werken auf-
zustellen, Formungen zu finden, die auf der
Suprematie der Melodik bcruhen. Freilich
ist die von Debussy gefundene Losung noch
irn hoehsten MaSe subjektiv bedingt, sie setzt
vor allem eine bewufite enge Anlehnung an
die Literatur voraus und steht auBerdern
unter dem Zwange des impressionistischen,
sich auf den Reiz des augenblicklichen, fluch-
tigen Stimmungseindrucks beschrankenden
Kunstschaffens. Sie beriihrt sich darin mit
der Kunst des genialen Russen Mussorgsky
,,,!,, Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neuc Musik 65
der, gleichfalls unter Umgehung zeitgenossi-
scher Schaffensart, aus dem groBen Schatz
der russischen Volks- und Kirchenmusik neue
Qucllen des melodischen Ausdrucks — eben-
lalls in imprcssionistischcr Manier — erschlofl.
Debussy und dem ihin angeschlossenen
Krcise ist auch der iilterc Cesar Franck,
sowie der ausgczeichnctc, allerdings mehr
didaktisch als schopfcrisch gertchlete Kcnner
der alten Musik Vincent d'Indy zuzurechnen.
Ihnen nahe steht der Ameri leaner Frederick
Deli us. Auch er ein Freilichtki'mstler, we-
nigcr inncrlich als auBerlich an die Jung-
franzosen gebunden, eine sehr fein profilterte
Lyriker-Erscheinung, in der sich angelsach-
sische, deutsche und franzosische Elemcnte
in merkwiirdiger Mischung durchdringen.
Eine ahnliche Mischnatur, obwohl aus ganz
andcren Bestandteilen zusammengesetzt, ist
Ferruccio Busoni, seinem Denken nach
Deutscher, dem Empfinden nach durchaus
Romane, ein Kiinstler, der fur Gebilde von
virtuoser Phantastik sich stets eine Begriin-
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
66 Neue Musik
dung im Begrifflichen zu schaffen sucht und
dessen unruhiges, aus tiefsehnendem Ernst
und weltmannischer Ironie gemischtes Na-
turell :n der Tat etwas von einem italieni-
sierten Faust hat. Busonis Anregungen sind
hochst mannigfaltiger Art, sie gehen von
Spekulationen iiber die technischen Einzel-
heiten unseres Musiksystems his zu den
Grundideen der kiinstlerischen Konzeption
iiberhaupt, sie umfassen ausiibende wie schaf-
fen de Kunst, Busoni ist, wie jeder echte und
groBe Virtuose, ein Fackeltrager, vielleicht
auch ein Wegebahner. Wieweit er auch
Pfadfinder ist — das miissen wir noch ab-
warten. Einstwetlen ist sein Wollen kiihner
als sein Tun, und das Internationale an Bu-
soni, das ihn ahnlich wie Liszt zum berufenen
Mittler der Kuituren macht, scheint ihn an
einer fasten Verwurzelung seines Wesens
zu behindern.
Ich habe zunachst Kunstler romani-
schen Geblutes oder doch mit starkem ro-
manischen Einschlag genannt, well hier das
,,,!,, Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 67
Hauptproblem der modernen Musik: die
Formgestaltung in der natiirlichen, national
bedingten Anlage zum Formalen cine starke
Stiiize findet und scheinbar am schnellsten
schon zum Ziele geftthrt hat. Zu verhehlen
ist aber nicht, dafl diese leicht gefundene L6-
sung noch keine Losung in umfassendem
Sinne ist. Debussy und seine Nebenmanner,
Delius, Busoni — sie sind gewiB Erschei-
nungen von hohem kiinstlerischen Ernst.
Was sie uns aber geben, ist noch keine grund-
satzliche Losung der Frage, ob und wieweit
die neue Musik eigene Formun^cn zu finden
vermag — es sind gCinstigstenfalls person fiche
Kompromisse. Nun weiB ich wohl, dafi in
Kunstdingen schlieBlich jcde Losung indi-
viduell bedingt ist und daB man nicht etwa
denken darf, es galte ein alleinseligmachendes
Schema zu finden, mit Hilfe dessen nun
jeder sozusagen auf neue Manier lustig
drauflos komponieren kann. Aber es gibt
doch Dinge, die iiber die rein tndividuelle
Erledigung hinausreichen. Ich nannte Tor-
s'
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
68 Neue Musik
hin die Sonate. Sie ist kein Schema, sie
ist ein Kunstbegriff, an dessen Feststellung
Generationen gearbeitet, ein Formproblem
fur das Unzahlige immer neue Losungen
jjefunden haben und das doch in seiner
Grundidee jenseits aller Problematik steht
als Erzeugnis einer ganz bestimmten Kunst-
anschauung. Ahnliches gilt von der Fuge als
Reprasentantin des melodisch polyphonen
Stils. Die Frage bleibt : ist es der neuen Musik
moglich, eine solche, alle individueUen Ver-
schiedenheiten iibcrbrii ckende f ormale Grund-
idee als Ausdruck ihres Witlens zu pragen?
Und wenn ich vorhin sagte, die bisher vor-
Hegenden Werke der romanischcn Kiinstler
gcben keine klare Antwort, sondern bedcuten
nur individuclle Komprornisse, so wollte ich
damit andeutcn, daB eben das Hauptproblem
der neuen Musik, ungeachtet genialer Ein-
zelleistungen, bisher nur gestreift und indi-
vidual beleuchtet, aber nicht gcklart ist. Wie
steht es nun mit den deutschen Musikern?
Es liegt auch hier bereits eine betracht-
f~* ,-±f\,\l, . Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ncue Mmik 69
liche Anzahl von Einzclversuchcn vor. Ich
mochte sie, der X) bersichtlichkeit halber,
fliichtig gmppiercn nach Gattungen: Oper,
Lyrik, Kammermusik und InstrumentaU
musiJ: groBen Stiles* In der Opcr fesjelt zu-
nachst sine Erscheinung wic Franz Schre-
ker. Er ist zweifellos die grofite musik-
dtamatischs Begabung, die wir scit Wagner
kennen. Man darf hinzusetzen: audi die
einzige wirklich musikdrnmatir><;hc Bcgabung
sr^it Wagner, Schreker ist kciu Nachahmer,
die dramatische Urtdce in ihm ist ganz andcrs
verwurzclt als bei Wagner und hat sich dcm-
entsprechend cine wescntlich anders gcrich-
tete Tcchnik crzcugt. Auch Schrckcr bedient
sich noch der motivischcn Tcchnik, doch in
einer von Wagner grundverschiedencn Be-
dcutung. Bei ihm sind romanische Einflusse
stark spiirbar, die Melodic gewinnt wicder den
Eigenwert der musikalischen Erscheinung,
das Motiv ist nicht Mittel der psychologischcn
Charakteristik und Verdeutlichung, sondern
es slnkt in das UnterbewuBtsein. Es ist da-
,,,|., Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
yo Neue Mmik
her, technisch genommen, auch nicht das
Mittel zur Fortspinnung des melodischen Fa-
dens, sondern die Melodie empfangt ihre Im-
pulse aus dem Ablauf des dramatischen Ge-
schehens und das Motiv bleibt, soweit es
nicht in absichtlicher Breite als Reminiszenz
auftritt, das auBcrlich fast unbemerkbare
Band inneren Geschehens. Mir scheint, dafi
sich hier einc ncuc Art musikdramatisehen
Gestaltens ankitndigt, cine Art, die> wic De-
bussy an Rameau ankniipft, so hier auf
Gluck und Handel, auf den Stil der mclo-
disch homophonen Dram at ik zuriickwcist —
frcilich nicht in auBerlicher Anlchnung, son-
dern nur der Art der inneren Anschauung
nach und aus dem Geist eines nanientlich
koloristisch ganz anders gearteten Empfin-
dens heraus* Die kommenden Werke Schre-
kers werden lehren, ob es ihm gelingt, den
Weg zur melodischen Gestaltung des dra-
matischen Ausdrucks weiterzuschrsiten.
In der Lyrik mochte ich hier wieder nach-
driicklich auf die Gesange und die mit diesen
f~* f -\f\ l \\ i . Original from
, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 71
in engem Zusaminenhang stehendc M Ge-
schwister' '-Kompositiun Ludwig Rotten*
bergs hinweisen* Ich betone — es kommt
hier nicht auf die Wertung, sondern auf die
Hrkenntnis des inneren Wcsens der Werke
an* Gcrade in dieser Bcziehung abcr wiiflte
ich nichts, was dem modcrncn Drange nach
Expansion dcr Melodik, nacli Beseitigung
des konvcntionellen, harmonisch bedingtcu
Periodcncharnktcrs dcr Liodinelodie, nach
melodischer Durchseelung der frei flieflenden
TonsprO-che so starken, unmittclbarcn Ans-
druck gabc, wie die Lyrik Rottcnbcrgs. Man
hat dicsen Licdern nachgesagt, sie seien zu
rezitativisch gehalten* Dieses UrtcH ist be-
zeichnend fur die walirhaft jammerlichc
AuCerlichkeit in der Art der Entgegennahme.
Was sich von vier zu vier Takten in hiibsch
geschlossenen harmonischen Pcrioden rundet,
das ist nach dieser Auffassung eine Melodie,
was dariiber hinausgeht, dem Horer nicht
die Eselsbriicken der ziinftigen Kadenz bietet,
ist Rezitativ. DaS Melodie innerer Bewe-
f^" n*-\ f \i, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
72 Ncuc Musik
gungsimpuls, dafl sie daher nicht an Takt
und Tonart gebunden 1st, sondern ihre Kraft
gerade erweist, indem sie diese Grenzen iiber-
springt* dafi sie ein Erschautes 1st, ein Spiegel-
bild geistigen Geschehens — davon wissen
die Leute nichts. Aber ich mochte wohl
wissen, ob Menschcn, die so kurzatmig
denken und empfinden, wirklich imstande
sind, eine Schubertsche Melodie richtig zu
horcn — oder ob es bet ihnen nicht auch da
die auBerlichen rhythmisch harmonischen
Glicderungen sind, die sie als Offenbarung
Schubertscher Melodienkraft bewundern?
Wir haben uns heute frei gemacht von der
strophisch bedingtcn Anschauung des Ge-
dichtes, wie Schubert sie hatte, von dcr stim-
mungsmafcigen, wie sie der Romantik, na*
mentlich Schumann eigen war, von der psy-
chologisch charakterisierenden, wie sie die
reudeutsche Schule und namentlich Hugo
Wolf pflegte. Wir sehen heute im Lied nicht
so sehr die Worte und deren Inhale, wir sehen
das geistige Geschehen, das der Dichtung
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ncue Muslk
73
als solcher zugrunde liegt. Und dieses
geistige Geschehen in tin musikalisches um-
zusetzen t das UnterbewuBte des dichterischen
Vorgangs, das den Worten und Stimmungen,
iiberhaupt dem irgendwie auBerlich FaB-
baren des Gedichtes oft ganz fern liegt —
dieses in eine meiodische Bcwegnng zu
fassen — das ist das Wesen und Ziel des mo-
dernen Liedcs, und fur dieses crscheint mir
die Lyrik Rottenbergs als bcsonders reines
und inncrlich selbstandij^es Betspiel.
Die neue Knmmermusik wird am bezcich-
nendsten wohl durch Arnold Schonberg
reprasentiert. Schonberg ist eine Erschei-
nung, dcren schopferische Bcrieutung auch
von einem groflen Teil derer ancrkannt wird,
die seincm Schaffen, namentlich den spa-
teren Werken, ablehnend gegeniiberstehen.
Die Ablehnung grundet sich hauptsachlich
aui den auBerlich abstoBenden Eindruck von
Schonbergs klangsinnlicher Tonsprache. Sie
ist auflerst herb und sprode, dem Ohr, das
gewohnt ist, iibcrredet zu werden, unan-
Original from
IbyLsOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
74 Ncue Musilc
genehm, wenn nicht gar widerwartig. Es
ist cine Sprache von Tonideen, gehirhmaOig
crfaBt* nicht aus der Vorstclhmg der Klang-
wirkung, sondcrn aus der der Klangbedeu-
tung heraus konzipiert. Es mag nun dahin-
gestellt bleiben, ob und inwieweit das Ohr f
dessen Anpa^sungstahigkeit ja, wie die Ge-
schichte an unzahligen Beispielen crweist,
unbegrenzt ist — ob und wieweit das Ohr
auch dicscn seltsamen Klangersdieinungen
gcgeniiber durch Gewohnung zur Aufnahme-
willigkcit zu crziehen ware. Ich wiirde in
dcm Hinweis auf solche allmahliche Ge-
wohnung allein nocli kcin uberzeugendes
Argument fiir die Bercchtigung von Schon-
bergs Tonsprache schen, denn mit soldier
Bcgriindung ware schliefllich die sinnloseste
Kakophonie zu rechtfertigen. Hier aber
handelt es sich uni die Frage nach dem Sinn
und der geistigen Kraft soldier Musik, nach
ihrer schtfpferisdicn Notwcndigkeit — und
da gestehe ich, daC diese inir urn so iiber-
zeugendcr erscheint, je genauer ich mich
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ncue Musik
75
mit Schonberg beschaftige, Ich dcnke vor
allem an zwei flir die hier zu betrachtende
Kunstart besondcrs charakteristischc Werke:
das Fis-Moll-Streichquartett mit Gesang und
die Kammersinfonie fiir 15 Instruments
Ich gestehe, daB ich, namentlich in dcr Kam-
mersinfonie, den ersten grofl angelegtcn Ver-
such der Neuzeit erblicke, an den Beethoven
dcr B-Dur-Fugen nnzukniipfen, nicht in
auGerlicher Nachahmung, sondern in gei-
stiger Weitcrverfolgung des dort angebahn-
tcn Wcges, Ich finde in diosem Wcrk eine
Kraft und cincn FluB des mclodischen Wil-
lens, ich finde in ihtn vcr allem cine Fa-
higkeit der Organisierung dieses mclodischen
Willens, frci aus sich hernus, unbehindert
durch konventionelle Hcmmungen irgend-
welcher Art, daO ich sagen niochtc: von
alien schopfcrischen Kraftcn der nmsika-
lischen Gcgcnwart scheint niir Schdnberg
die geistig starkste, inncrlich selbstandigste*
weitest blickende, ahnungsreichste zu sein.
Das Fehlen der klangsinnlichcn Ausdrucks*
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
*j£ Neue Musilc
kraft, day ilm audi auf das abstrakteste
Schaffensgcbict: die inslrumentalc Kammcr-
musik verweist, ergibt sich aus dcr rein
ideelleu Richlung seines Mnsikempfindens,
Und v/enn dies eia Mangel sein solltc — ich
behauptc das nkttt, obschon ich nicht sagen
will, daO es cin Vorzug sci — so wird dicscr
Mangel reich aufj;cwogcn durch ein aufler-
Oicieiitlichcs formorgauisatorisches Vcnno-
gnn, durch das Schonberg, wie bisher kein
auderer, die fonnbildcndc Kraft des neuen
melodischen Musikernpfhidcns crwiescn und
damit das Grundproblcm dcr hcutigen Musik
als der Losung fuhig gezeigt hat.
Mit dicsem Grundproblcm hat auch dcr
sein Lebcn hindurch gerungen, dessen Schaf~
fen das groflte Vermachtnis an die ncue Zeit
auf sin(onischem Gcbiet bedcutet : Gustav
Mahler. Gewifl, audi Max Rcgcr mit seinen
Chor- und Orchesterwerken, vor allem dem
xoo. Psalm und den Hiller-Variatfonen ist
hier zu nennen. Aber Reger bietet stets das
gleiche Bild: genial intuitives Erfassen des
Original from
IbyLsOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Musik 77
Problemcs, Fallcnlassen und Zuriickwcichcn
in barock modcrnisicrtc Nachahmungcn al-
tercr Muster nach dent crsten Anlauf. Dei
Mahler, dcr nns nur Sinfonicn und Licclcr
liintcrlassen hat, ist dies andcrs. Von der
erstcn, auBcrlieh noch viclfach der Obcr-
licfcrung folgcndcn und doch inncrlich bercits
gauz frcicn, sclbstandigcn Sinfonie bis zum
Lied von der Erde und der 9. Sinfonie zeigt
sich ein unausgesctztes lcidcuschaftliches,
bis zu unersattlicher Heftigkcit sich stei-
gcrndes Ringen um das Probtem der neuen
groBen sinfonischen Form, dcr Form, fur
die das The ma nicht Baustein ist, die den
Begriff des Themas im alten Sinn iibcrhaupt
aufhebt und das sinfonische Gebilde cigent-
lich als groBartige Entfaltung cines cinzigen
mclodischen Urgcdankens auffaOt. Charak-
teristisch ist, daB, wenn man sich vcrschie-
dene Analyse:^ einer Mahlerschen Sinfonie
vornimmt, man bemerkt, daB die einzelnen
Verfasser meist ganz verschiedenartige The-
men als Grundgedanken der Satze angeben.
C~* r\f\t\h ■ Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
78 Ncue Mnsik
Mahlers sinfonischer Bau spottet der her-
kommlichen Zergliederungs- und Betrach-
tungsart, er laOt sich nicht in das landlaufige
Sonatenschenia einspannen, die Gesetze sei-
nes inneren Werdens sind anderer Art, als
man sie au! den Konservatorien zu lehren
pflegt. Bezeichnend ist auch fur Mahler, daft
in verschiedeucn Werken das thematische
Urgebilde ein ganz einfaches Tonsymbol ist
— so in der I. Sinfonie ein aus nur zwei
Tonen bestehendes Quartcnmotiv, in der
6. der Akkordwechsel A-Dur, A-Moll, in
dem Lied von der Erde. die Tonfolge g-a-c.
Dies sind nur einzelne Beispiele, die nicht
etwa als durchgehendes Prinzip gedeutet
werden diirfen, Mahler hat die Losung des
sinfonischen Formproblems von den ver-
schiedensten Gesichtspunkten aus unter-
nommen, ohne dall man deswegen seine
Sinfonien etwa als Versuche ansehen diirfte,
aus irgendwelchen Vorsatzen heraus Form-
probleme aufzurollen. Sie sind Emanationen
einer auBerordcntlichen geistigen Kraft, nicht
Original from
I | ,; >gie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ncuc Musik
aus begrifflich faBbaren Absichten heraus
geschaffen, wohl aber fur uns, die wir dem
Wesen der neuen Musik uns begrifflich zu
nahcrn versuchcn, wertvolle und aufschluB-
reiche Kundgebungen eine 5 Willens, dcr
nicht nur durch die einzclne Personlichkeit
sondern durch die Zeit geht.
Ich wiedcrliolc: ich habe nur etnigc Na-
mcn als Beispiele gcnannt, ich wollle koine
vcllzahligc Aufstellung gebcti, sondern das
Typischc der neuen Musik hcrvorheben und
durch cinige bcsonders charakteristische Bci-
spiele belegen. Wir sind in der Musik gegcn-
wartig keineswcgs so arm an schdpferischcn
Kraften, wie es unseren Konzertprogrammen
nach den Anschein hat. Freilich sind diese
Krafte einstwcilen noch meist im Werden
begriffen, und man konnte vielleicht fragen,
ob es nicht eine IJbertreibung, ein zu weit-
gehendes Entgegenkommen bedeutet, wenn
man fiir sie heute schon eine Beachtung
f^" n*-\ f \i, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
$0 Neue Musk
verlangt, die durch unzweifelhaft allgemeine
Anerkennung ihres Willens und ihres Voll-
bringens nicht gestutzt wird. 1st es nicht
uberhaupt faiscL, so ernstlich nach diescm
Wollcn zu fragen und zu forschen? Geniigt
es nicht, wenn wir uns an die Ergebnisse
halten? Hat nicht Beethoven gesagt: Das
Neue und Originelle gebiert sich von selbst,
ohne daB man danach suchet? Nun gcwiB,
diese neue Musik wird sich Beachtung und
Geltung erzwingen, audi wenn wir ihr nicht
dabei helfen, Wenn wir das tun, so geschieht
es nicht in ihrem, sondern in unscrem eigenen
Interesse. Und es ist torichte Uberhcblich-
keit, wenn wir nieinen, mit unserer Teil-
nahme warten zu konnen, bis unanfecht*
bare Resultate vorliegen. Die Probleme der
neuen Kunst gehcn uns alle ins Inn erst e an,
es sind Probleme unsercs heutigen Menschen-
tums iibcrhaupt, Nur in dem MaBe> wie wir
uns alle an ihrer Losung beteiligen, zu ihnen
innerlich Stellung nehmen, konnen wir das
Heraufbluhen einer neuen Kunst erwarten.
,1 , Original from
, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Tribtine
der
Kunst und Zeit
Bine Schriftensammlung
Herausgegeben
von
Kasimir Edsctjmid
M-MHMM
Berlin
Erich Reifi Verlag
f^" n*-\ f \i, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
L
DaG schcn vor Jahren Ans&tze bestinden
zu einer Bcwegung, die auf neues Welt-
gefiihl aus ist in den Kiinsten, das ist be*
kannt. DaB die Bcwegung durchdrang, weifl
jeder. Es ware Albernheit, hier noch Fanfaren
zu blasen. Dringlicher erscheint es heute f wo
jeder Greis M Stellung nimmt", jeder Jung-
ling Unertragliches schwarmt, den ganzen
Komplex zu uberschauen: woher das Neue
kam, wohin es will — keine Schlagworte zu
pragen, sondern besonnen das Eigentliche zu
sagen — nicht riickw&rts zu referieren, nicht
zu wiederholen und auf keinen Fall zur
Theorie zu kommen , . . sondern auszusagen,
zu bekennen, darzustellcn, zu wiineehen und
zu postulieren und so bet aller Weit-
heit des Rahmens dennoch zur Rundheit zu
kommen* Nie stand der Ktinstler so mitten
in der Welt wie heute. Nie lief in so un-
geaeurer Tragodie dieVerantwortung so bin-
dend zwischen ihm und der Zeit. Vom
Kiinstler aus gesehen, mit der Kunst als
Zentralproblem, wird jede Darstellung heu-
tiger Ziele eine Darstellung der Zeit: Poll-
Original from
I | ,; >gie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
tisches, Religioses, Forderunghaftes mischcn
sich, kfium zu trenncn, ja unlosbar mit den
Fragen der Kunst. Kiinstler mit ihrer Kon-
fession, Gelehrte, die Sachlichcs dichtcrisch
zu sagen wissen, Essayisten, die nlcht spie-
lerisch n zett&strn u > sondern produktiv im
eigentlichen Sinn derKritik aufbauen, schrei-
ben bier an ciner kleinen Geschichte unserer
Kunst und unserer Zeit.
Bisher sind erschienen:
Kasimir Edschmid: Uber den Expression
nisrnus in der Literatur und die neue
Dichtung
Wilhelm Hausenstein : tlber Expressio-
nlsmus in der Malerei
Theodor Daubler; imKampf um die mo*
derne Kunst
Walter Muller-Wulckow: Aufbau —
Architektur
Paul Bekker: Neue Musik
Max Krell: Ober neue Prosa
I W an Goll: Die drei guten Geister F;ankreichs
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ren6 Schickele: Der 9- November
Schopferische Koniession
Kurt Hitlet: Geiart werde Herr
Willi Wolfradt: Die neue Plastik
Gottfried Benn: Das moderne Ich
Carlo Mierendorff: Hattc ich das Kino I
Gust a v Hartlaub: Neue Graphik
Wilhelm Michel: Der Mensch versagt
Paul Colin: Fluch dern Siege
Henri Barbusse: Auf zur WalirheitI
Franz Masereel: Politische Zeichnungen
Ren6 Arcos: Abendiand
WaltherRilla:Revolution t Politiku.Gewalt
Manifesto des bruderlichen Geistes
Weitere Bandchen folgen.
Wenn bei 20 Bandchen diese Reihe einmal ab-
schlieBt, wird in scharfen Zugen ein Weltbild urn-
rissen sein, das Profil der geistigen Kraite, die
die Welt bewegen, geschlossen dnstehon, Es wird
eine Sozioloftie uns<*rcr Epoch* durch die Kunst
beobachtet wie durch ein Okular, cine Diagnose
durchs Auge> So — wenn es bei 20 Bandchen
bleibt Werden es 100, dann ist diese Tribune der
Kunst der Anfang einer Enzyklopadie des 20. Jahr-
hundcrts. Tribunal. D*rtncudt
^,1,, Original from
ibyLjOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
C*" r^.t~\t\\i > Original from
°°S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Tribtine
der Kunst und Zeit
Eine Schriftensammlung
Herausgegeben von
Kasimir Edschmid
VII
Max Krell
Uber neue Prosa
Berlin
Erich ReiB Verlag
1919
f~* r-\f\t\\t ' Original from
, WKK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Uber neue Prosa
von
Max Krell
Z weite Au flage
Berlin
Erich Reifl Ver 1 ag
1919
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Spamersche Buchdruckere in Leipzig,
,,.!,» Original from
1 .oogic
UNIVERSITY OF MICHIGAN
I*
Es kaun sich nicht darum handeln, Be-
rcchtigtuigen festzustcllen oder nach
bestimmten kritischen Mafien cine Rang-
orthiung 211 formicrcn. Glcichwohl 1st ,,ncue
Frosa" iu besondcrcr Begrcnzung vcrstan-
den. Leitmotivisch wird die expressionistische
Auffassung zugrunde gelegt als erne letzte,
die Begriffe wahrhaft modern empfangende
und gebende. Sie gelte nicht als Evangelium
hier, nur als sondernde Einstellung t els ein
zugeschnittencr Rahmen, Und auch in dieser
Verengung des Sehfeldes sind nur einzelne
Figuren sichtbar, von denen das Spiel ini
wesentlichen bestritten wird. Die nicht minder
wichtigen Schachbauern entdeckt der ver-
stehende Blick itn nachsten Umkreis*
Wir haben eine Erseheinung. Sie bekam
den Namen Expressionismus, Expressionis-
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
8 0b*r neue Prosa
xnus stieg aus dem Abgrund einer Not, Schon
das Wort hat den Atem der Not,
Ein Jahrhundert, gezeichnet durch Ballung
dec Nationen und der Wirtschaft, warf das
Tor seines Ausgangs zu. Romantische Fiusse,
die den Morgen blau durchspiilten, triibte der
Mittag, schwarzte der Abend mit RuB ge-
waltiger, alleinherrschender Fabrikcn. Einst
fette Wiese war von Schienen zcrfleischt.
An fcrncm Felseti biB das Zahnracl gellende
Spur. Aus StraBen wurde der wandernde
FuB gefegt, denn es wuchs ein Tausendfaches
an SchnelJigkeit. Materia bestimrnte die ein-
zelnen Stunden. Organisation, Schema, So-
zietat, Nummer gaben Platze an in Staat und
Wirtschaft Es schwoll der Bauch. Stoff
wurde Alp und Maschine Gebriili, die drangend
das stille Beharren des Geistcs umzingelten.
An Kunst riittelte der ewige Feind Kapital
mit letzter Gewalt. Konkurrenz, Vielheit
krallte sich mit schnellen Fangen auch in die
Bedachtsamkeit des Kiinstlers* Distanzen
verwischten sich unter brandiger Damme-
Original from
I | ,; »gie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
t)bcr ncue Pfosa
rung. Stimmen zerschmctterten Stimmen*
Bis in den innersten Frieden frafi sich Poll-
tik. Im Chaos der hochsten Ordnung ham-
merten alle gegen alle, Krieg — auch er von
letzter schneidender Vollkommenheit — stei-
gertc die Vcrwirrung ins Himmclhohe.
Einsame standen in dicsem Brand* Die
altcn Gebetc half en nicht; in ihr Gefiige,
das sich mit Phrasen jahrhundertschwer ge-
tiirmt hat, schossen die Blitze des larmen-
den Andrangs. Gebet im Kampf wird Ge-
stammei. Abbricht der Zierat, die verstie-
gene Metapher. Nackt jagt das Wort in die
Ekstase der Abwehr. Das Elementare trotzt
neben dem Elementaren, Die Wucht des
Unumschriebcnen, Ausgekernten, hart hin-
ter hart, atemlos verschleudert, raubt die
Besinnung, Aller Umkreis ist erfiillt von
Massen satter Bilder. Wie aber die Zeit
sich verwirrt und in krausen Netzen verfangt,
so zertrummert sie auch den stillen Spiegel
der Kiinste. Die Seher ergrimmen. Laut
wird das Gebet und Sturzflut und schau-
f~~* ,x*\ f \ I, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
10 Obcr neue Frosii
mender Katarakt. Das einzelne ertrinkt.
Alles will aus der Seele steigen. Kein Ufef
licgt zu hoch. Es gibt nirgends kleine Be-
denken. Es gibt Ansturm, Aufsturm* Und
der Krieg, wie er drauBen die Grenzen be-
spie — und der Krieg hat seine Mafilosigkeit
in diesen ineinandcr prassclndcn Ausdrucks-
formen gefunden. Und des Krieges Meta-
physik war, ehe er begann, in diesen Strudeln
schon erlebt.
Aber es ist wahr: die Erscheinung —
nenne man sie summarisch Expressionis-
mus — komrnt nicht als ganzlich neue iiber
uns. Im Chaos und in der Glut vieler Note
ist sic sichtbar geworden. Ihre Zeit nur kam
als eine, die sie voll erkannte. Die Tube des
Gerichtes rief sie zur augenblicklichen Fiih-
rung auf, damit der Extrakt ihres Wesens
am hohen Pyramidenwerk der Kiinste sein
Mortelkorn ablege. Im friihen Papyrus fand
man seine Spur, in der ernsten Falte indischer
Kolossalgrotesken, am Bau der Briider Asam,
bei Greco und im bildnerischen Handwerk
.,,L Original from
I :y, V lOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Oher neuc Prosa 1 1
zentralafrikanischer Neger, bci Matthias
Griinewald un<l in den farbigen Schnitten
des Harunobu* Immer war sie da. Sie wurde
auch in ihren Sparlichkciten gcsehen, von
einzelnen begriffen, von jencn, die triebhaft
alle Zusammonhange in der Kunst erlcbcn.
Aber bewuBt gcmacht hat sie der heutige.
Ihr Fermcntalcs riickte cr ans Licht. Ver-
sinkt sie wicdcr — und immer ist es bet
solchen Erschcinungen, dafl ihre Verwesung
beginnt, wenn ihre Erkenntnis anhob — so
bleibt sie doch erhalten als erkannte Kraft.
Man wird gelernt haben. Lehren und Ge-
sichtspunkte werden — es gilt gleich: ob
positiv oder negativ — gewonnen sein * . .
Expressionismus — - Sammelwort eines Ge-
fiihls- und Anschauungskomplexes — ist
kein Programm. Es gibt einen Bund von
Aktivisten, nicht von Expressionist en, Dort
ruht das Ziel in der Bindung, in der Losung
hier. Die Zange, die Geistige, Kiinstler,
Schaffende zn gleichem Programm um-
zwingen will, ist 2m verdammen, Programm
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
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12 Ober neue Prosa
ist Tcndenz, ist Bindung. Bindung ist ster-
bendes Ich. Ich: Abenteuer der seelischen
Einsamkeit. Diese Einsamkeit gebiert das
Werk.
Es gibt dennoch Gemeinsamkett — im Ge-
fiihl von Sekunden, im Zielen der Gedanken.
Aus weitlaufigen Entwicklungen schieBcn
die Strange plotzlich parallel. Voriiberschwir-
rendem Ton, einem Pinselstrich, gesagtem
Wort entflackert gleicher Begriff. Bewuflt-
sein: neben dem Ich steht ahnendes Du, er-
hoht die schaffendc Kraft. Ich fiihle; du
fiihlst auch. I en denke, auch du hast diese
Logik erlebt. Doch nicht Programm,
Schworen heute Tausende auf den Ex-
pressionismus, so lassen — verblafit er —
Tausende ihn lachelnd kreuzigen. Sie ver-
banden sich ihm, weil fluchtiger Pulsschlag
ihnen ahnliches Wissen, ahnliches Emp-
finden gab, wie es ihm entleuchtet. Oder
nach der Bestimmung eines Geschaftes. Nie-
mals waren sie seinem Kern nahe, wie
sie niemals dem Kern eines Werkes und der
, I , Original from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
fiber neue Prosa
13
Kunst nahe waren . , . Nein, nicht Pro-
gramm f nicht dogmatisch verpflichtende
Pflicht. Scharf sei bet out: es gibt kein ex-
pressionistisches n Wir". Es ware Wahn.
Was aus einzelnem sich schmcrzlich, als
Reaktion einer Not loslost, kann nie der
Bindung gehoren. Nur cin Gleichklang der
Gebarden, eine dunkle Ahnlichkeit der Bil-
der lockt: Uniformierung der Willensmei-
nungen und Zicle zu vermuten. Das Wort,
die Marke ist Sammlung vielfaltiger Begriffe.
Es sammelt diese Zeit, die Stoff und Harte
und Bedrangnis ist. Es sammelt deren Aus-
druck t Anschauung, Bekcnntnis, das cinen
Schrei nach Freihcit und ein Gebet zu be-
freiender Gottlichkeit bedeutet. Wieder frei
iiber den Dingen stehen mochte der gefangene
Mensch, den Wundern nahe sein, dem Olymp
verwandt, von dessen Gottern er seine Seele
empfing, Expressionismus qualt sich solcher
Freiheit und Befreiung entgegen und ver-
kdrpert die Sehnsucht dieser Augenblicke*
Das ist es. Erkennt man seine gotischen
r^/-\ir\afi > Original from
1 °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
^4 Ober neue Prosa
■ ■ — »«■■ ^^' ^ ^■■- '■ ■ ■ ■■ ' — ^.»
Rippen, so weifi man ihn auch elngeordnpt
in den Schaukelgang der Erscheinungen, die
wechselnd stets auf ein verflossenes Form-
oder Geistideal zuriickgreifen.
Thomas Mann („Betrachtungen eines Un-
politischen") nannte ihn eine Kunstrichtung,
die, ,,in heftigem Gegensatz zu der Passivi-
tat, der demiitig aufnehmcndcn und wteder-
gebenden Art des Impressionismus, die Nach-
bildung der Wirklichkeit aufs tiefste ver-
achtet, jede Verpflichtung an die Wirklich-
keit entschlossen kundigt und an ihre Stclle
den souveranen, explosiven, riicksichtslcs
schopferischen ErlaB des Geistes setzt." In-
dessen muB er spater einige Partikel dieser
Definition korrigieren. Es ist keine Verach-
tung der Wirklichkeit und ?hrer Nachbildung
— es ist die Entschalung der Dinge von der
Realitat, damit die Seele und der Geict fiihl-
bar werde. Nicht das Sichtbare gilt es auf-
zuzeigen, sondern das Schaubare, nicht das
Objekt, sondern im Herzen des Objektes das
Subjekt. Edschmia zirkelt den ferncren Be-
, I , Original from
-OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ubcr neue Prosa 15
reich des Expressionismus ab — ,,Expressio-
nismus in der Dichtung": ,,Vor allem gab es
gegen das Atomische, Verstiickte der Im-
pressionisten nun em groBes umspannendes
Weltgefiihl." Hier ist die Wegrichtung.
Aus dem stoffltchen Neugebiet, das Natura-
list und Impressionist eroberten, soil es de-
fer oder hoher gehen: durch die Materie hin-
durch in den geistigen Extrakt der Materie.
Eine neue Anschauung erzwingt sich Ton,
Farbe, Wort. Nicht die Grundkomplexe,
Natur, Mensch, Kunst wurden zerschmettert
und neu gefiigt. Doch Blickpunkt und Ein-
stellung erfuhren entscheidende Wendung.
Vom Wandel friiherer Epochen scheidet so
sich nichts, da auch ihre Kaustik in der An-
schauung lag. Die neue Einstcllung bedeu-
tet Angriff auf die banale Atmosphare des
ReinauBerlichen, in der das Gefolge des Na-
turalismus — noch lebt er viel zu herrlich
und betrachtsam vor sich hin — breit und
lahtnend gebietet. Sie heiBt Kampf gegen
den Selbstzweck der Materie, gegen die Herr-
r^/-\ir\afi > Original from
' °°8 K UNIVERSITYOFMICHIGAN
1 6 Ober neue Prosa
schaft realer Ein^elheiten, gegen die Physik
des Alltags. Erstrebt ist die Verdeutlichung
der seelischen Struktur, Man hat das friiher
auch gewollt mit psychologischem Apparat:
Haufung der Charaktere, Treue im Rapport
ucr Beobachtungen, Zerlcgung nach natur-
wissenschaftliclien Rezepten — zum Effekt
eines reich urid subtil schillernden Impressio-
nismus. Dies abcr ist das Neue: daB man den
Wert des Ganzen, kiihn: einen Weltwert, zu
dem Ictzthin alle Kunst sich bekennen miifite,
ins Mittelfeld riickt. Die Verbindungsachse
vom Herzen des Menschen zum Kosmos,
zum All, zur Irrealitat soil gezogen werden,
Eine tiefcrc naturwissenschaftliche Erkcnnt-
nis; das eins von All und Scele lose ab den
in die Kunst verirrten Kampf urn Mindest-
lohn und Arbeiterrecht — fiir den es ge-
eignetere Anwalte und Plattformen gibt.
Denn es steht da eine Religion von groBeren
Aspekten: metaphysische Gestalten seien un-
seren Hirnen eingebrannt. Kunstwerk ist
sichtbarer Ausdruck der metaphysischen Ge-
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Obcr neur. Prosa ij
staltcn; und also: lebendiger Regulator der
Schwiugungen im menschlichen Gefiihls-
leben. Es ist der BSrscnbericht der Empfin-
dungswelt, der Anschauungskrisen.
Aueh insofern ist die Definition Thomas
Manns bestrcitbar, dafi es stch urn etne
^Kunstrichtung" handle. Express! on is mus
kann keine Erseheinung der Kunst allein
sein. Verwobcnheit der Kunst mit der Zeit
und ihrcm Eifer, ihrem Handel, Hirer suinma-
rischen Anschauung, verbindet, was dort
gilt, dem, was hier sich bildet. Alle Bezirke
werden von der ewigen Diagonale der Zu-
sammenhange gekreuzt. Aber die Kunst ist
das hochste, sublimste, letzte Ausdrucks-
mittel. Sie mac lit diese Erscheinung sicht-
bar; klarend, rundend gestaltet sie die erd-
haften Verworrenheiten ; und das Unter-
streichen weckt ihre Phosphoreszenz. Alle
Bereiche akklamierten diese Anschauung
und Einstcllung. Ihr Name wurde schlagen-
des Wort, Munze des Marktes. Eine ZAh-
mung ins Schmeichlerische und Banale,
C* r\f\t\\i ■ Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
iS Ober neue Prosa
Liebenswiirdige gelang schon; Mode war
darnit geschaffen und Sport. So wie mit
Lavaters Physiognomik „zur Beforderung
der Menschenkenntnis und Menschenliebe",
die sehntausend spielerische Silhouetten-
scheren heftig in Bewegung setzte.
Die Prosa als das Bee ken der heterogenen
Elemente weise hier auf, was von den be-
zeichneten Elementen ihr eignet, wieweit sie
teilhat am Schwung der Entwicklung.
f~~* t-\.f\t\li > Original from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
2.
Ich spreche zuerst von den Novellen
Kasimir Edschmids. Sie wuchsen mit
tropischer Schnelligkeit in jene Augenblicke
hinein, die daj Wesen des neuon Gcfiihb
eten erst bewuBt machten. Sie kamen selbst
vollig aus UnbewuBtern. Ihr Eindruck war
Oberraschung. Sie haben am starksten die
Symptome dieser neuen Kunst gesammelt
und habcn teil an ihrer GesetzmaBigkeit,
Allen Winden halten sie das Gesicht zu-
gekclirt. Ziel, Summe der letzten grofien
Anschauung ist noch unkenntlich. Denn:
Expressionismus wird auch ihm nur Durch-
gang und ein verhallender Name sein, Doch
in der Deutung, die er da fur fand, zeigt sich,
daB er den Willen zur rundenden Anschau-
ung hat* Die Stroma quellen, werden Gewalt,
zerbrechen Damme und rauschen zu den
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
30 &ber neue Prosa
groBen Meeren, Instinkt schleudert sie in
den letzten SchoB, zu dem sie kommen
miissen.
Jugend ist diese Dichtung. Jugend ist
vielwollendes Drangen, Die Driisen spannen
sich von Saften. Berahrt sie fliichtiger Finger,
so verspritaen sie maBIosen OberfluB in alle
Rciche.
Chaos ist sie, das, ^u garender Stauung,
in Schlauche und Fasser sich nicht zwangen
lafit. Noch nicht* Ein dionysisches Fest hat
noch nicht aufgehort. Das Universum lebt
nur fiir das Wort des Dichters. Ungehemm-
ter Eigenwille tobt sich aus. Satt sind die
Satze von leidenschaftlich zusammengeraff-
ter Beziehungsfulle, Ihre Eile ist MaSlosig-
keit* Sie brcnnen* ,,rasendes Leben".
Woher ?
Warnung ist diese Gewalt. Sie scheucht
bequeme Gcwohnheit. Der Stil will crkannt
scin. Das Augenfallige dicser Dichtung ist
der Stil. Und Edschmid ein Problem der
Fcrrn, Tieferhin erst wird aus dem schmissi-
r**. . , [,-, Oriqinal from
1 H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
t)b«r neue Prosa 21
gen Gefiige das Verwachsensein sichtbar von
Gedanke, Bild, Gebarde, Ton.
Zwischen Goethe und Nietzsche ist die
Wortbildung stumm und taub geblieben.
Unterhaltungsliteratur, ins Uferlose treibend,
vergafl die Pflicht der kiinstlerischen Pilege.
Leistcnarbeit brachte Stagnation, Die Phrase
gait, der stehende Ausdruck, das abgegriffene
Bild, Die dichterische Arbeit stellte sich dar
als Orgelspiel, bei dem man vox celeste, vox
humana schaltet, urn die gelaufigen Nuancen
aufzutragen.
Es lebt als Wichtiges, Bestimmendes in
Edschmid und den folgenden der HaB auf
Festgewordenes, auf Tradition, Abhangig-
keit, auf Standartworte und auf den ein-
gefressencn Begriff, der die Faulheit des
Denkens oder Aufnehmens liebend beibe-
hielt, Er strich die alte Floskel aus. Das
ncuc Satzbild kam. Auf seinen tiefsten
schlummernden Begriff besann sich nun das
Wort.
Ein ganz Erstaunliches stieg in das Be-
("" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
2z Ober nen* Prosa
vmfJtsein: die Fluoreszenz des Wortes war
entdeckt. Wieder. Denn der GroBe, der
Einzelne hat sie immer gesehen. Hier wurdc
sie ins Offene hinausgesprengt. Alle sahen
sie. Das Wort bekam leuchtcnde Farbkraft,
Bewegung, Schrci, Scharfe, Lebcndcs, Stcr-
bendcs. Die Modulationsfahigkcit erwies sich
als unerschopflich* Jedes Wort stieg in einc
Intensitat. Im Wort der Tatigkeit war fiihl-
bar der ProzeB des Tuns gesammelt; im Wort
der schmiickenden Umrahmung alle Farbe
angehauft; und jener ragende Begriff, dem
das Gcfiige gait, war Wucht, eindeutig, Starke,
Sublimierung, Blitz. Das lctzte war heraus-
geholt, die hochste WeiBglut des Wertes
ausgestrahlt.
Vom iiberlieferten zartlichen Gebaude der
Satze schmolz die Verzierung ab. Stehen
blieb die Mauer, leuchtend aus innerern
Licht; der Charakter, unz\veideutig scharf
geschnitten. Nichts war iibrig mehr zu
suchen, nichts zn verkennen. Seele lag ent-
bloBt. Biut schiug laut Augen erlitten die
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Obtr neuc Prosa 23
greazenlose und doch seelige Qual des Alles-
sehen-miisscns oder *konnens. Sic wurden
Linse, der die schattierendc Blende entfieL
Das macht diese Dichtung unmittelbar.
Du bist vor ein Massiv gestellt. Massiv tiirmt
sich noben Massiv. Ragcndc Drohung schafft
Angste . • * Oder: Sehachtc offncn sich ueben
Feldern neuer Abstiirze, Inimer mahnt Gc-
fahr die Lust des Abschweifens. Scheinbar,
wenn auch nicht als letztes Gebot, gebietet
die Sensation, Mittel ist sie. Ihre Pcitschc
gibt nicht Ruhe. So herrscht die Leiden-
schaft zum Heftigen, zu Drang, Begierde und
Veranderung.
Diese Knappheit, die Gehor und Eindriick-
lichkeit will f umschlieBt konzentrierteste
Fulle. Verworfen ist der Umwcg. Verachtet
weicht die psychologische Hilfe. Subjekti-
visches Bestreben schlagt sich hart und quer
durch Mauer oder Gestriipp. £s ist ein Tempo
das wir kaum noch messen konnen: das
Tempo jener letzten Friedensspanne, Da-
mals wax es aus Maschinen geboren. Ver-
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
2 4
Ober ncue Proaa
kehf outricrte es. Und unsere Art zu leben
verflocht sich clem. Hier 1st es aufgczeichnet
als Dynamik aus tieferen Quellen denn den
mechanischen : aus Natur und seelischem
Befund.
Von diesem Blickpunkt aus hort iCasimir
Edschinid auf ein Problem nur der Form zu
sein. Er ist verstrickt in die exprcssionistische
Bewegung, Fast identifiziert e,r sich init ihr,
und vielfach ist er als ihr Fiihrer angerufen
worden. In seinem instruktiven Vortrag
(„Neue Rundschau' 4 , Marzheft 1918) iiber
den ^Expressionismus in der Dichtung"
schalt er dessen Grundbegriffe heraus:
„Dic Tatsachen haben Bedeutung nur so*
weit, als durch sie hindurchgreifend die Hand
des Kiinstlers nach dem greilt, w$s hinter
ihnen steht."
Der Bezirk des Expressionismus und sein
Tempo sind nicht mehr an irdische Impera-
tive gebunden, um die sonst kiinstlerische
Bewegungcn stritten. Es ist sternhaftes, nach
Kosmischem schweifendes Tempo, das hinter
, I , Original from
'°°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
0b*r ncuft Pro»a 25
den Realitaten kreist und treibt und innerste
Zusammenhange verfolgt. Es ist eine neue
Art der Psychologic, die das Gemeinsame des
Menschcn und der Pflanze, des Bcrges,
Meeres und der Sonne sieht, sucht, mitlebt.
Sic greift die ideale Gemeinschaft aus den
existcnten Erschcinungen; das was man als
Motor der Dinge ntcht sieht, nur ahnt, was
deni Menschen Seele und Flugel, dem Stein
das Geheimnis seines Wurfzieles gibt:
Die Vision — und nur die Vision.
Diese neue Art ist eine uralte, weil sie zur
Quelle des Dichterischen zuriickkehrt. Weil
sie das Sichtbare nicht holier bewertet, denn
als Mtttel, Umgebung, Weg; man sieht
dariiber hinaus. Gefiihl als das unendliche
MaB der Dinge wird eingesetzt in sein konig-
liches Rccht. Vision aber ist dem Dichter
die Vollendung des Gefiihls,
Vergangener Epoche gait Mitleid, Religiosi-
tat, Humamtat, Nationalisms und anderes
als Summe der Gefiihle. Diesem hier — und
seinen Brudern — erscheinen solche Begriffe
.,,L Original from
1 d, v lOogie
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2$ Ober ueue prosa
nur ais Stiicke. Welt als Ungeteiltes ist ihm
ein Gefuhl. Er strebt, seinen restlosen Zu-
sammenhang mit dieser Welt nachbildend
zu ergriinden.
In diesem Betracht gab Kasimir Edschmid
Verkiindigung, Unter diesem Gesichtspunkt
schwindet der Eindruck des Seltsam**n, Un-
geheucrlichen. Die weitgespannten Unirisse
seiner Novellen werden selbstverstandlich, or-
ganisch. Feme Menschen, Lander, seltene
Baume und die groBen Meere werden Rah.
Er ergreift sie als Eigentum in jencr Besitzes-
bedeutung, die ^eigen' 1 gleichsetzt mit ,,er-
kannt". Urawitterte Personlichkeit wahlt
er, auf die die Sonne der Exotik brennt; den
Mann, der Volker zerschlug und formte.
Ohne dozierende Gebarde lebt er den Rhyth-
mus der Historic aus. Blutvoll wird vergange-
ner Mensch. Erinnerung wird Sturm. Und
aus den Griiften fiebert die Erwartung neuer
Siege. So ist Timur, Joussouf, so Villon.
Selbst heutige Atmosphare gibt er mit hero-
ischer Tinktur und mit den MaBen des Ge-
, I , Original from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neue Prosa 27
schichtlichen. Immer ist Person oder Er-
lebnis klar und grofi in die Pupille gestellt*
Nur das Notwendige ist an den steilen Korper
gehangt. Seine Novellen haben fast immer
Hoch format.
Und dieses noch: sie brennen, leben, fie-
bern; sie sterben in spruliende Asche hinein*
Sie sind ersehreckend; nicht mit dem Sclirek-
ken Poes, Swifts, Hoffmanns gehammert.
Denn Edschmids Schrecken kennt Siifie, Licht,
himmlischen Ton. Es ist der Schrecken
des Vorhandcnen, Naturlichen, der Realitat,
des Nicht-crst-Konstruierten. Jcde Zeile be-
kennt Realitat, die mittelbare der Vision.
Im ZusammcnreiBen des Wichtigcn, im Er-
toten der Zwisehenphase, des nur Entwick-
lungshaften, ballt sich Dynamik des Werdcns
heiB, unvermittelt. Es ist der Schrecken des
nackten Gesichtes.
So zeigen die Novellen ihren Dichter auf.
Sie warea Anf ang, der erregte und Meinungen
schuf. Jetzt verlangen sie Erfiillung, damit
sie nicht einsarn untergehen als Blitze der
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
28 Ober neuc Prosa
[■■■■I ■ ■! Ill ■ ■ ■ »■»!■■!■■ I " '" ' ~ ' " ■--_.
Leidenschaft, denen die Wirkung niemals
folgte* Vielleicht hatten Friede und un-
vcrschlossene Grenze ihm eine raschere Ent~
wicklung gegeben. Reise — hier notwendig,
weitend, klarend, zuchtvoll sammelnd —
ware gekommen. Die Intuition hatte rei-
cheren Eindruck sich verbunden. Denn auf
Bindung ferner Bilder und Gestalten baut
sich seine Vision.
,,,!,» Original from
1 .oogic
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Alfred Do Win ist nicht diese saugende
Kraft, die die Tone, die Blitze, die Pris-
men aller Zonen zusammenreifJt, um wie-
der sie zu blindeln und durch einen heftigen
Dynamo hinauszuschleudcrn. Ist auch nicht
Fanfare, Pathos, Tat, noch schmetternde Gc-
walt, die rascnd alle Spliaren zusammenhiegt,
liiit Metaphor n scharf und reich eine ganze
Erde zur einzigen Plastik hammert. Dennoch
Gewalt und Kraft und Zahigkcit. Und in
ihnen ein Bruder Edschmids.
Er schrieb Novellen: gesteilte Phantasie,
bizarren Reichtum. Pfeil fliichtiger Andeu-
tung riO treffend ein Herz auf. Zwei schnelle
Konturen umschnitten die lebendige Figur.
Das Fleisch der realistischen Notwendigkeit
war knapp hineingepreBt. Motive aus my-
stischem Bereich schlugen die Briicken zwi-
, if , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
3<>
Obcr ncue Prosa
schen Welten und Spharen. Manche Manuale
waren gezogen zu einem Piobespiel, desscn
dammernde Fiille das gro3e Epos ahnen
lieCcn,
Als „Die drei Spriinge des Wa&g-lun" er-
schienen, staunten wir: hier war alles; wir
batten em erstes Bucb nach der Unend-
lichkeit unserer nicht sehr kleinen Wiinsche;
ein Buch aus Weisheit und hoher Intuition.
Seinen Filter passierten die grofiten und die
heftigsten Gedanken — jedes Schicksal, jede
Schicht, auch jedes Gliick, ob es aus gliihen-
dem Grtff oder aus kiihlem Fatalismus kam.
Philosopbie dieses neuen Weltgefiihls ver-
breitete sich. Und eine grofie Vision war nahe-
geriickt: die jenseits des aktiven Willens,
die Idee des Geistes, die liber aJlem thront
wie Gott, die vielleicht Gott selber ist. In
diesem Burfie heiftt sie China; das Volk der
seltenen und schonen Gieichnisse war erlebt
mit briiderlicher Inbrunst.
Die Wucht erinnert an friihe Monumente . * .
Ich sah im apufiscben Barletta den bronzenen
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Obcr neue Prosa 31
Kolofi Valcntinian, iiber den die zunftige
Historik schweigt ; Gemisch von Wtirde,
Grausamkeit, Kriegersinn und roh ange-
nommcner Zivilisation, dahinter Verweich-
lichung schon und Dammerung des nahen-
dcn Unterganges . . . So hier riesiges Ma6,
Gebaude, Schliff r ein vielverzweigtes All-
genieines, fliichtig, doch auch mit erschrek-
kender Intuition punktiert die Mystik der
Beziehungen - und weitcrhin die Vision
einer Welt.
Zuuachst und obenhin : ein China der Sek-
tiercr. Religion — nicht die der Dogmen,
doch Religion — ist aufgcstellt als die dunkel
auf wiihlencje Kraft des Volkes und als Damon,
der Erkenatnisse gibt. Die Tausende von
Jahren, die dieses Volk lebte, vegetierte,
dachte, fiihlte f starb und weiterdammerte,
sie sind hier wahrhaft nur ein Tag* Sie
schwinden wie die Generationen und wie
alle Volker* Einer sagt das Gedicht eines
einzigen Satzes iiber sie: und alles Vergang-
liche ist nun blitzhaft War. Der Soldat, die
,,,|., Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3a Obtt neua Pros*
Dime, dcr Dichter, der Kaiser ist erfafit mit
einem ahnenden Strich. Man merkt auf:
eiu Giiltiges ist ausgesprochen, das sich im
Querschnitt aller Volker wiederholt, ia diesem
aber, das so uralt und so erstarrt, unveriinder-
lich scheint, eincn sxehtbaren MaGstab und
eincu Bcwcis fiadet. So teilen sich die Ncbel
zwischen den Volkern. Ihr forschtet; eui'e
Professoren klagten: wir wcrden nie dieses
Voile erkennen, denn seine Secle ist nicht
unsere Seele; die SchragcnmaBe seines Kopfes
sind den unseren nicht kongruent; der Duft
seiner gelben Haut ist kiinftiger Verwandt-
schaft hinderlich.
Dieser aber war kiihn und war! das Nie-
gesehene in genialer Ballung auf. Das Gltick
— ihr nennt es auch Genie — und die Intui-
tion seiner Seele schenkten ihm die voile
Sicherheit: viele Fiiden innerster Verbin-
dungen zu finden und zu fassen dort, wo
keine Trennungen mehr sind zwischen
schwarz, gelb, weiB, Religion, Wissenschaft,
Faust, Mephisto. Es fehlen also auch die
, I , Original from
'°°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neue Ptost 33
Leidenschaften. Es hcrrscheu die Gesetze,
die groBeri, einzigen der geistigcn Synthese.
Geborgen stcht Doblin in dcr unbekrieg-
baren Briiderlichkeit aller Volker, die von
den Mi'ittern kommt, in der heiligsten Har-
monie aller Lander, Felder, Gebirge, Meere,
die vom unverriickbaren Grenzstein nichts
weiB. Seine Marchen in ihrer hohen Wahr-
helt unci seine Wahrheiten in ihrer barocken
Erfindung sind zur unheimlichen Folge von
Bild, Geschehnis, Sage, {Catastrophe, zum
Getiirm von Wcsen, Idee, Masse geworden
und nun ein Epos dieser Welt . . . nicht Spie-
gel irgend einer Zeit, aber ein sehr Gemein-
sames aller Zeit. Wie Ossa und Olyrnp ist
es geschichtet. Sein Scheitel durchragt die
Wolken, das Netz der metaphysischen Ver-
strickungen . . . Weil solches geriet, ziirnen
wir nicht, dafi der zweite Romanberg —
„Wadzeks Kampf mit der Dampf turbine" —
sich als brockelnder Sandstein erwies; die
Projektionen des ersten Buches waren auf
dieses wesensandere iibertragen; eine Me-
i
.,,L Original from
1 d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
34 t)ber neuc Prosa
thode, die das GroSe in seine Partien zer-
schlug, war verewigt an einem Kleinen, das
aufgeblasen werden wollte und in den Ka-
tarakt metaphorischen Oberflusses sturzte.
Der Irrtum verschlang eine ungeheuere Miihe
und trieb Artismus auf, der ablenkt von na-
tiirlicher Strafie.
,' . ,,.1., Original from
I by V. lOOOIt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Vision werde erfiilltl Hierauf stent
der Ton, man vergessc das nicht.
Eine Furche zieht sich durch den Acker:
sie ist nicht mehr nur Einschnitt, von Pflii-
gen aufgeschorft, sie ist Wunde im Leibe
der Welt, Empfangerin neuen Samens, Tra-
gerin, SchoB ewigen Beharrens, das iiber die
allgeineinen Mcnschenfristen hinaus die Zei-
ten aneinanderbindet. Zwischen den Furchen,
die die Blitze in den Himmel reiCen, brennt
das Gold der Htille Oder der Hcrrlichkeit;
;;wischen den Furchen des Ackers schimmert
Leben und Ver^anglichkeit als Same und
Frucht, Scholle und Engerling. Der Dichter
mutet — und er findct: Vision.
Fur Wilhelm Lehmann, den Dichter von
naturgesattigten Romanen und Novellen,
sind die Dinge plotzlich und nur edeuchtet
r*-.. . , 1,-, Oriqinal from
' ' K \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
36 Ohcr iieue Pros.i
nach den ihnen innewohnenden geheimnis-
vollen Gesetzen; etwas ist transparent ge-
worden. Symbole wcrden erfullt und durch-
gefiihrt, die realen Hullen von den Kernen
abgespelH — nicht gerade v/ie bei Meyrink
zum Zweck einer Auftroselung senderbarer,
grauenhafter, mystischer Verkniipfungen,
aber die Gemeinschaft aller Erscheinungen
weist stch am gelaufigen Naturbild auf. Die
Seele eines aufgeschleuderten Menschen tragt
die Ziige einer im Wind verworfenen Schmet*
terlingspuppe, der wurzelarmen, wcltverlore-
nen Kreatur. Aufgetan fiir diese Vision ist
dct Blick des Dichters mit tieferem Gesichts-
sinn in die letzten Verwandtschaften von
Mensch zu Pflanze zu Tier zu Luft und kos-
mischern Gesetz, Sein Herz empfangt offen
die warmen Atemzuge ewiger Passate, die
belebend, bienenfleiBig die Flugsamen alles
Emsseins mittragen. Mit franziskanischer
Demut begriifit er die Schwester Biume, die
ihm ein aufierstes Gleichnis und eine erste
Liebe gilt. An ihm wird es deutlich, daB
, I , Original from
■ 00 8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neue Prosa
37
dieses „ neue Weltgefiihr* von pantheistischem
Charakter ist. Die Totalitat der Erschei-
nun gen, die Einheit aller Wesen ist seine
grofie Dominante.
Wenn aber Parallelen und Vergleiche er-
laubt sind, so werden sie nachteilig scin fiir
Wilhchn Lchmann und in weitcrer Pcrspek-
tivc fur seine Zeit. Man braucht nicht bis
zu Goethes gcwaltiger unci weitcr Vision zu
flichcn. In Francis Jammcs und in Rainer
Maria Rilke ist diesc groBe Gemeinschaft
dcs Lebens ein so ganz inneres und selbstan-
diges Toil der Seele gewordcn, daS urn ihret-
willen sie nicht zu sprechcn wiinschen. Sic
Jassen sie ahnen als verborgenes Fundament.
Jeder einzelne vermag mit den Schaucrn
seines Instinkts die Mystik seines Lebens zu
ahnen. Ein Blumenberg von Phantasie bliiht
— — — Hier bricht Lehmanns Schwachc
schwarend auf. Er ist ein armerer Mann
als Hamlet, Klettend am natiirltchen Bild,
es in seinen barocken, gestriipphaften Ver-
zweigungen nachziselierend mit staubgefaB-
, I , Original from
-OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
38 Ober neue Prosa
getreuer Dcutlichkeit vollzieht er doch nur
zwangsmafiige, niche selbstverstand'iche Ver*
ticfung. Unerfullt durch die Phthisik seiner
Worte bleibt der sehnende Schrei nach heiBem
Erlebcn, Hunger, brennender Vitalitat. Er
ist deutsch: vnrtraumt, dennoch arm aa
Iebcndiger, schaffendcr Phantasic. Schincrz-
Hch wiichst die Miihsal seiner Buclier, Herbst-
geruch des Weltvcrgehens schwebt dariiber.
Ihm fehlt, was etwa Franz Jung hat: der die
Hebel kennt und von Physik der inneren Be-
ziehungen so sehr vie! weiG, ohne im Effekt,
in der Sensation und im naturalistischen Ge-
form z\i crsticken. Nein. Es ist philologisch
graues, verkniffenes Arbeiten. Immer ist
die sommerlichc Fiille seiner Bilder angc-
krankelt vom HerbstfraB* Lehmann ist ein
liter arisclier Treibhausgartner in Nord-
deutschland, dessen Pflanzen einen po-
lierten, iibertriebenen Glanz haben. Es ist
nichts da von der Wanderung Pans zwischen
den Waldern und Landern, die in heidnischer
Wildheit und Sattheit Gustav Sack anbetete,
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Obcr neue Prosa jp
Man spurt die Nahc der Nebel, die aus dem
Novemberhimmel striken. Und sein Ton hat
zu wcnig Musik. Soviele neue Dichter haben
zu wenig Musik. Er ist Symptom fur sic.
Abcr er hat nicht einmal den inneren Rhyth-
mus dcr mcislcn. Sein Wort ist unschwingend
cine schr fliichtige, ganz augenblicktichc Vi-
bration, es hat nur mechanise he Pflichtcn.
Die Idee, das Wollen, die Konstruktion, die
Blindheit der wahrhaft inneren Gesichten
haben herrschende Gewalt iiber ihn, und
nicmals steigt er ins Ethos, dessen starke,
wesentliche Werte — ein Bcispiel — Paul
Kornfeld in der ,,Legende'* als dichterische
Essenz buchen kann. Eine Kerze erlischt
schwalend. Der Rauchkamm verschwebt
nicht einmal zur metaphysischen Figur.
Als nicht mehr junge Frau schrieb Bettina:
„Du muBt ewig ein Kind sein und muBt
mit grofiem Auge dem Schonen, dem Gott-
l&chen ins Augenlid schauen. Du muBt nicht
scheuen, trunken dahin zu taumeln, zwischen
dem, was du ahnst, aber nicht begreifst,"
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
40 Ober neue Prosa
— ■ ■ ■ ■i ■ ■! .T il a m I I i t »■ » m i ll ■ ■ I ■ —— — m ■ I u I i ■ ■ I WW— MWW«*W
Das fehlt den meisten. Edschmid hat ci-
niges da von Bisweilen auch Klabund.
Gleichwohl verschwendet sich dieser — der
at eh Fanfare ist und auch das Lebendige
und Tatsachliche aus den'Dingen herausholt
— zn sehr an den Augcnblick. Seine Ex-
pression erlischt mit der Minute. Sie hat
keinen tiefen Atem. Sie ist im Grunde ganz
anckdotisch. Wahrend es wohl denkbar
ware, dafi Edschmid in einem fest geturm-
ten Roman die Vielfalt dcs Geschauten zur
Einheit verdichtete, hat Klabund sein Un-
vermdgen hteizu schon erwiesen. Er trifft
in das Herz der kleinen Dinge. Die Einzel-
heiten sind ihm erschlossen, nicht die 2u-
sammenhange. Und wiewohl er Saft und
Frische zetgt, Eindruck und Gebarde mit
einer sehr kuhnen Hand ins Sichtbare stellt,
hat er doch nicht die Kraft, das lockere Ge-
binde seiner Bilder fest zu verflechten, aus
der Spiegelung ihres Wesens jenes „G6tt-
liche" abzulesen. Er hat Bettinas Taumel
wohl, hat die schone Unbekummertheit, den
, I , Original from
'°°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
t)ber neuc Prosa 41
Witz, die Lcidenschaft, wahrend zuineist
die anderen pcinlich fleiflige Schattiercr des
seelischen Erlcbnisses bleiben.
Doch Schattcn ist Kiihle, das Herz nur
Pumpwerk diinner Adern. Ornamentstiickc
von verbliiffender Schonhoit geratcn, in deren
architektonischer Sprachc sich reden IaBt,
aber deren Musik kcinen aufwuhlenden Laut
tont* Aufler vielleicht bei Robert Walser und
Mechtild Lichnowsky - — und es bleibt frag-
Iich, ob uberhaupt sie diesen nahestehen.
Die Lichnowsky hat fur die Modulationen
ihres „Stimniers" eine au&erordcntliche see-
lischc Rhythmisierung eingesetzt, und im
melodischen Gepragc die fiihlenden Nerven
gezeigt. Nicht technisch allein r audi nach
dem Klang sind hier Lebensinhalte in die
Spannungen von Tonen und inusikalischen
Intervallen gelegt . . . Hingegen Walser: der
die kleinen Dinge erzahlt, wie staunendes
Erlebcn sie ihm aufschlofi; von sonderbarer
Einfachheit, schnorkellos und jedem Tern*
perament wohllaunig verwandt; die Saite
.,,L Original from
1 d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
42 Obor neue Prosa
etnes Instruments, die auf alle Strichc und
Griffe reagiert; im Blut jenen SchuB Tauge-
nichts aus Deutschland her; und von ent-
schiedener schoner Einsilbigkeit der malen-
den Sprache.
Was aber aus alien an herrlichen Werten
sich hm und wieder uns verscheukte — bei
Lchmann die Transparenz der irdischen Ge-
heimnisse; bei Doblin die wilde Flut der Ge-
sichte; bei Edschmid der junge schaumende
Sturm; die imnierwachsende und mit hei-
ligem Eifer ergriffene Materie be! Hcinrich
Mann; und in derSehnsucht nach geistigen
Gipfeln das Bekennertum bei Rene Schickele
— das ist in emer groGen Orgie das Kampfes
eintnal schon als Ganzes angedeutet gewesen.
Unter Erschiitterungen rang Wollen zum
Licht, doch stiefi ein raschcr Tod t von der
Kugel des europaischen Brudermordes ge-
worfen, den Dichter zuriick in die Einsam-
kcit seines beginnenden Werkes, Er hieB
Gustav Sack. Seine Hitze und seine ewige
Miihe haben etwas vom Windmuhlenkampf
, if , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Uher neue Prosa
43
des Don Quixote — und das schon macht inn
schon. Eine Tolllieit, erne gro0e Garung,
eine stifle Liebe und eine stumme Ahnung:
So vielleicht war er und getroffcn immer von
einem Blitz Verzweiflung iiber das Rats el-
hafte, Nichtzubandigende, das die Welt war
wie er selbst.
f.,,.,,|,, Original from
VERITY OF MICHIGAN
Was zu Beginn bemerkt steht — namlich,
daB Erscheinungcn wie die als Expres-
s ion ism us bezeichnete niemals Gcbilde einer
bestimniten Gegenwart sind ; dafl vielrnehr
ihre Existenz komctenhaft aus ferner Dunkel-
heit in groBgeschwungener Elipse unset Seh-
feld erreicht, Spur und Eindruck hinterlaSt,
ehc sie aufgeht ins Allgemeine — das ist
angedeutet im Werke Heinrich Manns. Er
ist, bevor dicse Erschcinung sichtbar Raum
gewann und in unser BewuBtsein stieB, mit
einer bliihenden Kunst gekommen, die schon
und durchaus nut jenem Geist gesattigt war,
aber durch Verwurzelung und ein gewisses
Anschauungsresiduum noch der sterbenden
Generation verbunden steht. Man denke: es
batten die tausendfachen Ausdrucksformen
expressionistischen Geistes sich vorabendlich
r^/-\ir\afi > Original from
' °°8 K UNIVERSITYOFMICHIGAN
Ober neue Prosa 45
gebiindelt und seien als starker Strom durch
diesen Kanal, dcr Heinrich Mann heifit, in
die ncue Erde ausgestromt.
Ober die materialistischen Wellen und
Wehen des Naturatismus stieg er empor.
Dessen heiligste Gedanken hat er zur fun-
damentalen Idee erhoben: Idee der Men-
schenliebe, als eine Forderung des Geistes,
als Aufruf an die Kunstler und die Geistigen.
Menschenliebe bis zu jener magischen Ver*
quickung, wo HaB nicht rnehr von Liebe trenn-
bar steht, wo aber das Protoplasma beider
den neuen Menschen gebaren soil. Sein im
edelsten Sinne sozialer Geist zwang sich
noch mit Machten zu rechnen, mit Kapitalis-
mus und bourgeoiser Hartnackigkeit, die
der neue Dichter gleichgiiltig miBachtet oder
als iiberwunden schon vergiBt* Gerade aber
die Geburt aus materialistischer Wurzel, die
biirgerliche Heimat seiner Seek und der ganze
Habitus seiner Tradition haben ihm die Mog-
Uchkeit geboten, das unsoziale Obel mit der
breiten Waife der Kenntnis anzugreifen.
, if , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
46 Ober neue Prosa
Diese Arbeit ist so notwendig gewesen —
wie vorbereitend die der verfehmten Natura-
listen notwendig war — urn dem visionaren
Zentrum oberhalb unserer realistischen Ein-
stellung iiberhaupt nahezukommen. Einer
muBte audi das tun.
So ist im Rahmcn dieses historischcn Bil-
des gesehen. Heinrich Mann cin unbedingtes
Eindeelied dcr Gencrationcn. Dort noch cr-
fiillt von der Nachdenklichkeit des Impressio-
nistischen Detaillisrnus, und damit beJebt
vom Riickschlag des empfangenen Eindrucks.
Schon aber hincingedrangt in die absolute
Vehement des Geistes, die die Politik des
Menschlichen anstrebt, die die Versomien-
heit und die Liebe 2ur blauen Blume gering-
wertet ; hef tig dafiir die aufierordentliche
Klarheit nach Zielen, Methoden, nach for-
derndem ZusammenschluB im Sinne einer ent-
scheidenden Kultivierung, nach Befreiungaus
innerem Chaos; nicht deutsch, sondern euro*
paisch; und innerhalb dieses Internationalism
mus erhoben von der Idee der Menschenliebe.
Original from
: bj L lOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neue Prosa 47
Es scheint, als habe Heinrich Mann erst
im zweitcn, politisch durchschnittenen Tcil
seines Werkes dieser Idee gclebt. Faktisch
aber bekannte or sich scit je zu ihr. Die
„GSttinncn" und was ansteigend folgt bis
in die Gassen und den Platz der M klcinen
Stadt 4 *> ist tiefer schon verankert, als nur
im Rausch eincr Farbcnwclt. Schon hier
crhebt sich em unbedingtes Bckenntnis zu
intellektueller, zu zunachst formal orien-
tierter, im Geist aber und in der Liebe fug*
lich romanischer Einstellung, Das Land
zwischen siidlichcn Breitengraden, siidlicher
Erhitzung und Leidenschaft, Italien und seine
gallische Nuance, wird mehr als Relief oder
Soffite, wenn so der Prospekt sich offnet.
Es wird im besonderen Sinne die groBe Sehn-
sucht der Deutschen, Land der Blaue, des
Meeres und der Sonne; Land der rnensch-
lichen Geltung, der demokratischen Denkart,
ein aus der Schwerfalligkeit geloster Bezirk.
Heinrich Mann hat recht behalten, Nicht
weil er aus dem Duster lange ungerechtfer-
, I -, Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
48 Oher neuc Proia
tigten Verkanntseins jah in die Flammen
vieler Scheinwerfer geriickt wurde. Das ist
sekundar. Die Erkennung muflte kommen*
well die innere Folgerichtigkeit seiner auf-
gczeichneten Anschauung frtiher oder spater
als Beweisstiick sichtbarer Geschehnisse zu
unterstreichen war. Sie kam aus dem Krieg
und der Entmenschlichung, Sie wuchs in
dem MaBe, wxe der Krieg Revolution wurde
jnd wie aus der Urnkehr aller giiltigen Werte
der Sieg des Menschheitsgedankens, der
grofien demokratischen Idee leuchtend wurde.
Man erinnere sich seines suletet erschiene-
nen Romans n Der Untertan*^ der in namen-
loser Steigerung das Hohnische, Glatte, das
durchaus nicht Sympathische, aber aus den
Gluten und dem Eis der Erkenntnisse und
aus dem Reichtum seiner Blicke Gestrdmte
aufschlug. Hier ist mit den Widerhaken sa-
tyrischer Obertreibung das Fleisch vor einem
Herzen aufgerissen worden. Das zuckende
Herz ist sichtbar und von kiihlgrausamer
Hand auf den Rost geworfen worden, der
("" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neue Prosa 49
es mit neuem Blut und neuem Brand er-
fiillen soil. Mit Zolas Gebirgen und Balzacs
romantischen Plaidoyers hat das nichts zvl
tun, was hier aus intuitivem Einfuhlen in
erne Gegenwart sich bildet. Heinrich Mann
sammelte das Gift fiir die notwendige Zer-
setzung des verlotterten Gebaudes. £r riB
ein, zerfaltete den Bestand durch Fest-
stellungcn, nicht mit Ibsenschcr Apotheker-
allure, sondern mit der puren Errechnung
der Realitat. Unter dem Fazit oder Minus
ragte die auch erfiihlte Idee von morgen.
Sein Wille sucht teils methodisch, teils
visionar das Ziel der demokratischen Seele.
Hier licgt der berechnete Schachzug legiert
mit dem genialen Einfall, der die Entschei-
dung bringt, hinwegspringend iiber das
Exempel.
Nicht sei geleugnet, daB Heinrich Mann
mehr die Idee licbt als ihrc Inhalte, mehr den
Rhythmus als die Melodie, und daB er im
Winkel der theoretischen Erneuerung sich
heimischer weifi als in der Tat. Das hat
f~* #-\f\, vl, . Original from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
50 Ober neue Pray a
mit personlichem Bekennertum nichts zu
tun. Dieses Werk steht auOerhalb der Tat
und immer innerhalb der Reserve. Vielleicht
hemmte ihn der jahrelange zunachst aus-
sichtsarme Kampf, vielleicht und wahr-
scheinlich die reflexive Art seines Gehabcns,
das sich mit Dokumenten begniigt, einm&l,
zwcimal auch noch Forderungen erhebt. Nie
aber der Liebc wirklich zuganglich ist. Sein
Herz gliinmt. Es brennt nicht. Seine Worte
wiihlen, sie befeuern nicht. Sie hassen, doch
sie entsonden keine Musik des Berzens, Sie
haben natiirlich nicht das Pathos, das irgend-
wo gcbunden liegt, sondern immer den
kampferischen, oft synischen, bedriickenden
Gestus, der aktiv, immerbereit, sinnlich,
bitter, ohne Humor und literarisch sein muB.
Der Weg aber zeigt sich beschritten, der
ihn in die Kreise der Jugend fiihrt: der Weg
eben der Idee, nicht mehr allein des Werkes,
der Weg aus der Romantik in den Willen,
durch die Realitat in die Metaphysik, die nun
herrschend sich iiber Leben und Sterbeu er-
/"*/xj k/iln Oriqinal from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neue Prosa
51
hebt. Das spann sich an in der ,,kleinen
Stadt", wurdc bcredt in dem dennoch ent-
tauschenden Roman von den „Armen" und
phosphoreszicrte aus dem zornigen Pamphlet
vom „Untertan".
,,,!,» Original from
1 .oogic
UNIVERSITY OF MICHIGAN
6.
Ein Ruf nach Menschenltebe, Versohn-
lichkeit, eine religiose Ekstatik nach
innerer Genesung geht neu durch alle. Zer-
schmetterung hat das Blut aus den Wunden
geqnetscht. Der Kruppel will die fruhere
Obcrhebung nicht inehr kennen und dem
Gesunden gleich geachtet werden. Aus dem
heulenden Sterbechor ist der Ruf gestotien.
Wer aber lauschte, kannte ihn vordem* Jede
Katastrophe hat ihre prophetischen Warner.
Hier war es Lconhard Frank,
Die n Rauberbande c< gelte nicht als Kinder-
idyll mit gefiihrlichem Streifen noch als ein
Spatling naturalistischer Geburt — etwa
weil das Ge>icht van unseren Zugen, die
Landschaft eine scharfe zeichnerische Linea-
tur trug. Sie war Protest! Sic scbne M Pro-
testl 11 , herzhafter noch, £ellender t als ihn
.,,L Original from
1 lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Obcr neuc Prosit
53
die Dime Max Brods in die Freudenhauser
schrie. Protest! Wir waren Kinder. Die
kleine Stadt mit Tucken und ausgefransteu
Menschenseelen, mit psychisch verkrtippel-
ten Paukern hat uns angefressen. Protest!
Wir w.ollen nicht! Die Welt ist groft. In
tiefen Griiften und unermeBIichen Weiten
hat sie herrliche Schatze. Reisen wir nach
den Schatzen! Amerika! Ach, es ist weit,
unsere Muskeln sind noch zu diinn, daB sie
bis dorthin aushielten. Aber such die nahe
Stadt hat Schatze, Kinder sehen den Schatz
im einfachsten Besitz. Heraus aus der Phili-
sterklaue! Es ist naiver Bubenkommunis-
rnus. Danach die erste dumpfe Anklage
gegen das Erwachsene, gegen die cigen-
machtige, anmaCende Bevorrechtigung, ge-
gen Bednickung, Tyrannis, die vielleicht sein
mufl, aber in den dazu empfanglichen Ackern
Saaten zeugt von unberechenbaren, furcht-
bar schonen Friichten.
Spott und hclle Farbe verloschen. Die
hundert G Jock en von Wiirzburg verlieren
,,,!,, Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
54 Ober neue Prosa
ihre abendliche Musik. Zu grauer Silhouette
verschrumpft die Stadt und was an viel-
gcstaltigem Erlebnis eine Jugend war, das
kristallisiert sich zar einzigen bittcrcn Er-
innerung, zur n Ursache". Den tnusend
Gleiehgulttgen ein Augenblick, dem einen
Sensiiivcn die Erschiitterung und das Gc-
richt. Aus vielen Ziigen dcr cine Zug. Aus
martcrnden Schmcrzen dor Schmcrz. Aus
Schuid die Last. Abcr ncin: alios dieses 1st
gleichgiiltig. So augenfailig ist aus dcin
EmzeJbilddasAUgemeine ablesbar, Derdurch
alberne, bornierte Zuriicksetzung gezeich-
nete Knabe erleidet den Schimpf geachteter
Klasse, woraus fortwirkend seine Lebens-
bahn beschattet, die Sonne verloscht ist, die
ihm doch gehort wie alien, Aus der Damme-
rung aber gliiht der Protest. Protest! —-
auch wenn er vernichtet Kennt ihr das
Lied ? Habt ihr diese fanatisch bekannte
Idee nicht heute, gestern durch die Strafie
schnellen horenr Menschen sind gestiirzt
unter ihrem Schritt Nun aber hat die Idse
, I , Original from
1 °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neue Prosa
55
begonnen leuchtend zu werden iiber alien.
In unserer Friihe waren wir getroffen durch
Vorurteil und Zuriicksetzung, Klasse und
Mutwillen. Nun wollen wir aitfstehcn und
an den Menschen riittcln, damit sie sinh be-
wuflt werden. Hier ist Beispiel, hier ist
Perspcktive zu unscrm ganzen Volk — und
dieses Bekenntnis tief politisch.
Das dritte Buch aber schrie — schrie
nackt und unverhtilltc Scht die Stigmata I
Seht das Blut! Christus wurde wieder ge-
krcusigtl Ihr alle scid Christus! Ihr alle
wurdct wieder gekreuzigt- Die Philister
eures Volkes haben Golgatha geschichtetl
Nun klagt sie an! Aber ihr alle seid und
bleibt mitschuldigl Ihr vergaCet eucrMcnsch-
tumt Ihr vergaBct die Liebcl
Leonhard Frank steht gebiiekt vor der
groBen Anklage gegen das ganzc Menschen-
geschlecht. Ticfster Mcnsclicnschmcrz, daB
noch Klassen sind nach auBercr Distinktton,
daB zweitc, dritte Garnitur Mensch nach ei-
genwiUigcn, perversen Motiven zerschlagen,
,,,|., Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
56 Ober neue Prosa
gemordet, verschlckt werden kaxm — lebcn-
diges Flcisch, lebendiges Stiick Seele — das
hat ihm Fauste gemacht* die nicht inehr in
der Tasche wiihltcn, die viclmchr Worte in
den Europaer stampftcn, als es noch ge-
fahrlich war, Vcrnunft zu zeigen, Worte des
Hcrzens, Leidens, Griibelns, der Ohnmacht,
der Kraft, Das ist wie heilige schmerz-
schwerePolitikder groBen dichtcndenRussen,
bei denen aus anklagendem Hafi Liebe auf-
ersteht, wie aus Beethovens heroischem
Konzept Schillers Menschen-umspannender
Hymnus stieg, Aber es ist auch noch anders
und anderes als bei den Russen. Dort war
ein mystischer Schleier iiber die Zornwiilste
gelcgt, Es war nicht gewagt, Anklage mit
dem donnernden Namen der Anklage zu er-
heben. Indirektes litt ihre Tragik aus, Doch
Frank schmetterte den Hari ohne Verschleie-
rung und Milde hinaus, mit dem stoBweisen
Schrei seiner wilden Novellistik — wo jene
mit dem gewaltigen Turm eines babyloni-
schen Epos erdriieken wollten.
r^/-\ir\afi > Original from
1 °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober n*ue Pros*
57
Der Mensch ist gut! Doch ist dieses Buch
HaQ, wie Franks vorherige sehon, die vom
HaB gezeugt sind und von seiner blutigen
Rote brennen* Es ist der Hafi der Licbe —
HaB und Liebe in jener produktiven Vcrwo-
benheit aus Pessimismus und Optimismus;
Pessimismus als Erkenntnisform vom schA-
len Substrat der menschlichen Riickstande,
ihren hassenswerten * Schlechtigkeiten, die
blasenhaft die sanfte Oberflache aufsprengen
als verruchte Institutionen — es ist der pro-
duktive Pessimismus als Grundlage ernes
Ncubaues, In seiner Ticfe schon zeigt sich
die silberne Kapsel halbgeoffnet, die den
Strahl der Bejahung, das Bekcnntnis zur
Liebe uns zuwenden soil,
Es ist das Erbe der noch zu nahen natura-
listischen Verg.ingenheit, dafl ergiebiger De-
taillismus herrscht. Grofle Probleme wcrden
zu haufig noch aus der Froschperspektive
gesehen — im Auge der Politiker wie der
schaffenden Kunstler. Stark konstruktives
Element gibt Entwicklungsbilder ab ovo, da
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
58 ftb^r ncufc Prosa
rascher, klarer Blick in den Zenith notiger
ware. Gefiihlstcilc statt Gcftihl. Rede statt
Wort. Dahinter scheint UneinheitHchkeit
der Anschauung zu lie gen, Die Anschauung
so vieler Diehter vergibt sich gleichzeitig
an Dutzend Traume; die Traume miinden
ins All und in die vielbeschaftigte Seele des
Zeitgenossen, — —
Von wenigen abcr, denen Konsequenz und
einheitliche Pragung eignet — und nur
Thomas Mann kann in seiner Weise diese
Folgcrichtigkeit und innere Abgeschlossen-
heit seiner Anschauung fur sich buchen —
hat Leonhard Frank sie seit seinem Begin*
ncn durchgesetzt. Einheit d$r Anschatiung:
Legicrung aus Ja und Ncin. Nicht Tendcnz
fur Nein um des Neins willcn, nicht Blindheit
fiir das J a, des Jas wegen. Zusammen-
schweiDen der Kampf telle im Menschen.
Weil aber inneres AusmaB, innere Leiden-
schaft, innere Zersctzung und innerer Auf-
bau das Miniaturbild der allgemeinen sind,
und weil die These seiner Menschcnliebe
,,.!,, Original from
1 lOOgie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Obtr itetie Prosa 59
sich der heuttgen, auch der morgigen, d. h.
der produktiven, nicht historischen Men-
schengemeinschaft zukehrt — ist hier poli-
tische Dichtung. Es ist erste politische
Dichtung in Deutschland seit Schiller
und Biichncr, erste politische Epik
iiberhaupt bei uns. RuEland hat immer
seine grofic politische Secle gehabt. Deutsch-
land krankte an seiner politischen Indiffe-
rent — oder blieb dadurch stark fiir eiiie
ncue Gcburt — « Unstorbar stieg die Linie
solcher Anschauung einer zentralen For-
mung zu. Zwischen glattem Rasen asthe-
tizistischer Literatur, breiter deutscher Bild-
nismalerei und philosophischer Sezierung
ist von Leonhard Frank ein mcnschhoitspoli-
tisches Manifest angesagt worden. Das dich-
terische Plakat, das die komrncnde Revolu-
tion ankundigte. Das Werbemittel fiir Men-
schenschutz, j enen hohen Gedanken eines
neuen Zeitalters, fiir Liebe, unriittelbare Ge-
sinnung vom wahren Sinne (nicht die, mit
der sich heute jeder schmiickt), vorurteils-
.,,L Original from
1 d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
60 Obtr neue Pros a
lose Sozietat. Will Revolution diesem Grund-
gedanken zum Siege verhelfen, so hat die
idealistische, moralische Wehrbarxnachung
ihren Vorkampfer in Leonhard Frank ge-
habt — wie sie in Albert Steffen mit dem
Hebereichen Buch , ,SibylIe Mariana" iiber
den Zwiespalt der Volker stieg, die Mcnsch-
heit zum Adel der Liebesidee drangte —
Frank, vor dem nichts war in diesem Geiste
denn Chaos . Dunkel, Einsamkeit. Sein Name
helSt Morgendammerung der iiberpolitischen
dcutschen Dichtung, des Aufstiegs zuglcich
ins allmenschliche und eine heilsame Ant-
wort an den Doktrinarismus der Aktivisten,
f~~* t-\.f\t\li > Original from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eines haben sie alie. Es bindet sie fester
als Blut der gleichen Mutter: sie sind
aus dem traditionellen deutschen Beschauen
und Beharren hinaufgewachsen in einen Fa-
natismus* Sic bekennen sich hinein in den
Sturm. Sie sind entziindet vom knaben-
haften Drang nach den neucn Rhythmen
der Dinge. Und so hallt das Wort bei ihnen
immer wie Aufruhr und Aufruf, Sie wissen
ein Echo in aller Welt. Sie streben hinaus
aus den Latidern in die geistigc BriiderJxch-
keit der Menschen. So geschieht ganz in-
stinktmafiig eine Anlehnung an die revolu-
tionare Idee der Politik, Sie fordern Politi-
sierung im Bewufltsein, dafl dort adaquate
Ziele und Gefiihle licgen. In diesem Betracht
wird ihnen Ren6 Schickele zum Symbol,
Aber sie sollten sich hiiten, ihn zum ent-
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
tz Uber neue Pros*
scheidenden Muster und zum Merkur ihres
Weges zu wahlen. Seine besondere Wurzel
verbietet das.
Denn; anders als Heinrich Mann steht
Ren6 Schickele zwischen den Rassen. In
jenes Puisen mischt sich neu das Blut zweier
groBen Volkerfamilien ; die Garung ist noch
zu keineni Austrag gekommen. In Schickele
sind die Rassen seit Generationen gekreuzt,
er leidet unter dem ncuen Anprall der Volker
von aufien; der Elsasser ist der von auflen
feindlich Umworbene, nicht nur der in sich
mit widerstreiteuden Blutkorpern Zerstrdmte.
Ihm ist der Krieg der Menschen die Peitsche,
aus irdischen Wucherungen hinauszustre-
ben in die lauternde, absolute Klarheit des
Getstes. Ober dem Mecr der gefallenen Brii-
der aus zahllosen Kricgen tiirmt er einen
neuen Krieg, bei dem nicht leiblicher Tod
gefordert, nicht die zerschmetternde Bru-
talitat der Krafte eingesetzt wird, Er ent-
liidt die Revolution des Geistes gegen den
Ungeist, gegen die burgerliche Leidenschafts-
f - "* r-\ f \t\\t > Original from
.yl»OOglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neue Prosa 63
losigkeit. £r ist etn so entflammter Kampfer,
daB der MiBerfolg nur Sporn zum Erfolg,
die Niederlage nur Steigerung des schopfe-
rischen Wiilcns wird. Es ist der ziigellose
Fanatiker gleichermafien aus den En gen
der Politik wie aus den atherischen Regionen
der Kiinste und des Geistes. Oberall zer-
staubt er mit heftigen und weitreichenden
Energien die saturicrte Phrase, Keine An-
griffsstellung versaumt er. Er ist durchaus
personHch und immer konzentriert im Be-
streben, durch die barocke Schalc der Reali-
tat an den kosmischen Kern der Seele heran-
zukommen.
Seine Prosa spiegelt diesen Eifer in einer
seinem Fanatismus entspreehenden, kerne
Konzession billigendcn Art. Sie wirkt so
subjektiv und neu wie keine heutige. Mit
derZerstorungderWirklichkeit als der gleich-
giiltlgen Architektur unseres weltlichen Blik-
kes reiBt er auch systematisch iibernommene
Formen des dichterischen Auibaus cin. Dem
banalen Auge erscheint sein Werk notwendig
.,,L Original from
1 d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
<54 ^ ljer "de Prosa
abstrus. Es raumt gebieterisch auf mit der
Nebensache. Es zerteilt mit einem unerhdrt
konsequenter: Anarchismus die existenten
biirgerlichen Erscheinungen. Es riickt die
Revolutionierung des Geistes in die Perma-
nent. So stoQt er vor in die Tiefe, wo das
Chaos liegt, so sttirzt er, was menschlipher
Ordnungssinn als technischen Behelf sich
errichtete, in Angst und ZwangsmaBigkeit
mit gottlichen Rechten iiber sich baute, in
die Aonen hinaus. Denn der Durchgang
durch die Zertriimmerung einer kunstlichen
Umwelt ist der Weg in die Klarheit — mag
seine Philosophic sagen. Xch kann seinen
Widcrsachcrn nicht beipfliehtcn, daft Schik-
kele — und mit ihm die neue Jugend — ohne
Totalitat sei, daB ihnen die beste deutsche
Eigenschaft, „der groBe Eingang in Gott oder
die Welt oder die Totalitat unvollicommcn"
sei (Otto Flake; „Von der jiingsten Litera-
tur", Neue Rundschau, September 191 5).
Er und sie sind getragen vom Streben nach
dieser letzten Totalitat, Sie haben sich dar-
.,,L Original from
1 d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober ncue Prcsa fiij
an gemacht die Mauern vor Gott einzureiBen,
sich hinaufzuschwingen in die gottlichen
Reiche. Streben ist immer aus Unvollkoni-
menheit. Indem sie aber den letzten Vor-
hang des Tempels zerreifien, schicken sie
sich schon an, das Allerheiligste zu betreten.
Wo anders als dort, tm Ziel ihres hcftigen
Suchens, ist Totalitat — also ein glimmen-
der Funke davon auch im Wollen dieses
Suchens. Und weil sie schreiten wie auf
einem hochgespannten Seil, beginnend schon
in einer Hdhe, die das letzte geradeaus vor
das Auge stellt, so kann wohl ein Vorwurf
sie treffen, daB ihnen die Steigcrung fehle,
dafl der n grofie Eingang in Gott** nicht „ins
UnvergeBliche, sondern insArmliche" wachse,
Solche Armut tragt aber die strahlenden Male
des Glaubcns an sich.
Schon in seinem friihesten Buch lf Der
Fremde", vollkommener damn im Frauen-
trdster H BenkaT' erhartet Ren6 Schickeie,
worauf es bet diesen Dichtern ankommt:
das Viele, Vielformige und Vielinhaltliche,
,,,|., Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
66 Ober ncue Prcsa
was ist, durch ein Haarsieb 2u schiitien und
seine Essenz chne die nurasthetische GenuB-
sucht, vielmehr mit dem Gefiihl panischer
Lust aufzunehmen. Man wird linden, dafi
die gebrauchliche Bauweise von These und
Antithese kluglos aufgehoben wurde. Sckik-
kele begann wohl selbst mit den einfachen,
impressionistischen Mitteln seine Umwelt zu
malen, Allmahlich aber ri0 er die Geruste
ein, stretfte er ihr Wirkliches ab. Jener Kern,
auf den eben es hier ankommt, der uoter
der Kruste der Realitaten iiberall schlum-
mert, jenes Sinnliche, jenes aus Phantasie
und Vision sich Aufringende wuchs hinaus
iiber Kleid und Mauer, funkelte. Das Aktive
horte auf* Das Vegetabile der Vision, das
Selbstverstandliche gewann den einzigen
Raum, ohne gleichwohl die Spuren erdhafter
Begriffe ganz zu verlicren* Um eine letzte
Losung, eine Loslosung zu vollziehen; ist
Schickele zu sehr Dichter, ein Stuck empi-
risch, zu sehr im Blut des Lebens und der
menschlichen Liebe geronnen. Nur ein ganz
, I , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neue Pros* 67
aus dcrn Intellckt Schreibender konntc die
Nabelschnur 2wischen sich und der Welt
zerschneiden — Carl Einstein, als er sich
itn ipBebuquin 11 vom Gefiihl befreite und den
Versuch einer rein zerebralen Dichtung an-
stellte,
Nirgends wie in der anarchischen Zcr-
schmctterung der alten Formen kommt es
auf die Pers6n!ichkeit an* Halbheit als Er-
satz ware der dauernde Tod. Schickele
konntc den Umsturz wagen, weil die Vision
in ihni machtig war, weil er gegen die Phrase
das Ethos, gegen harte Substanz die gliihende
Seele einzusetzen hat* Einstein aber zeigt
den Abgrund, in den der starre Intellekt den
Ehrgeizigen schleudert, der das warme Blut-
korn verachtet.
,,,!,» Original from
1 .oogic
UNIVERSITY OF MICHIGAN
8.
Zwei polare Figuren vcrdeut lichen das
gesamte Bild, wenn sie auch nicht die
entscheidenden sind. Es ist noch von Carl
Sternheim und Gustav Meyrink zu sprechen.
Wenn der junge Dichter sich hindurch-
miiht durch den Stacheldraht der Welt und
der Menschheit und sich in VerzweiHung
gegen soviel allmachtige Verwirrung kehrt,
sie urn hoherer Werte willen zu zertriimmern,
so reitet Sternheim kreuzfahrerisch mit einer
verbissenen Freude an, Er sammelt den
lacher lichen Titaniden, der die Welt heute
beherrscht, in ein burgcrliches Gebilde. Die-
sem seltsamen Sarazenen entreiBt er Waffe
und Schuppenkinn, Lendentuch und Sieg-
geschrei — und zeigt ihn; weiter nichts: er
zeigt ihn, erbarmungslos. Und die Fetzen
cieser abgebriihten Haut brennen unter wil-
Original from
ibyLjOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober ticue Prosa 69
der Schamrote* Zwar: Sternheim transpo-
nierte das Rezept seiner dramatischen Ent-
schleierung von Burger und Spiefler in seine
Novellistik; mit nicht sehr anderen Mittcln
als dort bricht er ihm die krampfhaft ge-
schlossenen Fauste auf , die nichts umspannen
ais giftigste Essenzen, Aber durch eine Kon-
zentrierung alien Lichtes auf diese eine zen-
trale Figur und durch eine Zerstorung aller
Nebenreflexe schichtete er rasch das novel-
listtsche Bild, Der Wesenskern des Burgers
wird scharf strahlig aus der Fassung gebrochen .
Ohne handelnde Entwicklung, knapp, ein-
fach, brutal. An der Oberflache erscheint
wahrhaft nur die Expression der seelischen
Mot or en. Der Zweck, der fcige, dem die
allgemeineVerlogenheit dient, wird entschalt;
die anmaBende Heftigkeit der technischcn Be-
heKe, der Errungenschaften, derSpekulation,
des Geldes, Luxus werden ganz cinfach auf-
gehoben oder in ihren zersetzenden Effekten
beleuchtet* Immer nur gegen die Seelen-
losigkeit der biirgerlichen Seele zischt der
Original from
I I ,; >gie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
70
Ober neue Prosa
Karnpf schonungslos auf. DaB der Mensch
die Dinge hat Gewalt nehmen las-en uber
sich, statt uber sie zu befehlen, daB er Ball
wurde der kleinen untergeordneten Krafte,
statt ihnen das Diktat seines besonderen
Geistes und Herzens aufzulegen — in diesem
miindet das Sternheimsche Wort. Sein Kampf
entladt wohl HaB. Aber wenn er auch aus
Hohn, abgriindiger Skepsis, Bitterkeit und
kaltgliihendem Spott stromt — ein Gott-
Hches, eine elementare Sehnsucht streift
durch seinen schnellen Atem dennoch hir.aus
in das All, wo vielleicht, nein, er weifl es:
der Geist in seiner magischen Inkarnation
gelagert ist.
Dem in solchcm Sinne ethischen Bermihen
Sternheims war es hinderlich — und den
jungen Dichtern wird es, freilich durch den
Zorn der Spott^etroffenen, mit Bosheit im-
mer wieder betont — : wie die konzentrierte
Harte seines Stils jede Syntax uberrannte
und mit den eisernen Hammern seiner Be-
sessenheit jede giiltige Form zerschlug. (Kerr :
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neue Prosa *j\
„Liebermanr, sagt hcrrlich: ,Zeichnen ist
Weglassen.' Jawohl, Aber Weglassen, Karl
Sternheim, ist noch nicht Zeichnen. Es
kommt darauf an, was einer weggelassen
hat . . .") Sternheim laBt mitunter nur die
Theorie stehen, Theoretiker der Form, Stil-
former, der ein neues Zeitalter einleiten
mochte. Er schrie den apostolischen Ruf
„Kampf der Metapherl" in die literarischen
Gelande und Bergwerke, zUletzt gleichwohl
immer tiefer in die Stollen der Metapher stiir-
zend, einer Abhangigkeit anhcimgegeben,
gegen die er strafend wtitete. Jcdoch: man
iibersehe das, weil es durchaus unwesentlich
ist. Man mil he sich hindurch. Denn das
Ende ist gut, wenn es auch hinter bizarren
Wucherungen verborgen ruht.
Die Antithese Sternheim-Meyiink ist leicht
ablesbar: Sternheim deutet sich am Kon-
kreten aus. Er zerschlagt die alte, iiberkom-
mene Gestalt, das niichterne Gehause mit
unerschiitterbaren Feststellungen. Alles
wird gesagt. Nur den metaphysischen Rest
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
72
Obtr neut Pros*
sollt ihr selber erkennen. Meyrink aber
zertriimmert die hohe Glocke des mystischen
Himmels, der unser Wissen und Wiinschen
einengt. Er dringt umweglos in den Kern des
Abstrakten von Und einmal xnu0 er auf den
Trakt stoflen, an dem Sternheim baut; denn
die Ziele differieren nicht, nur die Wege.
Man erkenne die hohe Gestalt des Chidhcr
Grun im „Grtinen Gesicht". Sie umschlieBt
die Meyrinksche Geistigkeit. In ihr kulmi-
niert das Symbol seiner Dichtung. Bildhaft
ragt ihre Struktur iiber das ganze Werk als
ein massives Produkt zahlloser Lcgenden
und Kulte — unbeirrt von deren Tendenzen:
denn alles ist vermischt, nicht mehr herrschend
(Kabbala, buddhistische, agyptische Mystik),
weil seine Welt des Obersinnlichen Unter-
schiede nicht mehr begreift* Aus allem ge-
nommen, hat er — und ist er vielleicht —
die Seele von allem, oder wenigstens (mit
Goethe) „ihr Dasein in Tatigkeit gedacht";
unsichtbar~sichtbare Figur, seine Maske erz-
haft oliven, da£ sie Gesichtern Vorzeitlicher
, I , Original from
■ 00 8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober n«ue Prosa 73
gleich in schwarzgriinem Golde schimmert
(griin, sagt Meyrink, ist an sich keine wirk-
liche Farbe ... sie ist aus einer Mischung
von Blau und Gelb entstanden . . . „Erkenne
du aus diesem Beispiel, daB, wenn er dir
als ein Mann mit griincm Antlitz begegnen
sollte, sein wahres Gesicht dir trotzdem noch
immer nicht offenbar 1st 44 ) und mit schwarzer
Binde umhullt: nur Berufenen sei sein An-
blick gegonnt; er reicht vom Gestern in das
Morgan; vom Anfang in das unerforschte
Gliick. Chidher Griin bedeutet Kopfwesen,
geistige Macht des Unwlrklichen, Sammlung
dessen, was menschliche Griibclei aus Ober-
sinnlichem sog, und motorisches Zentrum der
ganzen Magie. Denn — und das unterbricht
die Star re seiner ewigen Existenz — er darf
Reine zur Freiheit, Strebende zum Logos
ftihren. Nicht ein einzelnes Beweisbei spiel
genii gt Meyrink: er zieht eine ganze Welt
in die hundertfache Strahlenbrechung seiner
Linse.
Aus dem Rembrandtschatten der Grach-
r**. . , [,-, Oriqinal from
1 H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
74
Ober neje Prose
ten flammt mystische Begierde: arme Kon-
ventikler, Schuster, Schnapshandler, exal-
tierte Weifaer, geschmiickt mit biblischen
Namen, warten der Geburt des Geistme nschen :
Sie und ein anderer Kreis, in dem die Scharfe
der Ekstase durch Skepsis und Resignation
gemildert wird, bindet der Wunsch: „Iieber
alte Formen mit neuen Augen, statt neue
Formen mit alten Augen sehen zu lernen."
Erkenntnis ist noch nicht das Neue. Alle
Wesenheiten sind unverloren und kehren
wieder; ihr Ferment ist, was von innen
kommt, das innere Wort — M der groSe In-
nerliche". Zur letzten Konsequenz erf ii lit
sich das Schicksal des Fortunat Kauberisser
und seiner Geliebten, die den Stachel des
Schmerzes brechen: erst miisse man sich
die alten Augen aus dem Kopfe weinen, ehe
man vermochte, die alte Welt mit neuen
Augen Iachelnd zu betrachten. Das Rezept
dieses Sieges heiBt : Am Anfang sei das Wach-
sein, die vollkommene Anspannung des rei-
nen Willens. Die als Erwachte sich erneuern
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neuc Prosa 75
— sie haben nichts zu tun mit dem Reich
der Toten, sie sind unspiritistisch, ihr Ziel
ist „ewiges Sein" — darf der groBe Innerliche
in die letzte Hohe f iihren iiber, nach Menschen-
meinung, leiblichen und geistigen Tod und
einen Gomorrasturm hinweg, der die Erde
unter ihnen zu Splittern fegt.
Chidher Griin wirft die Geschicke seiner
Wesen durch alle Bezirke; Metaphysik kreuzt
sich nut wirklichern Bestand: es gibt keine
Grenzen zwischen ihnen, also auch keine
Losung des Verbliiffenden, keinen Versuch,
mit der Saure des Wirklichen eine Reaktion
zu vollziehen. So bleiben die Begriffe —
selbst dort f wo sie sich dem Barocken zeit-
lichen Witzes verbinden — nur fiihlbar dem
Oberempiriker von Meyrinkscher Einsam-
keit. Unbestreitbare GroBe liegt im Moglich-
wirken der Darstellung: in einem futurist! -
schen Spiel (des Konkreten und Abstrakten,
des Tiefschlafs und der hellen Sonne), das
an Bluff hinstreift und plotzlich Tiefe auf-
reiBt, uqverlegen um Effekt und Laune.
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
7<> Ober neue Pros a
So korperlich stellen sich die transzendenten
Begriffe auf, da8 kein Ernsthafter ihnen
entrinnt und jeder, zweifelnd an der Wahr-
heit seiner eigenen Existent, durch eine gei-
stige Wiedergeburt schreitet. Dunkelheit
ist zu uberwinden und als das zu nehmen,
was sie tatsachlich ist: am neuen Stoff das
ungeheuere Erlebnis eines weisen Mannes,
der nach Worten strebt, es mitzuteilen,
leicht aber am Unzulanglichen unseres Auf-
nahmevermogens scheiteri.
, if , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Viele noch entladen unter edler Miihe die
heftigen Erre gunge n ihrer Vision. Viele
sind Schopfer aus dem Geist. Und einige
auch von ihnen sind iiber die dunkle Grenze
des Traumes hinausgekommen. Kafka, des-
sen schone Starke es ist, ohne Zerpfliickung
den Gehalt eines Gef uhles oder eines Augen-
blickes zu sagen, hat mit vollkommener
Durchdringung der Begriffe das ganze SiiQe
und das ganze Bittere, das vor dem Tod ist,
in eine geistige Dammerung gefaBt. Fur
Gottfried Benn ist Metaphysik eine langst
erfiillte, nicht mehr behauptete, sondern be-
wiesene Welt, parallel unserer Wirklichkeit.
Er steht ntittendrin mit einer an Brutal it at
grenzenden Klarheit. Er identifiziert sich
mit ihr. Benn wird selbst zum metaphy-
sischen Element, das den Realitaten ihre
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
yS Cber neue Prosa
Farbe und Sprache entreiBL Diesseitiges
und Jenseitiges zvl unerhortem Expressionis-
mus serbricht. Die Stucke der alten Welt
fliegen unter seinen Handen auseinandcr,
um — hier wendet sich Benns negative Pro-
duktivitat — an den Bruchflachen die Pole
des Neuen zu weisen. In diesem Gestalter,
den Gott selber aus vulkanischem Ton
machte, steckt das Heimliche, Starke, den
Mikrokosmos Erfassende des Unbelrrbaren,
d. h. des Dichters, der die endlichen Zu-
sammenhange schon mit dem ersten Instinkt
ahnte. Auch Alfred Wolfenstein steckt voller
Anschauung, Wissen, Kiihle des inneren
Blickes und voller Klarheit uber die Wirrnis
der Gefiihle. Gleichwohl ist seine Seele das
konstruierende Element seiner (Gedichte und)
Novellen ; in seiner Erfindung verkrampft
er sich nicht in die Fallen des aufleren Man-
tels, Paul Adler tragt den Giirtel eines reli-
giosen Fluidums, Er vielleicht hat die Zeit
am tiefsten begriffen und sie mit der groBen
Einfalt seines Herzens in ungebrochenen
("" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober neue Prosa 79
Linien aufgezeichnet. Ahnlich Martin Buber
unter den Essayisten. Im Ringen um die
neue Form und um den neuen Gedanken
losten diese sich aus der trockencn Tradition,
durchleuchtcten mit den Strahlungen ihrer
Farbe die Sachlichkeit und erfiillten mit Blut
und Bliiten, mit Farbe und Dichtung ihre
hymnischen Autrufe. Ihre Einstellung sah
das Vergangene neu und gab der neuen
Kunst erkennbar die Begriindung vor alien
Augcn.
Diaser Versuch schnitt aus. Er loste den
Augenblick aus semen Wurzeln. Er schrieb
ein Streben auf, das vom Brand heiliger
Willensfeuer durchglliht ist und teilhat an
notwendiger Erneuerung. Es kann andere
kritische Einstellungen hicrzu gcben, die
zu vernichtenden Resultaten kommen. Aber
nur, wenn das Mitempfinden ausgeschaltet
wird. Wenn der Kritiker sich auf eincn Ob-
jektivismus zuruckzieht, der gemaB den Ge-
setzen historischer Kritik richtet. Man ver-
.,,L Original from
1 d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
So Ober neue Prosa
gesse nicht, dafl diese Bewegung ihren Aus-
gang aus einem BHckpunkt nahm, aus einer
Anschauung, die wieder ihre Berechtigung
aus den S tran gen des Gefiihls zog t und das
ist subjektivisch.
, I , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Tribtine
der
Kunst und Zeit
Eine Schriftensammlung
Herausgegeben
von
Kasimir Edschmid
Berlin
Erich ReiB Verlag
Original from
I | ,; »gie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
DaG schon vor Jahren Ansatze bestanden
zu einer Bewcgung, die auf ncues Welt-
gefiihl aus ist in den Ktinstcn, das ist be-
kannt. Dafl die Bewegung durehdrang, weiB
jeder. Es w&re Albernhcit, hier noch Fanfaren
zu blasen. Dringlieher erscheint es heute, wo
jeder Greis „Stellung ninnit* 1 , jeder Jiing-
ling Unertragliches schwarmt, den ganzen
Komplex zu iiberschauen; woher das Neue
kam, wohin es will — keine Schlagworte zu
prSgen, sondern besonnen das Eigentliche zu
sagen — nicht riickwarts zu referieren, nicht
zu wiederholen und auf keinen Fall zur
Theorie zu kommen ♦ . * sondern auszusagen,
zu bekennen, darzustcllen, zu wiinschen und
zu postulieren und so bei aller Weit-
heit des Rahmens dennoch zur Rundheit zu
kommen. Nic stand cler Kunsiler so mitten
in der Welt wie heute. Nie lief in so un-
geheurer Tragodie die Veranwortung so bin-
dend zwischen ihm und der Zeit. Vom
Kiinstler aus geschen, mit der Kunst als
Zentralproblem, wird jede Darstellung lieu-
tiger Ziele eine Darstellung der Zeit; Poli-
, I , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
tisches t Rcligioses, Forderunghaftes mischcn
sich, kaum zu trennen, ja unlosbar mit den
Fragen der Kunst Kiinstler mit ihrer Kon-
fessiou, Gelehrte, die Sachltchos dichterlsch
zu sagen wissen, Essayisten, die nicht spie*
Ie/isch H zerfasern"» sondcru produktiv im
eigentlichenSinn derKritik aufbauen, schrei-
ben hier an einer kleinen Gcschichte unserer
Kunst und unserer Zeit.
Bisher sind erschienen;
Kasimir Edschmid: Ober den Expression
nismus in der Literatur und die neue
Dichtung
Wilhelm Hausenstein; Ober Expressio-
nismus in der Malerei
Theodor Daubler: Im Kampf um die mo-
derne Kunst
Walter Muller-Wulckow: Neue Archi-
tektur
Paul Bekker: Neue Musik
Max Krell: Ober neue Prosa
I w an Go 11: Die drei guten Geister Frankreichs
.,,L Original from
i d, v lOogie
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In rascher Folge wcrden u. a. erscheinen:
Kurt Pinthus: Das neue Theater
Kurt Hiller: Aufruf an junge europaisehe
Genies
Friedrich Markus Hubner: Philosophi-
sche u. moralische Grundlagen neuer Kunst
Alfred Wolfensiein: Neue Lyrik
Willi Wolfradt: Heutige Plastik
Gustav Hartlaub: Neue Graphik
Fritz von Unruh: Das neue Drama
Rudolf Leonhard: Gespracheiiber heutige
Jugend und Kunst
Subskriptionen und Bestellungen
iiimmt jede Buchhandlung Oder der
Verlag entgegen
r^/-\ir\afi > Original from
1 °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
,,,!,» Original from
1 .oogic
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Tribune
der Kunst und Zeit
Eine Schriftensammlung
Herausgegebcn von
KasimirEdschmid
VIII
Rene" Schickele
Der neunte November
Mit cinctn Nachwort und cinem Anhang
Berlin
Erich ReiB Verlag
1919
, I , Original from
'°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November
von
Ren6 Schickele
Mit eincm Nachwort und eincm Anhnng
Zweite bis fUnftc Auflage
Berlin
Erich Rei B Verlag
1919
.,,L Original from
1 d, v lOogie
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Spamcrschc Buchdruckeui in Lcip
, if , Original from
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Motto:
Vtrhohnuttg dutch die Hausticre
Ihr Geistigen, furchtet ihr cuch nicht vor dem Werk t das itir
beginnen woilt, uric vor dem Tod?
Stcht ihr nicht oft von der Arbeit auf wie aus dem Grab?
Schwankt ihr nicht den Weg vom Schrcibtisch turn lictt und
seid verbraucht, verwi\stet % zcrschhtgcn % ats hdttet ihr socben in
det- vier Stundcn euer ganzes Leben gefebt?
Stetll Ditch nicht der zufdlligc Wick eittes Unbekanuten auf
dtr Straflfi vor die Ltzten Fragcn % so dafl ihr nicht wetter
ktinnt and cuch an die. Wand tehnt t hatb ohmntlchtig vor Er-
schiitterung?
Oeht ihr nicht hcrttw, *)hnc Sehaitcn und wie vetioten, und
tiegt schtaflasi weit e% each nicht grliitgt, titter Fordcrung an
die Menschcn den Giftstavhet xu nehmen?
I-'ilhtt ihr nicht i vor Vngerechtigkeit und Gcvtatt r ntit kattem
Schwcift auf der Stint, das IiachcbcdUrfnis Jwranxichcn wie
eincn epilepiischen An fall?
IMraehtet ihr nicht , mil muhsamem Ldchehi, cure If dude,
bis die- Lust £H wiirgrn aus inner* cnUvichcn i$t?
Lcbt ihr nicht so in nig wit dem Tier, daft vieifUitig sein
Tfich itt cuch widerhaVt?
Datum vcrsteht ihr den Staatsstrcich des FseLs, der sich turn
Ixonig der Tierc ausricf: es war ihm geitntgrn, sein ^J-A 11 so
hack zu zilthten t dap die V other damns ein Ifauch von Gottvs
Wort anwehie, Und die Schlauheit der Wolf&hunde^ die ein
Attge iudriichen und ihm divnen, weit sic mit ihm Gott auf ihrc
Seitc gebratht habrn.
Datum versteht ihr dax toil gewordene Lamm, das in seiner
panischen Angst den Tiger srth&t erschrecht.
Die Ilaustiere hrdnken each nicht \ wnn sic t urn attch einmal
ihr en Spafi xu haben t cuch cinladen $ ihnen aits der Hand £U
fressen t weit ihr so front m seid.
/?, S, t „Die Gcnfcr Reise".
, , , I, , Original from
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, I , Original from
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Die Frucht fallt
Wir machen, auf dem Heimweg, halt*
Es ist am Freitag, den 8, November,
irn alten Westen, spat abends, Im Haus
Viktoriastrafie i richten Jager ihre Ma-
schinengewehre ein. Der Oberkommandant
in den Marken hat die J ungens nach
Berlin beordert, urn die Revolution nieder-
zuknallen. Sie stellen die Feuerbiichsen im
Vorgarten auf und schaffen die Munition
iiber den Platz, in dessen Mitte der ver-
steinerte Roland in Ewigkeit strammsteht* Die
grauen Munitionskasten haben graue Autos
gebracht, deren Chauffeure Zigaretten rau-
chen und gelassen die Vorgange betrachten.
Die Jager unter den Stahlhelmen, die die
Knabenhaftigkeit dieser Soldaten noch ver*
deutlichen, bummeln hin und her zwischen
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
io Der nsunte November
dem Auto und dem Eckhaus, aus dem sie
morgen schieBen sollen, ein Feldwebel blickt
angestrengt in den HimmeLund hofft, daB
ein Sternbild seine Zweifel lose, vier Schutz-
leute drehn sich langsam und mit groBen
Liicken im Gesprach um die Frage, welches
Morgen sich unter den Sturmhauben der
kleinen Jager verberge. Nicht gibt ihnen
GewiBheit, daB die Munitionskasten, einer
nach dem andern, an ihnen vorbeiwandern.
Die Helme sind so, daB man den Jungens
nicht ins Gesicht sieht. Keine Maske konnte
ein Gesicht besser verbergen.
Ein Trupp Madchen blunt, wunderbar, in
der BellevuestraEe au£ und fallt schnur-
stracks in den Vorgarten des Eckhauses
Glekh sind die kleinen Jager geschmiickt
und schon halb berauscht. Man lacht und
bewegt sich wie zu eirxem Menuett den
Biirgersteig hinauf, den Biirgersteig hin-
unter, nach rechts und nach links. Die vier
Schutzleute nehmen die Haltung des Roland
an, sic stehn regungslos in einer Reihe uber
f~* i-\f\t\li • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November IX
dem Schiebetanz der Soldaten und M&dchen.
Sie ragen. Versteinert. Ein Denkmal der
Urzcit. Ihrcn Sockel umglanzt, weithin, der
Asphalt. Und das Auto unten kann warten.
Die Chauffeure unten ziehn eine Zeitung
heraus und lesen. Eine religiose Stille um-
giht die Kinder beiderlei Geschlechts, die
einander in einem leisen Reigen ernsthafte
und folgenschwere Artigkeiten sagen. Sie
schweben zwischen Unten und Oben. Sohwe-
bend lassen sie sich gehn — sie wollen gar
nicht wissen, wohin.
Nach einer Viertelstunde stecken die Kraft-
fahrer die Zeitung ein und inachen sich ohne
weiteres davon. Der Bann ist gebrochen,
weithin kommen die Dinge in FluB. Die
Schutzleute wechseln den Gegcnstand ihrer
Aufrnerksamkeit. Sie machen M Links kehrtl u
und glotzen dem Auto nach. Es ist schon
lange veischwunden, da ragen sie noch
irnrner, in einer Reihe, den Blick in die
Feme gebohrt, in die das Auto gestiirzt ist.
Dann raten sie einander, mit einem Blick,
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
12 Der ntuntc November
„Ruhrt euchl", murmeln etwas und setzen
sich unauffallig in Bewegung. Weg sind sie,
nicmand will wissen, wohin. Die Madchen
schieben unter jeden Stahlhelm einen Kufl.
Halt er, der Kufl? Sie befestigen ihn — fur
jeden Fall — und machen sich auf den Weg
die Siegesallee hinunter zum Reichstag.
Dort liegt das nachste Kommando Jager.
Die bis an die Zahne bewaffneten Jun-
gens drucken sich durch die Gartenpforte
des Hauses Viktoriastra3e x« Sie wollen
schlaien gehn. Sie werden gut schlafen.
Noch nie, seitdem sie vom Krieg gehort
haben, noch nie waren sie so friedlichen, so
zufriedenen, so heiteren Gemiits.
Darf man rnit euch reden ? Wir mochten
wissen, ob ihr morgen schieBt.
„Wir sebieflen?! Morgen zwischen zwei
und drei kommen die J ugendlichen und
holen unsere Waffen, Am Abend fahren
wir nach Hause,"
Das ist ein Wort. Damit laBt sich munter
nach Hause gehn.
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 13
Morgan legt der deutsche Michel scinen
Helm ab und geht nach Hause. Morgen.
Am neunten November. Von dem es in
den Schulbiichern heiBen wird: M Neunter
November, Ausbruch der Revolution."
Und was geschieht am neunten November,
wie vollzieht sic sich, die Revolution? Die
Maschine bleibt von selbst stehn. Der Atem
ist ihr ausgegangen. Fertig. Mag nun die
Welt am deutschen Wesen genesen oder
nicht. Der deutsche Michel ist es miide,
mat iiberspannter Muskelkraft nachzuhelfen,
Dae Soldaten bis zum Feldwebel aufwarts
erhalten die Revolution umsonst. Aber die
0rfi2iere bezahlcn mit einer boson Viertel-
stunde. Man reiBt ihnen die Achselstiicke
ab, mitten auf der StraBc, und die Kokarde,
und reiBt ihnen den Sabel vom Leib. Die
sich dleser nicht nur dekorativen Symbole
freiwillig entledigt haben, riihrt keiner an*
Die andern lassen, bleich und zahneknir-
schend, mit sich geschehn. Das Publikum
applaudiert. Der Kasernenhof hat sich in
r**. . , [,-, Oriqinal from
' ' H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
14 Der neuntc November
die StraOen ergossen und laBt sich seine
Rache schmecken, Ich mache mich aus
dem Staub.
Gegen drei Uhr riickt die rote Profession
in der ViktoriastraBe an, ein Trupp Madchen
und Burschen dringt in dert Vorgarten des
Eckhauses ein im selben Augenblick, wo die
kleinen Jager brav ihren Maschinengewehren
zu£treben, Ihr werdet doch nicht — ? In
einer Minute ist die Angelegenheit erledigt.
Gewehre und Mitrailleusen auf der Schulter
schlieflen die Jugendlichen sich dem Zug an,
der nicht gestockt hat, und ihre behelmten
Kameradcn — knapp achtrehnjahrig, Spiel-
genossen — ! kehren ins Haus zuriick und
holen ihre „Sachen" . . . So einfach ist das
Leben! Eine Viertelstunde spater traben sie,
mit einem Strahlen, das ihnen wie ein Bart
unter dem Sturmhelm heraushangt, zum
Bahnhof.
Auf dem Potsdamer Platz fahren die rot-
geflaggten Autos auf, einer halt eine Rede,
die keiner versteht, alle rufen dreimal
.,,L Original from
1 lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der netmte November 15
„HochI", der Wagen knattert weiter, und
das nachste rotgeflaggte Auto stemmt den
nachsten Redner. Blitzblank, schon, ge-
winnend und sehr wurdig sind die Matrosen,
die auf dem Trittbrett mitfahren. Sie sind
noch vom ersten Aufgebot . . . Die Masse
kommt angeschwemmt, flutet iiber, sie staut
sich, wo eine Insel, ein Wehr entsteht, darauf
ein Redner auftaucht, nimmt, ohne dafi sie
im Larrn ein Wort zu verstehn brauchte,
die Verkiindigung seiner Herrschaft ent-
gegen. Und mi£St t weiterwandernd, die Stunde
seines Geburtstages und blickt selig drein.
Mitten in Berlin, so in der Mitte wie noch
nie, liegt der Reichstag. Er gehort den Sol-
daten. Sie purzcln herein und wollcn wissen,
was los ist. Was mit ihnen zu geschehen
habe. Wie und wo sie Ordnung in das fest-
liche Durcheinander bringen pollen. Einen
Ausweis verlangen sie, Brot und Munition.
Zu den Fiifien Wilhelms des GroCen in der
Mitte der Halle liegen die Maschinengewehre
aufgehauft wie altes Eisen. Matrosen in den
.,,L Original from
1 d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
I ft Der neunte November
Klubscssem ptitzcn xhre Gewehre. Andre,
die meinen, dafi es nun geschafft und eine
Ztgarre erlaubt sei, haben ihre Glieder im
weichen Leder gelost und ruhn Im siebenten
HimmeL Andre schlafen. Wir lassen uns
im Sitzungssaal des Bundesrats niedcr und
fullen Waffenscheine aus. Matrosen sam-
meln sie ein und tragen sie zum Vollzugsrat,
wo sie unterschrieben werdcn. Dann ver-
fassen wir Plakate und Flugblattcr. Dann
durchsuchen wir das Haus nach den Fiihrern
und Delegierten, die gebraucht werden. Wir
finden sie, aber es ist unmoglich, sie fiinf
Mtnuten beisammenzuhalten. So nimmt die
Suche kein Ende, SchlieSlich kcnsolidieren
wir uns als A.uskunftsstellc. „Zimmer 15,
Zimmer 3 a, den Gang entlang, die Treppe
hinunter, die Tur rechts." Fur die einen
braucht der Hauptling nicht immer da zu
sein, die crnsthaftcren Pfadsucher fiihrt man
zu iiim. Welche Enttauschung, wenn auch
er nicht Bescheid weiB oder nicht sofort, auf
derStelle, helfen kinnl Welche Genugtuung,
, I , Original from
'°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 17
ihm die Hand gcdruckt 2U habcnl Wir tun,
was wir konnen, aber was wir konnen, ist
so gut wie nicbts. Was Umwulzendes ge-
schieht, geschicht von selbst. Wir sind die
flciQigen Statisten. Es gibt koine Pausen.
Manchmal findet eineft cin Stiick Brat in
seiner Tasche, das man tcilt und verschlingt,
Es gcht zu p wic cs immcr zugeht. Bercits
crregen, bereits weiden die Prcrnierentiger
sich in Geriichten von gegenrevolutionaren
Anschlagen. 191 4 warfen die Franzosen Bom-
ben auf Niirnberg, jetzt haben sich, ebenso
amtlich verbtirgt, Offiziere im Dom ver-
barrikadiert und schicfien. 1914 waren es
die Goldautos, jetzt ist es die Potsdamer
Garnison, die auf Berlin marschiert.
Alarm!
Nach Mitternacht rasseln Kraftwagen auf
den Potsdamer Platz. Jeder, der die Hand
ausstreckt, erhait ein Gewehr, eine Pistole,
einen Sabel. Das Volk wird bewaffnet
Matrosen sperren den Potsdamerplatz und
die Seitenstraflen ab. Das Volk soil kampfen.
r**. . , [,-, Oriqinal from
1 H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
18 Der neunte November
Urn drei Uhr, heifit es, werden die Potsdamer
zur Stelle scin. Gan? Berlin ist entschlossen,
sich zu wehren bis auf den letzten Mann.
Aber tla niemand sie weckt, bleiben die Pots-
damer in ihrem besten Schlaf. Nach einer
Stunde wachen nur noch Patrouillen und
Huren.
Im August 19x4 ubernahm die Zensur das
Kommando tiber die deutsche Presse, Die
Spartakusleute sind bescheidener; sie be-
setzen den „Lokalanzeiger" und drucken die
erste Nunimer dcr „Roten Fahnc".
Ein Frcund bekommt vor lauter Gliick
einen Weinkrampf, als em Haufen Schutz-
leute en t waff net, wie gepriigclte Wolfe mit
ausgebrochcnen Zahnen, vorbeizieht. M DaB
man das edcbt!"
DaB man das erlebt. Urns Himmels willen,
sorgt dafiir, daO es so bleibtl Stellt die
Republik auf die Beine. Schafft, ohne eine
Minute zu zogern, den Apparat, der einen
Staat schafft und ihn erha.lt. Da liegt, von
Triimmern bedeckt, der weite Platz. Saubert
r^/-\ir\afi > Original from
' °°8 K UNIVERSITYOFMICHIGAN
Der neunte November 19
ihn und errichtet darauf die neue Stadt*
Und beginnt sofort, um euch selbst zu be-
statigen, wenn auch nur da rum, und damit
man euch glaube, mit der Verstaatlichung
der Betriebe. Beginnt, zum Beispiel, mit der
Nationalisierung der Riistungsindustrie. Kein
Burger wird mit der Wimper zucken, nicht
einmal der Aktionar, den schon lange das
Gewissen driickt.
Die Revolution des neuntcn November
war der Zusammenbruch der Autokratie,
Die Autokratie erklarte sich selbst fur ab-
getan, Sie trat, kampflos, ab. Am selben
Tage begann die sozialistische Regierung die
Dekrete zu erlassen, die der Demokratie die
Tiire offnete. Der Demokratie. Der neunte
November war, in ihren Handlungen, eine
biirgerliche Revolution.
Hierauf, Sozialisten, ware es an der Zeit,
Ernst zu machen. Zogern wir, so versuchen
es die Spartakusleute mit dem Dreinschlagen.
Alls wissen, dabei ist viel zu verlieren, keiner
weifl p was zu gewinnen.
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
20 Der ncuntc November
Inzwischen feiern wir. An diesem cincn
Tag wurde an Freiheit mehr gewonncn, als
in (iinfzig, in kundert Jahren erhandelt
worden ware. Wir feiern. Fetere audi dul
Feiert allel Mit alien Abzeichen der Freude
gleitet in die Masse. Blickt nicht nach rechts,
nicht nach links, laBt nicht eure Sorge sich
im Sprung iiber den Jubel hinwegsctzen, be-
wahrt den Gcdanken an das russische BeU
spiel fur niorgen, zieht den warnenden
Finger ein, der sich erheben will. Wir sind
keine Russen, keine Brussilbw-Offensive ist
auf uns zuriickgeprallt, hinter Ebert und
Haase rurnoren nicht die Heinzelmanner, die
Kerenski und Martoff die Fersen geheizt
haben . . . Bitte, danke, jauchze, liberlasse
dich fraglos dem Wunder, denn nie, nie
wieder haltst du und tragst durch entziickte
Straflen das Geschenk eines solchcn Tages.
Geniigt es dir nicht, so sprich es aus, — nur :
sage es droben, auf der Festtribline t hoher
treibe mit deiner Rede die Freude, steigere
sie dem Ideal entgegen, fordere mehr an
,,,!,, Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
D«r ncunte November 2 I
Gliick, aber machc es nicht schlecht, das
Cluck, weil es eben erst begonnen hat.
Jetztl
Jetzt, jctzt. Endlich. Jetztl
Die neue Welt hat begonnen. Das ist sie,
die befroite Menschheit! Das Bild von Sai's
hat sich cnthullt, Ein Gesicht erschcint im
Atmospharenwust der Angst und Luge: das
Gesicht des Mcnschen. Das Gesicht einer
Kreatur, iiberirdisch glanzend. Davonflie-
gend im licht. Und dennoch, erdhaft ge-
bunden, cincr Krcatur. Jctzt macht er Ernst,
der Mensch. Endlich. Ernst mit sich, der
leben will fiir soin Gliick, Es gibt nur das
eine und untcilbare Gliick des Menschcn,
an dem alle tcilhaben, die des Morgens cine
menschliche Stirn heben vor dem aufziehen-
den Tag und den Mund bewegen zu Xautcn,
die fur seinesglcichen das Erkennungswort
sind im kosrnischen Tumult.
Jetztl Beginnen wir t befreit vom Gepack
r^/-\ir\afi > Original from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
22 Der netmte November
des Mittelalters, den Marsch in die NeuzeitI
Los! Von selbst, wie ein FluB, enteilt der
Zug der Kameraden und biegt um die Ecken
und entdeckt immer von neuem den Horizon^
Ich rufe die Namen von Freunden, die,
durch den Krieg versprengt, Rehofft haben
in alien Demiitigungen und Niederlagen. Was
sage ich? Gehofft? Geglaubt haben sie, das
ist tausendmal mehr. Wie undeutliehe Funk-
spriiche haben unsere Zuruf e einander erreicht
in diesen unsaglichen Jahren ; Irrwische, spre-
chende, des Glaubens, hinflitzend iiber den
Blutsumpf, Kaum wuBte man, von wem das
Zeichen kam, nur: daB es das Gedenkeji
eines Freundes war, der litt und, vor der
talschen Glorie der Zeit verkrochcn, sich
bereit hielt, indem er Gutes tat.
Wie tateit wir Gutes? Mein Gott, es war
nicht viel, es war elendes Machwerk der
Giite. Kaum, daB wir durchdrangen damit.
Als ob wir auf einer Halbinsel verbarrikadiert
gewesen waren, zwischen speienden Vul-
kanen, in Waldern, die an einem verpesten-
r^/-\ir\afi > Original from
1 °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 23
den Ausschlag gelitten, in der Gesellschaft
menschenahnlicher Phantome, die, der Ver-
nichtung kaum entronnen, sich noch zu
dcutlich erinnert hatten.
So blieben wir auch in der Entfernung
unter ihnen, die totcten und sich toten
lie Ben, dicnten ihrem Leben, dcm geistigen
und dem kdrperlichen. Ihnen, den Wahn-
sinnigen, zum Trotz, und um uns vor An-
steckung zu schiitzen, um den Menschen
nicht zu vergessen, iibten wir, Kinder der
neuen Zeit, und ein wenig wie Kinder im
Dunkel die Angst versingen, iibten das
Alphabet der Menschlichkeit ... So war
unsere Gute, nicht mehr. Sie war, genau be-
sehn, die primitivste Form der Selbst-
erhaltung,
Freunde, es war eine elende Zeitt Zum
zweitenmal iiberiebte ich sie nicht.
Freunde, es war, im Vergleich zu dcm,
was unsere Kameraden in der Feuerlinie an
Blut und Kot zu wiirgen hatten, ein Rentner-
leben. Eine Villeggiatura. Ferien. Mit cr-
.,,L Original from
1 d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
24 Der neunte November
hebenden Genugtuungen, herzhaften. Dabci
licfl sich leben, wenn auch nicht arbeiten.
Traumen lieQ sich, wenn auch nicht leben.
Immerhtn, es KeO sich allerhand arbeiten,
was iiber die krasse Wirklichkeit des Gc-
schebens vvie mit Opiatcn, aber auch mit
grofien, mit denkwiirdigen Signalen: „Das
Ideal lebt noch!" hinweghalf.
In der engen Stube eines Hauschens auf
dem Schweizcr Ufer des Bodcnsees, das ich
bewohiiCj sitzt Leonhard Frank und liest mit
aufgesperrten blauen Augen, unter dencn
das harfre GeifJlergesicht sich wciB verkrumclt,
cine Novcile. Es ist der ^Kcilncr* 1 (spater
fl der Vatcr" uoigcnannt) , die erstc jener
kaltheiBen Anklagen, die er spater unter
dem Titel; ,,Der Mensch ist gut'* hcraus-
geben wird, Schnell in die Druckerci da-
mit, fur die „WeiCen Blatter", und hinaus
mit den Heften nach Deutschland, Frank-
reich, Italien, England und Ostcrreich, dafi
sich das Echo runde! Carl Sternheim schickt
„TabuIa rasa", nach ,,1913", diesem glan-
r^/-\ir\afi > Original from
1 °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 25
zendsten deutschen Beitrag zur Vorgcschichte
dcs Kricgs, die fruhsreitige Warnung vor der
Anpassung dcs Proletaries an den Bourgeois.
Von Heinrlch Mann kommt n Madame Le~
gros", von Werfel ,,Der Traum einer neuen
Holle", der wunderbare „H6lderIin" von
Gustav Landauer, wilde Aufschreic von
Bccher, Zornrede von Ehrenstcin, beschwo-
rende Gedichte von Daubler, Leonhard,
Hasenclever, Wolfenstein und vielen, vielen
andern jungen Dichtcrn: Kameraden, alle,
die sich als solche fiihlen, sich als solche
bev/ahren, allcl In triiben Zurcher Tagen
flammt Rubincrs „Himmlisches Licht" auf,
Ich crhalte ein noch ganz frisches Exemplar
des „Fcuers*' von Barbussc. Zwanzig Seiten,
aus dem Buch gerissen, gehn an Hugo Ball:
schnell ubcrsetzen! Und in die Druckerci*
Die Korrekturcn schon fliegen, in einigen
Dutzend Abziigcn, nach Deutschland. Zur
gleichen Zeit bringt die Post ein Manu-
skript aus Davos, von eineni kranken, un-
garischen Offizicr: „Heldcntod" von Andreas
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
26 Der neunte November
Latzko. Der Kreis wachst und verzweigt
sich jenseits der Grenzen . . . George Du-
hamel beschreibt das „Leben der Martyrer",
Raymond Lefebvre und Vaillant-Couturier
zeigen ingiimmig, wie der „Krieg der Sol-
daten" aussiehi, das, was der Burger kollernd
,,Krieg' f nennt, was die Soldaten drauBen
tun, den Krieg, wie er gefiihrt wird , . ,
Wie gern ga.be ich zu, daB wir feig und trage
und selbstsiichtig gewesen seien, wir, die,
den Haschern entronnen, glaubten nicht mit-
kiimpfcn zu durfen, auf welcher Seite, fur
wetchen Vorwand immer. Aber das ware
eine Luge. Feig waren wir nicht. Nein.
Auch nicht trage. Und selbstsiichtig nur in-
sofem, als wir oft krank und auf uns an-
gewiesen waren. V'elmehr lie Ben wir es uns
viel kosten, geduldig zu bleiben und, nichts
als ein Maulwurfhaufen in der bengalischen
Bcieuchtung des falschen Heldentums, die
Dunkelheit und die Stille um uns zu prtifen,
ob wir wahrhaftig seien . . . Wir hatten
nichts fur uns, nichts, als die Zweideutigkeit
, , , I, , Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 27
und das Dunkel unserer Lage. Als diese
Stille.
Freunde haben mir gesagt, dafl sie in
so'cher Stille durch das Sperrfeucr gewandelt
seien . . .
Plotzlich aber geschah es. Endlich, Was?
Das Ungcheuere. Das FHigelbreiten, groB
wie im Traum, und die Erhohung.
Jetzt fangen wir an. Wir sind beisammen,
du und ich und alle Kinder der Erde. Durch
unsern einmiitigen EntschluB allein schaffen
wir das Elend aus der Welt. Die Trauer.
Den bosen Zorn. Und, mit dem frechen
Glanz des Herrn, den bittern Auf stand des
Sklaven, der der Herr sein mochte, um
nicht langer der Sklave zu sein. Der Unter-
weisungen und Gesange waren genug: in
den Ti'ummern des Zusammenbruchs liegt
das neue Werk und wartet, handgreiflieh,
dafl es getan werde.
Der Tag der unromantischen Verwirk-
lichung ist da. Jetzt ist die neue Zeit da,
die sozialistische. Es wird erklart: Die Erde
.,,L Original from
1 d, v lOogie
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28 Be** neuntc November
gchort den Menschen. Alle Menschen sind
gleich vor ihrcr Erdc, Allen gch&rt sic zu-
gleich. Jcder hat, urn sie 211m hSchstcn
Bliihen zu bringcn, das gleiche zu leistcn,
alien gehoren die Friichte zugleich. Und cs
w ; rd mit den MaBnahmen begonnen, die
diese Gleichheit der Erntevertcihing ebenso
sichcrstcllon, v/ie die Gleichheit in der Arbeit,
Wic wird damit begonncn? Auf cine Art,
die klcinbiirgcrlich und pedantisch aussicht,
die in Paragraphcn einhermarschiert, was
iramer cin pcinlichcr Anblick ist> mit polizet*
haft aussehenden Avantgardcn vorn und
viol Troll hintcrher, auf die Art, wie Menschen*
horden sich nun cinmal fortbewegen, wenn
sic auf dem Marsch sind und der eine Trupp
vor dem andcrn durch Ordnung geschiitzt
sein will . . .
Am Marstall wird geschosscn* Jedcr
SchuB sagt, wie ein mystisches Kommando,
das von weither kommt, ohne an Eindring-
lichkeit das geringste eingebuBt zu habenr
la vier Wochen muB der Sozialismus be-
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der rteunte November 29
gonnen haben, wcrktatige Arbeit a Her fiir
alle zn sein — oder Europa verfallt der
Barbarei.
In vier Wochen muQ mit der Vergcsell-
schaftung der Produktion begonnen sein —
oaer Wirtschaft, ZiviHsalion und Kultur
gehn in Bandenkampfen unter.
Jetzt, endlich, ist die Menschenfrage klar-
gcstellt: willst du fiir dich leben oder gegen
dichr*
Klargeworden ist, daB jeder gegen sich,
gegen seine Art lebt, der nicht zugleich fiir
den Mitmenschen lebt, Der einc und un-
teilbareMcnsch ist — in wclcherNotl — seiner
bewuOt geworden,
Scht im Sozialismus nicht die Erfindung
eifernder Rabbincr, noch den Schwarm roter
MeBknaben, noch das Ressentiment einer
Klasse. Seht in ihm die einzig menschen-
wiirdige Ordnung der Gescllschaft.
Jetzt oder nie haltet euch an das kom-
munistische Manifest, das erklart: „AHe
bisherigen Bewegungen waren Bewegungen
.,,L Original from
1 d, v lOogie
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30 Der neunte November
■ ■ — -------- —
von Minoritaten, aber im Interesse von
Minoritaten. Die proletarische Bewegung ist
die selbstandige Bewegung der ungeheuern
Mehrzahl im Interesse der ungeheuern Mehr-
zahl." Jetzt muB die ungeheuere Mehrzahl
zu ihrem Recht kommen. Und dann erst
unsere Minderheit. Dann erst der ewige
Einzclne und seine Eigenart, Dann erst,
dann aber auch die Minderheit der Philo-
sophen, Kiinstler und aller Geistigen, dieun-
ausrottbar ist, wie der Traum und die Liebe,
und ohne die das Leben ein einziger triiber
Tag ware und eine Nacht ohne Sterne.
Am andern Tag
Mit drei Gerauschen stellt Berlin sich an
meinetn Bett ein. Ein Hahn kraht, die
Elektrische schnurrt, ein Maschinengewehr
knattert.
Gestern war der Aufschwung. Gestern
war die Verbriiderung. Tief unten im Sumpf
versank der Krieg, weithin versanken, mitten-
, I , Original from
1 °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 31
drill, die gepanzerten Kommandoposten :
winzige Geldschranke* Am Abend zogen die
Berliner in tapferer, vertrauensseliger Kind-
heit durch ihre Strafien und zeigten sich ein-
ander. Durch die selben Strafien, die sie bis-
her mit ihren niiirrischen oder frcchen Ge-
sichtern, Hirer Hast, ihrcm herausfordcrnden
und entwiirdigenden Witz ernicdrigt batten.
Gestern war Feicrtag. Wie er alle paar Jahr-
hunderte einm.il dieSchleusen dcr geknech-
teten und verdorbenen Herzen sprengt und
die Stadte und Lander mit GroOmut iiber-
schwemmt, Gestern batten wir, wenn so
etwas moglich ware, an diesem und einem
Tag die Gemeinschaft der Menschen auf-
gerichtet, mit Hausern, StraBen, Platzen und
dem tausentifach verschlungenen Netz von
Beziehungen, die bedachtig gekniipft und
sorgfaltig unterhalten sein wollen, damit
jeder in ihm seine Freiheit und Sicherheit
habe. O f gestern batten wir spiclend er-
richtet ♦ . . wie es nennen? Ich suche ein
Wort fur lt Citt". Gemeinschaft ist zu ab-
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
32 D**r aetitite November
strakt, Und M Cite" habcn wir im Dcutschcn
nur in dcr Form vcn M Gottesstadt l( , Sagen
wir; die Frcie Stadt, die Frcistadt. Das ist
die Stadt, die dcr Ausdruck, die Verkorperung.
das sichibarg Lcbcn unserer Gedankcn ist*
Die Stadt im grofien Garten des Landes, das
sie ernahrt und mit Waldern, Fliissen, Seen
und Feldern winkt, metodischen, spiegelnden,
die hohe, dichte Stadt im weiten, weiten,
aufgelostcn Land. Hier sausen die Fabriken,
und dort bereiten die Briider das mor^ige
Brot. In zehn Stunden hatten wir die Freie
Stadt aufgerichtet* Gestern. Wenn man uns
nur hatte machen lassen, Wenn wir nur
j/leica zusammengekommen waren und das
Kotige sofori ausgeiiihrt hatten. An nichts
hat es gefehlt, als daran. An dem; sofort
das Notige zu tun, Wir fanden wieder etnmal
nicht die Zcit. Wir wuCten wieder einmal
nicht, wie cs ansteilen. Die Freude hatte
alle auseinandcrgeblasen. Sie waren auf
der Strafle. Sie hielten Reden, in Auto-
mobilen zwischen zwei Maschinengewehren.
Original from
IbyLsOOglC
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Der iteuntG November 33
Im Reichstag. Auf dem Dcnkmal Albfcchts
ties Baren. Sie riefca: ^Hoch!" Sic rieben
sich (tie Au^en, und, um es wahr zu haben,
riefen sie noch einmal „Hoeh" und hielteu
noch eine Rede. Denn> wahrhallig, cs war
tin Wunder,
Und jetzt?
Was tun?
Die Welt andcrn, wie Rubiner sagt, und
ich habc, seinerzeit, natiiiiich beigestimmt.
In einem Punkt nur waren wir uns f seiner-
zeit, nicht einig: Ich meinte, mit der Peitsche
sei sie gewift ebensowenig zu andern wie mit
dem SabeL Und er> Rubiner, hatte aus Ver-
zweiflung iiber die Tragheit, die Feigheit, die
Heimtiicke der Zeitgenossen eine Vorliebe
zur Peitsche gefaBt. Die Meinungsverschie-
denheit ist, iiber Nacht, akut geworden, Und
so verwandeln sich Literatensorgcn in geistige
Weltepidemien* Entpuppen sich als eine
alles beherrschende Zeitfrage, das Entweder-
Oder, werden zam Gedrange am Scheideweg.
Das Handgemenge im Cafe im Jahre 1906
...I,, Original from
byV. lOOgK
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34 £* cr neuntc November
und 191 6 — da haben wir es auf der Strafie,
auC alien StraGen Europas und, morgen, der
Welt. So gcwaltig, daQ es uns, ohne jeden
Grand, imponicrt, Wie der verspatcte Erfolg
eines Buchcs eincm imponiert, das man seit
longom kcnnti und das eincm von jehcr
imponiert hat. Was nun?
Was nun?
Unbedenklichc Initiative odcr Geduld? Hall
im Bienst der Liebe oder der Versuch, den
HaO durch Liebe zu entwaffnen, damit die
Menschcn erst einmal lieben lernen? Das
Gesicht Radeks taucht vor mir auf im Ca£6
du Theatre in Bern und auf der Tribune im
Volkshaus, es sagt, mit einer Entschlossen-
heit, die an Zynismue grenzt: „Nach uns
die Liebe und der Friede auf Erden! Unser
Horoskop kiindet Kampf." Wie die Sonnen-
blitze iiber einen See fliteen die langen fana-
tischen Blicke Lenins iiber sein Lacheln,
das die Milde selbst ist. Und Sinowidff, ein
stammiger Bursche mit Armen, die kurzer-
hand anpacken, was man vielleicht vor-
,,,!,, Original from
IbyLsOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dcr neuntc November 35
sichtiger bchandehi sollte, tobt wie em Hans-
Lcnecht, der sein Abitur gcmacht liritte,
Sie fahren nach RuBland. Deutschland
verliert den Kricg, Barth sanunclt Waf£cn,
Haasc la(Jt es gem gcschchcn, Liebknecht
wird befrcit, und am ncunten November, das
war gestcrn, erklart das alte Prcufien sich
bankrott, ohnc viel Schwierigkeiten zu
machen. Plotzlich 1st- das Volk da, ist
da und obenauf, und niemand widersetzt
sich seiner Herrschaft, und als ich vim Mitter-
nacht in den Reichstag gehe, urn Haase auf-
zusuehen, — wie sehe ich den Sitzungssaal
wieder, den ich seit den Verhandkmgen iiber
Zabern nicht mehr betreten habe? Ausge-
schlagenmit rotem Tuch, voller Menschen mit
roten Abzeichen, die sich gar nicht langweilen,
die sich, nach aufgehobener Sitzung, lang-
sam zerstreuen, ohne dafl sie d&bei im Ge-
fiihl ihrer Oborf liissigkeit verschwanden ;
man raucht, und Haase, Haase steht auf
der Tribune des Bundesrats und unterrichtet
einen sehlanken, gutgebauten Burschen, der
r
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3G Der neunte Kovemter
ihm, unten im Saal, mit zuruckgebeugtem
Kopf king zuhort, iiber die Diktatur des
Proletariats,
Da haben wir'sl Es heiBt j'etzt Diktatur
des Proletariats* Und gleich stellt sich httaus,
sie konnen nicht genug Diktatur haben*
Nicht geniigt, dafi das Proletariat Deutsche
land ohne Widerspruch beherrscht, nicht
einmal das Maschinengewehr an jedem Aus -
gang des Reichstags kann sie beruhigen. Die
Verhaftungen fehlen, die Besetzung der
Banken, eine standrechtliche Demonstration
hier und da. Revolution? Schon, aber es ge-
schieht nichts Revolutionares. Die SchieQerei
hat aufgehort und darnit, fiirchten sie, die
Revolution. Nun, Robespierre war die Sach-
lichkeit selbst, v/eder gut, noch grausam.
Und sehr bedachtig. Und Robespierre, meine
ich, verdient durchaus, daB man ihn einen
Revolutionar nenne. Nicht wahr? Aber
der Bursche, dem Haase — wie gutig, wie
geduldig! — sich widmet, leidet an der
Psychose des Attentats. Er will hingehn und
, I , Original from
-OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dt»r neunie November yj
expropriicren. Ahnt er, daB er sich nur
sclber expropriiertc ? Und, ini Handum-
drehn, verschwcndete, entwertete, was sein
Eigentum ist, das er auf cine Art und Weise
an sich bringen soil, daB bei der ,,Obcr-
schrcibung" moglichst weriig verloren gche?
Er ahnt es nicht, und wenn er es ahnte —
er pfiffe darauf. Er will gar nichts fur sich
haben. Er will dem andern nehmen* Und
er will es ihm so nehmen, daB der andere
begreift, was die Uhr geschlagen hat und
die Rache spurt. Jawohl. Er will ihn dc-
miitigen. Er will als Herr auftreten* Er will
der Polizeikommissar sein, der die Hand
auf die Schulter legt und spricht: „Im Namcn
des Gesetzes , * ." Denn die Revolution ist
ein Gesetz wie ein anderes . , , Wenn man
dem Mann sagte, daB die Revolution kein
Gesetz sei, sondern der Umsturz dcs bis-
herigen Gesetzes, so witrde er crwidern;
lf Sehr wohl, und mcine Initiative ist das
neue Gesetz, das aus dem Umsturz hervor-
gegangen ist . . .*' Also begniigt Haase sich,
r**. . , [,-, Oriqinal from
1 H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
33 Der neunle November
den Drangler des Sozialismus, dcm die Ellen-
bogen jucken, davon zu iiberzeugen, dafl die
Diktatur des Proletariats tatsachlich ja schon
bestehe . . ♦ Im Werk von Marx steht kein
Wort, das Haasc ins Unrccht sctzcn kountc,
Er halt die orthodoxestc Fredigt. Er spricht
fiut, und er spricht lange . . . Hat er den
Gcnosseu iibcrzeugt? Der dankt, aber cr
kaut an seincm Schnurrbart, und seine Augen
sind ebenso erregt v/ie zuvor , . . Jcder tragi
in solchen Tagen doppelt und drcifach scin
Schicksal. Wer wciB, was den so ungeduldig
gemacht hat? Und was man Gcsindel nennt
— immer soil Gcsindel im Spiel sein, wenn
Artne die Gcduld vcrlieren! — so sind das
Lcute, die erst die Bcherrschcr von Land
und Mcer zu Piraten und Banditen gemacht
haben. Sklavcn nehmen immer die Mentalitat
ihrer Hcrren an, und das gerade ist cs, was
sic unertraglich macht . . . Haasc wendet
sich strahlcnd um. Gutigster, geduldigster
Mensch* Im Dicnst des Ideals. Das macht.
dafl er sich nicht verlieren kann. Daher
, I , Original from
'°°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Oer neunle November jg
kommt es, daft sie ihn, links, cincn Oppor-
tunisten scheltcn (denn immcrhin dient er
auch in ihren Augen, wcnn auch schwachlich,
dem Ideal) und rcchts eincn Fanatiker (dcnn
cr Icrcist nur utn das Ideal, cr vcrlaflt os nicht).
Die Peitschc odcr die hclfcnde Hand, die
of fane Hand, die jedem gchort, der sich in
sie gcbcn will, Hand ohnc Krampf, wandelnd
in zielsichcrer Geduld?
Alle waren in diescn Jahren — wenn auch
noch so Heimlich » ein Chaos von Instinktcn,
Erkcnntmssen, Forderungen. Jetzt stehn
wir aut dcr Strafle, und die StraiJe wandcrt.
Wohin? Das wissen wir. Das Wesen und
die Schnelligkcit ihrer Bewcgung bereiten
uns Sorgc. Da kann ich nur bekennen, was
mein Glaube ist. Ein Glaube, der wisscn-
schaftlich,dasheiftt: M efkeniitnistheoretisch",
so gut untermancrt ist, wie cs meinen Vcr-
standeslcraftcn entspricht, Ich glaube,
daB der Sozialismus kommen mufi mit
einer groBen, tiefen Flut von Licht, die alle
Menschen durchdringt,
r**. . , [,-, Oriqinal from
' ' H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
40 Dcr neunte November
daB er wachsen muB, nach innen mid
auflen, in einer Atmosphare, die alle Men*
schen verwandelt,
daB er jene vollige Erneuerung sein wird,
von der die Arzte sagen, daB dor Korper sie
in bcstirnmtcn Perioden erfahre, die vfillige
Erneuerung der Menschheit in ihrem ganzen
Organismus,
ich glaube, daB er die Stationen aller
Schopf ung und j cdes Lebewesens zuriick-
legen wird, vom Keim znr Bliile, vom Kind
zum Mann.
Die Menschheit besteht aus dem Lebeu
und Sterben der einzelnen, sie wird leben,
solan ge Menschen lebeu. Sie ist unser ewiges
Leben in der Idee, und auch korperlich.
Deshalb crscheint mir die sozialistische Go-
sellschaft, die einfach die freie, zwanfjos,
kraft der Solidaritat organisierte Menschheit
ist als die retfe Mannlichkeit der Kreatur,
die, in Miihe und Gcnufl, ihren endgiiUigen
Ruhepunkt gefunden hat. Sie wird stark
genug sein, die wiidesten Ausschweifungen
f~* f -\f\ l \\ i . Original from
, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dor ncunte November
41
des immer unruhigen Geistes ohns Er-
schiitterung zu ertragen, und es wird weder
dcr Parnafi, noch das Kapitol fehlen, von
den Weisesten und ewig neu Liebenden gc-
hiitet, wo die anarchischen Kinder des
Geistes sich sammeln. Vielleicht wird der
Arbeiter nichts von ihnen wisscn, vielleicht
ihnen miOtrauen oder ihnen gar das Reclit
auf ihr Leben absprechen. Ware das neu
fill sic ? Eine Oberraschung ? Eine Ent-
tauschung? Es ware die milderc Form des
Miflverstandnisses und des — ach, so wir-
kungslosenl — Bannes, mit dencn die bur-
gerliche Gesellschaft sie von jeher belegt hat.
Jedoch, mich diinkt, daB die von der
inater'ellen Not befreite Menschhcit — Hcrz
und Hirn frei fur viele Stunden des Tages,
ein Zwang fast ? den Sinn auf das Spiel zu
tichtenl — in jeder Hinsicht Wunder wirken
rnuB * . * Die Geistigen, die Angst vor der
dauernden Diktatur des Fabrikwebcls haben
— und wir haben alle gelegentlich Angst
davor — iibersehen, dafl der ein (invertiertes)
r*-.. . , 1,-, Oriqinal from
' ' K \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
42 D* r neimte November
Geschopf der biirgerlichen Gesellschaft ist
und mit ihr erst verkiimmern, dann ver-
schwinden wird.
Eine einzige Gefahr droht, und ich schatzc
sie nicht gering ein, Der Sozialismus konnte
sich verburgcrlichen. Tut cr das nicht, so
wird cr in einigcn Generationen cine geistige
Hohe erreicht haben, zu dcr das Biirgertum
nie emporgestiegen ware. Auch daran glaube
ich, und damit ist mein Glaubensbekeuntnis
beendet*
Die Elektrische surrt, ein Hahn kraht.
Das Maschincngewehr ist verstummt.
Exegese
Um den roten Tisch sitzen die Schrift-
gelehrten und fahren einander in die Haare.
Darunter Kautsky und Lenin, beide Marxisten.
Jedoch in der Auslegung dcr Schrift klaffen
sie wo it ausetnander. Da ist vor allem die
Diktatur des Proletariats, Der Ausdruck
kommt vor in einem Brief , den Marx 1875
,,,|., Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dor neurit* November" 43
geschrieben hat, in folgendem Zusammen-
hang:
t> Zwischcn dcr kapitalistischen unci der kom-
mimi&tischen Gesellschaft liegt die Periode dcr
Umwandlung dcr oinen in die anctere. Der ent-
sprieht auch cine politische Ubergangspcriode, dercn
Staat nichts andcrs sein kann, als die revolutionise
Diktatur des Proletariats/ 1
Darauf hat Lenin sich bcrufen, als cr an
die Macht kam. Unci dies wiedcrum hat
Kari Kautsky veranlafit, eine Schrift ubcr
die Diktatur des Proletariats zu verfassen,
die, weil sie der Versuch einer briiderlichen
Aussprache 1st, die wutigen Beschimpfungen
durch die bolschewistische Presse durchaus
nicht verdient hat*).
Hdren wir also zu. Und ich bitte zu ent-
schuldigen, daB ich hier und auf den nachsten
Seiten des langeren zitiere: ich mochte den
*) Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats.
Wien, Veriag der Volksbuchhandlung Ignaz Brand
& Co.
r*rt(M\fi > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
44
Der neuute November
Menschen, urn die es sich handelt, moglichst
zu ihrem Recht verhelfen, statt von vorn-
herein iiwischcn sie und dieses ihr Rccht zu
treten, wodurch die moisten Polcmike? sich
ihre Aufgabe zu erieichtern suchen.
Kautsky also legt d*n Begriff dtr prole*
tarlschen Diktatur aus:
M Marx hat cs leider unterlassen, a? her anzu-
fuhrcn, wie er sich dicse Diktatur vorstellt, Buch-
stablich genommen bedeutet das Wort die Auf-
he bung der Demokratie, Aber frdlich buchst&blich
genommen bedeutet es audi die Allcinhcrrschaft
cines einzclnen, der an keincrlei Gcsetzc gebunden
ist. Ei ne Allcinherrschaft , die sich von cincm Despo-
tismus dadurch unterscheidet, daQ sie nicht als
st&ndige Staatseinrichtung, sondcrn als eine vor-
iibergehende NotstandsmaBregel gedacht ist.
Dor Ausdruck Diktatur des Proletariats, also
Diktatur nicht eincs cinzelnen, sondern einer
Klasse, schlieBt bereits aus, daQ Marx hierbei an
eine Diktatur im buchstablichen Stnne des Aus-
drucks gedacht hat
Er sprach hier nicht von ciner Rcgierungsform,
sondcrn einem Zustande, der notwendigcrweise
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dcr neuftte November 45
liberal! eintreten musse, wo das Proletariat die
politische Macht crobcrt hat- Dafl er hier kcine
Regie rungs form tin Auge hatte, wire! schon da-
Jurch bezeiigt, daQ er der Ansicht war, in England
und Arnerika konne sich der Ubergang frirdlich,
also auf demokratischem Wege vollzichen.
Wohl sichert die Dcmokratie noch nicht den
friedlichen Obergang. Sic her aber ist dieser ohne
Dcmokratie nicht moglich,"
Einverstanden, antwortet Lenin, schwarz
auf weiB in dcr Schrift: „Die nachsten Auf-
gaben der Sowjet-Maeht"*) :
„Die erste Aufgabe jeder Partei der Zukunft ist,
die Mehrheit des Volkes von der Richtigkeit ihres
Programms und ihrer Taktik zu iiberzeugen. Diese
Aufgabe stand unter dem Zarismus, wic auch in
der Periode der Verstandigung der Tschernoffs und
Zeretellis mit Kerenski und Kischkin auf dem ersten
*) N. Lenin, Die nachsten Aufgaben der Sowjet-
Macht. Belp-Bern, Promachos-Verlag. Der Ver-
lag ist anlafllich des Landesstreiks im November
191 8 von der Schweizer Regierung gesperrt, die
Best&nde sind beschlagnahmt wo r den.
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
46 X>tf iteunte November
" ■ ■ nr-gi ii ii 1 — - 1 —
Plane* Jetzt ist dicse Aufgabe, die gewifi bei weitem
noch nlcht vollendet ist, und die niemals bis zur
Neige erschcpft warden kann, in ih/en Haupt-
zugen gelost, denn die Mchrheit der Arbeuer und
der Bauern Rufllands stent wi&sentlich auf der
Seite der Bolschewiki, wle es der letzte KongreB
der Sowjets in Moskau unbestritten zeigte. Die
zweite Aufgabe unscror Partci war die Eroberung
der politischen Macht und die Unterdr uckurig des
Widcrstandes der Ausbeuter/ -
Den Gegensatz zwischen Kautsky und
Lenin kennzeichnen zwei Wdrter: Lenin
fordcrt n die Unterdriickung des Widerstandes
der Ausbeuter", Kautsky den „friedlichen
Obergang".
Eine ge waltsarne Unterdriickung des Wider-
standes ware nur moglich, wenn man alle,
die Widerstand leisten, aber auch alle, bis
auf den letzten Mann, umbrachte. Und
weil Lenin sehr wohl weiB, daB dieser Massen-
mord — ich mochte sagen: technisch — un-
ausfiihrbar ist, schlagt er den Ausweg ein,
dafi er die Diktatur des Proletariats nicht als
r"AA/ili > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dt-r ncwntc November 47
■ - - — ■ ■
Obergang, sondern als dauernden Zustand
erklart. Dies ist der zweite fundameutale
Gegensatz zwischen den Bolschewiki und
Kautsky (und Marx), Die Billigung des
sozialistischen Staates durch cine Mclirhcit
halten bcide fur notig. Nur will der eine sie
durch einen organise hen Prozcfl hefbei-
fiihren, der andrc durch den Terror er-
zwingen, Kautsky erinuert daran, daQ wir
gewisse Erfahrungen gemacht liaben init
der terroristischen Methode;
M An Encrgie laBt sich die Schrcckcnsherrschaft
von 1793 nicht iiborbieten. Trotzdcm gelang es
den Pariser Proletarian* nicht, sich dadurch an
der Macht zu halten. Die Diktatur wurde eine
Methode, durch die sich die verschicdencn Frak-
tionen der proletarischen und kleinbiirgerlichen
Potttik untercinander bekampften, und schlieBlich
wurde sie die Methode, jeder proletarischen und
kleinbtirger lichen Politik ein Ende zu machen.*'
Und wiederum sieht Lenin ein;
M Wcnn wir als MaOstab die westeurop&ischen
Revolutionen nehmen, so stehen wir jetzt ungefahr
f^" n*-\ f \i, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
48 Ber neunte November
" « ■ ■ ™ ■ ■■■ ■ ' ■ ■ ■■ ■ ■ II I 1 ' »■ ■ — * ' I »■■!■■■- ^^^^.^.^
auf dem Niveau des im Jahre 1793 und im Jahre
1871 Erreichten."
Bleiben wir noch funf Minuten bei den
Texteri. Kautsky fahrt in seinen Aus-
fiihrungfn iiber die proletarische Diktatur
fort:
M Doch um zu erfahren, was Marx iiber die
Diktatur des Proletariats dachte, dazu brauchen
wir gar kein Riitst-lraten. Wcnn Marx 1875 nicht
mehr ausfuhrte, was er uater der Diktatur des
Proletariats verstehe, so ^eschah es wohl deshalb,
well er sich wenige Jahre vorher in seiner Schrift
iiber den ,Burgerkrieg in Frankreich' 1871 dar-
iiber gcauBcrt hatte. Dort erklarte er :
3 Die Kommune war wcsentlich ein^ Regie rung
der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfes der
h^rvorbringenderi gegen die aneignende Klassc, die
endlich entdeckte poIHische Fotm, unter der die
okonomischc Bcfrehing itei" Arbeit sich vollziehen
konnte.
Also die Pariser Kommune war, wie das Engeln
in seiner Eintcitung zur dritten Auf tag 2 der Marx-
schen Schriften ausdriicklich feststellt ,die Dik-
tatur des Proletariats'.
,1 , Original from
, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 49
Sie war aber gleichzeitig nicht die Auihebung
der Demokratie, sondern beruhte auf ihrer weitest-
gehenden Anwendung auf der Grundlage des all*
pcmeinen Stirnnirechts. Die Rcgicrungsgewalt
sollte dem allgcmeinen Stimmrccht nnterworfen
werden. ,Die Komuuine bildelc sich titis den durch
allgemeines Stirnmrecht in den verscluedenen Be-
zirhen von Paris gewahltcn Stadtratcn. Das all-
gemcine Stimiiirccht sollte dem in Konmiuncn kon-
stiUncrten Volke dienen, wie das individuclle Stirnm-
recht jedem andcrn Arbeitgcber dazu dient, Ar-
bcitcr usw. auszusuchen usw. (Scite 46, 47). Immcr
wieder spricht hier Marx voni allgcmeinen Stirnm-
recht des gesamten Volkcs, nicht von Wahlrccht
einer besonderen privilegierten Klasse. Die Dik-
tatur des Proletariats war ihm ein 2 us t and, der
bci ubcrwiependem Proletariat aus der rcinen De-
mokratie notwendig hcrvorgeht. Auf Marx durfen
sich also dicjenigen nicht berufen, die fur die Dik-
tatur im Gcgensalz zur Demokratie eintretcn.
Natiirlich ist damit noch nicht bewiesen, daB sie
unrcchf: haben. Nur mtnsen sie .sich nach and r en
Bewcisgrundcn umsehen, Bei Untersuchung der
Frage rnuC man sich hiiten, die Diktatur als Zu-
stand mit der Diktatur als Regierungsform zu ver-
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
50 Der neurits November
■ ■ i n . ■■■■■■^^^^— ■ ■ »■■■ ■ ■■ i iii ■■ ■■ ■ii i II « I im I i i I |1 | | )i , ni i*!^
wechseln* Nur das Anstreben der letztcren ist eine
strittige Frage in unsern Reihen. Die Diktatur als
Regierungsform ist gleichbedeutend mit der Ent-
rechtung der Opposition, Ihr wird das Wahlrecht
genommen, die PreB- und Vertinsfreiheit. Die
Frage ist die, ob das siegreiche Proletariat dieser
MaOregeln bedarf, ob mit ihrer Hilfe am besten
oder gar nur durch sie der Sozialismus erreich-
bar ist. 1 *
Kautsky ist der Oberzeugung, daB das
siegreiche Proletariat dieser MaBregeln nicht
bedarf, daB mit ihrer Kilfe und gar nur
durch sie der Sozialismus nicht erreichber
ist*
Probe aufs Exempel: Wo steht die bol-
schewistische Politik heute? Im April 191 8
rief Lenin zum , f erbarmungslosen Kampf
gegen das Chaos und die Desorganisation"
auf. Es muC also wohl Chaos und Des-
organisation herrschen im bolschewistischen
RuBland, Einen Monat vorher hielt Trotoki
auf der Moskauer stadtischen Konferenz der
Russischen Kommunistischen Partei einen
r**. . , [,-, Oriqinal from
1 lK \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 51
Vortrag: „Arbeit> Disziplin und Ordnung
werden die sozialistische So wj et- Republik
rttten"*),
Der Vortrag ist ein verzweifelter Appell
an das Proletariat zur organisierten Arbeit.
Schoti damals trat der Bolschewismus auf
der g arizen Lime den n taktischen Riickzug"
an , den Lenin also erklarte:
,,Ohne die Anleitung von Fachleuten der ver-
schiedenen Zweige des Wisscns, der Technik, der
Erfahrungen ist der Obergang zum Sozialismus
unmoglich, weil der Sozialismus einc bewuOte
Masscn-Vorwartsbcwcgung zu der im Vcrgleiche
mit dem Kapitalismus hoheren Arbeitsproduktivitat
verlangt, und zwar auf der Basis des durch den
Kapitalismus Erreic'nten. Der Sozialismus muB auf
seine Art und Weise, durch seine Methoden —
sagen wir konkreter: durch Sowjet- Methoden —
diese Vorwartsbewegung verwirklichen, Und die
*) Leo Trotzki, Arbeit, Disziplin und Ordnung
werden die sozialistische Sowjet-Republik retten,
Belp-Bern, Promachos-Verlag,
4*
... I, , Original from
°°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
53 Der neunte November
"^ — - — -• — ' — ■ — ^- - -- ~
Fachteute sind in der Mehrzaht unvermeidlich
biirgerlich, infclge der ganzen Umgcbung des
Bftontlichen LHxms, das sic zu Fachlcuten gcrnacht
hat, Wenn unset Proletariat, nachdem cs sich der
Macht bemlfchtigt hatte, sclinell die Aufgabe der
Rcclimtngsfcgung, der Kontrollc und der Organi-
sation iin itllgcmcirsn MaBstabc gelost hfiltc —
(das war infol^e des Krtegcs und der Ructcstiindig-
keit RuBlands nicht zu vcrwirklichen), dann batten
wir, nachdem wir die Sabotage gebrochen batten,
durch allgemeine Einreihung und Kontroile uns
auch vollig die biirgerlichcn Faclilcute zunuize
gemacht. Infolge der erheblichen Verspatung bei
der Rechnungslegung und der Kontroile iiberhaupt,
haben wir t obwohl wir auch die Sabotage zu be*
siegen vermocht haben, die Verhaltnisse, die uns
die biirgerlichen Faehlcute zu unsercr Verfiigung
stcllen, noch nicht geschaffen ; die Masse der Sabo-
teure t stellt sich in den Dicnst', aber die besten
Orgdnisatoren und die groflten Fachleute konnen
durch den Staat zur Arbeit herangezogen werden,
entweder auf alte Art und Weise f auf burgerliche
Art (d, h. fur hohe Bezahlung) oder auf ncue Weise,
auf proletarische Art (d. h, durch Schaffung von
Verhfiltnissen der allgemeinen Rechnungslegung
f~* f -\f\ l \\ i . Original from
, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neuntt November 53
und Kontrolle, die unvermeidlich und von sclbst
die Fachlcute oinordnen und cinstcllen wikden)*
Wit muflten jctzt zu dem altcn, bUrgerlichcn
Mittel grcifen utul auf cine schr hohe Bczahlung
der Dienstleislun&eil der grofltcn unter den biir-
geriichen Fachleuten cingehen. Alle, die die Sachc
kciuien, sehen das, abcr nicht alle dringon in die
Bedeutunc dieser MaOnahme seitens eines prole*
tarischen Staatcs cm. Es ist klar, daB solch eine
Mafinaltme em Komprojiiifi ist, ein Abrticken von
den Prinzipicn der Pariser Kommunc und jeder
prolctatischen Macht, die eine Glcichstellung der
Gehaltcr init der Entlohnung eines Durchschnitts-
arbeiters verlangen, einen Kampf gegen das
,Karrieremaehen' in Taten und nicht in Worten
fordern.
Nicht genug damtt. Es ist klar, daO solch eine
MaBnahme nicht nur den Stitlstand — auf gewissem
Gcbicte und in gewissem Grade — der Offensive
gcgen das Kapitel bedeutet (weil das Kapital nicht
die Summe an Geld ist, sondern ein bestinimtes
gcscllschaftliehcs Verhftltnis), sondern audi ein
Schritt nach ruck warts seitens unsrer sozialistischen
Sowjet-Staatsgewalt, die von Anfang an eine Politik
der Herabsetzung der hohen Geh<er bis zum Ver-
Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
54 ^ r ncunte November
^ — ™™ — ~ ■ •> • »^ ^ ^»~
dicust eines Durchschnittsarbeiters angesagt und
durchgefuhrt hatte"*).
Nennen wir die Tatsache beim Namen.
Die Bolschewiki waren nacli einem Jahr
anarchistischer Versuche dort angelangt, wo
die Sozialislerung zu begin nen hat, wenn sie
gelingen soil : bei der organischen Ver-
wandlung der kapitalistischen in die sozi-
alistische Gesellschaft. Nicht durch 6211
Terror hat die kapitalistische Gesellschaft so
lang bestanden, sondern durch die biirgpr-
liche McntaJitat der Mehrheit, die eine FoJge
einer jahrhundertelangcn „Erziehung" f das
heifit Verfiihrung war. GewiB, es gab eine
Polizei, im weitesten Sinne, und die tibte
die Gewalt aus, Aber jede Folizei ist nur
so stark, wie dte Mehrheit sie als das Ord-
nungsorgan fiir den Schutz ihrer Interessen
bctrachtet. Die kapitalistische Gesellschaft
lebt vorn Irrtum, von der Tauschung, in der
die Mehrheit iiber ihre Interessen lebt. Und
*) W, Lenin, Die nSchsten Aufgaben der Sow-
jet-Macht
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dcr neunte November 55
die Demokratic ist das Mittel, die Mehrheit
iiber diesen Irrtum aufzuklaren, das Mittel,
die Mehrheit zu uberzeugen.
Man iiberzcugt nicht durch Gewalt. Die
Diktatur des Ideals, das ist das sicherste
Mittel zu verhiiten, dafl die Idee zu Fleisch
und Blut werde, daB die theoretische Ein~
sicht sich in aktives Leben verwandle, sie
ist die Maucr, die Sozialisten vor dem
sozialistischen Ziel aufrichten. Die Diktatur
des Proletariats aber, wie die Bolschewiki
sie aufgefaOt und ausgeiibt haben, das ist
die Gegenrevolution innerhalb der Partei des
proletarischen Ideals* Wem hilft es, wenn
sie nun schreien, das Zentrum und die Rechte
der Partei hatten sie ans Ruder gezwungen*
Die, und niemand anders hatten sie zu dem
gemacht, was sie seien. Aus Verzweiflung
hatten sie die Macht erobert, weil die andern,
wie Trotzki sagt, n zur Losung keiner ein-
zigen Anforderung schritten, alle Fragen
verschleppten und bremsten, alle Schwierig-
keiten yermehrten und den Charakter einer
f^" n*-\ f \i, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
56 Der neunte November
schrecklichen historischen Last jener Erb-
schaft verliehen, die uns im Oktober zu-
fiel" # ). Wcm Mitt esr
Vielleicht dem Mann des russischen
j 8, Brumaire, der unterwegs ist. Er wird
wenig Widerstand finclen, wenn er nur genug
Maschinengewehre und Kanonen mitbringt,
denn die Bolschewiki haben die biirgerliche
Demokx*atie, ohne die das heutige RuBland
zu keiner pioduktiven und dauerhaftcn Or-
ganisation gelangen kann, mit dem roten
Schreckon in die Keller und in die Gefangnisse
gej agv und hinterher die sozialistischen
Bruderparteien, die allein die russische so-
zialistische Revolution hatten retten konnen,
und rlie, so hoffen wir, schlieBlich noch die
russische Demokratic retten wtrden.
Die feindlichen Briider
Hier muB gesagt werden, daB kein Mili-
tarist von gestern und heute irgendwoher
*) In der friiher angegebenen Schrift.
r*-.. . , 1,-, Oriqinal from
' °°g K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunfcc November 57
eine Berechtigung herleiten kann, gegen die
Bolschewiki auch mir mit einern Hauch zu
protestieren, und wean diese fiir ihr Ideal
sogai halbsoviel Menschen opferten wie sie,
die Militaristen, mit Begeisterung fiir ihre
ungleich zweifelhafteren M Ideen" iiber Bord
geworfen haben.
Ausgesprochen muB werden, gerade von
uns, fiir die dcr Terror, gleichgiiltig welcher
Art, die Aufhebung des Begriffes Mensch ist:
die Aufhebung allcs dessen, was das Leben,
das arme nacktc Leben Icbenswert macht :
sogar dieses und erst recht ein von Erden-
fiille strotzendcs Dasein, fiir dessen Er-
hohung es keine andre Recht fertigung gibt,
selbst wenn der Weg zu jenem hoheren
Leben: zum M Reichtum", zum H Luxus"
jedem einmal of fen steht, dessen Nerven
feiner und starker sind als die der andern:
und den die geheimnisvolle Macht, Talent
genannt, iiber den Werktag hinaushebt, ihn
tiefer in sich hmeinsenkt, zur selbstsuchtigen
Schopfung, zum HochgenuB der Welt,
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
5$ D* f neuntc November
laut unci deutlich miissen wir aussprechen,
schon urn ketn Mifiverstandnis und dadurch
falsche Verbundete aufkommen zu lasscn,
da0 der Volkskommissar der Auswartigen
Angelegenheiten Tschitscherin mit seiner
Antwortnote auf die Beschwerde der neu-
tralen Staaten vom 5. September 1 918 iiber
bolschewistische Grausamkeiten im Recht
war — im Recht, wie cs den Menschen bisher
recht war — Punkt urn Punkt im Recht* lis
er unter anderm zweierlei feststellte:
1. ,,AHe diese Bildcr der Ausrottung der Arbeiter-
klasse im Namen der Inter essen des Kapitals, all
die Bilder des weiSen Terrors der Bourgeoisie dem
Proletariat gegenuber sind den Regierungen der
neutralen Lender und ihren Vertretern in Rufiland
mehr als wohlbekannt. Und doch ? entweder ver-
gaOen sie die* ho her en Ideale der , Humanist* oder
sie vergaQen in diesern Fall, die Bourgeoisie der
kriegfuhrenden Lander, die vom Blut der Volks-
m&ssen triefen, an sie zu erinnern,* 1
2. „Wir lehnen aufs cntschiedenste die Ein-
mischung der neutralen kapitalistischen M&chte zu*
gunsten der nissischen Bourgeoisie ab und erkliren.
,,,!,, Original from
IbyLsOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der ncunte November 59
daB jeder Versuch von sciten der Vertreter dieser
Machte, die Grenzen des gesetzlichcn Schutzes der
Interessen ihrer Burger zu liberschreittn, als ein
Versuch der Unterstiitzung der russischen Konter-
revolution betrachtet werden wircl*). 11
Im Recht ist Lenin, wenn er in seinem
Brief an die amerikanischen Arbeiter vom
20. August 1 9 18 dekreiiert (Lenin spricht
nicht und schreibt nicht; er dekreiiert; das
Dekret ist seine Ausdrucksform) ;
,.Die englischcn Bourgeois haben ihr Jahr 1649,
die Franzosen ihr 1793 vergessen. Der Terror war
gerecht und berechtigt, als er von der Bourgeoisie
zu ihren Guns ten gegen die Feudal herrschaft an-
gewandt wurde* Der Terror wurde aber ungeheuer-
lich und verbrechensch, als ihn die Arbeiter und
die armen Bauern gegen die Bourgeoisie anzu-
wenden wagten* Der Terror war gerecht und be-
rechtigt, als er zu dem Zweck angewandt wurde,
daB an Stelle der einen ausbeutenden Minorit&t
*) Ein Notenwechsel iiber den weifien und roten
Terror. Zurich, herausgegebenen von Fritz Flatten,
Nationalrat
...I,, Original from
byV. lOOgK
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6o D«t neuntc Novrmbrr
eine andere ausbeutcnde Minoritit trate, Aber der
Terror wurde ungcheuerlich und verbrecherisch,
air er dazu ancjewandt werden sollte, da3 jede aus-
beutende Minoritat iiberhaupt abgcschafft wei'de;
als er im Intcressc der tatsachlich vorwie^enden
Majoritiit angewandt wurde* im Intercssc des Pro-
letariats und des Halbproletartats, der Arbeiter-
klasse und der srmen Baucrnschaft, Die Bour-
geoisie des Internationale n Impcrialismus hat es
fertig gebracht, in ,ihrcm* Kricge zehu Millionen
Menschen abzuschlachten und zwanztg Milli-
onen zu Kriippeln zu machen — dem Kriege,
im Namen dessen, ob die englischen odcr
deutschen R&uber die ganze Welt bcherrschen
sollen. Sollte unser Krieg, der Krieg der Unter-
drilckten und der Ausgebeuteten gegen die Unter-
driicker und die Ausbeuter* in alien L&ndern eine
halbe oder eine ganze Million Opfer kosten, so
wiirde die Bourgeoisie dennoch sagen, die Opfer
des Weltkrieges seicn berechtigt, die des Biirger-
kricges abcr verbrecherisch."
Wie sehr die Bolschewiki von heute gegen
die Militaristen, diese konsolidierten und zur
Ordnungspartei gewordenen Bolschewiki von
.,,L Original from
i d, v lOOgie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dcr tieunte November 6 1
gestern, im Recht sind, indem sie es aus dem
Wald schallen lassen, wie jene hineingerufen
haben, wie sehr sie eines Geistes sind mit
ihren Vorgangern — wir erkeimen es sogar
an ihrer Tcrminologie, ihrem Vorstellungs-
kreis, der Bewcgung ihrcr Phantasie, dem
Ausdruck ihres Temperaments. Sie denken
und sprechen im iiblichen Kauderwelch
der bewaffnetcn Gewalt.
„Jetzt ist die Epoche der dirckten Attacke
gegen das Kapital, der direkten Niederwerf ung
und Zers toning des imperialistischen Raub-
staates", heifit es in der 19. der „ The sen fiber
die soziale Revolution*". Seht einmal zu,
Vergleieht. Legt die Anweisungen zur Unter-
driickung nebeneinander. Woran erinnert
der Abschnitt iiber „Die neue Phase des
Kampfes gegen die Bourgeoisie" in den
„Nachsten Aufgaben der Sowjet-Macht" von
Lenin? An Gneisenau und Schlicffen. An
Bernhardt. An die Auslassungen ihrer Epi-
gonen, der Zeitungsgenerale, die den deut-
scheu SpieOer zum Strategen gemacht haben.
, , , I, , Original from
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62 Der nettnte November
Dieser Abschnitt enthullt sich wie jede
Theorie der Kriegs-„Kunst" als ein SchieB-
reglement. Er bcginnt mit der „Offensive
gegen das Kapital", die fortgesetzt werden
miisse, weil das Kapital zweifellos noch nicht
H niedergerungen soi", worauf, — wie schlaul
— die „Einstellur.'g" der Offensive aus stra-
tegischen Griinden gefordert wird. Wir
haben es hier mit nichts geringerem, als
dem aus den Kriegsberichten bekannten
M sttategischen Riiekzug" zu tun, Man diirfe,
heifit es, von der „Einstellung" der Offensive
nur in Anfiihrungszeichen sprechen. Die
Lage der Bolschewiki set die eines siegreichen
Heeres, das haltmachen miisse, um neue
Krafte zu sammeln:
n . . . eines siegreichen Heeres, d : is, sagen wtr,
dcm Fciude die Halftc oder zwei Drittel des Terri-
tortums abgenomir.en hat und die Offensive ein-
zustellen gezwungcn ist, um Krfifte zu sammeln,
die Vorrdte an Kriegsmitteln zu erhdhen, die Ver-
bindungslinien auszubessern und zu versrarken,
neue Magazine zu errichten, neue Reserven heran-
,,,!,, Original from
IbyLsOOglC
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Der neunte Novemtrtr 63
zubringen usw. Die Einstellung der Offensive eines
stegreichen Heeres unter ahnliehen Verhaltnissen
erscheint gerade im Interesse der Eroberung des
iibrigen Territoriums vom Feinde, d. h* im In-
teresse eines vollstandigen Sieges, notwendig/ 1
Wer spricht? Der Generalmajor. Blum?
Nein, Lenin!
Bald ist das Mariovcr so weit gediehen, daS
die schwere Artillerie herangeholt werden
kann:
„Wenn man den Feind lediglich durch Ab-
teilungen leichter Kavallerie schlagen und zuriick-
drangen kann, so muB man es tun. Und wenn man
dies nur bis zu einer bestimmten Grenze mit Erfolg
durchfiihren kann, ist es vollkommen dcnkbar, dafl
hinter dieser Grenze die Notwendigkeit der Her an-
bnngung von sohwerer Artillerie auftaucht. Zndem
wir zugeben* daB das VcrsSumte jetzt durch Heran-
bringung von schwerer Artillerie nachzuholen
ndcig ist, erkennen wir in keiner Weise die siegreiche
Kavallcrieattacke als einen Fehler an. 11
Wo habe ich das schon gelesen? In den
Betrachtungen des Obersten Egli, des Feld-
herrn der ^Easier Nachrichten'\
{ . ,,.!., Original from
VERITY OF MICHIGAN
64 Dcr neunte November
Sogar die Terminologie, die bet der Er-
orterung der beriihmten M Eiakreisung" iiblich
war, finden wir wieder. „Der imperialistische
Ring, der uns zusammenprefit, wird von der
proletarischen Revolution gesprengt werden",
verspricht Trotzhi*).
So viel von der Strategic Aber es gibt auch
die Taktik. Die Bolschewiki haben sie nicht
auBer acht gelassen. Die bolschewistische
Taktik genii gt, was Gertssenheit und Un-
bedenklichkeit anbelangt, den strengsten An-
fordcrungen. Welcher Patriot diirfte mit
seiner Zustimmung zuriickhalten, fiiefit ins
geubte Ohr ihm folgende Episode, die Lenin
in seinem Brief an die amerikanischen
Arbftiter erzahlt:
„Als d;c Raubheldendesdeutschen Irnperialismus
im Februar 191 8 ihre Armeen gegen das wehrlose,
demobilisierte RuBland wxrfen, das sich der inter-
*) Im SchluBwort seiner Schrift „Von der Ok-
toberre volution bis zum Brester Friedensvertrag".
Be'p-Bern, Promachos-VerJag.
Original from
I I ,; »gie
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Dcr neuute November 65
_ .r ■ i - r 1 * — ' ' — " *~~ *- ' ' " ~ — ^~-~ ' ' ' — ' --—-—-■ — --— ■■ — ' — - — ■ — — — ■ — — — — — . — — _ — -_^ ..
nationalen Solidaritat des Proletariats anveriraut
h&tte, bevor die Internationale Revolution ganz
ausgereift war — da zogerte ich keinen Augenbtick,
mit den franzosischen Monarchisten eine gewisse
f Abmachung* zu treffen. Der franzosische Kapitan
Sadoul, der in Worten mit den Bolschewiki sym-
pathisierte, in der Tat aber dem franzosischen Im-
parl alismus treu diente, brachte den franzosischen
Offizier de Lubersac zu mir* ,Ich bin Monarchist,
mem einziges Ziel ist die Niederwerfung Deutsche
lands', erklarte mir de Lubersac. ,Das ist selbst*
rcdend (cela va sans dire)*, erwidcrte ich. Das
hinderte mich keineswegs, mit de Lubersac mich
zu verstandigen liber die Dienste, die die Fach-
leute im Sprengwesen unter den franzosischen Gffi-
zieren uns erweisen sollten, um durch Zerstoren
der Eisenbalmlinien den deutschen Vormarsch auf-
zuhalten. Das war das Muster einer > Ver stand igung',
wie sie jeder zielbewufite Arbeiter bilHgen muB —
*
einer t Verstandigung* im Interesse des Sozialismus*
Die franzosischen Monarchisten und wir druckten
uns die Hand, obwohl wir wuQten, daB jeder von
uns semen ^Partner* gern hatte aufkniipfen lassen,
Aber unsere Interessen fielen vortibergehend zu-
sammen, Zur Abwehr der vorriickenden raub-
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
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66 Der neuntc November
gierigen Dcutschen machten wit uns im Interesse
derrussischenund der internationalensozialistischen
Revolution die ebcnso raubgierigen Gegeninteressen
dcr andorn Iinperialisten zunutze. Auf dicse Weisc
fdrdcrten wir die Intercssen ccr Arbciterklasse
RuQlands und andrer Lander; so stiirkten wir das
Proletariat und schw&chten die Bourgeoisie der
ganzen Welt, indem wir von der absolut gesetz*
mnfiigen und in jedem Kriege unumg&ngHchen
Methode des Manovriercns, des Laviercns und des
Abwartens des Moments Gebrauch machten, bis
die schnell reifende proletarische Revolution in den
vorgeschrittenen L&ndern zur vollen Reife gelangen
wtirde*).*'
Die Mentalitat der Bolschewikt bezeichnet,
kurz und gut, die 10, der bereits erwahnten
„Thesen uber die Sozialrevolution", und
deshalb stehe sie hier als das SchluBwort
einer Betrachtung, iiber die ein Bolschewik,
wie iramer: nut Rerht, aufiern konnte, ich
hatte nach Tier Kriegsjahren den Krieg ent-
deckt. Die These lautet:
* N. Lenin, Ein Brief an die amerikanischen
Arbeiter. Ohne Angabe von Verlag oder Druckort.
f^" n*-\ f \i, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 67
tl Der Sinn der proletarischen Diktatur besteht
also sozusagen iin pcrmancnten Kricgszustand
gegen die Bourgeoisie. Es ist also ganz klar, daO
alle, die tiber ^Gcwalttatcn 4 der Kommunisten
schreien, voilkommen vergesscn, was cigentlich
Diktatur heifit. Die Revolution selbst 1st em Akt
der »rohen Gewalt*. Das Wort Diktatur bedeutct
in alien Sprachcn nichts anderes, als Gcwaltregime,
Wichtig ist hicr der Klasseninhalt der GewalL
Damit ist die lustorische Rechtfertiftung der revo-
hitionaren Gewalt gegeben. Es ist auch ganz klar,
dafi je schwieriger die Lage der Revolution ist, um
so schSrfer die Diktatur sein muB."
Klar wie eine StraOenlaternet
Ich erwarte die Griindung bolschewistischer
Kadettenhauser. Ich erwarte die Griindung
einer bolschewistischen Kriegsschule. Die
Generalsta.be konnen bleiben, wie sie sind*
Zu andern ware nur der Klasseninhalt der
Gewalt. Militarismus und Imperialismus
haben nur die Farbe zu wechseln oder sagen
wir : die Kundschaft* Ludendorf f braucht
sich um die Anderung seiner Mentalitat
nicht im geringsten zu bemiihen, Er darf,
5*
...I,, Original from
byV. lOOgK
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C& Der neurit* Nc?ernb«r
- — ._. ... ^.... .-. —
er soil der berufskluge Tollhausler bleiben,
der er ist. Der Teufel braucht nur die Woh-
nung 2u wechseln, um als ein Heiliger zu
gelten.
Der tiefste Grund
Doch dies alles dreht sich um die Theorie,
dreht sich im Kampf um die Theorie, den
man Polemik nennt. Die Theorie ist eine
gute Sache, vor allem eine notwendigc. Fast
so unentbehrlich wie Sonne und Sterne fiir
die Schiffahrt und sicher so unentbehrlich
wie Mafle und Gewichte fiir jede Berech-
nung. Immerhin — wie man mit dem
gleichcn Text 2u einer so sebr verschiedcnen
Melodic sagt — ' man konnte glueklich sein
ohne sie. Chne die Theorie. Die Bolschewiki
konnten Wunderdinge verrichten ohne eine
paragraphierte Lehre f die mit dem Komcten-
schweif der unentbehrlichen Kommentare
ihr geistiges Firmament belebt Sie konnten
Wunderdinge verrichten ganz allein mit dem
,,,|., Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neuntc November 69
Glauben, und ohnc lange zu fragen und
ohne vizi zu erklaren, und sich damit bc-
gniigen, dafi sie ihren Weg gingen durch die
lange Alice heller Gesichter, womit korper-
lich befreite Sklaven zu ihrem Fest illu-
minierten, und auch vieler, die hdher strahl-
ten, weil Freiheit die Herzen mit einem bisher
ungeahnten Licht erfiillte. £5 hat nie einen
Heiligen gegeben, der dem Burger nicht als
ein Narr erschienen ware, und die Griechen,
die von solchen Dingen mehr verstanden, als
allc die so aufgeklarten Genies der alten wie
der neuen Welt zusammen, hatten nur ein
Wort fiir den Heiligen und den Wahnsinnigen.
Die Bolschewiki haben keinen Glauben, sic
dekretieren und fiisilieren in kalter Tobsucht.
Sie konnen keinen Glauben haben, weil sie
nicht lieben. Sie sind Hasser: Pratorianer
des Proletariats in seinem Massenwahn, die
Kosaken des Sozialismus, die Flammcn-
werfer der Internationale, die Heulderwische
einer Wirtschattslehre. Nein, fiir mtch be-
deutet der Sozialtsmus das Gegenteil einer
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
70
Der neuntc November
Klassenherrschaft, namlich die endgiiltige
Autlosung der „Klassen" in jcner Gemein-
schaft von uaergriindlicher Tiefe, die Nietz-
sche mit seinem Wort von den „Griechen
als traumenden Homeren und Homer als
einem traumenden Griechen" angedeutet
hat, Worin der Aibeiter aufgehdrt hat, ein
Proletarier zu sein, und ein lebendiges Stlick
Arbeit selbst ist und, wenn auch nur nut
einer winzigen Handreichung an der Ma-
schine, nicht nur das Symbol der „Froduk-
tion'S sondern, jeder fur sich und die ganze
Gesellschaft, die schaffende Natur selbst, der
Mensch selbst die Arbeit, die Arbeit aller,
der ungeheninue , leicht slromende Blut-
umlauf alles dessen, was auf unstrm Planeten
Menschonantlitz tragt* Ich bin fiir jeden
Sozialtsrnus, den ich auf dem Weg, clem
langcn Wcg dahin vermute. Die Bolschewiki
sprengen, allcin riurch ihre Mentalitat, schon
die ersten Brticken auf dem Weg sie massa-
krieren schon nach den ersten Sehritten mit
ihrer wissenschaftlichen Earbarei die Ach-
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
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Dor neunte November yi
tung vor dem Menschen samt alien &ndern
geistigen Tugenden, ohne die wir me
eine Obereinstimmung der m e i s t e n , ge-
schweige denn die Gemeinsarnkeit erreichen.
Die Bolschewiki konnten in der Theorie
zebntausendmal recht haben, ich ginge
nicht mit ihnen, weil sie gegen die Men-
schen gehn.
Ober sie denke ich letzten Endes, wie
Charles P6guy iiber jene bis zum Grauen
unheimlichen Kerle dachte, die den Begriff
der Holle gefunden und, nicht genug damit,
ihn gefaegt und gepflegt haben bis auf unsre
Tage. Im ersten Jahrgang der „Cahiers"
schreibt er dariiber — die Grippe halt ihn
hn Hause fest, und er liest Pascal — und
er beschworc sich und seine Leser, dafl die
MSgiichkeit, ja die Vorstellung ciner Holle
jeder, aber auch jeder zuriickweisen miisse,
der den Begriff Menschheit ererbt oder fiir
sich erworben habe. „Nie wird'S schreibt
er, ,,dieser Vorstellung zustimmen^wer einen
tiefen und aufrichtigen Sinn des Kollektivis-
.,,L Original from
1 lOogie
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72 Der ncuntc November
■ I- < ■— ■■ ■ ■ I - !■ 1 - ' "---- — — __
mus ererbt oder sich zu eigen gemacht
hat, Kein Genosse, der die einfache Soli-
darity kennt," Dann folgen die paar
Satze, die sehr genau erklaren, warum
ich die Diktatur des Proletariats, wie die
BolschewikI sie ausiiben (ob ganz frei-
willig oder gedrangt oder gar gezwungen,
andert nichts an ihrer Art) als die Holle
empfinde, die gewaltigste Holle, die Holle
auf Erden nicht nur, sondern auch im dit>s-
seitigen Jenseits, unsre Vorganger s>en:
in der Republik des Geistes.
tjWir dulden nicht, daB Menschen unmensch-
Hch behandelt werden. Wir dulden nicht, daB
Burger (citoyens) unburgeriich (inciviquement)
behandelt werden. Wir dulden nicht, daB es Men-
schen gebe, die von der Schwelle irgendeiner Ge-
meinschaft gewiesen werden, Hier sitzt der
Grund der Bewegung, die uns beseelt, hier ent-
springt die groBe Bewegung der Universit&t, die
die Kantsche Moral beseelt, und die uns beseelt
in unsern Forderungen. Wir dulden nicht eine
einzige Ausnahme, nicht, daB irgendwem die Ttire
vor der Nase zugeschlagen werde. Die Vorstellung
r**. . , [,-, Oriqinal from
' ' H \S K UNIVER5ITY0FMICHIGAN
Der neimte November yj
■ i — m ■m r^m m I ■ I' l l ■ ■ ' I ■— — -^— -^^ -— -— -^^— _^^_^.^„ f __ . ._^ _ g-_. — . ,
einer Verbanming ist die, die jedem sozialistischen
Empfinden am tiefsten widerstrebt,"
Lenin, als der Militarist, der er ist, libt die
willkiirlichste, die grausamste Form der Ver-
bannung, die Vernichtung. Dieses Wort
wimmelt in semen Schiiften und springt aus
jedem dritten Satz seiner Reden: Unter-
driickung, Ausrottung, Vernichtung. Immer
dasselbe Wort. Er kann sich nicht genug
tun damit. Er tanzt das Feuer mit ihm und
streut Pechfackcln aus, als ob er saete* Wenn
man ihn lafit, wird er nicht ruhn, bis von
diesem Feuer die Welt brennt Bis er auf
dem romischen Hugel steht und der Schein
der iibermenschlich aufgeschossenen Feuer-
saatden Himmel friBt, er sehr hoch dortsteht,
aber nahe genug der Galerie, um von einem
Literaten das Stichwort zu empfangen: Qualis
artifex ptereol
Tn Lenin und seinen Freunden rast der
Krieg ideell in seiner ganzen Erbarmungs-
losigkeit weiter. Es ist die neueste, wohl
kaum die letzte Phase der Gewalt und nicht
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
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74 Ber rreuntc November
eimnal die vorletzte Phase der Liquidation!
in die die alto Welt im August 19x4 ein-
getreten ist.
Scien wir uns dmuber klar: der Krieg war
die Explosion der Gewa.t, und die Gewalt,
das ist die Welt, in der die bisherige Mensch-
heit felebt hat. Die Festungen der Gewalt-
haber, von ihnen selbst in Brand gesteckt,
brcchen nun, eine nach der anisrn, zu-
sammen, das Feuer schlingt weiter, es fri0t
nach innen, sucht neue N ah rung, immer
tiefer, immer weiter. Die Kriegsfackel von
1914, sie ist auch die Kriegsfackel und Waff e
der Bolschewiki. Sie haben sie ergriffen, als
sic der schwach gewordcnenHand des Gegners
entsank, und sie haben sie gegen ihn gekehrt.
Nun stoBt blindwutig nach oben, was Jahr-
tausende lang blindwutig nach unten stieQ:
riicksichtsloser Kamnf um die Macht und
Behauptung der Macht* Riicksichtsloser
Freiheitskrieg rnit Repressalien, Prozessionen
imd Kirchengesang. Der Kirchengesang ist
marxistisch, die Prozessionen erweisen sich
r**. . , [,-, Oriqinal from
1 lK \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dcr neuntc November 75
■- — .-- " — ■
als soaufklarend, wie ein guter, notgedrungen
summarischer Volksunterricht sein kann,
und ohne Repressalien lafit sich of fen bar
kein Krieg fiihren, nicht eiamaJ ein Freiheits-
krieg, nicht einmal einer, der von alien bis-
herigen Freiheitskriegen vielleicht am ehesten
seinen Namen verdiente.
Glaube, Hoffnung, Liebe.
Kein, tausendmal nein! Ich bin Sozialist,
aber wenn man mich uberzeugte, daB der
Sozialismus nur mit der bolschewistischen
Methode zu vcrwirklichen sei, so wiirde ich,
und nicht nur ich, auf seine Verwirklichung
verzichten. Denn die Erdbewohner hatten
es nicht verdient, den Tag zu ericben, wo
die Menschheit die geordnete Menschlichkeit
ware und die freiwillige Arbeit: und das
zwanglose Recht ihre naturlichc Funktion.
Sie ware es nicht wert, weil sie dazu gar
nicht fahig, weil dieser Zustand, durch Ge-
walt hergestelJt und mit Gewaltmitteln er-
.,,L Original from
1 d, v lOogie
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76 D*f neunte November
halten, die grofite Liige ware, in der jemals
Sklaven gelebt hatten.
Nein, tausemlmal neinl Ich will keine
Sklaven, auch nicht befreite Sklaven, die
immer Sklaven bleibei, solangc sie, sogar
in ihrem eigenen „Interessc", gezwungen
werden miissen, gezwungen durch Aufsehcr
ans ihrer Mitte oder selbst verfuhrt zur
dauernden Anwendung der Gewalt dadurch,
tiaB man eine, natiirlich inoglichst ohn-
machtige Herrenkaste beibehalt, deren Unter-
driickung den Vorwand abgibt, damit die
Sklaven sich als die Herren auffiihren. Ich
will, dafl der Sklave, der Inbegriff dessen,
was den Sklaven ausmacht, ob er nun im
Klassenkampf, dieser primitiven Lebens-
form, oben liegt oder unten, ich will, dafl
der Komplex der Gewalt aus der Welt
verschwinde. Darauf, Kameraden, darauf
kommt es an, Wobei ich, zu meiner Ent-
scluildigung, auf den Unterschied hinweisc,
ob eincr in Unkcnntnis des Sozialismus, der
sozialistischen Literatur, seiner Geschichte,
.,,L Original from
i d, v lOogie
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dcr mnunte November 77
seiner Personalien das Blaue vom Himmel
herunterschwarmt und solche sehr eigen-
willige Fiktion als Sozialismus auszugeben
beliebt,
odcr ob er, bchcimatct auf der schr griind-
lichen Basis des Sozialismus, das Wesen
der befreienden und die Freiheit organisiercn-
den, geschichtlichen Handlung iiber alles
stellt, hingepflanzt im Gedrange und im
Sturm der Parteigeschafte, der Parteikampfe,
vor den KompafJ, dessen Magnet nach dem
Menschheitsziel weist, unerschiitterlich und
unverfiihrbar und jederzeit im Bewufitsein,
dafl sein Reich weder von dieser Legislatur-
periode ist, noch, vermutlich, von der
nachsten.
Wie kennen wir einandert Fiir euch, Ge-
werkschaftler, bin ich ein Kolibri, unbe-
trachtlich, ein bunter Vogel t dcr nicht beiBt.
Fiir euch, Anwerber roter Pratoriancr, ein
Nichts, ein Hauch in eincr belcbten Stra0e,
ein Traum, bestenfalls, der am Morgen ver-
fliegt. Harmlos. Ein Feuillcton, das man,
f~* f -\f\ l \\ i . Original from
, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN
78 Der neuntc November
wenn es gegen keine Kirchcuregel verstdBt,
unterm Strich drucken kann, und das den
Leser vielleicht unterhalt. Und nur deshalb
nicht ganz nutzlos. Ein Dichter, der, mit
alien Waffcn des Klassenkampfes ausge-
rustet, sich etwas darauf einbildet, daQ er
trotzdem nicht mittue, Ein Narr y der sich,
statt an einen shakespearischen Konig, an
Karl Marx attachiert hat, mit Schellen an
der phrygischen Miitze. Der Gast itn Bil-
dungsausschuB, der in den Klassenkampf
Serenaden einlegt. Euch, Unentwegten, sei's
in dieser Stunde gesagt. Der Drehorgelmann,
der fur das Herz im Htnterhaus arbeitet,
streikt. Er hort auf, die Kurbel zu drehn
und ruft zu euern Fenstern hinauf. Ver-
rottete SpieBer, ruft er t so hort wenigstens,
kommt en die Fenster und hort, was ich
euch nicht langer unter Gassenhauern ver-
schv/eigen kann
Legt ihr's nur darauf an, so viel zu ver-
dienen, daB ihr eine Wohnung im Westen
mietet, Ulrike finen Klavierunterricht be-
,,,!,, Original from
IbyLsOOglC
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Der neurit* November 79
kommt utid Paul wahrhaftig Latem lernt:
gut. Aber dann steht davon ab, von Sozialis-
mus zu redcn. Dieses Geschaft hat vom
Sozialismus nur das Aushangeschild. Glaubt
ihr nicht, daB der Mensch aus eigcnem — ich
sage nicht : sich befreie, denn seine Befreiung,
das ist der letchtere Teil der Aufgabe — glaubt
ihr nicht, daB der Mensch aus cigenem sein
freies Leben in freiwilligen Formen leben
konne, die, weil alien gemeinsam, keinen
unterdriicken, dann laBt sie, die Menschen.
LaBt sie, wo sie sind, und wie auch mit
thnen geschehe. LaBt sie unter den Tieren.
Macht sie nicht noch ungliicklicher, als sie
schon sind, indem ihr Anspruche an sic stellt,
von denen ihr wiBt, daB sie sie nie erfiillen.
Dann, Genossen, ist die ganze sozialistische
Bewegung nichts weiter, als ein bosartiges
M Baumchen, wechsle dich", Nichts weiter
als der blutige, endlose und ganz sinnlose
Kampf 2weier Schacher um die Butterseite.
Dann, meine Frcunde, wollen wir ins Kloster
gehn und so tun, als ob nichts ware, bis die
f^" n*-\ f \i, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
So Der neunte November
klassenbewuflten Gardistcn irgendeines Lenin
die dringendc Notwendigkeit empfinden, uns
arrne Kirchenmause des Ideals auszurotten,
Wie verstanrilich, wenn die Driickeberger
der militarist is chen Zeit auch die Drucke-
berger dor Revolution warenl Sie fiihren
nicht Krieg. (Jnd es ist noch immer Krieg,
und es wird noch lange Krieg sein.
Deunochl Helfen und nicht verzweifelnl
GUuben und geduldig sein f bis der Krieg
vorbei ist! Der Krieg ist die Selbstverbren-
nung einer Epoche. Einmal wird von ihm
nur Asche iibrig sein. Die Menschen, todlich
erschopft, konnten 2u Boden sinken und
nicht einmal die Kraft haben, die mfid-
gewtirgten Hande 2u hebcn.
Dann.
Dann ware die Zeit, in die Stadte zu gehn
und zu helfen, dann, wo wirklich Hilfe ware,
was man fiir die andern tate.
Dies fiir ucn Fall, dafl der Bolschewismus
Europa unterjochte und damit die Welt in
die Barbarei stiirzte. Es konnte ihm ge-
,,,|., Original from
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Dcr neimtc November 3 1
U T T " ' 1 1 '
Hngen, wenn Lenin sich mit Ludendorff
verbiindete : der verzweifelte, in seiner Macht-
steliung bedrohte Marxist mit dem ver-
zweifelten Mann der Revanche, der Soldaten
nimrut, wo er sie bekommt. Die Parole ist
ausgegeben. Von Radek: „Wir miisscn die
Sowjet-Republik am Rhein verteidigen." Und
ich denke an die Worte, die mir, vor drei
Monatcn, ein preuDischer Junker ins Ge-
sicht schrie: ,,Wenn wir geschlagen werden,
gche ich z\x den Bolschewiki und stecke die
Welt an den vier Enden an." Worte. Ver-
zweiflung fanatischer Naturen konnte sie
wahr machen. Heute, wo ich dies schrcibe,
befinden die Bolschewiki sich in eincr sol-
chen Geistesverfassung, dafi sic alle andern
Sozialistcn mchr hassen, sie heftiger bekamp-
fen als die deutschen Militaristen.
Ich spreche von der schlimmsten allcr
Moglichkciten. Wir Gcistigen haben keine
Wahl. Wir wisscn und sagen schon lange,
dafl eine geistige Angelegenhcit niemals
vom Waf fenerf olg abhange, auf welcher Seite
Original from
byV. lOOgK
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82 Dei neunlc November
tt sich auch einstelle. Die Bolschewiki stehn
und fallen mit ihrem „Waffengliick". Das
Ideal steht daruber: unberuhrt* Wir haben
nur eine Aufgabe, und die bleibt uns unter
alien Urnstanden: dafiir zu sorgen, daO das
Ideal, und wenn auch nur bei hundert, wenn
nur bei zehn Mcnschen, nicht in Vergessen-
heit gerate. Die Liebe lieben! Hoffen, und
ware es nur, damit die Hoffnur.g am Leben
bleibe. Glaubenl Und ware es nur, um nicht
zu verzweifeln, Als Trost und GewiBheit
schallt das Wort nach, das Fritz Adler in
jcnexn Gerichtssaal ausricf - tl Man totet nicht
den Geist, ihr Briidcr!"
Wir alle wollen die Welt andern, Wir alle
wollen die Gercchtigkeit. Wir alle wollen
das Reich des Glucks, in dern die Menschen
einander das Leben leicht machen, um den
Zugang zu sichcrn zu einer neuen, hoheren,
wenn auch noch so schweren, noch so pro-
bleniatischen Form des Lebens. Ich stehe
dafiir, daB Gewalt keine Anderung schafft,
nur Wechsel. Wechsel des Besitzes, Wechsel
r*-.. .-I- Oriqinal from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
[w nMiiil* November 83
der Macht, Wcchsel dcssen, was, unter dcm
Namen Gesinnung, wieder nur als Waffe
benutzt wlrd.
Wlr Geistigen konnen weder niit Faraden,
noch init Stnatsstreichen, mit keinem Schau-
stiick irgcndwelcher Art konnen wlr auf-
warten. Wir gehn, in ticfstcr Stillc, den un-
abschbaren Weg der Menschenverwandlung.
So heftig wir t ,lcben" mogen, auftauchend
in Stadten, voll tierischer Energic, redend,
schreibend und an der Spitze provisorischer
Umzuge, die von einer Etappe der politischen
und wirtschaftlichen Revolution zur andern
fortschreiten, - unser Schicksal wirkt im
Traum von dem, was wir, ganz, vicllcicht in
tausend Jahren sein werden: Menschen. Wir
wiirden es nie, verlieBen wir diesen Traum,
vergaBen wir jene lautlosc, gerade StraBe,
fanden wir nicht dort nach jeder Aktion
unsre Kameraden wieder* Die konnen wir
nicht verlieren, sie konnen uns nicht im
Stich lassen: sie nicht, sie allein nicht. Es
ist auch ihr Weg, und es gibt keinen andern.
f^" n*-\ f \i, > Original from
' °°8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
84 Dtr neunte November
Wir erkennen einander im Aufruhr der
Stadte, in Volksversammlungen, in Am*-
schiissen an einer seltsamen Haltung, die
andre als plotzliche Nachlassigkeit deuten,
als Zuriickhaltung angesichts entschlossener
Agitatoren und andrer Manner der Tat, als
SIccpsiSj die der Zynismus in seiner Kind-
heit 1st. Sie tun uns unrecht. Wir sind die
Tapferen im Trubel. Wir sind die guten
Fischer im Triiben. Wir sind die wahren
Glaubigen, Credimus, quia absurdum.
Urn das Ideal sozusagen bei sich und im
Beruf zu zeigen, darum habe ich zum Schlufl
noch einmal von uns gesprochen, und dies
mufite wohl geschehen, nachdem ich mich
soviel auf das Ideal bcrufen hatte.
Wir spielen nicht die Buddhisten, Wir
stolzieren nicht in Luxusdrucken und iegen
auf Vorzugsausgaben geringen Wert, Und
noch halten wir es fiif sehr unwahrscheinlich,
rtaB auch wir von der Verzweiflung gepackt
und in ein Klostcr geworfen werden, Noch
sind wir dabei* Wo wir konnen, Wie wir konnen.
,,,!,, Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 85
Unsre schone, gerade, stille„Privatstra0e" :
am 9. November tat sie, was sich fur sie
gehorte, sie behing sich mit roten Fahnen
und versammelte, fur ihre Demonstration,
so viel Sonne, wie sie finden konnte, Und
wir, wir warcn in der Stadt.
Das eine tun, ohne das andere zu ver-
lassen. Es fallt nicht schwer, wenn man
keinen Ehrgeiz hat.
Desember 3U1S.
Original from
I :r,-V lOOOIt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Nachwort
Heute, noch nicht ein Jahr spater, miiflte
ich eine namenlose Enttauschung bekennen,
batten nicht die inneren Kampfe, die ich
wahrend des Krieges ausgetragen habe, mich
auf diese Enttauschung vorbereitet. Leichter
mag ich sie da iiberwinden, als viele meiner
Kameraden, die, gestern noch hingerissen
vom Kriegslarm oder davon wie zerschlagen,
am befreienden Tag vermeint hatten, mit
einem Sprung aus der Holle in den Himmel
zu setzen. Das konnen wir zwar, du und ich,
und sogar mehrmals am Tage und in der
Nacht t und wir tun es auch, aber wir nehmen
die Menschen nicht mit, sogar die besten
Freunde folgen nur zogernd oder gar nicht,
und wenn wir von unsercr Himmelfahrt
zuriickgekehrt sind, zeigt sich, daB die
meisten unsre Abwesenheit nicht einmal
bemerkt haben* Der 9. November war der
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 87
schoaste Tag meines Lebens. Am 9. No-
vember war ich am glaubhaftesten, fast
mochte ich sagcn: nachweislich im Himmel.
Ich glaubte, von nun an nie mehr allein zu
sein, nie mehr an mir una an den andern zu
verzweifcln, Zum erstenmal lag ich, ge-
borgen, Deutschland am Herzen. Die neue
Welt stand weit geoffnet. Wenig bedeutete,
dafl die Schwierigkeiten sich tiirmten, die
alteingesessenen Piraten sich zur Wehr setz-
ten und ihre Fuchsgange vervielfachten, die
kuhnsten Arbeiter der Stunde zusehends er-
mudeten, die schnell, aber frisch gebackenen
Fiihrer sich hier und da rausperten, wie ihre
Vorganger gespuckt hatten — wenn nur die
Gemeinschaft im Geiste jenes Tages bestehen
blieb mit ihren Millionen unerschdpflich sich
erhebenden Handen und Herzen 1 Darauf
karn %s an. Darauf allein. Bei einer Revo-
lution kann man nicht erklaren: „So, jetzt
ist's genug", umsich dann aufs revolutionare
Ohr zu legen und den Rest durch die „ Evo-
lution" besorgen zu lassen. Eine Revolu-
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
gg Der neurit* November
tion dauert so tange, wie ihre Vorausset-
zungen bestehen,
Der revolutionare Akt selbst ist ein »For~
tissimo", wie der Krieg* Es strotat von
Pauken und Trompeton, die Blechinstru-
mente bringen es schier zumPlatzen* Daher
der bezauberndc Eindruck auf die ungc-
schlachtesten, die aufpcitschcnde Wirkung
auf die feinsten Nerven, von den Sohlen iibcr
den Unterleib ins Gehirn. Deshalb wundere
ich mich auch nicht, wenn ich Zeitgenossen,
die ich 1914 und noch 1918 als Imperialisten
verlieB, seit dem November als Bolschewiki
wiederfinde. Das Fortissimo ist schuld, nicht
sie. Das sind, wenn nicht die landlaufigen
Konjunkturhasen, extreme Naturen, auch
emotionelle genannt, die nicht geizen kon-
nen, wenn sie beschenkt werden, weder mit
ihrer Obcrzeugung noch mit ihrer Begeiste-
rung, Oder sie folgen einem statischen Ge-
setz t sie mlissen, werden sie von ungewohn-
lichen Ereignissen iiberrascht, auf dem Kopf
stehn, urn sich gerade zu halten, Nur habe
, I , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dcr neuntc November 89
ich die Erf ah rung gemacht, dafl sie es in der
Lage nicht lange uushalten, was wiederum
niemand erstaunen kann. Zu ihnen spricht
das Wesen des Paukenschlags, sie brauchen
sich wirklich nichts daraus zu machen, was
fiir Hosen dcr Paukenschlagcr gerade an-
hat. Vcrschicclcn ist nur der Sinn der Musik.
Von wem, und fiir wen sie aufspiclt.
Danach erhalt sie ihrcn Namen ,,Krieg"
oder ..Revolution". Der Sinn ist es, der ent-
scheidet, verpflichtet.
Und es ist noch immer* die Musik des
9. November, die wir horen, trotzdem dcr
Aufmarsch der Gegenrevolution sich in mu-
stergiiltiger Ordnung vollzieht, wie das an-
ders seit Ende Dezember nicht mehr zu er-
warten war.
Nur : wir sind nicht mehr die vielcn, dencn
die andern, verspielt, verzweifelt, ausge-
pumpt, sich anvertrauen, Wir waren es
genau vierzehn Tage. Im November hatten
,,,|., Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
90 Der neunte Ncrtmbcr
die Wahleti ausgeschrieben werden, spate*
stens vier Wochen spater hatten sie statt-
finden sollen. Im November hatte die Re-
gierung alle grcficn Kriegsbctiicbe — und
welche Betriebe waren es nicht? — in Ge~
meingut ubcrnchmen kiinnen, ohne da0 ein
Aktionar geraucksc, ein Ingenieur sich vcr-
wcigert hatte. Im November hatten die
tausend oder zchntausend Intcllektuellen,
die bereit waren, alles fur ein neues Deutsche
land und die neue Welt herzugeben, in den
Stand gesetzt werden miissen, Gymnasiasten
(die, da sie gut genug fur den Krieg waren,
wohl auch fur die Revolution nicht zu schlecht
gewesen waren) ? Studenten, Handlungsge-
hilfen, junge Arbeiter, Daktylographinnen,
heimkehrende Soldaten, die draufien alles
bis auf das naclcte Leben eingcbiiflt hatten,
kurz das ganze geistige Proletariat in so-
zialistischen Begeisterungs-, Erneuerungs*,
Rettungsausschiissen, oder wie diese SammeU
stellen tatigen Geistes sich sonst genannt
hatten, zu sammeln, sie aufzuklaren, zu
r**. . , [,-, Oriqinal from
1 H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der ncunte November 91
leiten — ein Kinderspiel ware es gewesen,
zur reprasentativen Korperschaft der jungen
Republik zu erheben und weithin sicht-
bar, weithin fruchtbar zu machen, was iiber-
all in Deutschland, uberall enthusiastisch
aufbrach und auf eigenc Faust losging und
dabei sein wollte, wo plotzlich alles jung und
f risch war : Nachbar, Heimat, Erde, zwanzig-,
sechzehnjahrig die Welt, wie fur die Frei-
willigen der ersten groften Republik. Es war
die Stundc der deutschen Jugend, und die
deutsche Jugend hat sie nicht verfehlt. Auf
alle Amter lief sie, jedern Arbeitersekretar bot
sie sich an, sturmte die Redaktionen der
Parteiblatter, sternschnuppte und HeB sich
nicht ausloschcn vom Flederwisch in biirger-
lichen Redaktionen : die deutsche Jugend
nahm ihre Slunde wahr. Viernial hatte die
Erde sich gedreht, und die Zeit hatte nichts
vermocht gegen ihre Jugend. Nach vier
Jahren, in denen sie sich hatte schlachten
lassen in alien Himmelsrichtungen, wie es
ihr von entruckten Greisen befohlen war,
, I , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
92
Drr neunte November
schnellte sie auf, Hydra des Ideals, und bot
stch dar, riickhaltlos, bedingungslos, Und
diesmal ging es nicht fiir den Ka*ser und dm
Export, ^ondein um das deutschc Volk, die
in Nacktheit glauzendc Masse von sechzig
Millionen Menschen, die eine gemeinsame
Sprache haben, Sprache, die in der Welt
verhurt worden war zur Sprache der Ge-
walttatigkeit und der Lii^e, und die darum
nicht weniger ihre Sprache und ilir ein-
faches wahres Leben war von Mund zu
Mund. Diesmal deckte sich deutsches Volk
mil Volk schlcchthin und also mit Mcnsch-
heit, Nie hatte die Sonne also iiber Deutsch-
lAiid gestanden wic in diescn vierzehn Tagcn.
Sie ging nicht unter in seinem Reich. Was
ein Kaufinann in die Front seines Ge-
schaflshauses gemeiflelt hatte: ,,Mein Reich
ist die Welt", in diescn vierzehn Tagen war
cs deutsches Schicksal. Schicksal, herein-
gebrochen, wie Schicksal kommt, fast blen-
dend vor ungeahnterWirklichkeit, wie Schick-
sal sich schenkt.
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neurit* November 93
Und ging voriiber.
Wieder waren es die alten Manner, die die
Jugcnd an das Bestehende verrietcn, das
i miner die Vergangenheit ist und diesmal
ganz handgrciflich die Vergangenheit war:
Zusimmenbruch, Tod und Verwesung. Die
Greise verrieten die Jugend, um sich, nur
auf ein Viertelstundchen, zu erhalten. Um
dieses elende Viertelstundchen drehen sich die
Kampfe der Gcnerationen. Was als Revo*
lution begonnen hatte, endete als betriige-
rischer Bankrott Die sozialdemokratischen
Juniorchefs des Hauses Hohcnzollern batten
ihrc volkischc Mission darin erkannt, von der
Konkursmassc zu rctten, was in der zu er-
wartetiden Wcltpanik zu retten ware* Sie
hielten zur Rcpublik unter der Bedingung,
da0 allcs beini alten blicbe, soweit das Alte
sich nicht bercits selbst ausgeschaltet hatte.
Die Revolution hatte sie in den Sattel ge-
hoben. Nun wollten sie zeigen, da0 sic reiten
konnten wie Ludendorff und der Prinz von
Baden in einer Person*
d :v, V lOOglt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
94 Der rU'imle Novejuher
Die Weltpanik blieb aus. Die Genossen
in Moskau und Paris steckten den kunter-
bunten Epigonen eines Millerand, die Vial my
neueinstudieren wollten, einige zusarnmen-
fassende Grobheiten und liefien sie allein,
wo die Fiichse einander gute Nacht sagen.
Der Neudeutsche mit der Ballonmiitze als
Tabakbeutel, dem Namenszug Marxens als
Krawattennadel und der Balm, die ihn ge-
fiihrt Lassalle als Kriegskarrlere, der sich
bis in die WilhelmstraBe vorgeschoben hatte,
machte zwar die Zeche der Revolution, aber
als er sie begleichcn sollte, spielte er den
Kavalier. M Ich weiQ jetzt f wer du bist,"
sagte er zu der proletarischen Erscheinung,"
lt ich lasse mich nicht erpressen", und er
holte die Polizei. Seitdem ruht die deutsche
Welt auf Noskes starkem Nacken.
Arme deutsche Jugend 1 Wie hatte die
zweifeln diirfen, wo Hugo Haase vertraute?
Warum hatte sie weniger auf die Macht der
politischen, wirtschaftlichen und seelischen
Verhaltnisse bauen sollen als Kautsky, Ditt*
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neuntt November 95
raann, Breitscheid, Eisner, Arco, Gerlach,
Simon, Bernstein und alle, alle wahrhaften
Erncucrer, die im bezaubernden Morgenlicht
auftitmend in die Hand einschlugen, die sich
ihnen entgegenstreckte wie die eines wieder-
gefimdenen Bruders?
Vierzehn Tage wahrte fur uns das Para-
dies, fur die andern die Angst. Dann er-
kannten sie, dafl sie noch am Leben waren,
und daB die kostlichste Errungenschaft der
Revolution die Freiheit sei. Sie unter-
nahmen sie, ihre Freiheit I Mit dem Erfolg,
der ihrer gleichgearteten Unternehmung ge-
gen den auCeren Feind vcrsagt geblieben war.
Liebknecht, Luxemburg, Eisner, Landauer
wurden erschlagen, deutsche Stadte im Sturm
genommen. Die Morder jener Manner leben.
Die Morder Deutschlands aber schreiben in
tiefster Gemiitsruhe Artikel und Biicher,
darin sie beweisen, daB das feige Verhalten
ihres Opfers in seiner Todesstunde sie um
den Lohn ihrer Huhmestaten betrogen hat.
,,,!,, Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
96 Der neuiitc November
Dennoch.
(Wieviele Kapitel unseres Lebens werden
wir noch so teginnen miissenl)
Dcnnocli hdrt, wer Ohren hat zu horen,
noch imimr die Musik des 9, November,
Trotz der falschen Fiihrer, die den Krieg
fortfiihren wollten statt der Revolution.
Trotz der Zauberer, die im stillen die
Kriegswut weiterpflegen in der Hoffnung auf
den historischen Theatercoup, wo der unter-
irdisch fliefiende Strom auftauchend noch
einnial, und diesmal endgultig, die Wider-
siande niederreiBe.
Trotzdem diese Hyancn es sich gut
seia lassen auf dem Leichenfeld eines
greficn Volkes, das sie herabgewiirdigt
haben tief unter das Mafl der europaischen
Familie.
Trotzdem Intelicktuelle, die gestern philo-
sophische Menschenfresser oder doch die
Wankelmut selbst waren, heute als radikale
Denker aufmarschieren, die vor keiner Ge-
fahr zuruckschrecken, wenn sie voriiber ist.
r^/-\ir\afi > Original from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Def neimte November 97
Gestem feig nach rechts, heute nach links,
wankelmiitig selbst in ihrer Feightit.
Trotzdem die heutigen Fiihrer dc*r deut-
iichen Republik als richtige Emporkomm-
Hnge sich immer angstlicher und dement-
sprechend frech unter die Kaste ducken, die
innerlich und auBerlich zu ersotzen sie vom
Volke beauftragt worden siud. Wie die
Henne auf ihren XCiicken sitzt die Kaste
auf den neuen Mannern, glucksend vor
Vergniigen, den Schnabel kriegerisch im
Wind.
Dennoch wcbt die Musik der November-
tage eiti allem, was offentlich gcschicht, und
selbst im Vcrrat, wie die Wahrheit in der
Luge. Eine Sonne wie die des November
1 9 18 blcibt unvergeClich jedem, der sie da-
mals gesehcn hat, als ware sie ein neues Feuer
am Himmel gewesen, Und es sind sechzig
Millionen, die sie so erblickt und von ihr das
Urteil entgegengenommen haben : M Tod 4<
fiir die einen, fiir die andern „Leben". In
jedem einzelnen steht sie da, genau wie an
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
$8 Der neunte November
jenem Tag, keine Gewalt holt sie herunter,
Mogen die eincn sioh wehren bis aufs Blut
und die andern noch so ermiiden; der Sieg
ist so gewiB, wie gewifi ist, dafl im November
zwanzig deutsche Fiirsten Angst vor ihren
Thronen bekamen und ein Heer von sechs
Miliionen deutscher Untertanen das Joch
abwarf wie einen Alp.
Was gibt es, angesichts dieses unverlier-
baren Gewinns, fur uns zu f iirchten ? Nieder-
lage auf Niederlage der Revolution, so wie
die Entente sie vier Jahre lang erlitten nat?
Sturz der Sowjetrepublik und wirtschaftlichen
Bonapartismus in aller Welt? Letzte Panik
miidgeputschter Arbeiter, die ihre Fiihrer
totschla^en, das gcrettete Viertelstiindchen
des Kapitalismus, Atempause, Hochkon-
junktur?
Diese Funzel wird die Menschen nicht
erwarmen, von solchem Brot wird keiner
satt,
Aber der Kapitalismus wiirde sich zur
hochsten Kraftanstrengung aufgerafft, das
r**. . , [,-, Oriqinal from
' ' H \S K UNIVER5ITY0FMICHIGAN
Der ncunte November 99
Proletariat sich in der Arbeit neu gefestigt
uad in der wirtschaftlichen wie poiitischen
Organisation so entwickelt ha ben, dafl die
Produktion ihm in die Arme fallen konnte,
ohne es zu efdriicken, so wie den Deutschen
die Republik in die Arme gefallen 1st
Original from
IbyLsOOglC
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,,,!,, Original from
IbyLsOOglC
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Anhang
l°/\fM\fi > Original from
°°S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
,,,!,, Original from
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B ruder Suares!
(Ein vergebliclier Aufruf aus dem Juli 19x8.)
Unter dem Titel „Die Einpeitscher" wollte
ich ein Buch iibsr die inteliektuellen Banditen
des Kricges sclireiben, ein zornigcs, ein hoses
Buch, Die Notizen waren bereits zu einem
Haufcn angewachsen, da warf ich sie in
den Kamin mid verbrannte sic,
Wozu ein Buch schreiben, das Schaden-
freude geweckt und niemand geholfen hatte?
Es geniigt zu sagen: die ersten Reservisten
wsren noch nicht aus dem Haus, da brach
es los, in alien Tonlagen, von den Pyrenaen
iiber die Vogesen zur Wolga und verier sich
nicht in der sibirischen Steppe. Denn in
Tomsk saQ ein tatarischer Arzt, Veteran des
Krimkrieges, und rief die Rechtglaubigen in
Versen, die er selbst unter die rnarschbereiten
Soldaten verteilte, zum Kreuzzug auf.
, if , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
204 ^ er neurite November
" — — ■ ■ ■ ^m-r^-. , - J - l.l. II ■ ■ I , I i ,, . , ■■ It l l M
Er vcrgriff sich nur im Feind, der ja p da
er wechsalt, von imtergcordncter Bedeutuug
ist. In Treu und Glauben, ini guten Willcn,
im Seelen^chwung stand er keincm der
Mcistersinger nach, die auf einen Schlag die
KuKurzentrcn mit ihrem Geheul er-
sehutterten.
Die deutschen Intcllektuellen bildeten erst
cine Lawine, dann gingen sie nieder. Der
Lustspieldichter Ludwig Fulda setzte einen
Protest auf, fiir den neunzig Unterschriften
heibcitelegraphiert wurden. Es muDte schnell
gehen. Es ging schnell. Und cs war ein
Wurfi Fulda schuf das Mcisterwerk, das
ihn iiberleben wird. Noch die Enkelkinder
wird die Komik dieser Schofarblascr in einen
Abgrund widerhallenden Gelachtcrs stiirzen.
Kipling in England blicb heroisch. Es
bedurfte, fur ihn, weiter keiner geistigen An-
strangling, um i estzustellen : jetzt oder nie.
Chesterton gewann dem Krieg die ulkige
Seiteab. Dafiirwarer auf die Welt gekommen.
Wells aber sprach von der „exerzierenden,
Original from
: ■:.■: I lOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neunte November 105
— - - - — — - — - —
trarnpclnden Narrhcit im Hereon Europas",
mit der endlich einmal cin Ende gemacht
werden solle, welche Meinung Shaw auf-
richtig teilte. Darauf land Wells, daft der
Krieg selbst seine ungewohnliche Vorstel-
lungskraft iibertroffen habe und begann M klar
zu sehen". Er schrieb ehien aus^czeichneten
Roman, worin er darlegte, wieso diescr Krieg
langst nicht mchr ein Krieg zwischen zwei
politischen Machtegruppcn sei, sondern ein
Kampf, auf Gedeih und Verderb aller, urn
eine ncue Welt.
Italien fiihrte d'Annunzio in den Krieg,
als ware der Krieg ein Ballett uad die Rubin-
stein die Pallas Athene- Er schrieb ihr, in
Vers und Prosa, eine fabelhafte Rolle auf
den Leib, der Pallas Athene. Auch sah man
den alten Garibaldi, wie er von ihr Helm
und Lanze entgegennahm und diese zuerst
an seine Sohne und Enkel und dann an den
General Cadorna weitergab. Dieser Dichter
war mutig, Es konnte noch so bitter kommen,
er blieb, bei Lebensgefahr, dabei, daQ der
r*-.. . , [,-, Oriqinal from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
tod Der neunte November
Krieg ein Ballett sei . Er bef and sich auf einem
Torpedoboot, das den Hafen von Pola for*
cierte. Das Schiff entkam, aber d'Annunzio
liefi eine Flaschenpost zuriick mit „Sonetten
der Herausforderung". Er flog und warf den
Csterreichern abwediselnd Bomben und
kuustvollendete Aufrufe auf den Kopf. Das
alles habe ich photographies gesehen.
Die Amerikaner hielten sich am langsten
zuriick, Sie werden am langsten dabci bleiben.
Die schonste Stimme in Frankrcich besaG
Andre Suares. Wenn der Erasmus von
Holbein einen alten Propheten darstellte, so
hatte Suares ihm aufs Haar geglichen.
So viel und nicht mehr davon. Was ist
uns Saulus?
Der Acker liegt in aufgcwuhlter Blofic
unterm Himmel. Am Horizont tauchen die
Saer auf. Der Wind geht wie am Schopfungs-
tag. Freuen wir uns, daB wir nicht allein
sind und schreiten wir, als batten wir ein-
ander nie verloren, schreiten wir unbe-
kummert auf einander zu.
r**. . , [,-, Oriqinal from
1 H \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der aeunte November 107
In Ihnen, Suares, griifie ich Frankreich,
die Martyrerin der Menschheit. Ware sie
geringer, de hatte tausendmal recht, sich
lieber im Sarg auszustrecken als ihr Gesicht
wieder nach Osten zu wenden. Aber wenn
der Damp! von Pulver und Blut sich ver-
zieht, ich bin gewifi, wird die hohe Saerin
daraus hervortreten mit ihrer vcrschwen-
derischen Gebarde, die liber die Erde weht.
Hinge ihr Gcwand in Fetzen, ware sie selbst
nackt, urn so strahlender hobe sich ihr
schrUtender Leib, urn so heller floge das
Korn,
Schwester meiner Mutter, du weiflt, ich
gchfire nicht zu jenen Heuchlcrn, die Liebes-
worte murmeln, wall rend sich ihre Hande
um deinen Hals zusammenzichen. Ich hattc
nie die Hand gcgen dich gehoben. Du hassest
das Chaos, nicmand hat die kiihne und an-
mutige Ordnuug mehr geliebt als du, ohne
dich ware Europa ein sinnloser Begriff.
Ohne dich ist Europa verloren, Wir konnen
keine Brahmanen werden, und ohne dich
, I , Original from
■ 00 8 IC UNIVERSITY OF MICHIGAN
to8 D*r neunte November
konnen wir nicht Christen sein, Nur im
Parages — ich wage kaum, es auszuspr echen
— werden du und Deutschland einander
wieder begegncn* Ich kann nicht anders,
ais es zu wiinschen, zu hoifcn und, in meiner
Ohnmacht, zu erstreben. Die Welt ist ver-
loren, wenn sich nicht hinter den Toren } die
allenthalben zu Boden sinken, das Paradies
offnct.
Lassen Sie mich mit Ihnen sprechen,
Suar6s.
Sie haben eine g.anze Reihe von Pam-
phleten verfaBt, Dancben Biicher iiber P6guy
und Cervantes, die nicht minder polemisch
waren* Ais den groBen Bruder der Jeanne
d'Arc haben Sie den Don Quichote hin-
gestellt, der, aufgereckt in den Steigbugeln,
ein Volk cntziickter Traumer gegen die
deutsche Maschine fiihrte. Der Held wurde
stiller, er wurde starker, er wurde alter und
inniger, je n&her er an den Feind kam. Jetzt
...I,, Original from
byV. lOOgK
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Der neuntc November
109
war er der heilige Michael, der die Nische
seines gotischen Domes verlasscn hatte, urn
gegen die GroBmuttcr des Teufels und ihre
aufgeschossenc Drachensaat ins Feld zu
Ziehen. H inter ihm k am das game steinerne
Volk der Kathedralen und glanzte in Waf fen.
Es drangte und betete und sang* Es schrie
„Dieu le voult" und schlug Schwerter und
Leitartikel zusammen. In den entlcerten
Stadten folgtcn die Frauen und die Kinder
der lachelndcn Mutter Gottes und warfen
ihr das „Dieu le voult'* mit Straufien roter
und weifier Blumen zu. Auf den StraBen
standen die Altare, wo die Prozession ver-
weilte, wie Zorn brannte die Monstranz
zwischen jungen Birken und Feldblumen,
und auf dem weiOen Leincntuch, worin der
tote Christus wie in lauter Unschuld gcbettet
worden war, lehnte ein finsteres, ein unbe-
kanntes Bueh, die Alte Lehre, und war mit
Lesezeichen gespickt. Die hieltcn die Stellen
der Schrift klar, wo Gott auf die Menschen
tritt, als waren sie Regenwurmer, und mit
.,,L Original from
1 lOogie
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HO Der neuntc November
^ ^ — .1 .»^- - — -I. .1 ■■ I. I I ■ I . 1 . ■ ■ HI - ■ — - 1.1 I ■ I ■- 1 — ■■ 1^ 111 . M^ l. i
seincm HaB die Erde beschattet. Die Stddte
versanken in Glockengelaut, die kriegerische
Vision slob iiber dem Fcind in den Himmeh
Das alles war noch edler Suares. Die
Dummheit selbst, dieses Haupt der Gorgo,
war, wo es auftauchte, nicht ohne einen an-
mutigen Zug. Der sonst wohlgeborene Na-
turen zu verstopfen pflegt, der HaB envies
sich als himmlisches Purgativ. Nie waren
die Regeln des besten bel canto auBer acht
gelassen*
Seit Mounet-Sully hat Frankreich ketnen
bessern Tragoden, als Sie.
Im August 191 7 began nen Sie eine klcine
Monatsschrift herauszugeben, die Sie allein
schrciben, Sie sagten von Goethe: f ,0b man
will oder nicht, es gibt grofle Deutsche* Sie
gehen Europa an und das gauze Menschen-
geschlecht. Oft verdirbt der Deutsche in
ihnen den Universalmenschen, aber der Uni-
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
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Der neunte November t II
» ' ■ i n — ^ ^^— ^ — — — -^— ■ I 1 ■ -■ ■ ■ - . — I -^^JfcH ^ I I III ■ I ^ IM^^*
versalmensch ware unmoglich ohne den
Deutschen." Sie merkten iiber Moltdre an,
er habe Gott Konig gewonnen, um ein fur
alle Mai die Holle seiner Heiligen loszusein.
Sie glaubten unser wichtigstes Problem zu
losen, indem Sie befahlen: )( Wenn es nicht
die Moral ist, die iiber die Gewalt verfiigt,
so wird die Gewalt die einzige Moral sein/'
Ich wiirde sagen: „Wenn es nicht der Moral
gelingt, die Gewalt aufzuheben, so wird die
Gewalt die einzige Moral bleiben."
Doch entdeckten Sie immer wieder die
Liebe.
Ich fand so viel Gemeinsames, dad ich
Ihre Hand im Gewiihl nie ganz verlor, aber
Sie priesen den Krieg, weil sie an ihn glaubten
Sechs Monate spater siegte der Maximalis-
mus, was so viel heiflt wie: es zeigte sich,
wesson einige entschlossene Kerle in einem
ausgepumpten und moralisch erschopften
Land fahig sind, Kerenski wurde gefallt
und Gorki im selben Ansturm iiberrannt wie
die ganze sozialistische Mehrheit. Die Dik-
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
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tin Der neunte November
tatur des Proletariats hob fiber dem Land
zwischen den Schutzengraben und der asia-
tischen Grenze ihre Tatze und senkte sie in
Blut und Feuer. Ein kleiner Mann bestieg
die Kanzcl und verdammte die >,alten Phra-
scn" von Gleichhcit, Freihcit, Bruderlichkeit,
Dernokratie und Menschenrechten a!s blasse
Schemen der biirgerlichcn Ideologie. Der
Zar lag am Boden, alles, was nicht Lenin
und sein Anhang war, lag am Boden, Der
Terror war geblieben oder noch schlimmer
geworden j er hatte nur die Farbe gewechselt.
Die alte Knute hatte nur die Hand gewechselt,
Nie war Tolstoi so tot gewesen.
Da bru bt bei Ihncn, SuareF, die neue Wut
aus und das neuo Leben. Sie toben burleske
Szenen aufs Papier. Unter dem Motto: „Denn
auch das Ideal hat seine Gemeinheit", ver-
reifien Sie die bolschewistische Revolution.
Sie schleudern das Wort von der „gecken-
,,,|., Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neuntc November 113
halten Selbstgefalligkeit der Illumiuaten, 211-
mal jener niedrigsten Art, der Sklaven einer
einzigen Idee, die die Gewalt anrufen, damit
sie ihnen recht gtbt", schleudern es, Soldat
der Gcgenrevolution, wie einc Handgranate.
Figuren dieses wiitigcn Marioneitenspicls,
betoncn Sie, „schneidcn vom Schcitel bis
2ur Sohle die Grimasse von Gehangten", die
man zu fruh abgeschnitten hat. Sie laufen
heruni, ,,griin vor Arger, und a lies an ihnen
schreit nach dem Galgen. Sie sind durchaus
wiirdigt daran festgenagelt zu werden und
so in Ewigkcit den Christus der Mittelmiiliig-
keit darzustcllen". Sie hohnen wie der be-
gabteste Militarschreiber der Gegenrevolution.
Die neuc Wut — das neue Leben.
Sie entdecktcn den Humor gewisser Volks-
belustigungen;
,,Einer so wcisen und harmonischen Revolution
darf es an Harmonie nicht fehlen. Die Musik der
Roten Garde la3t sich horen. Sie geht los, wann
es ihr gefallt, und wie der Heilige Geist es ihr ein-
gibt, Kein Dirigent, keine Noten: weiB das Volk
Original from
byV. lOOgK
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1 14 Der neuittc November
nicht alles aus seinem Instinkt alletn? Hat man
es je false h singen gehort ? 1st es nicht die hochste
Kunst, die nochsu Schonheit sclbst, wie es die
leibhaftige Wahrheit ist und die fleischgewordene
Tugend? Sie brauchen keiae einxige Note zu ver-
stelicn und sind doch au;gczeich:ictc Musikanten,
und urn zu singen, bedtirfen sie keiner Stimtne :
sie haben die Bauchtrommel, ihre kleinen Gotts*
donnerwetter ; vox popiili, vox Dei, wie geschrieben
fteht"
Ist es so lange her, daB Sie, Suar£s, end-
lose Variationen iiber das Thema „Gesta Dei
per francos" abgewandelt haben?
,,Eine Bande Trunkenbolde in drei Gesang-
stimmen, die sich erbrechen und ihre Winde ab~
blascn, vollfiihren ein bewunderungswiirdiges Kon-
zert und das natiirlichste von der Welt : nicht linger
ist die Kunst die Mutter alter Verderbtheit* Die
guten Mdnche seibst finden hier ihre Zellen- und
Klosterorgel wieder und sind vergniigt. Diese
Musikanten blascn in aller Unschuld auf ihren
naturiichen Instrumenten : endlich ist der Natur
Geniige getan."
EndJich? Mir tcommt es vor, als dauerte
,,,|., Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
f>«*r neunt* Novembei 1 115
1 - ---- - — -- — ^^
das Konzert schon viele Jahre. Die Ab-
wesenhcit Gottes und die Wiirdelosigkeit
des Spektakeis ist Ihnen erst aufgeganger,
seitdeni die Revolution in RuBland den
Schlussel des Musikstiicks geandert hat. Die
Perspcktive der Notwehr, auf die Sic sich
vielleicht berufen, ist auch die der Bolsche-
wisten.
pl Eiii Trupp freier Frauen, Chemikerinncn, Arz*
tinnen und Philosophinnen braucht wedcr Flotcn
noch Pfeifen; sie denken laut im Disk ant und
schreicn im Takt : Ich bin ich, ich, ich! Wer ist,
wie ich, ich, ich! Und ihre Mclodie sowohl wie
der Klang ihrer Stimmen verhelfcn den Frauen
cndlich zu ihrem Recht: sie sind obenauf,"
Es hat vier Jahre an Mannern gefehlt.
Ihren Platz nahmen Frauen ein. Snares, hier
kreischen Sie wie ein Pfaffe.
Im Verlauf der rhetorischen Ereignisse
lassen Sie v nach Trotzki, den ,,Caliban-Lenin"
mehr bemitlcidet, als dafi er ihn hafite,
Coriolan und Danton auftreten. Die be*
gegnen der Allgemeinheit der proletarischen
r*-.. . , [,-, Oriqinal from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Il6 frer neunte November
Diktatur mit Allgemeinheiten, wie der Frage :
,,Warum sollten die Lause keine Ideale
haben?* 1 Coriolan ruft aus: H Das Beil iiber
den Pobell" Und gcnug des Geredes von
der Kindlieit eines Volkes: „Die Schwache
d^r Kinder macht sie liebenswert. Hatten sie
die Kraft, sie waren Ungeheuer ♦ . /' Ke-
renskij der erklart: n Ich will kein Marat
sein", erhalt von Danton zur Antwort: „Sag'
lieber, daQ du ein Schwachling bist. Du wirst
dich selbst in deiner Badwanne ersaufen."
Worauf Kerenski: „Ich habe ein gutes Herz,
und ich bin krank."
So und nicht anders lassen Kraftnaturen
seit vier Jahren die M Pazifisten M reden.
Es ware ein Wunder gewesen, wenn nicht
in diesem Augenblick ein General der fran-
zosischen Revolution von der Zimmerdecke
hcrabgestiegen ware, Er zieht den Sabel,
und wir sind mitten in der Legende: fl Du
hattest Kormlow 4 *, schnauzt Danton:
,,Er hfitte ein Hoche sein kdnnen, er h&tte dich,
Kerenski, gerettet und RuBland mit dir * . * Ab;r
...I,, Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der ncuntc N 5 /ember ny
du> der du alio Verrater begnadigt,t, ihn hast du
zvm Tode verurteilt. Du konntest nicht das Blut
eiues riiudtgen Huhncs vergieflcn; at>er du schrickst
nicht davor zurLick, eincni Mann den Kopf ab-
sclmcldcn zu lasscn, wenn dicser Kopf hundert-
tausend anderc wcrt ist. Allc Schwuchlingc sind
Heuchler, alle Schw&chlinge sind Lugner,"
Seit vier Jahren gibt man, in hundert
Fassungen, die Legende aus, dafi wir irgeiuU
cin Glanzstiick aus der Geschichte wiedcr-
holen, Blutcnde Gespenster! V/ir bratichen
nicht einmal die Hand auszustrecken, um
die reifen Friichte unscrcr idealistischen Er-
ziehung zu plliicken. („Warum sollten die
Lause kcine Ideale haben ?") Sic zertrommcln
die Kopfe, ohnc dafl dicse sich riihrtcn, bis
unter die Erde, in die sie sich verkriechen*
( t Alle Schwachlinge sind Heuchler, alle
Schwiichlingc sind Lugncr": ibre grenzen-
lose Schwache hat die Menschhcit in diesen
Krieg stiirzen lassen, ihre unermcflliche
Schwache halt sie in dem magischen Sumpfe
fest.
Original from
byV. lOOgK
UNIVERSITY OF MICHIGAN
1 18 Der ncunte November
Die Maximalisten haben die Zeit nicht ge-
Sndert. Sie konnten sie nicht andern, weil
sie sich, urn zu „siegen", den Bedingungen
des Sieges unterwarfen. Sie schlossen nicht
Frieden, sie wechselten den Fcind. Sie ver-
legten den auBercn Krieg nach innen. Sie
kapitutierten nach auflen, um den Krieg im
Innern zu fuhren. Sie fiihren ihn, wie Kriege
gefiihit werden, nicht schlechter und nicht
besser, Siclier veruben die Roten zu Hause
keine einzige Greueltat, die sie nicht schon
als WeiBe drauBen veriibt hatten, oder f bei
gegebener Gelegenheit, hatten veruben kon-
nen, ohne daB sie in den Augen der Welt zu
Mdrdern und Dieben herabgesunkcn warcn.
Wir erkennen sie wieder, die Noyades de
Nantes, d:e Septembermorde, aber auch das
Koblenzer Entrustungsgeschrei! In jeder
'Revolution gibt es eine Stunde, wo der
Sieger die Kanaiile ist. Dann herrscht die
Dlktatur der Plunderung und dec willkiir-
lichen Todschlags. Man kennt nur zwei
Mittel dagegen: entschlossen unter die Ka-
,,,!,, Original from
IbyLsOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der neuntfi November HO
naille gehen oder sich verkriechen, bis sie
vorbei ist Selbst Taine fand nicht den Mut,
die Kanaille auf die Rechnung der Revo-
lution zu setzen. Das Wort: M Wenn der
Konig trinkt, ist das Land besoffen", gilt
fiir alle Regierungen und allc Staatsaktionen.
Augc um Auge, Zahn urn Zahn: clamit
hat die Menschheit sich von einer Kata-
strophe zur andern geschaukelt bis zxxt
letzten, die tins, natiirlicherweise, als die
grdBte erscheint. Ob er sich nun Gerechtig-
keit, Sicherheit, Ehrc oder sonstwie nennt,
es ist der Rachegedanke, der in jeder Hand-
lung dieses Krieges herrscht, der kleinsten
wie der groBten. Der Rache wegen will der
Starkere noch einmal schlagen und so seine
Oberlegenheit festigen; dann wird er Frieden
schlieOen. Aus Rache steift der Schwachere
den Riicken und halt aus in der Hoffnung,
hinauf und dem Gegner iiber den Kopf zu
kommen. Dann wird er Frieden schlieBen,
Was geschieht in Wirklichkeit? Kaum ist
er oben, so iibernimmt der Gegner die Rolle,
, I , Original from
°°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
120 Dcr tieiit&ta November
worin er sich selbsc mit Gliick bchauptet hat.
Was wiederum bleibt diesem, obea angelangt,
von seinem Sieg f als die Sorge, lange geivug
oben zu bleibenl So warten beide Jahr urn
Jahr darauf, daB der andere miide wird und
von der Schaukel herabfallt.
So lange und nicht langer, sagt Lenin,
soil auch die Diktatur des Proletariats dauern.
Dann wird er Frieden schlieBen*
Dies gilt nicht nur fiir den russischen
Burger und den russischen Proletaries viel-
mehr wird dem kapitalistischen Weltkrieg
der sozialistische folgen, und der muB, in
der Form der V/eltdiktatur des Proletariats,
dauern, bis -*- nun, eben so lange, wie der
jetzige Krieg nach dem Willen derer dauern
soil, die ihn fiihren: bis zur volligen Nieder-
lage des Fe:ndes, aber statt, wie der burger-
liche Krieg, bis zum volligen Sieg der einen
Staatengruppe und zur Gesellschaft der
Nationen, iiber die Niederwerfung dieses
zusammengehallten, hochstentfalteten Biir-
gertums hinaus bis zum letzten, zum rich-
Original from
IbyLsOOglC
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Dm tiriuita November 121
— ■ ■ — ■ ^-~-
tigen Ende: dem Weltverein clcr Arbeiter-
und Bauernrcpubliken.
Gibt es etwas Verniinftigeres als due solche
Gedankenf olge ? Was konntc logischer sein,
als die Arbeit der Kriegsmaschine, gleich-
giiltig, fiir wen sie arbeitet?
Stecken Sie die Hand in ihr Getriebe,
Suares, und Sie werden sehen, wie recht die
Maschine mit ihrem Recht hat* Das ist sie,
Ihre Morale die iiber die Gewalt verfiigt!
Der Maximalismus ist im August 1 9 1 4
aufgebrochen. Neben jedem Soldaten schritt
ein Roter Gardist. Mit jedem Tag, der das
Kleid und den Geist des Soldaten abnutzte,
nahm der Doppelganger festere Form an.
Die letzten Gedanken und die Urgefiihle
stromten in das Schattenbild und fiillten es,
bis es ein Mensch war, der den alten Sol-
daten wie eine abgelegte Haul hinter sich
herzog* Die als biirgerliche Imperialisten
... J, , Original from
°°8 1C UNIVERSITY OF MICHIGAN
132 Dcr ncunte November
-■ ■ — — - — — — i — i - - *-^_
au&geruckt waren, sie marschieren als prole-
tarische Imperialisten weiter. Die Welt
soilte den Vielen, den Starkea, den Er-
oterern gehdren. Sie sind unterwegs.
Man hat sie gerufcr, unci sie slid ge-
komiuen. Man hat sie gclohr^ wie man die
Schwacheren sich unterwirft. Sie haben cr-
fahren, welche Wunder die jahe Gewalt
und der aufgerichtete Schrecken vollbringen,
wonn sie auf den geringeren V/iderstand
stoBem Die bestgearteten unter ihnen haben
sich damit abgefunden, dafl dcr Krieg keine
weiche Sache ist. Und ganz nebenbei haben
sie, auf dem Gebiet des Ideals, einiges ge*
lernt, was durchans ihre Hand und ihten
FuB hat. Unter anaerm, dafi alie Kathe-
dralcn zusammen nicht das Leben eines
einzigen Soldaten wert seien, vorausgesetzt,
daB er in den eignen Reihen kampfe. Es
wird eines Tages schwer fallen, sie zu iiber-
zeugen, daB eine Fabrik, ein SchloB, cine
Bank, eine ihnen unbequeme Konventinn,
es wird schwer fallen, ihnen klarzumachen,
Original from
IbyLsOOglC
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Dcr ncuiitc Nnvmibm* 123
-- - - ■ — --_ . -_.- -_--- _ — - . _
warum die gesamte biirgerliche Zivilisation
unci Kultur schwerer wiege, als das Leben
cines cinzigen Arbeitcrs.
So brauchen Sie, Suares, in Ihrem hoh-
nischen Spiel von der Revolution nur die
Natnen der Hauptpersoncn zu rindern, nnd
Sie haben, in seiner furchtbaren Groteske,
das Spiel von diesem Krieg; Sic brauchen
nur die Namcn zu erganzen, und Sie schiidem
den Krieg: don einen und unteilbaren Krieg.
Eincn Schritt noch, den entscheidenden,
und Sie sind unter uns.
Die hohe Sacrin taucht auf, sie hat selbst
ihr Gewand abgelegt, um wahrer zu sein,
,,,!,» Original from
1 .oogie
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,,. |,, Original from
byV. lOOgK
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Tribune
der
Kunst und Zeit
Eine Schriftensammlung
Herausgegeben
von
Kasimir Edschmid
Berlin
Erich Reifl Verlag
...I,, Original from
byV. lOOgK
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<4
Da9 schon vor Jahrcn Ans&tze bestanden
zu einer Bewegung, die auf neues WelU
gefuhl aus ist in den Kiinsten, das ist be-
kannt. DaB die Bewegung durchdrang, weiB
jeder. Es ware Albernheit, hier noch Fanfaren
zu Maseru Dringlicher erscheint es heute, wo
jeder Greis „Stellung nimmt*', jeder J ting-
ling Unertr&gliches schw&rmt, den ganzen
Komplex zu iiberschauen: woher das Neue
karri, wohin es will — keine Schlagworte zu
pr&gen, sondern besonnen das Eigentliche zu
sagen — nicht rikkwarts zu referieren, nicht
zu wiederholen und auf keinen Fall zur
Theorie zu kommen . • * sondern auszusageu,
zu bckennen, darzustellen, zu wiinschen und
zu postulieien und so bei aller Weit-
heit des Rahmens dennoch zur Rundheit zu
kommen. Nie stand der Kunstler so mitten
in der Welt me heute. Nie lief in so un~
geheuror Tragodie die Veranwortung so bin-
dend zwischen ihm und der Zeit. Vom
KUnstler aus gesehen, mit der Kunst als
Zentralpfoblem, wird jede Darstellung heu-
tiger Ziele einc Darstellung der Zeit: Poll-
f~* f -\f\ l \\ i . Original from
, WXK>K UNIVERSITY OF MICHIGAN
tisches, Religifises, Forderunghaftes mischen
sich, kaum eu trennen, ja unlosbar mit den
Fragen der Kunst. Kiinstler mit ihrer Kon-
fession, Gelchrte, die Sachliches dichterisch
*u sagen wissen, Essayisten, die nicht spie-
lerisch „zerfasern", sondern produktiv im
eigentlichen Sinn der Kritik aufbauen, schrei-
ben hier an einer klelnen Geschichte unserer
Kunst und unserer Zeit.
Bisher sind erschienen:
Kasimir Edschmid: ttber den Expression
nismus in der Literatur und die neue
Dichtung
Wilhelm Hausenstein : Ober Expression
nismus in der Malerei
Theodor Daubler: imKampf urn die mo*
derne Kunst
Walter Mailer- Wuickow: Neue Archl-
tektur
Paul Bekker: Neue Musik
Max Krell: Ober neue Prosa
I W an Goll: Die drei guten Geiste r Frankreichs
T ■- - —
...I,, Original from
:r,-V lOOgIC
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In rascher Folge werden u. a. erscheinen:
Kurt Pinthus: Das neue Theater
Kurt Hiller: Aktivismus
Friedrich Markus Hiibner: Philosophi-
sche u. moralische Grundlagen ncuer Kunst
Alfred Wolfenstein: Neue Lyrik
Willi Wolfradt: Hcutige Plastik
Gustav Hartlaub: Neue Graphik
Fritz von Unruh: Das neue Drama
Rudolf Leonhard: Gespracheiiberheutige
Jugend und Kunst
Carlo Mierendorff: Hatt' ich das Kino
Walter Rilla: Gegen die Gewalt
Wilhelm Michel: Der Mensch versagt
Gottfried Benn: NarciB odef das
moderne Ich
Weiterhin Bande von:
Jean Debrit, J. G. v. Beerfelde,
Frans Masereel, Rene" Arcos usw.
Original from
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(~* r*r\n\t > Original from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
Tribfine
der Kunst und Zeit
Eine Schriftensammluxig
Herausgegeben von
Kasimir Edschmid
x
Frans Masereel
Politische Zeichnungen
Berlin
Erich Reifi Verlag
1924
,,,|., Original from
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Politische Zeichnungen
von
Prans Masereel
Funftes Tausend
Berlin
Erich Reifi Verlag
1924
Original from
IbyLsOOglC
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Spamersche Buchdruckeret in Leipzig
,,,!,, Original from
IbyLsOOglC
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Frans Masereel
▼on
Kasimir Edschmid
Der Belgier Masereel, der ein guter Euro-
paer ist, hat das Schicksal, zeichnen zu
mussen, wie ein anderer schreit oder stirbt. Er
ist ein guter Soldat gewesen, und sein Kriegs-
dienst an der Idee begann friiher und hef-
tiger als irgendeines der Trabanten der Ge-
walt, und jeden Tag gab er der Genfer ,Feuille'
ein Blatt, das sich dem Wahnsinn der Welt
entgegenwarf. Der Zeichner hatte da eine
Tribune, von der er wie nur irgendeiner der
groBen Mdnche predigt.
Gleich ihnen bat er nur eine Fahne, die
Glaube heiBt, eine Waffe, die Humanitat,
und seine Feldherrn kommen aus anderen
Bezirken als den „eisern" kommandierenden,
weil seine Welt gestaffelt ist aus Terrassen,
wo zuletzt die Kriegerischen stehen und zu
oberst die Beladenen.
Es ist ein Zufall, dafi sein Himmel sich
zeichnerisch gestaltet, denn er konnte seine
Original from
IbyLsOOglC
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8 Politische Zeichnungen
Intensitat auf Hornern blasen, in Gedichte
schweiBen, von den Schaubtihnen hcnanter-
rufen. Denn nur daB er leidet unter dem
Greuel von Krieg und Revolte laflt ihn an-
klagen und zeichnen. Aus biblischem Furor,
nicht aus der Begeisterung der Linie kommt
seine Graphik. In ekstatischem Zorn macht
er seine Manifeste, nicht aus Groteske oder
Liebe zur Kunst. Die Zeitung wird ihm das
europaische Paukenfell, auf dem seine Pro-
klamationen des Zeichenstifts trommeln.
Endlich ist uber Daumier die Graphik
wieder eingetreten in den Kreis des wissen-
deren Mittelalters, das gesinnungsheiB den
Ideen lebte und sie ausdruckte mit Mund
und Aktion und Kunst, und wo die Zeit der
schdnen Kiinste auch die der ergreifenden
Suchenden und tie fen Erkenntnisse war, fiir
die zu streiten ein tnnerer Kreuzzug und ein
legendarer Krieg war.
Am Ende dieser Kette steht der kleine
Belgier und schafft mit einem Riesenmut
und verbissener Verzweiflungsflamme. Das
.,,L Original from
i d, v lOogie
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Politische Zeichnungen
formal Kiinstlerische ist nicht so bestrickend
und straff wie sein Glaubensmuskel, allein
die Spannung seiner Idee hebt ihn ins Bedeu-
tende. £s kommt keine Ermiidung iiber ihn,
wenn Tag auf Tag das Fechten neu beginnt.
Seine Form erhalt in der reifienden Aktuali-
tat der Tage die feste Grundf orm der zeit-
losen Holzschnittproklamationen des Geistes
alter Jahrhunderte, die zwischen Tod und
Leben die siifie Gewalt des wahrhaftigen Le-
bens suchen und in ihren wutenden GeiBelun-
gen der Zeitlichkeit im Strich und der Linie
den besseren Glauben flagellanttsch fordern.
Wenn „Connaisseure" und Affen finden,
sein Kunstwert sei zweifelhaft, begriffe er
es nicht. Denn er arbeitet nicht wie Htrten
und Lammer in idyllischen Horizonten, son-
dern fanatisiert sich durch die Zeitlichkeit
hindurch mit jedem Herzschlag zu dem ma-
gnetischen Kern seines sozialistischen Zu-
kunftsgef iihls. Er platzt in das Foyer der ver-
sammelten gegenwartigen Gesellschaft und
jagt die dekolletierte Attrappe in Fetzen an
, if , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
IO Politische Zeichnungen
den Rand seines graphischen Manifestes, in
dessen Zentrum sein ethisches Postulat irgend-
wie zittert. Ein genialer und einzigartig neuer
Journalismus der Gesinnung entsteht in der
Zeichnung nunmehr, die nicht illustriert und
niemals erzahlt oder ergdtzt und vertieft,
sondern aufhetzt und heult und sich windet
und blutet und am eigenen Leib jedes Laster
und jede Barbarei des Kriegs und der Re-
volution aufbrechen laBt.
Eine Ziichtigung der Zeitliige beginnt, wie
sie seit jahrzehnten keiner sah, denn er hat
nichts an sich von der Ironie und der gro-
tesken Konstatierung Gulbranssotis, sondern
die Zornrote des heiligen Wirkungswillens
schlagt sich in jedes Werk. Die Schlagworte
werden in die Luft gesprengt, und ein gro-
fies Demaskieren beginnt. Das fletschende
menschliche Ungeheuer taucht aus denTrans-
parenten, wo vorher die Gloriolen der Na-
tion alhyrrmen klangen und alte Manner die
JungUnge verdarben, indem sie ihnen pre*
digten, es sei schon zu sterben, statt in Hebe-
, if , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Politische Zei chnungen 1 1
vollerem Wettlauf der Arbeit die Menschheit
zu schnelleren Siegen und heftigeren Be-
freiungen aufzurufen.
Zwischen dem befrackten Zug der Gewalt-
haber, die Wolkenkratzer im Arm, ,, Taylor
. . . Business "-Schilder iiber sich, die Gesichte
mit eisernen Corned-Beef-Lanren plakatiert,
anstiirmen und dem Streiter , im Stacheldraht
stigmatisiert, zwischen Engel und Landsehaft,
Granatloch und dem Skelettzug der Mobili-
sierten bewegt sich rastlos sein Griffel . . .
das ist die Welt, durch die sein Aufruf heiB
lauft. Tag fur Tag geht seine Phantasie auf
neue Schopf ungform aus, erobert sich neue
Bastionen und hifit, fast ersterbend vor soviel
Bemiihung, vor jedem Tod zwischen Un-
flatigem und scheuBlichem Auswurf immer
neu die humanitare Standarte. Ein genialer
Kontakt gibt ihm aus Wolffbericht, Tittoni-
rede, Stefanimeldung, Reuterdrahtung, Dis-
kurs des Senators Reed, Anspruch des Bischof
von Canterbury das Wechselbild, das Gegen-
teil. Sagt Clemenceau in der Kammer, er
.,,L Original from
i d, v lOogie
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12 Politische Zeichnungen
habe gut geschlafen, verreckt in seiner Gra-
phik ein Soldat am Marterpfahl.
Die gegenstandliche Spannung wird un-
geheuer in der Erregung, anfeuernd in der
Wiederholung von Tag zu Tag, in der Ballung
des stundlichen noch blut- und nervenwarmen
Ereignisses. Die Luge jedes Morgens schleift
er an den Haaren durch seine gerechte Wut.
Die Schminke glitscht herab unter der Hitze
seiner Heftigkeit. Um die neue Welt zu
suchen, rennt sein Herz anklagend und
schreiend durch die Walder des Zivilisato-
rischen und die verhaBten Stadte. Hat er eine
Etappe erreicht, vier Jahre dafiir streitend,
vier Jahre die kleine Brust dem wahnsin-
nigen Europa entgegengeschleudert, hat er
den Frieden erreicht, liegt der als kalter
Alp zwischen ihm und seiner Bemiihung.
Ach, er hatte ihn anders gewollt. Die Toten
sind umsonst gestorben, und schon stehen in
Zeichnung und Plakat die Steinplatten auf,
und die Gefallenen beginnen ihren beschwo-
renden Zug in die Menschheit hinein, die
.1^ Original from
d :v, V lOOglt
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Politischc Zeichnungen 13
nichts gelernt hat und wenig begreift. Wii-
tender wird seine Unrast nun. Er hat das
Plakat der Gesinnung an die von vielen
Schrif tzugen der Verleumdung besudelte Saule
Europas geschlagen ; als keiner der Begnadet-
sten, aber der Tapferste sicher martyrerhaft
den Ausdruck der Seele graphisch zum Aus-
druck der Zeit, dienend im Tagwerk, gefiihrt,
auf vieles verzichtet in dieser Erregung zu
helf en, zu klagen, zu fordern und viele Men-
schen entflammt. Jede Zeichnung ein Gebot,
jede Kurve eine Mahnung. Sein Plakat kennt
keine Nation, keine Grenze. Das Manifest
heifit immer: auf Kamerad. Jede Zeichnung
hat ein Herz: Confreres et Amis.
Einer hat die politische Zeichnung auf-
gegriffen und ist unter die Menschen damit
gel auf en, und weil seine Hand rein und sein
Herz von schonen Traumen der Gerechtig-
keit schmerzlich und leidenschaftlich bewegt
war, hat das Paukenfell des geheimen Euro-
pas der einzelnen Handlung Grofie und Tiefe
des Klangs gegeben.
.,,L Original from
1 lOOgie
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H
QUAND LA GUERRE VA, TOUT VA. . .
Le message Wilson a €t6 accueUli dans les cercles of fidels,
commerciaux et politiques comme l'ample demonstration
d'une longue durie de la guerre. Tous applaudissent A la
fermet£ des id£es exprim£es* (D<pMi« h*tu du cyii)
Wenn der Krieg geht, geht attes
Wilsons Bctschafl ward in Kretsen der Regierung* des Handel* und der
Politik als bOndlger Bewets etner tangm Kriegsttauer aufgenommen* AOe
rQhmen die Fes&igkeit der darin nitdergeUgUn Gedanken.
(Atcldung Havas am Chile.)
, I , Original from
•OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN
15
Original from
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i6
CONSCIENCE 1917
Nous sommet tous au combat sous les ordres de la Con-
science humaine. (Dipcoun Clcmcntem i I* cldtur* 4* U eonffcc&ca
tate»ui6e.|
Gewissen igiy
Wir stehtn all* irn Kampf unUr dtm Obttbefthl des Gewissem der
MtnschheiU (Rede CUrmnczam zum SchUffi der inttraUUertcn
Konjerenz.)
.,,L Original from
1 d, v lOOgie
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*7
<M*#
I , Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
i8
MAIS LA CHASSE
A LA GUERRE EST INTERDITE
La lutte centre le pavilion blanc est d£clar£e obligatoire
pour les communes et les proprittaires fonciers, avec le
concours de la jeunesse scolaire.
(Ordooamce du Cornell d'Etat du canton de B*rn* )
Aber die Jagd auf den Krieg i$t verboten
Der Kompf gegen den Kohtwelpting mit Hitfe far Schuljugend wird den
Qtmeinden und QrundbestUem zur Pfllcht gemocht.
(Verordnung des Staatsrato im Kanion Bern.)
, I , Original from
•OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN
19
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ao
LA LUMIERE,
LES HOMMES ET LEUR OMBRE
Au cours des seines tragiques qui se d£roulent actudle-
ment dans cette guerre, une luxnidre crue et impitoyable
se projette sur tout arte et sur chaque homme* (womo.)
Das Licht, die Menschen and ihr Schatten
lm Lauf dtr tragischen Ereigntsst, die sich fetd in dt&em Kritg abspleUn,
fdiU tin grtUts, unbarmherzigm Lidtf auf ftde Tat und jtdtn Mtnschen.
(Wilson.)
Original from
ibyLjOOglC
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21
*ib* -
A*
I by C>0(
Original from
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MOLOCH A FAIM
Ce matin, Pattaque ennemie s'est produite sur un tr6s
large front. (CoDununiquifrttt^ai*.)
Moloch hat Hunger
Heute morgm begann der feindtiche Angriff QtiS sehr brtittr Front,
( Franz&sUcher Heircsbtridti.)
.,,L Original from
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23
■-,. ■ ._ r'/M^nLi Original from
. by^OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN
FAUT PAS S'EN FAIRE
Paris, 6, Haras. — Les journaiuc apprennent de Washing*
ton que Is raid des sous-niarins allemands aux Etats~
Unis n'a produit nulls fenotion dans les cercles officiels.
Man darf sich nichts draus machen
Parte, 6 t Haws. — Dm Zeittmgm wird aus Washington gttruldti, detfi
die Unternehnumg far dtut&chen UnUnttbooU gegm die Vereinigim Siaedm
in offizitllm Kreiaen kitne Erregtmg vtrurwocht hot.
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25
i by Google
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26
ET LA BELGIQUE?
Depuis le debut de la guerre, nous avons pratique une
politique de managements & regard des neutres.
Und Betgien?
Sett Kriegsbegtnn haben wir den NeutraUn gegentlber tine schoneruU PaUtik
verfoigt, (Stresemann im Reichstags
.,,L Original from
i d, v lOogie
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*r»v;jCT<
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DECISIONS INEBRANLABLES
. . . Les peupies amtricain* et fran^ais . * * enviiagent
avec une fermeti inibranlable, dans la sereine conscience
de leur devoir, la t&cfae liMratrice qu'ili ont jur£ d p ac-
complir jusqu'au bout . . . (Potaart)
... En avant done, avec Dieu, vers de nouveaux exploits
et de nouvdles victoires! <G«flituro*n. R)
UnerschutterlUHe Entschtiisse
. . . Die V&lktr Anrnlkm und Frmxkrttdm . . .fasten mit tmtmthMterlither
FttUgktii und im ktarm BmvtifttMin Uirtr Pfltcht dU Aufgdb* dtr Btfntung
ins Auge, dit ste big nan Bndt durdaufOhrm ge&hwerm hotm,
(PoincariJ
Und nun vorwtols mit Gait, nmm T&m und mum Sitgen tnt&gml
(WiXhdm //, JU
.,,L Original from
i d, v lOogie
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*»
ABATTOl
■■(.
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3<>
PLASTIQUE MODERNE
Londres. — Lea aviateurs britanniques sur le front de
I'Aisne font un travail admirable*
Berlin. — Fiddle aux traditions l'escadrille a ajouti de
nouveaux succ&s aux anciens.
Paris* — 8 tonnes d'explosifs ont 6tfc utilises de cette
maniire, donnant les meilleurs r£sultats.
Moderne Plastik
London.— Die brittschen Flitger vtrrichtm an derAisne- Front bewundems-
werte Arbeit,
Berlin. — Qetreu ihren Traditional, hat die Staffel neue Brfolge den atten
hinzugefdgt.
Paris. — Acht Tonnen Sprmgk&rper wurden oaf dies* Welse verwendet
und gaben die besten Result ate.
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
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3i
t ■' "" , I , Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3*
FETES DE L'AN: LES UNS MEURENT . .
D'autres en profitent et I'amuaent
Jahrestage: Die einen sterben , .
Andtn zfcftm Avon* VoittU and VtrgnOgm.
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
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33
t ■' "" 1 I , Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
34
CHAMPION DU PACIFISMS
Je suis chaleureusement en faveur de la pais et je suis
profond&nent convaincu que la pais ne peut pas #trc
obteaue sans la victoirc et sans que rAUemagne re-
connaisie qu'elle est battue. (DtdmtbaCcdi.)
Vorkampfer des Pazifisrnus
Ich bin tin warmer Freund da Friedent and bin tie/ davon fiberzeugt,
dqfi dtr Fried* nicht erreicht werdrn harm ohne Sttg and ohne die Etnsicht
DtutschUmd&t d&fi es geschlagtn ist. (Erkt&nmg Cecils.}
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
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35
.
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
36
EST-IL PERMIS D'EN DOUTER*
M. Barrds, dans l'Echo de Paris, 6crit: Nous sommes
autorisfo i, constater, le ccour dibordant de joie t que les
£v6nements prennent un tour plus favorable pour la
France et la liberti des peuples.
fst's ertaubt zu zweifetn?
Maurice Harris schreibt irn Echo de Parts: Wir durfen mtt Qberstrtmender
Freude unseres Herzms feststetUn, daft die Ereignisse elne far Frankretch
and die Vdtkerfreiheit gQnsttgere Wendung nehmen.
, I , Original from
-OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN
37
Dig in
Original from
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38
MAIS LE VRAI DIEU RfiPOND: PAIX SUR
LA TERRE ET BIENVEILLANCE PARMI
LES HOMMES
Washington, 9 (S. A.)* — Le Sjnat a adopts une re-
solution priant le president de lancer tine proclamation
au peuple am£ricain pour que celui-d consentit une
minute de pri&re quotidiennement k midi pour invoquer
Tissue victorieuse de la guerre*
Aber der wahre Gott antwortet; Friede auf Erden und
den Menschen ein Wohlgefatlen
Washington, 9 (S, AJ* — Der Senat hat tint Entschtteflung angenommen §
die den Prdsidenten trsucht, einen Aujruf an das amerlkanische VoUt zu
ertassen, dqft dieses jeden Tag urn it Uhr tint Minute tang far ein steg-
niches Krtegsende bete.
.,,L Original from
1 lOogie
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39
Dig iH
Original from
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4°
LE SERMON DANS LA CATHEDRALE . . .
. . . QUI N'A RIEN A VOIR
AVEC LE SERMON SUR LA MONTAGNE
(Havas.) — Dimanehe, a cu lieu, dans tous Les diocises
de France, une journ&e de priire pour le succfa des
armies, prescrite par les 6r£ques de France.
Des pri&res ont eu lieu ausst, dimanche, pour la mfonc
intention, dans les tglises et les temples d'Angleterre,
sur rinvitation du gouvernement
Die Kaihedralenpredigi . . .
, * , die nichts gemein hat mit der Bergpredigt
(HavasJ — Am Sonntag fond in alien Ditizesen Frar}kr$ichs auf V*r«
ordrmng der frarutisischen Bischdfe tin etntagigea Qtbet far den Erfotg der
Metre stan.
Oebeie zu gUtchem Zweck fanden am Sonntag auf Aujfordirung der Regie-
rung in den Klrchen and Tempein England* statt.
Jnschrtft uber dem Kntziftx: Du sotigt ntcht tMm.
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
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41
Coook
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
4*
L'AUTEUR
C'est moi qui fais la politique. (Phwmi «-^mi }
Der Urheber
Dit Politik madte I eh. (Rede Hertiing$J
r^/-\ir\afi > Original from
' °°8 K UNIVERSITYOFMICHIGAN
43
Dig iH
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
44
COMMENT ELLE SERA
II veut la paix, mais par la guerre uniquement
(Le pr**td«it dc la Lift* loeiale dtmocratiqiM 4'Am6riquc)
Wie er aussehen wird
Br wilt dm PrUdm, abtr nur dureh dm Krieg.
{Dcr Vorsiiunde dm mntatdemokratisehm Verbandes von Amerikaj
, I , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
45
/"**-» Original from
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46
Madame Sorgue auCongris de 1" Union socialist* italtenne
Vive la guerre! L'tcho du front: Mamanll
Frau Sorgue wtf dm Kongrtfi && Soztaitsttoehen Bund** von HaUm: B»
kbt der Kritgt Echo von der Front: Mutter!
r*-.. .-I- Oriqinal from
' ' K \S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
47
Original from
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4«
IL Y A TENSION ET TENSION
Nous, A r&rritre. supportons la tension comme nos sol-
data l'ont supports, avec confianoe, courage et espoir.
(AppL pfOlongis.) (Ditcour* Boa*r Uw.)
Spannung und Spannung
Wtr in der Htimaf ertragen die Spannung tbmso vie unsre Soldattn sie
ertragen haben, mii Zuversteht, Mid und Hoffnung. { Umganhattmder
BeifalL) (Red* Bonar Laws.)
.,,L Original from
1 lOogie
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49
,,,!,» Original from
1 .oogic
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So
LA GRANDE AUBE
Le peuple d'Amfcrique sent battre dans son cceur un
grand sentiment de sympathie pour les homines de tous
les pays qui souffrent et sont opprimes, U n'6pargne ni
son sang ni son argent afin qu'il puisse, lui et les homines
de tous les pays, voir luir l'aube du jour oft triompheront
le droit, la justice et la paix, (Dimim de H. Wii*» + >
Die grope Morgenrote
Das amerikanische Volk filhtt in seinem Herzen eine grofie Zuneigung
teben JiXr die Menschen alter Lander, die tetden und unierdriickt werden.
Es spart ntcht sein Blut noch setn Geld, damlt es, und mit ihm die Menschm
alter Lander , dte Morgenrtite jenes Tages konnen leuchten $ehen t da Recht,
Gerechtigkeit and Frteden triumphieren werden. (Rede Wilsons.)
.,,L Original from
1 lOogie
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Si
f ' . Original from
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S3
QUAND LE BATIMENT VA, TOUT VA
Dans mon for int&rieur, je suis convaincu que les si&cles
de pais n'auraient pu cimenter 1* union de cette nation
comme l'a fait cette seule ann£e de guerre et, mieux
encore, si cela est possible, qu'elle cimente 1'union du
inonde. (Allocation Wfltao.)
Wenn der Bau geht, geht alles
In meinem innersten Qewtssen bin ich Qberzeugt t dafi die Jahrhunderte
des Frtedens die Einhett dieser Nation nickt so fest HQtten kitten k&nnen,
wle es dieses eine Kriegsjahr getan hat; ja, tin Besseres noch, wenn dies
mdglieh ist: dap dieses Kriegsjahr die Etnheit der Wett gekittet hat.
(Ansprache Wilsons*)
, I , Original from
'°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
53
Gonok
Original from
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72
LES HOMMES ET LA GUERRE
Die Menschen and der Krieg
Dtr Sitter.
f~* #-\f\, vl, . Original from
1 °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
57
LAPRES5E
t ■' "" 1 I , Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
74
LE SABBAT
lis se disent enchant£s de leur visile au front am&ricain,
ou ils constatent une confiance, une bonne humeur et
un entrain extraordinaires, (Le Matin.)
Hexensabbat
Sit ntnntn sich tntzQckt von ihrem Besueh an der amerikant&ehen Front,
wo sU tine Zmrtrsicht, eine Wohlgtlauntheit und ttnen Etfer ohnegleichen
feststeUen. (U Matin,)
Original from
: ■:.■: I lOOglC
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75
IbyGoOgl*
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
PERSONNE NE V ATTEND . . .
. . . SAUF LE MONDE ENTIER, A GENOUX
Persoane n'attend la paix oette aonfc,
{*LU dtpui* Borfeud i « aumta unirfcftfa*.)
Niernand erwartet ihn
. . . N«r kniegebeugt die game WeU
SUmand erwarUt dm Frttdm in d/««m Jahr
(Abgwr&xettr Borland in dm amtrikmtehm Konmcr.j
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
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77
*. •*
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
78
L'INVOCATION SACRILEGE
Malheur aux nations qui ont cru pou voir iteindre pendant
la guerre le flambeau du sentiment chrttien.
i DUcourt du price* Max de Bade aii Grand Due, )
Gotteslasterliche Anrufung
Wehe den VOikern, die wGhrend dts Kriegs die LeucMe des chrisilichm
GefUhls gtaubten vcrl&schtn zu kdnnen.
(Ansprache des Prinzen Max von Baden an den GrqfiherzogJ
, I , Original from
-OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN
79
Dig
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So
A LA FONTE
ET SI ON COMMANCAIT PAR CELUI-LA
A propoi de la fonte prochaine de monuments historiques
en Allemagne, la «Gazette de l'Allemagne du Hord* est
d'aiis que Ton peut facilement se consoler de la perte
de nombreux monuments sans valeur et mal situis*
Zur Schmetze
Sollte man nicht mit dem da anfangen?
Zur bcvorafohtndm Einschmelzung historltcher Denkmtlier in Deutschtand
btmtrkt die Norddeutsdu AUg. Zttiung, man kOnnt sich Ittcht trdsttn titer
dm Veriutt zahtrelttxr Dmkm&Ur, die ohm Wtri and sthttcht mfgtsUUt
.,,L Original from
i d, v lOogie
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8i
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
82
CIVILISATION
P, T, S. — New- York. — Les race* blanches reprfsentent
la civilisation et ^instruction. (DUcour* 4u Sfoateur Ru4)
Zivilisatton
P. T. S r — Ntuyork. — Die wtipm Rassen sUUm dit Zivilisatton und
dii Bildang dm, (Rede dm Senators Read.}
.,,L Original from
i d, v lOogie
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83
6«
Dig in
Original from
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84
LA MORALITE D£ DEMAIN
Washington (Reuter) — Les Etats-Unis tie peuvent pas
refuser leur role de guide moral, sans infliger k L'humanitt
line profonde deception,
Die Sitttichkeit von morgen
Washington (Reuter). — Die Veretnigten Staaten U&nnm stch ihrer Roile
ate FQhrer zur Sitttichkeit nicht mtziehen, ohne dtr Menschhett tine tiefe
Enttduschung zu be r til en.
, I , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
85
Original from
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86
AU PAYS DES 14 POINTS
P. T. S, New-York* — Une souscription publique sera
ouverte vers la fin du mois de juin en viie de la construction
d'un grand monument de la victoire & Washington.
Im Land der 14 Punkte
P. T. 8* Neuyork* — Ende juni wird tine dffmitithe Subskriptlon er-
tosstn werden zugunsien tines grofien Sitgesdmkmals in Washington*
, I , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
87
Dig
Original from
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88
CE N'EST PAS UN RfcVE
Ceux qui sont morts, sont morts pour qu'une abominable
guerre ne recommence pas* Nous sommes, non des
reveurs, mais des r&alisateurs de la paix.
(Declaration de U. Bourgeois tu banquet d* diMfpam dm luttkfw.)
Dos ist kein Traum
Die QefaUmm sind gtfallm t damit tin verabschewrwv&rdiger Krieg nicht
von ntwm begirmt, Wir sind ktine FriedmstrAamer t aondern FrUdm*-
verwirkltchtr,
{Rzde von Bourgeois beim BanJuttdtr V#lkerab&rdnungm*)
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
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89
Dig
Original from
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*o
LES VICTIMES INNOCENTES
Paris 16. — Au cas oil l'Allemagne refuserait da signer
le traitf, les Quatre ont d6cid6 le blocus absolu.
Die unschuldigen Opfer
Part* 16 . ~ FQr dm Fait, dap Deutschland die UrUentichnung des Ver~
frogs wrweigem s&lite t habm die Vi*r die voUst&ndig* Blockade b &mkl BMm*
.,,L Original from
1 lOogie
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9i
Dig
.
Original from
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9*
FINIS CORONAT OPUS
Rome (P. T* S«)< — Le diputi Monti Guarnicro a pre-
senti & la Chambre un projet de loi demandant que le
Podgora, le Monte San Michele et le Sabotino, thMtxes
de la guerre, soient proclamis monuments nationaux.
Ende gut, alks gut
Ham, — Der Abgeordntte Monti Quarniero hat in der Rammer elnen Oe-
seizesvorschiag eingtbracht, der vtrfangt, dafi der Pod&>ra t der MonU San
MieheU taut der Sabottno, Schmpttitu des Krtegs, zu NatimaktenkmOUrn
trkUtri werdm.
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
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93
I , Original from
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94
ET LA DANSE RECOMMENCE
Laibach, 10 (ag.). — Le Bureau de presse tch^eo-slovaqua
communique: Aujourd*hui a commenct avec un grand
meets la mobilisation de cinq classes d'Ages* Les soldats
sont arrivfcs en grand nombre et tr£s joycux.
Und der Tanz beginnt von neuem * . *
Laibach, zo. — Das tsehecho-stowaktsdu Pre&stbfkro teW mit: HmU begann
mit grafitm Erfolg die Mobitmaehung von fQnf Jahrestdassen. DU Soldattn
attUttn sich in grafter Zahl und In uhr ht Hirer Stimmtmg,
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
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95
Dig
.
Original from
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96
POUR COMPLETER LA DANSE
Petrograd (Wolff). — Le cholfcra a 6c!at£ & Petrograd.
Environ cinq cents cas ont &t& annoncis hier.
Um den Retgen voltzumachen • . .
Petersburg (Wolff). — Die Chalera ist in Petersburg wugebroehm. Qtstem
wurdm ungef&hr 500 F3Ue gemeldet.
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
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97
Original from
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98
SOUVENONS-NOUS
Nous devons nous souvenir des grandes lemons de cette
gU£JT€. (Diicoun de M. Clemeac«*u, i Locdret.)
Denken wir daran . . .
Wtr masstn an die grofien Lchrtn dieses Kritges denken,
(Rede Clemenceaus in London.)
, I , Original from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
99
Dig
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
100
ELLES SE SUI VENT . . .
Londres (Reuter). — On rapporte que le gouvernement
hongrois a didari la guerre bolch6viste contre une sMe
de pays voisins.
$ie folgen einander
London ( Renter }*— Eswlrd gemtldei, dafi die tmgari&che Regicrwig eintr
Reihe von Nochbart&ndtrn den botacluwistischm Krieg erkl&rt hoi.
, I , Original from
-OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN
IOI
/""* .-. Original from
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102
L'EXPOSITION?
Rome (Stefani), — Du 12 au 17 octobre aura lieu & Rome
la lie conference interalliee pour les invalides de guerre.
La conference sera compl£t£e par une exposition.
Die Ausstellung?
Rom (Stefani}.— Vom xa. bis 17, Oktober findet in Rom die zmitt inter-
alliterte Konferenz ftir die Kriegsinvaliden staff, Die Konferenz wird durch
tint Ausstellung ergdnzt werden.
.1 — Original from
d :v, V lOOglt
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103
GoogI<
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
104
UN EXCELLENT MONUMENT NATIONAL
Rome (P. T. S.)- — II est question de faire dseler let
noms de tous lea 500 000 soldats et of ficsers italiens tomb&s
dans la guerre, dans le monument giant de Victor*
Emmanuel II, 4 Rome. Le monument deriendrait ainsi
un excellent monument national.
Ein ausgezeichnetes Nationaldmkmal
Rom {P. T. $.). — Man spricht davon, die Namm samtUcner 300 000 iia-
lienischm Soldatm undOffteitn, die im Krieggefatlm stnd, in das Ritsm-
denkmal Emartutls IL zu Rom tinmetfitin zu Imam. Das Denkmal wQrds
so m eimm ausgezeichnetm Nattonaldmkmal wtrdm.
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t " 1 I , Original from
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io6
CE N'ETAIT PAS LA PEINE
Washington (Havas). — La Ligue des nations pr£voit tine
action militaire pour proteger ses membres.
Das war nicht der AAiihe wert
Washington (Mayas), — Der Vdlktrbund sieht tint mititarische Aktion
zum Schuize seiner Miigiieder vor.
(Aufschrift auf dem Grahstein : Qestorben l&r die TQtung des Kritgs.)
Original from
: bj I lOOglC
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toy
Dig in
.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
io8
HEUREUSEMENT QU'ILS ONT LA TETE
SOLIDE
P* T. S, — Milan. — A l'assembtte de protestation contre
la pais de Versailles, ML Turmti dit que Pheure des pro-
Ktariats et des peuples a sonni.
GUickticherweise haben sie harte Kopfe . , .
F* T. & — Matland. — B*i &*r ProtatoewBtimlung gegm dm Fricdtn
von VirsaiiUs $egie Turatt, dit StuncU <&$ Proletariate tmd der V90ctr
r*-.. . , [,-, Oriqinal from
' °°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
xo9
.
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
no
HIER C'ETAIT UN CRIME . . .
AUJOURD'HUI
Chacun n'aura qu'une pens6e; en tuer beaucoup, jus-
qu'A ce qu'ils en aient assez. (Gfoiml G<mr«id,j
Gestern war es ein Verbrechen , . .
Heute . . .
Jeder soil nur einen einzigen Gedanken haben: viele von ihnen zu tdtm,
bis sie genug davon Hubert, (General Gouraud.)
, [ -, Original from
•OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ill
Dig
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
.1 ! Original from
■ 'OOglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
.1 ! Original from
■ 'OOglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
Tribune
der Kunst und Zeit
Eine Schriftensammlung
Herausgefjeben von
Kasimir Edschmid
Willi Wolfradt
Die neue Plastik
Berlin
Erich ReiB Verlag
1920
[ , , ,L Originalfrom
d byV^iOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik
von
Willi Wolfradt
Dritte Auflage
Berlin
Erich Reifl Verlag
1920
1 " , . Original from
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Spamersohe Buohdruokerel in Leipzig
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dem Musiker und Freund
Arthur Willner
Geschrieben Januar 1919
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IbyLsOOglC
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i , . .L, Original from
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Das plastische Bildwerk ist wesentlich
materiell, tin Ding, anzufassen, vorhan-
den* Aber es steht bei uns, ob wir im Bild
des Dinges seine Dinglichkeit oder seine Bild-
haftigkeit aufsuchen wollen. Es steht bei
dcm> der die Dingc macht, das Bild Mittler
des Dinges oder Sinn des Dinges werden zu
lassen. Das heifit: ob es das dem Sein ent-
tauchte Sinnbild des Werdens — oder das
aus dem Werden zum Sein sich verfestigende
Bild in Urnacht heimkelirender Besinnung
sein soil. Danach bekommt es eine Gravi-
tation zur Quelle oder zur Grtnze, zum
Wesen oder zur Emanzipation, zum Elemen-
taren oder zur Differenzierung.
Dies ist die fundamentale Wahl des Zeit-
geistes vor dem Kdrperlichcn, vor der Sub-
stanz liber haupt : ob er den Korper, die Sub-
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
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10 Die neuc PUstik
stanz a*s Kern des Wesens oder als Gehaus
des Wesens auffassen will, — anders aus-
gedriickt : ob er das Wesen der Dinge als in
ihrem Korper bcschlossen oder als jenseits
und trotz demselben geschehend erkennt.
Wir stehen also vor dem plasttschen Ding
als dem Gleichnis des Dinges iiberhaupt und
verfugen, ob es in seiner korperlichen Ge-
stalt mchr vom Urgrund seines, ja alien
Seins oder mehr von der Gebarde eines jen-
seits des elementaren Seins geschehenden
Werdens und Auswirkens bergen soil. Es
heiBt, das Sein eincs Korpers betonen, wenn
man in seiner Darstellung all das hintan-
setzt, was ihn kennzeichnet abgesehen
von den Grundbedingungen seiner Existenz.
Solche Grundbedingungen waren etwa seine
Dreidimensionalifcat, seine Kontinuitat, seine
Substanz, seine Statik. Dagegen ist die Be-
wegtheit, die Physiognomic, dieAktion eines
Korperwesens vielleicht auGerst kennzeich-
nend, nicht aber seine Existenz als Ding —
bedingend. Ein Plastikstil also, der danach
[ , , ,L Originalfrom
d byV^iOOglC
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Die neue Plastik 1 1
strebt, das Sein zu formen, wird in gewisser
Weise absehen von allcm, was nicht Be-
dingung 3 sendern Widcrspruch, AuflSsung
und Durchbrcchung der Existenz ist.
Die Plastik der letzten Jahrzehnte und
Jahre zeigt einen aUgemeinen Zug zur Ge*
staltung des Seins, ein stetiges Abebben
dessen, was eine Durchbrechung oder Ver-
schleierung des Existentiellen bedeutete.
Neues Gclten des Steins, des Blocks, des
Korperhaften hat den Rcichtuin der Ge-
barden und Aktionen mchr und mehr iiber-
wunden. In der Malcrei ist die illusionistische
Leugnung der Malflache ihrer Betonung ge-
wichen; die Architektur gonnt der Wand
einen neuen Stolz; und ganz entsprechend
hat sich die Plastik auf ihre elementaren
Gestaltungsmoglichkeiten besonnen. Sie hat
die Form auf die in den einfachen Bedin-
gungen ihrer schieren Existenz sich satti-
gende Korperlichkeit reduziert. Die Kon-
zentriertheit und Geschlossenheit des Steins,
der enthaltsam von Zerkliiftung und zer-
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
i a Die neue Plastik
setzender, aufloscnder Gliederung das Ge-
sicht seiner materiellen Schwere ehcr wahrt
als aufzuhebentrachtet, die summarischo Ge-
haltenheit und kernhafte Ballung der neuen
plnslischea Form versimibildlichcn treffend
das in sich beschlossene, unzersplittcrte
und einfache Dasein, in dem Material und
Idee noch zur Einheit harmonieren, und wo
es Sinn und Sendung ist, sich sclbst zu er-
fullen.
Wie sehr aber auch die Darstellung des
Seins im Wollen der neuen Plastik liegen
mag, sie ist nur seine eine Seite und mu0
sich tatsachlich nut eincr andcren, fast ent-
gc^cngeselzt gerichtctcu Dominant*: dieses
Wollcns auseinandcrsctzcn. Mit dicscm Du-
alismus der Tendenz ninimt die neue Plastik
nur an der Problematik der gesamlen mo-
dcrnen Kultur teil, zu der es gehort, in jede
Lcbcnsform ihren Gegensatz als Latenz auf-
zunehmen, sei es als cinen Faktor des Aus-
gleichs oder als ein Moment des Konflikts.
So macht es die eigentumliche Problematik
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die ncue Plastik 13
der neucn Plastik aus, der Elemcntarisierung
der kubischcn Form ehic gestci^crtc Dyna-
mik des Aar.drucks, der neuen G&schlosscn-
hcit eiiien neucn Gcstus, der ncaca fonnalen
Logik cine neue Psychologie zu gcsellen. In
nichts aber vcrrat sich das tiefste Wescn dcs
hicr untefsuchten Ausschnittcs der modcrncn
Kultur besser, als in der Wandlung dcs ur-
sprun^Iichen Geftcncinandcrs der sich wider-
sprcehenden Tendenzen zu eincm Inein*
an der,
Gestds: Das ist die Quintesscnz alles
dessen, was jenncits dcm rcinen Sein liegt.
Der Cogcnsatz von Sein iind Wcrdcn tragt
sich kunstlcrisch aus als die Antipodie von
Masse und Gcstus, Jcdcs Kunstwerk ist cin
Schauplatz dicscr eplicniorcn Auseinander-
setzung, ja, jedes Kunstwerk ist im Grttnde
nichts als das* Die Kunst ist quasi ein
cinziges Abrea^icren dieses metnphysischen
KonHikts. Wcnn man nun der rituen Plastik
nachsagen kann, daG die Pole ihrcs Wesens
mit den Sciten dieses allgcmeinsten Konflikts
r , rtAl .f. 1 Original from
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14 Die neue Plastik
identisch sind, so heiBt das, daB sich in ihr
das prinzipiell kiinstlerische Begeben zu be-
sonderer Intensitat verdichtet hat.
Wir erwarten, die neue Plastik set der Oft
entschiedenster Spannung zwischen Sein und
Werden, Hier wiirden die Angriffe der Dyna-
mik auf die kubische Existenz mit heiflcstem
Ungestiim prallen. Aber von vereinzelten
dynamischen Exzessen abgesehen, eignet der
neuen Plastik ein Stil auBerster Beruhigung.
Der Abstand vom modernen Malstil, der
keineswegs ein hemmungsloses Austoben des
Dynamischen, sondern ebenfalls ein Zugleich
von Element arisat ion und geheizter Ge-
bardung enthp.lt, ist frappant. Grund: Nicht
Veidrangung oder Auflosung der Ma-
terie durch die Empfindung, nicht Destruk-
tion der reinen Form durch die atzende Saurc
des Gestus, — sondern statt dessen cine tiefe
Vereinigung und stille Durchdringung
des Kubischen und des Dynamischen, der
Masse und des Gestus, — womit das Wcsen
der jiingsten Plastik und zugleich ihre
("" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 15
Schonheit und kulturelle Bedeutving be-
zeichnet sei.
Ein Zeitalter lebhaf tester analytischer Nei-
gungen ist im Begriffe, in Europa durch eine
synthetische Reaktion abgelost zu werden.
In der Plastik licgt von Haus aus einc Be-
stimmung zu Konzentration und Einheit,
die es erklart, daB gerade sie berufen ward,
das moderne synthetische Wollen zu ge-
stagen. Der junge Mensch entwickelt als
ersten seinen Tastsinn, So glanzen primi-
tive und junge, aber auch zu ihrer Jugend
fluchtende Kulturen in der Plastik, die die
Kunst des Tastbaren ist. Wichtiger aber ist :
in der Plastik spricht die Substanz als solche
jhre eigene Sprache und arbeitet mit ihrer
Festigkeit und Undurchdringlichkeit, mit
ihren statischcn Notwendigkeiten, ihrer
Schwerzerlegbarkeit und materiellen Un-
leugbarkeit der Vereinheitlichungstendenz ge-
radezu vor. Dadurch, daB die Plastik fester
als irgendelne Kunst (auBer der jedoch durch
, I , Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
i6 Die acno Plastik
ihre Zwccke determinierten Architektur) an
die Substanz gebunden ist, ist sic vor alien
andercn Kiinsten zur einheitlichen Form
bcrufen. Jcdc Plastik*
Was ware einhciUich, wenn nicht das
Scin? Ebcn wenn ein Gebilde eine solchc
Vcrflechtung und Organisation dcr Tcile auf-
weist, dafi cin kontinuierlicher Lebensstrom
sic zu durchcilcn und cia Gesetz sie zu regie-
ren schcint, sprechon wir ihm vorstellungs-
rnafiig die Qualitat des Seins zu. So ist also
vollends solche Plastik, die den Ton auf die
(das Sein konstituierenden) Grundbedin-
gungon korperlichcr Existenz Iegt,synthetisch ;
und da die Synthase jeder Plastik (wie so-
eben f est&estellt) soz usage n im Blute liegt, so ist
solche Plastik die eigentlichc und echte. So darf
man dor sUiPmierenden, auf Gebundenheit und
Vereinfachung, auf Sein und Ursprung gerich-
teten Plastik nachnihmen, daB sie ihrem inner-
sten Wesen Ausdruck verleiht, und darf Zei-
ten solchen Plastikstils sicherlich als Bliitezei-
tender eigentlichpIastischenKraftansprechen.
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die ncue PUtfilc 17
Das schwerer zu bearbeitende, daher ein
langeres und bcsonneneres Schaffen erzcu-
gende Material der Plastik, feiner aber die
unabweisbar sich aufzwingcnde Bezichung
der dreidimensionalen (zweckfrcmden) Kunst
zum menschlichcn K6rpcr, der als ein regu-
lierendes Vorbild, als Kanon wirkt, bcstitn-
men von vonihcrcin die konservativc Nci-
gung der Plastik. Und so fallt der modcrncn
Plastik insbesondere die Rolle einer maBigen-
den Reaktion zu, die das chaotische Wider-
einander der Richtungen, wie es etwa in
der Malerei herrscht, betrachtlich aus-
gleicht und der einzelnen Form ihre jahe
Zerrissenheit nimmt. Dieser Umstand eben
verleiht t im Gegensatz zur moderncn Malerei,
hier der synthecischen Tendenz das Uberge-
wicht.
Darstellung des Seins auf der einen, dyna-
misch gesteigerter Ausdruck auf der anderen
Seitc waren die beiden Dominanten der neuen
Plastik. In der neuen Malerei ist gewifi auch
die erste als Tendenz aufzeigbar. Es fiihrt
, I -, Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
ifl Die n*ne PUstik
erne deutliche Lime, die etwa bei Gauguin
in den Lichtkreis der Gegenwartsbetrachtung
eintritt, iibcr Picasso, Henri Rousseau, Ma-
tisse, Purrmann, Pechstein, Erbsloh, Kofer,
Oito Miiller, Pellegrini, Marc usw., die aber
audi bei Cdzanne, Munch, Klee, kurzum bet
fast alien Stavkcn und Schwachen aufzeigbar
ist und bcweist, wie machtig das Moment
des in sich becchlosscncn Scins auch in der
neuen Malerei wirkt. Wie ware denn auch
zvl erwarten, dafl gleichzcitige Plastik und
Malerei voneinander nichts wissen. Weit
lebh after &ber schlagt die Welle dynamischer
Expansion iiber die Leinewaud unscrcr Tage.
Sie schaumt alle Namen in einen allgemeinen
Strudel hinein, sie ist die Grundlage des mo*
dernen Mais tils, Sie peitscht auf das Bild der
Natur ein, daB es sich in wilden Kraftlinien
anbaumt, sie zerrt und preCt die Menschen-
leiber zu rasender Himmelfahrt, sie beult
die Stirnen und kliiftet die Gesichter, gischtet
etnpor in ficbrig zuckender Gcbarde, sie tobt
einher in gellenden und lohenden, in zy-
Original from
: ■:.■: I lOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die nrnc Plastik 19
■ J n ,m n hi ib
nischcn und hymnischcn Farbeksfasen, f&Ut
in glitschendcn Kurven und polternden Kas-
kaden iiber die zerwiihlte Flache, zickzackt
elektrisierten Kontur, wirft Mcnschenstapel
auf, schieBt ins Diagonale und zertriimmert
die rundc Anscliaulichkeit in grausam-vicl-
eckige Splitter, sie geilt jah heran, urn ge-
brochen abzustiirzen, sie engt und schniirt
unmaBig die Gewalten, um furchtbar zu
explodieren, sie stohnt und stirbt, aufer-
steht und triumphiert aus Hollenschwarzen in
Posaunenglanz, umjagt mit Gigantenschritt
den vagen Unikreis aller Moglichkeitcn, ge-
spannt und gcladen mit Empfindung, zer-
berstend in Expression. Ein zentrifugaler
Fanatismus sprengt alle Form, um die kalei-
doskopische Zersprengtheit, das Domino-
gefiige der Scherben Form zu nennen. Un-
bandiger Utopismus hastet in atemlosem
Tempo und sich in Sell n sue htsbranden ver-
zehrend iiber das Sein hinweg ins be-
rauschende Nichts — und schwingt sich aus
kiihnen Negationen durch den Raketenwald
, I , Oriqmal from
' '°°8 K UNIVERSITY OF MICHIGAN
20 Die.neue Plastik
aktivistiscner Forderung hindurch in kaum
erahnbare Imagination hiniiber. —
Im ganzeri betrachtet, ist die moderne
Malerei efne heftige Revolution, die rnit de.m
vielschneidigen Werkzeug impressionist ischer
Analytik durch den Kosmos pfliigt, um bis
zum Wesen der Dinge gewaltsam hindurch-
zuftoflcn. Auch ihre letzte Einstellung geht
auf Synthese, abcr sie gestaltet diese Synthese
noch nicht. Wie auf dem Grunde des revo-
lutionaren Chaos der politischen Gegenwart
ein fester Wille zum Staat liegl, dessen Vbr-
stellung noch das . anarchistische Weltbild
wie mit dem Winkelmafl zimmert, so liegt
der dynamischen Wucherung divergierender
uad sich hart uberschneidender Formvorstel-
lungen in der Malerei der Gegenwart ein
unenlwegter Wille zum Aufbau zugrunde.
Da ist bei allem Umsturz dos Gewohnten
und Gcfalligen eine Besinnung auf die
Flache, ein Zug zum Geometrischen, eine
klare Absage an die Illusion, ein konstruk-
tives Streben, ein Augenmerk auf ciie Vor-
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 21
gange der Gewichtsverteilung, Akzentver-
schiebung, Aufteilung, Rhythmik und so fort,
so daB die Baugesinnung audi der oft so gesetz-
los erscheinenden neuen Malerei ganz aufier
Zweifel steht. Aber wenn sie auch in jedem
Falle zur Synthese gedciht, wie es ja keinen
kiinstlerischen Eindruck gibt, ohne dafl ir-
gendwie die Vereinheitlichung oder (wie es
die asthetische Wissenschaft nennt) die „Esn-
heit in der Mannigfaltigkeit" zustande kommt,
so bleibt es fast immer bei einer Synthese,
in der die revolutionise, psychodynamische,
antimaterielle Tendenz die Fiihrung hat, wie
es dem Wesen des Malerischen im Gegensatz
zum Flastischen auch nur entspricht.
Hier, glaubc ich, darf die geistige Struktur
der neuen Plastik bereits mit der vollen
Komplikation ihrer Eigenart bezeichnet wer-
den, ohne unverstandlich zu bleiben: sie ist
die Synthese des analytischen und des syn-
thetischcn Wollens der Moderne, unter der
Oberhoheit (Praponderanz) der synthetischen
Tendenz, wie sie der AnschluB an die Grund-
, I -, Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
22 Die neue Plastik
bedingungen des kdrperlichen Seins not-
v/endig bewirkt.
Unrndglich, von der neuen Plastik zu
sprechen, ohne immer wieder von Plastik
ganz im allgemeinen zu sprechen. Und das
deshalb, weil die Plastik unserer Zeit eine
Renaissance dcs spezifisch Plastischen be-
deutet.
Die Plastik etwa des Barock hat Unge-
heures vor die Menschen hingcstellt. Aber
sie hat die Menschen dabei just um alle
Plastik gebracht. Sie ist ein oft beruckend
kii liner und genialer Putsch gegen die Ur-
gesetze der Steinsprache, ein Sprung iiber
die Einhcit des Dinges, eine blendende Riiek-
stchtslosigkeit gegen die Tast- und Steh-
wiinsche im Menschen. Man denke nur :
Pugetl Tatze und Schreil Das packt — aber
es erlost nicht. Man kommt iiber die Ver-
bliiffung nicht hinweg, dafl diese furiose Be-
wegun^ starr ist, daft sie steht und bleibt.
Eine Versinnlichung eigener Seinselemente
("" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neiic Piastik 33
ist daraus nicht zu entnehmen. Das aber ist
die Wurzel aller kiinstlerischen Wiinsche
der Gcgenwart. Erhohung des Korperge-
fiihis, des EigenbewuBtseins ! Wir wollcn in
der Sehwere des Steins das Wunder des Ge-
wichts erlebcn, wollen an den Proportionen
des Steins die Magie der Funktion, in der
kubischen Gcschlossenheit der Skulptur den
Mythos vom Fiirsichsein des Einzeldings er-
fahren, urn fiir Last, Organisation und In-
dividualist des cigenen Korpers im Kunst-
werk ein Excmpel statu iert zu sehen und
uns selbst daran zu begreifen.
Nach so vielen Jahrzehnten vcrkummerter
Schatzung des Korperlichcn und verkiim-
merter Korper hat der Geist endlich wieder
Einblick in die ursachliche Vcrbundenheit
seines Lebens mit der korperlichen Substanz
gewonnen. Etwas wie ein Korperfriihling
(in Wirklichkeit eher ein Friihling der Sub-
stanz: vgl. die Handlung in der modernen
Erzahlung, die Tat im politischcn Denken !) ist
iiber die hirnhypertrophe Kultur des Westens
Original from
IbyLsOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
24 Die ncue Plastik
gekommen. Gymnastik ist ein neuer Ernst
geworden. Der blutlose Duckmauser von
einem Gelehrten, der kranke, in seiner Er-
scheinung verwahrloste, an der Tinte fest-
geklebte Literat: sie sind im Versehwinden.
Langsam bekommt der Tanz etwas von seiner
kultlichen Wurde zuriick. Ein guter Schritt,
ein fester Atem, eine volltonende Stimme
gelten wieder etwas. Eine geistige Be-
wegung kann heute nicht mehr eine rein
zerebrale Angelegenheit sein, sondern sucht
im physischen Dasein Wurzelgrund.
Die Beispiele zu haufen, ist kaum ver-
meiclich. Der Aufschwung der Plastik ver-
anschaulicht nur diese Auferstehung des
Leiblichen. Das Innenwesen korperlicher
Existenzbedingu.ngen, der Geist ihrcr funk-
tioncllen Ineinanderordnung, kurzum: das
Scin steht neu im Brennpunkt des ieelischen
Erlebens, Und das bringt unsere Plastik in
Verwandtschaft init der klassisch-helleni-
schen, daS beide sich auf dem Korpergefuhl
aufbauen. GewiB, das ist letzten En des die
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 25
Grundlage aller Kunst, wirkt mittelbar
jedwede Form. Aber die neue Plastik ist
unmitteibar von jener Lust am Sein, am
Leben, am Korperhaben gespeist, aus dem
Geist des Fleisches, aus der Transzendenz
des Physischen geboren.
Was meint: M neue Plastik' 1 ? So wertvoll
die Zerlegung des kunstgeschichtlichen Ab-
Jaufs fur die Typenbildung und diese wieder
fiir die Klarung der Stilentwicklung gewesen
ist, die moderne Neigung zur Synthese, die
auch in der Wissenschaft wirkt, fuhlt sich
von so glatterAufteilung des nimrner stocken-
den, einheitlichen Ablaufs der Geschicbte be-
frenidet. Wo sollte im Strom die Grenzlinie
sein, an der das Alte endet und das Neue
beginnt ?
Selten nur tritt eine schopferische Persfin-
lichkeit so unzweideutig in den Vordergrund,
dafl man einfach nicht darum hcrumkommt,
von ihr ab das Neue zu daticren, Rodin
aber war eine Potenz solchen Ranges. Ob-
i " , . Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
U6 Die neue Plastik
wohl das, was hier als ,,neue Plastik'* be-
trachtet wird, in den meisten wesentlichen
Punk ten gerade als antipodisch zu ihm, als
Oberwindung Rodins gelten muB, so ist der
Autor der u Eva u und des M Denkers" und
insbesondere des M Balzac <( doch der Beginn
der plastischcn Renaissance. Zwar ist die
Annaherung an das Ncuc gcradezu ein Ab-
ebben des Rodinismus; abcr erst Rodin hat
das geistige Niveau fur das Neue geschaffen.
Indcm sich seine Nachwirkungen rnit denen
Adolf Hildebrands, des Bildhaucrs und strcn-
gen Formtheorctikers, kreuzten» lebte das
Neue auf, in dem sie beide sind, wie die
Reaktion das sie provozierende Zustandliche
in sich birgt, Und sie sind darin in einer von
Hans von Marees vorgebildeten organischen
Verschirelzung, die nun bestimmend wird
fiir die Folge.
Der Begriff einer , f neuen Plastik" im
weiteren Sinne kann sich aber nicht auf den
Bezirk der nach Rodin und Hildebrand
entstandenen piastischen Schopfungen be*
i " , . Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 37
schranken, sondcrn mutt auch alios das
umfassen, was das Schen aus dem Kunstgut
fruherer unci fremder Epochcn als Gegen-
wartigkeit erlebbar niacht Und es hat
seinen guten Sinn, hier eigens darauf hin-
zuweisen. Die konservative Natur dcr Pla-
stik stellt namlich cine so besondcrs innige
Verkniipfung zwischen Modern© und Vcr-
gangenheit her, dafl Vorwiirfe wie ,,Niggerel
und Manierismus", die mit Vorliebe gegen
die neuesetc Plastik erhoben werden, ganz
unangebracht erschcinen« Wcnn Plasttkcr
sich Stilen der Vergangenheit anpassen, so
1st das etwas grundsatzlich anderes wie in
der Dichtung oder in der Malcrei. Namlich
kein archaisicrendes Plagiat oder dergleichen,
sondern ein Einlenken in die immanente
Tendenz des Plastischen iiberhaupt, die eine
Riickkehr zum Ursprung, zum SchoB ist. Die
alten Stile primitiver Volker waren meist
elementarer, — daher der Zug zum Elemen-
taren die neue Plastik oft den alten Formen
naheruckt. Das Plastikwerden der Plastik,
, ■ - , , Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
8 Die r.eue Pffwtik
die so lange zum Maleriscben, zur Entkorpe-
rung, zur Illusion abgeirrt war, wcist in die
Richtung der Primitive, Neben den Quali-
tiiten des VorstoBes werdcn die stilleren der
Besinnung leicht ubersehen, indeni ver-
gessen wird, dafl die Besinnung der Vorstofl
in die Vergangcnheit ist, Nicht irgendwclche
For men werdcn jetzt wieder aufgcnommen,
sondorn solchc, die in sich den gleichen
Rhythmtis tragen wie die Bewegung des
Zuruckgehens auf bie. Mit anderen Worten:
eine Besinnung auf zentrifugale Elcmente,
auf Zerrissenheit und Auflosung hatte ntchts
von innerer Notwcndigkcit, konnte also durch-
aus nianieristisch sein, wohingegen Zentri-
petalitat selbst eine besinnungsmafiige Be-
wegung ist. Es gibt nicht Besinnung auf das
Werden, nur auf das Sein*
Was Rodin gibt, ist freilich Werden und
Wachsen und hat noch nichts von jencr ku-
bisehen Abgeschlossenheit, in die aller Gestus
sich zuriickgezogen hat. Er hat noch nicht
das vorwaltende Erlebnis des Korperbaus,
[ , , ,L Originalfrom
d byV^iOOglC
UNIv'ER.".ITY OF MICHIGAN
Die ntuc PListil; 29
kein Gran Empfindung wiirde er der puren
Dreidimensionalitat opfern* Doch hebt be-
reits mit Rodin die Neugeitung des Korper-
lichen, als cities Moments ini scelischen Be-
wufitsein, an p indem cs 2um transparcntcn
GefaB einer gleitenden Inucrliciikeit win!.
Sie ist atinospliarisch, Psyches Gabc, cin Duft
uber oder unier der schimmcrnden Mnrmor-
haut. Nicht eins etwa mit Fleisch, Gclcnk
und Materie. Nicht Geist der Substanz,
Aber doch ebon audi nicht mchr erschupft
in Faltcnwurf und Aktion, Statlk ist nicht
Rodins oberstcs Gesetz, gewiO nicht. Aber
sie dammert bereits lcise durch den uufuB-
baren Mclos seiner Steinrichtungen herauf
und festigt sich bereits in etni;*cii derbercn
Korpcrn (^Denkcr") zum Riickgrat. Noch
ist die bildhaftc Erscheinung, nicht das ding-
liche Sein t Rodins Konzeptionspunkt. Aber
in dem psychischen Lcben seiner Darstel-
lungen entfaltct sich eine Einsamkeit und
Tiefe, daB der Atem des schlummcrnden
Seins sie unversehens einhiillt. AuBerdem
{"" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
30 Die neue Plastik
aber ist Rodin fiir uns die Befreiung von
einem hohlen Akademismus, dessen sche-
matische Ruhe nicht Beruhigung, sondem
Leere war. Rodin wurzelt seine Kunst ge-
wiB nicht in den SchoB der «aftetreibenden
Erde ein, aber in ihm lebt doch eine feine
Sinnlichkeit, von der die Eiszapfen Can ova
und Thorwaldsen nichts ahnten. Unkult-
Hch und fern aller hieratischen Strenge, hat
seine Kunst durch die Tiefe ihrer Beseelung
und ihre tragische Haltung, durch die zarte
Blute ihrer Erotik und durch ihren irra-
tionalen Glanz einen vollen religiosen Unter-
ton, dessen Hallen nicht mehr abreiBt, bis
in unsere Tage. Rodin gibt ein Schwanken-
des und Transsubstantiiertes, aber er gibt
es in geistig so geveifter I-age, gleichsam in
solcher inneren Kondensation, daB er der
modernen Verfestigung und Substanzwer-
dung gleichwohl vorarbeitet. Er ist nicht
Besinnung, aber er ist voller — Sinnung.
Er ahnt kaum den Ursprung seiner Kunst
aus dem Block, aber er ist originell, d. h.
[ , , ,L Originalfrom
d byV^iOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Piastik 31
seinern eigenen Ursprung nahe und immer-
hin in halb resigniertem Karnpf mit dem
Block. So steht Rodin am Eingang dieser
Epoche dor plastischen Kunst, ilir Wider-
part, und zugleich doch ihr Wegbereiter.
Und vielleicht immer noch ihr Groflter.
Vom Griechentum, von der freien Heiter-
keit des Seins war Rodin weitab. Ihn be-
fruchtete die vielregige Problomatik des mo-
dcrnen Lebens, aber nicht die zweifelsfreie
Organik der vermoge ihrer Seinslust und
Selbctverstandlichkeit starken Existenz. Erst
die Synthese aus beidem macht den neuen
Menschen aus. Einiges mogen die Deutsche
Romer dem Plastikstil des 20. Jahrhunderts
davon vererbt haben, aber man wird diese
Erbschaft audi nicht neben dem iiber-
schatzen durfen, was sich ganz natiirlich
;*us der Korperschnsucht an formalen Re-
flcxen dcrsclben cntwickelt hat, Als Stifter
ernes neuen Regelgefiihls, als Propheten
eines formstrengen ktinstlerischen Idealis-
mus aber haben die Mar6es, Fiedler und Hilde-
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
32 Dk neue Plastik
brand ihren Anteil am Neuen. Der Letzt-
genannte vollnnds wirkte durch die Baulogik,
Werk*oJiditat und Fhraseiilosigkcit seiner
mafivollen Kunst als Reiniger und Aufruf
zur Bcsinnung. Sein etwas trockenes Grie-
then tun i f das mehr lehrhift als erfiillcnd
•var, nahm bcgierig den Zustrom an Sccle
aufj der von Rodin auspn^, So sttht audi
er am Eingang des Gartens der neuen
Plastik,
Von alien Kunstcn haben sich die Musik
und die Plastik am engstcn eincm Kanon
angcschlossen, einor festen ftegel oder Grund-
form. Ein vereinbartes System einer Har-
monic von Tonen im einen Fallc, der natiir-
liche, nach seiner gesunden Vollkommenheit
hin ideal isierte menschliche Korper im an-
deren Falle dienen als feste GroBe, auf die
alle Form als eine Abwandlung ihrer be-
zogen wird. Form heifit: Abweichung vom
Kanon. Indent dieser in aller Auflerung
gleichsam als Mafistab enthalten ist, be*
{"" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die ntue Plastik 33
deutct er einc feste Bindung der Form, Aber
wie die Uniform jede kleine Inkorrektheit
odcrVeranderungdesAnzugs auffallig macht,
so laBt der Kanon gerade die feinercn Diffe-
renzen der Gestaltung sehr deutlich hcrvor-
tretcn und ermoglicht eben ein leises und
docli deutliches Aussprcchen,
(Zwischenbemerkung: vielletcht findet die
mcrkwiirdige Tatsache, dafi die Briten weder
eine nennenswerte Plastik noch Musik her-
vorgebracht haben, in dieser Gemeinsamkeit
der beiden Kunste ihre Erklarung. Denn der
britischc Mensch ist von Natur aits stark ge-
bunden, die Kunst aber gestaltet immer im
Sinne der Sehnsucht, d. h. dessen, was man
nicht hat. Daher in England zarte Lyrik
und dynamische Dramatik vorherrschend.)
Der engere AnschluB der neuen Plastik
an den Kanon des mensehlichen Korpers
bedeutet fiir sie einen dcutlichen Schritt auf
dem Wege Zum Ursprung, da der mensch-
liche Korper eine recht gedrangte, statischc,
einheitliche, kubisch eindeutige Form hat
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
34 Die ncue Plastik
und ja gerade der Prototyp des Organisierten
fur uns ist Vor allem gibt es keinen un-
mittelbarsren Reprasentanten des Seins als
unseren KSrpcr, von dem ja alle Seins-
erfahrurg direkt stammt.
So ist denn dcr measchliche Korper, befreit
meist von alien Hiillen, von allem Beiwerk
und aller Umgcbung, dcr cinzclnc Lcib das
fast ausschlicfilichc Thema dcr ncucn Plastik
geworden. Wcdcr Gewand noch Gruppc
entsprcchen heutc tinsercn Fordcrungcn nach
Einhcitlichkeit, Zusanmienfassung, Gcschlos-
senheit jnd Gebauthcit der Form. Die Gruppc
mag dcr Ktinstler noch so innig mit ciuhcit-
licher Hmpfindung durchdrmgen, mit cincr
Akt ion urnschlieficii, sic blcibt ein Viel-
teiliges gerade als Sein, ein Plural dcr Exi-
stenzen, ein Gcgeneinander odcr bcstenfalls
Mitcinandcr von Glicdern. Rodin hat spatcr-
liin versneht, die Gruppc im Block festzu-
halten, Klingcr ist von ahnlichen Bcniii-
hungen zu jenem grotcsken Bildwerk, M Dra-
ma'* heiBt es wohl, verfiihrt worden, dessen
i " , . Original from
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Die nru« Plostik 35
Widerorganik, Ruhelosigkcit und Nicht-
schaubarkeit kaum zu iibertreffen sind, Ro-
dins „ Burger von Calais" beweisen aber eben
dadurch, da8 sie zu dem psych ologisch Tief-
sfen und Reichsten aller Zeiten gehoren, wie
feind die Gruppe der Plastik ist; wirkt doch
auch diese durch subtile Fiigung wcitgchend
vercinheitlichtc Zueinanderordnung mchrcrer
Korper wie cine Szene auf dem Theater.
Eh c dem meinte man, den innigen Zusam-
menhang der Telle durch ihre Mimik her be! -
fiihren zu konnen, wollte mittels der Ge-
b&rde die Gruppe zur Geschlosscnheit bringen.
Heute hat eine von der Physis des Steins,
des Klotzes bclehrte Einsicht gczeigt, daO
nur die Annahcrung an den unzcrkliifteten,
massiven, einhcitlichen Block die elemen-
taren Forderungen zu befriedigen vermag. Ist
schon der Einzelmensch kein urspriingliches
Gebilde — die Gruppe ist es erst recht nicht.
Die Gcgenwart fordcrt von der Plastik:
Tastbarkeit. Darin mag man das Wieder-
erwachen eines Sinnes erblicken und wieder-
j*
{"" r\f\t\h • Original from
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36 Die ncue Plastik
um jene Renaissance des Korpergefiihls und
der schamfremden Sinnlichkeit als einer
geistig ligitimierten Instanz bestatigt finden,
oder man mag sich darauf besinnen, daB
das primitive Getast die Schwere und Run-
dung des plastischen Massivs unmittelbar
zu erleben berufen ist und, wie es denn auch
des Eros bevorzugter Sinn ist, den Eindruck
des Seins am reinsten zu vermitteln vermag,
Der tiefe Zusammenhang der Tastbarkeits-
forderung mit dem ganzen Wesen unserer
Plastik liegt ja zutage. Die Gruppe jcdoch
entzieht sich der Tastbarkeit : die kompliziert
sich kreuzenden Innenflachen der Gruppe
sind der tastenden Hand cntzogcn. Sie kann
wohl im groBen und ganzen den Umfang
der Gruppe abfiihlen f aber die dramatischc
Beziehung zwischen den Teilfiguren muB
ihr selbsfc bei grofier Schulung entgehen,
Uberdies n6tigt die Gruppe die Bewegung,
aus ihrer Latenz herauszutreten, um zum
Trager des vorganghaften Lebens, das sich
zwischen den Teilen entspinnt, zu v/erden.
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die ntue Plastik 37
Und es wird schwer sein, dicse handlungs-
bedeutende Gebardung mit jener Reinheit
der Flachen und Umrifilinien zu vereinen,
die der Wunsch nach harmonischer Einfach-
heit erfordert.
Auch gegeniiber einer weiteren, erst recht
nicht unbedingten, aber doch im Wesen der
neuen Plastik gegriindeten Forderung wird
die Gruppe in der Regel versagen : es ist die
Forderung der Allseitigkeit. Sie Hegt der
modernen Kunst so nahe, wie die der All-
weisheit dem allgcmeinen Geistcsleben. Ein-
seitigkeit und Spezialistentum gchoren der
analytischen Epoche an, wahrcnd Allseitig-
keit eine synthctische Konsequcnz ist, Auch
das Relief ist heute selten geworden oder hat
sich, wo es besteht, der Flachenkunst gc-
nahert. Die AUseitigkeit, die den Beschauer
um die Plastik herumschreiten lSBt, gibt
diesem Schritt ein Ebenmafl der Bewegung,
das 2um vasomotorischen Erlebnis der Rund-
heit und Harmonie der Plastik, aber auch
ihrer Isoliertheit wird. Nur das Allseitige ist
-I— Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
38 Die neue PI a* tile
vollstandig, also abgeschlossen. Die Gruppe
wird es im allgemeinen nicht vermeiden
konnen, durch leere, verwirrende, unrhyth-
mische Linien und Flachen die Gletch\ erteilt-
heit der Leitwolbungen zu durchqueren.
(Wenn es doch gelingt, das zu vermeiden, so
wird es nur auf Kosten der Gruppenhaftig-
keit geschehen konnen. Unter diesem Vor-
behalt gibt es natiirlich Ausnahmen von
alien hier und in der Folge aufgestellten,
stets nur im Prinzip gcltenden Regeln.
Selbstverstandlich setzt sich die lebendige
Kunst unmet' uber die Regel hinweg.) Die
Gruppe griindet sich zu sehr auf den psycho-
logischen Kontakt Mehrerer, um der Logik
des Korperlichen an sich entgegenzukommen.
Aus ahnlichen Griinden bevorzugt die neue
Plastik den unbekleideten Korper, wie sie es
ubrigcns zumeist getan hat, Nach einer im-
pressionistischen Epoche, die sich an die Er-
scheinung hielt mit all ihren ZufalUgkeiten
und Hullen, bedeutet die Nacktheit wiederum
eine Riickkehr zum Wesen und zum Sein.
("" r\f\t\h • Original from
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Die new Plastik 39
Alles Kernhafte wird vom Gewand ver-
schleiert, die Tastbarkeit vcrmindert, die
Substanz des Korpers denn Auge entzogen.
Das Gewand ist — ganz wortlich genom-
men — vielfaltig, es lockert die ruhige Ge-
schlossenheit der festen Masse, lafit sie in
Bewegung vcrrieseln. Die organischc Ein-
heit, der Bau, das Ware Gefiige des Leibes
liiBt es Terschwimmen und die Schwere, die
heilige Schwere, entflattern. Das Gewand
hat ctwas Unernstes und Triviales, das den
einsamen Schlummer des korpcrlichen Seins
profaniert; es ist nicht Element, sondern
Zutat, nicht plastischen, sondern malerischen
Wesens*
Was ware niehr gegen den Sinn der Zeit
als eine malerische Plastik? Haare sind das
Malerischste am MEenschen, obschon ihm
organischer verbunden als etwa das Ge-
wand* Es ist nur eine selbstverstandliche
Konsequenz des neuen Stils, die Haare,
jenes vielteilige, in sich iibcraus bewegte,
diffuse und denkbar unkubische Element!
("" r\f\t\h • Original from
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40 Die neue Plastik
zur Masse, zum Wulst zu binden, die Nach-
ahmung der stofflichen Besonderheit hintan-
zusetzen, Periicke und Kopfform nahezu
zu verschmelzen. Gefielen sich audere Zeiten
darin, jede Locke einzeln aufzulegen, so ist
eine leichte Wellung der ganzen Haarmasse
heute in der Regel das Suflerste, was gewagt
wird. Der Kopf ist mehr oder weniger ein
Wiirfel oder eine Kugel ; diese ausgesprochene
und einfache Grundform soil das Haar mog-
iichst wenig verstecken, mag dessen Eigen-
form physiognomisch so bedeutsam sein,
wie sie will. (Die moderne Frisur entspricht
den plastischen Forderungen : Scheitel und
kompakte, helmartige Bildungen herrschen
vor. Manner mit Locken sind vollends selten
geworden und auch das immer haufigere
glattrasierte Gesicht gehort in diesen Zu-
sammenhang.)
Uberhaupt hat auch die Physiognomie an
Geltung eingebuBt. Noch Rodin, der noch die
Gruppe, das Haar und (seltener) das Gewand
gibt, gipfelt alles 1m Physiognomischen. Es
f - * t-i*f\t\\f Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 41
ist die Besonderheit seiner lebcnspriihenden
Portratbiisten, wie eine bis ins Letzte indi-
vidualisierende Lebhaftigkeit, eine vibrie-
rende Durchnervtheit sich darin zur schla-
genden Charakteristik erhebt, so daB man
oft bis auf Sprechakzent, Rauspern und
Schnaufen die spezielle Personlichkeit vor
sich zu sehen und zu horen meint Bei
Rodin ist gleichsam alles Gesicht. Rilke sagt
einmal von der Gestalt des „ Mamies der
ersten Zeiten", jede Stelle seines Leibes sei
ein Mund. Nun ist wohl von alien Teilen des
Gesichts der Mund der substanzloseste, un-
korperlichste, dem Getast unzuganglichste.
Er ist das Organ des Atems und der Rede, die
ins Weite weiscn ; er ist das aktivste Mitglied
des ganzen Gesichts. Die Leiber Rodins
haben in der Tat das alles voir* Mund, sie
atmen und verstromen. Da lugt aus jeder
Schenkelgrube oder Brustsenkc eine indi-
viduelle Physiognomic Demgegeniiber er-
scheint in der Folge : die Typik, die das Ge-
sicht so weit zum Schematischen vereinfacht,
Original from
IbyLjOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
42 Die neue Plastik
als es dem Ausdruck des Seins irgend zutrag-
lich ist. Die subtile Modellierung der Ziige
geht auf in straffer Bcschrn-nkung auf wenige
Hauptfonnen, und auch diese scheinen we-
niger urn ihrer selbst willcn gegeben ?.u sein,
als um der Proportionierung der rcinen Kubik
willcn. Es geht bis zur volHgen Loschung
der Ahnlichkeitsanspriichc. Selbst im Bikinis,
das doch immcr ziemlich an die personliche
Gesichtsform gebunden ist, wird mehr der
Mensch als ein Herr soundso dargestellt;
vollends in frcieren Aufgaben herrscht die
Typilc. Auch das augenblickliche, handiungs-
mafiige Mtenenspiel, die Gebarde der Ge-
sichtsziige, verschwindet um der dauerndea
Verhaltnisse und einfiiltigen Formen willen.
Es schcint hier ein urspriinglicher Gegen-
satz zwischen Plastik und Naturalismus auf-
gedeckt zu werden. Die Widergabe des Zu-
falligen und Momentanen ist gegen den Sinn
der Plastik, denn deren echte Aufgabe ist das
Sein, und das Sein ist jenseits des Zufalligen
und Momentanen. Unter Naturalismus ist
, I -, Original from
' '°°8 ie UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 43
ja nicht eine Betrachtungsweise zu ver-
stehen, die die innerste Natur der Dinge auf-
greift, sondern im Gegenteil diejenige, welche
ihre empirische Erscheinung ins Auge fa8t.
Die Reproduktion des optischen Eindrucks
stcht eher dcr Malerci zu. Spar lie h genug
sind denn auch die impressiontstischen Ver-
suche in der Plastik ausgef alien. Rodin ge-
hdrt keineswegs dahin, wie man falschlich
oft horen kann. Troubetzkoj, Carpeaux
(„Ugolino" I) und unzahlige kleine Namen
kommen hier in Betracht. Diese wie mit
Spachtel und Pinsel bearbeiteten Unkorper-
lichkeiten sind denkbar unorganiscli und
gestaltlos, wtrken bei alter tcchnischcn Mei-
sterschaft und all em Temperament wie Ex-
perimente. Es ist kein Zufall, daB die Oppo-
sition zum Naturalismus wieder einmal eine
groBe Plastik heraufgefiihrt hat. Denn die
Typisierung in der neuen Plastik ist nicht
etwa das Produkt eines zufalligen Sichbe-
gegnens zweier Tendenzen, namlich einer
antinaturalistischen, uberimpressionistischen
[ , , ,L Originalfrom
d byV^iOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
44 Die "cue Plastik
mit einer dementarisicrenden, vereinheit-
lichenden, sonderu riiese Tendenzen er-
weisen an dioser Sxelle nur besonders deut-
lich ihre sachliche Identitat. Typik ist:
Zuriickfuhrung auf das Ailgcmeina, den
SchoO, die Substnnz, Das Sein 1st aicht indi-
viditcll, cs ist typisch.
Der Leib herrscht. Wie das Haai sich den
Grundformen aes Schadels unterordnen mufl,
so der Schadel scinerseits dem Hnupimassiv
dcs Rumples, Die physiognomischen Details
iretc-n hinter der Funktion zuriick. War bei
Rodin der gauze Leib AntHtz, so wird jetzt
das Antlitz zum Leib, In extremen Fallen
kdnneu sich kaum tioch Ohren, Mund und
Nase bchaupten, Wir kommen wieder zur
H&ske und zur Puppe. Nur das Grundsatz-
liche tritt irn Ausdruck hervor. Runzeln,
Fatten, Zerkluftungen gleichen sich aus, urn
einer runden Reinheit der gewolbten Flache,
nm stereometrifrch-einfacher Bildung des
Korperlichen nicht im Wege zu sein. Das
Gesicht hat nur wenig mehr von jener reich-
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neuc Plastik 45
bewegten Flache, die es zum feinen Spiegal
der Seele macht, sondern ist aufgegangen
im Kubus, der erst dadurch die allseitige und
undurchbrochene Geschiossenheit gewinnt,
Riickkehr zur Typik ist die Voraussctzung
der rcligiosen Kunst, uni die alles in unscrer
dem Religiiisen machtig zustrebenden Kultur
wirkt. Jeder Gott wird in einer Sphare des
ganz Wesentlichen vorgestellt, die jenseits
der bunten Welt des Individuellen liegt. Das
Ding, einsam und unberiihrbar wie es ist, ruft
eine Scheu hcrvor, die unbedingt religios ge-
nannt werden muQ. Die Anfange der Plastik
sind umgekehrt aus religioser Scheu, die sich
das distanzierende, verehrbare Ding schuf,
entstanden. So ist der Weg der neuen Plastik
zum Ding: ein Weg zur kultlichen Kunst.
Je weniger das Kunstwerk sich in Effekten
verausgabt, um so gehcimnisvoller wird es.
Je schweigsanier, um so heiliger.
Rodins Skulptur ist in alien Fibern Seele.
Und gerade darum so irdisch; denn nur in
( . ,■,!,. Original from
I by V. lOOOle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
46 Die ntue Plastik
der Latenz, dem Korper einverleibt, entzieht
sich die Seele unseren Begriffen. Die Mystik
des ruhenden, toten, abcr darum nur urn so
geheimnisvollcr Icbcnden Dingcs, seine bru-
tende, laullose, hypnotische Macht iiber den
unsteten Menschen, die entsetzliche Un-
beirrbarkeit des Dinges in mitten der Chaotik
unseres Alltags und der geheimnislosen Be-
tricbhaftigkeit der Strafien und Bureaus : das
sucht sich die Plastik zu eigen zu machen.
Schon das Elementare des Steins macht uns
befangen. (Man kann da einfaeh nichts
Entsprcchendcs wie: „Ach je, Leinewand,
Faibcn und Pinsell" denken.) Die Maske in
ihrer Starr he it vollendet das, denn sie ist
uns fremd, und doch unser aller Urbild —
wie Gott.
Und wie die Dargestellten durch die Damp-
fung ihrer personlichen Zuge einer Gemeinde
von Namenlosen einverleibt werden, so taucht
auch der Kiinstler wieder unter in dem Chor
der Anonymen, der allein berufen sein wird,
uns eine religiose Kunst zu schenken, wie
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Pl&stik 47
sie die Gotik und die exotischen Kulturen be-
safien, erschaffen nicht von einigen Nam-
bnften, sondern von der unsichlbaren Schar
dcr Erfullten, die da wirkten als die Hand
der AUgemeinhcit sclbst.
Auch die Gebarde tritt in der neuen Plastik
in den Rumpf zuriick, aus dem sie kani. Wie
Haar, Gewand und Physiognomic ist auch das
Spiel der Gliodmaflen ein Veranderliches,
das nicht das Sein der Gcstalt ausmacht, viel-
tnehr cs durchbricht und aus der Geschlossen-
heit der Masse hcrausfahrt wie auf altcn Bil-
dern die Scele aus dem Korper. Die Geste
ist der Erzfeind des Plastischen. In ihr ge-
winnt die Linie eine selbstandigc Macht, die
dem Korper gefahrlich wird. Sie hetzt das
Sein aus seinen Tiefen und zcrpulvcrt es
zu Aktion. Die Gebarde tastet sclbst und ist
nichts weniger als tastbar. Es ist bereits zur
Genuge gesagt, was die Gebarde alles im
Schilde fiihrt, denn Haar, Gewand, Gruppe,
individueller Gesichtsausdruck : das sind ja
, [ -, Original from
•OOgie UNIVERSITY OF MICHIGAN
48 Die nsue Plastik
nur besondere Erscheinungsweisen der Ge-
barde, und ihre Ubel hmsichtlich der echten
Plastik sind die Obel der Gebarde.
Wahrend der Plastikstil etwa das Barock
sich in heftigen Gestikulationen geradezu
erschopft und auch Rodin noch den Korper
aus der Gebarde heraus entstehen Ia'Bt, macht
sich bereits bei Adolf Hildebrand durch die
Wiirdigung der Anatomie des Rumpfes eine
Fortwendutig von allem Gebardenstil be-
merkbar. Und in der Folge konnen wir be-
obachten, wie sich die Arme dichter an die
Masse des Korpers anlegen, sogar ganz mit
ihm zu verse hmelz en wagen. Nicht selten
hangen die Arme still und erfiillt herunter,
und einfach, mit zwanglos aneinanderge-
schlossenen Beinen, steht die unbewegte
Vertikale des Aktes in einer Konzantration
aller Kraftc vor uns, die lange Zeit vollig ver-
lorengegangen war. Dieses schlichte, ent-
spannte Dastehen ist geradezu die Grund-
stellung der neuen Plastik geworden. Da-
neben ein Sitzen und Hoeken, das eine noch
, . , .1,, Original from
I byV* lOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 49
engere, blockmaflig summierende Inein-
anderfaltung der GliedmaBen gestattet, bis
letzte Versuche, etwa die eines Archipenko,
nilt gewaltsamer Knauelung und embryo-
nalen Verplumpungen sowie kunstlichen
Torsobildungen ein Minimum an Gebarde,
eine ganz verdichtete Fassung herzustellen
suchen,
DaB uns der Torso, die durch die abschlei*
fende, abrundende Gewalt der mahlenden
Jahrhunderte von der Gebarde aller Glieder
und des Kopfes befreite Skulpfcur, nicht mehr
als Kriippel und zerbrochener Plunder gilt t
sondern in seiner besonderen Schonheit (nicht
nur als Antiquitat) erkannt wird, kennzeich-
net das WoIIen der neuen PJastik. Der Torso
wirkt auf uns gar nicht als Bruehstuck, son-
dern als der aus allem Fragmentarischen
herausgeschalte Kern, als Vollendung, als
ein Unzerstiickbares, als letztes oder doch
vorletztes Produkt der Riickverwandlung
ursprungwarts: zum Block aus Stein*
(Noch eine Anmerkung zur englischen
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
50 Die ntue Pin %tifc
~^ ■ — -^~- — - — . ■■ — ■ — ■ _,
Plastik, die dadurch so intcrcssant ist, dafl
cs sie nicht gibt. Die Englander sind im all-
gemcinen McHSchen niit hochst cingeschrank-
ter Gcbardensprache, gelassen und gebunden
in ihrem ganzen Auftreten. Die Plastik hat
nun dicse bciden psychologischen Voraus-
setzungen: das Herumfahren der Hande im
Raum oder die Vorwegnahme der tastenden
Gestaltungsgcbarde in der Vorstellung einer-
seits — und andererseits die Sehnsucht nach
Gebardenlosigkeit, nach Verfestigur.g des
korperlichen Ausdrucks. Diese Sehnsucht
aber wird naturgemafi nur der haben, der
an einem UbermaS der Geb&rde labor iert —
und das ist gewifl nicht der Englander, dem
beide Voraussetzungen des plastischen Ge-
staltens somit fehlen.)
Es besteht die Gefahr, daB die hier ge-
machten Feststellungen fur endgultiger und
unbedingter gehalten werden, als sie in der
widerspruchsvollen Wirklichkeit ernstlich zu
sein den Anspruch erheben konnen. Alle
i Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die n*ue Plastik 51
Wirklichkeit steht untcr gewissen Gesctzen,
ohne sie darum durchaus zu bcfolgcn. Vor
alien 1 aber fur die Moderne ist jencs Gegen-
einander der Tendenzen so cbarakteristiseh,
das vorhin in scincm Zuglcich von Ent-
sagung und Begchr, von Besinnung und Er-
regung, von Verinnerlichung und Ausdrueks-
streben zur Geniige beleuchtet worden ist.
Auch die neue Plastik hat Teil an dieser
Dualitat; wie sollte es auch anders sein.
Gerade die Gebarde wird zum Zunglein
an der Wage und zum Empfangnispunkt der
Synthesis. Der dynamische Antrieb, der
Expressionismus der Moderne fordert die
Gebarde ebenso sturmisch, wie das Sein sie
zahmt. Zwei Krafte modeln an ihr, eine
aktive, die auf ihre Steigerung dr&ngt, und
eine re aktive, die sie zu begrenzen und ein-
zufangen trachtet. Das Ergcbnis: ein Sich-
die-Wage-Halten der Einf llisse, das bald dort-
hin, bald hierin neigt, im ganzen aber zu
wechselseitiger Durchdringung und Befruch-
tung wirkt. Wir finden Bildungen voll-
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
52 Die neue Flastik
kommener kubischer Abschlieflung und
solche, in denen die Ausdruckskurve alles an
sich gerissen hat, Aber das sind Ausnahmen
und Entartungen, die allenfalls als Rein-
kaltur der einzelnen, aus dem Ganzen her-
ausgelosten Formtriebe gelten dtirfen. Die
Art sclbst geht auf Vermahlung. Sie steigert
und speichert und iibertreibt die Explosiv-
gewalt der dynamischen Kraft, indem sie sie
•lurch die feste Form gleichsam wie durch
schmale Zylinder jagt; sie laflt die Bewegung
nur gerade um so viel aus der Latenz heraus-
treten, als es die der Latenz innewohnende
Spannung erzwingt; sie beutet den Stachel
der Hemmung phantasievoll aus und ge-
winnt gerade aus dem Brodeln und Kochen
der Stille Heizstoff. Wie das leise nur at-
mende Meer unendlich beklemmender ist
als das sturmgepeitschte, wie der schiich-
terne Laut oft umreiBt, wenn heroisch
schmetterndes Pathos kalt liiBt: so ist die
schamhafte, zart und sparsam sich regende
Gebarde oft viel reicher an Ausdruckskraft,
Original from
: bj L lOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 53
als das wildeste Recken der Arme und das
protzigste Spreizen der Beine. Wie die
tiefer denn alle fliichtige Lust verschachtete
Sehnsucht von der Distanz lebt, so die ver-
innerlichte, sublimierte Gebarde der neuen
Plastik von den matericllen Hcmraungen,
die ihr seitens der korperlichen Substanz
auferlegt werden. Sie entwickelt eine sang-
liche Sprache der halben Bewegung, der
feinen Geste und ganz schlichten Lebendig*
keit, die in ihrer legendaren Einfachheit so
packend und bergeversetzend ist, wie Ma*
thias Claudius oder Christian Morgenstern
oder das „t)ber alien Wipfeln".
Die Riickkehr zur Grundform erlaubt dem
Kiinstler, rnit kleinen Mitteln stark zu sein.
An der frei und gelassen dastehenden Gestalt
hat die leiseste Neigung des Hauptes, die
schiichterne Hebung der Hand, das scheue
Anheben einer Ferse etwas Bezwingendes.
Die zartliche, hauchartige Modellierung ernes
Leibes verwandelt die ganze Welt. Ein
Armebreiten bekoxnmt ganz aus sich heraus
P/MMvIo Oriqinal from
°°S K UNIVERSITY OF MICHIGAN
54 Die neue Piastik
das Pathos einer das AH umfangenden Liebe,
sob aid es sich mclcdienklar abhebt liber
einem Ensemble rein ausschwingender Fla-
chen, Eine schmale Dehnung im Gelenk,
ein htipfender Vortakt im Knie, ein sachtes
Hochkrampfen der Schulter, ein silbernes
El in z ein der Lippcn : das Auge des Betrac li-
ters weiB kaum davon, und doch ist dieses
Minimum an Gebarde gewaltiger in der
Wirkung als alle verzuckte Akrobatik. Die
Verhaltnisse der Korperteile und ihre Ver-
schiebungen, die Spitzung odor Rundung,
Kehlung oder Wolbung einzelner Formen,
etwa der Schultern, die Verlangerung oder
Kiirzung des Halses * das sind die Grundlagen
aitier taklerftillten, verhaltenen und dabei
des wahrhaft GroBen wohl machtigcn Aus-
druckskraft geworden. Die strotzende Schwel-
lung, die kahle Glatte, der keimende Ansatz,
das zage Abzweigen eines Gliedes und sein
Heimweh nachher, die frohe Buchtung und
ein miides Abgleiten, kiihnes Erkern und
resigniertes Insichlehnen, schmerzliches Beu-
[ , , ,L Originalfrom
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 55
gen und heitere Andacht des unbeirrten Ge-
radevorsichhin : man nennt es, und konnte
tausendmal mehr nennen, und finge doch
den Reichtum der Register dieses behut-
samen Instrumentes nicht ein.
Die Oberflache gewinnt ein bluhendes
Eigenleben, nicht durch delikate Wiedcr-
gabe des Details, nicht durch verwirrende
Entfaltung ihrer kichernden Lockung, nicht
a!s Physiognornie — sondern als Funktion,
als AbschluS der korperlichen Substanz gegen
das Aufien. 1st ale doch das, worm die ku-
bische Form ertastet wird, was als Verein-
heitlichendes allseitig den Kern umschalt;
die reine Flache, die wie in ein schutzendes
Tuch a!le Krafte bindet und ihren Dorn-
roschenschlaf bewacht; die Grenze, welche
die Sumrae aller zum Massenzentrum hin-
gezogenen Werte zieht, Auf der Oberflache,
die der Spiegel der Tiefe ist, malt sich das
doppelte Gesicht der neuen Plastik. Sie bleibt
die feste bindende Grenz flache, aber sie wird
gleichsam durchscheinend. Von innen her
1 Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
56 Die neue P'jistik
buchtet das in den Schranken der Immanenz
zuriickgehaltene Leben heran, die Korper-
seele rnarht das geschmeidige Gewebe der
Kaut zu atmenden Formen schwellen, man
sieht unter ihrem bebenden Teppich die
dunklen Safte kreisen, und in einern Espen-
zittern erkennen wir die Spuren jener damo-
nischen Gewalten, die ein iiberlegener Stil-
v/ille gehindert hat, im Cancan der Ge-
blrdcn auszubrechen. Oft gleich einem ge-
senkten Auge ist diese Oberflache, nach
innen gewendet, bereit, skh aufzutun, scham*
hatt Ifiohelnd.
So ist die Nacktheit der neuen Plastik van
der unbeirrbaren Keuschheit eines starken,
aller Koketterie baren KorperbewuBtseins ;
und sonder Liisternheit und niedlicher Pi-
kanterie spannt sich die schone Oberflache
der Kaut aus als ein den Korper in seiner
Existenz Bedingendes und verzichtet auf die
kosigen Lockungen des Deshabilles. Die
stromende, duftende Haut war Rodins wun-
derbarstes Wunder ; daher hat die Schar seiner
; , , ,L Originalfrom
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die n*i:c Piastik 57
Nachfolger vielleicht der Gestaltung ihrer
Feinheiten, des hauchartigen Flaums, des
porigen r Korns" des riihrenden Schmiegens
mehr Raurti gegeben, als es der neuen Ge-
sinnung entsprochen hatte, Schliefilich aber
hat die Masse sich auch hierin radikal durch-
gesetzt und hat die Oberflache immer stren-
ger auf ihre Funktion als Abschlufi ver-
wiesen, nicht ohne all ihre Gebardung auch
noch in sich hineinzunehmen, gleichsam
aufzusaugen.
Dynamik f o r d e r t Gestus, Verf estigung
beschneidet ihn: die Synthase findet da-
zwischen den Ausweg, dem kubischen Gan-
zen in seiner gesammelten Form Gebarde
zu geben. Die Masse selbst wird Trager des
Ausdrucks ; tragt als Masse den des Hinauf-
greifens, des Ernpfangens, der Abwehr, des
Erloschens. Der Gesamtrurnpf wird Gebet
oder Reue, nur vermoge seiner Langsdch-
nung oder seiner Einrollung. Schlankheit
wird Sehnsucht, und Stammigkeit wird Mut.
In einem seltsamen Winkel wartet der Tanz,
C* i^.t\c\\i > Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
58 Die neu<! Plnstik
und cin statischer Widcrspruch kiindet Ka-
tastrophen. Einc kaum mcrklichc Triibmig
sonst vollkommcner Symmetric wird Triincn
entfcsselndcr Seufzer vcrbisscnerf Wehs. Dcr
Korpcr ist da nicht mchr Schauspicler dcr
Empttudunj»en, sondcrn in seiner din/'Hchcn
Exiutcnz von den Grundrliythmen dcr Emp-
findung unmittelbar bedingt. Das Oval eincr
Korpcrsilhouette fldsse etwas breiter aus,
und es ware cin anderes Wesen und ein
andcres Lied. Das erst vollcndet die Sub-
stanzwerdung des Seelischen, seine Verleib-
lichung.
Ein gemeinsames Verlangen fiihrt so-
vrahl aus der Fcrderung naeh kubischer Be-
sinnung wie aus den dynamischen Ten-
denzen heraus zum Monumentalen : das
Verlangen nach Klarung. Im Monumen-
talen klart sich die Form und die Empf indung.
Weithin wirken soil das Monument. Das will
von ihm Einfachheit, Gedrungenheit, klaren
Aufbau, Kontur. Nicht viel Finessen und
("" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plns.tl!c 59
Details. Alles karg und dicht. Aus dcm
Stehen odcr aus dem Ragcn kann das kom-
men: da ist der Abstand von Statik und
Gestus nicht mchr so grofl. Mnn kann der
Endgiltigkcit odcr dem Wcrdcn ein Dcnkmal
sctzen. Abcr so gcwiO ini Standbild dcs End-
giltigen dffentlich gczcigt werden soil, wic
es geworden ist, und wie in dem des War-
dens das Ziel wird sichtbar gemacht scin
miissen, zu dem cs strebt — so hat die Statik
Ausdruck, und der Ausdruck bcstimmt das
statische Gesetz. Im Monumental en schmilzt
das alles ineinander und gibt dem Sein
riesige Gebarde, der Handlung gefiigte Form.
Andrerseits erzcugt in der neuen Plastik der
synthetische Charakter eine heimliche Mo-
numental itat, die noch aus ihren stillsten
Gebarden wirkt.
Eine noch andere Quelle aber speist den
Monumentalismus der Gegcnwart; der ju-
gendliche Freiheitsdrang. Wie die Gefuhle
selbst, so wagt sich auch das gestaltete Ge-
fiihl wieder ins Freie der Offentlichkeit;
( "* f^r-\r*\n Original from
d byV. lOOglt
VERITY OF MICHIGAN
<5o Die none Flrstlk
und wie fur das gesamte Lebcn, politisches
und personliches, die Offentlichkeit neue Be-
deutang erlangt hat, so auch fiir die Kiinst.
Expressionismus ist eigentlich eine Scheu-
los'gkeit des AuBerns und Offentltchmachens,
zutiefst verwandt mit dom seine Nacktheit
nicht scheuenden frischen Stolz der Korper.
Der metaphysische Zusammenhanft zwischen
Freiheit und Bindung wird darin aufs Neue
oifoakundig, dafi Freiheitsdrang allemal zu
einer Restitution der strengen Form fiihrt,
Man schfimt sich heute so wenig der fiifent-
lichen Begeisterung wie ces freien Da-
stehens, und dieses Bekenntnis zum selb-
standigen Sein findet im statuenhaften Ge-
baren der neuen Plastik seinen Ausdruck.
Man fiirchtet sich immer weniger, sich so
zu geben, wie einen Gott geschaffen hat (hat
einen doch Gott so geschaffen I), und fiihlt
im eigenen Sein das Millionensein der All*
gemeinheit mitschwingen. Der eigene Kor-
per wird offentliche Angelegenheit. Nicht
gestort von iiberladenem Sockel, trivialem
, . ,..!,, Original from
I byLjOOgle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastltc <Si
Umbau oder dekorativer Satilenhalle tritt die
monumentale Figur frei in den weiten Raum
hinaus wie auf ein Forum, ohne kokettes
Schauspiel, bei aller Offentlichkeit ganz mit
sich allein, gehiillt in den Mantel der helle-
nisch-lreien Selbstverstandlichkeit, ohne
Wissen um ein Publikurn. Die Werke der
neuen Plastik unterhalten ganz seltcn Be-
ziehungen zu cinem Objekt aufterhalb des
materiellen Raurns ihrer Ktirperkantinuitat,
— sie verkehren nur mit sich selbst Aber
im hellcn Lichi tun sie das, nicht in heim-
licher Zuriickgezogenheit ; frei und in sich
beschlossen wie Tier und Pflanze.
Es ist offenbar kein Zufall, daB heute die
Tierplastik einen so starken Aufschwung ge-
nommen hat* Die tiensche Form, die ihrer
Natur nach jenseits der individuellen Ge-
barde oder Physiognomie als Bild des unzer-
spaltenen Seins besteht, kommt den Forde-
rungen des neucn Plastikstils weit 6ntgegen.
Andrerseits erfahrt logischerwcise die Dar-
[ " , , .L Original from
VERITY OF MICHIGAN
6z Die aeue Plaitlk
stellung des Menschen bei Betonung der
korperlichen Substanz, der Einheitlichkeit
und Typik eine tierahnliche Auspragung, wie
primitive Voiksstamme sie in Wirklichkeit
besitzen. Man konnte mane he Dar stellung
menschlicher Korper sinnvoll zur Tierplastik
rechnen, wie es in der Vergangenheit manche
antropomorphe Tierdarstellung gegeben hat.
Diese Leibhaftigkeit und keusche Scham-
losigkeit, die unverwirrte Heiterkeit des
Ganz-mit-sich-beschaftigt-seins: das kommt
nur Wesen einer grofieren NaturnShe zu, als
die meisten von uns sie sich bewahren konn-
ten. Das Tier ist dem Stein und dem Holz-
klotz zudem verwandter, als der differen-
zterte homo sapiens, so dad die Annaherung
der Aktplastik an den elementaren Stein ihr
einen Geruch von Animalitat zutragt. Auch
hier mag erkannt werden, daB die Anleh-
nung der neuen Kunst an primitive Formen,
etwa die der Negerplastik, keine willkurliche
Mode, sondern ein Geschehen von tiefer
innerer Notwendigkeit ist.
Original from
K> M" O F TIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Pl&stik 6$
Uberdies besteht insofern ein enormer Un-
terschied zwischen dem Stil der primitiven
und dem der heutigen Plastik, als jene kein
Zurucklenken aus dem Uberdrufl, keine Be-
simiung zur Einfachheit ist, sondern die
naive Einfachheit des Anfangs. Etwa bei
Wertung der Modellierung ist diese Betrach-
tung nicht ohne Belang. Ehedem war eine
glattpolierte Korperflache unmodclliert, wah-
rend sie heute eine bis auf ein Minimum be-
schrankte Modellierung aufwcist. Es kam
ehedem kaurn darauf an, ob die Wolbung der
Oberf lache genau so oder anders verlief, wah-
rend heute die Nuance alles ist. Wir haben
eigentlich eine sehr heftige, aber verhaltene,
unter die Flache zuriickgedammte Modellie-
rung. Kurzum : das Insulanergotzenbild war
fast ganz Symbol, wahrend wir, selbst bei
noch fortschreitender Verkultung der Kunst,
die Schonheit dcs mit sich identischen Gegen-
standes suchen. Den Primitiven laBt die
Furcht, uns die nur tiefer besitzende Scheu
nicht naturalistisch werden, Die Ruhe der
f - "* r-\ f \t\\t > Original from
.yl»OOglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
64 Die <*?ue Plostilc
Oberflache ist heute nicht Schreckstarre,
sondern stilles Gebet, und es hat nie eine
feinere Modellicrung gegeben, als in unserer
Plastik. Ein Hauch furcht ihren schleiernden
Wellenschlag, ein Stocken in der Atmpsphare
verfinstert ihren sahnigen Spiegel. Sie ist
auBerst reagibel und stets auf dem Sprunge,
zur Sturmflut der futuristisch-dynamischen
Exaltation aufzubrausen,
Ganz ahnlich ist die mod erne Sratik
keineswegs die selbstverstandliche, nie proble-
matisch gewordene der Insulancr, sondern
das Ergebnis vieler sich fast aufhebender
Exzesse. Die griechische Scheidung nach
Stand- und Spielbein, die als ein hohler
Siegesalleenpomp bis in unsere Tage den
Akademismus beherrscht, ist weitaus simpler,
als das Stehen auf zwei gleichmaBig be-
lasteten und von gleichen Spiclmoglichkeiten
stabilisierten Beinen. Das ist ein gar cmp-
findlich ausgewogener Zustand, eine schwe-
bends Statik, in der tausend Tanze traumen
und tausend Schritte harren. Der Nicht-
,,,!,, Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 65
wissende und der Vielweise mogen vor den
ewigen Fragen dieselben Antworteu geben,
und doch sind diese Antworten so himmelweit
verschieden voneinander. So verschieden
sind auch die naive und die neue Statik,
Hinter der einen steht die Natur, hinter der
andern die Kultur, Unerhorte Erlebnisse
hat die neue Statik hinter sich. Von Kathe-
dralen weifl sie und von Fontanen. Sie hat
den Sinn eincs Opfers.
Der Opfcrndc weiB. Die neue Plastik ist
eben bewuBt, ist Besinnung und Erinnerung,
Ihre Sinnlichkeit ist ihr intellektuell ver-
mittelt. Ihre Naturwerdung ist Kulturpro-
dukt. Sie ist doch Psychologies aber ver-
mogc der Logik der Substanz und des Kon-
stiuktiven. Sie ist Abstraction — und appe-
liert an die Einfiihlung. (Dies an Worringer
und seine unhaltbare Antithcse!) Sie ge-
langt zur stereometrischen Einfachheit wie
der Geistreiche zur Bibcl. Ihre Kubik ist
nicht Einfalt, sondern gekiihltcs Ausdrucks-
fieber. Die lebhafteste Phantasie kommt
[ " . , .L Original from
VERITY OF MICHIGAN
66 Die tKUC Plastik
mit eincm Wiirfel aus, wo eine mattere das
Panoptikum braucht.
So ist sie eine KomSdie der Simptizitat?
Nein, sic ist ehrlich, sie besinnt sich auf-
richtig, abgcsehen viclleicht von einigen
wenigen Simulanten des Primitiven. Und
sie ware denn auch nicht der erste Geist-
reiche, der durch Bibellesen jung, einfach
und fromm geworden ist. Wird aus Denken
mitunter Andacht, so hier aus der Synth ese
der Form die Beschlossenheit der Knospe.
So soil stilistisehe Logik zur Reinheit des
Beginns leiten, zu einer Wiedergeburt des
Seins aus dem Geiste der Plastik.
Die tcchnische Bedingthelt dieser Erorte-
rungen hinsichtlich Raum und Abbildungen
verbietet es, der grundsatzlichen Kennzeich-
nung des Neuen eine ausfiihrlicne Dar-
stellung seiner wesentlichsten Vertreter und
eine nachbildende Betrachtung ihrer schon-
PaaivL> Oriqmal from
5t ^i UWVffiSITY OF MICHIGAN
Die neuc Plastlk &f
sten Schopfungcn anzuschlieCcn. Die hatte
im einzelnen die in vergrSbcrnder Verall-
gemeinerung gemaehten Fcststellungen am
konkreten Bcispiel zu demonstriercn und
die Eigenheiten des neuen Stils eindring-
licher erlebbar zu machen. Sie wiirde noch
deutlicher darauf hinweiscn kdnnen, wie
die hier auf Schlagworte ge bra elite n, charak-
teristischen Erscheinungskomplexe einandcr
kettenhaft bedingen. Das also kann an
dieser Stelle nicht sein, und es mufi uns hier
geniigen, zum AbschluB ohne Absicht auf
Vollstandigkeit einige Nam en kurz anzu-
f iihren, mit denen der Gang der Entwicklungs-
kurve wenigstens angedeutet sei.
Von dem Anteil Rodins und Hildebrands
ist bereits die Rede gewesen. Gerade weil
Rodin noch in alien Punkten fast der Anti-
pode des Neuen ist, gehort er als sein erstes
Aufkeimen dazu. Alles mit ihm Fallende
hat den ganz unverkennbaren Akzent des
„noch", der auch als ein „schon" gehort
werden kann.
f - "* r-\ f \t\\t > Original from
.yl»OOglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
68 Die noue Plastik
Die kontemplative Innerlichkcit und das
freie Kcrpergefiihl beginncn immerhin, das
Formgesetz zu bestimmen. Kubik und Sil-
houette fehlen m&ist, obenauf Hegt ein
Nervennctz, unvcrleiblicht regiert die Seele
die Gestait, Rodins Empfinclung ist schon
£nnz wie von heute, nur verbindet sie sich
allzu locker einer ihr nicht homogenen
Korperlichkeit. Ganz zu uns schelnt der
Rodin des n Balzac <c zu gehoren. Da ist diese
gelstfcrhaft hintiibergelehnte Geste des zur
Mas^e feschlossenen, traumwandlerischen
Gesamtkorpers, die unberiihrbare Monu-
mentalitat des schwcr tappenden Schwebcns,
die tfcrklaruug d*^s Kolosses aus der Masse
herau^gogrif:en. Visionenwordung eines
Steins, Steinwerdung cincr Vision zugleich.
So wiirden auch wir die ratselhafte Ent-
riickung des Scins durch die wolkenhafte
Ka.Kmg somer Materiatitat gestaltcn konnen*
Ein Impressionist ist vvcit ehcr Meunicr,
in dessen knochigen Arbcitern die Harte Hirer
Daseinsform Motiv wird. Enganliegende,
[ , , ,L Originalfrom
-_ — UN IV ER-.M TV OF V.I L H 1-3 -. N
Die nriic Plnitik #9
hauthaft faltcnarmc Kleidung und feste
Kappen bcugcn der Zerstreuung der knapp*
gefiigten Formen vor, das betonte Skelett
hebt die Funktion utid Struktur der zusam-
menwirkciiden Korpertcile kraftig heraus.
Der Proletarier ist vielleicht in der Ge-
wrungenheit und latenten Dynamik seiner
gleich&am durch den sozialen Druck zu-
sammengesprefiten Erscheinung nicht das
ungeeignetste Vorbild einer echten Plastik.
Er stcht bei Meunicr wie gehammert da, und
die hammersclivvingende, lastenschleppende
Kraft baumt sich in semen sehnigen Gliedern.
Auch als Vertreter der Volksmasse, in der
bei all ihrer quantitation Schwere imge-
heurc Krafts dor Erhebung und Entladung
aufgespeichert sind, kame er dem Wollcn
der neuen Skulptur rein stofflich entgegen.
Meunier ist an diesen Moglichkeitcn nicht
voriibergegangen. Straffc, knulige Formen,
cine strcnge Statik, ein erzener Rhythmus
der schwieligcn Kraft lasscn hcrrliche Monu-
mente erstehen. Der soziale Gedanke tritt
( . ...I., Original from
UK
v'EKITY OF MICHIGAN
70 Die neue Plistik
da mit seiner ganzen freien, offentlichen
Statu arik in die Arena, Em biBchen genre,
Zolaismus schleppt nach. In seinem The men -
kreis aber tat es ihm keiner nach.
George Minne, ebenfalls Belgier, gelangt
aus ahnlichen kiinstlerischen Bezirken aus-
drucksvoller Robustheit, die zunachst selbst
vor naturalistischer Akribie nicht zuriick-
schreckt, zu einer ganz straffen und schlan-
ken Einheit der Form. Ein wahrhaft go-
tisches Empfinden gibt seinen Gestalten die
energische und zugleich pcssimistische Stre-
bung, hebt seinen Stil in cine von Starrheit
nicht immer freie, asketische GroBe hinein,
in eine fast fanatische Unbeugsamkeit,
manchmal von herber Anmut gelindert.
Minne bringc die neue Form bereits so sicher
zur Auspr.igung, dafl man in ihm schon cine
erste Reife der modernen Plastik rep rase n-
tiert glauben konnte. Alle seine Menschen
haben die bleiche Dehnung schmuckloser
Pfeiler, in sich gebunden wie Glieder eines
Domsystems, sind Trager imaginarer Ge-
[ , , ,L Originalfrom
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Piastik 71
wolbe. Eine Atmosphdre monchischen Le-
bens ist urn diese hungrigen Steine gebreitet.
Karge Bewegungen stoBen fast hysterisch
ins Ungemessene, gleich Prophezeiungen ;
eine unvergeflliche Linie meiBeln sie klaglos
frierend in den leeren Raum* Wie in den
Boden gepfahlt, jah geneigt, spinnig diirr
wie gekrampfte Hande, und dabei doch be-
kranzt mit einer siiBen Weise, stehen seine
Menschen da, einem geheimnisvollen Orden
unterworfen, unnahbar, schmcrzverzogen,
Und alles das 1st Masse. Maillol, in dem die
Befriedigung Gauguins, seines Lehrers, nach-
wirkt, bringt der Moderne die schweren
Safte der Erde, Minne ist noch zuckend und
heimatlos. Jeder leichtere 2ug fiihrt ihn in
die gefahrlichc Nahe des Jugendstilkitsches,
darin Maeterlingk ahnlich.
Maillol daneben ist rotes, dickes, tierisches
Blut, das als erquickender Quell durch feste,
fruchtbar zur Zeugung dammernde Leibcr
kreist. Maillol ist wangig, breit, verwurzelt.
Er hat die Materie des Fleisches mit der der
{'*,-.. ■.,,!,• Original from
:y, L lOOgle
VER.-.ITY OF MICHIGAN
73 Die m"ut* Pla:.tilc
Bronze zuriefst verschwistert. Rubens ist
schwammig, fett, wuchernd — Maillol ker-
nig. Rumpfe, in denen die Unschuld der
neuen Plastik traumt und raunt, die mit
Lungenkraft das dickfliissige Sein aus dem
Boden zu saugen scheinen, in denen die all-
umfassende Natur ihren guten Schlummer
tut, Riimpfe, die sich selbst lachelnd im
Traum erscheinen und die lachen und wogen
wie ein hohes, gelbes Ahrenfeld; das ist
Maillol, und aus diesem Strom hat er an
seine Nachfolger ausgeschenkt.
Wiihrend sich seit alters her in der Malerei
eine Neigung geltend macht, Cliquen, Schu-
len, Kreise und Kliingel aller Art zu zuchten,
halt das Hr.ndwerkliche der Plastik, die tech-
nische Schwierigkeit, die bereits die Tren-
nung der einzelnen Stile voneinander mil-
dcite, von ihr diesen Zerfall fern. Alle be-
fruchten einander, selten nur machen per-
sonliche Eigenheiten des Lehrers, sozusagen
klischierbare Formen leichtfertig Schule. Um
so schwerer ist es, Verwandtschaften festzu-
< , , ,L Originalfrom
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Di* no.» Plnr.tik 73
stellen. Rodins direkte Abkommlinge in
Frankreich, Eourdelle und Desbois, haben
eher seine Form in eine schroffere, geniali-
schere Zerkliiftung, in brennendes Unge-
stiim und nervosen Titanismus fortzufuhren
gesucht, als die durch den ,, Balzac" gewie-
sene Bahn zu beschreiten. Dahin gehort
auch der gewalttatige, genialische Ansprung
des Plastikers Matisse. Eine ganze Schar
MitteJmafiiger trifft sich in einer gefalligen
Kreuzung von Rodin und Begas, in einem
dvirch M SeeIe" gemilderten Bombast. Klin-
ger, Bartholomew Hahn, Geyger: das sind
ein paar dieser Art. Mit unterschiedlichem
Konnen, aber von Hildebrand ererbter Ge-
diegenheit schufen Tuaillon und Habich
und etwa Lederer ihren Monumentalstil, in
Vornehmheit und Wohlabgewogenheit der
Flachen, nicht immer ganz befreit von
akademischen TJberlieferungen, nicht immer
rauh genug, um nicht einem neuen Akade-
mismus des Freiheitsgetues, einer sich hor-
bar in die Brust werfenden Statuarik, eines
f~* r~\f\t\\i ■ Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
74 Die neue Plastik
gefallig-dekorativen Mannertrotzes die Wege
zu ebncn. Das weichliche Gegen stuck dazu
etwa ein Klifnsch, der in zuckrigen Har-
monien Psychen umflirtet,
Die wirkliche Fortfiihrung Rodins er-
kenne ich bei Kolbe, Hauler, Lehmbruck
und ihren Nachbarn. Besonders die beiden
ersten sind noch nicht so ganz der neuen
Art ; sie, deren Stil der einer adligen Zuruck-
haltung ist, konnten sich nicht, wie mancher
Geringe, einfach auf die extreme Moderne
umschalten. Obwohl sie das Gesicht der
neuen Plastik ganz wesentlich mitbestimmen,
verharren sie etwas abseits. Untereinander
verbindet diese Kunstler die zarte und duftige
Bchandlung der Oberflache, die ein reh-
schlankes Madchendasein mit allem Schmelz
des Keuschen zu umfacheln weiB. Sie geben
eine blumig emporsprie3ende Gotik der ran-
kenden, betauten Halberbluhtheit, die der
Statik des f reien Dastehens den herben Zauber
einer morgenfrischen, gleichsam nordisch-
hellen Elastizitac und anmutvoller Schmieg-
( " . , .L Original from
VERITY OF MICHIGAN
Die neue Ftaatik 75
samkeit verleiht. Da ist die Mitte zwischen
irdischer Schdnheit und abstrakter Form
ganz fein get r of fen. Junge Baume konnen
nicht ahnungsreiner ins Blau gleiten, rnelo-
discher hangt kein Erlengezweig hernieder,
milder schwingt keine schneeige Flur sich
Ton Htigel zu Htigel. Erwachen hangt wie
ein Reif urn die sinnenden Kdrper, die wie
iiberrieselt sind von Erwartung und lacheln-
dem Staunen.
In Kolbe, der auch zu den besten Portra-
tisten nach Rodin zahlt, pulscn die Rhyth-
men kiihn und unwiderstehlich. Die Rhyth-
men der Gerte, des Windes, der Diana und
der Asienseglcr. Das kreist iiber alle Stile
der Lander und Zeiten hinweg wie ein heiterer
Tanz. Bailor ist beschlossener in Idylle, er
lebt in der stilleren Luft gehaltener Tone, die
ernst und mild sind wie die hochgeschwun-
genen Braucn grofler Madchen. In Kolbe
jubelt die tollere Freude der Hopfenranke, in
Haller wiegt sich zum Gleichmafi des Atems
auf hohem Stil ein schmaler Kelch. Kolbe
Z'',-.. .,.!,, Original from
:y, L lOOgle
vER.-.ITY OF MICHIGAN
•j6 Dio ntue Pl.tstik
ist vollkom metier, Haller (nicht umsonst
cin Schweizer) pragt dauernder.
Ein starkerer Zustrom Maillolscher Safte,
ein Zurucktreten hellenischer Grazie zu-
gunsten einer mehr gotischen Wendung
pragt den Typus der Kur.st Lehmbrucks.
Aucb in ihm der Wuchs sehnsiichtiger
Schlankhcit, ein gebethaftes Ansteigen der
Formen. Aber warmere Alttone schvvcrer,
hirnenhaft-fleischiger Giieder wenden den
BHck hinuntcr, Traum und Demut um-
flieBen das Gcsegncte harmonischer W61-
bung, a lies sucht irgendwie die Tiefen einer
siiB-schwermutvollen Ahnung auf. Ohne
Mittelalterei sind Lehmbrucks Akte in ein
vollig originalcs Madonnentum hineinge-
wachsen, lediglich aus dcm unsagbaren Zu-
sammenklang ihrer sanftfiilligen Korper-
formen heraus. Das verhangene Wesen alt-
franzosischen Frauentums ist in diese Torsi
eingekehrt, die Urbilder giitigen Weibtums
gev/orden sind, ohne alle Gebardensprache,
ohne KostCim noch Farbe. Bescheiden halt
{"" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC __ UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die itfruc Plnselk 77
sich ein in Schmalheit demutvoller Kopf
hinter dem Orgclklang des Rumpfes zuruck,
urn ganz in der Milde seiner Neigung oder
Wendung aufzugehen. Darin waltct nicht
die Salongotik dcs modernen Dekorateurs,
sondern das ursprunghafte, fromme Flehen
der Ergebung, das alt ist wie die Welt.
Lehmbruck gerat mit cinem lisenenartigen
Vertikalismus der zartgliedrigen, sproden
Schlankfuhrung weiterhin in die gotisclje
Welt hinein. Eine f ,Kniende 4 ' von aufierster
Steilspannung wurzelt unrnittelbar benach-
bart dem Pctrusrelief von St. Pierre in
Moissac. Das ist beinahe gratig, und doch
von einer so kiihlen Kostlichkeit der Kurve,
dafl keine noch so geringe Disharmonie
aufkommt.
Dieser Gruppe verwandt sind eine Reihe
zum Teil auBcrst feiner Kiinstler, die jedoch
nichts wesentlich Neues in die Entwicklung
hineingetragen haben. Da ist etwa das leb-
haftere Temperament des Siiddeutschen Al-
biker, der bis zur Zierlichkeit eines vom
( "* f^r-\r*\n Original from
d byV. lOOglt
VERITY OF MICHIGAN
78 Die neue Plastik
Gcist der modcrnen Empfindung beruhrten
Rokoko seine Kreise dehnt ; da ist Antes, der
zum knorrigen gotischen Schnitzwerk neigt ;
Huf, der die Kultur des Physiognomischen
mit den Mitteln der summierenden Wolbung
bestreitet und eine ebenso aristokratische
wie wohllautende Durchmodellierung gibt;
da ist der satte Schlaf Engelmannscher Liege-
figuren, der kraftige Formwille der S titer
und Langer, die mitunter etwas steif bletben ;
da sind noch viele, deren Personlichkeit
noch nicht voll ausgepragt ist, am ver-
heitiendsten vielleieht die des jungen Joachim
Karsch, der eine machtige Ergrif fenheit in an
Rodin gemahnender Weise physiognomisch
auspragt, jedoch mit kiihnen Aeymmetrien,
eher russisch als franzosi&ch in der geistigen
Farbung, in kantigen Schnittflachen das ku-
bische Wesen hineintragend in seinen vorerst
etwas zeichnerisch differenzierenden Stil; und
da ist nicht zuletzt diese einzige melancholische
Frauen gestalt des Plastikers Ferdinand Hodler,
so zart und wie mit fremdem Ohre lauschend
[ , , ,L Originalfrom
d byV^iOOglC
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Di*- new Plasllk 79
aus ihrem Abend heraus mit unauslosch-
lichem Scheideblick an dieser Erde hangend.
£s sind viele Kerzen angczihidet, viele
Glocken singen und viele Hande sammeln
das Sein auf ihre Art.
Metzner gerat bei einem im modernen Sinne
aufterst substanzhaltigen Pathos leicht in
kraf tmeierndesMonumenttal mi. Seine brutal e,
klobige Art, die uns einen protzigen und auf-
dringiichen Dekoralionsstil eingebrockt hat,
fordert unstreitig Werke von sellener Ge-
schlossenheit und massiger Verve zul age, so-
bald sie an die Gestaltung artverwandter
Motive geht. Metzner hat in einigen Portrat-
biisten herrischer Menschen echte Treffer zu
verzeichnen. Aber auch in den wie mit Leder
fest iiberzogenen groBen Figuren, die sich in
einer stilisierten SchmerzHchkeit gefallen, be-
harrt er so sic her auf seiner person lichen
Manier, daS auch der, der Widerwillen gegen
die ganze muskulose Art dieser Kunst emp-
findet, nicht umhin kann, sie zu achten.
Jedenfalls ist Metzner den dsterreichischen
( . ,,.(,, Original from
I by V. lOOOIt
UNIVERSITY OF MICHIGAN
So Die neue Plastik
Gesinnungsverwandten Mestrowic und Stursa
an Potenz welt iiberlegen. Seinen hochbe-
gabten, f einer besaiteten Schiiler Totlla Albert,
der wohl erst noch seinen eigenen Weg finden
muB, wollen wir aus diesem Grunde eben nur
nennen.
Ein kompltzlerter Fall ist Bernhard Hoet-
ger. Er darf nicht einfach niit jcnen Pseudo-
kiinstlern verwechselt werden, die auf alien
Stilen des Erdenrunds die fremden Federn
auflesen, mit denen bet uns noch billige
Ehren einzuheimsen sind, Starke Einfliisse
von Maillol her trafen in Hoetger auf ein
Gemisch aus Mut und Spielfreude, das sich
von den Tendenzen der Gegenwart etwas
bemmungslos nacheinander auf Romani-
sches, Assyrisches, Ncrdisches und Ost-
asiatisches vcrweisen liefi. In den zuerst
bekanntgewordenen Werken, ich denke
etwa an den Gerechtigkeitsbrunnen in Elbcr-
feld, sprach eine eigenwillige Personlichkeit,
die sich heute of f enbar etwas aus den Augen
verlorcn hat. Sie war stark genug, daft man
j , , ,L Originalfrom
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 8 1
iiber absonderliche MiBbildungen, iiber haC-
lich verkiirzte und im Profanen stecken-
gebliebcne Gestaltungen, an dcnen es nicht
fehlte, hinwegsehen muBte, hiniiber zu dem
kiihnen, temperamentvollen Pathetiker, der
rnit aller Mache doch iiber den Tag hinaus
interessant war. Gerade Hoetger hat viel
von der Synthese aus Substanz und Bcwe-
gung, Statik und Lyrik in seinera Werk zu
vollziehen gewuflt (man spiirte: gewuBtl)
und als einer der ersten im Sinne des Neuen
gewollt. Viellcicht hat er zu viel und von
alien gewollt, und eine gewisse Untiefe lieB
ihn kaum iibcr eine Meisterschaft der pla-
stischen Dekoration hinauskommen. Ein
eklcktischer Zierkiinstlcr wie der mit viel
sichererem Geschmack begabte und in alien
Satteln gerechte Wackerle, der ein uner-
schopfliches Fiillhorn anmutiger Einfalle
ausschiittet, ist er seiner ganzen Einstellung
nach gewiB nicht, mag er auch im Resultat
nur wenig iiber solche weit leichter Wiegen-
den hinaus gelangt sein. Wo ihn ein stets
( "* f^r-\r*\n Original from
d byV. lOOglt
VERITY OF MICHIGAN
82 Die neue Plastik
lebhaf ter Ehrgeiz in Auf gaben f iihrte, die letzte
Keuschheit der schaffenden Seele fordern, da
blieb er vollends peinlich undelikat, absichts-
voll und schematisch in der Wirkung.
Im jiingsten Lehmbruck hebt dann jene
energische Forfwendung vom Physiogno-
mischen an, die sich bei Ernesto de Fiori in
eine Art Ekstase des Typischen, in ein mario-
nette nhaftes Schwarmen ausbildet, wo die
Schicksalsmachte nicht mehr nur Schatten
uber das Reine finstern, sondern das tragi-
komische Puppentum des Daseins selbst
Erscheinung werden lassen. Mit der stum-
men Klage des Pierrot gleitet der bittere
Scherz seiner empfindungstrunkenen Ge-
schopfe voriiber Ohnmachte komplizierter
Erotik schrauben die flehende Gebarde dieser
Verziickungen in eine Traumwelt hinauf,
in die trotz noch kon^equenterer Typisierung
Milly Stegers erdfestere Wesen nicht hinein-
reichen. In deren damonischen Akten orien-
talischer Rasse spukt Lulu I Hart und brutal
verriegelt sich diese Form, ein grausam zaher
,' . , ,L Original from
5r-U*«tfRSITY OF MICHIGAN
Die neue Plastik 83
Rhythmus, ein strenger Giftgeruch erfiillt
die Maskenhaftigkeit nicht nur des Gesichts,
sondern des ganzen Korpers. Riicksichts-
lose Ausmitzung parallel gefiihrter Kon-
turen von oft schneidender Frechheit und
doch formalem Ernst laCt auch diese Kiinst-
lerin den Weg zu starker, obschon etwas
grober Monumentalitat findcn.
Emmy Roedcr steuert allzu zaghaft ahnliche
Bahnen, Garbesucht Lehmbruckserwacliende
Linie einer derben Resolutheit in vorerst etwas
suminariscker Art anzunahcrn, Rene Sin-
tonis wandelt mit viel aparter Anmut und
nicht ohne die Reize des Schiichternen und
Unbeholfenen diese Typik in einem oft
auBerst Hebcnswiirdtgen Kleinfigurcnstil ab.
In noch strengerer, dem Stereometrischen
bercits leisc angenaherter Abstraktion tiirrnt
Edwin Schaiff aus bogigen Komplexen ver-
moge der dicsen innewohriendcn natiirlichen
Federkraft kiihn hingesteilte Leiber empor,
die vom Menschen kaum mehr als die grob-
sten Umrisse und einen Widerschein seiner
6*
Z'',-.. .,.!,, Original from
vER.-.ITY OF MICHIGAN
84 Die neue Plastik
Proportionierung haben. Aber das ist nur
eine weitlaufige Beziehung zum Kanon, In
der Hauptsache crleben wir bei Scharff die
Verkorpemng des Sichaufgipfelns, eine Mus-
kelkonstruktion, wo spharisclie Kurvuturen
stahlern den Raum durcbsicLeln. Die jahe
Ragung wutend hochaufgeschmissenen
Wuchses wuchtet alle Lieblichkeit des Go-
tischen beiseite, urn aus einem v/eit piotz-
lic Keren Willen heraus Monumente in den
Raum zu stoBen. Hier hat die dynamische
Erregung unleugbar die Obermacht, aber ihre
Mittel bleiben rein kubisch. So scharf die
Geste des Korpers aufschiefit, sie bleibt Kor-
per. An andercr Stclle ist die Fuge des Leib-
haftigen, trotzig vor Schwere, breit im
Lasten, ausschlieSlicher gegcben. Wie aus
geballten Fausten baut sich polykletisches
Mafl, bcharrlich und festen Gelenkes, auf,
ohnc der Kurve zu verfallen. Erst in den
klarflachigen, geistvollen PortratkSpfen lugt
sie in eleganten S-Schwingungen auf, wie
denn dieser Jahe nie die elastische Linie
[ " . , .L Original from
VERITY OF MICHIGAN
Die neire Plastik 8$
fehlt. Hat das Volumen, hat die Stcile das
crste Wort, die Synthese ist diesem ganz
starken Ktinstler unverlierbar.
Launiger wirkt ein ahnlicher Grad von
Stercometrie bei dem jungen Belling, der
schmetternde Bewegungen, Gruppe und
grotesk iibertreibende Aktion wagt, lauter
widerplastische VorstoBe, und durch eincn
die Tiefen philosophischer Paradoxic nicht
schcuenden szenischen Witz doch alles zur
Einheit fiihrt. Flott gekantet und zum
Knauel geballt ziigelt Belling zur Masse,
was wildeste Bewegung ist Manadischer
Tanz aus Prall und Widerprall, Hieb und
Wehr f Stampfen und Beckenschlagen, ein
gellendes Getose der Fortnen • — ■ und durch
eine gluckliche Komposition ist alles doch
wie mit Gummischnuren aneinandergefesselt,
daB es die plastische Balance nicht verliert.
Trotzdem ist nicht zu verkcnnen, daB hier
ein Dynamismus, ein furioses Temperament
am Werke ist, das den eigentlichen Forde-
rungen der Plastik fern steht und bereits zu
,,,!,, Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
86 Die tv-?:- Plsllk
einem neuii/i Kspitcl zu zahlcn sein wird,
viellcicht nicht an letztcr Stelle. Weit proble-
mairacb*:; erscb&inen jenc abrupten Kori-
fi^urai-ioiiin diirchcitiand^&£rcscbaclitGlter A
verpferchter, sckrill znsatiinienklappernder
Bruclistiicku aus Floschenformcn, Prismen,
Zylindern, Mcnschengliedcrn und dergleichen
mehr, niit denen itatienieche Futuristen
vorn Schiage dos Boccioni kaum eincn Alb-
dnicfc, geschvseige denn em gcistiges Erlebnis
bes una auslosen konacn. Aller Kraftauf-
watxd verbliiffender Kurvaturen bringt da
nicht mehr als wiistes Gerassel von einer
jewissen rhytbmischen Pikanterie hervor.
Und dech verraten noch soiclic Verzerrungen
das Wesen der ueuen Plastik, denn auch bier
jene Durchdringung von Schwung und reiner
Kubik, van fast konvulsivischer Ausdrucks-
ijifcr und Lcglk der plastischea Materie, Nur
klafft hkr eben storrisch auseinander, was
allein die stillen Gluten der Innerlichkeit zur
Synthese bringen konnen*
Die nicht uninteressanten Versuche der
[ . \r%\n Original from
4#HWR5ITY OF MICHIGAN
Die Mwa Plastik 87
vollig aus dcr Natur des Tons, also nicht des
Steins gcborenen, skurril-malerischcn Plastik
Gulf rounds tuid des zeichncrischen William
Waiters entratcn des plastischen Wcsetis
noch mehr. Die ausgemcrgclte Phantaslik
rabiat gckrauselter Tonvegctation des Erst*
genannten hat etwas so iiber aller Literatur
Donquixotcskcs, cine Bizarrcrie des Anti-
plastischcn, dafi Gutfreund viellcicht nicht
iibersehen werden darf. Wauers Uneare
Kurvaturen, die man sich als elegant ge-
schlungene und gewundene Schnorkel ernes
gebogenen Vierkants vorstcllen kann, lnin-
dern die korperliche Existcnz vollig zu
stangendtirrcr Diirftigkeit lierab und stellcn
nichts dar als eine nicht austlruckslose, aber
oberfl-ichlichc Ubertragung der Zeichnung
auf das plastische Material, ohne daB dieses
zum Leben erweckt wiirdc. Ernsterzu nehmen
sind jene kakteenhaft auf getriebenen Gebilde,
in denen Oswald Herzog den Versuch macht,
den vom Gegenstandlichen losgelosten Rhyth-
mus dinghaft auszukristallisieren, Solange
,' . ,,iL> Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
86 Die neuc PUstik
ihm erne halb menschliche, halb baumhafte
Gebarde Melodie gab und die Form bei alter
Freiziigigkeit leise den Kanon suchte, schien
er eine neue Mcglichkeit zu bieten. Heute
hat sich seine etwas flache Virtuosenge-
sinnung, von bilHger Theorie verlockt, in ein
auQerliches Ubertragen musikalischer Figuren
in das Raumliche verrannt. Die Musik fehlt
freilich.
Zum Schlufl sei noch an zwei Plastiker
gedacht, die beide in ihrer Art ein auBergt
starkes Verhaltnis zum Wesen ihrer Kunst
habcn. Einmal an den Russen Archipenko,
der in seinen wulstigen Akten das nackte,
klobige Sein gibt und eine plumpe HaBlich-
keit zu Fetischen des Ewig-Mollusken formt.
Auf der einen Seite Rundung und Typisie-
rung iiber alle feineren Regungen hinweg,
abscheulich verdickt zu bauchhaften Schen-
keln und schwammigen Rump fen, getragen
von KlumpfuBen, Flossen die Hande, wider-
liche Sacke die Briiste, — auf der anderen ver-
renkte und deproportionierte Duette schlan-
{"" r\f\t\h • Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die neue flasttk 89
genhafter Gestalten, an denen sich der Erz-
feind alles Schonen ausgetobt zu haben
scheint, so wild ist ihre HaBlichkeit, so
unter irdisch ihre widerliche Form : und doch
ein brennend starker Geruch des Seins, des
Elementaren, des Trachtigen dariiber; uns
Zwang, ihre Korpergeste uns einzuverleiben.
Wenn es eines Beweises bedurfte, welche
Macht die geschlossene Masse, die Tjrpik,
der Torso, die Korpergeste usw. an sich be-
sitzen, so ist er hier. Denn diese Macht ist
so gro0, dai3 sie noch das Hafllichste, was
Menschenhande je gemacht haben, kiinst-
lerisch verklart.
Zum Zweiten aber sei an Barlach gedacht,
der seitab steht und doch wie kein anderer
dem Neuen angehort. Nicht minder un-
mittelbar als bei Archipenko spricht bei ihm
die schiere Substanz, das Fleisch des Seins;
und da* urn so unerhorter, als er nicht den
nackten Menschen, sondern den bekleideten,
physiognomisch charakterisierten, den stark
bewegten, zu einem Objekt auBerhalb seiner
( "* f^r-\r*\n Original from
d byV. lOOglt
VERITY OF MICHIGAN
po Die wnie Ptaslik
gcwandtcn Menschen, sogar die Gruppe gibt.
Bailach stellt, auBerlich bctrachtet, alles auf
den Kopf, was hier als Gesetz dcr neuen
Plastik abgeleitet wurde. Aber das Gewand
wird zur schweren Decke, die alle Geste auf-
fiingt, die Bewegung bleibt dutch den Magne-
tismus der blockhaften Masse unzertrennlich
von ihr, die Gruppe umfaQt ein so starkes
einhcitliches Schwergewicht, daB der Sieg
der Substanz durch alle diese Widerstande
nur urn so eklatanter wird, Nie noch ist in
der Kunst so niit dem vollen Gewicht der
Korpersubstanz gesessen, gelegen und auf-
getreten worden ; nie noch hat der plastische
Block derart von sich aus den Ausdruck
gczeugt, nie noch wurde die Schwere, die
3indung, die Substanz selbst so zur Gebarde.
Niernals vollzog sich noch so restlos und alle
Wiinsche sattig^nd jene Synthese, die der
Sinn der neuen Plastik ist.
("" f -\ f \t\h . Original from
Iby^OOglC UNIVERSITY OF MICHIGAN
Tribune
der
Kunst und Zeit
Eine Schriftensammlung
Herausgegeben
von
Kasimir Edschmid
Berlin
Erich Reifi Verlag
-I— Onqmal from
A.OO^K UNIVERSITY OF MICHIGAN
DaB schon vor Jahren Ansatze bestanden
zu einer Bewegung, die auf neues Welt-
gefrihl aus ist in den Kiinsten, das ist be-
kannt* DaB die Bewegung durchdrang, wciB
jeder* £s w&re Albernheit, hier noch Fanfaren
zu blasen. Dringlicher erscheint es heute, wo
jeder Greis ,,StelIung nimmt", jeder Jiing-
ling Unertrfighches schw&rmt, den ganzen
Komplex zu tiberfchauen: woher das Neue
kam, wohin es will — keine Schlagworte zu
pragen, sondern besonnen das Eigentliche zu
sagen — nicht riickwarts zu referiercn r nicht
zu wiederholen und auf keinen Foil zur
Theorie zu kommen . . . sondern auszusagen f
zu bekennen, darzustellen, zu wiinschen und
zu postulieren und so bei aller Weit-
heit dcs Rahmens dennoch zur Rundheit zu
kommen. Mie stand dcr Kiinstler so mitten
in dcr Welt w ; e heute. Nie lief in so un-
^eheurcr Tragodie die Veranv/ortung so bin-
dcnd zwischen ihm und dcr Zeit* Vom
Kiinstler aus &eschen, mit der Kunst als
Zentralproblem, wird jcde Darstellung heu-
tiger Ziele erne Darstellung der Zeit: Poll-
("" r\f\t\h • Original from
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tisches t Religioses, Forderunghaftes rnischen
sich, kaum zu trennen, ja unlosbar mit den
Fragen der Kunst. Kiitistler mit ihrer Kon-
fession, Gelehrte, die Sachliches dichterisch
zu sagen wissen, Essayisten, die nicht spie-
Ierisch , ,ze r f asern ( * , sondern produkti v im
eigentlichen Sinn der Kritik aufbauen, schrei-
ben hier an ciner kleinen Geschichte unserer
Kunst und unserer Zeit
Bisher sind erschienen;
Kasimir Edschmid: Ober den Expression
nismus in der Literatur und die neue
Dichtung
Wilhelm Hausenstein: Obcr Expressio-
nismus in der Malerei
Thcodor Daubler; ImKampf um die mo-
de rne Kunst
Walter Muller-Wulckow; Aufbau —
Archi telttur
Paul Bekker; Neue Musik
Max Krell: Ober neue Prosa
IwanGoU:DtedreigutenGeisterFrankretch5
[ " . , .L Original from
VERITY OF MICHIGAN
Ren6 Schickcle, Der 9. November
Schopferische Konfession
Kurt Hiller: Geist werde Herr
Willi Wolfradt: Heutige Fiastik
Gottfried Benn: Das moderae Ich
Carlo Mierendorff: Hatt ich das Kir.o
Gustav Hartlaub: Neuc Graphik
In raschcr Fol^e werden u. a. erscheinen:
Kurt PinLhus: Das noue Theater
Alfred Wolfenstein: Neue Lyrik
Fritz von Unruh: Das nsue Drama
Rudolf Leonharu : Gesprache iiber heutige
Jugend und Kunst
Walter Rilla: Gegen die Gewalt
Wilhelm Michel: Der Mensch versagt
Friedrich Markus Hiibner: Philosophi-
se he u. moralische Grundlagen neuer Kunst
Weiterhin Bande von:
Barbusse, Toller, Masereel, Douglas
Goldring, Paul Colin. Beerfelde, Rend
Arcos usw.
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